TXotb unb Sub.
€ine fceutfdje XTConatsfcfyrtft.
Qerausgegebeit
von
Secfyster 23ani>.
mil ben pot frits oon 3ofepf} Dictor port Sdjeffel, €mil bu BoissHrrmonb unb Karl (Sufoforo.
Berlin, J878.
©erlag ban <6eorg ^tilfte.
NW. 32. Couifenflrafje.
3iulf — 5ttti0ufl — £eptem6er-
J878.
C. 2tn5cngruber in roictt. Seite
3)a3 ©unbfinb 129
J{atl Bartfd} in %ibclberg.
Sofcp^ Victor toon Sdjeffel 53
Slit bent $ottrdt toon 3ofcpf) Victor toon Sdjeffel. ©eftodfen Don 6ad>S
in Berlin.
<J5. 23aur in £eij>3tg.
3)er (SIfag aid etite ^flegeflatte betttfd^en SebenS unb beutfdjer
(SJefinmmg 99
T^arl 23tc6ermann in £etp3tg.
Sejftng in ©nglanb 311
p. ID. ^ordffyammer in Kiel.
3)a3 golbcnc S3Iiej} nnb bie Slrgonauten 201
T^arl (Bu^fotP in Sadjfenfjaufen.
SSogumil 5)att>ifon 373
Wit ban $ottr&t toon Rati ©u&fow, Wabtrung toon 35. 9taob in SRunch/en.
Paul ^ryfe in ITtiindjen.
SRcifebriefe.
9(n Slrnolb SBScflin in 3loren$ 1
&n Otto fibbed in Setyjig 6
Sin SBtlfjelm #erfc in Berlin 167
2ln btc jn §aufe (Sebliebenen 172
Ku&olpfy £in6au in parts.
<£in oerfeljrtcS Sebcn. 9tobefle 11
<£mil Haumann in Dresten.
(£Iatoierft>iel ofjne (Snbe 112
3nljalt bes 6. Banbes.
$vkbv\di 2ta£el in IKtindjen. st\*t
$>ie ©euttljeifang bet 935tter 177
3. Hofetttfyal in (Erlangen.
©mil bu S3ot8s9tajmonb. (Sin ficbcrtSbilb 153
Slit bem $ortr&t bon (Smil bu 58oi»«8lebmonb. Had) ber Otioinaljei^nmifl
bon Hbolf SRenjcl in $$otofltabfite ouSgef fl^tt but$ <ftoubi( A So. in ^ari*.
gratis Hfifyl in Konigsberg.
Xljeobor Don ©d}5n 213
S. Sdjoemr in Horn.
2>cr gelatin unb fcinc 2lu3giabungen 349
Carl Ojterfd} in £eip3ig.
SWebicinifdje ©Ioffien jum gantlet 231
ID. Pogcl in Berlin.
$>te Xelegrajrt>enfd}rift be3 $iimnete 335
<£. X?oit in ITCiindjen.
Ueber bit Sebeuhtng be3 ©lutes 87
2t6olf IDilbran&t in Ittien.
$er SRitfdjuIbigc. 9tot>etle 255
3uli
3 n If a 1 1.
— i* —
Paul I}eYfe *n 2Tlflnd?en.
Hetfebrtefe. Seite
Tin 2lrnolb BSrfltn in (floret^ \
2ln G)tto Hibbecf in £eip3tg 6
Hubolpt} iinbau in parts*
€tn perfebjtes £eben. Xlopelle \\
Karl Bartfcfy in ^eibelberg.
3ofep^ Pictor von Sdjeffel 53
<L Poit in ITluncfyen.
Ueber bie Bebcututtg bes Blutes 87
(5. Baur in £eip3ig.
Der €lfag als cine pflegeftatte beutfc^en £ebens unb beutfdjer
(Sejlnnuncj 99
€mil ZTaumann in Dresben,
Clapierfpiel ofyne €nbe \\2
JJier3U bas portrat 3ofepfj Dtctor con Sdjeffel's, gejiodjen pon Sad^s
in Berlin.
„nort> uub Sflb" erfd?etnt am llnfang jeoes OTonatt in ^eften oon 8—10 Sogen €e;.*8.
preis pro (Cuartal 5 OTarf.
2HU Sud?t?anMungrn una poftanftalten nefjmen Sefielliingen an.
TXoxb unb Sub.
ine e u t f dj e 211 o n a t s f d} r t
^erausgegeben
von
f aui IDnbau.
VI. 3cmb. — 3uli J878. — J6. ^eft.
<mit einem portrdt in HaMrung: 3ofepb Dictor von ScfjeffeL)
Berlin.
Derlag t>on (Seorg Stilfc.
NW. 32. Couifenflrafce.
Von
Jpaul l^ctife.
— IHiindjcti. —
2In 2IrnolJ> 33dcflm in #oren3*
id? xn nur c"le 2fod?t gefd?Iafen,
KSSI 21 n bie Hipetta 309 es mid? binab,
3u jenem Ijaufe, ruo u?ir oft uns trafen.
fynt faljn bie <fenfter fremb auf mid? Ijerab.
Stmnm fd?lid?en tjin bes alten Stromes VOtUtn,
Unb tttemanb roar, bcr mir iPiUfcmmett gab.
n?o finb fie nun, bic frdf)lid?en <5efellen,
Die Bienen gleid? tjier fd?tua'rmten cms unb ein,
Der KHnfte f?onig trageub in bie gellen?
3d? iibertpanb mid? nid?t unb trat tjineiu.
3d? ftanb in alter (Eage (Eranm t>erloren
Unb glaubte tpieber jung unb frotj 511 fein.
Von ZTeuem flang ber £arm t>or meinen (Dfjren
H)ie jenen IHorgen, ba an biefem f}aus
Der IDagen fyielt, ben n>ir 3ur <fal?rt erforeu
&um Baine ber (Egeria biuaus,
Wo Zafyv urn 3^ bas luftige <5elid?ter
<gu fyalten pflegte ben (Dctoberjdjmaus.
ZTun ftiegen ein fed?s lad?enbe (Sejid?ter,
33ilbfjauer brei, 3n?ei UTaler auger bir
Unb auf ben Socf ein griiner junger Did?ter.
1*
panl fjeyfe in HTundien.
Pen gro§en Korb 5U tjiiten gab man mir
JTtit nnjerm Dorratfj, bem gea>alt'gen 33raten
Unb 2Wem was gefykt $ur (Enfetter;
Da3u bie 2Jfdjenurne poll paiaten,
€in <Jlafd?a}en golbnen ®els wax ana) 3ur Jjanb
Unb was an Jriidjten lie§ ber fjerbft gerattjen.
So fauf'ten n>ir burd? Horn. Die Sonne ftanb
Klar am Octoberljimmel; jebe £tnie
Des ^ort3ontes fdjarf unb rein gefpannt.
Unb wo bem (Etjore natj bie alte pinie
fyriiberiPtnfenb iljren IDipfel fyob,
fjtelt bas (Sefatyt vox einer fdjlidjten Pigne.
9 V.* DeVTtjiterol, ein bufdjiger (Eyflop,
k luj #un| ein ^aglein Hot^en auf ben IDagen,
y>ti JniC nepen £aft pon bannen ftob.
So auf ber <5raberjtraj$e bjngetragen
Sat| id? bie XO\\$t Horns 3um erften Ittal
Unb balb andj ber 0afe tPalbdjen ragen.
Du fagnmflungen quelleuf titles dfyal,
Pern iwtx 3afyrtaufenbe Poriibergingen,
Seit Xluma fid? 3U f einer Zlymptie ftatjl,
tlie fafjft bu fcb.b'n're (Slut 311m fjimmel bringen
2JIs mir entfadjt im (Eidjenfdjatten bort,
VOo mir uns lagernb unfer Jeft begingen.
Bu aber 309ft , 0 Jreunb, ben Heuling fort,
3l]m erft ber (Srotte ^eiligt^um 3U 3eigen
Perftecft im fjodjgras, fommerltd? perborrt.
Hings bie <£ampagna lag im lTTittagsfd?a>eigen
Unb mie tpir txaUn aus ber feuAten Xladjt,
Satm mir ben T&audi in ftiller Wolfe fteigen
2Ius immergriinen tPipfeln, mie gemadjt
gum (Eempel, brin ein 0pfer 3U entflammen
Den alien (SSttern, beren em'ge HTadjt
Die flugen Hadjgebornen fiit^l perbammen.
IPir aber fdjlangen mudjernbes (Seranf
Des (Epfyeulanbs 3U Kronen leidjt 3ufammen.
Die fanben bei ben 2lnbern grogen Danf,
Unb fo befratt3t nun iiberm ftillen (Etjale
€rtjoben mir bie I?anb 3U Speif unb (Eranf.
Kcifebriefe.
<5ebenF|t bu nod?, n>ie ^rait3 mit roller Sd?ale
3n priefleranbadjt unfres fjerbes <51ut
Umfd?ritt, ben (Sottern fpenbenb ror bent Ittafjle?
Unb t^od? unb f^dl^er fd?troll ber Uebermutfj.
8acd?antifd? lobert* auf bie Jefleslaune,
<5efd?iirt ron bes Pefletri buufler (flut;
33is unfer Dane bann, ber Bart'ge, Braune,
Die Kleiber abmarf unb nms (feuer natft
JTlit 3aud?3en fprang gleid? einem rief'gen <faune.
Drei ttjaten's nad?, ron gleid?em Haufd? gepacft,
Unb an ben 5d?ultern fejHid? fid? umfd?lingenb
Den Boben jtampften fie im Heigentaft,
3m Dierflang eine norbifdje lUeife fingenb,
Die fjell unb milb bie IPipfel iiberjlog,
ITItt bunflem ^eimtret? uns bas £)er3 be3iringenb.
Da raufdjt's im Bufd?, unb anseinanberbog
Die groeige fd?eu em firupp'ge* <Iampagnole,
Den ber (Sefang aus feiner tyitte 3og.
<Er fuljr 3urficf unb jlol? mit tjaft'ge* Soljle,
2Hs er ben nacften Satyrnta^ erfdjaut,
Doll 21ngjt, ba§ ifjn ber (Sottfeibeiuns Ijole.
IDir aber eilten nad? unb lad^tcn laut,
3tmt ITCutfj einfpredjenb, unb ein roller 33ed?er
2Ius unferm <fa'§d?en mad?t' ibkn balb rertraut.
Dann roieber etjrbar lagerten bie <gea?cr
Unb brieten plaubernb ber Kaflanie <frud?t;
Der 2Ibeub fauf, bie <flamme brannte fdjtpfidjer.
Dod? meine 2Iugen fatten $xan$ gefud?t,
Der ron ben 2Inbem fiill fid? u>eggefd?lid?en;
Unb balb entbetft' id? it?n am Hanb ber Sd?lud?t.
3d? bad?t', er fei bes IPeines UIad?t gen?id?en
Unb fd?lummre nun, in fel'gen (Eraum rerfenft.
Dod? er, bas 3lonbfjaar ron ber Stirn gejtrid?en,
Die Xjanb 3um IDillfomm iiberm £?anpt gefdjtrenft,
Kief mid? tjeran, bag id? fein £ager ttjeile,
Den Slid? ins jtille lanb tjinaus gelenft.
So rufjten rrir unb fd?triegen eiue IPeile
Unb fatjn im 2Ibenbbuft bie Serge gliiljn
Unb rotfj bes 2Iquabuctes 3ogen3eiIe.
paul Ijeyfe in HTundjen.
Wol[l trmrb id? inne, wit fein 2luge Ftit^u
Sid? auf 3ur I?8l?e fdjroang, u>o eben leife
Des tftonbes Silberlilic moUV erblfitjn.
Unb pIBtjUd? ftng er nmnberlid?er IDeife
§u reben an, one mit bem eignen 3^?
€in (Eraumer fprid?t, einfaltiglid? unb roeife.
£s flang fo tief unb flar unb feierlid?,
Da§ tPorte faum bie <flut bcr Stimmung fagten
Unb attjemlofes Staunen mid? befdjlid?.
U?ie n?enn ein flteifter auf ben elfnen (Eajlen
Die finger gleiten lagt, bag unbeawfjt
Die Seele fid? in (Eonen fann entlafleit :
So brang terror aus biefer jungen Bruft
3n regem Spiel geljeimfte £ebensfiille,
Die Ha'tlrfe! biefer IPelt in £eib unb £nft.
Der Sd?mer3, ber in ber (Eollfjeit bunter £}UUe
Die Stad?eln birgt, roenn uus bas XOoxt ber Knnft
gmeibeutig flingt rote Spriid?e ber Sibylle.
Unb ad?, one launifd? gSnnt fie i^re (Sunft!
IDie la'jjt fte oft ben £ed?3enben r>erfied?en
Unb fiiljlt mit feinem (Eropfen feine Srunft!
Unb jerjt, empSrt am Boben turned) en,
£rmannt er fid? 3um <fluge fred? unb frot?
Unb biinft fid? gleid? ben (SSttern ober <5riea?en.
Was foil's? Was miirjet fid? bie Seele fo?
3ft benn tlatnr uid?t aus fid? felbjt Dollfommen?
Xjarrt fie auf uns, bag irgenbroie unb wo
Der blinben Sd?5pfung n?ir 3U fjiilfe fommen?
Kann bort bie 2lbenbglnt erjt felig fein,
IDenn r>on ber £einmaitb fie 3urikferglommen?
(Senug! lag mid? €rinnrung nid?t entmeitm,
ZTad?ftammelub jene gottoerroorrnen IDorte,
Die mir bas Slut erregt u>ie fiiger tPein.
3t)tn laufd?enb lag id? am geroeitjten 0rte
tPotjl eine Stunbe lang, iubeffen er
Stets neues (Solb mir bot r>on feinem fjorte.
U?ie ruar er reid>! VO'xt fd?ien er bie (Semartr
Des !?od?ften Kran3es in ber 3ruft 3U tragen!
Unb bennoa? gab er feiner geit nid?t ITIetjr.
Heifebriefe.
5
Zlatur, bie rneid? auf Jjanben it?n getragen,
3t?m 2lug' unb Scelc miitterlid? gefeit,
IDas mufjte fic bem £iebling (Eins t>erfagen,
IPobnrd? allein fte fjerrfd?geu>alt eeriest:
Die fiijje Dumpftjeit, jebcs fib'djften Quelle,
Die feine W\XT$eln tranft mit £auterPeit!
Sein 2Iuge mar 3U fd?arf, fein (Seift 3n fdjnelle;
<Er tparb 3U flug aus 2lifem was er fd?uf;
Der Baum erfranft bei fteter £ampent?elle.
£>u roiflig folgte tPeisfjeit feinem Huf
Hub lefjrte ftnnenb if^n bas 2XII umfajfen,
Da Sd?ranFen t?eifd?t bes Sd?affenben Beruf.
So tjat er mand? ein IDerf 3uriicfgelaffen/
Befeelt Don feines IPefens eblem ^aud?,
Dod? nid?t erflingt fein ZTame auf ben (Saffen.
Unb bamals, n?ie er fd?n>ieg unb enblid? aud?
^unicf fid? manbte nad? ber (feuerffcatte,
€rblicft id? bid? bei einem <5infterftraud?.
Du tjatteft mit ben 2Inbern urn bie IPette
Kaftanien in ber 2Ifd?e bir gegliitjt,
2lls ob bie IPelt nid?t l^orj're ^reuben tjatte.
Kein fd?u>cirmenb IPort n?ar beinem ITlunb entfpriifjt,
Dod? tief im 3nnern fammelnb alle (Sluteu
Des fd?8nf*en 2Jbenbs, brannte bein (Semiitf?.
•
3nbe§ auf <farb' unb ^orm bte 2lugen rufyten,
Sog fttll ber <5eift bas Hlarf ber Sd?8pfung ein
Unb finite fid? im Bab ber Sd?<5nt?eitsfluten.
Kunfi iji ein Sd?atj, unb (Seijter tjiiten fein.
IPer glaubt unb fd?meigt, urirb ir?n tjeraufbefdjmb'ren.
Dem KlHgler roirb ber <§auber ntd?t gebeitjn.
Unb ob fte betne Cirfel rpollten ftoren,
Did? meifternb locfen aus bir felbft tjeraus,
Du lernteft friit?, bir fd?n>eigenb angetjoren.
So roud?fejt bu in fto^er Kraft bid? aus.
Da unfer ^reunb fo friit? baljingegangen;
3d? aber badite beim Hipettatjaus
Des ^errlidjen, u>as n?ir pon bir empfangen.
SRom, 20. December 1877.
6
Paul ^eyfe in HTundjeu.
2In (Dtto Kibbecf in Ceipsig.
tleuHd?, (Etfeuerjier, l^ab* id? lad?eu miiffcu,
Da ein fd?oner (Effay mir in Me Jjanb fam,
Drin cin trefflid?er <53nner beines <freunbes
£eben, (Eljaten unb Homfafjrt abgef filbert,
IHtt pragmatifd?er ftunft bie ^fSben fniipfenb
(Eines fd?lid?ten Poetenlebeuslaufleins.
So er3a^lt er bie ITTar, roie Ittartinucci
2Ius ber Sibliotfyef ber Daticana
ITtid? fyarmlofejren trembling roeggetpiefen ,
Der id? fr<5t?lid?en IKuttjes fjiugepilgert,
2Hs romanifd?er ptylolog in herba
3n fyanbfd?riftlid?en Staub mid? ein3umii^Ien.
Denn fo jtonb es in meinem pa§ gefd?rieben,
Da 3U biefem Bet^uf ein ujotjlgeneigtes
ITtinifierium einen Heifepfennig
inir beurilligt. 3d? bad?t' it?n rfein^afjlen
UTit fefjr 18blid?en <Eroubabour*<Ercerpten.
Dod? i>erbad?tig erfd?ien's bem fjeil'gen Pater,
Unb fo fanbt' er ben (Engel in (Seftalt bes
IKonjtgnore <£ujlobe, mid? aus feinem
pergamentenen parabies 3U bannen.
Xlnt ein uri^iges Blatt aus €bens (Sarten
— £tid?t 3U ftetjten, beljiite! — nad?3U3eid?ueu
I]att' id? (Efjor mid? erfiitmt, burd? fo t>ern>egnen
Siinbenfafl bes permeffes fy'xl r>erfd?er3enb.
XPotjI Urni! ruft ber oeretjrte <freunb; burd? biefen
Setjr cerftimmenben ^mifdpcufan entfd?ieb fief's,
Dag er gan3 fid? ber Did?tung 3ugen?enbet.
Uns entging ein geletjrter J}anbfd?riftfenner
IKefyr, n?ie ITtatjner unb Alar^n unb Sartfd? unb (Eobler,
Dod? ftatt beffen errjielten n?ir — bas IPeit're
lies bu felber am angefiifjrien (Drte.
£ad?en mugt* id? fiim>ar|r. 3<*? fa*t im ^if* mid?,
Zlid?t uumurbig bes Daters, llfyns unb (Dfyeims,
2luf ertjabnem Katljeber, einer fjanbroll
(Surer 3nttgJil,g,e ben petrarf erflaren,
2ntfran3<5ftfd?es (Epos ober £ope's
Dramen ober <£eroantes in 3roeiftiinbig
Sd?n>ad?befud?tem <£ofleg 3um Beften geben
Unb aflja^rlid? bie «5aW ber (Eerie meljren,
Dran Delbuo Pelnemo, jenes treue
paar romanifd?er £efer, fid? ergSfcen.
lUar's bas beffere (E^eil? H?er u?ei§! ber (Eropfen
pljilologifd?en Sluts in meinen 2Jbem
XO'&t' 3um Strome cielleid?t nod? angefd?u>olIen,
Keif ebrief e.
7
Unb „<Erfauutes erfennen", rote einj: Pater
Boecft? ber pijilologie bas g*n>iefen,
Batte met^r mid? getrdjlet, als im 3rrfal
firmer menfd?lid?er Sd?ulb unb Sd?icffalsnotrfe
(EajUnb mid? 3U ergetjn in <furd?t unb HTitleib,
11m bes £ebens (Se^cimnig nad?3ujlammeln.
Dod? was frommt es, rerlorne lTIdgttd?feiten
21us3ugriibeln? <£s benft ber Ittenfd?, ber IjeiTge
Pater lenft, unb ein beutfd?es Did?terIoos n?irb
2ln ber Sd?melle bes Daticans entfd?iebeu.
ZTeiu, im €rnfle: von bir, ror beffeu 21ugen
3*ner geiftlid?e Bann an mir rollftrecft roarb,
lPnnfd?t' id? fjeut mir ein unrerbad?tig <5eu9ni§/
(Db mid? mirflid? fo tief bes ^nterbictes
3lit$ getroffen, ob nwflid? unter 5euf3en
21n bie Pforte bes Daticans id? einfd?lug
3enen Hagel, oaxan ben ptjilologen
3d? auf eipige &e\ten fying, rer3id?tenb
2Iuf ber UTaftuer unb UTatjn unb (Eobler Corbeern.
Zlod? bes ferculum primum wo\ gebeufft bu
,,Vom Kefrain bei ben Prot>en3alen" (cuius
Tu pars magna fuisti, ba mit metnem
(Eignett bisd?ett £atein id? fd?ier 3U (Eube);
ZTod?, n>ie feelenoergniigt, inbeg bu felber
Did? an nmrbigen pergameneu mnrjtejt,
3d? in Dillen, Htufee'n unb Kird?eufjallen
211s ein frdfjlidjer 3^°* fyerumftrid?,
Sonn' unb £ieber unb (Drrieto fd?liirfenb,
Bie bu freilid? benu aud? 3U fd?atjen nntgteft.
2Id?, fd?on lange geljeim im Bufen roarnte
IHid? mein (Senius: €itle UTiirj' unb Arbeit,
3n ben Spuren bes grogen Die3 3U manbelu!
21m tjiftorifdjen Sinn gebrid?t Mrs leiber/
Der (Seroefenes fdjatjt, bieroeil es ba mar,
Unb mas lange rermoberter <Sefd?led?ter
f?er3 nur magig betpegt, mit ober 2Inbad?t
2Ius papiereneu (Sriiften neu ans £id?t 3ietjt.
IPoty. unfterblid?es IDerf pom Unratlj faubetn,
Den itjm (Eljoren unb Kliigler angeljeftet,
2Ius erblid?ener Spur bes (Seiftes IPanbelu,
21us 3er(lu<feltem (Erummerroerf bee Did?tung
Unb bes £ebens (Seftalt fyeraus3nbeuten,
3ft bes Sdjmeiges ber €Men roertl]; bod? ba3u
33rand?t's bemafyrterer £}anb, berufnen 21uges,
Unb nid?t pfufd?e bes Dilettanten ^urroitj
^otjer frittfd?er IKeijkrfd?aft ins ftanbiperf.
paul fjeyfe in ITTiindjen.
Bir marl) 2Inbres perfyangt: ein uuperfalfdjter
Solm bes F?eute 3U fein, bes gegentpart'gen
HMtlaufs buntes (Sebilbe 311 peretp'gen
XlTit nad?benflid?em Wort. Barum ins £eben
£enfe riiftig ben Sd?ritt pom Bunft bes Siicbers
Saals unb blicf in bie IDelt unb in bid? felber,
Unb bann fage ber UMt, tpas bu erfd?auteft.
So mein eigeuer Bamou, ber in fimplem
Beutfd? mid? immer berate unb pon Komanifd?
IPeuig tpeig. Unb id? ttjat nad? feinen tPinfen,
Unb fo t?ab' id? in fiinfunb3tpan3ig 3alJ™n
0ft ein ^eimipert gefpiirt nad? Ponte ITIolle,
XTad? ben Dilleu, IHufee'n unb tfird?enrjallen,
Zlad? bem fjanfe ber Dame Hubiconbi,
IVo beim ftrofyernen fiasco n>ir fo mand?e
ZIad?t perplauberten in £ucians <SefeIIfd?aft:
Zlie nad? jenem perbotnen parabiefe,
Wo pom Baum ber €rfenntni§ bes €rfannten
ZTod? mand? feltene tfrud?t fid? pjlucfen lie§e.
3a, gefterj' id? es fret — unb mag poll XTTitletb
2Ind? ein 2Ird?aoman bie Zlafe riimpfen — :
Zlid?t umpillig betrad?t' id? tjeut ber neueu
2lera Spuren, fo jlad? unb breit fie mand?mal
^roifdjen rjel^re Dergangenrjeit fid? rjinpflan3t.
(Eraun, nod? iibergenug bes unpergauglid?
fjotjen 2Ilteu perblieb, bas f?er3 3U ftillen
Unb ben (Seift bes 8etrad?ters ein3un>iegen
3n elegifd?en (Eraum pom <flu§ ber Binge!
Bod? bem U?ad?en getyort bie Ittelt. <Era>ad?t ift
fjeut 3taliens Polf unb tjat bes Heid?es
(Erjron im £jer3en bes £anbes aufgeriditet,
ITlag bariiber bes Daticanes gnringrferr
3n ormmad?tigem (Srimm als ein enttbjonter
(Erbengorje fid? tief in G?olfeu Ijiillen.
3a, fjeut liege fid? fyier pon (Erbenmiirjfal
Xtidjt nur frieblid? mit anbem (Eobten ausruljn
3n ber Ceftiuspyramibe Sd?atten, —
Zlein, aud? leben, pon tjodjgefdjtpellter IDoge
Bes lebenbigeu ^e'xUn^ttoms getragen.
IDie ergreifenb erflang fein tiefes 23raufen,
2Xls er neulid? entlang bem alten <£orfo
(Hines trefflid?en %rrfd?ers irb'fd?e ^iille
(Crug in biifterem pomp, unb mit im <§uge
5d?ritt ber <Erbe ber beutfd?en Kaif erf rone,
Beffen ragenbes £?aupt nod? lang bie Sonne
(Etiatenfreubiger Kraft umlend?ten moge.
Heifebriefe.
Unb nadj tpenigen (Eageu uneber ftriJmt' es
Ueber Pia33a <£olonna, unb ein gardes
Polf, urn IHonte Citorio fid? fd?aarenb,
fjord^t' in glti^enbcc Stille, ipie fetn junger
<fiirjt ifyn fdjroor, an (Sefefc unb Hedjt 3a balten,
Unb bas ttjeuerfte (Sut ber Dolfesfreifteit
(Bleid? bcm Dater itjm unperfefyrt 3U Ijiiten.
£aut pom pincto erbrb'tjnten BdUerfdjiiffe,
Unb nadjbonnerte 3aud?3en taufenbftimmig,
Tils ber trauernbe Sotjn com Sarg bes Paters
2Iufna^m eines Hegenten Dornenfrone
Unb bas fd?neibige Kriegsfd?n>ert ber Sapoyer.
Unb id? finite ben puis bes fymte fraftpoll
Durd? bie menfdjengefdfipeu'ten (Saffenabern
Ber ergreifeten tPelteutyerrin podjeu,
f?5^er tpatjrlidj als eiuft, n?enn pio nono,
2Xuf bent Seffel fyerumgetragen, fdjlafrig
3n bas fnieenbe Polf ben Segen nicfte,
IDeibjaudjtPolfenumqualmt, con pfauenipebeln,
<£inem DalaUSama gleidj, umfad?elt.
2Ibenbs, als fid? ber Ittonb im Slau perfiinbet,
ITlit bem Strome bes Voltes iibers ^orum
2lm 3erfliifteten palatin poriiber
£angfam manbelten tpir 3nm Colifeo.
Sonft bie fdjtpeigenbe Statte bunfler Sdjtpermutti,
Xlur burdtfdjipirrt pon ber Brut bes HadjtgepSgels,
<£iu entfeeltes (Seripp, ein tpunberfamer
<Pnabern= piefiofaurus; t^ent pon fern fdion
Klang's unb rpimmelt' es Pon lebenb'gem Hegen.
(Senuefifdje £au3enreiter, iljrem
(Eobten KSnig ein lefct <5eleit 3U geben,
flatten jagenb bie ungefjeure Strecfe
3n brei (Eagen 3uriicfgelegt unb (Dbbad}
fjier gefuuben im altcn Hiefenrunbbau.
Hings in riodjiibermolbten (Eriimmerlj<5^Ien,
Kaum ftdj felber bie biirftige Streu pergSnnenb,
Da§ nur ja fie ben (Etjieren nicfyt ermangle,
Sagernb, fdflenbernb, bie blaufen (Saule ftriegelnb
(Erieb bie reifige Sdjaar fid? tjin unb umber.
3n <£apernen, wo einft gebung'ne <fed?ter —
Morituri! — gefyarrt bes graufen Kampffpiels,
(Dber bebenben irtartyrern pon feme
Dumpfes IdroengebritU fyeriiberbrotjte,
Dann burd? manages 3aWunocrt blobe fltondje
Por ben fyb^ernen (En^ifijen ndfelnb
litaneien gefummt, erfdjoll pon ZTeuem
paul £?eyfe in OTiiudjen.
Die parole lebenb'ger Polfsgefd?id?te,
!$wax gebampft in ber frtfd?en (Srabestrauer,
f?er3bea>eglid?er bod?, als felbft ber bunfle
lPcltfd?mer3feligc £aut von Byron's tflage.
• 5ad?t aufgliiljte bcr IKonb, bic fdjflne Cella
Dort am (Eempel ber Penus unb ber Homa
£eid?t rergolbenb, unb [till im lTtortblid?t roallte
2Ius ^elbfejfelu ber Haud?, barin bie farge
ZIad?tfoft riifteten bie befd?eibueu (Sa'fte.
Pod? im bleid?en <5ew'6\t erblicft* id? traumenb
H)uuberf antes <Sefid?t, 3taliens gufuuft
ITTir oorbeutenb — genug! Did? feJ?' id? lad?eln,
Bag nun gar ber Poet (107 bes Propfyetens
2Jmts 311 molten erfiit|nt. So lag uns leben,
IPir erleben's pielleid?t. — Vale faveque!
iRom, 23. Sammr 1878.
<£m vevfetytes lichen.
ViovdU
von
tfuboipl) Xtntiau.
— parts. —
2Ronat 9lot)cmber be£ 3al)rc§ 186 . befanb id)- mid) in eincr
[eincn ©tabt SfjiiriugenS. 3d) tear bort bereit£ feit cincr
Bod)e, tjatte bic ©efdjafte, bic raeine Slntoefcnfjett notfjig ge-
mad)t fatten, erlebigt unb beabfidjtigte am nadjften lage ju
eincr beqnemcn ©tunbe abjureifen, at£ id) urn bier Ufyr 9tad)mittag3
cine 2)e})ejd)e erfjielt, tt>eld)e mid) jur SRegulirung einer fiir mid) und)-
tigen Stngclegen^eit fd)leunigft nod) ^?ari3 citirtc. 3)en 9?ad)tcourierjug
fonnte id), ba id) toon ber §aupteifenbat)nlinie meljrerc ©tunben SBcgeS
entfemt u>ar, nid)t mefjr errcidjen; nm ben barauf folgenben Iage3;
fdjnetlaug benii^en ju fonnen, mufete id) entmeber am nadjften SRorgen
urn fiinf Utjr anfbredjen, ober id) fonnte am Stbenb nod) bi£ jur ©tation^
ftabt fafjren, bort rufjig iiberuadjten unb bann am nadjften 2age meine
SReife auf bcr ©ifenbafyn fortfefcen.
G£ tear unfreunblidjeS, naftfalte3 SBctter. 3)er ©cbanfe, in ber
®unfelf)eit aufjuftefyen, mid) in einem ungetjeijten 3intmer ansufleiben
unb, bereitS frierenb, in einen fd)led)t toerfdjloffenen SSagen ju fteigen, urn
mid) toon langfamen ©autcn, uier ©tunben lang, auf fyofycrigen SBegen,
bergauf, bcrgab aiefjen ju laffen, ttmr roenig einlabcub. 3d) 8og &or,
fofort abjureifen. 3d) beftetlte einen SSagen, padte fdpietl mcinen Coffer,
tranf ein ®(a3 ©lutein, licfc mir ein SBiinbcI ©trot) in ben SBagen
legen, toidette mid) in ein paar bide Seden forgfciltig ein unb madjte
mid) gutcn SKuttjeS auf ben SSeg.
©3 bcimmerte bereit§, ate id) auS bcr ©tabt fufjr; einc Ijafbe ©tunbe
12
Kubolpfj £inbau in parts.
fpater war rings urn mid) ljcr bunffe 9lac&t. $d) t>crfiet balb barauf
in eincn unerquid(id)en $albfd)faf, au3 bcm idj aflc jefju 2Jlinuten, hric
eS mir fd)ieur burd) ^eitfdjentnatten ober SRufen be3 S?utfcf)cr§ gcroccft
murbc; aud) bemerfte id), baft mir eine grofce 5tnjaf)t toon 2)5rfern pafc
firten. 3d) fa^ bann mit fjalbgcpffneten 9lugen, burd) bic angclaufencn
©d)eibcn bc3 93agen3, niebrige, bmtfle £>aufer mit bunftigen, matU
er(eud)teten genftcrn; aber elje id) mir ftar madden fonnte', too id) mid)
toot befinbcn modjte, toar id) bann fdjon tuicber auf bcr finftern £anb~
ftrafce. — ©nblid) fcerbefferte fief) ber SScg; ba£ Siutteln unb ©tofecn
be£ SBagcnS tnurbc iuenigcr unbequem, ging in cin gauj angencf)me§
SBicgen unb Sdjaufeln iibcr; ba£ SRufen be£ ®utfd)cr§ ftorte mid) nidjt
met)r — unb id) fdjlief feft cin. 211$ id) erttmdjtc, fyielten tuir in 23.
&or bcm „©aft£)of jum ©rbprinjen", bem 3iele mcincr gaf)rt. ©in bienft=
cifrigcr S'cttncr tjatte ben Sutfdjcnfdjfag aufgeriffen unb mar mir be^
f)iilflidj, au3 bem SBagcn ju fteigen. 9?ad)bem id) ben Shitfdjer oerabfd)iebet
unb bic Srage be3 SettnerS, ob id) ein Simmer befef)(e, bcjaljt £)atte, bat
mid) biefer, if)m ju folgen unb fiitjrte mid) bie f)etle Ircppe Ijinauf in
ein grofceS, fjofjeS, falter (Semad). Gr ging mir babci in ftotjer gaining
tjoran, in ber toeit auSgeftredten 3ted)teu ein Sidjt tragenb, al£ f)abe er
mir ben feeg burdj ein bunflcS Sabtjrintt) ju jeigen.
3n bcm mir angetoiefenen 3ii"wer fat) c£ ciufeerft ungemiitfjlid) au£*
©3 fc^ien feit Seginn beS SEinterS nid)t geljeijt toorben ju fcin. 3d)
fat) mid) froftclnb in bemfelbcn urn, toatjrenbbcm bcr Stetlner bamit be^
fdjaftigt hmr, jtoci bitnnc ©tcarinferjen anjujunben unb eincn ^Ifdjcu-
bedjer unb cine porjeflancne ©djaalc fur ©trcid)f)6(jer ftjmmctrifd) ba=
ueben ju ftetlcn. S)ann nafjm mein Segtciter einc Xanjmeifterpofition
an, ftiifcte fid) mit bcr fjatbgcfdjtoffenen £anb Ieid)t auf ben £ifd) unb
fragte gramtatifd), ob id) nodj 93efel)le ju crtfjeileu t)abc.
3d) toar f)ungrig; id) miinf d)te gttua§ ju effen; unb ic^ tjattc gem
geuer in meincm 3intmcr gcf)abt. Sounte bie§ nod) beforgt merben;
ober fd)licfcn bic Seutc fd)on?
3^er SeHncr faf) mid) mit ciuem Sad^cln unenbli^ UJO^Imotlcnbcr
unb mitfeibiger Uebcrlegenl)eit an unb anttoortcte mit grower ©anftmut^:
e» fei crft jetjn UI)r; ber ©peifefaal toerbe niemal^ t?or SKitternac^t
gcfd)Ioffenr unb cincr ber ^au^fucd^tc — al$ ob eine Scgion batjon
ejiftirt ^citte — ging ttmfyrenb ber ganjen 9ta(^t nid)t 511 33ette, ba
^dufig ©afte au£ bcr 9?ad)barfc^aft 511 fpdtcr ©tunbe eintrafen, urn mit
bem griifjjugc tucitcrjureifeu. — ^ac^bem cr mir auf biefc SSeifc eine
ridjtigc %btc Don ber ©rofee ber SBirttjfdjaft, ber er feine $ienfte tuib-
mete, beigcbrad)t l)atte, jcigte er fid) ttjiebcr bcrcit, meinc Sefteflungen
§u cmpfangen. ©r nafjm bicfelben of)ne einc SKiene ju tierjie()en, bic
2tugcn gefcnftr entgegen.
,^er ^auefnec^t n)irb fofort eiufjcijeu, unb ba^ Slbcnbbrob fann
<E i n rcrfefjrtes £oben. \3
in jmanjig SMimiten feruirt fcin. 93cfcl)(cn 2ie unten 511 fpcifeit obcr
auf Sfyrcm 3immer?"
„Unten ift e£ tool bequemer," bemerfte id) fd)iid)tcrn.
„2Bie Sic befefjlen!"
gr madjte fie^rt unb mar Derfdjmunbcn.
3d) bradjte mcine toilette etmaS in Drbnung, nafym ciu 93ud) au£
bem $ offer, ba id) mir badjte, baft bic sman$ig 9Kinutcn, bon benen ber
&err Oberfettner gefprodjen Ijatte, etmaS lange bauern fonntcu unb ftieg
bie Jreppe tyinunter, urn mid) in ben Speifcfaal ju begeben.
3m #au§flur iiberfjolte id) einen £errn. — - 3d) bemertte im SBor-
ubergefjen nur, baft er cine ju grofte, fdjmarafeibeue 3Kii$c trug, bie bie
Cfjrcn fjalb bebedte unb ben flopf auftergemoljnlid) tlein erfdjeinen lieft.
Ser Unbefannte folgte mir auf ben Serfen unb mir langten gleidj^citig
an ber Speifefaalttjiir an. 3d) offnete biefelbe, unb lub ifju burd) eine
^anbbemegung ein, Doranjuge^cn. Sr trat einen Sdjritt juriid unb
fagte mit tjofjer, biinner Stimme:
„93itte ganj geljorfamft; bitte gnnj gefjorfamft! 9lad) 3f)"eu!"
3d) ^atte feiue Seranlaffung, Somplimcntc ju madjen unb trot in
ben Speifefaal. 2)er iiDiann mit ber groften SJlufce folgte mir, unb c£
war mir, al§ Ijore id) ifjn Winter meinem Sftiden nod) einmal leifc
murmefn: „93ittc gan§ geljorfamft; nad) 3f)iten." — „©in f)5flid)c£
2Hannd)en," fagtc icf) mir.
Sin bem einen ©nbe ber langcn, fdjmalen Infel, iiber bie ein ettua^
befledte£, meifteS Sifdjtudj gelegt mar, fjattc man fur jmei 5J5erfonett
geberft. 3$ toarf e"tcn frogenben Slid auf ben midjtigen Dbcrfelhter,
unb biefer lam fofort auf mid) jugeeilt unb mie3 mir mit einer gra-
ciofen SSerbengung ben einen ber beiben s$lafce an. 5)a3 t)6flid)e SDZaundjen,
ba3 mit mir in ba3 3immer getreten mar, uafjm auf bcm anbern ©tufjle,
mir gegeniiber, $Iafc. tjatte bic meite SDiii^e abgenommen unb mar
nun bamit befdjaftigt, fid) mit grower ©efdjminbigfeit bic fdjmalen,
hxodjigeu, fcerborrten $anbc ju reiben. 3d) faf) if)n mir etma3 genauer an:
@iu fleiner, auffatlenb elegant gcllcibeter, altcrer £>err bon metleidjt
fed)^ig 3^^cn. ' (Sr trug einen f)etlgraucn, gutgemadjten 9teifeanjug, ein
bunted |>embe, bem man an ben gefnifften SDfaufdjctten unb Sragen an-
fefjcu fonnte, baft e3 foeben au§ bem Soffer genommen fei, unb eine
jugenblidje, blaufeibene, langc Kraimtte, in ber eine gcfdjmadootle unb
foftbare Xudjnabel ftedte. Der Sopf mar, mie id) bie£ bereitS im £au3s
flur bemerft fjattc, feljr Hcin; bie grauen, biinnen, langen |>aare, bi^t
iiber bem linfen Dl)r gefc^eitclt, maren forgfaltig iiber ben Sdjabel gc=
fammt, urn bie ©ta£e bort bcftmoglid)ft jit ticrbeden. Unter ber niebrigen,
tiefgefurc^ten Stirn lagen ein $aar fleine, runbe, lebljafte braune Slugen.
S)ie ^Rafc mar fd)arf gebogen, jiemlid) gro§, aber fo au^erorbentlid) fcin,
bafe id), aU ber 2Ranu fic^ plofclic^ t)eftig fd)nau5te, mid) fragte, ob bit
H Hubolpfy £inbau in parts.
bitnncn, faft burd)fidE)tigcn SRafeuflfiflel, burdlj bic ftarfe ^reffion, bie in
biefem Stugenblirf auf fie au§geiibt ttmrbe, nid)t irietteid)t labirt tocrben
fonnten. S)ic fdjmaten Sippen waxen MutfoS; bie grofcen, fecit toom
Sfopfe abfteljeuben Dtyren fatten ©ommcrfproffenftcde; ba3 lange, fpifcc
Sinn tt>ar, hue bie Sippe, glatt rafirt. — 2)cr alte §err faute fort-
tudfjrenb ofjnc ctmaS im SKunbe ju Ijaben, unb ba er bie SBangen babei
feltfam einaog, fo fam er mir toor, aU fci er bcmiiljt, fid) in fcine eigenett
SSacfen 511 betften.
„2)a3 f)5flid)c 2Jldnnd)en ift ein poffierlidjeS 9Rannd)en," fagte id£)
mir, unb ba e£ mid^ fonft uidjt toetter inter cffirtc, fo fdjlug id) ba3
Sud) auf, bag id) ntit fjeruutergebradjt Ijatte, unb begann 511 lefen.
3U3 id) nad) einigen 2Rinuten aufblidte, begegneten nteine Sfugen
benen meine§ Sifdjnadfjbarn. @ie rutjten mit einem fo unoerfenubaren
StuSbrud toon SBofjltoofleu unb natoer 9lcngierbe auf mir, baft id) mittJtll=
fiirlid) tdcfjette. $>er alte £err antmortete barauf fofort burcf) ein freunb^
lt#c£, betuaf) finblid)e» Siddjeln.
„©ic fdjeinen ba ein intcreffanteS 33udf) ju Icfen," fagte er. „|mbfd)e
bunte SBilber barin, ttuc id) fefye."
„3a," anttoortete id) nadjldffig, „ein IjarmlofeS unb ein guteS 93ud):
@rimm1« SWardjen."
„©rimm'» 3Rdrd)en!" rief bcr Heine Sftaun mit einem 2tu§brud
freubiger Ueberrafcfjuug; „ba£ ift in ber 2f)at ein gutcS 33udj. 3d) f)flbe
e$ ljunbert 3Rale gelefen; e» ift cineS meiner 2icbling§bud)er; ©rimm'S
3R&r$en, unb SKufaeu^' aJtardjen, unb bic Dftereier, ber Slitter toon
fReifeenftein, SRiualbo SRinalbint — ba§ finb gute 93itd)er, bie lob1 id)
mir! 3d) lefe gar feine anbern aU bicfe unb at)nlid)e."
„yi\i)t fcfjr aufregcnbc Sectiire," tt>arf idf) bajtt)ifd)en. „©ie ^alt
ben 9Jtcnfd)en jung."
„©ie Ijdft ben 3Kenfd)en nid)t uur jung, fie mad)t ifjn mieber jung,
toerefyrter £crr," entgegnete mein Sftadjbar mit grofccm 3?acf)brud auf ba$
SSort: mad)t. „2Bie unucrgfeidjlid) beffer, belcfjrenber, amtifanter,
mora!ifd)er finb biefe tjubfdfjen ©efd)idf)ten, al£ bie abgefdjmadten, un-
toafyrfdjeinlidjen fogenannten ©enfationiromaue, mit benen fid) bie Ijeutigc
Sefcrtoett futtert."
®er alte £>err fing an, midf) ju amiifiren. 3d) legtc bie ©Keubogcn
auf ben 2ifd), ftiifcte ben ®opf auf bie §dnbc unb betrad)tete tfjn auf-
merffamer. Sr fjatte in f einem ©efid)tc einen befrembenben 3"g/ ben
id^ uid^t genau befiniren founte: ettoa^ Sjaltirte§ unb 9Zatoe£, S5erfd)ini^te^
unb 2reuf)er5ige^.
„9lun," fagte ic^, um if)it burd) Ieid)ten SBiberfpru^ ju ermuntern,
toeiteraufpredjen, „au grower SBa^rfd)einIid)feit laboriren SRdrdjcn bod)
gerabe aud) nic^t; unb md)x 2Korb unb 2:obtfd)(ag at3 in SRiualbo ober
im Slitter Don SRcifcenftciu — tocnn mid) mein 0cbad)tnif3 nid^t tdufd)t
(Ein perfeljrtes £eben.
*5
— burften ©ie in ben beriidjtigtften ©enfationSromanen fdjtoerlidj
finben . . ."
„@rtauben ©ie, erlauben ©ie, mcin Sereljrtefter," untcrbrad) mtd)
mcin 9lati)bax. „3d) concebire, baft mcinc ^clbcn mandjmal aud) redjt
blutbxirftig finb; abcr fic ftnb, toenn id) mid) fo augbriiden barf, l)onnete
ficutc in itjrer Slrt, bic fofort garbe befennen nnb au3 itjren ^crjen
fcinc SKorbergrube madjen. 2Benn i<$ ben bflfen fRicfcn mit bem groften
SReffer, ober ben Siauberfjauptmann mit bem ©arabiner auf ber ©coulter
unb ben getabenen ^tftolen im ©iirtel, ober ben SRoubritter mit feinen
ftnappen auftreten felje, fo erfaljre i($ fofort, toaS bie Ceute im ©djilbe
fii^ren — : >95in^, ben aUe $>af<$er fudjen; 93in^, bem atfe 3Kiitter
fludjen; S3in ber SRanber 3«^omir«: — ba£ laft id) mir gef alien! S)a
toeift id) fofort, tt>oran id) bin, nnb tjabe mid) nid)t mit allerljanb un-
Ijeimlidjen ©ebanlen nnb Sermutfjungen ju qualen, tote toenn id) im
mobsmen SRomane ben SKann mit ben fdjtoarjen, ftedjenben 9tugen nnb
bem bo^tjaften Sadjeln nm ben fdjiuatlipptgen 2Rnnb auftreten fefje. ®ann
frage idj mid) bie ganje3*it: »2Ba3 toirb ber 93tffetoi<f)t nun oornet)men?«
unb bi3 jur lefcten ©eite be3 93ud)e3 fomme id) nid)t einen Slugenbtid
au$ ber Unru^e tjerauS. 2)a3 madjt alt, mein &err; bag madjt alt I
®ein folder SRoman barf mir me^r in bag £au3 gebradjt toerben. —
2Bie anberS ift e3 mit ben guten Stauber^ unb 8tittergefd)td)ten, an benen
id) mid) ergflfce! Die madden mir feine fdjlaftofe Siadjt, obgleid) id) mid)
fur bie tapfern Seute intereffire unb midj freue, toenn id) lefe, baft fie
iiber bie betoaffnete SDladjt einen ©ieg baoon getragen ober einen Cramer
»getoorfen« fyaben. — SBotten ©ie tool glauben, baft id) foeben Don
Dueblinburg fomme unb baft id) nur bortljin gereift bin, urn mir ben
fiafig anjufeljen, in bem ber fitter Don JReifcenftetn gefangen geljalten
nmrbe?"
„2Be3ljalb fottte idj ba3 nidjt glauben? 3d) glaube e3 3^nen gem,"
anttoortete id).
„3)a£ ift ein freunblidjeS, guteS SBort, toaS ©ie ba auSgef proven
Ijaben," fiel bag SOtanndjtn toieber ein. „©ie f5nnen nidjt toiffen, toeldj'
grofte greube ©ie mir bamit madjen. 3d) ^affe 9Renfd)en, bie SldeS,
toaS fie nidjt toiffen fonnen ober nkf)t toerfteljen, bejtoeifeln, unb bie fid)
bann nod) obenbrein fur iiberlegene ©eifter fallen. Dt), bie furjfidjtigen
©(^mac^Iopfe! 3c meljr ein SRenfd^ gelernt unb erfatjren ^at, je me^r
ift er geneigt, bag fur moglid) ju fatten, ju glauben, toag er nod) nid)t
aud birecter Stnfdjauung ober eigener ©rfa^rung fennen gelernt Ijat. —
©in afrifanif^er SReger glaubt U)eber an S)ampfmafc^iuen no<$ eleftrifd^e
lelegra^en; unb unfere SBauern fd^iitteln oerf^mi^t unb ungtaubig bie
bitffdjabetigen Sopfe, toenn man i^nen fagt, baft bie 2lftronomen be^
gonnen ^aben, bie ©terne ju toiegen. — - 3^ ^^^r c^ 9Kenf(f) ju glauben
fa^ig ift, je toeifer ift er. Nil admirari ^eiftt, nad) meiner Ueberfefeungf
florb unb ®ub. VI, 16. 2
Kubolpfj £tnbau in parts.
StUe£ fur mdglic^ fatten, 9tid)t3 abfohit bejtoeifetn. — ©inb ©ie meiner
SReinung?"
3d) bin cin friebfertiger SJtenfd), unb auttoortete „93ottfommen."
„2)a£ frcut mid>, frcut mid) ungemein . . . ©eftatten ©ie . .
3>er altc #err toar aufgeftanben unb retdjte mir ilbcr ben lifd)
feine $>anb, bic id) Ijerjljaft briidte.
„©in ganj unertoarteteS SBergnugen, nod) fo angeneljme ©efettfdjaft
ju finben," fufjr cr fort. „3d) bin l)ier in bicfer ajejteijung nic^t toer*
todljnt. ©eit langcr 3«tt Ijabe id) ntdjt ba3 ®tud gel)abt, etnen fo bets
niinftigen, liebenSmurbigen 3Wenfd>en Icnncn ju lernen, toic ©ic."
3d) finite mid) befdjamt unb toerbeugte mid) ftumm mit cincm toer*
Icgencn Sadjeln.
„9Rein SRamc ift 3trj Staafeen," fdjtoafcte ba3 9Kannd)en toeiter; „id)
bin cin £olfteiner, aber idj tooljne bereita feit tangen Saljren in 3)eutfd)s
lanb. ©eit cinigcr 3^it bin idj in bcr 9lalje Don 2B. anffifftg. 3d)
fommc fc^r Ijaufig nad) bem >®rbprinjen«. $)arf id) oietteidjt auf ba£
aScrgniigcn redjnen, ©ic fpater fjier toieber ju [feljen? ©inb ©ic au£
bicfer ©egenb?"
3dj oerneinte bie lefcte Srage, Ijielt e$ jebodj fiir meine $flidjt unb
©djulbtgfeit, mid) nun ebenfaCS fcorjufteflen.
„Darf idj mir bic grage erlauben, tote alt ©ie finb?" fragte midj
#err ©(aafjen.
„3toei unb brctfeig 3aJ)re," anttoortete idj.
„©in feljr fdjoneS Sitter; t'dj modjte fagen ba3 fdjonfte Sitter/' —
mit fdjarfem ?fu3brud auf ba3 SBort „ba£". — „3dj toerbe nun aud)
batb fo alt fein."
3dj faf) ettoaS toertounbert auf. S)er alte |>err faft ooflftanbig
rufjig unb ernftljaft ba. 9tt£ cr meinen Slid bemerfte, tourbe cr jebod)
ettoaS dertcgen unb fagte: „3d) fjoffe, toenn loir un£ genauer fennen
Icrnen — toa£ id) aufridjtig toiinfdje — ^ntn ju erHaren, toaS ©ie
jefct ju oertounbern fdjeint."
3n biefcm Slugenbltd erfdjten ber Settner mit unferm Slbenbbrobe.
@r bebientc juerft ipcrrn Slaaften; barauf trat cr cinen ©djritt tjinter
beffen ©tuf)t juriid unb, mir oertraulidj jubttnjelnb unb mit cincm fdjlauen
©fid auf meinen lifdjgenoffen beutenb, flopfte er fic^ mit bem $t\$fr
finger me^rere SOlalc auf bie ©tirn.
3d) ^atte tool fdjon bemerft, ba§ $crr Strj Slaafcen ein Drtginat
ju fein fdjeinc; aber er toar jebenfatl^ ein artiger, alter $err. 3^ toottte
mic^ burc^ bic SKimif beg JJeflnerS nid^t bcirren lajfcn unb fefcte to'aty
renb ber 3Dla()Ijeit bic Untcrfjaltung mit mcincm Slac^bar rutjig fort.
©r ric^tete oielc Sragen an mi(^; aber ftet^ in cinem fo freunb*
lichen, toofjttoodenben Sone, bafe \6) biefclben gem nub augfiiljrfid) be^
antloortcte.
<Etn Derfefyrtcs £eben.
„3a, \a\" fagte iperr Slaaften, aid id) Ujm ettoad Don einem fernen
SBelttljeile, in bcm id) gelebt, crjafjlt ^atte; „©ie finb cin toettgereifter,
Dielerfatjrener 2Rann. ©iner toie ©ic Derirrt fid) felten nad) bicfer flcincn
©tabl 3d) fjabe nod) fcinen fcnncn geternt. — 3Bad fiir tounberbare
Singe ©ie gefefjen unb erlebt Ijaben miiffenl 3<f) Idnnte 3^cn ftunben*
long suljdren. Unb bemcrfen ©ie geneigteft, IjodjDeretyrter $>err, baft
idj jebed SBdrtdjen, toad ©ie mir fagen, aud innigftcr Ueber&eugung
glaube."
3d) toar ettoad piquirt itber biefe Sleufterung. „3d) f)offcr mcinc
©rjaljtungcn Hingen nidjt toic 3Riindjaufeniaben," fagtc id) trodfen.
„9RiftDerftcI)en ©ie mid) nid)t, mein toertljer £err 9iad)bar!" miter*
brad) mid) bad 9Ranndjen. „3d) fpredje fd)Iid)t unb einfad), unb mcinc
SBortc fotlen nid)t cin Siteldjen meljr audbriiden, aid fie gcrabc Ijeraud
fagen. 3<$ toottte ©ic nur barauf aufmcrffam madjen, baft ©ic in mir
cincn refpeftDoflen 3^6rcr gefunben fjaben, urn ©ic baburd) aufjuforbern,
mir nod) ettoad meljr Don 3$rett ioftbaren Srfafjrungen mitjutljeilen.
Sic fonnen nidjt toiffen, ©ic !5nncn gar nid)t ermeffen, toic feljr id)
mid) fur ailed SEBunberbare, Steue, bad id) toaljr toeift, intereffire."
Sine fleinc $aufc trat cin. 5)ann fragtc mid) #err Klaaften
plofclid): „3Benn ©ic cinen SBunfdj audfpredjen biirften, beffen (Srfiittung
S^nen Don einer giitigen 3ee gctoa^rt toerben f5nnte, toad toiirben ©ie
fi(J> tounfe^en? ... ©roften 9leidjt!jum?"
3d) fdjuttelte ben totf.
„2)ie fiiebe ber ©cttcbtcn? ... (£I)re unb SRuljm? ... ©utc ®e-
funbljeit? ... gin Ijoljed 3llter?"
„DI)ne bie ©cbredjen bed Sllterd toare bad fdjon ettoad redjt 3Bitn^
fd)endtoertl)ed," meintc idj nadjlaffig.
,#Il)uen ©ie mir eincn ®ef alien, Derelirter $>err," fuljr #err ©laaften
fcljr ctfrig fort. „2)cnfen ©ie cinmal fiinf 2Rinuten, aber tjottc fiinf
SRinuten bariiber nad), toad ©ie fidj toihtfdjen toiirben 1 — 3<*? — SSotten
©ic mir bicfen ©ef alien ertoetfen?"
©r faf) mid) toieber fo freunbltdj tadjelnb an, baft idj ifjm gern
3uftimmung junidtc.
„3cfet fangen bie fiinf SRinuten an," fagtc er. @r jog cine fdjtoere
golbenc Uljr aud ber £afd)e, Icgte fic Dor fid) Ijin unb beugtc fid) iiber
fcinen Seller, fo baft id) feine Slugen nid)t meljr feljen fonnte, gleidjfam
aid toolle cr Dermeiben, mid) burd) cinen S3tid in meinen 83etrad)tungett
ju ftoren.
„9lun? 3)ie fiinf 3Rinutcn finb urn. — 2Bad toiinfe^en ©ic fic^?"
9Rcine ©cbanifen toaren auf ber galjrte tocitergctoanbert, bic fie ein=
gefdjlagen fatten, aid \6) ein §ol)ed Stlter o^nc bie ©ebrcc^en bedfelben
aid ettoad SBimfdjendtoertljed bejeic^nct ^atte.
„3c^ mbfyt mir tool toiinfdjen/' fagtc ic^, „baft i^ bic lefcten jtoanjig
2*
\S Hnbolpfy £inbau in parts,
Satjre meineS SebenS, toon fedjSjig bte adjtjig, — benn fo alt beabftdjtige
idj &u toerben — gcgen bic Saljre toon jtoanjig bte trierjig fcertaufcfjen unb
biefc alfo nod) eitmtal burdjleben fonnte."
3d) btidte fcerttmnbert auf. 3)a£ SDtanndjen war nne cteftrifirt in
bic $81)e gefprungen unb ciltc auf mid) ju.
„3t)re £anb, mcin greunb! 3f)*e £anb!" rtef cr. — „£>at Sljnen
9liemanb ettoaS gefagt? ©predjen ©ie aufridjttg?"
„2Jtit toem fotttc id) gefprodjen fyaben? 3$ bin toor ciner ©tunbe
tjter angefommen unb fcnnc in ganj 2B. feine ©ecle. 2Ba£ id) fage, ift
ganj aufridjtig."
„3dj ttrifl Sfjnen cincn 9Sorfd)tag madjen." $err ©laafcen fdjien frfjr
aufgcregt, inbcm cr jefct fprad): „$ommen ©ic auf mcin 3immer; cin
bdjaglidjcS, toarme3 3immer; ba3 bcftc im ganjcn $aufc. SRcin 3)iener
tocrftefjt ttrie fcin B^eitcr, cincn gutcn $unfd) ju braucn. Soften ©ic
cin ©Ictedjen bafcon. 9$ m5d)te nodj mit 3#ncn reben. ©£ ift focben
ctf Ufjr. S)cr 3ug fat)rt crft morgen fritf) um aefjn. ©ic fonnen mir
cine ©tunbe fdjenfen, unb fjaben bod) nodj 3^itf .getjorig auSjufdjtafcn. —
©rtoetfen ©ic mir bic ©ljre, mcine ©inlabung anjunctymen."
3d) ^atte nid)t ben 2Kutt), biefc S3ittc abjufdjlagen unb ba itf>
mcinc SKa^Ijcit nun beenbet fjatte, unb iperr ©laafcen mir fagte, bie
©igarrc toiirbe mir auf einem bequemcn ©effet in fciner ©tube beffer
fdjmeden ate auf ben fyarten ©tittjlen be3 ©peifefaafeS, fo folgte id) iijm
ttrittig unb andj ettoaS neugicrig nad) feincm Bimmer.
II.
©in alter 3)iener, ber im ©orribor getoartet fjatte, offnete bie Sfjiir,
ate toir un3 bem 3immer be£ #errn ©taaften naf)erten. ©r mufterte
midj aufmerffam unb, fo fd)ien e£ mir toenigftenS, mit cincm getuiffen
SWifttrauen. ©cin $err nafjm ifjn bei ©cite unb ftiifterte ifjm einige
SBortc in ba£ Dt)r. ©r fjielt ifjn babei tocrtraulid) am Slrme feft, metjr
ate ob er mit einem gleidjgeftettten SBefannten ate cinem Untcrgebcnen
fpredje. S)cr atte SKann entfernte fidj, olpte cin SBort erttnbert ju
tjaben unb fetjrte nad) einer jiemtid) langen SBeite mit einer bampfenben
S3ott)Ie unb ©tafern juriid. ©r ftctlte biefe auf ben £ifd}, legte cin
^aquet ©igarren baneben unb blicb bann, feincn £>errn 4wB(icfciibf an
ber Ipre fte^cn, ate ertDarte cr oon bicfem 93cfe!t)Ic.
„@ie Wnnen 5U 93ette ge^en/' fagte il)m mein SBirt^. f/3)cr |>err ift
fo freunblid), mir no6) etmaS ©cfettfe^aft ju Iciften. bebarf S^er
nic^t me^r."
S)cr 2Rann fa^ mic^ noc^ cinmal mit bemfelbcn mifttrauifdjen Slide
an, mit bem er mid) bcreite gemuftert ^atte.
„3c^ bin nic^t miibe," fagte er. f,S^ tuerbe in mein 3i^^^ ge^en,
(Ein uerfetfrtes £eben.
unb bcr $err braudjen mid) mir ju rufen, tt)cnn id) fpater beim SCu^jic^cn
bepiflid) fein foil."
„2Bie ©ie tDotlen, Sranj; ttrie ©ie toottenl 2lber menu ©ie fdjlafrig
roerben fotlten, fo gefjen ©te rul)ig ju SBett.-"
2>cr Diencr entfernte fidj, unb id) blieb nun mit $>errn Sfaaften *
nrieber atlctn. Sr tjattc, efje ber $unfd) fam, bic bet £ifd)c angefangene
Untcrrcbung fortgefefct unb Derfd)iebene Stagcn an mid) gtfridjtet. 3<f)
glaubtc jebod) ju bemcrfeu, baft er nur abtoartete, dor jeber ©torung
geftdjert ju fein, um mit mir iibcr eincn gauj beftimmtcn ©egenftanb,
bcr ifjn tntereffirte, ju fprecfyen. — 3d) fjatte mid) barin uidjt getaufdjt:
faum ^atte Sranj bic Xljur gefd)loffen, fo fiittte ©laafjen jttjci ©(afcr,
ftiefc mit mir an, utppte an bem ©etranf, raufperte ftdj laut unb tyradj
n>ic folgt:
„3dj Ijabe ©ic gebeten, mir einen Xfjeil 3f)re3 9lbenb£ ju fdjenfen.
Iter @runb, tccSfjalb id) bie3 getfjan, ift — in crftcr Sinic — mcin
SBunfd), einc 93efanntfd)aft, bic mir bereitS grofteS 93ergnitgen Derfdjafft
Ijat, fodiel ttrie mogtid) ju cuftidiren; — unb fobann, 3$rc SWeinung,
bic SKcinung eineS toeitgeretften, dieterfafjrenen, borurtljeUSfreien 2Jtanne3
iibcr gettriffe gragen ju ^oren, bic fur mid) bom attergrtfftten Sntcrcffc
finb. — &aben ©ic fid) mit 9Kcbicin befdjaftigt ?"
„#ein."
„SRtt Gfjemie, $f$fif, SBagnetiSmuS?"
3d) fdjiittelte ben Kopf.
„©lauben ©ic an bic 2R5gtidjfeit bircctcr (Sinttnrfung bcr unfidjt^
baren, bcr ©eiftertoelt, auf bie 2BeIt, in bcr toir leben, auf bic 3Jlenfdjen?"
3d} f)attc Don £errn Strj Elaafcen bereitS genug gefefjen, um ju
begreifen, bafe cine fdjroffe SScrncinung bicfer grage ifjn etngefdjiidjtert
unb toafjrfdjemlicf} jum ©djtoeigen gebrad)t ^aben ttmrbe. 2)a id) nun
abcr md)t bic gcringfte SRiibigfcit Derfpiirte unb mid) in bem beljaglidjen
3immer, auf eincm bequcmen ©effel, tjinter eincm ©lafe Dortrefflid)en
^unfdjeS, fefjr too^I befanb, unb Staaftcn'S @efettfd)aft bic einjige 3^
ftrcuung toar, auf bic id) fitr ben langen Slbcnb redjnen fonnte, fo madjte
id) ernftfjafte 2Riene ju feincr grage unb cittrtc ^amtet: f/©^ gibt mct)r
Sing1 im £immet unb auf Srbcn, ate ®uerc ©^utmci^cit fic^ ttaumt,
Horatio I"
,f@e^r gut, fc^r ridjtig," befraftigtc ^crr ©laafeen. „%a, e3 gibt
mck 3)ingc, Don benen niemats 3«manb gctraumt fiat, unb bic bod)
rna^r finb."
@r tranf ^aftig eincn ©c^lud $unfd) unb micber^oltc ^eftig, inbem
er mid} babci finftcr anfa^, att ob ic^ it)m tuiberf prodjen ^atte: „S)ie
bo(^, bic bennod) iua^r finb." S)arauf Dcrfanf er in tiefe£ 9ta(^finncn
ilnb nadj eincr langen ^Jaufe fu^r er in bem aften, ru^igen, freunblidjen
lone fort:
20
Hubolpfy finbau in parts.
„5)arf id) %1)xt &\t nodj fur ein ©tihtbdjcn in Stnfprud) ncfjmen?
3d) §abe fcltcn bag ©litd, mit cincm SKanne mie ©ie jufammenjutreffen,
unb eg ioiirbc mir einc ©rleid)terung fein, mtdj einmat ttrieber fiber
9Rand)eg, toa$ tdj auf bent $erjen ljabe, augfpredjen ju fbnnen."
3d) entgegnete, baft id) mit gropem SJergniigen ju feiner 93erfiigung
ftanbe.
„S$ielen 2)anf!" anttuortete $>err ©laafcen. ©r raufperte fid) Don
9ieuem unb begann enblid) feine ©rj&ljtung.
„3d) bin Don fefjr reidjen ©Item geboren, bie midj jartlid) liebten
unb ntir in 2ltlem, mag id) tfjun unb taffen mottte, jiemftdj freieg ©ptet
ttefjen. 2Retne 3ugenb toar gltidfid); Diet gelernt tjabe idj maljrenb ber-
felben jcbodj nidjt. 3Jtetne ©Item fatten bie 9(bftdjt, ntir eine ganj
aufjerorbentlidj gute ©rjtefjung ju geben; aber anftatt mid) ju bem S^^d
in eine orbentttdje ©djule ju fdjtden, engagirten fie fur tijeuereS ©elb
bie Derfdjiebenarttgften $aug; unb ©tmtbenleljrer, unter beren nadjfid^
tiger Settling id) nur fetjr tangfame gortfd)rtttc madjte. ©ludlidjermeife
Ijatte id) em Dorjtigtidjeg @ebad)tnift; audj mar tdj ntdjt arbeitgfdjeu, unb
fo brac^te idj eg benn enblid), tnt jmet unb jmanjtgfte* $$affttt mit SDtutje
unb 9lotI) ba^tii^ mein Kbiturientenejamen mad)en unb balb barauf eine
UniDerfitat bejietjen ju fonnen. 3)ort ftubirte id) junacfjft $i)i[ofop!f)te
unb <3Jefct)id)te.
S)er 3"fott toottte, baft id) in einem atten £aufe eine SBoIjnung
bejog, in ber Dor meljr alg jtoeifjunbert Sa^ren ein beriifjmter ©elefjrter
getebt tjatte. ©ein 9tame mar in groften S3ud)ftaben unter bem genfter
meineg 2lrbeitgfttibd)eng angefdjrieben, unb id) fonnte niematg in mein
£aug treten, ofjne btefe Qnf^rift ju feljen. — SBag SBunber! baft midj
ber SKaun ju intereffiren anfing. 3d) befudjte flctftig bie SBtbliotljef , urn
bort feine 2ebenggefcf)idjte ju ftubiren; unb bet btefer ©elegenljeit fanb
id) ein attcg, Dergtfbteg Dpugcufum, bag feiner feiner fpateren SMograptjen
benufct ju Ijaben fdjten, unb in bem gefagt mar, baft fid) ber grofte ©e;
lefjrte, gcgen ©nbe feineg Sebeng, eifrig mit Stftrotogte, Slldjtjmie unb
9Ragie befc^dftigt, unb bie ©rgebniffe feiner tteffinnigen gorfc^ungen in
einem 2Ranufcript niebergetegt ^abe. Ueber ben SJerbleib biefer. ©c^rift
fonnte bag, funfjig %af)xt na&) bem 2:obe beg Oelefjrten Derdffentti^te, SBert
feine genaue Slugfunft geben. ©g beutete an, baft bag 3Jtanufcript ma^rf(^ein«
Itc^ auf ber 93tbfiotf)ef in 2e^ben ober in $arig ju finben fein merbe.
34 bad^te Diet itber biefe ©ac^e nadf), unb mein SBunfd), bag foft^
bare ©djriftftiid aufjuftnben, murbe aufeerorbentlidf) gro§. SDteine ©ebanlen
befd^aftigten ftd^ bermafeen bamtt, baft \6) fdrmli^ tiefftnntg ttmrbe.
©ineg Sta^tg mac^te xi) plofclidj, o^ne Dormer einen Iraum geljabt
ju ^aben, laut fc^reienb, mit einem furdjtbaren ©raufen, auf. 3$ f^rangf
(Ein serfelfrtes £eben.
2\
am ganjen Seibe jitternb, aug bem SBette unb ftiirjte an bag Senfter.
3)a faf) id) beutlid) im 9Konbe^fcf>cin ein ©djattenbilb, bag jtuanjig
©djritte toor mir in bcr Suft fdjtoebte, unb in bem idj ben grojjen <5te
leljrten, tme er in bem alien Dpugculum abfonterfeit tear, ertannte. —
SDag ®ebilb jeigte mit ber er^obenen $anb nad) Often. Stacf} einer
SRinute meHeidjt erbleid)te eg fobonn unb jerflofc unb toerfdjtoanb.
3d) junbete ein £id)t an. 3d) toax fo aufgeregt, baft idj toot faf),
eg toiirbe mir unmoglid) fein, toieber einaufd)tafen. 3dj jog midj alfo
fdjnett an unb ttopfte an bie £pr meincg ©tubennadjbarn, bem id)
einige Heine 3)ienfte erttriefen ljatte unb toon bem idj tuufjte, bag er mir
gem gefatlig fein toiirbe. Uebrigeng madjte er fjaufig bie 5Rad)t jum
Sage unb geljflrte nid)t ju ben Seuten, bie eg iibel nefjmen, toemt man
fie im ©d)Iafe ftort.
©r mar ein ganj aufeergetobtjnttdjer 9Renfdj. ©r tjiefj Dr. ©igtg;
munb ©oben unb gait bei ben ©tubenten filr ben geleljrteften 2Rann ber
©tabt. ©r fpradj unb fcfjrieb ©ricdjifdj unb Sateinifd) mit berfetben
©eldufigfeit ttjie feinc 9Rutterfpracf)e. 93ei ben ^rofefforen ftanb er nidjt
in gutem Stnfefjen. SBir fdjrieben bieg bem Umftanbe $u, baft er itjnen
fd>arf auf bie ginger fal) unb fid) nid)t felten in geringfdjafciger SBeife iiber
fie aufierte. ®r fc^icn ein Mcineg Skrmdgen $u Ijaben; audj erttjeilte er,
toenn man iljn fefjr gut bcjatjlte, SJJrtoatftunben. 3$ getjorte ju feinen
©djiilern. Slber er fjatte toerfdjiebene fdjledjte ©etoofjntjeiten: er tranf,
fpielte, frequentirte bie fdjledjtefte ©efellfdjaft unb toar immer in ©djulben
unb fjaufig in ©elbtoerlegenfjeit.
3d) Hopfte nur ganj teife an fcine Xfjftr. ©r fjorte mid) fofort
unb rief: „|>erein!"
„2Bag fitljrt ©ie ju biefer ©tunbe ju mir?'' fragte er. „©g ift jtoei
Ufjr fcoruber?"
©r fjatte fid) in feinem f feinen, unorbentfidjen SBette in bie ftflje
fltridjtct unb faf) mid) mit feinen grauen, !(ugen Slugen fdjarf an. ©ein
Stugfefjen tt>ar ntd)t SJertrauen ertoedenb, unb id) fudjte nad) einer aug;
toeidjenben Sfnttoort, alg er, ef)e id) gef proven §atte, fortfufjr:
„£aben ©ie ©ciftcr gefefjen? ©ie finb tobtenbfafj."
3d) nidte ftumm.
„@efcen ©ie ftdj. ©rjafjfen ©ie mir, toag 3^en begegnet ift.1'
3d) t^at tpic ©oben mir ge^eifeen. ©r ^5rte aufmerffam ju.
id) geenbet ^attef fragte er rutjig, alg ob ic^ t)on ettoag ganj 2(tttdgtic^em
gefproc^en f)abe:
„2Bag fatten ©ie don ber Oefdjidjte?"
3c^ tt)ar auf $o^n unb ©pott gefafit getoefen. Stun f)atte ic^ ben
9Rut§ ju befennen, meine 3D?einung fei, ber alte ©ele^rte ^abe mir bie
9ti$tung jeigen tootten, in ber id) ju fu^en ^abe, urn bag aJlanufcript,
an bag ic^ forttoaljrenb ba^te, ju finben.
22
Hubolpli £tnbau in parts.
„3)ag ift and) mcine 9Reinung," fagte ©oben. „5(ber menu ©ie
meinem SRattye folgen tootten, fo fpredjen ©ie mit SRiemanb Don bcr (£r*
fcfjeinung. ©eifter lonnen 3nbi£cretionen nidjt uertragen unb beftrafen
fie ftreng
3d) toar iiberrafdjt unb erfreut, cincn ©efinnungggenoffen, unb jtoar
in bcm ljettften $opfe bcr UniDerfitdt, gefunben ju Ijaben unb Derfprad),
bag, tt)a3 er mir angeratfjen Ijabe, tool ju befjerjigen.
©oben fagte mir barauf, cr merbe am nttd)ften Sage audfit^rlic^er
mit mir iibcr bic ganjc Slngclcgcn^cit fpred)en. S)ann ftanb cr auf, jog
cincn altcn 2eberf offer untcr bcm SBette fjeruor, mifdjtc cincn Irunf au£
Derfdjtebencu bunfrfn giolen, bie fid) barin befanben, licfe mid) benfetben
lecrcn unb fagte, id) fottc jefct nur toieber ju S3ette gel)en, cr biirgc
mir bafiir, bafc id) gut fdjlafen toerbe. — @r Ijatte fidj nidjt gcirrt.
®aum ^atte id) midj ttrieber niebergelegt, fo fdjttef id) feft cin unb cr-
toadjte erft am nddjften SRorgen ju ciner aufjergetodtjntid) fpdten ©tunbe.
©oben tjotte midj balb barauf ab, urn mit ifjm ju frit^ftiiden. 9iad)
bcr -SRatjIjeit forbcrtc er mid} ju eincr ^romenabe aufjerfjalb ber ©tabt
auf, urn ungeft5rt mit mir beratfjen ju Ibnnen, duf toeldje SBeifc id) bem
SBinfe be3 ©eifteS folgen fbnne. SKadi} langcm §in- unb #crreben famen
ttrir baljin iiberein, baft e§ §undd)ft geratljen fein toiirbe, 9iad)forfdjungen
nadj bem SKanufcript in Setjben anjuftctten. 3)ie ©djttrierigfeit filr midj
toar nur, mid) bortfjin ju begeben, ba id) befiirdjten muftte, baft meinc
©Item iljre Buftimmung ju ciner nid)t ju mottoirenben Ueberfiebtung
nadj Setyben oertoeigern totirben. — ©oben fjatf mir au3 biefer 9SerIegen*
fjett. @r erbot fidj, bie 3teife fiir midj ju madden unb bic genaueftcn
9tad)forfd)ungen an&uftetten. @3 lodre mir unmogtid) getoefen, einen
beffcren ©tefldcrtretcr ju finben; benn afte 9Kanufcrtyte fudjen unb finben
mar einc ©pectalitat, auf bie ©oben fid), tone er mir fagte, ganj befonberS
gemorfen fjatte.
©in paar SKonatc fpdter ertjielt id) cinen ettoaS beunruljigten 93rief
Don mcincm 93ater. @r hmnfd)te ju toiffen, toaS idj mit all* bem ©etbe,
ba3 er mir fdjidte, anfangc. 3c^ burftc iljm nic^t fagen, bafe bie iJlad)*
forfc^ungen in Sc^bcn aiemlidj foftfpictig feicn; aber \6) toerfprad), in
3ulunft fparfamer ju Icben, unb fdjranfte mic^ benn and) fo fefjr cin,
ba§ id), o^nc gro§c ©c^ulbcn ju madjen, mit mcincm SBe^fcI mcinen
Unterljatt beftrciten unb glcic^jettig bie Sfrbeiten in ^pottanb fortfefecn
laffen fonnte.
Urn biefc 3*it empfing id) cincn fflrief Don ©oben, in bem er
mir fagte, er ljabe in Sctjben Did 3ntereff antes, aber nic^t 3)a§ gefunben,
toa§ cr fiir mic^ f^c, unb er beabfidjtige nun, na^ juriidjufe^rcn.
StuS einigen Slnbeutungcn in feincm 93riefe glaubte ic^ erfefjen ju fiJnnen,
bafe cr uietteidjt geneigt fein ioiirbc, feinc 9lad)forfd)ungen fiir mic^ in
^JariS fortjufefcen. S)a5U beburfte e§ aber ciner, fiir meinc bamaligcn
<£in cerfefyrtes £ebett.
23
Serfjoltniffe, bebeutenben ©umme ©elbeg; unb ba id) , iiber cine foldje
nid)t toerfiigen lonnte, fo befdjloft id}, nad) mcincr £>eimat ju reifen, urn
mir bag ®clb im ©efjeimen toon meincr SRutter geben ju laffen.
3n meincm etterlidjen $aufe roar, roaljrenb meincr 2lbroefenfjeit,
eute grofte unb traurige SBeranberung fcorgegangen. 3Rcinc gute SDtutter
roar fefjr leibenb. SWein SJater Ijatte mir bieg, urn mid) nidjt ju beun-
rufjigen, oerfdjroiegen. ®r tljeifte mir mm mit, baft meine SWutter fdjroer^
mutt)ig geroorben fci unb baft bie S)octoren anempfotylen fjaben, fic nad)
einer £eilanftalt fitr ©eiftegfranle ju fenben, ba ju befiirdjten fci, baft
fic ben SJerfud) madjen roerbe, fid) bag Scben ju nefymen.
3d) toax fetjr niebergefdjlagen iiber biefe SRadjridjt. 9Rcinc 9Rutter
roar mir ftetS bie jartlidrfte, nadjfidjtigfte greunbin geroefen. 3d) begab
mid) auf if)r 3imnter. ®ie empfing midj rufjig, aU fcien faum ein paar
©tunben toergangen feitbem roir ung gefetjen, unb ftagte nur bariiber, baft
fie Kopfroel) fjabe, fd)Ied)t fdjlafe unb an Stypetitlofigfeit Icibe. Stad) meinem
Sefinben, fur bag fic friiljer angftlid) geforgt fjatte, crfunbigte fie fid)
gar nid)t. — 2tlg mein 93ater, ber mit mir in bag 3»ntmer getretcn
roar, ein en Slugenblid ben Sliiden feljrte, roinfte fie mir fdjnett unb be*
beutfam ju unb gab mir burd) Ijeftige ©cberben ju fcerftefjen, baft fie
mid) attein fetjen rootle. — ®g tourbe mir ntdi>t fdjroer, biefem SBunfdje
ju toittfatjren. 3d) toerlieft bag 3intmer mit meinem Sater, fagte ifjm
gang offen, bie ffiranfe fd)eine mit mir fprcdjen ju rootlcn unb bat if)n,
unfere Unterrebung ntdjt ju ft5rcn.
Sobatb meine SKutter mid) attein juriieffommen faf), fprang fie in
bie #ofje unb ging mir fdjnetl entgegen. 5)ann fd)Ioft fie mid) leiben;
fdjaftlid) in tf)te 9lrme; abcr an^tatt mid) ju f tiff en, l)aud)te fte mir
tfjren tjetften 2ltljem in bag ©efidjt. 3)ann trat fic einen ©d)ritt juriid
unb fdjiittette bie auggeftredten $>ftnbe iiber meincn So^f, in ber 9lrt
ber SRagnetifeure, roenn biefe bag ifjnen innerooljnenbe Sluibum auf ein
anbereg Sftfrtotouum ubertragen rootten.
3d) toid) erfdjredt juriid: „9Jlutter, mag fott bag bebeuten?" fragte id).
„&fd) • • • • mew ©o^n!" fliifterte fie gef)eimniftt)ott . . . „3d)
f^enfe 3)ir ben fRcft meineg £cbeng . . . @g ift mir $ur Saft, jur 2aft!
3c^ roiH fterben, batb fterben.1'
@ie falj bercitg roie eine ©terbenbe aug: entfe^lic^ abgemagert; bag
graue, roiifte $aar bie bteic^e ©tirn, bie {jofyten 3Bangcn bebedenb. 3)ic
SSugen gtanjtcn mit furd^tbarer 3ntcnfitdt aug tiefen, bunfetn $o^Icn
^ertjor.
©ed)g ©tunben f^ater, am Stbeub jeneg 2ageg, lag fie im ^eftigften
giebcr, irrcrebenb auf i{)rem fiager; unb in berfclben Slac^t ljaudjte fie
i^ren ®eift aug. — ©ie fjatte mir ben Sleft i^reg Sebeng gef^enft.
SKein armer SSater roar untr5ftlid&. 3d) burfte nic^t baran benfen,
i^n ju cerlaffen. 3^ Mieb brei -donate lang bei i^m. 3)ann fefjrte \6)
2\ Htibolpfy Ctnbau in paris.
nad) juriid, um meinc auf fo traurige SBeife unterbrodjenen ©tubien
fortjufefcen. — 3)er 2ob meiner SRutter l)atte midj in ben Scftfc eineg
bebeutenben SSermogeng gcfefct, beffen S3ertoattung id) fetbftrebenb ntcincm
SSatcr iibertaffen fjatte, aber toon bem mir, auf ntein ©cfud), eine getoiffe
©umme iiberttnefen toorben toar, bic id) jur gortfefcung bcr iJladjforfdjungen
nadj bem SKanufcript beuufcen tooflte. — 3<f) ^atte meinem SSater gefagt,
tdj gebraudje bag ©clb ju ttriffenfdjafttidjen 3toeden; unb ba eg fid) nidjt
um einen groften SSetrag tjanbette, unb mein SSater tuenig aufgetegt toax,
fid), unmittctbar nad) bem 2obe meiner URutter, um gefdjafttidje gragen
ju fummern, fo tourbe mir bie fcertangte ©umme otjne SBeitereg aug;
getjanbigt. — 3d) fdjttfte einen $f)eit batoon an ©oben unb bat itjn,
fur mid) nad) $arig ju getjen unb leine aJlitfje }it fdjeuen, um bag
SRanufcript ju finben.
3Me erften SSriefe, bie idf) Don meinem Stbgefanbten ertjiett, toaren
nidjt fc^r ermutfjigcnb. $ann fd^rieb er, er gtaube enbttd) auf ber rtc^=
tigen ©pur ju fein, unb balb barauf fonnte er mir mttttjeiten, er Ijabe
bag SDtanufcript gefunben, tjabe eg gefefjen unb in £anben gefjabt; un*
gtudttdjewetfe fci eg ©igentljum eineg birecten Siadjfommen beg alten
©etefjrteu, ber um feineu $reig geftatten tootle, bag eine 9lbfd)rift batoon
genommen tocrbe. ©oben fdjtug mir Dor, idj fofte fetbft nacf) $arig
fommen unb fcerfudjen, ben 83efifcer ber $wmbfd)rift ju iiberreben, meinen
SBiinfdjeu nad)jugeben.
3d) madjte mid) fofort auf ben SBeg nadj grantreid). S)ie JBeife
toax ju ber 3eit nodj tang unb befdjtoerlid), benn bie Sifenbafyn&erbinbung
jroifc^en $arig unb Deutfdjtanb toax nod) nidjt toottftanbig ljergeftetlt.
©oben empfing mid) am SBatjnfjofe unb fiifjrte midj nad) feiner, im
Duartier Satin gelegenen, SBofjnung. SBafjrenb ber gatjrt bortljin be*
ftatigte er mir, bag feine SBemuffungen, eitte Slbfdjrift ber #anbfd)rtft ju
erfjatten, erfotglog gebtieben feien. ©r fjabe nur einen SSfid in bag 3Ranus
fcript merfen fbnnen: eg fci in tateinifdjer ©pradje t>crfafet unb enttjatte
auf 144 grofcen gotio*@eiten eine SJlaffe merfttnirbiger SReceptc unb jtoet
Idngcre 2tbtjanbtungen iiber bie 3"fommenfe^uug unb 3ubereitung eineg
Sebengetijtrg. — 3)ie &rt unb SBeife, toie ©oben bag 2Hanufcript cut-
bcdt Ijatte, war fetjr merfwiirbig; aber ba bieg mit meiner ©efc^i^te nic^tg
ju tfjun ^at, fo fd^njeige id) baritber. — 3)er 3uf^tt ^atte i^m ge^otfen.
I>er S3efifeer beg SJlanufcriptg ttjar ein Derarmter italienifdjer ®bct=
mann. ©eine Ural)ne toar bie leiblid^e Iodf)ter beg alten ©eleljrten ge^
tt?efen. S)ag 2Ranufcript toax immer in feiner gamitie gebtieben, unb
eg fonnte tein 3to*ifet baruber obmatten, baft baffelbe autfjentifcf) fei.
3d) tuurbe am nadjften Sage oon ©oben ju bem SSefifeer ber $)anb^
fdjrift gefiit)rt, unb fanb in eincr armtidjen 2Bot)nung, ebenfattg im
Cuartier 2atin getegcn, einen nod) jungen, fe^r ^oftic^en, aber beffen
ungead)tet nic^t fonberti^ f^mpat^if^en 9Rann, mit bem id) mic^ iibrigeng
€tn oerfeljrtes £eben.
25
mtr fd)Iedjt fcerftdnbigen lonnte, ba id> itatienifd) gar ntdjt fprad) unb
audj im 3fw^ofif(^en mtr tnenig Ucbung befaft.
Scr Softener ^oftc bag SDtanufcript au3 ctnem often, cifcrncn Saften.
®3 toar in ein toerbtidjeneS, feibeneS 2ud) eingetoidelt. Sluf bcm Icbcr-
nett, altmobifdjen ©inbanb crfanntc man unbeutlid) ein grdflidje3 SBappen,
ba$ in (Soft anf benfefben gepreftt toorben toax.
„2)a3 SBappen meiner gamUte," fagte bcr italienifdje ©belmann.
3d) dffnetc ben 93anb mit einem anbddjtigen, geljeimntftuotlen ©djauern.
3)a3 3Jtanufcript luar ttmnberbar ertjaften. 3)ie ®inte unb ba3 papier
toaren jtoar bergilbt; aber ba£ fdjone, atte, fefte papier war fo um>er=
fefjrt, bie Shrift fo liar unb beutUdj, bie ©eiten fo mafeffoS rein, baft
man feinett 8to*ifcf bariiber Ijegen fonnte, bag atle ©enerationen, njclc^c
ba£ foftbare -Dtanufcript befeffen, e3 auf ba3 forgfdttigfte aufbetoafjrt
fatten.
3d) bfieb brei SBodjen in $ari$. 3d) faf) ben 3tatiener f)dufig.
©oben tnofjnte a(P nteinen Unterrebungen mit itjm bet, urn, toenn e$
notljig rourbe, als $olmetfdjer betjiilflid) fein jit fonnen; aber er mifdjte
fid) beinaf) nie in meine Unterf)aftung mit bem ©rafen. Xiefer tieft fic3E>
enbtid) itberreben, mir ba£ 9Ranufcript ju toerfaufen. ©r forberte einc
Ijolje ©umme, mefjrere laufenb Staler bafiir; id) feilfd)te nidjt unb ber;
fprad?, biefelbe ju jaljlen.
3d) fdjrieb meinem SSater, fagte itjm, otjne auf 25etaU£ einsugefjen,
baft id} ein toertf)botte£ SBerf ju ertoerben ttriinfdje, unb bat ifjn, mir
bie ba$u nottjige ©umme in $ari3 anmeifen laffen ju tooflen. — SHein
SJater fdjidte mir ba£ ©elb otjne ©dumen. — 34) iibergab, toie bieS
Derabrebet toorben ttmr, ben SaufpreiS an ©oben, unb biefer bradjte
mir am felben #benb ba3 3Ranufcript. — SSenige £age barauf feljrtc
id) nadj ®eutfd)fanb juritd.
©oben blieb in $ari3. 3d) toanbte mid) batb nad) mctner 9titd;
!et>r nad) an itjn, urn ifjn ju bitten, mir bei ber Ueberfejjung ber
£anb[d)rift befjiilftid) fein ju tootlen. 3Wein 93rtef blieb otjne silntmort.
— Sange %afyxe nad^^cr ^drte i(^ erft ioieber Don i^m. ©r fd)rieb mir
au^ ttmerifa, wo^in er auSgetoanbert war; er^d^Ite mir, baft er fid)
Derfjeirattjet ^abe, baft feine grau fiirjti^ geftorben fei unb baft er nun
nad) ©uropa jurudjufe^ren beabfic^tige. ©r fagte mir, e£ fei itjm jen=
feit* be^ Dcean^ f(^ted)t gegangen, unb er bat mic^ urn ein 2)artet)en,
ba^ i(^ fur itjn an feinen ©cbtoager, einen $>errn STOitlner, tnenn \6)
nidjt irre, abreffiren fottte. — 3d) fc^idte i^m ba^ ©elb, unb er seigte
mir ben ©mpfang be^felben an. ®teic^5eitig tfjeitte er mir mit, baft feine
Stbrcifc toon Stehtyorf auf einige 3*it ^inau^gefc^oben fei. — ©eitbem
§abe nid)t^ mieber toon ifjm getjort. ©r ift biellei^t geftorben. SBemt
er nod^ lebt, fo muft er ein ©ret^ fein."
§err ©(aaften ^atte fc^nett, ofjne anju^attcu gefprod^en. 3lber bon
26
Kubolpfy £inbau in parts.
bem „©tiinbd)en", fiir "bag er metne 9lufmerffamfett beanfprudjt fjatte,
roar bic #alfte berettg tjingegangen, unb cr fdjten nodj immcr an bcr
93orrcbe ju feincr ©efdjidjte ju fein. 34 ftccftc mir alfo einc frtf4e
Eigarre an, f^enftc mir cin jtoeitcg ©lag $unf4 cin unb bercitctc mi4
barauf dor, bic gortfefcung bcr Srjafjlung ju t>5rcn. 3$ f<4 doraug,
bag mi4 biefelbc no4 langc tt?a4 flatten toiirbe. £err Etaaften toartete
big id) toieber rufjig dor if)tn fafj. £ann fufjr cr fort:
III.
„£ag SRanufcrtpt £)at ben attcrgroftten ©influfj auf mein ganjeg
Seben auggeiibt. — 93atb na4 mcincr 9*udEfc^r na4 bcfctjlofe idj,
mi4 bem ©tubium begfelben au3frf)ticfjfid) ju mibmen. — 3d|) acrlicfc
bem 3^cdE bic Uniderfitat unb fetjrte na4 mciner iBaterftabt, jurud.
£ort lieft id) mid) in mcincm eltcriid^cn $>aufe niebcr. SERciu SBater,
bcr cin einfameg 2eben fittjrte, toar fo frol) baniber, mi4 forttoafjrenb
in feincr Statje ju fjaben, baft cr mcinc ©riinbe, roegfjatb id} mcine
Uniderfitatgftubien ju unterbre4cu ttmnfdjte, fd^nett bitligtc. 34 fagtc
itjm, iti) fjabe cin merftoiirbigeg SKanufcript aug bem XVII. 3a$r$unbert
entbedt unb beabfidjtige, bagfelbe mit Stoten unb Eommentaren ju der*
offentfidjen. 2)ie Arbeit, fo mcinte id), tocrbe mir meljr Slutjm unb
©fjre cinbringen, alg i4 burd} 9JoKcnbung meincr ©tubien auf bcr Uni*
derfttat errcid^en fonnc. — SDtein SSoter toar bamit einderftanben. Sine
bequeme SBo^nung hmrbe in bem cinen glugel beg §aufeg fiir mt4
cingeri^tct, unb bort dcrtebte i4 bic ruf)igften Sa^rc meineg Sebeng.
S)ic Ueberfefcung beg SJlanufcrtptg gab mir unenbti4 diet ju fc^affen.
3war toar eg in etcgantcm unb Iciest Dcrftanblic^em Satctn gef4rieben,
abcr ber ©inn einigcr ©afce bticb mir oft tood)entang derborgen; unb
i4 derbra4te fc^Iaflofe SRadjte, urn benfetben ju ergriinben. — 34 der;
lor bariibcr attc^ 3ntereffe an bcr ?luftcntt)clt. 3Rein SJatcr roax, fo ju
fagen, bcr einjige 2Jtenf4, ben i4 faf); unb aud) mit ifnu toar i4 uur
ma^rcub ber 9Rat)ljcitcn unb ber ©pajiergange, bei benen i4 iljn be*
gtettete, jufammen. — SRcin ©cfunbtjeitgjuftanb fI5fttc il)m 83eforgnijj
ein. Er crfunbigtc fi4 angetegent(i4 nad) bem ©egenftanb meincr ©tubicn.
34 fprad) ganj offen mit ifjm batjon. ©r fdiiittcltc unglaubig ba£ feaupt
©ine^ lagc^ iibcrrafctjtc er mid) in meinem 3intmer. @* t»ar in
©cfeflfc^aft cineS bcriitjmten ©ctc^rtcn, ^rofeffor^ an ber Untoerfitat
don ^. 3)icfer fagtc mir, cr fjabc don bem fclteuen SDlanufcript, ba^ in
meinem 93efifc fci, fprectjen ^5rcn unb bate urn bie ©rlaubnift, ba^felbc
in 9tugenfd)ein ne^men ju biirfen. 34 S^igtc eg i£)m. ©r ging bamit
an bag genftcr, jog einc £upc aug ber $afd)c unb priiftc eg aufmerffam.
Sr lag au4 einigc ©eiten bar in burd). $<mn gab er eg mir, oljnc cin
SBort ju fagen, juriid unb derlicft mit mcincm SSoter bag Simnter.
€tn uerfefyrtes £eben.
27
2lm ndcfiftcn 2age jeigte tniv biefcr an, feine ©efunbtjeit madfje c3
nottjtoenbig, baft cr cittcn groften 9lr$t in fflcrlin confultire. @r bat
mid), ifjn ju begletten. 3$ fonnte bie3 ®efud) nid)t abfdjtagen, obfdjon
e3 mir fdjtoer hmrbe, midf) Don mcinen ©tubien trcnncn.
3d) begleitete nteincn SSatcr ju bcm beruljmten 9trjtc. Diefer unter;
Ijielt fid) sunadjft mit mcinem SSater unb Derorbnete ifjm 93erf(f)iebene3,
Dor attcm 3erftreuung, cine IReifc nad) Statten 93. 5)arauf toaubte
cr fid) an mid) unb lieft fid) in cine lange tlnterrebung mit mir ein.
gr war ein unangenctjmer SDlann; er Ijatte eigentfyiimltdje, fdfjroffe ?ln-
ftcfjten, unb idE) muftte midf) tiber 93ie!e3, tt)a3 cr fagte, argern. $d)
erinncre midf), baft id), trofc be£ beliimmerten ©efidjteS, bag mein SSater
baju madfjte, fetjr fjeftig wurbe. XieS fc^ien ©inbrurf auf ben Slrjt §u
madjett, benn er tourbe pIBjjtidf) toieber fyofticf) unb freunblid). @r fanb,
baft id) angegriffen auSfefye, unterfudjte mid) aufmerffam unb, fid) an
meinen SJater toenbenb, fagte er:
„3>a» 33efte, toa$ Sie ttjun fonnen, ift, %i)xtn £errn ©otjn mit nad)
Stalien ju nefjmen. @r bebarf ber Srtjolung unb 3erftreuung fainat)
cbenfo loie ©ie. 2tber erlaubcn @ie itjm nid)t, $u arbeiten. 2affen Sie
ifjn fid) Die! SBetoegung madjen unb fid) amiifiren."
S)amit ttmrbeu ttrir SSeibe enttaffen, unb fobalb loir in ber ©trafte
angetangt toaren, fagte mir mein SBater, er fjoffe, baft idE) iljn nad)
Stalien begtciten toerbe. 6r fei alt; er fonne unb tooUe nid)t attcin
reifen; er tjabe feinen beffern greunb aU midf) unb cr redjne auf meine
©efellfdjaft.
3d) burfte bagegen 9tidE)t3 eintoenben. 3d) uafjm mir Dor, mein
SWanufcript mitjuneljmen unb meine ©tubien toatjrenb ber 3*cife fort-
jufefcen. 9Iber baDon motltc mein SJater 9lid)t£ tjoren. @r Derlangte,
baft idfj midj itjm au£fd)lieftlid) ttubmen folic; unb id) muftte, obfd)ou
mit fdfjtoerem £er$en, feincm ©efudje nadfjgebeu.
Unferc fReifc mar etne angenefjme; nur ^attc idf), &u Slnfang, i'tber
bic I^rannei metneS SJater^ 511 flagcn, ber mir nidjt bie geringfte greis
t)eit fd)cnfen rooUk unb mid) jloang, lag unb Waty iu feiner Stalje 5U
bleiben. — 2)ie£ anbertc fic^ jebod), aU ton in 9tom angefommen ioaren.
SDlein SSatcr traf bort mit einigen alten 93efannten jufammcn, mit benen
er bic 3*it angenc^m toerbracfjte, unb bifligte c^ tjollftanbig, baft id)
mcincrfeit^ bie ©efcttf^aft jiingerer Seutc auffud^te, urn mid^ ju jcr=
ftreucn.
„?iae^ toa% idf) Don 5)ir Derlange/' fagte er, „ift, baft S)u S)ic^ fo
Diet toie moglic^ amiifireft unb jebe Strbeit ru^en Idftt. G$ f^eint mir,
baft ic^ fein attjuftrcnger Sater bin, unb baft ®u S)id^ bem, toa§ idj
Sir Dorfc^rcibe, iool untertoerfen fannft."
3c^ t^at bie^ unb befanb micf) bei bem Seben, ba£ ic^ nun fii^rte,
aud^ balb recf)t too^I. 3^ ^attc bis jefet nur in ©efettfe^aft Don 9Hannern
28 Hubolpfy £inban in parts.
unb 93iid)ern gefebt. 2)ie fdjonen Sraueu unb SBabdjen, mit beneu idj
in 9iom befannt ttmrbe, erfdjienen mir iiberau* lieben^ttmrbig unb an=
mutfjig; unb e3 baucrtc nidjt lange, fo tanntc id) fcin groftereS 9Scr^
gniigen, al£ mit ifjnen jufammen ju fcin. SSenn id) bann be£ SlbenbS
mcinem 93ater beridjtete, baft id) ben Xag in ber augeneljmften SBeife
toerbradjt, mit jungen SDiannern unb Stauen unb UJlabdjen gefdjttmrntt,
getanjt, gefungen Ijabe, fo fagte cr: „2)a3 ift redjt, mein'Sofjnl gatjre
fort. 3)u fannft ntir leine grflftere greube madjen — unb e£ tfyut
$ir tool)!."
3d) toar in ber Sfjat feit meiner Slbreife toon ein ganj anberer
■Dtenfd) getoorben. 9Band)mal toar id) formlid) iiberrafdjt »on bent 93ttbe,
ba£ ntir ber ©piegel jurutftoarf. ©3 jeigte ba£ ladjenbe, bliifjenbe Sln=
gefid^t eineS jungen, forgtofett 9Wamte3, ber mit fjellen, freunblidjen Slugen
fiertrauenb in bie SBelt ljinauSblidte. 3n fjatte id) f)of)laugig unb
niebergefdjlagen auSgefefjen. — - SKeine ©cbaufen toanberten bann tool
nad) meinem fjcimifdjen ©tubirjimmer juriid unb id) bad)te an ba3
■JKanufcript, iiber ba£ id) jafjrelang gebriitct fjatte, o^ne feineu getyeimniftfcotfen
lejt ganj entjiffern ju fonnen. 3$ fagte mir, baft idj, roenn mein
SSater gefjeilt fei unb nrir hrieber in bem ftitlen |>aufc faften, meine
Strbeiten mit neuer Sraft unb tyoffentfid) mit befferem ©rfofge toon Steucm
aufnetjmen toerbe, aber baft id) mir einfttoeilen 2tfleS, tt>a£ ber SSergangen-
fjeit angeljore, au3 bem Sopfe fdjtagen unb nur ber ©egentoart teben
ttjotte. 2)ie3 hmrbc mir balb feljr Ietd)t. — 3d) toerliebte mid) namlid)."
Staaften fdjtoicg unb blitfte ftarr uor fid) t)in; bann teerte er ein
Dotted ©Ia3; unb mit bem 3eigefinger bro^enb, fagte er, jur 2uft fpredjenb,
ati fafje er bort eine ©rfdjeinung: „®Ienbe ©reatur!" Sarauf faft er
nod) eine SBeile ftumm ba unb bann tjob er toon 3leuem an:
„3Weine ©efd)id)te toiirbe ju tang tocrben, toeun idj %f)ntn erjafyten
tDottte, toeldje funftgriffe man antoanbtc, urn midj in bie gatte ju toden,
in bie id) fdjtieftlid) fief. — 3^ roar reid); unb man ttiuftte e3. 3^
tnar gutmiit^ig, leid^tgtaubig — man beutete bieS fc^anbli^ au£. 3^
war fteben unb jtoanjig %a$xt alt unb Ijatte nidjt me^r @rfaf)rung a(§
ein ©djiiter ^abcu faun, beffen Seben unter ber 9fuffid)t unb Seitung
feiner ©Item unb Sefjrer ba^ingeftoffen ift. — ©ie fjatte bereit^ ein
betoegteS, reic^e^ Seben Winter fid), obgleid) fie erft jtoei unb jtoanjig
3a^re jd^tte. ©ie fjatte fid^ aU ac^tje^nid^rige^ SBabd^eu mit einem
atten, tjorne^men SKannc toerljeiratljct, beffen Site! unb ©tcHung fie be;
ftodjen fatten, unb Don bem fie gctaufdjt tnorben toar, benn er ^atte fic^
fur reicf) au^gegeben unb befaft nid)t3. 3(1^ er, jtnei %a1)xt nad) feiner
SSerfyeiratljung, ftarb, lieft er bie juuge SBitttoe mittello^. 2lber fie tnuftte
fic^ ju fjelfen. ©ie fanb Ceute, bie iljr ©elb borgten: auf i^ren groften
Slamen, i^re untniberfte^Ii^e ©(^5n^eit, iljre 3ugenb, if)re Slug^eit, i^r
S3ertrauen auf eine reid^e 3ufunft. — 3d) roar tt)ie tueid)e§ 2Badj3 in
€in cerfefyrtes £cben.
29
ifjrer $>anb. 9tad)bem id) fie fedjg SBodjen fannte, lebte id) nur nod)
fur fie, burd) fie; unb ate fie mir tfjre #anb reidjte, urn bic id) fie ouf
ben Snieen flef)entlid) gebcten Ijatte, ba gtaubtc id) mid) ber glittflidjfte
ber ©terblidjeu.
3Jtein Sater toar erftamtt, ate id) iljm meine Sertobung mit ber
©rdfin ©ufanne Don ©. anjeigte unb iljn bat, feine Suftimmung ju
ntciner 9Serljeiratl)ung mit it^r ju geben. @r fd^icn juerft an eine 3Jtt)fti;
fication ju glauben unb tootlte bie ©adje gar nid)t ernfttjaft ertodgen.
8ber ate id) iljm fagte: „93ater, menu S)u mid) Derljinberft, ©ufanne ju
ijeiratfjeu, fo toerbe id) Dor ©ram fterben, ober mid) aug SSerjttjeiflung
unTg Seben bringen," ba fanf er feufjenb unb jammernb auf einen ©tut)I
unb rief ein iiber bag anbere SJlal: „2Begf)alb fjabe id) S)td) unbetoadjt
gelaffen? Df), id) Ungliidlidjer!"
®r Derfudjte, micf) burd) jdrtlidje, freunbttdje Sleben Don mcinem
Sorfafce abjubringen: „©ib bic grau auf/' fagte er. „2lrj! Xljue eg
SJeinem alten SSater ju Siebe. S)u madjft 3)id) unb mid) ungftitfltct),
toenn 3)u bet S)einem SJorfjaben beljarrft."
8lber id) toar Derftodt. 2)ag SBeib Ijatte mir einen Irani einge;
geben, ber meine ©inne bcriidte. 3)ag glefjen meineg SBaterg, ben
id) fo innig tiebte, riiljrte mid) nid)t mefjr, ate todre id) Don ©tein
gctoefen.
„2Rein Seben unb mein ©liid Ijangen an ©ufanne," fagte id).
„2rennft S)u mid) Don ifjr, fo mufc id) Derberben."
JBodjenlang ttriberftanb mein 93ater nod); bann, ate er faf), toie mid)
Slufregung unb Siebeggram oerjeljrten, gab er enblid) feine ©tnhrilligung.
— 3)er $etratt)gcontract ttmrbe in 3Rom gejeidjnet. ©ufanne tear ent=
ruftet iiber getoiffe ©taufetn, bie mein SSater in bemfelben aufgenommen
Ijatte, unb bie eg, itjr fotool toie mir, unrnflgtid) marten, iiber meljr
ate einen geringen £l)eil ber ©apttalien, bie id) nad) bem 9lbleben
meineg Saterg ju ermarten tjatte, ju Derfiigen. @ic faf) barin ben 93e~
toeig Derlefcenben 9Jtifitraueng. 3d) bot meine ganje 93erebtfamfcit auf,
urn fie ju beruljigen.
tl3&a$ f^abet bag SlUeS?" fagte iti). ;/aWein Sater mag mifetranifd)
fcin; aber meifet S)u nic^t, ba§ id^ 3)ir mit Seib unb ©eele ergeben bin?"
25a fal) fie m\6) mit einem ganj eigenen Slid an unb bann Iad)te
fie t>I6fclid) unb ffo))fte mir auf bie SBangen, tt?ie einem Sinbe: „3lun
\a, Strj/' fagte fie; f/mag eg fein! 3^ benle audj, S)u unb itf), toix
toerben un§ fc^on Derftdnbigen/'
93atb barauf Der^eiratfjeten n?ir ung unb gleid) na^ ber $)o^jeit
fii^rte idj meine junge f(^dne Srau nad) ft., in bag Ddterli^e $aug, bag
fortan i^re ^eimat toerben fotlte."
9t(g $err Slaafeen auf biefem $unft feiner ©rja^Iung angelangt
war, er^ob er ftc^ tangfam unb pod)te mit bem gefriimmten SKittelfinger
50
Hubolpfy £inbau in Paris.
ber red)ten £anb mefjrere SKatc bcbcutfam auf ben 2ifd). 2)arauf fall cr
mid) fo feft unb fdjarf an, bafj mir gerabeju untjeimtid) untcr fehtem
Slid ttntrbe unb bann fliiftcrte cr geljeimnifj&ott:
„©ie ^atte mir ctnen JSiebegtranf eingegeben . . meineu SJatcr tjat
fie getdbtet — toergiftet. ©te toar 3fteifteriu in atten bofen Sunften."
3d) faf) |>erm ©(aafeen fcerttmnbert an. ©r beanttoortete mcinc
ftumme grage burd) geroidjtigeg Stidcn unb SBinfen. „3a, ja," fagte cr
barauf; „baS ttmnbert ©ie! — ©ie toar cine $cje. 3<f) entbedtc eg crft,
alg eg ju f^at toar; unb Sticmanb toottte mir gtauben. $ie fdjtoad)s
f5pfigcn Starrcn toatjnten, SBunbcr toie ftug su fein, alg fic mid) aug-
ladjtcn. — Unglaubigfeit lafjt tneleg ©djledjte ungeftraft unb erfdjtoert
bag Sollbringen manner gutcn %f)at\ 34)/ 9trj ©laa&en, toeifj ein
traurigeg £ieb bafcon ju fingen."
2)arauf fejjte er fid) toieber niebcr unb fprad) rufjig toeiter:
„©edjg 9Jlonate, nadjbem id) mid) toerfjeiratljet fjatte, ftarb mcin
SSater. ©g mar inmittcn beg bittern, norbifdjen SBinterg. 3d) toar
troftlog unb t>crfc^to§ mid) toier unb jtoanjig ©tunben long in mcincm
Simmer, otjne SJafjrung ju mir ju netjmen, oljne irgenb S^manb feljen ju
toollen. — 2llg id) am nadjften 9Korgen in bic ffiammer trat, in ber bie
Seidje beg 9Kanneg, ber mid) iiber StUeg geliebt fjatte, auf bem Iobten=
bettc ftarr unb fatt anggeftredt tag, alg id) in bag fdjone, rutjige, ftrenge,
abgemagerte Slntlijj fal), ba iibcrmanntc mid) entfefclidjer S^^nter unb
id) toeinte unb ftbljnte laut. — ©ufaune trat in bag Bimmcr unb
fagte fait:
„2)u gebcrbeft 3)id) toie ein 2Baf)nftnniger. ®ie Seute laufen auf
ber ©tra&e jufammen. Serial biefen 9taum."
3d) toar in tiefftcr ©cete emp5rt. 3$ tjatte fdjon fcerfdjiebene SRalc
(Srunb gctjabt, an ijjrer ©iite ju jtoeifeln; nun crfannte id) mit ©etoifc
f)cit, todd)' Ijerjlofeg, b5feg SBcfcn fic fcin miiffc, urn ben ©o§n toon
bem Xobtenbette beg SJaterg toerfdjeudjen ju toollen. 3$ fal) fie finftcr
an. — ©ic erbleid)te unb entfernte fic^.
Site id) attein tuar, trat ic^ roieber an bag ©terbclagcr mcincg Sa=
tcrg. @§ t^at mir toef), i^n fo lalt unb bereinfamt baliegen ju fefjen.
©r Ijatte immcr ©efellfc^aft unb SEBarme gctiebt, unb nun toar er fo
fcertaffen in ber eifigen ©tube. 3d) Iic§ ein grofeeg geuer anjiinben unb
bann begab id) mid) ju einigen alten Srcunbcn meincg SSaterg, urn fie
}u bitten, fid) in bem Sintmer, in bem bie Seiche lag, ju tocrfammeln.
— ©ie faljcn mid) toertounbert an; fie toerfpradjen ju fommen; aber fie
erfd)ienen crft im Saufc beg Stadjmittagg unb btieben nur turje 3eit. —
S)cr 5)octor, ber meincn SSater be^anbeft ^atte unb mid) feit mcincr ®e=
burt tanntc, natjm m\6) bei ©cite unb fagte mir, id) mogc afle 9Ra§s
regeln, bic bei bem SSegrabnifc ju treffen feicn, ifjm iibcrlaffen. ©r toiffe,
toag 5it tt)un fei unb fid) fdjide; toogegen bic aScrorbnungen, bic id)
€tn rerfeljrtes £eben.
31
trcffctt ju JDoBctt fdjeine, 2luffef)en erregen. ©3 fei bic $flidf)t tool)t=
erjogener Scute, bieS ju Dermeiben, ba£ Slnbenfen SSerftorbener burdf) cine
erafte, rufjige geier ju efjren. — 3^ gab biefen Sorftetlungen nad).
9?ad) bcr 93eerbigmtg meine£ 93ater3 jog id) mid) gan$ Don ber SEBelt
jurucf. S)a3 Serfydltnifj jtuifdjen tneitter grew unb ntir war cin dufterft
peinlidfjeS getoorben. 33) fonnte il)r itjr 93enel)men am Jobtenbett meineS
SJaterS nid)t Derjeifjen, unb fie fdjien fid) Dor mir ju fiirdfjten. ©ie Dcr*
mieb, allein mit mir ju fein, ging mir iiberatt au3 bem SBege unb fal)
midj eigentlidf) nur in (Segenttmrt ber 2>icner, todfjrenb ber lurjen WafjU
jeiten, too fie mir ftumm unb tljeilnafjmloS gegenftber fafc.
3d) Ijatte meine atte SBofjnung in etnem enttegenen Xtjeile be3 |>aufe3
nrieber be^ogen unb befdfjdftigte midf) nun bort Don Steuem mit ber Ueber;
fefcung meineS 3Jlanufcrij)t£, bag id) todfjrenb ber erften SRonate meiner
93erl)eiratf>ung unb ber langen ®ranltjeit meineS S3ater3 ganjlidf) Der;
nad)ldffigt Ijatte. — 93iete3 Don 3)em, toa% mir in bem SBerfc friifjer
unDerftdnblidf) getoefen toar, ttmrbe mir nun flarer. 3^ erlannte, baft
ber grofte ©eift, ber feine g5tttid)e 2Bei3ljeit Dor £unberten Don 3a^cn
in ber loftbaren £anbfdf)rift, bie nun in meinem Sefifce toar, niebergelcgt
fjatte, nidjt gettrillt getoefen toar, mit gett)5f)ntid)en ©terbtidfjen ju Der-
fetjren, fonbern, bafe ber tiefef Dcrborgene ©inn feiner geljeimmfebotlen
©pradEje fiir ©eifteSgenoffen beftimmt toar, bie benfelben ergriinben, ers
ratten, ja, nidfjt fetten DerDottftanbigen mufjten. — 33) Dertiefte mid) fo
Doflftdnbig in biefeS eble ©tubium, bafe bie 9tufteMt>elt balb jebe3 Sntereffe
fur mid) Derlor. 3d) Dernadfjtaffigte bariiber 93iele3, tuomit fidf) bie SHttagS*
menfdfjen befdjaftigen unb toitt gem jugefteljen, bafc, ber grofcen, unein-
getoeifjten SKenge gegeniiber, 9Jiandf)e3 in meinem 93enet)men fonberbar
erfefjeinen muftte.
©ineS XageS, ate idf) tok getootjnlidf) in meinem 9trbeit£jimmer mit
ber ©ntjifferung be£ URanufcrtptS befdfjdftigt toar, melbete mir ber 3)iener,
bafe brei £erren im 2BoI)nsimmer atff midf) toarteten unb midf) fofort ju
fpredjen tounfdfjten. 2)er ©ine Don i^nen, fo fagte mir ber 2>iener, tocire
ber atte ^au^arjt.
3d^ toax Derbriefetid^, bei meiner Slrbeit geftort ju toerben, unb
gab mir mi)t einmat bic SKulje, metnen Stnjug ju orbnen, urn ben un-
ertoarteten unb unerttjunfe^ten 93cfud) ju empfangen. 3)ie brei ^erren
famen mir fjdftidf) griifeenb entgegen. 3^ bem einen erfannte id^ ben be;
ru^mten 3)octor, ben mein SSater Dor unferer SReife nad^ 3talien con^
fultirt Ijatte; ber anbere toar, toie ber S3ebiente bereitS gemetbet, unfer
alter §au^arjt; ben britten fannte idf) nityt — 3$ blieb mifetrauifdE)
unb mifcrnuttjig Dor i^nen fte^en unb fragte fait, toaS mir bic Sljre
biefc^ S3efu^e§ Derfc^affe. ©te anttoorteten barauf ni(f)t, fonbern fingen
an, Derfc^iebcne, Dotlftanbig unnii^c gragen an midf) ju ricf)tcn. 3d^ argertc
mid^ iiber i^r unmotiDirteS ©inbringen in mcin ^riDatteben unb gab
9totb irab Sub. VI, 1G. 3
32
Hubolplj £tnbau in pdrts.
bieS burd) meine Slntroorten bcuttid) ju erfennen. Slber bie 3nbi3cretion
ber brci 2Kenfdf)en fdfjien cine bcabficfjtigte ju fein, bcnn fic fuljren, un*
befiimmert urn mcinc itbte fiaune, fort, mid} auSjuforfdfjen, mir ju ttnber=
fpredjen unb mid) baburdf) fd£)lieftlid& bcrmafcen ju reijen, bafe idf) fagte,
idf) miiffe fic crfud)en, mcin £au3 gu fcerlaffen unb ttriirbe, toenn fic
mcincm ©efudfje nid)t ungefaumt golge leiftetcn, ©emalt amoenben, urn
meine, t>on itjnen in fonberbarer SBeife tterfannten, SRedjte aU &augl)err
jur ©eltung ju bringcn. — $)arauf murben fie toieber tjiiflicf) unb artig
unb balb barauf berlie&en fie midj mit ber SBitte, idj moge mid) be;
rufjigen, eg toalte em 3JlifeDerftanbnife ob, fie f)aben burdjaug nidfjt bie
Stbfidjt gefjabt, mid) ju brfeibigen. — 9lt£ fie bie 2t)iir aufmadfjten,
urn fid) ju entfernen, faf) id& ©ufanne Winter berfelben fteljen. ©ie
Ijatte gelaufdtjt, urn ju erfatjren, toa£ jtoifdtjen ben Scuten unb mir
toorgefje.
2)ie ©reigniffc ber nddjften Xage Ijaben fid) in meinem (Sebadjtnifc
etmag t>crtt)ifd^t. 3d) mufc annefjmen, baft ber Sob meineg 33ater£, bie
anftrengenben ©tubien, benen id) mid) Ijingegeben Ijatte, bag peinlidje
93erf)altnif3 sttrifdjen mir unb meincr grau enbtidf) — benn id) aljnte
bamalg bereitg, bafc fie bie SJtbrberin meineg 83ater£ fei — meine SRer&en
erfdjiittert unb mir eine £ranff)eit, mflglidjertoeife ein ©etjirnfieber, ju=
gejogen fjatten. — 3<$ erinnere midf) unbeutlict), baft idf) eineg 2ageg
in eincn fjeftigcn ©trcit mit mciner grau gerietf), baft fief urn #iitfe
fdfjreieub, aug bem 3intmer ftiirjte, unb baft id) mid) ptflfctid) gegcn jtoci
ftarfe, frembe 2Kanner ju mefjren ^atte, bie, mie aug bem Soben ge=
mactjfen, toor mir ftauben unb mid) nad) hirjem, ttmtfjenbem Sampf, ge^
feffett, Ijalb olntmddjtig auf metn 93ett toarfen. £>ann erinnere id) midj
eincr langen, peinlidjen gafjrt in einem fcerfdfjloffenen SBagen, in ©efetk
fdjaft ber beiben fremben 2Ranner, unb enblidE) ber Slnfunft in einem
ftilten, frcunbtidjen Drt, too midj cin alter #err mit tootjltoottenbem
©efid)te empfing, mir bie $>anb nafjm unb fogte: „9tun fcien ©ie ru^ig,
mein lieber §err Sloo^en. &ier loirb ©ie SRiemanb me^r franten unb
drgern." @r fii^rtc mid) barauf in ein einfad) unb fjiibfd) mdblirte^,
rcinltc^ gc^altene^ #au3d)en, ba^ inmittcn einc^ gro^cn $arfe3 gelegen
mar unb Dor bem fid) ein gutgel)altener S3Iumcngarten bcfanb. „©ic
merben ^ier aQeut mit Sfyrem 2)iener mofjncn/' fagte cr; „unb ic^ Ijoffe,
e§ ttrirb S^nen an 9?id)t^ fe^Icn unb ©ie toerben fid^ iiber Sliemanb ju
bellagen ^aben. 3" einer ©tunbe njcrbe i^ ©ie jum @ffen ab^olen,
benn e^ tooljnen f)icr nod) mef)rere ^erren unb Somen, unb toir finben
e£ atte bcquemcr unb angenc^mcr, unfere SWafjljctten jur felben ©tunbe
unb an bcrfelben Safe! cinjunefjmen."
©laafeen fd)toieg einc SGSeile unb ricb fid) bag Sinn in fid)tlid)er
93ertcgenf)cit. Sann fal) er mid) fdf)udf)tern an, einem Sinbe gleid), bag
einen »on i^m begangenen gc^ler cingeftc^en, aber fid^ autoor ber 9lafy
<£in rerfeljrtes £eben.
33
ficfyt feineS 3uf)6rer£ acrfidfjern nrifl; enblidf) fragte cr leife: „9iid£)t toatjr,
©ie glauben mir?"
„3d) glaube 3^ncn Sitter, #err Klaafeen," anttoortete id) mit grofeer
Seftimmtfjeit.
/f93ictcn 3)anl, mcin f)od)Deret)rter $err," fagte cr fidjtlid) beruljigt.
„Sielen 2)anf!" 3)arauf farad) er, mit einiger UnentfdjIoffen!)eit ju Sin;
fang, roeiter:
toax ben niebertrddjtigen Qntrigucn meiner 3rau grfungen,
mid) in cin 3rrent)au£ fpcrren ju laffen. 33) fescue midt) nidf)t, 3f)ncn
bie£ ju fagen. HReine SDteinung, auf forgfdltigem ©tubtum bcr 93io-
grapfjien beritfjmter 3Jldnner unb auf unemuiblidfjer 93eobadf)tung mcincr
SRitmenfdfjen begriinbet, ift, baft gebcrmann — Derftefjen ©ie midj —
bafe Sebermann fur ba£ 3rrcn^auS rcif erfldrt roerben faun, toenn cr
cinen bo$hriHigen unb mddfjtigeri Seinb befifct, bcr fid^ angefegen fcin
Idfet, atteS ©igeutfjumlidtje, ©onberbare in bem SBefen be£ »on ifjrn 9Scr=
fofgten grcH ju beteudfjten, ba£ 3tlltdglidf)e, ©emofjnlidfje in fcincn 3tm
fidjten, (Efjarafter unb Sebcn in ben ©djatten ju ftellen, unb ben ftranfen
— benn an irgcnb cincr ©telle unfercS ©eifte$ finb mir 2tlle nidjt ganj
gefunb — in bicfer fallen, ungiinfrigen 33elcud)tung 511 jcigen. — 3df)
mar nidjt fcottftdnbig frei Don ©onberbarfeiteu; — ©ie merben audt) bic
S^rigcn fyaben — fjatte iiber 9Randje£ eigentfjiimlicfje, fogenannte ori?
ginette 8tnfid)ten; — ttrie ©ie, mie Sebermann, bcr ni<$t cin gem51)nlid£)er
Eufcenbtnenfdf) ift; — aber id) fdjtoore Stynen, bei Slltem, toa% mix f)eitig
ift, bafe id), nad) gemofjnlidjen Segriffen, bei boHem, ttarem SSerftanbc
mar. 3d) glaube, bafe mcin Senefjmen in ber £eilanftatt, in bic man
mid) gebradjt fjatte, ben beften 93emei£ fur bie 9iicfytigfeit meincr S3e^
tjauptung liefert.
3d) madfjte mir flar, bafe jeber SBiberftanb gegen ben ungered&ten
Stuang, ben man mir auferlegt Ijatte, meinc Sage nur fcerfdjlimmern
fonne. ©3 gdfjrte unb fodjte in meinem $erjen; id) biirftcte nad) 9tad£)e;
abcr id£) fcerbarg, toa$ idf) empfanb. 3$ I)atte nur eincn 3^^d im
Stuge: id£) toollte ben director bcr 2tnftatt iiberjeugen, bafe idf) ein
oerniinftigcr, unfdfjdblidjer SBenfdf) fei. — 3$ unterfjielt mid) f)dufig,
lange unb rufjig mit i^m. 3<f) fd)dmc mid^ nid^t, ju befennen, bafe id)
fjeudjette. 3<^ mufete e^ t^un, urn meine mir boSttriHig geraubtc Srei-
^eit ttrieber ju erlangcn. 3d) fagtc ifjm, bafe ic^ fc^r mof)I begrcife, tok bie
traurigen ©reigniffc ber lefcten Seit mein ©emiit^ tief erfdjiittert fatten
unb bafe mcin ©etft ciner befonberen unb aufmerffamcn ^Sflegc bebiirfe;
er fonne barauf redjnen, bafe id) mi(^ feinen 93orfd)riften unbebingt
untcrttjerfen merbe, ba id) mid) bcr §offnung fjingebe, bafe er meinen
3uftanb ate {jeilbar crfennen merbc unb e§, erfldrli(f)er S33cife, mcin
innigfter SBunfd) fei, balb miebcr in greifjeit gefc^t §u merben.
$er director gewann nac^ unb nad^ grofeeS S3crtraueu ju mir. Sr
3*
34.
Hubolpfj £inbau in parts.
fagte, icb fci ber fiigfamfte ®ranfe, ben cr in ber Slnftalt fjabe unb cr
jtoeifte faum baran, mid) nad) einigcn SKonaten bereitS, tJoHftanbig gc-
Ijeilt, entlaffen ju fdnnen.
3d) toar feljr begierig, in ©rfafjrung ju bringen, ttrie meine grau
e3 angcfangcn ijabe, um bic Shttorifation ju erlangen, mid) in cin Rxxm*
IjauS einfperren 511 laffen. 3d) ttmftte fc^r toofy, baft cine birectc Stage
iiber bicfen ©egenftanb l)od)ft toatjrfdfjeinlicf) unbeanttoortet gebtieben fein
ttriirbc, unb fjutetc midf), eine fotd^c an ben director ju ridjten. Sber
id) barf mir, ofyne mid) ju riifjmen, nadjfagen, baft id) bent 2tr&tc, ber
mid) be^anbelte unb ber in feiner ©pecialitat etttiaS ganj SluSgejcidjneteS
toax, an aHgemeiner SebenSftugljeit tocit iiberlegen toar. ©0 gelang e3
ntir benn and), inbent id) ntit Dieter ©ebutb unb in langen Stoifd)^
rduntcn anfdjeinenb unDerfanglidje gragen ftettte, SttlcS Don il)m ju er;
faljren, toa$ id) ju miff en ttwnfdjte.
Die bret fieute, bie midj in nteiner SEBofjnung befu^t fatten, toaren
Sterjte getoefen: jtoei Don ifjnen ©pecialiften fitr ©eiftegfranfe. ©ie toaren
Don nteiner grau ju einer ©onfultation nad) citirt toorben unb fatten
fid) Don biefer bermaften beeinfluffen laffen, baft fie meine ©ntruftung
iiber itjr unbefugteS (Sinbringen in meine SBoljnung at3 ein ©tjntytom
Don ©eifteSjerriittung gebcutet fatten. — Sffleine grau tjatte mit teuf-
lifter Shmft Silted jufammengeftetlt, toa$ mi<i) in ber 2Reinung ber Stcr^te
Dernid)ten !onnte. @ie Ijatte erjafjlt, baft 2BaI)nfinn in meiner gamilie
erbtid), baft meine SKutter an einer ©eifteSfranftjett geftorben fei, baft
id} auf ber UniDerfitat £atlucinationen geljabt Ijabe unb bort einem no^
torifdfen ©djtoinbter in bie £anbe gef alien fci, ber meine finbifdje, an
Dollftanbige UnauredntungSfdfjigleit grenjenbe 2eid)tgldubigfeit auSgebeutet
fjabe, um mir ein Don ifjm fetbft angefertigteS SRanufcript ju Ijofjem
*J$reife ju Derfaufen. 2>iefe £anbfd)rift fei DoBftanbig toertfjloS unb ent-
ljalte 5Rid)t3 al3 Derbretjte, unfinnige $^rafen unb einige SRecepte au3
ber Sinberjeit ber Efjemie, bie au§ irgenb einem SBerfe be3 SKittetatterS
copirt ioorben feien. 2Rcin Sriiten unb ©tubiren iiber biefeS HJtadjtoert
beute an, baft e3 bamate bereitS in mcinem ©eifte nidjt ganj ridjtig
jugegangen fei. Sftcin Derftorbener SSater Ijabe bie§ erfannt unb mid)
ju ^eiten Derfud^t, inbem er mid) auf SReifen gefii^rt unb mid) gejttmngcu
^abe, meine ©tubien aufjugeben unb mid) ju ^erftreuen. 3)iefe Kur fci
anfangli^ Don beftem (Srfolg gefront getoefen, unb man tjabe angenommen,
baft id) mieber ^ergeftettt fei. Slber batb nadf) meiner SSerI)eirat^ung
feien neue ©tjmptome meiner Sranf^eit ^erDorgetreten. 9lad) bem Sobe
meiner SSater^ Ijabe ic^ mic^ wit cin SBafynfinniger geberbct, unb burc^
bie fonberbarftcn 2lntiegcn, bie \&) an Derfctjiebene afytbaxt ©inmo^ncr
Don ®. gefteKt, ben beutlid^ften SeiDei^ geliefert, baft bie in meiner
gamilie erbtidje Sranf^eit nun aud^ mi(^ gepadt ^abe. — SKcine grau
fjabe bic§ eine 3^it lang mit (Srgebung ertragen; fie I)abe einen ©tanbat
€in r»crfe^rtcs £eben.
55
Dermeiben tootlen, unb SJtancfjertci Derfudfjt, urn midf) 511 fyeilen. 2tber
idf) fci immcr b5gartiger unb gefafjrlidjcr getoorben; fie t)abe angefangen,
mid) ju fiirdjten unb fci cnblid) im 3tttereffe ifjrer perfdnlicfyeu ©idfjerfyeit
genotfjigt toorben, arjtlidfje $iitfe Ijerbeijurufen. — 3*t guterlefct erfufyr id)
aud), baft bic Slenbe jefct mein SSermogen Dertoalte unb in bcr ^aupt^
ftabt lebc. 3)er doctor fiigtc tjinsu — urn mir cine SJreube ju madjen,
Dermutfje idf) — meinc SJrau toerbe mir cincn SScfud) abftatten, fobalb
mcin ©cmutlj^uftanb bteg julaffig erfdfjeinen laffe.
3d) f)5rte Kfleg ruf)ig mit an unb grub eg unDertoifdjlid) in mcin
@eba<f)tnif$ cin. 3d} ttmfjte fefjr tool)!, ba& bag bdfc SBeib fcincn anbern
3t»ed ucrfolgt Ijatte, ate ben, fid) in ben Scfife metneg 93ermdgeng ju
fefcen; unb idf) ttriinfd&te fef)nlid()ft bie ©tunbe tjerbei, too id) il)r bagfelbe
toieber entreiften unb fie baburd) beftrafen fonnte.
(Sine lange, lange 3^it ging bafjin; aber id) ttnirbc nit^t ungcbulbig.
3d) Ijatte in ber Slnftalt mefjrere intereffante Sefanntfd&aften gemadjt;
man befjanbelte micf) bort freunblicf); id) toax gut gepflcgt unb erfreute mid)
DoUfommener 9tuf)e. 3<f) fagte mir, bafc id) nocf) jung fct, bafe meinc
9iad)C toarten fdnne, baft id) feme Ungebulb an ben Sag tegen biirfte
unb Dor alien Singen bemiifjt bleibcn miifete, ben guten SRuf, in bem
id) bci bem director ber Stnftalt ftanb, aufredfjt ju crt)altcn.
®a, cineg Xageg, tfjeilte mir ber Slrjt mit, baft er mciner grau
gefiattet fjabe, mid& ju befucfjen. ©in fjeftigeg 3ittcrn itberfiet midf) bei
biefer 9lad^rid^t; aber idf) fammelte mitt) fc^nett unb fagte ruljig, eg toerbe
mir grofje greube macfjen, meine getiebtc (Sufanne toieber umarmcn ju
fSnnert. 93alb barauf trat fie, Don bem director bcgleitet, in mein Bint*
mcr. Sei 'ifjrem 9tnbtid toax eg mir, ate miiffe id) Dor 3ow Dergcfjen.
— S)er ©ebanfe an atteS ©c$led)te, bag fie ocriibt, an bag namcnlofe
g(enb, in bag fie mid& geftiirjt, Dertoirrte meine Sinne. 3<f) fat) cin
£adjeln auf ifjren Stypen, ein Sacfjeln teuflif<$en Xriumpfjeg, bag erreidjt
ju ijaben, toonad) if)r fatfdEjeg $erj geftrebt, ate fie mir ifjre £>anb ge-
rcic^t Ijatte. 3d) fonnte ben Slnblid nid£)t ertragen: id£) farang mit einem
toitben Safce auf fie ju, padte fie an bie Sefjle unb miirbc fie ertoilrgt
^aben, toenn mein 3)iencr, ber bei*m erften SRuf beg ®octorg fjcrbcigeeitt
tear, fie mir nidfjt entriffen unb midf) gebanbigt ^dttc. — SKan trug fie
Ijalbtobt aug bem 3immer. ©obalb ic§ bag Der^afetc 2lntlifc nid^t me^r
fa^, jourbe idf) fofort toieber ru^ig.
Diefer ?tuftritt ^atte bie traurigften golgcn fur mid). 3d) toufete
fe§r toofjl, toag id^ get^an ^attc. 3^ ^attc 8lad)e an ber elenben Krca=
tur ne^men tooHcn, bie mein ganjeg Scben Dcr^iftct tyatte. 3n mciner
^anblung toax nidjtg UnDerniinftigeg, Unfinnigeg; aber ii) madjte mir
flar, bag ber director ben Stuftritt mit meiner bogtoittig entftettten
Sergangen^eit in 3wfontmen^ang bringen unb mid) fur toaljnfinnig, tofc
fud^tig, rafenb fatten loerbc. 3$ toufcte, bag nun barauf ju Der^
36
Hubo lptj £inbau in paris.
jicfjten fjabe, meine greifjeit batb wiebcr ju erlangen, unb Sranrigfeit
futttc ntciitc ©eete.
2)er director befjanbelte mid) meljrere 2Bodf)en tang mit groftem
3Jtifjtrauen. 9k<f)bem idfj tE>tt aber gebetcn, mir bic #eftigfeit, ju bcr
id) midt) tjatte fjinreifjen taffen, ju toerjeitjen unb ba id} mir fortwatyrenb
bic gr5ftte 9Riilje gab, fcin 2Bof)twoHen burcf) greuubttdjfeit, ©anftmutl),
SRufje ju flewinnen, fo bilbctctt fid) enbtidj bie atten, angeneljmen Ste
jietjungen toicber, bie Dor bem 93efucf)e meincr grau jwifdjen iljm unb
mir beftanben fatten.
Sic 3eit ging einformtg, fdjnett ba^in. 3d) gew5f)nte mid) an bag
Seben, bag id) fiifjrte; ja, wenn idf) baran bacfjte, baft id) aufterljalb beg
©efangniffeg mit meincr grau jufammentreffen lonnte, unb baft id) fcfjwer-
lid) im Stanbe fein werbe, in iljrcr ©egenwart meine ©ntriiftung ju be;
mciftern, fo fagtc id) mir, baft idf) wot nirgenbg fo gut aufgetjoben fein
tounte ate in bem ftitten, freunblidjcn £aufe, in bem id) mid) befanb unb
wo 3ebermann mir freunbtidE) unb wotjtwottenb entgegenfam.
•JRonate, 3al)re fdjwanben baljin. S)ie groften gefttage famen, gingen,
wiebertjotten fidj: Dftcrn, ^fingften, 2Beif)na<f)ten, Sieujafjr. 3<f) btieb
immer in berfetben Sage, btieb immer berfelbe. 2)ie 3eit ^atte aufget)8rt,
SEBertt) fur mid) ju tjaben.
Sineg lagcS fiel mir ein journal in bie £anbe. $)ag 2)atum war
mit gr often, fetten Sudjftaben gebrudt, bie mir in bie Slugen fprangen.
3d) tag: „bcn 13. October 1847." (£g iiberticf mid) cigfatt. 3df) war
am 13. October 1812 geborcn; idf) war atfo fiinf unb breiftig %atyt alt.
— SJlein SBater war geftorben, ate id) adjt unb jwanjig %a1)xt alt war,
unb batb barauf tjatte man mid) meincr greitjeit bcraubt. Seit fieben
Saljren war idf) ©efangener! — 3d) ging in mcin Simmer, fefcte midf)
in cine bunlete (Sde, fc^rtc ben ®opf gcgen bie SBanb unb wcintc bitter -
ftdj. ©ieben Dotte, fd)5ne 3^rc tjatte man mir geftotjten! Unb bie
SRauberin, bag 2Beib, bag meincn Stamen trug, Icbte in greitjeit unb
greuben, bag ©etb toerpraffenb, bag fie mir entwanbt, bag fie mit bem
Scben meineg SSaterg, mit meinem ganjen irbifdfjen ©titd erlauft Ijatte!
Unbcfd)reiblid)er Summer filHtc mcine ©eete unb wodjentang war idj ber
SSerjWeiftung naf)e. ?tber nad^ unb nadf) ging ber brennenbe ©djmerj in
tiefc SQBe^mut^ iiber unb enblid) fanb ici^ gricben unb 8iulje; — ja, meljr
ate ba3: ^offnung unb ©liid I
3d) tjattc, wie id^ 3J)nen bereitS gefagt, bag mir »on ©oben t)er-
faufte 3Ranufcri|)t ja^relang mit grofttem Scmii^en ftubirt. 3<^ griibeltc
in ber ©infamfcit iiber 2>a£, wag icf) gelcfen ^attc, nad). — Seber unb
3)inte ftanben §11 meincr SScrfitgung unb icf) fing an niebcrjufd^reiben,
Wag mir Don ben SRecepten unb Setjren im ©cbde^tnift gebtieben war.
SDfcit bcr 3ctt wurbc SCKcg wunberbar Har in meinem Sopfe. 3*beg
SBort ber Stb^anblungen, iiber bie id) Dor 3^«n nad)gebad^t Ijatte, fiel
^ <£tn rerFefyrtes £eben. 37
mir nrieber ein. 3n tocnigen 2agen war id) im Stanbe, bic Sftece^te
jur 93ereitung beS SebenSelijrirS nieberjufdjreiben. Unb todljrenb id) fdjrieb,
offenbarte fid) meinem ©eiftc 9tt(e3, toaS mir bi3 baljin in bicfen 2eyten
rdtljfelfjaft getoefen tear.
©ic ipcrbcn ttriffen, baft in ber grojjen 2Renge bcr Uneingotoeiljten
bie atbernften 2lnfid}ten iiber bie 3ubercitung unb Slntoenbung be$
2ranfe£, bcr bem SDlenfdjen Unfterblidjfeit bcrleiljt, in Umlauf finb. 3d)
beabftdjtige nifyt, biefelben fjier }u ttriberlegen. 9tur cinen $auptyunft
ipitt id) furj erbrtern, toeil bieS jum SJerftdnbnife meiner ©efdjidjte not^
toenbig ift.
Qtoei ©adjen finb ju beobadjtcn, urn ba3 2eben3elijir mit 9lu^en
unb ungeftraft anroenben ju fonncn: Senntnifc bcr mannidjfadjen, feltcnen,
untcr ganj beftimmten, dufterft fdjtoierigen SJerljdltniffen ju fammelnben
unb ju contbinircnbcn Srduter unb 2RetaHc, toeldje jur Subcrcitung bc$
toftbarcn XranfeS erforberttd) finb — unb fobann abfolute Unterfeerfung,
ttmfjrenb cincr langcn Steifje t)on 3al>rcn, untcr cincr aufterorbentlid)
ftrcngcn ScbenSbiSciplin.
3d) Ijatte ba3 ©efjeimnift bcr 3"&crcitung be^ ©lijirS enbtid) cr-
fount; id} finite bic Kraft in mir, aUc ©ntbc^rungcn ju ertragen, alien
Sorurtfjeilen ju trofcen, attc ^fltdjten ju crfutten, urn bic SBtrfung bcr
9lrjnei ju cincr fcgcnSrcid&cn ju madjen. 3d} befdjlofc, meincn 3tufcnt-
tjalt in bcr &eilanftatt ju benufcen, urn mir Unfterbtidjfeit ju gebcn.
2Ba3 Wmmcrtcn mid) fieben, obcr jefjn, obcr jtoanjig erbdrmlidje %a1)xtf
bic cine ©Icnbc mir gcraubt fjatte, toenn fid) taufenbjdljrigeS 3)afein,
unermefclid} lang, bor mir auSbefjnte!
3)cr director bcr Stnftalt ertljeilte mir tuilltg bic ©rtaubnife, mid)
mit djemifdjen Slrbciten unb 93erfuc§en ju befdjdftigen. ©r betradjtetc
bieS ate cine fjarmfofe S^tftrcuung, bic mir, ba id} aud) im ©efdngnifj
ubcr berfjdltnifemdfjtg grofte ©elbmittel berfiigte, nid)t bertoeigert toerben
foHtc. ©r beftanb nur barauf, baft mir cin bon ifjm crnanntcr gamutuS
bci meincn S^crimcntcn betjiilflid) fein foHte. — 3<f) tidjtete cin fleineS
Saboratorium cin, in bcm id} fortan bon fritf) bi£ fpdt fleifcig arbcitetc.
<5Heid)jcitig fing id} an, meinc 2eben3toeife nad} ben Sorfd^riftcn ju rc^
gutiren, bic in bcm alten SJtanufcript nicbcrgelegt unb bic mir nun crft
in if}rer ganjen Xragtoeite berftdnbli^ getnorben waren.
aJlein ©eift crtoeitcrte fi(^ mc^r unb metjr. 2lttndd}tig im Sraumc
erfd}ien mir ber grofce SBeife, ber mic§ juerft in bic ©c^cimniffe bcr
SKagie eingctoei^t ^atte unb offenbarte mir neuc, bi^ ba^in bon feinem
©terbli^cn crgrunbetc ©d^afee feineS gottli^cn SSiffen^. „3)u ^aft mir
Dertraut," fagte cr; „^crrli^er Sofjn fott 3)ir tocrben." — @r ipurbe
mir . . . 3)enn inncr^alb bcr nd^ften fed}£ SWonatc fanb \6)f toa%
unfere dtteften 9Sorfat}ren bunfel gca^nt, abcr toa3 bor mir fein (£rben;
fo^n entbedt fatter 3)a« ©efjeimnifj, nid^t nur ben lob nad} SBelieben
38
Hubolplj Sittbau in parts.
fern ju f)alten — fonbern bic toeit tiefere, fdjonere, cblcrc ®unft, bag
Seben jurutfjufd&rauben . . ., fid£) allmaljtidf) ttrieber ju Derjungen."
2trj Elaafeen tyatte bie lefcten SBorte mit Segeifterung geforodjen;
fcinc Stugcn teudfjteten.
„£)!)! fiber ben foftbaren gunbl (£r bradfjte mir £>offnung, ©tiidl
9hm fonnte id) bag @tenb ber ©efangenfcfyaft oljne SKurren ertragen;
ttmfttc icf) bod), bafc eg ntir geftattet fein toerbe, bie %a\)te, bie id>
in ber Sinfamfeit Dertrauert fjatte, toieber ungelebt ju madjen. —
2)ie gro&e, felige 3ufriebenf)eit, bie mein |>erj fiitlte, aufeerte* fid)
in mcinem gan&en SBefen. 3<f) tourbe ber freunblicfjfte, toof)ltoollenbfte
•JRenfdfj; ict) gtaube fagen ju biirfen, ic§ ttmrbe, im mafjren ©inne beg
SBorteg, ein tiebengtoiirbiger 2Renfd). Sllle, bie mict) umringten: ber
director, ntein 3)iener, bie Sranlen, unb barunter trie! bflgttrittige, eigen^
finnige ©efdjopfe, f^Ioffen fid) freunblid), jutrautidf) an mid) on.
Unb fo gingen toieber So^re batjin, triete, tange 3af)re. — 2>er
alte director ftarb. SEBir begruben ifjn. ©in neuer tarn an feine ©telle.
@r fdfjenfte mir batb bagfelbe 2Bof)ltooHen, beffen id) mid£) unter feinem
SSorganger erfreut tjatte; — unb eineg 2ageg, im SBinter beg 3a^re^ 1857,
bracfjtc er mir bie ®unbe Don bem lobe meiner grau. 3$ na^m bie
9?ad)rid)t mit Dottftanbigem ©teid)mutl) auf unb fagte nur: „®ott fei
il)r gnabig!" — Stber nun, ba mein b5fe3 ©enie Don ber Dbermelt
&erfdf)tounben toar, biirftete mid) nadj greitjeit.
3d) licfc mid) bci bem director anmelben unb tjatte eine tange
Unterrebung mit il)m. 33) ^atte mict) ju berfelben forgfattig Dorbereitet;
idf) nmfete, baft idf) mict) Derftetlen miiftte, baft id), ber id} alien anberen
3Renfd£)en an SBeigfjcit fo unenbticf) iiberlegen toar, mir ben Sinfctjein ju
geben Ijatte, alg ttriffe id£) baDon nicfjtg, alg t)alte id) mid) im ©egentfjeit
fiir ein geiftegarmeg, geiftegfdf)toacf)eg ©efdjityf. 3<$ tl)at bieg. (£g tear
mir ein neuer 93ett>eig meiner Uebertegenfjeit.
„$err director," fagte id£), „©ie fennen micf) nun feit einer langen
SRei^e Don ^atyren. 93in id) ein fc§lecf)ter, bin ict) ein gcfatjrlidfjer 2Renfdj?
3ft eg mflgtid), ein Ijarmlofereg Seben ju fiifjren ate bag, toel<f)eg ©ie
mic^ ^ier leben fef)en? — 3^ t>a6 ify bor langen 3a^^n, unter
bem ©influfc ^eftiger ©df)mer5en, leibenfcf)aftlid{)en Borneo, ^anbtungen
begangen ^abe, toetdje eg im Sntereffe ber ©efellfdfjaft unb in meinem
eigenen notljtoenbig marten, mid^ ^ier^er ju bringen. Slber feitbem finb
fiebenje^n 3fl§re ba^in gegangcn! — ©iebenje^n %af)ul — 3^ bin nun
fiinf unb Dierjig 3^^^ olt. 2)er fc^onfte S^eil meineg Sebeng ift baljin.
Saffen ©ie mic^ ben furjen Steft begfelben nod^ geniefjen; Derurt^eilen
©ie mi^ nid^t ju lebenglanglid^er ©efangenfd^aft. 3^ ^be nid)t Der^
bient, fo graufam beftraft ju werben. — 3)ag einjige SBefen, bem ic^
^atte gcfatjrlidf) toerbcn fonnen, meine grau ift tobt. @g lebt f)eute Sliemanb
in ber ganjen, grofeen SBett, fiir ben ic^ anbere ©efii^le alg ©efii^le beg
€in perfe^rtes £eben. 59
SBofjlmolIenS fjege. ©eben Sic mid} frei, bamit i$, im SBereid) meiner
Srafte, no<f) ©uteS im Seben tfjun ftmn. — 3$ bin ein tootjtyabenber 9Rann.
— ©ie §aben arme Scute in Sfjrcr Stnftalt. 3d) t>crf^rec^c 3Ijnen rcid);
lictje #ulfe fiir biefclben; id) ttritl, bafc meine SEBofjttfjatigleit fid} $unad)ft
an mcincn atten SeibenSgenoffen betfjatige; ober ermtfglidfjen ©ie mir,
in loeiteren Sreifen ©uteS 511 toirfen. Sin SBort Don 3$ncn geniigt, um
mir meinc SJreifjcit toicberjugeben. ©pred)en ©ic bie£ SSort auSl ©cicn
©ie barmljerjig — gerecfjt; erftdren ©ic mid) fiir gefjeilt; ober, toenn
3f)r ©etoiffen 3^ncn bieS nid)t erlaubt, fur unfdjdblid), IjarmIo3. 3d)
bin e£, $err director; unb ©ic miffen e£. $aben ©ic ©rbarmen mit
cincnt armcn SRanne, bcr bic fd£)5nften %af)xt feineS SebenS elenb uer;
trauert unb bcr niemate 935fe^ getoottt E^at unb nidfjt fdjledjt ift."
S)ie Jtjrdnen ftanben mir in ben Slugcn unb ber director toar tief
geruljrt.
„3d) Witt mcin SefteS fiir ©ie tljun," fagte cr.
9tad) cinigen logen tourbc id) Don jtoci fremben &erren befudfjt.
3d) ertannte fofort Slerjte in if)nen unb toax auf mciner $ut. ©ie
fragtcn midf) iiber 93iele3: iiber mcine ©tubicn unb 93efd)aftigungen. -—
3df) gab ifjnen fjoflidfjen Sefdfjeib. S)er ©ine wottte mid) argern, mie
fcin ©oQcgc bieS Dor jtoanjig 3^^tcn getljan fjatte. 33) crfannte feine
8bftd}t unb ging nidjt in bie gaUc. „@3 ift moglidf), bafe idf) irre,"
anttoortctc i<$ auf feine l^nifdjen Scmcrfungen iiber meinc Slrbeiten;
„aber mein S^t^um fdfjabet feincm SKenfdjen unb madjt mid) gludlicfy."
93alb barauf Derliefecn mid) bie beiben £erren toieber, unb ad)t
Sage tyftter brad£)te mir bcr gute director, mit freubeftrafjlenbem ©cfidjte,
bic 9tad)rict)t, bafj id) frei fei.
„3d) gratutire 3f)nen, ntein licber #err Ktaafcen," fagtc er, „unb
id£) Ijoffe unb ttwnfdje aufridfjtig, ba& ©ie %f)xt& ScbenS nod) todfjrenb
langcr %cif)xt red^t frot) toerben mogen. — ©ic toerben fidf) gettriffen
2Rafjregeln ju untertoerfen fjaben, bie ©ie aber in fciner SBcife befjettigen
toerben; unb idf) ratfje 3f)ncn, fidf) nic^t bagegen ju ftrauben. — ©3
toirb gemiinfc^t, baft Sranj 93raun; ber Sebicnte, ber feit 3^ren ju
3^rcr SJcrfiigung geftanben §at unb mit bem ©ie, foenn id^ nid^t irre,
pet§ sufrieben gctoefen finb, aud& ferncr in S^cn 2)ienftcn bleibe; unb
id) fott ©ie erfudfjen, bie SScrtoaltung 3t)rc^ 9Sermfigeng, ba3 fid^ toa^rcnb
bcr lefeten 3^rc noc^ um ein 93ebeutenbeS t>ermef)rt ^at; einigen ad^t=
baren unb tiidfjtigen ©cfdfjdft^Icuten anjuDertrauen. ©ic fetbft finb atten
©elbangelegenfjeiten fremb getoorben unb iDiirbett nur ©orgen unb SJlotfj
^aben, toenn ©ic fidfj nun |)16felid) um bie Stbminiftration 3^cr ($,apv
tatien befummern folltcn. S)ic ^crren, bie 3^nen biefe 9trbeit abne^mcn
tootten, toerben 3f)nen fouiel ©elb, tt)ie ©ic nur toerniinftigertoeife ge^
braud^en fonnen, jur S3erfiigung ftctten. — Saffcn ©ie e3 babei beru^cn,
ba bieS aU cine bcr Scbingungcn S^r 3nfrcit)citfefeung gemiinfd^t tt)irb.
40
Hubolptj £inbau in parts.
— ©ottten Sic SRatf) gebraudjen, fo ioenbcn ©ie fid) DertrauengDotl an
mid), ©ie fjabett meine 31d)tung getoonnen, unb id) toerbe ftetg S^r
treucr greunb bleiben."
3d) faflte ju Slllem tuittig: „ja"; toir umarmten ung; unb ant
nadfjftcn 2age Derliefc id), unter ben ©egengtoiutfdfjen bcr Sferjte, Sranfen
unb SBarter, bic Slnftalt, in bcr idf) fiebenjeljn %cti)xt lang gelebt ljatte."
V.
„&err Slaafcen," fagtc idf); „eg ift fc^r fpat getoorben. Sfjrc ®e-
fdf)idf)te intereffirt midlj toirflidf) ungcmcin; aber id) Ijabe morgen cine
toette Sfteife Dor mir, unb modjte ©ie nun um bic ©rlaubnift bitten,
mify jurudjieljen ju biirfen. 3d) fommc nid)t felten nad) SB., roenigfteng
cinntat jebeg S^r. 3$ toerbe mir, bei mciner nftdfjften Slntoefenfjeit
fjier, bag SScrgniigen madfjen, ©ic aufjufudjen unb ©ie bann bitten, 3(jre
©rjdtylung beenben ju toollen."
3d) toax aufgeftanben unb toollte 31bfd)ieb neljmen; aber cin rii^rcnb
trauriger Slid, ben ©laafcen auf mid) toarf, ber Slid beg Sinbeg, bent
cine ertoartete grofte Ufreubc plofclicf) entjogen toirb, liefe mid) jaubern.
„©ic toollen midf) Derlaffen?" fragtc cr tletnlaut.
„©g ift foat," anttoortete id).
„3a, eg ift fpdt," toieberljolte er &erftreut. ®amt feufjte er tief
unb fefcte Ijinju: „3d) barf nid£)t ertoarten, bafe meine ©efd£)idf)te ©ie
intereffire. 333ag id) fagc ift untoaljrfdjeinlid). ©ic l)5ren mir toal)r=
fdfjcinlicf) $u toie Slnbcre Dor Slnten eg getljan t)aben: ©ic glauben
mir ntdjt . .
„©eicn ©ie Derfidfjert, $>err GTaaj3en," unterbrad) id), „bafc id) 3fjre
Stufrictjtigleit nid)t cinen Slugenblid bejtoeifele."
©r nidte baju traurig. „&ier ift meine Slbreffe," fagte cr. „3d)
tooljne in eincm Sanbljaufe, eine SSiertelftunbc Don l)ier. S^bcr ®utfd)cr
fennt ben SBeg; jebeg Siub toirb 3^n*n bie »93it(a 3uDenta« jeigen.
©g foil mid) fel)r frcuen, ©ie bei mir empfangen ju fdnnen; aber toenn
3f)re 3^it S^uen nid&t erlaubt, midf) aufjufudjen, fo telegrapfjiren ©ie
mir einigc SBorte, unb id) lomme bann fyierfjer, um ©ie ju fefjen. 3d)
fcfjlafe beinal) ebenfo oft im »@rbprin$en« toie bei mir ju #aufe. ©g ift
cin Sigdfjen einfam in mciner SSitta; toogegen id) Ijier Don 3^it su 8^
bag ©liid Ijabe, eine Sefamttfdjaft ju madden. — ©eit 3af)*en ^be i^
nid^t fo ticbengtoiirbige ©cfellfc^aft gefunben tok bie Sljrtge. @g ift cin
tt)irltic^cr ©c!f)merj fiir mid^, berfelbcn fo fctjnetl tnicber cntfagen ju
miiffen — aber id) barf ni^t inbigcret fein; id^ to\U ©ie nid)t juritds
fjalten. Stuf SBicberfc^en! — 9tid)t toa^r? 9luf SBicberfe^en!"
©r reid^te mir bic ^anb. @g tear etmag fo f^merjli^ SRcfignirteg
in bem Ion feiner ©timmc unb in feincr SDtiene, bafj mir ber SWut^
<£tn rerfeljrtes £cben.
augging, bet mcinem erften ©ntfdjtuffe ju befjarren. „3d) fann morgen
im SBagen fdjtafen," fagte id) mir. ,,3$ tnill bcm nrmcn 3Jlann ben
5Reft meiner 9?ad)t fdjenlcn."
„§err ©laaften," bcmerfte id) barauf laut; „eg ift fc^r fc^mctd)cl=
^aft fiir mid), bafe ©ie an meiner ©efellfdjaft ©efallen finben. 33) Iflnn
meine 5)anfbarfeit bafiir nur bejeugen, inbem id) ©ie nun um bie ©r*
laubnift bitte, nod) einige 3^it bei Sfywn 5^ bleiben. — 3ft 3f)nen bied
genetjm?"
Seine Slugen leudjteten auf in greubc. „Db eg mir genetjm ift
rief er. „5Rid)tg fann mir angeneljmer fein, Deretjrter greunb! — fatten
©ie mid) nid)t fiir einen ©djtoajjer, ber ben erften, beften SRenfdjen, ben
er antrifft, jum Dpfer feiner SRebfeligleit mad)t. 9iein! — 2Bag mid)
ju 3^nen Ijinaietjt, toag ©ie mir alg Scorer fo toerttjtootl madjt,
iji bag SSertrauen, bag . ©ie mir ju bejengen bie (Siite tjaben. ©ie
fonnen nid)t afjnen, toie urtenbtid) tootjltfjuenb bieg fiir einen cinfamen
SRann ift, on bem toaljrenb etneg tangen, betoegten 2ebeng mete 9Ben=
fdjen Doriibergegangen finb, toon benen itjn aber bie meiften mit Un-
glaubigfett, anbere mit ©pott unb §o!jn, nur toenige, feljr toenige mit
einer rid)tigen SBiirbigung feiner ©igentf)iimtidi)feiten befyanbelt tyaben.
3d) bitte ©ie, mir 3f)re Slbreffc ganj genau aufgeben §u toollen. ©ie
foUen fpater Don mir t)5ren. 33) f^nn 3^nen t>icHcidE>t im Seben nod)
einmal niifelid) fcin./y
3d) gab iljm meine Sarte, auf ber meine Slbreffe berjeidjnet toar.
©r huff ein 3JlonocIe in bag Singe, toag bem alten SOtann ein eigentfjiitu-
lid) ftufcertjafteg Stugfeijen gab, lag bie Stbreffe mit tauter ©timmc Dor,
bamit id) einen ettoaigen 3^um barin corrigiren m5d)te, unb ftedte
bie Sarte fobann in eine elegante SBifitenfartentafdje. 3)arauf bot er mir
eine frifdje ©igarre an, bat mid), burd) eine freunblidje |>anbbetoegung,
meinen alten ^Jlafc einjune^men, fefcte fid) mir gegeniiber nieber unb fufjr
in feiner ©rjaljlung fort.
„3d) begab mid), Don meinem treuen Siener begleitet, nad) mciner
£>eimat unb bejog bort bag |>aug, in bem mein SSater unb meine SDhitter
ba^ Scttlidje g^f^gnet fatten unb id) geboren toar. ©g toar feit fiebens
je^n Saturn unbetootynt; aber meine Derftorbcne grau, bie fid) auf atleg
®efd)dftfid)e gut berftanb, fjatte eg Don einem bejaljrten ©Ijepaar, bag
fdjon ju Sebjeiten meiner ©Item in unferm Xienfte geftanben Ijatte, in
©tanb fatten taffen; unb obgleidj bag SRobiliar nid)t toenig gelitten
fyatte, fo fanb ic^ bod) metjrere Sinter gut genug conferfcirt, um mi^
barin, mit £iitfc meineg getoanbten S)ienerg, bequem einridjten ju f5nnen.
— 9tu^ mein SRanufcript fanb id) toieber, mein getiebteg SKanufcript!
©g mar teiber ni^t fo forgfam geptet luorben, toie toa^renb ber 3^^=
ljunberte, too bie 9la^Iommen beg SJerfafferg eg aufbemat)rt fatten. 3)ag
papier toar no(^ me^r Dergilbt, bie S)inte Derbla^t; Sfflotten unb 2Bitr-
Kubolplj £inbau in parts.
mer fatten bic ©eiten burdtfreffen unb ftarf befc^dbigt; aber fiir S^ntanb,
ber eg fo genau mic id) lannte, toax eg nod) intnter leferlidf) unb Don
unfdfjafcbarem SBertfje.
SKeine erfte ©orge tear, bie oorjiiglic^ftcn Stuffdfce unb SRecepte tnit
ben &anbfdfjriften ju oergleidjen, bie id) im ©efangnifc aug bent @e;
bacfytnifc aufgefefct fjatte. ©onberbarer SBeife ftimmten fie mit bent Dri*
ginal nid)t fo Dollfommen iiberein, toie id) bieg angenomnxen Ijatte. 5)ieg
beunruljigte mid) iebodj nidjt. 2>ag, toag id) gefefyrieben tjatte, tear fo
ju fagen Don bent SBerfaffer beg SRanufcrtytg bictirt toorben unb befafe
biefetbe 9lutoritat true ber Snfjalt beg Driginatg; eg toax gettriffermafjen
ein Sommentar, cine 93erDotlftanbigung begfelben. — 3d) ridjtete ntir
ein Saboratorium ein, tojeit Dollftanbiger alg bog, toag id} friifjer be*
feffen tjatte, unb madfjte mid) fobann oljne ©aumen an bie 3ubereitung
beg Don mir entbecften SSerjimgunggtranfeg. — 3$ tebtc nun bereitg
feit fiinf unb Dierjig 3«^ren; jtoar finite id) nodf) nidjtg Don ben ©e-
bredjen beg 9ltterg; aber id) bemerfte bodf), ba& ntein Sorter fotool toie ntein
©eift bie ©lafticitfit unb grifefye ber 93Iutl)e ber 3ugenb eingebufct fatten,
unb idf) tootlte je etjer je lieber anfangen, ttneber iilnger ju toerben. — 9tad£)
fedjgntonattidjer Strbeit gelang eg mir, bag unfdjdfebare ©etrdnl ju bereiten."
©r Ijieft inne unb faf) mid? argtooljnifd) an. 3$ tit^rte mid) nidjt.
„3d) ttmrbe 3*)nen 9crn &on bent (Slijir fdjenfen" — erflarte er
ruf)ig; „aber 3f)tten Bnntc eg nid&tg niifcen. 9Rir aHein fann eg frommen.
(Sine ber S3ebingungen, unter benen ber Irani mit (Srfolg gebraudjt
toerben lann, ift, baft cr Don bemfelben 3Kenfd)en, ber ifjn antoenben
ttjitl, entbedt unb beftittirt toorben ,fei. SBare bieg nidjt ber gad, fo
toiirbe atte SBelt toiffen, toag idf) tocifc; — benn id) bin fein ©goifi
Ungtiidlidfjer SBeife ftir bic arme leibenbe 3Jlenfd)f)eit fann idfj allein SSor-
tfjcil aug meiner ©ntbetfung jiefjen."
„3d) Derftefje," fagte id).
@r nidte mir freunblidf) ju unb fufjr fort:
„3d) madjte aug meiner 93efd£)aftigung lein @ef)etmnif3. Dag toar
mir nicfyt geboten. — SKeine gamilie toar in ®. feljr befannt getoefen;
idj fanb bort einige entfemte SSertoanbte, unb eg bilbete fidf) balb ein
®reig toofjltoottenber greunbe urn midf). S)iefen erja^Ite i^ bereitwitlig,
toag ©ic nun oon mir erfafjren ^aben. — 3(f) fat) tool, baft id^ nirgenbg
©tauben fanb; aber bag fiimmerte mic^ toenig. 2)ag ^ofitbe SBiffen Don
bem 3)afein ber mir iunettjo^nenben aufjerorbentftdjen SBeig^eit genitgte
mir, urn mid) gtitdtid) ju madden.
9tm 13. October 1858, nadjbem id^ meinen 46. ©eburtgtag gefeiert
^atte, begann id£) meine Sur. 3^ bemerfte mit Sefriebigung, ba| id^
mid£) mit jebem lage urn einen lag Derjiingte; unb am 13. October beg
nadfjften 3^reg lonnte idf) ju meiner unbef(f)reibti(^en greube meinen
45. ©eburtgtag feiern.
€tn ocrfefyrtes £eben. ^3
3af)r auf %af)x fdjrieb id) fortan Don meinem Seben ab. Sftene
Sugenb, ncuc Sraft jogen mit jebem £age in nteitt SBefen cin unb er=
futtten mid) mit, Don ©terblidjen nid)t ju atjnenber, SBonne.
gm SBinter beg 3<*$tt3 1861 madjte id) in meiner Saterftabt bic
Sefanntfdjaft eineg jungen URabdjeng Don fiinfoeljn 3o^rcn. @g toar bag
lieblidjfte ©cfc^o^f , bag bic (Sinbilbung erbenlen lann: frifd), ^eitcr,
lebengluftig, btfbpbfd) unb fo flug, baft fie bei SSieten fur Dortoifcig
gait. ©ie toax bie lodjter eineg meiner ©djulfameraben, unb id) !am
I)dufig in bag §aug U)rer ©Item. — ©ie Ijatte big Dor ^urjem bei
einer alten finberlofen Xante getebt, Don ber fie aboptirt toorben mar.
9iad) bem lobe biefer 93ertoanbten, bie il)r ein fleineg SSermflgen fjintcr-
laffen ^attc, war fie in bag £aug ifjrer ©Item priidgefeljrt. 3$ erf or
fte p meinem Siebling unb benufcte jebe ©etegenf)eit, urn il)r eine Sreube
ju madjen. 3$ ^attc bie ©enugtfjuung, ju fcfyen, baft fie fid) bafiir in
ttnblidjer Danfbarfeit unb £ingebung an mid) anfcfjloft.
©ineg Xageg, atg id) in bem fjeimifdjen SBofjnaimmer iljrer ©Item
neben i^r faft, fagte fie ptofctidj:
„$err Elaaften, ift eg toaljr, baft ©ie ein URittet erfunben tjaben,
ttneber jung &u toerben, unb baft ©ie bamit befdjaftigt finb, fi<i) toieber
jung ju madjen?"
„§elene!" rief bie SKutter Dertoeifenb.
„2affen ©ie bag ftinb fpredfjen," fagte id). 3)ann toanbte id) mid)
an fie unb anttoortete auf iljre ffrage: „3a, id) befifce bieg 3RitteI; aber
meg^alb fragen ©ie banad)?"
©ie tadjelte fdfjetmifd) unb bann anttoortete fie mir: „3d) ljabe,
feitbem id) l)ier bin, Die! iiber meine Sufunft nadEjgebadjt. 33) toerbe
mid) naturlid) eineg lageg Derljeirattjen. 5Run gefatlt mir aber Don ben
jungen Seuten, bie idj fetje, S?einer tyalb fo gut toie ©ie. — 2Bie alt
finb ©ie, £err glaaften?"
„3d) bin Dor neun unb Dierjig 3«^cn geboren," anttoortete id),
„unb bin jtoei unb Dierjig 3«^e alt."
„S)ag paftt fyerrlid)," fuljr fie fort. „9hm toerben ©ie no<f) fieben
Sa^re iiinger; bann finb ©ie fiinf unb breiftig unb id) jtoei unb jtoanjig
3a^re alt; unb bann nefjmen ©ie mid} ju 3^^r grau."
„^etene, ^elene!" rief bie SWutter toieber.
3lber \6) ftanb auf unb fagte fefyr beftimmt: ,,3$ bitte ganj ge=
^orfamft, meine Derefjrte Steunbin, %f)u Softer fpredfjen ju taffen; eg
fei benn, baft bag, toag fie fagt, mit 3^«n 8Biinfd)en unb Slnfidfjten in
SBiberf^rud^ fte^e."
S)ie Dame hntrbe Derlegen unb entgegnete: „$etene ift ein unartigeg
ftinb;;/ aber id} toanbte mi^ nun an bag junge SKabd)en unb fragte,
ob fie im @mft gefprodjen ^abe.
©ie blidte ladielnb, ettoag fc^eu, na^ i^rer SKuttcr, unb bann ant;
Hubolptj £inbau in parts.
toortete fic mir jutraulid): „2Benn ©ie fiinf unb brciftig 3af)te alt finb,
unb id) jtoei unb stoanjig bin, bann tterfjeiratfjen ttrir ung, &err ©taaften.
2)ag ift abgemadjt."
2)arauf natjm id) tfjrc $anb unb fagte feierlid): „©o betradjte id)
©ic atg mcinc 93raut." 2)ann ndfjerte id) mid) bcr SOtuttcr mieber unb
fefcte tjinju: „2Rit 3^rcr SBemilligung, fjodj&erefjrte greunbin." ©ie tiefc
mcinc grage unbeantmortet; abcr fic tnieg tncincn Stntrag nid)t juriid.
Sljre SBorte toaren: „©ieben 3^f)rc ift cine tange grift. SBir molten
fpdter ttrieber bon bcr ©adjc rcben."
2tm nddjften 2age fagte mir |>etcne: „S)lama E)at mid) geftern aug;
gefdjotten. ©ic mcint, eg fdjide fid) nidjt fur cin grofteg SKabdjen nric
id}, fo ju fpred^en, mie id) getljan fjabe. SBir muff en bic ©adje Dor*
tdufig ruljen laffen; abcr eg bteibt bci unferer Scrabrebung, $err Elaafeen."
SSicr 3aljrc giugen bafjin. 3<*) faf) $etene jur fc^5nftcn 3ungfrau
fyeranreifen. ©ic war neunje^n %af)xt alt. ©cit cinigcr 3*it toax fic
aufcerorbenttid) ftilt unb juriidljaltenb gefoorben. Qtoax ^atte fic nod)
immcr cin freunbtidjeg , guteg Sddjetn fur midj, foenn fic mid) crbtidtc;
aber fic fcermicb, mit mir attcin ju fcin; unb bertrautidje Unterrebungen,
bic friitjer fo f)duftg jttrifdjen ung gemefen maren, fanben nid)t mcljr ftott.
23ag war fcorgef alien? 3d) jerbrad) mir ben Sopf bariiber unb
mar fefjr ungtiidtid). — Unb baf cincg 2ageg tfjeitte mir $>eleneng SSater
in biirren, fatten SBorten mit, atg gingc mid) bic ©adje gar nid)tg anf
baft fid) fcine Xodjtcr bertobt I)abe unb fid) in tnenigen 2Konaten, im
nddjften griif)iaf)r, fcertjeirattjen merbe.
3$ ftanb fpradjlog, grenjentog tjertoirrt; — aber id) blieb rufjig.
3Kit fciner Sffliene, mit feinem SBorte toerrietf) id), mag id) titt.
33} gi"8 na$ $ouft unb tocrbarg mid) in mcincm 3intmcr unb
meinte. — 3Rcin efenbeg Seben jog Dor mcincr fcerbiifterten ©eete tooriiber:
bcr lob mciner Sltern, ber cinjigen SBefen, bic mid) gcticbt; mcinc
furje, ungliidtidje ©tje; mcinc tangc ©efangenfdjaft. 3$ fragtc mid), ob
e^ fid) ber SKitfje bertofpte, nod) einmat jung ju merben, nadjbem meiu
eigeneg Seben 3eugnift babon abtegte, mie tocnig grcube bic 3ugcnb
cineg SRenf^cn ent^altcn fann. 3$ war nal)e baran ju &erjtoeifeln. SBar
eg nid^t ratljfamer, mir ben lob ju geben, al£ ein Seben ju friften,
bag mir fcine greubc me^r Derfprad)? — ©liidli^ermcife fid mcin SBIid
auf bag SDlanufcript, bag auf bem Slrbeitgtifdje lag. ©eltfam bcrebt
gldnjten mir bie altcn, tterblidjenen Sud)ftabcn entgegen. — 3)ic
gbttlidjc SBcig^eit, bic fic mid^ gcteljrt fatten, fiitltc mcin ^erj ttrieber
mit ber SRu^e, bcr bic Unfterbtidjen attcin fic^ crfreucn fonncn. — SSag
war bcr Summer eineg Stugenblidg fiir cin 2Befenf bag bcr 3^it ge^
bietcn fonntc fur ifjn ftitt ju fte^en ober gar jurudjuU)cid)cn? 33)
ldd)ctte ob bcr ©(^Joa^c, bic mid) iibermannt ^atte unb fiifjlte mic^
ftdrfcr, mdc^tiger, wcifer alg j|e juDor.
€tii cerfefjrtes £eben.
45
2lber mcinc $eimatgftabt ^atte ifjren Stcij fur mid) oerloren. 3d)
jiirnte $clcnc nid()t; fic war meineg 3omc^ nidfjt ttriirbig; aber id) tt)otttc
nidfjt toieber mit iljr iufammentreffen. 2)rei Xage nadfjbem idf) bic 5Rad)s
ricfjt Don ifjrer Serlobung cmpfangen fjatte, Derliefe id) ft. fiir immer."
f>err ©laafcen tyiett cincn Slugenblid imte, toie um fidj su fammeln.
?lf£ cr bemerfte, bafe id) mit miibcn Slugen nad) bcr Uljr btidte, fagte cr:
„£aben ©ic nur nod) toenige SDtinuten ©ebulb: mcinc ©efcfjidjte
ift beenbet."
$ann fpracf) cr fdjnetl toeiter, alg fiirdjte crf mcinc Slufmerffamfeit
moge Dor bcm ©cfjlufe fcincr (Srjafylung crmattcn:
„©eit jtoci Safjren I^e id) in grower Butudgejogenfjeit in bcr
9iat)e Don SB. 3<f) ^6c mcinc ©tubien ungeft5rt fortfefcen !5nncn unb
neue, Ijerrlidje ffintbedungen gemadfjt. 3n golge beffen tjabe id) cincn
Sntfdfjlufi gefafct, bcr fiir mid) Don bcr attergr5ftten SBidfjtigfeit ift. —
g£ ift mir gclungen, ben Don mir jubereiteten Irani in cincr SBcife
$u conbenjtren, ber fcine ftraft Dcrjioanjigfa^t. 3$ tjabe il)n in bicfer
neucn gorm nod) nid)t antoenben fbnnen, tocit idf), um bieg mit (Srfolg
ju tljun, getoiffe giinftigc ©temconftettationen abtoarten mufc. Slbcr im
nacfjften 3al)re barf id) bag ftarfc ©ctranf, bag jeben anbern alg mid)
tobten toiirbe, ungeftraft einne^mcn. — 3d) toerbe bieg tfjun . . benn . .
mcinc Slbftdjt ift . . ."
(Sr ftanb auf, bcugtc fidj ju mir Ijeruber unb fagte fluftcmb, tang*
fam, jebeg SBort bebeutfam betonenb:
„9Dlcine Slbfidfjt ift, mcin Seben in fiirjeft m5glid)cr grift big ju
mcincr (Seburt juriidjubrangen."
Gr fal) mid) langc an, unb futjr bann mit tcifcr ©timme traurig fort:
„3d) fjabe mir Har gemadfjt, baft mcinc iefcigc ©jiftenj untcr alien
Sertjattniffen cine ctenbe btciben toerbe. 2)ic entfefelidfjen (Srfafjrungen,
bic id) gemadfjt, bic triiben (Srinncrungcn, bic fid) nidfjt aug mcincm
®ciftc Derfcfjeudfjen laffen, nriirben mir, fo langc idf) ben altcn 2Renfdf)en
mit mir fjerumtrage, jebe greubc Dergiften. 3d) fann, fo tange idf) mcin
iejjigeg Sebcn lebe, nidfjt ungefd)ef)en madjen, baft man mid) fieben?
jetjn Dofle, langc 3al)re im ©efangnife f)at fdtjmacfjten laffen; ba§ ii),
toit fcltcn cin 3Kenf<f}, betrogen, gcmi^anbclt toorben bin. SlHeg bicg
mufe au£ meincm 2)afein ^crauggenommen werben, toenu id^ toicber
ru^ig unb gludlidf) tocrben foH, unb be^alb . . ."
®r na^m jefct toieber ben feicrlid^eu Ion an, in bem er mir bic
SKittfjeilung gcmadf)t ^atte, ba^ cr fcin Sebcn big auf feinc ©eburt ju^
rudjubrangen bcabfic^tige:
„. . . DeStjalb toil! id) jur SBicgc juriidfe^ren, um alg 3?cuges
borcner, ober . melmeljr atg SBiebcrgeboreucr cin ncue£ Sebcn oon Sln^
fang an beginnen ju fonncn/'
Sr rid)tete fid), na^bem cr bicg gef agt fjatte, cmpor unb f af) mid^ unru^ig an.
46
Hubolptj £inbau in parts.
„®Iauben ©ic, baft mir bic£ gctingcn toirb?" fragtc cr. „Dber
toerbcn ©ie mcincr nun aud) fpotten, uric 2lnbcre e£ gcttjan l)aben, bic
idf), nne ©ic, in mcin SSertraucn gcjogcn ^attc?"
„9tein, §crr ©laaftcn," anttoortete idj. „©cien ©ie fccrfidfjcrt, baft
idj S^rer nid^t f^ottc unb nicmafe gotten merbc. 3$ toitnfdjc, baft
3f)ncn S^rc, in bcr Xfjat ^oc^ft cigent^iimtid^en, ©j#erimcntc gctingcn
mogen."
©r toar fo geriilirt iiber bicfe SSSorte, bic id), mit aufridjtigcm
SKittcibcn, rutjig unb crnft gefprodjen tjattc, baft iljm bic Xf)rdnen in
bic Slugen tratcn.
„3<f) tocrbc S^ncn nic tocrgeffen, baft ©ic nid)t an mir gcjrocifclt
tyaben," fogtc cr. „©ic geben tnir ncucn 3Ruttj. 3$ 6in Srcunb
fur 3^ ganjc^ Sebcn. SJcrgeffcn ©ic tnidj nid^t. 3$ too** oft an
©ic bcnlcn."
3($ tear nun cbcnfattS aufgeftanben unb rcidjte if)m bic $>anb jum
Slbfdfjieb. ©r nafjm fic jtoifcijen fcinc bciben $>anbe, briicftc fic tjcrjtjaft
unb fagtc:
„9luf SBicberfcljcn, mcin Keber, merger grcunbl 3)anf fiir ben
mir gefdfjenften ®Iaubcn. 3$ wiinfdjc, 3^n nod) cinmal bemetfen 5U
lonncn, baft id) 3f)*e ®utc ancrfennc. 3d) %offef baft mir bicS getingen
mirb. SScrgcffcn ©ic mcinc Slbrcffc nidjt: 9lrj ©taaften, SSitta 3ut>enta,
bci 833. — 2luf S33iebcrfcf)cn!"
VI.
3m Saufc bc3 nac^ftcn %atyt$ cmpfing id) tocrfdfjiebene, langc, leib-
U6) confufc Sriefc Don mcinem ncucn greunbe. 3$ fc^icn burdf) bic
2tufmcrffanrfeit, bic tdj ifjm gefdjenft Ijattc, fcin £crj gctoonncn ju Ijabcn,
benn cr &crftd£)crtc midf) cin iibcr ba£ anberc 9Ral fcincr 2)anfbarfcit
unb grcunbfdjaft unb bat mid) in jcbcm S3ricfc, idj m'dfytt, toenn mcin
SBeg micij nadj 833. fityrcn fotltc, nid&t tocrfctjlcn, il)m cinen, toenn audj
nur lurjcn 93cfud) ju madden. — 3$ fonntc bicfem SSunfdfjc crft im
nad&ften %af)ttt jur SSSctfjnadjtSjcit golgc Iciftcn.
3dj fanb, baft £err ©laaftcn toaljrenb bcr Dicrjc^n SWonatc, mo tdf)
il)n nid^t gcfcl)en, fcljr gcaltcrt l)attc. ®a mir bag 3)atum fcincr ®cburt
befannt toar, fo fonntc id) mit Scidjjtigfcit auSredjjncn, baft cr faum
fc^jig 3<*{)rc alt fci. ©r fa^ ttric cin Std^tjigcr au^: abgemagert,
fdjtoadjj, plflo^ — unb bie§ madjjtc cincn betriibenben unb gfeic^jcitig
aud) cincn fomifdjen ©inbrud, ba fcin SInpg unb ganjc^ SBcfcn mit
feincm Ijinffittigcn Sdr^cr in grotcSfcr SGScifc in SGSibcrfprud^ ftanben.
— ©r inar Wtc cin ©djiilcr angejogen. — ©th)a^ Stagfic^crcS unb
2ad)crlidf)erc3 al§ bic biinucn 93eind£)cn, bic in Snic^ofen unb langcn
buntcn ©trumpfen ftafen, faun man fidj faum Dorftcttcn. ©in brciter,
<£in t>erfeljries £eben..
tocttcr £embenfragen, ber, blenbenb ioeifc, iiber bem Sragen eined lurjen
3dddjend gefaltet tear, unb untcr bcm er cin bunted, feibened ^atetud^
in lofem ©cf)ifferfnoten gebunben Ijatte, licfc f einen magern, feljmgen
$ald — ben $ald eined gerupften #uljned — unb fein gelbed, toer^
fdjrumpfted ©efidjt grauenljaft alt erfd&einen.
(Er begriifete mid) mit lautem, fittbifd&em 3ubcl, fcerfudjte &or mir
Ijerjuljityfen, toobei cr fdjtterfattig ftol^crte unb, otyne ben Seiftanb bed
Sienerd, bcr ficfy ruljig unb aufmerffam an fcincr ©cite Ijielt, gef alien
fein toiirbe, unb fu^rte mid) in fein S38o^njimmer. ffid tear mit Spiel;
jeug, tote jeljnjdfjrige &naben ed fteben, angefiittt. — 3)ann beglettete
er mid) in fein Saboratorium, in bem id) einen jwtgen, blaffen, ftitten
SRann fanb, ben er mir ate feinen gamulud toorftellte; unb enblicf) mufcte
id) ifjrn in fein ©tubirjimmer folgen, urn bag „Ioftbare" SJtanufcript,
bem er atP feine SBeidljeit tterbantte, in Wugenfdjein ju netjmen. ©r
ftreidjelte ed fanft mit ber #anb, ate todre ed ein lebenbed SBefen, unb
toted mit bem ginger auf einen ©afe, ber auf ber erften ©eite toerjeidjnet
ftanb: „Est sal Sophorum, sine quo, quicumque operatur, est sicut
Sagittarius, qui sine chorda sagittate — 3)ad SRanufcript fat) alt unb
etjrttmrbtg genug aud, unb, felbft toenn idj beriidfidfjtigte, bag $err
Slaafeen ed nun bereitd feit langen 3^ren befafe unb benufcte, mufcte
idj gefteljen, baft berjenige, ber ed toerfertigt, ficfy auf galfd)ung alter
£anbfd)riften toortrefflid) fcerftanben Ijatte.
ate ttrir und ju Xifdje fefcten, banb ber Diener £errn (Slaajjen eine
grofte ©erDiette urn ben £ald. ©ie war tuo^t angebradjt, benn bie jit*
temben £anbe bed alten -Uianned lonnten bie ©peifen nur ungefdjidt
jum SWunbe fuljren, unb bad loei&e %u$ toax batb arg befledt. — ffir
mad&te mid) mit einer genuffen Sefriebigung auf biefen Umftanb auf-
merffam.
S3a|renb ber SWa^Ijeit erjdljlte er mir, baft er nun feit brei 3Ro=
naten ben Don ifjm gebrauten aSerjiingungdtranl in gorm bed ftdrfften
extracted einnetyme unb bereitd, loie id) felbft bemerft Ijaben toerbe, mit
biefer neuen -Uietfjobe bie ttmnberbarften Stefuttate erjieft tyabe.
„©ie tnerben ed laum glauben," fagte er; „aber idjj toerficljere ©ie,
baft ed mir gelungen ift, miclj in ben lefeten brei SRonaten urn na^ an
fiinf unb jtnanjig %af)xt P berjungen. SWeine alten ©eburtdtage folgen
je|t mit folder ©ef^oinbigleit einer auf ben anbem, ba§ ic^ aufgegeben
^abe, fie ju feiern. ©eftern bin id) elf 3^re alt gemorben. — ®ratu=
liren ©ie mir nidjt, toert^er $errl ©ie toiirben mir in toenigen 2agen
bereitd neue ©ludmunf^e ju meinem je^nten ©eburtdtage barjubringen
^aben. — 5ttber urn ©ind mo^te ify ©ie inftanbigft bitten: SBotten ©ie
bie ©iite f)aben, eine Sinlabung ju meinem aUerlefeten, ober Dietme^r
allererften ©eburtdtage anjuneljmen? ... SWein Seben toirb nunme^r
ndmlid^ folgenben SSerlauf neljmen: id^ n>erbe in oer^dltnifemdfeig furjer
92otb unb 6ub. VI, 16. 4
48
Hubolptj £inbau in parts.
3eit oom jefjnten btg crftctt 3af)re jung toerben. 3m lefcten, erften 3a^re
meineg often Sebeng, toerbe idj natiirtidjer SBeife atte @igentf)umttdf)feiten
eineg $inbeg tjaben, roeber getjen, nodj fpredjen, nodf) Derfteljen fflnnen.
3df) tjabe 93orrid)tungen getroffen, um ben Iranf fobann in berma&en
concentrirter %oxm abminiftrirt jn befommen, baft idf) bieg befinnunggtofe
3af)r in loenigen SDtinuten burdjjftiegen muft. SBdfjrenb biefer furjen,
a6er fitr ben Spijilofopfjen ttridfjtigften ^(Jeriobe, rnbd&te idf) ©ie on meiner
©cite ttriffen, nm fpdter, nadE) meiner SBiebergeburt — benn in bent-
felben Slugenblid, too mein afteg Seben anf SlidjtS rebucirt ift, fange id)
mein neueg Seben an — aug 3^rem SRunbe erfa^ren ju fflnnen, in
toeld&er SBeife bie2trjnei, todfjrenbbem mein ©eift fd&Iummerte, getoirft l)at.
3d) toerbe um biefe Stufftdrung in nidjt ju longer grift bitten, benn id)
fjabe 2l£leg beriidfidfjtigt, aud) ben Umftanb, baft idjj ate quasi neugc-
boreneg Sinb unter gett)8f)nlid)cn Umftdnben jafjrelang unfdtjig fein ttmrbe,
bag, mag idj Don S^nen ju erfafjren mimfd)e, ju erfaffen. — giir einen
9Kann, ber bag ©etjeimnift, fid) in furjer 3eit ju Derjiingen, erforfd&t
fjat, fonnte bie ftunft, fdjnefl ju altern, nid)t f corner ju erlerneu fein.
3d£) Ijabe mir biefelbe ofjne SWu^e angeeignet, unb in meinem Saboratorium
befinben fidfj Derfdfjiebene, forgfdltigft etiquettirte giolen, fdmmtlidfjc
Slijire entfjaltenb, bie mir nadf) meiner SBiebcrgeburt, mdl)renb ber
^eriobe ftnbtid&er Unjuredfjnunggfafjigfeit, eingegeben toerben fotten. —
Um ber Slugfiiljrung meiner SScftimmungen ftricten ©eljorfam ju fidjcru,
l)abe idf) cin notariett beglaubigteg ©d&riftftiid aufgefefct, toon bem id)
meinem S)iener unb meinem gamulug Senntnift gegeben §abe, unb toetdljeg
einem Seben Don tfjnen bie ©umme Don jeljntaufenb £fjalern fidjert,
bie iljnen an bem £age, an bem id) meinen adjtjetjnten SBiebergeburtgtag
feiere, auggejaljft merben fott. — Sraun unb ber gamulug ftnb Seute,
bie am ©elbe l)dngen, fur bie jetjntaufenb Staler eine grofte ^umme
ift; unb idj bin begfjalb ganj ftdjer, baft fie ben Don mir getroffenen
5)igpofitionen getreulid) golge teiften toerben. — Stber bag ift 2lt(eg, loag
id^ Don iljnen ertoarten barf. @g feljlt ben Ceuten bie 95ilbung, bag
Urtfjeit, um ben nunme^r naf)e beDorfte^enben Uebergang aug meinem often
in bag neue Seben beobadjten unb mir barflber feiucr 3*it cinen toiffen-
fd^aftli^en, juDerldfftgen Seridjt erftatten ju f5nnen. — 3<$ ^be ©ie
augerforen, bieg ju t^un; benn ba id^ meiner Sbentitdt nid^t auf einen
9lugenblid entfage, fo ift eg fur midf) Don grower 833i^tigleit, fpater
aug 3^ten SKitt^eilungen erfaljren unb ttriirbigen ju f5nnen, toie fidf) mein
ft'5rt>er unb ©eift toafjrenb ber, in ber ©efd^i^te ber 2Renfd)Iieit einjig
bafte^enben $affage aug einem alten in ein neueg irbifdfjeg Seben Der=
fatten fyaben. — Mad) ben Sered^nungen, bie idf) mit gr5§ter ©orgfalt
gcmadfjt unb controlirt ^abc, fann idf) mit abfoluter ©cttrifcljeit be^au^ten,
bafc id^, genau fcc^g SKonate nadf) bem 9tbfd)Iu§ meineg alten Sebeng,
meinen ac^tje^nteu SBiebergeburtgtag feiern toerbe. 9Son biefem Slugen^
€in cerfeljrtes £eben.
bttcf ab entfage i4 bem 3Uterunggtranfe, urn ttmfjrenb einer geroiffen
SReitje Don 3<4*ftt ein ?tlltaggleben ju fiiljren; aber on bicfcm Xage
mo4te i4 ©ie ttrieberfeljen, urn Stjren 93crid^t iiber bie gefjeimnifftoKfte
unb intereffantefte $ljafe in meinem 2)afcin empfangen ju fflnnen. —
Sereljrter, licbcr greunb, bcr einjige, ben i4 no4 ouf ber 2Belt Ijabe,
woHcn ©ie mir toerfpredjen, ju mir ju cilcn, toenn itf) 3^ncn mittljeile,
bafc i4 auf bem ^unfte ftelje, mit meinem alten Seben abjufdjlicfcen?"
©r fal) mi4 ffe^enb an. 34 tooflte bereitg „ja" fagen, otjne in
meinem ©eifte biefem SSerfpre^en grofee 2Bi4tigfeit beijulegen; aber
Strj ©taaften mar, toie er fid) felbft geriitimt Ijatte, ein fluger SDlann, ber
SOtittet unb SBege befaft, meteg toon bem, toag er toitnf4te, ju erreicfyen,
unb ben man ni^t leidjt tauf^en fonnte.
„2Benn ©ie mir $)ag, foorum i4 ©ie inftanbigft bitte, &erfpre4en
tooflen," fu§r er fort, „fo miiffen ©ie mir 3*)* ©fjrentoort geben, 3f)r
S3erft>recf)en au4 getreuli4 ju fjalten. Slur unter biefer S3ebingung lann
icf) ben be&orftetjenben grofjen ©reigniffen rutjig entgegen feljen."
Sftun nmrbe mir bie ©adje bo4 etttmg bebenftid). — 34 tear ein
feljr bef^dftigter SKann; mein geto5fjnli4et SBofjnfifc toar toeit t)on 833.
entfemt. 34 iauberte, feierli4 ju toerfpredjen, £errn Slaafjen'g 8tuf
unbebingt Solge ju leiften. @r burd)f4aute, toag in meinem ©eifte Gorging.
„Sieber, toerttjer greunb," fagte er, unb feine ©timme tjatte etmag
unbefdjreibtid) Sftiifjrenbeg, unb fein atteg, elenbeg ©efi^t einen Slugbrud
Derjtoeifelter §iiIfIofigIeit; „f4^gen ©ie mir nid^t ab, toorum i4 ©ie
bitte. — SBenn ©ie witjsten, ioag id) in biefem 9lugenblid, mag id) feit
SKonaten Icibe ! Dl)! eg fjatt ein Seben in feinem naturlidjen
(Sange ju tjemmen, eg jufammeniupreffen, ju jhringen fi4 umjufetjren,
jurudjugeljen. 3)ie ganje SKatur, atteg 2Kenf4ti4e in mir emport fi4
gegen biefen unerfjdrten 3toaxi% unb fdmpft mit furdjtbarer ©etoatt ba;
gegen. ©g frifct unb brennt in meinen ©ingetoeiben, in meinem $erjen,
in meinem £irn wie ^5Ilif4e§ geuer. 34 ^c^c Unfagli4e§. ?tber
fe^en ©ie: id) Hcige ni4t . . . i4 fann tto4 Id4eln ... 34 ^6 Ja/
marum i4 leibe, bafc i4 mit ben Oualeu, bie i4 erbulbe, ein neueg,
f48ne3, f4merjenfreie§ Seben erlaufe. — 9Serbittern ©ie mir bie tefeten
Slugenblicfe meinem 2)afeiniJ im atten Seben ni4t no4 me^r! ©ie fbnnen
mir tod^renb berfelben g5ttti4e SRulje geben, toenn ©ie mir toerft>re4en,
meine 93itte ju erfiitten. £f)un ©ie eg; o^! t^un ©ie e3! 34 ^ &
Sljnen Dergelten — ober t^un ©ie eg, otjne ^offnung auf Selo^nung,
weil eg eine gute, barmljerjige I^at ift."
©g tear mir unm5gti4, biefem gte^en ju toiberfte^en. „34
S^nen mein SBort, $err ©laafeen," fagte i4 feierli4, //bafe i4, fobalb
©ie mi4 rufen, ju S^nen eilen roerbe."
3)arauf ergriff er meine $>anb unb fagte einfa4: f,34 §a&c ^^4
ni4t in 3^nen getauf4t. ©ie finb mein gteunb. 34 ^an^ 3^nen."
4*
50
Hubolpfy £inbau in parts.
©fye icf) bie SJifla Sut)cnta Derliefj, naljm td) ben alten 2)iener bet
©eite.
„@g fdjeint mir feljr fdjledfjt mit S^em #errn ju geljen," fagte id).
„©r $at mir toon cincm ftartcn Irani gefprodjen, ben er felbft jubereitet
^abe unb einneljme. S)er Ungtiidficije I)at fid) bocf) nidfjt etma fcergiftet?"
Der Diener fdjiittelte bag $auj)t unb antmortete ruljig: „9lein, er
I)at fidf) nityt ucrgiftct; aber eg getyt in bcr Zfyat fd&nett ju Snbe mit
il)m. Stag ©etranf, bag er in feinem Saboratorium braut, ift unfdfjiibfidf).
$>er £err, ben ©te Dorljin bort gefefjen f)aben, ift ein gelemter Slpotljefer,
ber §errn Slaafcen anftatt ber tflbtttdjen ©ifte, bie er ju beftittiren unb
cinjune^men glaubt, Ijarmlofe.efienjen unb Dele gibt, ju benen gem&t)n=
lid) nod) beruljigenbe Xropfen gemif<f)t merben, bie ber 2)octor Derfcf)rie=
ben l)at. Slber fetne SJrfifte finb nun aufgeje^rt; fein armeg ®el)irn, bag
feit breifjig ga^ren nie geruljt, l)at fid) enblid) ju lobe gearbeitet. 3d)
gebe #errn (Slaafeen feine merjetjn SCage meljr ju leben. ©g tfjut mir
leib urn ifjn. 3d) &in feit nalje an toierjig %af)xtn ftranlenmdrter unb
fte^e feit fiber jmanjig Saljren in #errn Staafeen'g $ienften. 3d)
, t>ict Srrfinnige gefeljen: ber b5feften uub gefat)rlid)fien, fomie ber J)arnu
lofeften SCrt. 9tber unter ben toielen Sranfen, bie id) gefannt unb ge;
£flegt l)abe, ift nid&t ffiiner gemcfen, ber $errn Slaaften an £erjenggiite
gleid() !am. ©eit ben langen 3atjren, mo er mir antoertraut ift, f)abe id)
il)n nur ein einjigeg SKal mitb gefetyen. 3d) tyatte eg bereitg tocrgeffen,
menn er midf) nid)t toon 3*it su &\t baran erinnerte; benn er l)at eiu
©ebad)tni&, mie menig SKenf^en in feinem Sllter; unb fur biele Heine
3)ienfte, bie idf) il)m im Saufe unfereS- langen 3ufammenfeing l)abe leiften
fonnen, ift er mir Ijeute nodf) fo banfbar, ate mare id) itjm geftern ge*
fallig gemefen. 3$ merbe nie einen fo guten £errn mie itnt mieber-
befommen, unb eg tljut mir in tieffter ©eete leib, iljn p toerlieren."
Sraun mod)te mirflic^ gerii^rt fein; aber in feinem toerfteinerten
©efi^te jeigte fid) nid)t bie geringfte Semegung. 2)er SWann, ber fi(^
to&^renb feineS ganjen Seben^ baran gem5^nt f)atte, SBa^nfinn unb Slenb
mit aufjerem ©lei^mut^ ju betrad^ten, ^atte toietteidjt bie gacuttat toer^
loren, ba3, ma« in i^m Gorging, auf feinem Oeftdjte jeigen ju f5nnen.
3n ben erften lagen be8 SWonat 3^«uar, jmei aBod^en ungefa^r
nad^bem ic^ $erm ©laafeen meinen Sefudj abgeftattet ^atte, em<)fing
ate id) bereite mieber nac^ meinem gemdfjnlidjen 8Bo^nfi| 'jurttdgele^rt
mar, eine $epefd&e aud S33., bie „granj Sraun, 3)iener beg $errn Slrj
Klaafeen", unterfd^rieben mar unb folgenbermafeen lautetc:
„§err ©laafeen Derlangt ttadf) 3^ncn. SBenn ®ie i^n nod) lebenb
fe^en molten, fo empfefjle id^ an, fofort ju fommen."
3d^ erinnerte mid^ be« feierlidfjen 9Scrf^red&eng, bag ic^ bem franfen
SDtanne gegeben ^atte, reifte nod) am felben ?lbenb nad^ S33. ab, unb
lam am nadjften lage, im Saufe beg SJormittagg, bort an.
€in oerfefirtes £eben.
SBraun, bcm idj tclcgrop^irt ^atte, empfing midf) an bcr ffiifenbafjn.
$>te crftc grage, bie id& an itjn ridjtete, tvat, ob fein fytxx no<$ am
ficbcn fci.
„ffir lebt nodf)," antmortete mir ©raun, „aber id) glaube fdjmerlidf),
ba§ er ben Ijeutigen 9lbcnb noc^ feljen tuirb."
„358ie befinbet cr fid)?" fragte icf> wetter.
„3)ie ©d)merjen Ijaben feit geftern nadfjgelaffen," mar bie 2lntmort.
„ffir ift rugger gemorben unb bei Dottftanbiger ©efinnung. ffir Ijat toaty
renb ber lefeten ©tunben oft nadj Sfjnen gefragt. — ©ie ^aben ein
guted SBerf getfjan, ju fommen."
ate idj> in bad Rranfeniimmer trat, in bem bie S3orf)ange nieber*
gelaffen mar en unb ein ftilled £atbbunlel l)errfcf)te, erblicfte id) #errn
ffilaafien, bid jur Unfennt(idf)feit abgemagert, auf bem SBette liegenb. @ein
$top\ mar ni<f)t grBfcer ate ber eined ftinbed; unb bie biinnen, blut- unb
fleifdfjlofen $inbe glic^en benen enter alten, fcertrodneten Stumie. — ffir
offnete bie, in bem fleinen ©eftctyte tibernaturlidj grog fd&einenben 9fogen,
unb IjeUe greube erglanjte barin, ate er mid) erfannte. ffir lentte bad
@efpra<J) fofort auf bad atte matjnfinnige Sterna, bad id) nun fd)on fo
gut fannte. ffid mar unfjeimticf}, ben ©terbenben immer unb immer
mieber Don feiner (Seburt reben ju l)8ren. 3)abei madjte er ©emerfungen,
tiber bie idfj gelacf>ett ^aben miirbe, menu ber lob bem Seibendbilbe,
bad id) toor mir fat), nid)t bereitd feinen untjerlennbaren, graufig Ijeiligen
©tentyel aufgebrtidt tjatte.
„ffiin ot)nmadf)tiged ftinb bin idfj, bad nur nodf) (alien fann," fagte
er mit bunner, Hanglofer ©timme.
ffir mar fo fdfjmadfc, baft er jebed SBort nut mit grdfcter Slnftrengung
tjerfcorbringen fonnte. — 9Son 3^* ju 3«it fcerliefjen iljn aud& bie lefcten
ftrafte. S)ann lag er mit gefefrfoffenen Kugen, taut, beflommen afymenb
ba. ©ei jebenr SWjemjuge glaubte \6)r ed miirbe ber lefete fein unb oft-
maid x\6)tttt id& einen angfttidfj fragenben Slid auf ben S)iener, ber un-
bemeglidfc neben mir ftanb unb ben ©terbenben beobac^tete.
^Idfclidfj jurfte ed fd)merslicf) iiber bad ®eftdjt bed Jhanfen. ffir
adEftte laut unb ful)r mit ber #anb naclj ber ©ruft.
„8Bo leiben ©ie?" fragte icf), in ber $offnung, il>m irgenb meldje
Sinberung berfefyaffen ju fflnnen.
©ein ®el)irn btieb bid §um lefcten Stugenblide logifcf) in bem SBalju-
finn, Don bem ed feit 3a*)ren befeffen mar.
„3)ie erften SSSe^en ber SBiebergeburt/' ftd^nte er.
Siadj einer f^redlic^en SBeile murbe er allmS^Iid^ ru^ig; ber 2fud=
brud bed Sd^merjed »erf^manb Don feinem ©efic^te. ffir Sffnete bie
tiefen Stugen unb fa^ mid^ freunblidj an.
„©ie ftnb iiberftanben/' fliifterte er.
2)ann lag er lange 3*it, frieblic^ lad^elnb, ftiU ba. Darauf ^orte
52 Hubolptj £inbau in parts.
id) tin un&erfta'nbtidjeg SWurmetn, bag enblid) in Icifc gefjaudjte, abge*
brodjene SBortc Merging: — „9la6)t . . . 3)untte Stadjt . . . SBergeffen." —
Sine lange, fdjtoere $aufe. — Stuf cinmal rife cr bic tobtmiiben Slugcn
tocit auf unb fagte mit fefter ©timmc: „Unb aug bcr Stadjt . . bem SJer^
geffen . . ertoadje id) ju neucm Seben. Jubente Deo lux apparebit!u
©g tear mir, alg toiirbe ein feiner, feudjter 9iebelfd)Ieier, Winter
bem bie fatten, ecfigen 3uge toeidjer, fanfter erfdjienen, Don einer un-
fidjtbarcn §anb iiber bag erftarrenbe ©efidjt gejogen; bie Stugen toerloren
iljren ©lanj, erlofdjen; bie Siber fenften fid) tangfam, fdjlaff bariiber.
— 2)er fdjtoadje, elenbe Sorter rang nod) eine ©tunbe tang mit bem
lobe. 3$ faty unb finite, mie biefer langfam, fidjer, unbarmljerjig
fiegte. S)ie £anbe erfalteten; bag 2ttf)men hmrbe furjer, Icifcr; — eg
judte nod) urn bie Sfugen, urn ben SRunb; — aud) btcfc Setoegungen
ttmrben feltener, fdjtoacfyer. 3<$ tuartete mit peinlidjer ©eftemimutg auf
iljre SEBicbcrfc^r. 2)ie $aufen ttmrben immer longer unb immer langer . . .
unb plofcftd) fuljr id) erfdjredt in bie #81je. ©g toar mir, atg toare
idj eingefdjlafen, unb S^ntanb Ijabe mi<f) unttrirfd) getoedt. — 2lrj ©(aafeen
war tobt.
3ofepfj Victor port SdjeffeL
Don
ftarl 25artfrfj-
— Jjeibelberg. —
K$ im gebruar be£ 1876 ©cfjeffefe funfaigja^rigcr ®eburt3:
tag gcfcicrt hmrbe, ba mufcten fidf) bemjenigen, bcr bamm ta$
ober felbft ettt>a3 baDon mitmacJjte, mand&ertet 93etrac§tungen
I aufbrdngcn. S£ war bag erfte HRat, bafc ein 2)td)ter bet folcf)em
Stnlajs auf foldf)e SBeife geefjrt ttmrbe. SSon fctbft fudfjt ba3 Stuge nacf)
93ergleidf)ung3j)unften. Dad Ijunbertjdljrige 3ubildum ©oetfjeS roar toeit
bafcon entferot, audi) nur in ben Sreifen ber ©ebitbeten aflgemein gefeiert
$u toerben. SlnberS ftanb eS mit bcr ©d^itlerfeier im %crt)xt 1859. ©ie
roar foirflidf) einc aflgemeine unb tegtc berebteS 3c«gnife ab t>on bcr Sicbe,
mit toeldjer bad beutfd)e SJoH in alien fcincn ©df)id)ten an feinem 2iebling$;
bitter Ijdngt. Untoerfennbar ift e3, baft bic Scgciftcrung cine poIitifdf)e
gdrbung tmg. ©3 mar eine Qtit, auf bic 3)eutfdfjlanb nid&t ftotj fein
barf: cine $eriobe politifdjer ©d)ft>dd)e, cine 3cit bed ^offend unb §inau£;
feljnenS au3 bicfen 3uftdnbcn. Daft bamafe bad Subelfeft bed ©angers
ber greitjeit, ber in fcinem XtU nrie ein lefcteS SSermddjtnijs bad „©eib
einig, einig, cinig" feinem SSoIfc jugerufen, ber SluSbrucf biefer freifjeit=
tidjen Seftrebungen nmrbe, begreift fid) teidjt.
35ie beiben grofcen ©tester, benen bicfe geiern gatten, toeiften nidjt
meljr untcr ben Sebe'nben. 3)odf) ift bem Icbenbcn ©oetlje audjj fdjjon in
feincr SSaterftabt cine #ulbigung bargebradjjt toorben, aber atterbingS crft
bei feinem fiebjigften ©eburtStage (1819). ©djjeffet ift ber erftc 3)idf)ter,
bem bei juriicfgelegtem fiinfeigften 2eben£jat)re cine attgemcine ©toation
bereitct ttmrbe. SJor atlem in fciner engcrn $eimat, too fctbft bcr SanbeS;
§err fid) an bem geftcommerS bettyeiligte, aber audf) in meiter geme, in
SBien unb anbertt)drt£. SluSjeidfjnungen burdf) Drben, burdjj bic @rt)ebung
5^
Karl Sartfd? in ^eibelberg.
in ben erblid)en Hbeteftanb, ©egriifjungen bcr I)ert)orragenbften SKanner
2)eutf<$tanb£, toie bed giirften ©temarcf, toerlietjen bem Sefttage einen
glanjenben ©djmud. Sreftgaben jcber Hrt ftrflmten bem 2)idjtet §u unb
fiiHten atte SRaume feiner SBotjnung. ift DteHeid)t nit^t otjne Sntereffe,
baran ju erinnern, bafc ©oet!)e im %af)xt 1809 nicfyt me^r ate jtoei
Drben befafe; er toax Slitter beg faiferlid) ruffifd&en ©t. SlnnenorbenS uttb
ber faiferticf) franjofifefjen (Sljrenlegion. - Unb ba3 mar ©oettje, bamate auf
ber £8!)e fcineS SRufjmS, im fedjjigftcn SebenSjatjre, unb jubem fcit Saljren
SBeimarifd&er SWinifter. 3)enft man an bie orbengefdjmiicfte ©ruft unfercr
fjeutigen' bid)terifdjen ©eriiljmtljeiten, fo ttrirb ba3 „tempora mutantar"'
einem redfjt lebenbig unb anfdjauKdj. ©ei ber 2tbel$Derteil)ung barf man
in ber ©eele be$ 3)idjter3 felbft mit feinen eigenen SBorten fagen:
2Ben bie #unft geabelt, bem ift
©oldjer ©djmucf unnufcc& ©etroerf.
SBenige SKonate nad) ©d&effel feierte StnaftafiuS ©riin feinen fiebjigften
©eburtstag, ben lefcten, ben ju erleben if^m befdjieben toar. 3tud) tym
ttmrben ^ulbigungen alter Slrt §u It>eit, bie iiber DefterreidjS ©renjen
fjinauS ficfy erftrecften.*) 3)er ©riinfeier feljlte jebodi), ndmentlicf) im
#eimatlanbe bed Dickers felbft, ni^t ber politifdje ©eigefd&macf; e3 gait
nidf)t nur ben bebeutenben Did&ter ju feiern, fonbem audf) ben politifcfjen
2)i<f}ter, ben maieren $ampfer fiir greitjeit unb liberate 3been auf ber
SRebnerbiifjne, ttrie im $oetenftub(f)en. 9tidf)te Don folder potttifefcer gar*
bung bei bem ©dfjeffeljubilSuin; l)ier hmr e3 bie reine Ciebe unb ©e;
geifterung fur ben pojmlaren 3)idjter, bie in Xaufenben toon Seugniffeu
fief) lunbgab.
ginen $icf)ter, ber fief) f<$Iidf)tett ©inn betoaljrt t>at — unb toir
ljalten ©cfyeffel fiir einen foldjen — , ben nidf)t frantyafteS ©elbftgefutyl
iiber fidf) felbft Derblenbet, fann unb barf bei fotdjen 9lu8ieicf)nungen, im
©inblicf auf unfere grfl&ten S)id)ter, tool bad ©efiitjl befd&teid&en: ©3 ift
ju Diet! SBir anbem aber bftrfen unb folten un£ beffen freuen, bag nun
auc$ 3«iten gelommen finb, mo ber Sebenbe geeljrt toirb, mo man ben
3lu3bru<f ber 3lnerfennung nidjt erft ber 9ta<f)tt>elt unb ber ©acularfeier
uberla&t. Sragen toxt un$, toer bie erfte Wnregung §u einer ©d&effelfeier
gegeben t>at, fo ift eS unjtoeifelljaft bie afabemifc^e 3ugenbf finb e« bie
ftubentif^en ftreife getoefen, bie i^rem langia^rigen Sieblingdbid^ter iljre
3uneigung bejeugen tooUttn. Sugenblic^e ©egeifterung unb (SntljufiaSmuS
aber reifeen Ijin, gerabe toeil fie fo felbftloS finb, unb rafd^ tourbe in
aDen Sebendftdnben unb ffreifen ber SBunfc^ lebenbig, an ber geier fic^
§u bet^eitigen.
*) $>ie beiben 2)ic^ter ^aben na^cr freunblid}e @ruge getaufa^t. Sa^effel
|d}idte @run bie ^^otograp^ie bed gimmert, in meldjem ifimmtliaje 5eftgefa)enfe
au^geftcHt toaren, unb beglcitete bie ©enbung mit ein paar 3Scrfen, bie t>on ©run
mit ber gleid^en <3abe unb poetifd)er Segleitfc^rift ermibert tourben.
3°feP*l Victor Don Sdjeffel. 55
ftcincr bcr lebenben 3)idjter fann tool eined foldjen ©influffed ouf
bie ftubirenbe Sugcnb ficfy ril^mcn hue ©djeffel. ©r fjat in ben ©efdngen
ber ©tubenten cine ttmljrijafte SReDolution f)er&orgebra<f)t. SSiele ber einft,
ber in metner ©tubienjeit (urn bad %a1)x 1850) gefungenen ©tubenten*
lieber finb toergeffen, unb f)au£tfdd)lidj finb ed ©djeffelfdje Sieber, bie fie
Derbrdngt Ijaben. ©ie toerben jefct, in ganj 3)eutfdjlanb, auf alien VLnU
oerfitdten ft^erlic^ am meiften bon alien ©tubententiebern gefungen. Stber
nrie toenige eignen fie fid) aud) baju, tok in menigen ift in tfjnen ber
©eift jugenblid) frifdjen Sebend toerfflrpert unb jum Studbrud grfommen.
$iefer ftubentifdje burfdjifofe 3ug ge^5rt jum ©fjaraftcr ber ©dfjeffelfdjen
SKufe, unb ethmd bafcon ift ifjr aud) in ifjren fpateren Xagen geblieben.
©djeffel ttmrbe ant 16. gebruar 1826 ju Sarldrulje geboren, wo
fcin SJater HJiajor a. unb Dberbauratl) toar. SBenn ber Dieter oon
fid) fagt, baft unerfiittte ©eljnfudjt nacf) ber bilbenben JJunft unb bie
Dcbe bed medjanifdjen SBerufd in iljrem 3ufammentt)irfen bie ^oefie in
it>m load) gerufen fatten, fo ift bad tool nidjt mflrtlid) §u neljmen. 5)ie
3Rufe f)at if)n fidjerlid) fdjon in friiljen lagen mit liebreidjen Slugen
angeblidt; aber Don feinen fru^eften poetifdjen SBerfudjen Ijat ber Dieter
mit einer nid)t immer ju finbenben ©nttyaltfamfeit nidjtd t»crdffcntlic^t.
SBol aber ift ed ridjtig, baft erft unter bem 3)rud einer unbefriebigten
©jriftenj feine innerfte ®id)teroatur ftdj regte. ©r bejog mit fiebjef)n
3aljren (1843) bie UntDcrfitdt. Dljne inneren Irieb, oielmetjr burd)
aufeere SSer^dttnifft beftimmt, Ijatte er bad ©tubium ber guridprubenj
ergriffen unb fonnte iljm aud) in ber golge feinen 9teij abgetoinnen.
Sr ftubirte juerft in HRiindjen, ging bann nad) #eibetberg unb toon ba
nad) SBerlin. Die bebeutenben 9ted)tdtel)rer, bie er' l)5rte, Strnbtd in
SRundjen, SBangeroto unb SDtittermaier in #eibelberg, $ud)ta unb $>omet)er
in Serlin oermod)ten ebenfo toenig bie feine fiinftlerifd^e ?tnlage unbe*
friebigt laffenbe SBiffenfdjaft iljm lieb ju madjen. ©r Ijat felbfi in bem
in #eibelberg ftubirenben 3ung SBerner fein eigened Sefenntnifj afc
gelegt, menu er biefen folgenbermafcen fpredjen ta§t:
fllfo toarb id) ein 3arifte,
^aufte mir ein gro&ed Xintfag,
^auft' mir eine fiebermapjpe
Unb ein fc^wered Corpus Juris,
Unb fag eifrig in bem ^orfaat,
So mit mumiengelbem 9(ntli(
Samuel SBrunnqueH, ber ^rofeffor,
Und bad r^mif^e SRedjt bocirte.
SR6mif(^ IRtfy, gebenf i(^ beiner,
Siegt'd wie Sllpbrud auf bem Serpen,
Siegt'd joie SRuljlftein mir im 9Ragen,
3ft ber tfopf wie brettoernagelt!
®in ©eflunfer mu^t' id^ ^Bren,
56
Karl 3artfa? in ^eibelberg.
2Bie fie einft auf tdm'fdjem gorum
tlfiffenb mit einanber aanften,
SEBic §err (Saiug $ied be^auptet
Unb $etr Ulpianug SeneS,
2Bie bann @piitre brein gepfufdjet,
©ig bcr taifet 3uftinianu3,
(St, bcr SPfufdjet aflergrSfeter,
HIT mit etnem gufcttitt l)eimfa)idt\
©o trieb cr bag Serufgftubtum nur aufterftdj unb lag baneben feiner
Sieblinggbefdjaftigung mit Sunftgefdjidjte unb Stttertfjiimern ob: $)urdfj
SBaageng unb Suglerg SSorlcfungcn in 95eriin toar cr auf bie ®unft~
gefdjidjte fjingelenft toorben;. bag ©cbiet bcr 2tlterttjumer ^atte cr Don
bcr ©cite beg 3led)tg betreten, bag ©tubium bcr bcutf^cn fRcd^t^gcfc^id^te
fitljrte auf bag bcr $ed)tgaltertf)umer, cr lag bic attcn SSotfgredjte (bie
leges barbarorum) , ben ©a<f)fens unb ©djtoabenfpieget unb anbere
Oueflen. 2)icg tear bic einjige ©cite, Don bcr aug bic 9ted)tgftubien
ttjm Keb ttmrben, abcr bic grcube an ber ^oefie im fieimtfdjen 9tec§te
hmrbe Derbittert burd) ben 3ngrimm bariiber, baft bagfelbe buret} bad
romifdje ganj bcrbrangt toorben toar. Stud) l)ier biirfen ttnr gctroft Sung
SBernerg 9lnfd)auungen mit bencn feineg 3)id)terg ibentificiren:
Sinb toerbammt loir immerbar, ben
©rofcen ftnoajen ju benagen,
$en alg Hbfafl tljreg 9ttal)leg
Ung bie Corner Ijingeroorfen ?
(Soil nidjt audj bet beutfdjen (grbe
(Signen SRedjteg Slum' entfprie&en,
SBalbeSbuftig, jdjlidjt, !ein uppig
SBudjernb ©ajlfnggerofiajg beg ©iibeng?
3)urd) ©mil SRuttj in £eibclberg ttmrbe cr in bag ©tubium 2)anteg
eingefiif)rt unb ttnirbe fdjon in frii^cn Saljren cin begeiftertcr 9$erel)rer beg
grofcen glorcntinerg. 3n fiSerftn Ijieft er nod) alg ©tubent cinen 93ors
trag iiber S)anteg politifdje ©d)riften.
SBenn bie Ijerrlidje Sftaturumgebung an ben tadjenben, rebenumbtuljten
$ugeln beg Sledarg beg jungen SMcfyterg ©ecle crgriff unb iljn bidjterifd)
ftimmte, fo mufcte bag ungcliebtc gadrftubium itjrn in urn fo toeniger
licbengttmrbigem Sicfyte erfd)einen unb bcr 3toi*foflft stirifdjen innercm
unb aufterem 93eruf jene innere 9Relandjofte §ert>orrufen, bic ©djeffel
felbft alg einen ©runbjug feiner Didjtung bejeid)net. Stoar Dermogen
loir nidjt nadjjutoeifen, baft cine ber ©djeffelfdjen ^oefien ober eing
feiner Siebcr fdjon in ber ^eibelbergcr ©tubienjeit entftanben fci; abcr
bod) ift eing feiner fdj5nften unb am meiften gefungenen Siebcr, bag
„3llt $>eibelberg, bu Seine", toenn audj erfl in StaKen gefdjrieben,
gfeidjtoot in ©eift unb ©timmung in £eibelberg cmpfangen unb fpicgrit
; 3of ept^ Dictor von Sdjeffel.
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bic 3*it toieber, bic ber ©tester in ber SRufenftabt am Sterfar ate
©tubent Dcrlcbtc. 1847 fdjlofi cr in £eibelberg feine ©tubien ab unb
madjte im fotgenben Saljre bafetbft fcin juriftifd^eg $octorej:amen. Dann
trat cr in bic ^}raj:i3. 1850—51 toax cr 2)tenftremfor in ©acfingen
am Dberrljein, too ber ^Slan ju fciner crften grofjeren Dishing in if)m
Icitntc. SRadjbem cr fid} nod) ganj furje 3^tt (1852) ate ©ecretdr am
groffterjoglidjen $>ofgeridjt ju ©rudjfat aufgefyaften, toax cr ju ber flarcn
Ghrfemttnifc gelangt, baft ber getoaftfte ©eruf tym leinc Sefriebtgung
getoaf)rc. ®r brad) baljer rafdj unb entfdjieben mit iljm unb jog nod)
im fclben %af)xt (SWai 1852) gen ©iiben, in bag Sanb ber Sunft, too*
f)in i§n bidjterifdje unb fiinftlerifdje 9?etgung jog.
2tuf italifc^cm S3oben, in ©orrent unb Eapri, too ©djeffet mit $aul
§etyfe in freunbfdjafttidjem SSerfc^r lebte, cntftanb (oom SWarj big 9Rai
1853) feine erftc grbfjere 2)id)tung, „$)er Irompeter t>on ©acfingen,
cin ©ang toom Oberrljcin" (Stuttgart 1854). S)ag poetise SJortoort ift
Sapri 1. SKai 1853 batirt. 2)ic ?tnrcgung ^atte er aug ber ^eimat
mitgebrad)t. Sn ber jauberifdjen SGSclt beg ©iibeng ttrirb ©djeffel nidjt
tt)ic fein bid}terifdjer ©enoffe ju ©djopfungen angeregt, bic auf italifdjem
Soben fpielen, fonbern Dor if)m fteigt tok im Xraume ber Ijeimifdje
©djttmrjttmlb auf
unb bie ©efdjidfjte
Son bem jungen ©pielmann SBerner
Unb ber fdjSnen Sftargaretfja.
Stn ber ©eiben ©rab am 9tyeine
@tanb id) oft in jungen Xagcn.
3ltterbingg fpielt bie @efd)id)te julefct nacfy 3talien tyiniiber unb
finbet tyre Sdfung in 9tom; bag ift abcr audj bic einjige Sintoirfung,
im Uebrigen ift eg cin rein beutfdjer £audj, ber £aud) beutfdjer SJer=
gangenljeit, ber ung entgegemoeljt. SBernerg „2ieber aug 3Bdtfdf)lanb"
| jcigen ung ben beutfdjen Singling, ber inmittcn ber it)n umgebenben
I $rad)t beg ©ubeng fid) nac$ feiner r^cinifc^en $>eimat fef)nt. S)ic Saljig:
l fcit, un£ auf'g Sebenbigftc in giifjlen unb 3)cnfen ciner jurucflicgcnben
I 3eit ju Derfefeen, betoaljrt ber 3)idjter fd)on im Xrompeter auf'g glanjenbfte,
I Ijier an einem ©toffe, ber faft ganj feine frcie Srfinbung ift. 3n'g
I fiebjefjnte S^r^unbert, in bic 3eit nad) bem breifjigjityrigen ftriege fiiljrt
I ung bic ©rja^lung Ijinein, angelc^nt an Seben unb Sicbcn eineS fa^ren-
; ben @<$uler3. ©inc beftimmtc Sa^regja^I toirb am ©<f)Iuffe genannt,
1679, in toeld)e3 %a1)x bic gWdlic^e Sofung t>ertegt mirb. 3"^g SBcmer
ber ©pielmamt, ber tedc XtypuZ eineg gafyrenben, ^at in ^cibelbcrg
jtubtrt, abcr am ©tubium beg SRedjteg leinc ftreube gefunben, urn fo
[grdfcere am Irompetcnbtafcn unb am 3e<$en bcim grofeen $eibclbcrger
5a§ in ©efcttfdjaft beg lurfurftli^cn ^ofnarren $erfeo. gn feliger
SBcintaune ^at cr cinft auf bem ©cfjtofjaltan ber ^urfiirftin Seonore ein
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Karl Sartfd? in ^etbelberg.
fd)tnad)tenbeg SiebeSlieb gefungen unb toirb bafilr relegirt. ©r bejafjlt,
„tva$ in foldjen gatten etroaS ungetootjntidf), Dormer nod) bic ©djutben
atte" unb trat bann, bic geliebte Irompete auf bent Stiicfen, feinc
SBanberung burd) bic SDSelt ate fafjrenber ©jriettnann an. 93et eincm
®<f)tt)ar}toatber ^farrtjerm in bcr iRalje Don ©adingen gaftttd) auf-
genommen, mirb er toon biefem nad) ©ftcfingen gennefen, too am folgem
ben Sage be3 ©djufcpatronS ©t. gribolin geft gefeiert toirb. 83eim
geftjuge crblidt er be3 atten greiljerrn jungeS Iddjterlein, bic lieblidjc
9Rargaretf)a, unb fein ©djidfal ift entfdjieben.
„$en 2ttann tyat'S!" fo nennt ber Spradjbraudj
$ort(anb8 jenen 3uft<wb, wo ber
Siebe Qauber un3 gepadt l)at.
Soil ©eljnfudfjt, bie rafd) entfdfjhmnbene ©etiebte ttrieber §u feljen,
faljrt er, bic irompete btafenb, auf bent 8M)ein unb toirb Don. bent grei*
Ijerrn gel)5rt, bcr, cin alter $aubegen unb begeifterter SDlufilfreunb, ben
Stuftrag gibt, ben ratfifrftjaften Xrompetenblfifer auSfinbig ju madjen.
SBcrncr nrirb Don itjm in Dienft genommen unb toei| balb bic ©unft
be3 atten #erw unb feineS X8df)terlein3 ju crringen. 93ei bem Wtau
ritte, ben bie ©adinger an ben SBergfee im SBalbe unterneljmen, hrirb
ifjm jum 2)anl fur fcin lieblicljeS 3tccomj>agnement be3 Dom ©djuttneifter
Derfafeten SDlailiebeS Don SRargarettjenS ipdnb ein Sranj auf8 $aupt ge=
brucft. 93ei einem im (SartenpaDillon ftattftnbenben ©oncert, mobei SBcrner
ate Sapettmeifter mitttnrft, nnrb if)m Don ber Stngebeteten ein crfter
$anbebrud ju Xljeil:
'3 ware mdglio), bag ber jpanbbrud
(SttDaS tnl)aIt3t>olI getoefen,
$odj e3 fe^lt an ftdjrer Jhmbe,
©alt er nur bem ftttnfiler, ober
2lua} bem jungen SWann alS foldjem?
3)er Unterridjt im Jrompetenblafen fiiljrt bie jungen Seutdjen einanber
nocfy nitfjer. Sber in bieS ibtjflifdje Seben bringt raut) bcr ©auernaufftanb
im ©auenfteiner flanblein*). 3n tapferer SSert^eibigung be3 fretyerrtidjen
©<f)toffe$ empfangt SBerncr etne tobtlidje SBunbe, aber gugenbfraft unb
3Jlargaretf)ett3 forglidje ^Sftegc erljatten iljn am Seben. $en ©cncfcnbcn
begludt SRargaretljenS ©eftanbnife iljrer Siebc. 2)a^ gibt i^m ben SRutl),
alg ffierbcr Dor ben atten greiljerm 5U tretcn. 3)iefcr aber wcift ben
Unebenbilrtigen jurticf. ©ntf^Ioffen, niemate obcr nur ate ebenburtiger
greicr miebcrjule^ren, nimmt SBerner Slbf^ieb, jic^t in bic fflclt unb
fommt nad^ gtalien, toirb ^apetlmcifter bed $apfte« unb toirb ate folder
Don SKargaret^a toiebergefeljen, bie in ^arm fid^ Derjeljrenb unb Dcr-
*) 33crgl. bariiber SajeffelS ^auenfteiner ©rtefe im 9ftorgenb(att 1852.
3ofepfi Pictor von SdjeffeL
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btitffenb, in Segteitung bcr gurftiibtiffin jur „2uftt>eranberung" nacf) Stalien
gefommen tear. $apft Ruling fetbft fpiett ben (SStyeprocurator unb be-
feitigt ben ©tanbegunterfdjieb baburd), bafe er ben biirgerlidjen SBerner
Sirdjfjof in einen „Marchese Campo-Santo" iiberfefct.
5)er SReij einer feden, frifdjen Sfugenbtiebe, bie feine ©djranfen
fennt, in tootter 2iebtid)feit unb iMaturftcfjfeit bargeftellt, bitbet ben SRittefc
punft beg (Sematbeg, in toeldjem tieffte tyrifdje ©mpftnbung unb erg5fc;
liefer £umor ju fdjflnftem Sunbe fid} bie #anb reid^en. S)ie auftreten*
ben ^erfonen ftnb Don plaftifdjer @(#irfe ber 3^ic^nung unb toirfen mit
unmittelbarer 9taturh)al)rtjeit. S)ie Siebe beg jungen $aareg ift ofync
Ijoljeg $atl)og, trielmeljr mit leidjtem #umor betjanbeft; aber bie tieffte
©mpftnbung, bag innigfte S3erftet)en ber Stegungen beg ttebenben #erjeng
bticft uberafl burdf). SSon ^errlid)er ^oefte getragen ift ber Sjrcurg iiber
ben „erften fiifcen ftufe ber fiiebe", ben bag erfte 9Renfd)enpaar fidj gab,
unb ber toont 2)id}ter aljnenb gefd)aute „lefctc Sufc" beim Untergang ber
grbe. SJlit tooflenbeter 9Beifterfd)aft meift ber Dieter an folcfjen ©teflen
au<$ bie gorm ju ^anb^aben. Sr lafct ung aber nidjt bei ben toeidjen
©mpfinbungen Dertoeilen, fonbern unmittelbar folgen barauf bie 23e;
trad)tungen beg Jrfjilofopljirenben $aterg, ber ben erften Sufi ber Sieben*
ben mit angefef)en, bem unbegreiflidj bleibt
SBarum fiiffen fid) bie SRenjdjen?
SBarum meifteitg nur bie jiingcrn?
SBarum bteje meift im grueling?
unb ber fief) toornimmt, iiber biefe $un!te morgen auf beg 5)ad)eg ©iebel
ettoag nafyer §u mebitiren. 9Kit fofttidfjem §nmox finb ber ©d)ioar}=
tualber $farrf)err unb ber afte greifjerr gejeidptct, ein SJJradjtftud ift
ber gregcomaler glubribug, bem
bie beften ftunftibeen,
$ie er felbft im SBufen Ijegte,
(Sin gehriffer SRafael fdjon
SBeggenommen,
unb bie ©djilberung ber ©oncertiften, inSbefonbere ber Ijagere Unterteljrer,
„bem bie SWuftfa ben SRangel beg ©efyaltg fo fd)5n erganjte".
3)en (Sipfel beg §umorg bitbet unftreitig ber Sater £ibbigeigei, bie
„felbftbettmfjte epifdje Efjarafterfafce", ben „bie SJiutter aug Slngorag
©tamme einem hntben $u&ta-Sfater getipren", unb ber baf)er toerad)tenb
auf bie „orbinaren autocfytijonfefyen SBalbftabtfafcen" t)ou ©adingen tjerafc
blidt. Dljne 3^cifel ift auf biefe gigur ber Sater SWurr beg gciftootten
©. Z. H Hoffmann Don (Sinflufc geluefen. |)ibbigeigeig ^umoriftif^e
28ettbetrad)tmtg ift nic^t o^ne ironifdf)en 93eigefcf)mad; fo in bem Siebe,
bag bie Saterlieberfammlung eroffnet:
60 Karl Sartfdj in fjeibelberg.
(Signer Song erfreut ben 93iebern,
$enn bic tfunffc ging longft in'S SBreite.
6einen #au3bebarf an Sicbcrn
©djafft cin 3ebcr jelbft [id) $eute.
$nim bcr $tdjtung leidjte ©djtoingen
Strebt' ana) id) mir anjncigncn;
28er roagt'3, ben 93eruf jum Singen
(Sinem $ater abjuleugnen?
Unb e3 fommt mid) minbet teener
jur $Bud$anbhmg ju laufen
Unb ber Slnbern matt ®eleier
3rcin in ©olbjcfymtt einjufaufen.
2)od) finb fofd)e 3iige fcltcn; ber £umor ©djeffelS ift iiberttriegenb
gutmiitf)ig unb ^armloS.
$einefdje Slnflange fommen &ereinjelt oor; fo ba, tuo ber 2)idjter
ucrjic^tct, bie funge Siebe p befingen.
21a), to) bin ein (Spigone,
Unb mel ljunbert tapfre Sttdnner
Sebten jdjon toor Stgamemnou,
Unb id) lenn' ben ftdnig ©atom'
Unb bie fajledjten beutfdjen 2)idjter.
Unter ben tyrifdjen ©ebidjten jeigt nur bag SBernerfdje Sieb „»m
griinen ©ee oon Stemi" mit feinem ©djtuffe beftimmte §einefdje Slnflange.
9tudj bie potitifdjen ©eitenblide finb rjereinjelt, nrie benn uberfjaupt
©djeffet fein politifd) gearteter 2)idjter ift. gdj ertoiitjne ben beabftdjtigten
gauftfdjtag SBernerS, ber „fo tt)ie bie beutfdje ©in^eit unb mand) anbreS,
nur ein fd)5n gebadjt ^toject btieb".
93om $aif}o3 ^alt fidj ber 2)id)ter nue abfidjttidj fern. „Seiber,"
fagt er felbft mit SBejug baraitf ironifdj in bem poetifdjen SSortoort oon
feinem Siebe:
gef)lt iljm tragifdj fjotyer Steljgang,
getylt ifnn ber Senbenj Sterpfeffrung ,
gefjlt itym and) ber amarantfjnc
SBeifjraudjbuft ber frommen Scele
Unb bie antyrud)SDoHe SBlaffe.
Stein 1 mit impertinenter ©efunbfjeit, mit frifdfjen rotten 93aden
blicft biefe ©rftlingSbidjtung ©dfjeffelS in bie SBelt. S)af)er madjt e8 einen
fomifdjen unb jtoar beabfidjtigt fomifd)en ©inbrucf, menu ©tetten au£
ernften unb pattjetifdien $>id)tungen fyatb parobifd) eingeffodjten toerbeiu
©o, toenn ber alte SPfartfjerr ben jungen SBemer in fjomerifdjer SBeife
„nadj fcotlbracfytem 3Raf)Ie" fragt: „tt)er er fei, footer ber 2Ranner? too
bie £>eimat unb bie ©Item?" Cber toenn ber Sater £ibbigeigei be3
3°fePfy Victor von Scbeffel.
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ebleu 2>ulberd Cbgffeud xixXa&i 6% %Qa8lri etc. anmenbenb fagt: „2)ulbe,
tapfred ftatertycr&e, bad fo bided fdfjon erbulbet!" Dber tocttn £>ectord
Stbfdjieb Don bcm in bcr Qttytubt fifcenben ©auern parobirt nrirb, ben
bic treue ©attin am 9todfdf)ofi jupft, urn il)n $um 8tufbrud) &u betoegen,
tuorauf cr: „$ljeured 2Beib, gcbictc bcincn Iljranen, tjcut ntufi aQeS f)in
fein." Dbcr toenn ber Sater licdd SBJortc nadf)al)menb fagt: „2Benn
unfre Saterliebe nddjtlid) fiifi in 2onen benft."
$ie in bic 3)id)tung eingeftreuten Sieber finb bon tjotjer I^rifc^cr
©c^on^cit unb tool bic reijenbften ©liitfjen ©djeffelfdjer Stjrif. Sine
ganje Slbtljeilung (bad &ier$ef)nte ©tiicf, „bad Stidjlein bcr Sieber") ift
Itjrifdj, abcr nidjt ate fyrifdfjed Sntermejjo bed 3)id)terd, fonbern ate
©timinungdbilber bcr in bent 83ud)e auftrctenben ©eftatten, bcren @e=
muttfdjuftanb barin &orgefiil)rt toirb. ©o bic Sicbcr 2Bernerd, SKargaretljend,
fogar bed ftaterd. Sieber tok „Sinb buftig ift bie 2Itaiennad)t" ober
„3Dad ift im Seben fjdfttid) eingeridjtet", ntit bent Stefratn „83cl)ut bid)
©ott! ed toar' $u fdjon getoefen, Skylit bid) ©ottl ed tjat nidjt follen fein"
finb unbergteidjUd) fdjon. 9lu<$ bad „9Jtailieb" bed ©djulmeifterd ift Don
5auberifdjer grifdje unb SSolfdtfjumlidjfeit. 2)agegen ift eind ber fdjonften
unb populdrften ©djeffelfdjcn Sieber „?ttt $eibelberg, bu geine" an nid)t
ganj paffenber ©telle eingeftigt. Sung SBerner, bom ^farrer aufgeforbert,
feine Sebendfdjicffale ju erjdtjlen, !ann nidjt fiiglid), nadjbent cr brci
3eilen gefprodjen, gleid) cin ?($reidlieb auf £eibelberg fingen. S)aju todre
nadj Seenbigung feiner (Erjdljlung, inbent ifjn ettoa ber Starrer auf;
forbcrte, ein Sieb anjuftintnten, ein paffenberer Stntafj getoefen. Sine
SIbtfjeilung in bcm fyrifd^en Sntcrmcjjo neljnten „bie Sicber bed ftitlen
SDianned" ein. 2)ied ift bic cinjige ettoad mtyftifdje ©eftalt bed ©udjed.
5r unb ber ganje iljn betreffenbe Slbfdjnitt bou SBcrnerd SSerirren in
bic #6f)ten bed ©rbgcifted SDtetyfenljart ift cine ©pifobe, bic unbefdjabet
bed 3ufamntent)anged tnegbleiben burfte. ©ic ift erfid)tlidj angcregt burdj
ben Sfufenttjalt in Eapri unb burdj bic blauc ©rotte, auf beren @nt^
bcrfung burd^ ben fa^renben ©piclmann unb leidjtfertigen Sfflalcr
(St. Koptfc^) angeftrielt tuirb.
SQSenn cinjelne ^Iftnge bcr Styrif an ^eine gema^nten, fo nod) meljr
bie gorm. 3n ©c^effeld 3"W9ttn^ia^re fant (Srfdjeinen t)on Reined
%tta %xoU, ber ebcnfattd in reimlofcn ac^tfilbigen Srodjaen t?crf afet ift.
Unb audj bie Se^anblung bicfer Sroc^dcn erinnert an 4>eine. 5>iefclbe
ungebunbene Siondjafattce, fc^einbarc 9la(^Idffig!eit unb bo^ n>ol)Ibered)net.
©o beim Stufjie^en bed Stefced:
^tber in fid^ felbft toertoicfelt,
$ob fic^'d langjam, ^ob fid) unb max
Seer —
too bad atlein am Slnfang bcr fte^enbe ^Secr" in SSerbinbung
62 ■ Karl Sartfdj in fjeibelberg.
mit bcm SSerSfdjlufc „unb teat" cinctt fc^r gliidlid)en ©ffect mad)t. 2)odj
fittb im ©anjen bic ipeinefdjen SSerfe funftDotler. ©djeffel fclbft fagt
Don feinem 2iebe im SSortoorte jur jmcitcn Sluflage:
3d) toeifi e3 xvofy, bit toft nidjt toofjt gexatljen,
Unb bein Xrodjdenbau ftefjt oftmalS fdjief.
Slber cr i)at fid) mit SRedjt getjiitet, an bcm au£ cittern ©ufc cnt=
toorfenen ©ebid)te f pater in anberer ©timmung 5U dnbern, fo Iciest ba3
im einjetnen gatte aud) getoefen mare, ©inige auffattenbe SBortbetonungen
madden fid) nid)t gut; fo toettn SDtontfaucon auf ber mittleren ©ilbe be;
tout toirb.
Der ©rfolg be£ IrofflpeterS toar ein erftaunlid)er. Qtoax bie jtoeite
Sluflage erfdjien, Don ehtem neuen poetifdjen SSortoort begteitet, erft ftittf
Sa^re nad) bcr erften (1858). 2lud) bie britte (1862) unb bie Dierte
(1864) befamen nod) befonbere poetifdje SSorreben auf ben 28eg mit;
Don ba an aber brdngten fief) bie Sluflagen ©djlag auf ©d)lag, fo baf*
bei be3 SidjterS Sw^elfeier (1876) bie fiinfjigfte Sluflagc erfdjeinen
fonnte — in ber Ifjat eitt ©rfolg, beffen toenige beutfdje ©iidjer fid?
tubmen biirfen.
9lad)bem ©duffel (1853) au3 Stalien juriirfgefe^rt toar, tebte er
junddjft in £eibetberg. £ier t^at fid} in einem gleidjgeftimmten greunbeSs
freife bem Don atlem 3^ang unb 3)rud be$ SebenS befreiten Sifter cine
erneuerte afabemifdje 3^it auf. Uttter bem Sftamen „ber ©ttgere" beftanb
ober bilbete fid) ein gefettiger SreiS, ber jeben 2Ritttood) 3lbenb ju?
fammenfam, ober, toie ber 3)id)ter fagt
3)en attitttpod) in ben $onner3tag §u ISngern
S3et golbncm SRtjeimoetn oft befliffen mar.
Slnfanglid) ber Slbler, fpater ba$ SKufeum toar ber SJereinigungSort.
Iljeilneljmer toaren aufeer ©djeffel ber 3iegelf)dufer ?Pfarrer ©djmefcer,
ber $l)tfotoge 3utiu3 Sraun, ber ®efd)id)tfd)retber unb public ift Don
Stodjau, 9Jat^ 2Ra^, Sunftfjdnbler SWeber, SRotar ©adjg, £auptmann a. 3).
SJJfeiffer u. a. 3)ie ©eete be$ ganjen EreifeS aber mar Subttrig £duf$er,
nad) beffen lobe (1867) ber ®rei3 aHma^Iic^ jerfiel — er ift ber in
bem poetifdjen SSortoort jum ©aubeamuS ertodfjnte „2Reifter, beffen lob
toir beftagen"; ber „mit funbiger $>anb ben aJtaicntranf gebraut". tytx-
fdnlid) am nddjften ftanb ©djeffel tool ber ^farrer ©djraefcer, mit bem
er au^er im „©ngern" aud) im $>ottdnber $of tyaufig jufammen fam.
S)iefe 3cit toar fiir ©(^effel eine lieberreidje, unb tok ba^ ec^te
Cieb, bag SJoIfelieb, gleic^ mit ber 2Mobie geboren toirb, fo toaren auc^
biefe jefet entftanbenen Sieber gleid) Don Dorn^erein nic^t jum Sefen,
fonbern jum ©ingen beftimmt. ©ie tourben Don $farrer ©djmefcer
befannten ©tubentenmetobien angepa^t unb Don ii)m fetbft, ber im 33or;
tragen ©c^effelf^er Sieber eine toaljre 2Reifterfc^aft befa§ unb, ein guter
3ofepfy Pictor pon Sdjeffel. — —
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<3iebjiger, nod) befifct, im „(£ngern" borgetragen. S)ic ©d>me|}erfcf)en
<5ompofitionen ftnb, obgleid) fid) nadjtyer aud) 3Reifter bom gadf), mie
Sadjner, an benfetben Sicbern berfudjt ^aben, bod} bic poputarften ge^
blieben. 2)ie Stifle unb ©angbarleit, bic Staturtoudfjftgleit unb Driginalitfit
btefer ©djeffetfdjen Sicbcr Derbrcitctc fie attmatyltdj in immcr toeiteren
Sreifen, Dor aflem in ben ftubentifdfjen. SSon |>eibelberg ttmrben fie,
lange bettor fie alg ©ammtung gebrudt attgemein juganglidj ttmrben,
miinblid) unb in Slbfdjriften nadj ben anbern beutfdjen Unfoerjitiiten ge;
tragen unb manner SWufenfo^n tjat fte gefungen, o^ne beg 3)id)terg
IWanten ju fennen — audj bicg bag @d)idfal center Solfglieber, beren
Sifter in ben $intergrunb tritt unb mit feinem Stamen nteift ber;
fdjtoinbet. @rft 1867 '(wit ber Saljregjaf)! 1868 auf bent Xitel) er=
fdjienen fie ate ©ammlung unter bem Xitel „(8aubeamug, Sieber aug
bem (Sngeren unb SBeiteren"; jefct (1877) liegt bereitg bie 26. Stuflagc
vox. 2>ie erfte Slbttyeilung biefer Sieber, ^aturtotffenfdjaftlid)" betitelt,
DerbanW il)r ©ntfte^en inbirect ebenfattg bem Starrer ©dimeter. 3)iefer
Ijielt im ijolldnbifdjen $>ofe populare naturtoiffenfd)aftlid)e Sortrage. Xa-
Ijer bie geologifdjen ©toffe, ©toffe ber Urtoelt, bie tjier mit erg5fclid)er
Saune beljanbeft finb. 2)ie ftomif liegt in bent $>ineintragen ntoberner
SSerfjaltniffe unb ©mpfinbungen in eine urroeltlidje 3^it. ©o, toenn im
3d)tl#ofaurug bon betrunlenen unb berliebten SJJterobaltylen unb 3gua=
itobong bie Stebe ift; fo im „93afalt", too ein geologifdjer SRomeo fid£> in
bie SKotaffe Derliebt fytt. 3« ber jtoeiten Jtbt^eilung ,,(£ulturgefc§i<$tlid)''
finb be^ 2)idf)ter3 eigene Stltertt)untgftubien auf ben berfdjiebenften ®e=
bieten bertoertljet; er „^at felber ben SKober burd)tt>iiljlt unb bei ben
gefunbenen 25ingen fid) ftotj alg Eulturmenfd) gefiil)tt". 2ludj f)ier tiegt
bie ftontif toefentlid) in bem ©egenfajj bergangener, jum X^cil uralter
^uftanbe unb Ijineingetragentr moberner Sejie^ungen unb ©mpfinbungen —
fo toenn ber „$faf)lmann" bon 835rfengeminn in ^apieren :c. rebet; fo
toirft im ,$um\m% Don ^erufia" jtoerd)fetlerfd)utternb bag 3D?if$berl)dltni&
3tt)if(f) en ber geierlid)feit ber logabraperie unb beg antifen Xrimeterg gcgen
bie banale Sbee beg Slnpumpeng, toeld^e burd) ?($umpug in bie SBelt ge=
fommen. Jrefflid) ift ber Sanfelfangerton in ber „Xeutoburger ©dfjladjt"
getroffen, trefftid) aud) bie groteSfe ^Sarobie beg §Ubebranb(iebeg; bic
Sieber ber fa^renben ©filler :c. 3^ ben culturgefc^ic^tlicfien Stebcrn
gefyort feinem 3^ali nac^ auc^ bag fiir bie §eibe(bergcr $^Uologen=
t)erfammlung (1865) gebid)tete geftlieb t?om §eibelberger gaffe, bag ein
<uIturgefcf)id)tHc^eg SBilb beg Srinfcng unb ber Xrinfgefafee bei ben toer-
fd^iebenen S5Ifern in fjeiterftem Sone gibt. 3)afe bag Irinfen in biefen
Stebern cine §auptrotle fpielt, loirb, tt?er bebenft, bajs „ber Genius loci
^eibelbergg feucfjt ift", nicf)t befrentblic^ finben. S)en ©ipfetpunft ber
Xrinflieber bifbet ber E^clug t)om Sftobenfteiner, in toeldjem ber S)ic^ter
alte t)oI!gtpmlicf)e Xrabitionen oon ber tuitben 3a gb ju treff lichen, ec^t
9lorb unb Sub. VI, 16 5
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Karl 53artfd? in fjetbelbcrg.
twlfgmafeigen S^Iicbcm benufct fyxt. ©ie fiifjren ung bic ganje tuilfae
3ed)Iuft beg auggefyenbcu SDtittelalterg in lebenbtgfter unb anfdfjauKdEjfter
SBeife t)or unb finb nad) mcinem Sebiinfen bag SJoflenbetfte in bcr ganjen
©ammlung.
SGSie biefe Sicbcr burd) if)re (ocalen Sejiefyingen unb Slnfyielungeit
auf $eibetberg fjintoeifen — bie SSirtfjgfjaufer 511m „£irfd}en" unb jum
„38albf)orn"; audj bag Sieb „$er Shtapp" mit bcm SRefrain w2Bo fterft
mein trcucr ffinapp" entfyaft in bem Sftamen finapp einc perfdnlidje 93e~
jiefjung — fo finbcn fid) fo(d)e and) in ben iibrigcit Slbtfjeitungen, am
meiften natiirtid) in ber „£eibelbergifd)" betitelten. 3d) erinnere nur an
ben „gaulen SPetj", ein befannteg £>eibetberger ^neiplocal, an ben 3^erg
„$erfeo", an ben „trodenen Senner unb 3)euter beg romifdfjen Stedjtg",
an ben „toeitumgereiften $()iIo(ogug" (3. SBrauu), an „9lummer ac^t" im
#oflanber $of, too bie frofylidjen Ueberfneiper oft jufammen ttmren
unb nadjtigten. ©elbft bem $utmadjer, ber beg 2)td)terg &ut geliefert,
tft in bem „©of)n Sriong", bem £mte, ben er auf bem ©orrentiner Sftarft;
fdjiff ucrliert, ein S)enfma( gefefct.
©cfjon im 2rompeter fauben roir Eitate aftcrcr $id)tungen au
fomifdjer SBirfung benufct. 3)ag ©leidje begegnet in ben Siebern be&
©aubeamug unb mit gfeidjem ©ffecte. ©0 menu in bem cinen Urtoettgs
liebe ein befannteg ©tubentenlieb in ben SBorten „2Ba3 fott aug bem
£iag nod) toerbeu?" parobirt toirb; toenn ber 3tobenfteiner an fcinen
©tabgtrompeter £ang Srenning bie SSorte Seonorcng „93ift untreu ober
tobt?" ridjtet; menu ©djitterg „beun bag Unglud fdjreitet fcfynefl" in ber
„lefcten £>ofe" ^arobifc^ benufct ttrirb in „Unb bag $fanbrecf)t fd^reitet
fdjnett"; toenn ber 9lad)ttt)ad}ter eingefii^rt tt»irb mit ben SBorten „ber
blieg eine tuunberfame getoaltige SWelobei", mit toeldjer er bie ^olijcU
ftunbe anfitnbigt; toenn in bem Siebe „bie $eimfef)r" bag Xantj&ufcrlieb
jjarobirt unb auf ben aud) aug 2BaIfd)lanb juritcffetjrcnben S)i^ter bejogen
tuirb, ben ber ^Sfarrer toon 8l&manngf)aufen jur SBufce brei £age unb
brei 9lad)te in ben SSeinfeHer einfdfjliefjt; toenn bcr Slnfang beg ffampf&
mit bem $radjen in bem „©rinbtt)alfdng" nad)geaf)mt ift in ben SBorten
„3Bag rennet bag Soft an Stjorlja&cng ©tranb?" ober enblidj, menu ber
S)id)terf fid) felbft alg Sir 3ufeM>e einfitfjrenb, ben (Singang be&
$erbcrf djen Sib fcertuenbet unb fingt:
Xraucrnb tief ftanb £ir Qufcppc
3n bem Saal ber Safa 33albt.
3BoI toax fciner \c fo traurig.
2(ud) nac^bcm ©d)effet ^eibelber^ tierlaffen unb aug jenem ^Sngcrn'*
auggefc^ieben marf ntoaxr> manc^ ein ©c^reibebrief nod) aug bem SBcitem
mit greunbeggrufe bem @ngern jugcfanbt". 2lud) biefe fpater entftanbcnen
fiieber finb in bie ©ammlung ^©aubeamug" aufgenommen; fie reidjcn bi*
3ofeplj Dictor r>on Sdjeffel.
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1867. 3)er Son ift f)ier cin tttva$ anberer, er ift ernfter, tiiittmtcr
fogor niidjterner. 3)ie ©tdtten, bic bcr toaubernbe 3)id)ter beritfyrt,
laffen fcine SBanberungen toerfolgen. Stalicn (1855, SSenebig), Siib=
frantreid) (1856), bie $onaufat)rten (1859—60), ©djtoeij (1861), cbcnfo
Sirol, Slfafc, bic ^falj, Saben — fie afle tyaben ©toffe ju Ciebcrn
gcbotcn. Sim toenigften anfpredjcnb ift bcr „©rinbtt)alfang", too einigeS
fid) ttric cin ©titd naturgefcf)id)tlid)er Sefdjreibung auSnimmt („$)er
©rinbetoat, bom @efd)led)t bc$ 2)etyt)iu3, aud) S3ufefopf getjeifcen, ift
fanftlidjen ©innS, fcin SRaubtl)ier" ic). Dod) fcf>It e3 aud) fjicr nicfyt
an toafjrer ^Jocftc unb fdftti^cm §umor. %n (caterer |>iufid)t ift namentlid)
ba§ jtoeitc bcr auf SRippotbSau bejiiglicfyen ©ebid)te, „bic ©djtoeben in
SRippotbSau", ^crt)orju^cbcn. SRidjt uaertodtjut barf aud) ba3 ben ©d)tufc
bilbenbe @ebid)t jur Scicr t)on |>ebete ljunbertidljrigem ©eburtstag
bleibcn, bag ein&ige, toa£, fo Diet mir befannt, ©djeffel in aHemannifdjer
SRunbart gebidjtet tjat. SDie 9Jleifterfdjaft, ntit toctdjer nidjt bic SJtunbart
aflein, fonbern aud) bcr eigentfjumlidje ©til, ben munbartlidjc 3Md)tung
Ijaben muft, toenn fic nidjt bto3 toerfappteS £od)beutfd) fcin foil, befjanbelt
ift, laftt bebauern, bafe bcr 3)id)ter fid) nid)t 5ftcr auf bicfem ©ebiete
t>erfud)t l)at, ju toeldjem fcin $umor ifjn bcfonberS befd^igtc.
3n £eibetberg, too bic Siebcr bc3 ©aubeamuS 5itmeift entftanbeu,
fafcte ©djeffel audi) ben $Ian ju fcincm ©ffc^arb. 3)ie3 ift unjtoeifcl-
fjaft fcin bebeutenbfteS SBerf. ®r tourbe 1854 gefdjrieben unb erfd)ien im
fofgenben 3a^rc untcr bem 2itcl: „®Tfc^arb, cine ©efd)ict)te au§ bem
jefynten 3a^r^unbcrt". 3)en ©toff entnatym cr au3 ben alten ©t. ©aHifc^ert
filoftergcfdjidjten, ben Casus Sancti Galli, bie (nrie bie SSorrebc mit
9ted)t tjeroorljebt) „gleidj cincr ^crtenfdjuur" au3 bcr %Mc mitteU
alterlid)er ©efd)id)t£queHen gtdnjen. 3n ber Zfyat gibt toot faum cin
anbereS 93u<$ jener 3cit cm fo IcbenbigeS fflilb nidjt nur be3 fttofter;
lebcn£, fonbern ber ganjen Eultur&uftdnbe. ©erabe bie $eit, in toetdjer
©djeffete Srjd^lung fpiett, ift un§ toon bem jiingeren Sffe^arb, ber felbft
Sifter ttjar, gcfdjilbert unb reid) an inbit)ibucHeu SuQ^n, bie iiberatt
Heine anmut^ige ©ilbcr gett)d^rcn. 2>af$ eine folc^e Ducfle, e^ ntag mit
i^rer ^iftorifc^cn ©laubtuurbigfeit ftetjen toic e§ hjollc, eincn 2>idjter
an^ic^en mu|te, beffen ©tubicn nacf) bem beutfe^cn SRittctatter ^in lagen,
begreift fic^ leid^t. ©r ift abcr nid)t iiber bem alten mondjifefjen ©c^
fc^i^t^tt)crf in fciner ©tubirftubc fifcen gcblieben unb tjat aug Sitc^ern
cin 93u^ gemad)t, fonbern er ^at fid) aufgemadjt unb an Drt unb ©telle
9latur, Sanb unb 2eutc, bie fcine Cuefle f^itberte, felbft gefdjaut. (Sr
ift auf bem #oljenttt>ieI unb in ber e^rtoiirbigen ©iidjerci bc^ ^ciligen
©allu-g gemefen unb fd^icfclid} ju ben luftigen 2lfyenl)5f)ett be§ SdntiS
cmporgefticgeu. Unb bort „in ben 9iet)icrcn be^ fdjtoabifdjen SKeer^, bic
©eefc crfiiKt toon bem SSalten crlofc^cuer ©ef^Iec^tcr, ba£ ^er^ erquidt
non marmcm ©onnenfdjcin unb tDiirjiger Sergtuft" f)at er feinen ©ffetjarb
5*
66 Karl Bartfdj in ^etbelberg.
enttoorfen unb grofctentljeUg gefdjrteben; auf bem SBtfbfirdjIi am ©cintig
finb bic lefcten ©apitel entftanben.
Sliest mit ben 2tugen beg gorfdfjerg attetn tyat er gefdjaut, fonbern
mit benen beg 5D inters, unb toag nod(j meljr ift r beg an feiner #eiraat
innig fjangenben SHdEjterg. 2)iefer toarme £>erjfdtfag ber Siebe fur bag
fd)5ne fd)toabifd)*atemanntfd)e Sanb tdnt burdj bag ganje ©udj unb ber^
Iett)t ben ©djilberungen ben toarmen #audf|, ber audfj in bie ©eele beg
Seferg iiberftromt.
©g ift felten, bafj fidj gorier unb Dieter' in einer SPerfon ber*
btnben. SKeift iibertoiegt bie eine ober bie anbere ©eite. SBie mandjem
gorfctyer, bem bie ©tubien ntdfjt blog cin ©egenftanb ber ©eleljrfamfeit,
fonbern ber tjerjlidjen Siebe finb, lebt im .3mtem ber Drang, bie ©ilber
feiner gotfdfjung fiinftlerifdj &u geftalten — aber U)tn gebrid)t bie ge*
ftaltenbe unb fdf)opferifd(je ftraft. Unb nrie manner 2)idjter umber toagt
fid) an bic ©dfjitberung unb 3)arftetlung toergangener $eiten, bem bie
niftljige ©runblage foliben gorfdjeng fe^It. SBenn in jenem gafle bag
SHefuttat ein froftigc^ 2Berf tft, bem man bag ®emacf}te anfiif)tt unb bad
attjufeljr nad) ber ©tubirlampe riedjt, fo in biefem ein feid)teg 2Rad£>toerf,
bad in bunter SBittfur SDtoberneg unb 3IIte3 fcermifdfyt — tote hrir ber=
gleicfjen aid fogenannte Ijiftorifdfje Stomane ju 2)ufcenben fatten unb ljaben.
©djeffet tft eine ber gludttidfyen Staturen, in benen bad bidjtertfdje
Kbnnen oon einem rebttdjen gorfdnntggtriebe, ber aud(j bie HRinutien
ber gorfefjung nicfjt Derfdpnaljt, begteitet ift. ©r Ijat eg fcerftanben, au£ ben
Ouetten ein ©utturbilb {jerauSjuarbeiten, bad an ^laftif unb ©reifbarteit
toenige feineg gleicfyen tyat. 2)ie unter ber glact)e beg 83ilbe$ ttmltenbe
gorfefyung tft organifdf) mit ber bidjterifdfjen ©rftnbung fcertoebt, fo bag
feing bag anbere beeintrad)tigt unb ft5rt. ©g liegt in ber Slatur ber
©acf)e, baft ein fotdjeg ©ulturbilb einer toergangenen S^it etroag bom
©tyarafter einer SDtofaif {jaben muft. 35ie jaljtlofen ©tnjeljiige jerftreuter
unb mannidjfaltiger DueHen finb h>ie bie laufenbe Don bunten ©teindfjen,
bie fid^ in einem farbigen 3Rofaifbilbe $u einem lebenbigen ®anjen
^ufammenfteBen. SBie bie antife Sunft eg berftanben §at, ttmrfberbare
SKofaifen ju fc^affen, bie ben ©inbrucf eineg ttotlenbeten ein^eitlt^en
$unfttoerfe3 mac^en, fo gibt eg aud) eine litcrarifd^e 9Rofaifarbeitf bie
feine gugen unb feine S^ntmenfefeung fcerratl), fonbern ben ©inbrucf
eineg etn^eitlic^en 93Ubeg mac^t. SSenn ©df)effet ntdjt in ben betgegebenen
Slnmerfungen bie Sftacfytoeife ber OuettenfteHen geliefert Ijatte, eg tourbe
fc^toer fein, aug feiner 2)arfteBung bagjenige augjufc^eiben, toag treu
benufet unb tuag beg 2)icf)terg me^r ober meniger freie ©rfinbung ift.
@o fe^r ift i)ier afleg aug einem ©uffe. Unb bodf) ^at ©c^effel red£)t
get^an, jene DueHennad^n)etfe/beijufugen, mfyt blog ^jur SBeru^tgung
berer, bie fonft nur gabel unb miifttge ©rfinbung in bem S)argeftettten
ju hrittern §eneigt fein fonnten", fonbern, toag jebenf aBg me^r bebeutet,
3ofeplt Pictor ©on Sdjeffel.
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urn benjenigen, bic ben 2)id>ter unb fein 2Berf toirflid) Dcrfte^en toollen
unb fid) nidjt blod mit bem ©enufe cincr ongene^men Scctiirc befriebigen,
5u ermSglidjen, in feine SBcrfftattc Ijineutjufdjauen unb cincn 89lid in
bad SBerben eined Sunfttoerfed $u ttjun.
Sltte ©eiten bed mittelalterlidjen fiebend finb ©djeffel oertraut, feine
griinbfidje Senntnifj ber mittelalterlidjen bilbenben £unft blidt iibcratt
burd). Die fdjeinbar trodenften ©egenftdnbe ldf$t er nidjt unbeadjtet unb
toeifj iljnen cine lebenbige, eine bic^terifd^e ©cite abjugefoinnen. 2Bemt
cr in ber ©t. ©otter SSibliotljef bie foftbaren ^falterien^anbfc^riften ftubirt,
fo gefc^tc^t ed, urn an ben S3ilbem berfelben fid) bie Ira^ten ber 3^it
$n oeranfd)aulid)en; toenn er felbft bie fo unbid)terifd) old mtfglid) er^
fdjeinenben altijodjbeutfdjen ©loffenfammlungen burdjarbeitet, fo toeifj er
aud) l)ier aud bent trocfenen p^ilologifdjen SKaterial lebenbige gunlen ju
fdjlagen. 2)a liefert eine ©t. ©otter #anbfd)rift jum SJudje Seiriticud
bie ©loffe : Recalvaster est qui in anteriore parte capitis duo calvitia
habet, medietate inter eos habente pilos, ut est Croloh abbas et
Wikram (»ie ber ©toffator fd)atfl)aft ijinjufugt), fo oertoenbet ©djeffel
biefen 3«9 reijenb jur ©d)ilberung ^ feined 9lbted ©ralo, Don bem tt>ir
im ©tteljarb lefen: „©ofort fdjiirjte'er feme tutte, ftridj ben fdjmalen
fflufdjel £aare juredjt, ber iljm inmitten bed fallen ©djeiteld nod) ftattlid)
emporttmd|d gleid) einer gidjte im dben ©anbfelb." ©etoifi ift, bie ?ln-
merfung beutet barauf f)in, biefer 3ug ber ^Jerfonalbefdjreibung aud jener
©loffe entftanben; aber tt)er mtidjte ol)ne bie finmerfung belfaupten, bafc
l)ier ein folder Ouettenjug toorliege? ©o finb uberfympt in ber ©djilberung
ber ©t. ©otter unb Sfteidjenauer 8R5ndje bie einjfclnen 3^gc ber Quelle,
bie gelegentlidjen (Sintrdge in ^anbfdjriften, bie ertfaltenen bidjterifdjen
Sragmente aufd gefd)idtefte benufct unb bertoertfjet. ©o bei ber ©djilberung
fced bom 2)id)ter erfunbyten Stomeiad bie altbeutfdjen SJerfe oom ®ber;
on einer onbem ©telle bie fagen^often Ueberlieferungen oom SSoget
©arabriud u. f. to. 9iid)t minber gliidlidj ift ber Dieter in bem £ineins
bermeben ljeibnifdjer SH^f bic im Seben unb Denfen jener 3*it nod)
eine grofie Stotte tyielen.
8tber nirgenb madjt ©djeffel Don feinem SBiffen unb feiner ©e^
tefjrfamteit ungel)5rigen ©ebraud). 2lld ffiKeljarb bie SRdume ber ftlofter;
bibliot^el betritt, urn bie SSirgilljanbfdjrift ju ^olen, bie er mit nadj
bem ^o^enttoid ne^men foH, bo todre fur einen, ber toie ©d)effet felbft
in ben ©djfifcen ber SStbliotfjcf gefc^ftjelgt, tool bie. Serfudjung na^e-
tiegenb getoefen, ouc^ bem 2efer einen Slid in biefe ©d)dfce t^un &u
loffen. SJlit toeifer 3urud^oltung nennt ber 3)id)ter nur bad Heine, in
metottene 3)ede gebunbenc ©loffarium, in bem einft ber tjeilige ©allud,
ber am Sobenfee ubtidjen 2anbedfpra(^e unfunbig, fid) oom $farrf)errn
oon Slrbon bie not^enbigften SBorte ^atte berbeutfdjen laffen. 2luf
biefed fdttt ©ffe^orbd 85lid unb er benft an bed ftlofterd ©tifter, ber mit
68 Karl Sartfdj in fjeibelberg.
fo toenig SluSritftung unb ^iilfe bereinft auSgejogen, ein frember 9Rann
unter bic #eiben; unb ba3 ftdrft ifjm ben eigenen 3Rutf). SGSic reijenb
ift aud) fjier cin fo unfdjeinbareS, tDcnn aud) fpradjlid) {jodjft merf=
toiirbigeS 2)enfmaf einem ©timmungSbilbe oertpertfjetl 2)a§ fdjilbernbe
unb befdjreibenbe Slement ift iiberljaupt in t)8d)ft mafj* unb taftootter
SBeife befyanbelt, unb e3 toerbient ba3 um fo mc^r fjertoorgefyoben ju toerben,
al$ bcr Slltmeifter be3 Ijiftorifdjen SRomanS, SDSaltcr ©cott, nad) biefcr
©eite gerabc be3 ©uten ju Diet getfjan tjat.
2)ic ©pradje beS ©ffetyarb tjat cin geroiffeS afterttjumndjeS ©eprage.
9Jian fonnte fie aljnlid) toie ben Sn^alt unb bie ©djilberungen cine 2lrt
■Diofaif nennen. 2)er Sifter toeifj Don 3^gcn unb SBenbungen bcr alten
©pradjc fo gefdjidt ©ebraud) ju madjen, bafj e£ ttrie cin £aud) be£ Sllten
un3 autt)ef)t; otjne bap baburd) ettoaS 9Ranierirte£ Ijineinfommt. 3d) mill
auf ein paar folder oft unfdEjcinbarer flcincr 3"ge aufmerffam madjen.
©djeffel toenbet bcim Sleutrum mit SSorlicbe bie unflectirte gortn an;
cr fagt „ein frembldnbifd) Staudjertoerf, eiu gcflicft £>embe, cin umfang-
rcirf) Slofter, ein flappernb SRuljtrab"; cr braudjt altcrttjumlidje SBort-
for men, ttrie ©rafe fur ©raff SBittib fiir SBitttoe, ifet fiir jefet, einanb
fitr einanber, ba§ ©ejaib, Sttringer ftatt B^inger, empfa^en fiir em;
pfangen, \va% fonft nur in bcr ^Jocfie nod) iiblid) ift, ©igitl ^tatt ©iegel,
grinjen ftatt grinfen, Sroiefprud) ftatt S^^fpra^c, iibrigen ftatt cr*
iibrtgen, in toafjrenber &ifee; „5Pra£ebi£ wax roebcr fcom ©cjanfe nod)
Don SRomeiaS griebenSftiftung auferbaut." 6r tjat mandje cigenartige
SBtfbungen: ttrir fpredjen toon einer ftumpfen 9lafc; ©djeffel fagt toon
|>abtt)ig: „if)re 9lafc brad) untoermerft furj unb ftumpflid) im 2lntli|j ab";
ber ©taar „erfal) nod) ein ©elegentjeitlein unb entn^ifc^tc"; fcrner „toar
ifyrcm ©edcnijeil uubienfam"; „eiuen fonberbarlidjcn 93lid"; „er griff
fein^orn" (ftatt ergriff); „toarb betriiblidj iiberrafdjt." 2Rand)e SBenbungen
finb tjotlfommen altbeutfd): „ba^ anmut^ige ©riibtcin, fo ben fjrauen fo
minnig anftc^t''; „bcr SBoIf^^unb beffen t)on gribingen"; ,;fot^ane^
©ottc^^au^"; „einer t)on bencn, bie am toenigften fic^ beg unertoartcten
93efud)e^ ergofcteu"; „mit ciniger (= irgenb einer) SluSrebe"; „beine
Sdtgen erfc^auerten feineS Slnblid^"; f,n?o^t aber Idfte er bcr Icbcnben
^pd^lein jtoei il)rer Sanbe^; „\d) tocib eincn gels, barau^ fc^illt unb
fdjallt" u. f. tv. Sogar t)oUftanbigc attbcutfdje 5p^rafen wenbet cr an,
fo bic SegruftungSformel „^ei( ^errol tjeit Siebo!" S)ic SInfnupfungen
t)on ©afecn mit /;unb" unb inccrtirter SBortfolge: „er fprad)^ unb lag
tocber greubigfeit nod) Stuferbauung in feincm SBorte''; „e§ n?ar cin
ungefiiger %ont unb tuar bem £ornb(afcn beutlt^ ju cntne^mcn, bafe";
ober bie SBeglaffung bc^ ^ronomen^ am Stnfang t)on ©a^cn „9Sar nod)
inandjeS brauf abgebilbet^; „ift auc^ gar nid^t fo gleic^giilttg, in roa3
©tube unb Umgcbung einer fyauft". SWan t)at and) I)tcr bic Smpfinbung,
ba^ bcr 2)id)tcr tool ^cimifc^ ift in ben alten Efyronifen unb it)rer
3°feP*l Victor von Scbef f el. 6<)
traulidjen naitoen Srjafjlunggtoeife. S)abei ift aber in bcr 9(rt, toie bic
2Renfd)en im Gffcfyarb reben, nic^tS ©e$ierteg unb gegen unfcre ©pred)=
unb $5enftoeife SBerftofcenbeg; nid)t auf funftlidjem SBegc, toie anberc
«3 toerfudjt fyaben, toitt er cin ©piegelbilb mittetatterlicfyen ©efpradjg^
ioneg ung fcorfiityren.
3ur ben ©toff bot if)m bie St. ©atler Slofterdjronif ben augeren
tRaljmen. 2Bie er aber bic ©r$al)lung benufcte, ift fc^r anjie^enb ju
twfofgen; unb barum ift eg nidjt o^ne 3ntereffe, bagjenige ©tiid ber
<5fjronif, bag ben |>auptftoff geboten, $u toergleidfjen unb ntit ifjren eigenen
SBorten aujufii^ren. $)a lefen toir Don grau £abtoig golgenbeg: §aba^
rciga, bie Softer beg £erjogg £einrid), nadf) bem lobe itjreg ©atten
35urd)arb aermitttoete $>erjogin toon ©djtoaben, tooljntc auf £of)enttoiel;
*ine gar fd)5ne grau, aber toon grower ©treuge gegen bie ^fjrigen,
ioe^alb fie tueit unb breit im Sanbe gefiird)tet toar. ©ie toar, nod)
fcJjr jung, einft bem grietfjifdjen $rinjen Sonftantin fcerlobt unb burd)
<5unud>en, bie ju biefem 3^dte gefanbt toaren, in ben Slnfangggriinben
beg ©riedjifdjen unterridjtet toorbeu; ate aber ber cine ber (Sunudjen,
ber SKaler toar, bag 93ilb ber 3ungfrau malen tootlte, urn eg feincm
<£>errn ju fd)iden, unb bamit eg red)t d^nlid) toitrbc, fie aufmerffam an=
fdjaute, ba fcerjerrte fie, toeil ifjr bie $eiratf) leib toar, ben SDtunb unb
fcerbrefjte bie Slugen unb toieg auf biefe SBeife ben ©riedjen mit Seb;
fjaftigtcit jurucf. Site fie bann bie tateiuifdje ©pradje ftubirte, nafjm
ber £>erjog Surdjarb fie fammt ifjrer reidjen 2Ritgift jur $rau; er toar
<tber fdjon fetpr alt, unb toie man fagt, toolljog er bag SBetfager nidjt.
Qx ftarb uid)t lange barnadf) unb liefc fie im Sefifce ber SRitgift unb
beg §er$ogtf)umg ate 3ungfrau juritd. ©inft toar fie ate SBitttoe uad)
©t. ©alien gefommen, urn ifjre Slnbac^t 5U toerrid)ten. 5)er 2lbt 93urd)arb
ita^m fie ate feine Sertoanbte fefttid) auf unb riiftete aKertei ©efdjenfe
fur fie; aber fie fagte, fie tootle feine anberen ©efdjenfe, fonbern nur,
baft man ifjr ben ©ffefjarb ate Setyrer auf bem §o!)enttoiel filr eine 3eit
lang benriUige. S)iefer toar namlic^ be^ fflofterS $f5rtner; fie ^atte
ba^er iiber feine ©eneigt^eit mit i^m fdjon am Sage border ^eimlic^
fidj befprod^en. 3)er Slbt bewiUigte e3 ungem unb ©ffe^arb^ D^eim
(ber audj Sffe^arb ^iefe unb Decan toax) riet^ ab; aber . ©ttetyarb fe^te
Irofebem burc^, tua§ man* Don iljm getuiinfd)t ^atte. @r lam am feft«
gefe^ten Sage nadj ^olientmiel, too man itjn mit Ungebufb ermartete, unb
toarb t)iel beffer, ate er felbft begefjrte, empfangen. ©ie fii^rte it)ren
fiefyrer, toie fie felbft i^n nannte, in ein Binimer, bag bem if)rigen ju^
na^ft lag. 3)ort pflegte fie bei lage toie bet 9tadt)t mit einer fcertrauten
SJienerin einjutreten unb 5U lefen, babei aber ftanben bie Ipren immer
offen, bamit, toenn einer audf) getoagt ^atte ettoag 936fe» ju fagen, er
bod^ feinen ©runb baju fdnbe. 2)ort trafen bie 93ciben ^aufig auc^
tljre S3eamten unb Slitter, ja fogar bie ©roften beg Sanbcg, bcim Sefen
70 Karl Sartfdj in §eifcelberg.
ober im ©efprad). $urd) if)r ftrengeS unb tt>ilbed SBefett brad£>te fie bcit
2Rann aber oftmate auf, unb e$ fam fo toeit, baft er mandjmat licbcr
in fcincr Seljaufung fiir fid) ate mit if)r jufammen mar. ©ie Ijatte
tf)m cin foftbareS S3ctt mit SSortjangen bcrcitcn laffen, tt>a3 cr abcr in
fcincr 3)emutlj toegnefjmen Ueft; fie befaljl, il)it bafur mit ©djtagen ju
beftrafen, unb nur auf bide Sittcn bed Severs beftanb fie nidjt barauf,
baft tf)m bie #aare abgefdjnitten tourben (toa% bci bcm frcien 2Ranne
einc grofce @d)anbc unb ©trafe tt>ar). SBenn er bet geftcn obcr toann
c3 it)m geftel nad) $aufe (in'S ftlofter) ging, fo toar e£. ergdfetid}, toeldfjen
Stuftoanb fie bent SRanne bie ©teinalj f)inab auf Sooten toorauSfdjidte;
immer ettt>a$ SfteueS toufcte bicfc fdjarffinnige SRinertoa ju fcinem eigencn
©ebraud) ober ate @efd)enf fiir bag Slofter ju bercitcn. Untcr bicfen
2) ingen befinbet fid) aufier feibnen (£afuln, ffltdnteln unb ©tolcn jene
Sllba, bic mit 3)arftetlungen bcr SSermftljIung bcr S($f)iIoIogie in ®olt>
gefd)miidt ift; ferner cine 3Dalmatica unb eine ©ubtile, faft ganj toon ®o!br
bie fie nad£>f}er, ate ber 9lbt 2)mmo tyr cin 9fntipl)onarium, ba3 fie
Mnfcfjte, toertoeigcrte, mit launifdjer Strglift toieber jurudnafjm.
Stuf ber SRiidte^r nad) #ofjentttueI fprad) einmal ffiffeljarb, begleitet
toon fcinem SRamenStoetter Sffcfjarb, bcm foateren 3)ecan, unb bem ftloffrer*
fritter 33urd)arb, bcm fpatcren Slbte, in SRetdjenau bci bcm ftefltoertatais
ben Slbte biefeg SlofterS, Stuobemann, toor, bcr bem Softer ©t IMm
toenig gilnftig gefinnt toar. Sn Untcrtyaftung fanb bcr fdjfaue SKann
in ©ffetyarb eincn ifjm getoadjfenen ®cgncr. SBeim 9lbfd)iebe befdjenfte
er if)n, ber e3 citig ^attef urn bci fciner ftrcngen ©d)ulerin nidfjt ju
fpat anjufommen, mit cincm Sftoffe. Untcr ftiiffen unb Umarmungcu
ftufterte cr bcm fdjeibenben ©afte in'3 Df)r: „3)u ©Itidlidjer, ber bu cine
fo fd)5ne ©djtiferin in bcr ©rammatif ju unterridjten ^aft!" SBorauf
(Effefjarb if)m fdjerjenb gleidjfalte tn'S Dtyr juriidgab: „®o tote bu, $>eiliger
bed £errn, bie fd)5ne Stomte ©otelinb, bcine tfjeure ©djitlcrin, in ber
$>ialeftif unterridjtet tyaft!" — (Effefjarb ritt mit ben beiben SSeglcitcrn
toon banncn. ?tm folgenben Xage, ate fic in ber Dammernng, toie fie
bort pflegten, bad toon bcr £lofterregel gcbotcne ©c^toctgen, bad fie fogar
felbft cifrig toeriangt ^atte, bcr ©ttte gema^ bcobad)tct ^attc (benn fie
ftng fc^on an cin Kloftcr auf bcm Serge ansulegen), fam fie jum 2Rciftcrr
urn ju Icfcn. fic ftdj gefe^t, fragte fie unter anberem, tpeSfjatb bcr
Snabe gelommcn fet. „3)ed ©ricc^if^cn tocgen, mcine #errtn," fagte
(Sffe^arb, „bamit cr curem SRunbe ettoad ablaufdjc, ^ab' tdj i^u, ber
im Uebrigcn fdjon toicl toeife, cuc^ ^icr^cr gebradjt." 3)er ftnabc abcrf
ein t)ubfd)er 3unge unb fcrtig im SSerfemadjen, ^ub an:
^^crrin, gem tofix' ic^ cin ©ricc^c, bcr faum ic^ noc^ bin cin Sateincr!"
3) aran fanb bie nac^ ncucm immer begicrige gtau folded SBofytgefaHen,
bafe fic i^n an fid) jog, iljn fit^tc unb auf cincr gn&banf nci^cr bci fidj
3<>f*pty Ptctor con Sd?effel. 7{
ftfcen fjieft. 3)arauf toerlangte fie, baft cr ifjr nod) ioeitere SSerfe au&
btm ©tegreif mad)te. 3)er ftnabe fat) auf feine beiben Setter — ctit
folder ftuft toax iljm ettoaS Ungett>ot)nte3. $arauf fprad) cr:
„$erfe Don nmrbtgem gluft Dermag id) ntdjt metter §u bitten,
25enn id) erfdjrat ju fefjr Don bcr ^crjogin liebltdjem fuffe."
$a brad) bie fonft fo ftrcngc grau in ljerjfidjeS 2ad>en au3, ftctttc ben
ftnaben Dor fief} t)in unb leljrte itjn bie 9tntipf)one „9Reere unb gtuffe",
bic fie felbft in'3 ®ried)ifd)e iiberfefet ^atte, folgenbermaften: Tbalassi
ke potami eulogiton kyrion, ymnite pigonton kyrion, alleluja! %lo<f)
oft nadjtjer licft fie if)n, toenn fie ffltufte fjatte, fommen, toerlangte toon tf)m
ejtemporirte SBerfe, teJjrte xf)\i griedjifd) foremen unb tjatte iljn fetjr lieb.
Snblid) ate er toegging, befdjenfte fie itjn mit einem $>oraj unb einigen
anbern Sudjern, toeldje ber SSudjerfdjranf unfereS fflofterS nocf) enttjalt
$)er jflngere (Jffefjarb toax injttrifdjen mit bent ®naben ju einigen anbern
fiaplftnen ber ^erjogin gegangen, urn fte ju unterridjten. $enn fie
bulbete nid)t, baft bie ^faffen an iljrem $>ofe miiftig roaren.
@ie blieb mit ©fleljarb in getoofjnter SGScifc atlein urn 5U lefen.
Sie tjatte ben SSirgil in ber #anb unb gerabe bie ©telle fcor fid^
„Timeo Danaos et dona ferentes.u „$iefe ©telle/' fagte ©ffefjarb, „fonnte
id) geftern, meine #errin, mir mit gug in'* ©ebadjtnift juriidrufen." ©r
tfjeilte ifjr nun mit, mie ber 9lbt Don SReidjenau ifjn eingelaben unb-
mit einem ftattlidijen SRoffe befdjenft, aber bei attebem fjinterliftiger
9teben fid) nid)t entfjatten tjabe. 2)od> t>erfd)tt>ieg er bie lefcten SBorte,
bie fie fid) Don beiben ©eiten in'S DIjr geppcrt. „3d) ttmnfdjte," ant-
toortete fie, „ben ganjen ©treit, ber neuerbingS jtoifdjen eud) borgefaflen,
toon 8lnfang an $u fcernefjmen; benn id) toeift nid)t, ob id) iljn red)t
gel)5rt tjabe. 3d) ttmnbre mid), baft jtoei ftldfter meineS $erjogt{)um3,
too id), bie SSertreterin be3 Slei^eg, fo na^e fifee, in foldjc unfelige $)dnbet
fic^ einlaffen, mit fcfltliger Slid^tac^tung meiner ^erfon, unb toenn meine
SRat^geber mir nidjt abrat^en, fo ^abe id) t)or, fobatb xi) ben ©adjtoertjaft
erfunben, nac^ ®ebii^r ju beftrafen." ift treulo^/' ertoiberte (SHefjarb,
„erlau(^te iperrin, baft ber id) ndc^ft meinem D^eim tjauptfadjlidj bie
8Serf5^nung geftiftet, bir anlltigerifd) ettoa^ fage, na^bem id) ben griebenS-
fuft gegeben — id) !ann aber nid)t anber^. Dbgleid) mic^ Stuobemann
geftem — bu fennft i^n ja — toafjrenb er mic^ befd)enfte, ^eimlic^
gereijt ^at, fo liegt e« bod) mir nidjt ob, ben gefd)loffenen Srieben ju
brec^en; be^toegen toerbe xi) nxfy aMaffen, ben grieben, toie er fefbft
auc^ ttritt, mit i^m ju ^alten." Diefer ©runb unb biefc Sfled^tfertigung.
gefiel ber grau.
@d ift nidjt nbt^ig, meitere mdrtlic^e STOitt^eilungen an3 ber alten
DueHe ju madjen. toirb geniigen 5U bemerfen, baft fie iiber ®ffe^
fjarbS fernere ©c^idfate beric^tet, er fei auf §abttrig3 (£mpfe^Iung an
72
Karl Sartfdj in fjetbelberg.
ben faiferlidjen §°f DttoZ I. gefommen unb bort namentlid) son bcr
Aaiferin Slbelijeib ^oc^gefc^d^t toorben. ©r fiifjrte toegen feineS Idngeren
93ertt>eilen£ am §ofe ben Seinamen „palatinus, ber £>i)fling" unb ftarb
am 23. 9lpril 990 in SWainj, tt)o er in ©t. 9tlban bcerbigt ttmrbc.
$>ie angefiifjrten ©tetlen reicfyen boHfommen I)in, urn einerfeitS bie atu
mutfyige ©rjd^Iung^tueije be3 fanctgaflifdjen ©efd)id)t3fd)reiber£ jn jeigett,
unb auberfeit3 urn ba3 SBerfydltnift ber ©djeffetfdjen 3)id)tung &u feiner
Cuctle ju beurtljeilen. 2)ie l)iftorifd)e §abtt)ig imb ber t)iftorifd)e Sffe*
I)arb finb im Stjarafter Don ben ©efialten be3 2)id)ter3 feljr tocfcntlic^
fcerfdjieben. 8^ar Ijat bie Saunenljaftigfeit ber £>er$ogin, tootoon bie
ClueHe beridjtet, audj ©djeffel beibeljalten; aber er I)at au3 bem mdnnifefyen
SBeibe ber ©efd)id)te, ba$ im ©iune ber 3eit redjt berbe unb rolje %\\%t
jeigt, ein ofjne SJerlefcung ber I)iftorifd)en 2reue bod) ungleid) mefjr un£
anmutt)enbe£ 93itb gefdjaffen. 3)ie tjiftorifdje £abtt)ig ift eine jener I>od)s
ftefjenben 2)amen mit geletyrten Siebfjabereien, tok toir fie im jefjnten
3ftl)rf)unbert in ber SBertoanbtfdjaft ber fddjfifrfjcn Saifer mef)rfad) finben.
S)er SRond), ben fie ju fief) nimmt, f>at unter ifyren Caunen ju leiben;
bie <^trcitigfeiten ber Slofter SReidjenau unb @t. ©alien intereffiren fie,
njcil ityrc &otjcit3red)te baburdj beeintrdd)ti$t toerben. S?on einem gemutl)=
fcollen SBefen, Don einer J)erjtid)eu SBejiefjung jtt>ifd)cn if)r unb ityrem
Sefjrer blidt in ber Quelle nid)t3 burd). SBirflid) aumutfjig erfd)eint fie
uur in ber ©cene mit bem Slofterfdjiiler. S)iefe I)at aud) ©d)cffel am
treueften beuufct; inbefc aud) bie anbern ©injeljuge finb t)on if)tn in befter
SBeife Dertuerttyet.
$ie ©djeffelfdje Jpabtoig fommt nad) ©t. ©alien au3 2angcrh)eile;
t>er 9tnblid be£ fd)6ncn iugenblic^en ^5f5rtncr^f ber fie itber bie Quelle
$e3 ®Iofter£ gelragenf toeil nad) ben ©afcungen fein SSeib biefelbe iibcr=
fdjreiten burfte, toedt ein SBotylgef alien in ifjr; feine begeifterte Sobrebc
<wf bie alten Sateiner ben toeiteren ©ntfdjlufc, lateinifdj 5U lernen —
itnb ©ffefjarb foil ber Sefjrer fein. ©ie tjat einen ungeliebten alternben
©at ten nad) furser freublofer ©Ije begraben; fie f)at no^ nidjt geliebt
— iff e§ Slebe, tva$ fic^ in i^rem Sufen regt? Saum — i^r ©efiil)!
flc^t iiber ein finnlic^eg SBofjtgefaHen nic^t I)inau§. ©anj anber^ bei
Gffe^arb. ©c^on in ben erften ©cenen Ijat ber S)ic^ter bafiir geforgt,
xtn§ a^nen ju laffen, bafe in ber ©eele be£ jungen 3K5nc^e^ biefe Sc^
gegnung unb ber i^m gemorbene Sluftrag DerI)dngni|t)oII n^erben mirb.
€r lieft bei £ifd) uon ber Serfudjung be§ ^eiligen Senebict, be^ ©tifterS
t)e^ Drben^, Dor — ju geringer ©rbauung ber ^er^ogin, unb gleict)
barauf tritt an ifyn felbft bie SSerfuc^ung in ber gragc §ab»ig§ I;eran,
cb er it)r Secret* fein motle. „$)a Hang e^ in ©ffel)arb^ $>er5, tv\t ein
2Sibert)aII be§ ©elefenen: SBirf bic^ in bie 9ieffeln unb 3)ornen unb fag
uein! @r aber fprad^ : SBefeljIet, ic^ gef)ord)e!" 2)amit ift ber SEBiirfel
^cfatlen, bag ©c^idfal get)t fetnen ©ang. Mod) einmat flingt bie marnenbe
3ofepti Dtctor von Sdjcffel. 73
<©timme beg trofc feiner Slinb^cit mit ©efjcraugen in bie 3ufunft
fc^aucnbcn Sfjielo; beg ©djcibenben Stuge fdllt auf ben ©dntig, in beffen
erfyabener ©iufamfeit er bereinft ben grieben ttrieberfinben foil. 2tuf bem
4?oljenttmel angefommen, erfjdlt ev t?on ber £eraogm ein „groft (uftig
©emad) mit fdutenburdjtljeiltcm SRunbbogenfenfter" angennefen, „an bent;
felben ©ang gelegen, an ben and) ber ^er^ogin ©aal unb 3immer
fHe&en". ©o fanb eg fid) fdjon in ber Cuelle, aber ber fetn motimreubc
2>id)ter laftt ©ffefjarb bie §erjogin bitten, if)m aud) „ein fern gelegeneg
©tubmen" ju geben, too er in einfamer ©title ©ott nnb ber SBiffenfdjaft
bienen fonne. „3)a legte fid) eine leife galte uber gran Jpabnrigg
©tint." ©g ift bie erfte SESoIfe, „ein SBoMein" nennfg ber 2)id)ter, nnb
erwetft il)re erfte fpottifd)e Semerfung uber ben ungefdjidtcn unb iljre
8lbftd)t fo toenig toerfte^enben 9Dtond). S)er erfte $aud) toon ©iferfudjt
mif bie amnutljige ©riedjin $raj:ebtg, eine ber reijenbften ©eftaltcn ber
tSidjtung, ruft bie ©tirnfalte jum jtueiten SKal Ijeroor. 2llg £abttng
nad) ber erften Seljrftunbe ben Sefjrer fragt, ob er bie 9lad)t nidjt etmag
getrdumt fyabe, jeigt fid) fein 9lid)t&erftel)cn iljrcr gefjeimcn 2lbfid)ten
aufg ueue; bag. ©etyrad) lafjt in bie arglofe ©eele beg jungen 9R6nd)g
toxc in bte liftig fjeraugfjolenbe beg SBctbeg einen tiefen Slid tljun. 2)ie
fiectiire SBirgilg, nameutlidj bie @efd)id)te t?on Sleneag nnb 3)ibo, bie
ifyren erften ©ematjl tocrgifet unb in ben fdjouen, Slnfommling fid) fcer-
liebt, bietet tneiterc Slnldffe $u 93ergleid)ungcn, unb ba biefe ber un;
fdjulbige ©ftefjarb nidjt Ijeraugfutjlt ober nidjt im ©inne $>abtt)igg
cmpfinbet, fo gibt eg cine Serftimmung unb fpifcige Steben. ©glimmer
toirb eg, alg beibe auf bem &oljenfral)en ftefjen, bag fd)Sne SKeib, roeic^
getuorben im Snbftd ber grofcen toeiten Siatur, ifyren Slrm auf Effeljarbg
©d)ulter leljnt, alg ifjr Sluge auf bie fuqe ©ntfernung in bag feine
ljinuberflammt unb fie mit toeidjer ©timme fragt: „2Bag benft mem
greunb?" — unb alg ©ttetjarb, ttrie aug cinem Xraum auffa^renb,
crroibert, er ^abe an bie Serfuc^ung beg ^errn burd) ben ©atan benfen
miiffen — ba flammt ber $oxn beg leibenfdjaftlid) erregten SBeibeg liber
bie Itjorfjeit beg 3Kond)eg ^ell auf unb fie fefjrt i^m unmutfjig ben
3tiiden. 2tu(^ je^t nod} ift @ffet)arb unbefangen. Unb alg bei ber ge^
meinfamen SRott), bcim $)eranna^en ber ^unnif^en §orben bie iible Saune
ber 4?erjogin gettjidien, atg fie am SKorgen t)or ber ©d)ta^t in (Sffeljarbg
©emac^ tritt unb i^m &erjog Surc^arbg ©d)ttjert um^dngt — ba, in
eben bemfelben Sugenblid, wo bag SSeib aSerftdnbnil ber eigenen
©mpfinbung t?on bem 2Ranne toertangt, bem fie fo tueit mie mbglic^
^ntgegengefommen — ba tritt ber unljeilbare SRife ein. SBol ift eg
(Sffe^arb, „alg mii&te er fic^ niebermerfen t?or itjr, bie fo ^ulbuotl feiner
gebacfyte"; aber ^auffeimenbe 9ieigung braud)t 3eit iibcr fi^ felbft flar
3u roerben, unb in S)ingen ber Siebe ^atte er nid)t redjnen unb abjd^len
gelcrnt n?ie in ben Sergmafcen beg Sirgiliug, fonft l)dtte er ftcf> fagen
H Karl Bartfd? in ^eibelberg.
miiffen, baft, toer ifjn aud bed &fofterd Stittc ju fid) gejogen, toer an
jenem Stbcnb auf £>ojjenfral)en, toer am SJlorgen bcr ©d)fad)t fo Dor i^m
ftanb toic grau |>abtoig, jefct tool cin SBort aud bcr liefe bed $erjen$r
Dtetleidjt mefjr afd cin SBort Don iljm crtoartcn m5d)te." SBie tjeftig aud)
fcinc $ulfe fdfylagen, bad SBort bteibt ungefprodfjen, unb cr toeijj nur
mit gebroc^ener ©timme cin „SBte foil id) mcincr £>errtn banfen?"
fjerDorjuftammetn. Dad SBeib ift in fetnem ©tolje aufd Dteffte gefranft,
bic Siebenbe f itfjlt fid) unDerftanben unb Derfd)tnftt}t — Don biefem
SRoment an tritt bci tyr bic SBanbhmg cin. 3n #abtoigd beleibigter
©eele fdjtoinbet bic Stebe unb fieibenfdjaft toic Dom groft gefnitft. „3m
StugenMid uberfdjtoanglid&en ®eful)(d nidfjt Derftanben toerben, ift gteidj
bcr SSerfdjmftfjung, bcr ©tadf^et toetdfjt nid)t toicbcr. SBenn ftc ifjn jefct
anfdjaute, pod^te bad |>erj nidjt in fjdtjcrcm ©dfjfag; oft toar'd SJlitletb,
toad ifjre ©licfe iljm nod) jufiiljrte, abcr nidjt jened fuf$e SKttfcib, au£
bcm bic Sicbc auffpriefct toic aud fu^Icm ®runbe bic Silic — cd barg.
cincn b5fcn ®eim Don ©ertngfdfjafcung in fid)." 3n Sffeljarbd #er$en
abcr ift erft jefct bcr Seim aufgegangen, ertoadjt erft jcfct bad Setou&t-
fcin bcr Sicbc, toadjft bic Seibcnfdjaft f)eran, urn fo glitfyenber unb Der~
bcrblidjcr, je mefjr cr fic befampft. Die Dortyanbenen 2Rtftt5nc ju fteigern,
mu| jefct aud) bic toicbcr aufgenommcne SSirgiUccturc bicncn; Dibo&
©djtoadje beleibigt grau &abtotg, „Dietleid)t bafi ftc fid) felber bibonifdfjer
2tntoanblungcn erinnerte". Der gefetttge 2lbenb, an toeldjcm jeber im
Sretfe cine (5rjal)lung jum beften gibt, Derratf) ©ffetyarbd tieffted Smpfmben
in ber ©rjctfjlung Dom SRadjtf alter, bcr in bad Sidjt tjineinfliegt — in
iljrer Ungefdjminftfjeit unb Durd()fid)tigfeit toicbcr cin riifjrenbed Stlb Don
bcm einfadfjen SBefen bed ®rjdl)Ierd. Slber cd ift ju fpat, grau §abtoig
fjegt jefct fur iljn nur UntoiHen unb 93erad)tung. SBie cr bann am
folgenben lagc bic cinfam am ©arfopljage bed Dcrftorbencn ®aWm
©ctenbe fjalb toaljnftnnig in fcine Sfrme fdfjlieftt, in totit^enber Sciben^
fc^aft, unb Don ben laucrnbcjt ©cgncrn babci iibcrrafd^t toirb — ba ift
atlcd Dorbci; bte tiefftc ©rnicbrigung, bic fdjtoerfte ©trafc fte^t bem cib=
brildjigen 2R5nd^c bcDor. ipabtoigd ©tolj ift jum jtoctten SKal, unb jefct
in ©cgentoart Don 3^ugcnf aufd empfinblic^fte Dcrlcfet — ftc gibt i{jn
ben Seinben preid. 3)a ift bic bci aUcr ?fr5I)Iidjfeit unb fd^etnbarer
Cbcrflac^lic^fcit tiefer empfinbenbe 5prajcbid feine Sctterin; fic Derljilft
i^m iur gluc^t. 3n ber ©infamfcit bed ©antid gencft ber Iteffranff,
unb toic bic frifcf)e ?l(pcnluft ftd^ ^eilcnb urn feinc fiebemben ©c^Iafc
legt, fo fjetft bic Dic^ttunft fcin franfed §erj.
S)cr Dieter ^at fic^ Ijier cine Srei^eit genommen unb l)at mit bcm
©ffc^arb, ben toir Dormer aud bcr DueHc fenncn (ernten, ben altercn
Dieter bed SBalt^artud Derfd^moljen. ©r fonnte bic toeitere ©nttoidelung
unb bie toeiteren ©d^idfalc bed „^5f(ingd" ©ffe^arb fiir fcinen $clbenf
mit feiner ©emutfjdanlage, nic^t brau^en. Die befreienbe 9Rad)t bcr
Jofeplj Dictor port S d> e f f e I. 75
^Jocfte gegeniiber bcr Seibenfdjaft unb bcm ©djmerje Ijat bcr $icf)ter an
fid) fetbft empfunbcn unb lafct fcincn £elben biefcn Sauterungdprocefj
cbenfattd burdjnracfjen. ate bad fertige Sieb, urn ben ©djaft eined Veiled
genmnben, Dor grew #abtoigd Siifeen niebcrfaHt, mit fcincr 2luffd)rift:
f,3)er ^erjogin Don ©djtoaben ein Sbfdjiebdgrujs" unb bcm Sibelfarudj:
„©dig bcr SDlann, bcr bie SJJriifung beftdhben" — ba ncigtc bic ftolje
gtau il)r faaupt unb toeinte bitterlid). ©o tont biefe fiicbe rent unb oott
aud, in nmrbigftem Stbfdjluffe. 2tber fo fet)r toir aud) bic aScrfc^me^ung
bed 3)ic^tcrd Cffc^arb ntit bcm #5fling billigen, fo fdjeint und bod)
cined — unb bad ift bie einjige ert)eblid)e Sludftettung, bic toir an bem
trefflidjen SJudje ju tnadjen tDii^ten — Dom ©tanbpunfte liinftlerifdjer
(Sompofition nidjt gercdjtfertigt: bic Mufna^me bed Dotfftanbigen SBaltfyariud
in beutf<$cr Ueberfefcung in ben SRoman. 2)ie Ueberfefcung ift friifjer cnt-
ftanben, in $eibelberg im SBintcr 1853/54 unb fyat im ffiffetjarb iljre erfte
Serflffentlidjung gefunben; feitbem tjat fic ©d)effel in Segleitung bed
lateinifd)en Don £olber tjeraudgegebenen Originate mit anjic^enben lite-
rarifdjen unb cufturgefcf)icfytlid)en 93eigaben Derdffentltd)t unb aud) cine
©onberaudgabe ber Ueberfefcung alleitt ift erfdjienen. ©etoif} ift ber
SBaltfjariud cine fdjone 3)id)tung unb fie lieft fief} in ©djeffeld gercimtcr
aSerbeutfdjung feljr anmutljig unb frifdj; aber ein anbered ift ed, ob fic
Ijier am Pafee ift. SDtan fflnnte fretlid) cine innere, gegenfafclidje 33e=
jieljung tjineintcgen: jttrifefyen bcr Ijetbenfrciftigen Sicbc bed jungen $aared
SSaltfjart unb #ilbegunb, bie in iljrer ®efunbljeit ber franfenben 2etben=
fdjaft bed 2R5nd)d unb bcr ^crjogin gcgeniibcrft^t. Mbcr aud) bann
beburfte ed nidjt bcr 2Rittf)eiIung bed ganjen ®ebid)tcd. ©o tocnig
ftdrcub bie an bem ©rjafylungdabenb oorgetragene ®efd)idjte Don Sflnig
9totfjcr ate epifdje (Spifobe toirft, fo fetjr ft5rt, mid) toenigftend, jebedmal
bad cingclegte SBalt^artlicb; urn fo meljr, ate in bem reijenben Silbc
son Subifaj unb |>abumotf) bie Slud)t eined liebenben $aared aud bem
4?unnenlager, eined SJJaared, bad burd) allc ©efaljren bed SBegcd feincn
©djafc mitnimmt, fdjon ju fe^r an bic 3tfud)t SBalt^arid unb $ilbcgunbd
erinnert. ©cfefet bcr Sifter ^atte ettua SBoIfram ober einen anberen
5)id)ter aud ^fifif^er 3^it jum ©egenftanbe feiner ©rsa^tung genommen
(unb toir h)iinfd)tcn, er ^dttc cd getf)an)f er miirbc fc^toerlid), awfy menu
cr bie Sottenbung fcined ^arjiDald barin erjd^lte, ben ^SarjiDat fclbft
in Ueberfefcung f|ineinDcrtoebt ^aben. Sine ^intoeifung auf ben Sn^att
bcr 3)id)tung unb i^re Sejic^ung jum ©eclenfeben ©ffc^arbd toiirbe an
bicfer ©telle Dofljtanbig geniigt ^aben. Stud) l)at fic^ ©c^effet bur^ bic
ttoHficnbige ^ineinjie^ung bed SBatt^ariliebcd eincr intcreffa'ntcn unb cr=
giebigen DueHc beraubt, bic i^m reined SKaterial fiir bic- ©c^ifberung
bcr ©ittcn bed je^ntcn 3^^^wnbertd gcboten tyatte. S)cnn toenn auc^
ber SBalt^ariud bem ©toffc nad^ ciner tocit Winter bcm ^e^nten 3al)r=
fjunbert liegenben 3cit ange^5rt, fo bocf) uid^t bic barin gefc^ilbcrten
76 Karl Sartfd? in fjeibelberg.
©itten; f)ter gibt melmef)r, tote jeber mittclaltcrlic^c $)id)ter jebem ©toffe
gegenitber tfyat, (Sffefyarb cin Sittenbilb feiner eigenen $e\t. Unb fo tjdtte
ber gleidjfaflg namentltd) fiir bag feine f)dfifd>e Seben bcr bamaligen fait
fe^r ergiebtge SRuoblieb nod) ftdrfer fjerangejogen toerben bitrfcn.
#ett unb fdjarf fjeben bic bciben $auptgeftalten, bcrcn pftjdjotogifdje
(Snttotdehtng toir eben Dorftifjrten, fid) ouf bcm £>intergrunbe beg $t\U
gemdlbeg ab. 3)ett breiteften 9taum barin nimmt felbfttocrftdnbttdj ba&
Slofterlebeu cin, bag in ciner Stifle t)on ©eftalten ung gefdjtlbert toirb.
93ei oflem $mmor, ber fjieruber auggegoffen ift, liegt bcm 3)td)ter bod)
cine SJerfpottung beg $loftertoefeng gdnjfid) fern. 2BoI jetd^nct er un£
bie ©ntartung namcntlid) in SReidjenau: abcr fie entfprid£)t ben t^atfdd)^
lidjen 3}erf)dltniffen; mot ift audi) bie ©d)ilberung t)on @t. ©alien nid)t
fret t>on einem etmag ironifdjen Seigefdjmad, abcr bic crnften menfdjljeit-
bilbenben SBeftrebungctt ber Sfofter fommen babei nidjt furj. 2)ag Un=
gefunfre ber mittelalterficfyen 9Kond)gmeIt burfte nid)t toertjeijft merben; in
bcr ©djilberung ber SRecIufa SBiborab tritt bag tjertoor; $ur ©rgdnjung
gefjort ber irifdje Seutpricfter 9Roengal, ber erft, mie cr int ©djmeifjc be&
2tngefid)tS ben lanneubaum fdflt unb ben 9tad)en aimmert, unb ben @ttidj=
oogel aug ben Sttften fjeruntcrfjolt, mirfltdj an Setb unb ©eele gefunbet.
3>m ©egenfafc ju bent fiegenben ©fjriftentf)um ift bag untergeljcnbe
#eibcntf)um mit unDcrfennbarcr, aber nidjt einfeitiger Siebe gqeidjnet, in
atter feiner ©rofcartigfeit, abcr attdE) 93ogf)eit in ber fjeibnifefyen SBalbfrau.
5)ie Sdn'tberung ber £unuen toon iljrem $eerfitt)rer unb ber ttrilben (Srica
big fyerab ju bcm gutmutljigcn Soppan ift t)ott Seben unb Slnfdjaulidjfett.
SSotleubetc 2Jteifterfd)aft aber befunbet bie 3eidf)nung beg jungen $aare&
9lubifa£ unb |>abumotf), nid)t ju toergeffen ber grofeartigen ©eftalt beg Slltcn
in ber #eibenfyol)le, unb beg madern 28dd£)terg Stomeiag mit feiner rauljett
naturnritdjfigen Siebe §u ^Srafebig, mit bem in feiner UnbcfjoIftnf)eit fi>
reijenbett 93riefe, momit er ben 5luerf)af)n an bie ©riedjtn uberfenbet.
93ei attem 9{eid)tf)um beg $mmorg, ber fcine feudjtenben SBIifce tiber
bag ©emdlbe fdjieftt, ift bod) ein melancf)olifd)er 3UQ in ^em SKittelpunftc
begfelben un&erfemtbar. SSenn ber ^.rompeter ung einc fede, frifdje
Sugcnblicbe tjorfii^rt, bie im SBertrauen barauf, ba§ bie SBctt i^r get)5rc,
f)offt unb toagt, enbli(^ glitdfic^ aUe ^inbemtffe befcitigt unb i^r Qitl
erreidjt — - fo flingt in ©ffe^arb burd) bie Siebe ein Ion beg (Sntfageng.
-5)ie ^anb, bie ifyn gefc^rieben, ^at \xi) fc^on fdjmer&ftdj t)or bag brennenbe
2tugc getegt, bag ^erj, bag il)n erfonncn, f)at felbft fd^on mand^cm golbenen
Iraum entfagt. S)ag ift aber beg edjten $)umorg SBefen, bag er be&
Scbeng ©rnft unb fycitereg Spiel §u Ijarmonif^em SBitbc ju Dcreincn
mei§. 3)cg 2)icf)terg ©mpftnben briidEt am beften aug, tt?ag er 1855, alfi>
urn bie 3eit, ba ber (Sffcljarb entftanb, fd^reibt: /;9lac^ IRaturanlage unb
9teiguug I;citte id^ ein -Dialer toerben fotlen, Srjiel|ung unb 93ert)dltniffe
ttjenbeten jum ^Eienfte ber $uftia, bic uncrfiilltc Scf)ufuc^t uac^ ber
3°fepfy Victor con £d?effel. 77
btlbeuben S?unft unb bic Debe eincS medjanifdjen 93erufc£ ricf in ifyrem
3ufammenttrirfen bic ^ocfie mad), ba£ Sfufdjauen unb jum Xfjeit ba£
©eibfterleben ber toielen fc^tcfcn unb confufen Skrfjdltniffe im tiffentlidjeit
unb ^ritoatleben, on beuen feit 1848 unfer SJaterfanb fo reid) ift, gaben
bicfer ^Joefie einc ironif<f>e 93eimifdjung, unb meinc Somif ift oft nur
bic umgefefjrte gorm inncrer SWelanc^oIie."
3)a£ ©ebiet be£ culturf)iftorifd)en {Romany ju beffen ^Bflege ©djeffef,.
nad) bcm ©ffefjarb ju urttjeiten, in eincm SOiafee tpte SBcnige bcrufcn tear,
Ijat bcr $)id)ter uad$er nur nod) in &toei flcincrcn notoetlenartigen 6r-
jafylungen gepflegt, bic abcr beibc in ifyrer 2lrt feljr an$ief>enb finb. SMe
erfte berfelben crfd)ien uuter bcm Site! „#ugibeo, cine alte ©efd)id)tea
im brittcn 93anbe toon SBeftermannS ifluftrirten beutfefyen 9Ronat3l)cften
(1858, ©. 22—26) unb ift 1857 toerfafct. Sic fuljrt un3 in cine uod>
friifjere ^criobe ber beutfefyen ©efd)id)te aU 6ffel)arb, in bic 2Ritte be$
fiinften 3a^r^l"^crt^, in bie 3eit bcr @d)Iacf)t auf ben catataunifdjen
©cfilbcn. ©ie fpielt auf jener ftcil in ben 9tfjein abfaflenben f affroanb
unterfjalb SkfelS, bie ben 9iamen „$)er Slofc toon Sftein" trdgt. ffiiit
junger gutljung, 9tamen3 £ugibeo, ber langere 3?i* unter ben foment
gelebt unb itjnen einigeS toon iljrer ffunft abgefefjen f)at, ridjtet fid) in
bcm Sclfen^ einc ©infieMertoofynung fycr, in hmdjer cr in einer 9tifd)e
bic mitgebradjte 3Rarmorbufte einer jugenbfefyonen SRomerin aufftellt. Site
©$cl3 ©djaaren iiber ben 9tf)ein bcu SRomern entgegenaiefyen, al3 bie
germanifdjen ©tdmme fidj it)uen anfcfyliefjcu, fe$t |mgibeo ber 2luf=
forberung aud) mitjugetjeu cin tjortndcfige^ unb entfdjiebeneS „9?ein" ent-
gegen. @r ttntt nidjt gcgen ba§ SSoIf fdmpfen, bcm ba3 fdjone Urbilb
jener SKarmorbufte angef)5rt. S)ic riidfetjrenben ©cfyaaren ttmften unt>
brennen ba£ Sanb; fjeller geuerfdjein toon bem nidjt fcrnen Augusta
Eauracorum (bem fyeutigen Stugft) rotfyet ben |)immet; mit mancfjer
anberen fieidje treibt aud) bie jener SRomerin, beren 93ilb in §ugibeo£
Siebelei ftefjt, ben ©trom tjiuab, toirb toon bem ©almenfifdjer Sftcbi,
§ugtbeo3 einjigem greunbe, aufgefifdjt unb toon ^ugibco in ftidcr SDGonb-
nafyt begrabcu; ein jtoeiteS ®rab, ba§ cr baucben bcreitct, laftt er leer.
9Iud) bic Seidje eine^ v5mifcf)eu Eenturio fommt I)erabgefc{)toommen unb
tpirb toon 9!ebi aufgefangen. ^pugibeo I5ft toon bem ©itrtel be§ Sobteit
cinen jttjeifcfjneibigen S)old^, unb a(d am anbem 3Korgcn ber gifc^er if)ii
auffucfyt, finbet er i^n in feincr |>ot)fe fifecnb, toon bem Dolcfje burd)^
bo^rt; cr begrdbt ifjn an ber ©eitc ber ^ungfrau.
ift ein 93itb tool! 9$oefie, bei bcm man nur eine£ bebauert: ba&
nic^t nod) meljr au§gcfii^rt ift. S)cr Steij bc^ SK^fterium^ tiegt auf
bcr ganjen Grfc^cinung |)ugibeo^ unb auf bcm toeifjen 2Rarmorbilbe.
Qxoax liiftet bcr Dieter am ©d)luffe ben ©djleier cin mcnig unb be-
xi^tet un§, bic fd^one SRomerin, 93cnigna ©crcna ge()eifeenf fci bie Softer
cine^ faiferlic^cn SJcamten in Augusta Rauracorum gettjefen, tuo audj
78 Karl Bartfdj in ffetbelberg.
4>ugibeo einige 3^it gelebt; fic fjabe ein 3al)r toor tljrem lobe ben
©deleter alS ^Jrtcftertn bcr ©ottin Jfybele genommen. 2Bir erratyen, bafe
ber junge 3utl)ung unb bic fdjdne SRdmerin cinanber geliebt, abcr bafr
ifjrer SScrcinigung $inberniffe entgegentraten, baft jener romifdfje Eenturio,
beffen £eid)c |>ugibeo mit l)5t)nenben SBorten etnpfangt, be3 2)eutfd)eu
tterfjaftter SDtitbcmcrber war; baft #ugibeof fcom SSatcr be$ SKabdEjenS
.juritefgetoiefen, Ijintoeggejogen, unb baft 83enigna ©etena $riefterin gc-
loorben, um cittern toerfytjjten S^ebunbe mit etnetn ungeliebten SRanne
iu entgeljen. S3 toare bent Sifter fid&er ein Seid^ted getoefen, biefe 93er-
gangenijeit ber Siebenben un3 in anSgefuljrter <SrjfiI)Iung fcorjufuljren;
*r ljatte tyier ©etegentyeit geljabt, ein reidf)ere3 83tlb toon ber rflmifefjen
<£uttur jener Xage in einer ^robinjialftabt auf beutfd&cm 95oben unb
t)on ber 99eriifjrung berfetben ntit altgerotanifdjem Seben ju enttoerfen,
ntit ben jtoei jugenblidjen ©eftatten ate SWittefyunft. ©til unb ©prad&e
finb ganj ttrie ira (Sffcljarb, au<§ fjier mit einer leifen df)ronifaIifcf)satters
tfjiimtidjen fjarbung, tnit beufelben fteinen SEenbungen unb ©igenfjeiten.
<3efud?te SRcbetPcifcn finb aud) I)ier fcermieben unb nid&tS grembartigeS
barin; fcermieben gefefjen fatten toir inbefc gem eine fo mobente 9Ben-
bung ttrie bie bent ©atmenfifdjer Slebi in ben SOtunb gelegte: „Slttc3
mufc ruinirt fein! fagt £>erjog SrofuS' felige ©rofemutter." Sfcidjt bie 8tm
loenbung be£ apologifdfjen ©pridjtoorteS, benn biefeS ift jebenfaHS uratt,
ftflrt un£ babei, fonbern ber moberne Ion, ben baSfetbe Ijier anfdtfftgt.
2)ie jtoeite Slodette, „3uniperu3, ©efdfjidljte eine* SreujfafjrcrS",
«ntftanb in $)onauefd}ingen, too ber 2)icf)ter einige $t\t bag 3lntt eine£
fiirftlidEj ftiirftenbergifdjen 93ibliot(jefar£ fcertoaltete. toax bie entsige
fttoaS langere Station in bent SBanberleben, toeld)e$ auf bie SJottenbmsg
be£ (Sffefjarb folgte. ©$effet toar 1855, unmittelbar uadf) Slbfc^lic^ Ac£;
felben, junt jtoeiten 3Rale mi) 3ta(ien unb t)on ba (1856) uadj ©iib=
franfreidEj gegangen; 1857 finben tt>ir iljn in SRundjen, bent ®reife ber
um Sihtig 2Ray n. fcerfammelten 2)idE}ter angcfc^Ioffen; 1858 ging er
uadj 2)onauef^ingenf too er bi3 1859 blieb. Son feinen SSanberfa^rten
legen bie brei „2lu3 ben Iribentiner Stlpen" betitelten 93erid)te im granf=
furter 3Kufeum 1856, unb brei anbere „2lu3 ©iibfranfreid^" in SBefter^
mann^ STOonat^eften (»b. 2, ©. 39—46. 522—533. 626—642) 3eug-
ni§ ab. ©ie befunben audf) be^ S)ic^terg 93egabung fiir bie barftetlenbe
^unft, benn bie beigegebenen §oljfd)nitte finb nacf) feinen 3eid)nungen
gema^t. 3)ie jungften folder SReifeberid^te finb bie „9fu3 bem ^Ifafe"
Dom Sa^re 1872 (in „Uebcr 2anb nnb SKeer").
3n Sonauefd^ingen erfc^Iofe fic^ bem mit befonbercr SSorliebe bie
atemannifd^en SHtert^iimer ftubirenben S)ic^ter ein reicfjer Sd^a^ in ber
2afebergifd)en SBibtiotfjef, beren altbeutfd)c ^aubfd^riften er orbnetc unb
in eincm gebrudtten Satatogc (©tuttgart 1859) befdirieb. Sine bid}=
lcrifd)e Srud^t biefer ©tubien ift ber im 3tet)re 1866 mit 3*i$nungen
- — 3of*pfy Dtctor con Sdjeffel. 79
toon St. D. SBcrncr fjerauSgegebene 3uniperuS, bcr un3 in bic Sliitljejeit
be£ ritterlicf) I)5fifd)en SebenS, in bic 3eit be3 auSgeijenben jtoolften
Satyrfyunberte, in bie ^eriobe bcr Sreujjiige einfiifjrt. 3)ic §anblung
felbft fpiett Dor unb um 1188, bic fic beridjtenbe ©rjafjlung fattt in ben
$reujsng griebrid) SBarbaroffaS (1190). $er ©toff ift frcic (Srfinbung,
abcr bic culturt)iftorifdf)en ©runbtagen roatjr unb trcu, audj an genealo;
gifd)cn ©tubien ate Unterlage fefylt e$ nic^t, menu aud) bic tjanbelnben
Hierfonen fdbft nidjt gefd)id)ttid) finb. 2)er 3)id)ter !ann baljer mit SRedjt
fagen, bag cr „feincn gefdjidf)tDerftanbigen Sefcm meber ftofflofe $l)an:
toymen nod) cingctrocfnctc SMumien untcr ®Ia$f often, fonbern tebenbige
©eftalten au£ alter 3eit" Dorgefiifjrt l)abe. 3)er #etb, cin jungcr SRittcr
au£ ©d)ft>aben, ift auf jtoci %a1)xt 8ur ®u&* Derbammt ftumm ju fcin,
unb crft Dor 9tIfon, im Sampfe mit ben §eiben, ift ber 3*ityunft feincr
3ungenIofung eingetretett ©r erjafjlt, ate 93erttmnbeter im fttofter auf
bem ftarmel meilenb, fcinc ©efdjidjjte. Stuf ber fcfymabifdjen SSurg SWeuen-
Ijalben, ate ©ofjn eineS SDicnftmannen geboren, toirb er ate $nabe in bic
fitofterfd&ule ju Stfjeinau getfym, too er in 3)ietf)elm Don SBIumenegg,
ebenfalte eine3 SRinifterialen ©ofjn, einen ©enoffen unb Sreunb finbet,
mit meldjem er bic SSacanj 5fter in Sllmtefjofen, auf bcr 93urg be3
£errn SKarftoart, jubringt, in jugenbtidj frozen ©pieten mit be3 93urg-
fjerrn brei X5d)tern. Unter bicfen toirb bic brittc, Stotljraut, ba3 gbeal
ber beiben Snaben. ©ic fatten e3 enbftdf) Dor Siebe3fcl)nfud}t im engen
Softer nid)t mef)r au£, erft Dietljelm, bann auf gteid&em SBege Suni^
peru£ — mie ber $elb nad) feincr SJorlicbe fiir ben auf ber Jjeimifdjen
33urg mudjemben SBadjljolber benannt mirb — entflieljen unb beginncn
nun ein auf SRitterfdjaft juftrebenbeS meltfidjeS Seben. 83ei ber geier
bcr gaftnad)t auf Slmtefjofen im 3al)re 1188 !ommt bie gegenfeitige
©iferfudjt ber jungen Siebljaber jum feinblidjen 2lu3brutf, SRotljraut abcr
will Don feinem Don itjnen, bie fie ate ljalbe ®Ioftcrfd)iiter nid&t red)t
manneSgleidj) adjtet, etmaS miff en, fonbern menbet iljre ©unft unb £ulb
bem lj5ftfd)en SRainalb ju, mit bem fie nad) bamaliger „curtoifer" ©itte
franjofifcf) „parlieret". 3Wit ber grcunbfdjaft ift eg au£; bei ciner Se^
gcgnung rcitcn fie getoaffnet al§ ernftlidje ©cgncr einanber an unb Der;
lounbcn fid^ gegenfeitig fc^mcr. 5)a fciner Don SRot{)raut ablaffcn mitt,
fo befc^lie^en fic, ba§ cin ©otteSurtljeil entfe^eibe, mem fie geljdren foil.
3eber auf cinem leidjten ^a^n motten fic Don ©djaffljaufen ab ben
3l^einfatt ^inuntcrfa^ren: mcr am Seben bleibt, beffen foil Stot^raut
fein. ®ic ©cliebte mirb ^eimlid^ benad^ric^tigt, ba§ fie am 5. Sfflai
t)om ©otter eine fcfjone ,r?lD^ntiure// fe^cn !5nne; fic fteljt auc^ ric^tig an
jenem SKorgcn auf bem ©otter — burdj ein rotligefdrbteg ®Ia§, bamit
bie SBirfung gefteigcrt merbe, betrac^tet fie ben ftampf um Seben unb
Sob, bem jmei junge treutiebenbe ^crjen ^ier entgegen ge^cn. 3uni=
^cru^ bleibt mie burd^ ein SBunber am Seben; bie Sifcfyer Don 5Rf)einau
«orb unb ©fib. VI, 16. 6
80 Karl Sartfd? in fjetbelberg.
fangen ben mit ben SBetten JRingenben auf unb bringen ifjn in'g £lofter,
too ben jum Settmfctfein ertuadjenben Singling ber greife 2tbt mit
ftrengem Sertoeig empf&ngt toegen beg gottoerfudfjenben gre&ete, ben er
begangen. @r legt iljm atg ©ufce auf, nad) bem fjeiligen Sanbe ju jie^cn
unb jtoei Saljre faflfl few 2B°r* iu fpredjen. Die ganje ©rj&fjtung ttmrjelt
im ®ctftc beg 2Rittelatterg. Der pf)antaftifd)e ©inn ber Stitterjeit ift
in bent romantifdjen ffltinnetoerben ber Igungtinge, in iljrer totten 2Bage~
faijrt, in ber jtoeijafjrigen ©tumm^eit treffltd) gejeidfjnet. Die Socal-
unb 3citfarben finb aud) Ijier hue int ©ffeljarb auf ben ©runb ernfttidjer
©tubien aufgetragen, unb ein tebenbigeg ®emfilbe beg 3citalter§ ber
®reujjuge baburd) gefdjaffcn toorben. ©on ergreifenber @db5nf>eit unb
9?aturtt>at)rljeit ift bie ©ctyitberung ber fdfjauerlidjen SBettfaljrt auf bem
SRljeine.
Die 3^it, bie im SuntyeruS gef filbert ift r bilbet ben £5l)epunft
be^ mittelalterlidfjen Sebeng unb feiner rittertidfjen ©ultur. gilr ba£
jtoBlfte unb breijefjnte Safjrljunbert ftiefcen namentlid) in ben pfifd&ett
Didf)tungen biefer $eriobe bie Queflen fur eine genaue Detaitfenntmfc be3
Sebeng, beg dffcntlic^en toie beg prtoaten, ungteid) reiser unb ergiebiger ate
fiir bie 3***/ tuctc^e ©djeffet in feinem ©ffetjarb fdjitberte. S^n mufjte bei
feiner Segabung filr cutturgefdjtdjtlidfje ©emdlbe bie Stufgabe tool loden
unb reijen, gerobe biefen 9lbfdf}nitt unferer S3ergangenl)eit, ber burdf) bic
Sliitlje unferer alten $oefie einen befonberen ®tanj er^&It, .in einem
cutturgefd)id)tlid)en SMlbe jufammenjufaffen. ©dfjon lange befcor ber
Suntyerug an bie Deffentlidfjfeit trat, trug ftd) ber Didjter mit biefem
©ebanfen; eg tuar nadf) bem ©flefyarb bie erfte gr5ftere 2tufgabe, bie er
fid) fteHte. 1857 befudfjte er SBeimar unb tooljnte ber <£ntpllung be£
©oet^e^Sd^iHer^Denfmatg bei. 8tuf bem #eimtt>ege fal) er im ©finger^
faal ber SBortburg bie DarfteBungen aug bem ©angertoettftreit burdf)
ffltoris toon ©dfjminb. „Damatg," fcfyreibt er, „gebad)te idEj: £ei, toer fo
trie! erfafjren biirfte unb erfiiljre, baft er mit ben ljalbmt)tf)if d^en
©djemcn biefer mittetalterlidjen ©anger, iljrem Seben, JJufjten unb
Didfjten fammt ben ftarfen unb treibenben ®raften iljrer ©podfje toer=
traut toiirbe ttrie mit ©oetfjeg unb ©djitterg flarer B^it." %xau Sfoentiure,
bie SMufe ber ritterticf) tjSfifdjen 3*it, getoctfjrte feine Sitte. ©ie ^at ifjn „mit
ben ®efaljrten itjrer Sliit^entage belannt gemad^t, bafj mir bercn ©prad^e
unb Sunft feine frembe me^r ift Stand) guten SRafttag t)aV id) jenen
ginbern milber ERaren gelaufd^t, mand^ guten 3Banbertag bin id^ iiber
Serg unb I^al i^ren ©puren, bie big loeit an bie Donau fjinab meifen,
nac^gejogen." Damalg atfo ift ber ©ebanfe entftanben, bie 3*it beg
SBartburgWegeg ^um ©egenftanbe einer culturgefd^id^ttid^en DarfteHung
ju madjen. Der Dieter toeilte langere 3eit auf ber S33artburg (im
#erbfte 1859) unb mad^te feine ©tubien. Sludj t)icr mie beim fiffefjarb
nad^ ber 9latur felbft, inbem er Sanb unb Seute unmittelbar erforfd^te.
3ofeP*l Victor con Sdjeffel. Q\
SHg Stefultat biefer ©tubien erfdf)ien 1863 ein ban ©Hc^arb in SRiidfidjt
auf bic gorm fef^r unal)nlid)eg SBerf, bie 1860 big 1862 gebidjtete
„3rrau 8ltoentiure, Sicbcr and £einridj t>on Ofterbingeng 3ett". ©djeffel
befceidjnet biefen Sieberftraufj, ben cr bem ©roffteriog* Don SEBeimar
nribmete, „alg untootlfommenen, langfamcn unb crnftcn ©tubien mit
giebetftang tooraugeilenben Stugbrud aufridjtigen Danfeg, ben er eittem
tyoljen ©djirmljerrn beutfdEjer ®unft fdjulbet". @g begreift fid) teidjt, bafi
bag Slbbilb ber tyrifd) gefarbten unb angeljaudjten 3eit beg SRimtefangg
juuadjft aud) ein fyrifdjeg unb nid^t ein epifdjeg tourbe. Slber ber
epifdje $intergrunb fetjtt feihegtoegg, bie epifd^ geftoltenbe Sraft beg
IDtdjterg toerratl) fuf) aud) ljier in ben fyrifefjen Sortnen. Dag 93udf)
jerfatlt in toerfdfjiebene Siebergruppen, bie fidf) an feft unb War fjertoors
tretenbe. ©eftalten lefnten, ober toie bie S3agantenlieber einen gonjen
©tanb in plaftifdjer SBeife fdjilbem. Die erften Sieber, „9BartburgIieber"
genannt, finb aflgemein getjatten, unb !5nnen ebenfo gut bie ©timmung
beg Didjterg felbft augbriiden, roenngleidf) bag erfte alg SBadjtertieb in
ber 9teujaf)rgnad}t beg Satjreg 1200f ein jtueite^ alg ber SJauleute
©ang nadj aMenbung beg fianbgrafenljaufeg bejeidjnet ift. Dag lefcte,
an SBaltljerg ©prud) auf ben ntilben fianbgrafen unb an SBotframg ftritif
oon beffen Umgebung anfniipfenb, fdjilbert ben Stbfdjieb beg ©angers toon
ber gaftltdjen Surg, audj Ijier in frembem ©emanbe beg Didjterg perf5n-
lidje (Smpfinbung. Den SDtittelpunft ber „grau 2ltoentiure" bilbet ber toon
ber ©age in'g 3af)r 1207 gelegte ©angerftreit, ber in einem am GSnbe beg
Satjrfjunbertg entftanbenen ©ebidjte ung t)orgcfuf>rt ttrirb. ©o feljr eg
biefetn (Sreignifj aud) an einer realen ©runbtage feljlt, fo mufc bag Stedfjt
beg Didjterg bod) unbebingt anerfannt toerben, eg alg SRealitat aufju^
faffen. 9Son ben babei bet^eitigten ©angern l)at ©djeffel nur toier toor^
gefufprt, ^toei in ber ©efd>id)te unferer Did)tung toofjlbelannte Stamen,
SBoIfram toon ©fdjenbad) unb Steimar ben 9llten, unb jtoei bem bams
memben ©ebiete gnrifdjen ©age unb SBirftidjfeit angeprenbe, 93iterolf
unb ^einrid) Don Dfterbingen. Die toier fiieber, bie SBoIfram in ben
SKunb gelegt finb, entfjalten ebenfo t)iel ©ituationgbilber aug beg Didfjterg
fieben. Dag erfte „3m ©tegreif' fniipft an SBorte 3BoIframg in f einem
^Jarjitoat an; oon befonberem SBo^llaut ift bag jtoeite „bie 9tugreife"f
bie einem aljnttdjen toon Ulric^ Don Sid)tenftein in gorm unb 2on nad^=
gebitbet ift. Sin anbereg fitljrt ung SBoIfram t)or, mie er bem fianfc
grafen Hermann toon Xfjuringen ben tooflenbeten $arjitoat iiberreid)t unb
babei in ed)t SBotframfdjem §umor iiber fic^ felber fdjerjt. S)er finnige
Sieimar f^Iiefet fidj jundc^ft an mit toicr Siebern, bie freilic^ anbere
lone anfdjtagen, alg mir fie aug f einen eigenen Siebern fennen. Der
fagen^afte Siterolf erfd^eint auf ber Sreujfafjrt unb nad^ ber ^eimle^r
toon berfefben, trauemb am Orabe beg fianbgrafen fiubtoig. S)ie be=
bcutfamft ^ertoortretenbe ©eftalt ift aber ber ben ©djlufj bilbenbe
6*
82
Karl Bartfdj in ^etbelberg.
^einridj Don Dfterbingen. 2)ie ljatbmt)tf)ifd)e Sigur biefe£ $)idjter£, bcr
im ©ebidjte Dom SBartburgfrieg einc fo IjerDorragenbc SRoUc fpiett imb
bent cine jiingerc Jrabition bag ©ebidjt Dom Sonig fiaurin bettegt, mufcte
gerabe toegen be£ SRdtljfcfljaften fciner @rfd£)einung einen 3)id)ter reijen.
SBie fdjon in ben lagen ber romantifdjen ©djule 9ZoDali3 il)n jum
§elben eine3 SRomaneS unb jum Xrdger feiner eigenen mtyftifdjen (Sebanfen
madjtc, fo ljat uujtoeifetljaft audj ©djeffel iljn jum 9Rittefyunft feineS
epifefyen (SemdlbeS ju madfjen bie Slbfidjt get>abt. 3)ie and) bet grau
Slocntiure beigegebenen gelefjrten Slnmerfungcn, bie be3 2)id)ter3 griinbfidje
©tubien befunben, oerrattjen un3, bafc ©djeffel $einrid) Don Dfterbingen
feineStoegS fxir eine fagentjafte ^erfonti^fcit tyalt. @r toeift mit SRedjt
auf ba3 in ber 3)onangegenb Dorfommenbe ®efdjled)t Don Dfttjeringen,
ba£ feit ber 9Bitte be£ $to5lften SaljrljunbertS urfunblidf) Dorfommt, nnb
ift geneigt, int £inblid auf ben ifjm beigelegten fiaurin unb bie gorfdjungen
iiber ben Siirenberger itjm einen Stntljeil an ber Stbfaffung be3 SRibetungen-
ItebeS ju geben." SBic e3 audtj mit ber SJeredjtigung baju Dom tt>iffen=
fd)aftft<$en ©tanbjmntte ftefjen moge, ber 3)id)ter f)at ofjne 3»cifet ba$
SRedf)t fo ju Derfat)ren. Unb fo entfpridjt bie bebeutenbe ©tellung, bie
©dfjeffel ben Dfterbinger im ffreife feiner 2)idE}tergenoffen einnetjmen Iftfci,
feiner auf ba£ SSaterldnbifdje unb ^Rationale geridjteten ©efinnung, burdj
toeldie er einen fdjarfen ©egenfafc gegen bie auf ftan}5fifdjen DueHen
unb ©toffen fufeenben 3)id)ter bilbet. 5)en fd)drfften SluSbrud finbet biefe
©efinnung in bent „9tugelieb toiber SBotfram t)on ©fdjenbad) unb bie
iibereifrigen SRad&aljmer franjdfifdjer Strt unb 2)idjtung", toorin tljnen
aufcer ber Sorliebe fiir frembldnbifdje ©toffe aud) bie fiir franjofifdje
SSorte unb SRebenSarten oorgemorfen toirb. 3)ie iljm in ben 9Runb
gelegten fiieber finb toieber ©timmungSbilber au£ bem fieben unb ©innen
be3 ®i^ter§ unb geben in iljrer ©efammtljeit eiu anfdjaulicl}e3 Silb Don
feiner $erf5nlid)leit. £eroor!jeben toitl idE) befonberS bie prdd^tigen unb
frifdjen Xanjlieber, unter benen ba3 jtoeitc mit bem {Refrain „$er $eiui
Don ©teier ift mieber im Sanb" toot ben $rei£ Derbient. 3)a§ er ber
„Mauen Slume" nad^jagte, ift ein au3 SRooati^ unb ber romantif djen
©c^ulc I)ineingetragener $n§t ben toir bci bem ftaren geftaltenfc^affenben
5)idjter gem Dermifet fatten.
®afe ber 2)id?ter nid)t aud^ SSatt^er Don ber SJogeltoeibe eingefii^rt
f)at, fann befremben; in bem e^ifc^en Sitbe, ba§ un^ ber 9toman felbft
geliefert ^atte, toiirbe er ficfyertid) ni^t gefe^It ^aben. Sn ber „3rau
^oentiure" ift er burd) feinen ©pielmann, 93erlt ben iungen, Dertreten,
eine freic Srfinbung be3 3)ic^ter^. Stud^ bie^ t^atfdd^Iid^en 3iig^ bic beso
©pietmann^ 2ieber entf>atten, finb ©rfinbung: ein Siebe^Der^dltni^
2Baltf)er3 mit einer Surgfrau in ber 2)aupf)ine, auf bie er fiieber ge=
fungen, benen er jebodj in feinem „SiebcrpfaIter" ate unbeutfdEj feinen
SRaum geg5nnt ^abe. SBir toerben tool nic^t fe^Iget)en, toenn mir ^ierin
3°fcPfy Victor von SdjeffeL
83
Steminigcenjen unb Stadfyffdnge aug beg 3)icfjterg eigeneu SBanberungen
burd> bic 3)aupt}ine erblicfen. 3)ie ©rfinbung auf 2Ba(tt)er ju iibertragen,
inag ©djeffel burd? ben ©prucf) 2Baltf)erg angeregt toorben fein, toorin
cr feiner SBanberungen t)on bcr ©cine big jur 2Jtur gcbenft.
2)od£) nidjt in bem ftreife ber 2Bartburgbid)ter nnb i^rer ©egenfdfce
erfdjopfen ficJ} bie ©cftaltcn ber „grau Sltoentiurc". ©rgdnjenb treten
junadjft bie Sieber ber faf)renben ©filter Ijinju, unb in ifjnen, ben
lateinifc^en roie ben beutfdjen, &eigt fid), ttrie fc^r ©djeffel in eine feme
Sext fid) ^ineinjuteben toerfteljt. Die 3Jerbeutfd)ung beg fjorajifdjen @e=
bidjteg „Ad Thaliarchum" ift nidjt eine Ueberfefcung in unferem ©inne,
fonbern eine Umbeutfctyung im ©inne beg SKittetalterg. SSte bie SRai&etftt
mittetatterlidjer $)icf)ter antife ©toffe oljne SBeitereg in bag ©eroanb ber
eigenen 3***, in bie unmittelbare ©egenroart unb Umgebung ^iittt, bie
§elben beg SUtertfjumg in ljdfifdjem Softiim unb alg SRittergleuie eintyer;
fdjreiten — fo toerben in biefer Umbeutfcfjung bie romifefjen SJerfjdttniffe
unb romifdjen Socalbeitefjungen in'g „geliebte SDeutfd)" iibertragen. $)ag
„di88olve frigus, ligna super foco large reponas, atque benignius de-
prome quadriraum Sabina, o Thaliarche, merum diota" ttrirb fo roiebers
gegeben:
$u §u nrie fait! $eij* tapfer ein,
Jpof au$ bem §o(jftaH @d)eit urn @d)eit,
©in ftarfeS grfifclein ©ofcner SBein,
D Sfjatburdjfdfjnardfer, Jjalt' bereit. *
$er ,,£§albur$f(§nard)er'' ift eine tootlftdnbig giftftartfdfje Umgeftaltung;
gifdjart madjte ganj dfjnlid) aug bem $obgra einen „$fotenfram})f" :c.
£errlid>e $oefie in ed)t tooffgtfjumlidiem lone flingt aug bem „3*i*gAng",
ber an ein atteg beutfd&eg ©ebidjt anfnityft. 3Bte burdtj biefe SJaganten*
lieber ber ©efidjtgfreig ertueitert roirb, fo burdj bie #eranjief)ung einjelner
franjdftfdjer @ebid)te, einer aumutfjigen iJladjbitbung eineg attfran^fifd^en
nieblidjen Xanjliebeg, einer ©erbeutfdjung beg t)on SKicfjarb Sdtoenfjerj
in ber btutfefjen ©efangenfdjaft gebicfjteten Siebeg (roobei freitid) gteicf)
im Stnfang bem Ueberfefcer ein artigeg 2Jtif$derftdnbnif$ begegnet ift)
unb eineg Siebeg, bog Ereftien be IroieS, bem roelfdjen SSorbilbe #art-
nianng unb SBoIframg, in ben 9Kunb gelegt ift. (Sine (Srtoeiterung nad)
anberer ©eite ift bie ©eftatt beg S^jantinerg Stnaftafiog, ber ung in
biifterem ©emdlbe bag t)errottete 93%anj urn 1204 toorfiiljrt. 3Bie biefe
©eftalt, fo finb freie ©rfinbung beg S)ic^terg aud? ber !ede anmut^ige
SJogt turn lannenberg, ber unt)erbefferlid^e 3unggefette, ber fid) enblid^
bem 3od^e ber ©Ije beugt unb ^inber toiegt, ber ^umoriftifc^e 3R5n(^
t)on Santf), mit bem I5ftlid^en Seriate toon ben SDturfen, unb bag biifter
fc^5ne ©emdtbe, toelc^eg ung SDtagnug t)om finftern ©runbe entrollt.
gn melc^em SKafee ber 3)i^ter fid) in ©prad)s unb 3)enftoeife
jener Qtit eingelebt, jeigt am beften ber ©inftufc, toeldien bie mittel;
8<*
Karl Sartfcfy tn Jjetbelfcerg.
^od)bcutf^c ©pradfje auf feinc eigeue auggeiibt tjat. SRidjt blog im ganjcn
Eolorit, fonbern audfj in ciner 9Jtenge toon SBortern, bic cr unmittclbar
aug bcm Stttbeutfdjen t>erubergenommen, bic aber bod) tool bcm Saien
nidjt immcr fcerftanbtidj fein molten, ©o „ber ©aetbe Zfyau", „gtaftcn"
fiir glanjen, „Oreiglid)" fiir furdjtbar, bic gorm „^irj" fiir $>irfdf} (bieg
ganj ofjne Stotlj), borperlidEj = baurifdjj, garjun = ®nappe, toat fiir
SIcibung, Serge fiir ftaljrmann, Unterfdtfauf im ©inne toon SScrftecf *)r
„im fdfymuden Eontoenanj", obcr „h>er fid) auf 2)idjten peint", „man
gibt il)m cin Sungfrau fiiffen". %u6) an cigncn fiiljnen 93ilbungen feljtt
eg nidjt, „ber SJebeut" fiir bic Sebeutung, Znd fiir liicfe, liid fur
tiidenljaft, 3ifdj = 3*fdjen obcr ©ejifdj, toerminbigt, „#edjte forgt"
= beforgt mcin ©arn in'g $aug, mid) fc^nt = idf) feljne mid) u. a.
SRidjt imntcr finb biefe Steubilbungen gerabc gliicfticl}, j. 93. „unb toar
am Stiebern Hebttd)" (im Steime auf fcergebtid)) obcr „@ebruftfd)ufct
fifeen bic ©djflffen bcim SBein." ©eljr Ijiibfd) bagegen ift bag lautmatenbe
„fufurrenb", toomit in bcm ertoaljnten Ijorajifdjen Sicbc bag „susurro"
fcerbeutfcf)t hrirb.
StIIc bic crma^ntcn ©eftalten, bic fcom $)id()ter oorgefunbenen ttrie
bie toon il)m erfunbencn, toiirben alg fyanbelnbe $crfoncn in bcm toom
3)id£>ter beabfidfjtigten Sulturromane „$>er ©dngcrfricg auf SBartburg"
iljre ©telle gefunben Ijaben. @d)on aug ben disjecti membra poetae
ta^t fidj ba§ SBtlb in feinen $auptjiigen iufammenfefcen; aber ganj
anberg toiirbe eg nod) getoirft fjaben, toenn bic fjier mirffame ©eftaltungg;
Iraft urn einc epifdje $anbtung afe HJiittetyunft fid) geranlt fjcitte.
©cit bcr Sertfffentlidjung beg Smtiperug (1866) ift ©d&effel nur
nodj mit cinem SBerfe fjertoorgetreten, ben Sergpfalmen (1869). <£g
ift eiue Itjrifdje 3)id)tung, aber toon ganj anberem Eljarafter alg bic S^rif
im Irompeter ober im ©aubeamug, aud) alg in bcr grrau Sttoentiure.
©ie ift im Dbcnftil geljatten unb bemcgt fid) in freien, meift reimlofen
9tl)tjtf)men. $tpnnenartig toirb bie cinfame ©rflfee ber 8ltyentoeft ung
toorgefiityrt, aber nidjt alg fyrifdje ©timmung beg Didjterg, fonbcrn fcine
geftaltenfdfjaffenbe $t>antafie ftetlt aucl} ljier cine ©eftaft bcr SBergangenljeit
in ben 9Rittefyunft unb madfjt fie jum Irager ber feierlidjen ©cbanfen.
2)ag ift ein d)arafteriftif(fjer 3ug bcr ©ci^cffclf^cn S^rif, bem toir fc^on
im Irompcter, bcm toir in ber grau SBfoentiure, im ©aubeamug unb
enblid^ audj in ben Sergpfalmen begegnen. ©djeffetg S^rif baut fic^
bur^aug auf epifdjem ^intcrgrunbe auf, fie objectimrt tt)ic eg bie S^ri!
beg SBoflgtiebeg t^ut. 3n ben ©crgpfalmen ift eg ©anct S33olfgang,
ber SHfdEjof toon Slegcngburg, ber im neuntcn 3af)r*)unbert lebenb, f;aug
*) SBie wentg altbeutfd^c ftuSbriicfe Derftanbcn wcrben, jctgt bic berbe
9tanbbcmerhing in etnem mir in bic §anb gctommcnen ditxaplaxt , too bet
„ltnterfdjlauf" mit ©IcifHft fteljt: Unftnn!
3ofeplj Dictor oon Sdjeffel. 85
Raiferfeljbe unb gurftenftreit entftiefjt jur Sttyeneinfamleit" l)tnan, an
ben abetfee in ben ©aljburgifdjen Sltyen. 3)ort Ijod) oben eine ©iebelei
unb ein ©indblird^tein erbauenb, fitfjtt er bem Sdrm unb Drang bed
Sebend fidj eiU^oben. 3n ©turmedtoeljen tritt tf>m ber $err entgegen,
im Siebel brangen toerfudffenb unb locfenb bie ©pufgeftaften toergangener
3ett fidj an if)n Ijeran; aber ber Stebel toeidjt freunbtidjem ©onnenglana,
auf bem SJergfee fd&aufelt fidj ber S?al>n bed 83ifd>ofd, ber bem gifd&fange
obliegt. 3« bie ©infamfeit ber erljabenften ©letfdjertoelt jteigt er empor,
urn enblid), ate bie ©enntjirten gegen bed ©ommerd Snbe tljaltodrtd
Steljen, aud) er, banfenben fterjend, fjernieber ju fteigen. 3)ie ©eftalt bed
93tf(§ofd ift jebod) nur Staljmen: ben SRittetyunft bilben bie Stature
fdjilberungen, in benen bie audj bie unbelebte Statur ju ®eftalten be*
lebenbe Didjterfraft l)ert>ortritt, unter ©enufcung ber Ijeibnifd&en mt)ti)o-
logifdfjen Darftettungen, bie gerabe bamatd, im neunten S^r^unbert,
m>dj lebenbtg genug im Solfdbenmgtfein toaren, urn and) einem d&rifttidjen
93ifdjof nod) aid mtidjtig empfunbene ©emalten ju erfdjeinen. (Ed be-
greift fidf), bag bie barftettenbe ®unft eined 81. toon SBemer fidf} getocft
fitfyten mugte, bed Did&terd ©djitberungen in SJUbern ju geftalten, unb
biefe S3ilber fte^en an reiser $fymtajie Jenen bidjtertfd&en ©ebilben burdfjaud
nidfjt nadj. I)er geringere Srfolg biefer 2)idf|twtg tiegt toot mit im
©toffe; bad fyjmnenartige ©lement ber SBergpfalmen ift aud) nidfjt bie
ureigenfte ©pljdre ber ©dffeffelfd&en ^oefte.
SBenn toir bie SBergpfalmen abredjnen, fo ift fur bie lefeten je^n
Satire na^eju ein 93erftummen ber ©dfjeffetfdjen SRufe toatyrjunetjmen.
6d ift merftoiirbig, bag bied 93erftummen §iemti<$ genau mit bem Huf*
^oren ber SBanberjatjre bed Didijterd, mit bem bauemben (Einteben in
Sartdrutje (feit 1865) jufammentrifft. SBir. molten babei nid&t toergeffen,
bag manned innere unb dugere Seib iiber ben 3)idf|ter Ijereingebrodjen
ift, bag ein faum begriinbeted l)dudtidjed ©tficf il)m jerftSrt hmrbe, unb
aud ben Iriimmem bedfelben iljm ein einjiger ftnabe blieb, in beffen
©rjie^ung er fortan eine $auptaufgabe feined Sebend erbticfte. 3n ben
lefcten 3a$ren toertebt er bie ©ommers unb $erbftmonate regetmagig auf
feiner SSiOa ©eeljatbe am SBobenfee, in Stabolfdjelt, in berfetben ©egenb,
toetdije er burd) feinen ©ffefjarb auf'd neue mit bem Bauber unfcergdnglidjer
^joefie gefd^miicft ^at, mit bem Slid auf ben |>ot}entttriet unb bie ganje
^errlic^feit bed fd^todbifd^en SMeered. SMan^er moc^te benfen, bag bied
ibtjllifdje Seben in Idnbtid^er ^udtgejogen^eit, in einer reijenben Umgebung
ben fdf)6pferifdf)en Irieb bed Sic^terd aufd neue beteben miigte. 9lun,
mit ber 3wtfcfge5ogen{)eit ^ c^ nj^t j0 xozit tyx, im ©ommer jie^t ber
©trom ber louriften aud^ jened 2Seged, unb ber beriifjmte Slame locft
mand^en SBanberer an, ni^t immer nur fotdje, bie bem 2)icf)ter im
Serfefjr Stnregung bieten, fonbern oft genug unb iiberttriegenb bie Sleugier,
bie fern ju fatten f^luer fein mag.
86
Karl 3Sartfd? in l}etbelber<j.
©djeffcte DidEjtungeu entftanben in aiemtid) rafter Slufeinanberfotge
in einem 3citraum mm ettoa jeljn Safjrett. (Sin SluSrufjen tear if)m, bag
begreift man, ©eburfnifr, unabldffigeS bid)terifd)e3 Scfjaffen toerjefjrt unb
reibt auf. 3)a§ t)at ©djeffel felbft fc^r ricfjtig auSgefprocfjen. „$a£
menfdjlidje ©et)irn," aufjertc cr gegen einen greunb, „gleid)t cincm ©aiten-
inftrumcnt; menu e£ iibermaftig gcfpielt hrirb, jcrfpringen bie ©aiteu, nur
baft bci erfterem fcine SReparatur meljr moglidj ift. 9tun gtbt e£ aber
faum cine anfttengenbere, aufreibenberc £f)dtigfeit, alS bic beS 2)id)ter3,
bcr ntit fcofler ffraft feiner ©eele unb au£ feinem Snnerflcn fjeraua fdfjafft.
J5a roerben allc Srdfte be3 ©eifteS in gleidjer SSctfe angefpannt. 3)e3fjalb
finb fiir if)n Stufjepaufen notljiger af3 fur irgcnb ciuen anbern." SBcmt
aud) jefct nadj Idngerem 2tu3ruf)en ber Dieter jum ©djaffen eineS grofeeren
SBerfeS fid) nid)t gebrdngt fiit)It — ift e3, mitffen hrir fragen, bag 93e=
roufctfein, baft er fein SefteS gegeben, bag bcr lebenbige Soro bcr $ro-
buction, bcr feineS fiinftlidjen 3)rudroerfe8 bebarf, fccrficgt ift? #at, tine
cinft Ufylanb, in nod) frut)crcn SebenSialjren, uom 2)id)ten 2lbfdf)ieb nafjm,
urn fid) ganj bem geleljrten Sriebe fjinjugeben unb un£ 9Beiftertoerfe ber
gorfdjungSarbeit ju liefcrn — fo aud) ©djeffel bem bidjterifdjen ©djaffeu
Seberoot)! gefagt, um bie iibrigc 3*it feiueS 2Birfen8 unb gorfdtjenS ber
Ijeimtfdjen 2ntertfjum3hinbe ju ttribmen? SBcnn e3 fo ift, bann iibt bcr
Xi6)ttx eine toeife (Sntfjaltfamfeit, bic feincm bidjterifdjen SRamcn etjer
jum SJortfjeil afe sum 9?act)tf)etf gereidjen mirb. Unjtoeifelljaft beffer ift
e£, man fagt mm cincm 2)id)ter: SBBte f^abc, baft er nidjt nodj meljr
berartigeS gefdjaffen fjat! al3 baft man bei nie t)crfiegcnber ^robuction^
luft, aber abnefjmenber $robuction£fraft auSruft: ^dtte er bod) ba3 nidjt
mefjr gefdjrieben — eS toare beffer fiir feincn 9Rut)m!
©leidjtoot geben toir b,ic £offnung nod) nidjt auf, baft loir bem
$)itf)ter nod) einmal auf bem ifjm fo aertrauten ©ebiete be3 cutturfjiftori;
fdjen SRomanS, unb Dor aflem auf bem fo lodenben Soben be£ breije^nten
3a^unbcrt§ begegnen tocrbenl
Don
— ITIHndjen. —
te Seiftungen be£ lebenben tf)iexifd)en obcr menfdjtidien Dx*
antemuS exfdjetnen ben 9Jteiften t>oflig mtexfldxlid) unb toon
[anj anbcrer 9trt ju fein ate bte in bcr tibxigen Statux. SBenn
iud) t)iclc bexfelben unfexex ©infidjt nod) Dexfdjloffen finb, fo finb
bod) aitbexe fdjon auf tf)xe Uxfadjen jurucfgefu^tt. ©3 ift mcinc Stbfidjt,
an einigen, attexbingS fcexljdttnifcmdfjig einfadjcn Seifpielen ju jeigen,
ba£ audj bic SebenSexfdjeimmgen, hue bic Soxgdnge an ben unbelebten
Sorpern bet ©xfoxfdjung unb ©xftdxung jugdngtid} finb.
@& mitxbe mir fc^tucr fallen, felbft buxdj eingeljenbe 93etxad)tungen
aflgemein toexftdnbtid) ba£ ju befinixen, ma£ man unter Seben aexftefjt.
®eto5l)nlid) fieljt man bte fidjtbaxen ffletnegungen be3 SeibeS ate bag
fjauptfdd)lid)fte Stnjeidjen be3 SebenS an. ©in in tiefer Dt)nmad)t be*
finblid)ex SDtenfd) fd)eint be$l)alb ben SDteiften lebfoS ju fcin, unb jum
Seben ju extoadjen, fobalb er toiebex SBetoegungen feiner ©licbcr jeigt.
$luf ®runb jener aSorftettung toixb bex lob mit bem @d)Iafe, in roeldjem
roix faum Sltfiemjuge bed Stutjenben h>af)xnef)men, fcexgUdjen. $>ie Sn-
bianer l)ielten bie tidenbe Safdjemtljx bex SEBeifcen fiix ein lebenbeS SBefen,
roeil fie bie Uxfadje bex Semegung i^xex Iljetfe nicfjt ju exgxtinben &ex*
molten, ttmfjxenb jefct bie 5(51jt)fiologen im ©egenfafce baju beftxebt finb,
bie SBetoegungen in ben lebenben Dxgantemcit auf bad ©pie! eine3
aRedjaniSmuS juxucfjufu^xen.
$)iefe gxoben fidjtbaxen Setoegungen finb jebodj nux eine gotge toon
ununtexbxodjen box fid) ge^enben, Diet feinexen 93emegungen bex Keinften
Iljeildjen bex ERatexie bed lebenben ®5xpex3, toeldje fid) audj ba finben,
loo toix mit unfexem 2luge Dottfommene Stufje ju exbliden meinen, tt)ie
88
<£. Pott in Itltindjen.
5. S3, in eincm erfdjtafften 2Rugfet, cinem SRerDen ober ciner Driife.
Seiner ber ben $5rper jufammenfefcenben ©toffe ift fiir fid) bclebt; bag
Seben ttrirb Dielmel)r tjerDorgerufen burdj bie unter beftimmten SSe^
bingungen ftattfinbenbe SBed&feitturfung jener ©toffe in ben in eigen*
t^iimli^er unb cfjarafterifttfdfjer SBeife aufgebauten, fogenannten organifirten
Sormen. 2)abei getjt im grofjen ©anjen eine immer tueiter Dorfdjreitenbe
©pattung unb 3erft5rung complicirter ©erbinbungen ju einfadjeren Dor
fief), tooburd) einerfeitg bie fiir bag Stuge nidjt erlennbaren, bie Sebeng*
erfdEjeinungen bebingenben SBetoegungen ber fleinften Xljeildjen eingeleitet
toerben, anbererfeitg aber aud) bie Stotljtoenbigteit eineg beftanbigen Sr*
fafceg unb ber SBegfu^r beg 93erbraud)ten eintritt.
SBenn toir bei ber Setradjtung ber im unenbtidjen SSeltraume and)
einer beftimmten Drbnung Dertl)eiften unb fid) betoegenben §immelgldrper
ftetg Don Sleuem Don 93ettmnberung erfiiHt tuerben, fo ift eg Dor SlHem
bie ©rofcartigfeit ber SKaffen unb ber ©ntfernungen, toeld^c unfere ©inne
gefangen fjatt unb ung begljalb meljr tt)ie anbere SRaturerfdfjeinungen bag
SSatten nod) toeiterer alg menfdjlidjer ftrafte bartljun.
Slber bie SJorgange an ben Heinften I^eildjen ber SKaterie unb in
ben geringften GSntfernungen, toie 5. 33. bie bei bem ©ntjtetyen unb bem
Serfalt einer d)emifd)en SBerbinbung ober bie, toeldje am Sebenbigen ab*
taufen, fie finb nidjt minber betounberogtoertf). 9lud) Ijier erfennen loir
ein ebenfo gefefcmafjigeg SDBirfcn ber SKaterie, nur toon fteinen -Staff en
im fteinften SRaume. 2)ag, tt>a$ toir biefem SWifrofogmog ablaufdjen, ift
toafjrlid) gleid) bebeutunggDott toie bie (Srfcfjeinungen beg 9Kafoofogmog.
2) ag Seben fommt, toie gefagt, nur unter beftimmten SSebingungen
ju ©tanbe. (£g ift j. 93. eine gehriffe lemperatur ber Umgebung baju
nbtljtg, benn toenn ber Sdrper eineg 2Menfd)en burd) unb burdj auf +19°
abgefiitjlt ober auf + 42° ertoarmt ift, fo erttfd^t bag Seben, ba bei
foldjen lemperaturen bie Dormer ertoafytten ^rojeffe nidjt mefjr in ridjtiger
Slrt Dor fid) getjen.
Sn atynlidjer SBeife jeigt ftd) bag Seben ber tyoljeren t^ierif^en
Drganigmen abljangig Don bem SSorljanbenfein beg 83Iuteg, beffen SJe=
beutung \$ in Solgenbem barlegen win.
3) ag 93tut befteljt aug Qetitn, ben 93Iutfotperdf)en, loeld^e in einer
gttiffigfeit, bem $Ia3ma, fdEjtoimmen. Die SlutWrperdjjen madjen ettoa
Stnbritttljeil, bag $Iadma Stueibritttfjeite beg SBtuteg aug.
SEBirb bei einem SDtenfdjen bur^ einen ungtiidlid^en ©djnitt eine
gr5|ere ^ulgaber Derlefet, fo fdjeint mit bem entftr5menben 93fate aud^
bag Seben ju enttoeidjen. 3n wenigen ?IugenbKden ne^men ttrir an bem
Dormer in Dotlfter Sraft befinblic^en Drganigmug tein 3eici)en beg Sebeng
me^r toa^r. Diefe unb anbere 85eobac^tungen fatten friifjer baju ge-
fii^rt, ben ©ife beg Sebeng in bag SBtut ju Dertegen unb bem lefcteren
bie merftoiirbigften ©igenfd^aften unb gunctionen jujuf^reiben.
Ueber bie Bebeutung bes Blutes.
89
3u einer 3^ in bcr man iiber bic Stofle anbcrcr Drgane, j. 93.
ber 3Rudfeln, bed Stuged, fdjon ganj ridfjtige SSorftcttungen fjatte, toar
bie 93ebeutung bed 93Iutc^ nod) toenig aufgettdrt. 2Ran erfannte feine
SBidjtigfeit fiir bad Seben ber Drganidmen, ol)ne jebod) nd^er fagen ju
fimnen, toorin btcfe beftanb. @d Hebte ba^er bem Slute lange ettoad
©eljeimnifjoolled an, ed erfdjien aid ein ganj befonberer ©aft, unb nod)
in unferen lagen oerbinben ffltand&e bamit fonberbare SBegriffe unb be;
fifcen baDor eine eigentt)itmltd)e ©dfjeu.
9lai) ben jejjigen 9tnfdfjauungen f)at bad Seben nidjt audfdjliefttid)
feinen ©ifc an irgenb einer ©telle bed ®5rperd, t>on metier aud ber
lefctere regiert toirb. $)ad Seben bed Drganidmud ift oielmeljr bad
Sftefultat ber manntdrfattigften ^rojeffe afler feiner Ityeile, Don benen jeber,
audfj ber fleinfte, lebt.
@d fdnnen baljer bie SebendDorgdnge nidEjt im 93Iute attein abtaufen,
ja ed Idft fid) jeigen, bajj fiir mete £f)iere jum Seben gar fein 93Iut
notfjig ift.
3)ie nieberften Iljiere entljalten ndmlid) fein ©tut. 3)iefelben finb
fleinfte ©ebilbe, beren Seib aud ber umgebenben gliiffigfeit bie Staljrungd;
ftoffe bejief)t unb bad SBerbraucfjte baf)in abgibt.
SBenn aber Dtele fleinfte Xljeitdjen ober 3^0cn ju einem jufammen=
gefefcten Drganidmud oereint finb, bann ift eine 3uful)r ober Stbfuljr
jener ©toffe in ber angegebenen SBeife nicf)t meljr m5gltd), toeil babei
ttur bie toenigen 3*lfcit ber dufeeren Dberflddje birect mit ben 9laf)rungd=
ftoffen in SBeriiljrung treteit toiirben.
99ei einem fjoljeren Xljiere finbet fidf) befanntlidE) ein ben Soxptx
burdftfefcenber ©djlaud), in toeld&en bie fefte unb fliiffige SKaljrung auf;
genommen toirb; ferner ein befonbered Organ, too bad ©auerftoffgad ber
atmofpljdrifdien Suft einlritt, unb anbere ©tetten, ju benen bie unbraudj-
baren 3crfafl4)robucte gelangen. (Ed mu^ten babei atfo, ofjne eine toeitere
SSeranftattung, bie getdften Stafjrungdftoffe Don bem SKagen aud Don 3*He
ju 3ctte nad) ber ^er^erie burdjfidern, ober bie in ben 3rilen ^
ftanbenen 3rcf*feungdprobucte langfant Don Ifjeildjen ju £I)eiId)en fort-
toanbera, bid fie enblid) bie 2tudfcf}eibungdorgane fdnben.
2>ie gotge todre getoefen, bafe bie bem S5erbauungdfd)laudj jundd&ft
getegenen 3dlen in crfter Sinie bie neuen ©toffe bejogen flatten unb
triel reidjlidjer bamit Derforgt toorben iodren aid bie entfernteren, loeldje
itur bad erfjalten fatten, toad bie beffer fituirten iibrig gelaffen.
(Sd toar ba^er bfe 9Iufgabe ju erfiitten, aHe 3clten bed ganjen
grofeen ftdrperd gteid^mdjsig ju erndfjren unb bie unbraud^baren ©toffe
tafcf) toegjufuf^ren, gerabe fo toie bei einem einjettigen Drganidmud,
toetd^er in ber bie Staljrung ent^altenben gtiiffigfeit fc^toimmt. 2)ied ift
ermoglid^t burdj oielfad^ im S5rper Derjtoeigte, mit bem betoegten Stute
^rfiittte handle, in toef^e bie neuen ©toffe aud bem ®arm unb Don ber
90
€. Doit in Itliindjen.1
Sunge eintreten, unb toclcfje bic toerbraudjten ©toffe ju ben 5tugfdjeibungg~
organen, ber Sunge unb ber Sliere, futjrcn.
$)ag Slutgefafefuftem ift, ttrie befannt, ein in fid} gefdjloffeneg SRofjren;
fgftem, bag an cincr ©telle feiner 93al)n einen bag Slut treibenben
9BugfeI, bag #erj, entfjalt. $>ic fief) toeraftclnbeu 2lrterien bringen bag
Slut nad) ben Drganen, mo fie fid) unter Sttbung eineg breiten ©trom=
betted in bie feinften SRofjrcfjen, bie Eapittaren, aufliifen, toelcfje in ben
Drganen ein engeg aRafdjemtefc bitben, aug toetdjem fid) bie bag Shit
jum §erjen jurudfuljrenben Senen fammctn. 2)urd) biefe Slnorbnung
toerben bie in ben Eapitlarmafdjen liegenben S^Hen unb fteinften Xf)eild)en
ber ©etoebe t)on einer gliiffigfeit umfpiift, aug toeldjer ben 3dlen bie
jum Seben notfyoenbigen ©toffe getiefert toerben unb in toeldje bag in
ben 3rflcn Serbraudjte abgegeben toirb.
3)ag Slut ift barnadE) ein burcfj ben ganjen Sorter fcerjtDeigteg
Organ. S)arin unb in feiner gliiffigfeit unb Setoegtidjfeit liegt feine
ganje Sebeutung; nur baburd) fann neueg 9Baterial big ju ben fteinften
Drgantfjeitdjen gebradjt unb bag 3^tft5rte in fiirjefter 3^it fortgefdjafft
toerben. 3Me Slutgefafce fteflen SBafferftrafjen bar, toetdje ben regften
ftofflidjen SScrfe^r ber einjelnen Sfjeite beg ffiorperg unter^alten unb roie
3)rainagerof)ren bie 2lbfu!)r beforgen.
35ie jufammengefefctcn Drganigmen finb nicf)t atte in gteid)em ©rabe
t)on ber ftofflitften ©rneuerung unb JReinigung abljangig. ©g gibt Xf)iere,
in beren Setb bie S^Pning eine toeniger intenftoe ift, toetd)e baljer
langere &\t oljne erneute 3«f"^ burd) bag Slut fortleben. grofdjen
toermag man bag Slut t)5Hig burd) eine Derbumtte ^ocfjfaljlofung ju ers
fefeen, oljne bafj fofort ber lob eintritt, bag Styer Ijiipft tnetmeljr nod)
©tunben tang tone in normalem 3uftanbe umtjer. ©anj anberg toerljalten
fid) in biefer Sejiefiung bie ©augetljiere unb ber 9Rcnfdj. 2Birb bie
£auptyutgaber eincg Seineg unterbunben, fo ift in bemfelben SDtomeute
ber SBitte nid)t mef>r im ©tanbe eg ju bemegen; bie Umfdjnurung ber
bag Sfat jum ©ef)irn tragenben ©efafte Ijat algbatb ben lob jur Solge;
bag ©tecfenbletben eineg fleinen ©erinnfelg in ber bie Sle^aut unfereg
3tugeg t)erforgenben Strterie betoirft fofortige Slinbfjeit.
S)ag Slut mufc fid} in beftanbiger ®reigbemegung befinben, urn feiner
toorfjer angegebenen 2lufgabe ju geniigen. SBiirbe eg ftagniren, banu
fbnnte eg nidjt in jebem Slugenblicfe bie Drgane mit neuen ©toffen ber*
fe^en unb bag ©d)ablic^e entfernen. 5)ie ©efd^toinbigleit, mit ber bag
93Iut bur^ bie ©cfiifee ftromt, barf beg^alb nid^t unter eine gettriffe
©renje finfen. 3)ie ©tr5mungggef^minbig!eit betragt in ben grdfeeren
Slrterien 300— 400mm in ber ©ecunbe; fie tftfet fi^ meffen aug ber
3eit, toelc^e bag SSIut not^ig ^at, urn eine in eine Slrterie eingefc^altete
gebogene ©lagrd^re Don betannter Sange ju burd^Iaufen. 3n ben (£a=
piHaren, in benen man an burdjfidjtigen I^eilen bie merftoiirbigen @r^
Ueber bie Sebeutung bes Blutes. 9J
fdjeinungen bcr 95Iutbett>egung mit bent SDtifroffop ju betradjten toermag,
ttrirb toegen bcr SBerbretterung be3 ©trombetteS in cincr ©ecunbe nur
cin 2Beg toon %mm jurudgelegt. J)a bie Sdnge ber Eapiflarba^n ettoa
V2mm betrdgt, fo toergef)t nur eine ©ecunbe, urn ein 95lutforpercf)en burcf)
fie fjinburdftufiifjren, unb bodj gefjen in biefcr furjen 3^it bie lebljafteften
unb eingreifenbften Umdnberungen int 95lute burcf) bie 2f)dtigfeit ber
Organe Dor fid).
3)ie ©tromung be3 95lute3 toirb nid^t birect burd) ba£ $>erj, fonbern
baburd) betoirft, bag ber 3)rud be3 95Iute8 in ben Strterien, hue gleid)
nd^er erortert toerben foil, betrddjtlidj grower ift ati in ben 9Senen unb
baljer eine SuSgleidjung toon ber ftdrfer jur fdjttmdjer gefpannten ©telle
ftattfinbet. 2)a£ §erj madjt nur ben $>rud im ©efd&foftem ungleid);
Ijort ba£ $>erj ju fdjlagen auf, fo ftc^t nidjt alsbatb bie 95Iutbett>egung
fttfl, fie geljt toielmefjr nod) fort, bte ber $)rud in ben Srterien unb
SSenen ber gletdje ift.
3)ie 95ett>egung be$ 95Iute£ in ben EapiHaren barf ferner nicfjt eine
intermittirenbe fein. S)ie continuirtidje ©tromung ift auf eine fjddjft
etnfadje SBeife erreidjt. Xreibt man ftofttoeife, hue e$ burd) bie r^t^mi^
fdjen Sufammenjieljungen be£ £erjen3 gefd)iel)t, gluffigfeit in eine
fiarrtoanbige SRofjre, j. 95. eine 95leirof)re ein, fo tritt biefelbe nur bei
jebem ©tofce au£. SBenbet man aber eine elaftifdje Stdfyre an, bann befjnt
ftdj biefelbe burcf) ba3 Ginpreffen ber gliiffigfeit au3, unb inbem fte in
ber 3toifcf)enaeit toieber jufammenfinft, toirb bag SluSftromen continuirlid).
®ie 95Iutgefdf$e finb nun aufcerorbentlid) elaftifd) ttrie Sautfdjuffdjldudje
unb bett)irfen baburd) eine ununterbrodjene ©tromung aud) todfjrenb ber
<£rfd)Iaffmtg be§ #erjen3. §aben bie ©efdfce, trie eS bei ©rfranfungen
berfetben eintritt, iljre ©lafticitdt eingebiifct, bann Jeibet burcf) bie Unter^
bredjung ber ©tromung bie Serforgung ber Organe.'
®urdj bie rafdje 95etoegung be3 95tute3 hrirb e3 toerftdnbtidj, tt)ie
bie in bie 95lutbaf)n getangten ©toffe in ber fiirjeften Qtit im gan^en
Sorter toerbreitet toerben unb in toenigen ©ecunben an entfemten ©teBen
ifjre SEBirfung au£iiben ober in ©ecreten toon Skiifen nadjjutoeifen finb.
3Wan fann unterfudjen, hrie lange 3*it cin 951uttfjeild)en braudjt,
urn toon einer ©telle be3 ©efd&foftemS au£ ben ganjen 95Iutfrei^Iauf ju
burdjtoanbem, alfo j. 95. toon bem redjten §erjen burc^ bie Sunge, ba§
finfe ^erj, bie Sorperarterien, bie 95enen jum red)ten &erjen juriid.
©er lange S33eg ift in 23 ©ecunben juriidgelegt.
S)a bie 951utgefdfje gefc^Ioffene 9lo^ren finb, fo muff en bie ©toffe,
toeldje au3 bem 95Iute in bie ©etoebe bringen, burd^ SRembranen ^inburc^
gefjen unb jtoar burc^ bie au&erorbentfid) biinnen SBanbungen ber Eapil?
laren, tt)d^e iiber^aupt ben SBerfe^r jhrifdjen bem 95Iute unb ben Ok*
mcben tocrmitteln.
Gin einfac^er SluStaufd) ber in ben gliiffigfeiten geloften ©toffe
92
<£. Doit in Zttiindjen.
burc^ bic SRembran Ijdtte toiet ju lange 3*it in Slnfprud) genommeiu
©g toirb toiehnefyr bag ©lutylagma burd) bic SBanbung bcr ©apiflarett
fjinburdjgeprefct obcr tjinburdjfiltrirt unb jtoar burc^ ben in ben ®efdf$en
toorfyanbenen 3)rud, ben Slutbrud.
$>urd) jebe 3uf^ntmenjie^ung beg §erjen$ hrirb eine portion SStut,
etnm 180°°, in bie blutyaltigen Mrterien getrieben. 3)iefeg Slut ift
anfangg nid^t tooflftdnbig burd) bie engen ©apittaren abgeffoffen, toenn
tt)ieber eine neue portion Slut burd) bie fotgenbe 3ufammenjiet)ung an*
langt; eg ftaut fid) begfyalb bag SJut in ben auggebefynten Strterien fo
lange, big ber baburdj bettrirfte 3)rud fo grofe getoorben iftr bafj eben
fo trie! abftrdmt ate iuftiefet.
SMefer anf jebem ©luttfjettdjen fotoie anf ber ©efa&manbung laftenbe
3)rud ift in ben Krterien f)5d)ft bebeutenb. 3Ran fann il)n meffen, inbem
man eine fenfredjte ©lagrdtjre feitlid) in eine Strtcric einfefct unb juftefjt,
ttrie tjod) bag 93Iut in ber 9i5ljre anfteigt. ©g fteigt barin 2—2% SReter
tjod). gn ben ©apillaren, too bie grdfcten §inbemiffe fdjon befiegt finb,
betragt ber 5)rud nur mefjr ettoa 400mm.
$>ie ffleioegung beg 93Jute3 unb ber grofee 5)rud, toefdjer bie ber
Stromung entgegenftetjenben SBiberftanbe ju iiberhnnben fjat, toirb burd>
eine Heine 2Rafd)iue, bag $erj, Ijertoorgerufen. 2Ran madjt fidj getodljn-
lid) feine SSorftetlung batoon, toeldje getoaltige Seiftung unfer §erj tooEU
bringt, ba toix in gefunben lagen glitdlidjer SBeife nur felten, ettua bei
einer freubigen ©rregung, toon' feinem gefdjdftigen Xreiben ettoag erfaljren.
2>iefelbe ift fo bebeutenb, inert ber £erjmugfel lag unb SRadjt, fo Jange
unfer Seben todtjrt, tfjdtig ift. 3)ie STrbeit beg #erjeng laftt fid) be*
ftimmen, lute bie Seiftung einer 9Rafd)ine, inbem man ermittett, toeldjeS
©etoidjt bag §erj bei ieber 3ufammeniief)ung fjebt unb auf weldje f>5!je
bagfelbe ge^oben toirb; man fagt aud) Ijier, bie Seiftung betrage 1 Silo*
grammmeter, toenn 1 ffilogramm ®eftrid)t auf 1 SReter £5f)e gefjoben
roorben ift. 2Rit iebem ©djlag ber Jinfen #erjfammer toerben o^ngefd^r
188 ©ramrn ©tut in ben 2tnfang ber 9trterien geprefjt unb jtoar enfc
fpredjenb einem $>rud toon 3,2 SReter; bieg betragt 0,188 ffilogramm
X 3,2 SReter = 0,602 ffitogrammmeter. SBenn nun in ber SKinute 75 §erj^
fridge erfotgen, fo mad^t bieg in 1 SRinute 45,2 ^ilogrammmeter ober
in 24 ©tunben 65,000 £Uogrammmeter. 2)ie Slrbeit ber red^ten §tx&
fammer ift geringer tone bie ber linfen; bie tdgli^e Slrbeit beiber Sammem,
o^ne bie ber SSortammern, betragt ettoa 87,000 Silogrammmeter b. f).
eg mirb baburc^ eine Saft toon 87,000 Silogramm ®etoict)t 1 aReter ober
eine folcfjc toon 1 Sitogramm ©etoic^t 87,000 2Reter fyofy ge^oben. giir
einen Strbeiter rennet man bei einer Slrbeitgjeit oon 8 ©tunben eine
2trbeit toon 250,000 SUogrammmeter; ber fleine £>erjmugfet leiftet ba^er
ben britten S^eil ber Xagegarbeit eineg angeftrengt t^dtigen SRanncg.
Unter bem toorfjer angegebenen 2)rucfe n>irb burd) bie nur %00mm
Ueber bie Bebeutung bes Blutes.
93
bitfen SBanbungen bcr KaptHaren beftanbig ffltutpladma mit alien barin
grfdften Seftmtbt^citcn unb SRatyrungdftoffen geprefct, bic Slutforpercfien
gefjen burd) bic $oren bcr SBanbung nidjt Ijinburif). S)ie audgeprefete,
fur atte Drgane natyeju gleidje ©rnatjrungdfluffigfeit mnfpftlt nun bic
fleinften Jljeitdjen ber Drgane; biefctben neljmen batoon auf, jerftoren
cinen S^ctl uitb befallen bad, toad fic filr ftdj braudjen.
©d mirb aber mefjr $Iadma aud ben ffltutgefafcen in bic Drganc
befdrbert ate bicfc nottjig fjaben. 3)er Ueberfdjuft toirb burd) ben burc!^
ttrirtenben SStutbrud gro&tentfjeild in bic Stympljgefa&e cingetricben unb
bilbct bic Stymie. 5)iefe ©efafce cntfpringen mit offenen SRiinbungcn
in ben SRafdjen bed bic Drganc burdjfefcenben SBinbegetoebed unb ftefjen
an iljrem ccntralcn ©nbe in 3ufantmcnfjang mit ben ffllutgefdfjen, fo bafe
bad uberfdjiiffig aud ben Stutgefafjen in bie ©etoebe iibergegangene
?piadma toiebcr in bic SBlutgefafce juru<f!el)rt.
8tuf bicfc SEBcifc e^iftirt neben bem ffllutftrom in ben SBIutgefafcen
cin jtoeiter macbtiger ©trom toon $Iadma obcr toon ©rnaf)rungdftufjtgfcit
bur<$ bie Drgane, bcr auf fcinem SBege mandje bcr toon ben 3ctkn er=
jeugten 3ttfefcung3probucte aufnimmt unb bem Slutc jufufjrt.
3u ben bid jefct betradjteten SSorgangen bcr ©peifung ber QtUzn
bed ftorperd mit Slaljrungdftoffen geniigt bad Slutyladma. Slbcr aud) bie
in bem ^tadma fdjttrimmenben 99Iutf5rpercf)en fjaben iljre grofje ©ebeutung,
infofero fie bie Irftger bed aud ber Suft eingeatfjmeten ©auerftoffd finb.
6d ift attgemein befannt, bafj ju ben ©toffen, tt>eld}e bic 3eHen jam
Seben beburfen unb ju benen, toetd)e aid unbraudjbar cntfemt toerben
miiffen, aud) ©afe gef}5ren.
©er SBedjfcI bcr (Safe I>atte burd) eigene im ganjen S5rper toer*
jmeigte, Iilftljaltige 93entiIationdr6I)ren gefdjetyen !5nnen, mie cd bei ben
Snfeftcn ber gall ift. (Sine foldje Slnorbnung ift jebocf) bei ben f)8fjeren
Xffieren nidjt burdjgefutjrt, fie tyfttte audj cine grofje ©omplication mit
fid) gcbrad)t; bic Siiftung ber ©etoebe ift toielmefjr ebenfatld ben Slut-
gefaften iiberlaffen.
25ad ©auerftoffgad ber und umgebenben Suft ift bad fiir bad Seben
notfyoenbige ©ad, unb bie in ben ©etoeben burd) bcit 3crfatl entftefjenbe
Soljlenfaure bad t)auptfacf)Iid)fte fdjablid)e ©ad. 5)er ©aucrftoff hrirb toon
ber Bunge, too cr in bad ©tut eintritt, bid ju ben ©etoeben getrageit,
bie Stoljlenfaure nimmt ben umgefefyrten SBeg, toon ben ©etoeben burdj bad
SStut ju ber Sunge.
2)er in ben rotten SSIutftirperdjien eingef^Ioffcne rot^c eifcnf)altige
garbftoff tjat bic mcrftniirbige ©igenf^aft, ©auerftoffgad ju toerbt^ten
unb lotfer c^cmifc^ ju binben. 3n bem ^eflrotf)en artericKen Slutc ift
me^r ©auerftoff entfjattcn, im bunfetrot^cn toen5fcn SBIutc meljr So^Ien-
faure. 100 00 9trtericnblut binben etttm 17cc rcinen ©auerftoff. S)ic
in ben ©emcben immcr roeitcr fpaltenbcn ©toffe entjie^cn ben ©auer?
9*
<£. Doit in IHiind^en.
ftoff bent Slutrotlj, bag bann, tnicbcr jur Sunge gelcmgt, toon Steuem
mit ©auerftoff belabet. 3)ie lebfjaft freifenben SBlutforperdjen finb
gafyrjeuge unb bcr ©auerftoff tljre gradjt, bie an ben berfrfjiebenften unb
entlegenften $unften be£ SorperS, in alien Drganen, abgefefct tt>irb: £ro$
it)rer tuinjigen ©rofte toermdgen biefe nnr unter bent 3Kifrof!opt ficljtbaren
Siliputanerfdjiffdjen in 24 ©tunben in un£ 1 Silo ©auerftoff ju fcfjleppen
unb fo otjne atleS 9tuffe^en unb ©eraufel) in biefer grift oft nteJjr al£
700 Siter ©auerftoffgaS au§ ber Suft in fidj ju toerbidjten. 2)arum
braudjt ber SKenfdj jum Stt^men ein fo grofteS SSoIunt atmofptyarifdje
Suft, bie nur ju % au3 ©auerftoff, ju % au£ ©ticf ftoff beftetjt.
5)ie in ben ©etoeben gebilbete ffo^Ienfaure ift bie SRucffradjt, toeldje
grofttentljetfa ba£ SlutytaSma beforgt. Sin XJjett ber Soljtenfaure ift in
bemfelben einfad) abforbirt, hrie in bent funftlid) bargeftetlten fofylenfaurcn
SBaffer, ein anberer Ifjeil ift djemifd) gebunben an ba£ im S($ta3ma enb
Ijaltene Stlfali. S)ie Sofjlenfaure be£ SBluteS toirb in ber Sunge gegen
bie betrad)t(id) toeniger Sofylenfaure cntfjaltenbe Sungenluft au£getaufd)t,
&t)nltd) ttrie bie unter grofterer ©paunung im fofjlenfauren SBaffer be-
pnblidje Sot)tenfaure beim Deffnen be£ ©topfenS ber glafdjc cnttt>eicf)t.
©omie fair bie Stcinljaltung ber Suft unferer 2Bofjnraume burd) eine
auSgiebige SSentilation beforgen, fo fotlen aud) bie 3dlen unfere£ Setbe#
pets frifdje Suft crtjatten unb toon ben fdjabtidjen ©afen befreit tnerben.
Surd) bie ununterbrodjene ©tromung be3 StuteS toerben, ttrie nrir
gefefjen, aHe 3*fkn be3 SorpcrS in jebem Slugeublide mit Sta^rung^^
ftoff en toerforgt; ebenfo muft aud) ber ©a3tt>ed)fel ein continuirtidjer fein.
2)ie3 inare jebodj nid)t moglid), toenn bie elaftifdje Sunge toa^renb ber
SluSatljmung ganj jufammenftele. 9lu3 biefcm ©runbe entfjalt bie Sunge
im lebenben Sorter aud) bei ber tiefften 2lu3atf)mung immer no$ eine
gettriffc 2Renge toon Suft, tooburdj ber ©aSauStaufd) forttoatjrenb toor fid)
gefyen fann.
S)er SSentilator fur ba£ S3(ut ift bie Sunge, ber Irager ber ©toffe
ju unb toon ben Drganen ba§ Slut. S)ie bie Drgane jufammenfe^enben
lebenben 3*Hen ^ungern, toenn i^nen nid^t burc^ baS 83Iut neueS SRateriat
gebradjt tnirb, unb fie erfticten, toenn fie nic^t oon ben 3erfattprobucten
gereinigt toerben.
Slac^bem lutr permit bie toi^ttgften SJorgange im ©lute furj ffijjirt
^aben, ift e£, urn ein toottftdnbigeg SBilb toon ber ffiebeutung bicfc^ ©afteS
ju erijalten, noc^ not^ig, einige f)odf)ft bemerfen§n)ert^e Slnorbnungen fiir
bie 3krtt)etfung be^fetben im fforper ju befpredjen.
S)ie toerfc^iebenen I^eile beS SorpcrS cr^alten auf bie gleic^ gro&e
3Jlaffe tttd^t bie gleic^e Ouantttat toon 93Iut, fie merben toietme^r ^ierin
au^erorbentlid} ungteic^ beba^t.
SBenn and) jebeS Organ an bem 3uftanbefommen beS Seben^ be=
tfjciliget ift, fo ift bod) bie 9trt unb ber ©rab biefer 93etf)eiftgung fe^r
Uebcr bie Bebeutung bes Slutes.
95
berfdjieben. Siejenigen Drgane, in toeldjen mef)r ©toffe berarbeitet
toerben, ttrie j. 33. bic Sober, ba§ ©eljirn, fyaben ijaufiger ©rfafe unb
beSljalb reidjlidjere $>urdjftmlung mit 931ut uott)ig aU anberc, in bcncn
bie 3^fcfeung toenig Icb^aft ift, true }. 93. bic ©eijnen. 2)icfe ungleicfye
SMutjufufjr gefdjiefjt junadjft burdj bie toerfdjiebene 3af)I nnb SBeite ber
ba£ Organ toerforgenben $trterien, Dor Mem aber burd) bie ungleidje
2)id)tigfeit ber Sapitlarnefce. 3n btn erfteren Drganen finb bie SMafc^en
ber SRefee eng, in ben lefcteren bagegen toeit nnb fparlid). fatten afle
Sljeile be3 ft5rper§, au<$ bie ba^fclbe toeniger bebitrftigen, gleidjmafcig ©hit
ertyalten, bann toare in mandjc umtotljig trie! $Ia3ma gepre&t tnorben nnb
t^dtte bie ©efammtmenge beS SBfutc^ im ®6rper bebentenb grower fein miiffen.
©in unb baSfelbe Organ f>at aber ju berfdiiebcnen 3eiten toec^felnbc
£luantitaten toon 93Iut n5tl)ig, ba ber ©rab ber Ifjatigfeit groften ©djtoau:
fungen untertoorfen ift. SBir toermogen mit ben SKuSfeln nidjt fiber
8 ©tunben auf bie $auer ftarfe Sfrbett jn leiften, ba3 ©ef)irn berfagt
nad) Idngerer Slnftrengung ben Sienft unb hrir toerfaBcn in ©d)laf, au3
bent toir neu geftarft toieber ermadjen; ber S)arm fann nid)t lag unb
9iad)t toerbauen, fdjon be^alb nidjt, toeil getoiffe $>ritfen nid)t im ©tanbe
finb continuirlid) 9Serbauung$fafte ju bereiten. @3 ift ba^er bic merf;
ttmrbige @inricf)tung getroffen, baft burd) einen befonberen 2Red)aniamu3
bie 2Ru§feln ber SBIutgefafce in bem tfjatigeren Drgane erfd)Iafft toerben,
tuoburd) anfefjnlid} mef)r Slut juftiefjt ate im toeniger tfjatigen 3uftanbe.
SBirb j. 93. fein ©ecret in ben @peid)elbritfen abgefonbert, fo finb bie
Sriifen b(a§ unb bie ©efafte eng; bei lebfyafter $bfonberung finb fie ba=
gegen intenfito gerotfjet unb bie ©efafje ftarf mit Slut angefiittt. SBafjrenb
ber Serbauung ift ein grofeer Itjeil unfereS @efammtblute£ in ber Saud)-
fjSfjle angcfammelt, ttmfyrenb ber 9Ru3feIarbeit in ben SWuSfeln; beim
cifrigen ©tubium tnerben un§ bie gufte fait unb ber ®opf tyeifj, ja man
Ijat nadigetniefen, bag ba3 93olnmen be£ 9lrm£ bei Slnftrengung be$ ®e=
IjirnS j. 93. bei S5fung einer einfadjen mat^ematifc^en Slufgabe bur^
93Iutabgabe nac^ bem ©efjirne abnimmt unb umgele^rt tt)d^renb be3
©c^Iafe^ junimmt.
©o alfo bient ba£ 93Iut einmat me^r biefem, ba^ anbere 2Rat mef)r
jenem Drgane. @^ ^atte o^ne eine foldje ©inri^turig abermate einer
fetyr uicl grofeeren 93Iutmaffe beburft, ba fonft jebeS Organ ftetS bie il)m
bet ber ftarfften Slnftrengung not^ige 2RajimaIbIutmenge ^citte er^alten
miiffen. ©ie bebingt aber aud) ben Stadjtfjeil, ba§ nic^t attc Drgane ju
gfeic^er Qtit angeftrengt tfjatig fein fonnen. 2)a^ alte ©pricfytoort: „nad)
ber 2Ra^eit follft bu ftetjn ober taufenb ©c^ritte get)n" fdiliefet ba^er
cine SBa^eit in ftdj. SSSurben n?ir un§ mit tooCem SWagen ju ftarfer
3Jtu3lel= ober ©e^irnarbeit jmingen, fo toiirbe bie SSerbauung leiben; e^
ift and) eine ©rfafjrung, baft hrir nad| reic^tic^em ©ffen jum 3trbeiten
jtid)t fe^r geeignet finb.
Wort unb @fib. VI, 16. 7
96 <£. Doit in Uliindjen.
SIber nod) cine anbere roid)tige Sebeutung fjat bic 9R5glid)feit einer
ungteidjen SSertfjcilung beg 93Iuteg im Sorter burdj Slugbeljnung gettriffer
©efdfcbejirfc unb entfaredjenbe Serengerwtg anberer, ndmlidj) ber ZtyiU
nafnne an bcr ^Regulation ber SBdrme in bem Drganigmug. 2)ie SSor*
gauge im 85rper beanfprud)en eine ganj beftimmte Xem£eraturt)5f)e. %m
f)ei§cften Xropenflima unb in ber Kdlte ber S($ole lebt ber 9Rettfdj unb
befifct bie gleidje Semperatur feineg ©luteg t)on 37—38°. ©g nrirb
alfo ftetg ebenfo Diet SBdrme in feinem $5rper erjeugt ate Don if)m ab*
gegeben ttrirb. 3n ber ®dlte ift aber unter fonft gleidjen Umftdnben
ber SBdrmeoerluft fclbfttjerftdnbtid^ grdfter alg in Ijofjer temperirter Suft.
©g fann bafjer f)icr nur burd} eine grofcere SBdrmebilbung ober burdj
eine Slenberung in bem 2Bdrjneabf(ufj bie conftante Sorpertemperatur
erfjalten toerben.
5)er innere Sern beg ®6rperg ift burd) eine bie SBarme fdjledjt
leitenbe gettfdjidjt Don ber dufjeren Dberflddje getrennt. 3n ber £dlte
finb bie ©cfd^c ber $>aut jufammengejogen unb bic §aut blafc; bag
roarme 93fut hrirb Winter bie Settfcf)id)t in bag Snnere beg $5rperg ge*
brdngt unb fo toeniger SBdrme an bcr #aut abgegebeu. SBefinbeu ioir
ung bagegen in toarmer Umgebung, bann befjnen fid} bie 93lutgefdf$e ber
§aut toeit aug unb bie $>aut crfd^eint gerbtljet, ba ein anfelutlidjer
beg im Sunern beg S5rperg crtDdrmtcn Sluteg an bie Speriptyerie nadj
Slufcen Don ber gcttfcf}id)t getragen ttrirb. 9luf biefe SBeife toirb in ber
£>ifcc bem Sorper burd} Segunftigung bcr Seitung unb ©traljlung, Dor=
jitgUd} aber burdj rctd^Iic^c 2BafferDerbunftung mefjr SBarme entfiiJjrt.
SBenn bag Slut feiner Stufgabe geniigen foil, fo muft eg in enter
beftimmten 2Renge im Drganigmug Dorfjanben fein. 9Kan fiat friifjer
geglaubt, bag Slut madje einen fefjr betrddjtlidjen fflrudjtljeit beg SarperS
aug, im 2Renftf)cn 5. S. 10—15 Siter. 3e genaucr j[ebo^ bie SDteffungen
gemad)t toorben finb, befto niebriger ftelen bie S^^eu aug. SRan toeifj
jefct, bag in einem frdftigen 3Renfd)en uur ettoa 4% Siter ©tut ente
fatten finb, alfo tjfldjfteng 8% beg gefammten $orpergetoid)teg.
$)er Drganigmug fann einen betrdd)tlid)en SSerluft Don 95(ut er^
tragen. S3ei Snt5iefyung ber #dlfte ber normalen SBIutmengc tritt aber
ber lob ein, toeun nidjt algbatb ©rfafc folgt. 9lHe bie Dormer befdjriebenett
Xptigfeiten beg ©futeg toerben burdj auggicbige SlutDerlufte in iljrer
Sntenfttdt Ijerabgefefct. 2)urdj bic Sbna^mc ber 83Iutmengc unb beg
33futbru<fg tritt tt)enigcr ©mafjrunggftuffigfeit in bie ©etoebe uber, ja
t)ie Dormer fd^on barin befinbti^e gleic^t fic^ mit bem 95Iute aug, Der^
me^rt fo beffen $lagmaget)alt unb Dcrminbert Der^dltnifemdfeig nod) toeiter
bie SKenge ber ffllutforpercfjen. Sn Sotge baDon tt)erben bie 3dkn icg
®5rperg ungeniigenb ernafyrt, eg toirb toeniger in iljnen jerfe^t unb
toeniger lebenbige Sjxtft probucirt, ba^er ber S5rper barnad) matt unb
fc^tt)ad) ift. Set etiStem auggicbigen Stberlaffe erfolgt burd) bie plflfclidje
Ucber bie Sebeutung bes Blutes.
9?
Slenberung in ber 3uful>r beg SSIute^ jum ©efjirn cine toortibergefjenbe
Seiftunggunfaljigfeit begfelben ober DIjnmadjt
Slber balb fteUt fid) ber ertittene SScrfuft tmeber f)er; bag Pagma
aug ben aufgenomtnenen SlaJjrunggftoffen, bie SBIutforpercIjen in eigenen
Drganen, toorjiiglid) in ber 3DliI&, ben Stimpljbrufen, betn Sfnodjenmarfe.
ffleftanbig gefyen in ung auty bei hotter Slaljrunggaufnaljme Slutforperdjen
ju ©runbe unb toerben neue erjeugt, tnafjrenb eine foldje Sleubifbung toon
Drganifirtem fiir bie meiften iibrigen Drgane nidjt conftatirt ift; in ben
lefcteren toerben gr5fttentf)eilg bie unorganifirten ©toffe beg pagmag unb
beg 3*Henin*)aIteg 5^rft5rt, bie eigentlid) organiftrte gorm bagegen bteibt
beftefjen.
3ft in golge eineg groften 93lutberlufteg bag Seben bebroljt, fo !ann
burd) rafdje aBieberjufuftr toon Slut b. f). burdj (Sinfprifeen begfclben in
eine SSene getjotfen toerben. 3Ran f)at mtffad) foldje Irangfufionen bon
Slut am SRenfdjen gemad)t, friitjer mit toon gaferftoff befreitem Ifjier*
blut, fpater mit Slut Don einem anberen lebenben 3Renfd)en. 3lad) bem,
toag id) Dorfjer uber bie Sebeutung ber aSlutforperdjen gefagt Ijabe, ift
eg ffar, baft ©inforifcen toon $Iagma feine bolle SBirfung Ijat, benn eg
feljlen barin bie Xriiger beg ©auerftoffg, bie 93tutfor^erd^cn. 2Ran I)at
in neuerer &t\t burd) 83erfud)e an I^ieren bie merfnmrbige ©rfaljrung
gemadjt, baft bag Slut einer anberen £f)ierart nur Doriibergefjenb bie
SRotte uberoimmt; nadj einigen Sagen jerf alien bie fremben Slutforperdjen
unb jtoar in folder Slnjatjl, baft burd) bie 3^f^ungg^robucte ber Sob
beg Sfjiereg fjerbeigefiiljrt toirb. SRimmt man einem #unbe einen anfeljns
tidjen feineg Sluteg meg, fo tnet, baft er in tiefer Dfjnmadjt unb
natje bem lobe ift, fo erfjolt er fid) in filrjefter 3eit burd) SEBieber;
einfprifcen beg abgelaffenen Sluteg ober burd) ©infprifcen toon Slut eineg
anberen ^unbeg bauernb. Sag ®Ieid)e tritt fdfjeinbar ein bei ©intyrifcen
toon Kalbgblut, beffen SBIutfflrperdjen man mit bem SWifroffopc Don benen
beg 4?unbebluteg nid)t ju unterfdjeiben aermag; bag Xfjier {ft munter
unb. nimmt Staljrung ju fidj, in toenigen lagen bagegen beginnt ber
Untergang ber Salbgblutfflrperdjen, bie in bem fremben Drganigmug nid)t
auf bie ®auer fortleben. 2Bir jiefyen baraug bie Seljre, baft man bei
grofteren Slutoerluften gut tfyut, einem SDtenfdjen nur SKenfdjenbfut toieber^
jugeben.
3u ber 3*it, in tneldjer man bag 83lut fiir ben SDtittetyunft ber
Sebengfcorgange anfaf), badjte man fid) ben ©fjarafter unb anbere ber*
artige 6igenfd)aften beg 2Renfdjen unb ber 21)iere toon ber 93efd)affenf)eit
beg S5Iuteg ab^angig. 9Kan meinte, toenn man einem 2Renf(^en bag ©lyt
eineg S5toen geben fonnte, i^m bann bamit aud) ben -Ulutf) biefeg 2^|iereg
§u toerleiljen. 9Ran erja^It t)on einem anglicanifc^en ©eiftlic^en, ber fic§
metjrmatg Sammblut einfarifcen tieft, urn bie Unfdjulb unb bie Sanft^
mut^ biefeg Ifjierdfjeng ju empfangen.
7*
98
<£. Pott in ITCiindjen.
yioi} fyeut ju Sage finben fidj Slnttange an btefe bergangenen 2luf;
faffungen in mancfjen SluSbriiden toor. 2Bir nennen SJienfdjen mit leidjt
erregbarem Semperamente fyeifcbliitig, obtool ifjr Slut nid)t toarmer tft
al3 ba§ bcr $t)Iegmatifer, obcr ttrir Dcrlci^cn furd)tfamen Seuten $>afenbtut.
2Benn un§ fotc^c 3Reinungen jefet fogar tcidjerlidj erfdjeinen, fo be;
ttjctft bieS, baft toix in bcr ©rfenntnift be3 SebenS gortfe^ritte ge;
madjt Ijaben.
Urn bic Xf)atigfeiten in cincm tjotjeren tJjicrifc^en DrganiSmuS ju
ermflglidjen, finb, tok tool au3 metnen 3)arlegungen fjcrtoorgetjt, bic
compticirteften 6inrid)tungen udtfjig, tue^alb Icibcr aud) Iciest ©tflrungen
unb Sranffjeiten cintrctcn. ©rft mit ber . ®enntni& bcr normalen 93or=
gauge unb ifyrer Urfadjen gettrinnt man bic ©nmblagc jum SSerftanbnijj
unb jur Scfampfung bcr franffjaften $rojeffe.
2Bo man in bicfer 3tid)tung &u untcrfuc^cn bcginntf begegnct man
ben mcrfhmrbigften 9tnorbnungcn unb SRcguJationcn. 63 ift nod) ntd)t
fcf)r tangc f)er, baft man ba3 Scbcn ber ©rforfdjung ju untcrjie^en toagt.
2lber crft in ben lefcten funfjig 3at)ren ift bic ^tjfiotogie boflfommen
in ben ffreiS ber ejperimentircuben unb crflarenben Slaturttuffeufdiaften
eiugetreten, toorbereitet burd) bie Slrbeiten ber friitjeren &\t, toor&itglid)
jebod) erm5gltd)t burd) ba3 rafdjc 2lufblitf)en einigcr toidjtiger #ittf3;
ttuffenfdjaften, bor Mem bcr $l)t)fif unb ber Eljemie, unb burd) bic
Sluf^ettung bcr fcinercn Sormen bcr Drganifation burd) ba£ 3Rifroffop.
2)aburdj, baft c3 gelang, immcr mefjr ©rfdjeinungen be3 SebenS
burd) bic esperimenteHe SBefjanblung au3 tfjren Urfacfyen abjuteiten, ljat
fid^ bie Ueberjcugung befeftigt, baft in bcr belebten 9latur biefetben
Urfadjen unb SBirfungcn toalten ttrie in bcr unbelebten, unb baft e3 ge*
lingen iperbe, immcr metjr berfetben auf mcdjaniftifdje SGScife ju crHdren.
©3 tjat fid^ fdjon jefet einc giifle Don Srfenntnift erfdjloffen, tue(d»e
nid)t nur bic $f)t)fioIogie geforbert Ijat, fonbern aud) auf bie SBorfteHungen
toou bcr Statur toon beftimmenbem ©influffe getoefen ift, unb aufterbem
bem 9Renf$engefdjled)te fiir bie SSerbcffcrung feineS 2)afein3 unb fitr bic
<peitung unb SBertjiitung bon Sranffjeiten fdjon t>ietfacf>en Sftufcen gcbra^t
Ijat unb nod) unglcic^ me^r bringen toirb.
Dev <£lfag als eirxe pfkgefiaite beutfcfan Athens
unb beutfcfjer (Befimtung*
Don
— €etp3tg. —
nt 18. Samtar be3 SafjreS 1871 war e3, bag Sonig SBilfjelm
oon ^reuften, toic e£ in feincr an bemfelben Sage Don SBcrs
[titled auS an ba3 beutfdje 9Sol! ergangenen proclamation
fjeifct, bent einmittyigen SRufe ber beutfdjen giirften unb frcicn
Sttibte folgenb, bic beutfdje fiaifertoiirbe in feincr $erfon emeuerte,
in bent 93chmf$tfein ber Pflidjt, in beutfdjer 2reue bie SRec^te be3 9teid)e£
unb feincr ©ficber ju fd)ii&enf ben grieben 511 toaljren, bie Unabfjangig-
feit 5)eutfdf)(anbg ju ftiifcen unb bie Sraft beg $Bolfe3 ju ftdrfen; in ber
£>offnung, baft eS ber beutfdjen Station gegeben fcitt toerbe, unter bem
SBafjrjeidjen ifjrer aften £errli<$feit ba3 Saterlanb einer fegen£rei<f}en
3ufunft entgegenjufuljreu unb ben Sofjn ifjrer Ijeiften unb opfernritligen
Sampfe in bauernbem grieben unb innertjalb ber ©renjen 511 geniefjen,
roelc^e bem Saterlanbe bie feit Safjrljunberten entbef)rte ©idjerficit gegen
crneute Slngriffe granfrei<f)3 gehmf)ren merben; unb enbtidi) unter bem
©ebete, bafe ©ott bem ®aifer unb feinen SRac^folgern t?crtcif>cn tootle,
attejeit 9Jtef)rer be£ beutfdjen 9teicf)g &u fcitt, nid)t in friegerifd)en ©r;
oberungen, fonbern in ben SBcrfen beS griebenS auf bem ©ebiete nationaler
28of)lfaf)rt, 3reif)eit unb ©efittung. Ettoa fed)3 SBodjen nad$er tourben
burd) bie am 27. gebruar unter jeic^ncten griebenSpraliminarien bem
roieberfjergeftettten beutfdjen 9teicf)e bic toerfjeifjenen ©renjen hnebergegcben,
toefdje $eutfd)Ianb, ba3 biSfjer trofc ber Siege Don 1814 unb 1815 jebem
feinbfidjen 9tngriffe be3 unruljigen 9tad)bar3 off en geftanben fjatte, fur
bie 3ufunft Sidjerfjeit gegen foId)e Slngriffe oerfpredjen. 2lber glcid)
bamate ttmrbe oon Seinbcn bie £offnung, Don greunben bie 93efiird)tung
au3gefprod)en, bafj bag beutfdje 9teid) in bem ©Ifafj unb in SDeutfd)*
\00
(S. Baur in £eip3tg.
totfyringen nur ein SJcnctten ertoorben f)abe. SEBcnn jemate eine
2JergIcid)ung geljinft Ijat, fo ift e§ biefe. $ort cin SSolf, toeldjeS burd)
(Ityradje unb Stationalitdt toon Defterreidj, mit bcm e3 toerbunben toorben
ift, auf ba£ Seftimmtefte gefdjieben toar; i)ier cin beutfdjer SJolteftamm,
bcm fetbft cine 5toeif)unbertjdf)rige j>otittfc^c SSerbinbung mit Sranfreidj
feinc beutfdje $ottetf)umlid)feit faum 511 toerfummern, gef^tucige &u rauben
toermodjt tjat. $)ort cine lebiglid) au3 politifdjen Sftiicffidjten gehmltfam
tjergeftetttc SBerbinbung cineS einft felbftdnbigen unb auf fcine ©clb-
ftdnbigfeit ftoljen ©taate3 mit cincr ifjm todtltg frcmben Sftegierung; f)ier
nur bic 2Bieberaufnaf)me ciner beutfdjen ^rotoinj in bie uraltc unb nur
auf toert)dltniftmdf3ig furje 3cit unterbrodjene SBerbinbung mit bcm beutfd)en
2Ruttcrreicf)e. 2ltterbing3 l)at fidj bci ben ©Ifdffern in bcr 3*it iljrer
3ugc^5rigfcit ju bcm mddjtigen granfreidj) nid^t gcrabc cin £eimtt>el) nadj
bcr SBiebertoereinigung mit bcm of)nmdd)tigen unb jcrriffencn beutfd)en
9lcicf)e obcr beutfe^cn fflunbe enttoideln I5nnen. SSielmejjr fmb fie in
bcmfclbcn SKa^c, in toeldjem if)re 2tn^angJicf)fcit an bie neuc SRegierung
aflmd^Iicf) ttnid)3, bcm SWuttcrtanbe met)r unb meijr cntfrcmbct morben.
Slber babci finb fie bod) im ©runbe it)re3 2Befen3 25eutf<$e gebtteben,
unb eigentfidj) nur bie ftdbtifd)e 93eto5tferung in ifyren oberen <Sd}id)ten
Ijat cine obcrftddjlidje franjofifdje gdrbung angenommcn. SBenn nun aber
bcr ©Ifaft geblieben ift, toad er toon 9tlterS tyer toar, ndmttcf) cin beutfdjeS
Sanb, unb toeun anbererfeite $)eutfd)lanb nid)t gebtteben ift, toaS e3 ba-
mate ttar, ate biefeS ©lieb if)m toom Scibe geriffen ttmrbe, ndmlidj cin
otntmddjtigeS Eonglomerat au3 cinjelncn Btaattn unb ©tdtdjen, tpctc^c^
toeber bic Sraft nod) ben SBitten fyatte, ju fdjiifceu unb feftjufjalten toa%
fcin eigen toar: fo ift ja gennft bie £>offnung beredjtigt, bafj ba$ jcit-
toeilig getrennte ©lieb, tt>eld)e3 ttrir urn unferer ©elbfterfjaftung hritten
nidjt ttrieber laffen biirfen, aud) au3 cigenem Sriebe fid) toicber lebenbig
mit bem Seibe toerbinben toerbe, beffen $aupt nun toieber cin beutfdjer
Saifer ift, unb jtoar ein Saifer, bcr nicfjt bloS ben ©djmucf ber Krone
unb be§ ©centers trdgt, fonbern aud) mit ©djilb unb ©c^tocrt too^l be-
toaffnet ift ju ©c^u^ uub Irufe. Unb ^ur Selebung unb Scfcftigung
bicfer ^offnung loirb ein rafdjer ®ang burd^ eine metjr ate taufenbjd()rigc
©ef^ic^tc bicnen, auf toeldjem ioir, bei einigen ^auptmomenten berfelben
furj tocrtocilenb, un^ toergegenttmrtigen, toic ber ®(fa§ nt^t bto£ al^
ein beutfe^c^ Sanb, fonbern gerabeju al^ eine ber bebcutenb-
ften ^ffegeftdtten beutfe^en Sebcn^ unb beutfdjer ©efinnung
fic^ bett)dt)rt Ijat.
S)ie granjofen freitid) l)abcn e3 nicmate tootlen gclten laffen, baft
bcr Slfafc jum bcutf^en 9letdje ge^ore; fie I)aben Dictme^r toon jetjer
bet)auptct, ba§ ba^, luaS toeftlid) toom SR^cinc liege, toon 9ied)t£ iucgen
i^r eigen fei. ©d^on ber beutfe^c Sonig £>einrid) I. unb bcr Saifcr
Dtto I. fatten fid) genot^tgt, ba3 linfc 9t^cinlanb mit S33affengctt)alt gegen
Per €lfa§ als cine pflegeftatte beutfd?ett Je&fcifs/ * — — * \(Sl'
ben fdjlimmen 9tadf)bar im SBeften ju fidjern, unb 'ate"J Yqc \i$('&i<hl^
neunf)unbert 3af)rcn, im 3af)re 978, bcr tDcftfrdnfifc^e £5nig Sotfjar oljne
SriegSerflarnng in bic beutfdf>en 8leid)3lanbe einbrad} unb ben 9tbler auf
bent ^alafte Sarte be£ ©roften in Stamen, ber nad) 2)eutfdjlanb fdjaute,
umfetjren unb naty granfreid) ^in roenben lieft, ba riitfte Saifer Dtto II.
mit einem §eere Don fedjSjigtaufenb SWann fiegretd^ bte Dor bic Xljore
Don $arte unb betuieS, baft man bamate beutfd)e3 9teidf)3gebiet unb bie
beutfdje 9teidj3el)re nic^t ungeftraft antaften burfte. ©anj befonberS aber
finb in ben lefeten brei 3^^"«bcrten aHe bie liftigen ober getDalttljatigen
9tngriffe granfreidjS auf ba£ Iinterljeinifdf)e beutfdje ©ebiet, unter
Subtoig Xin. Don Stidjelieu, unter Subnrig XIV. Don SDtajarin unb bann
Don Eolbert unb SouDote, tjunbert 3af)re f pater Don ben Seitern ber
9ieDoIution^eere, unb in ber neueften 3^it Don ben 9Miniftern SKapos
leonS III., mit ber jebem granjofen ate ein felbftDerftanblidjeS 2tjiom
geltenben 93eljauptung geredjtfertigt toorben, baft ber 9tt)ein granfreid)3
SZaturgrenje fei. 63 ift fonberbar, baft biefer Sftuf Don einer ©tabt
au^ge^t, toeldje, tok Sonbon unb 5)re$ben, fetbft Don einem madfytigen
©trome burdjfloffen, ben tfjatfadfjlidjen 83ett>ete tiefert, baft baburd) ber
23erfef)r efjer belebt, ate gefjemmt toirb. Unb toa3 barauf ju anttoorten
ift, ba3 Ijat fdjon furj nad? ber ©d)Iad)t bei 2eip$ig S. 3K. Slrnbt treff-
lidj gefagt in f einer ©ctjrift: „3)er SRfjein, 3)eutfdjlanb3 Strom, aber
nid&t 2)eutfdjlanb3 ©renje." Segrenjt ift ba3 obere Sftfjeintfjal im Often
Dom ©dfytoarjtoalb unb im SBeften Don ben SSogefen. Snner^atb biefer
©renjen aber toof>nt beutfdjeS SJoIf beSfetben ©tammeS unb berfetben
SDtunbart, beffen ©pradjgrenje nadt) SBeften autf) unter ber franjofifdjen
$>errfdf)aft fo gut tnie gar nidjt f>at Derfdjoben toerben fonnen. Unb true
jum 3eidf)en, baft beutfe^e ©tamme^genoffen auf beiben ©eiten be3 SRfjcin^
ju if>ren giiften n>of)nen, finb befanntlidj }tt>ei einanber gegenuber liegenbe
Serge^aupter be£ ©c^toarjttmlbeS unb ber S3ogefen mit bemfelben SRamen
beS 39eld}en bejeit^net, tnie audj fonft ja^treic^e Drte Ijiiben unb briiben
ben gleicfyen SBamen fiif)ren. 3^iWcn ben 93ett>of)nern be^ red^ten unb
linfen StfjeinuferS aber ^at, jumat fo tange biefeS ju S)eutfdt)Ianb gefiorte,
ftet^ ein eben fo leidjter ate leb^after SSerfe^r beftanben.
Unb bie ©efd}idE)te bejeugt, baft ber ©Ifaft felbft, tr>ie !aum ein
anbereS beutfd^e^ Sanb, ber frudjtbare S5oben eine§ rei^ unb
manni^faltigbetoegtenunbfiir bie©efammtentn)idetungunfere§
SJotfeS fjod^ft frudf)tbaren eigent^iimlidf) beutfdjen Seben^ ge-
wefen ift. ©t raft burg, ba3 Argentoratuin ber 9tomcr, fommt fdjon am
©^uffe be^ 6. Safjrtjunberte in ©regor^ Don SourS franfifd^er ©efd^ic^te
unter ienem beutfcf)en Slamen Dor. 2)ort mar e$ benn aud^, loo bie erfte
dffentlidje Urfunbe potitifd^en Sn^alte^ in beutfdfjer ©prad^e DoHjogen
tourbe, bie un§ nod^ er^atten ift. @3 ift bie§ iener ®ib, burd? toel^en
im Sa^c 842 bie Sonige Subiuig ber S)eutfd)c unb Start ber Sa^le,
\ *:
' (nibcjtfnbtfe'^^eh 'i^rcn ©ruber Cottar, fief} berbiinbeten, unb tueld^ett
Subtoig in romanifdjer, Sari aber in* beutfdjer ©pradje leiftete, bamit ein
jeber bon bcm $>eere be3 ©rubers berftanben toerben fonne. 2113 bann
im nad)folgenben 3afjre burd) ben ©ertrag, ju Serbun bie ©etbftanbigfeit
be£ oftfranfifefjen ober beutfdjen SteidjeS ifjre ftaatSredjtlidje ©egriinbung
fanb, ba nmrbe bamit audi ber fefbftanbigen ©nttoidelung ber beutf djen
Spxaty unb Siteratur ein fefter unb gefidjerter ©oben gegeben. Unb
ber 9tame, melcf)er mit ber ©rinnerung an bie erften fjerjerfjebenben
©iegeSffange, bie am 4. Sluguft 1870 bom ©tfafj ju unS tyeriiberfdjaflten,
unjertrennlid) berbunben bleibt, bejeidjnet jugfeidj ben Drt, too ba3 erfte toafjr=
f)aft grunblegenbc Siteratunoerf in aItfjod)beutfcf)er ©pradje entftanben
ift. $>ie ©enebictinerabtei ju SBeifeenburg hwtr eg, mo bor taufenb 3^ren,
gegen ba£ 3af)r 870 tjin, ber 2R8nd) Dtfrieb feine unter bem Stamen
be$ Srift befannte ©bangelienfjarmonie boflenbete. ©djon etma ein
SRenfdjenatter border ^atte ein fadjftfd)er Dieter in nieberbeutfdjer ©pracfje
bie Seriate ber bier ©bangeliften ju einem @po£ bom $etianb ober #eitanb
berbuuben, toeldjeS jeigt, line ttmnberbar tief bamafS fdjon bie Xfjatfadjen
unb Sefjren beS ©bangeliumS baS beutfd)e ©emiitf) ergriffen unb burd^
brungen fatten. 9licf)t fo bolfSmafjig ift bie 5)idjtung beS SBei&enburger
SRdndjS. ©r berfotgt in ityr auSgefprodjenermafcen ben SRebenjtoed, bie
im ©olfe nodj Jebenbigen boIf3tl)umIicf)en §elbenlieber burd) feine djriftlidjen
©efftnge ju berbrdugen. ?tber fdjon ba3 ©ebiirfnifc, ba3 ©bangelium ju
bem beutfdjen SSotfe beutfcf) reben ju taffen, ift au3 bem beutfdjen ©eifte
fjerauS geboren, beffen 3nnerlicf)feit fid^ nidjt bamit begnugen mill, ben
©afcungen ber Sirdje nur aufjerlid) fief) ju untertoerfen, fonbern ber mit
eignen Stugen ju fefjen, mit bem eignen #erjen ju berftef)cn bege^rt.
Unb aud) unter ber 9R5nd}3futte fdjfagt bem $)id}ter nodi fein #cr$ in
bem #od}geful)Ie, bem f)od)begabten unb friegSgetoaltigen beutfdjen gran! en*
bolfe anjuge^oren, toeldieS ben ©riedjen unb 9t8mern feine£tt>eg3 nadj*
ftelje; unb feine ©ebunbenfyeit an feine bibfifdjen unb patriftifdjen ©or=
tagen ift bod) s nidjt grofj genug, urn ber^inbern &u fdnnen, bafe nic^t
ba unb bort ein 2tu3brud beutf^er Ireue, beutfe^en ^pelbenfinne^ beutfe^en
gamiliengefii^te, beutfdjer #eimatliebe ma^tig ^erborbrid)t, urn fo er-
greifenber, je me^r man e£ bem ®ic^ter anfii^It, baft fein ©ebanfe nodj mit
einer neucn unb i^m unbequemen poetifdjen gorm ju ringen f)at. 3)enu
baburdi bor atlem ift biefeS attefte nmfangreic^e unb in feiuem
ganjen Umfang un§ er^altene epifdje ©ebid^t in ^od)beutf(^er ©prac^e
fur bie gefammte nadifolgenbe beutfe^e ^oefie e^od^emac^enb unb borbilblic^
getnorben, bafc Dtfrieb feine SSerfe juerft anltatt burd) bie friiljer ublid^e 2tHt=
teration burdj ben Steim berbunben l)at. Unb menn mir iefct iiberaH in ©eutf^?
lanb in ben ffiirdjen „99efie^I bu beine SBege", ober „€) ^aupt bofl 95Iut unb
SBunben" fiugen, ober in gcfeUigen Sreifen /f3rtfc^ auf &um frd^ic^en S^gen"
ober „®r^ebt eud) bon ber ©rbe", fo flingen gcrabe in ber unferer
Per €lfat$ als eine pflcgeftatte beutfdjen £ebens. \05
^Pocfie gelaufigften gorm btcfer Sicbcr befonberd beuttid) bic %'dnt nad),
roeldje Dor taufcnb S^^ren im ©Ifafc juerft angeftimmt toorben fittb.
Stbcr ber ©eift bed beutfdjen SJotfed liefe fid) burd) bic geiftlidje $)id)tung
Dtfriebd mit itjrer toofjlgememten Sefjrfjaftigfeit nid)t toefjren, an bem
tmmberbaren ©ebilbe feiner ©agen fortjutoeben unb bamit ben @lfa& ganj
befonberd reid) audjuftattcn. 9lur beifpieldtoeife fet auf bic ©age bom
SRiefenfraulein bon ©urg 9libed unb auf bie ©age bom Dbilienbcrge
Ijingettriefeu, tpelcfjc burd) ©fyamiffo unb SRitdert aud) auf bad redjte 9lf)cins
ufer berpflanjt toorben finb, urn bed frommen $ned)ted gribolin ju ge^
fdjroeigen, beffen ©rftfin bon ©abern cine gute 2)eutfd)e urib ju 3abern
im ©Ifafi ju £>aufe toav. 3)ie ©eifter einer ber getoaltigften unter unfern
alten §etbenfagen umfdjtoeben bie bed SBadgenfteind, auf tocldjer
bie aud ber ©eifelfcfyaft bei bem #unnen!5nig Slttita fliidjtenben brautlid)
oerbunbenen fiimigdfinber 2Baltt)er bon Slquitanien unb #ilbegunb bon
95urgunb rafteten unb 28altt)er mit bem granfenfonig ©unttjer bon SBormd
unb beffen §elben, namentlidj mit feinem alten SBaffenbruber $agen,
icnen furdjtbaren ffiampf ju befteljen ^atte. SRag biefer SBadgenftcin in
bem etnm brei ©tunben toeftlid) Don SGBort^ gelegenen Serge, toeldjer
f>eute nod) biefen SRamen tragt, ober mag er mit 3- ©rimm fiibtidjer in
einer $>5f)e ber mittleren SSogefen }u fud)en fein: jebenfalld ge^ort toieber
bem ©Ifafj bie Dertlidtfeit an, an toeldje bad alte, mit bem Slibelungentieb
innig ucrjrpcigtc 2Baltf)arilieb fidj anlefynt unb in toeldjer ed infeiner ur=
fprungltd) beutfdjen ©runblagc tool aud) entftanben ift. 3m 10. 3af)*5
fjunbert ift ed bann im ftlofter ju ©t. ©alien in lateinifd)e ^ejameter
gebradjt unb aud biefen befanntlid) bon ©duffel in feinem @ffef)arb mieber
in'd ®eutfcf)e umgebidjtet njorben. Slber neben ber £elbenfage l)at ber
beutfdje ©eift aid ein tym gan§ eigenttyiimlidjed (Srieugnifc bie £f)ier;
fage Ijerborgebilbet. 9tidjt bie lefyrfjafte Xfjierfabel, fonbern bie eigent-
lidje Xfjierfage, toeldje ber unbefangenen ed)t bcutfdjen greube an Slatur
unb SBalb unb an bem mannidjfaltigen unb eigentpmlicf)en Seben ber
£f)iertt>elt entfpringt unb i^ren beutfdfjen Urfpruug aud) baburc^ berrat^,
bafc in i^r urf^riinglic^ nic^t ber Sotoe, fonbern ber Sar bad f5nig=
licfie ©center gefu^rt tyat. S)iefe I^ierfage toax bon beutfdjem auf fran-
5dfif(^en Soben tjiniibergetoanbert, am ©d^luffe bed 12. Saljrfjunbertd
aber !^at fie ein ©tfdffer Dieter, $einrid) ber ©lic^efare ober ber
®teifjner, in bie alte $eimat miebcr juriidgcifii^rt, unb jtoar in berberer
unb frifc^crer ©eftalt, aid fie und in bem nad) manc^erlei SBanberungen
iiber granfreidj unb ^otlanb erft 1498 nadj ®eutfc^lanb iurudgelef)rten
nieberbeutfe^en ©ebir^te bon SReincde 93od begegnet. Slid fo $einrid) urn
bad 3a^r 1170 einen auf beutfe^em 99oben gett>ad)fenen, botfdtf)umlic^en
Sagenftoff aufd Steue betebte, begann bad t)i)fifd)e S)uufte^od, melted
feine ©toffe audlanbifd)en ©agenfreifen entlefjnte, feincn rul)mboHen (£nt=
tt)idelungdgang unb bamit bie erfte flaffifdje $eriobe ber beutfd^en Siteratur.
{0$ (5. Baur in £eip3ig. .
2lud) untcr feinen brci grofcten unb allc anbent toeit iiberragenben S3er-
tretern, §artntann Don Slue, SBotfram toon ©fdjenbad) unb ©ott=
fricb toon ©trafcburg, befinbet fid) mieber cin ©Ifaffer. Unb toenn
£artmann burd) bic befonnene Sfarfjeit unb ©auberfeit fciner ©ebanfen
unb burd) bic tabctlofc Eorrectfjeit feiner gornt anfpridjt, SBoIfram burd)
ben tiefcn ©rnft unb ben fiifjnen ©djttmng feiner ©ebanfen ergreift unb
fortreifct, fo geminnt ©ottfrieb nidjt b(o3 burdj bie bejaubernbe Seidjtig*
feit unb Slnmutt}, burd) bic fiifje SKclobic feiner ©pradje, fonbern aud)
burd) bic fccfc inbimbuefle grifd)e unb Scbenbigfeit unfcr £er$, in metier
cr fid) toon ben fdjon jur SRegel getnorbenen getoofntljeitSmafcigen SKormen
bc£ epifdjen ©tils inefjr al3 3lnbere emancipirt fjat. SltlerbingS bc^anbclt
cr einen bebcnflid)cu ©toff. ©3 beriitjrt oft peintid), toirft mandjmal
gerabeju abfto&eub, bafc ba£ SBerfjaltnifj bcr beiben Sicbcnben Iriftan unb
Sfolbe burd} ba§ pfjtjfifdje 2J?ittet eiueS toon beiben unbettm&t genoffenen
SiebeStranfeS bettrirft unb alfo innerlid) unfrei unb ofjne fittlidjeS Sntereffc
ift. Slber ©ottfrieb l)at ben fprbben bretonifefjen ©toff mit beutfd)er Snnigfeit
burd)geiftigt, unb beutfd)e3 <Katurgcfiit)l ift e£, tva§ if)m bic reijenben SBerfe
bictirt t)at, in tueldjen cr bic „©ommeraue" fdjilbert, auf toeldjer Sonig
Sftarfe con fturnetual unb ©ngeftanb cin JieblidjeS 3Raienfeft tocrauftattet:
Man vant da, swaz man wolte,
Daz der meie bringen solte,
Den senate bi der sunnen,
Die linden bi dem brunnen.
Diu siieze boumblout sach den man
So rehte suoxe lachende an,
Daz sich daz herze und al der muot
Wider an die lachende bluot
Mit spilnden ougeu machete
Und ir allez widerlachete.
Daz senfte vogelgedoene
Daz siieze, daz schoene,
Daz dren unde muote
Vil dicke kumet ze guote,
Daz fulte da berc unde tal.
Din saelige nahtegal,
Daz liebe siieze vogelin,
Daz iemer siieze miieze ain,
Daz kallete iiz der bliiete
Mit solher iibermiiete,
Daz da mane edele herze van
Frfld' and hohen muot gewan.
3tbcr and) toon anberen 9lad)tigatlen toeifj ©ottfrieb ju reben, bie
ifjr Stmt toot)! tocrftefjen unb mit ifjrer lauteren unb guten ©timmc ben
§erjen tooljf ttjun. ©r toerftefjt barunter an einer fpiiteren ©telle feineS
Der €lfag als eine pflegcftatte bcutfcf>en £ebens. J05
Srifton, too er bie 3)ic§ter fciner 3^it bic SReDue paffiren lafct, bic ja^I=
reidjen 9Rinnefanger feiner 3eitf unb at§ itjrer alter „2eitefrau" bcjcicfjnct
cr etnc au3 $agenau, bie jefct Ictbcr fiir bie SEBcIt Derftummt fet. ©3
ifi bamit jebcufallS ein f)erborragenber SRinnefdnger au$ bem ©Ifafe,
aHer ffiafyrfdjeinlidtfeit nad) SReimar ber Sttte gemeint. ©in geborencr
©Iffiffer, trot er fyater am ofterreidjifd^cn £ofc ju SBaltljer toon ber SSogel-
toetbe in nd^ere 93ejiel}ung, toetdjcr ifjm einen efjrcnDotlen Sladjruf ge?
tpibmet Ijat unb auger toeld^em er ber frudjtbarfte aHer 3Rinnefanger
tpar. 3wgteid) aber toax er ein 3)icf)ter, ber, nrie Ufjtanb fagt, box alien
nieberfteigt in ba3 innerfte ©cmiitf) unb hrie fein Slnberer ben 9tu3brud
ber lauteren fiiebe t)at, ber au^bauernben Ireue, ber jdrtlidjen St (age,
be3 ergebenen SutbenS. Unb ttmfjrenb fo bie 9ladjtigallen burdj SSalb
unb gtur im fd)5nen beutfd)en ©Ifafj it)ren tnelftimmigen ©efang er?
fallen liefcen, erftanb unter ben #anben ©rnrin3 bon ©teinbacf) ein
neueS tjerrlidjeS Senfmat beutfd)en ©eifteg in jener ga^abe be3 SDtiinfterS
ju ©trafcburg, in tuclc^cr ber juerft in Sftorbfranfreicf) auSgebilbetc fogenauntc
got^ifdje Sauftil feine fcollfommenfte unb fiir anbere Drte maftgebenb
getoorbene Umbilbung ju einem beutfdjen 93auftil crfutjr.
3)a£ alleS pub laut rebenbe 3^ugniffc bafiir, baft ber ©tfafj ciue
ber ergicbigften unb gefegnetften ^flegeftatten bcutfcfjcn SebenS getuefen
ift. Stber aud) eine ^flegeftatte beutfdjer ©efinnung fyabe id)
ifjn genannt, jener ©efinuung, toeldje entfdfyloffen ift, beutftf)e£ 3ted)t unb
beutfcf>e ©f>re gegen frembe 21m unb ©ingriffe ju ttja^ren. ©erabe burd)
bie immer bebrot)tid)C 9ta<f)barfd)aft granfreid)£ ttmrbe im ©Ifafc biefe
©efinnung getoedt, unb fo lange er su bem beutfdfyen 9ieid)e get)5rte, be-
Ijauptete er ben 9?uf)m, ba3 reidjstreuefte Sanb ju fein. SlllerbingS
uafjmen bie fd)tt>abifd£)en §er$5ge, toeldje feit ber 9Ritte be3 8. 3af)r=
fyunbertS jugleid) .^erjoge be3 ©IfaffeS toaren, an biefem SRutjm nid)t £f)eit.
Sielmetjr fatten bie beutfdjen a if cr au3 fa<f)fif<f)em unb fran;
fifdjem ©tamm mit ben particulariftifd)en ©eliiften biefer mad)tigeu
£>erren fortmd^renb ju fam^fen, 5fter im 93unbe mit ben 95ifc^ofen oon
<StraPurg, auf njeld^e ber beutfdje iSaifer bamals noti) al§ auf treue
Sunbe^genoffen red^nen burfte. SEBot aber burfte ba^ SSolf, burften
in£befonbere bie ©tdbte im ©Ifafj, ^agenau, ©trafeburg, ©olmar, ©c^tett=
ftabt, 3Riif)tf)aufen, ^aifer^berg, i^rer 9letd|§treue fid) riifjmen. Unb jene
Saifer -Ijielten mit SSorliebe bei ben treuen ©Ifdffem fic^ auf unb lie&en
fie i^re faiferlic^e ©unft reidjlid} erfaf)ren. 3loty inniger tuurbe biefeS
aSer^dltnife, att bie auc^ im ©lfa§ reid^ begiiterten ^perjoge Don ©djtoaben,
bie getoaltigen © t a u f e n , f elbft jur ®aif erttmrbe er^oben tt)urben. S o n r a b III.
crbaute fid) in #agenau einen fierjoglic^en $ataft, tt>elc^en griebric^
ber Stot^bart in eine fefte faiferlidje Surg umgeftaltete. S)ort fam
1193 ber gefangene 3tid^arb Somenfierj mit ^einric^ VI. jufammen,
nad^bem er au^ feiner §aft auf ber ®urg £rifcl£ in ben pfdtjif^en
\06
<S. £aur in £eip3ig.
SJogefen entlaffen mar. ©eit $t)iliW toon ©d)ma6en fiifjrten bic beutfdjen
tonige pcrfSntid^ bie SBermaltung toon ©djmaben unb (Slfafc, bte ber
lefete ©taufer nad) toergeblid)em Sampfe urn fcin ficilifdjeg ©rbe 1268
ju Stcapd auf bem Slutgeriifte cnbctc. 2lber fiinf 3atjre fpdter toer*
natymen bic ©Ifdffer mit frotjem ©rftaunen, bafe i^r §auptmann unb gelb*
obcrfter, bcr Sanbgraf be£ obcrcn @lfaffe§, SRubotf ©raf toon $ab^j=
burg jum romifdjen Sonig gemdf)lt fci. $)ie Xage, in meldjen er auf
ber %af)xt jur Sronung in Stamen mit jm5Ifl)unbert SReifigen in ©trafjburg
cinfe^rtc unb bort $of f)ielt, maren I>of)e gefttage fiir bic trcuc SReid)^
ftabt. Unb ate er, mit reidjen @aftgefd)enten iiberljduft unb toon toicr
ftattlid)en Stiffen etyrentoott rf)einabrodrte geleitet, gefd)ieben roar, ba
fjatte bie if)m nadjfolgenbe Sonigin 3tnna in 9Ku^lf)aufen, in ©olmar,
in ©trafeburg gleid) 6egeifterter §ulbigungen fid) jit erfreuen. SnSbefonbere
miiffen bie maderen ©trafcburger ber ^o^en grau eineu ungemoljnlid^en
2)urft jugetraut fyiben, benn fie erfjielt fed)Sjig gafj „@belmein" jum
©efdjenf, mdf)renb if)r ©atte mit fedjSjeljn guber bebadjt morben mar.
S)er roeitere SSerlauf ber beutfdjen 9teicf)$gefcl)idjte entfprad) freilidj biefen
freubigen ©rmartungen nidjt. Die ©rjjebung ber £ab£burger bebeutctc
einen toerfjdngnifetoollen Umfdjlag in ber §anbf)abung be£ beutfdjen $6nigs
tfjumS. $ie grofeartige 3bee bc3 $aifertf)um3, fiir beren SSermirflidjung
bie ©taufen, aflerbingS toergeben£, iljre ganje Shaft eingefefct fatten,
gaben bie §ab3burger auf. S)er 3>taliener $>ante toerbammt Sihtig fRubolf
ju longer Sufce im gegefeuer, meit er, feine Stoiferpftidjt toerfdumenb,
bem jerriitteten Qtalien nidjt mit ©ematt grieben unb Drbnung roiebcr*
gegeben t)at. 2tber aud) in $)eutfd)lanb mar e§ bem neuen &errfd)erl)aufe
nidjt fomol urn SKe^rung beg 9Reid>e3, ate urn Sermeljrung feiner £>au£s
macfjt ju t^un. SSon bem beutfd)en SReidje, ober toielmefjr toon Cefterreidj,
fatten bie reidjStreuen ©Ifdffer jefct auf ©d)ufe gegen ben bofen SRadjbar
im SSeften nid)t mefjr ju redjnen. ©ie aber f)5rten barum nid)t auf,
treu jum 8leid)e ju fte^en, unb erme^rteu fic^ felbft, im 93unbe mit ben
t)on bemfelben geinbe bebro^ten ©c^meijern,. ber Stngriffe toon granfreidj
unb Surgunb I)er, toeldje md^renb be§ 14. unb 15. ^a^^nberte fic^
immer miebert)oIten. Siefe ©a^Iage fdjitbert fotgenbe ©trop^e eineS
auf bie 5RieberIage Sarte be3 Sii^nen bei ©ranfon (am 2. 3Karj 1476)
toerfafeten gteidjjeitigen ©iege3liebe£:
Oeeterrich, du schlafeat gar laog,
Da6 dich nit weckt der vogelsang,
Hast dich der mette versumet!
Der Burgunner hat sich ganz vermessen,
Er w6lt zu Bern und Friburg Kuchlin essen,
Der Ber hat im die pfannen gernmet.
S)em Serner 95dren aber ^aben bamate, md^renb Defterreid) fdumter
auti) ©Ifdffer, inlbefonbere bie ©tra&burger, gef)otfen, bem Surgunber
Der <H 1 f ag als etne pflegeftatte bentfdjen £ebens. \0?
©eier bie ^fanne ju rdumen unb bic Sdnge §u ftufcen. ©rft untcr
SKojimtlian I. fpann fief) cin ndfjereS Serljdltntft jtoifc^em bent ©Ifafc
unb fcincm ®aifer mieber an. 9113 Sanbgraf toon Slfafj unb al£ £crr
in SBurgunb bent fianbe boppelt toerbunben unb iiberfjaupt ben ©tdbten
geneigt, fdtjien cr bie alten 3«iten tuiebcr tjerftellen ju tootlen, in roeldjen
bie $aifer fo gent int ©tfaft getoeitt gotten. Unb geroife hmrbe ba£
93ert>dttnifj nod) tnniger getoorben fein, menn ®aifer 2Raj nict)t fort;
todtjrenb in ber Sage getoefen todre, feme guten greunbe urn SluSfjitlfe
in fetnen ©elbtoertegentyeiten angetjen ju miiffen. 2113 er jebod) mit ben
©d)toetjem in ©treit geriet^), gaben bie etfdffifdjen ©tdbte, iuSbefonbere
©trafeburg, ©olmar unb ©cfjtettftabt, freitid) met)? ju tfjrer @f)re, aU ju
ifyrem SSortfjeit, tteber itjre olten SunbeSgenoffen aU ifjren $aifer auf
unb tiatfen tfjm am 22. guli 1499 treulid) bie ©d)la<i)t bei $)omed
toertteren. Unb unter 9KaEimittan toar e3 benn audj, bafe bie erften
beutfdf^patriotifdjen ©ctjriften im eigenttidjen ©inne toeroffentlidfjt
ttmrben, b. f). Sdjrifteu, toetdje ben beftimmten z$m& tjaben, S)eutf<i)Ianb3
9lect)t unb Gfjre bent 2lu3tanbe gegeniiber ju toertreten. 95ei otter 2tn=
tjdnglidEjfeit an bie $eimat unb an ba3 IjeimattidEje SBefen, tpetd^e bent
3)eutfdjen " eigen ift, toaren bod), toenn man etma toon einem betannten
fiiebe 2Battt)er3 toon ber SBogettoeibe abfiefjt, berartige ©cfjriften bisfyer
nidjt erfdjienen. Stun aber traten fie tjertoor, toerantafet tfjeite burcf) bie
immer unertrdglidjer toerbenbe %xt6)i)t\tf mit toeldjer 3tom ba3 beutfdje
Sot! auSjufaugen fudfjte, tfjeite buret) bie mit ber SBieberertoecfung be£
flafftfdjen StttertfjumS toieber an ba§ 2id)t getretenen SBorbitber griecfjifdjer
unb romifdtjer ^atrioten. Unter itjren SSerfaffern aber ragt hrieber ein
©(fdffer, ber 1450 in ©dfjtettftabt geborene unb nad) einem toietbetoegtett
£eben 1528 ebenba geftorbene %acob SBimpfjeting, tjertoor. @r t)at
in mefyreren ©cfjrifien ba3 hmfte unb eitte ©efdjret ber granjofen nad}
ber Stfyeingrenje gebittjrenb toibertegt unb energifd) juriidgehnefen, tjat
bie matjre ©renje S)eutfc^Ianb3 feftjuftetten toerfuc^t unb feine 9tu^=
fii^rungen mit ben SBorten betrdftigt: ^SBaS unfer ift, ba£ foil ber fiber-
mtittjige ©atlier fid) nid^t anmafeen; ba3 tootlen n?ir ba§ toerptenl" Qnx
SSerbreitung biefer unb anberer ©djriften aber bebiente man fict) nament;
V\6) ju ©tra^burg unb £>agenau mit ©ifer beg SKittet^ ber 33ud)bruders
tunft, mit beren erften 9tnfangen ©utenberg fd)on toor 1440 in ©trafc
burg ^ertoorgetreten fear, too^in er, au§ feiner SSaterftabt 9Kain3 toer^
bannt, fid^ getoenbet t)atte.
833d^renb nun in biefen $ampfen mit ber SBaffe be£ ©c^werte^ unb
ber Sfeber bie beutfdje ©eftnnung fi^ belDd^rte, tooKjog fi(^ gteidjjeitig
auf einem befonberen ©ebtete bie Silbung eine^ neueit ganj
etgentpmti^ beutfe^en geiftigen SebenS. Ungefd^r ' glei^jettig
mit ber (Srfjebung ber §ab^burger jur beutfdjen Souig^itiurbe fdjidte bie
romtfe^e Sirdfje fi^ an, ben ©tpfet iljrer ^ierar^ifd)en Slnmaftung ju er^
<5. Baut in £eij>3ic$.
ftcigcn. 3m Sampfe bagegen ftanben bic (Elfaffer itjrem ®aifer toieber
trcu jifr ©cite, ©traftburg butbete mit Submig bent SBaier, ja ubct
beffen 1347 crfotgtcn Xob IjinauS, 93ann unb Snterbict; unb ate e$ bei
©etegenljeit ber 93etef)nung feineS SifdjofS burd) ft'art IV. toon jencm
fdjtoeren 2)rud befreit ttmrbe, ba toermatjrte fid^ bod} bcr hmdere Sim-
meifter, $crr $eter ©djtoarber, auf ba$ cntfdjiebenfte bagegen, baft bcr
9tame Kaifcr^ Subttrig toerunglimpft merbe. 3ugleid) aber jog ba3
beutfd^e ©emiitf), unbefriebigt toon ben aufterticfjen f|ierard)ifd)en ©afcungen,
fid) in bie getjeimnifttootlen liefen be3 d)rifttid)en ©laubenS juriid, nidjt
auf bent SSege ber Sleftejion ober ©peculation, fonbern ber unmittet*
baren tebenbigen ©rfaljrung beS £>erjen3. Site ben $f)ilofopt)en bicfer
beutfdjen SRtjftif fann man ben SReifter ©darb, ate itjrcn Sidjter
§einrid) ©ufo, ate ifjren ^rebiger Sotjann hauler bejeidjnen. Unb
toon biefen Ijaben hneber ©darb unb hauler in ©traftburg gemirtt, too
aud) ate Iauler§ 3eit- unb ©efinnungSgenoffe ber ffaufmann SRutman
2Rerfh)in in feiner ©thrift toon ben neun getfen bie ©tufen befdjricb,
auf toeldjen bie ©eele jum 3iele iljrer f)immlifd)en Serufung Ijinanfteige;
unb auf ber SBenbe be$ 15. unb 16. Satjrtyunberte tyat ®eiler toon
SaiferSberg bort feine tyfldjft ttrirffamen tooltetf)umlid)en ^rebigten ge*
fallen. 2>a£ eigentyiimlid) beutfdje SBefen iener 9Rijftifer offenbart fid)
fdjon barin, baft fie nid)t, hue bie franjofifdjeu unb itatienifdjen, in
lateinifdjer, fonbern in beutfdjer ©pradje fdjrieben; unb toaljrenb bie
beutfdje S(5oefie im 14. 3«^unbert met)r unb mefjr in SBerfatt gerietl),
fdjmiegt fid} bie toon ifjnen toorjugStoeife auSgebitbete beutfdje 5(5rof a
mit bettmnberungSiourbiger Seidjtigfeit, 3fl*tl)eit unb Snnigteit ben
feinften unb tiefften SBenbungen be£ ©ebanfenS an. Sutler §at fid) auf
biefe beutfdje iDtyftif, inSbefonbere auf lauler, gem berufen, toeit in iljr
ber ©ebanfe toorbereitet ift, au£ toeldjem fein 9teformation3toert entfprang.
Unb toenn man bie ^Reformation mit SRed^t bie grSftte £!jat be£
beutfdjen ©eifteS genannt l)at, fo ljaben bie ©Ifaffer iljre beutfdje ®e*
finnung audi burdj bie ©ntfd)iebenl>eit unb greubigfeit bejeugt, mit
tttelcfjer fie ber etoangelifdjen fie^rc jufieten. @3 geniigt ^ier, an bie
Stamen ber ©traftburger 8teformatoren SRic^aet 3eU, SBotfgang
©apito, SDlartin Sufeer unb toor aDen an ben trefftidjen ©tabt=
meifter 3acob Sturm toon ©turmed ^u erinnern; an jeneS SSier^
ftabtebetenntnift, melc^e^ ©traftburg im 93unbe mit Sinbau, SRem^
mingen unb Sonftanj auf bem SlugSburger ?Rei^tage toon 1530 iibergab;
an bie mit ber 9tatur ber etoangelifdjen ^ir^e unjertrennlic^ toerbunbene
forgfame ^flege, toelc^e bie ©tdbte be3 ©Ifaffe^, toor alien @traftburgr
bem ©djultoefen angebei^en lieften unb toetdje auf franj5fifc^em Soben
bte Ijeute nic^t rcd^t ^eimifd^ njerben will. 9Son nun an ift bie beutfd)e
©efinnung ber ©Ifaffcr mit i^rer proteftantifc^en ©efinnung innig toer*
tniipft. @^ ift natiirtic^, baft in einer 3dt ber ©atyrung unb be^ ^arn^feS,
Der £lfa§ als e in e pflcgeftatte bcatfdjeu £cbens. ^09
tpic bic am Stnfange be3 16. Safyrfjunberte, bic ^oefie cine borfyerrfefyenb
fatirifd^c 9ticf)tung einfdjldgt. 2)ie brei bebeutenbften beutfdjeu ©atirif er
icitcr 3«t gefjoren hneber ©trafeburg an. Unb umf)renb nuu ©ebaftian
83 rant, bcr jtoar bci bcr romifefyen ffirdje Meibt, abcr bod) bcr SRefor;
mation nidjt ungeneigt ift, mit greuben bic £>offnung aufredjt credit, b.ife
man ben gattifd£>en §atjn toom beutfd>en §ofraum toerttfeiben unb ifjm
bie gebem au£rupfen toerbe, Derfunbct JfjomaS 3Rurner, metier bcr
{Reformation fcinblid^ entgegentritt, iugleid) bic Setyre, baft ber (Slfafc toon
red)t£n>egen ju granfreicf) geljflre. S)agcgen ift hneber bcr feine bciben
SBorgangcr tocit iiberragenbe geiftfprubelnbe unb fpradjmad^tige gifdjart
ebenfo cin guter 3)eutfd)er, toie cr ein efjrlidjer ^roteftant ift. SBeldj
cin (ebenStootleS Silb felbftberoufcten beutfd^en 83iirgertf)um3, beutfdjcr
Sraft unb frtfdjen beutfdjen #untorS tljut ftdi) Dor un3 auf, toenn cr in
feinem „@tutff)aften ©d)iff" bic nmnberbare ga^rt iencr 53 3iiricf)er
befefyreibt, toeldje am friityen 9Rorgen be£ 29. 3uni 1576 mit cincm un;
gc^curcn Seffel tootl Jjeifcen $irfenbreie3 auf bcr Simmat fid) cinfdjiffteu
unb ifyn am Stbcnb beSfelben 2ag3 nocf) marm auf bem 9tf)cin nad)
©trafjburg bradjten, ate geftgabe ju bem bort gcfcicrtcn grofcen ©djiefcen;
unb mic toeift cr ben groftartigen ©d)toanf ju crnftcm unb einbring*
lidjem s$reife beutfdjcr Irene, beutfefyer ©tanbf)aftigfeit unb auSbauernber
Slrbcit ju bertoerttien!
Secht, was die Treu hat fiir gros Kraft,
Die ain stark Freundschaft starker schaft.
Deshalb sich Teutscher Treu gefliasen,
Um die stats warn die Teutschen gpriesen.
Und welcher aus der Art will schlagen,
Den soil kain Teutschen sein man sagen!
Seiber aber mufcte ein t)atbe$ 3at)rljunbert nad)l)er ber (Sffaft feinc
treue SugeljBrigfeit ju S)eutfd)tanb aud) baburd) betoeifen, baft bic furdjt*
baren 2)rangfale be$ breiftigjafirigen $riege$ iibcr if)n fyingingen. S)a
toarnte nocf) einmal ber toon biefen Srangfalen perfdnlid) auf'3 fdjtoerfte
f)eimgefud)te biebcre elfdffifd)e Stmtmann 9Jtofd)crofd) (t 1669), unter
bem Sftamen $f)ilanber oon ©ittentoalb, lauter ate trgenb cin anberer
bentfdjer ®d)riftftetler biefer $titf toor bcr Derberblidjen £I)orf)eit ber
SfaSldnberei:
a la mode mad)t mir bang,
28eil ber 3>eutfd)en Untcrgang
3n ber 9toten--Sud)t
Seincn 5(nfang fud)t.
a la mode bringt und nod)
Unter ein fremb SReidj unb Qod)!
3)ie SBarnung fam ju fpat. 3nt mcftp^atifc^en gricben ttjurbe
granfreic^ bur(^ Slbtretung eineS groftcn 2f)cite bc^ ©tfaffe^ fiir bie
^0 <S. Baur in £eip3tg.
feljr fraglid^cn 2)ienfte betoljnt, bic eg bem beutfdjen SReidje geteijiet.
Sludj an ©trafcburg foUte batb bic 9?eif)e !ommen. 9tod) im Satire
1552 f^atte eg &einrid> II., toetd)en nod) bcr 93efifcnaf)me ber fiotfjrim
gifdjen 93igtf)umer SJlefc, lout unb SBerbun aud) nad) bcr feften
8teid)gftabt am SRfjcin getiiftete, bcrb tjeimgefdjidt unb if)m bettuefen, ba§
eg nod) feinen altcn Sftufnn betoafjre, bag SKctatt nidjt blog 5U 93ucf)=
brudertt)pen, fonbern aud) ju ©efdjitfefugeln toertoenben ju ttfnnen. Stbcr
am 30. September 1681 fotmte Subtoig XIV. bic ©tabt, toetdje Don ber
DJjnmadjt beg beutfdjen SReidjeg tcine £iitfe, fuYg erftc nid)t einmal einen
Stacker ju ertoarten tjatte, mitten im grieben Don ©eneral SRontclar be=
fefeen laffen. Sim 23. October Ijiett er felbft feinen ©injug, Don bem
S3ifd)of granj @gon toon giirftenberg, roeld)er toon cinem beutfdjen
8teid)gfnrften ju cinem ridnigen SReptit fjerabgefunfen toar, mit bcr gotten-
taftertidjen Segritfeung empfangen: „§err, nun taffeft bu bcinen 5>iener
in grieben fafyren, benn mcinc Slugen t)aben bcinen #eitanb gefefjen!"
Stber fein „©g tcbe bcr £5nig!" ift aug bcr 93eto5tferung atg ©d)0 auf
biefen ©rufj erftungen. 5)ie ©tfaffer blieben im ©anjen unb im ©runbe
if)reg ^crjen^ Deutfdje. Unb nadj ttrie toor flogen manege frudjtbare
©amenfflrner aug ityrem Sanbe auf bag red)te 9tf)einufcr fyeruber. ®e=
rabc mit bie gefegnetften Ijat bamatg, juerft in granffurt a. SR., bann
(fcit 1686) ate Dberl)ofyrebigcr in 2>re3ben, sutefet atg ^ropft in SBerlin,
ein t)od)begabter 3Rann auggeftreut, beffen SBiege ju SRawottgtoeiter im
©ffafe geftanben t)atte, ^Ijitipp 3a!ob ©pener, toetdjer in bic toom
brel&igjafjrigen Sricge t)er nod) ftaffenben SBunbett unfereg SJolfcg ben
Sat jam eineg tebenbigen ©taubeng gegoffen t)at, bcr in bcr Sicbe tfj&tig
ift unb bcr Strmen unb SJertoatirloften fid) annimmt. Unb in atntlidjer
SRidjtung mirft fjeute nod) bic Don So^ann griebrid) Dberlin aug
©trafjburg auggegangene 93etoegung fort, ioeldjer big ju feincm lobe
(1826) fedjjig 3afjre tang cin armcr $farrer in bem toilben ©teintljal
in ben mitttcren SSogcfen gemefen ift, aber toic feincn ©emcinben, fo bcr
etoangetifdjen ©f)riftent}eit toeitljin jum reic^ften ©cgen gefefet ttmr. Unb
no^ Diet ja^trcic^er toaren bie nac^ bem ©tfajj, inSbefonbcre jum Sc^
fud^e bcr Unitoerfttat ©tra^burg, §inuberjic^enben, unter i^ncn tm
grii^ia^r 1770, atfo faft neunjig Sa^re nac^ ber 93efifena^mc ©trafc
burgg burc^ Subtoig XIVV ber junge ®oett)e. SBcnn man bag 9.,
10. unb 11. 83ud) toon $)id)tung unb SS3at>r^eit ticft, mo ber ®reig
bie ©rinnerungen beg Siingtingg in frifd)efter Sebenbigteit micber-
fpiegctt, fo empfangt man burdjaug ben ©inbrud, bafe bamatg no(^
©trajsburg einc beutfd)c ©tabt, bcr ©tfafe cin bcutfd^eg Sanb h>ar. 3)cr
2lnbtid beg ©trafeburger 3Kiinftcrg ^at ben iungen 2)id)ter ju cincr
SScrf)crrti^ung bcr attbeutfdjen Sautunft unb i^reg SKeifterg Grmin
begeiftert; bie Unioerfitat tragt einen entfdjieben bcutfdjcn S^araftcr,
ber Sreig toon ©tubirenben unb cinigen attcrcn ©cnoffen, njctc^er untcr
Per (Elf ag als eine pf.leg eftatte beutfdjen £ebcus. \\\
bem Sorfifc bed „tieben 9lctuariud" ©aljmann fid) taglidf) jum gemein-
famen 2Rittagdmal>I aerfammelt, ift eine beutfdje ®efellfd()aft, unter iljnen
cin oerljeilungdbplled tjicrbldttrige^ ftlcebtatt Don beutfcfyen ©d^rift-
ftellern: aufcer ®oetlje f eft ft, Berber, Sung ©tilling unb Sena, unb
baneben jener ©tfaffer Serfe, meldjen ®oetlje aid bad Urbilb eined beutfd&en
SDlanned in feinem ®ofc toeremigt Ijat. 28ad bet 3)id£)ter freitidj Don
fcinen (Srlebniffen im #aufe feined franjofifdjen Xanjmeifterd erja^It, ift
ed)t franjofifd) unb erinnert an ben ftirnifj, mit toelcfyem bie franjdfifc^cn
gormen bad beutfdje SDtatertal ju iiberjieljen tradjteten. Unmittelbar
barauf aber toerben nrir im ^farrljaufe ju ©effenljeim in eine beutfdje
ijamilie eingcfiiljrt, in bem 9Ser^altni& ®oetljed ju grieberirfe in eine
beutfdje Siebe, beren 2)arftettmtg man mit SRed^t bad lieblidtfte 3b^D
genannt Ijatte, toenn ein StyH ci^en tragifefjen Studgang Ijaben biirfte.
3m (Slfafc tjat ®oet^e bem SDtunb bed Solfed jene 12 beutfd&en Solfd-
lieber abgelaufdjt, toeld&e er nad&ljer an Berber filr beffen „@timmen ber
» Softer" gefanbt l)at. 2>ie frifc^e beutfi)e Suft bed (glfaffed erft Ijat feinen
eigenen $)idjtungen bie franjofirenberi gormen abgeftreift, toeldje er aud
5)eutfd)lanbd bamaligem fleinen $arid nod) mit Ijerubergebrad&t Ijatte, fo
ba| jefet erft aud feinen Siebem und entgegenftingt, mad nad) feinem
eigenen Sludfprudf) ben 3)id)ter mad&t: ein toon ©iner ©mpfinbung ganj
trolled ®emiitl). SBufcten mir meiter nidjtd, aid bafc bort biefer 3)icf)ter,
toeldjen fetbft ber alte Xurnerbater Saljn ben beutfdjeften 2)id^ter nannte,
ben erften ©ebanfen ju feinem ®5fc unb gauft empfangen fyat, hrir maren
&erecf)tigt, ben ©Ifaft aid eine gefegnete ^flegeftatte beutfdjen ®eifted unb
Sebend ju bejeidjnen.
?Werbingd ift baft barauf ber plumpe ©dfjtoamm ber franjSfifd&en
3t evolution iiber bad beutfd^e Sanb ^ingefa^ren unb Ijat mandje alte
Ueberlieferung unb ©itte meggemifd)t. Stadfjfjer toirfte ber 3<mber Don
9iapoleond 2Racf)t urn fo anjieljenber, aid unter iljm gerabe tnele ©Ifaffer,
fteltermann, lieber, $tapp, Sefetore, mit Ijoljen (S^ren gebient fatten.
Unb ate fdjUefelid^ bem beutfdjcn SSoIfe auc^ nid^t einmat aid 5(5reid fiir
feine fd)toer erfauften ®iege ©tra^burg, bie munberfc^5ne ©tabt, mit bem
(Slfafe jurudtgegeben toorben tt>ar, ba ttjar freilid) unfer nun gliltflid^ ent^
fcftfafener 95unbedtag bo(^ ju fe^r ein Slitter toon ber traurigen ©eftalt,
aid bafe er im ©tanbe gettjefen ttjare, bie alte Siebe ber fdjonen Un^
getreuen toieber jur glamme anjufad^en. 2lber bie 2tn^anglicf)!eit ber
(Slfdffer an bie franj5fifd)e Sflegierung bebeutete teiitedwegd ein Stufgeben
i^rer beutf^en Solfdt^umlic^feit. SBielmeljr l)aben aud^ nad^ bem 1809
t>erftorbenen Kolmarer ^feffel noc^ iljre ja^lreid^en unb jum S^eil trefflidjen
%\6)kx, unter meld^en ^ier nur bie 3)idjterfamilie ©tfiber genannt fei,
i^re G^re barin gefuc^t, in beutfefyer ©prac^e ju bitten, unb ber eigent-
lic^e Sern bed SJolfed ^at fein beutfe^ed SSefen mit unuberminblid^er
3d^igteit bema^rt: bad SBolf ^at nic£>t aufge^ort, beutfdf) ju fingen unb
«otb unb SUt. VI, 16. 8
<5. Baur in £etp3tg.
beutfdj gu beten. (Ed tft befonberd begeidjnenb fiir bic 9lnljanglid)feit bcr
(glfdffer an bad ffiigenttyiimtidrfte, toad tin Siottdftamm fytt, an fcinc
eigenttyimtidje Sftunbart, baft bic Siteratur bcr SMalettpoefie tjtcttcic^t in
fcincm anbcrcn beutfdjen Sanbe fo frudjtbar fid) ertoiefen Ijat, toie bort,
toon bent „$fingftmoniag'' an, jenem im Satjre 1816 gu ©trafcburg tx-
faienenen, Dom ^rofeffor Krnolb Oerfafcten oottdtfjiimlidjen Suftftriel,
toetdjed nod) (Stoetfje einer audfii^rUdien unb efjren&otten Sngeige getoiirbigt
l)at, bid auf bic ncucftc 3eit. SBir lj5ren ed gem, toenn bcr grcifc
S)recf}dlermcifter Stoniel #irfe gu ©trafcburg feincn fianbdteuten guruft:
@o lang nodj unfer TOilnftcr fteljt —
Unb bied tfdj nodj gefunb —
Hu bie SDtueberfyrod) nit untergety:
$emt Die! g&ng bnolj gu ©runbl
Unb nod} licber I)5ren toir ed, toenn cr, fiir aHc Deutfdjen oerftdnb*
lid), fingt:
9Hd)t ©rengen fallen fd>eiben
2>te3 btebre SSoIf unb Sanb.
gfiirtoa^r! '3 toar gu beneiben,
Umfdjlfing'd ein fefted ©anb.
Sertoddjft gu (Einem ©tamme
$ied $ol! einft unb bied $l)al,
©liHjt eine greubenflamme
Stuf (Srttrind @$renmaljl! —
(Ed todre fiir mid) felbft bequcmer getoefen, meiner gadjtoiffenfdjaft
fcertoanbter, tjictteic^t aud) im ©ingelnen betetjrenber, toenn id) aud bent
reidjen SRaterial, auf toeldjed id) nur Ijinbeuten tonntc, eincn beftimmtcn
Oegenftanb gu eingeljenber SeJjanbtung audgetodljft fydtte, ettoa Dtfrieb,
obcr bie beutfdjen 9Jtyftifer, obcr ©pener, ober Dberlin. (Ed fdjien mir
jebodi) angemeffencr gu fein, biefe SBolfe \>on 3^ugcn ooriibergufutjren, gum
SBetoeife, baft ber (Etfafj toon ie an ein beutfdjed Sanb getoefen unb ed
im (Srunbe bid Jjeute gebtieben ift, unb gur Selebung ber gu&erfid)tfid)en
§offmutg, bafc bie Qtit fommen toerbe, in toeldjer bie tange getrennte
loiter bem SRutterljaufe toieber mit DoBem unb jinget^eiltem $ergen
angel)5ren toirb. 5d) griinbe biefe $offnung gum ©djluffe auf ben guten
©prud), baft alte Siebe nidjt roftet. 3* nteljr ed bem beutfdjen SReidje
gelingt, aud) burd) gtoetfmd&igen unb bauerfjaften inneren Studbau gu
betoeifen, ba& ,ed ber Siebe toertfj ift, befto getoiffer toirb bie alte Siebe
iljre nn&ertoitftlidje Kraft betoeifen, toirb bem in bie Krone unfered er;
taudjten Saiferd neu toieber eingefiigten ©belftein feinen iefet noc^ ettoad
blinben ©c^ein ne^men unb tfjn im alten ©lange leud^ten taffen in ber
Krone beutfe^er ©t)re unb |)errlic^leit!
(Oapierfpiel ofjne (Enbe*
Don
€mil j&aumann.
— Dresoen. —
}t eg ntufifaltfc^ erfreulid), ba§ in unfcren Xagen jiemlid) Seber*
lann, toom giirften big jum fteinften Dorffdjulmcifterlein tjinab,
fo gut ober fo fd)led)t alg cr eg Dermag,. Slatoier fpielt, unb
afi bamit nic^t ettoa erft bcim SBacffifdj unb @t)mnafiaften,
fonbern fdjon bci bcr nod) in ben Jiinberfdjuljen fteljenben 2Renfdji)eit,
b. I), bci fedjg; obcr fiebenjdtirigen Snaben unb 9Wabd)en begonnen ttrirb?
— Dber ift eg ettoa fiir unferc muftfalifdje Kultur im (Skmjen f5rbers
lid}, bafj an tnelen unferer SRufiffdEjuten bereitg cine Ijeerbentoeife Sib-
ridjtung fo unb fo meler ©la&ierHaffen jum SPianofortefoiel ftattfinbet,
baf$ jebe ^enftondrin toeiblidjer 6raief)ungg*3nftitute auf genau biefelben
©aton- unb 3ugftiide, bic gerabe in bcr 9Robc finb, breffirt ttrirb unb
fount eine Slbenbgefetlfd&aft ftattfinbet, in meldjet nid)t bag 2od)terlein
beg #aufe$ mit einem eingelemten ^arabepferbdjen auf ben Xaften i!)reg
gtiigetg bor un3 ju brittiren fud)t? — SKan faun barauf o^ne SBeitereg
anttoorten, bafc bergleidicn nidfjt nur fcin ©liirf, fonbern gerabeju ein
Ungludf fiir unfere ntufifalifdfjen Suftftnbe ift!
Sn jeber anbern Sunft — unb jhmr audf) in foldjen fallen, in benen
fie nidjt alg Sebengberuf ertodf)tt toorben ift, fonbern bent Stafein nur
jum ©dfntude bicnen foil — nrirb ju atlererft banacf) gefragt, ob gemaub
ein, toenn aud) nur befdjeibeneg 2Rafe toon Slnlage befifct. Srft menu
biefe SSorbebingung erfiiflt ift, entfdjeiben fief) ©ttem, SSorntiinber unb
Setter ljinftdjtlid) beg &u ttmfjtenben gacfjeg fiir il)re betreffenben JHnber,
SRiinbel unb ©djiiter. Unb toenn aucf) bag 3*id)nen in manner unferer
3eid>enfd)ulen neuerbingg ebenfatlg anfdngt, ettoag bcbrofjltc^c ftimenfionen
an june^nten, fo ttrirb bod) fein fritter baburd) gefdjdbigt. ©g fann
8*
\H €mtl Haumann in Presbeu.
ung Stiemanb jttringen, an ben ©tiimpereten beg $ilettantigmug unb bcr
lalenttofigfeit auf biefem gelbe cincn unfreitoittigen 2tntljeil ju nc^mcn;
aud) ift eg nod) nidjt 9Robe getoorben, ung mit ben erften Serfudjen junger
Stnfangerinnen im 3eid)nen im tSramitienfalon in gleidjer SBeife ju regatiren,
hrie mit ben erften SBagniffen junger Damen auf ben Xaften. 2)ie £au})t*
fac^e aber bleibt, baft in ber 2Rufif burd^aug nidjt meljr nadj ber 91 n~
tage beg ©djitterg gefragt ttrirb, fonbern baft bag SRuficiren unb ©lamer^
fpielen, namentlid) fiir unfere toeiblidje Sugenb, ein unentbetyrlidjeg ©tfld
mobifdjer ©rjieljung getoorben ift, toetdje lefctere gerabeju ate untoottftanbig
gilt, menn ein jungeg 9Wabd)en nid)t ein paar %ai)i lang minbefteng feine
jtoei big brei ©tunben taglidj ant gortepiano jugebradjt Ijat. Unb nun
benfe man gar erft an biejenigen ^ungfrauen unb Siingtinge, bie fidj
ber SKufif tooflig toibmen tootten unb Ijierbei bag Etatoier ju t^rem QaupU
Snftrumente ertoatylt fjaben. S3ei biefen finb 4 — 5 ©tunben tagUdjen
UebenS bag ©eringfte, toag itjre Setter unb fie felber tooraugfefcen; unb
ba eg §ier junadtft nur auf ©ntmidetung Don £edjnif unb SBirtuofttat
unb, in toeiterer ©onfequenj, audj auf balbm5gtid)fte $robucirung unb
SSermertf)ung biefer, auf Soften ber Ster&en unb ber ©efunbfjeit fdjmer
errungenen ©elaufigfeit anfommt, fo fann fid) Seber benfen, ober f)at
tnetmetyr 3eber fd)on~fdjaubernb erfajjren, in toeldjer mufifalifdjen ©pfjare
fid) bie toon folcfjen jungen SRufifem unb 9Rufi!erinnen gefpielten ©tiiic
meift betoegen. 3a eg ift faft nod) fdjlimmer, menu ung biefe IjoffnungS*
uotlen Kunftjiinger unb hunger innen gebiegene unb oon toa^aft
poetifdjem ®eifte erfiittte £onh>erfe ju ©et)5r bringen moHen, ba fic
an fotdje ©ompofitionen meifteng nid)t nur innerlid) ganj untoorbereitet
^erantreten, fonbern aud) bie Stugbilbung beg SBortragg big jefet bie
fd)h)ad)fte ©eite unferg gefammten Elatoierunterridjteg ift. — 2Ba3 aber
ift bie golge f)iettton? — ©benfotool eine immer metjr urn fid) greifenbe
mufifalifdje SSerftad)ung, bie bie g5tttid)e ®unft ber £5ne ju einem bloften
©pieljeug, ^anbttjerf ober 9Retier fjerabhnirbigt, ate bie fteigenbe SRarter
atter edjten lonfunftler unb SDluftffreunbe, bie genbttjigt finb, an biefem
btafirten Ireiben einen ^5c^ft unfrein)ittigen Stnt^eil ju ne^men. S)enn
tt)enn aud^ bag ?tuge nid)t ju fe^en braud)t, fo ift boc^ bag £)t)r ge=
jioungen ju ^5ren, b. I), bag ©tatoierfpielen ift feine tjarmlofe Sunftf
toie bag 3^nen, toelc^eg Sliemanb be^ettigt, fonbern eg greift taglic^
unb mitunter fogar ftixnbtid) in frembe SRec^tgfp^dren ein; toenigfteng
moratifc^ genommen, unb infofern jeber 3Wcnf^ einen befc^eibenen 2tn*
fpruc^ auf ungeft5rten grieben, SrJjotung unb 9tu^e nac^ fc^toerer Arbeit
befifet. 9Son einem foldien ©tiid inner^alb unferer toier SEBdnbe ift aber
nidjt met)r bie SRebe, feitbem fic^ ©oett)eg ffafftfe^eg SBort: „3n jebem
§aug ein Seiertaften" erfiittt unb felbft baljin gefteigert ^at, baft man
jefet mit gug unb SHec^t augrufen fann: „3n jebem ©todmerf ein ©tabier!"
— glaube, baft ^augbefifeer, bie bie 2tnjeige bra^ten: „3n biefem
Claoierfptel otjne €nbe. \\5
$aufe ttrirb augnaljmgroeife nidjt ©lairier gefpielt", gldn$enbe ©efdjdfte
madjen miiftten!
2tbcr bin id} bcttn citt geinb beg Etamerfpielg obcr bilbc id) mir
ein, bafj bic claoierfpielenben ficfcr unb Seferinnen biefeg Slotted gerabe
feljr entjiidt bariiber fcin biirften, baft eben bag Snfttument, toeld^ed
fic mit Sortiebe bem tt>rcn ertofitjlten, *fd)led)t madje? — ©etoifi nid)t!
— 3d} bin ebenfo toeit batoou entfernt, bcr gcinb eineg Snftrumenteg P
fein, ba§ fiir fidj atlcin ben toottftdnbigften 93egriff eineg $unfttoerfeg ju
geben toermag unb begfjalb audf} gcrabc fiir unferc $augmuftf bag unenfc
beljrtidjfte afler 3nftrumcntc ift, ate eg mir beifommt, in cincm 931attc
gegen bagfelbe ju eifern, bag, une i$ tooraugfefce, eg in jebcr SBeife tier-
meibet, unb Ijierfiir btirgen fdjon bic Stamen feineg Segriinberg unb feiner
3Jlitarbeiter, fcine Sefer in iljren ^rioatgefitfjlen ju berlefcen. 3d) tucife
abet and), ba| ifjr Drgan nidfjt bafcor juriidfdjredt, 2lugtoud()fen unferer
©uttur entgegenjutreten; ju biefen aber get}5rt bag epibemifd) ge*
toorbene ©labierfpielen: eine 93arbarei, bie einen fo ed}t mufitalifdjen
SDtenfdjen, mie unfern beutfdjen Sifter fflertljolb Stuerbad), bap bradjte,
bruden ju laffen:
„$artdtf(f)en in bie <SIat>iere!"
atlerbingg t5nnte bag ©latnerfpiel unb jttwr gerabe in feiner iefcigen
grofeen SBerbreitung, ein ttmtjreg SBolfgbitbunggmittel toerben. Stber freilidj
nur unter ganjlid^ toeranberten S3ebingungen. — 3undd}ft miifcte eg $flid)t
eineg jeben ©onfertoatoriumg, ja felbft einer jeben $ritmt=3Kufiffd}ute,
fottrie eineg jeben $rfoat(e^rerg roerben, feine 3nbibibuen jum Unterridjt
im ©lamerfpiel mefjr jujutaffen, bet benen eg off en ju Sage tritt, baft
ifjnen jebe mufifalifdje SBegabung unb oft felbft jeber mufifalifdje ©inn (ttrie
@el)dr, (Sebddjtnifj, Jaftgefiifjl, mufifalifd&e Unterfdjeibungggabe u. f. to.)
abgefjt. @g mufcte bieg ein ©fjrenpunft unter alien SDtufifem ioerben,
bie ed)te fiiinftter unb nidjt blog £anblanger in ber SDtufif fein tooHen.
©ingen baruber audj ein paax ffitatoierfoiefer toon ber ©orte berer ju
©runbe, bie tebigfid) mufitatifdje ©aton = unb gabrifarbeit t)on #aug
ju ipaug colportiren, h)ir ttmrben t^nen feine I^rane nac^toeinen. S^nen
ift ja boc^ bie ®unft nur bie ^u^; bie fie mit ©utter toerforgt, metd^e
(efctere i^nen jebeg anbere SKetier im Seben in einer toeit fidjerern unb
n>eniger gemeinfc^dbli^en SDBetfc berfpridjt. S)ie SKufit miirbe babei nur
genrinnen, jumal ba ft(^ iiberbieg, tt)enn bag 9Sor^anbenfein mufifatifc^en
©inneg bie Sebingung beg Unterric^tg getoorben mdref au6) bie &a1)t
ber ©te&en beg ©tabierfptdg fe^r ermafeigen, bie ©ebeutung ber Duatitdt
i^rer Seiftungen bagegen in erfreulic^er SBeife fteigern wiirbe.
©in jweiter $unft, auf ben eg anfdme, toare, bafe bem ©filler t>on
Slnfang an ein Segriff Don ber £>ofjeit ber lonfunft beigebrad^t hriirbe,
bie er barum, au^ alg ffitatjierf^ieler, nid^t nur aug bem ®runbe ju
treiben ^abe, urn fein fleineg fiic^t t)or ben Seuten Ieud)ten ju taffen
€mil Haumann in Dresben.
(unb nod) baju mit (Stiiben, bcrcn einjiger 3^crf ^robuction ber ginger*
fertigfeit, ober mit ©alonpidcen, bic fcinc anbcre 2lufgabe femten, atd
aufterticfjen ftifcet bed (SeljSrfmnd), fonbern bic cr erlernen foil, urn em
befferer unb eblerer SKenfcj) toerben. @d muft iljm flar gcmac^t
toerben, baft bic ledjnif ntd^t ber eigentlidje teftte 3tt*d bed Unterridjtd
ift, fonbcm baft attc ©elaufigfeit nur baju bicncn foil, iljn beremft ju
bef&tjigen, bic lonbidjtungen unfcrcr groften SReifter flieftenb unb o^ne
jebed #emmnift barjuftcttcn. @r foil innc toerben, baft attc SSirtuofttdt nur
bann beredjtigt ift, tocnn fic ifjn batjin fiiljrt, fid) ganj frei unb ungeljinbert
in ber ©pradfje ber £5ne aud$ubriiden, gteic^toic ber ©d)aufpicler unb
3)ecIamator erft bann ein S)olmetf^er unferer groften 2)id)ter ju fcin
toermag, toenn er bie ©prad^e, bie ttrir aHe reben, ttftltg unb glfinjenb
beljerrfdfjt. 3Ran mag ifyn fetbft, fobalb er bad SSerftdnbnift bafur er=
langt Ijat, mittljeilen, baft fdjon Slriftoteted gefagt Ijat: SBlofted 9Sir=
tuofentfjum fei ein eined freien SDlenfdjen unttmrbiger SBeruf (eben totil
bie SSirtuofitat und nidjtd 3 be el led meljr tjcrmittclt), baljer eine 83es
fdjeiftigung fur Unfreie unb ©cla&en!
3Rel)r aber faft nod), ate auf eine foldje (Srtoetfung ber (Srfenntnifj
unb SBiirbigung ber et^ifdjen ©teHung unb fflebeutung bed Slabier*
ftrielerd fommt ed barauf an, baft ber fietjrer ben ®efd)inad bed ©djiiterS
am ©ebiegenen unb ®uten toede, itjn baburdf) Dor ber 93erflad£)ung bur<$ bie
toergiingtidfje giittertoaare bed ©alond betoaljre unb iljm #erj unb ®emift$
fiir bie ©c^ftfee unferer flaffifdjen ©tairierliteratur erfdjtiefte. $)ied 9Mte3
ift nur ju erreidfjen burd) einen berftanbnifttoollen SSortrag ftaffifdjer
(£tat)iertt)erfc, beffen Seljre im ljeutigen ©lamerunterridjt nur eine ganj
untergeorbnete ©telle einnitnmt, toafjrenb bod) ein $eranbilben bed ©dEjiilerd
ju einer funftierifd) gebiegenen SBiebergabe bebeutenber £onbid)tungen
bad £flct)fte unb Sefcte bed Unterrid&td, ja bad Qid fein mixftte, auf bad
berfetbe Don Stnfang an attein tyinarbeiten foUte.
5)ie materietle SSorbebingung einer ^eranbilbung bed ©djiiterd $u
toatjrtjaft fiinftlertf^em SSortrag befte^t in ber forgfattigften Uebermadjung
unb Sludbilbung feined Slnfdjlagd. SKan tjat oft betjaupten Ijdren, baft
bie 3cit eined, nur burd) ftraftprobuctionen bie btflbe SKenge in (Srftaunen
fefcenben SSirtuofent^urad glutflic^ertoeife Winter und lage; gebcnfe i(^
aber ber 93erttritberung bed Slnfc^Iagd ber groften SKajoritat unferer ^eute
umfyerreifenben unb in ©oncerten gaftirenben (£tatriert)elben, fo uber=
jcuge ic^ micf) bat)on, baft toir nod^ tief in ber fflarbarei jened muft-
falifd^en ftunftreitert^umd fteden, toeld^ed man fdjon fiir iibermunben ^iett.
9Ran ^ore ni^t nur, fonbern man felje auc^, toie biefe ^erren fic^ auf
bie laften ftiirjen: nid^t aid gette ed, inefelben ju fpielcn unb bem 3n=
ftrumente SBo^llaut ju entlorfen, fonbern aid tjanble ed fid^ urn bie
S3ernid)tung eined geinbed, urn ben 3to*ifampf cined I^ierb&nbigerd
mit einer toilben S3eftie. Dft genug freitidj erleben toix auc^ bei bets
Claoterfptcl ofyne €nbc.
artigen ®elegenl)eiten bie 5ffentlidje #inridjtung bed armcn Dpferd toon
(EoncertfMgel, ber fid) in folder Slrt bearbeiten laffen mufc. Sitter bcr
©pieter biefed @d)laged tfjeilte mir uott tyoljer SJefriebigung mit, ein be;
riifjmter ftritifer fytbe ityn ben „DtljeUo bed Klatoierftnetd" genannt. Site
id) itjn bo§ crftc 2Rot IjSrte unb cin fdj5ned, ber ffiantilene unb etnem
feetenDotten SJortrage befonberd giinftiged Snftrument toie eine S)edbemona
^ unter feinen &(htben erbeben unb mit fdjritlem Slang fpringenber ©aiten
Derenben fat), bat id) itjn, ftd) in feinem eigenen Sntereffc bed citirten
SBorted jened geiftootten |mmoriften tieber nicfjt meljr ju ritljmen, bo
badfelbe bodj einen berffinglidjen 5)o^etftnn befifee!
Unfere mobemen Clatnerftneter fdjlagen bie laften nidjt mtty an,
fonbem fallen auf biefelben fjerab. ©ie liebfofen iljr emitted Snftru^
ment nidfjt, tote ber Sraber fein treued $ferb, fonbem bearbeiten ed mit
giiuften. ©ie binben unb ftngen U)re SRelobten nidjt, fonbem jerfjaden,
jerftedjen unb jerfeften fie. Unb bied Sltled unter ber 93efd)dnigung burd)
pomptyafte ?(}f)rafen, tote: „?tuf lonjietjen, auf ^ointtren, auf Jfraft*
enttoidelung fomtnt ed anl" Shut — ber blofcen ftraftenttoidelung.
barf fid) aud) ber ^ertute^ in ber S3ereiterbube riiljmen, unb tool nod)
mit ettoad meljr Sftec^t; unb toenn ed fid) urn bad Xanjen auf ben Xaften,
ober auf bent ©eile Ijanbelt, fo flftfct ntir intmer nod) bad lefctere metyr
{Reflect ein, toeit ba, too ein einjiger gretyltritt ben lob bringen !ann,
toenigftend grofce Saltbtiitigfeit, ©elbftbefjerrfdjung unb perfonlidjer SJtuty
t»raudgefe|t toerben mufc.
Die eigentlidje Unfitte unb 9Sertoitberung im 2lnfd)lag eined grojaen
Itjeiled unferer mobemen Ktaoierfpteler beftefjt, furj gefagt, barin, ba&
berfelbe tool nod) ©djlag, aber eben fein Stnfdjlag metyr tfi. 5Cted er-
Hftrt fid? l)5d)ft einfadj baraud, bafc aQe 99etoegung, atle Rraft, oiled
Spiel unb aHer Ion toeniger oon ben Singer tourjeln unb toon ben
®etenfen ber Singer audgeljt unb Urfprung nimmt, ate aud bem
$anbgelenfe fjerfommt. Sfcun ift jtoar bie ?tntoenbung bed $anbgelenfed
unfdjitfcbar bei Dctafcengangen, betadjirt anjufdjlagenben Slccorben unb
Slccorbenreiljen, fotoie bei Ierjen= unb @ed)ftengangen. ©elbft beim
feljr prononcirten unb ftarfen Staccato, befonberd toenn bie £anbe oiel
511 greifen ^aben, lann bie Stntoenbung bed ^anbgetenfed oon treff ticker
SBirfung fein. SSirb baffelbe jebodi) beim Heinen ober lei^ten Staccato,
toeldjed oiel feiner unb beticater burc^ bie ginger attein erjeugt toirb,
ober gar — eine 95arbarei, bie i^ f elbft erlebt ^abe — in SKomenten
angetoanbt, in benen ed fid^ barutn ^anbelt, auf bem Snftrumente ju
fingen, fo ijat man ed mit bem Untergange bed toirftic^en GKat)ierfpietd
ju tt|un, an beffen SteDe bann bad ffilatjierfc^Iagen tritt. 2Ber ed noc^
nic^t erlebt tjat, Knnte freitic^ fragen, toie ed benn tiber^aupt m5glic^
fei, ein Segato ober eine gebunbene unb getragene SKetobie unter 21ns
'toenbung bed $anbgelen!ed ju fpieten, o^ne biefelbe ju jerftiiden unb
\\S €mil Haumann in Dresden.
gerabe in ifjrer ©ebunbenfjeit aufjuljeben? #ierauf ift ju anttoorten,
baft aunddjft bent toerborbenen ©inn unb @efitt)( jener Spieler cine
jerftiicfte Santilene getftuoHer unb originetter toorfommt, ate cine
gefungene; fewer, baft fie eg &erfud)en, eine aflju nterflidje 3e*5
ftiicfelung ber SDtetobie burdj einen toeniger l)od} gcfiitjrten ®d)(ag beg
§anbgctenteg unb burd) aufgetjobeneg S(5ebat (fei eg im ©anjen, fei eg
ju jebem einjetnen Ion) einigermaften ju berberfen, fottrie enblid), baft
ben $erren ja gerabe Ijier bie fdjdnfte ©etegenljeit ju iljrem oben fdjon
errodljnten „$ointtren" einjelner ©tufen eineg berartig borgetragenen
©efangeg 'gegeben hurt). Seneg ^ointiren ift aber gerabe bag Slbfdjeu-
ixiftit, toad mix im Elabicrfpiet borgetemmen ift. 8ln bie ©telle ctner
tnatyren (Smpftnbung unb eineg tna^ren ©efitljte treten l)ier rein medjanifd)
erjeugte unb big jur SBibertoartigfeit gefteigerte SBirfungen. Der ginger
toirb Ijier jur bloften ^amnterfpifee beg ifjn ^erabfaflenlaffcnben $anb-
gelenfcg, urn ntit bent nacften, tjarten, ntetatltfc^en unb feelenlofen Slang
eineg roirflidjen fleinen ©tafydjammerg ben ju pointirenben %on (jer&or*
jufjeben, ober iljn ntit ber fdjneibenben ©i)drfe eineg gebermefferg aug
bent 3wfamnten^ahgc ber iibrigen SMobie fogjutrennen. Unb biefe $em
fur ba^ Dljr, eine fotdje ntuftfalifdje Stoljfjeit tuirb ung nidjt aflein tu>d>
afe mufilalifdjer Slugbrud, fonbem ate ber ©ipfrf begfefben, afe bie (£r?
rungenfdjaft eincr fortgefdjrittenen fait aufgetifd^t. @el)t ju ben Soto*
fuben unb ftaffern, toenn itjr ntit bergleidjen ttrirten tnottt, nidjt aber ju
SRenfdjen, bie nod), tote ber Didjter fagt: „bie ©intrant Ijolber lone
rityrt!"
Slur atfo erft, ttjenn bie gefdjitberten Slugtoiidtfe mobcrnen 9fafd)lagg
befeitigt unb bantit jugteidj bie gefamntte XedEjnil hrieber auf anbere
©runblagen geftetlt hrirb, bermag nad) nteiner Ueberjeugung bag Serrain
nriebergetoonnen ju toerben, auf toetc^ent ein funftlerifdjer SSortrag ber
GHabiercontpofitionen unfercr flafftfcfjen beutfdjen Xonbidjter itber^aupt
tndglid^ ift. — SKan uuterfdjeibet ntit Unredjt eine attHafftfdje unb cine
mobeme ledjnif unb jtoar in bent ©inne, ate toenn beibe abfolute ©e-
genfafce todren. 3)ag #5d)fte beg Slabierfpielg ift eine SSereinigung
ber SSorjiige beiber 9Retl)oben. 9lur SBenigen, felbft unter ben SDtufttem
bon gad), ift gorfelg trefflidje Shrift: ^So^ann ©ebaftian 99a(^S
Seben, ffiunft unb Sunfttoerfe" befannt. Siefelbe ent^dtt, tnag ^ier
fur ung Don ganj befonberer SSSic^tigfeit ift, eine genaue unb betaittirte
SBefdjreibung beg Slnfc^Iagg, ber ^altung ber ginger, fotoie ber ganjen
©jneltoeife beg getoaltigen 3Ranncg, ber burd) feine Slabiemjerte ber SBe=
griiuber beg ganjen ntobernen 5(5ianofortefpiete getoorben, ba ^eute noc^
ju einer Ijinreicfyenben Stugfit^rung berfetben bie tjddjfte SKeifterfc^aft er=
forberlic^ ift. ®ie Ueberlieferungen, auf toelc^e fic^ gorlel ftti^t, rii^ren
t^eilweife bon Sadjg eigenen ©5^nen, ben fetbft fo ^o^begabten lon^
fe^em ^^ilipp Sntanuel unb SBil^elm griebentann ^er, finb ba^er*
<£ laoterfptel ofyne €nbe.
toon gr5ftter Sebeutung. — (Sd f)eiftt in gorfetd 9Wittf)eiIungen untcr
Stnbcrcm: „9tad) bcr ©eb. Sadffdjen 9trtf bic $anb auf bent Slamer
ju fatten, njcrben bic fiinf ginger fo gebogen, baft bie ©pifcen berfelben
in cine gerabe Sinic fommcn, bic fobann auf bic in cincr gtadje ncben*
cinanber licgenben laften fo paffen, baft Icin cinjigcr ginger bci bor*
fommenben gotten erft na^cr tyerbeigejogen toerben muft, fonbern baft
jeber ilber bcr lafte, bie cr nieberbriiden foil, ifdjon fdjmebt." (Sd ttrirb
bann bargeman, baft permit fein gal ten unb SB erf en ber ginger auf bie
laften, fonbern toielmeljr ein, jcben 3ufatt audfd)lieftenbed Uebcrtragen
ifjrer Kraft auf bie ©latnatur toerbunben fei. Slid cine fcrnerc (Sigem
tfjiimtidtfeit bed ©pield bed SUtmeifterd toirb mitgetljeilt , baft er bic
ginger nidjt gerabe aufmartd toon ben Saften geljoben, fonbern biefelben,
burd) cin attmaljlidjed Suriidjieljen ijjrer ©^ifecn nad) bcr inncren glad)e
bcr £anb, toon bem toorberen X^cit bcr Xaften gleidjfam Ijabe abgleitcn
laffen; burd) biefed Stbgleiten fei erreid)t toorben, baft beim Uebejgange
Don einer laftc jur anbern bad SRaft toon Kraft unb 2)rud, lodged auf
ben crften Son gemirft, in grdftter ®efd)hnnbigfeit auf ben nadjften Ion
iibertragen toorben fei, fo baft nun bie beiben I5ne toeber Don cinanber
geriffen, nodj incinanber toncnb fatten flingen fdnnen. 9tttcd bied ju^
fantmen genommcn Ijabe enblidj nodi) ben iiberaud groftcn SSort^eit im
©efotge geljabt, baft jebe Serfdjtuenbung bon Kraft burd) unniifee 9ln;
ftrengung unb burdj 3^^ng in ben Setoegungen Dermieben toorben fei.
3)arum t)iitte aud) ©eb. 93acf) mit eincr fo fleinen SBetoegung ber ginger
gefpiett, baft man fie laum bemcrft Ijabe. „9?ur bie toorberen ©elenfe
ber ginger hmren in ffletoegung, bie $anb befjielt aud) bei ben fdjtuerften
©tetlen iljre gerunbetc gorm, bie ginger fjoben fid) nur toenig Don ben
laften auf, faft nid)t metyr aid bei Irifierbctoegungcrif unb toenn bcr
cine ju tf)un Ijatte, blieb ber anberc in feincr rutjigen 2agc. 9todj
tueniger na^men bic iibrigen Incite fcincd Kfirperd Slnt^cil an feincm
©pieten, urie cd bei SSielcn gefdjieljt, bercn £anb nid)t Ieid)t genug ge*
xofynt ift."
Dicfc 3lrt ju tyieten blieb nun in bcr #auptfad)e bic SKct^obc
atter Kort^Ijaen bed flaffifdjen ©latoierfpietd toon S3ad| bid auf gclij
SRcnbeldfoljn. $ie burdtficfytige Klarljeit, bic bic unbcbcutcnbfte gioritur
mit gletdjer fiicbe unb Stelicateffe be^anbett, aid fie bad Scbeutenbe Ijers
oorljebt unb an fcinen $fafe ftcttt, ber fauberc 9fafd)lag unb gefangrei#e
Ion, bie gafjigfeit, ben lonftoff fur bad ®el)Sr in toon cinanber fid)
fonbembc ©timmen ju gtiebem, bic burd) Ijoc^ftc Sgalitat fic^ aud*
jeic^nenben <)erlenben ^affagen — furj atle bic und bur(^ bic Irabition
iiberlicfertcn ober nod^ mit eigencm DIjr ucrnommencn Seiftungcn toon
2Reiftem bed ftaf fifteen ®tat)ierfpield, nrie SKojart, pummel, KIc^
menti, 2Rofdjeled, gietb, Sramer, Scrger, ?pic^el, gclij aRen^
bcldfo^n, ©d^ul^off, Slara ©djumann — finb me^r ober toenigcr
\20
€mtl XXaumann in Dresben.
ouf 93adjg uni^fetner ©otyue 9Rct^obc ate auf iljre 93afig jururfjufu^rcn.
2)ag §anbgelent fpielte untcr ben ®enannten big in bic neucrc 3«it
Ijinein cine nur untergeorbnetc {RoHe. pummel nnb 3Rofdf)eleg be=
bienten fief) begfelben fo gut ttrie iiber^aupt noel) nidjt, unb audf) 3Renbelg=
foljn tocmbte eg nur dufecrft mafcig, bic Schumann, filler unb
Jaubert, benen SRenbetefoIjn ate SSirtuofe Sorbilb gebtieben, ofjne jebc
Uebertreibung an unb ofyne bafj ettoag in i^rem ©piet ju feljlen fdjten.
6rft bie ^arifer ©dtjule unb afle biejenigen, bie im nid&tfranj5ftfd)en
9lu3tanb in ndljerer ober entfernterer Sejieljung ju ifjr ftanben, ba^er
93irtuofen tote ftalfbrenner, £l)alberg, ©t)opin, $enfelt, 2>teg=
fdjodt, SRubinftein unb toor attem bet $6nig beg mobernen ©fobter=
fpiete: Sranj Sifjt unb feine ©filler SBiiloto unb laufig entmiifeltcn
bag §anbgelen! ju ber 93ebeutung, bie eg tyeute im SJJianoforte&ortrag
erfangt tjat. 3)ie Sorsiige ber einen ©e$ute f^tieften aber bte SSorjiige
ber anberen md)t aug; audE} ffier ift bie Sereinigung beg Sntgegengefefcten
bag #8d)fte, unb baft bieg erreid&bar, ^at 2 if at, ber eigentlic^ fiber jeber
befonberen ©eljule fteljt, gWnjenb beipiefen. ffltte ©pielarten finb ifym
gleidj geredfjt unb toenn er mill, Ijat er fiir jebeg 3al)rf)unbert, jebe be-
fonbere SRiefytung unb ©attung, ja felbft fiir jeben SReifter feinen be-
fonberen Snfdjlag unb SBortrag. 9Rancf)eg t>on einer foldjen genialen
S)urc^geiftung beg ffita&ierfoiete ift fc^on auf feine ©djiiler ober ffinfels
fdf)iiter ubergegangen. lalente mie Hermann ©efjolj, Sgnaj 89riin,
jWarJi Srebg unb Wnberc jeigen, bafi fief) bie ganje ©emiffenfjaftigteit
unb $urd)fidjtigfeit beg ttaffifefjen Elatrierfpiete mit ben <5rrungenfdjaften
ber mobernen lec^nif auf bag ©df)dnfte toerfd&metjen taffen.
ffiigentfjumlid) ift eg, bafc gerabe eiue foldje 9SerfdE>meIjung beg
liid&tigften, maPaftere unb neuere $t\t geleiftet, aud) eine §altung ber
$>anb tyerborgerufen Ijat, bie einer SRittelftettung jmifdjen beiben ©df)ulen
entf priest- SBenn berfelben audf) bie ffla^'fd^e §altung nodj ate it>r
urfprihtgtid&eg SKobett ju ©runbe tiegt, fo erfefjeint bodf) bie $anb
nid^t me^r in gteidEjer SEBeife iufantmengejogen; namenttic^ Ijat bag
tjorbere gingergtieb eine freiere unb ba^er auc^ eine ehoag geftredftere
©tettung er^atten. S)a bagfelbe nun aber bod^ nod^ immer, tnte eg bie
SKet^obe 83adfjg tjorfc^reibt, beim ?tnfc^Iag ein toenig gegen bie iunere
§anbffd(^e jurtiefgejogen toirb unb aHe ftraft batjer fotool bei ber Canti^
lene toie bei bent flie&enben $affagenfpiel augfd^tieftlic^ t>on ben ^htger^
trmrjeln augge^t, fo entfte^t ein $anbprofit, bag in manner Sejie^ung
an ein SReiftertoerf ber bilbenben Sunft erinnert. Die SSereinigung
jener fc§5nen unb ungejtDungenen 2age ber gingerfpifeen iiber ben laften
mit ber Stoppelaufgabe, einerfeitg ben Ion in jener tegirten Sad^'fd^en
9trt ju erjeugen unb (bei einem Mofjen Slebeneinanber txm I5nen) twn
einer Xafte auf bie anbere gu iibertragen, anbererfeitg bie ^anb in fteter
^ereitfd^aft fiir eine plofeti^e 9lntoenbung beg ^anbgelenfeg ju erljatten,
Claoierfpiel ofjne €nbe. \2\
tft namtidj nur moglid), menn bcr 2lrm fo getyalten mirb, ate ob cr auf
bctn fogenannten #anbteiter (audi Guide-Mains, Chiroplast genannt) auf-
lage, fo baft bic ipanb toon itjrem fie an ben 9(rm anfd)lieftenben ©elente
mid mit eincr nur ganj fanften, faum merflid)en SBiegung Ijorijontat jur
©laoiatur ju ftetyen fommt, toad bei ber geftfyattung bed flafftfd>en Mti-
fd)lagd fur SRetobien unb Saufe jur golge tyat, baft an ben gingerttmrjeln
cine abermalige fanfte Heine Sinfenfung ftattfinbet, an toeldje fid) benn
mtd) ttneberum bie ginger mit einer gefattigen SBotbung, jmifdjen bem
crften ®liebe einerfeitd unb bem &meiten unb britten ©liebe anberfeitd,
anfdjtieften. ®ie auf btefe SBeife entfteljenben Umriffe erinnem aber tefc
fjaft an bie Sontoure ber ®eitenanfid)t ber £anbe ber Ijeitigen Sacilie
t>on Sarlo Soke unb ljabe id) biefelbe fid), namentlid) bei jungen 8Sirtuo=
finnen, fo jum Seifpiel bei grau toon ©jarabt), ate fie nod) SBit^el-
mine ftlaud mar, unb bei grau JRappolbi na^eju ju einer ganj un=
bettmftten &opie bed genannten liebtidjen SBilbed fteigern feljen. Sliest
alfo nur bie 3)idi)ter Ijaben 3)it>ination unb finb beredjtigf fid), tine bied
fdjon bei ben ?tlten gefdjal), vates b. I). SBeiffager ju nennen, aud) ein
talentootter SKakr bed 17. galjrljunbertd ljat, mie mir fefyen, bad mobeme
(Slaoierfjriet bed 19. gteidjfam antictyirt.
9?adj metier ©eite Ijin nun aud) bie Studbilbung bed Slabierfpieterd
§inftdi)tlid) feined 2lnfd)Iaged erfolge, in jebem gafle muft fo Diet oon ber
fiir alle 3etten muftergulttgen SBeife ©ebaftian 8ad)d, ben Xon auf bie
laften ju iibertragen, barin ertjalten bleiben, baft ber ©pieter bad SDtaft
ber angemenbeten ober 5urudgefyaftenen Sraft, bid ju nid)t mefyr ju befini-
renben ©raben, bid in bie teifefte Stnbeutung, bie jartefte Nuance tyinein,
t>50ig in f einer ©etoatt beljalt. 9Rid)td in feinem ©piel barf bem 8ufatt,
bem Ungefa^r — id) modjte faft fagen, ber fflrpertidjen SHdpofition ober
ber (Ermubung, meldje lefctere j. 83. einen ju ftarfen 3)rud bed Strmed
auf bie |>anb im ©efolge ljaben fann (eine ©efaljr, meldje bie ©adj'fdje
©ptelart odflig befeitigt), iiberlaffen bleiben. ®ie ginger miiffen fi^ aid
bie ju&ertaffigen SSermittler bed leifeften 3)ruded, ber befonberften, eigen^
artigften ©eru^rung ber lafte, unb &toar ebenfolnot in ben einfad^flen
ati in ben toernndelteften gaUen, ertoeifen. ?tuf biefe SBeife toirb ber
Sfafdjlag ein unfered SBiflend, in ben er t)50ig iiber^ unb aufge^t,
unb jugleit^ ein treued Sdjo ber leifeften SRegungen unfered gu^lend unb
6m|)pttbend, ber ginger aber bad mit eleftrif^er 83Ii$artigfeit photos
gr^irenbe Organ bed in unferer ©eele hriebertyiegelnben lonbilbed.
9lur auf biefem SBege finb toir, menu toir unferen $Iafc am ^Jiano
cingenommen, baoor bewa^rt, in ber ®pva$t ber I5ne getegentlic^ mc|t
ober toeniger ju fagen, aid und felbft im ®emiit^e tag, ba^er aud)
ba&or be^iitet, entmeber ju ubertreiben, ober ju gteid^gultig ju fpielen.
tRur biefe SKet^obe tfiftt enbtid) bie lafien ber KIat)iatur ju laften ber
©eele »erben unb fefct und in ben ©tanb, bad, mad ber SKaler ©djatten,
\22
€mtl Haumann in Dresbcu.
2id)t, $er&ortreten unb 3urit(ftreten ganjer ^artien, Slbtonung, Eolorit,
£>eflbimfet u. f. to. nennt, in unfer Jongemalbe &u bringen.
3)ag Sorftetjenbe burftc unfcrc Sefer unb Seferinncn batoon uberjeugt
fjaben, bafe mcine friitjere SBemerfung, ber fiinftterifdje 2lnfcf)lag fci bie
unumgangtidje Sorbebingung attc§ mufifatifcfien SSortrageg, nictjt ju Did
bel)auptete. SBag tjttft ung bag gliicftidjfte $)idE)tertoort, toenn eg nidjt in
ber ©timme beg SRebnerg, aug beffen &erjen eg Ijer&orbringen foil, cr-
greifenb nad)jittert unb toenn nicfjt bicfc ©timmc audj an unb fur ftd)
fdjmiegfam unb biegfam nadE) jeber ©eite f)tn ift, fo bafj fie ung cbcnfo
fefyr burd) etnfdjmeidfjetnben SBofyttaut ju bejaubern, ttrie buret} bic ®fatl)
ber 2eibenfd)aft obcr ben Conner cbcln 3owe3 ju erfefjiittern fcermag.
Unb bod) ift cine, in 83e&ug auf lonfarbe, Slccente, Saefuren,
2ltl)emt>ertt)ettung, ©afcglieberung, 83et)errfdf)ung ber SBoIubilttdt beg Organs,
miifjelofe 9tntyradE)e begfetben u. f. to. tabetlofc SRecitation nur bic materictte
Unterlage, auf toeldEjer bag Sefcte unb $fldf)fte ber 2)arftcflung eincS
SReiftertoerfeg: fein empfunbener, Derftanbnifetootter unb burdjgeifteter 95 or*
trag, mflgtid) toirb. 3n ber $oefie toertyalt eg fidf) atfo genau fo ljin=
ftdfjtlidfj ber 3)arfteflunggmittet toic in ber 2Rufif, in toetd)er, toie toir
toiffen, ber Slnfdfjlag gleidfjfaflg nidfjtg anbereg fein toitt unb foil, atg bic
Sorftufe ju einer toon atter materietten ©dEjtoere crldften SBiebergabe be£
2ongebidfjteg. ©c^en toir bafjer nunmc^r noct} mit ein paar SBorten ju
biefer aug bem 3nnercn gcborenen SBiebergabe eineg Sunfttoerfg, bic
ja audf) in ber Xonfunft 25 or trag genannt toirb, alg ju bem $unftc
itber, auf toeld^en atteg 93igf)erige nur tyinjiette.
SBag tourbe man ju einem ©dEjautyieler, 3)ectamator, ja fclbft nur
ju cinem Dilcttanten fagen, ber ein ©ebid)t Dor 3ul}&rera ju recitiren
unternatjme, ofyne beffen ©trojrfjenbau unb 2Jletrum genau ju fennen unb
gleidEifam ftrietenb ju beljerrfcfjen? Stan bitrfte fidjerlidE) feinen Stugbrud
ftarf genug finben, urn bie Slnma&ung eineg fold&en Unberufencn ju
geifectn, ber ofjnebieg bem gludEje ber 2adE)ertidf)feit toerfaHen tourbe. Sber
in mandfjen gotten gentigt ung bet foldjen ©elcgenfjeiten nidjt cinmal bie
genaue Senntnifc beg SBergbaueg unb atler feiner aBanblungen, SBarianten,
Sicen^en unb ©acfuren fciteng beg SSortragenben; toir tjerlangen t)on tym
uod^ me^r. ®g gibt befonberc ©attungggebidf)tc ober S)id^tunggartcn,
tote ettoa bag ©onett, bag ©^afcl, bic ©lojfe, bag SRunbtieb mit ftdf)
toieber^otenbem obcr ftcigernbcm SRefratn, bie SBaflabe, bic ©Icgie, bag
Solfgltcb etner fremben Station ober eineg befonberen ©tammcg, bci
benen toir t?om Slccitirenbcn ju attem Ucbrigen aud^ cine f^cctcEc ftcnnt^
nifc ber ganjen ©tittocife unb £erfunft berfclben, obcr ber cigenartigen
Socalit&t, an bie fie fid^ fnityfen, forbem; unb eg gibt toiebcrum SSerfe
(fo namenttici) bic ungereimtcn antifen Stamen, j. 85. ber ^ejamcter,
bie fapp^if^e unb bic alfaif^e Strophe, ober bic 3)ict}tungcn unfercr
bcutf^en aRinnc^ unb SKeiftcrfinger), bic toir t?om Sortragcnben mit urn
<£laoterfpiel ofyne €nbe.
123
fo gro&erer greiijeit fycrgefagt toerlcmgen, at£ fie nictjt mefyr bcr Xage£;
poefie angel)5rcn unb cr un3 eben barum buret} bic SRaibetat unb fjfrifd^c
feine£ SSortragS bariiber taufefjen foil, bafc fie bic ©utturblutfjen fcer;
gangener 3eiten finb.
Son alien foldjen SorauSfefcungen ift in ber lonfunft, unb jroar
natnenttict} in unferem mobernen Klamcrtjortrag, faum nocf) bic Sftcbc.
9tidE)t nur SHtettanten, fonbem aud) cine IjiibfdEje 2tnjaf)I toon ©tatner;
trirtuofen toeifc unb atjnt nicf)t3 Don bem mufifalifdfjen $ufbau bcr Sunft-
form, toon bcren ©tiebcrung nad) tyeroortretenben unb juriidtretenben
Xfjcitcn unb bem ganjen tfjematifdfjen, rfjtjttjmifdjen unb mobulatorifdEjen
Sufammenfjang unb ®cfugc bcr ^rdtubien, gugen, fanonifdjen ©afcc,
©onaten, StonboS, ©djerji, KapriccioS, ttaffifdEjen Sariattonen, gantafien,
5E)uo3, IrioS, DuatuorS, obcr ben formalen Sktfjaltniffen bcr audj in
jroei- obcr bierfyanbigen ElatoierarrangementS Dortjanbenen ©treidEiquartette,
$ammermufifen, Drdfjefterintrobuctionen, Dutoerturen unb ©infonien, bic
un3 jene gingerfjelben trofcbem mit bcr foutoerainen SRiene bcr Unfeljl;
forfeit Dorjutragen toagen, loeldfje aud) in bcr lonfunft ba3 befonbere
unb nidjt beneibenSloertlje Sennjci^cn bcr Unloiffenfyeit ift. SBir miiffen
im Sta^on bcr ©tatoiermufif unb il)re3 SBortragS unferc 9lnft>riidE)e itber=
fyaupt auf cin toeit geringereS SRafc, ate bag bci poetif d)en Sortragen
angcbcutctc Jjinunterfdjrauben. &ier ift man fdEjon letbltdE) jufrieben, toenn
nur iibertjaupt bic mufifatifdje ©timmung, ba3 Xtmpo einc3 XonfafceS
unb bic toefentlidfjften 3uge feineS im TOgemeincn ^erbortrctenben EfyarafterS
nid)t ganjlid) toergriffen toerben, man lobt bereitS, toenn bem ©pieter
jutoeitcn bcr ©inn unb 3ufamment>ang eine£ !jert>ortretenben, toenn
and) eigcntlicf) nid)t mi&ju&erfteljenben mufifalifdtjen ©ebanfenS auf;
gegangen ift, obcr toenn fict} itjm bcr ®eift befonber3 auSbrucfS;
roller Icemen, SKottoe unb tonenber 2lu3rufung3s unb gragejeidfjen er-
fdjloffen t)at.
2lbcr ift benn nidjt cine foldEje ©cniigfamfeit fdjon cin fdjtagenber
93ctoei3 bafiir, tt>ie toeit fidf) bic 2lnfarucf}e be8 £>5rer£ an ben ©pieler
im gelbe be3 Etatriert>ortrage£ rcbucirt fyaben? 3umat ba in ber, toon
ber Socatmufif Io3geldften gnftrumcntatmufif bic f unftform bic ©telle
einnimmt, tt>etd)e in bcr UmgangSfpracfje, ba^cr aud^ in bcr ©pradEje ber
^poepe, begriff tidier 3ufamment)ang, Sogif, fafeli^c ©liebcrung unb 216-
runbung, 3ntcr|)unftion unb SRectjtfdfpreibung einnc^men. 933cr nun biefc
elemcntarcn SSorbcbingungen ber lonf^rac^e toeber fennt, noi) in i^rer
ibectten unb formatcn 93cbeutung §u untcrfc^eiben unb ju tourbigen tocife,
ber fann in bie Sage fommen, in cinem SDiuftfftud, bcim Sortrage ciner
SRetobie, ciner ?Periobc ober eine$ ganjen 9lbf(^nitte§, boflig fatfe^c
©aefurcn, Stccentc unb ©afeeint^citungen cintretcn ju laffen. S)af|er
gleid^cn mand^e unferer ctabierfjnelcnben ®ilcttantcn jenen ^inbem, bie
eine, in golge mangelnbcr Sfaterpunftion ju einem gluc^c toerbenbe
€mil tlaumann in Dresben.
Siebegerflarung, etioa im ©tile bcr narfjftefjenben, in bag Sllbum iljrer
©cfamttcn fc^rciben:
KM SBdfe'nmnfd)' id) $ir
ftern Dom $alfe bleibe mir
Meg Ungtiid treffe $id)
Centals foinm imb liebe mid)!
9?ur baft bet ben ffinbern abfidjttidjer ©d)erj ifl, toag am ©laDiere
bona fide gefcfyieljt. ©o l)5rte id) einmat einen SMlettanten, beffen Xren-
nung beg 3ufammengel)5rigen mid) lebljaft an ben SBratenbarben eineS
fleinen ©tabtd)eng erinnerte, ber ben ©djtufj ber Styifobe Don ber geuergs
brunft aug ©$iHerg ©lode ttrie fotgt recitirte:
2Bad)ft fie (bte 2flamme ncimftdj) in beg £immelg JpiHjen!
SRiefengrofj, ljoffnungglog meidjt ber Sttenfdj ber GJfltterftarfe.
3)odj ©pafc bei ©eite — eg fymbelt fid) bei unferem moberoen StaDier-
Dortrag meift nidjt aflein urn foldje Serftofte gegen bag Sinjelne unb
SBefonbere, fonbero Dielmeljr aim eine ©nttoiirbigung eineg ^unfttoerfeg
im ©anjeh unb Stttgemeinen. (j£tne folc^c tritt ein, toenn ber ©pieler
bag 9tebenfad)lid)e, nur jur 9lugfd)mudung ©efjflrenbe (bag, toag in ber
SDtateret lebigticf) alg 2lugfutlung, SSerbramung, ober SJerjierung gilt,
j. 93. ber gefcfymacfooO gemufterte ©aum eineg ©etoanbeg, ober bie SRofe
im ^aare eineg fd)5nen 9Jlabd)eng) in ubertriebener SBeife ^errjor^ebt,
bag SBefentlidje, ben ®ern beg mufifatifdjen ©ebanfeng (£ntljaltenbe ba;
gegen nur obentyin ftrcift, ober toenn ber SBortragenbe, burd) ben SRangel
ciner jeben 8eriidftd)tigung ber formal en 9lbfdjnitte eineg fiinftlerifdjen
Drganigmug, ung beffen ganjen 3u?antmen^ang unDerftdnblid) toerben
Idftt, roie bieg gefd)ieljt, menu iiber bie 2f)emata unb bie i^nen ent=
nommenen SDfotiDe leidft, Derftdnbntfjlog unb gleidjgiittig Ijintoeggeeilr
nrirb, ^affagen unb Sdufe bagegen, bie nur giiHungen, 2trabegfen ober
Drnamente fein fatten, jur £>auj>tfadje gematf)t toerben, n?cil ber befdjrdnfte
8lugfitf)renbe barin bag, toag attein feinen Sljrgeij reijt: feine leibige
gingerfertigfeit probucircn unb an ben SKann bringen faun.
$abe icf) bodj nid)t nur bei 2>ilettantcn unb S)ilettantinnen, fonbem
felbft bei Sirtuofen unb Sirtuof innen biefeg ©djlageg bag Unglaubltdje
erlebtl ©ebaftian 33ad)g ^ralubien trugen fie Dor, alg feien eg (Stiiben
ber Don i^nen getoofjnten SIrt, ober ^roben aug einer ©djute ber ®e^
laufigfeit; beg ©rofcmeifterg gugen beljanbetten fie in einer SSeife, baft
man fagen burfte: tjier fjat ber ©pieler nid)tg gebadjt, Ijier brau^t bcr
$orer nict|tg ju benfen! — 3)ie Don ^erjenggtut^ erfiiHten unb Don
CSmpfinbung iiberquetlenben ©onaten unb Sammermujtfen unferer grofeen
lonbic^ter &at)bn, SKo^art unb SSeet^oDen entftettten fie burcf) falfc^c
lem^i, SSergreifuug beg Ktjarafterg ober — noc^ f djtimmer — burc^
falf(^e ©entimentalitdt unb bag bamit Derbunbene fyiiufige unb tt)iH!urIic^e
Slitenuto, unb Derbunfelten if)ren 3ufammen^ang f|ierburc^ big $u cinem
Claoterfptel ofyne €nbe. \25
@rabe, bag 3ean Sacqueg Stouffeau aud) im neunjef)nten 3af>r;
tyunbert ju f einer Srage abermate berecfjtigt getoefen ware: Que me veux
tu, Sonate? —
3cfy ^abc bic C-moll-guflc aug bent crften Xfjeil t>on 93a^ roof)Is
temperirtem StaDier Don foldjen ^atronen unb 3)ihndf)en ate cin tuftig
tanjclnbeg Spijjicato Ijerunterfoieten t)5ren (unb jtoar Don bcr crften big
jur tefeten Stotc), im Uebrigen abcr ofyte atlcn S3egriff unb ©inn. ?ln=
bere ttrieberum, bcrcn muftfalifcfyen Sciftungen idf) bci^uwo^nen Derurtfjeilt
toar, meinten, eg fei im fJugenDortrage atteg ju gorbcmbc gelciftet, toenn
nur bic ©timmeneintritte rcd^t fdjarf fjerDorgeljoben ttriirben, toag nun
abermate in fo iibcrtriebencr SEBeifc gefcf>alj, bag ben #5rer bie ©mpfinbnng
uberfam, ber ©pieter padt i§n beim Sopfe unb ftoge iljn mit ber SRafe
gegen jeben $feiler beg in Ifinen aufgefiitjrten SBunberbaueg, bomit cr
red)t berb an eigener §aut erf afire, toie getoiffenl)aft bcr SSortragenbe
bic am ftunfttoerf dugerlid) crfennbaren SttbfdEjnitte beriicffirf)tige. Der*
artig mefferfd&arf pointirte teinfftfce ber ©timmen Derlefcen aber nidjt
nur bie ibcate Sinljeit eineg folc^en Xongebidjteg, fonbern audj beffen
ftunftform, bic fie auf bag (Sraufamfte jerljaden unb jerfdfinetben. 93on
bem ©iemente bcr ©teigerung, loeldjeg burdj iebe ftaffifdje guge gctft unb
Don bem Umftanbe, bag aud) bie (Sintritte ber ©timmen mitunter rccfjt
gctragen (batyer aud> mit fingenbem unb gebunbenem Slnfdjlag) erfolgen
fottcn, ia jutoeiten fetbft in fdjudjtemer, beflommener SBeife, ober loie Don
9tu§rung burdjbebt ttrieber aufjutreten Ijaben, baljcr bet folder ®clegen-
Ijeit aucf) fo oorgetragen fcin tootten, ate blide ein fd)8neg frommeg Sluge
mit bem 9htSbrucf fjeiliger Ueberjeugung ju ben SBoIfen empor, tyaben
©piclcr ber gefrfjilbertcn 3lrt natiirtid) fcine <9lf)nung.
Sletjntidfje Sntftettungen beg ©eifteg unb ©tileg eincr ganjen ftunft^
gattung erlebte id) im ©cbicte ber ©on ate. Den erften ©a$ Don
SBeetfpDeng 2RonbfdE}einfonate, ber einer mufifatifd)en $arapf)rafirung Don
Ooet^eg „5utteft toieber SBufd) unb Xljat" glei<f)t, fjortc id£) Don bem
mufifalifdjen Soloen eineg ariftofratifdjen ©along ate Tempo di marcia
mit marfdfjartiger 2Rartirung ber bie SMobie im Digcante einleitenben
punftirten Std^tel unb nactjfolgenben ©e^gje^ntel fpielen; bag leibenfdjaffc
lidfje ginale bagegen trug- ber ©cfctcrtc ate ein SBraDourftiicf in gebrodEjenen
Stccorbpaffagen mit untermif^ten Uebungen fiir bag |)anbge(enf Dor, toag
eigenttidj nur gan§ naturtid^ war, ba Seet^oDeng Cis-moll-@onate in bem
^rogramm iencg ©laDier^elben jtoifc^en einer $iece, genannt Pluie des
perles unb einer gtiibe fiir bie linfe £anb eingef^ad^telt ftanb.
SWit ber HJiittljetfung folder unb d^nlid^er (Srfafyrungen fonnte idf)
noe^ lange fortfaljren; aber genug beg graufamen ©piete — ^ier in
cincm bop^elten ©inne gemeint — - fo»ie bcr ©rinnerungen an fol<^c
Stdglic^fciten. 5d£) toiff ^ier nur noc^ f)injufugen, bag eg in 3)ilettanten=
frcifen in mandien befonberen gdtlch fdjon fo njeit gefommen ift, bag
\26
(Emtl tlaumann in Dresben.
unter jtoet $erfoncn ba3 nidE}t clatuerfyielenbe 3nbibibuum bcr mufif a =
lifd&ere 2JienfdE} ju fcin pflegt; namenttid) toenn berfelbe tyoren geternt
t>at ober buret} angebornen unfcerborbenen ©inn mel)r baju gebrdngt toorben
ift, fid) am 3«^rcn ju erfreuen, at3 fid^ fclbcr ju probuciren. 3m SltU
gemcinen iebodj trcibt jeber 3)tfettant bic SItufif nur au£ bem ®runbe,
urn Slnberen fcine primiti&en Seiftungen aufjunfltljigen, unbefiimmert, ob cr
bamit ben gricben fciner SBanb- unb $au$nadf)baro t>ernidf)tet, $u toeldjem
e£ bod) offenbar aucf) geljflrt, baft SRiemanb genfltfjigt fei, burdf) bic Singer-
ilbungen ober burd) ein unb benfelben, 2Jtonate tang fid) toteberfjolenben
unb ftetS in gleidfjer SBeife maltraitirten (BEjopin'fdjen SBatjer, mit bem
ein neben, iiber ober unter ifjm toofynenbeS ©dnidijen tdglidf) ftunbentang
ifyre 3^it fcottig gebanfentoS auSfiittt, gequdlt ju toerben. $)afc bergleidjen
aber ba$ ganj ®eto5f)ntidf)e in unferem biirgertid)en Seben getoorben
unb jugleid) ba3 Unau3toeid)tid)e, bem man fidj ebenfo gebulbig ju ffigen
Ijat, tote anberen SebenSpIagen, briicft fc^on fur fid^ attein bie ganje SKifdre
unfereS fyeutigen 2Ruftftreiben3 au3. 2Bag fonnte unfere $>au3mufif fein
(man ben!e nur an bie ©<f)dfce, bie toir in unferen ftaffifdfjeu ©onaten,
®uo$, XrioS, OuatuorS u. f. to. befifcen) unb toaS ift au3 berfelben ge=
toorbenl Unb toie toertjdlt e£ fidE) mit ber SBecfung be£ mufitatifdjeu
©inn£, idE) meine mit ber ^eranbtlbung eineS hrirllidjen mufifalifdjen
SmpftnbenS unb SerftefyenS ber -JJteiftertoerfe unferer flaffifdjen Ion-
bidjtung beim ©filter, auf bie bod) jeber Setyrer, ber nidjt ein blo&er
#anbtoerfer ift, fein ganjeS 2lugenmerf ju ridEjten fydtte, fobalb bie erften
tedjuifdfjen ©runblagen gelegt finb?l Slnftatt baft man unferer Sugenb,
bie man toortdufig faft nur jum SBorfpiclcn Don ein paar ©adjeldjen
breffirt, ben toeiten unenbltdfjeu §orijont ber Xonfunft erfdfjliefet, toa£ nur
gefdfjeljen f5nnte, toenn man fie &u einem &erftdnbni&&ot(en $5ren Ijeram
bitbete unb erjoge (unb toatjrtidE) ba3 ^oren ift eine grofee Sunft, in ber
e3 mit ein toenig SRaturanlage aDein nidjt getfyan ift, fonbern bie eben-
fatte erlernt fein toitl), lafet man S?inber unb junge Seute bie SBelt mit
bem geifttflbtenbften Stingflang erfiillen, mit einem ^limpern, ba3 felbft
auf iljren ©^arafter Derberbtid^ eintoirft, ba e3 ni^ al§ ein befd)fif=
tigter unb auf bie SBefriebigung Keintic^fter ^erfonlid^er Sitetfeit geric^'
teter SRii&iggang ift r unb — toa3 ba« ©c^timmfte — ben toaljren
©inn fiir SKuf it unb beren ^o^e Sbealitat in i^nen unb felbft bei ityren
unfreitoitligeit 3uf)orern abtbbtet. S5en lefeteren fann man e3, bei ber
i^nen in biefer SBeife tdglici) jugefil^rten mufifalifdjen SRa^rung, fd^Iiefetid^
nic^t me^r fceriibeln, toenn ber 6ine ober ber 2lnbere barunter in ben
©to&feufeer au^bric^t: bafe i^m unter alien ©eraafdtjen bie SKufif ba^
unleiblid)fte fei! — !enne einen Drt, in toetd^em fid^, in golge ber
gefc^itberten mufitalifc^en 3uftanbe, ein „8tntimufif herein" biftete, ber,
gerabe toeit feine SJlitglieber au^ tauter edfjten SRufiffreunben beftanben,
unferem ganjen I)eutigen mufifatifc^en ©alon- unb ©efettfdjaftstreiben
<£laoierfptel ofjne €nbe.
\27
principled aug bent SBege ging. SBaljrticf} — eg mufj nidjt fo iibel fein,
(Sintabungen ju getoiffen HJiattneen unb ©oireen mit ben einfadEjen SBorten
refiifiren ju biirfen: „@ntfdjulbigen ®ie, idf) gef)5re jum 2lntimufift>erein!"
$)ie Xonfunft fonnte, bet ber ungtaublidjen S8otfgtl)umIicf}feit, bic fie
in bcr ©egenloart getoann, eineg ber ttricfjtigften SSotfgbilbunggmittet fein
unb fie ift, ftatt beffen, eineg ber probateften HJiittet jur SBerbreitung
gelangtoeitter 93lafirtf)eit unb ©ebanfentofigfeit getoorben, — ja nod)
metjr — bie SBirfungen unfereg SKufiftreibeng auf bag ©emiitl) ljaben
ficfl in eine ffarifatur jener fjoljen unb ebeln SBirfungen fcertoanbeft,
bie ung SRafaet in fo ergreifenber SBeife in ben ©ruppen feineg ©a^
ctftenbitbeg bargeftettt f)at. S)ie feufdje reine £immelgtod)ter, Musica
genannt, ift, menu man fie nad) bem Slntlife beurttjeiten toft, bag fie in
unferen ©along unb ^enfionaten jur ©djau trdgt, eine Koquette getoorben,
toeldjer dufcerlidjer glitter unb ?j$tunber iiber jeben inneren ©e^alt gef)t
unb bie fogar mit bem ©emeinen buljtt. S5en grofeten Jtjeit ber ©d)utb
tjier&on trdgt aber eben jene attgemeine Etatuerttmtl), bie fid) gerabe ber
fogenannten befferen ©efettfdjaftgflaffen bemdefytigt I)at unb jebe unferer
©roBftabtc ju einem 5pianopoKg, jebe unferer, 9Riet!)gfafernen gleid)enben
SBofjnungen jum ©ctyauptafc eineg, t>om frii^en 3Rorgen big tief in bie
beteibigte 3la6)t tjinein nid)t ru^enbtn Kfjarifcari 2)ufcenber Don ineinanber
tonenber ©latriere madjt. 3)ie ^olijei fann bicfem Ireiben gegeniiber
crft nadf) 2RitternadE)t einfefpreiten. SSiel bagegen fdnnte ber beutfd)e SReidEjg;
tag burdE) bie S3ettrifligung einer Kta&ierfteuer tljun, toon feelc^er nur
SDtuftfer Don gacf) augjufdjfteften todren. S)a bie parole ber geit bie 93e=
fteuerung beg Sujug ift, ben gerabe bag attgemeine Slabierbeburfnift toon
f einer Ijoljtften unb unfittticfiften ©cite reprdfentirt, fo empfeljlen loir bie
genannte ©teuer unferem groften SReidjgfanalcr gur geneigten freunblidEjen
93eriidfid)tigung.
Perlag von (Seorg SttlFe in Serlin, NW., 32. Couifcnjkafje.
Rebigirt unter Dcrantrportlidjfeit bes Derlegers.
X>rad von 23. <S. (Lettbner in Ceipitg.
Unbrredjtigter Hadjbrticf aus bem 3nt}alt biefer ^ettfdjrift untcrfagt. Ueberfefcungsredjt Dorbefjaltetu
ftorb unb 8ub. VI, 16. 9
Perlag von QeovQ |>ftCfte in Berlin.
ITIit bem
\. 3U^ beginnt ein neues ilbonnement
auf
Die (Segenroart
IDodjenfdjrift
ffcc
itteratur, £unft unb offentltdjes Heben.
fjerausgegebett
son
(Erfdjemt jeben Sonnabenb im Umfang turn 2 23ogen gr. (Quart, auf gutem
papier, gefdjnitten unb gefyeftet.
preis pr. Quarto! 4 7X1. 50 pf., pr. 3ol?rg. 18 ZTC.
Beftellungen n?er6en in fammtlidjen Budjfyan&lungen unb Poft*
anftalten entgegengenommen.
m
ie „$*gerox>arf" if* die t>er&reif«?tflte poCtttfc§ * Ctf eratifc§e
1 3Pod?enfd?rtft &<*5 6euffd?m "gtetdfcs, fie 3aljlt 3U ifjren XXtxU
arbeitem bie bebeutenbfien g>d?rtftflte(Ter unb Qetefyvten. Von
2°k* 3n 3a*tr fa* M *kx ^ef erf rets erroeitert. Die „g>ege*m>art" ijt bas
erflte 6eutf<#e ^Catt, ipelajes porneftmlidj ben eroflten geifltgen §nter»
eflfm ber ZTation genribmet, ofjne bie ma'djtige ^Seifjiilfe ber ZlovtUt unb 3Hus
^ration in bie toeitexen ^vexfe be* qebxtbeien 7gu£>Zi&um& gebrungen
ifl. 3m nnmittelbaren unb jieten §ufamment{ange mit alien undjtigen Dors
gtingen auf bent (Sebiete bes Sffentlidjen unb geijttgen £ebens, beftrebt fie fid;
in ZDafjrfjeit bas 5U fetn, was ifyr (Eitel fagt: ein gufer uxxb ecfytev Jlus*
6rucft 6ej5 gkQaffetts in 6er g>egm?x>ari.
Drurf lion 8. ®. <teulmer in £cin»3»
2lu9uft 1878.
3 n I? a 1 t
C. 2ln3engruber in tDien.
Das Sunbfinb £9
3- Hofentfjal in €rlangen.
€mil bu EoissHevmonb. (Em £ebensbilb J53
paul ^eyfe in ZHiincfyen.
Heifebrtefc.
2ln IPtllielm J}erfc in Berlin J67
2ln bie 3U ^aufe (Sebltebenen \72
^riebrid? Hatjel in ZHiincfyen.
Die Beurtlietlung ber Ddlfer \77
p. W. ^ord^ljammer in Kiel*
Das golbene Dlieg unb bie 2Irgouauten 20\
^ran3 Kflhl in Konigsberg.
(Efjeobor von Sd?8n 2J3
Carl ©jierfcfy in Ceip3ig.
IHebicinifdje (Sloffen 3um fjamlet 23J
f}ier3u bas Portrat (Emit bu 3Sots ;Keymonb's, naa? ber (Drigjna^eidjmmg,
Don 21 bo If IHen3e( in pljotograriire attsgefitt^rt burdj (Soupil '& Co.
in paris.
XTorb un& Sab" erfd?eint am 2Infang jebe* fflonats in $efteit von 8—(0 Bogen
— — preis pro Quarto! 5 OTarf. — —
2I0e Stadia nManaen'nnb pofianftalttn nel?mttt SeprQungen an.
Zlotb \mb Sub.
ine b e u t f d} e fflonatsfdjrift
Jjerausgegeben
con
fattl IDn&au-
VL Banb. — Sluguj* J878. — \7. tyft.
(OTit einem portrdt in pt]Otograt>urc: €. bu i3ois;Hcymont>.)
2?erlag port <5eorg Stilfe.
NW. 32. £outfenflra§e.
1
Das Sfinbftnb.
<£r3dfylung
von
%. 5Cn5en0ru6cr*
— VDitn. —
fun ja," fagte bcr ^edjteitner, inbcm urn feine SRunbttmtfel
cin Sddjeln fpielte, bag fogleid^ toiebcr toerflog. „9tun ja, bag
tuar bamalg cine bcrjmiefcltc ©efdjidjt' mit meiner Bran
flutter, ®ott f)ab' fie felig. SBilTg metnen, gan$ einc un*
befd)affene ©ef<f)id)t\ ffior fiitif unb breifcig Safjren tuar'g, id) l)aV ba=
mati meine breifeig gejdfjtt, mcine -SKutter t)at i^rc fiinf unb tuergig uott
auf bem Mfiden gefjabt. 3a, ba mogt 3I)r 2lugen madjen tuie $f)r tootlt,
toag fjilffg? Eg Icbt Seiner mcfjr, ber eg begeugen fonnt\ aber bamal,
in ber 3*tt, toon ber id) reb', ba fonnf id)'g ©ud) an ben gingern f)er;
jdfjlen bie 2eut\ bie fid) befonnen fyaben, tuie friil) meine 3Rutter mann-
bar war unb bie fid? nid)t genug fjaben tuunbern fonnen, wie tang fie
fid) itjr Sitter fyat gar nidjt annterfen laffen. 3d) tuar tijr (Srfter, bag
frfjtuddjfte unter triettetdjt eiuem 2)ufcenb ©cfdjtuiftcr unb f)ab' fie bod) atte
iiberlebt; ba& id) alfo red)t angib, Dor fiinf unb breifcig 3at)ren tuar id)
ber einjig Uebrige, ber SBater tuar &or brei 3<*f)i*n fcerftorben getucft
unb fo tjaben tutr, id) unb meine 2Rutter, aflein auf unferm ©iitet gefjauft.
©3 ift ung red)tfd)affen uorludrtg gegangen mit ber Strbcit, na, id) tuar
tioHfraftig unb icf) lug' nit, Diet fjat nit gefeljlt, leidjt gar nur, urn wag
atttoeit ein SBeib in ber Arbeit gegen em' SKann juriidftefjen mufj, fo
tjdtt1 fie mir'g gteid) gettjan. 3tuf einmal a6er anbert ftdj'g in bcr Sad)',
fic tuirb laffig unb ift auf bie £e£t gang unbetjotfen. 3la, fie war a(g
cine efjrfame SBittib auggerufen, nad)5itrcben f)at mcr fid) if)r nid)tg ge;
traut, tjdtt'g aud) Seiner unb fiehtem rattjen mogen! »2)ie ^ec^Ieitneriit
ift fied),« fjaben bie Sent' gefagt, »bie f)at fd)icr bie 88ajferfuc$t.« S)abei
iffg eiite gute 2BeiP gebtieben.
10*
\30
£. 2Itt3engrubcr in IDten.
@o i)aV id) bamat atle Strbeit auf tnir gefjabt unb toic idf) an einem
Slbenb1 tjunbmiib1 nati) £aug treff1, toag finb1 id)? 3d) Ijab1 gemeint,
ii) bxatyV toor S3erttmnbern 2JlouI unb Slugen gar nimmer ju. $>ie ©tuben
t»otC SBeibgteut1 aug bcr 9taci)barfdf)aft, bic ^cbmuttcr babei, bafi idf)1^
turj maci)1, *3 ift auf einmal bie altc Sinbgttodfci)1, bie lang toergcffen tm
©dfjrein gclcgen l)at, timber in ©ebraudf) fommen.
2Bie ?g nadfjtig toorben ift, ljaben fidf) bic 83efud)toeiber einc urn
bic anbcrc toerloren, 'lefct ftef)* id) attcin, ftef)1 bcim genfter unb trommel *
an bie ©djeiben unb je longer id) fo ftelj1 unb trommel1, je toerlegener toerb*
id) unb bag fjdtt1 bod) id), tr»ci§ ©ott, nit Slot!) geljabt, fo tel)r1 idf) mid)
mit brennrottjem ©efidjt urn unb fag1: ©otlfft S5id) bod) fdjamen, SKutter.
(Seamen fotlfft £id)! S)a fie nidjtg reb't unb nid)t3 beuft, ljab1 id) meinc
*JJfcife genommen unb bin gegangen, toollt1 natiirtid) in ber SBodjenftuben
fein1 Dualm toerurfadtjen.
SBie idf) mit meiner ^feife 511 ©nb1 ttmr, ba fjab1 idf) mir1^ uber^
legt geljabt. 2)ag SReben fjintennad), bag frucijft rein gar nidtjtg. ©0
ttjar'3 aud) ganj ungeljorig unb bumm, ba& id) meine eigene SDiutter toer;
maljnt fjab1. 2Bag modtjfg and) ljelfen, toenn fie auf bag t>erfct)rtc SBefcn
einging1 unb toon mir eine 2cf)r annatjm1? $>at fie fid) toorberfyer nit ge^
fd^drnt, ju toag todr1 bag jefct Ijintennadj gut? 3)af$ fie fid) frdnft?
2)atoon tjat bod) allc SSelt uidtjtg. 2luc^ Ijab1 id) midf) befonuen, bafc
mir 2We entgegen gefdfjriecn tjaben: Stein1 SKutter Ijat ein Sinb ^riegt!
Seing l)at gefagt: 2)u Ijaft ein Sriiberl 'friegtl ©egen bcr Seut1 SRebcn
tear id) alt1 mcin Sebtag toiberljaarig; tnag benfen fie fid) benn, bie mit
tfjren langcn Bopfcn unb bem furjen SSerftanb? 25enf en'g letdfjt, id) tuerb1
bem unfdjulbigen SBurm n>ag nadjtragen? Unb ttenu id) gteidj fein
£>erj t)dtt\ fo no juft nit, fd)on ber £cut1 toegen, mcin SBruber iffg!
$6ttfafermenter og, bie iljr bie Sinber toon einer SRuttcr augeinanber
fdjeiben modjfg!
3d) bin fc^on ftill nad^ bcr ©tube 'gangen, ttju1 bie 2t)ur1 auf,
ba ftnb1^ alle ^mei gelegcn unb tjaben gcfd^lafen, ba tjab1 id^ mitf) neben
ba^ 83ett f)ingefc^t unb 511 bem Sleinen ^inunter tjcbeugt, erft fauber mir
mit bem Slermel bag SKaul abgemif^t unb ifym jum 3^i(^cn, ba§ id) i^m
gut Srcunb fcin hritl, einen ©d^ma^ 'gcben; ba fjab1 id^ abcr 'g JRid^tige
'troffen ge^abt, paar Sag1 fd^on bin \6) unrafirt 'gangen, bag mufi i^n tool
gefra^t l)aben nrie mit cinem ^5ferbeftriegel unb er l)at ein ©ejetter angcl)obeu,
ttoie nit gefdf)eibt. ^Bariiber ift bie SKutter audf) toad) 'luorbcn, bodf) iuie fie
mid) fo neben fifcen fic^t, ttoen^H fie fidf) ent1 ^iniiber, auf bie anbere ©eitc.
Unb toie bag fjalt bod) fd^on gar cigen ift, toieber tocrb1 id) ganj
toerlcgen. JRdufpcr1 cine SSeil1 unb fag: Slcib1 nur in S)eincr Sag1, bag
£>in; unb Umttjcnben fbnnt1 S)ir ettoa fc^aben. Unb — nrie id^ mein1 —
fo ift gefdjefjen, gcfc^cl)cn. Unb ftarf ift nit S^ber. Unb nit 91Hc friegt'g
©lcid)e t)crum, aber Scbcr t)at feinc ©d)n)dd^c!
Das Siinbfinb. \5\
Sa bretjt fie fid) langfom fjalb iiber unb \ti)aut midf) fo oon bet ©eit1
an*, fein1 Sirn mit fiebjeljn, bic fcfjon toeifc, aber eg nit augfagt, ob
auf ifjrer hammer bic gcnfterrieget l)art obcr letdjt fdjlieften, fonn fo
gottoerbotene 2lugen madjen, wic jur felben ©tunb' mem1 SKuttcr. 3n
bcm ©tiid finb fie Sing bie SBeibgleut, ob alt ober jung.
SSie bie SKutter toieber aufccr 93ctt toar, ba Ijaben ttrir ung toie
^oref)' in bie Strbeit getljeilt, fie ift ung fogar urn ein ©titd Dergniig-
ticker toorfommen, benn nun Ijat'g audf) fiir ben Hem1 Seopolb gegolten.
3n ber ©org* urn iljn finb ttrir ©ing getoefen unb ftnb'g geblieben big 5ur
3eit, too er fdfjon jiemlid) aufg'fdjoffen toax, fo bafe man fjat fragen
founen, toaZ mit iljm toerben foil; ba finb toix, id) unb bie SRutter, urn
eing getoorben unb geblieben, gleicf) toom erften SDlal f too fie eg SRebe ge;
f)abt $at.
©ineg Slbenbg ift'g getoefen, ber SBruber fjat fid) mit gletdfjattrigeu
93iirfd)d)en im Drt tjerumgetrteben, id) fa{$ auf ber Sanf oor'm £aug
unb raudfjte meine ^Jfeife unb bie 2llte oertjiett fid) eine geringe SBeir iiber
in ber ©tube, bann fam fie fjeraug, fefete fid) nebeu mid), fdltete eine
3eitlang ifjre ©djiirje augeiuanber unb tok if>r bie glatt genug mag ge?
fdjienen fjaben, Ijebt fie an, aber ofjne baft fie babei mit einem Sluge
auffdjaut: »9Jlein lieber 9Rartin,« fagte fie, »Su bift ein guter 93urfdj,
id) roeifj bag unb alien Seuten giltft Su bafiir, Su l)aft redjtfdjaffen
bag Seine fiir ben Seopolb getljan, — oergeft' Sir'g (Sott, — aber eg
tear* fiinbfjaft, menu man Sid) fiir Seine ©uttjeit ju ©dfjaben fommeu
liefi unb ein l)immclfcf)reienb Unrest, menu Sir bag Seine foHt* burd) ben
93uben gefdjmalert toerben.«
Ser ©iugang l)at mir gleid) nid)t gefallen, eg madf)t mid) immer
fhifcig, wenn ©iner mit einer SReb1 angeftodfjen fommt,.bie meinen SSor^
tfiett t)oran fteUt, eg ift bag fonft ntd)t 93raud) in ber 2Belt unb 3eber
fefct ben eigenen ju oberft. 2Reift foil ©inem bamit ber SBafferfiibel
gettriefen toerben, in bem eine $>anb bie anbere toafdjt, ober eg gilt mir
cin ©djeuleber toor'g Mug' ju tljun, ba§ id) nicf)t felj1, toag ©iner fnapp
webenan ^anbtirt. 3i) fas' alfo nifyte, t^u1 einen ridfjtigen Bug au§
ber ^feife unb ljiilT mid^ in einen Stebel toie eine 93ergff)i^, bie feiuen
guten Sag ju fet)en toermeint.
Sag toar aber ungefunbeg SBetter fiir meine 2tlte, fie fing p ^uften
an. »Sa§ Su aber ben raudjen magft'?« fagte fie. »9hnt, eg toerben
beffere Sage fommen, too Su Sir audE) befferu faufen fannft, toenn toix
crft ben 5Polbel nimmer iiber ber ©djiiffet liegen l)aben.«
„Gi, mag er bariiber liegen, fo lang er toM" fagte icf), „cr ^at
mid^ big bato nid)t arm gefreffen unb ttrirb mic^ nic^t arm freffen; jefet
ttod^ meniger alg toorel)1, too er nun bod^ fdE)on fein St)eil fid^ red^t^
fd)affcn erarbeitet. 'g gebeit)t i^m audf) unb bag freut mid). 3$ tin
fd)on ein alter ®erl, »iel alter tt)ie er, ber Sung1 ift gefunb unb eg
152
2ln3engruber in XO'xzn.
miitft1 mit ganj toerfetjrteu ©ingen jugetjen, menu cr mir nicf)t in bic
©rube nadjfef)en fonntc unb bann ... 9la, ©u meifct'g ja, 3Rutter, auf'g
$>eiratf)en t)ab' id) mid) nie eiugelaffen, merb'g aud) nid)t."
^ag1 bag ntd)t/' meinte bie 9t(te, „fo iiberfommt ©inen mit
eincm 9Jlafe."
3d) naljm bie $feife langfam aug bem 2RauI, btinjelte bie grau
9JI utter fd)ief iiber an unb fagte: „3d) meifc batoon nidjtg, aber menu
S)u eg fagft, mufe icf) eg mot gtauben." 3$ fab* bamit neden
rotten, meinte aud), fie miirb1 eg nidjt anberg aufnefjmen, bcnn i$ badjte
fo menig Uebleg mie bamalg an ^otbetg SBiegc unb mar mir bie %al)x
iiber gegen fie ganj gteid) geblieben, aber ba merfte id), fie tear nimmer
bie grii^ere; ftatt mir, mie id)'g ermartete, ofjne ein fonberlid) ftreng1
@efid)t mein tof SDlaul jit toerbieten, f)ob fie bie ©c^iirje unb begann
barunter ju meinen.
©ag ift mir &on Slttem bag Ueberquerfte; idj mag einmal £eineg
meinen feljen, gefdjmeig' benn gar, meinen madjen unb tjier mufcf id)
mid) gar nid)t aug, sumeg' unb marum eigentlid)? ©aft id) eg ba
angeftiftet Ijatte, bag argertc mid) in bie ©eele tjinein, meil id) mir
aber feiner argen 9Keinung bemufjt mar, fo bradjte id) eg uidjt um atte
SBclt iiber mid), ein begittigenbeg SEBort §u fagen, menn mir aud) cineg
ober ba^ anbere beigefatten mare, mag juft nit bcr gall mar. So fafe
id) unb tjielt meine ^fcife beim SRoIjr, fo Ijanbfam mie ein ®inb feine
iSdjeHenrobel unb mag babei nidjt gar flug auggcfefyen fjabeu.
„0 mein ©ott," fcbludjjte bie 2Kutter unter ifjrem percaiffenen
Surtud^. „3efct fommt mir'g fjcim! SDiein Slelterer crlaubt fidj unfeine
Sieben gegen mid) unb mag merb* id) erft t)om Suugcu, &ou bem Sunb-
finb1, anfjoren miiffen, menu cr bei Saljren fein mirb unb bie fieut1 tfjn
toerljcfcen, mag gcmifc uid)t augbleibt. 3a, ja, eg gibt nur eincn SBeg,
einen einjigen, mo mir ber 93urfd) un&erborben bfeibt unb id) &u grieb'
unb aScrgebung meiner ©djulb fomm\ @g mufe fein."
„SBag mufe fein?" frag1 id).
„©an5 muft id) itjn unferm liebeu £>errgott fjingeben, er mufe geiftlid)
merben."
„©eift(id) fott er merben, ©einetmc$en?" benf1 id). „9lun, bag ift
boc^ bie teidjtefte SDSeif, eigener ©iinben lebig ju merben, menu man
ein grembeg bafiir bii^cn tdfet." ©efagt fyab' ii) bag aber nici^t, mer
getraut fic^ fo mag ber tcibtidjcn SDiutter in'g ©efi^t &u fagen?
bud' mid^ alfo ein menig uad) Dome iiber, bag id) nid)t anjufc^en
braud)\ mag fie auf meine SReb1 fur Slugen mad)t unb fag1: „3d) m'6&)V
mir'g an Seiner ©tetT boc^ erft nod) eine SBeiF iiberlegen, 'lei^t modjf
bag bem ^olbet ioi) eine ju I)arte 5Ru^ fein, ber er fein Sebtag' nid)t
auf ben Sent fommt, benf1 nur, menu er ®cin I)ifeig Slut t)at . . .
50lit ©ing mar fie aufgeftanben , ge^t nad) ber %f)iix' unb mortett
Das Siinbftnb.
*33
babet, id) fottt' nit fo bumm baljerreben, ber $otbe( toar1 nodf) ju jung,
urn ba cin 2lrg $u fjaben imb idf) toar1 alt genug, urn ju toiffen, baft
ouf bcr SBett nic Seines fein Sebtag1 auf fo |>alIobercien t>crfoDcn mocfct1,
ttjcnn man's md)t barauf fiitjrtc unb ba3 toerb1 Ijter ©otteS £utfe unb
frommer Ceut1 Stuffiest toot toedjiiten. 2)omit toar fic ljinetngetoifdjt
unb fef)1 idf) nur meljr if)ren Slodfjipfcl jur £f)itr l)ineinf<f)tt>anaen.
So lang1 fic nod) fjurtig toie cin SBiefel iiber gclb unb Sain loufen
fonnte unb ifjr bie 2tr6eit fo ftinf hue toorelj1 toon bcr £anb gegangen
ift, bie 3^* iibcr ljab1 id) itjr — toeife ©ott, — fcin unrutjigeS ©etoiffeu
anmcrfen fdnncn; abcr tnit cinmal fjat fic ongefangen an bcr ©id)t ju
Icibcn unb fjat ganje lag1 lang, toenn SlfleS nadf) bem gelb au£ toar,
ntuttcrfcelcnatlcin im SBett1 licgen miiffen unb ba fdfjreibt fldj'a tool fjer,
bafj if)r mcin unoerljoffter ©ruber pttffetid) fo fd)toer auf bic ©cef
gef alien ift. Uebrigen£ fefctc fie iljre SBorte fo neuartig, baft tdj ntd)t
befonber£ aufoutjordjen braucfjte, um ju toiffen, c» rebc nodf) ein Slnberer
au3 iljr.
Sonnt1 mir1£ ja beufen toer! @3 toar unferS $olbet3 SBormunb,
ber fiird)cnbicner auf unfercr ^farre, cin fo ridjttger SBetbruber toie
nur ©iner, ber tjat fic mot jucrft auf ben frommen S3orfa£ obcr ba£
gottgefattige SBcrf — toie man1^ juft fyeiften toill, — gebradfjt unb tjintertjer
fleifiig barin beftdrft. 33) f)ab1 bie 2lrt nic redfjt Icibcn mogen, fic
mcngen fid) atlju gcrn in frember Ceut1 Stngetegenljeitcn unb id) benf,
gerab1 ©iner, bem e3 mit bcr grommfjett Srnft ift, fanb1 baju Icinc
3eit unb tjdtt1 oottauf mit fid) felbft ju tfjun. 2Rag midf) freilid) aud)
irren unb e3 fann ja fein, toenn fo cin grommer merft, cr fdm1 mit
ftcf) felber nic predfjt, ba§ er fjergeJjt unb auf frembem gelb S)unger
ijdufelt; man fotttc ftd) aber toorfeljen, benn Ijinterfjer f5nnen fi^gelaufcn
fommcn unb fagen, e§ toar1 SttteS auf iljrem 2Rift getoadtjfen.
3)a^ mit bem 5{5oIbeI toar befd)toffcnc ©ad^\ bie 2Ruttcr toar ba=
mit eint)crftanben; ber SSormunb toar bamit cini)erftanben unb bcr 93ub'
— n?a^ njol ^crmod^t1 man fo cincm bummen Suben nid^t cin5urebcn?
— ber toar and) einocrftanben. 2B.a^ tootiV id) madden? 3^ fagte:
„Xf)utr tone 3^ toottt, aber mid) tafit babei ganj au^ bem ©piel; fcit
ii) um bie ©adfje toeife, ^ab1 id^ e§ gefagt unb fag1 e3 nod^, t)on mir
au3 fonnte ber %untf all1 mein' ficbtag1 unb bariiber ^inau^ aH* fcin1
Se^tag' ba auf bem £of bleibcn. SBenn e^ Unveil fe^t; mir fdfjiebt fein
©anbfom grofe ©d^ulb in bic ©cfyufje!"
©ie fpottclten unb fagten: id) toiirb* meine giifce ^eit bc^alten, ftc
tpurben mir fcin ©anbforn gro§ ©d^ulb in bic ©cfjuJje fdf)iebcn, ^ modjf
and) berglcid^en bci eincr fo fjeiligmdfjigen, gottgefdttigen ©ad^1 nit
auffinben laffen.
Unb a\% ein Seber im Drt toufete, ber 5pcdE)Icitncr^oIbcI toiirbe
fleiftlid^, ba famen fic i^m jugeftiegen unb madfjtcn i^n I)offd^rtig, bie
£. 2ln3engrubcr in IDien.
filteften Seute baten il)n, toenn cr bic SEBeifjen fjatte, i^rer ntc^t ju toer*
gcffcn unb fie in fein ©ebet einjufdjttefeen, Sinber toaren barauf au3,
ju erfafjren, ob e3 toatjr fei, baft cin ©eiftftdjer mit unferm £errgott unb •
ben tteben $ettigen ttrie mit feineS ©leidjen toerfeljre? ©r lieft fie bei
bent guten ©tauben.
33alb ^atte er gar feinen cmbern ©ebanfen mef)r at3 ben an feine
fihtftige ©etftlidjfeit unb er modjte fteJjen unb geljen, too er toottte, ba
tear iljm nid)t3 ju gut ober ju fd)ted)t, um i§n baran &u erinnern.
Sam er burd) ben ©arten unb fat) nadj ben ©eftrdudjen, ba maren bie
fdjhmrjen Stattlaufe auf bent $oHunberbufd) 9Jlond)e, bic griinen auf
ben 9tofen= unb anberen ©tauben 2Seltgeiftttd)e unb bie Sfmeifen, bie
iljnen jutiefen, Saien, unb toenn fie fo aufbringtidj mit ben gu^^ornern
Ijerumftridjen, fo baten fie um ©egen unb 2tbfofution. „3a, bu tueiftt'S,
bummer Swtge," badjte id), „melfen tljun fie fie unb ba toeif' mir einen
SPfaffen auf, ber baju ftitt ^iette! 2Benn ®u ben ©piefj umfeljrteft unb
lie&eft bie SSIattlduf bie 2aien fein unb bie Sfmeifen bie Sfttbern, bann
faf)' e3 toie ein rid)tigc3 ©teidjuifc au3."
©r ftromte einen ganjen ©ommer tjerum unb fcerftunb fid£) ju
leinem 93i3d)en Strbeit, aber toenn id) mit Xagfitynem braufjen auf ber
SBiefe Ijeuete ober auf bem getbe fdjnitt, ba gcfdjal) e3 jum flftern, bafe
cr untterfetjenS auS einem 93ufd) {jer&orbrad) unb ifnten toorprebtgte; ba£
toar bem faulen SSotf gerabe red)t, fie tiefcen bie 9trbeit liegen unb
ftetyen, fdjaarten fid) um tf)n unb fyortcn ttjm anbadjtig ju unb fo 'ne
auSbiinbige grommtjeit burfte id) iljnen nid)t tibel netjmen. ®ie SKutter
meinte ba§ aud) unb fanb fein unfinntgeS 2)at)erreben red)t ju §erjen
gefjenb, ja tool)! unb jtoar furjen SBeg'S, benn bie ©trafte, bie burdj
ben Sopf fiiljrt, blieb babei aU ein Umtoeg feittoartS liegen.
3d) erfdjrad nid)t toenig, fo oft id) born anbern ©nbe be£ gelbeS
Ijer meinen Sruber anljeben tjorte: »3n ^cr 3eit fpradj ber $>err 3>efu3
ju feinen giingern . . .« Si ja, ber §err SefuS fprad) in ber fttit,
mein 93ruber Seo^olb aber au^er ber 3eit, id) merit im 9lu tt»aren
olle Jagtoerferleute babon; einer Strbeit gegeniiber, bie iljr tootled ®u^enb
^Snbe ixani)tt, nmftte ic^ anc^ nic^t^ Slnbere^ gu tt)un, al$ bic meinen
in bie . |>ofentaf<$en ju fteden unb ju toarten, bi^ ber bort briiben
>?lmen«: fagtc.
2lm ©nbe tnar id) re^t frol), aU mit §erbftanfang bie SMutter
unb ber Sormunb i^n jttrifdjen fid^ auf ben SBagen na^men unb nac^
bem Seminar fufyren. %6) gab i^m bie £anb unb fagte: „5polbeI, Meib*
brat), aud) mcun S)u ein $faff tntrftl"
(Sr Iad)te unb bamit fuf)r er ^in.
©ein foHte e^ einmal; er t)attc fein Sang unb ging blinb auf ein
Siel Io3, t)on bem er fo toiel tvufyte, aU eben ein ©djuljung' batjon
totffen fonnte. S3 ttmr beffer ni^t§ ju fagen unb i^n bei Eourage ju
Das 5iinbfinb.
\55
laffen. 3d) mein1 immcr, barauf fottte man Sfcinen Icrncn laffen, toie
auf 3 Xifdjlem, SSeben uub Sdjneibern. ©i ja, toaS ben ^Sfarrcr in
bcr Sirdje au£mad)t, ba£ mag Siner auf bic Strt toegfriegen, abcr toenn
ifjm @tne£ gcrannt fommt, ba3 in feincm ^ersen fcin ljeife3 gledet
mefjr ljat, unb fdjreit: »3efet f)ilf S)u!« ba mufc er fid) auStoiffen, bie
tounbefte ©tell1 mufe er IjerauSftnben unb gleidjfdjauen mttft e3, ate tangt'
cr in' §immel, faftte be3 £errgott£ #anb fc9*c f'e auf ©e=
breft. 3)a$ lafet fid) uid)t erlerneu. 3$ lob' mir meinen ^farrer toeit
ba briiben im ©etoanb', ben alten etegrauen 2Rann, ber erft init ber
SBelt fertig getoorben ift, e^ er fid) ljat meinen taffen.
9tun, toie aud), — ber 2Renfd) ift einmat fo ttjoridjt, toerlauft
* etnmS fjunbertmal im ®leid)'en, ba merft er tool, ba£ toaY fo SRcget
auf ber SBelt, fommt if)m aber bie SRegel in'3 eigene §auS, fo fjofft er
auf eine 3lu3naf)m\ $er Strjt fann gleid) fied) fein toie ber Sranfe unb
boctert bod) nid)t an fid) felber tjerum.
^att1 idj'S bamal* toiffen fonnen, todd)1 2Bege3 ber 3uug' eigentlid)
bafjinfatjrt, id) fjatt' alS fein btuteigener 93ormunb ben anbem unb bie
9Jtutter fcom ©ifcbrett' gejagt unb ifjn bei mir be^alten.
©edjSaeljn Satyr' er bamalS geljabt unb unf're SJlutter toar im
umgefetyrten Sllter, ba3 Ijeijjt, bei if)r ging ber Sedjfcr tioran uub ber
©infer fjintennad). SBenn fid) ab unb 511 eine (Megentycit fdjidte, fufjr
fie in bie Stabt unb faf) im Seminar nad), toie eS mit bem ^Jolbet
tortoarte ginge unb ob er nid)t fd)on einen fleinen 9tufa£ ju einem
§eiligenfd)ein fyatte, toar'S aud) nur ein Siinfdjen toie toon einem 3o^anni§-
faferl, natiirtid) auf bem Sopf unb nidjt ba, too'£ biefe SBiirmcr fjaben,
bei benen e3 aud) gar nid)t3 |>eiligc3 511 bebeuten fjat.
3toei 3a^r' toar er fcom §aufe toeg getoefen, ba bettelte iljn bie
SJtutter auf ein paar Xage lo3, bradjtc if)n ju uu3 unb ba tyab1 id) if)n
ba§ erfte SDtal toiebcr ju ©efidjt befommen. 3ur felben 3^it befanb fid)
aud) eine entfernte SSertoanbte bei un» auf 93efud), ein bratleS Stiid
SBeib^bilb, bie Suftigfeit unb bie ©efunbljcit fetbft, ju ber t)ielt fid) ber
Surfc^e am liebften. %xq§ feiner a^tje^n Safjre faf) er nod^ finbifd)
genug au£ unb ba^ mac^te er fid) &u Stufec, fatberte mit if)r unb bie
jmeimat fo a(te Urfet ta^te iiber ben »flein1 Setter 5poIbek, toie fie ifjn
nannte, ic^ aber badjte mir mein I()ei(.
8B3ei§ nit, toann e^ getoefen, al§ er feine erfte 2Keff lag, aber
SBagen toaren nit genug im Crt aufjutreiben, Side, bie ifjn fanuten,
tooHten babei fein. S)a3 ^at alfo bie 9tttc nod) erlebt, and) ba^ noc^,
ba| man i^n in einem na^en Kir^f^rengel einem franfen ^farrer jur
9Cud^filf9 gutfjcilt^. 9lun toar er ein ridjtigcr ©eiftlidjer uub baju ^atte
er e^ in ad)t 3^^en gcbrac^t unb gerab' in biefem ad^ten Sa^r legte
fid) bie SDlutter Ijin unb ftarb. 3u(efct ^at fie mir nod) ettoaS fagen
tootteu, — toiefleidjt toer SSater ju bem ^olbet getoefen, — aber fie
\56 £. 2lti5cngruber in tt?ien.
toermocfjfg nimmcr unb bag toar mix audf) lieber, tdj fjab1 eg ifjr nie
antfjun mogen, bajj td) bent nadjgefragt tjatf ; unb cittcxt Sumpen ober
'ne Setfeigen mefjr auf bcr SScIt fennen, um bag toar mir'g nit
ttjun.
Steim SBegrabnijj bcr SJlutter Wax bcr Se'polb jugegcn, aucfy bie
brattc 93ducrin mar ba, unb etlidfje 3)irnen, mit bcnen cr feinjeit fear-
ful burcf) bic ©toppeln getaufen, brangtcn fief) an if)n, betleibgjjatber
Wax if)r SSorgcben, tootlten abcr eigcntlidf) nur f)5ren, bag cr fid) i^rcr
nod) entfinnc. ©r ttrid) cincr 3eben fdjeu aug unb gab Seiner bic £anb,
tuic jutfjutid) fie fid) audf) geljaben modjte. ©onft immer l)at cr aug;
gefe^en tuic 3RiIdf) unb Slut, iefet Ijatte er cin ungefunb' SBefen, feine
garbe, eingefaHcne SBangen unb bie Slugcn lagen it)m ticf b'rin, cr fturtc
bamit nad) bem ©rbbobcu unb fjiett fcincm frentben 93Iid ©tanb. SDlir
gefiet'g nid)t. Site er uadf) ber Seidfje auf ben SBagen ftieg, fafjt1 id)
fcinc &anb unb fagtc: „23ag ift 2)ir, ©ruber?"
„9iid)tg," fagt' er.
„©g biirft' Sir bodj toa% fctn/' meinte id).
S)a toerjog er bag ©efidjt, ate fotltc bag getadjt fein, fagte normal
ifjm toare uidfjtg unb fefete tjaftig tjinju: „28iflft nidjt einmal tjiniibcr;
fommen nadf) Stobenftein auf unfere ^Sfarrc? ©g ift Ijiibfd) bort."
^SBcrb1 fdjon fommen/' fagf id). ^djfit1 ©ott, ©ruber!"
„93el)ut' ©ott, 2Rartin," ruft er unb faljrt feineg SBegeg.
©onntagg barauf bereb' idf) meincn dlteftcn Snedjt, bafe er ^eim*
bteibt unb bag §aug fjiitet, unb gel)1 tjiuiiber nad) 9?obenftein. 9hm eg
ift bag cin gut1 ©tud SBcg unb tuemi man einmal, ben SBalb burcf), ju
t)5df)ft angeftiegen ift, fo gefjt er cttoa einc SiertetftunV lang untcr lauter
SBeifebirfen baljin. ©g ift mir bag fein luftigcg £ols. SBo eg fein red)t'
©ebeiljen tjat, ba ift ber ©oben loder, bie ©tamm* fteJjen einfd)id)tig
cmpor, bie ©onn' brennt burdj bag toenige Saub unb bic tt>ci§e SRinbe
fietjt aug tt)ie gcbleidfjteg Stein. 2) en Sag traf idj'g gar iibel, SWorgeng
wax ein ©trict)regen niebcrgegangen unb jefet ftad)cn glufyfjeifee ©onnen-
ftra^Icn »on einem £immet nicber, bcr fcine garb* anncl)men tootltc,
loie untcr einem ©dfjteicr tag Sltteg, aug bcr ©rb1 ftieg cin Srobcm auf,
bag man in ©djtoeifc unb mit t)atbem 9ltt)em ficf> l)ormdrtg miifyte.
Steilid^ tjdtt* eg mid) fiinf SSiertelftunb1 Umtueg gefoftet, menu id)
uutcn um ben 93erg Ijatt' t)crumge^en moDen, aber bort fiitjrtc ein ©teig
tnxi) ben SBalb, beibfeitig ftaub jungeg ^ot^ unb fccraftette fi^ oben
untcr einanber, bag man ttrie in cincm Saubcngang ba^inging. 9lun
tvax icf) abcr einmal oben unb badfjte, ©ott befjitte jeben ©^riftmenfd^cn
t)or einem birfenen Sebcngmeg, unb eg iiberfam mic^ tt)ic eine Sltjnung,
ob nicf)t ctma mein ©ruber auf eincn fold^en gerattjen tear1 unb fic^
feitab baoon Diet beffer befinben mbd^t'?
3)u lieber ©ott, tuic t>iet S)inge auf bcr SBelt ermeden in bem
Pas Siinbftnb.
*37
HRenfdjen ein Sertangcn nadj ifjnen, unb ba§ fann bi3 jur un&ernitnftigen
Segier antoad)fen, bag fid) ©titer bann nimmcr au3 nod) em tt)cif$. 2)a
ftefjeu alien toorcm fur bie 93urfdjen bie 3)irnen unb fur bie 3)irnen bie
Surfdjen. QatV and) mat einen ©d)afc, h>ar mein ©efpiel t>on Sinb auf
unb nrir SBeibe hmren nodj n?aS ju blutjung, urn ernftlidj 511 meinen,
toir fonnten'S ernft meinen; aber ttrie fie mir einft toor mehten Stugeu im
SBeifjer ertrunfen ift unb iuie id) an ifjrer Sobtenbatjr1 bie lange 9tad)t
uber gefeffen bin, toie fie lag, lang, bleid), fait, bte frofjgemutlj'tcn Slugen
eingefatten unter ben fjalb jugebriidten fiibern, ba Ijab1 id) mir'3 ein fiir
atte 9Kal bebeutet fein laffen. Stod) fjab1 idj nteinen ©cfjafc, bcnf1 nicbt,
id) fjatt1 \i)it in bie ©rbe gelegt; benn id) fjab1 fie ntir uadjmate immcr
toorgebilbet, tt)ie fie gelebt t)at, fo frtfdj an garb1 unb 2tu§fef)en, fo
manierlidj toon £anb unb ©eberb1 unb fo tanjlid) unb ppferifd) in
©djrttt unb ©ang. £>ab1 nid)t£ Don if)r beljatten al3 ba3 Slnfdjauen
unb Ijab1 mid) jeitfjer aud) an Slttem unb Sebem fcamit begnitgt. f8tx-
lang1 mefjr, fdjon fjaft S)u 5Rcib unb Ungunft im eigenen ^erjen, ober in
fretnben ttriber 3)id), lag Sidj ein unb e3 gibt fd)ou Ungelegenfjeit, StfleS
fjat ntan int SInfdjauen, toenn man nid^t ©ineS fiir fid) mitt, ©ineS fann
man aud) ttrieber toertiercn, aber 2ltte3 tjaltct au3. 2)a3 ift mir ge=
fommen t>on felbft, fjat ntir 9Ziemanb gefagt: S)u fottft nid)t toerlangcn!
feat mir -ftiemanb gefagt: 3)u mufct entfagen!
Sag1 id) ©inem: @ei jufrieben! ©i, fo mad)1 id) tfjn fetber bar=
uber griibeln, bag er ethm Urfad)1 Ijatt1, e3 nid)t jit fein, unb griibelt
er rcdjtfdjaffen, fo finbet er tool batb eine §erau£. ©ag1 id) ©iuem:
©ntfage! 3)a maljn1 id) if)n baran, ba{$ er ein Serlangen fjaben fount1
unb mag er bis jur (Stunbe feineS getjabt tjaben, e3 totrb fid) cinftcttcn.
3d) bilbete mir lange ein, feineS ju fjaben, tueit ic^ mid) mit bem Stn-
fc^auen 3ufrieben gab1, aber ba fiel mir ein, eben bamac^ ftitnb1 mein
Serlangen, i^ brau^t1 nid^t einmat bag 2tugenlid)t ju ^erlieren, nur
in einer unfd)5nen ©egenb t)aufen 5U mitffen, tuo mir unfaubere Ceut1
ttnter ben Slugen tjerumliefen, fo mar1 mir ba§ Seben toerleibet. 9lein,
bem 95erlangen entgefjt Seiner im Seben, unb bem ©utfagen fommt er
ni(^t au3, unb feine Seljr1 unb feine ^rebigt ^ifft bagegen ober bafiir.
®ie SBelt ift nid^t ba jum SSertangen unb bie SBelt ift ni^t ba junt
Gntfagen, fie ift ba — mein1 id) — jum Slrbeiten, unb toa$ ©iuem
jwif^en Sege^r1 unb Sermetjr1 njerben mag, bag foil man if)tn nid)t neiben
unb nid)t Ucrleiben.
9Zun fifet ber jung1 SWenfd) ba uttten auf ber ^farr1 unb tueig
mm all1 bem fo t)tel nrie ein jtueitagiger ^unb t)on ber garb1, bie fein
SBalg tjat.
3^ fam na^ SRobenftein, mein Sruber toax noi) in ber Sirdje, fo
ging i^ baf)in unb fat) if)n auf ber ffanjel fte^en unb ^orte ifjn ^rebigen.
©r tt)etterte gar nidjt fc^lec^t t)on ^ott1 unb Seufel unb mo^t1^
\58 £. 2In5en<jruber in VQitn.
fdjon eine SScile fo getrieben tjaben, bcnn bic Seute fafcen aQe ba, ate ob
tljuen Ijimmetangft toare. @i, ®u mcin ljodjtoiirbiger £err 93ruber, badEjt'
td), tjebft S)u e3 aud) bctm toerfefjrten @nbc an? SKadtft 3)u aud) bic
Seute fiirdjten? gurdjt unb ©org' ljaben bic fo genug au3 crftcr §anb,
toon 3^it ab, too fic baS gclb bcftcQcn, bte too fic bic ©rnte untcr 3)ad)
bringcn unb bariibcr IjtnauS. ©ibt'3 ein gcfcgnct 3<*f)* obcr 2Rifitoad)3?
Jtommt 3roft, ©djauer, gaulnifj, Diirrc unb 93ranb, obcr blcibcn fie
batoon? Unb toenn, briidt bcr Ueberflufi bic $reife obcr fdfjnettt fic ber
SBudfjer in bic |)5lje? 9lem, Sruber, fiirdjtenSljalber mScfjf td) auf
fciuer ^farre fifcen, Xroft braudjen bic Scute, gutcn 9Rutf) follteft S)u
iljnen madjeu; toer Ijter auf @rben fein1 lag1 nidjt frot) toerben mag,
bcr btcibt tool aucf) im &immel cin traurigcr Starr.
Unb bann rcbte er tociter im Icjte toon bem Icufcl ate SScrfu^rer
unb toon alT ban feinen b5fcn Singebungen. 9ld), lafct atle 93erfudf)ung
3ebem au3 bem eigenen £>erjen auffteigen, rait bem foinmt er tool ju-
redjt unb ringt e3 tljm ab, bafe e3 nod) ju lefcter ©tunb1 fidf) toom
fcfylimmen SBegc feJjrt, fefct ifjm abcr feinen Xeufel, bcr iljm ubcrlegen
ift unb bem er atteS SSerfdEjulben in bic ©dfjulj fdjieben fann, jur 9lu»=
rcbM Unb ate id) ben Sung1 fo anljorte, toie er ju fagen toufjte, toa£
all1 fiir iible ©ebanfen bem 3Jtenfdf)en fommen unb toie fie iljn mciftcrn
f5nnen, ba fdjiittctte id) ben Sopf unb badfjte mir: SBenn S)u e£ auberS
too^er ate au3 Seinen 93iicf)ern Ijaft, bann raagft £>u 3)id£) uur felber
fleifcig betreujeu unb fegneu!
3)aran fcfyetnt er aber nicfjt gebadjt ju Ijaben, bcnn jum ©d^tuft
fjat cr nod) ein grofi1 ©efcfjrei erljoben, mit ben gauften auf ber Sanjel
getrommett unb 9Wen jufammen gebrofjt, ber Seugel- toerbe fie Ijolen —
unb bie Seute Ijaben baju >9men« gefagt. 3d) tjab' mir fagen laffen,
ba£ Ijie&c auf bcutf rf) : »©o foil e3 feiu!« 9tun, toenn fic bag jufrieben
toarcn, bann gab e3 auf feinem gled ber SCBctt einen unnufeeren SDlenfdEjen,
ate metnen 93rubcr ©eetforger &u 9lobcnftetn.
3lte cr t)on ber Stanjct ^erabgeftiegen toar, brdngtc id) mic^ bur(^
bie Seute nadt) ber Safriftei, bort lie§ er fidf) ba§ S^or^emb iibcr ben
Sopf toeg jieljen. SBir giugen bann nac^ bem $farrt)of, ber lag ein
flein tocnig fcitab Winter ber Sird^c, bie frci auf bem 5ptafce ftanb.
©3 toar no^ nidt)t Sffcn^eit, fo giugcu toir benu eine SBeir im
©arten auf unb ab. ^Slun/' fagte mcin geiftlidE)er $err ©ruber , „%vl
f)aft midE) ^eut1 mat toieber »on bcr Sfanjel ge^ort, mac^' id£) 5)ir^ nuu
beffcr ju S)anf, toie einftmat auf bem Setb?"
„$m," brummte ic^, „!6nnt^ ni(^t fagen, bamal toar^ ffinbfpicl
mit groften Scuten, ^eut} fdjeint^ mir Seutfpiel mit grofeen Sinbern."
„5)u Srittter," la^te cr. ^Slun, ©ebanfen finb jotlfrei, nur lafe1
Sir batoon ni(^t§ merfen.''
„yit\xi" fagt1 id), „ba£ biu id^ nic^t toillenS. 3^ tneined
Das Siinbftnb.
\39
SBruberg ©emerfgmetf1 nidfjt toerfdjimpfiren, modjteft S)u mag immer fur
cine tyaben; marft ®u bctfpictgnjct^ ein ©djufter unb ttejjeft bag ganje
2>orf in engem ©djufoeug fjerumfjinfen, id) fagte nidjt: 9Rcin ©ruber
ift cin fd)ted)ter ©djufter! Slber ba barauf molten mot bic Scute toon
fefbft fommen. 2Bag prebigft $u audf) gerabe fo, tuie 3)u tfjuft?"
„Si," rief er drgcrticf), Je^r' S)u unfer (Sinem ©auern prebigen!"
„©o fo," fag1 id) unb beut1 itjm nad) bent <$led, morunter ©in£r
ba§ #erj fifcen ^)at. „$u ljotft eg alfo nid)t toon ba tjeraug? 9Kcinft
2)u aud) mit auggetiipfeltem SBefen unb gemad^tem SBetter ben Seuten
in bie ©eel* fjineinreben 511 fitonen? ©i, mag bod) ©uer @iner fidf)
mot toorftettt, baft bie Seute fiir eine ©ecf fatten?! $ag ift tnir ein
ftoljer $ammel, ber nid)t imnter toortauten mill unb bie ©lod' gem %c\U
meig in ben ©ad fd)5b\ tjatt1 er einen. ©alb merben 9ltte fo gefdjeibt
fein mie 2)u, unb S)u mirft auggetiipfette ©ittenlefyr' unb gemadjt1
(£fjriftentf)um Ijaben fo meit 2)ein ©prenget rctd^t."
3)arauf tegt er ntir bie §anb auf bie 2lcf)fcl unb fagt: „2Karttn,
bag toerftefyft 3)u nid)t. ©ag1 mir lieber, marum it>r ©auem eg nidfjt
ber ©raftn toon £f)urnfd)art uadjmadjen mollt, bie jmar in ber Umgegenb
bie narrifdje ©rafin genannt mirb, aber if)re gelber fo bemirtfjfdjaftet,
baf; fie auf magerem ©runb beg gatjreg ameimal erntet."
„$ie narrifdje ©rafin/' fag' id) barauf, „f)at teidjt jmeimal fedjfncn
unb menn tnir meljr auf einen Slder menben tootttcn, alg er trcigt, bann
trdfen mir'g aud). Stber, ©ruber, bag tocrftefjft 3)u nid)t."
2)a fdjreit auf einmal gineg: „2lngerid)f ig!" Unb unmett auf
bem ©artenmeg fteljt ein grauenjimmer, fo grofi unb ftarf, bag fie fiir
®rei toon gemot)nlid£)er Strt auggereid)t tyatt\ J)at audf) cin breifadj Sinn
getjabt. 2Rag einmal eine faubere $farrerfod)in gemefen fein, jefct mar
fie nur Sodjin auf ber 5(5farre, toon ©auberfeit fyatt' man if)r nidfjtg
nad)fagen fonncn. Winter ifjr ift ein langeg, fpinbetbiirrcg S)ing bakers
gefd)offcn fommen, ein 3>irnbet etma fecfjgsetjn Satjr' altf l)at im ©eficfjt
gelb unb gan§ toerljufeelt auggefefjen, nur cin paar Stugen brannten if)r
barin unb bie rnarf fie fjerum mie ein galf. SBar bag Sinjige an i^r,
tuag fie mit SSortt)eiI gebraud)t tjat, benn mit $anben unb Siifcen ^at
fie fid^ nid^t ju taffen gemu^t, ba tcipptc unb lappte fie bamit, fo edig
unb unbeljolfen, ba§ eg ein gammer mar.
SSie bie S)ide fie^t, ba§ mid^ mein ©ruber nidjt toerabfd^iebet,
fonbern an ber §anb fa^t, fommt fie nafjer unb b£r Ceo^olb fagt }u i^r:
f,SBir ^aben ^euf meincn 93ruber SJlartin ba."
/fSe, ber ©ruber SDtartin," fagt fie. „9lim, toerfte^t ficf> , bafe ber
mitf ommt auf einen Soffel ©uppe."
3<f) mein1, eg tf)dt fid) uidjt fc^iden, bafe id^ jefct mit ju Sifd) fam',
too ber £err $farrer gar nit urn mein Slnmefenfeiu gemuftt fjatf, aber
bie Slubern fagten mir, ber mar' gar nit babei, ber lag1 franf.
£. 2Iti5cngruber in IDien.
^adjt'g tool and) nimmer tang," fagte bic 3)itfe unb blinjelte
meinem 93ruber ju unb bag 2)imbet ladfjte ttor fief) £)in.
©o finb toir atP S3iere, toie toir toaren, in bag ^farrJjauS gegangen
unb Ijaben ung 2ifd) gefefct. 3$ braudt)' tool erft Seinem $u fagen,
bafe eg ben Xag mein ©djnabel gut l)atte, benn in ciuem SPfarrljaug ifet
man nidtjt fdjledjt unb nid)t toenig.
Slbenbg, tote id) bereit toar ju gefyen unb mein ©ruber, mid) cin
Btixd SBegeg ju begleitcn, nbnmt mid) bie ®ide bet ber #anb unb
fitljrt mid) ein toenig jur ©cite. „3)er Sltte lebt nur metjr toon Ijeut'
auf morgen," fagt fie, „unb bann foil eg 2>eitt 93ruber gut bet ung
Ijaben; fie toerben if)m ftdfjer bie $farre gcben, benn fie finb nut fetnem
©ifer redfjt jufrieben."
„3Jlit fetnem £olP; unb Scufelgeifer?" benf id). „9lun ja, toenn
nur bie §erren nut iljm jufrieben finb — ©ag1 ju ber ^Jfarrfodjin,
ba§ id) bod) aud) toag rebe: bag tear1 mir Sltteg recfjt lieb ju Ijorcn.
3>amit toenben toir ung unb id) fet)' bie fpinbetigc S)irn mit bem 2eo=
polb fliiftern.
28ir gtngen unb alg toir SRobenftein Winter bem SRutfen fatten unb
auf bag freie gclb famen, fagte id): „©eljt eg 3)einem ^farrtjerrn toxxb
(id) fo .fd)led)t?"
„©eljr fd)ledf)t," fagte mein ©ruber.
„©ag' mir/' fragtc id) wetter, „ift bag bide SBeibgftud burdf) ifju
auf ben SJSfarrfjof gefommen?"
„3a," anttoortete er, „bie ift fein'jeit mtt iljm gefommeu unb er
Ijaugt mtt itjr fett funfeetju Satjren."
,,©0/' fagf id), „unb toer ift benn bag flebere $irnbl?"
2od)ter," befdfjeibet er midf).
„3ft fie benn alg SBitttoe bet bem ^farrer in' ®ienft eiugeftanben?"
frag1 idf) ganj bumm.
„9iun," fdjmunjette mein ©ruber, „3)u mu&t gerabe nidjt Sttteg
toiffen."
„©o, fo," fagte id), „uun begreif id) freiticf), bajj fie ftdj nod) gc-
toidfjtiger madfjt, alg fie fdfjtoer ift, unb bag toitt bei ifjr toag fagen. ©ie
ttjut \a juft, alg tjatt1 fie bie ^Sfarrc in 33eftanb unb ben jetoeiligen
^farrfjerrn baju. ©agf fie mir bodf), S)u toitrbeft fur fidjer barauf
fommen unb meint bann aud) ifjrttjeitg barauf Derbtciben ju fonncn."-
„©ie benft fic^ t)alt aug, toag fie toiinfe^t/' brummte Seopolb.
ffW W /#unb toiirb'ft 3)u fie benn bei 3)ir beljalten motlen?"
„Si/' fagte er, „bag ift leereg ©trot) gebrofd^cn, id) friege bie
^5farrc ja bod) nidf)t." Unb babei fat) er aug, alg toare er bei bem
©ebanfen, fie nic^t 5U friegen, getrofter, alg bei bem, bag fie ifjm toer=
ben fotlte.
Unter ben SReben loarcn mir jur SSriide gefommeu, bie iiber ben
Das Siinbfinb.
Stobenfteiner 3Jiiif)lbadj fiiljrte, toon ba an follte mein 2Beg attein geljcn.
§unbert uub einigc ©djritte toeiter, ben SBerg f)inauf ju, lag bic 3Kiit)le,
ttrir fafjen burd) ba£ Saubioerf ba£ urnf*1 ©emauer fjertoorfdjimmern, ba£
3tab fatten fie geftellt, e3 tuar nidjte ju fyoren ate ba3 3iaufd)en be£
SBafferS unb einjetner Sogclruf, toor un3 am ^immel tjing ber'SJtonb,
eine fdjmale, faum fidjtbarc <Sid)el unb Winter un3 ftanben tiefrotlje
SSotfen iiber ber ©onue. 3d) fann nidjt immer barauf 2ld)t Ijaben,
toa3 bie SBcIt urn midj fiir ein ©efidjt mad)t, aber ba fount1 id) '3 ge-
rabe unb e£ fam mir 2llle£ fo friebfam &or, bajj id) lange ftillftanb, fo
fadjt 2ttljem fjolte, ba& fief) mir faum bie 93ruft Ijob, unb badjte, ba&
Seben mar1 bod) eigentlid) gar ein einfdjmeidjelnb1 Sing.
Site id) ttteinem 93ruber bie $anb barreid)te, toerfpitrte id) bie Sretter
unter mir leidjt fcfyuttem, mcrff, ba fam' ©iue£ toon entgegengefefct iiber
bie 93rude, el)' id) mid) aber umfefjen mag, toer e$ ift, baft id) iljn
toorbeilaffe, fet)1 id) mcine§ 93ruber» Slugen groft toerben unb bie toenige
giot^e, bie er tjat, ifjm in'£ ©efidjt fteigen, id) tnenb' mid) alfo unb toor
un£ ftefjt eine Sim, ttrie id) au£ ©rufj unb Sauf erfafjr', bcSfetbigen
2Riiller£ Softer unb 2Rarie;2tef geljei&eu.
3a, ba3 tpar 'ne Sim I 3eb' ©tieb tok gebredjfett, toellig baufcfjte
ftd> ba£ golbgelbe §aar iiber ber Stirn auf unb fiel rudtoarte in fcfjtoercn
3opfen fjemnter, au3 grofcen, fornblumenbtauen Slugert f)at fie eben fo
Hug ttrie treufyerjig in bie 2Belt gegudt, bie 9tafe ttmr ein ganj Hem
roenig oben gebogen unb ftanb unten gar sicrtid^ runbranblig toeg, ifjr
9Jlunb toar gar lieb, nid)t grower unb nidjt bldffer tnie eine Sirfdje, ba&
ganje ©cfid)t fo ioeiftrotf) wit eine gefunbe Styfetbluf)', nicfjt runb ate
roollt'£ bie 93aden fprcngen unb nid)t eingefatlen, am ®inn tjat fie ein
©riiberl ge^abt unb auf einem §ate ift ba£ Sopfert gefeffen, ber toar
fo brail unb bod) fo betoegfam — , ei ja, menu mir'S nur beifiele, tt)ie
ber War! 2lber fo ge()t^, toenn fid) fo eftt alter ©djitypel Wit ii)
barauf einlaffen mill, eine jungc 3)irn 5U befdjreiben; aber id) t>er^c^r
e^ alP mein Sebtag nid)t, trie 2Jtuller3 ffltarie=fiiefy ju 9lobenftcin iljrjeit
au£gefefjen ^at.
9lun bamal ^at fie an if)rer ®d)iirie ein toenig gebrel)t unb gefagt:
„^od)tt)urben, toeil ®u fc^on ba bift, toitlft nid)t ein toenig 5U un3 l)inein
in'§ $au§ fommen? SDleine ©Item mod)ten fic^ freuen."
35a l)at er mir bie £anb gebriidt unb ift oljue ein SBort ftill mit
i^r baljingefdjritten auf bem SSeg, ber jur 9Kut)le fii^rtc,
Sd) l)ab} itjuen 93eiben uad)gefe^en, bi^ fie fjinter ben Sciumen t?er=
fcf)tt)unben tt)aren unb bin bann au^gefdjritten. 3$ tvei^ e§ ni^t, \va£
t% xoax, aber e§ WoKte mir ben ganjen 328eg iiber nimmcr fo fro^
tuerben, mie mir'S gcrabe nod) Dor menig 2tngenbtidcn geiuefen mar. Site
id) auf ber 2lnf)of)c burc^ ben 93irfemoalb ging, ber jefet in Dollem 3Konb-
lic^t tag, ba^ atte ©tdmrne glei^ten tt)ie berfalfte Snodjcu, ba fiel mir
\$2 £. 2ltt3engruber in IDieu.
nrieber ntcin ©ruber ein unb bcr birfcne 2ebcn£tt)eg. 3**/ mufj bic
©onne fdjon fjinunter unb bic 9lad)t fiifjl fcinf toenn man ba otjne
©efd)tt)cr gef)cn mill.
$er alte $farrer toon Slobenftein fiatte attar nur toon Ijeuf auf
morgeri ju leben, aber cr tfjeitte fidj'S fo genau cm, bag er nodj gut
brci SSodjcn bamit au3reid)te unb erft in bcr merten ftarb. $u fcincm
©egrabnijj hmrbc id) Don meinem ©rubfcr eingelaben, id) ging Ijinuber
unb fa^ mir'3 an. 2)ie bide $farrfod)m fufjr fid) ein paarmal tnit bem
©adtud) uber^ ©efidjt unb bic fpiubelige ^Sfarrbirn toarf toenigftenS iljre
2lugen nidjt, tt>ie fonft, fjerum.
2Kein ©ruber fcgnete bie Seidjc ein. ©3 ift jtoar fonft nid)t ©rand?
bei un$ Sattjotifdjen, bajj man Ginem in'3 ©rab nad)rebet, aber ber
tBruber meinte, e£ ttmrb' bie ©emeinbe erbauen, toenn er ein paar
tBorte iibcr ben ©etigen fagte, unb fo ftanben bic Seute urn ba£ off cue
©rab fjer unb Seopolb ju £>auptcn unb ljielt einc Slnfpradje.
StnfangS fd)aute er in bie ©rube ljinunter nad) bem ©arg, al» er
aber ba£ gute ©eifpiet, ba3 bcr ©erftorbene gegeben Ijatte, ben Urn?
ftetjenben an'3 £erj legen toollte, Ijob er ben ©(id unb fat) auf un£; mit
einmat, mitten in bcr 9ieb\ blieb cr fteden unb fanb fid) erft mit 2Ruf)*
toeiter in feincm Xejrt. 3d) ^atte gteidjjeitig fdjarf anfgelugt unb mufjte,
n>a§ c£ Wax. Untoeit Don i^m ftaub 9MutIer3 9Jlaric = Sicf\ fie t)5rte an;
btidjtig ju unb tiefc fein Sluge Don i()m, gerab' ate tjatt1 cr ein Gmpfinben
batoon, blidt er Ijaftig nad) ber SRidjf, ftcljt Slug* in 2tug' mit if)r unb
ttergifct auf ba3 jmeitnadjfte SBort.
S3 war Ijocf) am SJKittag, al$ toir auf ben ^farrfjof jurudtrafeii,
bcr tear ljeuf 'toaS au3 ber Drbnung gefommcn unb hur mufcten mtt
bcr 9Kat)ljeit jutoarten, fo tricben toir un3 benn im ©artcn tjerum.
9Rein ©ruber tetynte fid) &ttrifd)en ben ©iifd)en iibcr ben 3<wu unb fcin
©fatten fid iibcr ben fdjmalen 9Rafenftreif, bcr aufcen fyinfief, unb fiber
ben tJujjfteig neben.
Scute gingen fcoriiber — immer Gin§ Winter bem Slnbern — unb
griiftten, e3 fam aud) bcr -SJliitter, bie SKutterin unb, aU Dritte ber
SRcif)' nad), SKaric-Sief, bie trat an ben 3aun unb fefcte babei bie
§uf$cf)en gar forglid^, urn bem ©cfjatten meineS 93ruberS nidjt auf ben
Sopf ju treten. ©ic jcigte ein ttenig bic tociftcn Safjne unb bie ®riibd)cjt
in ben SBangen unb fagtc: „%ti) f)aV S)ic^ ^eut1 toerhurrt gemadjt, ^oc^^
miirbigcr §err. SBcrjeifjft f^onf aber id) tjab1 baran nidjt gebadjt unb
id) toitt 3)i^ nimmer fo angaffen."
(Sr meinte, baS I)dtte nicf)t^ ju bebeuten.
„9lcin, ncin/' fagtc fic, „nit urn attc SBcIt mod)f i^ ein ©ercb
(untcr ben Seuten, jefet, too S)u n>oI ber Siac^fte ju bcr ^farre bift unb
c§ S)ir fd)aben fount1."
Gr f^iittritc ben fiopf.
Das Siinbfinb.
„3Jlcm fagt t$" meinte fie, „unb nur bat»on foil man rebcn unb
toeiter nidjte ju fagen ttriffen. SBenn idj 3)ir nidjt ju gering bin fiir
cincn 9tatf), fo modfjf idf) Sir tool eincn geben."
„9?un, SJlaric-Sief?" ©agte cr unb fa^te fie an bcr $anb.
3)ie brurft fic tf)m, jiefjt fte abcr bann fjaftig juriid, netgt fidj gcgcn
fein Dljr unb toifpelt tljm ju: „9Kit Senen ba am ^farrfjof lafi1 Sid)
nit ein." Unb toeg wax fic.
SBotoor lauft fic mit einmal toeg? benf idf). 3$ menb' mid) urn
unb fe^ bic $farrbirn fnapp Winter un3 ftetjen. SBie td) mir bag magere
Sing betradf)t\ ba£ fo unf)5rbar angefd)Iid)en gcfommen tft, biinft midf)^
nidjt anberS, ate fie glicf) ciner auSgeljungerteu $afc\
Sie #anbe fjat fic gebattt gefjabt unb an ben |mften nieberfjangen
laffen, ober attfort tjat fie bamit toeggejutft, ate fyatV fie ben Srampf
barein unb tooY id) nid)t nebengeftanben, i$ benf, fie ljatt1 mcinem
fflruber bie gauftc genricfen. 3fce fdjtoarjen Stugen toaren ettoaS feud)t,
aber bie Slugenbrauen jornig jufammengejogen. Ginen ©cfiritt tljut fie
nad) meinem fflruber unb ljebt bie £anb |mit auSgefpreit'ten Singern,
ate toottf fic tf)n in ben 9lrm fneipen unb tief auS ber 95ruft ^erauf
Ijolt fie'S, h>ie fie fagt: „©ett, baS toax ttrieber bie 2Kiifler3birn?"
/,3a/' fogtc er unb fefjrt iljr ben Sftiiden.
Sinen Stugenbtid ljaf£ auSgefefjen, ate toottt1 fte in'3 ©c^Iud)jen
auSbrecfien, bann abcr tad)t fie, — e3 Hang nit anberS, ate ttrie toenn
eine Safe' blaft, — jeigt jttrifdjen ben 3&t)nen bie 3ungenfpifer fc^rt fidf)
ab unb bretjt bie ©Ibogen fftnten ^nauS.
3d) bin mit grofcen Slugen bageftanben, bie grag1 ift mir fdjon
auf ber 3unge gelegen, toie bic $afc' baju fam\ fidf) gcgen meinen
SSruber fo geberben ju biirfen, cr muf$ mid) abcr erratfjen fjaben, legt
mir bie £anb auf bie ©dfjutter unb fagt: „2Benn 5)u mtdf) licb Ijaft
SKartin, bariiber Icin SBort!"
S3ei Sifdf) iff 3 bieSmal redfjt ftiQ Ijergegangen, unb ttrie id) midf)
fpater auf ben £>eimtt>eg mad^ unb mein fflruber, urn midf) ju begleiten,
jjtnter mir au^ bem §aug treten toitt, ^cilt i^n bie bide 9tlte am Stermet
jurud, jietit i^n in eine ©de unb ba t)abcn fie ffleibc eine SBeile ju^
fammen gejifcfielt unb babei mit ben Jpanben §erumgefocf)ten. 3^ fyV
bat)on ni^te lj5ren fonncn, nur ©nb1 ju fagt bie 2ltte tauter: /;S)u fannft
fic ia bo^ nic^t fjaben unb gtaub1 and) laum, bag fic 2)id) toirb t)abcn
tooflen." Darauf tufd^eln fic nod^ SinS ^inmieber unb juriid, unb bann
finb tt)ir gcgangen.
3)a id) gerab' ba^ nit 3teb' Ijaben fotlte, toa$ \§ gem1 jur ©pradt)1
gebrad^t fyatt\ fo ftapften toir o^ne t>iel $(aubern§ ben SBeg neben ein-
anber tjer unb berebeten, ba§ ber gelbmotjn rot^ todx' — unb bie Sow*
blumcn Man — unb tote @iner, ber fjeuer ffludEjtoeijen baute, fic^ t)cr*
rennet Ijaben burft1 — unb mic bie 9Jtenfdf)en auf ber SDScIt gemeintljeite
»wb unb 6ftb. VI, n. 11
£• 2In3en9tubcr in XOicn.
©eftnbel rodren, — afle SBiertetftunb' fo ein ©efefcel, roobei ba3 9Kaul leiert
unb ba£ Df)r feiert, tueit man feinen eigenen ©ebqnfen nadjljdngen roitt.
SBieber an bcr SJRuljlbadjbrude Ijaben roir un3 bic £>dnbe gereidjt,
id) bin toorrodrtS bcr ©tra&e nad), cr ift a bcr ntdjt juritd iirt 2>orf ge=
gangen, fonbcrn fcitab bcr lautflappemben -Kittle ju.
®a£ roar ba3 jroeite unb lefcte SKat, baf$ id) mcincn ©ruber ju
SRobenftein befudjte. 93i3 bcr ©ntfdjeib font, faf$ cr freilid) bort fo toarm
rote cin ridjtiger ^farrer unb ju fo cincm marten fic iljn aud), aber
9iobcnftctn fdjien bod) ein ju fetter ©iffen fur fo junge Stynt, bic follten
crft fjarf ©rob fauen; unb fo fefcte man benn eincn dlteren geiftlidjen
§errn barauf, unb mein ©ruber fain paar SDteilen roeitcr in'3 Sanb auf
ein HeineS ®orfel. 3)a£ fdjrieb er mir unb fdjrieb mir1^ fo lurj unb
gcrab^u, bafj id) badjte, er f)dtf bamal root nur ben ©letdjgitltigcn
gefpielt, ate toon ber 3ftobenfteiner *Pfarr' bie 9W geroefen unb jefet
^interfjer ttmrmte e3 il)n geroaltig, ober cr fdjdmte fid), baf$ e3 bamit
nidjtS geroorben. 9tad) biefem einen ©djreiben Ijflrte unb fat) id) nid)t§
tion ifjrn brei tootle SSiertcljat)r lang.
®a fotnmt mtr eineS JagcS ein ©rief in'S £au3, — Sratfelfufee,
rote fie ^ittjner in ben Sanb fd^arren — unb id) entnefjme barau£, mein
©ruber lage fdjroer fran! unb roiinfdjte mid) ju fetjen.
Ueber £>infinben, ©erroeiten unb SRudfatjren fonnte root ein lag
toergefyen, id) iibcrlegte nidfjt tange, forgte fiir unterroeile Drbnung im
£au§ unb fu^r nad) SBeiftentjofen, fo tjiefi ber £)rt.
9taul) roar'3 bort, rau^e Suft, raufjer ©oben, raulje Seut\ S)a£
$)8rfel lag auf eincm ©erge, cin $)ufcenb £dufer etroa, ber fteilen ©trafc'
entlang, ba§ roar 2We£, unb bariiber roeg gudte toom ©ergfamm bie
Sirdje roeit in'3 Xfjal 3$ mid) oft gehmnbert, bafi SHrdjen einfam
im 2anb toerftreut liegen, in roetdjen bic ganje ©emeinbe Pafc fdnb\
triig1 and) 3cber roie eine ©djnede fcin £au£ auf bem 9titden mit 2Bar
ba etnSmate eine ©tabt tjerum, obcr fottte einc toerben? SBer fann'S
fagen? SBaren e3 toergeffene ©nabenortc, toon benett mit bcr 3dt SBunber
unb SOSatlfa^rer toeggebtieben finb, bic cinen obcr bic anbern toorerft unb
iulefet attc beibe? SBcr roeig c§?
©erab* fo eine ubermdd)ttg grofee Strdje roar bic 2Beif$enf)ofuer. 2tn
ber etnen fjoljen ©citenmauer, ret^t§ toom ©ingang iibcr (£d\ roar
^Pfarr^au^ angcflebt roie ein flein1 SSogctneft unt1 an cittern ©teinblod
unb roar nur cin ganj roinjig ©artel, nad) toorne ^crau^, babei.
moi)V rool auc^ ba auf bcr £>ofje ni^t toicl SBad)^tf)um teiben.
S)a3 ift cin arm' $farrf)dufet geroefen, ba^ ndmlid^c, bem id) ju^
gef^ritten bin, f)at jroar ein ©todrocrf auffifeen gc^abt, roar aber 2llle£
fo nieber unb gcbritdt, brei fleinc toieredigtc ©udcrtn obett, untcn jroci
unb an be3 britten feiner ©tctt1 bic female 2:^ur'; roie id) bie auftlju'f
ift ba^ Srfte, roaS id) fc^c, bie bide $farrfod)in toon SRobenftein unb
Das Siinbftnb.
W5
ba3 3»eitc bic au3gef)ungerte $afc\ ®3 todr' fd^on, baft id) gefommen,
fagten fie. S)ie 2llte bebeutete mir, mein ©ruber lag1 jtoar red&tfdjaffen
barnieber, abcr icf) m'dfyV ifjn nur fragen, ob cr nid^t alP gutc $fleg*
unb SBartung l>fitt\ Uttb bic Sunge tjiipft auf midf) ju, fdjldgt mir in
bic £dnbe, afe todren toir all1 3^it f)cr bic beften greunbe getoefen unb
fagt: „3d) f)off\ toix fricgcn iljn balb ttneber au§ bcm ©ett, fran! ift
mir Scbtocbcr juttriber!"
Unb nun toerb' fic iljm'S fagen, baft idf) ba todr\ Damit fdjieftt
fte bic furje Xxeppt l)inan unb ttrirft f)inter fid) jtoei Sfjiiren in'3 ©dfjloft,
baft cin ©efunber baju tjdtf ftudjen m5gen.
3d) frag1 inbcft bic Stlte, ob fic bcnn ba fjeroben ganj aUcin todren,
ob Siicmanb fdm\ 9Jad)fd)au fatten?
©ie fagt barauf: fic todren tool bic meifte 3^it tagiibcr attein,
abcr gegen 2lbenb fdm1 bcr 4>ofjfd)ni§er auS'm Drt Ijerauf, bcr fjdtf
ba£ Sdutcn itber unb tt)dt and) miniftrircn. SBenn toa$ notfjig fcin
mod)^, fo fdf}' bcr baju.
„<&," fag' idf), Jam bcnn bcr ©ruber nodf) fflteff1 lefen?"
„2BoJ}(," fagt fie, bag fjdtf cr bis jefct nod) 2ag fitr £ag gct^an;
Don fcincr ©tube au3 ging cine Xfjitf* auf einen furjen ©ang, iibcr ben
mar1 cr mit paar ©cfyritt1 auf ber Scanjet unb — bic %xtppt l)inunter —
mitten in ber ®ircf>e.
SRun toitt fie juft cin Sanger unb ©reiteS anfjeben, mic ba3 bent
©ruber nur mftglid) todr1 bei alT ber guten $fleg' unb SBartung, —
abcr ba poitert bic 3ungc fjerunter unb fagt, bcr Seopolb tf)dt' midj
ertoarten, — fo fag* id), fic foil ba3 ©djnattern fitr fpdter fein laffen,
unb fteig1 (angfam bic ©tiegc fjinauf. 3d) ntadf)1 bit %f)ftx oben auf
unb fomm1 in ein HeineS Sammerl, ba§ hotter ©crumpelmerf ftecft, bann
tret' id) an bie jtoeite Sfjitr unb ffopf leif an, unb matt, tok toenn
cin berfcfftafeneS ®inb e» rcben modfjf, fagt e3 brinncn: §erein!
3$ get)' ^incin unb gerab' gegeniiber licgt ber Seopofo im ©ett.
SluSgefcIjen t|at ct, tPtc man ben (£ljriftu£ aufm Sreuj maft. 3d) 6in
bageftanben unb fjab* nit gettmftt, toa$ id) fagen foil unb fefjre midlj cin
ttjenig urn, bamit id) bic £t)iir t)inter mir in^ ©dfjtoft jic^e; unb mie ic^
mid) toiebcr aufric^t1 unb i^m jutoenb', ba ftrccft er bcibe elcnb tjagern
Strmc gegen mid^, ein paar ©direi, ticf auS bcr Sruft ^erauf, erfticft e§
ifjrn, bann fdngt er an fjettauf ju toeinen toic ein Sinb. I)a §aV \6)
nteincn £ut mitten in bie ©tube geioorfen unb bin auf i^n ju.
„3efuS, mein ^eilanb! Seopolb, toaS ift mit Dir?!" $ab' ic$ gc^
fc^riccn. ®r aber I>at mir mit fcinen fd^malen, fester burd^fd^einenben
gingcrn iiber^ §aar geftridjen, — toar fd^on ein toenig graueS barunter,
— unb t)at in ein'mfort gefagt: „3)u bift mir Hue mein Sater — SKartin,
— 3)u bift mir toic mein9Satcr!" Unb toon &tit ju Beit f)at er Ijinjus
gefe^t: „9Serjci^ mir!"
n*
£. 2ln3cngruber in Wxtn.
3df) aber f)aV mir mit feinem SEBort toermerfen toff en, mie mid)
fcin £au3ftanb betroffen unb fcin 9Iu§feI)en erfd)redt tjat.
Unb tt>ie er mieber rugger 'morben ift, ba f)ab' idf) meine Slrme
miijfen iibcr feiner SBettbede liegeu laffen unb er Ijat ntir meine rauljen
^foten gebriitft unb geftreid)elt, bie §anb' — Ijat er gefogt — bie ii)m
ate fleinem SBub'n S3rob erarbeitet fatten.
3)a ijaV idj midj jufammenne^men muff en, baft id) ntd)t meinM
3fuf einmal letjnt er fid) juriid, fdjaut gems fetter unb fagt: „3d)
mod)f mot aud) lieber foldje ^anb1 Ijaben."
„5Kun," fag' idf) b'rauf, „an benen ift bodE) nit Diet ©auber'S!"
(Sin ganj ftein menig t»crjief)t er ben 3Jtunb jum 2ad)en, neigt fid)
'maS ju ntir unb fagt teif: „2)u t>crftc£)ft midE) nit, SDtartin. 3d) mitt
3)ir maS fagen, — ©eiftlidjer tyatf idf) nit merben follen."
Sine 2Beif maren mir aQ^tuei ftitt, bonn Ijat er mieber angeljoben:
„3Jlartin, niemat Ijdtf id) bann bie Slnbern fennen geternt," — er Ijat
nur bie #anb ein menig geljoben unb fcine brei ginger an i^r bemegt unb
bod) I)ab' idf) tool)! gemuftt, men er mit ben „2lnbern" meint, — „niemal
ljdtt1 tdE) bie Slnbern fennen gelcrnt unb nad) ber SKobenfteiner 3JltyV Ijdtt1
id) t)ietteid)t bodf) Ijingetroffen unb e3 mar' Sitter gut gemorben."
„Denf nid)t baran," fag1 id). Darauf maren mir mieber eine $tiU
lang ftitt, mit einmal fragt er: „2Beiftt £>u, baft fie getjeirattjet Ijat?"
„$ie aRarie^Sief?" entgegn1 id).
„Die aKariC'Sie}*/' fagt1 er toor fidj I)in unb meiter ju mir: „aJlartin,
3)u madjft S)ir !einen ©egriff, mie fjart (Siner lauft, ber in einem ©ad
ftedt, ba foftet'S red()tfdE)affen 2KiiI)\ fidf) aufred)t ju fatten, fomm1 iljm
nodf) mit ©djtingen, fo fdttt er bat)in. giir mid) mar bie Sutte fo etn
©ad. grei tiiftig in Snieljofen mar1 id) tool mit alien 2tnbern einen
2Beg gegangen, fo Keg1 id) jefct abfeit toon alien, feinem ju nufc unb
mir felber gram, ©ruber, — fdfjreit er, — id) bin untoerfeljenS, mie
SSilb in bie ganggrube, in bie ©djanb1 gerat^en unb ify ^ab* mid)
ifjrer gefd^amt mie oieHeid^t nit ber argfte ©iinber beffen, ma§ er mit
Sorfafe unb au£ SSo^^eit get^an. 3^ toSr* audj nit barin tterblieben,
^att' fid) nur fuY3 @rfte 3ltle^ toerljeimlidfjen laffen, baft fid^ ^etne^
fcfyeut, mir bie rcine §anb ju reid^en, an ber ic^ midj ^erau^jtnb' unb
mieber ber SESctt unb Sltten ange^oren mag; aber ba£ muftten bie Stnbern
redjt gut unb bie moHten mid) fur fid) unb barum Ijaben fie fidf) o^ne
©c^eu unb ©d)am geberbet, baft batb SltteS offenbar loar fur ganj
SRobenftein, toom 3orftf)au§ an bem einen ©nb1 bi£ jur $Jlu1)V am
aubem! Son ba an I)ab* ic^ fein freunbltc^1 Slug1 melfjr gefetien unb
bie blauen, ja, bie blauen, bie finb mir ju Iru^ immer abgetoenb't
geblieben. Unb meil fie mir bo§ mar, ift fie mit einmal ©inem gut
getoorben, ben fie fritfjer nid^t ^at au^fte^en mbgen. S)ie Seute ^aben
bie ®bp? gefc^iittelt unb i^r mentg ©ute§ ^rop^ejeit. ©o ift bie $t\t
Das Siiit&ftnb.
Ijerangefommen, too idj fjiefjer auf bic $farre mufcte. Sluf mir lag,
toa$ balb Sinen &u 93oben brutfcn faun: ©fyr' unb gricbe toaren toer^
fpielt, bie, bie mir*£ abgetoonnen, fjingen tt>ie Sfletten an mir, unb ba3
93i£d)en ©onn'nfdjein, ba£ mir im Seben getoorben, follte id) in SRobcn-
ftein bafjintcn laffen, — aU aber bic ©org1 urn fie, bcr idfS toerbanfte,
bajufam, ba bradj id) baruntcr jufammen unb ba griffcn fie mid) auf
unb fittjrten mid) Ijieljer unb id) liefe mid) fittjren."
Untcrbcm mcin 93ruber fo rebet, Hopft e£ an unb cin bierfdjrStiger
®erl tritt Ijerein, fagt: „©utcn 2lbenb, &od)ttmrben" unb nimmt einen
©djKiffel toon bcr SSanb unb gef)t bamit toieber fori ©3 toax bag bcr
§oIjfd^nifecr unb ift toegen be3 StoeldutenS gefommen.
Sine 9E8cit% nadjbem ber gegangen, fagt mcin ©ruber: „Unb fie
fjat eS aud) nit gut getroffen."
3nbc§ ^cbt e3 ju tauten an, bic SBeiber uutcn betcn taut: „$)er
@ngel be3 §crrn bradjte SDtaria bie Sotfdjaft. . unb id) ftimm1 oben
cin. SKein ©ruber f)at toeber laut nod) im ©tiHen mitgetljan, fonbern
fid) jurudgrfefjnt unb ftarr t)or fidj Ijingefdjaut.
9iad) bem Sduten fommt bcr &o(jfd)ni$er ttrieber, fjdngt ben ©djliiffet
an fcincn Drt unb fagt: „£odjttmrben, toenn Su mir 'teidjt toaS woUen
tfjatft . . ."
SWcin ©ruber l)at ben ftotf 'beutctt.
3)er ^olsfdjnifcer fdjaut if)n an, fraut fid) {jinter'm Dfjr unb fragt:
,,©011^ id) 3Mr nit bod) cin1 toon bic anbern ?Pfarrer, ba f)erum, fjoten?
6ttoa ben toon 9Rof)rf)aufen ober toon ©ulb^borf? '3 fetn bic nddjften unb
ift cin 2Beg ju eincm tok jum anbern."
„&a$ mid) mit grieb*, £oIaf<i)nifeer=93eit," fagt bcr ©ruber. „©er*
tangt mi<f) na<f) (Sinem, toerb* idj'S fdjon fagen."
„@i meiu," fagt bcr ©eitet nod) untcr ber £l)ur, „ber Scut' toegen
foflf£ ^att bod) gefdjefjen, fdjon bcr 2eut* toegen! 9la, gut1 5Kad)t,
^odjnriirben!"
„3a, \a," brummt bcr Seopolb, „tt)ir foUten tool (£iner ben Stnbern
abljoren tone ©d)ulbuben beim 9tu$foenbiglernen?!" 3)arauf toerljdlt er
fid) mduferlftiH, eine geraume SBeiP, immcr Idnger unb nue id} ndfjer
jufe^, licgt er mit gefdjtoffenen 2tugcn unb fc^ldft, ba ^eb1 i^ mic^
fa^t t)om ©tu^t, ge^1 auf ben 3^cn iiber bic ©tube unb fteig* ^inab
511 ben SBeib^Ieuten.
Sie rdumten mir fiir bic 5Radjt bie untere, ebenerbige ©tube, too
fic fiir getoofjnttd) i^re Siegerftatt fatten. 3c^ tooHf e§ erft nid)t an-
ne^men unb mcinte, in bcr Sudjc todt1 tcf) gerab* fo gut aufge^oben,
aber fie fagten, baS ging1 nidjt an, ba f^Iicfe immcr eine§ Don i^ncn,
bafe [it jur §anb wdren, toenn ettoa bcr Sruber 'toa§ bebiirft unb
roenn [it fiir ben 3att an mir tooriiber miifetcn, fo f)atf ify feine rul)^
fame 9tadjt.
M8
£. 2In3engruber in
IPtetu
3$ fagte nod), bafe id} mir'S aufbetjatten $&tt\ morgen frii^ bie
Sircfje anjufeljen, tt>eil idj n\i)t t)eimfa!)ren mSdjt1, oljne brinnen ge~
mefen $u fcitt.
©agt bic Dim, ba3 ja^Ie fid) mol au§. 2)amtt gaben tpir uns
gute SRacfyt.
SRittcn in ber SRac^t merb1 tdj gemedt, fteljt bie 3)irn toor mir,
tyat in ber cincn £anb cine Heine Satern1 unb in bcr cmbern cincn
groften ©dfjliiffel.
3dj fatjr1 in bic £>5tT: „§immlifd)e SWutter! 23a3 ift benn ge=
fdjefjen?"
„9Ud)te," fagt fie. „Somm' bic Sirdje anfdfjauV
^SBift 2)u narrifd)," fag1 id), „bafe 3to folc^c ©tiidcln angibft? #ab'
id!) nit gefagt, morgcn friit) fat)1 idj fic mir nodE) redjtjeitig genug?"
„®tty nur ntit," fagt fic. „3)ie ®ird^ madE)t fid) im 3Dtonbfd)ein
trie! fd)5ner ate im SKorgcngran nnb bann ift e3 juft fait, menu S)u
ma3 fetjen mittft, ma3 man nnr jefet in bcr 2Ritternad}t£fftmb, feljcn
fann."
„93ieHei<f)t gar cincn ©puf?" frag1 ic$ oerbriefcttdf). „3)abei toerlang'
icf) mir nit ju fein." 3Kit ben SBortcn fetjr1 id) mid} auf bie anbere
©cite.
©ie tljut, ate motif fic fortgeljen nnb brummt: ^ein'tmegen. 2>u
mittft alfo 3)einen ©ruber nit prebigen t)5ren?"
„$rebigen Ijoren, jefct nm 3Jlitternad}t, toor Iccrcn Sanfen?" fdjrei*
ic$ nnb bin mit etnem ©afe au£ bem Sett. „Um be3 blutigen $>eitanb£
mitten, ba meif1 mid} bod) juredjt..."
„2)a fdfjau1 5)u nur fclber baju," fagt fic. „93erf&umen mir un3
nit langcr, eg modjf fonft ju fyat merben." 3)amit ftettt fie bie Saternc
meg, legt ben ©cfjtiiffet neben, bafc fie bie £>anb' frei friegt, mirft mir
toom ©effel mcinc ©emanbftud1 ju nnb Ijitft mir t)incin. ©o unfdfjenirt
^ab* idf) balb fein altered SBeibSleuf gefetjen mie biefclbe Sungc.
3)ann fafct fie ba3 SBeggelegte mieber auf unb mir ge^cn au3 bem
£auS. Sluften ift fetter SDlonbfdjein gelcgen unb fdfjarf ift bcr 2Binb
iibcr bie $otj' geftridEjen. S)ie S)irn ift Dor mir Ijer, bie offencn £aar*
t)at e3 iljr nad) toornuber gemetjt, fie mar barfufe unb ^atte nid^tS am
Seibc ate ein ^cmb unb eincn Sittet, bcr ^at batb geflattert, balb fic^
urn fie gefdjtagen, ba^ Std^t in ber Satcrne f)at fie mit bcr £anb beden
miiffen, bic Ijat glut^rot^ au^gefe^cn, ate brennte fie, menu id) fna^p
^tnter^er trat unb mar mic derlof^en, menn id^ eincn ©d^ritt juriidblieb.
3)a fam mir bie 3)irn nimmer mic cine auSgetjungerte ^a^e, fonbern
mie cine rid^tigc $eje Dor unb ba3 me^r unb metjr, nad^bem mir unt
bie ©de ^crum maren unb t)or bem groften Sird^t^or ftanben unb fie
ben ©djliiffet in ba§ ©d)Iofe ftiefe unb id^ fo ncben ftanb unb i^r in'§
©efid^t fa^, barauf ber SDlonb fdjien; bic 3a1)nt ^attc fie auf einanber
Das Sitnbfinb. ^9
ge^refct, iljre 9tugen glanjtcn unb bamit fa§ fie toor ftdj Ijin, gerab' aug,
al$ ob burd) bag fdjtoere SirdEjenttjor burd).
Site toix ba^ off en fatten, traten toir ein. @g mar em grofteg,
fdjdneg ©ottegfjaug mit reicfjen 9tltaren, an ben genftern toaren, — tool
t>on alt Ijer, — farbige Silber, aber mit ber fttit molten einjelne
©dfjeiben auggebrodfjen fein nnb an beren ©tell1 gab eg jefct toeldjc toon
einer garbe ober gar toeifte, }o bafe bie ©djilbereien geflidt unb burd);
lodjert augfaljen.
3<f) f)atV mi<f) faum umgefctjen, fo fd}lug bie 2f)urmul}r rafclig unb
Ijart: jtoolf, inbem fnarrt oben an ber Sanjel bag Iljiircfjen unb ber
fieopotb tritt tjeraug. ©crab' iiber, burdf) eine toeifee ©lagfdjeibe ift ein
tjefler 2id}tftreif tjereingebrodfjeu, l)at fid) quer iiber bie ®anjel gelegt
unb meine'g Sruberg ©efidfjt getroffen unb id} fef)\ ber fjat bie Slugcn
gefdjloffen, toie fd}lafenb.
„Sefug, 2Jlaria," fag' idf) leif Dor mid) fjin. „®r ift monbfud)tig."
Unb faff bie Sim1 am 2trm unb frag1: „©eit toann ift er fo?"
„©eit ttrir ba ftnb," fagt bie. „93on ber crften 9ladf)t, feit toir ba
ftnb, treibt er'g fo unb immer bag ©tcidje. 3$ bin iljm nit ein 3Jtal
nadf)gefd)tidjen."
Snbeft fniet er oben auf ber Synjet, bie gefalteten ^anb' oor fid}
auf bem gepolfterten 9ianb, ben ®opf boriiber gefenft, gleidfjfam mie in
ftitlem ©ebet unb jur ©ammlung, toie audf) oor einer ^rebigt itblid) ift.
2Kit einmat erljebt er fid}, beugt fid) ein toenig toorniiber, atg toaren bie
®ird)ftul)P unten roller Seuf unb bie tooflt' er crft muftern, bamt toirft
er beibfeitig bie 9trme toon ftdj unb ftefyt bo toie (Siner, ber fagen mddjt1:
©dfjlagt mid} tobt, menu id) eud) ein 9tergernift gebe, aber idf) fann ntd)t
anbergl Sag f>at er nun tool nid)t gefagt, aber mit einer ©timm1, toie
©ineg tool im 2raume tyriefft, l)at er bie SSorte gerebet: „3d) tr»ci§
Don nid}tgl" Unb bann no6) einmal, — bie ^ftnb1 gegen §immel ge;
toorfen unb bann bargelegt, alg toeif'te er bamit auf Sltteg inner unb
umfjer ber S?trd)\ — „3d) toeife Oon nid)tg!" Sarnadj toanbte er fief)
um unb ging.
2Jlidj f)at eg fait iiberlaufen. „$olbet," ruf id}, „fo toeit bift
faon?"
3)a lad)t bie §ttf Winter mir.
„2Bie magft $u baju ladfjen?" frag id) finfter. ,f2Bittft Du t)iettei^t
aud^ fc^on nic^tg wiffen um 1n ©lauben?"
®a fagt fte rau^; „SD?einft Du, id} toeift nit, ba§ ic^ ein ^faffen-
finb bin? Unfereing fotft1 gar nit ba fein. ©ab'g ein1 ^errgott, fein'
©nab' liefe bie gltern nit fef)len, ober fein 3otn miifet1 fo Sinber t)er^
nid^tigen. 3tber id^ benf, id) bin gerab1 lang genug getoad}fen, bafe \6)
Sir big unter bie SRafe rcidE)* unb fo fann id) tool nit iiberfe^en toor*
ben fein."
\50
£. 2ltt3cngrubcr in IDien.
Stm anbern 2Rorgcn treff id) meinen SBruber rcd£)t fcf)Iedf)t, ben
lag f)at cr fcine 9Jteffe lefen fonnen. 3d) tucife nit, ob er um fein
©djlafmanbeln gemufet f)at, id) ijaV mtr nicfytg batoon mcrfen laffen, bag
id) iljn bergeftalt gefefjen §ai\ bin abcr eben be3l)alb cine SBeil1 ganj
fcf)cu neben feiner Sicgerftatt gcfcffenf bann abcr tjat cr angefyoben Don
feinen Sinbertagen ju reben; eg mar merfmiirbig, mie cr fi$ babci auf
bag Slflergeringfte befonnen Ijat unb mir f)at gefd)ienen, atg menu tfjn
ba^, inmittcn bcr 9W, oft felber SSunbcr natjm1.
2)a icf) gefefjen f>ab\ baft ifyn bic Stnfpracf)1 mit mir auffjeitert, fo
f)ab1 icf) bag #eimfef)ren aufgefdjoben unb bin gcblieben.
©tiidl fiir Stiicfl Ijat er fo fetne Seben^eit toorgenommen unb mir
fjaben pe mit einanber burdjgef proven, Don ber &it an, mo cr im
$inberf)embert iiber ©tube unb §of gelaufen ift, big mo er in bic ©dfjut1
fam, — ut1g Seminar, — nad) Stobenftein ....
2)ie Sonne mar fdfjon fjinunter gcgangen, afg mir mit unferm ^laufd)
ba anfamen, mo mir marcn — in SBeifjcnfiofen.
„S)a Ijafg ein ©nb1," fagt1 id), „unb eg bleibt mcitcr ntdjtg ju er*
,,%at fa/1 fa8*e mc*n Stuber nadfjbenflidf), „ba fjat'g cin Snb1 unb
eg bleibt meitcr nidfjtg ju erjafjlen."
3<f) fdjau1 auf i!)n.
Sr lafct einc SBeiP ben Sopf fjaugen . . . „3Jlartin," fragt er mit
cinmat fjaftig, „bift 2>u nocf) ba?"
tl3latf bet ber |>anb," fag1 ic$.
„©ib mir bie £anb," fagt cr . . . „S)u IjSr1, SDlartin, mir ift —
idj fount' Srir'g gar nit fagen mie."
„©efd()ief)t Dir fjart?" frag' id).
„Sben nit" feufjt er, „aber mir fdjeint, 1g ©nb1 biirft1 ba fein."
„Denf bocf) nit," ruf i<f) unb mitt auf, bamit id) ung cinen Set*
ftanb fudj1.
Sr aber Ijalt mic§ an bcr §anb juriid. „2a^ gut fein," fagt er.
„£>efc1 mir nidjt bic Slnbern auf ben £alg. 3$ frieg'g attein fertig."
„^PoIbeI/' bring1 idf) in \f)nf „eg mirb bod) nit fein, abcr toenn1g
fottt1, fo toergifc nit auf ©ott."
£>a briidt1 cr mir bie £anb. „S)u mein §er}bruber," fagt er,
S)irt gut, gef)1 3)ir*g nur redfjt gut! Um mid} forg1 2)idj nit.
©eratfje id) audj mo anberg f>in alg nur untcr ben fiifjlen SRafen, mir
ift nit bang; id} benf1, mit ein'm ©ott im &immel I5nncn mir ung
tuofjt toerftef)en unb eg braudjt ung gar nit ju gut ju fommen, mag mir
um ben auf ©rben gefitten tiaben."
„a9ruber, ©ruber/' — bitt1 \6) if)n, — „Iafter1 bod^ xiitV
„3)u tjerfte^ft'g!" fagtc er unb ladjett flein mcnig. „3d) ^ab' tang1
fein1 fo anbadjtigen ©cbanfen mdjr ge^abt mic ben."
Das Siinbfinb.
ffS^i fa/' ftimm' id() ju, „mag fd^ott fein, baft idE) bamm nidf)t3
t>erftef)\ aber jefct Desalt1 Dicf) ein toenig ruljig." Denn id) t)ab' ge~
merft, baft ifjn ba$ Sfteben angreift, toenn e£ audi) fein Iaute3 getoefen
ift, bod) Ijat cr ton fritf} ab faft in cinem 3ug toeg gefyrod&en. 2)enf
id}, f^atcr bercben toir i§n toot nodf). 2)er §o!jfdf)nifcer;a3eitt l)at 9tedjt,
fdjon bcr Sent' toegen foil cr ben lefcten Xroft nit juriidttoeifen.
©o ift'S mauferlftttt getoorben in ber ©tube.
SRadj einer SSiertelftnnb' ettoa Ijor1 id) itjn fagen: „3a, fa, nun
ttmren toir jufammen, nnr muftt midE) nit fo feft urn bie 83ruft nefjmen."
3)amit toirft er ftdf) mit einmal — tin! ift er gelegen — redE)t3 fiber,
tljut ein1 tiefen Sttfjemjug unb au3 toar'S.
SKid? {jat'3 torn ©tu^I in bie $'6fy geriffen, id) {jab1 mid) iiber
ifjn gebeugt, lein §aucf) ift metyr ton ttjm gegangen. 3$ toax lang1 nit
im ©tanb, iljm bie 2tugen ju fdfjtiefcen, fo unfidfjer toar id) in ben
£anben unb id) tpottt* i§n nid)t l)art anriifjren. ©nblidf) (jab1 idf)'3 bodE)
jutoeg1 gebradjt. 2)ann bin id) fort, unter ber Zfyiix fyaV id) mix itjn
nod) einmal betradfjft, true fo ftitt er baftegt, f)ab' „93W 3)id) ©ott,
v$otbet" gefagt unb ba3 ©djtofc fadjt Winter mir jugejogen.
SBie id) l)inunterfomm\ Jjaben bie SBeibSleut1 gleid) aufgefdjrieen:
„9Jlein 3efu3! 3Ba3 i)aft Du? SBaS ift gefd)el)en?" ©ie fatten aud)
blinb fein miiffen, toenn fie mir nidfjtS angemerft fatten, ©ag1 td) bar^
auf: „2)er SBrubcr f)at'3 fdfjon iiberftanben." Sine SBeif IjafS gebauert,
bis fie fid) befonnen §aben, toaS fie eigentlid) gel)drt fatten, bann aber
f)at bie 2llte taut §u l)euten angefangen unb tootlte auf midf) ju, idE) l)ab!
fie aber abgetoetjrt, unb fie ift bie Xreppe l)inaufgerannt. Die 3unge
ift ganj erfdfjretft unb fd)eu nad) einer ©tubened1 juriidgetotdjen unb
bort geftanben, o^ne fiaut unb ©eberb1, toie ton ^olj. tin t)or^
jpauS getreten unb bin gegangen, fort unb fort, bi3 idj ^eim getroffen {jabe.
Stm jtoeiten lag barauf toar bcS SruberS Segrdbnife, ba mar icfj
ein 5tt)eite§ SDlat in SBeifcenljofen, — tpie id^ benn audj jtoei 9Ral in
Sftobenftein getoefen bin, — ba tyab1 \6) bie beiben SDSeib^teut1 nodj einmal
gefe^en, f either nid^t toieber, toeife auc^ nid^t, tuaS au3 i^nen getoorben.
®Ieic^ nai) bent 93egrabmfc ^ab1 id^ mic^ auf ben §eimtoeg ge*
mad^t. 21IT mein 3)en!en ben toeiten SBeg iiber toar auf ben Seopolb
geric^tet. ©o ^ab1 id^ benn aud^ fein ©nb1 mit anfetjen miiffen, toie
baS fo trieter meiner ©efd^toifterl Stber id^ mein1 ljeut nod^, baS ^atf
e3 nit 3lot^ ge^abt, ^att1 tf)m bie SWutter fein Scben gegonnt, toie fid^^
fret ton felber j)erau3getuadf)fen ^att1! Die Sinber miiffen fo toie fo fiir
ber (SItern ©iinben biifeen, gegen ba3 3tngebor'ne fommt ©iner gar nit,
gegen bag 3tngetool)nte nur fdjtoer auf unb toie i^m ba3 auftiegt fiir
aW fein1 Xag\ bag miiffen bie 8llten Ijinterfjer mit anfe^en Sore^
mu§1§ bie SKutter gerab1 nit fiir eine fo grofce ©iinb1 ge^alten ^aben,
benn fonft ^att'S niemajt auf ber SBett einen ^ed^leitner^olbel ge^abt,
\52
£. 2In3engruber in tPten.
toenn fie ficty'g nadf) ber £anb einbilbet, eg todr* cine, fo Ijdtt'g baju=
fefjen fotten, tote fie fidE) mit'm £errgott abfinb't. ©i ja, in bie ftutte
f)at er miiffen, bie tyat freiftdj grofjere ©acf toie cine Sauernjoppc unb
ba getjt attc frembe ©imb' tyinein, aber ba foil Seiner auf eigene gauft
eine begetfn, too brdcfyt1 er bie audE) unter?
SBenn idE) nur bamal meinen Sopf aufgefefet ljdtt\ .toie bag geplant
toorben ift, idj t)ab' bod) Unveil toorfjergefetyen unb fyaV bod) getou&t,
bie SDlutter ift ein alt1 2Betb unb bet Sieten toadEjt bag ©etotffen auf,
toenn ber SSerftanb einfdjldft! ©Iaub\ ©tyr1 unb grieb' tydtt1 er nit
toerfpielt, benn ber SBauernftanb fartelt nit mit fo fjolje ©infdfc\ $>eut
nod) lief mir ber 33urfd^ frifdjlebig auf meinem £of unter ben Slugen
fyerum unb neben — fliebereg toertangte id) nidjt, — bie 2Rarie*2ieP
mit Heiner 2Baar\ unb er fagte mir einmal ^efjut1 ®ott" unb eg tear*
ein grofe' Srdnfen urn ben alten Dnfet. Sefct flennt mir loot feine nacty.
Unb bag mar', bag todr1 9ltleg fo getoorben, toie idf) fag1, id) toeifc
bag, benn bie 9Karie=Sier bie f)ab' icty nod) einmal toieber gefetyen.
aSierje^n Satyr' toar'g nacty bem Sruber fein.en 2ob, anberttyalb toor tyeuer.
ipanbelg unb SBanbelg toegen toar id) am Sttterfeelentag gerab1 naty' bet
SBei&entyofeu. 3)enF tdf), getyft tyin, ein SSaterunfer auf beg ©ruber*
®rab beten unb bort tyab1 icty fie getroffen, bie SWaric=£ief, ein ftattltcty
SBeib, fctyon feit actyt Satyr1 SBittfrau unb fie tyat audty nit toieber ge-
tyeirattyet big auf ben tyeutigen 2ag, neben ityr ift ein SBiirfctyel geftanben,
bag mit grofcen blauen Slugen gar ernft barein gefetyen tyat, er tear ityr.
2Bie id) tyinjufomm1, ift fie gerabe nit uerlegen getoorben, bag fbmtf id)
nit fagen, aber fie tyat fidE) ein toenig jur ©eit1 getoenbet, alg fottten
mir ©ing auf bag 3lnbere nit adfjten.
„9RiitIerin," fag' idE), „Du fennft mid) tnetteidfjt nimmer, id) bin
befe' ©ruber, ber ba unter ber ©rb1 liegt, unb baft idf) S)i(ty ba be-
treff\ — toag mir gar eigen, tootyl unb toety ju £>erjen getyt, — ba
bariiber tyaft 3)u 3)icty nit ju fctydmen."
„3lt'm," fagt fie unb ttrir tyaben ung iiber feinem ®rab bie ^dnb1 gereictyt
©i, S)u arm' ©unbfinb, 3)u, tok muttytoitlig ift S)ir bie greub1
am Seben jernidjft toorbenl ©elbft toom Stdd^ften jum Stddjften finbet
fid) toenig @int)erftetyen unb ©rbarmnife auf ber SBelt. tyab1 an
feine jtoei ^errgotter benfen mtiffen, ber eine fiir auf ©rben, ber anbere
im ^immd; lang* fann'g nimmer bauern, fo get)' id) auf SRimmerfetyr.
unb ba tt)dr' mir tool lieb, idj fdnb1 ben jtoeiten unb todr' bem gerettyt'
SRun, toie'g toirb, id^ toerb'g fctyon inne toerben, SlUe toerben toir'g inne
toerben, tote toir ba ft^en. 9tiid' mir ©iner bag geucr^eug Ijerauf, bie
^Jfeif t)at tang genug gefeiert, idj mufe mir bie ©riflen augrauctyem,
bie tourlen mir jefct fo t)icl tyaufig im Sopf tyerum, feit id^ fiebjig jatyr unb
Sliemanb f)ab\ bcr fid) bariiber freut, benn fetber ttyut man'g ja boi) nit"
<£rml bu Bois^Heymonb.
€ i n £ebensbil6
von
% fiofentljal-
— (Erlangcn. —
cr Slufforberung, cin SSegleittPort ju bem SSilbe meineS toer=
)rtcn Sc^rcrS bu 93oi£*9?et)monb ju fdjreiben, fommc id)
icf)t ofjne 3a§cn nad}. Dcnn id) bin mir fc^r toofjl bettmftt,
n>ie fitter btc mir geftettte Stufgabe ift. $er 2)i<J)ter obcr
bcr bitbenbe Sitnftler ftc^cn in itjrem SBirfcn bem ^ubtifum natjc, man
fennt iljre SBerfe, nnb toer toon ifjrem Seben unb ifjrer ^erfonlidjfeit
fprid)t, fann auf tf)eilnef}menbe unb toerftanbnifctoofle fiefer recf)nen. 2)er
©etcfyrte aber, bcr nur an ben fieincn ®rei3 toon gacfjgenoffen fief) in
feitten ©cfjriften toenbet, fann tool, toenn fcinc 2t)dtigfeit iiber ben Srete
bcrfclbcn f}inau£ befannt gemorben, fei e3 burd) befonberS ljcrtoorragenbe
Setftungen obcr fonftigc Umftanbe, cin popularer 3Kann toerben, toon
bem aHe SBelt faridjt; aber toenn man nun toerfud)t, fein SBirfen, fcinc
eigenttid^e toiffenfd)aftlid)e 93cbcutung barjulegen, ft5fct man bod) auf faft
uniibertirinbttdje ©d)ttrierigfeiten. SBic foil man ben ©tanbpunft bartegen,
auf ttjetdjem bic 2Biffenfc§aft ftanb, ate bcr gorf^cr fcine £f)atigfeit
begann, toenn bcr ©egenftanb, urn toeldjen e$ fid) Ijanbett, toottfommen
unbclannt ift? Unb ba3 fann ober mufc id) toielmefjr toon ber Sfflefjrjat)!
mcincr ficfer toorauSfefcen bei cincm fo fd)ttrierigen unb tocrmitfcltcn ©ebiet,
ttne ba§ toon bu 93oi£;9iet)monb bearbettete, tt>elc^e§ fclbft untcr ben
©defjrten toon ga<J) nur cincn Hcincn SreiS toon Scnncrn tjat, bem gropen
^Sublifum aber toottenbS ein S3ud) mit fieben ©iegeln ift, bem $ublifum,
toetcf)e§ burd) bic SRid)tung, bie nun einmal unferc Sugenberjieljung gc^
nommcn ljat, tool IciblidE) toorbercitet ift, ba3 SBirfcn eine3 ©ef<J)icf)t§;
unb 9laturforfd)er§ einigermafcen ju nmrbigen, bem e3 aber meift an ben
SSorfenntniffen fefjtt, urn cine ©ntbecfung obcr ©rfinbung, tt>ie j. 93, bie
3* Kofentfyal in €rlangen.
beg Slugenfpiegelg burdj £>etmf)otfe, ju fcerfteljen, obgleic^ biefe in ber
' ©efdf)id)te ber 3Jlenfd)I}eit cine gr5&ere SBebeutung f)at alg fefjr titelc
Singe, toeldje in ber 2BeItgefd)idjte geletjrt ju toerben pftegen. SBenn
id) nun trofcbem bem an mic§ ergangenen SBunfdfje golge leifte, fo mufj
id) babei bie greifjeit fiir mid) in ?tnfprud) netjmen, sur GErtauterung
ber SBirffamfeit bu 93oig'9tegmonbg ettoag foeit augsutjoten.
Smil bu 93oi3;SRetomonb ttmrbe ant 7. Sftofcember 1818 ju SBerlin
geboren. ©ein Sater toar ein fettener SDtann, toetdfjer burcf} Slrmutl)
unb (Slenb fid) burdj eigene Sraft tjinburdfjgearbeitet fyatte ju einer gc^
ad&teten ©teHung unb toeldjer bem ©oljne cine forgfaltige ©rjie^mtg ju
Ifjeit tocrben lieft, in bem SBunfdfje, bag, toag tyrtt ein toibrigeg ©efd^icE
uerfagt tjatte, ein ©elefjrter don Seruf ju foerben, an bem ©oljne
erleben. Unb eg gelang iJ)m in ber %^at, ben ©otjn ju einem ber be=
ruljmteften ©eteljrten fetner &\t Ijeramoadfjfen ju feijen. SKit SRiitjrung
gebenlc id) nodj tjeute, too idj biefeg fdfjreibe, beg alten $errn, mit welder
innigen greube er Don f einem ©oljne fpradf), unb tok er ja^rtid^ an
beffen ©eburtgtage bie enblofen Zxtpptn ju bem bamaligen pl^fiofogifdfjcn
Saboratorium im Unitoerfitatggebaube t)inaufftieg, urn itjm feincn ©lucfc
nmnfdf) absuftatten. SCRit ber jartlidjften Siebc tying aber ami) ber ©otyn
an feinem SSater unb er f)at ttjm, suerft in ber SSorrebe ju feinem grofcen
2Berfe, bann in einem Slefrolog, toetdjer in ber Stationaljeitung erfdijien,
ben $o1l ber 2)anfbarfeit in fd)5nfter SBeife abgeftattet.
geli£ £>enri bu 93oig, ber SSater, 1782 in einem Sorfdjen bci
9leucf)&td geboren, erlernte bag Utyrmadjertjanbtoerf. 9Spn SBiffengbrang
getrieben fudfjte er ftdj burdE) Sefen eine f)5f)ere S3ilbung anjueignen unb
eg gelang itjm, nad) mannidfjfadjen Sntbetjrungen enbtid) Smpfetylungen
nadj SBertin ju erfjatien, toeld^eg ja bamatg audj bie £au£tftabt beg ju
$reuf$en getyorigen gitrftenttyumg SRcuenburg toar. &ier lerute er junadjfi
bie beutfe^e ©pradje, toanbte fid) bem ©tubium ber 2Jlebicin ju, Don
mrfdjem er jebocfy burd) aufeere Umftdnbe ttrieber abfam, wurbe bann
Se^rer am ®abettent)aufe unb befd^ciftigtc jt(^ mit f^ra^miffenfd^afttic^cn
©tubien. 3)ie griid^tc berfelben murben jum 2^eil erft im Saljre 1862
unter bem litel: /f^abmug ober attgemeine Stlp^abeti!" fyerauggegeben.
^Bamalg murbe cr biefen ©tubien burd) ben ^rieg entriffen, toetcfjen er
atg ^auptmann in S3emabotteg ©eneralftab mitmac^te. 3lac^ bemfclben
erfjielt er eine ©tetlung im augtoartigen 3Rinifterium, in ber 2lbt^eilung
fiir bie SReuenburger Stngriegen^eiten, unb toerm8t)Ite fid^ mit ber loiter beg
^rebigerg ber franjofifc^en ©emeinbe £enrtj, einer ©nfelin E^obon)iecfig.
9Son 1830—39 lebte er in SReud&aM alg eidilabjutant beg ©tatt^altcrgf
©enerat ^fuel, murbe bann, nac^ 99erlin jururfgefefirt, mit bem litel
eineg ©e^eimen ?Regierunggrat^g director ber Slbt^eilung fiir bie 9leucn-
burger 9tngelegen^eiten. ©r blieb in biefer ©teHung big 1848, too bie
<£mtl bu 33ots *Heymonb.
\55
9tbtrennung Steudjatete toon ^reuften feiner 93ertt)altung3tf>atigfcit eiu
@nbc mad)te. ©r ftarb im 3a^rc 1865, toenige 2Konate nafy fcincr
Oattin.
©ein alterer @oI)n ©mil, toon bem Ijicr bic 3tebe fein foil, befudfjte
ba£ ©ottege ju 9ieudf)atel unb bag franjSftfcf)e (Stjmnafium 511 SBcrlin unb
be$og bann gu Dftern 1837 bic bortige Unitocrfitat, urn S^eotogie ju
ftubiren. 2)iefe3 gad), jn toetd^em cr fid) toot burdj ben SBcrlctjr mit
bcm ©rofttoater, cinem bcr angefeljenften SRitglieber bcr Serliner fran;
jofifdicn ©otonie, tjingejogen fiifjlen modjte, entfprad) aber fciner ©eifteS;
ridjtung nidjt. J)enn 'nad) cinem Sefucf) bcr SSorlcfungcn beg beriifjmten
©fiemiferS ©itfjarbt 2Ritfdf)erIid) rciftc in iljm ber ©ntf<i)Iuft, fid^ bcm
(Stubium ber SRaturnnffenfd&aften jujutoenben. @o finben tnir if)n bcnn
im folgenben Ratyt in 93onn, too cr namentlidf) ©eologie trieb. Dann
nad) Scriin jurudgefeljrt, toerantaftte ifjn cin greunb, bcr talenttoottc,
frfl^tocrftorbcnc Strjt Kallmann, fidf) ber 3Kcbicin ju toibmen, inbcm er
if)xt uberjeugte, baft in bcr ©rforfcfjung ber CebenSerfdjeimmgen bic
$ocf)ften 8lufgaben alter 5Ratnrtuiffcnfcf)aft jufammenltefen, eine tteber*
jcugung, toeldjer bu 93oi3sSRel)monb f pater oft, jutefct nodf) in bcr 9Rcbe
jur ©roffnung be3 neucn, toon iljm gebauten J>I#ftoIogif<f}ett SaboratoriumS
bcr Unitoerfitat Scrlin, berebtcn SluSbrud gegeben t)at. 3m %a$xt 1839
trat ba^cr bcr junge SRaturforfcfyer untcr bic 8af)l ber ©dottier be3 be*
ruljmten Stnatomcn unb ^ftyfiologen 3o^anne« SKiiHer. Sie fur cinen
SKebiciner nid)t getootjnlidje griinbli^e SJorbilbung be3 jungen 2Ranne8
in ber ^Ijtjfif toerantaftte feincn Setter, iljm im %a$xt 1841 eine ©cfjrift
be£ itatienifdjen ${}t)fifer3 SRatteucci: „Essai sur les phenom&nes 61ec-
triques des animaux" jur ^riifung ju iibergcben. 5)ie§ ttmrbe tnU
fdjeibenb filr fcin ganjeS Seben. 2Rit einer fiir ttyn d>arafteriftifc§en
©nergie unterjog er fid) ber itjm gcftcttten Stufgabe unb feit jener 3^it
Ijat bu S3oi3;9let)monb nidfjt aufgetjort, oHc fcine Sraftc ber ©rforfdjung
bcr eleftrifdfjen ©rfcfjeinungen an Icbenben ©etoeben ju tuibmen. S)iefcn
Unterfudjungen toerbanft cr feincn SBeltrutjm, fic tyaben i§n ju bcm 9?ange
cineS ber groftten $f)l)fifer unb S(5f)t)ftoIogen erljoben, burd) fic ift er bag
anerfannte #aupt ber neucm beutfd^cn ^^fiologie getoorben.
3ur 3^it, ate bu 93oi3'9?et}monb toon So^anneg 3RiiIIcr ben er;
toaljnten Suftrag er^iclt, na^m bcr lefctere ungefat)r bic ©tcttung cin,
tpeldje bcr crftere jefet innc t)at. ©r tuar bcr Scgriinber einer p^fiolo^
gifd^en ©c^ule. .©cin 9tufjm fadjtc in begabtcn S^ngern ben Sifer an,
fidE| bem ©tubium bcr Scben§crf(i)einungen ^injugeben unb bie crften
9Jamen unferer fjeutigen S33iffcnfd|aft, neben bu 93oig;3?et)monb SRtinner
wie SSriicfe, ^clm^ol^, Subtt)ig, nenncn fidj mit ©tolj feine ©cpler.
SRi(^t baft neben STOiiDer feine anbern Ijertoorragenben SDldnner in Wfem
SBiffcn^jmeige getuirft fatten. 3)ie ©ebriiber SBcbcr in Sci^jig "^aben
fic^ urn bic $f)tjfioIogie nid)t minberc SSerbicnfte crtuorben ate aWiiller,
156
3. Kofentljal in (Erlangen.
toenn fie and} nicfjt mit gleid&er SSietfcitigfeit ttrie er audi) nodj auf anbcnt
©cbtcten fo ©rofceS geleiftet fjaben. Slber fie tjaben feinc ©djule ge*
bitbet. Unb ebenfo ift eg in bcr fotgenbcn (feneration gemefen. SSon
alien ben ^erdorragenben 9Jtannern, toelcfje fief) urn SQliittcr gefdjaart
fjatten, ift bu 55oi3*9tegmonb attein ber Setjrer einer grofjeren 3^1 toon
©djulern getoorben, toeld^e jefct auf toieten beutfdfjen £>ocf)fdf)uIen unb auf
mandjeit be3 StuSlanbS bie 2et)rftiif)le ber ^fyjftologie inne fjaben. S)iefc
SluSnatunSftettung toerbanft bu S3oi3;9tet)monb sumeift bent Umftanb'e, bafj
er bie 3Retl)obe pf)t)fiologifcf)er gorfdjung auf eine ganj neue ©tufe bradjte.
3)urdj itjn ttmrbe ein grofeer 3^eig ber $(Sf)t)ftologie gletdfjfam ju einem
Iljeit ber $§t)fif er^oben, bie ejacte UnterfudfjungSloeife biefer SBiffenfdfjaft
ttmrbe ber ^{jtjfiologie bienftbar gemacfjt. 2)a3 erflart ben grofeen ©im
flufe, toelcfjen er auf bie jiingeren gorfdjer unb bamit auf bie (Sntttncftung
ber gefantntten SBiffenfdjaft genumn.*)
3)ie anbern oben genannten SJKanner, toetdje mit bu S3oi$4Retjmonb
jufammen ate ©djitler %ot)annt$ HRiillerS iljre Saufbatjn begannen, ^aben
neben iJ)m, jeber in feiner Slrt, gleidfjfallS ©rofteS jur Sntttridttung ber
$l)t)fioIogie beigetragen. 3f)rem gemeinfamen SBirfen ift e3 ju banfen,
ba§ bie ^Ijtyfiotogie feit ientr Stit etnen ungea^nten Sluffdfjtoung genommen
f)at, unb bafc 2)eutfcf)Ianb fid) riHjmen faun, bag SReifte unb 93efte ju
biefer (Sntttncflung beigefteuert ju fjaben. 93ergleidf)en ttrir ben 3uftonb
ber gorfdfjung ju jener 3*it 9Rutter3 mit bent Ijeutigen, fo ergibt fid),
baft biefer grofce gortfdjritt burdj bie innige SSerbinbung ber $f)i)ftotogie
mit ber $l$ftl unb Kfjemie Ijerbeigefitljrt toorben tft. 3u jetter 3*it toar
bie $t)t)ftotogie nodf) ein 23)eit ber Slnatomie, bie gorfdfjung gefdjal) t>or=
jugStoeife auf bem SBege ber 3erglieberung. 9Kan fdfjtoft auf bie gunctionen
ber lebenben DrganiSmen auS ben gormen ityrer Drgane, bie man nad) bem
2obe unterfucfjte. 3)ie aufcerorbentlidje 93eroottfommnung ber 2Kifroffope
ergab ganj neue Stuffdjliiffe iiber biefe gormen unb bie toon SofjanneS
SRutter ganj befonberS entttricfelte &ergleicf)enbe Slnatomie er5ffnetc neue
©efidf)t3£unfte. 9Kit biefen SDlitteln tourbe ganj 93ebeutenbe3 geleiftet, aber
bie Stnfange ber ej^erimentetten ©rforfc^ung ber ©igenfdjafteu ber ©emebe
*) Unter benen, loelc^e auf bcutft^en ^odjfc^ulen bie ^^fiotogie toertreten,
ftnb ©emftein in ^afle, t). S3cjoIb (t) in 2Bur$burg, ^eiben^ain in SSreSlatt, §er=
mann in Suric^, ^u^ne in ^eibefberg, $fluger in ©onn, $ret)cr in 3enaf sJlofcn=
t^al in ©rlangen unmittelbare ©c^uler bu $Bot3=9iet)monb3. SRe^net man baju
noc^ biejenigen, wclc^c alS au^erorbentlic^e $tofefforen unb 2)ocenten wirfen,
ferner bie im 2tu3tanbe lebenben ^^ttftologen, tot\d)t feine 6c^uler loaren, bebenft
man toettcr, tt)ie toiele gorier, auc^ ofjne i^m perf5nlic^ na^e getreten su fcin,
auS bem Stubium feiner Scfpriften unb au8 ben toon iljm erfunbenen Unterfuc^ung3=
mett)oben 9htregung unb SWittel ju i^ren gorjdnmgen gefrfjopft ^aben, fo fnnn
man tool, otyne irgenb Qemanbem ju na^e ju treten, bu S8ot3=9feomonb al§ ba^
anctfannte ^aupt ber Ijeutigen ^P^tjfiologen bejei^nen.
(Erntl bu ^otssHcYinonb.
\57
§eigten bod) ba£ Unautanglid^e jener einfeitig anatomifdjen SorfcfjungStoeife.
Stncr burdigreifenben (Sntmitflung bcr ejpcrimentcHcn ©rforfdjung fianben
aber t)iclcrlci $inberniffe cntgcgen: bic ungeniigenbe Sfenntnift bcr ©r^
fdfjeinungen fclbft, bcreit ©tubium ttoc^ faum begomten fjatte, bic 93er=
nutfelung berfelben, tpeld^e bic ©rflarung erfdjtoert, bann bic mangelfjafte
ftenntnift bcr ^5f)t)fif bet benen, tuclc^c nur anatomifd) toorgebilbet an bie
©rforfdjung bcr SebenSerfdjeinungen gittgen. 2Bo abcr toercmjcltc $f)t)fifer
unb Efjemifer gelegcnttid) ait bic 2)eutmtg organifd^er $roceffe gingen,
tourbe jtoar fjicr uttb ba fcereinjelteS SBerttjtoottc, im ®anjcn abcr toenig
gewonnen, tucil eS biefen tmeber an bcr au$rcicf)cnben ®euntnif$ be3 teben*
bigen DrgantemuS fetjlte. 3ubem mufcten, urn einc nufcbringenbe 9Sers
binbung Don $$t)ftf nnb Ef)emie mit bcr SJSftyfiologie anjubafjncn, jene
felbfi crft nod) crtoeitert unb auSgebaut merben. Stele Slufgaben ftcHtcn
fid) bem 5p^fioIogcn cntgcgen, toricfje $t)t)fifer unb etjemifer nod} gar
nidjt in Slngriff genommen fatten, toeit crft einc pi)0fiotogifdf)e grage auf
btefelben I)infut)rte. £>er $l)t)fiofoge muftte im ©tanbe fein, bie SBorfrage
fclbft ju tbfen, toenn cr auf feincm SBegc toeiter fdfjreiten tooflte. Sfteue
Serfu<f)3toeifen unb Separate mufeten erfonncn unb conftruirt toerben, elje
ctngc^enbe Sprufung be3 £f)atfadf)Kd)en mflgtidE) toar. 3)a3 2ltte3 erforbcrte
langfame unb griinblidje Sorbereitung, erforbcrte SManner, toeldje ncben
eincr anatomifdjen SSorbcreitung Ijinreidjenbe pljtjfifalifdfje unb cf)cmifdf)e
tenntniffe fatten. S)arum faun e£ nidfjt tounberbar erfdjeinen, bafc crft
manner frudjtlofe SBerfudf) borl)ergittg, etje cin toirffameS 2lrbeiten in bcr
ncucn 3tid)tung itberljaupt mdgtid) mar.
2luf bent SBoben, auf toeldjem bic bamafige ©rfenntniji bcr organic
fdjen Statur ftanb, unb untcr bem ©infhtfc ber bamate fjerrfdjenben pljilos
fopfjtfdjen gbeen fjatte man fidf) getoflfjnt, ate lefcte Urfadje bcr SebenS*
erfdjeinungen cine fogenanntc „Seben3h:aft" anjufefjen. SDtan fpradf) toon
berfelben, ttrie man bon bcr ©djtoerfraft obcr magnetif djen Sraft fpradf),
ate toare fie bic UrfadEje beffen, toa$ man beobadjtete, otjne fid} gan§ ttar
bariiber ju fcin, too man bicfe Urfadje ju fudjen tyabe, ob fie ein au&ers
Ijalb ber ©toffe, auf bic fic ttrirfen foUte, beftc^enbe^ S)ing obcr nur cin
9lamen fitr bic unbclannte Urfa^c fei. 3)cn gorf^ern, tuclc^c anfingen,
bic SebenSerfdjeinungen genauer §u jcrgliebcrn unb im ©injelncn ju be^
obac^tcn, mufcte bag Ungcnitgcnbc unb Un^attbare bicfer giction auffatten.
(Serabc bamate fing man an einjufc^en, ba§ ba3, toa§ man in bcr pjtyfif
ate „ffiraft" bcjeic^nctc, nur bic (Sigcnfdjaft ber 3Kateric fein lonnc, nifyt
ein neben unb aufeerf)alb ber SKateric befte^enbe^ ©ttoa^, bag auf bie
SRaterie Don aufcen ^er cinmirft. S)a§ aber boUcnbg bie bertoideltcn Sr^
fc^einungen eine3 fo jufammengefefeten 3Kec^anigmu^ tt)ie fic eine Icbenbe
?ffanje ober cin lebenbeS 2f)ier barftcttcn, nid)t ate Shteflufc eincr Sraft
angefe^en tocrben, fonbent nur berftanben ioerben fonnen, menu man fie
in ifyre einjclnen 5J5^afen uerfolgt unb nadf) unb nad^ ben gattjen 3ufammens
*58
3. Hofentfjal in €rlangen.
Ijang crmittelt, bag toar bic bamate untcr ben Spfyjfiofogen cben crft jum
2)urdjbrudj getangte ©rfenntnifj, torid&e bic 93ai>n ju nurffamen gort*
fd&ritten cr5ffnctc.
5)iefer neucn Sluffaffung ber 2eben§erfcf)einungen gob bu 83oig;9tet)monb
einen berebten unb einbringticf)en 8luSbrucf in ber fdfjon crtoa^ntcn Sor^
rcbe ju fcincn „Unterfud)ungen iiber tl)ierifcf)e CSteftricitdt". 3n grofeen
3ugen enttuirft cr I)ier ein 93ilb, toeldjeS bic Unljaltbarleit jcttcr altett
Sluffaffung unb bic ©runblage bcr ncucn biotogifdjen Stnfcfyauungen cnU
ljdtt. SWit anfdjautid&er Slar^cit enttoicfelt cr ben ©tanbpunft, toeldjer
fcitbcm bcr ^crrfdjenbe in bcr ^ttyfurfogie getoorben ift: bic fiebenSerfdjeis
nungcn finb nidfjte ate cine SRetfje $>I)l}fifaftfdf)er unb djemifd&er ^roceffe;
bie ©igenfcfjaften ber SRaterie finb liberal! unb ju alien Seitcn iicfelben;
bic fdjeinbar fo abtoeidjenben ©rfdjeinungen bcr Icbenbcn Sftatur miiffen
auf bic attbefannten Sigenfdjaften ber -Dlaterie jurucfgefitfjrt toerben, inbent
toir fie genaucr im ©inidnen erforfdjen. 5)a3 ift bie 9lufgabe, toetdje
fortan bcr SPfyjftotoge Dor Slugen tjaben nutfe, unb ate eincn SBettrag in
bicfem ©tunc bietct er bic Unterfud)ungen iiber bie elcftrifd^en Srfdjeis
nungcn tf)ierifcf)er (Setoebe.
3)iefc Unterfud&ungen fatten, ttrie torir oben fafjen, i^ren Slnftofi cr=
Ijaften burcf) ein 33ud) SRatteucciS. 3m Safyte 1841 begonnen, toaren fic
im £erbft 1842 fo toeit gebietjen, baft cr bic (Srgcbntffc bcr gorfdjung
untcr bem Ittet: „93orfaufiger Stbrife ciner Unterfudjung iiber ben fogc-
nannten grofdjftrom unb iiber bie eleftromotorifdjen Sifdje" jufammetu
ftcttcn fonntc. 3)er /f2lbrife" ttmrbe im 3anuar^eft beg 3^tgang§ 1843
Don SPoggenborffS 9tnnalen abgebrucft. 3tber erft im %af)tt 1848 erfdjien
bcr crftc Sanb bcr „Unterfudjungen", in tocld&en bic Sorfc^ungen mit
genaucr Slngabe ber SBerfudjSmetfjoben, mit literarifdjen SKadjtoeifungen
unb tyiftorifcf)en ©tubicn iiber ben ©egenftanb bargdegt finb. 3m folgem
ben Sa^re erfdjien bic erfte Slbtljetfung beS'jtoeiten 93anbe3; 24 33ogen
ber jtoeiten Slbtfjeilung toaren fdjon bamate gebrucft, ttmrben aber crft
1860 auggegeben. ©eitbem fdjeint e3, ate foltte bag SBerf ein 2orfo
bteiben. 3<rf)trei$e einjclne Slb^anblungen ^at bcr SBerfaffer fcitbcm
in ben 2Konat3beri<i)ten ber SBerliner Stfabemie unb in bem Don tym
rcbigirtcn 9lrd)iD fur 5lnatomie unb $t)t)fiologie*) Deroffentlidjt. 3Dic
mciften bcrfelbcn finb in stoei ftarfen Sdnbcn gefammeft erfd^ienen. 3$
toerbe nun Derfucfjen, in gebrdngtcr 3)arfteHung bic ©runbjiigc Don bu
93oi3;9tet)inotob3 ©ntbecfungen unb bcr barauf begriinbeten Sefjren ju geben.
*) $iefe3 5trc^ito erje^ien al§ gortjc|ung bcS »on 3o^. 2)luflct fyerauSgegcbenen
Don 1858—1876 unter bcr gemeinfdjaftttdjen Siebaction Don 9icic^crt unb bu 93oi$=
9iet)monb. Seitbem ift e3 mit bem ?lrdt)it) fiir Slnatomie unb (Sntnjidhing^gcfc^ic^tc
Don wnb ^Braune Dercinigt, beffen anatomifc^c OTtfjettung Don ben cben ©e=
nannten, beffen pljt)fioIogifd)e Hbtl)cilung Don bu $Boi3=$Rei)monb rebigirt toirb.
<Emt I bn SotssHeymonb.
\59
gm Sctfjre 1786 f»attc ©aidant bic ©ntbedfung gemadjt, bag em
tJrofdjmu&et burdlj Stnlegung eineS metattifdEjen 93ogen£ an fcincn Sfterden
jiun 3wcfcn gebracfjt toerben fann. ©r tyatte barauS gefdjloffen, baft in
bent SRuSlel rieftrtfdje Srdfte ifyren ©ifc fyaben; cr dergtid) ben SJluSfel
mit enter Setjbner glafdje; ba$ Snnere be£ 3Ru3fefe l)iett er fitr pofitid,
ba3 Sleuftere fdr negatid eleftrifd). ©ein SanbSmann SBolta ttrieS bann
nadj, baft bte SBirfung auf ©ntfteljung toon ©leftricitdt in bent angelegten
fflogen jurfidtjufufyren fet. Dbgteicf) nun fpdter ©aidant ben Stad^meiS
fuljrte, baft aud) ofjne SKetatte 3udungen ertjalten toerben fflnnen, fatten
bod) 83oIta£ toeitere Unterfud&ungen fiber bte bwrdj ©ontact ber 9RetaHe
erjeugte ©leftricitdt fo bte Slufmerffamfeit ber getefjrten SBelt in Slnforudj
geitommen, baft bte tfjierifdje ©leftricitdt babei ganj dergeffen lourbe.
SSergebenS fjaben fid) £umboIbt, $faff unb Slitter mit bent ©egenftanbe
feefdjdftigt; bie $f$fioIogen, roeldje bte ©adje bod} am nteiften anging,
fdjeinen if)re 2Btc§ttgfeit nid)t begriffen ju f)aben, unb bie $f)t)ftfer fatten
<jenug 5U tljun, bie neuentbecfte SBirfung toetter ju derfotgen, toeldfje ja
ben Setm 5U ben ftoljeften ©rfinbungen be$ neunjefjnten 3al)rl)unbert£,
bcm eleftrifdjen letegraptjen, ber ©aldanoptaftif u. f. to. entljiett. ©rft
int Saljre 1827 fam SRobili auf bie tfyierifdje ©leftricitdt juriid. ©r
^atte jtterft einen empftnblidjen SJlultiplicator conftruirt, mit §utfe beffen
man aud) fd^tpadtjc eleftrifd)e ©tr5me nacf)toeifen fonnte. 3n btn Sfterden
fonnte er bie£ md)t (baju mar fein 9JtuIttyIicator bocf) nid)t cmpfiublicf)
genug), toot aber in ben SKuSfeln. ©r fudjte freilicf) bie Urfadje biefer
©trome in einem 3ufammentoirfen don 9terd unb SDlu^fcI, aber SJKatteucci
ljat fpdter gejeigt, baft bicfc ©rttdrung nidjt ridjtig fei. 9113 nun bu 83oi$s
fftetymonb ben ©egenftanb in Stngriff nat)tn, lam er ju fofgenben ©rgeb*
niffen: SKuSfeln unb SRerden finb eleftrifd) ttrirffam, alte anbern ©etoebe
finb untoirffam.*) £>ie SBirffamfeit ber 3Jlu£feln unb SRerden ift an iljre
SebenSeigenfdEjaften gebunben, mit bent 3tbfterben berfelben derlieren fi^i
aurf) bie eleftrifd^en ©igenfcf)aften. S)ie eleftri^en Srafte setgen SBer^
onberungen bei ber Itjatigfeit, in ben Slerden aufterbem aud^ noci^ unter
bcm ©inftuft elcftrifc^cr ©trome. S)ie eteftrifdjcn Srcifte finb im SWu^fel
unb Sterden auf eine regdmdftige SBeife angeorbnet, toeld^e man erfldren
fann, menn man annimmt, baft im Smtem berfelben diele' Heine, regels
maftig angeorbnete, mit eleftrifc^en Srdftcn au£geriiftete %t)t\li)txi dor^
^anben feien.**)
Die tounberbaren SBiriungen ber 3Ru^feIn unb SReroen, befonber§
*) (Sine ?Ut3naljme mac^en bte Driifen, toie bu 93oi^9ftei)monb fpftter jetgte.
"2)ieS tft tnfofern don groftetn Qntereffe, ate bie 2)riifen in i^ren ptjijftologtfdjen
^tgenfd^aften ben 9Jlu^feIn fe^r nalje fte^en.
**) ^tejenigen, toelc^e fidj genauer mit bem ©egejtftanb belannt madden
toollen, dertoetfe id) auf meine „ltlgemeine $^t)fiologie ber 9Ru3feIn unb S^erden".
9torb nnb Sub. VI, 17. 12
\60 3. Hofentfyal in €rlangen.
b£r Sufammcn^ang beiber untcr einanber ^atte Don jc£»cr bie SJSljantafic
bee ^fjtjfiologen lebljaft befdjdftigt. (Sine Sejieljung jwifdjen 9lerDen~
tljdtigfeit unb ©leftricitdt war fdjon lattge geafjnt worben. S3ag S8un~
ber, baft aud) bu 93oig;9tet)mottb, ate cr bic eteftrifdjen SBirfungcn
bcr SDiugfeln unb SfcerDen mit ben eyacteften SWitteln ber ^ftf fef*~
geftellt, ate er bie Serdnberungen berfelben bet ber Xfydtigfeit nadjgewiefen
§atte, bie langgefudjte Sdfung beg SRdtljfete gefunben ju fyaben Dermeinte.
2) ie angefiinbtgte Sfogeinanberfefcung iiber biefen ©egenftanb ift jebocf>
bister nid)t erfdjienen, ebenfo wenig ber Stbfdntitt iiber bie eteftrifdjen
Sifdje. 2Bag feitbem in einjetnen Slbljanbtungen Don i^m Deroffentlidjt
Wurbe, ent^dtt tyatfddjlidje 3ufdfee unb 83erid)tigungen, eine reidjtidje
giille neuen URateriate, aber feine abgefdjtoffene I^eorie. Stnbere §aben
bie weife 3uriicft}attung beg SDieifterg nidjt immer bewafyrt. 2tuf ju-
Weilen nur oberfldd)Iid)e Senntnifj beg ©egenftanbg geftufct, Ijaben SDtandje
Xfjeorien aufgeftellt, weldje niidjterner S3etrad)tung gegenilber nidjt ftidjs
fatten, gur foldje 2lugfd>reitungen ift bu 93oig;9tet)monb natiirlid) nidjt
Derantwortlid) ju madjen. S3ag er felbft gefagt, ift aUein ber 33eurtI)eUung
feineg ©tanbpunftg ju ©runbe ju tegen.
SEBar eg bu 93oig;9tetnnonb getungen, bie Dor ifjm fdjon befannten
eteftrifdjen SBirfungen ber 3Rugfeln Dollftdnbiger ju erfennen unb bie
Wedjfetnben ©rfdjeinungen auf eine gefefcmd&ige 93ertf)eilung ber eleftrifdjett
©pannungen 5uriicfjuful)ren, fo marten bodj Ijauptfdd)Iici£) feine ©ntbetfungen
iiber bie eleftrifdjen ©trome ber SterDen unb iijre Serdnberungen bei ber
9terDentf)dtigfeit bag grdfcte Sluffe^en. Sent SKobilifdjen SKulttylicator
junt 9tai£}Weig fdjwadjer eteftrifdjer ©tr5me gab er, urn biefe Unter?
fudjungen anftetten ju fSnnen, eine big baljin unerijdrte Smpfinblidjfeit.
2Bag in einem SterDen Dorgeljt, Wenn er, burd) einen 9tci5 in ben tfjdtigen
3uftanb Derfefct, int SDiugfel 3ufantmensief)ung, im ©eljirn Sntpfinbung
Deranlafct, bag war Don jeljer ehteg ber gr5fcten Stdtljfel ber Sptjtjfiotogie
gewefen. $)ie ?llten fatten Don SHerDem ober Sebenggeiftern gefprodjen,
Wetdje Don ben SKerDen in bie SKugfeln einftr5nten unb fie aufblafyen.
3) ag fogenannte ^erDenprincip'' war nid)te ate ein SBort, ein teerer
©d>all, bei bent fidj SKiemanb ettuag benfen fonnte, ober ein anberer 9tame
fiir jene alten ^obolbe. 9lun le^rte bu 95ote=9le^monb, bafe in bem
t^dtigen 3lerDen, an bem man bteljer feine SSeranberung fe^en ober fonfte
tok i)attt wa^rne^mcn f5nnen, ettoaS Dorge^en miiffe, tuag mit einer
Stenberung feiner eleftrifc^en ©igenfe^aften Derbunben ift. Sr jeigte, baft
man biefe Slenberung burc^ Setuegungen ber Heinften I^eile (9KolefiiIe)
beg SlerDen barftetten fonne, d^ntic^ wie man bie magnetifdjen Sr^
fc^einungen an einem (Sifenftab ate SageDerdnberungen feiner Heinften
I^eildjen barftettt. 2)er SBorgang ber 3lerDentt)dtigfcit War bamit in ben
SSorfteHunggfreig geriicft, ber aud) anbere p^fifalifc^e SBorgdnge umfaftt,
er war feineS m^ftifc^en E^arafterg entfleibet. 9tber bie neu gewonncne
€mil bu SoissHeymonb. \6\
GErfenntnifj Ijatte aud) nocf) anberc n>id)tiQc gofgen. 83ig bafjin f)atte man,
ob ein Sterto tfjatig fci ober nidjt, nur an feiner SEBirfung auf cincn
SKugfel ober auf bag ©eljirn fetjen f5nnen. Sefct mar man batoon un;
abtjangig. 3Ran fonntc an bcm ifolirten 9tert>en fclbft operiren, bcr an
ifjn angclegtc SRuItiplicator jeigte burd) fcinc Stenbcrung an, baft im
Steven ettnag *>orgef|e. ©ofort madjte bu ©oig^Stetjmonb cine ttridjtige
Siufcantoenbung toon biefem Unterfudjunggmittel. SKan ttmfjte, baf$ eg
jmeierlci 9icrt»cn gebe, foldje, bic nur auf ben 2Ru3fet toirfen, unb fofdje,
bie nur auf bag ©efjim ttnrfen unb bort Smpfinbungen unb Sorftettungen
fjertwrrufen. 2icgt bag nun baran, bafc ein Sfteij in ber cinen Sftertoens
art nur nad) ber ^erip^erie jum SDtugfel, in ber anbern nur nad) bent
(Centrum jum ©efyirn fortgeleitet toerben fann? 3)er SKuItiplicator leljrte,
bafc bieg nid)t ber gatt fci r unb bie toeitere .©rflarung mug mit biefer
Xljatfadje redden. 9tbd) mefjr Sluffefjen *>ielleid)t, toenigfteng bei ben
SRidjtyfyjfiotogen, madjte bu SBoigsSletjmonbg Serfud), bie eleftrifdjen 9$er;
dnberungen bei ber 2Rugfeftl)atigfeit am 2Renfd)en nadjjutueifen, inbem er
jeigte, tt)ie ber 2Renfd) burcf) bie 3Rad)t feineg SEBilleng bie SKagnetnabel
etiteg SOluttiplicatorg abjulenfen im ©tanbe ift.
Stlg bu SBoiS'Stetjmonb feine Unterfu^ungen begann, toaren bie
SJletljoben nod) fe^r untoollfommen. @r mu&te fie faft atte erft fclbft
fdjaffen unb im Saufe ber langen 3^it Ijat er fie bann mannid)fad) toer*
anbert unb ftetig toerbeffert. (£g gibt !aum einen namf)aften gortfdjritt
in biefer £infidjt, ber nidjt toon if)tn fclbft Ijerriiljrte. Unter biefen Urns
ftdnben fonnte aud) bag Ifjatfadjlidje nidjt ganj unberii^rt bleiben. 9Rit
f einen frufjern 9Sorrid)tungen fanb bu Soig^Sletjmonb an jebem frifdjen
27lugfel ftetg unb ofjne Stugnatyme regetma&ig angeorbnete clef trifle ©trflme.
©^ater jeigten fid) Stugnaljmen; ein SDiugfel, mit moglidjfter ©orgfalt un*
oerfe^rt ertyalten, jeigt I)aufig gar f einen ober nur einen fefjr fdjtoadjen
©trom, berfetbe tritt aber f ofort Ijerfcor, toenn man ben SDiugfel an-
fdjneibet ober afct ober fonft auf irgenb eine 2Beife toerlefct. Slug biefer,
t)on bu S3oig fetbft gefunbenen Iljatfadje ^aben nun tjcrfd^icbcnc gorfefjer
gefdjloffen, baft untoerfef)rte SKugfeln iiberfjaupt niematg ©trflme geben,
baf$ bie toon ifjnen er^attcnen ©trflme ftetg erft golge ber SSertefeung
feien. S)ie grage, fottjeit fie bag rein Ifjatfadjlidjc betrifft, fann man
aU eine offene bejeic^nen. S^ingenbe ffietoeife fiir bie eine ober anbere
SReinung finb bif^er nic^t gegeben tuorben. $$xt 93ebeutung fiir ben
etgentHdjen ^em ber Stngclegen^eit ift aber Don jenen gorf^ern ju §06)
angefc^Iagen tDorben. Scbenfattg ift bie grage mit Unrest in 93ejiefyung
gefefet toorben ju ber toon bu 93oig;5Retjmonb cnttnidelten £t#otl)efe iiber
bie Urfac^en ber au&erlid} an ben SIRugfeln unb SRertoen nadjloeigbaren
©trome. Sene ^potfiefe gibt toon alien bigger befannt getoorbenen @rs
f^einungen ungejioungen 9led|cnfc^aft, unb metjr fann unb foil eine #i#o=
tt|efe ni^t teiften.
12*
\62
3. Hofentfyal in (Erlangen.
3)er SRuf toon biefen ©ntbedungen ' madjte bu 93oig*9tet)monb mit
einem ©djlage ju eincm bcr beriifjmteften SJJljtjfioIogen. ©in ©ebiet,
toeldjeg big batjin bcr Xummelptafc oberfladjlidjen $)itettantigmug gemefen,
war burcfy fcin SBerbienft cjoctcr wiffenfdjaftlicfyer ©rforfdjung erfdjtoffen.
2)iejenigen, Weldjc juerft unglaubig gewefen warm unb feine fjorfdjungen
fiir ebenfo oberfladjlid) geljalten fatten, ate wag big baljin im ©ebiet
bcr tfjierifdjen ©leftricitat ju lagc geforbert worben war, ttmrbcn balb
eineg 93effern bele^rt. 2)er Stttmcifter bcr SKaturforfdjer, SUcjanbcr
to. £umbo!bt, !am felbft in beg jungen ©elefjrten befcfyeibene SEBoIjnung
unb liefc fid) bort aUc Serfage jcigen. 1850 ging bicfer nadj $ari£
unb jeigte bort biefelben eincr toon ber Slfabemie bcr SBiffenfdjaften nieber=
gefefcten ©ommiffion, roeldje fid) toon bcr 8tid)tigfeit berfetben iiberjeugte.
3la6) SScrtin juriidgefeljrt, nmrbc er, auf £umbo!btg unb 3oljanne§
aJliillerg 93orfd)fag, jum SDlitglieb bcr preufjifdjen Stfabemie bcr S3iffen~
fdjaften gewatjtt, bcrcn beftanbiger ©ecretar er feit 1867 ift. 1852 ging
cr nadj Sonbon, urn aud) bort SSortragc 5U tjalten unb fcinc SSerfudje
ju jeigen. ©r Wieberfjolte bicfc 9teifen 1855 unb 1866 auf ©intabung
bcr 9totjat Snftitution. %m %afyrz 1855 nmrbc cr jum aufjerorbentlidjeu
^Jrofeffor an ber Serliner Unitocrfitat ernannt, 1858 nad) 3o^. 3JtiitIer3
£obe ttmrbe cr beffen Sftadjfolger auf bem 2eljrftuI)I bcr $f)tyfiotogie, ben
er nod) jefet inne l)at. 3n bicfen ©tettungen tjat er fid} ganj befonberc
aSerbienftc urn bic 3Jtett)oben beg Unterridjtg erworben. ©g mar fein
Seftrcben, ben ©djiilern bie fdjwiertge 2tuffaffung ber toerwidetten ©r-
fdjeinungen mogticfyft ju crleidjtern. 3>arum toerwenbet cr grofte ©orgfalt
auf bie ©rlauterung beg SBortragg buret) SBanbtafeln, weldje er in grofcer
Batjl f)at fertigen laffen, fowie auf bie 2lnftettung toon SorlefungStoerfudjen
in m5glid)ft anfdjaulidjer gorm. ©ingreifenber aber nod) ift feine SBirlfam*
feit ate 2et)rer im Saboratorium, wo er, Wic fdjon erwafjnt, einc gro&e
3at)t toon jungeren ©eletjrten in bie 2Retf)oben ber gorfdjung eingcfiiljrt
Ijat. ®ie SKcnge unb bag ©ewidjt ber aug biefem Saboratorium Ijertoor-
gcgangenen Strbeitcn ift urn fo wunberbarer, ate baffelbc auf bag 2)iirftigfte
eingeridjtet war. 2lbcr man terntc bci bu SBoig-SRetjmonb aud), fid) mit
fleinen SDtittetn cinric^ten, aug §otjftabd)en, Sorf unb ©lag Separate
conftruiren, bie bann fpciter oft in elegantcr 2tugftattung nac^gemac^t
ttmrben, menu bie 2trbett tangft tootlenbet War.
SBenn bu ©oig-Sle^monb 5unad)ft au^i nur bie eleftrifdjen ©r=
fdjeinungen an SKugfetn unb 3lertoen erforfd)t ^atte, fo Warcn bicfc
Unterfudjungen boc^ nod) in toeitercm ©inne filr bie gefammte Spijtjfiologte
frud^tbar. ©lei^jettig mit feinen ©tubien I)atte ©buarb SBeber in Seipjig*
bie mec^anifd)cn SBer^altniffe ber SKugfeljufammenjie^ung crforfd)t. SBcbcr
^atte mit untootlfommenen ^ulfgmitteln gcarbeitet. 2)ur(^ bie toerbeffertcn
2tp})arate, weld)e bu aSoig^SRegmonb ehtfufjrte, na^m bicfer neue 3^ig
ber ^}^fiotogie einen ungea^nten 9luffd)Wung. ^ehnfjolfc toanbte ftc^
€mtl bu BotssHeymonb.
[63
bemfelbeu ju, toon atteu ©eiten famen ©cpler fjerbeigeftr5mt, lucl^c
unter bu 93oi3;9lei)monb3 Seitung an bemfelben arbeitetcn, unb tjeute
gefjdrt bic toon ifjm eigentlicfy crft neubegriinbete attgemcinc $pt)i)fiologie
bcr 9lert)en unb SDhtSfeln ju ben beftbearbeiteten Snellen bcr ganjen
^Jfjtjfiologie. Stber aud) iiber bicfclbc fyinauS erftrccftc fid) feine SBirffanu
feit. Me 3tt>rifle bcr $f)t)fiologie unb bic praftifdje SKcbicin tjaben toon
it)r 9lufecn gejogen. SBidjtige ?lufgabcn bcr $t$fil finb toon iljm t()eil3
felbft beorbeitet toorben, ttjeife \)at cr ben 8lnfto& baju gegeben. SRit
grofcem med)anifd)en latent auSgeftattet, fyat er iiberatl, tt>o cr §anb
aulegte, neue 9RetI)oben erfonnen, 2typarate erbadjt, toeldje fidjere Sc-
obadjtung ermflglidjten, too bi£ baljin nur unfic§ere3 Umtjertaften mflgtid)
tear. Seine oielfeitige £t)dtigfeit madjte Ujn bafyer unter ben $pfjt)fifern
cbenfo befannt unb beriiljmt at3 unter ben $l)t)fiofogen. ©r toar einer
bcr ©ritnber unb biete Qa^re tjinburdj S3orfifcenber ber Scrliner trttfjfifattfdjen
©efeflfdjaft. $ai)Ut\$t anbere gelefjrte ©efellfdjaften unb 2tfabemicn,
baruntcr bie Don ©Sttingen, SMundjen, SBien, Upfala, 2onbon, fyaben i£)n
$u ifjrem auStodrtigen bej. Sfjrenmitgliebe ernannt. ©£ tourben itjm
eJjrentoolle 3lntrage jur SBirffamfeit im 9tu3(anbe gemadjt, toeldje er jebod)
auSfdjtug, urn fcine Shcdfte bem SBatertanbe ju toibmen unb ba3, xoa$ er
ate feine SebenSaufgabe httxafyet, ju Dottcnben: bie ©inridjtung eineS
tnit alien SKitteln bcr gorfdjung auSgeftatteten, atle 3toeige ber 2eben£;
tmffenfdjaft umfaffenben Snftitute. £>er S3au beSfelben ift fctt Surjem
t>oDenbetf mit ber innercn Sinridjtung ift er nod) befdjdftigt. ©eit feincr
©mennung jum orbentlidjen $rofeffor im %af)xt 1858 roar biefer 93au
in 9lu£fid}t genommen, aber erft fimfedju Safjre footer ging man an bie
$tu»fiif)rung. 3eftt ift ba£ neue pfjtyfiologifcfye 3nftitut ju 93erlin tool
ba£ grflfcte unb befteingeridjtete ber SBett. 3Ji5ge biel ©rfpriefclidjeS fiir
bie 2Biffenfd)aft au£ i!)m t)erfcorget)en!
SReben fciner ftreng fad>mannifd)en S^dtigfeit t)at bu 93oi£;9tet)monb
audj auf anbem ©ebieten be£ SBiffcnS ate Stebner unb ©djriftfteller
#ert>orragenbe3 geteiftct. 3n ber SUiSeinattberfefcung atfgemeincr ^Jrincipien
unb ber ffieljanbtung toon Stufgabcn au§ ber ©efdji^te ber SBiffenfd)aft
ift er Don feinem ©djriftfteHer iibertroffen toorben. 5HJdf|renb er bei
SRitt^cilung ber Srgebniffe fciner Unterfuc^ungen ben Sefer mit peinlidjer
©enauigfeit bur^ atte ffiinbungen be^ toon i^m juriidgelegten SBcge^
fu^rt, leinen ©injourf iibergef)t, ben man Dietteid)t ma^en fonnte, Sleine^
unb ©ro§e§ mit gleidjer ©riinbUd^feit erortert unb, iebe§ giir unb SBibcr
dngfttic^ abiodgenb, fjaufig erft auf gro^en Umtnegen an ba3 Dor^
geftetfte Sid gelangt, fii^rt er in feinen Slrbeiten aUgemeincren 3n^alt§
ben 2efer burd) cine SRei^e anjie^enber ©ebanfen, gfeidjfam toie auf ben
toerfc^tungenen ^Jfaben eineg 2uftgarten§, ^ier unb ba 2tu£blide auf fd)5ne
$unlte eroffnenb, bem 3iclc ju, tt)d^eg bann plttfcfid) bem iiberrafc^ten
Slid in tootler ©c^drfe unb Slar^cit unb in fdjifttftcr 93e(cu(^tung fid)
3- Hofentt^ol in €rlangen.
entljutlt. 2)abei fommt itjm fcinc toielfeittge ®enntm& ber toerfdjiebenften
SBiffenfdjaftcn unb fcinc ftaunendtocrtfye 83etefenl)eit in ben Sitcraturen
faft alter SSotfer ju $mlfe. Seine ©pracfye ift marfig, toott eblem ©djttmng,
ber fid) Ijaufig jum ^attjod fteigert, feine Darftellung flar unb burdjs
fic^tig. SBdtjrcnb fein ©tit in ben friifjeren ©c^riftcn gutoeiten ettnad
©efudjted unb @e$toungened tjatte, ift er im Saufe ber Qa^re immer
freier unb tootlfommener getoorben, fo bafj bu Sotd;9letnnottb jefct ben
beften beutfdjen ©djriftftettern juge&dtjtt toerben fann. 3n feiner ©proc^e
madjt fid) iibrigend bie franj5fifd)e (Srjietjung, unb nidjt ju itjrem Stadjttjeit,
gettenb; befonberd tritt bied in ber ftrengen ©tieberung bed ©afcbaued
tjertoor, metier im $)eutfd)en f)dufig ilber ©cbu^r toernacfytdffigt tuirb.
Stud) bie englifdje ©pradje unb Siteratur fmb ifjm toStlig getdufig. 5)wrd)
feinen ttricbert)oIten tangcren 3lufentt)att in ©ngtanb unb in Sotge friner
S3ermdt)lung ntit einer in ©ngtanb erjogenen 2)eutfd)en f)at er bie ©itten
unb ©ett)ol)nf}eiten ber brei Slationen fcielfadj in fid) toerfdjmoljen. 3n
feinen Slnfdjauungen aber ift bu 93oid;9let»nonb bureaus beutfd). Sin
ebter ^atriotidmud mad)t fid)- in iljnen gettenb; feine Sftebe iibcr ben
beutfdj=fran}5fifd)en Srieg, feine &erfd)iebenen 3teben jur ©eburtdtagdfeier
bed Saiferd, in feiner Sigenfdjaft aid Sector ber Uni&erfitdt ober aid
©ecretdr ber Stfabemie getyattett, geben batoon 3cugni§. 3)af$ biefer
95atriotidmud nidjt in bad 3errbilb bed in neuerer 3eit aud) in $eutfdjtanb
fjeimifdjen Etjauirinidmud audartet, toiffen bie Scfer biefer 93tdtter aud
fetner iilngften 9tebe iibcr bad SKationatgefufjt.
3Rit grofcem @efd)id mcife bu 93otd;$Ret)monb berartigen ©etegen-
fyeitdreben ftetd einen bebeutenben, aud bent duftern 9tntafj jtoangtod fid)
crgebenben 3nf)att Don atlgemeinem bauernben Sntereffc ju geben. S)ie
jdf)rlid) tmeberfetjrenben 3eiern ber ©eburtdtage griebridjd bed ©rofien
unb itjred ©riinberd Seibnifc, toetdje bie 9lfabemie buret) geftreben eined
itjrer beftdnbigen ©ecretdre begetjt, fyaben U)m SBerantaffung ju etner
Stcifye tjon ©tubien gegeben, tpetdje, getragen t>on einer genaucn ®ennt*
ni& ber geiftigen Slegungett jener Qtittn, t)5d)ft toertfyoolte 23eitrdge jur
©efcfridjte ber 3Biffcnfd)aft unb Siteratur aud ber ^eriobe ber 9lufftdrung
barftcflcn. SSottaire unb feine 3ritgenoffen, bie geiftige lafetrunbe bed
SSeifen toon ©andfouct, fjaben in itjm einen ©djitberer gefunben, toetdjer
nur ntit Slbotf SRenjct, bent SDiater jener ©eftatten, tjergti^en toerben
fann. SS3ie biefer bie !5rperli(^en Srfdjeinungen toieberbetebt ^atf fo bu 93oid;
Sict)monb bie geiftigen. Unerfd)5pftid) ift ber ©djafc bed SGBiffend, aud
toetdjem er bei jeber biefer ©elegenljetten imnter tt)ieber ein neued 93ilb
aud jener gro^en 3*tt und t)or5uftit)ren t)ermag, in roeldjer ber ©eift bed
ntobernen ©uropad feinen Urfprung ^at. ©benfo anregenb finb bie ©e=
banfen, tnetdje er iibcr ben Swfflntmen^ang bcr Seibnifcfdjen ^itofo^ic
ntit ben ntobernen ©eiftedregungen, befonberd auc^ ben in ben Statur?
iDiffenfc^aften fic^ funbgebenben entloicfett ^at. ©ettcn tool ttrirb man
. €mtl bu SotssHcymonb. \65
bei cincm 9taturforfd)er biefeS allgemeine SEBiffen, biefe 93ertrautf)eit mit
bcr pl)iIofopt)ifd)en unb fd)5nttriffenfd)aftlid)en Sitcratur alter Stikn unb
336lfer finbcn. 3e metyr bei ber ©nttoidelung bcr 2Biffenfci£)aften bic
StrbeitStfjeitung aud) in biefen $Iafc greift, befto fjeroorragenber finb
(grfdjeittungen toie bic bu 93oi3;8let)monb8, bei bcncn bic grbfcte Sets
ticfung in bic gertngfiigigften ©injelnf)eiten eineS gad)ftubium3 mit fo
aUgemeinen, gang entfegene ©ebiete umfaffenben griinblidjen Senntniffen
ftdj bereint jeigen.
3tud) ate populdrer Slebner unb ©djriftftetter iibcr naturtoiffenf drafts
lidjc ©egenftanbe ift bu 93oi3;9let)monb aufgetreten, abcr oertjdltnifjmdfjig
felten. ©in Sortrag, ben cr 1851 in bcr ©ingafabemic iibcr „tt)ierifd)e
SBetoegung" geljalten !>at, ift aud) im 2)rud erfdjienen. SBieberfjotten
Slufforberungen ju foldjen SSortrdgen toid) cr au3, toeil nad) feincr 2Rei;
nung berartige SSortrdge, toemt fic nid)t toon SJerfudjen begtcitet todren,
nufcloS feien, bic Slnftcttung Don SBerfudjen oor cinem grbfeeren ^ublifum
abcr cincn nid)t ju befdjaffenben Slpparat crforbcrc. SBo cr ate Stebner
t>or cincm grdfjeren ^ublifum auftrat, ttmtjlte cr batjer licber £f)emata
Don atlgemcincrcm (£f)arafter; fo fprad) cr in Seipjig auf bcr SRatur^
forfdjeroerfammlung iibcr bic ©ren&en bc3 9iaturerfennen£, fo in Soln
iibcr bic Scjicljungcn bcr ©utturgefd)id)te jur Slaturttriffenfdjaft. ©rftcre
SRebe t)at ifjm cincn, nur auf 9Jti&&erftdnbmfe berufjenben SSortourf
tjon ©citen £ddete jugejogen. SBcr bu 93ote;9tetymonb in fcincm SBirfcn
unb in fcinen SBcrfcn oerfolgt, bcr toeifc, baft cr toor fcincn ©onfequenjen
feineS SenfenS juruifdjrecft, bafj in iljm bic au3 bcr toiffenfd)aftlid)en ©r^
forfdjung bcr 9tatur fid) crgcbcnbcn Seljren cinen oor tcincr Slutoritcit
fidj bcugenben Sertfjeibiger finbcn. Stbcr bic ©tdrfe be3 gorfdjerS licgt
nad) i()m barin, bafe cr fid) bcr ©renjen feincr $ulf3mittel bchni&t blcibt.
©Icid) bem Sliefcn SlntduS ift cr unbejtoinglid), fo lange cr fid) auf bem
mutterlidien S3oben bcr Xf)atfad)en betoegt unb nidjte fann i^m ttuber=
fteljen, toaS cr Don biefcm au£ mit fcincn toeittragenben unb nimmcr=
f e^Icnbcn ©efdjoffen ju erreid)en ocrmag. SBenn cr abcr jenen Soben
t>erlaffenb fid) bem gtuge ber ^fjantafie gar ju ttritlig iibcrtd&t, ISnnen
ifjn bie SBinbe leic^t toerfdjlagen unb cr gcrdt^ in ©efaljr, ba& i^m bic
mit fdjtoadjem SGSac^^ angcflcbten gtiigcldjen abfalten unb er fdjmdljlidj
tiiebcrftur^t toic einftenS Scarug.
3u biefen me^r popularen Seiftungcn miiffen loir abcr aud} bic offent;
lichen SSorlcfungen redinen, tpcl^c er feit ciner 9tei!)e Don 3a^rcn an bcr
Scrlincr Unibcrfitat in jebem SGSintcr abtocc^felnb iibcr Slnttjropotogie unb
iibcr „cinige ncuere gortfdjritte ber Slaturloiffenfdiaftcn'' ju Ijalten pffegt.
S3ci bcr gldngcnben 2)arftetlung unb bcr giittc geiftboHcr 93etrad)tungen
tonnte e^ nic^t fc^Ien, bafe bcr Sortragcnbc immer tt)ieber ein gatjtreid)e3
^pubtifum nic^t bto§ oon ©tnbirenben atlcr gacultdten, fonbern aud) Don
gereiftcn SDtamtem atlcr SerufSfreife urn fi^ oerfammclt, fo ba& bcr
J66
3. Hofentfyal in €rlangen.
grSfcte ^drfaal ber Untoerfitdt bic juftrbmenbe 9Kenge faum &u faffett
toermag.*)
2)u SBot^SRetymonbS dufcere ®rfd)einung ift einc berbe, frdftige, too*
ben feinen 3Kanieren be$ SBeltmannS gemilberte. ©ein robuftcr Sorper
(er toax fteta ein eifriger lurner unb tjat feiner 3eit ba3 ©arrenturnen
gegen bic Slngriffe bcr Setter ber 9Jiilitdrturnfd}uIe lebfjaft toertfjeibigt)
fjat alien 9lnftrengungen frdftig tniberftanben, unb ein fdjmeraljafteS &iift-
leiben, tneldjeS iJjn Dor einigen Sa^ren beficl, ttrirb l)offentlid) feine nad)~
fjaftigen ©puren juriidlaffen. ©ein (£f)arafter ift off en, bieber unb mdnnlid);
feine 3u&orfomment)eit namentlid) gegen iiingere ©cle^rte umibertrefftidj.
©eine reidjljattige 93ibliotljef, fcin tncrtf)t)otler 3tat^ unb feine ttjdtige
Unterftiifeung toerben 3ebem, ber fid) an iljn toenbet, ftetS mit ber grbfcten
Sereittoittigfeit jur SBerfugung geftetlt. ^olitifd) bcfennt er fid) ju ge~
mdfeigt liberaten 9lnfd)auungen unb f)at ftete bei SBaljIen unb anbereu
©elegenljeiten ttjatigen 9tntf)eil an offentlidjen Stngelegen^eiten genommen,
oljne jebod) eine politifdje Slotte f^iclcn ju motten. 3n gfiitffidjen SJamiftens
toerfydttniffen lebt er ttjeilS in 93erttn, ttjeilS, fotoeit eg feine jaljlreidjen
SlmtSgefdjdfte geftatten, in feinem Sanbfjaufc bei ^otSbam, an ber ©eite
einer ifjm ebenburtigen ©attin, im Sireife bliiljenber Sinber, ein ©eletpcter
unb ein Stirger im beften ©inne beS 2Bort3.
*) Sine Heine STnefbote m&ge ^ier iljren ^lafc finben. bu 33oi3=9ieamonb
bieje SSorleJungen jum erften SJtot fjiett, fam ein junger 9ttann ju iljm auf'3 Sabo=
tatorium. @r fet ein 6d)tt>ei$er, fagte cr, unb 6tnbent ber geologic; er Ijabe
feine SSorlejung ger)5rt unb Suft befommen, and) bie anbere iiber ^Ijtoftologie 311
f)6ren; ob er tym baju ratten fSnne? SDer ^rofcffor fagte, er fdnne ba3 nid)t;
benn menn er erft anfange, *pf)ttfioIogie 511 lernen, toiirbe er toiefleidjt feine Su(t
mefjr ljaben, Eljeologe ju bleiben. S5er ©tubent ging unb fam, fotnel id) n>eif$,
nid)t in bie SSorlefung iiber ^fjttfiologie. $u S8oi£=9tetomonb felbft ljatte freilidj,
al$ er fid) in ber gfeid)en Sage befanb, nidjt toorfjer ben betreffenben ^rofefjor um
SRatr) gefragt. 2lnbernfaH3 ware toielleid)t bie SBelt jefct um einen Xfjeologcn reiser
unb um toiele Staturforjdjer armer.
Heif e brief
Doit'
— IKiindjen. —
2In tDilfyelm £)ertj in Berlin.
VxUtiani Ijeigt ber furiofe ITtann,
Der ftnbet fein Dergniigen bran,
€tn>as 3U maajen, n>as er nidjt !ann.
So Ijab' id? felbft einmal gefprodjen,
2Ifler Pfufdjerei ben Stabgebrodjen,
Unb n>ar bod? felber mtter ber Jjanb
<£in gottoergniigter Dtlettant,
Den's l^djlidj auferbaut, 311 geiten
Sein Stecfenpferblein frifdj 311 reiten.
tloa? benfjt bu a>ol ber Cage, freunb,
Da roir felbanb fyerumgejkeunt
3n vEljiirings 33erg; nnb tPalbgeljeg,
Sllfoo bir !unb finb lt>eg unb Steg,
Unb rote roir oft im <5riinen fa§en,
Ueberm tfrifceln 5peif unb (EranP oerga§en,
<Hin Brocf djen fels, ein alt <5emauer
Jjinjkidjelten mit IteiFgem Jeuer
3n jenes Siia^Icin fdjlanf unb fdjmadjtig,
Das bu erjlanben njotjlbebadjttg
3n 3ena neben Jrommann's fjaus,
Safy rote ein Scfjulerfdjreibfieft aus,
Blau ber Umfdjlag nnb burnt bie flatter,
Dodj rotr in gut' unb fajledjtem better
€rprobteu bran mit £eibenfdjaft
Unfre oerftotyne KiinjHerfraft,
(fanben aud? nidjts Kuriofes bran,
Dag €iner mad?t, was er nidjt Pann.
Paul ^eyfc in UTiindjen.
2id?, n>enn in ferien barm unb tpann,
Wet einer Kunjt jid? 3ugcf d?a>oren ,
<Dbcr fonjt ein fdjipcr <5cfc^Sft erforen,
3n anbern freien Ktinffcn pfnfdjt,
rfI3tc blSft ober Bilblein tufd?t,
Ztiemanb 3ur £ajt, fid? 3um Dergniigen
^Jumal auf einfamen IDanbe^iigeu,
Soli man nidjt gleidj fo fjitjig lajtern.
Sinb bod? bic HTnfen Iiebc Sd?u>eftern.
vfii^rt man bic (Hinc tjeim als (frau,
Sie nimmt's u>ol einmal nid?t genau,
Wxxb Iad?elnb burd? bie finger fetm,
<Et?ut man mit einer Sdjroagerin fdjSn,
Da es ja in ber ^amilie bleibt;
Dafern man's nur in <3iid?ten treibt,
Wit feinem jtitfen Dilettiren
ZIid?t por ben £euten rr> ill renommiren.
So f^ab* id?'s all mein (Eag getrieben,
3ft mir barum aud? fern gebliebcn
Das Xtaferiimpfen nub fySfynifd? £ad?cn,
XDenn's 2Inbre eben nid?t anbers madden.
3a oft empfanb id? einen Xteib,
Sal? id? bie tymmelssSeligfeit,
XDomit ein uhbefugt (Ealent
Von fjofyer Sdjopferluft entbrennt,
SPi33enbiid?er 3ufammenfd?id?tet,
Dicfe Ijefte poll £iebern bid?tet
Unb voxe ein <5ei3iger, tpenn es naa^tet,
Den angetjauften Sdjatj betrad?tet.
Blieb's nur babei! Dod? leiber reigt
Die <5uten t?in ein biJfer <5eift,
Dem £id?t ana? enblid? 3U off enbaren,
tOxt pergniigt fie im Dunfeln tsaren,
Da bann am falten Slicf ber XPelt
3fyr Heid?tt?um nid?t bie probe tjalt.
Dann roirb ber Segen fd?b*nfter Stunben
<Se3&f?lt, geroogen, 3U leid?t erfunben.
Denn jene geit ijt langft entflotjn,
Da ein begnabeter IKutterfofyn
3n feines JDefens madjt'gem Hing
Die fteben freien Kiinft' umfing,
Unb es fid? fdjier pou felbft perftanb,
Dag eines bilbenben UTeijiers f?anb,
<5eroo^nt ben UTarmor 3U betjauen,
2Jud? miiffe roiffeu ein ^aus 3U bauen,
€in Silb 3U malen, £aute 3U fd?Iagen,
Heifebriefe.
3n Perfen feine £iebe 3n flagen.
ZIod? wax, von gmeifeln ungefjemmt,
Xttdjts <58ttlid?es bent HTenfdjen fremb,
Unb n>er bran fein diletto fanb,
UJarb nid?t befd?rie'n als Dilettanr.
ZIod? (ebten bie Kiirtjie gar certraglid?;
Dod? f^eut ©erf exnbtttn fie fid? flaglid?,
Sd?aut 3ebe eiferfiid?tig brein,
UM ifyren Ittann fur fid? allein,
3a felbji in eignen Heid?es (Bremen
Soli er nur burd? 3efd?ranfung glan3en
Unb fid? bornirenb friit? unb fpat
2lusbilben eine ^Specialitat"*
IDer Baume malt, foil flugermagen
Von HTenfd?en feinen JiirtPtft laffeu,
IDer etroa Ztopetten lernte fd?reiben,
Xtur ja bem Drama feme bleiben,
€in Ulannesfdjufter fid? nid?t erbreiften
Jjanb an3ulegen an JDeiberleiffcn.
Dod? feit nur iiber bie 2Jlpen reif'ten,
fii^r id?, o freunb, mid? neu genefen
Von maud?em beutfdjen pebantenu?efen,
Dat?er mid? n>ieberum nngefd?eut
UTein bisd?en pfufd?erei erfreut,
Unb u>o fid? tynlenft unfer Sd?ritt,
ZDanbert bas ^eid?enbiid?lein mit,
Ztid?t imie in junger geit funpatjr,
XDo's mandjmal ein (Saleotto roar
Unb etisa mir bei fd?8neu 2Iugen
Hlugte bie Q?iir 3U iJff nen taugen,
Da ein pittore in Dorf unb Stabt
Unmeigerlid? freten ^utrttt t?at.
^eut fritjP id? nur mit ftillem Sinn
(Einen fd?lid?ten Bufd? ober Jelfen t?in,
(Ein ^ansa^en, £?iittd?en, «§aun ober 5d?euer.
Porbei bie geit ber 2Ibenteuer,
Die nur 3U jungen 3^^rcn paffen.
Xtidjts mill id?, als ins 2iuge faff en,
Was vox mir fd?roebt n>ie €ben fd?8n,
Die fanftgemiegten Bergestjotj'n,
Strenge (Eypreffen, roeid?e pinieu,
2JH bie UTagie von Jarb* unb £inieu,
Unb n>as bapon ins 3iid?lein fommt,
€rinnrung nur 3U beleben frommt.
Daneben, <5efd?id?teu 3U er3af?Ien,
IDirb's aud? nid?t an Staff age fefylen,
Wtnn bu fie nur 3um Heben bringft.
paul *}eyfe in Utiindjen.
So fiJ^rf uns .unfre tttonbrung jiingft
Bis ©eit fyinunter gegen bic (Efyore
Poriiber an fflarie UTaggiore.
Da ©adjft empor eine neue Stabt,
Sedjs Stocf fyodj, n>ei§ getiindjt unb glatt,
<5cmiit^Ios nribera>art'ge Kafien,
Die nadj bem Kopnicferfelbe pagten.
Da3n>ifd?en fdjaut ein Huinentrumm
Perlegen nnb betriibt fid? urn
Unb fdjeint son natter geit 3U traumen,
IDo es nun audj ben platj foil rflumeu.
Wit fafyn bas braune (Semaner nrinfen,
€inen fyofylen &ax\n m** fdjartigen ginfen,
Dafyinter unroeit fjeriiberfafj
Die alte ITtinerpa mebica,
2Iudj ein StiicF eines 2Jquabucts.
Unb gleidj mir in ben Jingern 3ttcft's,
2JIs ob tyer n)as 3U fjoleu fei.
TXun lag ein ^iittlein nebenbei,
Dent Sntertfyum juf* gegeniiber;
Giuoco di bocce las man iiber
Der niebern (Etjiir, unb aus ber Kiidje
Kamen ^roiebels unb IPeingeriidje,
IPie man's mol fennt in romifdjen Sdjenfen.
Daljin mix {lugs bie Sdjritte lenfen
Unb bitten, ba§ man t>or bie (Efyur
Uns ein paar Sitje triig' tjcrfiir,
UTein PfufdjroerF eilig 3U beginnen.
€in junges (Efjpaar tjauf'te brinnen,
Das eben fein pranzo mit Salat
Unb Brob unb XPeiu collenbet \\at
Die trugen 3tr>ei Seffel t>or bas fyms,
Sagen bann felbjt 3U uns tynaus,
Unb roa^reub flinf mein Stift fid? riifyrte,
UTan eine §w'u\yxad) 3ufammen fiifyrte.
€in 3a^r erf* waren fie Eermafjlt,
fatten bies arme Xtef* ertx>d^It/
IDeil Xtiemanb fonf* (107 ba3u fanb,
Da es Iangft auf bem 2Jbbrudj jianb.
Die frau, ein fyarmlos muutres tPefen,
Wax* gar fo iibel nidjt geroefen,
^att* nur ein ©enig IPafdjen gebrauajt,
So wax fie flaubig unb angeraudjt.
2kx (5atte griigte midj als <£ol!egen.
€r tfjat' einf* felber ber UTalfunft pflegen;
Zladj Solferino rjab' er einmal
IPunb miiffen liegen im Spital
Heifebriefe.
Vitl bbe Wotyn unb HTonben lang,
Da t?ab' er fo aus E?er3ensbrang
Ulit <geid?nen fid? bie geit sertriebeti,
Xtnn fei tym nur bie £uft geblieben.
(Er f3nn' an biefen Bergen bort
Sid? nimmer fatt fefjn fort unb fort.
3d? foftY nur fein bie 3roei Cypreffen
Dort auf bem Jjiigel nid?t pergeffen.
<5ut fei's, bag bod? ein 2lbbilb bliebe,
IPenn t^ter ber ZTeubau fie pertriebe.
€r felber tjab's perfud?t; boa? fei
€s it?m 3U fd?roer, er fag' es fret.
So planberten ein Stiinblein roir
3n guter f reunbfdjaft alle Pier.
So jtill nnb lieblid? roar ber <Drt,
So len3^aft fdjien bie Sonne bort
Sd?on in bes februars Beginne — ,
€s roarb uns rounberroofjl 3U Sinne.
Unb als mein Sfi33d?en nun Pollbrad?t —
€ilfertig, roie's ein Stumper mad?t —
HTugt' id? mit meiner lieben f rauen
Das Jjuttlein aud? con innen fdjauen.
Da roar nun 2IUes nad? ianbesbxandi
(Sar biirftig, faf{l, poll Hug nnb Haud?,
Der (Eifd? am ^erbe fd?led?t unb red?t,
€in Biefensfiasco in Stro!?gefled?t,
Zlur roenig ^ausratt? rings umfyer,
2Jls fiammt' er nod? pon ben (Eagen tjcr,
Da Cannibal por ben (Efjoren \tanb.
Dod? Winter ber fd?roar3en Bretterroanb
<Et?at fid? nod? auf ein Kammerlein,
Da fiitjrt bas paar uns ftol3 Jjinein.
Wax 3roar nid?ts KSftliays bran 3U fefjn,
tfaum plaft, fid? nur tjerun^nbretjn,
(Ein Bett mit Strotjfacf, pielgeflicft.
Dod? roie roir forfd?enb umgeblicft,
Saljn roir bie armen VO'dnbt rings.
Die fd?iefe Decfe red?ts unb linfs
<Eape3iert mit Bilbern allertjanb,
Sammtlid? pon €iner fd?roeren ijanb
UTit bunten Stiften tibermalt.
Unferes IPir%s 2Iuge ftratjlt,
Da er uns feine IDerfe roies.
„Ecco! Das Capitol ift bies,
Unb bies ber ijafen pon (Erieft;
2Iud? bies fid? rool erfennen la§t,
\72
paul ^eyfe in UTiindjen.
Die fpanifdje (Ereppe ftellt es vot,
Unb bies ben £ateran, Signor,
Unb bies — unb bies Sinb arme Sac^en,
Unb ipar bodj Iuftig, (ie 3n madden."
XV'xt aber (ianbcn unb jtannten ma'djtig,
Belobten 2IUes gar anba'c^tig
Unb fpradjen unter uns: €s tyeigt
3n XPa^rt^eit „SeIig, bie arm am <5etjt."
Der biebre Dilettant, idj toette,
€ru>adjt cr friitj in feinem Bette
Unb fle^t ringsnm an Pec!' unb tPanb
Die bunte Sdjdpfnng feiner l?anb,
Ztidjt Kafae! war fo felig, ba
3tyn Porgefdju>ebt bie Disputa.
Unb alfo fdjieben wit. Der <5ute
ttJiinf djf meinem JDeib buona salute.
Seitbem, fety* ic^ mein Btidjlein an,
^ab* id? audj meine f reube bran
Unb fpredje getroft: Sinb arme Sadjen,
Unb oar bod? lujiig, fie 3U madjen.
9tont, 11. gebruar 1878.
2In bie 3U ^aufe <5ebliebeneru
3a, gefletjt nun bann unb n>ann
Zleibet ifyr tins boa? ein ©enig,
Da§ urir erft ben €ffrenmann
3etgefet)t, ben guten KSnig,
Unb nadj !ur3er (Eage frijt
(Efyut ber papfi uns ben (Befallen,
(Jleifd? ift ^eu! ruft ber pfalmijt)
3fjm ins 3enfei*s nadtfuro alien.
XPer bod? in Sauct peter ftefyn,
IPer bod? miterleben fdunte,
IPenn fte juft in Scene gefyn,
XPelttyftorifdje UTomente.
Sdjroebt nidjt ob ber eu/gen Stabt
(Ein erfyaben banges (Erauern,
Da fte beibe fiirften t^at
€ingefargt in tyren HTauem? —
2Jdj, bie eu>'ge Stabt ernries
<5r8fjern fdjon bie letjte (Efnre,
3ft 3" alt, als bag ifyr bies
ZTeue <5rab fo roidjtig toSre.
Heifebriefe.
Unb bie XOtlt — fie ij* audj fyier
Zlur ber (Srogen Kammerbiener :
Xt>er 3U nalj cerfebrt mit ifyr,
Xlimmer ifyr als %Ib erfdjien er.
Xtur ber feme ganberbuft
ZDirb nns bie (Bejtalt ©erflSren.
€inen Sdjritt con ifjrer (Sruft
Pflegt man Killer fte 311 efyren.
S»ar bet biefes K3mgs (Eob
gncft* es bard? bes Hetdjes (Slieber:
Seines Polfes (Sliicf unb ZTotfj
(Erug er mit, getreu unb bieber;
Ijeilig faum, bocf? feft an Sinn,
Pfiterlidj, ein freunb unb Hatter,
Unb beroetnt ging er bafyin.
IPer beiceint ben fyeiPgeu Vaiex?
Da er lag im (Eobesgraus
Hiugenb, mit entffirbtem HTunbe,
UTadjten a>ir in feinem f$aus
Sdjaubegierig nod) bie Hunbe.
<5an3 icie fonjt im Datican
Dura) bie Sa)am3er, pfaffen, Sd)ran3en
Stieg bie f rembenfdjaar tynau
gur SijHna nnb ben Stamen.
Unb boa) nmfjt' es afle XPelt:
Jjeut nod) unter biefem Daa)e
2Ittmiet aus ber (Slaubenstjelb,
Der cericegne, blinbe, fd)u>aa)e.
IDot^I tyerab com petersbom
Klagt' urn itm ein ernft (Sela'ute,
Doa) gelaffen fagte Horn:
2llfo nurflia)? ftarb er fyeute? —
3unge pfflfflein, bidjtgereifyt,
Die im (Sriinen (id) ergingen,
Safm tcir, n>ie 3U anbrer &it,
Blunter icie bie BScflein fpringen*
3tjr, ba end? bie HTar con fern
gugeblitjt ber Draty, ber rafa)e,
IDafyitet, urn ben alten ^errn
CCraure Horn in Sacf unb 2Jfa)e.
paul ^eyfe in HTiindjen.
2Idj, pon feinem <5nabenfd?at$
SoUY er ipenig Danf erfatyren,
Haumt nun unbeflagt ben piatj
€inem neuen Unfefylbaren.
S^ar, ba fte ifyn aufgebatyrt
3n ber Sacramentsfapelle,
IPogt bie Polfsflut buntgefdjaart
Um bes t|ot}en (Eempels Sdjipelle.
Bldbe Heugier, £adjen, Sdjrei'n —
Unb fo ftnb bic UTenfdjempogen
gu bem Katafal! t^tnein
Zladj bem (Sittertfyor ge3ogen.
Hotttgefletbet, rottjbemiifet,
Hotfybetianbfdjutit lag bie £eidje,
Ker3enfdjimmeriiberblifet
Das (Sefidjt, bas ipfidjfernbleidje.
Um bie IDangengriibdjen fdjier
^JucrYs n>ie ein ironifa? £adjen,
(Sleidj als fpradj' er: Kinber, it^r
CEreibt audj gar 311 tolle Sadjen.
Wax's genug bes IPatmftnns bodj,
£ebenb mid? als (5ott 3U grii§en.
ITtiifjt ifyr meiner £eidje nod?
BriinjHg ben pantoffel fiiffen? —
Pod? bie XPadje mafjnt unb ruft
avanti! ins (Sebra'nge,
Unb tynaus in beffre £uft
Hetten n>ir uns aus ber €uge.
*
Hufyig ijt bie en>'ge Staot.
Dodj ein Kief el, ben man leife
3n ben Sumpf geiporfeu fyat,
UTug erregen Kreis um Kretfe.
Unfer Dienjt im ijaufe roarb
2Inpertranr 3©ei ipacfreu Sdjtpejfcrn,
Ungletdj an <5emiitt| unb 21rt,
So im £iebeu ipie im £a'jtern.
Unfre fromme UTenica
fjai's bem Kdnig nie pergeben,
Va% ber papft — fo tjeigt es ja —
Diirftig mugf im Kerfer Ieben.
Heifebrtefe.
Denn fte nmfdj bie IPafdje Iang
<fiir ein uralt Honnenflofter.
Dafj gefprengt ber Kloffr^mang,
IKadjt bie (Sute nur erbof'ter.
ItTu§ fte bod?, feitbem fo Iaut
UTit bem einigen Heidj fie praljlen,
Pott bem IPeinberg, ben fie baut,
Pier3elm Scubi Steuern 3alilen. ,
2IIs ber gug 3& <Srabe wallf,
fjBrte man fte triumptjiren:
Setjt, er mugte fdjon fo balb
Den geftofylnen (Efyron perlieren! —
Dodj ber Pfaffen £ift unb (Erug
Sat} bie Sdjtpeffrr, bie (Siopanna,
Daudjte ftdj 3a gut unb flug,
IHit3uftngen itjr fjofiannatj.
Da nun and? ber papfi perfdjieb,
Hiitirt* es faum bie (Siopannina,
IPatjrenb auger jidj gerietfy
ZHenica bie papalina.
Unb ber fjimmel fatj betriibt,
XPie bie Sdjroeftern ftdj ent3U>eiten,
2lber benen, bie er liebt,
pflegt er priifung 3U bereiten.
Hadj Sanct peter friitj am (tag
(Sing (Biopanna mit ber ITTenge,
IPo ber fyeiPge Pater lag,
HIit3ugaffen im (Bebrange.
IPie fte bann nadj fjaufe fam,
IPeinenb flagte fte es Allien:
Tins bem einen ®tjr — 0 (Sram! —
IPar ber (Solbreif ifyr entfallen.
Unb fte fudjt' unb forfdjte piel,
Dodj bas Kleinob blieb perfdjtpunben,
Hafdj 3ertreten im (SetpiibJ,
^Dber — all3u gut gefunben.
Unb fte fiit^lt (Semiffensbranb.
XPar's ifyr bodj fo porgefommen,
pio nono's (Seifterfyanb
JJabe fte beim <Db,r genommen.
\76
Paul £?eyfe in ItTiindjen.
Dod? bie Sd?a>efter fprad? Fein IPort,
(Sing — 3um 3U>eitenmal natiirlid? —
Had? Sand peter, roollte bort
Knien unb beten, mie gebiifyrlid? ;
«
2lber con (Sioranna (teg
(Eud? unb Sd?leier fte fid? borgen,
Denn bte (Tramontane blies
Ungelinb an jenem HTorgen.
Unb fte fafj con 5d?mer3 entflantmt
Durd? bas (Sitter, Fiigte wieber
Des panto jf els rotten Sammt,
Kniete ^ann in 2lnbad?t nieber.
IPie ben 33licf fte nieberfd?lug,
(Sdn3 in it?r (Sebet rerfunfen —
PKJtjlid? auf (Siooantta's dud?
(Sla'^t es trie ein golbner <funfen.
3<i, er ijt's, (Siooanna's Hing!
Der bcr Ketjerin entfa^rounben,
£?at fid? auf bes £?immels IPinf
gu ber (Slaub'gen t|eimgefunben.
Denf nur! ruft fte gliifjenb, ba
Sie nad? fjaus 3ur Sd?roe jter Fetjrte,
EDeld? ein IDunber mir gef d?aty,
EDeil id? ftets ben papft t>erel?rte!
Deinem Konig — nimmerbar
Konnt* it?m fold? ein IDerf geliugen,
XDcil er Diel 3U Ijajjlid? roar,
Um ein IPunber 3U collbringen.
IPirjt bu jefct nod? ungefd?eut
Unfre tjeifge Kird?e laftern? —
Dod? (Siovanna fd?meigt feit Ijeut,
Unb pcrfSrjnt ftnb nun bte Sd?u>eftent.
XDunber nimmt miays, bag fofort
(SrSgres nid?t baraus l?errorging.
Konnte nid?t ein IPaUfafjrtsort
Bctgcii : f,§vLm cerlomen (During"?
9tom, 16. gebruar 1878.
Die 3eurtfjdhmg bev Vclfev.
Von
jfriefcrirfj jSatjel.
— IHiindjcn. —
I.
ebcr efjrlicfye 9teifenbc, bcm e£ barum ju tfjuu ift, (Sinbrude
toon Sdnbcrn unb SSotfern, bie cr befudjt, mit £reue unb @c;
retfjtigfcit in fid) aufeuncfjmen, urn fie Stnbercn mitautfjeilen,
fei e£ jur ©rgofcung ober jur 93elef)rung, erblidt feinc fdjtoerfte
unb &eranttt>ortung£&otIfte 2lufgabe in bcr 93eurtf)eilung bcr 93oIf3d)araftere.
3c getoiffenfjafter er ift, urn fo flarer fietjt cr bie ©djftricrigleiten in biefer
ttnternefjmung unb id) f)abe fetjr intefligcnte unb erfafjrene 93eobad)ter
gefannt, n?cld^e an ber 2RogIid)feit &erjtt)cifelten, jemals ein botlfommen
ridjtigeS Sfjarafterbilb eine3 93oIfe3 511 enttoerfen. 3n ber Xfjat, toenn
e3, tine man fagt, ben ©eift eineS $f)i!ofo})l;en braudjt, urn ben ©fjarafter
eineS 2Renfc§en gu erfaffen unb bie ©eelc eincS ®id)ter£, urn benfelben
$u jeidjnen, toaS muf$ erft ®em notfjig fein, bcr eincm ganjcn SSoIfe
gegenitbertritt unb ber geredjt merbcn will ber ganjen aufteren SUlannid)-
faltigfeit unb bem inneren 3teid)tf)um biefe3 f)6d)ft fceranberlidjen, organifd)
toadjfenbcn unb im SBadjfen beftdnbig abfterbenben unb neu fid) fccrjungenben
2Befen£, ba£ ftrir SSoIf ncnnen? 3$ finbe cine fefjr treffenbe Sefdjreibung
ber (Srtodgungen, bie eincm ernften ©eift gegeniiber biefen 3tufgaben fid)
aufbrdngen, in bem ©ntttmrf eineS £f)arafterbilbe£ con SKorbamerifa
toon ber £anb Harriet 9Rartineau§, ba£ gehufc ju ben treueften unb
fleifeigften gef)5rt, bie jemals gejeicfynet hmrben. „©o oft id)," fagt bie
2)ame, „einem fjalben Sufeenb unfcereinbarer, aber ad)tung£n?ertf)er
fflteinungen iiber einen unb benfelben ©treityunft ber ^olitif bcgcgnete,
fo oft eben fo triele berfcfyiebene unb bod) in gutem ©lauben gegebene
Seriate iiber eine unb biefelbe 2f)atfad)e mir erftattet tourben, fo oft ein
3lufleud)ten toon greube iiber ben ©etoinn irgenb einer ftridjtigen ffiinfidjt,
13*
\7S
ifctebrtcf} Hafcel in ItTiindjen.
ioeldfjen tiielteid^t ein trtoiater 3ufaU Dermittette, fid) in ben ©djuterj ber
Stefignation Dertoanbefte bei bcm ©ebanfen, hue Did ba toerborgen bleiben
mufetc, too fdjott biefer gctegcntlic^c (Sinbticf fo Diet enttjiillte; fo oft idj
bag ©efitfjt tjatte, mit bcr ©eringfitgigfeit mciner Senntniffe unb bem
©d£)h>anfen meiner Ueberjeugungen in bcr £anb unbeljerrfdfjbarer ©ins
fliiffe fetn, balb §ier= baft bortfjin abgetenft ju toerben burdfj bie
loiberftreitenben ©trome ber 2Jieinungen, bic mir begegneten, fo baft idj
mandjmat mid) bergleidfjen muftte mit cincm gorfdjer, ber bic 6rbe au£
bent ©djiffdjen eineg Suftbattong iiberblicft bci fcinem anberen Sid^te ate
bent ber ©teroe iiber ifjm — ebenfo oft toar id) geneigt, ber Slufgabe
ber SSeraUgemeinerung beffen, toag idf) falj unb l)5rte, toottftanbig $u ente
fagen. 3n ben toeniger bebrdngten Snter&atten finite idf) inbeffen, bafj
bieg unrid&tig ge^anbelt fcin toiirbe, bentt bie SDlenfcfjen toerben nie ju
ciner ®enntnife bon einanber gelangen, toenn bic, toeldje bie 9JtdgIid)feit
ber Seobadfjtung in frentben Sanben f)aben, fief) ioeigern, Seridjt ju er^
ftatten ilber bag, toag fie gelernt ju Ijaben gtauben ober, toenn bieg nidjt,
fo bod) bag 9JfateriaI toorjutcgen, toeldjjeg fie gefammelt §aben, auf toeld)e§
fie fid) aber fdfjeuen Sljeorien aufoubauen ober toeittragenbe ©djliiffe ju
begritnben."*) — SKan oerftefjt biefe ©djeu, benn toie breit ntiiffen atler^
bingg nidjt Mog bie $af)igleiten, fonbern toor allem aucf) bie ©tjmpatljien
fein, ioetdje ein SSoIf in feinen fo ungemein oietfaltigen Steufjerungen
tjerfte^en toollen! 3n toie trirfeg unb t»iclcrtci mufe ber Seurtljeiler ftdf)
{jineinbenfen, mit toie SSicIen mitfitljlen fdnnen! ©r fotlte bie SBege in
SMdjterg Sanbe miff en, fotlte jefet bem Slug beg fimftterifdjen ©eniug
folgen, jefet im ©taub unb SRaud) beg atltaglidjen Sebeng ben toirttjfd&afts
lichen ©rfd^einungen nadfjgefien; bie bumpfen unb einformigen Sebeng*
bebingungen ber SRaflen foil cr nidjt loeniger &u tjerftef>en tradjten alg
bic meteortfdje, iiber unfer mittlercg 2Renfd)enmafj ^inaugftrebenbe Safyt
ber $elben. Unb bann bie praftifdjen ©djtoierigfeiten, nidjt alleg, benn
bag ift unmbglid), aber bod) moglidjft t>icl mit eigenen ©innen ju er*
faf)ren! 9Jlan toiirbe in ber %1)at, alle Slnforberungen ftetlenb, enblid^
ju bem ©djluffe fommen, bag nur ein umfaffenber ©cniug, ettoa Don
©oetfjefdjem 2^ug, bicfelben su erfiiCcn Dcrmod^te, loenn nid^t bie praftifdje
Slot^tDcnbigleit ung erma^nte, ben 2Ra&ftab nic^t in'g Unm5gtid^e §u
tjeriangern. 3(f) mill, urn biefe praftifefye Slot^toenbigfeit anjubeuten,
nifyt an bie lanblaufigen Urt^eite erinnern, bie ein SSolf iiber bag anbere
fattt, benn bag finb im beften Sail toifcige SSariationen ilber irgcnb einen
Splitter t>on 28aJjrf>eit. Slber toenn man fie^t, toie mitten in ber $ra-
cifion beg 2lugbrucfeg unb ber Stngaben iiber bag $I)t)fifcf)e, bag ©efd^ic^t^
li(f)e, bie SBirt^f^aft etneg SSolfcg, toeldfje man neuerbingg in unferen
befferen #anbbiid£)em ber ©eogra^ie ju finben getoo^nt ift, toittliirli^
*) Harriet Martineau, Society in America 1837. I. VII.
Die Seurtfjeiluug ber V'dlUx. \?9
gciua^Itc Sitate aug mancfjinal fdjon 3Renfd)enalter Winter ung licgcnben
Steifetoerfen, SBeobadjtungen, bie einfeitig gefaftt finb, bamit fie blenbenb
ober ^tfant erfdjeinen u. bgl., ate Seitrage &ur SS5Ifcrbeurt^eilung fteljen,
unb toenn bieg aQe^ ift, foag in fotdjen SBerfen iiber bie Solfgdjaraftere
gefagt tuirb, fo erfdjridt matt iiber fold^c Seere. ©g mad)t ben ©inbrud
cincr 93rombeerf)ede, tr>eld)e man aug ©aprice mitten in einem tvo^U
gepftegten gelb tyat ftefjen laffen, unb man fjat bag ®efiif)l, ate miiffe
man gleicf) £anb antegen, urn Drbnung ju fdjaffen. Unb f)ier tuare eg
bodj, too man ertoarten biirfte, 9luffd£)luft ju ftnben iiber bag innere
SBefen ber 935tfer, ba of)ne if)n bie ©djilberung, bie ein fotdjeg 83ud)
ftcf) fcorfefct, nie fcottftdnbig fein !ann. 9lber toag man gibt, finb im
beften gatte ©tjaralterjuge ofjne 3ufammenf>ang. SBer f)at, urn ein Sei^
fpiel $u nemten, je in einem folc^cn SBerfe and) nur ben SBerf ud) einer
©rftarung beg 28iberfprucfjeg gefunben, ben bie Dberfladje beg englifcfjen
Sebeng mit. feiner 3reif)eit in oiden unb feiner unerflarlicfyen ©ebunben*
tyeit in nid)t toenigen 3)ingen bietet?
©g ift moglid), baft bie Surest Dor ber ©rofte ber Stufgabe biefe
Untoolttommenfieit ber Stnlaufe jur S851ferbeurt^eifung &u einem guten
Ifieile fcerfdjulbet. SDtan ijat 93eifpiele genug Don ber retarbirenben
SBirfung, todfy eine geioiffe 8ag^ftig!eit im ?tnfaffen ber $inge auf
ben gortfdjritt ber ©rfenntnift iibt. 3ebenfatte toiirbe eg, ba eine ge*
toiffe ©ntfdjloffenljeit beg 9lnfaffeng audj ber fdjtoierigften Stufgaben mit
ju ben SSorbebingungen ber ©eloinnung toon ©rfenntnift geljbrt, tucit
gefefytt fein, toenn man fid) nur unb immer toieber bie ©djtoierigfeiten
ber ©adje toorftetten tnottte, urn fo met)r gefetyft, ate bann biefe ^robleme
bennodj nidjt immer fcottftanbig bei ©cite liegen gelaffen, fonbern loenigfteng
betrad)tet unb betyrocfjen, aber im ©efiif)!, baft fie bod) nie ju lofen feien,
toaJjrfdjeinlid) mit einer Dberf(ad)ttdE)feit betradfjtet unb befprodjen tnerben,
roeldje fdjtimmer ift ate ber ungefdjidtefte SJerfud) eineg ernftgemeinten
9laf)ertreteng. 2Ran !ann fogar fagen, baft in mand^en Sejie^ungen bie
9Renf<$en in SKaffe ttrieber leiditer ju faffen finb ate bie ©in&elnen. ©in
SSolf ift Dor attem nie fcerfcfjloffen unb bietet in ber groftartigen Unmittefc
barfeit feiner Steufterungen t)iet nteljr ^Sunfte, an benen man itjm na^e^
fommen fann. 3n bie loeit offenen Sud)er feineg Iiterarifd)en unb miffen-
fd)aftli(^en Sebeng unb auf bie toeit fid)tbaren ©ebenffteine feiner ©cfd)i(^te
jeid^net eg mit ber nt5gtid}ften Unbefangen^eit bag SBefen feineg ©eifteg
unb auf ben 2lHen juganglid)en SKdrften feineg Sffenttidien Sebeng jeigen
bie §etben unb bie SRaffen o^ne SRagfe, toag fie toolleu unb fonnen.
S)ie @d)toierigfeit liegt nur im Sefen jener ©d)rift unb im ©djafeen
biefer ^anMungeu. S)er bebrangenbe ©rfd)einunggreid)tf)um eineg SSotfg^
lebeng erleic^tert aud) toieberum fein ©tubium barin, baft bie eine %1)aU
fad^e oft taut augfpridjt, mag bie anbere &erfd)tt>eigt, unb baft bag £id)t,
ttjelc^eg tjon einer augftra^It, toietteidfjt ganje ©ruppen er^eflt, loridie fur
\80
(friebridj Hafcel in ITIiindjen.
fid) im ©fatten ftefjcn ttriirben. S)cm ©injetnctt ift mit bcr ©tatiftif
nid)t bctjufommcn, tool abcr cuter ©efammtfjcit. 9tud) ift nidjt feltcn
bie 93dtfergefcf)id)te leidjter ju erforfdjen alg bic eineg (Sinjelnen imb bic
2BeItgefd)id)tc minbcr toorgefafjt unb einfeitig uberliefert alg bic 93iograp§ie.
II.
3)ie Settjatigungen bcr SSolfer fdjeinen fid) am natiirlidjften in jtoei
©ruppen tfjeilen ju laffen: in inncre unb aufjere. Die innercn finb auf
©rfjalhmg unb gortbilbung, bic iiufjereu auf 28ed)felttnrfung mit anbercn
gcridjtet. S)iefc ttnterfdjcibung entfpridjt berjenigen in fcegetatifce unb
animatifdje Sfjatigfeiten, bic ttrir in jcbem organifdjen SBrper alg einc
toon fclbft fid) ergebenbe treffen. 28ir Ijanbetn animalifd), toenn mir
fcfyreiten unb eg Ijanbelt in ung Degetatto, menu ttnr fcerbauen obcr tuenn
unfcr |)crj fdjtagt. SSciberlci Sfjattgleiteu finb innig mit cinanbcr t>cr=
buubcn unb bebingcn cinanber. 93on ber ©cfunb^cit beg Snnern Ijangt
bic auftere Sfjatigfeit ab bci S35Ifcrn toie bci ©injelnen. Slur jum
praftifdjen 3toed ber Ueberfid)tlid)fett faun eS geflattct fein, fie toon cin-
anbcr ju trcnnen.
Unb toer finb bie Xragcr bicfer 2f)dtigfeiten? 2)tc ©inidncn unb
bie gamilicn: bic crfteren Dorjiigtid) ber auf$ercn, bie tefcteren meljr ber
innercn. Sin jenen nimmt cin ®efd)led)t, bag bcr SKanner, faft aug;
fcfyliefjlid) Sfjcil, an biefen ift bic ©efammttjeit beg SBotfcg betljeiligt.
3)ag Snnenlebcn beg SSoIfeg wurjett in ber gamilie, in toetdjcr bcm
grofcten 2f)eil jeber SBe&dlferung, beu graucn unb ben Sinbera, iljre
uatiirli^e ©tellung angettriefen ift. S)ie gamilie ift bie lefcte Sinljeit
beg inncren SebenS bcr SSotfer. SKan l)at fie jenen lebenbigen ©lementars
organigmen ber SeHcn *>erglid)en, aug benen unfer $orper unb iibertjaupt
ber atler organifdjen SSefcn beftefjt. Sebengmittelpunfte fur fid) finb biefe
3etlen gleidjjeitig Srager beg Sebeng im ©cfammtorganiSmuS. Snbem
jebe einjelnc Don itjnen itjrc cigene ©nthridelung, itjr Scben, ifjr SBadjg;
tfjum forbert, trcigt uub forbert fie Sebcu unb 2Bad)3tI)um beg ©anjen.
Se tootlfommener bie einjclne BcDc, bag einjelne Slumpdjcn SJkotopIagma
fcine Stufgabc erfiittt, befto fcollfommener toirb bag Sebcn beg DrganiSmuS
fein. 3c tfjatiger fid) bag Scbcn im Snncrn ber &Utn regt, befto
rafdjer pulfirt eg im ©efammtorganigmug. S)ic 93ermcl;rung bcr 3^tten
ift fein SBadjgttjum, bic ^Iblofung jungcr 3cDen feine SScrmc^rung, bic
2tugfto^ung alter 3ctlen bebingt feine ©rneuerung unb bag 2lbfterbcn
bcr 3^^cn bebeutet feincn 2ob.
®ic gamitien finb fur ein SSolf, wag bie 3ctlcn fiir ben Drganigmug,
bie (Eentren beg Scbcng, unb &loar finb fie eg in mefyrfadjem Sinn:
©ie finb bic SRittelpunlte, t?on benen bic ©rneuerung unb Skrmeljrung
beg SSolfcg auggel)t, fie finb bie ©ammetyunftc feincg ftrirtfjfdjaftlidjen
Scbeng unb bic Statteu beg tt)id)tigften S^eiteg feincr ©rjic^ung. Sluf
Die Scurtfyeilung ber Dolfer. \S{
toeffen SBunfdj unb Sebiirfmg aber ate ber grauen beruljt bic ga;
milie? $3er anberg ate fie ijat bag SBefentlidjfte an iljr gcfc^affcn unb
trdgt bag SKeifte $u ifjrer @rf)altung bei? 3Rit grdgerem SRedjte ate
ben SDtdnnern gebii^rt if)nen ber 9tuf)m, ntit ber (Sriinbung ber 2fantilic
am meiften &u ben gunbamenten unferer Sultur beigetragen &u ljaben.
Unb maf)rf<$cinlid) barf bie 93ebeutung ber SBirffantfeit ber grauen in ben
Stnfangen ber ©uttur i)5f)er angefcftfagen tterben ate in ben fpdteren fprfc
gefdjritteneren 3eiten. 9Kan ift gero5t)nlid) ber entgegengefefeten 9Reinung,
tteil ber SBirfunggfreig ber grauen fi<$ mit bem gortfdjreiten ber ©ibift;
fatton intnter meljr ertoeitert {jat. Stber Ijier fommt eg nur auf bie
toertydltnigmagige, nidjt auf bie abfolute (3r5ge ber Seiftung an, unb tjiet*
leidjt war fein SBenbepunft entfdjeibenber fiir bag ©djidfal ber menfdjlidjen
©uftur, ate jener gltidlidje 9tugenblid, in toeldjem bag SBeib jum erften 2RaI
«rfannte, bag fie ate Jputerin ber iputte obcr £>of)Ie unb ate 93ett)af)rerin
beg geuerg beffer an i^rem $lafce fei benn ate Sdgcrin ober gifdjerin.
^^JKit fcotlem 9led)t toirb geforbert, bag bie ©tctlung ber grau
rfinmer in erfter Sinie betradjtet toerbe, toenn man ein SSotf beurtljeitt.
3n toeitem ©inne ift eg toafjr, bag ftrie bie grau, fo bie gamilie, unb
ttrie bie gamilie, fo bag 93oIl geartct fei. (Sin SJolf, bag feine grauen
adjtet, toirb ein innigeg gamilienlcben tyaben unb toag ber gamilie ju
(&ute fommt, niifct unfetylbar ber inneren ©efunbljeit, ber guten (Srjie^ung
unb bem toirt§fct)aftlid)en ©ebcitjen. ®ie niebere ©tetlung ber grau
ratfyt fid} im SSerfatt ber gamilie unb beg SBotfeg. Stirgenbg ftef)en bie
UJidnner felbft liefer ate ba, too fie ifjre grauen tief fteHen, biefe jiefjen
fie mit fidj Ijerab. Sg ift unbejmeifett, bag bie aJidnner attcr jener
335tter, bei bencn bie grauen gebriidt ober juritdgebrdngt {eben, Sljarafter*
jiige an fid) tragcn, bie man nid)t anberg ate toeibifdj nennen fann.
3fa ©uropa finb bie ©panier bagjenige SBoIf, bag feine grauen in ber
grogten 9Ibgefd)foffent)eit f)dtt unb feine SOtdnner finb, mag man aud)
toon ifyrem ©tol^e fabeln mag, bie tt>eibifcf)ften mit ifjrcr ©ugticfyfeit unb
©ejiertfjeit, i^rem -Uiangel an liefe, if)rer furjatfjmigen Sogif, bie gegen
get)dtfd)efte 2etbenfd)aften nid)t ©ticf) ^dlt. S)ie Drientaten finb felten
ntannlid) im ^ofieren ©inn. Sraft, SKut^, ©rogmutl) mi3gen biele Seffere
unter i^nen ^egen, aber nur bag innige gamilienleben tjermag bie ©eftjfc
bef^rdnfung ju erjeugen, tocldje bag Senn5cidf)en beg tuatjr^aft manntidjen
G^araltcrg ift unb toe!d)e jenem fe^r feinen Segriffe ber ©elbftadjtung
Urfprung gibt, ben mir ate SKagftab ber K^arafterbilbung nur bei ben
jittlidiftcn S55Ifern beg 2lbenbtanbeg antegen fonncn. Sg ift, beildufig
gefagt, merfmiirbig, mie biel feltener man biefeg SBort t?on Deutfdjen
ober granjofen ate t?on Snglanbern antoenben ^ort; mag audf) ©etoof)nljeit
mit unterlaufen, eg ift bod; £fyatfad)e, bag ber ©entleman, bag ^robuct
eineg auf bag Sfeinfte fid) erftredenben self-respect, ^ier toeitaug ^dufiger
ift ate iibcratt bort.
\S2
frtebridj Hatjel in Ittiindjen.
Son ber ttrirtltfcljaftfidjen Sebeutung bcr gamilie braudjt man faum
ju reben, benn fic ift offenlunbig unb tool nirgenbg meljr alg in ®eutf<^-
lanb, too bie toirtltfd&aftlicfje £>auptf unction berfelben, namfid) bag 3**~
fammenljattcn, bag ©paten, big auf bie neueftc 3*it cine faft grd&ere
SRofle fpiefte alg bag (Srfoerben. @g liegt inbeffen auf bcr $anb, bafe
aud£) fiir ben ©rtoerb bie gamifiengritnbung etnen ber Ijauptfadfjlid&ften
Sfntriebe bilbet.
2Rit ber 3nnigfeit beg gamifienlebeng ^dngen nod) jfoei ^Unfte ju^
fammen, toetdEje fiir bie 8Solferbeurtf)eilung foidfjtig finb unb toeldje man
bod), toenigfteng in biefem 3ufammert£)ange, toenig bead^tet. Dljne 3toeifet
toirb ' ber grofje Unterfdfjieb im ©emiitfjgleben ber grau unb beg 3Jlanne£
ba am f^ftrfften Ijcr&ortreten, too bie gamitie beibe nur locfer jufammen=
fnityft, unb ebenbort toirb bie fiir ein SSolf in feiner ®efammtf)eit nte
Ijeitfame ©onberung ber mfinnlidjen unb toeibfid£)en Sntereffen unb Sen*
benjen am tiefften geljen. ©o ift eg getoife fein 3ufall, baft loir ben
grauen alg madjtigen gactoren in ber tnnereu unb fiufjeren ^olitif, ate
SBerfjeugen toon ^arteien, toeldje fie ju niifcen miff en oorjugli^ ba be*
gegnen, loo bag gamilienleben auf niebriger ©tufe ftetyt, too ber Ijau3-
ttdje §erb am toenigften ljeitig getyatten unb ber grau bie geringfte ?l(f>tung
gejollt toirb. ginbet nidjt bie ^aremgpolitif beg Drientg itjr (Segenftucf
in ber Seic^tftufytyolitif ©panieng, granfreidjg unb anberer ung nod£>
nailer gelegener Sanber?
2tber bie toeiteft tyinauggreifenbe unb gleidjjeitig augenfdHigfte SBtr*
lung fibt bag gamilienleben auf bie Sotoniengriinbung. 9Ran l)at in
iiberfeeifd^en Sanbern bliiljenbe unb bauerljafte Eolonien nur fotdfje SSotter
anlegen feljen, toeldje ein imtigeg gamilienleben pftegen. Urfadfje unb
SBirfung liegen ba naf)er beifammen alg eg oielleicfyt ben Stnfcfjein ^at.
3)ag Slugttmnbern rcifet ben 2Renfd)en mit fammt ben SBurjeln gemiitf)*
lidfjer unb geiftiger 93eaief)ungen unb SBebingungen aug feiner SKuttererbe
fieraug unb bie 3*it jnrifdjen biefem 3tuggeriffentoerben unb neuertidjem
SBurjelfdEjlagen ift eine gefaljrtidje SJJriifunggjeit fiir feinen S^arafter, uber
bie bent ®urd^fdjnittgmenfd)en — unb bie Soloniengriinber finb in ber
3tcgcl feine fitttidfjen $elben — nur ber §alt ber gamilie gliidKid) toegs
ju^etfen fcermag. S)er SSerleitung jur 3ugettofigfeit, ben toirtfjfdjaftlidjen
©djtoierigleiten, ber 3teue beg #eimtoef)eg, benen bie meiften jungen ®olo=
nien oerfatten, tniberfteljt ber ©injelne felten, bie gamilie in ber Siegel.
S)arum ift eg oon tt)ettgefdf)ic^tli(^er Sebeutung unb ^at bag ©c^idfal eineg
ganjen ©rbt^eileg beftimmt, ba^ bie Sngldnber unb S)eutfd&en in SRorte
amerifa oon Stnfang an in gamilien eintoanberten, tofi^renb in SRittets
unb ©iibamerifa bie ©panier unb 5J5ortugiefen oormiegenb alg Sinjrine,
alg gfiidffud)enbe junge SKcinner ^eriibertamen. 3ene n5rbli(f)en Solonien
finb gebie^en, bie fpanifefyen unb portugiefifd^en finb jurudfgeblieben tro^
aD i^rer natiiriic^en SJortfjeile unb finb auf bem ficf)eren SBege, S)enenf
„ Die Beurttje ilung ber Dolfer.
\83
bie fie gegrimbet, nidjt btog politifd), fonbern audf) hrirtfjfdjaftlidf) unb ben
©uftureinfluffen nad) toertoren ju gef)en.
3tt bcr gnnigfeit beg gamilienlebeng fittbett ton aud) cincn 9Kafc
ftab, aber aflerbtngg eincn fefjr Dorficfjtig anjulegenben, fiir bie SSeurs
t^cilung ber ©ittlidjfeit in einem SSoIfc. Seine ffiigenfdjaft ioirb fo leidjt
falfc^ tajrirt toie biefe, in feiner liegt bie 9Jldglid)fett ber laufdjung fo
itafje. SBenn fdjon ber moralifdje SBertlj beg ©injelnen oft fctbft toon
feinen SRadtften nidfjt ridjtig abgefdfjafct toerben fann, trie fditoer mufe er
bet ganjen SBdffern ju tnagen fein! Die $eudjelei fpielt Ijier eine Sftotle,
toddle oft ber fdjarfften Slnatyfe f^ottct, unb eine ©timmung, bie fid)
in jebem gall auf bag ©djlimmfte gefa&t Ijalt, fdjeint bie ju fein, toeldje
fid) am (Snbe nodfj am toenigften ber (Snttaufdfjung auggefefet fef)en biirfte.
Unb bennod) finb gerabe jene lanbldufigen peffimiftifdjen Urtf)eile iiber
ben ©ittenjuftanb Don 935lfero, bie sufallig anberg benfen, fufjlen ober
ljanbeln alg toir, faft imnter unridfytig. SBer unter fremben SSitffern fief)
betoegte, fennt bie Sieigung ber 3ugetoanberten, bie 9Jlorat beg S3oIfe§,
in beffen ©djoofje fie leben, fo bunfel true moglidf) ju malen, unb foldje
Urtf>eite, bie auf mflgtidjft geringer SBelts unb 9Renfdjenfenntnifc bafiren,
fjaben oft genug ©urg erfjalten; bei Sidjt betradjtet, er^eben fie fid) aber
felten fiber bag SKfoeau pfjilifterfjaften ©fanbalftatfdEjeg. Dem SBeobad&ter,
ber iiber Dact toerfiigt, nrirb meHeidjt ettoag, bag id& „6ffenttid)eg ©dfjam*
gefiifjl" nennen m5cf)te, namlidj bie feine ©mpfinbung fiir bag, mag ers
laubt fein barf unb mag nidjt, ber fidjerfte Seitfaben auf biefem bornigften
2lbfd)nitte ber 935tferbeurtf)eilung fdjeinen. 9(ber ber ©tanb beg tfffent*
lichen ®ettuffeng ift ntit lact attein nidfyt ju ermeffen, unb ttenn eg
and) einem geinfinnigen in inciter Stugbefjnung gelingt, burd) bie ©djale
taufdjenber Dberfladjenerfdjeinungen nad) bem Seme l)m fcorjutaften, fo
la&t bie Sormulirung beg Urtljeilg urn fo meljr an Seuttidfjfeit ju
ttmnfdjen iibrig, je grbfier bag tootlfianbig beredjtigte S3eftreben ift, bie
Sbftufungen jtotfd^en Sidjt unb ©djatten in itjrer naturgemafeen SBer^
mitteltfjeit wieberjugeben. 3tm meiften ift bor ber Derfrii^ten Stnmenbung
ftatiftifc^er 9Ret^oben ^u toarnen. 9Zac^ft ber Untoiffen^eit ^at nid)tg auf
ber SBelt eine fo grofee SRadfjt, SSorurt^eife ju befeftigen, alg bie 3af)len
ber ©tatiftif. Die ©efa^r, in SSorurt^eite 5U Dcrfatten, ift bei ber
©ittenftatiftif notf) grower alg bie Stugftc^t auf ©rfotgtofigfeit. Die
©tatifti! Derfa^rt gegeniiber ben Dfjatfadfjen, bie in bag ©ebiet ber
©ittenftatiftif fallen, in ber 3tegel umgefetjrt tote Derjenigc Derfaljren
mii^te, ber aug benfetben ©djluffe jur SSoIferbeurt^eilung ju jie^en
tt>imfdf)t: fie fafet bie SRefuttate einer Stnja^I t?on Urfad^en jufammen,
toaljrenb toir bamac^ ftreben miiffen, fie m5gtid)ft augeinant>er5u^alten.
Sin tieferer Slid in bag gamitienleben aud^ nur einer einjigen Elaffe
eineg SSotfeg ift fiir ben SS5tferbeurt^eiter gehrifc micf)tiger atg SSanbe Don
Sljens ober ©eburtgs ober ^Jroftitutiongftatiftifen; freittd) mu^ er bann
ifriebricfy Hatjel in ITCiindjen.
eth)a§ metjr fcerftetyen ate 8a1)Un fammetn, abbircn unb bimbiren. (££
ift iibrigenS fdfyon fetjr djarafteriftifdf), bafc bic SRefultate bcr ©tatiftif
cine au&crorbentlidf) grofje 93erfd^icbenf)eit unlet ben SSolfern I)infidf)tlid)
ber ©rfdjeimmgen auftoeifen, bie mit ber ©ittlidfjfeit in ndljerem 3u-
fammentjange fteljen, todljrenb e§ umgefetyrt immer baS lefcte Stefultat
ber Setradjtungen ber genialften *>ergleid)enben Seobadfjter gemefen ift
unb DorauSfidjtlicf) audfj bleiben toirb, baft bie SSoIfer fid) in biefer 93e*
jiefjung Die! metjr gleidfjen ate manner aufjerc ©djein Dcrmutljen tafct.
©etoift fitfjren mandfje fdieinbar grofce Unterfdjicbe in ber ©ittlidtfeit
unferer mobemen Eulturfcolfer mefjr auf SSerfdfn'ebcnfjeiten be$ ©efut)t§
fur ©ittc ober be3 offentlidjen ©djamgefufyte ate be3 loirfltdfjen 93etrage3
ber fitttidjen ober unfittlidjen §anblungen &urud.
S)er Sinflufc ber gamilic ouf bie ©r$iet)ung be3 SJoIfeS ift fur
Scben ftar, ber unter ben Sriic^ten ber gugenbbilbung bie Silbung be3
6t)arafter3 t)6I)er ftetlt ate bie Stneignung toon ffienntniffen. ift aQcr-
bingS Don SBertf), toenn faft jeber toerniinftige 2Jienfdf) lefen, recfynen unb
fdjreiben fann, hue e3 fjeute in S)eutfd^Ianb ber gafl. 3)a3 bebarf gar
fciner ©rrodtjnung. 2lber beim 93ergleid) eineS berartig burdjgcftfiulten
SJotfeS mit anberen, bie ber attgemeinen ©cfjutyflidjt fidE) uid)t erfreuen,
will bod) oft ber SBertI) berfelben erfyeblid) geringer fdfjeinen, ate man
bei unS fetbftgefdttig glaubt. Die SBilbung be3 ©eiftcS hrirb nur ba
einen tieferen ©influfc auf bie $anblungen ber 9Kenfd)cn itben, too fte
3eit unb SDtittel finbet, eine 2)urcf)bilbung ju toerben; ofjne biefe tteferc
Slneignung finb ®euntniffe niifcttdje SBcrfjeuge unb toeiter nid)te. 9Som
©tanbpunft ctner fcergleidfyenben 9tbfd)d$ung finben toir cin feft eins
geprdgteS 2Rorafyrincip, beffen ®cimc nur bie gamttic ober ba» Seben
tief genug in bie ©eete fenfen fann, eine ganj ju eigen gemadfjtc
SDtafime, tnertljtootter ate ben gefammten ©lementarunterrtdjt, an3 beffen
griidjten ber gemeine 2Rann bodf) Ijerjlidf) toenig ju madden toeifj. SBenn
man in Steto ?)orf ober in Subnet) beutfdje unb englifdje 2lu3toanberer
jufammen anfommen fietjt, merft man nur ju toenig toon bem <£6)\iU
jmang, bem bie einen untcrtoorfen, unb bem Sfflangel an aflem <&&)\\b
unterridfit, bem bie anberen au^gefe^t U)aren; ber S)eutfdf)e t)at eine
£infifcf)feitf Unfelbftdnbigfeit unb Ungefdjidtfjeit, ioefc^c i^m bie ©d^utung
nidjt netjmen fonnte, unb ben ©ngtdnber t>er^inbert bie mangefnbe ®c^ul=
bilbung nid)t an ber ©ntfaltung eineS ©elbftgefiifjteS, eine^ praftif^en
Slides, einer ©idjertyeit, tucldjc nid^t bto§ in biefer !ritifd)en Sage i^m
ju <Statttn fommen, fonbern t?on frii^ an i^n burdf)^ Seben begtciten.
bet)aupte, toir fjaben itberfyaupt einen tjiel geringcren S23ert^ in
bcr 93eurtf)etfung ber 9SoIfcr auf SBiffen, SSiffenfcf)aft, ©eifte^bilbung jn
legeu ate man gen?o^nIic^ glaubt. 9Som profeffionctl SBiffenben, Dorjiig=
lid) fcom ©ete^rten abgefe^en, ncljmen toiv im gen)o^nIi(f)en Seben nic^t
ba§ SDtafj be^ 2Biffen^ ate SaSjenige, nad) bem toxx bie a:iid)tig!cit etne$
Die 3enrtl]eilitng ber D5lfer.
2Renfd)en beurtfjeilen. 2Bir fcljen trie! metjr nad) ber Strt, tx»tc cr fein
SBiffen antoenbet; bieg entfdjeibet uufer Urtfjeil unb bagfclbe mug ung
aud) bei ben 93oIfern beftimmen. giir mtg 2)eutfd)e ift bag cine be*
fonberg ttndjtige g^gc, benn fcitt SBolf legt foldjen SBertt) auf bag SBSiffen
an unb fur fid). SDtan mcrft ung nod) immer an, bag loir 3al)rt)unberte
ber politifdjen unb loiffenfdjaftlidjen ©d)toad)c {jinburdj ben Sroft fiir bie
5ld)tung, loeldje bamalg anbere SSdlfcr ung fcerfagten, in ber $flege ber
Stunft unb toorjiiglicf) ber SBiffcnfd&aften ju fucfjen fatten. 9Kan mug in
biefer 33e$iel)ung ettoag immer im 5Kuge befjalten, loag iiberf)aupt alg aH^
gemeine 9tegel ber 93oIferbeurtt)eilung gelten lann, bag ein SSoff immer
am meiften burd) jene Seiftungen geminnen nrirb, beren gritdfjte eg nidjt
mit anberen &u tfjeilen braud)t. 2ln bem Stufcen beffen, toag ein Soft
toeifc unb toag eg burcl) SBiffenfdjaftgpftegc fdjafft, nimmt bie ganje SBelt
2fjeit. ©in einjetneg SSoIf, bag, nrie bag beutfdje, fcorjugtid) ben 28iffen-
fdjaften fid) tmbmet, fjat ^auptfdc^Iid) nur ben ibealen SJtufcen ber ©tjre
ba&on. ©rft too unfere ©ele^rten 2et)rer tocrben, gereicfyt ifjre Ifjatig;
feit bem eigenen SSolfe ju praftifdjem Sftufccn. @g ift ganj fo mit Site;
ratur unb Sunft. 3fyr SBertf) fiir bie aJienfdjfjcit fann ein aufjerorbenb
ticker fein, aber itjr SBertf) fiir bag Soft, bag fie pflegt, berutjt in ber
&on 3fteen, ^rincipien u. bgt., bie aug ifjnen fid) in'g praftifdjc
Seben iiberfefcen laffen, fur§ gefagt in ifjrer 2tntt)enbung. Sic S)id)tungen
unferer 2Rinnefanger fjaben toafjrfdjeinlicf) bag beutfdje Soft in feiner
§infid)t erljebtid) toeitergebradjt, toeit fie grofcentljeilg ©igentfjum einer
Glaffe, eineg Sfjeileg beg Softeg blieben. $>ingegen ioirb man nridjtige
Sreigniffe in unferem neuercn nationalcn unb uidjt btog geiftigen Seben
itid)t ridfjtig beurtfyeilen, toenn man nid)t bie in toeiteftc Sreife ficfj er*
ftredenben SBirfungen einiger unferer neuercn 3)id)ter beadjtct, unb t>xth
leidjt Ijat fein Soft fiir fein Seben fo turf hnrftidjen Stufcen gejogen, ttric
bag beutfdje aug feinem ©filler. $rufen fair alfo ein SSolf auf ben
SSertf) feiner geiftigen SBefifctfjiimer, fo fragen loir nid)t in erfter SRei^e:
3Bie Die! gro&e ©cleljrte, loie t»icl fjertoorragenbe S)icf)ter unb Siinftlcr ^at
eg crjeugt, fonberu: SQ3ie oxzl Don feinen ©ciftegfdjafcen ift in curfirfatyigc
SRiin^e untgefefet? SBie diet ber fdjonen @(f)opfungen ^aben ma^re SBoIfg;
ttjiimli^fcit erlangt? 2Rerft man eg ben Sbeen unb ^anblungen biefeg
SSolfeg an, bag ein ©fitter unb ©oet^e in feiner 9Kitte gctoanbett fiub?
Sragt jeneg bie ©puren eineg Xante, eincg gerbantcg no(f) in feinen
3iigen?
Son ben geiftigen ©dfjafcen eineg SSotfeg, finbe id), bringt augers
orbenttid) n^enig in tiefcre ©df)i(f)ten. 5)ic ©onnentoarme bringt nur
tfenige guf$ tief in bie ©rbe fjinein, nur fo ticf nc^mcu bie ©d)id)ten
ber ©rbrinbe an ben ©dfjloanfungen beg ©ommcrg unb SBinterg S^eil;
Wc tdglic^en SBarmef(^tt)anfungcn gefjen noc^ loenigcr tief. gitr atleg,
h)ag iibcr eine gemiffe liefc f)inaug liegt, gibt eg toebcr ©ommer nodf)
\S6
ifrtebrid} Ha^cl tn HTiindjen.
Jageg* nod) Safjregjeiten. ©o bringcn audj bie S3armeftraf)ten bet
geiftigen ©onneu nur toenig ticf in bic SDtaffe. 9tur cine bunne ©djidfjt
folgt ifjren 93af)nen, empfinDet iljre ^eripetieen mit. liefer folgt cine
©djidjt, bie nur bic grofjen Spoken mitmadjt unb in ber Sftcgct uin
cine ©efteratiou im geiftigen Seben juriid ift. 3)ariiber Ijinaug ift*£
finftcr unb leer. SSie gering toiire, toenn man fic &af)Ien fonnte, bic
3af)t ber 2)eutfdfjen, bic an ben ©djafcen unferer Siteratur unb ®unf*,
tt?ie triet geringer nod) bie, toeldje an ben ©rrungenfdfyaften unfercr gorfdjer
tf)eit&unef)men toerm5gen?
2Bo fid) aber aud) bie gafjiglcit ftnbet, Siteratur unb Shmft mit
ju genie&en, ba genie fit man eben nur. £>aben jebod) uid)t bie ©cnilffe
aUc bag ©igene an fid}, bafe fie meift feine baucrnben griidjtc tragcti
unb bafi ifjren grucljten, toenn fie toelc^e tragen, bod) nur cine gerutge
praftifdje Slntoenbbarfeit unb SBerbreitunggfafjigfeit innetoofjnt? 2Ba3
mid) ©dj5neg begfiidt, toag ©rofjeg mid) ent$iidt, toie fann id) eg Slnbercn
mittfjeilen, bie nicf)t ebenfatlg geniefjen unb nadjempfinben tootten? 3)a3
Sefte unb SJertoertfjbarfte, mag cin SDtenfcf) in fidf) tragt, bag rnufc cr fid)
erarbeiten unb mag barin bom ©injetnen gift, Idftt fid) aud) t>on cincm
SBolfe im ©anjen fagen.
9Zad) aflebem barf man ber SRcinung fein, bag auf bag geiftige
Sebcn eineg SSoIfeg nid)t ber 2on bei ber 93eurtf)eifung ju legen fci,
toie auf anbere Sleufjerungen feineg inneren Sebcng. ®g ift jebenfallg
gerabeju falfd), barauf, tone eg oft gefd)ief|t, bag Urtfyeil allein griinben
$u tootten. SDie ©djopfungen grofjer ©eifter finb 231iitf)en, bie ein ©tamm
nid)t aUc %a1)ice treibt unb bie erft bann IjerDorfommen, toenn aufeer
anberen gitnftigen 93ebingungen aud) bie ber ?tnfammlung eincr getoiffen
inneren, fcerfitgbaren ®raft burd) langerbauernbeg, bliitljenlofeg 2Badjgtf>Um
erfiiflt ift. Dft Derratfjen ©tengef unb Slatter mefyr ttom eigentlid&en
SBefen ber ^ftanje atg biefe ffiidfjtige ©rfd)einung eincr 93Iiitf)e, bie leid)t
tdufdjen fann. ©g bleibt immer bag ©ic^erfte, juuadfjft biejenigen
2leuf$erungen eineg SSotfeg mit auf bie 2Bage ju legen, bencn Strbeit ju
©runbe ftegt. ©in Seifpiet: ©panicn mad)t feit 50 S^^cn mitten im
SJertauf einer ©efdjicljte, bie man nicfytungludtidjer benfen fann, erfjeblidje
5tnftrengungcn , urn aug ber geiftigen SSerbumpfung fjeraugiufommen, in
bie frul)crc 8al)rf)unbcrtc eg toerfenft fatten, ©g ift feit 30 3aljren
geiftig regfamer alg eg je feit ber 3^it beg ©cr&anteg unb ©albcron
gemefen, aber ben ©tempef grower ©enien tragen feine ^Jrobucte nid^t
an fidf). SBeit fur biefe bie ©tunbe uo6) xtityt gefc^tagen ^at, erfiiljnte
man fid^ ju fagen, ©panien fei geiftig tobt. SBor ciniger 3eit blidttc
id^ ftatt in bie fargticfjen 93anbe neufpanifc^er Styrif unb ©rjd^Iunggfunft,
tueld^e in SKabrib gebrucft merben, einmal in bie ©patten ber lefeten
^anbelgberic^te, too id) fiube, baft ©panieng Stugfufyr in ben tcfttcn
50 3flf)ren fidE> t)era(f)tfacf)t ^at. ipier ift eg, too id) eine ^offnung an?
Die Seurtfyeilung ber V6iUv.
187
fnu^fe. !3R8gen bie ljof)eren, titerarifd) gebilbeten unb regfamen Glaffen
imntcr^in gciftig tobt fein, bag SSotf arbeitet unb fteigert feme Strbeit,
baran ift feiti Stottftl, bie 3a$ten letjren eg. SBenn eg arbeitet, fo bafe
eg erft tuieber matetiell oorfoartg geljt, foenn au<§ langfam, fo ift eg nidjt
t>ertoren unb au<$ bie £>dijeren toerben fid)er nrieber einmat aug iljrem.
©dtfafe erttmdjen, roenn bag Slut aug ben arbeitenben Sungen frifdjer
unb reicfjefnacf) ffiopf unb §erj ber Station ftrdmen foirb. Diefeg ift
freitid) nut ein SBeifyiel. 9lber toie toeit fotool tx»ir ate bie 3taliener,
jtoei ber in SBiffenfdjaft unb ftunft tf)dtigften Solfcr toon Guropa, bet
att unferent geiftigen ©rjeugen iuriiefgefommen toaren, I)at bie @efd)id)te
nur ju beutlid) grfefjrt unb eg ift tua^rfd^einttd^ bann lein StfaU getoefen,
bafe eg gerabe bie roirttyfdjaftlidjen Sfragen mar en, toeldje in beiber
nationaler Srneuerung eine fo grofee SRotte fpielten.
2Cuf bie tturtljfdjaftlidje Slrbctt etneg SSolfeg ift fdjon barum bei ber
tBeurtfyeilung fo grofjeg ©etoid)t ju legen, toeil eben an biefer Slrbeit
9UIe ttjeilneljmen. SBenn eg fitter ift, toag tool nidjt beftritten toerben
fann, bafj Sebeng; ober ©djaffengdufterungen etneg 93oIfe3 um fo ge^
eigneter finb jur (SrunMage unfereg Urttjeifeg ju bienen, Don je metyr
©liebern eineg SBolfeg fie getragen toerben, fo ftef)t bie hrirt^fdjaftlicfje
I^atigfeit, toelc^c meljr ate jebe anberc bag ganje SSoIf in Stnfprud)
nitnmt, in erfter Steilje unb tritt an ©enridjt in ber SBage, in ber man
bie Softer tomgt, nur Winter ber gamilie juriitf. greilid) ift babei ntdjt
bie §anbeteftatifti! nad) bent + ober — ber 83ilans nadjjufeljen, fonbern
bie ©parcaffenftatiftif, bie SBofyi; unb Slrbeitgtoeife, bie SabeUen iiber
ben Sonfum ber geiftigen ©ctrdnfe unb mancf)eg anbere ber Strt toare
Ijier aufmerffamft $u betradjtcn. 3Kan burftc fid) and) eine Srage er=
tauben, bie nterftniirbig felten geftetlt toirb, ndmftcf): SBeldjer ©djdfcung
erfreut fidj bie Slrbett bei benjenigen ©tdnben, bie nidjt ju arbeiten
braudjen? S)iefe ©djdfcwtg bttbet einen feljr toidjttgen SljeU ber Sldjtung,
toeldje ber Strbeit gejotlt loirb, ben Stbcl ber 2lrbeit. S)ie Slbelung ber
Arbeit aber fittet bie augeinanberftrebenben Glaffen inniger jufammen
ate aUe ©emeinfamfeit ber ©efdjidjte unb ber ©efefce. gmmer toerben
bie focialen Eonfticte inner^alb ber SSotfer um fo fajtoerer fein, je
toeniger bie ^5£|cren Slaffen an i^rem I^eil, in i^rer ©p^dre fidj an
ber 3trbeit bet^eiltgen, beren Saft auf bag ganje SSoIf gelegt ift, bie
aber Don ben niebrigen Glaffen am ^drteften empfunben toirb.
23o finben aber bann bie grofeen ©eifteg^elben eineg SBotfeg i^ren
?Iaft? 2)ie grofien S)i(^ter, 3)en!er unb Siinftter? Unb aud) bie grofeen
©taatemdnner? 3ft nicf)t ein SSotf, bag triele grofee SDldnner ^erDor^
bringt, Ijoljer ju ftetlen ate eineg, bag arm an benfelben ift? SEBirb
ni(^t ein SSott aufeerorbentlic^ gef5rbert burd^ feine grofeen SKanner?
Unb ift nidjt ber SKa^ftab, ben ein S3ol! an feine ©r5f$en legt, auc^
fltci^eitig ein 2Jlaf$ftab fiir ben @eift, ber biefeg SSoIf befeelt? S)ag
\SS (fricbrtd? Hafcel in OTiind?en.
Severe ift uubebingt jusugeben, benn ba§ altc ©pridjtoort „Uttter 93Iinbcn
ift ber Sindugige Sonig" ift nirgenb£ toaljrer ate f)ier. SBaS bagegeit
ba§ ©ett)id)t betrifft, ba3 bie groften 9Kdnner in bic SBagfdjale bcr
SSotferbeurttjeilung tocrfen, fo fotlte man getoift toorfidjtiger bamit um=
gef)en ate man pftegt, benn immcr ttrirb bic §dufigfeit bcr groften
•SRdnner in cinem SSoIfc ab^dngig fcin toon ben Umftdnben, untcr bcncit
bicfeS lebt. @£ gibt SSoIfer, too bic groften ©taatemdnner ipanbtoerf
obcr §anbel tretben, tbcil man fie am ©teuerruber nidjt notfjig f>at obcr
toeil fie nidjt bte ju bemfctben gelangen f5nnen, unb too bie groften
2)enfcr Winter bem $fluge gefyen ober bie 9ljt fdjtoingen, tueil e§ an ben
©trafylen fetjlt, bie ifyren ©ebanfenfeimen jnr SBliitfje fcerljrffen fonnten.
2lud) finben toix, baft atle SSoIfer ju getoiffen Beiteu mcf)r ©rflften
tjcr&orbringen ate ju anberen unb baft metftenS ba3 $erbortreten Siner
©rofte ba£ anbercr bebingt. SKan fieljt jeben groften $errfd)er toon
groften 3Kdnnern umgeben, jebe grofte 3^it gebiert grofte Sfftdnner, felten
leud&tet ein grofteS ©cftim aflein, faft immer ruft e3 EonfteHationen
tyertoor. 9tur ba, too Softer fo grofte 2lufgaben jit erfiitlen Ijaben, baft
fie jebcr&eit bebcutenber Srdfte benottjigt finb, ba fefjen toir, toenn id)
mid) fo profaifcf) auSbriiden barf, baft beftdnbig ba£ Stngebot bcr 3lafy
frage entfpri^t, unb fo t)at eg j. S3, in ©roftbritannien feit 100 3aljrcn
faft nic an ©taatemannern gefefjlt, toeldje ben ©tempet roaljrer ©rofte
trugen unb ber groftartigen Stufgabe ber SRegicrung einc§ freien 2anbe§,
ba£ gleidjjeitig SBeltreid) ift, ©eniige ju leiften &ermod)ten. SBarum gab
e£ fie Ijicr, todfjrenb anbere ebenfo grofte unb nidjt minber begabte
SSolfer fcergeblid) nadj iljnen feufeten? SBarum? SBeil bic groften Slufc
gaben fid) ofjne Unterlaft in bem mddjtigen, an mannidjfaltigen 3ntereffcn
reidicn Sanbe ftetltcn unb toeil bie SBege jum Kommanbo unb jum
©teuer jcbnxbem offenftanben, ber ©raft unb gdtjigfeit benrieS, biefc
SSege 5U befdjreiten. SBenn bei uu3 in 3)eutfd)Ianb bie lefcten S^rjeljnte
bc3 Dorigen 3af)r^unbert§ einc ganje ©djaar njunberbarer ©cifte^eroen
erftc^en fallen, fo fann \i) fd)U)er gtauben, bafe in ben 250 3af)ren
jtoifd)en ber ©eburt Sutlers unb bem Stuftreten Seffing§ cine fo uner?
freulid)e Unfrud)tbarfeit auf geiftigen ©ebieten ge^errfc^t ^aben fott, nrie
bie ©eringfiigigfeit ber Sciftungeu ju bemeifen fdieint. SKan it»irb nidjt
anber§ benfen fonncn, al§ ba§ bic ©r5|cn ba toaren, bafe fie aber latent
blieben, toeit nic^t^ fie aufricf, nic^t^ fie forberte. ^ttu mir toor*
ftetten, bag ein ©oet^e bc§ 16. ga^r^unbertg fcine ©cifte^fraft ate
lutfjerifdjcr Dorfprebiger tjerpuffte ober bafc ber Seffing be^ 17. ate
®rieg§fned)t bur^'g Sanb jog ober baft ber 93i3martf beg 18. eincn
S)uobejftaat tjerioaltete. SBenn man bie Strt bc§ 2tuftreten§ bcr geiftigen
£>eroen betra^tet, ift e3 unmoglid^, fic^ nid^t ju fagen, baft ein S?oR
immer einc jiemlid) gleid)bfeibeube &d)l berfelben umfdjUef^t, bic aber
je na^ ben Umftdnbcn cntweber fid) enttt»trfcln ober im ffieimc t>er^arren.
Die Seurtfjeilung ber Dolfcr. (89
S§ ttrirb baburd) fdjtoer, auf bicfelbcit fe^r grofceS ©ehridjt 511 legen bei
ber S3oIferbeurtf)eilung. $ie &eroen be3 geiftigen SebenS gefjoren and)
nidjt einem SSoIfc attein, fonbern atte 9SoIfcr, bic ju eincr beftimmten
3eit ben geiftig regen Stjeit ber 2Renfd)f)eit bitben, nefjmen £t)eil an
i^ncn. 9lriftoteIc^ fjat auf bie mittelalterlidje Euttur mellcid^t cincn
Diet grofceren ©influfj gciibt ate auf bic ©deepen, beneu er angef)5rt,
unb fur bic englifdfje Sitcratur ift ©fjafefpeare ju feiner $t\t fo be-
ftimmcnb getoefen ttrie fiir bie beutfdje in unferer flaffifcf>en 3eit. Stbcr
9iiemanb Derfennt, bafj aHein fd)on ber ©eftfe jafjlreidjer ©rbften auf
ben ©etneten ibealer £f)dtigfeit ber ©efdjicfytc eineS 93oIfe£ im 9lHge-
meinen einen ebetn unb grofecn Sfjarafter aufprdgt; bie fyofye $kx, bie
fie bem 9tuf)tne eine3 93oIfe£ jufiigen, barf nid)t unterfdjdfct toerbeu unb
ifjren realen SBertt) ju Derfcnnen ift fjeutc tocniger aU je erlaubt. @£
ift $I>rafe, toenn man toon ber Unbanfbarfeit ate einem ©runbjug in
ben grofcen Sejiefjungen ber SBolfer fpridjt. (£3 finb mit bie ibeatften,
reinftcn 3^9* in ber gefdjicf)tlid)en $f)t)fiognomie uufereS 3citalter^ jene
Seifpiele t>on 5)anfbarfeit, bie nid)t bto£ in 2Ritgefiif)len, fonbern in
DoKtt>i(f)tigcn Ifjaten ben SJteugriedjen unb Statiencrn 3ott ber 2lucr;
lennung abjutragen fucfyte fiir ba£, toa3 ba£ alte @ried)entanb unb baS
alte 9tom ber gebilbeten 2Renfcf)f)cit getoefen finb. ©3 ift in ber Jfjat
nidjt o^ne SBertfj fiir ein SBoIf, unb id) rebe fjier nidjt btoS Don f<f)toacf)en
SRationen, Don ben ©belften unb Seften anberer SSolfer gead)tet ju fein.
SEBic rein leudjtet bie glamme folder Slnerfennung burd) bie Sriibe ber
SSerfennung unb Unfenntnifc, toeldje bie internationalcn 93ejief)uugen ber
SDiaffcn dfyarafterifirtl ©erabe loir mufetcn ba£ toiffen, benn e£ ift nod}
nidjt lange f)er, baft e£ un£ toofjltfjat, toeun unfere groften 2)id)tcr unb
gorfdjer jenfeitS be£ StfjemeS unb be§ &anale£ bie offene ©cfydfeung
fanben, foeldfye unferer praftifefjen Jljdtigfeit in ^olitif unb SBirtfjfdjaft
fcerfagt blicb. ©olefje SSereinigungen ©ebilbeter Dcrfdjiebenfter SSotfer in
©iner Seiounberung unb SSeretjrung, SSoIferaDianjen ber fdjonften 9trt,
finb freilid) ebenfo jart unb Dergdngli^ tok fie !)er$erfreuenb finb. 3u
leic^t borren fie im ©tutfjfyaudj bc^ 93oIfer^affe§ ab. S5od) bleiben i(;re
SBurjetn unb e3 fd^einen itjre 2riebe bie erften ju fein, melc^e fid)
fruljttng&erfiinbigenb mieber ^erDorloagen in ben SBiiften, ju mel^en oft
fdjtuere ©tiirme ber SQ3eItgefd)ic^te bie SSblferbejieljungen umppgen.
9Som birecteften SRufeen fiir ein SSoIt finb Don alien ©rofeen, bie
e§ erjeugt, ofjne 3^cifel bie grofeen ©taat^manner, twelve feiue ©efc^ide
nad) au^en f)in beftimmen. S53ag aber bie politifdje SBirfung ber grofeen
SKdnner im Snneren eine^ fertigen SSoIfe^ betrifft, fo gtaube ic^, ba| bie
936tferbeurt£)eilung fid^ o^ne SSBeitere^ auf ben ©tanbjmnft be^ republifanifd^en
©runbfafccS ftellen loirb, bag ba^jenigc SSoIf am gludlid)ften ift unb bic
befte ©etoafjr einer gebei^ti^en 3uhmft birgt, toelcf)c§ getoaltiger aRdnner
in feinen inneren Slngdegen^eiten nic^t bebarf, toeil in feinen SWaffen £>in;
\90 (friebridj Hatjel in IKiindjctt.
gabe unb ©efcfyid genug tooljnt, urn aufg 93efte ju beforgen, hmg Ijiertn
n8tl)ig ift. ®ic inncrc ©ntttridelung eineg 83oIfe£ berfangt Ungeftort^eit
unb ruf)igeg £empo, — beibeg 5)inge, bic fid) fdjtoer toereinigen ntit ber
©prungfjaftigfeit unb ber Ungebulb gcnialcr Sloturcn.
III.
2)ag SBehm&tfein ber Buftmtmengeijflrigfeit, foeldjeg aug Sinjelmenfdjen
33itffer madjt, ift nidjt bet alien SSotfern gteid) innig. ©g ift bet mancfjen
eine erftarrte gorm o^ne Seben, ma^renb eg bet anberen ben ganjen
SSoIfgforper ntit jener notionalen Sebengluft burcfjbringt, jenent gefuttben
93el)agen, toelcfje ben grofcen Seiftungen ber SS5Ifer ju (Srunbe tiegen.
Se inniger unb fraf tiger biefeg Setoufctfein ber 3ufammengcl)drigfeit in
einent SSotfe lebenbig ift, urn fo fefter jufammengefafjt toerben feine ®rafte,
urn fo teiftunggfatjiger ttrirb eg fein unb urn fo nte^r Don jenen fcft=
ttmrjelnben ©itten, 2lnfd£)auungen unb Sfrftitutionen Hurt) eg entttrideln,
tpeld^e man bag Snocfjengeritft eineg folcfjen fforperg nennen mSdjte unb
melc^e atlerbingg bag 3ufantmenl)aftenbe in einem Organigmug, ber-
jentge I^eit begfetben finb, toelcfjer eg ebenfotool jur ©rtragung grower
i)iftorifd)er ©djidfale alg and) jur Sofung grower Stufgaben befa^igt.
©djon in biefent Senrnfttfein finben hrir batjer einen SRafjftab, mit toeldjem
3)auer unb SBertl) eineg SBotfeg ju meffen finb. 3e loderer eht Bolt
jufantmenpngt, urn fo toeniger hurt* eg ati SSoK leiften unb unt fo toeniger
®auer ift xt)m toorfyerjufagen; je ftarfer bagegen jeneg Seftm&tfein ber
3ufammengefjorigfeit, bag Sftationalbenmfjtfein eg jufammenfittet, urn fo
leiftunggfatjiger nrirb eg fid) ertoeifen unb urn fo langere 3)auer fdjeint
if)m befd)ieben.
2Jtandje SS5Ifer finb fo gtitdftd), fdjon burd) tl)rc geograptyfefje Sage
auf bie ©ntttridelung biefeg 3ufamntent)anggbetoufitfetng f)iugehuefen ju
toerben. 3n erfter 3tetf)e finb bag bie Snfefoolfer, toeiterljin aber auc§
biejenigen, beren SSoljnfifce toon ber Slatur ntit ben SRauern unb SSallcn
guter Slaturgrenjen gefdjiifct ftnb. Die ffiriten, bie SRortoeger, bie ©panier
unb ^ortugiefen, in ntinberem Orabe bie £otlanber unb ©d^ttieijer, finb
3S5tfer, an beren 3ufammenfittung bie SRatur felber mitarbeitet ®ie
9tatur ifyrer Sage toeift folcfje 9S5Ifer ebenfo entfdjteben aufeinanber an,
alg fte biefelben nad) aufeen l)in abfdjliefet. ©g fann nid^t fe^len, bag
unter fold)en Umftanben fid^ ein lebfyafteg Slationatbemu^tfein enttoidelt,
benn lua^renb bie ©tbrungen Don aufeen abgefyalten werben, ntac^en ft^
bie inneren ffiejiefyungen ntit unt fo gr5fcerer Kraft gettenb unb Don jtoei
tRic^tungen ^er inirb bergeftalt ubereinftimntenb ber 3uf^nten^alt ge=
fSrbcrt. Slur in fo giutftiger Sage fonnte ein 936Ifergemifd), mie eg j. 83.
in GEngtanb unb ©djottlanb iufantntengeme^t toar, ju einent ber in fid)
abgefdjtoffenften SSoIfcr ertoadjfen, unb nur int Untfreig ber SRaturtoatle
ber Sllpen unb beg 3ura fonnte bag ungetooljnte, aber tjodjerfreuttdje
Pie Beurttjetlung ber Polfer.
©Speritnent gclingen r Dier Derfd)iebenfprad)ige Softer friebtid) ju ©inem
©taatstuefen ju Dereinigen. 2Btc ticf foldje gliidtid)e Staturgaben auf bic
SBoIfSenttoidelung $uriidttrirfcn, le^rt aud) fdjon bic etnjige Xljatfadje, ba&
Don alien unferen germanifdjen SJruberDoIfem nur bie Don Sftatur tt>of)ts
umgrenjten, nrie ©djtoeijer, SRortoeger, S^Idnber, SRieberldnber ftd^ im
93ottbefifc ifjrer potitifd)en Sreifjeit ju erf)alten Dermod)ten.
2Bo biefc dufjeren gorberungen fefjlen, miiffen bic inneren, au3 bem
SSolfc felbft fjerauSmacfjfenben um fo ftdrfer fein, menu fie ba^fetbe
Stefultat erjielen tootlen. 9Jian tjat 5ci polittfd) fo Dotlfommen unfelbs
ftdnbigen SSoIfem hue 3uben unb 9trmeniern bic 9teltgion3gemeinfd)aft
i§re sufammentjaltenbe Sraft fogar iiber bie toeitefte 3crftreuung unb iiber
SBebriidungen atler 9Irt IjinauS entfaltcn feljen. ®efd)id)tti(f)e ©rinnerungen
grofjer $rt, gemeinfamc ©pracfye unb ©itte unb ba3 erft in engen, bann
iminer toeiteren Sreifen gepflegte ©efii^I ber 9lotf>n?cnbigfcit feften 3^
fammenljaltS in einem SRationalftaat Ijat au8 ben groften, aber ticf-
jerftiifteten 9S5lfcrn ber 3)eutfd)en unb Softener Stationen Don ftarfem
93ehm§tfein unb fcftem 3ufammentjalt gemad£)t. Die Deratoeifelte 2lu3ftd)t
D5ttiger 93ernidi)tung Ijdlt nad) ben fdjtoerften ©djidfalen nod) immcr bie
iufammenfdjmcljenben 9tefte be3 $oIenDotte§ bei cinanber unb ein an $ort)l
fo HeineS SSol! ttrie bie Sttagtjaren I)at in ben Iefcten Sa^ren unertoartete
unb Don uncrtoarteten ©rfolgen getrBnte 8(nftrengungen gemadfjt, urn feinem
SSottetljum, gegeniibcr ben ringSum tootjnenben 93SHero, Don benen e3 in
feinen jerfplitterten SBofjnfifcen tuic Snfeln umfd)Ioffen ift, einen feften
£att p geben.
Sei fotdEjen fampfenben S38I!em, fei eg nun, baft fie fdmpfen, urn
broljenben Untergang abjutoenben, ober baft fie nad) Slufftrebcn unb 2lu3*
breitung ringen, fpiett immer bie 2Rutterfprad)e eine grofce 3toHe. 3n
ber SRcgel bringt fid) bei ifjncn burd) bie $ftege ifjrer ©prad&e unb ciner
nationalen Siteratur bag SRationalbettm&tfein juerft ju beuttidjer 2tugs
prdgung. 3n ber ©ntnridelung ber fleincn SKationalitdten, bie fid) fcit
'etnigen 3«^rjc^nten aug bem bunten SSoIfergemifd) ber untercn 3)onau-
lanber fdjdrfer gefonbert t)aben, ber fd)on friiljer felbftdnbigen SPlagtjaren,
ber ©erben, ftroaten, SRumdnen, madjt bic ©riinbung Don 2lnftalten &ur
?|Sftegc be^ nationalen SbiomS, ber ttriffenfd)afttid)en unb Iiterarifc^en
^fabemicn, ber 9lationaItt)eater, bag 2tuftretcn Don 3)id)tern unb ©c^rift^
ftcDcrn, bie biefcr ©pradje fid^ bebiencn u. bgl. nidjt toeniger ©poc^e,
afe in ber ®ntft>idelung grofterer 9S51fer e§ bie groften politifc^en S3er=
dnberungen obcr bie geucrtaufe fiegret^cr Sriege t^un. ©g ift natiirlid|.
93ci biefen Heinen aufftrebenben 9?ationaIitdten fommt e§ Dor aHem barauf
an, fid^ jufammensufditieften, i^rc fftei^en ju muftem, cinen Segriff Don
iljrer ©tdrfe ju befommen. SBer ifjre ©prad)e fpric^t, ift gemiffermaften
ntit i^rem ©tempel geprdgt. S5nnen fie fid) nid)t politifd^ ober tuirt^
fc^aftlic^ unab^dngig mac^en Don ben SSoIfern, Don tDetc^cn fie umtoofjnt
Worb unb Sub. VI, 17. 14
\92
^riebridj Hafcel in UTiincbcn.
finb, fo tooHen fie eg toenigfteng auf bcm ©ebiete beg geiftigen Sebeng
oerfucfjen. Unb ioenn fctbft im Sreife eineg grojjen SBoIteg bie Semoljner
ciner $romnj obcr irgenb eineg fteineren 2lbfd)nitteg einen anljeimelnben
Sftcij barin finben, il)ren 3)iatcft &u pflegen, bcr btc Ijeimatlid^en ©t-
iuncrungen am Icb^aftcftcn Dcrforpcrt, fo begreift man bagfelbe ©treben
nod£) leidjter, toenn eg, tuic bet btefen iungcn 9tationalitaten, fidj auf
eigenttyiimtidje ©prad^en rid^tet, toctdje oft nicfjt unbcbeutcnbc gcf^tc^ttic^c
©rinnerungen umfdjtiefjen unb bereitg btc Stnfange Don SKatiouafliteraturen
aufjutocifen fjaben. 3k tmm grofcen SSotfc ift abcr bag ©ebitrfnife bcr
©pradfjgemeinfcfyaft fein cbcnfo gcbietcrifdfjeg. Stufjer in Defterreicf);Ungara
unb bcr Xiirfei fefjen nrir tfoax tyeutc in ©uropa bei alien grofjen Sotfera
bic ©pradje cincr impofanten SRajoritat jur 9iationalfprad)e ertjobcn, in
bcr bic ©pradjen ftcincrcr SSoIfcrbruc^ftucfc Derfcfynrinbcn. 3n granf-
reid) ift bic 3<*t)I 5)erjentgen, bic nicfjt franjflfifd) fpredfjen, nad£) bcr
trcnuuug unfereg SReidjglanbeg, cine Derfdjnrinbenbc, benn bic SKiHionen,
tocldje proDen^alifd) fpredfjen, Derftefjen toenigfteng unb fdjreiben aud) fet)r
Ijaufig ba^ £od); obcr ©c^rif tf ranjdfif d^c f toenn ftc fid) feiner aud) nidjt
im tagttd)cn Seben bebicnen; in ©roftbritannien unb Srlanb !ann man
faum 2% tor Seofllferung afe beg ©nglifdien unfunbig bejeidjnen; im
2)eutfc$cn SReid) fpredEjen t)5c$fteng 6% nid)t bcutfcf); bag europaifdje 9htfc
lanb toirb Don 52 SKiHioncn center fRuffcn betooljnt, ipeld^e 70% bcr ©c-
fammtbeoolf erung augmadfjen unb bancben fprid)t bic SKe^rja^I bcr 2)eutfd)en
unb jafjlreidfje ginnen, Stolen, Sitfjaucr u. a. ruffifdE) fliefcenb; Stalicn
ift im S&efentlicfjen cin tootjlabgerunbeteg ©pradjgebiet unb mit bcr ge-
ringen 2lugnal)me bcr Satalancn unb 83agfen, bic tool jur #atfte audj
fpanifd) Derfteljen, fann man bagfelbe Don ©panien fagen.
SBenn nun bci fotdjen entfdjieben itbertoiegenben 3Ret)rf)eiten bag Sc-
biirfnifc, aud) ben 2Rinberf)eiten bic 2Jtel)rf)eitgfprad)e aufjubrangen, bic^
fclben fpradjlid) ju afftmitiren, fid) nid^t fo ftarf gcttenb mad)t toie bci
ben ftcinercn SGationalttaten, fo tegt man bod) aud) bci ifjnen eincn ge^
toiffen SBertl) auf bic ©prad^einljeit, toeit oljne fie jetter Ieid)te unb bamit
regerc ©ebanfcnaugtaufcf), jenc ©emcinfcf)aft ber ^iftorifd)ett ©rinnerungen
unb jene ®teid)artigfeit bcr 93ilbung nicf)t crreid^bar finb, o^ne bie loir
un£ cin compafteS, bureaus nationalbehm&teg SSotf nic^t DorfteHcn fonnen.
©dpn bic praftifc^c 9lott)toenbigfeit eincg glatten ©angeg ber SScrioattungg'
mafd)incrie mufc iibrigeng ben SBunf^ nad^ ©pradjeinljcit t)eroorrufcn. 28o
bie SERefjr^cit eincm begabten, regfamen, tiid^tigen ffiolfc angetyort, toirb
nun — unb bag ift fetjr bemerfengtoert^ — bicfe melgettmnfdjte Slffimi^
lirung ber fteinen SSorterbruc^t^citc ganj Don fetbft fid) ootljie^cn. Snt
norboftlic^en S)cutf^lanb, in ©ro&britannien, Dor aHcm aber in ben 3$er=
einigten ©taatcn Don 2tmerifa ^at man bicg in grofjer 2lugbe^nung gc-
fdje^eu fefjen. ©ntfe^ieben ge^ort bicfe SSerbauunggfd^igfcit fur frembc
©lemente ju ben 2RerfmaIen eineg gefunben unb frdftigen SSoIfeg unb
Pic ^eurtfjeilung ber Dolfer.
\93
bafjer getjort e3 aud) ju ben SOlerfmaten eineS cben fold)en SBolfeS, baft e3
nicfjt dngftlicf) barauf bebarfjt ju fein braudjt, bic fremben ©leraente ate
folcfjc auSjurotten, fonbern baft e3 ba3 SScrtrauen in fcinc eigene Uebers
legentjeit Ijat, e£ toerbc itjm gelingen, fic unmerflid) aufjufaugen. £er
Sampf eineS mddjtigen 93otfe3 nrie }. 93. bcr Stuffcn gegen bic Deutfdjen
bcr Dftfeeprobinjen obcr gegen bic ^Jolen ift ciu f)ierfjcr gcf)5riger gad,
loeldjer jum minbeften einen Ijofjen ©rab toon (^turfcf)tt)dd)e im 93eftMfjts
fcin bc$ unterbriidenben SfjeileS Dorau3fel)en laftt, toogegen bic lotcranj
bcr grofcen SKetjrljeit be3 in ben SJcrcinigtcn Stoatcn bominirenben engtifd)
fpredjenben 93olfe3 gcgeniiber ben jal)Ireid)en anberen 9tationalitdten, bic
bic StuSttanberung in jenem groften Sanbc jufammengefdjtocmmt tjat, un3
cincn DortreffIicf)en 93egriff Don bem ©elbft&ertrauen nnb bcr ©infidjt
biefer SOtcfjrljeit gibt. 2)aj$ cin nnrflid) tiidjtigeS unb frdftigeS SSolf fid)
ju fotdjen dngftttdjen UntcrbrutfungStoerfudjen in fetner SBeife geittmngen
feljen ttrirb, ift cine bcr beften 3ftud)te bcr ©rjiefjung, bie e3 fid) fdbft
unb bie if)m bie @efd)id)te Ijat angebeitjen taffen, benn immer tocrben foldje
crbittembc 93emul)ungen ®rdfte lawmen, bic nad) anberen 9tid)tungen beffer
ju Dertoertljen totiren. Cft genug bringen bcrartige UnterbriidungS&erfucfje,
bic au£ mangelnbem ftraftbetou&tfeht entfpringen, birccte ©d)tt>dd)ungen
fjerfcor unb rddjen fid) baburd) in eincr SBeife, bic mandjmat jebe^ ©ufc
madjen auSfd^Iiefct, unb fo batirt 5. 93. ber hrirtljfcf)aftftd)e Serf all SReyifo3,
bcr biefeS fdjone fianb fjeute utn dicle^ drnter fcin laftt ate e£ fcor fedjjig
Safjren mar, toon ber hriebertjotten SluStreibung bcr ©panier, bie nationate
©iferfudjt bictirtc. UebrigenS ift e3 cine ganj allgeTncine 9tcgel, baft grofte
93olfer, bic gefunb unb titdjtig finb, einc natiirlic^e 2ln}ief)ung auf Meinere
au&iben unb cine naturfidje gdfjigfeit befifcen, ftcinc 93olferfpIitter oljne
3^ctng in fid) aufjuneljmen.
UebrigenS hmrben foldje Steibereien ber t>erfd)iebenen SRationalitaten
innerfjalb eineS SBoIfc^ uberfyaupt fdjon ntinber fjeftig auftreten, toenn
biefc nid)t Dotlftdnbig itbertricbenc 93egriffe toon bcr Stcin^cit i^rcr 2tb-
ftantntung fatten. S)te 9?affente^re ift im SScrlauf i^rer Untcrfud)ungcn
immcr me^r bem ©runbfa^e jugefii^rt tuorben: S§ gibt fcine rcinen SRaffen,
attc Slaffcn finb SD?ifd)ungen. 2lud) oon ben SSoIfern fann man e£ al$
cine aflgemeine Stcget au^fprcd)en, bag fic t)ict fcerfdjiebenere SIcmentc in
fid) einfc^licfecn, al£ fic felber anjunc^men geneigt finb. S)ic Sebcutung,
tuclc^c ba^ nationale (Slement in i^rer ©cfc^id^te, fotoeit fie i^ncn offen^
licgt, unb in ifjrer ©cgenmart f)at, tterleitet fic ju ciner Ucberfc^d|ung
be^felbcn auc^ fur bie Idngft fcergangenen 3citen. 2Ran fann c^ be^
greifen, ba§ e^ fo ift, abcr e3 ift wenig logifd). 3n bem Seftrcben, i^rc
2tbftammung fotocit tt)ic moglid) ^inaufjufit^rcu unb ifyren ©tammbaum
fo rein barjuftetlen tt)ie moglid), fniipfen fie gem bci ben dltcftcn 95e-
toofjnern tf>rc§ Sanbc^ an, t)on bencn bie ©ef^i^te ffiunbe gibt, todljrenb
auf ben eigcntli^cn 95cftanb, ba3 dufeerc unb innerc SBSefcn be§ 9Sotfe^
14*
friebrtdj Hafcel in HTiiitd?en.
oft fpdtere ©inftiiffe, unb jtoar befonberg 2Jtifdf)ungen mit anbcrcn 93otfern,
met macfytiger genrirft f)aben. 5)ie granaofcn, eineg bcr gemif<f)teften 9S5Ifer,
bic eg gibt, erfldren fid) am tiebften fiir 9tbf5mmlinge bcr ©allier. 5Dtc
Staliener finb fcfjr tuenig getoillt, bie fettifdje, germanifdfie unb fogar
flauifc^c 93tutmifd)ung anjuerfennen, bie in Dberitalien, unb anbere, toeldje
im ©tiben ftattgefunben fyaben, hnetool eg bent unparteitfdjen SBeobacfyter
fdjeinen nritt, alg ob tuenigfteng bie erfteren gar nidjt fo un&ortfjettfyaft
getoirft fatten; ber Staliener toitt aber ein 9ladf)fomme beg 9t5merg fein.
95ei ung in 2)eutfd)Ianb faun man 2eute, beren ©efidf)tgfd£)nitt cinen
Srldnber ober 9tuffen befcfjdmt, fid) ber 2tbftammung toon ben blonbett
©5l)nen Seutg riitjmen l)oren unb bie eljrcn&otten ©djilberungen be3
Jacitug toenbet ber fjalbflatrifdie SHedlenburger ober ©djlefier mit nid)t
toeniger ©etbftgefiit)! auf fid) an ate ber tjalbfettifcfye ^faljer ober 93a=
benfer. Selbft in ©nglanb, tto bie Xf)atfad)e ber SDtifdjung fo flar auf
ber #anb liegt, ftrciten fid) bie 93otfgfunbigen nod) l)eute barum, ob ba3
feltifctye Slut ber Urcintoof)ner einen ftarfen ©inffufc auf ©Ijarafter unb
©ntttudelung ber eingetoanberten ©ermanen geiibt I)abe ober nid)t.
SKtdfjt blog bie ©efdjidjte toiberfpridjt biefer SSorliebe ber SSIfer
fiir reine unb alte Sttbftammung, fonbern eg rutjt biefelbe aud) an unb
fiir fidj auf einer ganj falfcfyen ©df)dfeung beg Unterfd£)iebeg jttrifd^eit
SSSIfern reiner unb gemifd&ter SRaffe. ©ettrifc ift eg gut, menu ein Soil
in feiner SBergangenfjeit Singe l)at, auf roelcfye eg ein 9ted}t befifct, ftolj
ju fein. Sine grofee SSergangen^eit ift bag ©dfjonfte unb ©belfte, ttmS
ein SSoIf Ijaben lann unb fie ift unenttoenbbar. 5ludf) praftifd) ift e3
ntd£)t bebeutungglog, toenn ber SRuf)m Dergangener 3eiten bie 3beale tjotjer
3iele auf bie leere SBanb ber 3ufunft &oraugtt)irft. SDtan toirb bag nic
toerfennen biirfen. 2lber ju biefen h)iinfc^engmert^en S)ingen ift bod) nie
bie 9taffenein^eit ju redjnen. ®o toenig loir bei ben gamilien bie 3n=
&ud)t b. I), bie fortgefefce SSermifdjung Don 93tutgt>ertoanbten gutf)eif$eit
biirfen, bie toir Don golgen begleitet fet)en, toeldje fiir ©eift unb Sorter
gleid) toerberblidE) finb, fo toenig fonnen mir fie bei SBotfern bifligen unb
aug meljr alg einem ©runbe biirfen ttrir eg nicf)t. ©infeitige Slnlagen,
bie bie 355Ifer fo gut tuie bie (Sinjelnen t)on ber 9tatur mitbe!ommenf
f5nnen burc^ Sttjudjt big jur Sranf^aftigfeit gefteigert, burdE) 3Rifc^ung
aber abgefc^ttjac^t ober toemidjtet merben. 9tber einen anberen unb toal>r=
f(^einli(^, tuenigfteng fiir unfere furjieitige Seobac^tung, t)iel bebcutfameren
Sort^eil errcid^t bie 2Rif(^ung burc^ Steigerung ber unb SKannic^=
faltigfeit bcr 9tnlagen. 3Btr fe^en faft bei jebem SSoKe ©uro^ag biefc
33ortf)eite auggepragt. erinnere an bie SRotte, tt)el(^e bic beutfdjeu
(SIfdffer unb 2otf)ringer in granfreid) fpictteii. 9llg Slic^tfraujofcn er=
gdnjten fie bie granjofen an fo tneten ^Junftcn, ba§ i^r SJerluft, U)ic
\mx 9ttte toiffen, fiir granfreid) oiet mc^r bebcutet, alg toenn eg ebenfo
Die! Stoergnaten ober ©agcogner Derloren ^dtte. granfreidf) ift burd^ biefen
Die Seurtfieilung ber V'dlUr. \<)5
Serluft nicf)t 6Io§ oolf Partner , fonbcrn aud) cinfcitiger getoorben. 2)a&
bic grofc hnrtt^afttidje 93Iiitf)e 93etgieng cine itjrer $aupturfad)en in
bcr oortrefflidjen 9Rifd)ung bcr S3co5tferung t)at, ift fdjon tdngft anerfannt;
bcr fdjifffafyrtg; unb fjanbetgfunbige gldme uttb ber inbuftrietle unb niitf^
terne SBaHonc fjaben fid) oortrefftid) in bic Slrbcit getfyeilt. %t\m toiirbe
nic cin fo gutcr ©ifenarbeiter fcin ttrie biefcr unb auf ber anbcrn ©cite
toiirbe biefer am SJteer unb ant ©etriebe beg SMtfjanbetg nicf)t bagfelbe
Oefatlen finben tt)ie jener. 3n df)nlid)er SBertfjeitung ift in (Snglanb ber
9tngelfad)fe mit SSortiebe ©eefafyrer unb ipanbelgmann, todljrenb ber ®ette
ber SRann beg 6ifen3 unb ber $of)le bteibt. SBie einfeitig, hrie Die!
toeniger betoegt unb betoeglid) finb im SBergtetd) ju biefen 2Rifcf)05ttern
bie rein germanifd)en ©fanbinaoier unb Slieberldnbcr. Unb f)at nid)t
audj in ber ©efd)td)te S)eutfd)Ianbg fief) ber ©ontraft beg l)albflaoifd)en
Dfteng mit bem germanifd)en SBeften unb 9Zorben frudjtbar genug gejeigt
an Deilfamen SBirfungen? SBie fetjr fjaben biefe SEBedjfelttrirfungen bie
befd)rdnften Irdume jener fanatifdjen Urteutonen befdjdmt, toddje bag
93olf jenfeitg ber ®Ibe fur tief unter ©d)toaben unb Saiem fteljenb er*
fldrten, tucil in feinen 2lbem flaoifdjeg Slut fliefce! 21m beuttidtften tritt
iibrigeng ber 9Sortl)eiI ber SBtftfermifcfjung toal)rfcf)eintid) in jiingeren
©taatgtoefen fyeroor, too bicfclbe nod) ftdrfer im ©ange ift. ©ef)en ttrir
nad) 9tuf$Ianb> fo finben loir cinen beutfd)en 93eooIferunggbeftanbtl)eiI,
ber jtoar Hein an Raty, aber grofc an Sebeutung fiir bie SSertoaltung
unb befonberg bie toirttjfdjaftticfje ©ntttridelung beg Sanbeg ift. 3n ben
SSereinigten ©taaten ift eg toietleicf)t ftarer atg irgenbtoo &u fefjen, ttrie
ba§ SJoIf im ©tanbe ift, uerfcf)icbene gunctionen an berfd)iebene SRaffen
ober Siationalitdten $u oertfjeilen, bie fid) nun gerabe am beften fiir bte=
felben eignen. 3)er $eutfd)e mit feiner ©tabititdt, feinem §aften an ber
©d)ofle, feinem gteife unb feiner ©parfamfeit ift bie ©tufcc beg 2anb~
baueg, toafjrenb feiner fo gut ttrie ber 3rldnbcr ftd) fiir bie niebrigen
gabrifg^ unb Xaglofjnerarbeiten eignet. ©g ift oft genug toon Sttmeru
fanern felbft anerfannt, bafe ol)ne biefe beiben Slcferbau unb Snbuftrie
in ben SJereinigten ©taaten nod) toeit Don ber ©tufe ber Stugbilbung
entfernt fein toiirben, auf toetdjer fie.fyeute fte^en. 2Bag todre bag toirt^
fcf)aftlid)e Seben 5J?oIeng ober SRumanieng of)ne bie Suben? Hub bag
Kteinafieng unb ber ^ontugldnber ofjne Strmenier unb ©ried)en? S3ig
in bic ©pifce unb Krone unfercr moberneu eulturentmidelung, big in
bie -Dletropole ber mobernen SBett ftfnnen mir biefe gro^e 93ebeutung
ber 93oIfermifd)ung oerfolgen, too toxx in ber ©itt) oon Sonbon, biefem
SMittetyunft beg SBelt^anbcIg, bem Suben unb bem S)eutfd)en alg eincm
nidjt me^r ju entbe^renben ©lement ber gro^anbcltreibenben 93ei)5Iferung
unb befonberg beg in ©elbgefc^dften t^atigen $f)eiteg berfelben begegnen.
3Kan !ann bie 93ortf)eiIe ber SDtifdjungen anerfennen, ofjne barum
jebtoebe beliebige Sftaffcnoermcngung fiir Dortf)eill)aft ju ^alten. SBenn
196
Hafcel in flliiudjen.
fid) ein tt>eifte§ SSoIf burd) unbefcfyrdnfte 2Rtfd)ung mit 9tegern, 3Ratat)cn :c.
fo begrabirt, ttrie e£ bic 5JSortugiefen in alien ifjren iibcrfccifc^en SBe=
fifcungen getfjan, fo if^ ba£ einfad) ein ^erabfteigen Don einer einmal er=
reidjtcn fjofjeren ©tufe unb ate foIdjeS bebauerlid). 2tud) ein fo bunted
unb bteparateS SBotfergemifd) ttrie ba3 ber curopdifdjen 2urfei ober ber
5fterreid)ifd);ungarifd)en 2Ronard)ie ift getirift nid)t£ 3Biinfd)en£tt)ertl)e£. §in~
gegen biirften unfere $aar SDtittionen ©tafcen, SJdnen unb granjofen im
Scutfcfyen SReidje mit ber 3*it al£ gar feine fo ganj unttriUfommene 3u-
gabe unferen retnbeutfd)en ©lementen erfdjeinen, ba fie auf ber eincn
©eite nid)t ja^trcic^ genug finb, um ben iuefentlid) beutfdjen ©fjarafter
unfere^ 9teid)eS ju ftoren, fofern fair unfere innere ©efunbljeit betoatjren,
unb ba fie auf ber anbercn baju tjelfen, biefen Efyarafter bor ©informigs
feit unb ©rftarrung ju betoafjren. ©ic ftfnnen fogar fefyr nii^ttc^ merben,
toenn if)re Dppofition un3 baran erinnert, baft e£ mit bem ftarfen Stationafc
gefiif)! aHein auf bie S)auer nid)t getljan ift, fonbern baft nur unfere
eigene Siidjtigfeit unb bie june^menbe S8ortreffticf)feit unfcrer <5taat&
einridjtungen im ©tanbe ift, biefelbcn immer fefter. mit un3 sufammen^
jufdjmieben.
2)a3 nrirb man freittd) nid)t leugnen, baft bic 3ufugung eineS er;
Ijebtidjen 93rud)tl)eit3 fremben 93oIfe8 ju einer fcfyon toorljanbcnen, fertigen
Nation ein gefdf)rtid)e£ (Srper intent ift, ba£ nur in ber 9ltmofpf)dre ber
groftten gretyeit, in ber ©djtDeij ober in ben Sereinigten Staaten mit
©Iiid berfudjt hrirb. giir un3 anbere, bie ein grofteS ©etoid^t legen miiffen
auf unferen ungefdtjrbeten inneren 3ufammenl)ang, ift in neuerer 3*it fdjon
burd) ben regen 9Serfet)r Don SSoIf ju SSoIf fiir bie ©infuljr einer nid)t ge^
ringen SKenge frifdjen SluteS in bie SIbern unfereS DrganiSmuS ©orge ge;
tragen. 2Benn ttrir t)eute auf ber ©runblage eine£ gefunben ©taatSfoefenS
jene fdjon immer jum SBeltbiirgertfjum f)inneigenben ©ebanfen unferer beften
©eifter toeiterfpinnen, fdjeint biefe SDtengung, SDtifdjung unb J)iilfrcirf>e
2lrbeit3toertf)cilung ber 935Ifer bie einjige gorm ju fein, unter ber nnr
un3 ben ®o3mopotiti3mu3 prafttfdj mtfgtid) benfen fonnen. Sliest an ein
fd)ranfentofe£, an $flid)ten unb Steigungen armeS SBeltbiirgertfjum benfert
toir, menu tmr un3 ba3 ©ute toorjuftetlen fucfyen, toa3 bie 3ufunft ben
Solfern bringen mag, fonbern an biefe langfame, aber beftanbige Sluf^
na^me frember SSolfeeiemente, bie in jebem nod) fo abgefd)toffenen 93oIf«j
tyum fid) tooflaiefjt unb an ben bamit #anb in ^)anb ge^enben 28ed)fek
t)er!ef)r unb bie mec^felfeitige ©djdfcung ber SS5Ifer. S)ie^ finb ©uter
unferer 3^it, tuclc^c fie Dor alien fcorfyergegangenen Dorau^ ^at unb biefelbcn
Ijaben in ben lefcten ^unbert S^ren fc^on aufterorbentlic^ turf fiir bie
Stnnd^erung ber SS5lfer geteiftet unb toerben i^ren milbernben, ^umanifiren-
ben ©influft auc^ ferner^in jur ©eltung bringen. ©ie bereidjern unb
Deriiingen un§ im 3nnercn, o^ne baft fie ben ©eift unb bie Sormen
unfere^ 93olfe3 me^r unb rafter tjerdnbern al£ ba§ Sntereffe unfere^
Die Seurtfjetlnng ber Dolfer.
Ijarmonifdjen 2Bad)£tf)um3 e3 erfjcifdjt. Urn ifjre 23irfungen jit ermeffen,
muft man freUid) 5. 93. nid)t bie oft get)6rtc miifcige grage aufmerfen: SBerbcn
bic Sriege feltener? §oren fie nidjt enblid) einmat gdnjlid) auf? Die
Jfriege tjdngen nidjt ab Don ben 93eDoIferung3c(affen, bie tjier Dor$iigtid)
in Srage fommen unb man fann fie toie Slnfdtte Don 3dt)5orn betradjten,
toeldje aU SRiidfaUe aud) bie fdjintfte Stjarafterentttridetung burdjbredjen
fonnen, ben ©efammttnertf) berfelben aber nidjt erfjebtid) jn ft5ren Der;
mSgen. SBenn hrir aber fragen: 3ft nidjt ber SMtferDerfcfjr aufcerfjalb
ber SriegSjeiten Diet menfd)(idjer, hunger, DerftdnbniftDotler unb bamit
toleranter getoorben, fo mufc man entfefyieben anttoorten: ,3a". Unb in
biefer SRidjtung liegt gennfe nod) mand)e3 jn ©rftrebenbe.
SSetradjtet man bie DietDerfefcerte unb jebenfatte fefjr met mifc
Derftanbene SBoIfermifdjung au3 biefen erfreulidjeren ©efid^tspunften, fo
mujj man fidjer jugeben, bafc aud) nnfer Urt^ett, bag geneigt ift, fefyr
tiefgefjenbe Untcrfdjiebe jtoifdjen ben Solfern anjune^men, biefelbe ju be*
riidfidjtigen fjat. 3Me grage liegt naJ)e, ob benn iibertjaupt bie SBotfer
fo Derfdjieben fein fonnen, menu burd) SKifdiung fo jafjlreidje 93eftanb=
tljeile itjnen gemeinfam jugefatten finb? S3 ift fidjer, bafe ber getter,
eine tiefere 93erfd}iebenl)eit ber SSoIfer anjunefymen, al3 hurflid) Dortjanben
ift r feljr tjdufig begangen toirb: man tdftt bie 2teuf$erlidjfeiten ju ftarf
t)erDortreten, @prad)Derfd)iebenf)eiten, 9lbmeid}ungen im Sorpertidjen, in ber
Sitte u. bgl. Slber getyort nid)t fo Dieted Don biefen Unterfd)icben ju bem, toa§
ein Sotf todtjrenb feiner ©efdjidjte ermirbt unb ju ben SBirfungen bcr
Sage, in toeldjer e£ fidj monentan befinbet? Unb finb nid)t anbere faft
ofjne alien merflidjen Sinflufe auf ba3 innere 2Sefen unb bie bebeutenberen
Sleufcerungen eine§ Soiled? ©3 fdCt auf, baft bie ©efdjidjte gemifdjter
SBBtfer balb Don biefem, balb Don jenem ©fyarafterjug beftimmt erfd)eint,
je nad)bem biefeS ober jene£ 9Jtifd)ung3element an bie Dberflddie tritt.
3)ic alte ©efd)id)te 93ritannien£ toar eine fettifd)e, fie mar ein ©ttid
S5Ifertt)anberung3gefd)id)te nad) ber GSintirirfung ber @ad)fen unb Slngeln,
fie erfjielt einen romanifdjen 2lnftrid) in ben erften 3a^r^u^^cn
ber ©roberung burdj bie 9Zormannen, fie Ijatte tneHeidjt ben germanif^ften
I^u§ jur 3*it ber (Slifabet^ unb in «ber SfteDoIution unb na^m feitbem
einen eigentl)umftd)en E^arafter an, ber ber Ijeutigen britif^en Nation,
biefem immer met)r in fic^ uerfc^meljenben unb in immer grtf fcerer
frembe ©lemente abforbirenben $robucte einer ber bemerfenStoertljeften
SS5Ifermif(^ungen entfpric^t. 3« i^nen ©taaten, too bie einjelnen SS5I(er
no^ gefonbert 5U erfennen finb, ne^men mir f einen 2tnftanb, ifyre Der^
f^iebenen ©influffe anjuerfennen unb e3 leugnet §. 85. Sliemanb, bafe bie
ofterrei^ifd^e ^Jolitif italienifd^fpanifdje, beutf^e, ftabif^e, mag^arifd)e
(Spifoben ge^abt ^at. S)a§ ruffifc^c ©taat^mefen t)at gegenmartig einen
beutf^eren ©^arafter al§ e^ ma^rf^eintic^ in 50 3af)*en ^aben toirb,
aber Dor 300 3<*$ren war e^ fogar mongolifd^ ange^au^t. $8arum foil
$8 ^riebrtdj Bafcel in mUndjeti.
nun nidjt bagfetbe anjuneljmen fcin bet SBolfern, in bencn bic Ungleicfj-
artigfeit ber ©(entente nur toerbedt ift buret) bag iibergetoorfene ©etoanb
bcr gemeinfamen ©pradje, ©efd)id)te unb ©taatgjugetjbrigfeit? (Sin SSoIf
toertiert mit feincr ©pradje mancf)ertei unb twrjiiglid) fcin ©onberbettmftts
fcin, abcr nidjt aud) fcinc E^ara!tcrctgcnt^umli(^feitcn unb eg toirb bie*
felben befonberg ba, mo eg compaft toofjnt, nod) langefjin jur ©ettung
bringen. #at man nidjt felbft in ben ®dmpfen ber 9lorbfpanier fiir iljre
guerog nod) SRefte alter gotfyifdjer Unbcugfamfeit crfennen tooHen?
SESir biirfen iiber bicfer ftarfen 93ctonung bcr ©inftuffe ber SDtifdjHng
nic^t bie fetjr bemerfengioertDen SSirfungen toergeffen, toetcfye bag ©egen-
tfjeit ber S3ermifd)ung, ndmlid) bie 3lbfonberuug Don 93oIfgbrud)tf)eiIen
auf bag ©anje itbt. Ueberfefjen tt)ir einmal bie fficrfleinerung beg tefcteren,
tt>elcf)e ntit bem SJtoment ber Stbtofung etntritt, fo toerben loir finben, bafc
biefe Srudjttjeile in ben meiften gotten bag 3Rutter&ott crtjeblid) bereid)ern
unb id) mehte, gerabc loir ®eutfdje biirftcn ung freuen, baft fetbftdnbig
ttjatige unb probuctioe ©lieber unfereg 93oIfgf5rperg in ber ©djtoeij, in
Defterreid), in ben ruffifdjen Dftfeeprouinjen ung erfjalten finb. 3)iefe
politifd) abgel5ften, geiftig aber im 3ufammenljang gcbliebencn ©tieber
leben unter anberen SSerpltniffen, benfen unb fii^Ien in mandjen Sc^
jietjungen ganj anberg atg loir. SBdljrenb eg fragtid) ift, ob ityre polttifdje
SBiebcranfiigung ung ftarfen ttmrbe, ift eg ficfyer, baft biefelbe unfer beutfd)e£
©eiftcgleben ntd)t bereidjern, fonbern nur einf5rmiger geftalten toiirbe.
9lud) fottte man nie fcergeffen, baft burd) 23ed)felfdtte ber ©efdjidjte oft
genug foldjen 33rud)ftuden eine grofte Sebeutung fiir bag SSotteganjc fcer-
Iie^en toorben ift. ®g ift bod) nod) nicfyt lange fjer, baft bie beutfdje ©djtoeij
bag 2tfol unferer politifdjen gtudjtlinge Wax. $er Itjroter greiljeitgfampf
toon 1809 tourbe auftertjalb bcr bamaligen unb ^eutigen ©renje 5)eutfd)s
lanbg auggefodjten unb toar bod) ein fjod)ttrid)tigeg ©tiid beutfdjer @e=
fdjidjte. SKuft man baran erinnem, hmg bie franjdfifdje ©djioetj, unb
befonberg ©enf, biefer merftourbige SCRittctpunft intcrnationalen gciftigen
SBerfetjreg fiir grantreid) getoefen ift? SSerniinftige granjofen fjaben immcr
erfannt, baft bag ©eiftegteben ber granjofen nic^t getoinnen toiirbe, toenn
man biefe Ijatbe SJlittion franj5fifc^ ©pre^enber mit granfreid} ucreinigte.
SKit ber Qtit ttnrb unjmeifcl^aft bag rafc^e SBac^gt^um europdifdjer Eolonials
ftaaten in ?tm'erifa unb Stuftralicn fold^en abgcloftcn SSotferbru^ftiiden einc
trie! groftartigcre Sebeutung uertci^en; ftiifct fic^ boc^ ^eute fc^on bie erfie
Slofle, mel^c englifc^e ©pradje unb t^eiltocifc fogar englifc^e ©itte im
gr5ftten Jt)cile ber auftereuropaifd)en S33clt fpielen, nic^t blog auf ba£
SKutterlanb Dicier Kolonien, ©roftbritannicn felbft, fonbern balb ebenfo
feljr auf bie SSereinigten ©taaten, biefeg abgeloftc ©tiid beg britifc^en
©otonialreicfyeg, unb in Stuftratien, Sleufeclanb, ©iibafrifa toac^fen d^nlic^c
©licber eineg englifd) rebenben unb big ju einem gettriffen ©rabe aud>
engtif^ benfenben auftereuropaifdjen SolonialDoIfeg empor. 95ei cinem
Pic 3curtljeUung ber Dolfcr. $9
grofcen Ueberbticf ber Ijeutigen SBeltlage fcfyeint baburd) bic cnglifd)e
Spracf)c unb ma3 in if)r niebergetegt ift , fdjeinen englifdje ©efefce, ©e*
brdudEje unb ©ittot fidjerer fcor bem Untergang gemaf)rt ate bie irgenb
cincr anbcrcn Station. 23ir anbcrcn SBdlfcr miJgcn nod) fo frdftigc SBdume
fein, aber mir ftiifcen unfere (Sntfaltung auf ©inen ©tamm, mdfyrenb
(Sngfanb eincm inbif^cn SRiefenfeigenbaum gtcic^ onf jatjlreicfien, in ncnc
(Srbe gefenften ©dulen ruf)t.
Sreiftdf) muft ein SSot! ftarfc^ 2Bacf)gtf)um Ijaben, um folcfjen loiter-
odtfern Urfprung ju gcbcn unb aufjerbem mufc e3 bic gdf)igfeit ber
Goloniengriinbung befifeen. SBie berfdfjieben aber gerabe l)inficf)tlid) be3
23ad)Stf)um§ bie groften europdif^en SJoIfer feien, mirb felten geniigenb
beadjtet, miemol e3 bod) einer ber bebeutenbften gactoren in einem 93olte-
leben ift. 3)afc bie burcf)fdjnittlicf)e iatjrtid^e 3u™f)nte ber ScbSHerung
in ftranfreid) Mo3 ettoa ein Dritttfyeit uon ber in ^reuften betrdgt, fo
baft, mie ein beutfdjer ©tatiftifer beredjnet f)at, im 3>af)re 2000 3)eutfd^
lanb mefjr ate boppeft fo Dotfreid) fein fonnte ate granfreidfj, ift in bem
lefcteren Sanbe befanntlidE) in neuefter 3rit Diet erortert toorben; friif)er,be=
adfjtet unb jur ©elbftbeurtljeitung angetoanbt, fydtte biefe Xfyatfadje uietteidjt
bie friegerifdjen Senbenjen unb bie gefcagte ^Jolitrt granfreid&S in ben
lefctoerftoffenen gafyrjetinten erljcb(id) bampfen fflnnen.
9Kan fpric^t me( toon SBadjStfyum, Don ber SBermefyrung ber 938tter,
e£ gibt aber au<$ ein 8lbfterben, einen SSoIfertob. ©£ mill freiftcf)
fcfjeinen, menu man Mo3 bie groften S38tfer in 93etrad)t jieljt, bafj ein
9SoIf foeber burdj 2ttter nod} burd) bie tydrteften ©djidfale ttftlig getobtet
merben fonne. fieben nid£)t bie 9R5mer in ben 3ftatienern, bie ®ried£)en
in ben 9teugried)en, bie Snbcr in ben §inbu3, bie Stegtjpter in ben
ffopten fort? Unb bieten nidjt bie ©fjinefcn ein fet)r merfmiirbigeS 93ilb
t)of)en 9tfter§, inbem fie, miemot alter ate afle unfere europdifdfjen
Solfer, nod) riiftig genug finb, um mit ifjrer enormen &af)l ben 8lbenbs
lanbern fogar ben getben ©djreden einer dfjinefifdfjen UeberfdEjmemmung
emjuflflften? $od) gibt e£ genug ©rinnerungen an Derftorbene, bottig
untergegangene SSotfer, bie biefen gegeniiberjuftellen finb. 2luf ben
britifdjen %n\ttn finb bie feltifd^en ©tamme faft au^geftorben, in Storb^
oftbeutfdtfanb bag SSotf ber ^5reugenf in Surlanb bie Suren. Die
SaSfen in ben $^renden ge^en jurud ©inigc t)on biefen SSotfern finb
in friifjeren 3a^r^unberten gerabeju auSgerottet, an Seib unb ©eete
getobtet toorben. 9leuerbingg fterben fie in ber SBeifc au^, baft fie itjre
©eete, unb ^undc^ft beren ^auptauSbrud, bic ©prac^e, bann audf) anbere
befonbere SRerfmale Dertieren, um bann attmafjlid) in bie umtt>oI)nenben
SJolfer fid^ ju Dertieren. Dft ftingt noc^ bie Irac^t nad£), bie ©itte,
ba^ SKard^en geben nod) Sunbe Don ben SBerfdfjottenen, tynlitf) tok
eigene ^flan^en auf ben ©tatten auffprieften, mo einft SPteufdjen mot)nten.
3ulefet finb aber ifpre ©puren t)8c^fteng noc^ in ben Sud^ereien ju fUc^en.
200
(fricbridj Hafcel in Ifliindjen.
Snbeffen ift ba3 ©injige toenigftenS trofttid), bog bieS Me3 minbcr %af)U
reidje 335tfer toaren, bic aud) feine betradjttidjc Sutturfjofje au3 eigener
ffraft erflommen fatten. S3 toaren tnefjr ©tamme att SBoIfer. SBir
fyaben jioar and) Seiftnete toon fleinen SSoIfern, ttjeldje fief) felbftanbig
erfjietten unb ntandjmat unter ben aflerfdjnrierigften S3erl)altnifjcn, tine
bie Subcn, bie ©djifleijer, einigc cfjrifttidje SSoIfcr bcr curopaifdjen
2urfei u. a. 2lber e3 blcibt trofcbent bie Sftcgct befteljen, ba& man
numeric grofce SBoIfer bis jefct in ber 3Beltgefd)id)te nicf)t ^at fterben
fefyen, unb ba& bie an 3^1)1 bebeutctibften 938tfer, bie fair t)eute fennen,
in ben meiften Sejiefyungen bie gr5f$te ©etoaljr bc£ gortlebenS ju bieten
fleinen.
SDlit bem SSegetiren, bem blofcen 9lid)tfterbenf5nnen ift e3 freitidj
nidjt getfym; ffraft unb 2Jtad)t geljoren junt gebeit)ttdjen 2ebcn cinc3
SBoIfeS. Unb in fcielen fatten finb fie e3, bic bie fcfytoerften ©ettridjte in
bie SBage ber 335tferbeurtt)eiluug toerfen, benn toenn aud) mancfjcS ®ute
toon einem SSotfc ju fagen ift, fo tnerben bod) aDe 9tnerfcnnungen unb
Sclobungen nidjt efjer gegen attju leidjt eintretenbe ©djtnanfungen be3
UrtfjeileS gefcf)ufct fein unb ifynt felbft nidjt friifjer jum SGufcen gereidjen,
al3 bis fie fid) auf ber ©ranitbafiS einer adjtunggebietenben ©tettung
erfyeben, bie nur erarbeitet unb erfcunpft toerben fonn.
2>as golbene Dlief unb bie ^Irgonauten*
Don
!D. jrorcfjljannncr.
- Kiel. -
\. Das gol&ene DItef.
ie jiingft am 93ertiner £ofe gefeierte $erleif)mtg beS DrbenS
bc» golbenen SBlicfteS an ben ©rojjfjerjog Don 93aben fiif>rtc
bet ciner 2ifd)gefetlfcf)aft auf bic grage nad) bcr Sntfteljung
biefeS CrbenS unb toeiter juriid nadf) bcr Sntftefjung unb
bcr 93ebeutung bc3 golbcncn aSIie^e^. ©ariiber mar man einig, baft
Pierre be ©ainct Sulien in feinen Originibus Burgundicis fief) irre,
tpenn er ben 9Zamen be£ 3flf°ft auf ftinf 2lnfang3bucf)ftaben ber
SKonatc Suit, Stuguft, September, October unb 9Zot)ember beutete, in
toetcfyen SKonaten bie @rbe bie 9taf)rung unb ben Untertjalt atler teben=
ben SBefen f)ert)orbrad)te. Unb bod£) toar ein Sftfrncfjen 2Bafjrt)cit in bem
SSort. Sie ©age toon bem golbencn SBtiefc ift furj biefe. 2ttf)ama3 Wax
§errfd)er eineS SfjeilS be3 niebrigen UferS be3 fopaifdjen ©ee3 im ©c=
biet be§ btfotifdjen DrdjomenoS, fccrmafjlt auf 93efet)t ber ipera mit ber
Sleptjele, toeldje if)tn jtoei ®inber, ben $f)ri£o3 unb bie £elle gebar.
£eimlicf) aber bermaf)lte fid} 3ttl)ama£ mit ber 3no, mit ber er jtoei
©ol)ne erjeugte. 9tepl)ele fccrtiefi erjiirnt ben 2ltf)ama3 unb flog in ben
£immel. Sno tyafcte bie Sinber ber Sieptjele; urn fie ju fcerberben, fcer;
anlafcte fie eincn DrafelfprudE), ber bem 2ttl)ama3 befall, feincn ©ofjn
$f)ri£03 bem fd)liirfenben 3^ ju opfern. 2113 cr ben <pf)rijo3 fcom
gelbe l)olen lafct, befieljlt bicfem cut rcbenber SBibber, er folle fid) mit
f ciner ©djtoefter auf fetnen, be£ SBibberS, 9tiiden fefcen, unb madjte nun
mit beiben bie gal)rt burd) bie 2iifte. 2113 fic tiber bic SBafferftrafte
5tt)if(^cn (Suropa unb 2lfien famen, ftel §etle bci bcr ©tabt $afttya in'3
SBaffer, bafjer ber Sftame Hellespont. 5pf)rij:o3 fdf)toebte toeiter iibcr $tein=
aficn bem SaufafoS ju unb opferte in Soldjte ben SBibber bem $tu$\
202 p. W. ^ordjljammer in Kiel.
bag,gctt begfetben tying er auf an ben SJdumen beg §aiug beg Slreg.
Diefeg SSIicfe mar urfpriinglid) toeife, aber §ermeg madjte eg golben.
2)er, tine fief) ergeben ttrirb, fetjr cinfactyen ©rftdrung biefeg 3Rtjtf)og
mag cine fur$e 93efd)retbung ber rdumticfyen nnb flimatifdjen SBerfjdltniffe
jener ©egenb Doraufgetyen. ®er aug $ljofig tyerabfommenbe glufj Sc=
ptjiffog finbet megen bcr fyemmenben ©ebirge fcincn bircctcn Slbflufc tn'g
SDteer. Satycr bitbet cr untertyalb Drdjomenog ben grofeen fopaifefjett
See, beffen Ufcr nnb 3lu3bef)nung nadj bcr 83erfd)iebenf)eit bcr Saljreg-
5citen fefjr iocc^fcln. Dodj berufjt bic SBerminberung bcr rointerlidjen
©etodffer nictyt btog anf bcr 93erbampfung unb bem Sinbringen in bic
immcr trodener toerbenbe ©rbe, fonbern andj auf bem unfidjtbaren 2tb=
fliefeen burd) bic grofeen unter bem ©ebirge toerborgenen natiirtidjen 216^
juggcandle, bic fog. ffatabottjrag. ©rft nacfybem fdjon cin grower S^cil
ber nrintertidjen Ucberfdjtoemmuug im grilling toerbampft ift, tritt bag
2lbfliefeen burd) bie toetten Deffnungen bcr Satabotfjrag ju Sage. 2>te
aufftcigenben 3)iinftc toerben burd) bic im grilling Ijerrfdjcnben SBeft-
ttrinbe bem #ettegj)ont jugctragen, toertoanbeln fid) iiber ben aug bem
fatten Storben burd) 2)onau, SBortyfttyeneg, Xanaig, £t#anig unb burdj
ba^ *fd)toarje SDteer unb ben SBogporog fjerabftrflmenben ©etodffem ber
©trafte ber DarbaneHen sum Xtyeil in Stegen, toatyrenb bie 2Raffe ber
SBolfen toeiter nad) Storboft jietyt, too fie fid) urn ben bie §dlfte beg
3af)re3 in Siebel geljiiHten Saufafog lagem.
9tad) biefeu Semcrfungen braudjen loir nur mit Ueberfefcung einiger
Stamen unb SBorter ben SDttytfjog ju hriebertjolen, urn fcinen Sinn flar*
julcgen. 5tttyamag ift bie mtyttjifdje SJJerfonification eincr Slnjaljt „2ttljas
mantifdjer Sbenen", toeldjc jatyrticfyer Ueberfdjtoemmung auggefefet finb
unb nur langfam ifjr SBaffer fcertieren. StttyamaS tyeiftt ber Stidjtfauger
(#a'a>), beffen Steid) bic Staff e nid)t cinfaugt. SBenn fid) itym auf ©eljetfj
bcr SBoIfengdttin ipera, bic ja fctbft bem Sjion unb bem ©nbtynion ate
eine SBotfe erfdjien, bic Stcptjele, b. f). bic SBoIfe, toermdfjlt, bann ent-
fteljt ein £>elog ober |>elIog, b. ty. einc tuafferreidje Stieberung unb
eine burd) ©rag unb SBcIten rautye uncbene gldd^e, §etle unb ^tyrijog
(tjon <pQta<sa>). ©rtyebt fid) bie Steptyete bur<^ bie Suft, bann Derbam^ft
bic Staff c toieber. ®ie Sttyamagsgtdffc oerminbert fid) aud) burd) bie
oerborgen ablcitenben Satabottyrag. Satyer fagte ber SJttjtljog, Xt^a=
mag tyabe fid^ tyeimtid) mit bcr %no, ber heroine ber Slugleerung burc^
2lbftieBen (tvin tecren), Dcrmdtylt. 3)iefe n?ar natiirftd) ben Sinbcrn ber
Stcptyctc feinb. ©ofcrn bic burd) §etle unb SptjriEog pcrfoniftcirtc Slaffe
bic ®atabotf)rag ni^t erreictyte, fonnte fie nur burdj Serbampfung befci=
tigt toerben, b. ty. burcty cin bem fdjliirfenben 3cng gebra^tcg 9iaucty-
opfcr, unb obglci^ biefcg D})fer nid^t gcbractyt tourbe, gefctyaty boc^ burd)
bie Suftfatyrt beg ^tyrijog unb ber £>eHe bagfelbe. S33ag aber fangen n?ir
mit bem fprectyenben SBibber an? 3n bem(3teicty beg Sltfjamag. n?ar ein
Das golbene IHiefj unb bie 2lrgonauten. 205
fttefcenbeg „toortodrtgget)enbeg" SBdcfylein '^robatia. 35ic ©ettdffer toarcn
fdjon fo toeit gefunfen, baft fie an ben Siefeln (Xalkai) beg glu&betteg
raufdjten, unb in ber It)ot war bag Styredjen beg SBibberg nur ein
Saflen (XaXrjaat xbv %qi6v eg), ©o bebeutet alfo ber SBibber, ber
fidj mit feiner boppelten 2aft burd) bie Siiftc ertjebt, ni<$tg anbereg atg
bie SBoIfe, twelve fid£) im grilling mit ber iiberfliejjenben unb nun
iiberftiiffigen Staff e entfernt. 9tufbaf$ Sebcn unb SBo^Ifein in ber Statur
gebeifje unb bag 3)afein beg SDlenfdfjengefdfjIedfjtg iiberljaupt mSgtid) fei,
muft bag SBaffer nid^t nur fommen, fonbern aud) ftrieber geljen.
SBarum $ette in ben #e£(egpont fict unb fatten mufete, ift fcf)on oben
butdE) bag (Srfalten ber SBolfe erttart. $er $idjter beg 9Jtytf)og ttmfete
audj, toarum eg fo gefdjeljen mufete. Darum lieft er bic #ette bci
„ySattya"t ber ©tabt ber ®dlte, beg ©efriereng, Don bem SRitrfen beg
SBibberg l)inabgleiten.
ffiein SReifenber, ber ben ftaufafog befudfjte, ber nic^t Don ben bid)*
ten SRebeln unb SBolfen ju erjdtjten toit&te, iueld)e biefeg geioaftige ®v
turge umfdjtoeben, juWeiten auf 2tugenblicte if>n in l)eflem 2id£)t erfdjeinen
laffen, bann aber fd&nett ttrieber itjn umljutten, fo bafc er 6 big 8 SDlo-
nate beg Satjreg nur momentan ft$ ben SSIidfcn barftcHt. ®ag golbene
Stiefi ift Symbol atter jener SBoften unb Stebel, bie aug ©riedjenlanb
unb ben angrenjenben Sanbern idfjrtid) im grilling bie hnnterfidEjc Staff e
forttragen. 2tber toefje, toenn eg nid)t jurudgebracfjt toiirbe, ioenn eg
ntcfjt mit ben Argonaut en im Stnfang beg ndd)ften SBinterg juriid;
feljrte. 9tic$t aber fc^rt eg juriict alg toeifceg, fonbern alg golbeneg 931iefe,
atg 5Reid)tl)um unb fegenbringenber SRegen. S)enn $ermeg, ber SRegen*
gott, ber Sote ber ©fitter ju ben SDtenfdjen unb jur Untertnelt, f)at eg
in ein golbeneg uertuanbett, b. 1). in ftiefcenben SRegen. S)enn f lic =
fjenb nannten iene alten primititoen 9taturbid)ter go lb en. 3) arum er-
fdjeint 3*ug ber 2)anae im golbenen SRegen, unb nac$ $inbar beregnete
3eug aug golbener SBoIfc bie Snfet SRI)obog. Sic 2trgonauten fotlten
bag golbene SJliefc juritrffjolen unb fo t^un fie nod) jebeg %a$x.
2. Die 2lrgonauten.
S)ie Iifd£)gefeHfcf)aft jeigte fid) geneigt, bie gegebene ©rfldrung beg
golbenen 93tie§eg gclten 5U laffen, unb Derlangte nun einmutf)ig — eg
loaren feine ptjilologifcfie unb linguiftifd^e Stubengele^rte barunter — ju
^dren, toer bie 9(rgonauten feien, unb toie fie bag golbene SSIieft wad)
$eHag juriidbringen. 3)cr fRebenbe fu^r alfo fort, er miifcte fi(^ ein
toenig me^r 3^it augbitten, urn biefem 23unfdf)e ju geniigen, ba bie ©r^
jd^Iungen aug bem 2lttertljnm in brei epifd)en ©ebid)ten unb in Dielen
aubern 2Jtittl)eiIungen iiber bie 2trgonautenfa^rt t)iet rei<f)t)altiger unb
augfu^rtic^er feien, aU bie iiber ben Urfprung beg golbenen SSlieftcg,
20% p. W. Jord^ammer in Kiel.
aud) fyin unb tpicbcr auf bte griedjifcfyen SBorte ber ©r^hing SRudfidjt
ju ncf)mcn fei. Cefctereg fottc jebodj fo fefjr alg mogtid) bcf<f)ranft bleiben.
Die SJefreiung ber ©rbe Don bcm tteberfluft ber huntertidjen Staffe,
bie ja oft genug in ben n5rblid)en ©egenbcn ©uropag bie redjtjeitige
93earbeitung beg 93obeng DerjBgert, gcfcfjieljt, toie %ttex ioeift, feinegmegg
oltein burd) bie SBerbampfung, burd) bie Suftfaljrt beg SBoIfen^SBibberg
mit bem ^fjripg unb ber ipeHe. ©in Diet ftdrfer ttrirfenbeS SKittel jur
©rretd)ung biefeg S^ecfeS fjat fid) bie Statur burd) bag Stbftieften ber
©etodffer Don S3erg unb Ifyal gefd)affen. ©leic^tuot gibt eg faunt eui
Ifjal an ber 2Runbung eineg Stuff eg ober Sadjeg, too fid) nid)t burd)
bie aftmdf)tid)e 5(bbad)ung eine Stieberung bitbet, in ber bie ©etodffer fid)
Idnger fatten unb ben S3oben fo fe^r mit SRdffe burdfjbringen, baft er erft
fel)r fpdt, jutoeilen gar nic^t bem $flug auganglid) toirb. SKamentttd) ift
bieg in ben meiften Xtjatebenen ©riedfjentanbg ber gatt, n?o eg faft feine
Xfyatmiinbung gibt, bie nid)t am 9tanbe bcS SDteercS auf eine 3eittang
fid) in ein unbebaubareg fumpfigeg „£>etog" Dertoanbett. 2tber aud) ba£
ganje $l)at toiirbe unbaubar toerbeu, toenn fid) nid)t ju ber Skrbampfung
bag 2lbflieften rcd)tjeitig einftetlte. 2Bie am Slit unb in tropifd)en ©egenben
bag Stugbteiben beg SRegeng ober ber Ueberfdjtoemmung beg Stuffed Un-
tjeit unb $ungergnott) Derfiinbet, fo finb bie mef)r n5rbtid)en ©egenben
im Stii^Ung burd) bag S3erl)arren ber Sftdffe bebrof)t.
3n ©rtedjentanb nannte man einen burdE) ubermdfttge SRdffe „unbau^
bar" getoorbenen 93oben „2Irgog" {ctQyog, cttqyog). ^aufaniag berid£)tet augs
briidttd), baft bie „Strgog?©bene" Don Steftane ifjren Stamen baDon l)abe,
baft bag Dom #immel fjerabfommenbe SBaffer bie ©bene unbaubar madje,
unb bie ©bene in einen ©ee Dertuanbeln tuiirbe, toenn bagfetbe ntd)t burd)
einen ®rbfcf)tunb DerfdEjtodnbe, toorauf eg jenfeitg ber S3erge im argolifd)en
SReerbufen alg eine ©iifttoafferquetle mitten im 3Reer toieber erfdjeine.
Son einer af)ntid)en unbaubaren SRieberung im SRiDeau mit bem 2Reer,
toorin fic^ ber Snadjog unb ber ©^arabrog fcertieren, ^at bie ©tabt unb
bie ^rotrinj 8lrgog i^ren Slamen, — unb fdfjtieftlid) gibt eg in ©riedjen-
lanb unjd^Iige ©ebiete, auf toeldje im 2tnfang beg griiftfingg berfelbe
Seiname ebcnfo gut paffen toiirbc, unb welc^c atte erft frud)tbar werbenf
n?enn bie 2lrgognaffe fic^ entfernt ^at. S)ie 9trgo( bag ©d^iff, ift bag
©tjmbol jener 9ldffef Strgog ift ber 93aumeifter, unb bie Slrgonauten
finb bie #eroen, loeld^e jene abflieftenbe Sldffe uertreten.
?PeIiag, ff5nig Don Solfog, t)atte bem Sater beg Safon bag 3teic^
geraubt. Urn fid) Don ber ©efafyr, bie ifym uom Safon bro^te, ju be^
frcien, befat)! er biefem, ber jur 3cit ber Ueberfdjtuemmung burd^ ben
gluft 9lnaurog Dor if)tn erf^ien, er foHe bag golbene ffilieft aug Sotcfiig
t)oten. S^fon ift ber ^^eiler", ber §etfgf)erog, ber Don ber SCrgogndffe
in Solge ber Ueberfc^ttjemmung beg „2tnaurog" (ein 3lame, mit bem man
iiberfjaupt auggetretene %lh\\t bejeicfynete) t)eitte, inbem er fie entfernte.
Das golbene DHeg unb bie 2Irgonauten. 205
Safon ocrfammelt nun bic £>eroen au£ alien ©ebieten, au3 bcnen bic
SlrgoSndffe in1^ SJleer flie&t, obcr auf anbcrc SBcife fid) cntfcrnt. 3)emt
aufcerfjalb be3 fopaifdjen ©ee3 gab e3 nodj anbcrc SlrgoSnieberungen im
SBinnenlanbe, bcrcn 9tdffe $toar buret) Sddje unb 9tebenfliiffe, jum Xfjeil
abcr nur burd) SBerbampfung cntfcrnt tocrben fonnte, batjer aucf) §eroen
bcr SBerbampfung bic Strgo tnit beftiegen, h)ie &crafle£. Unb fetbft*
tterftdnblid) tocrlor fid^ aucf) bci ben abfliefcenben ©etodffern cin Iljeil
burd) Serbampfung, tine infonberljeit Safon burd) jebeS -JJiittel bcr ©nfc
todfferung cin &eil£f)erog toar, t)or aflcm feitbem cr bic -JJiebeia untcr
ben, Slrgofaljrern aufgenommen ljatte.
9Bcnn eS nun aud) junddjft nur ba£ SSeftreben be£ um fein SReic^
beforgten Delias mar, bafc Safon fid) entfernte, fo tear e3 bod) jugleid)
ba3 Sntercffc alter griedfjifdjen ©taatcn, bag bic 2lrgo bic SRcife in'£
SDteer unb uber^ SKcer antretc. 2)ie Slrgotjelben famcn baljer auf bie
Sfufforberung be£ Safon toon alien ©eiten tjerbei, unb ljeifcen al3 Slrgo*
nauten fdmmtlid) 9Jtint)er b. f). SRegen; obcr SBaffcrminbercr.
$ie Sir go lag am ©tranbe jur Stbfa^rt bereit, aflein bcr ©anb
be£ UferS unb angefdjtoemmter trodEencr lang Ijinberten bag SluSlaufen
in'S SRcer. Sa griff DrpljeuS in bie Seicr unb gleid) tourbe bie Strgo
flott. 2>a3 gef dfjal) nad) bent ©potion ju Xljeofrit (13, 34) im Stnfang
be£ griiljling3, ate bie #eerben auf bic SBcibe getricben tourben. DrpfjeuS
tear ber ©oljn be3 Stuffed DiagroS unb bcr 9Jtufe Calliope. 9tber ber
©ofjn bc^ DtagroS toar audfj bcr 3rlufj £>ebro$, unb DrpIjeuS bcr ©anger
ift nur ein anberer Stame biefeS mddjtigen toom £dmo£ unb 8K)obope
mit lautcm 9taufcf)en Ijerabftrflmenben gluffeS, beffen ©etoalt SSaumftdmme
unb gcteblode mit fi<f) fortreifct, bafjer bic ©age, bafc bcr ©cfang be£
Crpljeug 99dume unb gelfen t>erbeigelodt ljabe. 28o nun cin glufj Sterns
lic^eS tinrfte, ba toar DrpljeuS. ©o fonnte er alfo and) born Action
birge Ijerabraufcfjenb bie SIrgo burd) feincn ©efang in Setoegung fefcen.
%\t Strgonauten fu^rcn alfo in ©ec unb auf ber toeitcn 3teifc burd)
bie SjkopontiS unb bag fcfjtoarje 9Kcer, loo immcr eine 2lrgo£;9tieberung
luar, ba lanbcten fie, unb too fie lanbetcn, ba erlcbten fie irgenb cin
?tbenteuer, toeldjeS mit bcr Dertlidjfeit unb bcr flimatifd^cn (Sigentfjiims
lic^fcit in nd^ftcr SSerbinbung ftanb unb fteljt. lourbe ju locit fii^rcn,
bicfe atte &u erjd^Ien unb ju erfldrcn, toa$ iibcrbic^ o^ne cine genauc
9?aturbefc§reibung bcr einjelncn Drte unb ot>ne cine genaue m^ologifc^e
ftcnntni^ nidjt t^unlic^ fcin miirbc; unb toenn au^ einc folc^e ©rfldrung
bie Sebcutung bcr Slrgonautenfa^rt botlftdnbig beftdtigen toilrbc, fo marc
fie bod) fur ba§ SScrftdnbnife be^ 9Rt}tf)o3 in ber ^auptfa^e, toic fid)
Ijoffenttid) jeigen toirb, nic^t notf)toenbig.
SBir lootlen nur ©in^ befonberS ^croor^cben. S§ ift oben bemerft,
bafc ^craflc^ fid^ auf ber 9lrgo mit einfe^ifftc. §craflc» ift ber #ero3
ber t)eden toolfenleeren Suft, batjer »or allcm im f)of)cn ©ommcr t^dtig,
206 p. IP. tford^ammer in Kiel. •
toegtjatb man ifjn audt) fur cine ©omten-Sncarnation gefjalten f)at. ©cine
f. g. stt)5tf 2trbeiten bejieljen fid) atte auf ben ©ieg ber 23drme iibcr bie
9tdffe, toeldtje burdj mtytfjifdje Xljiere toertreten ift. SSor attem erfefyeini
cr in feiner toafjren Slatur afg ©riinber ber Dltjmjnfdjen ©ptete unt bie
£eit beg ©omnterfolftij. 2)afc bicfer Suftftdrer (Hgct-idrig) toon ber
SBolfengottin &era angefeinbet hmrbe, tjcrfte^t fidf) toon felbft. @r §atte
bafjer audf) bag Dbercommaubo abgeleljnt unb toeranlafjt, baft bagfelbe bem
3afon iibertragen ttmrbe; benn er touftte, baft bie Strgonauteu jur ©e~
ttrinnung beg S3Iiefteg beg Seiftanbeg ber #era beburften, unb baft Safon
in iljrer ©unft ftanb. Se meljr fidE) bie 2trgo bem fdtjmarjen SDteer mit
feiner ftarfen 2lugbiinftung nd^erte, befto toeniger mar fiir ben #era!le3
beg SSIeibeng. Stt Sfftyfien beim 9trgantf>oniog'©ebirge toar er an'g Sanb
geftiegen unb fe^rte nidjt jurud, fonbern begab fid) nad) #ettag, too it-
reitg ber ©ommer naljte unb bie 3eit, ba &erafteg feine jtoolf 9trbeiten
fiir ben (SurgftfjeuS anjufangen Ijatte. SMe Strgonauten fufyren toeiter
auf Scfeljt be^ ©teuermanng Zipi)\)$ aug Xipfjd, toetcljeg toon bem
bortigeu fleinen SSinnentoaffer (tupog) feinen 9tamen §atte. Siadjbem
fte bie fyauifd)en gelfen (urfpriinglidfj bie gelfen beg SSogporog) fitter
fidj fatten, fuljren fie langg bem fiiblidjen Ufer beg ©ujeinog mit ber
forttoaljrenben ©trBmung nadj $o!djig an bie SKiinbung beg SJSfjafig.
3um 93erftdnbnift ber ©rjd^lung toon bem, toag t>ier gefdf)al), toirb
man fid), in Uebereinftimmung mit ben SSeridjten ber toielen bebeutenben
SReifenben, eine genaue Sorftetlung toon bem ^fjafiggebiet unter bem Sau;
fafog unb neben bem ©ujeinog madjen miiffen. SBdljrenb beg SBinterg
unb beg 3riif)Iingg unb jum Xfjeit big in ben ©ommer Ijinein Ijaben
fief) burdf) 9tieberfd£)tag aug ber Suft unb burdE) fd)meljenben ©djnee bie
Supffe jum fdjtoarjen SOteer aug toielen fleinen gliiffen unb befonberg
aug ben mddfjtigen ©tromen beg 9torbeng, ber Donau, bem Sniefter,
®nie^er; 2)on unb Suban aufterorbentfid) gemeljrt; unb felbft in ber
toafferdrmften 3rit finb biefe 3ufliiffe fo ftarf, baft ber meifteng nur toier
©tabien breite SBogporog nid)t im ©tanbe ift, bie ©etodffer beg ©ujeinog
abjuteiten, trofcbem baft biefe Slbleitung ununterbroc^en bauert. Unter
biefen Umftdnben miifete bag ffiaffer beg (Sujreinog immerfort fteigen unb
bie Uferldnber an alien ©eiten iiberfdEjloemmen. 3)afj bieg nid^t gefc^ie^t,
Ijat aHein feinen ©runb in ber ftarlen SSerbam^fung ber grofeen gladje
beg ©ujeinog, beren Stebel^ unb SBoIfenbilbung ni^t nur bie Suft ber
norbtidtjen ffiiiften, toie fdtjon Dtoib flagt, mit ^Sergen" toon SBaffer er^
fiittt, fonbern aucf) bei ben meifteng ^errfd^enben SBeftttrinben toorjuggtoeife
ben Saufafog tod^renb ber grdfjeren §dlfte beg SoI)reg in SBoIfen unb
9ZebeI ein^iillt. 3)ie natiirlic^e golge ift, baft fidf) toom taufafog eine
grofte 3af)t reiftenber Sergftrbme ergieften, bie fidj an jeber ©eite ju §mei
mddf)tigen Sliiffen toercinigen, bie fid) tocftlidf) unb oftlid^ in bag fdjtoarje
unb fafpifc^e 9Keer ergiefcen, an ber Slorbfeitc ber Suban (©arangeg
Das golbene Dliefj unb bie 2Irgonauten.
207
t>ber $t#anig) unb bcr Scrcf (£>t)brifteg) , an ber ©iibfeite bcr ^fjafig
unb bcr Jlur (®t)rog). Untcr biefen ift bcr $ljafig jmat bcr flcinftc,
aber cr fiat {cine Duetlen Ijauptfddjlid) gtt>ifd^en ben fjodfjften ©pifeen beg
Sfaufafog, bem ©tbrog unb bem Sagbef. SSon ljier ftiirjen bie ©etodffer
in fteilen S3etten fyerab unb fiitjren eine 9Jtenge ber oerfd)iebenftcn ©e;
fteine unb bunter SHefet big an bie 9Jtiinbung beg $f)afig, benen fid) bann
am ©tranbe nod) SDtufdjelfdjalen gugefcttcn. SSon biefen Siefeht unb
SKufdjeln (xo'^Aos, xogilag) l)at ®o!d)ig feinen Stamen.
3)a bie ganje ©egenb bon SBalb bebecft ift „ttrie ©ermanien jur
^eit beg Xacitug", fo bringen bie gliiffe natiirlidj nad) cinem Sftegen*
fturm eine 9Jtenge &oI§ mit fjerab, fo bafc bie ©d)iffe itjren n5tt)igen
^ol^uorratf) aug bem SBteere auffif<f)en. ©g treibt namlid) bag burd) bie
iftuffe unb namentlid) burdE) ben ^ljafig ljerabgebradjte #oIj oermittetft
einer unabdnberlidtjen ©tromung bon ©iiben nad) 9lorben an ber Siifte
cntlang. 3)iefe Seobadjtung ©ambag beftdtigt Saitbon be aJtorignty in
feinem Pilot de la mer noire et de la mer d'Assow: „bie ©tromungen
im fd}toar$en 9Keer (fagt er) gefjen com Sogporog oftltc^ big ®ertfd)
imtner ftdrfer an ber ®iifte riidtndrtg. 2)er $f)op\ unb ber ^fjafig unb
<illc anbem Sliiffc toerfen eine SRenge $ol§ in'g 3Jteer, toetdjeg ber
<Strom nad) SRorben mit fidfj fortnimmt. SSor ben SKunbungen ber beiben
Sfttffe bilben fid) Slblagerungen toon (Srbe unb Siefeln, toeldje bag ©in^
laufen bon grofjen ©d)iff en untfyunlidj mad)en." 3)iefe ©tromung erftdrt fid)
letdjt aug ber UeberfiiHung ber toeftlidfjen £dlfte beg ©ujreinog burdE) bie
tJIiiffe unb bem ©treben berfelben nad) bem ©ingang beg S3ogporog. 3)ag
nidjt burdjgetaffene SBaffer toirb gen5tf)igt, feinen 28eg an ber Siifte entlang
nad) ber oftlidjen &dlfte su ncljmen, big bie ©tromung bie SKeerengc bon Stffotn
erreidjt. 9Son ljier toirb fie burdj bie 3tfutf)en beg 2)on unb Suban unter
bie Ufer ber £aurifd)en §albinfel unb Don ba toeitcr nad) SSeften gebrangt.
SBdljrenb nun Btiftofe/ Slbflufc unb SSerbampfung be§ @uj:eino3 fic^
in f^onfter ^armonie befinben, erjeugen bie urn ben SaufafoS fic^ ^dufen^
ben Siinfte in ben f)5t)eren SRegionen ben fur<f)tbarften ©treit ber @Ics
mente, toeldje bon jeljer bag fd^ioarje 3Jlecr in ben bofeften Stuf gebrad)t
Iiaben. ©g moge geniigen jur ©d)itberung ber fjeftigen SBinbe unb ®e^
luitterfturme an ben ©d)Iu§ Don Slefc^Qlo^ ^romet^eug ju erinnern, too
fid) bie 3)ro^ung beg 3«ig erfiillt:
^Sc^on wirb eg gur X^at! fetn ntc^ttgeg 25ort!
@g toanUt ber (Urunb, eg empdrt fic^ bie See,
Unb $onnergebtulI bumpfbraufenb erfc^allt
^erroflenb, eg gucft in gcf^ldngeltem 6traf)l
So^glii^enber ©It^, unb ber 2Binbfto§ jagt
35unfttt)irbel empor; in toertoorrcnem Strcit
SBtib toben bie 2Binb' an einanber gelje&t
StIIfettig im Slufrulfjt rafenber SButl).
3n einanber gepeitfd)t ftiirjt ^immel unb SIKeer!"
S&otb i:nb Sub. VI, 17. 15
208
p. U). ordjffammer in Kiel.
@g ift atfo mot fein SBunber, ba& bcr aKt)tf)o3 bem Sanbc Sotdjte
am gufte beg Saufafog cincn Sonig gab, bcr toom SBinbe fehtett 9tamen
fyatte, 9tie teg (Alr^zr\g toon cfyfu tote euro's = aexog), unb bafc biefer
®5ntg cine Softer tiatte, bcren 9iame 3Kcbeta cine §erotne beg Siebelg,
bejeidjnet Don f*aa> in ber SBebeutung oon „aufftreben", dtinttd) tote 951 etig,
bic bem $t\i& tm §immet toermdt)tte Softer beg Dfeanog. 23er fidf) nun
beg Slnfangg ber ©optjoftetfdjen Sragobie erinnert, mo 2)eianeira fid)
beftagt, ba| ber glufe Sldjetoog urn fie freic batb in ©eftatt eineg mddfjtig
cinder fdjreitenben ©tterg, balb in ©eftatt eineg fid) fdjtangetnben £racf)en,
ber mirb eg and) begreiflid) ftnben, baft bcr 2Rt)tt)og bagfetbe 83itb fcom
^tjafig gcbraudfjte, ber balb ate etn mdd)tiger ©tier toom ©ebirg tjerab-
ftitrmte, balb- buret) bie ftadje ©bene in ©djtangenminbungen batjin ftofc.
S)te Strgonauten lanben atfo an ber grojgen 2Irgog;@bene bcr SRuiu
bung beg ^Sfjafig. ©te gematjrten ben Sranj ber mddjtigen SRauern
beg Slieteg b. t. bic Serge um Sotdjig, unb ben £ain, bie SBalbungen
beg Slreg, in benett bag golbcnc aStieft tying, „gteicf) einer SBoIfe" (nadj
SlpottottioS) an „fd£)toffenumreifter 93ud)c". 2luf Stnftiftcn bcr §era cr~
fdf)ien nun Slieteg mit feinen Xtidjtem, ber Sljatfiope, ber ©ematytin be3
auf bem SRiiden beg SBibberg fyergetragenen, aber berettg oerftotbenen
^rtjog unb ber Slebetljeroine SDtebeia. 3fa ffiedfjfetgctyrdd) mit bem
Safon mudfjg bem Stteteg ber #orn /;tt)ie cin ©turmminb": fie molten
ben Scftcn ber S^igcu augmdfyten, toenn biefer bic Sdmpfe, metdje cr
aufgeben merbe, beftdnbe, m5cf)ten fie bag 93tief3 netjmen. 3afon beftet)t
biefc SJdmpfe mit §utfe bcr 9Jtebeia, metctye fogteid) in Siebe fur ityn
entbranntc. 3)te ©tiere, metdje burdE) bie auffteigenben Sdmpfe al£
„feuerfd)naubenb" erfdjienen, jodEjte er cin unb facte bie Sradfjenjaljne,
metd)e einft ^^rijog mttgebrad)t Ijattc. 2)en ©radjen, ber fid) in gc~
mattigen SBinbungcn um bie 33u<fje fdfytdngette unb fcine Slugen unoer^
manbt auf bag 83tie& ric^tcte, fd)taferte er mit 3<mbermittetn ber SKebeta
etn. 2)arauf naf)m er bag 93tiefc t>om Saum unb brac^te eg auf ba£
©d^iff. 2Ktt btefcm, mit ber SBoIfe unb mit ber SKebcia traten bic Slrgo-
ttauten bie fRitcCreifc an. •
9JUt bem met^enben ffiintcr fatten bic 2Kin^cr §ettag ocrlaffcn;
bic tointerlidje Sldffe ^atte angefangen ftdf) ju minbern, je mciter gcgen
9?orben, befto f pater. Site bie SDlintjer fic^ anfd^idtcn, mit bcr SBotfe
b. i). mit ben SBoIfen ben $^afig ju oerlaffcn, mar ^eraflcg mit ben
2trbeiten, bic ©ur^cug, ber ftd^ oor i^m in ben Srunncn oerlrodj,
aufgegeben, mot meiftcng fdf)on ferttg, unb eg na^te ft^ bie 3rit, ba cr
um bag ©ommerfotftij bie D(t)mpifdt)en ©pietc einfefcte obcr erncucrte.
§in unb miebcr mod^tc cin ©emitter bic burftenbe Srbe crquiden; abcr
bie bauernbe Semafferung aug ber golbenen SSotfe fonnte crft tm 90?onat
beg ©rbbeuefeerg, tm ^ofeibeon (December) obcr tm ^o^jeitgmonat beg
Uranog unb ber ©e, im ©ametion (3>anuar) surudfe^rcn. 5)ic Slrgonauten
Das golbene Dlteg unb bie 2Irgonauten.
209
fatten alfo 3cit ju eincr toeiten JReife, bcrcn ®rangfate i^nen ber SJtytljog
nidjt erfaart f)at.
2)afe bie tointerlidje 9tdffe nad) bem in SBolfen geijullten Sanfafog
f)inbrdngte, fonnte ben ®ried)en in (Suropa unb Steinafien uid^t toer^
borgen bleibcn, nnb fie fjaben biefer SRatur^grfaljrung unb Slnfcfyauung
and) in anbcrn epifdjen ©cbtdjten Stugbrud gcgcbcn. SBer aber toermodjte
ben SBolfen einen beftimmten eng begrenjten SBeg jur SRiicf f e^r toor*
jufdjreiben? 2)ag mufcte 3ebcr fid) fagen, ba§ jeneg SBaffer aug bem
„rebenben" (Siejgbad) bei DrdEjomenog unb alleg SBaffer, ineldfjeg irgenbtoo
in1g 2Reer abfliefcenb atg „5lrgogndffe" bag £anb fcerlaffen ^atte, nie
auf bemfelben SBege &urudfet)ren fonnte. 3)agegen ntujstc 3eber im Sin-
fang beg uddjften SBinterg, beg gie&enben Efjeimon, bie ©rfatyrung mad)en:
bag ben 9tegen ljerabfenbenbe SBoIfen&Iiefc fommt mit bem
SRegen fenbenben ©itbttrinb, bem SRotog ober bem SRomifdjen Auster,
bon bem 83ergit tyrid)t (Aen. 5, 696) ruit aethere toto turbidus imber
aqua densisque nigerrimus austris. Diefcr SBinb toeljte toon Stf r if a
l)er, unb toeldjen SBeg ein 2)id)ter bie Slrgonauten mit ber 2Rebeia auf
ber Sa^rt nadt) ber &eimat nefjmen lief;, immer mufjte er bie Sir go,
fei eg auf frliiffen unb 2Reeren, fei eg iiber £anb, fo leiten,
baft fie an ber SRorbfiifte Slfrifag anfam unb t)on bort nad)
$ellag juriicf f c^rtc. ©0 f)aben and) alle 5)id)ter getfjan, unb
toenn auty bie toerfd)iebenen auf ben berfd)iebenften SBegen bie Slrgo ab;
toedjfelnb balb auf bem SBaffer fdjloimmenb balb iiber Sanb getragen
fjeimfufjren, immer gef)t ber SBeg iiber bie Storbfiifte 9tfrtfag. @g toirb
mtg je^t nod) obtiegen, afle biefe SBege nad) ben ung ertjaltenen ©agen
nadjjutoetfen. SBir biirfen babei nidjt toergeffen, bafj jefct aud) bie SRebeia,
bie heroine ber auffteigenben Sdmpfe, bie ?trgo beftiegen unb mit ifjrer
$ulfe 3afcn bag SStiefe, bie SBotfe, auf bag ©djiff gebradjt f)atte.
SBelcfjen SBeg Corner bie „atlen am ^erjen liegenbe Slrgo toom
?lieteg" jurudfe^ren liefe (Od. 12, 66), tdfjt fid} nidjt genau beftimmen.
£efiob liefc fie ben ^fjafig ftromauftodrtg fatjren, bann ben oftlidjen
Ccean burdE)fd)iffeu unb an ber Dftfiifte Sibtjeng lanben; toon f)ier ttrirb
bie 2lrgo mit bem SBtiefc t)on ben Strgonauten burdj bie SBiifte bi§ an
ba§ ajtittetmeer getragen, t>on too bie galjrt bei Sreta tjorbei nad)
SoKoS ge^t. 2)enfelben SBeg uafjmen $inbar unb 8lntimad)og an.
S($inbar bejei^net benfetben nod^ na^er burd) bie S)ur^f^iffung beg ©r^
tf)raifd)en SKeerg; aufeerbem aber ^ebt er befonberg ^erDor, ba§ bie
gonauten auf ben 5Rat^ ber SRebeia bag ©c^iff tnd^renb §tnotf Xage
burc^ bie SBiifte auf itjren ©c^ultern getragen fatten. SBenn er unter^
lici bicfelbe SSemerfung riidfic^tlic^ ber SReife bon ben Qatetten beg ?pt)afig
big jum Ocean ju mac^en, fo gefd)af) bieg tool tttc^t aug geograptyifdjer
Unfunbe, fonbern roeil eg bie Stufgabe beg 3Jl^t^og tnar, SBaljreg ju
crjdfjlen, aber fd^einbar SBunberbareg, Unglaublic^eg. ^efatdog ber
15*
2\0
p. W. (f ordjtjammer in Kiel.
9RiIefier ticfe bic SIrgo benfetben SBeg neljmen unb aug bem Dcean jum
Slit fommen.
2luf cincm anbcrn 2Bege fiiljrten Simagetog, ®altimad£}og, Stpol^
loniog unb anbcrc bic 2trgo juriid. 9tad) iljnen ging bic Slrgo toon
bcr SJtunbung beg $f)afig burdt} ben (Suj:einog an ben Sftrog (3)onau),
fufjr ben Shift ^inauf big an stoei 2trme, toetdje bie ©age in'g Swifdje
SWcer fid) ergiefteu ticfe. StyottonioS Idftt fie biefen SBeg neljmen, bann
ben (Sribanog ($o) ljinauffatjren unb iiber bie ©ebirge t)iniiber in ben
9tf)obanog (Slljone). 93on ljier get)t bie gatjrt burdj bag £t)rrt)enifdje
SDteer, 5ttrifd)en ber ©ctyHa unb (£l)art)bbig t)inburd£) nadj terfyra, bem
SReid) beg 9lttinoog. Snbem fie loeiterfafjren, ttrirft ein ©turm fie in
bie ©t>rte an ber Stbtjfdjen Siifte, aug ber fie feinen 9tugroeg finben,
bi§ fie bie 2trgo auf il)ren ©dfyultern unb auf iljren ©peeren jum ©ee
Xriton tragen. Xrtton jeigt iljnen ben SBeg jum SKcer unb fo feljren
fie tooljlbetjalten ljeim. Stuc^ © op f) of leg fdtjeint bie Slrgo toon bcr SKun-
bung beg SJStjafig burd) ben ©ujeinog nad£) bem Sfirog gefiitjrt ju Ijaben.
©inen britten SBeg todfjlen bic Strgonautifa beg Drpljeug. 9ludf)
fie fiiljren ben Safon unb feine Segleiter iiber bie Storbfiifte Sibtjeng
nad) $ellag juriid, auf einem SBege, bcr toon bem bigger ertod^nten feljr ate
toeidjt, jebodE} mit bem iibereinftimmt, ber (nadf) ®iobor 4, 56) toon toiclen
at ten unb fpdteren ©d)riftfteflern, unter benen and) Simdog, angenommcn
toar. 3)ic Strgonauten fallen ben $f)afig ftromauftodrtg, gclangcn abcr
nid)t in ben oftlidjen Dcean, fonbern iiber ben ®aufafog ^inubcr in ben
©araugeg (ffuban), ber ftdE> in bie 9Jfdotifd)e ©ee ergieftt. SBer bebenft,
baft eg bie Slrgogndffe ift, toeldfje bie SBolfcn trdgt, ber toirb Icid)t fees
greifen, baft biefc Strgo jefet mit 2cid)tigfeit toom oberen 8auf beg ^J^afig
iiber bag ©ebirge Ijinmeg ju ben Dueflen beg ©arangeg an ber 9lorb=
feite beg ©Ibrog itjren SBeg nimmt.
SBie Ijeute tjaben aud) fdf)on im 3tltertf)um biejenigen ©clc^rtcn,
ioeldf)e bie 3Jtt)tt)en nid)t toerftanben, biefe unb dfjnlidfje ©agen, bercn nrir
fd^on mefjrere crttdtynt t)aben, alg Seioeife grofter geograpljifdfjer Untotffen-
Ijcit angefefjen. SDtan ift nur gar ju geneigt, ju meinen, baft bic Stttcn
in SMngcn, toorin toir untoiffenb finb, aud) untoiffenb getoefen fcien. Scbcn
Slugenblid treff en mir im Corner unb anbcrn cpifc^en ©cbid^ten Un=
glaub(id)eg, SGBiberfinnigeg, unb tocrgeffen, baft Slriftotelcg ung bele^rt,
baft eg bie Stufgabc beg cpif^cn ©ebidf)teg ift, ^SBirfti^eg ju crjd^Icn
in etner gorm unb ffiortfaffung, baft eg unglaublid) unb toie
ein SBunber crf^eine". 85?cr bie 9trgonautenfage toerftanb, fiir ben
brauc^tc ber 2)id)ter ui^t ju fagen, loie bie 2fa^rt ber Strgo mit bem
aSlieft toon ben OueHen beg $f|afig ju ben Guettcn beg ©arangeg buxty
aug mit ber 2Birftidf)feit iibcreinftimme ; unb fiir ben, ber ben 9Jtqtl)og
nid&t toerftanb, ioollte er eg nid£)t fagen; ja, ^dtte er eg gefagt, ^dtte er
gcrabe feinen 3^^d toerfe^tt.
Das golbette Dlteg unb bte SJrgonauten. 2^
Unfcr 2Md)ter fitfjrt nun bic 5trgo ben ©arangeg fjinab in bic 9Jtaotifd)e
©ee. @rr tjiitet fidt} tool;!, bicfelbc burd) ben $immerifcf)en 93ogporog ju
leiten, roeil er ttmftte, baft bag ttrinterlidje 9iaft immer setter nad) 9iorben
iiefjt. Srcttic^ fommt bie Slrgo in unbefannte ©egenben, bent Sifter
ift gar ni(f)t barum ju tfjun, ©eograptjie unb JBotferfunbe ju le^ren.
Stance Stamen, bie bag ©pog erfanb, finb footer in bie ©eograpfjie iiber^
gegangen. Stadj Umfdfjiffung ber 2Raotig fdfjeint ber 2)id)ter ju fagen,
bic Sfrgo t)abe bag SBaffer beg SJleereg mit ben fladjen &ugetn unb ben
braufenben enbtofen SBalbungen Dertaufdjt unb f>abe fidE) nun burd) bie
arftifefjen ©renjlanbe nad) bent norblidjen Ocean betoegt. ©r laftt aber
nid)t burdjbltden, toag ©fljmnog crja^It, baft bie Slrgonauten (ttrie nad)
jenet anbern ©age in Sibljen) il)r ©dfjiff auf i^en ©peeren (inl cavQcoxriQnv)
getragen fatten, ©te fanben an ben Ufem eincg gluffeg bag SSoIf ber
Rafter unb bie Slrfteier b. f). beg „norbifd)en ©tfeg". 9tug ben Xfyab
ebenen ber 3tf)ipaen famen fie burdj eine enge ©tromung in ben Dcean,
ben bie 3Dfcenfd)en bie f^perfcoraifdje ©ee unb bag ftumme 9Kcer nennen.
£ier toanbten fie fid) linfg, jur 3ted)ten beg Uferg. 9tn ber SRorbfeite
beg Dceang jogen fie bag @df)iff, big fie toieber unter ben SBefttuinb ge;
langten. ©ic faljren nun an ber SBeftfufte ©uropag entlang, erfjaften
Ijier toon ber Sirfe SBeifungen jur ©ii^ne toegen ber ©rmorbung beg
StyftyrtoS, beg S3ruberg ber SKebeia, unb paffircn bann bie ©aulen beg
$erafleg, bann bag ©arboifdtjc 3Kcer, bie ©ct)IIa unb ©{jart)bbig. Stadj
einem SlufentfjaJ* auf ®erftjra, too Safon unb SDlebeia ^odjjeit feiem,
toerben fie burdt} ©tilrme in bie ©tjrten Derfdtjlagen. SSon I)ier
tefjren fie jurtirf nadj #etlag.
2)ie fftitrffa^rt Don ber afrifanifdfjen Siifte nadj £ettag, toorin alfo
alte ubereinftimmen, erjd^Iten bie gpifer fur§. Die Slufgabe toar ge(5ft,
bag golbene SSIieft toar juriidgebradfjt — freilid) nidjt jum ©Iticf beg
^etiag. ©r, ber §erog beg Stuff eg im Kiegbett (itiXa Siefel, mJuag),
tourbe burd) bie 3auberliinfte ber heroine ber auffteigenben 2)ampfe in
einem fjeiften Seffel gefodjt, unb fanb feinen Sob jtoar nic^t burd^ ben
Safon, aber burdE) bie t?on il)m mitgebrad^te 9Jlebeia, loelc^c noc^ bie &elbin
einer Stnja^I SKqt^en ttmrbe, fdf)lieftlic^ i^re 9lebenbu^Ierin burd) ein toer;
gifteteg ©etoanb oerbrannte, iljre eigenen Sinber t5btete unb if)rem SBefen
entfprec^enb auf einem Don ber Sonne empfangenen S33agen fidE) in bie
Siifte er^ob. ©ic 5trgo aber anlertc f^Iieftti^ Dor ber oben ertoatyuten
fleinen ©tabt Si^^a, ber ^eimat beg ©teuermanng Sip^eug. — ©o tuar
ber Sreiglauf ber Slrgofa^rt beenbet, urn im nadE)ften Srii^a^r toicber
Don Dom anjufangen. S)er rcligiofe SDtytljog ftellte bag ftetg S33ieber-
fetjrenbe alg ©in 3KaI gefdE)e^en bar, bie Setoegung in ber 9?atur alg
getooUte ^anblung. 9lur in ben geften tod^renb beg 3af>reg feierte man
bie SBiebcrlc^r. 2Bir aber im Storben erfa^ren jebeu ©ommer me^r ober
loeniger ben 35urd)sug ber Strgonauten mit bem gotbenen SSIieft, toa^rcnb
2\2
p. ID. ^ordjfi ammer in Kiel.
fie toon §ella£ fern bleiben, big bie 9lept)ele fid) ttrieber bem SltljaraaS
permafjlt. Dfjne bie 9liicffef)r beg golbenen SSIiefteS imb ber 9lrgo£ndffe
l)5rt aUc Vegetation unb atteg Seben auf, unb SlHe finb bem §ungettobe
preiSgegeben. 2)er 9Rtytf|o3 unb feine Stjmbole tjaben einen ttnirbigen
unb toaljren 3n^alt, unb mit 9lccf)t fang Corner (Dbtjff. 12, 70): „9trgo
bie alien erfefjnte, bie ljeimtoartg futjr t>om Slieteg".
CfKobor von Sd\bn.
Don
JFranj Suljl.
— tfomcjsbenj. —
[turner unb immer toieber toenbet fid) bic 5ffentfid)e 9tufmcrf?
I famfeit jenen traurigeu Sagen ju, too bie napoleonifdfje 3toing5
I Ijerrfcfyaft auf 2)eutfdjfanb laftetc, too e£ fcfjten, afe ob ber
I 9tame ber 2)eutfdjen au£ ber 3a1)l ber lebenben Stationen toeg*
(jeftridjcn toerben fotlte. S3cftanbig mefjren fid) bie SBeroffentlidjungen,
meldjc un3 neue Sluffdfjliiffe iiber iene benftoitrbige ©podjc unb bie tjanbelm
ben $erfonlid)feiten barbieten, aber toeber ba3 Sntereffe ber gorier,
nod) ba3 be3 gr5f$eren SJSublifumS jeigt audj nur bie geringfte ©pur toon
©rmattung. 3m ©egcnttjeit, e3 fdtjeint faft, ate ob atleS 9tcue, ba3
tpir erfatjren, ba§ SSerlongen nadj toeiterer Sunbe nur nod) toermeljre.
SBegreiflidfjertoeife ift e£ bie prenf$ifd)e ©efdjicfjte, toeldjer am meiften fin*
tljeil entgcgeugebratfjt toirb. 2)enn — toon attem Slnberen abgefeljen —
fo merftoiirbig audj bie groften inneren Umtoal$ungen finb, toeldje fid)
bamate in bem iibrigen 2)eutfcfjlanb tootljogen, fo miiffen fie bod) fotool
bem ©inne nad), in bem fie auSgefiifjrt tourbcn, ate ber SBirfung nadf),
bie fie Ijertoorbradjten, toeit Winter ber gteidjaeitigen Sleformbetoegung in
^keu&cn juritdtreten. ©3 toirb nidjt §u Diet beljauptet fein, toenn man
e3 au3fprid)t, ba& jene ungludlidfjfte 3cit be3 prcufjifd)en ©taate jugteid)
bie glorrcidjfte in feiner ©efdfjidjte getoefen ift. SBetdje tiefcinfdjneibenben
SEBanblungen tourben bamate toottjogen, toeldje Stufgaben ge(5ft, toeldje'
QkU geftedt! 2)ie S3eftrcbungen toon bamate finb aucfj fjeute nod) nidjt
toeraltet unb bei bem langfamen ©ange, toeldjen fcitbem unfere ©nt;
toidlung genommen f)at, fo rafd> fidt} audj in unferen Xagen bic aufjeren
©reigniffe gefolgt ju fcin fdfjeinen, toirb tool nodt) ein tootteS 9Jtenfdjens
alter toergefjen miiffen, elje 9tfle3 toertoirflicfjt ift, toaS bamate ©infidfjt
unb 93aterfanb3liebe geplant. Db aber mit ber toadjfcnben ©rfenntnijj
2W
(fran3 Hiifil in If onigsberg.
ber Itjatfacfjen aug jener ©pod)e unb ifjreg allgemeinen 3ufammenf)ange£
aucf) bic ©infidjt in bag SSefcn ber fyanbelnben ^erfonen gleidjma&ig
fortgefcijritten fei, baritber liefec fid^ ftreiten. SBerben bod& bic Slnftdjten
unb Urt^cilc barubcr ftetg cine gcttriffe inbitribuetle garbung tragen
miiffen unb merben fitebc unb Ijier bodfj nod) biel c^cr bag 2tuge
fclbft 2)egjenigen 5U blenben toermogen, meldjer fidt) bctnujgt ift, nur nadj
bcr reiuen SBa^r^cit jit ftreben, alg bci bcr geftftcttung ber nadten %f)aU
fad^e, beffen, mag gefdfjetjen ift. ©o mirb benn oielletcfjt bcr Serfud)
nid^t unmiUlommen fein, Ijier bag Stnbcnlen eineg SKanneg ju crncuernr
bcr in ben Semegungen jener grofeen 3eit ntittcn innc geftonben unb
fruiter burdE) einc tange unb rcidt) gefegnete SBirffamfeit feinen Sftamen
mit bcr ©efdjidjtc bcr grofjten ^rotmtj beg preufcifdjen ©taateg auf ba£
Snnigftc toerbunben t)at, Sljeobor toon ©djimg.
3mar bag Seben ©dfjong Ijiftorifd) ju erfaffen, atle ©eiten feiner
Iljatigfeit genau feftjuftellen unb ju begrenjen, baju reid)t bag 3Rateriar,
melcfjeg ber Deffentlidfjteit toorliegt, nid)t aug. Stber um bag 23efen be3
3Jtanneg ju erfennen, baju geniigt eg. 3)ie toicr Sanbc, luetic big jefct
bon fcincm fdjrifttidjen Stacfjlafc bem $)rud iibergeben morben finb, geftatten,
turn SBeuigem unb ©eringfiigigem abgefeljen, auct) bem, metdjem nidfjt metjr
bag ©titd 5U Xfjeil gemorben ift, iljn pcrf5nlid^ ju fennen, eincn Gotten
unb ticfeu ©inblid in feinen ©fjaratter. Sic publication entfpridjt frcu
lid) nidjt alien Slnforberungen, bie man billiger SBeife fteHcn fonnte, mir
Ijaben jebodj alien ©runb, bem §erauggeber banfbar ju fein, bafj cr un3
gegeben Ijat, mag er ju gcben fcermocfjte, ftatt ung nodf) longer auf bie
93er6ffentttd)ung fo foftbarer Slufjeidjnungen barren ju taffen. @g gibt
allerbiugg, mie ja mot audj bem gr5fjeren ^ublifum befannt ift, toerfdjiebene
2lnfid)ten iibcr ben tjiftorifdjen SBertf) bicfer ^apiere. @g Ijat fid) ein
lebljafter ©treit bariiber entfponnen; fiir mi<f) perf5nlid) eincr ber un*
erquidtidjften, benen idj begegnet bin. 9Jtir menigftcng ^aben bicfe SSer^
fjanbtungen ftetg einen a^nlic^en ©inbrucf gemadjt loic bic jtoifc^cn ©acf|5
toaltern bor ©eri^t; man fe^nt fid) tjintoeg aug biefer fc^toulen 3ltmo-
fp^arc nac^ ber rcincu Suft unbefangener ^iftortfe^cr Setrad^tung. 2lber
idj m5d^te bo^ — um mcinen Stanbpunft uon tjorn^erein ju bejeidjnen
— nid^t t)cr^e^lcn, ba§ mir iiberall, too iti) in bcr Sage mar, na(f)su=
prufen, bie.SSert^cibigung ftdrfer erfci)ieuen ift, atg ber 2tngriff. Slnbere
Sctrad^tungcn, ju benen biefc ^otemif SSeranlaffung gcben t5nnte, fefjeint
eg an biefem Drte augemeffener, ju unterbriidfen. 9lur einen SJSunft ift
eg biellcic^t jroeefmafjig, nod) befonberg ^croorju^eben. SSer cine toid)tige
Spod^e in bcr ©efdjidjte cineg ©taatcg juerft im 3ufanunenl)ange barftetlt,
bcr toirb alg §iftorifer tjietfad^ gcgen bie ©patercn im 9lad^t^eil fein,
benn bie OucHen mcrben i^m in ber SRegel menigcr reic^lid^ fliefeen, alg
feinen 9lad)folgern. Stber ©incg fyat er toor i^nen Doraug. @r fdjafft
bic ^o^utare Srabition; bag 99ilb, toetd^cg fid) i^m ergab, fo cinfeitig unb
(Etjeobor con SdjSn.
215
inbimbnett gefdrbt e§ aud) fein mag, mirb bag fjerrfdjenbe. 2Ran mirb
bafjer gnndd)ft immcr geneigt fein, fpdter ju Sage fommcnbcn Cuctlen
nnb Stuffaffungen, meldje feiner 3)arftethmg n?iberfprcd)enf ba3 lebfjaftcfte
SRifctrauen entgegen bringen, mdfjrenb e£ bod) nidjt immcr cin nn*
giinjligeS 3cicf)en fiir ben SBertf) einer fjiftorifdjen Ouette ift, mcnn fie
mit ber gemeinen Ueberlieferung nidjt itbereinftimmt.
Snbeffen bie Sefer braudjen nirfjt befiird)ten, bafc fie in biefe
Seljben toermidelt merben foflcn. 9iur in menig gdflen mirb e£ fiir
unfern 8^cd nott)ig fein, beftrittcne £fjatfad)en fjeranjusiefjen. Sine nn-
befangene Sfjarafterjeidjnung Sd)6n£ fann aber t»ietlcid>t mieber ifjrerfeite
ttad) if)rem befdjeibenen Xfjeil ba$n beitragen, bie Slnfdjammgen ii&er ben
SBertf) beffen jit Ildren, ma£ man ate ©d)5n£ 2Remoiren bcjeidjnet tyat.
S3eftimmenb fiir ben Efjarafter ©dj5n£ ate SDtenfd) ttrie ate Stoats
mann finb jmei 3)inge gemefen: feine $5nig3berger ©tnbienjeit nnb feine
Qrofce 9teife. 6r fjat fidj im ©injelnen nadjljer nod) meiter entmidelt,
cr fjat nie anfgeljort, 9tene£ ju lernen', er ift flarer, einfidjtiger, reifer
gemorben, aber er mar im SBefentlidjen mit feiner Sifbung fertig, ate
cr an£ Snglanb jnriidfetjrte. 5)ie @inftd)ten nnb 9tnfd)anungcn, bie er
bis bafjin gemonnen, fie fjaben iljn bnrd)^ Scben geleitet. SBie urn;
faffenb, tote erfjaben nnb anbererfeite mie tief einbringenb mnftten fie
fein, menn ba£ moglid) mar, ol)ne bafe er jemate Winter ben 9lnfgaben
ber 3^it, Jjinter ben f)5d)ften %\>ttn, bie fie bel)errfd)ten, jnritdbliebl
©3 mar freilidj eine 93tfbung, bie er genoffen, mie fie menigen Stoats
ntannern iiberfjanpt, leinem feiner 3ci* 511 Sfjeil gemorben ift.
„9Rein SSater mar ein gebilbeter 2Jtann", fagt er bejcidjnenb genug
im (Singang feiner erften @etbftbiograpt)ie, aber er mar meljr ate ba§,
er mar ein grennb Sante. 2>er grofce SBeife ubernaf)m bie Seitnng ber
Stubien be3 friif)reifctt 3itngttng£, nnb ©d)on murbe, nadj einem 2tu£brncf
SRanfeS, jmar nid)t miffenfdjafttidj, aber praftifd) fein grower <3d)ttfer.
g£ ift jnnddtft feine tiefe ptjilofopfjifdje nnb allgemein miffenfd)aftlid)e,
nidjt bloS anf bie ©egenftdnbe feiner 3ad)£ geridjtcte SUbung, meldje
er kant Derbanft. S)a§ meitgef)enbe ^ntereffe an jebem gortfd)ritt menf^
(id)er ©rfemttnif*, bie ^o^e Std^tung Dor ber SBiffenfdjaft ate folder nnb
ba3 innige SSerftdnbnife, ba^ er itjr entgegenbra^te, bie beftdnbige 18c*
frf)dftigung mit ber fc^onen 2iteratnr, maS 2ttte^ bei i()m meit tiefer
ging, ate gemeinigtic^ in feinen ^reifen, mo man bergleic^en toielfad) ju
treiben pflegt nid)t an3 innerem Sebiirfnife, fonbern aU eine 9trt t)on
3terrat^ an bem 6rnfte be§ 3)afein^f ba^ 2(tfe3 biirfen mir mol auf
ben ©inftufc ffante prudfu^ren. ®ie Icfcten nnb ^od)ften gragen, jn
benen atte $^iIofopf)ie fiifirt, fie fyaben Sd)5n att fein Sebelang befdjdf;
tigt. 3)er Sleferenbar bei ber Sdnigsberger hammer t>erf)anbcttc mit
feinem greunbe Sic^te iiber ben DffenbarungSbegriff nub bie Semeife
fiir ba3 2)afein ©otte^f ber ©rete ftubirte generbad)^ SSefen be^ E^riften^
2\6
*(fron3 Hii^l in K8nigsberg.
taunts. Unb ebenfo geljt auf Sant juriid, menu e£ aud) burdf) ben S3er=
fefjr mit gidfjte gefeftigt unb if)m fetbft tool erft jum S3eumf$tfein gc-
brad)t ttmrbe, bie 2trt, ttrie er bie $)inge unb ba§ Seben anfdjaute, ba£
Stu3get)en toon 3^ecn, bic ©rfjabenljeit iiber ben „9lotijenfram", ba*
SRegeln jeber Sadje nadf) ^rincipicn, oljne fid} burdf) ^ufdllige ober Dorubcr-
geljcnbe Steujgerlicfjfeiten, ttrie fie ben Stem ber <Sad)e §u toerljiillen pflcgeu,
irre mad)en ju laffen. 3Me SBeiStjeit, ftet^ ba£ ju ttjun, tva§ ber 9tugen=
blid erforbert, toax uicfjt feine SBJei^^eit; e£ wax fein Seftreben, „ntd)t
bent 9tugenbtid ju teben, fonbern ber $bee", unt) ^u biefer fud)te er
uberati oo^ubringen. 3d) glaube, fein ©ubftantio tommt in feinen Stufs
jeic^nungen fo Ijdufig toor, al£ ba§ SBort 3bec. ©3 tear ifjm ba£ eigent^
lidfje £aupttt)ort. @£ toar iljm aber aucf) bie |>au})tfacf)c. 9tid)t3 ift
tljm ttribertodrtiger, afe Sbeenlofigfeit, ba3 ®ramen in ljiftorifdjen 3*e=
mint3cen5en, ftatt auf bie ©ac^e fetbft ju fefjen, fein ljeutigeS §anbelit
nid)t burdj ba3 beftimmeu ju laffen, tt)a3 gut unb jtoedmdfcig ift, fonbern
burdj ba£, ttmS man fetbft ober ein Slnberer geftern getfjan fyat. „2Bo
©ebanfen feljlen, ba greift man immer nadf) ©rfaljrung/' meint er cinmal.
9lber e3 gait il)m nidjt nur fetbft ber 3bee ju leben, fonbern au$ ber
©ememfjeit ju trofcen. „2)a§ SBefen meine£ SebenS ift ein Sturm auf
Sbeenlofigfeit unb ©emeinljeit geroefen," fdjrieb er in fpdten 3aljren an
93arnf)agen toon ©nfe, unb e£ ift bie lautere SBafjrljeit. ©r wax fein SDtann
ber ©ompromiffe, toeber im Seben nod> in ber SBiffenfcfjaft. „9Jtan mufj
A unb non A fagen fonnen," wax feine Ueberjeugung. 3)ie ftolje 9nt=
Wort, bie er Sriebridj SBilfjelm IV. geben liefe, ©e. SRajeftdt ftfnne iiber
feinen Sopf bi£ponircn, aber nidjt iiber feinen ©fjarafter, fie ift 9l\d)t$
al£ ber correcte 9lu3brud feine§ ganjen SBettmfctfeinS.
9lber er f)atte aucf) SSertrauen auf bie 3bee. 3^re 3Sta6)t wax i^m
unenblic^, unb er mar uberjeugt, menu man nur ctwa§ unbebingt ©ute§,
toelcf)e3 jeitgemafe fei, tjortjabe, fo fBnne man geioife auf Seiftanb Don
alien ©eiten red^nen. Unb fein SSertrauen ^at fid) oft unb gldnjenb
bemd^rt. Sr fiit)rt at3 ein 93eifpiel bie SBieber^erftcdung toon SDtarien*
burg an; faum eine£ erfc^eint aber tt)oI fo fd)lagenb, al^ jene» ©efprd^
mit bem polnifdfjen ©belmann au^ SQSeft^reu^en, ber ju ©d)dn fam, um
fid) ju bef^meren, bag er feinen 93auern eine ©d^ute baueu folic, waty
renb er bo^ ein Sbelmann fei, unb ber Don iljm fortging mit bem ©nt=
fc^Iuffe, bie ©d^ule ju bauen, toeil er ein Sbelmann fei.
Santifd) ift au^ bie ©t^if @dE)5n^, mieber freilic^ ftarf beeinffuftt
burd^ Sic^te. „3)u mufet, tocil 3)u follft/' befennt er aI3 ©runbfa^. Unb
fantifc^ fc^eineu feine retigiofen Slnf^auungen fein ganje§ Seben Ijinburdj
geblieben ju fein. ©r t)iclt c§ fiir eine Slufgabe be8 Staate^, ©ottc^^
furdfjt im SBoIfe ju nd^ren, aber nidjt, toie wol 9lnbcre get^an ^aben,
al^ ein 9Kad^tmitteI fiir bie l)errfdf)enben ©laffen. Sie 9luffldrung ber
Station bcSljalb meniger ju beforbern, tueil baburc^ ber ©eift be£ ftweu
(Etjeo&or von SdjSn. 2\7
fe!3 getocdt toiirbe, lag itjm fern. ©r fd)cint einen toerniinftigen SSoIte*
glauben fiir cinen ©rfafc ber ^ljilofopljie gefjalten ju tyaben, toetdje bod)
nid)t 2lflen juganglid) ift. Son ifjm felbft barf man tool fagen, bafj
cr in bicfcr 9ftiidfid)t cin ® antiancr ftrictcr Dbfertmns toar. 3n ben
SBerbadjt, cin Slttjeift &u fein, ift er nie gefommcn. giir ifyn toaren bie
Slntinomien bcr rcincn SScrnnnft fcin $interpfortd)en, fonbern ba3 grofce
^Sradjttljor, ba3 ju feineS 93ater3 &aufe fiifjrte. Die Sirdje bagegen
burftc er ate eine aufeere gorm betrad)tet fjaben, entftanben in ber 3^t,
toanbelbar nnb toerganglidj in ber 3*it, oljne eigenen nnb eigentfjiimlidjen
SBertfj. 93or 9lttem, toaS an gr5mmelei ftreifte, Ijatte er einen grunb=
lichen Slbfdjeu unb nidjt minber toor afler Ifjeologie, bie fid) aufbringlid)
in ben Sorbergmnb brangt nnb toomSglid) gar Seben unb Staat mit
ifjrem girnifc iiberjieljen mitt.
Unb nun ertoage man nod) ben ©influf; ber ©taatstetjre SantS. ©3 l)at
attejeit eine SRtdjtung gegeben, ber fie aufjerorbentlid) unbequem toar, unb
nod} ganj ueuerbingS fjat fie 3emanb baburd) fjerabfefcen 5U fonncn gegfaubt,
baj$ er fie aU einen 2tu3f(ufj 9louffeaufd)er Jfjeorien bejeidjnete. ©3
ift ba£ nur ein 99etoei3 baDon, toaS unfere 3^it ju ertragen Dermag.
SBefdje politifdje ©ebantenatmof^dre Sant in $tfnig3berg toerbreitet,
jcigt nid^tS beuttidjer, aU bie neulidj toieber t)er&orgejogene Shrift
cinc£ fo lotjalen SOtanneS toie 9Jlorgenbeffer. 31* hzm gribcricianifdjen
^reujjen mufjte biefe ®onig3berger 3tid)tung tljeorctifdj im fdjroffften
©cgenfafc ftefjen, toenn fie gleidj praftifd) jugeben mufcte, ba§ unter ben
gegebenen S3erf)altniffen eine anbere SRegierungSform unmflglid) nnb faft
unbenfbar fei. 2Ba3 ©d)5n fjier ergriff, toar t>or StUem bie Ueberjeugung
Don ber 3totf)toenbigteit, bie $bee ber perfonlidjen greiljeit ju uertoirfs
fid)en, eine Ueberseugung gegriinbet auf bie Sldjtung toor ber SBiirbe be£
SDtenfcfjen, toie auf bie ©infidjt in ifjre Unentbefjrlidjfeit fiir einen
nurflidjen &taal ©in gtiifjenber #af3 gegen atte ©cla&erei, gegen SttteS,
tt)a£ bie angeborenen unb unfcerau&ertid)en 9ted)te be£ SKenfdjen toerlefcte,
iebte in feiner 95ruft; toenn er fid) ber &errlid)feit ©ried^enlanbS ganj
fjingab, fo bermodjte er bod) nie iiber ben fdjtoarjen ©fatten tjintoeg*
jufommen „ber ©clatoe ift ein lebenbiger $au$xatt)u ober toie er e3
tueniger correct au£briidte: „Servus est res." ©djon Sant — unb er
faum al& ber erfte — Ijatte bie ©rbuntertljanigfeit aU einen ©djanbfled
be§ ^rreu§ifd)en ©taate^ be^ei^net, €>djon felbft trat fie nad)^er in
©djlefien in i^rer fc^Iimmften ©eftalt t)or 2lugen. 3l)re Sefeitigung toar
feitbem ein ©auptaiel, ba^ er fid) geftedt, aber er fd)ien nacf) feinem
eigenen Slu^brud Slrabifd) ju ben Seuten ju fpredjen, bie 9lifyt$ bat)on
tjerftanben nod) batoon tjerfte^cn tooltten. ©rft nad) bem 2i(fiter grieben
crlebte er ben £riumpf) feiner 3^ce, unb auf 9Ud)t3 ift er mef)r ftolj
gctoefen, ati ba| er ljier al$ eine 2lrt ©pradjrofyr fiir bie bei alien
SBeffern aflgemein t)erbreitete SKeinung auftreten fonnte. SKe^r aber at%
2\S
<frati3 Hiitjl in ttotugsberg.
cin foldjeS ©prad)rof)r getoefen ju fein, t)at er in btefer grage niemate
in 5lnfprud) genommcn.
SReben Sant preift ©d)5n ate feinen „t)errlid)en Seljrer" SrauS.
SrauS ift bcr erfte Scorer ber ©taatenriffenfdjaften in 2)eutfdjlanb ge=
ttefen, bcr ftc Don eincm f)5f)eren, ate bent cameraliftifdjen ©eftdjtspunfte
au3 auffagte. 6r l)at ba§ ©tyftem Don 2lbam ©mitt) in 3)eutfd)fanb
eingebiirgert, mit uniibcrtroffener Slarfjeit bargeftcttt unb au£ bent Sdjafc
feine£ 3Biffcn§ unb feiner ©infid)t in Dielen ^unften erldutert, mobtfictrt
unb Derbeffert. 9lud) cr mar cin 9Jtann bcr Sbeen unb sugleid) hue SBenige
geeignet, ju erfenncu, nrie biefe Sbeen nuf ba3 Seben auautoenben unb
ben gegebenen 3uftiinbcn mit moglidjft grower ©djonung anjupaffen fetcn.
Son SfrauS ftammt bic ftaatetoirtfyfdiaftlidje ©ilbung ©d)6n3, unb bic
®r5ge be§ SefjrerS jcigtc fid) aud) in bicfem gaflc namentlid) barin,
bag cr ben ©d)iiter nid)t an feine Sefjren feftbannte, fonbern bag er
tfpn ate tucrt^bottftc ©abe ben Xrieb unb ba£ SBebitrfnig einfldgte, felfc
ftdnbig toeiter $u benfen unb inciter ju lernen. ®ic nationalofono;
mifdjen ©runbfdfce ©d)5n§ 511 ertfrtern, bic 9lrt §u fennjeidinen, ttrie er
fie anluanbte, ift f)icr nidjt bcr Drt; cr ift befanuttid) audj ate ©rfjrifts
ftetler auf bicfem ©ebietc aufgetrcten. 3)ag er burd) feinc 9lnfid)ten toicl-
fad) in ©egenfafc ju anbero ©taatemdnnern gerietlj, benen er fonft nalje
ftanb, liege fid) ertoartcn, aud) toemt man c3 nid)t toiigte. 9?id)te lann
in bicfer &infid)t bejeidjnenber fein, ate feinc S3cmerfungen iibcr ben
#arbenbcrgfd)en ginaujplan Don 1810, bag ber ©taatefanjler f,gletc^
2tnfang§ Don ©elbmangel unb anberen unttuffenfdjaftlidjcn SHngen" au3=
gcgangen fei. 9Gur bic 2luffaffung mag e3 Ijier geftattet fein 5urudju=
toeifen, toeldje ©d)6n bie ©runbfdfoe ber fogenanntcn SDtandjefterfdjufe
jufdjreibt. ©3 tdgt fid) im ©egentfjcil nadjroeifen, bag cr 5. S3. 3oQ-
unb 3?erfel)r3politif nid}t blo3 t)om nrirt^fd)aftlid)cn ©efidjtepunfte au£
betradjtete, fonbern fie in 3ufammenf)aug ftcllte mit alien anbern Sluf;
gaben be£ ©taate, nrie cr bemt, obmol felbft cin greiljdnbler, fogar
ba£ ruffifdje $rot)ibitiDft)ftem bitligte, infofern e£ banad) ftrcbe, ben
fefjlenben SIRittclftanb 5U erjeugen.
SWit biefcr tf)eorctifdjen 2lu§bilbung trat ber junge 9Jlann in ben
©taat^bicnft; bag ifjm ber t)errf(^cnbe ©d)leubriau nid)t be^agtc, tocx
m'dfytt bariiber tounbern? ©0 rciftc ber ©ntfdjlng ju einer grogen
SReife, anfang£ of)uc bag cin beftimmterer 3^cd bamit Derbunben war,
ate ber, bie SBelt fennen ju lernen. ©cf)5n befud)te bie weftlic^crcit
prcugifdjen ^roDin^en, ^annoDer, |)effcn, ©ad)fen unb ©d)lefien. ©cine
3tnfc^auungcn wud)fen/ ber SSerfc^r mit au^gejei^neten STOdnncrn eroffnete
i^m ucue ©efic^t^puufte, er terntc SSiclc^ praftifd) fennen, Don bem er
bte baljin nur tljeoretifd) gctuugt Ijattc. 3)ie fru^tbarftcn 93ergteicf)e
brdngtcn ficf> in Sfflcnge auf. 9tbcr entfe^eibenb tnurbe fein jtoolfmonat-
liefer 9lufcntljalt in ©nglaub. ©cin greunb SBeig t>atte bie S^ec baju
(Efyeobor von Sdjou.
219
mtgeregt; er fdjtug ©dj5n Dor, jufammcn bortfjin §n rcifen, toeit bort
9lid)tungen unb SKeinungen Dormafteten, roelcf)e Don bcnen int groftten
Xtyil bcr cimtifirtcn SCBelt abnndjen. 2)ie Sorbereitungen ju bicfcr
SRcife Icitete Sidjteriberg. SBcr meljr Don Sidjtcnberg toctjg, al£ baft er
^rofeffor bcr $l)t)fif in ©ottingcn nnb ciner ber glanjenbften t)umo;
rtftifdjen ©d)riftftefler tuar, toirb ba£ $u miirbigen miffen. ©nglanb unb
fcin SffentlidjeS Ceben Ijaben in bem 3)eutfd)Ianb be$ 18. 3flf)rf)unb£rtg,
Xocl6)t$ tin offentlid)e3 fieben nidjt fanntc, jmci grofcc Slpoftel gefyabt,
@eorg gorfter unb Sidjtenbcrg, beibc Dertoanbt in itjren 9tnfd£)auungen,
aber Sebcr eine anbcrc ©cite in ben SSorbergrunb ftetlcnb, bcr Sine
mefjr bie politifcfye greitjeit betonenb, bcr Shibcre bie grofeartige 93e;
tucgung be3 focialcn $5rper£. Unb toie gorfter eingetoirft l)at auf
^tlejanbcr Don #umboIbt, fo £id)tcnberg auf ©d)on. „@3 gibt Diele 2eutc,
bie ^oftpferbe nefjmen," t)at ein gciftreidfjer granjofe gefagt, „aber toenige,
bie retfen," eine (£rfat)rung, toddje fid) im Beitalter ber (Sifenbaljnen
uur nodfj fdineibenber aufbrangt. ©d)5n Derftanb 511 reifen unb bie SReife
ntadjte fo ju fagen einen ncucn 9Nenfd)en au3 ifjm. $5ven toir ifjn felbft!
„©nglanb ftcfltc mir," fagt er in feiner crften ©dbftbipgrapljie, „in Se-
Siefjung auf ©taat, StjeUung ber ©ctoatten, Staat3einrid)tungen, 3^5
unb Sinanjnjcfcn grofitentfjeitg ba3 Dor Slugen, tt?a3 bie SSJiffenfdtjaft bis
bafjin mir ge^eigt Ijatte. 5)urd) ©nglanb murbe id) erft ein ©taatSmann.
2Bo ber 9Kann, ben ttrir ate Sauer bejeicfynen ix)urbenf ixber bie gefe^
gebenbe unb Dott^ie^enbe ©etoatt ftar ft>rid)t unb bie 9tott)toenbigfeit bcr
Irennung berfelbcn einfief>t, too ber 9lrbeiter, toddler bie SRitben befjadt,
mir mit greube auricf, baft er gelefen tjabe, mein fionig ttmrbe nun
and) mit ©nglanb Derbunben bcr Eoalition gegen granfreidfj bcitreten,
ba ift im DoHfommenften ©inne be3 SBortS: offentlicfjcS Scbcn. . . . Sn
fcinem Saube Don ©uropa ift bie Sidjtung gegen ben 2Renfd)en unb
beffen SRedf)te fo groft, ate in ©ngtanb . . . unb bie ^rioatmeinung fjilft
Ijier ben offenttic^en ©efefcen jur ©idfjerung ber unDcrdufjcrlidjen SRenfdjen;
Tcdjte nodfj nadf). 2)ie ®(eicf)l)eit Dor bem ©efefce ^emmt afle Stnmaftung
ber ^o^ereu ©tcinbe unb bie Sfjeilnafjme an ber 3Redjt£Dertt)altung Der=
anlaftt nicf)t aHein ©elbftcinbigfeit unb ©tarfe be^ Etjaralter^, fonbern
Dcrbreitet auc^ eine ©efefefenntnife unb cine fienntnift ber gcrid^rtid^en
Sormel, mie fie in feinem Sanbe (SuropaS anjutreffen ift." 3)ie SReifc
mac^te ©d)on /fHar iiber ©taat unb SSoIf". 5Rid^t am SBenigften iiber
bic ©tettung bc§ SonigtfjumS. 2)a^ monardE)ifd)e ^rincip Derftanb fid)
fur ben ^reuftcn Don felbft, abcr erft in ©nglanb lemte ©d)on e^
p^ilofopi)if(^ begreifen. 2>er Sonig ift i^m eine Ijofje S^ee, aber er
loeift if>n abjufonbem Don ber $crfon be3 2Rcnfd)cn, ber bie Stone
trdgt. Unb bicfe 3^ec SonigS fann in einem groften ©taate nur
Dertoirflid)t loerben, toenn tf)n ein in ©in^eit ^anbetnbe^ unb bem ©eifte,
ber S3ilbung unb bem Efjarafter ber SJiitglieber nad) in 2td)tung ftc^enbe^
220
f rcui3 Hiifjt in KiJntgsberg.
2Jlinifterium umgibt unb einc SReprafentation beg SBoIfeg iljm jur ©cite
ftefyt. „5)er ©afc: ber ®dnig !ann tfyun, mag er mill, ift bcr feinbfeligfte
fur eincu ©ouDerain, bcr gebadfjt merbeu fann. 3m rofyen 3"ftanbe
iiberfef)en bic 9S5Ifcr SSittfiir, \a ©raufamfeit, mirb eg abcr im SBoIfe
Jag, fo merben jene beiben Snftitutionen aug bem Sntcrcffc beg 2Ro=
nardjen unb aug bem intetlcctuctlcn unb moralifdfjen ©tanbpunfte beg
93olfeg Don fclbft IjerDorgeljen unb feine 9Kad)t bcr ©rbe fann itjre 6nt^
fte^ung Derljinbern." SBie if)m bag englifcfye Sihtigtf)um alg cin %btai
erfdjien, fo aud) bie cngltfdje Slriftofratie unb smar megen bcr bebeut;
famcn ©tellung, bic fie jmifdien $onig unb SBolf cinnimmt unb megen
bcr untrennbaren unb fidf) immcr crncucrnben 93erbinbung, in meld)er
fic tnit bem tefcteren fte^t. ©d)5n gab fcf)r meuig auf ben 9tbel, er
mar if>m ein notfjmenbigeg 5}5robuct beg nicbern Eulturftanbeg beg Soltek
nub fcfjien if)m in ber ©cgenmart nur nodf) SBebcutuug ju fjaben, menu
er alg ®ern beg offentticfyen Sebeng unb alg 93emaf)rer tt)ic ber 9ted)te
be^ £f>roneg, fo bcr Sreifjeit beg SBolfeg baftelje. S)ie funfttirfjen ©alDa*
nifirunggDcrfudf)e abgclebtcr 3nftitutioncn fanb er me^r alg tddjertid).
®ag SBcrtljDolIfte abcr, mag ©d)5n Don feincr engtifdjen SReife mit=
brad)te, btieb immer bie 2tufcf)auung eineg freicn S3oKeg, bag fid) fclbft
regiert, mit eiucr einflufjlofen Sureaufratie, too burdf) bic freie S3e~
megung alter ffrdfte bag ©ute gleidEjfam Don felbft jum 2)urd)brudj
fommt, geforbert fogar burdj ben SBiberftanb, ben cgfiubet.
©g mar ein furdjtbarer Sontraft, bem fid) ©d)5n auggefefct faf), ate
er unmittelbar nadj fciner 9tiidfel)r Don Sonbon alg ®rieggratfj in ba§
Derfommene Stcft 93ialt)ftof Derfcfct marb. 9lber fiir feine ©ntmicflung
tear eg nidf)t ol)ne SBertt). ©r mar ja rein ttjeoretifdj gebilbct unb feine
langjatjrige 9teife ^atte if)n crft redEjt „auf bic aDgcmeincn Skrtjaltniffe
gefteUt". Sebengflugfjeit f)atte er, feinem eigenen ©eftdnbnijj jufolge, au$
Cicero de officiis gelernt, cinem 93ud£)e freilidf) mie gefd)affen fiir einen
©taatgmann, ber Icrnen Drill, bic 2lnforbcrungen ber ©ttjif tnit bem
£anbetn in bcr SBelt ju Dereinigen. ©elbftdnbig tfjdtig toax er im
©taatgtcben nodf) nie gehjefen. 3)cr SJlinifter Don ©d)rdtter Derftanb
eg, in bie (Sntttridlung beg merbenben ©taatgmanneg mit ridfjtigem Slide
einjugrcifen; tDie cr i^n frii^cr einc SBcite auf'g Sanb gefc^idt t)attc, um
fief) cine praftifdje ^enntnife bauerlic^cr SBcrljaltniffe ju Derfc^affen, fa
Derfefete er ilju jefet in biefe fleinen unb flcinlic^en 3uftdnbc, too er 5U
ben crften ©runbtagen beg ©taatgtebcng juriidgefii^rt tDurbe. ©g mar
eine 3rit ber ©ontemptatiou unb nicfyt Don langcr Sauer. SBcreitg 1802
marb ©d)5n in bag ©eneralbircctorium in ^Berlin bcrufen unb nun „ging
i^m bag ficben in ber ©taatgfunft praftifc^ auf". 9lber cine SBirffam-
feit im ©rofcen marb i^m bod) crft nad) bcr ^ataftro^e Don Sena ju
Xf)t\l ®ie Sa^rc 1807 unb 1808 finb il)m allejeit alg ber ©lanspunit
feincg Sebcng erfd^ienen, meit eg bamatg ttnrHid) moglid^ mar, Don 3been
(Efjeo&or von Sd^Sn.
22\
augjugeffcn unb toeil mm ben Ijtfdjften Segriffen beg ©taatglebeng in bcr
Stjat auggegangen tourbe. ®er Stntfjeit @<f)ong an bcr ©efefegebung jener
3afjre ift cm fjocfjft bebeutenbet, in mandjen 5}5unftert entfdjeibenber gc-
toefen; eg ift inbeffen nid)t meine 2lufgabe, auf bic gragen, toeldje fief)
I)ier aufbrangen, naf)er einjugefyen. 3n ben ^auptfadjen ttmren bie leitenben
©taatgmanner toefentticf) einig, im ©injclnen gingen fie trictfacf) aug=
einanber unb cmd) bic ©riinbe toaren fcerfdjieben, toelcf)e einen jeben bie=
felbe SRaftrcget ate notljtoenbig crfennen tieften. ©cf)5n felbft l)at fpater
bemerft, bei ber 33etracf)tung bicfer ©podje netjme bcr ^reuftc mit ©tolj
toafjr, ttrie f)ier atte Sbcen bcr franjSfifdjen SKationafoerfammlung buret);
gefiifyrt [eien, nur mit bem Uuterfcfjicbe, baft in granfreid) ©mporung
unb 2tufruf>r unb 93erbrcd)cn alter 2lrt bie ©ntttrictfung begteiteten, toeil
man bem SSerftanbe babci fein SRed^t nidjt jugeftanben I)atte, bei ung
aber bie Sbee unmittelbar unb aHein burd) i^re 2Kacf)t unb $errlicf)feit
in'g Seben treten fonnte, toeit babei bem 93erftanbc bie Ujm gebufjrenbe
@f>re gegeben toax. 5)enn &on oben fofltc uad) fciner SKeinung in ^reuften
bie SRedoIution fommeu, toom ®5nig follte bcr Umfcfjnwng auggefjeu; nid)t
jerbredfjenb, fonbem auflofenb fottte gettrirft toerben. 2)aft nid)t Stlleg
crreid)t tourbe, toa§ ©djon erftrebtc, ift befannt; ieff modjte namentticf)
barauf f)intoeifen, baft feine SBorftetlungen, ttrie &cer unb SSolf mit ein;
aitbcr in SScrbinbung gebradjt tocrben foflten, niemate t>erttrirflicf)t toorben
ftnb. Stltenftein auftert in eincm 93riefe an £arbeuberg t?om 3of)re 1808,
©cf)on tyabe fein Slttadjement an ben $5nig, toofy aber bic Sbee bcr ©e-
malt beg SBotfeg. Sag ift eine Stuffaffung, bie trietteicfjt nur bcr augen*
bticflid^en ©timmung entfprungen, jebenfatte ciner unbefangenen 93e*
tradjtung gegeniiber nidjt Ijaltbar ift. Slltenftein Ijatte eben t)on ber
©tetlung beg Sonigg jum ®taatt unb jum SBolfe anbere 2lnf$auungen,
ate ©cfjdn unb cine geringcre SDteinung toon ber 2eiftunggfal)igfeit eineg
freicn unb patriotifdjen 93oIfeg, ate biefcr. Unb nicfjt minber un^altbar
ift bic neuerbing^ ^crt)orgetrctenc Slnfidjt, ate I)abc ©d)5n bic fjiftorifdjen
©runblagen bc^ ©taateS miftadjtct, ate fei cr unfatjig gemcfen, ba£ f)iftorif(^
<3ctt)orbene in feiner SSebeutung ju tjcrfte^cn. 5nt ©egcntficit, cr ift etjer
ein ^iftorifiicr ©rubier- ju nennen, cr fud)t bie (Sljaraftere au^ il)rem
entttjicftungggange, bie 3"ftanbe bcr ©taaten au^ it)rer ©efdjicfjte ju bc=
greifen; iibcratt getjt cr barauf au^, bic ©cgentuart „in ben ©ang ber
SBeltorbnung cinjuorbnen". .9Sa§ cr aber atterbingS nic^t fonnte, ba§
toax ju begrcifen, baft cttoaS cr^alten toerben miiffc, meit c§ ^iftorifrf)
ertt>acf)fen fei, baft etma^ gut fei, tneil e§ lange beftcfje. Site fein eigent^
lic^eS politif^e^ ^rogramm f|at er immcr bag fog. politifcfye Scftament
©tcing fcftge^attcn. SMefe ©taatefc^rift ift unjmeifctfiaft Don ©cfjon Dcrs
faftt, t§ finb fcine 3been, bie fi(^ barin au£fpredf)en, cr t^at fief) ate
SScrfaffer in cinem SDloment unb auf cine SBeife befannt, bie jeben ©e=
banfen an 5}5opuIaritdtef|afd)erei au§fcf)tieften: eg ift fein ©runb Dorfyanben,
222 $ raii3 Httljl in Konlgsberg.
feinc SDlittljeilungen iibcr bie ©ntfte^ung berfelben ju bejmeifeln. ©tein
I)at fie unterjeidjnet unb baburd) mit ju feinem ©igenttjum gemadjt, ba£
gc§5rt mit jit feinem 9tut)m. ©3 finb brci Scjtc biefe3 SlftenftiideS be-
taunt, Dietteidjt gibt eS nod) mefpr. 2>ie 5tbtt)eid)ungen finb unbebeutenb,
btoS rcbactionctler 9trt; e§ toirb f corner feftjuftetten fcin unb ift im ©runbc
gleidjgitltig, ob ttrir eigene Sorrecturen ©teinS in eiuer bcr beiben cr^
Ijaltenen 3teinfd)riften Dor un3 fjaben. Stbcr tok toax iiberfjaupt bas
aScrfjdltntfe ©d)i)n3 ju ©tein? Siegt einc SBeranlaffuug fur bie Serefyrer
©teinS Dor, ifjn gegeniiber ben Urtfjetfen ju Dertfjeibigen, bie ©cfyon iibcr
ii)\x gefattt f>at? Sftan tt)irb bod) taunt umfyin fonnen ju fagen: ©djon ift
bem grofcen -Dtanne nidjt Dollfommen geredjt getoorben. ©3 ift- freifidj
fein betouftt ungeredjteS UrtljeU, ba3 er faflt, am SSenigften ein Dom
9teib bictirteS, unb fafct man Sitter jufammen, toa% ©cfyon ju Derfdjiebenen
Beiten iibcr ©tein geauftert tjat, fo ift er iljm ein genialifd)er 2Rann Don
cigentf)umlid)er unb bettmnbernStuertfjer ©rtf^e. Slber e3 ift nic^t ba3 9tuge
ber Siebe, mit bem er iljn anfd)aut. ©elten mag c£ aud) in ber Zfyat
jmei SRaturen gegebcn f)aben, bie fid) antipatljifdjer toaren, toafyrenb fie
bod) jufammen nad) bemfelben 3iete f)inttrirfien, unb biefe Slntipot^ie
muftte bei ©d)5n urn fo flarer sum SBctoufttfein fommen, je roeiter bie
3af)re gemeinfameu 23irfen£ jurudlagen. S)er 9teid)£freil}err Dom unb
jum ©tein toax ftofy auf ben 2tbel unb tuoKtc tym eine tcitenbe SRolIc
behmljren, ©djon toax ein ^olitifer be£ britten ©tanbeS; ©teinS <5>taat&
ibeal toar ftarf mittelattertid) gefarbt, ©djon tebte in ben 3becn ber
neuen $eit; ber ©ine fjatte ein ©f)riftentl)um, ba£ er angenommen auf
bie Stutoritdt friiljerer Satjrtyuuberte t;inf unb einen ftarf en $ang jur
•2ftt)ftif, ber Slnbere mar ein Cautioner; iener fjanbclte au3 3nftinft, fein
©eift erf afcte unb entjiinbcte blifeartig, biefer ging Dom SSegriff au£,
ruljige Slartjeit toar fein SBcfen; (Stein toax tjiftorifd), ©d)dn mar
pljiIofopI)ifd) gebtfbet. Unb and) ben fleiuen Bug tDotten ttrir nid)t Der;
gcffen, baft ©tein .1808 noct) nid)t§ Don ©oetfje fannte unb ate man tlju
baju brac^te, ben Sauft ju lefen, im ©runbe meiter ntc^t^ baDon ^u fagcn
tuu^te, aU baft bieS ein unanftcinbige^ 93ud^ fei, toaS il)n freilic^ nic^t Der=
^inbertc, fic^ ben bamate nod) nid>t erfc^ienenen j^eiten X^cil auSjubitten.
Unb baju tarn nod) etroaS Slnbere^. ©d^5n ift ein ^Jreufce burd^
unb burd), and) bie beutfdjen 2)inge immer loefenttic^ Dom preufcifdjen
©tanbpunfte au^ anfct)enb, mit einer gcttriffen Stbneigung gegen bie SIu§;
lanber, metc^e, toie er meiute, /funfer SSott mi)t Derftetyen", Don ancrjogcner
unb nie Dcrteugneter Stn^dnglic^feit an ba^ f 5niglid)e $au3. Stein ift ein
3Kann of)ne jcbe Stber fpecififd) ^reuftifc^er ©efinnung, er fii^tt fic^ aU
Seutfdjer }^ted;ttoeg; er ift in ben preuftifdjen ©taatj&bienft getreten, meil
IJSreu&en bie S"tereffen 5)cutfd)Ianb§; toie er fie auffafcte, in bie $mnb
genommcn; alle bcutfc^en 3)^naftien, bie preufjif^e miteingefc^foffen, finb
it)m 5mar nid)t prattifd^, aber im ^?rincip gleic^giittig.
(Efjeobor von Sdj8n.
223
2)iefer lefete ©egenfafc ift einmal ganj fdjroff ju Xage getreten, im
ganuar 1813. ©tein fjattc mtr bag beutfdfje unb bag attgemein euro-
paifcf)e Sntereffe im 9luge, abcr cr itberfalj, toie bic 2lrt feineg Sluf?
treteng bag fpecififcf) mffifdEje befflrbern mufcte; inbcm ©dfjon iljm oom
preuf$ifdf)en ©tanbjmnfte aug entgegentrat, toar bcr Eonftict ba. 3)ie
Strt abcr, toie cr fief) lofte, gc^drt 511 ben fd)5nften SRutjmegtiteln beiber
3Kanner. ©djon fefct nun bic ©rofce ©teing barin, bafc cr „mit eincm
cmincntcn ©eifte cincr mit bem §erjcn aufgefafcten Sbee gclebt fyabe,
ndntlid) bcr beg SBatertanbeg, unb biefer mit ganger ©eele unb mit
DoHem ©emittf)e unb unbebingt, mit gdnjtidfjer SScrleugnung feiner
SJSerfon." „$)teg," fo fagt cr, „ift feine ©rijfee, Dor ber id) mid) beuge."
Sffein babei Ijat er cin 9Jioment Dietteid)t gefu^It, abcr n\tf)t Dflttig be*
grtffen, bag Sitanifdje hi ©tein, bic rucfftdf)tgtofe ©nergie feineg Eljarafterg.
3Ran fann ©d)5n 9ted)t geben, toenn cr fagt, baft bic Urfad)e ju ©teing
crftcr ©ntlaffung cin fteinlidfjer ©treit getoefen fei; abcr f)dtte ©tein
ebenfo gcbadjt, fo tt)drcn bic tyVxnt bcr Smmebiatcommiffton Dietleidfjt
niematg jur Slugfitfjrung gefommcn, unb eg ift nidfjt, tote man gefagt
f)at, cin politifdjcr gef)ler ©d)8ng getoefen, bafj cr 1807 nidf)t felbft
bie Scitung beg ©taateg iibernaljm, fonbern bcr ©ntfdfjlufe ging fjeroor
aug einer ftaren SBiirbigung beffen, toag bic Sage forbcrtc.
S)cnn ©djong ©nergie toar bod? jum gutcn If>eil cine ©nergie bcr
Steftgnation. ©r tjarrte bcr gutcn $t\t, cr toar bcr SKann, fie Dorju;
bcreitcn unb fie ju crfaffen, fobalb fic gefommcn toar obcr gefommcn ju
fcin fdjien, abcr cr toar fcin ©turmer unb Granger, bcr bag Slttc iiber
ben #aufen toirft. S)ag fjdngt jufammen mit bcr triiben ©runbftimmung
feineg ©emiitljg. ©r toar ein Dptimift, abcr nid&t aug angebornem
©efiifyl, fonbern aug ©rtodgungen beg S3erftanbeg, Don Slatur toar er
bcr auggefprodEjenfte ©dfjtoarjfefjer,' 2)ingcn toie SDlenfcfyen gegeniiber.
3n fcinen fodteren Safjren Ijat cr bicfc Sleigung jur ^od^onbric ridfjtig
erfanitt unb reblid) mit ftanttfdjer Spijitofojrfjie unb ©aucrfraut befdmpft,
aber fic lafct fid^ bi§ in bic frii^cfte 3^it fciner amtlic^en SBirffamfeit
juriidDerfotgen. S)ic fdf)Iimme ©cite fid i^m leic^t jucrft in^ 9luge,
unb bag Sbccnlofc in ben S)ienft bcr gbce ju jtoingen, toarb i^m fd^toer.
(£r f)atte in fcinem Serfe^r nid^t ganj ben fittlic^en Sligorigmug Slic*
tmljrg, aber eg toar nic^t Iciest fiir i^n, in ^reifen su Derfc^ren unb ju
tuirfen, bie er fiir friDol unb Derberbt l^ielt. 3n fot^em gatte jog cr eg
Dor, fief) jurii(fju}ief)en. ©r mod^te nic^tg Don fciner jtttlid^en ?Pcrf5n=
lic^feit aud^ nur jeittoeife o^fcm, urn feinc S^ecfc, unb todren eg bie
ebdften getoefen, ju errcid^en. ®en inneren ^ampf jtoifd^cn „SBettmanu
intb SHdjter" ^at er nic gefdm^ft. ©r toar atterbingg tnett cntfernt
baDon, bag fiir eincn SSorjug ju ^alten. ©r betounberte SBil^elm Don
fmmbolbt, bem eg moglicf) toar, fid) in jebe ©efettfefjaft Ijinein ju bc^
geben, mit jeber unb in jebcr ju toirfen, o^ne inncrtid^ Don i^r be;
ttorb unb ©fib. VI, 17. 1G
22^ f rart3 Hiitjl tn Konigsberg.
riifjrt ju toerben. Slides fann biefen ©runbjug feineg temperaments
beffer erlautern, atg feine Sagebiidjer Don 1808 unb 1813. $ie ttr~
tt)eile iiber einjetne $erfonen, toie fie fid) bort finben, eingegeben Don
ben ©inbriiden beg Slugenbtidg unb Don ber information, toie fie ber
Stugenblid bringt, finb fd^tocrttcf) garter, atg SInbere fie in berfefben
3eit gefattt; man braudEjt btog an bie ©timmung ju benfen, ber ?)orf
fo oft gegeniiber bem 93lud£>erfd)en $>auptquartier Slugbrud Dertietjen tjat.
93ejei<f)nenb fur ©d)6n aber jft bie biiftere Stuffaffung beg ©angeg ber
Singe iibertjaupt, bag beftanbige Setonen beg ©egenfafceg, toetdjer
jtoifdfjen ben SlnfdEjauungen unb bem ©Ijarafter fo Dieter ber ma%-
gebenben ^erfbntidEjfeiten unb ben Sfnforberungen ber neuen &\t be*
ftanb. SUlan miiftte mit ber ©efdf)icf)te ber golgejeit ganj unbefannt
fein, toenn man im ©mft bie toenigfteng ttjeittoeife SBeredfjtigung biefeS
©tanbpunfteg leugnen tooflte, aber eg Derbient beacfjtet ju toerben, toie
©ct)iftt felbft biefe ©timmunggbitber nad$er atg fotdje betracfjtete, toie er
fcine bamalige Stuff affung mttberte unb in bag recite 2icf)t ritdte, unb
mir toenigfteng toil! eg fdjeinen, — benn ein Dottfommen augreicf)enbe£
SKateriat tiegt nid)t Dor, — atg ob er mit ben Sa^ren in feinen Ur=
tfjcilcn iiber 2Jtenfd)en unb Singe immer ebler unb flarer unb objectiDer
getoorben fei.
Seeinftufet mag feine ©timmung aucf) baburd) fein, bafc er mit
feiner Silbung, id) toilt nid)t fagen iiber, aber aufeerljatb beg
Deaug ftanb, toetdfjeg ber bamatigen ©nttoidtunggftufe beg preufjifefjen
©taateg entfpracf). 2Ran braudjt fid) nur an feine Stnfidfjten iiber ba£
SOtilitairtoefen unb an feine geringe Sldjtung Dor ben 8tufgaben ber au£~
toartigen ^otitif unb Dottenbg Dor ben Siplomaten ju erinnern. ©r
mare ein grower SRinifter in einem conftitutionetten ©taate getoorben,
ober aucf) unter ber #errfd)aft eineg aufgeftarten Stbfotutigmug im ©tite
ffarfg III., aber er toar nidjt ber gcgebene 2Jtann fur bag Spreujjen
griebricf) SBitljetmg III. ©g tag bag freitidf) nicfjt jum toenigften an
bem ^onige fetbft. Ungemeffencg SSertrauen f)at er ©dfjon entgegenge=
br a6)t, in ben jarteften Stngetegenfjeiten feineg ^erjeng untertoarf er fief)
feiner ©ntfefjeibung; aber ifjm einen teitenben ©inftufe auf ben ©taat
ju gebeu, tjat bem Jlonige immer toiberftrebt. ©r tiebte eg nid)t, 2Ranner
bauernb in feiner Umgebung ju fjaben, beren geiftige Uebertegenljeit ifjm
briidenb toerben fonnte. Unb fo Ijodf) ©djon ben Sonig aucf) ftettte, bag
ijat er gefiifjtt unb bag empfanb er fdjmerjlidf}.
2)cnn ein Derje^renber S^rgeij ober, toenn man tieber toill, ein
grenjentofer St)atenbrang tebte in bem SUlanne. ©r toar fid^ feineS
SSSert^eg Dottfommen bemufet unb aucf) Don gelegcntticfjen Stntoanbtungen
Don ©itetfeit ift er nid)t ganj freijufpredfieu. 2tber nic^t bie SKac^t,
gefd^toeige benn Xitel unb 9lang toar eg, mag er erftrebte. ©r toar Der=
fc^iebene SDtate in ber Sage, SDtinifter merben ju fonneu, er ^at jebegmal
(Efyeobor von Sd?dn. 225
abgefeljnt, rocil man fein ^rogramm nidf)t annaljm. ©r furdf)tete, eg
merbe Sltteg ju nid^tS fiiljren, ate bafc cr fetbft finfe unb bag toottte cr
fcerljuten. ©o nafjm cr mit cincr befdjeibenen proDinjieflen SBirlfamlcit
toorlieb, toeil cr fjier ttac^ fcincn 3been Dertoaltcn fonnte. ©g ift merfc
tiritrbig, toag cr ate ©runb angibt, toarum cr }id> 1809 gerabe ben
©umbinncr SRegierunggbejirf sutoeifen licfe. ®ort fci bod) nodj bie toenigfte
SSerbilbung getoefen unb cr fjabe mit 5Red^t Don ben einfadjen SRenfdfjen
bic meifte Slarfjeit erttmrtet. 3)ag ift fcine SRouffeaufdje SlnfidEjt Don ber
©imlifation, fonbem cinfac^ bie @infid)t, bafc eg leister toar, bort bie
Sbeen ber ncuen Seit ju pftanjen, too bie ber alien nocf) nidjt redjt
SBurjel gefdf)Iagen. 3$ mufc & wir Derfagen, f)ter bar&ulegen, toag er
fur Sittfjauen, toag er fpater ate Dberprafibent fur SBeftyreufjen unb
bann fiir bie ganje ^rooinj SJSreufcen getljan fjat, eg erfdfjeint aud) faum
ndtf)ig $\i eincr 3citf too bie ©rinnerung an bicfe SBirffamfeit ©dfjdng'
nocf) nidjt erloftfjen fein fann. 9lur bie 2lrt, toie er ttrirfte, lofjnt eg fid)
tvot in furjen &fytn ju dfjarafterifiren. ©r fafcte ben Dberprafibenten ate
einen SBeamten, ber ebenfo tt>ie ber SRinifter bic SSertoaltung im ©anjen
unb im ©rofeen unb nur fo fjanbfjaben miiffe, bod) Don bem ©tanbpunfte
ber ^roDinj aug. ©eine #auptbeftimmung miiffe bie SSertoaltung beg
„®ej>artemente beg guten ©eifteg" fctn, bie ©ontrole ber 2tbminiftratiD=
be^orbe erfdjeine baneben ate untergeorbnet. 3um ©ift aber toerbe ber
Dberprafibent fiir bie ^roDinj, menu er eg unterlaffe, SRinifteriats
anorbnungen, bie fiir bie ^roDinj ntdjt paffen, cntgegenptreten unb in
jebem folcfjen Satte fcine polttifdje ©jriftenj ein&ufefeen. „$erfbnlid)e Un*
fetbftanbigfeit," fo fagt ©d)8n in feincr jtoeiten Autobiographic, bie eigent*
lid) mefjr cine ©taatgfdfjrift jur Seljre ift, „ftef)t feinem SBeamten toofjl an
unb fann fiir ben ©ouDerain niemate gute fjrudjte tragen, aber bei bem
Cberprdfibcnten ift fic bie ©iinbe ioiber ben Ijetligen ©eift, toeldfje toeber
in biefem nod) in jenem Seben Derjiefien toerben fann." Unb ba iljm
SPreufjen ate ein ©taat mit proteftantifd)en Untertfjanen nur in ber 3tts
tefligenj feine S3afte ju fjaben fd^ien, fo toax eg bie £ebung ber Sntettigen^
bie er in erfter Sinie Derfolgte. ©r t)at fid) in ber Derfd^iebenften SSeifc
ber Stuff larung beg SSoIfeg angenommen; bie ©riinbung einer 93ibtiot^ef
unb einer 3^itung ge^orten ju feinen erftcn ^anblungen in Sittfjauen.
9Jlit ©tolj fonnte er auf bie 400 neuen ©djuten in SBeftyreu&en ^in^
ttjeifen, bie untcr fciner SBertoaltung entftanben toarcn, auf bie SBtiitfje ber
Unioerfitat unb ber ©tjmnafien, auf bie Stnfange ber SReatfdjuIen, auf bie
po(itif(f)e unb Ijumane 93i(bung, burd^ bie fidf) bie ^roDinj augjeid^nete.
©icfe ©cite feiner 2f>atigfeit toar i^m gerabeju $)erjengbeburfni6. S)enn
cin aKgemein toiffenfdf)aftftd)er, ^ot^f)iftorifct)cr Xricb toar immer in ifjm
regc. ©r Icbte mit alien ©tdnben; feit er Slrn'au ertoorben, xoax er cin
renter Sanbtoirt^ geworben; ber Umgang mit bem gebilbeten S'aufmann
n?ar ifym Dorjuggtoeife angene^m: aber am tiebften toar i^m bod^ ber
10*
226
J r a ii 3 Hiitjl in Kbnigsberg.
S3er!el)r mit ©ctel)rten. ©r fal) eg gem, toenn er in bie ^robleme audfj
foldjer SBiffenfdjaften eingefufjrt ttmrbe, tt>elcf)e if)m an unb fiir ftdj fern
tagen; um Sebenbe nidjt ju nennen, fei eg geftattet, nur auf feinen SSers
fe^r mit SOteinefe, 93 cf f c 1 unb bent iDlatfjematifer Sac obi fjinautoeifen.
Seine SBesietjungen jur UniDerfitat tt)aren ifjm iiber Meg tfjeuer unb eg
loirb beljauptet, bag eg toefentticf) mit an ber $erfonIidjfeit ©d&5ng ge;
legen fyabe, bag Don ben grogen ©etefyrten, toetdfje bamalg bie 3ierbe focr
Sbniggberger $odf}fd)ule augmadjten, feiner cinem SRufe nadf) augtoartg, fo
lotfenb fie aud} oft toaren, gefolgt ift. 2tber ©cfjon Dergag bodf) aud)
niematg, bag cr ©taatgmamt fei unb fein ©eleljrter. (£r Ijatte ju oiel
2lrf)tung Dor ber 2Biffenfdf)aft, um fid) iljr gegeniiber eine Eompetena ju-
pfdjreiben, bie ifym nid)t jufam unb er ttmgte audfj ju tuurbtgen, toarum
jener alte ffionig feinem ©ofjn juricf: „©dE)amft 3)u 3)idj nidjt, fo gut
bie gt5te ju blafen?" ©t)ftematifdje ©tubien fjat er auf ©ebieten, bie
i^m fern tagen, nicf)t gemad)t. 3Me ©egenftanbe mugten if)m entgegem
gebracfyt toerben, er Derlangte ?lnregung. ©o tjat ifyt SJleinefe $um
©tubium ber Saufunft ber $tten gcfiiljrt, fo toedte ©rote feine 23c;
fdjaftigung mit griedjifdjer @efd)id)te. 9tber nrie empfanglidE) er fiir atteS
©roge tear, bag bejeugen mefjr atg 9lnbereg jene faft rufjrenb ju nennen=
ben SBorte furje S^it Dor feinem lobe: „©oH idf) benn ttrirftidj fterben,
oljne ben 12. Sanb Don ©roteg ^History of Greece" gelefen ju tjaben?"
®ag SSerftanbnig fiir bie bilbenbe ®unft ift iljm fpdt aufgegangen, nrie
fo oft im SRorben, aber einmal erioedt, Ijat eg bie {jerrlidfjften griidjte
getragen; 3^ugen beg bie SOtaleralabemie in Soniggberg unb SKarienburg.
®g biirfte gcgentodrtig ein befonbereg 3ntereffe getoatjren, ju feljen,
toie fief) ©d)5n alg Sermaltunggbeamter jur fatfjolifdjen Sirdje gefteQt unb
tt)ie cr bie preugifdje ^otittf ingbefonbere in bem Joiner ®irdEjenftreite be;
urtfjeilt fyat 93ei feiner ganjen 9tid)turig fonnte iJ>m bag SSerfaljren beg
ajliniftcriumg in biefer 9lngelegenfjeit Don Slnfang big ju ©nbe nur alg
eine ffiette Don ge^Iern erfc^einen, bie fc^lieglidf) ju einer SBerttnrrung
gefiif)rt, aug ber eine Sftettung ni^t mef)r ju tyoffen toax. Sr mugte fi^
burd^ eine ^immettoeite Sluft Don einer Setradjtunggtoeife, mie tttoa bie
SBunfeng, getrennt fufjten unb er fyat biefem ©egenfafe leb^aftcn Stugbrud
Dertieljen. SSag fonnten auc^ biefc bciben SRanner mit einanber gemein
l)aben, beren ganje Strt ju empfinben ebenfo Derfc^ieben tear mie i^re
8icle? Db 3)rofte;SSif Bering moratifc^ bered)tigt toax, in ©a^en ber
gemifc^ten @^en anberg ju Derfa^ren, alg fein SJorganger, toar fiir ©d)5n
eine fef)r uutergeorbnete grage. ©r ^ielt eg fiir ben ©runbfeljler ber
^reugifd^en ^olitif, nbtx^anpt mit bem $apfte ober gar mit einem ©rj;
bifd^of toie mit einem coorbinirten ©ouDerain Der^anbelt JU ^aben. ©anj
biefelben SKig^ctligfeiten toiirben fid^ ^erauggefteUt ^aben, fo meint er, menu
man ettoa mit bem l)of)en 9lat^ ber ^errn^uter ober bem Dber^Srma^ner
ber SKennoniten Der^anbett Ijatte. 5)ag einjig 3tid)tige in ber ^5Iner
(Etieobor pott Sdjdu.
227
grage toare getoefen, t»or alien SMngen feftjufteflen, ob man ben ©rjbifdjof
geri d)tlidE) ^ttringen Wnne, einer Stnorbnung be3 SJkpfteS entgegen, gemifd&tc
©lje einfegnen laffen, oljne bafc eine 9Serpflid)tung jur fatljolifd^en (£r=
jiefjung ber Sinber eingegangen tourbe. 3m gatle biefe grage bejat)t
tourbe, tjatte eine gerid)tlidf)e Unterfud^ung cingeleitet unb ate golge ber=
felben mit ®etbftrafe, Strreft nnb ©affation burd) 3uriicfna{}me be£ fonig-
lichen $lacete Dorgegangen toerben miiffen. (Srfdjien aber ba£ gerid&tUdje
Urtljeil jtoeifettjaft ober tootttc man ber politifdjen gotgen toegen eine (Strafe
bis jur ©ntfefcung Dermeiben, fo Ijatte man einfadf} bie ©iDitefje allgemein
etnfiifjren foflen. 5)em lefcteren 93erfat)ren tourbeu aber fdjon bamate bie-
felben ®riinbe entgegengefjatten, toie in nnferen Sagen. „$f)eite lonntc
man fid)," bemerlt ©dj5n, „Don bem ®ebanfen, baf$ bie Xrauung bie ©fje
conftituire, nidE)t toSfagen, tljeite tootlte man au3 $ietat bie 2Bid)tigfeit
ber ffircfye babei erljalten." £atte man fid) bod) in S3erlin 3tom gegem
iiber fogar bereit erftart, bie Stoilelje auf bem linfen Slfjeinufer abju-
fd)affen! 3)aj$ freilidE) bamate S^manb ber SRegierung ate eine m5gftdje
3Ra|regeI empfofjlen fyabe, toaS ein proteftantiftfjer SJJrofeffor ber 2l)eoIogie
nocf) 1868 fur jtoecftnafjig ju erflaren fid} nid)t entbtflbet Ijat, ndrntid) ben
SJrautteuten Derfdfjiebener Eonfeffion ju ratfjen, auf bie Serbinbung mit
einanber ju Derjid)ten, tooKen toir Dorlaufig fiir unm5gtidE) fatten. 3)en
tir<f)enredf)tlid)en I^eit be§ altgemeinen £anbred)te t)iett ©djiftt gerabe
barum fiir Dorjiiglid), toeil Don ber ftirdfje ate foldfjer barin gar feine
Stotij genommen, fonbern nur Don ber SirtfjengefeKfdjaft, toie fie im
©taate befteljt, gerebet toirb. S)iefe3 ^rincip {jabe man nur feftfjatten
unb bie einjelnen SSeftimmungen DerDollftanbigen fotten. „$ie fatljolifdfje
8ircf)e," fo fiitjrt er au3, „gibt niemate ein $rincty auf, unb jebeS
9legotiiren ift stoedloS. ginbet e3 ftatt, fo fann e3 nur gute golgen fiir
bie Sirdje Ijaben. Stimmt man aber Don ber fatljolifdjen Sirdf)e unb
beren ©berljaupte gar feine 9lotij unb fennt Don ©eiten be3 ©taate nur
bie fatfjolifdje ®irdE)engefettfd)aft, toeld£)e im ©taate ift, unb fefet biefer
^Principe mit ber gorberung beS unbebingten ®e^orfamS entgegen, fo
glaubt fic^ bie ftird)engefettfdjaft im Buftanbe beg 3toangeg, lafet i^r
fird^tid^eS ^rincip auf fid) beruljen unb fu^t fetbft 9lu3glei<f)ung
au^jumitteln, tooju bie fatfjotifdje ^irc^e an fid^ unb DorjugStoeife ber
SefuittemuS ganj geeignet ift." ©c£)on fetbft ift, feinem eigenen Beugnifc
jufolge, mit a^t fatfjotifdjen Sifd^ofen gang gut au^gelommen; einige
Slnftdfje, bie fid^) ergaben, feten fe^r balb toieber au^gegtid^en toorben.
fei nur barauf angrfommen, bie Sifc^dfe ju ber Ueberjeugung ju bringen,
ba§, mie fie auf jeben juldffigen Seiftanb im 93orau3 rec^nen fonnten, aud^
nicf)t entfemt ein Uebergriff Don ©eiten ber ®eiftlidf)feit gebutbet njerben
tourbe, auf ber anbern ©eite aber and) fie nid)t mit 3«niut^ungen ju
be^eKigen, auf toeld^e ein fattjotifdEjer ©eiftlic^er einjuge^en au^er ©tanbe
ift. ®aS geft^alten an biefen ©runbfafcen i)at benn aud^ betoirft, ba§
228
in Konigsberg.
ber firdf)tid(je griebe in bcr 5}5rot)in5 ^reufcen toaljrenb ber Sdjonfdjen
SBerttattung niemate geftort toorben ift.
Ucbcr ber gorberung bet geiftigen Dergafc ©<f)iftt inbefi nicfyt bie bcr
matertetten 93ebiirfnijfe bcr 5}5roDut&. ©ie Derbanft iljm u. 21. ben ©t)auffee=
bau unb bie erfte 2lntoenbung be£ ©tyftem§ 2Rac Stbam in Seutfd&Ianb, bie
©infiiljrung ber feinen ©d^afjuc^t, Dor SCHem bie ©rhnrfung unb bie em-
fic^tige unb uneigemtufcige ®urd}fu!?rung ber attgemeinen 2anbe3unter~
ftii^ung. Unb babei ift eS bejeidfjnenb, ttrie er Derfufjr. @r tiebte bie
Sureaufratie nidfjt, ba3 SBertiner Seamtentljum tear ifym fpeciell ein
©reuel, er fud)te mit toenig Seamten, tnit ber ^eronjie^ung mogtid)ft
meter biirgerticfyer Shafte ju ttrirfen. ©r ging iiberljaupt nicfjt barauf
au3, 9lt(e3 Don fid) au3 tf)un ju Gotten , e£ tyanbeltc ftd) fur ifjn im
©runbe nur urn bie SInregung, in ber Ueberjeugung, bafe fid) Derm5ge
ber SOtadjt ber Sbee nadf^er ?lUe§ Don felber madden toerbe. Unb fo liefj
er benn aud) 2Jtanner, bie einmat fein 93ertrauen ertoorben fatten, toxe
3) inter, flatten unb fatten nadf) ©ef alien, to&Ijrenb e£ im 9tttgemeineit
nid)t gerabe ju ben Stnne^mlic^feiten getyort Ijaben lann, unter ifjm
bienen. S)enn toafjrenb er im Dotlen Seftfc ber feinften UmgangSformeit
war unb t>5f fid^c Sejieljungen, menu aud) mit einer getmffen 3ronie, mit
2Rannern ju unterfyalten Dermodfjte, twelve iljm fo antipatfjifd) toaren ttrie
®amp§\ toaljrcnb er in 93ejug auf eine ttrid)tige Gfyifobe feine3 2eben§
alien 9lnfeinbungen gegeniiber einen 3^tfinn bettriefen Ijat, toeld&er nid)t
allfeitig geniigenb getoiirbtgt ju toerben fdjeint: fo lag bocf) anbererfeits
in feiner SRatur eine gettriffe £>erbl)eit unb tourbe bei feinem ungebutbigett
unb gatligen temperament nidjt bloS Don Seamten ber alteren ©djule
ofterS geflagt, baft amtlidf} nidjt mit it)m au^jufommen fei. 3)af$ man
ba$ in SBerlin, too fid) auS anberen ©ritnben ein griinbtidjer £afc gegen
i§n anfammelte, boppelt empfanb, Derfteljt fid) Don fetbft. ®er glanjenbfte
ajloment ber ©d)onfd£jen SBertaaltung ift befanntlidf} bie 3^it ber (£l)olera=
epibemie Don 1831. 3d) m8d)te nid)t fo Die! ©ettrid&t auf bie Scene
tegen, ttrie er Don Slrnau in bie ©tabt Ijereinfommt unb, ber furd^tbaren
©eud)e Xrofe bietenb, tt)a^renb bie 3d?! feiner 93egleiter immer me^r
Sufammenfdfjmilit, an ba§ Sager ber Sranfen unb ©terbenben tritt; e^ ift
ba§ be8 ^5c^ften Sobe^ tuiirbig, aber e3 toar bag bod^ nur ein p^fifc^er
2Rut^, tnie er i^n aud^ fc^on frii^er gejeigt, unb tok er Dielen Stnbercn
auc^ inne tuoI)nte. Sebeutfamer fd^eint mir t)er moralise 3Kut^ ju fein,
ben er bettneS, atS er bie fdmmtlic^en ISniglic^en 93erorbmmgen in 93ejug
auf bie S?ran!f>eit o^ne SBeitereg Don fid^ au3 aufeer Sraft fefete. Unb
Ijierbet jeigte fid^ aud^ auf ba£ ©lanjenbfte, toie feine ganje ©rfdjeinung
felbft einem SUlanne toit griebrid) SSilfjelm III. imponirte. Der ®5nig,
ber fonft fo eiferfii^tig auf feine 2Jlacf)t unb auf bie SSoIIjie^ung feiner
?lnorbnungen njaf, fagte bcr Sommiffion, bie jur Unterfudfjung be^ eigen-
mad^tigen SBerfa^rcn^ be3 Dberprafibenten nac^ Sonig^berg gefanbt ttmrbef
(Et^cobor von Sd?8n.
229
beim SIbgange: r/ SCBirb nidjt t>iet babci fjerauSfommen; Sd)8n immcr
Stedjt fjaben." SBic e£ fid) betm aud) tjerauSftettte.
©0 Derttmd)3 ©d)5n immcr mel)r mit bcr ^Jrotunj, cr fat) ben
©amen gebeifjen, ben er auSgeftreut, er toar ftolj anf bie ^Srotnnj unb
fic auf ifjn. Sttlein e3 toare irrig, ifyn in irgenb einer ^JJeriobe fctne^
SebenS aU einen fcorjugStoeife pro&injiellen ©taatSmann $u betraci&ten.
3)ie ©efammttoerljattniffe be3 ©taate3, fetbft bie attgemeinen europaifdjen
Slngefegentjeiten betjiett er immer im Singe, ©r Ijarrte ber 3dt, too
toieber 3been toiirben toirffam fein fflnncn; trofc ber triiben ©rfatjrungen,
bie er toon ber SBirfmtg be3 fjerrfdjenben ©tjftemS mad)te, jtocifcltc er
ttid|t, bag fie fommen toiirbe. 95lit ber 9tegiernng griebridE) 2Bit!jetm£ IV.
fdjien fie angebrodjen. ©df^on fjatte eine augerorbenttidf) f)ol)e ajleinung
toon bem ®ronprinjen, inSbefonbere don ber SReintjeit unb Qbcatitdt feincS
©emiitfjS. ©r ftanb ttjm pcrfoutid) nalje, unb ber ^ronprinj gab feiner
SSerefjrung fur iljn oft ben innigften 2lu3brucf. 9la<f) jenem Sefuct) in ben
©fjoteratajarettyen j. 93. madf)te er iljm briefly bie jarttidfjften SSornwrfe, bag
cr fid) fo offenbarer SebenSgefatjr mi£fefce, er mitffe barauf bebacfjt fein,
fid) feinen greunben, bem SSatertanbe unb ifjm fetbft ju ertyalten. „2lber,"
fo fiigte er am ©dEjtuffe f)insu, „©ie toerben anttoorten, toaS ber ©runs
fdjnabet fagt, bem tege id) feinen SBertt) feci, id) tfjue bod), toa§ redjt
ift." @o gtaubte benn ©d)on ba§ S3efte Dpn bem $rinjen fjoffen &u
burfen, obtoot er in ben tefcten Safjren mit ©cfymerj bemerft fjatte, bag,
iitSbefonbere feit bem lobe SRiebutjrS, bie „3ptanner ber friifjeren finfteren
Beit" grogen ©inftug auf it)n ertangt fatten. @r tjiett ba» nur fiir
<3d)atten, bie toieber Doritbcrjietjen toiirben, toenn audf) einen 2(nbcm ge-
roiffe tjtjperromantifcfje Sbeen, bie fdjon bamalS ju Xagc traten, in feinem
SSertrauen fatten toanfenb madjen miiffen. %t1jtf nati) ber Sljronbeftei;
gungf fudjte er birect auf ben Sonig ju toirfen, in „2Bof)er unb SBotjin?"
enttoidette er ifjm fein ^rogramm. 2Bie ba3 9llle3 geftfjeitert ift, fjabe
id) fjier nid&t au^^ufii^ren. S)ie 2age S5nig griebrid) SBil^elmd IV.
barren no§ be£ taciteifd^en ©riffel§, ber fie ben SRacfjgebornen Dorfiifjre
jum unt)eriierbaren ©ebadjtnif*, benen aber, bie fie burd)tebt, im
fammen^ange beute. Slur Sin3 ^abe id) no^ ju erortern, bie oft ge^orte
SBefjauptung, ©d^on tjabe in Dftpreugen bie Dppofition grog gejogen.
Ijaben gar feltfame SK^t^en baran gefnii^ft; e^ ift fogar betyauptet
tuorben, er fei bei ber 3tbfaffung ber „93ier gragen" betljeiligt getoefen
unb ^abe Sacob^ bei feinen Derfdjiebenen 3te(^tfertigunggfc^riften unter^
ftiifct. 2)a^ bebarf mot faum nod) ber SBiberlegung. 2)enn tuenn jematS
3emanb geiftig auf eigenen gugen geftanben ^at, fo tuar e3, bariiber
finb n>ir toot 2ttte einig, Sotiann 3acob^. Ueber^aupt ift bie furjlid)
mie eine allgemein befannte 2f)atfac^e fed in bie SBelt gefc^teubcrte ©r^
finbung toon einer innigen SBerbinbung ber beiben SOtamter o^ne jeben
^iftorif^en ffern, fo tuenig man au^ ettuaS Stuffattcnbc^ barin finben
230 $ ran3 Hiifjl in KSnigsbcrg.
fimnte, toenn fie toatjr ware. 9Sor bent Srfdjeinen bcr „33ier gragen"
beftanb jttrifd£)en ifjnen, ttrie ©djou an ben ffonig fdjrieb, audf) nid)t bic
geringftc gefettfdjafttidje JJejicljung; fpater fyaben fie, fine 3acobty fur^e
Sett oor feinem lobe auf 93efragen erHarte, einige tocnige SWalc mit
einanber toerfel)rt, tt)ic e£ naturlid} ift bei SDlannern, bie eine fjertoor-
ragenbe politifdjc ©tettung einnefjmen, otnte fid) jeboc^ jemate perfonttdj
nafjer getreten ju fein. Die jefct oer5ffentIidE)ten Sriefe ©dEjonS au$ bem
9lnfang ber 40 er %ai)xt geftatten nid)t einmat, ifnt fo ganj eigentftdj
ate ben Sufyrer ber ftanbif<$en Dppofition ju betradjten. Seine bamalige
politifd£)e ©tettung ift iiberljaupt fd^toer ju beftniren; er lafet fid) in ben
politifdjen ^arteien feiner 3*it faft fo toenig unterbringen, ate in benen
bcr imfrigen, Unb ein ^arteimann toar er^ genrife ni<f)t. 3eber muffc
in bicfer 3^it auf fid) fetbft ftetjen, fdjrieb *er 1847 an ©ermnuS, al$
er bie SBibmung oon beffen ^ampljlct iiber ba3 patent t>om 3. gebruar
abletjnte, obtool er mit bem ^n^alt ber ©djrift ganj etn&erftanben war.
Stber jene 9tnfi<f)t ift bod) nid^t ganj unbegriinbet. ®en ©eift, ber in bcr
ftanbifefyen Dppofition ljertoortrat, Ijatte ©d)5n geioedt, ifjre gorberungen
toaren nacf) feinem ©inn unb er toar ftotj auf bie £altung $reuj$en£.
Safe man in 93ertin i!)n fur ben Sanbtag naljm, fjat itjm gefdjmeidjelt
Die ©enduing jener Sorberungen, bie ©rfiittung be3 33erfore(f)en3 Don
1815 tyielt er jubem fur cin ©ebot potitifdfjcr Sftotljtoenbigfeit, unb
fdjtoere $ataftropljen toaren bem SSaterlanb erfoart geblieben, toenu man
feine treuen SBarnungen nidjt itbertyort fjatte. 5)ie ganje ©dfjtoere beffenf
toa3 ba fommen fottte, l)at er freitid) felbft 1844 nod} ni<f)t fcorau£=
gefeljen; er meinte bamate nod), bag preufeifdje Sort fei ju gefefclid) unb
ju treu, ate ba§ ba£ SBemufjen, getoaltfam feinen ©ulturjuftanb jurucfc
juftetten, ju ©etoattljanblungen fii^ren fottte.
©8 gabe nod) mandfje ©eite in bem Sfjarafter ©cf)5n3, twelve ©toff
ju frudEjtbaren ©rbrterungen barbate; id) fflnnte nod) auf fein ^jJri&at-
leben eingetfen, idj fonnte — ein gar nid)t untoic^tigeg SUlomentl —
feine Urtljeile iiber geitgenoffen analtjfiren, bie don anberen Sluffaffungen
ja oft fo toeit abfte^eu, id£) fiJnntc — bod^ toa^ liefee ftd^ nid^t nod^
2ttte^ iiber ©d)5n fagen! S)a§ Stu^fc^Iaggebenbe tjoffe id^ in bem SSors
ftetjenben jufammengefafet ju t)aben unb idf) toiirbe ^odjerfreut fein, menn
funbige 83eurt^eiler finben fottten, bafe e3 mir gelungen fei, toenigften^
bie #auptjiige in bem SBefen ©djonS ric^tig ju erfaffen. ©liidlic^ aber
ttrirb ber ju preifen fein, bem e3 DergSnnt fein ttrirb, im Dollen Sefife
unb mit Dotter 93ef>errfd)ung be^ ©toffe^ ber Sladjtoelt ein ganje^ unb
in fid) gefd)Ioffene3 Seben^bilb be§ grofjen 3Kaune» ju enttoerfen.
ZTCebtcmtfd}e (Bloffen 3um fjamlet*)
Don
Carl (SCIjierfrij.
liir cinen ^rofeffor bcr ©tjirurgie ift e3 fitter, etn Xfjema ju
finben, mit bent cr fcertraut ift unb ba£ fid) aug(eid) fiir cine
y ©etegenfieit, tme bie fyeuttge, eignet. §alt er fid) innerfjalb
1£»™S^ bcr ©djranfen fcinc^ 93eruf3, bleibt er bei feinem Seiften,
fpridjt er j. 8. iiber $>ofpitdter, iiber toeibticfye Sranfetipftege, ober
ttrie ttrir e£ fo I)errlid) toeit in ber Stjirurgie gebradjt, fo mag ba£ red£)t
belefjrenb fein, aber trofe atP feineS 93emiit)en3 toirb fid) nad) fur^er
3rit bie unerfreultdje SBoIfe ber Sangentoeile auf bie fjodjanfefjnlidje
SJerfamntlung fjerabfenfen.
28al)lt er bagegen ein Ifjema Don allgenteinem 3ntereffe, bent er
jebod) ferner fteJ>t, fo ift er ber ©efaljr auSgefefct ein, toenn aucf) toof)U
rooflenbeS, bod) geringfdjafcigeS Sddjelu bei feinen Qufytixtxn fjertoorjus
tufen. 9ltte£ bieS unb nod) einigeS t)abe id) bent $>errn director
Dr. 2Badj3mutf) entgegengefjalten, ate er mir bie eljren&ofle Slufforberung
bradjte, mid) an biefen „monumentaIen" SBorlefungen ju betf)eiligen, in;
beffen, tt>er fann feiner liebenStoitrbigen ®nergie toiberftet)en, nnb fo fjabe
id) mid) entfdjtoffen, mein Sidjtftumpfdjen an bent ©onnenfeuer ©f)afe=
fpcareS anjujiinben unb »or 3^nen ate 2)ilettant ya erfdjeinen, benn am
@nbe ift c3 bod) beffer ein ladjelnbeS, ate ein galjnenbeS ^ublifum bor
fid) ju Ijaben.
3)a§ id) auf ©Ijalefpeare unb £>amtet fam, war ein Bufatt; nad)
langer $aufe tyatte ber I^eaterjettet einmal ttrieber „$>amlet" angef ihtbigt,
unb ba e3 fiir einen SSater tmmer ein feftttdjer lag ift, toenn er ©e*
*) SSortrag, gefjalten jum SSeften be3 Seipjiger <Siege3benfmate am 1. Sttftra 1878
im $en>anbfjau3faale ju Seipjig.
232 (Earl Cfjierfd} in £eip3ig.
tegenfyett ftnbet, feincn Stnbern jur redjten $tit bie perf5ntid)e 93efannt=
fdEjaft ber SOteiftertoerfe alter 3eiten ju Dermittetn, fo toar itf) Deranlafjt,
bie SorftcHung 511 befud)en. ©ie ioerben Don mir !cine ftrittf ber 93or=
ftellung ertoarten, fitr Sritif ift in unferem £ety$ig l)tnreid)enb geforgi,
aud) geljore idf) ioeber ju ben „21)eaterfreunben" *) nod) ju ben £ljeaicr=
fetnben, bin ein 9Kann be3 griebenS, tjalte eg mit einer Dorftdfjtigcn
SReutralitat, erfreue mid) be3 ©uten, lafe mtdf) Dom Seften itberrafdjen,
bent ©ertngen get)' id) au8 bent SBege — unb beftnbe mid) tooljt babct.
®a id) bie gauge 3^it mid) mit ber ©orge trug, ob fid) tool cm
geetgneteS SEfjema fitr meinen SSortrag finben toiirbe, ba id) bereite anting
ate 5Rebner, ber ein Xljema fudjt, meinen 3freunben gefatyrtttf) ju merben,
ba mid) bie graue ©orge aud) tn'S Sweater begtettete, fo ift e§ ttur
naturlidE), bag id) in bem 83eri<f)t be£ alten #amlet, tuic er im ©djlaf
um'3 Seben gefommen, fofort ein geeigneteS Sterna erbtidte. ©teidfjjeittg
gruppirte fttf) Dor metnem inneren 2tuge ber ganje tibrige mebictntfdje
©toff, tuctd^cr im $amlct ju £age liegt: bie Xobtung be3 ^oloniuS,
— ber mirHic£)e SBaljnftnn ber Dpl)elia unb itjr lob, — ber Derftefltc
SBaljnftmt $amlete, — ber lob be3 gantlet unb be3 SaerteS burd) Dcr~
gtftetc SBaffen, — ber lob ber ®5nigin burd) ben ©iftbedjer, bc3
®onig3 burd) ©ift unb $egen jugteid), unb toemt aud) bie Stuftofung
ber $erle tm SSein meljr in'3 *pf)armaceuttfd)e fd)lagt, fo tjaben tjinmiebcr
bie 3lnfid)ten £amtet3 unb ber Sobtengraber iibcr SSermefung unb ©toff-
toedjfet entfd)ieben einen ntebtcinifdjen 93etgef<J)mad; furj ©toff genug, unt
einen gotianten mit mebictnifefjen Eommentarien ju fiiflen, aber ftirdjten Sic
ntdjte, id£) toerbe mid) auf eine Heine 9lu3toaf)l befdjranfen unb mit ber
Dorgefdfjriebenen 3^it auSfommen, bie JobeSart beg alten gantlet, Dptjcs
Iia3 toirflidjen unb $amlet£ Derftettten SBafjnftmt toerbe idf) mir ertauben
Dom arjtlidjen ©tanbpuntt ju erlautern.
ajletne Senntnifj ©tjafefaeareS, ate id) an bie Slrbcit gtng, ettoaS
fitr ©ie juredjt ju madEjen, iiberftieg nid)t ben gctoS^nlic^en Sur^fc^nitt.
3^ ttmfcte beitauftg, toa% fii^tenberg, Seffing, ©oetlje, ©erDtnug unb
etnige anbere iibcr iljn gefdjrieben, nun aber befanb id) mid) Jrfofclid) in
enter 5a^Ireid)en ©efeflfc^aft, jufammengefefet aug Dielen tjunbert ^erfoncn
faft aller 935lfer unb Serufgftaffen. SJRerftoitrbig gtngen in btefer ©c^
fettf^aft bie aJletnungen iiber unfern S)ic^ter au^einanber: ben Sincn
toax er ber f)5d)fte ©eniug ber 9Jlenfd)^ett Don umfaffenber Stlbung, ben
Stnbem ein untotffenber ©d^auf^ieler Don mittelma^iger 93egabung; ben
©inen ber %t)p\x% manntid^er Unabljangigfeit unb mafetlofer Seben§-
fit^rung, ben 9lnbern ein ferDiler ©c^mei^Ier oljne jeben moralifdEjcn
1) Sine tiefgeljenbe unb toeitDerbreitete SSerftimmung ber £eip$iger iiber i^re
X^eaterauft&nbe ^at ben „2krein ber 3:^eaterfreunbe" in'g Seben gerafen, ber jut
@rrei(^ung feiner gtDede aud^ Dor ftarfen SKitteln nid^t juriieffdjeut.
ITCebtctnifdje (Sloffen 3um fyamUL
233
4>alt, ben (Sinen ein ptanDoller unb tieffimtiger 3)id)ter, ben 9tnbern cin
leidjtfertiger 3ufanimenpider toon 3)ramen au3 gcftofylenen gefcen. S)abet
bemerfte id), tone bie SScrtrctcr bcr toerfdjiebenften ©eifteSridjtungen unb
£eben£tf)dtigfeUen il)n ju bem Sfyrigen red)neten. 2>ie ortljobosen $ro=
teftanten, bic cifrigen Satfjolifen, bie 3)eiften, bic $antf)etften, 9tttjeiften,
*(ieffimiften unb SGUjiliften erftdrten iljn fitr ben Styngen, bie Qurtftcn
itnb bie SOtebiciner, bie ^f)ilofo#)en, bie SBotanifcr, bie ©tatlmeifter, bie
Sager, bie Sanbtoirttje, ©eefaljrer unb Slnbere — alle meinten, er mitffe
fidj gerabe mit iljrem gadje, nid)t bto§ tljeoretifdj fonbem aud) praftifd),
befonberS befd)dftigt Ijaben. ®ein SSunber, benn —
„3m ©jriegel, ber 9iatur Dom $id)ter Dorgefjalten,
9Kag bem ©efdjauer fid^ {ein IiebeS 3dj geftalten."
Stud) iiber $>amlet aU Kunftroerf, unb iiber §amtet ate ©fjarafter,
fanb id) gro&e SDteinuugSDerfdjiebenljeit. S5ie alte ©oetfjefdje 9luffaffung,
ba§ gantlet ju ©runbe gefje, tneil er don „be3 ©ebanfenS SBldffe angc;
franfelt", ju fd)toad) fei fiir bie ifjm getoorbeue 9lufgabe; ljat bie toer=
fdjiebenften @infd)rdnfungen unb ©ntgegnungen erfafyren; ia einer ber
ncueften ®ritifer finbet, bafe $>amlet ein burd)au3 tljatfrdftiger unb ener*
gifdjer ©Ijarafter ift, ber nur beStoegen mit ber 9tad)e jogert, um Dorfjer
bie ©d)ulb be§ SOtorberS dor aller SSelt ju entljiittext unb fo bei ber
9lu3fiil)rung ber SRadje Dor ber offenttidjen 9Reinung geredjtfertigt ju
erfdjeinen. SSd^renb bie ©inen in gantlet ba3 tieffinnigfte unb funft;
»oHfte ^robuct be3 menfd)lid)en ©eifteS erbliden, feljen bie Slnbern in
ilim ein ©tiitf DoKer S8iberfprii<f)e, in tocldjem bie Sataftroplje mutjfam
bi£ jum fiinften 91ft t)inau3gefd)oben toirb, toeit mit ber ©rmorbung
be3 SonigS tm erften 9lft ba3 ©tud fofort ju ©nbe tofire, unb befannt
ift 93oltaire£ Urtljeil, ba& $amlet trofe manner <5d)5nl)eiten ber Iraum
eineS betrunfenen SBilben fei, „rimagination d un sauvage ivre". Seiber
fonb id) ntdjt 3cit, mid) bei alien ©Ijafetyearefunbigen 9tat£)3 ju erljoten,
unb fo mufe id) auf gtjre 9lad)fid)t redjnen, tvenn id) cin ober bag 9ln^
bere uberfe^en fjaben fotlte.2)
2) @e^r erleic^tert ttrirb bag ^amietftubtum burc^ bie $amretau3gabe tjon
gumeg, Sonb. unb ^ilab. 1877 (III. unb IV. SBanb ber T,New variorum
edition of Shakespeare "). 3)iefe gurnelfc^e SluSgabe gibt ben Xert mit alien
SBarianten unb fritifc^en ©emerfungen, baneben u. 91. au^fu^rlic^e ^lu^itge Don
©djriften unb 9luffdjen iiber gamier, anfangenb mit Anthony earl of Shaftesbury,
1710, „Characteri8tics, advice to an author" bid auf Dr. §. ©aumgart, 1877,
„5)ie #amlettragdbie unb i^re ^ritif". — 9BiHiam ©^ate^eare oon ©. @lse, $alle
1876, ©^alef^eareS ^amlet Don bemfelben, Seipjig 1867, ©^atefpeareS ^amlet Don
£jfd)ifd>anfc, ftalle 1869, Shakespeare in Germany Don 9llbert So^n, fionb. 1865,
finb bie ©ild^er, benen id) neben bem gumegfa^en $amlet am meiften ©ele^rung
©erbanle. 9fadj [m\> mir auf mein ©rfudjen Don Derfd^iebenen ©eiten namentlic^ iiber
„S>e&enon" briefli^ ^a^loeife jugegangen, fiir bie idj ju 2)anf Derpflidjtet bin.
234
" £arl (Etiierfdj in £eip3tg.
• I.
SDladjert toix ben Stnfang tnit ber Xobe3art be3 alten gantlet.
S)en lejt baju Ijaben ©ie in §dnben unb jroar in jtoei englifdjett
unb jttjci beutfefyen SeSarten.
I
Xiadf 6cm alteften Drucf, Quartausgabe v. 3- 1603.
Ghost: .... but soft, me thinkes
I sent the mornings ayre, briefe let me be,
Sleeping within my Orchard,1 my custome alwayes
In the after noone, upon my secure houre
Thy uncle came, with iuyce of Hebona
In a viall, and through the porches of my eares
Did powre the leaprous distilment, whose effect
Hold such an enmitie with blood of man,
That swift as quickesiluer, it posteth through
The naturall gates and allies of the body,
And turnes the thinne and wholesome blood
Like eager dropings into milke.
And all my smoothe body, barked, and tettered ouer.
Thus was I sleeping by a brothers hand
Of Crowne, of Queene, of life, of dignitie
At once depriued,
2.
<Begenn>artiger nadj fpateren Jtusgaben feftgeftellter tTeyt
Ghost: But, soft! Methinks I scent the morning air;
Brief let me be. — Sleeping within my orchard
My custom always in the afternoon,
Upon my secure hour thy uncle stole,
With juice of cursed hebenon in a vial,
And in the porches of my ears did pour
The leperous distilment; whose effect
Holds such an enmity with blood of man,
That swift as quicksilver, it courses through
The natural gates and alleys of the body;
And, with a sudden vigour, it doth posset
And curd like eager droppings into milk
The thin and wholesome blood: so did it mine
And a most instant tetter barked about,
Most lazarlike with vile and loathsome crust
All my smooth body.
Thus was I sleeping, by a brothers hand
Of life, of crown, of queen, at once dispatched;
ntebicintfdje (Sloffen jum ^amlet.
235
3.
2t. OX Scfjlegels Ueberfetjung.
(Setjt: Dod? jiill, mid? biinft, id? ipttt're ITIorgenlnft:
Kur3 lag mid? fcin. — Da id? im (5arten fd?lief,
VOxt immer meine Sitte ZTad?mittags,
33efd?lid? Dein (Dfjeim meine ftd?'re Stnnbe,
Wit Saft t>erflud?ten 33i If entrants*) im £Iafdjd?en,
Unb tra'ufelt in ben (Eingang meines (Dtjr's
Das fdjrodrenbe (SetrSnf, tpooon bie IDirfung
So mit bes tftenfd?en Slut in <feinbfd?aft jietft,
Dag es burd?,bie natiirlidjen Kanale
Des KSrpers fyurtig, nne (Quecfftlber lauft;
Unb n>ie ein faures £aab, in mild? getropft,
ITXtt plotjlid?er (5en>alt gerinnen mad?t
' Das leid^te, reine Slut. So tfyat es meinem,
Unb 2Iusfatj fd?nppte fic^ mir augenblicflid?
EDie einem £a3arns, mit efler Hinbe
(San3 urn ben glatien £eib.
So tparb id? fd?lafenb unb burd? Brnberfyanb
Befd?nellt urn £eben, Krone nnb (Semafyl
Die entfpredjen&e StcIIe aus 6cr Cragd&te „6er beftraftc Bru&ermorfc
o&er Prins gantlet aus Dannemarf". Zftanufcript mit 6em Datum
„prefc 27 October
[2)tefe3 2R©. ift a!3 bie mobernifirte ©opie einer tnel altcren SRebaction
berradjten. (£8 toar eine Scitlang int 93efi| be3 beritfjmten ©cfjaufpielerS ©onrab
dcfljof (gcb. in Hamburg 1720, gcft. in @otlja 1778) unb nmtbe 1781 Don
§. % D. ffieicffatb in feiner Seitfdjrift „DUa <Potrtba" gebrudt. «. ©oljnB @f>ate=
fpeare in ®ermantj. Sonbon 1865, p. 236.]
(5eijt: £?b*re mid?, Jjamlet, benn bie §eit fommt balb, bag id} mid? n»eber
an benfelben <Drt begeben mug, n>o id? fyergefommen; f$re, unb gieb tpoftl
2Id?tnng, was id? bir e^afylen tperbe.
£?amlet: Hebe, bu feliger Sd?atten meines K3niglid?en £?errn Paters.
(Set ft: So ^bre, mein Solm Ejamlet, was id? bir er3fif|len tpitt von beines
Vateis nnnattirlidjem <£obe.
X?amlet: Was? Unnatiirlid?em (Eobe?
<5eijh 3a, unnatnrlid?em (lobe! EDiffe, bag id? ben (Sebraud? fjatte,
n>eld?en mir bie ttatnr angen>8Imet, bag id? tdglid? nad? ber ITCal^eit 3U IHittage
in meinem KonigIid?en £ujtgarten 3U gefyen [pflegte um allba mid? eine Stunbe
ber Hnlje 3U bebienen. 2Us id? benn eines (Eages and? alfo tfyat, fie^e, ba
fommt mein Kronfiid?tigtr Bruber 3U mir, unb fyatte einen fubtilen Saft con
€beno genannt bei fid?; biefes (Del ober Saft fyat biefe XPirFung, bag, fobalb
etlidje (Eropfen x>on biefen unter bas menfd?lid?e (Sebliit fommen, fie alfobalb
*) »erflud)ten S3UfcnIraut2] in SBobenftebtS Uebcrje^ung ^gifttgcn @ibenfafte§".
236 Carl (Lbierfdj tn £eip3ig.
afle £ebensabern perftopfen, unb itmt bas £eben neljmen. Diefen Saft gofj er
mir, als td? fdjlief, in meine (Dfyren, fobalb basfelbe in ben Kopf tarn, mugte
id? angenblicflidj fterben, fjernadj gab man ror, id? Ijatte eincn ftarfen Sd?Iag?
fhi§ befommen. 2Ilfo bin id? meines Heidjs, meines tPeibes, nnb meities £ebens
Don biefcm (Eyrannen beraubt.
Untcr 1 finbcn ©ie ben dltcftcn cnglifcf)cn Xejft, tt>ie itnt bie Duarto I
oom 3af)te 1^03 gibt. ®iefe Ouarto I ift cine fogenannte SRaubauSgabe,
cin ittegitimeS SHnb be3 93ud)l)anbete. ©tc ttrirb toon SRandjen fur cine
SSerftiimntcIung bcS cct)tcn £e£te£ getyalten, ict) glaube aber, bafi biejemgen
recfjt fyahtxi, ttjclc^c in i^r cine friit)ere SRebaction, bic tool bi£ in bic
80 cr 3at)re jurucfreicfyt, erbliden.
©tc ift atterbingS bebcutcnb furjer ate ber fpatere Zttf, fie jd^It
2143 %tiUxi, Duarto II unt ettua 576 Seilcn metjr, unb c3 tft rtdjttg,
bafi berartige aSerfurjungen getoflfmiid) bann ftattfinben, toemt ba3 ©tucf
bci ber crftcn Sluffttfjrung Sangen jeigte, ja ©fitter mufite feine ©tiicfe
fdjon Dor ben crften Stuffuljrungen fiirjen. 3Rit ©IjafefpeareS ©ranten
mrtg e£ fid) iebod) anberS Derljalten fjaben. ©tjafefpeare tear fcin
ftubirter 2)id)ter, feine 2)ramen entftanben gleict)fam auf ber 93itf)ne, ttmdtfen,
entttrideften unb toerebeften fidj mit bent 2)id)ter; toon meljreren ©tiirfen
ift bieS nadjgetoiefen, toafjrenb lituS 9lnbronicu3 in feiner erften gaffung
fte^en blieb, in feiner ©nttoidelung geljemmt tourbe.
®er ©tjarafter ber Sflnigin tft in biefer Duarto I tueniger ungitnftig
bargeftellt, ber SBafjnfinn $amlete tritt nte^r tyxbox, ben feenifefjen Sfafs
bau fanben bic beiben Reorient ttrirffamer unb Icgten itjn be^alb tljrer
93iil)nenbearbeitung ju ©runbe. ©ie toerben bemerfen, bafi bic Drtfjo^
grapljte biefe3 alteften Ie£te3 mangetfjaft ift, unb ©ie glauben Dielleid)t,
bie3 ruljre baljer, toeil bic 2tu£gabe einc unrecf)tnta§igc toax, tnbeffen aud)
bie fpatcren legitimen 9lu3gaben ju ©tjafefpeareS Scbjeiten finb laum
beffer befefyaffen. 3)ie Orthographic tear nodj nicfyt feftgeftellt, toon einer
fad)t>erftanbigen fRct>ifton be3 ®rude£ tear feine SRebe, unb ©hatefpearc
fclbft befuntmerte fid) rtid)t barunt. @in auffatlenber Umftanb, ba cr
rebtichem ©rroerb nid^t abgeneigt unb fic^ be3 9Berthc§ feiner SEBerfc ttjo^l
bemufet war. 93ieHeid)t tnaren fcine 3)ramcn in ben Sefi^ feiner Sweater*
gefcttfd)aft iibergegangen, fo ba§ er an i^rer $erau§gabe tein ©elb-
intcreffc fyattt, aber auc^ fo fottte man benfen, ba§ e£ i^m nic^t gleich^
giiltig fcin fonnte, in toelc^cr ©eftalt feine SBerfc auf bic 9lai)totlt
fontmen toitrben. ©o fam e^, bafe ber Sejt attcr ©hafefpearefchen bra^
matifd)en ffierfe cin, burd) bie ©djulb oon 9tbfd)rcibem unb ©efcent
bur^au§ t)erborbener ift uub bie lejt-^ritif befifet in i^nen cine nie
t)erfiegenbe Duette. ©{jafefpeare 509 fid) bcim Slntoa^fen fcine§ too^
ertoorbenen 95efifee§ me^r unb mel)r 00m Xtyatcx zuxM, unb ate er
toenigc 3a^re oor feinem Sobc ganj nac^ ©tratforb tiberfiebelte, urn al§
tooht^benber $a\& unb ©runbsSefi^er fid) unabhangiger 2Ru§e ju crfreuen,
IHebtcinifdje (Sloffen 3um fjamlet.
257
ljegte cr metteidjt bie 9lbfid)t, cine corrcctc 2luggabe feiner SBcrfc ju tier-
anftatten; aflein fdjon 1616 ftarb cr, erft 52 3af)re alt/ toatjrfdjeinlid)
an cincm rafd) Derlaufenben t^p^ofen gieber.
giir greunbe alter S)rude bicne bie SRotij, ba§ Don Duarto I jwet
©Ecmplare befannt finb. S)ag cine tourbe in ganj Derborbenem 3uftanbe
1823 in Sarton aufgefunben unb ift fiir 230^ in ben Sefifc beg $er;
$ogg Don S)eDonff)ire iibergegangen; bag anbere ©jremplar ttmrbe 1856
cinem ©tubenten Dom Srinitt) ©ottege in Dublin Don einent SIntiquar fiir
einen ©fitting abgefauft, ging fiir 120 Sftr. in ben 93efife Don ^aHitoett
uber unb befinbet fid) jefct im „93ritif!j 2Jhifeum". Dent erften ©^emptor
fefyft bag lefete, bem jtoeiten bag erfte 93tatt.
3)er 2. englifdje Sejt ift ber gcttJd^nltc^c, nad) ben fyateren Sing-
gaben feftgefteflte.
3. ift bie 3f)nen alien gelcinfige ©d)legclfdje Ucberfefeung mit einer
SBobenftebt'fdjen SSariante, toetdje bag ©ift alg „©ibenfaft" bejeirfjnet.
Unter 4 t)abe id) ben Xejrt eineg altmobifdjen beutfdjen gantlet abs
bruden laffen, in toeldjem gantlet ben ©eifi alg ben „feligen ©fatten
f eineg ftonigtid)en §errn Saterg" anrebet. ©djon ju Sebjeiten ©t)ate*
fpeareg bereiften englifdje ©djanfpielergefettfc^aften 2)eutfd)Ianb, gaben in
SBraunfdjtoeig, ©affel, Dregbcn unb anbern Drten 93orftetlungen, erft in
engtifdjer ©prad)e, fpater aud) in beutfdjer Ueberfefcung. Unter itjren
©tiiden waren metjrere ©^afef^earcf^c, 1611 ttmrbe gantlet in #atte
ait ber ©aale aufgefiifjrt. Die 33itf)nenmanufcripte biefer ©efellfdjaften
§aben fief) in einigen fpateren 8(bfd)riften erfjalten. Unfere 2lbfd)rift ift
tu>m Sa^re 1710, Ijat alfo eine I)mtbertjtit)rige 93orgefd)id)te. Dafi in
ber Sarbarei beg 30jd^rigen Sriegeg unb toa^renb ber barauf folgenben
geiftigen 9Ser5bung 2)eutf3)Ianbg eine SBerbcrbnifi biefer, Don einer #anb
ut bie anbere ttmnbernben $>anbfd)riften eintrat, ift ja nur nattirlid).
gufafce unb 9luglajfungen im ©efdjmad ber Qtit toaren unDermeiblid),
unb fo ttjie biefer beutfdje gantlet ung jefct Dorliegt, tjat man ben ©in;
brud, alg ob ein $angttmrft in ben SRuinen eineg prunfenben 9?enaiffance=
SJJatafteg feine 93itfjne aufgefdjlagen. SBenn eg tvafyx ift, ba§ ber 3Renfd)
tmrftid} Don einem affenartigen SSater abftamme, angefidjtg biefeg beutfdjen
£amletg, biefer ©arricatur eineg Ijofjen 3Renfd)entt)erfeg, befd)Ieid)t einen
ber ©ebanfe, ob nid)t ber 3Renfd) burd) ^aljrfjunberte Don 93arbarei
ber entgegengefefcten SRetamor^^ofe Derfatten fbnnte. ©in Seifjriel:
§amlet foil auf einer Snfel Don „}tt)ei rebenben Sanbiten", bie ber Konig
gebungen, ermorbet tuerben. @r legt fid) aufg Sitten, eg f)ilft nidjtg,
jule^t tt)irb i^m nod) ein ©ebet geftattet; er Deranta^t bie beiben 83an=
biten, jhjif^en benen er fteljt, iljre 5|JiftoIen redjtg unb linfg auf feine
23ruft aufjufe^en, tuenn er mit feinem ©ebet fertig fei, tuerbe er bie
£anbe er^eben unb bann fottten fie fc^ie^en. ©r erfyebt bie $dnbe, ftiirjt
fi^ jugleidj nac^ Dortodrtg, fo ba§ bie beiben Sanbiten fid^ gegenfeitig
238 Carl (E^terfc^ in f etpsig.
erfctjiefcen. Die nod) gucfenben Ceidjen burdjbofjrt cr ttriebertjolt mit
bent 2)egen.
Snbeffen trofc attcr 93erberbni& biefeg beutfdjen §amlet ift cr toon
grofiem SBerttje, benn eg finb SRerfmale toorfjanben, bic bermutfjen taffen,
baft cr auf cine nod) altere SKebaction ate bie bcr Bit. I jurudreidjt, \a
tnenn eg cinen toorffjafefaearefdjen $>amtet gegeben, ber Don SKandjen bent
Dieter Styb augefdjriebcn ttrirb, fo fdjlieftt cr fid) Dietteidjt an bicfcn an.
93efd)aftigen ttrir ung nun mit bcr mebicinifdjen ©cite beg Dorlie?
genben SDleudjelmorbeg. Sag ©ift, toeldjeg ©tjafefpeare ate ©aft Don
ipebona (Qu. I) obcr $>ebenon (fpatere Segart) bejeidjnet, gc^ort ieben*
fatte ttrie bag 9Kor{rf)ium ju ben narcotifdjen. (Sin berartigeg ©ift Don
folder ©tarfe, baft einige Jropfen in'g Di)x gebradjt fofort ben lob
bettrirfen, gab eg §u ©fjafefpeareg 3eit nidjt, ob eg ein fotdjeg untcr
ben mobcrncn ©if ten gtbt, laffe id) bafjingeftellt. SBeldjeg ©ift §atte
bcr S)id)tcr im ©inn? 3)ag SGBort £ebenon finbet fid) bci itjm nur an
bicfer ©telle, ©ie hmnbern fid) oicttcid)t fiber metne 83etefent)eU, — eg
ift nid)t tt>eit t)er bamit. 2Bir tjaben ein SBBrterbud), toorin aHe SBorte
©tjafefpeareg mit itjren ©tanbortcn aufgefufyrt finb, cin miitjfameg SBcrf
beutfdjen gleifeeg.3) @in 83lid in biefeg Cejrifon betetjrt, baft #ebenon
nur an bicfer ©telle oorfommt.
©elegentlid) bemerfe idj, baft ©tjafefpeare iiber cinen SBorratlj Don
15,000 SBorten Derfiigt, Stilton iibcr 8000, im aften leftament ^at man
5642 SBortc gejatjlt, auf eincn Dperntcjt rennet man 6—700 SBorte
otjne bic „SBagata=8Bcia^ormationcn//. SDa ttrir nur in SBortcn benfen,
fo tdftt bieg 3afyIenDert)dftnift auf ©t)afefpeareg @ebanfenreid)tf)um fdflieften.
93ei SWartotoe fommt bag ©ift ate „$ebon" Dor, bei ©otoer tturb
„£ebenug" ate ber fdjlafmadjenbe Saum ertodtjnt, unb bamit finb bic
SParattelfteKen bereite crfd}5j)ft. ©djiegel iiberfefet bag SBort mit „83ilfcn-
front", inbem cr bcr aSermuttjung beg Dr. ©ret) folgt. 2)iefcr mcint,
aug „£ebenott" crgebc fid) burd) SDietattjefig „$enebon", ^encbon fct
einc Corruption Don „$enbane", ^embane §eiftt „8MIfenfraut". S)a=
gegen ift jtoeiertei }u crinncrn, einmal, menu an bicfer ©telle ur=
fyrthtglid? „$>enbane" geftanben Ijatte, fp todre cin 3Kifet)crftanbnife ntd)t
benfbar, benn Sebcrmann, audj jeber 3u^5rer, ©d)rciber unb Slacks
fdjreiber ^attc t)om Sitfcnfraut gctpufet unb bafc eg giftig, bann: „$em
bane" pafyt nidjt in bag aSergmafe; unb fo ^at man biefe Ucberfcftung
aufgegeben, obtool ^lining bct)auptet, ba§ SUfcnfrauti)! — nebenbet
gefagt cin gans unfd)ablic^cg SJSrctyarat — in'g D^r gctrdufclt toll ntadje.
3um ^©ibenfaft" getangt man auf eincr anbern galjrte. Die bdnifdje
©age beg ©ajogrammaticug t)om ^rinj Slmlet, toclc^e unferm Xrauer^
fpiel ju ©runbe liegt, toeifc nic^tg Don einem ^cimlid^en ©iftmorbc beg
3) 5ttejanber ©c^mibt, ©$afcfoeate=£e£ifon. iBerlin 1874.
XTUbicinifdje (Sloffen 3um ^amlet. 239
altcn Danenfonigg $>oroenbtf, cr ttrirb Don feincm ©cfjtoager gengo offen=
lunbig erfd)Iagen; eg ift baf)cr ttjatyrfcfyeinlid) , bafc ©Ijafefpeare fiir bic
toon il)m eingefefcte lobegart cine anbere Duette benufct §abe. 3n bent;
„<Stitd im ©tiid", burdj toeldjeg gantlet ben SDtflrber entlartot, toirb biefer
©iftmorb bargeftettt, unb ba bie Stamen biefeg „©tiidfeg im ©tiid"
jum I^eil italienifd) finb, fo ift eg ttKri)rfcf)einIidj, baft eine italienifcf)e
Duetle ju ©runbe liegt, unb fo modjte benn ber Stame beg ©if teg eben*
ba^er entnommen fein. SESir belommen ein itaftenifcf)eg ffiort, toenn tnir
t>on „§ebenon" bag initiale „£" unb bag ©d)Iufc„n" entfernen, nnr
§aben bann „ebeno". 3)iefe SSeranberung bietet feine ©cfjttnerigfeit,
benn nrie bie (Snglanber aug bem ^mlet" einen „£amlet", fo fcerben
fie aug „ebenon" „§ebenon" gemadjt tjaben — befonberg bie Sonboner
finb burd} if>ren ©pradjmedfjanigmug Deranlaftt, bie initialen SSocale mit
cinem rautjen £aud) ju fcerfeljen, toaljrcnb ber, bem SBeidjen unb 93e*
quemen geneigte, Staliener bie initialen abft5f$t, ben £amtet in
„2tmteto", $>oratio in „Drasio" Dertnanbeft. 2)ag n.am ©djtufc Don tjebenon
ift eingefefct jur SSermeibung beg §iatug: „Hebeno in a vial" tpcirc Ijart.
S)ie Clvl. I, too bag SBort am @nbe beg ©afceg ftetjt, beburfte feineg
©djluf^n'g fiir $ebona. £ebona Dertoanbelt fid) burd} SSocatoerfejjung
in „(£bano" unb ebano ift im gtalienifdjen fonontjm mit „ebeno".4) Stun
trifft eg fid), bafc in unferm altbeutf d)en #amlet bag ©ift atg „(£beno"
bejeidjnet toirb, unb bag ift tool atg bag urtyriinglidje SBort ju betrays
ten. @g toar Don bem beutfdjen Ueberfefcer gettrift fetyr Hug, eg bei bem
ratl)fetf)aften SBorte „®beno" ju belaffen, ftatt fidj mit Silfenfraut, ©iben-
faft ober anberen Ueberfefcunggberfudjen &u bemiifjen. Qinbeffen ift mit
„@beno" nod) nidjt trie! getoonnen, „ebeno" Ijeiftt Sbenljola, ©benfjolj ift
aber fein ©ift, tourbe aud) nie fiir ©ift gef)alten. ®g ift jtoar im
tPajtfjrog ©berg unter bem Stamen „&ebni" atg ein SDtittel fiir Slugen*
4) X$fdjtfdf)totfc, £amtet ®. 45, fjat, fotjtel id) finben fomtte, juerft bie %tx*
mutfjung aufgeftellt, baft „ebonau ber Du. I burdj Umje^ung aug bem ttattenifd)=
fpanifd^en „ebanou entjtanben fei. S)er erjie ^inweig auf eine italtenifdje Cuelle
fiir bag @tucf im ©tiicf rfi^rt, »te id) glaube, t)on 2)eltug ^er. 2)te gefud>te SZo^
telle ^at ftc^ nocfj nid^t gefunben. 3)unIo})g ©e^id^te ber ^rofabtdjtungen, fiber -
fe^t toon £iebred)t, 58erKn 1851, ©iralbi ©tnttytog Ecatommiti cnt^alten nt(^tg.
@er. ©io&annig II Pecorone unb 5Dlaffucciog bt 6aIemo SZotellenfammlung, bie
mir beibe gleidrfaflg jur 2)urc^ftc§t ton $rof. @bert empfo^Ieu tourben, loaren
nidjt jur ^anb, inbeg finb fie gewiji fd^on t)on Unbent fcergebiid) burc^fuc^t toorben.
^)a| ©Iliot SBrottm 1876 im ^enaum auf ben ^erjog ataxia granceSco b'Urbino
bie Shifmerfjamteit gelenft, erfu^r ic^ burcfj §enn SBtbltot^efar SR. t5^Ier. SSgl.
§ume6 Samlet II, @. 241.
SKeine 51nfragen in Qtalien bei (Sarbucci, SBarbteri unb SRugcont, ob metteidfjt
eine, nod^ im $o!f*raunbe lebenbe, aug 6^a!efpearef(^er 3eit ftammenbe erja^ung
tjon einem berartigen ©iftmorb befannt fei, ergaben nic^tg ^oftttoeg.
9?orb unb Sflb. VI, 17. 17
2^0
Carl (Efjierfdj in £etp3tg.
franftyeit 6cjcic^nctf aber nirgenbS unb audf) f pater nid)t tritt e3 ate ©ift
auf. ®a£ ©benzols toar mic ©olb unb ©Ifenbein ein ©jrportartifel
2tf rif f fam burd) ben agtyptifdjen £anbel nad) ©riedjenlanb , fcietleidjt
bradfjte e£ f einen Stamen mit, ber bantt bei ben ©riedjen ju Zpevog unb
ifilvrj tourbe. ©§ ift ein $olj Don aufcerorbentlidjer Sidjtigfeit unb bes
fanntlidE) toon fdjtoarjer garbung. 3Wit ber 3eit erf)ielten audi) aubere
bidjte ^oljer, bie fdjiuarje garbe befafcen ober annafjmeu, bie 93e$eidj~
nung „ ©benzols", unb iudljrenb ©benfjolj urfpriingtid) ein botanifefjer
©injetname mar, tourbe e£ nun ju einer 93eaeid)nung fixr ^otjer toer^
fcfjiebenartiger £>erfunft. ©o t)aben iuir aud(j ein beutfdf)e3 ©bentjoli, unb
biefeS beutfdje ©benljolj ift bie ©ibe, eine f<f)5ne, langfam toadjfenbe ©oni=
fere mit rotten Seeren; e3 toare aber getoagt, in bem ffiort „©ibe" einen
Slbfommling be£ agtyptifdjen „£ebni" ju fel)en, ba e£ einer altgerma^
ntfe^en SBurjet angeljoren foil. Siefe ©ibe ttrirb in ben Stecepten alter
Srauterbiicfjer auSbriicflicf) al3 ein ©ubftitut be£ ©bent)otje£ bejeidfjnet, 5. 93.
afe 3ngrebienj c'ner Sattoerge, bie gegen 3Bafferfdf)eu angetuanbt ttmrbe.
£eut ju Sage ift bie ©ibe au£ bem Slrjneifdjafc toerfdjttmnben, unb ofc
tool it)r geiuiffc arjneilicfje SBirfungen uid)t abjufpredfjen finb, fo geljort
fie bod) feineStocgS ju ben narcotifdjen ©ubftanjen im engeren ©inne.
©erabe narcotise ffrafte fcfjrieb man i^r aber ju ©t)afefpearc£ 3^it ju.
©djon 2)io3coribe3 fiif)rt an, baft ber ©ibenbaum ben in feinem ©djatten
©dfjlafenben tobtlidf) loerbc. Stefe Slugabe pflan^t fid) burd) atte fpateren
©djriften fort unb in altbeutfdEjen Srauterbudjcrn Ijciftt e§, baft biefer Saum
bem SDtcnfcfjen, ber unter fetnen Stueigen rut)e, „ein fdf)laffenb enb bereite".
©onccntriren ©ie ben fdjlafmadjcnben £aud) ber ©ibe, be3 „sleepie
tree", in ein $)eftillat, fo tjaben ©ie ba§ ©fyafefpearefdje ©ift. SDie ©r-
ftdrung fyat jebod) nod) einen £>afen, e3 fef)lt nodE) ein ©lieb in ber
Sette; bie ©ibe, taxus baccata, I)ei|t im Stalienifd^en tasso, tasso morti-
fero, libo unb livo, idf) fonnte aber nid)t finben, bafe fie aui) ben Stamen
ebeno, ebbo fiifjrt. ©^ fefjlt fomit ber 3tadt)tt)ei^ ba§ in ber toermutfjeten
italienifd^en Cuetle „ebenou fiir ©ibe gebraud^t n^ar, unb aud) bafiir, ba§
etloa in ^talien bag ©ben^otj fetbft fiir ein ©ift gegolten ^abe, fctjlen
bie 93elege; im ©egent^eit, giftttribrige ©igenf^aften tourben if)m juge^
fd)rieben. SUlit if)rem cngtifc^cn Stamen — yew — lommt bie ©ibe im
SDtacbetf) t)or; too ©ibenjtoeige unter ben 25 Sngrebienjien be£ §ejen-
tranfe^, einer 9trt concentrirter gleifd^briifie, neben Subenlebern, liirfen?
nafen. unb lartarentippen figuriren.
Stad) ber italienifdfjen Quelle ttjurbe bi^er fcergeblidf) gefuc^t. %m
Sa^re 1538 ftarb ber &erjog t)on Urbino SDtaria grauce^co, ein nam^after
gelb^err au3 bem ipaufe ber 3tot)ere. ©eine grau toax eine ©oujaga,
ber $erjog be§ „©tud^ im ©tiid" t)eifet ©onjago. Stad) bem Xobe be§
|>er}og§ SKaria grance^co ging ba§ ©erii^t, ba| fein 93arbier i^n burdf>
©intrciufeln t?on ©ift in ba» C^r get5btet t)abe. ®a^ ©ift finbe ic^ nidjt
Ittebicinifdje (Sloffen 311m gantlet.
genannt. 3)iefer 93arbier ttmrbe aud) in bcr Xfjat berurtyeilt unb in ben
©trafjen toon Sgefaro mit glitfjenben Bangen gejtoicft unb lebenbig getriers
tfjetft. ®r mar fidjer unfdjulbig. 3$ fjabe bic jeitgendfjtfdjen 3tarf)ridjten
na<$gefef)en, SKaria Srancegco befanb fid) untooljl, ftieg trofcbem 311 $ferbe,
tourbe franf, rjertor, toom ©djlage gcrii^rt, bic ©pradje, nad) cinigen
Xagen bag Setoufctfein unb ftarb.5) 9Jtan fann mit grower SBafjrfdjein-
tid)feit fagen, bafj cr an cinem 93Iutergufc in bag ©etyirn geftorben, unb
bafj biefer 83tuterguf3 fidj auf ber linfen ©cite an ber brittcn SBinbung
beg ©ro$)irn befunben, einc Sobegart, bie mit ciner SScrgiftung nid)t
bag ©eringfte ju tf)un ljat.
Sine anbere ©pur fiiljrt auf ®flnig 3ranj n. Don granfreid).6) S)iefer
fam 17jaf)rig 1559 auf ben I^ron. 9ludj granj II. foUte burdfg Df)r
toergiftet toorben fein, unb jtoar t)on feinem ©eringeren, alg toon bem be^
ru^mten Slmbroife $are, bem erften (£f)irurgen beg 3al)rf)unbertg, bem
2eibar§te breier ftflnige toon %xantxe\i), bem cinjigen $mgenotten, ber
auf 93efet)I beg $5nigg, nad) 93rantome, in ber 93artl)otomaugnad)t toerfdjont
tourbe. 3d) Ijabe toergebtid) nad) ©puren biefeg ©eritdjteg in ben jeitges
ndfftfdjen ©d)riftftellern gefud)t, eg ttrirb erjaljlt, bag ber junge Sflnig feit
5) Ugolini, Storia dei conti e Duchi d'Urbino, Fir. 1859. t. II. p. 254.
Dennistonn, Memoirs of the Dukes of Urbino, Lond. 1851. t. III. p. 66 u. 67.
$afelbft roirb toegen beg SRaljeren u. 91. oertotefen auf Vat. Urb. Mss. 9hr. 992
unb ®o$3tS Chronicle, Oliveriana Mss. 324. SSieHetd^t finbet fidj in btejen
Mss. ber 9tome beg ©tfteg genannt, beffen fidj ber 99arbier bebient ^aben foil.
6) 35te jftottj Salbecottg, bafj &mbr. %ax6 im SSerbadjt geftanben, ®6nig
granj II., beffen Setbarjt er geioefen, burdj (Sintraufeln toon ©ift in'g Dfjr er?
morbet ju ljaben, fanb idj in Surnejj, ©amtet I, ©. 102 oljne CueUenangabe.
£51jne Statist iourben bem ftonig, ber £ranff)eit toegen, @tnft>rtfcungen in'g £)l)r
gemad)t, unb ba bie ftranfljeit idbtlid) enbete, fo mag baraug bag ©eriidjt ber
SSergiftung burdyg £5f)r entftanben fetn. — $>ag post hoc ergo propter hoc
fd)l5gt nidjt felten aud) jum SRad&ifjeil ber derate aug. — 3n (Sdjloffcrg 2Beltgejdjid)te,
2. Sfufi., 93b. X, @. 268, fjeifct eg, grans *)flbe on etnem llebel gelitten, bag bog=
Rafter SBeife 9fogfafc genannt toorben. S)te £lueflc ift letber nic^t angegeben.
6onberbarern?et{e trfife alfo Sranj II. betr. Sergiftung mit 3(ug}a6 aujammen,
tote in ber (£r$afjfang beg alten §amlet ilber feine cigene Xobegart. 3n: Louis,
Negociations, lettres et pieces diverses relatives au regne de Francois II,
Paris 1871, unb in Regnier de la Planche, Me'moires du mare'chal de Vieille-
ville, Paris 1757, gejefjie^t toeber etner 93ergiftung nod^ etner augja^artigen ®ranT=
^eit (5rn?a^nung. — 3- ^lumptre 31. (1796) ^at nadfoutoeifen gefud^t, bag mit
ber #dnigin (©ertrub) SKaria Stuart gemeint fet, bte ja aucf) naa) ber furgen 3ett
oon bret SRonaten 93ot^weff; ben 3)Z5rber SJamletjg, iljreg jroeiten ©ema^Ig, ^eirat^ete,
unb (£. 6t(berfd}lag ^at in biejem Sa^unbert (i860), o^ne oon feinem SBorgdnger
ju toiffen, bie gleidje 2Tnftd)t aufgefteflt. — Surne^' ipamlet II, S. 236 u. f. — $urd)
bte angeblid^e SBergiftung unb ben Slugfafc granj II. eroffnet fid§ fur greunbe
ber ^lumptrefdjen ^^ot^efe eine neue toenn and) triibe Duette oon SSermut^ttngen.
17*
2^2
Carl (Efjterfdj in £eip3tg.
feintr Sinbfjeit an eincm 2ludf(uf$ aud bem DIjr getitten, bad Uebel toer*
fdjlimmerte fief) nadj einem 3agbritt, ed traten SSetimfctlofigfeit unb an-
bcrc ©etjirnfontptome ein, man biagnofticirte cincn Stbfceft im ©e^irn,
bie Stcrjtc Derfammeften fid), barunter aud) $are, $ur SJeratfjung; ed
tourbe toorgefdjlagen, in ben ©dtjabel ein £od£) ju boljren, um bent ©iter
Shidftuft §u Derfdjaffen, ed fant aber nid)t baju, toot aud gurdjt Dor bcr
SJeranttoortung unb ber ®iftiig ftarb nadj 14tdgiger Sranffjeit. ©d tann
lanm eincm 3tt)cifcl unterliegen, bafe bie feit Saljren*' befteljenbe ©iterung
ber tiefttegenben Xfjeilc bed ©eljflrorgand fid) jum ©d)Iu§ bem ©eljint
mittt)eilte, an eine SSergiftung ift jebod) nid&t ju benfen.
granj II. gibt nod) ju einer anbern ©rinnerung SJeranlaffung. ©r
tyintertiefc eine 18jdljrige SBitttoe toon bettmnberter ©dj5nl)eit, ioeldje ba~
matd nidjt a^nen fonnte, bafc fie 1587 nadj 19jdf)riger ©efangenfdjaft
bad ©djaffot befteigen toerbe. ©d tear SRaria ©tuart. . 3)er erfte ©nt*
ttmrf §amletd fdHt metteid)t in bad 3a^r biefer $inridjtung, unb aud)
fonft tear bie Sett baju angetljan, ben bunfeln $intergrunb ju ©Ijafefpeared
Xragobien ju liefern. ^olitifdje unb religi5fe ©egner ttmrben mit geuer
unb ©djtoert Derfolgt, ffrieg unb $eft toften fid) ab, ©ffer,, ber ©onner
©Ijafefpeared, ttmrbe im 33. 3a$re feined Sebend entfjauptet, Southampton,
ber SScfc^iifeer ©tyafefpeared, fam in'd ©efdngnifc, unb fdjon finite man
bad SBc^cn bed puritanifdEjen ©eifted, beldjed, jum ©turm angetoadjfen,
bem „merry old England" ein ©nbe bereitete unb ©nglanb ju einer
©tdtte fur ganatifer, §eudjler unb SDidrtyrer macfjte.
5)o<f) fe^ren loir ju unferem £ebenon jurud. gmmerfjin ift ed toatjrs
fcfjeintid), bafc biefe unb dfjnlidje 2Rdrd)en, tote fie Don SDlaria grancedco
unb t>on granj II. erjdfjlt ttmrben, ©Ijafefpeare auf bie SSergiftung burdj'd
Dtjr gebradjt fjaben. SBiirben fair ben „feligen ©fatten unfered lonig-
lidjen §errn ©fjafefpeare" befragen, road ja Ijeut ju Sage teine ©djttrierigs
feiten madjt, fo ttmrbe er oielleicfjt, tool etttjad Derbriefjlid), antftjorten:
\6) ^abe bad SBort @beno in irgenb einer often ©cfjartefe gefunben, ic3^
braud^te ein fabelf)afte£ ©ift, ber buftere fflang bed SSSorted gefiet mir
unb bamit gut.
2Bie nun bie SBirfung bed ©ifted befc^rieben joirb, ift nic^t o^ne
3ntereffe. 5)afe ed t)om ©efjorgang aud burd) Sluffaugung in bad Slut
gclangen Ibnne, toenn auc^ nur in fteinfter Sofid, unterliegt leinem
3toeifeIf bag ed burd) ben ©intritt in bad 93Iut feine ttfbtlidje ^SirTung
erft entfaften fann, ift ganj correct. 9lu eine ©erinnung bed SBIuted
jebod) burd^ bad ©ift barf nid)t gebadjt toerben. Sltterbingd toiirbc eine
fotd^e ©erinnung bed Sfuted fofort tobten, benn bad SStut mu^ in forh
tt)d^renber Setoegung feiitt aber narcotifd)e ©ifte bett)irfen feine berartigc
©erinnung. SBic ©erinnung bed Sluted toirb mit ber ©erinnung ber
SRttcf) burc^ 3"fofe toon ©dure toergtidjen, bie beutfe^cn Ueberfefeer jebo^
laffen bie SRild) burc^ Saab gerinnen. S)ied ift nicf)t ganj ridjtig, unb
IHebieinifdje (Sloffen 3um fjamlet. 2^3
e3 fdjeint, bafe ©fjafefpeare bie SDHtdjtturtfyfdjaft beffer toerftanb ate fcine
Ueberfefcer; cr Id&t bic SDtitcf) burd) ©dure, bie in 3Ritd) getraufelt ttrirb,
gerinnen. Saab ift feine ©dure unb feine gliiffigfeit, eS ift bie ©djleimfjaut
- be3 SaabmagenS, roirb in ©tiiddjen gefdjnitten, in ein ©dddjen gebunben,
in bie Sfflilc^ f)ineingef)dngt unb fann nid)t t)ineingetrdufelt toerben, madjt
audj bie SDlild^ nidjt fofort gerinnen. 2Bof)I erfolgt aber fofortige ©e*
rinnung beim ©intrdufeln toon ©dure, 5. 93. Don ©ffig.
2Bie Ouedfilber burdjeift ba3 ©ift bie natiirlidjen ©andte unb Ifjore
be£ SJorperS. 2)arauS hmrbe gefd)Ioffen, ba& ©f)afefpeare ben SreiSlauf
be3 93Iute3 bereitS gefannt fjabe. 2)a£ ift ^u loeit gegangen. ©ein 3*it-
genoffe $>artoetj trat erft im Safjre 1619 nad) toieljdfyrigen 93eobad)tungcn
unb Serfucfjen mit feincr grofjen ©ntbedung an bie Deffentlidjfeit, unb
bafc bag Slut in fortttm^renber 83ett>egung fei, toar ja fdjon toor £artoet)
befannt.
2Bir f5nnten un£ alfo bamit eintoerftanben erftdren, bafc ber alte
£amlet burd) ein narcotifd)eg ©ift, in'3 Dljr getraufelt, fein 2eben toerlor.
5Run ergibt fid) nod) eine befonbere ©d)toierigfeit. 2)er ©aft Don
£ebenon toirb aU ein 2tu£fafc er^eugenbeg SJJraparat, leperous distilment,
bejeidjnet, fo bafc im 9iu bie ganse glatte $a\it mit Sruften, ©djorfen
unb ©rinben fid) bebedte, gteid) einem Sajarug. (Sin ©ift toon berartiger
SBirfung gibt eg nid)t, aud) feineg, bem man eine fofcfje SBirfung §u
©f)afefpeareg 3ett jugefd)ricben, aud) tiegt eine ptjtjfiotogifdje Unmoglid)=
feit toor. ©djorfe u. f. to. finb bie getroefneten 3titdftdnbe toon ©iter
unb dfjnlidjem, ju ifjrer ©ntftefjung reicfjt bie furjc $tit eineg Sladjs
mittaggfdjtafeg nidjt aug, Sage, SBodjen finb erforberlid). SBar aber ber
Seib beg tobten Sonigg toirflid) in biefer efelljaften SBeife entftetlt, tuie
fonnte man eineu ©djlagfhifi ober ©djlangenbifi alg Sobegurfadjc toer;
mutljen, unb toarum gefcf)iefjt biefer ©ntftetlung f pater, menu toon ber Un=
tfjat beg ©laubiug bie SRebe ift, feine @rttmf)nung? ©ic ift bod) ffinp*
gefugt, um biefe Unttyat in einem nod) gretteren £id)te erfdjeinen ju laffen.
®er beutfdje £amlet ertod^nt beg Slugfafceg gar nid)t, unb bodj tjdtte
gerabe er fid) biefe braftifd)e Bugabe, toenn er fie in bem Original ge^
funben, ftdjer nidjt entgefjen laffen. ®ie Cu. I tt^ibmct bem 2tu£fafc eine
3eile, ber fpatere Sejt brei unb ic^ bin geneigt, biefe 3"9obc be^ Slugs
fafceS fiir eine fpdtere 2lu£fd)mudung ju fatten, bei ber man aflerbingg
jundd^ft an ©^alef^eare fclbft benfen mufe, benn faum ein Slnberer Ijdtte
toermod)t, mit menigen fur^en SBorten einen fo ftarfen finnlid^en ©inbrud
^ertoorjubringen. ©ottte jebod) ber 3ufaft toon einem 2tnberen ftammen,
fo liefee fic^ toermutfjen, bag burd^ 93erfef)en, eineg 2tb; ober 9?a(^fc^reiberg
tjielleic^t aug „treacherous distilment" „leperous distilment" entftanben fei,
unb fjteran mag fic^ bie 2tu£fd)mudung angefd)Ioffen ^abeu. 3l5t^ig fjatte
©^alef^eare biefe tc^rdfe ©om^tication feinenfatlg, benn totx f)at je bie
t8btlid)e SBirfung narcotifd^er ©ifte treuer unb anfd)autid)er gefd^ilbert
Carl (Efyierfdj in £eip3tg.
„9Hmm biefed fjiafd^d^en bamt mit bir $u 93ett,
Unb trtnf ben #rciutergeift, ben e3 uerroaijrt.
2)ann rinnt alSbalb ein falter matter (Sdjaucr
2) urd> bcinc $bern, unb bemeiftert fid)
$er SebenSgeifter; ben gerooljnten (Sang
§emmt jeber $ul§ unb f)6rt gu fdjlagen auf.
®ein ©bem, feine SBdrme $eugt t)on Seben;
3) er £tppen unb ber SSangen SRofen fdjtotnben
3u breicr)cr &fcf>e; beiner 2tugen SSorljang
%'dUt, nrie wenn Zob be3 fiebenS Sag oerfcfjlie&t.
(Sin jebeS ®Ueb, gelenfer #raft beraubt,
6ott fteif unb ftarr unb fait n>ie tobt erfdfjeinen."
@o tyridjt ber 9Kondf) ju 3utia, nur ift c3 nicfjt ©cfyeintob, fonbern ber
ft)trKicf)c lob, ben cr fcfjilbcrt.
II.
#iermit tooflen ttrir un3 Don bent ©eifte toerabfdfjieben unb ju bem
SBaljnfinn ber Dpljetia iibergefyen. 3)ie ©dfjilberung beSfelben gilt audj
bei Srcenarjten a^ c*n SKcifterftiitf toal)rf)eit3getreuer 9tad£}bilbung,
bod) ift bag ntc^t fo ju &erftet)en, aB ob ber poctifc^ fcerftarte 3Ba!jn;
finn DptjeliaS in ber niidfjternen SBirflicf)feit unferer Srrenanftalten ju
finben fei.
S)er ©runbton il)ter 9Mancf)olic erflingt in ber letfen, metobifdjen
®Iage urn ben geliebten SSater:
(5r ift langc tobt unb fu'n,
Xobt unb fym, grauletn!
30m ju §ftupten ein 9tafen griin,
3*mt ju gufj ein 6tein . . .
©ie tntgen i!jn auf ber 58al)re blofc
Setber, adf) leiberl
Unb manage £ljran' fiel in (SrabeSfdjoofr.
Unb fommt er md&t metyr juriicf?
Unb fommt er ntd&t mefjr jurud?
9tcin, nein! er ift tobt,
3ft gangen ju GJott,
(Sr fommt ja uimmer juriitf.
Setn ©art roar fo roetjj rote <5d)nec,
©ein §aul>t bem glacfyfe gleidfj:
(5r ift fun, er ift fjin!
Unb fcin fieib bringt (Seroinn!
©ott Ijelf iljm in'3 $immelreidj!
Sfjr grambeflemntteS £>er5 finbet nirgenbS Stufje unb irrt toon Ott
ju Drt, Melancholia errabunda. Stnbere 9Mand)oIifdf)e t>erl)arren, in
IKebicintfdje (Sloffen 3nm Ejamlet. 2^5
ifjren ©ram oerfunfen, an einen Drt gebannt, fdjlafloS unb fpradjtoS
in'S SBeite ftarrenb, Melancholia attonita; ein ©egenfafc, bcr fid) audj
finbet, tnenn geiftig ©efunbe Don fd)toerem Ungtitd fyeimgefudjt toerben,
too bann bic cinen raftloS umfjerirren, toaljrenb bie anbcrn in apatljifcfje
9tuf)e Derfinfen.
SReben bent Summer urn ben Dertorenen SBater fommen 3ttufionenf
SBafjnfcorftellungen unb Stnfldnge an DerloreneS SiebeSgtitd jum 93orfdf)ein.
3)iefe 9tnfldnge fjaben eine erotifefje gdrbung, unb manege Sritifer,
leiber namentlid) 3)eutfdE)e, Ijielten fidf) baburcf). fur beredjtigt, auf bie
Stehrfjeit ber ungtitdlidjen Opfjetia einen ©fatten ju roerfen, einen
©fatten, ber auf biefe ffritifer iuritcffdttt; benn inbem fie ©IjafefpeareS
Ijolbe 93Iume gefnidt, Ijaben fte if)re Unfenntnife in ©acfyen be3 2BaI)n;
fmnS .gejeigt.
greilidj ift e3 ein toeitoerbreiteteS 93orurtljeiI, bafc im SBafjnfinn bie
toafjre Sftatur bed SRenfdjen jum 93orfd)etn fomme, — gerabe ba§ ©egen*
t^cil ift ber gatt. Ophelia f)at bic loderen £icbe3Derfe, tool oljne ifjr
3utfjun, in gelb unb SBalb geljort, aber fie lagen tief im ©runbe it)re3
SenfenS oerborgen, gebunben, erft ber SBafjnfinn bringt fie an bie Dber^
flddje. ©o finb e§ 5. 93. meift rctigiite fjod) enttoidclte Slaturen, toeldje,
einmal bem SBafjnfinn Derfatlen, in ©otteSldfterungen au3brecf)en, Dor
benen fie in gefunben lagen entfefct gefloljen todren. ©3 liegt in ber
Slatur be§ menfd)Iicf)en 5)enfDermogen£, ba§ jeber ©ebanfe feinen @egen=
fafc bei fid) fjat, neben: „e§ gibt einen ©ott": „eS gibt feinen ©ott";
neben: „®ott ift gittig": „®ott ift graufam". 3n gefunben lagen Der*
§att fid) ba£ 3d) biefen ©ebanfen gegenitber entf<f)ieben beja^enb ober
Derneinenb, bie Demeinten bilben nur in ifjrer 9Serneinung einen 2t)eil
ber geiftigen $erfdnlid)feit. 2)iefe geiftige $erfdnlicf)feit, bag benfenbe
bettmfcte 3d), toelcfjeS nad) SeScarteS ein jig unb atlein unfere ©jriftenj
uerburgt, biefeS einjig ©ictyere, Don bem ttrir ttriffen unb Don bem toix
jugteid) fidfjer am roenigften toiffen, biefeS 3<f) Derfinft im ©d)Iaf in bie
Siefen ber Skttmfetfofigfeit, im Iraum treiben ©ebanfen unb $t)anta£men
if)r ©pie! mit ifpn, unb ber 3Bat)nftnn ift ber Iraum eineS SBadjenben.
SBie im Iraum madjen fidf) bie gebunbenen ©ebanfen unb SSorftettungen
frei, ja in jener gorm, bie man 95efeffen^eit nennt, bemad^tigen fie fid^
be^ gefammten ©prad^med)ani^mu§.
S)iefer ©pra^mec^anigmug ^at feine SBurjeln, fein Eentrum im ©e*
^im unb enbet nac^ aufjen in ben ©prac^werfjeugen; einmal in ©ang
gefefct, beforgt er bie SDlitt^eifung fcrtig geftettter ©ebanfengange mit ber=
felben 3ut)erldffigfeit, mit ber un3 unfere ©e^lperfjeuge einen geroofjnten
SEBeg o^ne toeitere^ But^un juriidlegen laffen. 3Ranc^em atteren $ro^
feffor ge^en feine SSorlefungen in biefer Strt Dom SRunbe, tod^renb fein
3d} nebenbei anbertoeit befc^dftigt ift, 5. 83. mit bem (Sntttmrf eineS ^
perimente^, bad eine lang gefiif)tte ©d^ttjierigfeit I5fen foil, ober mit ettoaS
2^6 <Zaxl Ql^terf in £eip5ig.
2Bidf)tigcm, toag fcinc gamitie betrifft. ©inb biefe £f)atigfeiten feineg
©eifteg Iebt)aft, fo lommt eg &or, bafc frembartige SBortc obcr ©cifce,
ju atlgcmeiner $eiterfeit, feinen SBortrag bur<f)brecf)en. SBenn bcr im
©etjim getegene Xfjeil beg ©pradjajtyarateg Derlefet ttrirb, ge^t pI5felidlj
bie <3pxa<f)t fcerforen, ttrie bei bem &erjog SDlaria grancegco toon Urbino,
ganj obcr big auf toenige SBorte, mandjmal oljne bic geringfte Iriibung
bcr Sntcttigeni; \t nadj ber getroffenen ©telle fann bcr SSerlefcte bic
SBorte nod) fdfjriftlidE) mittljeilen, citt anbereg Wlal ift bic ganje SBorts
bilbung untcrgegangen. 7)
SBenn nun bcim religiSfenSBatjnfinn gotteglaftertidjeSorftellunggrei^en
fid) Don it)rer ©ebunbenfjeit frei mad)en, fidf) auf ben ©pracfymedjanigmug
ftur^ett unb mit raider frembartigcr ©timmc ifjre Slagpljemien aug bem
Sefyttopf iugenbtidfjer 2Rabcf)cn fjerauSbriiHen, fo fann man eg Derjeiljlidj
finben, baft Saien, namentlid) ©eiftlicfje, ben SBatjn Ijegen, cin frembs
artigeg SBefen Ijabe toon bem ffranfen 93efifc ergriffen. SBorte fefcen fidt)
leidjt in 2^aten urn, pftjcfjifdje Slffectionen finb anftedenb, unb fo lam
eg Dor einigen Sa^rcn in einem fa&otjifdjen Dorfe Dor, ba& bic Ste-
gierung cinfdjrcitcn mufcte, toeil ber $farrer am 2lttar t>or feinen toeib=
lichen SJ5farrfinbern feineg Sebeng nid^t mefjr fidjer toar.
SDlu&te D^elia roalinfinnig toerben? 3$ toeift eg nidjt, inbeft fcfjeint
mir, baft bie ®ataftropl)e, toeldje in itjr big baf)in ru^ig batjinflieftenbeg
Scben einbradj, Sogfagung unb fcermeinttidjer SBafjnfinn beg ©eliebten,
ber lob beg SBaterg burd) beg ©eliebten £anb, f)htreid)enb tear, urn
aucf) eine ftarfere Statur alg bie ber jarten Ophelia aug bem ©letdf);
gehridjt ju bringen. greilid) meint ein Sritifer, bie ©adfje fei gar nicfjt
fo fdjlimm gemefen, bie X5btung beg 5(5oIoniug f)abe ja nur auf einem
SDtiffterftanbniffe beruljt, ber SBaljnfinn beg §amlet fei ein Dcrftcflter ge^
toefen unb cine $>eiratf) tjatte Stfleg in'g @leicf)e gebradjt. 3a tool)!, toarum
nidjt, auf einc 5(5erle meljr obcr toeniger fommt eg in ber Sronc ©tjafefpeareg
nidjt an, bcgleitcn hrir Dpljelia auf bag ©tanbegamt unb ftatt ung in
Irauer iibcr ifjren SBafjnfinn ju fcerfenfen, laben toir ung auf ifyrer ^oe^jeit
ju ©aft, t)om praftifc^en ©tanbpunhe Icifet fid) nid)tg bagegen einlpenbcn.
7) t)on ®afl augge^enbe SBcftrebcn, bag <Sprad)t)erm5gen im ©e^irn ju
Iocaliftren, ^at namentlid^ burd^ bie SBemfttyungcn franjSfijc^cr gorfd^er, ^outflaub,
bie beiben S)aj unb S3roca; ju tfjatjad()Iicf)cit ^efultatcn bet merftoiirbigften 3trt
gefu^rt. 3- ©• ift & 8^ 3«t fcftgeftcflt — SBrocft — , bag im menfdjlidjen ©c=
tyirn jtoet Sprac^ccntra toor^anben futb, eineg rec^tS unb eiueg Itnfg an gfeidj=
namigen ©tellen ber ©ro6^irn=§emif^aren, unb jwar an ber britten Stintttrinbung.
gflr gcwb^nlic^ toirb nur bag einc 6pradfjcenttum eingeiibt unb jtoar »on IRefytfc
^finbigen bag linfg gelegene unb umgefe^rt. SBirb bag etngeiibte ©entrum scrftSrt,
fo fann bic (Spracfje nac^ unb nacfj njicbergewonnen werben burt^ (Siniibung beg
big ba^in unbenii|tcn Sentrumg, a^nlic^ tote cin 9ted^tS^anbiger bei Serfoft ber
red^tcn $anb ben ®ebraurf) ber linfen etnubt.
Ittebtcinifdje (Sloffeu 3um fjamlct. 2^7
Srtoafynt mufc nodi) toerben, bafc ©{jafefpeare mit feiner menfdjs
lidjen Sluffaffung be$ SBatjnfinnS um 3af)rf)unberte feinen S^itgertoffen
DorauS toar. 2Ber gelefen Ijat, ttrie bamalS ©eifteSfranfe toerljfltjnt, ge~
f)e$t, mif$anbelt ttmrben, tote fie in bunfeln SSerftefjen fdjmadjteten, toer
fid) erimtert, bafc nod) in bicfem ^atjrfjunbert ©eiftcSfranfe in fafig=
artigen 3rfUn an ®etten bcr dffentlid^cn SReugierbe blofcgeftellt toaren8),
5. 93. in bem „9iarrentt)urm" ju 28ien, bcr mug e£ ate cine bcr gr5feten
I^aten be3 ©Ijafefpearefdjen ©eniu§ preifen, bag cr feinen 3eitgenoffen
ba3 fjumane 93erftanbnifc pftjdjifdjer Sranffjeiten ju eroffnen fudjte, ttrie
im ^amtct, fo int Sear unb 9Kacbett), unb baft cr jugtcid) auf cine
f^onenbe pfydjifcfye 93cf)anblung mit benSBorten I)intt>ie£: „bie befte SBart'rin
bcr SRatur ift 9tul)e."
III.
SBir fommcn jum ©djlufe, ju bcr grage, toar gantlet geiftig Doll*
fommcn gefunb, toar cr toafjnfinnig, ftanb cr an bcr ©renje be3 2Baf)ufinn3?
SSon biefen brei 2tnfid)ten, mm toeldjen jebe itjre SSertrctcr Ijat,
fc^liefee id) mid) bcr tefcten an. SBcgen Siirjc bcr 3*it faun id) aber nur
bie £>auptgriinbe fjerfcorfjeben, bic mid) tjierju beftimmcn, unb mufc auf
eine auSfiiljrlidje 2tnafyfe be3 pfodjologifdjen problems fcerjidjten.
$mmtet gefjort &u ben jtoeifelnben Staturcn, cr toerf)alt fid) intellect
tuetten unb moralifdjen gragen gegeniiber unentfdjieben, feine ©ebanfen,
©cbanfen bcr tieffinnigften 8rt, ftromen ifjm ju unb beleud)ten beibc ©eiten
eine£ XfjemaS, mit bem cr fid) befdjaftigt, gleidjmafjig; foldje SKaturen
finb nid)t gecignct ju rafdjem ©ntfdjluft, ju rafter #anbtung. $)a£
SKifctrauen in bic 9KittcI bc3 menfdjttdjen ©eifteS, bie SBaljrfjeit ju erfennen,
bie Unficfjerljeit bariiber, toaS fiir gut, toaS fur b63 ju fjatten fei, lawmen
bie Xfjatfraft; in ein fd)toere3 ©efdjid DerfIod)ten, toerfjatten fid) foldje
9taturen metjr leibenb aU Ijanbelnb, toie benn and) im gantlet bie Sata*
ftroptje t)ereinbrid)t otjne baft eS §um £anbeln gefommen ift. 9113 eine
toeitere ©igenfdjaft §amlet3 mufe cine aufcerorbenttid) tebfyafte 5p^antafie
bqcidjnct tocrben. 93cim erften 95egcgncn bc§ iporatio am $ofe bc^ neucn
ftSnig^ Stft I, ©ccne 2 ruft er au3: „2Jlein SJater, mid^ biinft, id) fe^e
meincn SSaterl", alfo ju ciner 3^it, too nur crft Strauer iibcr ben Sob
be£ SSatcr^ unb SEBiberttjittcn iiber bic rafd)c $>eiratf) bcr SRuttcr fcin
©emiitl) bewegt, erfd^cint i^m bereitS fcinc^ 93atcr^ ©cftatt in 2lrt eincr
SSifton.9)
8) Wod) 1828 faty Dr. @. 28. ®iht$ im Ospedale S. Spirito &u 9?om eincn
©eifteSfranfen mit ber $ette um ben ^alg, faft nadt, an eine ©aule be3 ^of=
coniborS angefc^Ioffen. — 2)on $tetro 93aron ^ifani t)on Dr. (5. 28. ®unjj sen.
Seipjig 1878.
9) 25tefc SteUe nritb, fot)tcI ic^ mic^ crinncrc, bon bcutfe^en ^amlctbarfteHcrn
nid)t ^cr»orgc^oben, fonbern lute cine gletc^giilttge $Rcben^art gefprodjen. 3n ber
2^8 Carl (Eljierfdj in Setpjig.
SBag bic ©ebanfengange betrifft, bic in ben beriitjmten 2RoftoIogen
fid) toieberftnegrfn, fo fann man tool fagen, bafc £amlet fid) iljnen
gegeniiber beobadjtenb, jutoartenb Dertjaft. ©r gibt im toatjren ©time
beg SBortg feinen ©ebanfen Slubicnj unb fcerfdjiebt bie entfdjeibenbe %f)at
©cine ©ebanfen gefjen tool aud) il)re cigencn SBege, fo bafi bie SJ5erfdn=
lidjfeit unb toag fie am meiften betoegen foHte, juriidtritt.
giir befonberg merftoiirbig in bicfer 93ejief)ung Ijalte idj bie be^
fannte ©telle iiber bie tabetngtoertfje Irunffattigfeit ber 3)anen. §amlet
fyat Don $oratio bie 9lad)rid)t befommen, bafj ein ©eift in ©eftalt
feineS SSaterg ben toadjeljabenben Dfficieren in tointerfidjer 9lad)t er=
fd)ienen fei; in t)5d)fter ©pannung ertoartet er in ber nfidjften 9lad)t
ba§ ©efpenft. 3Ritternadjt I)at gefdjlagen unb aHe finb auf bag fo^
fortige (Srfdjeinen beg ©cifteg gefpannt; nun fottte man glaubcn, in
biefem Buftanbe fyodjfter Srregung f)atte fein anberer ©ebanfe ate an
ben fcerftorbenen SSater Staum getjabt in bem betoufeten Senfen £>amletg.
Seinegtoegg. 3Ran Ijort aug ber gerne eiuen Srompetentufd), §oratio
fragt, toag bag bebeute, §amlzt fagt: „ber ®flnig ioad)t bie Slac^t burd),
jedjt DoHauf, fj'alt ©djmaug" :c, unb nun fommt eine SSorlefung toon
26 SSerfen iiber bie 9lad)tt)eile ber Xrunffud)t im Slttgemeinen unb fpccietl
fur feine Sanbgleute.
2Ran tjat biefc ©telle fiir eingefdjoben geljalten, toeil fie fo gar
nicf)t in bic Situation ju paffen fdjeint, unb aud) in ber ©ajjeonftruction,
in ber 2BaI)I ber Slugbriide tt>oUte man ©cf)h)iid)en finben, bie fie
©fjafefpeareg untoiirbig erfdjeinen laffen. 3ft ber Xt)at feljlt fie audj
in einigcu Sluggaben, urn fpater toieber aufjutaudjen. Eg ttmrbe fcer*
mutfyet, fie fei cine 3eit long roeggelaffen toorben, toeif 3acob I., ber 1603
ben £{jron beftieg, cine banifdje ^rinjeffin jur grau Ijatte; mir fdjeint
aber, bafi nidjtg geeigneter ift, alg bicfeg SIbirren, urn bie Sbecnftudjt
ju bejeidjnen, bie fid) fo oft bei ^erfonen finbet, tuetc^e fiir ©eiftegfranfs
Ijcit prabigponirt finb. ©erabe an biefer ©telle unb in ber getabelten
fyntactifdjen gorm mad)t fie ben ©inbrud, baft #amlet nidjt ber 2Ramt
ift, urn im gegebenen Stugenblid ben ftarfen SBitten unb feine ganje
$raft auf einen 8^cd ju bcreinigen. SBdre eg ©fyalefpeare blog urn bie
(Sinffecfjtung eincg Sabelg ber Irunffud)t getoefen, fo ^atte er leicf)t einen
geeigneteren Drt finben fonnen; ba, too fie fteljt, bettJeift fie, bafc er ^amlet
alg geiftig bclaftet barftetlcn tuoHte.
SRad)bem ber ©eift abgegangen, fiinbigt ^umlet an, bag eg if)m
%^at ift eg aud) cine getoii^nUdje $ugbrudgtt)eife, ju fagen: „Wlid) biinft, id) fetje
i^n nod) t>or ntir, tote cr leibt unb lebt." #ier abcr ift eg, tt>ie id) glaubc, me^r
alg SRcbengart, f)ter totrb ber funftigc ®etfterfe!)er angeliinbigt, eg ift bag 2Better-
Icud)tcn beg SBa^nfinng. 2)ie ©telle fofltc beg^alb mirnifd^ marltrt toerben. SBic
fame fonft §oratio baju, crftaunt gu fragen: „2Bo jeljt t^n, mcin $rinj?"
ttlebtcirtifcfje (Sloffen 311m gantlet. 2^9
DicHcic^t tit 3u!unft bienlid) fdjeinen toerbe, cin tounberlicfjeS SBefen an=
julegen, unb barauS tourbe gefdjtoffen, baft atte£ 2tuffattenbe in feinent
Seneljmen nur auf SSerftellung berulje, abcr fur gantlet toar e3 gefatjr*
lid), mit bent ffialjnftnn $u fpielen. 3^^r in bcr Scene, toetdje Dptjelia
fcf)itbert, too er fief) fdjtoeigenb toon ifjr lo^fagt „unb einen fotdjen ©eufaer
tjolt, aU foUtc er feinen ganjen Sau jertriimmern unb enbigen fein $)afein",
!ann toeber oon toirflidEjem nocf) toerfteUtem SBafjnfinn bie SRebe fein.
©rfdjiittert toon ber Slufgabe, bie if)m getoorben, rcifet er fid), im
3nftanbe tiefftcn mcland)olifd)en 2)rude3, t)on feiner ©eliebten Io3,
urn ganj ber SRadje fid) ju toibnten.
SSerftettter SBa^nfinn ift in ber fjarten Scene, too er nad) bent
SDtonofog „@ein ober nid)t ©ein" bie reijenbe D^etia erblidt; bie #arte
feiner farfaftifdjen Semerfungen ift jebod) ju entfdfjulbigen burd) bie SBatjr*
netjmung, bog fid) Ctytjelia, toenn aud) in guter 2Ibfid)t, tjergegeben, itjn
au£juforfd(jen. SSerfteHter 8Bal;nfinn ift in alien ©cenen mit bent S5nig,
SPoIontuS, 9tofenfranj, ©iilbenftern, DSrif. Sebenftid) ift bagegen ber
jubelnbe 2tuffd)rei, nadjbent bie Sift mit bent 3tiHfrf)enf{)iet gelungen unb
ber fionig entlartot ift, benn biefer Stuffdjret mit feinen totten SSerfen ift
ganj geeignet, $amUt$ $Iane ju toereiteln. 10) Unmrttelbar barauf finbet
10) 3n 3>eutjdfjlanb toirb e3 meljr unb mefjr iiblid), in ber SRotle $>amlet£
bie Slnflfinge an OeifteSftorung afyufcljtoadjen ober ganj $u ftreidfjen; tote mir
fdjeint, nid)t jum SBortljeil ber SRofle; benn toenn toir in #amlet ntdjtS fefyen,
aU ben ffepttfdjen, unfdjluiftgen ©potter, fo jdjtoinbet unjere £l)eilnafjme an feinem
Sdjidfal. (Selbjt in jeinen SarfaSmen unb tounberlidjen SReben jollten bie 3eid)en
eineS untoiberftetjltdjen $ntrtebe3, unter beffen 8toang er ftcljt, nidfjt fefylen; fommen fie
too^Iuberlegt mit bem fatten, felbftgefaKigcn 2ad)eln be3 fjodjgebornen, fjodjmittfjigen
^rinjen sum 23or[d)ein, ober mit ber gefteiften trocfenen SBreite be$ pebanttfdjen
SftagifterS, fo tfjun fie nur bie T^atbe SBirfung. greilid) ocrminbert fid) mit bem
#ert>ortreten ber patfjologifrfjen (SemiUfjSoerfaffung bie ©djulb §amlet3, inbeffen
unfer getodljnlidjeS SSerfaljrcn, ben $>elben auf bie moralise 2(nflagebanf ju jefcen,
urn ifjn nacf) ben ^aragrapfjen be3 bramatifdfjen Strafgejeftbuc^e^ abjuurt^eilen,
reic^t bei .§amlet jo roie fo nidjt au3, bei §amlet fo toenig alS bet Dp^elia. 9Jltt
ber !}errfcf>enben Sluffaffung ftimmt t%, bie 6cene am ©rabe ber Ophelia toeg5U=
lajfen ober 3U tur$en, ben un^eimlic^en §Iu3bruc^ bei (Sntlarbung beS ©laubiu^ ju
milbem u. f. to. — 3^^ing. ber fur ben erften kbtwben §amletbarftcller (Snglaubd
gilt, fte^t bie 6adje anberS an. 9lac^ ben borliegeubeu 6d^ilberungen mu& feinc
^arfteHung ben (Sinbrucf ^eroorbringen, ba§ §am(et ntefjr unb me^r in Q)eifteS=
§erruttung oerfftKt unb burd^ oerj^iebene $aroj:t)3men momentauer @t5rungen
^inburc^ge^t 3. S3. : 3n ber Scene, tod^renb be3 ^StudeS tm 6tudy/, er^ebt fid^
ber ^dnig, »ertoirrt unb beftiir^t, unb t)erlfi|t eiltg ben (Baal SBei ber je^t Ijie
unb ba ^errfc^enben S3ix^neneinric^tung fommt ber 3uf<f>auer ^oc^ftenS ju ber
fcfjwadjen (Jmpftnbung, bag bie fiift gelungen, toie baS o^nebem borauSjufeljen
war, benn ber 3^Wauer tyat nie an ber @c^ulb bc3 StaubiuS gejtoeifelt. 2)te
^au^tfat^e, ber (Sinbrutf, ben bie Ueberfii^rung be3 tonigS auf §amlet mac^t,
250
Carl (Efjierfdj in £e tp 3 1 g«
cr ben ffidnig im ©cbet. 25ie fcntenicnf^tocrcn^ammcrfc^Iagebc^ 3toifdjen~
tytete Ijaben ba§ eragepan$crte $>er$ be3 ©djulbigcn crfdjiittert, bet nun
Dergebltdj nadj Stcuc ringt. Stun fann if>n gantlet tobten, cr t>erf<f)iebt
bie SRadjc, benn cr ttritl iljn nid^t betenb jutn §immel, fonbem ate Siinbcr
&ur §ottc fd^iden. Son SBafjnfinn ift lf)icr nidjt bic SRcbc.
fommt mcfyt jur ©eltung. SBetanntlta*} fommt and) Uebertreibung in bcr entgegen=
gef efcten SRtdjtung Dor, beSfyalb wax e3 mtr intereffant, einc 9Zott$ 311 finben, toie
JJroing bic ©cene fpielt. 3" ©btoarb 3. SRuffelS 3rbing unb §amlct, Sonbon
1875, — gurneji §amlet n, ©. 259 — nurb ba3 ©piel bcilduftg folgenbermafjen
gefdulbert: „©o lange cr mit Horatio aflein, briirft fid) gefpannte (Srtoartung unb
biiftcrc ©timmung in fcinent SBefen au3. Sftan fidjt tljm an, ttmS auf bem SBurfc
fteljt, mcJ)r al3 fetn £eben. ©onrie ber ftbnig mit bem §of cingctretcn, jeigt cr
fict) Ijeiter unb forgloS, nrie cr e§ mit §oratio Derabrebet. 3U ben ftiifjen OpfjefiaS,
fpiett er mit iljrem gadder Don ^fauenfebem. 93ei ben SBorten: „(5tP. 9ttaieptft
unb loir ijaben gute (Setoiffen", ffopft cr fid) mit bem gadjer auf bic ©ruft unb
fcine ©timmung fa^eint fo tetdjt befd)ttringt, roic bcr SPfaueuroebel. $n fcincn
boppelfinnigen Slnttoorten, bte er bem $5nig gibt, ift nidjta ton ber bo£§aften
93etonung, mit ber JpamtetbarfteHer getootjnlicr) ben Sriumplj Ujrer Sift im $orau3
eScomptiren. 3)a3: „9ftd)t ba8 geringftc 2lergernif$ Don ber SBelt" fommt trorfen
tjerauS, unb bamit gut. ©cine Uebertoadjung be3 $5nig3 ift nidjt auffdllig, cr
fried)t nityt i'tber bic 93iiljne, fafjt ben $6nig nidjt am tfeib. ©cine Slufregung
fteigt, aber fcine ©timmung fydtt ftd) bis Ijart jur ®rtft3, beinalje fdjer$l)aft. ©otme
jebod) bcr ftonig plbfclidf) ben ©aal Derldfjt, fpringt er mit eincm ©afce in bic §6^c
unb roirft fid) mit greflem ©djrei in ben cben torn ®onig oerlaffenen ©tuljt, toon
fdrperlidjer unb geiftiger 9(ufrcgung iiberrodltigt, roiegt er fidt) fyin unb fjer unb
f priest, obgteidf) ber ©turm be3 SBeifaflS bie SBorte faft unl)6rbar mad)t, bic bc=
fannteu 9^eime: „Why, let the stricken deer go limp!" (sic.) Sine nod} ftarfcrc
SSirfung oon roifber unb abfonberlia^er 5lrt erfotgt, al§ ^amlet ben ©tu^l oer=
lafct nnb in iibermut^ig narrifc^cr SBeifc bte meift geftric^enen Qeilen fingt:
For thou dost know, 0 Damon dear,
This realm dismanteled was
Of Jove himself, and now reigns here
A very very — peacock.
O 3)amon lieb, $ir ift befannt,
£obt liegt in feiner ©ruft
$er U)ic cin 3cuS bct)crrfc§t ba8 fianb,
Qe^t ^errfc^t ein fdjnbber — ^fau.
SBa^renb ber $aufe nad^ very very — too „ass" fommen fotttc, fte^t er Djrtjeltafc
gdc^er an, ftogt ba§ SBort „peacocku ^erau§ unb ftfjleubert b«n gdd^cr, ber il)ni
bag feljlenbe SSort geliefert, »on fid), liefer anj^einenb ftnbifd^e ©trctc^ ift fo
cfyaratteriftifcr) , bag er Don bent ^ublifum mit (SntfyuftaSmuS aufgenommen totrb.
@r toirb ats einc tollfommen folgerid^tige ©teigerung aufgefafjt." Sa nur Horatio
jugegen, fjanbelt e§ fid) in bicfer ©cene urn toirfltd^c, nid^t urn t)crfitclltc Uebcr=
rcijung, bie buxd) bie SBatyl bcr SSerfe noc^ an toatfjofogijdfjer gdrbung gctoinnt.
IHebtcinif^e (SToffen 3um ^amlet. 25\
Eg folgt bie ©cene mit bcr 3Jtutter, in toeldjer SJJoloniug alg Dpfer
feineg Sienfteiferg an ©telle beg ®imigg umfommt. S)er gleidjgiiltige
£ol)n, ben gantlet boriiber funbgibt, !ann tool ate ein Sti^tn augen*
blidlidjer geiftiger 3ernittung gelten. 9tad)bein ber $J5aro£t)gmug fein
6nbe erretdjt, fommt mtt ben SBorten „fiir biefen $erm tt)ut eg mir
teib", nodf) ftarfer im Original „for this same Lord i do repent" bie
naturlidje unb toafjre Smpfinbung £amletg $um 2)ur<f}bru<$.
Son ber Strife nacf) ©nglanb, bie ifjrn ben lob bringen foil, jurud;
gefefjrt, burdj eigene Sift gerettet, finben loir if)n auf bent ®ird$of juerft
im ©efprad) mit ben IobtengrdT>er;(£lottmg, bann erleben toir ben SBnt^
anfaE am ©rabe ber Dpfjelia. SStr belommen ben Sinbrud eineg Xofc
fudjtigen, benn fitr einen geiftig ©efunben ift bie SButf) gegen SaerteS
nicfjt l)inrei<f)enb motimrt, inbefc er finbet fief) toieber nnb eg bleibt bei
einem Stugbrucf} in SBorten.
3n ber lefcten Scene, oor bem SBaffengang mit Saerteg, entftfjulbigt
er biefem gegentiber fein 93enet)men mit fdjtoerem Xrubfinn, ber ifyn in
ber lefcten 3^it gejrfagt, fein 2Baf)nfinn, ni<$t er felbft fei eg getnefen, ber
tf>n gefrdnft. 2)ieg ift fetne SKebenSart, benn biefe ©rf larung toirb in
einem feierlidfjen Stugenblid gegeben, im ©efiif)Ie beg fjereinbredjenben
83erl)dngniffeg. Unmittetbar border fagt er Horatio: „2)u fannft 25ir
nidfjt fcorftetlen, tt)ie itbel eg mir Ijier um'g §erj ift unb gefcfjieljt eg
jefet nidjt, fo gefd)ief)t eg bo<$ einmal in Sufunft. 3n S3ereitf<f}aft fein
ift ?Weg. $>a fein 9Renfdf| toeife, toag er Derldftt, roag fommt barauf an,
friil&eitig ju uerlaffen? SKag fein!" Sein Qtotifcl, er fiif)lt fidfj franf
unb jtoar geiftig franf, nur ber lob fam bem 9Iugbrudf) beg 28at)nfimtg
jutjor.
2)ag Slbirren ber ©ebanfen unmittetbar t)or ber mit fyocfjfter ©pans
nung ertoarteten Srfdfjeinung beg ©eifteg, ber leibenfdjaftlicfje Subel na<$
Sntlartmng beg Sifttigg, ber gleidjgitttige £oljn brim Sobe beg ^oloniug,
ber SButfjaugbrucf} am ©rabe ber Dpfjelia, bag eigene 33efenntntf$ £>amletg,
atleg bieg finb, ioie mir fcf)eint, ftarfe ©riinbe fur bie Slnnaljme, bag
^amtetS geiftiger Suftanb t,01t ginfang an franf I)aft erfdjeinen foil unb fid)
mef)r unb metjr oerbitfterte.
3d£) gef)e einen ©c^ritt toeiter, id) meine, eg ift ein objectioeg SWerfmal
bafilr oor^anben, bag ©fjafefpeare $amlet an bie ©djtoette beg SSSa^nfinng
geftellt ^aben tootlte, unb itoax finbe \6) biefeg SKerfmal in ber fdjon ers
nja^nten grofeen ©cene mit ber SKutter. ^oloniug ift gefatten, immcr
einbringli^er rebet Camlet jum ©etotffen feiner SKutter, er Dergleidjt
ben ©emorbeten mit bem 2R5rber, 'fein Slffect fteigert fid^ jur S33ut^,
— plofelicfi oerfagt if)m bie ©timme, ber ©eift fdjreitet burd^ bag
3intmer.
SBie fommt eg, bag bie ®5nigin ben ©eift nid)t fie^t? SBir fennen
i^n boc^ fd^on aug bem erften 9lft, ba tourbe er toon 2ttlen gefe^en, nid^t
252 Carl (Eljierfdj in £eip3tg.
Uo$ toon £amlet, e£ ift cin „ef)rtid)e3 ©efpenft", tote gantlet fagt, ljdlt
fcinc 3etten cin, Wmmt tnit 9Rittema<$t, geljt mit bem §at}nfdjrci, fpridf>t
mit fyofjler ©timme, fann meljr att auf ©tfjiefertafeln fdjreiben, benn cr
ftefjt SRcb1 unb Slnttuort, ja im beutftfjen £amlet gibt cr bcr ©<f}ilbtoa<f}c
cine Dfjrfeige, fdjldgt iljr bie 2TCuSfete au3 bcr £anb, unb ef)e cr §amUt
anrebet, Ijeifct e3: „2)er ©eift fperrt brcimal ba3 2Raul auf." Saim
man mef)r aerlangen?
Seber ntag iiber ©efpenfter benfen, tone cr mill, unb Dielleidjt inter*
effirt e£ ©ie, an bie 2Jlcinung eineg beriitnnten S3ereljrer§ ©fjafefpeareS
erinnert ju toerben, fcinc SEBorte finb: „2Bir glauben jefct feine ©efyenfter,
fann alfo nur fo tnel Ijeiften: 3rt biefer ©adje, iiber bie fi<$ faft eben
fo did bafiir aU batoiber fagen Id^t, bie nid£)t entf^icben ift unb nicf>t
entfdjieben toerben fann, f)at bie gegentodrtig f>errfef}enbe 8trt ju benfen
ben ©riinben batoiber ba3 Uebergeftridfjt gegeben; cinigc SBenige fyaben
bicfe 3lrt ju benfen, unb SSiele tooBen fic ju Ijaben fcf)einen; biefe madjen
bag ©efdjrei unb gcben ben Ion; ber grojje §aufe fdjtoeigt unb toerfyalt
fidj gleid&gultig, unb benft balb fo, balb anberS, l)drt am fjeDen Sage
mit SBergniigen iibcr bie ©efpenfter fpotten unb bci bunfler SKadjt mit
©raufen bat)on erjdljlen."
2)ieg finb bie tjorfidjtigen SSorte SeffingS unb ttrir fonncn beSfjalb,
ttrie icfj glaube, bem ©eifte be* erften SlfteS, toeldjer ber §ebri be£ ganjen
2) rama3 ift, immerfjin nodf) cine ©tdtte auf unfercr Siiljne getodljren.
©an§ anber£ toerljdlt e3 fief} mit bem ©eift im 3immer ber ®dnigin. 6r
ma<$t eincn befrcmbenben ©inbrud, toetf er toom ^ublifum, t>on §amlet,
aber ttidjt Don ber Sonigin gefefjen toirb. 9tt£ bie QuartauSgabe I im
3>aljre 1823 gefunben ttmrbe, fanb fid) bie 3iegic?9lnmcrfnng: „2)er ©eift
erfdjeint im ©cf)fafrodf" (night-gown), unb ©oetfje fpracf) fid) 1825 fur
©dftfafrod obcr 9iadE)tfIeib gcgen bie SRiiftung au§. gdj ben ©eift
in einer 2trt ©ct)tafrodt gefefjen, abcr bie ©adje ttmrbe baburd) ni<f)t beffer.
3) a£ Scfrembenbe bcr ©cene liegt nid)t in ber SRiiftung, fonbem barin, ba&
toxx t§ mit einer hallucination ^amletg ju t^un fjaben, bei ber bie Sr^
fdfjeinung nur §amlet felbft fid^tbar fcin fotlte.
©id)er ^atte ©^afefpeare cine hallucination im ©innc, benn toarum
fie^t bie ffionigin ben ©eift nicfjt? ©in ^ritifcr mcint, ber Slnblid toerbc
i^r au^ ©djonung erf^art, in unfercm altbeutfdfjen hamle* tnirb i^re
SBerfc^ulbung aU ©runb angefiif)rt, getoife fc^toad)c©runbe/ unb bie Sonigin
^at ganj re^t, il)ren ©of)n fur ma^nfinnig ju fatten, ba cr fidE) tro^
fciner fjocf) cntioidclten Sntefligeuj nid^t Don ber fubjectiben Iduf^ung,
toetdEjer cr untcrtiegt, ubcrjeugen toitt. S33enn cine SRonne ober ein
©aucrnmdb^en cine 3Kabonnenoifion fiir toirflic^ ^dlt, fo ift fie beSfjalb
nic^t toa^nfinnig, c^ fe^len i|r bic SBlittel, bie SSifion auf i^re Dbj[ectit)itat
ju ^riifen, toenn aber ein £amlet bcr Idufd)ung unterlicgt, fo fteljt cr
an bcr ©d)toetlc be^ SESa^nfinnl.
ITtebictnifdje (Sloffen 3um Jjamlct. 253
23ir f)aben mand)e£ SBeifpiel Don fyxfjbegabten SKdnnern, tocldje ityre
§attucinationen ate folc^e crfanntcn; id) erinnere an bic ttribertodrtige
SRegergeftalt, toeld)e ©pinoja beldftigte, an ba£ 3)oppelgefid}t ©oetljeS, al£
cr nad> bcm Stbfc^iebe toon grieberife SSrion auf bem £eimtoege fid) f elbft
begegnete, 3Jtofe3 2Renbel3fof)n rourbe langere Sett bic SRddite Ijinburdj
t>on gcQcnbett ©c^or^attuctnationcn gepeinigt, ber beriiljmte $f)t)jtoIoge
SotjanneS SKiiDcr f)at, auSgefjenb don fcincn eigenen, beim Sinfdjlafen
eintretenben ©efidjtStrifioncn, cine grunblcgcnbc 9trbeit iiber biefe$l)anta£men
gclicfcrt11) nnb ©oetfje fonntc gehriffe SBifionen bei gefdjloffenen 2lugen
ttriEffirtid} fjertoorrufen.
SBefannt finb bic SBifionen be3 Serliner SBud)f)dnbIer£ nnb $f)iIofopf)en
Sticoloi; 3Jlonatc tang befanb cr fi<f) bci lag unb bei 9tad)t in ©cfetU
fdjaft toon f)unberten Don em* unb auSgeljenben ©eftalten, Selannten unb
Unbefannten, Sebenbcn unb SBerftorbenen, bie aud) jeitmeilig ntit if)m
©efprddje fufjrten. (£3 mar em eigener 3ufatt, bag gcrabe ifim, bem
perfonificirten gefunben SRenfdienoerftanb, bcm niidjteroften SSertreter bcr
Stuffldrung, bem felbft ®ant ju pfymtaftifd) tuar, biefe SSifionen ju %f)txl
toerben muftten. ©r madjte iibrigenS babei eine feinfinmge Semerfung,
bie itjtn ju @ute gefd)rieben toerben mufc: geberjeit fci cr im ©tanbe
getnefen, aud) bie rcbenben ©eftalten toon toirftidjen ju unterfd)eiben,
benn ber ©timme fatten jenc SKebengerdufdje gefeljlt, bie in 2Kunb unb
SRafc entfteljcn.12)
©ljafefpeare fanute firfjer ben Unterfd)ieb, ber jttufdjen n?irllid>cit
©eiftererfdjeinungen unb £attucinationen ju madjen, metfeidjt au§ cigeuer
Grfaljrung, aber bic Seljre don ben $>aUucinationen gefjort ber nencren
SEBiffetifd^aft an unb ©fjafefpeare fonntc fcincn 3ufdjauem uidjt jumutfjen,
an cine foldje ©inneStaufdjung ju glauben.
§eut ju Sage ttmrbe e§ Icin SBagnifi fein, toenn e3 nidit gegen bie
^Jictat fcerfticfce, bic ©ccne otyne ©efpenft 511 fpielen. S)ie SBorte be§
©eifte£ fonnen §amlet al3 fdjeinbar gef)6rtc unb toon iljm nadjgeftitfterte
in ben 9Wunb gelegt toerben, wd^renb cr bcr SSifion mit ftarren Slugen folgt.
9iad) meiner ©rfafirung, bic id) au£ 33eobadjtungen an ©etfte^franfen
11) tleber bie ^antaftifc^en ®efidjt3erf<f>einuugen toon Dr. :goljannc3 9ftutter.
goblenj 1876. 3olj. SttuIIer roar 1826 ange^ettber ^rofeffor in S3onn; tyfytipp
gtanj t>. SSalt^er, bcr berii^mte, jpdter nadj 9Jlund^cn berufenc ©^irurg, ftanb
tfjm al§ altercr Sreunb unter fd)ttrierigen Umftanbcn nafje. 5lu^ 3Salt^cr§ 9ftunb
tticig iti), bag 3o^. Soulier na^c baxan toax, burd) feine ^atlucinattoncn geifttg
geftort i)i toerben unb bag cr biefc ©efa^r gewiffermagen bnrd^ tt)iffenjd)ajtli^c
©rforje^ung feineS hanf^aftcn 3uf*flnbe§ iibcrtt)unbcu fjabt.
12) 2)ic SSiftonen Derfc^toanbcn auf SBIutcgcI, bie art einen getoifjen ftorper=
tf)til gefefct toiirbcn, unb <8oetfje, ber c§ t^m befanntlit^ uidjt redjt mac^cu fonnte,
fjat biefen mcbtcint^en Srfolg im gauft berenrigt.
25^ Carl (Etjierfa? in £etp3tg.
fc^opfc, toiirbe bic SBirfung cine aufjerorbentltd^e fcin. SBafjrenb jefet ber
©eift 9Rul)e §at, toenn cr aud^ mic bei un§ in ben beften §anben ift,
mit Slnftanb auS bem 3intmer ju fommen, toiirbe nn3 Sttte jeneS @nt=
fefcen ergreifen, tt>el<$e3 nie auSbletbt, toenn toix mit einem Silage bie
SSernunft eineS geiftig tyodjfteljenben 2TCanne3 bem 2B<rf)nfinn tjerfotlen
glauben.
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Seoigirt untcr OeranttDortlidjfcit bes Oerlegcrs.
Drarf t>on 33. <S. CEcubner in £eip3ig.
Hnberedjtigter Had?orutf aus bem 3"faft biefer geitfdjrift unterfcigt. Uebcrfefoungsredjt Dorbefyaltciu
Itcttes HJerh turn ^ttfr ftetrier.
©oeben erjdjtcn unb ift tit alien SBud)f)anblungen lijabcn: au3
§ri$ Batter^ Hadjfofe:
Pic 6ret $axxQf?axxfe,
Suftfptet in brci STctcn.
Our bie ©utyncnauffuljning etngertdjtet ton f mif yoflf.)
$reit iro*. 1 SR. 50 ff.
tlqut get. 2 it. 25 *f.
(Sinet befonberen ©mpfefjlmtg eineS neuen SBudje* toonSrrtfcSReutcr glauben
loir im3 entfjalten $u burfen.
3n tie ©oif0»«n0gtBe bet fimmtlttfjeit ftrrfe toirb biefer ©tab ttii^t
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33ogumil Daipifon 373
^ierju has portrdt Karl ^utjfotp's, Ha&irung von V. Haab in OTiindjen.
, j XI orb unb Sft&" trfdjeint am ttnfang jebes OTonats in Qeften von 8 — JO Sogen £ej.»8.
— prris pro Qaartal 5 mart. —
2We Bud?t?anMnngen unb pojtanjtalten netjmen BtfJeHungen an.
Tlotb unb Sub.
<£tne beutfdje ZUottatsf cfjrtf t
f}erausgegeben
con
VI. 3cm&. — September J878. — J8. ^eft.
(lTUt einem portrdt in Habirung: Karl (Stagfon?.)
Berlin.
XJerlag son (Seorg Stilfe.
NW. 32. Comfenfhrafce.
2>er Znitfdjulbi^e-
Hopellc
von
|d), geljn ©ie bod) nod) nidjt fort! fagtc graulctn Slmelie ju
§errn SBenjel, bet naif) feinem Jput griff. SBag tooDen ©ic
ju £aufe in bent fatten Sintmer. ©elfjn ©ie bod) nod) nid)t
I fort!
£err SDScnjcI ftanb, ben abgefdjabten, fdjtoarjen, fjofjen £ut in ber
#anb, neben bem braunen, rnnben Stodjelofen, in einer tjellblauen ©tube,
unb faf) bur<§ bag Senfter in ben 9lad)tf)immel unb auf bie ®d)iffe
fjinaug, bie im SRoftoder Jpafen lagen. SBarum fottte id) nod) nid)t forts
geljn, anttnortete er, o!)ne, graulein 3lm61ie anjufel)n. Unfere ©tunbe ift
ja aug. 3$ fjabe fa bag SSergniigen geljabt, 3f>ren Stuffafe ju lefeu.
3<f> Ijabe barunter gefdjrieben: „©ef)r befriebigt". SBarum foDte id) nun
nidjt geJ)n. ©ute Sla^t, graulein Slmalie.
Sid), toarum fagen ©ie immer „2lmatie", erttriberte bag 2Rabd)en.
„Slmelie" ifi bod) ^iibfd^cr! mufifalifdjer! — 3d) Ijab' einmal eine ©djufc
freunbin geljabt, bie mid) „2Jlate" nannte; bie fjab' id) julefet gefjafjt;
toafjrtjaftig . . . ©efjn ©ie bod) nod) nid)t fort.
SBarum foUf id) nidjt fortgeljn, ttneberfjolte er. 3d) fjabe ja fdjon
bag SSergniigen gefjabt, in Sfjrem Stuffafc ju tefen, bafe bie Siebe bag
£dd)fte unb ©djonfte in biefem gammert^at ift. 3d) t)abc fdjon metjr
alg einmal bie gf)re geljabt, graulein Slmalie, toon %f)itn ©mpfinbungen
fur biefen unbefannten Singling aug ber grembe ju f)6ren. ©ie moDen
mir toieber babon erja^Ien. SBop fottt1 id) bag fjoren. SBer toeife, ob
eg midj ebenfo gliitflid) mad)t, ttue ©ie. Sllfo gute 9tad)t!
18*
256
2Ibolf UHlbranbt.
D bu frommcr ©ott! fagtc bag SKabdjen unb feufete. SBotten ©ie
mid) uicf)t einmal anfeljn?
2)er armc £>err SBenjel fal) fie alfo an. ©r marf cincn unfrei;
mittigen 331icf auf bie ljoljc, tootle ©eftalt in bent bunfelgriinen §au&
fleib, bag fid) fo angenefjm an bie gormen fdfjmiegte. graulein Stm6lie
ftanb, bie #anbe Winter fid), an bie ®ommobe gelefytt, unb fd^aute iljm
mit il)ren etmag iibergrofcen, ftad)liegenben, leudjtenben blauen Stugen
fofett toormurfgtoott in bag blaffe ©efid&t." ©ic tear faft ju grofc, unb
mag man toon Snod)en an itjr faf), mar nid)tg meniger alg 5erbred)lid);
abet bie Statur Ijatte biefeg beinerne ©eriift fo anmutfjig mit gleifd) unb
Slut befleibet, bajj eg fur SBenjel beffer gemefen mare, bie 33etrad)tung
ber ©d)iffgmaften im ©trom nid)t aufjugeben. graulein 2lm6lie'g ifjug;
uelbens ©eftalt mar in biefem 3uftanb tofltttger, iippiger 9teifc angelangt,
bie fid) ni<$t immer mit ber n5tf)igen ®altbliitigfeit betradf)teu tafst; il)r
runblidjeg ©efidjt mar mie eine 2lpfelbliitl)e, unb fetbft ein gemiffeg
biimmlid) Ijolbeg Sadjeln ftanb it)r gut. 3)er arme $err SEBenjel fal) fie
alfo an. @r tiefj feine l)ol)e ©eftalt fo jufammenfinfen, ba& er fleiner
erfd)ien alg fie; mag er bod) ni<$t wax. |>aben ©ie no d) etmag ju be=
fefjlen? murmette er bann unb toerfucf)te eg mit einem matten fiacfjeln.
Sefug, ©otteg ©ofyt! mie ©ie immer reben! — 3d) W Zfyntn
nod) nie etmag befot)len; id) bin 3f)re banfbare, banfbarc ©djuterut;
id) toerefjre ©ie; ad), bag ttriffen ©ie ja. ©tetten ©ie bod) ben #ut
mieber auf ben ©tufyU — S^nen toerbanf id) ja Slllegl — 2Bie ©ie bag
erfte SKal ju ung famen, alg id) ja nod) fo ungebilbet mar, baft eg ©ott
im $immel jammem fonnte — unb ©ie mir fagten: „93ilbung macf)t
frei" — unb „grcit)eit mad^t ung ju 2Renfd)en" — bag ^at mid) fo
gefjoben, fo gefyoben, id) fann'g 3^nen nid)t fagen. 9ief)men ©ie bod)
mieber $lafe! — Unb ©ie tyaben toiel ©ebulb mit mir geljabt; unb nie,
nie merb' id)'g S^nen toergeffen. Unb eg paffirt mir tool nod) mandf)egs
mal, bag id) ein ungebilbeteg SBort gebraud)e, meil idj'g fo gclernt fjabe;
id) bebarf nod) mand)mal einer Steparatur — (er moHte fie unterbred)en,
aber fie fprad) fort:) bodf) mag !ann id) bafiir, #err SBenjel, bag mein
SSater ein ©aftmirtt) am ^afen, fiir bie ©eeleute, ift, unb leine ffiilbung
gelernt ^at; unb mar1 id) immer mit S^^n, bann fotlte mir ni^tg
me^r paffiren — bag meifi \6) gemig! 2td() (Sott ne ja, marum
fe^en ©ie midE) fo an. ©ie moHen mir burd^ bie S3tume fagen: id^ fonnte
ja immer mit S^nen fein, menu idf) moHte; menn id^ ©ie l)eiratl)en
motlte —
3^ mitt gar nidf)tg fagen, fiel er it)r in1g SBort; bod) fo fait unb
ruljig, mie er fidfg gebad^t ^atte, fam eg i!)m ni^t iiber bie Sippen.
SBie fonnte idE) mir Ijeraugnef)men motten, ©ic ju ^eirat^en, graulein
Slmalie. 3^ ^ter f)at ein gutcg ©ef^aft unb ein fjiibfd£)eg SSermSgen;
id^ I)abe fein ©efdfjaft unb fein SSermogen. ©ie finb jung, id) bin alt!
Per ITCttfdjulbige.
257
Sdj, t>om Sifter tootten ttrir nur nid^t reben! anttoortete ftc treu^
Ijerjig. ©o cin junger Rrabauter bin id) ja aud) nid)t mefjr
Slbcr „Srabauter" ift ja tool fein gebitbeteg SBort. SBie fommt mir
bag in ben 2Runb! — SBir ^tattbeutfdjen Ijaben fo oiele unpaffenbe
SBorter SBotoon fpradjen nrir. geigen ©ie boc^ nidbt mit bent
ginger auf 3f)te f)oije©tirn! ©ie fagen „Eaf)Ifopf" baju; id) fage, bag
ift nur eine Ijofje ©tira; eine „2)enferftirn". Unb „pf)antafie&ofle" SDlem
fdjen bleiben ja immer jung, tuie id) in einem oon $$xtn ®Iaffifern
gelefen fjabe; nnb ©ie finb getoifc ein pl)antafie&otler 3Jtenfdj! ©ie
jjaben nur t>iet, uiet ju Diet $f)antafte; bag ift 3*)* Unglitcf, $err
ffien^el! — Unb Ijaben ©ie nidjt einen fd)5nen, Ijerrlidjen 93eruf: ju
unterridjten — 93ilbung ju oerbreiten —
Unb abjufdjreiben —
3a, ©ie fdjreiben fid) tobt; btog bamit ©ie 3^te fleinen SRidjten
ernatjren fonnen ad), ©ie finb ja fo ein guter, guter SDtenfd)! —
©teljn ©ie bod) ntd^t auf. ©ie foHten fid) nod) ein bigdjen berpuften
©ie foHten nod) ein bigdjen augruf)enl berid)tigte fie fid) unb
toarb rotl). (£g mare mir ja eine I)of)e S^re, 3*)t* grau ju fein; —
nein, maljrfjaftig unb ©ott! — SIber id) toerbe nie l)eiratf)en; nie,
nie, nie —
2tIfo aud) nid)t ben ©afttoirtl) jum „Eap ber guten #offnung"?
fragte #err SBenjel.
Sftit mag fur einem fonberbaren Ion ©ie bag augfpred)en! ant*
mortete fie unb marb toieber rotl). S)ann ereiferte fie fid) plofclid): 2) en *
foDt' id) Ijeiratljen? ©0 eine Ouabuj? ©0 ein tralligeg, appetetoatfdjeg
©eftell?
$err SBenjel Iad)elte.
2l<$ ©ott, id) toax ja tool toieber gar ju ungebilbet! unterbrad)
pe fid) unb legte fid) bie gro&en, molten £anbe einen Stugenblid toor'g
©efidjt. Serjeitjen ©ie —
Sitte feijr! £I)un ©ie fid) leinen 3^ang an. gitr biefen 2Birt^
jum Eap ber guten ©offnung finb bicfe alten Serntoorte fe£)r gut —
SBarum miiffen ©ie benn bag oom Eap unb fo meiter nod) eintnal
fagen! fid fie ifjm in'g SBort. Unb ©ie tfjun'g aud) nur aug ©iferfud)t;
— aber toie ©ie auf biefen Sawmerlappeu eiferfiid)tig fein fimnen, bag rnufc
mid) bodj Don 3*>nen Jtmnbern, iperr SBenjel. 3d) S)cn !)eiratl)en! D
©ott! — Sr lann fici) toag proften taffen! Steber ge^e i^ in bie SBar^
now, too fie ant tiefften ift!
|>err SBenjel murtnelte ^ierauf ettoag, bag fie nid)t oerftanb. 3Bag
fagen ©ie? fragte grdutein Sttn^lie. S)ag barf man tool nid)t fagen,
#err SBenset: „er fann fid^ toag proften laffen"?
3n einem beutfdjen Stuffafe mitffen ©ie'g nifyt fd)reiben, antmortete
er fanft; aber fur biefen SBirtt) ium Eap ber — — filr ben mar eg
258
2IboIf ttWbranbt.
gut! Uebrigen3 toaS l)ttft ba3. ©ie toollen ntd^t l)eiratljen, fagen
©ie. Slbcr fur ben bungling «u« bcr gtembe, ben jungen ©djroeben,
filr ben fdjtagt 3*1* #e*S- #eiratJjen tootten ©ie tijn alfo nic^t; — alfo
toa£ tootten ©ie tljun?
8td) ©ott! ad) ©ott! ttrie ©ie fragen. 214 ttrie fdjled&t ©ie finb; —
unb ©ie finb bodj fo gut. 2Ba3 fann id) bafiir, £err SBenjel, ba& biefe
ungludttidic Siebe fo fiber mid) gefommen ift, ttrie in ben Stomanen unb
in ben Irauerfpielen; — ja, einc ungtiicftidje Siebe — feljn ©ie mid)
bocf) uid)t fo Don ber ©eite an — — Sine ungliicftidje Siebe, benn fo
ein feiner, t>orne]f)mer, reiser junger 9Jienfdf), unb fo ein ?tboni£, adf) ber
l)eiratljet mid) nidjt! — Slber ein red)tfcf)affene8 SKabd&en bleib' id) bodf),
£err SEBenjel; ja, unb toenn ©ie aud) bie ©tirn ittrif<j)en 3f)ten 9lugen=
brauen je^nmat jufammenjieljn — gut bleib1 id) bod^; — ja unb toenn
©ie aud) — —
©ie fyflrte ptofetidj auf ju reben, benn fie fing an ju toeinen. ©ie
jog if)r lafdjentucf), ba8 fie ganj jufammengebriidt fjatte, auSeinanber,
legte e£ fidj toor bie 2lugen unb fd^Iud^^te.
£ml murmette £err SBenjel, ber iljr gegeniiber faft, unb ftarrte fie,
burd) biefen SluSbrud) ettoa3 geangftigt, an. @r beugte fief) Dor, aU
miiffe er if)r irgenbttrie gu £utfe fommen; fein ©efidjt tterjog fid), toeit
er felber toeidj ttmrbe; benn fiir lauteS SBeinen l)atte er eine ungliidf;
felige (SmpfinblidEjfeit, unb ttrie foUte er nun gar graulein Smalie rufjig
fdjludjjen f)5ren. 2)aju toax fein ®emiitf> ofjnefjin in trauriger SSer^
faffung... (Sr fcf)ttrieg, aber er betoegte ficlj unruf)ig auf feinem ©tuljl
Ijin unb fjer; bod) ate er biefeS alte, toacfelige ©eftetf fnarren ljBrte, fafc
er ttrieber ftiD. graulein 2lm6lie toeinte fort, tjinter ifjrem Xudj. Sariiber
ertoadjte feine $f)antafie, benn e3 beburfte immer nur ioenig, fie ju toeden.
©r fal) in bie Bufunft f)inau§ ... @r faf) biefen toerfjafjten „3iingting
au3 ber grembe" ttor fidj; er fannte itjn nidjt, aber er fteHte iljn fidfj ttor:
fd)lanf, btonb, un&erfdjamt jung, in einem feinen $e!j, mit einem fatten
Sac^eln urn ben mabd)enf)aft Ileinen SKunb. Sttinalie lag Dor i^m
auf ben Snieen: ^eirat^e mid^! ^eiratf)e midj! ftS^nte fie; bu ^aft mid)
redjtfdjaffeneS SKab^en in bie ©djanbe gebrad^t! — S)od^ ber inf ame
junge ©d^mebe Idd^elte baju, betoegte nur abme^renb feinen re^ten ^Jelj*
armel, unb trat t?on ber fflriide auf^ ©d)iff: benn ben $errn SBenjel
^atte feine rafdje ^^antafic plo^ti^ in ben £>afen, an ben glu§, jur
©df)nidmann§brude gefii^rt. S)ie Srigg „©uftat) 2lbolf", mit ber fc^toe^
bifd^en Slagge, ftiefe ab. S)er SSerfii^rer ftanb an Sorb unb layette.
3ftit einem fiird^terlicfien ©d^rei lf)ob bie toerlaffene 9lmalie i^re §anbe
unb fprang in ben gtufe . . . 2)a fdjtoimmt ja aud^ fc^on ifjre Seiche ^in^
ter bem ©<$iffe ^er. SBer fd^loimmt benn ba neben iljr? S)a^ ift er
fetbft — ©ottlieb SSSenjel. @r lebt; er fd^tt)immt toie ein gifcf); er fnirfd^t
mit ben 3&f)nen, benn er ted^jt nacf) SRac^e. S)a8 ©c^iff fegelt n>ie ber
Vex Iltttf^ul&ige.
259
Seufel ben glufj ljinab, aber Gottlieb SBenjel ift fdjnetter. @r l)ott ed
ein, er flettert f)inanf, er ftef)t auf bent SSerbedf. §aV id) bid), Serfiiljrer!
raft er bem jufammenbredjenben jungen ©djtoeben ju; (Slenber! fief) fjin,
ton bort ljinten fdjtoimmtl — Unb fein gedffnetcd $afd)enmeffer fdjtoin;
genb, ftofct er ed bent ftSfjnenben Singling and ber ftrembe in bic
8ruft . . .
SefuS, (Sotted ©oljn! toad madjen ©ie? rief bad SKabdjen and nnb
fufjr in bie $5^e. ©ie fdjlagen tnir ja tool ben ganjen $ifd) in ben
@runb! — §txx SBenjel, toad Ijaben ©ie — ©ott foil mid) betoaljren —
#err SBenjel ftanb auf, ftarrte auf ben £ifd), ben er mit ber ge;
fjobenen gauft getroffen fjatte, bann im 3ininter umfyer unb auf graulein
Slmalie. (Er faf), baft fte fid) bie lefcte Ifjrane Don ber SBange toifdjte . .
Sitte fefjr urn SBergebungl ftammelte er.
©ie ftfjien nun ju begreifen, toad if)tn gefd^e^en toar; benn fie fing
an ju tatfjeln. ©nblid) fad)te fie taut.
@d toar alfo nod) nid)t fo fdjlimm: fie fdjtoamm nid)t fteif unb fait
(jinter bem batoonfegelnben „®uftat> Slbolf" Ijer, fonbem in alT ifjrer
blufjenben Ueppigfeit ftanb fie ba unb Iad)te. ©ie fadjte nocfj fo, toie
nur bie Unfdjutb ladjt ... ©r Ijatte nur getrfiumt, toie getoflfjnlid). ©d
toarb tfjm ettoad leister um'd $>erj. 2)odj toad mijjte ed, baft fie nodj
fo baftanb? — !Rid)t fur il)n toar fie fo bliifjenb, fo fjubfdj. S)iefen
9nbem liebt fie, ber fie nidjt fjeiratl)en toirb. Unb toie redjtfdjaffen fie
aud) ift, — toie toirb'd eined £aged enben ... Sr nafjm toieber feinen
alten, abgenufcteu, fjodjftammigen $ut. Sitte nodjmald urn SSergebung,
fagtc er mit einem unftdjeren, getriibten Sa^eln. 3d) Ijabe pjjantafirt;
meine atte ©d)toad)e. 2)ad nimmt bei mir iiberljanb. grautein Slmalie,
eine toof)Ifc§Iafenbe Siadjt!
SBarum tooHen ©ie plofelidj toieber gefjn? SBetl id) eben gefjojafjnt
Ijabe — gegaljnt, tooBte ii) fagen — ?
9tid)t toeil ©ie gefjojafjnt, autf) nid)t toeil ©ie gegaljnt Ijaben, anttoortete
£err SBenjel. 9Iber toir fjaben und [a audgefprodjen, Sraulein Slmalie.
2Bir fjaben und fiber %f)xt ungludlid)e Siebe auSgef proven; — toad f5nnte
und nun nod) intereffiren, 3raulein 2tmalie. 3<f| toitt mit meinen Stic^ten
ju SRadjt effen. ©ott fegne ©ie, unb fo toeiterl
©ie tootten fort, toirfli^ unb toa^r^aftig? — Unb. ©ie Ijaben noc^
nic^t einmal — feine ^otogra^ic gefe^n; ©ie toiffen notf) ni(^t, toie \6)
Senjenigen benn eigentli^ fennen gelernt Ijabe — toie er fjeifct — toad
er ift —
&err SSenjel ri^tete feine lange breitfd&ultrige ©eftalt, bie er ge*
tod^nli^ ettoad nac^ Dome neigte, fteif unb ftforig auf. 3d) toiinfc^1 ed
au^ n\6)t ju toiffen, graulein Slmalie, fagte er, oJjne fie anjufe^n. 3^
ljabe fein 3^tereffe fiir feine $l)otograpI)ie. 3^ ^affc i^n, fefcte
er ^inju.
260
2Jbolf WUbtankL
9td) ©ott! fcufjtc bag 2Jtabd)en.
©ie toaren beibe ftifl. ©te naljm cine ©triinabel toom £ifdf> unb
rieb fid^ bamit bie ©tint. (£r ging langfam jur Ifjiir.
8dj, idf) bin ja audj nidjt glucfticf)! fagte fic enblidf), toie um itjn
ju trflften. ©ic geljn alfo toirftic^ fort . . . 3d) nodf) toag in $etto,
£err SBenjet: bicfc ffinattbonbong fiir bic Stoittinge, fur bie Keinen
Sti^ten. S)cr Sapitan Don bcr „$ommerania" l)at fic mir gefdjenft.
9ld), biefc lieben tteinen S^iflingc, bicfc SBaifenfinber, bie immcr fo
magcr finb — aber immer fo pufctuftig, fo fcergniigt. 21^ , §crr
SBenjel, nefjmen ©ic bodj biefc Heine Xiite, unb liiffen ©ie bie 3toitthtge
don tnirl
©o langfam, toie er gegangen toar, fam er ju iljr juriicf. grautein
Slmatte, ©ic finb ein guteg SKabc^en, fagte er gerii^rt. 3$ bonfe ^jfyritn
filr bie S)iite. Saffen ©ie midj nun geljn!
3a, nun foUen ©ie gel)n; aber toie feljn ©ie keg cms f<$ted()t,
tootlt1 idf) fagen. Sludj fo mager, #err SBenjel Stun ^5ren ©ie
einmal ba unten ben §opp1)t\ in ben ©aftjimmern; toie 2)ie toteber
ntaro^cn! S3iefeg Sudden unb #ud)eln; — toie toenn eg auf ber SBelt
leinen Rummer gabe, #err SBenjel; toie toenn 2llleg auf ber SBelt fo
to&re toie eg nui&te; — ad), geben ©ie mir toenigfteng bie #anb. 3$
m5^te 3J)nen fo gem t>ielc greube madden; id) toereljre ©ie;
aber §oren ©ie einmal biefeg lafeljeug! 2)ieg ©erafter ba unten
Sft bag ein ©djrifttoort, #err 2BenaeI?
Stein, eg ift fein ©djrifttoort; unb laffen ©ie meine $>anbl
©ie finb fo btafj, #err SBenjet; unb fo mager, toie bie 3toiHtoge;
— ©ie leben tool aud) toon Sla^ta unb Slmbrofia, toie bie aften
©dtter! — Unb id} bagegen, idj toerbe fo pummelig ... 28ie Diet Un*
geredjtigfeit gibt eg auf biefer SBelt! — — ©ie raiiffen fidf) ftarfen,
#err SBenjel; — iibrigeng, bag fjatf idE) bodj gleidt) in ben lob ber*
geffen: ©ie befommen ja nodj 3*)* — 3*)* £onorar fiir bie lefeten
©tunben. SKein tyapa f)at mir'g fjeut gegeben. giir fedjjeljn ©tunben,
nictyt toal)r. SSitte, neljmen ©ie!
$err SBenjel runjelte bie ©tint, um nadjjubenlen, unb fdE)iittelte
bann ben Sopf. ©ie finb im 3rctl)um, graulein Stmalie. SBa§ reben
©ie t)on fed^je^n ©tunben; eg finb nur nod^ je^n. 2ltteg griiljere ^ab'
id^ fd^on befommen —
2)a3 toei§ id^ beffer, ertoiberte fie fedE, toa^renb fie fief) abtoenbetef
um i^m ni^t in bie Slugen ju fe^n. ©ie finb ja ein fo gefdjeiter unb
fo gebilbeter SJlann; aber jeber liitenbre^er !ann beffer redjnen alg ©ie.
Unb ©ie ^aben ein fd^Ied^teg ©ebde^tnife fiir ©etbfadjen, toeil ©ie fo t>\ti
Slnbreg im Ro^f ^aben; unb idj toeife, toag i^ toeife. 8ld^ ®ott ne jaf
ne^men ©ie bod} 3^t ©rib; fte^n ©ie bodj nid^t fo ba!
Slber ©ie irren toirflic^
Der mitfd?ul&ige.
26\
SRadjen ©ie mid) ni<$t biJfe! fid i(jm ba3 SKabdjen in'3 SSort unb
Ijob bic ©tricfnabet, toie urn ityn bamit anjugreifen. ©ie tootten mir
tool toa£ fdEjenfen, tote id) merfc. 3$ foB mid) toot umfonft toon
3$nen bitben taffen; bamit ©ie Dert)ungem f5nncn — unb bic armen
3toiflingc baju. SBcnn id) brci gejtiljtt f)abe, #err 2Benjet, unb ©ie fjaben
bann noi) nidjt genotnmen, toaS 3^ncn jufommt, — bann ftofc' id) 3^ncn
biefeS ©djwett bcr SRadEje in bic Sruft!
£err aBcnjcI tadfjette; toefjmiiiljig unb frot) sugleid^. $ab' id) mid)
toirfticfj fcerredjnet? fragte cr bann unfdjutbig. 3dE) badjte bod) —
Stbcr id) toeiftl — ffiinS — jtoei —
Sr natjm bag flcinc $adet mit bent ©rib, e*) S)rei fagtc, unb
Ijielt e3 in bic £oIjc. 2Ba^ fang' id) bamit an, fagtc cr; auf cine fo
getoaliige ©ummc tjatt' id|j nidEjt gered)net —
3dj toil! S^ncn fagen, toa3 ©ic bamit anfangen, fiet ba£ SKabdjen
cin: ©ic getjn junadjft in ba£ toarmc ©aftjimmer t)inuntcr unb bergonnen
fid) enbtidf) einmat cinen gutcn %xnnlf unb cine Sigarre baju; benn
3f>re 9tid)ten finb bci ber attcn grau ©djtotibfe gut aufgetjoben, unb ©ie,
©ie leben nid)t beffcr ati ein §unb, unb fcfjn au3 toic SBabbif unb
SBefjbagM Unb juerft aber taffen ©ic fid) ein engtifdjeS Seefftcaf geben,
mit ober ofjne 3toiebetn, toic ©ic tootlen; unb toenn ©ic fatt finb, bann
benfen ©ic cinmal an mid), aber freunbtidj; unb bci bem Stuff a^ jur
ndd^ften ©tunbe, uber „bie toeibticfjen lugenben", toil! id) mir atle, attc
SKu^c geben; nun, fo getjn ©ic, $txx SBenjet! Stber ©ie fommen
nidjt erft am SKitttood) toicber, fonbern morgen, ober iibermorgen; Stm
fetjn t^ut gebenfen! Unb trinfen ©ie toon bem bun! ten 83ier, ba£ getjt
3f)nen beffer in1£ 23tut; — unb bebenfen ©ie nur, fefcte fie teifer fjin^u:
id> bin audj nidfft gtutftidfjl 3ld) bu mein ©ottl — ©ute 9tad)t.
fallen ©ie nidE)t auf bcr Zxcppe, §err SEenjet, geljn ©ie fasting tjinunter.
Unfrc attc Ireppe ift fo fuccefftoel
II.
£err SBenjet fotgte bcr SBeifung, bie grautein Stmatie if)m gegeben
tjatte: er ftieg mit SBorfidjt tjinab unb trat bann in baS t)orbcre, gr5ftcre
bcr bciben ©aftjimmer cin, in benen ber SBirtlj jur „©tabt Sonbon",
ber SSatcr 9tmatien£, toarme unb fattc ©peifen, mitbc unb ftrenge ©e^
tranfc an bie feefafjrenbe 93cto5tferung fcerfaufte. ®odj ^ajutenjungen,
^atbmatrofen unb Sottmatrofcn pftegten (jur 3^it, ba biefe ©efc^id)tc
fid) begab) bic ©aftjimmer ber „@tabt Sonbon" nid)t ju enttourbigen;
tjier erfc^ottcn bie gtii^e ber ©d)ipfopitane unb ©teuerteute, unb ©d|iff^5
baumciftcr, ©cget= unb ffiompa^mac^er, atte eljrtourbige ©cefa^rcr im
Su^eftanb gotten fidj ^ier i^rc ©onntag^raufdje. Stt^ SBenjet bie Xpr
jogernb 5ffnete unb ber labafequatm i^m gtei^fam feinc btdutid^en
262
tfbolf Wilbxanbt
SBotfcn-Slrmc entgegenftredte, toax itjm banad) SJtutlj, toieber umju^
feljren; betm toaS fotlte cr Ijier, bic Sonbrattc unter ben SBafferratten.
2>odj 9lmatien3 freunbtid)e SBorte fielen itjm toieber cin; unb e3 toax
iljm bodj cin toeljmutt)ig tuofyUger ©ebanfe, fein ©lag SSier unter ifjretn
3intmer unb feci iljrem SSater ju trinfen. ©r rieb fid) bie 2tugen, bic
an biefen beifeenben Ouatm nidjt mefjr gett>51)nt, bie burdj bag ndd}tttd)e
9lbfd)reiben angegriffen unb ger5tf)et toaren, tjdngte feinen #ut an bie
2Banb unb fud)te fidj einen Pafc.
Seibe 3imme* toaren gefiiHt; an langen Sifdjen faften fie, SDlann
an SKann, hue bie ffirdljen, ober urn fleinere £ifd)e ju S)reten unb ju
SSieren, Sarten auf bent £ifdj unb in ber #anb, lange unb hirje
^feifen im SOlunbe. Sllte Sfatoaliben mit unjdf)ligen SRunjetn in fo ge*
borrten ©extern, aU fatten fie Safjre lang in ber ©onne gelegen;
junge ®apitdne mit faft eleganten Sadenbdrten, mit fefter, btiiljenber
§aut, unb getudl)tt gefleibet. ©robe guljrtttann3gefid)ter mit fleinen,
blinjelnben Stugen, bie nie ein groftereS SSaffer att bie Dftfee gefeljen,
mit fupferfeften SJtafen, bie nie etmaS 93efferc§ ate ruffifd)e £atgtid)ter
unb grime ©eife gerodjen fatten; bunfel toerbrannte, magere, fd)arfs
dugige „©attionen", bie au3 „ber Sltlantif ' ober fonft t)on „I<mger ga^rt"
nadj #aufe famen, bie ber ^affathrinb erfrifd)t unb ber leifun gepeitfdjt
^atte. SRotfjtuein con „S3urbaute", 3tum au§ „ber ©ataxia", bunfleS,
fd)dumenbe3 Xopptlikx unb „fteifer" ©rog fd)tuammen in ben ©Idfern.
Suftige ©efdjid)ten au£ alien SEettttjeiten, 2)urd)einanberfd)etten ber
©dieter, Stottjrufe bon Shtrftigen, beren ©Idfer leer hmren, burets
fd)tt>irrten bie tabaffd)lt>ere fiuft. 2)ann futjr einntat ttrie eine frifd)e 956
br5§nenbe3 Sadjen ilber einen fiirdjterlidjen ©eemann$lt>i|} bajtoifdjen;
bann ttrieber toarb e3 ftiH. $err SBenjet blieb fteljn, blicfte umtjer unb
fyordjte. Stiemanb gab auf iljn 2ld)t. ©nbtid) fal) er Winter fid), nalje
bei ber £t)ur, ben einjigen teeren £ifd), ber bort einfam ftanb. ©r
nafjm einen auSgefeffenen 9lof)rftut)I au§ ber ©de, riicfte ifjn an ben Itfd),
unb o^ne ©crdufd) fcfete er fid) nieber.
#err 93erring, ber SBirtl), fam fjeran; Slmatie Serringg SSater,
gro§ unb blonb toie fie, boc^ ju fef)r in bie 3tunbe getoadjfen. 6r
fc^toifete ftarf, benn feine ©dftc liefcen i^m feine Sftulje; aber Se^agen
unb 3uftieben^eit teudjteten au^ bem blufjenben, badenbdrtigen, Id^eln^
ben ©efic^t. ©ott fott mir 1nen Staler fc^enfen: ©ie mal ttrieber bei
mir! rief er au3, unb mac^te eine 2lrt t)on Serbeugung, urn feine be-
fonbere S^rerbietung au^ubriiden; benn t)or §ernt SSenjet, bem „fd^rift-
geletjrten" SDtann, ^atte er einen bunflen, feierti^en SRefpeft. ©ettene
©^re, §err SBenjel! SBomit fann ic^ bicnen, toonad) fte^t 3^nen ber
©ufto? — Seeffteaf; Soppelbier. ©e^r toof)l, fe^r mo^l; t)aben toix
atte§f £>err SBenjel. 3ft mir ein fetjr angene^me§ 9tanf outer; — mit
3roiebetn, fel)r rooty, fe^r tooty. Silbung mufe fein, bag toeifi unb
Der mitf djulbtgc.
263
©ie macfjen \a au£ meiner Iod)ter cine orbentlidfje Seine, £oci)beutfd}e,
toie fid) ba§ jefct geljort; — nidjt burdjgebraten; fef)r toot)t. SBaS mcinc
fetige grau tear, bie toar nidjt fur Sitbung; unb ba muftte id) mid)
tool geben: unb bat)on l)aben nun, bafc ba3 ffinb fief) nidjt fo be?
Icmt Jjat, ttrie fie fottte unb toollte. Stber ba fifct ja nun ber ©thrifts
geleljrte, unfer §err SBenjel, ber ben ©djaben auSflitft. SSon bent
bunflen 83ier; ganj, nrie ©ie befeljlen! — 3dj madffte mid) gerne
audj nodj an bie SBiffenfdfjaften ; aber ©ie toiffen ja: toaS $dn3djen
nidjt gelemt l)at, unb fo toeiter; ber alte Sopf ift ju toebberbdnfef) ; unb
au3 einem ©d)toeinefcf)toani lafet fid) !ein feibeneS #afetucf) madjen.
fori, einen boppetten Sfummet fiir ben |>errn Sapitdn! Slfjot)! W)ot)\
— SKit 3^rem giitigen SBol)lnef)mett, |>err SBen&et: id) muft in bie
£ud)e. Sugtifcf), mit 3roiebetn; fct>r toof)U
$err SBenjel faft toieber allein, ftiifcte ben grofeen, ljaarbufcf)igen
fiopf in bribe #dnbe, unb toerfanf in feine ©ebanfen. 2)a oben fifct fie
nun, bacfjte er, iiber biefer S)ecfe, unb feufjt nadj it)rem „9tboni£". SBie
in aller SBett ift'S nur mdgtidj, baft ein etjematiger Sanbibat ber Xfjeo*
logie ftd) in ein SKdbdEjen fcernarrt, ba3 bon „fuccefftoen Xreppen" unb
„9lboni£en" fpricf)t, unb einen Stnbern gem f>atl — Unb fie fagt mir13
nodj in'3 ©eficfjt: biefen Slnbern lieb1 idj. Unb idj alter SiinbSfopf —
©Ijrlicf) toenigftenS ift fie! Sreutjerjig; unb fo gut; adj, fo tddjertid)
gut. Unb biefe ©eft alt; biefe frifdjen SBangen — — SBar1 idj nie in
bieS #au£ gefommen! gur bie paar Skater, bie idj meljr toerbiene, ift
meine ©eetenrulje Ijin. 2tdj, ein fdjledjter §anbetl — SDa fifet nun fo
ein alter „fdjriftgetef)rter" 9tarr, einfam unb gottSerbdrmtidj —
Sedjt Ijat fie: biefeS 2)oppetbier ift gut. Unb biefe braune garbe; biefer
©fan} barin, menu ba3 Sidjt t)inburdjfd)eint. SBie ber bunfle 23ernftein,
ben id) ate Sunge am ©eeftranb bei ber SRoftorfer #aibe fanb; — feme,
feme 3citen! — SBie bie S3Iafen auffteigen; biefe ttrilbe 3agb, at£ famen
fie fonft ju fpdt. ©eib iljr audj \va&, iljr Heinen Suftpcrlen, bie it)r'3
fo eilig ^abt; bie ifjr'S nidjt ertoarten !5nnt, bi§ i^r ba oben jerplafet?
Unb toenn i^r nid^t gleid) jerplafet, ftiirjt tfjr auf einanber juf tok ein
^aar Siebenbe, unb aug 3^cien mirb Sine — ljaft bu mic^ nid)t ge^
fe§n. ©ac^te, fad^te, fadjte, 3^ngfer Sld^c^en; ja, bu ba — — SBeg
ift fie. SWit ^perrn 33Ia3d)en t)ereinigt; — unb nun plafcen fie; gemein^
famer ©prung in*3 91td)t^: ni^t in1^ SBaffer, aber in bie fiuft. Unb ba
fifct fo ein fe^d ©djulj longer Serl, Stamen^ ©ottlieb SBenjel, unb fiefjt
eu(^ ju, toie t% eud^ erge^t. ©ifet benn irgenbmo (£iner, ben i^ nic^t
fef)e, unb fietjt cbenfo auf bie Suftblafe ©ottlieb SBenjel ^erab? unb
mat^t feine ©loffen iiber biefe ruppige alte SSIafe, bie aud£> immer
fteigen, immer fteigen toottte, unb immer bie ©e^nfuc^t f>atte, fi^ mit
einem S^ugfer 23td3d)en ju oereinigen — unb enblid} jerplafeen toirb?
Unb bann fragt toietteidjt noc^ irgenb ein perlenbeS S3Idg^en: „too ift
26<*
tfbolf XDilbranbt.
©otttieb SSenjet gebtieben?" — unb ittbem fie bag fragt, ift fie audj
bat)in — —
Er fafy toon feinem ©tafe auf, ba ein grower ©fatten eg fcerbunlette,
unb ftarrte ben ©djatten on. Ein junger SKenfcf) toax l)erangetreten,
bent ein Qmtittx fotgte. 95eibe natjmen ifjre mobifd)en fteinen |>fite toom
Sopf, marten cine teidjte grfifienbe 33elt>egmtg unb fefeten fidj an ben
$ifd). #err SBenjet ertoiberte ben ©ruft. Unnrittffirlicf) rxicftc er bann
ein toenig mit feinem ©tut)t; benn eg gefiet it>m nid)t, baft er nidjt
aHein btieb. 3)er eine junge SJteufct) bemerfte bieg unb fing an ju
tacfjeln.
Eg ift eben nirgenbg metjr Sptafc, fagte er mit einem teifen aug=
Idnbifc^en Accent.
3d) fyabe aucf) biefen £ifd} nicfjt gepadjtet, ertt>iberte SBenjel t)i>fticfj.
2)ann err5tl)ete er, tueil er gem ettoag Seffereg, 2trtigereg gefagt §dtte;
bocf) e§ toar ju fpdt.
S)ie jungen 3Kdnner forberten eine gtafdje SCBeitt; fie fatten bren-
nenbe Eigarren in ber #anb unb fuffren fort ju raudjen. #err SBenjet
betrad)tete fie; flfidjtig unb befdjeiben. 2)er, toetdjer geforodjen Ijatte,
tt>ar ein pbfcf>er SKenfcfj, el)er ftein ate grofl, du&erft jiertict) gebaut.
Er tjatte ein feineg Sldgdjen, tidi)tbraune SRetjaugen, bie, ttrie bei einem
neugiertgen 93oget, tebljaft tjin unb tier bticften, unb teidjt gefraufetteg
laftanienbrauneg #aar, in bag er toon 3eit ju $tit feine unruljigett
#dnbe toergrub. S)er 3Inbere toar gro&er, ettoag afdjfarben unb fiber-
fyaupt unfd)einbar. 2ludj toax toon feinen blaffen SBrauen unb SEimpern
faum ettoag ju fetjn, fo baft man auf ben erften 93ticf gejtoungen toarb,
fie ju fudjen. S)ieg tfjat benn aud) SBenjet; bodj nadjbem er'g gettjan,
fatj er toieber in fein ©tag, natjm eg unb trant eg aug.
3Me beiben jungen Seute begannen mit einanber ju fpredjen; aber
in einer fremben ©prad)e, bie er nictjt toerftanb. Einjetne SBorte flangen
faft ttrie beutfet); er tjord^te eifriger t)in. S)ann foar timber Sttteg fremb.
Enbtict) fcf)ien i^m getoift, baft fie enttoeber 35dnifdj ober ©efftoebifdj
tyrddjen; entfcf)eiben fonnte er'g nid)t, ba er fidj urn biefe beiben ©pradjen
nie befummert Ijatte . . . SBie! fottte ©iner Don ifjnen unfer ^Slbonij"
fein? fuljr i^m auf einmal burd^ ben Sopf. ®g lief i^m §eif$ fiber ba§
©efi^t. ©r betrad^tete bie Seiben t)on Sleuem. ©ie toaren ni^t fee-
mdnnif4 fonbern efjer mobif^ gefletbet; ein bunfelblaueg, fetneg, bur^s
fd^einenbeg $atetu^ fie! bem ^aftanienbraunen, nac^Iaffig gefc^Iungenf
fiber bag blenbenb tueifee ^emb. Softbare 9tinge trug er an ben gingern;
toenigfteng fc^ien ber grofje ©tein in bem einen SRing ein Slubin ju fein.
S)aDon !onnt1 id) ja toot ein 3at)r leben, ba^te SDSenjel; id} mit meineit
Sli^ten . . . SBar* etma bag biefer Sfingling aug ber grembe?
Er faf) no^ einmal f)in, bann fc^fittette er ben Sopf. SEBic gani anberg
ftettte er fidj ^Senjentgen" t)or: grofe, fdjtanf, blonb, mit einem fatten
— - Per HTttfdjulbige.
265
Sadjeln, fafte ©iege3gett)i&ljcit in ben Mauen 9lugen. Unb btcfer Saftaniens
braunc Ijier mar ein fjatber Snabe, bcr fo tjerjlid) locate, toenn bcr
Slnbere fpradj; bcr fo luftig fdjmafete; bcr ben glaum iibcr feiner Dber=
lippe firid), tuie cin 93ogcI fein ©efteber pufot. S)er Slnbere aber, bcr
8fd)graue — meniger SlboniS, ate ber, fonntc man nid)t fein.
Stun, fo mogen fie 3)anen ober ©djmeben obcr aud) Sapplanbcr
fein, toie e3 ifjncn bcliebt! badjte SBengcI berutjigt, ba eben fein Seefs
fteaf fam; forberte cin neueS @ta3 33ier, unb mit ber Segierbe eine$
SKenfdjen, ber an biefem SDtittag nur Sartoffetn auf fcinem Setter fjatte,
fing er an ju effen.
SHfo bei 2)einer 2tbreife bleibt e3, alter Sunge? fragte ber ^aftanien^
braune, in feiner norbifdjen ©pradje foeitertyredjenb, toaljrenb SBenjel aft.
©incn lag gibft S5u me^r ju?
Sljet, e3 muft fein! antroortete ber 2lnbre. SRorgen mit bem crften
3ug faljre idj nad) ©tettin; toon ba mit bem Sampfer nad} SKalmfl.
S)enn e3 ermarten mid) bie Iiebenben ©Item, unb fo toeiter . . . Sleuftd)
fagteft $)u mir: „toenn ®u getjft, gel)' id) mit!" SBarum ttrittft 2)u
mm nidjt?
9Id), idj toottte tool)I! £unb, id) toottte mot)!! 3n biefer berbammten
alten #anfeftabt ift fein Seben, Sunb; id? langmeite mid) tuie ein after
Seeljunb; ©ott ber £err mag ttriffen, marum mein S3atcr mid) in biefeS
Steft gefdjidt f)at, urn 3)eutfdj parliren ju lernen! — ©ut, nun bin id)
ljier getoefen, unb id) I)ab13 gelernt —
Son ben fd)5nen lantern Seined $Penfion3&ater3 —
5)a3 ift tooriiber, Sunb! Siefcr jarte, fyrifdje 95unb ber $erjen ift
iu ®nbe!
Unb @mma, bie „f)otbe Steine"?
S3oriiber, Sunb, fcoriiber!
28ie biefer fteinc 3)on Suan fpridjt! fagte ber Slfdjgraue unb
tradjtete il)n ironifd) burd) feine Ijalbgefdjloffenen, ttrimperlofen Stugen.
„8oriiber, Sunb, fcoriiber!" — S)a fjat unfer fd)5ne£ 2ljetd)en einmal gc;
lefen, bajl mir ©djweben bie „granjofen be£ StorbenS" finb, unb fyaft
nun fur feine $flid)t, bie SBaljrtjeit biefeS ©afceS ju beweifen! — Safe
Seinen fogenannten „S3art", fleiner ®on Suan; biefer braune SBeijen
toill geit fjaben; mit ben Singern t)erau3jiel)en lafct er fic^ nid)t, i^
gebc 3)ir mein SBort. — 3)u ^atteft Sir ja borgenommen, 3)einem
$cnfion§t)ater burc^jugeiien, toenn 5)u ein tjalbeS S)u^enb biefer freunb?
lidjett ffeinen 9Rabc^en ^inlangtic^ ungliidli^ gemadjt pttcft —
®a§ fagte idj bamat^, au§ Unfinn, a\$ id) ju t)iet t)on biefem
l)6llifd)en ©rog gctrunfen ^attc. S)u after ©atirifer! fo ein getoiffentofer
9lattenf anger unb ©eetenDerberber bin \6) nid)t; auf S^r' unb ©eligfeit!
Sber toad lann ic^ bafiir, bafc bie beutfd^en SDlabc^en mir fo freunblidje
8ugen mac^en, ftatt meinen greunb Sunb ju bee^ren; unb baft fie in
266
2lbolf Wxlbtanbt.
93erjudfung geratljen, toenn id|j iljnen mit meinem tjotyen lenor fcfjtoebifcfje
Steb.er fingc —
Unb bag itynen bad #erj bridjt, fiel ber SBfobere ein, loenn ba3
fdE)Webifd}e 9lad)tigalIenmanndE)en auf acfjtunb&ierjig ©tunben in ben ftaftg
mug, toeil e3 mit cinem 3la6)itoa6)ttx fampfte —
3)a3 fcergeff' id) iljnen nidjt! rief ber fiaftanienbraune auS, jog
feine #anb au3 bem locfigen $aar unb battte fie jur gauft. SKefent
9tacf)ttodcf)ter ju gtauben, bicfem ©djuft, ber betjauptete, id& Ijatte tytt
geoljrfeigt — — Sine Siige, Sunbl 3$ toottte midj nur toon bem
fd&mufcigen altcn fieri nid)t beriiljren taffen, unb idj madjte mid) Io3.
3)afiir midj einjufperren! 3)a3 toar ungeredE)t! 2)iefer ^otijei^Senator,
bicfer atedjtStoerbretyer, bicfer ettte ©edf Ijort nodj toon mir, Sunb; bem
tfju1 idj nod) einen 5J5offen an, bag bie SBicfetfinber in ber SBiege bruber
tad&en fotlen; barauf fannft S5u (Sift neljmen, Sunb!
3dj ttrilTS nefjmen, %el; aber unbanftar bift 2)u: benn biefer
^olijekSenator l)at Dir ja DotlenbS bie 2RabdE)en toll gemadjt. SRit
2)einem ©efidjtdjen unb ©eftettdjen fing'S an, bann fatn 3)ein £enor baju,
bann timrbeft 3)u SJiartyrer unb mugteft Winter ©d)tog unb 9tieget: ba
toaren bie £erjen toerforen! — ©djone Deinen 33art; feine Sugenb,
8ljet, fei 2)ir l)eilig. S)u ftrittft atfo nidf)t mit?
Sunb, idE) tooflte tool)! —
Shut, toer mitt benn nidE)t? Srgenb cine neue btauaugige %f)U&
netba —
Sunb! fuijr 2ljel auf. SSir finb nidfjt altein, Sunb!
Sunb jog bie Srauen in bie #0l)e, bag iljre Maffen Sinien beuttid)
ftdfjtbar nmrben, legte ben fiopf auf bie ©eite unb' fing an ju pfeifen.
Sltfo eine groge SStauaugige ift e3! fagte er bann mit einem fdttfauen
Sadfjeln. 3l\ti)t fo aufgeregt, 3IjeI; ber SKann ba mit bem 33eeffteat unb
ben 9tadjttoanMer;3tugen tjcrftc^t un3 ja nidE)t; benft audE) gar nicf)t an
un§. SDleinft 2)u, idj f)atte nidjt gemerft, bag eg toieber brennt? SBarunt
Ijaft 5)u mid) in biefe ©eemannSfnetpe gelocft? SBarum fjat ber SBirtlj
eine fjubfdje, groge, blauaugige loiter? SBarum fummteft 3)u unter*
toegS bad Sieb fcom blonben SBirt^t5^teriein? — 2)u, nimm S)ic^ in
2tdjt. SBenn irgenb ein ©eefa^rer biefem 2Birtf)3t5djterfein ben $of
mad^t — mit fo 'ner SGBafferratte ift bann nidfjt ju fpagen —
3$ fiircfjte mic^ nid^t fo toiel! rief ber junge SRenfdj mit einer
toegtoerfenben, ftoljen ©eberbe au§. ©eine9Iugen blifeten; ein tyinreifcenber
9lu§bru(f mannlic^er ©c^on^cit fam in fein unbartige3 ©efi^t. S3on
3ftrcf)ten unb ©orgen mugt 2)u mir nidfjt reben —
©ut; id) fage nid^td! — 9Kit ber 2Birtf)3todf)ter aber ^at e§ alfo
feine 9tid£)tigleit. SSieber ein Sunb ber #erjen —
©te mug mein toerben, Sunb! rief ber Singling mit ^Ibfelid^em
Seuer au£.
Der IKitfdjulbige.
267
©3 fel)It nidjt meljr Diel baratt, fcfetc cr bann, bie ©timme bdmpfenb,
®r toollte nod) ettoa£ fagen; bodj cr fefcte bie toeifien Sdljne auf
bic Unterlippe unb blidte ftumm in fein @Ha3. ©nbttd) nal)m er'3 unb
leerte e£ auf ©inen Bug.
$ml nturmcltc Sunb. Du „3ranjofe beS StorbenS"
©r brad) ab, bcnn bcr brittc 2Rann am Difdj ficl il)m toieber in'3
?tuQC unb fcffclte auf cinmal fcinc 9lufmerffamfeit. £err aDBenjcl fjatte
ben l)odjftirnigen ®o£f iiber feinen Seller geneigt, toon bent ber lefcte SReft
be3 93eeffteaf3 fcerfdjtounben tear; ber |>aarbufd) iiber feiner ©tint ftanb
nrie geftrdubt in bie §fyt, unb bie toeitaufgeriffenen Slugen, beren blaus
UdjeS 28ei& uberatt an ben gerotfjeten 3tanbern fidjtbar toarb, ftarrten
fdjrag auf ben $ifd). SDtit ben unruljigen |>dnben jerrte er feinen ©djnurrs
bart, fo bafj itym redjtS unb linfg einige tange $>aare jtoifdjen ben Singern
blieben. Dann betoegte er bie gefpannten Sippen, toie toenn er fliifterte.
Dann burdjfuljr er toieber ben 93art, toie toenn er jtoei ©eite barauS
madjen tooflte, unb betoegte bie 33rauen auf unb nieber. ©nblidE) fliifterte
er toieber unb fdjuttette ben ®opf.
Der ©efftoebe layette. @f gab bent ffiaftanienbraunen einen SBinf;
nun bticfte attd) biefer auf SBenjet. Der fonberbare Stnblirf toerfte fofort
feine 9leugier. Die Ijetten 9tel)augen beg Siingling^ t^aten fid) toeit auf
unb fotgten jeber 93etoegung, bie ber 2Rann ba mad)te; al3 faljen fie ein
inkreff antes SEBunberttjier, ba3 man ftubiren muft. ©o beobadjteten fie
i^n ffieibe, dufterft aufmerffam, ot)ne fid) ju riiljren.
§err 2Benjet fat) nidjtS ba&on; er traumte. Da3 Seeffteaf unb baS
Doppetbier fatten fein ®et)iro ertoarmt unb belebt; bie tabafbicfe Suft
unttodtfte e£. ©r toar toieber auf bem „©uftat) Stbotf", auf ber fct)toes
bifdjen Srigg, unb ber ermorbete Siingting au3 ber grembe lag ju fei-
nen giifcen. Da lag er an ber SReling, bie ^etjarmet iiber ber Sruft
gefreujt, unb riiljrte fidj nidjt meljr. SBenjel ftanb unb fat) auf ifyn
tjerab; ein bumpfeS ©efiif)t ber 3teue legte fidj if)tn auf bie 93ruft; unb
bodj that's itjm fonberbar tootjt, ba§ er ettoaS UngefjeureS, UnmenfdjtidjeS,
nie toieber gut ju 2Racf)enbe£ fcottbradjt l^atte . . . 3Ba£ t)aben ©ie getljan?
fragte tyn eine gefdjaftSmafiig ftrenge, furj abbre^enbe ©timme. Der
SPolijei-Senator, ^err Subtoig (SrotiuS, ftanb t)or i^m ba (®ott mag
toiffen, toie ber fo fdjnefl an 93orb lam). Da3 too^Ibefannte Heine ©efic^t
mit bem furjen, f^toarjtid^en Sart^en unter ber Stafe unb ben flugen
2tugen blidte iiber bie bicfe golbene U^rfette, bie auf bem fanft getoolbten
93auc^ tag, auf ben SKorber ^erab; benn biefer fniete auf eiumat ncben
feinem Dpfer. SSa§ ^aben ©ic get^an? toieberfyotte bie fdjarfe ©timme
f)abe Stmalie Serring gerdd;t! auttoortete SBenjet mit fiird)ter-
Itc^er SRu^e. Itjun ©ie mit mir, ^perr ©enator, toaS 3^re§ Slmte^ ift;
id) ^abe 3lmalie Serring gerac^t, unb id) mu^te t% tfjun!
268
2Ibolf irWbranbt.
Stefjmt if)it feft! fagte f>err Subtoig ©rotiug furj; jtoei betoaffnete
$oti$iften traten Dor. ©ie bereuen nirf)t, toag ©ie gett)an l)aben? — Stein!
anttoortete SBenjet unb fdjiittette ben Sopf. 3)iefer jungc ©djtoebe mufite
fterben; cr t)at jmei 3Jtenfd)en urn ©tiicf unb Seben gebrad)t! Unb tucnn
bag fiebenmal gefdjatje, toag' Stmalie 93erring gejdjetyen ift, fiebenmat
toiirbe id) tfjun, toag idj getfjan Ijabe — fieben, ficbcn 2Rat — —
3n feiner finftern, berjtoeifelten ©ntfcf)Ioffenf)eit fcftfug cr auf ben
©in 93ierglag, jtoei SBeingtdfer unb cine glafdje flirrtcn. SBcnjel
l)5rte eg unb tjcrftdrt blicfte cr auf. ®r faf) bie bciben ladjelnben ©es
filter bcr jungen ©diroeben, bie il)n anftarrten. ©ogleid) ttmrb er
feuerrottj.
©ic ljaben eine fcerteufett lebfyafte $l)antafie, lieber $err! fagtc auf
beutfd) ber Stingere, ber ©cf)5ne, ben biefer ganje SSorgang aufterorbenttid)
ert)eitcrte. 833cm ©ie ba tool cben in ©ebanfen an'g Seben gefyn, bafe
©ie fo graufam in ben £ifd) fjineinfdjlagen! — 83itte, bitte, entfdjulbigen
©ic fief) nidjt. SBir finb juuge Seute; uug madjt bag 33ergniigen, $err;
toir ^aben junior, $err. 3$ t)dtte gar nidjt gebadjt, ba& in biefer bratoen
atten ©tabt fo feurige, pt)antaftifd)e Serle — — S3erjei^en ©ic; fo ein
ptyantaftifdjer £crr, tootlf id) fagen 3$r 2Bol)l, lieber $err! gdj
trinfc auf Sfjr 3Eot)L SOlcin greunb Sunb trinft ntit!
3d) trinfc ntit, fagte Sunb,
®arf man einmal unbefdjeiben fragen? fuljr Sljrrf fort, nad)bem er
fein ©lag auggetrunfen fyatte. fatten ©ic bic ©emogenljeit, ung mit;
jutfjeUen, mit toetdjem §attunfen ©ic eg eben ju t^uu fatten, ate ©ie
auf ben £ifd) fdjtugen?
£>err aBeujcl fa§ ben Singling aufmerffamcr unb mit toadjfenbem
SBo^tgefattcn an. Sag fjeitere, jutrautidje, blii^enbe ©efidjt, beffen ncu^
gieriger Slid nid)t beleibigte, tocit er toie bcr 93tid cineg muntem
Sogetg mar, ber auf einem 2tft eincm fremben, bunten SBanbertoogel
begegnct, — biefeg ©efid)t madjte ifym SScrgniigcn; unb bie toeid^e, frifdje
Senorftimme Hang ifjm iiberaug angene^m im Df)r. 3d) bitte urn @nt*
fd>ulbigung, mein lieber §crr, fagtc SBcnjel, mit nod) fdjudjtcrner $eiter-
fcit. SBie fommc ic^ baju, meinc ^pcrren, bag ©ic fo freunblicf) finb.
®iefe^ braune ©ctranf ift mir ttjot ju ®opf gefticgen; \fy ^abe pfjan-
tafirt. S)a§ ift meinc @cf)n)dd)e.
3)a3 gefdltt mir gerabc an 3>f)iten; bag amiifirt mi^; bag ift
intereffant! gab if)m 2(jel juriuf. S33enn man nur tniffen biirfte, tooriiber
©ie ptjantafirten —
Si) mufe 3f)nen erfldreu, xvk bag fommt, ficl 833cnjel ein unb toarb
toieber rot^. S)a finb biefe ttertoimfdjten Sriminalgefd^i(f)tcn; — fcf)on
meine fetige ©d)tt)efter fagte mir sutocitcu: S)u iibcrnimmft 3)id^ bar in,
S5u ucrtiefft 3)t^ ju fctjr in bicfeg Scufelgjcug; — fie Ijatte iibrigeng
Der mitfdjulbtge.
269
SRedjt. SRenfdjen mit aufgeregter *J51jantafie folltcn meljr 93erftanbegs
biicf)er lefen; nid)t biefe gel)eimnifiDotten, blutigen, toerbredjerifdjen ©eelen*
franfl)eitggefd)id)tett; benn Scrbrc^en finb (Srfranfungen bcr ©eete, mein£
4?erren; obcr meinen ©ie nidjt?
®ut gefagtl fefjr gut befintrt! anttoortete 2^el unb nidte feinem
greunb £unb ju, bcr bann gleidyfaQd nidtc. 2tber beanttoorten ©ic mix
(jefattigft cine Srage: toad tyaben bic (£riminatgef<f)idjten mit 3^rcm
iptjantaftren ju tfjun?
3<$ f)abe Did batoon genoffen, gab §err SBenjel jurtttf. 3$
ljab1 mix bic ^antafie bamit toergiftet; — bag ift tncinc ©djtoadje.
UBenn uiidj nun irgcnb ettoag aufregt — laffen toix bei ©cite, toag eg
ift — fo toitb mix gleicfj getoatttljatig ju SDtutljl Sliest in bcr SBirfc
lidjfeit: ba toerlaff ii) nidjt leidjt ben redjten 2Beg, ba bin id) cin fricb-
fcrtigcr SRenfcf); — abcr in ber ^Ijantafie ftiff idj fo t)iet Unglittf an,
baft eg fdjredlidj ift. Da beginnt eg attentat tnit ©djledjtigfeiten unb
enbigt mit SKorb unb lob; ba fenn* td) feinc ©renjen, #err; ba gtbfg
feine ©cfjonung. ^Iflfclidj fommt ein Slutburft itber mid), ben tdj fonft
itidjt fennc SSIutburft id) fjabe 3)urfi £err ©erring, nod)
cin ©la^ Sier —
Irinfcn ©ie bod) nidjt meljr toon bent braunen 93ier ba, ficl i$m
ttjel in'g SBort. Irinfen ©ie ein ©lag mit ung, toon unferm SBeinl —
Sari, nodj eine glafdje, unb ein britteg ©lag! — ©ie toerben bodf) nidjt
fo ein ?pi)ilifter fcin, fidE) ju toiberfefcen. 3$ rnufc nod) diet mit 3f>tten
reben, £err; ©ie finb ja bie mertoiirbigfte ©peciafitdt, bie idj in biefem
alten SKeft gefunben Ijabe; — bttte, ftoften ©ie an! ©g fommt alfo
ein 93tutburft uber ©ie
£err SBenjel nidte; bodf) in biefem Stugenblid — ba cr bag ©lag
tnit bem rotfjen SBein an ben SKunb gefefct fjatte — hmr etmag Slnbercg
<ttg SSIutburft iiber it)n gefommen. ©ein blaffeg 8lntlife leudjtete toon
SBerftanbnifi unb ©enufj, jc metjr er fdfjliirfte. S)enn er tranf nidf)t, er
fog, langfam, tropfemoeife, unb jcben cinjelnen Xropfen fc^ien er mit
fjerjtidjer greube ju begriifjen. Dann fefete er ab, Ijielt bag ©lag gcgen
bag Sidjt, briidte bie Unteriippe fdjmedenb gegen bie Dberlip^e, unb
madEjte ein toef)mutf)ig beifdHigeg ®efi(^t.
§m! murmeltc er.
@g fc^eint, ©ie Ijaben ein feincg ©efii^t fiir fo cinen Sropfen, fagte
?tjel Ijeiter.
§crr SSSenjel nidte.
8lber eg fdjeint, ©ic geniefecn i^n nidjt oft.
Sann'g ni^t, lieber £err! anttoortcte SaSenjel treu^erjig. 3^ fabe
feine Slubine an ben gmflmt, — fe^cn ©ie; unb bie beiben Hcinen
(Sbelfteine, bie idj ju ^aufe ^abe, finb ein freffenbeg Sapital, toit
man ju fagen iJftegt.
«orb unb ©fib. VI, 18. 19
270
2Jbolf IDtlbranbt.
2Bag fur Sbetfteine? fragte Sunb, cine ncuc ©igarre in 83ranb fefccnb.
©in paax 3ttcf)ten, §err. 3)ie mir bic fdjon ertoaljnte ©djtoefter
l)interlaffen f)at. — SBirflicf) cin guter Iropfen; milb unb ftarf!
Unb bicfc 9ticf)ten, bic ernafjren ©ie aud)?
©o gut e^ gc^tl erttriberte SBenjel, mit fanft toefjmiitljtgem S&djelit-
SJlan t^ut eben, toag man fann!
Unb toomit emafjren ©ie bag atteg, toenn man fragen barf?
95ei rid)tiger ©intfjetfung ber fttit geljt eg, tieber #err. £agg,
toenn bie Scute ttmdjen, geb' id) iljnen ©tunben: 3)eutfd), Sranjflfifd),
®efd)id)te, ©eograpfjie. 9lati)t$, toenn fie fcf)tafen, fdjreib1 id) fiir fie ab.
Unb toann fcf)Iafen ©ie? fragte Sunb in rufjiger Sogif toeiter, bie
Slugen f)alb fdjliefjenb.
SEBenjel ladjefte. 3n ber Stoifd^eitjcit „ anttoortete er.
2lu3 toetcfjem ©toff bilbet fidj biefe ^toifdjenjeit, toenn idj fragen barf?
9lug bem UJiangel an Sefc^aftigung. Dafiir forgen bie Slnbem;
baran feljft eg ttic^tl — 2Benn id) jum SBeifpiel nidjtg abjufdjreibeit
f)abe — toie jefct — nun, bann fann id) ja fdjtafen, fo bid idj Witt.
Dber toenn ein Sater mir fagt: „mein ©oljn ift jefct mit bag 2)eutfd)e
fartig, incommobiren ©ie fid) nicf)t toeiter, ba fjaben ©ie 3$r ©alar"
— bann §aV id> \a aud) bei lagc ©djtafengjeit; — unb bag ereignct
fid) oft. Sllfo fur meinen ©djtaf braudjen toir nidjt ju forgen . . . ©djone,
purpurne garbe! — SKilb unb ftarf!
Stun, fo trinfen ©ie enblidj einmat aug! fagte Sunb.
SBenjel Iacf)elte unb tranf aug.
Untcrbeffen riicfte Stjel auf fcinem ©tu^t unrufjig f)in unb l)er: fa
betoegte iljn bag 2Jlitgefuf)t mit bem btaffen 2Jlenfcf)en, ber nid)t flagte,
nid)t feufjte, fonbern gufrieben toie ein $inb „tmrpurnen" SSein genofe.
SGBtc eg ben 9lacf)tf{f)metterling }um Sicfjte jie^t, muftte ber Singling fort
unb fort auf biefe traumerifdjen, gerottjeten Sffugen fdjauen, bie bie 9lai)t~
arbeit entjiinbet Ijatte, unb bic nun bom ®tud beg SJtomenteg ftra^Iten.
Unb cin fed)g ©djulj langer ®erl! badjte cr bei fid). S^c^in^alb ©djul>
jtoifdjen ben ©djultern brcit! Unb ein $erl t)ott Silbung unb SScrftanb;
unb bei 9tad)t fdjreibt er ab! S)er SRubin an feinem eigenen, toofjk
gepflegten ginger fiet ifjm in bic 9lugen. @r fdjiimte fidj, ifjn ju fe^en.
©g jucftc itjm in ber anbern #anb, i^n abjufireifen unb bem blaffeu
^^ilofo^^cn gegenuber in bag ®Iag ju toerfen; unb babei ju fagen:
$err, t)crm5beln ©ic bag! giir bie 9tid)ten, ^crr! S)od^ cr fdj&mte
fic^ toicber bicfer £ral)terifcf)ett ©rogmut^. ©g ^atte fie ja Sfciemanb bc^
gc^rt . . . Irinfen ioir eincn Heincn Siqueur? fagtc er enblid^, urn ettoa&
ju fagen.
3^ tool nidjt, entgegnetc $err SBcnjel. @o eine ^Drgte1' mit brei
(Setr&nfen bin ic^ ni^t me^r getoSIjnt.
9lu^ ni^t, toenn ic^ eg 31)nen t)orma(^e? fragte Sljel toieber. Gr
Der !Kttfd?nibtge.
27{
rief nadf) cincr gtafdje toom fcinftcn Siqueur, unb brci ©tafern baju
5)ann futtte cr fidE) cin ©lag, ftcHtc eg auf ben £ifd), fafcte eg runb urn-
Ijer init ben Si wen, oljne eg mit ben $dnben ju beriiljren, fjob eg fo
in bie #8I)e unb gofi eg fidE) lunftgeredjt in bie ftetjle Ijinab.
S)ag (fab1 idE) nodj nie gefefjenl fagte SBenjel mit aufridjtigem, Knb-
licfjem grftaunen. 3Bag ber 2Renfdj 2HIeg fann; eg ift nmnberbar!
Unb fonnen ©ie tuenigfteng immer ein SSeeffteaf ju SRadEjt effen?
frogte Jljel, bent burdjaug fein SDtitgefiiljl iiber bie Sippen tooltte.
2)ag nun tool gerabe nid)t! anttoortete SBenjel mit bebddjtigem
fiddjetn. Dieg toar eine Stugnafjme, $>err; aug ganj befonbern ©riinben
. . . ©r roarf einen unttrittfiirlidljen SSticf jur Decfe Ijinauf, iiber ber
„5)iejenige" toofjnte . . . ©onbem fur gett)8l)nlidE) eff idE) nidEjt ju 3la6)t,
fefcte er bann l)inju.
©ie effen fur getooljnlid) nidjt ju Stadjt, #err?
9lein. @g betommt mir beffer. SBenn id) ettoag tjungrig ju Sett
gelje — toann eg nun audj ift — fo fdEjlafe id) hrie ein ©ott; ober ttrie
ein ©act, menu ©ie lieber tooflen. SDagegen, toenn id) gegeffen fjabe, toirb
bag Slut ju itypig unb ber ©eift ju toadj; bann fommen bie ffiriminafc
*pi)antafien, $err. S)ann lieg1 id) ba unb fcerttridele midE) in ^roceffe,
#err. Da unten am ©tranb jum Seifpiel Iiegt 3emanb erfdEjlagen; idE)
gelje aljnungglog meiner SBege, fomme toorbei, fefje iljn mir an. ^Idftlid^
crgreift man mid) Don fjhtten; — bie ^Solijei. S)er SQWrber! #altet
tfjn fcftl #attet ifjn feft! — 3$ f^nge an ju jittern, benn id) fage mir:
ttrie toiKft 2)u nun betoeifen, bafj 2)u unfdjulbig bift — tt)ie ttrittft Du
eg betoeifen Diefeg Sittem faridjt gegen mid); biefeg Sittem toirb
tnein Unglud. SBotyer biefeg SSlut an 3§ren gingern unb an'9$rer £ofe?
fdljrt midj ber $Potijei=©enator an. Sleueg Ungliirf: fiinf SUlinuten toorfjer
ijatt1 idE) SRafenbluten; Winter bem Sretterfta^el, fiinf jig ©dljrttte batoon; —
§err, toer glaubt mir bag I — 3$ &in ber SDWrber, natiirtid^
Unb fo Keg1 idf) ba, p^antafire toeiter, toertoicfete mi4 big \6) ni^t me^r
ju retten bin. ftutefy befenne id^ 2tHeg, toag fie toon mir tooflen, nur
bamit bie ©adfje ju @nbe fommt unb idE) fd^Iafen lann . . . Slber bann
im ©d^Iaf erleb' id^ getoii^nlid^ meine lefcte ©tunbe — —
laufenb ©d&iffglaften leufel! rief Sljel aug, mit einem fd}toebifcf)en
gtu(^, unb fuljr t)on feinem ©tu^l in bie ^dlje. S)ag ift teuflif4 #err!
S5ag ift ein $ed()t)ogeI, fiunb! 3)ag ift ein auggefu^ter SWart^rer!
5Bie erbdrmlic^e S33irKi(^Ieit mit ben beiben 9lid)ten unb o^ne Seef^eaf,
bie geniigt it)m nic^t: er trdumt fic^ biefeg fdjauberljafte ^^antafieleben
baju; — bag ift ein Stbgmnb, Sunb!
S)ag ift, fo ju fagen, Uebermut^, ertoiberte Sunb, mit ben tDimper-
lofen Stugen jtt)inlernb.
SBenjel betrad^tete bie Seiben, @inen nad^ bem Sffnbem. Sangfam
Derlldrte fid^ bann fein @efid)t ju einem ru^renben Sadjeln. SKeine ^erren!
19*
272
tfbolf rDtlbranbt,
fagte er, rtityte auf bicfcr 2BeIt ift ganj fo fdljtimm, tote eg fdjeint! Dtefc
^Ijantafie, bie mir fdf>on~ mandEje lefete ©tunbe Derfdjafft tjat, — bic ift
ja aud) mcin ©titd. SBcnn idE) fo bafifce, todljrenb eg tneQeidEjt braufjen
regnet obcr ftiirmt, unb ntir cm Seben augmale, toic eg nodEj tocrben
I5mttc — obcr toie eg getoorben toare, toetttt nttr 3)ieg unb 3)ag
3dfj f)ab' bret Seben, nteine liebe $erren. Sin mittetmdfcigeg: bag ift
bie 2BirHid)feit; ein fd)Ied)teg unb ein guteg: bog ftnb bie getraumten.
3)abei fann man beftefjen . . . Unb nun toerb1 \6) ju all bent ©enufc,
ben id) Ijeute fjabe, audfj nodE) eine Eigarre raudE>en —
@r griff in feine %a\6)t, in ber er eine in papier getoicfelte lefcte
©igarre toufcte. DodE) Stjet lam if)m jutoor. ©id) fiber ben Xifd) tefjnenb
griff er nadj SBenjeB Slrm unb l)ielt iljn feft. 25 a g toerben ©ie bodj
nid)t tfjun! fagte er mit feinem fjerjftdtften, toofjftlingenbften lenor. (Sine
Don meinen ©igarren toerben ©ie bod(j raudjen! — ©e^en ©ie, biefc
ba; fie ift flein, aber ntdjt fdjledjt. $err, fiir einen SWann toie ©ic
toare bie befte gerabe gut genug; SlUeg, toag tt)euer unb gut ift . . .
Unb nun gef)t'g S^nen fo! — — 93Iafen ©ie Ijinein, bag fie beffer
brennt. ©ie fonnen nify btafen, $err . . . 3$ gtaube, ©ie toaren ein
^edjtoogel, ein SJiartyrer, fo iange ©ie auf ber SBeft ftnb. 3$ glaube,
©ie ge^oren ju SJenen, bie fid) nid)t ju §elfen toiffen; aber idj ad&te
©ie; — — raudjen ©ie nur ju!
3d} banle 3!)nen, ft***') foloot fiir bie 2ldE)tung, ate aud) fiir bic
(Sigarre, fagte SBenjel unb tadjelte fcerbinblicE). 2)ann riidte er jutauu
lidj naljer an ben 2Hfdj unb ftiifcte einen Slrm auf: Dariiber Idfjt fidfj
golgenbeg fagen! fuljr er langfam fort. Sltg id) ein fteiner Sunge toar,
l)atte idE) einmal bie ©Ijre, einer grofcen ^odfoeit beijutoo^nen; unb tin
©efc^ent ju iiberreidjen unb babei Serfe ju fprecfjen; — biefeg ging audfj
redjt gut. SJarauf famen bie Sotynbiener, gingen in ber ©efetlfd^aft urn-
l)er, boten lorte unb SBein an; — id& toar ein fleiner Serf, flber midf)
faljen fie toeg; id) toarb toergeffen. SBie idE) bann nad) $aufe fommc
eine feine Sigarre, $err; betounberngtoitrbig! toie idf) bann
nadj £mufe lomme, fragt mi^ meine SDtutter, bie im Sette lag: Shut,
©ottlieb, toie toar'g? — ©d&on toar1g, SRutter; o toie fd)5n toar'g! fag*
id^. Unb einrnal, SJlutter, lam bie £orte ganj na^ bei mir Dorbei! . . .
3)ag toar bamalg, ^err. Unb fo ift'g geblieben. Die lorte ift immer
ganj, ganj na^ bei mir toorbeigefommen; — fe^en @ief bag ift meinc
Siograpljie.
§m! murmette Sunb nadE) einer SBeile, oljne fid^ ju aufeern, ob er
bamit ©eringfe^d^ung ober Seileib augjubritden toiinfd^e. Stjcl aber
geriet^ toieber in fiJrperlic^e Unru^e t)or SKitgefuljl (£r fu^r fid^ mit
einer #anb burd^ bag fd^one #aar, big ein ©tiid t>on feiner Eigarrc
ab, unb murmelte ettoag t)or fic^ ^in; feine SBangen gtuijten. ©nblid^
fagte erf urn feine toeid^en ©efii^le ju fcerbergen: ©ie finb — — ©ie
Dcr inttfdjnf&tge.
273
ftnb ein ridjtigeg Original. — — Sommt toietleidjt nod} anberg; nidjt
fcerjagen, $err!
ftommt nid^t met)r anberg! antmortete SBenjel rutjig. ©eljen ©ie,
id} war einmat Eanbibat bcr Iljeotogie; Dor bem ©jamen log idE). Sine
iunge SjJfarrergwittwe, bie id) lannte, toar in ber fonberbaren ©emuttjgs
toerfaffung, bafj fie mid& getjeiratljet Ijatte, fobatb id& bie ^Jfarre Ijatte;
unb toon tpljer, Ijoljer ©cite war mir bie $farre t>erft>rodE)en; — bag
nwr bie lorte, fetjn ©ie. Da — waljrenb id) fur's Seamen ftubire —
toerb1 id) irre an ber Ideologic 3<f) ftubire ntid^ aug iljr I)inaug,
#err. 3$ metbe mid) ab, fattte urn, werbe *J5t)itotog; id) Dertiere ben
©lauben, bie ^Jfarre unb bie SBittwe — —
SBarum ttyaten ©ie bag? unterbracf} if)ti Sunb. ©ie fonnten ja ben
©lauben toertieren unb bie $farre netjmen — hrie bag oft gefd)iet)t —
S8ag toermag ber 3RenfdE| gegen feine Ue&erjeugung, erwiberte SBenjet
unfdjutbig unb \djtid)L 3$ fonnte ni<f)t, tieber #err.
2feet ftieB einen beifattigen Saut ot)ne SBorte aug.
#err, id) fann 3§nen nid)t fagen wie ©ie mir gefatten, fefcte er
bann tjittju, fidE) mit aufgeftiifeten Srmen ju i^m t)inuberbeugenb. ©ie
fhtb %d) Ijabe fiir ©ie SBeg mit biefer SBittwe, wenn
fie am anbem ffinbe toon ber $farre tjing! — 9lber fam benn bie lorte
nidjt meljr wieber —
$o<f); fie lam nod) wieber, antwortete SBenjet, bem bie £t>eitnaf)me
biefeg feinen 3iingttngg unb ber gute SSein fanft ju Sopfe ftiegen. ffir
fKefc mit toottem 99eljagen ein paar blaue, geringelte SBotfen aug; eg war
tijm ein genufjtoolteg 93ergnitgen, feine tragifdfjen ffirinnerungen aufju*
frifdjen. ©et>en ©ie, ba war ein SKabd^en — tadjen ©ie midfj niefft
aug, baft id) bat>on rebe — in bem 30tabcf)en war met beifammen:
©d)5nljeit, feine SJianieren, (Snglifdj unb granjofifd^ unb wag ©ie woflen,
unb ein guteS $erj — nur ju empfinbtid), $err — unb ein 93erg Dolt
©elb. ®enn fie tyatte einen SKittionar jum S3ater; — unb wag gefdE)ief}t
brei lage nadfjbem id) gemerft tjatte, baft fie mid) armen Surfdjen will
unb leinen Slnbem: i^r SSater, ber mid} nic^t Witt, legt fid} f)in unb
pirbt ©o toeit ift ja ?ltteS gut — — fcerjeiljn ©ie, ba§ idE) e§ fo
au^briirfe Stun, mein ©ott, fo red^t aufridjtig trauern iiber fein
@nbe, bag fount* id^ nifyt ©ie barf mid} nun ljeirattjen, bag muftt1
id) . . . ?tber mein ungtiidfetigeg, ^eitereg temperament; meine leb*
^afte $^antafie! Der SKann ^atte eine SSitta braufeen an ber 93a^n,
ba motif er begraben fein; eg wirb alfo ein ©jtrajug genommen —
benn bag ©elb war ja ba — unb mot ein #unbert Seibtragenbe faljren
^inaug, \d) mit. 3n ber SSitta ift fiir ung angeric^tet, ung nadj ber
ga^rt, am SBintertag, ju ftarten, Derfte^n ©ie; gute ©peifen, gute, ftarfe
SBeine. SBir fiften beifammen, #err, unb ftarfen ung. SBir fommen in
anregenbe, muntere ©efpriic^e; mein Stadjbar fd^enft immer ein, unb id}
27% 2Jbolf Wilbxanbt
trinfe au£. Unb ba mir fo leidjt urn's #erj toar, toeit mein elenbeS
Seben nun enblid) fdj5n unb tiebtid) toerben fotttc — unb ba id) ben
#immel boiler ©eigen felje — hurt mir fo feftlid) ju 2Jhttl), |>err; unb
bcr gute, ftarfc 2Bein ftimmt mid) fo banfbat, unb idj fetye bic muntcrc
©efettfdjaft an bcr langcn Safe! — toeiter felj' id) nidjtS mc^r — unb
ba3 tootle §erj tritt mir auf bie Smtge, id) ftelje auf, fling' an'SiStaS:
„©tofcen @ie mit mir an! $er cblc ©eber bicfc^ 3refte3, cr lebe Ijodjl
Ijod)! l)od)!"
£err SBenjel fd)ttrieg einen 9tugenblid, bann toottte er toeiter rcbcn;
bodj cr fam nid)t baju. £unb, ber bis bal)in ftiltgcfcffcn Ijatte, brad) in
cin IjeftigeS, an^altcnbcS Sadjen au3. Sljcl aber, ben bic #eiterfeit
tooflenbS iibermannte, tyrang auf, tadjte fo iiberlaut, bafj bic ©pieter unb
Srinlcr an ben anbem lifdjen fjeriiberljord) ten, fjielt fid) bic ©eiten,
Ictjntc fid) an fcincn ©tufyl unb bann gegen ben lifdf}, unb bic Iljranett
licfen itjm iibcr bcibc SBangcn.
#atte mid), Sunbt fagtc cr jutefet, mit erftidter ©timme. fiunbl
Ijafte mid}!
SBenjel fal) bicfem StuSbrud) cine SBeile mit etegifd&em Sddjeln ju.
©nblid) padte e§ aud) if)n, unb cr ladjte mit.
@in ^radjtferl, Sunb! ricf Sljct auS, ate cr ttrieber rcbcn fonntc.
©in bamonifd)cr $umox ftedt in bicfem attcn
©r ^atte cin attju bretfteS 2Bort auf bcr 8unge, ba8 er nod) jurild^
Ijtett. 2>ann aber ging cr auf ©otttieb SBenjel ju, jog if)n toom @tul)t
in bie &of)e, unb briidte iljn in jugenbli^em Uebermutf) an feine SSruft.
3<§ muft ©ie umarmen, SKann! fagtc cr, unb tfjat e3 fofort nod) eim
mat. ©oldje ®erle lieb1 idj; — toerjetljen ©ie mir ba3 SBort. „®ott
foil mir 'nen Staler fdjenfen", nrie $err ©erring fagt, toenn iti) @ic
nid)t liebe!
SKein toeretjrter $>crr — ! murmettc SBenjet toerhrirrt unb ladjelte;
unb toarf etnen ©eitcnblid auf #errn Serring, ber toerttmnbert unb neu;
gicrig naljer gctretcn fear. ®ariiber fid il)m Slmalie hrieber ein, bie er
iiber biefem gemiitljttdjen ©eforadj toergeffen tjatte. ©r faf) jur ®ede
^inauf. 2)aS unfi^ere Sdc^eln auf feinem ©cfi^t t>erfdE)toanb. Stmalie
Serring ba§ toar bie brittc lortc, bie an ifyn tjorbei lam. 3a,
fie ttmr auc^ t)orbei . . . ©cine gutmiittjigen Slugen berfinfterten fi(^f
unb i^r Slid boljrte fid) in ben Sifd).
@r berfu^tc bem Jungen 9Renfc^cn nod) einigc freunblidje 833orte ju
ertoibem; bod^ eg toarb nur cin SJlurmeln, ba§ man ni^t toerftanb.
Seife jog cr feinc §anb juriid, bi^ St^ct ergriffen Ijatte, unb begann
unru^ig an fcinen gcflidten SftodI5^ern ju InSpfen.
2Ba3 tootlen ©ie? fragte Sl^cl. 2Ba3 ^cifet ba§?
©e^n! antmortete 2Benjct.
PbfetidE) gei)n? 2Barum?
Dcr IKitfdjulbige.
275
SBenjel jog cine alte fitberne Ul)r tjertoor, tupfte auf bag bide ©lag
unb murmclte: ©g ift 3eit. SBar mir cine Gtyre, meine $>erren
S)odj ber junge ©djtuebe briidte itjn, ol)ne Diele Umftdnbe ju madjen,
auf ben ©effel nieber. ffltann, toag reben ©ie ba! fagte er unb jog
feinen ©tut}l fyeran, neben i^m ju fifcen. SBdljrenb id) S^nen meine
fiiebe erf tare, motten ©ie gef)n; — barauS toirb nidjtg, £err. ©ie
ttjaren einmal ©tubent, unb loir jinb eg nod), — toenn audj nid)t Ijier
^u Sanbe; unb unfre ©eelen Ijaben fid^ gefunben; unb fo muff en toir
nodj eine gtafdje trinfen. ©tofcen ©ie an; auf 3fjr SBotjt! 3d) fage,
toie©ie beim ©egrdbnif$3^3@c§tt>iegert)aterg: „@r lebe I)od)! Ijod)! l)od)!"
SBoju foil id) nodj leben, anttuortete SBenjet, bem !ein Sddjeln
tnefjr gettngen tooHte. 3d) fur meine unbebeutenbe $erfon tyabe bation
genug!
©o burfen ©ie nid)t reben; Sllleg fann nod) fommen . . . Unb
nad) biefer lifdjrebe naljm bie loiter ©ie nidjt metjr?
fatten ©ie'g nodj getljan? fragte SBenjet juriid.
SBirftidj, eg ging nidjt metyr, fagte £unb mtt feiner Ijeiteren Stufje.
©ie Ijat einen Stub em getjeiratljet, fefcte SBenjel fjinju.
Unb eg lam bann feine Xorte meljr an 3^nen toorbei? fragte 2ljel
toeiter, inbem er itjm eine #anb auf bie ©coulter legte.
©o eine nidjt metjrl
9tie getjeiratljet?
9lein.
£rinfen@ie bodj aug! S5nnf id) 3^nen (Sine fdjaffen, £err,
tljdt idj'g auf ber ©telle. Sin SDtann tme ©ie — nod) in fo guten
3aljren — — £err, hrie fott fie augfeljn?
SBenjel gab feine Slnttoort. Slber er attjmete einen teifen ©eufjer aug.
©ie braudjen Sine, bie ©ie pffegt, bie ©ie ju fdjdfcen toeifc; bie
3^tien bag ^antafiren ab- unb bag SJladjteffen angetodtjnt. 3$ mfldjte
3*)nen fjetfen; auf ©f)r' unb ©eligfeit! SBiffen ©ie Seine, £err?
SBarum fefjn ©ie ba oben fjinauf? fragte Sljel meiter, ba SBenjet
ftumm blieb.
&uf biefe grage toarb SBenjet feuerrotl). ©g toar eine feiner
©djmddjen, bafc er fidj audj bag ©rrflttjen nic^t abgehrtljnen fonnte.
2Bie ein ertappteg Sinb Iddjelte er oerlegen unb fingerte auf bem big
jur gabenfdjeinigfeit abgebiirfteten 2luffd)tag feineg 9todg.
2Rir ift nidjt beluufct, bafj id) t)inauffa1j, gab er bann jur 9lnttoort.
Uebrigeng, itf) mu§ ge^n!
93ietteid)t toeijs er ba oben Sine! toarf Sunb §in unb blieg ben
9tau6) burc^ bie 9lafe.
SBieber errot^ete ber arme SBenjet. 3ljet betrac^tete i^n aufmerf?
famer, inbem er bie ^anb Don feiner ©gutter fortna^m.
©ie tuerben ja abermalg rot^! fagte er betroffen.
276 2lbolf rUilbranbt.
3n biefem Slugenblitf lam bic majeftatifdje ©eftalt be£ £errn 93er-
ring, bic fdjon Ijunbertmat gefommen unb gcgangcn ttmr, roieber jur
£t}itr ljerein; bieSmal ^atte fic cine Diite in bcr #anb unb fegelte auf
bic brci „Sanbratten" gu. SRamtid) bicfe Xitte tjaben ©ie toergeffenl
fagte £err ©erring ju SBenjeL 3)ic Xiite fiir 3f)re flcinen SRidjtens
Stoafdjen; meine Hmalie fdjidt fie S^ncn Ijerunter. Unb ©ie fottten nur audj
balb Soje angeljn, lafjt fic 3t}nen fagen, — toeil e3 fdjon fo fpat mare
unb ©ie fo niifterbteid) auSfeljn; unb ob ba3 ©eeffteaf aud) gut getoefen
toare; unb ©ic fotltcn aud) nid)t toergeffen: „Stnfeijn tfjut gebenfen!"
UebrigenS, nitfterbleid) fetjn ©ic grabc nid)t au3, fcfete bcr SBirty
Ijinju. £aben ja cine fdjone rotfje garbe. 2BoI toom SBein, #err SBSenjcI!
3a, &om SBein, ftantntcltc ber toernrirrte SBenjel, ber au3 bem 6r~
r8tf)en gar nidjt meljr IjerauSfam. SDleinen crgebenftcn S)anf, &err S3cr-
ring; — fiir bic 2)ute, mem' id). 9tid)tig, id) $atte fie — oben licgen
laffen. 2Ba3 tjab1 id) ju jatylen, £err ©erring — — benn id) mug
nun fort I
(Sine SWarf unb fiinfje^n ^fennige, toenn'3 gefallig ift, fagte bcr
SBirttj. SBenjet jog feine alte, feljr au3 ber gorm gegangene ©elbtafdje
Ijertoor; jaljtte unb toarf babci auf bie jungen Scanner cinen tjalben
S3Iid. Die ©efid)ter bcr ©eiben toaren in fonberbarcr ©etoegung. Sunb
fal) ju Sljel itber ben lifd) Ijiniiber, unb biefer, auffattcnb erbtafjt,
ftarrte $>errn SBenjct unb #erw ©erring an, unb jur S)ede fjinauf.
2)iefe3 ungtitdfelige SKotfjtoerbenl badjte ber arme SBcnjel; benn er
finite, bag er jum merten 2Ral errottyete. S)cr 2Birtl) ging. %m
Simmer toarb e£ leer; bic ®afte cntfemten fid). SBenjel toar aufge^
ftanben unb fudjte fid) fo ju fammeln, bag er ein IjarmlofeS 2lbfd)ieb3-
toort ljertoorbringen I5nnte; bod) „toax1 id) nur crft fo toeit!" badjte er
unb f^micg.
SKfo bic 3Birtt}3 totter ift eg! fagte auf einmat Sunb, fdjeinbar
mit grower Sftulje.
SBenjel fuljr jufammen.
SBieber einc lorte? fefcte Sunb nad) ciner $aufe mit berfelben er-
barmung^lofen Siu^c ^inju, burc^ bie jufammengebriidten 9lugcn ^inuber^
f^idenb.
Sljcl toinftc i^m, ju f^toeigen, unb big fi^ auf bic Sippe. 2)oc^
ber 3tnberc, oi)ne cine SDtienc ju &erjiel)en, fu^r mit feiner faltbliitigcn
©afcftimme fort: ©ie ioerben cin $ed)t>oget bleibcn, ^err, fo Die! id) ba=
Don fe^c. ©ic ljaben fein ©liid mit bem tfjoridjten SBciberDoIf; ©ie
fottten^ aufgeben, — menn i^ 3^nen ratten barf. S)a fdet ber leufet
immer fein Unfraut Ijinein . . . ©leib boc^ fi^en, Stjcl. — Baffen ©ic
bic SBciber gc^n, toie ic^, unb ermerben ©ie fid& ben grieben ®otte£!
SDScnjel bctoegtc bie Sippen, tone urn ettoag ju fagen. 8tber t)on
bicfer altflugcn SBeig^eit fcfjien cr laum ettoa^ geprt ju ^aben, benn er
Der Illitfdjulbige.
277
legte bie mtgliicffelige 3)ute fefter unb fcftcr jufammen, al3 beabfidjtige
irgenb etoaS SebenbigeS tjerauSjufpringen, unb briicftc fie bann f>cfttgf
toie um Dcm ba brinncn toeI)jutf)un. 2Bo ift mcin $ut, murmette er
enblid). ©cine umfjerirrenben, tabaf3raud)muben 2lugen fanben ifjn; cr
nafjm iJjn m>m Stiegel an bcr SBanb. ©r htdpftc ben cngen SRocf iibcr
ber ©raft jufammen, unb ftanb nun ttrieber in feiner etegifd)en, nad)
tjom gencigtcn #altung, cin riiljrenb IjiilflofeS 93itb bcr (Sntfagung, bo.
UcbrigenS UebrigenS, ©ie irren, meine £erren! bradjte er jefct
ljer&or, inbem er bie ©timme bampfte.
SBorin irren toir? fragte Sunb, oJjne fid) ju riiljren.
3n — in ber ©adje, Don ber ©ie foradjen. SBoju ^dtte id) nod)
ein #erj; id) in meinen %af)xtn unb in meinent 3uftanb; — ba3 mare
jo ladjertidj. SBorauf !5nnte id) tool nod) Ijoffen; bebenfen ©ie, meine
#erren . . . SBitte, fagen ©ie nid)t3 meijr; loffen ©ie mid) getjn. ?tn
irgenb einem $unft ift ber SReufdj empfinblic^ . . . ©ie finb junge
Seuie; ©ie toerben nun tacfjen fiber ben olten SSurfdjen, ber mit %fyntn
getrunlen unb fo mcl gefd)toafct tyat. ©tittfdjlueigen mar beffer! Stber
toenn man oft SBodjen long fd)toeigt menu man ju feinem 3Ren=
fdjen SReinen ergebenften 3)anf fitr bie ®aftfreunbfd)aft. @3
toar ntir eine @I)re, meine #erren. Seben ©ie too^l!
@r bemegte fetncn £ut, mie jum 2tbfd)ieb3grufj, unb ging, leife
fdjtoantenb, {jinauS.
III.
9iun, ma3 ift 2)ir, Stjel? fragte Sunb in feiner URutterfpradje, nad)*
bem fie fid) eine SBeile in bem toerflbeten 3intmer ftumm gegeniiber-
gefejfen fatten. 3)u fau'ft ja an Deiner ©igarre, mie jeneS gramlidje
Srofobit in bem beutfefjen ©ebidjt an feinem Sotosftiel fau't. SSenn id)
toor ber 3tbreife nod) ettoaS fd)Iafen mitt, fottte id) nun nad) £aufe gei)n.
#omm, S)u ©ieger ilber grauentjerjen; fomm, bredjen mir auf.
Um meldje ©tunbe faljrft 2)u ab? fragte Stjet unb fa1) t>l5fclid) auf.
SRorgen friit} fed)3 U!)r unb funfunbjloonjig SKinuten. SKad) SKittag
bin id) in ©tettin; Don ba fogleid) inciter.
2Rit bem S)am£fer.
3a.
S)ie tteinen, tnciften 3^ne 2tj:efe biff en bie Eigarre mitten burdj.
— 3^ reife mit, Sunb.
2Ba3?
3o, i^ reife mit.
S)er iiberrafc^te Sunb fa^ mit gefniffenen Slugen unb ^alb offenem
SRunb Sjeln in1^ ©efi^t; eine geraume 3rit. 2)cr Singling btieb aber
ftiH unb ru^rte fid) nicfjt. ®r blicfte nur auf ben SKubin an feinem
Singer, mit einem fonberbaren Sa^eln, ba3 i^n fet)r t?erfc^5nte.
278
a&olf IPilbranbt.
Sag fimnte mir ja gefatlen, fagte Sunb nadj biefem ©d^tDcigett.
Slber fcorljin moHtcft ®u ja nidjt. SBarum imflft ®u jcfet?
Sljel anttoortete nidjt. ©r ^atte offenbar mit fidj felbft $u tyred) en.
©r betoegte fogar bic Sippen. 2)ann jog cr fcinc Srieftafdfje ijerbor;
cine jierlidfje, rotfje, jud£)tene, auf bic man in ©olbbucfjftaben „Souvenirw
gebrudt Ijatte. Sangfam dffnete cr fie unb griff in cine ifjrer Xafdjen,
nad) einer f leinen toeibtidjen Spijotograpfjie. ®od) eg lag cine jtticitc ba~
neben, unb beibe fielen jugleid) auf ben Xifd). Sunb betracfjtete fte
forfdjenb burd) fein rentes Stuge, inbem cr bag linfe fdjlofj. ©r glaubte
in ber toetblidjen — ciner uppigen jungen S)amc mit runblidjem ©e-
fidjt unb grofcen, tjetten, ftadjliegenben Stugen — bie „blonbe Stjugnelba",
bie loiter biefeg $>aufeg ju crfennen; unb cr irrte nidjt. Sluf ber an-
bem 5(51jotograpI)ie faf) cin SDlann in mittlcrcn Sa^ren, ein turj gefdjnits
teneg, fdjtoarjtidfjeg SBartdjen auf ber Dberlippe, mit Heinen, Hugen 2tugen
bem SBefdjauer entgegen. ®ag ift ja ber Senator Bubtmg ©rotiug! fagtc
Sunb unb Iddjelte erftaunt.
Sljel tootlte ettoag erttribern; bod) bie anbere $pf)otograpl)ie feffelte
iljn ju fc^r. ©eine fdjdnen, jftrtlidjen Stugen ticrtieften fidfy in bag Heine
S3ilb. Sttterlci ©rinnerungen fdjienen in ifjm aufjuttadjen. ©eine langen
SBimpern fenften fid); fcine twflen Sippcn brudten fid) gegen einanber,
unb runbeten fief}, toie toenn man fiiffen Witt. ®ieg atleg bemerfte
Sunb fetjr tooijl; aber cr ftorte il)n nicf)t.
3a, ba§ ift ber Senator; ber Spolijei-Senator! fagte Sljel enbtidtj,
ate Sunb feine Srage Don toorljtn fdjon toergeffen fjatte. 2)ag ift bicfer
angenet)me &err, ber mid} toegen beg alten Siignerg, beg 3tad()ttt)ad}ter3,
jmei lage fifcen liefe. ©iel) iljn J)ir an, Sunb!
3a, idj) fe^' ifjn fdjon an. SBarum tragft S)u feine ^Ijotograpljte
in ber Xafdje?
SBegen ber Sftadfje, Sunb! 5)amit id) i^n nidjt toergeffe. 3)amit
idf) mid) immer ttrieber baran crinnere, baft idf) iljm ettoag fc^ulDig bin . . .
$ldfctidf) begannen bie 3tef>augen beg jungen ©djtoeben ju Ieudf)ten.
Sift S)u ttrirflidf) mein Steunb? fragte er.
3d£) glaubc toofjl.
SBotten mir nodj einen tefeten totten ©pafe mit einanber madfjen?
unb i^m ate 3tnbenfen juriidlaffen? — Parnate, im Spolijei^aug ober
to'xt eg Ijeifct, $aV ic^1g gefc^tooren, Sunb! — — Sftorgen frii^, nod^
ef) ber SKorgen graut, fat)ren ttrir ab. §eute Slac^t aber — —
3tun, n?ag?
3)a brau&en am §afcn, beim ®rat)n, tiegt ja noc^ bag ©c^iff, bag
bamate t)om ©tape! lief. „Subttrig ©rotiug" ^aben fic'g getauft, bicfent
Heinen ©enator 5U S^rcn, ber fid) fo fdE)5n finbet, Sunb. Unb in ganjer
gigur Ijaben fie i^n gcfdE>ni|t, mit toeifcen $ofen unb nieblid^cn Sater^
morbern, bamit er tjorn unter bem Sugtyriet, alg ^©attion", mit burdj
Der JTtitfc^ulbige.
279
bie SBetten fitfdjt, unb bcit ftaunenben ^afeittodlfern in #etfing5r unb
9KaIm5 unb ®tod§otm unb 93ergen jeigt: fo cin fieri bin id), Subtoig
®rottudl — #eute SKorgen bradjten fie itjn Ijin, urn i§n feftjumadjen;
aber bic ungefdjidten fferle tyaben iljn fallen laffen, bafi toon bcr Unter*
lagc fo ein ©tud abgefprungen ift; — nun ticgt ber fdf)5ne $>err Subtoig
©rotiud in ganjer Sftgur auf bcm SBcrberf. ©otten fic itjn morgcn aud;
beffern unb an fcincn ^Slafe bringen, Sunb? ©eben toir bag ju? —
SRcin! — SBenn morgcn ber toirflidje, lebenbige $Potijei*©enator fommt,
unt ben gefdjnifeten 5(5oIijeis©enator ju befudjen, — bann fott er iljm
nadjpf eif en , Sunb. Dann fott er fid) feine fieben SSartljardjen audraufen
unb fragen: too bin id) gebtieben?
Unb toie toottteft S)u bad anfangen?
2Rit 3)einer £ulfe, Sunb! — 28enn 'd gegen SKitternadjt gef>t, unb
am ©tranb lobtenftitte iftr bann ftetgen toir t>om SBotttoerl aud auf bad
Sdjiff. 2Bir binben bent gefdjnifcten Subtoig ®rotiud einen ©trid urn
ben Seib, jiefjn iljn fiber 93brb unb an'd Sanb; unb fufjren i^n bann
jttnfdjen und, 9trm in ?lrm, burd) bie leeren ©tranbftrajsen, bid an ben
ftillen alten 33at(aft;5ptafc ba tjinten bei ben Sretterftctpeln. S)a toiinfdjen
toir ifjm bann gute SRadjt unb toerfen iljn fanft, mit einem ©tein unt ben
4>ald, in'd SBaffer —
2)u oerrudjter fieri! fagte Sunb unb locate.
S)arauf ge^en mir tjeim, jeber in fein Cuartier'/ 3d) fd)leid)e in
mem Sintwcr, padt ntir nur eine SReifetafdje, meirie anberen ©adjen
laffe id) beim 5(5enfiondoater ftefjn; — bamit er nid)t gteid) am frfi^en
SKorgen merit, bag id) tfjm baoongeftogen bin, unb mir nad)telegrapl)irt!
©inb toir erft briiben in SRalmd, — bad $>erj meined ©aterd toerb' id)
tool ertoeid)en. @r ift fetjr in ber Uebung, Sunb, mir gu oerjeiljn! . . .
Unterbeffen laufen fie f)ier am ©tranb um!)er, toie Slmeifen, benen S)u
cin So$ in i1)r Steft geftofcen: „too ift unfer grower Subtoig ©rotiud?
too ift ber l)5Ijerae ©enator mit ben toeifcen £ofen?" Unb ber 93efd)u|}er
bcr 9lad)ttofid)ter legt feine fdjfine £anb auf fein gefranfted #erj
SBarum fief>ft 2)u mid) fo an, Sunb? SBittft S)u nid)t?
Unb toenn fie ben gefdjnifcten §erm bann nic^t nrieberfinben? fragte
Sunb jurud.
SSon ©djtoeben aud t^un toir i^nen funb unb $u toiffen, too fie ifjn
fu^en fonnen! 1
Sunb falj ben SungKng twit burdjbringenbem Slid oon ber ©eite an.
Unb toamm toittft S)u auf einmat mit mir fort? fragte er toieber.
Sljelg ©efi^t toarb emft. 3n ben 3Rug!eIn feiner SBangen regte
fi^ ettoa§, bad eine toeidje ©mpfinbung feined @emutt)3 ftarter t^erriet^,
aid er toottte. 3^ toil! 3)ir ettoad fagen, murmette er bann; alter ©atijr,
lac^e mi^ ni^t aud!
5Run, je nad^bem!
280
2Ibolf ttftlbranbt.
2)ag ift biefelbe Slmalie, bie ba oben ioofytt, fuljr Sfeel mit l)atber
©timme fort, auf bic ^Ijotograpljie beutcnb. 'g ift biefetbe, Sunb, bie
— ber Slnbre ju gem t)at; ber riiljrenbe alte ftcri; — bcr SW&rttjrer
mit bcr lortc. 34 bin cincr Don bicfcn „3ranjofen beg SJlorbeng",
fagft $u . . . Sunb, eg mag fein! 34 mitt aud) nur fagen: etnem
Slnbcrn fytitV i4 fie tool ni^t gelaffen; aber biefer gute 2Wenf4 —
biefer ©dttcrferl — — 3efct nid)t Ia4en, Sunb. ©ie toftte in a^t
lagen mein getoorben, toenn i4 toottte; — aber id) reife ab. 34 mfldjte,
bag fie eineg lageg fehte grau tourbe, Sunb; bag bie Xorte nic^t
toieber an if>m tooriiberginge. 34 m5^ter bag er enblii) einmat gute
£age Ijatte; unb er liebt fie; id) Ijab'g gefef>n. 2)ag einjtge ©djaf be&
Hrmen! — 34 bagegen, ber i4 no4 bag ganje Seben fcor mir jjabe;
idj, ber junge, rei^e, pbf^e — benn ttrir milffen jugeben, bag id) ein
pbf^er fterl bin; ttmrum bag leugnen, Sunb — " — toatyrenb Er
SWit einer pI8fctt4ett SBetoegung nafjm Stjel Kmalieng ^tjotograpfjte
Dom £if4, fa!) fie no4 einmal an, unb jerrife fie bann in tnele ©tude.
9?a(^bem bieg gef^e^en toar, fammelte er fie langfam unb toerfenfte fic
in feine lafdje. 34 &in ttrirfli4 uid^t fdjtedjt in fie toerliebt, murmelte
er mit toer^altener SSeioegung. Unb fie in mid) . . . 9lber eineg lageg,
tjoff1 id), toirb bag atleg anberg; unb fie madjt iljn gtiicfK4 . . . SBoriiber
Iftdftelft Shi?
34 f)a&' nur f° nteine tfreube, toeiter m$t£f anttoortete fiunb.
2) a rum atfo toiU i4 mit J)ir fort! Unb ®u, toittft J)u
uun biefe lefcte ©ummljeit mit mir ma^en? 2)ie mit bem §6Ijemen
Subtoig ©rotiug? SBittft S)u, ober ni^t?
©onberbarer Starr 2)u! — SBarum toillft S)u fie ma^cn?
Stjel faij tjor fi4 ^in; bann, mit einem aufgeregten Sa^eln, ju
bem Sreunb tjiniiber. 34 muS mi4 tog toerben, Sunb! 34 mu6
mi4 ableiten; — ladje nur, eg ma4t nid)tg. SBSir fleben ung ©arte
an; fitr ben gall, bag ung 3*manb babei fetjen foflte. ®u bift \a aud)
ein „f4entelraf4er $elibe": jebenfallg laufen ttrir btefen f4toerbeinigen
©eeljunben ba&on ... 34 muf* m*4 augtoben, Sunb! — — Unb
bann no4 Sing (er fafcte i^n t)om an einem ber Snopfe feineg Slodg,
rieb unb breljte baran, unb ftri4 mit ber fetnen §anb iiber bag Iu4
^erunter): Sunb, i4 tyabe eblc 9legungen; aber 95Iut tjab' i4 au4! SBenn
jum ©eiftncl mir bag 3Rab4en na<^ 9Jtatm5 f4riebe: i4 tann ni4t ol)ne
bi4 teben, fomm toteber; i4Jf)ue bit ja attcg ju Siebe, SUIeg tt>ag bu
toittft f)iibf4 ift fie, Sunb. ftab' i4 aber biefen ©trei4 gema4t,
bann fann i4 ni4t ttrieberfommen. S)ag ift bag ®ute an ber ®a4e,
Sunb! — 2Bir molten ja^Ien unb ge^n!
Per UTitfdjulbige.
28J
IV.
®3 tear, fiir fo ttrinterlidje Qtit, cine mitbe iftadjt. SBenjel, ben
bic 9totl) — ndmtid) bcr SRanget eineS toarmen UeberrodS — abgeljdrtet
tyatte, fiiljlte fid) balb ju tuarm bci feinem rafefjen ©djritt. (£r dffnete
bat 9tod, luftete ba3 £atetucl) unb ftanb jutoetfen, tief 2ltf)em Ijolenb,
ffflL ©ein SBeg nac^ £aufe tjdtte il)n am ©tranbe entlang gefiiljrt;
aber obgleid) e3 fo fpftt mar, toanbelte cr in cincm grofjen 93ogen urn
bie ©tabt tjerum, auf ben altcn „2BdlIen", unter ben Sinben ijin: benn
too Ijdtte er iefet fdf)on ©d)laf gefunben, bei biefer fiebernben Unrulje
feineS #irn3. $a3 ©eforddf), ber SBein, sulefct bie ©ntljuttung be3 ge=
$eimen Summers, mit bem er ju fdmpfen Ijatte, trieben ifjm ba£ 93lut
in Ijeifcen SBetten jum Sopf. Sr bereute feine ©efdjtoafcigfeit; bann
freute er fid) toieber, bag ber SBein fo gut toar; bann bfyb er toieber
fteljn unb feufjte iiber 9lmatie unb iiber fein ©efdjid. 2)ie fallen,
fcf)tt>ar}en Slefte iiber tfjm fletterten in fraufen Sinien burdf) bie graue
Suft. Soft unbetoeglicl)e SBoIfen ftanben l)od) baruber unb oerfjiiflten
ba3 ©ternenfetb; aber ein blaffer Sid)tfd)ein burdjbammerte ba3 ©etudlf
unb toerrietl) bie SBirfung be8 unfic^tbaren 9Dtonbe§, ber im Often auf*
ftieg. 2)ie bunften $>dufer unb bie braunen ©drten ber SSorftabt lagen
jenfeitS be3 breiten, tief en SEBaHgrabenS ftill ttrie in feftem ©d)Iaf; nur
$ier unb ba fd)tmmerte eine Ijette £au3front, Don einer Saterne brfeudjtet,
auS bem farblofen ©trafeenjug Ijerauf. S)er SBeg, auf bem SBenjel ging,
friimmte ftdj toie ein SreiS; benn ber SBatt jog Ijicr, al« SBaftion toor^
foringenb, um bie alte „Xeufel8grube" i)erum, einen tief eingebetteten
2teid), auf ben man hrie auf einen ljalbgefiittten £ridf)ter ljinunterfalj.
Uratte, fd)marje ftanonen ftanben oben auf ber £81)e. Son ba iiber bie
„Xeufet3grube" tyimoegbtidenb ftarrte ber einfame Iraumer auf ben $l)urm
be3 „Sropeliner IljorS" ber tone ein mdd)tige3 3Ba§rjeid)en jum ©etootf
etnporftieg, unb auf bie ffirdjen unb SKauem biefer alten ©tabt. SRalje
unb feme ftirdjen-Uljren fd^Iugen. SBenjel tyordjte; e3 toar 9Ritternad)t.
3ft e3 moglidj? bad^te er. @ef}' id) fdf)on fo lange? Unb fatten
toir fo ftunbenlang in biefer ©tranbfnetye gefdf)toafct? 2)er 2^iirmer
bfieS tjom S^obit^urm f einen eint5nigen, faft flangloS t)erflatternben
©tunbenruf in bie 9iad)t ^inein. 9tu^ ber liefe, &om leufefeteic^, famen
fonberbare Idne tjerauf, e^ tear juerft, loie n?enn grofd^e quaften. 93alb
aber erfannte SBenjel, ba§ einige ber ©nten f^natterten, bie ben leic^
Betooljnten. ©ie molten ^alb ober ganj au§ bem ©d^Iaf ertoad^en; fie
fd^natterten offenbar o^ne ©inn unb ffierftanb; ein toiberIic^e§, un^eimtid^^
niidjterneS StItett)eiber^®efc^iodfe in ber ©eifterftunbe. Sptofctid) er^ob fic^
aber, lod^renb bieS Derftummte, ein anberer, gefpenftifd^erer Slang. Sine
ber unfidfjtbaren Srd^en auf ben fernen Sddjern begann taut ju Irdd^jen,
tt)ie au^ bem ©djlaf gefd^redt. ert5nte loie ein fjeifereS SBe^gefc^rei
282 :ibplf rOtlbranbt.
burd) bie ticfc ©title, ©ogleid) ertoadfjten, toie td f<f)ien, £unberte t)ott
®ral)en unb Stolen au8 ifjrem fonft fo frieblid&en ©dfjtummer; Don alien
Dddjem fdfjienen fie ju rufen, ju fragen, ju fdfjreien unb ju iammern,
fo toertoirrenb erfdjoll biefeS $urdf>einanberfrdcf}ien. ©riiben au3 ber
SSorftabt toarfen bie £duferreif)en ben SBiebertjatl juriicf; td Hang, toie
toenn audf) bort ebenfo Diele §unberte ertoacfjten unb Slnttoort gdben. 3n
biefem Stugenblid bradt) ber fpdte £a!bmonb burd) ba3 auSeinanber*
toeidjenbe @eto5K. Steben bem Ijordjenben, leife fdjaubernben SBenjel,
iljm jur ©eite, jtoifd&en ben fdjtoarjen Sanonen, toarb ettoaS 5)unfte3,
toie eine 2Renfdjengeftaft, am 93oben fic^tbar. aBenjel fdjraf jufammen . . .
@r bftrfte t)in; bodj mit ©djeu. 3#n burd)ful)r pl5fcli<§ ber ©ebanfe:
bort liegt 2)a3, toarum bie $rdl)en ertoadjten, unb toarum fie frdd^en.
Sin ©rfd&lagener . . .
2)a3 SJlonbli^t toarb feller, unb SBenjel layette. ©r atljmete be*
ruljigt auf. 2Ba£ bort am 93oben lag, toar fein eigner ©djatten;
ber 2Ronb jei^nete it)n auf ba£ toergilbte ©ra3.- 3)odj nun fiiljtte er
erft, toie feine $ulfe fcfylugen. ©r Ijatte eine #anb auf bie fd(jtoer
atfymenbe 33ruft gelegt, o^ne td ju toiffen; ein ©djauber, ber i^m iiber
ben Stiiden gelaufen war, fag ifjm nod) im Stacfen, im §interf)au£t, fo*
baft iljm toar, ate greife bort eine gauft in fein jufammengepreftteS
4?aar. ©rofcer ©ott! badjte er unb fd£)dmte fief}. SBeffen ©fatten ift
bag? SineS atten SRarren, ber nodf) immer ein ®inb ift. SBarum fottte
tjier ein tobter 3Kann liegen; toad finb ba3 fiir ©ebanfen . . . Slitter;
nafy. 5Run \a, toarum benn nityt 2Ritternad)t; — an ©eifter gtaubt
\a bodf) tool ber afte Sfet nidjt mefjrl — 2Ba§ geljn bie $raljen mid)
an; — — jefct toerben fie ftitt. $)iefe£ ungiiicffelige ©efprddf) iiber
meine Kriminals^antafien, meine SKorb- unb SProcefts ©ebanfen; bad
geljt mir nun na<§ . . . Unb had 93ier, ber SBein; bod) ber SBein
toar gut. SRitb unb ftarf! — SBaS fiir eine ©otteSgabe! ®el>
nad) £aufe, SBenjel. Seru^ige S)ic^, toaft^ S)ir ben ijei&en ^o^f, unb
bann f^Iafe au3. ©ie^ft 2)u, toenn ®u geljft, ge^t au^ ber „tobte
3Jlann", ber ba unten lag. ©ieljft J)u tool, toie er toor S)ir ^er ge^t.
®r ift gefdjeibter ate 3)u, er ge^t S)ir tjoran, nad^ ^au^. ©elj i^m
na^; ge^ fd^Iafen!
SBenjel ging feinem ©fatten nad^; ben SBeg juriid, ben er ge*
tommen toar, unb burt^ bie ©tranbftragen ^in. $ier tterfc^toanb ber
©fatten; ber 3Ronb beleu^tete nur bie ©iebet unb bie $ad)er, benn
bie §5l}e beS £immete ^atte er no^ nic^t erftiegen, unb in biefe ein^
famen, tobten, engen ©affen, bie mit bem glufj in glei^er SRic^tung
liefen, bdmmerte nur fein SBiberfc^ein ^inab. 9Son 3^it ju 3^it fenfte
fid^, iiber Sreuj, eine Ijettere, breitere ©tra|e and ber tjiigeligen ©tabt
^erunter, lief auf ben #afen ju, unb bie im 3RonbIid(jt gtdnjenben SKaften
ber ©d£)iffe erf^ienen. S)ann tjerfd^toanben fie toieber, unb bie atte
Der OTUfdjulbige.
283
©tranbgaffen;S)dmmerung legte fid) bent Xraumer toor'S ©eficfyt. ©r
badjte on bic Tlcincn SKid)ten, bic nun friebtid} fdfjtiefen; unb an bic
©efdjidjte toon ber Xorte, bie ben frcmtblidjen jungen gremben fo gc=
rnljrt ijatte ...
3)ul e3 getjt langfam mit bem alten Surfdjen! ^drtc er pltylitf)
eine ©timme fagen.
Sine onbere ©timme anttoortete, ttrie jur 9tufje toermeifenb; bodf) in
einet ©praifje, bie SBenjel nidjt toerftanb. ©r fat} nur auf unb ging
toeiter. 2)rei mdnntidje ©eftalten befanben fid} toor ifjm auf ber ©trafce;
in bunllen Sleibern, nur bie mittlere Ijatte Ijelle $ofen, bie in bem un*
gcttiffen S)unfel Ieudf)teten. 2)er mufc marmeS Slut Ijaben, bad)te SBenjel,
bafc cr in biefer galjreSjeit ©ommerljofen trtigt!
©iner ber SDtdnner fliifterte, ate SBenjel ndtjer tjeranfam, unb fie
toidjen au3. Rtoti toon itjnen fiifjrten ben Written, ben in ben ©ommers
fjofen; biefer S)ritte fdjien nityt feljr ftd£>er auf ben giiften ju fein, benn
bet jebem ©djritt fdjttmnfte er etmaS, balb nadj redjts, balb nad) linfS,
unb tuittenloS fdjien er fidj ben 9tnbern ju iibertaffen. ©ie fittjrten il)n
toon ber ©trafce auf ben SBitrgerfteig, toobei er ftraudjclte, unb jogen i^n
Ijtnauf mie ein fteineS $inb.
Sann er benn nidjt bie Seine felber Ijeben! bacfjte SBenjel, ber
fonfi in alter ©utmiitljigfeit bie SWenfdjen getodjjren tiefc. S)iefer Irun!en=
bolb!
6r blieb unftriUfurlidj auf ber ©trafte ftefyt.
3)ieS fdjien ben 2tnbern, ben 9ludjteroen, ettoaS peinlidf) ju fein;
benn fte ftiifterten mieber, toon itjm abgemanbt, unb ber Sine toon iljnen
fud)te ben ©lenben, ber nidjt fteljen fonnte, mit feinem auSgefpannten
2Rantel ju toerbeden. Stuc^ briidte er itjm ben ljoljen, toeidjen gilj^ut
fefter auf ben Sopf. 2)a3 gefdtlt mir an iljm, badjte SBenjel, bag er fiir
ben ©djmeinigel, ben SBetrunfenen, fo Die! ©d)amgefut}t Ijat. Der aber
ftefjt mie ein Slofc; mit bem $opf gegen bie SBanb . . . SBaS fiir ein
Slenb ift e3 bod}, in ber eblen ©otte^gabe fid) ju itbemeljmen! SBenn
tdj bamate grieberifenS tobten SSater nidjt Ijdtte leben laffen — —
9lun, erbridj 2)idj einmal, alter 3unge! fagte einer ber SRuc^ternen
mit fetter ©timme ju Stem in ben ^ellen #ofen, ber fid^ gegen ein £au3
le^nte. SSiefleic^t, alter 3unge, baft 2)ir bann beffer toirb!
5)er „alte Sunge" ermiberte ni^t§; nur ein unterbriicfteg Socmen,
Don bem Slnbern jur SRed^ten, lieft fid) t)5ren.
SBenjel ftanb nid^t Idnger; au§ S^^tgefii^I ging er feineS SBege§
tt)eiter. ©ie fotlten ifjm eine geber ober bergleic^en in ben 3Runb fteden!
bad^te er im ©eljen. 3)iefe ^eUe ©timme mar mir fo befannt; — bodt)
loem fie ge^ort, fonnte idf}. nid^t fagen. S)er „alte S«nge" (er blidte
einmal jurud) fte^t no(^ immer, o^ne fidf) ju rii^ren. @in $uppe toon
£otj fann nid^t plflofer, ftofciger, toitlenlofer fein, ate biefe^ fogenannte
284
tfbolf rOtlbranbt.
„@benbilb ©otte^" ba. D 2>u „ftrone bcr ©djopfung", foaS fann au£
$ir toerben!
3nbcm cr baS bad£)te, lief} cr bic 3)rei Winter fid), im Dunfel, unb
trat burdf) eine3 bcr ©tranbtfjore (jur 3^it biefer ©efd()id)tc ftanben fie
nod)) auf ben „©tranb" IjinauS. |)ier lag fetter 9Ronbfd)ein auf ben
Sieged unb SBalfenljaufen, ben am Ufer fjingeftrecften Stnfern unb Setten,
ben f)odf>ragenben ©djiffen, ben SanbungSbritcfen unb bent faft toie ein
©ee auSgebreiteten glufc. Sinte, tjart am SBaffcr, erljob fidf) ber „$ral}n",
mit bem man bie 9Jtaften in bie neugebauten ©d£)iffe einlftfet; er ftrecfte
feinen #ebearm toie einen ungeljeuren ©lepljantenriiffet fdfjrag in ben
£immet tjinauS. 2Rit feft eingerejften, faum bemerfbaren ©egeln auf ben
langen SRaaen lagen bie grofcen Saljraeuge, bidjt gebrangt, tote ein hrinter;
lidfjer SBatb oljne SSIcittcr ba; bic bunflcn SJiumpfe, bie nodj feine gradjt
ju tragen fatten, ftiegen tyodf) iiber bem SBotttoerf auf. Slttc^ tear ftiQ
unb tobt, tooljin man fal). Sluf ben oerlaffenen ©tridtteitern fletterte nur
bag SDionblidjt auf unb ab. S)ie ©djiffe riiljrten fid) nidf)t, benn bie 2uft
fear lebloS. ©latt lag bie bleigrauc gtadfje be3 SBafferS, bis jum niebrigen
Ufer briiben; Dome aber am SSotttnerf, an ba3 SBcnjel Ijerantrat, fd)todrjte
fie tiefer ©fatten, ber fid) nidjt betoegte. SRur ein leister SBafferbunft
fd)ien Ijeraufjufteigen; unb bem fdjnobernben SBenjel toar'3, ate riedje er
fogar SKeerluft, obiuol bie ©ce nod) meljr ate eine SDteite entfernt fear,
©o ftiQ fdfjlief bie !Radf)t, baft er ba£ flingenbe Sptafcen ber Slafen im
SBaffer I)5rte. StudE) ba£ leife ©d&naljen ber fleinen gifd)e crHang; jus
ttjeiten erfnarrte tangfam eineS bcr ftraffen lauc auf ben Stiffen, ober
am 93otttt)crf gtucff'te, taum Derneljmbar, ein einjigeS, IcfetcS, eingefangeneS
SBelldEjen, ba3 in feinem SBinfel jtoifdjen $fal)l unb Ufer fein miibeS
3)afein &ert)audE)te.
SBenjet fa!) umljer unb begann ju traumen. Ueber itjm ragten bie
langen SSugfpriete ber bem Sanb jugefeljrten Dreimafter toie riefige
Sanonentdufe in bie Suft I)inein, iiber ben $afenbamm toeg. ®ie toeiften
©eftaltcn unb Sruftbilber am fdjttmrjen 93ug fa^en itjn eroftfjaft unb
gefpenftifd) an, ttrie Oefangene, aSerjauberte, bie fidt) nidf)t rutjren f5nnen.
®ic beiben grofeen 28d)er redfjtS unb linte im 83ug, burdf) toeld&e bie
®etten lief en, erfdjienen iljm tone bie Slugen be^ S^iffSgefi^te; bie grofcen
Slnfer ^ingen tuie getoaltige ^aarlocfen iiber ben 95orb ^erab. SBenn
mir t)ietleid|t eine^ lage^ — badjte SBenjel — fo ein Ungeljeuer Slmalie
Serring entfii^rt, in13 SWeer ^inau§! 3^ Sw^gltttg fteljt bort an Sorb
unb tocft fie; unb fie fpringt itym nad) — — unb ba£ ©c^iff ftofet
ab! ... ©oil id) ba^ butben? Stein. 3$ fringe au^; flammere mic^
an
©ein 93lut toarb toieber toilb; er bcluegte bic Singer, unb rait
grofcen ©Written ging er am Ufer fort, otync aufjufe^en, o^nc ju n?iffen,
toot)in. 9tn bic ©c^iff^Ieiter, bad^tc er, Hammere ic^ mid^ an; id) fd^loinge
Der IlTitfdjulbige.
285
mid) iibcr Sorb . . . SDBttt cr mir bag ©injigc, mag id) Ijabe, laffen, obcr
nid)t? — 2Bitl cr nid)t? — SBie, $u fdtffigft nadE) mir? 93or ben
8lugen Slmatieng fdjlagft ®u mir in'g ©efidjt $)ag ift ju t)tel.
ffia^ forbcrt Slut. ©d)urfe, bag toirb $ein Sob! — 3d) bin ftarf,
fieljft $)u; id) fyaV nodj ffiraft in ben Strmcn; fitfjtft $u, mie id) 2)id)
ijatte? Unb menu 3)u S)cin 2Reffer sieljft, briid' id) 2)idj &ufammen,
trie menu S)u toon ©ummi mdrft, unb mcrfe 2)id) iiber Sorb . . . £alte
3)idj nur an bcr ©tridleiter feft; eg Ijilft 2)ir nidjtg! ©o, fo, fo reife'
id) 2)id) log; tjinunter in'g SBaffer mufet S)u, elenber Serfiifjrer 2)u
*pi0fctid) fal) cr auf. 2)a fjinein mit S)ir! l)5rte er S^manb fagen.
2lm Soflmerf, nid)t toeit Don ifjm, ftanben jtoei 2Rdnner, bic cincn
brittcn fjielten. ©ie maren iljm abgemanbt, itjre ©efidjter fonntc cr nid)t
fefjen. SI) er nod} „brei" $dtte jdfjlen f5nnen, jog ©iner ben Written
nafjer big jum Stanb, gab itjm einen gemattigen ©tog, unb ber SDtenfdj
fanf wc^rlog unb lautlog in ben glufe ljinab.
$err mcin ©ott! rief SBenjel aug.
3m ndebften Slugenblitf fafjen bie beiben Uebeltfjtiter il)n an; fjetle
©efidjter mit fdjmarjen Sdrten erfdjienen in bem ungemiffen SDtonblidjt,
bag ttrieber burdj ©ctt»5If toerfdjleiert mar. S)er ©rofeere toon ben Seiben
fticfe einen furjen, rafdjen Sant tjertoor, unb lief bann mit foldjer ©e*
fctymnbigfeit ba&on, bag er fogleid) Winter Sretterftapetn fcerjdjmanb. 2)cr
Slnbere btieb — ttrie eg fd)ien, toor Ueberrafdjung — ftefjn. SSom SBaffcr
fjer lam ein garter, bumpf ftatfdjenber ©djatt; bod) !ein ©djrei, fein
©tofjnen, !ein Saut einer 2Rcnfd)enftimme; nidjtg mefjr. &err mein ©ott!
rief SBenjel nod) einmal aug.
5Run fdjien audj ber Stnbere, Sleinere an glud)t ju benfen; cr manbte
fid) unb fefete fid) in Semegung. Snbeffen SBenset, ber fein erfteg ©nt;
fe$en iibermanb, fprang mit tangen ©Written auf ifjn 511 unb ereitte iljn.
SRorberl 3R6rber! fagte er mit jitternber ©timmc unb padte iljn am 3lrm.
5)er 2lnbere rife fid) log. ©r fc^ien ettoag ermibcrn ju molten, md^
renb er feinem SSerfoIger fc^arf in bag ©efid)t fa^. ®od^ cr fdjtofe ben
SRunb micber, unb bem faffungglofen SBenjel mar^, alg ob bicfeg jugenb^
tit^e, f^marjbartige Unge^euer Iddjelte. Slie^en ©ie! ©^meigen ©iel
fagtc enbti^ bie ©timme biefeg Unge^euerg in cinem fiinftlic^cn, gejmun^
genen Safe. Sle^men ©ic bag ba! Se^alten ©ic 'g!
S)amit 509 ber SRenfd^ einen Sting toom Singer — mcnigfteng fd)ien
eg fo — , ftedte if)n mit nnglaubtidjcr ©ef^minbigfeit an ben fleinen
ginger Don SSenjelg redjter §anb; unb fc^lug bem nod) immcr Saffungg*
tofen auf bic rcdjte ©^ulter. 3ni nadjften Stugenblid lief cr baoon, aud)
ben Srettcrn ju. gtie^en ©ie! ©djmeigen ©iel rief cr nod) juriid.
glie^en ©ic!
Kbrb unb <5ub. VI, 18.
20
286
2lbolf rDilbranbt.
V.
S)ie in bcr ^Ijantafie fo traumbilbenb, fo ergiebig leben, finb felteit
bie ©eifteggegenmdrtigften in bcr 2Birflid)feit; — menigfteng $>err SBenjel
mar in biefem gatle, unb fein rafdfjeg ©rmadfjen aug bent erften ©djredf
fjatte if)it felbft iiberrafdf)t. 2>er jmette ©djred — ben SRSrber ladjetn
5U feljen, nnb fo reben ju l)oren — toerflog nidjt fo balb. 93emegunggs
log mie ber Ungliidtid£)e, ben bag Staffer fcerfdfjtungen I)atte, ftarrte er
bent gliidfjtling nadf), big biefer Winter bent erften, jmeiten, britten 83retter*
fjaufen toerfdjmunben mar. ®ann erft fdjiittette cr bie (Srftarrung toon
fid) ob unb lief ^interbrein.
$dufdf)te er fid), ober lief ifjm felber gentanb aug ber gerne nadj?
— Sr mufcte ntc^t mef)r, mag er fat) unb Ijflrte. Stud) bie ©fatten
Winter ben Srettem toermirrten ifjn, ate er urn bie ©de lam; meijr nod)
bie ©fatten ber Sdume, bie aug ber angrenjenben Stttee ^eruberfielen:
batb fdjicnen fie Sftenfdjen ju fein, bie fid) fcerbargen, balb aud) mieber
nid)t. ©nbtid) fat) er einen anbern, forperlicfjeren ©djatten, ber mett
tjtnten in ber 3tflee tooriiberfjufdfjte; barauf einen jmeiten, ber ebenfo rafd)
toerfefjmanb. $ag finb fie ja mieber! badjte er unb feufjte. 8lt!)emlog —
benn er mar beg Saufeng nid£)t mel)r getoo^nt — fturjte er iljnen nadf), big
er nicfjt mefjr fonnte. SBieber fd)ien Semanb tyinterbrein ju traben, aug
ber gerne fjer. S)ann erfdjott ein $fiff . . .
©o mar er big junt S)3etritt)or gefontntcn; erfdf)6pft ftanb er I)ier
ftitt. $ie 93eiben, bie er toerfolgte, maren tangft fcerfdjmunben; tjiefleid^t
in eine bcr 9iebenftra&en geflotjen; — mie fotltc er miff en, moljin. @r
ging nod) burd) bag Ifjor Ijinburd), an bem bcr gematte „93ogel ©reif",
bag S3al)rjeid)en ber ©tabt, feinen 2Rdrd)en;©d}meif ringette; ging ein
paar |>dufer meiter, bie ©liiters©trafee ^inauf. ®ann, ba er in ber 5ben
©titte nicfjtg meljr faf), nidjtg l)5rte, btieb er rattjtog ftetjn.
S)a mar' id) nun ridjtig toor nteinent |>augl badjte er toermirrt. Sinfg,
eine griine fteine 2lnt)df)e tjinauf, crtjob fief) bie ^etrUffirdje ntit iljrem
enblofen ftufcen Sfjurm, bent l)od)ften ber ©tabt; red)tg, in bcr #dufers
reiJ)c, ftanb bag Heine, burftige ©ebdube, in beffen obcrent ©tod er ntit
SKartfje unb ©rete ©cfjmibt, feinen 9?i<f)ten, moljnte. ®enn in biefer arnts
fetigen ©egenb liefe fid) biflig leben; unb er ^atte bag unentgeltlic^e 3Ser=
gniigen, t)on feinem genfter aug ben ftitlen, feierlid^en Sird)enpla^ unb
ben junt ^pimmet ^inaufmeife^ben Stjurm §u fe^n . . . SBarum ift benn
Sid^t in meinem 3intmer? fragte er fidf) Dermunbert. Dber fe^' \6) fatfd)?
Irdum1 ic^? SSin ic^ nid)t red^t bei .©innen? $ab' ic^ auc§ biefeg
fiirc^terlic^e ©reigni§, unb bie gludjt, bie SSerfoIgung, atteg nur getrdumt?
— — SSenn id) mirftic^ bci ©innen bin, fcf)' id) ba oben Si^t. 2Bag
bebcutet bag? — — Sr griff in bie Safdjc, jog mit jittcrnber |)anb
feinen ^>aitgfc^luffcl ^eroor, unb offnetc bie Sfjiir.
Der IKttfdjulbige.
287
SRit brei ©djritten mar er bet ber engen, Ijfllaewen Sreppe, bie er
im Dunfetn fanb; cr ftotyerte ljinauf. $od) ate cr in fcin 3inxntcr tarn,
ftanb cr beru^igt ftitt. 3n bcr Stjat bramtte bic Sampe auf fcinem
Xifc^; grau ©djmabfe fjatte offenbar in ber ©cf}Iaftruttfcnt)eit fcergeffen,
fic au*}uI5fd}en; aber ftc felber fdjnard)te frieblid) nebenan (bic XEjiir mar
off en), unb ebenfo untoerfetprt unb ungeft5rt fdjliefen SRartlje unb ©rete
in iljrem gemeinfamen Sett. Steben bent feincn ftanb eS an ber SBanb;
benn „id) bin iljnen ja Dnfel unb Xante, grau ©djmabfe", pflegte cr ju
fagen. SMe ftcine hammer nebenan toax fur Srau ©cfjmabfe attein; in
bicfetn „©alon" aber, ober bicfer „beften ©tube", mie 2Benjet ber §umorift
fcin einjigeS 3intmer nannte, lebtc bic „gamilie" bei lag unb bei iftad)t.
£ier fatelten bic Steinen, menn er ate Scorer ber 3ugenb in bic $>aufer
bcr „9teid)en" ging; ^icr fd)rieb er ab, menu fie fdjliefen; Ijier mal^te cr
fid) nod) jumeilen pfjantafirenb auf feinem ©troljfad, menn fic fd)on er*
roadjten ... Sr trat an itjr Sett. Untcr ciner blau unb meij3 ge*
ftxeiften, gro^en 2)ede lagen bie 8^ iHinge, 9lad)tmiifcd)en auf bent Sopf,
fo ubereinftimmenb ba, ate maren fie ein einjigeS ©efd)5pf mtt jmei
fleincn Sflpfen unb trier fleinen Strmen. 3c jmei biefcr Strme — atlc
mager unb fein — lagen ntit inetnanber gefaltcten $>anben auf ber Decfc.
5)ie Sityfe fatten fid) ein menig auf bic ©cite geneigt, beibc nad) linte.
Uebcr jebe ©tirn ficlen ein paar Sdddjen; baruntcr ftrecfte fidj je ein
taitgli(f)e$ -Jta3d)en, ba3 fdjon jefet Derrietf), bag e3 cinft ber grofcen 9lafe
be£ Cnfete gleidjen molle. $iefe3 jmeifbpfige SEBcfen fdjien itur @in
Sungenpaar &u tjaben: benn gleicfjmafcig Ijob unb fenftc fid) bie 5)ede
ljier unb bort. ©ogar bic Sippen fatten ftdj ljier unb bort geflffnet;
93eibc fd)ienen ju Iftdjetn.
$ml murmelte SBenjcL SBenn man ftc fo anfiefjt — unb nidjt if>r
Dnfel unb itjrc Xante ift — fflnnte man mol fragen: marum murben
3mei barauS? — 2Bof)Ifeiler Kefjen fie fid) ernaljren, menu bie SRatur
bie ©adje t>ereinfad)t ^attc (er layette mefjnuitfiig); menn biefeS SBefen
nur ©rete ober SRartfje fjiefte — — 5Ridjt3 fur uugut, ©rete — ober
SRartfje — je nadjbem. 34 fflflc nur fo. 34 meine e£ nid)t fo. Seiner
t)on eud) mill icf) ju nafye tretcn; icf) n?itt einc ©retc unb eine SWart^c
^aben; unb eu^ beibc ju grofeen grauenjimmem ju madjen, ba^t toixVZ
\a no^ reidjen! — 34 bin ja gefunb; biefcr ©d^toinbel ^at nid^t^ ju
fagen
3nbem er ba3 murmettc, fcfete er fic^ l)tn; benn bie iiberreijtcn
9lerucn fpietten pto^lid) ein t^5ri^teg ©pie! mit feinem Slut, Ueften e^
nidjt jum l^irn, unb ba^ Setmifctfein bro^te it)m §u entflic^eu. ©r griff
itac^ ber Se^ne be§ ©tu^te, in ben er gefunfen tear, unb fjielt fic^ feft.
(Sine SBeile mar i^m, ate ttriffe cr nur no^ toon fid), bag er SBenjel
fjci&c; — bann medte ein tauter ^fiff, Don ber ©tra§e fyer, it)n miebcr
auf. ©4merc Iritte crtonten auf bem ^Sftafter. (Sine SSagftimme lieg
288
2Ibolf IPilbranbt.
fid) oernetjmen; balb barauf cine jtoeite, bic nur pfterte. SBenjet fuljr
ioieber empor.
SBirb bic ©trafte uo<§ einmat tebenbig, bad^tc er, in fo tiefer SRadjt?
$fiff nicf)t gcmanb; cbenfo mie toortjin? — — Sorbin $>atf id)
bcnn ganj bergeffen, xoa$ uortjin gefcfjetjen ift. SBarum ftetj1 idf) benn
tyier? SKufc id) nicfjt jum ©teintfjor taufen, auf bic ^otijei — melben,
ioaS icf) gefet)en fjabe, id) mit meinen Slugen — toie cr in'3 28affcr fiel
— — SauttoS, ttrie cin ©tiid £olj, ftel bcr Sftenfd) ljinein. SBar cr
bcnn fdjon tobt? — — Unb bicfer ©dfjftmrjbartige, bcr ladjclte unb mir
fagtc
$n biefem Stugenblid \a§ cr auf fcinc £anb, unb faf) ben Sting.
(£3 toax cin toirflidjcr, teibt)af tiger Sting, ben if)m ber Sflorbcr an ben
ginger geftedt Ijatte. ©on Steuem entfefet natym er tfjn in bic £anb.
©in grower Stubin leucf)tete itjm entgegen . . . SBie? #atte cr nidjt fo
cinen Stubin i)eutc 9tad)t gefetyn? feci beffen Slnbtid ifyn ber ©ebanfe fant:
„2)atoon fount1 id) ja toot ein 3af)r Uitn, idf) mit nteincn 9tid)ten?" —
Unb bicfer Stubin ftcdte an ciner tocifecn $anb; an ber §anb be£ Ijiibfdjen
jungen gremben, ber ifjn fo s&rtlid) umarmt fjatte
2Ran polterte bic Ireppe tyerauf, unb biefeS ©eraufd) unterbrad) fci-
ncn ©ebanfengang. S)ie Sljur feineS 3inrnter§ toarb geoffnet, ofjne baft
Scntanb gcflopft fjatte. ©in 9tad)ttoadE)ter trat tyerein; bann ein ©d)ufcs
mann in feincr Uniform, unb ein alter SKatrofe — ttrie e3 fdjten —
ber fid) feudjenb ben ©df)toei|3 t?on bcr ©time ttrifdjte. 2)ocf) ate biefc
alte „2;f)eerjade" ben plofctidj erbtaffenben SBenjel in13 Sluge gefaftt unb
cine SBcite fdjarf beobadjtet fjatte, feud&te er bem ©djufcmann ju: ©eljen
©ic, ba ftc^t cr! 2)a3 ig crl #err, toarljaften ©ic biefen $erm; ba£ is
ciner toon bie 93arbred)erl toarraftig unb ©ott!
VI.
Su ber „©d)reiberei" fafj bcr Keine ©enator Subtoig ©rotiuS, bcr
director be3 ^oIt5ei=9lmt§ biefer alten ©tabt, am SWorgen nad) biefcr
9tad)t Winter feincm lifd). 63 toar bag Bimmer, in bem cr bie geinbe
ber offentlid^en Drbnuug unb be§ ©efefceS ju t>erfj5ren pftegte; ein alte§,
einfadf)e3, traurigeS ©emadf), ttrie e£ fclbft SJcnjet^ biiftere ^^antafie fidj
nic^t einfad^er unb trauriger gebacfyt ^atte. SKitten in bicfem 3innner
ftanb er felbft, ©ottlieb SSScnjet, t>ox be§ §crrn ©rotiug Sifd). ®ie gcber
be^ ^5olisei=Sc^rcibcrg, ber ettoaS jnr ©cite \a% fnifterte mit medjanifdfjer
©efd)dftigfeit iiber ben grofeen ^rotofottsSogcn f;iu, immer oon linfe nad^
red^tg. SBeuiel ^atte gefprod^cn, nun tjerftummte cr. Sr jog fcin grofee^,
bunted ©djnupftud) au^ ber Safdje, urn fid) bic „ljot)e ^enferftirn" ju
trodncn; jog babei aud^ eiue 3)utc mit Ijcrtjor, fa^ fic 511 Soben fatten,
biidte fid) aber nidfjt, urn fie aufsu^ebeu, fonbern mit finftercr Unbetocg^
lid^fcit faf) er auf fie ^erab.
Per IKitfdjulbige.
289
2Bag ift bag? fragte bcr Senator Subtoig ©rotiug, fcfjarf unb ftreng.
Snattbonbong, anttoortete SBenjet.
SBarum Jjat man fie S^ncn nid)t abgenommen? fragte bcr Senator.
S)ie S)iite fjatte fi<f) in mein Xafdfjentudj aerttridett, barnm fjat wan
fie Dermutljtid) nidjt bemerft, anttoortete SBenjel gutmiitfjig, urn ben nacfc
laffigen Sctjufcmann entfcfjutbigen.
Unb mit 3^rer ®efd)id)te finb Sie nun ju ©nbe?
3dj Ijabe fie erjdljtt, #err Senator, tok fie fid) jugetragen f}at, er;
ttuberte SBenjel; ganj ber 2Bal)rf)eit gemdfjl
Der SPotijekScfyreiber fat) toon feinem 93ogen auf unb Iddjelte.
SBir fennen biefe ®efd)id)te, fagte ber Heine Senator fetbftbettm&t,
inbem er eineg feiner fleinen, flugen Slugen fdfjlofc unb mit bem anbern
auf SBenjel jiette. Sie ttirb oft crjd^tt ! 9Kan fommt gerabe Don un*
gcfa^r baju, ttdljrenb ber 9Jtorb — ober toag eg nun ift — gefdjieljt.
SRan ift ganj unbetfyeiligt. SKan mill fogar ben 93erbredf)er fefttjalten —
tommt if)m babei ju nafje — er ftecft ©inern ettoag in bie §anb unb
lduft baoon; — fo erffart fid) bann feljr einfad), ba§ man bag corpus
delicti bei ung finbet. 2Bie gefagt, biefe ©efd)id)te ift feljr beliebt;
fie toirb oft erjdtjlt. 9hir miiffen Sie fi(Jj nidf)t ttmnbern, baft id) fie
nid)t gtaube.
3d) tounbere midf) aud) nidjtl ermiberte SBenjet mit bitfterer, fdjmers
muttjiger Stefignation, otjne ju toiberfpredjen. 3<fy ttnftte, ba& id) f einen
®tauben finben miirbe. 3<f| f}fl6e & gettmfct.
SBotjer tjaben Sie eg getoufct?
SBenjet fdjnrieg. @r macfjte nur eine Setoegung, loie toenn er bieg
alleg fdjon bor 3a^r unb lag ertuartet tjdtte. S)ann fat) er mit ber*
jtoeifelter 3tut)e Dor fid) f)in.
@g toiirbe 3i)nen aud) nicfytg niifeen, toenn Sie ftcf} ttmnberten, fufjr
ber Senator felbftjufrieben unb faft fetter fort. 3$ toil! 3*)nen nun
fagen, toag id) toon ber Sadje benfe. giir'g ©rfte gefatlen mir biefe an^
geblid)en „l)armtofen SBanberer" nidjt, bie 3*ntanb in'g SBaffer toerfen
fetjn unb nicfyt urn $>utfe rufen —
3<*) toax fo betdubt, fterr
Die bann felber babontaufen, toenn ein fritter fommt —
3d) lief itjm ja nac^, ^err — —
S)ie bann einfac^ nad^ $aufe ftatt bie ^olijei ju atlarmiren —
S)ag Sic^t, bag id) in meinem 3iwmer fat)
Unb bie man bann finbet, todtjrenb fie mit einem Slubinring lieb?
dugeln, ben iljnen Stiemanb gefc^enft ^at! — giir'g S^^ite aber toitt id)
3tyten fagen, toag ber Scuflc 3<*fob Sluffott), SDtatrofe, t)on ^ier, t>or mir
ai^gefagt ^at. @r fommt eben Don ber $ogfetberftraf$e auf ben Stranb
fjinaug, unb geljt nac^ linfg, nac^ bem SBaH ju; ba ^5rt er Winter fi(^,
in ber ftillen 5Rad^t, einen fc^toeren gatt in'g SBaffer, tok tt)enn ein SKenfc^
290
tfbolf IDilbranbt.
ljtneinfaflt. 2Bo, fann cr nid)t fag en, bcnn e3 fommt toon fern; — aber
er madjt $ef)rt, nrie e3 bie ©djulbigfeit jebeS orbentlid)en aRenfdjen ift,
unb gefjt auf bie 9tid)tung ju. 3)a fietjt er jroet SDldnner ba&ontaufen,
einen ©leinen unb einen ©rofeen. 5)er ift alfo nid)t Don felber tjinein;
gefatlen! benft er — toie e£ rid)tig tear — unb lauft if)nen nad).
3)od) roeil er ein dlterer SKann unb ettoaS furjatljmig ift, fjolt er fie
nidjt ein. ®r ruft aber ben 9lad)troadjter an, ben er bie ©rubenftrafee
fjerunterfommen tyort; unb biefer pfeift etnem anbem; unb unterbeffen
eilen fie, fo fd^nett fie ftfnnen, bent ©ro&en, bent Sangen nad), ber
aud) ftetyen bleibt unb Sltljem §olt; unb befjatten if>n im 9tuge bis ju
feiner %$ixx. Unb aU fjier etn ©d)ufcmann ju ifjnen ftflfct, bringen fie
in'3 $au3 burd) bie un&erfd)loffene I^tir —
3d) fdjtofe nidjt roieber ju — meil ba3 fiid^t in meinem 3immer
mid) fo fetjr bemrirrte — —
Unb biefe 2)rei finben ben ©rofjen, unb in feiner $anb biefen Sfting;
— unb ber ©ro&e finb ©iel
3a, ber ©ro&e bin idj, fagte SBenjet unb fal) refignirt an fid)
fjinunter. 3$ aber roar's, ber bent Clemen nadjlief — —
Unterbredjen ©ie ntd)t. 3$ bin nid)t ju ®nbe. giir'S 5)ritte toil!
id) 3^nen fagen, toa$ fid^ an biefent SDlorgen roeiter begeben §at. §err
©d)toan, 3nf)aber einer $enfion fiir junge SluSlanber, batjier, fdjicft Ijeute
SSormittag auf We ^Solijct: einer feiner ^enfionare, ein junger ©d)tt)ebe,
Stamens Stjef ^almblab, fei in biefer 9lac£)t nid)t nadj $aufe gefommen;
ob metteid)t bie loblidje $oIi$ei — ttrie fdjon einmal ber gall ftmr —
feinen gegentoartigen, freittritligen ober unfreitnittigen, Slufent^alt anjus
geben ttriffe. 3d) faff* barauf jurudmelben : bei un3 befinbet fid^ be-
fagter 2ljel ^almblab bieSmal nic^t; ben |>errn ©d)ttmn aber laffe id)
erfudjen — unb fo toeiter. |>err ©djman fommt ju mir, unb id) &eige
if)m ben bet SDneu gefunbenen 9ting. Sr erfennt if)n fogleid) . . .
SBarum toerben ©ie bla&. — @r erfennt if)n fogleidj. Diefcn Sling
trug eben berfelbe Sljrel ^almblab an ber £anb, ber fjeute 9tad)t nid)t
nad) §aufe fam; ber nod) bis ju biefem Slugenblid, jtoolf Utyr SRittagS,
toermi&t toirb; ber fcerfdjumnben ift. 3ncutyat, fetjen ©ie mid) an!
SBenjel falj ben ©enator an, oljne fic^ ju rii^ren. ^Ciefe SSerroide^
lung ber ©ac^e betaubte, fcerfteinerte i^n.
3ft S^nen biefer 9ljet 5Palmblab befannt?
3Rir? — — 9lein, §err ©enator. 5)aS tyeifet, boc^; — Der-
mut^lid) — —
2)rei StuSfagen fiir ein el „ Stein; bod); fcermutljlid)!" — 2Bir
roerben ja balb ergritnben, toeldje Don ben breien bie am roenigften
falfc^e ift
2)er ©c^reiber fa^ toieber auf unb l&djette.
©e^en ©ie mid^ an, Snatlpat; mid), ben 3«^w^ten! — Stofett
Der IHttfdjtilbtge.
29*
Sling, beffen ©igenttjiimer fpurtoa DerfcJjtounben ift, ftetfte 3^ncn atfo
3emanb an ben fleinen Singer, toie Sic fagen; unb atoar ein SKann
mit eincm fd£)toarjen 93art; unb #oar eben bcrfelbc, ber, lute Sie Der-
fidjero, ben Stnbern in'3 SGSaffcr ftiefi. Stefjmen toir einmal an, biefer
ratljfetyafte SKann mit bem fdjioaraen *8art, ber bie Stinge, bie er raubt,
an SSoriibergefjenbe Derfdjenft, ber entire toirflidf): too gefefjaf) benn ba£?
SBo marf man ben 9tjet ^Jalmblab — jenen Unbefannten, nritt idj etnft-
lueilen fagen — iiber ba§ Sotttoerf in'S SSaffcr ?
3d) ioeifj e3 nicfjt, £err Senator, antroortete SBenjel, bem fief) ein
immer bunfterer Sdjteier Dor bie Stugen legte. SDlir ift e3 nidjt betoufjt.
Slber Sie toerben jugeben, ba& toix tt>iinfd)en muff en, e§ ju erfa^ren;
urn biefen 2RenfdE)en im SBaffer aufjufinben! — Sie ftanben babei, ttrie
Sie fagen, unb Sie nriffen e3 nidjt?
©3 tear irgenbroo — — aber id) ^atte fein ©efiil)! baDon, too e3
tuar. 3d} ging fo bafjin, of)ne ' ju nriffen, too. 3$ toar fo tief in
meinen ©ebanfen — —
S)er Sd&reiber ta^ette roieber.
3n toaS fur ©ebanfen? fragte ber Senator.
SBenjefe btaffeS ©efidjt ttmrbe bunfelrotfj. ©r Dergrub bie £anbe
in fein grofjeS Sdfjnupftudf). Seine ©ebanfen in jenem DerljangniftDoHen
Stugenblitf ftanben if)m plofclict) ttrieber Dor ber Seele : f eine SKorbgebanfen.
©r fjatte ba£ Sdjiff erftettert, auf bem ber ©ntfutjrer SlmalienS eben
baDonfegeln roottte; er fjatte iljn gepadt unb rig iljn Don ber Sdjiff3=
letter lo3: „l)inunter in'3 SBaffer mufjt bu, elenber 93erfuf>rer bu"
3n toa$ fiir ©ebanfen? toieberfjolte ber Senator.
3d) fann'S nidjt fagen, murmelte SBenjel.
ipm! Sie fonnen'S nicfjt fagen. Sie ftanben babei, aber Sie
nmfjten nidEjt, loo Sie fidfj befanben; Sie ttmfjten e3 nid)t, tt>cil Sie fo
tief in %fyxtn ©ebanfen toaren; aber biefe %$xt ©ebanfen fonnen Sie
un£ nidf)t fagen. SBiefleidjt fagen Sie fie un3 ein anbermal — —
$err ©rotiuS flingelte. 5)er Sdfjufemann erfd£)ien, ber SBenjct Der-
fjaftet fjatte.
giifjren Sie bie junge 5)ame fjerein, bie fid) ate 8cugin gemelbet
fyat, fagte ber Senator.
SBenjel, ber tiefgebeugten SopfeS toie ein SSerlorener baftanb, fjordjte
auf. 3Ba3 fiir eine ®ame? in feiner Sacfje? — @r toenbete feinen
* fdjlaffen, ^infalligen Dberforper unb faf) nad^ ber Xfyixx. ©in Saut ber
Ueberrafdjung entfu^r i^m, aU, in fdf)iidjtern feiertid^er ^altung unb mit
naffen Slugen, Slmalie SSerring erfc^ien.
Sie tounfd^en fiir biefen SlngeKagten 3^"8nife abjulegen, fragte ber
Senator.
3a, fagte fie mutf)ig, obtool fie jugleid^ ftarf errotfjete. D ^err
Senator — —
292
Hbolf IDilbranbt.
£err (SrotiuS unterbradE) fie, urn bie ublidjen gragcn an fie ju
ridfjten: md) Stamen, Stanb unb fo toeiter. graulein Slmalie anttoortete
mit geftigfeit, inbem fie bent Senator ftarr in'S Stntti^ fal). ®ann aber
toarf fie au3 itjren grofjen, tjeroortretenben, teudEjtenben blauen Slugen
einen fo mitteibSDotten SBIicf auf ben armen SQSenjel, bafi biefen pISfelidEje,
tiefe SRii^rung ergriff, ate toare er ein SSetb. Sin ©efutjl beg (Sliicte
fam iljm mitten in feiner 9totl). Slur bafj iljn jugleic^ bie Stagft beftel,
er Wnnte toeinen; unb urn biefer 83ef claiming $u entgetyn, briidtte er bie
$anbe unb bie S^ne jufammen, falj Don Stmalien Ijintoeg unb auf ben
Scfjreiber, beffen 93enef}tnen itjn tooIjUIjuenb erbitterte unb Derfjartete,
unb erljob f einen Sopf.
Sie fennen biefen §erm, fragte ber Senator fanft, in bem rufyigen
©efiifjl feiner Unttriberftetjlicfjfeit.
D ia, §err Senator; o, id) fennc ifyn, antmortete baS 9Rabdf)en.
Unb Sie toiffen, toarum er tyier ftefjt —
SefuS, ©otteS Sofjn! 2Bie ift e£ mogtidj, £err Senator; ad), ttrie
ift e£ mflgticf)! — ftef}1 oor ber 2pr, ba fommt grau Scfjtoabfe
gelaufen: „ber $txx SBeniel fifct in ber Sdjreiberei, er foil (Sinen urn*
gebrac^t l)aben" SBie id) ba£ Ijore, benf idfj bod), id) mufj gleid>
in bie Sniee faden. Unb mir tturb fo Dor ben Slugen, &err Senator
@8 Ijanbelt \id) tyier nidjt barum, toie $$ntn ttwrbe, unterbrad) fte
#err (SrotiuS nrfjig, aber beftimmt; fonbern toa& Sie in biefer Sadje
5u bejeugen bermbgen. 3)e3fjalb finb Sie J)ier —
3a, $err Senator, be31)alb bin id) Ijier; unb entfc^ulbigen Sie irar,
id) bin nod) fo perplex — — benn (fie blidfte toieber auf SBenjel, t>ott
SKitleib unb Doll SSertrauen) fo ein 2Ramt, $>err Senator! Sine Seete
Don einem 2Renfdf)en, |>err Senator — unb 5>em fagen Sie nadfj, er
ljat ©men umgebradjt! — — Stber ein Ungtiid War in ber Suft; bad
fiUjlt1 id) \d)on Ijeute Stadtjt. fBtid) tjat ber 9lty gebriidtt — unb fd&on
Dor Xt)au unb lag fount1 id) nid)t metjr fdf)lafen, unb mir tear fo —
id) toeifj ntdjt; unb id) Dertiefj meinen 9lad)tptafc, $err Senator, at$ e&
nod) fticfenbunfel toax —
SBoKen Sie jur Sadje fommen, ober nid£)t? fiet itjr jefct ber Senator
ftreng unb fdtjarf in'3 SBort. 3Ba« ^aben Sie ju bejeugen —
Wd), ba| er gehrig nid)t fd^ulbig ift! fagte fie mit tt>ei$er Stimme
unb einem riiljrenben S3licf. 5)a| er eine Seete Don einem SRenfd^en ift;
unb er Ijat'S nid)t get^an! — Se^en Sie, £err Senator, er ^at ntd^td
auf ber ffiett; au^er ein paar S^iHitige — aber e« ftnb nidf)t feine —
aber er Ijat fte geerbt; unb wie er fic^ abejtert, urn fte ju ema^ren,
Ifinnen Sie nicfjt gtauben! Unb i^m ift immer 9lfle3 contre coeur ge^
gangen, unb er geljt fo mit ber £ungertjarfe burd^ ba« 2eben ^in; —
aber er ift toie ein $elb, ^err Senator! er tf)ut feine ^Sflid^t! Unb id^
fagte mir gleid^, at$ i^ baDon ^orte: nun fifct er Derlaffen ba, benn er
Per IHitfdjulbige.
295
fjat ia 9tiemanb! 2lber Sine tjat er, bie fitr ifjn fpretfjen mitt, — toa$
and) bie Scute bariiber fagen mogen; — unb roenn id) nun audj rotl)
tucrbc, e£ tfytt nid)t3. 3)arum bin td) gefommen, $err Senator; baft
id) fur iljn rebe. Unb Derjei^en Sie mir, toenn idj ba£ ©d)tud)$en
frtege — — aber e3 ift mir fo bemeglidt) — — unb glauben ©ie'S
nidjt! ®r !)af3 nid)t getfjan!
§err ©rotiuS fdjtoieg eine SBeile. @r betrad)tete biefeS fonberbare
SKabdjen, ba3 fME) in fo gemifefjter SRebetoeife fo gefiifjlDott ereiferte, unb
ben 9htgettagten, ber nun aud^ Dor Stunning leife fdfjtudte. ©ie ge*
fjdren jum unjuriftif d)en ©efd)ted)t, fagte er enblidj, mit fo Diet Ijerafc
laffenber -JJtitbe, al3 iljm an biefem Drt unb tjinter biefem lifd) ju^
laffig fd)ien. 3)atjer Ijaben Sie benn audE) nidjt bebadjt, ba| e£ fid) f)ier
nidjt urn 3^re fubjectiDe SKeinung iiber ben (£f)arafter beS 2lngettagten
tjanbelt, fonbern bag toir ben objectioen Xfjatbeftanb eruiren moQen.
3)ie Slrmutfj ift getoifj eine fefjr bebauernStoerttje ©acfje; aber menu toir
bet einem amten 9Renfd)en einen foldjen SRing finben, ber einem Slnbern
gefjort — —
2Ba3 ^aben ©ie? unterbradj $err ©rotiuS fid) felbft, ba er ba3
SDtabdjen erblaffen unb bie gro&en 2lugen nod) grflfjer aufreifjen fat).
Sr fjatte ben Sling in bie £anb genommen unb Ijielt ifjn jnrifdjen S^igc^
finger unb 3)aumen in ber Suft. SBarum ftarren ©ie fo . . . 2Ba3
fefjen ©ie an bent Sting?
3d) fann nid&t fpredtjen, fagte fie nadf) einer $aufe tnie fliifternb,
mit erftidter ©timme. 3d) bin au3 ber $uft! S)iefen Sting —
fagen ©ie — fanben ©ie bei $erm SBenjel — —
3a, biefen Sting! 3)er bem Dermifjten jungen ©djtoeben gel)5rt —
S)em SSermifiten, fagen ©ie! ftammelte ba3 2Rabd)en. @r toirb
alfo Dermifjt — —
©djufcmann, fatten ©ie bag gr&ulein aufredjt! fagte ber Senator,
guljren ©ie fie an ben ©tut}!, ©efcen ©ie fie t)in! — — Saffen ©ie
fief}, mein grautein. 2Bir toerben toarten, bis ©ie ju fid) fommen —
D, 16) bin ganj bei mir! fagte fie, ftofctoeife atfjmenb unb mit nod)
ftarren, Dertoilberten Slugen urn fid) blidenb. £err Sljel $almblab, fagen
©ie, ttrirb Dermifet 3^/ ©otteS ©otjn!
©ie tennen i^n, toit id) felje. ©ie fennen au6) biefen Sling —
Stmalie nidte ftumm. $ld^lid^ marb fie rot^; bann timber b(a|.
©ie toarf auf ben armen SBeniel, ber burdj bag Sid^t, bag i^m aufging,
tme Demi^tet baftanb, einen Slid Doll ©rauen, Dotl ©ntfe^en. £err
SBenjel, ©ie jittern ja! fagte fie, ttneber o^ne ©timme.
©r ljflrte auf, ju jittern, aber er anttoortete nic^t.
S)en Sling ba fatten ©ie ben Sling mit bem rotten ©tein
— — Slnttoorten ©ie bod)!
©ie Ijaben ja ge^ort, fagte ber ©enator ju 2lmalien, ba SBenjel
2%
tfbolf IDUbranbt.
fdjttneg. £>eute 9tacf)t faub man ifjn bei ifjm. 9tacf)bem cr entflofjen
toax
§err bu meineS SebenS! ricf ba§ 9Rabdjen au£; bic $anb auf bcr
SBruft. #err 2BenjeIl §err SBenaet! ©efjen ©ie mid) an. ©ie finb ja
ganj benau't; ganj Don ©ott Dcrlaffcn. ©ie Ijaben ja toot ba3 Seben
nicfjt mefjr . . . 2Ba3 Ijaben ©ie itjm gettjan?
9tidf)t3, murmelte SBenjeL
2Ba£ Jjaben ©ic itjm getfjan? toieberfjolte fie. 2lnttoorten ©ie tine
Dor ©otteS Sfjron: toaS Ijaben ©ie iljm getfjan? — ©ie Ijaffen iljn,
fagten ©ie mir geftern. Unb ©ie briiteten fo Dor fidf) l)in unb fd£)Iugen
bann auf ben Sifcf) — unb idj Derfierte mid) unb entfefcte midf), fo toilb
fafjen ©ie au3 — unb icf) fagte nod): „toa3 tyaben ©ie — ©ott foil
mid) bematjren!" §err 2BenjeI! ©efjen ©ie midf) an! 2BaS ^aben
©ie if)m getfym?
SBenn id) S^nen anttoortc: ^icfjtS", fo glauben ©ie mir ja nid)t,
fagte SBenjet mit ber 9tuf)e ber SBerjtoeiftung, inbem er fein lafdjentudj
burdE) bie ginger jog. 3d) toufete Dormer, bafc mir Stiemanb glauben
tottrbe. 3df) Ijab'S getoufct.
D ©ott! D ©ott! rief fie unb ftanb auf. §err SQScnjet, f>err SBcnjcl,
reben ©ie bie 2Bal)rl)eit; feien ©ie nicfjt fteinp5ttig unb Derftotft, benn
©ie fteljen t)or ©ottl — ©ie finb bann ^inuntergegangen , at3 ©ic
mid£) Derlie&en, unb unten im ©aftjimmer fjaben ©ie it>n gefunben —
ben ©ie tjafcten, £>err SSenjel — unb Ijaben mit itjm gefeffen unb ge-
trunfen —
§m! fjat er ba3! fid ber Senator ein.
3a, bag fjat er, idj toeife e3! rief ba3 2Rabd)en unb fdjtud£)jte. SDenn
mein Sater fam nod£) fjinauf unb erjafjlte mir'£ —
Dabon Ijaben ©ie mir ja nid£)t3 befannt! fagte ber ©enator, fid)
ju SBenjet toenbenb. ©ie Derfidfjerten mir ja aud), ©ie fennten §errn
$almbtab nicfjt.
3d) fannteitjn aucf) nidjt, murmelte SBenjel.
D ©ott! D bu grower ©ott! rief 2lmalie au3, bic Dor frampfs
fjaftem ©d£)Iud£)sen faum metjr reben fonnte. Unb id£) fam nod£) fyer, urn
fiir ©ic ju - reben — unb gemeint ^ab' icf) urn ©ie, toatjrenb idf) ba
braufjen toarten mufcte unb ba ftetjn ©ie nun, Don ©ott ber-
laffen! — Unb ©ie fjaben nocf) mit if)m gegeffen unb getrunfen — unb
er mar geftem 9tad£)mittag nocf) fo greQ unb graft unb jejjt
D mein ©ott. Sain, Sain §err ©enator, id) fann feine £uft
meljr friegen — —
Stadjbem fie 2)ie3 noc^ gefagt ^atte, fiel fie Dom ©tu^I. $err
SBensel riit)rte fic^ mcdjanifdf), urn fie aufjufyeben; bocf) er fd^toanfte felbft.
6r taumelte. S)a| er bcm ©djufcmann in bie Strme fiel, timr i^m nod^
Per IKitfdfiilbtge.
295
bettwgt; beam ^atte cr bag ©efiiljf, in'g SBaffer unb $u bem jungen
©djtoeben auf ben ©runb ju finfen, unb ju feiner gro&en grleidjterung
Derltefcen i^n bie ©inne.
VII.
2)ic „©djreiberei" ober, ttrie bag S3otf fic nennt, bag „93rummbar-
lodj" — bag Eriminatgefangmfj biefer cremate frcicn ©tabt, bic nodj
immcr cincn Xfjeil itjrer altcn ©ericfjtgbarfeit iiber ifjre SDtiffet^dtcr aug=
ubtt — falj metjr cinem ftaften ati einem £aufe gteid). ©ie lag mitten
in ber ©tabt, aber am obeften beg SDtarienptafceg. gn bie fidfyt=
bare SBanb biefeg ®afteng, bie ber 9Raudf) einer fonberbar tief ange-
bradjten ©dfjornfteinoffnung fc§toar$te, roaren eine Hjiir, einige unregek
mafcige genfter, unb oben unter bem 2)acf) eine 9?eif)e fteiner, Dierediger
Sodjer eingefdjnitten: Winter biefen 25d)ern, bie triibeg ©lag bebedte,
toofjnten bie angeflagten SRiffetfjater, ober 3)ie, toelcJje man bafiir tjielt.
Winter bem lefcten 2od£), an ber ©de, tooljnte ©ottlieb SBBenjel. 2)ie 3ette
an fid) fonnte itjm nid)t mi&faflen; benn fie enttyradEj bem 93itb, bag
feine Serbrecfjen-bicfjtenbe SJSfyantafie fid) Don einem SBotjnraum biefer 2trt
gemadjt tjatte. ©0 leer toie bie lonne beg 3)iogeneg roar fie nid£)t, aud)
fonnte man fie aufredjt burd£)fcf)reiten, toenn man fidj miibe gefeffen
ober munter gefdjlafen Ijatte („Dietteid)t fdjliefen I)ier Slnbere; id) nidjt/'
badjte ©ottlieb SBenjet); bagegen faf) Diogeneg burdj bie Deffnung f einer
Sonne mel)r Don Sltfjen, atg SSenjel burd) bag fiodj ba oben Don feiner
Baterftabt fa{j. S)enn bag fleine Ouabrat Derengten nod) bide ©ifen-
ftabe; bann legte fid) Don aufcen ber tjoljerne genfterratymen baDor; unb
bag bide, fjier unb ba faft erblinbete ©lag gab Don bem reinen Sidjt,
bag eg Don braufcen erf)iett, nur einen 93rud)tl)eil an ben „Unreinen"
ba brinnen ab. Stud) mufjte man Hettem, toenn man fein ©eficfjt an
bie (Sifenftcibe bringen toottte, urn ben ^farrfjof mit feiner fteinen ©piel-
fdjadjtetmauer tinfg, unb grabeaug ben riefigen, gotf)ifd) aufftrebenben
©au ber SKarientirdje ju fefjn, ber tutc mit cinem auggebreiteten 9Rantet
Don ©tein bie SBelt Derbedte. #immelf)odj ftiegen bie fcfjmaten genfter
an ben ©eiten auf; f)5f)er nod£) ber SSorbau iiber bem unficfjtbaren portal,
ber Don Senjetg „£onne" aug ttrie ein ungefjeurer I^urm erfdjien, fefc
nen fpifeen ©tadEjel in bie SBolfen boljrenb unb Don Srafjen umflattcrt.
Unten aber am gufe biefeg badfteinernen 3Jiard)eng fdjfief ber obe $Iafc.
©djubfarren unb ^anbtoagen ftanben umtjer, toie ©d)iffe im 9Binter=
^afen; Sebenbigeg betoegte fid) ljier nid^t. Dcnn eg loar ein SBodjentag,
unb bie Sird£)e gefdjloffen. Unb auc^ morgen tt)irb ein 2Bod)entag fein,
bad^te ©ottlieb SBenjel. Unb iibermorgen; — unb urie toixb eg enben . . .
(Sr fa^ einen 3Rann Dor fid), ben er bencibete. SMefer SDlann ftanb
an cinem feroen — getraumten — genfter in ber Sluter-Stra^e; er
f>atte feine $anbe red^tg unb ftnfg auf bie 3^ittinggf5pfc Don fleinen
296
2IboIf WUbvanbU
SDtabdjen gelegt, bie, auf ©tiif)te geflettert, iljre ncugierigcn ©efidjter an
bie ©djeiben briictten; unb er bftdte auf ben $Iafc ifjm gegeniiber tyin^
aug. 2lud) ein ftittcr $Iafc; aud) ein Sirdjenbau, bcr in bic 2Boffen
fticg. 9tid)t fo cbd gegliebert, ftrie bic 2Rarienfird)e ljier; nid)t fo bor=
nel)m in ein toedjfetnbeg ^runfgemanb Don glafirten unb matten, grim=
lichen, getblid)en, rotfjlidjen ©adfteinen gcflcibet; — obcr auf ben freicn
^Stafe bafcor fal) ein frcier 2Rann. (Sin SKann, bcr fcinc Stidjten unb
fid) fd)Ied)t unb redjt ernafjrte. Kin 9Rann, an bem gtoar bic „Xorte",
aber aud) bag SSerberben ftetg tooriiberging. Sin SWann, ber feinen
$augfd)luffel in ber £afd)e jjatte; unb bcr mitten in bcr SRadjt ju fid)
fagen fonnte: toofjin gef)n toir, (Sottlieb? (Sin SDlann, bent fcine fd)Iudj-
jenbe ©timme „®ain, ®ain" juricf; ber nidjt cinem ©d)u|}mann in bie
Slrme fiel, tt)cil Stmalie ©erring i^n ate SHtorber tjertoiinfdjte; bcr nid)t
ju fief) fagte: mitfd)ulbig bift bu, ©ottfieb
®enn nrie fann id) eg teugnen, fagtc SBenid, toieber auf fcincm
Sager fifcenb, bumpf Dor fid) Ijin. SBoju mid) belugen; toag Ijilft ba£.
3Jittfdju(big bin id)*, — bag l)at bie SBorfetjung tounberbar gefiigt, bafc
nun id) l)ier fifce: getfjan tjat'g ein Slnberer, aber „fcor ©otteg £l)ron"
mitfdjutbig bin id)! — SBarum badjte id) mir biefen Singling aug ber
grembe ttrie cin Ungetjeuer, bag man umbringen mufj. SBarum ftetttc
id) tljm nad) mit SWorbgcbanfen. JBarum toerlodtc id) ifjn auf fd)toebifd)e
Sriggg unb in ©d)led)tigfeiten, unb ftiejj iljm bann mein SDieffer in bic
Sruft, obcr toarf ifjn iiber SBorb! — Unb inbem td) bag ttjue, in bem
namlid)en Jtugcnblicf tout's ein Slnbrer aud). 3$ in ©ebanten, cr in
SBirflidjfeit. @r enttoifdjt, mid) ergreifen fie. 3$ ftetje ate SDidrbcr
ba ... SBenn bag nic^t ein feineg ©tiid, cin $Ian bcr SBorfefjung ift,
bann fcerftet)1 idEfg nid)t! — „2)u ©ebanfenfiinber," fagt bcr ©eift, bcr
bic SBelt regicrt; „3)u benfft, 2>ir !ann nidjtg gefd)ef)n; abcr td) faffc
®id)t ©ottlieb SBenjel, bic »Xorte« beg ©Itidg geljt oft am SKenfd^en
toorbei; abcr bic 93orfeI)ung nid)tl SBag ^attc 5)ir bicfer Singling gc=
t^an, bcr t)icllei^t unfd)ulbiger, beffcr tear ate ®u? ber in feincr a^nungS^
lofen $er$en3giite freunblic^cr ju S)ir toar, ate 3)u'g t)erbicntcft? ^attc i^
Slmalic 83crring nur fiir ®ic^ gefd^affen? ^atte id) fic S)ir iibcrgeben,
iiber fic ju toac^en, unb aQe ®ic in ©cbanfen umjubringen, benen fic
gcfielc? — 5)u ©ebanfen-^ain! 3$ ljabe S)i(^ an ben Drt gebradfo
U)oI)in 5)u gc^firft. ©iinbige nic^t tnicber in 5)cincm |>erjen: murrc nid^t
gcgen mi^l ©ci ganj ftifl, ©ottticb SBcnjet. grage nid^t, tt?ic eg enben
ttrirb. 3^ tucife, toit eg enben toirb; 5)u nit^t. SBart'g ab; murrc
nic^tl"
3n fotdjen unb a^nlic^cn ©cbanfen fafe 2Benjel ba; fo merging ber
lag. (Sffcn fonnte er nic^t; ©dtfafen tear unm5glic^. S)a(^tc er an
feinc 9lid)ten, fo fd)tnott ifyn bag §erj; bac^tc er an Slmalie, fo lief cr
©cfa^r, tnie cin Kinb ju tneinen ... 5)od^ bann ric^tctc cr fid) toieber
Per mitf^ulbtge. 297
fteifer auf unb fagte in fid) ljinein: „@ei ganj ftiH! SRurre nidjt!"
6$ wax enblid) bimfct geioorben, bod) bic ©teme fdjienen Dom unbe*
motften, ftafjlfarbigen £>immel Ijerab. Sr faft, DieHeidjt ftunbentang, unter
feinem Scnftcr unb traumte ju ifjnen l)inauf, fief) burd) pljilofopfjifdje
Setradjtungen ju erleidjtern fud)enb; julcfct crftauntc cr iiber cin ©efiifjt,
ba3 fciu £>ers betoegte: tiefcS aJlitteib mit Slmalie, baft fic tljren geliebten,
fd)dnen Singling oerloren ^atte. 3)iefen freunbtidjen, lebenSfrofjen, giitU
gen Singling; — bem cr fcin £er$ au£gefd)iittet, ofyte e3 ju afjnen.
3^m entfufjr cin fo fdjtoerer, lautcr ©eufjer, baft cr Dor bent unertoar^
teten Ion in ber tiefen ©title erfdjraf. 6$ war ifjnt auf einmal un*
ertriiglid), fo aQcin ju fein. Snbem er fcin feudjteS ©efidjt an bie
(Eifenftdbe feineS genfter£ brad)te, fudjte cr irgenb ettoaS SebenbeS ju
cntbedtcn ... SBer ftetjt bort? badjte cr.
(Sine grofte, toeiblidje ©eftalt, ben Sopf burd) ein bunfteS £ud) be=
bedt unb ba§ ©eftdjt Derfdjleiert, ftanb nidjt tocit Don bcr Sirdjentfjiir
unb fdjien f)eruberaufd)auen. ©ie betoegte fid) nidjt.
©ie fjat 9lmalien3 ©rtffte, badjte er. 3)od) toarum benf id) immer
an StmalicI 5)ie licgt ju &aufe auf bem ©opfja obcr im 93ett, ioeint
um iljn unb Derttmnfdjt mid). 93iefleid)t fifct tjier neben mir ein 9lnbrer,
ber glutfticfjer ift afe id); bcr cine Sicbfte tjat, bic Don unten Ijeraufs
feufjt. Unb toa$ fur ein etenber ©d)uft mag er babei fein ... ©ei S)u
ftifl. 3Rufre nid)t!
S)ie ©eftalt blieb nod) eine SBcilc ftefjen; bann Icgtc fie bic 2trme
ineinanber (ganj toie 3lmalie! bad)te er); enblid) ging fie langfam an
ber ftirdje f)in. 3)od) Don $eit ju Qtit ttmnbte fie fid) unb faf) nod)
juriicf. Seife tfjat e3 ifym tootjt, baft e3 bod) irgenb cinen 9Jtenfd)en
ftebc, ber fid) fur bie „©d)reiberei" unb il)re 93eiool)ner intcreffire; —
toenu aud) nidjt fiir mid)! badjte cr. 2113 fie an bie CSde fam, ftanb
fie nod? einmal ftitt. ©ie jog ein ©d)nupftud) fjeroor unb brad)te
e§, ben ©d)Ieicr liiftenb, an'£ ©efidjt; unb menu e£ nid)t bcr 9lafe gait,
fo fdjien fie ju toeinen. D biefcr ©ludli^e! murmette ©ottlieb SBen^cI
Dor fi^ ^in.
2)a3 £id)t eincr na^en Saternc fiet auf fic unb bag ©djnupftud);
hoi) ber ©c^Ieier lag nrieber U)ie juDor, Dom ©efid^t fonntc cr nid)t£
fe^en. ©a^ ©cf)nupftucf) cntfaltetc fic^ iiber i^rer £>anb. n?ar groft
unb bunt. SBic fam biefc§ grauenjimmcr $u eincm fo groftcn Iaf^cn=
tud) Don benfetben garben, n?ie ©r — ©ottlieb SBenjct — einS in ber
2af(3^e trug; tt>ie er bercn nod) Dier 511 £aufe f)atte: benn ba§ fed)3te
^attc er einmal, im ©djer$, 2lmalie 93crring gefd)cnft. Stm 3)reif5nig£s
tag war^; unb er fjatte c^ i^r gefc^enft, bamit fie nidjt longer iiber feinc
ungetjeuerlidjen ^©c^nu^f'Safen'' tac^en, foubern if)rcn praftifd)cn 3Bert^
fclber erlennen fotlte. SBic fam jefct biefe^ grauensimmer baju, fo cin
^Safen" in ber |>anb ju ^alten — —
298
Hbolf Wilbvanbt.
Sic tjob e£ empor, toie cine gafjne; ttrie menu fie e3 jeigen, bamit
ttrinfen rtJoHc. 5)ann fan! eg mieber, unb fie &erfd)toanb urn bic (Sde.
©ro&er ©ott! fagtc SBenjel laut. @r fanf auf fcincn ©tuljl. 3)a3
war Slmalie; obcr SlUeS liigt! %a, bag mar 2tmalic — — unb tone
ift e3 mflglid)!
VIII.
93i3 jum 2)unfettoerben ljatte Slmalie SBerring auf ifjrem Sett ge^
Icgcn; juiDcUcn mit gefdjloffenen Slugen, tt)ie toenn bic ©ettmfittofigteit,
au3 bcr fic int SJorjimmer bcr „©djreiberei" ertoadjt toar, toicberfdmc;
jutoeilen troftlo^ gcgcn bie Dccfc ftarrenb unb in jammer&otter Slarljeit
bcr ©ebanfen. ©ie tjatte fid) eiugefdjloffen; SRicmanb burftc ju tf)r.
@rft ate bic ©terne in bic Senfter fdjienen, rafftc fic fid) auf. $od) fte
fafe nod) lange auf ifjrem 93ett; trat enbtid) au3 bent ©abinet, in bem
fic fd)Iief, in ifjr aBofjnjtmmer, natjm il)rc Sampe t)om ©piegeltifd), giinbete
fic an, unb trug fic jum 94a§ttfd), bcr am genfter ftanb. tear cin
SScrlangcn iibcr fic gefommen, bie cine bcr bciben $t)otograpt)ien ju feljen,
bic fic in bcr ©djublabe be3 9tftl)tifdje$ fcerfdjloffen ^ielt; bic fic tdglidj
in unbetoadjten ©tunben fjerauSnaljm, bamit fic fic bci bcr Strbeit, bcim
Sefcn, bcim ftiflen S)enten toor Slugen fjabe. 3>er cine toax ifjr tfyeurer
„3Keifter" unb „93ttbner" ©ottlieb SBenael; h>er ber Slnbre tear, braudj*
id) nid)t ju fagen. 3)iefen tooflte fic fetjen. ©ic fd)tofc auf, unb mit
naffen Slugen blicfte fic auf bic beiben ^Ijotograpljien Ijinab. Stcben
®<J)eere unb gingerfjut lagen fic iibcr cinanber; ©ottlieb SEBcnjel lag oben.
3) id) toiQ id) nidjt fc^nl fagtc fic mit cincr fdjaubernben S3ett>egung.
$ain, Sain — —
©ic nafjm itjn in bic £anb, urn itjn toegjutoerfen. Snbem fie ifjn
fo gttrifdjen ben Singcrn fjielt, Dertoeitte iljr Stuge barauf; — o ttrie
anber$ ttnrb cr mir jefct, jefct borfommenl bad)te fic. @r fal) au£ bem
93ilbc tjerauS, if)r in'3 ©eficfjt; fein grower So^f fiitttc faft bie gange
$f)otograpI)ic. Ueber ber „2)enferftirn" ftieg ba£ juriiefgemi^ene $aar
bufdjig in bie f>of)e. ©ic fudjte e3 redjt mit SIbfdjeu anjubliden; in
biefem ungebanbigten ©elod fdjien fidj ifjr — ad), tjeute jum crften 3Ral
— cine Derttritberte ©ecle ju fcerratljen, bie fid) fonft fcerbarg. D, ma3
fiir ©cbanfen — fagte fic dor fid) f)in — toa3 fiir ©ebanlen ftedten
tjinter bicfer furc^tbaren, grofecn ©tirn — —
2td) mein ©ottl feufjte fie. 2tc^, unb bod^ fo *ne eble ©tirn. Unb
fo blin! unb blanf. ©ott im |>immel8ftrom, ttrie foil man fid) prefaunren,
menu bie ©d)fed)tigfcit in fo einem Sempel ©ottc§ tooljnen fann! S)iefe
grofee, btaffe Stafe, bie fo trcu^erjig 5h)ifd)en ben mageren Saden in bie
SBcIt Ijineinfie^t: „ift ba auc^ $Iafc fiir mid)?" Unb bie bunfeln Stugcn,
bie fo tief, ticf Winter ber ©tirn liegen, — tt)ie unter 'nem ^o^en, Ijoljeu
©iebelbac^; unb mie toefjmiitljig futfen fie mid) an. Scf) mag gar nidjt
Per fllitfdjulbige.
299
mefjr f)infet)en; tt>ir toirb \a toot ganj miferabel unb erbdrmlid) ju ©inn.
Sic tooflen mir'S ja tool rein jum SSorttmrf madjen, bafi id) iljnen nid)t
mefjr gtauben toill. Sldi), fie finb fo gut I Unb fo angegriffen Don bem
@d)reiben unb ©d)reiben, — unb fo e^rlic^ fucfen fie midE) an. Unb
bic bunncn Sippen. 2U3 fatten fic fid) na<J) unb nadj fo f cfjmal gemadjt,
writ ifjnen auc^ nur f carnal jugemeffen mirb; — ad), unb eg fam ja
audj immer mefjr ©uteS au3 itjnen tjerauS, al£ in fie fjinein! — 9lber
fte I&djrfn bodE) ein bifefjen; fo gutter jig. 2113 toenn fie fagen toottten:
„SieI fjaben to'xx nicf)t Dom Seben; aber Dergrdfct unb Derbittert finb mir
barum bod) nidjtl Unb fefjn ©ie un£ bod) nur an, graulein Slmalie;
fetjn ©ie 3t)ren alten Sefjrer unb greunb bod) rcd^t orbentfidj an"
2td)l feufete fie plofctidj, unb i^re leidjt geriiljrten Slugen fiillten fid)
mit Stjrdnen. $a, fie faf) it>n an. gort unb fort faf) fie iljn an; benn
er tfjat e£ auc§; unb er fdjien ju itjr ju fpredjen unb ju flagen. SSie
toenn er tcifc unb traurig fagte (toenigftenS badjte fie fidt) feine SBorte
fo): „2Bie fonneu ©ie fo fdjlecfjt Don mir benfen, grdulein Slmalie. ©etjen
Sie bod) l)er. Sine fjiibfdfje ©jtremitat {jab1 icf) freilidj mdjt; put unb
fein bin id) nidjt; aber SRorb unb Xobtfdjlag fel)n ©ie mir boc§ nid)t
an! $aV id? tool ein @eficf)t fur ©djtedjtigfeiten? Unb §aV \6) n\6)t
geljungert unb gebarbt, ofjne ju murren; unb t)ab' id) ©ie nid)t immer
lieb geljabt, oljne unbefdjeiben ju toerben; unb ^aben ©ie je ein SBort
oon mir geljSrt, ba£ nidjt unf^ulbig unb gut getoefen toare; unb toarum
glauben ©ie nun, id) fjdtte 2ljel ^almbtab umgebradfjt? $ab' id) 3tjnen
nidjt in ber ©djreiberei, Dor meinem 5Rid£)ter, unb Dor ©otteS Xfjron,
gefagt, ba& id) unfd)ulbig bin? grautein StmaKie, toarum glauben ©ie
mir nid)t? ©cljen ©ie mid) bod) an"
©ie fonnte iljn nicf)t meljr feljn, fein ©efidjt Derfd£)toamm itjr Dor
ben naff en Stugen. 2td), |>err SBensetl §err SQSenjet! feufete fie unb
flanb auf. 3)a3 93itb fiel if>r au^ ben gingern, auf ben 2ifc^. ©ie
liefc e^ liegen; — — id) toil! ju $errn Sunb gefjn! fagte fie auf ein-
mat. ^atte i^r nic^t Stjel ^almblab jumeilen, fo im SReben, gefagt:
„toie mein greunb Sunb betjauptet"? $atte er i^r nidjt tx^'dt)ttf ba| er
au^ URalmd fei, „unb mein greunb Sunb ift e£ auc^"? ^atte er fie
nidjt eine§ 9tbenb§, al$ fie au§ bem Sweater fam, nad? ^aufe gefii^rt;
unb toaren fie nid^t burd^ bie SoSfetberftrafee gegangen, unb tjatte if)r
nidjt 2tjel ^almblab ba§ griine (ScffjauS gejeigt unb gefagt: „ba oben
toofjnt mein greunb Sunb"? — 3d) tnei| atfo, rvo er tooljnt, ba^te fie;
na^m nid)t i^ren §ut, fonbern ein Xud), umpttte bamit i^ren So^f unb
bie runben ©c^ultem, banb fidj einen ©c^teier Dor^ ©efid^t, unb Iofd)te
bie Sampc au§. 3d) toitt i^n fragen, ob er nid)t£ Don 9tjel ^almblab
toeifi! bac^te fie im ©e^n. 2ld), unb |>err SSenjct acf), mein guter
$err ffienjel Ijat e§ nid)t gct^anl SSBie toar id) fdjled^t, tok tvax idj
f^Ie^t, ba§ id) i^m nid)t gtaubte. Std), tok Wax' c3 mogtid)!
300
2IboIf HMlbranbt.
©ie ftieg bic £reppc tyinunter, nafjm i^rcn ©ruber, cincn $naben,
mit, um ju bem frentben jungen SDtamt nidjt attein ju fommen, unb
ging in bie 9ladjt §inau3. ©3 toar f^at getoorben; bic Scuic obcr ftam
ben nod) Dor ben Xtjiiren unb fpradjen iiber bie ©affe Ijinuber, unb
Side fdjienen nur Don Sljel ^almbtab unb ©ottfieb SBenjel ju ft>redf)cn.
„3e, ber ift ja nun and) ein bifdjen tobtgeblieben", t)6rte fie einen ©pafc
madfjer fagen, ber im ©djurjfett auf ber ©djtoette ftanb. „(£rft Ijat cr
i^n abgemurfft, unb bann 'ringefd£)miffen", fogte briiben unter bem I^or*
toeg eine anbre ©timme.
Stmalie fonnte nidjt fjinfetjn, au3 toa2 fur einem 9Runb biefe ©timme
fam; fie tjatte e3 gem getljan, aber fie fonnte eg nicfjt; fo fefyr emporte
fidj iljre arme ©eete. ©ie brilcfte fid) iljren ©djleter gegen ba3 ©efidjt
unb ging rafdjer fort. D gemeine, gemeine SBeltl badjte fie (eg toax
ein 93er3 au3 einem ©ebidtjt) unb feufjte. 3)odj ba ftanb fie fdjon Dor
bem #au$ „feine£ greunbeS Sunb". 2td^ f fein Sidjt fjinter feinen
genftern . . .
3u tocm milnf^en ©ie? fragte eine alte grau, bie brinnen im £au§
auf ber %xtppt ftanb.
3u $errn Sunb! fagte fie Derlegen.
S)er ift fort, anttoortete bie grau.
SBo^in?
9lun, roofjin er gefjort! 3n fein ©<§toebenlanb ! 2)a mogen fie
\a toot alle mit $infeln ©eficf)ter auf bie genfterfdjetben malen; —
toenigftenS £err Sunb fyaf 3 ba oben auf meinen genftern get^an. SBenn^
nidjt ber Stnbre gettjan l)at, ber 9Jtufd£)e $atmbtab; ber nun ja tool in
ber SBarnoto liegt. - - h
2(malie jitterte.
3ft er nad) SKaKmo abgereift? fragte fie.
2Ber?
$err Sunb.
SBenn er nicfjt gelogen tjat, ift er tool nad) SKaftntf! S)enn ba
tooflte er Ijin!
3$ banfe S^ncn. 2tbieu.
93itte; feine Urfadje! SBenn ©ie iljm DieUeicfjt telegrapljiren
tootten (bie grau layette Ijotynifd)), fo metben ©ie if)tn nur audj gefal=
ligft, id) fjatte %$ntn gefagt, er toare ein — —
Stmalie toar fdfyon fort. 2)a§ lefete SBort tjdrte fie nicfjt meljr. ©3
ttjut and) nid)t£! bacfyte fie . . . Slber bie grau Ijat Sie^t, futjr iljr
burcf) ben Sopf: toarum follte id) if)m nid^t telegra^iren ... %a, id)
tetegraptjire! — ©o Diet ©elb ^abe ic^ ja nod^. 2113 id^ geftern §ernt
SBenjel bie fed)3 ©tunben 511 uiel bejatjtte ad), ber arme ©dander!
— — ba be^ielt id) ja nod^ mein SDionat^gelb. 3$ telegrapf)ire an
^)errn 2unb in SKalmo: ,,31^1 ^almblab toirb Dermifct; foH ermorbet
Per Ittitfdjulbige.
50\
in ber SBarnoto liegen. Ein^Unfefjutbiger tt>itb toerbddjtigt. Urn ©otteS
SarmJjerjigfeit ttriQcn, toa$ ttuffen ©ie bon ifjm? Slntmort bcja^It" ...
Unb ntcincn SRamcn fefee id) baruntcr . . .
3)u fannft nad) £>aufe gct)it; id) fomme balb! fagtc fie ju bem
$naben unb fd^icCte il)n fort, ©ic ftiirjte wetter burd) bie ©tra&en, bem
^elegrapljenamt ju.
2trme Stmolie! ©ie Ijatte tjeute fein ©tiid. 3m lelegrapfjenamt
toot fd)on bie Xf)ur gefdjtoffen; ber XageSbienft h>ar ju @nbe. Slants
bienft gab e3 fjier nid)t. 2td), roaS nun? bad)te fie Derjttjeifelnb, unb
uber bie runben SBangen roQten ttrieber Sfjrdnen. SBarten bis morgen
friifj! — 9ld), unb nun tooljin?
©ie lad^cltc auf einmal, e3 h>ar ein tieblidjeS Sddjeln; benn fie
ttm&te, mot) in. 3d) gelje auf ben 2Rarienfird)f)of, fagte fie ju fief); unb
futfe ein bi3d)en fjinauf nad) ber ©djreiberei. 93iettetd)t, ba| id) fein
liebeS alteS @efid)t an feinem Sudlod) fel)e; ober toenn aud) nid)t, —
id) bin ifjm bod) naf) — unb e£ ift mir bod) fo ju 3Rutf). „©d)teier,
©djleier, ber bu mid) berfjiilleft" Unb bann fef)1 icf) nod) einmat
nacf) ben 9tid)ten t)in. 2ld), bie armen, fteinen, magern 3toiHinge; bie
armen ©pirrfije: bie toerben nun jammern urn ben Dnfet ©otttieb, itjren
SJefdjiifcer unb @rl)alter ... %a, id) faring' nod) f)tn! — Unb bann
morgen friif) ba3 ietegramm an |>errn fiunb. ©agte nid)t Sljet einmat
ju mir — id) toeinte ja nod), aber er merfte e3 nid)t — : „toenn id?
fortgel)e, Slmetie, gel)1 id) pltffclid) fort; ol)ne 2lbfd)ieb, gerdufd)lo£;
tone eine ©ternfdjnuppe tjerfdjroinb' id) bann, ?lmetiel" — ©ott im
&immel! &ielleicf)t fjat er'3 fo gemad)t. 93ielleid)t ift cr mir fo babon^
gefiurrt ... 2ld), hue tv*r^ba£ gut. SBcnn e3 fo to&x\'*itf) tnollte ja
nid)t mefjr toeinen; nie, nie, nie follt1 er toieberfommen; — er foil tfjun,
timS er mill! 3d) fenn1 mid) ja tool nidjt mefjr. 3d) Bin ja root
in ben jungen SDtenfdjen gar nid)t mel)r fcerliebt! Slrmer 9Jldrtt)rer;
armer, lieber $err SBenjet. 2Bie fonnte td) nur fo fein, bag id) ben
jungen 3Benfd)en lieber fjatte, ate ©ie. 9ld), toenn er bod) nod) tebte
uttb in @d)toeben fafee — unb loenn ©ie mir oerseifjen fonnten — —
3d) ftette mic^ an ber 3Jlarienfircf)e ^in, unb ba bitte id) Sfyten ab.
8tc^, $>err SSSeniel! iperr SBenjet!
Unb fo ging fie f)in.
IX.
©te^en ©ie ru^ig, 2lngeHagter. ©e^en ©ie mid) an. ©ie fjaben geftern
nid)t geftef)en mollen; tjielleic^t finb ©ie fjeute SJlorgen in ber^Stimmung,
c§ ju t^un. ©ie fjaben fid) geftern nid)t erinnern fflnnen, too §err
^Pafmblab — ober fagen toir, ber Unbefannte — in'S SBaffer gef alien
ift; melleidjt ^at fic^ uber 9tad)t 3^ ©ebdc^tniB geftdrft. @d)ufemann,
©ie fonnen ge^n. ^at e^ fid) geftdrft?
Hot* unb 3ftb. VI, 18. 21
302
21bolf rDilbranbt.
9tein, anttoortete SBcnjcI.
©eljn ©ie auf btefen $errnl §crr ©djtoan, bet bem befagter 2tjet
^almblab tootjute, Ijat geftem Slbenb toon bem nodf) aljnungStofen SBater,
Saufmann ^almblab in SDlalmo, einen 93rief erf)alten: ber junge $txv
9ljet foil nacf) #aufe fommcn, cr foil fief) einem toiffenfefjaftftdjen Unter-
ueljmen aufcfjliefjeu; — f)ier ift bcr 93rief. 3)a8 roirb eine traurige
Ueberrafdjung fiir ben SSater toerben . . . SBir ttninfefjen ifjm toenigftenS
©ennfefjeit ju geben. 9Hfo too fafjen ©ie f einen ©ofjn — fagen ttur,
ben Unbefannten — in bie 2Barnoto fallen?
3df) roetfc e£ nidjt, anttoortete SBenjel.
©ie geftefjen and) fjcute ntd^t?
SSenjef fdjttrieg eine SBeile. £>err Senator, fagte er bann langfam,
— icf) fimnte S^nen \a bie ganje ©efd)idE)te erjaf)Ien, mie fie fid& ju^
getragen fjaben fonnte; benn fjeute Siacfjt f)aV id) mir'S burdjbadjt. SBenn
biefer junge ©djtoebe, ftatt ben beiben 2fnbern jftrifdjen bie $anbe ju
fommen, bamalS yia6)t$, am ©tranb, mir begegnet mare; unb toenn to'xx
unS iiber eine gettriffe ©adje au£gefprodf)en fatten — unb toemt bann
ber b5fe ©eift iiber mid) gefommcn toaxt, unb ber jungc SKenfdj midj
gereijt fjatte, unb er mid) triettetdjt angepadt Ijatte, unb id) if)n ioieber,
unb fo tueitcr bann tt>ar id? e§. Unb bann toiifcte id? audj toafyxz
fdjeinlicf), too er lage; unb bann hmrb' id^S fagen. S)enn meinem Kilter
entgefjn tooflte icf) bann nid£)t! 2lber nun ift'3 ein Slnbrer, — ober
3tt>ei; unb id) fte^e Ijier nidjt Dor meinem 9Rid£)ter, |>err ©enator. 3dj ent=
jicfje mid) meinem SRicfjter nicfjt. 2lber ©ie finb e3 nidEjt. Unb toenn ©ie aU
3nquirent mid) fragen, too er liegt, unb toer e3 getfjan f)at, fo anttoorte
id) ate gan& getjorfamfter Snquifit: $txx ©enator, icf) toeifj e§ nidfjt!
£>err Subtoig ©rotiuS blidte auf ben ttmnberlid£)en SRebner mit ges
tfffnetem SKunb unb fefjr unflarem, fragenbem ©efid)t. ©eine befte SBaffe
— fein getoofjnf)eit3maf$ige3 felbftgefattige^ Casein — Itefc if)n bieSmal
im ©ticf). 2)aun blidte er auf £erm ©djtoan, unb biefer auf ben ©e*
uator; unb fo fcf)toiegen fie aUe. |>m! #m! fagte enbticf) £err @rotiu§.
^leefattel, toa$ gibt'^? fuljr er fort, ba ber Sdjufcmann, ber ab^
gctrcten tt?ar, ttrieber erfc^ien. SBa§ bringen ©ie ba?
(Sine 2)epefdje, §err ©enator. 3)ringlicf).
9lun, fo geben ©ie Ijer!
3)er ©enator naljm fcin©ta^, flcmmte e§ in1^ Stuge, unbbffnetc bieS)e=
pcfd)c. ©cine fleinen Slugen ttmcfjfcn, iud^renb er Ia§. ®r pfiff oox 1)in.
tear ein Selcgramm au^ SKalmo, an ben ©enator Subtnig
©rotiu^ geridjtet, unb e§ tautete:
„©ud)en ©ie ben Srmorbeten in ber SBarnoto bei ber alten Satlaft^
Statte n?o bag frifd)get^eerte Soot am SoUmerf liegt bem Sufen ber
Scba gegenuber man begrabe ifjn"
Untcrjeid^nct: //2ei'a//.
Per HTttfd?ulbtge.
303
Sdjufcmann, fitfjrett Sie ben 9lngeflagten juriicfl fagtc bcr Senator,
bet fid) aufridfjtcte unb eincn triumpljirenb burdjbringenben Slid auf
§errn SBenjel marf. 93ig auf SBeitereg fii^ren Sie ifyn juriid! — &err
©djman, folgen ©ie mir, menn'g gefadig ift. $f)rc ©egenmart ift mir
erttmnfdjt. 2)raufjen fage idf) Sfyten metjr! SIccfattcI, ©ie fommen mir
nad), menu ©ie Ijier fertig finb. Unten erfafjren ©ie, mofjin. 2Reine
£erren, mir gefyn! SDteine $erren, mir gefjn!
2Bot)in geljn fie? badjte SBenjel beflommen unb faf) ifjnen nadf) . . .
3>odf) er fat) nidfjtg meljr; ber nod) jugenblicf) riiftige &err ©rotiug ftiirmte
fdjon fjinunter. Draufjcu fammelte fid) batb eine Sdjaar feiner %xa-
banten urn iljn. S)ie Heine ©eftatt beg Senatorg fcfjien gemacfjfen ju
feiti; ber ©lanj ber ©elbftjufrieben^eit ftraljtte Don tfjr aug. Bugteidf)
fdjien fie aud) bunfef il)re Sd)5nl)eit &u fitfjlen ... 6^ mirb Sidjt, $err
©djroan! fagte §txx ©rotiug oergniigt, matjrenb er mit #errn Sdjman
ooran unb jum Stranb tjinab ging. 9tadj unb nad); aber eg mirb 2id£)t!
2Bie merben tuir biefen armen 93urfcf)en finben; — eg mar ein
leidjtfinniger Strid, #err Sdjtoan, unb ein breifter Sdfjtinget; aber er
fjatte ja aud) gute ©aben, tjor' \6). 3tjre fdjflnen Sodjter merben redjt
beroegt fein; — bie meidjen, mitfitfjlenben grauenljerjen, $err Sdjman . . .
SJitte, geljn ©ie rafdjer. Slug SWalmo? 2Bag Ijeifct bag? Unb bie Unter;
frfjrift „2e£a"! SBer ift Seja? — S)enten mir bariiber nacf), menu mir
3eit baju tjaben. ®iefer gall, $err ©djman, mirb toon fief) reben madfjen!
9tur nidfjt aufgeregt; nur falteg 95Iut, — mie mir il)n aud) finben.
fatten ©ie fid? an bie ^anptfa^e: eg mirb 2id£)t, eg mirb Sidjt!
©ie fatten ben glu^afen unb ben $Iafc erreidtjt, too fie fudjen
foHten: bie etjematige 93aHaft=©tatte Dor bent 2ftond)entljor, too jefet eine
Slbjmetgung ber ©ifenbaljn ant Ufer ^inlief. £>oIjerne Serpen, SBalfen;
unb 93retters©tapel crtjofeen fidj neben bent ©eleife. SBenige Sdfjritte
Don ba, mo bie 93at)n enbete, lagen frifct) get^eerte 93ote in ber Sonne,
©in fleinereg tag fur fid), in nad£)fter Slii^e beg Soflmerfg, ben ©d)nabel
gegen ben gluft gefe^rt; — unb 1)ier I5fte fid^ bent ^errn ©enator bag
9ftdt^fel, marunt bie 3)ej)efd)e oont „S5ufen ber Seba" fprad). Sine grofee
Srigg, bie ben 9lamen „£eba" fu^rte — einen auf blauen ©runb ge?
molten ©d£)tuan trug fie ^inten am ©tern — lag fjier angefettet, am
Ufer entlang; ba, mo itjr 93 ug auf bem SBaffer fc^mamm, manbte if)r bag
Soot feinen ©djnabel ju. ©ie lag aber auf mefjr atg SWannegtange
Dom tjdl^ernen 95oHmerf cntfernt; eine mad)tige ©tange ^ielt fie bafcon
ab. S)ag bunffe, fdjmu^ige SBaffer floft ^ier alfo frei jmifd^en 93rigg
unb 93oUmerf; tief genug, ba£ man feinen ©runb nidjt fef)en fonnte;
breit genug, urn felbft einen (Slep^anten, ber fyier Ijinuntergemorfen
toiirbe, in fic^ aufjunefjmen.
3Jleine ^erren, bieg ift ber $Iafcl fagte ber Senator, aU 2ltteg, mag
^elfen fotlte (unb nod^ (Sinige meljr), ficf> berfammclt ^atte. ^err Sapitdn,
21 *
30<k ■« 2tbolf IDtlbranbt.
id) battfc 3^ncn fel)r, bafc ©ie fid) bemiifjen! SBenn 3f)re Scute bic 93ootd-
Ijafen fjier tjinunterlaffen, miiffen fie i^n finben. Sic ba, nid^t brangeln,
toenn idj bitten barf. SRulje! — $inein! |>inetn!
Stun? £aben ©ie iljn? fragtc er einen 9Ratrofen, ber Don ber
„2eba" fjer feinen tangen SBootdfjafen in bie Xiefe fenfte, toaljrenb 2lnbere
toom Ufer aud mit ©tangen unb SRubern fifd)ten. $aben ©ie if)n, ober
tjaben ©ie i^n nicfjt?
3d) ^dtte iljn tool, §arr ©enator, fagte ber 9Kann bebadjtig. 3lber
mir ift bad nur marftoiirbig, &arr ©enator, baft er toon $>otj ober
toon fonft toad ift; benn toeid) anfitfjlen tfjut er fief) nidjt, bad ift mat
getoife.
Stun, fo toirb ed ein ©tiid #oIj fein, unb fein SDtenfd). ©udjen
©ie toeiter, 3Rann!
Slber mir toare bod) beinatje fo, ate toenn er ed ioare, fagte ber
SDtatrofe, nad)bem er toon Steucm getaftet tjatte. S)enn ein Mofeed ©tucf
§olj, $arr ©enator, ift bad nid)t. Dad ift fo lang tote ein SDtenfdj.
©ott toarbamnt1 mid)! SBir follten ed bod) toot mal 'raufjieljn, bafi mir
fefjen, £arr ©enator, toad fiir ein ®iert bad ift!
Stun, fo jieljt ed Ijerauf, in bed leufete Stamen! fagte ber ©enator.
SJiele §anbe rii^rten fief) ju gleid)er 3^it, toom ©d)iff unb toom 83otU
toerf fjer; mit ©triden, ©tangen unb |>afen.
2ttte §anben afjot)! St^o^! rief ein alter SDtatrofe mit feiner ftngens
ben ©timme.
Cangfam erljob fief) bie ©eftatt — benn ed toar eiue menfcSjKdje
©eftatt, man fal) ed fefjon — aud ber triiben gfatfj. Stur ni<f)t fo nertoo£,
£err ©cf)toan; nur rugged Slut! fagte ber ©enator. ©in fdjoner Un-
blid ift bad nid)t — aber toad fjilffd
Spiofclid) erfjob fid) ein fraftiged, f)erjftcf)ed ©elaefjter, unb toon toirfen
©timmen. 2)ie fjoljeme ©eftatt bed §errn Subtoig ©rotiud, mit ben
toeifeen §ofen, bie aber ber ©djlamm untoiirbig beftedt unb befubett fjatte,
ftieg aud bem SBaffer an'd Stefjt bed laged fjerauf. ©inigc 3iegelftetne,
bie man if>r mit eincm ©trid auf ben 33aud) gebunben, urn fie fcfjtoer jit
mad)en, (often fidj 'unb praffeltcn in bie gtutf) juritd.
©ott toarbamnt1 mid), £>arr ©enator, bad fiinb ©ie! fagte ber SDtatrofe
unb greinte iiber bad ganje ©eficfjt.
§err ©rotiud betrad)tete fein ©benbilb — bad er iiber biefem ges
^eimnifetootten SWorb ganj toergeffen ^atte — mit tiefem ©c^itoeigen unb
fa ft bummem ©efidjt. Socmen fonnte er nic^t; aber ed erbitterte ifjn, ba^
aucf) §err ©c^toan Winter i^m ju lac^en anfing.
ffiad Pollen ©ie? ful)r er grdulein Stmalie 93erring an, bie in biefem
Stugcnblid ^eranfam, fic^ burd) bie fjeiteren SKenfc^en ^aftig §u i^m
brdngte, mit ben grofecn 2lugen itjn anftraf)tte unb ein SStatt papier in
bie §5^e ^ielt.
Der IHitfdjul&igc.
305
D $err ©enator, £err Senator! ©in Xetegramm! feudjte fie atfyems
Io£. D #err ©djtoan, £err ©djioan fiefen ©ie! tefen ©ie!
§err ©djtoan nafjm bag ©fatt in bie $>anb, ba ber berftSrte ©e^
nator umber auf ben triefenben, f)5tjernen Subnrig ©rotiug ftarrte.
„grdutein Stmatie ©erring ©tabt Sonbon ©tranbftrafje."
rf2tjcl ^atmbtab tebt unb ifct nebenan ©fitflinge mit ©iern ©rief
fotgt"
Unterfdjrieben: „2unb".
X.
©g toar Stbenb geioorben, unb nod) einmal 2tbenb. ©otttieb SSJeu^el
ftanb ttrieber, nrie toorbem, in feinem 3tntmer; feinem eigenen. ©eine
fiampe brannte; ber SReft eineg freunbtidjen fteinen Sot)tenfeuerg gtfiljte
nod) im Dfen. ©in aufgefdjtagener ©anb feineg getiebten ©fitter —
in ber Staler *2tuggabe — lag neben ber Stoftotfer ©fyronif unb bem
SRoftoder ©efangbud) auf bem ©djreibtifd). Die fdjone ©title beg 9lbenbg
rutjte braufcen fiber ber ©trafce unb f>icr fiber bem 3intmer; benn eg toar
fefjon neun Uljr, unb bie 3*mfHn9c fd)Iiefen. Unter ber gro&en, blau
unb toeifj geftreiften Dedc, bie 9tad)tmfifcd)en auf bem. $opf, lagen fie
tnieber gerdufdjtog, in friebticfjer ©intrant, toieber ttrie ein ein&igeg Status
gebitbe ba. ©ie atfymetett ebenfo regetmdfcig, aber befdjeibener, ate bie
alte SBanbut)r, bie toortaut, etioag fdjnarrenb, ticfte; biefeg einjige ©rfc
ftixcf SBenjetg — au&er ben 3^ittingen — unb bag einjige ©erdufd) in
fciner fdjroeigenben 3cDe.
©otttieb SBenjet tdd>eltc toetjmfitf)ig Dor fid) f)in. Da ftetyt er [a,
badjte er: ber SKann, ben id) fo beneibete, ate id) in ber ©djreiberei fa&.
Da fte^t er ja an feinem genfter in ber ©tfiter=@trafje unb fief)t auf ben
$etri-ftird)ent>tafe tjinaug. ©r ift frei mie ein ©ogef. ©r fann mit fei-
nem §augfd)tfiffet in ber Dafd)e ftrieten; SHiemanb nennt Ujn „Sain".
3liemanb toeradjtet ifjn. 9liemanb fd)tiefjt Winter if)m ju. Sftun, toarum
beneib1 ic§ iljn benn nidjt? SBarum ppft mir nidjt bag £erj „ttue ein Sdmmer^
fdjtoans", ba& id) fetber bie ©Ijre fyabe, biefer SKann ju fein? — Dag
ift ja bod} toot eine grofjc ©adje. 3Ber beneibct benn ben ©otttieb SBenjet
nidjt. ®r fann nun ttrieber abfdjreiben unb ©tunben geben, faften unb
ptjantafiren, Stlteg toag er to\U. Stiemanb ft5rt il)n, ttjenn er einfam ift.
Die atte ruppige ©tafe fann ttrieber fitr fid) attein obenauf fdjttrimmen,
— big fie ptaftt. Smmer tuftig! 2tyot)!
®r tegte fein ©efid)t an bie genfterfdjeibe unb fa^ in bie trfibe
Slac^t. ©c^ttjarj mar bie ffiirdje, fternentog ber ^immet; benn ein SBolfens
fad Derpttte i^n. Sauttofer, feiner SRegen fpruf)te unauf^orti^ t)erab.
SEBcnjet bad)te an %xan ©djtoabfe, bie nun in bem fatten SRegen burc^
bic ©trafeen jog, urn nod) ffir i^n ju f}oten — er ^atte toergeffen, toag;
unb an 8lmatie ©erring, bie nun tool in if)rem bunfetgrfinen Steib in
306
a&olf IDUbranM.
ifjrem 3immer fa§. 3)ic cr nidjt toiebergefefjn, feit ftc ifjn Sain genannt
tyatte; — „bie nun aud) gan$, ganj Doriibergegangen ift", badjte cr unb
feufjte . . . 2Ba£ fiir ©cljritte famcn bcnn tool jefct bic ftitte Strafe
tyerunter? SBaS fur cin luftiger 3unge pfiff fid) ba bic SMobie Dom
Sungfernfranj, unb erfdjien auf bcm aufjerften SRanb be£ XrottoirS, too
cr bic 2trme fjob, urn fid) auf ben fdjmalen ©teinen im ©leidjgetoidjt 3U
erljalten? Unb toa£ fiir cine grofje toeibttdje ©eftalt ging neben bcm
Sungcn f)in? blieb bann oor ffienjelS $aufe fteljen, madjte i^rcn Stegen-
fdjirm ju unb fat) jum genfter fjerauf? — —
3d) bin ja in1^ Sinter juriidgetreten; toarum tljat id) ba3, badjte
©ottlieb SBenftet. @r Ijordjte, unb cine fciner §anbe legte ftdj ifjm auf'3
^erj. 2)ie Heine ©(ode an feiner £>au3tl)ur erflang; hue attentat, toenn
man fie offnetc. ©djritte auf fciner Xreppe. Seine Xfjiir ging auf.
Slmalie 83erring, in #ut unb 3Rantet, erfdjicn, ben Stegenfdjirm in bcr
£>anb; Ijinter iljr ber 3ungc, iljr Sruber, cinen Sorb am Strrn.
©efjen ©ie nid)t f)crf £err 3Ben$el, fagte Slmalie, mit bittenber,
toeidjer ©timme, unb blieb an bcr Ifjiir. ©eljn ©ie midj nic^t an.
SBIeiben ©ie ba nur fteljn!
SBarum foil id) fjier fteljen bleiben, fragte cr, — ebenfo Derlegen
toie fie.
3d) fc^ame mid) fo . . . ©eftern Ijatt1 idj nidjt ben 3Rutf); Ijeute
SJiorgen aud) nidjt. 9lun bin id) enblid) l)ier . . . ©efjen ©ic meincn
£einrid) an, toie fein SRotffdjen naft ift. S)enn cr toolltc ja urn $ttte£ in
bcr SBSelt feinen SRcgenfdjirm neljmen —
S3 brippelt ja man b(o3! fagte ber 3unge t)crac^t(id).
©ib S)einen Sorb Ijer, ipeinrid), fufjr ba3 SJJtabdjen fort, ©telf iljn
auf ben £ifd)! — 9tamticl), id) badjte, §err SBenjel, ©ie effen fo gem
faureS ©anfefleifd), unb toir fatten tocld)e£. Unb e3 tljut Stynen fo gut,
toenn ©ic SBier baju trinfen; — unb toenn ©ie midj nidjt Ijaffen unb
Deradijten 2ld> t^un ©ie^ nid)t, &err SBenjell adj, tfjun ©ic'3
nidjt! fefcte fie mit cinem flefjenben, feudjten 93tid ^inju.
SBie lame id) baju? ertoiberte cr, bcm bic Seljte fic^ jufammen=
fdjniirte. 2tuc^ ttjarf er cinen Slid auf ben Suttgen; toie fonnte er bcnn
Dor bem S^ngen reben. 9tef)men ©ic boc^ $lafc! fagte er nad^ ciner
SBeite, urn etmaS ju fagen.
3>odj ba§ SKabc^en blieb fte^n. SBie fie fdjlafen, bic beiben Ileincn,
magern ©ngcl! fagte fie geriiljrt. S)ie toerben c^ nun aud) beffcr ^aben,
ipcrr 2Benjcl; benn ba£ mu§ ic^ 3^uen nur gleidj fagen, unb ba« toirb
©ie freucn: ©ie mcrben ja toot nod) tuoI)ll)abenb, ^err SBcnjel! Unb
©ie toerben ja tool nod) ein berii^mter SKann! 3n bcr ganjen ©tabt
f pridjt man nur Don 3^nen, unb ba§ ©ie al§ SK5rber im Srummbarlod)
gefeffcu ^aben, aber baft c§ nun Hipp unb Har ift, bafe ©ie unfc^ulbig
finb. Unb bie fd)5nften jungen 3)amen f^toarmen nun Don 3^nen —
- — Der IHitfdjulbige.
507
Iddjeln ©ie bod) nicfjt fo — unb toiffen Dor 3Ritgefiif)I xtic^t r toie fie
fid} fjaben fottcn; unb jefjn au$ mcincr SBefanntfdjaft, lautcr jungc IDtftbs
djen, tootten partout gemeinfdtjafttidj ©tunben bci S^ncn neljmen, beutfdje
Siteratur, unb ®efcf)i<f)te, unb aUerfjanb! Unb toa3 bcr $enfion3fcatcr
»on — t>on ifjm toar, bcr #err ©d)toan, bcr toil! ©ie fur fcine jungen
9fu3tdnber at3 beutfcfjen Scorer fjaben —
©ie fpafcen toot! fagtc SBenjet mit 9Kuf)e; bod) cr ridjtete fief)
untoittfurlicf) ettoa$ fjoljer auf.
3d) toar' tool nidjt re<f)t bci Iroft, toenn id) jefct fpafjen fimnte!
crtoibcrtc ba$ SDldbdjen. D £err SBcnjcU — — Unb fjier §aV idf)
aud) cincn SBrief, ben ©ic lefen miiffen; fyeutc Slbcnb gefommen . . .
©ctjtt ©ie micf) nid)t an. Sefen fic ifjn; id) !ann ja ben Sorb untcr^
beffen au3paden; — ift audj cin SiSdfjen jum 9iaf djen fiir bie 3toiHingc
bttn. ©efcen ©ic fid) an bic Sampe; fefjn ©ic micf) ni<f)t an I
SBcnjcI nafjm ben 93rief. (Sine jugenblidje, fliidjtige £>anb fjattc
iljn gefdjrieben; balb mit grofcen, toeittdufigen 93ud)ftaben, balb fteiner
unb gcbrdngt; fcinc tftci^e lief toie bie anbere. „©egeben SDlatmo, im
4?aufe meine£ SaterS", ftanb obenan. SBenjct trat jur Sampe unb lag:
„£iebe3 grdutein 9lmetie! SBie fagte id) 3^ncn einmal? »2Bie
cine ©ternfefjnuppe toerbc id) t>erfcf)toinben« — — unb fo ift e3 ge-
fommen! — — ftdnnten ©ic in bic tieffte Xiefe be3 unermcfclidjen ?tbs
grunbS meiner ©eete bliden, fo toitrben ©ie midj acfjten, grdulein
2tmelie; ja ©ic toiirben mid) betounbern, bag id) mid) fo au3 bem
^arabieS meineS 2eben£ toSrifc; — - aber ©ie feljen nidjt bi3 in biefc
liefe, unb id) fann'3 3^ncn nidjt fagen. Sietteidjt tocrben ©ic mir
menials toerjeityn; unb icf) mufj e3 tragen. SftutjetoS, toic bisfjer, toerbc
id) tociter burd) ba3 Scben ftiirmcn; of)ne cine anbere £eimat, ate bic
be£ ©ebanfenS unb ber SBiffenfdjaft, — benn e3 toirb nun ©mft; itjr
fflummeQafjre, iljr feib nun bafjin. 3d? tocrbe arbeiten, 2lmelie, mid)
jum SRanne fdjmieben; rufjetoS aber toirb mein irrenbeS 2cben fein;
eine jarte, toeicfje ©ecte ju begliiden bin id) nidjt gefdjaffen. Studjen
©ie mir ni<f)t, ?tm6lie, fonbern fegncn ©ie mid); fagen ©ie mir, bag
©ie mir toerjeifjn!
3cf) fjabe nod) ben ©enator Subtoig ©rotiuS in ben ©trom getoorfen,
unb bann §aV ic^ ben Drt t>erlaffen, too id^ fo gtucftid) toar
SBcnn biefer SBrief in 3^^ ^dnbe fommt, toirb man tool ben f)itf$ernen
£erm mit ben toeigen £ofen fc^on gefunben ^aben; unb ber mir unbe*
fanntc Unfc^utbige, Don bem ©ie telegrapljirten, ber mid) Ungtiidlicfjen
>ermorbet« ^aben fottte, toirb toicber in g^ei^eit feincm ©<f)5pfer
banfen! — 2filr mein fiinbfjafteS SScrge^n an ^errn ®rotiu§ bin idf)
bereit eine ©elbbuge ju ja^Ien; cine grei^cit^ftrafe ncin! 3)a$u
friegt man mid^ nid)t! $oIisci= Senator, toir finb quitt; Icben ©ic
etoig too^I!
308 a&olf tDUbranbt.
3d) bteibe nid)t in SDtatmd. 3Rein 93ater — obcr toie il)r 3)eutfd)ett
fagt, mcin 2lltcr — mitt cincn grofcen ©eteljrten au3 mir madjen; id>
foil mitgefjn auf cine toijfenfdjafttidje SReife, unb id) gefje mit. Stc^mctt
©ie benn mcincn 3tbfd)ieb3gru&, fjotbe 2tmetie; — unb griifcen ©ie mir
nod) (Sinen, tfjeure 2tmelie; eincn »famofen $ert«, toie bic 2)eutfdjeit
fagen; cincn SJlann, ben ic§ tiebe. %<fy fann S^ncn nid)t fagen, lute cr
fjeifjt; abcr ©ie fennen ifjn. 2tn cincm 3ting mit cinem 9hibin barm
toerben Sic itjn erfennen; — bicfen 9ting erlanbtc \6) mir i^m an ben
ginger §u fteden, auS Uebermutf) unb au3 greunbfdjaft; menu cr cine
grofce ©eete ift, toie id) Don ifjm gtaube, fo befjatt cr ifjn — benn barum
bittc id) — unb »t)erftopft« iljn, unb e§ befontmc ifjm toofjt! 3$ niodjte
redjt Don $cr$en gem, tt)eure Slntelic, bafs biefer »famofe ®ert« enblidj
gtiidtid) toiirbe. mddjte, bajj bic lorte nidjt toieber an iljm Dor-
bcigingc. ©agen ©ic ifjm ba§ ©ie abcr, toerjeitjen ©ic mir,
unb leben ©ie toofjt! — —
3d) lege ein beglaubigteS Scbcn^cugnife bet, bamit bic ®erle (id)
meine, bic ^otijei unb bic fjofje S^ftij) nid)t ettoa 2)cn auff)dngen, bcr
mid} ermorbct Ijat. 3Rcin Srcunb Sunb frufjftiidt nebenan, unb empfiefjtt
fid) %§ntn unbefannter SBeifc. D 2tmelie! D 9lmelie!!l ©utc
Slaty!"
Stmatie ©erring fal), bag £err SBenjel auSgetefcn fjattc. #einrict}!
fagte fie. SKein Singing, toittft 2)u nid)t einmat ba brauften bie %xtppt
gum ®trd)f)of fjinauf taufen unb iibcr ben $Iafc an bie (Sde gefjn, too
bag ©lutersSenfmal ftet)t? unb mir au3 bem 3mmortettenfrans, bcr ba
am $oftament tool nod) liegen toirb, brei ^mmortcHen pftixden? 3$
fjab' ben Sranj neutid) fjingetegt — —
®er Snabe toar fdjou au3 ber Ifjiir. SBcnjel fjatte fid) auf cinen
©tutyt gefefet, ben 93rief nod) in bcr &anb. ®r fjdrte, ba& 2lmalic fid)
if)m naf)crte. Pflfctidj fat) er, toie fic toor iljm in bic Sniee fan! unb
feine linfc #anb nafjm unb an bie Sippen briidtte.
©inb ©ie toll? ftammette cr unb ftanb auf.
2td), id) m5d)te mid) ting^ unb tangS t)or 3^nen ^intocrfen, fagte
fie jcrfnirfdjt unb gerii^rt. Sie fonnf ic^ fo f^Iety »on Sfjnen benfen,
§err SBenjct. ©c^lagen ©ic mid); tiityig ... 2lber toenn ©ic mic^ gc-
fc^Iagen tjaben, feien ©ie toiebcr gut!
@r jog fie in bie $ot)e, ba fic noc^ immcr nid)t aufftanb. SBag
©ie aud) Ijeute aKc§ reben! fagte er ganj t)ertoirrt. SBarum follten
©ic nidjt f^tcd)t Don mir benfen; 2ttte£ fpra^ ja bafiir, ba§ idj mit^
fc^ulbig toar
©ie fepttette ben Sopf. S^re ©c^ulerin, S^re S^re
9lmalie, burfte ba§ ni^t benfen! 2Bie fonntc id) nur fo fein . . . D
toie fc^am' ic^ mid). — 2lber i^ bin bodj auc^ ni^t fo f^tec^t, toie
©ie nun toot glauben. ©cf)n ©ic biefen Stuff afc, £err S33enjel: ben ^ab'
Der IHitfd?nlbtge.
309
id) fjeute URorgen gefdprieben, ati id) fo traurig in mcincr ©tube fa&.
9iid)t „tiber bic toeiblidjen Xugenben", ttne ©ie mir'g aufgegeben fatten;
fonbern „iiber ben 9tufcen unb ©egen bcr $f)otograp{)ie". 2)ag §aV id)
mir felber aufgegeben, Jperr SScnjcI; unb ba f)ab' id) bic ©efdjidjte er*
jatjlt, toie cin SDtenfdi), bcr an cinem anbern SDtenfdjeu irrc getoorben
roar, jufaflig bic $l)otograpl)ie biefeg anbern SRenfdjen Dor bic 2Iugcn
natjm unb fief) barin ttueber juredjtfanb; — unb cincm bummcn SKdb-
cfjen ift eg fo gegangen. 9ld), fefen ©ie'g bod), £err Scnjcl
3d) la£ fdjon ju t)icl! fagte cr unb bcutctc auf ben 83rief.
@g ift ja aud) Don 3f)nen in bem SBrief bic Sftebe; mu&ten ©ic
iljn nidjt lefen? — — Slmatie trat Don tym fjimueg unb an'g Softer,
alg fatje fie IjinauS. ©ic fd)ien ju marten, mag er iiber bicfen SBrief,
iiber ajri ^Salmblab unb fo roeiter, iljr nun fagen merbe. 2)od) SBenjel
fcerticfte fid) nur in ben toe^mutf)ig;tr5ftUcf)en 9Tnbtid ifjrer ftarlen,
fcfjonen, bfonben glcc^tcn unb ifjreg toofjlgeformten Student, unb cr^
roiberte nic^tS.
SBir fricgen ja root bcibc bag ©tillfcfjmeigen, fagtc bag 8Jlabd)en
enblid). Unb ba fommt §einrid) fdjon jurud! — 3d) motif S^ncn
nod) fagen, #err 2Ben$el (fie btieb abgemanbt ftefjn): id) t)ab' Diet ge*
roeint iibcr ?t£el Spafmbfab; — abcr mie mir bann ber ©cbanfc tarn:
metteidjt ift cr bir nur fo meggemutfdjt — ate ©ternfdjnuppe, tute cr
fagt — ba {jab* id) nid)t mefjr gemeint. 2)a Ijab1 id) auf einmal ge*
badjt: ad), menn'g boc§ fo ttmre; unb menn id) bocf) auf bicfen Slbmeg
nic geratfjen mare; — unb mie menn man cinen biden, fdjtoeren SKantet
augjiefjt, fo mar eg fort! Unb id) banfc nun ©ott red)t toon
#er$en, bag eg fo gefommen ift, #err SGScnjel, mie — mic eg gefommen
ift; benn — — id) f)ab' in tnein 3^^ gebtidt, |>err Stengel. Safe
bicfer 3iingling aug ber grembe, mie ©ic fagen, mid) Dertaffen fjat, bag
tfjut mir nidjt met). 9lber menn id) ©tc Dertoren fjatte, meil ©ic mag
Unred)te3 getfjan fatten — obcr meit ©ie mir nidjt Dergeben fatten —
nic, nic, nic fjatf id) bag iibertebt!
3dj banfc S^ncn, murmette cr geriifjrt.
Sietteidjt t)attc er nodj mc^r gefagt; abcr bcr Snabe trat nun mie^
ber cin. ©r ^atte brei SntmortcHen in bcr £anb. Srodcn finb fie nidjtl
fagtc cr unb fdjiittette fie.
9lun erft menbetc fief) 9tmalie; ging bem Sungen entgegen, na^m
i^m bic naffen 93Iumen aug bcr §anb unb tarn bamit ju ©ottlieb SBScnjcI
juriid. SBiffcn ©ic bag noc^, fagtc fie mit it)rer ^erjtic^en, bemegten
©timmc, mic ©ic mir fo fd)5n Don bicfem atten ©fitter aug ber Sut^erjcit
crja^Iten; Don bem SReformator unfrcr altcn ©tabt! S)arum ^ab' ic^ i^m
aud) neulid) bicfen Sranj gebrac^t . . . ©ie finb me in 9teformator; —
ncin, ladjen miiffen ©ie nic^t. ©ie t)aben mid) bummcg SJlab^en auf 5
gctoedt, unb mic^ beffcr gemadjt unb ©ic fottcn mic^ immer, immer
3\0
2IboIf Wilbxanbt
beffer madjen; unb ba3 toil! id) Sfynen ja nut „burd) bic 93fume" fageu.
2lcf) neljmen ©te fie bod) f)in!
(SuteS grdulein
Unb nun effen ©ie! — $omm, SBriibing; toix gefjn!
SSBoUen ©ie fdjon gefjn?
2ldj id) mufj ja tool; fdjidt e3 fi<$ benn, baf$ id) tdnger bleibe? —
9tber ©ie fommcn ju mir . . . Sieber ©ott, toie bie fleinen Singer
fdjtafen unb fdjtafen, tod^renb toix reben unb reben. ©eben ©ie mir eine
fcf)5ne $>aub, toenn ©ie mir ttrirftid) oerjeiljn —
©o fd)5n, tt)ie id) fie tjabe! fagte SBenjel Iddjelnb.
©ie Ijielt feine #anb, unb fo ftanb fie bei if)m. Seife fagte fie:
Unb %$xt Heinen Snrittinge ttritt i<$ nie toerlaffen! 3$ Witt iljnen toic
eine lante fein ober tote ©ie tootten. 3$ nennc mid) aud) nie
metjr 9lm6tie; fonbern Sfmalie ... £), toie fetjn ©ie mid) an. SSenn
ba£ £einrid) fief)t — —
#einrid) ftanb in ber Ifjiir. ®ommft S)u benn nidjt? fragte er
ungebulbig.
©ute Stadjt, gute 9tad)t, $err SBenjel! fagte fie nun laut. Unb
lefen ©ie meinen Stuffafe iiber bie $f)otogra#)ie ! Unb toenn ©ie iljn
mir bann bringen, fo fagen ©ie mir, toaS — toaS nod) baran feljlt;
toa3 id) nodj ^injufefcen foil. 3d) bin ja %t)xt getjorfame ©djuterin, id)
ttjue ja, toa§ ©ie tootten. ©djlafen ©ie fd)5n! ©ute 9iad)t!
©ie ging t)inau£. 3)ie Xtjiir fiel Winter ifyr ju. SBenjet ftanb mieber
attein in ber (Sinfamfeit. 3)od) ein fonberbareS, aufgcregteS, jugenblid)e£,
fd)todrmerifd)e$ Stidjelu ging ifjm fiber's @efid)t . . .
@r falj ben £ifd), bie SBefdEjeerung, bie bie gute Stmalie ifjm au£^
gepadt, auf bie er nod) feinen Slid getoorfen tjatte. 3toifd)en gleifd) unb
93ier ftanb eine Heine SDtarjipan^orte, Don 93Iumen unb Qp^eu befrdnjt.
@in befdtjriebeneS SBIatt lag barauf. Sr natjm e3 unb Ia3:
„93erfe t>on @iner, bie 'S nid)f fann; o toerjetfjen ©ie!"
„$)u liefceft midfj einft in 3)ein $er$e feljn:
SSiele Xortcn fa^ft 3)u STrmer an $tr fcoriibergefjn.
3d) get)' nid)t fort, idfj blcib' Ijier ftefjn.
S)u mufct mid) nur aud) redjt Derfteljn.
9Iuf 2Bieber)etyn!"
Seffing in (England
Von
— £eip3ig. —
ion unfern grofeen 2)id)tem be3 fcorigen Safyr^unbertS fatten
biztyx nur ©oetlje unb ©fitter it)re Siograpfyen in Sngtanb,
ber §eimat unferer angetfdd)fifdi)en ©tamme^&ettem, gefunben.
J Seffing ermangeltc eineS foldjen. burfte ba3 SBunber ueljmen,
nidjt aHein, rocit Seffing berjenigc bcutfd)e @d)riftftetter tear, bcr jucrft
©f)afefpeare3 Ijot)en ©eniuS feinen 2anb3lcuten ganj erfdjloffen unb fo ju jener
ticfen unb DerftdnbniB&otten SSerc^rung beg grofeen brittfdjen 5)ramatifer3
ben ©runb gclegt Ijatte, in toetcfjer 2)eutf d)tanb beinafje beffen eigeneS
SSaterlanb iiberflugclte, fonbern aud) be£t)alb, met! SeffingS eigner frdftiger
unb burdjauS reatiftifd) angelegter ©eift fcorjugStocife, fotlte man meinen,
gerabe bem engtifdjen toafyt&ertoanbt unb fampattyifd) I)dtte fein miiffen.
©djon bor mef)r ate 50 3a^ren tfyat Sarnie, ber feitbem eine fo grofce
literarifdje 2lutoritdt in ©ngtanb getoorben ift, ben 2lu£fprud): „giir Seffing
ntufe ein (Srtgldnber bie ftdrf fie 3uneigung fifteen unb man mufj fidj nmnbern,
bafc toon biefem 3Jlanue nod) fo toenig bei un3 befannt ift." 2tber e£ be=
toenbete bei einem Strtifet iiber SeffingS Efjarafter unb SBerfe in ber Edin-
burgh Review 1845; ju einer umfdnglid)eren 83iograpfyie fam e» nidjt.
3>cfct enblid) ift biefc Slide auSgefitflt, unb jroar in miirbigfter SBeife.
3e fpdter bie Stnerfennung, toetdje ©ngtanb biefem britten unferer gro&en
©eifteSfjetben fdjutbete, nadjgeljolt morbeu, befto fcottftdnbiger ift e3 nun
gefdjeijen. 3)a3 ftattlidje SBcrl be3 (SngldnberS %amt$ ©ime iiber Seffing*),
Jtoci ftarfe Sdnbe, ift ein g^renbenfmat fitr ben beutfdjen S)ic^ter unb
*) Lessing, by James Sime. 2 volumes, with portraits. London, Triibner
& Co. 1877. ($te $otttat3 finb bie ^ejfingS unb jeiner fpatern ©attin @&a $5nig.)
(5Hne beutfdje SBearbcitung be3 2Berfe3 erfc^ien foeben unter bem Xitel: (5.
Sejfmg. (Sin SebenSbilb. Wad) 3ame£ 6im^ k. fret becirbcitet Don 2lbolf
GtrobUnann." Slutoriftrte beutjdje $u3gabe. SBerlin, 1878, 91. §ofmann & (So.
3\2
Karl Biebermann in £ctp5tg.
Deufer, aber and) fur ben 93iograpt)en, ber fo Diet Steifc, ©riinblid)fcit
unb toarme $ingebung feinem ©egenftanbe jugetDenbet t)at.
3n gettriffcr #infid)t iibertrifft biefe 93iograpl)ie Seffingg Don ©ime
bic gleidjartigen Strbeiten Don ©arfyle iibcr ©fitter unb Don 2etoe3
iibcr @oetf)e. Earfylcg SBudj iiber ©djitler ift bcr ©rgufe eineg bidjterifdj gc~
artcten ©eifteg iibcr cincn Don il)m entt)ufiaftifd) bctnunbcrtcn unb Der=
efjrten l)5f)eren ©eift, an njeld)em cr felbft fief) tfjeittneife tierangebilbet,
burcf) beffen ©trafjlen er fid) bcfcucrt t)at; eg fjat bie SBorjuge, abcr aud)
bic ©d)tt)dd)en eineg $anegt)ricug; bcr SBiograpl) ttrirb felbft junt Sifter,
abcr cr Dergifjt bariibcr bigtoeiten ben Sritifer unb Siterarfjiftorifer; cr
ift ganj in feinen ©egenftanb Derfenft, faft ju fefyr, urn if)n in geljorigcr
Scrnc ru^tg unb objectiD ju betradjten. 2)ag „2eben ©oetfjeg" Don 2ett)e§
bictet cine SKenge geiftreidjer, oft gldnjcnbcr Slper^ug mit manc^cn treffenben
SBiufen, manc^cn fdjarf cinbringenben 93eobad)tungen iibcr ben St)aralter
unb bag ©enie beg 3)id)terg, abcr eg ift mel)r eine Sftetfyefotge feuiHcton=
artiger Slrtifet, bic if)r Sterna Don ben Derfdjiebeuften ©eiten Ijer in'g
2idjt ftetten, atg eine ftetig fortfdjreitenbe, organifd) fief) gliebernbe ®ar~
ftellung. ©imeg „2effing" fonnte man Dietteidjt I)ier unb ba betnafjc
ju augfiiljrlid) finben, ju feljr in atte, audj bic fteiuften ©in&etf)eiten
beg 2ebenggangeg unb ber fd)riftftetterifd)en Ify&tigfeit feineg $elben ein=
bringenb, ju tangc babei Dertoeilenb. SSir biirfen inbefc nidjt Dergeffen,
bafj eg ifnn gait, feine 2anbgleute mit einem ©eifte befannt ju madjen,
ber ifjnen big ba^in nod) jiemlidj fremb getoefen. SBcnn biefe 2anbgfeute
beg SBerfafferg, bercn ©efcfjmad er jebenfatlg fennt, mit berfctben ©ebulb
unb *J5ietdt 2cffingg Seben unb SBirfen big in feine feinftcn $etaife an ber
|>anb beg SBerfeg Don ©ime ftubiren, mit tneld)er tefcterer felbft biefeg S)etatl
jufammentrug, fidjtete, orbnete unb ju einem toof)tabgerunbeten ©emdlbe
oerarbeitete, fo fonnen loir ung bariibcr nur freucn im Qntcrcffc unfereS
grofcen 2)id)terg, Sritiferg unb ^fjilofopljeu, ber iljnen baburd) innerlidjft
Dcrtraut unb lieb tuerben muft. Unb mit SBergniigen Dcrne^men tDir,
baft ©imc3 S3uc^ in ©nglanb rafd) 3tnflang unb SSerbreitung gefunben
§at. Uebrigen^ Derliert ©ime nicmate iibcr bem reidjeu S)etail, ba§ er
Dor un£ au^breitet, bie grofecn aflgemeinen ©efid^t^unfte aug ben 2lugenf
Don benen au^ erft bag red)te Sid)t auf fold)c ©injcl^citen fdttt.
Sin befonbercr SSor^ug be§ Suc^cg ift eg, ba§ bcr Serf. be£fet=
ben bie Siteratur iibcr Seffing, befonberg auc^ bie monograpljifdie, mit
ciner namentlic^ bei einem Stugtdnber faft ftaunengtDert^cn ©orgfatt Der^
fofgt unb fiir fcinc Strbeit Dcrmert^et t)at. ©erabe bie tefcten Sa^re finb
an SKonograptjien iiber Scffing siemlid) frudjtbar gemefen. SJlan §at
nac^ge^olt, toag man nur ju tangc Derfdumt I>atte. ©o ftanb bem Serf,
ein 3JlateriaI ju ©cbotc, melc^eg friitjere, fctbft beu^fdic Searbciter 2ef=
fingg entbe^rtcn, unb man mu§ befennen, bag cr Don bicfem SKaterial
big auf bie aflerneuefte 3^it Ijerab ben beften ©ebrauc^ gema^t Ijat, inbem
£ effing in <£nglanb.
3J3
cr eg fleifjtg ju Statue jog, oljne bod) babet bie gretljeit bcr cigcnen
Sritif aufeugeben. 9tid)t btog btc unmittctbar auf 2effing bcjiigtic^cn
©djriften l)at cr forgfdlttg ftubirt, fetbftDerftdnbttcf) Dor 9lUem bie SBerfe
toon 2)anjel, ®ut)rauer unb ©tatpr, baneben aud) (mcttcidjt 511 Diet) bag
nid)t inttncr fc^r fritifdje 2cbcn 2effingg Don feinem 93ruber, bann ncben
fiadjmanng unb t>on SRatfcaljng gro&en 2effingauggaben audf) bie neuefte
Don ^cmpel, 2et)manng „8orfd}ungen iiber 2effingg ©pradje", 2>iinfeerg
„<Srlduterungen", $r51)teg 93iid)letn iiber „2efftng, SBielanb unb £>einfe",
Don £einemartng „3ur Srinnerung an 2effing", ©djoneg ,,8rteftoed)fet
Seffmgg mit feiner grau", SBliimnerg Eommentar jum „2aofoon", Eofadg
uttb ©djr5berg unb Xljieteg Strbetten iiber bie „£amburger Dramaturgic",
@ottfd)lid)g „2effingg Striftotelifdje ©tubien", SBaumgartg „ 9CriftotcIc^f
Scfftng unb ©oetfje", bie SBemerfungen Don ©aro, ©traufj, ®uno Sifter
jum „9latf)an", fobann ncben bem altcrcn SBerfe Don ©djtoarj iiber
„2effing afe Ifyeolog" bic neueren „2effingftubien" #ebterg unb bie neucfte
©djrift in berfelben SRidjtung, Steijorn „Ueber 2effingg ©tetlung ju <3pv
noja", — audj Don anbern 2iteraturmcrfen Ijat cr Jjerbeigejogen, toag nur
irgcnb cin 2id)t auf fein Sterna toerfen fonnte, tote ©taubting unb 9kan-
berg Sirdjengefdjidjte, Srunng, SEelderg, 9Sifd)erg, 2iibfeg antiquarifdfje,
aftfjetifd)e, funftf)tftorifd)e gorfdjungen (mit 93ejug auf ben „2aofoon"),
©dermanng unb 9tnbcrer ©oettjiana — big fjerauf ju ®uno gifdjerg
crft im Dorigen Safjre erfdjienenen Stuffafc iiber „3oli)anneg gauft" in
biefer 3eitfd)rift. gbenfo betuanbert jeigt cr fid), ncfien bcr eigenen IjeU
nttfdjen, aud) in ber franj5fifd)en 2iteratur, befonierg in bcr beg Dorigen
Satjrljunbertg. Snblid) befifct cr, toag ifjm bei ber Krttif ber antiqua?
rtfdjen unb bcr auf bie plaftifdje Sunft bejuglidjen Slrbetten 2effingg fc^r
ju ©tatten fommt, einc Dielfeitige pcrf5nlid)e ?lnfd)auung antifer unb mober;
"her Sunfttoerfc. giir bie atlgemeinc culture unb Iiteraturgefd)id)ttid)e ©runb^
^gung §u feinem S3ilbc Don 2effing unb beffen &tit fyat er uamentticf)
jtoei SBerfe benufct, lute er in ber S3orrebe augbriidlidi) anmerft, „2)eutfd);
lanb im 18. galjrfyunbert" Don bem SSerfaffer biefeg Strtifelg, unb §ett=
itcrg „2iteraturgefcf)id)te beg 18. gafjrfjunbertg".
©o ioofjl auggeriiftct, baju mit ciner toarmcn £ingabe an feinen
©toff, bic gletdjtoot ebenfo fret ift Don fctaDifdjer SBeftmnbcrung fiir feinen
$etben, mie Don btinbcm 9lad)fprec^en fr ember Stutoritdten, ging ©ime
an bie fiir eincn STugldnber immerfjin fd&tt)terigc Stufgabe, cinen ©djrift;
ftcQcr ju erfaffen unb ju fdjtlbern, bcr, bei manner na^cn ©eiftcgDer-
ttjanbtfd^aft ju cnglifc^em S33cfen, bod& in anberer Sejie^ung toieberum fo
fpecifife^ beutfc^ unb itberljaupt fo eigengeartet ift, bafc fein tiefcreg 9Ser-
ftanbttife nid)t eben tei(^t fein mag fiir eincn SBiograptjen, ber nid^t in
ber Sltmofpfjare beg aDgcmeinen geiftigen 2ebeng unferer Station fid)
bemegt. Urn fo grower bag SSerbienft ©imeg, biefe ©d)ioierigfcit in
lobengtoerttjefter SBeifc bentciftcrt §u I)abcn.
3W
Karl 23iebcrmann in £etp3ig.
Sn einer ©iuleitung fdjifbert ©ime bic potitifdjen, jtttlic^cn unb
literarifdjen 3"ftanbc Deutfdjlanbg t>om 30jat)rigen Jfriege an bi^ $u
Seffing. ®r fcnnjcic^nct bic Slbtoenbung ber giirften unb $>5fe toom
beutfdjen SBefen, i^rc affile 9tadja{)mung ber ©pradje unb ©itte granf-
reidjg; bic Srtflbtung beg 9Solf5 = unb Sftationalgeifteg burd) cinen bru^
talen unb engfjer$igen 2)efpotigmug; bie 93erfummerung beg firdjlidjen
Sebeng im 83anne ciner ftarren Drtt)obo£ie, beg ttuffenfd)aftlid)en burd>
ben ^cbantifrfjen ©eift, ber auf t»ielcn Unifcerfitdten $Iafc griff. @r gc^t
bann iiber ju ben fpecicHen 3uftdnben ber Siteratur, alg beg Slugbrucfe
iljrer 3^it. 2)enn, bemcrft er $utreffenb, „fo mcntg bie dufjeren Umftdnbc
einen ©eniug ju fc^affen fcermogen, fo toenig fann bocf) aud) ber @eniu£
feine t>oHe ffraft entfalten in cincr 3^it ber SBertoirrung ober ber ©djtnddje".
3)ie „erfte fdjtefifdje ©cfjute" mit it)rer nudjternen „(£orrectl)eit" (nur an
$aul Stemming riitnnt cr einen frdftigeren, natitrtidjcren Ion — cr
tjatte baneben aud} ©imon 2)ad) nennen fonnen), bie „jtt)eite" mit ityrer
©djtoutft unb ifjrer „ct)nifd)en" fieidjtfertigfeit, bie „I)5fifd)en 3>id)ter" mit
i^rcr jtuar toeniger augfdjtDeifenben, aber um fo mcfjr blog „con&en=
tionetten" $oefie — bieg alleg djarafterifirt er atg 9tnjeid^cn eincr an
inncrer ©eiftegfraft armen, burd) falfdje SDtufter fcerbilbeten obcr ents
artcten 3etoi<f)tung. ®tn>ag metjr ©djttmng finbet cr bet ben ©atirifern
beg 17. ga^r^unbert^, mie Sogau, SKeufird), SBernife. 9iod) frifdjereS
Seben milrbc i^m begegnet fein bet aRofdjerofdj unb betn SBerfaffer be£
„©imt>liciffimug", bic er iibergetjt. SRit 9ted)t riifjmt er bic Sraft unb
Snnigfcit beg geiftlidjen beutfdjen fiiebeg, aber mit Unredjt fdjreibt er
bag £auptoerbienft ba&on ben ^ietiften ju. $aul ©erfjarbt war fein
$ietift (in cben bem Safjre, too beffen geiftlidje Sicber erfdjienen, 1666f
begann crft ©pener, ber Sater beg ^ietigmug, fcine SBirffamfeit); Diet-
metjr toax er ein ftrammcr Drttjobojrer, etn fo ftrammer, baft er bic
©taaten beg grofcen ®urfiirften t)crfte§f tpcil biefer ben Elenchus nomi-
nalis, bag ©djimpfen auf bie 3tnberggtdubigcn mit Stamengneunung t)on
ben ®anjeln tjerab, unterfagte. 3Mc pietiftifdien Sicber finb (tuenigftenS
ju einem grofcen Incite) toon einer getoiffen toetd)lid£|en ©mpfinbfamfeit
angefranfelt, toaljrenb in benen, bie auf bem 93obcn beg „atteu @tau=
beng" crtuud)fcnf meift cin frdftiger, oft fogar ftrcitbarer ©eift (tuie bei
Sutler felbft) toefjt. 5)ie SSerbienfte ©pencrg unb feincr edjten 3^n8cr
liegen nad^ einer anberen ©cite t)in.
S)ic Ungunft beg dugern, befonberg beg nationalen Sebeng brac^tc
bamatg jucrft, fine ©ime ric^tig bemerft, in ben 2)eutfd)cn icne $)in?
tnenbung &u rein ibeaten S^tercffen unb jene fettfame SBcra^tung ber
Stu^enttjclt sutuege, ttjegen bercn bag bcutfdic S3otf fpdter fo — fottcn
toir fagen ^berii^mt" ober ^bcriic^tigf'? — marb (bag englifd^c SEBort
famous, beffen fid) ©ime bebient, faun betbeg bjebcMten), einc SRt^tung,
„tocld)e," toie ©ime treffenb bemerlt, „eg langc 3^it cbenfotuol unprattifc^
Seffing in (Ettglanb.
3\5
unb ju I^atcn unfertig (im du&eren Seben, in bcr ^olitif), tt)ic anberer;
feitS ju bent geifitg regfamften SBotfe in ©uropa mad)te".
5)ie SScrbienftc eine£ Seibnift, £t)omafiu3, SGBolf nm bie SBieber;
crfjebung be3 beutfdjen S3otfe£ au3 bcr geiftigen SSerfummerung, in bie
e£ ber 30jdf)rige fftieg geftiirjt, ba3 aHmdljfidje £erDorbred)en einer
naturttdjeren ©mpfinbung audj in ber $oefie (in i«i Stebern ©iintfjerS,
ben 9iaturfd)ilberungen Don SBrodeS unb §atler, ben ©atiren £ageborn3,
ben leidjten ®Idngen ©leim£ unb f einer ©enoffen), ©ottfdjebS ttoljtge*
metnter, aber irregetjenber SJerfud), ein beutfdjeS Stationalbrama ju fdjaffen,
fein ©treit mit ben @d)tt>ei&ern — ba3 afleS hrirb furj, aber im ©anjen
ricfjtig bargefteHt, unb fo toerben tnir attmdtjtid) an bie ©cfjmefle jener
3eit gefiifjrt, too Seutfdjlanb cnbtid) reif toax fur einen frdftigeren
9tuffd)tt>ung, bcffen ^ropfjet Seffing toerben fottte.
Sin ganjeS Eapitet — iiberfdjricben Boyhood — ift ber erften
3ugenbjeit SeffingS big ju bcffcn Uebergang auf bie UntDerfitdt getoibmet.
(sine SKenge fteiner 3"ge — un£ 3)eutfc^en meift tnoljlbefannt — finfo
fjier angefiitjrt au3 Seffing^ ffnabenjeit im ©Iternfjaufe unb au£ feiner
Sd)uljeit ju ©t. ?tfra. giir ben englifdjen SBiograpfjen SeffingS, ber
fo pietdtDoU alien ©puren be£ 2)id)ter8 fdjon in ben Stnfangen feiner
SBilbung nacfygeljt, mag e£ Don Sntereffe fein (nidjt minber aud) fiir bie
fienner unb Sehmnberer be£ Seffingfdjen @eifte3 in bcffcn eignem SSater*
lanbe), bie ©enfuren fennen ju teroen, bie ber junge Seffing todfjrenb
ber fiinf Saljre, bic er in ©t. SIfra jubradjte (21. guni 1741 bi£
30. 3uni 1746), Don ^albja^r ju £albjaf)r ert)iclt. ©ie finb in bem
unldngft erfdjienenen ,,2lfraners9llbum, 93cr$eicJ}ntf$ fdmmtlidjer ©filler
ber fonigl. SanbeSfdjuIe ju SDteifjen Don 1543 — 1875, jufammengefteDt
oon St. Sretjfcig", einem SBerfe Don ed)t beutfdjem Slei&e, au3 ben
&fien ber 2tnftatt aufgefiitjrt unb (auten folgenbermafcen: 1) nad) bem
2Jiicf)aeli£e£amen 1741: Ne, quod laudis ex vemista facie habet, licentia
aliqua et procacia contaminet, monitus, monitisque parere visus est.
((Sin 9teft btefer procacia toax e£ tnol, roa£ ju jenem audi Don ©ime
cittrten SluSrufe eineS SefyrerS: „9lbmirabter Seffing!" Stnlafe gab unb
§u ber SDtat)nung be^ SRectorS an Seffing^ jiingeren Sruber bei bcffcn
Stufnaljme: er mdge fo fleifcig, aber nid^t fo Dorlaut fein tt)ic jener);
2) nad) bem Dfterejamen 1742: Ingenio non obscuro, sed regendus et
gubernandus, ut recte et industrie, quae legibus debet exsolvat; 3) nad)
bem 9Rid)aeIi£e£amen 1742: Pollet mentis facilitate et tranquille agit;
ab incuriae vero nota ubique non est liber; 4) nad) bem Dfterejamen
1743: Hujus ingenii nervis accurata diligentia, diligentiae optata pro-
gressio respondet; 5) nac^ bem 9Dlid)aeli£e£amen 1743: In Uteris
promptum et industrium ingeniura aperte proficit; in morum cultura
tectius agit, quam ut omnis simulationis expers judicari possit; 6) Xia6)
bem Dfterejamen 1744: Acri ingenio et egregiis memoriae viribus
3\6 Karl 23iebermann in leip3tg.
valet, atque ad.morum dignitatem animuin applicat; 7) nad} bent
SffltcIjaetiSejrantett 1744: Praestantiam ingenii crebris exereitiis, etiam
geometricis, emendatisque moribus reddit laudabiliorein; 8) na6) bem
Dftereramen 1745: Ingenio prompto artes mathematicas et, quae tra-
duntur, alia addiscit, sed monetur, ne styli exercitationem negligat
(bcr Secret atjnte mot nidjt, ba& ber, t>on bcm cr bieg fd)rieb, bcr grftfete
©tylift 2)eutfdi)Ianbg toerben foHte!); 9) nad) bcm 3Ricf)aetigejamen 1745:
Nullum est doctrinae genus, quod non aveat vegetus hujus animus, et
capiat, revocandus interdum, ne in justo plura distrahatur; 10) nadj
bem Dftereramen 1746: Ad omne genus doctrinae et intentum et
idoneum ingenium magna exercet assiduitate, exercitum laetis ornat
incrementis, animo neutiquam pravo, tametsi fervidiore.
Sn bem ©apitcl „Seipjig" trcffcn toir ttricber meift auf 93efannte£,
bod) aud) auf einigc feine 2lnmerfungen beg SBerfafferg ixbtx Sefftng. 93ci
©etegentjcit bcr fteinen fyrifdjen ©adjen Seffingg (f^dtcr jufammengefteHt
in beffen „$Ieinigfeiten") fommt cr auf cine 9Sergteid)ung bcr Sefftngfdjen
fibril mit bcr ©oetfjefefjen. SJlatitrtid) fdttt eg ifym nid)t etn, jene irgenb=
tnie biefcr gleidjjuftellen. 9tber cr benufct biefen 93ergleid), urn auf
einige ©runboerfdjiebenljeiten in Seffingg (Eljarafter gegeniiber bem ©oettjeg
JjinjuttJeifen, bic ftcf) in feiner fibril ttrieberfpiegeln. 2)ag Sine ift Seffingg
gdnjtidjer SJlangel an — nur molten nid)t fagen: SKaturfinn, abcr an
jener empfinbfamen £ingebung an bic ©inbriide bcr 9iatur, toeldje im
oorigen 3<*f)rf)unbert in 2)eutfd)tanb fo loeit&erbreitet toax unb toeldjer
©oetfye in feinen Staturfdjitberungen cinen fo besaubernben, toon ben
banaten Uebcrtreibungcn fid) fretfjattenben 2lugbrud gibt. „Ueberf)auj)t,"
fagt ©ime, „{)atte Sefftng nidjt jene bagen Slnttjanbtungen Don ©eljn=
fudjt, oon inner cr UeberfuBc unb 2)rang beg ©eifteg, toomit bie romam
tifdje ©djule (ridjtiger Ijdtte ©tme bie nd^er an Scffing grenjenbe
„@turms unb SDrangperiobe" genannt) bic SBelt anfat); atte ©egenftdnbe
feiner 93etrad)tung finb genau begrenjt, alle fcine Sbeeu finb flar unb
beftimmt." Surf) bie Siebe, faljrt ©ime fort, fpiele eben barum in Sef=
fingg Stjrif bci toeitem bie SRotte ntd)t ttrie bei ©oettje. „Siebe unb
SBcin fommen ncben cinanber tool in feinen Siebern oor, aber bic Siebe,
hue ber SBcin, nur alg bag Sergnugen ciner miiffigen ©tunbe, bag man
geniefet unb bann toieber oergifet, nidjt alg eine bag ganje Seben aug;
fitttenbe unb erf<f)5pfenbe Seibenfdjaft."
3n bem 3tbfd)nittc Berlin" fdjilbert ©tme, toic Scffing bag bamalg
nod) ttjenigcr t)dufige SBagnife, nur bon feiner gebcr — gleidjfam alg
„fa!jrenber Siterat" — ju teben, untemommen unb beftanben tjabe. ©r tjdtte
babci auf jtoei fiir Scffingg Silbungggang nndjtige golgcn btefer Sebcng*
tueife aufmerffam madjen ftfnncn: einmal auf bic grofte SKaffc unb 9SieI=
feitigfeit beg SBiffeng, mric^e Sefftng auf biefcm SBege (ouxi) Uebcrfefecn,
93carbeiten, Sritifiren ber oerfc^iebenften ©(^riftcn aug ben berfc^iebenften
Seffing in (England.
5*7
©ebieten) fid) aneignete, toad if)m bann aud) bet fcinctt ttuffenfrfjaftlidjen
Driginalarbeiten ju gute lam, fobann auf bie Unabijdngigfcit unb gcftig-
fcit bc^ Ef)arafter3, bic cr au3 btefem tdglidjen „8ampfe mit bcm Seben"
fiiT fid) getoann. SBenn SemeS cinmal Don ©oetlje fagt: cr fjabe nie
ben Sampf mit bem Seben gefannt, unb bafyer fef)tten itpn ate 2)id)ter,
nament(icf) a!3 Sramatifer, manege Sigenfdjaften, bie nur in einem foldjen
fiampfe ertoorben unb entttridett tpiirben, fo gitt gerabe ba3 Umgefet)rte
Don Seffing.
gur einen engtifdjen 83iograpfjen SeffingS mu&te e£ t)on befonberem
Sntereffe fein, bie ©puren Sljafefpearefdjen SinfluffeS auf ben jungen
beutfdjen 3)id)ter unb ffritifer ju Derfolgen. ©ime finbet einen foldjen
im „&enii", in toeldjem er eine Stac^bitbung be£ SBrutuS au3 „3utiu3
©afar" erbtidt (beildufig gefagt, erfdjien 93orde3 Ueberfefeung beS „(£dfar"
nidjt 1749, fonbem fdjon 1741) unb in bem fragment „2)a3 befreite
5Rom". Ueber ba£ ©rftere liefce fid) ftreiten; £ettner erfennt a!3 ba£
SSorbtfb be3 „#en$i" (Dietteidjt rictjtiger) DtttxtyS „®erettete3 SSenebig".
3n ber SSorrebe &u ben „93eitrdgen jur £iftorie unb Slufnafjme be£ £t)ea*
ter3", bie au3 bem ^cfiftt 1749 ftammen, ftcllt Seffing ©tjafefpeare nod)
unterfd)ieb3to3 mit englifd)en 3)id)teru siemlid) niebern 8tange3 auS ber
franjofifdj angefrdnfelten SReftaurationSjeit jufammen, hrie SEBictjcrlc^,
(Sibber, SSanbrugt) u. a. Stuffaflenb ift, baf$ ©ime Weber Sticolai^ am
crfennenben 3lu3fprud) iiber ©f)alefpeare in ben (Don ifjm erttmfjnten)
„S3riefen uber ben gegentodrtigen 3uftanb ber fd)5iten SBiffenfdjaften in
Deutfdjlanb", nod) aber aud) SeffingS ©djtoeigen iiber ben grofcen briti;
fdjen $>id)ter (mit SluSnafyme jener etma3 jtoeibeutigen Snfiifjrung au£
bem Safjre 1749) bis ju bem beriitjmten 17. Siteraturbriefe (Snbe be3
3at)te3 1759) einer befonbern 93ead)tung tuertlj gefunben tjat.
©ime meint, Seffing fei, „inbem er fid) an bie ©ngldnber unb fpe;
cieU an ©tjafefpeare anfd)Iof3", nur „bem attgemeinen 3U9* ber 3ett ge-
fotgt", ba „bie frdftigften unb freieften ©eifter in 2)eutfd)Ianb beinafye
aOe nad) Sngtanb urn £mtfe auSfdjauten"; anbererfcitS aber ^abe Seffing
„bie 93ebeutung ©$alefpeare£ Don englifdjen Sc^riftftettern gelernt".
93eibe SBefjauptungen mod)ten mot einer 93erid)tigung ober minbeftenS
©infe^rdnfung bebiirfen. SBa§ ben „3ug ber 3^^" nacf) ber englifdjen
Siteratur ^in betrifft, fo ift e£ tfoax ric^tig, baf$ trofe ©ottfefjeb bie bcut-
fd)en 2)i(^ter fid) Don ben gran^ofen ab= unb ben Engldnbern jujutoen-
ben begonnen fatten. 2ltlein i^re SKufter toaren ganj anbere ate ©fjafe*
fpeare, namlic^ auger 3Jlilton, ben fftopftod nad^a^mte, J^omfon, $ope,
Siidjarbfon, ?)oung — in^gefammt 3)id)ter, beren SBege Don benen Spates
f^jeare^ weit ablagen. SBenn ferner ©ime Don englifdjen Sefyrmeiftem
£effhtg£ in Sejug auf bie intimere $enntni& ©^afefpeare^ fprtcf)t, fo
burfte e^ i^m fdjtoer fatten, bariiber ettoa§ Seftimmte^ nacf)jun)eifen.
©elbft fur bic beutfrfjen Stu^Ieger Seffing^ ift e£ ein bi^^er no(^ unge*
«otb unb 6u&. VI, 13 22
3J8
Karl Biebermann in £eip5tg.
I5fteg problem, toann unb Don toannen bcmfclbcn jenc tiefere ©infidjt
in ©tjalefpeareg ©eifi unb feine eigentf)iim(id)c ©rdfee ate 2)ramattfer
gefommen, tuelrfic cr jnatlererft in bem 17. Siteraturbriefe, augfiitjrlidjer
bann in ber „ $amburgifd)en dramaturgic" befunbet, nad)bem cr bis
1759, toie fdjon bemerft, fcinerlci 2tnbeutung cincr foldjen ©inftdjt obcr
iiberljaupt ciner nat)eren tljeoretifdjen 83efd)dftigung ntit ©fyafefpeare
gegeben.
2Bir Deriibeln eg bem englifdjen 93iograpt)en Seffingg nidjt, menn cr
feinen Sanbglenten gem ben befdjdmenben 33ortuurf erfparcn m6d)te, ate
Ijabe cin grember ifnten ben SBorrang abgelaufen in ber SBetuunberung unb
bem 93erftdnbnif$ itjreg grofcten 9tationaIbid)terg. 2Bir toiffen tool)!, bafj
in Snglanb felbft ©fjafefyeare (nadjbem cr toeit iiber cin Safjrfyunbert tiiifct
bfog fo gut true oergeffen, fonbem oerbrdngt getoefen mar burd) 2)id)ter
nntcrgcorbnetcn Stangeg, bic sum groftten 23jeil bet ben granjofen in bic
©djule gegangen) urn 1740 gteidjfam Don ben lobten toieber ertoedt toarb
burd) bag ©enie ©arridg, ber beffen gigantifdje giguren, jucrft Sftidjarb III.,
oon SHeuem auf bie SBitfjne bradjte. 3)a& inbeffen nod) cinige 3eit tog-
ging, bettor bag Sutereffe unb SBerftdnbnifc beg groften 3)id)terg in feinem
eigncn SSatertanbe toieber cin allgemeinereg unb tiefer getourjelteg toarb,
fdjtiefcen loir baraug, baf crft 1769 — fiinf §aljre nad) ©fjafefpeareS
200jdfjrigem ©eburtgtag — ©arrid eg unternat)m, eine „©fjafefpeare=
feicr" }u oeranftaften, bic bann allerbingg glanjenb augfiel. 2lttcin bamate
toax eg fdjon ootle 10 Satjre ljer, feit in 2)eutfd)lanb Sefftng in ben
Siteraturbriefen burdj fcine begeifterte unb oerftdnbnifeDoUe ©djilberung
Don ©ljalefpeareg groften Sigenfdjaften ate 2)ramatifer bag entfeffetnbe
SBort gefprodjen Ijatte &u bem einbringenberen ©tubium in beffen 3Reiftcr=
toerfe. ®g gefdjafj bieg nur urn jiuci Satjre fpdter, ate in (Snglanb 3)obb£
Beauties of Shakespeare, in bemfetben Scttjre, too $oungg 83ud) on original
works, unb brei Safjre fritter, ate £>omcg principles of criticism erfd)ienen,
toeldje beibe lefcteren SG3erfe fid) ebenfatte mit ©fjafefpeare befdjaftigen.
Unb faum einer biefer englifdjen ©djriftftefler — bieg toirb ung oieHeidjt
©imc felbft jugeftefyen — brang fo tief in bag inncrftc SBefen ©Ijates
fpeareg cin, ttrie Seffing, $ob feine 9Sor$uge gegeniiber ben granjofen fo
fd)Iagenb fyeroor, ofyne bod) nad) ber anbern ©eitc ^in in Uebertreibung
obcr ©infeitigfeit ju oerfattcn.
Sebenfattg ift eg mcrftoiirbig, ba§ in 3)cutfc^Ianb bag red)te SScr-
ftanbnife ©fjafefpeareg nur burd) Seffing gemcdt unb geforbert toarb,
tt)at)renb bic cnglifc^en Ductlen iiber t^n, namenttic^ ?)oungg tocniger
fritifd)e ate p^antaftifd)e ©c^ilberuug fcineg Scfeng, tljeilioeife ju cincr
cinfeitigen unb mifeoerftdnblic^cn ©rfaffung unb 9tad)af)mung beg ©^afc=
fpearefc^en ©cniug Dcrfiitjrten.
3)o(^ — tuir molten ung nityt gern in eincn ©treit urn nationale
^rioritdt ober ©uperioritdt einlaffen mit eincm SRannc, ber fur unfern
£cffing in (Englanb.
319
Sefftng cine fo aufrtdjtige $>od)fct)dkung unb SBiirbigung befunbet. giir ben
gngldnber abcr ift e3, meinen loir, SBefriebigung genug feineS nationaten
93ettMfitfein8, ju fefyen, luic bcr grflftte ©eniuS, ben fcin Sanb Ijeroorge^
bradjt, aud) in 2)eutfcJ)fanb ate folder anerfannt unb Derefjrt loirb, unb
neiMoS mag er bem beutfdjen Sritifer ba3 SSerbienft juerfennen, baju in
erfter Sinte beigetragen ju Ijaben.
SJoDfonimen im ffte^tc ift ©ime, luenn er ben beutfdjen 2)id)ter bei
ber ©djaffung feiner „9Rifj ©ara ©ampfon" im engtifefjen ga^rmaffer
fegeln unb jenem gmputfe folgen tdfct, ben in ©nglanb Siflo burd) feinen
„S?aufmann t>on Sonbon" jur Segriinbung etner neuen ©attung branta*
tifdjer SJSoefie, be£ „burgertid)en Srauerfpiete", gegeben fjatte, obfdjon einigen
ttntf)eit baran tool aud) Siberot ge^abt. Sbenfo geben toxx iljm 8ted}t,
toenn er eine ©djtoddje jeneS 2*ffingfd)cn ©tiidS in bem fdjloanfenben
GJjarafter 3ReHefonte, Dor 2Wem abcr in bem SRiftgriff erblidt, ben ber
3)irf)ter beging, inbem er biefen SKeUcfont in loenig motioirter SBeife fetnc
frii^cre ©eliebte, bic toilbe EKartooob, mit feiner neuen, ebteren, ber ©ara,
in perfontidje SBeriitjrung bringt, ja fie mit tejjterer aQein Idftt, looburdj
bann ftatt einer innem Sofung be£ Conflicts eine rein dufcerlidje ftatas
ftroplje, bic Sergiftung ber ©ara, tjerbeigefiiljrt toirb. 2)agegcn jottt
er ber Kiiljnljeit SeffingS in ber ©djaffung eineS fo leibenfdjafttidjen
ffifyarafterS, toie eben ber SKartooob, t)otte ©eredjtigfeit.
2Bir gefjen iiber ben „3toetten 2lufent^att SeffingS in Seipjig"
(1755—1758) rafefj tjintoeg, ba ©ime f)ier meift nur ©peciatitaten er=
todtjnt, bie (toie £effing£ toerfdjiebene 83earbeitungen frembcr ©tiicfe unb
Ueberfefcungen) jtoar an fid) nidjt unintereffant, aber bod) fur ben eigenb
lichen SitbungSgang SeffingS Don untergeorbneter 93ebeutung finb. 93ei
bem nad) unferer Slnfidjt bebeutungSfcotleren 93rieftoed)fel SeffingS mit
SRicoIat unb SDienbetefotju iiber ben 3&>ed ber Srag5bie oertoeilt ©ime
furjer, ate toxx toiinfdjen mddjten. @o toenig befriebigenb ba£ tefete
SRefuftat biefer gemcinfc^aftlic^en dftt)etifd):bramaturgifd)en ©rorterungen
ber brei greunbe erfdjeint, fo fommen bodj barin einjelne, fur ba=
mate iiberrafdjenb feine Semerfungen Dor — j. 93. iiber bie gintjeit
beg DrteS unb ber 3^*, S^cr bie bramatifdje 3H«fion u. f. to., fo bafe
ein ndfjereS ©ingeljen barauf fidj loot Derloljnt ^dttc.
2Ba§ ©ime iiber SeffingS grunbfdfeli^e 3tbneigung bor allem Slique^
toefen, iiber feine ©trenge gegen fic^ felbft in 93ejug auf ftetigc^ SBeiter^
ftreben toon ©tufe ju ©tufe unb iiber ba3 baburcf) Deranlafete 2tHein-
fte^en Seffing^ — tro^ meter greunbe, bie er ^atte unb bie benntnbernb
§u it)m- aufbtidten — auSf priest, bem ftimmen ttnr t)o(Ifommen bei.
9tm Stnfang be3 Eapitete iiber Seffiug^ britten 2tufentljalt in SBerlin
finben loir einen Idngeren ©ycur^ be§ SSerfaffer^ iiber 2effing3 ^atrios
ttemu^, ober, ridjtiger gefagt, iiber beffen SWangcI an $atrioti£mu3. 93e-
fannt unb metberufen finb jeue SBorte fieffingg: „3<f) ^abe Don ber
22*
320
Karl Siebermann in £etp3tg.
Siebe jum 93ater(anb feinen 93egriff, unb fie erfefjeint mir J)5d)ften3 ttrie
cine f)eroifd)e ©d)tt)dd)e, bie id) gem entbefjre." ©ime tjdtt ft^ fiir toer^
pftid)tet, biefeS ©elbftbefenntnifc Ccfftng^ ju erttdren unb ben 2)id)ter
beSljalb ju entfdnitbigen. ©r lt)iH (menu mir itjn recfjt toerfteljen) SeffingS
$atrioti3mu3 retten ttjeite burd) ben &intoei§ auf ba3, toaZ berfelbe
fiir bie geiftige ©rofie 3)eutfd)Ianb3 unb fiir beffen Unabtjfingtgfett nadj
biefer ©eitc fjin toon bem StuSlanbe gettjan, ttjeiB baburd), bag er au3=
fiiljrt, ttrie eine SWation um fo gr5fcer fei, je me^r fie in fief) ba3 att^
gemeine 93ilb ber 3Renfd)Ij)eit barftelle, unb it)ie baljer „2effing8 $o3mo=
^otiti^mu^ ber beftc Iljeil feine3 $atrioti£mu3 war".
3)er ©tanbpunft, toon meldjem au§ eine 3eit (ang bie literarifdje
Sritif fid} toerpflidjtet todfjnte, unfere grofcen 3)id)ter Quf itjre politifdjen
— freitjeitlidjen ober nationalen — ©efinnungen ju inquiriren (e3 ge~
fdjatj ba^ namentlid) batb nacf) 1848), ift jefct ciu fo jtcmlidj ttrieber
iiberlDunbener. SBir toerlangen nicfjt met)r toon unfern 3)id)tern im toorigen
3afjrl)unbert ein potitifdjeS ^rogramm, toeber ein ftcin- nod) etn grofc
beutfdjeS, weber etn fortfdjrittlidjeS, nodj ein confertoatitoeS; ttrir meffen
fie mit bem 2Ra§ftabe ifjrer 3eit unb betradjten fie im Sftatjmen itjrer
3cit. SBaS fpeciell jenen allerbingS etmaS protoocatorifdjen 2lu3fprud)
SeffingS anbelangt, fo mug er, true aud) ©ime ganj ricfjtig anbeutet, 5^
nacfjft in engfter 33ejiel)ung ju ber SSeranlaffung beurtljeilt merben, bie
il)n Ijertoorrief. ©3 toar 2cffing3 greunb ©leim, ber „preuf$ifd)e @rena-
bier", ber itjn ba$u IjerauSforberte. Seffing Ijatte an bem frifdjen Xone
ber ©renabierliebcr toon |>au3 au3 feine fjeralidje greube gefjabt. 6r
tljeilte and) bis auf einen getmffen ©rab ©leimS SBegeifterung fiir beffen
gro&en $>elbenf5nig. ©r felbft tjatte — tange elje bie ©reuabierlieber
erfd)ienen — in bem toon ifjm rebigirten „©elefjrten Strtifcl jur SSoffifdjen
3eitung" 1751 ff.) regelmdfcig ju 9leujat)r (tnafjrfdjeinttcf) ciner Ijerge;
bradjten ©itte folgenb, aber augenfdjeinlid) mit freiefter Ueberjeugung
unb ofjne eine ©pur toon b!o£ forcirter Segeifterung) ben 3Ronard)en
befungen, unter beffen ©djufc er bamate lebte. @r fyatte in Seipjig an
ber 2Birtf)3tafeI ben ©ieger toon SRogbac^ al§ ©ac^fe gegen feine 2anb«?
teute, bie in griebrid) II. nur ben „2anbe3femb" fa^en unb befampfteu,
befjarrtid), felbft ^eftig, in ©c^uft genommen. @r Idfet iu feiner
„9Kinna// baS fad)fifd)e grdulein toon 93arnt)ctm ju bem preugifdjen
SWajor toon Sellljeim fagen: „3c^ mill gcrn glauben, bag 3#r S'onig
uid)t blo^ ein grower, fonberu audj ein guter ^onig ift." Stflein er
^a^te bie ©upertatitoe unb toor SlUem bie pat^ettfd)en ©jtratoaganjen. @r
befag einen SBiberfprud)^geift, ber fidj gcrn ba aufle^nte, too irgcnb ©tioaS
afiju abfotut betjauptet, ba§ ©egent^etl atlju abfolut geleugnet nmrbe.
SBir toiffen, ttoie biefer 3Bibcrfprud)£geift unb bicfe Stbneigung gcgen ©in*
fcitigfeitcn t^n fpdtcr fogar baju trieb, fi^ be§ ortfyobofen ^auptpaftorg
©ocfee eine 3cit tang gegen feine geinbe, bie fog. Steologen, anjune^mcn.
iefftng in (Englanb.
32 (
Set ben SJkeufeen unb namentlid) in 93crltn mod)te ifjm tool ^dufig
biefeS ©predjen in ©uperlatiuen, biefc einfeitige ©elbftiiberfjebuug iibcr
anbere ©tdmme, bicfe^ aBju empljatifdje $od)en auf bic eigncn SBo^uge
begegnct fein. SBar ifjm bod) burd) bag tnele SRenommiren bcr Skrliner
mit ifjrer „9tufftdrung" unb ifjrer „2>enffreif)eit" beinafje biefc felbft toer^
leibet , f o bafe er fid) ju jencm in oHe SBege iibcrtriebenen unb ungered)ten
9lu£farud)e tjinreifeen licfi: e£ tjerrfdje bort tueniger toatjre 3)enl= unb
©djreibfretljeit, ate unter SJlaria Ifyerefia in SBien. So Derbrog iljn
aud) feineS greunbeS ©leim qHju fanatifdjer SJktriottemuS, ber, nidjt ju^
frieben, bie SSorjiige be3 eignen £anbe£ unb Soiled unb bie ©rofee feine^
ftduigS Ijernorjuljeben, mit befonberer Sorliebe in bcr ©djmdtjung unb
$erabfefcung ber geinbe ^reuf$cna fid) erging. 3umat fiir einen 3)idjter,
ber immcr einen tjotjern, freiern ©tanbpunft einneljmen foil, fanb Seffing
biefeS eroige &afc unb SRadjegefdjrei nidjt paffenb; er f/furd)tctc; ber patriot
mddjte ben 2)idjter iibcrfdjreien".
©o erttdren fid) auf ungefudjte SBeifc jene abmafntenben 2Borte,
bie Seffing an ©leim ridjtete. 2Ba3 er baun gleidjfam nod) ate Xrumpf
barauf fefcte: „3d) tjabc t)on ber 9SaterIanb»Iiebe f einen 93egriff" — ba3
flingt freilid) fefjr fefcerifdj. Sltlein Dergegentoartigen ttrir un3 bod), tuaS
bamate, urn bic SRitte be3 uorigen 3aJjrl)unberte, in 3)eutfd)Ianb „93atcr;
lanb" unb „S3aterIanb3liebe" fn'ifc unb mar! ©rinnern tuir un£ bod) be£
2tu3fprud)§ eineS ©<$riftfteller£ ber bamaligen 3dt, (SggerS, ber in feincr
,,®efd)id)te ber SKenfc^^cit" fagt : „3eber 2)eutfd)e jafjlt fid) ju ben Deftreidjern,
ben ^reufcen, ben ©ad)fen, ben ^annotteranern, ben SKecflenb urgent; uur
bie, toeldje !ein befonberer Satertanb fjaben, nennen fid) 2)eutfct)e!"
(Srinnern tt)tr un3, ba& Seffing^ Serliner greunb SWicolai — gegeniiber
ft. gr. u. SKofera ©d)rift „oom beutfefjen Stationalgcift", tuorin btefer
ben SKangel eineS foldjen beHagt, — bie Sbee eincS beutfdjen National;
geifteS eiri „poIiti}d)e3 Unbing" nennt, unb ba£ S3eftreben, bie ©emittljer
fur biefe Sbee ju ermdrmen, einen „Ijdmifdjen ^artcijtned''! ©imc tuitt
e£ nic£>t gelten laffen (unb er fpieft babei tool auf ben SJerfaffer biefe^
Strtifete an), ba& „einige ©c^riftfteller jenen StuSfprud) SeffingS ni(^t auf
©eutfc^Ianb, fonbern auf ©adjfen bejie^en". Slllein in ber Xfyat gab e^,
roie bamate in 3)eutfd)(anb bie S)inge lagen, fcine „beutfd^e/i SSatcr-
lanbMiebe, fonbern tebiglidj eine „preu§if(^e, fd^fifc^e" u. f. m. Unb bafe
ber ©adjfc Seffxng tton einer foldjen „feinen 93egriff ^atte", Idfet fid) mol
benfen. SBo^er J)dtte cinem freicr benfenben unb ^ot)cr ftrebenben ©eifte
nne Seffing fdc^fifc^e 93aterlanb£tiebe fommen follen unter eincm ©rafen
Sru^I? Slber aud) bie preufeifdje 9Satedanbrltebe feinc^ 8reunbc§ ©leim
erfdjien i^m ate eine bef^rdnfte, $umal fo weit fie fid) bod) toorjugStoeife
nur auf bie „f)eroifd)e", bie militdrif^e ©rofee ^reufeen^ bejog, tnelc^e
Seffing jn;ar gelten liefc, aber nid)t ate allcinigen SWaftftab ber ©rofee
einer Station angefeljen wiffen motlte.
322
Karl Bicbermann in £eip3tg.
Safe Seffing fiir ba3, ma§ einer Station toirflid) nott) tljut, toa$ aber
bcr beutfdjen bamalS nod) fefjlte, gar tootjl ©inn unb ©mpfinbung ljatte,
unb jtoar cine fc^r tiefe unb fefjr marme ©mpfinbung, geljt u. St. tjerDor
au3 jcnen fdfjmerilidjen SBorten, mit betten cr in feiner hamburger 3)rama=
turgie" toon fetnem „Xraum" eineS „beutfdjen 9tationaltf)eater£" (mic
fotdjcS in Hamburg tjatte bcgriinbct tuerben fotlcn) Slbf^icb natjm, jcnen
SBorten: „D iibcr ben gut^er^igen (Stnfall, ben 2)eutfd)en ein 9tationat~
theater $u Derfdjaffen, ba ttrir 3)eutfcf)e nodf) feinc Station finb.
3df) rebe nid)t Don ber potitifdjen Serfaffung, fonbern blo£ Don bem fitt=
lidjen ©fjarafter. gaft follte man fagen, biefer fei: feinen eignen ^aben
&u molten. SBir finb nod) immer bie gefdjmorenen Stacfyaljmer
atle^ SluStanbifdjen."
©ben batjin beuten etnjelne 2tu3fpriid)e in feinen 2)ramen, in bcr
gorm fdjerjljaft get)atteu, aber bod) nidjt ofjne ben bittern SBeigefdjmacf
eine£ burd) bie bamalS atlDerbreitete Stu^Ianbcrei tiefDcrtefeten Daterlanbifcfyett,
nattonaten ©efiitjteS. ©o, menu er in feinen „3uben" ben SBebienten
(Sljriftoplj auf bie grage be3 ®ammermabd)en3 Sifctte: „©ie finb mol
gar ein gran&ofe?" mit beifcenber Satire fob gan$ im ©tjarafter eine$
bamaligen 33ebienten, ift freitid) etmaS jloeifettjaft) antmorten Idfet: „9tein,
id) mug meine ©djanbe geftetjen, id) bin nur ein Deutfdjer." ©o, toenn
er feincr SDtinna Don 93arnl)elm (fjier tfttt DoHem 3Red)t) bie ftotje 2lb=
fertigung bc§ minbigen granjofen SRiccaut be la SBtarliniere in ben SKunb
tegt, ate biefer mie fetbftDerftanblid) DorauSfefct, baft fie franjofifd) fpredje:
„3n granfreicf) miirbe id) eg ju fpredjen fudjen, aber marum Ijier?"
SBctdjen feinen ©inn Seffing fiir ba3 natiirlidje unb rid)tige SSer^
fyaltnifj stuifdjen 5|$atrioti3mu3 unb SoSmopolitiSmuS, jmifdjen ber 3ubef)orig=
teit bc£ (Sinjetnen ju einem beftimmten Staatc unb feiner freien ©r^ebung
iiber bie 93efdjranftf)eit be§ btofcen ©inaetftaatSbemu&tfeinS ju bem S3eiDu&t-
fein beS alien 3Dtenfd)en ©emeinfamen fyatte, bafiir legen bie Don ©ime
umftanbtid) anattjfirten „greimaurergefpracl)e" ScffingS (ober „©rnft unb
galf") ein glanacnbeS 3eugnif$ ab. SltlerbingS geljoren fie einer diet
fpateren $eriobe feineS SebenS an (1778); fie finb 3eitgenoffen unb
©eifteSDermanbte be^ ^Stat^an" unb ber „@r5ieljung be^ SOtenf^engef^lec^tg".
Seffing berityrt in i^nen bie ^5d)ften ^robleme be§ <Staat$ unb ber
biirgerlidjen ©efellf^aft: bie gragen ber SRegierung Don oben ^er unb
ber ©elbftregierung, be^ fogeuannten ^©taatSWol)^'', toeld)e$ aber nur ju
oft ein blofjcr ®edmantet ber S^rannei ober be£ egoiftifd^en SSort^eife
einer fjerrfd)enben 3Dtinber^eit fei , unb bc§ SBo^te ber ©inselncn aU fiod)-
ften ©taat^tuedea, enbtid^ bie natiirlidjen Uugteid;^eiten ber SDtenfc^en
nac^ ©tanb, 93eruf, 93cfi^um in ber biirgerlidjen ©efellfc^aft. @r be-
rii^rt aHe biefe ^robleme, o^ne jebod^ fie lofen §u mollen. 9tur in
93c5ug auf ba^ imeite l)at er cine feftbegriinbetc 3lnficf)t — biefelbc,
toeldje, mie ©ime treffenb erinncrt, gricbrid) ber ®rofee fo glanjenb
£efftng in (England.
525
bettjdttgte, freilicf) barin faft alleinftefjenb unter ben $>unberten bcutfe^cr
SattbeSfjerren — : bie 3lnftd)t, bafc bcr SRegent eineS 2anbe3 urn be£ 93oIfe3
toiflen ba fet, nid)t umgelctjrt. 2)en ©ebanfen ciner ©efetlfdjaft toon
3nbitubuen, bie feiner Stegierung bebiirftcn, tueil 3eber fid) felbft regiere,
Seber red)t unb gefefclid) fjanbte, tt>irft er nur fo f)in — unter $intoei3
auf ben 9lmeifcnftaat im ©egenfafc jum SBieuenftaat. 2)a§ er babei nidjt an
SRouffeauS „9taturjuftanb" badjte, barin ftimmen toir Dotlftdnbig mit ©hue
iiberetn; fjatte er bod) SRouffeauS ©djrtft gegen bie Kiuilifation fdjon in
feinem „©elef)rten Strtifel jur 9Soff. 3ettung" (1751) al3 eine Ueber;
treibung befdmpft. Unb ebenfo toenig ftel e3 tfjm ein, etttrn bie focialc
Ungleicf^eit unter ben 9Renfdjen tuirflid) abftetlen ju lootlen. ©otdje
Seftrebungen maren, ttrie Sime ebenfatte ridjtig bemerf t, bent fcorigen %afo
fjunbert, in $)eutfd)Ianb toenigftenS, fremb. Seibnifc, auf ben Sefftng Die!
gab, tjatte in feiner I^eorie toon ber „beften SD3ctt" bie fociale Ungleid);
Ijeit, fogar in itjrer fdjroffften ©eftatt, ber Scibeigenfdjaft, nod) ate ein
unabdnberlicfjeS Staturgefefc fyingeftellt.
SBorauf Seffing in feinen ,,greimaurergefprdd)en" abjielte, war ein
Stnbere^. Sin$elne, burd) SBerfaffung, ©efefcgebung, 2anbe3art, ©itteu. f. to.
toon einanber getrennte ©taaten miiffen fein unb toerben immer fein,
ebenfo toerfdjiebene SReligionen; be3gleid)en toerben bie Stanbc^ unb S3er=
mdgenSunterfdjiebe in ber biirgerltdjen ©efettfdjaft fdjtoerlicf) je auffjoren.
Stber ba£ Uebel, toeldjea biefe 93erfd)iebentjeiten, biefe Jrennungen, biefe
©egenfdfce unoermeiblid) mit fief) fiitjren, — „tt>ie ba§ geuer ben Sftaud)",
fagt er in etnem nidjt unebenen Silbe — biefeS Uebel lafct fid), tuenn
nid)t gdnjlid) befeitigen, fo bod) toefentlid) milbern, — „roie ber SRaud)
burd) 9taud)fdnge entfernt ttrirb", fdtjrt er in feinem SBilbe fort — toenn
bie einielncn 2Kenfd)en itjre 3)enf- unb $>anblung3tt)eife fo einridjten,
bafe fie nid)t al£ ©eutfdje unb granjofen, ober al£ granjofen unb ©ng;
lanber, nid)t ate SDlufjamebaner, Suben unb Efjriften, ntd)t al3 SReidje
unb 2trme, 93ornef)me unb ©eringe einanber gegeniibertreten, Diehueljr
al8 SJtcnfdjen bem 3Renfd)en, alfo nad) bem, roaS ifjnen alien gemeinfam,
itic&t nact) bem, toa$ jtnifdjen ifjnen Irennenbe^ ift. 3« bcr Silbung
unb Uebung einer foldjen Senftoeife finbet er ba§ SBefen,, bie Slufgabe,
ba^ ©e^eimnil ber roafjren, e^ten greimaurerei, — nid)t in ben gor=
men unb ©eremonien, momit biefe fid) t^eilweife umgibt.
©ettrifj ein fd^oner, grower ©ebanfe! 2Ran fann benfelben, tt)ie ©ime
t^ut, einen bemolratifc^en, man fann ifjn auc^ einen tt)eltburgerlid)en
nennen. Sebte Seffing Ijeute, in ber 3^it ber grofeen intcrnationalen
S3eftrebungen auf ben materieHften, ftjie auf ben ibealften ©ebieten, —
toon ben SBeltpoftcongreffen an bi^ ju ben internationaten SSereinigungen
fur SBiffenfdjaft, ^unft, erjie^ung, SBo^dtigfett, furj 2Renfd)enbcr:
ebelung jeber 9trt — unb ber nid)t minber getoaltigeu, jmar jum If;etl
mtfeoerftanbenen unb mifjleiteten, abcr bocf) auc^ in Dielen i^rcr Slid)-
32^
Karl Biebermann in £etp3ig.
tungen gefunben unb erfolgreidjen SBeftrebungen fiir Sinberung ber Uebel,
bic in bcr focialen Ungteidjljeit iljre SBurjel Ijaben: gettrift, cr toiirbe
nid)t unempfinblid) fcin fiir biefcn gortfdjritt ber 3Renfd)f)eit unb tuiirbe
MeHeid)t eberifo fc^r barin cine 93erttrirHid)ung jene$ feineS fdjdnen men-
fdjenfreunbtidjcn SBunfdjeS erbtiden, tote anbererfeitS in betn unbefdjabet
beffen triel mefjr gefrdftigten Stattonatbetoufttfein feineS eignen, bc3 beufc
fd)en SSotfeS eine Sefrtebigung jeneS ridjtigen ©efitf)l£, toeld)e§ t^m ba*
mats ben fd^merjlidjen StuSruf erpreftte: „2td), lt>ir fiub feine Station,
unb unfer Et)arafter beftefjt betnatje nur barin, feinen ©fjarafter ju
ljaben!"
©tnmat bei 2cffing§ potitifdjen 2lnficf)ten toertoeilenb, ertnnert ©tme
and) an jeneS fatirifdje ©efprdd) an einer anbern ©telle ber Seffingfd^en
©d)riften: ob e§ mefyr 2R5nd)e ober meljr ©otbaten gebe unb ma£ toon
ffieiben fd)timmer fci (mobet Sefjtng ju bent ©djtuffe fommt, baft e3 fur
ben fianbmann baSfetbe fei, ob feine ©aaten toon ben ©d}neden ober Don
ben SKaufen fcertjeert itmrben), ferncr an SeffingS apt)oriftifd)e Senterfungen
(in feinen „Eoltectaneen") iiber ben SScrfatt ber alten beutfdjen ©tdnbe,
ben er beflagt.
$od) — ttrir fjaben ben djronologifdjen ©ang ber biograpl)ifd)en
©djitberung fcertaffen, ber un3 junadjft ju 2effing3 Stnt^cil an ben
„£iteraturbriefen" fii^rt.
©ime t»ertt>etlt bei biefer lange unb mit fidjtttdjer SBorliebe. ©tner
fcf)r geredjtfertigten! S)enn f)ier ift eg, too SefftngS fritifd)eS latent
juerft in Dotter Sraft fidj cntfattet; t)ier ift eg, too er juerft ganj unb
entfdjieben xnit bent franjofifdjen ®laffici3mu3 unb mit beffen 9Jad)beter,
©ottfdjeb, brid)t unb beiben eine Stieberlage beibringt, t)on ber fie fid)
nid)t toieber erljotten, too er juerft feine tioUe SScrtrauttjeit mit unb feine
aufrid)tige SBettmnberung fiir ©tjafefpeare an ben Sag legt.
SSir tibergeljen bie ©Ijrenrettung ©ottfdjebS in 93ejug auf beffen
f>inneigung ju ber franjofifdjen Stafficitdt, toeldje ©ime unternintmt.
@te ntad)t fcinent SMtUgfeitSgefiitjt attc ©f)re, allein int Stamen ber beufc
fdien Siteraturgefd)id)te unb Sritif f5nnen ttrir fie ntdjt acceptiren. 3)a3
9leufterfte, toa$ man ju ©unften biefer ©ottfdjebfdjen Stidjtung aHenfattS
jugeben fann, ift, baft biefelbe ein pis aller, ein SKotljbeljclf getoefen fei
jur ©duberung ber beutfdjcn 93iif)ne Don 9tof)t)ett unb @emeinf)eit; baft
aber ber beutfe^e ©cift, tok ©ime auSjufutjren fcerfudjt, iiberfyaupt ber
3ud)t beg franjofifc^cn Sllafficigmug beburft f)dtte, urn ben red^ten SBeg
ju finben, baS mod)te fd)toer au§ ber ©efd)tcf)te biefer ©eifte§ ju be=
griinben fein. %)oi) — laffen wir ©ottfe^eb, iiber ben in 3)eutfd)lanb
bie 2tften gefdjtoffen finb, unb toenben toxx un§ wieber ju Seffing!
Sn Sejug auf ba^ gauftfragment Seffing^ ermdfjnt ©ime bie ^er^
gcbra^te 2rabition t)on jtoei cerfd^iebeneu ^tdnen, bie bcr 2)id)ter au^
gearbeitet, ben einen mit, ben anbern ofyte bamonifc^eg Seimerf ; er mift?
Ceffing in (Englanb.
325
toerfietjt abcr bic bariiber toorljanbenen 9tad)ridi)teu, menn er beibe^laue
in ber toerfjangnifetootlen ®ifte auf bcm Sran3port toon 3)re3ben nad)
93raunfd)tocig toerloreu geljen Id§t. Uebrigen entfdjeibet cr fid) fur
bie Stnftdjt, bie aud) toir fiir bie ridjtige tjalten, baft Seffing ben ©toff
bod) fiir einc bramatifdje SBearbeitung ju fprobe erfunbcn tjabe unb be£*
fjalb batoon abgcftaubcn fci.
Ucber ben „$l)iIota3" urtJjcilt er: ber $atrioti3mu3, au£ roelcfjem
beffen |>anMung£tt)eife entfpringe, fci &u iibertriebcn, ju ^t^catralifd^";
tpijilotaS fctbft fei „mel)r cm eigenfinniger Snabe, ate cin fciner Xfjat
unb itjrer 99ebeutung fid) flar betoufcter 2Rann". SStr fonnen ifjm barin
nid)t ganj Unredjt gcben.
SSon bcm S3re3lauer Stufentljalt SeffingS enttuirft Sime ein farben*
reidjcS 93ilb nad) SeffingS eigncn unb fciner grcunbe 93rtefen. ©r la&t
ftdj burd) ba£ fdjeinbar &erftreuung3tooHc Seben, ba£ Seffing bort fitfjrte,
nid)t irre madjen an ber untoerriidbaren Senbenj feineS SBefenS nadj
bent ©ddjften unb 93eften, barin ©oetljeS treffenbem SluSfprud) folgenb:
„2effing loarf bteloeilen feinc perf5nlicf)e SBitrbc meg, fidjer, toie er toar,
fic jeben Slugenblicf nrieber aufne^men gu tonnen."
93on ben beiben fofttidjen 3ftud)ten be3 93re3lauer 2lufentt)atte£ Sefs
fingS, „2Rinna toon SBarnljelm" unb „8aofoon", Ijanbelt ©ime mit banfenS*
wertfjer 9hi3fiif)rlid)feit. %m ©ingange feincr Slnatyfe ber „9Rinna" be;
finbet er fid) tool in eincm Srrttjum. SBefannttid) toirb erj&fjlt, bafc
Scffing bie ©efdjidjte toon einer93raut, bie ifjrem Srdutigam, einem toer-
abfefyiebeten Officer, nadjgercift fci, ate in 93re£lau ttrirftidi) toorgefallen
geljort fyabe. ©in ebenfo nrirflidjeS ©rlebnifj foil bann jener 3ug t)on
6belmutf) eine3 preuf$ifd)en DffijierS gegen eine toon ifjm befefcte feinbs
Iid)e ^rotoinj geloefen feiu. 3Da& aber jener unb biefer Dffijtcr in ber
SBirfltdjfeit ate eine unb biefelbe $erfon aufgefafct toorben fei, nrie er
bte3 in bctn Seffingfdjen ©tiide ift, batoon tft un3 nidjte befannt. ©benfo
ncu, bcilaufig gefagt, toar e£ un§, toon $rot)le (in beffen ©d)riftd)en:
f,Seffing, SSielanb unb $einfe") ju toernetjmen, — freilid) oljne SBetoete
ober Queflenangabe — baft jener ebelmiitfjige Officer fein anberer ge;
rtjefen fein folle, aU ber preufcifefye SRajor Steift, SeffingS Srcunb unb
aUer SS3a^rfd)einIid)Ieit nad^ beffen -SJhifterbilb jum „2etl^eini".
2)a& Seffing fid) felbft im leH^eim abgebilbet Ijabe, toie einjelne
bcutfcfje Sritifcr gemcint, beftrcitet ©imc mit 9ted)t. ©oIcf)e poetifc^e
©elbftabfpiegelungen ober „©elbftbefenntuiffe" lagen bur^au^ nid^t in
SeffingS ?latur. S)ie ©^araftcrjeic^nung in ber „9Jiinna toon Sam^
^clm" ertoccft ©ime§ t)5d)fte 93ett)unberung. ©r bebicnt fid) be3 f(^5nen
93Ube§: bicfe ©^araftere gtidfjen „|)ugeln, bcren Sonturen in Ijetlem Sic^t
oom flarcn 3Rorgenf)immcI fid) fdjarf abt)ebcn;/. S)a§ Sorurt^eit, ate
^abe Seffing nid)t toerftanben, ben SReij einer ec^t mciblicfjcn SKatur
511 fc^ilbem, Joibertcge treffenb ber ©t)arafter ber SKinna. 2lber audi)
326
Karl Siebermann in £etp3tg.
bie cmbereit ^erfonen beg ©tiidg fcien mit gleidjer SDZeiftcrfc^aft inborn
bualifirt.
3n 93etreff bcr ©ompofition ftimmt ©ime ©oetljeu barin bei, bafe
fie fcortreff(icf) fei big auf bie 9ietarbation im brittcn 9lfte, too Seffing,
ftatt, nrie man ertoarte, bie $>auptfjanbtung ftetig fortjufiifjren, biefetbe burdj
eiu 3nriegefprad) untergeorbneter ^erfonen, granjigfag unb Suftg, unter-
brid^t. 2)agegen ift er unabljdngig genug, bie 3tid)tigfeit ber toon ©oetfye
aufgeftellten, allerbingg tool fdjtoer ju begriinbenben, 2lnfid)t, ate ob bas
©tiid eine 2trt poctif^cr 9lugf5t)nung jtoifdjen ^reufcen unb ©ad)fen be^
jtoede, anaujtoeifeln.
35em „Saofoon" l)at ©ime eineg ber Idngftcn Sapitet feine^ Sudjeg
getoibmet. 2Bir fonnen if)tn ni^t in atle feme, meift fc^r tief in iljr Sterna
eingefjenben, feinfinnigen ©rorterungen folgen unb toollen bafjer nur
im 2tt(gemcinen anerfenncn, baft er bie toon Seffing angeftellten 93etracfc
tungen ebenfo nad) ber ©cite ber bilbenben ®unft, ttrie ber $ocfie, mit
tjiel ©djarffinn unb greimutt) tritifirt, babei fjier unb ba in ber erfteren
9tid)tung ju ettoag anbern 9tefultaten, alg %tntx, gelangt, pm 2f)eil ge-
ftiifet auf neue gorfdjungen unb ©ntbecfungcn im ©ebiete ber antifen
^laftif, toetdje Seffing nod) nidjt bemtfcen fonnte.
9Rit ber gleidjen banfengtoertfjen ©riinblidjfeit ift Seffingg „&am-
burgifdje 3)ramaturgie" befprodjen. ©ogar in bie flippenreidjen Untiefen
ber Striftoteftfcfyen Jljeorie Don ber xa&aQaig tcov nad^fidrcov unb ber
Dielen gele^rten Sommentare baju dtteren unb neueren Datumg taucfyt
©ime unfcerjagt f)inab unb fcerfucfyt, Seffingg Slnfidjt bariiber — toeld)e
nid)t burdjtoeg ganj flar ift — in bag befte Sidjt ju fteflen. Uug toitt
bebiinten, er mufyt fidj atljufeljr ab, bie 2lrifiotetifd)en Sategorien Don
SKitteib unb gurd)t auf bie 2ragobien einerfeilg ©tjafefpeareg, anbererfeitg
ber granjofen anjutoenben unb biefe mobernen £>ramen banafy §u beur-
ttjeilen. 2lud) Seffing ljing nodj ju feft an biefen Sategorien, bie bod>
nur auf bag antife S)rama paffen mit feiner faft unbebingten £>errfdjaft
beg gatumg ober beg SSitteng ber ©otter iiber bie SRenfdjen, nidjt aber
auf bag moberne, beffen SebengnerD ber frete SBStHc beg SDtenfdjen unb
ber baraug entfpringenbe tragifd)e Eonftict ift.
3Rit Stedjt ift.bemerft toorben (u. 21. toon £ettner), bafe biefe ein=
feitige Sfjeorie Seffingg t)om S)rama, bie' beffen 3tt>erf ™* in ber @r=
regung oon 3RitIetb unb gurc^t fanb unb ju bem SSegriffe ber tragtfcf)en
@(^utb nod) nicf)t burd^gebrungen toav, fic^ on bem ®ramatifer Seffing
gerdc^t Ijabe in feiner ^©milta ©atotti". Serlauf unb (Sdjlufe biefeg Srauer-
ftnelg finb riit)renb, erft unfere gurdjt, bann unfer SJlitteib ertoerfeub,
aber nicf)t eigenttid) tragifd), benn eg fet)It bie innertid) jmingenbe Slott)-
toenbigteit 511 ber tragifd^en Sataftvopfje, ber ©rmorbung einer Sod)ter
burd) if)ren SSater. 2Bag man, urn eine foldje jiuingenbe 9Jot^toenbigfeit
{jerbeijufufjren, bem S)i^ter untergefd^obcn I)at, eine getjeime Seibettfc^aft
leffing in £n$lanb.
327
gmtliag gu bcm ^rtn^cn, bag iueift ©ime mit rtdjttgem ©efiifjle juriid,
unb audj ©oetljeg 9lutorttdt, ber befanntlidj cincr foldjen 2lnfid)t aunetgtc,
madjt i^n bar in nid)t irre. ®r tpitt licbcr eincn Setter in bcr £ompo=
fttion ^ugeben, alg ba§ cr magen mddjte, urn ben 3)td)ter gegen bicfen
Soritmrf fdjiifccn, ifnt bent Die! grdfjeren augjufefcen, ben ©fjarafter
(Smtlieng in einem fatfdjen Stdjte unb in einem grcllen SBiberfprud) mit
fidj felbft ge^etgt ju fyaben.
2>ag SBerfjdltmft Sefftngg ju @&a $onig, fciner fpdtern ©atttn, jtoar
fein Stebegroman in bem tei&DoHen ©enre ettoa ber ©oetfyefdjen, jeigt
ung bod) Sefftng ben 9Renfd)en toon ueuen, liebengrourbigen ©eiten, alg ben
eincrfeit^ ernft toerftdnbigen unb djarafterootten, anbererfeitg aber ticf
fufjlcnben SKann. ©r toerlor befanntlid) nad) ganj furjem gliicftidjen
Seftfc bie ©attin unb bag faum Don itjr geborene ®inb unb ftanb ttrieber
fo einfant ba, ttrie border. Sent SBunber, menu %acoh\ ttjn lebengmiibe
unb bigmeilen toon eiuer SBitterfeit fanb, bie fid) in unfjeimlid) ge;
jroungener Suftigfeit dufeerte.
SBag iJjm urn eben jene 3^it, too er in feinen nadjften ©mpftubungen
fo tief unb fdjmerjltd) litt, aud) bie greube an bcr liter artfdjen 2t)dtigfett
beinafjc toerlcibete, war bag Sluftaudjen ciner gauj neuen, ber fetmgen fo
unaljnftd)en SRidjtung in ber Siteratur, ber @d)ule ber fog. „Driginat;
genieg" ober beg „Sturmeg unb 'Srangeg". ©djon am ©djlufj fciner
„3)ramaturgte" fjattc Sefftng ba&or geroarnt, bafc man ntd)t, nadjbem
man ben fatfdjen, beengenben SRegeln ber granjofen fid) gtucfltd) enb
nmnben, in bag anbere ©jtrem tjerfatte unb SRegellofigfeit fiir bag 9tn=
jeidjen beg mafjren ©enieg nefjme. 35ie SSarnung toar in ben SBtnb
gefprodjen. 3n ©oetfjcg „©6fc" fcierte bie Stegctloftgfett tfjren Xrtumptj,
unb aBe 2Belt jaud)$te bicfer neuen SRidjtung ju. Sefftng finite, baft
feinc furs toorfjer erfdjtenene „©milia", toeldje gretfyeit mit 3tegelmd§ig-
leit ju gatten fcerfudjte, mit btefem ftiirmifd)en, Sltleg t)or fid) nteber^
toerfenben ?lnlauf ber jungen ©djule ntdjt Sdjrttt fatten fonne. 3$itU
Iciest toax eg bie 2Rtfeempfinbung baruber, toetdje madjte, Dafi er nidjt
gem t)on btefem feinem jungften ©eiftegprobucte reben ^5ren modjte. SSir
brauc^en i^n njeber beg ©goigmug, nod) beg Sletbeg an$uf(agen, fonbern
erflart ftd) Ijintdnglid) aug feinem geftgenjurjeltfein in enter anbernf
tt)o()Iertoogenen ?lnfic^t t?on ber bramattfdjen Sunft, toenn er an bem
louten SeifaH, ben ber „©5fe" auf ber 93erltner SSiiljne fanb, ntd)t ge^
xabe greube t)atte. 3lod) t)tel natiirttdjer toar beg burd^ unb burd) mdnn^
lichen unb t^atlrdftigen Sefftng tiefe Stntipatfjie gegen ben SBert^er, bie
cr in ben befannten fpitttifdjen SBorten augfprac^: „ber mann^afte ©rtedje
toiirbe felbft einem \6)toa6)tn 2Kdbdjen eine foldje SBeidjlic^feit beg ©e-
fu^lg, tt)ie fie SBert^cr jeige, faum cerjte^en ^aben." SOSir freuen ung,
bag ber engltfdje Siograpt) Seffingg fid) in bicfer grage ofjnc Sc^ioanfen
ouf bie ©rite fetneg Stutorg ftctlt, unbefiimmert urn bie S3erf evening,
328 Karl Siebermann in £etp3tg.
tt>eld|er cr fief) baburd) bei mand)en beutfdjen Srttifern Dielleid)t auSfcfct.
®ie ,Dottenbete poetifdje 2Reiftcrfcf)aft ©oetljc^ in bcr ©djilberung euteS
foldjen EtyarafterS erfennt cr bereitttrillig unb riidI)aItto§ an; aber bcr
Eljarafter felbft in feiner „§t#erfentimentalitat" erfc^cint ifjm jum £>elbcn,
felber nur eincS SRomanS, ju tuenig geeignet.
9laI)C5u bie &alfte be£ jtoeiten SBaubeS feiner ©djrift l)at ©ime bcr
2lnatt)fe unb ®ritif SeffingS ate ^fjilofopt) unb S^eotog getoibmct.
9Ran burftc gefpannt fein, ftrie cin ©nglanber biefe ©eite be3 Seffingfdjen
©eifte£ befjanbeln nmrbe. 3>n feincn tfjeologifdjcn ©cfyriften Ijat Seffing
einc unDerfennbare ©eifte£Dertoanbtfd)aft mit ben engtifdjen greibenfern.
2tuf bcr anbern ©cite ift befannt, ba& fo ticf geljenbe fritifd^e 2tufl5fung3-
Derfud)e in 93ejug auf bie pofittDe ©ubftanj ber djriftlidjen Sogmenlefjrc,
mie fie bie Unterfudjungen SeffingS, toie fie namentlid) audi bie Don tf)m
fjerau^gegebenen unb tt>emgftcn3 in t»tclen ^unften Dertfyeibigten unb be-
furtoorteten „2BoIfenbiittler gragmente" entfjalten, in ©nglanb tueitDeri
breiteten Sebenfen begegnen, fyergenommen Don ber bort trabitionellen
2tnftd)t, bafe bie 2Rt)fterien be£ ©laubenS ein noli me tangere feien fur
ben foitifdjen SSerftanb. Slber aucf) t)ier bemafjrt ©ime feine toiffenfdjaftlicfye
Unbefangentjcit. ©r gibt bie Derfd)iebenen Seffingfc^en 2lu$fuf)rungen uber
religiofe ®inge gctreu unb mit fdjarfem ©inbringen in ber en roafjren
©inn umber, unb cr toiirbigt fie nid^t Don einem Doreingenommcnen
©tanbpunft au£, fonbern uad) ifjrem 3ufctmmenl)ange untcr einanber, fo-
mie mit bem Stjarafter SeffingS unb mit bem ©efammtjuftanbe ber Xfjeo;
logic unb ^ilofo^ie $)eutfd)lanb£ in ber bamaligcn &t\l
2Rit tt)iffenfc^aftlid> einbringenber Sdjarfe beleud)tet er SeffingS ?ln=
fidjten lion bem Sfjriftentljum Dor bcr SBibel, Don bcr Srabition unb ber
regula fidei, befonberS aucf) Don bem UreDangelium; ate ben eigentlidi)
fpringenben ?J3unft aber, Don tueldjem Seffing in f ein en Sfimpfen mit
ben Ifjeologen auSgegangen fci unb auf ben er fid) immcr tuieber, ate auf
ba3 fidjerfte Sottmerf, ^ururfgejogen Ijabe, betradjtct er bie Don iljm in
ben mannidjfadtftcn SBenbungcn unb unter ben treffenbften 93itbcrn ($. 93.
jenem Don bem $ataft unb ben Derfcf)iebencn 93auriffen baju) ttrieberfjolte
9luffaffung be3 Sf)riftentf)um£ ate einer ©ad)e nidjt be3 @riibeln£, be3
SpeculirenS, fonbern be§ £mnbetn3, unb jtuar be§ 3ted)t; unb ©ut^anbeln^,
ate be£ unDcrganglic^en S)enfmate jener Sbealitdt, SReinljeit unb $oi)t\t
bcr ©cfinnung unb beS Scben^manbcte, Don ber EfjriftuS felbft uniJ ein
fo erf>abene§ Scifpiet gegeben.
S)arin befte^t nad) Seffing, tt)ie ©ime ri^tig bemerft, bie „8teligion
K^rifti", bie Xt)at be£ cbelften, cr^abenften 3Kenfd)en — tueit unter^
fc^ieben Don bcr „cf)riftlicf)en Sleligion", jenem ©etnebe Don SJogmen,
bur^ ttjel^e K^riftu^ p einem ©egenftanbe bc§ S33unberglauben§ gema^t,
aber eben baburd^ unfrer rein menfdjlicfyett, innigen SScre^rung unb 93c=
lounberung femer geriidt h)crbe. S)iefe /;9ieligion Kfirifti" fanb Seffing
£efftng in (Englanb.
329
am ©djonften auggepragt in bem „Xeftamente Sofjannig", jcttcm immcr
unb immcr micbcr^ottcn: „$inbtein, liebet ©ud} unter einanber!"
$)iefelbe rein praf tifc^ - fittltc^c 9Infd)auung Dom SBcfcn unb Dom
SBert^c bcr SRetigioncn finbet fid) bann tuiebcr im „9tatl)an", ate ifyrer
fc^ottficn bidjterifdjen Sefraftigung unb 93erl)errlid)ung. brama-
tifdje ©ompofition, meint ©ime, laffe bcr ,,9latf)an" 2Rand)eg fcermiffen;
in rein bidjterifdjer 93ebeutung fSnne cr fid) mit „2lntigone", „§amlet",
„gauft" nidjt meffen; atlein „bag toiirbe cin cnger SBegriff toon $oefie
fein, toeldjer ben »9tatljan« tjon etnem Ijofjen unb bauernben $Iafce in
ber SBcItlitcratur augfdjliegen tootlte".
®ic Scrcinbarung beg „9tatljan" mit ber „@rjielj)ung beg 3Jlenfd)en-
gefd)led)tg" Ijat ben beutfdjen Sluglegern Sefftngg t)iel Sopfeerbredjen oer-
urfadjt. 2)ort, fdjeint eg, ftcttt Seffing afle SRcIigioncn gleid) Ijod) obcr
gleid) niebrig, inbem er nur bag itjnen alien ©emeinfame — bag rein
8Renfd)lid)e — ate bag attein an alien SBert^oIIc Ijer&orfjebt; ja, toenn
er einer SRetigion einen SSorjug t)or ber anbern ju gcben fc^etnt, fo ift
eg etjer bie jiibifdje ober bic muljamebanifdje gegeniiber ber djriftlidjen,
afe umgefeljrt. 3n be* /;©rjie^ung beg SSlcnf d^cngcf c^Icc^t^ " bagegen
nimmt cr cinen Srortfd^ritt an Don bem Subentfjum ate einer un&ofl;
fommencn &u bem ©tjriftentljum ate einer toollfommneren ©tufe ber
Offenbarung. ©ime fud)t biefen SBiberfprucf) baburd) augjugleidjen, bag
cr einerfeitg im „9iatljan" bie ^crfonen beg SKatfjan unb ©alabtn nicfjt ate
foecififdje SReprafentanten beg 3ubentt)umg unb beg 3$lamg anfietjt (SKatfjan
tourbe ate fotd^cr con ben fturflidjen, 3uben nie anerfannt toorben fein,
ber fjiftorifdje ©alabin mar nid)tg toeniger ate bulbfam), fonbera ate Efja-
raftere, bie eben iiber ber SBefdjrauftljeit if^rcr befonberen SReligion ftefyen,
biefe SBefdjranftfjeit abgeftreift Ijaben, unb inbem er anbererfeitg in ber
„6r}iei)ung beg aRenfdjengefdtfeditg'' loeniger bag $ert>orgef)en einer Dffen-
barunggftufe aug ber anbern, ate &ietmel)r bag Ijer&orfjebt, bag ber
gortfdjritt ber 9Renfd)tjeit in ber ©rljebung itber bag ©pecififd^c jeber
einjelnen SRetigion beftcfje, in jener allgemein menfcf)lid)cn Senftoeife,
ttrie fte im „9tatl)an" betont fei, ingbefonbere aber in jener reinen, un^
eigennufeigen , felbftlofen 2Jtoral, tuetc^c bic „ Kraft beg edjten SRingeg"
augmad)i. S)iefe Sofung ber fixate, menu fie aud) nidjt &5llig erfd)5pfenb
iftF t)at jebenfaflg toiet Stnfpredjenbeg unb ©innigeg.
©imc crfennt an, bag bcr toatjre SSegriff ber „Dffenbarung" auf
bag, n?ag Seffing in ber „©r5ie^ung beg SKenfdjengefdjtedjtg" fo nennt,
ftreng genommen nid)t pafyt. 3)enn biefer Segriff bejcidjne cttoag 91b?
foluteg, ©ttnag, toag fxir attc 3eitcn unb fur atle 5Wenf^en beftimmt ift,
nidjt ©ttoag toon blog tooriiberge^enber ®auer unb ©ettung. 9tud) ttjerbe
ber Snfyrit einer mirflic^en Dffeubarung nidjt alg ein foldjer gebad^t,
bcr aud) auf anbercm SSSege, mittelft ber menfd)Iid)en SSernunft, gefunben
toerben fonnte. Slttctn toar eg benn fleffingg 2(bfid)t, eine 9tpoIogie beg
330
Karl Biebermann in £eip3tcj.
©t)riftentfjum£, ettoa gegen SReimaruS, ju fdjreiben? @r leiftctc bcr SRetu
gion fdjon einen grogen 3)ienft, inbcm er, gcgeniibcr bcr toon SSoItoire
aufgebradjten unb toon mandjen beutfdjcn ©djriftftellern, aud) SReimaruS,
nadjgeafjmten 2luffaffung be3 StjriftentfjumS al& eineS 23erfe£ t>er ©elbft-
tdufdjung obcr be£ ^riefterbetrugS, ifjm unb alien 9teligionen bic erljabene
99ebeutung toon 2Rittdn bcr SSerebelung bcr 2Renfcf)f)cit, be£ gortfdjritteS
ju immcr grdfjerer ©ittlid)feit, Kultur, #umanitdt beilegte.
2lm ©djtuffe biefcS ganjen SlbfdjnitteS toerfudjt ©ime, „8cffing$ Spfji-
lofopljie" ndtyer pracifiren. ©r gefjt babci toon bcr 9tnfid)t auS, bafi
e3 fiir cincn ©rift ttric Scffing unm5glid) getoefen fei, unempfinbttdj &u
bleiben gegen bic grofcen ptjtfofoptjifdjen SProbleme fcincr 3rit; bafc er,
bcr niemate fid) begniigt mit fyalben ©rfldrungen, notfjtoenbiger SBcifc
basu getrieben toorben fei, bic tefcten ©riinbe bcr S33af)r£)eit ju erforfdjett,
unb baft er batjer fid) cine jufammenljdngenbe Ifjeorie bcr SBcIt ju bilbcn
gefudjt Ijabe. SGBoIf lonntc ifjn unm5glid) tangc befriebigen. SSon fcincr
friitjeren Sefanntfdjaft mit Ccibnt^ finben fid) ©pureu fdjon in bcr 9H>s
fjanblung iibcr ,$opt al$ 9Ketap{)t)fif er", bic cr gemeinfam mit 2Renbet§foljii
fcfjrieb. Slbcr aud) mit ©pinoja madjte cr balb 93efanntfdjaft; au£fuljr=
lid&er befdjdftigte cr fid} mit itjm in SreSlau. 3)a§ cr e3 griinblidj
tijat, ineift ©tme treffenb au3 cinem S3ricfc SeffingS an 2Renbel3fof)n au3
bem 3afyre 17^3 nad), too Scffing fetjr fcin unterfdjeibet jtoifefjen bcr
„prdftabilirten $>armonie" bci Seibnifc unb bcr 2lnnaljme cincr cinjtgcn
©ubftanj, bic balb untcr bcr gorm be£ 3)enfen3, balb untcr jener bcr
9lu3beljnung fid) barfteflt, toic ©pinoja fic auffafet
„2Ba3 abcr ttaren bie pofititoeu 3tef ultate, $u benen Scffing in fcincm
^Ijilofopljircn getangte?" S)icfe grage, toeldje ©imc aufmirft, f)at aud)
unferc beutfefyen S effing -Eommcntatorcn toielfad) befcJ)dftigt; aber nod)
fcincr tjat fie fo geldft, bafc jcber SBiberfprud) gcfd)U)iegen Ijdtte. S)cr
gleidjnamige 9tbfd)nitt: „Seffing£ $f)iIofopl)ie" in „£ebler§ SeffingSftubien"
gibt batoon Seugmfi. ©eljcn toir, njic ber cngtifc^c 2lutor fie beantmortet!
©imc fniipft an ba£ toiclberufenc ©efprde^ 3acobi^ mit Scffing an, auf
©runb beffen Scffing toon Sctcobi jum ©pinojiftcn pur sang geftcmpett
njarb. ©imc get)t nidjt fomcit wie ©u^raucr unb bcr ncueftc 3lu3leger
Scffing^ in ber |>empel=2Iu3gabe toon Sefftng^ Sdjrift.en, n^elc^c beibc bem
Sacobifc^cn Seriate itber beffen ©effrdd^ mit Scffing fein ©ettridjt bci-
legen; cr f)dlt bicfen 93crid)t fiir ridjtig aui5 inncren SSa^rf^cinli^fcit^^
griinben. Sltlein cr tniH nid)t jugeben (unb cr fdjtiejjt fid) barin ben
meiften bcutfd)en Scarbeitcrn Scffing^ an), baft bamit Scffing ju cinem
©pino^iftcn mit §aut unb £>aar merbc. SlUc^, toa$ man fagen fdnne,
fci, bafe cr fid) in getoiffen ^Bcjieljungcn bem grofecn jiibif^cn S)cnfer
nd^er gcful)lt I)abe, al^ irgcnb cinem anberen Spijilofopljen. 3)afur gtaubt
©imc in Seffing^ ©djriften bic ©emcife ju finben.
greilid) mufe ©imc jugeben (unb barin tfjeilt cr nur bie attgemein
leffing in (Englanb.
33\
bariiber iu 3)eutfd)Ianb l)errf<f)enbe 9Infidf)t), bag Seffing cin Dotfftiinbigeg
^ilofopljifcfyeg ©ijftem, aud} toenn cr eg tiieUeic^t ^atte, bodj niemalg in
beftimmter gorm augpragte. 2Bir muff en ung fcinc pl)iIofo$)ifcf)en 9tn=
fidjten tljeilg aug einjehten 9luffafcen Don il)m, bic fpccififd^ ^ilofo^i-
fd)en Stt^olt^ finb, tljeitg aug einjclncn Steugerungen in feincn fonftigen
Sdjriften fjeraugfudjen.
3)ieg untemimmt ©ime. Die crftc tjier einfdfjlagenbe ©djrift Sef;
fingg ift bag /; ©ef pra^ iiber bic £>errnf)uter" (aug bent Sa^re 1750
ober 1755). 5113 beffen lefete^ SSBort bejeidjnet ©ime bie 9lnfid)t beg
SJerfafferg, bag ber 9Jlenfd) jum ^anbeln, nidjt jum 93erniinfteln gefdjafc
fen fei, bog eg alfo aud) in ber SReligion ioeit meljr auf bie guten ^anb-
lungcn, ate auf bie ©pifcfinbigfeiten ber Sogmatif anfomme. Eg ift bag
biefelbe Slnfidjt, bie Seifing and) in feinen t)ictcn ©treitfcfyriften gegen
©oefce u. H. oertrat.
$>ag Seffing bamit eine abfolute ©Icidjgitltigfeit gegen atteS fpecu*
(atfoe SBiffen tjabe prebigen iootlen, nimmt ©ime ntd)t an; minbefteng
fei er auf biefem ©tanbpunfte nidfjt lange gebfieben. 3)er beritymte
Sugfprud) Seffingg toon ber ootten SSafjrljeit unb bem ©treben nadj
Satjrfjcit beioeife itoar, bag er ben 9Renfd)en fur unfaljig tjielt, jemalg
in ben Sefifc ber abfoluten S33at)r^cit ju getangen, aber aud), bag er
eine fletige 93efd)aftigung mit ben f)5d)ften ^roblemcn beg 2)enleng alg
bie SBeftimmung beg SKenfdjen erlannte. ©iner foldfjen ftetg fortfdjreis
tenben ©rfenntnig roerbe audj in ber „©rsiet)ung beg SKcnfdjcngcfc^Icd^tS"
bag SBort gerebet.
gn einer ganj anberen SRicfjtung alg jene iiber bie $>errnt)uter be=
toegt fid) eine stoeite ©djrift Seffingg oljngefafjr aug berfetben %t\t (1753
ober 1754): „2)ag ©tjriftentfjum ber SSernunft". #ier untemimmt Seffing
eine fpeculatioe Slbleitung ober ©rftarung ber ®reieinigfeit unb ebenfo
ber ©dfjopfung. ©ime finbet barin ©puren ber 3)enfunggtoeife ©pinojag.
8ber fonnen loir tt)ol ernfttid) einen jiibifdjen ^Ijtfofopfjen alg ben intet=
lectuellcn Ur^eber einer ®ebuction ber ©reieinigfeit, biefeg fo fpecififd)
cf)riftticf)en Dogmag, anfefjen? Stud) begegnen toir in berfelben ©djrift
bem ©ebanfen einer ©tufenreilje oon SSefen, einem ©ebanfen, ber toett
mefjr an Seibnifceng SWonabeute^re erinnert. Ung fdjeint, biefe ©djrift,
nrie auci) bie fleine 2lbl)anbtung „ iiber bie 2BirfIid)!eit ber S)inge auger
®ott" finb 3H9cn^erfuc^e Seffing^, fic^ oon bem SSerf)dItnig ber SBett
iu @ott unb ber oerfd)iebenen SBefen in ber SBelt ju einanber cine pt)i'
Iofop^if(^e SorftcUung ju bilben, SBerfudje, bie eben SScrfu^c btieben,
loie benn bie erftgenannte ©<f|rift felbft o^nc cigentlidjen Stbfc^Iug plofc-
li% abbrid^t. 3n ber „@rsief)ung beg aRenfc^engefc^Ie^tg" (§. 73) fef)rt
bie gleic^c SSorfteUung oon ber Sreieinigfeit toiebcr, aber aud^ nur api)&
riftifc^, eingeleitct mit jencm bei Seffing fo fjaufigen: SBic?, toomit cr
oftmalg einen ©ebanfen ober rid)tiger cinen ©ebanfenanlauf ju marfi=
532
Karl Biebermann in £etp3tg.
ten pflegte, ben cr nut ate cin problem, ate cin germent toeitern $enfen£
tjintoarf, ofjne ifjn allcmal felbft aufc unb ju @nbe ju benfen. 2Bir
biirfen nidjt toergeffen, baft, ttrie ©ime fclbft fagt, Seffing lein fi)ftema=
ttfdjer ^ilofopl) toar, feiner fein roollte, bag e3 ttjm oft meljr urn ba£
Slnregen gu ttjun war, ate urn bie ftrcnge 3)urd)fiil)rung eineS ©afceS
ober einer SSefyauptung.
©djtoerlid) merben ttrir irregetjen, toenn ttrit ate ben eigentlidjen
ftcrn aHcr ©peculationen SeffingS ilber be3 2Renfcf)en SBeftimmung unb
fcinc t)6d)ftcn 3iele auf bcr @rbe einerfeite bie ©rfjebung ju tfjatfraftiger
©ittlidjfeit unb ©elbftoerebluug, anbrerfeite bie mdglid)fte ?tbftreifung
atleS Seffen erfennen, toa3 ben SDienfdjen Dom 2Renfd)en ttennt unb ben
©tnjelnen in bie beengenben ©djranfen einer auSfdjIiefeenben, unbulbfamen,
lieblofen SebenSauffaffung bannt.
9floc£> eine befonbere ©cite Seffingfcfjer ^tjilofopljie! Seffing fpeculirt
ilber greitjeit ober Unfreitjeit beg SBitlenS. 3n bem ©etyracfje nut gacobi
aufeerte er (nad) Sacobte 9lngabe): er uerlange gar feine 2BiHen$fretfjeit,
er banfe trielmeljr ©ott bafiir, „ba& er miiffe, ba3 83 eft e miiffe". 3k
ber lurjen SBemerfung, toomit er be8 jungen Scrufalem 2luffafc „iiber bic
greiljeit" begleitet, finbet fid) gang berfelbe ©ebanfe: „3toaitg unb 9lot^
toenbigfeit," tjeifet e3 l)ier, „nad) toetdjen bie SSorftellung be£ 93 eft en toirfet,
ttrie trie! toitlfommner finb fie mir, ate fafyte 93erm5genf)eit, unter ben
namftdjen Untftanben balb fo, balb anberS Ijanbeln ju f5nnenl" 3ur 6r-
ftarung, toie er jeneS „ba$ 93efte miiffen," meine, fiigte er in bem ©efpradje
mit Sacobi tjinju: e$ fei ein ^rrtfjum, foenn man ben menfdjlidjen S3er-
ftanb ate ein ©rfteS, 9Infto&gebenbe3 betradjte, ba er bodj, ttrie atle£
9lnbere, „t>on einer l)5t)ern Sraft abfyangt, bie unenbltd) erfjaben iiber
atteS biefeS Sinjelne ift".
Dffenbar badjtc I)ier Seffing enttoeber an bie „J)raftabilirte f>armonie"
Don Seibnifc, burd) toeldje ber ganje 3ufammenljang ber SBegebenfyeiten
in ber SBelt Don ©ttrigfeit fjer burd) ©ott beftimmt ift, ober nod) ttjafyr--
fd&einlidjer (ba er neben bem menfdjlidjen SSerftanb aud) bie „9tu3bcfjnung"
nenntj an bie ©ubftanj ©pinoia^ unb bie 2lbt)angigfcit afler ©injeltoefen
Don biefer, ate blower „2Robificationen" berfelben. Sebenfalte fa^ er ba^=
jenige, tuaS „bie 93orftetlung be§ »93eften« im 9Renf d^en totrfet/' fiir
etma^ $51jere3, 9SotI!ommnere§ an, ate ben menfd)tid)en ©injetmiflen.
SBunberbar ift c§, bafe meber .©ime, noc^ aber aud) bie beutfe^en
Hu§Ieger Seffing^ in biefem $uufte, toeber SRtttcr noc§ 3)anjet, meber
@d)toarj no^ $>ebler, barauf aufmerffam gemad)t t)aben, tt)ie grunbtoer-
fd)icben biefe Stuffaffung SefftngS Don ber Uufrei^eit be^ menfdtfidijen
SBttlenS Don berjenigen 3erufatem§ ift, beffen 2tnfic^ten boc^ Sefftng fjier
befraftigen unb Dert^eibigen tt)iH. Serufalem finbet bie Unfrei^eit be§
mcnfd)Iid)eit SBiUenS barin, bag jebem 3)enf- unb SBiHen^afte getuiffe
/fbunfle SBorfteHungen" Dorau^ge^en, b. ^. geloiffe unflare ©inbriide aufecrer
£effing in €nglanb.
333
$)inge auf bic ©eele beg 3Renfd)en, burd) toeldje bcr 2BiCe befiimmt toerbc
<gg fjeigt in bcm 9luffafce: „3)ag erfte ©lieb in bcr Sfette (unferer
4?anblungen ober aSorftettungen) ift immer einc SBorftettung, bic burdE)
cincn fmnltdjcn ©egcnftanb rege gemadfjt ift." SBcr fdnbc nidfjt ljierin
jcnc Xljeorie t)on ben „fteinen" Sorftettungen toieber (petites perceptions),
bic Seibnifc in feincn ttriber Sbde geridjteten Nouveaux Essais sur r Enten-
dement humain fo geiftreidf) unb mit fo oiel ©d)arffimt enttoidelte ? Seibnifo
iebient jtdj bofetbft ber augerft feincn unb jtnnigen Unterfdfjeibung jtoifdfien
bfog oeranlaffenben unb toirflid) jtoingenben Urfadfjen menfdf)lidf)er #anb*
lungen. Lea petites perceptions, fagt er, font pencher la volonte humaine,
mais ne la necessitent pas, b. 1). bie „fleinen" ober „bunflen" Sor*
fteOungen (bic oorauggegangenen finnlid£)en ©inbriide) tenlcn jtoar ben
metifdjlidfjen SBitten ljiertjin obcr bortljin, abcr fic jtoingen itjn nidfjt,
{jerabe fo obcr fo ju Ijanbeln; bcr SBiHe ift immer nod) ftarf genug, fid)
bicfem ©influffe ju entjieljen, gegen bie ftnnlidfjen ©inbriide ju rcagircn.
.gerufatem finbet bie Sreitjeit beg menfcfylidfjen SBilleng barin, bag bcr=
felbe im ©tanbe ift, bic „bmtflen" SBorftcttuugen „ju beutftdjen Quf jullaren"
unb boburd) „bagienigc, toag unfere SBernunft ung ate bag lj5d)fte ®ut
oorftellt, bemienigen, mag unfere Scibenfdjaften ate ©ut norftetten, bei
bcr SEBa^I oorjujieljen unb banadj feinc $anblungen einjuridjteu". S3et
3erufatem, ttrie bci Seibnife, ift alfo bag, nmg ben menfdfjlidjen SBittcn
beeinpugt (nidfjt „sttringt"), etmag Stieberereg, ate ber SSttte, ettoag
HftaterietleS; bci Seffing ift eg ettoag |)5l)ereg, ndmtid) jenc „t)6f)ere Sraft,
nott ber StIIeg abfjdngt" unb bie „unenblid) ertjaben iiber atfeg ©injetne ift".
9tttbertodrt$ aHerbingg, j. 93. in bem 3ufa& jum jtoeiten „2Botfenbitttler
fragment", bebient fid) aud) Scffing (toic $ebler ridjtig Ijeroortjebt) jener
$tuffaffunggtoeife 3erufalcmg oon ben „bunflen SSorftetlungen" ober „finns
lidjen SBegierben", bie „ju fdjto&djen" loir in ung bag Sermflgen fjaben.
©ime fjat fidf) bic ©adje nod) ettoag anberg juredjtgelegt — geiftoofl
unb in feiner Strt auc§ confequent, nur jtoeifeln toir, ob im ©inne
jener oben angefiiljrten SSorte Sefjingg. ©r fagt: ein 2Renfc^ toon aug;
geprdgtem E^arafter mirb im gegebenen gatte, too er jtoifd^en gut unb
bog ju tod^Ien f)at, bag ©rfterc marten. S)ieg ftimmt o^ngefd^r mit
bem jufammen, mag ftant ben „inteltigibetn SBiHen" ober ^arafter" beg
^Kenfd^en nanntc. ©ime beruft fidf) babei auf eine ©telle im „9latf)an",
too 9latf)an jum 3)erioifc^ fagt: ^Sliemanb mug miiffen, unb ein 3)ertoif(^
miifjte? SBag miigt1 er benn?" 3)erttrifdj: f/SEBarum man i^n red^t bittet
unb er fur gut erfennt, bag mug ein 2)erttrifd)." Sftatljan: /(S3ci unfrem
©ott, ba fagft bu wa^r." ^ier trifft aHerbingg bag ju, toag ©ime oom
„e^ara!ter" fagt; aHein bicfc ©telle im ^attjan" unb jene anbere Stcuge^
rung Seffingg finb offenbar jtoei ganj tjcrfc^icbene 3)inge — ttrieberum
ein Selocig, bag ttrir eg bei Scffing ni^t mit einem abgefdfjtoffcnen ^ilo-
fo^ifd^en ©tjfteme ju t^un ^aben, fonbern bag cr eg liebte, fold^je fpe-
Stotb unb Sflb. VI, 18. 23
33^
Karl Btebermann in letp3tg.
cutatiDe ^robtcme aud) einmat Don Derfdfjiebenen ©eiten ju betradjten.
g£ tarn i$m ebcn barauf on (uric cr felbft bie$ auSfpradfj), unablafjtg bie
SBa^r^ett ju fud)en, ofjne fidf) einjubilben, jemate bic ganjc SBaljrljeit tnU
bedt ju Ijaben.
SeffingS Iljeorie Don bcr „@eetentoanberung" betrarftfet ©ime meljr
ate cincn geiftreidjen ©ebanfen, bcnn ate cine tooljlbegrunbete unb flar
entttricfette %Cnfid^t. Stagegen Ijftlt cr Seffing filr eincn entfdjiebenen Sht*
ljftnger bcr fleibnifcfcfien Sbec Don bcr „bcften 2Belt" — nidjt in bent
©inne, ba& in bcr toirflidjen SBcIt SCHc^ auf'3 SJefte fu$ Derljatte, h>ot>t
abcr in bem, bag bic SBcIt unb namentlidf) bic moralifdje SBcIt, bie
3Renfd#eit, in cincm ftctigen gortfd^ritt jum Seften begriffen fci.
2)odj — toir ntiiffen mit unferen Setradfjtungen aurf) uber biefen Xl)eH
be3 ©imefdtjen Sucked jit @nbc fommen! S3ir fdfjeiben Don bcmfclbcn mit
aufridjtiger ?lcf)tung filr beg SSerfafferS ©rimbftdfjleit, Unbefangenljeit unb
filr fcin feineS ©inbringen in atte ©eiten unb SRidfjtungen be3 Scfftngs
fdEjen 28efen3 unb mit bem nodtjmaligen Stu^brud tyerjlicfjer greube bariiber,
baft 'unfer grower Srittfer, 2)idE)ter unb Stenfer cincn fcincr ttmrbigett
33iograj)l)en unb 9lu3leger in bem un3 ftammDertoanbten eugttfdEjen SSoIle
gefunben fjat.
Don
— Sedin. —
PIJH99U *>cr clcftrtfrfjcn Xetegraptjie benufet man cincn fogenannten
Erf j^l Stytibappavat, ber don bem amerifanifdjen SDtaler SRorfe er=
|pl funben ttmrbe. 2)iefer Styparat madjt auf cincm ^apierftreifen
■hUBM] $unfte obcr ©tricf>e, toenn cin lelegraptjift auf cincr fcmcn
©tation ben mit bcm Separate in Serbinbung ftc^cnbcn eleftrifcf}en Strom
5ffnct unb fdjliefet. 2)iefe $unftc unb ©tridje bilbcn bic Sudjftaben
bcr eltftrifdjen Xelegrapljenfd)rift. Sine al)nlid)e Xelegrapl)enfd)rift
empfangen toix t)on ben ©ternen, nidjt auf ben ©<f)hringen be£ clcftrifrfjcn
<Strome3, fonbern auf ben ©djttnngen be8 SidjtS, e3 finb bie bunflcn
Sin ten, bie ftcf} in bem ©pectrum be3 ©ternentid)t£ jeigen.
©eit 200 S^ten fennt man ba£ ©onnen;©pectrum, aber erft im
SInfang biefeS 3a^r^unbert^ beobadjtete SBottafton bunfle ©treifen in bem;
felben. graunfyofer, ber berutjmte 2Riin^ner Dptifer, untertoarf biefe einem
forgfaltigen ©tubium unb erfannte bereits, bag bag ©pectrum ber %\p
fterne jum Ifjeil ganj anbere, jum Iljeil biefelben Sinien jeigt, ate bag
ber ©onne, abcr cr dermodjte nid)t, bie fettfame t2inienfdjrift $u ent*
ratfjfeln, unb faft 50 Satire toergingen, ef)e man in biefen Sinien 93ud)s
ftaben erfannte, in toeldjen un3 bie felbftleudjtenben #immetef5rper ifjre
Seftanbtfjeile telegrapfjiren. 3)ie (Sntratfjfelung biefer ©thrift erinnert an
bie ©ntjifferung ber ^ierogl^^en.
3m British Museum befinbet fid) ein unter bem SKamen beg ©teinS
t>on Sftofette befannter fdjtoarjer ©tein, ber in Unteragtjpten gefunben
tourbe. Sr entfjalt eine breifadje SnWtift, eine griecf)if(f)e, bemotifdje unb
$ieroglttpf}ifd)e, bie beiben erfteren teidjt leSbar, bie lefetere ein Sftat^fct.
?lu3 ber griedn'fefjen 3nfcf)rift ging fjeroor, ba§ aHe brei ©cfjriften beSfelben
SnfjaltS finb. ®ennodj tear bei ber 93erftf)iebenljeit ber 2Bort= unb ©afc*
23*
336
W. VoqcI in Berlin.
bitbung in ben toerfdjiebenen ©pradjen cine ®eutung ber ^ierogt^if^en
3eid)en me^r at£ fdjhnerig. 3)a erfannte Stomas ?)oung, ber beruljmte
$I)t)fifer, ber fdjon ate ®nabe $roben feineS ftaunenShmrbigen ©pradjen*
talents gegeben Ijatte, ba& iebetn SonigSnamen in ber griedjifdjen 3nfd)rift
getoiffe, tnit einer eHiptifdjen Sinie umjogene Seidjen in ber ^terogl^p^en^
fdjrift entfpredjen unb ba& bei SBieberfetyr beSfelben SonigSnamenS in ber
gried>ifdjen ©djrift bie gtcidjen fyityn in ber ^ierogl^enf^rift fid)
ttrieberljolen. 3Mefc SRegelmafcigfeit fonnte !ein 3ufatt fein; biefe 3cid|en
unb biefe SKamen bebeuten baSfetbe, fagte 2)oung unb ber erfte
©djritt jur Sofung ber #ieroglt)pt)enfdi}rift tear batnit gettjan.
3n atjnlidjer SBeife lernte man bie lelegraptjenfdjrift ber ©teme
erft bann lefen, att man anberc analoge ©cfjriften, beren Sebeutung man
fannte, mit il)r toergtid) unb bie auffattenbe Uebereinftimmung ber 3^en
getna^r ttmrbe.
3n bem Spectrum ber ©onne gibt e3 taufenbe t)on bunflen Sinien.
grauntjofer erfannte, bafi biefelben eine feft beftimmte Sage ju einanber
tjaben, fo bafc man getoiffe Sinien unb Siniengruppen fofort toieber er;
fennt, gteidjtnel mit toetdjem gnftrument man biefelben beobadjtet. ©r
fteUte bie Sage toon nidjt tocniger alS 576 ©onnenlinien feft, enttoarf
eine genaue 3ci^nung bcrfelben unb benannte bie djarafteriftifdjften ber*
felben mit Sudjftaben, bie in bem ©pectrum eingefdjrteben finb, beffen
©ntftefyung beifolgcnbe gigur 1 toerfinnlidjt, bie bereits bei einer friiljern
©elegentjeit in biefer 3^itf^rift jur ©rlauterung biente (fietje Dctoberljeft
1877 ©. 102).
Safjt man auf ba3 in biefer gigur fidjtbare ©la^rigma P, ftatt
be3 fdjmalen SiinbelS ©onnentidjt ba£ Sidjt einer mit Sodrfatj gelb ge-
Die (Eelegrapfycnfdjrift bes fjimmels.
337
A D E F G H
mm
i
fdrbten ©pirituSflamme fatten, fo entftef)t, ftatt beS leud>tenben fiebem
farbigen ©pectrumS mit feinen bunflen Sinien, cine cinjigc tyette getbe
Sinie unb biefe nimmt genau bic ©telle ber mit D bejeidjneten bunflen
©onnenlinie ein. 3Ran bemerft biefe Uebereinftimmung ber Sage fofort,
toenn man auf bie untere $dlfte beg <Prtemag ba3 ®od}falafpiritu3lid)t,
auf bie obere #dlfte ©onnentid)t fatten Idfet. $ie fjctte gelbe Sinie
liegt bann genau in ber SJerldngerung ber bunflen mit D beaeidjneten
Sinie, hue fotdjeS gig. 2 barftettt. ^ 2
Sdfjt man ba3 Sidjt beiber Sicfjtquetten
nacfjeinanber burd) 2 ^rternen gefjen, fo
fpaltet fid) fotool bie fyefle Socf)faIjlid)tIinie
ate audj bie bunfle ©onnenlinie D in jtoei
Sinien unb toieberum liegen bie fjetten
Sinien genau in ber SJertdngerung ber
bunflen.
S)iefe toaf)rf)aft frappirenbe Uebereinftimmung entbecfte bereite graun;
§ofer, er Ijatte fomit in ber unter einanber gefteflten fpectralen ©onnen;
unb glammenfd)rift jtoei iibereinftimmenbe 3^i^en gefunben; aber ba£
eine 3«i^cn toax fjett, ba3 anbere bunfel unb biefer ©egenfafc toar ju
auffdttig, urn bie Uebereinftimmung fiir ettt>a3 mef)r ate einen 3ufatt
ju nefymen.
©o blieb ba3 SRdtfjfel ber ©onnenfcfjrift t)orIdufig ungeloft unb nur
fdjritttoeife fam man feiner S5fung nd^er.
©djon graunljofer l)atte feftgefteflt, baft in bem Sidjt unferer fferjen,
Sampen unb ©aSflammen nid)t bie ©pur Don bunflen Sinien fidjtbar ift.
Stte biefe glammen liefern ein ©pectrum, U)etcf)e3 au3 einem fjomogenen
ununterbrod)enen Sftegenbogenfarbenftreifen beftefjt. 2Ran erfannte aber
balb, bafc toenn bie ©trafyten biefer glammen burcf) gctoiffe burcf)fid)tige,
namentlid) farbige ®5rper gel)en, fid) in ifjrem ©pectrum bunHe ©treifen
bilben. ©o liefert SlnilinrotfjsSofung, in ben ©ang ber ©trafjlen em*
gefdjaltet, einen bunflen ©treifen im ©elbgriin (fiefje gig. 3), inbem e£
Don ben trielen farbigen ©tra^Ien, bie im Sampenlicfjte entfjatten finb,
bie griingelben toerfdjludt obcr abforbirt, afle iibrigen aber burcfjlafit.
SDlit ben feinen jarten ©onnenlinien fjat biefer biefe toerttmfefjene
©treif freilidj nur eine oberflddjlidje Sletyntidjfeit. Sringt man aber in
ba3 gldfcf)d)en F (gig. 3) einen Iropfen rotter raudjenber ©alpeterfdure,
fo fiittt biefeS fief) mit bem Stompf ber gebadjten gliiffigfeit unb bann
erf^einen in bem ©pectrum be£ burcfjgefjenben Sampenlicfjte ben ©onnen=
linien dfjnlidje, feine bunfle Sinien ju £unberten, inbem ber SJampf ber
genannten ©dure ebenfatte gehriffe ©traljlen be3 ©pectrunte toerfdjtudt
ober abfor&irt.
S)iefe £fjatfacf>e bered)tigte ju ber Slmtatjme, bafc aud) bie jafjlreicf>en
bunflen Sinien beg ©onnenfpectrunte burd) „3tbforption" in irgenb einem
338
ID. Dogel in Serlin.
2)ampfe ober ©afe %entftihtben, unb bamit fitig bcr ©deleter be$ ®el)eim*
niffcS bcr ©onnenlinien an, fid) attmdfytid) ju liiften. 93alb entbedttc man
anbcrc farbige Sdmpfe, bic dfyttidje, toenn aud) in iljren Sinien ders
fdjiebene Spectra lieferten. Stber feinS bicfcr „Sinienfpectra" ftimmtc
mit bcm ©onnenfpectrum iiberein.
Sifl. 3.
S)a beobadjtete bcr toerbienftdofle Dptifcr SBretofter brim geuaueren
©tubium be3 ©onnenfpcctrumS, bag mand>e bunflcn Sinicn auffatlenb
brcitcr toerben, toenn bic ©onne fid) bcm ^orijont ndtjert, bag fogar
atebann ncuc Sinicn auftreten, unb biefe ©rfdjeinung tiefe fid) nur bar=
au$ erfldren, bafc bic atmofpljdrtfdje Suft bicfe Sinicn toerurfadjt, inbcm
fie, gleid) ben genanntcn ®dmpfen, getoiffe ©traljlen toerfdjtutft. SKorgenS
unb SlbenbS ift bic $)ide ber Suftfdjicfjt, tnclrfjc bic ©onnenftratjlen burets
laufen miiffen, urn bte jum ©rbboben ju bringen, bebcutenb grower ate
am 2Rittag, in golgc beffen ift aud> bic 2lbforption ftdrfer; baljer crHart
fi<$ baS (Srfdjeinen ncucr unb ba3 99reitertoerben fcfjon borljanbener Sinicn.
Scibcr abcr fonntcn nicfjt atle, fonbern nur einjclnc Sinicn be3 ©onncn-
fpectrumS ate burdj bic Sttmofpfjdre toerantafit gebeutet toerben; todre Icfctcrc
bic attcinigc Urfad)e berfelben, fo miifetcn fid) in ben ©pectrcn bcr
ftcmc genau biefelben Sinicn jeigen, ioie im ©onnenlid)t. 3)afj biefeS
nid>t bcr gall fei, crfanntc fcfjon grauntjofer, cr erfldrte batjer mit grbfcter
3ut>erficf)t bereita im %af)xt 1814, baft, toaS audi) immcr bic Urfadje bcr
Sinicn fcin mflge, bicfc nid)t innertialb, fonbern aufcerfjatb bcr Sttmofpljdre
gcfud)t toerben miiffe.
2)a3 tear ungefdfjr bcr ©tanbpunft uuferer Senntniffc bte jum
Sa^rc 1859. ©treng genommen toaren tuir toon 1814 bte 1859 nur
foenig toortodrte gefommcn. ©3 ljerrfcfjte im ©ebiete be£ 2Biffen3 uber
Die Cclegrapficttfdjrift bcs fjimmcls, 339
trie gefjeimniffrolle ©onnenfernfdjrift bunfle Sfcadjt unb i|r entfpradjen
bic fjodjgeleljrten unb jcfet fo finblidj erfdjeinenben #t)potf)efen iiber bic
Ulatur bcr (Sonne, bic urn jcnc Qtit in alien ©djulen, in toetdjen $l#fif
getrieben ttmrbe, ate SBaljrijeit gelefyrt hmrben unb bie Slrago, ber grofce
tp^ftler, folgenberma&en tjinftettt:
„9Ran ift ju ber befinittoen (I) finnatjme gen5tl)igt, bafc bie Sonne
<w3 einent bunflen ®5rper befteljt, toetdjen junddjft eine in gettriffem (Srabe
unburdjfidjtige, bag 2id)t jururfftra^Icnbc ?ltmofpl)dre umtyutlt, ba& f)tcr=
<iuf eine leudjtenbe ?ltmofpt)dre ober ^Jfyotofpljdre folgt, bie felbft tone*
berum in einer genriffen (Sntfernung toon einer burdjftdjtigen 9ltmofpt)dre
umgeben ift. — SBenn man mid) fragt, ob bie Sonne toon SBefen be*
tootjnt fein fann, toeld>e eine [analoge Drganifation befifcen ttrie bief
twelve unfere (Srbe betodlfem, fo toerbe id) nidjt anfteljen, eine bejaljenbe
3lnttoort ju ertljeilen." SBie Slrago
fo leljrten toom flatljeber
#err ^uffenborf unb fjeber
unb fanben ©lauben bei 3ung unb Silt, benn audj im Sereicfje ber
Sftaturttnffenfdjaften gibt eg 3)ogmen, bie auf Ireu unb ©lauben genome
men toerben miiffen unb genommen toerben. 3n ijjrer mafelofen ©ctbft-
iiberfdjdfcung ate fogenannte §erren ber ®cf)5pfung fafjen fid) bie 2Kenfd)ett
fur einen fo unentbet}rfid)en gactor innertjalb ber tefeteren an, baft fie
il)r ftafein auf ©onne, 3Ronb, ^laneten unb gijftecnen ate felbftdcr-
ftdnbtidj erad)teten unb atte Ityeorien, toeldje biefer Slnfdjauung Ijulbigs
ten, mit SSergnugen acceptirten. — S)a tourbe eg plofcttdj unb faft un-
ertoartet lag. gm October 1859 toerfiinbete ber S3eriff)t ber SBerliner
Hlfabemie ber SBiffenfdjaften ber SBelt bie Sofung beg 9tdtf}fete ber ©tern*
telegraptjenfdjrift, bie (Sntbedung ber toaljren Urfadje ber graunljoferfdjen
Sinien burdj ©.Sircfyfjoff. 83alb barauf f olgte in ^oggenborffg Slnnalen 1860
bie publication ber „d)emifdjen Slnafyfe burdj ©pcctralbeobadjtungen" burd)
fiir^off unb Sunfen, unb mit ©taunen unb Setounberung toernafymen
bie (Stjemifer unb Slftronomen toon einer ganj neuen Unterfudjungg^
metfjobe, toeldje if>re bigger getrennt nebeh einanber toanbelnben
toiffenfd)aften eng toerfuityfte, Ujren ©efidjtgfreig in'g Ungemeffene ers
toeiterte unb neue tounberbare ©eljeimniffe ber ©djopfung offenbarte.
#5ren toir, ttrie bag SRdtyfel ber ©onnenlinienfdjrift geldft tourbe.
Sirdjljoff erjdljlt: „Um bie me^rfac^ be^au))tete ©oincibenj (bag
fammenfatlen) ber bur^ eine Sodjfatjflamme erjeugten 5HatriumIinien
mit ben D-Sinien beg ©onnenfpectrumg ju priifen, enttoarf i^ ein mdftig
fjetteg ©onnenf}}ectrum unb brad^te bann Dor ben ©palt beg St^^aratg
(b. i. bie female f^Iifeformige Deffnung, burc^ toel^e man bag ffadje
©onnenftra^Ienbiinbei [gig. 1] erieugt) eine 9latriums(ffioc§fal5)sgtamme.
3^ fa^ babei bie bunflen D- Sinien in tjctlc fid} toertoanbeln. — 3d)
liefe bann t>oHen ©onnenf^ein bur^ bie SRatriumffamme auf ben @})alt
3^0 3. W. Dogel in Berlin.
fallen unb fa$ ba ju meiner SSerttmnberung bie bunften D- Sinien in
aufcerorbentlidjer ©tarfe t>ert>ortreten. 3dj erfefcte bag Sidjt bcr ©onne
bur<$ bag 2)rummonbfdje ®alftid>t, beffen ©pectrum — feinc bunfeln
Sinicn t)at; hmrbe biefeg Sid£)t bur<$ cine geeignete ffodjfaljffamme ge*
leitet, fo jcigten fief) im ©pectrum bunfle Sinicn an ben Drten
ber Sftatriumlinieni" ©0 tyatte ©irdjfjoff in bem Spectrum eineg
Sidfjtg, toeldfjeg fur fidj feine bunflen Sinien gibt, folcfje erjeugt, unb float
burdj einc ijetle glamme; eg flingt parobo£, aber eg ift $f)atfad>e.
2)iefetbe glamme, beren Sidjt im Spectrum jtoei ljelle gelbe Sinien
liefert, t)erfd>ludt bag gelbe Sid)t einer anbem Sidjtquefle, beren Strata
len burdf) bie bettmfcte gelbe gtamme gefjen. $n gelben glamme
aber ift ber gelbe 3)ampf beg SDtetaflg entfjalten, toetcfjer einen §aupU
beftanbtfjeil beg ftodjfaljeg bitbet, bag SKatrium, unb fo hmrbe bie grofee
SBa^eif entbetft: bie bunflen Sinien D beg ©onnenfpectrumg
toerben burdj gliiljenben Sftatriumbampf erjeugt.
S)er ©onnenbudjftabe D toar fomit entratljfelt unb ju gleidjer $t\t
ber ©djtiijfel jur S5fung ber iibrigen gefunben. ®ird$offg ©eniug erfannte
bag biefen ©rfdjeinungen ju ©runbe liegenbeSRaturgefefe: biefelben ©tral)Ien,
toeldje ein gKtyenber 2)ampf augfenbet, toerben t)on bem ©arnpfe afc
forbirt, toenn frembeg Sidjt burdj ifjn f)inbu.r<f)geljt. Unb toag ®ird#off burcfy
©peculation gefunben, bag beftdtigte bag experiment getreu bem 3)idjtertoort:
SJHt bem ©eniug fte^t *Ratur im ewigen Shtnbe,
2Ba3 ber eine Derfpridjt, fjfllt bie anbre geaujj.
9fcacf)bem bag ©efefc ber ?lbforption glii^enber 3)ampfe (biefe jtnb eg audj,
toddle bie glammen unferer gcuertoerfgfbrper fdrben: ©trontianbampf
leudjtet in biefen mit rotfjem, 99art)tbampf mit gritnem, Supferbampf mit
blauem Sid>t) erfannt toar, fjatte bie toeitere Sofung beg SRatfjfelg ber
©onnenfdjrift feine ©djtoierigfeiten mefjr.
S)ie ©ntjifferung beg ©teing don SRofette hnebertyolte fief) in anberer
gorm. Sirdjljoff liefe bag Sitf)t glii^enber SDtetattbampfe auf ben unteren
Ifjeil, bag ©onnenlidjt auf ben oberen Iljeil feineg 5($rigmag fatten, fo
erljielt er bie bunflen Sinien ber ©onnenfcfjrift unb bie Ijeflen Sinien
beg leudjtenben 2)ampfeg iibereinanber unb fo erfannte er bie Ueberein*
ftimmung einer ganjen 8teif)e Don Sinien.
3Rand)e Sefer toerben ju toiffen toiinfdien, toie man 2RetaIIbampfe
erjeugt. ©ol^eg ift leicfjt mit ^iilfe beg eleftrif^en gunfeng. ©pringt
berfelbe jtoifc^en SDtetaHen uber, fo erfolgt glei^jeitig burd) bie babei
fic^ enttoidetnbe fetjr ^o^e lemperatur eine Sogrcifeung unb SSerflii^tigung
»on SKetaltt^eil^en unter glanjenber Sic^terfc^einung. ©0 fann man
(Sifen, Supfer, ©olb, felbft tpiatina toerftudjtigen. 2)ie ©pectra, tnelc^e
biefe SKetattfunfen geben, befte^en aug einer grofcen ^Ber Sinien.
@ifen gibt beren j. S. 450 unb alg ftirc^^off biefe neben bem ©onnem
fpectrum beobac^tete, ba jeigte fid^ eine frappante Uebereinftimmung mit
Die (Eelcgrap^cnfdjrtft t>es Jjimmels.
getmffen ©onnentinien, toie fic beifotgenbe gigur, toeldje einen Itjeil beS
©pectrumS im (Sriin barftcllt, toeranfdjautidjt. Sird^off crfannte, baft
nidjt nur jcber t^eden (Sifcnlinic eine bunfte ©omtentinie entfpridjt, fonbern
bafe aud) bic gntenfitdt, $trfe, lurj bcr ganje Sfjarafter berfelben mit
einanber f)armoniren, unb biefc Xtjatfacfjc crflart fid) nur burd) bie 3In=
natjme, baft ba3 £id}t bcr ©onne burd) Sifenbdmpf e gegangen ift,
bctoor &ur (Srbe gelangte. ©o Ijatte fiirdjfjoff burd) $8crgteid)ung ber
SonnenHnienfdjrift mit ber funftlid) entioorfenen ffitfenlinienfdjrift einen
jtociten ©onncnbudjftaben entrdtfjfcU, unb biefer bebentete Sifen.
aSofjI fonntc man bie ©pectra ber gliifjenben 9Mallbdmpfe fdjon
friif>er. 2Bf|eatftone, ber befannte $f)t)fifcr, toefdjier bie ©efdjttrinbigfeit
ber ©leftricitdt mafc, f»atte bercits im Safjre 1835 SIKetaUfpectra be-
obatfjtct, aber abgefcf)en toon einem pcf)tigen SScrfud) toon 93reiofter tear
t§> ^iemanbem eingcfaCten, cin fold)e£ 2KetaHfpectrum neben bem ©onnen;
fpectrum ju beobatfjten, $ird>f)off unterna^m eg unb cr entbedte ben
©djtuffet jur 2e(egrapf)enfd)rift be3 §immel£.
2Bo befinben fid) aber bic gluljenbeu ©ifenbdinpfe, toeldie burd)
f oration bc§ tocifjen ©onnentid)t3 jene fcfjtoarjen Sinien erjeugen?
£oren loir $ircf)f)op 2(uttoort, bie er in ben 93erid)ten ber 93erliner
Slfabemic toom ^a^xt 1861 publicirte: „3>ie ©ifenbdmpfe fonntcn in bcr
$ltmofpl)dre ber ©onne ober in ber ber 6rbe toorfyanben fein. 2tber in
uuferer Sltmofptjarc fann man unmoglid) (Sifcnbdmpfe in ciner SJienge an-
nef)mcu, bie gureidjenb ttnire, um fo au3ge$cid)nete 5lbforption3linten im
©onnenfpcctrum tjertoorjurufen, ate bie ben Sifentimen entfpredjenben finb;
um fo tuenigcr, aU biefc Sinicn nidjt cine merfbare SScrdnbcrung erteibcu,
loenn bie ©onne fid) bem ^orijontc ndfjert. 5)er 2lnnaf>me folder $dmpfe
in ber Stmofpljare ber ©onne fteljt aber bei ber |>of)e ber Semperatur, bic
loir biefer jufdjreiben muff en, 5fticf)t» entgegen. ®ie S3eobad)tungen bet?
©onnenfpcctrumg fdjeiuen mir ^iernad) bie ©cgentoart toon ©ifenbdmpfen
in ber Sonnenatmofyfjdre mit eiuer fo gro&en ©id)erf)cit $u beloeifen, aU fie
bci ben 9taturnuffenfd)aften ubcrfjaupt erreidjbar ift. — 9tad)bem fo bie
©egentoart eine£ irbifdjen ©toffee in ber ©omtenatmofpf>dre feftgcftetlt
3^2 fj- W. Dogel in Berlin.
unb burdj biefclbc cine grofee 3^1 bcr graunfjoferfdjen Sinicn erfl&rt
ift, liegt bic 93erntutf)ung nat)e, bafc aud) onberc irbifdf)e ©toffe bort fid)
befinben unb burdj bic 3tbforption, bic fic auSiiben, anbere Don ben graun:
Ijoferfdjen Sinien Ijertoorbringen. ©3 ift namenttidj ttoat)rfdf)einlidf), bafc
©toffe, toeldje fjier an ber ©rboberftacf)e in grofcen 2Raffen toorljanben
finb unb toeldje jugleid) burdj befonberS fjelle Sinien in ifjren ©pectren
fid} auSjeidjnen, auf aljnticf}e SBeife, tt>ie ba3 ©tfen, fid) in bcr ©onnen;
atmoft>f)dre bemerflidf) tnadjen toerben. ©3 tft ba3 in bcr Zfyat ber gall
bci ©alciutn, SDtagnefium unb Sftatrium. 3t£lerbing3 ift bie 3^1 ber
fyetten Sinien in bem ©pectrum eincS jeben biefer StRetallc nur ein fleine,
aber biefe Sinien, fonrie biejenigen be3 ©onncnfpectrutnS, tnit benen fie
ju coincibiren fdjeinen, finb toon fo auSgejeidjneter 2)euttid)feit, bafe i^re
©oincibenjen fid) ntit ganj befonberer ©djiirfe beoba<f)ten laffen. $ierju
tragt ber Umftanb nod) mefenttidj fflrbernb bci, bafc biefe Sinien in ©ruj>;
pen toorfontnten, beren ©oincibenjen f<f)arfer ofe bic ©oincibenjen einjelner
Sinicn toatjrgenontmen toerben fonnen.* 2)ie Sinien be£ ©fjromS bilben
audf) eine fefjr au£gejeicf)nete ©ruppe, bie mit einer gleid£)fatl§ feljr beut*
lichen ©ruppe grauntyoferfdjer Sinicn iibereinftimmt; aud) bic Slntoefens
tjett be3 ©f)romS in bcr ©onnenatmofpljdre gtaubc idt) tjiemad) befyaupten
ju bitrfeu. — ©3 fdjien toon Sntereffe, ju pritfen, ob in ber ©ottnenatmo*
fpfyare audt) SKidel unb Sobalt toorljanben pub, biefe ftcten SScglciter be3
©ifenS in ben SReteormaffen. 3)ie ©pectren biefcr beiben SDtetatte jeidjnen
fid), ttrie ba§ be3 ©tfenS, burdj bie aufeerorbentlid) grofce Saf)l ifjrer Sinicn
au3. Slber bie Sinicn be3 SKidelS unb mefjr nod) bie be£ SobattS finb
fetjr toiel tocniger Ijett, al3 bie be3 ©ifen3; id) fonnte tfjre Sage batjer
langc nidjt ntit bcr ©enauigleit beobadjten, ttiie e3 bci ben ©ifenlinien
moglicf) getoefen toar. 2)ic tjctteren Sinien be3 9tidel3 fd)einen attc mit
Sinicn be£ ©omtenfpectrum3 ju coincibiren; baSfelbe finbet ftatt bci einigen
Sinien beg tobalta, bci anbercn toon merflidE) gleidjcr ^ettigfeit aber nid^t.
3d£) gtaube au^ tncinen Scobac^tungen fdfjliefjen ju biirfen, bag 3lidet
in ber ©onnenatmofotjare fid^tbar ift, ob baSfelbe toon Cobalt gilt, bars
ilber ^altc i^ mein Urtfjeil jurud. 99art)um, Supfcrunb3inf fd)einen
in ber ©onnenatmofatjare toor^anben, aber nur in geringer SKenge. 2)ie
iibrigen 2RctaCe, tocld)c ic^ ju unterfudjen ^abc, namlic^ ©olb, ©ilber,
Duedfilbcr, SHuminium, Sabmium, 3inn, 99Iei, Slntitnon, Slrfcn, ©tron=
tiunt unb Sitf)ium finb im ©pectrutn bcr ©onnenatntof^are nid^t fic^tbar."
Stad^ bicfen Stjatfadjen blieb jur ©rflarung bcr bunflcn Sinien be§
©onnenfpcctrum^ nur bie Slnnatnne iibrig, bag bic Sonne auS einem
^ettleu^tenbcn, in f)5djfter SBci^glut^ befinbli^en Sern befte^t, ber um=
geben ift toon einer gliitjenben S)ampfatmof^arc toon ettoa^ geringcrer
Scmperatur.
„2)iefc Sorftetlung toon ber SBefdjaffentieit bcr Sonne ift in Ueberein=
ftimmung tnit bcr toon Saplace begritnbeten ^ot^efe ilber bie Silbung
Pie (Eelegraptteufdyrift bcs ^immcls. 3^3
unfereg $lanetenfoftemeg. SBenn bic 9Jlaffe, bic jefet in ben cinjclncn
$5rJ>ern begfelben conccntrirt ift, in friitjeren Qtittn eincn jufammenljdngen*
ben SKebel Don uugeljeurer 2lugbet)nung bitbetc, burdj beffen 3uf amines
jieljung Sonne, 35Ioncten unb 3Ronbe entftanben ftnb, fo mu&ten afle bicfc
iJdrpcr bci tyrer Silbung im SBefentlidjen Don dl)nlitf)er Sefdjaffenfieit fcin.
2)ie ©eologie f>at gelefyrt, bafc bic 6rbe cinft in gKrtjenb ffiiffigem 3u*
ftanbc fid) bcfunben l)at, man mufe annefymen, ba§ aud[) bic anbern Sibr*
ptx unfereg ©gftemeg etnmal in eincm fotcfjen getoefen finb. 2)ic Slb=
MJjlung, bic in golge ber 2lugftrat)lung bcr SBdrme bci alien cingctrctcn
ift, t)at abcr bei i^nen, oornetjmlid) je nad) bcr oerfdjiebenen ©rSfce, fetyr
t>erf$iebene ©rabe crtangt unb iodf)renb bcr SDtonb falter alg bic ©rbe
(jetoorben ift, ift bie Semperatur bcr Dberflddje beg ©onnenf5rperg nodj
itidjt untcr bic SBeifjgtutjtjifce gefunfen."
„S)ic irbifdje Sltmofp^arc, bic jefct nur toenigc ©(entente (fjauptfdd)*
lid) ©tufftoff unb ©auerfioff) enttjdlt, mufcte, alg bie ©rbe nodj glityte,
fine Die! mannidjfaltigere 3ufamurcnfej}ung Ijaben, atle in bcr ©liifjtjifce
fliidjtigen ©toffe mufcten in ifyr oorfommen. Sine cntfprcd;cnbe Sefdjaffen*
Ijeit inuji nod) l)eute bic Dberflddje bcr ©onne befifcen."
S)iefc £ird)l)offf(f)e £ef)re toar fo iiberjeugenb, fic loar fo fic^cr
bur<$ bic I^coric unb bag ©speriment geftiifct, bafc fic atle ©eteijrten
fofort fur fid) getoann, undt)nlicf> anbercn Xtjeorien, bic auf jafjen
UBiberftanb ftiefeen unb erft nadj jafjretangem Stamps ben ©ieg getoanncn,
35. bic Sc^rc Don bcr 9ljcnbre^ung ber ©rbe, bic SBcttent^eoric beg
£id)te3, bic Setjre Dom Suftbrud unb bic SKetotonfdje garbenlef)re.
2Bie ©olumbuS' ©ntbeiung ben tellurifdjen ©efidjtgfreig bcr 2Renfd)en
ertoeiterte unb cine neue SBett auf ©rben erfdjtofj, fo ertocitcrtc bic
(Sntjifferung ber ©ternfdjrift ben fogmifdien ©efid)tgfreig unb erfdjlofj
ein neueg ©ebtet bcr SBiffenfcfjaften, „bie Efjemie beg geftirntcn #immelg".
Sirdjjjoff begniigtc fid) bamit, ben ©djtujfet jur Sofung bcr leles
graptjenfdjrift beg £immetg geliefert ju tjaben. @g tag iljm fern, bag
tRattyfel atler ©onnenttnien tofen ju tootten. ©r iiberlic^ bag ben jaljls
rei^en gorje^ern, bic mit gcuercifer bie ncue 93coba(^tunggmct^obc ergriffen.
SSalb entbecftc man noc^ anberc -JRetaUe, tok ©trontian, ffabmium,
Cobalt, (bcffen ©cgenioart Sirc^^off jtoeifcl^aft erfdjienen toar), SKangan,
lEitan, ftupfcr unb Uran unb auc^ ein 9ticf)tmetall, bag SQSaffcrftoffgag.
9la$ ^ir^^offg Stnf^auung miiffen bic glii^cnben 2)dm})fe unb ©afe,
tuel^e in bem 2icf>te beg toeiftglu^cnben ©onncnfdrperg gcloiffe ©tra^
len augWf^cn unb baburd) bunfle Sinicn lief cm, fur fi^ attein (ot)nc
bag Si^t beg ©onnenforperg ba^inter) ^cllc Sinicn erjeugen, cbenfo
loic cine So^faljfpiritugflamme, bic, Dor ein SnaHgaglid^t ge^altcn,
^toei bunfle Sinien crjcugt, fiir fic^ attein burcf) bag ?|5rigma betra^tct,
%toti ^cttc fiinien liefcrt.
Slun ift man bei getoiffen ©elegentjciten in bcr Sage, bag 2id)t bcr
34$ f?. W. Dogel in Berlin*
Sampfe bcr ©onnenatmofptiare fiir fief) attein, ofjne bag Sicfjt beg barunter
befinblidjen ©onnenf5rperg, beobadjten ju fdnnen, bag ift bci total en
©onnenfinfterniffen.
3Rit Ungebulb ertoartete man nadj $ird#)offg (Entbedtung bic crfte
©onnenftnftemtg, eg mar bic beriifjmt getoorbene toon 1868. 3)eutfd}ef
englifdje unb franjbfifdje Seobadjter begaben fid) ju iljrer Seobadfjtyng nad)
3nbten, unb bem granjofen 3anffen gtiicfte eg juerft, tjeUe Sinien in
bcr fitmofpfjare bcr total fcerfinfterten ©onne ju fefjen; bicfe Sinien ge*
l)5rtenbem SBafferftoff an. ©omit toar Sirdjfjoffg S^coric auf bag ©cfjonfte
beftatigt.
ganffen erfannte bicfc Sinicn jncrft in bem ©pectrum bcr $rotu~
beranjen, b. 1). bcr rofafarbenen £ert>orragungen, bic gleicf) SBolfen obcr
gcuergbriinften, obcr getoattigen #5mem ilbcr ben berfinfterten ©onnen*
ranb f)od) ljinaugragen. ©r crfanntc abcr audj, bag bic gefeljenen ljetlen
Sinien t>on folcfjer 3ntcnfitdt ttmren, bag cr bic $>offnung ftufcerte, bie*
fclben audj bci fjettem Sage, trofe beg gtiifjenben Sidjteg bcr ©onne,
toajjrneljmen ju fdnnen. Unb bicfc $offnung ging in ©rfiittung. Site
cr fcin 3nftrutncnt am folgenbcn lagc auf ben ©onnenranb einftellte,
crfanntc cr fjeUe Sinicn unb jtoar biefetben, bic cr lagg toorfjer gefefjen.
@r crfanntc baburd), bag bic getoaltige, an 20,000 SKcilen fjolje $rohu
bcranj, toeldje cr toafjrenb bcr ginftemifc beobadjtete, cincn Sag fpater nidjt
mefjr toorfjanben toar. ©Ije bcr Script ilbcr fcinc SSeobadjtungen nad)
(Suropa gefommen toar, gliicftc eg Socftjer, bic tjetten ^rotuberanjcnlinien
o^nc ©onnenfinfternifj ju beobadjten. SDlit ©if cr tourbc nunmefjr bcr ©onnens
ranb auf tjette Sinicn im ©peetroffope gepriift, bic ©omtenflede unb
bic fie umgebenben #albfdjatten unb fjettglanjenben gatfeln tourben in
glcidjcr SBeife aufg^orn, obcr beffer gefagt, auf ben ©palt beg ©pectroffopg*
genommen unb Socfyer, 9lefpigl)i, 3anffenf 3oeHner, (£. §3ogel, ladjint,
©ecdji, ?)oung :c. f 5rbcrtcn burdj iljrc SBeobadjtungcn innerfjalb toeniger 3^re
grofcartigeg SDtaterial iiber bic Sftatur unfereg ©onncnf5rperg ju lagc.
2Ran ftctltc feft, bag bie 5($rotuberanjen nur locale 2lntjaufungen toon
SBaffcrftoff finb, ©onneneruptionen, bci toeldjen bic gliifjenben ©agmaffen
fjod) fjinauggefcfjteubert toerben, fo bag fie jum Ztyit big ju 14 ©rbburdjs
meffer iiber ben ©onnenf 5rper emporftcigen. 2Ran erfanntc in biefen glitfjen*
ben ©agmaffen and) nod) bie fjcUen Sinien beg ®alfg, 2Ragneftum^f
5Ratriumg, 99ar^umgf SJticfetg, 6ifeng unb 3Kangang. 2Ran fteUte feft, bag
abgefe^en t)on localcn SBafferftoffant)aufungcn bie ©onne ringgum mit etner
mcfentli^ toaffcrftoff^altigen, ^ctte Sinicn im ©pectrum jeigenben Sltmof^rc
umgeben ift, bie Socftjer S^romofp^arc nannte, unb $oung gclang eg, bei
ber ©onnenfinftemifj t)on 1870, in fcf>5nfier Seftatigung ber ^ir^offfd^cn
Iljeorie, ni^t nur einjelne ^cllc Sinien barin toa^rjune^mcn, fonbern
fammttidie bunfle Sinien beg ©onnenfpectrumg im SKoment ber t)5ttigcn
Scberfung bcr ©onne burdj ben SWonb alg tjede Sinien ju crbtirfen.
Die (Eelegrapfjettfdjrtft bes fjimmcls.
3^5
®ie aSofferftoffmaffcn, toeldje bic ©onne umgeben, Ieud>ten aber jura
^fjetl mit folder ©tutf), bag fie fetbft mitten auf bcr ©onnenfdjeibe ate
Ijctle Sinicn erfdjeinen. ®icfc^ gefd>iet)t namentlidj an ben ^odjglanjenben
©tellcn, toeId)e bic fogenannten ©onnenfadeln bilben unb bic nidjte
tteiter barftetlen, ate ^rotuberanjen mitten auf bcr ©onnenfdjeibe.
SReuerbingS erfennt man aber bie ^Srotuberanjen am SRanbe ber
(Sonne nidjt bloS an ifjren ^eUcn Cintcn. SertooHfommnete Spectral*
eppaxatt crlaubenf nad) ber 9Retf)obe be3 trefftidjen StftropI^filerS
SoeHncr in Seipjig, biefclben in itjrer ooflen ©cftatt ttmljrjunetimen.
SoeHner fclbft hmrbe burdj feine SeobadjtungSmetljobe am 1. guli 1869
Senge ciner tjodjintereffanten ©onnenredolution, bei toetd)er pldfclid)
madjtige ^rotuberanjen dor feinen Slugen auftaudjten, itjre ©eftalt in
ber feltfamften SCScife toeranberten unb hneber oerfdjtoanben. SBir geber. nadj*
folgenb 3oeHner^ Sefdjreibung unb Slbbitbungen.
„2)ie erfte ^rotuberanj, toetdje id} beobacfjtete, ift in gtgur 5 bar*
gefteflt. Uebcr ciner intenfit) kudjtenben fcgelfbrmig am ©onnenranb
cufficigcnbcn SKaffe breitet fid) ein tooIfenartigeS ©ebilbe t)on geringcr
Stttenfitat au3.
3tfl. 5. gig. 6.
„®in3 ber merfttmrbigften ©ebilbe toar bie in gigur 6 bargefteHtc
^rotubcranj. 3d) traute mcinen Stugen faum, ate id) an bemfelben bie
jiingclnben S3etoegungen einer glammc toaijrnafjm. S)iefe SBetoegung toar
jebod) langfamer, ate bie entfpredjenj>e tyodjauflobember glammen bei
geuerSbrimften, fie bauerte 2 bte 3 ©efunben."
(Sine biefer atjnlicfje SJJrotuberanj beobadjtete bic norbbeutfdje ©onnen-
finfternifcespebition, bei toetdjer ©djreiber biefe» betfyeiligt toar, 1868 in
SIbcn in ©iibarabien unb gelang e3 ber ©Epebttton, beren ettoa3 gefrummtc
©eftalt ^^otograp^ifd) ju feffeln.
Son ber gro&en ©djnelligfeit, mit toeldjer SJkotuberanjen, ifjrer
gorm unb 3ntenfitat nadj, fidj oeranbern, geben bie 2lbbitbungen in
gig. 7 Seifoiele. Sn biefen finb bie oerfd)iebenen ©eftalten bargeftettt,
5^6 W. Dogel in Serlin.
torfdje eine unb biefelbe toon 3oHncr beobadjtete ^rotubcronj in ben bar-
unter angegebenen S^iten annaljm.*)
JmIi1.5u45m 6u55m 6u57m
I. II. "I
3ie^t man in 93etracf)t, bafc bie ^rotuberanjen gig. 5 unb 7 eine
$of)e gleicfj bem toierfacfjen ©rbburdjmeffer aufttriefen, bie ^rotuberanj
gig. 6 fogor eine §'6t)t gleidj bem 13l/2fadjen, bafe fewer bei ben in
Sift- 8.
gig. 7 abgebilbeten Seranberungen ber ©eftalt bie ein&etnen Xfjeile Se=
toegungen burd) eine ©trede toon circa 6000 geogr. SWeilen innerljalb
toeniger SDtinuten toottfiifjrten , fo befommt man einen annafyerttben S3e=
griff toon ber Soloffalitat ber ©onnenau3brucf)e, mit benen toerglidjen bie
toer^eerenbften SBuIfanauSbriidje unferer (Srbe ate eitel ©pielerei erfdjeinen.
Unb biefe ©onnenretootutionen gefjen faft tagtid) toor fid), toenn aud)
rioben ber Stulje eintreten, too fie minber f>eftig erfcfjeinen. 3Ran Ijat
SSetoegungen an ^rotubcranjen beobadjtet, bei benen biefe in ber ©efwtbe
20 SOteilen burdjliefen, toafjrenb ber fitrdjtertidjfte irbifcfje Drf an faum
mef)r ate yi2 9KetIe in ber ©efmtbc burdjraft.
©o bebeutenbe SRefuttate bie ©pcctroffopic ber ©onne aber aud)
*) 3)te 3eitangabe nnter bet erftcn ftigut tft imridf)ttg. (53 ift ftatt 6^. 45
6U. 45 m. icjen.
Pic (Eelegraplienf^rift bes Bimmels. 3^7
ju Derjetdjnen ^at, fo finb toxx nodj tocit entfernt, bic Urfad>e alter
©onnentinien beftimmen ju f5nncn. ©tttm 1700 Sinien fyaben ftirdjtjoff,
Hoffmann, 3lngftr5m unb Stolen in bem fid>tbaren Iljetle beg
©onnenfpectrumg t>erjeidjnet, abcr nur ungefdtjr bcr fedjgte itjeil ber*
felben ift bigljcr fid^cr gebeutet toorben.
Ueberfieljt man bic Safyl bcr auf bcr (Sonne gefunbenen ©(entente,
fo erfdjeint eg aupttig, ba§ Sdrper, bic untcr ben Seftanbtfjeilett nnfercr
(Srbc einc toidjtige SRottc fpielen, 3. 93. bcr ©auerftoff, ber attcin Vs
unferer Sttmofptydre augmadjt unb eincn ^auptbeftanbtljeil ber fcften unb
fluffigen @rboberf(ad)e unb firfjer au<$ beg ©rbinncrn bilbet, bort oben
nod) ni<$t gefunben toorben ifi.
9Ran Ijat bic Sinicn beg gluljenben ©auerftoffg auf bag Slufmerffamftc
mit ben ©onnenlinien toerglicfjen, jebodj otjne pofiti&eg Stcfultat. ©6enfo
fcergeblidj toar bag gorfdjen nad) ben Sinicn beg ©tidftoffg, beg ®d)tt>efelg,
bed ©itieiumg unb anbercr 9lid)tmetalle.
3n neuefter &t\t ift bie S5fung biefeg SRdt^fcfe t>erfud)t toorben.
SJSrofeffor 2>raper ptjotograpljirte ben biotetten I^eil beg ©onnenfoectrumg
unb bag ©pectrum eineg buret) Suft fcfjlagenben eleftrifefjen gunfeng unb
ju feincr Ueberrafdjung erlanntc er in bem 83Ube, bag ttrir fyier in gig. 9
reprobuciren, bafc bie (in ber gigur mit 0 bejeid)neten) ljeflen Sinien beg
©ancrftoffgafeg nicf>t mit bunHen Sinien bcr ©onne, fonbern mit ^cBcn
3roifd)enrdumen iibereinftimmtcn.
$icfe £fjatfad)e tourbe nadi) Sird)f)offg Xfjeorie gegen bie Slntoefem
tyit beg ©auerftoffeg in ber ©onne tyredjen, benn ber glityenbe ©auer^
ftoff fotltc fid> eigentlidi) burd) fdjtoarje 2tbfor^tion»Iinien toerrattjen, toie
bic iibrigen (Stemente ber ©onnenatmoftrfjdre.
3^8 fj. W. Dogel in Berlin.
3te^t man aber bic Xljatfadje in S3etrad>t, ba& bei ben ©onnctt-
faefdn (f. o.) audi) anberc ©afe, j. 8. SBafferftoffgaS fid} nid)t in bunflen,
fonbern in tjeflen Sinicn auf bcr ©onnenfd>eibe marfiren, bafr femer in
ben ^rotuberanjen cine ljette gelbe Sinie fidjtbar ift, fiir toeldje toir
feine analoge bunHe im ©onnenfpectrum fennen unb beren Urfprung nodj
nidjt entr&tf)felt ift, baft enblid) bie 93reiten ber ©auerftofflinien unb bic
93reiten ber bamit jufammenfallenben 3tt>ifc*)enraume tm ©onnenfpectrum
einanber entfpredjen, fo erfdjeint e3 tool glaublid), baft audj ber ©auer-
ftoff fo IjeH leudjtet, bafc fein 2tu3ftral)lung3t)erm6gen fein 8tbforption3~
Dermfigen fiberfteigt, b. I), bag er fyeUe Sinien ftatt ber bunflen im
Spectrum crjeugt. ©omit toiirbe nacf) 2)raperS Stnfidjt bad ©onnen-
fpectrum ate ein ©emifcf) t)on buntten unb Ijetten Sinien erfdjeinen unb
©auerftoff unb SBaffer ftoff, bie fid) bei mafiig ljoljer lemperatur unter
getoaltiger @£plofion mit einanber toerbinben, bort oben nocf) neben einanber
ejiftiren, burdj bie ungeljeure ©lutf) bed ©onnenfdrperd an i^rer Ser-
einigung toerljinbert.
Dad finb in Surjem bie toefentlidjften SRefuttate ber fpecttalanattj;
tifefjen Unterfudjung ber ©onne.
3)te ©ntratljfelung iljrer £elegrapt)enfd)rift tyat un3 mit loloffalen
SRetoolutionen auf beren Dberfladje befannt gemadjt, fie ljat aber aud)
eine ebenfo grofce SRetoolution in unfem Stnfdjauungen fiber biefelbe Ijertoor;
gebrad)t.
SBie l>armlo3 erfdjeint und jefct bie fimfjig ga^re lang toon alien
$attjebem geleljrte unb toon aller SBelt geglaubte $t#otl)efe dom be-
tooljnbaren ©onnenf5rper, eine Stnfdjauung, toelcfje empfinbfamen ©eelen
geftattete, fid) ben SDRittetyunft unfered ?|5lanetenft)ftem£ ate Drt bed ettrigen
griiljtingS, ate 2tufeutljalt3ort gliidtid)er 2Renfd)en auSjumaten. SRan
trdumte toon einer #ettigfeit ofnte erfcfjlaffenbe SBarme, toon einem $ara?
bieS, fo recfjt gceignet jum SBo^nfifc ber ©eligen.
S)a jog $ird)Ijoff ben ©djleier t)on bem $l)antafiegematbe. 9lu3 bem
getraumten ^arabied tourbe ein fdjauerlidjer ^flllenpfuljl, entfefclidjer al£
bie unJfjeimlidjfteu SSilber and 3)ante3 3nf erno, ein etoig gft^renber, fuften=
lofer Seuerocean, beffen graufentootte $ifee nidjt nur jebe ©pur organifdjen
Sebend auf toeite gerne unmSglid) madjt, fonbern felbft bad 5Bereinigung§-
beftreben ber ©temente toereitelt unb bie ftrengfluffigften ^5rper mie Salt,
SKagnefia, ©ifen ju ©afen toerflficfjtigt, toelc^e ate brobelnbe (Slutl^
atmofp^are ben (tjiellei^t fluffigen) ©onnenf5rper umtofen, fi^ toeite ju
SBotlen derbic^ten, toeite in geuemebel jerftieben, unb in furd)terlid^en
Drfanen, gegen toetd)e bie irbifd)en leifund trie ^inbedobcm erfdieinen,
bic SBeBen bed ^aotifd)en ©lutf)mcere§ peitf^en.
Dcv Palatin unb feme 21usgrabungen*
Don
— Horn. —
|RSSScr fjertoorragenbfte unb anjiefyeubfte unter ben „fiebeu £iigeln"
y Wom§ ift Ijeute ber palatin. 2)ie beiben sufammenfjdngenbcn
1 norboftlidjen, b. I). berOuirinal unb ber SSiminal, finb tooflig mit
**™***dJk mobernen ©ebduben iiberbedt; ber erftere trdgt befanntlidj ben
jur foniglidjen SRefibenj getoorbenen mddjtigen pdpftlidjen $alaft, ber
anbere bidjtgebrdngte 2Bot)nung§quartiere. 3m Storben l)at bie ertoeiterte
©tabt aud) ben SRonte tpincio nod) mit in ifjre ©renjen gejogen unb fid)
baburd) bie fffyone t)on ben SR5mern unb ben gremben gteidnnd&ig gefdjdfcte,
aber aud) einjige ^Jromenaben^nlage ettoorben. Ser auSgebefjnte 63qutfin,
im 3Utertf)um buret) bie ©drten be£ 9Jidcena3, bie £itu£tf)ermen unb bag
©olbenc §au» SKeroS gefd)mudt, fpdtcr entofltfert unb tterlaffen, ift neuer*
btngS pm ©djauplafc ber gro&artigen ©rtoeiterungSantagen geioorben
unb bereitS pm grofeen 2f)eil toon breiten gcrablinigen ©trafcen unb
t>on mobernen §dufern unb SSiUcn bebedt. 2lUe£ aber, toa£ ioeiter fiib=
lid? liegt, trdgt jene ©puren ber SBerobuug, jencn traumfjaften Etjarafter
be3 (SefdjiounbenfeinS einftigcr $rad)t unb ©rofte, ber un£ bie alten
SRuinenftdtten fo anjietjenb mad)t unb in 9iom burd) feine ©ontraftc ganj
befonberS feffelnb toirft. ®aum fjat man bie neueften ©tabtquartierc unb
bie prdd)tige Safilica ©a. 9Karia SPlaggiore Winter fid), fo glaubt man fidE>
in ber oben Eampagna ju befiubcn. SBeite unbebaute ©treden, ttrie
braufccn oor ben Sfjoren, befjnen fid) I)ier au3: unb bod) finb nrir nod)
innerfjalb ber Slurelianifdjcn ©tabtmauer, auf einem Soben, ber eiuft
bidjt beroofjnt toar. — $5er gan§e SaeliuS ift jcjjt unbetoofjnt unb nur
Don toereinselten $rad)tbauten, nne bem Satcran, befefct, toelcfye feine
SScrobung nod) augcnfdUiger madjen. 2Iu3gcbef)nte Siguen, ©drten unb
gelber nefjmen bie ©tetten ein, too einft bid)tbeootferte ©traftenquartiere
lagen; fyatbberfatlene SDiauern unb 3)oruenI)edeu fd;lie§en fie ein. $ie
Storb unb ©fib. VI, 18. 24
350
H. Sdjoener in Horn.
unb bo erfjebt fid) eine antifc SRuine, toon bidjtem ®riin iibertoucfyert.
Iriimmerljafte Sogenreiljen alter SBafferteitungen sieljen majeftattfd) burd>
bic Slieberungen unb iiber bic |mget, toon bcnen aug fie bie gleid) alten
unb gteid) trummerljaften SDtitjeugen braufcen in ber loeiten (Sampagna
ju grufcen fdjeinen. ©o ift eg auf bem (Saetiug. ®enfetben Slnbltcf
bietet ber Stoentin, jur 8eit ber Stcpublif £>auptfifc ber jafylreidjen pie-
bejifdjen Setoolferung. Slug unabfeljbaren Signen, bie mm menigen
frummen SBegen burdjfdjnitten finb, ragen ein paax graue unb ftumme
fiirdjen, ®I8fter unb Dfterieen auf. Sin ©onn; unb gefttagen toergnfigt
fid) bag Solf in ben tefcteren. ©onft ift eg ftitt unb einfam bort oben;
faum ein Saut ju §oren; auger einem 2R5nd)e faum ein SJtenfd) ju feljen.
Slnberg fieljt eg auf bem capitolinifdjen £>iige( aug. ®r liegt in=
mitten betootferter ©tabttljeite; bie ftdbtifdje Sertoaltung fjat ftdj auf iljm
niebergelaffen, unb er nrirb Don ©efdjaftgpflegenben unb ©djautuftigen
nid)t leer. |>ier fteljt eine toietbefudjte Sirdje auf ber $dfje beg XempetS
ber 3uno SDtoneta, ber ©efanbtfdjaftgpalaft unb bag Strdjaologifdje Snftitut
Deutfd)Ianbg auf ber beg Supitertempelg. $ier ift bag ©tabtfymg, ber
©enatorenpataft unb bie beiben 5(?atafte ©iacomog bet ^Duca mit ben
SRufeen beg Eapttolg. &icr ftef)t bie SReiterftatue 2Rarc Sturetg, unb Ijier
ift, toon tropifdjen ©ehmdjfen befc^attet, ber Saftg mit ber 2B5Ifin, bem
SBappenttjiere ber ©tabt beg SRomuIug unb SRemug.
Son ©iiben Ijer ttrinbet fidj ein gafjrtoeg nad) bem (Sapttol §inauf.
@r f)dlt ungefdfjr bie 5Rid)tung ber alten Xriumpljftrajse, beg Clivus
Capitolinus. Son feinem ©d^eitel aug fc^aut man fjinab auf ba£
gorum SRomanum mit feinen btdjtgebrangten, ®l)rfurd)t gebietenben
SRuinen, mit ben malerifd)en ©duten unb ©teinflieften unb toeiterljin auf
ben litugbogen unb bag Eotoffeum. Unmittelbar gegeniiber aber ragen
an einem fteilen Slbfjang mdd)tige Sadfteinruinen empor, geborften unter
ber Soft ber Saljrtaufenbe, am gufee toon eioig jungem SRanfentoerf um=
flodjten, ju &aupten toon bunfeln Sdumen befdjattet, nad) jtoei ©eiten
fid) toeit tjinjieljenb, toie urn eine toerjauberte Surg ju umfdjliefeen.
©g ift ber ^alatin, ber gefjeimnifjtootlfte unb anjie^enbfte toon alien
romifdjen &iigetn. Stud) auf iljm §aben fid) ein paar Slofter, friiljer
nod) einige Stflen unb ©drten angeftebelt unb forglog fiber unb jttHfdjen
ben tief toerfdjiitteten Sauten beg Stttertfjumg auggebreitet. Slber fie tljun
bem K^arafter biefer feinen 9lbbrudj; im ©egent^eit — bie $atmen unb
K^jreffen er^o^en ben poetifdjen SReij ber ge^eimnifetootten ^o^e, unb
gern erfreut \\6) ber SBanberer, tod^renb er bie iibereinanber getprmten
Suinen burc^ft5bertf an ber iippigen unb buftigen Segetation unb an
ber untoergleid)lid)en gemfi^t iibcr bie griinen §dl)en unb bie toeite
Eampagna.
S)er ^alatin ift toon ber ©age hrie toon ber ©efdjidjtc glei(^ma§ig
betoorjugt unb barum immer alg eing ber erinnerunggrcidjften unb e^r=
Per palattn unb feine 2lnsgrabungen. 35J
miirbigften ©tiitfe rflntifdjett SobenS bctrac^tct morben. Sin ifjn fnityfen
fid) bie ©riinbungSfagen unb bcr gefc^ic^tlid^e Stnfang ber emigen ©tabt,
an itjn ifjr grflftter ©lanj unb bic ©reigniffe, melc^e ben Untergang iljrer
altcn ©rflfte begleiteten. S)enn l)ier erboutcn bie erften Stnficbler ifjre
befdjeibeneu fatten, too angeblidf) audf) 9tomulu3 bie feinige gctjabt tyatte;
Ijter erljoben ftdf) fpdter bie ftol&en #dufer ber fcorneljmften SBurger unb
bie ffatferpatdfte Don nie geafjnter S|Srad£)t; fjier mar ein §auptfelb fur
bie raufc unb jerftorungSluftigen $anbe ber norbtfdfjen SrtegSfdfjaaren,
tueldje ba£ taufenbja^rige SRflmerreidfj in Iriimmer fdjtugen, unb nodf)
mefjr fiir bie ber 9lad)fommen ber Ouiriten felbft, meldje oljne 83eben!en
fortfdjleppten, ma3 fie braudfjen fonnten.
©emalttge SSBanblungen fjat ber ^atatin mit ber ©tabt unb bem
SReidfje jugleicf) burd£)gemacf)t. 2)ie romifdtjen 2)idf)ter ber ©lanjjeit ge;
faflen fidf) barin, feine urfpritngltdfje tdnbttdf) einfacfje ©rfdjeinung mit ber
berjeitigen $rad)t in Sergleidfjung ju fteHen unb baran ju erinnern, baft
bort, mo man ju itjrer 3«it nidjta ate toon SRarmor, ©olb unb garben
ftrafjlenbe ®ebaube fat), bereinft SBalb unb ©umpf, rofjeS ®emduer unb
SJauerm unb $irtenf)dufer gemefen maren. Stber bie SBanblungen maren
jur 3^it jener Dtdfjter nodf) nid£)t fcoriiber. Die ftoljen 93efi(jer, bie uber^
miittjigen $erren SRomS unb ber 2Belt, fcerfdjmanben oom ^alatin; bie
^Salafte fielen in ©cf)utt, unb mieber natjmen 93dume, ©trducfjer unb
^pflanjungen SBefifc Don bem §ugel, tjon bem au3 bie 2Belt regiert morben
roar, fo baft man fdfjier toergaft, baft bort ®aifer unb ®5nige geljauft
gotten. Unb bann brad) mieber eine 3*it an, bie fidf) an bag SSer^
gangene erinnerte unb bie SSerlangen trug, mit Stugen ju fetjen, ma£
von ben unfterblidEjen SBerfen be3 gemattigften SSotfeS iibrig gebtieben
mar, urn baran fid) felbft ju bitben unb ju ftdrfen, — unb e£ murben
abermalS bie Saume gefdllt unb ba3 ©eftrityj) auSgerobet, unb au3 bem
Sdjutte ber 3af)rf)unberte ftiegen bie SRefte ber 93ergangent)eit beuttidf)
unb ftaunenerregenb mieber an'3 SageSlidEjt.
Sftodf) ift bei SBeitem nidfjt 9tlte3, maS ber Soben beS Rotating
birgt, mieber fidfjtbar gemorben. ®ie georbneten SluSgrabungen finb
erft feit &erf)dltniftmdftig furjer $tit im SSerfe, unb ein grofter Xfjeil be£
terrains ^at no^ nid^t burd^forfc^t merben fonnen, meil er in $rtoat=
beftft fic^ befinbet. S)ennod^ ^aben bie 3rbeiten berartige fRcfuttatc ge^
liefert, baft man bie Unterne^mung at3 eine ber gliicflid)ften bejei^nen
muft unb bur^ fie ber alte SRuinencomptcs ju bem lo^nenbften glecfe
rbmifc^en 93oben§ gemorben ift.
Die Doflige 3crftfirung ber palatinifd^en ©ebdube mie 5af)IIofer an=
berer SRefte be^ Stltert^um^ ^at ni^t, mie bie SRomer gerne fagen, buret)
bie norbifd)en Sarbaren, fonbern buret) bie furdjtbareu inncren S33irren
in ben finfteren Sa^r^unberten be§ 2RitteIaIter§ ftattgefunben. SBie bie
©ebdube auf unb am gorum Slomanum: ber ©eocru^, 'ZitvLfr unb Eon-
24*
352
H. Scfyoener in Horn.
ftantinSbogen, baa Soloffeum unb bie £empctruinen, fo toerbcn and) bic
ftarfen SDtauern bcr Saiferpatdftc t>on ben fdmpfcnben Saronen unb
^rdlaten ate ©d)u£tt>el)ren benufct tuorben fcin. 2Sa£ fie an beroeglid)en
fioftbarfeiten entfjielten, ging babei bertoren. ®unfttoerfe, foftbare SBanbs
befleibungen, -Uiofaifen unb gujjboben tnurben fortgefdtfeppt, bie SDtauem
unb ©ubftructionen bienten ate ©teinbriicfye, unb Unmaffen con 9Rarmor
toanberten in bic Satfofen. 9lte im 9. 3af)rf)unbert ber 9lnont)mu3 Don
(Sinfiebetn f einen 93efud) in SRom mad)te, con bent er un£ eine SJefdjreU
bung fyinterlaffen f)at, fdjeiut cr fdjon ben ^atatin in Dollem SBerfaH
gefunben ju f)aben. SSou ben Sloftern, tueldje fid) auf unb an t^m an=
fiebetten, cr^iett ba£ be£ |>eil. ©regoriuS am gufce be3 (SaeliuS 975
cinen gro&en Jfjcil be3 2errain3 jum ©efdjenf, bei toeldjer ©elegen^ett
$tt>ei Socalitdten: Septem Solia Major unb Minor errodfynt tnerben. 3)ic
Stamen finb mittclalterlidje SSerbattfjornifirungen tion Septizonium majus
unb minus, unb bie lefcteren be$eid)nen Sauten — fcermutfylid) einen
^Jalaft unb cin ©rabmal — be£ ©eptimiuS ©eberuS. Sin 33eridjt be3
^oggio au3 bent 15. Sat)r£)unbert fagt, ber ^alatin fet berartig ber=
fatten, baft man feineS einjigen ©ebdubcS %oxm ober Sebeutung meljt
beftimmen fonne.
Urn bie SRitte be§ 16. Saljrfjunberte erbauten bie SRattei iiber ben
9iuinen im ©iibcu eine SSifla unb legten einen grofjen ©artcn an, iwtfjs
renb $apft $aul III. (SHeranber garnefc) burdj ffiignoia, ©angatto unb
SBtidjelangefo im uorblidjen Sljeile bie nad) if)m gcnanntcn Slntagen §er=
ftetten tiefe. 3)ie SiUa 2Rattei fain 1689 in ben SBcfifc ber ©paba,
1777 in ben be£ gran&ofen SRancoureil unb 1818 in ben be£ gelefyrten
unb um bic rflmifd)en 2Utertf)umer fyod)t>erbienten Sriten SBittiam ©ell,
ber fie balb feinent greunbc Sharks 9Jtilte abtrat. ©eit 1857 tnofjncn
9ionnen fcom Drben be£ gran$ mm ©ate£ barin, toe^alb gegentoartig
fotoot 93efud)e ate StuSgrabungen bort unmoglid) finb.
3»n ben farnefifdjen ©arten fjat £>erjog granj toon ^arrna 17-20—1728
untcr Seitung be§ 3Rarqute Sgna^io be1 ©anti unb be3 ©rafen ©u^ant
9tad)grabuugen anftettcn taffen. S)cr bei benfefben gcgentodrtige SDlon-
fignor Sian^ini, ber in feinem Sifer einmal burc^ ben ©turj toon eittcr
SBolbung bcS S)omitianifd)en ^5alafte§ in Seben^gefa^r gerietlj, tjat bie-
fetben in cinem illuftrirteu golianten — „Del Palazzo de' Cesari, Verona
1738" — genau bef^rieben. — 3Jad) bent ©rlofdjen be§ mdnnli^en
©tammc^ ber garnefe lam bcr 93efife mit beren ©rbfe^aft an bie 93our=
bonen toon Wtapei uub Don bent ©rjftnig granj im %a\)xe 1861 burc^
Serf auf an Napoleon III., ber am 4. 9lot)ember bc^felben 3a^rcS unter
Seitung $ietro Slofa^ bie ft)ftematifd)en 9(u§grabuugeu beginnen tiefj,
beren f)od)U?i^tige Slefultate toir je^t anftaunen.
9(ud) in ber ffiblidjen Scfi^ung, bie je^t i^rcr 2Biebereruffnung ^arrt,
finb fd^ou fcereinjette, aber meljr auf 3Sert()funbe geridjtetc 9ia^grabungen
Per palatiu unb fetne 2Iusgrabungen.
353
toorgenommen toorben. 9Kan glaubte bort bag £>aug beg Stuguftug ge;
funben ju f)aben, unb ^iranefi, eiitcr ber eifrigften 2lltertf)umgforfd)er,
ber 1756 fcin ftupenbeg $rad)ttoerf „Le Antichita Romane" tjerauggab,
ttmftte fief) trofc ber SBadjfamfeit unb Giferfud^t beg Sefifcerg ^Slane ba;
toon 511 Derfdjaffen. ©in gettriffer Senebetto 3Wori fd)Iidj in fcinem 9luf=
trage bet 9iad)t in bie SRuinen unb mad)te fcine 3^ic^nungen; „bie Xafdjcn
boU 93rot", nrie ©uattani fagt, „um fid) beg SBoIjItootleng eineg grim?
migen ©djdfertyunbeg &u Derfic^ern, ber alg 2Bdd)ter bort gelaffen tt>ar".
einen Dotlftanbigen $tan jener Stutnen, ber fo bei Samper unb 2Ronb-
fdjein aufgenommen war, bradjte ©uattani in feinen „Monumenti antichi
inediti dell' anno 1785". 2Bie aber bamalg mit ben Sunbgegenftdnben
toerfafjren ttmrb, jeigt eine Steufcerung begfelben. ©r fagt, man fflnne
fid) unmogtid) oorftellen, in toeldjer SDtenge Scutyturen, ©imgftittfe,
Sriefe, Sapitdle, barunter jroei fyerrtidje ganj unDerfefjrte Don ©iaflo
ontico, in ganjen Sarrentabuugeu alg gemeiner ©djutt in bie SBcrfftatte
beg ©teinfjauerg SSineHi am Sampo SSaccino gefdjafft morben feien.
©rft bie Sluggrabungen 9ZapoIeong III. Ijaben, ungead)tet beg ten;
benjiofen 2lntf)eilg, ben fein ©ifer fiir bag attromifdje Safarentfjum baran
Ijatte, bag SBerbienft, in miffenfcfyaftlidjer SBeife unb ju bem afleinigen
Qtot&t ber geftftettung ber aften Xopograpfjie unternommen §u fein.
Wafyt bem gorum unb bem ©apitolium forberte fein $unft Stomg mef)r
baju auf unb Derfprad) reidjere SRefultate. S5enn loag fnityfte fid) Slfleg
an bag ^alatium unb bie ©afaren, Don benen bie §errfdjers„$falaen",
bie „$aldfte" unb bie „®aifer" ifjre 5Ramen befommen!
S)er 5J5alatin liegt inmitten ber anbern |mgel. ©r erfjebt fid) un~
gefaf)r 35 SReter iiber ben tyeutjutage bebeutenb ert)6f)ten S3oben ber
alten ©tabt unb fjat einen Umfang Don ettna 1800 SDletern. ©r beftetyt
aug tljeitg toeidjerem, ttjeilS fjdrterem Dulcanifdjem Xuffftein, unb feine
ein Derfdjobeueg SSiered bilbenben ©eiten fallen auf atlen ©eiten §iemtid)
fteil ab, nur an tocnigen ^unften einen bequemen Stufgang geftattenb.
2)er eine Stufgang lag an ber Siorboftfeite, Don too man nod) fjeute ben
^alatin betritt unb jtneigte fid) Don ber Via -Sacra ba ab, tvo biefc, Don
ber ©bene beg gorumg ttad) ber beg Soloffeumg laufenb, ben t)5d)ften
^unft ber att)ifd)enliegenben ©r^ebung, ber SSelia, iiberfc^ritt, b. t). tvo je^t
ber SHtugbogen fte^t. S)er anbere Stufgang lag an ber SJZorbtoeftfeite, bie
SSerbinbung mit einer ni^t minber alg bag gorum n?id)tigen Slieberung,
bem SSelabrum, ^erfteflenb. S)ag le^tere reid)te big jum liberftrom, ber
f)ier mit einer frdftigen Siegung bem ^alatin am ndc^ften fam. 93eibe
Slieberungen tt)aren urfpriingti^, fei eg Don SRatur, fei eg burd) bie Ueber^
fc^ttjemmungen beg Xiber, fumpfig unb tnurbeu erft burd} ben erftaun;
lid^en 93au ber ffdnigg&eit, bie Cloaca Maxima, troden getegt.
Sein SBunber, ba§ auf biefem Don ber 9latur fo begiinftigten $iigel
bie 2tnfdnge ber neuen ©tabt entftanben. ©r toar gegen 2tngriffc leic^t
35^
H. Sdjoener in Horn.
ju fidjern, lag nafje an bent fdnffbaren ©trome, bcr bic Stderbauprobucte
jum SReere unb inbuftricfle ©rjeugniffe jut ©tabt fdjaffen fonntc unb
beffen 2Riinbung iitmitten bcr 23eftfufte StalienS, atfo an cinem bcr
t)ortl)eill)afteften ^Junftc beg 9Kittelmeere3, lag. Sein SBunber, baft ^ier-
f)er bic mt)tf)ifd)en Stnfangc ber ©tabt Derlegt unb nod) in fpdtefter 3ctt
bic fagcngef)citigtcn Socalitaten gettriefen ttmrben. £ier foHten fdjon in
bcr glitdfeligen 3*it be§ ©otterfonigS gaunu3 bic Slrlabcr untcr ©Danber
fid) angefiebelt, f)ier $ercule3 ben Unljolb EacuS, ber ifjm bic 9tinber
geftofjlen unb in einer £>51jle be§ 5(?alatin geborgen Ijatte, erfdjlagen
Ijaben, toorauf Suanbcr bem §cro3 cincn Stttar gegriinbet Ijabe. 93i3 in
fpate 3t\t befaub fid) im SBelabrum bcr ^auptaltar be3 £ercule§, unb
bie fogenannte „£reppe be£ SacuS" glaubt man Ijeute toiebergefunben ^u
fjaben. 9lm naljen Xiberufer lanbcte bcr ©age nacf) ba§ ©djiff be£ Ur-
atynen ber rflmifdjen ®6nige, be3 SroerS SleneaS, ©of)ne£ bcr ®5ttin
23enu£, bcr toon ©tianber freunbttd) empfangen unb ju ben $irten=
lootjnungen auf bent ^alatin geteitet ttmrbe. Sbenbafelbft lanbcte bann cin
anbereS Safyrjeug, toeldjeS ben ©tammtoater be3 romif djen 9Solfe3 trug.
©£ toar bie SBanne mit ben auSgcfefcten 3^iIIingcn 3tomulu3 unb 9temu<*,
bic untcr bent geigenbaume fjangen blieb, too bie SBolfin bie ffnaben
fanb, in iljre $>ot)te trug unb faugte. Stud) bicfe £of)Ie fd)cint, toeuigftenS
in ifjrer fpateren toeranberten ©cftalt, tjeute toiebergefunben ju fein; unb
uidi}t£ ift toal)rfd)einlid)cr, al3 ba& cine fo efjrtoiirbige ©tatte, toic ba£
Supercal, bei alien tyateren Sautcn gefefyont toorben ift. 35ic £of)le
foil fdjon ju ber Slrfaber Qtiten bem grottenliebcnben $an getoeiljt gc-
toefen fein. 3>iont)3 toon §a(icarna§ fagt, baft fie ju feiner 3^it ifjreu
urfprunglidjcn Slnblid toerloren geljabt fjabe; benn urfpriinglicf) tyabe fie
im bitten SBalbe gelegen, t>on Sciumen befdjattet unb einer fiifjlen Quelle
benadjbart. Sin ©r^bilb ber SBolftn mit ben 3toiflwgen tourbc Don ben
Stebtfeu ©naeuS unb DuintuS DgutuiuS im %ai)xc 296 t>. ©l)r. in ber
$Ra^e aufgcfteUt, unb toermutl)lid) ift bie§ ba^felbe, toeld)e3 t)eute im
SKufcum be^ SonferoatorenpalaftcS auf bem ©apitol aufbetna^rt ttrirb.
Sluc^ ber ^eiligc geigeubaum, ber ficus Ruminalis, murbc lange am
Siorbtoeftfufee be§ Sergei tjerc^rt unb fott einer 9lad)rid)t jufolge erft
abgeftorben fein f al§ bci ber ©rbauung ber Xxtppt be£ ©aligula feinc
SSSurjcln Derlefet tourben, toci^renb einer anbern Slngabe jufolge cr burd^
ein 23unbcr be3 21uguru 9lttiu§ 9lat)iu^ auf ba§ gorum t)crfe^t tnorben
ift. 31n lefeterer ©teflc unb jmar neben ber Saftlica %\il\a unb bem
tribunal jcigt it)n un§ cin auf bem gorum gefunbencS unb nod) bort
bcfinblic^eg Stclief.
SKit bcr ©tabtgriinbung bc^ SRomulu^ me^rten fic^ auf bem ^alatin
unb bcfonbcrS an feinem SBeftab^ange bic oon einer fpateren 3cit ate
l)eilig tjere^rten mqt^ifc^en 3^ugen. 9Kan seigtc ba ba§ altefte §eilig-
t^um ber Carcn, ba§ ©rab ber Sicca Sarentia, ba^ §au£ be$ JRomulug
Der palattn unb fetne 2Iusgrab»ngen. 555
„am SBege rtaty bem CtrcuS", b. f). am Stbfjange iiber bem SBetabrum,
unb ben Eornelfirfdjbaum, bcr au3 ber toon 9tomutu£ toom 9ttoentin nacf)
bem $(5atatin gefdjleuberten Sanje entfproffen mar.
Dime auf bie ©agen toon 9tom£ ©riinbung 9titcffid)t §u nefymen,
mufi bod) at§ unjtoeifelljaft getten, bag bie dltefte ©tabt auf bem palattn
gelegen tjat, unb e3 ift audj f)8d}ft tualjrfd)einlid), bafe itjre Slnlagc in
ber toon ben Efjrontften gemelbeten ritueUen SSeife ftattgefunben fjat.
3>ie dtteften in 9tom nad}loei3baren SefeftigmtgSrcfte finb auf bem ^alatin
an lage gelommen. 9tn toerfd)iebenen ©tetten fieljt man 9tefte jener
SRauer, tueldje bie dltefte Stnfiebelung fd)iifcte, fo baft man tfjren 2auf,
ber mit ben SBefdjreibungen ubereinftimmt, beutlidj toerfolgen fann. Sic
ift au£ redjtttunflig befjauenen Xuffblflden, bie auf bem Serge fetbft gc;
broken fiubf ofme 2R5rteI aufgefd)id)tet unb tfoax fo, bafc biefelben lagem
toeife abroedjfelnb nad) ber Sdnge unb nad) ber 93reite getegt finb. ©ic
umjog im SSierecf ben ganjen §iigel — meSfjatb bie dltefte ©tabt Roma
quadrata fjeifct — nur ba unterbrodjen, too ber natitrlidje obcr burrfj
Slbfdjroffung beg XuffgefteinS Ijcrgeftetlte Slbfjang fie unn5tf)ig madjte.
S)er bei ber Outage angetoenbetc SRituS 4uar ber etruSlifdje. 9Kit
einem ^ftuge, toor toeldjen ein ©tier unb eine ®uf|, bicfe linfS, jener
red)t§, gefpannt nmren, jog man eine gurdje, fo baft bie ©gotten nad)
innen fielen, bamit SBatl unb ©raben ber ©tabt bejeidjnenb. 2Bo ein
£f)or fein foflte, beren biefer StituS brei toerlangte, tourbe ber ^Sftug
auSgefjoben unb getragen (bather porta). S)ie Umtoaflung unb ein un-
mittelbar baran grenjenber ©treifen SanbeS, ber pomoerium fjieft, toaren
geroeifjt unb mtbenufcbar. ©ettiug gibt uu£ bie beftimmte !ftad)rid)t:
„3)a3 dltefte pomoerium, baS toon 9?omuIu£ angelegt ift, tourbe burd)
ben 3ufc be3 palatinifdjen Sergei begrenjt/' unb 2acitu§ bcfdjreibt fogar
genau ben Sauf ber dtteften SWauer. „®en 3lnfang ber ©ritnbung,"
fagt er, „unb ba§ pomoerium, toeld)e3 SiomuIuS angelegt fjat, ju fennen,
fdjeint mir nid)t iiberfliiffig. Sllfo: toom Forum Boarium, too toir baS
etjeme 93ilb be3 ©tiered erbliden, toeil biefe bie Stjiergattung ift, bie toor
ben ?Pftug gefpannt toirb, begann bie gurd)e jur 93ejeid)uung ber ©tabt,
fo baft fie ben gro&en 3tltar be£ £ercule3 umfa^te. SSon ba reict)ten
bie in beftimmten S^if^6^^111^^ getegten ©teine am Swfec be§ ^ata^
tinu§ bi§ jum Slttar beg SonfuS, bann ju ben Curiae Veteres, baun
jum |)eiligt^um ber Saren unb bem r5mifd)en gorum." — S5er „?Rinbcr5
marft" toar ber ^Ia§ jn)ifcf)cn bem SBetabrum unb bem Siber; bcr
(£onfu£aItar tag am ©iibfufee, bie „3t(ten Surien" am Dftranbe, bic
fiarenfapetle no^ in ber Saiferjeit am 5Rorboftabl)ange an bem ^o^ften
$unfte ber |>eitigen ©trafee, alfo natje bem Stufgange jum 2Rugonif^en
Il)ore. S)en SReft ber Ummauerung, bie aber unjtucifclfjaft in ber 9ticf)s
tung ber „9leuen ©tra^e" urn ben Storbabfyang big jum SSelabrum
^erumjog, nennt Sacitug nic^t metjr, tuot totil fic ju feiner 3^it burc^
556 H. Sdjoeuer in Kom.
bic Saiferbautcn ganjlid) iiberbedt toax, obcr tpetl fief) ifjre gortfefcung
mm felbft fcerftanb.
Sftaturlidj toar biefe dttefte 93urg aud) bic ©tdttc bcr alteften §eiligs
tpmer. ©g ttrirb bcrtd^tct, bafe fdjon in Ur$eiten ein lempel beg Supiter
unb einer ber Victoria auf bem $|Sa{atin getocfen finb; beggleidjen ba£
§eiligtf)um bcr palatinifdjen ©after, too bic jrodlf fyeiligen ©d)ilbe unb
bcr Slugurftab beg 9tomuIug aufbetoafjrt hmrben, fottrie bag Stuguratoriunt
felbft, bie 2Iufmauerung, toon ber aug bic £immet£$eidjcn beobadjtet
ttmrben. 3)cr uralte, bcr ©age nad) toon SRomutug in bcr ©djladjt gegen
bie ©abiner unter %at\n$ gelobtc unb fpater erncucrte Jempel beg 3u-
piter ©tator ift unstueifct^aft huebererfannt morben, befonberg mit $>ulfe
ber befanntcn ©telle ber Porta Mugonia, in bercn 9taf)c er fid) befinbeu
mufcte. Sefctereg Zfyox, fpater Vetus Porta Palatii geuannt, l)at immcr
ben §aupteingang jum ^Jalatin gcbilbct. ©in £f)eil bcr alten ©trafee, bie
toon bcr Via Sacra ju tfjm tjinauffii^rte, ift gleidjfaflg ttrieberaufgebedt.
Sfteben ben #eiligtl)umcro toaren audi) bic SBofynungen ber $errfd}er
auf ber #of)e, unb fie btteben eg, felbft atg bie ©tabt ftdj toiel rociter
auggebreitet fjattc. 3Me Sonige Suttug #oftiftug, 5lncug 2Rartiug unb
£arqutuiug ^Jkigcug fatten bort ifjre $aufer, unb in bem beg lefcteren
f}at tool aud) bcr Icfete Sonig, Sarquiniug ©uperbug, gctoofjnt. ©g lag
nafje am Sempel beg Jupiter ©tator, unb bie $6nigin $anaquil fonnte
aug feinen genftern ju bem auf ber Nova Via toerfammelten 9Sotfc
reben. 9tad) bem ©turje bcr 9tttehtf)errfcf)aft tourben an ©telle ber
Sbniggfjaufer £eiligtt)umer gcbaut; nur bag beg larquiniug blicb ftcfjen,
um bem „Dpferf8nig" alg SBoljnung ju bicnen. ©o ertjielt ber ^alatin
immer mefjr cinen gctoeifjten unb eljrtoiirbigcn ©fjarafter, unb jugleidj
tourbe er toon ben Siirgeru ber jungen Stepubtif alg einftigc $errfc^er=
burg mit einer gctoiffen ©d)eu betradjtet, fo bafc tange 3^it toenige $rU
toatljaufer bort entftanben fcin mdgen. 2113 bcr ©onfut 93aleriug $ublicola
fid) in bcr getoeiljten ©egenb ein #aug bauen tooflte, gerietf) er in ben
SBerbadjt, uad) ber Sonigggetoalt ju ftrcben unb mufcte bag angefangene
nieberreifcen.unb im £f)ale toieber auf bauen.
®iefe Sebeutung beg ^alatin ift too1)l ju bcadjten. ©te erftdrt e§,
hje^atb am ©nbc ber SRepublif bie t)ornef)mften unb ^oc^ftrebenbften
ajldnner auf il)m fi^ anbautcn unb nur cr ber ©ifc ber neuen 9lflehts
^crrfc^aft, beg ©afarentf)umg, n^crben fonntc. %ul\u$ ©afar ^og alg 5pontifejc
SRajimug in bic alte S5niggtuo^nung; bie Stegia am gufec beg $alatin
ncben bem SSeftatempel, ein. Dctatoianug mo^ntc nad) ©uetong Slngabe
/ranfangg am Sorum Slomanum obcrfjalb bcr anularifc^en Zxtppt in bem
fritter bem Slebner Gabug ge^origen $aufe; nad)^er im ^alatium, in^
beffen in bem befc^eibencn ^ortenfiugfdjen ^aufe7'. 3tber faum ^atte er
— eg toax im Sa^re 36 t). ©tjr., in tocldjem bicfeg Jpaug toom Slifec
gctroffen tuurbc — ben grofeen ©ieg iiber ©cjtug 5Pompejug crfo^ten,
Per palatin nub feiue 2Jusgrabungeu. 557
fo lief* cr benadjbarte ©runbftiirfe ba$u faufen unb ertoeitcrte ba3 $au£
§u einem $a(aft. SMefer ttnirbe nad) bcr ©djladjt bet Slctium bie 9te-
fibenj be£ gmperatorS, unb bamit toar bcr palatin mieber $ur §errfcf)er=
burg geftempett, luet^e bic meiften folgenben Jiaifer betoofjnten; benn fein
anbercr $Iafc mar fo baju prdbeftiitirt, ttrie ba$ ^Jalattum, an bem bic
alte monard)ifd)e Xrabition fjaftete.
*©d)on in bcr lefcten $?\t ber SRejwblif fatten Diele fjerDorragenbe
SWanner §aufer auf bem palatin, bcr nacf) ben Sefdjreibungcn bamate
fdjon cincn ftoljen Stnbticf geboten fjaben mufe.
©aju£ @racd)u£, bcr 3?otf3tribun, toofjnte auf bem palatin. ©r Der*
liefc ifjn abcr unb fiebclte fid) am gorum an, urn fid) popular ju mad)en,
cin 99ett>ci3, bag bic auf bem |>ugel SBofjnenbcn immer im ©erudje bcr
SSornefynfjeit unb be£ &od)ftreben£ ftanben. 9lucf) be3 ©racd)u3 greunb
gulDiu* glaccuS befafe bort ein &au3, mefdjeS t)on ben Dptimaten nadj
ifjrem blutigen Siege niebergertffen rourbe. 9tn feincr ©tette erbautc
£. Eatu(u3, ber Eollege be3 2Rariu8, cin £>au3 mit eincr $orticu3, ge;
fdjmiitft mit bcr ©icge^beute au3 bem Eimbernfriegc. 3Md)t babei lag
ein Don bem Sribuncn 501. SimuS 3)rufu* erbauteS §au3, ba£ fpater
eincm % EraffuS gefjorte unb t)on Eicero fur brei unb eine fjalbc -Diitlion
©efterjen (faft 614,000 SRarf) gefauft tnurbe. Scfannt ift, ba& fein
geinb SlobiuS, nad)bem cr bic SSerbannung be3 9tebner£ im 3al)re 58
burdjgefefct Ijatte, aud) ben 93efcf)luf$ crtoirfte, jcne3 £>au3 neben ber ^or*
ticuS be§ EatuluS nicberjureifeen, baft abcr Etcero nad) feincr 3uriids
bcrufung ben SBieberaufbau auf ©taatsfoften erlangte. Ueber bic Sage
biefeS §aufe§, auf ba3 bcr gtanjlicbenbc unb eitle Stebncr fidj nidjt toenig
einbilbcte, miff en mir nur foDiel, baft e3 an ber bem gorum jugetoenbeten
©cite unb nidjt meit Dom Scmpcl be£ 3>upiter ©tator gclegen Ijaben muft.
5)a3 Cefctere gef)t barau£ tjeroor, baft Eicero al3 Eonful am SKorgen
nad) bcr Sladjt, in tDetdjcr er burcf) gulDia Don bem SKorbpIane ber
EatHinaricr unterrid)tet morbeu mar, ben ©enat in jenen Xempel ju-
fammenberief, in ber 2lbfid)t, fief) nid)t h)eit Don fciner 2Bof)mmg entfernen
ya miiffen; ba§ ©rftere folgt au^ einer Stcugerung SiceroS gegen EtobiuS,
beffen ^au^ Winter bem fcinigen lag. ©r brof)te biefem uamlic^, cr tnoHc
fein eigeneS ®ad) er^o^cn, urn ifjm ben Stnblid ber ©tabt, bie er Ijabe
jerftoreu ttjollen, ju entjie^en.
Ein ^au§ Don mt£rf)5rter ^Jrad^t n?ar ba^jenigc, totlti)t$ einige 3<*f)re
fpciter, namti^ 53 D. Et)r., berfctbe Elobiu^ Don SK. SlemiliuS ©cauruS
fiir nid^t menigcr aU Dierjc^n SKiflionen ac^t^unberttaufenb ©efterjen
(gegen 2,600,000 2Rarf) ertoarb. 9tuc^ bie3 mu& in ber Sta^e ber
fd)on genannten |)aufer unmeit ber §eiligen ©tra^e gelegcn ^aben, „tt)o
man Don bcr Summa Sacra Via in bie ntid)ftc ©affe linf^ einbiegt", unb
Jtoar an ber ©telle eine3 alten $>aufe£ be» En. DctaDiu^, Sefiegcr^ be£
^erfeug Don SWacebonicn, toelc^c^ Eicero aU „auf bem Solatium" gelegcn
558 H. Sdjoener in Horn.
bcjeid^nct. ©cauruS, bcr ati 2Iebit im galjre 58 einen foloffalen 2tuf~
ttianb gemadjt unb filr bic DieriDodjentlidjen gcftfpiclc eigenS cin px'dty
tigeS Sweater erbaut fyatte, fdjmucfte nad^er mit ben fur baSfelbe ange;
fertigten ©tatucn unb ©dulen, laufenben an bcr &af)l, fotoie ben ©emalben,
SDtofaifen, <S^icgeIfcf)cibcn u. f. to. ben genannten $alaft. 3m Sltrium
beSfelben j. 95. ftanben bretljunbertunbfecfftig ©dulen au3 fogenanntem
lucuflifdjen SDtarmor, 38 gufi f)odj, bie eigenS Don ben SKilinfeln Ijerbcu
gefc^afft toaren unb beren transport bie ©trafjen befefyabigt tjatte.
SBenn toir nodj ertoaf)nen, ba{$ and) Satilina, 2Jtilo, 9Dt. StntoniuS bcr
IriumDir unb XI EtaubiuS Stero, ber Satcr beS XiberiuS unb $rufu£,
auf bem ^Jalatin getoof)ut f>aben unb bag ttmljrenb ber 3atjrt)unberte bcr
SRepublif nod) Derfdjiebene Xempel, namenttidj ein beriifjmteS §ciligt^um
ber ©rofjen ©ottermutter Et)bele 191 tj. Eljr. unb ein folc^c^ be3 Sacdjus
bort gegriinbet toorben finb, fo lonncn toxx nun ju ben bebeutenberen
SSauten ber Saiferjeit iibcrge^en.
S)er jefcige Don ben garnefe angelegte ©ingang jum 5(?alatiu Hcgt
an ber SJZorboftfeite ganj nalje bem Situ§bogen, alfo untoeit be£ alten Sluf-
gange3 jur Porta Mugionia. SBenn man bie greitreppe f)inaufgeftiegen
ift, oberfjalb beren auf anttfen ©emolben, Don Slumenbeetcn unb immers
griinen Sftumen umgeben, bie pbfcf)e SBofjnung be3 2)irector3 *|Sietro
Slofa licgt, unb fid) Don tjier au§ linfS toenbet, fo ftefjt man uad) luenigen
©Written Dor bem Unterbau cine3 maftig gro&en £empete, Dor beffen
grout bie ©telle eineS alten Scores unb ein ©tiicf einer gafjrftra&e au£
ungetoofjntidj grofcen potygonen ©teinblflcfen ju fef)en ift. 63 fiub ber
uralte Sempel be3 Jupiter ©tator, ba3 palatinifcf)e £f)or unb ber Cli-
vus Palatinus, ber Don ber Sacra Via, bie Nova Via burcfjfdjneib enb,
nacf) bem &uge{ f)inauffiif)rte. 3)ie Dertlidjfeit ttrirb mit ben beuttidjften
3ugen Don Doib in einer ©telle befdjrteben, toctc^c toegeu einer Slnbeu-
tung ber Sage bc3 Sluguftei'fdjen $alafte3 merftourbtg ift. 3)er 2>tcf)ter, bcr
am untoirtijlidjert ©tranbe be£ fdjtoarjen 2Reere£ in ber ffierbannuug tebte,
fenbet ba£ britte 93ucf) fciner £rauergebicf)tc nacf) SHorn unb lafet e£ auf bic
grage nad) bem SBege jum faiferlicfyen ^alafte bie Slnttuort er^altcn:
^ieS pub bie goren bed (£afnr,
5)teS bie ©trajie, bie nadj ^eiligt^umern benanut.
5)ieS ift ber SScfta $la^ bie bad geuer unb ^afladbilb ^utet;
£>ier toar ber fleine ^alaft 9iuma§, bed 9llten/#bereinft.
Se^o menbe jur ^Kcc^ten: §ier ift bed ^alatiumS ^forte,
Qupiter 6tator, unb tyier legte ben ©mnb man jur ©tabt."
3)ic topograpf)ifd)e ©c^ilberung fonute faum beuttic^er fein: 9Jom
gorum fd)ldgt man bie §eilige ©trafce. ein, get)t am Seftatempcl unb
ber Slegia Doriiber, biegt red)t3 in ben Clivus Palatinus ein unb fteljt
Dor bem Hjore unb bem ©tatortempel.
S)a& nun aud) ber ^alaft be^ StuguftuS nal)e babei gelegeu ^aben,
Der palatin uub fcine 2Jusgrabungen. 559
tnettigften^ toon Ijier aud beutlidf) fid)tbar gctoefen fein muft, fefyrt bic
ttjeitcre Sefdfjreibung Drjibd. 2>ad 93ud) ruft aud:
„©taunenb berradjt' id) bie Singe; ba fatten mit glflnjenb in'd 9(uge
$foften, maffengesiert, gotternmrb'gen ^alaft'd.
3ft bad 3upttcr§ $aud? — fo fragf id); ed fdjien mcincm ©inne
@in SBafjrjetdjen batoon jener eidjene ifranj.
2113 mir bet $>err war genannt, fo rief id): 9ftdjt alfo trrt' id);
SBafu: ift'd, bag ber ^alaft 3u}Jtterd 2Bofuuing ift!
SBarum alfo oerbccft gepflanjter fiorbccr bic Xfjixre
Unb bcr fdjattige 93aum franjt bad erfjabene §aar?
(Sttoa tocil btefed §aud beftanb'ge Zxiumtyt ocrbicntc?
£)ber mil cd gclicbt ftetd ber leucabtf^e (Sott?
3ft ed ein fteftfjaud felbft? ^erbreitet ed uberatt gefte?
3ft ed bed 2rriebend 83ilb, ben ed ben fiftnbern befdjeert?"
©d ift fd)on gcfagt toorbenr baft Dctatrianud, aid er faum ben SBcg
5ur Sltteinfyerrfdjaft betreten fyattt, fein &aud auf bem palatin 311 einem
$atafte umfdjuf. 3)er Huge 2Rann unterlieft nicfjtd, toad, otyne 9Serbacr)t
unb -Kiftftimmung gu erregen, feiner ©teflung aud) dufterlicfj 2lnfef)en unb
3Beif)e geben fonnte. ©r Dermieb in feinem &aufe alte iiberfluffigc unb
iibermdftige $rad£)t; luot)t aber mad)te er ed anfefjnlid) unb gerdumig
genug, um metjr aid ein bloftcd ^ritoatfjaud 511 fein. ©r empfing bort
bie Seamten, bie frcmben giirften unb ©efanbten, l)ielt bort SScrfamm^
lungen unb Serattjuugen ab unb bertef in fein £aud ben ©enat. ®o
erfjtelt ba^felbc einen ganj t)ert»orragenben ©fjarafter, ttmrbe gcttriffermaften
$u einem Staatdgebdube, unb aid nacl) bem lobe bed 2epibud im 3<*f)*e
12 D. Sl)r. Stuguftud bie tjolje SBurbe bed ^ontifej SJiajimud mit feinen
iibrigen SBiirben tjereinigte, ttmftte er feinem §aufe fogar eine fjeilige
SSebeutung ju geben. ©r erfldrte ndmlicfj, um nicfjt in bie alte 8fmtd?
tpo^nung bed Dberpriefterd neben bem SSeftatempel &iet)en ju miiffen, einen
Xfjeit feined 5(?alafted jum offentlidjen ©ebdube, ba in einem foldjen bcr
^ontifej 2Rarjmud toofjnen muftte, unb erreictjte bamit, baft burcf) jene
SBiirbe, tocldEje afle folgenben Smpcratoren beibe^ieltcn, uicrjt blod feine
^Jerfon, fonbem axtc^ ber faifertfdjc ^alaft eine religidfc SBei^e empfing.
Sine anbere duftertic^e ^tudjeid^nung, auf toeldEje bie oben citirtcn
SSerfe Duibd anfpielcn, ^attc bad §aud fd)on nad) feiner SJoflenbung im
3>af)re 27 t). E^rv in .it»elcf)cm bem 3^P^rator ber Sitet „2luguftud" bei^
gelegt murbe, crt)atten. 9tuf ©enatdbefd)luft ndmlid^ tnurbcn t)or ber Ifjiir
jtnei Sorbeerbdume gepflanjt unb iiber berfelben ber ©ic^eufrani mit ber
?luffdf)rift Ob Gives Servatos, bie Sludjeic^nung fiir'?Rettung Don romifcfjen
aSurgern, ange^cftet, mad Duib audj nod) in ben SBorten ertt)df)nt, mit
tt)etd)en SlpoQo bie ©apljue iiber i^rc SScriDanbdtng in einen Sorbeer troftet:
„%n ben erfjabenen ^foften aid treuefte 3Saa)terin tturft bit
93or ber X^itre nun ftelj'n unb inmitten ben ©idjenfranj fa^uten."
360
H. 5d?oener in Horn.
Sn biefem £aufe mofynte StuguftuS bis ju feinem £obe, alfo Dierjig
3af)re lang. Sftad) feinem Sobc ftaub e3 lange unDerfeljrt, unb nod) ju
£abrian3 $eit murben URobel unb ©erdtt)fd)aften an3 9(uguftu3 SSefifc
barin gejeigt.
SSon feiner inncrcn ©inridjtung miffen mir, bafe e3, mie bic meiftcn
ipdufcr, cin $eriftt)l, b. \). cinen Don eincr ©dulenfjalle im SSicrccf um;
gebenen ©artentjof mit ciner gontaine Ijatte. %m ©ommer rutjte cr oft
bet offenftefjenben Xfjiiren im Sdjlafetmrner ober aud) im SPcrifttjI fclbft
bci bcm ptdtfdjernben 93runnen, mobei cr fid) Don einem ©flaDeu farcin
liefc. SSierjig 3at)re foil cr tjicr baSfelbe ©djlafeimmer benufct Jjaben.
Slur, menu cr franf fear, §og cr Dor, im #aufe feine3 SBertrauten SftdcenaS
ju metlen, ma3 fcltfam erfcfjctnt, ba bod) fcinc ©ematjftn SiDia immer
urn ifyn mar. 3>ie ©einigen mofjnten mit in bcm ^Salafte. ©o fcinc
@tieff5t)ue, feinc loiter Sulia mit ifjrem ©cmatjt SWarcefluS, ben bcr
Saifer aboptirte, feinc ©nfel unb audj fcin ftelbfjCTr Stgrippa, bcr amette
©emafjl ber Sulia; biefcr feit bcm ga^rc 25 D. (£l)r., ate ba£ fru^crc
£au3 bc§ SlntoniuS, meldjeS cr unb 9Keffata im 3. 30 jum ©cfdjcnf
erljatten fatten, abgcbrannt mar.
©inb SReftc be3 2tuguftu3^alafte§ Dortjanben? Untcr ben jefct Dor
un£ liegenben SRuinen in ben famefifd)en ©drten, namcntlid) in bcr Sla^c
beg ©tatortempels, mo cr nad) DDib3 SBorteu Dermutfjet merben miifete,
finbet fid) nid)t3, ma3 man bafiir fatten fann. 3)agegen ift untedjalb
be£ ©afino ber efjemaligen SJitta 9Jlitt£ unb JRancoureit, be£ iefctgen
©aleftanerinnen=$lofter3, bei ben feit 1777 angefteCten SKadjgrabungen
cin grofeeS jmeiftSdigeS ©cbdubc entbedt morben, beffen t>ottftaubige in
ber oben ermdtjnten t)etmlid)en SBeife gemonnene 5(?lfine in ©uattaniS
„Monumenti inediti Nov. e Die. 17 854' §erau3gcgeben finb. 3)iefc3 nad)
fcincr 2Iu£plunberung mieber Derfdjiittete unb jefet unjugdnglidje ©ebdube
mirb, f)auptfdd)ltd) tocgen bcr mit ben Stouten Slgrippa^ ubcreinftimmcn=
ben 3tegeIconftruction, Don ©inigen fair ben ^alaft be3 SluguftuS gefjalten.
S)agegen fdjeint fcine bebeutenbe ©ntfernung Dom ©tatortempet unb ber
Porta Mugonia ju fpredjen, obmol e3 nidjt unmSglid) mar, menn teinc
anberen ©ebdube bajmifdjen lagen, aud) Don bort au3 fcine gront
ju crbUtfcn. ©ine ©ntfd)eibung ber gragc mu§ Don bcr SBicberaufna^mc
ber 9lu£grabungen in bcr SSifla 2Rit(£ crmartet mcrben. ©cgenmdrtig
finb nur menige 3^ntcr bc§ unteren ©cfdjoffc£, ba^ nad| atlen Scfdjrei^
buugen Don grower ^rac^t gemefen fein mufc, unb auc^ biefc nur ben
SHofterinfaffcn, jugdnglic^. ®a^ obere ift jerftflrt, unb an feiner ©telle
ert)cben fic^ crnft bie mddjtigen S^reffcn, bie glcid) ©d)ilbmadjen Idng^
be§ SRanbe^ einer Xerraffe ftc^en, md^e Don einem gemaltigcn 3icgel-
unterbau getragen mirb unb eine l)errlid)e 2lu^fi(^t iibcr ba£ %1)al bcS
©ircu§ SKajimn^ unb bie griinen 3tb^dngc be§ 2toentin gemd^rt.
Sn bcmfelben 3a^re, in meldjcm DctaDianuS bie ©rmeitcrung feineS
Dcr palatin unb fetrte 2Insgrabungen. 56^
alten toom SBItfce getroffenen £aufe£ in'3 9luge fafcte, gelobte er audi) auf
bemfetben Certain einen Xtmpci fiir Stpotto ju crbauen, nacf)bem bie
$arufpice3 crfldrt fatten, ba& bet ©ott burd) ben SMifcfdjlag fid) fetbft
jenen Drt au3getud£|lt tjabe. Dctatoianu* behrieS babei nm fo grofteren
©ifer, al§ cr bem 2lpotlo gans befonberS ergeben mar unb fidj fogar gem
fiir einen ©olju beSfelben fatten lieft.
93efanntlidj fdjmiidte unb bergro&erte Dctatoian nadj bem Siege
bei 8ctium ben bortigen beriifjmten Slpotlotempel, unb brei %a1)xt fpdter,
28 u. ©t)r., roeifjte er ben auf bera palatin feierlidj ein. 9tud> toon
biefem ift bis 5ur ©tunbe nocf) nid)t3 aufgefunben toorben; bie 9Ser-
mutfjung fpridjt bafitr, baft audi cr im ©ebictc ber SSiHa 2Rit(3 fid)
finben nrirb.
2)a£ @ottc3l}au3 War grofc unb prdefytig, ttrie e3 fid) fiir ein jugleid) jur
93erf)errlidi)ung ber nen entftanbenen 2Ronard)ie beftimmteS 35otit)=$eitig;
tljum jiemte. @3 Wax au$ 2Jtarmor Don 2una erricf)tet, unb fcinen ©iebet
fr5nte eine ©tatue be£ $f)5bu£ auf einem bergotbeten 93iergetyann. 3)er
a3orptafc, bie oft geuannte Area Apollinis, mar Don einer $at(e au3
afrifauifdjen SJtarmorfduIen ntit toergolbeter Eaffettcnbede eingefd)Ioffen,
unb f)ier ftanben stuifdjeu ben jtoeiunbfiiuf^ig ©dulen ber einen ©eite
bie ©tanbbilber be3 35anau3 ntit gejiicftem ©djtoert unb feiner fiinfjig
Softer, ifjnen gegeniiber in ber Slrea bie fiinfeig ©ijfyne be3 SlegtjptuS
auf bronjenen Sloffen. ber 3Ritte be$ ?J$Iafce3 faf) man eine 2Rannor*
©tatue bc§ leierfpiclenben 2lpot(o unb um ben Stltar am gufte ber %tmpch
ftufen uier e^crne ©tiere toon beS bcriifjmten SDtyron £anb. S)ie ^forte be3
SempelS hmr mit S(fenbeinrelief» gefdjmiidt, tt>eld)c bie SSerjagung ber
©atlier au3 3)etyf)i unb bie Sobtnn^ ber Sftiobiben barftetlteu.
3m Snncrn ftaub bie majeftdtifdje ©eftalt 2tyot(o3 snrifd)en Satona
unb 3)iana, anget^an mit bem langen ©etuanbe be3 ©itfjarbben unb in
bie ©aiten ber Styra greifenb, ein 9Berf be£ ©copaS, unter beffen 93ap
bie fibtyttinifdjen 23iid)er toertoafjrt lagen. 3)en SRaum fdjmiidteu ®rei=
fii&e, bie 2luguftu3 nadj ber ginfdjmcljmtg ber if)m fetbft erricfyteten
filbernen 93ilbfdulen tyattc fjerftellen laffen. 3m 2ltler£)eiligftcn ftaub ein
Sanbelabcr in gorm eiueS Saume^, Don beffen 3^ctgen Sam^en in ©e^
ftalt t)on Slepfeln ^erabt)ingen, einft Don SHejauber bem ©rofteu bei ber
©rftiirmung S^cbene crbeutet unb bem 2tpotIotcmpet im Hcinafiatif^en
Sqme gefdjenft.
3u SScrbinbuug mit bem Sempel ^atte ber Saifer bie beiben bc^
rii^mten Sibtiot^eteu, bie latcinifdje unb bie griedjifc^e, gegriinbet, toeldjc
ben ja^trei^en in $Rom lebenben ©ete^rteu unb ©d)riftftedern ba^ Stu-
bium unb bie So^ung erteidjterten unb uiel jum Stuff^ioung ber Site;
ratur beitrugen. 3n ben 33iid)erfdfen ftanben $ortrdt» ber beritfymtcn
©c^riftfteHer unb eine ©tatue be£ Saifer^ aU 2lpoUo. — $n einem
©aale mit fladjrunbem 2lbfci)tuf$, ber an einen aubem aljnlidjen anftoftt
362
Sdjoener in Horn.
unb nafje bcr SRitte beg ©iibmeftranbeg untoeit beg Dermeintlidjen $aufe3
beg 2luguftug tiegt, fjat SRofa bie 83ibliotl)ef crfcnncn motlen. 2)odj ift
bicfc 93eftimmung ebenfo fraglid), tt)ic bie beg anbern mit runbumlau*
fcnbcn ©ifcftufen Derfefjcnen ate „2lfabcmie". Seibc fjaben etma 20 SRctcr
Sdnge unb faft bic gletdje 93rette unb finb Don 9*9128 nad) ©©D
geridjtet.
®er Xempel brannte im 3af}re 363 n. Stjr. nieber, toobet ntit
9KiiI)c bie ftbtjttinifdjen 93iicf)er gerettet ttwrben, unb ift, ba tauter d)rift-
lidje ®aifer folgten unb 394 burd) Xfjeobofiug bic tjeibnifdjen Xempel
gefdjloffen ttwrben, tool nicf)t loieber aufgebaut morben. (£r mujj mit
ber s#orticug unb ber Sibtiotfjef auf bem Xerrain ber 9SiHa 2Ritlg unb
beg an biefelbe anftofcenben gleid) ifjr jefct unjugdnglidjen unb nod) ber
©rforfdjung Ijarrenben ®lofterg ©. SonaDentura gelegen Ijaben. 83et ber
©rbauung beg lefcteren urn 1675 fjat man Diele ©puren Don ^radjfc
gebduben mit fReftcn foftbarer gufcboben unb ©cutpturcn aufgefunben,
barunter ©Men Don afrilanifd^em SJtarmor unb nad) glamtnio S3accag
S3erftd)erung adjtjeljn big jtoanjig tueiblic^c SRarmortorfen, bie er fur
Stmajonen l)ielt, S3iand)ini aber mit grBfjerer 2Baf)rfd)einltd)feit fur 8tefte
ber 3)anaiben aug ber Xempefyorttcug erfldrte. 93iand)im gibt fogar
einen *J$lan beg Xempete mit einer runbumlaufenben £afle unb jtt>et
©dlen, meldje benen in ben farnefifdjen ©drten dljnlid) ftnb unb bejieljt
ftcf) babei auf dltere Unterfud)ungen beg ^SanDini, ber nod) SRefte baDon
gefefjen fjatte. S)od) bemeift nidjtg, bafi bieg nidjt ebenfotool ber SSefta-
temp el ober ber ber Etjbete Ijdtte fein f5nnen.
3)en Seftatempet fjatte 2luguftug auf bem Don ifjm gefauften ©runb
neu erridjtet, ben ber ©t)bele erncuert. S)er lefctere mar im 3a^re 204,
ate man in ber Sftotl) beg Ijannibalifdjen ftriegeg ben fdjmarjen SReteorftein
aug ^effinug, bag 93ilb ber „©rof$en ©flttermutter Dom %i>a", nadj 9lom
gebradjt §atte, in Slngriff genommen unb breijetjn Satjre fpdter geloet^t
njorben. ©djon SReteflug fjatte ifnt einmal erneuert. Sin bie Ueber-
fitljrung beg 93itbeg fnityfte fief) bie ©rjdljlung Don ber ttmnberbaren
2ljat ber SScftalin Elaubia, bie auf einem capitofimfdjen Sftelief bar-
geftetlt ift. Site bag ©d)iff mit ben &eiligtf)umern auf einer Untiefc
im liber feftgefatyren mar, marf fie, beren SRuf eiuigen SDtafet erlitten
^atte, bemfelben i^ren ©iirtel ju unb jog eg unter bem fRufe: „golge
mtr, fo matjr \$ eine reine 3ungfrau bin!" Dortodrtg. — SSor ber ©ctjlad^t
Don SKutina 43, in Solge beren ber neunje^njd^rige CctaDian fein erftcg
Eonfutat errang, foil bie SJilbfdule bcr ®t)bele, bie nad} Often fdjaute,
fief) nad) SBeftcn gemenbet ^aben. @ie mufc nod) im %cd)Tt 394 geftan*
ben Ijabcn, benn eg mirb crjd^lt, bafe bamalg ©crena, beg ©tttidjo grau,
einc foftbare $algfette berfelben abgenommen ^abe.
9luc^ biefer lempel f^eint ein Slunbtempel getDefen ju fein unb
uebft einem 93acd)ugf)eiligtf)um am Slbtjange nad) ber Via Sacra, Dtelteidjt
Der palattn unb fetne 2Jusgrabungen.
363
too fid) toon biefer ber Clivus Palatinus abjtoeigte, gelegen ju tyaben.
$)enn ed ttrirb faum cin anbcrcr aid bicfer fein, beffen -DZartial ©r*
tt>af)nung tfjut, tnbem cr feinem 93ud>c ben SBeg jum ^alafte 2)omittand
befd)reibt, ber mit jenem bet Dtoib befdjriebenen to5llig iibereinftimmt.
©r fagt:
„3BeIc^c Strafje bu nimmft? — Sim nafjen %tmpt\ be* (£aftot,
Sim juitgfraulidjen $aud Seftad gelje toorbei.
Steig' auf bem fteiligen SEBeg &um ^alatium anf, bem toereljrten,
2Bo bed oberften $>errn ©ilbnifc am meiften ergl&njt.
Unb ntdjt ljalte bid) auf bie 9Raffe bed ©traljtenf oloffed ,
$en ed freut, ba& er felbft Styobud' 2Bert flberragt.
Siege bu ab, fco bad §au$ fidj bed feudjten fitofiud erfjebet
Unb, forijbantenbemalt, (Stybeled fluppelgebdu."
Son bem Xempel ber 3utoentad, toeldjen 2luguftud auf bem ^Jalatin
gegriinbet, ift bid jefct nidjtd gefunben. S)agegen barf man gtauben, einen
alteren £empel hrieberentbedt ju fjaben, unb jloar ben bed Suptter SJictor,
toeldjen D. gabiud SRuttianud in ber fdjtoeren ©d)Iad)t toon ©entinum
295 getobt Ijatte. ©r liegt auf bem norblidjen Ityeile ber SBeftfeite,
too nod) bad SSerjeidjnifj ber Stegionen in ber 3^it ©onftantind iljn
nennt. ©ein fjoljed 9tlter betoeifen bie Sftefte einiger urfpriingtid) mit
©tud iiberjogener ^eperinfaulen fotoie bie grofcen Suffblbde ber gunba*
mente. Der faft quabratifdje Unterbau, bei einer SReftaurirung mit einem
SRarmorpatoiment umtegt, ift tootlftanbig erljalten. 26 ©tufen fiitjren in
funf Slbfafcen Don SBeften Ijer ju feinem ©ingang Ijinauf.
5Rad) Suguftud beftieg fein ©tief; unb 9tboptiofo^n Xibertud, ber
fiitoia ©oljn, ben ©afarentljron unb rid)tete fid) mit faifertidjem ©lanje
auf bem $alatin ein. fatten bie Stnlagen bed Stuguftud' toefenttid) bie
fublidje #alfte bed toon einer ©infenfung burdjfdjnittenen £ugetd ein=
genommen, fo naljm nun liberiud faft bie ganje SRorbljalfte, fotoeit fie
ntdjt toon ^eitigt^umem befefct toar, fiir fid) in Slnfprudj. 2>er aud*
gebefjnte $alaft, ben er, toaljrfdjeintid) in ber ©egenb bed toon feinem
ffiater SRero ererbten £aufed, auffiiljrte, ift bie betradjtlidtfte 3tuine ber
farnefifdjen ®arten, bod) ift nid)td aid bie mddjtigen ©runbmauern nebft
me^reren bur^freujenben Sorriboren bed ©rbgefd)offed unb einer Stnjaf)!
Don fleinen Stufeeniimmem er^alten. S)iefe mie bie Sorribore finb ges
toblht, j. %f). nod) mit SReften ber ©tudirung unb ber aJlofaiffufcboben
Derfe^en, geftatten aber f einen ©djlufc auf iljre einftige Seftimmung.
®cr groftte I^eit ift nod) mit ©rbe angefultt, unb bie ©etootbe tragen
einen ©artcn, in tueldjem bie ?R5mer ©onntagd unter bliif)enben ?Rofen,
DIeanber unb immergriinen ©ic^en fpajieren gefjen, of)ne an ben furd)ts
baren riitt)fel^aften SDtann ju benfen, ber toon t)ier aud bie einfici)tigften
unb fegendreidjften Stnorbnungen in bad getualtige Steid) erlicfe, unb
bann wieber feine Umgebung mit gur^t unb ©ntfefcen erfiiflte. ©cine
36^
H. Sdjoener in Horn.
fd)red(id)ften Sljatcn faf) frcitid) nid)t 9iom, fonbern bie fdjime 3nfel
Eapri, auf ber cr bie lefctcn elf 3>af)re feine£ mtfttrauifdjen ©reifentfyunts
5ubrad)te.
©agcgen fpictten bic Xoflfjeiteu unb ©reuel be3 citcln SBitftftngS
Saliguta fid) I)auptfdd)Ud) auf bem ^alatin ab. 3Me fotoffaten Spfeiler
unb SBolbungen, bic un3 bet bcr 2lnndf)erung Dom gorum Ijer juerft iu'3
2luge fatten, bie fjofjen iibereinanber getfjiirmten ©cmddjer unb Unter=
gefd)offe, auf beneu jefct ba£ Eaftno ftel)t unb bie burd) bie farncfifdjen
2tnlagen sum 2f)eil in ©rotten unb @outerrain£ fcertoanbett mareu, ge=
tyoren ben 93auten GafigulaS an. 93on unfimtiger 93erfd)menbungS= unb
S3aufud)t erfafjt, befyute er ben tibcrianifdjcn $alaft nod) toeit iiber
bie 2tbf)dngc nad) bem gorum f)in au3. ©er Clivus Victoriae, ber
£ain ber 93efta oberfyalb ber Via Nova unb felbft ber an ber Storbfpifce
liegenbe Don 5Jiberiu3 erbaute Sempel be3 2luguftu£ ftmrben t)on ben
2B5lbungcn be£ neucn ^alafteS iiberbecft. 2tm befannteften ift fein un-
finnigeS Unternefjmen , biefe3 |>au3 burd) cine ^fcilerbriide mit bem
£empel be3 Supiter auf bem Eapitol ju fcerbinben, au3 ber erfldrtcn
2tbfid)t, einer ©inlabung be3 ©otteS, mit beffen SBilbfduIe er oft fprad),
ju folgen unb leister mit ifjm ju ucrfetjren. S)ie riefigen 2tnfa$pfeiler
biefer 83riide unb felbft ein Sfjetf ifjre£ 3Rarmorgetdnber§ finb nod) Dor=
Reuben; ebenfo SRuinen beS ^alafteS, toetdjer fid) bi3 jum Sempet ber
2)io3curen am gorum auSbeljute unb ben tefctercn ate SBeftibuIum nod)
mit umfafjte. SDtoberne §dufcr finb auf unb jhnfdjen bic Stuinen gebaut,
unb ein paar gemaltige SKauern umfd)Iief$en jefct ein Drangengdrtdjen
Winter ber Sirdje @. 3Jtaria Siberatrice. — 3n eiuem t)erbcdten ©ange
be3 ^alatinS, fcermutfjlid) in einem bcr tiberianifdjen Sorribore, tuar e$,
mo Saligula, auS.bcm Circus suriidfefjrenb, t>on ben 93erfd)roorenen er^
morbet tmirbe. ©einc 2eid)c ttmrbc cilig nur fyatb Derbrannt unb uotl)-
biirftig uerfdjarrt, fcin 2tubeufcn t)ermimfd)t, fein SRame auf 3Jionumenten
fccrtilgt. SSenige Sitber finb toon if)m fcorfjanben. 2tber bie SRiefen=
triimmer beS ^atatinS ittnftriren aud^ biefe£ 2Bat)Mmfcigen ©efd)id)te.
©er Dfjeim be§ (Srmorbeten, ber bfobfinnige ElaubiuS, tuar in bcr
aSegtcitung Eatiguta^ gemcfen unb f)atte fi^ au§ 2tngft in ben $alaft
gefliid)tet unb in einem Srferjimmer tjerftedt. Sflntmernb fieroorgejogcn,
luarb er t)on ben ^ratoriancrn in i^r Sager gefii^rt unb jum Saifer
au^gerufen. 2lm ndc^ftcu 2^age; nad^bem fein 3^9^n befiegt n?arf fe^rte
er in ba£ ^atatium juriid unb lie^ fidj bort Dom Senate l)ulbigeu.
9lad) feiuem glcid)fatt^ im Solatium unb jmar burc^ feine grau
Slgrippina t)cranla6tcn gemaltfamen Sobe tuurbe ba£fe(be bie SRefibenj
5Rero§ unb bamit ber Sdjauptafc nie gefc^ener Drgieu, itppigcr gefte unb
dieter ber ejecntrifdjen ©cencu, burd) tocId)e ba§ Seben biefc» Saifer^
be5eid)net ift. Seiner SDiaftfofigfcit unb $rad)ttiebe geniigte 1)a§ 93or=
f)anbenc bei tt?eitem nid)t. S3a^ an ^?rit>atf)dnfem ctma noc^ auf bem
Der palatin unb feine 2lusgrabungen. 365
norblidjen Ifjeile beg Rotating fi<$ befanb, mufcte toeidjen, urn feinen
©rtoeiterunggbauten $tafc ju fdjaffen, bic cr mit aug bcm ganjen 9teid)e
fcufammengerafften ®unfttoerfen fdjmiidte. %a ber $alatin gettiigte if>m
nid^t mefjr. @r bautc fid) bic fogcnanntc Domus Transitoria, bag
„*£affagefyaug", tucl^c^ ben palatin mit ben „@iirten beg SKacenag" auf
bcm ©gquilin toerbinben follte, unb nadjbem bieg burd) ben grofcen Sranb
beg %afyxt$ 65 jerftort h)ar, Icgtc cr bag beriifjmte unb beriidjtigte
„®otbene $>aug" an, roeldjeg an' Slugbeljmmg hue an toerfdjtoenberifdjer
?Prad)t aQed Dagetoefene iibertraf. ©g ttmr cine ^arfanlage mit #iigefa
unb 23)a(ern, SBiefen unb Sogquetg, ©pringbrunnen, Seen unb ben ber*
fdjiebenften ©ebauben, bie bom palatin fidj iiber bic ganjc SSelia unb
bie ©arinen big toeit auf ben ©gquittn fyinauf erftredte. 2)ag Sltrium
befanb fid) ba, too jeftt bie Sftefte beg ^abrianifc^en SBenugs unb Stomas
tewpete ftefjen. Snt Beftibulum ftanb bie 120 gufc tjol>e efjerne ber-
golbete Statue Sfcerog ate ©onnengotteg mit bem ©tra^enfranje, bcrcn
93afig man toor bem ©oloffeum fiefyt.
3)ag ©olbene £au& §atte nid)t bid langeren Scftanb ate bic ipcrr-
fd>aft feineg Urtjeberg. 2ln ber ©telle beg grofcen $eid>eg crbautc 93eg*
pafian bag StmpJjitfjeater, iibcr cinem Itjeil ber ©ebaubc £itug feinc
Saber. Die faiferlidje Sftefibenj toarb toieber auf ben palatin befdjranft,
aber ettoag nad) ©iiben toerlegt, too Domitian ben ncucn glanjtooflen
®ebaubecompIe£ tootlenbete, ber unter bcm Stamen ber ftatoifdjen $alafte
ben befterfjaftenen Stjeil ber neueftcn Sluggrabungen au£mad)t. ©r Itegt
jtoifdjen bem tiberianifdjen unb bem augufteifdjen §aufe, tfjeiltoeife nod)
unter bem ®ebiete ber SSitta SDlitt^. ©ein Sttrium beginnt unmittefbar
bcim ©tatortempel unb ber Porta Palatii unb erftrcdt fidj, an ben
lempcl beg Jupiter Victor angeletjnt, big an ben ©iiblpeft^b^ang beg
Sergei.
Dan! ber guten ©onfertoirung finb toir l)ier fogar im ©tanbe, bie
einselnen Staume, toeldje im ©rofcen ein Stbbilb beg geh)8{)nlid)en romifdjen
4?aufeg finb, ju beftimmcn.
Die $>auj)ttl}eite beg rSmifdjen, aflerbingg fritf) na<$ griedjifdjer
SBeife mobificirtcn £aufeg finb, hue loir eg in $ompeji burdjtoeg finben,
bic jtoei fjintereinanber liegenben rcctangularen £ofe, bag Sltrium unb
bag ^erift^I, beibe toon eincr bebedten §atte umgeben, auf toeldje bic
Simmer miinben, unb burd) ein jmif^en beiben liegenbeg ^au^tiimmer,
bag Sablinum, toon cinanber gctrennt.
S)ag 9ltrium fep bei bem flatoifdjen ^alafte. Dagegcn finb atte
anbern If)eilc, naturlic^ toergrSfjert unb ben 93eburfniffcn ber faiferlidjen
fftefibenj, in tocl^er bie 3tegierung beg 9lei(^cg concentrirt toax, angepafct,
i^rem ^lane nac^ tooty ju erfenncn, ba felbft bie SKauem big jur §ot)c
toon 3 — 6 SRetern er^alten finb.
Stuf bem ebenen SSorpIafe am palatinifc^en X^orc fte^enb ^at man
Wort unb ©Qb. VI, 18. 25
366 Sdjoener in Horn.
cine Ijolje SRampe Dor fidj, bic jebenf afld cinft burdj cine %xtxtxtppt ju^
ganglidj toar. Son iljr aud tritt man burdj toeite Iljiiren in brci
nebenetnanber liegenbe unb aud} untcr fidj communicirenbe ©die. 3)cr
gr5fcte in bcr SDlitte, im SJJriDatljaufe bad Xablinum, bad ©abinet bed
$>audljerrn, ift Ijier ate Xljron* unb Smpfangdfaal ju benlen, beftimmt
ju toidjtigen SRegierungdfunctionen unb Steprafentationen bet faiferlidjen
SRadjt 2tn ben SBanben finb redjtd unb linfd abtoedjfelnb Dieretfige unb
runbe Stifdjen, toeldje mit ©tatuen gejtert toaren. Sinen ^erculed unb
einen 93ac<$ud Don Safalt Ijat man umgeftur}t bort gefunben. Sn ber
SRucftoanb bem ©ingange gegeniiber ift eine grofee Ijalbrunbe Stifle fur
ben Iljronfifc bed Smperatord; bort fteljt man SRefte bed gufebobend unb
ber SBanbbelleibwtg, bie burdjtoeg aud Derfdjiebenartigem buntem 9Rarraor
beftanb. 9tad) bem Seriate 5Hand)intd, toeldjer ber Sludgrabung im
gafjre 1720 beitooljnte, tourben bafelbft nodj fedjjeljn ©aulen don ©iaDo
antico, ^aonajjo unb anbern SDtarmorforten mit jum Xljetl aufjers
orbentlidj funftreidj gearbeiteten Safen unb ©apitalen aufgefunben, toeldie
Dor ben Stiffen ftanben, fotoie jaljlreidje 9Rarinortafeln Don ber SEBanbs
befleibung. 3^ci ber f^dnftcn ©aulen, 28 palmi Ijodj unb 3,26 im
3)urdjmeffer, tourben fiir 3000 Denetianifdje 3ecd)inen Derfauft. SBo ftnb
fie unb ber iibrige Steidjtfjum tjingefommen? Wlan fielft jefct nidjt Diet
mefjr aid bie 3icgetmauern, biefe aber mit ber jener 3*tt eigenen ©olibitat
unb 2Reifterfd}aft conftruirt, toeldje fie faft neu erfdjeinen lafjt. — 2>er
©aal ift 150 r5m. gu| lang unb 120 gufe breit.
gfjm jur SRedjten liegt ein fleinerer oblonger ©aal mit ©puren
jtoeier ©aulenreiljen unb einer erl)5ljten Ijalbrunben Xribiine, ju toeldjer
man, gerabe trie in ber Saftlica Don $ompeji, auf jtoei IjalbDerfteiten
fdjmalen feitlidjen Ireppen Ijinauffteigt. Dffenbar fyaben hrir au<$ Ijier
eine Safilka Dor und, in toelctyer ber ffaifer Sledjt gefprodjen f}at, unb
ber Jfteft einer marmornen ©itterfdjranfe faun, audj toenn er nidjt an
Drt unb ©telle gefunben fein foflte, feljr tool)! fidj bort befunben Ijaben,
urn ben SRaum fiir bie ^arteten Don bem ber SlbDocaten ju trennen.
Stuffiiflig ift ein l)oljer ftarler 3^gelpfciler in ber Dorberen n5rbltdjen
©cfe ber SBafilica.
2infd Dom lablinum befinbet fid} ein nod) fleinerer mit meljreren
^interjimmerdjen in SSerbinbung fteljenber ©aal, toeldjer jeftt aid Lararium,
b. f|. ipaudfo^eUe, beseidjnet toirb; ob mit Sle^t, muft ba^infte^en, ba
ber ^ier aufgefteUte Heine SCItor mit ben SReKefbilbem ber Saren unb
bed gamitiengeniud nic^t ^ier gefunben loorben fein foil.
Winter ben genannten brei ©alen be^nt fi^ nun bad impofante
^Jerift^I, ein ©aulen^of Don iiber 3000 DSKeter aud, Don toeldjem
ein I^eil no^ burd) ben ®arten ber ©atefianerinnen bebecft toirb.
Sine ^orticud aud ©aulen Don larifdjem SDlarmor umgab l)ier einen
©arten mit ©lumen unb SBaffertoerfen, unb ein ©odd aud ®iaUo
Der palatin nnb feine 2lusgrabungen. 367
antico 509 fic§ ringg um bic 23anbe, Don bent aber nur gcringc SRefte ju
fefjen finb.
Um bag 9$erifti)l liegen, toie in alien ^ritoatfidufero, Heinere unb
grSfjere Simmer, beren Sefttmmung fi<$ nidjt fidjer mefjr nadjtoeifen la^t.
6in grower ©aal auf ber tjinteren ©cite ntit SReften eineg fd>5nen -Uiofaifs
fufcbobeng aug 9Rarmor unb $orpfy)r fjat tool ate Triclinium, b. Ij. ©^cifc-
faal, gebient; benn er ljat bie fflr einen fotcfyen iiblidje Sage mit bem
freien Slid auf bie Seete unb ©pringbrunnen beg ^erifttyte. 3m;
5Red)ten beg Iricliniumg befinbet fid) ein fleineg 3intnter mit einem er*
f)5f|ten cttiptifd^en Saffin, bag ganj mit toeifjem 9Dtarmor auggelegt ift,
mit ©duldjen unb ©tatuen, toafyrfdjeinlidj aud) ©eh)d<$fen gefdjmiidt tear
unb in tnelc^eg ein SEBafferftraljl f)ineinfiel, beffen bleieme Seitunggrflfjren
erljatten finb. #ier lonnte man, befjaglidj auf ©tiifjten in ben Stiffen
fifcenb, nadj bem 3Jlaf)l ftdj ber Jhtfjle, beg SBaffergeptdtfdjerg unb bed
Slumenbufteg erfreuen. — Sin bad ^eriftyl ftflfct nod} ein fleiner $)urdjs
ganggfaal, ber eg mit einer ndrblidjen 9tu&engatlerie, roel<$e an ©telle
ber fonft ftblidjen fauces ate ©ommunication jtoifdjen 2ltrium unb
^eriftyl biente, toerbinbet, unb neben bem 3)ur<$ganggfaal finb je toier
f)atb*unbe mit bem Sftiiden aneinanbergeleljnte Heine ©emdd)er, in benen
man toot exedrae, SRutfepIdfce mit bem Slid in'g greie, ju feljen fyat.
Die planmdfjig ft)mmetrifd)e Slntage unb gteidjmdfeige Konftructton
biefeg ^alafteg betoeift, bafe er in einem 3uge, bie jatytreidjen SitbtU
ftempet, baft er toirflid) toon 2)omitian erbaut toorben ift. SBenn er
toon geringerem Umfange tt)ar, fo mufc er nid)t toiel toeniger prddjtig
getoefen fein ate bag (Mbene #aug. S)er ©djmeictyler 9Qtartial toer-
gleidjt ifjn mit einer ©ottertoofjmmg unb fagt, Supiter miiffe beforgen,
baft bad #aug fid) big jum pummel crljebe; ber ermiibete Slid erreidje
faum bie getoaftig f)o!)en SBdtbungen unb miiffe bie golbenen Eaffetten-
felber fiir ben £immet fjalten. Sr ertodtmt, baft foftbareg ©eftein aug
Sibtjen, Slium, ©tyene, Efjiog unb Suna bort toertoenbet fei unb fefct ber
Sobpreifung bie Srone auf, inbem er augruft:
„$iefer $alaft, 0 (Srljabner, ber mit bem ©djettel bie ©terne
SRuljrt, ift bem ©immel gleidj, aber nidjt gletd) feinem §errn."
3n ber Sljat toar ber ^alaft, ber and) ben nddjften ffiaifem ate
SRefibenj biente, ber #erren ber SEBctt toiirbig, unb toenn fie toon ^ier
aug auf bie feit Stuguftug in SBaljrljeit ju einer marmomen getoorbene
unb nod) immer fidj toerf^finernbe ©tabt tjinabblidten, fo fonnten fie
mit nodj grd^erem Sfte^te, ate bie 3)id)ter ber augufteifc^en Qtit, fagen,
ba§ leine ©tabt ber ©rbe 3lom glei(^ lomme. 3lai) ©ubtoeften blidte
man auf ben (Eircug SKajimug mit feinen Iriump^tfjoren unb ben in
ungeljeuren ©Ilipfen anfteigenben an ©pieltagen toon einem meerdfjnlidjen
aRenfc^engetooge erfuHten ©iftrei^en nieber. 3m SBeften glitt ber Slid
iiber bie ^eiligtpmer beg Forum Boarium unb ben toon bunten Sarfen
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H. Sd?oener in Horn.
betebten liber f)iniiber nacfy bent Saniculum ntit feinen toiflenbefefeten
Slbljdngen, bie 2lbenbg in feentjaftem ©lanje leudjteten, unb $u bent EircuS
in Sterol toaticanifd)eu ©drten, bie einft burcfy £aufenbe Don ©fjriften
ate gadeln erleudjtet toorben toaren. Siorbtodrte ragten in ber gerne
bie ftatuengefdjmitdten Sweater be3 ^ompejuS unb be3 93albu3, nd^er
ba3 beS 9Rarcettu£ unb bie $rad)tbauten be3 ftoljen Eapitote empor —
StfleS ettel gldnjenber 9Rarmor. SBeldjer Stnblid aber erft in ber Xiefe
gen Storben unb Often, too ein ^radjtforum neben bent anbem angelegt
tpar: ba£ beg Edfar, be3 SluguftuS, be3 SeSpaftan, be3 Stertoa, be§
%xa\an — atle angefittlt ntit Sewpetu, Saftftfen, ©dulentyatfen, ©tatuen
unb SriumpfybSgenl ©erabe gegenuber ber grout be3 $alafte3 lag an
ber SSetia ber impofantefte atter lentpel SRomi, ber ber S3emi£ unb
Stoma, toon ipabrian 135 nad} feinent eigenen Enttourfe erbaut, unb
neben tfjnt enbftd) er^ob fid), ben $alattn nod) iiberragenb, ber SSunberz
bau be3 flatoifdjen 8tmpl)itl)eater$. SReben ifjrn unb ben Iljermen be§
XituS toorbei aber fdjtoeifte ber Slid, hrie jefct, in bie toeite Sanbfdjaft,
bie aber bamate nid)t, h)ie jefct, meIan<$olifd), obe unb toeriaffen, fonbern
bis 5U ben femen Stlbanerbergen toon fdjimmemben £anbt)dufern bebecft
tt>ar, ba£ fie tt>ie eine gortfefcuug ber enblofen ©tabt erfdjien.
Ungehrifc ift, ob eine an bie SRudfette be3 bomitianifdjen $alafie£
fid) anfdjtiefcenbe SJJorticuS, toon beren EipottinsSdulen einige in &of)t
toon 6 SDtetem nod) aufredjt ftefjen, fonrie bie beiben ate „9lfabemie" unb
„33tbIiotI)ef" (?) bejeidjneten ©die nod) ju jenent ^alafte geljBrt Ijaben.
SBerfelbe ift ilber dlteren burdj Ujn ganj toerbedten Sauten errtct)tet, bie
gum Xfjeil au3 toorfutlanifdjer 3*it Ijerftammen mitffen, ba fie au3 bem
fpdter ttid^t meljr toertoenbeten rbmtfdjen ©eftein — toom EaeftuS — be=
fteljen. 9lu£ bem ^erifttyl fann man in ein paar Ijolje unterirbifdje @e-
mddjcr ^inabfteigen, bie 1726 entbedt unb ofjne ©runb mit bem Stamen
„93dber ber Sitoia" bejeidjnet toorben finb. @ie finb getoolbt unb fatten
an ber 5)ede fd)5ne, jefct toerblidjenc SRalereien in SBeifj, SSIau unb ©olb
betoatjrt. SDtan fanb fie ofjne Xljiireu unb genfter, toorauS ju f(^Iie§en
ift, baf$ fie na<^ ber Ueberbauung burd) ben flatoifd^en ^Jalaft iiber^au^t
md)t me^r gebrauc^t tuorben finb.
Stertoa erftdrte ben ganjen ^alaft jum ©taatggebdube unb Iie§ baran
fdjreiben: Aedes publicae. Irajan unb #abrian na^men einige SSeran^
berungen toor. Unter EommobuS 191 n. (£ljr. fanb ein SSranb ftatt,
unb biefer toirb bie Urfa^e getoefen fein, we^alb biefer ffaifer cinen
neuen ^alaftbau unternat)m, ben ©eptimiuS ©etoeruS fortfe^te unb er^
toeiterte. 3)er einjige noc^ freie Sftaum mar bie ©iibfeite, unb ber ge*
ttoaltige atuinencom^Iey, ben loir Ijier anftaunen, ge^ort ben Sauten jener
beiben Saifer an.
©f)e wir ju biefen ^initbertoanbern, tootten ttrir nod) ein $ritoat^au§
auf ber Storbfeite betra^ten, wet^eS aHein toon ben jatjtreic^en Kaiferbauten
Per palatin unb feine ilnsgrabutigen. 569
nidjt fcerbrangt toorben ift. @g ift bag beg $ratorg li. Slaubiug 9tero,
erftett ©ematjlg ber Stoia unb 93aterg beg Saiferg liberiug, in toetdjem
Sima tnit ifyrem ©oljne gelebt l)aben toirb, bettor fie 2tuguftug Ijeiratfjete,
unb in bag fie nad) beg Sefcteren lobe iuriidfeljrte. ©fatten ift eine
jiemlidje Shtjat)! fleiner 2)iener= unb ffiirttjfdjaftgraume aug gutem opus
reticulatum unb bag Sltrium nebft Seftibiil unb mer 3immern, toelcfje
mit fdjSnen Sregfen in pompejanifdjer SBeife bentalt finb. S)ag #aug
teljnt fid) an bie ©iibtoeftede beg groften tiberianifdjen ^alafteg an,
unb man gelangt toon biefem aug mittelft einer abtoartg fiifjrenben Zxtppt
in bag Sttriunt, einen mofaicirten |>of mit ber Safig eineg Slltarg. SSon
bemfelben aug tritt man redjtg in bag oblonge Iriclinium, bag mit 2anb*
fd)aften, £t)ieren unb ©efdfcen bematt ift unb feine garben, namentlid)
ein feurigeg SRotlj, in benmnberngtoertfjer grifdje betoaljrt Ijat, gerabeaug
aber in bag lablinum unb jioei Stugetjimmer, bie gegen bag Sltrium
ganj offen finb unb bereinft burd) SSorpnge abgefdjloffen hmrben. 2)ag
Sablinum tjat SBanbgemalbe Don feltener SJottenbung, bie burd) bie au<f)
in SPompeji atlgemein angetoenbete gemalte ©aulen- unb SkranbensStrdji*
teftur unterbrodjen toerben. 2tn ber ©intertoanb ift — alg ein Slugblicf
in'g greie gebadjt unb buret) trefflid)e ^erfpecttoe auggejeidjnet — ein
©eebtfb mit *Poft)p{)em unb ©atatea, red)tg go, 8trgug unb fflterlur unb
eine ©trafcenfeene. 3^ fleinere SSilber mit Dpferbarftellungen finb
»ie jufammenlegbare Xafelbilber gemalt. S)ie red^te 2Ka ift mit pompofen
SSIumeuguirlanben, SKagfen unb einem gemalten Srieg mit eigent^iimlidjen
lanbfd)aftlicf)en unb figiirtidjen ©cenen, bie linfc mit anmutfjigen Singed
geftalten unb Strabegfen oberfjalb brauner, rot^ unb griin eingefa&ter gladjen
gefd)miidt. 2)ag ©anje madjt ben (Sinbrud eineg eleganten unb tt)oI)nli<$eu
#eimg, unb man mag fid) red)t tootjl bie intrigante Sitria Ijier in 23e;
rating mit if)ren SSertrauten ober im einfamen 9lad)finnen iiber bie ^Jlane
benfen, bie fie in ben nafjeu SJJalaften augjufitfjren beabfidjtigte.
3n bem fitblic^en Sftuinencomplej, ju wet^em ung ein toerbinbenber
©artenpfab urn bie 9SiHa SKiDg Ijerumfufjrt, fe^en toir juerft eine Slenn-
bafjn toon einer ^orticug umgeben, bie mit ^feilern unb |>albfaulen Der^
feljen tear. 2ln iljrem ©nbe bei bem Ijalbrunben 9lbfd)Iufi bejeidjnet ein
SBafferbaffin bag ftitl, urn foeldjeg bie SBettlaufer fjerumjulaufen fjatteu.
<£g ift bag ©tabium Stomitiang, toeldjeg fidj genau an bie ©iibgren^e
ber SSiHa SKittg, atfo mutfjmaftlid) an bie 83auten beg 2luguftug, anle^nt
unb mit ben im ®arten beg fflofterg 93onat>entura befinblid)en iibrigen
bomitianift^en ©ebauben in SSerbinbung ftef)t. — 3n ber SKitte ber fiib=
lid^en ^orticug befinben fid) brei jum ©tabium geljorige ©emde^er, in
beren einem ©tud unb SRalereien gut erf)alten finb. Ueber biefen ift
fpdter eine gelpaltige ^atbrunbe getoolbte Styfig ober Soge — DieHeic^t
jum Slnfd)auen ber SSetHaufe — erridjtet toorben, bie Don einem bebeds
ten ©ange mit mac^tigem ©affettengetoolbe umgeben ift.
370
H. Sdjoener in Horn.
©in ©etoirr Don nod) nidjt genau beftimmten ©emacfjern burdjjietjt
in mc^rercn ©todtoerfen biefen S^cil bed palatinifdjen #figeld. S)ie iafyU
reidjen grofcen unb fleinen SSabcjintmcr, jum Ifjeil mit ©affettengerootben
unb ©tudDerjierungen, gel)8ren ben Sauten bed ©ommobud an, bic ricft-
gen Unterbauten enbKd), bic am toeiteften nad) ©fibroeften Dortreten, bcncn
bed Sttejanber ©eDerud. 2Ber ben $alatin befud)t, Derfaumt nid^t fiber
bie fdjmate, tjotjerne Srfide ju getien, toeldje cine Sfide in cinem bcr
riefentyoljett ©etotflbe fiberfpamtt, unb bad plateau ber ©eDerudbauten
ju betreten, Don bem man, namenttii) bei ©onnenuntergang, cine unDer;
gefitidje Sludfidjt fiber ben ffiblidjen Xljeil ber ©tabt unb bie ©ampagna
bid ju ben 9Ubanerbergen geniefct.
Spurted Derfdjnmnben ift ein namentlid) bejeicfjneted ©cbaube be£
©eptimiud ©eDerud, bad Septizonium, obtool Don bemfetben bid jum
©nbe beg fed)jeljnten 3af}rfjunbertd bebeutenbe SRefte Dortjanben toaren.
©d lag an ber aufjerften ©fibfpifce bed $alatin, unb war don bem ftaifer,
ber aud Stfrila ftammte, mit grofcem Sluftoanbe bort erridjtet toorben,
urn feinen burd) bie $orta ffiapena nac§ SKom fommenben fianbdleuten
fogleid) in bie Slugen ju fallen. 2luf 2lbbitbungen bei 5)u $6rac unb
©amucci fieljt man nod) eine Statute Don brei ©todtoerfen mit ©antem
gatterien ober Sogen forintfjifdjer Drbnung, toelcfye Don ©ijtud V. ab*
gebrodjen unb in ben Vatican gefdjafft nmrben — eind ber jafjltofen
S3eifpiclc Don 3erft8rungen ber rdmifdjen SKonumente, toeldje man ben
„93arbaren" jujufc^reiben ftebt.
2tud> ©lagabal unb SUejranber ©eDerud erridjteten nod) Sauten auf
bem ^alatin, unb jtoar ber ©rftere einen Sfjurm Don fd)ttrinbelnber £olje,
beffen gufe er mit ©otb unb ebeln ©teinen umgeben liefc, urn, wenn er
fid) burd) einen ©turj Don bem Sfjurme bad fieben netjme, toenigftend
unter $rad)t unb Softbarfeit umjufommen.
Unbeftimmbare SRuinen, meift getoitfbte 3imnter, fte^t man nod) am
Oft* unb 9torboft--2lbfjange bed ^alatin. ©ie finb Derftedt im ©run ber
©arten unb SSigncn, aud benen malerifd) einige ber neronianifdjen 93ogen
ber Aqua Claudia aufragen.
Stuf ber ©eite bed ©ircud SKajimud enblid) unb jtoar nalje ben
thadjtigen Unterbauten bcr ^alaftloge, aud welder bie Saifer ben ©trcud;
fpielen jufatjen, ift nodj ein 3immercompte£ audgegraben toorben, ber
burd) eine 2tnja{)l Don ©raffiti, b. lj. ben in ^ompeji fo ^aufigen ©in-
Irifeelungen auf bem ©tud ber SSftnbe, Sntcreffc getoonnen ^at. Sine
berfelbcn, Welc^e befagt: Corinthus exit de paedagogio, ^at bie Dermutl)ungd=
toeife 93ejei(^nung biefer 3taume aid Paedagogium, b. ^. ©rjie^ungdanftalt
ber faiferttdjen ©ctaDen, Deranlafet, unb atlerbingd laffen fotool Sn^alt
aid gorm ber mannic^faltigen lateinif^en unb griedjifdjen Semerfungen
unb bie larrifirten 3dd)mingen fic^ re^t toofjl auf fedc ©cfjfilerljanbe
jurudfutiren. ©d finb barunter Diele ©igennamen, manege mit grofeen Suc^j
Per palatitt unb feine 2lusgrabungen. 37^
ftaben ttrie talltgra^^if^c Uebungen audgefiiljrt, }. S3. FELICI <t>HAIKI
— BOYnATHTOY BACIAEOC — AVRELI STEPHANI — LIBANVS
EPISCOPVS — SVPERBVS LIBI — GORDIANVS — ArPITTTTAC :c.
Unter bcr 3eidjnung eined Gfeld, bcr cine SBfiljle bret>t, fteljt bic launigc
83emerfung: Labora, aselle, quomodo ego laboravi, et proderit tibi —
„9Irbeite, (Sfelein, toxt id} gcarbcitct tyabe, unb ed h)irb bir gut ttjun."
2)ie merltoiirbigfte ift einc jefet itn ®ir<$nerianifd)en SKufcum toertoatjrte
®pottinf<$rift auf bad G3jriftentl)um. Steben einem SKanne mit $ferbe= obcr
©fctefo^jf, bcr an'd ®reuj gefjeftet ift unb neben bent ein Stnbercr ftefjt,
lieft man: AAEHAMENOC C6BETE 0EON „«te£amenod betet ®ott an".
?Hd bie Ijier nod) toerfpottete {Religion int romifdjen SRcid^c jum
©iege gctangt toax, ging ed mit bem ©lanje bed ^alatind ju 6nbe. ©djon
itac§ bcr Xtjeilung bed SReidjed unter 2)iorfetian btieb SRom nidjt me^r
bic getoitfjnlidje JRefibenj ber fiaifer; (Eonftontin ma<$te ffl^anj gar jur
#auptftabt. 9ta<$ bem ©turje bed toeftr5mifd)en SReic^ed bur<$ Dboafer
itafjm btefer nidjt in SRom, fonbern in SRa&enna feinen ©ift. ©benfo tfjat
fein Sefieger unb SKadjfolger Iljeoborid) unb bie oftr5mifd)en ©tatttjalter,
bic Sjar^cn. Xfjeoborid} fiiljrte no<$ einigc Sauten auf bem ^alatin
aud, unb bie btjjantinifc^en ftaifer ernannten im 7. 3aljrt)unbert /f3nten-
banten bed ^alatiumd". SRad} ber Kfjronif toon SKonte ffiaffino fam 629
ber Saifer £eracliud, nadjbem er bad ®reuj toiebergetoonnen, nad) SRom,
„hmrbe toom ©enat auf ben Stuguftudtfjron bed £afarenpatafte» gefefct",
mit bem 2)iabem gef<f)mudt unb jum 2ltteinf)errfdjer gemad)t. 3Iber bied
tear bic lefcte ©rncuerung ber atten Sebeutung bed ^palatind. ©dijon
langft toar ber SBraud) aufgefommen — minbeftend feit bem 3. Saljr*
Ijunbert — jebe SRefibenj bed Kaiferd ^atatium ju nennen. 3m 8. 3a$r;
Ijunbert tooljnten bie „#erj6ge" toon SRom in bem fdjon tjalb toerfaflenen
unb un$aljtige 2RaIe geptiinberten $alaft.
2)afc fdjon im 10. galjrljunbert bad ^alatium faum me^r beadfjtet
toarb unb footer immer meljr toerhmftet hmrbe, ift fdjou gefagt toorben;
ebenfo, baft toi<$tige Sludgrabungen erft im toorigen 3a^unbert gema^t
toorben finb.
1846 begann ber ®aifer SRicoIaud toon SRu&Ianb in ber eljemaftgen
SSigna Sluffiner auf ber ©eitc bed ©ircud 2Ra£imud Studgrabungen an^
ftetten ju laffen, toelc^c unter ber Seitung SBeSco&aliS jur Stuffinbung toon
Reften ber alteften SKauer unb t)on bem fogenannten ?Paebagogium fil^rten,
tooran fid} bie (Sntbedung bed laiferii^en $ufoinar unb einer ©trecfc ber
SSia 9totoa anfc^Io^.
?tm 4. Sfawember 1861 ^aben bie t?on 3lapoleon III. tjeranlafetcn
Slrbcitcn in ben farnefifdjen ©drten begonnen. ©d^on am 16. Stotoember
^atte fRofa ben Umfang bed ®omitianif^en 5PaIafted feftgeftcflt unb bie
©renjen ber Sugufteifdjen, liberianifc^en unb Ealigulaf^en S3autcn in
grofeen 3"gcn beftimmt.
372
H. Sd?ocner in Horn.
SBaS bicfe Arbeit be3 SfteftorS ber italtcnifc^cn 9trd)aologen bisfjer
ergeben, fjaben toix gefeJjen. GHgentfjumS&erljaltniffe Ijaben bcr SSottcnbung
ber 3hifbecfungen nod} ^inberriiffc in ben SBeg gelegt; boc$ tuerben aud)
biefe fd)ttrinben, unb eg ttrirb bereinft im 3ufammenl)ange oor un3 liegen,
toa$ bie 3al)rtaufenbe Don ben 3Renfd)enh)erfen auf bem eljrttmrbigften
ber rfltnifdjen £mgel iibrig gelaffen t)aben. 3ft berfelbe fdjon jefct ein
fpredjenber unb impofanter 3^nge ber glanjenbften $eriobe SRomS, fo
ttrirb biefe feine (Sigenfdjaft baburd) nod) gefteigert toerben. ffiann er
bann and} nic^t bie malerifdje Srfdjeinung betoaljren, bie iljm bie SSignen,
bie SWfter unb ©arten gcgcntt>artig no<$ fcerleifjen, fo toirb er beSfjalb
nidjt toeniger anjieljenb fein; benn aHent^alben toerben toir an ©telle
ber Sdume unb 93tutnen SJlenfdjentoerfe auS bent Soben auferfteljen feljen
unb ntit ©opfjofleS fagen:
„93tele3 GJetoaltige gibf 3, bodj ntdjtS tft gcmaltiger al3 ber SRenfdj."
Bogumil Dcrarifon.
Don
ftarl <0ut3ftata*
— Sadjfenljaiifen. —
effing fpridjt im Slnfang feiner Dramaturgic einfad) unb niicfytern,
tuie feine SBeife roar, biefclbc SBafyrljeit au$, tpeld^e cine fpatere
3eit, bie eincn blumcnreic^eren StuSbrucf liebte, bat)in bejetd^
nete, bag bem SKimen bie Siadjtoelt Icine Srdnje fledjte.
STOan fann nidjt fagen, bag 2effing feine Slnatyfen ber in Hamburg
angetroffenen ©pietroeifen, befonberS ©ffjofS, in ber fentimentatett fib*
ftd)t fdjrieb, ba8 2lnbenfen biefer Siinftter ju erfjalten. ©3 ift waljr, in
feinen 93erid)ten getjt fetn jugenblic^er geuereifer jutoeiten felbft bei bem
Haren unb uerftanbig benfenben Sopfe fo toeit, baft man fragen mbcfitc:
23o hrill ba3 tjinauS? S)ie Setradjtung 5. 85. ttber bie 2trt, ttrie @fl)of
©entenjen beljanbette, bicfe rulfig eintoarf unb fyoffentlidj (benn ba3 ift
aflein ba£ SRidjtige) at§ ZtyiU ber £anblung betra^tete, oerliert fid) in
2abtjrintf)e ber ^fodjotogie, too man bem originetten 2)enfer faum nacf)*
folgen fann I
©emift geljSrt e3 jur Serfeinerung ber Silbung eine3 S3oIfe3 unb
jur Sclebung beS aftljetifdjen SBerfetjrS, toenn ber ©runbfafe angenommeti
tuirb, bafc, toenn man einmal bie geber fuf)rt, man aud) fcerpflid)tet ift,
iiber ba3 2eben unb bie ®unft beriifjmter S)arftetler ju beridjten, mit benen
un3 bag 2eben jufammenfutjrte. Unb nidjt einmal urn bie ffunftgebilbe
Ijanbeit e3 fid}, fonbem urn ben ganjen, toietleid)t toon 9liemanb fo, tuie
toon irgenb einem ffiingewei^ten, belaufdjten ©fjarafter. 2)attrifon3 Seben,
©ftratoaganjen, Xtjorljeiten erjaljlen, fjeifet feine ©pietoeife djarafterifiren.
28er braudjt eine ©djjilberung ber 2trt unb SBeife, ttrie einft bie (Elairon
fpielte! 9Dlan lieft einfacf) iljre 3Jlemoiren, i^ren originetten 2eben3lauf,
ifyre in 2ln£badj iiber ein 2anb, einen Surften, beffen red)tmaf$ige @e*
maf}ftn auSgeiibte £errfd)aft, eine ^errfdjaft tuie mit ber SReitgerte, unb
fyat ba3 ganje 83ilb ber 5)ejajet beg uorigen SaljrfjunbertS toor fid}, ©ie
3?^ Karl (Sufeforo in Sadjfenfyanf en.
toirb bic beg unfrigen getptfs bci SQSeitcm fotoot im Seben ttrie auf
ben Srettem an Saprice unb fyeraudforbernbem §umor iibertroffen Ijaben.
2)ad taglidje ©pielenmitffen macule teiber jutoetfen bie $ejajet redjt
fdjtafrig.
©ludlidje ©tunben, bie id) 3aljre lang im &ertrauftd)ften SBerfe^r
mit 2)att>ifon fcerlebte, fotten fie oerraufdjt fein im ©trom ber 3*iten?
©oil fid) nidjt bie $fltd)t be? ©djriftftetterd regen, 9tnnatift ju fein Don
atlem, toad bie 3«t audj Ijier in feme unmittelbare 9lal)e rutfte? Unb
junta!, ba bie Seriate, bie beim lobe bed Icibcr on ©eiftedfranfljeit ge-
ftorbeuen $imftlerd faft burdjgangtg gegen iljn geridjtet toaren, mefyr feine
®d)toad)en, aid feine Sorjiige fjeroorljoben, unb ttrie oon neibifdjen „Soflegen"
gefdjrieben fdjttnen. 2)ie junge geuittetoniftil §at meift Iljeaterftiide auf
bem Soger unb toitterte bie beifattige 9lufnaljme iljrer abfafligen Srtifet
bei einer in £ljeaterfad}en madjtbegabten 3nftanj, bie auf 2)atoifon einen
fpecietten §afc getoorfen fjatte.
2)ie Sebendumftanbe 2)atoifond finb befannt. Gr toar fein !J5olc.
©r toar tin 2)eutfd)fl>redjen aufgetoadjfen, toie alle Suben in $oten. ©d
Ijanbelte fid) bei ifjm nur barum, bie gemeine ©predjtoetfe bed 3)eutfd)cn
ju oerlernen unb fid) ben gebilbeten Sludbrud unferer ©d^rift anjueignen.
$)a& er eine &e\t long feine ffenntni§ ber polnifdien ©pradje audnufcte
unb ©dfaufpieler in Semberg tourbe, brad)te ifnn ben Sortfjeil, eine ©attin
ju getoinnen, bie am Semberger Sweater, unter bem ©rafen ©farbef,
bie erften Stebljaberinnen fpielte unb Slnmuil) fotoot toie flared 93erftanb;
nifc iljrer SRoflen unb ein ftrenged aftfjetifdjed ©etoiffen befafe. 3)iefe fla^
oifdjen ©tamme urn bie Donau fjerum bitben ftdj aDe nadj granfretdjd
SJeifoiel! Diefelben 9iegeln toerben bort befotgt, berfelbe ©tit toirb ein=
ge^alten! S)ie junge ©emaljlin, jeune premiere ber polnifdjen Sii^ne
in Semberg, tourbe 2)atoifond erfter Snftructor. ©ie legte, er geftanb ed
mir oft, fetbft toenn er mit i^r janfte, ben ©runb ju jener ernften, ntdjtd
iiber'd Snte brecfjenben, getoiffenf>aften ©pieltoeife, bie iljm eigen toar unb
aflerbingd j. 33. in feinem £amlet, in feinem ^IjiliW II. in eint afabe*
mifefje §altung audarten fonnte, toetdfje bem SBort mefjr einraumte, ati
i^m gebiifjrte unb ber ganjen Seiftung etloaS UngelenfeS unb ©teifed gab.
3$ fjabe ben treffticfien, Dorjugdtoeife getoiffen^aften ftiinftler me^rere
Sa^re lang faft jeben Stbenb, tt)o berfelbe eine neue ober irgenb bebeutenbe
SRoHe fpielte, in feinem Meinen 2tnf(eibeftubcf|en befudjt, e^e id^ in ben
Sufdjauerraum ging. ©d toar in 3)re3ben, in einem oerftedten SBinfeI=
eingang bed abgebrannten ©emperfdjen I^eaterd. 9Dtit Sef^eiben^eit liefe
er fid^ muftern, ob fein 93art aid Sttba nic^t ju lang fei, ob bie Shu
beutung bed #5derd in 3tid^arb III. nityt ju fd^toac^ ^eroortrete. Snimer
Befamen barauf bie bienenben #anbe, bie feinen grofien ©te^fpiegel urn^
freiften, 2lntoeifungen, ba ober bort ju anbera, ^ier ju ma^igen, bort jujus
fefeen, bie Sludmalung bed ©efidjtd ju anbern ober ju oerooflftfinbigen,
33ogumtl Daroifon.
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big cr enblid) mit cinem geftriffen 3^9cn Ijinaugging, unb in bcr Scene bie
SRinen abbrannte, bie er auf ber $robe gelegt fjatte.
®enn idj Ijabe Did Itjeatetproben in nteinem Seben burdjgemadjt,
f<$afce mele SBarftetter, fjege mele im banfbarften ©ebadjtnife, aber bag
mu& id} befennen, nie fam mir ein ©djaufpieler Dorbereiteter, fertiger,
mit aDen Slnjetcfyen beg Dorauggegangenen ©tubiumg fcerfeljener auf bie
beg SSormittagg adj ! fo niidjtemen, fo unljeimlidjen, fo unpoetifdjen 83retter.
3)ort ber fxcfj erft an einetn Sampdjen aug bem 93udj langfam orientirenbe
SRcgiffeur ! Da bie emig mit bem ©ouffteur janfenben, faum bag 3lot^
toenbigpe tfjrer SRoDen nriffenben ©djaufpielerl 3)anrifon allein burdjaug
fertig in feinem $art, fic^er in jeber ©tetlung, bie enttoeber er felbft ober
feine SRitfpielenben einjunefjmen fatten. ©g gab jutoeilen Ijarte £ampfe.
2)ie !3Jtittelmaf$igfeit glaubt befanntlidj bebeutenb ju toerben, toenn fie fid)
aufbdumt. ©g ift bie getooljnlicf)e Xfjeatererfaljrung , gegen bie ficfy ein
guter SButjnentenfer friity ju roefyren lernen mufe. 3Randjeg bittre SBort
flog Don beg potnifdjen %vhtn ttrifcbelebten Sippen. ©r toar Don fjoljer
©eftalt, gerabe toie bie ©djaufpieler ben ©Ijtyfod ju fpielen lieben, ofc
fdjon !J5olcn bie ©eftalten beg Drientg fdjroertidj Ijaufig jeigen mag. ©eine
SKutter Ijatte einen fjoljen ftoljcn SBudjg ttrie eine gurftin, eine ^ropljetin.
©ie war jum 99efud> in S)regben. Sommen ©ie, rief mir Jtoroifon in
ber SBilgbruffer @affe entgegen, id) ttritl meiner SRutter eine golbne Uljr
f auf en! ©r jog midj fort, \6) mufcte il)n begleiten. ©Ijarafteriftifd) fur feine
©djtoanfungen, fiir feine fiinftlerifdjen S3elleitaten, bie jebod) ben SReij jeber
poetifdjjen Sftatur madden f5nnen, toenn fie nidjt uberttmdjern, war fein
SBort am ©ingang beg Uljrmac^erlabeng. (Solbne Ufjr? SBag meinen ©ie?
9lid)t toafjr? ©ine filberne tf)ufg aud)! — £atte id) mit ©mpfjafe ge;
fagt: SRein, eine golbne jiemt fic§! er hmrbe bem SBorte gcfolgt fein.
3d) toar mitleibig genug mit feiner ©d)ti>ad)e unb erteidjterte iljm bie
Snconfequenj burd) ein 9tllerbingg! S)ie grau gef)5rte ja ganj bem un*
gebitbeten SSolfe an.
5)atoifon trat feine S)regbener ©tettung mit ben freubigften £offnungen,
toie eine ©rlofung aug Setten unb 83anben an. ©r Ijatte am Surgt^eater
ju feiner ©eltung Jommen !5nnen; benn bie jtoeiten SRoIIen ftanben i^m
nidjt. ©g gibt ©c^aufpieler, bie nidjt erganjenb toirfen !5nnen, aber Dor;
trefflid} am $Iafee finb, toenn fie ein Stud ju tragen §aben. 5)er ©pi=
fobenfpieler, ber ©nfembted) ar after iftifer fjat eine anbere S3egabung, alg
fie ber „93irtuofe" befifet, ttiic man bie ©djaufpieler genannt ^at, bie in
golge i^reg angeborenen Sftatureflg nur erfte Sioflcn, litetroDen fpielen
Knnen. ©inem Dernunftig geleiteten Sweater mu§ atteg ju ©ute fommen
2Ran qualte S)an)ifon in Slufgaben ^inein, benen feine ^o^e ©eftalt, feine
f^arfbetonenbe ©pred^weife, fein SBebiirfnifc, bem 5PubIifum einbringti^
ju fein, loiberfpradj. S)iefer Irieb jur Ueberrebung, jur ©ewinnung beg
Slnti^eilg fiir bie gabel ift wa^rlid^ nidjt ju unterfd)dfeen unb geringer ju
376 Karl <8ut$foro in Sadjfenfyaufen.
ad)ten, afe ba3 SBermogen adjtbarer -iWittelmafjigfeiten, im SBatlenftein einen
Suttter, im 2ear cincn „nidjt ftorenben" ©bgar bur<$jufuf}ren. 5>er
Sunftter roottte au8 biefer ©tettung tjerauS. $ie mafcgebenbe SJtadjt fcer=
fagte bic ©nttaffung. 3n eincr Scene ber aufcerften £eftigfeit rief bcr
Serjtoeifetube, ber bic Sofung feiner ©ontracte Dertangte: 3$ fterbe, menu
id} bteiben mu&! 3)ie Slnttport fott getautet tjaben: ©terben ©ie! 3)ie3
SBort, toenn e3 gefalten, toar angettjan, bent gereijten $irn be3 fiunftterS,
ber in ©eifteSfdjtoadje ftarb, ben erften ©tofc ju geben. 2)enn jerftorenb,
fnr^tbar toemidfjtenb luirfen im SKenfdjen bie SSorfteHnngcn beffen, ma3
3tnbere ju ttjun, in if)rem Sutereffe ju untertaffen &erm5gen! 9lidE)t um
ein Signed tjanbett e§ fidj bann, nidjt um ben perf5ntidjen SBunfd), ben
mettei^t nur ber erfannte ©igenfinn begetjrte; e§ mirb bie SBeigerung,
ber nie ju iiberhnnbenbe SBiberftanb, bie falte Setradtjtung ber gtu^enbften
©rregung gerabeju ju einer ©inbufje be3 SebcnS. 2)a bringt man mir
eben ba3 BeitungSbtatt! ©3 gibt fogteidj ein Seifpiet! 2Ran bente an
Z\$ti), ben fdjtefifdjen Siirgermeifter! Sludj SRidjael SbtjUjaaS tiegt toon
jenem „©terben ©ie!" nic^t ju fern,
2)re3ben bradjte atterbingS fogleidj tnieberum bie ©tdrung burdj
©mil 2)etorient. ©ogteidj bie erfte Sftotle, #amtet, gab Slnlafe jur Star*
gteidjung. ©eiftreid) f)at ©mil 3)ebrient ben $amtet nie gefpiett S)ann
fpradj nur ber 3)tcf}ter, bie gelernte 3tolte au§ iljm, toenn bie ©djaufpieler
Dorgefiiljrt ttmrben ober ^otoniuS gar ju toeife fdjfoafeen tpottte. 2lber 9to;
mutt} lonnte fid) $attrifon nicfjt geben, nidjt bie SBerbinbung feineS brama-
tifc^en ©pietS mit ben SRonoIogen. Severe blieben, idj nannte e3 bamatS,
unfcermittette ^arabafen. ©r jiirnte barum nid&t, iiberrafdjte midj bitU
metjr mit ber einget)enbften ffienntnife meiner ©djriften unb urttjeitte nur
in farfaftifdjer Saune bariiber, toobei er mancfyen fteinen toerftecften Sabel
anbradjte, ben id) aufjugreifen toerftanb unb mofytbenufcte. SBie ein fo
fc^arffinniger, t^eaterfunbiger ©(^riftftetler, tnie ber fiirjlidj tjerftorbene
Serf after »on „©eiftige fiiebe" unb anbern Keinen ©tiicfeu, Dr. Seberer,
einen folc^en £af$ auf S)att)ifon ^at n)erfen f5nnen, ba§ er regelmiifeig
be^auptete: „©ie toerben erieben, er fommt noi) mit bem ^ut in ber
#anb, bettelt unb mac^t ©oHecte!" glaube ic^ ju Derfte^en unb jtoar au^
ben lantUmeDer^altniffen be3 Surgt^eaterg. 2tber bie meifter^afte S)ar*
fteHung be^ ^©pietoaaren^anblerg" mac^te in ber Sljat bie SStfioit be3
frbolen S33i^afc^erg jur SBa^eit. 9Iud) S)atoifon§ ^^einric^" im ;,2orbeer-
baum unb 33ettetftab" ft^ilberte ben SBatjnfinn mit einer erf^redtenben
SSerfenlung in bie SKadjtfeiten ber SRatur unb beS menfd^Iic^en ©eifte^.
®er ©djmerj, ber ben Siinftler, aU mir feine erfte ©attin begruben, be*
n>ogf in bie ©ruft nadjjufpringen, tok ^amtet bei Dp^elien t^at, toax
nic^t affectirt. ©r fam toon einem 3Renfd>en, ber unenblidj Diet ertebt
unb mit ber Sobten tjertoren ^atte; er fam Don ber Steue uber taufenb
Uebertretungen beffen, toa& bie ubtidEje SKoral Doraugfeftt unb toa% in ber
Bogumil Dan?ifon.
377
d)ttftlicf)en Sobfenfeier cine fo bettmltigenbe SBerftarung empfangt. ©d
briicfte if>u nicber jum toefentofen ©fatten. 3)afj cr bann bod} loieber
lacfjen, fdjerjen lonnte, bad finb cben bic 93orred)te ber menfdjlidjen SRatur.
3toei sbinge finb ed befonberd, bic ©attrifond ©eift jutejjt umbiifterteu,
unb toon benen id) midj entfinne, in ben SRefroIogen, bie nadj feinem lobe
erfdjienen finb, aud) nidjt bie ©pur einer Stnbeutung gefunben ju t)aben. ©o
gering ift ber Slpparat t>on Itjatfadjen, mit toeldEjem unfere junge geuiHe-
toniftif on bie ©paltenfiitlung unferer jaljllofen 3eitungen geljt! ©d
toax ber SDtorb, ben fein eigner 2)iener auf feinem eignen ©runbftiid an
cinem jungen Jfaufmanndgeptfeu beging, unb ein 3)uett mit einem nur
ttod) toenig genannten ©djrtftftefler SRobert fetter in Hamburg.
S)attrifon ^atte ficl) Don ben ©rtragen f einer gtanjenben, oft auf
jtoan^ig 2benbe gefteigerten ©aftrotten ein Heined 2krm5gen ertoorben,
bad i^m ber geift? unb gemiitf)t)otle Slbtoocat Safotbt treulid) toertoattete. ©r
ertoarb ber SBIinbenanftalt gegeniiber einen anfe^nlic^en gla<$enraum, urn
barauf eine SSilla, eine SRemife, einen ©tatt ju bauen. 5)iefe ©djopfung,
bie 9lnlage eined fleinen ©artend toax feine ©rljolung. ©einem ftiirmifd^en
temperament fonnte nid)t rafd) genug bie SSoDenbung folgcn. @nblid>
war bad ©anje ein reijenber Slufentljalt fur feine leiber tobtfranfe ©attin,
fein eigened, toon einer rei<$ audgeftatteten ®ibliott)ef unterftiifcted ©tubium
unb bie ©rljolung f einer jafjtreidjen greunbe, fiir tpetcfje bie finnigften
SSeranftaltungen jur ©etoirtfjung getroffen ttmrben. SRid&td anregenber
aid eine Saffee* unb ©igarrenftunbe bei bent trielfeitig gebilbeten ®iinfiler,
ber immer etttmd lad, immer iiber bie ©djtoierigfeiten einer SRoUe fidf)
audfprad^, gem frembe SInfidjten I)8rte, rafdj bom Siicfjerbrett ein toured
SSerf Ijerabneljmen unb toergleidjen lonnte unb babei nadj alien SRidjtungen
ljin, ber politifdjen unb focialen 83etoegung ber Beit, ©mpfanglidtfeit
befaji. Stori, brei ©tunben anjuorbnen unb fidj unb feiner ©attin atlein
ein ncued ©tiid t>om Stutor bedfefben toorlefen ju laffen, bcrf^Iug itjm
ni^td. ffir freute fidf) iiber bie ©etegen^eit jur 3)idcuffion. Sluf SBafjr*
Ijeit, toenn aud) and SBotjIrootlen negatito toorgetragen, fonnte man gefafet
fein. 2Bo tootlen ©ie bie SarfteHer finben? ©in folded SBort fagte
fogleicf) aUcd. 3)enn nur ber franjofifdfje ©^aufpieler fefct bie Slrbeit bed
3)id£)terd fort, greift ben gaben ber ipanblung ba auf, too ber Stutor
enbete, unb ma^t bie Slrbeit, bie er barjuftetlen t)at, ju feiner eignen.
Unb in biefen jiitten grieben, in biefe gefd)madfoot( gepflegte Slumentoelt
hxai) ber 9Jlorb mit f einen unmittelbaren nad)t)altigen ©cfjredcn! ©in
junger SSanHerge^iilfe brad^te jeben ©onnabenb auf einen na^egelegenen
Sauplajj ben 2of)n ber 2trbeiter, einen 93orfdE)uft feined 5principald Don etoa
250 I^alern, tt)ie ber Untoorficf)tige bem mit i^m iiber ben ©artenjaun
ptaubernben factotum ber SSitla erja^Ite. S)iefer lodt bann bad Dpfer
eined teuflif^en SKorbpIaned in ben inneren ©artenraum, in ben ©tall
unb ttrirft ifjm eine in Sereitfdjaft gef)altene ©(^linge urn ben £atd. 5)er
378 Karl (Snfcforo in Sat§f enfyaufen.
unglfidltdje entfeelte Singling ^itb jucrft in eincr bunfeln Sic bed Heincn
$arfeg oerfdjarrt (bic £errfdjaft toar oerreift), bann bei Sfcadjt fiber emeu
anbem Iljeil bcr SRauer gefdjlewt unb bort an cinem 33aum, 311m <3$tin
eincr ©elbftentleibung, aufgef)angt. SRofcljaare, bic fi<f) an ben fflcibcrn
beg ©r^angtcn befanben, fatten auf bic ©pur beg Urfprungg ber Xtyat,
bie Sliemanben fo ergriff, tote ben, oon ber SReife jurfideilenben, man
mod)te fagen, pljantafiefibertabenen Simpler. „3cf) war ftfinblid) mit bcra
Unfeligen allein," fagtc er jitternb, „icf> plauberte im ©tall mit iljtn, id)
ging mit bem SDWrber burdj bie bunfeln ©ange beg ©arteng, orbnete,
jimmerte unb bot)rte im Seller mit ifjm, atteg oertrauengbott unb tone an
einem #aar ljing mein ©djitffat! 3$ faff eg nid)t! ®er ?tufentfjalt tft
mir unf>eimlid) getoorben! 3d) f^e au$, er liegt in ber %$at ju ifotirt,
ju unbetoadjt, man oergiftet meincn §unb unb mad)t mit mir toag man
mitt!" ©0 ftagte er mit bebenber ©timmc, bic faum cine jufammen^
fjangenbe 8*ebc ijeroorbringen fonntc. 3mmer fal) er bag ©djleppen be£
Dpferg fiber bie SDlauer fciner fdjonen aBeinsSBeranba, bag Sluffjimgen
begfetben an eincn 83lfitljenbaum, ber bicfjt unter feinem genfter ftanb.
©bfdjon unfer gemeinfdjafttidjer greunb, ber director beg Slinbeninftitutg,
ber finnige 2)id)ter Sari ©eorgi, fid) erbot, bci ifjm ju toadjen unb ju
fdjlafen, fo ljatte er bocf> feine SRulje mefjr, big er in 3fd)ad)toifc bei ?pillmfc,
wo fein 9tboocat Ifjeobor gafolbt einc Heine 99efi|ung betoofuite, fid)
neben bem filter feiner Sermagengoerf)attniffe anfiebefte unb bie SBifla
gar nidjt meljr bctrat.
©inen jtoeiten ©tofc auf $>atoifong £irn ffiljrte bag in ben SRcfro^
togen ganj oergeffene Sftobert #ellerfd)e S)ucttl 3$ toar Beuge ber
furdjtbaren SBirlung ciner SBerpflic^tung, ber er fid), bag toar bic $ointe
feineg ©cfjmerjeg, atg iener ffiljne SRatabor, fur toeld)en er feitljcr fo gem
gelten modjte, nic^t cntjie^cn fonntc. 2Benn bie SSeHcitat beg tagtidjen
Sebeng bie ©egel ftrcidjt, fo ladjt man unb bag Somifdje fann ba nie~
malg tragifc^ tocrben. 2)atoifong Stngft aber oor bem ©ebanfen, cine
Sugel beg hamburger 3owntflIiften fafce if)m in ber 83ruft, toar in ber
2I)at tragifd). @r lag an meincm #alfe unb toeinte toie ein Sinb. ©cin
befonberer ©^mcrj toar ber, ba£ man gerabc iljn, ben „$oIen", bcr grofeten
@ntfd)loffenl)eit fiir fafjig f)iett unb baft feine bigljertge 2trt beg-9tufc
treteng if>n eine S)ueHforberung toie eine SagateKe ^dtte betrac^ten taffen
miiffen. Severe toar bie golge eineg in einer 3citung erfdjienenen ®atoifon=
f^en Sriefeg, in toetd)em er bie fritif^en Urt^eile Stobert $etterg juriid^
getoiefen unb mit $eri6ntid)feiten juriidgetoiefen ^atte. 3)ann bcrcitctc cr
fidj noc^ ben befonberen Summer, fiber bie StoUe ju oerjtocifeln, toelc^e in
biefem £anbet ber befannte ©c^aufpieler §einric^ SRarr fpictte. S)iefer,
aud^ in anberen gotten ein 3Repf)ifto, ^atte bie Slbfenbung beg ©riefeg erft
gebifligt unb toar bann bod) auf bic ©eite beg tonangebenben madjtigen
hamburger Sritiferg getreten. SDlein 9iatf), an bie fa^fifc^e ©renje ju
- — Bognmtl DaiPtfon.
379
reifen unb bag ©rfdjeinen bet hamburger $artei, bic gewifc nidjt otjne
griebenSoorfdjIage fommen wiirbe, ruljig abjuwarten, wurbe mit ben Slug*
britcfen beg au&erften ©d&merjeg unb bem ftanbigen 2lugruf: ffir fdjiefct
midj tobt! aufgenommen. Die 2\pptn bebten, bic ©raft Ijob unb fentte
fid) frampftjaft, bcr ganje 9Renfdj war in gurdjt unb 8^gen aufgelflft.
Unb man barf t)ier nidjt gerabeju Don geigljeit reben, fonbem nur
Don eincm iiberreijten Sorftettungg&ermogen. 3)ie ^Ijantafie beg Ungliid*
lid^eit fat} gefdjefjen, wag bodj nur im SReid^ eincr traurigen 2R5glid)Ieit
lag. 3)ag §irn war fdjon franf, bic Stertocn waren ju jerriittet. @r
rafftc fid) nod} ju jener anftrcngenben Sfteife nadj Slmerifa auf, Icbte abcr
fdjon ma<$tlog ganj untcr bem ©dEjufc unb ber ftcten Dbljut eincr toor*
treffttdjen jweiten (Sattin, bie er gefunben. 93alb tear ber irrfinnige
„©lnelwaarenljanbler" — er felbft!
S)en label manner feiner 2eiftungen beftreite idj nidjt. ®ie gorm,
tt>ie ba« 3)amonifd}e innerfjalb ber germanifdjen SBett fjerfcortritt, war
ttjm toerfagt. 6r beburfte beg rljetorifdien Seiwerfg. ©r tjatte nidjt
jenen %on pafftoer Seibenfdjaft, bie engtifdjen, bie beutfdjen ©c^aufpielern
eigen ift. ©cin SBerftanb mufcte geftalten, bag ©egebene erfc^Spfcn fdnnen.
Der Bufafe ciner latentcn ©djflnljeit, bie wir $oefie nemten, war in ber
Sleget bei i^m fraglidj. Unb bod) waren fein SRidjarb in., feii) Dt^eUo,
granj SDloor Ijinreifcenbe ©ebttbe, Wie felbfttoerftanblid) atteg in ber rein
fcerftftnbigen ©pljare Siegenbe, Karlog im Elafcigo, SKarineUi, Sfticcaut
be la 2Rartinidre, franj5ftfd}e ©tjargen, wie fein Sonjour. (Sine abfolut
feltfame unb ganj toergriffen ljeraugfommenbe SRotte toar bie beg $t)iliw
im 3)on ©arlog. §kx wottte er bie fpamfc^e Sigotterie, bie fteife 2lm
badjtetei c^arafterifiren, aber bag ©ebitbe wurbe bariiber biifter, afdjgrau,
langwcilig. ©ein tjodjliegenbeg, oft jur giftelftimme greifenbeg Organ
jlfirte ifjn uberatl, befonberg wo fdjon im Xon bie breite Spinfelfiitjrung
ebler Seibenfdjaft, tragifdjer SBiirbe liegen mufcte. ®r war lein SBattens
ftcht. Stnmer fam bie Slebe ftrifc unb edig tjeraug. Xennodj war fie
burdj bie Hare Dartegung beg Sn^altg ber Gotten ^inreifeenb filr ben
warren greunb ber bramatif^en SKufe. 9Man fottte nur auf bag
Sobeng- nid^t labelngwert^e im ©ebadjlnifc biefeg grofeen ^unftlerg fatten.
Dawifon War ein SWufter t)on (Sewiffenljaftigfeit unb al§ SKenfc^, wenn
audj fd)Wa<$ unb aflju biegfam, bod} liebengwiirbig fur bie, bie fiber-
^aupt ju tieben t)erfte^en.
Perlag von (Seorg Sttlfe in Berlin, NW., 32. Couifcnfirafie.
Hfbtgirt nnter Deranttoortlidjfcit bts t>erlegcrs.
Drucf Don 3* <5. (Ecilbner in Cctp3ig.
Unbetetfjtigrer Hadjomtf ans bem 3nl}alt biefer geitfd?rift unterfagt. Ueberfe^ungsredjt oorbeljalteiu
Ktttes M)ttk wit ^ri| ftenter.
©oeben erfdjttn nnb tft in alien IBudjljanblungen §u f)aben: auS
$rt* Waiter's ^adjlajh
Cuftfptel in brei Sfcten.
(giir bie ©uljnenauffitfjrung eingeridjtet »on # mlf ?o$f.)
fhrefo iroft. 1 SR. 50 ff.
(Elegant gel. 2 91. 25 0f.
@tner bejonbcrcn Chnpfeljlung eincS neuen $kid)e$ toon 3rifc Neuter glauben
toir un$ entfyalten $u biirfen.
3n nie 8oU0<f(u0gal)e ber fammtlidictt fBerfe tutrti Mefer Santo nidft
anfgcnomrant. jWnftorJPWe $ofbua^anbtung in SB is mar. .
Meyers Heisebiicher.
Zur WeltCL U88tellUn g erschien soeben durchaus neu btarbeitet
T> /J T> T" O mit den Reiserouten dahin und
mit Karten, Pl&nen, Antichten reichlichst ausgcstattet. Qeb. 7'/* M.
Verlag de$ Bibliographischen Institute in Leipzig
Verlag von August Uirschwald in Berlin.
Soeben erschien:
Geographisch - medicinische Studien nach den Erlebnissen einer
Reise urn die Erde, von Docent Dr. A, Wernich. 1878. gr. 8,
Preis: 10 Mark.
Das naturliche
Friedrichshaller Bitterwasser
dessen — auch curgemiisser — Gebrauch zn Hause und ohne Unterbrechung
der Berufsgeschafte m6glich ist, hat sich nach dem Urtheil der bedeutendsten
arztlichen Autoritaten als sicherstes und auch bei langjahriger Anwendung
unschadliches Mittel bewahrt bei
Verstopfung, Trftgheit der Verdauung, Blahsucht, Versehleimnng,
Hamorrhoiden, Chronischen Magen- una Darm-Katarrhen, Frauen-
krankheiten, Gicht, Blntwallnngen, triiber Gemuthsstimmang, Un-
reinigkeiten des Bints und der Haut etc
„Das8elbe gehflrt durch seinen Kochsalz-Chlormagnesium- und Brom-
gehalt zu den wirksameten Europa's, und ich halte diese Mineralquelle
fur einen wahren Schatz, dessen hoher Werth von Jedem anerkannt werden
muss, der durch den Gebrauch die trefflichen Wirkungen des Wassers
kennen gelernt hat." Prof. Dr. J. von Liebig.
„Ist als gelegentlich erflffnendes und die Verdauung verbesserndes
Mittel unter alien das beste." Sir Henry Thompson, Professor, London.
„Seine Wirkung ist eine mildere, auch bei langerem Gebrauch weniger er-
schdpfende und demnach nachhaltigere." Geheimr. Prof. Dr. Frerichs, Berlin.
FrischeFflllung in alien Mineralwasser-Handlungen u.Apotheken.
Brunnen-Direction: C. Oppel & Co. in Friedrichshall bei Hildburghausen.
Vxud von 33. teubntr in Cetpjig.
TXoib unb Sub.
<£ine beutf dje ZUonatsfdjrift*
fjerausgegeben
von
f au! IHn&au-
Stebenter &anb.
Wit ben $ortrfit* Don 3Rag SHuHer, %tvan Zurg«njrtv unb Rid&arb ©agner.
Berlin, J878,
©erlag ban <$earg ^tflfte.
NW. 32. Cuifenftrafr.
\878.
T\avl 3raun*H)iesba6en in Berlin. 5flte
(Sine unfutbbate freie 8ftetd)8jiabt. £ulturgejd|id)tlid}e ©ftjae . . 173
lfarl €r&m. €Mcr in IPien.
(Sine ©todnerfaljrt. S&o&efle 200
T^arl £mil $vanios in IPien.
2) te Socfe bet fjeittgen 5tgat^e. (Sine mobeme Segenbe .... 1
(Emanuel ©eibel in Cubed.
©ieben Obcn beS $?ora§ 1 66
Stegfrte6 Rapper in pifa.
ftldfter unb ftloftetleben in ber #ercego&ina 335
i}etnridj Xrufe in Berlin.
Sb^Hen.
3)tc 2)ad)reitet 283
SBibet SBinb unb SBeflen 288
Jjugo ZHagnus in Bresfau.
3) tc garbenblinbljett 325
5. ZHay Zftuller in (Dtforb.
Ucbcr ^retifd^idmud. 1 137
Ueber 3rettid&i3mu$. II 293
Cu&jttrig Ztotr6 in VRam$.
aRaj SWiittcr unb bie Sjjracftjtn'lofojrfn'e 24
Wit bem $ottt&t eon TOqj aflutter, ffiabtrung toon 2). Haab in Wund&en.
Cu6tt>ig 5re^err Pon £™Pk&<* in #>iesbaben.
©ilber auS englijd>en Sanbfifcen unb ©dxtcn 1 68
©ilber auS engltfd&en £anbftfcen unb ©firten. II 224
3nljalt bes 7. Banbes.
Cu&tDtg Pietfdj in Berlin. 5eite
3tt)on $utg6njeto. $erfdnlid)e (Srinnerungen 242
SRit bent $orU&t toon Stoan Xurfl6njett>. fflabirung boii ©. TOannfclb in Berlin.
1{. Cfy. Hitter in prag.
$ie ©raut. Sfcotoefle 362
3uftus Sdjetbert in Stuttgart.
2ln ben <8ren$en ber ©trotegte unb Xo!ti! 315
£6uar6 Sdjelle in IPien.
SRidjarb SBagner 261
Wit bent $ortrftt bon Wi$arb ©ogner. Wobicung bon 3. £. fflaab in SDHtaflen.
8ernt?ar6 IDagener in Kiel.
ftitber auS 3)eutfd>lanb3 $rieg3marine 120
€rnft ItHcfyert in tfonigsberg.
6<mmterfrtfd&e am ©alttfdjen ©tranbe 88
3. HMtte in Bonn.
$ant unb bic ftrauen 101
October 1878.
3 n I; a 1 1.
Karl €mil 5ratt305 in Wien. Stit9
Die £ocfe ber fyeiligen 2Igattie. (Eine moberne £egenbe . . • {
iubwxq ZToir6 in Znain3.
HTaj rniiller unb bie Spradjptylof opiate 2^
Cubttrig 5re^err 1)011 ©mptei)a in Wxesbaben.
Bilber aus engUfdjen £anbfit$en unb (Sdrten 68
(Ernji IDicfyert in KSnigsberg.
Sommcrfrifdje am 33altifdjen Stranbe • 88
3- i}- £t)itte in 33onn.
Kant unb bte f rauen \0\
23ernfyari) IDagener in Kiel
Btlber aus Deutfdjlanbs Kriegsmarine \20
JJier3u bas portrat IKaj ITtiUler's, ^abirung oon D. Haab in XTIiindjen.
„ttotb unb 5ut>" erfd?etnt am Hnfang jebe* OTonats in Qrften oon 8—10 tfogen Ctf.sS.
pcti» pro (poartal 5 OTarf. —
Jlfle 8ud>banb(anaen nnb poftanflalten net?men Ce^rQungfn an.
IXotb wib Sub.
(Sine b e u t f dj e ZUonatsfcffrift
Jjerausgegeben
von
f ml mnbm.
VIL Sani>. — (Dctober \S7S. — \% fjeft.
(Itlit etnem portrdt in Habirung: 5. ITlaj IHutler.)
Berlin-
Perlag t>on (Beorg Stilfe,
KW. 32. Couifenflrafce.
T
I
Die €ocfc ber ^cili^en 2lgatfye-
Cine mofcerne £egen6e.
Don
— XDien. —
®etoitter ^otte fid} toerjogen, bic lefcte fd}toar5e SBoIfe barft
|0 r&fk I un*> 1^ unb vWfcftcfc ding toteber ber golbige ©trom be$ SidjtS
jjSM itber #immel unb Srbe. @& toar gar luftig ju feljen, tt>ie
Hmmm ba§ aerregnete ©tiiddjen fianbfdjaft plofclidf) ttrieber aufatfjmete.
Unb ate berfelbe SBtnbfto^, toeldf)er bic SBettertoolfen aertrieben, nod)
immer burdf) bie Stiume raufdf)te, bag bie fymgenben 9tegentroj>fen Ijerabs
riefeiten, ba toar'S faft, ate fdjttttelten fid) bic fflaumc fetbft &or Suft unb
nmrfen bie I^rancn tocit toon fid).
Slur bic 2Renfdf)en toaren nid)t plflftlid) mit bent ©onnenfdjein toieber
ba, einige SRinuten burd) mar e3 ganj leer im ©tabtyarf. Unb toie ic§
fo langfam eine oerdbete ?Utee t)inabfd}ritt, fam mir entgegen ettuaS SeineS,
©lei&enbeS burd) bie leife betoegte Suft gefd)tuommen. SBie ein gabdjen
toax% jitternb, unenblidf) fetn, golbig blidenb.
3d) griff barnadj unb fing e8: e§ tear ein langeS, blonbeS, tuetdf)e£
grauen^aar.
3d) bin ein ernftffafter SDlenfdf), aber mit bent #aar, baS mir fa
underfeljenS entgegen geflogen fam, trieb idj'3 redjt Ifinbifd). „2Bo Ifommft
2)u I)er?" fragte idj e£ ganj taut unb ftreid&elte e3 bann fanft, ate toare
e£ ettoaS SebigeS, freilicf) blidte iti) gleidf) barauf forgfam um, ob midj
SGiemanb belaufcfyte, aber toeit unb breit toax fein 2Renfd) ju fe^en. 3>a
ttmrb iti) nodf) Ifii^ner in meiner lfinbifdf)en Slrt. 3$ fefcte midf) I)in unb
legte ba£ 4?aar beljutfam auf meinen Stoddrmel unb fa!) ju, tote ber
©olbfaben auf bem bunKen ©runbe erft redf)t blinfte unb gletftte.
2Ba3 mir, roat>renb idf) fo fafj unb fdfjaute, juerft burdf)'3 £erj ging,
1*
2 Karl €mtl $xan$os in tPten.
bag hritl idf) nidjt erjafjlen. 9Jiir t^ate eg ju toel) unb 2lnbere toiirbcn
fcietteidfjt gar bariiber Idc^cln. 9lber jc langer id) fo auf bag blonbe
§aar tjinblidte, bcfto mefjr toerblafete bic ©rinnerung an mcinc f)ei|c,
tJjoridjte, quaIt)oHc Sugenbliebe unb bic ©efdjidfjte eineg anbercn ^erjeng
trat tjor mid) f)in — fo fafebar Har unb lebenbig, baft idf) gar nid)t be=
griff, hue id) fie Jjatte burdf) langc Sa^re fo ganj tjcrgcffcn fflmten! „2)u
armer, arntcr SKenfdfj!" fagtc id) ntir Icifc unb mir toar'g babei, alg
blidtc mid) bcr jungc $ater ©ufebiug hrieber an ntit fcincn traurigen,
giitigcn Slugcn . . .
Slber ba tdnten ©dfjritte, red£)tg unb linf^ — bic ©pajierganger
famen angejogeu, unb atg id) midfj erl)ob, urn cine bide Sanfiergfrau ju
gritfjen, incite fdjnaubenb unb raufdfjenb gcgen ben griil)finggtoittb an=
geftcuert lam, hue ein Sampfer gegen ben ©trout, ba trug ntir biefcr
2Binb aud) jeneg golbene &aar batoon — nod) cinntat bliufte eg tiber mir
unb toerfdjtuaub bann im tiefen S3Iau. 9tber bie @efdf)id£)te beg armen
©ufebiug f)at mir !ein SBinbftofc ttrieber f)intoegtragen f5nnen unb $eute,
an einem ftitten, tt>e^mutl)igsfdf)8nett ^erbfttag, toil! idf) fie erjaljlen.
@g ift cine abfonberlidje ®efdf)id)te, burd) toeldje nidfjt btog etne
©olbtoette toeicfjen 3rauenl)aarg ftuttjet, fonbern audfj ein grofceg 2Bel) unb
eine tjerbe grage. ©ettufi audf) biefe lefctere. (Sine moberne Segenbe Ijabe
id) bie ©efdfjidfjte genannt unb mit gutem 9tedf)te, benn eg finb nod) toenig
tlber jel)n 3a^re fjer, feit bie Seute in bem abgelegenen 3)orfdf)en ber mittleren
©teiermarf bag #aar ber f)eiligen 2tgatl)e alg neue JReliquie glaubig &er=
e^ren. Slber toer nacf) biefen Slnbeutungen ein £enben$s$iftorcf)en gegen
bie fatl)olifdf)e ®trdf)e tjermut^et, ber irrt fidfj. 2)erlei ftefjt mir fern.
3$ glaube, baft bie fatl)olifdf)e $ird)e ebenfo gut ift, ate eine anbere,
unb toenn bem nidfjt fo ttrnre, fo leibe bodfj idf) nidjt barunter unb tjabe
barum fcin 8tedf)t jur Stage unb Stnftage. Stein, toieberljole idf), id) ^abc
nidfjt fiinftlid) eine ©pifce in biefe ©efdf)id)te gelegt. Unb toenn eine foldje
gleidjtuot baraug f)erborfief)t, toenn berfelbe ©tadfjel, toeldfjer bem Gufebiug
bag §erj burd)bol)rt, fidf) audf) broljenb gegen jene ©a^ung rid)tet, toelc^e
bem SDtenfd^en Derbietet, ein SDtenfd) ju fein, fo ift bieS nid^t metne
©d^utb. 3$ erja^Ie eine Seobad^tung, ein ©rlebntfe — nid^t^ toeiter!
SSor fieben Soften tuar^ unb im ©pdtfru^Iing. 2tuf ben Sergen
ber oberen ©teiermarf ioar laum nod^ ber ©dE)nee gefd^moljen, aber im
mittleren ©etanbe griinte unb blii^te eg aHerttmrtS unb ber Sen^ lag,
ein fr5l)Iid)er ©robercr, mit SSlumenbuft unb SSogelfang mitten im $erjen
ber guten ©tabt ©raj. Slnbere minber gefegnete ©tabte belagert er toot
ringgum^er mit att1 feinen listen Soten, aber einiie^en mag cr nic^t
in bie bumpfen, engen, gefc^Ioffenen ^auferieilen. 3n ©raj freilidf), too
fic^ $aufer unb ©arten anmutfjig tjcrbinben, faun man it)n iiberatt ge^
toa^ren. Slber eben barum mufe man aucf) bort en)ig an it)n benfen unb
tocr an ben Senj beuft, benft aud^ an bag SBanberu. ©o ift eg toenig*
Die £ocfe ber t^eiltgeu Slgatbe.
3
ftenS mir afljafjrlid) in befagter ©tab! ergangen unb nidjt anberS in jenen
2Jiaitagen t)on 1871.
3d) natjm mem getfeifen ouf ben Stitden unb meinen Biegenljainer
in bie £anb, unb wanberte in'g Sanb l)inau3. 3^ei Sage ging id) an
ber 9Jlur I)in, fluftaufwarte, unb am britten bog id} jur 9ted)ten in ein
©eitentfjal ab, ben 93ergen entgegen. War ein fd)tine3 SBanbern
burd) ba§ einfame liebltdje 93ergtf)at, burdf) ben listen Sann — Ijetl war
ber #immel unb mein &erj ^citcr, wenn id) ^eute baran juriidbenfe,
fo ift mir ju 2Jiutt)e, ate ware id) bamate ein 33ogel gewefen, ber Wirh
lid) unb waljrljaftig Ijat fliegen fonnen. $em fdjeint aber bodj nidjt
ganj fo gewefen &u fein, benn id) erinnere midj beutlidf), wie mttbe id)
am 9lbenb jene£ britten SBanbertageg war, Wie fef)nfud()tig id) nadf) bem
3)orfe au^blidte, weldjeS id) mir §ur 9tadf)trul)e beftimmt. 2)ie ©onne
fanf, e3 wurbe immer fiiljler, aber nod) mar feine &iitte ju gewaljren.
3n einem engen Xljal ging id) baljin, fo eng, baft nur ©trafte unb
gluft barin tytafy fauben, fteiX ragten bie getfen auf unb ntd)te erquidte
ba§ Sluge, ate bag eigcntljumlicf)e ©piet ber Slbenbglutl) gegen bie auf;
fteigenben ©fatten ber S)dmmerung. 9todf) fdjimmerte ba3 fatte Stotf)
ftegtjaft ju meinen ^aupten, aber idj wuftte, baft eS batb unterliegen
miiffe. 2Rir War nid)t bange toor einer nad)ttid)en SBanberung, aber id)
fftfjlte mid) miibe, fe^r miibe, unb aud) bie unfaglidje (Sinfamfeit be-
brudte mein £erj . . .
2)a, pWfclidj, bei einer ©iegurtg be£ SBegeS, traf id) auf einen
SQfcenfdfjen. 3uerft freilid) gewatyrte idj nur, etwa fiinfjig ©djritte toor
mir, einen Ijetten ©treifen im SannenWatb, iiber ber ©trafte. Site id)
nafjer lam, erfannte id), baft e3 ein SDtond) in weiftem DrbenSgewanbe
war — er faft auf einem gefaflten SBaumftamm unb Ijielt ba3 $aupt
ticf auf ein 33ud) gefenft, bag ifjm im ©dfjoofte lag. 2Ba3 er lag, muftte
ifjn wol ganj erfiillen, benn er blidte bei meinem 5ftal)en nid£)t auf unb
ate idj iljn anrief, judte er erfdjredt jufammen, baft ifjm bag 93ud)
entfiet unb min bor bie giifte rottte.
f)ob e3 auf unb babei ftreifte mein Slid jufatfig ba§ Ittel-
btatt — ©oett)e§ „i$auft". S)a^ war ju jener 3«it, unter bem fana=
tifd^en, faft wat)nwi^ig ftrengen SRegimente be§ Sifd)of§ »on ©edau, 3o;
t)anne§ 3^^rger, eine gefiiljrlidje Sectiire fiir einen SKann biefeS ©tanbe^.
3)aran foHte ic^ fofort erinnert werben. 2)enn ate idj nun ju bem
SDl5n^e emporeilte unb mid^ ber ©t5rung wegen entfdjulbigte, erwiberte
er nic^te, unb erft ate id) fragte, Wie Weit e§ nod^ nadf) bem 3)orfe
SGBalbfird^en fei, fagte er nur furs un*> gc^reftt: „9tid)t Weit!" Slber
babei ftredte er feine §anb angftt)ott nad) bem SBudje au^ unb biefe
^§anb gittcrte . . .
„35u armer ©flat)el" bad)te ic^ mitteibig. Unb bag SDtitteib Wuc^g,
ate id) bem 2Kanne in'g 2tutli£ fa^. ©r war nod^ jung, tjielteic^t breiftig^
% Karl (Emil £ran30S in W\tn.
jdfjrig, aber er muftte tool franf fetn, fefjr franl. Sleidj unb toelf, tote
aug 2Ba<$g geformt, toar bieg Stntlifc, nur auf ben SBangen branntc cine
unf)eimlidje, fdjarf begrenjte 9tflt$e. 2Iber toar eg nur forperlidjeg Seib?
SRiibe unb traurig blidten bie glanjlofeu Stugen unb urn ben SDiunb
lagen fd)toere, tiefe gurdjen . . .
®r Iieft bag 33ud) Ijaftig in bie Xafdje feineg (Setoanbeg gletten.
2) ann blidte er mid} angftlid), unftet, fragenb an. 3d) fcerftanb biefen
©ltd — „toirft 3)u mid) fcerratljen?" toar barin gefd)rieben.
3d) ftanb einen Stugenblid berlegen, nad) bem redjten SBorte ber
Seru^igung fudjenb. 8Q3ar eg nid)t bag Sefte, toenn idj tljn red)t un-
befangen frug, toag er getefen? 5lber bag toertoarf id) fofort. SRan
fonnte toon bem Spiafce toefttoartg toeit bliden, in'g Xljal Ijinein, too jefet
ber lefete ©djein beg rotten Stents urn bag blanfe Sirdjenbad) fdjimmerte,
aber fonft traten ringg bie gelfen bidjt tjeran. ®g toar ein guter Drt
ju ernftem ©innen unb bag fagte id) benn aud) unb fiigte ljinju, bafj
ftd) ljier ein ljeiligeg 3)id)tertoort red)t nadjfultfett laffe, unb ber „?Jauft"
fei ein foldjeg ©toangetium.
3dj fagte bag toarm uub fidjerlidj oljne Sronie. Slber ber bleidje
9Kann btidte mir bod) fpctfjenb in'g Slntlifc, ob id) nid)t ettoa f^otteltc.
3) ann fd)ten er berutjigter, aber er ertoiberte nidjtg. ®rft nad) einer
SBette, beren ©title red)t peinlid) toar, fragte er: „©ie finb tool ©tubent
ber ®rajer &od)fd)ule?"
3d) beja^te eg unb nannte meinen Stamen.
„3)ann fennen ©ie tool meinen Sreunb E5Ieftin SBeber?" fuljr er
lebljafter fort.
„9tur t)om ©efjenl" mufete idj ertoibern. Unb babei glitt mir urn
toittfiirlid), in (Srinnerung an biefen curiofen (Sefetten, ein Sadjeln iibet
bag Stntlife.
J5er SDWnd) bemerfte'eg, feine biinnen Sippen prefcten fid) jufammen.
„©d)eint er S^nen fomifd)?" fragte er fdjarf. Stber im nftdjften Stugen^
blid, jaubertjaft fdjnell, toanbelte fid) ber 9lugbrud ber 3tige unb toarb
iiberaug milb. „©ie finb fo jung unb luftig," fagte er teife, „toie fotlten
©ie ba ben «3auft» fdjon red)t toerftefjen !" Unb alg id) iljn toerbliifft
anfal), ladjelte er unb fufjr bann fort: „®ie tootfen in SBalbfirdjen fibers
nadjten? ®g gibt ein SBirtfjgljaug im Drte, aber eg liegt nod) cine
©tunbe toeit. Sffienn ©ie miibe finb, fo fe^ren ©ie beim ©teinbauer ein,
na^e bem ^Jfarr^of. ©r ^alt fein SBirt^g^aug, ift aber ein freunbti^er
STOann." 3$ gtiifete unb toollte ge^en, alg er nod) einmal ju fpredjen
begann: „3^ bin 5Pfarrer im Drte unb toiirbe ©ie gern ju mir laben.
Stber mein £augljafter ift Irani l" SBieber mufcte \S) tyxt erftaunt an=
bliden, nid)t biefer toenigen, faft felbftoerftanblid)en SBorte toegen, fonbern
toeit er fie meljr ftammelte alg fprad) unb iiber^au^t fi^tlid^ in grofcter
SSerlegen^eit toar. Ueber biefem (Srftaunen toergafe ic^, meinen S)anf
Die £ocfe ber fjetltgen 2lgattje. 5
fiir ben gutett SBttten 311 fagen unb ging mit ftummcm ©ru&e ben
Stbtjcmg Ijinab unb better bem Sorfe gu.
3>ad tear unfere ganje Unterrebung. Stbcr man toirb ed toielleidjt
nidjt fcertounberlid) finben, toenn id) geftelje, bag fie fcltfam unb ftarf in
mir nadjflang. 9Jlir toar'd, ate Ijdtte id} mit cincm ©efangenen gc^
fprodjen — iebcr !cnnt fcinc ungtiidtidje Sage unb barum mirb jebed
2Bort befangen unb bejieljungdboll. Slber am liefften ^atte ed midj gc-
troffen, bag er ben ®8Ieftin SBeber cincn ^Sauft" genannt . . .
„9lur t>om ©el)en" fanntc id) biefen SRann, tote toot aHc ©tubenten,
feine nd^ere 3)efanntfd)aft Ijatte fcincr gemadjt unb fcincr fe^ntc fid) bar;
nad). Stidjt einmat aud Steugierbe — feine dufceren ©djidfate toaren
o^ne^in belannt. ®r tt>ar eined ®8f)Ierd ©oljn aud ber $8flad>er ©egenb
unb bid ju feinem jtoanjigften %af)xt Ijatte er nidjtd gelernt, aid ben
SReiter anjujiinben unb ju be^uten. ©ettfame ©ebanfen m5gen i^n \>uxfy
ftiirmt Ijabeu, todl)renb er fo ndcfctelang mitffig in bie rottje ©tutl) ftarrte.
3)enn eined laged ging er aud bem SBalbe unb jur ©tabt unb toarf fidj
bem gitrftbifdjof (bamate toar'd nodi ber ebte, mitbe ©raf SIttemd) ju
gufjen: er mtiffe ftubiren unb geiftlid) toerben, fonft fonne feine <Scclc
feine SRulje finben auf (Srben. J)er giitige ©reid §5rte it)n ftitt an, bid
fid) bed gteljenben ©timme in Ifjrdnen brad), bann tjob er if)n auf unb
fagte: „$ein SBunfdj ift erfiifft." ©r naljm ben Soljlerjungen in fein
£aud unb liefj iljn unterridjten, im Sefen unb ©djreiben unb bann in
alien ©idctytinen ber lateinifdjen ©djule. Unb menu Semanb' baritber
tddjette, fo fagte ber ©reid ernft: „3t)n biirftet, laffen toir itjn trinfen,
m5ge ed it)m jum £eite fein!" unb bann pried er ben @ifer unb bie
Segabung feined ©djiifclingd. 3n ber 3^at fonnte $eter — auf biefen
Stamen tt>ar er getauft — nad) fiinf Safjren feine ^riifung aud bem
©tjmnaftum madjen unb toarb lijeologe. Unb toieber nadj einigen 3a^ren
gait er ate bad Sumen ber gacuttdt unb toarb 5U feiner toottigen Slugs
bilbung nad) 9tom gefd)idt. Site er juriidfeljrte, toollten fie ben geleljrten
Dr. 28eber, toeldjer nod) Dor jefjn Sa^ren ate Sfltjle.r im SBalbe getauft,
jum ^rofeffor ber 3)ogmati! madden. Stber ber finftere adcetif^e SWann
le^nte bad angftlid) ai, er miiffe ja nod^ ftubiren, bat er, ftubiren unb
t>or Stttem reije ifjn bad jus canonicum. ©0 toarb er benn S^nft unb
nad) fiinf 3a^ren aud^ beiber SRedjte ^Doctor. S)ann aber t^at ber SRann,
bem nun alterfeitd bie gldnjenbfte Saufba^n pro^^ejeit tourbe, einen felt-
famen ©(^ritt: er tourbe SKond), Eifterjienfer unb ftellte bie einjige S3es
bingung, fic^ feine ^farre felbft tod^Ien ju biirfen. S)enn biefer Drben
Der^flid^tet feine ©lieber sur ©eelforge. Site bied toerlautete, ba ^b^nten
feine Steiber unb aHe jene, tbie er burd) fein barf^ed SBefen bertefct:
„©e^t ben ©eitigenl @r toil! irbif^ ©ut getoinnen unb fid) bie reidjfte
^Pfarre fi^em!" Slber fie fd^toiegen bef^dmt, aid SBeber bie drmfte unb
bef^toerlid)fte ertodf)Ite, ein fleined SSergborf — id) ^atte ben Stamen
6 Karl (Emil (fran5os in IDien.
ncnncu fyoren, SBalbfirdjen toar e£ nidf)t, aitx e3 fd^mebtc mir box, ate
miiffe bcr Drt in biefer ©egenb licgen. 3)ort blieb cr lange Satire unb
mar fiir bic SBett fo ganj toerfdjoHen, baft fclbft feine SJefannten oerbufct
toaren, ate bcr alternbe 2Rann p!5|jlid) ttrieber in ©raj auftaudf)te unb
fidl ate — SRcbicincr infcribirtc. ©r fjattt fid) bie ©rlaubnife Ijierju
toon feincm 2lbte nur nadj partem Sampfe errungen, nur burdj bic SSor-
ftcttung, ttrie fct)toer in jenen 93ergtodfbern drjtticf)e $iitfe ju finben unb
baft cr fid) nur bic nottjtoenbigften Senntniffe ertoerben tootte, urn ben
SSertaffenen beijuftctjen. SIber mit bem 9?otf}toenbigften fdjien cr fid)
nid)t begniigen ju ttjottcn; er tear nun fdjon im oierten 3a^rc toiebcr
an bcr £od)fdf)ute unb Ijortc mit raftlofem ©ifcr nidjt blod Sftebicin, fon=
bem aud} fonftige ©oKegien. 3n jenen, toeldje ^JJrofeffor Slaljtoodti uber
©ttjif tad, ttrnr idf) neben if)m gefeffen. @£ ift liar, baft fotd^e ©djidfale
unb ©tubien bem SDtannc fclbft unter un3 iibermuttjigen Sungtingen einen
gettriffen 3tefpect fatten fidjem miiffen; ioenn bie& gteidtjtoot burdjau£
nid^t bcr gall roar, ioenn ioir ben „$faffen" im @egentf)eil ate ein Spiel-
jeug bctradfjteten, toeld^cd un£ ber liebe ©ott jum Stmufcment fiir bic
langmeiligen ©ollegien befdjeert, fo lag bied einjig in fcinem Sleufeern
unb SBetragen. $ater ©flleftin — bie£ fein DrbenSname — toar einer
ber f)dftfid)ften 2Renfd)en, bie idj je gefetjen, auf cinem ©tiernadcu fafj ein
mifefdrbige^ SBuHenbeifcergeficfyt, nur bie Stugen toaren grofe, flar unb
auSbrudSOott. ©r erfd)ien immer in bcrfelbcn Sutte, foetdfje urfpriing-
lid£> nad) 'bcr SRegel bcr ©ifterjienfer tpeife getoefen fein mod)te, jefct abet
mefjr bem bunlelbrauncn 2Rantel ber ftapujiner glicfy, unb mad toon
2Bdfd)e fid)tbar ttmrbe, fpottet bur<$ fein garbenf^iet boHenbd jcber 83e~
fcfyreibung. ©r fam unb ging otjne ©rufc, auf tjarmlofe gragen tjatte er
nur ein abtoetjrenbed Snurren, toermutliete cr abcr einc $>dnfelei, fo ttmrbe
er ganj fabclfjaft grob. ftcin SBunber, baft toir un$ bicfeS ©aubium,
unferem fcltfamcn ©ottegcu bicfe ©motion, red)t ^dufig gfinnten unb
namentlid) Sleulingc gern an i^n gcrat^en lichen. 3^ felbft Ijatte nie
ein SSort mit ifjrn gefpro^cn, t)erfpurte au^ feincrlci Suft baju, obmot
erf toie erttwljnt, ein ©emeftcr lang mein ©ifenadjbar toor. SBd^renb
bed SJortragd fafc er regungdlod unb ^ord^tc, fein parted Stntti^ fyattt
babci — id) finbe Icin bejei^nenbered SBort — ben Sludbrud cined 2$er=
fd^ma^tenben, bcr nac^ Sabung biirftet. 9la^IoDdfi toar ^erbartianer
unb forad) befonberd oft unb toarm uber SBerti) unb SBiirbc ber SBiffcn-
f^aft. 3n fold^en 2tugenbliden jeigte fi^ auf bem Slntli^ meincd 9laty
bax$ cin tiefen ©(^mcrjed unb in fcinen Stugen lo^tc cin bUftered
gcuer. 3d) ^atte mid^ nid^t Diet barum ge!ummertT crft jeftt iibcrtam
mid) ber ©ebanfe, ob nid^t bied Scuer ein 42lbglan5 jener ©lutf) gemcfen,
ttjclc^e i^m „bad $crj Derbrannte", weil auc^ cr, ber ja gleidfjfaflg ,$f)U
lofop^ie, Surifterei unb 2Rebicin unb Icibcr audf) Ideologic burc^aud
ftubirf, jum Wcfultat gefommen, „ba^ toir nid^td miff en I dun en?"
Die £ocfe bet tjeiligen 21 ga t c.
7
licfem ©innen ging id) bie "Sorfftrafee entlang,*bi£ jur Sirdje.
©ie mar fdtjmud genug, bcr angebautc ^farr^of fjiitgegett ein morfdjeS,
DcrfatleneS $>au£. 2luf bet $f)urfc£)roetle fafe cin ©reiS, ba£ bunfct ge-
ritttyete 2tnttifc auf beibe 3lrme geftiifct. 2luf meine grage nac§ be3 ©tent*
bauern #aufe taumclte er empor, gtofcte mid) mit ftteren Slugcn on
unb lattte unt>erftdnblid^c Saute, ©r Ijatte mii$ nidf)t toerftanben ober
ber 93rannttoein lafjmte i^m bie 3unge — ber alte 9KenfdE) toar offenbar
fdf)tt>er betrunfen. SEBar ba3 ber „$>au£l)dlter" be3 5(5farrer£ unb beftanb
barin feme ,,®ranf£)eit"?
3d) foHte e£ balb erfaljren. 2Iuf gut ®IM ging id) auf ben nadf)-
ftcn SSauernljof ju — bag &au3 lag ftattlidj jtoifdjen ©dfjeuncn unb
©tdtten. Winter ben fleinen §enftern fdjimmerte cin Sidfjtfdjein, aber ber
§of lag tjcrobet, ba£ ®efinbe toar tool fd^on jur Stulje gegangen. 2U§
id) ndfjer trat, fdfjtug ber ^au^unb an, bettte mdd^tig b'rauf Io3 unb
gerrte an feiner ftette. 5)arauf trat ein alteS SKiitterc^en t>or bie Satire
unb mufterte midf) fragenben 931id3. 3d) bradfjte meine Sittc bor, ber
£err ^farrer {jabe midf) fjergetoiefen.
„2)ann fommet nur udfjerl" fagte fie freunbticf), „3f)r fcib tool gar
ein greunb ju if)m?"
,f9lcin/' ertoiberte icf), „aber er fjdtte mid) bod} gern felbft betoirtfjet,
tuenn nid)t — "
„Sa freilid)!" rief fie unb nidte eifrig. „Unb toenn ber §err
Secant fdm\ er fount' ifjrn feine ©afttidjfeit ertoeifen. SBiffet, er ift
fjaft gar fo fdfjlimm b'ran ntit feinem §au^dtter! S)er ©djufter^Xont
ift ein Slump — ei ja leiber! — etoig raufc^ig. £abt ifjn jefct ttjol
felbft gefefj'n?" 3$ nidte. „©ef)et, fo ift er immer!"
„Unb toarum jagt er i^n nic^t fort?"
M3a, fefjet," ertoiberte fie, inbem fie mxtf) in'3 £au3 geleitete, „unfer
fjocf)tourbiger §err ©ufebiuS ift §alt gar ju gut. S)er lout mu^t' fonft
oor $unger fjinfterben unb ber &err fennt ifjn fd)on fo lang unb fjat
aud) feine loiter gefannt, bie 9tga (Slgatfje). ©efjet, ba£ toar ein
bratoeS SKenfdj, bie 9tga, g'rab' fo brat), toie ber SSater nidjtSnufcig. Unb
bann ntiiffet ber $err bod^ toieber ein SRannSbilb jur SBirt^fd^aft nefjmen,
ein SBeib barf ni tyt in feinem #au§ Dertoeiten — nriffet toot, er ift ja
ein 2Bei§rod!" (3K5nc^.)
®amit offnete fie bie ©tubentf)iir unb ii) trat fcor ben ©teinbauer
^in unb bracfyte toieber meinen 93ittf^ruct) tjor. „©anj too^I, ganj red^t!"
rief ber alte SRann freunDtid^) unb fd^idtte fein 28eib fofort in bie Siidfje,
nxir einen 5|5fannfud^cn &u bereiten. ©ine grofee gtafdE)e rotten Sanb^
tt)ein§ — „©c^il(^er// nennen fie i^n bort — ftanb otjnetjin auf bem
lifd^e, er f)iefc mic^ nur noc^ ein itoeite3 ©la^ t)om ©efimfe langen,
benn er felbft ioar nidjt me^r red^t bemeglid^; „ber lob Ijat mid) im
toorigen %a1)v fait ange^auc^t/' fagte er ti)ef)mutf)ig — einen ©d^Iag-
8 Karl €mtl Jran30S in IDien.
anfatt meinte cr. 3)ann toarb cr aber fofort toieber fibcl unb nadjbem cr
mid) eineSBeile tadjetnb fairt, mad)te er: „2Red! 3Red!" unb nidte mir
frfltjlidj ju.
„2Ba3 meint 3^r?" fragtc id) crftaunt.
„9tun toofyf," ricf cr, „3tjr feib bod) gehrifj cin ©dfjneiber!"
„9iein," betf>euerte id) unb im SBertaufe bcr 9tebe ftettte e3 fidf)
tjerauS, ba§ audi tjier bcr SBunfd) be3 ©ebanfenS SSatcr getoefen. 95er
2)orffd)neiber mar namtid) fran! unb bcr ©teinbauer braudjte bringenb
cine ncuc £ofe. SBcil aber audj fcine ©adufpc toerborben war, fo futyr
cr fort: „9flfo toenn fctn ©djneiber, fo bod) gehnfc cin Uljrmadier?"
8tud) baju fonntc id) mid) leiber nidjt befennen, jur grojien Ser=
ttmnberung mcinc3 SBirttjeS. „3a, tt>a3 fonft?" ricf er. „®ure $anbc
finb fcin — jum fdjtoeren ipanbtoerf gc^5rct 3^r nidjt!"
!Rod) cine SBcile licfe id) i§n ratten, bann fagte id) iljm ba$
SRidjtige.
„©tubent!" rief cr. „®3 ift mir ja gteid) fo getoefen, aU 3*jr jur
Satire Ijereinfamt. SIber" — er fdjiittelte ben ®opf — „e$ ift ba toa*
nidjt in Drbnung! SBerjeiljet, abcr bic Dfterfcrten finb toorbei unb bic
grofcen nod) nidjt ba — toaS Ijabt Sfjr jefct im Sanbc Ijerumjulaufen?"
3d) fud)te meinen Seidjtfinn ju entfdjulbigen, fo gut e3 ging unb
frogte bann, looker er bie afabemifdjen gerien fo genau fennc.
„S3on meincm ©ofjn §er," ertoiberte er, „t>om ©eorg, bcr ift aud)
©tubent 5U ©raj gefoefen. ©at'S freilid) nid)t loeiter gebradjt, bcr 9lid)t3-
nufc!" Stber babei ftraljlten fcine tlugen bon ©litd unb ©tots unb fr5^
lid) erjaljtte er mir bie ©efd)id)te feine3 SiebtingS. 3)cr ©eorg fear
fcin Stoeitgebomer unb „tt>eit ber S3ub gar fo Die! gefdjeibt ttrnr" unb
ijauptfadjlidj „foeit bcr ©teinbauerljof fo tang ungetljeitt ftefjen fott, aU
bic ®rbe fteljt", fotttc er geifttid) tocrben, ftubirte audj im ©tift 2tbmont
unb toarb bann Sfjeotoge in ©raj. „®3 ift i^m abcr/' erjaljlte ber
atte 2Rann, „fd)toer geloorben, ben fdjtoarjen SRod anjujieljen, cr tyatt'S
aud) nid)t get^an, aber beg $aljnhrirtljg Sotjft (Stto^) tjat bamalS feine
©eel1 in bcr $anb getjalten, toie eincn SSoget, bcr fortfKegen mitt, unb
ton ber Sotjft gefagt ^at: «Somm1 mit, ©eorg», ^at bcr fcin 28ort meljr
gefagt unb ift mit iljm gegangen auf ©raj." 95ticb aber nur ein 3^^
bort unb fam toieber unb „beS IfjatbauerS SSroni in ©tcrnegg tt>ar iljm
t>att boc^ noc^ ticber ate ber Sotjft." 3)er ©jsS^eotoge Ijeiratljete bie
reid)e ©rbtod^ter unb fafj nun toergniigti^ mit SBcib unb Sinb auf bent
rei^cn £ljafl)ofe. 2Rit fatten gatbeu fd)ilberte mir bcr ©tcinbauer ba£
©tiid be^ ©oljneS unb mie man it)n iiberatt nur ben „Sonig t)on ©ternegg"
nennc, meit cr bcr cinjige reidje 95auer in biefem armtid)en S)orfc fei
unb hrie i^n fogar fein dttcrer Sruber Eonrab bencibe. „Unb ber ttrirb
boc^ ber ©teinbaucr ju SBatbfirdjen!" fagtc ber 2tttc mit crnftem ©totje.
Stber gtei^ barauf tadjte cr toieber: „3ft bod| ein 9tid)tSm!|, ber ©eorg,
Die Code ber tjciligen 2Jgatffe. 9
tyat mid) bide fdjtoere (Sulben gcfoftct unb bic SSroni fyatV itjn aud) ofjtte
bie ©tubia gcnommcn. Stber mir ift'3 redjt. SBenn idj mir fo ben
Sotjfl anfd)au' — toa$ f)at ber toon ber aflju grofien 3rommf>eit? ©in
fdjtoer #erj unb ein traurig Seben! . . ."
2)a brad) cr lurj ab, ate f>atte cr fdjon ju t>ict gefagt. „28er ift
benn biefer Sotjfl?" fragtc idj.
„3fjr fennet iljn \a\" toax bic crftauntc SInttoort. „Unfer #err$(5farrer
(SufebiuS iff 3!" Unb bann nad) ciner SJSaufe: „3^r burfct aber auf ntcin
tlj5rid)t SBort nidjte geben! greitid) ift cr fein gliidlidjer 9Jtenfd), aber
ba3 tommt toielleid)t toon fcincr Sranffjeit ober" — cr ftodtc unb fuljr
bann rafdj fort — „aber Don ber Ijeiligen SBci^ fommt'3 nidjt. S)cnn
feljet, bic ift iljm borbeftimmt getoefen unb er fyatV nadj fcincm #erjen
nidjtS StnbereS toerben f5nncn auf (Srben. ©djon ate SBiiblein toax cr
fanft unb fromm unb hue cin ©ngcl mar cr anjufctjcn, mit bcm langen
blonbcn £aar unb ben blaucn Slugen. S)a toax cinmat ber 8tyfel toeit
fcom ©tamm gefaHen, benn fein SSater, ber £al)nroirtf), mar ein ioiifter
SRenfd) unb Ijart unb lumpig — fein SBeib Ijat er in bic @rb* gebradjt
burd) feinc ipartljeit unb fid) bann am cigencn ©djnapS langfam ju Sob1
getrunfen. $er arme Sotjfl f)af§ mit anfe^n muff en, freiftd) nur sfoei
SRonaf im 3aljr — bic ubrige Qtit toax cr in ber ©tubta ju Stbmont.
3)enn bort im ©tift f)at tfjn unfer alter §crr ^farrer cinen greiptafc
gefdjafft, tt>eil cr ein gar fo frommer Sub toax unb nur immer gem in
ben S3udjern gelefen tjat. 2)ort Ijat er bie greunbfdjaft mit mcincm ®eorg
gefdjloffen unb fic Ijat gebaucrt bte t)eute. Slur ein 3af>r toaren fie au§s
einanber, tnie ber ©corg ben fdjtoarjen 8tod auSgejogen Ijat fur immer.
3)cr So^ft aber i>at it)n anbeljatten unb fdjtieftfid) gar nod) mit bcm toeijjen
t>ertaufd)t! . . ."
„2Bar er StnfangS SMtgeiftlidjer?" fragtc id).
„3a freitid)! SBie cr au3getoeif)t toar, Ijaben fie itjn juerft nadj
3Belfd)lanb gefdjidt, unb itjm bann bie SJSfarre Ijier gegeben, bamit cr
ru^ig cin S3ud& fdjreiben !ann. $ann f)at ber SMfdjof in ®raj gefagt,
fo ein SBud) ift n5t^ig fiir bie Eljriftentjeit unb Seiner fann e3 fo gut
mad)en tok ber 2Hot)3 SBalbner. Slngcfangen ^at er13 au(^, aber fertig
ift cr md)t getoorben. Unb baran unb an feiner ganjen Sraurigleit ift
nur Stner ©d)utb — ber toerriidte SSSci^rod, ber frii^er Starrer briiben
in ©tcrnegg loar — ber, ba3 fag1 x&)\"
„(S6Ieftin SBeber?" rief i^.
„3a, ber ©fifeftin! ©c^et, cin 3a^r toax ber fio^fl afe ©d^toarirod
bei un3 ^farrcr unb bei atfer grommigleit fo ^eiter unb gefunb, ba§ c§
etnc gtcub' toar, i^n anjufc^n. S)a mirb er auf einmal traurig unb
blafc. SBarum? S)ic Seut1 finb fd?Ied)t unb reben t>iet, toenn ber lag
lang ift, bie Seuf fagen: totxl cr bie 2tga begc^rt ^at, be§ ©^ufterslonl^
lodjter, unb bag SERabcI toax brao unb ^at nic^t ju iljm ate S5d)in jie^cn
\0 Karl €mil (frai^os in UOitn.
toollen! 1£ ift aber 2ttle3 Siige: bcr SBeifcrod in Sternegg tjat ifjm SKudeu
in ben Sopf gefcfet uttb gefagt: «2)u bift nod) nid)t fromm genug* unb
bat>on ift cr fo traurig toorben. Unb cnblidj f^at er'3 bem ©ofeftht
gegtaubt, ift in ba3 ©tift 9t. gcgangen unb att 3Rond) ttrieber juriicf-
gefommen. Unb feitbcm frdnfelt er fo bafyin . . ."
„2lber ber toeifte 3tod ift bod& nicfyt fo ungefunb?" rief id).
„3u fromm ift ungefunb!" mar bic fur5c Slntmort. „Unb nun greifct
gcfegnc e3 ®ottl" $cnn bic ©teinbduerin mar fd)on Dor eincr SBeile
mit bcm $Pfannfucf)en erfd)ienen unb id£) Ijatte nur be3tjalb nidf)t sugegriffeu,
meit idf) nadf) 93eridf)ten iibcr ben armcn ©ufebiuS fjmtgriger war, ate nadj
bfcr ©peife. Stud) jefet nodj meitten mcinc ©ebanfen nid)t gaAj bci biefer
unb mdtjrenb id) bic gropten SBiffen t>erfd)tudte, miit)tte e§ mir im &irn:
„3u fromm — unb ©oetfjeS «gauft» al£ ©rbauung^bud)? Unb marum
t)at cr fo toertegen bic ctoigc 93etrunfcnf)eit feineS #auSf)atter3 cine «S?ranf;
1) cit» genannt?" Unb aI3 ber XeQer leer toax, ba trat mir toot nid)t
biefc Srage auf bic Stypen, aber einc anbere, bie cng bamit jnfammen*
tying: „9Ba£ ift benn auS ber 2Iga gemorben?"
„SDie Stga I" rief ber atte 3Rann fjeftig. „9Ba3 get)t benn @udj bic
Slga an? 3a, fo finb bie ©tdbtifdfjen — fd£)ted)te ©efd)icf)ten iiber bic
tjodjmiirbigen $>erren, bie finb ifjnen fcfjon bag Siebftc. Stber bamit ift'3
ijier nidjta!" 2)ann fuljr er rutjigcr fort: „$)ie Stga ift auf ©raj, in
ben S)ienft ate $5i$in, unb bann auf SBien. ©efjort f)at man nicf^t^ mefjr
»on ityr. SBirb loot geftorben fein ober gar fdjtedjt gemorben . . ."
„93ater," maljnte bie 93duerin, „fie mar fetyr brat)."
„93rab toax fie/' beftdtigte biefer, „unb fctyon ba£ ©dfjSnfte, ma3 man
fount' fetyen. Stber marum fd^reibt fie nidf)t, menu's ityr gut getjt? SBarum
fdjidt fie bcm SSater nicijtS? ©in Sump ift ber ©djufter^Xont, aber bod)
ifjr SSater! Stun mufe if)n ber arme §err SufebiuS au3 Skrmljerjigfeit
erndljren, unb barum ift eigenttidj jeneS fdjlimme ©ercb* auf gefommen.
2) a3 f)at man Don ber aSarmtjerjigfeit!"
„Sa, ba§ f)at man batoon," miebertjotte bag 9Jlutterd^en, „abcr e§
ift fdfjon jeljn lltyr."
3)ann gcleitetcn mid^ bie guten Seutc in bie ©d)taffammer i^re^
Siingften, be§ 3Ratt^ia§, njeld^cr eben jur Sanbtoe^riibung in 93rud tear.
3df) ^atte eincn langen SDtarfc^ gettjan unb bag Sager mar reinlidf), aber
e^ lodte mid^ nod) nid^t. @§ toax fo fdjtoitf im Sdmmerd^en, ic^ rife ba3
genfter auf unb le^nte mic§ ^inau^. 9tber aud^ braufecn mar e3 f^miil.
®ie SDSotfcn fjingen bi(f)t ^erab unb jumeilen judte ein SBctterleuc^teu
burd) ba§ banglid)c S)unfel. @rft nad^bem ic^ cine SBeile f)inau£gef<f)aut,
unterfdE)ieb ic^ bic Umriffc ber $ir<f)e; red^t§ Don if)r, etma jmci gufe
iibcr ber @rbe, brac^ ein matter Sid^tftraf)! auf bie Strafec — cr fam
au3 ben niebrigen genftcrn be^ $farr^of§. manbte ben 95Iid ba^in,
bie genfter maren geoffnet, id^ fd^autc in eine erleucfytete ©tube unb er;
Die £ocfe ber fyeiligen ^Igatfye. \\
fannte auty bie Umriffe cincr ©eftalt, bic regungdlod am £ifdf)e fafe*
3(f) griff nad) mciuem gelleifen, 509 bad Dpemglad fyertoor unb ridjtete
ed baljin. 9iun fonnte id) beutlid) jebed drmlidje ©erdtl) ber ©tube er;
fennen unb aud) jene ©eftalt — ed toar ber ^farrer, er lad in einem
mddfjtigen ftolianten. SBenn er fein Slntlife ertjob unb bem Sidjte jufeljrte,
fonnte id) audj beuttidj ben Sludbrud bedfelben gematjren — unb feltfam!
id) muftte fofort an nteinen 9ia(f)bar im KoKeg benfen, ed roar genau bcr^
fetbe 3ug bed 93erfdf)madjtend, ber ®ier nadf) einer £abe. S)ann tlapptt.
er bad 89ud£) ju, tetjnte fid) jurftd unb fdf)lug bie &dnbe toor'd Slnttifc
„©r toeintl" fagte id) laut Dor midj l)in. Stber ba, beim ®lang ber
eigenen ©timme, faftte m\6) audj bie ©djam, bied einfame SBet) burd)
meine SReugier enttoeiljt ju Ijaben. 9tafdj I8fd)te tdj bic Serje, entfleibete
mid) im Sunfeln unb taunt, baft mein Sopf bad Siffen beriiljrt, fdfjlief
id) and) feft ein.
Slid idj erfoadjte, tear ed fetter Sag unb meine crftc ©mpfinbung,
baft id) ju lange gefdjtafen. Silig brad)te id) midf) unb mein ©epad in
Drbnung unb ging bie Xxtppt tjinab. 3)ad #aud tear leer, bad ©efinbe
fdjon jur Strbeit audgejogen. @rft auf bem Sdnfdjen toor ber Iljiire
traf idf) bad greife ?J$aar. S)er ©teinbauer nedte midf) foegen bed langen
©dfjlafd, bad SWutterdjen aber lief in'd £aud uifb bradfjte bad ftriiljmatjt,
bad fie filr midf) toarm ertjatten. „28ie foil id) bad toergelten?" fragte
idj geruljrt. „3nbem 3§r nmder juljattet," ertoiberte ber 2ttte. ^Sonnet
aud) anbere ©tubenten jum ©teinbauer in SBalbfirdfjen toeifen, aber — ",
er l)ob fdjelmifd) ben finger — „erft in ber gerienjeit!"
©0 ptauberte id) toergnitglid) nod} eine SBeite mit ben guten, tjer^
lichen Seuten, unb aid fie toernatjmen, baft idf) in'd Defterreidjifdje tootle,
alfo iiber ©ternegg, ba trugen fie mir auf, bodj ja bei iljrem ©eorg
©inteljr ju fatten. „@d toirb iljn gar freuen," fagte ber ©teinbauer
„ift ia fetber ©tubent geWefen. ®er toeift ju reben — ber fann @udj
t)iel Dom So^fl erjfiljlen!"
„S)er ipod^tourbige ^eiftt ©ufebiud/' toernried i^n fein SBeib. „2tber
§aft 2)u f^on oon ber tyeiligen ©ad^' erjd^tt, bie er aud SBelfd^lanb mit=
gebrad^t ^at?"
^idjtig!" rief ber ©teinbauer. „®ie miiffet 3^r @u^ in unferer
Sirdjc anfd^auen! ©e^et, totlfy frommer 9Kann ber So^fl fc^on aid
©djtoarjrod gemefen! SBie fie i^n toon ©raj mit gutem ©elb nad) SSSetfc^i-
lanb gefd^idt ^aben, ba bequem bie ©tubia ju treiben, ba ^at er fic^
fofciet t>om SWunb erf^art, urn eine 9teliquie ju laufen unb feiuem
matdborf 5U befdE)eeren! SBar bad nic^t brat)?"
^©eioift!" fagte id). „SBad ift ed benn?"
^©e^fd nur fetber an, — ber 3Keftner mol)nt Winter ber £ir(f)e."
3tad^ tjielem 3)anf unb ©egengruft oerlieft id) bad gaftlidfje $aud.
f/d mirb irgenb ein alter Snodfjen fein," ba^te idj, „ben er 5U einer $tit
\2 Karl €mtl Jran30S in XPien.
ertoorben, ba audj er nod) ben «gauft» nidjt toerftanb." 2tber toarum
foKtc id) bem ©teinbauer nid)t ben ©ef alien tljunl — uitb id) toanbte
mid) 5ur Sirdfje.
Slid id) am ^farrljaufe tooruberging, fa§ ber ©dfjufterslonl toieber auf
ber ©d)toe(Ie. @r tt>ar biedmat nitdjtern, fal) aber in feinem jerlumpten
©etoanbe, mit bem afd)enfal)ten Stnttifc unb ben jitternben £anben and)
nidf)t t>iet reputirtidjer aud, aid ben Stbenb Dormer.
^SBBottct jum $errn Starrer?" fragte er unb rid)tete fief) auf. 3d)
blieb einen Sugenblid unfdpfftg fteljen. „3ft aber nidjt ju $aufe," fu^r
er fort. „3ft jum ®^neiber-93artl gegangen, mit bem ^eiligen ©ut. S)er
©djnetber fjuftet fidf) nodf) Ijeut' filr immer aud — Ijifji!"
J)er alte Sump ladjte Ij8l)nifdf) auf. 3$ ^er ging rafd) toeiter,
bied Ijeifere fttadjjen nidjt met)r l)5ren ju nuiffen. 3)a fcernaljm id) eilige
©dfjritte Winter mir — ed foar ber lonl. „SBottet bie Ijeitige ©ad)'
befdjauen?" rief er mir atljemlod entgegen. „2Bartet — id) rufe ben
HRefener."
„#ann if)n felber rufen!" fagte icf) abtoeljrenb unb ging toeiter.
„9tein, neinl" rief ber Inmlenbolb bringenb unb lief neben mir
f>er. ^Sitt1 ®ud), bitf @udj! gonnet ed mir I" $er Ion banglidjjen
glefjend fiet mir auf unb berfelbe fleljenttidje 9ludbrucf lag aud} auf ben
Dertoitterten 3iigen — id) blieb fte^en. „3d) banf duty." rief er fiber*
taut unb berfdjtoanb Winter ber fiirdje.
3d) blicfte iljm erftaunt nadj. 93ittet ber fo bringenb urn bie ©e*
legenljeit filr ein Irinfgelb? badjte id). Stber bad toar'd nidjt. 3)enn
aid er mit ber 9tadjrid)t jurudfel)rte, ber SRe&ner fomme foglridfj, unb
id) iljm einige Sreujer reidjen tuoflte, toied fie ber jerlumpte 9Renfd)
juriid. „SRein," bat er, „3fjr fonnt mir eine anbere ©uttljat ertoeifen:
neljmet mid) mit, bamit id) bie ^eilige ©ad)1 and) befdjauen faun I"
„£abt 3^ fie nodf) nie gefe^en?" fragte idf).
„3Bol)t! toofjtl" mar bie $nttoort, „aber nidf)t fo oft, aid id) modf)t\
S)ad ift ja meine einjige greube." Unb feine gerittljeten 2iber begannen
^cftig ju jtoinfern — ber 3Renfd) Ijatte Iljranen in ben Stugen.
„31)r toeint ja," fagte id) faft oerblufft. Stber ba erfdf)ien and) f(^on
ber SKe&ner mit bem raffelnben ©djliiffelbunb. @r toar ein bider SRann,
mit einem rotten, toeitldufigen ©efidf)te, betoegte fic^ iiberaud tDiirbcDott
unb trug ein langed, fdjtoarsed, Ijalb priefterlid^ed ©etoanb. Diefem
2(eu§eren entforadf) aud^ feine fettige, falbungdtootte ©timme unb feine
9iebe, toeld^e freilid) burd^ bad gejtoungene ^o^beutfc^ minbeftend auf
mi^ leinen fo imponirenben ©inbrud mad^te, aid fie ja fonft nadj 3n^It
unb Sorm tjerbiente.
„©ott jum ©ru^e!" begann er. „©ie toiinf d^en biefen %tmpd E^rifti
ju befid^tigen unb bad barin aufgefteQte ©eiligt^um ju bcreljren?" 3^
nicfte. ^tin" fufjr ber toiirbige 3Kann fort, „ttritt ic^ 3^nen benfelben
Die Code ber Ijetligen 2lgattje. \3
erfdjtiefjen, audj bie ndt^ige ©rlauterung geben, objtoar biefeg cine be*
fonbere, in bcr Seftattung nid&t fcorgefeljene SJlii^c ift! 2)enn tool totrb
biefeg &eiltgtf)um fc>on toirfen ^pilgern, fotoie audj toon ©oldjen, melc^e
jufatlig biefeg SBegeg fommen, befudfjt, aber toenige toiffen, bafj id} toeber
ate 2Refwer, nod} ate ©djultefjrer l)iefigen Drte Ijierju toerpfKdjtet bin,
mettneljr biefeg, fo ju fagen, einc freitoittige Seiftung ift!" @r bltcfte midf)
fTagenb an, id) nidte toicber.
„Dann fommen ©ie!" 6r dffnete, fdfjlug cincn ber fdjtoeren £Ijors
flugel nad} inncn unb forberte mid? burcfy einc #anbbetoegung auf, ein*
jntreten. Stber Dor ntir unb unter bent majeftatifd) gef>obenen Strm
Ijintoeg fc3^1iipftc ber 2onI in bie $ird)e.
„©^ufter'2onI/' fagte ber SBiirbetootte unb f>ob bie Srauen, „©(f}ufter*
Son! obcr toie 3^r eigentlid) Ijeifjt, Slnton 2Beinted)ner, tjebet @ud(j tjintoeg,
benn 3§t fcib etn fiumpl"
„3Refmer," toinfelte ber alte SRenfdf). „2Biffet ja, tote mein #erj
b'ran ljanget! (Jrtaubt eg, SRe&ner!"
„©djufter=Xont!" ertoiberte biefer, „3fjr gebet mir leiber, trofc toieber*
goiter SSermaljnung, ntcfjt bie ridjtige Stnfyrad^e unb gebiiljrenbe Xitutatur.
3)enn tool bin id) SDtefjner Ijiefigen Drtg, aber aud) ©djuttcljrer, unb ber
lefcterc Sitel fommt mir fur getoflljnlidf) ju, toeit er bag anfeljnlidjere
9fatt reprdfentiret. 8tuf atte gatte aber lontntt eg ntir ju, <£>err genannt
ju toerben . . ."
„3Re&ner;" jiantnterte ber unfcerbefferlidje ©d)ufter*£onl, „id) Ijab* ffiud)
ja ben £errn jugefttyrt unb ber £err erlaubt'g ntir!"
S)er bide SRann judte bie Stdjfeln, blidte midj fragenb an unb ate
id) abermate nidte, fdjritt er fcortofirtg gegen ben SHtar ju.
,,23ag ©ie Ijier angeljSrt," bemerfte er babei feufjenb, „toieberf}olet
fid) filr mid} leiber einige SKate int lage. S)enn toenn id) audi fonft
fdjtoer burd? bie Unbilbung ljiefiger 83auernfd)aft ju leiben Ijabe, fo franfet
mid} bodj ber ©ntgang ber gebttfjrenben Stnrebe am SKeiften. 9lfe id}
ljierfjerlam unb biefe ungebilbeten SRenfdfjen erfuljren, ba& id) Sranj
Saber #oifenroitljer Ijeifce, ba toollten fie mid} fogar ben «biden granjl»
nennen. ©ol^eg ift mit ©ntjdjiebenljeit abgetoe^rt toorben, aber ber
lite! «#err> nod^ immer ni^t errungen, obtool toeber freunbli^e 93itte
nod} emfte SRa^nung — "
„#err ©^utte^rer/' fiel id^ i^m in'S SBort, ^biegbejuglt^ tooHen
toir auf bie 3*tfunft ^0ffen unb bag ®efdjle<f)t, toel^eg ©ie erjie^en.
Stun aber — bie SReliquie!"
S)er bide SRann Idd^elte gef^meic^elt. „2Bie id^ fe^e/' fagte er, „finb
©ie ein gebUbeter Singling, tool gar ein S^ger jener 2BiffenfdE}aft,
toeld^e aug ben Sriiften ber ®rajer ^od^fc^ule fliefet?" 3^ nidte.
^Sann/' fu^r er fort, „toitt id^ 3^nen 8ltleg genau jeigen, benn berfelben
SBiffeufd^aft ^abe and} t(f}, teiber nur big jur britten ®t}mnafiaIsEIaffe,
Karl (Emil $tan$os in IPien.
gefjutbigt, fo baft id) mid) 3l)nett, fo ju fagen, gciftig Derbrubert unb ju jeber
©efdltigfeit toerpflidjtet fiityle. 2)enn tool tyat mid) fpdter ba§ Seben — "
„£err ©djuttetfrer," unterbracf) id) i^n toieber, „3f)re SBilbung ift
uod^ fidjtlidjer ate bie meine! 3$ ^er m'dfyt bic Stetiquie — "
„D ixbtx bic Ungebulb bcr 3ugenb!" rief er mit toofjtoottenbem
Sddjeln. „5)od) finb cinigc fjiftorifdje 3)aten unertdftlid}! ©o toernefjmen
©ie benn, baft bicfe Sirdje ber ^ciligcn 8tgatf}e getoetf)t ift, toaSmaften
benn audj toiele SDtdgbtein biefer Drtfdjaft auf biefen IRamen getauft
toerben. ©ie Ijat fid} au§ einer ®apetle entioideft, toeldje im fiinfjc^ntcn
3aljrt)unbert erbauet ttmrbe. SSSaS jebod) ben ©rbauer betrifft, fo biirftc
er ein frommer unb gotteSfiircfytiger 9Rann, audf) befonberer SSereljrer
jener ipeiligen getoefen fein, obtoot biefeS leiber nicfyt iiberliefert tft.
Studj fein 5Rame ift unbefannt, bodj toar er toafirfdjeinlid) nadf} ber ©itte
jener Qtit ein 9titter, ber einen §arnifd) trug unb eiferne §ofen — "
„$err ©cJjuflef)rer," fragte id) ettoaS fdfjarfen XoncS, „bie Strfiqute
ift toot im SHtarfdjrein?"
„3a, bort ift fie!" ertoiberte ber ficfyttid) gefranfte SDtann unb toanbte
fid) jum ©djrein. 5)er ©df)ufters£ont war fcfyon todtjrenb unferer Unter-
rebung bortfjiu gefdjlityft unb lag auf ben ffinieen, bag Slnttifc art bic
fd^5n gefdjnifcte ^oljtoanb gepreftt unb fie mit bciben Strmen umfaffenb.
©in IjeftigeS 3"den burdjffog babei feinen morfdfjen Sorter.
^©d^ufter^ottl!" fagte ber 9Keftner, „biefer §err ift ungebutbig unb
tiritt Mo3 fe^en unb nid^t I)5ren. ©ebet 9taum, baft id^ flffnen faun,
©dniftepSonI!"
fdjludfote biefer, riidte auf ben Snieen bei ©cite unb erljob
fein tljrdneniiberftromteS SIntlifc. „Deffnet e3, SReftner, baft id) bie fd)5ne
©adj1 bef(f)auen fann!"
„Um ©urettoitlen gefdf)iet)t e§ nidjt!" toertoieS i^n ber SBurbe&otle.
Slber urn meinettoiflen fdjien er e£ leiber aud) nid)t gleidf) tfjun ju ttiotlen.
2)enn nod^ cinmal toanbte er fic^ ju mir unb fragte:
„®enncn ©ie bie f)eilige Slgat^e?"
„S)ann tuiffen ©ie/' fu^r er trofebem fort, „baft biefe ^eilige ein ebet-
geboreneS grdulein Wax, tt)eldt)e§ in ber ©tabt Eatania auf ber 3nfri ©icitien,
njo bie ^ommeranjen ioadjfcn unb t)on too man jutoeiten ^taliener jum
©ifenba^nbau ^ier^er bejie^et, lebte. 3^rc ©Item, ©ut^befi^er, toelcfje
jebod^ in ber ©tabt toofynten, toaxen fromme, gotte§fiirdE)tige Seute, tt)etdf)c
i^re§ ^inbe§ forgfam toarteten, aljo baft e§, nacf)bem e^ bie fatt)otifct)e
aKdbd)enf(f)uIe ju ©atania befudE)t unb audE) im gran5ofifdE)en unb ber
$>anbarbeit griinblic^ unterridf)tet roorben, ni^t minber burc^ ttjcttlid^e
Silbung, ate burd^ cf)riftli(^e gr5mmigfeit auSgeaeidjnet mar. Seiber aber
befaft fie and) einen fdjonen Sorter unb ein feineS ©efidEit, benn obgleid)
bie§ anfonften fiir ein SKdbd^en fein Ungliid 3U fein pflegt, fo geriet^
Die £ocfe ber fyeiligeit 2lgatfye. J(5
bod) bie fromme 2tgatf)e be£f)alb in cine SBebrangnifj. 2)enn fie lebtc
nid^t etwa ju unferer 3eit, aud) nidjt einmat jur 3cit bcr SDtarta SJjerefia,
fonbern fdjon Dor fed)jef)nf)unbert 3al)ren. (£3 mar bie£ aber nod) cine
Ijarte 3*it fiir bag Sljriftenttjum, benn bie 3uben toaren bamate nod)
fcafjtreidjer ate jefct unb aufcerbem gab e3 fc^r Diete §ciben, foetdje einen
Sumpen unb SEBuftling, Supiter getyeifjen, ate ©ofcen Dereljrten unb audj
cine leidjtfinnige grauenSperfon, Status genannt, jur SBereljrung oft gan§
nadt in SJtarmor abbilbeten. SDiefeS fiinbfjaften 3rrglauben3 toaren aud)
bie 9?omer, toeldjen bamate bie ©tabt Satania getjBrte. Stun fann man
fid) benfen, true ungebilbet unb unfitttidj ein SSotf fein mufj, toenn e£
eiti nadte£ SBeib Don fdjtedjtem 9tufe ate ©dttin Deretjrt, unb teiber toar
and) ber 93e&irtet)auptmann, toetdjer bamate im Stamen be3 romifdjen
SfaiferS iiber Eatania tjerrfdjte, cin Sump unb SBiiftling. SBenn er too
tin fd)6ne§ 9Dtabd)en fafj, fo fdjleppte er e£ gteid) in fein ipauS. 9iun
toollte e3 ba£ Ungliid, bafj biefcr SBeiirtefjauptmann, toeldjer fidj Cluintu
tianuS gefd)rieben Ijat, tyaufig burd) bie ©affe ging, too bie ©Item ber
STgatlje itjr eigeneS &au3 befaften unb er falj fie am Senfter unb fie gc-
fiet iljm fdjon Don unten fjerauf feljr gut. Slod) meljr aber gefiet fie
ifym, ate er ttjr einmal am ©onntag SSormittag nadj ber SDteffe auf bcr
©trafce begegnete unb er trat an fie Ijeran unb fprad): «S)u gefciUft mir
— lornm' in mein $>au$!» @ie aber rief: «£ebe ®idj f)intoeg, benn id)
bin ein tugenbfjafteS 9Dtabd)en!» S)a fprad) er toeiter: «2lIfo toenn S)u
tugenbljaft bift, fo will id) 2)id) jum SBeibe neljmen!* ©ie aber erhribcrte:
«93ei ben Stomern gel)t e§ &u, ttrie bei ben Xiirfen unb fie neljmen fo
mete SBeiber, ate itjnen gefattt. SBcnn e3 aber aud) nid)t fo tocirc, fo
ttritt id) bod) nidjt S)ein SBeib toerben, benn $u bift ein &eibe!» S)a
crgrimmte ber Sejirtetjauptmann unb minfte einigen ^olijiften unb fie
fdfleppten ba§ graulein in fein £au§. Unb nun fpradj er: «giige S)ic^
ntetnem SBitten, fonft laffe id) 3)ir bie Dfjren abfc^neiben.» ©ie aber
'fcfjuttelte ben Sopf. «3uge S)id) meinem SBiHen^) fprac^ er meiter, «fonft
laffe ic^ S)ir ben 93ufen abf(^neiben.» Sa fagte fie: «©d)neibe mir abf
wa§ ®u toitlft — id^ njitl ate tugenbljaftc 6t)riftin fterben.> Unb ba
lief* er if)r ben red)ten 95ufcn abfe^neiben unb bann — "
^^alt!" rief id), „\i) fenne bie ©efdjidjte." tannte fie ioirHid),
tt)eun auc^ nur sufattig. 5tte id) ndmlii^ ben |>erbft corner ju gloren^
tocrtoeilt, ba fjattc mi&) ba^ 95ilb be£ ©ebaftiano bet ^5iombo, tDcId^e^
fid) bort im ^alajso ^Sitti befinbet unb in graufig^fc^bner 9trt baS
9Jiartt)rium biefer ipeiligen barfteUt, fo tief erfd)iittert, ba^ id) bei meiner
^eimfe^r in ben Acta Sanctorum ben 93erid)t t)ieriiber nad)getefcn ^atte.
®a^ fagte id) bem SDte^ner, urn i^n ber ©torung U)cgen ju begiitigen,
unb fiigte f)in5u: r,3)er SDtaler ^at fie ate fjerrlidje, ixpp\Q erblit^tc Sung?
frau bargeftetlt unb ruie cin gurftenmantel toallt if)r urn bie Sdjultern
ba^ bun!(e §aar!"
Worb unb Sub. VII, 19. 2
*6
Karl €mil $ta\x$os in XPien.
9tbcr !aum bafc id) bicfc SBorte au3gefyrod)en, ba mid) idj audj cr^
ftaunt, ja erfdfjredt juritrf. 2)enn fie iibten auf meine bciben 3«^rcr
cine fettfame, gemaltige, mir rdt^fcl^aftc SBirfung. Der ©djufter^Sonl
toav, mie Don enter SRattcr geftodjen, aufgefprungen unb bafite bie gaufle
gegen mid) unb rief: „3t)r tiigt! — tfjr #aar mar golben!" 5)er SKeftncr
ober mar tobtbleid) gemorben unb murbe nun bunlelrotf) unb fafjte mid)
ntit jitternber £anb beim Slrme: „28ar ityr §aar mirftidj bunfet?"
9Jlir mar e3 einen Stugenblid ju 9Kutf)e, al§ mare idj in ein Xott*
tyau3 geratljen. „8tuf jenem SBitbe ift e§ faft fdjmarj!" ermiberte id).
„Unb ift ber 9Rater," fufjr ber SDtefener fort, „ein berlafjtidjer 9Rann
gemefen, metier bie fjeilige $erfon getreu abgebilbet Ijat?"
3^ fonnte mieber la^eln. „9leitt!" berfidfjerte id), „©ebaftiano I>at
bie £eilige nidjt perfonlidf) gelannt!"
$)er SDlann atljmete erleidfjtert auf, fd^Iug ein ®reuj unb fcerbrel)te
bie 2tugen gegen ba3 ®irdf)enbad), „&err ©ott, id) banfe 2)ir!" rief er.
Unb ju mir gemenbet, \pxa6) er fatbungStootl: „D lieber §err ©tubiofuS,
metdfje Saft mar mir jefct auf bem §er5en. 2)enn biefe3 #er$ ift, mit
SSerlaub ju fagen, ein ed)t df)riftli<f)e3 unb Ijanget befonberS an biefer
9tetiquie tjier. 9lun fyaben smar gottlofe ©potter fdfjon oft an beren
(Sdjtfjeit gejmeifelt, bodf) gefdjaf) e£ au3 bofem 93ormifc unb ofjne jeg-
li^en ©runb. SSdrc aber jener SRaler, ber $err ©ebaftian, ber ja im
Uebrigen ein braver SKann fein mag, aud) toerlafjtid) unb gemiffenfjaft,
fo mare biefeS fiir mein &erj fetjr traurig. Unb inSbefonbere mare e£"
— unb bei bicfen SEBortcn judte btifcfcfjnett ein mibrigeS, tiidifd)e£ Sddjeln
iiber fein Stntlifc — „fiir ben toon mir innigft berefjrten tjodfjmiirbigen
§errn ^farrer Ijiefigen DrtS eine fatale @efdf)id)te. S)enn ma£ birgt
biefer ©djrein, mein lieber $err ©tubiofuS?" ©r fdfjtug ben 3)edel
juriid unb fagte: „(£tne ed)tc Code fcom #aupte ber i>eitigen Stgatlje unb
biefe ift blonb mie Don ©otbe!"
„3g — golben! — golben!" fd^tud^ste ber ©djufterslont, brdngte
ft^ ^eran unb fiffnete bie Slugen meit, ati fonnte er ben Stnblid nic^t
gierig genug einfaugen. ©ein miifteS, toermitterteS ©efid)t mie§ babet
einen 2lu§brud inbriinftiger, fd)merjli^er 2lnbad^t, mie man ifjn biefem
2RenfdE)en nimmer fjatte jutraueu mogen. ©o blidte id) benn, afe ic^
an ben ©dfjrein trat, me^r auf ifjn, ate auf bie SReliquie. S)enn an ber
mar nid^t tjiet ju befdEjauen. Sluf einem fjetlblauen 5|551fter^en, burc^
eine bide ©la^tafet gefdE)iifet, lag au^gebreitet cine Sode Don atterbingS
fc^onem, ja Ijerrlidjem rot^blonbem |)aar. S)aneben ein SSotibtaf eleven,
meld^e^ in ©olbbrud auf meiftem ^orscHan bie 3nfd^rift mie£:
DIE CORP. DOM. MDCCCLXVm.
„2Bie?" fragte i^, „ift bie Steliquie erft feit bem gro^nleid^nam^s
tage 1868 in SBatbfirdjen?"
Die £ocfe ber tjeiligeu 2lgattje.
„3n SEBalbfirdjen fdfion toett langer," ertoiberte ber 3Ref$ner, „abcr
erft feit jenem $age in tyieftger ffirdje unb affgemeiner ©ereljrung jw^
ganglid). Serftatten ©ie, baft id) biefe merfnmrbige Xtjatfadje beg Sialjern
beridjte."
@r fdjflpfte tief 2ltf)em — id) Ijatte offenbar cine tangere SRebe ju
ermarten, aber bicgmal falj idfj iljr nidjt bangc entgegen, fonbern in
gr5§tcr ©panmmg.
„93or attcm fci eg bemerft, bag id), nad)bem idf) Dormer felbigcr
Slemter ju ©ternegg getoattet, im grilling 1868 butdj bic ©nabe 'beg
Ijodjttmrbigften §crm Slbteg Don 91. Ijiert)er berufen hmrb, in ben $erjen
f)iefiger Sugenb bic SBurjeln ber 93ilbung augjuftreuen nnb sugleidj jene
SPflidjten ju crfuUcn, fp unfere Ijeilige SKeligion bem 9Refener auferlegt.
2lber bamate aljnte idf) nod) nidf)t, bafe eg mir pgleidj bergflnnt fein
toerbe, ©taubige buret) SSorjeigung biefer 3teliquie ju erquiden. S)cnn
roeber ttmfjte 3emanb im Drte Don biefem foftbaren ©djafce, nod) toUx*
bigten mid) Seine £odf)tt)iirben, ber £err SJSfarrer, einer SRittfjeilung
fjieriiber. ©o fottte benn id), ber id) ber Ijeittgen Sfirdje nafjeftefje unb
midj fogar ju iljren, toenngteid) geringeren 3>ienern jdtjten barf, atteg
erft burdj benfelben Sufatt erfatjren, ttrie bie anberen ©lieber ber ©e^
meinbe. Stber toar eg ein Sufatt? gfiein! @g toar ©otteg Singer —
oernetjmen ©ie, ttrie er Ijier getoaltet I>at. ©djon bei meiner £erfunft
beflagten fid) ndmlid) ©eine $od)ttmrben iiber ftecfjenbe ©djmerjen in
ber Sruft unb am SRontage jeneg Ijodjfjeittgen 3efitageg fagten ©ie mir:
«3d) leibe fdf)tt)er — meine Sungen fdfjmerjen bei jebem Stttyemjuge, ate
fjatte idf) ba eine SBunbe — id) furdjte, idj foerbe morgen bei ber ^ro*
ceffton im glii^enben ©onnenfdfjein auf bem ftaubigen SBege jufammens
bredjen!» 2Hfo flagten ©ie, idf) aber triJftete: «2)er #err ttrirb ©ie
ftfirfen!» unb fiigte i)inju, ttrie biefeg SBanbetn burd) ©taub unb ©lutl)
bem #immet tootytgefdtlig fei, berfpradf) aber audj, ©fjriftum unb bie tyv
ttge ©ottegmutter in inbrimftigem ©ebete urn fotcfye ©tarfung anjuftel)en.
®ie ^immlifc^en aber er^firten mein ©ebet ni<f)tf benn fie moflten, ba§
bicfe SReliquie allgemeiner SSerc^rung tf)eil^aftig toerbe! 2)arum rtaren
©eine ^oc^tourben am groIjnfeidjnamStage no(^ frdnfer ate bteljer unb
gingen tobtblafe unb ttmntaiben ©c^ritte^ mit bem ©anctiffimum unter
bem Satbadjine ein^er. Site mir aber ju bem Stttarc famen, ben ber
fromme SBiefenbauer Dor feinem ipaufe errid^tet, ba fanfen ber $err
starrer jufammen, fo pl5felid^, bafe ic^ laum ba£ ©anctiffimum Dor ber
Serii^rung mit bem ©taube bema^ren fonnte, inbem idf) e§ au# f einer
§anb rife. ®r aber fc^lug jur ©rbe ^in unb ein Slutftrom quotl au^
feinem SRunbe unb iibcrftut^ete bag priefteriidE)e Drnat, alfo baft i^
fpatcr mit bem gledpufcen grofee 3Kuf)e ^atte. Sntfefct f^rie bag 9Solf
auf unb brdngte fidE) bic^t ^eran unb hmfete feinen SJat^. — «28et)e!
tvefytU fc^ricn fie — «fotdjeg ift nod^ nie erprt toorben unb bebeutet
2*
\S Karl €mil $tan$os in Wien.
Ungliid fiir ba£ $orf.» ©inige abcr fdjrien: «&etft bcm ^farrcr —
er Derblutet!» rul)rten abcr oud) teine $anb. 2)a raffte idE) mid) auf
unb iibergab ba3 ©anctiffimum meinem ©of)ne, toddler mir atlljier ate
£etfcr in SKcfenerei unb ©djule beigegeben ift, unb fnietc nebcn bcm
Sranfen nieber, t)ob fcin §aupt unb lofte U)m bag fdfjtoere Drnat Don
SBruft unb ©djultern. £ierbei tyalfen mir ber SBiefcnbauer unb fcin
©ol)n, inbcm fic ben SBemufctlofen ftufeten. Stte id} abcr ba3 ©e-
toanb auf bcr S3ruft geWfet unb auriidgefdjlagen, ba fatje id), ba§
bcr $err ^farrcr baruntcr an cincm 93anbdf)en cin rotfjfeibeneS
Scutcld)en trug, gcrabc auf bcm £crjcn. 3d} griff barnadf) unb
fiffnctc e£ rafdf), toai)tl\6) nidjt au3 SReugierbe, fonbcrn toeit idj ttmfjte,
baft ^ilger, tocldje Don ben Ijciligen ©tatten obcr Don 9tom suriidfefyren,
foldje getoeil)te Slmulctc mitjubringen pflegen, toeldjen oft cine nmnber^
bare Shaft innetooljnt. S)a nun bcr tyocfyttmrbige $err Dor jtoei 3«^rcn
in Stom Derioeilt, fo Dermut^etc id) in bcm 93euteld)eu cin foldfjeS Stmulet
unb tootlte e£ IjerDorjieljen, urn DicQcid)t baburd) ben SSIutftrom ju Ijemmen.
2tbcr ate id) nun ben 3^att Ijeroorjog, entfufjr mir cin SRuf be£ ©tan-
nenS, benn tm 93euteld)en lag biefe Code Ijier. $a3 SSolf abcr ferric
ttrilb auf: «©ef)et! fe^ct! ber SPriefter, ber 3K5ncf) tyit eineS SBcibeS &aar
felbft an bicfem f)ocf$eiligen Sag am £erjen getragen! D, iiber ben
©iinber — fef)ct, e3 mar ©otteS §anb, toelcbe iljn Dor bcm Slltare
niebergett>orfen!» 9?ur 6iner brdngte fidf) Ijeran unb rief mit lautcr
©timme: «©cf>toeiget — cr ftirbt!» unb biefcr toar bcr ©eorg ©rueber,
be£ fjiefigen ©tcinbauern @of)n, toetcfyer f<f)on bamate ate Xljafijofbauer
ju ©ternegg fafc. Hub fclbiger getoalttfjatige unb ungeredfjte 3Rann rifc
mir aud) ba£ S3euteld)en unb bic Sode au3 ben ipanben unb fdjrie mir
ju: «&ebe 2)id) fjintoeg, frommer ©pion!» 3$ obcr gebadjte be3 SBorteS
bcr ©djrift, bafe bcr ©ered^te auf Srben oft erniebrigct mirb, unb blieb
unb betete. 2)iefem ©ebcte unb ficfjerlidf) nid^t bem SBaffer unb ben
SRiedjmitteln, mit tocldjen ber ©eorg ben $od)tourbigeu ju beleben fudjtc,
biefem ©ebete allein fd&reibe id^ e^ trofe aller djriftlidjen Demutt) juf
ba§ fic^ bie 931utung ftillte unb ber #err ^farrcr enbli^ bic Slugen auf-
fdjlugen. ©ein erftcr Slid fiel auf mid^ unb bann auf fcin geI6fetc£
©etoanb, unb ba taftete er angftDott nad^ feincm $erjcn unb rief: «2So
ift bie 2ode?!» Unb mirren Slides ftammette er bann: «2tgatlje — id)
fterbc!» ... unb neue Df)nmac§t fam iiber iljn, baS SSolf aber gerietfj nun
DollenbS in toilbcften Slufruljr. Deun Slgat^c — tool ftraubet fid^ meinc
3unge/ biefe nidjteftmrbige SSerlcumbung ju toieber^olen, aber idfj mufe
cS t^un, toeil fonft ©ie; Dere^rtcr ^err ©tubtofuS, baS golgenbc nic^t
Dcrfteljen ttritrben — Slgat^c alfo ^ie§ audj jene SKagb, Don welder
Spotter unb 2Jofcnud)te beljauptcten, bag fic bem £>errn ^farrcr "
®r ftodte, toicber itberftog bli^fdjuell jeneS toibrige Sadjelu feine Slntlifc.
„S)arum alfo/' fuljr er fort, „emp5rte fid) baS frommc Solf, ate e^ biefen
Die £oc?e ber tjciligen 2Igatfje. $
Xiamen toon fciner Sippe toernafjm unb fcf)rie: «@3 ift ba3 £>aar fcincr
Siebften — be3 ©djufter^Xonte 2tga f)at er angerufen !» 3$ aber fdjttrieg,
unb mein glefjen tocmbte fief) nur nocf) inbriinftiger 511 ben ipeitigen
broben! «(£fjriftu£ unb 9D?aria,» ftefjtc id), «unb befonberS 3)u, tjeittge
§lgatt)e, ©dfjufcpatronin ber Sirdje, metier biefer toiirbige ^riefter bient,
bringe feine Unfd)utb an'S £icf)t.» Unb aud) biefeS ©ebet, mein iperr
©tubiofuS, ttmrbe fofort erf)5rt. 3)enn ber ©eorg ©rueber ridjtete fid)
auf unb ricf: «©d)toeiget, tfjr Xf)oren! (£r §at bic Ijeilige SIgatfje an*
getufen, unb biefeS &aar ift cine Code Don i^rcm $>aupte — er l)at bic
Stetiquic in 28elf<f)lanb ertoorben unb ftets am £erjen getragen, toeil fic
ifjm fo ttjeuer tt>ar!» 3)a Derftummte ba£ SSolf, nur ber frommc SSSicfen?
boucr fprad^: «£iige nidfjt ©eorg! SBarum Ijat cr un3, ben grommen,
uid&te batoon gefagt unb nur Sir, bent gottlofen ©potter? !» 35er ©eorg
aber rief: «S33eit er toeifj, ba& itf) fein ©p5ttcr unb ©ottlofer bin —
im Uebrigen toartet, bte er e£ @ud) felbft fagt! Sefet aber ge^et Ijeim,
Seute, benn bie ^roceffion ift jebenfalte ju @nbe!» Unb barauf jerftreute
fief) bag 9Soll nrirfticf); nur einige, barunter ber SBiefenbauer, ber ®eorg
unb idj, blieben bet bent Sranfeu unb fdfjafften ifjn in fein $au£. Sluf
bent SBege frug nod) ber SBiefenbauer: «30?ef$ner — toa$ Ijaltet 3f)r t)on
ber ©ad)e?» toorauf id) erroiberte: «8Bo^I ift ber ©eorg ©rueber ein
getoatttljatiger unb fdfjter gottlofer SRenfcf), ijat aud), ftatt bie fjeilige
Sfird^e, bie £I)atf)ofbauer=93roni in ©ternegg gefreib (hmS fid^, lieber
$err ©tubiofuS, barauf bejog, bafc biefer SKann fritter Iljeologe toar),
«abet 3f)r hriffet, baft unfer £>err ^Jfarrer bennodj fein greunb ift —
ttrir toollen toarten, foaS er fetbft fagt!» Unb toir fcernafjmen bie 83e*
ftdtigung toirftidj nodf) am felben Sage. $emt ate ber fjodf)hriirbige §err
tuieber fpred^en fonnte, fragte ityn ber ©eorg in unferem Seifein: «2Befc
ift biefe £ode?» unb er ertoiberte: «2)er fjeiligen 8tgatf)e!» SBo^I mad^te
mid^ ber fromme SSSiefenbauer barauf aufmerffam, ba§ ber ©eorg Porter
bem ^farter ettuag ^eimli^ jugefliiftert, aber idf) Permie^ i^m fold^e
SReben unb fagte: «gin ^od^tDurbiger £err liiget nid^t!» ®ann giug id)
^eim unb berid^tete bie 93egebenljeit an meinen ©dnncr, ben fjodjttmrbigen,
^oc^mogenbeu $errn 9tbt Don St., unb gtnei lage fpatcr traf ein 3)elegat ^ier
ein, ber atte $>err ^ater Stnfelmug, ein gar lieber unb frS^lidEjer £>err,
welder leiber im ©ommer toorigen 3a^re^ pI5^tid) na^ attjureidE)Iid^er
9RaI)l5eit au§ biefem irbifc^en 3ammert^al in bie beffere ^eirnat ab=
berufen njorben ift. ®iefer ^o^luurbige £err nun Perna^m fotool un§, ate
ben &errn ^Jfarrer unb toerfafcte ein ^rotofoll, in toeld^em toerjeidjnet
toar, ba^ biefer §aar tjon bem bamaligen SGBettpricfter, jefeigen DrbenS*
bruber ^atcr ©ufebiu^ SBatbner im 3af)rc be§ §errn 1866 $u 8?om um
500 ©otbgulben ate edjte Sode bom $aupte ber f)eiligen Stgat^e ertoorben
toorben fei. 2)iefe3 ^rotofotl fertigten mir aHe, au^ ber ^oc^tourbige
?tnfelmu§, toeldjer babei bemerfte: «S)tefe Sleltqute ift ebenfo edjt, ate
20
Karl (Ernil fran3os in XO'xen.
bie meiftcn anberen.* Unb feit jcncm Sage ift ftc au<f) attgcmctncr SScr-
efjrung auSgefefct, bcnn bic SMtte unfereS £errn ^farrerS, ftc audj feraer=
l)in attcin bereljren bitrfen, fonntc nicfyt erfilttet toerben. 2)odf) tjerri^tct
ct audf) jefct nodj fjaufig einfam unb untcr Sfjranen feinc Sfnbadjt an
berfelben! 2lm Sage bcr tjeiligen Slgatye, pgleicf) bem ®ircf)toeif)tage
tyiefigen DrtS, bem fiinften gebruariuS, toattfa^rten trofc ber ungiinftigen
SaijreSseit, in tteld&e teiber bicfer Sag fattt, t)icte Seute ljierljer, unb e3
tft ju $offen, bag ber 3tuf beS £>eiligtj)ume3 immer meljr tuac^ft. (Sin
SKirafri aber," fdjlofj er feufjenb, „ift bigger leiber nod) nidjt gefdfjeljen!"
3dj enttofjnte bie SJlu^e be£ toitrbigeu 2Ranne3 nadf) Sfraften unb
berliefj, Don ben feftfamften Smpfinbungen erfiiHt, bie Sirdje. Sorter
aber falj idf) nod) ein h)ibrige3 ©djaufpiet. 2)er SRefener mufjte ben
©dfjufter^Sonl, ber forttoaljrenb bie Socfe angeftarrt unb nidjt auf bie 6r=
Safflung geadfjtet, mit ©etoaft &om ©d&reine meg unb au$ ber SJirdje
jerren. „2affet midf) i>ier," fd&ludfote ber atte SRenfd), „um ©(jrifti Bitten
— nocfy ein SSeildjen laffet midj bie fjetfige ©adj1 befdfjauen!" Unb al$
er enblidf) toor ber Sfjiire mar, ba baUte er bie gaufte unb ging fdjimpfenb
unb fludf)enb babon.
„©oI$e§ bereitet ntir biefer Sump immer I" fagte ber bicfc 9Rann
atljemloS, inbem er bie Sirdfjentljitre t»crfc^Io§. „6r Ijanget an bem #eiltgs
tljume, tnenn audf) au3 einem Id^erlid^en unb faft funbtjaftcn ©runbe."
„9tu3 toetdjem?"
„®r beljauptet, bafj ba3 S?opfljaar feiner Softer, toeldje in ber grembe
&erf#otten, toon berfelben garbe getoefen fei, hrie ba3 unferer ^eiligen.
Sfjflridfjt ©efdjtoiifcl — ®er 93rannttoein Ijat fein ©eljirn berbrannt —
©ott befoljten, bereljrter #err ©tubiofuS!"
3dj hmnberte toeiter, bie ©trafje gegen ©temegg. 2113 id) an einem
tteinen #aufe boritberging, l)5rte icfy SSeljffagen barauS ertdnen unb bann
eine fdjtwulje, tjeifere ©timme milbe Srofttoorte fpredjen. 3d() erfannte
biefe ©timme fofort, obtool idf) fie am Shortage nur tuenige SBorte fyatte
reben ljflren. 9Cte idf) nadf) einigen ©Written juriicfblidtte, faf) id) ben
Starrer au§ bem ^aufe beg ©djneiber-Sartl treten. ©in junger, toier;
fd^rfitiger ©d^Iingel im SDlefenerfleib, ber ©oljn meineg ©icerone, fd^rttt
ifjrn mit bem ©Ifidtein luftig tooran. (£r aber toanfte langfam Ijintertyer.
SBieber fa^ i$ fein MaffeS Slntlife unb bie traurigen, miiben 9(ugen.
6inen Sobtfranlen ^atte er getroftet — ein Sobtfranfer toax er felbft . . .
Urn bie SDtittagSjeit, nadf) breiftiinbiger SBanberung, tnar ic^ in
©ternegg. 3d^ fe^rte im S^al^ofe ein, nidjt bIo^r urn bie ®riif$e meine^
freunbli^en SBirt^eg ju uberbringen, fonbem toeil id^ barnac^ brannte,
ben ©eorg ©rueber fennen ju lernen. ®r aHein fonnte mir ja bie grage
beanttoorten, h)rfdf)e \&) mir auf bem langen S33ege raftlo^ ju Idfen toer=
fud^t. 9tber id^ lam nicfyt baju, biefe grage ju ftetlen. ©eorg ©rueber,
ber mid^, nadjbem ic^ bie ©riige feiner ©Item beftellt, tnie einen alten
Die £ocfe ber fyeiligen 2lgatfje.
2\
greunb aufnaljm, h)ar nid^t ber 2Wann, bcm id) burdj plumpe 9ieugier
ben hriUfommetten 9tnlafc gegeben Ijatte, fidj imb feinen armen 3ugenb=
freunb in intereffantem, romantifd)em Sidjte crfdjcinen ju laffen. ®enn
bicfer gtfitflidfjfte SBtenfdf), ben idj je lennen gelemt, toereinte mit eincm
einfadjen, faft berben SBefen eine fd)8ne, fjarmonifdje SBilbung nnb cin
tiefeS, feinfuljligeS ©emfitl). 2)a3 erfannte id) in ber erften ©tunbe
unfere§ SeifammenfeinS unb fdjttrieg barum. 3dj erjatjlte il)m nidjt
einmat toon jener SBegegnung mit bem S(5farrer, unb bafj id) bie SRetiquie
gefetyen. ©3 fefyfte un£ ja aud) fonft nidjt an intereffantem ©efpradfjSftoff.
9H3 id) ifyn am Stadjmittage auf einem 9tunbgange burdf) feine gelber
begleitete, erjatjlte er mir Don ber 9trt, toie er fein 2eben eingeridjtct,
unb toaljrlidf)! — idj blidte in eine 3bt)tte, ^ pe jigger fein 2)idjter
fo fdf)5n, einfacfy unb menfdjlidf) toaljr erfonnen. StfleS an biefem 9Renfdf)cn
war Ijarmonifd), fetbft fein SSerfjaltnifi jur JHrdfje. SBer einmal bie Sutte
getragen unb fie bann getoaltfam abgeftrcift, pflegt bann oft ein Sttljeift
ber f<f)Iimmften, lauteften, unbulbfamften ©orte ju tnerben. 6r aber
freute fid} toot feiner eigenen ftlarfjeit, liefj aber jeben felig toerbcn, toie
itjm betiebte. ©eorg loar nidjt, true fo Utete ©s^eologen, ein „liber-
tinus", fonbem ein „liber", fein greigelaffener, fonbern ein greier. 9
2)a§ erh)ie£ fidj aud} in ber 9lrt, n>ic er iiber ben einftigen $farrer
feineS DrteS, S5Ieftin SSeber, urtljeilte. SBir lamen erft fp at auf biefen
3Rann ju fpredjen, am SUtorgen be3 nadjften £age3, ba mir ©eorg nodf) ein
©tfid 2Bege3 fiber ©ternegg I)inau3 ba§ ©eleite gab. 3$ erjafjtte iljm
toon ber '9lrt, toie toir ben fonberbaren ©tubenten im SoQeg beljanbelt,
unb er Ijorte e£ mit 93etrfibnife.
„@3 fdjeint ba3 ©djidfat biefeS SDlenfdjen," fagte er, „bafe ifjm ehrig
bittereS Unredjt angetljan toirb. ©eine ffiutte ift fdfjmufcig, bag ift teiber
toatyr; aber tool feften ift Semanb fiber biefe ©rbe gegangen, ber fid)
bei biefer fjarten SBanberung ba3 £erj gteidj rein unb ebel betoal)rt §at.
Unb getoifj feiner, ber ernfter unb f djmer jlid^er na^ ©rfenntnife unb
SBatyrtjeit gerungen ^at. Stber — toaS ift S33a^r^eit? 2lnbere fommen
barfiber ^inau^ feine 2lnttoort auf biefe grage ju toiffen, — Kfileftin ift
baran ju ©runbe gegangenl"
;/©ie fennen i^n natjer?" fragte i^.
„%a — er ift mein greunb, auger mir lebt ein einjiger SKenfd^
auf ©rben, ber i^n fo genau fennt, h)ie id}. Unb eben urn ber 9trt
tt)itten, toie er gegen biefen 9Kenfd>en tjanbette, ^abe icf} i^n 3a^re tang
geljafet, bi^ id^ bie IfjatfadEjen genauer erfannte unb i^n bann au3 bem-
fclben ©runbe toereljren mugte. (S^ toar eine fonberbare ©efdjidjte —
id^ barf fie 3$nen erjd^Ien, benn ©ie fonnen nie a^nen, toen fie angeljt."
3d^ murbe blutrot^ aber id} fanb ben SRut^ nid^t, itjm ju fagen,
bag i^ e3 fc^on jcfet a^nte.
,fStIfo lj5ren ©ie!" fu^r ©eorg fort. „3df) ^atte einen greunb, ber
22
Karl <£mil Jran^os in IDicn.
cin tiefgldubiger, tjo<f)begabter, iiberau§ fanftmiitfjiger, abcr d)arafters
fdjWadf)er SRenfdf) War. Dtcfcm jungen SDlanne — cr war SBettgeifttidjer
— ftanb attem Stnfc^cinc nadf) cine gldnjenbe Earriere betoor — cr War
fofort nadf) Slbfdjtuft feiner ©tubien $farrer eincr fanfeJjnti<f)en ©emeinbe
geworben, aufterbem tjatte ber SBifdfjof iljm, feinem Siebting, cine wic^tige
unb efyrentoollc literarifcfje Slrbeit iibertragen. freute mid) feine£
©liide£, obwol fein 2Beg nid)t ber mcinc war. 2)a erfuljr id), baft cr
fdfjeinbar oljne jebe duftere Urfadje urptofclidf) cin aScettfdjer gr5mmler
geworben unb gegcn ben SBiKen bc3 SBifdfjofS in einen 2W6ndj£orben ge*
treten, bemfelben, bem Soteftin ange^orte. «Da£ ift ba3 SBerf be3 SSeift*
rofe toon ©ternegg*, fagten bie Seute, unb id) muftte e3 glaubcn unb
fludfjfe bem ganatifer, welder ben fdfjwad&en 9Renfd)en umftridt unb in
etne finftere, briitenbe SRetandfjolie Ijineingejerrt. ©rft fpdtcr erfuf>r id),
wie fidf) bie ©adfje in SBaljrtjeit jugetragen. gener junge ©eifttidje war
tiefgldubig unb rein, aber — er war ein 2Wenfdfj! Sine fdfjone 3)irne
feineS 2)orfe$ tjatte fcinc ©inne entflammt, bann audj fcin #erj; audj fie
licbte if)n mit einer fo edfjten, ftarfen £eibenfdf)aft, baft il)r bie «©iinbe»,
wetdje fie baburdf) beging, wot !aum in'S SSewufttfein trat. Stem SRannc
ifpeS £erjen3 anjugel)5ren unb ifjm bienen ju bitrfen, fdjien iljr ein fo
fjotjeS ©Kid, baft fie e3 aud) gem mit bem ©pott, ja mit ber SBeradjtung
ber SEBelt erfauft ^atte. 3)arum forberte fie toon bem ©eliebten nidjte,
ate baft er fie ate «$odf)in» in fein $au£ neljme. SBenn ©ie erwdgen,
wie oft dtjntidje 3$ert>aftniffe in unferen $farrl)dufern anjutreffen finb, fo
ttrirb 3#nen biefer SBunfdf) toiet(eicf)t toom ©tanbpunfte cine§ StorfmdbdjenS
gar nidfjt frecij, ja nidfjt einiital auffattig erfdfjeinen. Sebenltidjer ift e3
fdfjon, baft ber junge ©eifttidfje iljr bieS jufagte — er war eben fdfjwadf) unb
bie SSerfndjung groft. Srft in letter ©tunbe, ate eben ba3 9Rdbdf)en jum
©injug in fein £au3 riiftete, fam i^m bie Sfteue, er fiiljtte ©ewiffenS*
biffe unb wanbte fidf) an Eflteftin. S)iefer fragte i^n nur tuxy. «Sicbft
S)u fie?» unb auf bie ?tnttt)ort «SaU gab er ben ebenfo lurjen unb
biinbigen 9tat^: «®ann jie^e ben fdfjhmrjen Sftod au^, toerbe ^roteftant
unb ^cirat^e fie!» 3)aju fonnte fic§ ber fd^njad^e, e^rgeijige 3Kenfd^ nid^t
entfd^lieften, aber ebenfo wenig toagte er e3, bem SUldbc^en feinen SSunfdf)
abjufd^Iagen. %n biefer 93ebrangnift gerietlj er auf einen curiofen SluS^
toeg. ©r befd^Ioft, baS SScr^attnift, torid^eg bi^^er ein reined war, ab*
jubred^en unb jugleic^, urn aQe SSerfud^ung abjufc^neiben, SKonc^ &u
werben, Weil er ate folder feine S5^in in feinem £aufe fatten burfte.
93ei biefem ©djritte war i^m Eoleftin aQcrbingS befjulflidj, aber erft,
nad)bem er toergebtidf) aQe Ueberrebung^Iunft aufgewanbt, ben greunb
^iertoon abiu^atten. 2)enn cr fat} bie unfeligen golgen toorau^, ioie fie
auc^ rid^tig eintrafen. $a£ leibcnfd^aftlid^e 9Rdbd^en, wctc^eg fi^ toer*
fd^md^t fat) unb nadE) itjrer Sluffaffung betrogen gtaubte, ging in bie
©tabt unb ift ba toerborben ober geftorben. S)er junge ©eiftli^e aber
Pie £ocfe ber tjciltgcn 2Jgatfye.
23
tterlor burd^ bicfctt ©d^ritt nid^t Mo3 bic ©unft be^ 93ifd£)of£, fonbern
audj fiir immer ben gricbcn fcincr ©eele. ®enn erft nai) bcr Irennung
crfanntc er, toie feljr cr jeneS 3Jtfibdf)en geliebt, unb fftuf)te jener ©afcung,
roeldfjc iljm toertoetyrt tjatte, oljne fdjttere ©iinbe, otjne £rug unb £eud)elei,
gltidlidj ju toerben. 6r berlor ben ©lauben, bte inneren Sampfe bradl);
ten etne $ranft>eit, ju ioetdfjer ber ®eim atterbingS in tf>m lag, jum
SluSbrud) — er tourbe etn entfefclidE) ungliidlidjer 9Renfdj. 9lber ba3
roar er nidfjt burdj ©oleftin, fonbem trofe Soteftin getoorben. 9U3 id)
bieS erfannt, fjabe id) um (£5Ieftin§ greunbfdfjaft getoorben, n>ic einft
urn bie Siebe meineS 3Jlabdf)en3. ®£ ift mir getungen! 9todf) einmat:
®er ©djein ift gegen il)n, aber man foil nid)t naty bem ©dfjeine urtljeiten."
©o erjafjlte er, unb barauf ljin fonnte idf) nidjt langer fjeudfjeln.
3<§ faftte ttmrm feine $anb; „©ie ^aben 9ted)t," fagte id) betoegt, „man
foil nidjt nad) bem ©djeine urt^eilen. 3d) fenne einen 2Rann, ber in
®Iauben3bingen freifinnig ift, unb ber bennod) betoirft §at, baft eine
^aarftraljne bom $aupte eineS 3)orfmabd)en£ ate 9?etiquie einer £eiligen
oere^rt toirb. 9lber er §at e3 getfjan, um einen tief ungliidlic^en 9Ren*
fdjen h)enigften3 Dor aufjerer ©djmadf) ju betoaljren. Unb er Ijat redtjt
getjanbelt!"
S)er junge 9Rann btidte midf) ergliifjenb, mit tocitgeoffneten 5tugen,
faffung3lo3 toor ©taunen an. 3$ aber fdfjritt rafefjen ©ifjrittS unb betoeg*
ten $erjen3 tociter tn13 Sanb Ijinein . . .
2Tta£ ITtuIIer unb bie Spracfjpfjilofopfjie*
Don
ICuhtaig Mitt.
— Vflain^ —
[lie fnmpatfjifdje unb etnftd^tStioQe SBefpredjung meincr ©djriften
urd) ben groften ©prad^forfd^cr, beffen 5Kame ber ©tolj feine*
)eimatlanbe£ 2)eutfd)lanb unb feineS SCboptibbaterlanbe* 6ng;
I lanb ift, tote fein toiffenfdiafttidjer 3tui>m gletdjmafetg bie ganje
gebilbete SBelt Don ben Ufern be3 ©angeS bis jum atlantif^en Dcean
erfiittt, tegt mir bie 93erpflid)tung auff fdjtoere3 Unrest ,h)ieber gut ju
madjen, argc 3el)tgriffe unb 2Rifjtoerftanbniffe, bie id) mir 5U ©djulben
fommen liefj, offentftdj ju' bef^nnen unb juriidjuneljmen. 3d) Ijabe bieS
tfoax, fobalb id) meineS SSerfdjutbenS inne ttmrbe, bem SJerlefeten gegem
iiber bricflidj getljan, unb feiner anima Candida et ingenua genitgte mein
SBefenutnifj, urn mir fofort tootte SSerjeiljung ju getoftfjren, ja, meljr ate
bieS, mir feine greunbfd)aft anjutragen, toofiir id) midj ju tieffter,
innigfter 2)anftarfett t>crpfIidE>tet fii^Ie. Slttcin e3 gejiemt fid), bag eine
foldje ©eelengrofce unb ibeale, felbftlofe ©efinnung, Don toeldjer nadj
meinem Dafurljalten bie Slnnalen ber ©eleljrfamfeit fein jtoeiteS SBeifpiel
fcerjeidjnen, fitnftigen ©enerationen al£ fd)6ne3 SSorbilb jur 5Kad}aljmung
erljalten bleibe, bei toettjen Ijoffenttidj ba£ ftcinlidjc ©ejanfe unb teiben*
fdjaftlidje ©ebelfer ber ©etbfttoertjerrtidjung, toetdE)e£ leiber! bei ben
^eutigen Viri Docti no<f) immer nid)t ju ben 2hi3naf)men geljort, metyr
unb me^r ber reinen, intereffelofen §ingabe an bie ©adje ber SSafjrljeit
toeicf)en toirb. $af$t bod) ba3 fdjinte SftedjtSfpridbtoort:
3n umtStljigem ©trett
®efcf)teljt bem SRedfjt ein £etb
gehrifj in nod) Diet Ijofjerem ©rabe auf bie SBiffenfdjaft unb ifjre $ftegcr.
Stufjerbem cr^cifc^t e§ aber aud) bie SBidjtigfeit ber Ijier in grage
Ular IHiiller unb bie Spradjpfytlofopfjie.
25
ftel)enben ^roMeme, bercn ungeljeure Sragtoeite unb Sebeutung f)eutc erft
toon ben SEBenigften begriffen ftrirb, bag, in ftrenger $anb^abung btftri^
butifcer (Serecfytigfeit, bag Suum cuique forgfdltig abgetoogen unb gettriffen=
fjaft burdjgefiHjrt toerbe. Unb je meljr bcr fcortrefftidje SDtann, ber, in
erljebenber SBeife frei Don alien perfonlidjen SJiottoen, nur bag eine 3n*
tereffe ber g5rberung unb ©rgrihtbung ber SBatyrljeit fennt, feine 9(ns
fpriidje auf ^rioritat in ben §intergrunb ftctttf um fo bringlidjer erfcf)eint
mir eine fold)e 5J5rufung unb rudfjattlofe, objective 2)arftettung jener gragen
fotuie fei'neg bebeutenben Slntfyetfg an'beren SBeanttoortung.
I.
Vaxvoxxx unb Xtta}; 2TIuller.
2)er ©ebanfe ber SSeltenttoidelung, bcr gr5ftte ®ebanfe, ben nadj
m einer Ueberjcugung ber 9Renfd)engeift jematg gebadjt Ijat, beioegt unb
erregt Ijeute aHe ©cifter. 2ln ben 9lamen Sartoin Iniipfen fid) mddjtige
. ©egenfdfee, bie in leibenfdjafttidjem ©treite bie ©emiitljer erljifcen unb
nid>t nur in nriffenfdjaftlidjen ©ptjdren, fonbern big Ijerab jum %a%tfc
gefprdd) unb in einer riefig antoadjfenben lageSliteratur auggefodjten
toerben. SEBic eg frutjer fein toiffenfdjaftlidjeg Oebiet gab, bag nicfyt in
irgenb einer SBeife mit ber religiflfen Irabition unb bem fird)Iidjeu
9lutoritdtggtauben in Sonflict fam, fo bag eine 5tugeinanberfefeung mit,
eine ©mancipation Don biefen 9Kdd)ten erfte Sebengbebingung unb 2ebeng=
tljdtigfeit ber ertoadjenben unb erftarfenben SBiffenfdjaften hmrbe, fo gibt
eg and) jefet feine 3)omdne beg menfd)Iicf)ett SSiffeng, toetdje nid)t iljre
Ijocfjften unb lefeten gragen mit bem ©nttoitfetungggebanfen in SSers
binbung 5U fefeen fjdtte, ja fid) felbft nur alg einen 3^cig beg grofjen
93aumeg betradjten miifcte, beffen SSurjeln in eine unermefjlidje 93er*
gangenfyeit fid) ^inabfenfen," md^renb feine Srone in ben toeiten, listen
ipimmelgraum emporftrebt unb mit SBtutfjen fid) fdjmudt, beren griidjte
bermaleinft fpdtgeborenen ©cfc^Iec^tern reifen ioerben. 3)iefer mddjtige
SBaum ift bie SBiffenfdjaft bom 2Jtenf$en.
SRur bag ©tubium feiner SSergangenljeit bermag bag grofje fRat^fet
ju tflfen, bermag bem 3Jtenf<f)engeifte Sluffldrung iiber fid) felbft unb
feine ©tettung im SBeltatt 5U getodfjren, bamit jugleidj iljm einen Sett-
ftern, einen ©ompafj in bag bunfle 3leid) ber 3ufunft anjueignen, ber
itjn Dor ben toielen fcergeblid)en grrfatjrten unb nufclofen Sraftberfditoens
bungen ber 93ergangeuf)eit betna^ren toirb. ©einer 3iele betoufjter, feiner
SRittel gemiffer toixi ber SUtenfdj in feiner Wnftigen ©nttoidrfung aOeg
big jefet ©rreid)te iDeit Winter fic^ laffen. 3a eg ift tool nidjt 5U Diet
gefagt, bag na$ Slbtauf einiger 3<*l)ri}unbcrte bie 2Jlenfc^^eit auf unfer
t)od) aufgeltarteg, Derfeinerteg unb gebilbeteg 3^itatter alg auf eine $es
riobe ber Sarbarei unb Untoiffen^eit ^erabbliden biirfte.
26
— iubroig Hoire in Alains*
$cr ©ebanfe bcr ©ntttricfrfung ift, ttric fcfyon oftcrS bemcrft tourbe,
fein neucr. ©cine Seime laffen fid) juriidoerfolgen bte ju jenem auSs
ertnd^Iten 93oIfe, beffen Sidjtgebanfen jucrft ba3 SBJaltcn bet SSermmft
in bcr ©djopfung ju erfennen fid^ bemiiljten, bte &u ben alteften grte^
cf)ifdjen ^Ijilofopfjen, bon benen namentlidj ber tieffumige §erafteito§,
„ber Dunfele", bie SBett ate ein etoige3 SScrben im Stuftoarteftreben unb
9tiebergange (benn fo berftelje id) 6£o$ Sv(o y£x&) auffafete unb bie
©d)open^auer;$artoinfd)e Setjre bereite toor 2400 S^eit mit i^ren
eigenften SBorten auSfpradj: 'Ifya'xiUiTos yap amx^j noUyav 6vo-
fuc&i nax&Qu %al fiacdia xal xvqiov navtcov. !Qa% unb ©treit treibt
jur ©eburt, au3 ber Sntjtoeiung entftetjen atte SBefen, ber Santpf um^
$)afein beljerrfcfyt btc SBett, ift i^r SebcnSprincip; nur in ber ixTivQucig,
bcr Suriirfoertoanblung in bie Urelemente be3 geuerS (alfo bcr SBubbfjiften
unb ©djop enl)auer3 Stirto&na, legation be3 SBillenS) ift Uebereinftitnmung
unb griebe (bpoXoylct %al s^vrj). 9llfo aucf) er berfannte, tok ©djopens
fjauer unb 5>artirin, bafj neben unb iiber bent #affe, toeldjer 2IUe3 tnU
amcit unb fonbert, ba3 grofte SBettyrincip, au3 toeldjcm jebe neue SSer-
tJoQfommnung §ertoorgel)t, bie attmdd)tige 2iebe ftetjt, bie SttteS toereinigt
unb binbet, SltteS butbet unb ertragt, Sitter bcrjeif)t unb auSgteidjt, ?tHc£
fjingtbt unb opfert, audj ba£ Scben — \a aud) ba3 Seben.
3n ben ©d)riften ber grofien $eroen unferer flaffifdjcn Siteraiur
tritt ber ©ebanfe ber ©nthridelung mit balb mc^r balb toeniger be*
ftimmter ©ctyarfe ober belonfeter ^lor^eit tyerbor. 3n fcinen SSorlefungeu
iiber pragmatifdje Slntljropologie nafjm Sant feincn Slnftanb, bie 8lfc
ftammung be£ SRenfdjen au3 nicbereu ©tufen, alfo Don tfjierifdjen SBefen,
ate felbfttoerft&nblid) toorauSjufeken. 3)er toon ben 3been ©pinojag cr^
fiiHte ©eift 2 effing 3 fonnte unmflgtidj anberc SBaljnen toanbeln, ate
bie iljm eine ©rite^ung be§ 2Renfc§engefd)(ecf)t$ tnit natiirii^en SKittcln
unb Sraftcn ju ftetg ^5^erer ftlar^eit unb ©etbftanbtgfeit offen lie^eu.
^erberg 3been pr 5|5^ilofo})^ie ber ®ef^tcf)tc finb eigenttid) eine ©fi^c
ber ©ntttncfelung bcr 3Rcnfc^^ett in atttna^Ii^cr, ftufentoeife tooran=
fc^reitenber Siert)ot(fommnung; aud^ er toibmet ber lorperti^en ©egen-
fafclid)feit be^ SDlenfc^en ju ben £f)ieren einge^eubc unb, fotoeit t$ ba£
bamalige Srfa^rung^njiffen erlaubtc, t)ergleicf)enbe 93etrad)tung ; tjicl
gro^cre^ ©ctPtd^t aber legt er — unb bariu fonnten bie ^cutigen S)ars
ttriniften gar 9Ranc^cg toon i^tn lerncn — auf ba§ innere Sprincty, bic
geiftigc ©ntloirf elung , mclc^e bod) tool and) bie #auptfad)e ift, obfdjon
fie — fettfam genug! — Don ber moberncn 3)efcenbenjlef)re faft ganj
unbead)tet bleibt ober nur nebenljer ertoa^nt h)irb.
SBefanntlidj ift eine leb^afte Eontrotjerfc iiber bie grage gefii^rt
worben, ob bie SJefcenbenjt^eorie bag 5Red)t Ijabe, ©oet^c ju ben i^rigen
ju jatjten unb ob man ityn, loie §ddel t^ut, ate etnen ber Segriinber
bcr Slbftammung^Ic^re anfuljren biirfe, ober ob er bielmefyc ein Stn^angcr
ITur HtiiUer unb bie Spradjptitlofopfjie. 27
bcr Stypenttjeorie getoefen fei. 3d) mufc gefteljen, id) ijalte bieS fur cinen
mitfjigen ©treit. Die jugenbtidje 93egeifterung , toetdje ben 81 ja^rigcn
©oettje ergriff, aU er bie Sfunbe toernafjm, baft bie $arifer SIfabemie
bcit ©ubier;@eoffrot)fdjen ©trcit unter lebljaftcr SBetfjeiligung in berfelben
3eit mit angeljort fjatte, ba braufcen bie politifcfjen Sampfe ber
9teboIution tobten, jeigt, baft e3 ftdj fiir iljn nid)t urn tt)iffenfc^aftlid)c
Sfjeorien, fonbcrn urn ben ©ieg einer aBettanfdfjauung Ijanbelte unb
$n?ar einer fotd)en, toetdje bent ©eifie ttieber 9tedjnung trug unb nidjt
nur ber 2Jtaterie. 2)a3 Hingt atterbingS, too bon 25arttrini3mu3 bie Sftebe
ift, fjodjft parabojr, aber nur fiir bie 2Jtcf)rl}eit ber ©ebanfenlofen, toeldje
jhrifd^en SRateriatiSmuS unb bem unt eine ganje Jpimmeteaye berfdjiebenen
URoniSmuS feinen Unterfd)ieb &u madjen toiffen. 3d) fiiljre be^alb bie
tiefbebeutfamen ^eufierungen ©oetljeS felber an unb jtoar mit ben 93c=
merfungen, toetdje Sajar ©eiger*) an biefelben fnityfte: „2tfe bie %vlIv
9t evolution auSbracf), unb ber treue ©dermann feinen ©oetlje in lebljafter
©rregung iiber bie grofee 93egebenl)cit fanb, bie ju $ari3 ftattgefunben,
unb er Don ben Severn ber geftiirsten SKinifter ju reben beginnen tooHte,
ba ertoiberte ©oettje: «3Btr fcfjeinen un§ nid)t ju berftefjen; icf) rebe gar
nicfjt bon jenen Seuten, e£ tjanbeft fid) bei mir urn ganj anbere S)inge.
3d) rebe bon bem in ber Slfabemie jum offentlidjen StuSbrucfy gcfommenen,
fiir bie SBiffenfdjaft fo Ijodjft bebeutenben ©trcit jhrifdjen ©ubier unb
©eoffrot) be ©aint^ilaire. Son nun an ttrirb and) in granfreidj bei ber
9taturforfd)ung ber ©eift tjerrf dEjen unb £err fein iiber bie SDtaterie.
2Kan ttrirb SBtide in grofie ©d)5:pfung3ma£imen tljun, in bie geljeimnifc
toDe SBerfftatt ©otteS. 2)iefe§ ©reigriifc ift fiir midj bon unglaubticfjcm
SBertfje unb id) juble mit 9led£)t iiber ben enblidj ertebten ©ieg einer
©adjc, ber idj mein Seben geioibmet ljabe, unb bie ganj borjiigtidj and)
bie meinige ift.» 25er ©ebanfe, beffen ©ieg ©oetlje bamate im ©eifte
t>or Slugen fab, ju bem ©eoffrot) be ©aint^ilaire fidf) befannte, ber
©ebanfe ber SBeltenttoidelung, er toixi, id) stoetfle nicfjt, meftbe-
fretenb fein, tme e3 jematS irgenb einer ber grofcten mettgefc^i^tlidjcn
©ebanlen gewefen ift. S)iefer ©ebanfe ioirb un§ bereinft Ief)ren, toa§
ber 3Kenf^ Don fid), toon ber 3Renfd)I)eit, Don ber 5Ratur ju ernjarten
unb ju forbem ^at./;
SQ3er tine ©fitter ben ©attung^c^aralter be^ SDtenfdjen in ber
grci^cit finbet, toer, tt)ie erf grei^eit unb ^errfdjaft al^ bie gro^en
©egenfafee ber 2Kenfd)f)eit bejeid^net, ber fann unm5glid) bie Seitung
unb Seeinfluffung be3 menfc^Ii^en S33iQen§ burc^ einen toenn aud^ nod)
fo f)o6), ebel unb rein gcbac^ten au|ermcnfc^ti(^en SSitten anerfennen.
S)a6 ber SKenfc^ fein eigener ©djopfer ift, ba§ attein Derfeif)t i^m SSert^,
SSiirbe unb £>of)eit; jene SKac^tfiiHe, bie ifjm bie §errfdjaft iiber unferen
*) 3"^ @ntttjidetung§gejd^ic^tc ber 3)icnfc^I;cit @. 114.
28 £nbroig Zloix6 in JHain3.
^laneten ertoorben tjat, fie fann ung nur intereffiren, toenn fic bag @r=
gebnifc feineg eigenen 9tingeng ift, nidjt abcr toenn fie tfjm oom ®£utfe,
unb nur ate fo!d)eg fonnte ung ja ein ben 9Renfd)en oorjuggtoeife be-
giinftigenbeg l)5l)ereg SBefen erfcfjeinen, in ben ©djofc getoorfen ftmrbe.
5Da8 mar fur ©fitter ber toaljre Sern unb Sntyaft ber Unioerfalgefdjid^te,
fie tuar i^m bag SSUb ber &u ftetg ^5^erer grei^eit, SDladjt unb ©ttt^
Iicf)feit emporringenben 2Wenfd)f)eit. 3n biefem ©inne enttuarf er eine
geniale ©fisje berfrfben in feiner Senacr Stntrittgrebe, oon toetdjer Sarltjle
fagte: „There perhaps has never been in Europe another course of
history sketched out on principles so magnificent and philosophical."
9iad)bem er bag 93ilb ber tiefften ©tufe urfprihtglidjer SBilbljeit entroflt
unb biefem bag glanjenbe (Semalbe ber gegentoartigen Eultur entgegen-
gefjalten, fagt er refumirenb:
„28etd)e entgegengefefcte (Semalbe! SScr toirb in bem oerfeinerten
Suropaer beg acfjtjeljnten 3at>rl)unbert3 nur einen fortgefdjrittenen SSruber
beg neueren Sanabierg, beg alien Eelten oermuttyen? StUe biefe gertig-
feiten, Sunfttriebe, ©rfa^rungen, aHe biefe ©d)5pfungen ber SBentunft
finb im SRaume bon toenigen 3^ttaufenben in bem 2Jtenfd)en angepflan^t
unb enttoidelt toorben; aHe biefe SBunber ber ©unft, biefe SRiefentoerfc
beg gleificg finb aug iljm l)erauggerufen toorben. 2Ba3 toedte jene jum.
Seben, roag lodtc biefe Ijeraug? 23eld)e 3uftanbe bur<f)toanberte ber
■SRenfd), big er oon jenem Sleufcerften ju biefem Steufierften, com unge=
fefligeu ^Bljlenbetooljner jum geiftreidjen 3)enfer, jum gebilbcten SBelt*
mann emporftieg? 3)ie allgemeine 2Beltgefd)idjte gibt Stnttoort auf biefe
Stage."
Die toenigen ^^^aufenbe, oon benen l)ier ©filler rebet, geniigen
()eute aud) bem ^iftorifer ber SKenfd^eit nid)t meljr. Die prafjiftorifclje
2Biffenfd)aft tyat ung einen Slid in ben Slbgrunb einer ungeljeuren 33er;
gangenljeit tjinabfcrifen laffcn, fur toeld)en bie SRaftftabe ber feitfjerigen
Eljronologie fo toenig augreidjen, ate unfere irbifo^en SOla^c fiir bie ©iriuSs
toeiten. 3e bunfler bie gerne, befto langfamer war naturgemafc ber
gortfdjritt. ©g gab eine 3cit, in toeldjer ber SDlenfd) o^ne ben 93efi|
beg geuerg toar, ja eg gab eine 3d*, too er no<^ nidjt einmal bie ein-
fad^ften SBerfjeuge, bie un§ bod^ Don feinem Segriffe fo uniertrenntid^
fdjeinen, befafe, unb bennoa^ toar er bamate fa^on 5Dlenfd% benn er befafj
— bie ©praa^e.
Sa un§ bemnad) bag ©ebiet ber eigenttidjcn 2Renfd)^eit§gef(^id)te,
big auf eine furje ^eflbeleud^tete ©trede, nod^ in fo tiefe£ Dunlcl gcf^utlt
ift; ba I)ier nod) eine unermefelid^e 93orbergangenf>eit mit SRattjfctn unb
tiefen ©etjeimniffen angefuKt, ju beren Sofung nur toenige ftumme 3^ugen
aug bem Sdjofj ber 6rbe beroortreten, bem gorfdjergeifte ate eine fd^tucr
unb nur aUmafyfid) 511 betodltigenbe 2lufgabe fia^ barbietet: toag niifet eg,
toetdjen ©inn ^at eg, biefe grage fd^eint tool erlaubt, in fitljnem SBJagniffc
iftaj JTlfiller unb bie Spradjpfyilofoptiie. 29
jefet fdf)on fogar iiber jene ©renjen tjinaugjufd&toeifen unb nadj ben ©liebern
ju fragen, rocld^e ben 2Wenfd)en ate ©attung mit anberen SBefen, benen
bag djarafteriftifdf) 2Kenfd)Iid)e , bic 93ernunft, fc^It, in einen genetifcf)en
3ufammenl)ang bringen toermogen. Unb bennodj hjtrb unfere SBifc
begterbe gcrabe burdf) bicfe grage auf'g madf)tigfte geretjt, bennodj ift bic
©tellung bicfer grage, ber tjSdfjften, bie eg fur ung gibt, benn fie betrifft
bie 9Renfdf)toerbung, unabtueigbar; fie tuirb, ioenn fie audf) taufenbmal
ate uortoifeig unb nid)t &u beanttoorten abgetuiefen toiirbc, immer h)ieber;
fe^ren unb ni<f)t efjer jur Sftulje gelangen, big fie ifjre ©rlofung in ifjret
Seanttoortung gefunben tjaben toirb.
Samarcfg unb 25artoing Sbee griinbet fidj auf bie SBergleidfjung ber
unenblicf) safytreidfien organifdfjen gormen, toon benen bie Dberfladf)e unfereg
^lanetcn erfiitlt ift unb toeldje aHe trofe uuge^eurer SBerfdfjiebenJjeiten
einen inneren Sufammenljang, eine 9trt toon 2BefenggIeidf)t)eit nid)t toer^
leugnen I5nnen. ©fitter fagt toon ben toilben 935Iferftammen, beren
©ittcn unb Sebengtoeife burd) bie ©ntbedunggreifen ber neueren 3*it jur
ftuube ber europaifdjen SDtenfdjfjeit gelangt finb: „©g finb SSotferfd)aften,
bie auf ben mannidjfattigften ©tufen ber Silbung urn ung ^erumgelagert
finb, hue ffinber toerfdjiebenen Sttterg urn einen ©rioacf)fenen fjerumftetyen,
unb burdj itjr SSeifpiel ifjm in ©rinnerung bringen, toag er felbft toor;
mate getoefen unb tootoou er auggegangen ift. (Sine peife §anb fd)eint
ung biefe roJjen 935tferftamme big auf ben Seityunft aufgefpart ju tjaben,
too xoxx in unferer eigenen ©ultur toeit genug nmrben toorangefdfjritten
fein, urn toon biefer ©ntbecfung eine nufelid£)e Slmoenbung auf ung felbft
ju macfjen unb ben toerlorenen Stofang unfereg ©efcf)ledjtg aug biefent
©piegel hricberljerjuftetten." SBag ©djitter Ijier toon ber SDtenfd&Ijeit inner-
t)atb ber ©renjen ifjreg ©attunggbegriffg fur moglid) unb ftmufdjengioertty
erftart, bag $eute burdf) eine ungeijeure ©nttoidetung ber 9Sergangenf|eit
ju begreifen unb toerftanblidj ju madjen, bag beljnt ber 3)artoinigmug
auf ben SKenfdjen ate lefcteg ©fteb einer toeit, toeit grflfjeren unb faft
unabfetjbaren ©ntttndelunggreilje aug, beren erfteg ©lieb in ber rubimen*
tarften gorm beg t^ierifd)en Seben^ ber fd)einbar ganj form? unb ftructur?
lofen Stmfibe ju finben toare. SBa^ ©fitter toon ben culturlofen, primi-
tben 9taturto5Ifem fagt, ba3 menbet bie S5efcenbenjt^eorie auf bie toiel*
fdttigen ©eftaften be^ S^ierrei^eg an; e§ finb bie ttmljren Sinb^citeformen
unferer ©ef^Iec^te, ^uppenjuftanbe, ©tappen, welc^e ba^felbe burc^Iaufen
mu^te, e^e eg pr menf^Iic^en 93ilbung unb burcf) biefe §u feiner Ijeutigen
SSoIHommen^eit gclangen lonnte. ©in geiftrei<f)er graniofe rebete toon
einer posterite contemporaine — er bejeid^nete bamit bag Urt^eit be^
Sluglanbeg itber bie ein^eimifd)en Siteraturer^eugniffe — man fflnnte bie
unge^eure SRanni^faftigfeit ber ttjierifdjen Sebetuefen eine autiquit6 con-
temporaine nennen, inbem f)ier bie Statur fetbft unfere embr^onalen Ur*
juftanbe feftge^alten unb in jaf)Uofen ©jemplaren ju nad^benfenbem 9Ser-
50 £ubnng Zlo'irG in Vtlain^
gteidjen unb ju ernftcr SBefinnung auf unferen Urfprung urn un3 au£s
gebreitet Ijat.
93ei aQcr Stncrfcnnung be§ tyoijen tmffenfdjaftUdjen SBertljeS be£
3)arhrini3tuu§ — tt>elcf)en id) fjiermit au3briidlid) unb nadjbrudltd) toon
bcr moniftifd)en®nttoidelung§Ief)rc gefonbcrt unb unterfd)icben toiffen
toitt — barf bcr pt)tfofo})f)ifdje Dcnfer bocf) feineStoegS iiber beffen
©djtoddjen, Siirfcn unb ©infeitigfeiten bic Slugen t»crfd^ttc§cn.
2Jtan Ijat oft mit SRedjt ba§ ru^igc unb bcfonncnc Sorgefjen 3)arnrin£,
bcr aU ecfyter SRaturforfdjer fcinc ©onctufionen nidjt el)cr jog, at3 bis
cr cin getoaltigeS, forgffiltig gefidjteteS unb gepritfte3 SeobadjtungStuatertal
jur §anb tjatte, riiljmenb t)er&orgef)oben. Unb e§ fd)eint mir atterbingS cin
fetyr geredjtfertigteS Stnfinncn an bic tapfere ©djaar bcr untcr fcincn gotten
fampfenben Staturforfdjer, bag fic ben ©afc, bcr bei alt iljrcn empirifdjen
©tubien unb t^corctifd^cn golgcrungcn iljnen al§ 9llptya unb Dmega,
b. f). at3 ftittfdjioeigenbe 93orau3fefcung unb 3ietyuntt attcr tfjrer 2ln=
ftrcngungcn gilt: Natura non facit saltus, aud) in ifjrer 9Rctf>obif ftrenge
ein^alten unb nidjt ettoa burd) leidjtfertige ©priinge Dingc in SSerbinbung
fefcen obcr au3 cinanbcr Ijerleiten, toeldje einfttoeilen burdj unertueglidje W>~
griinbc unb Sliiftc toon cinanbcr gctrcnnt finb.
2)ie grogte ©infeitigfeit be£ l)eutigen 3)arttrini3mu3 tiegt barin,
bag cr StfleS au3 auger en Urfadjen tyerjuleiten bemityt ift unb auf bic
inncrcn ®igenfd)aften, tote e3 fdjeint, toeing obcr gar nid|t a^tct. 3dj
ttritt bieS buret) cin Seifpiel crldutcrn.
SSenn bcr StadjtoeiS gclicfert toerben fann, bag in ben S|5oIargegen=
ben f)auptfad)Iid) toeige giidjfe tiorfommen, fo liegt einc ©rflarung bicfer
(Srfdjeinung au§ 3)arhrinfdjen ^rincipien fetjr nalje. S)ie loeige garbc
ift cine fdjufcenbe mimicry in ©djneeregiouen, ba3 £f)ier entgeljt inel
leister ben 9tad)ftctlungen feincr natiirli^cn Seinbe, unb nimmt man an,
bag biefelben 93erf)dltniffe einc geniigenbe $t\t fortbauem, fo lafet fid)
red)t tvoty begreifen, bag atte iibrigen garben auSfterben unb nur notf>
toeige giid)fe iibrig bteiben. 3n bicfem gaUc ift nur toon augeren Ur=
fatten bie SRebe; benn bic S3ert>ottfommnung, bic fdjiifcenbe Stnpaffung an
bic gcgebenen SSertjattniffe ift Icbigtid) ba3 SRefuItat cincr 2tu3lefe, bic
nur burdj ben 3^^g eben bicfer S3erf)aftniffe tjoQjogen mirb. 2)cr
SSiHc, bie inncre ©igenfe^aft bc§ If)iere§ fontmt babci gar uid)t in 83e=
trac^t. $ier bc^dlt atfo ber 2)arhnni£mu§ fRcc^t, menu er fdjon, urn
ganj efjrlid^ ju berfaljren, eingcftel)en ntiigte, bag bag SSort, n?oinit er
auc^ biefe £t)atfacf)c erflart, ba§ SBort SSererbung namticfj, felbcr nod^
ein ungetofteS 3?cit^fel obcr eben nur — ein SBort ift.
2Bie ganj anberS abcr t)erl)cilt e^ fid), Wo ba§ I^ier ben il;m toon
alien ©eiten bro^enbeu ©efafjren baburd) entge^t, bag fcinc inuerc ©igen=
fdjaft, fei e^ nun, nad) iueufd)tid)en 93cgriffen, Sift, @d)(au^eit, 93orfid)tf
ober einc SScrfcinerung feincr SBaljrnefymungSorgaue ober toa§ imntcr,
Hlaj Xniiller unb bie Sptadjpfytlofopfjte.
31
cbcn buret) bie fortgefefcte Uebung im SBegegnen unb SBermeiben jener
©efafjren fief) beftdnbig crimen, too bemnaefj cine jugleief) pft)d)ifdf)e unb
jjljtjfifdje — beibeS ift ja untrennbar — Seruotlfommnung burd) ben
SSiDen, bie eigene Slnftrengung, ben energifefjen Irieb ber ©etbftbel)au^
tung unb ©elbfterljaftung in attmdljlicfjem, buref) bie ©enerationSfotge
aufcerorbentlief) gefteigertem 2Baef)3tf)um erreiefjt toirb!
3ft oon biefen beiben gdtten niefjt ber wftere einem ©efdjenfc be3
3ufatt$, <itfo etttm bem ©etoinnfte bei einem Sottcricfpielc, ber tefctere
ober bent in fourer Slrbeit erruugenen SSermogen gleidjsuftellen? SBer
in bem tefcteren gatle nur toon dufeeren, rein mecf)anifd)cn Urfaefjen rebet,
t)er Ijat ba3 grofce problem ber (Sntttritfelung3lel)re faum geafjnt, gefdjtocige
fcenn eingefefjen; er l)at aber fiefyerlicfj in pf)itofopl)ifcf)en S)ingen fein
9tcef)t mitjureben.
55ie Skrroecfjfelung ber ftufteren unb inneren Gigenfef)aft ber Singe,
i>et Srrgtaube, bafj au£ forperliefjen gormen ©eiftigeS, 93ettnifite3 f)er=
geteitet tuerben ftfnne, f)at ben 2)arttrini3mu£ oerf)inbert, eine ernfte ptjilo-
fop!)ifd)e $riifung feiner toaf)ren ©runblagen, feiner meta{)f)t)fifef)en S3orau3=
fefcungen anjufteHen; biefe inangelnbe Slritif ift aber fiir if)n fcerfjdngnifc
toott getoorben, inbem er baburef) ju ben geiuagteftcn golgerungen, bem
leidjtfertigften Ueberfpringen ungefjeuercr Slbgritnbe, ber 93ergteid)ung unb
caufaten 3ufammenftettung burdjau3 fjeterogener, fid} jeber SBergfcidjung
entjietyenber SSerfjdltniffe getangt ift.
SBenn -bog SReief) ber Sebetoefen toon ber orgonifirten 3eQe f)cr=
geteitet, biefe Jfjatfadje aber etttm in l)od)ft cabatierer SBeife fol-
genbermafjen eingef^hjarjt toirb: Accordez-nous seulement ce petit
bout, nous en deduirons le reste, fo Derrdtf) ein foIef)e3 93orgel)en eine
cbenfo oottftdnbige naitoe Unfenntnifc ber ©rofte unb ©djttrierigfeit, toie
audj be3 toafjren Sernjmnfte3 bc£ SJkoblemS, ate tuenn ©ir SB. Sfjomfon
unb fein ©filler ^etmfjolfe bie ffeime be3 organifdjen SebenS buret) 9Jte*
teoriten au£ fernen SBettf orient auf unfere 6rbe gelangen laffen, ober
$hdd in bem Soljlenftoff ben eigentliefjen Srdger be3 2eben§ oermutfjet.
3n tefcterem tjaben ttrir ttueber ein reefjt lefjrreiefjeS 93cifpiet moberner
HJtytfjoIogie, nomina toerben numina.
3ft e3 benn ttrirftidj fo fdjtuer einjufefjen, baft bie 3Jtaterie ate
foldjc unmoglid) 9tu§gang3{ninft ber t$eoretifd)en Sluffaffung ber SBelt
fein fann, bafc ifjr SSegriff nur ba3 ©ecunbarc in unferer ©rfenntnifj
bilbet, ba§ ba§ unmittclbar ©emiffe t)ielmef)r ba^ Sewu^tfein, bie ®m?
^finbungr ber SBitte ift?
SSann ttjirb enblid^ einmal bie SBatjrljeit fief) S3a^n brec^en, ba| ber
(Sfjemifer, menu er un^ jeigt, tute ©auerftoff unb SSafferftoff, ©dure unb
33aft3 aufeinanber lo^ftitrjcn unb fief) uerbinben, mit biefem SSorgangc
ettpa^ un^ bure^au§ Unbegreifli^e^ fcorgcfiitjrt ^at, fofern tt)ir i^n
al$ einen rein mccl)ani}d)en $roce§ betradjten UJoHten, ba^ \mx bagegen,
ftoxb unb Sub. Vli, 19. 3
32
£ubnng Hotr£ in ITTatnj.
fobalb hrir ifjn mit analogen SBorgdngen in un3, 5. 93. bcm 93cbiirfniffe
be£ 2lttnnen3, bcr 9lal)rung$aufnaf)me 2c. ibentificiren, alsbatb cin un-
mittelbareS SBcrftdnbnifj bafiir getoinnen, ba ebcn bie ©mpfinbung, bcr
Irieb, bcr SSiHc, bicfc fcclifc^cn ®igenfd)aften, fur un3 ba3 93efanntefte
auf bcr SBelt finb?
9iod) getoaftiger ift bcr Srrtfnim, bic ©elbfttdufdjung bcr Dartois
niften, toenn fie ben 9Renfd}en, ba£ emige SRdtljfel bcr ©pljinE, ba£ grofete
©etyeimnifc be£ 23ettat(3, Incite au3 dufceren b. fy. negatiuen Urfadjen,
t!)eit3 auS fomatifdjen gactoren erfldren ju tuotlcn fid} toermeffen. Love's
labour lost unb Much ado about nothing! fann man ben Stntfyropologen
jurufen, ioeldje cben jefct toiebcr mit 9lmeifentf)dtigfeit unb tautem Sdrm
bie SBelt erfiitten unb au3 ©djabetmeffungen, ©efjirnioinbungen, blauen
ober braunen Slugen, fdjtoarsen ober blonben §aaren ticfe SSei^cit unb
f)5cf)ft toertfjoottc SlufHdrungcn ju Sage ju fflrbern ttmljnen. Sa3 ganje
Xreibcn nrirb enblid) an feinem cigencn ©jrcefj jn ©runbe getyen unb bei
ben 9tad)geborenen ^oc^ftcn^ cin 2dd)eln itber ba3 f^rcienbe WifoexfyalU
uifc bcr aufgebotcnen 3Jiittel ju ben erjielten 3tefultaten ertoeden.
9tod) toeniger aber ift bie Stuft, toeldje ben 2Jtenf$en oom Sljiere
trennt, mit foldjen pttyfiologifdjen Siinften, roie etioa 93racf)t)ccp^alic unb
SRafrocepfjatie ober mit ttriflfurlicfyen Slaffificationen ttrie homo alalus —
einc 93egriff3berbinbung, ijic Iebf)aft an ba£ Xtjtofiberon obcr tyoljente
(Sifen erinnert — ober aud) burcf) ben 9ta<f)tuei3, baft bcr ganjc Jforper-
bau bc3 3Jlenfd)cn bureaus fein fpecififcf)e3 anatomifd);unterfd)eibenbe&
Sennjeidjen oon bem Sf5rp erbau be3 I^icrc^ auftoeift, auSjufiitten. $a3
Icfctere Slrgument namentlid) ld§t fid) birect gegen bic Sfjeorie be&
DarnriniSmuS toertoertfjen. Die Eonclitfion liegt toenigftenS natye, bafcr
menu benn gar fcin forperlicfycr Unterfdjieb jtuifdjen 3Kenfd) unb Xtjier
oorfjanben ift, bei ber notor if d)en ungefjeuren Ueberlegcn^cit be3 erftett
iibcr ba§ lefetere, bod) nottjmenbig cine anberc Urfacfye biefcr Ueber-
legenljeit oorfjanben fein mitffe, unb bie£ roiirbe uu3 birect toieber 311
bcr Slnnafjme ciner felbftdnbigen, 00m Sorter unabtjdngigeu Subftanj,
ber menfdjlicfyen Seele fiifjren.
£ier f)abe id) nun ber Steflung, tocl^c 5prof. 9Kaj SKittler bem
Darmini^mug gegeniiber etngenommcn unb bi§ t)eutc cinge^alten §at, ju
gcbenfen. 93efannttid) ^aben atlc, toeld)c mit me^r ober tuenigcr <3efd)id
unb grofecrer ober geringerer Stufridjtigfeit gegen bie Darluiufc^e I^eorie
gefd)ricben unb gcrebet ^aben, ben SKamen STOaj SKiiUcr in erftcr Sinie
ate cin gctoaltigeS 93olltocrf, aU tin fd)tagenbe3 Slrgitmeut Dorgefc^obcn
unb fid) fjinter bcmfclben t>erfd)anjcnb iljre eigenen fd^nja^en ©cfc^offe
gegen ben gropen Unru^ftiftcr abgefanbt. ®aran tfjatcn fie in getoiffem
Sinne toof)t, benn c^ ift aud) mcine fcfte Ucber jcugung, baft oon alien,
bic bis jefct in bic 2lrcna getreten finb, 9Kaj SKuIler ber einjige
gcnjad)fcnc, ja itberlegenc ©cgner DarminS ift.
JHar IHiiller unb bie Spradjpljilof opfjte.
33
„3n bcm 3Jtenfdjen tiegt ein (Sttoag, cine qualitas occulta, toenn
man fo nritt, bag ifjn toon attcn Xljieren augnafjmgtog fonbert. Diefeg
giroag ucnncn mir SSernunft, loemt loir eg ate. innere SBirffamfeit
beufen, toix ncttncn eg ©pradje, fobalb ttrir eg ate Sleufeereg, ate ©r~
fdjcinung geumfjren unb auffaffen. Seine SSemunft ofjne ©prad)e, feinc
©prad)e ofjne Sernunft. Sic ©pracfje ift ber 9iubicon, welder bag £f)ier
torn SDtenfdjen fdjeibet, toetdjen fcin £f)ier jemate itberfdjreiten ttrirb. 3d)
bin iibcrjeiifit, baft bic ©prad)h)iffenfd)aft ung atlein nod) in ben ©tanb
fefcen ioirb, bcm SJorbringen ber SDartmniften cin £alt jujurufcn unb
bic ©rcnjc feftjufteHen, toetdje Sfjier unb 9Renfd) untniberruflidj trcuncn.
9Kan t?crfud)e eg unb bringe ben intclligcntcftcn Slffcn in menfd)tid)e
$flege unb £ef)rc, cr ioirb nidjt fpredjen, cr toxvb £f)ier bteiben, toaljrenb
bag roI)cftc 9Kenfd)entinb aug bcm h)ilbeften ©tamme in menfdjtidjem
ttmgange fruljjeitig bicfeg Gf)araftcrifticum ber 2Jlenfd)f)eit fid) an^
eigncn ttrirb."
SKit biefcu gcttridjtigen Strgumenten unb 9lugtyriid)en fteHtc fid) bet
unerfdjrodene SKann t>or bie fcerlaffcne unb fd^cinbar burd) bic Don alien
Seiteu anbringenben ttmttyenben 2tngriffe ber 3)arnriniften big in bic
2icfen crfdjiitterte ©renjmauer unb fagte entfcfjloffen:
„£>ier ift SSernunft, f)ier ©pradje, fjier ber SDtenfdj. Seiner t>on
Sud) fott mir Ijier tjeriiberfommen, Seiner in bag £>eiligtfjum cinbringen,
roenn cr mir nidjt juoor erflaren faun, ime Semunft, ttrie ©pradje ent;
ftanben ift."
Unb bic mit tautem |mrraf) boranbringenben Stngrcifcr fcerftummten,
benn fie fatten feine Slnttoort.
II. '
UTar 2tTullcr uu5 6ic Snttrncf clungslefyre.
Scnn id) gefagt t)abe, SKaj 3Jiutler fci ber cin^ige ubertegenc ©cgncr
Sawing, fo toottte idj bamit feinegtuegg fagen, ba§ er cin ©eguer ber
©ntroidelunggteljre fei. 3d) fdjeibe bietmefjr, ttrie id) fdjon angebcutet
fyabc, augbriidlid) jttrifdjen Sarttrinigmug unb moniftifdjer gntttridelungg-
l^coric.
3n feinen, fonft fcortrefflidjen unb burdj ftraljtenbe Slarljeit ttrie
burd) liefe ber ©ebanfen gleid) auggejeidjneten SSorlefungcn itber Sartuin
ftef)t attcrbingg ein toon ifjm in'g Ireffen gefii^rteg Slrgumcnt, bie Sitter^
native namlic^: f/SntU)cber ^at Sant 5Red)t obcr 2armin; ciner fd)Iief$t
ben anbercn aug/; nid)t auf feftcn gufeen. S)enn Slant fefcte tool bie
SScruunft ate bag unmittelbar ©egebene, ate bic notljtocnbige unanstDcifet^
bare Safig alter (Srfenntnifj boraug; ber ©c^Utfe lag a(fo na^e, bafe er
fie ate einc nid)t meiter ^ersutcitenbe, bem SJtenfdjen burd) gotttid)c
Snflueuj ate befonberc ©abe jugefaflcne (Sigenfc^aft anerfenne. 2(ber an
3*
34
£ubung ZToire in !Hatu3.
t>iclcn ©tetten fcincr ©d)riften lafjt $ant beutlidj burdjbliden, bag btc
menfd)lid)e SBemunft nic^t Don ©toigfeit Dorljanben fei, bag fie bemnad)
tool aud) au3 natiirlid)en Urfadjen, burd) ba£ 3ufammentoirfen naturlidjer
Slrdfte entftanben gebadjt tocrbcn fitone. SBenn cr ben Unterfd)ieb jtoifdjen
„receptiDer ©innlidjfeit" unb „©pontaneitdt be§ 2)enfen§" aufftetlt, toonadi)
S^tcrleben unb ntenfdjltdje SBemunft in jtoei burdjauS gefonberte Soger
gefcfjieben erfdjeinen, fo natjnt cr eineStfjeilS, tt>ic ©djopentyauer nadjgc^
toiefcn Ijat, bic ©ad)c t>tel ju leicfjt, anberenttjeilS geftanb cr au£briidlid)
ju, bafj tool bcibc, ©innlid)teit unb Senfen, burdj bcrcn 3ufaw^«tt)irfcn
atlc (Srfenntnifj fid) Doll$iet)t, au3 cincr gemeinfamen SBurjcI ^croorge-
toad)fen feitt bilrftcn.
2)cnnod) toar bcr &intoei£ auf Slant fct^r /beredjtigt, namenttid) in
cincm Sanbc toie ©ngtanb, fiir toeldjeS bic grofeartigen ©ntbetfungen be£
33erfaffer3 bcr Sritif bcr rcineu SScmunft faft Dottftdnbig terra incognita
finb. 2)a3felbe gilt freiftdj aud) fiir Diete, ja bic meiftcn SScrtrctcr be*
5Sartoini3tnu§ in ®eutfd)Ianb, bcuen Don ®ant uur ba£ bcfannt ju fcin
fdjeint, toa£ in tfjrcn Slram pafct, atfo j. 93. bic Stjeorie Don bcr Snt=
ftefjuug be£ SBeltgebdubeS, bic untcr bcm SRamcn ®anfc2aplacefd)e SoS-
ntogonic fdjon in ben 2Jtittelfcf)uIen gclc^rt toirb. Xic toidjtigc Xljatfadjc,
bag bet Sebjeiten Slants unb fo langc bic ©pureu feine£ ©eiftc$ nod) bci
ben Sctjrern ber $f)iIofopt)ie toirffam toaren, ber 9RateriaIi3mu3 nid)t
toagte, ben 9Kunb aufjuttyun, toirb meift uberfetjen obcr ignorirt.
$)ie SSerounft, bic nur bent 9J?enfd)en eigene, ifjn Don aflcn iibrigen
UBefen unterfd)eibenbe unb auSjeicfjnenbe ©abe, ift Ouett- unb 2lu£gang3=
£untt attcr (Srfenntnifc, fagt Slant unb itjm fd)liefct fid) 3Waj SDiiiller an,
inbem er fjinjufitgt: fie ift bem 3Jtenfcj)cn oerlicf)en sugletd) ntit bcr ©abc
bcr Spradjc. Ratio et oratio, bcibc finb ffiinS, fie oertjaltcn fief) toie
$orper unb ©eift, toie SteufcereS unb SnnereS; fie finb tool unterfdjeibbar,
abcr nid)t fdjeibbar. £>t)ne ©pradje fcin Denfcn; ba£ fiifjltcn bic ©riedjen,
ba fic fiir beibe3 ba3 ndmticfye SSort 6 Xoyog antoanbtcn. Sic ©prad)c
ift barum ber gctreuefte Spiegel bc3 9Renfd)engeifte3; in itjr liegt cine
SiiDe Don 2Bei3l)eit, Don I)ocf)ft toi^tigcu Stuff Idrungen fotool iiber bic
^ciftigen S^ftanbc ber Sortoctt ate iiber dufeere ©ufturDerf)dItniffc ber
3Renfd)^eit in eincm grauen Slltcrt^um, Don toclc^em fonft jebe ©pur
crlofc^en ift, Dcrborgen; e£ gilt nur ben ©c^a^ au3 ber Xru^e ju ^eben,
ber ©djliiffet baju ift bic Dergleicfyenbe ©pra^toiffenfe^aft. Sein $rei^f
fein aiiifjmen fanu fid) ju ber £of)e bcr S33id)tigfcit ber lefeteren auf;
fd)toingen. /r5Kit gerccf)tem ©tolje biirfen toir c^ fagen, ba| toafyrenb
ber leftten I)unbert unb nod) metjr tod^renb bcr Ic^tcn fiinfjig %af)tt bic
oricntalifdjen (5tubien ntefjr al§ irgenb cin 3wcig toiffenfdjaftlidjer
gorfd)ung baju beigetragen ^aben, bic gciftigc Sltmofp^dre ©uropa^ ju
Derdnbern, ju reinigen unb ju burd)Icud)tcn, unb unferen ^orijont 311
crtocitcrn in Se^ug auf 3lHe^ toaS 3ur 28iffenfd)aft be^ 9Kenfc^en gef)6rt;
ItTar IHiiller unb bie Spracfypbilofopfjie.
55
in 93ejug auf ©efd)id)te, ^fjilologie, £l)cologie unb $f)ilofopf)ie. Slidjt
nur fjaben toxx neue SBelten erobert unb bcm altcn ©ebiete ber 8B3iffcn=
jc^aft fyiusugefiigt, fonbern toxx Ijaben bic alte SBelt burdjfduert mit
3>been, bie fcfyon in bcm tdglidjen 93rob bcr ©djulen unb Unifcerfitdten
gfifjren." *)
„9Jlan fcfjc nur ju, toa£ bie 3Jteiftcr bcr ©pradjoergleidjung gcleiftct
fjaben! 5)er Orient, ba3 alte Sanb bcr £rdume, gabeln unb geen, ift
cin £anb Don unstoeifelbarer SSirflidjfeit getoorben; bcr SBorfjancj jtnifc^en
Dft unb SBeft ift geliiftet unb unfere alte oergeffene £>eimat ftetyt ttrieber
t>or unS in fiellen garben unb fdjarfen Umriffen. 3roei SBelten, ^a^x-
taufenbe gctrennt, finb toie burd) etn 3«ubcrmort hrieber oereinigt unb
toir fiiljten un§ reid) in einer SScrgangeufieit, roeldje tool ber ©tol* ber
eblen Striken gamttie fcin mag. 9ftd)t Idngcr fagen toxx nur unbeftimmt
unb bidjterifd): Ex Oriente Lux, fonbern toix toiffen, bag alte SiebenS-
elemente unfereS SBiffenS unb unferer Sioilifation — unfere ©proven,
Stl^abetc, 3iffcrn, unfere 9Jlgge unb ©etuid)te, unfere Stunft, SReligton,
unfere Srabitionen bi£ auf unfere 9Immenmdrd)cn auS bcm Often ftammen;
ja toix muffen befennen, bag ofyte bie ©trafjlen bc3 oftlidjen 2id)t3, toeldje
bic fcerborgenen Seimc be3 bunfeln unb oben SEeftenS jum Sebcn Ijeroor;
lotften, ©uropa, \fyt bic toaljre 2eud)tc ber SBelt, toot fiir immcr ein
unfrud)tbareS, toergeffeneS SSorgebirge bc3 urmetttid)en afiatifdjen SontincntS
geblicben todrc. SBir leben in ber Zfyat in eiucr ueuen SBelt; bie
Scf)raufe jtoifdjen Dft unb SBeft, bie unubcrftcigtid) fd)ien, ift gefdjtounben.
Scr Orient gef)5rt un3, loir finb feine ©rben unb beanfprudjen mit
ootlem SRcd)te unferen Slntljeil an fcincr SScrIaffenfd)aft/'
„SBic einft burd) bie geiftige 93eru()rung ber barbartfdjen norbifdjen
Stationcn mit bcr rcid)en, founigen (£ulturn>elt ©rted)enlanb§ unb SRomS
beutfdjer unb flaffifdjcr ©eift fid) Dereinigten unb jenen ©trom be3
moberncn ©ebanfcnS bilbeten, an beffen Ufern toxx felbcr leben unb
nreben, fo todljt fid) nun cin neuer mddjtiger ©trom orieiitalifd)er SJcnf*
loeife in ba3 namlidje Sett unb fdjou jeigen'bic garben be3 altcn ©tromS
beutlidj bie ©innrirfungen be§ neucn 3ufluffe*3. SBer in irgcnb einS ber
bebeutenben SBerfe, bie in ben lefcten jtoanjig 3>af)ren oeroffenttidjt toorben
finb, l)ineinbtttft, ob fic nun bie ©pracfye obcr Siteratur, SDttjtljoIogie,
©efefee, SReligiou obcr ^5^iTofop^ic betreffen, bcr mirb auf jebcr ©eitc
baS SBaltcn cine§ ncuen ©eiftcS erfennen. %d) to'xft nic^t fagen, bag ber
Orient un§ 5Reue3 Ictjrt, aber cr entfaltct Dor un3 alte 3)inge,
au^ toeldjen toirSc^ren unb ©rfenntniffe fc^o^fen, bic tounber-
barer unb erftaunlid)cr finb, al3 irgenb etma^, bag fair }e in
unferer $^itofopl)ic gebac^t unb getrdumt ^aben."
r/9Sor 2lllem t)at bag ©tubium bc§ DftcnS un3 gcle^rt, toa$ auc^
*) M. Mailer, Chips of a german workshop." Vol. IV, p. 322.
36
Subroig 7Xoix6 in Xllatnj.
norbifdjen Stationen einft in atom unb Stt^en lernten, bag eg nodj anbere
SBelten gibt auger bcr unfrigen, bag eg nod) anbere SReligionen, 2Jh)t^o-
logien, ©efefce gibt unb bag bic ©efd)id)te bcr SJSfjilofoptjie Don 2^aleg
bi^ #eget nid)t bie ganjc @efd)id)te beg menfdjlidien 2)enfeng ift. 3n
all biefen ©egenftanben f)at bcr Orient ung 5|Sarallelen geliefert mit aflem,
toag in ^aratteten gegebcn ift, namlid) ber 3Rdglid)feit beg SBergteidjeng,
•Dteffeng unb XJerfteljeng. S)cr ©eift ber SSergleidjung ift bcr toaljrc
toiffenfdjaftlidje ©cift unfereg 3af)rf)unbert8, Diclmc^r atler fyitalttx.
(Sine empirifdje Senntnig bcr Sljatfadjen ift feine 2Biffenfd)aft in bcm
loafjren ©inne beg SBorteg. StUeg menfcf)lid)e SBiffen bcginnt mit bcr
3toci, bcr 2)tyabe, bcm SBegreifen &toeier ©injelmefen ate ©ineg. ©in
dnjelneg ©retgnig mag rein jufallig fein, eg lommt uub gcljt, eg ift
unerflarttd); fobalb fid) aber bag ©reignig toieberfjott, beginnt bag SSerf
bcr S3ergleid)ung unb ber crftc ©djritt ttrirb getljan in jenem tounberbaren
^roceffe, toeld)en fair ©eneralifiren nennen unb toetdjer bic SSurjcI atler
intcUcctucHen Grfenntnig unb atler intettectuetlen ©pradje ift. $cr
urfprunglicfye $roceg bcr Skrgleidjung nrirb hrieber unb hneber erneut,
unb toenn loir nun ber l)6d)fteu 9trt bcr Grfenntnig in alien ©#)aren
ber SBiffenfdjaft ben Stamen Derglcidjenb geben, fo fjaben loir nur bag
alte SBort intelligent (inter-legens, inter-ligans), jufammcn binbcnbr
bnrd) ein neueg, augbrudgootlcrcg SEBort erfefct. 9Sor 2tflem aber tjat bag
Stubium ber ©pradjen burd) bic comparative SDtctfjobe cine tooflftanbige
Umtoaljuug erfafjren."
SSic bag ©riedjifd)e bic ©pradje ber 2Jteufd)l)eit beg fiinfje^ntcn
3<rf)rf)unbertS unb feiucr Stadtfolger big jum adjtjctjnten, big Seffing.
{Soettje unb ©emitter, getoefen ift, fo ift bag ©anffrit bic 2Bettfpracf)e beg
ncunje^ntcn 3<*f)rt)unbertg unb feiner fiinftigen Sftadjfotger.
„3;f)atfad)e ift, bag bie Beit nod) nid^t gefommcu ift, in iueldjer bie
ungefieure 28icf)tigfeit ber ©anffrityljilologie aKgcmeine SBiirbigung finbet.
@g toar cinft mit ber gried)ifd)en pfjilologie nidjt anberg. 2llg im
fiinfjeljnten Sa^r^unbcrt bag ©riedjifdje toon Ijeroorragenben ©eiftcru
ftubirt ttmrbe, Ijielt man bie ©adje fur cine literarifdje Guriofitdt; toeiterc
3lnfpriid)e begegneten tebljafter Dppofition, ja fetbft bcm #ol)ne, am
tauteften fdjrien bief melc^c am wenigften batjon tjcrftanben. ©elbft alg
bieg ©tubium fic^ tjcrattgcmeincrtc, an ©c^ulen unb Unitoerfitaten eingc^
fix^rt murbe, Ijatte eg in ben Stugen ber SDtetjrjal)! nur ein gclc^rtcg
Sntercffe. 3e^t miffen ttjir, bag bag SBieberauflcben gricc^if^cr ©clears
famfeit bic tiefften Sebengmurjetn ber SJlenf^eit beriifjrte; bag eg in
bcr 2^at bag SEBicbcrauflcben ieneg Setougtfeing war, bag grogc Incite
bcr 9Dtenfd$eit mit cinanber Derbinbct, bic Sebenben in Sufammen^ang
bringt mit ben lobten unb fo ben golgegefdjlcdjtern bie ganjc intettectuette
(Srbft^aft unfereg ©ef^lcc^g fic^ert. D^ne biefcg t)iftorifd)e ©eiougtfcin
ware bag Sebcn beg 2)tenfd)cn cp^emer unb nid^tig. 3c foeiter mir
HTaj IHuIIcr unb bi e Spracfyptfilofoptjie. 37
rudtoartg fefjen, ung felbft in toaljre ©tympattjie mit bcr 93ergangenl)eit
fcerfefcen, urn fo mefyr mad)en toix bag Scbcn frut)erer ©enerationen ju
nnferem eigenen, urn fo fd^igcr merben toix, an unferem lactic bag SBcrf
fortjufefcen, bag &or tjiclcn Sa^r^unbcrten in Slt^cn nnb 3tom begonncn
ttmrbe. Ginen toett, toeit grSgeren Sinflug, aU bie (Sntbecfung bcr
flaffifdjcu SBelt nrirb bic beg ©anffrit augiiben. ©ie ioirb bic aerriffeuen
gafem ttrieberbeteben, bic einft bic fiiboftti<f)en 3^eige bcr arifdjen gamilie
mit ben norbtoeftlidjen toerfniipften, unb toirb fo bic gciftigc ©cfcfittrifter*
fd>aft nidjt nur bcr germanifdjen, gried)ifd)en unb rbmifdjen, fonbern
juglcidj bcr flamfdjen, celtifdjeu, inbifdjen unb perfifdjen 3^cigc hneber;
t>erfteHcn. ©ic toirb ben ©eift beg SJlenfdjen reiser, fcin £erj toeiter,
feinc ©tjmpatfjien toeltumfaffenb ntadjcn; fie toirb ung yt 2Ba{)rf)cit
humaniores madjen, ba loir immcr ticfer unb toottftanbiger begrcifen
toerben, tuag bie SUlcnfdi^eit gettjcfcu ift unb toag fie fcin toirb. 2)ieg
ift ber toat)re ©inn ber umfaffenben ©tubien beg ncunse^ntcn 3a$r$uubert£i,
unb obgleid) bie Dolle SSiirbigung ifjrer 95cbeutung erft ber 3ufunft box*
beljalten bleibt, fo fann eg boc^ ffeinem, ber aufmcrffam ben intellcctuetten
gortfdjritt ber 9Jlenfd)t)eit fcerfolgt, tjcrborgen bleiben, tok uugemcin fcfjon
jefct bag aergleidjenbe ©tubium ber @prad)en, 9Jtt)tt)oIogien unb Steligionen
unferen &orijont crtoeitert Ijat; bag unenblid) SBieleg, bag toerloren mar,
tDtcbcrgcmonnen ift unb bag eine neuc SBelt toenu nod) nitf)t erobert,
bod) in 6i$t ift.*)"
Unb foag ift eg benn, toag bem ernften Sorter, bent auSbauernbeu
Slrbeiter in ben mitfjfelig erbotjrten ©d)adjten ber ©pradjmiffenfefyaft auf
einmal fo bag £>erj bemegt, bag cr in bid^terifdjer Segeifterung, gleid)
SKofen toon ben £of)en t)inaugfd)auenb in bag £anb ber 93ert)eigung,
ftinbern unb Sinbegfinbern bag ^eranna^en ciner neuen, fjerrlidjen, urn
gca^ntcn ©eiftegftarljeit fiinbet? SBag madjt if)it fo jum new inspired
prophet? SMeg, bag cr bettmgt ift, bag mit biefen neu erf cutoff enen
©djafcen, toon benen cr felbft eincn grogen, menu nidjt ben grflgten Ifjeil
in langjatjrigem, reblidjem Sftingen aug bcr Xiefe gefBrbert, eg ber
2Renfdjf)eit toergomtt fein toirb „ben toerlorcnen Slnfang unfereg ©cfdtfedjteg
ttnebertjerjuftellen", bie Sette, toeldje ®lieb urn ©lieb, Safyrfjunbert um
3o^rt)unbert unfer ^cutigeg S)afein mit Idngft erlof^jenen ©cnerationcn
tjerbinbet, auf eine gemaltige ©trecfc au§ bem ®uft unb ©eroll, bag
Safjrtaufcnbe iiber fic gelo^crt, an'£ Xagegfic^t ju ^eben, unb ncue
iiBcrrafc^enbe Stufflarung ju ertangen iiber bag gr5gte Sftdt^fel ber SBelt,
ben SUlcnf^engcift, bag 3Jlenf(^engcf(^lc(^t unb fein in feincr 2lrt cinjig
ttmnberbar oerf^Iungencg ©t^idfal auf unferem $Ianetcn.
3)ie gcinaltigen SSerbienfte SUtaj SDtuttcrg um bie ^erauggabc ber
SSebag finb ju befannt, alg bag i^ fie ^ier ju ertautcm ^atte. 9tm 14. ©e^
*) M. Mviller, Chips IV, p. 361.
38 £ubnng TloixG in IHaitt3.
tember 1874 Icgte cr bent in 2onbon tagenben Eongreffe bcr Dricnta-
liften ben lefcten 93ogen be3 „3tigsSSeba mit bent Sommentar be$ ©&jan^
f&rtya" Dot;, nur furj anbeutenb, mrfdE) mufjefcoUer Strbeit grudjt bie£
tiefige SBerf gefocfen. ©r felber fagte iiber biefeS dltefte 99ud; bcr
arifdjen SBelt: „2)ie §erau£gabe biefeS 2Berfe3 todre otjne bie erleudjtcte
Siberalitdt ber Snbifdjen SRegierung unmogtidE) getnefen. SEcnn idj bic
grofcen unb fleineren StuSgaben be3 fftig=9Scba jufammen redjne, fo fittbc
iS), bafi id) in ben lefcten funfunbsttKtnjig Safjren fo Die! gebrudt l)abe,
bafi auf jebcS 3<*f)* cin DctaD;93anb Don ettoa fedjsljunbcrt ©eitcn fommt.
©old} eine publication fjatte jcben 93ud$dnbler ruinirt, urn fo mcljr ba
in bent SSeba ttenig SnjieljenbeS, toenig attgemcinereS Sntereffc 6r~
tnedenbeS ift. 9Som dftljctifd&en ©efid)t3puufte toiirbe fid) SRiemanb an
bie SSeba^mnen madfjen unb nidjtS bctoeift mcljr ben getoaltigcn Urn-
fdjumng ber lefcten funfunbjmanjig Satjre, at$ bafj feit bicfer 3eit bic
Arbeit faft atler ©anffrit;©etel)rten fidE) auf bie ffieben concentrirt ljat;
ba£ dfttyettfdje Sntereffe ift bent ftriffenfd)aftlicf}en getoid)en 211* id)
Dor einigen 3^cn ben erften Sanb meinerUeberfefcung oeroffentlidjte,
ttmfytte id) abfid)tticf} foldje £9mnen, bie fyodjft djarafteriftifd) fur ben
primitiDen, roljen Urjuftanb ber arifdjen SBelt finb; e3 war intereffant,
babei bie aUgetneine ©nttdufefjung ju beoba<f)ten. 2Ba£, fagte man, ftnb
biefe feltfamen, toilben, grotelfen Slnrufungen bcr ©turmgotter bie be*
geiftcrten flange ber alten SBeifen SnbienS? 3ft bie§ bie SBeteljeit be£
Orients? 3ft bie3 bie Dffenbarung ber Urtoelt? ©elbft I)od)angefef)ene ®c=
leljrtcn ftimntten in biefen SRuf, unb meine greunbe gabeu ntir ju Derfteljen,
bafc fie iljr Scben nidjt an cin foIdjeS 93udfj Derfdjtoenbet ^aben toiirben."
„5ftun, gefefet, ein ©eotoge brddjte bie Snodjen eineS foffilen XfjierS
auS einer ^eriobe, in ber nodE) nic ©puren animalifc^en SebenS corner
entbecft ioorben todren, an'3 2age3lidE)t, toiirbe tool cine jnnge $)ame c£
toagen ju fritifiren: «3af biefe Snodjen finb fcfjr nterfmiirbig, aber gar
nidjt £>iibfcf).» Dber gefefct, eine neue dg^ptifd^e ©tatne todre entbecft
ttjorben, bie einer bi£ ba^in noc^ nic^t burd) ©tatuen uertretenen 2)t)naftic
angeprte,, tniirbe tool ein ©cfjutimtge fi(^ einfaflen laffen ju bemerfen:
«3a, fie ift re<f)t nett, aber bie 9?enu§ oon SKito ift ncttcr> SBemt ein
S^emifer ein neueS ©lenient entbedt, toirb er bcntitleibet, bag e§ lein
©olb.ift? SBenn cin SSotaniter iiber ^eime fdjrcibt, fjat er fid^ ju oers
ttjeibigen, ba§ er ni^jt iiber Slumen fd)retbt? ©erabe tneil ber SSeba
fo oerfd)ieben ift Don bent, foa£ man baoon crtoartete, tneit er Don ben
^fatmen, Don $inbar, Don SfiagaDabgita fo fe^r unterf^ieben ift; gerabc
ttjeil er ftir fid^ allein fte^t unb nur bie dlteften ^eime be3 religiofen
©ebanfenS entpUt, fo mie fie tDirftid^ toaren; gerabe toeit er unS eine
©|)rac^e Dorfii^rt, bie alter unb urfprunglic^er ift, ate irgenb eine, btc
inir fritter fannten; toeil feine ^oefie bag ift, iva? man toilb, ro^, un=
gebitbet, formloS nennen mag, gerabe barum Der(ol)ttte e£ ber SRii^e,
Vftax XHiiller unb bie Sprad^p^tlofopt^ic. 39
ticfcr unb tiefcr ju grabcn, bis bic alte tocrfd)tittete ©tabt toieber an1g
Xagegtidjt tarn unb ung &eigtc, toag bcr 3Renfd) toar, tt>ag ftnr toaren,
betoor hrir auf bic #of)e 2)atoibg, #omerg, 3ow^ftcr^ emporftiegen, ung
jeigte eben bic SBiege unfcreg SDeufeng, unferer SBorte, unfereg
2I)ung."
3d) braucfye tool biefen SBorten nidjtg ^mjujufugcn, urn barjutljmt,
bag bic @nttoidelungggefd)id)te bcr 9Jlenfd$eit toon i^rcn erften, fdjtoans
fcnbcn ©Written big ju itjrer felbftgetoiffen 9Jlannftd)feit bag fyofje 3i^,
bic ju raftlofcr, unermiiblidjer Xtjdttgfett anfpornenbe Slufgabe fiir cincn
toon bcr Sftatur unb bent ©litde fo reid) auggeftatteteu ©eift, hrie 9Ka£
2JiutIer, getoefen ift. Slur fdjaute fein grofieg, tueitblidenbeg Slugc in ben
Xicfcn unermefjlidjer Sergangenfjeit nodj bic ©tytrcn beg 9Renfd)tid)cn,
too fiir fdjtoadjere Slugen Stlleg in unterfdjieblofen SRcbcI jufammenrann
unb eben barum bic ©renjtiuie, toon Sljier unb SWenfcJ) gar nidjt mefyr
toorfjanben fdjien.
2)ie SBidjtigfeit beg ©egenftanbeg crlaubt eg tool, bag id) fjier
nod) cinigc ©tell en anfiit>re, in benen ein ©eiftegtoermanbter 9RiitIerg,
welder auf grofientfieilg unabtjangigen SScgcn ju benfclbcn SRefuItaten
unb Slnfdfjauungen gelangtc, mit faft gleidjtautenben SBortcn feiner 93c-
ttmnbcruug iibcr bag neu a*fget}enbe 2id)t Sfugbrud toerliet}. 3d) mcinc
Sajar ©ciger.
„3)ag ©tubium ber ©pradjen," fagt biefer bcbcutcnbc SDenfer*), „ift
in unferer 3cit ju cincr untoergleid)lid)en ^ilofo^ifcf)cn Scbcutung ge^
langt, inbem eg fur cine ©cite bcr SBelt unb beg 3)afeing cincn ©d)liiffel
bietet, ju tt)dd)er bic SKaturhuffenfdjaft nidjt ju bringen toermod)t fjatte,
unb ung 2luffd)luf$ gibt iibcr bag, toag hrir finb unb loag ttrir ge =
toefen finb, iibcr unferc fficrnunft unb unferc ©efd)id)te — 3)cr Slid
fd)toeift afjnenb in ungemeffene ©djdpfuuggfernen, unb eg beginnt jeneg
Qrofte ©efieimnifi bunfel fid) unferer SJruft ju toerfiinben, bag ©el)eimnifc
unfercr (Sntmidclung."
„2)ie 3™ge, tt)ic bic ^antafic bcr SSolfcr befdjaffen, toon toetdjen
SWotitoen fie beljerrfcfjt getoefen fein muft, alg bie ^erfer bie ipunbe mit
fo angftlidjer ©orgfalt pflegten, bie Stegtypter ben fjeiligen eiiibalf amir ten
2ei4)en beg Slpig jn 2Jtempt)ig ©riiftc bauten, bie 64 ©encrationen ber^
felbcn bergen, ift un§ fo h)i^tig, bag toir toeifc Sefircn, an benen eg
ung ja fonft faum fe^lt, toenn tt)ir fie nur pren tooHen, aug jenen Sagen
gern cntbetjren. ©g erinncrt bieg an einc toon 3Kag 9Kutter mitget^eilte
Slotij, ben fiir ung n)i(^tigften X^eil ber ©anffritliteratur, bic Scba-
fd^riftcn, betreffenb. 2(tg ein talcnttooHcr junger 3)cutfc^cr, bcr in iugenb*
lic^em SHtcr tocrftorbene 3tofenf in bcr rcid)en Sibliot^ef bcr oftinbifdjen
©efcttfe^aft in Sonbon befdjaftigt toar, bie toebifc^en 2iebcr ju copiren,
*) ©cigcr, gur @ntttHdeIung3gefd)id)tc bcr TOcnfc^^eit 6. 2, 12; 14.
40
£ubu>ig tloirtf in XUain3.
wit bercn £erau£gabe cr im %a1)xt 1838 begann, fo fonnte bcr bamate
in Sonbon antoefcnbe 93rat)mane SRammaljan SRai fid) iibcr bicfed Unter:
neljmen mdjt genug aerttmnbern; bie Upanifdjab, ntcintc cr, fcicn ba£
SSidjtige, toetd)e£ bic SkrSffentlidjung bid el)er toerbieue. 2)iefe jiingften
©tiide bcr 93eben entljalten udmlidj cine mtjftifdje $f)ilofopt)ie, toortn
fid) cine 2lrt toon 2Ronotl)ei£mu3 ober 5(5antl)eigmu3 finben tafet, roeldjc
bem inbifdjen Sluffldrcr, tt)ie fo mandjen anberen, ba3 9ion plu£ ultra bcr
rcligiofen SBeiSfjeit ju fein fd)ien. Stber bie wratten Skbaljtjmnen, gatij
fyeibnifd), uaito unb oft barod, beren fid) bcr moberne gebitbetc Snber
tool fycimlid) fdjdmen mod)te, in benen aber bic Sugenb bcr 2Renfd)f)eit
tnit entjitdenber grifdje toeljt, fic finb fur un3 ba3 loafyre Sleinob ber
inbifdjen fiitcratur; fie entfjalten fein fiir un3 nod) braudjbareS religidfeS
©tyftem, aber fie finb gleid)fam ein Seljrbud) ber menfdjlidjen 3teligion£~
gefd)id)te felbft."
„93or Slttem beadjtenStoertl) finb bie Seime ber Speculation in jener
merfnmrbigen , unter bem Stamen bcr 3tigtoebafanl)ita befanntcn uralten
©ammlung Ijeiliger Steber, bcren ©rfjaltung bis auf unfere &\t fiir ba3
menfdjlidje ©efdjtedjt ein ljof)e3 ©liid ju nennen ift, toenn e3 anbcrS mit
9tcd)t ba£ 93ett)ufjtfein iiber fcinen eigenen Urfprung unb bic
(Srfeutttnifc ber ©cfefce feineS 2Berben3 ate cinen ©cgenftanb beS
2Bunfd)e3 unb bcr ©efjnfudjt adjtet. ©anj anberS al3 in alien un3 be*
lannten Siteraturen, meldje itberaH auf Srummern ciner toerfdjollenen
SBorjeit auffteigeubc ober burd) S3erfel)raberut)ruug unb 2Kifd)uug ber ©r=
^eugniffc toerfdjiebener 93otf3geifter begriinbete neue gormcn setgen, tiegt
in bicfen Sicbern toielmeljr ein urfprunglidjeS, toon frcmben (Sintturfungen
aUcm 2tnfdjeine nad) freieS, nid)t au3 ber 3crftorung be3 griiljeren in
3tt)eiter Silbung IjergefteHteS, fonbern unmittetbar au£ bem ©4°&c bcr
9iatur ncu unb jung erbliil)eube£ Seben bcr 3Renfd)f)eit, ja cine gleidj*
fam nod) untocrljdrtete ©eelengeftalt in SEBort unb £f)at unb ba£ liberal!
fonft nur al£ tooflenbet unb fcrtig 5U 93eobad)tenbe im Sntfteljeu un$
offen. 2>arum ift aud) in bicfen $t)muen nidjt allein fiir bic ifnten
folgenbc ©nttuidetung ber 3nber, nod) aud) fiir bic jum £t)cit auf gteidjer
SSurjet rufjenbe ber fdmmtlidjen toertoanbtcn SSoKcr ber ©djliiffel be3
aSerftanbniffc^ ju finben, fonbern bei bcr sJtatureint)eit, bic toir in bem
gefammten Sntfaltung^gange unferer ©attung crfenncn, jugtcic^ fiir bic
©djityfuugen allcr fpeculatitjcu ^raft auf (Srben obcr fur ben ganjen
Suljatt ber Scrnunft b. i. fiir iljrc baucrnben ©rtoerbungen feit bcr
©yodje, ba fid) iiber^aupt unter ben SUtenfdjen juerft Ucbcrjeugungcu auS
f eftge^altcneu SEBa^rne^mmtgen f ormtcn unb ein toielfaltige£ SKeincn, ©laubcn
obcr SSiffcn mogli(^ mirb*)."
*) Ocigcr, Urfprung unb Sntmtdelung ber menjd)tid)en Sprad^c unb SBcrs
Itltltft I, ©. 119.
Xtiav IHfiller unb bie Spradjptjilofoptpe.
„3)a3 Stuftreten bcr ©pracf)forfd)ung, att eincr fetbftdnbigen, Don
alien praftifdfjen unb dufcerfidjen Sweden loSgeloften SSiffenfdjaft, am 2tn-
fange biefeS Sal)rf)unbcrt^ ciner SBiffenfc^aft Don ben t>orI)iftorifcf)en 3iu
ftanben ber 9361fer, ift ein grojjeS fur bie ©efd)id)te ber SDlenfcijfjeit xnv
gtaublid) ttridjtigeS (Sreignifc. 2)ic ©prad)DergIeid)ung ftiirjte bie bi3f)erigen,
fefyr bunfeln SBorftetlungen Don ben attefien Solfcrbilbungen unb 2Baiu
berungen Dottig urn. 2Ran lernte jttrifd)eu Dermanbten unb nidfjt Der;
roanbten SJolfern unterfdjeibcn unb erlangte etn toeit fidjerereS unb
feinereS SDlittel fiir bie ©inttjetfung ber 3Dtenfcf>^cit in ©tdmnte, ate natur-
l)iftorifdje Sennjeidjcn bi3 baljtn an bie §anb gegeben fatten. SOtan faf)
in writer, fdjttrinbelnber Seme ber Urjeit bie £offnung auf etne beftimmte
Stcnntnif* Don 3uftdnben eineS SlttertljumS toinfen, iiber beffen blofteS
2>afciu biStjer atte ©efdjidjte gefd)ttricgen fyatte*)."
Sine fo Dottfommene Uebereinftimmung jtoeier ber fettenftcn ©eiftcr
unfercS Saljrfjunberte, ein folder faft glcidjlautenber begeiflerter $inh)ei3
auf ben neuen ntddjttgen iDuetl ber Srfenntnifj, meldjer, Don ben -Dteiften
iiberfet)cn, au§ ungeafjnter licfe in unfer 3ritalter I)crDorbrad), lafct
beutlid) erfenneu, urn tt>eld£)en f)od£)ttnd)tigen ©egenftanb e£ fief} fjanbelt,
unt nidjtS ©eringere» udmlid), at§ urn bie ©nttuidelungScjef djid)te ber
Sftenfdjfjeit, um bie Sofmtg be3 uralten, grofcten, Ijeitigen 9tdtl)fel3,
cine Sofung, bie &um crftcn SDtqte aU mogftd) fid) barftcHte burd) bie ©r;
gebniffe ber Dergtetd)enben Spracfynriffenfdjaft, burcf) bie in ben SDSort-
mtb SegriffSgenealogicn aufbemaljrte tounberbare Sunbe Don einer ur;
alten 93or$eit beS menfdjlidjeu ©ebanfenS, Don bent SBerbeu, SBadjfen unb
SHeifen ber fjofyen, einjigen 2lu3jeid)nung be£ aftenfdjen, bie alle3 Uebrige
mflgttd) mad)te unb erfldrt, fciner SScrnunft unb Spradje (Xoyog).
SSer ben SKenfc^en erfldren totfl, ber ntitfc Dor Sltfem ba3 2Jlenfd);
lidje Derfteljen; er muft ben $unft femten, auf ben eg anfommt unb Don
bent aflcS Uebrige fierjuleitett ift. 3n bcr ©pradje liegt ba3 9lcttt)fel
geborgen; toer e3 anberSroo fucfyen tootlte, ber todre betrogen.
2ttfo <SntttntfeIung3feI)rc ber 2Renfd)l)eit ift 2Kci£ 3Jliiaerg 3iet unb
SebcnSaufgabe; er fud)tc fie aber ba, too fie atlcin 5U finben unb ^erju-
leiten ift, in bent ©eiftigen, bent S)en!enf b. I). ber ©prac^e. 3)ie grage
naty bent Urfprunge, bem Seime, ber erften ©ntfte^ung biefer ttmnber;
baren ©abe Iie§ er einfth)ei(en no^ off en ober unbeantmortet; il)m gait
c^f aU ©pra^forfd^er, tnit bem SDlaterial, ba§ bie ©prad)ftubicn bar^
boten, fid^ S33ege gu ba^nen in eine SSorjeit, bie biSfjer Don bid^tefter
9lad)t eingetjiillt war, unb erft tuenn bie dlteften SKenf^eniuftdnbe,
roie fie in bent 2id)t bcr ©prad)forfd)ung fid) barftellten, unferem
Stuge in fd)drferen Sontouren erf^ienen, bann, ba^te er, fonnte auc^
*) QJetger, Urfprmtg ber ©prac^e S. 1G.
42
£ubroig Xlo'\x4 in Ittai^.
bad Scnjctt^ bcr Serge, mo ber gaben ber ©prad^e abreifct, rcdjt;
md^tg unb mit gr5fterer 9ludfid)t ouf Grfolg, Don anberer ©ette eyp!o=
rirt toerben.
®ad problem bed ©eifted in feiner ganjcn 2iefe oerfteljcn, badfetbe
mit bent loaljrften ©rjeugniffe, bent Slorper bed ©eifted prufen unb bid
in bie lefcten SBurjeht fcerfolgen: man foflte meincu, fo befonnene unb
flare SSorfc^Idgc mtifcten fid) ber Stfligung unb bed 2)anfed atter 6tn=
fidjtdoollen erfrenen. Slber im ©ctofe bed ®ampfcd, in ber $ifce ber
2eibenfd)aften Derljatten toerniinftige SReben unb fo tourbe benn t)on ljeftigen
Sarnriniften, bie, ttrie bied bei 3iingern ftetd bcr gall, loeit iiber bad
uom SWeifter geftedtc 3\d tjinaudfdjoffen, ein gelbjug gegcn 9Jiaj 2Rutler
organifirt, bet toeldjem btefer unb jencr ©pradjforfdjer auf ben ©d)ilb
crfyoben, aber burdj bte Dernidjtcnbe ©ntgegnung bed 9Ingegriffenen ald=
balb, 511m f(agtid)ften SRud$uge gejttmngen murben.
28ic cbel unb groft gegeniiber bicfen Icibcitfc^aftltc^cn Stugriffeu
(auten nid)t bte SEBorte, mit toridjen 9Ra£ SRuflcr feme XJertoaljrung
gcgen bie ooreiligcn ©djtiiffe unb Uebcrftur$ungen bcr ^pcr^artotntftcn
einleitete, unb in bcnen cr nur bad cine Sntereffe, bad afle tDiffenfd)aft-
lidjen Scimpfer befeelcn follte, aid mafegebenb unb entfdjeibenb tooran*
ftcttte:
„£)ie grage ift nidjt, ob bie 2lnftd)t, bafe fo toeit audcinanber*
ftcljenbe SBcfcn, ttrie ein 9Jienfd), ein Stffe, ein Elephant, ein fummenber
Sogct, eine ©djlange, ein grofdj unb ein gifd) uon benfelben ©(tern afc
ftammen fonnten, monftrod ift, fonbern einsig unb aflcin: ob fte toatjr
ift. SSenn fie toatjr ift, fo toerben mir und balb baron geiuofjnen. $8e-
rufungen auf ben ©tolj ober bie J)emutl; bed 3Jtenf<f)cn, auf toiffeufdjaft*
lichen 2Rutf) ober religitffe grommigfeit finb babei bon gar fcinem 93e=
lanfl." (SSorlefungen tib. SBiffenfd). b. ©pr.)
3$ glaube in bem SBoraudgeljenben bie Stellung, toetdje SKaj
SDJuUcr ju ber ©ntttrideIungdtf)eorie unb fpecictl 511 bem $>arttrinidmud
cinnimmt, toenn audj in feljr attgemcincu Umriffen, bodj ftar genug be-
acidjuet ju {jaben. ©r trennt fid) Don ben 2tnt)angern $>arttrind, er tritt
i()nen fritifd) entgegen, too biefe, bad toaljre Efjarafterifticum bed 9Renfd)en,
fcinc 9Sernunft unb ©pradje iiberfetjenb ober leidjtfjin abtfyuenb, du&ere
Urfacficn unb gormiibergange fiir audreidjenb fatten, urn aid ttriffenfdjafc
Udic ©rHarung bed grofcten SBunberd unb 9tdtf)fe(d ber ©djopfung ju
gelten. 2Bie einfeitig eine folc^e Stnfidjt ift, fiat auc^ Sajar ©eiger mit
©ntfdjiebenf)eit betont: „SBir f5nnen t)on bem Snoc^engerufte unb Diel*
Icid)t ber ganjen au^eren ©rfdjeinung eincr untergegangenen If)ierfpecied
burc^ geotogifd)e gunbe eine 2Infd|auung geminnen; loir fonnen aud
©^abelreften auf cin unDottfommener entmideltcd SKenfc^cngefd)Ie(^t ber
Urjeit allgemeine ©c^Iuffe 5ie^cn;,bod) itber bie 9trt, tuie ber Sopf
gebadjt ^aben mag, beffen Xritmmer fid) in bem Sleanbertljate aid
IHar ITtiiller unb bie Spracfypljilofopljie. — 7- ^5
problem fur bic ©egeutuart aufbetoatirten, mi)d)te e§ fc^n?cr fcin, fid)
auS fcincm Slnblide trgenb cine SSorfteHung ju bitben *)"
„©tiidlid)ertoeife," fafjrt bcr geniale 2)enfer fort, „I)at aud) bic®e-
fdjidjte beS ©eifte3 iljre urtnettlidjcn 9flcftc/ iljre Stblagerungen unb
S3erfteincrungen anberer 2lrt; fie bictcn lefjrreidjere Stuffdjliiffe, alS man
ju glauben geneigt fctn follte; fie fuljren, forgfaltig toerfolgt, ju &ieHeid)t
uneritmrteten, atlein, tnic id} glaube, barum nid)t toeniger fidjeren ©r=
gebniffeu."
2)ie ©rleud)tung be3 ungetjeuren £intergrunbe3 unferer 93ergangcn-
\)t\t, bcr SBergangenfjeit be3 menfd)lid)en ©eifleS, foie cr in bcr ©pradje
gebunben ift unb burd) bic SBiffenfdjaft cutficgett toerben fann, ba£ ift
bie SebcnSaufgabe, ba3 ljof)e 3iel attcr Scftrcbungcn 2Kaj SDliillcr^. Sr
fclbcr fpridjt fid) beutlid) genug bariiber au3**):
„3eber -Dtenfd) mad)t fid) fcincn 2eben3plan, jeber ©eleljrte muft
ju cincr 2lrmee geljoren unb eincn ©djladjtplan im ®opfe fiifyren, bcr
iljn bci bcr 2Bal)l fcineS cigenen SRarfdjeS beftimmt unb leitet. 3$ gc=
Ijore ju benen, bic mit $ope fagen: „The proper study of mankind is
man", unb ate id) mir bic Srage ftetlte, toaS bic ridjtige obcr toenigfteng
bie frud)tbarfte 2Retf)obe be£ 3Jtenfdjenftubium3 fei, fo bitbete fid) balb
bet mir bic Ucbcrjcugung au3, baft, urn ju tuiffen, toa3 bcr SJlenfd) ift,
ttrir Dor alien S)ingcn beobadjten unb fcftftellcn mitffen, h>a3 bcr 3Renfd;
getnefen unb tnie cr ba§ getoorben, tnaS er ift.
III.
Spracfye un6 Dernunft.
Origin of species! War bag S^crnjort , mit toeldjem 3)arttrin bic
©emiittjer betnegtc, bic fo lange fdjlummernbe obcr t>ielmet)r unter bcr
Stfc^c glix^enbe ftrage, ob benn bie 3)inge unb inSbefonbere bie organifdjen
SScfen Don jeljer fo gemefen, obcr ob fie cinmat entftanben, natiirlidjen
Urfadjen unb toetdjen if)r 2)afcin, ifjren Urfprung toerbanften, ju tjellen
glammen aufa^tc.
2)iefe gragc, auf ben naturnriffenfdjaftlidjen 93oben fcerpflaujt unb
mit bem Slufgebot be$ bi£ bafyin angefammelten, ungctjeuren 93eobad)tung3:
materials ju lofen &erfud)t, bradjte ben nidjt Ijod) genug anjufdjlagenben
S3ortfjeil, baft bag ptjitofopfjifdje 2)enfen, bie bebucti&e SDlet^obc ttrieber
an bie ©telle beS rcinen EmpiriSmuS trat, toeldjer ja, namcntlid) aU
^Reaction gcgen bie Drgicn ber Staturpljilofopljie, gleid)fall£ feine f|o^c
Sercc^tigung ^attc, itrie cr benn al§ ejacte 2Retl)obe ber @innegn)al)rnct)=
mung ftetg ben unentbefjrlid)cn, feftcn Sobcn aller Sftaturtoiffenfdjaft bitbet.
*) 3ur @ntn)tcfcluiig§ge|c^ic^lc ber Sftenjdjljeit 6. 45.
Ueber alte 3citen unb alte Sftenfdjen. SBortrag. 6. 190.
44
Subnng Hoir£ in ITtatn3.
2Bag bag SEBcfcn bcr ©^ccicS augmadjt, bag iff, ttrie fd)on bcr 9lamc
befagt, bag ©peddle b. t). bag Sefonbere. ®ag SBefonberc fonbert
fid) aug Don bem 5ltlgemeinen, toirb felbftdnbiger, cigenartiger, gcminnt
mit anbcren SBorten an Sljarafter, an Snbimbualitdt. 2tufgabe bcr &nt-
nridetunggteljre ift bemnadj, an bcr §anb bcr tjiftorifdjen gorfdjung aflcS
93efonbere, bci bctt organifdjen Sebetoefen alfo bic Strtcn, jururfjufiiljreit
auf immcr aUgcmcincrc 2)afeingformen, ben ©trom bcr ©nttoidelung uon
ber tjeutigeu unenblidjen 9Jlanuid)faltigteit beg ©egebcncu unb SBefanntett
aufrodrtg ju uerfolgcn big ju feinen erften 2lnfangen, fotoeit biefe bcr
ftetg befdjrdnften menfd)li3>en SSernunft iibcrl^aupt erreidjbar finb, alg
lefcteg ftitt icwen im ©rauen uncrmefjlidjer 93ergangenfjeit fid) bergenben
3citpunft ju erftreben, ba juerft unfer SBeltftyftem, eine ricftge 2)unft=
fugel, tjeroorbradj aug bem Sobegfdjlnmmer beg Slltgcmcinen unb (Stncn
unb bie erflc SBeranftaltung fid) fcoKaog, aug bcr uac^matg bcr SBiHe jum
fieben fid) in ben unjdfiligen inbimbuctten SBcfen ju ben greuben unb
Scibcn beg fcergdnglidjen 2)afeing cmporrang.
Snmitten biefeg ungef)curen SBerbegangg, ber unfere ^ijantafie mit
bangem ©taunen erfiiHt, it>df)renb bodj ttrieber StHcg fo ftitt unb gerdufdjlog
fid) tjofljie^t, bafi unfere SSemunft beg feften, caufalcn 3ufammenljangg
bettwfet, bcr jeben 3citmoment beg ©efdjefyeng unb SBcrbeng mit bem
unmittetbar tjorfjergefjenben unb na<$folgcnben berbinbet, $u ber Stnfic^t
fid) gebrangt fitljlt, eg gefd)ef)e Sltlcg nad) ftrcngeu, unentrinnbaren ©efe^en
bcr 9iotl)menbigfeit, fefjen nrir cine ©telle aufleudjten, bie bag Ijciltge
9Bt)fterium cincr neueu ©attung birgt, toddle ju fjofjercr greiljeit, 93c=
roufetfjeit unb 93ollfommenf)eit berufen, eine 9lugnaf)mgfteUung inmittcn
bcr ganjen itbrigen 9Zatur einnimmt, ba mit ifyr bag 9teid) beg bemufjtcn
©eifteg unb beg nad) eigener SBaljl unb 93oraugfid;t georbneten SebenS
gegriinbet n?irb.
SDiefe ©attung ift bie 9Renfd)l)ett, bag aufbammernbe 2id)t, bag iljren
©intrttt in bie SBelt bejeidjnet, bic SSernunft. S)er ©egenfafc jroif djen
biefer unb bem, wag ung ettoa bet ben iibrigen SScfen Slnalogeg begegnet,
ift fo ftarf, baft nrir ftctg bercit finb, Slcufterungen bcr (efcteren 5lrt mit
bem 3lamen 9laturtriebe obcr Snftincte furjer^anb abjutfjun. 3)amtt ift
freilic^ n\6)t Did mcfjr gegeben, alg ein SBort, bci mel^em man fic^
atleg SUloglic^e benfen unb nic^t benfen fann.
3)te SSernunft, bag ©ciftegteben beg SKenfc^en ift mit^tn eine neue
©pecieg, bic i^reg ©teicf)en ni^t ^at unter alien Slaturtoefen, eine S5e=
fonberung, bercn $>erleitung aug natiirtic^en, attgemeiucreu Urfad^cn ban
jetjer alg bag grofete, fdjttuertgfte, aber auc^ miffengmiirbigfte problem
gait, mit meldjem nur bie Srage xiai) bem Urfprung ber organif^en
obcr Sebemefen fi^ meffen fann.
2tu<$ bem 9Scrnunft=Seben unb SBerbcn mu§ bag grofec ©cfefe ber
fortfdf)reitcnben Snbitiibualifirung unb 93efonberung, toetdjeg allein ira
IHar IHiiller unb bi c Spradjpljilof opfyie. ^5
©taube ift, ben unauff)attfamcn gortgang bcr SEBeltentnndelung ju erteudjten
unb oerftanblidj ju madjen, ju ©runbe licgen.
2)ag, tooburdj bie Sunctioneu bcr SBernunft fid) tJoHjic^cn, ifjr innereg
organises ©eloebc, bag 3Rittet, tooburd) bic ganjc aufiere unb gciftige
SSeft befafct, geformt unb auggebriidt ttnrb, finb jene gtffeimnifebotlen
2Befen, bic bigfjer bcr ©egenftanb beg ©tubiumg aHer gefunben ^$f}iIofopI)ie
getoefen finb, roelcfce balb mit bem platonifdjen SBortc 3 been, balb
9totionen, mcift abcr conceptus ober Segriffe genannt toerben. ©ie
finb au£fd)ttcf$ti(f)c3 Sigentljum be* 2Renfd)en, !cin Xf)ier fcermag iemata
berfelben ttjeitljaftig ju toerben. @g ift batjer fraffc SJerfennung bc&
SEefeng bcr ©adje obcr fd)nobcr -Dlifjbraud) bcr ©pradje, roeun bie
ntoberncn -Ulaterialiften Don bem „S)enft)erm6gen ber Itjtere" reben.
Scgriffc toerben nur m5glid) burdj SBorte. 5)cr Sant, bag SBort
ift bcr SSrper beg 93egriffg; btc ©prad)e aljo bie auftere ©eite, bcr
£5tper beg ©ebanfeng, bcr SSernunft. Ungefdjieben toar bemnad) nod)
bag tuefentlid) (Sine, roeldjeg abcr toon jtoei ©citcn, ber aufcercn unb
ber inneren, betratfytet toerben faun, in ber Sluffaffung bcr ©riedjen,
roeldje Denfen unb ©predjen mit ©inem SBorte, Xoyog, bejeid)neten.
@g gibt gettriffe 2Baljrf)eitett, bic auf friifjen ©tufen bcr Sntmicfclunj
bem naitoen ®enfcn unmittelbar gettnfc unb bemuftt finb, bic ober nadjs
mate in bem 3eitalter ber SRcflcjion toermflge cincg etgentfjiimlid) einfeitigen
©ntnndetuugggangg, ben bag $enfen genommen Ijat, tocrloren gefyeu unb
jit bcren SBieberentbedung bann gett)51jnlid) grofee ©eifteganftrengung.
udttjig ift. 8u biefen SBa^rtjeitcn gef)5rt aucf) bie grofce, toidjtige, be-
beutunggtootte, baf$ bag 2)enfen fid) nur burd) SBorte toofljieljt, bag o^ne
©pradje ebenfo toenig cin 2)enfen, atg ofjue S)cnfcn cine ©pradje mogtid) ift.
3d) fagtc, baft biefc SBafjrfjett bcr finblidjen 2)enftocife ber SRatur*
toolfer unmittelbar beftmfjt ift. 3dj fixT^re alg 93e(eg ben pittoregfen Slug-
brud bcr ^otynefier an, fur toetdje nad) garrar 2)enfen fotoiel ift afe
„9leben im 93aud)" (b. f). im Snneren). 2tber aud) bcr g5ttfid)e ^piaton
mufetc feincn ©ofrateS fcinc anberc definition geben ju laffen. „S53a^
tocrftc^ft S)u unter S)cnfen?" fragt S^catctug.*) ©otr.: „®in ®ef^ra^
bag bic ©cele iibcr bie Dbjectc it)rer Sctrac^tuug mit fidj felber fu(;rt.
3rei(i^ tljeile id^ 5)ir bag mit, o^nc eg ju tuiffen. 2)enn menu
fie benft, tf)ut fie, ttrie mir fc^cint, ni^tg 2lnbercg, alg fie untcrrebet fi(^r
fragt fid) felbft unb anttoortet, beja^t unb Derueint."
Unb ttjobur^ ift benn biefc inftinctit)e ©cmi^cit ber 2Renfd$eit Dcr-
lorcn njorben? 2)aburc^, baft in bem 3^italter ber SReflcjion unb beg-
©c^ematigmug man fid) baran getoi)l)nte, bem SScgriffc ober ©ebanfen
alg Sww^cm ober ©eiftigem bag SBort atg Sautgebilbc entgegen ju ftcUcn.
9?un genjann ber 3fr*tf)um intmer mc^r Soben, bafc bic SScgriffe bag-
*) Platon, Theaitetos, cap. 32.
46
prius feien, bafj fie unabljangig &om SBorte fd)on cm 2)afein in bem
HRenfdjengeifte fatten unb bafc bic SBorte nur bad 3ctd^cn, ber Sludbrud
jener fctbftanbig toorljanbenen SBefen fcicn. „3)ie 95f)tfofopl)ett Ijaben
tjon jeljer ber SBatyrtjeit baburd) einen ©djeibebrief gcgebcn, bafc fie bad-
jentge gefdjieben, toad bie 9tatur jufammengefitgt unb umgefetjrt," fagt
4?amann.
„$er Urfadjenbegriff," fagt @oett>e, „ift bie Cuetle unenbtidjen 3rr~
tljumd." ©ief)t man gencmer su, fo finbet man, bafc biefer ©afc auf
atte gunbamentatirrtfjiuner paftt, in toeldje ber SDtenfdjengeift fid) feit
3af)rtaufenben Derftridt fie^t unb aud toeldjen er fcergeblidj ©rlofung fuc^tf
fo lange er nid)t bie tiefe, metapfyjfifdje SBurjel berfetben erfannt §at.
„$er Sorper ift bie Urfadje bed ©eifted," ttrieberfjoten feit Semofrit unb
©pifur gtaubig aUc SDlateriatiften; fie fSnnen cben nid)t toerfteljen, baft
nur sti)i)d)en gleidjen qualia cin Urfad)em)erl)dltm& obiualten fann, baft
badfetbe aber auf bad Untrennbar=©ine niemald angetuanbt tocrben barf.
f/2)cr ©eift ift Urfadjc ber Sorper," fagen feit $Iaton atte Sbealiften,
unb ed bleibt il)nen feine anbere 3Bal)I, aid bie SSelt enttoeber aid cin
*JSljantadma, ein ©efdjopf ifyrer eigenen ©inbitbung aufjufaffen ober bie
.Shift jtuifcf)en ©eift unb Sorper burd) atlertei Sunftftiide, tine concursus
divinus, prdftabiftrte §armonie in futynem SSagniffe $u uberbrucfen. £a;
gegen trageu ©pinojad 2Honidmud, Santd Sritif 'ber Skrnunft unb
©djopenfjauerd 2Biflendtl)eorie bad crfofenbe SBort in i^rem ©djofce,
tteil biefe mddjtigen 2)enfer bie SBelt unb bie ©rtenntnifc berfelben iu
ifyren metap^t)}ifd)cn Soraudfefcungen jum ©egenftanb iljrer Setrad)tungen
marten.
©obatb man Don ©iner ©eite ber 2)ingc audgefjt unb bie anberc
uacf} bem Ur|"ad)em)erf)dUnifj baraud t)erleiten will, gerdtf) man in un=
lodbare SBtberfpruc^e; ber circulus vitiosus ift unDermeibtid). Serfelbe
Ijat fid) benn aud) bei ber ©rfldrung ber ttrid)tigften, ber toaljr^aft menfd)s
lichen ©igenfd)aft bed SOtcnfcfjen atdbatb eingeftellt. Su unaufljorltd)em
UBirbet brefyt fid) bad 9iab bed S^iou, inbem ed balb Ijcifet: „93ermmft,
barum ©prad)e," balb „©prad)c, barum 93ernunft." £af$ beibe, ratio et
oratio, eind unb badfelbe SBefen finb, bag fie nur nad) ben ©eftd)t^=
^unften, ber 2luffaffung tjerfc^ieben, balb bie innere geiftige, batb bie
aufeere forperlidje ©eite eined 9Konpu barftellen, biefe SBafjrljeit, fo be-
fttmmt unb uberjcugenb fie au^ con ben bebeutenbften Senfern ber
le^tcn fun&ig S^re auggefproc^en njorben ift, Ijat uo^ faum SBurjel gc=
fdjlagen in ben ©eiftern, bie fid) bie (Entratfyfetung be§ grofecn problems
bed 3Kenfd)engeiftcd jum fpecietlen ©tubium eriod^It, gefc^tneige benu in
bem S)enfen ber aUgemein ©ebtlbeten.
Der mdd^tigfte SSorfdmpfer btefer g^ce ift 2Kaj SDtutter. SSie einft
ber gro&c ©d^itler ©pinojad, ©octlje, bad moniftifdje ©runbbogma au^=
fprac^ mit ben cinfac^cn, jeben 3^^ifel, jcbed SKifet)erftanbni§ au^=
ITtar. Xniiller unb Vie Spradjptj tlof opfyie. ^7
fcfjtieftenben SBorten: „$ein ©eift ofjne ©toff, fein ©toff oljne ©eift," fo
fagt -Stutter ebenfo befttmmt unb unjtoeibeutig*): „ Without speech no
reason, without reason no speech. ift fcltfam ju beobadfjten, mit
toetdjem SBiberftreben triete ^Sljitofoptjen bicf en ©afc einraumen, unb hue
fic bicfer gotgerung auSjuloeidfjen bemiitjt finb, 2ltte3 fetbft hrieber cine
gotge beS SinfluffeS bcr ©prad&e, bie in ben meiften ncucrcn S)iatecten
jtnei SSflrter, ein3 fur ©pradfje unb cin atneiteS fur SScmunft tjeroors
gebrad)t tjat unb bic auf biefe SCBcifc ben, ber fie fyridjt, ju ber 2tnnal)me
fcerteitet, baft jttufdjen ben beiben ein toefenttidfjer Unterfdfjieb unb nidjt
bloS eine formate SHfferenj oorfjanben fct."
SBeiter fagt er, an fdjarffinmge SBemerfungen 2odc3 anfniipfenb,
bet, tote e£ fdjeint, at3 ber erfte nor Berber auf ben unlfl3ti<§en 8u-
fammenljang con ©predjen unb S)en!en aufmerffam gemadjt unb barum
at3 $eitmittel ber SSernunft eine ernfttjafte Sritif ber SBorte oertangt
fjatte, bamit nid&t imnter mit unoerftanbenen SRebenSarten bie £>orer
unb ber SRebenbe fetbft irre geteitet ttuirben: „3n alien biefen 93emer*
fungen tiegt unjtoeifetfjaft trie! SSafjreS, bennod) ift e3, ftreng genommen,
ebenfo unmdgtid), SBorte oJjne ©ebanfen ju gebraudfjen, ate oljne SBorte
511 benfen. ©etbft biejenigen, toetdje in'3 SBtaue tjinem iiber Stetigion,
©etoiffen 2c. fdfjtuafeen, tjaben bod) memgftenS einen oagen 93egrtff Don
ber Sebeutung ber SBorte, bie fie gebraudjen, unb tpenn fie auf^oren
tooflten, mit ben Don i^nen geaufterten SBorten irgenbtoetd&e Sbee, fo un;
ooflfommen unb fatfd) fie au6) fein mflge, ju oerbinben, fo fSnnte man
Don iljnen nidjt longer fagen, baft fie fpra^en, fonbern nur, baft fie ein
©eraufd) madjten. Daffelbe finbet ftatt, menu toir unfern ©afc um=
Iet)ren. @£ ift mogtid), of)ne ©pradEje ju fetjen, toatjrjuueljmen, bie 2)inge
anjuftarren; aber oljue ©pracfye fonnen felbft fo einfadEje SSorftettungen,
tt>ie meift ober fd&toarj, audf> nidfjt einen Stugenbtid reatifirt merben."
2ltte Unftartjeit unb SSertoirrung, atte in'3 Unenbtidje fid& fort=
fpinnenben ©treitigfeiten, ob man nidfjt audj ben Stjieren, ben nocf)
fpradfjtofen ffiinbern, ben ungebilbeten Saubftummen SSernunft unb 2)enf*
tjermogen sufc^reiben miiffe, finb blofee SBortftrettig!eiten unb rii^ren ba{)er,
bafc man mit biefen SBorten nid)t ben beftimmten, Haren, nur iljnen ju-
fommenben SSegripin^alt oerbinbet, fonbern fie in etner attgemeinen, nebel*
^aft Derfc^toimmenben SBeife gebrauc^t. „©in Stub toei^ ebenfo gett)i§,
e$e e§ nod) fprec^en fann, einen UnterfdE>ieb jmifc^en fufe unb bitter $u
mac^en, aU e§ fpater (toenn e^ ju f^red^en anfeingt) met^, baft SBcr-
mut^ unb 3uder nic^t biefetbe ©ad^c finb. 3)a§ Stub em^fdngt bie
finntidje Sm^finbung ber ©itftigfeit; e§ erfrcut fid) berfelben, e^ erinnert
fid) an biefetbe, e§ miinfd^t fie tnieber ^erbei; aber e§ toeifj nid^t,
xva$ fuft ift; e§ ift in fetne ©mpfinbungen, in feine greuben unb 6r-
*) Lectures on the Science of Language H, p. 73.
9totb unb 6flb. VII, 19.
4
48
£ubwig Hoire* in Ittai^.
innerungen toerfunfen, eg fann ntd)t toon oben Ijerab auf biefelbcn
blidfen*), eg lann nidjt uber biefclben urtf)eilen, eg fann md)t toon tfjnen
9lef)nlirf) fagt Sajar ©eiger: „SBoburd& entftetjt j. S. cin Segriff,
mie rotlj? 3u fe|en, bag Slut rott) ift unb SKild) metfc, mag Iciest
fcin. 2lber bic 8tdtt)e beg SBIuteS toon bent ©efammteinbrucfe $u abftra*
fjiren, an eincr rotfjen 83eere itrieber benfelben SBegriff aufjuftnben, bic
rotfje SBeere bet ifjrer fonftigen 93erfdEn'ebent)eit mit bem rotten S31ute, bic
meifee 9Rtf<$ mit bem mei&en ©<$nee in jbiefer cincn Sejiefjung jufammens
jufaffen — bag ift etmag ganj Stnbereg, bag tljut !cin Ifn'er; benn
bieg cben ift fcenfen."***)
SBir gelangen alfo ju bem fdjeinbar parabojen ©afce: 3)ie foge-
nannten atlgemeinen SBegriffe finb etmag 93efonbereg; ettoag ber menfd^
lichen JBcmunft auSf^Iiefelitf) (Sigentpmlidfjeg; fie umfaffen unb begreifen
bie ganje 2Bett, fotuie biefelbe in bag Srfenntni&toermogen beg 9Renfd)en
einjiefjt; fie toermbgen aber nur burcfy ifjre fdrpertidjen Stequitoalente, bic
finntjollen Saute ober SBorte, realifirt ju toerben. $>ie ©pradjje ift mi)t
bag ®teib, fie ift ber $5rper ber 93entunft. Without speech no reason,
without reason no speech.
Eg biirfte bemnad} ni^t fdfjtoer fatten, eiujufefyen, marum big jefct
aUe 93erfud)e, bie menfcf)Hdf)e SSernunft ju crft&ren, ein befrtebigenbeg
pfodjotogiidjeg unb crfenntni&ttjeoretifdjeg ©trftem aufauftellen, gefdjeitert
finb. (£g fommt bieg baljer, toeit man eben bie menfd)Iidf)e SJernunft ate
bag 5lbfoIute, nidfjt tueiter &u ©rftarenbe auffaftte; meil man eg toermicb,
in ifjrer ©efdfjidfjte, iljrer SBergangenfjeit bie getoimfdjte ?htfHarung ju
fudfjen, miiljrenb man bodf) in ber toergteidjenben ©pradjforfdjung, ate
metdje nidjtg anbereg ift ate bag ©tubium ber ©efdfjidjte eben biefcr
Skrnunft, ein unfdjafcbareg SBerfjeug jur ©rreicfjung beg fjeifc erfefiuten
3ieleg befafc. Sfteijjt man ein beliebigeg 2f)ier aug ber Sette beg 3u~
fammenljangg ber lebenben SEBefen, betradjtet eg fiir fic^ — - eg Meibt
etoig ein unaufloglicfjeg SRatljfel. 2Ite ©lieb einer tooranfdfjreitenben Snts
midetunggfette bagegen finbet eg feine ©rtlarung in Mem, mag iljm tooran=
gegangen, in einer unermeftfidjen SSergangenljeit.
®g gilt atfo, bagfefbe, toag S)armin fiir bie Drganigmen getljan fiat,
aud) auf jene organifd^en ©ebilbe ju iibertragen, tDetc^e mir meitf^Iic^c
SBegriffe, SBernunftconce^tionen ober SBorte nennen. @g ^anbelt ftd^
*) 3)iejen ©ebemfen ^abe ic^ auggefpro^en mit ben SBorten: „3)ie 6^rad^e
gibt bem SKenfcfjcn etnen 6tanb^unft auger^alb unb fiber ben $ingen", unb Ijabe
i^n augfii^rlid) begvunbet in meiner Shrift: /r@in(eitung unb ©egriinbung einer
moniftifdjen (Srfcnntni^tljeorie" 6. 95 ff.
**) ^af mullet, 1. c. @. 77.
***) S. ©eiger, Urjprung ber ©pra^e 8. 110.
War, III it 1 1 e r unb bie SpradjpljUof opiate. ^9
bemnad) urn cine ueue Origin of species. Scbcr SSegriff, jebeS SBort,
ba3 im Saufe bcr ©nttoicfelung fid) einftetlt, ift ein SKeueS, 93efonbere3,
cin metjr ©peciatifirteS unb 3nbitnbuatifirte3, tueld^eS niemate burdf) fid)
begriffen, nid)t al3 buret) generatio aequivoca au3 bem 9tid)t3 fjerbor;
gebrodjen gebadjt toerben barf, fonbern tueldjeS, at3 cin neueS SScrnunft-
element, au3 friifjeren Etementen* in einer ununterbrodjenen filiation
entftanben, jene innere ©eifteSfraft, bie toir SSernunft nennen, erl)5I)t,
fteigert, bereidjert uno jugtetdj ate (SrHdru^gSprincip, ate SBafjrieid&en
unb 3)enfftein be3 3BadE)3tf)um3 bicfer Sernunft, ben bitten ©d&Ieier be3
©eljeimniffeS, in toetd&en biefe eingeljuttt ift, unt ein tuenig lidjtet. Suf
biefem 2Bege unb in biefer SBeife riidjdjreitenb in bie SSergangenl)eit,
griangen toir ju einfad&eren unb ftet3 einfadjeren (Slementen, luetic bem *
(Slementariuftcmbe ber SSernunft entfpredjen, bid toir enblid) burc^ bag
fitdjt ber ©pradjforfdjung im Serein mit bebuctibem, ptjilofopljifd&em
Denfen in fitljnem SBagniffe jenem engen ftreife juftreben, too e8 fein
2)enfen unb fein ©predjen meljr gibt, too bemnadj SBiege unb Urfprung
bcr SSernunft ju fudfjen ift.
3)ie ©ttjmologie ober SBurjetforfdjung, eine SBiffenfdjaft, toeldfje buret)
beutfdjen Sleiji gegriinbet unb f)errlid) auSgebaut, ®toIj unb greube
unfereS ibealen 33eftrebungen fonft fd&einbar ganj entfrembeten Safjr;
ijunberta auSmadjt, barf bafjer ben Slnfprucf) er^eben, mit ben in it>r
geborgenen ©dfjdfcen un3 bie toid&tigften, iiberrafd&enbften Sluffd&tiiffe iiber
unfer eigentlidfjeS SBefen, unfere 9Sorgefdf)idjte unb ben 2Beg, auf toeldjem
ber URenfd&engeift ju feiner Ijeutigen Sraft, Starljeit unb 93oHfommenf)eit
gelangt ift, an bie £>anb ju geben.
3n ber ©pradje ift un3 ein tounberbarer Spiegel ber SSergangentjeit
unfereS ®efd)Iedf)t3, feiner dufieren 3uftdnbe unb Srlebniffe erljalten; in
uralte Stadjt, au$ toeld&er fonft fein S^uflnife ju un3 Ijerabbringt, ttrtrft
bie ©pradjforfd&ung iljre Sid&tftraljten. 3>n biefer £>infidf)t ift i^re toitrbige
©dfjtoefter bie 5(5aldantI)rot>ofogie, bie SBiffenfdjaft com prdfjiftorifdjen
2Renfcf)en; behn audj an SBofjnungen, SBerfjeugen, SBaffen unb ©erat^en
fjaftet ber menfdfjtid&e ©ebanfe, tritt er in bie Srfd&einung, f^rt^t er aucf)
fjeute nod) ju bem berftdnbnijiboKen, empfdnglidfjen ©inne be§ gorf^er^.
©euttid^ere, biel toert^oflere ftunbe aber ift un^ in ben SBorten, ben
vestiges of language erljatten, benn biefe rei<$en in eine 3cit, too felbft
ber gaben ber ^rd^iftorif^en gorfdjung abreifet, too ber SRenfc^ o^ne
SSerf^eug, o^ne 3euer, o^ne aHe jene Sinri^tungen toar, bie toix al£
not^toenbige attribute ber 9Kenfcf)I)eit ju betra^ten getoo^nt finb.
„@£ liegt ein ^o^er 3auber barin," fagt SKaj 9KuHcr*)f „bie ber*
fc^iebenen SBanblungen ber gorm unb 33cbeutung an ben SBSrtern &u
beobac^ten, inbem biefe ben ©angeS ober bie liber ^inab fid) in ben
*) Lectures II, p. 274.
4*
50 £ubn>ig tfoir£ in Kiaxn^
grojjen Ocean menfdjlidfjer ©pradfjen ergoffen. 3m ad&ten Safcljunbert
toor Eljr. toar bie latcinifd^c SDtunbart nodj auf ein fleineS ©ebiet be*
fcfjrdnft. ©ie toar nur cine einjetne SDtunbart au§ bcr SRenge berer,
bic in ben fcerfd&iebenen Sljeilen StalienS gefprodjen tourben. SIber fie
tvu6)§ fraftig empor, fie tourbe jur ©prad&e SRomS unb ber SR5mer. . . .
©ie tourbe jur ©pradje be3 ©efefceS nnb bcr SRegierung in ben cioilifirten
Sljeilen SRorbafrifaS unb StfienS unb tourbe burdf) bie SSerlunber be£
(£l)riftentl)um£ nadfj ben fernften Iljeiten be3 ©rbbatte getragen. Bit
fcerbrdngte in ifjrem ftegreidfjen SSorriicfen bie alien einfjeimtfdjen SDtunb*
artcn ©alliens, ©panienS unb $ortugat3; fie &erfucf)te jtoar fcergeben£
bie lebenSfcoflen 3biome ber germanifdjen ©tamme ju toeraidjten, aber
fie lie& bod} auf ifjrer Dberflddje eine bicf)te Stblagerung frembcr SBorter
juriid unb liefertc fo bie grdfjere £dlfte im SBortfdjafce faft atler cit>ilt=
fir ten SS51fer ber SBelt. SB5rter, toeldje juerft im SKunbe italifdjet
©deafer erftangen, toerben jefct toon ben ©taatSmamtew SnglanbS, ben
Didjtern granfreidjS, ben $l)ilofopl)en 2)eutfd)lanb£ gebraudjt unb bag
feme ®df)o iljrer ©cfydfergefprddje fann im ©enatc ju SBaffjington, in ber
Satljebrale Don Calcutta unb in ben SCnfiebelungen auf SReufeetanb
geljort toerben."
„SBir erfennen fo, toie bie ©pradjen bie ©efdfjidjte ber Slationen
abfpiegeln unb toie faft jebeS SBort, geprig jergliebert, un3 Don irielen
toeditfelfcotlen ©dfjirffaten erjafjten fann, toeldje e8 auf feinem SBege tjon
aKittelafien nadfj Snbien ober nadE) terpen, nadfj Sleinaften, ©riedjenlanb
unb Stalien, nad& SRujjlanb, Dcutfd^lanb unb ©allien, ben britifdjen
3nfeln, Stmerifa unb Steufeelanb burdjjumadjen ljatte; in ber Sf}at mcrfs
toiirbtge ©cfyidfale, toetdfje e$ mefletd£)t auf fcinen toeltumfaffenben SBanbe*
rungen fogar nad(j Snbien unb ben £f)dlern be3 ©imalaga, toon benen
e3 'tor 3afjrtaufenben auSging, juriidfu^ren. 2Rand)e3 SBort f)at fo bie
SReife um bie SBelt gemacfjt unb totrb fie t)iellei<f)t immer toieber unb
toieber madden. Denn obgteidj fidf) bie SBorte in Slang unb SBebeutung
in folder Slu3bef}nung fcerdnbern, bafj nicf)t ein einjiger SBucfyftabe berfetbe
blcibt unb iljre SBebeutung gerabeju in ba3 ©egentljeit ber urfpriingli^en
umfc^tdgt, fo ift e3 bod^ wid^tig ju beobacfyten, ba| feit bem 9lnfange ber
SBelt ju ben toefenttid&en S3eftanbtljetfen ber ©prad^e ebenfo toenig irgenb
ettoaS 3leueS ^injugefiigt toorben ift, tone ju ben njefenttid^en ©lementen
ber Slatur. @S finbet ein beftdnbiger SBed^fel in ber ©pradje ftatt, ein
Sommen unb ©eljen ber SBorter, aber Sliemanb fann je ein ganjlid^
neueS SBort erfinben. SBir f^rec^en in jeber $infic^t i^rem SBefen nad^
biefetbe ©prad^e mie bie llrDdter unjereS ©efd^Iec^t^; t)on ber toiffens
fd£)af Hidden ©t^ntotogie gclcitct, fonnen toir t)on 3^r^unbert ju 3a^r^
ljunbert burd^ bie bunfelften ^erioben ber 3Bettgefd)id)te ^inburd^ge^en,
bi^ un§ ber ©pradEjenftrom, auf bem toir felbft ba^intreiben, ju jenen
fernen SRegionen juriidtrdgt, too toir bie ©egentoart unferer frii^eften
fllttller unb bie Spradjptjtlof opljtc.
51
S3orDiiter ju fiifjten unb bie ©timme bcr erbgeborenen ©tff)ne 2Kanu3 ju
{joren meinen."*)
Stber nidjt nur bie ©efd)icf)te ber fiufceren SBelt, bcr, toenn id£) fo
fagen barf, maieriellen 3uftanbc bcr SSorjcit bc£ 2Kenfc§engefd^le<f)t8 fpiegelt
fid^ in ber ©pradfje unb ttjren Don bcr 2Btffenfdf)aft forgfattig unterfd&iebenen
unb burdjforfcfyten ©d£)id(jten; Die! bebeutungSD oiler ift fic un8 at» Spiegel,
aU document be§ giiljlenS, 2)enlen3 unb ©mpfinbenS ciner tangft ju
©taub jerfatlenen SJortoelt; unb in biefer $tnfic§t fte^t bie ©pradjfor;
fdjung einjig ba unb bebarf toeber bcr $>iilfe einer anbcren 2Bijfenfdf)aft,
nodE) barf fie eincr anbercn bie SBeredjtigung }u biefem ifjr attcin Dor*
beljattenen SBerfe jugeftef)en.
S)ie ©pra^gef^id^te ift, toie id£) bereitS fagte, bie ©nttoitfetungS-
%e\ti)i&)tt ber ntenfd&lidjen ffiernunft felbft. 3n biefer ©inftdjt !)aben toir
xyon ber ©prad&forfd&ung unfcfyafcbare Sluffd&liiffe iiber bie SJergangenfjeit
bcr SBernunft, aber aud) sugteidE) eine erWfcnbe, befreienbe SBtrfung burd)
95efeitigung unfagltd&en 3trt^um§ unb SeibenS, bie burdE) SBortDertoirrung
unb Unflar^cit be£ 2)enfen3 bcim ©ebraudje ber SSSorte iibcr bie SDlenfd^
ljeit gebradjt toorben, ju ertoarten. 3d!) laffe toieber 3Raj 3Riifler reben:
„28er ben ©influjs, toeldjen SBorter, blofje SSorter auf ben menf<f)s
lichen ©eift auSgeitbt l)aben, gcnau Derfotgen Oolite, toiirbe jugteid) cine
SBeltgefd&idjte fdjreiben, toeldje un§ toot me!)r leljren toiirbe, al£ irgenb
eine, toetd&e toir befifcen."**)
»3d) fpredEje Ijier nidfjt Don jenem feljr Ijanbgreiflidjen 2Jiif$braud£)
ber ©prad£)e, toenn ©djriftftetter, anftatt ifjre ©ebanfen reif toerben ju
taffcn unb fie bann gefjflrig ju orbnen, un3 mit einem ©djtoutfte garter,
fdjtefer unb ratfjfefljafter 2lu3brucfe unb $t)rafen iiberfdjiitten, toetrf)e Don
itjnen felbft, toenn nid)t Don 3lnberen, filr tiefc ©elefjrfamfeit unb IjScfyfte
Seifiung ber ©peculation gefjalten toerben. 3)iefe£ 2lllerl)etligfte bcr
Untoif fen^eit unb Slnma&ung Ijat feinen SttntbuS fo jiemlidj cin«
gebiifct unb ©ele!)rte ober 2)enfer, toeld&e bag, toaS fie fagen toollen, nid&t
in guter togifd&er Sornt unb DerftanblidE) fagen fonnen, tyaben in biefer
unferer &t\t toenig 2lu3fid}t, fitr bie SSertoa^rer ge^eimni^Dofier 2Bei3!)eitg'
fd^afee ge^otten ju toerben. Si non vis intelligi, debes negligi.
benfe Diclntc^r an SBflrter, toetd^e Sebermann gebraud^t unb toeldje fo
Har unb Derftanblic^ ju fcin fc^eincn, bag e§ faft toic eine ffied^eit au3-
fieljt, fie Dorpforbern unb jur $Red)enfd)aft ju jie^en. J)ennod^ ift e3
nterftoiirbig ju bcobac^ten, toie Deranbertid) bie SBebeutung ber SSSorter ift,
tok fte Don 3tt^unbert ju Sa^unbert toe^fclt, ia toie fie fctbft im
2Runbe faft jebeS ©prcd^enben fid^ leife abfd^attirt. StuSbriicfe toie 3latur,
©cfefe, grci^eit, SKotljtoenbigfeit, ®'6xpet, ©ubftanj, SKaterie, Sir^c, ©taat,
*) Lectures II, p. 286.
**) Lectures II, p. 573.
52
£ubroig Hotre in Ittain3.
Dffenbarung, ©ingebung, ©rfcnntnijj, ®taube, loerben in bcm SBortfriege
Ijiiu unbljergetoorfen, mie toenn Seber fie fcnntc unb in bemfelben ©inne
gebraucfyte, toafjrenb bod& bic mciftcn SDlenfcfyen bicfe 2tu3briicfe in iljrer
SHnbljeit auflefen, inbcm fic mit ben unbeftimmteften SuSbrucfen anfangen,
bann toon Sett ju 3^it ettoaS metjr ljineinlegen, mefleidjt audj ebenfatts
auf'3 ©eratfjetooljl man^e 3retljiimer uerbeffern, aber nitmaU, fo ju
fagen, ftd^ ein fid^cr angelegteS SBortcapital bitben, niematS gefdjidjtlidje
Sorfd&ungen iiber bie 9tu3brii(fe anfteflen, mit benen fie fo fret umfpringen,
fid) niemate il)rer SBebeutungen nadf) Strij&It unb llmfang im ©inne einer
logifdjen definition toerftd^ern. ©3 ift Ijaufig gefagt morben, baft bie
meiften ©treitfragen ftdj urn SBorte breljten. Da8 ift getoifj toaljr, aber
e3 fd&liejst nod& toeit meljr ein, att e3 fdjeint. SBortftreitigfeiten finb
nid)t, mofiir man fie biStoeilen Ijalt, btoS geringfitgige formette, aufcerttdje
ober jufaflige ©treitigfeiten, bie man burd) eine ©rlauterung ober einen
$imoet3 auf S^nfonS SBtfrterbud) fd)lic$ten fonnte. ©3 finb ©treitig=
feiten, toeld&e au3 ber mefjr ober toeniger toottfommenen, toottftanbigen unb
rid&tigen 3luffaffung ber ben SBorten beigelegten SBegriffe entftefjen; ber
©eift ift e3, ber auf immer neue ©cfytoierigfeiten ftofct, n\6)t etma bie
3unge attein."
„£ier erftffnet fidj," fafjrt 3». SRutler fort*), nad&bem er an ha$V
reid&en, tooljtgetoaljtten SBeifpieten gejeigt, hrie fettfamen ©etbfttaufdjungen
bie SSernunft bur<§ tljre eigenen ©d)5pfungen, bie SBorte, auSgefefct ge=
toefen, „bem ©pradjforfdjer ein meiteS gelb. ©ein ©efdjftft unb Hint ift
e3, bie Urbebeutung iebeS SBorteS auf juftmren, feine ®efd)id£)te, feine gorm=
unb 83ebeutung3tt>ed)fel in ben pf}itofo$jifd)en ©df)ulen ober auf bem Starfte
unb im ©erid)t3f)ofe ju fcerfolgen. @r l)at ju aeigen, auf metd&e SBeife
ljaufig toerfdjiebene SBegriffe unter bemfelben SBorte jufammengefafet ober
berfelbe 93egriff mit toerfd&iebenen SluSbriiden bejeidjnet roirb . . . (Sine
©efd)id)te folder StuSbriide, tote ttriffen unb glauben, enblidj unb uitenblidf),
toirfttcij unb notl)toenbig, toiirbe me^r al3 irgenb ettoa§ fonft jur ftlarung
ber pljilofopfjifdEjen Sltmofpljare beitragen."
(Sine !jtftorifd)e Sritif ber SBorte ift attein im ©tanbe, un$ eine
empirifefye Srittf ber menfdjlid&en SSernunft ju geben. S)iefe toon SR.
SRiifler ftar erfanntc unb gefteHte 2tufgabe bered^tigte i^n ju bem tiefen,
bi^ jefet fo ttjenig Derftanbenen StuSf^rud^e: „?llle fihtftige ^J^Uofop^ie
mirb auSfd^tieglic^ ©prad^p^itofop^ie fein."
3ebe grofee, im 3citbemugtfein gereifte SBa!jrl>eit, toenn fie fd^on in
(Sinem geniaten ftavuptt jum erften SKale in hotter Star^eit aufleud&tet,
uon ©inem berebten, toa^r^eitglil^enben §erjen jum erften HRate mit ber
Gotten Sraft ber Ueberjeugung auSgefprodjen toirb, tritt bennod^ niemate
urptofclid) toie eine ©c^opfung aug bem 9tidf)t3 in bie SBett Ijertoor. Sliest
*) Lectures II, p. 621.
171 ay IHiiller unb bie Spradjpfitlofopfyie.
53
felten gef^te^t eg, bafj Stoei ©eiftegDerttmnbte, oljne Don cinanbcr ju nriffen,
ben namlidjen ©ebanfen g(eid)jeitig augjpredjen. Sic ©ejd)icf)te bcr SBiffen-
fc^aften toeift mefjr alg cin 93cifpicl biefcr 8lrt auf, Don bem Stetotom
2eibni&fcf)en $rioritatgftreit big auf bie (Sntjifferung ber ^ierogttjptjen,
Don ber ©ntbedung beg ©aucrftoffd big auf bie gormulirung beg $rim
ctpg ber (Srljattung ber Sraft, toetcfyeg in jteuefter 3^it jo Diet ©taub
aufgettrirbett Ijat, nun aber mit SRed&t ben Stamen beg befdf)eibenen, gro&en
2)enferg SRobert -Dialer tragi ©o f)at benn audf) unab^angig Don 9Jta£
aKiiHer ber mefjrgenannte Sajar ©eigcr bag erlofenbe SBort aller funf?
tigen $Ijito}opl)ie „eine empirifd&e Jfritif ber menf<f)ttcf)en SSernunft burd) ®ritif
bcr ©pradje" ebenfo beftimmt augge|>ro^en unb fefte, fc^arf gejogene
GJrunbtinien beg fimftigen 93aueg in feinen gebanf entiefen SBerfen niebergelegt.
Slber audE) SSorlaufer Ijat ein folder ©ebanfe, balb mefjr, batb
niger beutlid) toetterteud)tet cr bereitg in ben ©djriften ber nacfy bem
gtetdEfen QxtU Suftebenben, fci§ er enblidj getoitterartig logbridjt unb bie
Sttmofaljare Don ©dfjtoaben unb 3)iinften Sa^taufenbe alter Srrttjiimer
unb Sorurtfjeite reinigt. llnter ben SSorlaufern ber 2JMtter;©eigerf<f)en
Sfjeorie mfld)te i<$ Dor Sttten ben treffUdjen, leibcr audj bei feinen 2eb=
jeiten — ba bag ©cfyelling^egelfdje $§rafentljum atte ©eifter betjerrfdjte
unb alteg gefunbe SJenfen erfticfte — laum beadfjteten unb nodE) Die! meniger
anertannten Stjeobor SBaifc nennen. @g tuirb genitgen, einige ©afce
son iljm anjufiif}ren, urn ben ©rtoeig ju lief em, bafe ber ©ebanfe ber
©ntmidelungggefd^i^te beg S)enfeng unb ber Sernunft in il)m jum 2)urdf);
brud) gefommen war:
„3Rit ®ant," fagt er,*) „fann id) bie 2lufgabe ber ^OUofopljie nur
barin ftnben, eine SBiffenfdfjaft auf&uftetfen, toetcfye ben ©runb atler @rs
faf>rung unb biefe aug jener begreiffid} madjt. Sltle anbere ©peculation
mufc id) Don Dorn^erein alg eine leere ©peculation erflaren."
„9li6)t firitif unb nodf) meniger Sonftruction, aud) feine combinirte
Slntoenbung beiber fann jum gettriinfdjten 3iefe fiifyren, fonbern einjig bie
©nttoitfelungggefdjicfyte beg geiftigen Sebeng ift im ©tanbe bieg ju
teiften."
„3d) l)abe Derfud&t, bie $ft)d)ologie auf unjtteifetljafte pl$fioIogifcf)e
5El)atfac^en ju griinben, bamit fie unb mit iljr bie $^itofo^ie uber^aupt
ttt 3ufanft unab^angig werbe Don ben ©treitigfeiten ^Uofop^i|d^er ©^uten,
bie fic§ nur invDagen StIIgemeinbegriffen ^erumtreiben, iiber toeldje fic^
leic^t ftreiten tafet, xoeii fid^ ^eber etioag ?lnbereg bei iljnen benfen barf,
fo lange burd^ !eine Dorauggegangene ©nttoidetungggefc^ic^te ber
Unterfdjieb fe^terfreier unb Derfe^tter 95egriffgbilbungen feftgeftetit ift. S)ie
©peculation, toeldje fid^ nid^t unmittclbar auf bie ©rfaljrung einlafet, tt)irb
cmig ein ©egenftanb beg ©treiteg fein unb bteiben miiffen."
*) ©runblegung ber ^fodjotogte. SSortoort.
5<k
£ubroig Zlo'\T& in IKatn3.
9lo(^ beutfidjer fprad} SBatfc fidf) in fcinen SJorlefungen iibcr SPfgdjo-
logic aug, inbcm cr erfltirte: „$>en anbcrcn pljitofopfjifdEien Sigciplincn
gegeniiber ^at bic $ft)df)ologie bag ©efcijaft bet SBegriinbung, bcnn un =
fere 33egriffe fjaben fammttidfj eine 93ilbungggefcf)id)te, Don
toeldjer ifjr 3nl)att ganj unb gar abljangt. SBiffenfcfyaftlidj braudjbar
toerben fie erft bur$ bie Stadjmeifung, ba§ fie feine bloS inbitribuetfcn
unb infofern jufdttigen ©ebUbe eineg unbehw&ten 9?rocejfeg finb, fonbern
notljtoenbtge ©rfotge einer ©nttoidelung, toclc^c nad) attgemein
giiltigen, b. 1). nad) folc^cu ©efefeen ju ©ianbe geiommen ift, benen bic
Slugbilbung beg inneren Sebeng imnter unb burdjaug untertoorfen fein mu&."
2llfo, toag ju teiften fei, bag war SEBaife uottfommcn Kar; nur iibcr
bag SBie, iibcr bie SDtittet, burd) tocld^e bag 3**1 iu erreid^en fei, toax
er im Ungettriffen. @r toanbte fid) mit unermiibetem regem Sifer juerft
jur $f)t)fiologie, bann jur toergleicfjenben $ft)djo!ogie, enbttd) jur 9lntljro=
pologie, fiir toetd)e cr fein epodfjemadjenbeg ©ammeltoert: „3Die 2fntf)ro=
pologie ber Staturfcolfer" fcfyuf.
Stn ber reidjften, tauterften, untriigtidtften Duefle aber, aug tneldjer
bie (£ntnridelungggefcf)icf)te ber menfdfjlidjen ©ernunft ju fd&opfen f)at, ging
er a^nungglog tooriiber. Siefe ju entbeden blieb 3Kaj SDtutler unb Sajar
©eiger uorbetjatten.
IV.
2Har 2Ttuller un6 bas Problem 6es Urfprungs
6er Spracrje,
„3>emt fo paraboj eg aud) fdjeinen mag, id& befyaupte, bafc eg ung
ganj unmoglidt) ift, bie Snbitoibucn ju fennen, unb ein SJtittel augfhtbtg
ju madden, bie Snbtoibualitat irgenb eineg SHngeg genau ju beftimmen."
„ J)ie attgemeinen 2B8rter tyaben nidfjt nur auf bie SBerfcottfommnung
ber ©pradtjen bebeutenben ©influfc; fie finb fiir biefetben gerabeju unent;
beljrlic§. 3Jlan ttmrbe fdtjtedjterbingg gar nid&t reben fonnen, toenn eg
bfog ©igennamen (nomina propria) ber inbimbuetten 25inge unb feine
attgemeine Stamen (nomina appellativa) gabe."
2Jlit biefen mid^tigen SBafjtfjeiten toarf ber grofie Seibnij in feinen
„Nouveaux essais sur l'entendement humain" neueg 2idf)t auf bag SBefen
toon ©pradfje unb ®enfen. ©ein SSorganger toax Code. 2lud£) er fjatte gefagt:
„bag, toag bie SSBortc bejeid^nen, finb attgemcine Segriffe (general ideas)."
„9tuf biefe 2lrt/' fci^rt Seibnij fort, inbem er t)on ber SBilbung unb
©ntfte^uug ber attgemeinen Sbeen rebet, ^liefec fid^ bie ganje Sefyre t)on
ben ©attungen unb Slrten, bie in ben ©d^ulen fo t)iel Sluffe^en mad^t,
aber aufjerljatb berfelben t)on fo geringem ©influffe iftf einjig unb allein
auf bie Sitbung abftracter 3been grd&erer ober geringerer ?lugbe^nung
bringen, benen man getoiffe 9lamen gibt."
!Haj Uliiller unb bie Spradjp^ilofoptjic. 55
©inb bag nicf)t and) ljeute nodf) fe^r befjerjigengnjertfie SBorte? Siegt
in if)tten nidjt bic grofee Sefjre, e^c man ftdf) ftreitet, mic braufcen in bcr
SSelt bie Slrten nnb ©attungen befdjaffen fcin mogen, fid) erft bariibcr ju
fcerftanbigen, toag bcnn mit bicfcn Morten gemcint fei, unb tt»ie bcnn
foldje Segriffe in unferem 3)enfen, unferem ©eifte entfteljen. ®ieg nebenbei.
SBcnn ttnr bag grofce SRat^fel bcr menfdjltcfyen ©prad&e in'g Stugc
faffen, fo toerben ttrir burdf> bag namlidje SBunbcr iiberrafcfyt unb geblenbet,
bag bic Statur in alien ifjren ©cfyityfungen barbietet, namlidt} bic unge=
Ijeuere, Dcrf^tDcnbcrifc^c giiHc ber mannid&faltigften gormen neben bcr
unglaublidtften ©infad&ljeit unb ©parfamfeit bcr SKittcI. SBcr fotlte eg,
toenn cr nicf)t barauf aufmerffam gemadEjt toitrbe, gtauben, bafe aflc mcnfd^
ttdje ©prad)e ftdj burdf) toerfcfyiebenartige Combination eincr ganj gcringen
3a^t toon Sautcn rcalifirt, unb ba§ atleg menfcf)tid)e 2>enfen an biefeg
unfdjeinbare 2KitteI unaufloglidfj gebunben, fid) nur burd) bicfcn ljod(jft
einfad&en, med&antfcfyen Styparat bcr articulirten Sauterjeugung toofljieljt?
SBag ift eg nun aber, bag biefem 2Jled)amgmug, bcm SBorte, info-
fern eg nur Saut ift, ©eiftigeg entfprid&t? 2Bag ift bcr Segriff, bic 95e-
bcutung ber SBortc? Unb toic fommcn bic befonberen SBegriffc baju,
gcrabe burdf) bic befonberen Saute auggebriitft unb baburdf) toerftanbltdf) ju
toerben? ©inb eg bie Dinge bcr Stuftentoelt, tt>elcf)e ctnfad) burdE) pljones
tifdfje 3cid^en feftgeljatten unb in unfercm ©eifte mit $>iitfe bcrfelbcn xtpxo*
bucirt toerben, ettoa nadf) bem 8tu8fprud^e Eicerog: „Voeabula sunt notae
rerum", ein Stugfprudf), ber in ber ganjen SSergangcn^eit big auf Seibnij
unb Sode bag SBefen ber ©pracf)e ju erf<f)ityfen fd£)ien?
©oldje Sfragen mujsten ciner emeuten, ernftljaften ffiritif unterjogen
toerben, toenn auf bag ungemein toid^tige unb bunflc problem beg Ur;
fprungg ber ©pradje neueg Sicfyt fallen foflte. Unb bcr Srityunft fdjien
gefommen, jenen gragen energifefyer unb erfolgreidjer ju Seibe ju geljen,
toenn anberg bic grofcartigen SRefultate ber toergteidjenben ©prac£)forf<f)ung
ntd)t blog ein aufgeftapetteg SBiffengmaterial, fonbem ein toert!)toofleg 93e*
ftfctfjum bcr SDlenf^fjeit fiir bie ©ntfd&eibung bcr tefcten unb f)6d£)ften
p§tfofopl)ifd(jen unb antljropotogifdjen gragen fein folltc.
£ier bctoa^rte pc^ bcnn ber Sieffinn unb ^ilofo^ifd^c ©eift SJlajc
SDtutterg, toddler juerft toon attcn ©pradjforfd(jem mit bcr gadel beg
em{>irifdjen SBiffcng, bag er jugtcic^ unter ben ©rften gef5rbert ^atte, in
jenc bunflen lief en ^inabjuleud)ten toagte, aug benen attein cine be*
fricbigenbe Stntmort iiber bic gro&te Sftat^felfrage, Urfprung beg 2Renfd^en^
geifteg, ju erbringen ift. ,
©einen Stugganggpunft na^m SJliillcr toon ben oben angefii^rten 8ln?
fic^ten Sodcg iiber bag SBefen unb bie ©igenart ber menfd^tic^en ©prad^c.
@r citirt bie SBorte beg trefflidjen englifd)en Senfcrg, ber, na(f)bem cr ge;
jeigt, in loct^er SBeife unitocrfeffc 3becn entfte^en, toie bcr ©eift, nad^^
bem er bicfetbe garbc am Sail, am ©<f)nee unb an ber Wl'xli) beoba<f)tet
56
£ubn>ig Hotr£ in UIatn3.
f)at, biefc cinjctnen SBaljrnefymungcn unter bem allgemeinen SBegrtff ber
SDSeigc pfammenfa&t, — bann fortfdljrt: „2Bemt ed jtoeifelljaft erfdjeinen
mag, ob ntcfyt bic Sfu'ere ifjre Sbeen auf jenem 2Bege bid ju cincra ge^
toiffen ©rabe oerbtnben obcr ertoeitern fflnnen, fo glaube id) bod) folriel
beftimmt beljaupten ju f5nncnf baft bad 93erm5gen bcr Slbftraction i&nen
burdjaud nicfyt tnnetooljtit, tnelmeljr bad Stefan aflgcmciner Sbecn cinen
toefentUdjen UnterfdEjieb stoifd^ett 2Renfdf)en unb %f)itt begritnbet unb cin
SSorjug ift, ben bic Ifjiete feinedtoegd erreid&en fonnen."*)
$)iefed SJermflgen aber bcr Slbftraction obcr ber allgemeinen Sbeen,
fdljrt SUlaj SDWttcr fort, ttrirb einjig unb aHein rcalifirt burdj bic
©pradje, torfdje bem SWenfdjen audfdjlieftfid) unb infofem jufommt, aid
er SDtenjd) ift. 3)ad, toad aufcerlidj ©prad&e ift, ift innertidf) Serouitft
©ie ift bad f)anbgreiflid)e Unterfcfyeibungdjeid&en jtoifdjen SDtenfctyen unb
Sljier. 2)ad ©djeimnifc ber 3Renfd£)toerbung fann ba^er nur burdf) bie
©ntbetfung bed Itrfprungd ber ©pradfce aufgeljetlt toerben. 2Bad §at
nun bic ©pradfjoergteidjuug aud bem bidder erforfefyten SRatertal fur ncuc
Sluffdjliiffe ju lage gcf5rbcrt, mit bercn £ulfe biefc grage mit meljr
§offnung auf ©rfolg angegriffen toerben fflnnte?
„2>ad SRcfuttat mcincr Sortefungen," fagt unfer Stutor, „tft bad fol-
genbe: 9lad)bem nrir atted nur trgcnb Srflarbarc im 2Badf)dtf>um ber
©prad&e erfldrt fatten, blieb fdjliefclid} aid bad allein unerfldrltdEje Sftcftbuum
bic fogenannte SBurjel iibrig. 3)iefe SBurjetn bilben bie eigentltdjen
Scftanbt^eilc alter ©pradjen. 2)iefe (Sntbcdung fyat bad problem bed
©prad&urforungd ungemein toereinfacfjt. ©ic fjat ienen fdfjtocrmerifd>en
©djitberungen bcr ©prac^e, toeldje bem SBetoetfe fur ben gdttlic^en Ur=
fprung ber ©pradfje beftdnbig tjoranjuge^cn pflegten, iebe ©ntfdjulbigung
entjogen. SBir toerben nun nidn; Idnger Don jenem ttmnberbarcn SGSerf-
Scug ju Ijoren befommcn, toetdjed Silled, toad loir feljen, Ijbren, fdjmcden,
bcrii^ren unb riecljen, au^ubriiden oermag, toeldEjed bad attymenbe Stbbilb
bed SBeltattd ift, toeldjcd ben erljabencn ©efufjten unferer ©celen gornt
unb ben fitfjnften Iraumen unferer ^fjantafic Sorter tocrleUjt, toetc^eS in
genauer ©ebanfen^>erfpectit)e 93ergangenf)eitf ©egcutoart unb 3"^wft
fammen ju gru^^ircn unb iibcr aKe Dinge bie mc^fclnbc garbe bcr
©etoifcljeit, bed 3wctfcW, ber 3ufafligleit audjugicfeen t>crmag. ailed
biefed ift ooHfommen toa^r, abcr cd ift nid)t tdnger tounberbar, toenigftend
nidfjt im ©inn eincd aRdrc^end aud Saufenb unb einc Slad^t. £er
f^cculatitjc ©eift fii^tt, mt Dr. gcrgufon fagt, bet ber 93ergleid)ung ber
erftcn unb lefetcn ©tufen bed ©^rad^enfort^rittd btefclbc 2lrt oon ©r-
ftaunen, tok tin SReifenber, ber attma^li^ einen Sergab^ang erftiegen
fyat unb nun, inbem er plfifctid) in einen 2ibgrunb oon unerme^Iic^er
Sicfe ^inabf^aut, nur burd) ubcmaturli^e §iilfc ju biefer fdjtoinbelnben
*) 9Kaj duller, ^orlejungcn iibcr bie SBiffenfdfjaft ber Sprac^c I, 8. 305.
IHaj Ittiiller un& bie Spradjpfytlof opfyic. 57
#i>f}e emporgeftiegen ju fein gtaubt. ©ettjiffcn ©eiftern erfd^eint ed ttrie
cine 2aufcf)ung unb 2)emurt)igung, fidf) an bcr $anb bcr ©efdf)idjtc toon
jenem l)otjen ©i|>fel^>unft ttneber Ijtnabfiityren ju laffen. Sic jic^en bag
Um>erftdnbttdf)e, bad fie bettmnbern, bem Serftanblidjen, bad fie nur bers
ftefjen fdnnen, Dor; aber bcm gerciftcn ©eifte ift bic SBirflidjfeit anjic^cn=
bcr aid bic fiction unb bic 6infadf)t>eit ttwnberbarer aid bic 3bccnt)cr=
ttncfelung. £)ie SBurjeln mdgcn trocfen erfdjeinen, toemt man fie mit ben
©tdfjtungen ©oetljed t>ergtci<f)t, unb bennodf) liegt ettoad Die! SBunber*
barered in cincr SBurjel aid in bcr gdnjen Styrtf bcr SOBctt."
„3Bad finb benn nun biefc SBurjeln? 3n unferen mobcrncn ©pradjen
laffen fic fid) nur burdE) ttuffenfcfyaftltdfyed 2lnatt)ftren auffinben unb fclbft
bid in bic 3^tcn bed ©anjfrit juriicf fonnen to'xx beljaupten, bafj cine
SBurjel eigentlidf) niemald aid Slomcn obcr 9Scrbum in ©ebraud) toar;
abcr urfpriinglid) ttmrbeu fic bodE) fo gebraucfjt unb im ©(jinefifdfjen ift
und glucflidjertoeife ein Sfteprafentant jener urfprunglidjen rabicatcn ©pradfc
ftufe erljalten, tpclc^e true ©ranit unter alien anberen ©df)idf)tcn bcr mcnfdf)-
tidfjen Stebe fid) ^injic^t. SMefe SBurjetn finb alfo ntcf)t, ttrie getuoljntidij
beljauptet ttrirb, blo&e ttnffenfcfjaftlidje Slbftractionen, fonbern fic ttmrben
urfpriinglicf) ttrie toirftid^c SBorter gebraudjt. SBad ttrir nun gern ent;
tjiitten mdd)ten, ift bicd: SBeldje inncrc gciftige $l)afe entfpridjt
bicfen SBurjeln aid ben ffeimcn ber meufdjlidfjen Sftebe."
SBie triel ncue 3Bal)rIjeit in einfadjer fdf>lid£)ter Sorm! SBie met 93e=
leaning unb Snregung fur bad pljitofopljifdje 2)cnfcn — tetber fur bic grofec
3afyl bcr fjeuttgen $^ilofo^cn bie ©timme bed 3tufcnbcn in bcr SBiifte !
5)ad problem bed ©pradfjurfprungd auf einc fo einfadje, concrete gorm
gebrad^t, ein fdjmaler $fab aufgejeigt, bcr, njenn audj burdf) bunfeled
SHdidfjit unb ©eftrity}), bod& ftdjer sum $kU fiifjren mu&te. gorfdEjt nadf)
bem Urforunge biefcr SBurjeln, bicfer Sftefibua, bic in bcm liege! bed
fpradftforfefjenben ©djeibefiinftlerd gcbliebcn finb; bie ©pracf)ttriffenfdf)aft
brcttct ben 3^enjuftanb bed ©pradfjtebend ttor eudE) and. Omne vivum
ex ova, bic ova, tt>eld£)e bie ©pradf^Ijtyftologie in tyren empirifdfjen gor*
fdjungen entbedt tyat, finb bie SBurjeln. 5)urd^ bercn ©nttoidctung unb
unaudgefefcted SBad^dt^um finb attc befanntcn ©prad&en bcr ©rbc §u ben
ttmnbertootlen ©ebifben, bem Sorter bcr SScrnunft unb bem SBerfyeug bed
©eifted, emporgefticgen. SJlit bicfen SBurjeln unb tfjrem gciftigen 3n^alt ^at
ber SDtenfdE) bie ganje ©d^fipfung ju fcinem gciftigen ©igent^um gemad^t, in^
bem er fie gleidjfam in bicfe gormcn go§ ober mit bcren §ulfe umpragtc
SBo^er nun bicfe SBurjetn? SBie entftanben fie? SBie ttmrben fie
bauernber 99efi| bed SKenfd^cn? SBie gelangten fie ju i^ren 95cbeutungcn?
9tld 3Kaj SKiltter fcine Sortcfungen ^ictt, maren toorjiiglidj jtuei 9lnfi^ten
bci ben ©pradtjgeletjrten im ©d^tnangc, tneld^e energifd^ befampft unb
aud bcm Xtmptl ber ©pradtjforfcljung ^inaudgejagt ju ^aben, fein aud=
f^lic^Hd^cd unb baucrnbed ffierbienft ift.
58
£ubmt(j Hotre in ITtai^,
2)iefe beibcn Sljeorien beruljten aber auf cittern einjigen, aflgemctti
berbreiteten, fefjr natitrlidjen unb barum au$ tool toerjeiljticfjen Srrt^um.
Sftamlidj, ba bic ©prad)e 2ltte£ burdj Saute auSbriicft, fo lag e£ toot
fef)t natje, jum minbeften ftir ifjre ©temente, in unferem galle alfo bic
aBurjeln, nad) bem caufalen Sufammenljang ju forfdjen, ber jtoifdjen bent
Saute unb feiner 93ebeutung t>orf)anben gebadjt ttmrbe.
Sim beliebteften bet ben ©prad)forfd)ern alter unb neuer $t\t mar
bie I^eorte ber ©d)athtad)af}mung, bic onomatopoetifdje ober, nrie 3Ra£
9Jtittter fie bejeidjnete, bie 93autt>au*£l)eorie. „3)a ein SBorgang in
ber Slu&entoelt," fagt ©etger, „feinen anberen SSergleic^ung^punft mit einent
SSSorte bietet, al§ fofern er ettoa I)5rbar unb jtoar mit einem bem SBorte
irgenbwie afjnlidjen Slange l)5rbar ift, fo ift e£ begreiflid), toie gerabc
biefe &t)potl)efe ettoaS befonberS (SinleucfytenbeS unb ©ettrinnenbeS fyaben
modjte."
©dion ber gotttidje $laton fjatte in f einem me genug ju bettmn^
bernben ®iatog „®ratt)Io£" auf bie 2Jl5glic£)Ieit eineS foldjcn Urft)rung£
ber SBorte !)ingettuefen, obfdjon er fogleid} tief einfidjtS&ott ijtnjufefct:
„®ie ©timmen ber £t)iere nadjafjmen Ijeifct bureaus nid)t fie benemten."
2lud> Seibttij*) moUte bie ©djattnad)a!)mung al£ eine ergiebige DucBc
jafjtreidjer 2Burjettt>5rter anerfannt ttriffen, namentlid) mit S3ejug auf bic
©timmen ber Iljiere. „3)al)in geljort j. 95. ba£ tateinifdje SBort coaxare,"
fagt er, „h)etd)e3 Don ben gr5fd)en gebraud)t toirb unb mit bem beutfdjen
quafen iibereinfommt. 2)a3 ©efdjrei unb Sdrmen biefer Xljiere fdjctnt
iiber^aupt toieten anberen beutfdjen SBortern iljren Itrforung gegeben ju
f)aben. ©o hue bie 3r8fd)e einen genmltigen Sarm berurfad)en, fo toenbet
man IjeutigeS Xag3 bie§ SEBort auf bie teeren ©djtoafcer unb ?J5laubcrer
an, toeld)e man im Deminutto «Duadeler» nennt. 3)a aber ber Son
ober ba3 ©efd)rei ber Sfjiere ein 3ei$en be3 SebenS ift unb man barauS,
et)e man e§ fteljt, ba3 Sebenbige erfennt, fo ift batoon ba$ alte beutfe^c
SBort «qued» (engl quick) ljergeteitet. 2)at)on finb nodj beutttdje ©puren
in ber tjeutigen ©pradje: Duedfilber = vif-argent, erquiden §eif$t ftarfen,
unb bag unauSrottbare, iiberatt auf ben Sledern umfjerlattfenbe Unfraut
toirb mit Duecfe bejeicfynet." bebarf laum ber Semerfung, ba§
ba§ ©ac^Ii^e biefer 93ergleid)e un^attbar ift.
Berber ^utbigte gteidjfatte biefer Sfjeorie; er ticfe bie ©timmen ber
I^iere ftir ben beobacfytenben SKenfc^engeift jum SRerftoorte toerben. „S)u
bift ba§ Slofenbe/' fagt ber 2Renf$ ju bem ©djafe unb balb berf^toiftert
fic^ ber Saut be£ I^iereS mit beffen S3orftettung. ©benfo na^m auc^
SS3. toon ©umbotbt in f einem genialen SBerfe: „Ueber bie 9Serf^ieben=
Ijeit be§ ©|)rac§bau§" bie 9?ad^af)mung ber Staturiaute n?enigftenS att
einen hridjtigen factor bei ber ©prac^entfte^ung an, obfdjon au^ i^m
*) Nouveaux essais, livre III, chap. 2.
UTaj irtiiller unb bte Spradjpfyilof opiate. 59
bic ©(fjtoadfje unb ba$ Sttiftticfye biefer #t#otl)efe, bie au§ bet SDienfdjens
fpradje in eincr getoiffen $t\t cin Eoncert toon Iljierftimmen madjte, nidjt
DCTBorgcn btieb: „®iefe SejeidEinung," fagt er, „ift gteidjfam cine malenbe;
fottrie ba3 93ilb bic Strt barfteflt, toie bcr ©egenftanb bem 2luge crfd^cint,
aeidjnet bie ©pradfje bie, tote er toom Dljre fcernommen toirb. 2)a bie
Utadjaljmung Ijier immer unarticutirte Sflne trifft, fo ift bie Strticulation
mit biefer SBejeid&nung gteid&fam im SBiberftreite, unb je nadfjbem fie ifjre
Utatur ju toenig obcr ju fjeftig in biefem Stoiefpafte gcttenb mad&t, bteibt
enttoeber ju bid be£ Unarttculirten iibrig ober e3 fcertoifc^t fidfj bte jut
Unfenntlidffeit. 8tu3 biefem ©runbe ift bicfe Sejeidjnung, too fie irgenb
ffcart Ijer&ortritt, nidf)t toon einer getoiffen Sfto^eit freijufprecfyen, lommt
bei einem reinen unb fraftigen ©pradjfinn toenig !)er&or unb tjcrlicrt fid)
Ttad} unb nadf) in bet fortfdjreitenben StuSbilbung ber ©prad&e."
S)iefe Itjeorie, fo einteudfjtenb unb uerlodenb fie auf ben etften 83litf
fdjeinen mag, ftetjt im SBtberfprudf) mit alien Iljatfadjen ber bte jefet er-
forfdjten ©pradjen. J)icfe SBa^r^eit fpradE) 2Raj 2Riifler mit ber griifeten
SBeftimmtfjeit unb Gmtfcfjiebenljeit au3 unb befeitigte bamit enbgiittig bie
immer toieberfeljrenben 33erfudfje, ben ©pradjurfprung au3 cinem Duett
fjerjutetten, bcr ftete totfen unb immer toieber im ©anbe fcerrtmten mufcte.
„2Bir entgegnenfyerauf"*), fagte er, „baf$ atterbingS in jeber ©pradje burdf>
btofce %oxi* unb ©d&attnadEjaljmung gebtfbete SBorter ju finben finb, baft
biefe aber einen ftufjerft fletnen SBrud&tljeil be3 SBortfdjafeeS bilben. ©ie
finb ©pieljeuge, ntdjt SBerfjeuge ber ©prad&e unb ieber SSerfud^, bie
geto51jnlid}ften unb notljtoenbigften 2B5rter auf imitative SBurjeln juriitf=
jufuljren, toirb fcf)tiefifidfj ganjtidf} fef)lfd#agcn . . . SBir f5nnen bie 2R6g=
ftdjfeit nidjt leugnen, bafj eine ©pradje nadj bem $rincip ber 9lafy
a^mung fjatte gebilbet toerben fflnnen; toir beljaupten aber, bafj bte jefet
nod) feine gefunben toorben, toeldje toirflidj nad& biefem $rincip ge*
bilbet ift . . . G$ gibt atterbingS cinige SRamen, toeldje offenbar au£
Sonnadjafimung gebilbet finb, j. 83. ®ufuf. 2lber 2B5rter biefer Strt •
gleidjen liinftli^en ©lumen, bencn bie SBurjet fc^It. ©ie finb unfrurf)t=
bar unb unfa^ig, aufcer bem einen (Segenftanb, beffen %on fie nad&aljmen,
nod^ irgenb ettoaS ju bejeid^nen . . . ®a ba§ SBort ffufuf nid^tg au^fagt,
aU ba£ ©efd^rei eine§ inbitiibuellen S3ogete, fo fonnte e3 au^ nie
jum Stu^brude irgenb einer attgemeinen ©igenfdfjaft, an ber anberc I^iere
Sfjeil ^aben lonnten, gebrauc^t toerben . . . Suful fonnte nie ettoaS anbere^
bebeuten ate ®ufuf, unb toa^renb ein SBort mie 3tabe (mct(f)e§ t)on ber
bebeutung§t>olIen SBurjet ru = raufd^en, tarmen, fd^reien abgcteitet ift) fo
t>iele t)erh)anbte SB5rter auftoeifen fann, toon rumor bte rufen, t)on raunen
bte jum engt. to rouw, fte^t Sufuf ganj einfam unb Dereinjelt ba, tok
ein §ageftolj, ein biirrer $fa^I in einer lebenbigen, frifdf) belaubtcn §ede."
*) SSorlejungen ilber bte SBiffenf^aft ber ©praclje I, 6. 309.
60
£ubnjtg £toir6 in HIaiit3.
„©o fc^r ttrir forttoaljrenb in Serfudjung finb, einen inneren Sufanttnen-
fyang jwif^cn bent %on unb ben Sebeutungen bcr SBorter in unfercn
Ijeutigen ©pradjen aniuneljmen, inbent loir 5. 83. in squirrel bad SRafd&eln
bed @ic§f}orndjend, in ftrfilje, Safce u. f. to. bic eigentljumtidjen Saute
biefer Iljiere ju Dcrneljmen glauben, fo I5fen fid& bodE) otic bicfc ©noma*
top5ien in Siidjtd auf, fobalb toir an bcr #anb bcr ©prac^tDtffenfc^aft
bic 2Bortftamnte, aud toctdjen bic SBfirter gebitbet finb, juriicfDcrfoIgcn bi»
auf ifjren Urfprung aud ben SBurjeln. SKit cinem SBorte: ©d tft cine
ununtftoftlidje SBafjrljeit, baft bic und belannten ©prad&en nid)t aud ben
braufenben, jifdjenben, raffefttben, fnifternben, raufdjenben, frad&enben Xbnen
bcr SRatur gebilbet finb, fonbern auf anberen Urfprung tytntoetfen."
S)tc jttjeite Jfjeorie, bie gleidjfattd bcbcutcnbc SScrtrctcr untcr ben
©prad)pf)itofopf)en jd^Ite, leitctc nadf) bent SBorgange (Spifurd unb untcr
ben Sleueren nantentlidf) J)c SSroffed1 (Traits de la formation m6canique
des langues 1756*) unb Sonbillacd bic ©prad)e Don ben ©mpfinbungS-
tauten bed SKeufdjen l)er. 2)iefe 9tnfid(jt, toeld&e ©efdjrei, greuben* unb
©djmerjrufe aid bie erftcn Stnfafcpunfte ntenfdjlidjer SRcbe betradjtete, toarb
Don SKaj aWiiUcr ntit furjer, treffenber SBejeidjnung bic $u$s$u§* obct
interjectionette Sljeorie genannt.
9tud) itber bicfc Sljeorie foramen bic Srgebniffe bcr ©pradjforfefcung
bad a3ernid)tung3urti)eir. „®d fltbt ol)ne 3»eifel/' fagte 3Kaj 2RftHer**),
„in jeber ©pradje Snterjectionen unb einigc berfelbcn ntogen fid} toeitcr
itberliefert unb in SBortjufantntenfefcungcn berirrt fjaben. Slber ©pradjc
ift bad nid&t. S)ic ©prad&e fangt cben ba an, too bic Sntcrjcctionen auf*
Ijoren. ®d beftc^t ein ebenfo groftcr Unterfdjieb jttrifdfien cincm toirflic^cn
SBort, tote j. 93. «lad)en» unb bcr interjection tja, tja!, jttnfd&en «leiben»
unb 0 toel)!, aid jttnfd&en bent untt>iflfurttdjen Met unb ©eraufd) bed
•Kieftend unb bent Serb «meften». SBortrefflid) tjat fdfjon £>orue $00 fe
bic ungc^curc Shift jmifc^en gmpfinbungdlauten unb ©pradje aufgebecft
«3)ad SReid) ber ©pradjc» fagt er, «ift auf ben ©turj unb Untcrgang bcr
Sntcrjectionen begriinbet. Dfjne bic funftrcid^en ©rpnbungen bcr ©pradfje
ttmrbe bad SUlenfc^engcfdile^t nid^td atd interjection en befeffen ^aben, um
*) £a bicfc X^eortc tro^ ber fonncnttaren 3SiberIegung 9Kaj SRulterd aud)
^cute noc^ unter ben ftaturforfdjem 3Q^Iretc^c 3ln^anger pnbet, fo bienc biefen jut
yiad)i\d)t, bag fie ifyre $^antafte tttc^t anjuftrengen notfyig ^aben, fonbern baft fie
in biefcm getftoottert 53uc^c finben tocrben, wad ettoa ^erniinftiged auf etnem
lotberfinnigcu ©ruub aufgebaut toerben fann; aljo baft bad r, bie litera canina,
bad Unangene^me bejetdjnet, baft bic 6titnme bed ©demerged ttef oh, heu, helas,
bic bed ©rftaunend ^o^cr oh, ah, bie ber greube furj unb tt)tebcrl)oU Ha ha ha,
he he he, bic bed SJliftfallcnd unb Skrabfdjcuend labial fi, vae, put), pfuir bic
bed 3n>etfcld unjj ^cr gjcrneinuiig uafal ^um, ^om, non ift u. f. 10. unb baft ba=
Don bie nottjrt)cnbigften 9B6rtcr abftammcn!
**) ^ortejungen fiber bie SBiffenfdjaft ber ©prac^e I, 3. 315.
IHaj Ittiiller unb bie Spradjpfitlofopljte. 6\
burdfj biefelben aHc feinc ©efiiljle ftd) einanber ntiinbtidj mitjut^eilen.
5)ad SBic^crn bed $ferbed, bad 93ruKcn ber Sutj, bad SBetfen bed £unbed,
bad SRiefcen, £uften, Stolen, Sfreifdfjen unb iebed untoittfurlicfye 9faf*
fdfjreien tourbe bann faft cbenfo guten Slnfprudf) auf ben SRamen ©pradfje
fjaben, ttrie bic Snterjectionen. greitmttige 3ntcrjcctioncn toerben nur ba
angetoanbt, too bad plofcltdje (Sintreten ober bic $eftigfeit cincr ©emiitl^
affection ober Seibenfdfjaft ben 3Renfdf)en in feinen Siaturjuftanb jurudf*
oerfefct unb if>n fiir einen Stugenblid ben ©ebraud) feiner ©pradje fcer*
geffen Idfet ober ioenn irgenb eined Umftanbd toegen bie Siirje ber %t\t
if)m ben ©ebraudE) ber ©prad£)e nidf)t geftattet.»
„©d ift toaf)r, baf$ eine furje Snterjection nnrffamer, paffenber, be*
rebter fein fann, aid eine lange 3?ebe; ed ift roal)r, bafc, ntit lebtjaften
Setoegungen, bent Studbrud bed Sluged toerbunben, ein ©d&rei ben Sn^alt
einer ©ntpfinbung toeit oorjiigttcfjer audbriiden fann, aid aKe SBorte —
ober ©pradje ift bad nidf)t, toenigftend nidjt bie ©pracfye, bie und atd
aRenfdEjenfpradfje uberatt entgegentritt, too loir SDtenfdjcn antreffen . . . SBad
bie 93erfud)e betrifft, cinige unferer SBortformen ettjmologifd) oon blofjen
3nterjectionen fyerjuleiten, fo toerben fie immerbar mifcgftiden unb jtoar
toegen bed namfid&en Srcttjumd, ber und ju ber Slnna^me Derteitet, bafc
in bent Slang e ber SBorte ein audbrudfdtjolled ©tement liege."
©eibe Itjeorien, fotool bie SBau^SBaus toie bie ^u^^u^S^eorie, toerben
fdjliefjltd) burdj biefelbe ^^ilofo^^ifd^e SBetradjtung, beren Sernpunft bie
(Singangd biefed Slbfdjnittd ernmfjntcn SBorte Seibnijend enttjalten, ju
Satte gebracfjt:
„9Benn bie 93eftanbtt)eile ber ntenfdf)ticf)en SRebe enttoeber ein blofced
8tuffd)reien ober Siad&aljntungen ber toon ber Statur Ijeroorgebradjten Saute
todren, fo miirbe ed fitter einjufe^en fein, toarum bie Xf)iere ber ©^rac^e
ermangeln fottten. SRidjt Mod ber ^apagei, fonbern aud& ber ©pottoogel
unb anbere !5nnen Ja articulirte unb nidjt articulirte Saute feljr gliidlidf)
nad&aljmen, unb ed gibt faft fein 33)ier, bad nidjt gnterjectionen toie ba,
tya, l)ifj u. f. to. Ijeroorbringen fonnte. ©d ift aud£) ftar, baft, toenn bad
Stiffen allgemeiner 3been einen fcottfontmenen Unterfdfjicb jmifc^en
9Renfd£)en unb I^ier begriinben foil, eine ©prad&e, toetdje nur aud Snter;
jectionen unb Stadjaljntungen tljierifdjer Saute f)eroorgef)t, nt^t beanfprudjen
I5nnte, bad aufeere 3cic^en jener unterfd^eibenben ga^igfeit bed 3Kenf(^en
ju fein. 9111c SBflrter tpiirben, toenigftend ju Slnfang (unb bied ift ber
einjige $unft, toddler und Ijier intereffirt), bie 3ci(^cn inbiuibueller
Ginbrude unb ^Jerceptionen geloefen unb erft ganj aHmd^Iid^ bent Studs
brucfe aKgemeiner Sbeen angepa^t toorben fein."*)
MDie burd^ eine na<f) ben ©runbfafeen ber t)erglei^enben ©pracf)s
forfc^ung burd^gefu^rte Slnal^fe ber ©pradEje und bargebotene I^eorie fte^t
*) SSortefungen uber bie SSiffenjc^aft ber Spradje I, 6. 318.
62
£ubnng 7Xoit4 in UIatn3.
jenen 2lnfid)ten f<f)roff entgegen. SBir gelangen fdijfte&tid} ju 2Bur&cln
unb jebe briicft cine generelle, nidjt cine inbitubuelte 3bee au£.
SebeS SBort entljaft, toemt nut e3 jergtiebern, eine prabicatifce SSurjet
in fic§, nadf) toelcfyer ber ©egenftanb, auf melcfjen e3 bejogen tourbe, unJ
fenntlid) toirb." .
3Rit anberen SBorten, nidjt bag butd) einen beftimmten ©egenftanb
ber 2tuftentt)elt ein beftimmter Saut ober ©df)rei au£ bem 3nneren eineS
empftnbenben unb toa!jmet)menben SBefenS Ijertoorgetodt toirb — ©tetn =
tl)at3 ateflejrtaut^Xljeorie entfpridfjt ettoa biefem ©tanbpunfte — tnadjt
bag SDScfcn ber ©pracfje au3, fonbern, baft mit bem Saute ettoaS gefagt,
bafj babei ettoaS gebadjt unb Don bem Oegenjknbe ettoaS prdbb
cirt toirb.
Unb mit SRudfid^t tyierauf farad) 2Jta£ aWilQer eine grofce, gang
unberedjenbar toid&tige SSatjrljeit au3, bie iljm bet ben ©inftd&ttgen ben
Stamen „ber Dartoin be§ ©eifteS" etntragen toirb, inbem cr bie ununter;
brodfjene, in fortgefefeter ©nttoitfelung befinbtidje filiation ber 93 e~
griffe flar unb beftimmt ate eine unbejtoeifelbare SBaljrfjeit, ate ein
totdjtigeS ©rgebnijs ber ©pracftforfdjung tjertoorfjob.
„9liemate/' fa9*c er, „fommt e8 in ber ©efdjidfjte ber ©pradjenis
toidetung, foroeit toir biefelbe iibcrfeljen fdnnen, Dor, ba{$ ein Object ober
ein Scgriff fid? urptflfelidj, tine au3 bem 9iid)t3, alfo burdE) eine 3trt toott
generatio aequivoca mit einem Saute fcerbunben Ijatte. DaS Object ejiftirt
nur burd) ben Segriff, ben toir toon bemfclbcn Ijaben, fiir unfer 93etoufct=
fcin, ber Segriff felbft abcr cjiftirt nur burd) ben Saut, b. % feinen
$5rper, fein $>t\6)tn, toenn toir fo tooHen."
©enau ju bemfelben SRefuttate gelangte aud) Sajar ©eiger unb id)
toil! aucf) Ijier, toie e§ ber aufjerorbentlic^en SBidfjtigfeit ber ©ad&e ent~
fprid)t, bie bebcutfamften ©tellen au3 beffen „Urfprung ber ©prad&e" an-
fiiljren, tooburdj ber 2Kaj 2KuHerf^e ©ebanfe cine toeitere SSeftatigung
unb fyettere Seteudjtung erljalten tt>irb.
„3n ber geiftigen SRatur gibt e3 fo toenig toie in ber forperlidjen
einen ©prung, bie geiftigc (Snttoidetung fefct fid) au3 eben fo fleincn
©temcnten tone bie I5tpertid^c jufammen."
^Sangfamc ©nthnietung, ©eroortritt bc« ©egenfafce^ au^ unmer!=
tityn Stbtocic^ungcn ift ^iftorifd^ iiberaH bie Urfad^c ber Sebeutung^
ocranberung einer^ unb bc^ Scrftanbniffe^ anbererfeitS ... 3^ ^obe
feinen $unft auf^ufinben tjermodjt, too irgcnb ein Segriff auftauc^te,
ber nic^t oon einem anberen fcf)on oor^anbencn abftammte,
wo atfo ber ©eift gejnnmgen mare, fid^ fiir irgenb eine SSorftcHung ein
Seid^en Don aufcen, etnja an einem ©d^alle, 311 fudjen, ober au^ in
golge eineS neuen 6inbrude§ ju ciner neucn Sautbetoegung SSeranlaffung
ju bietcn."
©eigcr ftiifet fetnc Slnfid^t, tt)ie au§ biefen SBortcn crfi^ttid^, auf
IITat Uliiller unb bie Spradjpfytlofoptite. 63
t>en £iebting3gebanfen be3 grofcen Sei6ni}, baft nirgenbS in bcr 9tatur
tin ©prung fcorfjanben, ba§ oiettnetir aHc SScranbcrungen fid) nur ate
tjebergange on bcm unermefcftd) Steinen tJoHjic^cn, ctn ©ebanfe, bcr audf)
fdjon, true Seibnij auSbriidtidf) Ijertoortjebt, bic 3rage nad) ben 3ttifdjen;
ftufcn jmif^cn Ifjier imb 2Kenfd£) int>otoirt, bic, obtoot untcr ben Xxnm-
mem cincr ungc^curcn SBergangenljeit begraben, bennocl) ate einmat fcor*
Ijanben, ate toirflid) burd)tebt gebadfjt toerben miiffen, unb an bcrcn
SSieberbetebung ober Steconftruction cben ©pracfjttuffenfd&aft unb 5J}ljito=
foptyie mit oereinten ®raften arbeiten, inbem fie ben fcerfdjiitteten Duett
t>e§ Urfprung3 ber ©pracfje nrieber aufaubetfen bentutjt finb.
2tbcr and) ber £auptgebanfe ber filiation ober be§ genetifdfjen
fantmenljanga atter menfd^ti^cn SBegriffe mar toot fd£)on in bent ©eifte
be3 getoattigen Seibnij gebadjt, ioenn audE) nid)t in ber ffifarljeit, toie il)n
3Kaj: SKiitter unb 2. ©eiger, toon ben £8f}en bcr SBtffeufc^aft auf ba3
t)or itjren SBtiden toeit auSgebreitete SKatcriat tjerabfd&auenb, auSjufpredjen
toermodjten. Denn e§ gibt !aum einen ©cbanfen, ber Ijeute madjtig bic
©eifter betoegt, ber nid)t fdjon im Sfeime in ScibnijenS ©dfjriften ju
finben ware. Qmn Setoete fiiljrc xi) nur fotgenbe ©telle au3 feinen
„Nouveaux essais" (IV chap. 4) an:
„§aben ©ie e3 fdpn toergeffen, lieber $f)itatett}, baft unfere Sbeen
urfprungttcfj in unferer ©eete licgen unb ba& attc ©ebanfen au£ iljrcm
cigenen ©runbe lommen, ot>ne baf$ anbere Ercaturen einen unmittct*
baren Sinffufj auf bic ©ecle Ijabeu?" fagt er ate SBibertegung ber 2odcfd)en
Stnftdfjt, ba& attc Sbeen itjren ©ruub in ber ©imttidjfeit fatten unb au$
bicfer tjerftamntten.
3ft nun biefer ©ebanfe toaljr, unb attc ©pradfjbetradjtung unb ©pradj-
forfdjung beftatigt \f)xi, prebigt tf)tt taut, luie biefe ja tool aud£) crft burdfj
SJorauSiefcung feiner SSaljrljeit ate 3Biffenfd)aften nt5gtid) getoorben finb,
bann ift ein unfdjafcbarer fidjerer SBoben fiir aHc toeitere gorfd&ung ge*
loonnen unb bag btetjer in raeiter, ncbclnber gernc fdjtoanfenbe problem
be£ UrfprungS ber ©pradje ift un3 auf einmal in erreid&bare, beuttidf)
umgrenjte Static be£ ©eftdjtefretfeS gerudt.
S)ie golgerungcn, mcldje SJiaj SWiiUcr felbft au§ biefer toidjtigen
©runbrna^i^eit jog, finb in grofcen 8"8«t etloa fotgenbe:
1) S)ie Saute finb in ber ©prad^e iiberatl unb su alien Seiten
bcbcutung§t)oII. S)urd^ lefetere CSigenfdjaft attcin finb fie ©prad)Iautc.
3nterjectionaI= unb mimetifc^c S^eorie finb fomit tyinfallig.
2) Stilts ift in ber ©pradje tobt, tna§ nid^t cinft tebenbig tnar.
SKit bicfem ©afee mirb bie f^einbare SluSnatymSftettung, toet^e %kz'um&
enbungen, SSilbung^fitben unb ber ganje formate Stpparat ber ©pradje
cinjune^men f^ienen, erftart unb befeitigt. ©in frud^t-bar fonnte nid)t
entfte^en, toenn nid^t bic stoette ©itbe bebeutung^toott n^ar; toenu aud)
bent ^eutigen ©pra^geju^t bic Scbeutung cuti^munben ift, fo Hart uu$
«orb unb eub. vir, IX 5
£ubn>ig Xloix6 in llTatn3.
bie 2BtffenfdE)aft bariiber auf, baft bad SEBort fo mel al3 fru<f)t*bringenb
bebeutetc.
3) SSon cinfadjen 9tnfangen — einfilbigen, primaTen SSurjcIn —
ging bic ©pradje jucrft burd) bic fecunbaren unb tertiaren SBurjetn,
bann burdj bic uberttmd)erobe SitbungS* unb gorntenfiifle bcr pofyfyn*
tljetifdjen obcr aggtutinircnbcn ©tufe ju bcr Slarfjeit unb Seftimmtfjett
unb bcm tnunberbaren ©cbanfcn- unb 2lu3brud3reid)tljum bcr infleEio-
nalcn unb ntobcrncn ©pradjen t>oran. 2)er SEBcg bcr SBiffenfdjaft ift
natiirttd) bcr entgegengefefcte. 2)a3 &kl bcr ©pradjnnffenfdjaft ftcljt ba,
too bic SBtcge atlcr ©prad^e ftanb.
4) 2)a3 (Seifttge, waS ben SBurjetn entfpridjt, finb fefte, beftimmte
5Bernunffc@(emente, faft attc prabtcati&er iRatur, nur wenige, namlidj
bic ^ronoininatftdmme, finb bemonftratio. SBic alfo bie SBurjcln ate
2autc pf>onctifd)e Stjpen finb, fo entfpredjen i^ncn im ©ciftc SJcntunft-
obcr ©cbanfcmltjpen, jene finb phonetical types, bicfc conceptual types
obcr rational concepts. 2>iefe finb alfo, urn c3 nominate }u fagen, fefte
gormen unb Storntcn, mit mclc^cn bic ©pracfye, b. f). bad Sernunft^enten,
bic ganje ©djopfung gepragt unb ftd> ju cigen gemadjt Ijat.
5) 2)er urfpritngtidrfte gciftigc Sntjalt, bic altcftcn Scbcutungcn bcr
SBurjeln, fotocit bic anatyftrenbe ©prad)t)crglctd)ung biefctben erreidjen fann,
tuaren nidjts SInbereS, ati finnlidje ffia^rnetymungen, ©tnneSeinbrucfe,
sensuous impressions.
95ci biefent lefeteren ©afce, a!3 bcr ©renje, bis ju inciter untcr
3Raj SRuttcrS ^eereSteitung bic Iruppen toorgefdjoben tuaren, toetd>e bie
bisljer fur uncinneljmbar gefjaltene Scftung ftilrmcn foUten, mufj id) etttm$
auSfiifjrlidjer fcertoeiten. S)enn toon ifjm au§ roagte 3Ka£ SRiittcr felfcer fdjon
cinen ©turm, toetdjer abcr nidjt erfolgreicf) fcin fonntc, toeil jener ©afc
jtuar cine 2Baljrl)eit entljalt, abcr nidjt bic ganjc SBaljrfjeii, melmeljr nur
bic &atfte, bic cine ©cite be3 toaljren ©adj&ertjaltS au£fprid)t.
3d) fiit)re, bcr 2Btd)ttgfeit be§ ©egenftanbeS tjalber, feinc eigenen
SBortc an: „A11 roots i. e. all the material elements of language, are
expressive of sensuous impressions, and of sensuous impressions
only" (Lectures on the Science of Language. 9 edit. II, p. 372).
,,The only definition we can give of language during that early state ist
that it is the conscious expression in sound, of impressions received
by all the senses" (Chips from a German Workshop vol. II, p. 54.)
3$ fagte: toon bicfer $ofttion au3 tnagtc SRaj SDtufler einen ©turm
auf bic geljeimniffaofle Sefte, bic ben Urfprung ber ©pradje unb Sentunft
bis Ijeute ben SBliden bcr ©terbltdjen t>erfd)Iof$. S5ic in ©emafjljcit ju
biefem ©runbgebanfen oon i^m aufgeftellte I^eoric ift folgcnbe:*)
*) ^orlcjungcn iibcr bie SBiffenft^aft ber ©pradje. 3)eutf(^ oon ©ottger
1, 8. 331. — 3d) mug ^ier ait8briicflid) ^eroor^cben, bag $rof. 9Waj SRiiHer Don bicfer
HTar Ittiiller unb bie Spracfypffilof opljie. 65
,,63 gibt cin ®efefc, tt>eld)e3 fid) faft burdj bic gefammte Statur
fyinburdjjieljt, ba& jebeS 2)ing, ba3 ift, cincn $lang Don ftd) gibt. 3ebe
Subftanj f)at iljrcn eigentljiimlidjen Slang. SBir fonnen auf bic mef)r
obcr locnigcr ooHfommcnc ©tructur bcr SRetaHe au3 iljren SStbrationen
fdjliefcen, au§ bcr Stntwort, bic fic ertljeiten, toenn man fie nad) ityrem
9laturflange fragt ©otb erHingt anberS alS Sinn, $olj anber* ate ©tein,
unb toerfdjiebene flange cntfteljen, ie nadjbem bic Erfdjutterung ber Sorpcr
oerfdjieben ift. ©benfo tear e£ mit bem 9Jlenfd)cn, bem fcollfommenften
Drgani3mu§ untcr ben SBerfen ber 3iotur. Scr 9Renfd) toar in fcincm
Dollfommencn Urjuftanbe nid)t tt)ic bic Ifjiere attein mit bem SScrmogen
begabt, fcinc ©mpftnbungen burdj Snterjectionen unb feine SBafjrnefymungen
burd) Dnomatopdie auSjubniden, er befafe audj ba£ ffiermogen, ben 93er=
nunftconceptionen feineS ©eifteS etnen beffer, feiner articulirten StuSbrud
ju geben. 2)iefe3 SSermogen ljattc er nidjt felbft IjerauSgcbitbet. ©3 tear
eiu 3nftinct, ein Snftinct beg ©eifteS, ebenfo untoiberfteljlid), ttrie jeber
anbere Snftinct. 3)er 9Jlenfd} aertiert feinc Snftincte, inbem er aufljort
berfelbcn ju bebtirfen. (Seine ©inne toerben fd)todd)er, toenn fie — ttrie
ber ©erudjSfinn — unnitj} tocrben. ©o ertofdj jeneS fdjopferif<$e 93er;
m5gen, metres jcber Sorfteltung, inbem fie bag erfte 3Ral burdj bag
©eJjirn brang, eincn lautti<$en SluSbrud oertiel), fobatb al§ e£ feinen
3tted erfiittt Ijatte. S)ie 8^t bicfer pf)onetifdjen Xtjptn mu§ ju 2ln*
fang faft unenblid) getoefeu fein unb nur burd> ben ^rocefc ber nature
lidjen SluStefe, ben ttrir nod) in ber dlteften ©efd)id)te ber SBorter be-
obad)ten fonnen, toarb e3 mogtid), baft ganje Irauben toon mefjr obcr
toenigcr ftjnontjmen SSurjetn allmdf)tid& toon ifjren bidjtgebrdngten unb un*
enttoidctten ffieeren eine nad& ber anberen fcerloren, bag affc bicfc SBurjeln
enbttd) auf beftimmte Itjpen befd)rdnlt tourben. Slnftatt bic ©pradjen toon
neun SBurjeln, ttrie Dr. SKurrat) toerfudjt fjat, ober gar tion einer SBurjet
abjuleiten, miiffen toir annetjmen, bag ber crften geftftcllung ber rabicalen
Spradjetemente eine $eriobe unbefdjranften SSad^Stljuntg — ein Spra^cn^
frii^ting — tioranging, bem manner £erbft na^folgen foUte/'
glaube bem 3twde biefe§ MuffafecS entfpre^enb ju ^anbeln,
toenn i^ ^ier gleid) bic ^Junltc anfii^re, in toeldjen Sajar ©eiger Don
9Raj SDtuKer, mit toelc^em er fonft faft in alien S)ingen iibercinftimmt,
fid) trennt unb einen nad} meiner Ueberjeugung ri^tigeren unb nd^er jum
3iele ffl^renben SBeg einf^Idgt. 2>iefe bciben $unfte ftnb
l) ein confequentereS S3er^arren in bem loic^tigften ^rincip, bafe
bie ©prac^e ftetS nur Segriff au§ Segriff enttoidelt, ^erleitet. ©peciett
t)on ber 9Baj SKutterfc^en fe^ot^efe fagt ©eiger: „2)ie Mnua^me eine^
an §e^|e anlefynenben X^eorie felber niemaB befriebigt toar, bag er biefelbe ftet§
nur aid SRottybeljelf anfa§, wie cr benn and) in feinen ,;5Borlcfungen iiber 2)arft)in§
Spra^ilofop^ie" nacf| einem anberen 9lu3tueg fud)te.
5*
66
£ubn>tg ZToir^ in UTat U3.
jcjjt erlofdjenen SSermogeng ber ©pradjfdjflpfung unb bic bamit jufammen=
tjcingenbe oon einem fcotlfommenen Urjuftanbe beg SDJenfdjen ift cine 3u-
ftudjt gum Unbegreiflidjen unb nidjt toeit bon bem gingeftanbnifie entfernt,
baft eg ung bcr 9latur bcr Stnge nadj fur immer unmoglidj fci, ben
warren ©inn ber Urumrjetn ju erfennen unb ben Sorgang beg ©prad)=
urfprungg ju erttdren." ©eiger fetbft bleibt bem ©runbfatje treu, baft
eg bei ©ntftefjung ber ©pradje nidjt anberg fonne jugegangen fcin, al3
eg f)eute in ber ©nttmdetung aHer ©pradjen gefdjieljt, nur unenbtidj tjicl
langfamer; cr fefct barum aud) nicfyt ja^llofe ©pradjtaute unb biefen
correfponbirenbe 93orfteflungen an ben Stnfang, fonbern einen einjigen
Scutt, ber burcf) einc beftimmte SorftcHuug ertocdt tourbe. „Ser ©djttiffel
3U ber Scbeutung cincg SBortcg liegt nur in eincr oergangenen . . . 3>ie
SRaffe bcr in fdmmtlidjcn SBortcrn tuirflid) entt)altenen Sebeutungen lauft
atlerbingg julefet in einen ein5igen SKittetpunft jufammeu, after cr tiegt
nirgenbg, alg in bem crften Urfprunge ber ©pradje fetbft . . . SBcgljalb
beaetdjnen nun aber bic SSorte anfangg fo toenig, unb iibertjaupt riidtudrtg
(jefcl)cn, immer toemger? 3d) tocife tjierauf feine anbere Slnttoort ju
gcben alg: roeit anfangg nur fo tuenig bemerft toorben ift." (Ur=
fprung ber ©pradje, ©. 130.)
2) 93efd)rdnft ©eiger bie finnlidje SBaljrneljmung, toetdje 2Raj 2RuHc;
butty ©inbriide fdmmtlidjer ©innc (impressions received by all the senses)
atg Quell beg erften ©pradjtoerbeng toirfen Iafet/ auf ben einstgen
@efid)tgfinn. „®ine Ueberjeugung, bic aug ber 33etrad)tung aOcg
fyrad}Iid)en ©toffg, toeldjen ju ubcrfetjeu mir big jefct gelungcn ift, fid)
mir uuttriberfpredjlid) ergeben tjat, ift fotgenbe: Sic SBa^rueljmung, toon
bereu aflmdtjlidjem 2Bad)gt{)um in ber 3Jlenfd)f)eit bic ©pradje 3eugni&
ablegt, ift bic burd) ©efidjtgempfinbungen ... Sic Uuterfd)eibung burd)
©efid^tgroaljrneljmung, namcntlid) aber bag Sntcreffe fiir biefet&e ift bic
ttefentlidjfte ©igentl)umtid)fcit beg SKenfdjen." (U. b. ©. ©. 142.)
Slber trofc biefer ueucn unb un&erfcnnbar fruc^tbaren Stufftdrungen
h)ar e^ aud) ©eiger nidjt befdjieben, bag lefcte 3iri bn erreidjen, obfdjon
cr bieg fyoffte unb hrie aug einigen Stnbeutungen Ijeroorgeijt, eg fdjou
erreid)t ju fjaben glaubte. Sie ©pradjttriffenfdjaft fonnte iiber^aupt auf
itjren eigenen SD3egcn nic^t baju gctangen, eg mufetc oon cincr anberen
©eite, unb jtt)ar toon bcr $f)ilofopf)ie, bcr SBiffcnf^aft beg ©eifteg, ein
glci^jcitiger Slngriff gefdjetyen unb bann mit ben Don ber toergleid&enben
©prad)forfc^ung in'g gelb geftcKten 2ruppcn unb aug ben Don if)r
croberten 5JJofitionen unter bcr Dbcrleitung beg pt)i(ofopl)ifc^en ©cbanfeng
ber te^te, entfd)eibenbe ©turmlauf auggcfiif)rt toerben.
3laS) ber Sccture meiueg cigenen SSud^g: f/Ueber ben Urfprung ber
©prad)e'' fc^rieb mir SDtaj aKuIIer, nac^bcm er ben Sortfdjritt, ber in
biefer ©(^rift cntt)alten, anerfannt, u. gotgenbeg: „9tun fommc
ju mcinen ©cfytincrigfeiteu. SKir fc^eint bag njaljrc problem im Urfprung
IHar IHiiller unb bte Spradjptjtlofopljie. 67
be3 SenfenS ju licgen, ober furj Qcfagt^ im Uebergang Don perception
ju Conception. 2Ber mir erftdrt, ttrie ber SRenfd} baju lommt, bie
«§toet» ju faffcn, ber tjat mir ben Urfprung ber ©pradje erfldrt."
3)a3 ift ein fe§r toafjreS unb fefjr tiefeS SSort. S3 ift bureaus
unmogtid), Don ber perception b. f). ber rein finnlidjcn SBaljmetjmung
jum ©ebanfen ju grfangen, gerabc fo unmog(id) a!3 c3 ift, au§ ber
betoegten SRoterie ben ©eift abjuleiten. 9tur unter 9$orau3fe|}ung beS
©mpfinbenS fann bie Seltentroidehing begriffen, nur unter 58orau3fefeung
ber Sonceptioncn fonncn ttrir jum Urfprunge ber SSernunft gelongen.
SBdljrenb atfo atle DorauSgeljenben ©prad)pf)iIofopt)en, SWag SJlulIer
unb ©eiger mit einbegriffen, bie ©pradje unb ba3 5)enfen, ber aUgemciu
Jjerfommtidjeu Sctradjtung ,(aud) aUcr pf)iIofopf)ie) gemd& au3 ber SBafjrs
ne^mung b. fj. bent Srleiben ljergeleitet fyabeu, fyabe id) suerft ben cut*
gegengefefcten SBeg eingefcitfagen unb gejagt: „$5ie ©pradje ift ein Sinb
be3 SBittenS, nid)t be* ©rteiben§; bie ©pradjnntr$elu entfjatten bie
eigene £f)dttgfeit be§ SDlcnfdjen unb gclangen 511 ifjrer (£l)arafteriftif
erft burd) bie SSirfung bicfer 2f)dtigfeit, itifofern biefc pfjdnomenal b. fj.
ficfjtbar ift. 2>er menfe^tit^e ©ebanfe entfpringt ftet3 au3 einer Sopped
nmrsel, ber fubjectiDen Itjdttgfeit, bem SBiHen unb bent objection pijd*
nomen, ba3 ber SBaljrnefjmung jugdnglic^ ift." 3Jla£ SDlutter l)at feitbem
feine Dofle Buftimmung ^u ntc{ncr §tnfid)t auSgejprodjen.
©3 ift eine ungentein grofee unb tmd)tige Slufgabe, an beren ©r;
fittlung gegentodrtig — tuenn aud) nur Don SEBenigen, abcr ben ©infidjtS;
DoHften bea^tet unb Derftanben — $ljilofop{)ie unb Spradjforfdjung
arbeiten. ©3 ^anbelt fidj urn nid)t§ ©cringereS ate ba3 SRiefentoerf be§
gemaltigcn Sant auf empirifd&er 93afi3 ju enicuen, ju reconftruircn, ju
Dottenben; ba§ ©ntfteljen, SBerben, bag 23adj3tl)um unb bie 9SerooK=
fomtnnung be£ ljod)ften SBunberS ber ©djdpfmtg, ber menfd)lid)en 9Ser=
nunft, ju ergriinben unb begreifen ju lernen. 2Rit fotdjcr Slufgabe Der*
mag fid) felbft bie Se^re Don entftetjenben unb jerfaDenben pianeten-
f^ftemen auc^ ni(^t cntfernt an SBidjtigfeit ju meffen.
®enn toenn ba§ erlofenbe SBort gefunben ift, bann toirb, mie SKaj
SJtutler mit DoIIer Ueberjeugung, ttjetc^e audj id) incite, au^gefpro^en I)at,
alle fiinftige P^ilofop^ic nur ©prac^p^ilofopljic fein.
3ilbcr aus englifdjen €anbft$en unb (Bdrteru
Don
1Cubtai0 frciljcrrn bon ©mptcba*
— IDiesbaben. —
em beutfdjen Steifenben, ttieldjer ©nglanb befud^t, fteljt bort exit
Stcunb unb giifjrer toon fcltener 3ut>crtciffigfeit jur ©rite,
©idjer geleitet er un£ iiber ba£ SJleer unb jeigt unS 2Beg unb
©teg burc§ ba3 . frembe Sanb. ©r bereitet un§ forgfam bor
auf bic SBeltftabt, tljre ©aftfjdufer unb ©et)en3tourbigfeiten, iljre SJerbin-
bungen unb 93erfet)r3mittel, if)re Untertjattungen unb ©efaljren. ©r futjrt
un§ burcf) ba3 betaubenbe (Sebrdngc bcr ©itt), burdj bag fdjtoarae Safety
rintf) bcr unterirbifcf)en ©ifenbafjneu; cr erteid&tert un& bic fc^mcre Saft
ber SSufeen unb ©ammtungen; cr lidjtet un£ ba£ Dunfet bcr engttfdjcn
©efdjidjte, cr entfjiitlt un8 bic UJtyfterien bcr cngtifdjen Stidje. 2tn jebem
9Rorgcn tneeft cr un£ jeitig; cr lueift un3 an, bie furs gemeffenen, I>icr
bop^clt foftbaren ©tmtben jcbeS £agc3 auSjunufcen; er tpeifi fogar 9tatl>
unb Xroft in bcr uncnbtid)cn Dcbc be3 Sonboner ©onntagS unb ftu^tct
mit un3 nad) Hampton ©ourt obcr ©reenttnd). $a£ 9ltle3 ttyut bcr
rott)e SSdbelcr fur 2ltle, toeldje fid) iljm anfcertrauen. 3cbcr n>trb ilju
toben, ber an fcincr £anb ©tdbtc unb Sanbfdjaften burdjtoanbert Ijat
unb mit crmeitcrtcm ©tide, gereiften 2cben3anfd)auungen unb nid)t frudjt-
Io3 erfdjopfter 935rfe au3 bem groftartigen Stttcngtanb tjeimgefeljrt tft.
3u ipaufc bldttern loir bie Dertrauten ©eiteu toieber burd) unb be=
fpred)en mit be§ 2anbe3 Shmbigen bic giiHe unferer ©rinneruugen. ©rft
bann erfennen ttrir met(eid)t, baft mir bocf) metfad) nur bie du&eren SKauem
ber grofeen Snfetfeftung umgangeit Ijabeu. S)ie ©table unb §afen, bic
Strdjen unb SKufcen in ©ngtanb t)aben loir fenncn geternt, nid&t aber ba3
tebenbige ©uglanb felbft, jebenfaflS nid)t einen ttndjtigen unbjjeroorragenben
Zfyil fcincr 93etPot)ner unb it)r Scben.
3Ubcr axis engltfdjeu £anbfit$en unb (Sdrten. 69
®enn ber ©ngtdnber ber l)5l)eren Slaffen truant unb lebt nid)t tit bcr
grofjett ©tabt, bort arbeitet cr ttur; er fcfylenbert nidjt auf 93ou(e&arb£
unb fifct ni<f)t itm SRittcrnac^t toor SafeS, bcnn ba§ toerbietet ba3 Stima;
cr fud)t nidjt feiue ©rfyolung mit gran unb ®inbern in natjegetegenen dffettt-
Iid>en SkrgniigungSgdrten, bcnn fotdje gibt e£ nidjt: be3 SngldnberS £>ei-
mat ift auf bcm Sanbe, in bcit ©c^Ioffcrn unb ©ottageS, in ben tyaxH,
©arten unb ©drtdfjen. 2)en SBcg nadj biefer ©cite be§ engtifcfyen 2eben2
rocift un3 ber getreue Sdbefer jttmr au§ ber geme, aber er tterfd&afft nn§
nidjt ben ©djliiffet, urn in bie tt>of)tt>ertt)at}rte Surg einsubringen.
S)er Sngldnber tjat fein 2)at)etm auf bent 2anbe. 3)ort ntiiffen nrir
iljn auffudjen, urn feme beftcn ©eiten, bie ItebenSttmrbigen ©igenfdjaf ten
jit entbedfcn, bie er Winter einem tiid&tigen, aber fdjroffen unb abtoeifenben
Steufcern t)erbirgt; benn nur tjier Bffnet fid} bicfe fprobe, berfdjloffene SRatur.
3)iefe3 SJafjetm Witt er in £au3 unb ©arten gefdjmitcft fefyen, er
ftubirt barauf, e£ mit allem ©omfort unb attcr ©ultur auSjuftatten, bie
ber 33oben, ba3 Sftma unb ber nationale Steidjtfyum enthricfelt ^aben.
9hir bann alfo befifcen totr eiue toottc 2lnf$auung be$ englifdjen
SebenS, tt>enn ttur ©ng(anb§ Sanbftfce unb ©arten lennen lernten. S«5
gleidj aber toerben ttur bort in ein ganj neueS ©ulturgebiet, in bie eng*
lifd&e ©artenfunft eingefuljrt. $>ie $ftege unb SluSfd&mucfting bcr Sanb;
fifec unter SBebtnguugen, bie toon ben Sinien unfereS continentalen 2eben3
toefenttid) abtoeidjen, t)at bie ©drtnerei in ©ngtanb ju eincr eigentfjiinu
lichen unb I)odf)entttricfetten 2up3inbuftrie auSgeftaltet.
Sunddjft ertaubt ba3 fonnenarme, feudjte Stima nid&t ein anljat=
tenbeS rufjigeS SSermeilen int greien; e& geftattet ben retcf>litf)en ©enufc
ber frifdtjen Suft nur in lebtjafter SSetoegung.
3)iefe§ fu^te Stima reift audj ni<$t bie grii<f)te, an benen bei un3
iebe$ ©arisen felbft bem Unbetnittetteren feinen Stnt^eit gibt.
9fabrerfeit3 getodtjren bie milben engftfcfjen SBinter einer grofeen 3at)t
bon ©ettddfjfen, toeldfje unfcr tjdrtereS Stima t>ernidjtet, bag gortfommen
tin greien.
£ierju gefcflt fid^ noc^ ber mitbe, tneiftenS frif^e, fanbige ®oben in
einem grofcen I^eile t)on ©nglanb. 3)iefer, in SSerbinbung ntit bem
feudjten fflima, erjeugt ober geftattet bie faftigen, reinen, grunen Sftafen-
flaxen, wetd^e bem engtifd^en ©arten feinen ©runbjug gebcn unb beren
glildlid^e SRac^a^mung bei un^ fo fetten gelingt.
@nbti^ fii^rt bie beftefjenbe ^otttifc^e unb fociate ©int^eitung be§
Sa^reS ben ©ngldnber toafjrenb ber fc^onften SKonate be^ grtifjtingS unb
©ommer^ in bie ©tabt, h)d^renb er im SSinter auf bem Sanbe lebt.
Diefe Umftdnbe ftnb e^ tjorne^mlic^, toelc^e, unterftitfct »on bem ^o^en
burc^fc^nitttic^en SReidjttyum ber grfi^eren ©runbeigentpmer unb ber jaljl=
ret^en fteineren Sanb^au^befifeer, ju einer t)5Ilig eigentpmlic^en SWet^obe
in ber S3el)anblung unb ©uttur ber $arfe unb ©arten fuljrten.
70
Snbtuig Jrcifjerr von (Dmpteba in Itfiesbaben.
Die $arfg fotlen mBgticfyft toeit, babei bourn- unb ttnlbreicf) fein, unt
Staum fur energise SSetoegung im greien, fur bic 3<*gb unb ben nation
nalen ©port ju fdjaffen. Die ©arten fotlen im furjen ©ommer £aut>
unb ©lumen tragen, fte foQcn aber t)or SttHem in ber rauljen ^aljreSjeit
feine bldtterfofe Debe, fie fotlen immer griin fein. 2)a3 #au3 foil ttmt}-
renb bicfer Qtxt in ben SBotjnjimmern unb im SBintergarten einen fteiS
bliifjenben SBIumenfrufjting jeigen. Sic Safe! toertangt frifdje griidjte unb
junge ©emiife ba$ gan$e %a$T Ijinburd).
©3 foil mitfjin ber cnglifclje Sanbfifc nidjt ettt>a nur bem ©tabts
beroofjner einen notfjburftigen 93e^elf fiir ben ©ommcr liefern, er foil X)kU
metyr bem Sefifcer unb feinen jafjtreidjen ©dften einen gerdumigen, roarmen,
reidjen, „comfortablen" Sufentfjalt im iperbfte unb SBinter bieteu. $>ier
toill ber Sigentfjiimer fid) burc!E> ©drtnerei, 2anbttnrtl)fd)aft, $flege be$
gorfteS unb burdj bic Stnftrengungen ber 3agb ttrieber fiir bic fjeifee gefyefcte
©aifon in Sonbon ftdrfen, tjier toiH er in au3reid)euben SRdumen bequeme
©efetligfett iiben, tjier null er at3 ©runbtjerr feinen politifdjen unb fociateit
©infhtfj gettenb madEjen unb genie&en.
©o tjat \\6) bie Ijeutige engtifdje Ijolje ©drtnerei enttpidett au3 cinem
Sampfe gegen bie Ungunft be3 SHimaS unb ber 3al)re3jeit. Ser fdjtoere
©treit ift ftegreidf) burdjgefodjten Derm5ge ber dfjaraftcriftifdjen SRudfid)tSs
Iofigfeit be3 SngldnberS gegen ben ffoftenpunft, toenn ein beftimmter,
notljtoenbiger obcr tounfd&enStoertljer 3^rf erreicf)t tucrben foil. ®3 bilbete
fid) eine befonberc ©c^ule ber ©drtnerei, bie, augleid) mit bem bunteit
leppidje ber ©ommerbtumcn, ben ©artcn ber immergriinen ©etodd£)fe
urn baS $>au3 legt; bie aber toor 2ltlem im^reib^aufeju jeber Sabred-
jeit ba§ befte Dbft, bie feltenften SSIumen fiir itfd) unb SBo^njimmer
Ijer&orbringt unb baneben im SBintergarten einen erfreulidjen, reid) ge-
fdjmiidten 2tufentljalt fiir bie ipauSgenoffen fdjafft.
©3 ift alfo, tote loir feljen, baS XreibljauS bie notfjtuenbige ©runb-
lage biefeS toeitoerbreiteten grofcartigen gdrtnerifdfjcn ©omfortS.
SSereinjeltc Stnfdfce unb untoofltommene Sftadfjafjmungen bicfer cng-
Iifdjen £reibl)au$gdrtnerei treffen toir aud) in ber £>eimat; obcr nur in
feltencn einselnen gotten ift biefe ffunft bei un3 ju eincr d^nli^en ©tufc
ber S3ietfeitigfeit unb SBotteubung enttoidett, tok fie in ffinglanb ben £urd)-
fdjnitt ber Seiftungen bilbet.
Diefc ^o^e engtifdje ©drtnerf^ute faub i^re 3ufammenfaffung in bem
gro&artigen botantf^^gdrtnerifc^en Snftitute su Seto; fic entwidelte, bem
©efefce ber Slrbeit^eilung fotgenb, bic riefen^often SSarm^auSbetriebe ber
grofeen ^anbelSgdrtner.
3u biefe SSelt labe ic^ mcine Sefer ein, mir ju folgen. Unfcrc
SBanbcrung toirb un^ nidjt mit einem ©ollafte le^r^ofter 83efd)reibungenf
nid^t mit ^otograp^ifc^ genouen SBiebergabcn tcd)nifc^er Sinjel^eiten
laben; fic bietet nur toecfyfelnbe bunte SSilber, bie fidf) bem reifenben ©artcn-
SUber aus eugltfcfyen £anbfifoeu uub <5arteu. 7\
frcunbc ate ©aft auf englifdjcn Sanbfifcen unb ate Sefudjer englifdjer
®drten entrotlen.
3)te nad)fotgenben SSIdtter follcn baljer oberftddjlid} fein. Satte fie
fid} trnber SBittcn irgenbtoo in ber UcbcrfiiHc be$ ©toffeS fcertteren, bitte
id) ben ©adjfunbigen toegen bcr untoertnetblidjcn bitettantifdjen SDtdngel
unb £iiden urn 3?ad)ftdjt; mit ben iibrigen geneigten Sefern aber bin id)
DoHftdnbig eintoerftanben, toenn fie ertniibenbe Stufjdljtungen unb ©d)itbc~
rungen frembartiger Sin3el^eiten tooljtoollenb iiberfdjtagen.
I.
f}atfte!5 fjoufe, 6er Can&ftij 6es ZtTarquefs von Salisbury.
9lu§ ber langen 9teif)e jener bemerfenStoertljeften ©igentljiimlidjfeitcn
bed engtifdjen SSolfSdjarafterS, totlfyt h>efenttid& baju mitgehrirft Ijaben,
ba£ Snfctreid) fo frufjjeitig auf feine #5fje ju fiiljren unb bort bi§ jefct
bauernb unb feft ju erfjalten, tritt, toertoanbt mit bent atlgemeinen ©eifte
bcr ©efcfelidjfeit, ganj befonberS ber f)iftorifd)e conferuattoe ©inn be§ (Sng-
IdnberS tjer&or, bie tneit toerbreitete 93efanntfd)aft mit ber fcaterldnbifdjcu
©efd)id)te, bag hmrme Sntereffe fur bie 2)enfmale unb fiir bie bebeit-
tenben, ttrirlungStootfen 30lenfd)en ber S3orjeit. Seber Sebenbe fiityft fid),
in trabitioneflem SRefpecte, mit feiner 93orgefd)icf)tc unb itjren tjertoor;
ragenben SSertretern toerbunben; er fie^t bie (Sntttridelung fcineS 2anbc&
burcf) bie 3al)rf)wtberte greifbar toor feinen Stugen entrollt unb natur-
gemdfe Dereinigt fid) in il)m bie erljaltenbe SReigung mit ber angeborenen
rceiterbilbenben X^dtiglcit
©o gendtjrt unb erjogen ftrebt ber engtifdje SSoltegetft, toon pofittoeit
(SeftdjtSpunften auSgefyenb, ftetS nur nadf) ben nddjften praftifdjen QkUn
imb fcfjtoeift nidjt l)attung§to3 nadj ttutlfurtidjen boctrindren Iljcoremeit
in bie Srre.
2ltterbing§ fonnte fid) biefer gludtidje §iftorif<$e ©inn be§ S3olfe&
im 8Q3efenttid)en ungeftSrt enttoideln. ©3 ift Sngtanb ftet§ toergonnt gc-
toefen, rutyig an fid) toeiter ju bauen unb bie gdben feiner SSergangens
f)eit ftetig Dom SSater burd) ben ©otjn jum (Snfel fortjufpinncn. Sein
breifcigiafyrigeS ftriegSelenb tjat bie Ijolje Suftur unb SStiirtje bc$ SanbcS
unter ©djutt, Itjrdnen unb SStut auf faft jtoei $af)rf)unbertc begraben,
tyat bie ftdrfften SBurjeln ber nationalen Sraft jerftort unb bie geiftig ftrie
materieU Derarmten Slac^fommen, jenfeit einer meitcn Sluft^ .i^rcn SSor-
fa^ren entfrembet gegeniiber geftettt. 9lie tear ba§ Sanb jum ©pielballe
unb Xummetytafce jebe§ raubgierigen 9lad)barn erniebrigt getoejen; nie
ift bie imponirenbe (Sntfaftung feiner nationalen SBe^rfraft, ba^ notf)^
toettbigfte ©c^ufemittel fiir ben nationalen SBoJjlftanb, burd} cin t)erfaffung§=
ntdfjig gcld^mte^, organif^ au^einanber ftrebcnbe§ fBberatfoeS {Regiment
unterbriidt worben. Snbiid) brang aui) bie englifc^e ffir^enreformation^
72 £ubnng fretf|err t»on (Dmpteba in IPtesbaben.
gctragen toon ber ftarfen ©taatggetoatt, jur ginfjeit burdj; eg entftaub
fein SRifc inmitten ber Station , in ben frcmbe ©etoalten it)re ftebel mit
©rfotg fatten einfefcen fonnen.
Untcr alien giguren in ber ©cfdjidjte ©ngtanbg, toetdje fidj fiber
bag getoofjntidje menfd)lid)e 9Jla6, ber #errfd)er ttrie ber 93ef)errfd}tcn, cr-
Ijeben unb urn fo grbfjcr erfd)eineu, je tiefer im Sanfe ber Sa^unberte
atle umgebenben, et)ebem t)ert>orragenben ©pifcen Derfunfen finb, — unter
alien nimmt im £>er3en jebeg Snglduberg bie fi'onigin ©lifabctl) ben
crfteu $lafc ein. ©ie ift in ber griunerung tfjreg SJolfeg Iebenbig ge;
blieben; nid)t toanbclt fie nur alg blutlofer ©fatten burd) bie ©cf)ldffer,
©alerien unb Sibliotfjefen. 3)er ftetig fortgefponnenc gaben ber gefdjidjt=
lidjen ©nttiridelung Derbinbet nodj immer Good Queen Bess mit 3)enen,
bie brei Safjrfjmtberte nad) ifjr leben.
3u biefer 9Baf)rnef)mung getangt man fdjon, toenn man in englifdjer
©efetlfdjaft bie Sapetle £>cinrid)g VII. in ber SBeftminfter 2tbtci betritt unb
bemerft, toie bort ber efjrfurdjtgDoll fdjmeigenbe fiireig bag SRonument ber
Sonigin umfte^t, alien ifjren 9iad)barn gleidjgitltig Dorbcigefjenb; ober toemt
ber 95eefeater im 33ell Softer ttjr ©efaugnijs jeigt unb toon ©ffe£ unb Sabty
Qanc ©ret) erjaf)lt. ©benfo t)erfcf)loinbet in SGBfjite §at( Sart I., in St.
SameS' ^alaft bie „btutige" SWartj, in Hampton Sourt SBSoIfet) unb $ein;
rid) VIII., ja! eg Derblafct, jttrifdjen alien ftarfen Xuborg unb fc^tnac^en
©tuart^, fetbft ber grofec protector Kromioett Dor biefer einjtgcn erljabenen
unb Dolfgtfjiimlidjen ©eftalt. Unb eg ift nidjt nur mardjenljafte 9tomantif,
bie fie umgibt, toie uufere Saifer, beu „9lotljbart" unb ben „lefeten SRttter";
nein! ber englifdje -proteftant jeber ^artei unb ©efte fal) unb fiefyt in
iljr bie enbtidje Sefreierin Don ber £>errfd)aft Stomg, bie 93otfampferht
fiir ©ettriffengfreiljeit, bie 93cfc^iifecrin (Snglanbg gegen ben fpanifd)cn Sreuj=
jug unb bie fcf)ottifd)e fattjolifdje $ratenbcntin, bie ©rtoerberin SrfanbS,
bie Segriinberin ber 9Racf)t unb ©rofce beg brittfdjen SBotfeg. SWan §at
tfjr nodj nidjt bie toeife ©elbftiibernrinbung Dergeffen, mit ber fie in ber
gragc tuegen beg fontglictjen 9Jlonopotrect)teg bem energifd)en SBiberftanbe
be^ Unterfjaufeg na<f)gab unb tote fie tyemad) ben ©emeinen in toiirbigen
unb ttmrmen SBorten fiir iljre ^flid^ttreue in ber S3ert^eibigung beg Solfe*
too^teg banfte.
©o ful;lt bie ©egennjart fief) ber ffifinigin 83efg afe i^rer birecten
(Srbtafferiu banfbar Derbunben; langft finb bie fleinen ©cfytoadjen ber
grau ttergeffen, bie alg Sonigin fc^on bei ifjren jeitgenoffif^en SBiber^
fac^ern fo l)odj ftanb, ba§ bie $Puritaner, bie fie felbft ^atte in'g ©e^
fangni^ merfen laffen, bort fiir ifjre ©rrettung Dor jefuitifdjen HRorbs
anfc^lcigen beteten, unb bafe ein befonberg fanatifc^er ©etttrer, bem foeben
auf bem ©dfjaffotte bie retfjte $anb abgefc^Iagen n?arf mit ber fiinfen
fcincn §ut fcfyroenfte unb laut rief: God save the Queen!
©old)e unb aljntidjc, buxfy ben SSergtei^ mit ben ©djidfaten beg
3 1 Iber aus ettglifdfen £anbftfeen unb (Sarten. 75
genen 93aterlanbe3 nidfjt erfjeitembe 93etracf)tuugen tuerben bcm beutfd)cn
Stcifeubcn ^dufig ba3 ©eleit gebeu, tooljin er aui) in ©ngtanb feiue
©djritte menbet. Ueberatt fjicr finbct cr S3ergangcnf)cit unb ©egentoavt
friebtid) ncbcn cinanbcr unb in tjarmonifdjer Solge Dereiuigt, itberatt ftctlt
fid) an3 Srfjaltung unb gortbilbung cm cintjeitlidjeS ©anjeS jufammcn.
SBtr tjerlaffcu nad) faum einftiinbiger gafjrt unjern 3^9 auf eiuer
Station ber ©rojjcn 9?orbbaf)n, bie un3 con SingS (£rof3 au3 bcm bunftigen
Sonbon entfiitjrt t)at. ©djon tocnige ©djritte aufcerfjalb bc3 93afjnljofe3
l)aben toir cin ©tiid SJJtittelalter Dor un£. SBir bctretcn cin ©tabtdjen,
befjert malerif^c tueiftgetundjte 3a<f)tt)ertf)aufer fief) mit ben fpifeen ©iebetn
bcr ©trafee jutoenben unb mit bcm iibergebauten, ©onne unb Suft fuct)en=
ben ©ommerjimmer bie female ©affc iiberrageu. ©ie toerfefcen un£ in
bie Seiten, too ber §auftein nocf) ben Sirdjen unb §errent)cuifern tjorbc-
fatten unb bcr rotfje 83adftein ein ncucr Sups toar. 2)a3 ©tabtdjen
lag urtyriingtid) nur im Ifjate; bie Sirdjc attein, alter ate SBifljelm bcr
(Srobercr, ftanb baritber erljofjt. 2(n biefer t)orbei jog fid) fpater bic
neuere £od)ftrafec, bem 2Begc nad) Sonbon entfang, ben $ugel {jinan unb
munbete unter bem atten ©ommerpalafte ber frommen S3ifd)5fe toon (Sty.
S3icIIeid)t war biefer neue ©tabttljeit nod) nid)t ganj oben angelangt, ate
bic Sifdfofe ben £ugel fdjon toieber Ijinabftiegen, urn bcm jtoeiten Subor,
^cinrid) VIII. in itjrer ©ommerfrtfdje $tafc ju madjen. £>crnadj tourbe
e§ bann ju fpdt, btc £ofje ju erflimmen, beun att Safob I. ben alten
93ifc6of^paIaft toerliefi, fdjieb ber neue ©igentfjiimcr SRobert Kccil crftcr
6art t)on ©atiSburt), @tifabetf)3 jtoeiter grower 9Jtinifter, fid) unb fein
neueS „£>au£" burd) bie fyeute nod) ftetjenbe l)ol)c ^arfmauer toon bcm
emporftrebcuben ©tdbtd)eu ab. Qtoti unb cin tjatbeS 3&f)rf)unbert lag ber
Crt atebann rutjig in feinem alten 2Beid)btlbe, bi§ toieber ein (Srofter
be3 SReidfjeS, biefeS SDtat ein gang moberncr, ber director bcr „®rof$en
Sttorbbaljn", fid) auf beffen anberer ©eitc anficbelte, ber nun bic ncueften
£aufer fidf) jutoenben.
Dag ©tdbtd&en Ijei&t #atfietb unb tear fdjon eine ertodtjnenStoertfye
SRicbcrlajfung, ate e$ untcr bcm Slamcn ^etfette" in ba§ Soom^ba^boof
cingctragen nmrbe. §ier0fa6en SSenebiftiuer . oon ber Slbtei @lt) unb
tjcrtoaltetcn it)r fd)5ne^ ®ut, cin ©c^enf beg fdd)fifc^en ffimigS ©bgar
au3 ben lagen be3 I^eiligcn 2)unftan. umfafetc cttoa toicrtaufenb
SKorgen. ©pater ftiarb au3 bcr 2Ibtci ju SI^ ein 93ifd)of3fifc unb au§
bem 2Reierf)ofe ju ipatficlb eine ©ommerrefibenj bcr 83ifcf)ofc. Urn ba§
Sa^r 1480 bautcn biefe fid) bort cinen „$alaft", ben tuir nat)er fennen
leraen tocrben. 3eboc^ foHtcn bic geiftlidjen ^crrcn fi(f) be^ fd)5nen S3c=
fiftc§ n\6)t mc^r lange crfreuen, benn im %afyxt 1534 mufcte ber neue
Sifd)of fcom S5nig §einrid) VIII. fcine grnennung mit bcr Stbtrctung
ton #atfielb beja^ten. 2Bic beibe ^o^e £erren fic^ tuegen biefer ©iinbe
bcr ©imonie »or if)rem ©etoiffen 'abfoltrirten, tueifi man jefet nic^t me^r
7^ fubtpig (fret^err von (Dmpteba in Wiesbabtn.
genau. 83ermutf}Iid) toerfuljr #einridj VIII. l)icr dfjntid) tt)ic gegen bic
@rben unb ©laubiger beg Earbinate SEBoIfc^, ate er beffen ungefjeureS
SBermogen einiog. ®r iibcmjieS ben 33ered)tigten ate SScrgiitung cine
Sieilje toon gorberungen ber Srone, bie aber fdjon lange notorifdj „notl^
teibenb", nidjt metjr realifir6ar roaren. Sciber ift ja ju alien 3^itcn
bag ©ut bcr $ird)e, beven Steidj nid)t Don bicfer SEelt fcin foil, Don ben
©rofcen bicfer ©rbe ate paffenbe 93cute angefeljen. Studj bic mddjtigen
Saien fatten ftetg, nic^t ntinber ate bic Kirdjc, „cinen guten SKagen" unb
fonntcn „ungered)tcg ©ut tocrbauen".
©o ttmrbe £atficlb einc tonigtidjc SRefibenj unb fogar einc fc^r be*
licbtc unb t)iel bcinotnite. ©bnarb VI. unb fcinc ©djtoefter ©lifabet^ ber-
lebten l)ier cinen %f)t\t ifjrer Sugeub unb Severe beftieg Don l)ier Gngs
lanbg Ztjton. 3^rcm 9tad)folger jebod), 3afob I., gcficl cin ©d)(o& feinc3
9Rinifterg SRobert Eecil beffcr unb cr taufd)tc eg im %at)xt 1607 gegeit
ftatfielb cin. Wit btefem SBedjfct fticg bcr alte ^crrcufifc ju neucm
bauernbent ©lanje empor, benn bcr ncuc Gigentfyiimer bautc in ben altcn
$arf bag pradjtige „£>aug", toeldjeg toir, nebft ben tociten ©drten, mit
benen er eg umgab, Ijeute burcfjtoanbern toollen.
Snbeffcn begann bic S3erbinbung ber Kccite mit £atfirfb nidjt erft
bamate, ate fie beffen Sefifcer murben. ©djon SRobcrt Secite, beg crftcn
(Sarte toon ©atteburt) 93ater, SSiHiam (£ccif, bcr beriiljmtc erfte SOtiniftcr
6(ifabetf)g todfjrenb toierjig 3>af)ren, ung ©entfdjen aug ©djitlcrg 3Raria
©tuart ate Sorb SBurfcigl) xdoIjI befannt, liefe bie ©purrnt fcineg SBirfeng
l)icr juriii. Sr befaft einc Ijernorragenbc ffaffifdjc Sitbung unb gab,
erft neun§ct)n 3a^re alt, ben ©tubenten t?on ©t. 3oI)n§ Eoflcgc 511
Cambribge fdjon grtedjifdjc Stepetitorien. SSercite unter ©buarb VI. unb
ber „btutigcn" SJlart) fyattt SBifliam (Secil angefefjene ©tetfangen im ©taci^
bienfte beffcibet; er fjatte fid) unter ber Sefcteren micber Sffenttid) junt
ftatfyolicigmug befannt unb — uric eg bie S5nigin toertangtc — eincn
SpauSfapIan getjalten, ba cr feinen SScruf jum SDtdrUjrer t)erfpurtc. 9tte
Glifabetl) im %af)xt 1558 aug ifjrer ©efangenfe^aft in ^atfictb ben X^ron
teftieg, crnanntc fie SBitiiam Cecil, iljren bema^rten gcl)eimen 8tat^gcber#
ju i^rem ©rftcn ©taatefecretdr. ©r bfteb in*biefer ©tetlung unb in bcr
nod) t)i)I)eren ate Sorb £>igl) Ireafurer bte ju fcinem Xobc im %afyxt 1598.
2tugenf(f)cinlid) toar er bcr HRann, bcr Don 2ttten, tnelc^e ©lifabctl) unb
ifjre fonigli^c 9Rad^t umtoarben, bic mciften Don ben Sigcnfc^aften »cr=
cinigtc, beren ber erfte Siencr unb 9tatlj ber encrgifc^cn ©elbfttjerrfc^crin
beburftc. 9la<f) Idngercm ©^tnanfen ^at fcin gefcfyidjtlidjeS S5ilb fi^ ctn?a
baljin fcftgcftcttt, bafe cr, menu audj fcin grower 2Rann unb fein ebfet
l)eroifd>er S^araftcr, jcbenfatt^ cin grower SRinifter h)ar. S3ieHeid)t be-
bingt bag Sine nicf)t notf)h?enbig bag Stnbere.
Unb nicmate t>erliej3 bag SScrtrauen bcr ftonigin iljren trcuen Wiener.
S^rem ^erjen ftanben ber getoanbte Bciccftcr unb ber gldnjenbc ©ffej
Bil&er aus englifdjeu £anbfit$cit unb <5drten. 75
nafjer, S3urleigt) aber ttmrbe ftete gegen attc Sntriguen unb Stngriffe in
ben l)5d)fien ©fjren ertyalten. gur iljn gait bic bamaltge ftrenge (Etiquette
nidjt, nad) tocher Sebermann, ben bic Sonigin anrebete ober and) nur
anfat), fofort auf bie Jfniee finfen muftte; fiir Surlcigl) toar ftete eiu
©effet oorljanben. 2tu$ i^rc ©parfamfeit in @l)ren unb ©etbbelofjnungeu
fcergafc fie fiir Serif. @r I)interttefi, nad) 2Jiacautat), ettoa breifjunbert
toerfdjiebene 2anbgiiter. S^otf fonigltc^cr SSefwfye tjatte er fid) ju er;
freueu; ieber bauertc ntetjrere SBodjen unb foftete bent SBLrtfje toierjigs bte
fedjjigtaufenb 3Rarf. Snbcffcn roar ber ganje 3ufd;nitt feineS §au&
ijaltc*, ober ridjtiger £offtaatc£ biefcm fonigtidjen SujuS getuacfjfen. ©r
Ijatte jwei SRefibenjen in Sonbon unb jh>ei auf bent Sanbe. 3n ber
©tabt foftete fein ijpauSfjalt toorfjentlid) fed)3f)unbert 2Rarf toenn er ab=
toefenb unb adjtfjunbcrt bte taufenb 2Rarf toenn cr antoefeub wax. Sort
£}iett er ftete brei offene ilafeht. ©eiu ©efofge beftanb au3 jtoanjig an;
gefeffencn bemittelten ©bclteuten. Gr toar ein fcfjr toomeI)mcr unb ftoljer,
nod) ntcfjr aber ein fcljr ftuger unb fd)arffinniger 2)tamt. ©nglanb Der?
banft SBittiam Gecit, ttrie feinem jungeren ©ofjne unb 9lad)foIger SRobert
©ecil, feinen grofeen Sluffdjtoung untcr ©lifabeti)£ longer Stegierung unb
bie cublic^c fefte ©ruubting be3 proteftantifdjen ©laubeu«. 3)icfer ©otju
roar ate ©tifabetljS erfter SKinifter fein unmittelbarer 9tad)foIgcr. ©ein
2Ieuf$ere£ fonntc bie Sonigin nid)t beftodjen fyabtn. ©r tnar frdnftid),
feine ©eftalt oertuadjfen unb atoergtjaft, aber in biefem etenben $5rper
lebte ein ftarfer, t^atiger, gcbutbiger, fluger ©eift unb eine juucrldfftgc
mutljige SJJflidjttreue. SRobert Sccil ererbtc in SBirtlidjfeit Don feinem
SJater bie ©igenfdjaften, bie einen bebeutenben ©taate; unb ©efdjdftSs
mann auSntadjen, — eine ©rbfdjaft, toeldje immer nod) pufiger eroffnet
ate augetreten tturb.
9Hd)t ofjne ©runb toirb itjm bic Huge unb btecrete 2lrt, in toeldjer
cr ben Uebergang ber Srone toon ber alternben ©lifabetlj auf ifjren un=
ruljigen, ungebutbigen fdjottifdjen ©ro&neffen toerntittette, jum ffierbicnftc
geredjnet. ©r traf im ©tifleu atle SSorbcreituugen fiir einen SBedjfet ofyne
©torungen unb ftanb an ©lifabetljS ©eite ate fie ftarb (1603). ©ie
Jjatte i^n ftete gernc ntit feiner lorperti^en aJli^geftalt gencdt unb auc^
tvol in itjren 93riefen ^^igntdc" /ff(eine^ 2Ranu!ein" angcrebct. Site c§
nun an'3 ©tcrben ging unb fie irrerebenb ntit ftarrem Slide int ©arten
tjon SBinbfor bafag, t)on ifjrem rat^lofcn ^ofe umftanben, fagte Cecil:
„Sto. SKajeftat ntuffen jefet 5U 93ette ge^cn." ^SKuffen/' ftiefe bie ffouigin
Ijeroor, ^muffen! 3ft «muffcu» ein SBort fiir eine giirftin? Df), 9Rdnn-
Icin; 9Ranntcin! 3)eiu SSater ^atte fid) eiu fofdjeS SBort nid)t crtaubt,
aber S)u toirft jefet unberfdiamt, lucil S)u toei^t, ba§ i(^ fterben tuevbe."
®a§ ungliidlic^e SSort ^ntuffen'' ttmr toot bc^ armen ©ecite einjigc 5J5fIid)t^
t>ergeffenl)eit gegen feine ©ebieterin tod^renb feiner tangen Sienftseit.
Safob I. jeigte fid) nid)t unbanfbar gegen ©ecil. 9kd) jtuei Sa^ren
76 £ubroig ^frei^crr con ©mpteba in TOiesbaben.
tear biefer Earl of Salisbury SRitter beg $ofcubanbc§ unb balb barauf
Sorb #igfj Ireafurer. Stbcr ber #err fclbft toar cin Stnbcrcr. ©r war
fcin ©e(bftf)errfd)er ioie Slifabet!) unb Derlangte fcinc aufcere Unter-
toiirfigfeit. Gfg rcgicrtc fid) ganj bequem unter i^m, falls er nur fjin*
reidjenb grct^cit unb ©elb fanb, urn bic ncucn grojjen S3erf)altniffc rait
fcincn „ljungrigen" ©gotten ju genie&en. SJlan begtudttmnfdjte eineg
2ageg Secil, bafe er nun nidjt metjr §u fntcn braudje; er ertiriberte:
„2Bottte ©ott, icf) fpradje nod) auf meinen $uieen." (£r tyatte ljart ju
fampfen gcgcn beg Sonigg SBerfdjioenbung unb ipalttofigfeit unb mit
©djmerj falj er Sngtanb mm ber Ijotyen ©tettung tjerabgleiten, bic eg
unter Etifabetf) in ©uropa cingenomnten fjatte. Urn fo toeniger mot
mocfjte er fid) toeigern, bent Sonige ju SBitten &u fein, aU %alob wiinfdjte,
^Robert Secilg fd)5nen Sanbfifc Iljeobalbg bei Sonbon gegen bag entferntere
§atfielb einjutaufdjen.
3ebodj bem 2Jiinifter geniigte ber „93alaft" in §atfielb ebenfo tocnig
ate bem Sonige unb ba er jubcm bie Saupaffion fjatte, fo benufcte er
Drt unb ©etegen^eit, toermutf)ttd) aud) giinftigc Saufdjbebingungen, urn
fid) ein neueg „&aug" neben bem alten „<($alafte", unb biefen toeit ubcr=
ragenb, 5U bauen.
3)ag neue $aug frtfnt, toeit^in ftdjtbar, bie SIntjolje, toetdje ttrir
toom S3a^ofe aug fjinanfteigcn. 2>urd) ben Umfdjttnmg ber 3eiten unb
Sommunicationen fetjrt jefct bag ©cfylofc bem Slnftfmmlinge feine norbtidje
SRiidfront ju, toaljrenb bie fiiblidje Sorberfcite, ber alten £ecrftrafec t)on
Sonbon 5ugetoanbt unb mit ifjr burd§ einc gro&artige Sttlee toerbunben,
in einfamer $ofjeit bie ©arten iiberragt. 9lad) 3lorb unb SRorboji befytt
fid) ber tyaxt aug, nidjt feljr grofc, feine Umfaffunggmauer mif$t nur eine
beutfdje 9Keile. ©in neuer SBeg leitct ung toom turbid) eroffneten $orf-
tfjore am SBaljntjofe nad) Dften unb biegt in bie £auptaHcc cin, bie fufc
lid) jum ©djloffe fiifjrt. Der $arf tritt ^ier unmittclbar an bag §auS
tjeran. Sag ©djtofc bilbet brei ©eiten eineg offenen SJiercdg. S)ie un-
gebrodjene norblidjc Siudfront, in i^rer 3Rittc burd) einen ^o^cn U^rs
t^urm gefront, t)at eine Scingc t)on ettoa ad^tjig 3Retern; bie nac^ ©iiben
t)orfpringenben ©eitenfliiget finb etloa fedjgunbtoieraig SReter laug. 3)ag
§aug ift au£ rot^em Sadftein aufgefii^rt, bie Sinfaffungen ber genfter
unb Iljuren, bie Sfflauerfanten unb Srenelirungen finb toon bunffem
^auftein. S)ie uorbere fiibli^e gront ift eine ber groftartigften ©^opf-
ungen ber englifdjen 9lrc^iteftur in jcner eigent^umlid)en SDtifdjung beg
fpdteren got^ifc^en ober petpenbicularen ©tilg mit ber Sftenaiffance, toefdjc
man ben ©lifabet^ftit genannt Ijat. 3)ie beiben auf biefer fiiblidjen ©eitc
loeit tjortretenben %luQti finb jeber mit jh)ei augfpringenben toierecfigen
Ifjurmen abgef^tojfen, jtoifc^en benen bo^elte greitreppen ju tt>citen
mit ©tag gefd^Ioffenen ^forten fii^ren. Sangg ber, jtoifdjen biefen beiben
Sliigetn toeit jurudtretenbcn fiibti^en Sront beg ^auptgebftubeg, metc^eg
Bilber aus euglifdjeu Saubfifcen unb Garten. 77
jmet ©todroerfe entf)dtt, iodfjrenb bie gliigcl eg mtt einem brittcn uber^
ragen, jieljt ftdf) cine boppeltc Stride aufetnanber gcftcCtter borifct)er ©dulen
l)in. 2)er grofce #aupteingang, beffen Ueberbau, bcr Uljrtfjurm, in mefjreren
Stodmerfen emporftrebt nnb ntit ciner fonifd) abgcrnnbctcn Suppel ab=
fdjlie&t, jeigt, nadj bamaligcm ©cfdjmade, cine aufftcigenbc Sufammen*
ftcHung toon ©dulen borifdjer, ionifdjer unb forint£)ifdE)er Drbnung. 2tn
jeber ©cite beg Xljurmeg ert)eben fid& auf bem Sadje &toet niebrige ©iebel.
3>ag ©anje bringt burd} feine ebleu Sertjdltniffc, manuidjfadjen S3er^
jierungen unb burdf) ben ©egenfafc, in toeldfjem fid) ber rotlje £aufteinbau
toon* bem itypigen ©rim ber Sanbfdjaft abljebt, eine aufjergetoofjnlid) grofc
artige SBirfung fjertoor.
3)er #of jttrifcf)en ben beiben gliigeln ift ganj fret; eine breite griiue,
toon Slumenbeeten unterbrodjene Xerraffe erftredt ft<f> bor ber §auptfront
langg bem ©cftfoffe. 93on ifjr aug fii^rcn nacf) born unb nadf) ben ©eitcn
fc^toere ©anbfteintreppen in bie ©drten f)inab. 3n biefe miinbet aud),
cor ber £>auptfront, bie grofce ettoa fiinf&ig 2Reter breite (Einfafyrtgattee
Don mdd)tigen fiinben, an beren fernem nidjt abfefjbarem fiiblicfjen ©nbe
ber ^Sarf burd) ein reid)eg toergolbeteg ©tfengitter fid) gegen bie $>eer*
ftrafte abfdE)lie&t.
$>a idj ben SSorjug genofc, $>atftelb §oufe afg ©aft ju betreten unb
ber &augfjerr Ijeute burd) @efd)dfte in Sohmingftreet gefeffelt mar, fi>
empfing mid} fein dltefter ©of)u, ber junge Sorb Eranborne, unb erbot
fid?, mir bag „$aug" unb bie ©drten ju jeigen. 9?ad) ben ungejtoungenen
©etoofjnfjeiten, bie auf ben grofcen engtifd)en Saubfifcen jebem ©afte, unb
aud} bem 23irtf}e, moglidjft felbftdubige SJetoegung geftatten, toufete id£},
baft idf} bie Dame beg ipaufeg erft 2lbenbg beim Sinner begriijjeu roiirbe.
35er erfte SRobert Eecil toar fein eigner Saumeifter unb roatjrtjaftig,
er fjatte einen grojjartigen SSegriff toon feiner 2lufgabe; er hmfcte, ttrie
ein prddjtiger ldnbtid)er §errenfifc pgefdjuitten unb auggeftattct fein mufc,
urn nidjt nur fetneg toorneljmen ©igentfjiimerg muring ju erfdfjeinen, fon^
bem aud) ben ©outoeratn unb feinen §of feftlicf) §u empfangen unb ju
bemirttjen. ©e^en toir jeftt, hue er feine Stufgabe geloft Ijat.
3n jebem gliigel be§ ©djtoffeS fii^rt eine Ireppe jum erften ©tode
empor. SSeibe finb in ©icfjen^olj fd)ioer gefc^nifet, bie Sftlidfje jeboc^ ift
reid)er rait atterlei giguren tierjiert, ba fie ju benjenigen ©emad^ern be^
erften ©todeS fii^rt, bie fiir bie SJiajeftat beftimmt toaren. S)iefen fiittt
in ber ganjen Sdnge ber $>auptfront beg SRittelbaucg eine ©alerie au£,
fe^gunbfiinfjig Sffleter tang, ©ie ift an Sedcn unb SBdnben mit reictjem
eid^enen Sdfeltoerfe befleibet, bag burd) filberne 2trmleuc^ter unterbrod^eu
ttrirb. ©roge, big beina^e auf ben gufcboben ge^enbe genfter fii^ren ge-
niigenbeg Sic^t ju, aud^ mirb ber atlgemeine bunKe Xon beg SRaumeg
bur(^ rot^e SSor^dnge unb burd) eine reic^e SQBaffenfammlung belebt. 9luf
ber meftlid^en ©eite ftoftt biefe ©alerie an einen, jefct atg Sibtiot^ef rei(^
78 £ubnng (freifyerr son (Dmpteba in XPtesbabeu.
unb bequem eingericfjteten faalartigen 3taum. 2tuf bcr anbcren ©cite bcr
Valeric ift ein gteidj grofjcS ©emadj, the kings chamber, benu tyier unb
in ben anftojjenben ©d)Iaf$immern foUten bie SOlajcftatcn tooljnen, in bcr
Oalerie aber unb jenfeit berfctben in ber jefcigen Sibliotljef bie gefte
fid) entttrideln. 2)ie SJcrbiubungen finb burd) bic jioei Xxtpptn auf'3
IBeftc fjergefteflt nnb jugleidj ift bie 9ftaumoerfdjn>enbung fiir ein uber~
grofceS ©taatStreppenljauS in ber 2Ritte be3 ©d)Ioffe3 ocrmicben, tocldjeS
fid) oft wie ein riefigeS frembartigeS Ungeljeuer in'3 Unenblidje breit
madjt nnb ein IjalbeS 2)ufcenb unentbefjrlidjer 3ittimer jum genfter l)in=
<tu3ttrirft.
Sluf bie fdniglidjen SSofjnrdume ift fetbftuerftdnbtid) atter ©lanj unb
SReidjtfjum oermenbet, ben bie bamolige &it su erfinnen Dermodjte. 9lu3
ben Saffettirungeu be£ $tafonb3 tjdngen metallcne SBerjierungen ljerab, bie
UBanbe finb (toot erft fpater) mit loeifcem 2ltla3 befpaunt, bic SOtobeht
in rotfjem ©ammt unb ©otb iiberjogen. ©in bi3 an bic 2)erfe ragenber
■fiamin toirb burd} bie 93ron$eftatue SafobS L gefront.
S)ie SIrbeitcn ber £oIjtdfetung, toomit ba3 ©ci}tof$ I;icr unb in oielen
anberen fcincr SRciume oer$iert ift, finb oon fcltener ©djonljeit unb Der*
bienen cine nature 93etracf)tung. 2Ran tt»ei§ auS ben SBauacten, bafj ber
S3aul)err ben Sutroiirfen baju ganj befonbere Slufmerffamfeit toibmetc.
(Sr oermieb tljunticf)ft bie grofcen ebenen gtddjen, oerfdjmdtjtc alle fiber-
labene 93crgolbung, ebeufo bie bent englifdjcn Stima nid)t ©tanb fallen-
ben SSaubmalcrcicn unb toenbete aud) feine Sebertapeten an. 3>afur bc=
tteibete cr baS $>au§ mit etnem fettcnen Sfteid)tf)um uon ^oljfcutptur.
Sorifdje unb iontfdje #atbfduteu mit rcidjen Saubfranjen an ben
©apitdten fdjmiiden bie Itfnigtidjen ©djtafjimmcr; in ber Sapeflc unb in
ber grofcen ©pcifefyatte, beibe §u ebener ©rbe, finb bie SSBdnbe in ein=
fadjere grofec gddjcr eingetljeilt, f)tcr abgerunbet, bort red)tedig. 2)iefe
finb bann totcber mit 3lrabc3fen Don jartefter Slrbeit Devjiert. Ueberatt
begegnet man reidjen grief en unb Slrdjitra&en, SBIumengcioinben unb
^feitern. Slbcr trofe ber 3^^eit in bcr SluSfiiljrung ertoedt bicfe Se=
coration ben ©inbrud bc3 SBarmen, SDtaffioen, Sauerfjaften — be3 Gins
fyeimifdjeu. ©ie entfpridjt burd)au3 bem oorueljmen, emftcn ©tite bc£
§aufc£ unb bem nic^t ioeniger emftcn Eljaraftcr ber Sanbf^aft, in ioeldjcr
biefe^ rcic^ gemaferte unb frdfttg gefdrbte Gi^ent)ofi gcrcac^fen ift.
Site loir in bcr 9leif)enfofge biefer grofcartigen ©taat^gemde^er ben
erften ©tod faft burdjmeffen flatten, offnetc mem jungcr giifirer eine Heine
%i)ixx. S33tr tratcn in cine 2lrt oon ^riec^e ein, melc^e ate fjotje ©mpore
bie einc Sreitfeite cine» firc^eu^aft tangeu unb toeitcn, jmci ©todracrfe
^o^en 9iaume§ einnimmt. Surdj Deffuungen, bic mit gliigeln au^ burc^=
broc^enem §otjn;erfc oerjd^icftbar finb, fa^en tuiv tjiuab in bie grofce
^>at(e, ben ©pcifcraum.
„2Bir iooHcn bie §at(c {)eutc Slbenb oon uuten genauer befeljcn,"
23ilber aus engltfdjen Canbfitgen unb <5drten.
79
fagte ber junge fiorb, „idf) bradtjte ©ie jejjt nur tjierfjer, bamit ©ie bic
galjnen betracfjten, toetdje oor biefcr (Smpore aufgef)dngt finto. @& finb
granjofen, au3 bcr ©djtatfjt toon SBatertoo: bcr &erjog Don SBettington
fdjentte fie tjterJjer. 93ci groften geften totrb f)ier oben SKufif gemacf)t unb
fit Hingt an bcr flaxen toeiften ©ipSbede iiber un3 redjt frdftig toieber.
— 3efet Ijaben ttrir 2ttte8 im crftcn ©tod gefeljen."
„?lber," fragtc idj, „too toofjnten unb fdjtiefen benn toot bie ©dfte,
toetdje ju ben groften geften tjier erfdjienen unb too tourbe ba8 fonigticfye
©efotge untergebrad&t?"
„3d) toeift* e3 etgentttdf) nid^t redjt," ertoiberte Sorb Sranbome, „benn
ju ebener ©rbe finb aufter biefer #atte unb ber SopeUe nur bie SGBotjns
jimmer nieiner ©Item unb oben, im jtoeiten ©tode ber gtiiget, too toir
fiinf 93riiber unb jn>ci ©cEjtoeftern Ijaufen, ba ftc^t eS nur befdjeiben au3.
2tudf> nintmt unfer grofteS gamitienardjio, ba8 bie befannten «&atfietb
$Paper§» entf)dtt, bort Diet 3taum ein. Snbeffen," futyr er fort, „ljflrte
id) oft fagen, baft man in frli^eren fieiten nidjt fo Diet 2tnfprti<$e unb
audj nidEjt fo Diet Uraftdnbe gemadf)t f)at, toie jefct. erfdjienen auf
ben groften geften nid&t fo jatjtreidje 2)amen, iibertoiegenb #erren. 3)ie
Sammerjungfern fd^tiefen mit im Sinter ifjrer 2abt) unb bie Dornefjmen
2)iener ftettten eine ^ritfdje Dor bie Itjiir ifjreS $errn. 9Son Sefcteren
ttmrben aud£> tootjt metjrere in ein Sinter getegt. giir bie untere SMeners
fdjaft toar au3retcf)enber Sftaum im $ferbeftatle; baoon toerben ©ie fid£j
Ijemadf) fetbft itberjeugen."
„6ine fd)5ne, befdjeibene 3eit, bie «gute alto/' bemertte id), „rdumen
toir ba§ ein; aber toie ftanb e£ bamafe wot mit ben SSabe* unb SBaftf);
apparaten, bie in unferen jefcigen ©djlaf* unb 2lnfteibejimmern einen fo
tebeutenben Sftaum oertangen?"
„$a3 toeift idj nidjt," erttriberte mein iungcr giiljrer, „iefct aber ift
biefe ©cfjtoierigteit gefjoben, ba baS ganje ©d)toft mit fyeiftem SBaffer ge*
Jjeijt toirb." —
SEBir burdjtoanberten nun bie SBotjnrdume ju ebener ©rbe. ©ie finb
ftattticfj; l)errfd)aftticf), unb i^re reid^e, fdf)toere ©inrid)tung entfpricfjt in
ben 3Raften toie in ben ©toffen bem ©tite be3 §aufe§. S^te fc^onfte
Sierbc jcbod^ befte^t in ben t)ier toereinigten t)iftorifc^en ?Portrdt§, beren
Originate jum groftten I^eite burd) perf5nlicf)e SBejie^ungcn mit bem
<5aufe ©ecit oerfniipft finb.
$cinri^ VIII. erfdf)eint metjrfac^, barunter einmat oon #otbein§
3Reifter^anb, mit prad^toottem, tdufd£>enb gemattem ©djmudc; ba§ 93ifb
ift au£gejeidf)net burc^ bie Srifdt)e ber garben. S)cr bide, ^ottjgamifc^e
$crr mit feinem ettoa£ ro^en unb grobfinntidjen Stu^brude erinnert un^
ttjitlfurlic^ an ben SRardjenljetben 93taubart.
S)ie „btutige" 5Kart) ift nic^t oertretcn; toir miff en, baft i^r SJer^
^dttnift ju i^rem SDtinifter SBtDiam Secit fein fe^r innige^ toar. ©ie
ftorb unb Sub. VII, 19. 6
80 £ubn>ig ^retljcrr von 0mpteba in Wiesbaben.
trautc feiner Drttjobosie nid&t unb cr temporifirte. Sludj baucrtc iljr
finftereS SRcgimcnt nur fiinf 3af)re.
Die ®8nigin ©lifabett) erfd&eint tjier in jft)ct bemertenSfoertljen Sgor*
trate. ©inmal jung, ate Diana mit bcr SJionbftdjel unb entjpredjenb
burdjgefiitjrtem Jfoftiirae. ©ie ift in iljrer SSIiittje bargeflcttt, etraaS fabc
unb foetelid), mit bla&rotf)Iid}em #aar. ©ic blicft freunbltdj, abcr ba$
§ette 2tugc, faft ofyte SBrauen, ift nid&t gerabc gehunnenb. Da3 anbcre
93ilb, au3 fpaterer 3«it, ift ernfter: ein ftcc^enbeS 2tuge, fd&arfe 3uge unb
cin garter 9lu8brud. ©eljr merhourbig ift if)r reined ©etoanb. Da3
fdjtoere ©tofffteib ift iiberfact rait menfd}Iid)en Slugen unb Dfjren, alfo
tool bic 2l£tariffenl)eit barftcHcnb. SBenn fic ba3 SIcib toirflidj jemate
trug, fo tjaben bicfc unenblidj toertuelfaltigten Drgane beg 9lflfel)cn3 unb
SMtjorenS auf bic officieDcn t5niglic§cn 8Seret)ter, bcrcn fjeimlidfje Heine
©ttjolungen ja nidjt unbetannt geblicbcn finb, cincn ettoaS untjeimlidjen
©inbrud madden miiffen — falte fic eg nidtjt beffer tuufcten, hue c3 mit
bcr tbnigtidjen SlHttriffentjeit befteUt tuar.
©3 ift nidjt ju leugnen, bafe bic ftonigin un§ in bicfen Darftetlungen
itjrer aufceren ©rfdjeinung unenblidj toeniger gro& unb imponirenb ent*
gegentritt, ate in ityrem gefdjidjtlidjen ©tjarafterbilbe. ©ic Ijatte ate grau
mandjerlei ©djtuftdjen unb ©fatten, ate ©nglanbg SBeljerrfdEjeritt jebodj
tear fic — jeber 3&H cine ffiSnigin! unb fo bcgeid)net fie audj Robert
Sccite 9lad>ruf: „2Boflte ©ott, id) mufcte nod& fnien."
3totfd&en ber feufdjen Diana unb bcr OTtoriffentjeit feffelt un3 ein
S3ilb Don feltener fiieblidjfeit; bie poetifdj Dcrtldrtc ©eftalt, bic tnir „9Raria
©tuart", bie ©nglanber „Mary Queen of Scots" nenncn. ©3 ftamntt au£
i^rer 3*tgenb, fo toxt fie un§ Deutfd&en — toenn aud) rait ciniger bid)te-
rifdjer greitjeit — auf iraracr befannt unb toertraut ift. ©in frifdtjer ©djmelj
ruf)t auf biefcra SBitbe; e3 ift cin ed)t franj5ftfd)e3 ©efidjt, mit feiner
9tafe, reijtjotl lieblidjera SDlunbe, ettoaS fd>raadt>tenben Slugen, bic nidjt
gerabc einfdjud)ternb hrirfen, unb rait au&erorbenttid& fd&onen #anben. 3^r
Stnjug, obfdjon in ber frerabartigen Xradjt jener 3eit, ift fo fjarmonifdj
in ben garben unb bcr Stnorbnung, bafe raan au6) ^icrin bie granjoftn
ju erfennen glaubt.
3u itjrer SRc^tcn unb fiinfen fc^en toir jtoei t)orne^rac §errcn. Sle^te
ber jungc Derfu^rerifd^e, unn>ibcrftef|Ii^c Duble^, bcr „ju @^iff nad^ granf-
rcid}" ging, unb tinte berfelbe ©raf fieiceftcr, lange nad^ fciner SRudfeljr;
ein Dorne^raer, fc^oner, ftarfer, alter $>err rait tt)o^lgc})flegtcm ttjei^em
Sarte; nic^t fc^r Hug au^fc^auenb, abcr red)t toiirbeDoH.
2Bir tocrlaffen bic DratoingroomS ira ofttic^en gliigct burd) einc ber
gro^en ©lagtprcn, in ©nglanb french windows genannt, unb fte^cn auf
ben breiten ©artenterraffen, bic fid} rait ftattlidjen Ire<)J)cnfIuc^ten bte
jura glii^en Sea tjinabjie^en, ba§ ben $arf bur^fliefit. Stud^ bicfc
Slnlagcn finb t)ora ©rbauer bc§ ©djIoffeS enttoorfen; in ciner f})ateren
Silber aus ettglifdjcn £anbfttjen unb (Sdrten.
©eneration ttmrben tool einjelne 9lenberungen in ber SSenufeung ge=
troffen.
S)ie ©artencultur naljm in Snglanb erft jur 3*it ber Sonigin ©lifaz
betf} cincn neuen 2luffd)toung, gleidjjeitig mit bent 2Bed}fel in ber SBauart
ber §errentjdufer auf ben grofeen fianbfifcen, bie, nad} bent grieben ber
beiben SRofen, nid&t metjr befeftigte Surgen, fonbern fret jugdnglidje §dufer
fein follten. 93i3 bafjin mufc ber ©artenbau toenig gepflegt toorben fein.
9tod) im %a1)xt 1550 fdjreibt SRoger Slfljam, ©lifabetljS befannter fie^rer
in ben alten ©pradjen, au§ ©ent f einen greunben in Djforb: „2Benn
man bod} aUein auf ben ttriiften $ldfeen inner^alb SonbonS foldje ©drten
anlegen ttollte, tok fie fjier jebe ©tabt, auf eine SRetle t)inau£, t>oll Sraut
unb ©emiife umgeben; jutoorberft fiir bie Sremben, bie biefe Soft getoofjnt
finb; nad) unb na$ tourbe audj bie gro&e SRenge au3 3loti), ©parfamteit
ober 2Rdf$igfeit bat)on ©ebrau^ madden unb bann biirften ftdj in ©ng-
lanb bie SebenSmittel balb bitliger fteUen ate e3 jefct ber gatt ift."
SBir toerben nun fetyen, toeldje riefige gortfd&ritte bie ©artenfunft
in ©nglanb in einem fjalben 3af)rt)unberte gemad)t Ijatte; toie e3 fd)eint,
toefentlidf) unter bent ©influffe franjofifefyer 2et)rer, benn fotdfje finb aud)
in ^atfielb gefoefen.
6§ gibt toot toenige Drte, bie bent ©artenfreunbe unb bent Sanb-
fc^aft^gdrtner ein grofcerea gnterejfe bieten ate bie ©drten t)on §atfielb
£oufe. Stlte 35ergangent)eit unb bie neuefie ©egenroart bilben §ier bie
ftdrfften ©egenfdfce unb finb bennod), jebe in DoDfommener Seiftung, ju
einem fd)5nen ©anjen tjerfdjutoljen. 2lud& Ijier ift ber Ijiftorifdje gaben
ber <£ntttridelung nie jerriffen; biefe ©drten bilben ein ©tiid englifdjer
©efdjidjte. ©ie finb jum £f)eil alter ate ba3 ©djlofc, grofceren Ifjette
gleicfjaltrig.
SBir natjem un£ bem „2Beinberge", ein grofceS, nid)t iiberfeljbareS
terrain, foeldjeS fid) 5ftli$ t)om ©d>loffe an bag Sliifedjen Sea fjinunters
jieljt, burd) einen ftoljen alten Saumgang Don fiinben unb ©idjen. Slber
ber SBeinberg, fur ben ©ir 3tobert fiinfjigtaufenb 3teben unb jtoei ©drtner
au§ granfreid) Derfdjrieb, ift langft toerfdjttmnben. 2Bir fet)en jefct ^ier
Senotre'fc^e ©artenfunft in ungetootjnlidj gro^artiger, feltfamer Slntoenbung.
3Ran betritt ben SBeinberg jtuifc^en foliben bunfelgriinen 3Jlauern unb be^
finbet fid) batb in einem tueitldufigen ©tyfteme Don I^urmen, bebedten
2Begen, 935gen, ©^ie^arten unb 3i^en. Stile biefe SBerfe finb Don
oerf^nittenem laps tjergeftellt. SSir tuanbeln bur^ riefige ©aterien, .
gemotbte ©dtige mit bidjten, unburd>bringlid>en S)dc^em; an ben Sreujun*
gen fte^en fdt>mere ^feiler, aug t)erfc^)Iungenen ©tdmmen gebilbet. S)er
na^ bem giuffe abfaflenbe Soben ^at ju ben originetlften Slbroedjfelungcn
5tnta| gegeben. Die unteren 2tefte ber Sdurne finb jur 6rbe ^erab=
gebogen unb bilben eine bidjte 3)edef einen tt>eit fjerabhmtlenben ©4lepp^
mantel urn ben ©tamm, todtjrenb ber obere Stjeit fid} ju einer frei unb
6*
82 £ubn?ig ^freitjerr von (Dmvteba in TDiesbabcn.
brcit toadjfenben firone fdjtie&t. 2)er Snblicf ift mdrd)enf)aft unb feierlidj,
cine etroag profaifd^c ^oefie; leibcr ift er ttegen feiner Stbfonberlidjfeit
im Sinjelnen unb ttegen bcr ©roftartigfeit feincr Hugbeljnung fefjr fdjtoer
befctyreiblidj; er allein lofjnt bem ©drtner eine 3teife nad) $atfietb. @inc
©djilberung feiner ©drten fottte, bei rid)tiger 9Sertf)eitung beg ©toffe§,
etgentlicfy mit bem SBeinberge fdjliefeen, benn atleS 9tnbere ift geringer,
mag aud) (Sinigeg nod) alter fein. Sn biefem 3ttuberioaIbe fteigt man
jum gldjjdjen Ijinab, an beffen anberem Ufer ber alte, Don I)of)en 3Kauern
eingefdjloffene ftiidjengarten, jefct mobern culttoirt, fid) ertjebt.
8lm entgegengefefeten toeftlidjen (Snbe beg ?J5arfeg liegen bie neuen
Kitdjengdrten. ©ie geben ung, in fcoHfommenem ©egenfafce, auf iljrem
©ebiete toon ettoa jtoolf 3jforgen ein SSilb mobemfter engtifdjer |>odfjcultur.
Snbeffen brdngt bie !&tit unb ttrir treten unter ber gii^rung beg Dber=
gartnerg, 3Jlr. ©eorge Storman, in bag anftofcenbe ©ebtct ber Ireibljdufer.
#ier reift bie Xraube fiir ben lifdf), t)om Styril bid tief in ben SBinter
ljinein, in fcerfdfjiebenen £dufern t)on inggefammt eintjunbert SRetern 2dnge.
3tt Dier £dufern, mm jufammen bretfcig SRetern gront, toerben ©urfen,
SDlelonen unb Sofjnen getrieben. Daneben ftetjen jtoei StnanaSljdufer, eg
folgen jmei ^firfidjljdufer, jebeg jtoanjig SKeter lang unb jtoei, mit jc
fiinfjeljn SKetem gront, fur ©rbbeeren. 2tug ben lefcteren toaren jtuei
lage jufcor trierjig SJifunb ©rbbeeren fiir bie lafel geliefert unb trofcbem
fyng etne neue, reid)Iidf)e, reife ©rnte an ben SBiifdjen. giir bie Slug;
fdjmiidung beg ©djtoffeg unb beg ©tabtljaufeg mit S5Iumen ift burd) ein
ffalti unb ein SBarmfjaug geforg ; ^ugleid^ ftetjt tjier ein reidj becorirter
SBintergarten. S)ann folgen nominate ein 5)Bjirftd)= unb ein geigenl>aug,
beibe adjtjeljn auf fedjg -Dieter entljaltenb, jtoei 9tnanagl()dufer unb eine
Xreiberei, in metier nur Irauben in lityfen gejogen merben. Slufjerbem
fe^ten bie SSerme^rungg^dufer unb ber iibrige notfjmenbige 3ubel)dr an
Stdumen nid)t. ©emtg, — t>ieHeid)t sufciel — ber 9tufjdf)Iung !
3d) lann jcbocfy nidjt fdjliefeen, o^ne beg ^eijapparateg ju ertoa^nen.
$ier ^aben toir ein ©tiid attermobernfter ©arteniubuftrie. S)er gro^e
SBafferfeffet fiir attc biefe $aufer U)irb nictjt birect buxti) ^o^Ienfeuerung
ge^eijt, fonbern er ru^t auf einem Dfen, in wetd)cm eine Salfbrennerei
betrieben nnrb, unb em^fangt fo bie t>om Salfc entn>eic^enbe $oty
grabige £ifce. 3)te 3bee ift gan$ neu unb ^ier ^uerft praftifd) aug-
gefit^rt. SDlr. 9lorman fpra$ fic^ DoDig ^ufrieben iiber bag ©rgebnifj
• aug unb bemerfte, baft bei burcfyfdjnittlicijen SialU unb Sfofyleityreifen bie
gefammte crforberli^e S33drme foftenfrei erjeugt unb baneben an ber
taglidjen fialtprobuction noc^ fitnfjig pfennig big eine 3Karf toerbient
tterbe.
SBir nd^ent ung nun ttrieber bem ©c^Ioffe unb gelangen an beffen'
fiibroeftlicfie ©de. $ier toerdnbert ber ©arten feinen tanbfc^aftlt^en ©fjaraftcr.
Gr erfc^eint unge|)f(cgter, toertaffen, toerattet. Sine niebrigc 9Kauer fc^Iie^t
Bilber aus cnglifdjen £anbfit$cn unt) (Sartcn. 83
einen geraumigen, quabratifdjen, gegen bie Umgebung toertieften $lafe ein,
loir ftcigcn 511 il)m auf ijalbtoerfaflenen ©tufcn fyinab. Sftunbum lauft
ein Saubgang toon alten, fnorrigen, toerfdjnittenen Sinbcn. 3n ber SDlitte
ift ein grofteg SBafferberfen, toon gefcfyorenen Suntperug umgeben, on
toeldje ficfy fc^nbrfcl^aftc Seete fd)liefjen. Die Seete finb tnit einfacfjen
toeralteten ©ommerblumen unb mit ©emitfen befefet. 3n jeber ber bier
©cfen ftefjt ein nidjt grofjer, aber fe^r alter SKautbeerbaum. ©g ift ein
©tiicf mittelatterli^er ©artnerci, in bag nrir eintraten. ©tcfcr ©arten
geljort jum alten iuborpalafte unb toarb toatjrfcfjeinlid) in feiner jefcigen
aQgemeinen Slntage ju ber 3^it l)ergeftettt, atg bie junge ^rinjefe ©li*
fabetf) f}ier bie SDtauIbeeren pflanjte.
2In8 biefer merfhmrbigen ©artenruine fiityren ung toenige ©djritte in
ben unmittclbar anftofjenben SRofengarten; ein *grof$er quabratifdier 3taum,
beffen £intergrunb ber alte 5]BaIaft bilbet. 2tlg bie Suborn §ier nod)
£>of tjielten, tt)ar bag jefct blu^enbe unb buftenbe 9iofenfelb ein fafjler
innerer £of, roeldjen ber ^alaft ntit t)ier gtiigeln umgab. Die ©tellcn,
an benen etjemalg bie @dtf)iirme ftanben, finb burd) erl)61)te Secte be-
jeidjnet. Die 3tofen gebei^en I)ier pradjttoofl; fie geniefcen ben boppelten
SBortfjeil ber nieberen fdjattigen Sage unb einer Setoafferung burd) unter*
irbifdje SRdtjren. 3« ber 2Ritte fprubelt ein erfrifcfjenber ©pringbrunncn
unter einem offenen Dadje toon Sletterrofen. Die £>auptfront beg alten
SPalafteg, auf beffen ©runbe tuir fteljen, tief bem jefcigen toefttidjen gliigel
beg neuen ©djloffeg paraM. ©ie unb bie beiben ©eiten tourben nieber;
geriffen; man beburfte beg SBaupIafeeg unb benufete bag, erft einfjunbert*
unbstoanjig 3at)re alte 9Rateriat. 3um ©liid btieb bag riidtoartige @e=
baube toerfdjont. ©g ent^alt eine einjige grofce £aHe, in beren SKitte
ein Ifjurm ben ©ingang uberfjBtjt. Der 83au ift im reidjen englifcfc
gotfjifd&en, bent fogenannten luborftite aug 93ads unb $aufteinen aug*
gefiitjrt, toelc^e nod) feine ©puren beg SSerfatlg tragen. Die ertjabenen
SIrbeiten an ben ©efimfen unb bie $\txatf)t an ben SRatymen unb SJreujen
ber genfter finb befonberg tunftreid^ gearbeitet. Da3 ©ebciube ift !iinftle=
rifc^ loot fdjflner p nennen ate bag neue, toeit ^5^ere ©c^Io§ unb fonnte
i^m bur^ ben SRei^t^um feiner ftiltooHeren gormen unb burdj ben toartnen
bunflen Ion feiner ©teine ©intrag t^un. Die #afle ift uberto5tbt mit
einer na<f> %nntn offenen unb rei^ ornamentirten ^otjbecfe, a^nli^ bem
berii^mten Dad&ftutjte in ber SBeftminfter $aHe. ©inft gab eg fjier ^o^e
fbniglidfje Sefte, toon benen ©ineg nod& nic^t ganj toergeffen ift. Stad&bem
bie junge ^rinje^ ©tifabet^ au£ bem Xototx entlaffen war, befdjranfte
bie ©iferfu^t ber Si3nigin itjren Stufent^att auf $>atficlbr bag ©buarb VI.
ber ©cf)toefter ©lifabet^ gefdjenf t ^atte. 2ltg SBad^ter tnarb itjr ©ir I^omag
$ope beftetlt, ber jebod) anfc^einenb feinen Seruf fiit)Ue, eg mit feiner
©efangenen burd) ©trenge ju toerberben. Denn in ber gaftenjeit beg
Sa^reg 1556 gab er auf feine Soften ber fiabt) ©lifabett) eine gtanjenbe
8^ £ubn>ig Jreifferr von (Dmvieba in Wiesbabcn,
2Ka£ferabe in bcr groften &alle ju §atfielb, mit prddjtigen 9tufeugeit
unb SSeluftigungen. Da crfd^icnen 5to5tf altcrtfjumlidje SRinftrefe, ad)t=
unbtoierjig §erren unb Damen gefleibet in rotten 2ttla3 mit ©olb, ©pifeen
unb SJSerlen. tear cin SafteH bargefteHt au3 golbgeftidten ©toffen,
beffen 3inncn mit ©ranatbdumen befefct unb mit ben ©djilbern bcr fedjS
Slitter bc^angt toaren, bie babor in reidjer SRiiftung tumicrtcn. Der
Erebenj in bcr £aHe tyatte jhtflf ©tufen iibereinanber, attc gefd&miidt mit
©otbs unb ©ilbergefd>irr. S3eim SSanfctte toaren fiebjig $ld|c gclcgt
unb e3 gab, mit 3toifd)engdngen Don gchmrjten ©iifcigfeiten unb fcincm
SSadtoerfc, breifeig &erfd)iebenc ©pcifen. SttteS ging auf Soften torn
©ir Stomas. 2tm folgenbcn Sage ttmrbe, jum ©djluffe be3 gefteS, ba§
©djaufpiel toom §otofeme8 aufgefiifjrt. Snbeffen bie ftrenge unb cifrigc
SRajcftdt gab bem armcn ©ir Stomas tjinterljcr ba£ allerl)5d)fte SRifc
fallen iiber biefe gaftnad)t§fd)erse ju erfenncn unb fo tyatte ba3 9Ra£s
firen fiirber ju untcrbleiben.
Sefet ift jebe ©rinnerung an bic frittjere ^errlidjfeit in bcr neuercn
(Sinridjtung Derfdjtounben, benn biefe fonigIid)e ©anfett^aHc bient afe
tyotyer, luf tiger, ganj mobern eingeridjtetcr — 5)BferbeftalI. Sic transit I
S3om frii^eren Slbfdjluffe be3 ^alafte^ gegen bag ©tdbtdjen ift nur
nodj ein Xt)orljau3 fcortyanben. Sfceben biefem fieljt man einen Ijoljen, mit
©pf)eu bid)t betoad&fenen ©d&ornftein. Die ffionigin 2Rart) foil auf biefe
(Sffe, bie ben Bimmern ifjrer #albfd&toefter gegeniibcrftanb, eine fpifcige
eifeme ©tangc Ijaben befeftigeu unb bie ©efangene bebcuten taffen: e£
fei bort ber $lafc fitr ifjren ®op\, faQS biefer ettoa unruljig unb un-
bequem tuiirbe.
Snjhufdjen mafjnte bie ftnfenbe Sonne, fid) jum Dinner angufleiben.
Urn adjt Uljr erfdjott bie $>au3gtode unb man fcerfammelte fid) im Draining*
room ber ©djtofjbame neben bcr grofjen ©peifefjatle. 3« bicfen Stdumen
toaltet in ©ngtanb ber foeiblid)c ©eniuS unb betfjdtigt fid) toor 9tflem in
ber Slnorbnung ber reidjen SBtumenpradjt, bie, in ben Xreibljdufem Dor*
bercitet, SBofjnjimmer unb Xafel ftet3 mit frifdjem btiiljenbem Scben
fdjmiidt. Daburdj getoinnt bag fd)tt)ere ftilfcoHe ©emadj be3 alten ®d)Iojfe3
ein IjeitereS unb bic t)du£lid)e gamitientafel ein feftlidjeS Stnfefjen. Die
Slumen betoilHommnen aud) ben ©aft auf feincm 3immer unb e^rcn
it)n jeben Sag ncu in frifdjen ©trdufeen. ©o ^at ft^ in ©nglanb bic
Slcigung fiir bie SSIumen in ber pftegenben $anb ber grauen ju cincr
Iieben^tt)iirbigcn ©eite be£ 9tationaI^arafter§ cnttoidelt.
Sciber tear ber &err be§ §aufe§ burd) bie SSorbereitungen fiir feine
Eongrefcreife nac^ ^Berlin Der^inbert toorben, bie ©tabt fjeutc ju oerlaffcn
unb id) genofe ba^er ben S3orjug, im engften Sreifc ber Damen unb Sinbcr
be^ $aufe^ ju fpeifen. Sine uic^t gro^e, prunfloS reid^e unb mit ^flanjen
unb SSIumen ^eitcr Derjicrte lafel ftanb in ber SDtitte bc^ riefigen, §ctt
erleuc^teten SRaumc^ unb bie tootjttootlenbe, cinf a$ ^6fli(^e Mufnatjme,
3ilt>er aus engltfdjen £anbfi^cn unb (Sarten.
85
bie bcr grembe an biefem gamilientifdie fanb, cntf^rac^ bcr cdfjten Sor;
neljmf)eit beg $aufeg. 2Rtr gegenitber ttjitrmte ftc^ an bcr SBanb cin
madjtigeg SBuffet Don buntlcm ©id&cntjolae, auf toeldjem fd^toere ©d)au=
ftiide beg t>iel gepriefenen altcn engtifdf)en ©ilberg bag 2id)t bcr 2Badjg=
ferjen juriidroarfen. 3u* SRedjten beg SBuffetg tritt aug golbcnem SRe=
naiffance^SRafjmen ein 93ilb tjerttor: bcr ©rbauer beg ©dfjtoffeg in ganjer,
lebenggrofeer gigur, gcmalt Don §illiarb. Sine feltfame (£rf<f)einung. 3n
bem fd)5nen blaffen ©efidjte fdjtoarje, grofie, tiefe, meIandjolifdf)e 9lugen;
cin gro&er &opf unmittctbar auf bic ©djultern gefefct; bieje, runb unb
unfccrljaltmfjma&ig, geben bcr ©eftatt ben untoerfennbaren %t)pu% beg
9iertoadf)fenen. Saju tragi bic JHeibung bci: grofje £algfraufe, ilbcr bem
®nie gebunbene ^lubcrfjofcn, lange, enge, gelbe ©trnmpfe an $u fdfjtoadjen
Scincn. @g fcfjtt bem S5rper bag fic^crc gunbament; bcr ®d()toerpunft
erfdjeint ju toeit nad) oben geriidt. 9lflerbingg toar bci bem erften
SRobcrt ©ceil biefeg „Dben" erljebtidf) fdjfoerer alg bci bcr grofjten 3^1
feiner 3^itgcnoffen.
3ur fiinlcn beg SBuffetg erfd&eint ein mobcrneg 93U5. (Sine Ijofje,
fraftige ©cftatt. 3)ic &altung ift leidjt toorn iibergebeugt; einc nidfjt feljr -
Ijofjc abcr bebcutenb enthridette, benfenbe ©tint; Huge, rut)ige, fefte Slugen;
bunfler SSoHbart, fdjtoarjeg getodteg $aaxf urn ben ©cf)eitel fd)on ftart ge-
lidjtet. Sg ift bcr jiingftc {Robert Eecil SDtarquefg of ©aligburtj, ber &err
biefeg $aufeg, beffen fdjon langiafjrige flffentlidje fiaufbatjn gcrabc jefct bcr
SGBcIt in neucm energifdjen 2luf jd)tounge erfdjeint, bcr ftc§ injhnfd&en ben
fdjonen, rcinen SRuljm ertoorben $at, burd) fcine geftigfeit unb SDtafjigung
(Suropa ben lange bebrotjten grieben gefidjert ju tyaben unb bafiir ben
tooljfoerbienten fiofjn in bcr tjocfjften Stugjeid&nung empfing, toeld&e bie
englifdje $rone eincnt ©ngtdnber gettmljrett lann. „Sero sed serio",
„Iangfam abcr fidjer", fo lautet bag SBappenmotto, toeld&eg ber Slljnljerr
{Robert ©ecit fcinem ©efd&ledjte uererbte.
Slfe toix nad) lifdje ttriebcr ^inaug auf bic Icrraffe traten, ergldnjtcn
bie ©arten im ©dimmer be§ SSoIInionbcg. Die Sugenb toax bereit, mir
ben norbtid^en tyaxt unb befonberg feinen „altcften SBaum" bei 9Jlonb=
fc^cin in jcigen. 99alb traten toir in ben atten SBaumgang ein, beffen
&ietf)unbertjaf)rige @i^cn fd^on ©fatten fpenbeten, al3 ©btoarb VI. al%
Sinb unter itjnen fpieltc. 3Rit feinem l)iftorifd)en laftc ift biefcr n5rb=
lidje I^cil beg ^arfeg nic umgeftaltet; ber 83oben ju bciben ©citcn bcr
S3dumc ift forftartig mit tjo^ent garrcntraute bebedt, auf toeldfjem in un^
regetmdfeigem listen 93eftanbe altc Saumriefcn fid^ breitcn.
®a£ iunge ©cfd^te^t bcr Eccilg fdjritt, fetter unb unbefangen ^lau*
bernb, auf bem getootjnten SDSegc bafjin, ber ben gremben burd^) bie gillie
ber geid^i^ttic^cn ©rinnerung unb burd) ben lebenbigen 3"f^^cn^ang
biefcr ©cgentoart mit i^rer SSorjeit ju ernftercn SSetra^tungcn anregte.
SBir bogen in cincn ©citengang cin, an beffen @nbe una balb gefpenficr-
86 £ut>n>i<j ^retfjerr von (Dmpteba in tPtcsbaben.
ljaft ein riefiger ©idfjenftumpf im toeiftcn SRonbfidjte etttgegentrat. ©cine
Srone ift tdngft gebrodjen unb Icbt nur nodj fdfjeinbar, inbem einige, tit
feittett fjofylen ©tamm eingefdete Sidjeln junge griine Soben cnttoicfcU
Ijaben. 3u feinen bciben ©eiten grunt unb iuadjft bic ©egenroart in jipci
anberen frdfttgen ©idjen, toon bcr jefet rcgicrenben ®onigin unb bem nic
genug bctraucrten ^rinjett ©emat)I toor Saljren cigen^dnbig gepflanjt.
2Bir ftefyen toor ber dlteften ©id&e toon |>atfielb $>oufe, toor bcr @idje
bcr ffifinigin ©lifabetf). £>ier licbtc bie junge ^rinjeffin im ©fatten be<S
bamatS in fritter SSoIlfraft treibenben Saunter 5U ftfcen unb mit Soger
9lff)am grtcc^ifc^c unb lateinifdje ffitaffiler ju lefen. $icr fafi fie audj am
17. SRotoember 1558, tool! dngftlidjer ©pannung ttegen bcr 9Zad}rid}ten,
bie if>r SBifliam Gfecil iiber bie tobtticfje ©rfranfung itjrer ©d&toefter f)attt
jugrfjen laffen. ©djon toar it)r toon anberer ©cite einc Xobe§botfd>aft
t)interbrad)t worben. ©ie jebod) ftirdjtete cine ©d)Iinge bcr grimmett
©cfjtoeftcr — unb bad^te babei toietleidfjt an ben ©djornftein. ©ic toer^
langte batyer, jum 3t\6)tn bcr SBaljrljeit, bafc man itjr cincn getoiffen 9ting
toon fdjtoarjer ©maitle bringe, ber bie §anb ber lebenben Sonigin SRartj
nie toerliefj. 3nbcffen nod) toor biefem 3ei$en erfdjien auf ber ©trajje
toon Sonbon tyer cin Xvnpp SReiter, todfytx ber ^rinjefi in ben tyaxt naty
folgte. @3 toaren 2RitgIieber be£ ©et)eimratf)e$; fie famen, ifjr ben
lob bcr Sdnigin SRartj anjujeigen unb ber ncucn £errin ju Ijulbigen.
3)a Iflfte fidj itjre qudlcnbe ©pannung „jhHfd)ett 5lj:t unb Srone"; im
iibcrttodltigenbcn @efuf)le ber 93efreiung fanf fie in bie Sniee unb rief laut
mit bem ^falmiften: „$)a£ ift toom £errn gefd&eljen unb ift cin SBunbcr
toor unferen Slugen;" unb bic Stacfytebenben !5nnen toot ben tooraufgrijenben
Ser8 beSfelben S|5falm3 ^injufiigen: „$)er ©tein, ben bic Sauleute tocr^
toorfen fjaben, ift jum ©efftcin getoorben."
©3 ift nun aUerbingS nidjt gehrtfyilidj, baft junge ^rinjeffinnen im
SKonate Sfcotoember im greien unter cntlaubten ©idjen fifcen. 9tber ©Ufa*
betf) toar aud) fcine getooljnlidje grau. ©ic befafj einc ungcto^nU^c
©tdrfc beg ®tfrpcr3 tuie be§ ©eifteS. 9lo6) fe^^ SRonate toor i^rcm lobe,
in i^rem fiebjigften Scbengja^rc, cinfam unb teibenb, ging fie tdglid) ©tunben
lang im tyaxt toon SDBinbfor fpajicren unb ritt autf> no^ einmal auf eincr
Sagb je^n englif^e SKcilen. Sine ed&te ©nglanberin, berufen, ©ngtdnbcr
ju betjerrfefjen. ©ie ftarb, toie ttrir toiffen, beina^e im ©arten unb ifjr
ficben^enbe fiel cbenfafl^ in ben SBinter.
Unter biefcr alten ©i^c gab fie au^ fpdtcr noc^ Slubicnjen unb er-
lebigte bie ©taat^gef^dftc. 2ln biefem 17. Stotoember aber ernannte fie
^icr fofort i^ren getreucn grcunb in ityrer Slicbrigfeit, S33iHiam ©ccilf
ju iljrem crften SKiniftcr. 2)urd^ iljn fd^Io§ fie noc^ in §atftelb, aU
prafttfe^c grau unb 3tegentin, mit eincm ber bamaligcn ©ro&en toon Som^
barbftrect, ©ir Stomas ©ref^am, cin Stnle^n ab toon 500,000 3Jlarf pr
93cftrcitung i^rer ^ronung unb toon anberen 500,000 SOiarf urn i^rc lecre
Stlber aus engltfdjen Sanbftfcen unb (Sarten. 87
JSaffe ntit S3etrteb3tnitteln ju fitHen. ©it Stomas ernrie£ fief) Ijierbei ate
guter patriot. Sr na^m, hrie er felbft crjaljtt, nur jtuolf 5]Brocent toon
bcr jungen S5nigin, ttmljrenb if)re 93organgerin ftetS mcrjetyn fjatte be*
jafylen ntiiffen.
3)ie fcorgeriicfte ©tuube mafjnt jum §eimtoege, ben toix nur jogemb
antrctcn. Untoiflfiirlidfj begleitet bcr grofte ©djatten, tt)eld)en toir I)ier
fieraufbefdjtooren fyaben, nocfj unferc ©dfjritte, al§ tt>ir fdfjon tueit toon ber
beriitjntten @id)e cntfernt finb unb un3 ber ©egentoart, bent erleudfjteten
§aufe nd^ern. @r toanbelt t)or un3 auf tn bent ungetoiffen SRonblidjte,
bag foarltcf) burdfj bie SBtpfel ber @i<f>en bringt. Qcfet nicf)t me^r aHein;
ber ffontgin jur ©eite fdjreiteu tt)re beiben grofeen 3Rinifter, SBiUiam unb
SRobert ©ceil; unb toot ftnb fie toiirbtg, ben Sfcadfjfommen neben ber
3D?aieftdt ju erfdfjeinen. $)urd& fie ttmrbe ©lifabetf) au3 §atfielb auf ben
Xfjron gefiif)rt, burdj fie auf bent Sfjrone iiber ba$ getooljnftdfje 3Ka§
menfdf)li<J)er ©rofje emporgefjoben. ©ie letjrten iljre §errin bie grofce
®unft, iljr Sotf ftarf unb feft &u madden unb baburcfy jugleicf) bie eigene
SDladjt ju fiarfen. ©o ift burcf) bie Kecite im Saufe ber Beiten bie $5*
nigin meljr unb meljr tyinauSgetoadjfen iiber bie grau.
Unb fo toaren bie SecitS ©lifabet^ toitrbigfte Stadjfotger in $aU
fielb #oufe.
Sommerfrifdje am Baltifdjen Stranbe*
Von
€rnft ffi\(%ttt.
— KBnigsberg. —
h
WjSM'™ Wt\t im Streit. tfaum fyat ber puloerbampf
jPgj 2Ius taufenb ^euerfdjliinben ftdj 061309011,
*™B5 Unb eifrig riiftet man 311 ncuem Kampf.
Die <friebenstanben Famen 3ti>ar geflogen,
Dodj tjaben fte ber (Seier fdjarfe Klau'n,
So f djeint's, nur unter's ^feberFleib ge3ogen
Unb Feiner mag bem U>ort bes ^riebens trau'n.
XVtnn enblidf bod; bie (Srofjen etnig roerben,
Wtx roagt auf jdjroanFen <5runb cin ^aus 3a ban'n?
XV* mafiet fiir bas XPoIfsge3udjt bit fjeerben,
Das beutegierig fyanjr im <feIsgeFluft,
Stcts auf bem Sprung ben Jrieben 3U gefaljrben
Unb Faum bebenFlid?, bag bie Kugel trifft;
Denn mSdjt'ge Hadjbarn fSrbern fein (Sebeiljen:
<2in jeber gb'nnt bem anbern folates <5ift.
So miiffen £jag unb gn>ietradjt fid? erneuen;
tlur bie (Erfdjopfung 3n>ingt 3U Furser Haft,
Xlie fefylt's an (5runb ftdj mteber 3U ent3n>eien.
Drum if* ber <friebe nur ein pd?t'ger (Saft,
IKan tjalt itm nidjt, n>ie freunblidj man itm bitte;
Unb was er bringt, geniegt man fo in fjaft,
Sommerfrifdje am 33altifdjen Stranbe.
3m Uebermag nidjt adjtenb guter Sitte.
Hafdj fudjt (Erroerb, votv nur bent (tag oertraut,
Unb fiiirmt 3um nadjfien giel m^ eifgem 5djritte.
Zlidjt redjts, nidjt linfs, nidjt riicf marts tDtrb gefdjaut,
U>as in ben IPeg fid? fiellt, fdjiebt man 3ur Sette
Unb iiberfdjreit bes Sdjmadjen Klagelaut:
IDcr ift uoraus? n>er madjt bic fdmellfte 3eute?
Dielleidjt fdjon morgen fdjnmnFt Bejttj unb Hedjt,
<5en>inn 3errinnt — geuufj ift nur bas Ijeute!
So tobt bie 3a'gb, unb u>ie ber fjerr fein Knedjt,
2Iudj bcr (Seringfie mill fein CC^cil erljafdjen.
Drum ipadjft tjeran ein rentes Stroldjgefdjledjt,
Pas iibermiit^ig flopft anf ootle (Cafdjen
Unb, iDenn i^m bie 3^fti3 3U £eibe gefft,
Perfdjlagen fhts bes Hetjes meit'fie XTIafdjen
gum Durdjfdjlupf lijtig aus3ufpalm oerftetjt.
<5eu>alt r>or Hedjt Ijeifjt xfyn and? bie Deoife,
Unb beugt bas Hedjt ftdj nidjt, roirb es oerbrefjt.
So rUflet man 3ur nSdjflen fdjarfen Krife
Unb forgt, roenn bitter fdjmecft ber £eiben ^rudjt,
Jiir befto mefyr (Ertrag ber eignen IDiefe.
2Iuf frembe Sdjultern w&l$t man ab bie tPudjt
Per £ajten, bie getragen roerben muff en
gum XPoty bes Staats, unb ofjne Sdjam unb gudjt
5dj!i>elgt Ueppigfeit in breifteren (Seniiffen.
3m Kampf urn's Pafeiu, ber ringsum entbrennt
Unb alle IDelt erfagt, fdjroeigt bas <5etDiffcn.
Seljt, n?ie bas Volt 3um golb'nen Kalbe rennt,
3n blinber (Sier ben (Sdfeen an3ubeten;
Pie 5d?ranFe bridjt, bie £eibenfdjaft erfennt
Kent IKa§, bas %iPge in ben Staub 3U treten
€rfdjeint Perbienft; ber Selbftfudjt nieber'n (Crieb
Befa?u>8rt man fdjon als Hidjtfdmur otm' <£rr8tfien
Unb fredj nennt man ?>en €igentftiimer Pieb.
Pie fjanb oermigt fid? fecf ben tfopf 3U meifiern,
Unb ernjte IDorte faflen bnrdj ein Sieb:
IHan nritt fidj nidjt erfjeben, nidjt begeiftern,
Hur oon bem Cage nefjmen, n?as er gibt,
leidjtfertig jeben Styaben iiberf leifiem ;
<E r uft IDidjert in *K8nigsberg.
Unb roenn man nidjts mit redjter £icbe liebt,
Jiir fein (Seliebtes ftrebt, gleidjgiiltig paffen,
<Db bie IKaterie ausetnanberjttebt,
Unb bis baljin bie Pinge getjen laffen;
02s fei benn, bag bte meuterifaje Sdjaar
Pas Stcucrruber frntjer mill crfaffen
Unb blutig, jeber eblen Hegung bar,
(Sebieteu, was bcr ^auft erlaudjter Xt?tfle. —
(faji funbljaft fdjeint's, fo natje ber (Sefaljr
gu retten fid? in lieblidje 3^V^C* —
2.
„Per Stabt entffofi id?," ifyren fyeigen (Saffen
Unb bumpfcn ^a'ufern. 2lnbern gonn' id?'s gerne
5idj bnrdj <£oncertmuftf erbau'n 3a laffen
Unb 311 benmnbern fommerliaje Sterne
Des 3tD8Iften (Srabes am (Cfyeaterftimmel.
groar mSdjtig 3og es midj in u>ett're Jerne,
gu fdjauen bas parifer IDeltgetiimmel
Unb aller PolFer aufgeljaufte Sdjatje,
VoU tteugier umsutrciben im (Seunmmel
Per unge3afilten fremben, in bem Hefee
Per tanfenb Strafjen mid? tiinburdtfuroinben,
Unb frei 00m &wanq ber tjeimifdjen (Sefetje
3m Ungeroo^nten mid? 3uredjt3ufinben.
<2s follte nidjt. — So lie§ id? mir's geniigen,
Wit fonjt ben (Saul com Strange los3ubinben,
Pran er geiibt ber (Ctiemis ^Jelb 3U pjliigen,
Unb an ein Ieidjtes IDa'geldjen 3U fpannen —
felbft ift's roen'ger Arbeit als Dergnflgeu.
So gefjt's burd? IDalb unb ^elb Ianbein ©on bannen;
€s ijt fein parabies, bas voh burdjfatjren,
Pie 3nfel nidjt, bie Piaster fid? erfaunen,
Wo (Sludlidje nur tyre IDo^nung fyaben,
Pod? u>ed?felt 3erg unb (E^al unb Porf unb JXl&^U,
Unb offne ^fernjidjt mag bas 2luge laben
fjod? auf bie See fyinaus nidjt weit vom &ieU.
Pie £uft roirb rein, ber fjimmel Mar, es fenbet
Per Horbroinb mir entgegen frifdje Kiit^Ie;
Sommerfrifd?e am Balttfd?en Stranbe.
Unb nun fid? bas (Sefafyrt nod? einmal roenbet,
(Scot's flugs bergab in eines (Cfjales Senfung,
Drin unfre Fur3e Heife gliitflid? enbet.
<Es gibt bcm Fleinen flii§d?en ^alt unb £enfung,
Bis es 3um (Ceid? fid? roeitet, ben ein Bogen
IDalbreidjer ^iigcl fd?lie§t tnit fanftcr Sd?n>enfnng*
Hed?ts fteigt bas D8rfd?en auf, Iangljinge3ogen,
Die u>ei§en JjSusdjen blicfen ans bem (Briinen,
3etjt con bes 2lbenbs Hotfjglnttj tiberflogen.
€s Fraufelt Man ber Hand? fief? fiber ifjnen;
Die fd?muden gelte, m^ rottjem Banbe,
Derfteden t?alb fid? tjinter Sanbgarbinen
Ulan Ijaujt barin ben gan3en (Lag „am Stranbe",
(Sefd?iifct vox Wxnb nnb vox ber Sonne Stratjlen.
5d?roer fend?t ber XPagen nun im lofen Sanbe.
IDir fpringen ab unb getjn 3U (fug ben fd?malen
(Serounb'nen Steg tjinan, bod? nid?t 3U fteigen
Bis 3U ber ^aibe <Sren3gebiet, bem fallen,
XOo fid? bes IHeeres meite Bud?ten 3eigen.
2Iud? n>oI ber f rembe rafiet vox ber l}8I?e
Unb mad?t riieff djauenb fid? bas Bilb 511 eigen,
Das id? aus meinem (5drtd?en friinblid? fef^e,
3m bid?ten Bufd? von Kirfd?enlaub geborgen.
Das niebre f ifd?ert?aus gan3 in ber Hafje
Befjerbergt jetjt im Sommer tsenig Sorgen:
Der IPirtt? mit IDeib unb Kinb if! ansge3ogen,
Der (Safi 3ieljt ein; unb tste von t^eut 3U morgen
Der (Lag cergniiglid?, bas nur rnirb erroogen,
Unb — ba§ 3U fetjr ber (Cag bem (Cag nid?t gleid?e —
IPofjin bet fdjbnem tPetter ausgeflogen?
fjier in bes Birnbaums fdjattigem Beretd?e
(Silt's fd?nell bas gelt r»on Seintpanb auf3ufd?lagen,
Dem IDinb 3U n>et?ren feine fecfen Streid?e,
tPenn bie frugale IKaf^eit aufgetragen.
2lud? tsetjt er all3u gem bas Blatt 00m Cifd?e,
TOM id? einmal im gelt 3U fd?reiben roagen —
ttaum fdjicft fid?'s freilid? fiir bie Sommerfrifdje.
€rnft U>id?ert in Kdnigsberg.
3.
5d?on rStfjen in ber £aube ftcf? bie Kirfd?en;
€s fyiipft con gtDeig 3U 5rof*9 c*n PBgelpaar,
Um emfig anf bie fiigejien 3U pirfd?en.
3fyr Cocfruf fiiljrt tjerbei bic 3&jerfdjaar/
Unb balb toirb's in bem gan3en Bufd? lebenbig —
Von mir, bas roeig bas Volt, flat's nid?t iSefafjr,
3d? fifce jHK. — Piel mollt' ia? geben, fdnb' to?
Pie Banf nod?, brauf fo manges 3afyr id? fag —
Sonjt ijt man bod? in 2lHem tjier bejtanbtg.
€s n?ar fein IKeijierftficf, bas man erlas,
Das t?iibfd?e plafcd?en funjtgered?t 3U 3ieren:
€tn jebes Ping nimmt Don uns felbft fein UTag
Unb f?at nid?t 3c0cm <Sleid?es 3U oerlieren.
<5enng id? fag barauf fo manges 3a^
Unb tjatte reid?lid? Sloff 3um pljantafiren.
&wat Sugerlid? fdjeint Titles wit es roar:
groei pfa'fyle, fiber bie ein Brett gefd?Iagen.
Pod? roeld? ein Brett? Per fall ijt fonberbar.
€s roar ein Brett, bas einjt ein Boot getragen,
<2in <Eid?enbrett — nod? roar bas £od? 3U fet?n,
Tins bem ber Zftaft beim Segeln mod?te ragen . . .
3d? fatj oatan ben rotten tPimpel roetm,
Wtnn fed?s IKatrofen con ber fto^en Barfe
§n £anbe brad?ten iljren Kapitain.
XPoffcr bas Brett, bas fd?male, glatte, fiarfe?
Pas ftammt con euren <fifd?erbdten nid?t,
(Sefietjt es nur, nntriiglid? ift bie UTarFe.
Pa Iad?t bes ^ifd?ers run3liges <Sefid?t:
€i, £?err! 3*tr fab* es gnt in 2ld?t genommen,
Unb u>as 3^r ba r>ermut^et, t?at <Seroid?t.
Pas Ping fam namlid? an ben Stranb gefd?roommen
Beim grogen Sturm mit anberm fold?en XPracF;
Pa t?ab' id?'s Flar gemad?t unb mitgenommen.
(Es roar auf tjoffer See ein b3fcr (Eag:
&me\ groge Sd?iffe, Ijteg es, mugtcn jhanben,
(Ein brittes fanf. Von biefem britten mag
Sommerfrifdje am Saltifdjen Stranbe.
Pie HTannfdjaft ausgefefct fein tjier 3U lanben.
VOxx fatfn com Ufer, n>ie bie Huberer
ITltt 5tricfen an bie BanFe fejl fidj banben
Per WeUtn megen — fyalf bod? Fein (Sefperr',
Das fdjlanFe Ding mar a\l$n fdjroer belaben,
Unb 2Hle finb ertrunFen, Iieber %rr.
3fyr tjabt bie See nidjt nrilb genug bei'm Baben,
Befudjt fte aber im ZTouemberfturm,
Da merFt 3^r/ tfc tuiitr^et uns 3U. fdjaben.
Dann fd?n>anFt 3U Briifierort ber fejie (Ojurm,
Das Ufer brdtjnt con nmdjt'gen IPellenfdjla'gen
Unb madjtlos fuljlt ber IKenfdj fidj nue ein IPurm*
Da n?agt Fein fifdjer Huber ein3ulegen,
IDir 3teVn bie B8te fyodj tjinauf an's £anb,
5onj! ipiirben fle bie VOeUen feetDSrts fegen.
Kur3nm/ bas Brett trieb bamals auf ben Stranb
^ufammt bem UTaft unb eines Seemanns £eid?e.
Den Zftann begruben n>ir. U?as fonft man fanb
Don (EriimmerroerF in unferm Stranbbereidje,
IPar Fanm bes Bergens a>ertf|. Still tljeilten urir,
Unb mir geftel nidjt iibcl biefe (Eidje;
Sie pagte 3U bem Fleinen IS&ntditn Ijier
Unb n>irb, fo (Sott roill, lange 3afyre bienen. —
So fprad? er, unb gan3 eigen murbe mir,
211s ©are mir bes Seemanns <5eijt erfdjienen
Unb gabe felbjt ©on Zlotlj unb Cob Beridjt. —
2Iuf biefem BanFdjen fag id? oft im (Sriinen
Unb fdjrieb barauf mand? launiges (Sebidjt
Unb mandje fyeiterstolle £ujtfpielf cene.
(Sent 3eigt bas £eben boppeltes (Sefidjt,
Unb nat{ tft ftets bas £ad?en bei ber (Ethane.
So ©urbe mir bas UTaftbrett lieb unb roerttj,
Da§ id? nadj bem oermi§ten jefct mid? fefmc,
2Ils fefylte etroas, bas mir anget)8rt.
Wo blub bas Brett? fagt mir's, ifyr Flugen PiJgel*
„<Es tarn mit 2lnberm auf ben ^feuertjeerb
3m letjten IDinter nad? ber Bauerregel."
€rnfi IXHdjert in Konigsberg.
Pern <fliigd?en folgt* id? ttjalab con ber IKiitjIe,
Port t?at es feinc 2Irbeit iteu rollbradjt,
Pas madjt'ge Hab nmfd?nringenb n>ie 311m Spiele,
Unb fd?leid?t nun burd? bic (Erlen miib nnb fad?t
Der See entgegen, bie mit Iid?ter SISue
5id? r>or bem 02infd?nitt l?od? 3um tymmel bad?t.
Pod? 3ie^t midj's tjeute nid?t tjinab in's #reie,
Penn iiberm Stranbe nmtfjet ber ZIorbroeft,
Pen id? als ein oern>3t?ntes Stabtfinb fd?eue.
£}ier leg' id? lieber in bas (Sras mid? fe^,
<Sefd?iitjt com t?od?getftiirmten Wall ber Piine,
Pie brofyenb iiberm (Etjal fid; Micfen I5gt.
Sd?on ffrecft fie ifjren weigen 2lrm in's <5vnne,
Sis 3U ben (Erlen reid?t bie <Eobtenl?anb,
Pas <Jliigd?en 3U bebecfen mad?t fie IHiene
Unb legt bie finger jenfeits anf bas £anb.
Kaum roen'ge Sd?ritte feitoarts biirft' id? fhretfen,
So fanfe fd?on mein fug in tiefen Satib.
3d? liege Ianggeftrecft; bie 3Iicfe fd?tr»eifen
£}iniiber 3U bes fjimmels blauem Hnnb,
Purd? bas in biinnen ftlberfjeflen Streifen
Sanbfd?lekr 3tef{'n, ftd? fenfenb auf ben <Srnnb.
So fd?meid?lerifd? mit fanftem, leifem IDefjen
(Etjun fte ben Jfluren iljr Derberben funb.
Bringt nidjt ber fanbmann bic (Scfaljr 311m Stetjei
guty unauffjaltfam biefes Sanbmeer fort? —
So tseit bie 2htgcn jetjt bie Piine fefjen,
23is t?od? tjiniiber langs bes (Cfjales Sorb,
IDar frud?tbar 2Icferlanb r>or roenig
Begraben ift bie Saat, ber £?alm oerborrt.
XPillfi Pu tjinauf — man barf nid?t Utiirje fparen,
Pa immer unterm <fug ber Soben meid?t
Unb 3ti>ingt, ben tjalben Sdjritt 3uriicr3ufal?ren —
^aft Pu ein 3ilb, bas roenig Bilbern gleid?t.
Pu fd?auft tynab in eine graue F?8t?le,
Purd? beren (Srunb ein triibes IDaffer fd?leid?t,
— Sommerf rifdje am Saltifdjen Stranbe.
IPo^I fdjauerlidj genug, bag cine Seele,
Die ber Derbammten finjtrer Sdfaax gefyBrt,
3n tt^rcr (Debe ftd? bie IDolmung tpd^le.
XOo pe mit tieferm Hanb 3ur See ftdj refyrt,
Siefyft Du bie fiurmgepeitfdjte EDoge jagen,
Die bonnerroflenb biefes (Sraufen mefyrt,
Unb tpo fyinaus bes fjalbrunbs Spitjen ragen,
Strecft pa? nadj (Dfr unb IDejt bie tfiifte u>eit,
^erferbt ron Sdjludjten, 3acfig unb 3erfdjlagen.
3n biefes tfeffels falling legt fid? breit
Der Sturm nnb tpiit^It barin mit tpilbem (Eofen,
Dag ipeit umfyer bie Jullung ipirb 3erftreut.
3n tiofyen Saulen roirbeln auf bie lofen
Durdjnmtilten IHaffen, nid?t gebanbigt metjr
Don (Singer, Jledjten, fjaibefraut unb Hloofen.
Sie brecfyen fid? unb treiben briiber tjer,
2lm Hanb 3U biinnen Sdjleicrn fid? rerfliidjtenb,
Unb flnfen briiben auf ben Soben fdjroer,
UTit ipeigem Sanb bes (Cfjales (frudjt rernidjtenb.
Ztidjt bie Hatur fd?uf biefen ^Sllenfdjlunb ;
Der Sanbmann, auf bes Ufers Sdjutj pe^idjtenb,
Derfaufte Hugen fjanblern feinen (Brunb,
Unb tpefjrte nidjt, fo tief trjn auS3ufyeben.
Sic ipitterten bort einen Sernfteinfunb,
Wo unterm IHeeresgrunb ein Urroeltsleben
Die Spur lieg. Keines IHenfdjen 2Iuge fat^
^um tymmel auf bie madjt'gen StSmme fireben,
2Hs grauftg bas ^erftdrungsmerf gefdjaff
Vom Horben fyer burdj eisbefdjroerte Jlutfyen.
Der Baume ffiig'ges I?ar3 erjiarrte ba,
Das golbgelb tropfte in ber Sonne (Slutfyen.
3*t$t grabt ber IHenfdj, bcr fid? als (Erbe roeig,
Had? SdjStjen, bie fo maudj 3a^r*aufen^ rutjten,
Unb iiberreidjlidj oirb befotjnt fein fleig,
IPenn er 3ur (Erbfdjidjt nur gelaugt, bet blauen.
3m Orient fya'lt ber Sernfiein feinen preis:
Dort tragen ifm als Sdjmucf bes Sultans ^frauen.
unb ©fib. vii, 19. 7
<Ernfi lDid?ert in Konigsberg.
5.
&wat abfeits ©on ber Strage lirgt ber (Drt,
Dod? fann id? tt{n nid?t mfitoerloren nennen,
IDie ipobj auf wetter Stt bes Sanjfes 3orb,
2Inf f^of^er 2IIp bas fd?lid?te fjaus bes Sennen.
Seit bas Befonbre oiler IPelt gef?3rt,
3fx's fd?n>er Dom Mgemeinen fid? 3U trennen.
IDenn man entlang ber Uferjtrage ffitjrt,
<5ibt bas (Sclett ber Drafyt bes Celegrapfjen,
Dcr faft bebenttid? bie 3byIIe fiort.
Per matin, ben oir bet fd?limmfiem IDetter trafen,
(Cragt 3tpetmal tag I id? tins fyerau bte Poft,
Dag mtr ber Dtnge #>rtgang nid?t i>erfd?Iafen;
geitungeu ffittern uns mtt itjrer tfojt:
XO'it oft fie falfd?e IHii^e fdjlagen mSgen,
Hie flebt fiir uns baran bes 2llters Hoj*.
So folgt uns uberatl ber (Erntefegen
Der lad?enben unb feufjenben <£ultur,
Unb tfjb'ridjt oar's, ben IDeg it?r 3U ©erlegen:
Ulan mag bod) gem erfafyren, n?as bte ilfjr,
2lud? ipenn man £eit perfd?u>enbet, unb nid?t immer
Sd?at$t man (Enttjaltfamfeit als befle tfur.
IHag fein, bie Welt wivb fUiger nid?t, nod? bummer
3n einem fur3en, fommerIid?en IHonb,
Unb gefjt man nid?t mit ifjr, uermigt man's nimmer;
Dod? finb n?tr leiber alfytfefir gea>of?nt,
Uns frember £eute tfttpfe 3U $erbred?en:
IHan murrt ttnb fietjt fid? ungem bod? i>erfd?ont.
3d? u>ei§ mid? fiarf in alien fold?en Sfym&dbcn ,
Dod? mand?mal ret3t es mid?, fiir Fur3e Jrijt
2lus bem (Setjege funjtlid? aus3ubred?en,
Unb rootjlgelungeu nenn' id? ftets bie £i(t.
Daim fammeln fid? bie fd?roar3bebrucften Blatter
Unb Allies, mas barin 3U Iefeu ift
Von politif, rou gut unb fd?Icd?tem JPetter
3u €nglanb, JranFreid? unb 2lmeriFa,
Per tPatjltvompctett roiittjenbem <5efd?metter,
Sommerf rifd?e am Baltifdjcn Sttanbt.
9?
Von 2lllem, was gefdjal? unb nid?t gefdjaf?,
Unb fjier nnb bort beinat? gefd^e^en roare,
Kaum auspofaunt fid? fd?on beridjtigt fat^ — ;
Don allem biefem lag id? cine f cere
3n meinem Kopf, unb banfbar mug er fein,
Pag id? it?n fo mit IDijfen nid?t bejd?n>ere.
Hun mag jtd? neucn Ifinberfegens frcu'n
f?ans, peter obcr Kun$, bes Sd?mer3es vEtjrane
Dcr €rbe bem rerftorbnen (Dnfel rocirfn,
£?err 3Fs unb jene rnelumtporb'ne Set/one
Sid? melben als rerlobt mit fetter Sd?rift,
3d? merfe nid?ts r*on allebem nnb marine
So mand?e fd?timme tflippe gut umfd?ifft,
23raud?' id? um bies unb bas mid? «id?t 5U miifjen,
Was in ber Stabt ben lieben £Tad?bar trifft. —
2lud? fonjt ben alteu 3afob ansj^ietjeu,
Unb roaYs aud? nur auf fu^bemeff'ne &e'\t,
Derlotjnt's einmal ber Kegel 3U entfKierjen.
Hid?t fern rom (Drt erftrccft fid? meilentueit
<£in Jorjtremcr mit bid?tem beftanoexu
§n 2Infang ift ber EDeg bequem unb breit;
<£r gabelt fid? — bort fd?cint er 3U cerfanbem
€in Jugpfab fiifjrt feitab in tiefen (Eann,
Unb balb roirb jebe IDegefunft 311 Sd?aubcn.
Pas ifl'S/ morauf id? mid? gefreut: nun fann
Per Jug im IDalbe munter prjaniafiren,
Pie (Quer, nad? rcd?ts, nad? linFs, bergab, bergan
IHid? nad? ^clieben griinblid? irrefiirjren.
Sd?nell bort t?inein in's bid?tefte (Sebiifd?,
<£s gilt, bie Hid?tung gdi^Iid? 3U cerliereit.
Pas uenn' id? XPalb: ein fofHid?es (Bemifd?
Von £aub* unb HabeIf?ol3, ba3tr*if d?cn £?ecfcu
Don ^rombeerjtraud?, tporin fid? buftig frifd?
Pie rotten IDalberbbceren fd?eu cerftccfen.
Dielleid?t gelingt's, wenn man bie ga>eige %ilt,
(£iu fd?eues Hef? com £ager auf3ufd?recf en :
Wxe 3ierlid? es in fd?nellem fauf enteilt!
3rjm nad?! es fennt getpig bie tiefftett (3riinbc,
3n bett.cn fid?'s 3ur Haft r»crgniiglid? tpeilt.
7*
(Erufi lDid?ert in KSnigsberg.
Dod? nun rootjin? <Db id? ben 2Jusu>eg finbe?
Die Sonne mad?t fid? mir 3ur (fiirjrerin,
Derlaglid? ift ber Sfiume moofge Hinbe.
Unb getjt aud? nod? em Stiinbdjen briiber fyin,
€in 3roeites, bis ein fic^rer £Deg getroffen,
Was fd?abet bas, ba id? nid?t eilig bin?
^uletjt ift t^ier unb bort bie (Segenb off en,
Unb erf in's Itteer t^inab bie Sonne fteigt,
Darf id? in meinem Heft 311 fitjen fyoffen:
Sid? 3U cerirreu ift bureaus nid?t Ieid?t!
6.
<£in Heines Jjaus, nur t?od? geuug unb tpeit,
IHit IDeib unb Kinb beljaglid? brin 3U rDofjnen,
€in <5artd?en rings itmljer als grimes Kleib;
<£in 2Jcferftiicf 3U Hiiben, Korfl unb Soften;
<£in IHorgen fetter EDeibe fiir bie tfurf,
Unb Jebermef?, ber £Dirtrjfd?aft treu 3U frormen;
Dietteidjt ein ffottes XPageId?eu baju
IHit ctnem fd?ncllen (Eraber an ber Seine,
2IH eigen . . .! Driicfte \>ann nid?t fonft ber Sd?uf?
£Die oft man grofje Sorge taufc^t fiir fleine
Unb fiimmerlid? fid? miirft urn taglid? 23rob,
Damit man Sonntags fid? beraufd?t am IDeine —
Derlocfenb fd?ien' es, fo bes £ebens ZTotl?
3m Hingen urn ein f?od?f*es ab3ufkeif en ,
(Serjorfam nur bem einen ppid?tgebot:
3u fid? an feiner Stellc aus3ureifen. —
Hid?t merjr begefjren, als 33efd?eibent?eit
3m nad?ften Umfreis miifjelos mag greifen,
Unb jebem Dinge laffen feine &t\t't
Hie iiberfdjatjen fid? in f einen Hlitteln,
IHit DanF bie (frud?t ©e^etjren, bie gebeifyt,
Had? anbrer nutjlos .nid?t am Saume fd?iitteln
Unb, roenn bie Sdjlufoarjl glatt nid?t ftimmen u>iU,
Desfyalb bes fjimmels f iigung nid?t befritteln —
XPer fo befd?eiben, gottergeben, ftill,
Sein gan3es fyx$ im engften (Etjun befriebet,
Vex mad?e bod? fein £eben 3um 3^Y^/
— 5 ommcrfrifd?e am 3altifd?en Strange.
Wenn ex pom farm ber grogeu Staot ermiibet,
Der 2Xrbett fatt, bie taufenbfad? perbriefjt,
2Jbf?olb bem groang, ber an's <5efd?aft itjn fd?miebet,
ITTit einem fraft'gen Strid? bic Hed?nung fd?lie§t.
Bier tjatt' id? ifym ein picitjdjcn tpie erlefen
pill befd?aulid?em (Senufj erfieft.
IDie oft nid?t bin id? gliicflid? felbft genefen,
Wdxr id? aud? tpenig fu^e EDodjen nur
Des Segens feiner f^cilfraft frotj getpefen.
tfargt rings umfjer mit Hei3en bie Hatur,
tyer f?at fie fid? gefd?miicft 3um Jeicrtage
Unb lad?t pertjeigungspoll aus Itfalb unb flur;
Ijier rooljnen ITtenfd?en nod? pom alien Sdjlage,
Jjalb Bauer nnb tjalb Jifd?er, brap unb fd?lid?t. —
tlnb bod? — ! roenn id} mid? auf's (Senriffen frage:
tfur's Seben roa^It' id? biefe Stille uid?t.
Was mid? ent3iicft bei feltenem <5enie§en,
2llltaglid? 3eigt's ein anberes (Seftdjt.
ntein freier fjerr 3U fein, anf eig'nen ^fiifjen
jteVn, nidjt pflid?tig eines 2lmtes gtvana,,
Der locfung Fann id? nid?t mein (Dfjr perfd?liefjen;
Dod? maljnt es mid?, roie cor Sirenenfang
IHid? an ben HTaft bes Sd?iffes fefaubinben.
Hod? parb niajt in ber Sruft ber frifd?e Drang,
#
2Iuf ^ot^cr See 3U treiben mit ben EDinben,
Had? guter ober fturmbefd?merter <faf?rt
Don Hcuem ftets bie fjeimat aufjuflnben.
Unb roare bann bie 2Jrbeit fireng unb fjart,
Jaft fiberreid? bem (Eage 3ugemeffcn,
tfein IHigerfoIg bem Strebenben erf part,
Das miirfepoll €rreid?te balb pergejfen,
Unb bas 3efenntnig, bag bas giel perfect,
Das rummerlid?e (facit alles beffen:
Dod? fyeigt es leben, roenn bie Kraft fid? jrafjlt,
^u eigner £uft bas (Srog're 3U pollbringen,
Itfenn unfer fjer3 nid?t feine Sd?Iage 3ab.lt,
Unb unfrc Seele bie befreiten Sd?tpingen,
So we'xt fie reid?en mSgen, fenft unb f?ebt,
Doll Jreubigfeit bem Dunft fid? 311 entriugem
<Ernjt £Did>ert in IfSnigsberg.
Der w'dxt frei, ber an ber Sdjolle flebt,
Sidj forglidj miifyenb irenig 3U bebiirfen,
Urn 2lnbern ntdjts 3a fdjulben, ftets befirebt
Sidj fen^ufjalten 3n?etfelt^aften IDiirfen
•Des Sdjicffals, lieber nic pom Wtin oerfudjt,
211s jc rerfiiffrt, 3U ciel bcs Sdjaums 3U fdjliirfen?
VOenn jeber (Eag bie gleidje ^iffer budjt,
Der 3atiresfd?Iu§ e^ielt fein HTe^r, fein Hlinber,
Des *?anbelns et^'ge Jrage: ift's befugt — ?
ttiemals ber pulsfdjlag eiliger, gefdjroinber,
Die 2lusfdjau in bie gutunft ct,9 befdjranft
2luf rSterlidje Sorge fiir bie Tftnber ...
(Beniejje ftilfoergniigt, roem's fo gefdjenft,
Unb MicF auf ben mit ladjelnbem Bebauern,
Der felbjt bas.3°d? fid? auf bie Sdjulter tjangt,
5" riift'ger 2Jrbeit fjinter Wall unb IlTauern
3n ber (Befammtffeit Dienft Derlangen ljat.
3d? ipeig es, bie 3byIIe barf nidjt bauern:
3d? bin geftarft. fjab' Danf! gurucf 3ur Stabt
£cmt unb bie $vauen.
Don
% i©itte-
— Bonn. —
finb nun balb metyr bcnn ljunbert %af)xt toergangen, ba
toanberte an icbcm Xage fo regelmii&ig unb piinftlidf), bajj
man fcinc Uljr banadf) ju ftetten fcermodjte, cin SWann toon
fdf)lidf)tem Sleu&eren nadf) Xifd^c burdf) bic ©trafcen unfcrcr
ottcn ®r5nung3ftabt SflnigSberg. ©ogar bic Settler fatten bie SRegels
ma&igfeit, aber audf) bie SBoljltljatigteit ieneS ©pajiergangerS bemerft.
3<* burcf} reicJ)ficf}ere ®aben a(3 fie gefoBfjnlid) finb, ^attc ber lefctere
in folder Stnja^I bie erfteren nacf) bem \pattx toon iljm benannten ^ilo-
fopijenbamme tyingejogen, ba& ber 23eg iiber benfelben i^m tdftig ttmrbe unb
cr fortan einen anberen einfdjlagen mufcte, inbem er atebalb ben ®ang
befudjte, ber nadf) bem Ijottanbifdfjen Saume fitfjrte, fobann toon bort nad)
bem ©teinbammer Xfjore toanberte unb toon Ijier iiber ben ©teinbamm
nad) feiner SBotjnung auriidtetjrte.
SGBcr toar nun biefe 95erfdnlidf)feit, beren 5ffentlid)e ©rfc^einung auf
ben ©pajiergangen fohue in grSfceren gefettfdjaftlidjen ffreifen SdnigSs
bergS augenblidlidf) bie aflgemeinfte Stufmertfamleit auf fief) Ijinlenfte?
<5& tt>ar bie eineS ber trefflidjften unb fdjarffinnigften ©eifter, bie ie
getebt l)aben, e£ war Smmanuel ffiant, atoeifelloS ber grdfete beutfdfje
^itofopi}, bejfen SRuljm fur alle 3eit in ber ®efd)id)te ber SBijfenfdjaft
ubcrljaupt unb in ber ber beutfdjen ^fjilofopljie im S9efonberen geborgen
ifL — SBenn ein bereits fo beritljmter SKann bie angebeutete ©etooljns
Ijeit ljatte, ftetS aufeer bem $aufe fein SJlittaggma^I einjuneljmen, fo toirb
ate ciner unter ben bafiir toatyrfdjeinlidfjen ©riinben ber Umftanb gelten
fitonen, baft er ein 3unggefeHe getoefen fei, unb eben biefe SSermutljung
tft in ber %$at aud) bie ridjtige. Slber baft er barum im Uebrigen
ebenfalfe bic oft ettoaS fonberbaren (£igenfdf)aften eineS foldjen an fid) ge^abt
Ijatte, ba^ biirfte eine nidjt ofjne 2Beitere3 geredf)tfertigte Slnnaljme fcin.
\02
3. Witie in Bonn.
Unb \t metjr unfcre $t\t bie ttiiffcnfc^aftltc^c GJrofce Emmanuel 8ant£
in tuurbigen gelemt fyat, urn fo meljr erfdfjeint e£ angejeigt, audj bie
$erfontid£)feit beSfelben toeiteren Kreifen belannt ju madden. 2)enn tester en
laftt fid) cin bcbcutcnbcr SKann oft meljr burd) feinen Etjaraltcr al£
burd) fcine Seiftungen nafje bringen, unb jencm gegenfiber mddjte, ma§
Kant betrifft, immer nod} cine gettriffe $fftd)t obtoatten, il)n in flared
Sic^t ju ftctten, ba felbft ein fo liebetooll unb genial getyalteueS SebenSbtlb
tt)ic ba£ ffiuno gifdf)er3 e3 ift, nidjt ganj fret toon bent £>ange befunben
toerben moijtt, in unfere3 ^Stjilofopljen $erfonlidE)Ieit un3 bie eine3 ©onber-
liugS barjuftellen.
3$ glaube, baft ba3 ©egentfjeil batoon ba£ 9tid)tige tft, unb idj
tjoffe, nicf)t nur bie§ in furjen S9etracf}tungen erroeifen &u fonnen, fonbern
Don einent ©egenftanbe ju Ijanbetn, ber fur einen toeiteren Srete Don
Sutereffe ift, toenn id) mil* be3 2efer3 geneigte Slufmerffamfeit erbitte fftr
ba3, toad Sntmanuet Kant fiber bie grauen geurtljeilt unb toon i^ncn
gefjatten f)at.
gfir bieS Urttjeil fjaben mir jtuei Duetten: juto5rberft ndmlidj bic
Stadjridjten, toetdje un3 iiber Kante SBerfefjr mit ben grauen toorliegen,
fobantt feine Steufterungen fiber biefetben in ben ©cfjriften. Urtljetft
man bod} nid)t atlein in SBort unb ©djrift, fonbern aud) burd) feia
SBerljalten unb feitte Stjateu, unb beibe ertdutero fid) toed)felfeitig.
S)ie erftere Quelle, bie SftadjridEjten fiber Kante Umgang mit grauen,
befteljt in toenigeu Slufjeicfjnungen, bie am beften jufammengeftettt finb
bei feinem auf urfunblidjen DueHen fufcenben Siograpijen gr. SB. ©Hubert,
©ie nennen un3 nur eine Heine 3Reil)e toon grauen; aber bie fparlicfjett
©amenlflrner, bie burdf) fie in KantS ©eele gelegt toorben finb, geben
nur einen neuen 93eh>ete toon feinem empfdnglid)en unb tief angelegtcn
©cifte, ber aud) fie ju reidjer unb reifer grudjt entttrideft fjat.
2tn ber ©pi|}e biefer grauen, foiool ber 3«it nad) ate aud) nad>
ber ©r5fce be£ ©influffeS, ben fie auf unferen $f}itofopt)en auSgefibt t)at,
ftetjt feine 2Jtutter?v9tnna SRcgina, geborene SReuter. ©ie toar e3, bie
trofc ber einfad)en unb fdjtidjten 93erf>dltntffe im $>aufe be^ eljrbaren
©attler^ ate beffen ©o^n ^mntanuel ®^nt am 22. Mpril 1724 geboren
ttmrbe, an i^rem Stjeile reid^Iic^ ba5u beigetragen ^at, in iljrem ©o^ne
frfi^ bie Ueberjeugung ju erbeden, ba& 3^^tgefu^I unb feinfinnige
(Smpfinbung aud) of)ne ben*©Ianj aufterlid^) blenbenber SSer^dltniffe ben
tuefentlic^en Kern jebe§ ed)t loeiblic^en EljaratterS au§mad)en. 3)er Se?
fi^ biefer SJorjfige loirb ber SRutter Kante toon feineu 93iograpf>en in
fibereinftimmenber SBeife jugefproc^eu, unb e§ ttrirb babei im 93efonberen
^ertoorge^oben, fie tyabe ben ©o^n oft in bie freie Statur geffi^rt unb
iljn babei auf bie toed)fetnben ©rfd^einungen in berfetben aufmerffam
gemad)t. ©0 tourbe jugleic^ mit ber ©mpfinbung ffir bie ©c^Sn^eit ber
©djityfung bie gorfc^begierbe be§ Knaben geloedt. 3)enn toenn auc^ bie
Kant unb bie frauen.
J05
aflutter, uric bet ber ©rtoaljnung biefer ©pajiergange au3britdtidf} tyertoor*
get)oben nrirb, bcm ©ofjne bic 9taturerfd)einungen in ^crjli^cr Sufyxafyt
au3 bcr tounberbaren 3D?ad)t ©otteS ju erHaren fnd)tcf fo mujj bodj
bent freien 9lad)ben!en iiber biefelben baburd) fo toenig Stoan% aufcrlegt
toorben fein, baft ©ant, felbft ate er fdjon burd} bie §erau£gabe feiner
SDieiftcrraerte feinen freien unb tnatyrfjaft fritifdjen ©eift befunbet Ijatte,
bod} bie ©rjieljung, bie er felbft genoffen, gem berienigen riitjmenb gegem
iiber ftettte, bie er felbft ate &au3let)rer ber graflid) Satyferling'fcfjen
Sinber Ijabe anjutoenben toerftanben. ©r bejeugt bamit, baft iljm bie
pietiftifdf) religiofe Sljifdmuung, ber feine SDtutter toie bie ganje fur i^n
einflufcreidje Untgebung in jener 3cit ergeben h>ar, bei ben ©eletyrungen,
bie ifjm feine SDiuttcr ju X^eit toerben liefe, ftete nur ate ein unraefent^
lidje§ 9leuf$erlid)e erfdjien neben bem tiefen, Ijeiligen ©rnft, ben ifjrc
jarttidje SBluttertiebe mit ricfjtigem ©efiifjle an bie ©pifee ber bie Sinber*
erjie^ung teitenben ©runbfafce ftellte.
<So toar bie 9Jf utter SfantS bie Urfadje, baft er fdjon in feine
Unttoerfitateia^re ein SJilb ebler 2Beiblid)f eit mitgenommen Ijat, ba3 iljm
ftete lebenbig toor Slugen ftanb unb iljn mit toatjrer Stdjtung toor bem
anberen ©efdjledjte erfiitlte.
Slllcin bic fdjlidfjte 21rt biefer guten grau, beren SBilbung mel)r
£erjen§; ate $Berftanbe3fad)e mar, bic tool brazen S3urgerfinn befafj,
aber jeber feincren SBeltbilbung entbeljrte, roiirbc bod} uid)t auSreitfjenb
(gemefen fein, ffiaut ju bem fdjarffinnigen unb oft fogar loijjigen 93e;
obadjter toeibttdjen SBefenS ju mad} en, ate bcr er fid} in feinen ©djriften
jcigt. S)aju beburfte e3 be3 UmgangeS mit Srcifcn, in benen bcr fcinerc
gefeHfdjaftticfje Son fjauptfadjlidf} burcf} toafyrtjaft gebilbete Sraucn toermittelt
ttmrbe. Unb aud} einen foldjen Umgang tjat ©ant genoffen, namentlidj
ate er in belt Safjten 1746— 1755 .auf toerfd)iebenen ©litem in ber
SRafje feiner SSaterftabt ate $au3let}rer tfjdtig mar. ©o toar e$ bie
gamilie be$ 9littergutebef%r3 Don $itlfen auf §erm3borf bei SRo^rungen,
in bcr fid} ©ant fo bclicbt madjte, ba& bie ©fltjue ber'^Jamilic fid) nodj
5U iljm fjielten, ate er tangft an ber Unitoerfitat feiner SSaterftabt ate
Seljrer tfjdtig tear. SSor alien aber toax e3 bie gamilie beS ©rafen
ftatjferling auf SRautenbcrg, in ber ©ant ate |mu3lel)rer ©elcgen^cit Ijatte,
5u erfa^ren, mctc^en ©influg einc feine unb pomefjme %xau toon gtan^
jenben, aber nic^t ettoa bto§ beftcd^enben ©igenf^aftcn auf ba3 ©liid
i^rer gamilie ^aben lann. ©ine fotd)e 3rau toax aber nadf} ben iibcr=
einftimmenben 93eri<§ten toon ©ant^ Siogtap^en bie ©rafin ©overling,
eine geborene 5Rei^grafin toon 2rud)fe6 5u SSalbburg, beren ^erfflntid);
feit eine fo ^ertoorragenbe getoefen fein mu§, bafe fie bamate ate bie
Xonangebcrin fiir bie ©efetlfdjaft ber ^}5^crcn ©tcinbe SflnigSbergS gait.
3n bicfc ©reife jog fie benn aud) mit ridfjtigem Xafte unfern $^ilofop^cn,
unb ber Sinflufc, ben fie felbft tnie i^rc ganje gamilic auf iljn au^^
\0% 3. rOitte in Bonn.
Qtnbt fatten, bctoirfte, bag Saut, fo ungern cr gctuiffc conbentioneflc
$8fItcf)feitgformen ertrug, bod) Did barauf f)ielt, liberal! in #anblung
unb Stugbrud fid) ate ben fcin gebilbeten Sftann ju jeigen, bcr jcnc
gormcn beljerrfd)te , aud) mo cr fid) il)nen nid)t unterjog, unb bcr fid)
ifynen hneberum gem unb mit betoufeter 2lbfid)t unterjog, too er fie ate
toerftanbigen Stugbrud eineg inncren Slbete ju beuten &ermod)te. ©eru^mt
toirb fcin lalent gcfdtiiger ©r^a^Iung unb einer $ifd)untert)altung, bci
ber ©egenftanbe ber £ageggefd)id)te toie ber Siteratur unb 2Biffenfd>aft,
toeniger bcr Sfunft, in Ieid)ter unb angeneljmer Solgc toed)felten unb auf
cine, felbft minber gebitbete Scute fejfelnbe Strt erortert tourben. ©elbfi
3iige ca&aliermafciger ©eifteggetoanbttjeit unb Sutoorfommenljeit gegen bic
graucn toerben erjatjlt.
9lod) eine gantilie btcibt ju ertoirtjnen, in ber Stout ©elegenljeit
fanb, bie auf toeibticfjer SBirffamleit berufjenben 9lnnel)tnlid)feiten beg
Sebeng lennen ju ternen. S)enu obfd)on bie grau Dberfdrfter SBobefer
in SRobitten bei Sbniggberg in SBejug auf l)eroorragenbe ©igenfdjaften
mit ber ©rafin Sterling laum biirfte in einer 3Reif)e genannt tocrben,
fo betoieg bod) bag gorftfjaug ju SRobitten, ba& ein Sftann Don biebercm
Gljarattcr unb einer fur bie mannid)fad)ften geiftigen Sntereffen emj>fang=
lichen ©eete, urie ber Dberf5rfter toar, in @emeinfd)aft mit einer einfad)
unb ftill in ecfjter 2Beiblid)teit toirfenben $augfrau tool eine #au3lidj=
leit einjurid)ten unb ju toertoalten im ©tanbe ift, in ber fid), nrie int
Sorft^aufe ju SKobittcn, bie beften unb geiftootlften fidniggberger ®e-
leljrten, Sant infonbertjeit, ju toerfammeln pflegten.
Unb bodj biefer feingebitbete, fur bie ©efefligfeit unb bie 2fanel)mlid)*
fcitcn beg Sebeng uid)t unempfangtidje $fjtf ofoplf), beff en Untgang unb Sebeng
tpcifc fciclfad) jugleid) einen offenen ©inn fur bic ©d)8n!)eUen ber Statin:
unb nid)t minber fiir bie SSorjiige beg anberen @efd)led)tg behmbet, ifl
irofebent fciu Seben tyinburd) unt)erl)eiratl)et geblicben. — SKan barf ifjnr
toegen biefeg Umftanbeg aber fdjtoerlid) eine Unterfd)afcung ber Sebeutung
ber Sl)e, junta! nid)t in il)rent fittlid)en SBertfje, ©d)u!b geben tooflen.
9tod) toeniger ift anjunetymen, baft bied cfllibatare Seben ®ant3 bie fjolge
einer eigenfinnigen ©ride toar. ©cfjon bie angefiil)rten Xl)atfad)en au3
fcinem gefetligcn Seben ft>red)en bagegen. Unb ber toatjre ©runb bafur,
ba& S?ant ftetg unberljeiratljet blieb, tiegt offenbar barin, baft er in ben
3atjren, too fiir itjn bag ©ingeljen ber jarteftcn unb innigften Seben^^
gemeinfdjaft natiirli^ getoefen ware, aufeer ©tanbe toar, eine 5rau 5U
crnafyren, baft er aber, ate er bie3 Dermod^te, in 5U ijoljem 9tlter ftanb,
urn cine foldje brauc^en ju I5nnen, tt)ie er fid) faft toflrtlid) tttoa§ berbc
bariiber auggefpro^en ^aben foil. ®r empfanb atfo in ben fpateren
Sebengiaf)rcn bag Sebiirfnife nac^ ber (Slje nici^t me^r ernfttid^. 2BoI
aber geftaltcte er (eine #augtfd)feit fo, bafe fic^ erfennen Iafjt, toie fc^r
cr bag, mag er immerljin ate ©ntbe^rung finite, burd^ eine fe^r eng an
Kant unb bie frauen.
103
fidf) gcfcffelte Sebienung unb burd) einen taglid)en Sreia bcfreunbetcr
genoffen ju erfefcen fud)te. ©inen foldjen Derfammelte cr toafjrenb ber
fpateften Sebenajafire in fcincm eigencn $aufe.
SBol modfjte audf) ber Gfjeftanb in bcm Ijoljeren Sebenaalter unfcrcm
Spijtlofopfjen ata cin §inbernif$ erfd)einen fiir bic Don if)nt in bemfetben
innc gefjaltene ftrenge Seobadfjtung cinea regelmafcigen fjdualicf)en Sebena,
bic nidjt fotool golgc ber &f)araftereigenfd;aften einea ©onberlinga toar
ala fie Dielmel)r burd) Derftftnbige 9tudfid)t auf Santa mangelljafte ©e^
funbfjcit, junta! im Serljaltnife ju ben f)of)en Slnforberungen feinea Serufca,
ttric er il)n auffafete, crf)eifd)t ttmrbe.
S)en ©tyeftanb ju erftreben, bag tjiett ffant fiir einen SBimfdj, ber
an fidj) bureaus in einer fittlicfjen unb natiirlidjen 9tott)tt)enbig!eit be-
griinbet ift; aber Slufmunterungen baju, bie fid) auf feine $erfon bejogen,
lonnte er aua ben augebeuteten ©riinben nic^t Dertragen, unb ata man
einft ben unpaffenben ©djerj bia ju einem jubringtic^en Sorfdjlag getrieben
Ijatte, Derliefc er unhriflig bie ©eiettfdf)aft. 2)ennod) ftanb er in ben
mittleren So^en jtoei 9BaIe natye baran, fein c^ctofc^ Seben aufjugeben;
abcr bie gebadfjten peinttdjen 3tiitffid)ten liefccn if)n in golge bea ju fpat
gefafjten Entfdjluffea bie giinftigc ©elegentjeit Derfaumen.
2Bte fiant itberljaupt toenig eifrig in feinem 93rieftt>edjfel toar, fo
fiat er audj mit ^erfonen bea fdjdnen ©efdf)ted)ta feinen foldjen regels
iiifi&ig gefutjrt. SInbererfeita aber finb una befonbera jtoei fflriefe an
grauen ertjalten, bie beibe cin S^ugniB batjon geben, bag cr bie grauen
iibcrljaupt fur tourbig genug l)ielt, urn aud) mit ifjnen iiber bie toid)tig=
ftcn 2lngelegcnf)eiten bea §erjena unb SSerftanbca fidj in crnftcr SBeife
5u untcrfjalten. 3)er einc SBricf betrifft ben gatt bea ©cifterfct^er^
©toebenborg, iiber ben un}er ^S^ilofop^ an ein grdulcin Don Snoblaud)
fdjreibt, ber anberc ift ein untoergleidjtidj fdjoner Xroftbrief, an grau Don
gunf gertd)tet in golge bea SlbfebenS it;rc^ ©oljnea, einea Don Sant iiber*
au£ gelicbten unb gefdjafcten 3utjorera.
3)aa finb bic toid)tigften %i)at\ad)tn, bie fiir Santa Umgang mit
ben grauen Don ©ebeutung finb, unb baa Urt^cil, toeldjea hrir aua iljnen
iiber Sant3 SKcinung Don bcm anberen ©efd}Ied)te gctoinncn, roirb beftatigt
burd^ fcine Steufcerungen iiber biefetbeu in feinen SBerfcn. Siegcn biefen
9tu§}prii(^cn bod) ienc X^atfa^en al^ bic ©rfaljrungen, bic er Deriocrt^ct
f)at, sum ©runbe.
finb abcr DorjugStoeife jmei ©ci&riften, bic ^icr in Setradjt fommen,
crftlic^ SantS @d)rift, bic ben litct fii^rt: „95eobadjtungen iiber bag ©cfu^l
bc^ ©d>5nen unb ©r^abencn" unb fobann fcine ^Mntfjropologie".
2)cr jucrft genannten loenben n>ir una junad^ft unb faft auSfdjliefclidj
ju. Sant Dcrfafetc fic in bcm una bereitS betannten $aufc bca Dber^
fSrftcra SSobefcr ju SDtobitten. SBa^renb ber ©ommcrfriidje bea lanblid^cn
9[ufcnt^altca im 3tot)rc 1764 murbc fic bafdbft leidjt ^ingeworfen unb
\06
3. IDitte in Bonn.
toofienbet. — ©ie ftrofct toon cincr guile feinftnniger SBemerfungen uber
dftfjetifcfje unb moralise ©egenftanbe unb jeigt ung sugteid) ®ant ati
cincn toa^rtjaften SSirtuofen im 93eobacf)ten feelifdjer Buftdnbe. £abei ift bie
©djreibart geiftreid), ftnb bic ©ebaufen oft genial, unb bic $athmg beg
©anjen ift fret Don ben Seffeln pfjilofopfjifdjer Sermiuotogie, tnie benn biefer
Slitf fafc aud) fiebje^u Saljre bem ©rfdjeinen beg erften epodjemadjenben §aupt'
merfeg toon unferem 2)enfer, bcr „&ritif ber reinen Sernunft" toorangeljt.
Sant fdjrieb bie „93eobadjtungen uber bag ©efittjl beg ©c^onen unb
CSrljabenen" toietmeljr in einet 3^it nieber, too cr fief) cinge^cnb ntit ber
englifdjen $t)ifoiopt)ie befcfjdftigte, jumat ntit beren Unterfudjungen fiber
gragen ber praftifefjen SBeltroeigfjeit, unb er jetgt fid) in berfelben oicI=
fadj abfjdngig toon englifdjen ©infliiffen, aber er ftef)t bod) nid)t blog
unter benfelben. Sg liegt mefjr an ber Icicfttcn £arftcflunggrocife, alg
baran, ba& eg nod) S'antg Ueber5eugung fcin fihtnte, toenn bag ©cfyonc
unb bag ©ittlidjc in biefer Slbljanblung oft nid)t ftreng gefdjieben tocrbcu.
©g ift offenbar nadj Santg eigener SKeinung uid)t ber tieffte, fonbern
nur bcr frucfjtbarfte ©efidjtgpuntt, tocun cr l)ier nicfjt fomol bag SSefen
beg ©djimen aug bem beg ©eifteg unb aug jener gormtoottenbung , bei
ber bie ©eftalt beg ©innlidjen jum reinen Stugbrude ber £armonie toon
jenem mit bem ©toffe getoorben ift, I)er^ulcitcn fudjt, a(g nad) t>en fufr
jeetitoen Sinbruden fragt unb nad) ben befonberen einjelnen ©efufjlcn,
burd) loclcfye bag ©cfjone tyertoorgerufen toirb. S)cnn tuenn Kant ben
erften Stbfdjnitt ber in SRebe ftef)enbcn ©djrtft, ber „toon ben tocrfdjiebenen
©egenftdnben" tjanbelt, „bie bag ©efutjl beg ©djoncn unb ©rfyabenen" in
ung ermeden, mit ber attgemeinen S3emerfung beginnt, baft jebe Smpfinbung
toeniger burdj bie 9latur ber ©egenftanbe, metd)e biefe ©mpfinbung f)er;
toorrufen, alg burd) bie 33efcf)affenl)eit beg ©ubjectg, melcJjcg biefer ©mpfinbung
inne toirb, bebingt ift, fo geftetjt er toon ben gactoren, beren ^robuctc
bie Smpfinbungen ftnb, bem auf ©eite beg ©eifteg gelegenen cine fo
ubertoiegenbe Sebeutung ju, toie fie bie englifdje $f)ilofopl)ie gerabe
leugnete. SQSol aber befinbet fid) biefe toicfjtige SRofle, bie fjier bem ©ufc
jecte, toeldjeg bag ©d)5ne empfinbet, bei Sewirtung beg lefcteren juge;
fd)rieben toirb, in Uebereinftimmung mit ben 2ef)ren ber ®ritil ber reinen
SSernunft unb ben fpdteren ber auf biefe fufceuben ffritif ber Urtljeilg;
fraft. Siegt bod) in ber ©onfequenj ber erftcren bie 2lnfid)t, ba|; n;o
©emi^eit bcr ©rtenntnife erreic^t toerben fofl, fic^ bie ©egenftanbe nad)
bcr SJernunft, nid)t aber biefe xiai) ben ©egenftdnben ridjten miiffe.
Sant urtfjeilt nun infonberljeit toom ©efii^I beg ©d)5nen unb Sr^
Ijabenen unferer ©djrift jufolge, bafe eg in ciner gctoiffen angene^men
atii^rung beftet)e, lefctere aber auf toerfd)iebene SQSeife angene^m fei. S)a»
©r^abene ndmlid^ errege ein 28o$tgef alien, bag mit ©taunen, \a felbft
mit ©rauen gemifdjt fei. 3)ag ©c^dne aber toerantaffe eine angene^me
©mpfinbung, bi? fr5t)Iid) unb Id^elnb fei.
Hani un& bie £rcruen.
\07
3)ag (Srfjabene fjat barnt beg SBeiteren nad) Sant brci Strten: 1) bag
©djrerfljaftsErfyabene, 2) bag ©bclc unb 3) bag $rdd)tige. 9Scnn bei
ber crftcn Slrt bic Smpfinbung mit ©raufen, ja ©d&mermutf) toerbunben
fei, hrie beim Sinbrude, ben bic tiefc ©infamfcit bcr SBiifte fyer&orruft,
fo bringe bag Sbctc toieberum cine ruf)ige Sehmnberung Ijerbor, j. 93.
bcr ftolje 93au cincr ^tjramibe; beim antigen abcr fei iibcr cinen
crtjabenen $lan ber Dberflddje ber Shimmer bcr ©<$5nljeit toerbreitct
(s£etergfird)e).
Sftadj ndfjerer 93egriinbung biefcr atlgemeinen Slugeinanberfefcungen
befjanbeft Sant tm atoeiten Slbfdjnttte bic GHgenfdjaften beg ©rfjabeneu
unb ©djonen am 3Benfd)en, unb cr fommt baun tm britten enbttd) auf
bag, toag ung f)ier eigentlid) angefjt, ju fpred)en, ndmftd) auf ben Untcr=
fdjieb beg ©r^abencu unb ©d)5nen im S3erlf)dftni& bcr beiben ©efd)te<$tcr.
S)ag h>eiblid)e ©efd)led)t beseidjnet ®ant ^icr alg bag ftfjone, bag
mannlicfje alg bag cbele. Sefctereg fdflt bamit unter bag ©rjjabene.
2)cnn — fo fiitjrt Sant beg SRaljeren aug — bic ©eftalt beg SBeibeg
ift feiner, tfjre 3uge finb garter unb fanfter, itjre 9Jfiene im Stugbrude
bcr greunblidjfeit, beg ©djeraeg unb bcr Seutfeligfeit bebeutenber unb
einneifmenber alg beim mannlidjcn ©efd}ted)te.
2tbcr bieg ift fiir unferen $t)i!ofopf)en bag ©eringfte, toorauf I)ier
bag ©etoid)t fdflt, unb aud) afl* bagjenigc fd)tdgt Sant nidjt am f)5d)fteu
an, „toag man fiir bie gefjeime 3«^er!raft abrecfynen mufc, tooburd) fie
unfere Seibenfdjaft ju Dortljeilljaftem Urtfjeit fiir fie geneigt madjen", fonbern
„t>ornet)mtid)" . . . „liegen in bem ©emutl)gd)araftcr biefeg ©efd)Ied)teg
eigentljumlidje 3&§t, bie eg mm bem unferen beutlid) unterfdjeiben unb
bic bar auf f>auptfdd)tid) fjinauglanfen, fie burd} bag SDterfmal beg ©d)5ncn
fenntlid) 511 mad&en."
SEBenn n?ir SWanncr im ©cgenfafce baju ben 2lnfprud) auf bie 93e-
nennung beg ebclcn @ef<$Ied)tg erfjeben bitrften, fo foflc bag iebodj nid)t
fo toerftanben toerben, „baf$ bag grauenjtmmer" — toeldjen bamalg un=
anftflfngen Stugbrutf ffiant in ber ©pradje feiner $tit meift gebraucf)t —
„ebler ©igenfdjaften ermangelte ober bafj bag manntidje @efd)tec§t bcr
©djonfjeiten gdnjlid) entbefjren miiftte. 3$ielmef)r ertoartet man, baft ein
jebeg @efd)Ied)t beibc toereinbare, bod} fo, bafc toon cinem grauenjimmer
afle anbercn SSorjiigc fidj uur baju tocreinigen foflen, urn ben ©tjarafter
beg ©d)5nen ju ertjofjen, toetc^er ber eigentti^c 93c5ic^unggpunft ift,
unb bagegen unter ben mannlic^en ©igenf^aften bag ©r^ab^ne alg bag
Sennjeidjen feiner 9trt beutlicf) ^crtjorfte^c." ©ierauf miiffen nac^ ®ant
aflc Urt^cile Don bicfen 5tt)ci ©cf^te^tern, fotool W ru^mlic^cn alg bic
beg labelg fic^ beiietjen.
SBag nun abcr bic @emutt)gart im Sefonbcren betrifft, fo toirb fiir
i^n bcr be^auptctc Unterfdjieb jundc^ft babur^ beftdtigt, ba| bag grauen*
jimmcr cin ftarfeg @efui)t fur Slflcg, toag f^on, jiertid} unb gefc^mitdt
}08
3. IDttte in Bonn.
ift, befifct. „©cf)ou in bcr Sinbljeit finb fic gerne gepufct unb gcfaflcu
fidj, ttjcnn fic gejiert finb. ©ie finb reintid) unb fetjr jdrtticf) in 9ln;
fefjung aflc§ beffen, tt>a$ ©lei toerurfadjt. ©ie tieben ben ©djer^ unb
tonnen burcfy Steinigfeiten, toenn fic nur muntcr unb ladjenb finb, unter;
fatten toerben."
©eben tirir fotoeit and) Sant 9Red)t, fo glauben tour bocb, bag er in
ben folgenben ©fifcen auf cine fdjonfdrbenbe SBeife ba3 ate J()atfad)c an;
gibt, tva$ nut cin auf ©runb getoiffer tutrflic^ fcorljanbener STnlagen bet
ben grauen buret) ©r$iet)ung leister ju errcidjcnbeS fitttidjcS 3beat bar;
fteltt, menu er ndmtidj atfo fortfdtjrt: „©ie fjaben feljr friif) cin fittfame§
SSefcn an fid}, toiffen, fid) einen feinen Stnftanb ju geben unb befifcen fid) felbft;
unb biefcS in einem Sitter f luenn unfere fscil. mannlidjc) roo^terjogenc
Sugenb nod) unbanbig, tdtpifcf) unb toertegen ift." S)ie beutfdjen Sad;
fifdjc tnerben nad) biefen 9leuf$erungen getoifj atte Urfadje fjabeu, fobatb
fie §erangeh>ad)fen finb, bod) 'mat juaufetjen, ob ber SScrfiinbigcr be3 fate;
gorifdjen Smpcratit)§ tirirftid) ein fo rigoriftifdjer SKann ift, ate u>eld)er
er oft ntit Unrest fcerfcfjricen ttrirb.
SEBenn biefe $tiQt bie finntidje ©eite be3 grauengcmutfjeS lennjeidjnen
unb getmffe Jnit Unterftiifcung itjrer SSorjuge ju er&ietenbe prafttfdje gertig;
feitcn, fctbft fitttidje ©igenfcf)aften, fo finbet ffant benfelben ©egenfa|
beiber ©efdjtedjtcr aud) toieber in ben intetlcctuetlen unb f)6f)crett ©eifteg;
antagen.
„5)a£ f<$one ©efdjtecfyt/' fagt er, „t)at ebenfotoot93crftanb ate ba§ maun;
tidje; e3 ift nur ein fd)5ner SScrftanb, ber unfrige foil cin tiefer Serftanb
fein, toelc^e^ ein 9tu3brud ift, ber einerlei ntit bem ©rfjabenen bebcutet."
2tuf biefe ©igenttjitmtidjteit be£ grauenberftanbcS foil man and) bei
ber ©rjietjung ber 2Babct)en 9tudfid)t ne^men. ffant forbert in bicfer
Sejiefjung gotgenbeS: „93ei ber ©elegcntyeit, bie man iljnen geben tootle, ityre
fdjime Statur auSjubilben, muft man bicfcS aSer^altiiife ieberjeit Dor 9lugen
fjaben. 3Kan toirb if)r gefammteS moratifd)e3©efiif)tunb nid)t it)r ©ebdd)tniB
5U ertoeitern fudjen." SefctercS in iibernriegenber SBcifc bei bem graucn;
gemtitfje an^uftreben, f)dtt Sant fur aerfefjlt, unb er fagt bariiber: „©3
fd)eint eine bo§f)afte Sift ber SftannSperfonen ju fein, bafe fie ba3 fd)6ne
®efd)ted)t ju biefem toerfefyrten ©cfdjmatfe Ijaben Derteitcn molten. S)enn
mofjt bettmfjt itjrer ©d)tt>dd)e, in 2lnfcf)ung ber natiirlid)cn SReije be^fetben,
unb bag ein einjiger fd^atl^after 93tid fie meljr in SSermirrung fefte al^
bie fd)toerfte ©djulfrage, fe^en fie fid), fobatb ba3 grauenjimmer in biefen
©efd)tnad einfe^tdgt, in einer entfd)iebcnen Uebertegcn^eit unb finb in bem
SSortljeile, ben fie fonft fdjtoertid) ^aben toiirben, mit einer grofcmuttjigen
9lad)fid)t ben ©^todc^eu i^rer ©itetfeit aufjufjetfen. S)cr Sn^att ber gro^en
SSiffenfcfjaft be§ Srauenjimmer^ ift mctmetjr ber 2Kenfc^ unb unter ben
5Kenfd)cn ber SKann. S&etttoei^eit ift ntd^t Sernunftctu, fonberu
Gmpfinben."
Kant unb bie Jrauen.
6nbttd) befunbet fid) felbft in ben rein tno ralif c^ctt ©igenfcfjaften
bcr unterfdjiebene Eljarafter beiber ©efdjledjter auf bic im 33orangeljenben
angegcbene SBeife. ©ogar „bie £ugenb beg grauenjimmerg ift einc fdjone
£ugenb", tone Sant fid) augbriidt, „bie beg mdnnlidjen ©efdjled)tg aber
foil eine cbtc lugenb fcin. 2)ie grauen," fagt cr roeiter, — unb toe-
nigfteng Ijinfidjttid) bcr 93etl)dtigung eiueg iljnen natiirtidjen moralifdjett
@efiif)teg I5nnen tt>ir bieg ifjm jugeben — „bie grauen," meint cr alfo,
„n>erben bag S3ofc Dermeiben, nic§t toeit e« unrest, fonbern tocit eg t)dfc
lid) ift, unb tugenbtjafte ftanbhmgen bcbeutcn bei ifjnen foldje, bic fittlid>
fdjon finb: 9tid)tg toon ©ollen, nid)tg t>on SRiiffen, nidjtg Don ©djutbig*
feit." S)enn Sant tfaubt auf ©runb feincr 93eobad)tung beg toeibltdjeu
SBerfjalteng bieg &erfid)ern ju fonnen: „3)em grauenfinne finb afle Se*
feljle unb atlcr murrifdje 3^«ng unleiblid). ©ie tfjun ettoag nur, toeil
eg ifynen fo beliebt, unb bie Stunft beftefjt barin, ju mac^en, baft ifjnen
nur ba^ienige beliebe, wag gut ift."
„©elbft mele t)on if)ren ©d)h>ad)I)eiten finb" — fo biinft eg unferen
nadi)fid)tigen ^ilojo^en — „fo ju fagcn, nur fdjone Seller. 9Je(eu
bigung obcr Ungtud bemegen iljre jarte ©cete jur SBeljmutf;. 2)er 2Kamt
mufe niemate anbere alg grofjmuttjige 2t)rdnen toeinen. 2)ie, fo er in
©djmerjen ober iibcr ©liidgumftanbe fcergiefct, macfyen ifjn &erdd)ttidj."
„2)ie ©itelfeit, bie man bem fd)5nen ©efd)Ied)te fo toictfdltig ttorriitft,
roofera fie ja an bcmfetben cin getter ift, fo ift fie nur ein fd)5ncr gef)tcr."
2>enu bie grauen „belebeu . . . baburdj nrirflid) iljre SReije. 3)iefe 9lei-
gung ift ein Slntrieb, Stnnefjmlidjfeiten unb ben guten Slnftanb ju jei-
gen, ifjren ntunteren SBifc fpielen ju laffen, ingleidjen burd) bie Bcr*
dnberlidjen ©rfinbuugcn beg ^ufceg ju fdjimmern unb ifjre ©c^dn^eit
ju erl)5f)en."
S)ennod) bteibt biefe ©itetteit fe^Ier^aft unb cin Ucbermafc in i^r
mac^t jur Sldrrin, ba^ freilid) nad) Sant nic^t cine fo ^arte 93ebeutun&
t|at tok ba^felbe SGBort mit fe^Ienber ©nbfilbe beim SDJaunc.
„SBenn bic ©itetfeit ein ge^ler ift, ber an einem grauenjimmer fefjr
loo^t ©ntf^ulbigung uerbient, fo ift bag aufgeblafcne SScfen an ifjnen
nic^t allein fomie an 3Henfd)cn itber^aupt tabelljaft, fonbern eg toerunftaltet
gdnjtid) i^rcn ©c^Iec^tg^arafter/'
©itelfeit unb Slufgeblafenfjcit finb atfo nad^ Sant burc^aug unb-
f^arf augeinanbcrju^altcn. „S)ie erfterc" — fo beftimntt er iljr SSefen
beg Jld^ercn — „fud)t 93eifatt unb el)rt getoiffermafcen bieienigen, um
beren toiflen fie fid) biefe 93emiil)ung gibt; bie jtoeite glaubt fic^ fc^on
in bem uofligen S3cfi^c begfetben, unb inbem fie feinen ju ertoerben be=
ftrebt, fo getoinnt fie aud) feinen."
„®em ©c^5nen ift nid)tg fo fe^r entgegengefefet alg ber ©fcl fotoie
nid)tg ticfer unter bag ©rtyabene finft alg bag Sadjerlidje. S)a^er fann
bem ajtanne fein ©cf)im^f empfinbtic^er fein alg baft er ein Starr unt>
^0 3. I?. W'xtic tn Bonn.
cittern Srauengimmer, bafc fa efefljaft genannt merbe." Sant glaubt bie*
Uracil felbft bcm bcr Sngtdnber gegeniiber, fofcrtt man toon bcr fitttidjen
23ertl)f<f)dfcung abfelje, aufredjt erljalten ju foflen, bic ba tncincn: „bem
SKanttc f otttte fein SBorttmrf gemadf)t toerben, bcr frdnfenber fci ate tt>etm
cr fiir cittctt Siigner, uttb bcm Srauenjimmer fcitt fjdrterer ate toenn ftc
fiir unfeufd) geljaltett toirb."
SBenn Sant fjiernad) bie SReinlidtjfeit bet bcm fdj5nen ©efdjledjte
ben £ugenben fcom erften Stange rennet, fo ift e3 natiirlid), bafc cr f<f)on
toom ©cfic^t^punltc leiblidjer ©auberfeit au3 bic ©djamtjaftigfeit glcidj
fjocfyfteflt. Srofcbem abcr fjebt cr fiir bic 9lotf)tt>enbigfett biefer bodj in
erftcr Sinie bic 93ett>al)rung bcr fittlidjen Sauterfctt Ijer&or, toentt cr Don
if)r fagt: „©ie ift cin ©etjetmnifc bcr 9tatur, fotool einer Steigimg ©djranfen
ju fefcen, bie fefjr unbdubig ift uttb, ittbem fie ben 9tuf ber Sfcatur fiir
fid) t)at, fid) immer mit gutcn fittlicfyen 9tbfid)ten ju fcertragen fcfyeint,
toenn fic gleid) auSfdjtoeift. ©ic ift bemnacl) ate eitt Supplement bcr
©runbfdfce f)oci)ft ntftfjig; benn e3 gibt feincn Salt, ba bie Stcigung
fo Iciest jur ©opljifttn toirb, gefdllige ©runbfdfce ju erflitgeltt
al3 l)ier. ©ie bicnt abcr guglcid^, urn einett geljeimnife&otlen 93orf)ang
fclbft fcor bie gejiemenbften tmb n5tt)igften 3tt>ede ber Slatur ju iiejpn,
bamit bic gar gu gcl)cime Sefanntfdjaft mit bcttfetbeu nidjt ®fcl ober
gum mittbeftett ©letdjgulttgfeit toeranlaffe " S)iefc Gigcnfc^aft ift
bcm fdjonen ©efd)led)te, true ®ant betont, fogar „&orjuglid) eigen unb ifjm
feljr anftdnbig".
S)ic cblen Sigenfdfyaften bc£ toeiblidjen ©efd)lcd)t§, bie jcbod), roic
toir bereite toon Sant gelerttt fjaben, niemate ba3 ©efiif)! be£ ©djonen
unfenntlid) madden miiffen, fiittbtgett fid) burd) nid)t§ beutlidfjcr uttb ftdjerer
nad) it)m an ate burd) bic Sefdjeibenljett, bie er fur „eine 2trt toon cblcr
©infalt unb Stai&etdt bci grofcen SBorjugen" erflart. „9Iu3 berfelbcn leudjtet
cine rut)ige SBoIjlgetoogenljcit unb 2ld)tung gcgen anbere Ijer&or, jugleid)
mit eincm eblen 3utrauen auf fid) fclbft unb einer biKigen ©elbftfdjdfcung
toerbunben, bie bet eincr erfjabenen @emiitl)3art jeberjeit anjutreffen ift.
Snbem bicfc fcine SWifd)ung juglci^ burd) 9tei&c einnimmt unb burc^
9ld)tung rit^rt, fo ftcttt fie atlc iibrigc f^immernben ©igenfe^aften tuiber
ben SWutljhrifleu bc§ 3:abete unb bcr ©pottfudjt in ©ie^ert)eit. ^crfoncn
t)on biefer ©emiit^gart I)aben auc^ ein #era gur 3rcunbfd)aft, mclc^e^ mi
eincm grauenjimmer nicmate fann fjod) genug gefd)d§t merben, tucil e$
fo gar fclten ift uttb fo iiberauS rcigenb fcin mufj."
§icritt jtnb bie tuid^tigften 33eoba<f)tungen ^ante crf^ijpft, bur(^
tt)eld)e cr bic Sftatur bc§ SBeibcg fenngeidjnet ate cine foft)ot in pl)t)ftfdjer
ate and) in gciftigcr §infid)t torn KI)ara!ter be^ ©d)5ncn beftimmte 6r-
f^einung. 9l\6)t nur bie aufeere ©eftatt, fonbern au^ bic 95erftanbe»;
frdfte unb fittlid^cu Sigenfd)aften be§ SSSeibe^ I)abcn t)orit)iegenb ben
(Sljarafter bc» ©d^oncn unb Stnmut^igen, ft)d^renb biefetben bei bem SOlonne
Kant unb -bie Jrauen.
ben be3 (Srfjabenen unb SBitrbefcotlen, fotuie infonberljcit ben bc£ ©bleu
on fidj trogen.
Unfer SBeifer erortert in fernercn 93etradE)tungen beg Ijicr befprodjencn
2lbfd)nitte3 feiner „93eobacE)tungen uber bag @efitt|I be3 ©d)5nen unb G5r=
fyabenen" audf) bic SSerfcfjtebenljeit be3 EinbrudS, ben bie ©eftalt unb bic
©efutjtSjuge be§ fd)5nen ©efcf)le<f)t3 auf ba3 mdnnlidje madden. SSir be*
gniigen un3 fjier, bag anjufitfjren, toa3 ®ant iiber ben Unterfdjieb bcr
fd)intcn, bcr angenefpnen unb bcr reijenben grau bemerft. @r fagt: „©ine
grau, an toetdfjer bic Stnnefjmtidfyfeiten, toetdje ifjrem @efdf)led)te gegtetnen,
toomrijutlicf) ben morattfd&en StuSbrud be8 Srljabenen Ijcrtoorftedfjen laffen,
tjeiftt fdf)5n im eigenttidjen SJerftanbc, btejenige, bcrcn moralise 3cid)2
nung, fofern fie in ben SWicnen ober ©efidfjtSatigen fid) fenntlidj madjt,
bie @igenfd)aften be£ ©djonen anfiinbigt, ift annef)mlidj, unb tt>enn fie e£
in Ijotjerem ©rabe ift, reijenb. S)ie erftere lafct unter einer SRiene Don
©elaffenfjeit unb einem eblen Stnftanbe ben ©djimmer eineS fdf)5nen SBer*
ftanbeS au3 befdfyeibenen SBliden fjertoorteucfjten, unb inbem fid) in iljrem
®efid)t ein jdrtlidi) ©efiil)! unb toofjltooflenbeS $er§ abmalt, fo bemddjtigt
fie fid) fotool ber SReigung al§ ber $odjad)tung eine3 mdnnlicfjen £er$en3,
bie jtueite jeigt SKunterfeit unb SBijj in ladjenben 2Iugen, etfoaS feinen
SRutljfoitlen, ba§ ©d)dferf)afte ber ©djerje unb fdjalffjafte ©probigfeit; fie
reijt, toenn bie erfte ruljrt, unb ba8 ©cfiiljl ber Siebe, beffen fie fdljig
ift, unb toeldjeS fie anberen einfliefet, ift ftatter^oft, aber fc^du."
®ant tjebt nidjt mit Unredjt am fclbigcn Drte fjer&or, bafj Dom
feineren ©efdfjmade im Slflgemeinen ben ©rfefyeinungen, bie bei ndljercm
Umgange getoimten, ber Sorjug gegeben toerbe toor benen, bie jtoar im
erften Slugenbtid btenben, bann aber erfdltenb ttrirfen.
UeberbieS ttmrnt er ba&or, auf bic dufteren Steije §u grof$eu SBertt)
ju legen. SKan tjabe Urfadje, in ber SSerfeinerung be3 jdrtlidjen ©efuf)l£
beljutfam ju fein, toofern toir un3 nidf)t burdj iibergrofte 9tei§barfeit nur
Diet Unnmtf) unb einc Quelle toon Uebeln erfliigeln tooflen. „3)rof)t bod)
audf) alien SReijen ba§ Sitter, ber gro^e aScrmnfter bcr ©df)5nljeit.,/
©lei^njol geprt bie grau, au^ toenn fie altert, uadj Kant immer
nod) jum fd)5nen ©ef^le^t. „©ine beja^rte ^Serfon/' fagt er, „h>elcf}c mit
einem fittfamen unb frcunblid^en SBefeu ber ©efettfefjaft beift)o^nt, auf cine
muntere unb toerniittftige 2lrt gefprdd^ig ift, bie Scrgniigungen ber S^flcnb,
baran fie felbft nicfyt 2lntf|eil nimmt, mit Slnftanb begilnftigt, unb inbem
fie fur 2tUe§ forgt, 3wftieben^eit unb 28ot)Igefatlen an bcr grcube, bie
urn iljr Dorge^t, Dcrrdt^, ift nod) immer cine feinere ^krfou al3 ein 2Kann
in gleidjem 2tlter, unb t)ielleidt)t noc^ tiebenSttriirbiger aU ein 3Jldbd)en,
tt)iett)oI in einem anberen 9Serftanbe. Sin ber Siatur" — fo fiigt er mit
einer ganj trefflie^cn aKgemeinen Semcrfung ^insu — „an bcr Slatur
liegt & nicmaB, toenn xo\x nid)t in einem gutcn Slnftanbe erfd^cinen,
fonbem baran, ba§ man fie Derfe^rcn xoWi."
ftorb itnD Sub. VII, 19. 8
U2
3. 2X>itt« in 23ouu.
©g folgen @r5rterungen iiber ben ©inffajj, ben cin ©efd)led)t auf
bag anbcre augjuiiben toermag, urn beffen ®efiif)l ju toerfcfjonern obcr ju
toerebeln. ffiant bet)auptet in btcfcr Scjic^ung u. JL: ,/Sag graucnjiminer
fjat cin toorjuglidjeg @efuf){ filr bag ©c^one, fofern eg itjnen felbft ju=
fommt, abcr filr bag ©bie, infoioeit eg am mdnnlidjen ©efdjledjte an-
getroffen foirb. S)er 2Rann bagegen fjat cin entfdjiebeneg ©efiifjf fur ba£
©bie, bag ju fcinen ©tgenfd)aften gef)8rt, fiir bag <3d)one aber, in=
fofcrn eg an bem grauenjimmer anjutreffen ift. 3)araug mufc folgcn,.
bafc bic Qtot&t bcr 9iatur barauf geljen, ben SWann burd) bie @efd)(ed)ter-
neigung nod) met)r jn toerebeln unb bag graucn^immer burd) cben bie-
fclbc nod) metjr &erfd)dnern."
Ucbcr bag 93erl)dltnif3, in bem biefe Sleigung ifjren ©ipfel erreidjt,
duftert er fid) in folgenber beadjteugtoertfjeu unb sugleid) ebenfo toafyren
tt)ic burc^aug ttmrbigen SBcife:
„3n bem et^etic^cn Seben foil bag toereinigte $aar glcidjfam einc
cinjige moratifdje ^Jcrfon augmadjen, toeldje burd) ben SScrftanb bc3
SDtanneg unb ben ©efdjmad bcr grauen belebt unb regiert imrb. Scnn
nic^t allein, baft man jenem mefjr auf ©rfaljrung gegriinbetc ©infidjt,
bicfen aber mefjr greifycit unb 3?id)tigfeit in ber ©mpfinbung jutrauen
fann, fo ift eine ©emutl)gart, je erfjabener fie ift, aud) urn befto gencigter,
bie grtffcte 2lbfid)t ber SBcmiifjungen in ber 3ufriebcnf)eit eineg geliebtett
©egenftanbeg ju fefcen, unb anbererfeitg je fefyoner fie ift, befto metjr fud)t
fie burd) ©cfdtligfeit biefe Semufjung ju ernribcrn. ©g ift atfo in
eincm fotcfjen SBerfjdltnift ein SSorjuggftreit tdppifd), unb too
er fid) ereignct, bag fid)erftc SDterfmal eineg plumpen ober ungleid) ge-
paarten ©cfdjmadeg. SSenn eg bafjin fommt, baft bie SRebc t>om 9ted)te
beg 93efeI)Igf)aberg ift, fo ift bie Sad^e fdjon aufterft tocrbcrbt; benn too
bie ganje SSerbinbung eigentlid) nur auf SReiguug erridjtct ift,
ba ift fie fd)on ^alb jerriffen, fobalb fid) bag ©ollen anfdngt
Ijoren ju laffen. 3)ic Stnmaftuug beg grauenjimmcr in biefem fjarten
Sone ift aufterft Ijdfttid) unb beg 3ftanneg im I)0d)ften ©rabe unebel unb
toerdd)ttid). Snbeffen bringt eg bie toeife Crbnung ber Singe fo mit fid),
baft atle biefe fjeinljeiten unb 3^^tltd)feitcu bcr ©mpfinbung nur im 9tn=
fange iljrc ganje ©tdrfe betoa^ren, in ber golge aber burc^ ©emeinfe^aft
unb tjaugttdje 9lngelegcnt)eit allmd^Iic^ ftumpfer toerben, unb bann in t?cr-
traulid)e Siebe augarten, ioo enblid) bie grofee Sunft barin befte^t, nodj
genugfamc fRefte t?on jenen ju erfjaltcn, bamit ©Icidjgiiltigfeit unb Uebcr-
bru§ nidjt ben ganjen SSertl) beg Scrgniigeng auf^eben, urn beffen ttriHen
cinjig unb aflein eg tterlofynt ^at, je einc foldje SSerbinbung eiujuge^cn."
2)a^ bie ©t)e aud) cine nie()r ciu^crlicfje Seitc Ijat unb bafe, menu fic
nur t)on biefcr aug in ifjrer rcdjtlidjeu S3ebeutung aufgefa^t mirb, il)r
Segriff ebcnfattg lueniger erfjabene unb fdjone, ja jum S^eit fogar ctmag
finnlidjc aScftimmungen enttyalten mu^, ift felbfttjcrftdnblic^ unb fiir fid)
Kant unb bie ^frauen.
Mar. ©incn foldjen SBegriff gibt ung Slant toon ber glje in feiner 9ted)tg;
leljre, too biefetbe in tfjrer SBic^tigfeit fur ben ©taat unb bie burgerlidje
©efeflfdjaft unb rudfid)tlidf) beg ^ntereffeS berfelben an ber ©r^altung
bcr ©attung erortert nrirb. SKIcin toer btc J)ier toorgetragenen Semerfungen
fiber bie (gtje (junta! trofc beg Umftanbeg, bag ®antg Stugbrudgfceife fur
jeben ber ©efidjtgpunfte, unter bem er iebeg 2RaI ettoag be^anbelt, burets
aug angemeffen unb begfjatb an biefem Drte ettoag berbe erf^eint) fur
bie bie ©adje erfdfjityfenben neljmen tooflte, hmrbe unferetn S)St)itofopt)en
fefyr Unrest tfjun. @r toiirbe eben toergeffen, bag ber 93egriff eineg @egen=
ftanbeg Derfcfjieben ift je nacfy bent ©efidjtgpunfte, toon toeldjem er erfagt
toirb, unb bag Stant nid)t nur in feinen „93epba<fjtmtgen iiber bag ©efitljl
beg @df)5nen unb ffirfjabenen", fonbern aud) nod) in feinen fpdteften SBerfen
bag el)ett<f)e S3erf)dltnig jugteidj in feiner fttttidjen unb inneren Sebeutung
ftetg toott unb ganj ju toiirbigen gehmgt l)at. 2)ag gilt j. 93. turn ber
„2Retaj>l$ftf ber ©itten" aug bem 3a^re 1797 unb ber „9Intf)ro}>oIogie
in pragmattf<$er 8tbft<$t", einer ber lefcten ©djriften $antg, bie er 1798,
b. f). fedjg 3af)re t)or feinem lobe abgefagt t)at.
S)ie „2lntf)ropologie" ift nadj Sant eine 2el)re Don ber Senntntg
beg 3Renfd)en. ©ine fold^e ate SSeltfenntnig fei atebann pragtnatifd),
tpenn fie ©rfenntniffe beg -Btenfdjen ate eineg SBeltbtirgerg ent^dlt. ©ie
gel)tnidjt, toie bie pltyfiologifd&e, auf bie ©rforfdjung beffen, toag bie 9la tur,
fonbern auf bag, tuag er, ber 2Renf<§, ate fret tjanbetnbeg SBefen aug
fid) felber madf)t ober madjen fann unb foil. Sant gliebert fie in jtoet
£aupttl>eile:
I. 9Son ber 2Irt, bag 3nnere fotool ate bag 2leugere beg SKenf^en
ju erfennen unb
II. toon ber 2trt, bag 3nnere beg 2Renf<$en aug bem ?teugeren ju
erfennen.
S28ie atter fritifd^ctt 93etradjtung Sfantg bie ©intfjeifung ber ©e^
miitf)gtoermogen in Srfennen, Sullen unb Segeljren gu ©runbe liegt —
tueldje brei gdfjigfeiten, in beftimmter 3tid)tung jur Sfjatigfeit erregt ju
rcerben, fiir Slant berartig unterfdfjiebene ©runbfrdfte ftnb, bie auf ber
9iatur beg ©eifteg ate eineg 2ltlgemeinen unb auf bem 93ert)dltniffe beg*
felben jum Sefonberen bei feiner feelifdjen 93etf)dtigung in biefem be=
ru^en: fo ^anbelt er audE) bag %i)ma beg I. Itjeileg ab in 95epg auf
bag Srfenntuigtjermogen, bag ©efiif}! ber 2uft unb Unluft unb auf bag
93egeI)runggt>ermogen. ^ier aber finb eg nur ganj jerftreute Scmerfungen,
weldje bie 5Ratur ber f$rauen betreffen.
Sm jtociten S^eife jebod^ toerben folgenbe ©egenftdnbe befprod^cn:
1) 2)er Sfjaralter ber $erfon, 2) ber beg @efd)Ied)tg, 3) ber beg
SSotfg unb 4) ber ber ©attung b. i. ber 2Jlenfd){)eit ate folder.
3)er jlpeitc biefer 2tbfd)nitte beriif)rt fomit augfii^rlidf) unferen ©egen-
ftanb. Sant gel)t in ifjm con fotgenber S3emerfung aug:
8*
\\H 3. £}. Wxtte in Bonn.
„3n aHe SDtafdjinen, burdf) bie mit Werner Sraft ebenfo toiel au3s
Qcridjtct toerben foil ate burdf) anbere mit grofter, muf$ ®unft gclcgt
feiu. $af)er !ann man fdjon jum fcoraug anneljmen, bafj bic SSorforge
bcr 9iatur in bic Drgantfation beg toeibfidtjen X^eile^ meljr ®unft gclcgt
Ijaben ttrirb ate in bic beg mannlidjen, meil fic ben SRamt mit gro&erer
®raft auggeftattet f)at ate bag SSeib, urn bcibc jur innigften Ictblidjen
S3ereinigung, bod) aucf) ate tternunftige SBefen ju bem iljr am meiften
angetcgenen 3^cdEc, namlidj bcr Srf)altung bcr 2lrt jufammcn jit bringen."
3ur Sin^cit unb Unaufldgtid)feit cincr SBerbinbung fci bag betiebige
3ufammentreten jtoetcr ^crfoncn nidjt Ijinreidjenb; „ein Xfjeit mufcte
bem anberen untertoorfen unb medjfelfeitig cincr bem anberen irgenb;
toorin iibcrlcgcu fetn, urn ifjn beljerrfdjen obcr rcgicren &u fonnen:
bcr SRann bem SBcibe burdf) fein forperlicfyeg 93crm5gcn unb feincn 2Rutlj,
bag 2Beib aber bem 3Kanne burd) itjre Slaturgabe, ftd) bcr 9tcigung be£
SDtanneg ju ifjr ju bemeiftern. ©0 fci eg toenigfteng im gortgange bcr
©ultur; im nod) unctoitifirten 3^ftanbc fci freitidf) bic Uebertegenljeit
blog auf ©cite beg SBtanneg."
3m biirgerlicfjen 3"ftonbe aber „gibt fid) bag SBeib bem SRatme
nid^t oljne ©Ije ljin unb jtoar bie ber SKonogamie."
SDlan fonne nur baburdf), bag man ntdjt, toag toix ung sum 3^ccfc
madjen, fonbern toa$ Qwtd bcr 9iatur bei Einridjtung bcr SBeibfidjfeit
mar, ate Sprincty braudje, ju ber Efjarafteriftif biefeg ©efdfjledjtg gelangen,
unb ba biefcr 3^ fclbft toermittefft bcr Xfjorljeit beg 9Renfd)en bod)
bcr 9laturabfidjt uad) SBete^eit fcin mufc, fo tuerben biefc if)re mutl)-
majjlidjen 3irfc au<f) bag ^rincip berfelben anjugeben biencn fonuen.
©ie finb aber 1) ©rljaltung ber Strt unb 2) bie Suitor ber ©efcUfdfjaft
unb aSerfeinerung berfelben burdj bie SBeibtidjfeit.
Ucbcr bcibc madfjt Sant gutc Semerfungen, bie aber am* beften
unb gefdfjmad&ottften bei tym felbft nadfjgelefen toerben mogen.
vsutcreffant finb einselne fciner jerftreutcn Slnmerfungen, bie er bicfen
^fagfuljrungen tjiujufiigt, j. 93. folgcnbc:
„$)ie grau toitt l)crrf^en, bcr 9Jtann bc^errfd^t fcin (tjornefimlic^ in
ber Cfje). ®a^cr bie ©atanteric ber alten Stittcrfd^aft. — 5)ie grau
fcfet frii^ in fid^ felbft 3u^crpc^t 5U gefaDen, bcr bungling beforgt immer
ju mifefaDen unb ift bafjer in ©efcDfdtjaft ber S)amen t)crlegen (genirt)/'
„5)a§ SBeib ift meigernb, ber SWann betoerbenb, i^re Untertocrfung
ift ©unft. — S)ie 9iatur \mUt ba^ bag SBeib gefudt)t merbe^ba^cr mu^tc
jene£ felbft nid^t fo beticat in ber 2BaI)I nac^ ®ef(^macf fcin ate ber
Hftann, ben bic Statur aud^ gr5ber gebaut tjat, unb bcr bem SBeibc fdjoit
gefdflt, luenn cr nur Sraft unb Sii^tigfcit ju i^rer SBerttjeibigung in
feiner ©cftalt jcigt."
„2Ba£ bic gele^rten graucn betrifft, fo braud^en fic" — fagt Rant
— „it)re 93iicf)er ettoa fo, nrie i^re \\1)xr namti^ fic ju tragen, bamit
Kant uub bie ^rancn.
gefefyeu toerbe, ob fie einc fjaben, ob fie gttmr gemeiniglidE) ftitt fteljt obcr
nidjt uadj ber Sonne geftettt ift." 35on bent Derlobten 3Kabcf)en l)at
unfer $f)ilofo{)t) bag, toaS Ijiernadf) offenbar Don alien grauen i)infic^t^
lid) be3 Ul)rentragen§ gelten foil, nid)t befjauptet, unb er toiirbe e£ and)
nidjt gefonnt Ijaben. Denn bie gliidlicfye 93raut, falls fie eine Uljr be-
fifct ober audj nnr ©ctegenljett, iibcr eine foldfje ju Derfiigen, Ijat, pftcgt
fie toomogtid) DorjufteHen, urn ben felbft ftetS piinftlidj erfdjeiuenben
Sr&utigam bennod) ju fcfyelten mit ben gem geljorten SSorten: „$u
fommft ia fo foat!"
„3Beiblid)e Sugenb ober Untugenb", fagt fiant beS SBeitereu, „ift
Don ber manntidjen nicfjt fotool ber Slrt a!3 ber Sriebfeber nadj fctjr
unterfd)ieben. ©ie foil gebulbig, er mu§ bulbenb fein. ©ie ift empfinb =
lid), er empfinbfam. £e£ 3Kanne£ SBirtljfdjaft ift ©rtocrben, bie bc3
SBeibeS ©paren."
3nbem Saut prafttfefye Solgerungen biefer 2luffaffungen beriiljrt
ftcflt er aUgemcin bie3 auf:
„2)a§ tocibtidjc ©efd)led)t mufc fid) im ^raftifd)en felbft auSbilbeu
unb biScipliniren; ba£ manulidje Derftel)t fid) barauf nid£)t."
2Ba3 einjelne Seftimmungen angef)t, fo bemerft er and) fyier nrieberum
iibcr bie ©fje fetjr fd)5n: „$)a3 2Beib ttrirb burd) bie ©fje frei, ber 3Ranit
Derttert baburdt) feine greif)eit." ©r meint bieS DorjugSmeife and) in
biefem befonberen ©inne, baft }ene§ nur in ber ©f)e ben itjrer 9?atur
entfprecfyenben SBeruf, ben fie in ber Samilie l)at, ganj unb uoH ju erfuHen
im ©tanbe ift, toafjrenb ber 2Kann, gerabe aU UnDerfyeiratljeter, bie fiir
feinen biirgerlidf)en SebeuSberuf ntftf)ige 3eit ungctfjeitt befifet unb in biefem
Dielfadj unget)emmt ift burd) bie mannidjfac^en 93efd)toerbcn unb §inbcr-
niffe, bie fiir benfelben infonber^eit eben ber ©fjcftanb mit fid) bringt.
Sfant fragt audf): „S55er foil benn ben oberen SBefeljt im £>aufc f)aben'?"
„®enn nur Sincr I5nne e3 bodj fein, ber aHe ©efdfjafte in einen mit
biefen feinen Qtotdtn iibereinftimmenben Sufammenljang bringt." Unb
er antmortet: „Sd) ttmrbe in ber ©pradfje ber ©alanterie (bod) nidfjt
o^ne SBatyrfjeit) fagen: ®ie %xau foil fjerrf djen unb ber SKann regieren;
benn bie SHeigung Ijerrfdjt unb ber SJerftanb regiert. — 5)a£ Setragen
be8 ©IjemanneS muft fceigen, ba§ i^m ba^ SBo^I feiner Srau Dor allem
9tnberen am §erjen liege. SCSeil aber ber 3Kann am beften loiffen
muft, mie er ftc^e unb ttne n>eit er ge^en fonne, fo toirb er, tote ein
9Riniftcr, feinem blo^ auf SSergniigen bebad)ten SDlonard^en, ber etma
ein geft ober ben 93au eincS palate beginnt, auf biefen fiirftli^en
93efef}t juerft feine fd^ulbige S33illfaf)rigfeit baju erflaren, nur ba^ 5. 93.
fiir iefet nid^t ©elb genug im ©dfjafce fei, ba§ gettriffe bringenberc 9iotty
tcenbigfeiten juDor abgemad£)t merben miiffen u. f. to., fo ba§ ber l)5^ft
gebietenbe §err atle§ t^uu fann, toa£ er t^un toitl, bod) mit bem Urn*
ftanbe, bafj biefen SSillen iljm fein SDtinifter an bie #anb gibt."
3. XO'xite in Bonn.
G£ bteibt nur iibrig, f<f)liegtid) ®ante 9lnfid)ten iiber bic Sifc
bung unb ©rjietjung ber grauen tnttjut^ctlcn. SJoran ftctte idj fcinen
SluSfprudf) in enter SInmerfung ju ben „93eoba<f)tungen iibcr ba§ ®efiif)I
be3 <2d)6nen unb ©rtjabenen", bag cr StonffeauS 2Bort urn atteS nidjt
gefprocfycn Ijaben mod)te, bcr ba beljauptc: „bag cin grauenjimmer me*
mate etttmS metjr ate cin grogeS SJinb toerbe". ^Stttcin/' fo toenbet £ant
ein — unb er gtoubt jcnc toertoegene HReinung baburdj jugleidj ein$u;
fcfyrdnfen — „ber fdjarffinnige ©djloeijer fdfjrieb biefeS in granfreidj unb
toermutljttd) empfanb cr, ate cin fo grower Skrtfjeibiger be3 fdjonen
©cfd)Ic^tcg; e3 mit ©ntriiftung, bag man bemfelben nidjt mit mefjr toirf;
ticker 9td>tung bafefbft begegnet."
2Ba8 nun bcS Sldfyeren bic aflgemetne SInfidjt iibcr grauenbitbung
unb =erjiel)ung betrifft, fo toill Sant, ttrie toxx e£ bereite fritter angebcutet
Ijaben, bag bcr bent toeibtidjen ©efdjtedjte natiirlid^c Sljarafter be£ ©djdnen
audj bci ber ©rjietjung getoaljrt unb ttjrn forgfant Sftecfynung getragen
toerbe. ©ogar bic in'3 ©injclne gefjenben 9luSfiiI)rungen bariiber berufjeu
ebenfatte auf ber fiir jenc Sorberung geltenb gemadjten unb un3 fdjon
befannten Ueberjeugung, bag aud) ber SSerftanb bcr grauen ein fdjoner
fei, todfjrenb ber ber 3Kanner ein tiefcr fein foil. 2)iefetben entffalten
jugleidj im ©injclncn nod£) 9J?and)e§, toa% ju fefjr intereffanten gotgerungen
fiifjrcn tt>iirbe in 93ejug auf bie focialc ©tetlung bcr grauen unb auf iljre
2lu3bilbung fiir eine fetbftdnbige unb toon ber gantilie unabt)dngige SBirf*
famfeit iu ber biirgerlidjen ©efettfdjaft. Urn uun bic bafjin getjorigen
Sleugerungcu unfereS SBeifen nid£)t irrig ju beuten unb bie SBatjrtyeit in
bcnfelben eben baburd) feftjuftellen, bag toxx fie auf ba§ recite 9Rag ju;
rudfiif)ren, mug id) jebod) eine eigene SBemerfung toorau£fd)tden. Sfant
hmrbe fie in feiner SBeife toiet(eid)t felbft gemad)t Ijaben, toenn cr jenc
!)ter in 93etrad)t fommenben @rfaf)rungen, bie au£ unferen gefettfe^aft-
li^en 3uftanben fyertoorgefyen, in foldjem ©rabe toor Slugen gefjabt ^dtte
3d) mcine gotgenbe»: SBenu 3emanb, tote e£ Sant tf)ut, bic 2Rei;
uung Ijegt, bag ber SJerftanb bcr grauen toon §au§ au^ cine anberc 9ln=
lage jeige ate ber ber 9Kamicr, fo fommt bieS freili^ barauf ^inau§,
bag felbft fiir bie geiftigen ®rcifte beiber ©efc^Iec^tcr eine qualitatito unb
njcfentlid) toerfd)iebenc Segabung toorau^ufefeen fci. Unb e3 biirfte bod^ bic
©rfatjrung auc^ tnol tl)atfd^lid) bafiir fpre^en, bag beifpieteineife SJer^
ftanb unb SJerftanb nid)t immer einerlei fei, bag er oft nidjt bto^ bem
©rabe unb ber ©tdrfc nad^ tocrf^ieben erfc^eint, fonbern bag jumal ba§
SWif(^unggtoert)attnig ber ®emiitf)£fraftc, tucldjc^ fid^ in ben Unterfdjieben
ber Semperamente unb in anberen toon ber ©eburt an mitgegebencn Icib-
tidjen unb feetifefjen 93eftimmtf)eiten barfteDt, and) 3trt=Unterfd^icbc be3
aSerftanbe^ jur %ol$t ^aben toirb unb fo infonber^cit ein foMEjer jmifd^en
mannli^eu unb tt)eiblid)en Serftanbesfrdften toor^anben fein mag. SBenn
ab'er audj fomit bie angeborcnen UnterfdE)iebe ber ©eelenfrdfte toefentli^
Kant unb bie <frauen.
augeinanbergeljenbe 93efdt)igung fiir gettriffe Seiftungcn beg SBerftanbeg
bebingen, fo ift im ©inne Santg bod) jebc foldje SKaturbefdjaffenfjeit lebig*
lid) erne relative unb nur in beftimmter SRiidftdjt bebeutfame, feine abfo;
lute unb unbebingt gettenbe ©djranfe. 2)enn Sliemanb fjat fo hrie er
— Sidjte ettoa auggenommen — bic 2Kad)t jener ©runbfraft beg ©e*
mi'ttfjeg anerfannt, bic ityrem SBefen nad) afle 93cftimtntf)cit burd) anbereg
toon fid) au^fd)lie§t unb bie ©elbftdnbigfeit beg ©eifteg unb feine fitttidje
©tdrfe alg ettoag tjor atter 9laturbeftimmtf)eit Siegenbeg offenbart. Diefe
©runbfraft ift ber reine SBitte, ber urfpriinglidj frei, Sent ©eifte audi) in
ieber anberen 93ejiel)ung biejenige ©elbftdnbigfeit wieber ju erringen fcer;
mag, toetdje it)m, Bet ber SSefonberung in feelifdje 3nbit)ibuen, eben nur
tjoriibergefjenb fcertoren gegangen fein fann. 2)urdj 3nnett)erber. feiner
geiftigen ©elbftdnbigfeit im reinen SBoHcn toermag jeber Sftenfd) alle
Sftaturbeftimmtljeit — fei eg finnti^e ober intellectuette — ju iiberttrinben.
2)af)cr ttrirb aud) bie grau im ©tanbe fein, alT bag, toag bem loeibtidjen
SSerftanbe an fid) toemger angemeffen erfdjeint, menu eg toon ifjr mit
ftttttdjem ©rnfte ergriffen unb in ben 3)ienft etl)ifd)er Rtotit geftetlt
tirirb, in einer foldjen SSScifc ju abeln, ba& eg nidjt meljr alg umoeiblid)
befunben ju loerben toermag. ©ben barum geben mir gerne ju, baft
manege toon jeneu ber lebigtid) natiirtidjen 93eftimmung ber Srau wentger
angemeffenen unb \f)t toeniger jufagenben SBirfunggarten bennod) toon
berfelben mit gutem guge erfaftt unb mit toljnenbem ©rfolge hrirb burd)*
gefiifjrt ioerben f5nnen, toenn fie itjr mit foldjem moralifd) gelduterten
©ifer fid) nribmct, ber bic fiir ifjre ©emiitljgart Don #aug aug toorliegen-
ben 93erftanbe3fd)ttrierigfeiten betodltigt. 3n ber SSeife muff en bic grauen
aber jebcnfallg fotdjen Serufgarten obliegen, bag man fiefjt, tirie bag ifjnen
fid) f)ingcbenbe toeiblidje ©emiitl) mit biefer ^flidjterfiittung nid^t nur
nidjt praf)lt, fonbem fogar trofc ber anerfennengtoertljen 93ereittoiHigfeit
.jur Uebernaljme berfelben bag Sob berfelben cf)er ablefjnt alg fjeraug;
forbert unb trofc ber greubigfeit an biefer £l)dtigfeit bodj bie flare ©ins
fid)t burdjblitfen lafct, baft eg bie natitrlidjfte unb eigentlidjfte Stufgabe
feineg ©efd)led)teg tt)ot)t begreift, ob eg gleid^ ber Sofung einer anberen
nic^t blog not^gebrungen fic^ I)ingibt. — Sebenfen mir bieg, fo merben
ttrir unter SJoraugfefeung ber ^ier bejeidjneten ©inf^rdnfungen im Uebri-
gen ber #auptfad)e nadt) immer^in bag anjuerfennen t)ermogen, wag ffant
iiber bic intettectueUe ?tnlage ber 3rau foioie iiber bie i^r entfprc^enbe
©rjiefjung unb 93erufgart au^ert.
„3ur ©d)5nl)eit aDer ^anbtungen" — fo urtljeilt er in ben „93es
obadjtungen u. f. \o." — „gel)5rt tjorne^mlie^, ba§ fic 2ei(^tigfeit an fid)
jeigen unb o^ne peintidjc Semii^ung fc^cinen tiolljogcn ju loerben; ba^
gegen Seftrebungcn unb iiberhnmbene ©^loierigfeitcn Setounberung erregen
unb jum ©rljabenen gcljoren. S^iefeg 9lad)finnen unb eine lange fort^
gefe^te 35etrad)tung finb cbel, aber fd)tt)er, unb fdjiden fic^ nid)t too^I fiir
3. fj. UJiite in'Sonn.
cine s#erfou, bet bcr ungeatoungeue Steijc nt<^tS anbcreS al3 eine fdjone
Statur $eigcn foltcn."
„9Kut)fame3 Cemen ober peinlid)e3 ©riibeln, toenn e£ gteid) ein
grauenjtmmer bavin fjocf) bringen fotlte, toertifgen bie $Bor$iige, bie if)rem
©efdjledjte eigentf)ihnlid) finb. — Sin grauenjimmer, bag ben ffopf oott
@ried)ifd) I)at, tote bie grau Sacier, ober iiber bie 3Jtcd}anif griinbtidje
©treitigfeiten fiifjrt, toie bie 9Jlarquifc t>on Efj&telet, mag nur immertjiu
nod) cinen 93art baju fjoben; benn biefer tonrbe toietteidjt bie SRiene be£
XieffinneS nodj fenntlidjer auSbriiden, nm ben fie fidj betoerben."
„2)er fdjone SBerftanb toafjlt ju feinem ©egenftanbe 2tfle§, roaS mit
bcm feinercn ©efitfjle mefjr toertoanbt ift nnb iiberlafet abftracte ©pecula=
tionen ober S'enntniffe, bie ntifcltdf) aber trocfen finb, bem cmfigen, grimb-
lidjen nnb tiefen SBerftanbe."
„$)a3 grauenjimmer ttrirb bemnad) feine ©eometrie lernen," aber „©e~
fit^I fur Sd£)ilbercien toom 8lu£brude nnb fiir bie Sonfnnft, nidjt info^
fern fie Sitnft, fonbern ©mpfinbung aufcert, aKe3 btefeS fcerfeinert ober
crljcbt ben ©efdjmad biefeS ©efdjledfjtS nnb §at jeberjeit einige $er~
Inupfung mit fitttidjeu SRegungen. 9tiemat£ ein falter unb fpecutatioer
Uuterridtjt, jeber&eit ©mpfinbungen, unb ^mar bie fo nafje lute moglidf) bei
itjrcm ©efd^lecfytStoertjaltniffe bleiben. 2)iefe Untertoeifung ift barum fo
felten, tvtxl fie Xalente, ©rfa^rung unb ein £erj t>ott ©efiiljl erforbert,
unb jeber anberen fann ba3 grauen$immer fefjr toofjt entbefyren, nrie c3
benn audj ofjne biefe fid£) toon felbft gemeiniglidf) fef)r tt)of)t auSbitbet."
SSte gefagt, toir toiirben Sant ntdjt beiftimmen, fatl^ biefe Sleufee-
rungen fo $u toerftefjen todren, baft bie grau toon ber f)i)§eren 93ilbung
au3gefdf)loffen fein fott. 3)aun toiirbe ja audj bie ®I)c nur ein fihtftlidjeS
S3anb jhufdien ungteidfjartigen ©Hebern Ijerftellen ftfnnen oljne 3«^r-
laffigfeit unb 93eftanb, toaS benn bod) burd) eine SRei^e, ©ott fei 3)anf,
Ijcrrlidfyer Srfafyrungen fiir Sftben nriberlegt toirb. 2)a§ mitt aber unfer
SBcifer audt) eigentlid) gar nidfjt fagen, fonbern e3 fommt ifjm im SBefent^
tidjen nur barauf an, baft biefe t)5$erett ®enntniffe bem SBet&e nidjt alS
toiffenfdjaftltdje Unterfudf)ung, fonbern metjr in ber ©eftalt be§ ©djdnen,
toeniger jugleic^ mit i^ren ©riinben at^ nur in ben Srgebniffen, ba^er
f)auptfad)Iic^ al§ ©efu^I^bitbung unb in Sejietjung jur (Sigent^umlid^feit
iljre£ ©cfc^lcd^tg i^nen mitget^eilt merben.
2)a§ bie§ ber in crfter Sinie ju beadjtenbe ©efid^t^punft fei, barin
ljat S)ant nnjtoeifet^aft Sled^t; bafe er im ©runbe mit feiner gorberung
uid)t weiter gc^cn loiH, bejeugt auc^ ber Umftanb, bag eine feiner fpa=
teften ©d^riften, bie ein ^or feinem Sobe, atfo 1803, t?on 3tin!
IjerauSgegebene ^abagogif'', bie offenbar iiberatt nur bag SinbeSatter
unb bie 3af)re Dor ben 2lnfdngen ber na^eren fc^ulmafeigen Sorbilbung
jur SSiffenfd^aft im 9Iuge t)at, ani) ^infid^tlic^ ber intellectuellen ©r?
jie^ung gar feinen tt>efentlicf)en Unterfd)ieb §toifdE)en beiben @efd)Ied)tern
Kant uub bie ^Jraucu.
U9
matyt, tt)af)renb fic in 93ejug auf gcroiffc pfyjfifdje unb auglcicf) moratifdje
s^5unftc ben ©egcnfafc bod) aulbriidlidj) betont Ijat.
fiant urtljeilte iiberf)aupt fo: 2Bal auf ber eincn ©eitc cine ©djtoadje
be£ SBeibel unb ein SKangel fei, cben bal gerabe fei auf ber anbercn
cin 83orjug unb feine ©tarfe. ©o fei el itoar biirgerlid) unmunbig, b. I).,
ttrie er in ber „2lntf)ro})ologie" fagt, el tjabe eine ©tetfoertretung feincr
^Serfon notl)ig, mcfjt roegen Unreife bel 9llterl, fonberu tuett el nad) Cage
ber burgerlid)en @inrid)tungen jum eigenen ©ebraudje feinel SBerftanbel
oftmall ungeeignet fei. „2)a£ SBeib," fagt ffant ebenba, „in jcbetn Sitter
ttnrb fur biirgerlicf) unmunbig erflart; ber ©fjemann ift xiji natiirtidjer
©urator." — Semt „el f5nnen bie fSfrauen, fo toenig el tfyrem ©efdjledjte
jufteljt, in ben ftrieg §u jieljen, ebenfo loenig if)re 3tecfjte £erf5nltcf} uertl)ct=
bigen unb ftaatlbiirgerlid)e ©efcf)afte fiir fief) felbft, fonberu nur fcermittelft
eincl ©tcllDertreterl treiben, unb biefe gefefclidje Unmunbigfcit in
Stnfefjung offentticf)er SBerfyanblungen madjt fie in 3lnfef)ung
ber tjanilidjjen 23ot)tfal)rt nur befto Dermogenber; tueil f)ier bal
9ted)t bel ©djioadjjeren eiutritt, toeldjel ju arf)ten unb &u ttertfyeibigen
fid) bal ntannttdje ©efd)led)t burdj feine 9latur fdjou berufen fiifjlt."
§iermit — fo biinft tnic^ — f)at $ant bal 2Bal)re unb ben Sent
ber ©adje getroffen. 2)enn jenel SRedjt bel ©djmadjeren bebeutet in fei iter
©pracfje nur bal einer au&eren ©djtodcfje, bie jebod) baju bient, auf
eine eigenttjitmlidj innere SBegabung bel SBeibel recf)t beutlidj fjinjunjeifeu.
5)iefe, b. Ij. fein Seruf fiir bie gamilie, ift barum jugleid) eine bal
SBeib auljeidjnenbe Sraft unb SBiirbe. 2Bir miiffen an ©telle jenel 9ted)tcl
bel duftertid) ©djtt)dci£)eren in unferer Stulbrudltoeife trielmefjr bal SRec^t
einer eigentfjitmlid) inneren ©tdrfe fefceu, bie ber SSor^ug unb ©tolj ber grau
ift unb fogar fo gebietenb auftritt, baft ber 2Rann felbft feine grofiere
dufcere Sraft ttullig in ifjren ®ieuft ftettt uub feine SSerlefcung jener bulbct.
gaff en ttrir Slllel jufammen, fo ljat Sant, nrie idj nieine, nidjt nur
uber bie itbrigen ttridjtigen Sntereffen, fonberu aucf) iiber bie all fogenannte
Srauenfrage bejetdfjnete unb unfere B^it ernftlidjft befdjaftigenbe Stngelegeiu
f)eit f^5ne unb flare 3tu!fpriidje get^an, — fold)e, burd) bie loir, gleid^=
fant tok ntittell einel Konipaffel, unl Diclfa^ gut unb fid)er im unru^igen
©etooge ber lagelmeinungen orientiren fbnnen.
S)er gro^e SBeife t?on Soniglbcrg, ein unbeftrittener 3Keifter in 93es
f)anblung ber tiefften unb gete^rteften gragen oieter Sinjeltniffenfcljaften,
Dor Slllem aber ber pfjilofo^if^en ©runbtoiffenfe^aft, erf^eint fomit and)
all ein trcfflidjer unb umfidjtiger 93eratl)er in bebcutfamen SSerf)dltniffenr
idcI^c bal praftifd^e Seben unmittelbar betreffen. 3^ biefen aber toerben
ftetl jene ^ntereffen ge^ren, roeldje oon ber 3Kannertoeltf jumat Don ber
oerf)eiratf)eten, mit einer im SlDgemeinen getuife n?o^l begriinbeten |)5flirf);
feit bejei^nct n>erben all bie Stngelegen^eiten i^rer befferen ^dlfte.
Bilbcr aus Deutfdjlanbs firtegsmarme*
Don
SScrnljarb J©agencr*
— Kiel. —
X?orge6anfen.
IjnPniH4 ®u ^ccr 9e?e^cn? geiertag iibcr ben ©c=
H Be| || tudffern, fpiegelnbe ©onnengtutl), CdmmertooKen am ^orijonte,
y y fdjtoirrenbe Snfecten am SBalbfaume, ba3 SKurtnctn bcr
HBm :Setten am ©tranbe toie bic 2ttf)cm$uge einer ©rfjlummemben?
Dber fyaft £>u gefctjen, lote ©turm unb HReer gefdjiotftertidj itjren 2luf-
ruljrreigen tanjten, tote jerriffeneS ©etoolf on bet fafylgelben 2Ronbfdjeibe
tjoriiberflic^t, tote jerftiebenbe SBafferflutfjen ftranbauftodrtS lecfen, jebe
neue SGBogc Ijoljer Ijinauf unb tote ba§ ©ebritH btefer Ungeljeuer ber=
geben3 fief) miif)t, bie pfetfenben, fnatternben, jifdjenben 2tccorbe be3
DrfaneS ju iibcrtofen?
SBenn ®u am ©tranbe iooljnft, ftnb e3 oertraute SBilber, bic icf>
2)ir oor bie ©eete fiitjre; toenn ®u aber Settt §etm gegritnbet l)aft im
©anbe ber 93inncnlanb§ebcne ober an ben ioalbrcidjen $dngen unferer
Serge: toie oft fjat fc^on bie ©etynfudjt an 2)ein &er$ gepodjt, einmal,
ttur einmal bicfe trbtfdje Unenbttdjfeit fefjen jn biirfen, bann aber nidjt
im ©djlummer be£ griebenS: im fjeulenben Stufrufjrl
S)cr SHmtentdnber, bem e3 feine 9Jiittel crlauben, im §odrfommer
einige SBocfjen am f Ulster angefyaudjten ©eeftranbe ju oertrdumen, ift
toot bie einige 3Kenfcf)enf(affe, ber mit eincm griinbli^en ©htrme auf
bem SWeere nod) gebient ift; bcr ©eemann tjat jtoar unter getoiffen 3$or;
bebingungen 9lid)tS bagegen einjutoenben, aber cine „fteife 93rife" ift ifym
lieber; ber Siiftenbetootnter l)at aHerlei ©runb ju Seforgnift, junta!, ba
baS SRetd) mit ber (Sinfiifjrung eincr ©tranbungSorbnung ba3 alte
©ebet: „©ott fcgne ben ©tranb!" unter bie inbifferentcn . Singe oer*
toiefen f)at.
23ilbcr ans Deutfdjlanbs Krtegsmarine. \2\
STber fiir bic bloge Sleugierbe be3 louriftcn tjat ba3 SDleer SKidjtg,
ate ein nad)fid)ttge3 2d<$eln; 2>u fannft mit ben crften jeljn ©raben
SBafferttmrme, bic iibrigenS I)dd)ftcn^ un§ ©atjtoaffcrgettJoljnten jugemutt)ct
toerben burfen, an unfere Siiften jtetjen unb mit ©tord> unb ©djioalbe
t>on bannen geljen, imb e§ marc cin fcltcncr ©litdsfatt, menu ®u au3
cigener 9lnfdjauung cincn redjten 93cgriff Don SReereStoetlen unb ©turmeSs
getobe befommcn Ijatteft. Stber int ^crbftc unb im grueling, ba ift c§,
too bic clcmcntarcn Srdfte if)ren Untgang fatten; ba fann e3 Sir be*
gegnen, bag 2Hd) am fidjeren ©tranbe, angefid)t§ bcr briiflenben ©e;
todffer, berfetbe ©djttrinbel erfagt, mit bem S)u Don £f)urmcSl)of)C t>erab=
fdjauft obcr bag bcr irrenbe Slid Dergeben3 eincn $unft fudjt, in bem
4?tmmel, SBaffer unb @rbe fid^ fdjeiben.
2Ba£ 3)ir am Ufcr cin ©djaufpiet fcfyeint, ift bem ©eemann ein
tiefemfteS ©reigntg; nid)t, bag tf)n bic gurdjt befd)Ieid)t, abcr fetbft ba£
93ettmgtfein, jeber $JJflid)t geniigt ju Ijaben, toeldje bic ©idjerfjeit feineS
galjrjeugeS forbcrt, Dcrmag bcu ©ebanfen ni^t ju banncn, bag aflc£
3Kenfd)entoerf bcr ©inttrirfung natitrlidjer Srdfte nur auf 3^it ttriber=
ftetyen fann unb bag iiberaD iin tritgerifdjeu ©lemcntc mtfid)tbare ©e*
fatten lauern, jebe bereit, ba£ SScrbcrbcn ju bringen.
SBeldjer SMdjter bic $oefie be3 ©eelebcnS juerft erfunben tjat, ift mir
nid)t befannt, abcr bag fie cine ber gettmgteften ©rfinbungen ift, $u
beuen fid) Unfcnntnig unb lebfyafte 5J5I)antaftc Dcrirren lann, glaubc id)
Dcrbiirgcn ju burfen. 3m ©eeteben gibt c§ abfolut 9lid)t3, ioa3 on
^Soefie crinnert; bcr ©turm ift fcine ^Soefie, fonbern Sampf unb Ijarte
Slrbcit; ein ©tidleben an Sorb bei ©onnenfdjein unb gutcm ©egelttrinb
ift feine $oefie, fonbern bic Stit be3 3eugftifon3, ©egetau3beffem£, 3)ed;
fd)cucrn§; bcr 2lufentf)alt in iiberfeeifdjen §dfen ift fcinc $oefie, benn
ber ©ecmann fommt nur in ^omoo^at^if^en Dofcn Don 93orb unb bann
nur bis in ba3 ndd)fte 3Birtt)§I)au3. Stber ettoaS SlnbereS ift e§, toa$
ber ©ecmann Dor Dielen menfdjlidjen 93efd)dftigungen DorauS Ijat: ba§ ift
ber etoige ®ampf mit ber ©efaJjr, ba£ 93etougtfein, bag ber £ob, oft aU
tin fagenfjafteS ©eegetyenft, auf jebem ©aflionSbitbe reitet, bag fein
SRorgen bdmmern tuirb, cf)e ber junge lag nid)t toirflic^ auS Dcrgolbetcn
3Sotfenfaumcn IjcrDorladjt. SBaS eincn grogen Sf)eit unferer mdnnlic^cn
3ugenb jum ©cetcben Derlodt, ift enttoebcr eine betrogene @ef)nfud)t
na^ unbefannten S33unbcrn, mel(^c ifyren SRcij unter bcr fteten ©efetlfdjaft
ber ©cfa^r balb Derlicren, obcr ba§ UcberqucDen ber iugenbli^en ®raft,
welder bic ©(^ranfen ber atttdglid)en SebenSgetooljnljeit ju cngc tocrben;
enblid) aud} unb nid)t jum fleincren Sf)eile bie Srabition, baS Dom
SSater crlerntc ©etocrbe, bic StotI) be£ 2^agc§, ber Snftinct, bcr am Sfjeer;
gerud)e unb am ©afsioaffer fjaftct, ba^felbe ^cimat^gcfu^I, bag ben 93erg=
betoo^ner ftet§ in fcinc gclfcntl)dlcr juriidjictit.
S)aS 3Keer fcffclt bie ^antafie, tt)ic atleS ©r^abene, an ba§ unferc
\22 Serutjarb tDagener in Kiel.
SSettmnbermtg fid) jagenb toagt: toer eg ntemate faf), bcr mvfyt fid) tstx->
gebeng im Xraume, ein (Snblofeg ju benfen, unb tocr jc auf uferlofen SBettcn
fdjtuamm, inmittcn beg §tmmete, ben Ijalt bag unenblidje 9Reer an alien
gafem feineg ^erjeng fur immer gefangen!
Stber eg ift mefjr, ate bie ©eljnfudjt na<§ bem Unbefannten, toa£
ben 83innenlanber, ingbefonbere ben 2>eutfd)en, jum SQteere jieljt ober iljm
aug ber gerne l)er Xljeilnat)me abnittljigt fiir unfer ©eeleben: eg fmb na-
tionale (Srinneruugen unb nationafe &offnungen, bie iljren ©djauptafc auf
ber ©aljffatl) fudjen. 5)eutfdi)Ianbg ^anfajeit unb unfer fjeutiger ©ec-
tjanbel, beg grofeen Surfiirften Srieggmarine unb bie fdjtoar^toeifcrotlje
glagge ntit ^reufcenS Slbler, bie f>eute toon ljuubert ©affcln toe^t! SSor
3al)r^unberten fjat 2)eutfd}Ianbg #anbel ben ©rbfreig umfpannt, frieblid)
ober in SEBe^r unb SBaffen, unb Ijeute toiirbe toergeblidj ber §afen gefudjt
toerben, in bem bie beutfcfye $anbeteflagge nid)t §eimatgred>ie before;
jtoei S^^unberte rucftotirtS ttmr eg bag fteine &f)ur=93ranbenburg, ba»
ben rotten Slbler im toeifjen Srfbe an Slfrila^ ®iiften toeifjen liefj, unb
t)eute?
SBemt man, toie id), mitten in einer Situation fid) befinbet, gehrifier-
mafcen fcertoadjfen ift mit ber ©ac^e, urn bie eg fid) tjanbett, toirb man
nad) aUgemeinen ©rfatyrunggfafcen gut tljun, fid) eineg Urtl)eileg ju ent-
fatten; nidjt toeit man fdjonenbeg SBerfdjtoeigen fiir empfefjlengtoertlj Ijieltc,
fonbern toeil man ©runb Ijat, bem eigenen Urtljeile ju mifjtrauen, jeben=
fatte bei feinen Sefem ben ©lauben an eine unbefangene Sritif nidjt
augfefeen barf.
Stber bag beutfdje 93oIf, in bem ber nationale ©ebanfe nad) fdjtoereu
unb mefjr ate ein ©aculum aften Sampfen in einer SBeife jum $)urdj*
brudje gefommen ift, toeld)c Seftanb ^offen lafct, jafjlt ju feinen nation
nalften £offnungen bag ©ebeifjen unferer Srieggflotte unb too \6) auf
getegenttidjen Ouerjiigen im SSaterlanbe mid) ate SOtarmier entpuppte,
toar eg ber tebljaftefte SBiffengbrang nad) ben 2)ingen, bie jum ©eetoefen
ge^oren, U)eld)er mir iiberatt, fetbft im ©iiben beg bergreic^en 93atyerlanbe3,
mit fettener (Sinftimmtgfeit begegnet ift. 9lun ift bie anbere Sljatfadje
befannt genug, ba§ bag ©eetoefen eine bur^aug eigenartige ©ac^e ift,
uidft nur unuerftcinbli^ fiir ben Saien burd) eine UeberfiiKe tedntifefyer
Senennungen felbft fiir bie getoflljnlidjften 3)inge unb SSorgange im Seben,
fonbern eigenartig beg^alb, loeil eg auf SSorbebingungen beru^t, tnclc^c
Dom gemo^nten Srbenbafein loefenttic^ abmeid)en. ©g mirb beifpieteweiic
Scbermann begretfen, bafj bie focialen 3uftdnbe an Sorb, bei iafjrelangem
3ufammenteben im engften 3taume, nur burd) getoiffe, bem Saien fcielleidjt
unnaturlid) erf^einenbe SDtaferegeln ungefa^r in benfelben 83al)nen auf;
red)t er^alten loerben, rt)ie fie in ber fonftigen menfdjlidjen <8tefeUfd)afi
bie 9iaturnotI)toenbtgfeit gefd^affen ^at unb bafe gar ein Srieggfc^iff, auf
roeld)em bie ftarrc ©c^eibung militarifcfyer ©rabe eine ebeu fofd)e 9Jott)=
Stlbcr aus Deutf djlanbs Kricgsmartne. \27>
njcnbigleit ift, hue im £eere, ©inricfjtungen aufjutoeifen tjat, toettfje erft
bei ridjttger SBiirbigung toon 3toetf unb SDttttcI nicfjt mefjr befrembtid)
erfdjeinen.
Sine compenbiofe SBefpredjung atteS ®effeu, it?a§ bic beredjtigten
©igentfyumlicftfeiten unferer SriegSmarine au§mad)t, ttmrbe bem Scfer toenig
<5rg6jjlid)e£ bieten; inbeffen fcerfprecfjc idf) mir toon einer Sfteiljenfolge Don
©fijjen, toeldje fjoffenttidj SSielc untertjalten, SJtandfjc and) tool beletyren
tnerben, ben ©rfolg, ba3 3ntereffe biefe3 wciten 2eferfreife3 n\6)t fiir
unbanfbare 2)inge in 2lnfprud) genommen ju tjaben unb burdj ben 9Ser-
fucf), aufeuflaren, bic £f)eilnal)ine an bcr maritimcn (Sntttricfetung bcntfdjcr
2Befjrf)aftigfeit tnaeffturufen. 9lnf}nmcf)3lo3, toie biefe ©fijjen nur fcin
fonnen, tocrbeu fic in jufammenljangtofen Silbern bie Sinricfytungen ber
SWarinc fliicfjtig befjanbetn, bag feemannifefje Seben fdjilbern, ein toenig
lopograpljie, ein toenig Xecfjnif bringen, toor 2Wem nidjt fcergeffen, bag
in ber SRartne jmei 2)inge ju ben fcertrauteften 9tacf)bam gepren: ber
©rnft ber ©efatjr unb ber fauftifefye ©eemann3l)umorl
Dom Sccmann nnb was 6a$u getjort.
Um bem geneigten Sefer nidfjt toon toorn herein bie Saune §u t>cr=
berben, befenne id) mi<f) an biefer fyertoorragenben ©telle taut nnb beut=
lid) al§ Slnljdnger ber nenen &t\t in ber SWarine, ntcfjt mit blinbem
SntfjufiaSmuS, fonbern mit fritifdjer SKafttgung. ©3 bteibt mir alfo
erf part, in toaljfoertoanbtfcfyaftlidjer 93ejie^ung ju einem ber grofceren
ipro^eten anf ben Xritmmern ber „guten, alten 3ctt" &u ftagen, obgleid)
id) fie mit erlebt fjabe nnb mit ungetriibter §eiterfeit I5nnen ton beibe,
ber Sefer unb id), tooriibergefjenb in ba3 3Keer ber SSergangen^eit tauten.
5)er ©ecmann toon „einft" f)atte, toenn feine ©igentpmttcfrteiten
nidit einer grofcen 2tnjafyl Don SDtenfdjen toie etne Uniform anf ben Seib
gepaftt tjatten, ©th>a§ Don einem Original an fief) getjabt; er trug feine
URiifee auf bem £interfopfe unb ben ladirten ^arabe^ut feligen Stm
gebenfenS an berfetben ©telle; er bocumentirte ba£ 93etoufctfein, bag feine
SBeine fo toenig, h)ie feine ganje S5rperconftitution fiir ba£ gefttanb ge-
fcfjaffen feien, burd^ eine unbefinirbare ©angart, in ber bie fdjmanfenbe
fflenjegung be^ @^iffe§, audj »o fie ni^t oor^anben h)ar, parafyfirt
toerben, foflte; er tjatte in ben feltenen gaKen, in bencn er jum 5)efiliren
t)or p^en SSorgefefeten fid) gen5t^igt fat), nur unbotlfommene SSorfteDungen
t>on SRidjtung ber ©lieber, Iritt (im mifttarifdjen ©inne) unb S*5rpcr-
^attung; er trug einen f)ot>en @rab toon 83erad)tung im Sufen fiir bie
fragtoiirbigen ©jercitien, toeldje er bie unterbriicften SKcnf^enbriiber in
ber Strmee au^fii^ren faf): er ^atte 2llle3 in 2(Dem f^ematifrf)e unb am
fdjeinenb bered^tigte ©igent^iimlic^feiten, tnelc^e mit meinen 2lnbeutungen
nod^ nityt erfdjopft fein fotlen. Stf^ in ber beutfdjcn Srieg^marine Dor
beildufig fed^S 3a^rcn bic neue 3tcra fam, jog ber ©eemann ben atten
Bemtjarb. IDagener in Kiel.
2lbam au3 unb einen ueuen an. ®r lemtc bon ben fogenannten tniltta;
rifdjen Sugenben atte biejenigen, h>eld)e cr biSljer nidjt bcfcffcn unb tljeiU
toeife Derad)tet Ijatte unb tf)at einen ©d)ritt, ber ben grofcartigfien
gefjtfrt, bie unfere SKarine iiberfjaupt gemadjt f)at: er brad) mit Dcr
Xrabition alter feefaljrenben Stattonen.
®er ©eemann toon f)eute ift in golge beffen ein fo complicirter S3e-
griff geroorben, baft biefe SSietfeitigfeit in bemfelben 2Ren[d)en fitglid) in
©rftaunen fefcen barf. 3unad)ft ift er in be£ SCBortc^ toertoegenfter Se-
beutung ©eemann geblieben; er toeift ein 93oot ju rubem unb Ijat ein
tiefeS SBerftanbnift fur ben Unterfd)ieb in bem ©djlage ber „9ftiemen" in
ber (3ig ober im Sutter; er entert mit 93irtuofitcit bie SBanten in bie
|>5t)e unb toerftefjt fid) auf ©eget nidjt ntinbcr mic auf ba$ jaljflofe %aw-
toerf; mit ©anb, ©djeuerfteinen, Slbfefccr unb ©alatoaffer bemirft er
SBunber in ber Steinigung ber Secfc unb mit ber ru^renbften 3fattidjfeit
iiberioadjt er ben 3"ftanb feiner S3efleibung; im Sftotfjfatle toerftel)t er
nrie nur je ein „©arn ju fptnnen" unb f)at fid) eine in toeife ©djranfen
getyaltene SSorticbe fiir 3tum betoaljrt.
S)a nun etn Srieg3fd)iff of)ne Sanonen nid)t gut bentbar ift, fo Ijat
fid) berfelbe ©eemann auf bie artiHertftifdje 2Biffenfd)aft toerlegt; er uer-
fteljt ba3 ©efdjufccsercitium toottfommen, er ternt jielen unb abfeuem,
toaS bci ber ftorenben SBetoegung be3 ©djiffeS feine befonberen ©dfttrierig;
feiten §at; er ^at ben complicirten DrganiSmuS eineS @d}iff3gefd>iifce$
am ©d)niird)cn unb toenn eine SDiufterung broI)t, pufct er in bie breite
Cbcrfante ber 9tat)mentafette mit tjerjgetmnnenber SttuSbauer bie jier-
lid)ftcn 3Rufter unb ©djraffirungen. Stber toafjrtjaft groftartig toirb feinc
©elbfttoerleugnung beim Syercitium mit ben 93oot^ unb SanbungS-
gefdjiifcen. 2Jlau benfe fid) eine Sattcrie jicrlidjer Sauonen, immcr nod)
refpcctabct genug, urn bci einer Sanbung fdjon au£ ben groftcren Sooten
unb fobanu am Sanbe bem geinbe empfinblidje SKatjnungen ju fenben;
toorgefpannt an breiten 3uggurten brei ober toicr $aare SDtatrofen, gefolgt
com ©efdjiifccommanbeur unb ber 93ebienung3mannfd)aft. 9Ran ftefle fid)
toeiter toor, baft atlc 93ett)cgungen im fc^arfen Srabe auSgefiityrt toerben,
baft c£ feinc artitleriftifdjc gincffe gibt, bie md)t toerfudjt tourbe, bi§
jum SCBcdjfel einc§ jerfdjoffcnen SRabe^ im feinblidjen geucr, unb man
wirb e£ begrcifUd) finbcu, tocnn btefc Uebungen, au§gcfiil)rt mit ber
benfbarftcn ^racifion unb ©c^uetligfcit, bem Sciter ber SRarinc bei einer
crften 93efid)tigung ein Casein iibcrraf^ter Scfricbigung cntlodten.
9lbcr 511 cinem Saubung^t)crfud)e in geinbeSlanb ge^ort me^r, att
©cfdjii^e; atte Sootc, bic ba^ Sricg3fd)iff §ur Serfugung fyat, ftarrcn
Don Senmffnctcn; bic 9licmen furc^en ba3 SSaffcr, bic glottifle nd^crt
fid) bent Ufer. Sefct ftrcift ber S'iel ber tiefgcl)enbcn 93oote ben ©anb,
im nddjftcn 9lugcnblidc nrimmelt ba^ SSaffcr oon SKcnfdicn, bic im eiligen
^tnfturm unb mit frdftigem £mrraf)! ba§ Ufer gemiunen, ben nac^ftcn
Sitber
aus Deutfdjlanbs
Kriegsmariiic.
\25
4?iigelsug ober bic Ufertjeden nei)meu unb atg tootjlorganifirte Xiraifleurs
fettc il)r geuer eroffnen. $ inter itjnen fammelt fief) bag ©rog bcr
3Bannfcf)aft, aug ben 93ooten an bag Sanb toatenb unb mit ©rftaunen
fiefjt bcr Slrmeefunbigc nad) alien 9tegetn militdrifdjer ®unft fid) em
©efedjt enttirideln, intnier Don benfetben ©eeleuten auggefiitjrt, bie in ber
nadjften ©turmeguadjt auf ber ddjjenben 3*aa itjren ffampf urn bag Seben
mit fd^agenbem ©egettud) fdmpfen.
5ftod) immer finb nrir nid)t am @nbe mit ber SBietfeitigfeit beg
©eemanneg toon tjeute. 2tuf bem ©sercierplafce lernt ber 9Katrofe ben
Stenft be3 3nfanteriften in feiner ganjen SSottfommenljeit; er Ijat 9Ser-
ftdnbnifc fitr ben „t)6rbaren SRud" ber ©etoeljrgriffe unb fur bie ridjtige
Sage ber ©tiefetfpifce; er madjt langttuerige ©djiefciibungen auf ©c^cibcit
mit feljr toenig toei&em unb fefjr trielem Uanm papier; er f filbert feine
SBBadje mit alter ©ramtdt, bie ber Soften fiir feine tjeiligfte $flid)t Ijdlt:
furj, e^ gibt feinen ©aruifonbienft, in bem er nid)t bie griinblidje ©djule
beg beutfdjen ©olbaten burcf)jumad)en tjdtte.
3ubem ift ber 9Hatrofe ber anftelligfte 2Renf<$ unter ber Sonne;
id) rt)itt !ein Slufljebeng ba&on madjen, bag er fid) im 93orb(eben eine
beadjtengtoertfje ©etoanbtfjeit im $artoffelfd)d(en ertoorben fjat, aber eg
gibt abgefefyen baoon fdjtoertid) eine praftifdje Situation, in ber fid) ber
©eemann nidjt fdjleunigft juredjtfaube. traue jebem Dfficierburfdjen
ju, baft er eine auggefprodjene 3uneigung 8u Stnbern §at, aber aud)
bag 2lnbrennen einer tjetften 3Ref)tfpeife auf bem geuer unfeljtbarer ju
toerljtttbern ttmfe, alg bie getoanbtefte Sodjin; eg gibt feine Saft ju be;
luegen, fiir toeldje ber ©eemann nidjt bie ridjtige medjanifdje Sraft fjeraugs
fdnbe; eg gibt !ein ©etoerbe, in bag er nidjt f)ineinpfufd)te unb feine
tedjnifdje gertigfeit, bie er fid) nid)t im ipanbumbrefjen aneignete.
3d) bin toeit entfernt batoon, ju befjaupten, bag biefer Slugbuub
turn SSielfeitigfeit mit befonberer Segabung auf bie SEBelt fame; aber
ber feemdnnifdje 93eruf, bag Stngeitriefenfein auf eigene Srdfte unb auf
befdjranfte £it(fgmittel an 93orb erjict)t ba^u.
3)ie grage ber §eranbitbung tiicfjtiger Uuterofficiere, toeldje in ber
Strmee eine 3cit lang eine brennenbe toar, fonnte ber Srieggmarine urn
fo toeniger erfpart toerben, atg ber ©eemann toon 93eruf menig SKeigung
beftfct, bem S)ienfte fiir bag SJaterlanb mef)r alg bie ^5fli^tjeit ju ttribmen;
eg ^ie^t i^n gert)altfam in bag ungebunbenere Seben bcr ^anbelgmarine
juriid, obgteic^ i^m bag 93ettmf$tfein folgt, im mod)ent{id)en ©peifeturnug
minbefteng eine 9Jlat)l5eit Don 5ppaumen unb SWfjen gegen bie tjer^a^tcn
6rbfen mit ©aljfteif^ einjutaufc^en unb auf mandjeg frtfd)e 93rot unb
gleifd) ^u ©nnften i^rer fragn)iirbigen ®auerfurrogate t)erjid)ten jn miiffen.
S)ag Snftitut ber ©c^iffgjiungen, an bag fid) eine tdngere Sienfttjcr^
pflid^tung fniipft, ^at fid) beg^alb unter ber neuen 2lera eincr befonbercn
•jJSflcge erfreut unb tt>er bie blifcfauberen Sungen in griebri^goit jur
\26
Serntjarb IDagener in Kiel.
S)Sarabe angetreten obcr in iljren Sc^rfdlcn ouf bic 93iid)er gebeugt fietjt,
toirb fic6 beeiten, bic ottc gabel aufjugeben, baft atfe Jaugenidjtfe jugenb-
Iicf)cn Sitters if>r £>eit Dorjuggfoeife in bcr SMarine fudjten. 3)a§ btefe
t)offnunggDotte 3ugcnb trofcbem nicfyt ouf jeneg unbeftrittene 9Sorred)t Der=
jidjtet f)at, toelcfyeg hrir 9torbbeutfd)e „2)urd)triebenl)eit" nennen, liegt in
ber natiirtidjen SBerantagung beg 9Wenfd)en unb eg tiefcen fid) fiber bicfen
(Segenftanb ganje ©erten Don ®efd)td)ten erjdljlen, bie fid) fur emftfjafte
unb gefefcte Sefer nid)t imnter eignen. §ier eine fjarmlofe Don Dielen,
obgleid) id) fie nur Dom §orenfagen ijabe. (Sin $rin$ beg preuftifdjen
£oniggf)aufeg ttribmet ben ©djiffgjungen ber ®rieggmarine feine befonbere
Suneigung, bie ifjn ©ommerg tjdufig auf eing ber ©d)utfd)iffe fiifjrt, toenn
fie in ber Dftfee Ireujen, unb itjn tagetang bort Dertoeilen Idfjt. @tneg
Xageg betritt ber ijotje |>err bag S^if^cnbei, ate bie 3ungen ifjrc
SDlittaggmafjIjeit beginnen; ber eine fd>aut triibfelig in feine 83Ied)fd)uffel,
todljrenb iiberatt fonft ein emfigeg 25ffelgeflapper fid) bemerfbar madjt
35er arme ©iinber belcnnt auf SBefragen, baft er feinen 25ffel Dertorcn
fyabe; ein SEBinf / unb aug ber prtnjticfyen 3Jlenage erfdjeint ein filberner
Soffel, ber bie SBunbe beg Heinen ©djelmeg t)5d)ft bemerfengioertt) fdjliefct
S)er gtiidltdje SBeftfcer nrirb ottgemein beneibet, er birgt fein £eiligtljutn
forgfam im SHetberfad. S)er nddjfte SKittog fommt, toieberum befudjt
ber ^rinj ben ©peiferaum, aber toetd) ein»9lnbtid! 3n langen SReiljcu
fifcen bie S^ngen an ben SBatfen, jeber ben gefiitlten ©peifena^f Dor fidj,
aber fein Soffel regt fid), 9iid)tg, ate ertoartunggDotte ®eftd)ter, bie balb
auf ben ^rinjen, balb auf ben 9tapf geridjtet finb. Stodj ift bie Shrage
beg ©rftaunten nid)t Derflungen, ate fid) bie ©d)aar unisono rait bem
SRufe ertjebt: „2Bir Ijaben unfere £5ffel Derloren!"
3tad)bem ber ©eentann Don Seruf ebenfo, toie bag Smbrtjo eineg
foldjen, ber ©djiffgjunge, unfere gebirtjrenbe Slufmetffamfeit in 9lnfprudj
genontmen Ijabeu, motlen loir in S^urjc mit ber 93emerfung fdjliefcen, baft
bie ©djiffgjungen ju einer 9lbtf)eitung formirt finb unbf toie fdjon oben
angebeutet, in ber ben dieter §afen fdjlieftenben ©eefeftung griebrt^g-
ort tjaufen, baft bie ©eeleute Don S3eruf, bie etgentlid^eu 3Katrofen, jtoei
grofte Sorter bilben, bie fogcuannten SWatrofenbiDtfionen, beren eine
in Kiel, bie anbere in 9Sitf)etm^aDen ftationirt ift unb beren jebe in
Dier 2tbtl)eitungen jerfdllt. S)a biefe 9Jtarinetf)eiIe ben grbfeeren X^cil
bcr @d)iffgbefa^nngen ju ftetlcn ^aben, fo ift e$ erftdrlid), ba§ fic nie^
ntal§ Dotl5dt)(ig beifatnmen finb f ba irgenbmo in ber SBelt ftctg bic
bentfd)e S?rieg£f(aggc Don bcr ©affel me^t, unb baft fie am ftdrlften im
©inter, am fd)tt)dd)ften aber im ©ommer fein tocrben, ioenn ein ^aitjcr;
gcfd)loabcr jenc merftoiirbigen 3)rel)freife befd)rcibt, tocltyt eigentlic^ i^re
©rlldrung im 9lamen felbft finben, beren eingetjenbe 93etra^tung jebo^i
nid^t f)ierl)er get)6rt.
SBer cinmal SricggfdE)iffe ju ©cfidjt befommcn !^atf rt)irb nnjfen,
3tlber atts Deutfdjlanbs Krtegsmarine. \2?
bag fie bcr grogen 2Ref)rjaf)t nad) einen ©djornftein unb einige 2Raften
tragen. SBenn ftd) au3 bcm ©djornfteine fdjarffinntgerroeife auf ba3 93or=
ljanbenfein cincr ®ampfmafd)ine fdjtiegen tcigt, fo toerben bcm naioen
©emutlje bie auf ©egelgebraud) beredjneten SRaften mit ifyren Duerl^Ijern,
ben 9taaeu, entbef)rtid) fcfjeinen. Slbcr bie Sfjatfadje, bag cngtifdje 9Jiafd)tnen;
toftfen ju ben ttjeuren Slrttfeln gefjoren unb bag ber SBinb, ioenn er em-
mal btaft, gratis ljaben ift, t)at ju ber ofonomifdjen @inricf)tung ge=
fiif}rt, bag ein S?rieg3fd)iff in griebenSjeiten fid) ber ©eget bebient, too
bteS irgenb angeljt, unb nur im Slot^fattc jum S)ampfe feine 3uflud)t
mmmt, atfo ettoa toenn t>erfdngtid)c §afeneinfaf)rten paffirt toerben, toenn
e£ fid) um eilige Sluftrage, urn piinftltdjeS ©intreffen tjanbelt, ober fur
UebungSjmede, toetdje auf ben ®rieg3gebraudj beredjnet finb. 3m Sriege
fefbft gefjen natiirlid) bie geuer niemate au3, menu ba3 ©djiff in ®ienft
gcfteHt ift, benn im gaHe ber Slotl) ttmrben tmmerfjin beilaufig jtoet
©tunben born geueranjiinben an oergeljen, elje S)ampf jur SBetoegung
Dorljanben ift.
3)iefe 93emerfungen follen einftmeiten ben geneigten ficfer nur barauf
toorbereiten, bag an SBorb eineS SriegSfcfyiffeS ba3 SJkrfonal ber SDlafcf)^
niften unb #eijer feine bebeutungSfcotte Sotle fpielt; bie erfteren toom
leitenben 3Rafd)iniften, ber feinen ^51a§ an ber ©teuerung, fcor bem toon
oben nieberfommenben ©pradjrotjre, in ber miction nidjt toertagt, bis aunt
jiingften SKaf^iniften-Stp^Iicanten tjinab, ber, mit ber £anblampe bettmffnet,
fjunberte toon burftigen Deffnungen in bem 2Rafd)inengetriebe unabtaffig
mit Delflutljen tranft.
Stber bort, im ^intergrunbe be§ tunnelartigen SRaumeS: fdjeint e§
nidjt eine (Styclopentoerfftatt, bie itjre ©lutf) in ben HJlafdjinenraum Ijaudjt?
3n jtoei SReifjen tiegen ftd) bie geuerungen gegeniiber; ljier unb bort
ttrirb eine %i)Hx aufgeriffen, unb menu ®ir bie £tfce Dormer ben Sltljem
benafjm, fo befd)Ieid)t 2)idj toor ber geflffneten Ipr bie gurcfjt, bag ®ir
bie ®Ieiber t)om Seibe fdjtoeten. ©eftatten mit f<f)ioarjen ©efidjtern unb
ftfjmufcigem #emb, ba§ in ioeigen &ofen ftedt, regieren ungefjeure ©djiir;
ftangen, unb too eine £f)ur fid) offnet, toerfdjlingt ber ^bllcnf^Iunb einen
Eentner ©tein!ot)le auf einmal. Winter 3)ir iibert5nt ba^ ©eraffet be§
3Rafd)inenungeljeuer£ jeben anberen Saut, t)or ®ir im geuer, in ben Staffers
unb S)ampfteitungen ein ©ebraufe, bei bem fid) bie 93ruft mit angfttidjen
Slt^emjiigen begniigt.
3)a§ Seben be^ ^eijer^ ge^firt unter bie toenig beneiben^toert^en
S)inge, felbft in 93etrad)t genommen, bag i^m bei fdjmerem 5)ienft t)or
bem geuer ein fiabfal ber ©otter gereicfjt toxxi, — ^aferf^teiml ©r
l)at ba§ Ungtud, im Sampfe gegen Del, 3htg, S^eer, ffo^te ftetS ben
fiiirjeren ju jie^en; feine 9Henfdjenfraft uermag bie ©^uren biefer uner^
bittlic^en ©egner au§ £emb unb SBramtu^^ofe ju bannen unb bie ©tirn
ber ©eioattigen runjelt fid) bod| ob jeber unlauteren ©telle I
Botb unb Sab. VII, 19. 9
\2&
3ernfyarb EDagener in Kiel.
9lber eg brdngt ung jum Sidfjte juriid, too ^eitcrc Silber unfcr marten.
2)er 2Merggaft ift bcr ein^ige Sunger bcr barfteQenben Sunft an
Sorb; ober ungleicfy fcinen todenljauptigen ©oficgcn toon SRund&en obcr
2>uffetborf Dertaufcfjt er bic palette ntit baudjigem ftarbetopf unb bag
jarte Spinfeftoerl mit folibem gorbcitquaft; ejrtrem angelegt, ttrie cr ift,
molt cr in ©djtoarj obcr SBeift; au&enborbg fdjtoarj, innenborbg
toeifj: bag ift feine ?teftl)etif. ©djneiber unb ©djutjmadjer blcibcit auf
ben untcrftcn (Snttoidelunggftufen tljrer Siinfte juriid, auf bem ©tanbpwtfte
bcr glidarbeit; bcr Siic^fenmadjer forgt fur bic $rieggberettfd)aft bcr
#anbmaffen; cinigc ©c^rcibcr befd£)dftigt bag Eommanbobureau. 3>cr
©djiffgjtmmermann geljflrt ju ben Sielbefd)dftigten an Sorb; cr ift 3eber;
manng gactotum, fobalb eg fid} urn $oI& Ijanbelt unb feine tedjnifdjc
®efd)idlid)feit fann bci emfteren Sefdjdbtgungen am ^ol^fSrper beg ©d)tffeg
toon SBidjttgfeit fctn. Sergeffen nrir nidE)t ju ertodfyten, bafe einige Sajaretf}-
getjiilfen fiir bic Kranfenbebienung fcortjanben finb, baft ber ©egelmadjejr
iiber ben 3^cd feineg 3)afeing nid)t jtt>eifelt)aft lafet, fo Ijaben loir etnen
©omptej toon Sefdjdftigungen !urj angebeutet, torfdf>e toon tedjmfdj toor^
gcbilbetcn 2Rannfdjaften bcr §anbtoerferabtl)eitung toaljrgenommen toerben.
2Rafd)iniften unb #eijer gc^firen jur -SRaft^iniftenabtljeilung, beibe 9lb-
t^eilungen finb ju einer SBerftbitoijion toereinigt, bcrcn jeber ©tationg;
ort einc tjat unb toeldje im (Sebraudjgfatle bie ©djtffe mit $erf onal toerfotgen.
2)er ©ccfolbat ift ettoag burdjaug Serfdjtebeneg t>om ©eemamtc;
uniformirt unb betoaffnet nadj bem SRufter ber Slrmee, auggebtlbet
eigentlid} nur fiir ben Sanbbienft unb begtjalb an Sorb ber grojjeren,
namentlid) $anserfd)iffe, too er fidj in 5)eta<fyementg aDcin nodj finbet,
nur fiir ben SBacfytbienft unb bci Sanbungen toertoenbbar. Sr ift ©olbat
unb burdf)aug ntdjt ©eemann, toenngleid) bie Setoolferung ber glufcfaljr;
jeugc mit Sorfiebe fiir biefen 3)ienft auggefyoben nrirb; cr Ijat bag ®t~
fiiljl, obgletd) er ein fo tud} tiger ©otbat ift r mie nur einer, an ©orb
eine nebenfdd)Iidje atoHe ju fpielen, unb menu er eg ntdjt fyit, totrb eg
iljm bei 8^iten beigebradjt; er l)at eine auggefyrodjene SReigung jur ©ee-
franftjeit unb bie iiberjeugunggtreue Sljeerjade t)at bcg^alb nur etnen
geringen ©rab ber $Bertl)fd)dfcung fiir tljn. 5)ag einjige toorljanbene
©eebataitton in ®iet Ijat jtoet Eom^agnien nadj SBit^elmg^atJcn betac^trt
unb er^dlt fcine Dfficierc lei^weife Don ber Slrmee.
5)ie ©ceartiDerieabt^eilungen, )t)eld)en bie Slufgabe jufatlt, bic ®ef^u|^
riefen in ben ©eefeftungen griebric^gort unb SBit^clmg^atjen ju bebiencn,
^aben t>or nidjt tanger 3^it eine SReorganifation erfa^ren, toel^e fie ben
2Ratrofenbit)ifionen alg fiinfte Sbt^eitungen iugefcllte unb bie abtoeb
djenbe Uniform befeitigte; aber im groften ®anjcn ift nid)tg baran ge^
aubert wotben, baft bie SDHannf^aften biefer 3Rarinet^ei(e SlrtiHeriften im
cigentlic^en ©inne bleibert unb mit bem 5)ienftc an Sorb ber fitiegg;
fd^iffe in feine Seriifjrung lommen.
3t Iber ttus Deutfdjlanbs
ttrtegsmarine.
129
63 bltebe uttS nocfy itbrig, einen biScreten Slid auf bie oberen
©fjargen ber SriegSmarine ju toerfen.
S)er ©eeofficier unferer Xage ift fcinc ©pecieS metjr im barnm
niftifdjen ©tune, I)8d)fien3 nod) eine SSarictat ; er ift ein au^fc^Iic§ticf)cg
SProbuct bcr mobernen ©ultur; er Ijat fief) bequemt, ben SRocf bi£ unter
ba3 Sinn jujufn5pfen unb im 5)ienfte eine ©<§arpe urn bie #itfte ju
legen; er §at atterbingS ben originetten £ut in bie neue 8^it ^iniibcr
gerettet, bie (JantiDen an ben (Spauletten ber unteren E^argen nnb bie
golbgeftreiften ©alabetnttetber, aber er bangt meDeidfjt nidfjt mit Unrest urn
ben Serluft aud() biefer SfoSjeidjnungen. 3n feinem erften ®nttt>icfc(ung3;
ftabium fjeiftt er ©abett unb toirb jum ©eecabetten befflrbert, inbem fid)
ber fdjmale golbene SKiijjenftreifen in einen ettoaS breiteren toertoanbett.
SBenn er fid) ju feinem Serufe entfcfylieftt, Ijat er in ben feltenften S&llen
bereitS ©aljttmffer gefefjen, aber er genieftt auf ber HJlarinefcfjute unb an
85orb ber ©abetten*©<f)utfdf)iffe eine fo grunbticf)e unb melfeitige &u$;
bilbung, baft man mit 9ted)t toor bem ©ebanfen £alt madfjt, ob bie toer*
fdjiebenartigen Eienftjtoetge, benen ber ©ccofficter getoacfjfen fcin foil,
ttnrflidj eine allfeitige 2)urdjbitbung m5glicf) erfdjeinen laffen. 3n MCern,
tt>a3 ber ©eemann praftifc^ ju letften tyat, foil if)n ber Dfficier unter;
toeifen unb iiberragen mfofern, al3 bic tf>eoretifdje Scrtiefung einen er^
Ijflljten ©tanbpunft mit fid) bringt; ber Dfficier foil aber aufterbem er;
faljren fein in bcr Scitung be3 ©d)iffe3, in ber aftronomifd)en DrtS*
beftimmung, in ber fiuften&ermeffung, im 3cic^ncn; ba3 Strtitterictpefen
ttrirb il)m jur 2Biffenfdf)aft, bie ffenntuift be3 Sorpebomefena, ber ©leftro-
tedjntf toirb geforbert unb e3 ttrirb SitemanbeS SEBaljl anljeimgegeben,
fid) eincm biefer SMenftjtoeige oKcin ju toibmen, fonbem toon 3ebem
toirb 2lUe3 beanfprudfjt. @3 fommt tjinju, baft ber S)ienft an Sorb nid)t$
feeniger ate cine Sinecure ift unb feinertei Slntaft gibt, ben 9teib bed
SlrmeeofficierS ju ertoeden, baft bic fparlidje fttit ber SDtufte in grdfterer
©emetnfdjaft toerbradjt toirb unb jum ©tubium unb jur SBeiterbilbung
in ben ttjeoretifdjen gadfjem fdfjon toegen beS befdjrdnften 9taume3 unb
SRateriate toenig toerleitet: man fieljt, baft eg fein $leine3 ift, ein ©ee;
officier comme il faut $u toerben unb baft Ijier bie imaginare $r<tyon-
beranj beg „erften ©tanbeS im ©taate" burc^ SBiffcn unb ®5nnen tocfent*
lid^ geftii^t toirb. SBie fic^ bcr ©ceofficier mit jiemlidjer ©ef^minbigfeit
in ben 23efi| ber ^o^ercn ®rababiei(^cn fe|t, &u erja^ten, ocrfpare id^
mir auf cin anbereS SWal; ^ier mfldjte ic^ noc^ anfu^ren, baft an fflorb bcr
©(^iff c ein ober mc^rcrc Kcr jte tior^anbcn finb, baft gelegentlidj ein SWarine^
prebiger bic ©orge fur ba3 ©celen^eil ubernimmt, baft 3^tmeifter obcr
©olc^e, bie e$ ttjerben motten, bie 93ertt)attung3gef<$afte beforgen, baft au^
im 9Dtafd)inenj>erfonaI einige obere 3ngenieurd^argcn, namentlid^ auf ©e*
f<^toabem unb ben grdfteren ©d^iffen, burc^ i^re Slnmefcn^eit glanjen.
ipier mag e^ bei biefer ftudjtigen Sorftettung fcin SSctoenbcn tjaben.
9*
\30
33erutjarb IDagener in Kiel.
VOas ber Seemann cine „!neffe" nennt
Untcr „3Keffe" an 93orb ucrfte^t man einc in fief) abgefdjtoffene
Xifdjgefettfdjaft, im iibertragenen ©tnne toirb bamit audj bcr 3tautn be*
jeidjnet, in toeldjem biefe ©enoffenfdjaft itjren culinartfcfjen, poculatiben
unb aftljetifdjen ©eniiffen obtiegt.
3)ie 3Keffcn gef)5ren ju benjenigen 3)ingen an S3orb, toeldje bic an
fid) eigentltd) parabojc Seftimmung fjaben, gteid)jeitig ben famerabfd)aftlidjeu
©eift unb bie ©jdufitoitat ju f5rbern; ben erfteren, inbem fie ntdglidjfl
gteidjarttge ©femente in fidj toereimgen, bie lefctere, toeit fie biefe ©efetk
fdjaft gegen ettoaige gn&afionggetufte frember ©lemente ljermettfdj ab=
fdjtiefcen; felbft bet ©erberug, ttjeld)er ben ©ingang toefjrt, feljlt ben
meiften SDteffen nidjt.
SBir fjaben ben angeneljmen 93orjug, ein Sfaggfdjiff jum @egen=
ftanbe unferer Iritifcfyen 83eleud)tung matjlen ju fflnnen, eine ftattlidje
gebedte ©or&ette, toeldje mit einem ©efdjttmberftabe gefegnet ift. 5)er
©rab ber SBiirbtgung biefeg Sorjugeg ift an Sorb felbft in ber SRegel
ein nur ma&tger, ba ber ©efdjtoaberftab bie beften Staumfidjfeiten fur
fief) beanfprudjt, too iibertjaupt in Sejug auf SRaum ntd)t ein ©dimmer
toon 2u£ug getrieben nrirb; aufjerbem nimntt aud) ber regfte 5)ienfteifer
in toerfriifjter SDlorgenftunbe ober gegen ben ©d)tuf$ eineg adjttagigen ©ee*
(md)t 2anb*)regeug geredjten Stnftofj baran, toenn bag Sluge beg ©e*
toaltigen in ju unmtttelbarer 9laf)e iiber il)m toadjt. SBir ttJoQen toon
unferer ©igenfdjaft atg „93abegaft" nidjt t>tct unnotljigen StuffjebenS
madden, benn ton an 93orb unb gar in einer 2Jleffe nidjt abfotuter
©eemann in beg SBorteg toertoegenfter SSebeutung ift, nrirb eine pafffo;
neutrate ipaltung in alien fiebenSfragen empfefjlenitoertl) ftnben, felbft
toenn eg fid) urn ben lebtglid) terreftrifdjen Unterfdjieb stuifc^cn Sfopfc
fteinpflafter unb ©Ijauffee Ijanbeln fottte; aber biefe ©igenfdjaft fomntt
ung bod) infotoeit ju ©ute, ate ttrir ofjne SSoreingenommenljeit felbft in
beg ©etoattigen £eiligtl)um fdjauen biirfen unb bei einem un&orbcreiteten
„9We SDtann auf gum aJtanitoer!" befjaglidjen ©inneg bie einfamen ©etten
beg SReffelebenS genie&en biirfen, ein SRoment, in toeldjem ber 9lad)tljeit
beg 93abegaftt^umg burcf) ben SSorjug toarmer ©uppe ober Ijeifcen
$affeeg meljr atg reid)ticf) aufgett)ogen ttrirb.
SBerratfjen toix bem geneigten Sefer in ffiurje, bafe unter ber girma
^Sabegaft" in ber Dfficiergmeffe bie 2terjte, 5J5rebiger unb 3^lnteifter
fafjren, unb toenn bag fc^ttjarje @efd)id in bog^after Saune einen gnten-
banturbeamten bort^in Derf^Iagen ^aben foKte, aud) biefer.
Urn enbli^ jur ©ad)e ju fommen, fo fiifjrt an 93orb unfereg glagg=
fd)iffeg 5undd)ft ber Slbmirat feine eigene 3Keffe, in ber 9tegel ein fttttidjer
$>err, welder im 2aufe feineg ereigni^reic^en Sebeng bie 2Bal)rael)mung
gemad^t ^at, ba^ bie ©efelligfeit bag befte ©lag SBein ttmrjt. Seg^alb ^at
3Ubcr aus Deutfdjlanbs Krtcgsmariue. \5\
ber tjolje £err bcm Eommanbanten beg ©<§iffeg bic amteljmbare Dfferte einer
gemeinfamen SKeffefiiljrung nut fefjr ungletdjer SScrt^cttung bcr Soften ge*
maty unb Ijdlt eg toielleidjt audj fiir cine SPfltdjt beg $>erjeng, feinen ©tabg*
djef unb feinen glagglieutenant baucrnb einjulaben. 5)er Eommanbant beg
Slaggf^tffe^ toirb fjierbei in ber SRcgcI fein toefentlidjeg ©efdjdft mad)en,
toeil er ®agienige, toag ifjm fiir feine SDleffe on etatgmdfjiger Kompetenj ge*
todtjrt toirb, in ben gemeinfamen Sonbg gcben tirirb; ber ©tabgdjef aber,
toeldjer eigentlid) mit bent ©ommanbanten gemeinfame HJleffe madjen
foil, unb bcr glaggtieutenant, ber in bie Dfficiergmeffe geljort, lonnen
bie etjrentoolle ©inlabung tfjreg ©ef<f)toaber<$efg nid)t burd) bag fd)n5be
?tnerbieten einer ©etbentfdjdbigung enttoeitjen unb genieften eine jtoar
unfretttrittige, aber nidjt umtuHfommene 3iebeneinna^nte. 3n neuerer
3eit ift ber ©tabgdjef jaijlenbeg SKitgtieb beg Slbmiraigtifdjeg ge*
tnorben.
SBenn fid) ber Sefer unfere Kortoette alg ein toierftodigeg &aug benft,
beffen ffeHerrdume ber unergriinblidje. Sielraum, beffen $arterres@tage
ba^ £ettegat unb bie Saften fiir ^rotoiant, 3Runitiou ic, beffen erfter
©tod bag Stoifdjenbed, beffen atoeiter bag 93atteriebed ift, unb toeldjeg
auf ber Ijinteren &dlfte beg oberen freien ®edeg eine tjalbe (Stage befifct,
bie ©ampanje, true ber ©eemann fagt, fo itnrb berfelbe fid) orientiren,
toenn toir fagen, bafj bie 9idumttd)feiten beg 3lbmiratg im jtoeiten ©tod*
toerfe, bie beg ©d)iffgcommanbanten fogar alien SRegeln beg guten Soneg
juttriber in ber fleinen 3)ad)etage belegen finb. 5)er ©efdjtoaberdjef
gebietet iiber ein SBoIjnatmmer, ein ©<f)lafjimmer unb einen ©peifefaaf,
bie erften beiben SRdume in ber tjinterften Sftunbung beg ©djiffeg neben
einanber belegen, bie 3Reffe beiben quer toorgelagert toon SBadborb ju
©teuerborb. 5)ie @inric§tung ift eine t)5d)ft mdftige, ber folibe SDtittek
ftanb mad)t in ber eigenen £duglid)fcit jebenfatlg mefjr Slnfpriicfye an
©omfort, alg man bei bem #5df)ftcommanbirenben an Sorb finbet. giir
feine tfigftdje SSerpflegung erijdtt ber ©efdjtoaberdjef (big jefet nod) ftetg
ein Sontre^Stbmiral) 24 SDlarf, fo tange bag @efd)ttMber fid) in ber Dft*
unb Storbfee auf^dtt, bagegen 45 SDtarf, fobalb bie ©trafce 5)otoer;(£aIaig,
ober bei bem SBege urn ©djottlanb, fobalb ber britte meftlidje. Sangem
grab (©reenttridj) paffirt ttrirb. 3"* 93eleu^tung ber SRdume unb jur
SBefoIbung tjon Sod) unb Setlner merben tdgli^ 7 SRarf 75 pfennig
getod^rt. ®iefe Safari mdren tjiellei^t im ©tanbe iiber i^ren SGBert^
ju tdufdjen, toenn man ni^t ju bebenfen fjatte, ba§ ber Slbmiral bag
SBenigfte bat?on tjerbrau^t. ®in guter Sod) ift nid)t unter 50 Staler,
ein brauc^barer ©tetoarb lrietleid)t f^on fiir 40 Skater monattid) ju
engagiren; man toirb begreifen, baft jene 232 SDtar! 50 pfennig monat^
ti^eg $auf(^quantum, toon benen nodj 45 3Karf fiir bie SBeleudjtung
abjure^nen, fiir iljren &totd nic^t augreic^en. Db man ferner toon adjt
I^alem feine SSer^ftegung beftreiten !ann, U)enn man junddjft fte^enbe
\7>2
33ernljarb IDagetter in Kiel.
Xifdjgafte l)at, fobann aber in jcbent fremben #afen ju unauffjdrlidjen
2)ejeunerg, 2)inerg unb ©outers toerpflictytet ift, bet bcncn gute ffleinc auf
bcr Xafel ftetyen miiffen unb manctymal jtoblf unb raeljr $erfonen mit
fritifdjer 3*mge bie ©eemanngfoft ertoarten, fann man getroft bem Sladp
benlcn iiberlaffen. ®g mag eine Qfyxt unb ein Serbienft fern, ein @e?
fd)toaber ju fiiljren, aber bcr faufmdnnifctye ©inn nrirb begreifen, baft eg
mit Untcrbitanj abfdjliefjt.
Son bcr ©ommanbantenmeffe ift in unfcrcm galle nid)t ju reben,
toctt fic burd) ©on&ention ifjre ©etbftanbtgfeit eingebiifit l)at; too fie
abcr an Sorb beg cinfam fegelnben #rieggfcf)iffeg befteljt, jetd&net fie fid)
in bcr Steget burd) tobttigen SRangel conftanter Xifdfjgdfte aug, Derfdrpert
burd) Engagement beg ffoct/eg bcr Dfftciergmeffe bag umgefefjrte 5|Jrincty
bed 5)ualigmug tnfofero, aU beibc SJteffen toon berfelben funftfertigen
£anb erndljrt toerben, unb toeiji meifteng bfonomifdj genug gu toirtlj?
fdjaften, urn fi<$ burdjjufdjtagen. ®ie Sfflcffecom^ctenjcn bcr Komman?
bantcn bariiren fdjon nadj ben ©djiffgflaffen unb nadj bem Slufentfjalte
ber Sa^rjcugc, unb fomten an Xafelgetbern im beftcn SaHe 18 3Rart, im
fldglid)ften 2 3Rarf 50 pfennig, an ^aufdjquantum 7 3Jtarf 75 pfennig
unb 3 SDtarf 90 pfennig betragen.
©otoett bic l)tmmlifdf)e ®ered)tigfeit bie ffieleudjtung gratis fiber-
nimmt, gibt fie toeber beim Eommanbanten nod) beim (Sefdjtoaberdjef
Stnlafe ju ftagen, ber Unbefangcne toiirbe fogar ben ettoag Hein geratfjenen
©eitenfenftern toaljrfcfyetnltd} toon innen tyeraug ttic^t einmat anfeljen, ba|
fte eigentlid) nur ©efdjiifepforten ftnb. ©teigen toir aber eine toeiterc
Ireppe in bic licfe big in bag Sttrifdjenberf, in tnetdjem tnir toieber
„ad)tern", tirie ber ©eemann „ljinten" nennt, bie Dfftciergmeffe fcorftnben,
fo leljrt bag jtoeifelf)afte ©albbunfel beg Staumeg, ba§ toir ung ber
SBafferlinie bebeutenb gendljert Ijaben, toegljalb aug ben ©eitentoanben beg
©djiffeg nidjt meljr t>icl 2idf)t ju ertoarten ift. 3)iefc SDteffc ift ein trier?
cdigcr 9taum, na<f) Ijinten mit einem Sorratljggelafj, toeldjeg ben be?
bienenben Seflnern ben lag iiber jum Slufenttjafte bient, in bie aufcerfte
Stunbung beg ©djiffeg fyineintreteub. 3n bie 5)ede ift ein grofceg, qua?
brattfdjeg £od) eingefd)nitten, burdj ttjetdjeg man in bag Satteriebed in
bic #5Jje fdjaut. ®ieg 2oc^ fann burd) aufgclegtc genfter Dcrfc^loffen
merben. ©erabe bariiber ift in ber 2)e<fe ber SSatteric ein gtei^eg Sod)
gelaffen, metc^eg atfo nac^ bcm Dberbede fii^rt unb bem lageglic&te ben
©ingang geftattet. 93ci gang fd)Ied)tem SBctter toirb bicg oberfte fio^
burc| eincn faftenartigen 2)edet gefc^toffen, morauf in ber SOteffe abfotutefle
S)un!el^cit ^errfc^en miifetc, toenn man nic^t bic Dcttam^en bef&fje
(petroleum toirb an Sorb nidjt gebulbct). Die SKeffc fommt mit ben
©ettenmdnben beg ©^iffeg in Icine Scrii^rung, benn fic ift auf beiben
©eitcn t)on ben Sammern bcr Dfficiere eingef^Ioffcn. Diefe neiberregens
ben 3tdume finb Ijddjfteng brei ©d^rittc lang unb ebenfo brcit unb befefct
53ilber ans Deutfdjlanbs Kriegsmartne. \35
mit cincm SBette ($oje, fagt bcr ©eemann), ciner geraumigen Sommobe,
SBafdjgeftell unb eincm Klawftufyle, unb toenn baju nod) einige 5)inge
lommen, bic man ate unentbefyrlidje SBefifetljumer mit ftdj fiiljrt, fo fonnen
toir au3 unferer ©rfa^rung bic 83ergeblid)feit be3 5Rad)benfen$ bariibcr
fcerfidjero, too nun bcr Staum jum ©teljen obcr ju cincr Setoegung bcr
untcrcn ©stremitaten bleibt. 3n toeifer Defonomie finb aflc Xfjiiren fo
eingerirfjtet, bafe fic nic^t auffdjlagen, fonbcrn in bic ©eitentoanb ein;
gefdjoben toerben. S^r 2id)t erljalten biefc ©injeljetlen burdj jc cin
runbeS fiodj in bcr ©d>tff3toartb, flcin gcnug, urn ben Sopf nidjt (jinem-
fdjieben ju f5nnen; bci fd)led)tem SBctter toerben ®la3ct)linber in bicfc
Ddjfenaugcn, toie bcr tedjnifdje 8lu£brucf lautet, etngefdjraubt, fouft toiirbe
jebe anfdjlagenbe SBette cine uucrquicflidje SEBafferflutlj auf ben ©djliifer
ober auf ba£ toertaffene 83ett auSgte&en.
2)ic Steffe Ijat, toenn ba3 ©djtff in Eienft geftettt toirb, nid)te
<£iligere3 ju tljun, ate ein ©tatut ju befdjliefeen unb ben SSorftanb ju
toaljlen, toeldjer in getotffen gnteroaUen einer 9teutoai)I unterjogen toirb.
SDer STCeffeborftanb, ein alterer Dfficter, 3lrjt obcr gafjtmeifter, ift bcr
©efdjaftefiiljrer, toeldjer bic cinfommenben ©rfber toertoaltet unb ber*
rennet, bie ©iufftufe anorbnet, ba3 tagftdje 3Kcnii feftfefct unb gcrabe
biefer fefcten $flirf)t toegen bcr geptagtefte SKenfdj fcin faun, toenn cr
ftdE) fur ben befonberen gtoect uidjt mit @Ieid>mutt} gejjanjert Ijat. <S6
ift cine Xt>atfacf)e, bic totr ate befannt toorauSfe&en biirfen, baft £ammek
fleifd) mandjen 2Renfdjett einc toaljre Slugentocibe, anberen toieber @egcn-
ftanb be3 StbfdjeueS ift; baft bcr (Sine aRcfytfpeifen, bcr Slnbere fiifce
©ompote ate Stadjtifdj tiebt; jener fann ftartoffeln ju f einer ©peife
miffen, biefer gtaubt fid) jum $roletarter t>erabgetoiirbigt, toenn fic iljm
jugemuti)et toerben. Unb ba ber SDtcffeoorftanb nic^t alien ©efdjmacb;
ridjtungen folgen fann, Ijat cr e£ in ber Stegel mit metjreren tjcrborben;
toenn cr foarfam ift, befriebigt cr bic ©ourmaubs nid)t, ernaf)rt er fcine
SWeffe folenbib, fo feufjen bie magercn ©etbbeutel, toeldje an cinen mog;
ftdpn 3wfd)u| au« cigener laftfje benfen.
S)er gutc SJteffe&orftanb mu§ cine Unfumme ttortrefflic^cr ©igen-
fc^aftcn in fic^ tocreinigen, trie! 3*it auf fcin ©cf^aft toertoenben unb bie
^unft tjerfte^en, bei aufterfter ©parfamfcit unb unter ungiinftigen SScr-
^dltttiffcn, toic bei langercn SRcifeu in ©ce, ftcte eincn ftanbe3mafjigen
Xifd^ ^crjuri^ten; aber aud) bcr f^Icc^tefte foUte ben eincn ©runbfafe
unbeirrt ticrfolgen, ben SJaffee ftete fclbft ju faufen. 2Ber unter ber
ajernac^Iaffigung bicfe^ $rinci|)3 jc gelitten ^at, toirb mit un3 ju fii^len
Dcrmdgcn.
5)a3 ficben ber Dfficier^mcffe beginnt in ber SRcget ni^t t>ox adjt
U^r; aber Don a^t bte ^alb ncun U^r 3Korgen« ift ber Sifdj gebctft,
mit Sruf}ftii(f3gefd)irr bejefet unb im ^intcrgrunbe lauern bie ©tetoarb^.
(S^ ift Scbem itberlaffen, inncr^alb biefer 3«it fein erfteS grii^ftiict uad^
Bernljarb tPagener in Kiel.
SBelieben ju gente&en. 2Ber erfdjeint, nimmt feinen jugettriefcnen $tafc eht,
befteljtt %tyt ober Saffee, baju etltdje @icr obcr fatten Stuffd^nitt. 3>er be;
ginnenbe 3)ienft Idfct eg ju toeiterem ®enuf$ bcr SDtorgenftunbe nidjt
fommen, bic 3Beffe ift nad) bcr Saffeejeit Derdbct. $ie nddjfte SRa^Ijcit,
bag jmeite griUjftiti, toirb urn fyatb S^ittf burd) jtuci Irompetenftguatc
im ©djiffe bcfannt gemad)t. 9Han todfd)t fief) eilig, unterjieljt bic SBafdjc
cincr pctnlidjen 5)urdf)fidf)t unb toerfeljlt nid)t, bcim Slugftingen bed jroeu
ten ©ignalg in gefeflfd)aftgfdf)igem 2tnjugc feincn ©tuljl ju nc^mcn.
SEBenn bcr erfte Dfficier beg ©djiffeg ben SPrafibentenfifc cingenommen,
f>at jeber fpdter Sommenbe bic $ftid)t, ftdjj ju entfdjulbigen. — 3>ic
©tetoarbg prdfentiren Souitlon, cine Stoifdjenfpeifc, toarmen Sratcn unb
Safe, bic 9teitjenfoIge beg £erumreid)eng h;ed)felt tdglid); jum ©d)lu$
erfdjeinen Sifter: eg barf geraud)t toerben. 3)ie brittc aftaljljeit, bag
eigenttidje 2)iner, ttrirb urn cin f)alb fedjg Utjr burd) btefelben ©ignale
eingeteitet, ein ®ang 3Ieifdf)fpeife mirb eingefdjoben unb Sompot unb
Saffee angeljdngt. $iermit f)at bic ernd^renbe Iljdtigfeit bcr SKeffe tfjr
Xagemerf Dottenbet. 3ft bag SBetter fdj5n unb bcr 3)ienft mie gctt)5^n-
Itd) cor bcr Iifd)jeit beenbet, fo genieftt man auf bem 2)e<fe ber Sam^
pauje ben Stbenb, big bie fiifjterc 9tadf)ttuft ober bag Signal „?Pfeifcn
uub Suntcn aug, Sftulje im ©dfjiff!" bag Sftaudjen an 5)e<f nic^t meljr
geftattet. Stlgbann fammelt fid) bie ©efeflfdjaft in ber 2Reffe, um fid)
einem ibt)tttfd)eu ©tiHleben tjinpgeben. 8tn bcr cincn ©cfe ber Xafel
benlen brei ©catfpieler iibcr bic gineffen beg ©ranbg o^ne SSicren nad);
nebenan fifct ber ©tabgarjt, toeldjer fid) burd) angeftrcngtcg ©tubium
eineg bidleibigen SBudjcg iiber ©d)dbelbrud)e unb acuten ®etenfrljeumatig=
mug auf bag beoorfteljenbe Seamen gum Dberftabgarjt toorbereitet; bcr
Dfficier, toetdjer um 8 Uljr toon SBadje !am, Ijat fid) ben Eabcttcn fcincr
2Bad)e rufen laffen, ber in bem fdjeuen ®efiil)le bcr ©uborbination auf
ber uorberen Saute beg ©tuljfeg balancirt uub bem SQSa^tofficicr Slotijen
fur bag ^eiligtfjum beg ©djiffeg, bag 2oggbu4 (ciftet. Db bie SBoIten^
formation cumulo-stratus obcr cirro-cumulus getoefen ift, erregt cine
furjc S)ebatte, an tt)eld)cr autf) bie ©catfpiclcr bct^eiligen. @egen-
iiber foil jtoifijen jnjci Unterlieutenantg cine ©crie con @carte=spart{)ien
bariibcr entfdjeiben, tt>er jtoei bereitg gctrunfene gtafdjen SSicr bejat|lt;
neben i^ncn fifct ein 3itt)er=aSirtuofe unb rucft nadj mu^fctigem ©timmen
mit einigen ©cfytoeijerliebern in bag ge(b. S)em 2tffiftenjarjtc ift bic
Slufgabe jugef alien, ein uerundefteg Sranlcnrapportf^cma mit ^unbert
Eofonnen augjufutten, iwela^cg jum dufeerften lermiuc morgen abgcf<^icft
njerben mufe; cin letter Jifc^gaft enbtid) l)at einige 93dnbc dou SRc^cr^
©onoerfationg^Scjifon toor fic^ tiegen unb Id§t ein eingeftedteg SReffer
entfd)eiben, mel^cr ©egenftanb bie Stufmerffamfeit beg Serubegicrigcn
I)eute feffelu foil, ©ocben tritt ber Dfficier ber SGBadic cin, ber fid)
com ^gifctofficier ^at toerfangen laffen, um bie @intt)irfung bcr 9tadjt=
23tlber aus Deutfdjlanbs ttrtegsmartne.
\35
fiifjte burd) einen eiftgen Eognac ju paraftyfiren unb roieber ju oer=
fd)toinben. £rofe bcr mannidjfadjen SBefdjdftigungen lauft einc muntcre
Unterfjaltung urn ben £ifdj tierum, ttetdje aber in bemfelben Stngenblide
unterbrodjen toirb, too bic %$ux ber 9Ref[e fidj off net, urn ben ©tab3;
toadjtmcifter ein$ulaffen. 2)er 3Rann fdjlieftt bie Sljiir Winter fidj, nimmt
cine militarise #altung an unb fagt-bie feltfamen SEBorte „93ier @la3!"
SlQgemeiner Stufbrudj folgt, bie Sefcfydftigungen toerben furj gefdjtoffen,
91He£ toerfdjitrinbet in ben Sammem, bie ©tetoarbS lofdjen bie Sampen
unb erft jefct entfernt fid) ber ©tabStoadjtmeifter berutjigt. ©rfldren tirir
bem mit bent Seben an 83orb nid)t toertrauten Sefer ben Sauber jener
28orte. 9ltle SBadjen bauern an 93orb t)ier ©tunben unb beginnen urn
12, 4 unb 8 Ufjr. 2)ie ©d)ipgtode toerfiinbet ben 95eginn ber neuen
2Ba<f)e baburdj, baft fie bie afte mit adjt ©djldgen fdjtieftt. SBon nun an
toirb jebe tyafbe ©tunbe abgetdutet, bie erfte mit einem ©lodenfdjlage,
jebe fotgenbe mit einem ©djfage mef)r. 9tuf bie Slbenbtoadje, tuclc^c urn
8 Ufjr begamt, angemenbet, bebentet „9Sier @ta£" fot>tet toit nS?f)n Uf)r";
in ©ee toirb urn biefe 3eit, int £afen bagegen urn 11 Uljr (fedjS ©Ia§)
bie SKeffe gefdjfoffen.
• 2Benn toir oben fagten, baft bie G£rndf)rung ber £ljeilnef)mer an§
bemjenigen gonbS beftritten ttrirb, toetdjer fidj au£ ben etatSmdjiigen
Xafelgetbern anfammcft, fo mitffen ttrir ergdnjenb bemerfen, baft ©etrdnfe
t)tertoon au£gefd)Ioffen finb. %ixx bie SJertoaftung be3 SBetneS ttrirb em
befonberer SSeintoorftanb getoaljlt; biefer fauft Sorratl), normirt bie
©djiffSpreife, fiiljrt 23ndj iiber ben SBerbraudj unb siefjt atlmonatlidj toon
jebem 2ReffetljeiInef)mer ben $rei£ Seffen ein, foaS getrunfen toorbeu
ift. ©inb aber ©afte an SBorb, toeldje enttoeber toon ber Sffleffe ein=
gelaben, ober an ben erfaubten ©afttagen Don ©injelnen gcbeten finb, fo
bejaljlt bie 3Keffe bie Soften ber ©etrdnfe. 93ter unb ©pirituofen ju
fitfjren ttrirb in ber Sftegcl bem ©tettmrb iibertaffen ate ©efdjdft auf
cigene SRecfyttung nnb bann mit ©adjfenntnifj auSgebeutet. 2)a£ lafel-
getb ttrirb fur jeben 2Reffetf)eiInef)mer einjeln liquibtrt, aber toom SDieffe-
Dorftanb attein in ©mpfang genommen, unb betrdgt je nad) bem 2lufenfc
^alte be^ ©^iffe^ toon 2 bi3 5 SWar! tdgli^. giir Sod^e unb leaner
toirb ba£ ^Jaufd)quantum mit 7 3Rarf 75 pfennig bi^ ju 3 SKarf
90 pfennig tdgfid) gegeben, toobei neben bem Slufent^att^orte auc^ bie
®rdf$e be§ ©^iffeg ben Unterfdjieb bebingt. ®ie Slbre^nung h)irb bei
jcbem SSedjfet be^ SWeffetoorftanbeg toorgenommen, bie ©^lufebilanj bet
ber 2ht&erbienftfteIIung entfe^eibet iiber bie intialt^f^toere 3rage, ob @r=
fparniffe toert^eilt ober ©djutben toon ben aJlitgliebern eingegogen toerben
foflen. 6^ tiegt in ber SRatur ber ©ac^e, baft bie 9Keffemirtf)fd)aft urn
fo toortt)eilt)after tuirb, je Idnger bie 3nbienftt)altung bauert, ba fid| bie
fefjr bebeutenben Soften ber erften @inrid)tung md^renb be§ grofteren
3eitraume§ beffer einbringen laffen, afg auf ff einen ©ommerreifen.
ftorb unb gftb. VII, ia. 9**
\36 23emfyarb VOaqenet in Kiel*
2Bir Ijabcn ber Dfficiergmeffe cine befonbere Slufmerffamfeit gr-
roibmet, urn ung bemndcfyft urn fo fiirjer faffen ju fonnen. SBir mufjcit
ung jundcfjft ju bcr ©abettenmeffc tuenben; in ber SRcgct ein SRaum,
meldjer auf (Sfeganj bcr 6inrid)tung feinen Slnfprucf) macfjen barfr fonbern
nur borauf beredjnet ift, ben ©eecabetten, Eabetten unb Dfficierg=2Ifyi*
ranten cincn gefonberten (Spcifc- unb ©efettfcfyaftgraum 511 bictcn; bag e$
Ijier itid^t fclten ettoag gerdufd) to otter guge^t alg in ben anbcrcn SReffen,
erregt meljr alg bittig bic Ungebnlb ber Stntooljner, toirb aber burd) bie
Sugenbtidjfeit ber 2Reffetf)eitnet)mer i)offcntli<f) entfdjutbigt. 3um Sdjlufie
fiifjren aud) bie 2)edofficiere an 93orb ifyre eigene 9Reffe, meifteng eine
nur Heine £ifd)genoffenfd)aft reiferer 2Jldnner, an meldjer auger ben
eigenttid)en Secfofficieren aud) bie 3al)lmeifter;2lfpiranten unb bie ©tabg;
toadjtmeifter Jf)eil nefjmen. Eabetten^ unb Xedofficiergmeffe miiffen fid>
mit ben lafelgetbern Don 1 big 2l/2 3Rarf etitmg ofonomifd) einridjteit
unb finb mit ben ^aufdjqnanten Don 3 SKarf 40 pfennig big 4 SRarf
90 pfennig auf gemeinfame SSenufcung t)on ®od) unb better angetoiefen.
2lud) biefe 5Raumlid)feiten liegen ber SRcgel nadj im 8toifc*)enbed, finb
aber bei mangelnbem Slautne genotljigt, fid) (dngg ber Sdjipmanb fyv
jujiefjen in berfrfben Xiefe, toeld)e ben Sammern geftattet ift, lang ge*
nug, urn bag &orf)anbene ^erfonal jur SRotf) ju bef)erbergen.
5E)ic ljod)fte SSiirbigung erfat)rt bie ©inridjtung ber SDleffe naiurtid) bei
3)enjenigen, toetdje, ttrie bie (Sabetten, einjetne 3)edofficiere unb felbft bamt
unb toann bie jiingften Seeoffictere, leine Sammer jur SSerfugung fjaben,
ba Sammern unb SDteffen an SBorb bie cinjigen Drte finb, too man fnf)
bent Sluge ber grogen SRaffe jeittoeife entjietyen fann; aber itjr abfoluter
SBertf) ift ein ungleid) ljofjerer. 2)ag menfd)tid)e Sebiirfnig nad) ©efeHig-
!eit fud)t unter atlcn Umftanben 93cf riebigung ; bie ©inridjtung ber Sfteffen
madjt eg unmbgtid), biefe SBefriebigung anberg atg im ®reife ©Ieicf)er ju
fudjen, fie forbert ein Saftentoefen, toefdjeg im gntereffe t>er 2)igciplin
an S3orb eine abfotute Slotfjtoenbigfeit ift. Slugerbem aber ermogtufjt
bie SReffefiifjrung attein, bag ber ©injelne fid) normal erna^ren fann
unb bag bie nidjt f>od^ bemeffenen (Sntfdjdbigunggfafce bem S3eburfnif[e
geniigen, inbem bag ^Jrincip ber SSereinigung jum 3^ccfe gemeinfamer
Sefdjaffung unb fflettjirt^fc^affung aufgenot^igt ft)irb.
Vexlaq von (Scorg Stilfe in Berlin, NW., 32. CouifcnfJra§e.
Hebigirt untcr Derantn?ortlid??cit bes Derlegers.
Drucf Don 3. (5. (Eeubtter in €cij>3ig.
Unbcrcdjtigtcr ZTadibrucf aus bcm 3nt}alt biefer gcilfd?rift unterfagt. lUberfe^ungsredyt voibclptittu
l>ru<f von B. <$• leubner in Cripsig.
Zlovembev 1878,
3nl}ait
£ 2ttay iriuller in ©jfort). Se4te
Ueber fettfdjtsmus ^57
(Emanuel (Beibel in Ciibecf.
Stcben ®ben bes Ijorc^ \66
Karl 3raun=tDiesbai)en in Berlin*
<£tne nnfinbbare frete Hetdjsftabt. Kulturgefdjtdjtltdje 5fi33c . \73
Karl <£rl>m* (EMer in tDien.
<£ine (Slodnerfatjrt. Ztooelle 200
Cu&roig ^reiljerr Don ©mpteba in tDiesba&en.
TS'iibtt cms engltfdjen £anbfttjen uttb (Sarten. II. III. . . . 22\
£u5mig pietfcfy in Berlin.
3roan (Eurg6njen>. Pcrfdnltdje (Ertnnerungen 2^2
tyer3u bas portrfit 3roan(EurgcnjetD's, Habirungoon 73. IRannfelb interim.
„ Horb uno Su&" erfdjeint am ilnfang jebes ITlonats in £?eften oon 8 — \0 Bogen Ce5.»8.
— preis pro Quartal 5 mart. —
2IUe 3u*t)cmDlungcn unb poflanftalten nebmen &eflcUungen an.
Ziotb unb Sub.
(Sine £ e u t f dj e ZUonatsfdjrift
Ijerausgegeben
von
f aul IHnbau-
VIL Sanb. — Hopembcr J878. — 20. %ft
(ITlit einem portrdt in Habtrung: 3n?an £urg6njen>,)
Berlin.
Derlag von (Seorg Stilfe*
NW. 32. Cuifenftrafce.
1
Uebev $ettf trismus.
Von
j*. Mat MMtt.-
- 0jforb. —
^dngt alio Heligion mit ^etifcfyismus an?
3SSwHj"cun man sa^Ircid^cn Silver, melcfjc mafjrcnb beg lefeteu
I B ®BH "sa^un^er^ "&er ^z ®*M)wf)te bcr SReligionen gefd)rieben
II yGy1 luorbcn finb, &u 9tatf)e }iet)t, fo finbct man trofc manner 21b;
gfcwfiHrifSl! mcid)ungen eine merlttmrbige Uebereinftimmung toenigftenS in
cincm $£unfte, narnlid), bafc bic uiebrigfte gorm oon bem, ma3 iiberljaupt
{Religion gcnannt ju tuerben ocrbient, 3etifd)i3mu§ fei. S3 fei uumogltd),
meint man, fid) ettoaS 9tiebrigere3 toorjuftetlen, tt>a3 bod) nod) ben 3tamen
^Religion toerbiene, unb toir lonntcn baljer gan& fidjer fein, bafc getifc^i^^
mu3, unb nur getifd)i3mu3, ben Stnfang alter SReligion gcbilbet Ijabe.
©o oft nur ein fo iiberrafdjenbeS Unifono entgcgentritt, toorin biefelben
©ebanfen faft in benfetben SBorten auSgebriidt toerben, ba mufe id) be-
fennen, fiifjle id) immer einen gettriffen SSerbadjt, nnb Ijalte e3 toenigften3
fur mcine $ftid)t, auf bie erften Dueflen juriidjuge^en, urn &u fet)en, unter
tt>eld)en Umftanben unb ju loetdjem $totd cine Ifjeorie in'3 Seben trat,
bie fid) fo teidjten unb fo atlgemeinen 93eifatt ertoerben fonnte.
De ,23roffes, 6er €rftn6er bcs ^ctifcfyismus.
9iun ba§ SBort SetifdjiSmuS finbct fid) nirgenbS toor bem 3a^re 1760.
3n biefem 3al)re erfdjien ein anontjmeS 93ud) mit bem Xitel; Du Culte
des Dieux Fetiches, ou Parallele de l'ancienne Religion de TEgypte
avec la Religion actuelle de Nigritie. ift jefct lein ©el)eimnif$, baft ber
SBerfaffer biefeS 93ud)e§ S)e SroffeS toar, ber bcfannte $rafibent $e 93roffe£,
ber Sorrefponbent Sottaire£, ja einer ber fjcroorragenbften SKanner au3
ber ganjen SSoltaire'fdjen ^eriobe (geb. 1708, geft. 1777). @3 toar auf
10*
\3S
f. Illaf Hliiller in Ojforb.
ben 9tatf) feineg greunbeg, beg grofcen Suffon, bafe fid) 3)e Sroffeg bem
©tubium toilber SBofferfdjaften toibmete, toag Mix jefct Stntljropologie, uub
jmar Jjiftorifd)e fotoic prdljiftorifdje, ncnnen toiirben. ©cine Strbcit be-
ftanb t)auptfdd)lid) barm, bafe er bie beften 33efd)reibungen, bie er in ben
SBerfcn alter unb neuerer SReifenben, ©eefatjrer, Saufleute, 2Riffiondte
finben fomtte, fammelte unb bie SRefuttate feiner gorfd)ungen in einem
SBerie in jtoci ftarfen Duartbdnben Ijerauggab, unter bem Xitel: Histoire
des navigations aux terres Australes, 1756. Dbgteidj bieg SOSerf jefct
toeraltet fein ntag, fo entfjdlt eg bod) jmei Stamen, bie, fotoiel idj tt)ei§,
tyier jum erften 2RaI erfdjeinen, bie, ttrie eg fdjeint, toon SDe SBroffeg felbft
geprdgt toaren unb bie toafyrfdjeintid) fortteben toerben, uadjbem aQe feine
iibrigen Seiftungen, felbft feine Jfjeorie beg grtifdjigmug, toergeffen finb,
— ndmlid) Sluftralien unb SPoItjnefien.
©in anbereg SBerf begfelben SSerfafferg, meldjeg ofterg citirt ate gelefen
ttrirb, ift fein Traite de la Formation mGcanique des Langues, 1765. Dfc
gleid) aud) bie in biefem 83ud)e niebergelegten 2lnfic^tcn jefct meift toeraltet ftnb,
fo toerbicnt bagfetbe bod), felbft in biefen gefttagen ber ©pradjtoiffenfdjaft,
forgfam gelefen ju toerben; ja man !ann tool fagen, bafc eg in 83ejug
auf 93et)anblung ber $f)onetif toielen anberen nod) ganj toor Surjem er=
fdjienenen SBerfen entfd)ieben tooraug ift.
3foif<f)en feinem SBudje iiber bie Defttidjen SReifen unb feiner 3lb!)anbs
lung iiber bie medjanifdje Silbung ber ©pradjen liegt nun fein SBerf
iiber bie SBeretjrung ber 3etifd>e, iuag man toielleidjt nictjt mit Unrest
ate eine Slbtjanblung iiber bie medjanifdje Silbung ber SReligion be=
geidjneu fonnte. S)e SBroffeg war unbefriebigt toon ben lanblaufigen 2tn=
fidjten iiber ben Urfprung ber SRtjtfjoIogie unb ber SRetigion, unb er fajjte
ben ganj ridjtigen ©ebanfen, bafe ein ©tubium ber ©ittcn uub ©ebraudje
ber auf ber niebrigften ©tufe ber Silbung fte^enben SBilbeit, namentti^
ber bamate am beften gefannten SReger an ber SBeftfiifte toon Stfrifa, ttrie
fie toon portugiefifdjen ©eefafjrern befd)rieben toorben toareu, bie niifcs
lidjften §iilfgmittel ju einer natiirlidjen unb rid)tigen ©rflarung biefeS
alten ^roblemg tiefern miirben.
„2)ie toertoirrte SKaffe alter SRtjtfjologie/' fagt er, „ift ung ein un=
erftarbareg Sljaog, ober ein finnlofeg 9tdtf)fel geblieben, fo lange ate man
fid) begniigte ju iljrer Sofung ben Sigurigmu^ ber lefcten ?piatonif^en
?P^iIofo^en ju gebraud)en, metdje untuiffenben unb loilbeK ©tdmmen eine
®euntnif$ ber toerborgenften Srdfte ber Statur beilegten unb in einem
SBuft ld(^erlid)er ©ebrduc^e gemeiner unb untoiffenber SKenfc^en geift=
reidje metapl)t)fifd}e Slbftractionen ju erfennen glaubten. 9tod) ift eg
benen beffcr crgaugen, bie meift tocrmittelft gemaltfamer unb unbegriin=
beter SSerglei^e in ber atten SDttjtljotogie bie bte in'S ©injelnc ge^enbe,
obgteic^ etn?ag entftettte ©efc^i^te beg jiibifd^en SSotfeg nrieber erfannten,
eineg SSotfeg, bag faft alien anbern 9S5Ifern unkfannt geblieben toar, unb
Heber $ ettfdjtsmus.
\39
barauf beftanb, feine Se^rcn nie frcmbcn SSoIfcrn mitjutfjeilen . . . 5tttegoric
ift ein Snftniment, nut bcm man 2ltte3 mad)en fanrt. ©ibt man tin-
mat ba3 ^rincip be3 bitbli<f)en StuSbrudS ju, fo fiefjt man, hrie in ben
SBolfen, Silled in 3ttlem. S§ gibt feine ©d)toierigfeiten mc^r. 2Ran
brau(f)t nur ©cift unb ^Ijantafie. 2>a£ gctb ift toeit unb frudfjtbar,
tt>a£ fur ©rflarungen aud) toerlangt toerben."
„@inige ©eteljrte," fo fdtjrt er fort, „bie* cin beffere3 Urt^cit unb eine
befferc Senntnifc bcr @efd)id)te ber altcn SSoIfer, bcrcn Kolonien juerft ben
Orient entbedten, befafeen, unb bie au&erbem orientatifdje ©pradje ftubirt
fatten, ijaben enbtid), nadjbem fie bie 2Rt)tt)ologie toon bem ©taub unb ©djutt,
ttjomit bie ©riedjen fie bebedt, toieber gereinigt, ben ricfjtigen ©djliiffel
baju gefunben, unb attar in ber tt)irffi(f)en @efd)id)te ber aften SSotfer
unb ifjrer Sbeen, in ber fallen Uebertragung einer 2lnjal)t einfad)er
SluSbriide, beren toatjre SSebeutung felbft toon benen tocrgeffen toar, bie
fortfuljren fie ju gebraudjen, unb in ben ipomontjmien, burd) toeldje ein
©egenftanb, ber mit toerfdfjiebenen SRamen bejeid)net tourbe, in toerfd)ies
bene SBefen unb ^erfonen toertoanbelt hmrbe."
„2)iefe ©dEjtiiffel aber, obgleidj fie un£ oft bie 93ebeutung f)iftorifd)er
©agen geben, finb nidjt immer geniigenb, um bie ©igentljumftdtfrit bog?
matifdjer 2tnfid)ten, ober bie ritualiftifdjen ©ebraudje alter SStilfer toieber
toerftanbtidE) ju mad&en. 2)iefe beiben Seftanbtljetfe ber t)eibnifd)en Ifjeos
logie beru^en enttoeber auf ber SSeretjrung ber $immel8Wrper, getoofjnlid)
©abaiSmuS genaunt, ober auf ber matjrfdjeinlidj nod) afteren ffierefyrung
gcttriffer irbifdjer unb materietler ©egenftanbe, toon ben afrifanif^en
SRegem fetiche genannt (melmetjr toon benen, meldje bie SKeger befucfjt
unb befdjrieben fatten), toetdje S3erefjrung id) batjer getifdE)i3mu3 nen=
iten merbe. ©3 ttrirb mir erlaubt fein, biefen SluSbrud feftftefjenb ju
gebraudjen; unb obgteid) er junadjft nur auf bie Sieger toon SIfrifa an*
toenbbar ift, fo bemerfe id) bodE) fogleid), bafc id) ifjn aud£) auf anbere
SSdlfcr iibertragen toerbe, tt>eld)e SEtjiere ober leblofe aber toergotterte ©egen*
ftanbe toereljren, felbft tuenn biefe ©egenftanbe meniger ©fitter, im eigent=
lidjen ©inne be$ SBorteS, al§ SJinge finb, benen man einen getoiffen
gotttid)en ©tjarafter beigelegt t)at, tnie Drafel, Stmulette ober lali^mane.
3)enn e3 fte^t feft, ba§ aDe biefe Sluffaffungen ein unb benfelben Urtyrung
^aben unb einer aflgemeinen SReligionSform angetjoren, toetdEje fritter iiber
bie ganje ©rbe toerbreitet toar, unb bie fur fid) felbft betrad)tet toerben
mu% ba fie eine beftimmte Elaffe unter ben toerfdjiebenen JReligionen ber
^eibnifd)en SSBett bilbet."
S)e S3roffe§ t^eilt fein 28erf in brei X^eile. 3m erften fammctt
er atte SRad^ridjten iiber 3etifd)i3mu3, bie bamal^ erreic^bar foaren, ft)ie
er fie t^cit^ unter ben ttrilben ©tdmrnen Slfrifa^, tfjeilS unter anberen
SSSIIem ber ©rbe finbet. 3m jtoeiten toergleic^t er biefen getifd)i$mu£
mit ben religi5fen ©ebraud^en ber bebeutenbften SSdlfer ber alten SBett.
WO
£. Hlaj: Utuller in (Dsforfc.
3m britten fudjt er ju jeigen, bafi, ba biefe ©ebrdudje toiele 2le!)tttid)feit
in iljrer dufteren ©rfd)einung unter cinanbcr fjaben, ttrir ju bcm ©djluffe
fieredjttgt finb, bag il)r urfpriingftdjer ©Ijarafter bet ben §eutigen Stegem
berfelbe fei, ate toaS er bet ben Stegtjptem, ben ©riedjen unb Stomern
getoefen.
2lttc 93fllfer, befjauptet er, mitfeten mit getifdjtemuS anfangen, urn
bann junt $oft)tt)ei£ntu3 unb SRonotljetemuS. uberjugefjen.
Slur ein 9Sot! madjt bei iljm etne 9tu3nal)me, ndmlid) bie Suben,
ba§ auSertodljlte SSolf ©otteS. ©ie ttmren, nad) S)e 33roffe3, niemate
getifdjbiener getoefen, todljrenb atte anberen SJolfer juerfl eine urtoettlidje
gottlicfye Dffenbarung empfingen, bann fie toergafjen, unb bann toieber mit
bent 2lnfang anfangen mufeten, alfo mit getifd)temn3.
©3 ift auffattenb, ben ©influfe ber jur bamaligen Scit toortoaltenben
Sbeen felbft bei einem fo aufgeflarten ©eift, ttrie Se 33roffe§ tuar, ju
finben. Qattt er mit benfelben fdjarfen 2lugen nad) ©puren be3 getifdjte;
mu3 im atten Seftament ju fudjen getoagt, mit benen er getifdje fonft
liberal!, in Steg^pten, in ©riedjenlanb, in Stom entbedte, fo ttmrben il)m
bie £erapf)im, bie Urim unb Ifjummim, mit bem ©pijob, genug SKaterial
gegeben Ijaben, toon bem gotbnen ®atb unb ber efjernen ©flange gar
ni$t ju reben. (©en. XXVIII, 18; Serem. II, 27.)
SBenn nun aber and) in biefen unb einigen anberen ^unften toiele
toon benen, toeldje bie Seljre toon S)e SroffeS angcnommen unb toertfjeibigt
Ijaben, toon itjm abtoeidjen toiirben, fo f)at fid) bod) feine 3lnfid)t bom
getifd)temu§, ate ber urfprihtglidjften gorm atler SReligion, bte auf ben §eu;
tigen Sag im ©anjen untoerdnbert erljalten. SKan fann audj nidjt leugnen,
bag fie fefjr natiirltd), fefjr annetjmbar flingt. ©ie fanb bafjer fetjr balb
©ingang in £anbbud)ern ber 9teligion3gefd)id)te, ja felbft in ©djutbiidjern,
unb id) glaube, ben meiften toon un3 ift biefelbe berettS auf ber ©djule
beigebradjt tuorben.
3d) felbft bin mit oiefer 2lnfid)t aufgetoadjfen unb bejtneifelte ftc
nte, bte id) meljr unb metjr barauf aufmerffam ftmrbe, toie ttrir gerabc
in ben dlteften unS feit Surjem juganglid) gemad)ten S)enhndlern ber
Sfteligionen be8 2tltertl)umg toergcbenS nad) Ijanbgreiflidjen ©puren toon
getifd)temu§ fudjen, tod^renb fie in ben fpdteren ^erioben immer tydufiger
unb fjauftger foerben. SBd^renb im fRig=9Scba faum eine ©pur toon geti-
fd^temuS ift, finb bie neueren $fjafen be§ inbifdjen ©ottegbienfte^, fc^on
toom Stt^artoa^eba an, toott batoon. 2R. ©oblet b'Slttoietla jagt in feiner
SSorlefung „De la sup6riorit6 du Brabmanisme sur le Catholicismeu :
„LT6tranger qui arrive dans Tlnde, et moi-mGme je n'ai pas fait exception
a cette regie, ne decouvre d'abord que des pratiques religieuses aussi
degi-adantes que degrad^es, vrai polytheisme, presque du fetichisme.4
Ueber f ettfdjtsmus.
Urfprung 6cs IDortes ^ctifdj.
SBarum nannten aucf) bie SjSortugiefen, bie Swiften toaren, aber
Gljriften in jenem metcmtor#)ifd)ett £uftanbe, toie er ben romifdjen ftafyolU
cigmug beg oorigen Safjrtjunbertg beim nicbercn SSoIfc bejeidjnete, toarum
nanntcn bicfc bag, mag fie bei ben SRegern ber ©otbfiifte faljen, feitisos?
S5er ©runb ift Mar. Feitiijos toaren if)nen toofjl befannt, alg Stmutettc
ober laliSman, unb fie trugen toaf>rfcf)einIid) atte enttoeber ®etten,
fireuje ober 93ilber, bie, etje fie jur ©ee gingen, Don it>ren SPrieftern ge=
toeiljt unb gefegnet toorben toaren. ©ie toaren in einem getoiffen ©inne
felbft getifdjbiener. 8llg fie faljen, toie ein ©ingeborener irgenb einen
©d£)mudf umarmte, einen bnnten Stein nicf}t Ijergeben tooflte, ober gar Dor
einem Snodjen, ben er forgfam in feiner &iitte aufbetoaljrte, fidE} nieber;
toarf unb if>n anjubeten fdfjien, toag toar tool ba natiirlidjer alg ju glauben,
baft bie 9teger biefe Singe nid)t nur aug einer Strt Don gebanfenlofem
9tberglauben tljaten, fonbern bafc eg fjeilige SReliquien toaren, ©ttoag
toie iljre eigenen feiti$osl $)a fie toeiter feine ©jmren Don Religion
ober ©otteSbienft bei ben 9iegem entbedften, fo fdjfoffen fie nicfjt ganj
unnatiirlid), bafi biefe auf$erlid£)en 3cic^en Don SJere^rung fiir ifjre fei^os
bie ganje Sleligion beg 9iegerg augmadf)ten.
SKan neljme ben Sail, baft bie SJieger, nadEjbem fie bag Ireiben ber
toeifcen 9lnfommIinge Don SBeitem betradjtet, fid) gefragt fatten, toag tool
bie SReligion biefer SDtenfdjen fein fdnne; — toag toiirbcn fie gefagt fjaben?
©ie fatjen, toie bie portugiefifdjen SKatrofen ifjre 9tofenfran§e trugen,
ttrie fie Dor §af$Iid)en SSilbern SBeifjraud) brannten, toie fie fid} Dor
taren Demeigten, bunte gatjnen fcfjloenlten unb fidE) Dor einem fjitfjewen
Sreuje niebertoarfen. ©ie beobad^teten fie nie, toatyrenb fie im ©tiffen
tyxt ©ebete fagten, noclj faljen fie irgenb toeldfje grofce Dpfer, bie man
ben ©ottern bra<f>te. Sludf) ifjr moralifdjer Sebengtoanbel tjinterftefi tool
faum ben ©inbrud, baft fie aug gurdjt oor 1Wl£*©5ttern fidfj Don SSer;
bred^en fern t)ielten. SG3a§ toare atfo toot naturlidjer getoefen, afe ba§ fie
gefagt fatten, bie SReligion ber SBeifien beftanbc nur au§ einer SSereljrung
Don Gru-grus, — bie§ toar i^r 5Rame fiir bag, toaS bie ?Portugiefen
feiti^o nanntcn — bafe fie leine ffenntni§ Don einem fjodjften ©eifte ober
einem Sonig im ^)immet fatten ober ifjm irgenb toelrfje Sere^rung be-
jeugten!
SBag nun bag SBort fiir getifc^ betrifft, fo ift eg befannt, bafc bag
portugiefifefje feiti9o bem lateinifrfjen factitius enttyri(f}t. Pactitius be-
beutete juncic^ft, toag mit ber §anb gemac^t, bann, toag fiinfttid^, un?
naturlirf), magifcf), bejaubernb ober bejaubert ift. (Sin fatfefjer ©c^liiffel
j. 95. Ijeifjt im 5Portugiefifc^en chave feitf^a, unb feiti^o toar balb bic
getoof)nli<$c SBejeid^ttung fiir Stmulette unb aljnlidje ^alb ^eilige, ^atb
profane ©cf)mu<ffacfjen. 3)er $anbel in biefem Strtifet toar im SWittel-
IRaj ITluller in (Djforb.
alter bun§ ganj Guropa cbenfo toerbreitet, tt>ie er nod) jefct in 2tfrifa ift.
gin gabrifant ober SSerfdufer folder Singe l)ief$ ein feiti<?ero, ein SBort,
toad jebodf) balb audf) in ber Sebeutung toon 3auberer gebraudjt tuurbc.
ffiie toeit tjcrbrcitet ber ©ebraud) biefcr SBorte im SJJortugiefifdjen toav,
&eigt fid£) ant beften in bent Studbrud meu feiticinho, t»eld)ed fo met
ate mein Siebling bebeutet.
©men ftljnlidjen Uebergang in ber ffiebeutung ate in feitico, factitius,
feljen hrir int italienifdjen fattura, 3auberformeI, toeldjed in biefer 93e-
beutung fctyon im mittelaltertidjen Satein toon 1311 toorfommt;*) ebenfo
in charme, bad urfpriinglid) einfad) cai*meu toar, unb im gried)ifd}en
2lus6eljnung 6er Befceutung von ^ctifd).
®enau genommen fonnten alfo bie portugicfifd)en SRatrofen — benn
ifjnen toerbanfen hrir fdjliefclicf) bie ©infiiljrung bed SBorted — feitico
nur in Sejug auf leblofc unb greifbare ©egenftanbe antoenben, unb ed
toar fdjon eine grofce greitjeit, bie fid) 5Dc 83roffc§ nafjm, menu er biefed
SBort aud) auf Serge, gtiiffe unb 95aume audbefjnte. 2Jtan fann ju
feiner ©ntfdjulbigung anfiif)ren, bafe er bie maljre ©ttymologie bed SSorteS
nid)t fannte unb feitico toon fatum abgeteitet gtaubte, motion audj Fata,
eigentlid) ein nom. plur. neutr., ber aber, toic tnele folder ^lurale, fur
einen nom. sing. fern, genommen hmrbe unb fyater ate fee, gee, erfdjeint
3)ied liefj *ed if)tn toeniger gejmungen erfdEjeinen, ben Stamen getifdj aud)
auf natiirli^e ©egenftanbe, nrie Saume, 93erge unb gtiiffe audjubefjnen.
SHctjtdbeftotoeniger btieb ed ein ungtiidlidjer ©djritt, benn er toermifdjte
auf biefe 28eife brei ganjlid) oerfdjiebene <J}f)afen ber Religion:
1) $I)t)fioIatrie, ober bie Seretjrung toon SKaturgegenftdnben,
toeldEje ©efiifyfe ber ©tjrfurdjt unb Sanfbarfeit im SJtenfdjen erregen,
ttrie 93erge, gliiffe, 33dume jc;
2) 3ooIatrie, ober SJerefjrung toon £I)ieren, hue ttrir fie nament-
ltd) bei ben f)od)gebilbeten ©intootjnern bed alten 9legt#tend finben;
3) getifdf)idmud im toafyren ©inne bed SBorted, b. f). bie abers
gldubifdt)e SBerefjrung jufdfliger unb anfdjeinenb unbebeuteuber ©egen^
ftanbe, bie an fid) felbft burdjaud feinen Slnfprud) auf irgenb toeldje 2tud=
jeic^nung ju fyaben fd)einen.
2tber bied ift nod) nicf)t Sltted. 2>e 93roffed unterfc^ieb au^ nid^t
einmal jtoifdEjen getifd^idmud unb 3botatrie, fo toeit autf) bie beiben ooit
einanber entfernt fmb. ©in getif^ namlidE), in ber urfpriinglid^en 93e=
beutung bed SSorted, gilt an fid) felbft fur iibernatiirlid); bad Sbof, int
*) Synodus Pergam., anno 1311, apud Mnratorinm, torn. 9 col. 561; incan-
tationes, sacrilegia, auguria, vel maleficia, quae facturae sive praestigia
vulgariter appellantur.
Ueber J ettfdjtsmus.
©egentljetf, war toon Sfnfaitg an em 93ilb, ein Beidjen, cin ©tjmbol toon
ettoaS Stnbcrcm. Dfjne 3^cifel fonnte cin Sbol ju cittern getifcf) Ijerab*
finfen, aber urfpriingtid) ftiefct ber getifdjbienft au£ einer gan§ attberen
Cuette ate bie, au3 toeldjer Sbolatrie cntf^ringt.
§oren loir, toa§ S)e SroffeS fid) unter eitteitt 5etifd) toorftellt. „ge5
tifdje," fagt er, „finb SltteS, toa£ fief) 2Jtenfdjen jur Stercfjrung todf)Ien
mfigen, cin S3aum, ein 93erg, bic ©ec, cin ©tiicf ^olj, bcr ©djtoanj
eineS Soften, ein Siefelftein, einc SDlufc^cl, ©alj, cin 3ifd), cine $ftan$e,
cine 93Iume, gettriffe £f)iere, ttrie Sfiitje, Qit^tn, Stepfjanten, ©d)aafe :c.
S5ie3 finb bic ©otter be3 9teger§, fcinc $eiligtf)umer, SaliSmane. S)ie
9teger Derct)rcn fie, ridjten ©ebete an fie, bringen i^nen Dpfer, tragen
fie bei ^rojeffionen t)erum, befragen fie bci grofcen @elegent)eiten. ©ie
fdjtooren bei ifjnen, unb cin folcfjer ©djtour hrirb nie gebrodjen."
„@inige getifdje get>6ren eincm ganjen ©tamme, anbere einjetnen
9Henfd)en ju. 9lationaI*getifcf)e ^aben ein 8ffentlid)e3 §eiligtf)um; ^rtoats
getifdje toerben an itjrem cigencn $Iafc in ben #dufem nnb ^tittcn
aufbemafjrt."
„3Benn 5. 93. bie SReger Stegen tyaben tooffen, fo fefcen fie ein leered
©cfc^irr toor ben getifd). Sittyn fte jur ©d)tad)t, fo Icgen fie SBaffen
toor tf)tn nicber. £aben fie fein gleifcf) ober gifcf), fo mcrben Snodjen
nnb ©rdten jutn getifcf) gebradjt, nmfjrenb, toenn fic SPalmeutoein ju
fiaben nmnfdjen, fie bie ©djeere bei bem getifd) laffen, mit ber bie ©in=
fdjnitte am ^Jatmbanmc gemadjt merben.*) 2Berben itjre SBiinfd)e erfiittt,
fo ift e3 gut. SSerbcn fie nidjt erfutlt, fo glauben fie, bafc ber getifd)
erjiimt mit ifjnen ift, unb fie toerfudjen bann iljn gttabig ju ftimmcn."
3)ie3 ift in Shirjem, hm§ 2)e 93roffc3 unter getifdjtemuS toerfteljt,
toa$, ttrie cr glaubte, bie Religion alter SReger roar, unb toaS, ttrie cr ju
betoeifen fud)te, bie {Religion alter grofcen SRationen be3 9tttert^um§ ge*
toefen fein muf$, efje fie bie f)5fjeren ©tufen be3 ^5olt)tf)etemu£ unb 2Rono*
ttjetemu* erreidien fomtten.
Hu^en 6cs StuMums tr>i!6er Dolfer.
3)er ©ebanfe, baft toir, urn ju lernen toaS bie fogenannten citjitifirten
SSoIfer getoefen fein mogen, c^c fie iljre ^d^erc ©tufe bcr 33itbung er=
rcidjtcn, milbe SSotfer beobad)tcn fotlten, fo toie fie noc^ fyeutigen Iage§
finb, ift gctoi§ ein ganj ridjtiger. ift bie (Srfa^rung, toeld^c toxx in
bcr ©eologic getoonnen ^aben, nur auf bie Stratification be3 SKenfc^ens
gefdjledjtS angemenbet. 9lber toa% d^nlid) ift, ift bar urn nidjt glei^, unb
jebenfatte ift bie ©efa^r, metamor#jifd)e3 ©cftein fitr primdrc§ sulfas
nifdje3 ju ne^men, tt)cit grdfecr in ber Stntfjropologie ate in ber ©eologie.
*) 5te^nli(^e'©ebrau^e erwa^nt SBaifc, STnt^ropotogie II, @. 177.
<f. Hlaj IHUUer in (Djforb,
3n SSejug tyierauf finbc id£) cinige fetyr trcffcnbc SBemerfungen bci Her-
bert ©pencer:*)
„3u beftimmen," fcfjreibt er, „toa% toaljrljaft primitto ift, ttmrbe
Ieid)t fein, rnenn tirir nur Seriate fiber tnafjrfjaft primitive SDtenfdjen
fatten. 23ir tyaben aber guten ®runb ju toermut^en, l)af$ bic jefct tebenbeti
2Jienf<f>en bom niebrigften ©df^age, bic gefettfdEjaftticfie ©ruppen toon bcr
etnfadftftcn 2trt bilben, un3 burdjau§ nid)t ben SRenfd&en barftetten, tote
er urfpritngtidj toar. 2Bal)rf<f}einttd) flatten bie meiften toon iljnen, too
nidjt atte, SBorfaljren auf t)of)eren ©tufen ber (Sntttridelung, unb in bent,
ioaS fie glauben unb meinen, mag 2Jtandf)e3 fibrig geblieben fein, toa$
fid) auf jencn f)5t)eren ©tufen entmidelt Ijatte. SBdljrenb bie I^eorie be£
ununterbrodjenen 33erfalte, nrie fie gerodljnlid} fcerftanben toirb, unljaltbar
ift, fdtjeint bie Sfjeorie be§ ununterbrodjenen gortfdjritte ber 3Renfdf)l>eit,
in i^rer unbefdjrdnften gorm, ebenfatte untyaltbar. 2luf ber einen ©eite
ift bie 2tnfid)t, bajj Sarbarei burdf) ein #erabfatten au3 Stoilifation tjer-
urfadjt ift, ntit ben £l)atfad£)en untoereinbar; auf ber anbern feljft t§ an
fyinlanglidjen 93etoeifen, baft bie tiefftc Sarbarei intmer fo barbarifd)
getoefen, tine fie jefct ift. ift ganj m5glid), ja, id) gtaube, ijodjft
toaljrfdjeinlid), bafc Serfatl ebenfo f)dufig getoefen ate gortfe^ritt."
2)iefe SBorte cnttjatten eine fetjr nufelidje SSarnung fiir fotdEje ©tf)no-
logen, bie meinen, bafj, toenn fie nur ein paax %a1)xe unter $apua£,
guegiern unb 9lnbamanen jugebradjt, fie genau beridjten f5nnen, tote
e§ bei ben dlteften ©tammtoatern bcr ©riecfyen unb 9t5mer auSgefefyen.
©ie fprecfjen Don bent ^eutigen SSilben, ate ob er nur eben in bie SBelt
gefdEjidt, ofyne ju Bebenfen, baft er, ate eine lebenbige ©J>rcie3, toaljr
fdjeinlidj nidjt einen Sag jiinger ift ate toix fetbft. 6r mag ein meljr fia=
tiondreS SBefen getoefen fein, aber er fann audi trielmate ^inauf unb f>tn;
unter geftiegen fein, e^e er feine jefeige Sage erreidjte. ©djliefjlid) aber,
fetbft toenn man betoeifen fonnte, bafc in atlen anberen ©lementen ber
©itrilifation ein ununterbrodjener gortfefyritt ftattfinbet, fo fonnte bod) 9tie-
manb betjaupten tootlen, baft bie^ aud^ Don ber ^Religion gettc.
^aufiger Derfall 6er Scligionen.
$af$ 3letigion bem SSerfatt auSgefefct ift, ba§ le^rt un§ bie SBelt-
gef(f|id)te U)ieber unb tmeber, ja in gemiffem ©inne fann man tool bie
©efdjidjte ber meiften 9teIigionen eine ©efd^id^te ifjreS langfamen 9Jer=
fatl^ Don iljrer urfprungtidjen 9lein^eit nennen. 3tiemaub toitrbe ju
be^aupten loagen, bafe SReligion ftet^ mit bem gortfd^ritt ber attgemeinen
SSilbung ©d^ritt ^dlt. SBenn man alfo and) jugeben toottte, bafe in Sejug
*) Sociology, p. 106. 2flan toergteid^c aud) On some Characteristics of
Malay o -Polynesians, tm Journal of the Anthropological Institute, ge&ruar 1878.
Ueber $ ettf djismus.
W5
ouf SBerfjeuge, Slcibung, ©ebrdudje unb ©itten bic ©riedjen unb Sftomer,
bic 2)eutfd)en unb ©elten oor bent Slnfang aKer ©efc§id)te in bemfelben
3uftanb gcXcbt fyatttn ate bic SJlegerftamme be£ fjeutigen StfrifaS, fo toiirbe
bod) nidjte un3 5U bent ©djluffe bered)tigen, bajj aud) iljre {Religion bie*
felbe getoefen fein miiffe, baf$ fie getifdje, ©tode unb ©teine toerefjrten,
unb nidjte toetter.
©eljcn toir nid)t Stbrafjam, einen einfadjen 9iomabeu, bollfommen
uberjeugt toon ber Slotljtoenbigfeit ber (Stnljeit ©ottc^f matjrenb Salomon,
beruljmt unter ben Sdnigen ber Srbe, Ijolje ^Idfce unb lempel fiir Sljemofd)
unb -Utolod) baute. Sm 6. Saljrfjunbert toor Eljr. ©. laufdjte SpljefuS
cinent ber toeifeften 2Ranner, ben ©riedjenlanb geboren; taufenb Saljre
fpater war biefelbe ©tabt tootl toom leidjtfertigen unb nidjtefagenben ©e^
fd^tDd^ be£ StjrittuS unb be$ Eoncite toon GtyljefuS. S)ie £inbu3, bie toor
metyreren taufenb 3a^ren bie fdjroinbelnbften £81)en ber S|5t)iIofopf)ie er*
reidjt fatten, finb jefet an toielen Drten ju einer enttoitrbigenben 93er*
c^rung toon ®iit)en unb Ddjfen Ijerabgefunfen.
Scfytruertgfetten 6es 5tu6iums 6er Heligionen
tsilber Polfer.
Unb eine nod) anbere unb toeit grofecre ©djttrierigleit ift mit biefem
©tubuim ttrilber SBoIfer, ber Slgriotogie, oerbunben. SBenn toir aud}
geneigt fein fotlten, ben SJorfa^ren ber ©riedjen unb Sftomer biefelbe
Religion iujufdjreiben, bie nrir jefet unter Stegern unb anberen SBilben
finben, Ijaben toir un3 tool efjrtid) gefragt, toa3 hrir benn eigentlid) toon
ben religiofen 2tnfid)ten biefer fogenannten SBilben ttriffen.
SSor fjunbert Saljren mod)te e3 fid) nod) entfdjutbigen laffen, toenn
©ele^rte fo ganj im Stttgcmeinen fcon ber Religion ber SEBtfben fpradjen.
®ie SSUben galten bajnate ate blofce 2Rerfttmrbigfeiten, unb man glaubtc
faft 2tfle£, toaS toon itjnen beridjtet ttmrbe. SJian fjadte unb padtt fie ju^
fammen ettoa in berfetben SBeife, trie id) toon einer englifdjen Sanjel SReanber
unb ©traufi ate SSertretcr ber bcutfdjcn Steologie Ijabe nennen l)oren. ?leger
toon Sieger, SBilbe oon 2Bilben ju unterfdjeibeu, baran ba^te 9liemanb.
Sefct ift bieg SlfleS anber§ gemorben. Sein loiffenf^aftli^er (Sinolog
bebient fid) nod) foldjer Stu^briide loie SSilbe ober Sfteger. %m getoo^n'
lidjen SSerfe^r f^ric^t man jtoar nod) bon Sftegern unb tterfte^t barunter
afle fd^tuarje SRenfdjen, aber in miffenfdjaftlidjen 2Berfen ift 5Reger mcift
auf bie im toeftlic^en Stfrifa 5mifd^en Senegal unb 9iiger toofynenben
©tamme, bie fic^ bte jum ©ee Ifd)ab unb loa^rfc^einli^ nod) toeiter
crftreden, eingcfd^rdnft toorben. SBenn man bom Sieger ate auf ber
tiefften ©tufe ber 2ftenfd)ljeit fte^enb fprid)t, fo meint man faft immer
biefen Sieger auf ber SBeftfiifte, bei bem bic ^ortugiefcn fid) juerft it)rc
SJorftettung t)on 5etifd)temu§ bilbeten.
W6
f. Mar ITIulIer in ©jforb.
ift f}ier nid)t ber Drt, bic Stfjnograptjie SlfrifaS ju bet)anbeln,
h>ie fie fief) ttacf} ben 93erid)ten ber neueften Steifenben geftaltet tyat.
geniigt, auf bic ©intfjeitung, tone fic SCSaife gibt, juriidjugeljen, um ben
Sieger am Senegal imb SRigcr toenigftenS toon feinen nddjften 9tadjbartt
ju unterfd)eiben:
1) 2)ie 93erber* unb Soptifdjen ©tdmmc im SRorben 8lfrifa£.
SSom t)iftorifd)en ©tanbpunfte au£ gef)8reu fie mef)r ju ©uropa ate gu
Stfrifa. SSiele toon iljnen tourben t)on ben -Ulofjammebanem unterjod^t
unb toerfdjmolaen mit iljrcn ©roberem. ©ie tjiefcen jutoeiten 2Rof)ren,
nie aber Sieger.
2) 2)ie ©tdmme, toeld)e ba3 dfttidje Slfrifa, bie ©egcnb toom 9UI
bte jum Stequator betootjnen. ©ie finb Slbeffinier unb Slubier, unb in
ber ©pradje entfernt mit ben ©emiten tocrtoanbt.
3) 2)ie SulaljS, tuelc^c uber faft gan§ SDlittelafrifa toerbreitet finb
unb fief) felbft in entfdjiebenem ©egenfafc ju ben SRegern fiitjlen.
4) 25om 9lequator fiibtodrte bi£ 511 ben #ottentotten bie ®affer=
unb Songotoolfer, bie itjre eigene feljr cigenttjumlidie ©pradje reben,
religiofe Sbcen toon maljrer Srfjabenljeit befifcen, unb aud) plftfifd) toom
maljren Sieger leidjt unterfdjeibbar finb.
5) 3)ie $ottentotten unb t^cittocife bic SSufdjmdnner, bie fidj
mieberum toon alien iibrigen ©tfimmen fotoot burd) iljre ©pracfje, ate
pf)t}fifd) fdjarf unterfdEjeiben.
2)ie3 finb nur eben bie aUgenteinften ©ruppen ber SSetootyner 3lfrifa£.
SBotlten ttrir toon if)nen alien ate Utegern fpredjen, fo marten tt?ir un£
berfelbcn Sladfjtdffigfeit fd)ulbig, mit ber bie ©riedfjen toon ©ctjtljen, bie
SRomer, toor Edfar, toon Eelten fpradjen. giir tt>iffenfd>aftlid)e Stotdt
fotlte atfo ber 9lame Sieger enttoebcr ganj toermieben, ober auf bie
©tdmme eingefdjranft toerben, toeld)e etroa 12 SSreitegrabe toom ©ene*
gal bte 511m Sliger einne^men unb fidE) lanbeinttmrte bte bafjin erftreden,
too fie mit SSerbern, Slubiern ober Saffern 5ufammenfto&en.
SBenn nun aber audj ber ©tfynotog nidjt mcljr toon alien SBewotjnern
9tfrifa£ ate Slegern fpridjt, fo ift e3 bo<$ gar nidEjt lcid£)t, ben &iftorifer
ju iiber&eugen, bafj biefe ©tamme nidf)t metjr toie friifjer ate blofec SBilbc
befjanbelt merben fonnen, fonbern bafj tt)ir auc^ t|ier ju unterfdjeiben lernen
miiffen, elje toir toergleid>en fiinnen. 2)ie, n)eld)c fo leidjtljin toon SBilben
in 2tfrifa, Slmerifa unb 2luftralien fpre^en, toiirben e3 fe^r f^ttoierig
finben, eine definition toon biefem SBorte ju geben, bie me^r bebeutetf
ate bafc bie SSilben toon un^ toerfdjieben finb. SBitbe finb fiir un§ etnja
ba^fetbe, ma^ fiir bie ©ried)en bie Sarbaren toarcn. 23ie aber bic
©ried^en 5U lernen fatten, ba^ einige biefer fogenaunten S3arbaren 9tatur=
gaben bcfa|enf um toeldje fie fie felbft fjatten beneiben fonnen, fo toerben
and) bie, toetd)e fic^ ettt)a§ griinblidjer mit ben SSilben befd^dftigen, ge=
ftefjen miiffen, ba^ einige biefer SBilben eine SReligion unb SebenSroeteljeit
Ueber Jettfdjtsmus. ^7
befifcen, bic cincn Skrgteid) mit bcr SReligion unb £eben3toei3l)eit ber
cioilifirten unb ciuilifircnben SSoIfcr bcr Srbe ntc^t ju fiird)ten t>at. 2Bie
bem aud) fei, iebcnfaH^ mufi bic 3bee, bic man gerootjnlid) toon ben
SEBilben fyit, jc^r bebcutenb mobificirt unb bifferenjirt toerben; ja e3 gibt
laum cincn anbern 3*^9 bcr Stntljropologie, bcr mit fo toielen ©djtoierig^
leiten betjaftet ift, ate gerabc ba3 fiir fo leid)t erad)tete ©tubium biefer
fogenanntcn SBilbeu.
Die Spracfye 6cr tDil6cn.
SBir tooflen nur eiuige bcr getoof)nlid)ften SSorurtfjeile betrad)ten,
bic man nod) immer mit toilbcn SSoIfcrn toerbinbet. 3f)*e ©pradjen, gtaubt
man obcr glaubtc man, finb toenigcr t>oUcnbct ate bic unfrigen. §ter
ljat nun bie ©pradjtoijfenfdjaft bereitS gutc 2)ienfte gcleiftct: 3uerft ift
bie Sbec, bafe e3 SDtenfdjen gabe, bic feinc ©pradje befifcen, ganjlid) toer;
fdjttmnben, unb toaS c£ bebeutet, cine ©pradje ju befifeen, toerfteljen ttrir
audj jefct beffer ju huirbigen ate fru^er. Stttc bie Seriate toon farad);
lofen ©tiimmen, obcr toon 2Jtenfd)en, bcrcn ©pradje bcm Stottfdjcm bcr
S3ogel a^nlid)cr fci ate ben artifuttrten £5nen menfdjlidjer SBefen, finb
fiir bic 3ufunft \n ^ fapitct ber antfjropologifdjen 2Rt)tf)ologie toer;
ttnefen.
2BaS abcr nod) ttrid)tiger, ift r bafi man nacfygetMefen fyat, toie toiele
bcr ©pradjen ber SBitben einc fjodtft tootlenbete, ja in mandjen fatten
einc ju toottenbete, b. f). cine ju fiinftlidje ©rammati! befifcen, toaljrenb
if)r 2B5rterbucf) eincn JReidjttjum toon Scncnnungen entfaltet, urn ben fie
tnandjer 2)id)ter beneiben ttuirbe.*) S3 ift nun jiuar feljr ridjtig, bafc
biefer 9teicf)tf)um an grammatifdjen gormen unb bicfer Ueberflufj toon
Stamen fiir ganj befonbere ©cgenftanbe, toon cinem ©efidjtepunfte au3,
cin Sci^en logifdjer ©d)tt>ad)e unb eineS SRangete an fraftigem 93c-
grcifen ift. ©pradjen, bie Safu3 tyaben, urn 9tal)e bci cinem ©egenftanbe,
HBetoegung eincm ©cgenftanbe entlang, Stnnaljerung an einen ©egenftanb,
Jpincintreten in einen ©egcnftanb ju bejeidinen, aber leincn attgemcincu
objectitoen EafuS, feinen Slccufatito, m5gen reid) fjeifcen, iljr grammatifdjer
SReidjtfjum ift abcr logifefye 3trmutf). 3)a§felbe gilt toom SBorterbud).
5©a§felbe mag Stamen fiir jebe 2trt unb Stbart toon £f)ieren, ja fiir ba3-
fetbc £t)ier, toenn e3 jung ober alt, tt)cnn c§ mannlid) obcr meibli^
ift, befifecn. @£ mag ben gufe cinc§ 2Renfd)en, eine§ ^fcrbeS, cinc^
Sotncn, eineS $afen bur^ befonbere Stu^briide unterfdjeiben. Stber ju
gleid^cr 3cit feljtcn il)m oft SBorte fiir £t)ier im Slflgemcinen, obcr
fctbft Sejeidjuungen fiir fold^c Scgriffe tt>ic Sorper, ©licb u. f. m. (S3
ift Ijier cben ©etoinn auf bcr einen, SSertuft auf bcr anbern ©eite. ©o
*) 51. 95. SJle^er, Ucber bie 2ttafoor unb anberc ^apueifprad^en in 9Jeu=
guinea, @. 11.
W8
tf. Utaf ITliiller in (Djforb.
unfcotlfommen aber aud) eine ©pradje fcin mag in cincm obcr bcm anbcrn
^Juttfte, jebe ©pradje, felbft bie ber $Papua3 unb 93ebba3, ift fold) ein
SReiftermerf be3 ©ciftcS, baf$ bic Sunft atter ^ilofopl)en baran fdjeitent
ttriirbe, ettoaS 2tel)nlicf)e3 fjerfcorgubringen. ©3 fommt aud) toor, baft bic
©ramnfattf ttrilber SSolfer B^gnip ablegt fiir cine I)ol)ere ©tufe gcifttgcr
©ntttridehmg, auf toetdjer biefc Solfer friiijer gcftanbcrt fjaben muffeti,
um fotdje grammatifdje Unterfdjiebe ju bejeidjnen. Unb fdjliefjlid) biirfett
nrir ntcfjt oergeffen, ba§ jebe ©pradje unenblid)e 3R8gIid)feiten in fidj
tragi unb baft bi£ iefci nod) fcine gcfunbcn ift, in ber e3 unmogtid)
getoefen, ba£ 93aterunfer ju iiberfefcen.
«?>af?ltx>orter 6cr tDilfcon.
Sangc gait e3 fiir eincn ber beften Setoeife ber niebrigen geiftigen
Slntagen ttrilber ©tamme, baft fie nicfyt im ©tanbe feien, iiber brei, trier
ober fiinf §inau3 ju satylen. 3uerft nun geljort ein tudjtiger ©ele^rter
baju, um einen folctyen gatt feftjuftetten.*) 3^citen§ aber, toenn bic
Xljatfadjen feftgeftellt finb, fo gilt e3, fie ju erftaren. ©3 mag ©tdmmc
geben, bie Stde^, toaS iiber fiinf, bie ginger einer $anb, geljt, afe SSicI
jufammenfaffen, obgleidj eg mir fefjr untoa^rfdjeintid) fd)eint, baft irgenb
ein menfdjtidjeS SBefen, e£ fei benn ein Srrer, nidjt fiinf ®iil)e Don
fedjS ober fieben ffiii^en unterfdjeiben !ann.
Sefen tutr nun bie 93erid)te iiber ba3 3et>Ien ber 3afytoorter iiber
jtoei ober brei f)inau§ ettoaS genauer. 3Ran t)at oft gefagt 5. S3., baf$
bie befannten 2tbiponen**) feine 3<*fyfawrter iiber brei Ijaben. 2Ba3 finbett
ttrir ttrirflid)? 2>aft fie trier burd> brei + ein£ au^bruden. Stun, anftatt geu
ftige ©djtoad)c gu betueifen, betoeift bic3 trietmetjr cine trie! gr5ftere ®raft
ber 2lnalt)fe, ate menu trier burdj 2B5rter auSgebriidt toare, bie ur-
fpriinglid) £anbe unb Siifte, Slugen unb Dfjren bebeuten. SBilbe, bic
trier burcf) gtuei^loei au£briiden, toiirben nie in bie SSerfudiung gcratljcit,
ben ©a$, baft jtoei unb &toei trier mad)en, ate ein ftjntfjetifdjeS Urttjeit
a priori ju betradjten. ©ie toiirben augenblidlid) fetjen, baft, toemt fic
fagen: „3toei wnb jwei mad^t jtoeisjtoei1', fie gauj einfa^ ein anal^tifc^e^
Urt^eil au§f^red)en.
SBir miiffen nic^t immer nur barauf bebadjt fcin, bie geiftige ©it-
^erioritdt ber SRaffen f)crt)orju^eben, ju benen tvxx fetbft gefjoren. S)a§
arifd)e SEBort fiir trier, ©anffrit iatur, Satein. quatuor, ift t)on einigen rc^t
*) 3n S3ejug auf bie SReger toon S)a^ome^ fagt burton (Memoirs of the
Anthropological Society, l, 314), ba& fie burd) bag etoige Spielen mit dotoric=
mufc^eln gu gong ejperten ^e(§enmeifteru werben. S5ei ben i^nen tjertranbten
?)arubo§ fagt man: fannft nic^t neunmal neun fagen/' um auSgubrilden :
„Tu bift ein ©ummfo^f."
**) Dobrizhofer, Historia de Abiponibns, 1784.
Ueber f ettfdjismus.
W9
bebeutenben ©pracfyforfdjern toon tar, brei, mit fcorgefdjlagenem ia, bcm
Satcin. que, abgeleitet loorben, fo bafj fcatur aud) im ©anffrit ate
einS unb brei aufgefaftt toorben toare. 3)ie3 mag nun ridjtig obcr fatfd)
fein, iebcttfaU^ fragt man fid), toeSfjalb, toenn afrifanifdje ©tamme fieben
burd} fiinf -J- i^ei, obcr fcd)$ burd) fiinf + ein3 auSbriiden*), bie£
ate SSetoete tieffter geiftiger Slrmutt) geften foil, toatirenb bocf) Stiemanb
cin SBort gcgen bic an bcr ©pifce bcr europaifdjen (Stoilifation marfdji?
renbcn granjofen ju fagen f)at, bie ncunjig burd) quatre-vingt-dix, ober
gcgcn bic SR5mer, bic neunje^n burd) undeviginti auSbriiden. **)
Stein, aud) f)ier gilt bie JRegel, 9tnbere mit bemfelben 9Kaaj$e ju
meffen, mit bcm loir un3 felbft meffen. SEBir miiffcn crft ju toerfteljen
Icrnen, ef)e loir toagen ju urtljcilen.
(Befdyicfjtslofigfctt 6cr tDU&en.
Sin anbcrer fdjroerer Sortourf gcgcn bic SSitben ift, bafe fie fcinc
©efd>id)te §aben. @in SBUbcr jatjtt faum bic Xage eine§ 3aljre§, %t-
fdjtoeige bic 3aljrc feineS SebenS. Sinige Stegerftamme fatten e£ fogar
fur unrest, bie£ ju tljun, ba e£ SManget an SScrtraucn ju ©ott betoeifel
3n cincm Sanbe, too jebeS 93autoerf, jebe§ 3)entmat fdjnetl toerfdjtoinbet,
ipo ba§ Scbcn furj ift, unb too audf) bie Saljregjeiten fo toenig bon cin=
anber toerfefyieben finb, bafc SHiemanb nad) Idngcrcn 3citrdumen ate
9Jionben rennet, toirb SttteS fdjnetl bergeffen.***) 2)a bicfc SSitben feinc
fienntnift bcr ©djrift §aben, fo fann natiirlid) bci if)uen bon bcm, toa£
xo\x ©efd)id)te nennen, feinc SRebe fcin. 9lun foil burdjauS nid)t in 2tb^
rebe geftcttt toerben, bafj cine Sntcrcffclofigfcit fotool in Scjug auf
SSergangeneS ate 3"funftige3 cin 93etoete bon nicbrigcr Silbung ift; aber
man glaube nur nidjt, bag bicfc Sntcrcffclofigfcit bci alien fogenannten
nrilben ©tammen ju finben fei. Sictc Don ifjnen bctoafjren ba£ ©ebadjts
niji Don ben Xfjaten ifjrer SSater unb ©rofcbater, ja bag SDierftourbige
ift, ba& fic, otjne (Shrift $u befifeen, im ©tanbe getoefen finb, il;rc Ueber^
Itcferungcn t)ietc ©cfdjfediter ^inburd) lebenbig ju cr^alten.
§err ©. S. SS^itmcc, bcm n?ir fo t)iclc n)i(^tige Seoba^tungen
fiber bic brauncn $ot^neficr berbanfen, bemerft Ijieruber: „3)icjenigcn,
*) cf. Winterbottom, Account of the Native Africans in the neighbourhood
of Sierra Leone, London 1863, p. 230.
**) 2letjnftd)e SBeifpiele, tt)ic ad)t burd^ je^n minus jtuei, nam burd) jeljn
minus eing auSgebrutft merben, finbet man in ben fiiftcn oon 3at)Iuiortem am
C£nbe mcincr ?lb^anbkng ubcr bic Xuranifdjen Spra^en. Wild) Dor ^urjem bei
Moseley, On the Inhabitants of the Admiralty Islands, p. 13, unb bei Matthew3,
Hidatsa Grammar, p. 113.
Codrington, Letter from Norfolk Islands, July 3, 1877.
£ IHaj Ululler in <Djforb.
bencn bie nationalen Ueberlieferungen &ur 93ettiat)rung anbertraut toaren,
geljbrten gefoofjnlidj nur toenigen gamilien an, unb e£ tvax ifjre $flid)t
unb if)r 2eben3beruf, bic iljnen antoertrauten Segcnbcn unb (Sefange uxt-
tocrfc^rt toon ©efdjlcdjt ju ©efd)Ie(f)t ju iiberliefern. 2)ie$ toax cine
©f)renfad)e fur bic ganje gamilie. S3 mar bic ©rbpflidjt ber altcften
©5t)ne in biefen gamilien, biefctben mit tuflrtlidjer Srcuc ju lemen, ju
iiben unb ju leljren. @3 toar bic3 nidjt nur cine tjeitige 5Pflid|t, fonbero
bag JRedjt, foldjc SDfajtljett unb ©cfangc aufjubctoa^rcn, ttmrbe a!3 em
eljrenootleS unb toertf)t)otle3 ^rtoileg feljr eifrig betoad)t. 5)aljer fotmnt
aud) nod) jefet bic ©dinner igleit, fie aufgefd)rieben ju erljalten. SRan
fa!) fid) fogar Dor, fic nid)t ju oft ^erjufagen, unb nic ganj fcottftanbig
auf einmal. Butoeilen tjat man fic abfi(f)tlidj geanbert, urn bie 3«5
l)5rer irrc ju futjren. SKiffionarc unb anbere grembe, bic ftd^ untcr
ben SPoItjnefiem aufljietten, finb in bicfer SBeife oft getauf<$t toorben,
toenn fic cin Sntereffe an bicfen ©raafytungen bliden Itefjen. SRan imtfj
bcr ©pradie oottfommen madjtig fein, if)rc 2trt unb SBcifc fennen unb
ity gan^eS SScrtraucn befifcen, etje man Ijoffen fann, cine ttnrftid) genaue
Scnntnife ifjrer altcn Ijeiligen Sitcratur ju erljalten. 3a fetbft bie$ war
oft nur mflgli(f), toenn man bencn, luetic bicfc ©djafee betjiiteten, tier-
fpra<$, fic nic auf if)ren Snfctn fetbft befannt ju madjen."
„£rofc alter biefcr ©djttnerigfeiten ift e3 einigen SKiffionarcn unb
Stnbercn getungen, grofie ©ammtungen toon biefen SDtytljen unb Sicbern ju
madden unb id} sfoeifte gar nidjt, bafe binnen Surjem e3 mogtidj fein ttrirb,
atleS 3Rateriat fur eine toergteidjenbe 3Jh)tf)otogie toon ^ofyneften jufammen
ju bringen." a
„2)ie mciften biefer SBoltetieber entf)atten mand)e3 SSeroltetc, foiool
in gorm ate in SBorten, bic ben meiftcn ber Scfetlebcnben untoerftanbtid)
getoorben finb."
ift bemerfenSioertl), nrie man fid) ber totfrttidjen Sreuc in ber
Uebcrliefcrung biefer ©agen unb Sicber toerfid)ert. 2tuf mandien Snfctn
finbet man atte ©agen, bie irgenb toon Sebeutung finb, in jioei gormen,
in $rofa unb $oefie. ®ie 5JJrofa gibt bie ©efdjidjte in bcr einfa^ften
gorm. S)tc ^5oefic ^at St^t^mud, oft audj Sfleim. S)ie poetifc^e SearbcU
tung bient jur Eontrote ber einfadjeren ^Jrofaerja^tung, bic leister bem
2Bed)feI au^gefefet ift. 2)a e£ fo Ieid|t ift, 5!tcnberungen im $rofate£t
Jjorjune^men, fo gilt biefer uie ate edjt, tt)enn er nidjt bi^ auf1^ ©in^
jelnfte burt^ ^oetifdie S)t))Iome begtaubigt ift.*) (Sine 2tu3Iaffung ober
eine ©iufugung im poetif^en Sejt fonnte leidjt entbedt werben. ©o
^aben alfo aud) jene SSolfer bie £f)atfad)e ancrfannt, bafe ^oefie leister
*) 2)ie3 wirft ein merfwiirbigeS Sicfjt auf bie 53ubbt|iftijc§e Siteratur, bie ht-
fanntlic^ au^ in bicfer boppclten gorm cjiftirt, einmal in $rofa unb bann mc^
trijd), in Gath^-gorm.
Ueber J ettfdjtsmus.
unb fic^crcr im ©ebddjtnifj fortieth ate $rofa, unb baijer toeit beffer
geeignet ift, fjiftorifdje 9Ktjtf)en mit ftrcnger £reue ju betoatjren.
2Ba£ nrir aber jefet untcr ©efdjidjte Derfteljen, ift ettoaS gan$ StnbereS.
2)ie Stamen bcr Sonige Don 2Iegt#ten unb Sabljlon ju lernen, bic Sal)^2
jatjlen itjrer ©d)tad)ten au&oenbig ju nriffen, bic Stamen if)rer SDtinifter,
ifjrer grauen unb SDtaitreffen tierfagen ju Knnen, mag jc^r gut ju cincm
©taatSejamen fein, aber bag e3 ein Bci^cn nrirflidjer Silbung ift, Ijabc
t<f) nie glauben fonncn. ©ofrateS tear bod) fcin SBilber, aber id) jmcifte,
ob er bic Stamen unb Ratytfyafytn feincr eigenen Slrdjonten tjdtte tyx*
fagen fonnen, gefdjtoeige benn bie Stamen ber Sontge Don Stegljpten unb
SBabtjlon.
Unb toenn ttrir un§ bann fragen, tDie ju unferer eigenen 3cit ©e*
fd)id)te gemadjt ttrirb, fo toerben tvix Dietlei(f)t beffer ba3 @efiil)l berer
Derftetjen lernen, bie fid) nid£)t iiberjeugen fonnen, bafj Jcbe Wniglic^e
§od)}eit, jebe ©d)ldd)terei, fei e3 jtuifdjen ttulben #orben ober ciDittfirten
#eeren, jebe 3ufammenfunft Don SrriebenSmdnnem ober jeber (Songrefi
t>on 2>ijrfomaten jum Seften f itnftiger ©efdjledjter aufbefoaljrt toerben miiffen
3c meljr man fiefjt, tone ©efdjidjte gefd)rieben ttrirb, befto toeniger begreift
man, bafj iljr SBertl) fo grofc fcin fonne, ttrie man idoI fritter glaubte.
2Ran fcfee ben gall, bafc bie ©efdjidjte ber lefcten jfoci Sa^re Don ©lab-
ftone, SSeaconSfielb unb ©ortfdjafoff gefdjrieben ttntrbe; — toaS fottten
toot juliinftige §iftorifer baDon glaubcn? toa$ fotten jufiinftige &ifto=
rifer iiber biefe ©taatSmdnncr felbft glauben, bie Don bencn, toeldje bie
befte ©elegenljeit fic ju beurtfjeilen tjatten, enttoeber ate ^o^er^tge $a^
trioten ober ate fetbftfitdjtige ^Sarteimdnncr bargefteltt toerben? ©etbft
blofte Ifjatfadjen, ttrie bie in SSutgarien Deriibten ©reuettfjaten, fbttnen
nidjt, fo fdjeint eg, Don jtoei Slugen&eugen oljne bie grofcten SBiberfpritdje
befdjrieben toerben. 3ft e£ benn alfo fo unbegreiflidj, bafc cine ganje
Elation, — id) meine bie alten Snbier — ©efdjidjte im getootjnlidjen
©inne bc£ 2Borte§ einf ad) Deradjteten, unb an^att ifjr ©ebde^tnife mit
Sflamen Don Sonigen, Soniginnen, ©c^la^ten unb if)ren Sa^rc^ja^Icn ju
belaben, tieber bie toa^ren Sonige im Sfteid^e be§ ©eifte^ unb bie ent=
fd)eibenben ©cf)tad)ten im S*ampfe fiir bic 2BaI)rt)eit in i^rer ©rinnerung
auf$ubeioaf)ren fu^ten?
Sittenlofigteit 6er tDilien.
©dlliejjiid) glaubte man fonft, ba§ alte SBilbcn o^ne moralif^e
©runbfdfec ttjdren. ift nun gar uidjt mcine Slbfi^t, ben SSilben mit
fRouffcaufctjen Sdtben ju malen, ober gu leugncu, ba§ uufer focialeS unb
^oIitifd)e§ Seben ein Sortfdjritt iiber bie Dcreinjelte ober nomabifefje
©jiftenj ber toilben ©tdmme Don Slfrifa unb Stmerifa ift. 3d) fagc nur,
tuir miiffen jebe $f)afc in ber ©nttoidelung bc3 menfd^^cirti^eu SebenS
Wotb unb Sub. VJI, 20. 11
\52
f. filar IHiiller in <D rforb.
fiir fidj felbft beurtljeilen. SBtfbe tiaben ifjre eigenen gefjler, aber ftc
tiaben audj iljre cigcnen lugenben. SBenn bcr 9leger cin fd}toarje8 93ud)
gegen ben tteifcen 9Jienfd)en fdjreiben Knnte, toiirben barin ttcnige bcr
SBerbredien feljlen, bie, toic ttrir gtauben, ben SBtfben eigentfjumftdf) fmb.
£>ie 3Roratitdt be§ SHegerS famt abcr mit bcr be£ ©uropderS ntc^t toer*
glidjen toerben, ba iljre ganjen SebeitSanfidjten aerfdjieben fmb. 2Ba3 toix
fiir unrest fatten, Ijalten fie nid|t fiir unrest. SBir aerurtfjeilen 5. S3,
bie ^ofijgamie; Suben unb SDloljammebaner bulben fie. SBitbe betradjten
fie ate etjrenljaft, unb in bem 3uftanbe bcr ©efeflfdjaft, in bem fie fidj
befinben, tiaben fie oljne 3toeifel red)t. SBilbe gtauben nid)t, bafc bie
©uropder SDlufter Don £ugenb fmb, ja e§ toirb ifjnen fc^r fd)toer, fid)
in itjrc SebenSanfiditen f)ineinaubenfen.
SRic^t^ ift bem SCSitbcn untoerftdnblidier ate unfere Unrulje, unfer
etoigeS ©trcben nad) ©ettrinn unb 93eftfe meljr nod) ate nacfj ©enufc. ©in
inbianifdjer $duptting fagte &u cinem SBeifjen: „9ld), mein SSruber, 2>u
toirft nie ba§ ©fiid fennen lemett, SRic^t^ ju benfen unb SHidjte ju tljun;
bie§ ift nftcf)ft bem ©c^Iafc ba£ Sttterentjiirfenbfte. ©0 toaren toir t>or
ber ©eburt, fo toerben toir nad| bem £obe fein."*) 2tte ouf Xaljiti bic
SKiffiondre toerfudjten, ba§ Sudjtoeben einjufuljren, tjerticfeen nad) tncnig
Xagen afle jum Semen beSfelben tyerbeigefommenen 9)?dbd)en bic Srbeit
unb fagten: „SBarum fotten toix arbeitcn? $aben fair nid|t fo Die! S3rot=
friid)te unb ©ocoSuiiffe, ate toir effen fonnen? 3^r, bie tfjr ©d|iffe unb
fd)6ne Sleiber braucfjt, miiftt tool arbeiten, abcr toix finb jufricben mit
bem, tna£ ttrir befifeen."**)
SoId)e 9lnfid)ten finb nun aflerbingS feljr uneuropdifd), aber fic ent-
fatten bocf) aud) eine Seben£J)f)itofopI|ie, bic falfdj ober ridjtig fein mag,
aber bie fcineSfalte ate einfad) barbarifd) abgeurtfjeilt toerben fann.
©in feljr ttjefenttic^er Unterfd)ieb jtoifdjen Oielcn fogenanntcn SBi(bett
unb un£ ©uropdern liegt in bem geringen SBertf), ben fie biefem ©rbenleben
juf^rciben. SBir f5nncn un§ laum bariibcr munbent. ©£ gibt wenig
3)ingc, bie fie an biefeS Scben fcffeln fonnen. 3n metcn I^citen »on
Stfrifa unb Stmerifa mu§ ber 2ob fiir eine grau ober einen ©Ha&en
tote ein gliidli^eS ©ntrinnen fein, tnenn fic nur ganj feft iiberjcugt fcin
fonnten, baft ba£ ndc^ftc Seben ni^t cine 2Sieberf)oIung be§ icfeigen fci.
Sic finb eben tnie Siubcr, benen Sob unb Seben nur nrie eine fReifc
t)on eincm Drt ju eincm anbern Dorfommt. Unb gar bie 3flten, bie mefjt
greunbe jenjeit^ ate bic^feitg bc§ ©rabeg ^aben, finb ftete bereit jur
SIbrcife; ja an mandjen Drtcn ift eg fiir bic Sinber cine ^fli^t, i^rc aften
Steltcrn ju tbbten, tt)enn ifjnen ba§ Seben eine Saft getoorben. ©0 un^
*) Crevecoeur, Voyage dans la Haute-Pensylvanie, Paris, 1801 ; I, 6. 362.
(Sdjulfce, getifd)i§mu^ @. 48.
**) 33ee<f)ct), SReiie nacfi bem ftitfen Ocean, I, ©. 337. ©c^ul^e, geti)djt3tmi3r ©. 49.
Ucber J etifdjismus.
J53
natiirlid) bie3 un3 fdjeint, fo toirb e3 bod) natiirlid), toenn loir an ba§
SBanberleben bcr ttrilben SSolfer benfen, bei bcm bie, loeldje nidjt meljr
ttmnbern fonnten, ben ttrilben Xljieren jur 93eute fielen. SSenn h)ir nid)t
bie£ unb tneleS Stnbere in Setradjt sieljen, fo toerben ttrir un3 nic cin
rid^tige^ tlrttjeil iibcr bic {Religion bcr toilben 9S51fer bilben fonnen.
Seligton alien ZTCenfdjen gemeinfam,
3ur 3eit be3 2>e SBroffeS toar 2tHeg anberS. 9Ran ttmnberte fidj
bamalS, baft fdjloarje 9Renfdjen iiberljaupt fo etloaS tote 9RoraIitat ober
{Religion befifcen f5nnten, fei e£ audi) nur eine S3erel)rung bon ©ttfden unb
Steinen. SSir Ijaben anberS ju urtfjeilen gelernt, 2)anf Ijauptfadjlid) ben
3Riffion'dren, bie ifjr ganje3 Seben unter SBilben toertebt, i^re ©pradjen
gelernt, if)r S3ertrauen geloonnen tjaben, unb bie, toenn fie aud) iljre eigenen
SSorurtljeile Ijaben, bod) im ©anjen ben guten Slementen im Kfjarafter
ber SSilben Dolle ©eredjtigfeit Ijaben ttriberfaljreif laffen. SBir Wnnen
jefct fidjer beljaupten, baft trofc alter Sftadjfucfyungen feine menfdjlid^en SOBcfcn
irgenbtoo gefunben tuorben finb, bie nidEjt (StloaS befaften, toa3 iljnen afe
{Religion gait; urn e3 fo aUgentein al3 moglid} auSjubriiden, bie nidjt
einen ©lauben an (StloaS fatten, toa£ iiber itjre finnlidje 2Bal)rnel)mung
fjinauSging.
5)a idj Ijier nid)t bie ganje 93etoei3fiil)rung fiir biefe SBetjauptung
geben fann, fo barf id) oielteidjt ba§ Urtljeil eine£ anberen ©eleljrten
anfiifjren, ber fid) feit Safjren mit {Religion3gefc§id)te befdjaftigt fjat, be§
5{5rofeffor Siete, namentlid) ba feine Stnficfjten fonft in Dietcn SJSunften
oon ben nteinigen abtoeidfjen. Stf fagt (Outlines, p. 6): „S)ie Se^aup?
tung, baft e$ SSdtfer ober ©tamme gibt, bie feine {Religion Ijaben, beruljt
enttoeber auf ungenauer S3eobad)tung, ober auf fcertoirrten Sbecn. ffiein
©tamm, fein SSotf ift bi£ jefet gefunben toorben oljne einen ©lauben an
fjoljere SBefen, unb {Reifenbe, bie bieS beljaupteten, finb fpciter burd)
£f>atfad>en toiberlegt toorben. ©3 ift beSfjalb fcollfommen erlaubt, bie
{Religion, in iljrer attgemeinften Sebeutung, ein Untoerfatyl)anomen ber
SWenf^^eit ju nennen."
Das Stufcium 6er Heligionen ciptliftrter X)ol!er.
SHa^bent nun aber einmal biefe alten S3orurt^eile ttjeggcfdjafft toorben
toaren unb nad)bcm man eingefe^en, baft bie toerfdjiebenen 9S51fer t)on
Slfrifa, Stmerifa unb Sluftralien nid^t fo oljne SBeitere^ aU SBitbe §u=
fammengeworfen toerben fonnten, ba fing man erft rc^t an bie ©djttrierig-
feiten ju fii^len, bie fi<$ einem tt)iffenfc^aftli(^en ©tubium biefer Softer
entgegen ftetlten, namentlid) in Segug auf i^re religiofen 2lnfidjten.
ift fc^tucr genug, einen genauen unb ttriffenfdjaftlidjen 93erid)t iiber bie
{Religion ber guben, j,cr ©tie^en, ber {Romer, ber Snber unb ^Jerfer ju
11*
$. IKaj Itluller in (Drforb.
geben; aber bic ©dittrierigfeiten eineS toaljrett SScrftdnbitiffc^ wtb cincr rid>-
tigen ©rfldrung ber ©taubetfSartilet unb be3 EultuS jener literaturlofen
©tdntnte finb uneublidj grojjer. Seber, bcr fid) cmftlidj ntit bcr ®efd)idjte
bcr ffteligioncn befd)dfttgt ljat, toeiji, tuie fc^tucr e3 ift, ben ©riedjen, Sftontern,
Snbern unb $($erfertt irC$ £>erj ju flatten unb cine tricf)ttgc ©inftdtf in
ifjrc 2lnfid)ten iiber bic grofcen ^roblcmc be3 2eben£ ju gettrinnen. Unb
bod) Ijaben toir ba cine ganjc Sitcratur oor un£, religion unb profan;
ttrir fflnnen 3^ugcn cinanber gegeniiber ftetten unb tjoren, toa$ fur unb
gegen cine jebc 3htfidjt gefagt toerben fann. SBenn toix abcr ju fagen
Ijaben, ob bic ©riedjen im Sltlgemeinen, ober cin gettriffer ©tantm untcr
ben ©riedjen, unb bicfer ©tantm toieberunt ju irgenb ciner beftintmten
3eit, ettoa on cine gortbauer be£ SebenS nad) bent £obe, ober an ©trafe
unb Seloljnungen na<§ bent Xobe, ober an bie Dberljoljeit perfonlidier @ott~
^eiten ober eincS unperfdntidier gatumS, an bie Stotljloenbigfeit Don ©ebet
unb Dpfer, an ben tjeiligen (£t)arafter t)on ^3ricftern unb Sempeln, an
Snfpiration toon $ro#)cten unb ©efefegebern geglaubt l)abe ober nidjt,
fo toerben toir e£ oft red)t fdjtoierig ftnben, cine entfdjiebene SCnttoort
ju geben. ©3 gibt einc ganje Sitcratur iibcr bic 2f)eotogie be3 Corner,
abcr e3 gibt trofcbem nur toenig Uebereinftintntung jtoifdjen ben beften
©eleljrten, tt>eld)e biefe ©egenftdnbe toafjrenb bcr Icfeten jtoei 3aljrf)unberte
betjanbelt Ijaben.
3lo$ Dtcl meljr ift bie3 bcr gatt, tuenn c£ fid) urn bie religiofen
Stnfidjten ber Snber unb $erfer Ijaubelt. 2Bir befifcen tfjre ^eiligen
Sitdjer, toir Ijaben iljre eignen anerfannten Sontntentare baju. Stber loer
toeife nid)t, toie bic ©ntfdjeibung, ob bie alten ©anger be3 9tig=9Scba an
bic Unftcrbfidjfeit ber ©eele glaubtcn, oft oon bcr rid)ttgen 3"tcrpretation
eineS einjigen SBorteS abfjangig ift, toaljrenb bic gragc, ob bic SScrfaffer
be3 Sloefta einen urfpriinglidjen ®uati3mu3, cine ©leidjtjeit jtoifdjen bem
5(5rincip be§ ©uten unb SSofen aunaljmen, jutoeiten nur auf gratnntatis
f(f)cm SBege feftgeftetlt toerben fann.
3d) erinnerc nur an ein befannteS $eifpiet. %n bent $ijmnu$ beg
5Rig^S3cba, tocldjer ba§ SJcrbrennen be§ Scid^nantg begtcitet, fommt bie
©telle »or:
3ur (Sonne gef)' bag ^ug', jur Shift ber Dbem,
SBie^ rec^t ift, gety' ^um §immcl, ge^' jur (Srbe!
©e^' ju ben SSaffern, toenn e§ 2)ir gene^m ift;
9ttit $)etnen ©licbem toetlc bei ben ^rdutern!
2)a§ ero'ge Xljetf! — todrm* eg ntit Reiner SSdrmc,
9Jl5g' 2)etnc @Iut^, mog' 2)eine g^amm, eg todrmen,
D ©ott beS %cvCx&, nimm freunbltdje QJcftalt an,
Unb trag eS janft ^tntoeg jur SScIt bcr fjrommenl
Siefc ©telle ift oielfad) bef^roc^cn ttjorben, unb if;re ridjtige Sluffaffung
ift aHerbingS Don grower SSid)tigfcit. Aga, bebeutet ungeboren, cine 33e-
Ueber f ettfdjismus.
^55
beutung, bie cng mit mtbergdngttc§, unfterbttdj, etoig berbunben ift. 3$
uberfefete alfo a#o bhaga/* burdf) bag „etoige S^eil" unb naf)tn batm cine
SJJaufe an, um bcr ©onftruction beg Serfeg gcrccfjt ju toerben. A^a be=
bcutct aber audi bcr 3icgcnbod unb Slnbcre uberfefcten bic ©telle : „3)er
3iegenbodE ift 5)ein Sljeil." StudE) fie miiffen bann biefclbc Sfyofiopefe
anneljmen, bie atterbingg im ©anffrit fetten ift. Shin ift eg gans rid)tig,
toie aug ben Kalpa-sfttras er^etttf baft man jutoeilen ein 22)ier toeiblidien
©ef<i)ted£)tg Winter bent Seicfjnam jur Sranbft&tte fiitjrte, fo bafc btefeS
Xljier mit bem £obten berbrannt tourbe. ©g tjiefc begfjalb bie Anustarawi,
bie S)ede. Diefer ©ebraudj ift aber erfteng lein aflgemeiner, toie er fein
tourbe, toenn er auf einer Karen ©telle beg SSeba beruf)te. Sttwteng
mifcbitligt ein ©fltra fogar biefe ©itte, Weil, tone Katyayana fagt, toenn
bie Seidje unb bag 22)ier jufammen fcerbrannt toiirben, man beim ffino^en^
fammrfn bie ®nodf)en beg £obten ntit benen beg Styereg aermifd&en f 5nnte.
©ritteng ift bag 33>ier, fei eg nun 3^9* ober $ut), toorauggtoeife ein
toeiblid£)eg S^ier. SBenn toir alfo itberfefeen: „©er Siegenbotf ift ©ein
©IjeiU" — fo bteibt ber §tjmnug nod) intnter in birectent SBiberfprudf) ntit
ber Irabition ber ©atrag. Uiodj grflfcer ift bie ©djtoierigleit, bafj, -toenn
ber Dieter toirflidf) tjdtte fagen tooHen: „biefer 3icgenbod foil ©ir ge?
§5ren", er bag SBidfjtigfte, ndmlid) bag ©ir auggelaffen tyaben follte. @r
fagt nid>t: „ber 3i^genbod ift ©ein £f)eil," fonbern nur: „ber 3icgen-
bod ©fjetf."
SSIeiben toir aber bei ber alten Ueberfefcung, fo ift aucfj biefe nitfjt
otyne ©djtoierigfeiten, aber fie ift bennod) natiirftcfyer. ©er ©tester Ijatte
tjor^er gefagt, bafc bag Sluge jur ©onne, ber Dbent jur Suft, bafj ber
lobte junt $immel ober jur Srbe juriidfeljren, baft feine ©lieber bei
ben Srautem ruljen ntogen. Slfleg alfo, toag geboren, gefyt jurud, batjin,
too^er eg gefontnten. SCBic natitrlidj, baft er nun fragen fotlte: „SBo bteibt
bag etoige, bag ungeborene ©Ijeil beg SDtenfdjen?" SESie natiirfid), baft
auf einen fotdjen ©ebanfen eine $aufe folgte, unb baft-bann ber ©id&ter
fortfaljrt: SSSdrnt' eg mit Reiner SBdrme! 2Roge ©eine ©lut^, 5)eine
glamme eg todrmen! D ©ott beg geuerg, nimm freunbli^e ©eftalt an,
unb trag' eg fanft ^intoeg jur SBett ber grommenl SSSag? 5)od() getoife
nid^t ben 3iegenbod atlein, no(^ aud^) ben ganjen Seid^nam, fonbem bag
ungeborene, etoige Itjeil, toag fe^r gut burd) bag auf Srii^ereg tjintoeifenbe
^Pronomen, enam, gemeint fein lann.
SKoglidfi unb me^r alg moglicf) ift eg nun atlerbingg, bafc aug einer
falfd^en ©eutung biefer ©telle fid) bie Sbee enttoidelt ^at, bafe mit bem
lobten ein 3icgenbod Derbrannt toerben fotte, toie man ja aug fit}nlid>en
3Ki§t)erftdnbniffen bie SQ3itttoe beg SSerftorbenen Derbrannte, toie aug d^n^
lidjem 3Ki§t)erftdnbni| tyama, ber alte ©ott ber unterge^enben ©onne,
jum $5nig ber Jobten, fc^Uefelid^ jum Srften ber geftorbenen 3Renf(^en5
Hnber tourbe. 2>ie Sra^manen ergriffen biefe Sbce beg Sicgenbodg mit
*56
J. Xdai Ulttller in (Djforb.
beiben $anben, toie ttrir au3 bent 9ltf|arDa ^SJeba, IX, 5 fel)en, obgleidj
fief) felbft fjier, 3. S3, in IX, 5, 7, ©puren cincr anberen Stuff off ung
finben. @3 liegen cben jenfeite bcr Sebaljtjmnen nodj toeite gernen, unb
9Kandje3 felbft im 9ttg-SSeba ttrirb nur Derftiinbltd), toemt toxx e$ ate ©e*
toorbeneS, ntd&t ate SBerbenbeS auffaffen.
2) ie3 ift nur cin fteineS SSeiftnel Don ben ©djmierigfeiten, toeldje
ba^ aSerftanbnife einer Steligion bietet, fclbft toenn ttrir eine grofce Siteratur
filr biefelbe beftfcen. SBemt ©eleljrte aber fo Don einanber abtoeid&en, fo
leibet babei ber toiffenftfiaftfidje E^arafter iljrer Unterfud&ungen nur menig.
@ie tjaben ©riinbe fur iljre 2lnftd£)ten, bie fie beibringen muffen. Stnberc
ftnb bann im ©tanbe, i§r eigeneS Urt^eil 5U bilben. SBtr bleiben babei
ftete auf terra firma.
3) a3 Unveil beginnt, toenn ^fjtfofo^en, bie nidjt ©eleljrte Don gadj
finb, bie Strbetten Don ©anffritiften, 3enbiften ober flaffifdjen $f)tfo=
logen fur itjre Stoede ju benufeen fudien. §ier fie^t man bie ©efaljr.
SMefetben ©d)riftfteHer, metdje nur eben in furjen Siigen, ofyte aHe 33e-
roeteftetlen, ja o^ne aucfj nur bie Derfdf)iebenen ©rabe ber ©laubljaftigfeit
tljrer 2tutorit&ten fid) flar gemadfjt ju f)aben, un§ ganj genau erjfiljft §aben,
toaS bie Saffern, 93ufd)mamter unb ^ottentotten iiber bie ©eele, ben lob,
iiber ©ott unb bie SBett glauben, bringen felten eine 93el)auptung in
Sejug auf bie SRetigion ber ©riedf)en unb SR5mer, ber %nbtx unb $erfer,
bie ein ©cleljrter Don gad) nid)t fogleidf) ju beanftanben Ijat. Sludf) Ijier^
Don muft idf) ein paar SSeifpiele geben, nidjt ettoa au3 Xabelfudjt, ober
h)eit id) bie SSerfudjung nidjt felbft lenne, fonbern nur urn auf eine bure-
aus nid)t unbebeutenbe ©efa^r fur unfere ©tubien aufmertfam ju madden.
©3 gibt !aum ein SBort, toa3 5fter im SDtunbe ber 99ral)manen
gemefen fein fann, ate ba3 SBort Dm. @3 mag urfprimglidf) avam ge=
tuefen fein unb 3a bebeutet tjaben, fo ttrie oui fiir hoc illud; e3 naljm
aber balb einen mtyftifdjen Sfjarafter an, ettoa toie unfer 2tmen. S(m
Stnfang unb am Snbe jeber SRecitation mufcte Dm gefagt ioerben, unb e3
gibt toenig $anbfd)riften, bie nidf)t mit biefem SBorte beginnen. SRan
mufete e^ fogar bei getoiffen Segriifeungen gebrau^en,*) fo bafc man mit
Slec^t fagen ftfnnte, fein SBort fei Ijaufiger im alten unb neuen Snbien ge^
^ort morben ate Dm. Stidjtebeftotueniger fagt 3Rr. Herbert ©fencer, baft
bie gnber e§ Dermeiben, biefe§ Dm au^ufpredf)en, unb er gibt bieS
ate einen Setoete, ba§ e§ ^atbciDilifirten SJolfern' Derboten ift, i^re
©otter bei i^rcn Seamen ju nennen. S§ tft nun gauj mSglid^, bafe in
©ammeltoerfen, toie 5. in Dr. 2Ruir£ Sanskrit Texts, irgenb eine
©telle Dorfommt, bie eine fotdje Stnfid^t ju unterftiifecn fdjeint. 3^ ber
m^ftif^en ^^itofop^tc ber Upanifdjaben }. 93. murbe Dm eine 33eseid)=
nung be^ t)tfdjften Sra^man, unb c3 mar atterbing^ Derboten, ba§ SBiffen
*) Apastamba Sutras, I, 4, 13, 6. Rig-veda pratisa-Khya, XV, 6, 16.
Ueber etifdjismus.
\57
toon biefem Srafjman ju toeroffenttidjen. Slber tone toerfd)ieben ift cine
fo fpate 3bee toon bem, toenn man fagt,*) „baft e3 toerfdjiebenen tjalfc
citoilifirten Sotfcrn toerboten toorbeu ober Don iljnen ate unrest betradjtet
toorben fei, iljre ©otttjeiten bei ifjren toafjren Stamen ju nentten. S3 ift fo
Bci ben $inbu3, toeldje ben tjeittgen Stamen Dm auSjufpredjen toermeiben;
e§ tear fo bci ben #ebrdern, beren SluSfpradje be8 SRamenS Se^otoal) be3-
Ijatb unbefannt geblieben; unb aud) &erobot toermeibet forgfam ben
©firte ju nennen." $iefe lefete S3ef)auptung toirb SDtan^en in SJerwunbe^
rung fefeen, ber fidj erinnert, tme e§ §erobot ift, ber un3 erjatjlt, baft,
obgteidj nidjt aHe 2tegt)pter biefelben ©ottfjeiten toeretjren, fie atle bie
3fte unb ben DfiriS, ben fie mit 3)iont)fo3 ibentificiren, toereljren.**)
©benfo Ijat Dr. SDtuir getuift ganj 9te(f)t, toenn er (Sanskrit Texts V,
p. 12) fagt, „baft in einigen ©tetten be3 SBeba getoiffe ©Otter jugeftans
benermaften ate bloS gefdjaffene SBefen betraditet toerben, unb baft fie,
hue bie SDtenfdjen, burdf) ba3 Xrinfen be8 ©oma unfterblidj gemad}t finb".
9Iber bieS betoeift eben, toie gefafjrfid) eg ift, fid) felbft auf fo forgfam
gemadjte Sufammenftettungen ate Dr. 2Jluir3 Sanskrit Texts of)ne SBei;
teres ju toertaffen. 3)ie ©dtter fjeiften befanntlicf) im SSeba unfterbtidj,
amartya, im ©egenfafe jit ben SRenfc^en, bie fterblid), martya, mrityubandhu,
finb. Unb toenn e3 fjeiftt, baft ©oma tfjnen ober gar ben 9Kenfd)en Un-
fterblidjfeit toertieljen, fo ttric Steftar unb Slmbrofia ben griedjifdjen ©5ttern,
fo ift bieS nur gefagt, urn bie 9Rad)t bcS ©oma ju toerljerrlidjen. 2lud)
gibt e3 un£ eine ganj falfdje Sbee, toenn man fagt, baft bie SSebifdjen Sifter
aHe it)re ©otter ate bloS gefd)affene SBefen betrad^teten, tucil fie namticf)
toon ber 9Rorgenr5tt)e ate ber £od)ter be3 #immete fpradjen, ober tocil
fie fagten, baft Snbra toon &immet unb ©rbe entfprungen fei. SBir
Knnten toenigftenS mit toeit befferem 3ied)te fagen, baft bie ©ried)en
iljren 3tu% ate ein bloS gefd)affene3 SBefen betradjteten, toeil fie if)n
namtidj ben ©oljn be3 SronoS nannten.
Unb toeiter, tt)a§ faun unS einen falfdjeren ©inbrud geben, ate
toenn man, urn ju beweifen, baft aHe ©otter urfpriinglic^ 3Kenf(^en toaren,
ben Sfu^fpru^ S3ubbf)aS citirt: „©dtter unb SDtenf^en, Steic^e unb Strme,
aHe miiffen glei^ fterben." $11 Subb^aS 3^iten, ja lang &or SSubb^a,
hjaren bie alten ®e&a£, bie tvix nun eben nur burd) ©5tter iiberfefeen
Mnnen, abgenufet unb berbraudjt. 93ubb^a glaubte an feinc S)et>a3, toizb
lei^t an leinen ©ott. ®ie alten 3)etoa3 begetirten bei i^m ate fabek
^afte SBefen fort,***) unb ba fabetf)afte SBefen t)on toeit grbfterer SSebeu^
tung ate bie SetoaS bag attgemeine ©^idfal bon 2ttlem, toaS iiber^aupt
ejiftirt, t^eilten, namlid) ein enbtofeS SBanbern Don ©cburt jum lobe
•) Sociology, I, p. 298.
**) Herodot, II, 42; 144; 156.
***) eie$c 9tt. Wt. 93ubb^iftifc^er 9?i^iti§mu§.
\oS £. Iltaj IHiiUer in <D$forb.
unb toom lobe jur ©eburt, fo fonnten natiirlidj bic 5)etoa3 feine Stu$*
nafyme mad^n.
Um cine ridjtige aSorftettung toon ben geiftigen gdtjigfeiten eine£
SSoKe^ ju gettrinnen, ift eine genaue Unterfudjung feiner ©pradje getoifc
aufjerorbentlid) niifclid). 2tbcr eine foldje Unterfudjung toertangt gro&c
©orgfalt unb 8Sorfid)t. 3Kr. Herbert ©fencer fagt nun an einer ©telle
feiner ©ociologie (I, ©. 149): „2Benn fair toon einem ber in ©ub*9tmerifa
lebenben ©tdmnte tjoren, bafj fie in iljrer ©pradje «3<§ bin ein Slbipone*
nur burd) «3d) 2lbipone» auSbriiden fiinnen, fo miiffen toir unumgdngtidj
fdtfiejjen, bafc nur bie attereinfadjften ©ebanfen bet fo unenttoidetteit
grammatifdjen Stlbungen auSgebriicft toerben fonnten." StBurben aber
ni<f)t einige ber Ijocfiftenttoirfelten ©pradjen unter baSfelbe a3erbammung§s
urtf)eil fatten!
Das Stufcium 6er Heligionen ix>il6er X)61!er.
SBenn nun foldje SDlifjtoerftdnbniffe ba toorfommen, too fie am leidjteften
toermieben toerben fonnten, tt>a§ fotten toir ba toon $e!)auptungen benfen,
bie fid) auf bie religiofen 2tnfd)auungen ganjer ©tdmme unb 935Ker
bejieljen, toeldje feine Siteratur befifeen, beren ©pradje nteift nur untootU
fommen toerftanben ift, ja bie oft nur toon einent ober jtoei SReifenben
befud)t toorben finb, bie fid) bei ifjnen einige Sage, toenige SBodjen ober
toietteidjt einige 3atjre aufge^atten.
!ftel)men toir ein beliebigcS aSeifpiel. SJlan fagt un£, bafc toir bei
ben Snfulanem toon giji einen feljr urfprtmglidjen 3«ftanb ber ffteligion
beobadjten fonnen. ©ie betradjten bie ©ternfefjnuppen ate it>re ©otter,
unb bie fteineren ate bie entftie^enben ©eelen ber SRenfdjen. 6§e toir
nun irgenb toetdien ©ebraudj Don einem foldjen a3eri<$t madden fflnnen,
miiffen tuir e3 un£ nidjt border ganj flar gemadjt fytben, erftenS, toa£ ber
genaue Stame unb bie genaue SSorftettung toon ©ott in iljrer ©pradje ift; jtoei*
tens, toon toeldjen ©egenftdnben aufjer ben ©ternfdjnuppen biefer 9lame prd*
bicirt toarb? ©ottcn toir glauben, baft bie ganje Sbee be§ ©5ttfid)en, toeldje
bie gijianer fid) gebilbet, in ©ternfdjnuppen aufgeljt? Dber tjei&t eg nur fo
toief, bafj fie bie ©ternfdjnuppen ate eine neben toieten anbem aJlattifcfta-
tionen einer gottUdjen 3Kad)t betradjten, bie ben 3Kenfd)en fdjon au£ am
bern Duetten t)er befannt ift? SBeun bieS ber gatt, bann Ijdngt eben SDeS
batoon ab, toa$ biefe anbem Clueflen finb, unb toie fid^) au3 iljnen ber
Stame unb ber Segriff beS ©ottfic^en enttoideln fonnten.
SBenn man un§ 5. 93. fagt, baft bie Sebifdjen Sifter bie ©onne ate
einen ©ott betradjten, fo fragen toir fogteid), toa3 i^r SBort fiir ©ott
ift unb toa§ eS bebeutet. ©3 toar deva, unb deva bebeutet lidjt. S)ie
Siograp^ie biefeS einsigen SBorteS deva ttjurbe 93dnbe fiiflen, unb erft
toenn toix feine ganje Seben^befc^reibung toon feiner ©eburt unb erften
^inb^eit an fennen gelernt t^aben, fann bie Xljatfadje, bag bie 3nber bie
Heber Jetifdjismus.
©omte ate eincn 3)etoa ober ©ott betradjten, irgenb toeldje toerftiinblidje
SSebeutung fur ung gettoinnen.
5)agfelbe gift toon bcr SSe^jauptung, baft bic gijianer ober irgenb
toddje anbcrc SS5If er ©temfdfjnuWen ate bic enteitenben ©eefcn bcr 8Renfd)en
betradjten. ©inb bic ©ternfdjnuppen bic ©eelen, fragen ttrir, ober bic
©eelen bic ©temfdjuuppen? Unb bann Ijangt toicbcr 2tHc3 toon bent ab,
toag fie untcr ©celen tocrftanben. SBic erfjielten fic fold) cin SBort? SBaS
toar fcinc crftc ?tbfidjt? 2)ieg finb bic Sragcn, toeldje jebcr ctljnofogifdje
^ftjdjolog ju ftctlcn unb ju beanttoorten fjat, elje cr fid) mit irgcnb foetdjem
Slufcen ju ben toiclen grja!)lungen unb 2lncfbotcn toenben !ann, bic fid)
in SBcrfen itber ben 3Renfdjen aufgefpeid)ert finben.
Sg ift cine befannte Iljatf adje, baft toiele SBorte, foeldje ©ecte be*
beuten, urfpriingtidfj ©fatten bebeuteten. Slber toag fofiien hrir ung benfen,
wenn man ung cinf ad) beridjtet, baft bic Senin^Stegcr ifjre ©fatten ate
ifjre ©eelen betradjten? SBenn ©eele $ier bebeutet, toag eg ung im Seutfdjen
bebeutet, fo fbnnen ttrir fidjer fein, baft fein Steger \t geglaubt, baft feinc
beutfdje ©eete nidjtg fci ate ein afrifanifdjer ©fatten. S)ic grage in
itjrer einfadjften $orm ift bic: SBotten ©ie fagen, baft a (©djatten)
gteidj a (©djatten) fci, ober aber, baft a (©djatten) gleicfj b (©eele) fci?
®g ift nun freittdj ganj toatjr, baft ttrir audj im Seutfdjen eg ung burdj^
aug nidjt immer gang Mar madjen, toag ttrir unter ©eele toerfteljen, aber
toag ganj ttar ift, ift bieg, baft, felbft tuenn ttrir bic ©cetc einen ©djatten
nemten, ober toom ©djattenreidj fpredjen, ttrir unter ©eele nie btog
ba8 toerfteljen, toag ttrir ©djatten nennen. SBenn man ung alfo nidjt
fagen fann, ob bic S3enitt'9teger unter iljrem SBorte fur ©eete bie anima,
ben Sttljem, ate Qtityxi beg Sebeng; ben animus, ben ©eift, ate 3ei$en
beg ©enfeng, ober bie ©ecle, ate bic Quelle bcr Scgierben unb Seiben*
fdjafteit, toerfteljen; toenn ttrir nidjt cinmat ttriffen, ob iljre fogenannte ©eele
matcrtetl ober immateriett ift, ftdjtbar ober unfidjtbar, fterblidj ober uns
fterblidj, wag lemen ttrir bann, toenn man ung fagt, baft bie SBilben ben
©fatten, ober eincn SSogel, ober einc ©ternf^nup^e ate tfjre ©eele be^
tra^ten?
©icg ttmr bcrcitg gef^ricben, ate mir bie folgenbe ©telle in etnem
Sriefe beg §erm Kobrington (Norfolk Islands, 3 July 1877) ju ®eficf)t
!am, in bem bicfer einfi^tgtooDe SKiffionar in ganj bemfelben ©inne fic^
augfpri^t. ^e^men ttoir an/' fagt er, „baft eg SWenfd^en gibt, toeld^c
i^re ©eden «©djatten» nennen, fo gtaube ic^ bodj ni^t im ©eringften,
baft fic ben ©djatten fur cine ©eele, ober bie ©ecle fur einen ©djatten
fatten, ©ie gebraudjen bag SBort ©djatten bilblidj fur bag, toag bem
3Rcnf(^en 5ugcf)5rt, ttmg toie fein ©fatten ift, entfdjieben inbitoibuctl, un^
trennbar toon iijm, aber mfyt materiel!. S)ag SJlotatoort, tuel^cg ttoir fiir
©eelc gebraudjen, bebeutet in 3Kaori ©djatten, aber fein ©ingeborener toon
SKota weift, baft eg jemate bicfe 83ebeutung ^atte. SReine Ueberjeugung
\60
IHaj duller in (Djforb.
ift, bafj biefeg SBort in bcr urtyrungttdjen ©pradjc entfcfjteben toebcr
(Sfyatttn nod) ©eele augbritdte, fonbern eine SBebeutung tyatte, bic man
fid) eljer toorftetten ate augbriiden fann, unb bic in cincr ©pradje in bcr
Sebeutung ©fatten, in bcr anbern in bcr Sebeutung toon ©ttoag toie
©eelc, ettoa etn jtoeiteg ©elbft, fyertoortrat."
2Bag toir ju begreifen Icrncn miiffen, ift eben biefer Uebergang bcr
SBebeutung, tote aug bcr 93eobad)tung beg ©fattens, bcr am Xage bet
ung ift unb in bcr 9ia<$t ung toerlafct, bic SSorfteflung Don cinem jtoeiten
©elbft entftanb, tote biefe SSorftetlung fid) ntit cincr anbem toereinigte,
namlid) ntit bcr toon 2ltf)em, bcr int Scben bet ung ift unb im lobe un3
ju toertaffen fd)eint; unb toie aug biefen betben aSorfteflungen fid) bic 3bee
toon cinem ©ttoag, bag toom Sflrper toerfdjieben ift unb bod) cine 9trt toon
Seben beftfet, tangfam ijertoorarbeitet. §ier finben fid) toaljre Ueber-
gauge toom ©idjtbaren jum Unfidjtbaren, toom 3Kateriet(en sum 3mma=
terieflen. Slber attftatt ju fagen, bag SJlcufdjen, in bicfer fritfjen 5|Seriobe
iljrer ©eiftegentttridetung, ifjre ©eeten fur ©fatten fatten, finb toir faum
berecfytigt, meljr ju fagen, ate bafj fie glaubten, nacfj bem lobe toerbc tf)r
Sttfjem, ber ben $8rJ>er toertaffen, in ciner gorm cjtftiren ttrie ber ©fatten,
ber bem ®8rper im Scben folgt. S)er Stberglaube, bafc ctn tobtcr
Sorter leinen ©fatten toirft, entfpringt bann ganj toon aHetn.
Sfttdjtg ift fdjtoieriger, ate ber SSerfudjung ju toiberftetjen, cine un*
ertoartete 93eftattgung unferer Xfjeorien, bie t»ir in ben 83erid)ten toon
SUliffiondren unb Steifenben finben, fitr eincn Setocig ju fatten, ©o ift
bag SBort fur ©ott im flfttidjen ^ottjnefien Atua ober Akua. Da nun
ata in ber Sprad)e ber 5($ofynefter ©fatten bebeutet, toag lonnte natur-
Kdjer erfd^ctnen, ate in biefem 9Zamen fitr ©ott, ber urfprungticf} ©fatten
bebeutet, eincn SBetoeig jit finben, bafj bie SJorfteflung toon ©ott iiberatt
aug ber SSorfteflung toon ©eift entfprang, unb bic SBorftetlung toon ©eift
aug ber S3orftettung toon ©djatten? ®g fonntc tote blofce ©treitfudjt au3*
feljen, toollte man ©intoenbttngen bagegen erljeben, ober jur 93orfi<$t ratten,
too Sttteg fo Har f(f>eint. ©ludftdjertoetfe Ijat aber bag ©tubiunt bcr
poft)nefif<f)en ©pradjen in ber lefcten 3^it f(f)on eincn mefjr toiffenfdjaft-
lidjen unb fritifdjen E^arafter angenommen, fo ba| blofee I^eorien bic
$robe ber I^atfac^en beftc^en miiffen. ©o jetgt benn ERr. ©ill*), ber
jttmnjtg 3a^re in Sffiangata gclebt ^at, bafe atua nidjt toon ata abge=
Icttet toerben fann, fonbem ba§ e^ mtt fatu im Xa^itifd^en unb ©antoas
nifd^en jufammen^angt, unb mtt aitut unb bag c§ urfprungtt^ bag 2RarI
eincg SSaumeg bebeutcte. !ftad)bem eg nun juerft 2Karf bebeutcte, tourbc
eg fpater, ettoa toie ©anffrit. sara, jur Sejei^nung toon StKem, tt?ag bag
Seftc ift, bejeicfynete bic ©tdrfe eincg S)tngeg, unb f^ticftlic^ ben ©tarten,
ben §erru. 3)ag auglautenbe a in Atua ift intenfito, fo bafc alfo atua
*) Gill, Myths and Songs from the South Pacific, p. 33.
Uebex f etif cbism us. \6{
fiir cincn ^otynefier bic ©ebeutung Don bem innerfien 2Rarf unb SebenS;
faft eine3 2)inge3 f)at, unb IjierauS enttoidelte fid) bet ifjnen ciner bcr
trielen Stamen fiir ©ott.
SBenn ttrir mit einem SJlanne Don tirirflidjem SBiffen ju tljun fjaben,
ttrie 2Jtr. ©ill ift, ber faft fein ganjeS Seben unter einem ©tamme ber $ofy"
itcjter Derlebt fjat, fo fonnen mir un3 tool)! auf feme ®arfteHung Derlaffen.
SCBcr felbft er lann nidjt Don ber Steligion feiner SDiangaianer mit berfetben
Stutoritdt fpredjen, bie j. 93. bem §omer jufommt, toenn er Don feiner
eigenen SReligion fpridjt, ober bem 2tuguftinu3, toenn er un3 feine interef-
fattte 83efd)reibung be3 ©laubenS ber SRdmer gibt. Unb bod) toer toeifc
nidjt, toeldje Ungettrifeljeit trofe atlebem in unferen Slnfidjten Don ber grie?
tfjifdjen unb romifdjen SReligion iibrig bleibt, felbft nad)bem toir Sitter
getefen, tt»a£ foldje SKdnner enttoeber Don ifjrer eigenen ober Don ber
ffteligion 3)erer unS beridjten, in beren 3Ritte fie fjerangetoadjfen unb if)r
ganjeS Seben Derbradjt Ijaben.
®ie ©djtoierigfeiten, mit benen SRiffiondre unb SRcifenbe ju fdmpfen
Ijaben, toenn fie un3 eine getreue ©djilberung ber ffteligion unb be3 geiftigen
SebenS toilber SSdlfcr ju geben fudjen, finb alfo Diet grbfcer, ate man
tool ju gtauben geneigt ift, unb einige Derbienen nod) befonberS IjerDor*
gefjoben ju toerben.
fiinfluf 6er offentlic^en ZTteinung auf Xeifenfce.
SrftenS alfo gibt e3 tuenig Jfteifenbe, bie nidjt Don ben ©tr5mungen
bcr fiffentlic^en SWeinung beriitjrt toerben. S3 gab eine &c'xtr too atle
Sfteifenben Don SRouffeau'fdjen gbeen angeftedt toaren, fo bafc atle SBilbe
in iljren Stugen ettoa fiir ebenfo ebet galten, ate bie ©ermanen in
ben Stugen Don JacituS. ®ann lam ein SBiberfdjlag. Xfjeilloete burdj
ben Sinflufj amerifanifdjer ©tfjnologen, bie iiberafl nad) ©ntfdjutbigungSs
griinben fiir ©HaDerei fud^ten, tljeilloete ju einer fpateren 3^it au3 bem
SBunfdje, ba3 fetjtenbe ©lieb jttrifdjen Slffe unb -Dtenfdj ju finben, befdjrieb
man bie SSitben in einer SBeife, bajj man nrirftid) oft jtocifelte, ob ber
Sieger nidjt ein nieberereS ©efdjopf ate ber ©oriHa fei, unb ob ber
Sftame SKenfd) toirflid) auf ifjn paffe.
Ebenfo ate fic^ bie ©treitfrage er^ob, ob Religion eine in^arirenbe
@igentf)umli(^!eit beS SRenf^en fei ober nic^t, ba ftie§ eine gettriffe Klaffe
t>on Steifenben ftetS auf §orbenr bie feinen Stamen unb fcinen Segriff fiir
©ott fatten*); anbere entbedten iiberatl bie erfjabenften religiofcn Sin*
fid)ten. SOlein greunb, 3Kr. Xqlox, ^at eine feljr nu^ti^e ©ammlung Don
fid) ftrad£ tt)iberfpre(^enben 93eri(^ten iiber bie religiofen Stnlagen eine§
imb beSfelben SJoKe^ gemad)t. Sieflei^t ba§ dltefte 93eifpiel biefer 9lrt
ift ber SJerid^t iiber bie ©ermanen Don ©afar unb £acitu3. ©afar fagt,
*) M. M. History of Ancient Sanskrit Literature, p. 538.
\62
£ IKar UTiillcr in (Drforb.
ba& bie ©ermanen nur bie fixr ©5tter fjalten, toetdje fic feljen fomten unb
burd) bcrcn ©aben fic offenbar begiinftigt toerben, ttrie bic Sonne, bag
geucr, ben 2Ronb.*) Sacitug erflart, baft fic mit bem Slamcn bcr ©otter
nur bag SSerborgene nennen, bag fic nur burdj SSereljrung fe^jen.**) SBtr
mogen fagen, bag Jacitug fpater fam ate ©afar, ober baf$ jeber toon iljnen
bet einem anberen ©tamme ber ®eutfd)en fid) iiber itjre Religion Slatlj
erfplt. Die @ad)e btcibt biefelbe, unb bie ©djtoierigfeit, jutoerlafftgeg
2Rateriat ju fammetn, tritt nur in ein nod} tfellereg fiidjt.
ITCancjel an einfyeimifdjen #utoritaten.
SIber felbft toenn ein SReifenber fid) finbet, ber feine toorgefafcten
toiffenfd)aftftd)ett SSorurtljeite Ijat, ber Weber ben giiljrem toiffenfdjaftlidjer
nodj ttjeologifdjer ©d)uten ju Siebe fdjreibt, fo bleibt nodi immer, toetm
er eine genaue 83efd)reibung ttntber SSolfer unb ifjrer ^Religion geben toiQ,
bie grofee ©djtoicrigfeit, bag feine biefer SReligionen anerfanntc 9lutoritaten
befifct. SRetigion untcr SBitben ift faft eine perf online ©adje, unb fie
ioedjfclt feljr fdjnell unb teid^t bon einer ©eneration jur anbern. 3^ ftf&ft
in berfelben ©eneration finbet fidf) bie grofete SSerfd)iebenljeit ber
fidjten mit 93cjug auf bie hritf)tigften gragen beg ©laubeng.
Stflcrbingg gibt eg $riefter, audj Ijetfige ©efdnge unb ©ebraudje,
unb iiberatt gibt eg 9Riitter, bie iljren Sinbern einige gutc Sefjren fiir bag
Seben mitgeben. 2tber eg gibt eben feine Sibel, feinen Satec^igmug, fein
©laubengbefenntnifj. Die fReligton liegt in ber Suft, unb 3eber atljmet
fo Diet batoon ein, ate er jum Seben braudjt.
Dieg ttrirb ung begreiflidj madjen, ttrie eg fommt, bafc SBeridjtc t>on
SReifenben unb SKiffionaren iiber bie SRetigion begfelben SSoIfeg oft tote
©djfoars unb SCBcife bon einanber abtoeidjen. ©g mag ja in bemfetben
Dorfe einen toa^ren ©ngel unter ben Slegern geben, unb einen toaljren
Xeufel, unb bod) ttmrben beibe in ben 2tugen europaifdjer JReifenben fur
gleidj gute ©etoatfrgmanner in S3ejug auf bie religi5fen Slnfidjten beg ganjen
©tammeg getten. Dafc abcr aud) unter ben Slegern fe^r bebeutenbe Ser?
fdjiebentjeiten in itjren religiofen 2tnfid)ten ^errf^en, bag hriffen loir Don
iljnen felbft.***) 3n SBibalj 5. 93. fagte man Deg SRardjaig, bafi nur bic
SSome^men unb ©rofcen »on einem t)5d)ften ©ott im §immel tmffen, bcr
attmadjtig, attgegentoartig fei unb bag ©ute unb SBofe tocrgeftc, unb an
ben man fid) julefct toenbe, U)enn aQe anberen §iilfgmittel in ber 9lot^
fid) fru^ttog erwiefen. ®g gibt aber einen foldjen 9lbel unter alien
*) De Bello Gall., VI, 21. Deorum numero eos solos ducunt quos cernunt^
et quorum aperte opibus juvantur, Solem, et Vulcanum, et Lunam.
**) Tac. Germ. IX. Deorumque nominibus appellant secretum illud quod
sola reverentia vident.
***) »aij, ant^ologie, II, 171.
Uebex ettfdjismus. ^65
335Ifero, ben citoitifirten tote ben unctoilifirteu, ben alten 2tbcl be£ ©uten
unb (Sbten, bcr oft ben ©injelnen einen SJorfprung toon 3at)tf)Mtberten toor
bent gemeinen §aufen gibt.
2Ran benfe bod) nur, toaS bcr ©rfolg fcin toiirbe, toenn man in ©uropa
einen tyerabgefommenen SBerbredjer unb cine ®iafonifftn, bic ifjn im ©e^
fditgnift trftftet, befragen toollte, toaS ifjre gemetnfame SReligion fei, unb
man toirb fidj bann tnetleicfjt roeniger tounbem, toenn bie Seriate beg
SRiffiondrS unb be3 ©flatoenl)dnbler3 iiber bie retigiofen 2lnfid)ten be3*
fclben UiegerftammeS fo foeit toon einanber abtoeidjen, bafj toix fie gar nid)t
jufammen reimen fonnen.
Ztutoritat 6er Priefter.
9lun gibt e3 aflerbingS $riefter aud) bei ben SRegern, unb man fonnte
meinen, baft tt>a§ btefe Don ber ^Religion iljreS SSoIfc^ beriditen, unumftofc
Itcfje Stutorttdt fjabe. Stber man benfe nur ein toentg nad). 9Ran frage
fief) nur ttieber, ttrie e3 benn bei un3 fein toitrbe. 2Bir Ijaben bor ni(f)t
trielen 3aJ)ren bag ©cfjaufpiel erlebt, bag einer unferer auSgejeidfjnetften Sf)eo=
logen erfldrte, toie ein anberer ©eiftlidjer, beffen SSitfte jefct in SBeftminfter
Sbbelj neben ben SBiiften bon ffiebte unb Singlet) ftefjt, ni<f)t an benfelben
©ott glaube att er felbft. 3ft e3 ein SBunber alfo, toenn SJSriefter bei
ben 9lfd)anti3 in 93ejug auf ba§ toafjre SBefen ifjrcr getifdje bon einanber
abtueid)en, unb toenn SReifenbe, bie fidj bei »erfcf)iebenen SPrieftern unb SBaljr;
fagern SRatI) erljolt f)aben, fefjr fcerfdjieben beryfjtet toorben finb! 3n einigen
£fjeilen toon 2tfrila, namentlidj too fid) ber ©influfe beS 9Rof)ammebani3mu3
fiifjlbar gemadjt fjat, »erad)tet man fotool bie getifd)e aU bie, toefefye fie
t)erfaufen. S)ie 3otof3 fefcen ben 2Rarabut£ bie £f)iebo3, bie Ungtdubigen,
©ottlofen (fo f)eifjen bie bejafjlten ©olbaten) entgegen, tt>eld)e iiberJjaupt
feinen ©lauben ioeiter Ijaben al§ ben an iljre ©ri3;gri£.*) 9tn anberen
Drten bliiljt ber getifd)i3mu3, unb bie <{5riefter, tuelc^c getif(f)e fabriciren
unb t)on bief em §anbel leben, rufen aud) bort: ©roft ift bie 3)iana ber
©defter!
2fbneigung 6er IDilben, fiber itjre Seligion $u fpred?en.
©(^lie^Iic^ muff en toix nod) einen SJSunft in SBetradjt jie^en, ndmli^
bafe, urn ein toaf)re3 SSerftdnbnife irgenb einer SReligton ju geminnen, ber
SBunfd) unb SBitte auf beiben ©eiten ba fein mu|. SSiete SSilben fd)euen
Dor alien gragen iibcr Sieligion, t^eitoei^ t)icttctdE)t au3 abergldubifc^er
gur^t, t^eitoei^ loot aud) au§ einer getoiffen Unbe^iilflidjfeit, ifjre ^alb^
fertigen ©ebanfen unb ©efiil)le in fcrtigen SBorten au^jubriiden. ©inige
©tamme finb entf^ieben fdjloeigfam, fiir anbere ift ©prcdjen eine 2Uu
*) SSai6. Anthropologic, II, 200. Ueber Dcrjdjtebene (Slaffen unter ben
$ricftern ibid. II, 199.
£ I1laj Illullcr in (Dyfor!).
ftrengung. 9iad) 3etjn SRinuten Untertyaltung flagen fie iiber Sopfmel).*)
Slnbere im ©egentljeil fdjtoafcen unauftjurlid) unb fjaben auf jebe Srage
cine StntttJort fertig, oljne fid) x»iel ju fiimmem, ob toaS fie fagen ttxtljr
ober untoafjr ift .**)
2)iefe ©djtoierigfett ift feljr treffenb toon SR. ©obrington in feinem
93ricf t>on ben Storfolf gSfattbS gefdjitbert. „2)ie SSerttrirrung in 33ejug
auf folctje 2)inge liegt gett>5l)nlid) nidjt an ben ©ingeborenen, fonbem
entfpringt au3 bem 2RangeI eineS Karen ©ebanfenau3taufct)e3 jttnf<§en
©ingeborenen unb ©uropdem. ©in ©ingeborener, ber ein toenig ©nglifdj
ticrftc^t ober ber t)erfucf)t mit einem ©ngldnber in feiner eigenen ©pradje
ju toerfefjren, finbet e3 trie! leister, ju Slllem, toa£ ber SBeifte anbeutet,
ju nitfen, ober fotd)e SBorte ju gebraudjen,' bie ifjm eben befannt jinb,
o^ne baft er fidf) toon itjrer Sebeutung genaue SRedfjenfdjaft geben fann,
ate fid) abjuqudlen, urn gerabe ba3 au^ubrildten, toa£ er auf bent $erjcn
t)at. 3n biefer SSeife er^alten Steifenbe toa£ fie fiir ganj ju&ertdffige
3RittfjeUungen toon ben ©ingeborenen fatten, unb brucfen bann 2)tnge,
bie benen, tueldje ttrirflid) eine genaue Senntnift batoon Ijaben, ganj
Iddjerlid) flingen. ©o fjaben toir l)eute feljr gclad^t, ate idf) einem jungen
3RerIao^naben mittfjeilte, tva$ id) eben in einem 93udje (©apt. aRoreSbtj'S
Ueber 9teu^©uinea) toon ben ©flfcenbilbem getefen Ijatte, bie er in fetnem
2)orfe gefetjen ljaben toritt, unb toon benen er Ijofft, baft mein junger
greunb baju beitragen toerbe, baft bie ©ingeborenen fie mit ber 3«t afc
fdjaffen. 3Jlein iunger greunb fyatte namlid) biefe fogenannten ©o$en*
bilber felbft mit madden Ijelfen unb fie finb fo toenig (Sofeenbitber ate
bie Siegcnrinnen (gurgoyles) an ben gottjifdjen Sirdjen. 3dj fyafre a^er
gar feinen S^cifel, baft irgenb ein ©ingeborener bem ©djiffScapitdn
fagte, fie todren ©flfcenbitber, ober £eufel, ober ettoaS bem 2le§nltd)e£,
ate man if)n gefragt, ob fie nidfjt ©ofcen lodren, unb man lobte i^n
tuatjrfdjeintid) ganj befonberS toegen feiner Scnntnift be£ ©ngtifdjen."
2Bir befifcen eine fet>r gute Sef^reibung t)on 93enebictinern,***) bief
nadjbem fie brei %a1)xt tang auf ifjrer Station in Sfuftralien ate SDliffto-
ndre gearbeitet fatten, tjottfommen tiberjeugt toaren, baft bie ©ingeborenen
feine ®ott^ett, toa^r ober falfdfj, tjere^rten. ©pater aber tourbe e3 i^nen
ganj flar, baft biefe SBilben an ein IjBdfjfteS SBefen gtaubten, todfytf
bie SBett gef^affen ^abe. SBenn nun biefe Senebictiner i^re ©tation
t)erlaffen, etje fie biefe ©ntbedung gemad^t, loer toitrbe gettjagt ^abenf
i^ren 93erid)ten ju toiberfprc^en?
. giir ®e SSroffe^, ate er fetn ungltidfeligeS SSud^ iiber ben
*) H. Spencer, Sociology, I, p. 94.
**) Sttatyer, ^apttajpra^en, S. 19.
***) SBergt. C. H. E. Carmichael, A Benedictine Missionary's Account, im
Journal of the Anthropological Institute, gebruar 1878.
Ueber (fctif djtsmus.
\65
f<$i3mu£ fdjrieb, cjiftirtc feineS toon alien biefen 93ebenfen. 2tlle3, toa£
cr in bcr SReifebefdjreibung toon ©eeleuten obcr ipanbelsleuten toorfanb,
xoax iljm tmttfomtnen. ©r ^atte cine Xljeorie, bic toertfjeibigt toerben muftte,
unb 2ltte£, toa§ fie ju beftatigen fd)ien, muftte notljtoenbig toafyx fcin.
3d) l)iett e3 fur notfjtoenbig, bie bet einem nriffenfdjafttidjen ©tubium
ber SReligionen toitber SSfllfer untoermeiblidjen ©djttnerigfeiten ftar unb
offen barjulegen, urn gegen jtoei ©efafjren ju toaroen, bie eine, ba& fair
etnfeitige SSefdjreibungen folder SRetigionen filr jutoerlaffig anne^men,
bie anbere, unb nod) gr5fcere, bafe loir auf fo unfidjerem ffloben toeifc
greifenbe 23jeorien iiber ben Urfprung unb ba3 SBefen toon Sftetigion im StU?
genteinen aufbauen. @3 fdjeint jefct faft unmoglid), ben tiefeingeftmrjelten
©lauben an einen urfpriingttdjen Setifd^i^muS au3 ben $anbbiid)ern ber
®efdjict)te ttrieber fortjufdjaffen. @r ift ju einer Strt Don ttriffenfdjaftlidiem
getifdjiSmuS getoorben, ber, toie bie meiften Setifdje, au£ Untoiffenljeit
unb Slberglouben entftanben, aber nid)t3 befto toeniger eine getr»iffe ipeitigs
feit nod) lange befjaupten ttrirb.
Slur m5d)te id) nidjt miffaerftanben toerben. 3Me 2l)atfad)e, ba&
geiifd)i3mu£ unter ben Stegem toon S33cft-9lfrifa unb aud) unter anberen
ttritben ©tammen toeit Derbreitet ift, foil burdjauS nid)t in Slbrebe ge*
fteOt toerben.
2Ba3 idj nid)t jugeben fann, ift, bag irgenb Semanb, ber iiber biefcn
©egenftanb gefdjrieben, mit S)e 83roffe3 anjufangen, bettriefen ober aud)
nur ju betoeifen t>erfud)t ^at, baft atte£ bag, toa£ fie gctifd)iSmu3 nennen,
imrflidj eine urfprimglidje, uranf anglicise gorm ber ^Religion fei.
((Jin e^Iufeouffoft felgt.)
Sieben (Dben bes £)ova$.
E>erbeutfd?t von
Cmamid <6ri6cL
— £tibecf. —
Tin XTl. Dtpfanms 2lgrtppa.
id?, 23e3roinger bes ^feinbs, tapfrer, rerfjerdid?e
3n t?omerifd?em <flug Darius* *?elbenlieb,
VO'xt Dein ^eer Du 311 Sd?iff ober im Beiterfampf
£u glorroiirbigem Sieg gefiifyrt,
Ittir, 2Igrippa, geltngt nimmer fo IITdd?tiges;
Hie ben gorn bes 2Id?ilI fang* id?, bes etjernen,
Hie bie ^afyrten bes liftftnnenben 3tljafers,
Hod? bie (Srauel in pelops £?aus.
^iir (Erfyabnes 3U fdjicad? umrnt mid? bie fd?iid?terne
ITtufe, n>eld?er ber (Eon friegrifdjer Saiten fremb,
<£dfars ftrafylenben Hufym nid?t unb ben Deinigen
Durd? (Sejtfimper t?erab3U3iefyn.
VOtx aud? f iitjrte ben ITCars im biamantenen
£?arnifd? nmrbig uns ror? IPer ben Uleriones
Sd}tuar3 ron troifd?em Staub ober in (Sotterfraft
pallas Sdjufcling, bes (Eybeus Sofyn?
Hur (Safimdfyler unb ^etgbliittger Illdbd?en Kampf,
IDenn il?r Hagel geftufct fiitjnem (Setdnbel roeljrt,
Sing' id?, fyeute nod? frei, morgen in ^flammen fd?on,
Hleiner leid?ten Hatur getreu.
IDenn Du bie 2Jrme flefyenb 3um ^immel l>ebft
23ei jungem ITCoublid?t, ldnblid?e pfyibyle,
Unb fromm bie £aren fitfjnj* burd? IPeitjraud?,
Ijeurige frudjt unb ein runbes Jerflein,
Sieben 0ben bes £}ora3.
{67
Dann fpiirt bes Siibtuinbs giftigeu 0bem nidjt
Der fdjroangre Hebjtoc!, nod? ben cerberblidjen
Iftefihtjau bie Saatflur, nidjt bas junge
Saugenbe £amm bas <5ebrejt ber Obfaeit.
Per 0pferjtier, ber fraftige IDeibe fanb
3m <£idjenforjt am fdjneeigen Sllgibus,
Den 2Ilbas <5rasflur iippig nafyrte,
HStfje mit blutig getroffnem Harfen
Das Set! bes priejiers. 2Iber fiir Did? bebarfs
Hidjt ©ieleu 3luts unfdjnlbiger Sammer erft;
ZTur Hosmarin unb 3arte Hlyrten
IDinbe ben <5ottern bes ^eerbs 3um Kran3e!
Denn Deine ^anb, bte fromm ben 2IItar berut^rt,
Derfolmt, aud? arm an (Saben, n>ie fojtlidjer
Sranbopferbuft ben 50rn oer ^SStter,
Spenbet fte fnijiernbes 5al3 unb ITTct^I nur.
Tin ^ccxns.
Did? locfen, ^reunb, bie Sdjafee ber 21raber
Unb ernfien Kriegs3ug, 3cctns, riijteft Da
Sab'das nie 3uror bepegten
Ifb'nigen, ja, fiir ben Hleber fdjmiebeft
Dn ^ejfeln fdjon? IPeldj fdjones 23arbarenfinb
Bebient Didj fiinftig, bem ber Derlobte f?el?
IPela? fdjmutfer €belfnabe foil Dir
Duftenben *?aars ben pofal frebcn3en,
Der einjt com Daterbogen ben Sererpfeil
3ns Sd?mar3e fdjog? — ZTun fage mir (Einer nodj,
<£s fSnne nie bergan ber Stur3badj
0ber 3ur Quelle bie (Tiber flromen,
Da Du ben farmer ermorbenen Budjerfdjafe,
Der Stoa Sdjriften unb ber 5ofratifer/
Dir felber treulos, nnllig tjingibft
$ux cin iberifdjes pa^erfyembe.
Tin Dirgilius,
0 tcie tpiigte con Sdjam ober con UTafj ber Sdjmer5
Urn fold? ttjeueres fjaupt! fjilf, o Ulelpomene,
fjilf mir flagen Du felbft, ber bas erfd>utternbe
£ieb 3ur ^arfe ber Pater gab,
Korb unb Sfib. VII, 20. 12
(Emanuel (Seibel in £ubecf.
2Ilfo nnfer Quintil fdjlummert ben (Eobesfdjlaf?
XOann mixb ftilles Derbienft, matin bie (Seredjtigfeit
Hetnfter (Ereue ©ermcitflt, jeglid?er £iige fremb,
Seines (Sleidjen auf €rben fetm!
Ulandjer <2ble beroeint beifj ben (Entriflenen ,
fjeifjer Keiner, als Du, trauter Dirgilins;
2la], Dein frommes <5eliibb, bas r»on ben tymmlifdjen
2Jnbres bat, es erroerft ifjn nid)t.
(Db nod? filler, als einfl (Drpfjeus, ber (Efyracier,
Du ben fyordjenben IPalb locfteft mit Saitenfpiel:
Hie fefyrt roarmes (Sebliit mieber bem Sdjattenbilb,
Das mit urinfenbem Stab cinmal
(Eaub fiir jebes (Sebet u>iber bes Sdjicffals Seeing
Seiner jrYgifa?en Sdjaax Vermes fji^uaefelft.
Ijart ifi's. £ern' in (Sebulb mannlidj ertragen, ^rcunb,
Was 311 aubern ein (Sott peripetjrt.
IDeibgefang.
Pas Volt ber Sp8tter ffajf ict>, fymseg mit itrni!
3n SInbadjt fdjroeigt! Xtie fruiter ©eruommenen
(Sefang im fyeiFgen Dienjt ber XtTufen
Stimm' id? ben ^unglingen cm unb 3ungfrau'n.
Die fjerrn ber ^errn felbfr, roeldje ber Dolfer Sdjroarm
IHit &\ttexn effrt, finb 3upitern untertfyan,
Der, bura? (Siganteufteg Derfjerrlidjt,
Allies beroegt mit bem IDinF ber 33raue.
(Db ber in n>eiter'ti (Sx'dn^en, als 2Jnbere,
£u(tgarten pflan3e, biefer fid? eblerer
(Seburt, 3um H?at?lfampf fdjreitenb, riifjme,
Diefer burdj Sitten unb Huf geabelt 4
IHitoerbe, jenen grBjjre (Oientenfdjaar
llmring,: ein ftreng ausgleidjenb Perljangnifj tljeilt
Sein £oos bem Crofns 3U, bem Settler,
Wie es fiir jeglidjen birgt bie Urne.
IPem iiber fdjulbbelabencm ^aupt ge3iicft
(Ein Sdjroert fjerabfyangt, feiu fybaritifdj Ula^l
Sdjajft reinen IPotjIfdjmacf ityn, nodj lullt ilm
Pogel3U)itfa^er unb Klang ber Saiten
3u Sdjlummer ein. Dodj frieblid?er Sdjlaf rerfdrniafyt
Die niebern ijiittcn lanblidjer IHanner nidjt,
2Im> Uferabfyang nidjt ben S&atten,
0ber ein (Eempe, gefiiljlt vom EDeftfjaud?.
Siebeu (Dben bes *?ora3.
IDer nidjts, als was 3um £eben geniigt, bebarf,
Den fiimmert ntdjt bes tobenben ITCeeres EDutfj,
IDenn nnter Sturm 2lrfturus Sternbilb
Sinft unb am ^immel ber IPibber aufjleigt,
tlidjt *?agelfd?Iag, ber fiber bie Heben branjt,
XXl'v%wadfS im (felb nidjt, roenn bie <5en>affer balb
Die vfrnd?t perbarben, balb bes Ijnnbsjterns
Sengenbe (Slut unb bes IDinters ^arte.
Beengt im Uleer fdjon fiitjlett bie (fifdje fidj
Durdj rief'gen Dammbau; ma^t bod? ber Hleifier bort
Hlit feinem Wexlvolt Sdjutt unb Quabern
(Eaglidj Ijinab, ba ber ftol3e (Srunbfyerr
Satt marb bes ^eftlanbs, 2Iber bem Ueppigen,
IDofjin er fdjroeift, nadjfdjreitct bie ifnrdjt; es fteigt
3ns Huberfdjiff mit ifmt unb fetjt fid?
Winter ben Heiter bie fdjn>ar3e Sorge.
VOcnn brum ben (Eriibflnn pfjrygifdjer Ularmor nidjt,
Hidjt purpnrfdjmucf, gla^poller als Sternenfdjein,
^u banxxen IHadjt fyat, nidjt (Jalerner,
ZTod? ber erlefenfte perferbalfam,
Was foil mit neibermecf enben SauUn idj
3m neujten Stil mir prfidjtige fallen bau'tt?
IPas mein Sabinertfjal urn Heidjtfjnm,
Der mir Sefdnserbe nur fdjajft, certaufdjen?
2In Calliope.
Hun fteig' Ijerab vom ^immel, Calliope,
Unb lag 3um (Eon ber JflSte, (Sebieterin,
<£iu groges £ieb tjellftimmig flatten,
0ber begleit' es auf pfyobus £eyer*
Dernatjmt ifyrs? 0ber tciufdjt mid? ein t^olber IDafm?
ITtir iji, id? rjdr's, roie fdjroeifenben <fuges fte
^erroallt im (Sotterfyain, melobifdj
Von ben (Semdjfern umraufdjt unb £iiften.
ITCidj becften auf 2lpuliens (Seierberg,
Wo einjt als Kinb idj, ferne bem Eaterfyaus,
Dom Spiele miib' in Sdjlaf gefnnfen,
fjimmlifdje (Eauben mit jungem £aub 3U.
<£in EDunber baudjt' es Allien, fooiel umfjer
3m fyofyen Klippenneft 2ldjerontia's,
Sooiel im iipp'geu {£tjal Jorentums
IPofynen unb an ben Bantiner Walotydtfrx ,
12*
€manuel <5eibel in £ube<f.
Wic fidjer id? cor Saren unb Hatter nbrut,
<5eborgen unter tyeiligem £orbeerreis
Unb XTtyrten, fdjltef , cin forglos Knablein,
<5nabig betyiitet con end}, if?r HTuf en.
Penn euer bin id?, euer, umroefye mid?
Sabinums Bergluft ober bcr Sdjattentyain
prfineftes, nrinfe (Eiburs f?ang mir
(Dber ber pla'tfd?ernbe <5oIf con 33ajfi.
£lid?t b^at mid?, eurer (Quellen unb Can3e (Jreunb,
pbjlippis riicftca'rts ftatenbe Sd?Iad?t cerfefyrt,
Hid?t jenes Ungliitfsbaums £}erabjhir3,
Hod? im Sicilif d?en UTeer bas ^elsriff.
Seib ifjr mit mir, fo barf id? mid? frotjgemutfy
3m Sd?iff bem milbaufbraufenben Bosporus
Dertrann unb burd? Sen fyeigen ^lugfanb
2In ber 2Iffyrif d?en Ktifte pilgern,
Pen Britten barf id?, tceldjer ben trembling miirgt,
(Setrojt, ben Hofjblut fd?liirfenben <£antaber
2luffud?en unb am ScYttjenjtrome
Hubjg bem pfeil bes <5elonen trotjen.
^fyr lajfet Ca'farn, tcenn ber (Erfyabene
Sein miibes fyex im Sd?oo§e ber Stfibte barg
Unb Stille fud?t nad? Kampf unb Ittiibjal,
3n ben pierifd?en (Srotten ausrufyn.
^riebfelgen Hatty erttyeilet it?r ^olben it?m
Unb frent end? enres Hatfyes. Pod? miffen mir,
VO'xt mit bes Ponners Keil bie Hotte
^recler (Eitanen er einft 3erfd?mettert,
&r\s, ber ben <ErbbalI, ber bie <5eroaffer lenft,
<5efefe ben Stabten gibt unb bem Sd?attenretd?,
Unb (Setter gleid?u?ie Staubgeborne
€tn3ig betyerrfdjt mit geredjtem Scepter.
IDotyl fam ein (Srau'n ifjm, als mit gen>altgem 2lrm
CoOfiityn bie Hiefenjugenb ben Sturm begann
Unb jenes paar antyub, ben icalb'gen
pelion auf ben (Dlymp 3U rofi^en.
Pod? mas cermod?te Cyptyons unb Mimas' Kraft,
Was atte Profygeberbe porpfyyrions,
Was felbjt €ncelabus, ber fiifme
Sd?leubrer entnmr3elter <£id?enfiamme,
Sieben (Dben bes ^oxa^
2IIs tfmen pallas tdnenber (5b*tterfdjilb
^ntgegenbliftt'? als t^tcr ftd? Pulfan erfyub,
Dort 3utt0S (Sottfjeit unb bes golbnen
Himmcr r>erf agenben Cogens Metier ,
<£r, bem com flaxen (Efyane Kajtolias
Pic £oc!e trieft, ber £yciens IHyrtenflur
Unb feines (Eilanbs fjain umtpaltet,
Delos unb patara's <5ott, 2IpoIIo ?
Kraft oljne Hatff ftiirjt unter bcr cignen IDudjt,
Kraft, t»enn ftc Hlag fyilt, fiit^ren bic (Setter felbft
gum 00<*? Bwftafit itjnen
Uebergetpaltiger Stdrfe $xevel.
Hlein IDort bc3eug' eudj (Syas, bcr (5da Sefyn,
Dcr fyunbertarm'gc, jcncr (Drion audj,
Der, fredj Dianas HC13 begefjrenb,
llntcr ben pfcilen erlag bcr 3**ngfrau.
Sdjroer becft bic <2rb' itjr eigenes <5rdulgefd?ledjt ,
Die £3rut bejammerub, bie 311 bes (Drfus Hadjt
Dcr Blitj gcftiir3t; nod? nidjt burdjfrag it^r
5ct|renbcs ^euer bic £ajt bes 2Ietna.
Dcr (Scier la§t, 3um Hddjer bcr Sdjulb bcjtellt,
Von Dciner 33ruft nid?t, liifterner (EitYos,
Unb Ketten, brcimal fyunbert, briicfen
<£n>ig piritfyons Didj, ben Buffer.
5d?on in's 3etjnte 3at|r im (Seroolbe Iagcrt
Ittir cin Krug albanifdjen IDcines, pfyUis;
3mmcrgriin 3U Krdn3en befdjeert bcr (Barren,
^iillc bes (Epfjeus,
Dag mtt reidj bnrdjflodjtenem ^aar Du glan3cft;
frSfylidj jtraljlt con Silbcr bas fyms, ber 2Iltar,
Keufdj mxi £orbcer3n)cigen umrounben, fyarrt bes
£dnblid?en (Dpfers.
JJanb an's IDerf legt jebcr; gefdjdftig cilen
*?ier unb bortfn'n Knabcn 3umal unb HTSbdjen;
fjimmelan fdjon roirbelt bie (glut ben fdjroa^en
Strubel bes Haudjes.
Dodj, bamit Du uriffejt, 3U roeldjen ^reuben
307 Didj lub: unr feicrn bas <$eft ber 30Ctt/
Das ben ITIonb ber ^lutengebiet'rin Denus
Cfyeilt, ben 2Iprilis.
€manuel (Seibel in £iibed.
JJeilig ijt, fajt Ijeiliger biefer (Eag mir,
2Hs bas $tft ber eig/nen <5eburt, ©erfiinbet
Dodj ein neu 3ujhdmenbes 3a^r fe*n 2Iufgang
iheincm Ittacenas.
(Eelepfyus, nadj bem Du Did? f etjnft / ben 3un9^n9
ija'lt — benn Dir md?t roar er beftimmt — cin Illabdjen,
Heidj nnb leidjt von Sitten unb Sinn, in fiigen
Banben gefeffelt.
33ranbperfengt Iefyrt phaeton Did), permejfnen
IDunfdj 3U fliel^n; Belleropfjons Stuv$ and} maljnt Did},
Den als ftaubentfproffen ber fliigclfloljc
Pegafns abroarf,
Dag Du nur Dir giemenbes fudjjt unb niemals,
Uebers §ul mit frer»elnber ^offnung fd>n>eifenb,
Was Dir ungleidjartig beger^rfr. So fomm benn,
£etjte (Seliebte,
(Denn nadj Dir madjt nimmer ein IDeib mid? gliifyen),
Komm unb ftnn' auf fii§ett (Sefang unb Ia§ ifyn
5eeIenr»oIl fjinjtrdmen! 3m 33om bes £iebes
£8jt ftdj ber tfummer.
(Sine unfinbbare frcic Heicfysftabt
Kulturgcf djtdjtlidje Sf i 3 5 c.
Von
$tarl 2&raun*l©ieg&atiein
— Berlin. —
I.
ic Ijei&t 93 I) or it unb liegt auf bem beutfefjen Ufer be£
BobenfeeS, — biefe frcic 9teic§3ftabt, toon toetdfjer idf) fpre=
— „$ie beutfd^c SteidfjSftabt 93u4>f)orn?" fragt t)ietCeidf)t
ber geneigte Sefer. „3d) fann fie auf mciner ©arte nid)t finben. SBurbe
fie im breifjigjaf)rigen ffiricge jerftort, ober ift fie toon Satja ubcrftrflmt
toorben, tote &ercutanum, ober tft fie im ©ee untergegangen, gteict) Sineta?"
Sftein, anttoorte ic§, fie btittjt unb ejiftirt riodf), toenngteidf) nidjt
mef)r at£ freie SfteicfjSftabt. 3lber fie ift aud() auf ber beften ©pecialfarte
nidjt ticrjcid^net. S)ie befte ©peciatfarte toom oberen See, bag tuitt id)
Ijier beilaufig bemerfen, betitelt fid) „2SaItenberger3 ©pecialfarte
t)on Sinbau", fie ift in ber SBiUjelm Subtmg'fcfjen SBud^anblung in
Sinbau erfdjienen. SJiafeftab 1 : 50,000. 2)er litct „Sarte Don Sinbau"
ift eine fatfdje 93efd)eibenl)eit. S)eun fie umfafjt ben ganjen oberen ©ee,
toon griebridf^afen bi£ f)inauf nad) Sinbau unb SSregenj, unb toon ba
ljinunter bte Sftorfc^ad^. ©ie seidfjnet fid) au§ burc§ ©enauigleit unb
SHar^eit. S)u finbeft auf if)r bie ©tabte, 2)orfer, SBeiler unb felbft ein-
jelne ipaufer; — bie SirdEjen, bie ©d£)Ioffer unb bie Sftuinen; — bie
SBalber unb bie SOtoore (Ijier „9Koo3" genannt), bie Serge unb bie:
©benen; — bie (Sifens, SBaffer- unb Sanbftrafeen bi§ auf bie SSicinat-
toege, bie getbtoege unb bie fteinften gufcpf abe, toeldje lefctere man ljter
„©angfteige" nennt; — bie gliiffe, bie ©een, bie SBeiler, bie 99ad^e unb
bie 93ad)lein; — ba3 2ttte3 finbeft 2)11, aber eiu S3ud)tjorn finbeft S)u
\7$ Karl 3raun*lDiesba&en in Berlin.
nidjt, menigftenS nidjt untcr biefem 5ftamen. ERan tjat namlidj bic alte
freie SReidjSftabt mit einem jum ©dfjlofj aDancirten filofter, ba3 Dormafe
£ofen geljei&en, Slnno 1806 jufammengefoorfen unb ba£ ©anje, bcm
erften #5nig toon 2Biirttemberg Siebe, „Sriebri deafen" genannt.
SDiefer SRamc ift, obgletc^ bic Unfitte be3 UmtaufenS unb ber 3lntt)cnbung
Don Sornamen, bet meldfjen fid) bic SKadjtoett in ber SReget nic^t ba§
©eringfie ju benfen Dermag, feineSfoegS a!3 empfeljtenSmertf} ju betradjten
ift, aHgemein iiblidf) getoorben fur ben murttembergifdjen ©eefjafen, ber
jugleid) fur ben Sonig Star!, bie Sonigin Dlga unb bercn Untertfymett,
namentlidf) bie ©tuttgarter, eine beliebte ©ommerfrtfdje getoorben ift unb
Dor unfercn iibrigen beutfdjen Drten am norb5ftttc§en lifer be3 ©ee3
ben SSorjug geniefjt, bafc man Don fyier au3 ben fd)onften Ueberblitf iibcr
bie gr5fcere 3Raffe be$ ©ee3 l)at (benn griebrid)3f)afen liegt fo jiemftdj
in ber 9Ritte ber ganjen ©eetauge unb bie breiteften unb tiefftcn ©tetleu
finb jtoifdfjen griebrid)3l)afen, SRoman^orn, ridjtiger nadf) ber alien
fieSart: ^omiS^orn", unb Sangenargen), bafc man gteidjjeitig ©onftanj
unb bie #ugel ber SRfyein;(£inmunbung fietjt, unb bag bie Slfyfteingruppe
unb ber baju getjSrige SantiS meniger, aU in Sinbau unb ®refcbronn,
Derbedft merben Don ben SSorbergen.
3)ie gute alte freie 9leidf)3ftabt 93ud)t)om l)at Don ifjrer eljemaligen
£errlid)feit nid&t3 ilbrig betjalten, att eine red)t unangeneljme Segenbe
im ©ttjle ber Salens ober ©ctjilbburger. 2Ran erjaljlt fid), ber Ijolje
SRatI) Don Suborn Ijabe einem ber benadjbarten Stynaften, metier ber
©tabt in irgenb toeldjen Stolen ffleiftanb geletftet, eine ©ammlung frifd)
gelegter @ier fdfjidfen tootten, toeit ber biebere 3teid)3graf geaufeert, er
l)abe nocf) nirgenba fo gute (Sier gefunben, a!3 gerabe in 83ud#oriL
2Ran fammelte alfo bie beften unb frifdjeften ©ter unb Derpatfte fie in
eine f<f)5n gejimmerte ffiifte Don ©id)enl)oI}, bie Derjiert mar mit bera
SBajtyen ber ©tabt unb mit bem SReidjSabler, meld)en baneben ju fu^ren
bie #ol)enftaufen ber getreuen ©tabt in ©naben Derlie^en. Slber eg
jeigte fidjj, bag bie Sifte ju flein toar. S)ie (Sier moHten nid&t afle
I)ineingef)en. 2)a ftiegen bie SSater ber ©tabt in bie Sifte unb ftampften
bie (Sier jufammen, urn biefelben ju comprimiren, auf bafc fie meniger
be3 StaumeS bebiirften. ®a begab e§ ficfj, bag bie (Sier jerbrad^en unb
bie SKanner be§ SRat^eS gelbe giifce belamen. ©eitbem nennt man bie
Suborner an ben ©eftaben be§ ©ee3 bie „® el b fiifcler". Unb biefe
aSejei^nung ^at fid^ ertjatten, fetbft nadf)bem ber alte^rmurbige Slame
Suborn Don ber Sanbfarte Derfd^munben. ®ie ®efdf)ic§te Don ben „com^
^rimirten CSiern" ^atte aber i^re glei^fam f^mbotifd&-<)rop^etif(^e Se-
beutung fiir bie $obenfee:©egenb. S)enn ^eute befinbet fi(^ in Sinban
eine grofee gabrif conbenfirter ober comprimirter SKilc^, melc^e
Ijatb teuxopa Derforgt. 3^1 ^6e biefe 2ttild) namentli^ im Orient, too
c3 gute 3KiId^ felten in 9tatur gibt, mit SSergnugcn genoffen unb Witt
(Sine nnfinbbare freie Heidjsjiabt. \7o
baljer ljier iljrer, toenigftenS im SBoriibergeljen, ntit gebitfjrenber 3)anf*
barfcit benfen.
3d) toitl 2)ir biefc @efd)idf)te toertraulidj mittfjeitcn, aHein fitr ben
gall, bag S)u ben guten ©ebanfen befommft, and) einmal auf ber fdjtoa;
bifdjen ©cite be3 ©ee3 SJilleggiatura ju fatten, fuge id) tjinau: 9tid)t
frommt e3 bem gremben, anjufpieten auf biefc ©efct)id)te, benn e3 fonnte
ifjm ©eitenS ber ©elbfiigler ^riiget eintragen. @3 geljt I)ier fo, toie in
SReutlingen, ebenfatte toeitanb freier SReid)3ftabt. 33ei Sfteutlingen toad) ft
ndmlid) ein SBein, wetter tninbeftenS eben fo gut ift, toie ber ©eetoein
unb anbere bergleidjen ©etodd^fe. 2tfe nun ber $rin$ ©ugen, ber eble
Slitter, bie ©tabt paffirte, uberreictjte ifjm ber Jjotjc 9tatf) „jur SJerefjrung
unb ©rgofclidjfeit" einen foftbaren ^ofat, gefitflt mit SReutlinger SBein,
ben ber fiegreid>e gelbljerr auStrinfen mugte. 3)a§ tfjat er. S)arauf
aber ergriff ilju ein bebeutfameS ©djiitteln, unb er fpradj bie geflugetten
SBorte: „2ieber toil! idf) nod) einntat Sclgrab einnefjmen." 2tHein
e§ ift ifjm bennodj toortrefffid) befommen unb ben 93ect)er ljat er natiirftd)
betjalten. Stber aud) auf biefe ©efdf)id)te anjufpielen, frommt nidjt bem
grembling.
9113 getoiffenljafter Sfjronift mug id) J)in$ufiigen, bag'mir einige
Siirger ber ©tabt griebridf)3ljafen, geborene 93ud$orner, bie SBerfidjerung
gaben, an ber ganjen ©efdfjidjte toon ben @iern fet nid)t ein toat)re£
SBort, biefelbe fei eine bo^afte ©rfinbung ber neibifdjen Sinbauer, toon
meldjen man audj SRandjerlei erjafjten fonne, tote j. 95. bag man ben fjofjen
Siatt) ber ©tabt Sinbau „ba$ 28ad)£figurens(£abinet" gefjeigen, toeit
Seiner ba&on (SttoaS ju foremen im ©tanbe ober SBittenS getoefen.
3$ bat barauf meine 33ud)ljorner greunbe, fie molten bie ©efd)id)te
t?on ber SlatfjS&erfammlung unb bem 2Bad)3figuren-Kabtnete nidjt toeiter
erjatjlen, fonft toerbe e8 an SBerfudjen nidjt fetjlen, audf) ben beutfdfjen
SteidjStag in ein ftummeS ffiadj$ftgurem(Eabinet ju reformiren.
S)agegen toerfprad) idf) ifjnen, bie #errli<f)feit ber alten ©raffdfjaft
unb ber freien SfteidjSftabt ©udjljorn nac§ ®rdften toieber aufjufrifc^en.
Unb bieS toitt idf), alien geinben unb Steibern jum Xrofc, tjierburd)
iibernetjmen.
„— 3d) roag'3, ein ©rab
$em Ijeiggeliebten SBudjljorn aufjutperfen ",
)pxt6)t id) mit ©opfjofteS Slntigone.
II.
gangen toir alfo mit bem 2(nfange an. S)er 99obenfee erfd>eint unS
juerp in rflmifdfjer 93eleu^tung. Stmmianu^ SD?arceIIinu§ Ijat un§ ein toenig
fd^mei^et^afte^ aber fur bie bamatige 3*it toafjrfctjeinlidj jiemli^ rid^tige^
99ilb t>on bemfelben enttoorfen. Dbglei^ bie grogen unb ftarf befeftigten
\76
Karl BraunsEDtesbaben in Berlin.
SRomercaftra, bci toddfjen fict) nad> unb nad} aud) ©tabte anftebelten, auf
bcr fiibtoeftlicfyen ©eite lagen, fo Ijatte man bod) audj auf bcr Storbofc
fette militarifdjje Stnfieblungen, Don roetdjen au3 fidf) ©trafcen nad) bcm
Snnern Don „2Uemannien" erftredten. SKan fann auf bcm ttMrttembergi-
fdjen ©ebiete jnjei folder ©trafcenaiige, toeldfje Ijeute nod) burdj bie Don
SHterS $er iiberfommenen Stamen „&od)ftra6", „©trafj" unb „©teinmauern"
marfirt toerben, mit einiger SBa^rf^etnltc^lett nad)toeifen. 3)tc cine fufjrt
Don bcm iefcigen griebridjSfjafen nac§ groljnljofen, bie anberc toon Sanger
argen nadf) ber fiber bie 2lrge gefdfjtagenen ©iefjenSbrude unb bann tt>eiier
nad) Settnang, SBalbburg unb Stulenborf :c.
3)er romifdfje SBarttfjurm lag ieboc^ nidjt an bcr ©telle ber fpateren
frcien SteidjSftabt, fonbern auf jener Sanbjunge, Ijier „&orn" genannt, too
fid) gegentoartig ba3 foniglic^c ©djlofj griebridjSfjafen befinbet; ebenfo toie
bie beiben romifc^en Sljurme Don Sangenargen auf jencr $albinfet ober
Snfcl ftanben, tuclc^c jefct ba£ Don bcm $?5nig SBtlfjrim Don SBiirttemberg
timber aufgeridjtete ftattlidfje ©dfjloft SKontfort tragt Stn bic ©telle beS
romtfdjen 2Barttl)urm3, „specula" gefjeifcen, trat bann nad$er bcr grafltdje
©ifc ©udfjtjorn, toetdfjer roaljrfdfjeinlict) alter ate bie ©tabt ift, obgteid)
lefctere fdjon im jeljnten So^^unbert ate foldje, unter bem Stamen $ubt^
i)orn ober 93uod)if)om, ertud^nt nrirb.
©puren be£ alten ©rafenfifceS finben fief} in ber jefcigen ©tabt 83udj;
fyom nidjt. 2)iefe tiegt audj nid)t auf cinem „£om", fonbern auf einem
nur foenig in ben ©ee au£labenben Sogen be3 UferS, neben ttjeldjem
SBogcn fid) linte eine Ijiibfdfje 93udfjt, ber jefcige §afen, befinbet.
Unter biefen Umftanben ift e£ toafjrfdjeinlidj, baft ba3 alte ©djlofc
j8udf)f>orn aud) ttrirftict) auf bem oben ertoal)nten „#orn" lag unb baft e$
biefe§ fdjon friHjjeittg tootjlbefeftigtc gaugrdflidje @df)loft unb nidjt bic
roaljrfdjeinlidf) erft fpater befeftigte ©tabt toar, toelcfyeS im Safyxt 926 ben
fturmifdien SIngriff ber ipunnen juriidgefdfjlagen. 3)er Stame SBudjfjow
ftammt alfo toat)rfd)etnlid) Don jencm ttnrflidjen |>om I)er unb Ijat fid)
Don bem ©rafenfife auf bic biirgerlidfje Slnfieblung iiberttagen, toeldje fid^
ben fiir bie ©c^ifffa^rt giinftigften pafe ttJd^ltc. 3)enn in jenen an gutcn
Sanbftrafcen fo armen 3*tten iibermog ber SScrfc^r auf bem SBaffer. StHcr-
bing§ fc^eint ba3 SBappen bcr frcien 3teic^gftabt 83ud)l)om gegen biefc
Stnna^me ju fprcdjen. jcigt in bcm gelbe recite eine griine 93uc^e,
mit in bie Suft ragenben fdfjtoarien SBurjeln, in golbencm gelbe, in bem
©d)Ube linte bagegen ein fdjtoarjeS Saflb^orn mit ©olb befdjlagen, in
rot^em gclb.
ift, ttrie man fie^t, ein fogenannteS fpred^enbe^ ober rebenbe^
SBappcn, toeWjeS ben Stamen ©Ubc Dor ©ilbe toibcrgibt. 2lbcr bcfannt=
Hi) ift biefc ©orte SBappen Don ncuercm 3>atum unb ^at loenig gefdjidjt-
lic^c 93etoei^fraft. S)afiir nur ein 93eifpicl. S)ie ©tabt Siitcrbog t)at
gegenloartig einen 93od in bem SEappen. %n alten 3^iten fiiljrte fie barin
<£ine unftnbbare frcic Hetdjsftabt, \7?
cine ftra^enbe ©onne. 2)ag lefetere toar ridjtig. S)eun Siiterbog ift ein
SBort flamfdjen Urfprungg unb bebeutet ben ftraljtenben ©ott, ben ©onnen*
gott ber alien SBenben, loelcfje ben Drt gegriinbet fyaben. 5)iefe 93ebeutuug
ift jebocf) ber fpateren beutfdjrebenben SBettflferung toerloren gegangen, unb
fo ift benn aug bem ©otte (Bog) ein „93otf" getoorben. 2)aju fam
bemt fdjlieftfidj nod) ber 93erliner mit feinem £>ange ju fd^Icd&tcn SBifcen,
urn bag 9tatf)fel ju erfinben: „3Bag ift bag ©egentfjeit toon ^iiterbog
(©iitcrborf)?" Stnttoort: „*Perfonen$itge" (for id) Siege). Sraurige <Sc^irf=
fate eineg SBorteg!
Urn nun toieber auf 93udf$orn jururfjufommen, fo fdfjreiben alte f)anb*
fdjriftlidfje 9lad)rid)ten bie SBefeftigung Don 93ud)f)orn ben ©infatlen ber
$unnen JU, toag benn and) bafiir foremen biirfte, ba& bie ftarfen SKauern
ttadj ber ©eefeite, toeldje aud) tjeute nod} beutlid) erlennbar finb, unb baft
bie SBatte unb ©raben nadf) ber Sanbfeite, toeldje Ijeute tljcittoeife uer;
fd)nmnben, erft nad) 926 entftanben.
2)amalg ftanb bie ©tabt, ttrie bag ganje Sinjgau, tooju fie getjorte,
unter bem ©augrafen beg Saiferg, ber auf bem gebadjten ipom feinen
©ifc Ijatte. S)ag ©au (audj ber ©au fommt faft ebenfo Ijdufig t)or in
ben alten Urfunben, gerabe fo ttrie man fjeute noct) im „9tf}eingau" fiir
biefeg SBort balb ben mdnnftdf)en unb batb ben fad£)lidjen Slrtifel antoenbet),
bag ©au alfo unb bie ©augenojfenfefyaft jerfiet in bie einjelnen #unbert=
fdjaften ober Sentgenoffenfcf)aftcn. S)ie S3ertoaItung unb bie Suftij leitete
ber faiferlidje ©raf unb unter iljm bie einjelnen Eentgrafen, naturtid)
— bag toerftanb fid) bamalg Don fetbft — unter SKittoirfung ber ©au*
unb ber ©entoerfammlungen, fpdter unter SKittoirfung ber S)elegirten ber*
felben, ber ©d)5ffen. Stnfangg ttmr bag Sinjgau fiir fidj, fpater fatten
biefeg unb bag ofttic^ ba&on getegene Strgengau beufelbigen ©rafen, tt>elcf)er
fidj nadfj bem ©aue benannte. S5er Stame ber ©rafen toon 93udf$om fommt
jum erften 9Kale toor bei bem ©rafen Wricfj bem ^ungeren, bem ©oljne
beg Utrid) beg Slelteren. SBatjrenb biefer immer nur ber ©raf beg Sinj-
unb Slrgengaueg geuannt nrirb, ttrirb jener ber „Comes Buchhornensis"
benamfet. Son ifjm unb feiner ©ematjlin SBenbelgarb, ber frommen
Saifertodjter, toerbe idf) fpater nod) reben. gitr jefct woUen ttrir bie ©tabt
im Stuge betjatten.
93efanntlid) enttoidctten fidf) aug ben ©augrafen, bie urfpriinglid)
Steidjgbeamte toaren unb toon bem Saifer ein= unb abgefefet tourben, erbs
lid^e 2)t)naften; unb fol^e lourben au(^ bie ©rafen bon SSud^^orn. 3u
tfjrem bt)naftifd^en 93cftfec ge^5rte Don ba an and) bie mit bemfetben 9ta;
men bejeid^nete ©tabt. 2Jlit ben anberen Sefifeungen ber lefeteren ging
biefelbe an bie Stynaftie ber SBetfen unb nad) bercn ^Rebellion unb ©turj
an bag #aug ber §o^enftaufen iiber.
SBann nun S3ud)^orn eine freie Sfteicfygftabt getoorben, lafy fic^ nic^t
crmitteln. SBa^rfdjcinlid^ benufete eg bie SSirren beg gnterregnumg,
\78 Karl Braun^lDiesbaben in 23crlttt.
toeldjea auf ben Untergang bcr ©taufenfyerrfdjaft folgte, urn ftd) bic Un-
abtydngigfeit ju erringen; unb getuife ift, bafc ber ftdbtefreunblidje unb
raubritterfeinblidjc Saifer SRubotf, ber £abSburger, im galjre 1272 Sad}-
fjorn al3 freie 9teid)3ftabt anerfannte unb confirmirte. Saifer Stlbredjt
gab nodj mefjr. ©r tocrliel) il)r 1299 ba3 3ted)t, baft fein SRitter ober
9R5nd) erbtidje ©titer in ber ©tabt unb in beren ©ebiet ertoerben ober
befifcen burfc.
93ud$orn tjatte in ber Saiferfetybe jtoifdjen Sttbredjt toon Defterretd)
unb Slbolf Don Slaffau getreuttdj ju S^nem gefjalten unb in gotge beffen
fd)toeren ©djaben erlitten. 2)er 9tbt SSilljelm Don ©anct ©atten, au3
bem £aufe ber ©rafen toon 9Jlontfort, ber feine§tt>eg£ ein fo gemfitl)Iid>er
£err tear, ttrie jener 2t6t# toeldjen 33iirger in feiner S3aHabe „3d) mitt
6ud) erjdljlen ein 9Kdrd)en gar fdjnurrig" befungen, iiberfiet 1298 bic
©tabt Suborn untoerfel)en3 Don ber £anb* unb ber ©eefeite, erftiirmte
biefelbe unb plimberte fie griinbftd). Stttein ber geiftfidje iperr mufcte
mieber abjicfjen, ba Saifer 2Ilbred)t fiegreid) blieb. ®er lefctere toerlielj
bann ber ©tabt &ur ©d)ablo3f)altung fiir 2)a3, ma3 fie urn feinettoiCen
©d)toere3 erbulbet, 1299 atle ^ritoilegien, urn toeldje fie an^ielt. (©ie§e
Dr. 3. St. Don SSanotti, ©efct)id)tc ber ©rafen Don SKontfort unb 23er^
benberg. (Sin SBeitrag jur ©efd)idjte ©djroaben3, ©raubimbtena, ber
©d)toeia unb SorartbergS. Sctte^ue bei ©onftana, 1845. ©. 58 u. ff.)
©eitbent $at fief) 93ud)f)ont felbft regiert unter einer jicmlid) berno^
fratifdjen SJerfaffung. 2ln ber ©pifce ber SRegierung ftanb ber fteine unb
ber grofje SRatl). S)er Heine SRatl) beftanb au3 ^toei SBurgermeiftern ober
Eonfuln unb ficben ©enatoren. Unter ben lefeteren befanben fid) toier
Sunftmeifter. S)er grofte SRatt) beftanb au3 jtoolf SKitgliebem. Stttc
Saljre, am fogenannten „©djtn8rtag", tourben fdmmttidje 3Kagiftrat^er-
fonen neugetodtjlt. $n ber SReget todljlte man itoax toon SKeuem bie alten;
aflein man Ijatte fie bod) unter ©etoalt unb ©ontrole, unb fie mu&ten
•jebeS Satjr toon SKeuem ber 93iirgerfct)aft gegenitber itjre ^ftidjten befdjttrtren.
Safe bie ©tabt 93ud)t)orn bod) nid)t fo ganj unbebeutenb toax, it-
toeift ber Umftanb, baft iljr SRame in ben meiften bamaligen ©tdbte-
biinbniffen gldnjt.
©o getjort j. 93. SSud^^orn ju ben „funf ©tdbtcn urn ben ©ee" (im
©egenfafe ju bem 95unb ab bem ©eef an beffen ©pi^e St^cnjeH ftanb),
toeld^e 1470 „am Sonner^tag toor ©at^arinen" eine Strt ©ibgenoffenfcfiaft
mit einanber fdjtoffen, nirf)t, tote bie ©^mcij, urn fid) toon ftaifer unb
SReid) lo^jufagen, fonbern urn befto getreuer $u benfelben ju fatten. @$
tt)aren bie ©tdbte Sinbau, Ueberlingen, SSudjIjorn, SRatoen^burg
unb 333 an gen. ®er 93unb be^toectte nic^t nur gemeinfame 9Raf$regetti
jur Slufrec^ter^altung be§ faiferlidjen Sanbfrieben^, ober toie eg in ben
alten SSertrdgen f)ei§t: jur SBa^rung toon „gribenf ruom unb gemad)",
fonbern aud^
(Eine unfinbbare fretc HetdjsftaM.
1. 93ef)auptung bcr tool)tertt)orbcnen SRedjtc unb greiljeiten bcr Der=
biinbeten ©tabte, ober, toic fcfjon am 21. Suit 1291 bcr SRatI) Don 3imdj
befc^lofj, „baf$ bie ©tabt an feincn &erm fommen folle, aufcer mit bcm
gemeinen SRatlje (bcr allgemeinen 3uftimmung) bcr Oemeinbe," unb
2. Hufred)terl)altung Don gretyeit, Drbnung unb ©idjcrtjeit Don £am
bcl unb SBanbel, mit ©ut unb Slut.
Sn bcr SBertraggaugfertigung, toeldje in bcr 93iid)erei bcr frcicn
SReidjgftabt Ueberltngen aufbettmfjrt toirb, fjeifct eg todrttid^ :
„Wenn wer ware, der uns gemeiniclich oder besonder von unsern
Frihaiten, rechten und guoten gewonhaiten hemmen oder von dem
heUigen rflmischen Bych tryben oder trengen, versetzen oder verkoffen
wQllte, Bern wolln wir" etc.
Suborn I>at in bcm 93unbe bcr „©tdbte um ben ©ee" feinc
©tellung beljauptet. ©g f)at fogar im S^rc 1472 fcin ©ebiet ertoci-
tert, inbcm eg Don bcr ©tabt Sonftanj bie in feiuer nddjften SKdlje
gelegenen Drte SSaumgartcn unb (Srigfird) faufte, toelcfye Don ba an alg
bie ^ucJftjorn'fdje #errfd)aft 93aumgarten" bejeicfynet tnerben.
SKeben 3tuljmlid)em ift aud) cinigeg Unriiljmlidje ju erttmtjnen, j. 95.
golgenbeS: 3)er ©tabt 33ud)t)oro toar Don bem 3)eutfd)en Saifer bag
aRunjredjt Derlietjen. ©ie macfyte nid)t immer guten ©ebraud) baDon.
Sur &\t ber ^imjDerfdjledjterung im fiebjeljnten Saljrfjunbert, jur 3cit
ber Slipptx unb SBipper, prdgte fie ©d)eibemiinsen, toeldje tocnig ober
gar feinen SJletatttoertfj fatten, in folder SKaffe, baft bamit alle 9lafy
bargefriete iiberfd)tt>emmt tourben.
©g tear bag eine bamalg in 3)eutf<f)Ianb, namentltd) and) in Dber=
fdjtoaben, unb nid)t toeniger in ber ©djtoeij, atlgemein grafftrenbe ttnrtfc
fd^aftlic^politifdje Srantyeit, toetd^e fortgettmdjert I)at big in bie ©egentnart.
3Jlan erinncre fid) 5. 93. ber „E-©rofcf)en" unb ber „2BiIben Staler;
©$eine". 3)er 3oHbercin unb bie aRiinjconDentionen Ijaben bicfeg Uebet
eingefdjranft, unb erft ber aKunj- unb ber 93anlgefe|jgebung beg Seutfdjen
SReidjeg ift eg gelungen, bagfelbc DoIIftdnbig augjurotten.
3n bcr ©djtoeij unb in Dberfdjtoaben ejeiftirte Dormalg eine ©ilber-
munje, „Paffert" genannt. 2)iefe ttntrbe fdjlieftfid) fo fijledjt gepragt,
bafe if)r Stamc nod) in biefem 3aljrf)unbcrt in ©iifc unb 2Beftbeutfd)Ianb
atlgemein iiblid) mar, um bamit eine fd)ledjte SWunje ju bejeidjnen.
^^Blaffert" nannte man nod) Dor jefyt 3af)ren in ben Sdnbcrn beg rtjeini-
fdjen SRunjfufceg jenc ©djeibemiinjen Don unerfennbarem SBertI) unb
©eprdge, toctd)e Don ©ilber fein follten, aber augfaljen ttrie ein ganj
fladjeg ©tiitf SStcc^ unb fe^r Ijaufig ben Sabentifc^ ^ierten, an toeldjem
fie aufgcnagelt wurben.
3)ie freie 9?eidjgftabt 93ud)^ornf n)dd)e in ©^le^tmunjerci mit i^rem
oftlic^cn Slad^bar, ben SReidjggrafen Don SKontfort in Sangenargen, wett-
eiferte, trieb eg mit bem Slugprdgen unterU)ertI)iger 93a^en, paffert unb
\S0 Karl 33rauiulDiesbaben in Berlin.
Sreujer fo ftarf, baft bic baburdf> gcfdljrbeten Stable beg frf)tt)dbifdjen
freifeg unb bag §erjogtt)um SBiirttemberg, mit toeldjen Ueberltngen nodj
baju cine aKunjcontoention abgefefytoffen fjatte, einig ttmrben, eg fid) femer
nidjt mcf)r gefatten ju laffen. 3Me SBertreter beg fdfjtodbifdjen Steifeg
bef<J)Ioffen, einjufefjreiten unb beauftragten SBiirttcmbcrg mit bcr ©jrecutton.
2)iefe execution toar bcr SSorbotc ber Stnncjion. 9tn einem fdjdnen
©ommertag beg Safjreg 1705 erfefjien in ber frcien SReidjgftabt ein ©om=
miffariug beg ^erjogg Don SBiirttemberg, an bcr ©pi^e toon fjunbert
©renabieren, toeldje mit £aden unb ©dfjaufefn unb fonftigen 3^rft6rung§-
toerf^cugen toerfefjen toaren. S)ie SRun^e ttmrbe niebergeriffen, ifyre ©in-
ricfytungen tourben toernicfytet. Samit Ijatte bcr ©ebraud) unb ber 2Rifts
braud) beg 2Kunjrcd)tg ein ©nbc.
Unb eg ging iibertjaupt }u ©nbe mit bcr frcien SReidjgftabt. £ie
3cit toon 1705 big 1802 toax nur nod) einc tange Stgonie. 5)er $anbet
fjatte anbere Slidfjtungen eingefcfjlagcn. 5)er 93erfct)r auf bem Sobenfee,
frii^cr fo lebtjaft, begann ju toerflben. 3Me toirfen fleinen toettftdjen unb
geifttidjen Serritorien, toeld&e f)ier burdf) cinanber im ©emenge Iagen,
touftten nid£)tg 93effereg ju tljun, alg cinanber mit 3^ unb ®rena=
^lacfercicn unb auf jebe anbere benfbarc SBeife ju d^icaniren. 3)a£
SReidj tocrfiel unb mit if>m bic SReicfygftdbte. 2)ic fcfjtoeren Sirieg^citcn
toerminberten bie ©innaljmen unb toermetjrten bie Sluggaben. S)ie ©teuerit
roarfen nidfjtg mc^r ab; eg blieb feine SRettung mef)r, alg ©djutben ju
madden; unb biefe Stettung toar jugleidf) ber Wnfang beg UntergangeS.
2)ag armc 93ud$orn, toelcfjcg bamalg ^dd^ftcuS 700 ©intootjner, toon ge~
ringem SBotjlftanb, uodfj jal)Ite, fjatte $u Stnfang beg Saljrljunbertg nalje
an fjunbcrttaufcnb ©utben ©cfyulbcn. ©g ttmrbe 1802 Satyern jugetfjeilt,
loetcljeg bie ©tabt nebft ©ebiet im 3af)re 1810 ttneber an SBiirttemberg
abtrat, bci toeldfjem fie benn audf), uadf) SBeranberung bcr ftabtifdjen
girtna, big tjeute toerblieben. 93at)ern ^atte fid& beg @d)ulbentt>cfeng bcr
©tabt nur in ber 2lrt angenommen, baft eg einen groftartigen ©cf)ulben~
tilgungg^Ian madjte, toon wefd^em abcr tt)d^renb ber adf)t Qcifyxt, toelc^c
bie ©tabt uutcr ber Krone 93at)ern toerblieb, nid^t bag ©eriugfte jum
SSotl5ug fam, fo baft Suc^^orn mit toottig ungefc^ltodc^tem ©d^ulbenbeftanbe
an SBiirttemberg iiberging. Scfetereg bagegen griff energifdj ju. ©^
naf)m ber ©tabt bie ©inliinfte aug ber £errfdf)aft 93aumgartcn, bie nid^t
unbctrdcf)tli^ toaren, unb bie §d(f tc i!)reg ftattlidfjcn SBalbeg ab (ben
man grofttcntfjeitg uicber^icb, urn nur fd^nctl ©elb ju befommen). Slbcr
ju gteidf)er $cit nat)m eg aud^ ben grttfteren S^eit i^rer ©d^utben auf fidj,
big auf einen 9tcft toon cttoa 20,000 ©utben; Sen tefctgenannten Setrag
war bic ©tabt toerf^iebenen ©tiftungen unb Sor^orationen in Suborn
felber fc^ulbig, bci toetdjen fie in ben fd^timmftcn 3riten, mo i^r fcin
SJlcnfd) mef)r borgen njollte, mc^r ober toeniger smanggloeife i^re fo=
genannten ^nlefin" gemad^t ^atte. S)icfc ©c^ulben tourben toon bcr
€inc unfinbbare frete Heidjsftabt.
SRegierung einfacf) „niebergefdj{agen". ©in foldfjer obrigfeitlidE^cr ©in*
griff in tooljlertoorbenc 5JkibatrecJ)te toare Ijeut ju £age nicfyt moglidj.
Parnate tt>ar er e§ nod); ber ©taat biSponirte frci itber aQe flffentlid)en
©elber, namentlid) aud) iiber jeneS Corporations - unb ©tiftungSber*
mogen, toeldfjeS man in ber Siirfei „2Bafuf" nennt. 3fa attcn 3lljeinbunb3=
ftaatcn oljne irgcnb cine 2lu3nat}tne finb bamalS fotdje unb fdfjlimmere
3)inge toorgefommen. SurdEj eine 93erorbnung be3 R6nig3 ffriebridf) Don
SBiirttemberg &om 17. %uli 1811 ttmrben bie ©tabt 93udjljorn unb ba3
in ein IflnigftdjeS ©djtofc toertoanbelte Softer §ofen unter bem Xitel
„§>tabt unb ©djtofc griebri<f)3t)afen" in eine ©emeinbe fcufammens
gestagen.
©o enbete bie freie 3ieidj3ftabt 93udjt)orn. 3d} tnerbe mid?
nun ju ber Stynaftie 33u(f)I)orn tnenben unb itjr ©efcfjirf unb ©nbe er=
&af)Ien. Bu&or mill idf) jebod) nodf) ein nidjt unru^mti^eS 931att au3 ber
©efdjidfjte ber ©tabt im fimfjefjnten 3&f)rf)unbert auffdjtagen. ®ie ©dfjrift
ift ettuaS toertnifdfjt unb nidf)t meljr redfjt ju entjiffern. ©ie ljanbelt Don
ber ©eutf^en Saiferfrone in 93udf)t)orn. SMefem ernften Statte
au£ ber 3^it be3 Soncita toon ©onftanj toitt idf) ein f)eitere* au3 unferen
2agen beifiigen, toetdjeS unS ben gitrften SKettemidf), ben regieren*
ben Kanjler bon Defterreidf), im ©onflict jeigt mit 2)octor §itettin,
bem regierenben SBiirgermeifter toon ©onftanj.
III.
S)er greifjerr toon Siuffeft f)at in ben 2lrd£)itoen toon Sternberg ein
Sdjretben be$ fyoljen SRatf)e3 biefer freien 9teidf)£ftabt an bie ©tabt SBud)-
tjorn am 93obenfee entbetft, toeldfjeS tautet, ttrie fotgt:
— „2)er ©taat (©tabt) ju 93udf)l)orn.
„£ieben greunbe! S)er attergnabigfte giirft unb #err ©igmuub,
9tomifd)er Saifer :c. :c. k., unfer ©nabigfter $err, t)at un3 fiirjtidf) ge*
fdjrieben unb un3 getjeifcen, feine Saiferlidje Srone, bie ©eine S)urcf);
laudfjt jeber %a§xt in unferer ©tabt getaffen f)at, ©uer SBeiSljeit ju
uberfdf)icfen unb au^uanttoorten. @o meint ©cine Saiferlidje ©naben
©udj) eine greubenbotfdfjaft §u tfjun unb ©ud) ju untertoeifen, ttrie 3f>r
it)tn bie Krone fiirbafs fdf)iden fotlt. 2llfo na^i fottid^em (fotd^cm) ©e=
^eifje fd^irfen mir @ud^ biefe Krone mitfammt cinem SWepud^, al§ ©ud)
gegentoartiger unfer Kned^t, 9tu§antn)orter biefe£ 93riefc^ tt)ot)I unter=
weifen toirb, too unb toit %1)x bercn bebiirft, @U(^ betfetben ®inge $u
unternjinben unb ©cincr Saiferlidf)cn SKajeftat nad^ ©cincm ©e^cife unb
SBotylgef alien fiirbafe jujufiigen, benn too nrir ©ucr 6f)rfamlcit it"
S)atirt ift biefcS ©(^reiben SRiirnberg an Sud^^orn oom 28. SDtdrj
1434. ♦
SSa§ f)at ba^felbc ju bebeuten?
\S2 Karl 33rann*t£tesbaben in Berlin.
SBefamttltcf) war bie frcic 3teid)gftabt SKiirnberg in ben cngflcn 9te
jiel)uugen ju ftaifer unb 9lcid). „9tuf bcr §tyt, bie fid) iiber ben ©iebrfn
ber ©tabt erfiebt" (fagt ber babifefye 2trd^tt»bircctor griebridfj Don
SBecdf) in fcincn foeben, Seipjig, ©under & §umbtot, erfdjtenenen gc-
fammelten ©ffatjg „9tug alter unb neuer 3eit", bie xtf) bem Sefer
auf bag 2lngelegentlidjfte empfef)Ie), „tjaben eljebem jmei SBurgen ftofj
in bie Siifte geragt: bie eine beg ffatferg Surg, mo ber SBogt beg SReidjea
ju (Script fag unb 9ic<f)t fprad), unb gar manner ber gro&en beutfdjen
ftaifer fetne SBofjnung nafjm, menu er bie franfifdfjen Sanbe befudjte;
bie anbere ber fflurggrafen 33urg, Don ber bag gemaltige ©efdjtedjt ber
Sottern ben SBeg fanb in bie fanbigen (Sbcnen bcr branbenburgifdjen
2Jiarfen."
Die <Stabt 9tiirnberg mar fobann audj mil 9tufbemaljrung ber
Steidjgfteinobien betraut. ®a bag ljeilige SRomifdje SReidfj Seutfdjer
Station eine 23at)fmonarcf)ie mar unb eg batjer feine unabanberlidje
faiferttc^c SJiefibenj gab, ba ferner audf) ber jemeitige Jfaifer eigentfidj
fein fefteg 2)omictI tjatte, fonbern batb ba unb balb bort SReftbenj fjielt,
ba enblidj audj ber ©ifc beg 9teidf)gtagg jum Deftercn mecfjfette (Snbe
beg fiinfjef)ntcn 3a^^"^crt« j. 83. tagte er l)ier am 93obenfee, in ber
bamaligen freien flteidjgftabt Sinbau, mo er bie 9lei<f)gs3uftij'©efefce }«
©tanbe bracf)te, bie leiber nur fef)r unbottftanbig jum SSottjuge gelangten):
fo mar eg notljig, fiir bie Sfteicfygfleinobien einen unabanbertid)en unb
permanenten 93emat)rer, einen Dertrauten unb getreuen 3n$aber, eincn
„£ruftee", mie bie ©nglanber fagen, ju fjaben, meldfjer erljabcu toax uber
ben SGBcdE)feI ber 3citcn unb ber $erfonen. Unb bag mar bie aflergetreuefte
©tabt Sternberg.
©ie bemafjrte nic^t nur bie Sronungginfignien, bie Srone, ben
Saifermantef, ben SReidfjgapfel, bag 9ieidjgfd)mert (bag „gladium Caroli
Magni") u. f. m., fonbern audf) bie baju getjorigen tyeittgen ©cfyriften, bie
mit foftbaren SDtiniaturen Derfc^enen SKefebudjer unb bie Sftetiquien, weld)e
ftdj tljetfg auf bie Sreujigung Sljriftt, ttjeilg auf bag 3Jtartt)rtfjum ber
Slpoftel bejogen, namentlidj atfo bie Serf erf etten Don Sofyanneg, $autu$
unb $etru§, fomie bag gragment Don ber Srippe beg £cilanbg, ben
f)5fjerncn ©pan beg Sreujeg unb bie SDtartermerfjeuge ber Sreujigung,
ein Stage! , Sauje u. f. m.
„3at)rticf) am jmeiten greitage nacf) Dfteru," fdf)reibt £err Don
SBeedj, „murbe bem SSoIfe auf bem 3KarftyIafce bag «^eiltum» gemiefen,
b. ^. bie Steid^gfleinobien murben Dorgejeigt, met^e fcit bem %a1)xt 14k24
ber ©tabt jur Slufbematjrung anDertraut maren. S)ag mar ein grofceS
geft, ju bem aud) Don Slugmdrtg bie 2J?affcn beg anbadjtig?n unb neu-
gierigen SSoIfeg ^erbeiftromten, urn fo mef)r, alg bie mit bem gefte Der;
bunbene SJfeffe ber SanbbeDolfcrung ju mandf)erfei ©infauf ermiinfcl)te
©etegeu^eit barbot. 9Wan mei|, bag im So^te 1463 an jenem 2oge j
1
!
(Sine uitfinbbare f ret e Ketdjsftabt.
183
1266 SBagen unb 608 barren bie ©tabttl)ore paffirten. 25a toaren benn
<md) grope Sorbereitungen n5tt)ig. 2)ie ©trafeen rourben forgfdttig ge-
xetnigt, jenc in bcr SRdlje bc3 9Rarfte£ mit Ketten abgefperrt, urn feinem
guljrtoerf ben 3)urdjgaug burdj bie gebrdngten SDtaffen ju geftatten; cin
gtojjeS ©djaugeriifte toarb aufgefdjtagen, auf bent nnter freiem #immel
bic Softbarfeiten auSgeftetlt tourben. SBad mag ba ba3 SJotf I)in unb
Ijer getoogt fein auf bent toeiten 3KarftpIafce, tnenn ber 3ug fid) langfant
i>on ber £. ©eiftfirdje tjer beioegte, unb ttrie feiertid) mag ber Stnblicf
$etr>efen fein, toenn bie $riefter in ifjren foftbaren ©etodnbern ba3 ©e-
ritfte beftiegen, todfjrenb atte ©loden erflangen, unb toenn bann ein SBifdjof
ber baju gebeten War, ober gar ein pdpfttidjer Segat, ber etoa eben burcfc
xetfte, bie 3Reffe fang. 3)a ljob toot ein alter ©rofftater ben neugierigen
€nfel fyod) empor, urn iljm afle bie &errlid)feit ju jeigen unb ju erfldren,
ben 9iagel, bie Sanje unb ben ©pan Dom Kreuje be£ £errn, ba£
©tiief toon ber Krippe Stjrifti, ©lieber Don ben Settcn, mit benen
IgetruS, *J5auIu3, Softanne^ einft gefeffelt toaren, ba3 ©djtoert KarU
be£ ©roften, feinc Krone, fein ©cepter, feme Kteiber unb anbere Ijeitige
unb foftbare ©egenftanbe. Slber nid)t atlein bie greube an ben frommen
©pielereien burd)brang unb betjerrfdjte biefe SKaffen, fonbern tfjnen trat
bti biefer feierlidjen ©cene boppelt fraftig ba£ ©efiiljl Dor bie ©eete,
baft fie ©lieber ehteS groften ftaattidjen ©anjen feien unb ba3 toeitere:
bag itjrer ©tabt Dor alien ©emetntoefen be3 beutfdjen 9tei(§e3 bie @t)re
$ugett)eilt fei, bie §iiterin ber ^nfignien biefeS 9teid)e3 ju fein/'
9lu3 biefem ©djafce ber KronungSinfignien unb SReidjSttetnobten
<rifo ttmrbe im SKdrj be£ 3af)rc3 1434 bie Kaiferfrone entnommen, um
ttad) einer ber fleinften freien 3leid)£ftabte iiberbradjt ju toerben.
2Ba3 follten bie 33ud)l)orner bamit madjen? 2)a3 ©djreiben t)om
28. 3Warj fpridjt fid) bartiber nidjt au3. @3 Dertoeift bie Suborner
■auf bie $8otfd)aft, roetdje iljnen Don bent Kaifer ©igmunb birect unb
fdjriftlid) jugetjen toerbe, unb auf bie mitnblidjen SBeftellungen be3
freireidj£ftdbtifd)en Kned)te£, tneld)em bie Krone jum transport anuer-
traut ift.
35amat3, im 9Kdr$ 1434, ging ber Saifer ©igmunb nac^ Eonftanj.
©pater begab er fid) nad) Ulm, um bort ben 9lci^^tag abju^alten. ?tn
bem einen toit an bem anbern Drte ^atte er melleicfyt bie Saiferfrone
n5t^ig, unb beibe liegen unfern Don Suborn, ©onftanj an bem Ufer
be3 namli^en ©ee^, f(^rdg gegenuber.
SBarum aber ber Kaifcr feinc Krone, ftatt birect nad) Eonftanj, nadj
bem ttjinjigen Suc^^orn gefc^idt tjat, bag aufjuftdren, ift bt§ jefct ttic^t
fielungen. S)enn ein rei<$3ftabtifd)eS Strd^io Don 93uc^^orn ift nid)t ju
«rmittetn, nja^rfc^einlic^ finb bie $apiere im trouble ber SriegSjaljre
Derlommen. Sta^ge^enb^ aber ift bie Krone ttrieber in bie 2Serttmt)rung
ber aflergetreueften ©tabt 9lurnbcrg juritdgetangt. 3« todfytm 3^ede
Slorb unt> ©ut>. VII, 20. 13
Karl 33raun*£Diesbaben in Berlin.
biefelbe auf iljrer SHcifc nad) 83ud)f)orn toon bcm aRejjbudje beglcitet tourbe,
bag tyarrt and) nod) ber Stufttdrung.
SebenfaKg betoeift bicfcr £ergang, bafc Suborn bod) gcrabc nidjt
bic gcringfte ©tabt Seutfc^lanbd toax, fonft ^atte man iljr nid)t bic fiaifcr-
fronc antoertraut.
Sonftanj ljat fcinc freireidjgftdbtifdjen ©rinnerungen beffer betoafjrt
ate Sudjljorn. ©ine lurjc ©trede toor ben Iljoren bcr ©tabt Sonfianj
an bcr ©telle, too §nfe ben geuertob erlitten ^aben foil — mcrftoiirbiger
SBcifc nennt man bie ©telle „3m ^arabieg" — , ftctjt jefct ber „Cmffens
ft ein" aufgeridjtet.
Sludj bicfcr ©tein f)at feine ®t\ti)ii)te. ©ie ift moberner wnb frits
famer 9Crt unb beginnt lange toor ©siftenj biefeg ©teineg. 3m %a$Tt 1834
ndmlidj Ijatte, tote ung ebenfallg £err toon SBcedj erjd^It, ber bamalige
SBitrgermeifter toon ©onftanj, ®arl fmettin, juerft ben ©infaK, auf ber
5Rid)tftdtte ein Sienlmat ju erridjten. 2)a 93aben nnb iiberljaupt 3)cutfdj;
lanb bamalS nodj fcljr arm toar, rcflccttrtc $Mlin aw$ auf bag 2lufr
lanb, namentlid) auf ©ngtanb, too $uffeng Sorgdnger unb Seljrer SEBittef
gelebt Ijat, unb auf 935f)tnen, bag §eimatlanb beg SReformatorg. Sr
ridjtete ein ©djreiben in biefcm ©inne an ben „toeref)rtidjen unb Ijodj-
loblt(§en 3Ragtftrat ber !. f. bol)mifcJ>en fyauptz unb SRefibenj*
©tabt $rag". 2)eggleidjen an ben SKagiftrat toon £>uffUin, eineg bofjmis
fdjen ©tdbtc^eng, in toeldjem 3of)&nneg£mfj geboren fein foil. ®ie Bd^mifc^cn
9Ragiftrate gaben ber 3ufd}rift beg Surgermeifterg toon ©tmftanj feine
gotge, fonbem legten biefelbe ber toorgefefcten ©taatgbetjorbe toor unb fo
ging benn bag Ijarmlofe ©djreiben burdj atte Snftanjen {jinburd) t)inauf
big an ben aflmdd&tigen ®anjler, ben giirftcn aRettemidj.
3)iefem lam bcr ©infafl beg ©onftanjer Siirgermeifterg ettoaS in
bie Quere. @r toihtfdjtc, bafe in 9351jmen bic ©rinnerungen an bic fdjretf*
lidjen ffirlebniffe beg fiinfjeljntcn unb fedjieljntcn 3flf)tf)unbertg nidjt toicber
aufgctoedt tocrben m8d)ten; unb toer bic jefcigen Buftdnbe im Sanbe ber
©jedjen fennt, toirb ifjm faum ftarf tocriibcln, bafj er barauf aug war,
aufregenbe ©ammtungen fur ein $u§benfmat in 935f)men ju toermeiben.
2tuf bie ®auer Ijat bicfe SSorfi^t freilid) bod) nidjtg getjotfen.
2lbcr befto fomifd)er toar bag SDtittet, beffen cr ftdj ju biefcm 3tocde
bebiente. SBcr toeifc, ob cr eg felbft tljat. SSielleidjt toaren eg audj nur
feine attjubtenftbefliffenen ©djreiber, toeldje fo redjt aug bem, bamatg in
ber £>of- unb ©taatgfanjlei in SBicn ^errf<^enbcn Ion Ijeraug fc^rieben.
SKan crinncre fic^: eg toar im Rafyxt 1834. Die franjfififdje 3uliretoo^
lution toar in ©iib; unb SSSeftbeutf^tanb nid^t o^ne 9Q3irfung gebliebcn.
^icrgegen toar nun eine frdftige Reaction eingctrctcn. Defterreid) ubte
bic politifc^c 5J?otijci gegen bic beutfdjen 3JitttcI - unb ftteinftaatcn. 3)ie
babifc^c 3tegicrung toar namenttidj tocgen i^rer liberalcn Steigungcn
bringenb /;bcg SSerbad)teg toerbde^tig"; unb iiberfjaupt beftanb bamatg
€ine unftnbbare frcic Heidjsftabt. \85
ba3 einfacfjfte 2Rtttel, Semanben la^m ju legen, barut, \f)xi ate „$)emagogen",
ober ate „9Dlann be3 UmfturjeS" ju beaeid&nen. 2)ie£ mu& it) toorauS^
fdjicfen, bamit bcr Scfer toon ticute ba3 golgenbe begretfe, luaS 1834
ubrigjnS Seber natMxi) fanb. 2)enn bamate tear e3 fo „styli".
®er Surft aRetternidj alfo fdffidt am 17. 2tyril 1834 an ben babifdjen
Sfflinifter Srei^errn toon SRetjenftein cine I}odf>ft ernfttjafte „toertraulidje 9tote",
in toddler er bie babifdje SRegierung in einem fd&utmeifterlid) beleljrenben
unb broljcnben lone aufforbert, ,,fold)e SSorfommniffe ju tocrtjinbem".
3)a3 Untemeljmen be3 S3urgermeifter& toon Eonftanj, f)eiftt e3, trage ben
©fjarafter „eine3 politifcfjen ftaategefdfyrficfjen UmtriebeS", menngteid^ e£
dujjerltdj JjarmloS erfcljeine. 2)enn barin liege gerabe bie ©efatjr unb
bag fei befanntlidj fo bie laftif ber atterraffinirteften Umfturjmdnner,
toeld&en e£ baburdf) jutoetfen gelinge, minbet adjtfame SRegierungen ju
tauten. Diefelben pflegten ndmlid) irgenb einen nriffenfdjafttidjen ober
^ilantl)ro}rif(§en, bent Slnfdjeine nadf) loblidjen, „in |ber Xfyat aber
immer perfiben unb boSgemeinten B^edt" tooranjufteQen, 2lu3fd(juffe
ju btlben, ©etber ju fammeln, fid) atteriodrte SBerbinbungen ju fdjaffen
unb bann baS ©etb unb bie SSerbinbungen „ju rein retoolutiondren
Unternetymungen ju benufcen". Dffenbar fatle au$ ber Pan be3
Surgermeifterg toon ©onflanj unter biefe t)5djft gefdfjrticfje Jfategorie; beffen
Slbfidjt fei unjtt>eifell)aft, bie (Semiitljer in einer ber beftef)enben Drbnung
ber ®inge ungunftigen 9tidf)tung aufeuregen; foldjen untauteren 93eftres
bungen ljabe jebe locale SRegierung mit dufcerfter ©ntf<f)iebenfjeit entgegen^
jutreten u. f. to.
©o fdjoft man bamate mit Sanonenfugeln f^tDcrftcn $aliber£ nadj
Sperlingen ober nad& Sliegen. SRatiirlidj beeilte fidj #err toon SBinter,
ber fur l)dcf)ft liberal geltenbe babifdje SWinifter be3 3nnern, ben 93efel)Ien
9Jietternufj3, ber fic^ fonft ate $ort ber Soutoerdnetat ber territorial*
fteaten aufftnelte, pflidfjtfd&ulbigft ju gcljordjen. 3)er gute Surgermeifter
toon Eonftanj erljielt eine furd&tbare Slafe. 3fljm tourbe ©in^att geboten,
mit ber SSermaljnung, fid^ bei SKeibung gebufycenber Strafe /;S)ergIeid^en
nid)t tticber beigeljen ju laffen". 9la&) SBien aber fc^rieb man, ber gutc
Surgermeifter ^abe ba^ Sitter au^ 2)umml)eit get^an unb bie Iragtoeite
f einer £anblmtg gar nid^t ermeffen; ein 93i3<J)en Sieb^aberei an Sitter^
tfjumem, bie in Konftanj graffire, ein S3i3djen Seftreben, burc^ aflertci
©uriofttdten Sleifenbe nad^ Sonftanj ju jie^en, ntotlty bafelbft ©elb toer=
jel)ren", — !urj, ©oet^e toiirbe fagen „ein 93i^d^en S)ieb§geluft\ ein S3i3djen
JRammelei" — loeiter fei eg in ber 22)at nid^tg, giirft SWetternidf) moge
fid^ ba^er gndbigft berutjigen, nac^bem man ben unbebadfjten SBilrgcr-
meifter gebii^renb auf bie ginger geflopft ^abe.
3n ber Itjat f^eint fid^ benn audj ber grofee protector unb ^Solijei?
bictator in ffiien beru^igt ju ^aben. S^fet fte^t, mie gefagt, ein erra=
tifd^er 93Iocf ate Senfmal an ber — ubrigenS beftrittenen — ©tdtte.
13*
\S6 Karl BraunslUiesbabeu in Berlin.
2)ie cjcdf)ifdjen &uffiten Ijaben fd)tt>erlid) baju beigetragen, benfelben
ljierljer ju todljen. Snfofern I)at ftiirft 3Ketternid) SRedjt beljalten. $er
Stein t)at jebod) big jefet nid)t bag ©ertngfte jum „Umfturs atleg 8)e-
fteljenben beigetragen". Unb infoferu l;at giirft 9Rettemid) Unrest gcljabt;
unb toag er in Socmen t>erl)inbern tootlte, ift bennodj gefommcu.
IV.
©otoiet Don bcr freicn 9teid)gftabt. ©predjen totr nun toon ben
©rafen toon 93ud)ljorn, toeldje toeit fritter enbeten, alg bie gleidjnamige
8teid)gftabt.
3d) fyabe fd)on bag 9totl)ige gefagt iiber bie alte beutfdje ©auberfaf-
fmtg, fottne iiber bag Stnjgau unb bag Slrgengau, toeldje fid) bem jejjigen
beutfdjen Ufer beg Sobenfccg entlang erftrecften. S3eibe ©aue fatten lange
cinen gemehtfamen ©rafen. 3lfe foldje ©rafen toerben in ben Urhinben
genannt: SBarin (764), 9tutf)art (790), 9iotbert, toerfoanbt mit £ilbegarb,
ber @emat)lin Sarlg beg ©ro&en (773), Ulrid) (803), 3toger, ®onrab,
SBelfo, $abo, Ulrid) (860— 883), Sonrab (907—915).
Sftit bem Slnfange beg je^nten 3at)rf)unbert3 finben toir l)ier fdjon
jene SSerdnbcrung, toetdje mit bem elften fo jiemlid) in ganj 3)eutfd)lanb
eintrat. @ie war gleidjfam in propt)etifd)er SBeife Dormer angefunbigt.
SSdljrenb beg Saufeg beg sctjnten 3af)rf)unbert£ wmrbe ndmlid) fiir bag
3al)r 1000 n. ©I), fcielfad) ber Untergang ber SBelt angefimbigt; unb
biefer ©taube Ijatte fid), je me^r bag berljdngnijftolle 3al)r Ijeranrutfte,
befto meljr in $eutfd)lanb fcerbreitet. 2Rit bem Saty* Xaufenb famen
nun atlerbingg nid)t ber ertnartete 2tntid)rift unb bie fonftigen ©$red-
niffe ber Slpofafypfe, tool aber ber Untergang ber altgermanifd^frdnfi-
fdjen 9Jolfg= unb 9teid)gfcerfaffung. Sin itjre ©telle trat immer meljr ber
geubatigmug, bet toeldjem bie 93efcitfferung faftenmd&ig gefd&idjtet unb bie
^errfdjergctoalt ein Subeljor beg leljngmdfeigen ©runbbefifceg toarb. 3)ie
oben genannten ©rafen toaren nod) faiferlidje Seamte. Son nun an
toarb bag Stmt erbtidj unb ein Slu^flufe beg fQa\x& unb 93eftfcred)tg. S)ie
©rafen nannten fid) uidjt mcljr nad) bem ©au, fonbern nadj ijjrer 93e-
fifcung. ©o lommen benn feitbem ©rafen toon 33ud)t)orn Dor. ©ie ftammen
toon ben alten ©rafen beg Sin5= nnb Strgengaueg ab unb ge^oren ju bem-
fetben ©efc^ted)te, tok bie toelfifdjen ^erjoge unb bie Slltborfer ©rafen.
(£g toerben genannt ein ©raf Otto ber Sleltcre toon Sud^om unb fobann
ein ©augraf Ulrid) ber 2leltere mit fciner ©ema^lin 93ert^a. Siefer Ulric^
njurbe toon bem Sonig Slmulf, angeblid^ toegen gelonie, feiner Se^en ent-
fe|t, fpdter aber, ^u (Snbe beg jetynten Qa^r^unbertg, toieber ju ©naben
angenommen unb reiser aU jemalg bcliel)en. ©ein ©ot)n, ©raf Ulridj
bcr Stogere, ioar einer ber reidjftcn S)t)naften am S3obenfee. ©r refibirte
jtoar auf feiner 93urg 93u^f)orn, aber feine SSefi^ungen erftredten fi^
(Einc unfinbbarc frete Xeidjsftabt \S7
ttid)t nur bem ganjen norboftlidfyen Ufer beg ©eeg cntlang, fonbcrn audi)
big jum SRfjeingau (Srcgenj) unb tueit am Stfjeinftrom Ijinauf big auf
bic rtjdtifdjen £5l)en.
Sicfcr Ulridj, bcr Sudjljorner, erjaf)tt Dttmar ©d£)5nl)utf), mit
Sari bcm ©ro&en unb bcm uralten §aufe bcr SBelfen Derfippt, erdffnct
mit feiner trcucn ©emaljlin SBenbilgarb, ciner ©nfcttod^tcr SBnig £ein?
ridfjg I, bic ©efd&tdf)tc ber eigentttdfjen „3)t)naftie Sudfjljorn". Site um'g
$at)r 919 bic Ungarn jum jtoeiten 3Rat in 3)eutfd£)lanb einfielen unb
tocrtjeerenb burdf) bag . Satjertanb Ijeranrudften, jog au<J) ©raf Ulrid) mit
fcincn ©enoffen itjnen cntgcgcn, fcinc bortigcn ©titer ju Dcrtljeibigen. ©g
fam jur ©djlad&t. ©raf Ulridf) fodEjt ritterticf) gegcn bic frcmbcn Se=
brdnger, ^atte abcr bag Ungtiid, in bic £>dnbe bcr Seinbe ju fallen, bic
il)n in bic ©efangenfdjaft toegfiiljrten. ©r iourbe Don alien fcincn 9Rit?
genoffen fur tobt getjalten. ©o erljielt audj SBenbilgarb bic ffiunbe, bag
ifjr ©emaljl nimmcr am Seben ttjdrc. Satb ftetltcn ftdj grcicr cin, toeldje
fid) urn bic §anb bcr iugenblidjen SBittroe betuarben, aber fic tootltc
nidEjtg Don foldfyen 3lntrdgcn I)5ren. Urn 2tltem augjutoeidfjen, begab fic
fid) auf ben Statl) Sifdjof ©alomog nadf) ©t. ©alien, too fie neben ber
Slaufc bcr tjetl. SBiboraba einc 3ette fidf) baucn liefc; allba lebte fic toon bcm
3t)rigen, unb fpenbete jum ©eclenfjeil itjreg tobtgegtaubten ©emaljtg ben
9trmen reidfjlidje Stlmofen. 9HIjdl)rlid£) fam fic nacf) Sudfjfjorn unb fciertc
bort beg ©ema^lg Slnbcnfen mit anbddfjtigem ©ebet unb SBerfen ber
SBoljltljdttgfeit.
Sier %a1)tt toaren Derfloffen, ba begab fie fi<J) toieber Ijimibcr nadf)
Sud^orn, urn bic getool)nte SErauerfeier ju begc^en. SBdljrenb fie nun
bamit befdfjdfttgt toar, it)re milben ©aben an bie jaljlreidj Ijerbeiftromens
ben 2lrmen augjutljeilcn, brdngtc fid) cin Derlumpter Settler burdj bic
9Rengc unb Dertangte Don iljr cin Sleib. SBenbilgarb fdfjalt, baft cr fo
frecf) unb ungeftiim fcinc ©abe Derlange, bodj reid£)te fic il)m bag Sleib,
toenn audf) ettoag unttriHig. $t8felidj fc£>Io§ bcr Settler bic ©ebcrin in
fcinc Strmc unb fuftte fie, 3rau SBenbilgarb modjte eg gefdjcljen laffen
ober nidjt. ©cfjmeritidf) betoegt, baft iljr foldje ©dfjanbe ttnberfaljren, jog
biefc fid) auf iljren ©tul)l juriid unb ricf: „3eftt erft erfaljrc id), bafc
mcin ©cma^l Ulrid^ nimmer am Seben, ba idf) foldfje Srec^^eit Don einera
Settler erfaljren mufe!" 2)a famen cinige bcr umfteljenben 3)iener unb
UJoHtcn bem frcdjen Settler gauftfd^ldge gcben, abcr bcr toarf fcinc railbcn,
langcn $aare mit bcr §anb in ben iKatfen juriid unb ricf: „£) ocr^
fc^ont mic^ bod) mit euren gauftfd^ldgen, benn id) t)abe bcren genug er^
bulbct; fdjaut ^er unb crlennet ©raf Ulridfjen, curen ©crm!"
Sttg bie crftaunten Siener ber ©rdfin bie ©timme i^rcg ©erm
Morten unb bag cinft fo toofjlbefannte 2lngefi<f)t smifd^en feincn Soden
erblidtcn, griijjten fie i^n laut, unb bag £>auggefinbe jauc^jte Dor greubc
Ulrid) aber trat ju grau SBenbilgarb, na^m i^re ^>anb unb fiif)rte fic
\SS Karl BrauttstPiesbabett in Berlin.
an cine itjr mofjtbefannte Starbe. 2)a ertoadjte aBenbilgarb ttrie aug cincm
ttefen ©djlaf unb foradj: „®ag ift mcin £err, bcr liebftc atter 3Renfd}en!
Sig mir toittfommen, big mir nnttfommen, mcin ©ufcefterl" SBaijrenb
fie ben miebergefunbenen ©ematjt umarmte, rief fie ifjrem ©efinbe ju:
„2eget eurem $erro fflciber an unb fjmtet euc§ jur ©tunbe, bafc er em
Sab empfange!" 2Hg Utrid) ttneber jiemlidjc Steiber angelegt ^atte, farad)
er: „9hm tafct ung jur ®ird>e geljen, urn ©ott ju banfen!" 3BaI)rcitb
bem ©efjen fdjaute Ulrid) feine ©emaljHn an unb bemerfte ben Stotuteiu
ftfyteier, meldjen fie angelegt fjatte. „©pric§, mer Ijat bir ben ©djlcier
umgelegt?" fragte er Srau SBenbilgarb. Site er tjorte, ber Sifdpf toon
Gonftanj Ijabe foldjeg getfym, ba fie atte #offnung aufgegeben, bajj iljr
©entail je ttricberfefjren roiirbe, fpradj er: „9tun barf id) bid) toon ©tunb'
an nidjt mefjr umarmen, menu ber 93ifd)of nic^t ©rlaubnifi baju ertljeilt!"
Son ben ©etfttidjen, beren tne^rere an biefem lage jufammen ge;
fommen toaren, murben jefct in ber ®irdje Slemter geljalten, ntdjt in Xrauer
fur ben Serftorbenen, fonbern tooll greube fur ben Sebenben, unb all bag
Soil natjm anbadjtig iljeil baran. 3)amad) mirb ein feftlidjeg SRa^l ge=
fatten, ju bent Side ljerbeiftr5men, bie toon ber munberbaren ©efd)id)te
$5ren, unb ?tlle erquiden unb freuen fidj bei biefem SDtaljle.
2)ie nadtfte 3^it barauf berief Sifdjof ©alomo toon Sonftonj eine
©tjnobe; auf btefer forberte ©raf Ulrtdj feine ©emaljltn mieber toon bem
Sifdjof surucf. 3)er Sefdjluft ber Serfammlung fiel baljin au3: /f?tcltcr
ift bag ©eliibbe, bag SBenbilgarb tyrem ©emaljl getyan; fte toerbe bem
©atten juriidgegeben, ber ©djteier aber in ben ©djrdnfen ber Sirdje auf;
betoatjrt, bamit 3hrau SBenbilgarb, menu ja ifjr ©entail toor iljr jlerben
foflte, benfelben atg SBittme mieber anlege." 9tun fefjrte bag mieber toer;
etnigte Styepaar nad) 83ud>l)orn juritd, nadjbem fie nod) bag ©elubbe ge=
ttjan, bafc, roenn fie nod} einen ©olnt erjeugen toiirben, berfetbe an ber
SKutter ©tatt bem ^eit. ©aQug getoei^t toerben foUtc. SBirHic^ em-
|)fing grau SBenbilgarb noc^ einen ©o^n toon i^rem ©ema^I, aber fie ge-
bar i^n ni^t gliicfli^: toierjetyn Sage toor ber 3^it fam fie in SinbeS*
ndt^en unb ftarb. 2)a3 ©o^nlein mufete i^r aug bem Seibe gef(^nitten
luerben unb lourbe bann in einem toarmen Saud^i eineg frifc^ gefd)Iad)tc=
ten ©c^weing jur Sfteife gebradjt. 3n bcr laufe er^ielt bag ftinb ben
Stamen Surf^arb.
faurn mar Surf^arb ber ^flege feiner 9lmme entmac^fen, fo brac^tc
itnt fein Satcr nad^ ©t. ©atten, toie er mit feiner feligcn SWuttcr gelobt
^atte, unb legtc i^n auf ben Stftar ber Sirdje nieber, inbem er ©egen
fur bag ffiinb toon feiner SKutter crfle^tc. 2tlg 3^gabe roeiljte er bem
fflofter ©runbftucfe unb 3rf)cnten ju $o^ft. %m ftlofter tourbe ber
fleine Surf^arb erjogen; bie Sriiber nannten ben tounberfdjonen ftnaben
nur Surf^arb ben Ungebornen. SBett er unjeitig geborcn ttntrbe, toav
er fo jart, bafj er bei jebcm gtiegenftic^ blutete; barum befam er toon
€inc uufinbbarc fretc Heidjsftabt. J89
feinen Severn felten 9iut!)enljiebe. ©o fcfymadtfid) unb gart SSurfijarb
immer am Seibe blicbf fo ftarl ttmrb er an OeifteSfraft. @r hmrbe f pater
tuegen feiner au3gegetdjneten @toben gum Stbt be3 SlofterS getodljlt.
SiicobemuS grifdjlin, beffen ©eba^tnife bur$ Dr. griebridj ©traufj
in fo trcffli^cr SBeife ttrieber erneuert tnorben ift, tyat bic <5tefd)td)te ber
©rafin bramatifdj bearbettet untcr bem Xitel: „Fraw Wendelgard;
ein new comedi oder spil, aus glaubwtirdigen Historien ge-
zogen, von Fraw Wendelgard, Keyser Heinrich I. aus Saohsen
tochter mit ihrem ehegemal Graff Ulrich von Buchhorn, herren
im Linz-Gaw am Bodensee, was sich anno 915 und anno 919
mit ihnen zugetragen; ntitzlich und kurtzweilig zu lesen. Ge-
halten zu Stuttgart den 1. tag Martini anno 1579. Authore
Uicodemo Frischlino. Gedruckt zu Frankfurt am Main, durch
Wendel Hammer anno 1589."
ift cin fur bic toiirttembergtfdje Stynoftie, toeldje auf i^re Set*
tuanbtfdjaft mit ben aftcn Stynaften unb ®rafen be3 SinggaueS ftotg ift,
^ebidjtereS geftfpiel.
3n bcr ©age, roic id) fie oben ttriebergegeben tyabe, jeigt fid) ein
eigentljumlidjer 3ug, roeld)em roir in ben Segenben i^e^ frittjen SKittefc
alters ofterS begegnen.
2n ben 2)idjtungen ber alten ©riedjen finben fair ba3 Ifjema Don
tern „!Keibe ber ©5tter" oariirt. SMe ®5tter fonnen e$ nid^t letben, roenn
€3 einem ©terbltdjen align roofjt ergefyt. ©ie geljen bann barauf au$,
iiefeS ®Iiid burd) 2Rifjgefd)id hrieber au3gugteid)en. 3utoctlen laffen fie
fi$ baburd) toerfofmen, ba& ber Slfljugtudli^e einen Xfjeil feineS ©liideS
freimittig o^fcrt. 3n anberen gatten aber toeigern fie fogar bie Jtnna^me
be3 gebotenen DpferS, urn ben HRann, ber itjren Uieib fyerauSforbert, un;
tettbar gu toerberben.
Stidjt fo unberfotjnlid), iuie fid) bie l)eibnifd)en ©5tter g. 95. in ©djiHerS
@ebid)t toom Singe be3 $ofyfrate3 ertoeifen, ift bie d)riftli$e Sirdje im
SRittetalter. ©ie uimmt jebe ©iitjne unb jebeS Dpfer bereitttrittig ent-
gegen. Stber fie !ann e3 nid)t oertragen, wenn itjr bag einmal (Sefpenbete
ttrieber entjogen ttnrb. gran SBenbilgarb, obgleid) fie ftd) ber 3uftimmung
unb be3 ©egenS be3 frommen 93if($of3 toon Conftang erfreute, ate fie ba$
Softer oerliejj, urn in bie Strme il)re$ toerforen geglaubten ©ematyte gurud*
gufefjren, mufjte bennodj il)re §anbtung^meife bu|en. ©ie §atte ate (Sr*
fafe iljren gu er^offenben ©o^n bem burd) i^ren Sludtritt gef^dbigten
^lofter angelobt. Sttber ba^ Slofter uerfc^md^te e3, biefe ©il^ne auf bem
naturiic^en unb getoS^nlid^en SBege entgegen gu neljmen. Slur ben „VLnz
gebornen" na^m e§ ate ©ii^ne. ©otdje Segenben, beren SRoral fi^
immcr batyin guf^ifet, ba| e^ l)5($ft gefft^rlid) fei, ber Sir^c ober bem
Slofter irgenb ©tlua^ gu entgie^en, finb au^erorbentlic^ ga^Irctc^. 3dj
toiU gur SSerglci^ung nur cine gang furgc ©rga^Iung ^ier^erfc^en. ©ie
\<)0 Karl ^rauitstttiesbaben in Berlin.
ftnbet fid) in bcr befannten ©ammlung ,f ©d^tmpf unb ©tuft", rocldje
toon bem a3arfufjer;2R6nd)e gotjanneS *J5auIi ju Xtjann 1519 jufatmnra=
gcftcttt toorben unb 1522 bei Soljann ©rieninger in ©tra&burg im S)rutf
erfdjienen ift. S)ic ©ammlung entfjdlt attcrlci ernftfjafte ©rjdfjtungen imi>
furjtoetlige ©djtodnfe, toetdje bcr S3crfaffcr „benen ^rdbicanten" jum ©e*
braudje fiir il)re ^rebigten empftefjlt, toeil biefclben gecignet feien, barau
oHcrlci gute SRufcantoenbungen ju Inii^f en , beSgleidjen auc§ fdjlafluftige
3uf)5rer in Sljrifto toadj ju erljatten unb ©<f)lafenbc ttrieber toedeiu
2)ie ®efd)idjte lautet fo:
„(Sin ©belmann toar tangc toerljeiratf)et gcmefcn unb Ijatte Icine
SeibeSerben. 3)a tocrt)iefjen cr unb fcine 3rau, toenn iljneu ©ott bcr
$crr cin Sinb gebe, ba$ follte ein SJSriefter toerben. ©ott erljorte fie uni>
fc^cttftc ifjnen cin $ndblein, unb nicf)t lange barnad) crfjielten fic nod*
cin ®ndblein. $ie beibcn Snaben toudjfen auf, unb bcr ©rfte ttmr lieb-
lid), fyiibfdj unb gcrabe. 2)cr Slnbcrc mar nid)t fo Ijiibfd) unb bcr SBdt
fo angcnel^m, ttuc bcr (Srfte. 2)a befdtfoffen SSatcr unb 2Kutter, bafc fie
ba£ anbcrc Sinb tooHten geiftlid) toerben laffen, unb ber ©rfic, ber
fdjone ®nabe, fotttc toettlid) bleiben unb il)r grbe fein. $a liefj ©ott
bic Sinber bribe fterben, bamit man nidjt nteine, ©ott Ijabe nidjt au£
gem ettoaS ©d)one§ in fcinem 2)ienftc"
©raf Ulric^ ber 3iiitgcrc Don 93ud)t)orn tjatte jebod) aufeer bent „un-
gebornen" ©otyn, toeldjer cin ®ircf)enlidjt umrbe, nod) jroei roirflid) ge~
borne ©ot)nc, unb jioar geboren bctoor ber ©raf in bie ©efangenfdjaft
unb bic ©rdfin in ba£ ffilofter gerietf). 3)iefe, 2lbetf)arb unb Ujjo, ttjeilten
bie reidje §errfd)aft be3 SBaterS. Ujjo er^iclt bie Sefifcungen am oberen
unb Stbd^arb bie am untcren ©ee. 9Son jenem ftammen bie ©rafen tooit
SBregenj unb toon biefem bic fpdteren ©rafen toon 99ud)f)orn. 2)c§ Sefcteren
©of)n tjiefc SRidjar, fein ©nfel Dtto I. unb fein Urenfel Dtto II. SKit
biefem erlofdj bag eble ©efdjledjt bcr 93udjt}orner ©rafen. ®icfcr Otto
entfiifjrte cinem benadjbarten „©rafen Subttrig" (e£ foil, ioie bie ©ele^rtett
mcinen, ein ©raf toon ^fuflenborf gcioefen fein) feinc ©emaljlin unb lieft.
fi(^ biefclbe ate jmeite ©ema^Iin antraucn; toon ber erftcn fjatte cr feinr
SJinber. S)cr bclcibigte ©atte rief jebod) bie toettIid)en unb geiftli^m
£errfc§er jur $iilfe unb SRad^e an. 3)cr 93if(^of toon Eonftanj toertymgte-
ben Sir^enbann iiber Dtto unb ber ©raf Subttrig Ite| ifjn toon feineit
Sne^tcn erfijlagen. 2)te3 gefd^a^ im So^re 1089. S)er ©rf^Iagene
murbe in bem Stoftcr $ofen, bem iefeigen ©c^Iofe Sricbricpfjafen, in ber
Sirc^e begraben. Slflein ber SSif^of toon Sonftanj tiefe ifjn al^ einen
©ebannten toicber augfd^arrcn, fcinc Seiche tocrbrenncn unb bie ?tfcf)e in
alle toicr ffiinbe jerftreuen.
©o enbete ba§ ©efc^Icc^t ber ©rafen toon 93ucf)f)orn.
(Eiue nufiubbare frete Kctdjsftabt.
v.
©prcdjen roir nun, nadjbem roir bic ©tabt unb bie ©rafen 3U
<£Jrabe geleitet, toon bcm SHofter, beffen Sirdje iljre S^iirme tjcute nod),
cincm riefigen 2)oppek©pargcI tocrgleidjbar, gen $immel recft, rodfjrenb
bic Sloftergebdube, in ein fd)imeg ©d>lo§ toerroanbelt, bent ttriirttembergis
fdjen Sdniggpaare atg ©ommerfrifdie bienen.
3d) l)abe bereitg bie 93ermutl)ung auggefprodjen, baft bie alte fefte
93urg ber ©rafen Don 93ud)Ijorn auf jener SRafe gelegen, toeldje fid) bei
bent jefcigen ©djlofi in ben ©ee ftrerft. Stadj ber gemeinen ©age fott
bie ©rdfin SBertfja, bie SDiutter beg lefcten unb bie ©ematjlin beg toor^
lefcten ©rafen toon 33ucf)f)ow, baneben biefeg Stofter geftiftet fjaben, in
toeldjem bie ©ebeinc beg Sefcten itjreg #aufeg nidjt cinmal bie eroige
SRufje finben fottten. 2)ag Softer ^cifet in ben dlteften Urfunben ftetg
„3etle Suborn" ober „3ea;93ud)f)oru". $cr SRame Belt, roetdjeu fo
t>iclc Orte in ©iibbeutfdjlanb, ber ©djtoeis unb £irol u. f. to. fitljren,
beutet immer auf ein efjemaltgeg Softer, ebenfo toie „3Kiinfter," bag
t>on „9Ronafterium" (fitofter) tjerriifyrt, 3Ruudjen, roeldje ©tabt nad) ben
„3Rond)en" benann't tft unb aud) einen tteinen 3R5nd) im SBappen fiif)rt,
jefct fdjjerjtoeife meifteng mit einent Sierfeibel in ber SRedjten bargefteHt
unb „bag 2Riind)ener Sinblcin" geljeifcen.
Stag Stofter 93ud)t)orn Ijegte 9tonnen toom Crben ber SBenebtctincr.
SKadjbem bie alte £t)naftie ber ©rafen Don 93ud)I)om mit Dtto bem
Sungeren auggeftorben unb bag #aug ber SBetfen an if)re ©telle getre^
ten toar, unterftettte £>crjog SSelfo IV. im Saljre 1090 bag Rtofter bem
grofcen Sontoent toon SSeingarten (bei SRatoengburg). 3)amafe ijeifjt eg-
fdjon „#ofen" (in atrio fjei&t eg in ben lateinifdjen Urlunben). 23af)r=
fdjeintid) f)at eg biefen SKamen, nad) bem Slugfterben ber Suborner,
t>on einigen in ber 9tdl)e getegenen 93auernf)5fen angenommcn.
2)er 8lbt toon SBeingarten beeilte fid), einen $robft tjinjufdjiden,
welder bie Sfatereffen beg toorgefefcten $errn ju toatyren fjatte. 2lttein
eg fyerrfdjte nid)t immer ber ri^tige canonifdje @et)orfam. ©inmal tourbc
bag Softer ganj aufgefjoben, ©inige fagen toegen SBiberfefelic^feit gegen
SBeingarten, Stnbere fagen wegen unfoliber Scben^ttjeife feiner Snfaffen;
an bie ©tette be£ $robfte^, b. ^. beg ©cifttidjen, trat ein ^Sogt",
ein toeltlidjer aSerJnaltung^beamter. ©^dter ftellte ber 9tbt bag Klofter
tt)ieber Ijer, aber bic ©djtoeben brannten eg im breifjigidfjrigen Krieg
nieber. %m 3atjre 1695 erfolgte ber SBieberauf ban. 5)ie bamatg errid)-
teten ©ebdube bilben bag tjeutige ©d)lo§ griebridjgljafen.
?tlg im %a1)Tt 1802 bie big baf)in reid^gunmittelbare Slbtet SBein^
garten mebiatiftrt wurbe, t^eilte man biefelbe nebft it)ren 93efi|ungen
bem (Srbftattljafter ber 9iieberlanbe, bem 5J?rin5en toon Staffau-Dranien^
alg ©ntfc^dbigung fitr bie ©efifeungen, bie er toertoren ^atte, ju.
9192
Karl Sraun*tt)ies&aben in Berlin.
©iefer trat fie fd)on jtoci 3aljre fpater an Defterreid) ab. Defterretdj
aber toerlor toieber 1805, burdj ben grieben toon ^refcburg, biefe 99e=
fifeungen unb fie famen nun an ba$ neugefdjaffene £8nigrei($ 2Biirttm=
berg, metres etttmS f pater, 1810, aud> bie freie 9teid>3ftabt Suborn
getoann, ttrie toix bieS ja gefeljen tyaben. #aum Ijatte SBiirttemberg am
93obenfee gufj gefajit, fo befool e3, toon biefer ©tellung auSgibigen
©ebraud) p madjen. 3>er ©d)toabensS?6nig freute fid), toon einem
Uljeile be3 „©d)toabifdjen SReereS" Sefife ergreifen ju fonnen.
ertoadjten bie Srinnewngen an jenc 3^iten, too ber ©djto&btfdje JReid>£=
Irete fiir ben ganjen ©ee bie SluSiibung ber £ol)eit3red)te in 2tnfpnid>
naf)m. 2$iefleid)t fyatte man ben romantifdjen Iraum, 2lbmiral=@taat eine3
©ufctoaffers©ee3 ju toerben. SBer toeifc 3)a3? 3n einer ttmrttembergh
fdjen SSerorbnung toom 7. 3uli 1807 l)eijit e3:
„©eine SKajeftat ber Sflnig ^aben ©id) burdj ben Slugenfdjein uber=
jeugt, baft ber $afen toon £ofen am Sobenfee fiir bie ©djtoeijer ©d)iff -
fa^rt nnb §anblung toon ber grofeten SBidjtigleit ift."
Sn Uebereinftimmung mit biefer SSerorbnung befall Sonig griebrid),
fcen ganoid) in Serfall geratyenen £afen bei #ofen toiebcr ^erjuftetten.
3)e3gleic§en begann man bie Steftauration ber ©ebaulidjfeiten be3 facu*
larifirten ®Iofter£. 2ll£ aber nur toenige %afyxt barnacf) audj bie ©tabt
33ud)I)orn unb beren ©ebiet bem fi'onigreicf) SBurttemberg jufiet, toanbte
man bie §auptforgfatt bem oftltd^ toon SBudjfjorn gelegenen §afen ju,
loetdjer grflfcer ift unb beffer getegen. @o toar benn nadj ettoa taufenb
Safjren SttleS, tuaS im Saufe ber 3<*f)rf)unbertc nadj toerfdjiebenen
SRidjtungen auSeinanber gegangen, unter bem ©center eineS &errfd)er£
IBertfjotb-fdjen ©efd)ted)te$ toieber toercinigt.
3uerft fatten tjier bie 8t8mer tfjren SBarttljurm auf ber Sanbfpifce
errtdjtet. 3)ann fatten bie SUcmannen bie 3t5mer oertrieben unb eincr
ifjrer madjtigften £auptlinge au$ SBertljoIb'jdiem @efdjted)te tyatte auf biefer
namlidjen Sanbjunge feine plumpe, fteineme, nad) £anb unb SSaffer Ijin
tootjlbefeftigte ©augrafenburg aufgeri<$tet unb gegen bie §unnen toer-
t^eibigt. Unter btefeS ©rafenfifeeS ©djufc fatten fidj toeiter oftlic^ gifc^er
nnb ©differ angefiebclt, beren Heine ©emeinfd^aft, begiinftigt burdj eine
fiir ^anbel unb ©d)ifffal)rt gliidlic^e Sage, nat^ unb nadj 511 einem
©tabtlein erloucf)^, ba3 fic^ bann au^ Winter SBatt unb ©raben toer^
f^anjte. S)enn nur Winter folder SBruftwe^r fonnte fid) bamate ber
Siirger ber griidjte feine§ gleifeeg erfreuen. ©obalb er feine 9Rauem
toerlicfe, mar er red)t= unb mad)tto^.
3)ie SKemannen liebten e§, bie SKieberlaffungen ber Sldmer ju jer-
ftoren, aber auf beren gunbamente unb ©ubftructionen ju bauen. S)a^
<Sefdjted)t ber ©rafen toon 93ucf)^orn, toeldje bie^ auf ber bejeic^neten Sanb^
fpifee gettian fatten, erlofd^ im elften S^^^unbert, urn einem Klofter be^
S3enebictiner=Drben^ ju meit^en. 3)ie3 Stofter mac^te fogar ben Stamen
(Eine unftnbbare frete Heidjsftabt.
193
Sudjfyorn Derfdf)ttrinben. 6d nannte ftdj^ofen unb ftetltc fid) unter bic
md^tigcn SBeingarter Slebte.
2lu(^ bic ©tabt emancipirte ftdj Don ber altcn reidjd; unb gaugrdf;
lidjen Irabitton. SDad ©rWfdjen bed mddjtigen ©rafengefdjlcdjted, „bie
faiferlofe, bie fdjredltdje 3^it" bed 3nterregnumd, Dertoied fic
audfdfjtieftlid) auf bic ©elbftl)ulfe. ©o fd^ieb fic aud jcbcm territorial
Derbanbe aud unb nmrbe cine ejimirte frcic SReidjSftabt, toeld&e, toeil fic
felbft ju ttein unb ju fdjtoad) tear, i^rcn ©djufe in bent SSerbanb bcr
f,fiinf ©tdbte urn ben ©ce" fudf)en muftte. TOein Dom fiebjeljnten S^*2
ljunbert on tear bie 3^it ben fleinen 5rtlidjen SBerbdnben unb ben ©tdbte;
biittbniffcn nidjt mefyr giinftig. 3m Saljre 1632 tourbe bic ©tabt toon
ten ©djtoeben genommcn unb bann 1634 Don ben „$aiferlidjen" unter
bem Dberften SSijttjum (Vice-Dominus) bctagert. 3la6) ber ©djladfjt Don
Uiorblingen jogen bie ©djtoeben ab, um bem faiferlidjen ©enerat ©attad
^Mafc ju madden, fodder bie geftungdtoerfe, fo bie ©djtoeben erridjtet,
nueber jerftorte. 3m %af)xt 1643 nmrbe bie ©tabt Don ben SBeimar'fdjen
imb 1643 Don 38iebert)olb, ber auf bem ^otyenttoiel faft, genommcn unb
griinblidf} geptiinbert. SDajtoifcfjen ift fie audf) metjrmald Don groften
SBrdnben tyeimgefudjt toorben, bid baft fic enblid), Don Ungtiid unb ©djutb,
uom S3erl)dngnift unb Don ben ©ctyulben niebergebeugt, ejctftenjunfaljig ttntrbe.
©o fam ed benn, baft, nadjbem bad ©rafenfjaud bem befinitioen
Untergang, bagegen bie ©tabt unb bag SHofter ber 2lgonic Derfatlen,
fdf)Iieftltc§ ju 5lnfang bed ncunje^ntcn 3<if)rf)Knbertd Silled, toad fid) friifjer
bifferencirt fjatte, miebcr mit cinanber Dereinigte, freiltd) nidjt unter bem
frii^em gemeinfamen alten Stamen 93ud)f)orn, fonbern unter ber mobernen
tSirma griebridjdtjafen. 2)ad junge Sonigreid) 23iirttemberg, toeld&ed
unter feincm ©center Sltled Dereinigte, fo etyebem 33ud$orn getyeiften, Ijatte
t)ie beften 2tbftd)ten fiir bied ncu ertoorbene ©tiiddjen Sanb, abcr mir
fdjeint, ed griff bie ©adje nidfjt ridjttg an unb ubcrfc^d^tc feinc ®rdfte.
©tatt bie §inberniffc unb 4>emmungen bed 93erfef)rd ju befeitigen unb
t)en Don ben fjcffeln befrciten Srdften ber biirgerlidjen unb toirttjfd&afts
ltdjen ©efeKfdjaft „9taum ju gcben fiir itjren gftigelfdjlag", glaubtc man
burdj ©taatdtjiitfe unb Steglementirung Med madden ju fonnen.
Slid man 1811 Suborn bic ©tabt unb #ofen bad "ftlofter, nun-
inef)r ©df)Ioft, ju eincr ©emcinbe confolibirtc unb 2friebrid)d^afcn nannte,
entbecfte man, baft itoif d)en beiben ein grofteS ©tiicf fe^Itc. S)er f/fous
fcerainc" ftdnig — fclbft bic flcinften SR^cinbunbfurften nanntcn ftd^ mit
SSorliebc „fouDerain"f womit fie audbrutfen toottten, baft fie nunme^r bed
JJaiferS unb SRcid^d lebig feien, toobci fie natiirUc^ unterlicften, ^crDor^
Sutjeben, wit U\6)t bad angebtic^c 9?ei(§aiocfj gewefen unb wie fd^mcr bad bed
SR§einbunbd*$Protectord Slapolcon briidfte — bcr Sfonig befa^t, baft biefe
fiucfe audgefiittt tocrbe, b. % baft jtoifdjen ber Stltftabt (23ud)l)orn) unb
bem ©d^toffe (^ofen) eine Wii^enbe 3leuftabt entfte^e. S)urdf) fflniglidje
\9*k Karl SramulDiesbabeu in Berlin.
SSerorbuung t>om 15. December 1811 murben ben 93auluftigen bic grofiteir
Sortfjcile geboten, ©teuerfreiljcit, £>oIjbesug unb fonftige ^rimfegien unb
gmmunitdten. 3>ie Sodfpeife tpirftc; e3 fanb fid) tine Stnja^I Don ©pe=
culanten, twelve auf bcr bem ©ee enttang fiif)renben fdpiurgcraben Sau=
fluent, roeld>e bic ©tabt mit bem ©<f)Ioffe toerbinbet, $dufer erbauten.
Stber fie maren Don ffciner unb fd)Ie<f)tcr 93efcf)affenljeit. Sie ttmrben
nid)t urn ifyrcr felbft ttritten erridjtet, fonbern urn bic Saupramien fd)tucfen
ill fonnen; unb e§ fc^icn, ate fatten fie, nad)bem bicfer Qtotd erreidjt
mar, atfc Sebeutung Derloren. ffcin SDtenfd} motlte biefc tja^Iic^en fleinett
|>dufer mietf)en obcr gar faufen. ©3 ging ifjnen gerobe fo, tote jenen
©ottage£ jmifcf)en ©affet unb 2Btfl)eIm3f)6f)e (bamate 2Beif$enftein genamit),
itber metdje fid) ©octfje in feinem ga^rmarft Don PunberSmeiler tufHg
macf)t, inbem er fie mit einer 9teif)e Don Sdfigen ofyte ffiogel Dergjeidjt,
man biirfc fid) frcitid^ bariiber ni<f)t munbern, ba man bie SSogel ejportire
(ber Sanbgraf Derfauftc feine Untertfyanen an ©ngtaub fiir ben Sricg in
2(merifa). ©ietje meine lejte^-ffiritit unb interpretation bicfer fo lange
unDerftanben unb unDerftdnbtidf) gebliebenen ©telle in meinen „9teifebitbern"
(Stuttgart, 2(uerbadE) 1875) ©. 11—14.
TOdjt atlein bic $>dufer bcr Steuftabt moHten nidjt gcbeitjen, aucf>
mit ber ©d)ifffal)rt mollte e§ ni<f)t DormdrtS. 2Ran ^atte nun jmei |mfen,
eincn an bcr ©tabt unb eincn am ©d)toffe. 93eibe murben fiir „greif)afen"
erfldrt unb cin eigener £afcnbircctor fiir biefelbcn ernannt. Slber trofcbent
btieb bcr 93erfef)r auS. ©omeit Don §anbel bie SRebe fein fonnte, blieb
er in ben £dnben be£ baierifdfjen Sinbau; biefeS fjatte einen jiemtidj lebs
fjaften 3Serfef)r mit ber ©djmeij unb SSorarlberg. 3>er SBaffertranSport
befcfjrdnfte fief) auf ©egelf<f)iffe. $ie 3cit ber $)ampffd)iffe unb ber ©ifen=
bafjnen mar nocf) nic^t gefommen. 23ie Strafjen lanbeinmdrtS liefcen 93iete£
5U miinfcf)en iibrig.
$>ie ©ntfaltung ber ©djifffafyrt an bem miirttembergifdjen Ufer mar
burd) adcrlci ©emerbebefdjrdnfungeu , ^SriDilegien unb 93erbtetung£redjte
bef)inbert. ©huge Drtc fatten gar fein ©d)ifffaf)rt3rcdjt. Slnbere fatten
nur ein befdjrdntteS. Sangenargeu unb ftrefebronn burften feine faufc
mdnmfdjen SBaaren, unb alle iibrigen, mit atteinigcr 3tusnafjme Don
3riebrid)§f)afen, meber fold^e SBaaren, nod) auc^ ©ctreibe unb fonftige
gelbfri'id)te t)erlabcn unb Derfradfjten. S)er cine Drt burfte nur cin ©cfjiff
(ric^tiger ©egelf afyn), bcr anberc nur jwei fatten, ©benfo tear an jebem
Drte fiir bie ©d)iffer eine gefd)Ioffene Buffer fejtgcfefet. SBer ba ©djiffer
merben tootlte, bcr mufete marten, bi^ (Siner bcr 2ltten ftarb, ober er
mu^te if)m fiir fc^mereg ©elb fein Simftredjt abfaufen.
S)te Sanbmirt^fd^aft fonnte nid)t auffommcn Dor attcrtei g^ubals
laften. ®ic Somdncnfammer unb Slnbcrc bejogen bic mannic^fa^ften
grunb^errli^en unb lef)n3rec§tttd)en ©efaHc. %tx 3^ntc, ber Sle^uS, ber
2eib=, ©rb= unb Sd)opf;2ef)n, bie 8ogb«c^tc, ba^ 2)rittelg=9tcc^t, bie Witts
€ine nttfiubbare freie Hcid>sftaM.
©elber, gorftbinfel, gorftfjafer, ^otjfjafer, §unbgforn, Stocfbafcen;9tb;
gaben k. briicften bie 33auern barnicbcr. Die ginanjfammer Ijob ben
grojjen, unb ber ^farrer tjob ben fteinen 3efjnten. 9leben bent ©etreibe-
^efytten ejriftirten aucf) $eu- unb 2Bein=3«t)nten. 2Bie follte ba bie 2anb=
nnrtf}f<f)aft Diet ejportiren? Sie 93efeitigung ober Slblofung biefer geubal-
laften Dolljog ftd^ fet)r langfam. SSiete gafjrjefjnte luaren baju notfjig.
<£rft bag 3af>r ^tuuboierjig Dotlenbete bag 2Berf ber 93efreiung beg
33obeng.
3u biefen 93efdjranfungen unb SBetafiungen ber ©etoerbe unb ber
£anbnrirtf)fdEjaft, beg $anbete unb ber ©cf)ifffal)rt, fam bann nod? eine
t)erberbtic^e ^anbtfgpotitif, Dermoge beren fid) ein Sanb gegeu bag anbere
<tbfd)Iof$ unb eineg bent anbern ben Serfefjr auf bem ©ee erfdjtoerte.
3ebeg beutfdje lerritorium unb jeber ©djtoeijer Santon fucfjte ben Unter=
tfjanen beg anbern mogtidf)ft Diet ©djaben jujufitgen; unb ber Stnbere
Derfuf)r bann nadf) ber barbarifdfjen Steget: §auft 3)u nteinen Suben,
iann l)aue id) S)einen Snben. 3nbem er ben tefeteren f)ieb, t)ieb er ju=
gleidj audj ben feinen, benn er erfdjtoerte tym ben Sejug feiner Sebengs
bebiirfniffe unb Derttjeuerte tt)m biefefben.
S)aju font bann nodf), um bag 2Rafc beg ©lenbg iibertaufen ju macfyen,
bag 2Rifejaf)r Don 1816 unb bag ^ungerja^r Don 1817.
2Bic follte ba ber greitjafen gebcif)en?
VI.
Sa^ 3ttf)r 1824 brad&te ben erften Slnftofe gum Umfd)tt)ung in ©c^
-ftatt eineg SampffdEjiffeg. SSil^elm L, ber jtoeite ®onig Don aBi'trttcm-
berg, toar eg, ber $uerft auf ben beutfdjen 93innengetoaffern bie 2)ampf=
fraft in Stntoenbung bradfjte. Stnt 31. October 1823 iibertrug er §errn
©fjurdf), bamatg Sonful ber SSereinigten ©taaten in ©enf, bie ©rridfjtung
*ineg 2)ampferg, toddler beftimmt tear, Don griebri<f)gf)afen aug ben
23obenfee ju befafjren. Sag ©dfjiff fjatte jtoanjig ^ferbcfraft unb foftete
ettoa 50,000 ©utben. 3Kan begriifctc ben $Ian ntit ©ntfjufiagmug.
2)a er^ob fid) bie ©dfjiffergilbe Don griebrid£)gl)afen, bie ^ri-
ttitegirtefte ber ©djifffafjrtgjimfte, toie toix oben gefefyen. ©ie beftanb
aug adE)t gamitien, ioeldfje mit bent ^riDiteg briie^eu ttmren unb eg ges
meinfc^aftli^ augitbten. ©ie proteftirte gegen bag 2)am{>ffcf)iff atg einen
fred^en ©torer getjeiligter unb toot)Iern)orbener jiinftiger SRe^te. SKan
mufete fid^ mit i^nen, fo gut ober fd)Ied}t eg ging, abjufinben fu^en.
Gnblic^ Derftanben fi<$ biefetben ju folgenbem SJergteid^: Scber ber ad^t
SKann er^ielt eine jd^rlidjc Seibrente Don 450 ©ulben, unb ber gigcug
uberna^m fantmttid^e ©d^iffe nebft 3ube^6r ju anftcinbigen ^?reifen. @o
loar benn ber ntoberne ©taat S53urttemberg an bie ©telle ber atten
©dEjiffersttnft Don 93ud$orn getreten. 9tHein ber mob erne ©taat erbte
Karl SraunslDiesba&en in 33erlin.
einen Xtyetl bcr Untugenben ber at ten 3unft, ndmlid) ben £ang ju
S3erbietungd; unb fonftigen 9Sorred>ten. Die 9tegierung erfldrte ftd> nunmeijr
fiir audfdjliefclid) berec^tigt jum SJetriebe bcr ©djifffaljrt Don gtiebrid^
Ijafen aud. Die iibrigen SBurttemberger ©differ burftcn Icinc SJauf-
manndguter mc^r fiiljren. Dad ?(5rimleg erftredte fid) iiber bcibc §dfenr
tourbe abcr in bcr 9trt getfjeitt, bafj in bem Sudjfjomer #afen, in bem
©tabtfjafen, nur Saufmanndgitter unb ©etreibe, bagegen in bem §ofener
£afen, in bem ©c^lofeljafen, nur fonftige lanb; unb forftttrirtyfdjaftlidje
©egenftdnbe, indbefonbere SRoIjprobucte, tone £otj, ©teine unb bergL ein-
unb audgeljen burften. Sludmdrtige ©egelfdjiffe ttwrben, urn bie don-
current abjutoetjren, entyftnblid) befteuert. ©ie mu&ten folgenbe Slbgabeit
unter bem Site! „9lbfatyrtd;©elb" entrid)ten: 9Son jeber $erfon brci
Sreujer, Don jebem $ad ©etreibe fedjd ftreujer unb Don jebem ©entner
Sfaufmanndgiiter jmei Krcujer. 9iatiirlid> erljob jeber anbere beutfdje
©taat unb jeber ©djtoeijer Eanton, bedgteid>en bad flfterreid)ifd)e SSor=
arlberg aud> foldje 3lbgaben Don ber ©cf)ifffal)rt, unb too fie nod> nicf>t
beftanben, ba beeilte man fid), fold)e unter bem Xitel „9tepreffalien
gegen 3riebricf)df)af en" neu einjufuljren.
9tn bie ©telle bed ©taatd trat fpdter formeU jtoar eine StctiengefeCU
fdjaft, trofebem aber blieb bad ©efdjdft im 2BefentIid)en in ben &dnben be£
©taated.
Der neue DamJ>fer tourbe bem Sfinig 5U (Eljren „ S3 ill) elm" ge~
tauft. 21m 11. SloDember 1824 mad)te er feine ^robefaljrt unb am
1. December ttmrbe bcr regetmdftige Dienft jttrifc^en griebrid)dljafen unb
SRorfdjad) eroffnet. Sluf biefc ©trede befc^rdnftc bad ©d>iff feine galjrten.
Den Irandportbebitrfniffeu Dermocf)te bicfer befcf)ranfte Dienft nid^t &u
genugen. Die ermarteten griidjte reiftcn nur tfjeilioeife. griebridjd*
fjafen Dermod)*e fid) nidE>tf tok man ermartet Ijatte, jum „erften ©eeplafc'*
aufjufd^mingen, unb &mar urn fo toeniger, aid ringdum bic 3oHfc^ranfen
fortbeftanben unb bie itbrige ©d)ifffal)rt in f$riebrid>dljafen ju ©unften
bed Dampfcrd t^eild gdnjtic^ unterbritdt, tf)eitd fitter belaftet unb be=
fdjrdnft toarb.
Dcr Dantyfer enttyrad) fd)on b a ma Id nidjt ben Slnforberungcn bed
93ertef)rd unb ber Iecf)nif. ©efdjmeige benn fpdter. 3d) fjflbe iljn nod>
perfonlid) gefannt. ®r tpar ©egenftanb ber ©^ottreben bcr aufgemedten
S3eo5Ifcrung ber ©ecufer. 2Jlan nannte ifyt ben „ alt en 2BiI^eIm"r
5umeilen audj ben „©eefrebd"f tocil er fidj nt^t citte unb manc^mal
riidtodrtd ging, menu er Dorwdrtd gef)en follte.
Irofe aHebcm !ann man feine SJerbienfte unb bic bed ftonigd, nac^
bem cr genannt mar, nicf)t ^o^ genug anfc^Iagcn. ©d mar ber erfte
SInftofj, metier nac^ alien ©citcn t)in mirfte.
Der bamaligc grci^err Don Sotta licfe fofort cincn atoeiteu Dam|)fcr
conftruiren. Derfclbc murbe nadj bem fiiJnig Don Saicru „SKaj Sofcp^""
(Elite mtfinbbare freie Keid?sftabi.
genannt unb tourbe toon ber baierifdjen SRegierung mit gro&en ^5rit>ilegien
fur Sinbau audgeftattet. Sflcin er l)atte nod> weniger ©liid, aid ber
,.alte SBilfjetm". 2)ad ©d)iff war tedjnifdj mi&Iungen. 2tufeerbem mef)rten
fid* bic potijeilidjen, fidcatifdjen unb f)anbeIdpo(itifd)en ©djttnerigteiten
ber SSicl^ unb Sffeinftaaterei fo feljr, bafc bad Unternefjmen benfelben er~
liegen unb bad ©djiff Sffentlid) an ben UReiftbietenben auf ben ?tbbrud>
fcerfteigert toerben mufete.
S)iefe beiben erften ©erfudje roaren tpenig ermutljigenb. 3)ennod>
bauerte ed nidjt lange, bid bie ©djifffafyrt unb namentlidj bie 3)ampf~
fd)tfffal)rt auf bem Sobenfee ben 9(uffd>roung nat>m, beffen fie fid) nodj
erfreut bid ju bem fyeutigen lage. ©ie erftarfte unter ben ©egmmgen
ber einfjeitftc^en ttrirtf)fdjaftticf)en greifyeit, toeldje ftd) mddjtigcr ertoied, aid
bie (Sebote jtoeier ttuflendfrdftigen beutfd>en 2Jtonard)cn.
3m Sa^re 1828 Jioben SBiirttemberg unb SBaiern bie gegenfeitige
©renjfperre auf. 2)ied tear ber erfte ©djritt jum beutfd&en Soflberein,.
mrid)er feinen Setooljuern bie 2Bot)ttf}aten eined etnf)eitlicf)en unb freien
2Birtf)fd>aftdgebieted bid &u einem gemiffen @rabe gemdljrte. 3)ie getoerbe^
polijeilicf)en, ftdcatifd^en unb jilnftigen Sefdjranfungen wurben allmd^lic^
befeitigt. S)ie Sanbttrirtfjfdjaft ttmrbe toon ben feubalen Saften befreit. 3n
ber ©djtoeij toie in ®eutfdf)Ianb fiegte eine liberate $anbe(dpoIitif. 2Jlit ber
©tbgenoffenfcf)aft unb mit Defterreid) ttmrben $>anbetdt)ertrdge gefdjloffen,
ttttldje beiben toertragfdjliejjenben Sfjeilen gleid) fefjr jum SBortfjeil ge-
reidjten. 9Kit jebem ©djritte toorrodrtd auf ber Sa^n ber nrirtf}fdjaftlid)en
gretfjeit tjob fid) ber a$erfef}r, bie ©d)ifffal)rt, unb namcntlicf} bie Dampf;
fdjifffafjrt, auf bem „©d£)todbifd)en -JReere", bad am Slnfange bed %af)X'
tjunbertd faum t>on einigen elenben ©d)iffertdf)nen befatjren mar. 3$
nriberftelje nur ungerne ber SBerfud^ung, eine furje ©efd)icf)te ber ©nt=
ttridelung biefer ©djifffafyrt §u fdjreiben. 2)iefe ®efd£)id)te toitrbe let)rreidj
fein, namenttid) in ^eutigen 3^itenf too in S)eutfd)Ianb bie nrirtljfd)afttid)e
SReaction — ober fagen nrir lieber bie nurtljfdjafttidje ©onfufion? —
fdjeinbar mieber ju einer, freilid) nur uoriibergefjenben, epibemifdjen $err^
ft^aft getangt ift. 2tber eine foldje S)arfteHung toitrbe biefe ©tijse, biefed
befc^eibene Safjrjeug, mit aHiufc^tuerem ©toffe ju fetjr betaften.
3c^ befc^rdnfe mi^ ba^er barauf, ^ier furj iufammenjuftellen:
$)a3 erfte Sampffd^iff ging 1824. 3m 3af}re 1853 gingen etma
breijefjn; im 3^re 1868 waren ed jtuei unb jwanjig; ^eute, im 3**^
1878, finb ed neun unb jttmnjig. 3^ 3a^e 1824 war ed nur SBurttem*
berg, toetcfjed einen SDampfer tjom ©tape! liefe. 3efet tt)irb ber ©ee auc£
Don baierif^en, babif^en unb fdjtpeijer Sampfern befa^ren. 3)er neuefte
nriirttembergifdie Sampfer jei^net fi^ burdj tec^nif^e SJoQenbung unb
©legans aud; er mirb jur (Srinnerung an einen ruljmreicf)en wiirttems
bergifc^en Stynaften r/©f>riftopf>" ge^eifeen.
Slur Sregenj (Defterreidj) ^at feine 3)ampfer, bagegen |at ed ®ifen-
\ty8 Karl 3raunsl£>iesbaben in Berlin.
baljnsSBerbinbung mit Sinbau, mit S3orar(berg (ubcr getbfirdj nad) Sfu-
benj) unb mit bcr ©djtocis unb ©raubiinbten; bie 3)amj>fer bcr anbcrcn
fidnbcr toetteifern mit einanber, bic 83erfet)rgbeburfmffe Don ©regent ju
befriebigen.
5)ag unter bem SKamen „3riebrid)gl)afen" confolibirte Ufcr bietet
Ijeute einen fjeiteren unb toofjttfyuenben Stnbtid. ®a£ alte 93ud>f)orn f}at
nun auf bcr ©eefeite cincn geraumigen £afen unb auf bcr Sanbfeite
einen ftatttidjen S3a^nf>of. 3n bcr 9iid)tung, in tocldjer frii^cr bie 2Rili-
tdrftrafte bcr Sftomer toerlief , jicljt fid) jcfct bic (Sifenbaljn nad) bcr ®onau.
3$ ttjitt f)ier im 9SoriibergeIjen bemerfen, baft, tone in ncucrcr 3«tt un-
^tucifet^aft feftgefteflt toorben ift, bic 2)onau burd) cincn unterirbifdjeit
Slbfluft mit bem SBobenfee in SJcrbinbung fteljt unb fonad) bem SRljem
cincn fdjtoeftertid) griiftenben SBeitrag liefert.
2)ie altc frcic 9Reid)£ftabt 93ud$orn ^at fid) t)eute nad) bcr Sanbfeite
mogtidjft aoflftanbig mobernifirt. £iibfd)e £dufer unb ©arten laffen Ijter
SBatt unb ©raben tiergeffen. Sagegen nad) bcr ©eefeite erfennt man nod)
beutlid^ bic 33efeftigunggmauern, tocldje fenfredjt auf ben ©ee ftieften unb
fidi in bcmfclbcn abfpiegetn. S)ic §aufer finb auf bic le&teren aufgefefct,
fo baft bicfc madjtigen SDlauern bag untcre ©todroerf bcr SBotjnungen
bilben, UrfpriingUd) fefjrten bic £aufer bem @cc ben Sftudcn ju. ©eit=
bem abcr ber ©ce fo freunblidj unb t>erfel)rreid) getoorben, tyat bieg fcfbft
bic atteften §dufer bcrart geriifjrt unb ergriffen, baft fie tierfucfjen, itjre
©tetlung $u anbern unb bem ©ec bag ©cfid)t jujuioenben. SRatt l)at
5£f)iiren unb genfter in bic bide Umiuallunggmauer gebrodjen. Son bcr
£f)iire fii^rt jutoeitcn ein Ijoljerneg ©eriift mit cincr fteinen 2reppe
in ben ©ee, fei eg, urn bort toafdjen, fci eg, urn mit bem Saljn an=
legeu 5U fonnen. §in unb toieber ift bic SDlauer ganjtid) burdjbrodjen
unb eg toagt fid) cin 93tumengartd)en fjer&or, obcr cine ^lattform ge~
ftattet bie friitjer fcerfdjtoffeue 2tugfid)t. $)ie alten SKaucrn fefjen nod)
grau unb miirrifd) barein. ©ie ffinnen ben SRu^m ber atten 3eit uidjt
fcergeffen. Slnberer SKeinung finb bie auf i^uen fifcenben fjett augeftridjenen
SGBdnbe unb bie blumengefdjmudtcn SBofjnuugen beg jefct lebenben ©e=
fd)ted)teg bcr 9Renfd)en. ©ic Ijaben fid) mit bcr ©egentoart t>erfot>nt unb
geben ber greit)citf bem grieben unb ber SRu^e ben 9Sorjug t?or bem
tftu^m. Dber rid^tigcr gefagt: ©ie pratenbiren nicfyt eincn befonberen
SricgSru^m fiir S3ucf)I)om, fonbern begniigen fid) mit i^rem Stnt^cil
an bem gemeinfamen SRu^me »on Stllbeutf^Ianb.
Ueber bem alten Stabtdjen ^cbt fi^ ein fraf tiger, bider Iljurnt
empor mit cinem fjo^en ©attel^ ober Sieitbac^. 2)a3 S)a^ ift mit buntcn
©d)inbeln gebedt, toon jtoei gc^adten ©iebeln eingefaftt unb mit cincr
t)ot)en gotf)ifd^en ©pifee gefrout. S)ie§ ift ber Itjurm ber 9ticoIau§ftr(^c
unb ba§ 2Baf)r5cid)en Don Sud)^orn. S)ic ©tredc jmifdicn ber alten ©tabt
unb bem ©d^toffc, ber toormaligen ^robftei ipofen, ^at fid^ im Saufe beg
€tne unfinbbare frete Hetdjsjla&t. $9
lefeten fjalben So^r^unbert^ ju iljrem SSortljette toerdnbert. Sic jeigt jtoar
f)in unb hrieber nod) jene elenben §du#tein, toeldje, burd) bic $rdmien;
fpeife gelodt, gleidj ^iljcn au§ bcr Srbe fdjoffen unb bann feine Siefc
Ijaber fattben. 2lber an Dtelctt ©tcUcn t)aben fie fcfjoneren unb befferen
©ebduben S($Iafc gemad^t unb an bem ©ee finb fdjattige ©drten entftanben.
3)ie ganje Umgcbnng ift fjeutc rcid) an taufdjigen $td|jd)en, an ^axH,
©arten* unb SEBalbanlagen, toeldje jefct einen toittfommenen (Srfafc bietcn
fur bic am Shtfangc be3 3af)rf)unbert3 auggerotteten SBdlber. Stud) ba3
©Aloft £ofen, bag efjematige Slofter, Ijat cincn fdjonen ©arten. Son
fcincm *(5amlIon au3 fjat man einc umfaffenbe 2Iu§fid|t iiber ben ©cc unb
bic Slfycn. Son ben le&teren prdfentirt fid) am ftattlic^ften ber ©antiS
unb bcr ©tdrnifd). S)ic ©dpnfjeit ber Statur, bic gutc £uft, bic S3aber
im ©cc unb in cincm h>ot}I eingericfjteten romifef^tiirfifdjen 3Jabe jieljen
met „©ommerfrifd)tinge" unb fonftigc ®dfte an.
2) er Sonig unb bic Sonigin Don SBiirttemberg fatten jeben ©ommcr
iljre 93ifleggiatur in bem ©d)Iofc $ofen. Sflnig Sari fear am 25. guni
1878 toon ©tuttgart au3 cingctroffen. 9tm 26. fam id) mit bem 3)ampfer
toon Ucbcrlingcn unb 2Reer3burg gefaljren. ©teidjjettig mit bem meinigen
ftrcbtcn 4 obcr 5 anberc Stamper bem £afen toon 89ucf)ljorn ju, 2In-
geftcfjtS be3 ©cfjIoffeS begannen atle 2)ampfer 5u fd)iefjen unb ju flaggcn.
©3 mar cin pbfdjer Slnblid bicfc Heine ®ampferftottifle, reid) gefd)imidt
unb toeij} gefraufelte ^ultoerbampftootfen entfenbenb, auf bem ladjenben
©cc, Stngcfid^t^ be3 ebcnfafls beflaggten @d)Ioffe$ unb £afen3 unb bcr
crnftcn tjatbtoerfefyteierten SBergriefen ber 2lfyen.
3) ie gtaggenorbnung war auf jebem Sampfer biefelbc: SBorn unb
Ijinten bic fdjtoarssrottje toiirttembergifdje gtagge, in ber 2Ritte an
bcr ©pifee beS 2Rafte3 bcr fcfytoarjsrottye SBimpel. 2ln ben toier Scfcn
ber SRabfaften toicr fjotje ©tangen mit ben Slaggcn bcr toier Xerritorien,
bic an bem ©ec liegen. Sic ©djtoeij: fRot^e^ gelb mit bem toeifcen
Sreuj. 99 a ben: Dtotl) unb @otb. SBaiern: $eflblau unb toeifc. Defter-
reid) enblidE): ©djmar^gelb.
Sefanntlid) ift aber ©rfnoarjsgetb fd?on feit langcr S^it abgeloft
toon r/3tot^ttJei^grun" ber jefcigen glagge ber 5fteraidjifdjnmgarif<$en
SDlonardjie. £ier jebod) f)errfd)t no<$ bag ©djtoarjsgelb, toictleidjt urn an
jene 3^it ju erinnern, in ioeldjer Sonig SEBil^elm toon SEBurttcmberg bem
^aifer granj Sofepf) inSregenj tiafaQif^e ^cercgfolge gcgen ^Jreu&en gelobte.
Die beutfd^c Slaggc — ©djtoarjsioeifcrott) — fanb fid) auf feincm
cinjigen biefer ©d^iffe. 2Bir aber, bie ^affagicre beg ©d)iffe3, jufammcn-
gettJiirfelt aug aQertei beutfdjen Sdnbcrn unb ®auen, brac^ten gemcinfam
cin £od£) aug auf unferen Saifer unb tranlcn auf beffen batbigc tioQc
®cncfung.
9lotb unb ©fib. vn, 20.
14
€ine (Blocfnerfafjrt
HodcIIc
$tart €rbm. Staler*
— Utten. —
sp^^^ ut 2)uft f)cbt fid) jutoeilen leife unb pd)tig, faum tjerangetoeljt
f i^t^M - fd)on oertoefjt, unb cr jaubert cin 2Rccr Don Srinnerungen
ll^^g- i^wuf, langft toergeffene lage, SBette an 2Bette. 3)em ©inen
la^gSS! mag er aU£ bcr SRofeufnoSpe fid) fjeben ober au3 bent Slt^cm
bcS SBalbeS, 3enem con bem offenen $eerbe cincr ©ebirgSljutte obcr au£
bem SSedjer cbten SBeineS, unb fo 3cbcm cin anberer $>aucf) — unb bod)
Scbcm trie bcr fanftc unb gehmltige £eben$t>aud) be3 griiljftngS, bcr cine
ganje tobtc SBcIt aufertoedt. SSerblidjene 39itber leudjten boDon auf in
alter garbenglut^, Slugen, bie langft miibe jugefatten, blicfen ttueber, lange
toerftummte Stypen Ijeben an ju fpredjen, unb toerfcljottene liebe 2Renfd)en
toanbeln un£ jur ©cite; toir fe^en, toir tjoren fie, unb i^re &anb Icgt
fid) ioie einft linbe ftittenb auf unfer £aupt: fic leben toieber.
(So ergef)t c3 mir, toenn in bcr befdjautidjen 3tuf)e nadj cincm 5)iner
jufattig ba£ Stroma eineS ftjrifd)en Iabafe§ in blauen SBoIfdjen gu mir
Ijeranftattert. @§ ift bann, ate toare mcin alter greunb Sftabenburg nur
irgenbioo in cincr ©tfc ftitte gefeffen unb ridjtete fid) nun plofctidj bor
mir auf, ber fcfjtante breifcigjdtirige SKann mit bem tiefgebrdunten ©efidjt
unb mit bem rutjigen SEBotjtootten einc§ bejaf)rteren SftanneS in SJliene
unb £altung. Unb audj ein ©tiid feineS SebenS legen bie 9iaucf)to6tfdjen
Dor mid) l)in, inbem fic fid) fadjte auf rotten toie ein ^ergament, barin
ein altc§ ®efd)el)ene£ t>erjeid)net ftef)t.
2Bie er bamatS fo einfad) unb anfprudjSloS fcincn Grbenfoeg basins
jog, modjte er tool bem ffioruberge^enben burd) feine Sefonberljeit auf*
fatten, junta! er felbft ©djeu Ijegte fid) fcorjubrangen. ®r trug toeber
naif} einem Sftinifterfauteutf nod) Stfabemiefife eine Derjefyrenbe ©eljnfudjt
(Eine (Slodnerfafyrt.
20(
im #erjen; ja, eg qualte il)n ntd)t cinmol bag SBerlangen, fcinc 2Bof)t*
t>abenljeit irgenbttrie ju tjermeljren. Seine ©etetyrfamfeit ate Staturforfdfjer
toar in gadjfreifen anerfannt unb f)&ufig ju SRatfye gejogen; aber er finite
feinen 2)rang, in SBort ober ©djrift offentltd) ate Setter ju toirfen, unb
Ijatte eine Se^rtanjet an ber £od)fd)ule uerlaffen, um fid> einer @j#ebition
nad> Stfrifa anjufdjliefcen. 9tad) feiner #eimfel)r ^atte er biefelbe nidjt
meljr beftiegen, fonbem trieb feine ©tubien ju eigener ftiHer greube unb
felbfttofer Unterftfifcung Sebermanng, ber fid) States bei if)tn erfjolte, unb
lebte im Uebrigen ein ebleg, ruljigeg SJernunftleben Doll Il)eilnal)me an
aflem ©uten unb ©djbnen. 3n ber SBett gait er ate angenetjmer, geift*
toiler ©efeflfdjafter, aber SRiemanb liefc eg fid) beif alien, iljm irgenb ein
^eiratf^roject anjufinnen, objfoar er nad) ©fjarafter, Sitter, Sleujjerem
unb fonftigen SBerljattniffen ganj ber 3Kann baju getoefen toare, eine grau
gludlid) su mad)en. 3ebe fdf)arffid)tige SWuttcr f)eiratl)greifer X6c§ter mufete
ifjn entmuttjigt aufgeben, toenn fie fein t>5t(ig leibenfdjaftetofeg SB'efen unb
bie unabanberlid) ru^ige greunblidfjteit faf), toomit er grauen unb SJtabdjcn
begegnete. ©g burd)brang im Umgange mit itjnen fein ganseg Xljun unb
Saffen eine gleid)mfif$ige lentyeratur, bie iljm tooljl anftanb unb bem
gremben bei flficfjtiger SSegegnung normal erf feinen modjte, ben grauen
aber entfe^ieben ffif)t fcorfam. geinffifjtig merften fie fofort, baft bieg freunbs
lidfje ©tansen nur SBinterfonnenlicfjt, unb bag ©triolein am Xljermometer,
fiber toeldjeg ^inauf er fid) ebenfo toenig je ertoarmte, ate er unter bags
felbe je f filler toarb, nid)t feljr Ijodj fiber bem ©tepunlte gejogen mar.
©ie jaljtten ityn, nad) ftittfcfjtoeigenbem Uebereintommen, ju jenen nufcbaren
SBefen, toelcfje ber £augfrau mit ifjrem ©eifte fiber toiete leere ©tunben
unb mit intern ©emfittje fiber mandje lummerDotlen £age Ijintoegtyelfen,
bei bem SBfjifttifd) beg £augf)errn ate nie fe^lenber SSierter einfpringen
unb bie ®inber mit 93onbong unb SRarcfjen abffittern — bequeme £augs
m6bel, bie im SBofjnjimmer ju Sebermanng ©ebraudj fteljen unb fidf) fad)te
abnfifcen, otjne ba& man fonberlid) barauf adjtet; erft toenn fie fid) einmat
ju 6nbe genfifet, blitf en 3Rann unb gran nadjbenttid) auf ben leeren $lafc,
tdgli(^ unb ftunbli^, unb erft bie ffiinber — ... Unb ba er fo too1)U
ttjollenb unb ^armlog feinen 82Beg toeiter ging, fo lam eg, bafj er fur ben
gernerfte^enben toebcr ein grelleg Sic^t t)or fid) fyintrug, no6) einen tiefen
©fatten Winter fi^ ^erfd)Ieifte.
SBenn man ifjn aber na^er fennen lemte unb aufmerlfamer jufa^,
toarb eg merfbar, bafe er bieg ganje SBefen nur toie feinen ©alonrocf ffir
bie Slnbern anget^an ^atte. 2Kan ffi^tte, ba§ felbft jene fu^Ie lemperatur,
bie er ftetig jur ©c^au trug, nur burd^ eine ffinftttd^e ©rtoarmung erjeugt
toar, unb bafe eg i^n mitunter ©elbftuberttmtbung foftete, biefelbe ju unter^
fatten, ©g famen unbetoactite Slugenbtide, too eg bem aufmerlfamen Slide
erfennbar tourbe, toie er jene gleid)ma{jige ^eiterfeit mann^aft fid^ felbft
abfampfte unb in biefem ftunblid^en SRingen mit SBort unb 2Jlienc toiet
202 Karl (Erbrn. €bler in IDien.
®raft abniifete. Sine Srmiibung font bann itber itjn, bic jebe gofer fdjlaff
jufammenfatten ttefc iit cincr Sftefignation, bic nidjt nur feine greube me$r
ertoartet, fonbem iiberljaupt fcincr mefjr fdfjig ift. 3ebod) fcltcn mtr licfe
er foldje ©rmattung an fid) Ijerantreten unb rafftc fid) auffatyrenb fofort
au3 i§r mit bem often Sddjeln ttueber empor. 3Kon faf) ifjm ben fefien
SSitten an, ben ©ebanfen fetbft au3 bem SBcge ju geljen, benen Snbere
ni<$t bci itjnt begegnen fottten. 9fo<$ trot in bicfem Sampfe mit ftdj fclbft
nie ettoaS ©ettmlttljdtigeS tjer&or, fcin liftigeS 93etauben be3 ©egnerS burdj
ilberlautc grflf)tid)feit unb toilbe Suft: e3 tear cin efjrlidjeS, ftiHeS SRingen,
cin fur<$tbare$ Umfaffcn 83ruft on Sruft, S3H4 in Slid, 9lrm urn Slrm,
baft e3 ttrie frcunbfdjaftlidje Umormung auSfal), unb nur cin fdjarf fyin*
tjordjenber Saufcfjer bag ticfc Stufat^mcn toemeljmcn modjte.
@o !am e3, bafc in fcincm ganjen SEBefen bicfclbc §ot)e be$ £one£
toar, tine bei anberen ruljig ongclcgten Staturen, obcr cine onbere Starts*
farbe, ttrie fic tool bem gciibtcn DI)re ^drbar toirb, toenn cine fjoljere
©aite gcriffen ift, unb bcr ©eiger auf ber tiefcrcn fcinen $art mutf)tg
tpeiter ftrielt. 2Jlir fid btcS urn fo mc^r auf, ate idj ben lebljaftcn offenen
grof)finn lonnte, bcr ifjn todfjrenb feiner ©tubienjaljre nie fcertaffen ljatte,
bo un3 melfadje SJeriiljrungSpunfte in ndtjere Sejiefjung bradjten. 2)anit
fatten getrenntc ©eftfjide un£ mot eine 3^it tang cntfrcmbct, bis ein
jufdttigeS 3ufammentreffen bic 3ugenbfreunbfd)aft ncu feftigte, unb ge=
meinfame£ Sntcrcffe on trielen 3)ingcn biefclbe immer inniger geftaltctc.
©cine ©d)toefter befafe natje on cincm bcr reijenben ©ommerneftdjen
in bcr Umgcbung bcr ^au^tftabt cine anfetjntidje SSiHa. ©ie faty e§
gernc, toenn man fic bort auffudjte, unb man tljat eg gernc: bic grau
toax nod) fdj5n unb ifjre loiter fdjon fd)5n unb bcibc liebenStoertl). ®o
hmr benn in bcr fdjttmlften ©ommerSjeit ttrieber cinmol cin bunt gemifdjter
©djtoarm au3 bcr ©tabt bort cingefollen, borunter aucf) id). SRein Se;
fud) gait jundd)ft Stabenburg, toeldjer fic§ bci bcr ©djtoefter fur ben ganjen
©ommcr Ijdu3ti<$ niebergelaffen tjatte.
63 toax urn bie ©peifeftunbe, bic §au3bamen bci bcr toilette unb
Stabcnburg nod) nid)t jurudgefefyrt Don feiner tdglidjen joologifcfcbotanifdjen
©jcurfion. 2Biv ©dfte fafjen unb logen im ©artcn untcr ben fdjattigen
SJdumen umljer; otter 91ntlifc toor noc^ 9lorbcn gefefjrt, ioo ber fii^Ic
©pcifefoton fidj gcgen bic lerroffc fiffnetc: in bcr jeljrenben Sanb=
luft, bie man ben ganjen SSormittag f)inburd) gicrig cingefogen ^atte, ge^-
berbctc fid^ bcr 9Kagen fe^r tummerfcott. S)o^ Ionbfc^aftlid)e Sitb ftcigertc
iiberbie3 cr^eblic^ bic ©cfammtftimmung. Sn bcr gtitljenb ^eifeen Suft ^ing
jebeS S3tdttd)en regung§to§ Ic^jenb, bie S3Iumen fenften Derfc^ma^tenb bic
Sopfc unb SRaSpe, bcr toei^c ^au^pubel, log untcr ciner ©toubc mit toeit
t)inau§geftredter S^nge, iibcr bic cr fdjtoer ^inat^mcte. h>ar ungeljeuer
tongmeilig; man fc^toieg unb gafjnte in ber 9tunbe, unb toenn fic^ ein ein^
famcr Ion fyob, fo toax e§ cin ttom §unger erprcfeter Scufjcr, ober er
(Eine (Slo d nerfaftrt.
203
fam Don JRagpe ljeriiber, bcr iiber bic gliege auf fcincr Stafe ftd^nte unb
fid) bodj nidjt ju bcr SBiflengfraft aufraffen fonnte, nad) ifjr ju fcffnajtyen.
2) ann tear eg toieber ftittc unb man ^5rtc nur cin 3frp*n toom 3aune
f)er unb cin unfteteg §crumtrip})cln auf bcm ©anbtoege, beibeg eintonig,
beibeg mit cincr 9trt Stabbia, beibeg furj, fdjarf unb bocfj ununterbrodjen,
cin enblofeg ©taccato oljne $aufe, beibeg jum SBerjtoeifeln. 2)ag 3i*pen
tear bic 9Jiittaggunterljattung bcr ©rillen, bag £erumtrift)eln abcr bic
eincr jungcn blonbcn grau, bcr ©rafin Sternberg, ©ie pftegte fitf> bcr=
fclbcn immer fjinjugeben, toenn anbcrc Scute Stuljc Ijielten, fotoie fic aud)
getooljnt tear, untoiberftefjfid) rcijenb ju plaubern, fobalb bic Ucbrigcn
ifjren cigencn ©ebanfen nadE)f)angen tooHten. 2)afiir lag ftc jebegmal un;
betoeglidf) in cincnt gautcuU jufammengefnault, tocnn it)re Umgebung am
ruljrigfien toar unb f)Srte getootjnlicl) cincr aKgcmcincn Iebf)aften £ont>er^
fatimt mit ljaCbgef<$Ioffenen Slugcn ju, ofjne fidj baran aud) nur mit
cincr ©itbe ju betf)eiligen. 3f)r 8trjt fonntc bariibcr nid)t in'g JReine
fommen, toic unb toarum fic nod) fortlebte, nadjbem cr fic I&ngft auf *
gegeben; cr fdjiittctte jebegmal toerftanbnifctog unb jugteid) untoiHig ten
Sfopf, tocnn cr bic grau betradjtete, toic fic eigentlid) nur nod) aug jtoei
grofcen blaucn Stugcn beftanb unb afleg Ucbrigc blog cine 2trt jartfetner
giligrancinfaffung bicfer Slugcn toar. $iefe o^nc atte 89ered)tigung tociter
Icbcnbc ©rafin 2ld)enberg toar nad) fcincr 2Infid)t cine SJIagpfjemie gegen
bic infallible ^eiliglcit ber 3taturgefefce. ©atoonarota abcr f)atte toon
bicfer grau gefagt, bafc bei ifjr bic ©fatten beg glcifdje^ nid)t mefjr
iifcer bag 2)urd)teud)ten beg ©eifteg auggebreitet fcien. S)cnn fic glid)
in bcr Stufje eincr jener ritfjrenben ©eiligengeftalten, toic fie unter ben
gotf)if<f)en 93albad)inen beg SKittelalterg finnenb t>or fid) tjinbtiden. Stber
tpenn fie emporf^ncUte unb bic 9tut>e ber faft tjarten ©ontouren fid) auf
einmat in tnbrirenbe Setoegung auftbfte, ba fd)uf bieg ununtcrbroc^enc
©aljinftiefjeu jatjttofer Reiner SSeHcn Sinicn Don fettfamer 2Beid)tjeit, unb
bie rufjrenbe gott)ifd£)e $eilige toarb p!5felid) ein beriidenbeg SBeib bolt
ttmnberbarer Slnmutt) unb ©lafticitat. 3Ran fa^i bann bag judenbe mobeme
SterDcngcfpinnft, baraug bicg mittelalterlicf)e $immel§bilb gctoebt toar.
3) iefe t>ibrirenben Slcrtoen fd^icnen eg aud) gctocfen ju fcin, toel^c bie
©djatten beg gleifc^cg ganj aufgeje^rt flatten, unb bic jefct aKein ben
fcergeiftigten jartf^Ianfcn g^uentcib aufred^t erfjietten. S33ag abcr bicfe
9lcrt)en fetbft aufred)t cr^ictt unb i^nen bic ftftf)Ierne Slugbauer unb ©pann^
Iraft gab, blieb bod) bcm 2Irjte cin Sftatljfet unb Stcrgernife. (£g toar
in bcm SSSefen bicfer grau aud) einc ffitangfarbe, toeldje aug ber anbercr
3Renf(^cn eigenartig ^ertiortontc; nur Hang eg f}ier immcr, atg toiirbc
cine toeidfje SJiotapartie auf ciner SSioIinc gefpielt, bic ncu befaitct
toorben ift.
®ic ©rafin ^ielt pW^Iic^ mitten in itjrer unftcten SSSanbcrung an
unb lief? ifjren Slid langfam uber unferen Sreig fc^toeifen. S)er Slid
20<*
Karl €rbm. €bler in IDien.
fam toie em Derfrtttyter SSiotintriUcr in cine ©enerafyaufe. Sin 3udeit
fufjr burd) bie Ijungerfdjtaffe SSerfammlung — ein 93dr, ber nod) Der~
ftanbig brummen ober gar tanjen foil, toenn iljn eben bie HRa^Ijeit er-
toartet! Slber eg niifete SRtdjtS, man mufcte Bet ber SJtnfif biefer grojjett
9lugen immer tanjen, ttrie fie e3 gerabe tootlten: e3 fuljr Stnem burd>
aHe ©lieber. @3 tymbette fief) nur barum, toer fi<$ ju bem erften SBorte
ate Dpfer §tnfd)IadE}ten tootlte; benn ein folded erfte SBort, ba§ getoalt-
fam bem allgemeinen ©cfjtoeigen abgerungen toirb, ift, nadj gefjeiftgtcttt
$>erfommen, jumeift eine tyaarftrdubenbe 3)umtnf)eit.
„9Barum un3 nur Stabenburg immer fo ptofelid) unb ofjne aHe Ur~
fadje Derldfet?" — plafcte enblidj ein gelbfic^er, magerer SKann pernor.
<£r muftte offenbar Winter ienem SSerfdjtoinben StabenburgS ben tragifdjen
©toff gettrittert fjaben, auf ben er feit Sabren 3agb madjte. Senn aufcer
ber SJtarotte, ate bramatifdjer 2)id)ter gelten ju toollen, tear er feljr
unfifjdbticf) unb faf) nur etttmS Dorfunbftutfjtid) au3, toenn er toie jefct
bie langen £aare in'S ©efidjt fjernieberljdngen liefe unb ben an beiben
@nben gef^ifetctt Sleiftift in ben 2Jlunb na^m. UebrigenS — bag SDtotiD
toar ba, unb barauS fpann fid^ fofort eine unenblidje SUlelobie.
„3a, toarum?" — ftBfjnte ein betydbiger 9KitIiondr, ber fid) bei
jebem Setter Don feinem Wiener einen 8tegenf<$irm nadjtragen unb an*
bere Seute fur fid) benlen unb anttoorten liefc.
„©r madjt ©ebid)tc!" — ftfpette feine Softer unb toarf bie fioden*
ranfen au3 bem Sno3{)engefid)te, ba3 erft Dor Surjem au3 bem Xreifc
fjaufe eineS ^enfiouate an bie freie Suft geftellt toorben toar.
„©d)toager Sonrab gefjt irgenb einem naturtoiffenfdjaftlidjen problem
in ber gnfeftentoelt nadj" — fagte ber £au3f)err. — „3n feinem 3tmmer
judjtct er ja formltd) mit Ddtertidjer Siebe auf eigenen ^flanjen ber-
gteid)en ®et^ier unb ift oft ftunbenlang in beffen 83etra<$tung Dertieft."
„3)agegen tyridjt ber tragifdje 3ug feine* ®efid)te3" — toarf ber
gelblidje Sramatifer ein. — „(£r Ijat nidjt bie falte gorfdjermiene, toenn
er fidj Derftert, fonbern ba3 Slnttifc ©aute, ber feine ©d)toermutfj in bie
©infamfeit trftgt."
„Quelle ingenieuse invention! 3Ran liebt ein ©di)tafd)en bei ^ett-
li^tem Sage unb fjiittt fic^ in ge^eimnifefc^tt)ereg ©d£)h)eigen ober unm6g=
lid)e ^rdtejte, urn fid) intereffant ju madden" — fam e3 au§ bem alter*
liebften ©d>nurrbartcf)en ber Saronin Soben ^erDorgefprubelt, einer ebenfo
rei^enben ate fofetten ®ame, bie ftetS einen £ro& Don ergebenen ©flaDen
urn fid) fjatte.
„©r leibet an SDtigrane" — fc^narrte eine attc ©efeflfd)aftgbante
mit ^immelbtauen Stugengldfcrn unb einer fd>toefrfgelben ©tiderei.
Unb fo ging e3 fort, unb bann Don Steuem im Kreife Ijerum mit
immer abenteuerli^eren ^p^otfjefen: e3 toar na^gerabe eine Wxt ©efell;
fc^aft^ipiel gen)orben. 3lur bie Sttte beftanb ^artnddig auf ber SWigrane.
€tne (Slocfnerfatjrt.
205
®rdfin Sternberg Ijatte unbetoeglidj sugeljBrt unb fcin SBort gefagt.
^Wfetidj toanbte fie fid) mit einem fRucfe ju mix: „Unb Sic, bcr ©ie
fein greunb finb?"
2)ie Slide bcr grofcen Slugen boljrten fiifjtbar an jtuci ©tellen in
ntcinc ©time fjtnein.
„3df) foeife e£ ni<f)t" — anttoortete id). „©eitbem idf) i^n geftern
fogar ©ie, meine S5amen, fjabc fcertaffen fetjen, toeife id) bloS ba3 (Sine
unjtDCtfel^aft, bag er unl)eitbar, unb !cinc 2Radjt ber SBSelt im ©tanbe
ift, ifjn toon fcincr ©cfjrutle abjubringen."
©rafin Sternberg fcfetc, ofjne cin SBort ju erttribern, it)r fril^creS-
$erumtripj>etn fort. Ucber bie ©efidjter ber iibrigen ®amen aber Kef
bei nteinen tefeten SBorten ein feltfameS 2id)tft>iel, erft ein 3ug biifterer
©ntfdfjloffentyeit ttric tooriiberfjufdjenbe SBoKenfdjatten, bann gleidfc Ijer&ors
bredfjenben ©onnenftrat)Ien ein fiegeSficfyereS Sddjeln. 2)iefe3 Sddjeln er*
blicf) fofort in einer fanfteren 9tuanc£, ba eben 511 bem lange crfetjnten
3)iner gerufen tourbe.
8tabenburg, ber mjtoifdjen Ijeimgefommeu tear, fafc bei £ifd) neben
einem feljr loiffenSburftigen Sfrdutein toon tuerjig Satjren unb ber 2RiHionen=
fnoSpe. Seibe beljanbelten iljn ttrie eine Siebling&pujtye. 3)ie (Srftere bofjrte
feljr t>iel troiene ©dgefpdne au§ ifjm Ijerfcor unb forfdfjte mit SnquifitorS*
bticfen, toaS fiir ein erjdljtenSttjert^eS ©efjeimnifc bafjinter ftede; bie 2ln*
bere betteibete bie Dermeintlidje 3)ic^terpu^pe mit aHer $errticf)feit itjrer
jugenbfrifdjen ^fjantafie. Siabenburg Iiefc fidj anboljren unb toftiimiren
ganj nad) ber fatttjofftdjen Slrt red)tfd)affener tynpptn, toeldfje §dnbe unb
giifje bemegen, Stugen uerbreljen unb fpredjen fonnen, toenn man fie
irgenbtoo briidt. ®rft beim Seffert tierfudjte er fid) in einigen unru^igen
automatifdfjen Setoegungen, unb faum fear man toom lifdje aufgeftanben,
ate er unter atlerlci tunfttooflen Umtoegen feinen SRudjug anjutreten be*
gann. tyboi) bie trierjigidfjrige ©tiftsbame legte unt>erfefjen3 ifyren 2Irm
in ben feinen: „3d) m5d)te ©ie urn einen 3tatl) angeljen, £err toon
9tabenburg!"
„Um einen 9iatf)? SSittc, toerfiigen ©ie iiber midE) — fogleid)?" —
6r fat) babei fc^r ungtiidtidf) au£.
Stber fie toerfiigte iiber i^n unb fii^rte ifjn ungeriitjrt auf bie Xer*
raffe unb toon ba I)inab in bie fdjattige Stflee. 2tte Stabenburg balb bar*
nad) auffafienber SBeife in bem Saumgange attein auftaud^te, ^ob fid) ein
allgemeineS Sdc^etn in bem Samenfreife mit Derftdnbni^ottem 3wblinjelnr
bann aber tadjelte jebe fiir fidt) felbftbetoufet meiter.
3tabenburg fc^lenberte an ber lerraffe Doriiber gegen ba3 §au^t^or
ju unb betraci)tete mit moglidjft ^armlofer 3Riene feine gufcfpigen. ©0
feffelnb i^m biefeS ©tubium au^ erfc^einen moc^te, er mufete e§ bod) ab*
brec^en; benn ba lag ptofetid^ eine $>anb auf f einem Slrme. S)ie $mnb
loar fe^r fd)5n unb blenbenb tuei^ bcfonberS in biefem Slugenbtide, ba
206 Karl €rbm. <Ebfer in IDten.
fie fief) fo Ijerrtid) oon bcm bunftcn £ud)e feine£ Sermete abl)ob. ©ie
gef)5rte ber SBaronin SBoben, unb aud) bic anbcrc §anb toar itjr @tgen~
ttjum, foetdje gegeu bie (Sonne auSgefpreijt tear, ate ergofce fie untoibet*
ftefjttdj ba3 Sidjtfpiet iljreS SRingbiamanten. „9tabenburg, ein SBdrtdjen
im SSertrauen!" — flitfterte fie jutrautid). S)ie Ijatbgedffneten Siber tljaten
fief) babei ganj auf, unb bie 2tugen fc^iderten barunter feltfam fjert>or —
jtuei Sbetfteine ber ©attung oeil de chat. 3)iefer faScmirenbe Slid unb
bie toeifjen 3at)ne, toetdje pl5fctid) unter bent feinen bunflen glaum ber
Dberlippe tjer&orbtifeten, mafjnten an eineS jener furdjtbar fcfjonen 9taub~
tljtere, beren fammttt>eicf)e8 ©djreiten — Ueberfall, beren teudjtenbeS Stirfen
— ©etauben, beren ©rajie — Stutgier ift. 2)er toet&en #anb; tnit totU
djer fie i§n feftgefjatten, fotgte ein toeifcer 2lrm; fadjte, in faum mert
barer Setoegung toanb er fid) um ben feinen unb lag nun in toeicf)er
SRunbung ftitle teudfjtenb ba. ®r tear feljr fd&int, ber 2lrm, unb e3 toax
etttaS ©djtangentyafteS in biefer Umftricfung — man fonnte ftdf) bet btefer
grau Dor SRaubtljiermottoen ni<$t retten. Sefct toarf fie einen langen Slid
iiber bie SSerfammlung oben auf ber Xerraffe; barauf entfiit)rte fte 9taben=
burg in bie SBaumfdjatten unb t)ob beim ®el)en adjtfam ifjre 9tobe; bie ganje
Slufmerffamfeit itjreS gefenften 83lide8 tear fidjttidj toon iljren reijenben
©tiefetdjen gefeffett 3)ie grauen auf ber Xerraffe toaren anjufeljen rate
ber Dpernd)or, loenn er bem fd)tad)tbereiten £etben nadE)btidt. S3 tear
eine getoattige SSorfampferin fur grauenmadjt, bie bort l)inau$jog, unb
eine unbeftegbare babei, tone man fagte. — 3ebodf) ptofctid) faften atte
2) amen ttrie toerfteint: ber, ben fie fatten opfern tooflen, er ftieg au3 bem
SBaumbunfel an ba3 ©onnentidfjt. SlfleS tear tobtenftilte, unb SRabenburg
na^te langfam hue 83anquo3 ©eift. 3n biefem feierltd^en Stugenblide
ftanb bie atte S)ame auf, legte bie fdf)tt)efetgetbe ©tiderei bei ©eite unb
ging SRabenburg entgegen. ©ie griff in itjren SRibicute unb brutfte i^m
ein glafcfjdjen in bie £anb. ®3 tag etttrnS geiertidjeS in bem lone, mit
bem fie ifjm babei fagte: „(£jquiftte HRigranetropfen, setju auf 3u^rl"
2tuf ber anberen ©eite ftanb bie jugenbtidje SKtttionarin, fagte gar
9ii<$t3, fonbern tear nur fef)r rotf) unb tiebtidf) anjufefjen, unb fte<fte
iljm eine 9tofenfno3{>e in bag Snopftodj. ©r fcerbeugte fid) ftumm nadf)
beiben ©eiten unb ging im ©turmfdjritt bation. ®ie SCItc unb bie Swuge
fa^en etnanber an toie ©ebbete erfter unb letter 3Menfc^:
^em le^ten begegnet ber erfte bann,
2)cn einft bie ©rbe getragen;
6ie fa>uen fid) fhtmm unb ernft^aft an
Unb Ijaben fid) nid)t3 ju fagen. —
3) ann tauc^ten beibe im <56)atttn ber Slttee unter, unb aud) bie anberen
®amen Derf^toanben nad^ unb nad^ Don ber Xerraffe unb Derjogen fid)
gteidf) bro^enbem ©etootfe f^wer unb tangfam Winter ben fflaumen. 9hir
€ine (Slocfnerfafyrt.
207
©rafin 9td)enberg btieb jufammengelauert in iljrem f$auteutf, abfeitg Don
ben raudjenben $>erren, in einem ©djmoflttnnfetdjen bcr lerraffe, tootjin
fic fid) gleidj nad) bem 2)iner gefliidjtet. ©te ^atte ben 93organgen fd}toei*
genb mit ben grofcen 8tugen jugefefjen; jefet Ijiett fie biefetben gefenft
unb ftarrte unbetoegtidj Dor fid) in ben ©anb. ©ie tooKte in foldjen
©tnnben nid)t geftort fein — man ttm&te bag. 3d) ftieg in ben ©arten
t)inab nnb fdjlenberte burd) bie Slttee. 3tm Sluggange berfelben in einer
Saube fafcen bie Stamen. 3)er #immel mar rein unb fonnenburcf)ftraf)lt,
unb bod) fdjtoebte um biefe Saube eine gettntterfdjtoiile Ktmofpfyare, bie
aufgeregte Slljnung eineg SpiafcregenS unter ©ommerroben unb meifeen
SeinHeibern. 3d) f)atte bag elenbe ©efuljl, oljne 9iegenf<$irm ju feinf
unb madjte midj f^teunigft baDon. 9113 id) an ber lerraffe Doriibers
fam, bebattirten bie #erren bei Saffee unb ©igarre Don ber Sorfe —
fear Dor bem beutfd^franjOfifcfjen $riege — bag tjangenbe ©etoitter
erfdjien mir l)ier ebenfo brofjenb ttrie bort: id) rettete mid) unter S)ad).
©g toar eigenttid) nod) immer ungeljeuer langtoeitig, unb bieg modjte
mid) tool Deranlaffen, bafc i<$, an SRabenburgg 3immertl)ure Doriiber;
gefjenb, otjne toeitere Uebertegung anHopfte. ©rft Dernaljm id) ein un*
ttutligeg 3Rurren, barauf ein leifeg, feineg Snirfdjen unb enbtid) ein
tt>ibertt>itligeg: herein!
3)id)ter labafquatm fiitlte bag Bimmer, barin idj erft mit einiger
SDtulje SRabenburg Ijeraugfanb. ©r lag auf ber ©Ijaifelongue auggeftrecft,
ben Saffee neben fid) auf bem lifefje unb ein Ungetfjitm Don Ifdjibu!
im SKunbe. ©r falj mid) anfangg toie geiftegabmefenb unb bann Der*
ttmnbert an; enblid) fagte er nadjbentlid) : „9lud) S)u nod)!"
©r fjatte 9ted)t, unb eg Hang mir tt>ie: Slud) S)u 83rutug! ®enn
ba lag in einer ©de. eine SRofenfnogpe, in ber anberen fiderten bie z&
quifiten SWigranetropfen aug bem {jingefdjteuberten glacon, unb id) fjatte
bag befdjamenbe Settmfjtfein, in bie britte ju get)5ren. D^ne ein SBort
ju fagen, ging id) nrieber. 2llg idj bie Hjiire offnete, rief er mir nac§:
„9?aud)ft 3)u forifdjen 2aba!? 3d) ^abe feinen anberen."
,3a."
„©o nimm 3)ir einen Ifdjibuf unb bleibe."
3d) fefete mid) in einen £el)nftu^l, unb nrir raucfjten eine SSBcilc
fcfjtoeigfam ben feinen SataKa. ©r fjielt babei bie Slugen unDertuanbt
auf ein ©tui geric^tet, bag neben i^m auf bem lifdje ftanb. S)er Heine,
fettfam geformte ©c^Iiiffel baran fam mir befannt Dor; itf> erinnerte mid)
bann, baft it)n SJtabenburg immer an ber U^rtette trug, unb eg fiet mir
ein, bafc jeneg feine ^nirf^en Don Dorfjin, c^c id) eingetreten mar, Don
bem ©djliefeen beg ©tuig entftanben fein moc^te. S)ie Satafiatoolfen
baHten fic^ immer bitter. 3d) lonnte feine S^gc nic^t mefjr unterf^eiben,
alg er fein ©djroeigen unterbra^: /f93ift S)u fc^on einmal auf bem ©ro§5
glodner getoefen?"
208 Karl €rbm. (Ebicr in BHen.
„3lein."
„©o ioill id) 2)idj f)inauffiit)ren. ©rfdjrid nicf)t — id) tueife, 3)u
liebft bic 2ltyennarr!)etten nidjt fonberlid). ®g ift nur eine Sergfaljrt in
©ebanfen. 3$ nta^e fic jeben lag mit meinem Xfd)ibuf. ®u fannft
eg bencn ba brtmfjett fagen, toenn eg fic toieber getiiften fotltc, mid) mit
iljren ©ieftatoergniigungen abjuquaten. S)cr iibrige lag geljort ifjnen,
unb id) bin frot) barum, toenn idj filr Slnberc etioag fein ober tljun fann.
®ie eine ©tunbe abet foUcn fie mir laffcn, bcntt — "
@r fdjtoieg cine SBeilc. „%ixx bic Slnbcren ift bag nid)t" — fuljr
er bann jflgernb fort — „2)ir ttrill idj eg tool fagen. S3 toar einmal
ein ftiHeg, fdjihteg 2Rabdjen unb cin ftitter, crnfter Snabe. SSeibe tooljnten
braufjen t>or bem mettljiirmigen, mittelalterlidjen $aufergebrfinge, urn
toeldjeg bie 5Ringmauer lange cincngenb gebriidt Ijatte, toie ein unnadj=
giebig ©iirtelbanb. 3)a toar einmal bag jungfraftige Seben iiber 2Rauer
unb ©raben fed tjinauggequollen, unb jenfeitg berfclben in ffiurjem, tone
toon felbft, cine ©affe emporgetoadjfen, mit groften SJorgarten fjerjljaft in
bag SBeibetanb gretfenb, in bcren £intergrunbe bie §aufer fetbft fidj
Ijeimlid) bargen. Unmittclbar an ben finfteren HRauert^urm leljnte fid)
eine 93iHa, ganj umtoadjfen mit iippigem SPftanjenttnrrfal. ®arin n>ol)nte
bag 2Jlabdjen mit feiner 2Kutter, ciner Derttrittlueten greiin aug altem,
toerarmtem ©efdjled&te, ber ®nabe aber gegeniiber in bem l)od)bebadjten,
groften §aufe. Sin ben gefdjloffenen genftern ber SSilla brangen Sor-
Ijange bag Sidjt 5uriid, nur an ber SBatfontpre fhtb fic matt augcin-
anber geneigt, unb ein feincg grauenprofil teud)tet Ijertoor, ba bie Stbeubs
fonne iiber bie ©djeiben judt. Dfjne ben tjetlen ©traljt modjte tool bicg
Stnttife unfennttid) jerrinnen: fo blafj fteljt eg Dor bem 2Bei& beg Sor-
^angeg — monbfyaft, erft toon bem ©onnenlidjte leifen Shimmer erbors
genb. Slide unb Soden ber grau fallen niebcr auf ein SBudj, unb ringg
urn fie fpannt fid) brau&en ber grime Sia^men beg ©djlinggetoadjfeg,
baraug t)ie unb ba eine mattfarbige ^affiongblume fd)tt)ermiitljig l)erab=
nidt. S3ei bem ^fflrtdjen beg 93orgarteng lauert ein SKopg; fdjmerj&otl
gtofcen feine Stugen — fie fagen toerftanblid): bic SDBett ift ein jammers
t^at ! ©einen §atg umfd)tingt ein ©ammetbanb, eg ftimmt in ber garbe
ju ben 5J5affiongblumen ber SPflanjentoanb, ju ben Ueberfjangcn ber genfter,
unb ber gan$e tjiolette SKoUaccorb ju ber grau oben unb §u bem Sinbe
unten im SSorgarten. 3ln ber Irauertoeibe le^nt ein fteincrncr ©effel
mit n)unberli(f)en ©djnorfcln unb barin fifet bag fleine SDtabdjen. ©in
f^toermut^iger 3"g breitet fid^ fc^leier^aft iiber bag feine ®efid)tdjen in
bem golbigen Sodenra^men. S)ag Sinb fifet fo regungglog, bag ganjc
95ilb anjufc^en, hue eine marmorne ©ottin auf marmornem Iljrone, jum
©c^mude beg ©arteng ^ereingeftellt. 8lHeg ift fo jart unb fd^5n an i^rf
aber ber Snabe im SJorgarten briiben ^at nid)t ein einjigcg SJlal ^eriiber'
gefd)aut; er ftatrt immer nur nad) bem ©dfenfter fiber fid) cmpor.
<Eine (Slocfnerf al\vt.
209
Stogfelbe ift, tote aCtc iibrigen, toeit geflffnet, ba& bie freie ©ottegluft nur
fo gletdj in ganjen ©trihnen Ijinetnflutlje, unb baran ftfct cine grau, toofl,
fhrafytenb, toaxm blitfenb ttrie bie liebe Sonne, ©ie miifjt fidj unt ein
gciljnenbeg #ofenlodf), baraug eine ganje tuftige ©efdf)id(jte abjulefen fetn
mug; benn fie ladjelt redjt tjeralidj unb inniglidf) — tooju audfj jefct einc
fhrafenbe SDtiene, ber Snabe ift ja braufcen! 3Du ttrirft nodf) mandjmal
Slnlafc jum Casein finben, $u grunbgiitigeg SDtuttetfjera, toietteidfjt fd&on
$eute! S)ein Keber Sunge fauert neben einem 93rettlein aufgefpannter
©d&metterlinge, in einer glafdje fried&t nod) aUerlei lebenbtg Ungejiefer
ju Sndueln iiber einanber, bag jufammengefnupfte ©adftudj friunmt fidE)
in fdjlangenljafter SBinbung unb ttnrb gleidj einen ©pajiergang iiber ben
SRafen beginnen. ©leidjtool !)at ber jugenblidfje ©elefjrte emfte Sebenfen,
bie fewer errungenen ©d&afce fammt feinem hunger tynaufjufdjlewen.
3)ie §anb riiljrt fidf) mdf)t toon feinem SRiidfen, att grfte eg bafelbft brauen;
ben 3crfaH aufjutjatten.
S)ie Heine Irauertoeibengottin briiben aber langtoeilt fidj inbeffen.
S)a fie mit ifjren Soden unb bent toioletten ®feibdf)en nidjt Ijinab barf
ju ben SBilbfangen ber ©affe, fo mag fie tool fdjon mandjen lag fetjn^
fiidf)tig fjiniibergefdEjaut fjaben auf ben 93uben, ber gleid&fallg nidjt ju ben
©ptelen lief, fonbern im SSorgarten bei feinen Sdferfaftdjen fafc; freilidi)
erfdjien er ftruppig unb fdfjmufcig toon feinen £anb* unb SBafferfaljrten
nadj $f)ieren, aber eg toar bod) etroag 3lnbereg alg ber 2Ropg, ber tyapa;
gei unb bie aug #aaren geftod&tenen 3reiI)errofronen unter ©lag unb
SRaljmen. $eute lag nun ba auf einmal ein If)ier bequemtidj auf ber
3lrmlet)ne beg I^ronfeffelg auggeftredt, bartiber bie flcine ©ottin ein
Tnenfdfjiidj §iilferufen erfdjatlen liefe. S)ag ljdtte inbefc ben Sungen brii-
6en ntdf)t gerutirt, ber fur atte ©d&reie ber ©affe ttrie taub toar, aber fie
^atte gcrufen: „®ine ©flange!" — 3n brei ©dfeen toar er briiben, mit
bent trier ten l)atte er ben SRopg umgefto&en, eine §ede iiberfprungen
unb eine §ortenfie gefnidt. Unb fdjon l)iett er bag Ungefjeuer in ber
fladjen §anb, toobet er ein unbanbigeg ©etddjter logliefc: „S3te 2)u
aber bumm bift! (Sine ©d&Iange! 2)ag ift ja eine ganj gemeine 9ladU
fd^neie!"
3)ag SKftbc^en aber ftanb nur jitternb ba unb ftammette tjorgebeugt
na^ feiner ©anb ftarrenb: JD S)u fc^muftiger, f^muftiger 83ube!"
Slber eg mufe i^r jugleidf) unbeioufet ein ©efii^I ber Setounberung
aufgeftiegen fein, ba§ er bag Ungetljum fo otine SQSeitereg in bie &anb
genommen; benn am nadjften lage lotftc fie i!)n felbft ^eriiber. ©ic
fteflte fid& baju auf i^ren I^ronfeffet, redte fid^ auf ben gufefpifcen in bie
§5f)e unb toinfte mit bem ginger; jebodfc bie Xrauertoeibe f|ing t)or
i^rem ^o^fe nieber, unb ber 3unge lonnte nur ifjr Dioletteg Sleibc^en
fe^en. 2)a jte feinen Stamen nid^t ttnt&te, fo rief fie ^iniiber: „2)u
fdEimufeiger 93nbef ein I^ier ift ba!" — Unb er fam. $)er ©djmufe toar
2*0
Karl €rbm. €Mer in Wien.
ifjm gleidjgiittig, aber bag £f)ier jog iljn an. ©te jetgte iljm, fidf) fadjte
auf ben Sufcftrifeen nafjernb, ben griutgolbigen Safer, toeldjer fid) ruljfam
in eine SRofenbliitfje geftebt tjatte. ©r ftedte bag golbige Xljierdtjen in
eine ©piritugflafd&e, bie er aug bet lafc^e jog unb fagte babei: „3i*
iibrigen^ gar nidjtg SBefonbereg, ein Sftofenfdfer, ein ganj gemeineg 3n-
feft, vulgaris, toerftanben?"
SBdljrenb nun ber gemeine Sftofenfdfer feinen Sobegfampf fdmpfte,
ftanb bag -Dtabdjen toieber bUify ba unb rief: „D 3)u garftiger, garfti-
ger Subel" 2)er Sannibale ljat jebod) nur baju geladjt unb ift mit
feinem Dpfcr Ijinubergelaufen. ®r befafe nun fd£)on jtoei SRamen, mit
benen iljn bie Irauertoetbengdttin rufen lonnte, unb toer toeife, tr»tc fciefe
nodj baju gefommen todren; aber bann toaren fie einmal in ein tanged
©efprad& unb baraug in einen furjen ©treit geratljen, tt)obei fie ilju
enbtfdf) mit ben SBorten nieberfdfjmetterte: „3Reine SJlutter macfjt @ebicJ)te,
bein SSater aber nur £aufer!"
2)arauf fetjrte er itjr ben SRiiden unb ging langfam tjimiber. ©ie
bagegen fdjlug meljreremal mit ber redjten gauft in bie linfe £anb unb
nafjm fid) felfenfeft Dor, fidf) gar nidjt meljr urn it>n ju fummern: eg gab
ja genug anbere Snaben in ber neuen ©affe. ©ie tooUte audE) gleidj
ernftltd) anfangen, tint nid^t ju bead^ten: fo ftettte fie fidf) benn jttnfdjen
bie jtoei Sujbaum^^ramiben unb blidte getuiffen^aft in bie ©affe, mo
bie Suben, inggefammt tauttitaenbe SRufer, fidj in £umier unb friegcri*
fdjem SBurgen abmiiljten, todljrenb bag IjeraMoadjfenbe ^augfrauen^
gefd)led)t bei ftitterem ©pietc mit ^ii^en unb £5pfen fittfam toaltete.
Slttem bem ljatte fie eine SBetle jugefetjen, aber eg madfjte tl)r bo<§ feine
redjte greube; unb tueil fie bie ©timmen ber ©affe fortt5nen ljorte, fo
meintc fie, fie fdjaue nod) immer ju — aber iljre Slugen ioaren fcfjon
langft ttricber auf ben Snaben briiben geridjtet. ©g Hjat il)r nun bodj
leib, bafc fie ifjn fo gefrdnft tjatte. SKadjbem fie nodj ein SBeildjen na<$5
gefonnen, ging fie, fd&eu urn fidf) blidenb, ju bem ®artenpf5rtc^en; bort
ftodte fie nod) einen Slugenblid, bann lief fie mit einem 2RaIe burd) bie
©affe Ijinitber. ©ie tjiett babei bem Sungen, baft er fie nid)t toegtreibe,
t)on SBeitem ein SSerffi^nungggefd^enf entgegen, ein griineg ©lagftud, ba^
burd^ eg gar tounberfd^fin ju fd^auen fei. @r jagte fie aud^ nid^t fort,
fonbern liefc fie neben fid) ftetjen unb betrac^tete burc^ beg ©tag §aug
unb ©arten. ©ie toar no(^ ganj at^emtog, tyatte bie ^anbd^en auf bem
Stiiden iufammengetegt unb fa^ i^m in'g ©efid^t. 2tlg er bann aud(j fie
burd^ bag ©lag anfdjaute, Iie§ fie bie $anbe fdfjlaff ^erabfinlen unb
bo^rte mit bem gufjdjen im Siefe ^erum. Sr Iie§ bann bag ©lag mit
unfagtidjer ©eringfdEja^ung in feine lafdEje gleiten. „3u bumm!" —
fagte er — „unb Sltteg gang fatfdjl Unfer rot^eg ^paugba^, ©uer grau;
ticker 9Kopg, Seine fpifeige Stafe, SCtleg ift graggriin!" — 2)ag toar nic^t
ju tjertoinben. Unb fie fjatte eg bod^ fo gut gemeint! SBeinenb fd^Ii^
<Etne (Slocfnerfaffrt
fie ju iljrem Iljronfeffel l)eim, unb bamt ift bag ©rag jtoifdjen l)ier unb
bruben red£)t Ijod) getoadtjfen. 2)ag SDtabdijen fann nidjt meljr tyeriiber,
bcr 93ubc nid)t Ijiniiber.
ffiineg fatten SJtorgeng ab$r ftanb bcr ®nabe ant 3aune unb fdjaute
buxfy bag grime ©lagftiicfdjen. ®r falj ftcfj Sltteg aufmerffam an, nur
nidjt bic Heine ©bttin briiben im £I)ronfeffeI; benn er futjr immer ^aftig
mit bem ©tafe an ifjr tooriiber, toenn fie bei ben SRunbbttden ntit in
bag grime SBitb gerietf). Unb fie fa& ganj rufjig auf ifjrem £!)rone unb
ruljrte fid) nidjt; er fyatte bag beutttd) gefeljen, benn fie tear iljm bei
bem cifrigen #erumblicfen • feljr oft in bag ©lag gefprungen. 2lm Stacfc
tnittage tuar er in bie ©affe Ijinauggetreten, nrieber ntit bem grunen
©fafe, unb tyatte baburd) bie ^flafterfteine angeftaunt, bann bie ©itter*
ftdbc beg SSiHagarteng, unb enblidj and) ben SDlopg, ber in bem ©arten
fafc, einer einge^enben ©tubie unterjogen. Son bem grunen SDtopg toer^
inodjte er fid) gar nid)t ju trennen; aber er roar tfjm etgentftd) bod) jit
tt)eit entfernt, unb er falj nid)t, ttrie bie etnjelnen &ard)en ficfj augneljmen
tnodjten. ©o ging er benn langfam burd) bie ©ittertfjiire, ftettte fid)
bid)t cor ttjn fjin unb Midte nadjbenttidf) burdf) bag ©tag auf if)n Ijinab.
3)er SDtopg mactyte gro&e toerttmnberte 9lugen unb blicfte nadjbenfttd) ju
il)m ljinauf. ' Da finite er auf einmal jtoei toarme #anbd)en urn feinen
4?algf unb bag ©lag fiel auf bie 6rbe, toeU feine $anbe urn einen
anberen §alg lagen.
©eit bem lage fatten bie beiben Sinber einanber fo lieb unj> tebten
(Sineg in bem Stnberen. Unb toie eg getoorben tear, fo ift eg au<$ ge*
blieben. 2)er Snabe ging fpater ber ©tubien toegen in bie ^auptftabtf
aber er muftte immer an bag 2Rabd)en juritefbenfen. SBenn er jur
gerienjeit nadf) $aufe lam, bei bem 5(5oft^aufe in ber ©tabt abftieg unb
bie ©affen burdjeilte, fo bog er bei bem ©tabtttjore langfam ein unb
jogcrob tjinaug in bie neue ©affe, roeit ifjm bag §erj jum 3erfpringen
flopfte, unb toeit er an fie badjte. 2)ie grim umttmdjerte SSiUa fudjte
fein erfter SBlicf, fein jtoeiter bag Ijodjbebactyte §aug gegeniiber, too er
beg SSaterg tueifjeg, ber SKutter fdjttmrjeg §aupt bid)t jufammengeneigt
erfpa^te, unb toier fet>nfiid)tige Shtgen, ttrie fie gegen bag ©tabttfjor ge*
rid&tet frugen: Db er fdjon fommt? 2)ann juerft ber meifee Spubel, mit
ben altergfc^wa^en ©tiebem greubenforiinge tjerfud)enb; unb ba auf em*
mat beg SSaterg madjtige ©eftatt bie £augtl)ure fiittenb, bie SKutter toeit
tjoraug im SSorgarten, unb er in iljren Slrmen, an'g treue §erj ^inauf-
gejogen, ober, alg mand^eg 3a^r oerfloffen, niebergebeugt ju it)m, an
jeber §anb eine jubetnbe ©d^mefter, unb briiben — fie in ber geoffneten
©artentfjiire, jmifdjen ben beiben SBuybaumptjramiben. 2)ie ^dnbe ^ingen
i^r an bem trioletten SIeibdE)en ^inab, unb audj bag Sopfd^en neigte fid)
leife gegen bie recfjte ©dtjulter. ©g toar nid^tg SQ3ei(^eg ober audj nur
Se^agtid^eg in itjrer ©tetlung, fonbern nur etloag, toag tief jum ^erjen
2{2 Karl €rbm. €Mcr in Wien.
fpradf). Sine unfagltd} ritfjrenbe Unbefjolfenfjeit lag in bcr gan^en ©ejialt,
tt)ie fie fo fdjeu unb fteif ba ftanb, bem ©ngel altbeutfdjer Silber gleid),
bet ftiegen ober baljintoanbeln tiritt, unb bod) ftiffe ftefjt unb toartet.
2)ie unbetoegltd&en Sfti&djen, bte tjerabljangenben 9frme, bcr gefenfte Stopf,
unb aug ben atjrenfarbenen #aaren bie fornblumenbtauen Stugen, fie
attc fagten, ein jebeg ju fid} felbft: SBag fange id} nur mit mir an?
©o fomm bodf)! — Unb er rife fid) fog Don ben ©einen unb fam. ©ie
ftanb nod) immer ftitte unb toartete. 2)ann lagen auf einmal bie beiben
Slrme um feinen #atg, unb bte bfauen Slugen fdjauten fo grofe unb ru^ig
in bte feinen unb fagten: 2)a bift S)u ja!
SBatjrenb jener fd&flnen ©tubienjafjre ijaft 2)u ben Sfnaben geraigfam
fetbft fennen gelernt, unb toeifet aud} nod), tine er fpater ongeftrengt
baran arbeitete, fid) eine Setjrfanjel ju erringen. 3§r fpradfjet t>on
nteinem ungebulbigen ffifjrgeije, unb tdf) badjte nur an bie treufjerjigen
Slugen unb tfjre fragenbe 93itte: ©o fomnt bod)! Unb enblid) brad) ber
lag an, too id) fommen fonnte, fontmen, um fie nidjt meljr ju laffen —
bad angeftrebte 3**1 tear erretdjt. 2)al)eim ttm&ten fte Sttdjtg Don meiner
Slnfunft, tdf) toottte fie iiberraf<f)en. 2)er 3«g ging erft gegen SDtittag,
ober idf) toar fdjon am SDtorgen reifefertig unb fritf)ftii<fte im 3immtt
Ijerumgefjenb — bie Ungebutb ttefe mid) nidtjt ru^ig fifcen. 2)er Srief^
trager trat ein unb iibergab mir ein Sfreujbanbblatt. 33) toarf eg adfjtfoa
auf ben lifd}. 2Bag toar mir an jenem 3Rorgen SSertobung ober Xob,
bie man mtr ettoa barin betannt gab! Site id} fpater eine Sigarre an-
jiinbete, fiel ein gunfen auf bag Sreujbanb, tt>ag m\6) Deranlafete, bags
fetbe in bie #anb ju neljmen. Sine greiin in meiner SSaterftabt tljat
barin ber SBelt ju hnffen, bafe fid) ifjre loiter SDlarie mit einem ©rafen
Dertobt Ijabe, beffen Xitel metjrere 3ctlen burdjliefen, toorauf bie Slamen
feiner ©titer bag tibrige Ijalbe S3Iatt augfuttten. 3$ fannte ben ©rafen
fefjr gut unb toat oft mit itjm jufammengetroffen. ©r toav ein beleibter,
gutmutfjiger SQtann Don merjig 3at)ren, SBitttoer, aber ofnte ©rben fur
feinen grofjen gibeifommifebefife. 3d} fannte audj feine SSerlobte, ie^ er^
innerte midj i^rer ja ganj beutlid^: fie fjatte fornblumenblaue Slugen,
unb iljre Slrme tt)aren fo toeid^ unb linb, toenn fie biefelben um meinen
£atg gefd^Iungen ^ielt, unb fie trug Diolette ^teiber — bafcon lam eg
jdoI, bafe 3tttcg ringg um mid^ f}er auf einmal Diolett augfa^ felbft bag
gebrudte SBIatt. Unb id) lounberte mic^, bafe auc§ meine ©anb Diotett
mar, toeld^e bag ©latt f)ielt — bag ttmr mein letter ©ebanfe. Site id)
tuieber ju benlen begann, fagte man mir, id) fei lange franf unb rec^t
etenb gemefen. ©ie \pxa6)tn xiityt toafyx: tdj tvax erft etenb, alg id)
aufnjac^te. 2ln einem milben Sage, ba icf) jum erften SWate am offenen
genfter fafe, griff id} nad^ bem ^reujbanbblatte. 3d} ^atte nid^t Der^
geffen, mag barauf Derjeid^net ftanb, ic^ toufjte eg SSSort fur 9Bort; aber
id} toottte eg fet)en, fdEjfoars auf toeife fe^en SBort fitr SBort. S)a erblicfte
€tne <51ocfnerf afyrt.
2\5
idj audf) (Stmad, mad mix bamald entgangen roar. (Sin 23Ieiftiftftrid)Iein
jog fid) untcr bem Stamen bcr greiin ljin, unb an beffen ®nbe ftanb
cin 2JI tjingefdfjrteben. (Sd ift cine feltfame Sinie, unb id) f)abe lange
unb Did uber fie na<f)gefonnen: leife ttrie ein jarted ©etjeimnife, jittemb
ttrie unter #erjbeben gejogen, ptflfclid) abgebrodjen unb tiefer toicber an*
gefangen, mie unter t^raneniiberflutljeten Slugen, bie nidjt meljr flar
fefjen. S)ie SDtutter I>at ed fo gemottt — fagte ber ©trid) -r id)
aber .... ©d ift bad ©injtge, mad id) Don tljrer §anb beftfee, biefed
SSIeiftiftftridjIein, in bad fie ifjre ©eele fdfjeu Jjinemgejeidfjnet.
3d) bin bann unftat Ijerumgeirrt in aHer 28elt unb ljabe mit nteinem
Seben gcf^tclt ttrie mit einem unniifcen 2)inge — aber ed mar ttrie ge=
feit. 3d) ljabe meine ©ebanfen jttringen footten, fic^ an bied ober jened
feftjuflammern, unb gemartet, ob etma ein Il)eil meined ©emiitljed
irgenbtoo ^ftngen bleibe, tt)ie bie glodEe an ragenbem ©eftein — ed mar
toergebend. 3ntmer unb immer ftanb badfelbe 93ilb box meinen Slugen:
cine toeite ©bene, inmitten eine trieltprmige ©tabt, in iljr ein grim*
itmmad)fened #aud, barin ein Metered SBeib mit blutenbem ^erjen ein
jittemb ©triolein jie^t unter bad, mad einft gefoefen fiir fie unb fiir
mid) — mad unter iljm nod) merben unb lommen fottte, gait nidjt met)r
mir. S)od) genug batton — - id) rebe fonft nie uber bie alien SMnge,
unb bad mac^t tool, bag id) bied eine SDlal ju trie! bariiber rebe. 3d)
tooflte 2)idf) auf ben ©rofcglodner fitfjren.
®d mar an einem Slbenb im iperbftbeginn, aid id(j bei einer Stubien?
ttmnberung burdf) bad SQtSlItljal in #eiligenblut anfam, bem I)5d)ften ©e*
birgdorte ffarnt^end. 3d) madjte mid) in bem 3intmerdjen bed netten
fleinen ©aftljaufed ljeimifcl) unb fdjlenberte bann ber alten gotI)ifd)en
&ird)e gu. 9cad)bem id) beren gliigelaltar unb ©anctuarium genugfam
betradjtet, trat idj aud ber 23)iire auf ben alten $ird$of. 2)er Slbenb
toax fdjon iiber bad 2)5rfdE}en Ijereingefunfen, unb bunfle ©fatten Ijduf*
ten fid) in ber liefe; fie fdfjlidjen an ben Sergljdngen fjinauf unb bargen
ftcf) fdfjmarj in ben galten bed gelfenmanteld, ben bad ©ebirge eng um
bie Xljalftufe gelegt fjat. Ueber bem nddjtlid) umfdjatteten ©runbe
fdjtoamm bie flare fc^5ne #immeldferne, unb aud il)r taudjte einfam ein
rofenfarbened Sergljaupt unb ftieg mit fanftem Seudjten in ben Sletfjet
@d mar bie ©idpgramibe bed ©lodEncrd im 2tfyengliiljen.
„©r ift ber einjige, ber nod^ ber fdEieibenben ©onne feljnfucf)tig
nac^blidt, bie anberen finb fdjon aHe fc^Iafen gegangen" — fagte leife
cine ©timme Dor mir.
3<$ fannte biefe ©timme, idf) lannte auc^ bad SBeib, bad bort auf
ber @rberljoI)ung fag unb untjermanbt nac^ bem leudtitenben Serge em^or^
bliite, unb ben 2Rann, ber an i^rer ©eite ftanb. 3d) f^auerte in
tieffter ©eele jufammen, aid id) fie jefet leib^aftig neben einanber fal),
bie fd^on einmal auf jenem gebrudten SBtattc beifammen gemefen. Unb
2W
Karl <Erbm. (Ebler in IDien.
id) fcermetnte eg ntdfjt ertragen ju I8mten. ©o fdf)Itd) tdf) mid£> bcnn leife
batoon, fticg in mcin 3intmer unb ftarrte in bag 2)unfel bcr Stadjt fjinau*.
<£g toax mix auf etnmal, alg toare bieg Sltteg nidjt mdglidf), unb ftc
fonnte nic^t bag SBeib etneg Slnberen getoorben fetn. Slbcr man bradjte
mtr bag grembenbud) jugleidf) mit bcm Sidjte in mcin ©tiibdjen §erauf
unb barm ftanb eg mit iljrer eigencn £anb ntebergefdjrieben; eg mufiie
tool fo fcin — eg war bagfelbe edtge 3R tine am ©nbc jeneg 8Ieiftift=
ftrtdjeg. Unb tirie tdj jutior geglaubt fjatte, eg nidjt anfeljen ju fdnnen,
fo fafcte m\6) jefct cine fieberljafte Ungebulb barnadf).
Site id) in bag ^cHerleud^tcte ©peifejimmerdE)en I)inabfam, ttmren fie
bcibc fdjon ba. 2)er ©raf crfanntc mid^ fofort unb !am mir Iad>cnb
big jur 2*)ur entgegen, urn mir bic £anbe ju fdfjiitteln. Unb bort ieneg
btet<f)e SBeib — bic #anbe Ijingen ifjr an ben ©eiten Ijinab, ba£ £>auj>t
toar ettoag gegen bic redjte ©gutter gefenft, unb bie grofjen blaucn
Slugcn auf mtdE) gertdjtet. Unb ftc ftanb ftitt unb toartete. (£g nwr,
tirie eg einft getoefen. 9tur bleidjer toax fie, nur ber ruljtge ftittc ©lanj
toax ntd)t meljr in ben ?lugen. Stfg tdj ju iljr fjintrat, reidjte ftc mir
bic £anb. ©ic toax fait tine @ig. 2Btr rcbeten bann tok SKenfdjen,
bie cinanber Sftidjtg ju fagen ljaben. ©ic fatten tior, am nadfjften SRorgen
bie SPafterje ju beftetgen, ben gr often ©lodnergletfcljer. 6r brang in
mid), \6) m5ge ifjnen auf biefer SBergfaljrt ©efeHfdjaft Iciften. „3d) &tn
ettoag unbe^otfen im Stettern" — fagtc er unb mufterte tadjenb fcine
©eftalt, bie in ber 3eit, feit id} iljn nidtjt gefetjen, nodj beljabiger ge*
toorben tear. „3Jiadf}en ©tc fid) aufcer bcr S3iffenfdE)aft audf) urn mcine
grau tjerbient! 3df) tyabe bet bergleidjen Spartien immer mit mir fctbfl
ju tljun unb btiebe eigenttidf) am Itebften in bcr ©bene — abcr toag
JDotten ©te: ce que femme veut . .
©tc ging inbeffen tion genfter ju genfter unb bttdte Ijinaug; unb
eg toax braufcen boc^ 9li(^tg alg bic fternlofe, monblofe fd^tnarjc SRacfjt.
S)ann fdt)ritt fie totebcr auf unb ab unb toar trie cine fiebcrnbe Sranfc,
tijcl^e bie innerc ®tutt) unru^ig Don etnem Drte jum anberen treibt
S)ag tear mtr fremb an ifjr, abcr nify bem ®rafen; benn er ladjte unb
^taubcrte tnjtiJtfd^cn unb bead^tcte eg fo toentg, njic man cben beg ©c-
too^ntcn ni(^t ju bead^ten pftegt S)ann fagten toir ung gute Stac^t.
Slber eg ift leine gutc 9lai)t fiir mi^ getoorben.
Sltg td^ in bcr 2Rorgenbammerung ^tnabfam, ftanben jtoei gu^rcr,
mit Spiaibg unb 5|}rot)iant bclaben, fdfjon bcreit Dor bcm ©aft^aufc. 9tad)
eincr SBeile trat fie rafc^ aug ber Ipre unb beftieg fofort bag Stcit^
^jferb. Stfflernb tflut ber ©raf nac^gefdjlic^en. ©r unb id^ fatten f^on
am Stbenb corner bic angctragenen SPferbe abgelc^nt, ic^ aug ©etoo^n-
Ijeit beg SBanberng, cr aug SRucffidjten auf fcine laiHe, urn fid) — tok
er fagtc — urn einige ©entimetcr fdjtanfer ju mac^en.
@g toar nod^ friifje am SRorgen, unb toir jogen fdE)toeigfam burc^
€ine (Slocf nerfaljrt. 2\o
"bie ©title be3 fdtfafenben ®6tfd)en3. JRingg umljet log ein bitter un=
ietoeglidjet Slebel. Uebet un*, toot un8, fitter unS - bag toeifrficbe
Stunfet, batht bie 9teitetin batb toetfdjwanb, tote butd) einen Bauber
§tmueggetafft, bolb toiebet fdjattenljaft Ijetoottaudjte, gleidj cinem ©eifte
ben bie @tbe pI6feti£^ au§ intent Snnetn cntlafet. SRein 2Banbetgefabtte
mar mdjt in bem getoobjtten tofigen £umot; bet @<^Iaf kg nodi im
^mtetgtunbe feinet Slugen unb ftecfte if)tn in alien ©liebetn. 2>aS ©eben
fid i$m befdjtoetlid), bet SRebel beengte ifr, unb man fab, eS feinem
<mfrtdjttgen ©efidjte benttid) an, trie et fid) nad) bem SBette jutucffebnte
<£r »at oetbtoffen, toottfatg unb locate faft gat nitf)t. bie fteinigen
£ange bet S^alftufen anfingen, gotten wit bie SReitetin mit ben giibtetn
etit. 3d) fajtitt iefet neben bem <Pfetbe bjn, toeld)e3 ootfidjtig auf bem
©erofle einen gujj Oot ben anbeten fefcte. <Det 9cebel mat nod; immet
ba, aHetn nid)t me^t bag unbetoegtidje, Sllleg gteid)ma|ig fiiUenbe <Sle=
ment, fonbetn jcrriffcn unb tut>elog betoegt.
2)ie ©tSfin fa$ bem toeajfelnben SKebelfoiele ju unb fagte bann-
„©3 tft, all ftfinbe im £intetgtunbe ein Silbnet unb griffe mit unfidjt*
batet £anb in ben toeid)flodigen Slebelftoff. gn toilbet Siinftletlaune
fnetct et bie tounbettid)ften ©eftotten unb ftf)leubett fie unjuftieben toiebet
*nn, urn fie fofott umjufotmen. SBemerten <Sie bott jenen Stiefen tinfg
in bet £bl)e?" '
„SBol)l, et l)at tangtoattenbe gtaue £aatc . . ."
„Unb eine Ijolje SDliifce batauf gebtudt. Sefct — fefien <Sie —
$ebt et touajtig ben Sltm. ®t Wirft einen ungebjuten SBaff betubet
IBJobJn nut? - 2tuf ben Heinen SJBit^t, bjet ted)ts oot ung oben '"
„2>et btei SItme f>at ..."
„2Bal|tf)aftig, btei Sltme - unb mit einetn betfelben fdjleubett et
einen anbeten Sail bjnubet. 5«un budt et fitf) fdjelmifd) jufammen, feben
©te nut, tote et tmmet Heinet toitb - jcfet ift et oetfd)tounben "
— unb fie ttteb tyt $fetb ju tafd)etem ©ange an, um 5u etfotfcben
toag au§ bem tudifdjen ©nomen getootben toat. '
Set feine Sftebel toob einen butd)fid)tigen ©ajteiet jtoifdjen ung
b^etab, butd) metdjen id) Tie oot mit bjnsie^en fa$. Unb el toat alg
toate fie geftotben, unb i$t ©eift fd;toebte bott in bet £o$e butcb, m'einen
lEraum. tytt §aate toaten toei§ getootben, toeijj ftoffen bie ©etoanbet
<m t^t ntebet, iibet i^t abet toUte fid; ein gtautoei§eS Seicfientudi auf
unb fanf tmmet tiefet, fie ju um^tten. 3dj fu^t empot unb ftutmte
tb,r nadj: mtdj fa|te auf einmal eine unfaglidje ©e^nfud)t, fie teben m
b,oten, nut ®inen Saut ib,tet lieben ©timme ju »etne^men. @ie hattt
ba§ <|5fetb angeb,alten unb toattete auf mid).
„@t b,at fiaj" - tief fie mit entgegen - „in bem tunben 2butme
tetftedt, ben unfet 5RebelfunftIet bott aufgebaut!"
„Unfet 3cebe«iinfttet" - anttoottete id; nod) atbemrol - ift
Kotb unb Sub. TU, 20. „ " '
lo
2\6
Karl €rbm. <EMer in W\en.
cin artigcr SRann. ©r muft einmal burd) unfere #eimateftabt getoanbert
fein unb ben Xljurm unferer SRingmauern gcfe^cn f)aben. G£ ift toafyv-
fjaftig mem liebcr alter $f)urm!"
©ie fdjttrieg unb ftarrtc unDermanbt nad) bent Sftebelbilbe fjinitber.
Sfyr Stntlifc toar ba3 einer fd£)8nen lobten. Seber 3ug tear nod) ba
unb bag ganje liebe ©efidE)t, ttrie e3 einft getoefen, aber ettoaS SRegung£=
lofeS roar barin feftgeljaften, Don feinem fonnigen Sadjetn fjirnnegjutljaueit,
Don f einer toarmen Striate ju jerfdjmetjen — ein 9teif, toeldjer in falter
3lacf)t bie grii^tingSblutfje befallen Ijat.
„2Rid) froftclt" — fagte fie bann. 3$ naljm etnen ?piaib unb legte
iljn um itjre Sdjultero. „2Bo ift ©mil?" — fragtc fie babei.
3dj erjafylte ifjr, baft ber ©raf auSrutje unb ntir Dormer feinen
giifjrer nadjgefdjidt fjabe ntit ber 93itte, nidjt auf tt)n ju marten, fonbent
DorloartS ju getjen; er toerbe mit 2Rufte nadjfommen.
Sic fdjttrieg hrieber, unb hrir blidten betbe nadj bem 9iebettf)urnte
Dor un3. ©nblicl) fagte fie leife, ate rebete fie ju fid? felbft: „2)er atte
£tjurm in unferem ©arten! ©r ftetjt nun tool au6) nidjt meljr."
„D, er fteljt nod) mutf)ig. 3<§ f)<*be if)n felbft im Derffoffenett
3af)re befudjt."
„3)er neue 93efifcer" — ertoiberte fie Derttmnbert — „ljatte bodfj
Dor, il)n fogleidE) nieberreiften ju laffen, ate er bie SSitla Don meiner
2Rutter faufte. 2Ba3 l)at benn ©eftfcer, 93auDerftanbige unb ©tabtratf)
Dermodjt, Don ber SJemotirung abjuftetjen?"
„Sie Ijaben
„©r ift ja ein alter greunb Don ntir, unb e3 Ijatte ntir cttoa£ ge~
fefjlt, toenn idj il)n nidjt mefyr auf ffirben getouftt Ijatte. Unb ba tdj ba3
broljenbc Unveil Don bent Sllten anbcrS ntd)t abtoenben fonnte, fo Ijabe
id) £au3 unb ©arten, bie cljebcm S^rer 3Rutter gel)6rten, Don bem
gtoeiten SBefifcer ertoorben. . ."
„3dj Ijabe nidjt getouftt, baft <3ie fid) audf) fo ttjarm fitr 2UtertI)u'
mer inter effiren" — unterbrad) fie mid}, unb ein IcifcS 93cben loar in
iljren SBorten unb cin SSerfagen ber ©timme in ben lefcten fiautcn.
3d) Ijorte nur bieS 3ittern be3 Jone§ unb nidjt, baft fie abtenfen
looHte. „©3 ift nid^t ba^1' — fu^r id) fort. „S)er atte 2:f)urm ift
ja cin Denfftein meiner 3ugenb, obcr ein ©rabftein, ba fie nun Der^
gangen ift. ©rabfteinc rebcn nur ©ute3 unb SiebeS Don ben lobten:
id) ptte i^n um Silted nidjt miffcn tnotten unb ^abe ifjn beim SBieber-
fcf)en mit jenem nadjbenHidtjen Slide betradjtet, mit toeldEjem ber SWcnfd^
ben ©rbloellen eineS grieb^ofe^ fotgt ober in ba£ grofte ©rab ^incin-
ftarrt, barin er aH ba^ Sttte jur 8tu^e legt, in fein eigeueS §crs. 9?on
briiben, ujo cinft Dier trcue 3tugen nadt) mir au^gefc^aut, blidten frembe
SWenfc^en auf it)re fiinber nieber, bie unten auf bem SRafen lac^enb Ijcr-
€inc <5locfnerfat|rt.
2\?
fprangen, unb »or bcm ©artengitter ber 93i£(a fafe ein Reined -Dtabdjen
unb fang leifc i^rc $(5uty)e in ben ©df)taf. SCStc tange, ba jic^cn and?
bicfe Sinber in bic roeite SBelt, unb trcuc Slugen bftden if)nen nad) big
jum ©rI5fd)en, unb frembe SUtgen ftarrcn fie an, toenn fie cinft feints
fe^rcn — eg ift ber alte Sauf. ©rnft unb ungeriifjrt ragte ber Sfjurm:
Ijunbertmal t)at er bie Sinber grofe toerben fetjen, unb biefclben ffinber-
augen btiden, in ben folgenben ©efdfjledfjtern t>on SWeuem jung gemorben,
immer ttrieber ju iljm in bie $5t)e. 3)arum ftarrt er auc§ fo feltfam
ruljig bariiber: bag ift fur iljn nur nod) ttrie ©onnenaufgang nadf) Stbenb;
rotf), tt»ic grufjting nad) SBtnter, toic Maue SBtumen nadj ft>eifcem ©djnee.
Unb id) muftte baran benlen, bafj and) tt>tr beibc einmat mit Sinbers
augen nad) itjrn f)iitubergcblicft. . ."
2)ie ©rafin Ijatte erft mit aufgeregter Ungebulb meine SBorte am
geljort unb toerfudfjt, bag $ferb ju rafdjerem ©djritte aniueifern. S)ann
ttrid) bie abmeljrenbe &attung einer miiben ©rgebung, ate id) in ben
©trom ber alten ©rinnerungen Ijinabgetaudjt toar unb nun unauffjaltfant
t)on if)m fortgeriffen tuurbe; unb ba id) aud) nteinen iibttdjen QopptU
titel ^crt»ort)oltef jeneg: „©d)mufciger 83ube! ©arftiger 93ube!" ber erften
£age unferer greunbfdjaft, ba ladjelte fie pltffctid) auf. ©g mar iljr
erfteg Sadjeln, feit id? fie ttriebergefunben, unb ate id) eg aufleudjten fat),
badjte icf), bafe bag Seben nod? ettoag toertf) fei.
Stile unfere grofcen Sreuben unb Ileinen Seiben, bie SSorte atte, bie
©ineg bent Slnberen gefagt, traten ljeran, bie ganje 3bt)t(e unferer Sinb*
Ijeit jog burdj meine ©eele unb brangte fidj iiber bie Sippen. ©ie ^5rte
fdjmeigfam ju unb blidte toor fid) f)in in bie toattenben 2)iinfte, unb ate
id) and) in bie grofte ©podje beg 3crtt)iirfniffeg gerietf), ba fie itjrer
SRutter ©ebtdjte nieberfdjmetternb meineg SJaterg &aufern entgegengefteUt,
fjob fid) leife ein fitberneg Sadjen in ben SRebet.
Slber fie toufcte bag Sltteg ja nod) fo gut unb SBort fiir SBort, ttrie
id) felbft. S)enn id) tjordjte nod) ttrie trunfen jenem Ijetten 2one nad),
ate fie forttad)etnb fagte: „Unb bafiir ttrieber bag furdfjtbare Urtfjetl, bag
ntir entgegengefdjleubert toorben ift: Unfer rottjeg JpaugbadE), ©uer grau-
liefer SWo^g, Seine fpifeige 3lafe, Stteg ift graggrun!"
„833ag eg tool fein modtjte" — fagte id) barauf — „bag bie beiben
Sinber toieber sufammengefutjrt tjat? SStetlei^t SSogelfang unb SBIumen^
buft, bic tjeruber^ unb ^iniiberfdjtoebten, bie lidjtburdtjtoebte Suft, tuel^e
^in unb tt)ieber ttje^te, unb bie beiben SSorgdrten, ttjie fie 3^icfpra(^c
^telten mit ben taufenb betoegtid)en 3ungen ber Saumbldtter unb mit
ben freunblid) nidenben 95tumen. SBaren eg biefe jarten gaben, bie Don
bem einen §aufe jum anberen Ijinuberfpannen, fid^ enge tjerwebenb, ttrie
leife 2Jtaljnung fiir bie ®inberf)erjen ^ier unb briiben, eg iljnen na(^5utt)un?
Dber ift eg nodj ettoag 9tnbereg getuefen? Slber fie mufcten tnieber ju-
fammenfommen, eg mar ifjnen nid^t anberg gegeben. S)enn ate bei ber
15*
2\S
Karl (Erbm. (EMer in IDten.
93erfot)nung be£ SKabdjenS 9trme fidj fo inutg unt ben £>at£ be3 finaben legten,
unb cr fie bann plofelid) fo ungeftihn umfdjlang, ba . . . id) glaube bie Sinber
fatten bamalS bitterlidf) getoeint, tncit fic einanber fo unfagtidj Itcb fatten ..
„3dj modjte cin tuenig auSrutjen" — fagte bic ©rafin Icifc. ©ie ladjelte
nidjt metjr, fonbern mar bleid), fefjr bleidf), unb toanfte. 3$ fprang Ijinju,
unb at3 id) fie umfaftte unb tjom $ferbe {job, iibermannte mid) mein Scib
um fic unb urn mid). „2Jlarie!" — ricf id) auffdfjtud&jenb — „2Rarte!"
$a fdjneHte fie cmpor, entioanb fid) meinen Slrmen unb tjing fdjoit
iiber bem Stbgrunbe — tyatte id) fie ntdjt getoaltfam juriidgeriffen, toave
fie tjinabgeftiirjt. ©o ftanb fie tobtenbleid), bie 3lugen flammten auf unb
fafjen midj grofe unb unnertoanbt an, fo fremb, ate ffilje fie tnic^ jura
erften SKate, bafj bie meinen fidf) fenfen mufcten, unb ber Srm, mit bent
id) fie juriidgeiogen, fie loStieft unb nrie gelaljmt fjerabfiel. 3d) taumeltc
toor jencm 93Iidc gegen bie gelStoanb juriid. ©ie fagte fein SBort. Sangfam
fdjritt fie tt»etter, unb ber Stirrer, toeldjer unS eingetjolt Ijatte, f itfjrte ba$ SJiferb.
3d) bin langfam tjinter ifjr gegangen unb fjabe nid)t nadj rcd)t$, nid)t nadj
linb geblidt. 3d) f)abe nur gefe^en, nrie l)ie unb ba ein freunbtidfjereS Sit^t
ifjre ©eftatt iiberftrafjtte, unb bann hrieber ein filberner Stebelbunft fie urn-
fpann. ©te aber tjat fid) nid)t umgefeljen unb ift nid)t einen 2tugenblirf ftiOe
geftanben. SBie im X raume bin idj oben angelangt, tt)ie ein Iraum Itegt 9Me$
umfd)teiert t>or meinen 9lugen, roa3 bann folgte: ber ©tetfdfjer mit ber
ragenben Soppelfpifee be£ ©lodnerS, bie Heine SBatlnerljutte, barin ba3
Sadjen be3 ©rafen unb feine ©pafje mit ben beiben guljrern unb bem
£irten bei ber 9J?at)ljeit, ber Drfan unb SBottenbrud), ber pWfclidj Ijcram
lam unb ben 2tbftieg unmoglidf) macf)te. 3$ tucife nur, bafj id) plofclidj
auffu^r mitten in ©turm unb SRegen auf einem ©teine ftfeenb, um micf)
bie finftere 9tad)t unb finftere ©ebanfen, tme fie au3 mir t)tnau£jogen unb
in mid) Ijincin. 9113 id) in bie SBatlnertjutte juriidfam, lag ber ©raf
fd)on in feftem ©djtafe auf ber 6rbc im #eu auSgeftredt. 2)er £trt fafj
neben ber Jtjiire, raudjte unb ladjette mir ju; cr mod)te mid^ fur einen
Derriidten Snglanber ^alten. toat eben §ur Stot^ tyiafy fur einen
Written in bem 3iaume; ic^ toarf mi^ neben ben ©rafen auf ba3 ^eu-
lager, ber §irt neben mi^. Stad) einer SBeile ^orte id^ ein angftlic^e^
SRufen au^ bem Slebenfammer^eu. 3^ toedte ben ©rafen, ber mic^ au3=
la^te, aber bod) ^ineinging. 9tadj einigen SlugenMiden fam er juriid unb
t)erlangte S23affer. 6r tad)te ni^t me^r unb fagte: „2Reine grau fc^eint
fi(^ tjerfii^lt ju ^aben — fic ift untoot)!." 91^ er ba^ ffiaffer tynein=
getragen ^atte, ftettte fic^ ber #irt mit bem brennenbcn ©pan Dor mid>
^in. ;/3d) tjabe e^ mir gtetdt) gcbad^tl" — fagte er mit bem ®opfe fdjiit-
telnb. — „SBeit @ie aan Slbenb auf einmal fort getoefen finb, ^at bag
graudjen naty S^ncn gefragt, unb als ber anbere ^err fc^on einnidte,
ba ift fie cingfttuf) getoorben. 3^ ^abe e^ i^r angefe^en unb gefagt, ic^
lootttc midt) nadt) 3^en umf(Sauen. ©rft al$ ic^ fd)on loeit »on ber $utte
<E i it e (Slocfnerf afjrt.
219
gemefen bin, Ijabe icf) beim Umbreljen gemerft, baft fie leidjt angejogen,
line fie war, in ben Stegen tjinau3ging unb nod) alien ©eiten mit ben
Slugen fjerumfudjte. ©ie ift bann tool juriidgegangen, toeit id) it)r ben
©tein getoiefen fjabe, anf bem ©ie in ber 2)ammerung nod) ju erfenncn
toaren. 2tber fie §at fid) in bie Ifjiire geftettt nnb ift ba geftanben, bte
fie 3l)ren ©d^ritt get)5rt tjat."
SDer ©raf rief mid), ©ie lag auf einem $laib, ber iiber ba§ §eu
gebrettet toar, unb fieberte ftar!. 3)er ©raf mar ratfjtoS, unb melleidjt
roar e3 nur feine toerftflrte Unbefjolfenljeit, bie mid) befonnen madjte.
3)er $>irt, ein jmtger Sfliefe, ging auf meine 93ttte mitten in ber bofen
9ia<f)t Ijinab nadf) |>eiltgenblut, um toon bort einen reitenben Soten nad)
SBinflero ober notfjigenfatte anberStootjin um ben nad)ften Slrjt ju fdjiden,
ber un§ in &eiligenblut ertoarten foUte; bann fottte er felbft mit jtoet
fraftigen SQtannern juriidfommen. ©r f»attc fid) fdjon ju bem nidjt mu
gefdfjrltdfjen ©ange bereit erftart, elje Don einer Selofjnung bie SRebc toar.
„3)aS graudjen tfjut mir leibl" — fagte er unb ging mit madjtigen
©Written in bie Stadjt IjinauS. 3$ toedte bie beiben giifjrer, bie fief)
ein ©djtaflager in einem riefigen &euf)aufen gefjtff)lt fatten, ©ie jim=
merten eine Slrt Iragfeffel jufammen, in bem fie bie ffranfe fjinabtrugen,
ate ber SKorgen angebrodjen toar.
Ser ©raf fafj ftumm auf bem 9teitpferbe, id) ging ftumm Winter
ben Iragern. 2)ie SBoIfen fjingen in grauen gefeen toom &immet Ijerab,
aber e3 regnete nidjt. ©in traurigeS ©ran lag fiber 2lHe3 f)in, bie au£
bem ©letfdjer mebergefjenbe SW5K braufte bufter in bie Siefe, unb mir
toar ju SDhitlje, ate ginge id) mit einem Seidjenjuge. Untoeit ber 93rtcciu§s
fapetle ftiefcen toir auf ben $irten unb bie jtoei SWanner, bie er mxU
gebradjt, unb bie jefct mit frifdjen Sraften an ben 2ragftuf)I traten.
©o bradjten mir fie fyinab. S)er Slrjt fam nadt) einigen quafooHen
©tunben. 6r toar ein einfadjer SKann mit fdjneetoeifcen #aaren unb
einem freunblidj ladfjetnben ©reifenantlifc. Site er au§ iljrem Simmer
fam, liefj er ben ®opf Ijangen. „©ine Sungenentjunbung" — fagte erf
ate id) Ujm frageub ben SBeg toerftettte, unb blidte auf; er Ia<f)elte nit^t
meljr, feine SWiene toar ernft unb nadjbenflid). ©3 murben beriiljmte
aerjte au3 ber Seme rafd) tjerbeigerufen. ©ie famen nnb fagten, fie
fdnnten ni(^t§ Slnbere^ t^un, ate toaS ber alte Sanbarjt gettjan; bann
gingen fie loieber. Unb jefct famen Sage, enblofc £age; too i^ nac^
bem Sadjetn jener erften Segegnung in bem burd)furd)ten ©reifenantli^
f^te — aber e8 erfd^ien ntc^t me^r toieber. 3)er 9Kann loar fteinalt
unb mufete an bem ©d^merjen^Iager jtoeier 9Kenfd)engefc^le^ter geftanben
fein, unb er fam bod) immer fo betoegt unb traurig auf mein 3intmer,
toenn er bei i^r geroefen toar. SBir rebeten nic^t t>iel mit einanber;
aber er ging nie fort, oljne bei mir eingetreten ju fein unb midj naty
benfli^ angefe^en ju Ijaben, ate mac^te er au^ mir einen ffranfenbefud).
220 Karl €rbm. <EbIer in Wien.
Sinmat, aid id) feinen 2(rm fyeftig fafete unb frug: „9Jtuf$ fie fterben?"
— fal) cr mir ticf unb lange in bic 9tugcn. 3d) glaube, bcr einfadje
©rei^ lad in ben ©eelen roie in einem offenen 99ud)e.
„9J?u&?" fagte er banu. „9lein. SBenn fie leben wottte, tuiirbc fie
nicfyt fterbeu."
9(m SIbenb bedfelben Jaged fam er mit bem ©rafcn herein, ber bie
ganje 3cit tjinburdf) ganj toerftort unb unjured&nungdfafjig getocfen war.
©r jitterte aud) jcfet am gonjen Seibe unb liefc fid) fraftlod auf ben
erften ©tut)l finfen. $er Slrjt war, an bad Senfter getreten unb blidte
in bie 93erge. 3d) toar aufgefprungen, tt)cil mir ber 9ttl)em ftodte, ber
©raf fjielt mid) feft. „©d ift ein »efel)l bed Soctord" — fagte er —
„get)en ©ie ju ifjr fjiniiber. @d nafjt eine S'rife, wie er fagt. ©ie Ijat
3f)ren Stamen metjrmatd genannt, ber Doctor wiinfdjt ed, unb idf) bitte
©ie barum, tieber Sreunb!" Sr briidte mir auffdjludjjenb bie §anb.
$er ©reid ftanb nodf) immer unb fdfjaute in ben Slbenb. 3d) trat ju
ifjm, ob er mir iibcr mein SBerfjalten etwad tooriufdjreibcn tjabe. 6r
fagte aber fein SBort, id) fat) nur ben ticf en f Karen Slid wieber, mit
weldfjem er mid) am SRorgen angefdjaut, unb ed War, atd wieberljolten
mir feine 2lugen bie 9lntWort, bie er mir gegeben. 3$ fling ljimiber.
©ie tag gans ruljtg ba, mit gefdjtoffenen Stugen unb blafc, atd ware
fie fd)on geftorben.
„9J?arie!" — fagte id£) teife.
ffia fd)tug fie bie Siber auf unb fat) mid) an. S)er fattfte, ftitte
©tanj ber ffinbtjeit ftanb wieber tief im £intergrunbe ber bfauen Slugen
unb teuct)tete rutjig ju mir empor, unb audi) bie fragenbe S3itte jener Sage:
©o fomm bodjl — Unb aid idj mid) iiber fie beugte, tnar aud) bad
alte Slinbertadjetn aufgeglanjt: Da bift 2)u ja! — - Unb plofctid) ranfte fie
fid) miitjfam mit ben §anben an meinen ©djultern in bie $o^e unb fdjtang
bie Slrme urn meinen £atd. ©o 5og fie mid) nieber an iljre SBruft,
unb prefcte itjre Sippcit an bie meinen, unb fiifcte mid) fo Ijetfj, fo fiifc,
fo tange. Dann brangte fie meinen ftopf toon fid) unb l)ielt fid^ ifjn mit
beiben #anben Dor bie 2tugen. Sange fal) fie mid) fo an. Dann fagte
fie tad)etnb: „Sebe mot)t!" — Die $anbc unb Siber fanfen iljr fdjtaff
^inab, unb bad Sad&eln crftarb tangfam.
„®tt)t nid^t" — rief id) fc^tu^jenb — „gel)e nid^t Don mir!"
3tber fie blieb ganj ru^ig unb regte fid) nidjt me^r. S)a mar mir,
aid flange burd) bie graftfidje ©tifle ein SBort toon Ijeute SWorgen: SBenn
fie leben toottte, fo wiirbe fie nidjt fterben.
„$aft Su benn unferer Sinbertage tjergeffen" — ftammefte id) iiber
fie gcbeugt — ^ergeffen, ba§ aud) ic^ ge^e, wenn 2)n ge^ft unb bteibe,
Wenn S)u bleibft? 9lid^t urn Seiner wiHen, 3Jlarie; nur urn meiner
ttritten — wie 3)u einft fo oft get^an! §aft ®u ed benn je einmal uber
bad ^)erj gebrad)t, mir ettoad abjuf(f)Iagen? SOlarie, nur urn meiner wittenl"
€ine (Slocf nerfatjrt.
22{
„0 3)u garftiger 93ubc!" — fagte fie tjolb aufldd^etnb, unb cine
"Xljrane rann langfam untcr brit gcfc^Ioffcncn SBimpern Ijertoor . .
2)er ©rjafjler fc^tuteg — id) blidte auf. „2)er 3taud£) ift mir in
l>ie Stugen gefommen" — fagte er tjeifer, tudtjrenb ifjm jtoei grofje Iropfen
iiber bic SBangen nieberrottten. 9tad) einer SCSeilc fuljr cr fort: „2)ie
<Stocfnerfaf)rt ift ju (Sttbe. 3$ madje fie jeben lag ju bicfer ©tunbe
— Su magft nun bariiber tadjetn. 3d) f)abe babci bog S3itb jencr grau
Dor 2lugen, tDrfdfjeg mir ifjr 9Rann gcgeben jum 3tnbenlen an bic gemein^
jam toerlebten ©djmerjengtage in §eitigenbtut. Scr 9taud} ftcigt bidtjt
unb bitter aug bem Ifd^ibu! in bic &61)c. ®r fte!)t toie Stcbelttjolfen
urn bag ttjeuere fyaupt, ju SRiefen unb Iljurmen baHt cr fid) jufammen,
jernen SBergljauptern glcic^ taudjt cr in bie #otje. S3atb finft bcr grauc
©cfyteier nicber jtrifdjen.nur unb i^r unb umftcHt fic ringg, bafj ity fie
nur fdjattentyaft t>or mir fetje unb toarte, big fic tool ttrinft. S)ann flffnet
tx fid}, fic tritt aug bcr 2)ammerung ijerfcor, unb id) fefje ttrieber jeben
3ug beg lieben ©efidjteg. 2)a bift ®u ja — fagt eg. (Sine Sftebeltoolfe
nrirft ifjren toeidjflodigen 3RanteI urn ung beibe toie urn jfoei berirrte
Sinber, unb trir buden ung jufammen, ftitCc unb l)eimtid(), abgefdjieben
toon ber toeiten tofenben SBelt ba braufcen, ung einanber alte ©efdjef);
ttiffe ju erjiiljlen, bic trir gemeinfam erlebt, unb bie feltfamen 9iebet
$ebitbe oor ung ju entrattjfeln. Unb fo felje unb I)8re id) in bem grauen
Dtautfjgetooge 2ltteg, tuag tdj feljen unb fjoren toitt, unb eg ruft meine
ipijantafie juriid in jene SBerge unb Sage: jebc Scrocgung jietjt trieber
<m meinen Stugen ooriiber, jebeg 2Bort oernetjme id), tt»ic eg bamalg ge*
ftungen. @g ift ein Sraumen mit offen ftefjenben Slugen." —
„Unb ift fie geftorben?" — fragte idj leife, alg er jefet fd()trieg.
©r ftanb auf, jog ben ©d)liiffel Don bem (Stui ab unb befeftigte itjn
<m bcr Uf)rfette. 3>ann ging er jum genftcr unb btidte auf bic lerraffe
J^inab. Dfjne fidf) umjutoenben fagte er: „Db fic geftorben ift? SSieflcidjt
— rietteicfjt aud) nid^t, toer fann bag f^ciben, ba eg bagfelbc ift. 3ft
fie geftorben, fo Ijat eg begonncn megen meiner, alg fie mir in &erjengs
<ingft nac^gefpaf)t bur^ Stadjt unb (Sturm, unb ift tjoflenbet tuorben
toegen mciner, tocit fie t)at fterben tooflen. $at fie ttteiter gelcbt, fo ift
«g gefc^etjen, totxl fie ^at toeitcr leben tuotlen urn meiner hntten, jebod^
nid^t fur mid^, benn fie toar ein rec^tfd^affcneg etjrfidjeg SQ3eib. ©o ift
<g benn bagfclbe getoorben fiir m\6), ifjr Seben unb ©terben — bcibeg
Sicbc, beibeg lob. Unb bag ift eg and}, toag mir Stufje gcgeben ^at unb
grieben in ber ©eclc. 3^ titufe an fie nur benlcn alg an ein fd^eueg
^inb, tt)ie eg unter ben tue^mut^igen Spaffiongblumen auf feinem %i)ton-
ftu^Ie gefeffen. 3^ erinncre mid^ i^rer, too ein Sinb ftiHe Dor fid) f)in
jinnt, i^re Sinbegaugen fetjen mic^ an, loenn id^ irgenbtoo am ffialbs
faume augru^cnb in ben blauen §immel ftarre; unb audf) bann, tuenn
ic^ btog an ben ^immel benfe, trie cr fo blau unb fo ru^ig gtanjcnb
222
Karl (Erfcm. (Ebler in IDien.
attentfiatben iiber mir Ijtngegangen burd) bie meite SBelt, unb bocf) fo-
feme, fo unerretdjt, fo fcf)6n unb bod) fo unbegetyrt. 3mmer ift eg ber-
felbe unb ber Sine $immet getoefen, unb immer ift eg nur bag bletcf>e
$tnb unter bent olten Iljurme ber. JRtngmauer, beffen td£) gebenfen mufj-
Unb menu id) Ijier mit if)r burdf) bie flatternben 9tebrf beg 9taudje£
bat)injief)e, immer toeiter in bie grau toogenben ©fatten big ju bem
$ranfentager, fo ift eg umber nur bagfelbe. 3)ag mar ntcfyt eineg 9ln>
beren SBeib, tuetdjeg bei jenem tefcten Sebemof)! nteinen SRatfen umfdjfangcn
Ijtelt: bag toar ein Sinb mit feinen frommen Stnbegaugen, mit feineit
reinen ®tnbegftwen, mit feinem fjeiligen Sinbegtjerjen. Unb ba fie an
meiner S3ruft lag, jitterte burd) unfere ©eelen ba3 fiifje 3auberlieb ber
®inbl)eit. 6g toar bagfelbe Ijolbe Sieb, tote etnft unter bem SJiauertljurme
— totr ^firten eg nur jum jtoeiten 2Rate, unb jefct Hang eg tjolb unb tvtf)
jugleidj. Unb eg ift aud) ebenfo auggeftungen, toie einft, fo oft fie ettoaS
fur mid) begann ober toottte, bareiu tf)r #erj toittigte, toenn eg il)m aud>
toefje t^at: D 2)u garftiger S3ube! — fliifterte fte ladjetnb unb toetnenb,
ate id) fie anfletyte, urn meiner mitten toeiter ju teben . . . unb roer e&
nic^t geljort, !5nnte toot Iacf)eln iiber foldfjeg SluSHingen." —
Sr fcfjtnieg unb fufjr fort in bie SBaume Ijinabjubtiden. 3d) britcfte^
ifjm fdjtoetgenb bie #anb unb ging in ben ©arten. 3$ bad^te baruber
nad), toie fid) bag Seben jtoeier 9Renfd)en geftalten miifcte, beren jeber
nur urn beg anberen toitten toeiter lebte. S)er Sine rtngt beg Stnberen
Seben burd) bag feine bem lobe ab, unb ber macfjtigfte 2rieb, bie
©etbftertjattung, tnirb jum blo&en 3Rittet eineg mad)tigeren 3toedteg, ber
©r^altung beg Slnberen. ©efeit mufe ein fotd)eg Seben oor jebem mag-
Ijalftgen ©piele mit fid) felbft fetn burd) bie forttBnenbe ©timme be&
SSortourfeg unb ber 9Jtaj)nung: SBenn bag $eine — fo aud) bag anberev
fiegfjaft in iibermenfdEjtid) jaf)er Shaft, iiber Seib unb ©djmerj unb Sranf*
l)eit burd) ben ©ebanfen: 3e langer bag 2>eine — befto langer bag an^
bere. Sine Stebe, bie ben lob ubertoinbet! — Unb bann badjte i(^
toieber bie (Sefdjidjte beg greunbeg burd^, unb tote beg 2Jtenfcf)en §erj
bod^ ettoag fo unfagtid^ Iraurigeg unb babei unfagfid) ©d^5neg fei.
9llg id) fo na^finnenb auf bie lerraffe ftieg, fa^ td^ nod^ Satwnben
bort fifeen. @g toar ©rcifin 9td^enberg. ©ie bemerfte mein ®ommen
nid^t, fie fd^aute aud^ ntd)t auf, ate ic^ mic^ untoett t)on i^r in einen
Setjnftuljl finfen lk% ©ie fafe an bemfeiben Drte in bcrfetben §attungr
toie id) fie tjor jtoei ©tunben oertaffen. ®in lei^teg Siiftdjen rfl^rte
jumeiten leife an ben 83aumblattern, totegte anmut^ig bie jarten ©rag-
rigpeu am gufee ber 9Seranba unb Hetterte an ben SBeinranfen emporr
baft fie teife fd()to(mften. S)ie Sltoen auf ber SJruftuug aber bliebem
unbemegt, fobalb ber SBinbljaudf) iiber fie ftieg, unb unbetoegt blieb auc^
bie etnfame Srau unter ben Sltoeblattern, ba er fie ummanbelte. Site er
bann oon i^r ju mir Ijeriiberflog, unb mir iiber bag ©eftcfjt ^in^au^te^
<£tne (Slocf ncrfabrt.
225
ba trug cr einen fii&en SJuft mit fid). £atte cr iljn au£ bem 831umen*
garten Ijeraufgebradjt? Dber ftieg ber I)uft au£ ben &aareu jcner grau,
t>on ber fdjmalen tueifcen #anb, bic fo nacf)benflid) im Sdjoofce ruljte, Don
bcr gonjcn ©eftalt, bic unter bem Salbadjine bcr f)eriibergeneigten 2Uoe
tDicbcr ju ehtem ftiflen riifyrenben £eiligenbilbc toerroanbelt fdjien, ate
fanfter |>au(f) empor, toie auS eincr garten 93Iiitf)e, rocnn SBinb unb
SBetter tooriiber, unb fie ganj unbetocgt in bie ©onnenluft emporftefjt?
Slber toer biefe 2Renfd)cnbfume anfatj unb fid) in ifjrent Slnblicf unb
Suft ben ©inn toerttrirrte, fo fiitjn ober raut) toar Seined £anb, nad)
tfjr ju greifen; benn fcin 3)uften tear e£, fonbern ein MuSbuften, feiit
£aud)en — ein 2tu£ljaucf)en, cin ftotjeS $>intoelfen Don Snnen, aufred)t
bis jum lefeten 2lu3atf)men bcr SBIumenfeete, bie fie nur nodfj in ben
gro&en Slugen juriidljielt, fo lange fie tooflte. SBarum fie e3 nod) toottte,
nm&te Seiner ju entratfjfetn, ba fie fo freubtoS Ijinlebte; aber man fiif)(te,
fie braudjte nur ben SSiflen ju tjaben unb bie groften Slugcn sujumadjen
— bann fonnten ttrir fie ftifle begraben.
©ie bauerte mid) mit iljrem ftunbentangen toortlofen ©tarrcn. 3d)
fonnte e3 nidjt langer anfefjen unb tuoflte fie au3 if>rem biifteren |rin~
briitcn metfen urn jeben S(5rei§, felbft urn ben,, ifjr ungelegen ju lommen.
©in ©pajierftoddjen auf bem £ifd)e neben ifjr exfja^ttc frcifid), bafc einer
ber £>erren fdjon Dor mir ben Skrfud) getoagt unb mit $interlafjung
feincr £anbarbeit Dertoirrt ben Studmeg angctreten $abe. Stber mir fiet
ein, baft fie an ber ®ebattc Dor bem S)iner einigeS Sntercffe geaufcert
fjatte, unb fo meinte idj itjr toenigften£ cin SadEjeln enttoden ju fonnen,
ate id£) ju ifjr tretcnb fagte: „©rafin, ©ic fjaben bie grage an midj ge-
ricfjtet, ob id) ate SRabenburgS greunb urn fcin ©efjeimnifc miffc. 3d) fann
unb barf e§ S^nen nun fagen: er fteigt jeben lag auf ben ©rofcgtodner."
2(ber eg madjte mir ba£ Slut in ben Slbern ftoden unb benafjm
mir ben 2ttt)em, ate id) aufbtidtc. 3roei 6Iaue SinbeSaugen fdjauten
mid) ftifle unb grofc an, unb an ben SBimpern fjingen jtoei fdjtoere
Ifjranen. ©ie toar aufgeftanben, bic £anbe Ijingen iljr an bem ftleibc
nicber, unb ba§ Sgaupt mit ben iiljrenfarbenen glc^tcn toar gcgen bic
redjte ©gutter geneigt. ©in leifcS 3uden gtitt ilber i£)re Si^en, ^olb
unb fc^merjlid) jugleic^, toie jene^ Slu^flingen, toon bem Jftabenburg oor^
^tn gefagt, »er e£ ni^t erlcbt, fonnte tool bariiber lad^etn. SSieflcidjt
ift fie geftorben, mefleidjt au^ — fjatte er bann gefagt — f)at fie toeiter
getcbt urn meincr toitten, aber nid^t fur mi^, benn fie war ein recfjt-
fdfjaffeneS c^rli^cS SSeib.
Unb ic^ I)ielt ben Stt^em an, ob id) e£ toot ertauf^e, bag finbtid)
fii^c njc^e: D S)u garfj;ger S3ube! — SIber eS blieb ftifle, unb wag ba^-
Jperj gefagt, ift in jenem 3u&n Wcu erftorben.
9lur bic stoet Jropfen ^abe ic^ gefe^cn, tine fie fi(^ langfam Don
ben SBimpem loften unb langfam iiber bie bteid^en SSangcn nieberrannen.
3tlber cms englifcfyen ^cmbfttjen unb <5arten.
Von
ICubtaiB jrretfjerrn ban <Ompteba.
— Wiesbaben. —
II.
(Sine mo6ernc Cottage.
iv ftetjen auf ber 3innc beg f>of)en ©teinriefen, wetter bic majc-
:dtifd)e $6niggburg ©nglanbg iiberragt, beg ntddjtigen SRunbeit
^urmeg bon SBinbfor Eaftle. 3u unferen giifcen liegt bic 5fteft=
-J ben§ ber erfjabenen grew, in bcrcn Steidje bic Sonne nidjt unter-
gefjt. 5)ag ftolje @d)Iof$ ergldnfct im Karen 2id)te eineg toolfenlofen grufylingg-
ntorgeug unb bic toeitc Umgegcnb ftredft fid) unabfeljbar fern f)inau». ©3
gtbt tool Icine Sanbfdjaft ©ngtanbg, bie in iljrer eigentfjiimlidjen ©djonfjeit
englifdjer ift ate bag SSilb, toeld)eg fid) bor unferen Slugen entroKt. 3m Siorben
unb Dften toinbet fidj bag filberne 83anb ber S^emfc urn bie $of)e, auf
beren breiter Suppe 2Binbfor ©aftte urn toeite &5fe cmporftrebt. 3enfeitg
beg gtuffeg gcgen 9?orben liegt, tief unter ung, bag alte ftetg jugenbfrifdjc
©aton, bariiber IjinauS fud)t ber 83Iid bag ctjrttriirbige Djforb. %m
SBeften unb Dften brdngeu fid) ©tdbte, Sorfer, §errenfifcc unb ©ottageg
in ber frifdjen, gritnen, bauntreidjen ©bene; am fernften ofttidjen §ori$onte
jeidjnet fief) bent fcfjarfen 2tuge bie mddjtige $uppel toon St. ^aufe.
®ie ganje fiibticfje £>dlfte beg ©eficfjtgfreifeg aber ift ntit einem unenb=
licfjen SKeere toon Saumgipfetn bebetft; ein3elne SRiefen, ©ruppen, ganjc
SBdtber. 3^if^>en Hjneit glcinjt ber ttmnberbare ©maragb ber englifdfjen
©ragfldd&en, Don fcttenen, mufterljaft gepflcgteu SBegen burd&fdjnitten.
S)iefe griine 2BeIt ift h|r mtitenweite ©ro&e $arf. unb ber gorft Don
SBinbfor, ernft nub la^eOT^ubertudltigcnb gro&artig unb jugteid) Ijeimtid)
unb tjerjerfreuenb.
£tlber aus englifdjen £anbfit$eu unb <5'dxte\\. * 225
Set ©rofte $arf cntf)dlt jtoeitaufenbdierljunbert SRorgen; Winter
ifjm dertiert fid) bcr gorft don SEBinbfor ant fiibtidjen £>orijonte in griincn
SBetfen, bcrcn Sludcn f)ier ganj befonberg fdjarf auggefproc^cn finb. ©g
tt)itt fdjeinen, ate totrfe in bent ungefjeuren ©anjen jeber ctnsclnc 93aum
ate einc befonbere §atbfugel bemerflid) §u bent ©efammtbilbe mit, toeil
bie Kronen ber SBalbriefen fjier einer ©nttoitfetung gctangt finb, hue
man if)r tool felten anbergtoo loieber begegnet.
SBenben toir unfern 93Iid genau nadj ©iiben, fo toirb er burd)
Sinien gefeffelt, toeldje bie ungejtoungene 9iatiirlid)feit ber Sanbfdjaft in
ftrenger Drbnung unterbredjen. SBir feljen eine getoaltige ©djneibe ent;
lang, bie fid) in madjtiger 93reite unb faum ju crtneffenber Sdnge oom
gufee beg ©drfoffeg burdj ben $arf jieljt unb in ityrem lefcten Sluglaufe
ttrieber auffteigt. 3n itjrer 2Ritte betjnt fidj eine gerauntige gafjrftrafce,
jebod) erfdjeint fie nur ate fjette Sinie, benn auf beiben ©eiten nimmt
ber freie griine Stafen, ber fie begteitet, tool ben dierfadjen Staum beg
SBegeg ein. S)iefe gefantntte gtiidje ift toieber fjiiben unb britben burd)
jtoei 9teifjen Ijoljer, alter Ulmen eingefafet, toeite fd)attige Sltleen fur
gufcganger unb better. 2)ag ift ber bertiljntte Song 2Batf, eine in ifjrer
einfadjen ©rofcc toat)rf)aft geniale ©cfjopfung. S)ie rieftgen SRitftcr finb
jur geit ber Sonigin 9tnna gepflanjt unb fte^en jefct nod) in ber oollen
Sraft ifjrer Sa^re.
Unfer fjeutiger SBeg fitfjrt ung burd) biefeg SKeifterftiid ber eng^
lifefjen ^arffunft; toafjrcnb toir feine ganje Stugbefjnung toon beinafje dier
Kilometer burdjmeffen, tfffnen fid) ung ju beiben ©eiten lieblidje toed)*
felnbe SDurdjblide. SRecfjtg jeigen fidj junad)ft bie Sanbljaufer beg ©tabt;
djeng SBinbfor, bie fi$ bem S^arfe Ijier befdjeiben anfdjmiegen; linte
trennen ung letdjte ©atter don bem, ben 3tcifenben nid)t sugangtidjen
£>augparfe unb ben grofeartigen foniglidjen Dbft* unb Kiidjengarten ju
grogmore. S)ann ertoeitert fidj bie Slugfidjt, loir fafjren jtoifdjen ge=
raumigen SSeibegritnben ^in, belebt burd) §eerben don ©c^afen, Stngora^
jiegen unb dertrautem S)ammtoiIbe, bag, am SSege grafenb, bem doriiber^
eilenben menfe^tidjeu SJerfe^re gleic^miittjig jufietjt. 2tm ©c^Iuffe ber
Stllee toad)ft nad) unb nad^ ba§ SReiterftanbbilb Konig ©eorgg III. auf
bem £itget em^or, ben toir jefct ^inanfteigen. 9Sor bem Senfmale ttjeitt
fic^ ber SQSeg; rec^t^ erreidjt man balb bag fportberii^mte Stecot; unfere
ga^rt jeboc^ biegt linte jur ©eite, toir derlaffen nadj furjer 3eit bie
grofee ©trafje unb getangen batb auf SBalbtoegcn in einen bliifjenben
©arten. S)od) netn! toir finb nod) im SBalbe, bie grofeen listen (Sidjen
iiber unS bejeugen eg; aber ttnter i^nen nimmt jefet unferen SS3eg don
beiben ©eiten ein tool fedfjg "2Reter ^o^eg bid)teg ©ebitfc^ auf, beffen
frdftigeg, immer griuteg Slattwerf faft derf(j^tM^et in einem blaulidjen
3Keere ber frifc^eften, ii^igften Stitt^en. SBir finb in ben, alien 5PfIanjen=
unb ©artenfreunben tootjlbefannten fR^obobenbron S53alf eingetreten. ©in
226 £ubu>ig jfreifjerr von (Dmpteba in Wiesbaben.
ttmnberbarer Stnblid gerabe in biefer SBtiitfjejeit; bcm gremben, bcr nie
eincn farbenreid)cn SBalb gefeljen, boppett nmnberbar. 3BoI tdnger ate
eine SBiertcIftunbe begleitet un3 biefe $radf)t, bann crreic^cn toix nrieber
bic nad) Often fiitjrenbe Sanbftrafte unb fatten an ber ©renje be3 *J?arfe£,
dor bem 3MfI)op3 ©ate.
Slug einem Don btutjenben ©fycinien D5ttig bebecften £>du3djen ex-
toibert bie ftattlid£)e grau be3 £f)ortodrter3 ben lauten SRuf unfereS
SutfdjerS: ©ate! ©ate! unb toix biegen in einen fanft gettmnbenen ©arteiu
pfab em.
2Bie burdj einen 3<*uberfd)tag finb toix in eine anbere SBelt Derfefct.
gben nodfj SBalbeinfamfeit unter (Stdfjcn, ©ebitfd) unb garrenfraut, nun
toollenbete ldnblid)e Qofytnltvix. Stuf beiben ©eiten ift ber galjrtoeg toon
tabeftofem SRafen eingefdjloffen, auf toetcfyem einjelne auSgetodljtte Heinerc
Eoniferen: ©typreffen, Sletinofporen, £a£u3 unb bie golbgritne Thuja aurea
t)crt^eilt finb; bajnrijdjen bie fjelle fd&etfige 9tucuba wit ticfrot^en Seercn
unb bie gejatfte Slratie au£ 3apan. Winter biefen SRafenftadjen begrcnjen
bidjte SSdnbe don immergriinem (SoomjmuS, 2auruftinu3 unb bunter ©tedj=
palme, mit ttritbem 3tf)obobenbron unb bufdjigem 93ud)3baum unterpflanat,
ben ©arten. 3" unferer Sinfen erfdfjeinen iiber bem ®ebitfdf)e bie fatten
©iebel lanblidber ©ebaube; jur SRedjten blitfen toix tjinauf in bie 2BipfeI
mddfjtiger ©ebern, bie au£ ber gerne f)eritberragen.
SBir fatten jefct an bem (Singangc beS 3EoJ>nljaufe£; ein niebrigefc
©ebaube don jtoei ©efdjoffen, in fauberer fyettgrauer Delfarbe geftri<$en.
2>a£ 2)acf) ift burdf) Derfdjiebenartige fpifce Dorfpringenbe ©iebel gebrod^en,
beren innere 9tu3fleibung mit bunfetbraunem £>olje gefdHig Don bem
listen ©runbtone abftidjt. Dben barauf finb bie toeifcen, al£ Derjierte
furje ©auten beljanbetten ©dfjornfteine in 93iinbel Dereinigt, fo bafe fie
ba3 ©ebaube fdjmiirfen unb erfyotjen. S)ie 2Rauerffdcf}e be£ §aufe3 ift
burd) fdjmale 2)adjriunen abgettjeilt, beren obere Oeffnungen mit fleinen
Stopitdlen DertjuHt unb beren eiferne SBefdjtage gefdttig Derjiert finb.
©in ffeiner SJorraum empfdngt bie (Sintretenben, nidjt ein unbe-
quemeS geledteS „9tufjr mid) nidjt an", fonbern er bient jur Slufbetoafc
rung atler 3Rantel, ^eitfdjen, ©djirme unb #iite; ben Icfeteren nimmt
im praftifdjen ©nglanb ber ©aft nidjt mit fid) in bag 2Bol)n}immer, Ijat
itjn atfo audj beim 9lbfd)iebe bort nid^t angftlid^ unb Dergeblid) ju fud^en.
§ier liegt aud) ba§ gro^e grembenbud^ auf nebft attem SRaterial fiir
ba^ Srieffdjreiben. 2)a^ Dorjilgtic^e papier trdgt in ©tempet unb 9fu^
fd^rift ben Stamen be3 §aufe^f jebem ©afte eine boppett toittfommene
©abe. S)ie ^atentbintenfaffer finb ftetg gefullt unb jebe geber ift bienfl-
tiidjtig. SSon ber ^interen SBanb tyerab iibertoac^t ber ^au^err, im
rotten grad auf einem eblen braunen punter, fein ^au^rec^t. 3^ Drigi-
nale ift er jebod^ fdf)on mitten unter unS unb bettnttfommnet bie fianb^^
leute. S)enn ttrir befinben un§ f)ier in ber Sottage beg Sarong ^enr^
Btlber aus euglifcfyen £anbfi^en unb (Sarteu. 227
<Sd)rober, etneS ©ofyteS be3 grofcen £aufe3 ©prober in Hamburg, fdfjon
feit tdnger ate stoanjig Safpen in (Snglanb anfdffig, jefct in bcr dorberften
tReifye unter ben SDtagnaten ber ©itt) ftefjenb unb eincS bcr $dupter
unferer bcutfd)en Eolonie in Sbnbon. 2I6er ber grofee Sauffjerr ift jus
gteidf) ein dortrefflidjer fRcitcr, ein unermiiblic&er Sdger nnb em 3Rann,
ber mit gebilbetem ©efc^made unb feinem SBerftdnbniffe reidje Sftittet
auf bie 2tu3ftattung bicfcr S|3erte einer ntobernen engtifdjen Sottage, „bie
3)ett" genannt, dertoenbet unb t)ier, mit f einer lieben3tt>iirbigen ©attin,
dne reid£)e, gemiitijlicfye, Ijerjlidje ©aftfreunbfdfjaft tibt.
3)ie Sett ift fein neu gemadi)te§, fie ift ein atteS, im Saufe ber 3*it
SeroorbeneS, ein getoadjfeneS £>au§, unb gerabe baburdj in if>rer fdfjeins
baren Unregetmdfeigfeit materifcf) unb Ijeimftd). ®ie dorbere gront jer-
fdttt in atoei Xljeile; tior bent dlteren, nieberen Iduft ju ebener @rbe
cine breite mit @Ia3 gef cutoff ene SJorfjatte, in bie ttrir nun eintreten.
©ie ift ate SBintergarteu befjanbelt. 3Der gufcboben mit bunten %f)on-
ftiefen fyeiter mufidifd) eingetegt, on ber inneren §au3toanb ranfen jier^
lidje, gefunb nntd)ernbe Sfetterpffonjen empor. S)ie ©eite, burcf} toelcfye
ttrir cinge^en, ift mit einer mddfjtigen 83auntfarre in einem riefigen Sitbel
don ©ten auSgefiittt, don §ol)en pqramibalifdj gejogenen inbifcfjen Stjateen
in dotter 83Iiitt)enpracf)t umringt. 3n btv 3Ritte be§ 2Biutergarten3 fefjen
ttrir eine ber foloffaten fjodjaufgebauten SKajotifen don SKinton, ptyau-
taftifd)e£ berbeS SStdttertoerf don bunten 2)etyf)inen unb giguren getragen;
fie ift mit fettenen SreibtyauSpflanaen befefct. 2)en Stbfdjtufc ber SSor^attc
bilbet eine einjige grofte ©la3fd)eibc, toetd£)e ben fidj ndtyernben gremben
burd) ba£ ©ntgegenfommenen be3 eigenen SBilbeS iiberrafdfjt unb derttrirrt.
S)ie SBo^njimmer ber £au3frau miinben auf biefe btii^enbe SBortyatte,
erljatten baburdf) ©djufc gegen bie duftere Suft unb getodtyren, bei Ijin*
reic^enbem £id)te, einen freien 2)urdjblid in ben ©arten. ®ie (Sinridf);
tung ber SRdume ift bequem, jiertidf), lanbljau§md§ig. 3t)r ©d)tnud be-
ftefyt in feltenen 93tumen, foftbaren d)inefifd)en ©maitlen unb einigen ga-
mitienbilbern. SQBir begegnen unter biefen ber efjrttmrbigcn ©eftatt be£
§au:pte3 ber gamilie ©d)r5ber, je|t ein riiftiger @rei£ don dierunbneunjig
3a^ren, ni(^t nur in toetten Sreifen ber grofcen SBelt ^oc^angefe^en,
fonbern aud^ don jebem Sinbe in Hamburg ate ber ©riinber be§ ^©^robers
ftifteS" unb ber unermitblid^e freigebige SBo^It^dter atter Strmen unb
^ranfen gefannt unb dere^rt.
Slttein e§ leibet un^ nid^t Idnger in biefen tooljntid)en Biwtnern;
ber fc^one lag unb bie Slide, toetd&e toir ^eimtid^ in ben ©arten ge-
worfen ^aben, bie bort immer mefjr gefeffett tourben, immer dertoun-
berter unb bctuunbernber ba^in juritdfefyrten, — jie^en un§ untdiber^
ftetjtidj ^inau^.
2)er ©arten urn bie Kottagc ift ad^tje^n 2Rorgcn grofc. @r mac^t
jund(i)ft ben atlgemeinen unbeftimmten ©inbrud don etn?a§ SSefonberem,
228 £ u b tp i g ^reitjerr von (Dmpteba in Wiesbaben.
©eltfamen; er ift ernftcr aU unfere £au§gdrten unb ^ugleic^ toeit farben^
reiser. ift ein immergritner ©arten. Stufeer einigen alten ©idjen
auf feinen ©renjen entfjdlt er feine perennirenbe ^Jflanje, bie int SBinter
ifjre ©latter toerliert. 2)ie 3)urd)fiit)rung biefe3 ©Qftent^ ift ftreng unb
ba£ ©rgebnifc ein anfangS frembar tiger, bann erfreutidjer, rugger unb
Ijeiterer, ein toorne^mer ©ffect. ®er ganje ©arten liegt in bidjtem, rcinem
fammtartigen 9tajen, ber au£ cinem dlteren, ju biefem 3^ede angefauftcn
©runbftitde abgefdjdft unb f)ier toieber jufammen gelegt ift. 3)enn je Iang~
jdljriger bie ©raSnarbe, befto fdjoner. Slur ein einjiger SieStoeg fufjrt
an ber du&eren ©renje enttang, iibrigenS bilbet bie griine ftlddje felbft
ba£ 93erfet)r3mittel. 3)iefer ©cgenfafc ju unferen, oft iibermofcig mit tycflen
SieStoegen burdjfdjnittenen ©arten trdgt ju bent rut)igcn unb Doroeljmen
©inbtutfe toefentlid) bet.
S)ie SJkriptjerie ift mit toerfdjiebenartigen, auSgerodfyften, tyotjen unb
mittettjofjen Soniferen befefct, bie, ntit intmergrtinen ©trdudjen unter=
pflanjt, einc bidjte ©djufctnanb gegen bie Slu&entoeft bilben. S)ie toeite
9iafenflad)e enttjdtt eine reidje ©ammlung ber auSgefudjteften fremben
9iabeII)o(&er. %tbcx 93aum ftetjt aHein, in au^reidjenbem 93oben; unb
Suftraume; baburd) finb bie unterften Slefte ju itjrer Gotten natiirlidjett
Snttnicfetung gelangt unb breiten fief) toeitfjin, ben ©tantm tnit einem
riefigen ©djteppmantel untgebenb. ©o finb SBaumbilber erjielt, tuie fie
nidjt fdjoner unb regelmdftiger gebad)t toerben fonnen. 2)a3 ©efdjtedjt
ber $inu§ ift in ettoa einem 2)ufcenb Slrten fcertreten, bie Et^reffe in
bier; ber gmuperuS, bie 9letinofporen, ber Sa^uS, bie Sljuja: fie afle
crfdjeinen in ben intereffanteften Sarietdten, in regetmdfcigen unb itypig.
entundeften, junt Stjeit groftartigen 3nbibibuen. 2)e3 ©artenS fd)6nfte
Sierben finb jebodj feine SBcttingtonien, toeldje, bi£ ju ad)tjeljn SDleter fjodj,
normale $t)ramiben bilben; mit iljnen bie Straucarien, Don benen eine
itber breije^n SKeter tjinauSragt unb ben fefjr fettencn Slnblid iljrer
groften griid^tc getodtjrt. Ueber atle biefe fdjonen unb bebeutenben Sdume
erfjeben fid) bie Sebern bom Sibanon unb bie ^eiligen S)eobaren. ©ie
finb t)ier Don ungetoofjnlidjer ©rofcartigfeit unb erreid)en bie £oljc unferer
grofeen, alten SBatbfidjten. S)ie unterften B^cige ru^en weitgeftredt auf
bent ©rafe, bie itber ben mddjtigen ©tdmmen frei entttrideltcn kronen
breiten fic^ toeit in bie Sufte.
@o betjerrfdjt bag S)uufetgrun ben ©arten unb bod) ift er nidjir
bunfel, nid)t eintonig griin. Sine Stutt) t?on Sft^obobenbrcn ift in Keinen
unb gro^en ©ruppen itber ben 9tafen au^gegoffen; ein unenblic^er SReid^
t^um frdftig au^geprdgter gormen unb leudjtettber garben, t)crtJorgcgangen
au^ ben feit fiinfjig S^ren unabtaffig fortgefefctcn Sreujungen be§ in-
bifc^en 93aumrt)obobenbron mit bem ©atatobienfe au§ SKorbamerifa. 3)er
©arten ent^dlt me^rere Saufenbe Don JR^obobenbren in ettoa jtnei^unbert
2lrteu unb biefe ©ammtung, root eine ber fcfjonften in ganj ©nglanb^
Silber aus cnglifdjen Sanbfigen unb (Sartcn. 229
roar jefct im SWonate SDtai in Boiler Sliittje. ©in faum ju befdjreibenbea
93ilb. 9fafang§ bettmnbert man ftitt bag ©anje, baun, eine nad) ber
anberen, bie jaljllofen 35erfdf)iebent)eiten in Sou, ©rofce unb garbe. Die
mciften biefer nmnberbaren Srjeugniffe bcr engtifdjcn Shmftgartnerei
ftammen toon bcm gro&en Stt)obobenbron*©peciaIiften, 3Jlr. SBaterer im bc^
nacfjbarten SBofing. Da ift bic Queen, eine ber grofeten, ftarf gefutlt unb
ganj toeifc; ber Jfronprins, biefelbe ©rb&e in feurigem 2)unfetrotf); State
SBaterer, bunfleS 9tofa mit getblidjer 3eid£)nung im Snnern; SBaronefr
©prober, lebt)afte3 ©djarladjrotf) urn eine {jettere SRitte, unb fo fort im
unenblidjen 2Becf)fel.
3)ie 93eete ber ©ommerblumen finb tjier, nrie fyaufig in Sngtanb,
untergeorbnet betjanbelt; fie finb nie fe^r grofc, nur fo jaljlreicf) at§ bie
SBelebung be3 9tafen£ e£ erforbert unb meiften^ einfarbig; $elargonien
unb ©erauien, eingefafct mit blauen Sobelien, gelblidfjem ^tjretljrum,
grauer ©naptjalie; aud) mit einer niebrigen gefdEjorenen Sante Don ©rica,
©pfjeu ober buntem 93ud)3baum. SDlan toaf)It gem lebljafte garbenttfne,
man toermeibet jebod) atte3 Unrufyige unb SSerttrirrte, 2tufgepufcte unb
Ueberlabene. Slamentlidf) erfreuen fid) bie gefiinftetten Seppidjbeete t)or
bem, ber 5Ratiirlicf)feit nadjftrebenben englifdjen ©efdjmatfe !eine£ grofeen
99eifafl£. 2Kan meint, bafi fie in ber 93ermef)rung einen iibermafcigen
Staum einnetjmen unb bie grutjgemiife au3 ben SKiftbeeten fcerbrangeiu
SRan finbet aud) bie Sunftprobucte biefer ^flanaen^eppidjinbuftrie einiger^
maften jo^fig, ba fie nidjt bem erften ©runbfafce jeber guten ©artnerei
entfpred&en: fcerebelte, ibealifirte SWatur barjuftelleu. ,,3$ loeifc nidjt,
marum bie Seute ba3 Xeppidjbeete nennen," bemerlte ein antoefenber
©artenfreunb, „id) toiirbe fie: Salade a lltalienne tjeifeen. 3Ricf) erinnern
fte ftetS an bie grofeen ©cfjtiffeln mit funftoott garnirtem italienifdfjeti
©atat, bem ©tolje jebe3 guten SattbiiffetS, auf toeldjem ©igelb, SPeterfilie,
rotfje SRiiben unb graugriinc ®apern gang dfjnlidje SKufter bilben."
,S^t tt?i£t id) SI)nen nodj jum ©cfjtuffe ben ©tolj meine£ @arten&
Scigen," fniipfte 93aron ©prober an, „fel)en ©ie tjier!" SEBir ftanben Dor
einem riefigen ©ametienbaume, ber mit Saufenben gefiitlter toeifier S3Iumen
uberfaet toar. 3)ie ^flanje ift gegen fitnf SKeter Ijodf) unb etttm ad)t
SReter breit; i^r Stttcr iiberftcigt roa^rfd)einli^ fcfjon ein^unbert ^a^re.
„2Birb ber Saum im SBinter iiberbauet?"
/;S)ur^au§ nid^t; ton ^ebeden nur ben guft biefer unb atler anberen
jarteren Saume mit einer biden, breiten 2)iingerfd)id)t; ba^ geniigt. ©i>
^at biefe ©amelie oljne ©d^aben einmat eine SSinternadE)t mit jtoolf ©rab
fialte JReaumur ertragen; aber nur eine, am ncidjften 2age toav njiebcr
I^autoetter. Stufcerbem ift ber ganje ©arten brainirt, fo bafe feine
ftodenbe SRaffe urn bie SSSurjeln frieren fann. ©nbtid) fc^iifet aud^ ber
umfd)tie&enbe ^Jarf im Slorben, SBefteu unb Often gegen bie raufjeit
©tiirme."
250 £ubu>ig ^fretfjerr von (Dmptcba in Wiesbabtn.
„G3 ift toirflicf)," bemerfte bcr Grftnber be3 italienifdfjen ©atate3,
„bie ganje gemdftigte 3onc be? (grbbaH^ in Contribution gefefct, unt biefeS
immergriine ©ben ju fcfyaffen, tuie e3 auf bem Gontinente norblicf) ber
Ullpctt unbefannt unb audf) unmdglidf) ift."
„3a," ertoiberte ber $au3f)err, „bte Gngldnber pflegten bie ©toer*
greens fdjon in friil)eren 3^iten. ©ie toerben grofte SCnlagen batoon in
ben alten tyaxH finben; aber feit eftoa fnnfunbjmanjig 3af)ren toirb eine
tualjre 3^ um ^e 8an5e ®r^e auf P* gemadjt, unb namentfidf) feit
Sapan erfc^Ioffcn ift, bicfc unerf^opftic^e guubgrube."
„2Bir aber, tocrefjrtcr ©aftfreunb, fittjlen un£ 3t)nen IjodEjtoerpflidjtet
fiir biefeS fcfjone, feltne S3tlb. Den immergriinen ©arten ber 2)eK foerben
toir ftete at£ emeu uuferer toerttjtoottften Steifeeinbriide betoatpcen."
3)te Strafe, auf toeldjer fair anlangten, trennt Gottage unb ©arten
toon ben ©laSfjdufern. SBir treten in ba£ ©ebiet ber flefcteren tjiniiber
unb ftefjen Dor einem atlerttebften §au$d)tnf ber SBotjnung be£ Dber-
gdrtner£, 9Kr. 93attantine. 3)ie innere faubere, jtoecfmdfjige unb com*
fortabele Ginridjtung entfpridjt bem gefdtligen, grimbetDadfjfenen Steu&ern.
Ginen tjocfjft feltencn <3d£)mudf erf)dlt bie Gottage burdf) stuei, it>r umnittel-
bar benacf)bartc altc Ijodjftammigc 9Ragnolienbdume. Son §ier au£ fiber;
fief)t man ba£ benadfjbarte ©ebiet ber £reibf)dufer tootlftdnbtg, unb toaijx-
lid)! e3 ift nic^t ftein.
3uerft ba§ tange niebrige §auptgebdube; in feiner SKitte liegen
^mei Dampffeffel, toetdfje fdmmttid£)e Iretbf)dufer Ijcijen; aufterbem be-
finben fid) I)ier bie ©c^Iafjimmer unb bie gemeinfamen SEBoljnrdunte fur
bie ©drtner, ferner ba3 Dbftjimmer, Saatjimmer, $adN unb ^Jflanj5
jimmer, SRdume fiir bie oerf^iebenen Grbforten, Xopfe unb ©erdtfjfdjaften.
9ludf} finb tu'er jtoei Stbt^etlungen ber Gf)ampignonsudjt getoibmet.
S)ie £reibf)dufer felbft bilben eine Heine SBelt fiir fid;. SBir ja^ten
fed)3 Stbt^eilungen fiir Srauben, jebe elf 3Reter lang; ferner brei £dufer
fiir 2tnana3, jlDei fiir 3Monen unb ©urfen, jtoei §dufer fiir Grbbeeren;
jtoei grofte 8Sarmt)dufer fiir tropifd^e $flan$en, jtoei Drdjibeenljdufer, trier
Saltt)dufer fiir 3ierpflanjen, ein §au§ fiir garren unb Grifen; jufammen
ettoa 5tt)anjig §dufer. Slufeerbem ift bie ©artenmauer auf einer Sange
t>on Ijunbertunbstuanjig SKetern mit ©Ia§ fiir bie falte Dbftcultur bebeeft.
Diefe gefammten Stnlagen ne^men eine 3Idc^e toon toier SKorgen ein unb
bie Soften i^rer $erfteQung betrugen iiber 200,000 SKarf.
S38ir beobad^tcten t)tcr mit 3ntereffe bie 9lrt unb SBeife, tDte ein
fol^e^ ©ebdubc ^ergeftettt toirb, an einem notf) im ®au befinbti^en
ISein^aufe. G3 toirb jund^ft eine ©rube toon brei 2Jtetern Siefe in ber
fiir ba$ §auS beabfic^tigten flange auSgefyoben. %ljve SBreite betrdgt fiinf
UReter. 3u untcrft in biefe ©rube bringt man eine Sage toon Salt unb
©tcinbrocfen, bann eine Sdf)idf)t SSatffteiue, ^ierauf fiittt man bie ©rube
Bilbcr aus euglifdjcu Saubfifcen unb (Sdrten.
25\
aud mit bcr beften alten ®iingererbe unb mit ©oben toon abgeftodjenem
SRafen. 5)iefed (Srbmateriat ttrirb nur nad) unb nadfj, in toertifaten ©d)id£);
ten, eingefefct unb jeber ©d)id)t 3cit gclaffcn, fid) untcr bcm Sinfluffe
Don fiuft unb Sonne 511 entfduern. 2)tc ganje SDtaffe ift mit $raind
burd^ogen. 3)ic dufcere ©djrdgtoanb bed Sreibljaufed ftefjt iiber bcr
3Rittc bcr ©rube, fo bafe bie SBurjctn bcr SReben, inncn unb au§en, je
britteljalb 9Keter 9iaum finben. 3)ic Suftung ttrirb burd) obcre unb unterc
toerftellbare genfter geregett, bic gemeinfdEjaftlidf) bcr 2)ref)ung eined Keincn
©teuerrabed teidjt getjordjen. SRS^ren mit faltem unb Ijeifjem SBaffer
laufen im ©rbboben unb iiber bemfelben t)in unb ttrieber. Sic Sinodjen*
biingung ttrirb feljr ftart angetoenbet, ttrir fanben fiir cine Stbt^cilung toon
jeljn SRcbftocfen jloanjig ©cntner jerfdjtagene Snodfjen beftimmt. 5)ic
SRcbcn unb $firfid)ftdmme finb, ttrie fcfyon ertodtynt, auf bic 9JtitteItinte
bcr ®rubc gepflanjt unb laufen in ben SBarmljdufew untcr bcm fdEjrdgen
©adfje Ijinauf; nur in ben crftcn 3a$ren bed Setrtebed in cinem ncucn
§aufe, wenn bic befinititoen ^ftanjen nodj fletn finb, bulbct man dttere,
interimiftifdje, on ber gcraben SBanb; biefc toerben fpdter befeitigt. 9tad)
bcr ftrcngen Dbfertoanj foil jebed $>aud nid)t cttoa nur cine ©attung toon
griidfjten, fonbem fogar nur cine ©orte bcrfelben entyatten, ba bic ridjtigc
Xemperatur unb bcr unaudgefefcte ®ampf mit ben $itjcn unb Snfeften,
burdf) ©prijjen unb SabafrdudEjern, fonft geftfirt tocrben. Siir bic %op^
erbbcercn ttrirb tool eine Studnaljmc jugeftanben, benn toon ifjnen fann
man befanntlidj nic genug aufftctten, urn bcr 9iad)frage toottig ju ent;
fpredEjen.
S)cr ©rbboben innerfjalb unb aufcerl)atb bed $mufed ttrirb mit altem
2)iingcr gcbedt, ftetd nur toorfidjtig gelotfert, nic gegraben unb bepflanjt,
urn bie fladj untcr bcr Dberflddje laufenben fcinen SBurjetn uidfjt ju
fcfjabigeu. ©inen eigcnttjumlidfjen Stnblid getodl)rte bad ©urlentjaud. ?lud)
bicfc ^5ftan5cn tocrben an 3)rdf)ten untcr ben fdjtfdgen ©ladfenftern forg-
fdltig in bie #df)e gcteitct. 3)a bic getriebenen fiinfunbbreifeig bid toierjig
Scntimcter langen griidjte itjrer SRcife entgegen gingen, fo tjingen fie bid)t
unb tief Ijerab unb erinncrten unttrittfitrlidf) an cine mit aufge^dngten ge-
rdudjerteu SBiirftcn tootjt gefutttc 93orratf)dfammer.
Sin bie Sreibcreicn f^liefeen fid) bie iiberglaften ©patiermauern,
tocl^e mit SScin, ^firfid^cn, Stprifofen, Sirfd^en unb SPflaumen befefet finb.
Sicfcd ganje ©^ftem bcr toarmen unb fatten Dbft^dufcr ift barauf
bercd^net, ben Sifcf) moglid^ft 5U jeber 3al)redaeit mit rcid^Iid^em Dbftc
5u toerforgen. ©d njerben gclicfcrt: Sraubcn bad ganj-e %crt)x ^inburd^,
bic fpdtcften bidfd>aligcn ert^altcu fid), mi) bem SSIdttcrfalle, an ben
©toden bid in ben SDtonat SKdr^ unb bic friitjeften ncucn reifen im Slpril;
cbenfo finb ©urfen ftetd toorljanben, auc^ Slnanad; ©rbbeercn toom SKdr>
bid tief in ben 3uli, $Pfirfid^e unb SKcIonen toom Slnfange bed SDlai bid
in ben September. 3)ajttnfdjen trcten toom SJlai an Sirfd^en unb SPftaumen,
Worb unb ©ttb. VII, 20. 16
252 fubroig (Jrcthcrr von (Dmvttba in Witsbaben.
bann bie fjarten ©artenfriidjte unb bad SEBinterfernobft. Me $dufer
iibcrra^cn unb erfrcuen burd) bie ©efunbfjett fdmmtlid)er $flanjen; !cin
Srdufeln, feme 89teid)fud)t, fcine Stmeife unb rotfje ©pinne, lent ©d)immel
unb por 8Wem feine Stattldufe, biefc $eft unferer Dbftgdrten im greien.
©otoeit ift man J)ier ju Sanbe burcf) Sntetligenj unb uadjljaltige
(Snergie gelangt, aber aud) ntit 9lntt)cnbung Don ©elbmittetn, bie aUcr-
bingd bci und nur in ben feltenften Sludnafjmen jur SSerfugung ftefjen.
Dad 93etriebdperfonat in ben ©drten ber S)ed beftet)t: aud betn
Dbergdrtner, toeldjer neben freier SBoljnung unb Seuerung alle Sebend;
mittel audgenommen gleifd), unb an ©efjalt tobdjentlid) Dierjig SJiarf
crfjalt. S^rner finb fiinf Untergdrtner dor^anben, bie jufammen, neben
freier SBofjnung unb Soft, ebenfatts ettoa Dierjig SWarf fiir bie 2Bod>e
befommen; baju adjt lageldfjner mit ettoa ljunbert SRarf toodjentlicf) unb
ein Sifdjler ntit brcifcig 9Karf. ©o ftetten fid) attetn bie baaren 2dljne
bed ©artenperfonatd auf beinatje elftaufenb SKarf im 3<*f)*e.
SBir burd)fd)ritten bie toarmcn unb fatten SBIumentjdufcr ftiidjtig,
ba fjier bie 3tufftettung burd) ben gortgang ber nod) nid)t Dottenbeten
Sauten geftort ift. 93ci ben Drdjibcen fiel ed auf, bafe man fdmmttidje
2ifd)e mit grofjen flaxen 93Ied)fcf)uffeln befefct Ijatte; fie toaren mit SBaffer
gefullt, im SBaffer ftanben umgefefjrte Icere 93Iument5pfc unb auf biefen
fleinen Snfeln erft bie lopfe mit ben 5JJflanjen. 2>ie Urfadje biefer un*
getttffjnlidjen unb miitjfamen SSorric^tungen ift eine toinjige fjeflgriine
Stmeife, bie Dor einigen Saljreu mit Drcf)ibeen aud ben Xropen ein*
gefcfjleppt ttmrbe unb bid jefct nod) nid)t gdnjlid} tyat Dertilgt tocrben
f onnen. SDiit ber, ifjrcm ©efdjledjte eigenen ©nergie Derfudjen bie Xljierdjen
freitidj bie SBafferflutf) ju uberfpringeu; fie gelangen aber bod) nur fefjr
Dcreinjelt an bie $flanjen unb fifttnen menigftend nid)t meljr im ®ro|en
Deruidjtenb nrirfen.
2)amit bem Idnbticfjen 3b^H ber 3)ett ju feincr SSoHenbuncj nid)td
feljle, fdjlie&t fid) an bie Dbftgdrten eine Heine SDtufterfarm mit ettoa
jtt)eiJ)uubert -JJlorgeu SSiefen unb SSeiben. $>ie nieberen £>dudd)en unb
©tatlungen finb fdmmttid) nieblid) unb fofctt, toon fjodjfter ©auberfcit
unb nad) ben neueften rationettcn ^rincipien fjergeftellt. ©ie beljerbergcn
snjanjig eble, im Jpeerbbudje Dersetc^nete, Sllberne^fu^e Don ber 3nfel
Serfet), untoergleic^Iic^ im 3uder= unb gcttge^alte i^rer $51x16), unb babei
in Dotler Seiftung funfjefjn Siter im 2age liefernb. 3>n ^cr 9Ritte bed
®e^5ftcd toiitjlen unter langem ©tro^ fd)ttjarje Serfftjirefdjtoeine Don urn
gettjofinlic^er ©ro^e. 9I6fid)tlid) ift f)ier ber ©tammbaum nid)t ganj rein
gefiatten, urn grofcere giguren, toeniger ©^ed unb $af)lreid)ere Slad^juc^t
ju gen?innen. ®er $of unb feine Umgebung finb Don getoaljltcn ^u^ner-
raffen, foioie Don ©olb- unb ©ilberfafanen belcbt, atle in too^I um^egten
Slbt^eilungen.
Sine abgefd)iebene, Dornef)me Stieberlapng fiir fid) bilben bie $ferbe;
Silbcr aus engltfdjeu fattbfi^eu unb Garten.
233
ftdfle, bercn ©iebel toir bet unferer ©infaljrt, Iinf3 Winter bem immer=
griinen ©ebiifdje, matjrnatjmen. §icr ftetyen fed)3 93ottbtutpferbe filr ben
§unt, ein SStcrcrjug unb mel)rere anbcrc Sienftyferbe.
(Sine giittcx bcr Stnfdjauungen, ttrie fie un£ Ijeutc gcbotcn toorben,
erfd)5pft bic Sraft unb bic Qtit eineS SageS; fo toaren ttrir frol), un§
beim Untergange bcr ©onne jum Sinner ju fefcen, ba3, mit bem £up3
reiser @infad)^eit auSgeftattet, burdj bic fyerjlidjfte ©aftfreunbfdjaft einen
tooljltfjuenben familientyaften Efjarafter getoann. 2lud) mutfjete bic bor;
Siigticfye hamburger ®od)fiinftlerin bic fdjon feit SBodjen mit englifdjer
§otettoft gepriiften flteifenben ljeimatlidj an. 9tad) Sifdje bctraten ttrir
bie un3 nod) unbefannten Stdume ber ©ottage: einen grofcen ©tate Srattring-
room unb Winter ifjm einc Heine ©allerie, mit mefjreren njertt)t>ottcrt
SOtarmormerlcn Don ©buarb 3Rutter in SRom, untcr benen ba3 fdjlafenbe
Sinb, fottrie bic Unfdjulb in ©efatyr unb im ©iege befonbcrS anfpredjen.
Sen crftcn $Iafc nimmt f)ter mit SRe^t bie dfjnlidje unb auSbrudSDoflc
iportrdtbiifte ber $au£frau ein. Siefer flcine SRaum fiif>rt in bie grofjc
93itbergaKerie, ein toeiter, ftattfid)er, mit gebtcnbetcm @a3oberlid)te er=
^ctltcr ©aal. Surdj fcine ©inridjtung al3 abenbtidjeS gamilien^ unb
UJluftfjimmer ttrirb cr angeneljm belebt unb jeigt nid)t§ toon ber geioo^n^
lichen ©teiftjeit unb ©efdjdftSmdfjigfeit ber ©atterien. ©ine auSertodfjfte
©ammlung ncuerer 2Jteifter ift Ijier mit fcinem ©efdjmadc unb extern
$unftfinne jufammengeftetlt.
2Bir erinnem un3 au3 ben jatjfreidjen granjofen bor StUcn an $aul
be SarodjeS Slapoleon in gontainebleau (1814), 3Reiffonnier3 ©djadjs
fpieler, 2trt) ©djefferS S^nje^fa bi 9timini, an SRofa SBontyeurS fd)ot=
tifdjen ©chafer; biefc 3Jteiftertoerfe finb aud) burd) ben ©tid) befannt
gemorben. Sfjnen fdjliefet fid) ©attait mit ben tejjten Sfugenblicfen ©gmontS
an. Unfere beutfdje Sfunft ift . toertreteu burd) jtoci Sitber Don SlnauS,
barunter bcr beriitjmte Drgelbreljcr, jtoei Stnbreag Stdjenbadffdje SKarinen,
93autier3 Sa^rmarft, burd) jtoei ©djreicrS unb einen S|3ettenfofen. ^erlen
ber ©atlerie finb audj Dier ber, jefct in (Snglanb fefjr fjodjgefdjdfcten, an^
tifen ©enrebilber Don 2llma labema.
Unter 93etra(^ten unb 93cfpre^en biefcr ©djafce fc^toanben bie Icfeten
2tbcnbftunben rafd) ba^in unb man trenntc fid) mit bem Sebaucrn, fdjon
am anbercn Sage bie lieblidje Sett Dcrlaffcn unb na^ flonbon, /;ein jeg=
lidjer an fcin ©efd)aft", jurudfe^ren ju miiffen.
2tt8 wir am nd^ften Sffiorgcu im Glimmer bic Samen ernjartetcn
unb un§ an ber fd)5neu Sdfclung ber SQSdnbe unb an ber reidjen Kaffet-
tirung ber Sede erfreuten, babei unfere geftrigen ©inbriidc burc^f^ra($en
unb iiber 93ietcg, ma3 toir gefetjen unb nidjt genau eingefetjen fatten,
urn 93etc^ruug baten, fragte cincr ber 9ieifcgefdl)rtcn:
„2Be3toegen t)ei^t benn biefc^ Heine 5parabie3 «bie Sctt»? Sa^
Sort fjat tool einc befonbere 93cbcutung?y/
16*
23^ JEubmig ^retfjcrr von (Dmvttba in Wiesbaben.
„2)iefen Stamen l)at bem ^tafee fdjon ber crftc ©rbauer gegeben,"
ermiberte unfer &au3l)err, „unb bicfer mar fein ©eringerer ate bcr Sonig
©eorg III. Urfpriingtidj ftanb f)ier nur etn fonigli3)e3 ftaffeetjduSdjen,
fpatcr ging btefeS in $riDatbefi| iiber, bemt e3 tiegt freilidj Ijart am
$arle, abcr nid)t barin; icf) laufte e3 im %afftt 1864 unb tjabe ba£
£au3 bamt buret) t>erfc^icbenc 9lnbauten mot urn ba3 2)oppelte Der=
grofcert."
„Unb ben fonberbaren Siamen tyaben ©ie beibefjalten?"
„93eibeJ)atten, gett>i&! 2)er Stantc ift jubem un3 SHiebcrfac^fcn nidjt
ungeldufig, benn cine «S)ette» t)ei§t im ^Jlattbcutfc^cn eine Sobenfenfung,
ein £t)al. Da3 SBort ift aud) altcnglif ; im mobernen Sejifon finben
©ie ftatt feiner «®atc». 9lun aber genug ber Dergleidjenben ©rammatif;
©ie fotten felber fet)en, ma3 ber Slame meiner 2)eff tyebeutet."
©r Sffncte ba3 grofce, norblidje Sogenfenfter: „2)a3 bebeutet bie
SJettl"
2Bir fallen f)ier bie atten ©dume be3 SBinbfor $arfe3 unmittelbar
Dor un3, nur in ber SKitte ber SBalbmanb eine fdjmale Sidjtung ober
©djneibe. Sit bicfer Sicfjtung jog fid) eine ©djludjt, eine «2)et(e» ab;
marts unb jenfeit bicfer @djtud)t, mett, tueit l)inau3, ftieg im 9tal)men
ber beiben SBalbfdume bie mdd>tige SonigSburg SBinbfor ©aftle Dor unferen
iiberrafdjten unb gebtenbeten Stugen im golbenen 9Jtorgenttd)te riefen^
tjaft empor.
Unb be^alb nanntc ffionig ©eorg III. biefeS &du3d)en iiber bcr
3)ette, metdje bem SBefifcer unb feinen ©often bie fd)5nfte atter StuSfid&ten
auf ©djlofi SBinbfor barbietet: bie 5)eH.
III.
Die fomglicfyen Jjausgarten 5U U)in6for.
Unfer SBeg Don ber 2)etl nad) SBinbfor fiiljrt un$ an ben rottjen,
unregelmdftigen ©ebduben Don Eumberlanb Sobge Doriiber, ber SReftbenj
be£ gorft- unb SBitbmeifterS Don SBinbfor $arf, be3 SJkinjen ©ljriftian Don
§olftein, ©d)miegerfof)n3 bcr ffonigin. SSir Dermeiten l)icr, urn eine ber
grofeten gdrtnerifdjen ©c^en^murbigfeiten ju begrii&en, meldje Snglanb
aufjutoeifen tjat, ben „©rof$eu SBeinftod". ©r ift in Dielen SBejiefnmgen
ein mirflid)e3 Original, ©r getjflrt ju leiner ber bei feiner ©ntftel)ung
belannten Slebforten, fonbern nmrbe im 3a^re 1800 ate ©dmling in
eiuem ©urfentrei6^aufe gefunben unb toeiter gejogen. 3m 3afjre 1850
mar feine Ueberbac^ung fd)on funfunbDierjig 9Reter lang unb fiinf SKeter
breit. 3m Sa^re 1859 trug er stoeitaufcub grofee fcfjmarjc Irauben.
©pater ift ba^ $au3 nod)mate ertoeitert unb je^t fiittt bie ?Pftanje iiber
brei^unbert Ouabratmcter ©Ia^fldd)ef njelc^e mit gefunbem SBIattmerfe
unb reic^li^en fc^onen Irauben bebedt mar. 5)er ©tamm mifet mot eineit
33ilbcr ans cnglifcfcen £anbfi^cn unb (Sartctt. 255
SKeter im Umfange. 3)cr SDSeinftocf Don ©umberlanb Sobge ift bebeutenb
grofeer ate fein, bem reifenben ^Sublifum juganglid£)erer unb baburd) did
tticiter befannt getoorbener 9tit»al in Hampton ©ourt.
9lod) cine anberc beriifjmt getoorbene ©rofie crbtidte in ©umbertanb
Sobge ba£ Sidjt bet SEBett. #ier tourbe im Saljre 1764 ber ©cfypfe
gcboren, ba3 befte unb rafdfjefte SSottbtutyferb, toetdjeS je bie engtifdje
9tennbat)n betreten tjat. ©in ©tattbebienter erfannte bie, Dom §errn
nidfjt getoitrbigten, grofien Slnlagen be8 jungen It)iere3 unb faufte eg ge*
nteinfdfjaftlidE) mit einem ©cfjaftyanbler auf ber SSerfteigerung fiir 1500 3Rarf.
©cltypfe unb fein SRutym getyijren ber ©efd)idf)te an. ©r ftarb, an ©fjren,
©iegen unb Sladfjfommen reidf), al£ ein SJJatriardj toon 26 Safjren am
27. gebruar 1789.
2)ie 3cit brangte jefct jur Slbreife unb tvix eilten ben Song SEBalf
Ijinab bem ©iabtdfjen SBinbfor unb bem S3a^nI)ofe ju. Sebodf) foflte id)
biefen Ijeute nicfjt erreid)en, benn unDerJ>offt begegnete mir Dor bem SSirtf)3s
tyaufe jum „SBeif3en ^er^en" bag ©liid in ©eftalt ber ©rlaubnifi, Ijeute
einen Slid in bie bem grofcen ^ubtifum ftreng Derfdfjtoffenen f5niglidjen
^?ridatgdrten don SBinbfor ttjun ju biirfen.
Sreubig toanbte id) meine ©djritte unb Dor mir ftiegen bie gebiete-
rifdfjen loefttidjen SRauern ber fftfnig§burg fteit unb ernft jttufefyen ben
brei uratten runben Ifjiirmen empor, bie toot nod) auS ber erften ©run-
bung be3 ©djtoffeS burdj SBilfjelm ben ©roberer ftammen. Sine fdjroffe,
unna^bare getSmauer, nur auf if)rer ipo^e bctebt burdf) bie einfame, rot^e
©cftalt be3 fdfjottifdjen ©arbefufelierS, ber, ein unbetoegte§ 93ilb, in einer
Slide ber 3innenlr8nung auf fein ©etoefjr Ief)nt. SBir fdjreiten toeiter
an ben SKauern be§ alten SlofterS Don SBinbfor Doriiber, in beneu tyeute
bie ©fjorfnaben tjaufen. 3)ann ttrirb un3 burd) bie ©efattigfeit be3 2)ecan$
Don SBinbfor, SKr. SBelleSlety, cincS SSerttianbten be§ ©ifernen #erjog3,
ein SSlid in bie beriitymte SBotfetyfapette Dergonnt. ©ie ift jefct mit bem
Ijodjften Stuftoanbe don ©efdjmad unb ^racbt al£ SKaufotcum ber eng*
lifdjen $flnig£familie reftaurirt unb, aufter bei grofien Srauerfeiern, nur
burd) bie SBofjnraume be3 geifttidjen §errn juganglic^. SBir rnngeljcn
bann ben Slunben S^urm unb treten buret) ba3 enge Slorman ©ate in
ben oberen ©d&Iofefjof ein. UntoiUfurlid) bteiben toir t)ier gefeffelt ftefjen
unter ber SBirfung be§ unge^euren SBerfeg, ba§ un^ umgibt. SBir finben
n>o! faum eine jtoeite @c^5^fung ber 9Kenfd)enfunft, bie fo Har unb grofc
artig, fo genial ben ©Ijarafter i^rer 93eftimmung au§fpri(^t, tt>tc SBinbfor
©aftle. 2>ie granjofen freitid^ erja^Iten fic^ unb un§ feit jtoei^unbert
Saljren fo oft unb fo fiege§getoife: ba3 ©^Io§ don Serfaitte^ fei ber crftc
unb Dotlenbetfte unter alien SReprafentanten ber monard^ifd^en ©ro§e, baf$
tuir ®eutfdf)e, benen $ari§ don jel)er ein beliebter 2(u§flug, Sonbon ein
felteneS unb ernfte^ 9teifeunternet)men war, ifjnen fc^Iie^Iid) audf) f)ierin
geglaubt f)aben.
236
fubroig (fretfjcrr von (Dmpteba
in IPtesbabcn.
SerfaifleS ift grofc; e£ ift mcittdufig unb prunfenb; fteljt ba oljue
tebenbige ©efdjidjte, ba3 ttuKfurlid} gemadjte 3Ronumcnt einer, bamate
\6)on alternben, jcfet langft abgeftorbenen fiinftlidjen ©lanjperiobc. 2Ba3
ift ^eutc SBerfaitteS? ©in Derobeter SimigSpalaft in ciner Jobtenftabt,
em „aKen (trQurigcn) ©lorien granfreidja" errid^tetc^ 9Rufeum, cine ge-
fd)td)t£U>ibrige ©djule bcr 9lationaleitetfeit.
SBinbfor Saftle jeigt un3 bie ©ntttridetung ber monardjtfdjcn, nation
naten ©rofee (SitglanbS Don ifjrem gefdjidjttidjen Urfprunge, ber ©roberung,
burd) adjtfjunbert 3af)i* ftetig fortfcfjreitenb unb toadjfenb, fjeute grofeer
aU geftern, altetyrtoiirbig unb jugenbfrdftig. 3cbcn unfcrcr ©djritte be-
glcitct l)icr nidjt ettoa einc nebeltjaftc Grinnerung an ein Derfdjollene*
„@3 loar einmal", fonbem bie lebenbige SJergangentjeit aU SDtutter ber
nod) grd&eren ©egentoart 3m Slormannenttjorc fel)en ttrir nod) Ijeute
bie SRefte ber alteu Sattgatter, mit benen bie SBorjett itjren Surgfrieben
toatjrte unb oberfjalb biefe3 2f)or3 brcitet fid), unter bem ©djufce be3
9hmben XtjurmS, bie neuefte ©ntmidelung ber $onig£burg, ber grofje bier-
edige £>of Dor unS au3 in tjoljeitDotter SRufje unb fdjtoercr Unirbigcr $rad)t
$ier fpridjt bie SJtaieftdt ber lebenbtgen ©rofte, ofjne $runf unb Sdjnorfer,
in einfadjen abcr riefigen ©djriftjiigen; fie gebietet Gtyrfurdjt burd) fid}
felbft, burd) ifjre erljabene, ftotje, feftgcgtieberte SKaffe. 3n 9Serfaitte§
fpreijt fid) ber §9pertropl)ifd)e 2)unfel bc3 „Grand Monarque" in barodcr
Unnatur, ber fidjeren ©ignatur be§ begiuncnben Skrfatte. SBiubfor fte^t
auf feiner natiirlic^ r gegebeneu, getoadjfenen, fefteu beljerrfdjeuben $'of)c,
Don bcr Sfjemfe umfloffen, mitten in ber engtifdjen frudjtbaren Sanbfdjaft.
aScrfaiHc^ licgt in gcfudjter 9Ibfonbcrung unb otjne jebeS anbere SRoth)
feineS ®afeiu3 al£ eine Saune, in bcr fterilen ©anbebene. Sort ift Debe,
ftunftelei, SSerfatI; tjicr ©nttoideluug, Slatur, Scben.
SEBir betreten ben norbtidjen gliigel be3 ©d)Ioffc£ iiber ber grofc
artigen Serraffe, bie ben Stamen iljrer ©rbauerin, ber Slonigin Elifabet^
trdgt, urn toon l;ier in bie oftlidjen ^rtDatgdrten ju gelangen. Zxtppzn,
Simmemifdjen, Xifdje, atte Sftdume finb Ijier $u unferer Ueberrafdjuug
mit ben t)errtidjften gritncnben unb blii^enben ©eU)dd)fen gejiert. Siefer
3eftfd)mud fteigert fid) bi£ jum ©ingongc ber grofcen SBaterloogaUerie.
©in mac^tiger 9iaum, ber fein £id)t bon oben burd) bie, in ber SWitte
erpljetc, Don ©urtbogen getragene SDedc empfdngt. 93i^ jur ^o^e dou
fiebcu SKetern etma finb bie SBdnbe in ^olj getdfelt unb auf biefer Se-
fleibung rci^cn fidj bie ^ortrdt^ bcr bebeutcnberen S(krfdnlid)!eiten au^
ben SScfreiung^friegen, faft atte »on ©ir S^oma§ 2aU)rence gemalt. @in
gefd)dftige§ Sreiben bettJegt fid) im ©aale. 3n ber SKitte njirb cine grofee
Safe! Don fiebjig ©cbcden ^crgeric^tet unb auf if)r tok auf ben jatjlreidjen
^o^en unb fc^ttJeren ©c^enftifc^en unb 93iiffet§ leuc^tet f^on ba^ beriiljmte
gotbene ©erDtcc Don SBinbfor. 9iur in 3tt)if^^nrttumen longer 3^c
Derlaftt biefer ©(^afe bic ©emolbc ber ©tlberfammer; l)eute foil er bie
23tlber aus englifd?eu Sanbfifcen unb (Sdrten. 237
Shttoefenljeit bcr dlteften loiter bed £aufed unb il)red ©emal)ld, unferer
bcutfe^ert fronprinslicfjen £>errfrf)aften &erl)errticf)en.
2)od) nrir eilcn oortodrtd burd) bic ©ate, fatten unb ©allerien,
bid tirir cine Xerraffe erreidjen, bic am dfttidjen, toon ber Sonigin be*
tooljnten fjliigct bed ©djloffed entlang Iduft, unb betreten nun ben fcor
biefer gronte liegenben Slumengarten. ©eine glddje entljdlt etnm fed)d
SKorgen, fie ift gegen bad umge&enbe terrain, namenttid) gegen bie
©djlofjterraffe, erfyeblid) fcertieft unb jum grofteren Ifjeile burd) eine urn?
taufenbe Drangerie abgefdjtoffen, fo baft fein unberufened Stuge etnbringen
fann. (Sin SBafferbaffin fteljt im 9Jtittetpunfte; toon bort aud ift ber
©arten in jiemlidj regetmd&ige ®reidabfd)nitte jertegt unb mit 3tafen
bebedt, ,in toeldjen bie SBIumenbeete in entfpredjenben, meift Idnglid^ lau-
fenben gormeu cingefdjnitten finb. ®ie 2lnlage ftammt &toar fd)on aud
ber 3eit Sonigd ©eorg IV., ttjrc jefcige Sottenbung jebod) toerbanft fie,
true fo unenblid) SSieled wad ttrir Ijeute in SBinbfor benmnbern, ber ftiH
fd)affenben Ifjdtigfeit unb bent fjodjgebilbeten ©d)5nfjeitdfinne bed $rinjen
3tlbert. 5)er bebeutenbfte unb eigentfjiimttdje ©djmud bed ©artend be;
fteljt in ber fcottenbeten SSerbinbuug bed lebenben 93tumenftord mit ben
3Retftertoerfen ber ©rjbilbnerei, bie aid fdjone ©tatuen unb prddjtige
Safen im ©arten toertfjeilt finb. @ie geben iljm ben edjt italienifdjen
(S^aralter, beffen Stadjaljmung biedfeit ber Stlpen faum je mit foldjem
meift fcrtidjen SSerftdnbniffe gelungen ift, au&er etnm in ben ©arten toon
©andfouci bem Sunftfinne bed gro&en Sonigd unb fpdter bed Sonigd
griebrid) SBityelm IV.
3cnfeit biefed lerraffengartend fdtlt ber ©d)Iof$berg ab unb toir
fteigen nun in ben §audparf Ijinunter. J)te)er fogenannte „fleine $arf"
entfjdlt auf fieben- bid ad)tl)unbert SKorgen einen gro&en 9leid)tl}um an
fdjonen Sdumen, reiienben ©ottaged unb gemdt)tten fiinftlerifdjen ®arten=
bilbern. UeberaK ber Ijerrtidje 9iafen unb Silted in mufterljafter ^flege.
28ir gef)en unter fdjattigen Utmenatleen enttang unb bemunbern, etroad
tueitcr f)in, atoei mddjtige immergriine ©icfyen, 5ufammen iiber fjunbert
S&ieter Umfreid Ijaltenb. §ier bitrfen ttrir aud) bie, und Sltlen befreun-
bete, ^erne'd ©id)e fudjen, unter toetdjer ber fpuff)afte ©djtufealt ber
„£uftigen SBeiber t>on SBinbfor" fic^ fo oft dor und enttoicfeft ^at. 9(n
bie ^onigin Stbet^eib, ©emafjlin SBityelmd IV., erinnert eine jierlic^e,
i^ren SKamen tragenbe ©ottage, an ben ^rinjen Stlbert ein ^oc^gelegened
(Sommerffduddjen; bann gelangen njir an ein niebriged ©ebaube orient
tatif^en Sfjarafterd, bad und aid „ber Sonigin gru^ftiitfdraum" bejeic^net
wirb. ©ine ttrilbe geldpartic mit fatlenbem SBaffer unb entfpred)enbcr
reiser Segetation ift in gro&en 9Sert)dltniffen bargeftetlt, unb nicf}t tacit
toon i^r finben toix bic Sutfjerbudje, ein Slblegcr bed befannten gleidj=
namigen SSaumed bei 2t(tcnftein in 2f)iiringen an bem ^tafce, don wetd)em
ber doctor SKartin im %af)xe 1521 aid %m\tex ©eorg auf bie SSart^
258 £ubitM<5 ^reiberr von (Dmpteba in ItHesbaben.
burg entfii^rt lourbe. $er Saum ift iefct etloa fiinfjig 3aljre att imb
cin 8cugnife fiir bic aufierorbenttidje SBfidjfigfeit be£ englifdjen 93oben3
imb SlimaS.
SGBir fyabtn un3 injtoifdjen etner ©egenb bcr foniglidjen $au£gdrten
gcndljcrt, loo lange Ijotje SKauern bic gernftd&t abfdjneibcn. 2)ur<$ em
gerdumigeS Ztyt trcten loir iefct in ben fogenannten „$iid)engarten toon
grogmore" cin. $)er ©arten Iciftet jebod) loeit meljr at£ fcirt 3?ame
oerfpridjt, bcnn tner ift auf cinem, burdj fottbc ©teinloanbe cingefdjloffenen,
tuettcti ©ebiete bie gefammte Dbft- unb ©emiifejudjt filr ben Idniglidjen
§ofl)aIt t>crcinigt. 3Ran barf tool anerfennen, ba& biefer „$ud)engarteit"
pr 3eit in ganj ©uropa feineS ©leidien fud)t, bcnn fcinc Slnlage ttrie
fcinc Sciftungcn finb in alien 8^eigcn gtcid) uniibertrefflidj unb ber aller-
^od^ftcn ffiigenrtjiimerin toiirbig. 2tud) biefer ©arten ift einc ©djityfung
be3 Sprinjen Sllbert au3 bem Sa^re 1848. 93orf)er mar bic ©rjcugung
be$ fdniglidjen 93ebarf3 in fedjS dltcrcn ©drfen jerftreut, baljer ungleid),
ofjne ©t)ftem unb oljne Sontrole. 3ttlc biefe mangelljaften Ileinen Sk*
triebc tourben aufge^oben unb bafiir grogmore cingcrid)tet mit cinem
Softenauftoanbc toon 900,000 9Rarf.
©ofort bei unferem (Sintrttte locrben loir burd) bie ©rofjartigfeit
unb SEBette bc§ SlnblideS gefeffelt, bann erfennen loir im gortgange bcr
93efid)tigung bie tootlenbete ^loedmdfiigfeit bcr 2)t3pofition unb ben Dor*
jiiglirfjen Eulturjuftanb alter Slbtfjeilungen. S)cr gefammte SBetrieb bedt
funfunbtoierjig Sfflorgcn; bicfc ©runbflddje bitbet natjeju cin Duabrat.
2>er ©artenbirector 3Rr. 3one3, bem id) cmpfoljten toar, ^atte bic ©iite
mid) felbft ju fiit)ren. @r toieS jundd)ft barauf I)in, bafe ber ©arten
burd} cine lange Sftei^e toon ©ebduben toon Dft nad) SGBeft in jtoei un=
gleidje Sljeile jerlegt toirb. %n bem norbltdjen fteinercn SRetoiere be=
finben fid) bic $ftanjs unb S3orratl)3f)dufer, bie SDlagaginc, ©taHungcu
unb ©djuppen jeber Strt. S)ic fitblidje grdftere §dlftc ift toteberum burdj
toietfadje Ducrmauern jerfdjnitten., S^be fo gebilbete 91btl)etlung trdgt
ben Slamen berjenigen Dbftfortc, bie au§fd)Iieftlicf) an il;rcn 3Kaucrn gc=
jogen tnirb: Sirfc^cn, ^Sftaumen, 3>ot)anni3beeren, Sl^rifofen, 93irnen u. f. to.
9lHe SSBcge finb mit ©orbonS toon Stc^feln unb Sirncn eingefafct; Winter
biefen bretten fic^ frcte ©paticre in tocrfd^iebenen gormen an eifemen
©cftellen au^. Sttte 93aume, attc Seete finb fauber ge^atten unb in
cinem ii^pigen ©tanbe ber Vegetation. 3o^{rci^e 9lrbcitcr finb mit
SReinigcn ber SBege, Sodern be3 SBoben^, ©tcften, Stu^idtcn be£ UnfrautcS,
©ammcln be§ Ungcjieferg u. f. to. befd)dftigt; genug: bag ©anjc mu§
jebem gartnerifd)cn Sluge bic toottftc 93efrtcbigung getod^rcn.
2)ennodj iibt bic grofec, ben ©artcn burd)fd)neibenbe ©ebdubcrei^c
cine mddjtigcre 2lnjiet)ung3fraft unb loir locrben ungebulbig, fie ju be^
trcten. ©ie beftefyt au§ eincm 2KttteII|aufc, eine jtoeiftodigc ©iebdeottage
in rot^em 93adftetnr toon alien ©eiten grim unb bunt bcloadjfen; namcnt;
3ilber aus englifdjen £anbfi^cn unb (Sartcn. 259
ltd) jeicf)nen fid) auf ber ©iibfeite bie bis unter ba£ 2)adf) fletternben
Stt^minc uub bie Bignonia grandiflora auS. $ier ift bie SSoljnung be3
2>irector3; ju jeber ifjrer bcibcn ©citcn crftrccft fid) cine 9teit)e toon ficbcn
grofcen, in ©if en auSgefufjrten @Ia3fjdufern. SMefe fiinfje^n ©ebdube
Ijaben einc gronttange toon beinalje tjier^unbcrt SWetcrn unb jebeS §au8
ift iibcr fec^g 9Keter ticf. SBir burd)fd)reiten fed)3 2Beinf)dufer, toon bcncn
jroei jc merunbbrei&ig SKcter lang finb. 2)ic SReben ftetjen in 3^if^c^5
rdumcn toon 1,30 SKetern unb eineS bcr bcibcn £>dufer gab im Satire 1877
im Sanfe eineS 2Ronatc3 etroa eintaufcnb ©tiicf rcifc Sraubcn toon Softer
©ecbling unb Slai £>amburgt). gemer jdljlen tnir mer $firfid)!)dufer ;
jtoei S($flaumenljdufer ntit Ouccn SSictoria unb ©often 3)rop befefct, unb
an jebem gliigel jtoei grofce SBarnrfjdufer fiir SSlumen unb 3icrpftanjen.
Sic SIrt be§ SetriebeS in biefen §aufern motlen toix fjier nid)t ndf>er
betradjten; fie fcerlduft im ©rofcen nad) benfetbcn ©runbfdfcen, bic roir
gcftem fdjon auf bcr 3)etl angetoenbet fanbcn. 3)ie ©artncrei Don grogmore
ift bereitS fcit cincm 2Jlenfd)enalter ein SSorbitb getuorben, n?eld)c^ in
bcr 9ldf>e unb gernc aU muftergiiltig nad)geat)mt roirb unb <3djute ge-
mad)t Ijat.
9luf bcr norbttd)en gronte biefer langcn SReifje finben hrir bic gerdu;
migen 28oljnungen bcr aaf)Ireid)en ©drtner unb Seljrlinge, bci benen cin
Sefejimmer ncbft 93ibliotf>e! nidjt fcfjlt; Ijier liegen bic 3)ampffeffel, SPflanjs
rdumc unb bic Kfjampignonjudit. ©cgcn un§ iiber fef)en toix jejjt cin
gan$c£ 5)orf son l)of)en unb niebcrcn ©laSfjdufern fiir bic grofcartigen
Srcibereicn attcr moglidjen griid)te unb ©emiife. S)ic grafeeren ©ebdube
finb aud) t)icr hneber ber Iraubc unb bcm SPfirfid) gettribmct; cine langc
Steilje nieberer £dufer entfjdtt bic 9Inana3jud)t in reiser SBottenbung; fic
bringcn im 3af>re iibcr triertaufenb griid)te. S)ie ©rbbeere nrirb l)ier
jaljrlicf) in neuntaufenb I5pfen getrieben, bic £>dufer tiefcrten in bicfcn
Sagen, rodljrenb be£ f)5d)ften 93efudje3 im ©d)Toffe, tdglid) funfunbjtcbjig
?Pfunb in bie ®iid)e. ©d)nittbof)nen unb 93Iumenfot)I biirfcu ba3 gan5e
Satyr iiber nic^t au^gc^cn; brei SDlonatc tang bringt fic ber offenc ©ar=
ten, bie iibrige 3^it miiffen bic ©la^dufcr auSfiiUen. Stoti grofee
Sldumc finb mit frii^en ^irfd^cn in Sopfen befefct, bann folgen ©urtcn,
ajlelonen, toieber Irauben unb ^Jfirfi^e; enblid) ganje SBdtber t?on beco-
ratioen S($ftanscn unb 93Iumcnf n)ie fic ba3 gro^c ©c^Iofe fiir unjd^Iige
SRdume, fiir bic lafcf, unb fiir maffenljafte 93ouquet§ tdglid^ frif(^ bebarf.
9lad| eincr ftunbenlangcn Sa^rt buret) biefeS SBunbcrlanb ru^ten
wir gem in 3Kr. 3one§1 frcunblic^cm SKo^ujimmcr au§; jcbod^ nofy
fcittc^tt)eg§ ju ermiibet: mir ju fragen, cr un£ ju bele^ren.
„SBir biirfen," fprad^ er, „ba§ Sob, todtyZ ©ic unferen ©ulturcn
ert^eilen, tool anne^men; n)cnigften§ bemii^en n?ir un£ unau^gefe|t; in
jcbcm 3^)^i9c unferer ©drtnerei nur bag 93eftc ju leiften. SBir fc^en
unfere @f>re barin, unferc aHerf)5d)ftc ^errin fo ju bebiencn, tuic bic
£ubn?iij ^Jreifyerr von (Dmpttba in Wicsbaberi.
erften SWarftgdrtner Don Sanbon bet fd|drffter (Soncurrenj, jeber in feincr
©pecialitat, probuciren. 2Bir fiitjlen un3 gettrifferma&en an bcr ©>{u§e
bcr engltfdjen ©drtnerei unb alfo aud) untcr ifjrer attgemeinen ©ontrole.
35aS fdjiifct un3 Dor ber ®rfdf)laffung, bic fo Iciest bic Sciftungcn grofeer
Slbminiftrattonen auf bie SDtittetmd&igfeit Ijerabbrutft."
„$)ie an un3 geftclltcn STnfprudje finb allerbingS jutocilcn in Sc-
Sieljung auf SWaffenfjaftigfeit faum glaublidf). 93or einigen 3al)ren befanb
fid) todfjrenb adjt Sagen cin jiemlid) ja^trcid^er Sefudj frember tjodjfter
£errfd)aften im ©d)Ioffe. 2)ie bamalS Don un3 gelieferten jungen Srbfen
Derjetjrten bie (Srote Don foDiel SReifjen, baft bcren ©efammtldnge brci
englifdje SKeilen betrug. 9lud) ift unfere £f>dtigfeit nid)t nur auf bic
3eit befdf)rantt, in toeld)er ber £of fjier refibirt. 2>a3 ganje Z$af)T
tjinburdf) fenben. toir tdgtid) SlfleS, toaS bie §ofI)altung bebarf, na<f>
DSbome unb Salmoral."
„Unfere grofce 2Jiafdjine mufc ba^er mit militdrifd)er ^iinftficfjfeit
unb ©enauigfeit arbeiten. SBerfen ©ie einen Slid in biefe Sucker Ijier.
SBir fuljren barin geuaue 93erjeid)nif}e iiber 2We£ unb SebeS, toa§ bic
©drten probucirt Ijaben, fonric toann unb rooljin e£ abgeliefert ttmrbe;
jugleid) eine Sere^nung unferer ©rjeugungSfoften in jeber SafjreSjeit.
SSerfauft toirb gar nid)t3. 2)ie SRefuKtate friiljerer Safjre fteKen luir
bann mit ben neueften aufammen unb fudjen fo, an ber §anb Dcrgtei;
d)enber ©rfafjrungen, Dortodrt3 ju tommen unb ftetS mcljr, beffer unb
biUigcr su probuciren."
„2)iefe gefammte umftdnblidje, aber burdjauS nottyoenbige Drgani-
fation unferer Serfoattung," fufjr 2Kr. SoncS fort, at§ er faf>, hue eifrig
nrir if;m jutjorten, „fanb idf) bereitS Dor, al3 id) meine Ijiefige ©telhmg
im 3a£>re 1872 antrat. ©d)opfung ift bag SSerbienft meineS au£;
gejeidjneten S3organger3, 2Rr. Stomas Ingram. 3d) ^attc nidjtS $u
ttjun, al§ in feinen ©purcn tociter ju gefjen. 9iur nidjt felbftgefdHig
fteljen bleiben; ba§ fiifjrt jum ©d)lenbrian unb SRiidfdjritt. 9luc^ tragen
toir un^ mit neuen grofeen Sbeen. Qnx ©id)erung unb SSereinfa^ung
unferer griifjeutturen Ijabe \6) ben ^Jtan au^gearbeitet, eine ganje 9lb-
t^eilung, tuie ©ie fo!d)e in ben ©emufegdrten gefef)en ^aben, Don 3Raucr
ju 2Jtauer mit ©Ia§ ju beden. Snt ^rincipe ift mein project gencfjmigt
njorben; bic Stu^fu^rung ftofet fid) bi3 jefet noc^ an ben Softenpunft,
benn mein 2tnfd)tag bclduft fid) allcrbingS auf tjuubertunbac^tjigtaufenb
2Rarf. Slber ic^ ^offe beftimmt, ba£ ©etb n^irb fic^ ndd^ften^ finben."
Unfcr SRiidnjeg nad^ SBinbfor fufjrte un§ an ber SKufterfarm Don
grogmorc unb an ber S)airt) (SKitdjtoirt^fd^aft) Doriiber. ?Iuc^ ^ier
burften fair eintretcn. 2)ic 3arm, nebft brei auberen im SGSinbfor ^jSartc
ift ebcnfattS Dom ^riujen Sllbcrt erbaut unb eingerid)tet. ©ie jeigt im
©ro^en biefctbe SSoHenbuug, bie tuir geftern in i^rer Derfleinerten $lafy
a^mung auf ber S)eH beiounberten. 9iebcn ben jierlidjen 2tfbcmetj§ fiub^
Silber aus cnglifd?en fanbfitjen unb <5'dxtcn.
2<U
fyiex pradjttge ©template bcr ©fjortfjornS unb, ju 3iicf)tung3Derfud)en,
and) Ijodjeble ©djtoeijer aufgeftetlt.
®er 3RiId)feller bcr Stairtj ift nid)t aflein ein SKuftcr Don grofc
attiger, rationettcr @inrid)tung, fonbern audi burdj bic reidje becoratiDc
2lu3ftattung feineS Snnern auSgejeidinet. ©cine f<$onfte 3ierbe bitben
bic umlaufenben, funfttcrifd) f)i>cf)ft tterttjDotten grief c au§ bunter SOla;
jotifa, in ber bcrii^mtcn gabrit Don 9Rinton fur biefen 9taum unb
Stvtd befonberS cnttoorfen unb in ber befanntcn ffiottenbung auSgefiifjrt.
ttrir un£ jefct auf bem £>eimroege ben $rtoatgarten ber fonig*
lidjett ©ottage Srogmore naljerten, begegncte un£ cin jierlid)e3 einfpdn^
nigeS 2Bageld)en, begleitet Don eincm SRcitfnedjte auf ljodjeblem ©d)immel.
(Sine einselne Same, in tiefe3 ©d)toarj gefteibet, fiifjrte barin, uadf)
guter englifdjer ©itte, felbft bie B^gel. SBir blicben ftefjen unb Der=
fieugten un£ ticf unb efjrfurd)t£Doll Dor ber Sflnigin, bie Ijeute, tt>ie
fdjon feit langen leibDotlcn Sa^ren, in ben einfamen SBeg ju bem fonig*
licfjen SRaufoIeum einbog, in tt>ctcf)em if>r beftcS trbifd)e3 ©liid rutjt.
Perfonlidje €rinncrungen.
Don
HCubtaig f ietfrfj*
— Berlin. —
jm 9. -Jlofcember fcollenbet bcr grofce ruffifdje 9to&ettift Siuan
£urg6njeh) fein fedf)jigfte3 $af)r. Sa3 literarifd^e SBcvf feinc*
SebenS, feinc btd^tcrtfdjc Xfjatigleit, ift, lt»ic er &erfid)crt, be-
reit£ 5tt)ci ^afjre frufjer fiir immer abgefd^toffen toorben.
Sritifer, Siterartjiftorifer unb ©ffatyiften afler Sulturnattonen fjaben
biefem feinem SBcrf unb lurgenjems Steltung unb 93ebeutung in bcr
ruffifdjen tt»ic in bcr mobernen 2Betttiteratur 93ctyredf)ungen, Unter*
fudjungen, SlbfjanbKungen in -JJienge gehribmet. 3d) Ijatte benfelben nic^t^
9leue§, etroa bisfjer nod) ungefagt ©ebliebeneS tjinaujufiigen; obcr Ijabe
toenigftenS nid)t bic 9lbfid)t, e£ in ben folgenben Slattern p tf)un. 9lbcr
bei bem attgemeinen 3ntcrcffcf tt>eld)c3 bic tyeutige gcbilbcte SEBelt, unb
bie beutfdje nidjt am tnenigften, an feinen poetifdjen Sdjopfungen nimmt,
finb ben Sefern toon „9lorb unb ©iib" 3Rittf)eilnngen iiber bie ^erfon?
lidjfcit be§ ?futor§, feinen 2eben3gang unb bie Sfrt feineS ©<f)affen£
fdf)tnerlid) unmiHfommcn. (Sine gtiidlidje SSerfettung toon Umftanben Ijat
mid) ju t>erfd)iebenen 8citcn mit ifjm in eigentfyiimtid) nalje Serutjrung
gebrad)t, nticfj ttrieberfjolt fein Seben tt)eiten laffen unb mid) fo in bic
Sage gefejjt, beffer ate bit meiften meiner SanbSleutc iiber feinc ^erfon,
befonberS aud£) iiber bie ©efd)icf)te feiner SSejie^ungen ju 2)eutfdjlanb unb
feiner SBirfungen auf ba§ beutfcfye ^ubltfum unterri<f)tet ju fein. Son
folcfyen 93egcgnungen mit Xurgenjeto to\U id) tjier nur erjafjlen; foldje ganj
fubjecttoe ©rinnerungen an bag, toa§ id) an unb mit U)tn erlebte, fjier
nod) einmal crtneden; — uid)t3 toeiter.
SBer in ben Scttjren, meldje ber SSerliner 2J?ar&re&olution junadjft
Doraugingen unb tnafjrenb ber lefeteren felbft in ber preufcifdjen §aupt-
2^3
ftabt gelebt f)at, entfinnt fidj beg Don Dr. 3faliu£ ettoa 1845 begriin;
beten grofcen 3ournak£efe-3nftitute, bcr ^eitungSljatle", bag fidf) bamate
im crftcn ©tocffoerf be§ tyeutigen Soute SanbSberger'fdjcn £aufeS in ber
Dberttmttftrafje, ©de bcr Sdgerftrafee, befanb nnb 1849—50 burdf) ben
83eTagerung£juftanb ruinirt unb jum ©ingcfjen gebradf)t ttmrbe. ©3 hmr
in jenen crregtcn DormdrjlidEjen Xagen ber ©ammefylajj after „93ertreter
ber $rcffe" Sterling, ber, bie Don ben $oeten unb ^ropljeten ate nalje
^erbeigefommen Derfiinbete „neue, freie 3?ii" gldubig erfjoffenben Sugenb,
atler politifd) unb literarifd) tfjdtigen unb interefftrten Sopfe ber ©im
fjeimifdjen toie ber fjier Dertoeilenben ober burdjreifenben gremben.
9lu einem ber tefcten -JloDemberabenbe be3 SatjreS 1846 Ijatte id)
biefe Sefejimmer Derlaffen unb ftieg bie Xreppe pm glur fyinab. 9Son
unten fam mir bie auffatlenb tjod^ unb breit geroadjfene (Seftalt eineg
jiingeren SJlanneg, in einen toeiten ^eljrod gefleibet, jiemlidf) langfamen
fdjtoeren £ritteg bie ©tufen fjinauffteigenb, entgegen. 8luf bent mittleren
Sreppenabfafe trafen mir jufamnten. SDic bort brenneube ©agftamme be-
leud^tete fdjarf unb Ijell bag @efid)t biefeg SDlanncg. 3)er Stnblii beg;
fetben fratyrirte mid) fo, baft id) fiir einen SKoment ftefjen blieb unb bag
?tuge ntdfjt Don itjm iuenben modjte, ate er an mir Doriiber unb bie
Xxtppt meiter fjinaufging. ftaUZ er mid) iiberfjaupt beadfjtete, fo mufcte
ifjm mein 93enef)men unb Stnftarren hmnberlidE) genug unb nid£)t eben Don
guter SebenSart jeugenb erfcfyeinen.
©g toar ein Sopf, toie idj ifjn nie gefefjen Ijatte unb nrie man ifjn
nie toieber Dergiftt. 3)er cineg ettoa Stdfjtunbjtoanjigjdfjrigen. ©in ©e*
fidjt Don entfdjieben ruffifcfjem 2t)pug mit jiemlidj breiten Sadenfnocfyen,
toeldje aber burd) bie eblc, brcite, tjerrttdj gemotbte ©tiro unb bie mdd£)tige
Sftafe bominirt ttmrben. Ueber jene fiet nadf) linte ^in ein Dottcr 93ufdf)el
beg ettoag lang getragenen, auf ber redEjten ©eite gef<f)eitelten braunen £>aarg.
©tarfe, faft fdjioarje SSraucn befdjatteten eiu $aar griinlid) braune,
breittibrige, grofce Stugen Don faft fdjioerraiitljig ernftem 3tugbrud. ©in
brauner furjer ©djnurrbart jog fidj big unter bie SDlunbttrinfel iiber ber
cttoa^ aufgeroorfenen Dberlippe f)in. ®ag glattrafirte, DoIIe, beftimmt ge*
jeid^nete Sinn fc^Io§ bie^ bebeutenbe Stnttife nac^ unten ^in ab.
3d) ^atte ba§ inftinctiDe ©efiiljt, ^ier einem ganj befonberu SRenfdfjcn-
toefen begegnet ju fein, toemt mir aud^ fdf)loerlid£) eine SSorafjnung fagte,
bafe ic^ t)ter jum erften 2RaIe auf bie Duetle getroffen fei, bie mir eineS
ber beften unb bauerbarften „®Iude" ber baran nic^t eben armen fpdtern
jmeiten ipdlfte meine§ 2ebcn§ fpenben miirbe. 2)er ©inbrud biefer erxep;
tioitetlen @rfdt)einung befd£)dftigtc midj am fotgenben lage unauggefefet
unb id) entfinne mid), ttmfjrenb be£felben U)ieberf)oUe SSerfuc^e gemac^t §u
^aben, fie au^ ber ©rinnerung jeidfjnerifdj ju reprobuciren.
Sn jenen Safjren Don 1845 bi^ jur 2RdrjreDoIution Dereinigte fi^
atlabenbli^ refp. alfaadjtlidE), n?ie bag fo in Derfdjiebenen Sneipen SSerling
244
£ubroig pietfdj in Berlin.
jeber 3^it gefd)eljeir iftA gefdjiefjt unb immer toieber gefdjeljen toirb, ein
SretS Don meift jtingeren Siiuutcrn (jmifd^cn 22 unb 35 %a\)xtn)r an 3Je*
rufSart, CebenSfteUung, 99egabumj, felbft -Jlationalit&t untcr einanber fetyr
t>erfd)ieben, in bcr fflierftube Don Sc^etWe an ber @de bcr SRarfgrafen-
unb granjofifdjen ©trafce am ©enSbarmenmarft ®3 toax feme gefdjloffene
SSerbinbung; fcinc ©tatuten, fcin Komment regeften i^r SScr^altcn unter
fid) unb ben SSerlauf ber gemeinfamen ©ifcungen. Stber ein ftarter 3iiQ
be3 perf5nltd)en 2Bol)IgefaUen3 an einanber unb eine getoiffe (SHcufyartig*
feit ber tbealiftifdj * |rf)ilofo|rf)ifd) * fiinftlerifdjen Slufdjauung fdjtftng cin
fefteS ©anb urn fie unb bilbete bie magnetifdje Sraft, tPctc^c ftc mit
grower SRegehnd&tgfett bort immer tmeber jufammenfuljrte. 3d) tyabe fctt-
bem toiele berartige frctc 9Sereinigungen Don SKdnnem aHer WtterSftufen,
toon ©efinnungS&ertoanbten in Serlin unb an anberen Drten fennen gc~
lernt unb banfe ifjren ©ifcungen Die! gute ©tunben in ©rnft unb ^eiter-
feit. 2tber nie toieber fyabe idj midj in einer befunben, in ttJfldjer jener,
bem fpdteren @efd)Ied)t unttrieberbringli<$ toerloren gegangene, fd)one 3bea~
liSmuS ber SBelb unb CebenSauffaffung, ber Seftrebungen, ber ®efin~
nungen jo attgemein Derbreitet unb Ijerrfdjenb getoefen todre, toie in btefer.
3)ie ftarfe 2}egeifterung3fdf>igfeit ber SWe^ria^I ber bicfer ©efellfdjaft
3tngef)5rigen bettneS fief) nidjt auSfdjlie&Iid) ben politifcfyen Sbealen
gegeniiber, toeld)e in ben Sopfen ber bamaligen Sugcnb fpuften unb feit
ben Skrfjanbtungen be3 erften toereinigten SanbtageS eine immer reatere,
beftimmterc ©eftalt annaljmen. 2lud) nid)t nur in Sejug auf gehuffe
©rfdjeinungen ber bilbenben Sunft unb ber $oefie. 9tm ftarfften hntrbe
fie fyeroorgerufen unb entfad)t burd) eine ber Ijerrlidjften, eigenartigjten
unb tooHfommenften SBerforperungen, toeld)e bag ©enie beS ©efangeS, unb
fpeciett be§ bramatifdjen, unb ber bamit eng uerbunbenen bramatifdjen
3)arftet(ung3funft, jemals gefunben Ijat: burdj bie ©rfdjeinung Routine
93iarbot*@arcia3. 2)iefe grofce SKeifterin, bamalS eben filnfunb^inanjig-
jdljrig, im fcoflften ©tanje iljrer jugcnblid)en geniaten ®raft unb if)re3
frtif) eroberten 28eltrul)m3 ftrafjlenb, toax nad) langerem Kufenttjalt in
Stuftfanb ju einem ©aftfpiel an ber italienifd)en Dper im alten Kdnig-
ftdbtifdjen Sweater nad) 93erlin gefommen. 9lm 4. ©eptember 1846 toar
fie bort jum erften 2Me (in ber 5RoHe ber Slmina in SeHini^ ©onnam-
bula) aufgetreten. Unb feit jenem Slbenb toar e§ un^ d^nli^ ergangen
ttrie 3BiIt|cIm SWcifter, feit ifjm Sarno jum erften SKale bie SBerfe ©t)afe^
fpeareg 5ur Cectiire empfol^lcn unb gegeben ^atte: „e3 ergriff un§ ber
©trom jenc£ grofeen ©eniud" unb tvix fjattcn un^ /;balb t)5Uig barin
tocrgeffen unb uerloren".
S)cr Diettei^t am tiefften unb teibenfd)aftlid)ften ©rgriffenc mar
gerabe einer ber dlteften unfereS SreifeS; 35 3a^re galten namlidj in
jenen gliid(i(^en jungen Sagen fiir ein 2Uter! — 2)ie ^eutige Berliner
©efellfc^aft jd^tt foldje Sunglinge faft nod^ ju ben Shtaben. — S)iefer
3n?an (Eurgertjen?.
2^5
Senior Dr. 9B.;©tr. (er fytt fid) crft neuerbingS in ©nglanb, ba3 er fcit
25 Safjren bemoljnt, cincn bebeutenben fRuf ate ftaffifdjer ^fjilologe,
fpeciett am 9lriftop!)ane3 erroorben) ' banftc bic gliidlidje ©rljaftung be3
jugenblid)ften geuerS einem ®efd)id, toeI<$e3 bet toeniger frafttootlen
unb miberftanbsfaljigen SJtaturcn gerabe biefer gigenfdjaft ant f^nettften
unb fidjerften toerberblid) hrirb. 2tte £f)eilnel)mer am granffurter Attentat
war er burd) be3 tyoljen SSunbeStagS beriiljmte Unterfud)ung3commiffion
ate ameiunbstoanjigjdfjriger ©tubent jum 2obe toerurttjeilt unb toie gri&
Steuter, fein SanbSmann unb ©tubiengenoffe, jit teben£tdngftd)er geftungSs
ftrafe begnabigt toorben. 3)urd) bie Stmnefiie beim SRegiemngSantritt
griebrtd) SBilfjelm IV. im gafjre 1840 ber gretfjeit unb bem Seben
guruigegeben, fanb er junddjft Diet geringeren Slntrieb, bie i^m fitr ben
©rtoerb einer feften SebenSftellung burd) fieben Serterjafjre geftoljlene
3eit burd) ernft^afte Semii^ungen jur nadjtrdgtid)en (Sroberung einer
fotdjen S(5ofition toieber ju getoinnen, ate tjielme^r aunddjft bie in feinen
gtoanjiger 3af}re.n toertorene ©umme toon 2eben§genu& in feinen breifcigern
einjubringen. $n ber ungefiorten 9tuf)e feineS geftungSgefdngniffeS fjatte
er ein reidjereS SBiffen ertoorben, ate e3 iljm md^renb berfrfben Sett
braufcen in bem ©trom ber SHJelt gelungen fein burftc. Seine f5rper;
ftdje grifdje unb ©efunbljeit aber toar ungebrodjen geblieben; feine 5J$er=
fonlidjfeit, feine Unterfjattung, fein Umgang toirftc n>al)rf)aft fjinreifcenb
auf feine jimgeren ©enoffen, benen er e§ an Seben^ unb ©enufefraft
jum mini?eften gteid) tf)at.
3)er gleid) ljofje Xemperaturgrab ber Segeifterung fiir Routine
SBiarbot fd)tof$ un£ nod) inniger mit i$m jufammen. 9lun ift aber cine
©angerin, unb fci in if>r aud) bie reinfte unb I)5<f)fte Sunft gleidjfam
toerforpert, bod) niemate nur ein Slbftractum, niemate nur bie gleidjgiiltige
gorm eine§ geiftig=fimftterifd)en 3n^alte. ©ie ift immer unb Dor 2lHem
ein SBeib. Unb ber @ntf>ufia3mu§ ber 2Rdnner fiir bie Sunftteiftung ftiefct
mit bem fiir bie grau in iljr unttrittfiirlid) jufammen. SDlan mag fid)
nidjt an ben 2Ra£fen if)re^ SSefenS geniigen laffen, toeldje fie auf ber
93iif)ne ber 3Renge jeigt, fonbern empfinbet ba£ bringenbe SSeriangen,
biefeS SBefen in feiner roat>ren, bleibenben, natiirlidjen ©eftalt Icnnen ju
lerncn, ifjm perfontidj m5glid)ft naf)e ju treteu. S)iefcr 3Bunfd) ttmrbe bei
einigen unfere^ Sreife^, ju benen ber Unterjei^netc geprte, oon lag ju
2ag bringenber. 2tber jene, un^ im fpdteren Sifter fo unbegreiftidje
,^erfd^dmte, blobe, fufee S^genbefelei'' trat immer 5mifd)en ba£ SSer^
tangen unb feine 2{u3ful)rung. S)a an einem Slbenb fam greunb
9K.^©tr. mit frozen 3Rienen ju unfercm bei ©d)eible: @r fei fefjr
gliidlic^; bie ^©ntljufiaftenirifite" bei grau SJiarbot bleibe i^m erfpart.
@t ^abe einen jiingeren greunb njiebergefunben, beffen 93efanntfdjaft er
t)or einigen 3a^ren in 3)re3ben gemac^t, einen 3tuffen, ber in 2)eutfc§s
lanb ftubirt §atte, Koltegienaffeffor 3tt)an Surgenjem. Siefer fci toon
2^6 £ubtPtg ptctfdj in Berlin.
Petersburg fjer ber intimfte greunb ber gamilie ber ftunftlerin uub nun
I)icr eingetroffen, urn tua^renb ber ganjen Saifon in SJertiu ju Weiben.
&eut molle iljn berfelbe in ba3 SSiarboffdje #au£ einfu^ren.
#abe id) je ba3 Safter be3 9lcibe3 an mir bcmerft, ma3 felten genug
im Seben gefdjeljen ift, fo mar eg in biefem Stugenbtid; eiueS 9teibe3,
ber ebenfo gegcn 9K. mie gegen biefen unbefamtten jungen Sftuffen gc=
ridjtet mar. Sim nddjften Stbenb marteten mir langer ate fonft auf
unfereS greuubeS Sluhmft. ©3 mar lange nad) 2Ritternadjt, ate er ein-
trat; unb er lam nidjt attein, fonbern mit ifjrn, in ben meiten prfjrocf
gefjiitlt, biefelbe ©cftalt, bie mid) am britten Slbenb juoor fo tief unb
feltfam impreffionirt gefjabt tjatte, ate id) iljr auf ber Zxtppc $ur
„3eitung^atle'/ begegnet mar. 2)aS alfo mar ber gtitdlidje „junge Stuff e"!
©alb genug nod) mdfyrenb berfelben 9la6)t gelang c3 bent neuen 93c-
fannten, ofjne jebe Stnftrengung feinerfeite, bie erfte fliidjtige ©mpfinbung
be£ 9leibe3 in bie fe^r entgegengefefcte ber reinen greube itber fein $ier-
fein unb be3 innigen SBo^IgefaHenS an feiner $erfonlid)feit ju t>cr=
manbeln. ©r fpradj fliefcenb beutf(^r metres ber ruffifdje 3lccent mol
etmaS frembartig, aber nur befto anmutfjtger unb einfcfymeidjclnber flingen
\xt% $atte er bod), nadjbem er bie 3Ro3faucr Untoerfitdt befud)t, jmei
Satire (40 unb 41) in Serlin ftubirt; mar ein eifriger £>drer unb
glaubiger SSefenner ber £egerfd)en ^ilofopljie — ju ben gitfcen SBerbers
unb -JJiidjetete fifcenb — menigftenS gemefen unb fjatte aud) mieberljolt
anbere beutfdje ©tdbte ju tiirjerem ober langerem Slufentfyalte befuc^t.
©r lamtte Paris unb Stalien, bemieS eben fo feineS, ticfeS unb eigen=
artigeS ©efiiljl unb SBerftdnbnif? ber 9Mufif unb ber SKaterei fomie ber
poetifdjen Siteratur. SDfit ber beutfd)en fdjien er griiublid) toertraut unb
fpccictl oon einer imponirenben (Soetljefeftiglcit. 2Ba£ er fprad) uub
moriiber e£ aud) fein modjte, ba£ mar burdj ©efyalt, mie burd) bie gorm
ber 2)arftettung immer gteid) anjief)enb unb feffclnb, fjatte uidjt nur
frifrfjen Stetj ber 9teuf)eit unb Origiuatitdt, fonbem unterfd£)ieb fi^, mic
id) balb erfannte, fe^r mefentti^ Don ber Slrt jeuer ©efprd^^ uub
3)arftetlung£meife, meld)e unter uu§ uormdrjti^en, me^r ober meuiger
^egeiianifd^ breffirten ober boi) angefrdnfelten 3bealiften Dormiegenb mar,
burd^ eine mid) Doltig iiberrafd)enbe finnli^e ©egeuftdnbtic^feit, buxS) bie
giitte ber feiueu unb genauen Seoba^tungen ber realen 9latur unb be3
aRenf^eutebenS, uon beuen er bamalS fd)on einen reinen ©djafc in feinem
treu bema^renben ©cbadjtnife ange^duft ju ^aben f^ien. SBdtjrenb ber
folgenbcn Sage unb Stbcnbe biefe§ gtiidli^en S53iutcr§ unb griifjftngS
1847, »on meldjcn faum einer fcoriibergegangen ift, o^ne mir eine ober
ein paar ©tunben bc» erquidlid^en 3ufflJnntenfcin§ mit bem neueu 93e=
fannten 511 gemd^ren, fanb i^ immer tjerme^rtcn Stntafe, biefe nie juoor
in fol^em -Dlafte bci einem anberen 3Kenfd)en gefunbene ©abe ber 5(n=
fdjauung, ober melmetjr ber attgemeinen finnli^en 2tufnal)mefaf)igfeit fur
3n?an (Eurg6njeu>.
2<*7
atte ©inbritcfe bet 9latur, b. f>. bet gefammten SBirflidjfeit, eincr fo
eminenten Sunft bcr SarfteHung bcrfclbcn burdj bag SBort gefellt, ju
betounbero. SBenn cr ben europaifdjen SDSeftcn fannte, fo toax if>m bag
SBertrautefte felbftberftdnblid) bod) big baljin nod) immer bie eigene #ei=
mat. (£r mar ber ©otjn eineg rcidjen ruffifd^en Sanbebetmanneg im
©ou&ernement Drel, ber iiingfte ©profc ciner alten SDtagnatenfamilie,
beren 2Kitgtiebern, meibtidjen fo gut tr>ie mdnnlidjen, big jur lefeten
©eneration feine iener d)arafteriftifd)en ©igenfdjaften beg altrufftfdjen
©etoaltfjerrentfjumg gefef^tt fatten. Stber bag ©efefc ber 93ererbung fdjicn
buret) feine eigene $erf5ntid)feit ber Untoirffamfeit iiberfiif>rt ju fein.
S)iefe, f5rperlid) im getoaltigen ©til fewer 2tfjnf)erren angelegte ©e-
ftalt toax bie eineg -JJienfdjen toon faft roeibftdjer B^rt^eit unb SStify
f)t\t beg ©emiitljg, beffen frdftigfte Seibenfdjaft ber tiefe §af$ gegen bag
Unredjt, gegen bie fflrutalitat, gegen bie Unmenfd)ttd)feit in jeber ©eftalt
toax, unb fomit am Ijeftigften burd) unb gegen bie ©iinben unb grejoel
ttiber £umamtdt, 9ted)t unb 2Baf}rt)eit erregt tnerben mufjte. Unb gerabe
biefe falj er, nrie in ber ©efdjidjte feineg eigenen #aufe3r iiberatl in feinem
ganjen SBaterlanbe unter ber SRegierung Stifolaig bie unbebingte grau=
fame #errfd)aft fiifjren. SBag Seibeigenfdjaft f>eifet, Ijatte er auf feinen
ettertidjen SBefifcungen unb benen feiner Stadjbarn an ber Duefle ftubiren
fomten; mag brutale ©eiftegfnedjtfd)aft, getoaltfame (Srfticfung beg geiftigen
Sebeng einer ganjen grofcen Station fagen toitf, — liberal! in Slufjlanb,
in ben glSnjenben £au£tftdbten unb if)ren ^aldften, ttrie in ben ^iitten beg
fleinften 2)orfeg. ©o hmren bie Silber aug biefcr ruffifdjen £>eimat unter alien,
tteldje fein berebteg SBort in fo fdjarfer 9laturtoaf)rf)eit unb mit fo poe-
iifdjem ©timmunggreij matte, bod) immer nid)t nur bie lebenbtgften, fd)on
burd) bie ©eltfamfeit unb 9leu^eit beg ©egenftanbeg frappanteften, fon;
bern audi bie ergreifenbften. SSenn toon einem „t>erfoljnenben ©lement"
barin iibertjaupt bie Stebe fein fonnte, fo tourbe bag einjig burd) bie
liefe Siebe &ur -Jlatur Ijineingetragen, bie fief), jumal in foldjen fytimaU
fdjilberungen, jugleidj mit einem toafjren SDtalerfinn unb SSerftdnbnife aud)
fur ifjre intimften, leifeften ©d)iM£)eiten befunbete. Smmer aber erfdf}ien
fein SEBefeu, felbft feine £eiterfeit, tuie t?on einem jarten triibenben
©dicier, t?on einer getiriffen unbefinirbaren ©ci^mermut^ bef^attet. SBaren
^erf5nlicf|e ©rfa^rungen bie Urfac^e bation? Dber n?ar biefe ©runbftim^
mung nur jene3 attgemeine Srbt^eit feineS 93oIIeg, aug beffen Siebern
fie fo tteweljmlicf) ^eraugflingt? SUlir erfdfjien fie bamatg nur al$ eine
Seftatigung me^r fiir meine Ueberjeugung, bafe er jum 2)i^ter geboren
fei. 3)enn „t$ gefdHt bem 2)idjtergenie bag Slement ber SWelandjoIie''.
3tber (ber §eud)ter!) er leugnete jebeg berartige SSerm5gen ab unb —
Derfdjhueg confequent, ba| er bereitg in ber §eimat erjd^lenbe ©ebid^tc
in SSerfen, 9lot?etten unb ©fijjen tieroffentlic^t ^atte, in h)rfcf)en, toit ic^
mi<^ erft t)iel fpdter uberjeugen follte, eigentlid) fd)on alle iene Sigen-
»ptb unb ©fib. vn, 20. 17
2*8
£ubmig pietfd? in Berlin.
fdjaften unb SSorjiige ttar jit Xage gctretcn toaren, benen fcine fcmcren
©djdpfungen i$re ffiirfungen unb ifjren Sluljm ju banfen ljfaben.
Stnfang 3uni 1847 toerliefi XurgGnjeto Serlin ju eincr groften lour
burd) ba$ toefHid)e ©uropa. ©ein ©d^eiben rift cine fcf)mer$ttd) empfunbene
Siicfc in unfer fjiefigeS Seben. 2)a3 ©alg, bic recite SBiirjc beSfetben,
fdjien toerfdmninben. S)er SfoSgang be* „totlen 3^*^" toeranta&te audj
2R.*@tr., 33erlin aufjugebeiu ©r uberfiebelte todllig nad£| $arte, baS
cr faster baucmb mit flonbon toertaufd)te. %afyxt nad) Qa^rcn toergutgen;
— id£> tyflrte nic ben SRainen £urg6njet» netmen, empfing feinen ©rief,
tein 2eben3jeid}en toon tfjm.
Son bem 1872 toerftorbenen griebrid) ©ggerS rebigirt, erfc^ien in
ben erften fiiufsiger 3a^ren in Seriin bag „beutfdje ®unftblatt". 1855
im 3«nuar ging baSfelbe in ben SBefifc be$ fn'eftgen 93erlag$bud$anbler3
£einrid> ®df)inbler iiber. 3d} jeidjnete jutoeilen SBeilagen fiir baSfetbe.
3n jenem SBinter befudjte id) benn meinen SSerleger einmal, urn il>m eine
berartige Heine SKrbeit abjuftefem. ©r reid)te mir tin paax Corrector*
bogen: „@eljen ©ie'S einmai burd); e3 ift ein hmnberlidfjeS 8ud), bag
id} ba toerlege; eine Ueberfefcung auS bem Sftuffifdien; ein junger Stuffe
I>at fie mir gcbradjt, ber fetjr gut $eutfd) toerfteljt. SBtbert ^eiftt er,
lebt in SJJotSbam. 3)a3 Original foil in SRufjIanb unge^eureS SfoffetyeH
madjen." — SBer ift ber Serfaffer? — „3»an lurg^njen? nennt er fidj;
Ijier ift ein Stoguerreoty^ortrat toon ifjm, bad mir SBibert gelieljen iat"
S)er fo tange nidjt gefjorte f lang bed Stamens ertoetfte mir pto|lid>
bie ganje glutt) ber liebften ©rimterungen, toeld^e bic fiir midj feljt
fdjtoeren, triiben, jtoifdjen 48 unb 55 liegenben %a1)xt juriidgebraugt,
toenn audj nidf}t tocrfdjiittet gefytbt fatten. 3)a3 £id)tbilb jeigte mir ba£,
burd) ben to5flig toeranberten SBartfd)mtt jtoar ettoaS fremb gemadjte, aber
bodi) tt>of)Ibefannte fyerrtidje ®efid)t; nur nod) fdjtoerimitfjiger ate e^emald
blidten midf) bic 8tugen baraug an. Stber ^atte ic^ auc^ bie^ SPortrai
ni<^t jur finntic^en Sefraftigung jur $anb ge^abt, — bie ©ettupeit, ba§
ber Serfaffer, %toan lurgGnjetn, !ein anberer fei, ate jener untoergeftli^e
©enojfe unb §erbcifiif)rer ber fdf}6nen lage unb SRad^tc toon 1847, toare
mir fd^on burd) bie Sectiirc beS erften 93ogen8 j[ene§ Suc^eS getoorben.
Cefetere^ aber tear baS ^lagebud^ eineg 3fige*3".
SBie er einft ju erjaljlen getouftt, fo ^atte er nun gefdjrieben. SSon
feinem Uebcrfe^er aber fd)ien cr toortrefflic^ toerftanben &u fein. SEBo ber
©rsa^Ier fctbft fprid)t in biefen ©lijsen, glaubte ic^ bei ber fiecture
XurgSnietoS eigenfteg Seutfd^ ju ^5ren. S)iefe ©ammlung toon Sitbem
aud bem SJottelcbcn unb ber 3tatur feineS |^eimatli(^en ®outoemement§
ift langft, feitbem in afle ©prac^en iibcrfefet, ein nadf) ©ebiibr gef^a^ter
S3efi^ ber ganjen gcbilbeten SSSelt genjorben, bie faum ein biefem toer^
gleidjbareS 99u^ befifet. Svl ben meiftcn ber ©ft&aenf loel^e fcinen 3n*
^alt bilben, ^at i^n irgcnb ein ttrirflidEjeS Grlebnift, bie SSegegnung mit
3n>an (Eurgenjem.
einer iljm bemerfengtoertfj erfd^einenben ©cftalt, cine in ber 9tatur ge*
fe^enc lebenbige Scene angeregt. Scbe fiefyt ttrie ein reined ©piegetbitb
ber 8Birflid>feit aug; aber feme ift bfofce SJJljotograpljie berfelben @ie
ift mil ben Ijellen, fdjarfen ©innen beg 3agerg anfgefa&t, aber ttrieber-
geboren aug ber ©eele eineg 3)id)terg unb betoaljrt einen £audj toon
beren eigner ©d>8nl>eit. ©on feinen perf5nltdjen ©tnpfmbungen bet bent,
»a8 er ate erlebt unb gtfefjen fd&ilbert, fdf)toeigt ber ©rjd^ter faji in
alien biefen ©efd£}id>ten. <£r f filbert, er Ififet bie ^anbtungen bor fidfj
gdjen unb bie SDlenf^en reben, jeben in feiner edf)ten ©prad)e, bag SSotf
ttrie bie SSorne^men. Jfennt er bodf) beibe gleid) gut unb genau; geljbrt
er bod) feiner ©eburt, ttrjie^ung unb 33ilbung nadj ju ben lefcteren unb
trcrfteljt unb fflf)lt er bod> fo tief Stleg, load bie ©eele beg erfteren be*
toegt, belaftet unb qualtl $ieg „£agebudf) bed S&flttg" ift feinegtoegg
eine Xenben&fdtjrift. SRirgenbg reifct ben Skrfaffer bie Siebe unb bag
HKitteib mit ben ©epeinigten unb Unterbrticften, ber £afc unb bie 9Ser*
ad)tung ber ©ogljeit unb Stiebertradfjt unb ber 3uftanbe, toetd)e biefen
bag SRedfjt unb bie SRadtjt gegen jene gaben, ju 3)eclamationen ttriber
biefetben ober junt berebten Slugbrud feiner Iljeilnaljme unb feiner @r-
griffenljeit fort, ©r beflagt nid&t unb mad£}t fid) audj nidjt btrect jum
SlnMager ber SSerbredfjen einer barbarifd£}en Xtyrannei unb ber ©onfe=
quenjen beg 3nftitutg ber Seibeigenfdfjaft. Unb bennodfj Ijat fetneg toon
ben unjdtjligen glutjenben Spiaibotyerg fitr bie unter berfelben Seibenben,
©efnedfjteten, feine ber teibenfdjaftlidfen refcolutionftren ^rebigten gegen
bie ffiinrid&tung unb bie, toeldtje fie aufredf)t f>ielten, augnufcten unb etgenfc
ltd) fiber bie gefatnntte Sebblferung bed ruffifc^en 9lei(f}g augbef>nten,
eine fo gettmltige, birecte, audfj praftifdfje SBirfung geubt, ate biefe ©amm=
lung funftterifdjer, objectitoer Sebengbilber. 2Ran lernt eben aug it)pen
fennett, toad ©flafcerei ift, toag ©fta&enfjalter unb Seibeigene finb. Unb
fetbft bie aug foldfjen 3uft&nben ertoad)fenen Ijumoriftifd&en unb grotegfc
fotnifdjen giguren unb ©cencn ertoeden bie ©mpftrung in ber Sruft beg
2eferg gegen bag Suftitut laum minber alg bie S)arftellung begfelben in
feiner ganjen gurdjtbarfeit unb erbartnunggtofen Unmenfdjlidjfeit. 3um
enblidfjen ©turj beg ©^ftemg unb jur Slufoebung ber 2eibeigenfdf)aft Ijat
bieg „£agebudj eineg Sagerg" *>ielleidf)t fraftiger ntitgetoirft ate atle
Slrbeiten ber SSerfd^to5rer in unb aufcerljalb JRufelanbg.
S)ag ©^ftem erlannte ben gefafjrtidien geinb, toeld^er iljm ^ier er^
ftanben mar. Stber eg ^atte feine re^te £anbljabe, i^n ju Demidfiten ober
unfdj&blicf) ju madden. 3)ie Eenfur liefj bag ^lagebuc^" jientlic^ un^
getyinbert ^affiren. 9Ran fu^te unb fanb einen anberen 8falafc ju einer
9trt toon Slad^e ober ©trafe. 3ebenfaHg ift fie feine befonberg f^merc
unb graufatne getoefen. S)er S3erfajfer tourbe fiir g^ei 3aljre auf feinen
aSefifeungen internirt, toag i^n inbefe nic^t ^inberte, fo oft eg ttjnt be=
liebte, 2Ro3f au ju befuc^en. 2)er Xob SRifolaig unb ber Stufgang ber
17*
250
£u&nng pietfd? in Berlin.
ncucn 3«t fiir SRuftfanb nad) bent Stbfd^tufe beg SrimfriegeS t>at aud>
biefen nidtjt befonberS empfinbltdfjen SDlaferegelungen unb perfonlidfjen %xtu
fyeit8befd)rdnfungen Xurg6njem3 ein Qxd gefe|t. S)tc bamalige ncuc (Sene*
ration toerefjrte in i§m cincn ber midjtigften SRitarbcttcr am SBerfe iljrer
(Srlflfung. 3)urd) bic SDtittljetfung beg Ueberfefcerg SBibert, beffen Se-
famttfd)aft id} unmittelbar nad) ber erften Semttni&nafjme ber Stug^dngc-
bogen madjte, erfuljr idj menigftenS einigeS £t)atfacf)lidfje Don bem Seben
lurgenjems fcit ber 3*it, too er SJerlin fcerlaffen Ijatte. 3)ie beutfdje
Ueberfefcung tmm „Xagebud) cineS Sager^" erfdEjien. 9Iber bic barin jur 3)ar;
ftcttung gebradEjten Suftdnbe unb aBenfdjen maren nidjt nur unferem grofeen
SPublifum, fonbem aud) ben beutfdjen dftl)etifc£)en 99itbung3freifen fo
fremb, bie tiefe Srofttoftgfeit unb bic unbarmfjerjige SBaljrljeit barin fo
menig betyaglidf), bafc ntan fid) gegen bie 3Jiad£)t be£ SmbrucfS biefer Sr*
jdfylungen bei un£ anfangS meift toerf<$fof$ unb fie im Siflgemeinen, ftatt
ber ficf)er oon ntir ermarteten, eine jicmlidf) fii^te Slufnatyme fanbeti.
SBenn id) perfdnltd) nad) meinen bamaftgen fdjmadjen geberfrdften mit
tooHem ®nt§ufia3mu§ offenttid^ bafiir in'3 3eug ging, fo bfteb ba§ natur=
ftdE) t)5ttig mirfung&oS. 2tud) $aut $etjfe, ben id) toon ber ffiunft be£
©rjaljlerS faft eben fo fe^r bejaubert, al3 toon ber poetifdjen unb menfdjen*
bilbnerifdjen -Jlaturtraft beSfelben int Xiefften ergriffen fanb, mibmete iljm
unb feinem SBerfe eine meifterfjafte, feljr einge^enbe fritifdf)e SJefyred&ung
im f/3)eutfd>cn Siteraturblatt", in meldjer be£ S)idjter£ (Stgenart unb
©rflfje attfeitig gcrcd^t unb erfd)5pfenb gemiirbigt murbe. 3)odf) be3 f<$on
bamate gefeierten unb attbetiebten jungen $oeien berebteS SBort dnbertc
Dorldufig menig an ber faft gleidjgiiltig referfcirten §altung be£ beutfd^en
$ubltfum3 gegen ba3 93udj unb feinen 2lutor.
, Sin neuer 83erfudj, Surgenjem in Seutfdjlanb einjubiirgern, murbe
burdj ben toerftorbenen SBoIfffon in ber toon tfjm IjerauSgegebenen
„3)eutfc£);ruffifd)en SRefcue" ju @nbe ber funfjiger unb SInfang ber
fed^iger 3^re gemad)t. Sein ©eringerer ate gr. SBobenftebt iiber=
fefete fiir biefelbe ba^ t)ietteid^t Doltenbetfte unb abgefd&lojfenfte SWeifter^
loert bc§ 2)id^ter3: „gauft; eine ^o^elle in Sriefen". Slbmec^felnb
in granlreid^ unb in ber ruffifdjen $eimat lebenb, in ber t)5djftculti-
toirten ®efettf^aft ber enropaifdjen ©ro^ftdbte unb tt)ieber jmifdjen feinen
ruffifc^en Sauern, unter benen er nun eifrig praftifd) tljdtig mitmirfte,
ba§ ©efc^enf ber i^nen gegebenen grei^cit ju realifiren unb fiir fie felbfit
toa^r^aft nujjbar ju madden, mar Surgenjem toaljrenb biefer S^re
bid^terifc^ fe^r probuctto gemefen. Slbcr bie bamafe gefdjaffenen gro^eren
ersa^Ienben S)idt)tungen: f/aSdter unb Sofjne", ^Srfte Siebe", „S)mitri
atubin", ^^elene", /rS)er Slntf^ur", ^Slnufc^ia", „®a3 Oaft^au^ an ber
Sanbftrafee" blieben in S)eutfd)lanb fo gut mie unbefannt. S)a^ „ablige
9left" mar bie cinjige, meld^e bantalS (1861) in einer beutfdjeu
iibrtgeng redjt fd^mad^en Ueberfefeung (t)on ^5aul gucljs) in 2eipjig er^
3»an (Eurg6njen>.
25^
fdjien. 3Ran Wmmerte fidfj eben in 3)eutfcf)Ianb nod) fo toenig urn bie
ntoberne ruffifdfje Siteratur, bafc fcin SBtberfjaH, fein SBetlenfdfjlag ju
unferen literarifd&cn Sreifen felbft toon bcr cnormen larmenben SBetoegung
fycriibcrbrang, toeldfje }. 93. Xurg&tjetoS „93dter unb ©oljne" bet tl)rem
©rfdjeinen in feinem SBaterfanbe fyertoorgerufen fjatte. ttmr bcr grofete
(Srfolg getoefen, meldtjen bcr Sifter feit bem „£agebud£) eineS SagerS"
bort errungen getjabt ^atte; abcr ein ©rfolg toon toefentlid) anberer Strt.
Scibc ©enerationcn be3 ncuen Stuftfanb, bie ftdf) feit ber 3)urd)ful)mng
bcr Sfteformen ?He£anber3 n. gegeniibertraten, fyatte cr im trcucften ©{)iegek
btfbe unb mit eincr ttunberbaren, in bic feinften gafern be3 innercn
fiebenS feiner Scit unb iljrer 2Kenfd)en bringenben, bidtjterifefyen ®itoi=
nation§gabe barin gejeid)net. ®$ roaren nid)t meljr bic beiben alten
©egenfdfce, tuie fie in ber SSIut^ejcit bcr iperrfdjaft be3 Sttfolai'fdjen
©t)ftem3 fidt) befdmpften: brutaler ?tbfotuttemu3 unb pijilofopliifctyer
SiberaltemuS. ®ie 93ertreter bc§ tefcteren gerabe, bie „h>eftlid)" gebifc
beten, fyuman unb fret gefinnten 3beoIogen unb Slomanttfer, faljen fid)
nun $>I5fcIid) burdj cin jungeS ^immelftttrmerifd)e3, entfejfelteS ©efd)Ied)t
in bic ^ofttion bcr nod) toor ®urjem toon i^nen fclbft befdmpften „2Uten"
gebrdngt. 3)er rabtfatc 9tifjilUmu3 ertouc£)8 mit einer erftaunlicf)en
©djnelligfeit auS bem toon ©runb au3 umgetodtjten 99oben ber ruffifdf)en
©efetlfdjaft. XurgGnieto fanb ben hmtyren muftergiiltigen %t)pn$ unb
SReprdfcntanten bicfer Sugenb, ben jungen SKebiciner 93ajaroff. $iefe
in ifjrer UntiebenSttmrbigfeit bodf) fo imponirenbe ©eftaft unb bie Stfber
berer, tt)eld)e ber 3)id)ter ate beffen ©djiiler unb ©eftnnungSgenoffen mit
fo unerbittttdjer 9Bat)rf)ett jeidf)nete, fanben bamate nodj feineStoegg ben
Seifatt ber jungen ©eneration. ©ie iiberfdf)uttete iljren 3*idf)ner mit
Sntoectitoen unb branbmarfte ben, fiinf 3afjre jutoor nodf) ate einen ber
Sefreier be3 S3aterlanbe£ ©cfeiertcn ate einen SSerrdtljer an ber ©acf)e
bcr greiljeit. Stber eben fo toenig fd)ienen audf) bic „9llten" mit ben in
ben beiben Sriibera ftifenoff nad) iljnen gejeid^netcn reprdfentatitoen ^ortrdtS
jufricben $u fein, fonbem fetjr geneigt, ben 5)idjter felbft ate einen Se^
fenner ber nit)Uiftifd)en Seljren feineS 93ajaroff anauflagcn. Sn ©ngtanb
unb granlreid^ n?aren biefe n?ie bie anberen bid)terif^en ©^opfungen
SurgenjetoS, unmittclbar nad^ i^rem Srf^cinen in SRuftfanb, in mcift
tjorjiiglid^en Ueberfefcungen erfd^icnen (bic franj5fifd{|e 93earbeitung toon
„33ater unb ©S^nc'' eingelcitet burd) ein SSornjort toon prosper SWcrimee).
2)er Stutor toax bort befannt tote in feincr £>eimat, ja uneingefdf>rdn!ter
nod), ate in bicfer, toeretjrt. 3n S)eutfd^Ianb blieb feine ffenntnife unb
bic Sicbe fur ifjn bamate nod) immcr auf eine ganj Heine ©emeinbe toon
SQSiffenben befd)rdnft.
Sm grueling 1863 fam idf) ju langctem ?fufent^att nad^ $arte.
2)ort, im §aufe ber gamilie SSiarbot, bort crnjartetc mid) eine ganoid)
uner^offtc freubigc Uebcrrafc^ung: toaljrenb be§ crften 93efud^^, ben idtj
252 £u&mig pietfdj in Berlin.
bet i§r madfjte, trat 3tt>an lurg^njeto in'd S^vxtt. ©em Dolled $aapt*
unb SJartljaar mar fritf) ergraut; im Uebrigen fatten bicfc 16 3<rfjre
bie tootyfoefaratte, unDergefcltdfje ©rfdfjeimmg nid£}t toefcntlid) geanbert. 9hir
toenige lage ttmrbe rair bamald bad ®Iud, mit t$m bort pfammen
jubringen, bic attett Srinnerungen ju crncucm unb bic Silcfcn in ntetner
Semttttifj Don feinem Seben unb ©djaffen tt>al)renb ber bajteifdjen liegett-
ben $eriobe burd) feme SRittfjeilungen ju erg&nsen. (Sr folgte in jenent
griifjlinge ber tijm fo nalje befreunbeten gamilie, an toetc^e er fid) mit
audbauernber Xreue unb Snnigfeit angef^toffen §atte, nad& SSabemSteben,
ttwljm btcfclbc ju DieQafirigem Slufentljalt uberftebelte, ba bie moralise
unb politifdfje fiuft bed jtoeiten Smpire £erro Souid SSiarbot, bem be-
lannten ftunftfdtjriftfteller unb &ulturl)iftorifer, bem eljemaligen geftnmntgds
ftrengen unb uberjeugungdtreuen greunbe 2lrmanb SRarraftd, unertr&g;
lid) getoorben toax.
55ort in 2)abens$8aben, in bem fdjdnf>eitreid>en SBalbtfjal ber Dod,
fanb icfj auf ber £etmfet)r im %ul\ bedfelben 3aljred Xurg6njeto ttneber.
Unb Don ba ab ttmrbe ed &u einer lieben unb begliitfenben ©etooljntjeit
fur mid), in jebem ©ommer toftljrenb 6—8 SBodtjen fcinc SBotjnung unb fein
Seben ju tljeilen. @d fd)ien, aid ube ber Ijerrlidfje Drt audf) auf iljn jene
ftitle 2Radjt, toeldje ben, ber einmal bie unDergleidtjlidjen JReije bedfelben
unb bed Stufentljaltd in iljm !etmen gelernt Ijat, mit SBiflen faum ttneber
Don ifjm f^eiben lafet. $)ad bamalige fflabemSSaben getoaljrte feinem
©aft unb SBefoofyter in jebem Stugenblicf ben SRitgenufc atted ©landed
unb aller Suft ber raffinirten, mobemen, gro&ftabtifd)en SiDilifation
unb Sebendfunft, unb jugleidf) bie 2R5glid)feit, i^n nadfj Selieben fofort
audtaufdjen ju !6nnen gegen bie fHtten greuben einer burdf) nidfjtd ge^
ftorten Ijolben poetifdfjen ©infamteit, inmitten einer reid&en, tjerrlidjen
3Balb= unb ©ebirgdnatur, beren ©rofcartigfeit fidfj mit einer toal>rf)aft
ibealen Slnmutlj auf 3 Snnigfte DerfdjmUjt. Stt cinem jener ©eitentijaler,
toel<$e ftdf) Don ber £idf)tentljaler Stllec aud tief Ijinein jttnfdf)en bie SBalbs
berge Ijin erftreden (im „2:f)iergartentf}ar'), lag bie SSiHa SSiarbot inmitten
eined toeiten parfat)nlid)en ©arten^, ber auf ber einen ©eite Don ber
Sanbftrafce, auf ber anberen Don ben ju ben tannenbebedten §6^en bed
©auerbergS anfteigenben, fafttgen SBiefen umgrenjt ttmrbe. ©ad nod^
tiefer im I^al gelegene, bem $ar! ndd^ftbena^barte SBiefengrunbftild er^
warb Surg^njem aid GSHgentfjum. 1865 begann er mit bem Sau eined
eigenen ^aufed auf bemfelben, einer ftattli^en SSiHa im ©til eined fran-
jofifc^en Suftfd^lo^end Souid XIII. mit ^o^em 9Ranfarbenbad) unb fc^lanfen
K^emin^ed. Urn biefed, balb feinem Keufeeren ^armonifdfi aud) im Suneren
audgeftattete, ©d^Wfec^en entftanb etn (Sarten mit alten, breitfdjattenben
Dbftbdumen, jierli^en neueren Slnlagen, Sodquetd unb toeiten Stafenfta^en,
Ileinen SJtodfen, Don einer auf bem ©runbpdt felbfk entfrringenben DueUe
burd^riefelt unb nur burd) eine lebenbige ©ebiifdf^ede Don bem auftofeen^
3»an (EurgSnjero. 255
ben, baumreidjeren $arf be3 befreunbeten $>aufe3 getrennt. 1866 murbe
bie3 neue $eim t>on fcincm Sefifcer Imogen, unb fiir bic folgenben Safjre
bte jum ©ommer 1870 btieb e$ bcr ©ctjauplafc einer ma^r^aft ib$«ten
Xurgenjeto trug jmar bic dufcerfte Xrdgljeit gefliffentlid) jur ©df)au.
(Sr fc^ien feme 3eit bort Iiauptfdd&Iid) bem tdglidjen unb pnblidjen SSer;
letjr mit ber gamilie feineS greunbeS ju mibmen; bem ©enufc bet iljm
jum tieffien SebenSbebiirfnifc getoorbenen, nirgenbS reufjer unb Doll*
lommner ate in biefem ftreife gebotenen mufifalifdjen $unft, unb — Don
ber fetynlict) ertoarteten 9tuguftmitte an feiner jtoeiten #auptfeibenfd)aft,
ber Sttgb, ju leben. Unb trofc biefeS 9fafd)ein3 toaren bie in SSaben*
Saben toerlebten Safjre fiir iljn aufcerorbentlid) frudjtbare. 3** iebem
berfetben mufcte er ftdj, ob audj tmmer mit bitterem SBiberftreben, ju
einer griifjfingSs ober SBinterreife nad) Stu&tanb entfdjttefcen. Unb in
bem, menu aud) nur meift toenige 8Bod>en rodljrenben, Slufentljalt in ber
$eimat unb ber SBieberberiiljrung mit bem naturlidjen SKutterboben feineS
©enieS getoann baSfelbe, fo fdjien e3, immer ttrieber neue ®raft, ober
ttmrbe e3 ju neuen bid)terifd)en ©ebilben au3 bem Seben beg ruffifcf>en
Softs unb ber neuen ©efetlfdjaft befrud>tet. Slber and) in feiner rela;
titoen SSerborgenfjeit in 33aben tear er jener nid)t ganj entriicft. 3)ie
SJkomenabe fcor bem ©urtyaufe bort f>at befanntlidj tfjren „rufjtfd)en
SBaum", unb toon ben bad %fyal umgebenben belaubten #ugeln fd)immern,
hue man toeifc, bie fcergolbeten ^u^eln ruffifd)er Sapetten unb blinfen
au£ bem Sunfel ber Sdume unb SBoSquete ifjrer tyaxH bie listen
SRauern unb bie genfter ber SBitten unb ©d)15f$d)en jafjlreidjer ruffifd>er
?trifto!ratenfamilien Ijerfror. 93aben=93aben mar, toenigftenS in jenen
3eiten, ein SRenbesfcouS-Pafc fiir aOe %t)ptn bed mobernen SRujfentljumS.
#ier fanb er bie SKobelle, bie er bidjterifd) frei, unb barum erft redjt
treffenb, 1866 in ben ©eftalten feiner beritymten 9tomanS „9taucf>" re*
probucirte; ein SBer!, ba§ ben ©rimm unb $afe fo jiemlidj aller $ar*
teien feine§ 93aterfanbe£ gegen iljn entftammte. fflitterere SBatjrljeiten
tyatte nod> nie ein Sifter, ©ittenfd&ilberer, ©ociatyolttitcr feinem eigenen
Sanbe unb SJolf in1^ ©efi(^t gefagt, mie Iurg6nieh) ^ier bem rufjxfdjen.
3^ mu§ mid^ begniigen, nur bie lite! ber ©rjd^Iungen ju nennen,
toel^e md^renb ber in S9aben*99aben t>ertebten 3cit Don tfjm gefc^rieben
tporben finb. 2)ie ttmnberlicfyspliantaftifdje ©rjd^lung: „®rf^einungen//
ober ^SSifionen", in toe!<f)er man fo t)iele ge^eime Slbfi^ten unb f^mbo*
lifc^ DerKeibete ©ebanfen i^re^ ®id^terd erlennen tooflte, iod^renb fie in
SQBa^r^eit (idj ^abe fie glei^fam entfte^en fe^en) boi) ttid^td ate ein ab-
fic^telofer Iraum, frettid^ ber Iraum unb bie ^^antafie eine^ edf}ten,
mit ber SHatur auf'd ©riinMi^fte Dertrauten Sleatiften ift, er5ffnete bie
8tetf)e 1863—64. Sort entftanben femer: „3)a§ Slbenteuer be^ flieutenant
Dergunoff", „3flau^//, „S)er ®5nig Sear auf bem Sorfe", „@ine Unglucf*
25^ £ubn>ig pietfdj in Berlin.
lidje", „(£ine feltfame ©efdjidjte", „3)er Srigabier" unb, in Solge eineS
jur 3cit bcr 4?inrid)tuttg SrauppmannS gemad&ten SSefudfyS in $ari3, jeneS
SWeiftcrtocrt bcr ©djilberung ber lefcten ©tunben Dor bcr Execution be§
genannten SDtflrberS.
63 gel)5rt jum t>5cf)ften (Stud unb ju ben feinften ©eniiffen metneS
SebenS, getoiffermafcen, fo toeit ba3 bei ciner bidf)terifd&en Arbeit then
moglidj ift, bem funftierifdjen ©djaffen unb SSilben biefeS auf$erorbent=
Kcfjen @eniu3 jugefeljen ju tyaben. @3 toar fo ganj eigentl)umli(f)er Slrt,
fo griinblid) Derfdf)ieben Don ber getooljnten SRanier bcr f<§riftftetlerifdjeit
Iljdtigfeit am f^ult. @3 ift nic bci £urg6njeto auf ,,83eftellung" gc-
fdfjeljen, nic untcr bcr (Sintoirfung irgcnb eineS dufjeren 9lntriebe$, nemte
man bcnfclbcn Sfjrgeij, litcrarif^c 9iuljmfu(f)t, SBunfd} ju gef alien, obcr
ju beffern unb p befetyren, lenbcnj obcr ©elbertoerb. 2)urdj foctalc
©tettung unb Sftaturett ift cr Don #au3 au3 bcr 3Birfung£f$jdre folder
SKotiDe, h)ic fic gcrabc bic md^tigftcn fur fo Diele unferer StoDeHiften
finb, entriidt. Unb bamit audj jener SIeinlid§feit be3 ©inne§ unb bcr
Sntereffen, bcrcn ©puren !eine fttmft in ben ©djdpfungen bcr barait
Sc^afteten auSjuldfdjen Dermag. SEBenn lurgenjeto fdfjrieb, gefdjal) e£
jebcrjeit nur untcr bem 3to<Htge ciner tf)n befjerrfdjenben unb treibenben
unerflarlidjen 3Rad)t. @r fal) cin beftimmte8 SBilb, cine ©injelgeftolt
ober ©rujtye. gn ciner getotffeu 93eleucf)tung unb garbenftimmung trat
fic Dor fcin tnnereS Stuge; jutoeiten cine folcfje, bic cr einmal in bcr
SBirflidjfeit gefeljen fyitte; ebenfo oft aber aud), oljnc baft cr toufcie,
looker fie iljm fam. Ste ©rfdjeinung beldftigte tfjn, peinigte i^n felbft,
Socmen, SKonate lang; feljrte unabldffig tmmer toieber, ate ob fic Don
iljm iljre objectiDe ©eftattung in etnem Sunfttoerf gebieterifdj Derlangtc.
SBic gem tydtte er fid) berfelben entjogen; auf bic Sdngc fonntc cr e3
nidjt. S)ann finite er fidt) toie Don einem Siebelgetoolf umgeben. 3mmcr
beutlidjer geftaltet, tratcn au£ bcmfelbcn einirfne, mcift ruffifdje giguren,
SKanuer unb SBeiber Don Derfdjiebenftem Sllter, 93eruf, 2tu£fel)en, ©pradje,
93enef)men, jutefct in teibfjaftigfter Slarljeit fjerauS, bie in irgcnb eincr
bem 3)idjter felbft nod} unbefannten SBejieljung ju jener ipauptgruppe
ober ipauptfigur ftanben. ©r f)5rt fie mit finntidjer 3)euttidjfeit fore*
djen. ©ie erjatyten iljm i^re Seben^gefc^i^te, i^re 2lbfid}ten. ®r fami
e^ n\6)t meljr Dcnneiben, ein Slftenftiid anjulegen, in toeld)em cr, untcr
bem Stamen jebe» ©inidncn Don i^nen, iljre 3Ritt!|eiIungcn, bic fid^ ju^
roeilen tool bi§ jur ©cfd^i(f)te ityrer ®ro§eIteru juriid erftreden, nicber=
fdjreibt. 2)ann toirb er tool betoufct, bafe cr ben ffreiS Dcrengcrn
mufe. @r fc^eibct einc grofcere ober geringcre Slnja^I Don SPerfonen au^;
ben fReft Idfet er auf einanber toirfen. SBittc unb ©c^idfalf Srei^eit unb
9iaturbebingtt)eit burd^ SSererbung unb natiiriid^cn 9Solf3; unb §eimatS=
boben toirfen jufammen, urn Seben^gang unb ^anblung^tocife ju beftirn-
men, bie Sataftropf)en unb bic 25fungen ^rbeijufii^reu. 2(u§ biefcr ?trt
3t»an (EurgenjetD.
255
beg @df)affeng ertodd£)ft feinen 2)idf)tungen jeneg (Seprdge bcr fiber jebe
aSBittfiir erljabenen, abcr fomit freilid) and) bic etgentlidje, mit betoufcter
flarcr 9tbfid}t burd§gefiif)rtc, dftfjetifdje ©ompofition augfcfjltefeenben 9&a*
turnotfjtoenbig!eit beg SSertaufg. ©ie ift ber 33orjug, abcr befonberg in
ben Sfogen fo mandjer beutfd&en, dft^ctifc^ toofytgefdEjulten Sritifer jugleid)
and) bcr grdfcte 9Jianget bicfer erjdl)tenben 3)idf)tungen. 2>iefe 93eurtf)eiler
mogen eg iljnen nidf)t i>erjetf>en, baft fic ni<$t, toie eg ber beutfdje fRoman
&orfd§riftgmdf$ig tfjut, „ljarmonifdj augftingen", toenn au<$ tragifdf), fo
bo<$ „t>erf5ljnenb" fd&ftefcen; fonbern eg ber Xugenb fo feften, toie eg
bag Seben unb bie SBirflidfjfeit tljut, oerg5nnen, fidEj jufrieben unb tier*
gniigt nadf) atlen Seiben ju Jifdjc ju fefcen, todljrenb fidEj bag Safter
erbridfft.
SBie oft fjabe id) todljrenb unfereg fommertidjen 3ufammentebeng
Surgenjeto unter bent innerlidjen Stoan$t biefeg ,,©df)reibenmuffeng''
leiben feljen nnb tfjn budjftabticf) ftof>nen geljflrt, toenn er eg fdf)Iedf)terbingg
nidf)t metyr t)inaugfd}ieben fonnte, bemfelben golge ju letften; toenn bag einfame
<&6)afy unb ffiittarbfpielen mit fi<§ felbft unb bie ^mtynerjagb nicf)t Idnger metyr
auSreidjten, um it>n biefer SWtljigung ju entjieljen unb biefclbe oor fid) felbft
fcergeffen ju madjen. „3d) mufi tyeute fdjreiben!" tear bann toot cin mit
cincr Strt lomifc^er SBerjtoeiffung auggeftofiener ©djmerjengfdjrei am SWorgen
eineg foldjen Strbeitgtageg. SBar aber bag 28erf in ber forgfdltigften Slug*
bilbung jum 2lbf<f)Iufi gebradjt, fo intereffirte iljn bag fernere ©djidfal beg-
felben !aum im ©eringffcen meljr. Site fjabe idj eincn ©d^riftfteller ober
fiiinftler Don einer fo abfotuten, aufrtdfjtigen GHeidfjgultigfeit gegen ©rfolg
ober Slidjterfolg f einer SBerfe, gegen bie 3Meinung ber 2Bett unb ber
Itterarifdjen ffritif uber biefetben gefunben toie iljn: „bie Xfjat ift Stlleg,
9iidf)tg bcr SRuljm" audf) fiir i^n. ^oc^fteng, bafe i^m jutoeilen einmal eine
Ueberfefcerbarbaret, — unb er tjat toon folder fdjlimmer toie anbere ju leiben
getjabt, — cinen Slageruf iiber fcine fo plump mifct)anbetten ©etftegtfnber
entlodte. ©eit feiner Ueberfiebetung naif) ®eutfd)Ianb, — bag, toie er
in ber SSorrebe ber bei Sefjre in Wlitau erfc^einenben beutfe^en Uebers
fefeung feiner auggetod^Iten SBerfe dffentlid) erHarte, er alg ein jtoeiteg
SSaterianb oere^re unb liebe, — begann plo^ti^ bie ^opularitdt, bie
93eliebtljeit feiner ©rjd^Iungen auc^ bei ung oon %a1)v ju 3aljr in rapiber
©(^netligleit ju toadjfen. 3)er immer ftdrfer fid^ enttoidclnbe, mit ber
Sraft einer anftedenben Sranf^eit in ber beutfdjen SBtfbunggtoelt um fic^
greifenbe peffimiftifd^e $ug unfercr 3^it fam ber SBirfung Don lurgen^
jetog ®i(^tungen ju gut, tod^renb gcrabe biefe in iljnen felbft fo ftarf
unb Ijerb Dortoaltenbe ©timmung unb SBettanfdfjauung }to5If 3at>re
fritter i^rem ©inbringen bei ung bie ftarfften ^inberniffe bereitet ge^abt
^atte. Ueberfefeuugen unb SBearbeitungen ni^t nur feiner neueften, fon*
bern aud^ feiner dfteften jugenblic^en Slooetten brdngten fid^ in unfere
SRomanjeitungen, toie alg SBudfjauggaben. Sine ©eite feiner bid^terifd^en
256
£ub»tg ptetfd? in Berlin.
?|Jrobuction atterbhtgd l)aben bic Ueberfefcer bid biefen Slugenbtii nodj
nicf)t ber Seadfjtung getofirbigt, t>ieUeid)t and) nidfjt gelannt: bie toon
gettjcto in $aben>39aben Derfa&ten, frattjBftfdj gefdjriebenen Xejte jterlidK*
fleiner, pljantaftifdjer Dperetten. ©r f<$rieb fte fftr SRabame SBiarbot, bit
fie jum Xe^t ber Don if)x componirten anmutljtgften SRufif benufct. 3)ic
Sttta SSiarbot mar toctyrenb aUer jener %af)xt eine ma^rc #ocfcfc$ule be*
edjten Suuftgefanged. (Sin ftreid bon ftimm~ unb talentbegabten juttgen
$)amen aud alien CEuIturnationen empfing bort Don ber grofeen SReijterin ben
Unterridjt barin. 3n jtoei, bamald nod) Ijalb finblidjen, reijenben Zd$tern
fd)ien bad mfitterlidje ©efangdtalent fi<$ }u neuer prfidjttger Slutye $n
entfalten; toie bie aHgemeine mufifalifd)e SBegabung nidjt minber audj in
einem ftnaben, bem jiingften ©oljn bed $aufed. Um biefen ©<§tilerinnenlrei$
and) in ben Slnfangdgriinben bed ©piete unb bed brantatif d)tn SJuljnengefanged
prafttfdfj ju iiben, componirte bie SKeifterin jene Dpern, beren &)ot- unb
©oloftimmen, mit 9fadnal)me einer SRdnner* unb einer Snabenrotte, au#*
fiffltejjlid) aid toeiblidje, aid ©oprane unb 81te, gebadjt ttwiren. 3<$
glaube, ed tear bie einjige Slrt bon bid)terif<$er Brbeit, toeldje lurgeKjeto
ntit toaljrem SSergnugen unb 2)el)agen audfiiljrte, biefe Sibretti p ber*
faffen. Unb bo<f> toaren barin jene nid)t eben leid)ten Sebingungen ju
erfuUen. @d finb „Le dernier des sorciers", „Trop de femmes" unb
„rOgre". $er liebenbe Sarins in biefen Dperetten tourbe bei ben 8tuf-
fu^rungen jumeift Don grau SSiarbot felbft iibemommen, toetdje and) biefe
5(5artien nod) immer ntit bem unberminberten l>eiteren ®lanj tyred (denied
unb d^nlic^er SBirfung bur^jufii^ren toufjte, toie bie, toeld)e toir fie jtoanjig
unb je^n %af)tt frii^er Don ber fyrif<f)en 93iUjne ^erab audiiben fafyen
unb fjdrten. 2)ie Safepartie bed alten 3<*ubererd, Sgafdjad ober 3Renf$en;
frefferd iibemaljm bann tool ein gefangdfunbiger, bartiger, in SBaben an-
toefenber greunb bed #aufed. SBenn ein fo Segabter in bem gro&en
Sreife intereffanter unb Ijerborragenber SKanner aud alien SKationen, ber
ftc^ ijier jufammenfanb unb bur^ bie gleidje funftlerifc^e unb menfc^li^e,
innige SSereljrung unb treue 81n^dngti(^!eit Derbunben ttmrbe, aber etnntal
gerabe mangelte, fo berfc$mal)te ed aud^ tool lurgenjeto felbft nic^t,
bafiir einjutreten unb fid) toillig oon ben pbf^en jungen Slfen, $arentd-
®(^5nen ober ©efangenen ilberliften, necfen unb peinigen ju laffen jum
grofeen ©rgdfcen eined ?|Jublitumd, toel^ed nid^t felten mit DoUem Vttfyt,
buc^ftdblic^ jutreffenb, ein ;/$arquet Don ftfinigen" unb ftoniginnen, gilrften
unb giirftinnen genannt toerben fonnte, bie einfad^ aid ftreunbe bed Oaufed
ffmtt abgelegter ©tralflenlrone" ber 2Rajeftat unb #oI)eit in ber Sftnftler^
Ditta bed Iljiergartentljaled, biefer greatest attraction bed bamaligen Saben-
SJaben fur aHe ebleren, erlefeneren ®afte bed „8Biefen- unb SBalb^arabicfed
an ber Dod", oerle^rten unb aufgenommen waren. Sid jum Sa^re 69 mar
bie Scene biefer Uebungdauffil^rungen ber ^arterrefalon in lurgenjemd
<&d)W$d)tn] fpdter bie 93itf>ne eined fleinen I^eaterd, toel^ed im ®arten
3»an (Eurg^njero.
257
ber SiUa SSiarbot erridjtet tourbe. SBergebend toiirbe id) Derfudfjen, ben
Sauber biefcr ©ommerabenbe unb ber iljnen folgenben 9tadf)te $u fdjjilbern,
toaljrenb toeldfjer biefe iungen, funftgefdjulten SWabdjenftimmen ben SBieber^
^att in ben naljen, bunften lonnento&nben ber umgebenben SBalbberge
ertoedten. Unb toenn bann bie ganje ©djaar in tf)ten pljantaftifdjen
£rad(jten, fo mandje mit mal>rf}aft m&rdf)enl)after Jfomutl) gefdfjmudt, auf
ben monbbegianjten (Sartemoegen, iiber bie tfjaufdjimmeroben SBiefen unb
burdf) ben na$tbunflen $arf batyhtjog jur StUa SSiarbot, too bod SJeu
fanttnenfein nadf) bem ljeiterften ©ingen erft fpftt nadf) 2Ritternad)t fein
(SSnbe fonb! Unb bann ber langfame #etmgang an Iurg6njett>d ©eite
burdj bie, bem tiefften ©d>tt>eigen unb ©glummer juriidgegebene Xfyab
einfamteit, bem ©d&toffe ju, an beffen %%ux ifjn ber/ nidjt ganj mit
Unredjt aid ber nftd&fte unb geliebtefte gfteunb feined ©erjend bejeidjnete,
grofje, pxatyooUt, lang^aarige #u$nerl)unb $egafe fe^nti^ft er^arrte . . .
2Bie oft, jcber feine $erje in ber $anb, im gfar fteljenb, im Segriff,
und in unfere Derfdjiebenen ©cfytafjimmer ju begeben, blieb man bann
n>ot nod) im Slut fteljen, bur<$ irgenb ein ®eft>rftd), b. f). ein ©djilberong,
eine ©rjitfjlung Don \%m, gebannt; niti)t fetten eine foldje, h>etd)e fid)
fpater jum Dietbemunberten ftunftoerf frtjftaHifirt ober audgebilbet tyit ...
Unb tone oft bort briiben iiber bem SBalb ftinbete ber SRorgen fidf) an,
elje man fidf> lodrig aud bem ttmnberbaren 83ann biefed 3)idf)tertoortd unb
?®eifted, urn nodf) eine turje SRufje git fudfjen.
3dj fu^Ite ed beutlidf) fd&on in ber tyddfften Slutfjenjeit btefc^ mir
bort unb burdf) iljn bereiteten (Slitded, im 3afjre 68 unb 69, bafe ed ju
fdfjon fei, urn lange ju bauem. SRad^te id& bocf), fagte ber ®ott, nur
bad Serganglidje fd)dn. SBad i^m, nrie bem ganjen ®Ianj unb ber
Suft biefed 3)afeind in ®abens®aben ein (£nbe bereitete, tear ber firieg
Don 1870. Seinedtoegd, ttrie man, tt)ettd abfidjtlidj, tfjeitd unabfi<§tlid)
berleumberifd}, ben betreffenben $Perf5ntid)Ieiten nadfjgefagt f)at, tear ed
Jrfdfctid) ertoadjter £af$ gegen bad „itoeite SSaterlanb" 3)eutfd}Ianb unb
Slerger iiber bie ©iege unfered SSoIfed, toad bie befreunbeten SSetoo^ner
Jener Hjiergartentntten beftimmte, i^ren entjiidenben SeftJ aufjugeben;
ben beutf^en <Staub oon i^ren ©dfjufjen ju fd^iitteln. Umftdnbe rein
jmiftifdjer 9?atur marten ed iljnen jur 5Rot^toenbigleit. 3)ie Samilie
SBiarbot unb, toie immer, untrennbar oon i^r, lurgenjew iiberfiebelten
ju 6nbe bed Sabred 1870 nac^ Sonbon. $ur& ju^or, in ber SKitte bed
Dctober, befud^te id^ fie nodf) einmal. SSon bem eroberten, ^albjerftfirten
©tra^burg aud, loo^in idf) Don SSerfaitled fair einige lage gefa^ren loar,
lam id^ tyerflber. SBie fo traurig unb Derl)&ftnifemfi&ig Derobet erfc^ienen
mir im triiben Sid^t biefer regnerifd^en ©pdt^erbfttage bie geliebten
©tatten bed einftigen (SHudd! Sided tear bereitd jur 8tufI6fung Der^
urt^eilt unb ed toar mir, ftjie SRarianue Don SBitlemer ed fo anmut^ig
audbriidt, „ald flatterten bie Dergangenen greuben iingftlidf) in ben St&u^
258 £nbn>i<$ pietfdj in Berlin.
men iimljer unb fiifjlten, bafc ftc feine bleibenbe ©tdtte meljr ljabett"
foQten. 2)ie3 fd&itae ©tiid 2eben toar fur imtner ju Snbe. —
Slber bie Srtege gef>en Dorilber tote bie ©etoitter, bie ©lumen bluljen
auf blutgetrdnften ©rdbern unb Dertniiftet getoefenen ©drten. grieben
unb fonnige §eiterfeit jogen toieber in bie SEBelt ein. #abe idfj bic
Sreunbe auti) nidjt me^r in 93aben ttrieberfetyen fonnen, fo toax e£ mix
bodj Dergonnt, im %af)xt nadj bem &riege mit lurgGnjeto in Sotibon
jufammenjutreffen, unb feitbem faft alljdljrltcf) balb auf feiner Durdjretfe
na<$ SRuftfanb, toenn and) immer nur fiir toenige ©tunben in Sertin,
balb fiir £age, SBodjen unb 2Ronate bei tyiuftg ttneberfjottem Sfufentljalt
in $arte. 3m innerften SBefen immer Stuffe gebtteben unb toon ber
tiefen, ftarlen Siebe fiir fein, ob and) oft fo Ijerb Don iljm gefdfjmdljte£,
SSaterlanb unb SSolf befeett, tjat lurgGnieto bodf) nid§t jene Strt Don £etmat=
©enttmentatitdt, bie un3 fo oft unb Diet ju fdjaffen ma<f)t. 3$ Ijabe nie
gefunben, bafi er auf bie in 93aben^8aben Dertebte 3eit mit nod) einem
anberen Sebauern iiber i^r ©nbe, ate bag ilber bie Unmogtidjleit, eine gute
gagb hrie bort im ©d)toarjtoalb unb ber JR^einebene §ier in $ari£ 5U Ijaben,
juriidgeblidt tydtte. 9iid}t3 ftdrt ttyn ba, too er bag §an$ feiner grcunbe
ttyeilt, unb in bem fd^Snen SBougtoat in ber Umgegenb ber #auptftabt,
too er in bemfelben toeit auggebefytten parlartigen ©runbftild, bag fid)
t>om ©emeufer big ju ben toalbigen ^flljenriiden Winter bem Drt erftretft,
eine neue ftattlidje SBitla (biefe im ©djtoeijer ©J)aletftil) in unmittel*
barer 9tdf)e ber bortigen SSiHa ©iarbot betoofjnt, — in feinem t>oQen,
ru^igen Sefjagen unb in feinen liebften Sebenggetooljnljciten; eg fei benn
bie jetoeitige tdngere ober filrjere ^eimfu^ung burdj feinen antjang^
lidjften greunb, bie ©idjt, unb bie, burdj biefe Dermeljrtc ©dfjttnerigfeit,
ju jagen toie edentate. 2)afiir ift er ©emdtbeltebljaber unb ^©ammler
gftnorben. (Siner ber feinfiiljtigften unb DerftdnbnifcDoIIften Senner tear
er burd) natiirltdfje Stnlage unb Dieted ©etjen Don jeljer. Safj and) biefe
3af)re feinen $arifer 3lufentljalt3 leinegfoegg poetifdj unprobucttoe fur
iljn getoefen finb, betoeifen — einer ganjen JRei^e t?on fleineren Strbeiten
^ier ju gefc^toeigen — (toie j. 93. jene, alien Sefern ber ©egentoart
fic^er unt)erge§lid^>e, furdjtbar padenbe, bellemmenbe unb erfd^utternbe
@rjaf)(ung: ^©er Iraum") — f(f)on attein jene beiben grofeen, erja^Ien-
ben ©au^tfdjopfungen: ^Srii^Iing^flut^en" unb ;/9leuIanb". Seibe
finb in I)eutfc^lanb fo attbefannt; jumal bag lefetere 833ert §at bei ung
eine ber if)m in Stufelanb getoorbenen tualjr^aft emjtfrenben fo Doflig ent^
gegengefefet bettmnbernbe Stufna!|me unb eine fo geredjte 8lner!ennung
feiner au|erorbentlid^en Sebeutung ate Sidfjtung, tok ate culturgefd^i^t-
KdjeS 3cit- unb ©l^arafterbilb gefunben, bafj e§ gdnjli(^ ilberPuffig
todxt, mid} §ier nod^ einmal meinerfeitg bamit fritifdj ju befc^dftigen.
SGBieber ift eg lurgenjeto d^nlic^ bamit ergangen, ttrie Dor 19 3^e^ tait
bem SRoman ,f9Sdter unb ©5ljne". 9lux, ba§ auc^ bie ^eutigen 9*i^iliften,
3man (Eurgenjero.
259
beren 93ilb cr nun mit fo einfdjncibenber ©d^drfe seidjnete, ben SBajaroff
tjon bamalg ju ben „2ttten" toerfen toiirben. 2tn Sftofjeit unb SSrutalitat
ljaben fic iljn tocit iiberljolt unb i^rc Iiterarifdj;fritif<f)en SBortfiityrer l)aben
eg an bem SluSbrucf unb an ben SBetoeifen berfelben gegen SurgGnjetn
m6)t feljlen laffen. 2)ag SEBort, bag er fi<fj gegeben, leine 3etlc meljr ju
fdjreiben, unb beffen ffirud} feine greunbe unb SSere^rer nodj immer er-
ijofften unb fjerbeiroiinfdjteu, Ijat er big jefct toenigfteng ftreng geljaften.
3lnfdjeinenb foftet it)tn bag feinen befonberg fdjroeren Sampf. ©r Dcrfic^crtc
midj nodj in biefem grilling in SJJarig unb im tefcten Stuguft auf ber
2) urcf)reife nad) Sftufclanb bei bem furjen, Ijodj erfreulidjett 3ufammenfein in
33erttn, baft er biefem ©ntfdjlufc beg 9lid)tmel)rf<f)reibeng unb feiner
ffiur^fii^rung einen unt>ergteicf)ltd) beljagfitfjen 3uftanb toerbanle. ®abei
aber entttridelte er ttrieber eine fo gtanjenbe geiftige grifdje unb Stegfants
leit, eine fo tebtjafte Xljeitnatyme unb fo burdjbringenbeg SSerftanbnife ber
3) utge, fpeciett and} ber gegentoartigen, feltfamen unb unljeimlidjen,
focialen ©rfdjeinungen unb Setoegungen in feincm Saterlanbe, eine
fo betounberngtnurbige gal)igfeit ber ®arftetlung unb ©<§ilberung beg
©eiftigften unb $f}antaftif<$ften tt)ie beg SReatften burd) bie ©pradje unb
fogar buret) bie beutfdje, baft id) ben Stottfd, er toitrbe jenen ©djtour
lod^renb feineg ganjen tyoffentlicf) nod) langen Sebengrefteg bennodj bredjen,
toieber in hotter tr5ftlid)er ©tarfe erroadjen finite, giir unfere &t\t ift eg
belanntlid) djarafteriftifd), baft toiele ber groftten £f)aten unb Siege Don
SWannern toottbradjt unb errungen nmrben, bie iljr fedjjigfteg Saljr be;
reitg fjinter fief) fatten. SBer Surg6nieto fennt, hue id) iljn fenne, mag
bie §offnung ntdjt aufgeben, baft bie funftige ©efd)id)te ber SBeltfiteratur
and) feinen rufjmtootlen Stamen benen biefer mobernen „9ttten" anjurei^en
Ijaben toirb.
Derlag von <5eor$ Stilfc in Berlin, NW., 32. Couifenflrafce.
Hebigirt untet Peumtoortlidjf'eit bes Derlcgers.
Drucf oon 33. <5» (Ecnbtier in €eip3tg.
Unberedjtigter rtadjbrucT aus bem 3nljalt biefer ^eitfdjrift unterfagt. Ueberfefoungsredjt porbefaltciw
Goethe, Schiller, Lesslng, Herder, Wieland etc. etc. Neue, correkte, billige
und vollstandigste Ausgaben in eleg. Einbanden. Eataloge dariiber in alien
Buchhandlungen gratis, auch direct fr. gegen fr.
Verlagabuchhandlung GllStav Hempel in Berlin W., Behrenstr. 56.
dine bcmcrf cn5tocrtl)c Ncucruufl in bet
f^einnitg^ttieife toed „#erHtter fagebtott"*
$om 1. Dttober art tritt bad „SBerliner Sageblatt" in bie fRei^e ber
iaftHdj JtDCttttal, in einer SRorgen* uitb &bcnb>«tt$galie, erfd&einenben
flatter unb fteUt fid) fomit — ofcnc an bicfc Umtoanblung cine $reid=
erljdfjungaufttupfen — audj in biefer 93e$ietuwg in bieSReilje bcr grdfjeften
Organe bcr beutfdjen Sagedpreffe. 93efa& bag „ Berliner £ageblatt" bereitd
etne befonbere ©pejialitat in bcr guile unb ©idfjerfceit feiner Snformationen,
fo toirb ed mit biejen 58or$ugen fortan audj eine <Sajncfligfcif ber 93erid)ters
Jiattung an ben % ag Iegen f Snnen , bie Don feiner anberen Seitung fibertroffen
wirb. (Setyr ©tatten fommt babei bem „SBerltner Sageblatt" ber grofje
flretd feiner @pcjial*8orTcfponbcntcn in alien ftauptplflfcen; baburdf), fotoie
burd) bie audgebel)ntefte ©enufeung bed £elegrap!)en, toirb ed ifjm — bei ben
ifmt nun tagltdj Ktteimal juge^enben audfityriicfjen SpejialtcUgrararacn — er-
moglidjt fein, nidjt nur bie reid)l)aUigfte unb billigfte, fonbern aud) bie am
fdjneflftett informirte beutfdje Seihmg. ju toerben. $ie Bocnbandgabe bed
„93erliner Xageblatt" toirb auf biefe SBeife fdjon am nadjften SKorgen
in alien S^eilen 2)eutfd)lanbd in ben $anben feiner 71,000 9ll)0flflCfltCfl
S% befinben, fo bag ber nod) fo entfemt in Berlin toofjnenbe Sefer aflc bid
aflmittagd 8 U&r eintreffenbe politifaje 9*ad)ricf)ien , einen aitdfuftrlidjeit
<£eut$bctid)t ber Berliner 9Rittagdtorfe unb ben grb&ten Xfjeil ber parlamcn*
tarifdjen fterftanfclnng M Saged am nddjftfolgenben 9ftorgen erbalten toirb,
fur beren Slbfaffung bad„93erliner£ageblatt" iibrigend fpejietf ein rtgened
patlaracntatif^ed ©nrcau errid&tete. @o ftrebt biefe toatjrljaft unabljftngige
freif inntge geitung unablafftg oortoartd. SfcaturliA foil bad 9Rorgenblatt
bed „SBerltner Eageblatt" babei nidjt oernadjiaffigt toerben unb tote fein
geuitteton bidder fur unfere erften SRomanbidjter bie beliebtefte Slrt $ur 3$er=
bffentlidjung ttjrer neueften SBerfe tear, fo foil aud) jefet oon biefer Xrabition
nidjt abgetoid)en toerben; benn im fiaufe bed IV. £luartald loirb ber neuefte
ffioman $ertl)0ft WuttHlffS unter bem Sitel: „8or|lnteifUr" im
„SBerltner Xageblatt" oer5ffentttdf)t. Bufjerbem geljen bie tocrtljboflfn
$eigaben, bad illuftrirte aBifeblatt „Ull" unb bad bettetriftifd^e SBo^enblatt
„©ediner ^omttagdblatt" uad^ toie oor ben ^Ibonnenten o^ne iebe $reid-
er^ung $u, bettn ber S(bonnementd=$reid fur bad ^SBerliner Xageblatt"
in feiner stoeimaUgen 5Iuggabe, aid SRorgen* unb fcbenb&latt, mit alien
@ratidbeigaben bletbt toierteljfl^rli^ auf 5 sMt. 25 $f« normirt, ein
$reid, ber in ber Xtyat auger attem Sertydltnif} ju bem bafiir ®ebotenen
ftefjt. Wit fteii^dlioflamter ne^men jeberjeit ^3efteQungen entgegen, unb toirb
im Sntereffe ber ^ibonnenten gebeten, re^t fru^jeitig bad 5Ibonnemeitt anju^
melben, bamit bie 3ujenbung bed flatted oon SBeginn bed Ouartald an
prompt erfolge.
Dratf oon $• Crabncr in Cetpjig.
December: \878.
Z nil alt
<£buaxb Scfyelle in IDten. 5tUt
Hidjarb IDagner 261
l}emricfy Krufe in Berlin.
3&yHen.
Pie Dadjreiter 283
IDiber IDinb unb HMen 289
£ 2Haj mmev in ©yforb.
Uebec <fetifdjismu5. (5d?lu§auffa^) 293
3ujhis Scfyeibert in Stuttgart
2Jn ben (Sre^en ber Strategie unb (Eaftif 315
l}ugo ZTTagnus in Breslau*
Die ^farbenblinbljett ....... 325
Siegfried Kapper in pifa,
Klofter unb Klofterleben in ber £jercegor>ina 335
Ktdjtcr in prag*
Die 33raut. ZXoveUe ♦ 362
Jjier3u bas portrfft HidjarblDagner's, Habirungpon 3. £. T&aab in Ittiindjen.
Horb unb Sub" erfdjeint am Hnfang jebes OTonats in fyfttn Don 8—10 Bogen Cej.s8.
t
Sub" erfdjeint am Hnfang jebes ITtonats in *?eften von 8—10
— preis pro (Bnartal 5 mart. —
2lUe Sud^anblungen nnb poflanfialten nefymen BeflcQungen an.
Zlotb unb Sub.
<£xne b e u t f d? e ITtonatsfdjrift
fjcrausgcgebcn
con
f aul £tnbau.
VII. Banb. — December \878. — 2\, §eft.
(ITlit cittern porlrat in Kat>irung : 2\id?arJ> ITVigner.)
Vcvlaq von (Seorg Stilfe,
NW. 52. Cuifenftrafie.
Hicfjarb VDagnev.
Don
Cbuarti ^rfjetic.
— JDien. —
te benfhmrbigeu Sage beg SBatyreutfjer geftfpieleg ftc^cn nod)
(timer in frifd&er ©rinnerung; fie finb in SBaljrljeit cin fjodjft
enftoiirbigeg ©reignife in unferer Beit, ba bic Xfyat gan$ toer^
tnjelt in bcr ©efcf)ic§te ber Shmft baftef)t. Sag llnternefjmcn,
unferc mobernen 3uftanbe, bag naturgemafce fRefuItat ciner ljiftorifd)eu
GSntttricflung jaf) $u bur<$rcif$en unb bem antifen Sbeat auf bem llntcr-
grunbe ciner tjeterogenen ©efittung unb Kultur einen %tmpd ju er-
ridden, mag immerljin alg bie Sotge eineg iiberfpannten romantifdjen
Xriebeg betradjtet toerben, eg ift nidjtgbeftotoeniger groft — unb bag
mufc felbft ber anerfennen, toeldjer fidj mit bem Sfunftfoerf unb ber
9tid)tuug SBagnerg nidjt befreunben !ann. ©g ift gro&, ttjcil eg ein Ijotyeg
ibealeg Ski entfjiillte, unb toor 9lHem, toeil eg ben ©rfotg fur fid) tjatte,
niimlid) toetl eg ein aSettpublifum urn fid) toerfammelte. $atte bag Sat)-
reutljer geftfpiel nur eine interne SBettjeiligung gefunben, fo hwe eg atg
cine epljemere gata SKorgana einer pljantaftifdjen SHufion augjutegen
getoefen, fo aber gibt eg fid) alg ein ©tymptom unferer tjeuttgen Sunft^
^uftanbe ju erfennen, eg crtoedt bie 9lJ)nung', bag ettoag im ©taate beg
mpbernen 2f)eaterh>efeng griinblid) faul fei.
Slug ber glutlj ber 93erid)te unb 9lbt)anblungen, toeld^e bag 93at);
reutljer ©reignifc t)ertoorrief, ftieg bag 93ilb beg atten ^Jarteifampfeg, ber
mit ben erften ba6nbred)enben ©djopfungen SBagnerg fo fjeftig entbrannte,
toieber Ijetl aufflammenb fjertoor. ©g lieften fief) tt)ie bei partamentarifd^eu
SerfjanMungen brei ^arteieu beutlidj unterfd^eiben. 2)a trat fjer&or bie
dufeerfte 2tnfe, toeldje, unter ben Saljnen eineg blinben ©ntfjufiagmug
fampfenb, in ifjrem angebeteten 3Meifter ben ^araHeten beg toaljren ffunfts
l;eilg fcerftinbet, itjn aug bcin gefdjidjttidjen 3ufammenljang mit bem @nU
18*
262
(Ebuarb Sdjelle in ID ten.
nridlungSgange ber SJlufif fjerauSreifcenb nur mit einent 2(efd)t)lo£ unt>
©f;afcfpcare in 5ParaHcic ftcHt mtb neben il)m nur nod} bent 2Jluftfer
33eetf)o&en getmffermafjen alg $ionier be£ neuen SunfttuerfeS cincn Sptafr
cinraumt. Sfjr gegeniiber bcmcrfcn toir bic aufcerfte Siedjte, toetd)e Dor
SBagner, ate bcm Stnttc^rift in ber Dper, bag Sreuj fdjlagt, feinem Sunft*
toerf bie aftf>etifd)e S3ercd)tigung abfpridjt, bagfelbe aU bag funfttidje
2Kad)tt>erf einer fid) nidjt augreicfjenb fii^Icnben mufifalifcfien $otenj
ftigmatifirt, babei aber mit cfjriftlidjer Siebe ber Snergie feineg ©treben£
alg 2Jlilberungggrunb fiir fein SBirfen 9ld}tung jottt. Unb ba lafet ftd>
benu enblidj aud) bag Sentrum nidjt Dermiffen, toetdjeg, einen Sompromiji
mit ber Siidjtung beg neuen $unfttt)erfeg eingeljenb, fid) in einer refer-
toirten ©teflung l)alt unb forgfam bie einjelnen ©d)8nf)eiten abioagt, ofjnc
bic ©d)5pfung aug bem ©anjen unb SSotten ju erfaffen. ©g tourben Don
biefer ©eite t)er mitunter gar tounberlidje Stmenbementg eingebradjt. So
Derlautete eg unter Stnberem: „2Bagnerg Srilogie biirfte iibertjaupt nur
bann 2tugfid)t auf langere Sebengbauer unb altgemeine SSerbreitung fjaben,
menu ein fad)&erftanbiger unb begeifterter greunb beg Xonfefcerg fid)
finbet, ber burdj gefd)idte ©tridje bag bierabenblicfic Serf auf ein ein-
abenblidjeg toon mafcigem Umfang rebucirt." 3)enn, toenn SBagner aud)
tyeutigeu Sage* fiegreidj gegen feine ©egner bag Selb beljauptet, toeun \f)m
gegeutocirtig bag grofce 5Publifum in feiner 2Jiefjrl)ett unbebingt juftimmt,
fo jeigt eg fid) bocf) bet biefer ©elegenfjeit, bafe bie Dppofition nod)
feinegtoegg getoittt ift, Dor ifjm bie SEBaffen &u ftrecfen. 3)abei lafct c3
fid) inbeft nid)t toerf)el)leu, baft bie pro unb contra in'g Sreffen gefuljrten
©riiube jumeift it)re 93ercdE)tigung fyiben, infofern fie fief} auf aftljetifdje
$rincif)ieu ftiifcen. Slttein bie Sleftfjetif ift eine feljr unbertaftftdje 2Beg=
lueiferin in einer Sfunft, beren gefdfjidjtlidjer SBtlbungggang ttodj ntd)t in
burdjfid)tiger Slarfjeit blofcgelegt ift, iiber beren erfte fiir bie afttjetif cf>en
SBeftimmungen majjgebenben Seime in toormittetattertid)er 3^it erft
jefct ein fdjtoadjeg 3)dmmerli<f)t fic^ 5U toerbreiten beginnt, fo bafe man
bic ®taub)t>urbigfeit ber Srabition bejnjeifetn faun. S)ie Sfeft^etif ift
ftet» ben gorberungen ber Sunft gegenuber im SRiirfftanb. S)er ©eniuS
ber SJiufit toenigfteug licbt c§, i^rer 2)ogmen fed ju fpotten unb feinen
cigeneu SSSeg jn gel)en. £ie 9Ieftf)etif lafet un§ gerabe in ben nridjtigften,
ba^> Urt^cil begriutbcnbeit, petite namcntlid) brennenbeit Sragen, roie: ba^
S5ert)dttni6 ber gorm 3U111 3nf)altef ba» SBcicu ber SDlelobie, bie ftittft^
Icrifc^e SJercdjtigung ber f)iftorifct)en Cpcr, gar fldglic^ im Stid). 93ei
bcm SInprall ber t)er|d)iebenen gegenfa^Iid^eu Urtt)ei(e unb Slnftdjteu brdngt
fid) nur 511 l)tiufig 9Repl)tftog 9litgfpru^ in ^gauft'' auf:
„9Jiit SBorten Ififet ftc^ treff(td) ftreiten,
mt SBorten ein 6t)ftem bereiteit — "
bcuu in ber Sfyat fonncn abftracte, au§ ber $f)Uofopf)ie ^eriiberge^oltt
fflcgriffe, ttjenn fie feine l)iftorifcf)e Safig finben, nid)t me^r bebeuten afe
Htdjarb IDaguer.
263
Iffiorte. ©tanben nicfjt bie ftunftfcfjopfungen SBagnerg beffen dft^etifd;eu
Xljeorien jur ©cite, fo biirfte, fo geniale SBIifee autf) aug ben tefeteren
ljer&orsudeu, ber 3ufunftgruljm beg SDteifterg auf fc^r fdjtuacfjen giiften
fteljen.
$er grofte ^arteifampf, ber fid) an bie Sgerfon SBagnerg fniipft
imb bem 9iamen 3tid)arb SBagner aud) filr bie fpateten 3^iten ein un=
flcmein inter effanteg Stelief fcerteiljen toirb, finbet einen ^Jenbant in bem
mujifatiidjen ®rtege, toeldjen im fcergaugenen Saljrljunbert @tfucf in $arig
entjunbete. 3)iefer Srieg Ijat mit bem ®ampf, metier buret) nnb urn
SBagner entbrannt ift, aucfj barin eine 9tet}nli<f)feit, baft er hue biefer
eine fur bie bamaligen 9$erl)altniffe jiemtid) h)eitfd)id)tige Siteratur afc
lagerte, baft bie ^arteien if>r Srieggmaterial nur aug bem Slrfenal ber
9leftl)ettf bejogen unb bie gefcfjtd)ttid)en gonbg ber SRufif unbe^ettigt
tteften. 2tHein in ipie fleinen SMmenfionen betuegte fid) biefer ®rieg, tuic
fcefefjeiben toaren bie SitU, n>etcf>e fid) ber ©djopfer ber „3p^igenic auf
Xaurig" fterfte, im SSergteii) ju bem $\tU, toeldjeg SBagner in feinem
SJanner fiiljrt. Unter ben ©d)riften, h)eld)e jener mufifalifdje ®rieg
ijerdorrief, lautet eine: Memoires pour servir a VHistoire de la Revo-
lution operee dans la Musique par M. le Chevalier de Gluck. ben
9higen ber bamatigen granjofen muftte freitid) bie %$at ©Uufg alg eine
retoolutionare getten, inbem fie bag big batjin fjerrfefjenbe ©t)ftem ber
franiofifdjen Dper iiber ben £aufen tnarf unb cin neueg ©titgefefc pro-
clamirte. 3nt ©runbe toar aber ©fad bod) nur ein SReformator. ©r
begniigte fid), biefe Sunftform t)on ben Stugnmdjfen ju faubern, toetdje
tie italiemfdje ^rajig in iljr I)ert>orgerufen Ijatte, ben SButft ber fran=
jopf^en ©djablone abjuftrctfen unb einen ed)ten, rein bramatifctjen ©runb;
ton in iljr einjufutjren, lieft aber bag ©ebaube fetbft untoerfef)rt. 2>er
Slugbrud 8tet)otution ift Dielmef)r ein ©djlagtuort SBagnerg. giir ifjn
ijanbelt eg fid) nicfjt urn eine ^Reformation jener ®unftgattung, fonberu
fur beren SerHarung in einem ganj neu gearteten Sunftmerfe, toeldjeg
fidj mit ben gefd)id)ttid) getuorbenen gormen nid^t meljr toertragt. Sttlein
biefeg ffunftmerf bebingt eine anbere Sltmofpljare . alg bie, toeldje bie
ntoberne SBelt augftromt, biefe SBett, in toeldjer bie menfdjlidje Kator
6ei i^rem ©treben nacg freier, felbftdnbiger ©ntfaltnng i^reg ureigenen
SBefeng an ben ^emmungen beg focialen Cebeng, ber ftaatti^en Ser^att^
niffe, cnblid^ ber gormenbilbung iiber Ijaupt fic^ nur munb ftoftt, oljne
bag 3iel ju erreid^en, in toeldier enblic^ bie ftiinfte, baljingegeben einem
f,egoiftifd^en" ©onberleben, ftatt fid) liebetoott §u einem ©efammtfunfttnerf
ju umfc^Iingen unb in biefem aufeugetjen, /;einfieblerifc^ ^erfummern",
bie Sunft iiberljaupt nur ^Sujug" ift. 3)em t)iftorifd)en Sbeal ftetlt fomit
SBagner ein neueg Sbeal entgegen, unb mag immer^in biefeg alg ein
tomantifdieg lltopien ju beuten fein, fo jengt eg bod^ t)on einer groft-
^ngelegteu 9latur unb Don einem toaljrfjaft fi)5pferi}d^en, ben Ijodjften
264
(Ebuarb Sdjelle in EDien.
Sweden jugetoanbten ©eiftc. !Kidf)t leerer ©turm nnb 5)rang, nod) toeniger
SDttftftimmung in golge Dereitetter (Srtoartungen I)at SBagner ju biefer
9tnfd£)auung getrieben, fie ift Dielmefjr atlmaljlict) in iljm aufgetaudjt, ift
Don iljm aHmd^tid^ ju einer Xljeorie Derarbeitet toorben. Slnfdnglidf) fdjtofc
er fid> an bie trobitioncHc unb $toar bie franjdfifc^e (Sffectoper in feincm
„9lienji" an, aber fdjon „3)er fliegenbe #otlanber", „Xannf)dufer", „2of)en*
grin" btlben bie ©tappen ju „£riftan nnb Sfolbe" unb in ber iritogie
„2)er SRing beg Sftibelungen" entpttt ftdj nun D5tlig bie Don i£>m neu*
entbedte SBelt. giir biefeg 3beal ift er ftetg fampfbereit in bie ©djranfen
getreten. ®r Ijat fidj leinegtoegg, ttrie unfere grofcen 3Reifter, auf ein
ftilleg 3)ulben befdf)ieben, fonbern mit bent ©djtoerte ber Sfrttif tuic $ote*
tnif, bag er gliidlidjertneife tooffi ju fdjttringen Derftel)t, tap fcr brein^
gestagen. SEBic er im 2Jtai 1849 ju 2)regben auf ben Sarrifaben fiir
feine potitifc^c Ueberjeugung einftanb, fo ftetjt er nod) ^eutigen Xageg auf
ben SSarrifaben feiner fiinftlerifdf)en Ueberjeugung, feine (Segner brduenb
in'g Sluge faffenb. 3*t hex geiftigen Drganifation, in ber SRidjtung ber
Stnftrebungen fdllt bei SBagner ein Dertuanbtfdf)aftlidjer Bug mit Rector
ffierlioj Dor 3lHem auf. 3k biefem ftanb ebenfattg ber Sritifer unb
Siterat bent SKufifer jur ©cite unb gteid) SBagner Ijat au<§ Serlioj, unb
fctoar bereitg frii^er, bie ©turmglode ber SteDotution in feinem Sanbe
gejogen. 3tHein Serlioj tootlte nur ben ®eift ber Irabition in ber fran;
jofifdjen Dper enttljronen, bod> fetnegfoegg bag (Setjdufe ber trabitioneKen
gormen jertrummem. $>er ungtiidlidje Sertioj muftte an feiner SeDo-
lution jammertict) DerMuten, mdtjrenb SBagner gegentofirtig ate SMctator
in ber mufifalifd)en SBeft triumviri. 2)ie granjofen fjaben eine Sieb=
^aberei fiir SReDolutionen in ©taatgangetegenljeiten, attein toenn bie Xra*
bitionen ityrer Sunft in grage fommen, finb fie entfdn'ebene 2tbfolutiften
unb namenttidj erbittert gegen jeben I)eimifdf)en SReuerer. @rft in neuefter
3eit beginnt fict) f)ier eine anbere SBinbricfjtung anjufiinbigen unb t)ierin
madden fief) tt)ieberum bie ©infliiffe beg 3Ranneg Don Satjreutl) toafo
neljmbar.
SBunberbareg ©piel ber ©efdjtdfjtel 3)ag ©eftirn, toeldjeg bie Sticfjtung
SSBagnerg leitet, ift baSfetbe, njet^eg einft bie Slenaiffance auf ben $fab
jur Dper fiiljrte. 2)ag antife 2)rama toax e3, tueld^eS ben 2)i^ter unb
SWufifer ber Slenaiffance am 2lnfange be3 17. So^r^unbert^ antodte, ba^
antife 3)rama unb bie ^etlenifd^e SBelt finb eg, bie S33agner al$ ein
leuc^tenbeg Sorbilb Dorfd^tt)eben. ©o berii^ren fic^ in biefen 2lnftre^
bungen bie Snben jnjeier Eutturepodjen, tod^renb fie in i^ren Stefultaten
potarifc^ augeinanberge^en.
Sene 3)oppeInaturf bie SSereinigung beg $oeten, Siteraten unb 3Rufif erg
in einer 5|Serfon, f)ebt bag $ortrdt SBagnerg mit einem etgentl)umtidf)en
Stimbug Don feinen Seitgenoffen unb SSorgangern auf bent ©ebiete ber
Dptx ab. 3)er S)i^ter, ber Sritifer, ber Steft^etifer unb SKufifer fc^tie^en
Htdjarb IDagner.
265
in iljm eincn 93unb, unb ttue fc^r SBagner fur jeben toon ifjuen bie Dottfte
@Ieid)bered)tigung beanfprnd)t, I)at er burd) bic 93er5ffentlid)ung feiner
fc^riftftcttcrifd^cn SBerfe in cincr ©efammtauggabe bargelegt — ift bod)
fiir iijn eigcng bcr SRame ®td)ter;©omponift erfunbcn toorben. 3toa*
finbcn fid) cinjelnc SDluftfer, bic cine gettriffe bidjterifdje galjigfeit ju
ifjrer gadjfunft {jinjubradjten. ©0 Ijaben ftd) 5. 93. Rector 93erlioj unb
Sorting &u iljren Dpern — ber crfte ndmlidj ju feinen „$roianern" —
bic Icjtc aug cigncn SKittetn gefdjaffen, atlcin fie legten iljren poetifdjen
^Probuctcn feinc anberc SBebeutung bei, ate bic eineg ©toff eg, bcr crft
burd) bic 3Rufif fcinc ©eftaltung, fcin eigentlidjeg gleifdj unb 93Iut ju
erljalten Ijat Stttein SBagner bringt fiir fcinc Dpcrntcjtc burd) bcrcn
$erauggabe auf cincn fetbftdnbigen poetifdjen SBcrtI), auf bag Slnfeljen
Don Sitcraturs3)rumcn. greilid) ragen fic iibcr iljre gefammtc ©enoffen?
fd)aft an poctif<§cr Conception, einfjeittidjer ©efdjloffenljeit, bramatifdjer
SSertiefung unenblid) fjod) Ijertoor. ©ie finb poetifd) infpirirte ©ebtfbe,
immerfjin abcr bod!) nur ju mufifalif ct)cu 3to*den geformte ©toffe, unb
nmren hur in bie 2lfternattoe gefefet, jtoifdjen biefen 3Hd)tungen unb
bcren 3Rufif ju marten, fo toiirben toir feinen Slnftanb nefymen, fiir bie
ganje gamilie ber 3)id)tungen bie SBhifif eineg biefer Stamen ein$u=
taufdjen. ©0 gibt benn aud) crft ber SKufifer SBagner bent 3Mcf>ter unb
Sitcraten SBagncr bic redjte SBctfje, er nimmt bribe ate tocrttjootte ©e?
Ijiitfen, aber bocf> nur ate ©eljiilfen in feinen 2)ienft. 3)enn nid)t im
9leid)e ber $oefie unb SBiffenfdjaft, fonbern im SReidje ber 3Jlufif Ijat bie
@efd)idjte bag $oftament erridjtet, auf toeldjeg fic cinft fein ©tanbbilb
ftetlcn ttrirb, ttrie id) bag im golgenben jcigen tocrbe. Sebenfatte aber
erljiett SBagner burd) biefeg eigenartige SBefen fciner 3latur madjjtige 3m;
pulfe, toeldje il)n auf bic feiner SKiffion entgegenfu^renbe SBatjn brdngten.
3)cr fdj5pferifd)e SKann ift ein fiinb ber 3eit, nrie bcr ©efd)id)te
unb fcin S3ilb erljiilt erft bic angemeffene 93eleud)tung, toenn eg aug ber
©umme bcr ©ulturenthndlungen aufgefafet ttrirb, toeldje ben Snfjalt ber crfte?
ren ttrie bcr tcfeteren bitben; nur bann toerben in ein ridjtigeg 93erfjattni& ju
einanber bie ©djttmdjen tone bic lugenben fid) ftetten, toelcfye bei cincm
©enie jum grofcen Iljeil aug ben (Sinflitffen bcr gegentoartigen ©utturs
gcftaltungen crtt)a(^fen. SWan pflegt p fagen, ber ffiiinftler miiffc iiber
feiner S^it ftefjen, allein bie 3«tt ift eg, bie ifjm bic befrut^tenben ©lemente
jufii^rt. SKit taufenb gdben ift er an fic gefettct, bod) inbem cr itjren
Sn^alt tjcribealifirt in feinen ©ebilben, erf)ebt er fid) iiber i£)re ©c^ranfen
unb fdjafft aug bcr ©egenmart fiir bic 3ufunft. 2)ie ©inwirfungen beg
3eitgcifteg auf bag im Sluffeimen begriffene ©enic ^aben einc unberedjens
bare Iragtoeite unb bic SBanblungcn, bie eg burc^mac^t, crllarcn fidj
nur atg ©onfequenjen beg crftcn Slntriebeg, ate not^njenbige SKauferungg-
proceffe, in totltytn bic erften ©inbrudc if)rc ©d^atcn abtoerfen unb ftdj
in neucr gorm ernjeitern.
266
€buarb Sdjelle in ID ten.
3)ie jefeige feneration fann fid) root faum eine redf)te SBorftethm^
madfjen Don jener 3eit, in toetdje bie gugenb SBagnerS fattt, unb in ber
2f)at, toer fie nidft mit erlebt I)at, biirfte SJlufje tjaben, if>r etroaS grud)t^
bringenbeS jujutranen. ®er 8tuffd)roung ber Nation, roetdf>en bie f&c=
freiungSfrtege I)erDorgeriifeu fatten, bampfte fid) burd) bie t>atcrlicf>e
giirforge ber 9tegierungen ab ju einem gemiiiljlidjen ©tittlcbcn, ju einem
Ceben im #anstetftit, ba» oljne ben erfrifdjenben 2uft$ug einer graven
politifdjen Stnregung in engfter Umfriebigung Don bureaufratifd&er Goiu
Dentenj nnb fleinburgerlid&en 93erfjaftniffen fid) fortfd)tict). Stber je mefjr
ber Sftenfd) fidf) in biefe 3"ftanbe einfpann, befto ungetjemmter naljm bie
^Ijautafie ifjren gtug unb fdmf ein 3auberreidj. $a ftieg ba3 SKitte^
alter mit feinen farbigen SBitbern, mit ben fatjrenben Sftittern, ben SBurgen,
mit feinen 3)rad)en unb mt)ftifd)en ©eftalten roie ein buftenber griifjtinge-
roatb Dor beu entjiicften ©innen auf unb fang unb Hang e£ borin fo
rounberDotl antjeimetnb Don ben alten, bem S)eutfd)en an'3 £er$ geroad)fe=
uen Segenben unb Siebern. 3)aS mar ein gebeit)ttd)er SBoben fiir bie
„btaue 93lume" ber Sftomantif unb bie blaue SBIume trieb SRiefenbliitfjen.
3)a§ roar bie 3^itf mo ein Stjeobor Hoffmann, £ied, SRoDatis, ein
Souque bie 3ugenb begeifterten, in ber fid) ©dfjtegete „Sucmbe" ate ba§
Sbeal be3 „eroig 2Beibltdf)en" aufroerfen fonnte, in ber ©tembatb bie
§iid)tige Slnmutfj in ben Ijeiteren 9tegionen ber ftunft ate „unfittttdj
unb gemeiu" Derponte. 2)er „fd>one nadte 2Renfd|" 3ung-Siegfricb lag
fdjon tangft in ben SBinbeln ber romantifdfjen Sptjantafie, beDor ifnt SSagner
au3 ber laufe f)ob. Sine fo Ijeifi empfinbenbe Siatur, roie fie SBagner
fcfyon in f einer Sinbfjeit befunbete, mufjte bie farbengtuljenbe 9tomantif
tief unb nacfytjattig erregen, auf fie mufite ber trunfene Uebermutl), mit
bem fidf) bie 9tomantifer gegen bie SebenStrabitionen aufroarfen, emeu
faScinirenben ©inbrutf iiben, ba ja bie 3ugenb fdjon Don Dorufjerein
ftete geneigt ift, gegen ba3 SBefteljenbe fid) aufjuletynen. 2Bie baS
SBagner'fdje %btalt fa* //fdpne nacftc SDlenfcf)" in biefer SRidfjtung bereits
auffdfjimmerte, Ijat f>einrid) Stjrlid) in f einer f)ocf>ft beadf)ten£roertf)en
©cfjrift: „3iir ben«3ting ber -ftibetungen* gegen ba§ «geftfpiel 511 95a^reut^»''
l)erborge^oben. 2Bie ein eteftrifd^er gunfe fielen in biefe fdf)ttmle, ejfta-
tifd^e ©timmung bie flange Don SBeber^ „$reifd)ufc". Seine Dper
^at eine aljntidje SBirfung anfjumeifen mie ber „greifd)ufe" , in beren
3Jlufif bag ffiotf mit greube unb (Srtyebung ben Derlornen ^eimatti^en
9laturlaut feineS @mpfinben§ unb gu^Ien^ mieber Dernaljm. ®iefe SKufif,
fetbft bie reinfte unb tieblidjfte 93Wt^e jener 9iomantif, fonnte ate bie
Sat^arrfte be§ uberreijten romantif^en ©inne§ gelten, ber an3 i^r eine
ueue, Harenbe ftraft jog.
3n ber Soppetnatnr SBagnerS entfaltetcn fi^ nid)t etma juerft bie
mufifalifd^en Slutagen, fonbern ber i^m innemo^nenbe ©eftattung^brang
fiif)rte if)n juerft auf ba§ getb ber ^?oefic; er gtaubte fidf) 511m 5)id)ter
Htduu-b IPagner.
267
bcrufeu. ®rft bie 3auberfldnge 2Beber3 mtb bic £armonien 93cet^ot>cn^
luecften in iljm bic bi$ batjin fdfjlummernben mufifalifdicn Sieigungen unb
jc meljr er fid) in btc SSerfe be» Sefeteren, namentlitf) in bie ©t)mpt)onicn
etnlebte, bcfto meljr $og c3 if)u jur SWitfc ber SConfunft fjin, bcr cr ftdj fc^tic^
lid) Dotlig ergab, ol)ne ben 3)idjter ju Derabfd)iebeu. 9Jeett)oDen, in beffen
lefeten ©djdpfungen bic 3tomantif in ben getoaftigftcn ©djroingungen au3*
tonte, mar unb ift fcine eigcntlidf)e mufifattfdf)e SebenSquetle gebtieben, todljrenb
ber pfaftifdfje 3Kojart il)n toot nic in einem fe^r i)of)en ©rabe erfodrmen
modjte. 2)orn, ber SBagner ate ad)tjef)njdl}rigen Singling fannte, er$df)It
fefbft, er jnjeifle, bafc e3 ju irgenbtoeldjer 3eit einen jungen lonfefcer
gcgeben, ber mit SBeetljoDenS SBerfen Dertrauter getoefen todre, aU ber
jufiinftige Stopfer be3 „2oljengrin" unb ber „aReifterfinger".
2)er ©ntnndlungSgang SBagnerS f)at bi£ ju bem 2Jlomente, ba bcr
SDlciftcr iu 2)re3ben ben erften fiinftlerifdjen ^alt fanb, etroa£ Ueberljaftete*,
ettoaS fdjeinbar 3erfal)rene3 an fid). „3BdIjrenb er" — fo fdjilbert i^u
SBorn — „iu feiner Saufbaljn am Sweater mit ben 2trmen in Sttterfoelt^
partiturcn umfjerfegte, mit ben Siifeen in SBeetfjotoenS SBerfcn tourjelte,
fdjlug ba3 uotf) jugenblicfye fetx^ in ungeftiimer SBattung balb ^ier-f balb
bortljin unb bcr ®opf perpenbifeltc 5ttrifdf)en ben 3)oppelbeen 93ad) unb
SBetlint." ®er &ang jum SDtafelofen mad)t fid> bereitS crfennbar in ben
erften mufifalifdjen ©d)5pfungen Don gro&erem SSurfe. ©men tiefen @in=
blicf in bie Strt be3 funftlerifd)en SBerbenS biefeS merftoiirbigen 2Ranne£
geben un3 bie 2Jtittf)eiIungen $orn£ au3 9ttga iiber bie beiben DuDerturen
„©olumbu3" unb „Rule Britannia'4, ate SBagner biefe SSBerfe toafjrenb feiner
SBirffamfeit al3 KapeHmeiftcr am bortigen Sweater in cinem ©oncertc
jur Stuffutjrung brad)te. „3)ie Conception unb 2)urd)fu!)rung biefer 2on=
bicfytungen" — - fdjreibt S)orn — „fonnte man nicfyt anberS, al£ 93eetl)otmifd)
nennen: gro&e, fdf)5ne ©ebanfen, fiiljue rf)t)t^mifd)e 2lbfcfjnitte, bie SRetobie
toeniger Dorf)errfdE)enb, bie 3)urd)fuf)rung breit unb in abfidfjtlidf) f(^h)er=
fdttigen SKaffen, bie Sdnge faft ermiibenb — bagegen ba3 Stu^enmerf ^od)=
moberu, beiua^e Setlinifdfj, mie id^ benn nur bie nacfte SEBa^r^eit erjd^te,
ba| t)ier jmci ^la^ptrompeten in 93ett)egung finb, beren ©timmcn Dierje^nt-
^atb engbefefyriebeue ©eiten augfiitten, baju Derfjdltnifemdfeig alle iibrigen
©peftafets unb Steijmittet. 9Rag auc^ eine fold^c Serbinbung Don ftern
unb ©c^alc ni^t unbeufbar fein, ^ier toenigftcn^ toar fie mifelungen unb
bot uur ben ©inbrud eine^ ^egctianer^ im $eine'fcf)en ©til." SJerfunbcn
e§ nicf)t fctjon biefe ^Slapptrompeten", ba& einft in bem lefcten SBerfe
SBagner^, in bem „9Ung be§ Siibclungen" bag SBted) in einem nic ge=
a^nten ©lanj ju einer me gta^nten SBirfung fid^ auffc^toingen foUtc?
SamaB ftrittcn fid) jtoei SDldd^te urn bie ©eele be^ jungen SDteiftcrv,
ndmlicfi bcr I^c^re ©eniu§ aBecttjoDen^ unb bic ©irene ber mobernen Cpcr.
S)ie SReije ber tejjteren trugen Dorldufig ben ©icg baDon, benn inmitten
biefe^ ©dfjrungSproceffeS toaren bic Stugen SSagner^ feft anf bie frau-
268
(Ebuarb Scfyelle in IDien.
&tffifd)e gffectoper gerid)tet ate bag ttmrbigfte 3iel funfttcrifc^cn ©djaffeng.
Itjatenburft unb (S^rgeij brangten iljn ju getoaltigen SBirfungen unb
foldje fonntc cr fidf) nur Don ber SBitljne Ijer unb toon bcm blenbenben,
ftnneberucfenben 3<wber bcr tounberttrirfenben 2Jtafdf)inerie toerfpredjen,
burcf) toetdfjen bic gransofen biefer Sunftgattung einen magifdfjen SReis &n
Derleiljen ttmfcten. 2)a Iddf)elten if)m ju bic fjeroifdfjen SBilbcr ©pontiniS,
toerfjiefcen ifyn bic „©tumme" ?luberg, bcr „ Robert" aRetyerbeerg, in
tueldjen SBerfen fidf) bic franjofifefje Dper in ifjrer I)5df)ften (Slanjentfattung
jeigte, unerljdrte $riumpf)e. ©pontini, ben man ben mobernifirten ®Iucf
nenncn f5nnte, blieb bag eigentttcfje SSorbitb fur SBagner unb nad) beffen
■Diobett fdjuf ber lefctere feinen „9tienji''. 3)afc er jebod) an SKetjerbeer,
gefdjtoeige an SBeber nid)t gleidfjgiittig fcoriibergegangen fei, bafcon jeugen
feine mafjgebcnbften SBerfe.
3)cr £f)eoretifer unb ber praftifdje SKufifer ftefjen getttfljnlid) in
bent S3erf)dttnif3 jtoeier feinblidjer SBriibcr ju etnanber, bodf) in SBagner
arbeiteten beibe eintrddjtig jufammen. ©o fefjr aucf) ber Ie§tere ttmtjrenb
biefer $I)afe ben erfteren ju Derbrangen fu<f)te, fo fanb biefer bodj in
bem SJilbunggfdjafee, ben fid!) SBagner angeeignet Ijatte, reictjtidfje SRafyrung
unb ftanb nid)t an, bem SKufifer brein ju reben. %n golge biefer
2Bedf)fetbejtef)ung mufcte bcr lefeterc ber fjolben Unmittelbarfeit in ber
©eftaltung nrie im mufifatifefjen 9tugbru<f lebig gefyen. Slug bemfetben
lugt in ber 2f)at einc gettriffe 9tbfi<f)tlidf)feit nur ju untoerfennbar Ijerfcor,
metdje inbejj, buret) anbere SSorjiige auggegtid)en, ber ©tiltoeife SBagnerg
ifjr etgentf)nmttct)eg ©eprdge aufbriidft. SJefanntlid) Ijat man toot &or*
nef)mticf) aug btefem ©runbe SBagner Slrmutl) an SKelobie fcorgetoorfen
unb auf 3tecf)nung biefeg SKangetg jum grofcen fein ©tjftem ge;
ftettt. Stflein ber Segriff 9Mobte ift femegtoegg fo begrenjt, atg ba&
fict) unter feinen $ut alle m5glid)en gormen biefeg Urelementg ber SKufif
bringen tiefecn. ©dmmtlidje ®efinitionen biefeg SBorteg finb nidjt fo er;
fc^dpfenb, bag burdj fie ber ©djleier beg Sitbeg Don ©aig geliiftet toorben
ware, ©elbft ber SWufifer SBagner, toenn er ung bag gefjeimniffrofle
SBefen biejeg mufifalifdfjen SRaturlauteg, mit bem er bod) in unmittefc
barfter Seru^rung fteljt, mit SBorten entfjutlen toiU, derliert fic^ in „bunfle
lieffinnigfeiten", in toa^r^aft fib^ttinifc^e ©priictje, loelc^e bag atte 3tdt^fet
burdj ein neueg Sldt^fet I5fen tootten. S)er 2Reifter iibertrdgt feine @nu
pfinbungen auf atle SBelt, toenn er bem Sefer folgenbe S5fung bietet:
/;®ie SKelobie ift bie ®r!5fung beg unenblic^ bebingten bidjterifdjen ©e^
banfeng jum tiefempfunbenen Unbettmfjtfein ^5^fter ©efii^lgfrei^eit: fie
ift bag getootlte unb barget^ane Unn>itt!iirtid)e, bag benmfete unb beutti^
Dcrfunbete Unbettmfete, bie gerec^tfertigte 3tot^tt)enbigfeit eineg aug weitefter
SSerjttJeigung jur beftimmteften ©efiifjlgaujjerung berbic^teten, unenblic^
umfangreic^en Sn^alteg." 3Kan fiifjlt aug biefen SBorten tjeraug bie
Sl^nung ber SBa^r^eit, attein bag ;,Unbef^reibU^e"; ^ier ift eg — nictyt
Kicfyarb IDagner.
269
Qetfjan. 2113 nun bcr Staufdj fiber ben gtdnsenben ©rfolg beg „9tienji"
toerflogen toax, biefe Oper a!3 ein fiberhmnbener ©tanbpunft abgetoorfen
mar unb ber SKeifter in feinen nddfjften SBerfen au3 bem ©eteife ber
§er!5mmtidf)en Dpernpraste trat, mufjte er bie ©rfatyrung madden, bafi
ba$ Spubltfum iljm fein red)te£ SSerftdnbnifc fur bie SOBelt entgegenbradjte,
in toetd)e er e3 nun einjufiiljren begann. 3)ie Unt>erf5f)nticf}!eit ber ©le-
mente feiner jefeigen ©tiltoeife mit ben fanctionirten 2)ogmen ber fran=
S8fifd)en Dper feljrte fid) mit tootlfter $drte Ijerbor, ate ber „Xannf)dufer"
im 3at)re 1861 in 9[5ari3 auf ber 83ii!)ne ber Academie ImpGriale er;
fdjien. S)ie 9lufftil)rung fu^rte &u einem 2Jtif$erfoIg, toie er fid) !aum
grdfcer geftatten fonnte.
3)er Xljeoretifer fam nun in SBagner tooflenbS jur ©eftung, ate bem
©eadjteten unb Serbannten, ber in ber ©dfjmei$ eine greiftdtte fanb, bie
©cfyopenljauer'fdje $t)ilofopt>ie tr5ftenb entgegenfam. 3ft fctner bamaligen
Stimmung mufjte SBagner ber ©djopentjauer'fdje $effimi£mu3 fempatljifdj
anmutfjen, aber immer^in tt)ar biefe $l)itofopt)te bodf) nur eine trfibfelige
graue ©df)toefter, eine traurige XrSfterin. 3)enu unter atlen $f)itofopf)ien
ift feme, bie mit ber SKufif auf einem fo gefpannten gufce ftel)t, nue bie
©djopenljauerS. 3)er grofce S)en!er anerfennt in unjerem ©efammtbenmfet;
fein jtoei ©eiten, inbem baSfelbe tl)eife ein 93ettm&tfein Dom etgenen ©elbft,
alfo ber SBille, ttjeils ein Settmfctfein Don anberen S)tngen unb ate fotdfjeS
anfd&auenbe ©rfenntnifi ber Slufjentoett ift, unb in ber erften, ber bem
3nnem jugele^rten ©eite be3 33ettmfctfein£ nwrjelt nadj ifjm bie mufi-
fatifdje Conception. ©3 todren fomit bie lontoeHen ber berufene 3)olmetfd)
be3 UrttrittenS, todre bie toaljre $f)itofopl)ie fomit in ber 3Rufif gettriffer;
mafcen beftiHirt. ©ettufc ein geiftreidjer, tiefer ©ebanfe, ber aber in feiner
praftifdjen 2lntt>enbung bocfy ju gefdtjrlid)en 9tefuttaten fiiljren fann. 3)enn
gar letdf)t fBnnte unnrittfiirlict) ber perfontidf)e SBitle in bag ©etoanb be3
UrtoiflenS fdfjtiipfen unb feine eigenen Konfequenjen fiir bie notljtoenbigen
2lu3flfiffe be£ tefcteren fatten. SBagner legt felbft ju ttriebert)oIten SKalen
ben Slccent barauf, baft erft bann bem SKufifer bie 3"ngc ge!5ft toerbe,
er nur bann bie ©prad)e be£ 2Bitten§ ju fpredfjen toermoge, toenn er mit
bem 2)td)ter in innigfter ©emeinfefjaft toerbunben mdre unb beibe in einer
$Perfon bie beiben ©eiten unfereS ©efammtben)u6tfein§ reprdfentiren. ®dbe
e3 in bem Seben eine§ grofcen, bie 3^it erfiiHenben, fd^opferifdjen SunftlerS
ein 833enn; ba ja ade (Sinttnrfungen fief) fd^Iiefelid^ afe not^menbige 83e*
bingungen ber ^iftorifd^en ©rfd^einung geftatten, fo fonnte man ben SSer=
fe^r mit biefer ^^ilofo^^ie bei SBagner htiautxn, unb na^ einer JRidjtung
^in mSc^te man iljn in ber Zfyat bebauern.
Stuf 3tnregung t)on biefer ©eite I)er entftanben bie in Dieter 93e;
jie^ung merfmiirbigen ©djriften f/®ie ffiunft unb bie SReDoIution", „3)a^
fiunfttoerf ber 3ufunft" unb „Optx unb S)rama", in benen er feinen
Srudj mit ber aSergangenljeit oerfunbete unb at§ ber ©runber eineS
270 €buarb Sdjelle in IDten.
ncucn ©tjftemg auftrat. Slug feinen Shtfdjauungen erbaute nun bcv Xtyo;
retifer mit 93eil)utfe beg 2Wufiferg einen 9tiefentempel, auf beffen Hftars
ftdtte bag ©tanbbitb beg ®efammtfunfttuerfeg bcr 3ufunft im QtntxaU
punfte bcr 2Jtenfd)f)cit fid) erljebt. ©in grofcartigeg ©^ftem, bag 8e--
hmnberung fur ben 3)enfer abnotljigt, abcr ntdjtgbeftotoemger mit ben
2Bur$eIn in bcr Suft fyingt. Urn eg tn'g Seben ein$ufiif)ren, mu&te toorerft
bie ©efd)id)te Don Unterft 511 Dberft gefeijrt, mufjtc mit ber maljlid) ge=
toonnenen ©uttur tabula rasa gemadjt toerben — unb bamit biirfte c£
bod) gute SBette ^aben.
2)ag eigenttidje @nbjie( beg mufifatifc^cn SMtbungggangeg erfemtt
SSagner in ber ©attung ber Dper. ®enn „mit bem SrI5fd)en beg rein
religiofen ©eifteg beg ©fjriftentljumg fcerfdjtoaub and) cine notljtoenbige
Sebeutung beg pofypfjonifdjen $ird)engefangeg, unb mit if)r bie eigeu-
tljiimlidje gorm feiuer Sunbgebung. $)er Eontrapunft, alg erfte 3tegung
begimmer ttarer augjufpredjenben reinen Snbibibualigmug, bcgann mit
fdjarf dfeenben 3df)nen bag einfad) tympljonifdje SBocalgetoebe ju jernagen,
unb madjte eg immer erfid)ttid)er ju einem oft nur mtiljfam nod) 5U er=
fyaltenben fiinftfidjen 3ufantmenflang innerlid) unubereinftimmenber, tttbi-
tubuettcr Sunbgebungen. — 3n ber Dptx enblitf) tofte fid) bag 3nbit>t^
buum fcottftdnbig aug bem SSocalbereine log, urn atg reine $erfimlid)feit
ganj unge^inbert, attein unb fetbftdnbig fid) funbjugebcn. 2>a, too ftdj
bramatifdje $erf5nttd)feiteu jum meljrftimmigen ©efange anlieften, gefdjaf)
bieg — im eigentlidjcn DpernfHIe — jur finnlid) toirffamen SSerftarfung
beg inbitoibuetten Slugbrudeg — ober — im hrirflid) bramatifd)en ©tile —
alg, burd) bie f)5d)fte Sunft t>ermittcttcf gleidjjettige Shmbgebung fortgefefct
fidj betianptenbcr ar after iftif c^er 3nbilribualitdten" (JDper unb 2)rama",
3. Zf)t\t, ©. 203). ®ie abfotute SRufif I)at bagegen bie Seftimmung,
ftd) alg SRittel ju biefem 3^ccfc fjer$ugeben. 3lad) SBagncr I)at fid) ja
unfere moberne 3Ruftf gett>iffermaf$en aug ber „nadten £>armonie" ent;
hndelt — „fie tiat fief) ttrittfiirlid) nadj ber unenbltdjen giitle Don SWoglidjs
feiten beftimmt, bie iljr aug bem SSecfyfel ber @runbt5ne, unb ber aug
if)nen fid) Ijerleitenben Slccorbe, fid) barboten. ©otoeit fie biefem ifyren
Urfprungc ganj getreu btieb, fjat fie auf bag ©efutjt auc^ nur betdubenb
unb toertoirrenb gemirft, unb i^re bunteften ®unbgebungen in biefem
Sinne ^aben nur einer getoiffen 9Kufift)erftanbegfd)meIgerei unferer Sitnftfcr
fetbft ©enu§ gebotcn, aber nid)t bem unmufifderftdnbigen Saien." 2Ran
fieljt aug biefen 93eifpielenr ioie Ijod) bie SIrgumente ju ueranfc^tagen finb,
roeldje bie 2(eftf)etifer Dom f)of)en Sot^urn ber SBiffcnfc^aft ^erab a priori
ber SWufif jutoerfcw, ofjne beren ©cfc^id)te ju befragen, benn jufdftig mar
eg ber Gontrapunft, an bem im SWittelaltcr ber pofyptjoue ©a^ empor-
ranfte unb biefc „natfte §armonie" — urn ben 3tugbrud bcijube^alten —
f)at ein faft taufenbjafjriger Gnttuidfunggprocefi a(g eine fpdtreife grudit
abgetoorfen, fie ift fomit ein organifc^ f)ert)orgen)ad^feneg 9Ritte( ber
Kicbarb IDagucr. 27(
mobernen Stuuft, aber nid^t cine sQuefle berfetben. ©bcnbrein foil fitfj
bic abfolute SKufif in it)rer rciuften gorm, in bcr Stjmpljonic, bcreit3
auSgelebt fjaben, inbem ja mit ber neunten ©tjmptiome 93eetf)ot>en§ biefeS
©enre fid) erfdjopft ljabe unb tterbliebe bcnn in ber Dper ba£ einjige
©ut, metd)e$ SRenten toerfpridfjt. Stttein bic Dper in ifprer itberfommenen
©eftalt famt SBagner nid)t geniigen; fic beutct efjer auf cincn 9lot!)ftanb
be£ fiinftterifdjen 93ebiirfniffe3 I)in, ate bag fie cine ©rfiittung beSfelben
bote. S5ie Dper ift ifjrer SBurjet nad) ein romanifdf)e£ ®emad)3. „3I)r
ttornefymer Urfprung au£ ben ^ataften ber giirften empfatjl fie nrieberum
ben beutfdjen giirften, fo bag bie giirften bie Dper in 2>eutfdf)tanb ein=
fufjrten." S5ie Dper ift eine CujruSpflanje ber Sunft, meldje in bem
*J5runfe ber $dfe toic ber Slriftofratie ein iippigeS ©ebeitjen fanb, nnb
mit iljrem fcenifdjen glitter efjer auf eine jerftreuenbe Unterf)attung ate
auf eine fiinftterifdje Srbauung ^injicttc. „2)a3 mufifatifdje 3)rama mar
red)t eigentlicf) ein ©djaufpiel gemorben, mdf)renb ba§ ©d)aufpiel ein
§5rfpiel gebtieben mar." Unter biefem ©efidjtepunft nimmt aud) ber
Serfaffer ber „mufifalifd)en Etjarafterfdpfe" in feiner „$rieg3gef<f)id)te
ber beutfefyen Dper" bie romanifdEje ©rfinbung auf unb ift fo unbarm*
fjerjig, biefe Sunftgattung ju einem jammerlidjcn £obe ju toerurt^eilen,
ityre ©tetluug ate @rbe bem Dratorium jujufprcdjen. 2)iefe 9tnfidjt l)at
allerbingS ben 9lnfdf)ein fiir fidf). $)ie Dper mar in ber Zfyat in einer
ariftofratifdfjen SSiege geboren, unb menu man ben 93lid nur an ber
Dberfladje ber Scgebenljetten f)aften lafjt, fo fonnte man fie ate ein
fiinftlidjeS, in ber Stetorte ber SRenaiffance^Silbung erjeugteS ^Jrobuct
rid)ten. 3)a fafjen ja bie fcornetjmen glorentiner ^perren in ifjren 5|$alaften
jufammen unb btepntirten itber bie ©d)5ntjeit ber grtedf)ifd)en 9Jhtfif, unb
nad) ifjrem Stecepte praparirten bie 3Jlufi!er bie 9Konobie. 9hm bie
©pradje gefunben mar, fottte aud) ba£ antife S)rama in neuer gorm
auferftetjen, unb ba erging e§ iljnen mie Jenem 9tldf)tjmiften, ber ftatt be£
gefudjten ©olbe£ bag ^orjetlan fanb — ftatt be3 angeftrebten StbbitbeS
beS antifen 2)rama3 entbecften fie bie moberne Dper. 3)od) ba3 finb nur
auf$erlid)e SSorgange, metcfye in ben SJerfjciltniffen ber 3dt lagen. S)er
9(nfcJ)ein ift nicfjt immer ber ©ematir^mann Ijiftorifc^er SBa^eit. 5)ie
Cper mar ft^on Icingft Dorbereitet, bebor fie in ben ©eficfjtefrete ber
ftunft trat. @ie ift organifd^ nac^ bem ber mufifalifcf)en Sunft inne=
mo^nenbeu SKaturgefefce erftanben au§ ben funftterifd)en ?tntrieben ber
mittetaltertiijeu Ueberlieferung, unb jene gtorentiner geftalteten nur ba§,
ma£ bereit^ jur ©eftaltung itberretf mar. SBeun a\\6) erjariftofratifc^er
Slbfnnft, ift bie Dper nidjt^beftomeniger eine gefdjicfjttid) begritnbete, mit
einer funftlerifcfjen SKiffion betraute ©rfd^einung. Seine^meg^ aber lafct
fic fidf) 5um Kulmination^punft alter mufilalif^en S3ilbungen ^inauf^
fcfirauben, fie ift 5itnad)ft nur bie notfjmenbige Dnrd^gang^form ju einer
reic^ercn unb freieren Gntfattung ber jJRufif. $u ber Sirdje unb in ber
272
(Ebuarb Sdjelle in tDien.
Stofterjctte Ijatte bie Sonfunft if)re crftc ©rjieljung genoffen, an bent
9Rej$cuItug fid) crftarft unb emporgebaut ju bcr lunftootlen 2trd)iteftomf
beg pofypfyonen ©afebaueg. Site nun bic Beit gefommen tear, too ba$
©ebot einer ©rtoeiterung beg Slugbrudeg ju einer inbitoibuetten ©efufjte*
fpradje an fie Ijerantrat, fanb fic in bem bramatifdjen ©eritft beg Xljeaterg
bic ©tiifee, beren fie notljtt>enbig beburftc. Sefet fanb audj bic jaf)Ireid)e
gamilie bcr Snftrumente ben erfefytten ©pielraum, fi<§ jur ©eltung ju
hhtgen. ©g bilbete unb organifirtc fid) bag Drdjefter unb an tf)m biU
btfen fid) bic gormen, in toeldjen bie 9Rufif in toofler grcifjeit ftdj cr-
getjen unb fief) alg felbftdnbige Sunft iljren ©cfytoefterfunften ebenbiirttg
, jur ©eite ftettcn lonnte. gn ber ^radjtbliitlje ber ©tjmpfjonie fcicrt bic
SKufif ifyren Ijodjften Sriumpl), bic ©tympanic niityin ift eg, in toeldjer
ba^ gefdjidjtlidje SBerben ber SRufif granbiog fid) jutoolbt. SBagner liebt
eg, bie Sftufif atg einc toeiblitfje Sunft aufjufaffen, atlcin ein Slid in
ben ©oncertfaal fann tt)n beleljren, baft bicfe toeibticfje $unft, too fie
aug iljren eigenen SKitteln fdfjopft, fi<§ atg mdnntid) ftarf ermcift. SScr=
folgen hrir bag glu&bett ber Dper, fo finben ttrir eg eingcbdmmt don
Sagern abgeftorbener ^arttturen, in benen jum grofcen Xtieilc einft ein
gar frdftigeg ©enie pulfirte. Slug ben 9tepertoiren fdttt jaljrein jaljraug
ein ober bag anbere biirre 93fatt ab, an beffen frifefjem ©rim bic $t\U
genoffen fid) meibcten unb bem fie eine un&erganglidje Scbcngfraft 511;
fpradjen. SBie anberg aber, toenn bie SDZufif alg ©elbftfjerrfdfjerin auf*
tritt. 3)ie ©onaten unb ©uiten §&nbetg unb 93ad)g toerben jiinger, je
njeitcr bie 3«it borfdjreitet. J)ic ©Ijore $dnbelg unb 93ad)g flingen nodf)
ebenfo frdftig unb jiinbenb brein, tuie jur Beit iljreg ©ntfteljeng, benn
too bag Soutoefen bag 9tedf)t f)at, foufcerdn iiber bem SDBortc ju toaltcn,
ba emancipirt eg fid) oon ber SKadjt begfelben unb lann feine SSottfraft
fpielen laffen.
Ueber^aupt ntmmt bie ©efd)tcf)te ber 9Rufif gegeniiber ber ©efdjidjte
ber anberen ®imfte gehriffermaften eine ©onberftettung ein, inbein fie in
ifjren $l)afen bag intereffantc 93ilb eineg fjeftigen Sampfcg urn bag 2>afeht
entroHt. 3n ben erften Slnfdngen biefer ®unft, bie mit ben Stnfdngen ber
romifd)en Sirc^e iufammenfaHen, ftit^t fid) ber Son ttrie ^iitflog unb fdjtoad)
auf bag SGBort. @r ift biefem untertuurfig unb begniigt nur, i^m einc
Ijotjere SSei^e §u gcben, o^ne fid) fetbftifd) ^ertjorjubrdngen. Stber fc^on
in ber fleinften Sigatur regt fid) bie madjtige Iriebfraft beg loneg, bie
in i^m derborgen tiegt. Slug ber 9$erfd)inel$ung §meicr Sihte trciben
tueitere SSerbinbungen ^crDor, bic ju langen unb bunten longettunben
fic^ augftreden; ba erbliitjt cine giltte t)on 9Scr§ierungen, oon SKeligmcn
tjerfc^iebenftcr 2lrt, oon r^t^mif^cn Stccenten, unb ber urfprunglidje
©prad^gefang ern)dd)ft fc^Iiefelic^ ju einem Sunftgefang, ber fidj tuie einc
fc^imnternbe S)ccfe iiber bem .$3orte augbreitet. ©in dtjulidjeg ©c^au^
fpict ftcllt fid) bar, alg im neunten 3a*)rf)unbert bag Sebiirfnife na^
Hidjarb UOaqntx.
273
fyarmonif^er ®eftaltung rege hmrbc. Slug bcm rotjen, ungefiigigen Dr^
ganum beg £ucbafi> entfpann fid) burd) bag SBeben beg ©ontrapunfteg
bcr poltjpfjone ©afc bcr Sftieberldnber, ber mit feinem ©timmgeftedjte bag
SBBort ganoid) umftridte, baft bag Sribenthufdje ©oncil fidj betuogen
fanb, gegen ben iiberhmd)ernben Siguralgefang ©infpradje ju erljeben,
urn bic 9ied)te beg getyeitigten lejteg ju toaljren. Unb benfetben ^rocefe
fefjen ton abermalg fief) ttneberljoten, alg bie Dper in bie ©rfdjeinung
trat. 3n btx „©urt)bice" ber $eri unb ©accini befd)eibet fid) ber Son
511 einer untergeorbneten, bienenben ©teflung jum SBorte gemdfc ber 83or=
fdjrift beg ©rafen SBarbi, eineg ber ©riinber ber Dper, baft „bie SDtufif
nidjtg fei alg ©pradje unb SRfjtjtljmug unb erft jutefct ber Son, unb
nidjt umgefeljrt". S)te Sftetopoe befdjrdnfte fid) auf eine einfadje 9tect=
tation. Stber nur ju balb feljen tt>ir biefeg eintrddjtige SBerljaltnifj fid)
lofen. 3)er ^unftgefang beginnt mddjtig aufjufdjiefcen in iippigen ©olo*
raturen, metdje hrie Sianen bag SBort umtoanben unb eg fdjier erbriidten.
Sluf ber anbern ©eite toitt bag Drdjefter auf bie S)auer nidjt in feiner
iirftminglid^en Seftimmung befjarren, ben Untergrunb fur ben ©efang &u
bifben. ©g ftrdubt fid) gegen bie bienenbe ©tetlung, bie ifym jugeroiefen
war unb ringt nad) einer gettriffen ©elbftdnbigfeit neben ber 93iif)nc.
Unter Sftojart ridjtet eg fid) fdjon ju einer fompfjonifdjeu Sebeutung auf
unb nimmt einen gefdfjrtidjen Stntauf gegen bie 93itf)ne, nrie benn be=
fannttid) bem ©djopfer beg „2)on Suan" bie nod) an bie italienifd)c
©per gemofjnten 3eitgenoffen trielfad) ben Sornmrf einer ju ftarfen 3u=
ftrumentirung marten. Unter 93eetf)oDen riidt bie ©tjmpfjonie in ba?'
©rdjefter unb bringt nun tnit unttubcrftel)lid)er ®etoaft auf bie Dper cin.
Sn „£riftan unb Sfotbe" ift in bem ©fjor; unb ©nfemblegefang bad
tefcte SJofltoerf berfelben gef alien unb in ber Sritogie jtef)t bie ©tjm^
pfjonte tnit ftingenbem ©piel in bie iiberttmnbene Dper ein unb pflaiijt
auf ber 93iif)ne bag ©iegegbanner auf. Snbem SBagner bag tootle ©djtuer;
getoidjt beg bramatifdjen Stugbrutfg in bag Drdjcfter legt, fo fpridjt er
nur ber ©tjmpljonie bag SBort unb fjanbeltbarin nur unter ben sttnngenben
©inpffen beg fjiftorifdjeu Swg^g, foetdjer fid) burd) atte ^tjafen beg 93if;
bungggangeg ber Sftufif berfolgen Idfct unb atle biefe ^fjafen in eincu
organifdjen SSerbanb ju cinanber fefct. SBagner f)at bie ©tjmpfyonie jur
$errin iiber bie Dper erfjoben; in if)m rdc^t fid) bie abfolute SKufif au
bem SSorte fiir ben gro^nbienft, ben fie bemfetben fo lange leiften mufttc.
Slflein and) in ben gornten ber abfotuten SKufif mac^t ftc^ cine
eigent^umlic^e Semegung toaf)rnef)mbar, ^inbrdngenb uac^ 3icten, tnelc^c
iiber bag engere SBeic^bilb ber mufifatif^en Sunft t)inaugragen. 83ereit^
in ben ©t)tn#)onien 93ect^ot)eng erfii^nt fie fid), aug t^rer ©etbftgenitg=
famfeit fid) Ijeraugjufdjdten. 2)er 3lugbrud fotgt nidjt eiujig unb atlein
fpecififc^ mufifalifc^en Smpulfen, fonbern aui^ ben Sfnregungcn eineg ber
Conception t)orfd)U)ebenben poetifd)en ©ebanfeng unb geftaltet fic^, ben
27<k
€buarb Sdjefle in IDieu.
Sorbernngeu bc^fclben gemafe, mcfyr obcr meniger beftimmt in bcm 93c=
ftreben, ben SGBiberfd^etu biefeS ©ebanfen§ au3 bcm Sonbilbe IjerDor^
(eud)tcn ju laffen. S« btn in biefem SSobcit iDuraelnben SBerfen bcr
nadf)foIgenben 30teifter, inSbefonbere ber graujofen, erljebt fidf) ber poetifdjc
©ebanfe jur £olje cities gefefcgebcnben gactor£ uub geminnt fcftcrc Son-
touren. ©r fdjlagt fid) t)ier 511 eincm *Programm nieber, Derbidjtet fid}
bort ju eincm ®ebicf)t, toelctjeS fid) mit ber ©tympljonie Dertnebt unb
beren eigentlidjen Sern bilbet; einc 3orm, fur tueldje bie granjofen ben
SluSbrutf Ode-Sinfonie erfonnen l)aben. 2)ie $rogramm = 3Kufif ift nun
freilidj nid)t3 roeniger al3 cine ©rfinbung ber SRcu^eit, fonbern ebenfo
alt toic bic abfolute SRufif fetbft. $enn mit bem SRomente, ba fidf) bie
©mancipation ber SKufi! Don bcm 2Bort Doting, ertoadjte audj ba3 93e-
biirfnifl, in ben £rei3 ber gormen,- ipetdje bas unmittetbare ®efiif)l3tebett
fd)ilbern, beftimmterc, an SSorftettungen Ijaftenbe ©mpfinbungen ate einen
rcetlen 3nl)alt fjineinjutragen, ja fetbft dufjerc SBorgdnge unb ©rcigmffe
in ber 3Jiufif jit conterfeien. ©0 foil eine ©onate Don ftufjnau, bem
$ater bcr mcfjrfdfcigen ©labierfouate, „prafentiren": 1) ©aula Jraurig;
feit unb Unfinnigfeit, 2) 3)aDib3 erquitfenbeS £arfenfpiel unb 3) be$
$onig£ jur 9tuf)e gebradjteS ©emiitfje, unb Don biefen naiDen StuS*
geburtcu ber mufifalifdjen $f)antafie bi3 ju SeeiljoDcnS „©d)lad}t bei
SSittoria " jiefjt fidj eine gar lange ©trede SSegeS. S^te ©ebilbe finb
gleid)fam nur Uebungen, in tocldjen bie faum jur ©elbftanbigfeit ge=
langte SDtufif ifjrc erftc Sraft erprobte, toafyrenb fie in ber ^Jrogramm-
SKufif ber SWeujeit im 9Soflben)u|tfein ifjrer ©tdrfe eljer cin iibermiitfyigeS
Spiel treibt. Son bcm poetifdjen ©ebanfen fuljrt nur ein ©djritt &ur
Skrforperung beSfelben burd) ba£ SBilb einer dufeeren $anblung — uub
bicfen ©djritt f»at bie abfolutc 9Knfif in „Xriftan" unb nod) entfdjicbener
in ber Srilogie gctljan unb nid)t ctloa al£ einc $ulf3bebiirftige, fonbern
au3 bem freieftcn Slntricbc, urn itjre 2Jiad)t gegenitber bem SBorte bar*
julegen. $enn bafe fic in ber ©tjmpfjonic 93eetI)ODen3 nod) nidjt if)re
lefcten Iriimpfc auSgcfpiclt l)abe, bafiir leiften 2Jteubel3fof)n, Sd^umann
unb 93rat)m§ geniigenbe S3iirgfd)aft.
©0 mu§ benn S&aguer dor 9tllem Slnfto^ an bem Sljor uc^men,
fur ben fid) aud) nirgenb^ SRaum in feinem 2>rama finbet. giir i^n ift
bcr (£f)or nur cine SKenge t)on „3nbioibualitdten Don fo untergeorbnetcr
33c5iefjung jum S)rama, ba| fic 511 bem 3^ede polt)p^onifc^er SBatjrnetjmbar*
mad^ung ber |)armonie, burd^ nur mufifalifd) fljmp^onircnbe 2^eilnat)me
an bcr 3Kelobie ber ^auptpcrfou, Dermcnbet ioerben fonnten". 3)er St)or
fann ba^er „uur Don lebenbig iiberjeugenber SBirfung fein, menu i^m
bic bloS maffentjafte ^unbgebung Dotlftanbig benommen roirb. ©ine SDIaffe
faun un^ nie iutereffiren, fonbern blo^ berblitffen; nur genau unterf^eibs
bare ^nbiDibualitdten fonncn unfere S^eilna^me feffeln". 3)amit muft
nun aber bic 5D?ufif if)r n?crt^Dotlftc§ SSorredf)t, ti?cld)c^ fic Dor ben aw
Hid?arb IDagner. 275
t>eren Sunften genie^ ganjttdE) aufgeben, namlidE) bag Sermogen, cin unb
biefelbe ©timmung in toerfd&iebenen 3nbit)ibualitatcn gleidfjjeitig jur Slugs
faradje ju bringen. Unb mit bcm &)ox miifjte banti jugteicfj ber ©nfembles
fafc fallen. 2Ran toirb babei untoittfurlidj an ben SBormurf erinnert, ben
nad) ber Slupfjrung ber f,3p$igeme" ein ©egner ®Iudg bem SDteifter
in Setreff beg 2)uettg jtoifdjen Stgamemnon unb Sl^itt mad)te. S)ag
gufammenfingen ber betben $etben fet toertoerflid), ba eg fidj nidfjt jieme,
bai jtoei ^erfonen gleidjjeitig fpredf)en. SBagner felbft f)at biefer X^eorie
«in foftbareg SJloment fiir eine getoaltige SBirfung geopfert, nftmfid) im
itoeiten Stcte beg „Xriftan" bei bem ©rfdjeinen beg Sdnigg SKarfe mit
feinem ©efolge am ©dtjluffe beg Siebegbuetteg. #ier, too bei bem Stn^
Wide be^ fdjulbigen $aareg bie ©mptfrung iiber bie bem ®8nig angetljane
©d)tna<§ auf alien ®efid&tern gleidfoeitig aufblifct, ertoartet man, baf$
triefe gemeinfame (Smpfinbung in einem gleidfoeitigen 9lugbrudf)e fid&- Suft
madf)e, ba bie SKufif bie SRittel befifct, eine gemeinfame ©mpftnbung nad&
ten uerfdjiebenen ^erfonen djarafteriftiftf) ju fd&attiren. £ier tear ein
<Snfembtefafc burd) bie Situation motioirt, er toar $ter eine SRaturttotf)*
toenbigfeit, unb biefeg SKoment Derpufft toirfungglog in einer tangtoetligen
URoratyrebigt, bie ber Simig an bie ©djulbigen ridfjtet. SKan fann bie
■Eonfequenj SBagnerg mcf)t genug beftmnbern, man $atte ifjm aber in
itefem gatte urn beg ©etoimteg einer fo mixdjtigen, fo pftd)oIogifd) be*
griinbeten SBirfung tottten gern fiir eine 3nconfequenj gebanft.
3n ;/Iriftan" ift SBagner auf bem <Punfte angetangt, too er fi<$ ber
lefcten $flicf)ten gegen ben trabitionellen 83au ber Dper ent^ebt unb ben
toon feinem ©tjftem gebotenen 2Beg oljne toeitereg Sebenfen einfdfjlagt.
<£r felbft befennt, b($ er fid) in biefem SBerfe „mit ber toottften grct^eit
unb ganjtidjften SRiidfidjtglofigleit betoegte unb fein ®t)ftem toeit fibers
flugelte". „2Jtit boiler Su&erfidjt toerfenfte id) midf) t>ier nur nodj in bie
ttiefen ber inneren ©eelentjorgange unb geftattete jaglog aug biefem
Centrum ber SEScIt ifjre aufeere gorm." 3n biefen SBorten liegt eine
^rieggerHarung. 2)ie romantifdEje $t|antafie jie^t ^ier atte JJtegifter ber
S33iDfur, jpirft aUe 9tucffidf)ten fiir bie Sebingungen jur ©eite, toe(df)e bag
©ebot bramatifd^er (Sinfjeit auferlegt. 3)ie frifd^en, tjottbtiitigen (Seftalten
ber ©age finb in „Iriftan" mit bem ©eifte ©c^o^en^auer'fd^er $f)tfofo}rf)ie
im^ragnirt, fie fiec^en am mobernen ^effimigmug, fie fte^en in fdf)neibigem
€ontrafte mit ber S^it unb bem Softiime, toelc^e bag fcenifdfje Silb Dor^
^att. 3« ber obigen ©rflarung aber tjemimmt man jugleidf) bie ©timme
beg abfotuten SDiufiferg, benn nur in bem abfotuten SKujifer fann
bag ©etiiften 8laum getoinnen, bie objectbe ©rf^einung in bem fub^
jectitjen ©mpfinbunggleben aufjulbfen. ©o lafet aud^ bag Drdjefter atte
Sugel fd^iefeen unb ftromt in f^m^^onifd^er ffireite aug. 2)ag $rincipf
t)en mufifalifc^en ©afc auf SKotiue ju bauen, in toeldfjen ftd^ bie ^au^t-
ftimmungen beg S)ramag ju mufifatifc^en Icemen fr^ftattifiren, iibt ^ier
»wb wnb Sub. vn, 21. 19
276 <£bnarb Sc^eHe in tPien.
fcin #errenred)t fdfjon in unbefdjrihtfter SBetfe aug. 3)er SI)or ift bte
auf einige fleine ©afedfjen Derbannt, toeldje ber Qcoan% bcr Situation
bictirtc. Derfelbe S^ang ttdt^igte ben SMdjtercomponiften audfj in ber
„3Balfiire" hue in ber „®dtterb&mmerung", ben K^or toiber fein ^rincip
toorubergefjenb einjuberufen. 3)er „2riftan" ift ein Ijodjintereffanteg SBerf,
toeil eg ben ©tempet beg ©rlebten an ft<§ tragt, ober nur bte ntit
ttmnberbarer Xreue bie uberfdjtoangltcfjen ©ttmmungen in prad&tboflen
garbentonen abfptegelnbe SJluftf fann fitr bte peinlidfjen ©inbrude fd&ab*
tog flatten, toeidfje bie franfljaft itberreijte ©mpfinbunggtoelt ber $)idf)tung
Ijertoorruft. SKan muft ftdj aber in biefeg Xontoefen crft ^ineinleben, um
feinen Ijofjen SBertlj ju ermeffen.
3)er eigentlidje ®runb aber, toarum SBagner mit bem ©fjor nidjt
pactiren tt>itl, liegt barin, baft eben biefer ©tjor eine feft gefdjloffene 2Raffe
bilbet unb ftdf) bem Drdfjefter gegeniiber getoiffermaften alg ein ®egen*
ordjefter I)tnftettt, toeldfjeg gegen bie ®Ieidf)beredjttgung beg SBorteg ntit
ber SJtuftf einen frdftigen SBiberftanb leiftet. Unb baft biefe SWaffe nidjt
blog „t>erblitffen", fonbern aucf) interefftren fann, l)at SBagner fetbft bars
gelegt, inbent er in feinem ber Sottenbung sueilenben „5|$arfifal" bem
©fjore toieber eine #auj>trotle jugetljeitt fjat.
©g ift intereffant ju beobacfjten, ttrie fid) jener gefd)idf)tlid)e $roce§
in SBagner perfontftcirt, namentlicf) in „£riftan" nnb in no$ l)6f)erem
®rabe in ber Srilogie in fdjarfen unb getreuen Sinien ftdj abjetdjnet.
SRan fann tljn in ber lefcteren big auf'g Itipfeldjen nacfjtoetfen. ®em
©dfjoofte beg Drdf)efterg, atfo bem fempljontfcfjen Steprafentanten ber abfo-
luten SKufif, ift bag SDhififbrama entfttegen unb bie abfolute SRuftf urns
flutfjet mit freiem unb unbeljinbertem SBetlenfdfjIage in ber unenblidjen
SKetobie bag SBort. 3)enn biefe unenbticfje Sftetobte, ber erfte gactor ber
SMopoe SBagnerg unb bag Sreuj ber Segittmiften, ift nidfjt ettoa ur=
plofetid) aug bem ftauptt beg 9Reifterg gefprungen, fonbern eine gefd)td)ts
lid) fcorbereitete ©rfcfjeinwtg. Serfolgt man ben ®ang ber SKelobiebilbung
Don ben erften 9lnfdngen an, fo fie^t man ein SKoment aufbdmmern,
too bie 2Retobie bte ©dfjleufen iljrer getoonnenen gorm burdjbredjen unb
in einem ungealjnten ©rguft fid) jtettog augbreiten muft. SBaltet bodj in
ber muftfaltfdjen Sunft ein eiferneg ®efefc in bem 93eburfnift nad) einer
ftetigen ©tetgerung beg 9lugbrudg fotDol nac^ ©eiten ber gorm tote ber
^armonte unb beg Kolorttg. 9Son bem einfad^en S)reittang, toetc^er ber
mittctalterltd^en ^ol^^onie jur ^armonifd^en S3afig biente, fu^rt ber 3>rang
nad^ @rit)etterung ber accorbtidjen 93ejtet)ungen naturgemaft ilber ©^umann
ju ben iiberfpannten SSor^altg^armonien, mit benen SBagner ljantirt, unl>
in gleidjem SSerpItniffe ne^mcn 2lrdf)iteftonif unb Drcfjefter groftere S)i=
menftonen an. 2)artn befunbet fid^ ja eben ber getoaltige SKaturtrieb im
Xone, baft bte gormen bag ©tement ju forttaufenben SKeubilbungen iti
fic^ tragen. Sbenfo toenig finb nun aud) bic fo tibcl beteumunbetcn Seit^
Hidjarfc IDagner.
277
ntotioe oom 93aume gebroc&en, fonbcrn ben Snttoicflungen bcr lefcten ®unfts
pljafe organifcfj eittfcimt. ©ie beutcn fidf) berettg bci SBeber unb SDletjers
Beer, ben unmittelbaren Sorgangcm SBagnerg, in bem ©treben nadj
praguanter Etjarafteriftif an. 2)enn toenn, lute eg j. 83. bci bem Sefcteren
etne Stegel ift, bie #aupttrager ber $anbtung bei iljrem erften Sluftreten
burd) eine djarafterifirenbe SJJIjrafe fid) anfiinbigen, fo ift bie Sertoenbung
folder Sftotioe ju confequenter ©^mfcolit nur eine natitrlidje Sotge; fie
fteflen fid) fiir bie aufgeI5fte 3orm ate ein SKittet fur bie notfjtoenbige
Concentration beg 9lugbrudeg ein. S3ei SSagner Ijaben biefe 2Jlotit>e nid)t
ettoa atlein bie SBeftimmung, bie anftretenben 5perf5nlid)feiten ttjpifdf) in
ber SRuftf augjupragen, toie audj bie bebeutfamen 93esiel)ungen ber fmnfc
lung $u pointiren, fonbern fie oerfolgen einen l)5f)eren Stvtd, fie fotlen
and) bie oerfdfjtebenen lonarten beg "Slugbrudg in einem ©runbton oer*
fdjmefjen, atle (Sinjelt^eile beg Saueg ju einem ©anjen oetbinben, mit
einem 2Bort eine neue, bem Sbeale ttriirbige Slrdfjiteftonil befcf>affen. ©ie
fcexaftetn fid) in ber Iritogie toie ein SReruengefledfjt burdf) bag SSorfpiel
unb bie brei 3)ramen unb bilben fomit bag mufifalifd^e 93anb, toetdjeg
biefe oter SBerfe ju einem einljeitttdjen ©efummttoerfe oerfnityft. 93oDenb§
aber fatlt eg in bie Stugen, toie fef)r SBagner unter bem 95anne ber abfo*
luten 9Mufi! ftetit, toentt man in feinen ^Jartituren bem ©t)fteme in ber
SBefjanblung beg inftrumentalen 2ont5rpetg nadf)gel)t. Son „2oljengrin"
an feljen toir bag DrdEjefter burd) „£riftan" fyinburd) in ber Xritogie ju
einer riefigen ©rdfce anfdjtoetten. 2)ie 93lafer treten Ijier in Ootlftanbigen
gamitien auf, toeldje mannidjfaltige Serbinbungen mit einanber einge^en,
fid) aber ani) ju Heinen gteic^artigen Drdjeftern grujtyiren unb mitunter,
ttrie bag Ouartett ber Suben, bag SSort attein fiiljren. 3)ie Sriag ber
gloten Ijat fid) in ber Sierjaf)! aufgetoft, unb biefe Sicrja^I ift mafc
gebenb gebtieben fiir bag 93Iecf) mit 2tugnal)me ber £5rner, bie auf adjt
§erangetoa<§fen finb. Unb obenbrein Ijat fid) ben iibrtgen Sitfttumenten
nod) ein neueg in ber 3)onnermafcf)ine beigefettt, toeldjeg in ber ^artitur
ber „2BaIfiire" einen etgenen $tafc neben ben anberen erfjalten Ijat. 3Kan
f)at an ber aHju iip^igen S«fttumentirung SBagnerg oietfa^ Stnftofe ges
nommen unb fie ber ©udjt nac^ betaubenbett, finnebeftricfenben ©ffecten
in bie ©djulje gef^oben. SlHein in ber SKufif gitt nun eininal bie ©timme
ber aJlafcigfeitSapoftel nid^t^; bag mit fo oielem 9iaffinement angelegte
inftrumentate ©olorit, luetics S33agner gibt, ift nid)t3 abfic^tlid^ Slufge^
trageneg, fonbern ftete im innigften ©onnej mit bem DrganiSmuS feineg
fiunfttoerles.
©egen ben 2lnbrang folder <&&)aaxtn oermag felbftoerftanblid^ ber
©efang nic^t ©tanb ju fatten. 3)a§ Scepter, toeldjeS er big bafjin me^r
ober toentger fii^rte, ift i^m in „£riftan" unb oor Stttem aber in ber
£rtfogie oottig oon bem Drc^efter aug ben §anben getounben. Ueber
bem ©anger fdEjlagen bie SSogen beg Dr^efterg braufenb jufammen. SBirb
19*
278
€buarb Scbelle in VOxtn.
abet bcm ©anger bic SJlelobie entjogen, fo geljt er fcincr eigentltdjen
3nbttnbualitat toerluftig; cr agirt mir biirftig fort in fcincm ©piegelbtlbe
bed ifjrn beigegebenen SJlottoed im Drdjefter unb jaljlt nur ate cin Snftnu
tnent untcr ben iibrigen Snftrumenten, bad feincn ®enoffen gegenuber
feinc ©elbftanbtgfeit beanfarudjen fann. Slur cine fdjeinbare ©onber*
ftctlung Derbleibt iljm burd) bic gigur, bic cr barjuftetten Ijat, unb burdj
bag SBort, toeldjed iljm in ben 9Kunb gclcgt ift.
Stterbingd hull SBagner bic 3tedjte bed Sorted unb bamit and) bed
©angers getoaljrt ttriffen. Sr Icgt befanntlidj auf bic beuttidje SBaljr-
nrfjmung bed Iqrted ein befonbered ®enrid)t. ©erne lonforadje hritt bic
SBortfpradje feinedtoegd iibcrljolen, fonbern in trautcm SScrcine mit bicfer
jufammengeljen unb fid) mit i$r ju ciner ibeaten ®effflfjteft>radje fcerftaren.
9ludj aud bcm SBorte in beffen ©teigcrung jum ^oetif^en Sludbrutf ent-
fprtngt cine 2Mobie, bie ,,3Bortl>erdmetobie'', toetdje ate bic 33lutl)e bcr
„gBorttonfprad)e" ju bejeid&nen ift. 3)er 9Serdmelobte fdHt bic Jtufgabe
ju, jened „Unaudfpred)tid)e" audiufpredjen, beffen Shmbgebung in bem
SSermbgen bed Drdjefterd licgt unb bamit bad Qid unb audj jugteidj
bie ©djranfe ber abfoluten SWufi! bilbet. Stttein ber Segriff bed „Un*
audfpredjlidjen/' eroffnet eine unermefjtidje Sperfoectitoe, benn bad Unauds
fpredjlidje Ijat cinen mtjftifdjen Sfteij fflr fid), unb ttrirb bcr geljeimntfc
tiotCe Snljalt aud) burd) bie befte 83erdmeIobie erfdjloffen, immerfjin ttrirb
fid) jttrifdjen bem ®ettrinn unb bcm ©rwartctcn cin getoiffer fcbftanb aufc
beden. Sarin eben beruljt ja bie 3<wbcrfraft ber 9Rufif, in tocher iljr
feinc anberc Sunft gleidjfommt, bafi fie bie Sptjantafie jum Sudbidjten
beffen in Silbern anregt, toad in iljren #armonien aud bem S)unfcl bcr
2tynung ju und fpridjt. 3« *cr alten Dper trug bie SRelobie auf ben
SBetten bed ©efanged bad SBort mit fidj fort, in bem SKufifbrama utm
branbet bic ©tympljonie bie SScrdmelobie toic ein ©tlanb; in beiben goroten
ift ed immer bie SKufif, toeldje ben 25tt)enantljeil an ber SBirfung an i
m reifet !
3ener Stnfdjauung liegt, ftrcng genommcn, bie SJorfteKung toon ber '
SRufit ate einer ftofflofen Kunft ju ®ruube. S)ie ®efd)idjte jebodj letjrt,
bafi ber mufifalifdjc SEon ein ©toff ift, bcr ftdj nur miiljfam gefdjtnei*
bigen lafct, abcr jugleidj cin ©toff, bcr, ttrie bic ©pinne i^r 9le^r fein
Sormgemebe aud bcm cigenen ^orpcr jieljt. 3)e^alb ift bic SRufif bie
jungftgeborene unter i^ren ©c^weftcrn, abcr nidjt bic f^m&(^fic. 3)te
tefcte Eonfcquenj bcr I^eorie njiirbe ju bem frii^er angefii^rtcn Wfiom
jetted ©rafen S3arbi juriidfii^ren, unb ba Ijatte bie gefd|i^tli(^c ©nt^
toidlung ber bramatif^en SKufif in Setreff i^rcd SitltZ einen girfel
befdjrieben.
SWit bem ®efammt!unfttoer! fyattt cd fomit ein eigened ©ciocnben.
2)er ©cbanle, bic ©injclfunfte aid gleidjartiged aKaterial in bcm monu^
mentalen 2Jau bed SKufilbramad ju fcertoenben, f)at jtoar cbenfo etmad
Htdjarb IDagner.
279
SSerfitljrertfdjeS ttrie ber ©ebanfe ber SBieberbelebung beg antifen 2)rama3
jur 3eit feer gtenaiffance, ift aber hue bicfc bod) nur cin fdjdner poettfdjer
Xxanm. $oefie, SKufif unb bilbenbe fiunft fSnnen toot bis ju cittern
gclpiffcn ©rabe ju ©unften cin uttb beSfelben 3toecfc3 eine STOianj cttts
geljen, allettt bicfc lafct fidj nidjt bi$ ju bem ©djeitefyunft eineS ©es
fammtttrirfenS aufredjt erljatten, in toetdjem iebe biefer ffitnftc iljr ©onber*
toefen tiebetooll biefem Qtotdt opfert. Sine rcinc harmonic toiirbe ftete
an bent Untftanbc fdjeitero, bajj eineS bicfer brci ©temente audj in bent
©efammtfunfttoerfe biefdben ffioncefftonen beanfprudjt, ju meldjen bie alte
Dpcr ba$ ^ubltfnm aufforbcrt. SBir Jjaben in SBatyreutf) bci bcr 2faf=
fiiljrung ber bier Sramen trofc be3 gebdmpften unfidjtbaren DrdjefterS
bie (Srfaljrung gemadjt, bafj man be3 SaebeferS ber alien Dper, be3
Ie£tbud}e£ audj i>ier nid)t entrattjen fonnte. ®er mufifalifd)e ion, bie
9iaturbebingung be3 gefungenen SBorteS, mirb immer bie ®eutti(f)feit be^
felben bet bent gteidjjettigett SRebeftrom ber 3nftrumentc nte^r obcr
toenigcr umfloren. 8lu£ bem ©efammtfuuftmerf, in bicfem ©inn genome
men, ttriirbe nur ba3 ©rabgeldute ber Sunft ertflnen. 3ft bie ^fjantafie
be$ ©eniefjenben, hue e$ Ijier cintrcten miifete, tooQtg in SRuljeftanb ge=
fefct, f)at fie nid)te meljr nacfjjufdjaffen, fo ftiirjen bie Sbeale jufammen
unb ber jerfefeenbe SRatertaltemuS beginnt nun fein f<f)auerli<f)e3 SScrf.
©Itidlidjermeife ift SBagner nur in fciner I^eorte fo graufam, cine fotdje
Dpfemrittigteit toon ben ©injellitnftcn ju erjmingen. SKan gebc fidj feincr
Xdufdjung Ijin. 3n „£riftan" unb nod) me^r in bem SRiefentoerfe, in
ber Irilogie Icu<f)tet bie 9Rufif ate bie eigentlidj bominirenbe Sunft
tooran. £anblung unb 93iH)ne betffdtigen fid) an bem ©ebtlbe ttrie in
ber alten Dper nur ate SKittct jum mufifalifdjen Stoecf, nur ba| bie
UJtittel Ijier ebler, bie 33ebingungcn ber SRufif ibealcr finb ate bort.
$ie $anblwtg an fid) fann ba3 3ntereffe auf bie 2>auer nidjt fpannen,
toeil fie ben menfdjtidjen SJerljdltniffen gdnjlidi) entrudt ift. 2Bo ba3
SBunberbare jur 9?atur njirb, f^toinbet ber reeUe bramatif^e SDlafeftab,
toeit bie gactoren ber I^at an ubermenf(^li(^e Sejie^ungen anfnii^fen.
9hir bie SKufif befifet bie SKa^t, ung iiber bie ffiluft biefer beiben SSSelten
Ijinfortjutragen, beren S3ermittlung bem SSerftanb fcerfagt ift. 3)ie ajluftf
^at mit^in ^ier, mo ©toff unb #anblung bei i^r $iilfe fud)en, ein Sin*
redjt, fi^ in ben Sorbergrunb ju brangen, fie Ijat biefe^ Mnre^t tiber-
tyupt, too fie fid) ate britte im Sunbe jum ®rama gefeQt, fraft ber er*
rei^ten Sntmidlung im Sehmfctfein i^rc§ Serufe^ unb iJjrer ©tdrle.
3c^ befenne off en, bafe fiir ben ©inbrud ber trier ®ramen ber
Irilogie bei beren 2tuffiit)mngen bag 93ilb ber #anblung auf ber S3ii^ne
e^er tjemmenb at^ forbemb auf mic^ einhnrfte. 3^ Ijabe bie3 an mir
erfaljren, ate i^ in Sa^reut^ bei ber lefeten 93orfteIIung ber „©otters
bdmmerung" ben ©^Iu§ bed lefcten 2tcted au^er^atb bed I^eaterfaaled
bor beffen Ipre an^5rte. $ier, too mir bie S3u^ne ganj entriidt mar,
280 <Ebuarb Sd?eile in IXHen.
cr^iett id) toon bcr SDlufif cincn fo getoaltigen fljmpljonifdjeu ©inbrud, hrie
idj i^tt bei ben bcibcn friifjeren SJorftettungen nic gefannt ijabe, unb biefetbe
SBaljrnefjmung madjte id) bei ben Stuffufjrungen bcr „3Balfitre" unb beg
„8ttjeingotb" in SSien. ©obatb idj otfo einjig unb attein bent D^re
folgte, ba toerbi<f)teten fid) bie fdjtoanfenben ©fatten bed SRttfljod ju
reineren, ^oetifc^ctcn ©eftalten aid in intern Itjeaterfoftiime auf bet ©iiljne.
2)a glitt id) felbft uber bie brudenben Sangen leister tjintoeg, ate toemi
id) ben fdjleppenben SHatog unb ben fdjtoeren ©djritt ber £anblung in
ber ©cene toerfolgte. 3n ber Xtjat, tnenn idj mid) in bad hmnberbare
SSorfpicI jur „9Balfure" toerfenfe, ba fe^ idj SBotan iiber bie SSoffen
fdjreiten, ba fteigt er in feiner biiftera ©rofearttgfcit Dor ntir auf, ganj
anberd ate in bent ©anger tnit bent un&ermeiblidjen ©peer, unb in bent
/;geueriauber" entroKen mir bie S5ne ein toeit feierlidjered SSilb ber
f/hmbernben 2ot)e" ate bie rotljbeleudjteten SBafferbampfe ber decoration.
SDer ©ebanfe iiberfliegt fo Ijod) bie ©rfdjeinung, bajj ntan ifjm nur auf
ben gittidjen ber SKufif folgen !ann. £at ntan fidj nur ntit bcr ©on-
ception ber £anblung einigermafeen Dertraut gemadjt, fo fann man bem
SSerlauf berfelben in ber SKufif an ber #anb ber Seitmotifce nadjgeljen,
oljne ©efaljr ju laufen, aud bent SBannfreid ber ©tintntung ju geratfjen,
unb bie SBelt bed norbifdjen SDltjtljod baut fidj aud ben Jdneit auf in
crljabeneren gormeu aid aud ben Sunftftflden bcr 93uljnented&nif; jeben^
fatld fteljt bie SBiilnte, menu ed fidj urn bie reine SBirfung Ijanbett, in
jtoeiter Sinie. 3n feinent ©itfjnemuerfe SBagnerd, felbft „£riftan" faum
audgenommen, nimntt bie abfolute SWufif eine foldje SKa^tftettung ein
toie in ber £ritogie. £ier §at fidj bad fympljonifclje ©lenient ganjtid)
entfeffelt unb bod Dpernbrama in eincr SftiefenftjmpJjonie aufgelflft. SRadjte
man einmal ben Serfud), bad S3orfpiet unb bic brei S)ramcn aid SBort^
bramen mit allem fcenifdjen $omp barjufteHcn unb toieberum bad Ion*
toerf aid folded oljne ©eitjiilfe ber ©cene im ©oncertfaat aufjufiiljren,
man totirbe feljen, hrie feljr fidj bie SBagfdjale ju ©unftcn bed lefcteren
fenlcn fourbe. Sn ber Irilogie, ber grofiartigften, toenn aud) nid)t bcr
in fid) audgeglidjenften feiner ©d&5pfungen, §at SBagner bie tefeten ©on*
fequenjen nid)t nur feiner 9iid)tung, fonbern audi) ber gefammtcn mus
fifatifdjen ©nttoidlungen gejogen. 5Huf biefen ?Jirocef$ begriinbet ftd) bic
©rflfce SBagnerd, aber aud ifjm refultirt au^ bie 9Rafjtofigfeit, ate bic
©c^attenfeitc bed SKeifterd. ®ad 2Rq| ift bad unump&lidje ©efeft im
Sftcic^e bed ©djonen; an bad SKafe ift ber menfcfjlidje Drganidmud
gebunben.
©in fotdjer ift ber ©tanb^unlt, Don bem id) SBagner auffaffe. 3dj
lonn mir ben ©^5|)fer ber Iritogie nid^t ate ein Don ber ®efd)idjte ber
lonfunft abgeloftcd, aid ein ifolirted, aud bem 2Beid)bUbe berfelben
tretenbed ^^anomen benlen, toeil ic^ alle gdben ber ®efd)id)te in i^m
jufammenlaufen felje. SBie einft in ^atcftrina bie mufilalifdEjen Zxabi-
Hidjarb IDagrwr.
28{
tionen be3 9RitteIalter3 ftd^ perfonificirten, toie in SKojart bcr ©eift bcr
beiben fotgcnben ga^unbcrtc auSftrafytte, fo !)at SBagner bie fompljo*
itifdjen ®rrungenf<$aften bcr nadjmojart'fdjen 3^it in fidj aufgenommen,
fie in feinem 2Rufifbrama bi3 ju bcr aufjerften ©renje auSgeftaltet unb
bamit bcr ncucften gntmidhingSptjafe ba3 ©djtufifiegel aufgebrfidt. ©in
©djritt fiber bie Xrilogie IjinauS mfifjte jur pantomime ffifjren, cin
weiterer au3 bicfer ju bcr rcinen ©tympfjonie jurfidlenfen.
S)cr Seruf, bcr SBagner jugef alien ift, bebingt einc Eapacit&t, bie
fid) nidjt auf bie mufifalifdje ©egabung altein befc^rdnft, in bcr titl*
mefjr SKufifer, Sidjter unb 2)en!cr jufammenfliefjen. 3)cnn bie 3eit be3
itafoen ©d)affen3 ift Dorfiber, feit bic 9Kufif in bie atlgemeine ©trdmung
t>e§ gciftigen 2eben3 mfinbet unb an ben fdjaffenben SKufiter Stnforbe*
rungen ergeljen, toefdjen er au$ fciner Jfunft attein fjerauS nic^t genfigen
fann. 3)ie mufilatifdje SluSbrurfStoeife SBagnerS fcermag bie gefunfjte
<Stirn be3 2)enfer3 nidjt ju Derljfillen, fie jeigt bie ©puren ber anafy*
firenben Xfjatigfeit be3 SerftanbeS. Slber au3 bem ganjen Eontuefen
blidt un3 ba§ SBilb be3 mobernen 3eitgeifte3 entgegen, unb barum Hingt
bicfe mufifatifdje @pra<f)e fo fyarmonifdj mit ben Stidjtungen bcr ©egen*
toart jufammen. Slug biefen 33cjie^ungcn fd)5pft fie tyre Sebcutung unb
bie junbenbe Sraft, mit ber fie auf bie Ijeutige ©eneration ttrirft, barin
tourjeln aud) gehriffe ©ebredjen be3 ©tits, bie nur ber btinbe <£ntf}ufia3s
mu£ flberfeljcn fann. 3)e3l)alb tjat tool SBagncr eine $artei, aber feine
©djute grunben Idnnen unb ttrirb and) eine foldje nid)t Ijinterfaffen. S)er
Sfinger, welder bag ©tyftem SBagnerS jur SRegcI feineS ©djaffenS madjen
tootlte, oljne fiber ba3 angeborne unb ertoorbene geiftige SSermdgcn be3
SKeifterS Derffigen ju fimnen, tofirbe unfeljlbar ber Sarbarei in bcr Sunft
bie Sljfiren offnen.
Unb nun bie alte Dpcr. $at fie in ber Xfyat toon bem ncuen SDtufifs
brama ben XobeSftoji cmpfangen? SBagncr fetbft Ijat auf bicfe grage
bie Slnttoort gegeben in feinem SBerfe: „2)ie SKeiftcrfingcr Don SUfim-
berg", toetdjeS nad) bem „2;riftan" fcollenbet tourbe, unb bicfe 2Jleifter;
finger finb nun gcrabe ber -Uleiftergefang SBagnerS, obtoot fie in bie
^Erabitionen ber alten Dper toieber einbiegen. ©ie paffen atterbingS
nid^t in ben Sa^mcn eincr fomifdjen D|)er, mie cS in ben 3iitentionen
be§ S3erfaffer§ lag, toeil in tynen bie ©pringftutl) cine^ cd)ten, ur^
tDfi^figcn £mmor3 fe^It, fie fallen e^er in bie Categoric beg SSolfgftfide^.
9iid)t3beftomeniger ^at aber SBagner in biefcr ©djityfung cin 9KuftcrbiIb
ber Dper ^ingeftellt. S)ie „aKcifterfingcr// fiberragen ben „Iriftan//,
4enn fie bewegen fidj in einer reincren Stttnof^arc; in iljnen tocrfe^ren
toix mit gefunben SKenf^cn unb SwftSnben. 3n ben „2Keifterfingern''
^at SBagner bie Sebingungcn, turic^c bie ©attung bcr ^erfdmmlidjen
Dper an einen Eom^oniften fteUt, mit Se^agcn erfilttt unb bennod) ben*
felben ein neuc^ Stclief ju Derlci^cn unb ba§ Slut frifdjer Urfprfing^
282 (Ebuarb Sd^elle in IPien.
Iid)feit einjuflofjen gehmftt, tool baburd), baft cr bem Drdjefter gemaj*
fcinem ©tanbjwnft cincn utt>erl)aftntf$ma&ig gtbfceren lummetylafc an-
gehnefen, ate e3 bie frii^etc $ra£i3 mit fid) bradjte. ffir Ijat fogar bit
oltc Dutoerture ttrieber in ifjre 8ted)ie eingefefet unb in iljr cm SKctftcr-
ftudE gclicfcrt. ftraft ifjrer (SntfteJjung ttrirb bie Dptx in tyrer ®runb*
form gleidj bcr ©tympljonie fortteben, fo langc hrie bie SKufif lebt, aber
bag Jhtnfttuerf SBagnerS barf ftdj ritymen, biefe ®attung einem S&uterungS*
procefc jugefii^rt ju ljaben burd) ben ©ett>inn einer ftrafferen gorm, ehte£
einljeitfid)eren ®uffe8 unb toor 8lllem burd) ben ftinftterifdjen ©rnft, auf
ben ttrir jefet ben 9iad)brud legen.
©o fteljt SRidjarb SBagner ba, eine getoattige @eftalt, in ber fic£
bie ejcentrifc^en Steigungen unferer geit fcerfflrpera. S)ie 2RdngeI frfbft,
bie un8, feinen S^itgenoffen, fo ftarf in bie Slugen fpringen, jeugen bod>
nur fiir bie ©r5fce biefer ftiinfttererfdjeinung. giir feltene UeberjeugungS-
treue fpredjen bie an ba8 Uebermenfd)li<f)e grenjenbe Ujatfraft, ber raft*
tofe, in fo trielen rtefigen ^arttturen, in einer gillie toon Kterarifdjen
SBerfen fid) betunbenbe gteifc, foeld&en ber SReifter un&erfummert bte
in fein 2tlter tnnubergenommen t)at. SBagner fteljt jefet in feinem 66. Saljre
unb ge^t baran, eine neue @d)5pfung ju beenben. 8lm ©tjfoefterabenb
biefeS 3al)re3 toirb er bie lefete SRote ju feinem „$arfifat" fdjreiben; er
ljat e$ gefagt unb fo totrb e3 audj gefdjeljen.
3 b Y I I e n
von
J|rinridj Itrufc*
— Berlin. —
Die Qadfteitex.
EBltigg id? im Sturm 3«r tfoje fytnab nm etu?as 311 fd?lafen
GSSgl Unb 3U oergeffen bte 2Ingft, fo nafjte fie bod? mir im (Eranme.
Denn mir pflegte ber Kiijter uon Sd?aprob bann 3U erfd?einen,
tPie ber gefiird?tete HTann mit ber Bierbagftimme mid? aufrief,
fje^ufagen, nnb id? bajtanb unb fonnte ben £ej nid?t.
©ber id? fat{ tt^n audi ftetjn in ber offenen (Entire bes tfirdjtfjnrms,
Drof?enb erf?oben bas Hofyr, nnb roir brei 3ungen, roir mugten
Tin ifyn uorbei, uon ber (Ereppe tjerab. Pas begab fid? n>ie folget:
Sdfavxob fennt 3Ijr ja rooty? <Ein riigenfd?es freunblid?es Kirdjborf,
Das an bem Stranb auffteigt unb roie ein betjabiger £anbmamt
Stabtifd? ftd? fd?on aufpufct; benn es fd?immert mit ftattlid?en f?anfern,
Sanber geroeigt nnb getiind?t, griin gla^en bie Jenfter nnb £aben.
Hiebrig ift freilid? bie (Etnir, unb roenn man oergigt fid? 3U bncfen,
St> man fid? tiid?tig ben Kopf. Venn es rootjnen ba dltlid?e Sniffer ,
Die fid? 3nr Bufje gefetjt unb bas !?aus nad? alter (Seroofynfjeit
tliebrig nnb 3ierlid? ftd? bau*n, roie roeilanb im Sd?iff bie <£ajiite.
(Dben auf Iuftiger f?5f?e bes Ufers erfjebt ftd? bie Kird?e,
Uralt — benn in bas (Eljor ift ein f?eibnifd?er <58t$e gemauert —
Diifler, von roeuigen Jenftern erfjellt, bie nid?t in ber Beit}' jtefm;
2lber ber (Etjnrm ift fiattlid? unb bienet ben 5d?iffem als geid?en.
Stattlid? ift and? bie Kird?e mit fteil aufragenbem Dad?e:
tPer bariiber 3U roerfen serjkmb, ber gait fd?on als Uleifler.
Ueber bas <£t?or fjinaus ftetjt einfam ein Strebepfeiler,
plump, ©on ber Kird?e getrennt, fo roie man's am Dome uon £nnb ftetjt*
(Einft 3um Stiitjen bejtimmt; nun beburft* er rool felber ber Stiifce;
£8ngft fd?on brBcfelt' er ab nnb roar vox 2llter gefpalten.
Unb nun i^aiUn bie Bienen gebaut im Spalte bes pfeilers*
28^ fjeinrid? Krufe in Berlin.
Dort mar ^onig in HTajfe, fo fagten bie feute, 3U fhtben,
Da bort 3afyre bereits nngejidrt bie Bienen genijtet.
Sd^abe, bag Xliemanb ben letferen Seim 3U foften oermod?te,
IDenn nid?t <2ngel pielleid?t aus ben Siiften Ijerab fid? bemufjten.
(Dftmals blicften roir Knaben Ijinauf unb fallen bie Bienen
5d?Iiipfen 3ur Oeffnung tjinaus unb Ijinein unb Iecften ben HTunb uns;
2lber cergebens; es reidjten bie £eitern im Dorfe fo t?od? nid?t.
Unb roir ^Stten am £eib uns fliigel geroiinfd?t u>ie bie 3ienen.
„IX>ijfet 3^r mas? — " fo rief id? einmal, ba roir alteren Knaben
Sonntag Hadjmittags Betglocfe ge3ogen unb Ijeimroarts
Sd?on mit bem Sdjliiffelbunb uns trollten; es mod?te bie Sonne
(Srabe ben pfeiler fo red?t anlocfenb befdjeinen; id? fagte:
„IX>iffet 3^r roas? Wit flettern fjinauf unb ffolen ben £?onig!"
vZofycmn Woltet, Du bijt rool nid?t flug!" fo fagten bie 2Inbern.
2Iber id? roar bamals ber uerroegenfte Klett'rer im Dorfe,
Dem fein Htarquarbneft im oberjten Xt>ipfel 3U tjod? roar.
„€i roas, fagt* id?, roas \ft benn babei? W\v fteigen com (Djurme
Xluv auf bos Kird?enbad? unb fd?ieben uns fad?t an bie Spitje,
Unb bann ftnb roir am pfeiler, unb fdnnen ben fjonig ©er3et?ren.
IDenn 3^r nid?t mitroollt, get?' id? atlein!" So bretjt* id? ben Sc^liiffel
Sd?on in ber (Ct?urmtl?iir urn. 2IIs bie 2lnbern fo mutfjig mid? fanbtii,
(Dljne Beftnnen an's ZDerf mid? madjenb, als roar* es ein £eid?tes,
Satjn fie einanber fid? an unb fratjten fid? tjinter ben 0f?ren;
Dod? bie 3el?er3teften folgten mir nad? burd? bie offene (C^ure.
Unb fo fSum' id? benn nid?t unb ftoge bie £ufe bes (Ctjurms auf,
Steig* aufs Dad? unb fetje 3ur fatjrt rittlings mid? unb rufe:
„IX>er fein Sd?neiber ijt, folge mir nad?!" Da ftieg benn aud? rid?tig
(frife Hunge mir nad?, mein Spieggefelle, ber treulid?
3eglid?en Streid? mit mir pets auS3ufiit?ren gerootjnt roar.
XPas id? tf?at, bas ttjat er mir nad?. 2Us er t?inter mir platj nat|m,
£ie§ aus ber £ufe fid? nod? Karl Kaften fjerunter, bod? etroas
^5agf?aft fid? mit bem f u§e bes Dad?es uerftd?ernb. TDiv fjalfen
2km 3U™ Sitjen 3ured?t. So fafjen roir Drei auf bem Dad?e
Hittlings iibergefd?Iagen. 3d? rief: „WiU Keiner benn meljr mit?
Sd?neiber, 2lbe!" So 3ogen roir ab. XX>tr rutfd?ten beljutfam
Ueber bas Dad? uorroarts. £angfi tjatt's 2Iusbefferung n<Jtf?ig, —
£os unb br<5cfelig roaren bie &ita,el geroorben; fie fd?oben,
lPSt?renb roir ©orrodrts rutfd?ten, Jid? t^ier unb ba, unb ber Kalf ftel
Krumelnb t?erab, unb uns rourbe babei fd?ier feltfam 3U HTutt?e.
Dod? uns erfiiflte fo gan3 bie Begier nad? bem letferen ^onig,
Da§ roir nur ©orrodrts ftrebten unb r>iel an <Sefat?ren uid?t badjten.
€nblid? t?att* id> ben pfeiler erreid?t; ba bebient' id? bes Stocf's mic^,
Den id? mir mit auf bie ^aljrt 3um ^onigftod?ern genommen.
Poller €rroartnng jtieg id? ben Stocf in bie Spalte t?inunter,
Hafte tjinauf unb t?inab, unb es ffogeu rool 3ienen uon bannen,
2Jber es fam fein fjonig tferaus. 3d? fra^te unb fd?arrte;
2lber obgleid? im Dorf aud? aire perjldnbige £eute
3bvllen.
285
Sprad?en vom fjonig, als fet es geroig unb ntd?t 3U be3n>etfeln,
VOat fein ^onig im pfeiler; id} ftieg ftatt f5ftlid?er IXJaben
Hid?ts als altes (SerSUe l?err*or unb Spinnengeroebe.
3a, id? bengte mid? uor unb fal? mtt eigencn 2Ingen,
Dag fein Qonig tm Spalt, unb bag roir Harren getpefen.
21nfangs argert' id? mid?, bann lad?t' id? unb fagtc: „€s fjilft nid?ts!
£?ab' id? bod? oft mir fd?on beim Klettern bie fjofen 3errtffen,
Unb nad?l?er roar bas tteft bod? leer!" „3a, roas fangen roir nun an?"
Sprad? Karl Kaften in fl5glid?em (Con. „lDas ift ba 3U fragen?
<£i, mir breljerf uns urn, unb rntfd?en 3uriicf nad? bem Cfjurme!"
Das roar leid?t rool gefagt, bod? als Karl Kaften ftd? bretj'n foil,
Kriegt er es fd?on mit ber 21ngft unb fiirdjtet t>om Dad?e 3U pur3eln.
„Stel?!" fo fagt* id? 3U if?m, unb brefyte fo ftinf u>ie ein burner
Sid? auf bem Hecf umbrefjt, mid? rjerum, unb mit einiger UTul|e
UTad?t Jrifc Hung' es mir nad?. So blicften roir Beibe 3um Ojnrme,
Dod? Karl Kaften, er blicrV uns 3ittemb unb 3agenb entgegeu.
(Enblid? gelang es itmi aud? mtitjfam, nad) mand?em Derfndje,
Sid? auf ber fd?t»inbelnben f?6t?e 3U breb/n unb bie Beine 3U roed?feln.
211fo traten roir bann ben Hiicfmarfd? an; bod? ber f^inroeg
VOat uns leid?ter geroorben, belebt con Perlangen unb fjoffnung.
Unfer Kleeblatt roar triibfelig erntidjtert! „Das Dad? bebt!"
2ltef Karl Kaften. Der fjinterfte fonft, jefet follf er uns fufjren;
21ber ein flaglid?er Jufyrer! <Es fatten ftd? unfre (Sefpielen
Unten 3ut?anf ©erfammelt, unb ftarrten tjinauf von bem Ktrd?f?of,
Uns Dad?reiter berounbernb. Sie riefen, bie Uleinung beftarfenb:
„Het?mt <Eud? in 2ld?t! Denn es roacFelt bas Dad?! 3a/ ** brofjet ben <2tnftur3 \"
Unb Karl Kaften uergingen bie Stnne beinaf?; bod? er rntfd?te
fangfam roeiter 3um (Etjurm. 211s er 3itternb 3nm giele gelangt tft,
Unb es nun gilt ftd? empor 3U ber £ufe bes (Efyurmes 3U fd?anngen,
Da entftnft il?m ber HTutt|. 3*?m biinfet, 3U grog fei ber Jlbftanb.
Unb er cermag nid?t einmal ftd? auf3urid?ten. Die Ojiirme,
Klagt er, unb Sd?iffe beginnen t>or ilmt fid? 3n biegen unb fd?u>anfen,
21IIes fd?roimmet unb freifet urn ilm, faum tjfilt er ftd? frampfljaft
Hod? an bem Ktrd?bad? feft roie ein Sonntagsreiter am Sattel.
„nein, mir fd?toinbelt!" fo rief er. 3<*? fPr<*d? oergebens ifmi UTutt| ein;
<£r fag 3itternb unb bebenb unb rtifjrte ftd) nid?t r>on ber Stelle
Unb fo maren rtnr 2111e t?erl?inbert 3um (Cl?urme 3U fommen.
Denn roir befagen ja nidjt roie Kolter, ber mutt?ige Springer,
Ueber it?n roeg3ufprtngen bie Kunft. IDie follten roir alfo
21n Karl Kaften uorbei, ber ftd? uid?t riippelt* unb riifjrte?
2IIfo fagen roir brei Dad?reiter unb fatten bie fd)8nfte
OTuge com luftigen Sife 3U befd?auen bie l?errlid)e Umftd?t.
Hingsnm blantt bas Uleer im <Slan3e ber ftnfenben Sonne,
2Iusgefpannt roie ein Hatjmen, bas lieblic^e Hiigen geftitft brauf.
IPittoa) ftieg roie ein lDallftfd?l?aupt ans ben fd^Sumenben IDogen
UI&d?tig empor, unb fd?immerte t?etf von unenbltd)em Wax^en,
yxsmnnb bunfelte fern, mit bem UJalbgebirge , ba3»ifd?en
286 Qeinrio? Krufe in Berlin.
Satj man bie Kreibefelfen bes lifers. 3n Htitten ber 3nfel
(E^at ftd; ber freunblidje Hugarb fervor unb roeiter naa? ITTittag
Sab, man bie ragenben (Efyiirme von Stralf unb, bie cms bem IHeere
Sdjienen geroadjfen 3U fein, unb bie anberen Stabte von pommem.
ZTeben uns, lang unb formal, lag fjibbensoe mit bem Dornbufdj;
(Enblos fdjroeifte ber Blicf auf Kiijten nnb Batten unb 3nfeln.
ITCoen fogar roar beutlia? 3U fefyn, r»om freibigen Ufer
Stvatytt bie Sonner 3um ISlanb fa?on gefunfen, 3uriicf roie ein BlitrfrrafiL
XPer nur Stimmnng gebabt, urn in alle ber SdjSnfyeit 30 fdjroelgen!
2Iber roir fa§en ba nun fa?on eine gefdjlagene Stnnbe,
Dorn Karl Kajien, je ISnger je mefyr am Klettern per3roeifelnb ,
Dann Jritj Hunge, gemaa? abroartenb, was ia? rool beginne;
3<fy 3ulefct, boa? mit meinem Catein roar ana? es 3U <2nbe.
Sielje, ba fam langfam naa? feiner (Serooljn^eit ber Kufter
Unb Sdjulmeijier batjer, ber alte (Eobe. €r pffegte
Sonntag 21benbs 3n <Sau im Bratenrocfe 30 geljen.
Hubartb. fam bann aua?, ein Steu'rmann, roela?er fein Cogbua?
£ange gefdjloffen bereits; (Sau, ein 3roeifpanniger Bauer,
£ie§ fid? nia?t nebmen, ben XPirtt^ am Sonntag 2Ibenb 311 madjen.
2Ilfo famen bie Drei 3ufammen unb fpielten ba Sdjaaf sfopf.
2lls mein Kiiper nun nafjt, langfam, mit geijtlidjer ZDiirbe,
f?alt er bie Qanb uor's <Sejia?t unb roagt nia?t ben 2lugen 3U trauen,
2lls er nun Drei ba fiefyt auf bem Kirdjbadj fttjen roie Kronen,
Die im ZDinter ftdj fefcen auf s Daa? in gefdjloffener Heibe.
tlun trug (Eobe geroolfnlia? ein Hofyr, ein mfia?tiges, fyofyes,
£eberbe3ogenes Hofyr, unb es roaren im £eber uerfdfieb'ne
Knoten unb Hinge gemadjt, fte bienten bem Stocf 3ur De^ierung,
2lber vereinten babei mit bem 21ngenefmten ben Ztufeen;
Denn fte uerftdrften bie IDirfung bes Hour's auf ben Biicfen ber SdjiUer-
©bbemelbeten Stocf trug (Eobe, fo fagt' id? mit 2lbfta?t.
ZtSmlia? er pjlegte bas Hotjr nia?t 3um 5pa3ieren 3U brand? en,
Sonbern er trug es fo quer, gan3 roag'redjt, unter bem 2lrme.
211s er nns aber erblicfte, ba nafym er ben Stocf in bie Hea?te,
Sa^wano, it?n fdjarf bura? bie £uft unb cerrictt? fo feine (Sebanfen.
Doa? er be\ann fia? fogleia? unb braa?te ben Stocf in bie alte
Cage 3urucf, ibn quer mit bem 2Irm fejtfyaltenb, bem linfen.
Huljig rief er fobann mit feiner geroidjtigen Stimme:
„Sietie boa?, 3ofymn XPolter, roas mad# Du ba? IDilljt Du t>ielleidjt Dir
Sperlinge greifen?" 3^ f^9te barauf: „tlein, f?err Sa?ulmeifter I"
Unb fo fua?t* ia? bie Sadje fo glatt roie miJglidj 3U maa?en,
Sagte 3um Sa?lug roie es roar, Karl Kajien fei 3age geroorben,
OTein', i^m roare bie £ufe 311 t)oa?, unb es roacfle bas Kira?bad?»
„Dnmmer Sa?nacf!" rief (Eobe mit feiner geroaltigen Stimme,
„U?as? 2Iuf bem Kira?baa? fann ein gemajteter 0a^s noa? entlang getptt
3ungen, 3^r Pe*9t fogleia? in bas ^enjter bes (E^urms unb uergegt nia?t
Unten bie (Entire 3U fa?lie§en! 3^r kabt mia? boa?, 3««9^/ Perfianben?
287
UTarfd?!" 211s fo eommanbirt mit bonnernber Stimme ber Kujier
Unb 3ugleid? ansljolt mtt bem Ieberbe3ogenen Hofjre,
Springt Karl Kafien empor, als fpiirt* er ben 5d?lag auf bcm Hficfen,
^fagte bie £nf nnb f prang and? Ijinetn, es ging one gefd?miert nun.
3a, ein frfift'ger Befell ijt gut fur fd?n>ad?lia?e HTenfdjen!
2lud? Jrife Hunge befann fid? nid?t lang, nnb id? fd?»ang mid? als £efetec
Spielenb Ijinein. So iparen wit bcnn tm (Etjurme geborgen,
Unb nrir tpiinfd?ten nur rafd? in's tPeite 3U fommen. Pauor fd?rieb
ICnfler em p! €r fkmb in ber l?albge8ffneten (Ctjfire,
Kriegte ben cfrflen fogleid? beim tPtcfel. IDir 2lnberen brangten
J?inter ttyn l?er, ipo mdglid? uorbct 3U Fommen am ®ger;
2Iber er jtieg nns 3uriUf, bann fd?log er gem8d?lid? bte <£t?urmtf?iir.
„Hun, Padjreiter, fo fomm! 3a? null Heitfhtnbe Pir geben!"
Unb fo (teg er ben lebernen StocF mtt ben Knoten nnb Hingen
2luf Karl Kajien tynab, in gemejfenen paufen. Per 3un9e
£amentirte nid?t tpenig unb fnd?te fid) nod? 3U entfd?ulb'gen.
^/lRn§t Du tlarr benn jtets mitmad?en?" fo fagte ber KHjier,
Unb fo lieg er ifyn laufen, nad?bem er it?n leiblid? geprtigelt.
Darauf fa?log er bie (Etjiir ©on ZTeuem fid? auf, unb er langte
Sid? f rife Hunge 3um 3t»eiten ; id? fud?te bem Ktijter nod? einmal
Purd?3ufd?liipfen unb itjm sorbei 3n prefd?en, bod? nmrf er
tDieber mit fleifdjiger ^faujt mid? 3uriitf auf bie (Ereppe bes (Ojurmes,
Stieg mit ber (Ctjiir mid? nad? innen unb brefjte ben 5d?Iiiffel im Sd?log nm*
,,ZIun, mein Hitter t>om Pad?, fprad? (Eobe, itm fpSttifd? betvad^ittib ,
Sag', <frife Hung', auf Pid? fann 3°^ann bolter tool immer
Hed?nen, fo oft er 'nen Streid? austjecft?" Pag 3^ es gewefen,
XDeIa?er bie Unbent perftirjrt, bas ftanb Sdjulmeifier'n fogleid? fejt
XDie er uns oben nur faf?. 3d? ttyn im £ernen unb 2lnftport
Selten <8elegenf?eit fonft 3nm Sd?elten, boa? leiber bie Sitten!
IDarb ein Streia? nur oeriibt, roar 3°^ann EDolter ba3n>ifd?en,
<2)ber er gait bod? bafiir, unb mugt' unfd?ulbig es btigen;
lefeteres inbeffen, ber ZDatjrtjeit bie <Ef?re! nid?t fjfiufig.
„Komm, if rife Hung', ia? w\U Pia^ bemoltern! Pu fHegjt auf bas Pad? 'rauf,
Unb nun jteig' ia? Pir aua^ auf bas Pad?!" fo fagte ber Kiijter.
Unb fo fd?n>ang er ben StocJ unb mammjte ben armen <Sefellen,
Pag burd? bas gan3e Porf bas Klatf d?en ber Streid?e 3U t?3ren.
^wav Jrife Hunge uerbig fta? ben Sd?mer3 unb ftettte fta^ fiifjllos;
IPar id? aua? felbjt nid?t ba, fo baa^t* er an mid? bod?, unb nmjjte,
Pag id? ben Sd?mer3 3U t>erratt?en 3U P0I3 mar; aber ber Kiijier
£ieg in gefd?n)inberem (Eact bermagen ben StocF ftd? beroegen,
Pag mein frife gottsjammerlid? fd?rie. IHir n>arb in bem Cfjurme,
-211s ia? bie Caute t>ernat?m, fiir meinen Bucfel bod? bange,
Unb id? bad^tt baran, in bas Sparrtperf oben 3U f(iid?ten,
XDo fein Kiijier mir naaftufommen oermoa^te. 3«^effen —
VOtnn mid? ber Kiijter im (Et?urm' einfd?log, unb (ieg mid? bie £lad?t ba?
Pat?or grufelte mid?, trofe aller Perujegenrjeit, btnnodi;
Parum 3og id? es uor, bem <Sefd?icf entgegen 3U get?en.
288 — — !?einrid? tfrufe in Berlin.
2IIs er bie (Efjiir auffd?Io§ unb an mid? nnn bic Kettle gefommen,
(Erat id? Ijinaus, als fei nidjts oorgef alien unb fagte:
,/^err Sd?ulmeifter, id? tpollte fo gern von bem lecferen Jjonig
€ine portion <Eud? fyolen" — beqann id? in freunbltd?jter IDeife.
„So! So! So!" fprad? (Cobe, unb jtrid? ben ©erbogenen Stocf aus.
„3otyann IDolter, roir fennen Did? fd?on, ipir fennen Debt IHauIoerf !"
Unb bann, otjne mit IDorten fid? roeiter in Koffcn 3U fefcen,
tDacfelt* er fo mid? burd?, t©ie id? nie im Ceben geflopft bin.
3d? t©arb braun unb blau, unb bem Kiijier ©erfe^t* es ben Jlttjem;
Ktrfd?rotf? farbten fid? ifym bie one Wamvtn l^angenben IDangen;
21ber er brad?te mid? nid?t 3um 5d?rei'n. „Da, l?alte ben Stocf mal!"
Sagt* er unb mollte ben Sd?u>ei§ ©on ber Stirn abtrocf'nen, mit frifd?en
KrSften nad?fyer fein <§iid?tigungst©erf 3U beginnen. 3d?
Selber im Ijeftigften Sd?mer3 nid?t bie Sd?t©anfe ©ergejfenb, id? fagte:
„2ld?, id? foil tpol ben Stocf 3U <San fyintragen?" Unb objte
2Intun>rt ab3uu>arten, id? auf unb bauon mit bem Stocf e!
<Sau fag fd?on ©ot ber (Cfjiir mit Hnbartt?; Bauer unb Seemolf
Sdimandittn ben UTeerfdjcmmfopf unb e^dljlten fid? alte (Sefd?td?ten.
Tils id? fomme bes IDeg's mit tan lebernen Stocf e geiaufen,
3tm rote ber Jafjnbrid? bie <faf?ne betm Dogelfdjiegen 3U Stralfunb
fjod? in bie £uft auftserfenb unb 3ierlid?ft umber ifjn fangenb,
Hterf ten fie auf unb riefen: „£je, 3°^«n VOoltn, was gibt es?
3unge, was bringft Du benn ba?" „Zlun ben Stof bes Knjiers: 2k*
fefjt's Ja."
„Dod? n>o bleibt er benn felbji?" fprad? <5au. „IDo jiecft er benn umber?
Sagte 3ugleid? Hubartfy. IDir miiffen fd?on lang auf itm marten."
//3<*/ 3fa mtiffet ben Kiifter entfd?ulbigen, 3ucft' id? bie 2Id?fel;
Denn, fo fagt* id? als Sd?alf mit Iiftigem Doppelftnne,
<£obe — er tjatte 'nen Sd?laganfall bet ber Kird?e."
„Der Kiifier
f^atte 'nen Sd?laganfall!" fo riefen erfd?rocfen fte Beibe.
Unb fte fprangen babei fo rafd? auf bie (fiige, ba§ Hubartf?
Seine Pfeife ©erlor ans bem Ulnnb unb es gar nid?t bemerfte.
„£?ab' id? nid?t jkts es gefagt? fprad? <Sau. 34? voatnV it?n ©ergebens*
IDarum frigt er fo ©iel?" „3d? ^ab* es itmt ISngft propb^eietl
IDarum fauft er fo ©iel? c£r roollte mir langjt nid?t gefallen!"
Sagte ba Hubarttj aud?, mit fd?u>erem Kummer nm (Eobe
Unb urn ben britten ITCann bei Uttjijt unb 3ofion unb 5cb,aafsfopf.
Unb fo Iiefen fie benn ifym entgegen. 3^ rannte nad? JJaufe,
^ell auf(ad?enb babei ob meines gelungenen Sd?er3es;
2lber n>ie oft, roie oft bin id? im £eben nad? fjonig
2lnsgegangen unb t|abe nur ©oil ben Bncfel befommen!
r 3&vllem
289
Wxbet Winb unb £DelIen!
E£p»9"d? tsar Borfum t>orbem burd? £Daflpfd?fang unb burd? Sd?ifffaf?rt,
Unb auf ber 3nM/ &i* nid?* bios leudjtet mit plbernen Diinen,
Sonbem bas 2Juge mit IXJiefen erfreut unb golbenen 2Ucfem,
Siefjt man bie (Barten nod? tjeute mit £Dalipfd?rippen um3aunet.
Sold? ein £DaflPfd?j5ger roar and? <Serb filers unb Ijatte
Sid? ein artiges <5elb auf bie tjotje Kante geleget.
Dod? fd?led?t tpurben bie gtittn; es famen in's £anb bie ^ra^ofen,
HMd?e bie Kiipen betpadjten unb englifd?e IDaaren nerboten.
2Hfo rourben bie ^Sfen gefperrt unb es tsagte fid? faum nod?
3rgenb ein Sd?iff tynans unb pill panb fjanbel unb Sdjifffafjrt.
Darin fonnte jebod? fid? (Eilers nid?t pnben, ber fiifjnen -
Unb fyoffcirtigen Sinnes. „VOas fefjr* id? mid? an bie fran3ofen?
Sagt* er; bafiir wex% tool (Serb (Eilers pd? Hatt? nod? 3U fdjaffen,
IDefhodrts piefjet t?on Borfum bie (Ems unb ffieget aud? ojrroarts.
IDenn id? nur tiid?tig bie £?anb ber (fran3ofen perplb're, fo fetjn fie
linte, menu id? farjre nad? red?ts, unb red?ts, n?enn id? fafjre 3ur Cinfen!"
2llfo befleUt er ein Sd?iff in €mben. „Du brand? jt nid?t 3U fparen,
Sprad? er 311m Baas, nur mugt Du mir Allies gerabe fo madden,
IPie id? es Dir angeb'; id? roeifj, was 3um Segeln gef?8ret."
Unb fo tpurbe bas Sd?iff benn gebaut nad? feinem (Befallen,
€in breimafiiger Sd?oner aus eid?enen planfen unb Kernf?ol3.
Hiemals tsarb ein gr&geres Sd?iff in €mben ge3immert;
tliemanb fjatte barin aud? nur ein 2Id?tel gertjebet;
(San3 feiu eigen, bas l?errlid?e Sd?iff, fein Stfirer als Sd?ulb brauf!
„Unb trie foil es benn fyeifjen?" fo fragte ber Sd?iffsbanmeijfrr.
„3a, was meinp Du?" fo fprad? (Serb (Eilers mit ppfpgem £ad?elm
//3d?? 3d? nennt' es: Die Brant; bietreil es fo 3ierlid? Unb fd?Ianf ip.
(Dber: Die fjoffnung; bas ip ein gliicflid?er Hame,"
Jjoffnungen fd?t&immen fo ciel auf ber See! €in gen?8l?nlid?er Hame!
Hem, mein Sd?iff ijt feft, unb id? felber t>erpef?e 3U fafyren,
Darum nenn' id? es aud? — 2lllein 3^r tuerbet es tjSren!"
Unb ba bie <flafd?e 3erfd?Iagen am Sd?iffsbug nmrbe, fo tan^i ex's:
„IX>iber tPinb unb UMlen!"
Sagte ber Baas unb 3og nadjbenflid? bie Brauen 3ufammen.
„Unfer fjerrgott ptjt im £?immel unb Iagt pd? nid?t fpotten!
Daran fann man gebenfen auf Spieferoog, in bem Kird?lein,
XOo man bie 3n>dlf 2lpopel auf (Solbgrunb fraftig gemalt pel?t#
Bilber, bie einp bie Kapelle gefd?miicft in etnem geipalt'gen
Spanifd?en 0rIogsfd?iff, bas Ijier an ber frieftfdjen Kii^e
Sd?iffbrua^ Iitt in bem Sturm, ber jad? bie 2Jrmaba 3erjlreute.
pl?ilipp (?atte pd? aud? 3U ciel mit U^orten rermeffen,
Siel?, unb bie Bilber bes Dorffird?Ieins, aus bem IDrarfe geborgen,
rDie J?offnung!
rDas ip ein rermeffener Hame!'1
290 I}einrid? tfrufe in Berlin.
Sinb nun ber tin$i$e Hejt von ber uniiberroinblidjen f lotte.
<5ott bemiittjigte nod? gan3 attbere £eute, als Did? fd?on!"
„;frennb, Du fjajt mein Sd?iff mir gebant, id? be3af?le bafilr Did?,
Pod? id? ©erlang* in ben Kauf nid?t £el?ren unb prebigten, l?5rjt Dn?"
So fprad? <Serb, ber nid?t anf 2lnbre 3U ad?ten gerooljnt roar,
Unb fo fuf}r er nad? Borfum 3uriicf, nm bas <Selb fid? 3U Ijolen,
Das riicfftanbig nod? roar fiir ben Ban an ben Uleifter. 3m ^cffdjranf
£ag es fd?on lange bereit, im nenen unb ftattlidjen fjaufe,
Das mit ber 3a*lrs3aty prangt* nnb ber meffing'nen tDetterfatme,
ItT it brei ftattlid?en £inben, roenn iiber bem Dad?e bie tDipfel
tDinterlid? faljl and? pnb con ben Stiirmen ber friefifd?en Kiifte,
Unb mit bem <Sarten, ber tjier mit IDSHen befdjiifet t>or bem Sanb roar,
Dort oon riejtgen Knodjen nn^aunt: fie erinnern ben Sniffer
ITCand?es frot?lid?en (fang's nnb ber gliicflid? geroorfnen fjarpune.
vfeft gegriinbet roar (Serb filers' (Slticf auf bem £anbe;
2lber er glid? bem £?nnb, ber ben Knod?en cerliert ans bem HTaule,
tDeil er fd?nappt nad? bem Sdjatten, ber ifjm auf bem IPaffer fid? 3eiget!
Borfum fprad? oon nid?ts als bem Sd?iff mit bem trofcigen Xiamen,
Unb als <Serb mit bem <5elb ans bem f?aus trat, jianb rool bie fjalbe
3nfel umljer, unb es roar it?m fd?on red?t jid? beacbtet 3U fefjen.
2Ils ifjm bie (Erut?e fo fd?aufelt am arm, ba 15ft fid? ber Boben
Unb in ben Sanb rollt flirrenb bas <5elb, als roollt* es tf?n matmen:
„<5ib mid? nid?t roeg!" Da rourbe ber Kopf von Utand?em gefd?uttelt.
„Ungliicf bringt Dir bas Sd?iff; fd?lag's los! Dies ftnb nid?t bie geiten,
<Segen ben tDinb 3U fegelu; es faulen bie anberen Sd?iffe,
Unb Du bautejr Dir eins. Sd?lag's los!" fo fagten bie £ente.
„U?eibergeroafd?!" brummt nur <Serb €ilers unb fammelt bie CTn^en
tPieber com Boben 3ufyauf, bringt's <Selb nad? €mben 3um ^Saas l?in,
^afylt es itmt baar auf ben <£ifd? unb fdjroimmt irt <Sliicf unb in ^reuben,
tDenn er fo ftefjt auf bem Sd?iff unb mit Kennerblirfen es muftert
Unb fo natmt er benn ffags, trofc (Engelsmann unb fran3ofen,
Jrad?t auf 3no*en unb fegelte ftol3 ans bem Dollart.
ITXit ilmi fuljr fein ein3iger Solm, ein bliifjenber 3ungling,
<SoIbig gelocft, treut?er3igen Blicfs. 3rt oer ttad?t vot ber 2Ibfal?rt
(Eraumt er fo fdjroer unb fteljt im Sd?lafranm neben fid? jiet|en
€troas — ein Sd?iffsrumpf fd?ien es 3U fein, bod) bient er 3um Sarge;
Denn ein £eid?nam lieget barin mit roallenben blonben
Cocfen, allein bas <5efid?t tjt oerlarpt; rings brennen bie £id?ter.
Das ijt bas bdfe, bas 3roeite <5eftd?t. Da ergrimmet ber 3ft"9ltn9
(Segen bas fd?limme (Befpenjt 03r greift nad) ber Sd?eere, er fa^neibet
Kraftig t)inein in bas locfige i?aar unb ftecft fid? ben Biifd?el,
lDeld?en er abgefd?nitten, in's Bett. Unb als er am IKorgen
21ufroad?t unb fid? b eft tint, ba finbet er rid?tig bie Baare
tteben fid? ; aber es ftnb, 0 Sdjrecfen! bie eigenen locfen,
IDie ein Blirf auf ben Spiegel itm 3eigt. €r t?atte bie Sd?eere
<Segen bas eigene £?aupt im ^raume gefiit?rt unb fid? felber
f^atf er als £eid?e gefd?aut unb glaubte bem (Eob fic^ uerfallen.
3&yIIen.
2%
Was itmt im (Eraume begegnet, e^a^It' cr bem Pater unb fagte:
„Wenn id) reife, fo 3ieb/ tdj bas £d)iff mit mir in's Perberben,
fag midj, bat er, 3U ^aus." Pod) es 3iimte ber Pater unb ffud)te,
poltemb ©on 2llbernfyeit unb 21berglauben. Per Sofm mag
Jlc^n nrie er toil!, er mug auf bie Beife mtt* 2XIs mtt gerefften
Segeln in Frfiftiger Brife fie fafyren inmitten ber ttorbfee,
Krad)t es im Sd)iff; balb fySrt man ein bumpfes (Segurgel im Scfjijfsraum
Unb fd)nefl ftiir3t fid? bie See in bas £ecF unb reigt bas Perbecf auf.
Pa roar freilid) es <geit an Hettung 3U benfen! Per 211te,
(Dbwol finfieren IHntli's, gibt ftd)er unb rafd) bie Befefjle.
2Ils fte bas £angboot l&fen, fo tjilft ungerufen bie Stur3fee
Beim ffott madden; fte fpringen fynein. 211s ber lefcte ©on 2Wen
Wanfi, bleid) tpie ein (Sefpenfi, mtt gerungenen fjanben, ber Sd)iffer
2Iuf bas PerbecF. IPas ijt es? Per Sofm liegt unten unb t©ill nidjt,
Illag and? ber Pater befefylen unb bitten, ben Uebrigen folgen.
„£ag mid), fagt er 3um Mien, id) bin bas erf or en e ®pfer;
£ag mid) t^ier mit bem Sd)iff aflein mein Sdjtcffal ©ollenben.
(Sing* id) mit (Sua), fo nmrbet 2k* f*I&f* *n °*e ^*cfe S^ogen.
£ag mid), Pater, unb rette Pid) nur unb gruge bie mutter."
„Pu barmfye^iger <Sott, trie barf id) benn ofme Pid) fommen,
Pu 2lngapfel ber mutter? 0, folge mir, ein3tges Kinb, bod)!"
2Ilfo ffefyet ber Pater unb tueint unb befturmt ifyn ©ergebens.
2Jbget©anbt, als ©erfagten ben Pienfi fd)on (Dfyren unb 2togen,
£tegt fein Sofm cor ifmt ba, unb es ruft ttmt braugen bie ltlannfd)aft:
„Kommt, <£apttfin! HTad)t fort! Sonjt muff en mir fappen! So fommt bod)!"
Qaftig fpringet ber Sd)iffer auf Pecf, fteljt, bag es 3U €nbe,
€ilt nod) einmal tjinab unb befd)t©b*rt bis 3uletjt nod) ben 2&n$tinQr
Unb bann fdjtrmnft er ©er3i©eifelt fyinaus unb fpringt in bas £angboot.
Unb fyod) roerben bie Huber geb^oben 3um fraftigen Sd)Iage,
lPela)er bas Boot fortftiJgt ©on bem ftnfenben Sd)iffe« Pa fyBrt man
piSfelid) ein f?iilfegefd)rei ©om Borb Ijer. Stefje, ba ftetjt er,
Sein ungliicflid)er Sofm, in ffiegenben Kleibem. 3n *km *lat
<2nblid) bie £iebe bes £ebens geftegt. „Kebj:t! jammert ber Pater.
<Sott, mein Kinb, mein Kinb! IPir miiffen 3um Sd)iffe 3uriicf. Keljrt!"
Unb fd)on f^dlt er bas (Cau, fein Kinb 3U retten, in f?anben«
„Kefirt!" Sie rubern 3uriicf mit itbermenfd)Iid)en KrSften,
211s fjod) tiber bas Sd)iff fid) branfenb unb 3ifd)enb ein \d)max$ts
Ungetjeuer ©on tPogen ergiegt. 3n °*c (Eiefe gefd)Ieubert
IPurbe bas Bettungsboot unb ©erfd)t©anb in bem gafmenben 2lbgrnnb.
Unb ba es u>ieber emporarbeitet : n>o ijt ba bas neue
prad)tige Sd)iff? Kings um nur ITCeer unb IDogengetiimmel !
IDinb unb HMIen bet^ielten ben Sieg. (Serb n>ar n?ie bie Heid)en
Sonft auf metjr nur erpid)t unb (Selb unb <Sut; bod) er bad)te
Pamals nur an ben ein3igen Sotjn. Per t?er3tpeifelte Pater
XHugt' auf bem Bootc nod) (ang umtreiben in Sturm unb in Hegen,
Bis am ftebenten (Tag, t©o bie UTannfd)aft ©or Purft unb ©or fjunger
(Jaft fd)on ©erfd)mad)tet t©ar unb erflarrt ©or HSff' unb ©or Kdlte:
Rorb unb ©ub. VII, 21.
20
292 fjeinrid? Krufe in Berlin.
Sprad?los ffarrten fie fd?on auf ben Cob! — bis bas Boot nod? bemerft rtmrfc.
(Eine fc^n>ebifd?e Brigg fam natjer unb natjm bie bem Sd?iffbrud?
IKiifjfam (Entgang'nen an Borb, mitleibig fie tjegenb unb pflegenb.
(Einer ber HTannfdjaft befann fid? nid?t mefyr unb jlarb an (Entf rfiftung ;
2lHe bie 2lnberen famen baron mit bem £eben, bem nacfteu.
Unb fo murben fie benn an ber frieftfd?en ttiifte gelanbet;
2lber ber Sniffer, er fam mit traurigem HTutft in bie £}eimat.
2Its er in's fjans eintrat, fo fefet' er ftd? otme 3U reben
2ln ben getDBfynUdjen platj. <Es erfd?raf bariiber bie Jjausfrau:
„inann, wo fommft Du benn fjer? VOas ift's mit bem 5d?iff? VOo ift Jolgert?"
„frau, Du fietjft es, id? fomm* allein; Du mugt mid? nid?t fragen!"
Sprad? er unb fudjte 3U raud?en; bod? f?el ifma bie pfeife 3U Boben,
Dag fte flirrenb 3erbrad?, unb gleid? n>ie bie tt?5nerne K^re
Sd?ien aud? gebrod?en ber riefige ItTann unb fd?Iud?3te unb ftof|nte.
„(D f^errgott, Du ffaji uns geftraft fiir ben freselnben Xiamen!"
Kief mit 3amT"crn 0™ Sxayxi uno ran9 *n Pe^meiftung bie I?anbe.
Seit bem (Tag war be38t?met ber (Crotj bes unba'nbigen ITTannes,
Unb man fanntV itm nid?t metjr. Sd?ier tueinerlid? jeftt unb t?er3agenb
Sifet er 3U fjaus, unb als and? Hatjrungsforgen fid? melben,
(Erofc bes blinfenben fyatyis auf bem Dad? unb ber rieftgen ZaMx^kU
£S§t er fid? roillig unb ftill 3um (fatjrmann mad?en ber 3nf*l*
UMdje Deranb'rung mit itjm.f Der alte pffiiger ber UTeere
(fafyrt jetjt fiber bas IDatt Jradjtgiiter unb <5afte 3um Baben!
Der einft Dogel gemefen, ift jetjt 3ur Briicfe getuorben!
2Ufo fyaben ifm HTand?e gefefm, bie am fjerrlidjen Straube
Borfums frb*t?lid?e £uft unb (Sefunbtjeit fud?en im HTeere.
(Einft fo trofeig unb laut, fifet jefet (Serb fd?u>eigenb am Huber,
Sdiauet nad? €bb* unb nad? flut, fo firuppig unb finfter nrie <£f?aron.
Ucbev ^tifdjismus,*)
Von
Jr. Mint .mutter.
— (Drforb. —
Dor Begriff von ^etifdj 5U u>eit ausgcfccljnt.
[fine bcr grofjten ©djhrierigfeiten, bie unS entgegentritt, toenn
tt)ir in ttnrflid) tniffcnfdjaftlid^cr SBcifc ba§ problem be3
getifdjiSmuS ju beljanbeln fudjen, ift bie toeite StuSbeljnung,
toeldje man bcr Sebeutung biefe£ SBorteS gegeben f>at.
®c SroffeS, toie ft>ir fetjen, foridjt fdjon toon getifdjen nidjt nur
in Slfrifa, fonbern bei ben rotfjen Snbianern, ben 5)3ofynefiern unb ben
©tammen im Slorbcn toon Slficn. 9iad) feiner 3^it t)at e3 faum einen
SBinfel ber ©rbe gegeben, loo fReifenbc nidjt ©puren toon getifd)bienft
ju finben gegtaubt. SDiefc Senbenj, an atten Drten 9tet)nlid)feiten ju
finben, f)at iljre tootle nriffenfd)afttid)e 93ered)tigung. ©3 ift eben ber toer=
glcidjenbe ©eift, ber iibcratt gefdjaftig ift nnb bcr bereitS bie grofeten
©rfotge in unferer 3eit crrungen f>at. Slur folltc babei nicfjt toergeffen
toerben, bafe SBergteidjung , um ftrirflid) hriffenfdjafttid) tyaltbare 9tefultate
ju Xage ju forbern, mit Unterfdjeibung §anb in §anb getyen mufj, fonft
fommen ftrir in SBerfudjung, fo oft toir jtoei aufredjte ©teine unb einen
britten bariiber gelegt finben, toon ®romted)3 ju fd)toarmen, unb jeben
©tein mit einem 2odj fiir einen 2)olmen 511 erttaren.
2Bie fjaben j. 33. toor ffurjem in 3)eutfd£tfanb unb in ©nglanb toiet
toon SBaumbienft unb @d)tangenbienft ju Ijoren geljabt. 9lid)t£ fann niifc
liefer fein, ate aftaloge gafle in toeiteften ®reifen 511 fammeln; aber i^rcn
roatjren ttnffenfdjaftlidjen SBertl) ert)alten foldje 3tnalogien erft bann, roenn
toxx e§ un$ flar ntadjen fSnnen, toie unter ber auf ber Dberflfid)e erfdjeU
uenben Stetjnlidjfeit oft bie grfl&te SSerfdjiebentjeit in Sejug auf ifjren
Urfpruug ju entbeden ift.
*) Stagleidje „9lorb unb Sub" VI r, 20.
20*
2<)t £. War. mailer in (Drforb.
3)a3 ift ja au<f) bcr #auptreia bcr toergleidjenben ©$>radjforfd)Mtg.
SRatiirlidj gibt e3 ©rammatif liberal!, fclbft in ben ©pradjen bcr niebrigften
93dlfer. 2)ie Stage ift, nrie ift fie entftanben. SBcitit toir unfere gramma-
tifdje Icrminotogie, obcr Elafftfication, unferen Stomtnatito unb Stccufatto,
unfer 9Ictitoum unb ^affitoum, unfer ©erunbium unb ©upinum in alien
©pradjen finben Gotten, fo toerlieren toir ba? SRiijjIidjfte, toa3 tin toer-
gletd)enbe3 ©tubium bcr ©pradje un£ tefjren foil, tbix lernen nid)t, hrie
biefelbe 2tbjid)t in ^unbert toerfdjiebenen ©pradjen, auf ^unbert toerfdjte=
benen SBegen crreidjt toerben fonnte unb erreidjt tourbe. $ier credit bcr alte
lateinifdje ©prud) feine toaf)re SBebeutung: Si duo dicunt idem, non est idem.
SBenn atoei ©prad)en baSfetbe fagen, fo ift e3 beSfjatb nidjt immcr baSfelbe.
SBenn c3 iibcraH auf Srben getifd)bienft gibt, nun fo ift bie3 gcttrifj
cine intcreffante 2l)atfad)e, abcr ifjrc toafjre ttriffenfdjaftlidje Sebeutung
erljalt fic crft, toenn toir toerftrijen Icmcn, toamm bie£ fo ift. ®ic £aupt=
fdjtirierigfeit, bic ju lofen, ift, nrie cin Setifdj cin gctifdj gemorben, unb menn
toir ben 3etifd)i3mu3 toon biefcr ©eitc angreifen, fo toerben toir balb
feljen, bafe, obgleid) bic getifdje anfdjeinenb iibcratl bicfclbcn finb, iljre
Stittcccbcnttcn faft nirgenbS bicfclbcn getucfen. 3<$ ^ttc bafur, baft e3
fcincn getifd) otjne 2tntecebentien gibt, unb bafj ba§ toatjre unb nriffen;
fdjafttidje Sntcrcffc be3 getifdjiSmuS Ijauptfadjlid) in bicfen 2lntecebett=
ticn liegt.
2lntcce6enticn bes ^etifdjismus.
SBetradjten tr»ir nun einigc bcr getoofjnlidjften @rfd)eimtngen toon
fogenanntem getifdjiSmuS, unb loir rocrben batb einfefjen Icmcn, auf tote
toerfdjiebenen £)5t}en bcr menfdjlidjen SRatur bic DucKcn liegen, au3 benen
cr cntfpringt.
SBcnn bic ©ebeine, obcr bic SIfdjc, obcr bag $aar eineg toerftor=
benen greunbeg al£ 2tnbcnfcn aufbeioafjrt toerben, toenn man fic an
fidjem obcr Ijeitigen Drtcn nicbcrlegt, toenn man fic Don 3eit ju 3ett
betrad)tet, ja fclbft, menu Srauembe in itjrer (Sinfamfeit ftiHe SBorte
an fic rid)tcn, fo !ann bieg Sllleg getifdjigmug genannt toerben.
Sbenfo, ioenu cin ©djtoert, bag cin tapfrer Sricgcr gebraud)t l)at, obcr
cine Sa^ne, unter bcr cinft cin ©icg erfodjtcn murbc, menu cin ©tod, obcr
fagen loir cin ©center, toenn cin Ealabafc^, obcr fagen tuir cine IrommcIf
mit ©f)rfurd)t unb ©nt^ufia§mu^ toon ©olbatcn begriifct tucrben, c^c pc
fclbft jur S^Iad^t jicfjen, fo mag audj bic§ 3ctifc^i§mu§ genannt werben.
SBcnn fobann, ttrie c§ ja oft gefdjieljt, bicfc ga^ncn unb ©djmerter
toon ?Pricftcrn gefegnet tocrben, obcr toenn man gar bie ©cifter bcrcr,
ttodc^c fic frii^cr getragen, anruft, al^ ob fic gegentoartig loaren, fo mag
aud^ bie3 att Sctifc^igmug bargeftellt merben.
SBenn bcr ©olbat im Unmut^ iibcr fcinc Siicbcrlagc fctn ©d)tocrt
iibcr ba^ Snic brid)t, obcr fcinc gal)ne jcrreifet, obcr fcinc 5lblcr ttjcg^
llebec $ etifdjismus.
295
toirft, fo f&nnte man fagen, bag cr feinen getifd) fciidjtigt; ja man !onnte
betoeifen tootten, bag Siapoleon cin Setifdjbiener getoefen fcin miiffe, ate
cr auf bic $t)ramiben IjtntoieS unb ju fcinen ©olbaten fagte: ^SSicrjig
Satyrljmtberte blicfen auf ©ud) Don biefen Dcnfmatern tjerab."
S)ie3 ift cine 9Irt Don Sergleidjen, toobei man bic 2let)nlid)feiten
atte Unterfdjiebe Derberfen lagt. SBotten toir abcr bic alien ©ebraudje
toilber SSolfcr nid)t ntfr fennen, fonbern aud} Derftetyen ternen, fo fonncn
toir gar nid)t genug auf iljre Unterfdjiebe adjten. 3)ic ©riinbe, au3
benen cin ©toi ober cin ©tein Derefyrt tourbe, finb unenblidj. 3utoeilen
bejeidjnet bcr Stein cin DerlaffeneS £eiligtf)um, obcr einc attc ®eridjt=
ftatte,*) obcr cin ©djladjtfelb, obcr bag ®rab eineS SonigS, obcr ben Drt
etneS SftorbeS .**) 3utoeilen fotltc cr bic tjeiligen ©renjen atoifdjen ©tammen
unb gamilicn befd)iij}en. @& gab ©teinc, au3 benen man SSaffcn Derfer^
tigtc, e£ gab anbere, auf benen man SSaffen fdjarf unb fdjneibig madjte; e3
gab ©teine, toie bic 3abefteine, toeldje man fogar in ©d)toeijcr ©ecu
futbet, bic toie $eitigtpmcr au3 toeitefter gerne gteidjfam ate gamilicn-
erbftuie mitgebradjt tourben. ©3 gab audj ©teine, bic Dom $immet ge;
fallen, ©otlcn nun attc biefc ©teinc einfad) ate getifdje fatalogifirt toerben,
roeil fic attc au3 feljr guten, abcr feljr Derfdjiebenen (Srunben cine getoiffc
(5I)rfurd)t in attcn obcr ncuercn 3*iten genoffen?
Sutoetfen betoeift bic Gtyrfurdjt, bic man cincm ganj rofjen unbe*
Ijaucnen ©tcine ate bem SMlbe cine3 (SotteS betoeift, eine !jot)ere Kraft
ber 2tbftraction ate bie 93eret)rung eincS SJleiftertoerte Don ^IjibiaS; ju^
toeitcn ift bie 93eret)rung, bic man cinem ©tcine, bcr tote ein 2Renfd)
au3fiel)t, betoeift, cine feljr nicbrige ©tufc be§ ®otte3betougtfein£. SBenn
toir jufricben finb, bie£ unb toicteS Slnbere einfad) ate getifdjtemuS ju
betradjten, fo totrb man un3 balb fagen, bag ber ©tein, auf bem atte
ffonigc Don ©ngtanb gefront toorben finb, cin alter getif^ ift, unb bag
toir in ber Sronung ber Sflnigin Victoria cin Ucbertcbfel (survival) Don
angelfadjfifdjem getifdjtemuS ju erlennen tjaben.
®iefeS ©udjen nad) getifdjen unb Ucberblcibfeln Dom getifdjtemuS
ift fo toeit getrieben toorben, bag Steifenbe in Stfrtfa bie ©ingeborcnen
fragen, ob fie benn toirflid) an getifdje glaubcn, ate ob ber arme Sieger
ober £ottentotte obcr SJJapua cine Sbee tyaben fbnntc Don bem, toa3 toir
unter getifd) Dcrfteljen. ®ic ate 2tu^briicfc fair gctifd) bei ben «frifa^
item angefiiljrtett 5iamcn finb gri-gri, gru-gru, ober ju-ju, toat)rf<f)einlid)
attc urfpriingtic^ baSfelbe SBort.***) 3c^ mug tocnigften^ ein Scifpict an^
*) Paus. I, 28, 5.
**) Paus. VIII, 13, 3; X, 5, 4.
***) 2Bat$, II, <5. 174. %. ©djulfce fagt, bie iReger patten baS SBort Don ben
^ortngtefen geborgt. 93aftian gibt enquizi alS ein SBort fflr gett(d) auf ber SBefU
fiifte Don 9(frtfa; and) mokisso. (^Bapian, 6t. 8alDabor, 6. 254, 81.)
296 f. Alar. IKuller in ©jforfc.
fiitjren, urn &u jcigen, toie tueit f)51)er jutteUen bcr ©EaminanbuS, fctbft
toenn cr ein Sieger ift, ftefjen faitn, ate ber ©jaminotor. (Sin Sieger, bcr
einent SSaume SSere^rung ertoieS unb itym ©peife barbradjte, ttmrbe barauf
aufmerffam gemadjt, bafc ber 93aum bodf) nidfyte effe, unb Dertfjeibigte
fief) bagegen mit ber 2lnttoort: „D ber Saum ift nidjt getifdfj, ber getifd)
ift ein ©eift unb unfidfjtbar, aber er tjat fid) Ijier in biefem Saumc
niebergetaffen. greilid) famt er unfere fflrperttcfjen ©peifen mcf)t Der=
jefjren, aber er genie jjt bag ©eiftige baDon unb Jafet bag $5rperlidje,
toe!cf)e§ loir fefjen, auriid." Die ©rja^Iung fdjeint faft ju gut, urn ganj
toaljr ju fein, aber fie berufyt auf bem 3eugnifj Don £aHeur,*) unb
fie mag tuenigften£ ate ein nmmenbeS SBeifpicI bienen gegen bie 2frt
unb SBeife, attc Ijeiligen ©ebrdudfje eineS toilben ©tammeS nadfj einer
SRegel ju erfldren, unb tedjnifdfje STu^briicfe ju gebraucfjen, ofjne fie Dormer
forgfam getodfytt unb erfldrt ju Ijaben.
3)ie 93ernrirrung toirb nod) Dertoirrter, toenn SReifenbe, bie fidj baxan
geroofjnt ljaben, ba§ SBort getifd) in feiner neueften (£omtifcf)en Sebeutung
ju gebraudjen, unb benen e3 ju einer ironifdfjen 93ejei<f)nung fiir ©ott
getoorben ift, iljre SBefdjreibungen Don toilben 3S5t!ern, unter benen ftc
gelebt, in biefem pljilofopfjifcfjen Sargon fcfjreiben. ©o bericfjtet ein 9tet=
fenber, bafe bie ©ingeborenen erjdfjlt, trie ber grofte getifdf) Don Samba
im SBufdje lebe, too fein SJlenfdf) . ifjn ficf)t ober fefjen fann. SBenn er
ftirbt, fammeln bie getifdtjpriefter feine ©ebeine, urn fie toieber §u be=
leben unb ju erndtjren, bis fie toieber gteifdf) unb Slut getoimten. &ier
fiefjt man beutlid), tote „bcr grofce Setif<$" im ©omtifdjen ©inne be*
2Borte3 gcbraudjt ift, toie e£ nidfjt mcfjr Sretifcf), fonbern ©otttjeit be=
aeidfjnet. Sin getifd), ber im SBalbe tebt, aber nidjt gefeljcn toerben fann,
ift ja ba^ gcrabe ©egentfjeil Don einem feiti^o, ober einem ©rmgru, ober
toaS toir fonft fiir einen Slamen gebraudjen toollen, urn bie teblo)en unb
ficfjtbaren ©egenftdnbe ju bejeidfjnen, tpcld^c Don SJlenfdjen, nidjt nur in
2lfrifa, fonbern in ber ganjen SBelt, todljrenb einer getoiffen $ljafe itjreS
religiofen SBetoufctfeinS, Dere^rt toorben finb.
^ctif djisiuus iibcrall.
©e^en toir einmat fo toeit, fo ift cS natiirlid) leid)t, getifc^c iiberatt
bei alten unb neuen, bei toilbeu unb cioilifirten SSoIfem ju finben. 2)a§
^atlabium Don Iroja, tueld)e£, toie man anna^m, Dom ipimmel gef alien
tuar unb bie ©tabt uneinneljmbar mad^te, fann ein getifdfy genannt werben,
unb toie cin getifcf) mu^tc e§ Don Dbt)ffeu3 unb Diomebe^ gcfto^ten
n;erbenf ef)e Sroja erobert toerben fonntc.
*) 2)a3 fiebcn ber Sieger 2Beft=$frifa3, S. 40; bei 3Bai^ II, ©. 188. Tylor,
Primitive Culture, II, 197.
Uebcr fettf djtsmus.
297
$aufania3*) crja^It, bafj in alten 3ctten bie ©otterbitber in ©ried)en=
lanb rolje ©teine toaren, unb cr ertodtynt fotd^c ©teine ate nod) 511 feincr
3eit, im 2. 3af)rf)Uttbert tt- @^r- ®v a^ oielen Iljeilen ©riecfjenlanbS
cfifHrcnb. 3n $f>ard erjdfjtt er Don 30 bierecfigen ©teinen, nalje bei
bcr Statue be3 $>erme£, toetdje ba$ 9SoIf oerefyrte unb iebem cincn stamen
gab. 3)ie IljeSjrianer, bic ben ©ro3 oereljrten, fatten eine Silbfdute
Don iljm, bie ein blofeer Stein loar.**) ®ie Sitbfaule be3 $eraHe3 ju
§9ctto3 mar toon berfelbcn 2lrt,***) nad) bent 93raud) ber Stlten, toie
SPaufaniaS felbft bemerft. %n ©ictyon ertodfjnt er ein 93ilb be3 8t\&
2Reilid)io3, unb ein anbereS ber Strtemte $atroa, beibe ofjne jebe ®unft,
ba^ erftere eine btofje ^ramibe, ba£ tefetere eine ©dule.f) 3u Drd)o-
meno£ befdjreibt er hrieber einen Xempel ber Stjariten, in bem fie ate
rotje ©teine toerefjrt ttmrben, toon benen man gtaubte, baft fie jur 3cit
be3 (SteofleS toom §immel gefaflen feien. @rft jur 3^it be£ ^aufaniaS
nmrben nrirfftdje ©tatuen ber Etjariten in itjrem lempet aufgeftettt.ff)
51et)nlid)e3 finben toir in 3tom. ©teine, loeldje toom £immet gefatlen
fein fottten, ttmrben anjjerufen, einen giinftigen ©rfotg bei friegerifdjen
Unterneljmungen ju toerleiljen.ftt) 2Rar£ toutbc burd} eine Sanje bar;
gefteflt, 2luguftu£, nadjbem er jtoei ©cefdjladjten toerforen, ftrafte feinen
SReptun tok einen 3etifd), inbem er fein 93ilb Don ber feierlidjen $ro=
jeffion ber ©otter au§fd)tof$.*t) Stero toax, nad) ©uetoniuS, ein grower
9Serdd)ter ber ©otter, obgleidj er eine 3*it tang eine ftarfe SBereljrung
fur bie Dea Syria an ben lag legte. 2)ie3 aber f}atte batb ein 6nbe
unb er t^at fpdter ifjrem Sitbe ben grofjten ©djimpf an. 9Kan fagt,
bag itjm eine unbefannte ^erfon ein WeineS Silb toon cinem SJldb^en
gegeben Ijabe ate ein ©djufcmittel gegen Serratf), unb ba er balb barauf
eine Serfdjmorung gegen fein Seben entbedte, fo befdjtofj er, biefeS SBtfb
in 3utunft ate bie l)dd)fte ©otttjeit ju toeretyren burd) breimatigeS Dpfer
an jebem lage; ja er toottte, baft man gtaube, bafj er burd) beffen
©timme bie 3ufunft toorfjertt)iffc.**f)
SBenben loir un3 nun 511 unfercr eigenen SReligion, jur djriftticfjen,
fo ift befannt, toie fc^le^t bie §ei(igenbitber Don ben nieberen Etaffen
ber romif^en $atl)otifen be^anbeit ju toerben pflegten. 3)et(a SaHe er=
jd^It, ba§ in ber SRitte be^ 17. S^r^unberte ^ortugiefifd^e 2Ratrofen
bei einer SBinbftiHc bie ^eftigften 3)ro^ungen gegen ben Ijetfigen Slntoniu^
*) Paus. VII, 22, 4.
**) Paus. IX, 27, 1.
***) Paus. IX, 24, 3.
f) Paus. II, 9, 6.
ft) Paus. IX, 38, 1.
ftt) Plin. H. N. 37, 9.
*f) Suet. Aug.
**t) Suetonius, Nero, c. 5G.
298
^. ITlas mailer in (D^forb.
toon tyabua augftiegen, unb itjn gebunben Ijaben tmirben, toenn ifym nicfjt
Sentanb ju £iilfe gefommen toare. @ie fe|ten enblid) fein Silbnife auf
bag @nbe beg Sugfprietg unb fagten babei fnieenb: „$eiliger SlntoniuS,
fci fo gut, fo tange bort ju ftetyen, big Du ung cincn guten SBinb jur
gortfefcung unferer SHcife gcgeben ^aft."*) grejier erjii^It Don etnem
fpanifdjen ©djiffgeapitdn, bcr cin Heineg 2Rarienbilb an ben 9Rafi be=
feftigte unb iijm erflarte, eg fotle fo tange bort I)angen bletben, bi3
eg if)m giinftigen SBinb gegeben Ijattc.**) $ofcebue erjdfyU, baft toe
SReapotitaner ben Ijeitigen (Sennaro vecchio ladrone, birbone, scelerato
fdjitupften, toeit er einen Safcaftrom nid^t aufgeljalten tjatte, unb baft
man ifjn fogar gepriigett Ijabe.***) SBenn ruffifdje Sauern unb Sauerinncn
irgenb eine un§iemtid)e Xljat in ber Sta^e toon £eitigenbitbern bege^en
toottten, fo bedten fie Xiid)er uber bie Sitber, bamit biefelben ntdjt£
bamm fallen. 3a cin ruffifd)er SJauer, ber eine fdjtedjtere @rnte ge*
tjabt ate fein SRadjbar, borgte toon biefent beffen #eitigenbitb unb petite
e^ beim 9tdern auf ben $ftug, urn fo einen reidjeren (Srtrag ju tt-
jielen.f)
Sltle biefe ©rfdjeimmgen toiirben toon einem ftremben, ber U)re
Sntftefjung nid^t fennt cber errat^en lann, einf ad) atg getifdjigmug be^
t)anbelt toerben, toatyrenb ioir eine unenbtidje Jftei^c Don Stntecebeutien
erbtiden, burd) bie attein eg mflgtid) tourbe, bag bag 93tlb einer Sungs
frau ober eineg £eitigen an ben 2Raft gebunben toerben fonnte, um
giinftigen SSinb ju bringen. 2Rufj eg benn in 2lfrifa fo ganj anberS
getoefen fein? SBarum follen biefe getifci^e feine ©efdjidjte, feme @nt=
ttndetung gefyabt tjaben, fonbern fo toie fie finb aug ber ffirbe gefprungett
fein? Um eg furj ju fagen, toenn loir fetjen, bag 2ttteg, tt>ag Setifdj
genannt toerben fann, in anberen ung befannten SReligionen fecunb&r ift,
toarum follen atte getifdje in 2lfrifa prim&r getoefen fein? SBcntt ein
getifd) uberatt 93oraugfefcungen tjat, toenn er uberatt t>on metjr ober
toeniger enthridetten retigiofen Sbeen begleitet ift, toarum foil er in
Slftifa ben SInfang alter Sftetigion gebitbet tjaben? Slnftatt ben getifd)ig=
mug in alien anberen Stetigionen, beren ©ntmidelung toix t^eilmei^
fennen, burd) ben getifdjigmug ber Sieger, beffen ©nttoidelung toir nic^t
fennen, &u erflaren, toarum nic^t umgefe^rt ben getifdjigmug ?lfri!ag
bur^ ben getifd)igmug (Suro|)ag ju Derfte^en fu^en?
*) Delia Valle, Voyage VII, p. 409. 2tteinerg, ©ef^ic^te ber ffieligionen,
I, @. 181. g. ©djulfce, gettWigmug, ©. 176.
**) Frezier, Relation du Voyage de la Mer du Sud, p. 248. (Sdjulfce, 1. c.
***) flofcebue, ffieife na^ Worn, I, <S. 327.
t) Sf. ©c^ul^e, getitd&igtnug, S. 176.
lie ber jfetifd; ism us.
299
Heine Heligion beftefyt bios aus ^etifdjismus.
9Kan tyat alfo bi£ jefct nirgenbS bemiefen, bag getifd)i£mu$ in
Stfrifa ober fonftroo bie urft>riingftd)fte gorm menfdjlicfyer Sftctigion mar,
ja man ftetyt leidjt, bag e3 unm5gtid) ift, bie3 jemate factifd) ju bemeifen.
Slber id) gefje nod) meiter unb befjaupte, bag man biSljer and) nirgenbS
bemiefen f)at, bag getifdjiSmuS irgenbtoo, fei e3 in Slfrifo ober in anberen
Sdnbero, bie ganje SReligion eineS SSolfeS au3mad)e. ©0 untootlfommen
aud) unfere Senntnig ber {Religion ber Sieger ift, bieS fann man mit
©idjertyeit fagen, bag, mo ftdj bie ©elegenljeit geboten, bie retigi5fen 2lns
fdjauungen felbft ber niebrigften ©tdmme enter langen, forgfamen $riifung
ju untermerfen, man nodj nie gefunben Ijat, bag ein ganjer ©tamm
nid)t3 toon Religion aufjumeifen Ijabe al3 bfogen getifdjbienft Sine
S3ereljrung tebtofer ©egenftdnbe ift in Slfrifa meiter toerbreitet, ate in
anberen Sdnbern. 3)ie geiftigen unb gemiitf)Udjen Sfalagen beg SRegerS
brangen ifjn me$r ate anbere Sfltfer ju biefcr niebrigen nnb emiebrigenben
Slrt beS (SuttuS f)in. 2)ie3 Sitter gebe id) gem ju. 5lber id) betjaupte,
bag getifdjbienft in Stfrifa ebenfo toie anberStoo einen SSerfall bejeidjnet,
bag ber SReger f)6l)ere reftgi5fe Segriffe fjat ate *Beref)rung toon ©t5den
unb ©teinen, unb bag Siete, bie an getifdje gtaubten, ju gleidjer 3*it
^ofjere, reinere, matjrere Slnfidjten iiber ba3 ©dtttid^c fatten. Slber freilid),
eg gef)5ren ?fugen baju, urn bieS ju fefjen, Slugen, bie ba3 ©ute ent*
becfen fflnnen, too e3 aud) ejiftirt, o^ne immer nur toon bem angejogen
ju merben, ma£ fdjtedjt ift. 3e tanger id) mid) mit bem ©tubium ber
{jetbnifdjen SReligtonen befdjdftige, befto mefjr mdd)ft meine Ueberjeugung,
bag, menn mir fie mit ridjtigem 2Ragftabe meffen tootten, loir fie meffen
ntilffen toie bie SIpen, nad) ben f)5d)ften ?J5unften, bie fie erreidjt Ijaben.
^Religion ift liberal! toeit mef)r ein ©eljnen ate ein (Srfutlen, unb id)
tjerlange fiir bie SReligion be3 SRegerS ttid^t mef>r ate toad id) fiir unfere
eigene toerlange, bag man fie beurt^eile nidjt nad) bem, toa^ fie ju fein
fc^eint, fonbern nac^ bem, toa£ fie ift; \a nod) metyr, ni^t nur na^
bem, toa£ fie ift, fonbern nad) bem, tt)a§ fie fein fann ober fein m5d)te
im ©erjen i^rer beften Sefenner.
J)6tjere €lemente in 6er Keligion 6er 2lfrifaner.
333a^ unter je^igert Umftdnben geteiftet toerben fann, urn eine rid)*
tigere Stnfic^t toon ber toatyren fRctigion beS SReger^ ju gettnnnen, ^at
SBai^ geleiftet im jtoeiten S5anbe feine^ Haffifd^en SEBerfe^ iiber 2lntf)ros
^otogie*) SBaife, ber §erau3gebcr toon Striftotete^1 Drganon, fagte biefen
©egenftaub juerft in tt?a^rt)aft toiffenfdjaftUdjer SBeife auf. ©r mar nidjt
*) 5tnt^ro^o(ogie, H, S. 167.
500 J. Itla£ mullcr in 0jforb.
nur fclbft gan& unpartciifdj, fonbern er fudjte fid) audj ftet£ Don ber
Unpartetfidjfeit feiner ©etodtjrS manner ju uber$eugen, ejje er itjre 9tit=
fid^tcn benufcte. ©ein Serf f)at in ©ngtanb bie grflfcte Slnerfenmmg ge*
funben, too mete feiner 2lnfid)ten imb ber toon iljm gefammetten I^at-
fadjen burd) 3Kr. £t)for einc tuette SBerbreitung ertangt tjabett ®tc
2lnfid)t, ber SBaifc in 93ejug auf ben toatjren Sfyarafter ber Religion
ber SReger getangte, fann fur j in feinen eigenen SBorten gegeben toerben :
„2)ie ^Religion be3 SftegerS pftegt a!3 eine eigentl)umtid)e rolje gorm
be£ $ott)tf)ei£mu3 betradjtet unb mit bent befonberen SRamen «getifd)i£mu3»
belegt $u toerben. 3nbcffcn geljt and einer genoueren Unterfudjung ber^
fclben beuttid) fjertoor, baft fie, abgefefjen toon ben ejtratoaganten, pf)anta=
ftifdjen Biigen, bie tin Sfjarafter be3 SJegerS tourjetn unb fief) toon ba
auf atle feine @d)5})fungen iibertrageu, int Sergteid) mit ben SRetigionen
anberer Staturtootfer tueber feljr etgentl)umli<f) auSgeprdgt, nodj toon box-
jug&ueifc roljer gorm ift. Qene 9tnfid)t tdfct fid) aU allgemein guftig
nur feftfjalten, toenn man bie auftertidf)e ©cite ber Stcttgion be3 5Reger§
altein in'3 2luge faftt ober iljre Seutung ttnttfurlidjen SSoranSfefeungen
entnimmt, mie bicS namentti<f) toon 9lb. SButtfe (©ejdt)id)te beS §eibeit-
tf)um§ I, ©. 69, 71) gefdjefjen tft. 93et tieferem ©inbringen, ba§ neuerbing*
meljrcren getoiffenljaften gorfdjern gclungeu ift, fommt man toietmefyt ju
bem itberrafdjenben SRefuttat, bafc meljrere SRegerftdmme, bei benen fid)
ein ©iuflufc t)6t)erftet)enber 9S5tter bi3 jefct nidjt nacfytoeifen unb fautn
toermutfjen tdfct, in ber StuSbitbung if)rer retigiofen SBorftettungen toict
inciter toorgefefjritten finb, at§ faft atle anberen Sftaturtotftfer, fo tueit, bafj
ttnr fie, toenn nidjt SRonotfjeiften ttennen, bod) toon ifjnen befyaupten biirfen,
ba§ fie auf ber ©renje be3 9Ronotl)ei3mu3 ftef)en, toenn il)re Stetigton
auct) mit einer gro&en ©umme groben 2tbergtauben§ toermijdjt ift, ber
ttrieber feinerfeitS bei anberen SSotfern bie reinen religiflfen SSorfteUungen
ganj 5U ubertouc^em fdjeint."
SBaife felbft betra^tet ba^ SBucf) toon SBitfon iiber „S58eftafrifa, feine
©efdjtdjte 3uftanbe unb Stu^fic^ten" (Sonbon, 1856) fur ba3 in biefer
SSejieljung nufetic^fte, aber er fammett fein SJlateriat aud^ au^ toieten an-
beren Duetten, unb namenttid) au§ ben 93eric^ten ber SRiffionare. SSitfon
tt)ar ber ©rfte, ber nad)toie£, lute bag, loa^ totr bur(^au§ getif^mu^
nennen tuotten, toon ber toaljren Religion be^ StegerS gar fe^r toerfc^ieben
ift. ©r jeigt un^, ba| biefetben ©tamme, bie unS ate gettfe^biener toor=
geftettt toerben, enttueber an ©otter ober an etnen ^dc^ften guten ©ott
gtauben, ben ©d^o^fer ber SBett, unb ba§ fie in iljrem 2>iatefte beftimmtc
Stamen fur ifjn fjaben.
mag ttmtjr fein, ba§ man aufecrttc^ biefem t)5dE)ften SBefen feine
Sere^rung beioeift, fonbern nur ben fogenannten getifd^en. Stber bie^
td^t fef)r toerfdjiebene ©rftdrung^toetfen ju. fann ebenfo gut au^ einer
5it grofjen ®^rfnrct)t toor bem loa^r^aft ©otttidjen, aU au« 9tad)tdfftg=
lleber J etifcbismus.
30\
fctt entfteljen. 3)ic Dbfdjte*) 5. S3, ober 9lfdjanti3 nennen bag IjBdjftc
SEBcfen mit bemfelben SSorte hrie ben §immet, aber fie toerftetjen barunter
oft au6) einen perfonticfjen ©ott, Don bent fie fagen, baft er atle 2)inge
gemadjt Ijabe unb bet ©eber atteS ©uten fei, baft er, iiberaH gegentodrtig,
Sitter ttriffe, aud) bie ©ebanfen ber SKenfcfjen, unb fief} biefer in ber Slot!)
erbarme. Untergeorbnete ©eifter finb e3 aber atlein, bie uadf) iljrer 9ln=
ficfjt bie SBelt regieren, unb nur bie 955fen unter iljnen ertjaften S3er-
efjrung unb Dpfer.**)
©ruidfljanf ***) Ijebt benfelben 3ug im Efcarafter ber 9ieger an ber
©olbfufte fjertoor. „©o alt ber ©laube an einen f)ocf)ften ©ott, ber bie
SBett gef<f)affen tjat unb regiert, auf ber ©olbfufte aud) fidjerlid) ift, fo
toirb «bcr grofte greunb*, «ber mid) 2Racf)enbe:» tr»tc fie il)n nennen, bod)
nur biStoeilen angerufen. 3m Ungliid fpred^en fie: «$d£) bin in ©otteS
£anb, er toirb e§ madden, toie if)m gutbiinfb."
2)iefe 2lnfidjt tpirb toon ben Safeter 2Riffiondren beftdtigt, bie man
bod) auf biefem ^unfte faum ber ^arteilidjfeit jettjen fann. ©ie toer;
ficfjern, bag ber ©laube an einen ^5d^ften ©ott burcf>au3 nicf)t oljne @in-
fluft auf ben Sieger ift. Dft fagt er fid) sum Sroft im Ungliid: „©ott
ift ber 2tlte, er ift ber §o^fte"f „@ott fiet)t aud) mid)", „td£) bin in ©otte§
§anb." S)er 2Jliffiondr roagt ^injujufugen: „2)aft fie neben ©ott nod)
taufenb unb aber taufenb 3etifd)e Ijaben, ba3 fjaben fie leiber audj mit
oielen ©Ijriften gemein.f)"
3>ie Dbfdjte ober ^IfdjantiS, tt>ie tt>ir faljen, befifeen eine jiemlid)
beftimmte SSorftetlung toon ©ott, ben fie ben $ol)en ober ben &5df)ften
nennen: er ift ©d£)5pfer, fpenbet SUcgctt unb ©onnenfdjein unb alleS ©ute,
f)at bie ficbentdgige SBodfje gemacf)t. ©r toeift 2fHe§ unb in fein §au£
ober feine ©tabt merben bie guten Sftenfdfjen nadj iljrem 2obe aufge-
nommen. 3)odj Idftt er jefct bie SSBelt getodfjren unb fteljt &u tjocif) fur
bie SBerefjrung ber SKenfdjen. ©cfefjaffene ©eifter, bie ofter3 Ijeimlid) er;
fdjeinen unb fid) befonberS ben ^rieftern mittljeilen, finb toon iljm itber
©ebirg unb Xfyal, SBalb unb gelb, gluft unb ©ee aU §erren gefefet.
9Ran benft fie ficij ganj menfd&endljnftcf), tfjeilS al§ gut, tljeitS afe btffe.
Sn einer 33e$iel)ung geljen bie Sieger fo toeit at§ bie ©uropaer, ndmlid)
in ber 9tnnat)me eine^ oberften bofen ©eifte^, bem gcinbe ber SDlenfd^en,
ber abgefdjieben toon ber SBeft im SenfeitS n)ot)nt.tt)
©inige ber Stamen be3 ^od^ften SBefenS bebeuteten urfpriinglid^ ©onne,
^immel, Slegenf^enber; anbere §err be$ ^immet§, §err unb Sontg be§
*) 2Bai^ II, @. 171.
**) 93afetcr SO^if fiong-^agajin , 1847, IV, (5. 244, 248.
***) ^tse^njd^riger Stufent^alt auf ber (Mbfiifte (1834). Seipjig. 6. 217.
t) #ajcler aJlijj.^ag., 1853, II, <S. 86.
tt) II, ©. 171-174.
502
JXlax Willler in (Djforb.
IrimmelS, unfidjtbarer ©djopfer. 2tte folder toirb cr aud) Don ben
$ebu3 angebetet, inbem fie ba3 ©efidjt jur grbe nieberbeugen.*) SineS
itjrer ©ebete tautete: „©ott im §immel, befefjiifce midEj Dor ffranfljeit nub
lob. ©ott, gib mir ©tiicf unb 2BeiSl)eit."
S)ic (SbeetyafyS**) Don gernonbo $o Derefyren Stupi al3 ^dc^fteS SBefen,
ncben bem fic Diete fleine ©5tter at£ 3Ritte&perfonen §aben. 3)ie
S)uaHa^§***) am ©amerunS bejeidjnen mit bemfelben SBortc ben grofcen
©eift unb bie ©onne.
3)ie ?)oruba3 glauben an DIorum ate ben §errn beS #itnmel3.t)
©ie glauben aber audj an anbere ®5tter unb fie erjaljlen Don ber ©tabt
3fe im ©ebiete- Don ftafanba (5° 5. S. ©r., 8° n. 95.) ate bem aUge^
meinen ©ife ber ©fltter, Don too fie fetbft Ijerftammen, Don too ©omtc
unb SKonb au3 ber @rbe, in bie fie begraben toaren, immer toieber tyerDor-
fommen unb too bie erften SJlenfdjen gefefyaffen tourben.ft)
SRomerttf) erjatylt, bafj ba3 Solf Don ?lfra ber aufge^enben ©onne
eine 9lrt Don SBerefjrung jolle, unb 3irttroermann*t) ftcflt entfdjieben in
2lbrebe, baf$ man bort beliebigen ©egenftanben, getoofyttid) getifd) fle;
nannt, irgenb toetdje SBereljrung ertoeife. 9lu3 ben 93erid)ten ber Safelcr
SDtiffionare toiffen toir, ba§ ber bort gebraud)te 9tame fur ben ijSdjften
©ott Songman**f) toar, toeldjeS JRegcn unb ©ott bebeutet. 2)iefer Songs
man toirb geto5ljnlicf} ate ibentifcf) mit Styongmo betrad)tet, toie ©ott auf
ber ©olbfiifte Ijeifjt. 2ludj bort bebeutet ba3 SBort ben &immri, ber iiberatt
ift unb Don jeljer. „2Ran fiefjfS ja tagttdj," fagte ein 3etifc§mann***t),
„toie burdj ben Don 3f)nt gefenbeten Stegen unb ©onnenfdjein bag @ra3
unb Sorn, ber Saurn eutfte^t; tuie fotttc er nirfjt ©d)opfer fein?" 2>ie
SBolfen, I;eifet e§, finb ber ©djleier, bie ©terne ber ©djmud Don SfajongmoS
©efidjt. ®r fenbet feine Sfinber, bie SBong, bie fiidjtgeifter, bie il)n he-
bienen, auf bie @rbe, toofyin fie feine Sefefjle ju iibertragen ober too fic
biefe felbft auSjufitfjren ljaben.
3)iefe ©eifter ober SBongS, bie aud} fur getifdje auSgegeben toorben
*) 2Bai§, II, ©. 168. D'Avezac, Notice sur le pays et le peuple des Yebous,
p. 84, Stnm. 3.
**) aBaifc, II, 6. 168.
***) Allen and Thomson, Narrative of the Expedition to the River Niger
in 1841, II, p. 199, 395, Stnm.
t) Tucker, Abbeokuta, Origin and Progress of the Yoruba Mission, p. 192t
Slnm. SBaifc, II, 6. 168.
ft) Tucker, 1. c, p. 248. SBaifc, II, 169.
ttt) 9i5mer, ftadjridjten Don ber $ufte Guinea, 1769, 8. 84.
*f) Zimnieruiann, Grammatical Sketch of the Akra or Ga Language, Vo-
cabulary, p. 337.
**t) Eafeler aRtff.^ag., 1857, 6. 559.
***t) 2Bai^, II, 6. 170.
ileber f etifdjtsmns. 505
finb, bilben cin fefjr toidjtigeS ©lement nid&t nur in bcr 9teligion be3
SRegerS, fonbcm aud) in toielen anbcrcn Sleligioncn. ©ie fommen ilberaH
Sum SBorfdjein, too bic ®luft jtoifdfjen bcm 2Renfdjtt<f)en unb bcm @i)ttfi(f)en
ju toett gctoorben, unb too bann bcr 2Renfd) nad) Sermittfcrn tocrlangt,
um bic ffluft auSsufiiflen, bic cr felbft gefd£)affen l)at. ©o toerttjeibigt
5. SB. ©elfuS bic SScrc^rung bcr Genii mit fel)r toidf)tigen ©riinben. 3n-
bcm cr bic Sfjriften tabclt, ba§ fic fic§ toeigern, ben attcn Genii iljre
$ergebracf)te SBerefjrung ju bieten, fagt cr: ®3 gefdfjiefyt baburdj ©ott
Icin Unredjt. ©ott fann nidjtS toerlteren, bic untcrgcorbnctcn ©eifter finb
nidf)t fcinc SRitoalen, fo baft if)n bic SBeretjrung, bic toir itjnen jotlen, toer*
brtefjen fdnntc. 2Ba£ toir in itjnen toerel)ren, fmb nur Attribute toon ©ott
felbft, toon bcm fic ttjrc 2Rad£)t ljerfeiten, unb inbem il>r fagt, bafc e3 nur
etnen ©ott gibt, Ictjnt \f)t eud) gegen ©ott fclbft auf.*)
Sluf bcr ©olbftifte**) glaubt man, bafi bicfe SBongS jtoifd&en $immel
unb Srbc toofjnen, Rinbcr mit cinanber jcugen, ftcrben unb ttricber aufc
Icbcn. SBong ift 1) ba3 SRccr unb Slttc^ toa$ barin ift; 2Bong finb 2)
bic Sftiiffc, ©een, Oucttcn, 3) bcfonbcrS cingejaunte ©tiiden SanbeS unb
namentltdj attc lermitenljaufen, 4) bie Dtutu, bic iibcr cincm Dpfer er;
ridjteten flcincn (Srbtjaufcn, unb bic Irommcl einc8 getoiffen ©tabttfjetfcS,
5) getoiffe ©aume, 6) getoiffe £l)iere, Srofobit, 9tffe, ©cf)langen u. f. to.,
tofil)rcnb anberc 21)iere nur ben SBongS fjeilig finb, 7) bie toom getifdf)s
mann gefefynifcten unb getoeiljten Sitber, 8) jufammengefefcte ©adfjen au£
©d^nurcn, $aarcn, Snftd^eldfyen u. f. to., bic ate SKtjfterien bef)anbelt toerbeu,
obtool ftc toerfaufftdf) finb.***)
#icr feljen tt)ir beutlid) ben Unterfcf)ieb jtoifdjen SBongS unb getifdf)cn.
®er gctifdE) ift ba£ aufeere 3cid^cn ober Symbol, ber SBong ber intoof)=
nenbe ©cift. SBir feljen aber audfy, fyier toie anberStoo, bic einbred)enbc
SSertoirrung, unb tote teidjt ba3 ©etftigc jum rein 2Jtaterietlen tjerab;
fan!.f)
3n 2lltoapim ift baS SBort, toelctyeS fotool ©ott ate SBettcr bebeutet,
3anffupong. SludE) in SBonnt), toie im 5ftlicf>en Stfrifa, bei ben 2Rafua£,
roirb baSfetbe SBort fur ©ott, #immel unb SBoIfe gebraucf)t.tf) 3n
$at)omet} foil bie ©onne ate ba£ Ijodjfte SBcfen gelten, fie er^dlt aber
letnc aufeerlidje aSere^rung.ftt) 3)ic 3bo§ glauben an einen ©dEjityfer ber
SBelt, ben fie £fcf)ufu nennen. ®r Ijat stt)ct 2lugen, jloei D^rcn, eine3 im
$tmme(, bag anbere auf ©rben. ®r ift unficf)tbar unb fd^taft nie. Sr
^ort 9ttte3, tva% iiber i^n gefagt toirb, fann aber nur ben crreidfjen, bcr
*) cf. Froude, in Frasers Magazine, 1878, p. lf>0.
**) S3ai6, II, @. 183.
***) 93afeler mfi.-MaQ., 1856, II, ©. 131.
t) SBai|, II, 6. 174, 175.
tt) #oler, ©intge giotijen uber Sonn^, 1848, @. r,i. SBaife, II, @. 169.
ftt) Salt, Voyage to Abyssinia, 1814, p. 41.
5CM*
$. IHaj mullcr in (Drforb.
ifjm nafje fommt.*) Simnten ttrir mef)r fagen? $)er ©ute fief)t ityn nadj
bem 2obe, bcr ©cfjledjte aber fommt itrt geuer. Sagen ©inige t>on uii3
nidjt ba^fclbe?
2)ag einige unter ben Stegem felbft Don bem enttpurbtgenben CSljaraftcr
beS getifd£)bienfte£ iiberjeugt finb, ba3 jeigt fief) au3 foldjen Steugerungen,
mie man fie unter bem Solfe in Stfra fjort, bag namlicf) nur Sffen
getifefje t)eref)ren.**)
3d) fann nun atlerbingS nidfjt ^crfontid^ fur bie ©enauigfeit Don
einem jeben biefer Seriate einftefjen, au£ @runben,.bie id) bereite ertoafjnt
t)abe. 3d) glaube aber, loir fflnnen un3 im ©anjen auf bie ©enauigfeit
cineS ©etodljrSmanneS, toie SBaifc mar, toerlaffen. @inem SKanne, ber toie
er baran gett)5f)nt tt?ar, variae lectiones au£ griecf)ifcf)en §anbfcf)riften ju
fammeln, fann man fdjon ptrauen, bag er e3 mit feinen ©itaten genau
nimmt. gagt man nun aber 9ttte3, toa% er uber bie SRetigion ber 9teger
beigebracfjt, jufammen, fo befommt man atterbingS ein ganj anbereS Stlb
Don berfelben ate fritter. gebenfatte fiefjt man fefjr Har, bag fie nidjt
in einem etnformigen getifcfjtemuS befteljt, fonbern im ©egentI)eU bie
grogte 2Rannidf)faltigfeit enttoidelt l)at. getifdjiSmuS finbet ftdj aud), ja
finbet fid) mefjr in Stfrifa ate in anberen fianbern. 2)ie3 SItleS mag ju-
gegeben toerben. Stber too bleibt bie 93eljauptung, bag bie {Religion be3
SRegerS in gctifdji3mu£ beftefye, bag ber Sieger uber biefe tieffte ©tufe bcr
{Religion nod) nid£)t l)inau3gef Written fei? SBir fjaben bereite gefefjen,
bag fid) in ber {Religion biefer 935Ifer ganj unberfennbare 3t\6)tn eiiter
SSerefjrung bon ©eiftem finben, bie in ben Derfd)iebenen X^eilen ber SRatur
flatten unb fatten, ja e£ jeigt fid) beutlid) eine 3lf)nung toon einem
fjodjften ©eifte, ber fid) in ber ©onne ober bem #immel toerbirgt unb
offenbart. ©3 ift getoofjntidj bie Sonne ober ber £immet, ber bie Sriicfc
ttom Sid£)tbaren jum Unficfytbaren, Don ber SRatur ju bem ©otte ber SRatur
bilbet. Slber auger ber ©onne ttmrbe audE) ber 9Konb toon ben SRegern
Dereljrt, unb jtoar ate Drbner bcr 3?it unb beS SebenS. SDtan bradjte
ifjm Dpfer unter Saumen, namentlidf) unter alten Saumen, bie Don ®e*
fd)tedf)t ju ©efcfjledjt 3eugen ber greuben unb Seiben einer fjamilie ober
eine^ (Stammer getoefen njaren.
^oolatrie.
Sfugerbem finben tmr nun aber in ber ^Religion biefer fogenannten
getifc^biener nod^ toiele anbere ©femente, j. 93. toa% man bei anberen
SSotfern 3ooIatrie ober Sf)ierbiettft nennt.***) 6§ ift, fdjeint mir, eine§
*) SchSn and Crowther, Journal of an Expedition up the Niger, 1842,
p. 51, 72. SBaifc, II, 6. 169.
**) SBaifc, II, 6. 174—178.
***) SBaif, IF, ©. 171.
ileber etifdjismus.
505
bcr fcfytoierigftcn ^robleme bcr 9ieligiongtoiffenfd&aft, bie erften Setoeggriinbe
$u entbeden, toeldje ben SReger unb anbere SSotfcr beftimmten, gctoiffe Xljiere
§u toereljren. SEBir miiffen ung babei juerft Dor bem feljr atlgemeinen
Seller fyiiten, fiir jeben rcltgiofcn ©ebraudfj nur immcr cinen Setoeggrunb
aitjiutrf)mett. 2)erfelbe ©tbraudf) l)at oft in toerfd&iebenen Sdnbern bic
toerfd£)iebenften Urfadfjen getjabt. @o gtaubte man an cinigen Drten, baft
bic ©eeten bcr Serftorbenen in getoiffen %f)\txtn toeilten. Sin anberen
Drten lieg man Stjiere, namenttidj 2B5tfe, Seidjname freffen, nnb biefc
I^ierc galtcn begtjalb alg Ijeitig.*)
Stffen l)ielt man jutoeiten fur SDienfdjcn, nur ettoag bet ber ©djopfung
befdfjabigt, jutoeiten au6) fiir 2Renfd£)en, bie fiir iljre ©iinben beftraft
toerben. 2Randje ©tdmme gtauben, bie Slffen Wnnten foremen, toenn fie
nur toollten, unb bag fie toorgeben ftumm ju fein, urn nid)t jur Strbeit
^erangejogen ju toerben. Slug fotcf)en ©ebanfen enttoidette fid) leid)t eine
Slbneigung, fie, toie anbere Itjiere, ju tobten, unb toon ba toar eg bann nur
nod) ein fteiner ©djritt, iljnen eine getotffe £etligfeit beijutegen. @g iff befannt,
bag (Slepljanten, toegen itjrer grogen Skrftanbegenttoidelung, mit fetyr at)ns
ttdjen ©efiiljlen betradfjtet toerben. S)ie ©ingeborenen tflbten fie nidjt gern,
unb toenn fie eg ttjun miiffen, fo bitten fie oft bag £t)ier urn SSerjei^ung,
nadjbem fie eg getobtet tjaben. Sn ©atjomety, too ber ©lepfjant alg getifd)
gilt, miiffen toiele SReinigunggceremonien auggefiityrt toerben, toenn ein
©tenant ertegt toorben ift .**)
Sin mandjen Drten toirb eg alg ein ©litd betradfjtet, toon getoiffen
Xtyeren getobtet 5U toerben, fo in ©atjomeij toon einem Seoparben.
@g !ann toiele ©rihtbe geben, toegljalb ©djlangen eine getoiffe (Styrs
furdjt, ja felbft SSere^rung ju £tjeit ttoirb. ©iftige ©djlangen toerben ge*
fitrdfjtet, unb eg ift toerftanbtid), bag man fie toeretyrte, namentlid) nad^bem
i^nen, toieHeid&t im ©eljeimen, iljr ©ift auggebrodjen. Slnbere ©djlangen
ftnb nufclidf) alg £augtljiere, atg SQSetterpropfyeten, unb man mag fie atfo
gefiittert, ljo(f)gefcJ)afct unb nod) einige 3^it toeretjrt Ijaben, toenn toir nur
bag SBort in ber niebrigen Sebeutung neljmen, bie eg oft bei ungebilbeten
9Kenfdjen Ijat unb Ijaben mug. S)ie 3bee, bag bie ©eifter ber Serftor*
benen in Sljierc iibergefjen, ift toeit toerbreitet, unb menu man fic^ er*
innert, toie ©d^langen fief) oft in tocrlaffenen, ober auc^ in bemoljnten ^aufern
cerfteden unb bann ptofelidf) mit i^ren btifeenben Slugen bie 99etoo^ner
anftarren, fo fann man tool bie abergtdubifd^en Sbeen begreifen, bie man
$6) toon itjnen mac^te. Slu^erbem ift befannt, bag in alten toie in neuen
Seiten getoiffe ©tamme fief) ©d£)tangen (Nagas) nannten, mod^te eg nun
fein, urn anpbeuten, bag fie an getoiffen Drten einljeimifdt) unb glei^fam
*) SKai^ II, ©. 171. ^oftmann, 3nr ©ef^i^te beg ^orbifc^en St)ftemg ber
bret ©ulturperioben, 1875, S. 13, Slum.
**) Sai^, II, 8. 178.
306 J. ITTay Itluller in 0rforb.
toie ©djlangen au3 bcm SJoben entfpringen, fci e£, baft fte, tote S)io-
boruS meint, cine ©flange ate il)re gafjne, ate i§r Seidfjen, ate iljr
Xotem, ate ifjr H&apptn fatten, obcr tote man e§ fonft nenncn toitL SBtc
berfetbe S)ioboru3 bemerft, faun enttocber bic ©flange ate SBa$rjeid>en
getodI)U fein, tocil fie ate ettoa3 ®8ttltd)e3 gait, ober fte mag eine gott?
lidfje ®eftung erljalten Ijaben, toetl fie ate SBa^rjeidjen biente. 3ebettfalte
fdfjeint nid)te natiirftdjer, ate baft 2Renfd)en, bte fidf) ©dfjlangen namtten,
mit bet 3^tt eine ©djlange ate iljren ?t^errn unb enblid) ate iljren
©ott ertoftfjlten. 3n Snbien tyielen bte ©djlangen feljr jetttg cine it-
beutenbe SRotle in SBoltebidjtung unb epifd^er $oefie. ©te toerben balb
toaS 3een unb ®nomen in unferen 2Rdrd)en jtnb, unb fie bitbett mit
®anbl)artoa3, SlpfaraS, SinnaraSunb anbern fabefljaften SBefen bte alteften
9Rotitoe jur Drnamentirung toon offentlidjen ©cbauben.
Oanj toerfdjieben toon biefen inbifdjen ©djlangen ift bie ©cfjlange be£
3ttoefta, bie ©flange bet ©enefte unb toieberum bie ©djtangen unb
2)radjen ber gried)ifd)en unb beutf^en ©age. @nblid> gilt un£ nod) bie
©cfjtange ate Symbol ber ©toigfeit, fei e3, toeil fie iljre #aut jd^rlicft
abftreift, fei e$, toeil fie fief) in einen #rete jufammenrottt, ober, toie
man fagt, fid) in ben ©djtoanj beiftt. 3ebe§ toon biefen ©ebilben ber
$I)antafte fjat feine eigene 93iogra#)ie, unb fie aHe jufammen §u toerfen
todre ettoa baSfelbe, ate tooHte man eine SBiograpfjie toon alien SJtenfdjen
fdjreiben, bie 2llejanber Jfjetften.
Slfrtfa ift tooO toon Xfjierfabeln, nad) Strt ber Hefopifdjen gabeln;
bod) finben fie fid) nur bei getoiffen ©tdmmen, nid£)t iiberaO. SRan er-
3dt)It fogar, baft fritter SDtdnner mit ben Ifjieren fpredjen fonnten, unb
in Sornu fagt man fid), baft ein 2Jtann ba£ (Seljeimnift ber Xf)ierfprad)e
feiner grau toerratljen, unb baft banad) ber Umgang jtoif^en SKenfdjen
unb Xfjieren aufgetjort.*)
2)er 3Rtn\i) aHein, fotoiel toir toiffen, fc^eint nte in Stfrifa ate g5tt*
lid&eS SBefen toereljrt toorben ju fein, unb toenn an einigen Drten madjtige
giirften Sljrenbejeugungen entpfangen, toor benen toir fdjaubern, fo mflffen
toir nid)t toergeffen, baft todljrenb ber I)5cf)ften Stut^e rflmifdfjer Eultur
bem SluguftuS unb feinen Slacfjfolgern faft g5ttltd£)e @^ren ertoiefen tourben.
Sn miftgeformten 9Renf^en, in Stoergen, SttbinoS unb bergleidjen fe^en
bie Slfrifaner oft ettoaS Unge^euere^, boc^ fann man b^alb nod^ immcr
nid^t fagen, baft man fie ate gottlid) toeretyre.
Pfyc^olatrie.
@in fc^r bebeutenbeS ©tement in ber SReligion btefer 9S6I!er ift
fobann bie @t)rfurdE)t, bie man toor ben ©eiftern ber Serftorbenen ^at **)
*) ftolle, ©. 145.
**) 2Bai^, II, 8. 181.
Ueber tfettf djtsmus.
307
3)ie ©ebeine bcr SBerftorbenen, tote toir fafjen, tocrben oft forgfam auf;
6etoal)rt unb mit enter ?lrt toon rcligififcr ©djeu befjanbelt. 3)ie Slftfjantte
Ijaben ein SBort, £ta, toetdtjeS ©eete bebeutet. SRadf) bent lobe ljeifjt bie
©eele ©ifa. S?ta ift l) baS Seben ber SRenfdjen, 2) ate manntidj ge-
ba^t, bie ©timme, bie il)n jum 335fen treibt, ate toeiblid) bie, toelcfje
ifjn batoon abmaljnt, 3) ber perf5nlic§e ©djufcgeift cineS geben, ber buret)
getotffe 3^ubereien citirt toerben fann unb auf 2)anfopfer Slnf^ruc^ macf)t
fitr ben ©d)ufc, ben er getoaljrt. ©if a fann toiebergeboren toerben, aber
e3 toerben audj ftete neue ©eeten toont l)5cf)ften ©otte auf bie Srbe Ijerab*
gefenbet. *)
Z?telf eittgf ett 6er afrifanifefyen Xeltgionen.
Shin frage id), ift eine Strfigion, bie fo toiete toerfd£)iebene ©eiten
barbietet, einfadf) ate afrifanifdjer getifdjbienft fjinjuftellen? ginben toir
nidjt faft jeben SBeftanbtljeil anberer SReligionen in bent SBenigen, toa£
ton bis jefet mit irgenb toetdjer ©enauigfeit toom ©tauben unb toom ©otteS*
bienft be3 SlegerS toiffen? £at man irgenb einen 83$toete erbradjt, ba§
e§ je eine &\t gegeben, in ber biefe Sfteger nur getifdfjbiener toaren, unb
toeiter tttd&tS? giiljrt un3 niddtSltteS, toa3 toir tl>atfacf)lid) toiffen, gerabe
jum ©egentfjeil, bafj namlid) ber getifdjiSmuS eine rein parafttifdje ®nt=
totdelung barfteHt, bie begreifticf) ift mit getoiffen Stntecebentien, aber
gans untoerftanblidf), toenn man fie nur ate einen urfyriinglicfjen Smpute
ber menfdjlidjen ©eete barftetten toiH?
Slein, toom pfydjotogifdjen ©tanbpunfte au£ liegt bie toirf lidje ©djtoierig;
leit toielmefjr barin, toie man bie toernilnftigen unb in mandfjen gotten
erfjabenen religidfen 3tnfid^ten biefer SReger mit ber ro^en gorm be£
getifd&temuS jufammenreimen foil, bie natiirlidj nid)t toeggeleugnet toerben
lann. £ier fflnnen toir nur baran erinnern, bafe aUc SReltgion ein Eont;
promife ift unb fein mufe jnrifdjen ben SBeifeften unb ben £l)8rid£)tften,
jtoifdEjen 8tt unb Sung, unb bag, je IjMjer ber menfdjtidje ©eift fid)
erljebt in feinem Sudden nadEj gflttlidfjen Sbealen, befto untoermeibtid^er
tljre btoS ftjmbolifdje 3)arfieflung im ©eifte ber Sinber, ja ber SJlajoritat
eineS SSotfeS, bie ftete unffifjig ift, bie Ijodfjften 8lbftractionen rein ju er*
faffen.
S3 lafct ftd) toiet jur ©ntfdjulbigung ber oerfdjiebenen Slrten unb
SBeifen be§ getifcfytemuS fagen. @r ift eine §itlfe fitr bie fdjtoadje menfdj;
lidje Statur. @r bient al% au^ertid^e ©rinnerung an unfere 5|5flid^ten,
unb in toielen gatten lann fici^ ber SRenfdj toom materietten 3cic^en ober
©^rnbot toieber ju ^5^eren geiftigen Slnfd^auungen er^eben. Oft auc^
pnbet bag menfdt)lid)e §erj in foldjen aufeertic^en ®ingen Iroft, toenn
e3 t^n fonft nirgenb^ ftnben fann. 3Ran ^5rt fo oft, bafj biefe aufeere
*) SBafeler 9J?iff.=9Kag. 1856, II, @. 134, 139. Zimmermann, Voc, p. 151.
«orb unb Sub. VII, 21. 21
308
f. IKaj IHiiller in 0jforb,
©tymbolif jebenfallg unfd&ulbig fci, unb man ttmnbert fid}, toegtyalb bie
tueifeften Seljrer ber 3Renfdf$eit in fo fatten Sfoabruden gegen bicfc
8tid)tung beg tnenfd}lid&en ©eifteg ober beg menfdflidjen £erjeng geeiferi
Ijaben. 9Rand)er mag fid) getounbert §aben, baft unter ben jetjn ®e~
boten, ioeld}e bic fjodjften unb mic^tigften $flidjten bcr 3Dtenfd}en in fiit-
jefter Sform jufammenfaffen follten, bic jioeite ©telle bem SSerbote jeber
bilblidjen Storftetfang beg ®5ttlid&en juerfannt toorben ift: „$u follft bir
fein SBilbnifj nodf) irgenb etn ©leid&nife madjen, toeber befc, bag oben
im #immel, nod) befc, bag unten auf ©rben, ober befj, bag im SBaffcr
unter ber ©rbe ift. 93ete fie nid&t an, unb biene ifjnen nidjt"
9tur ein ©tubiutn ber ©efcfyidjte ber alten Stetigionen jeigt ung
bie toerborgene SBeigtyeit biefer 2Borte. SKan lefe nur bie 83ef3>reibungen
ber religiflfen geftlid&feiten bei Stfrifanern, 2tmerifanem unb 9tuftraliern,
man felje nur bie pompljaften ©djauftellungen in einigen unferer eigenen
djriftlid)en £ird)en unb Sattjebraten. ©g ift fdjtoer nadjjutoeifen, toa%
benn eigentlid^ bei all biefen fiufjeren fttxtyri unb ©tjtnbolen, bei Silbern,
SBeiljraud) unb Serjen fo toertoerflidf) ift. SSiete toerfidjern unb fagen, ba&
fie in itynen Xroft unb ©tdrfung finben. 8tber bie ©efd&id&te ift eine ftrengere
unb unttriberfored)lid)ere Seljrerin alg aHe Sogif, unb toag bie ©efdjidjtc
ber SReligion immer toieber leljrt, ift, baft ber gtud) gegen bie, toeldje
bag Unfidjjtbare in bag ©id&tbare, bag ©ottlidje in bag 9Renfd}lid)e, ba$
Unenblid>e in bag ©nblid&e toertoanbelu tootlen, bei alien 93i)lfem fid)
bema^rt Ijat. SBir mogen nteinen, baft ttnr felbft ganj fid&er gegen bic
®efal)ren beg getifdjigmug finb; unb bod} gibt eg toenige 33lenf(^cn, bic
nid)t itjre getifdje ober if)re ©fljjen in itjren ®ird)en ober in i^ren $>erjen
tyaben.
3Me SRefultate, ju benen ttrir gelangt, inbem ttrir bie jaijlreidjen
SBerfe ilber ben getifdjigtnug toon 3)e SJroffeg big auf bie Sefctjeit ju
Statue gejogen, finb bie folgenben:
1) 25ie Sebeutung beg SBorteg getifdjj (feitiso) ift toon fflnfang an
eine unbeftntrte geblieben unb toon ben meiften ©djriftftellern fo toeit
auggebeljnt loorben, bafi fie faft jebe fambolifd^e ober bilblidje 2)arfteHung
religiofer ©egenftaube in fi(^ fd^liefeen fann.
2) SBei SS5tfem, bie eine ©efd&idjte ^aben, finben toir, baft 2ttle£,
wag unter bie $ategorie toon getifd^ fcillt, ^iftorifd^e unb pft)d)ologifdje
Slntecebentien ^at. ffiir biirfen ba^er ni^t tooraugfe^eu, baft bieg bei
SSotfern, beren religiofe ©ntmidelung ung unjugdngli^ ift, anberg ge^
luefen fei.
3) ®g gibt feine Steligion, bie fi(^ ganj frei toom getifc^igmug ge-
fatten ^at.
4) ©g gibt feine 9teltgion, bie ganj unb gar aug getifc^igmu^
befte^t.
^ierrnit glaubte ic^ meine ©tellung ber 2lnnaljme eineg unitoerfellen
Ueber <f etifdjismns.
309
,urjeitlidf)en Setifd&idmud gegeniiber tjintanglidlj genau angejeigt unb toe*
nigftend bad Har gema^t ju Ijaben, baft bie bi^er befannten 2!jatfadf)en
bed getifd&bienfted btc grage nadf) bem naturtid&en Urtyrung bcr Sflcligton
in feiner SGBeifc ju lofen toerm5gen.
Die pfycfyologifdjc Hottjtr>cn6igfctt 6es ^etifdjismus.
SJian §at iebod& Don ©eiten berer, bic am getifdfjidmud obcr toiefc
mef)r an ber Eomtifdfjen Stjeorie bed getifdiidmud feftfjalten, ben Sin^
nmrf ertjoben, baft bied eben nur Ityatfacfjen finb, nnb baft juerft ein
ganjed t!jeoretif d&ed ©tjftem and bem SEBege geraumt toerben muft, e^e
man jugeben f5nnte, baft ber erfte SmpulS afler Steltgion toon ber SBaljrs
neljmung bed Unenblidfjen fomme, bad fidj und toon atten <§eiten in ben
groften ©rfd&einungen ber 9tatur entgegenbrangt, nnb nidjt toon ©efitfjten,
tuie Ueberrafdfjung ober gurd&t, bie burdf) ben Slnblicf jufattigcr ©egen^
ftanbe, ttrie 3Rufdf)eln, ©teine ober Snod&en, b. Ij. bnrdj getifefye, Ijertoor-
gerufen toerben.
SBad audi) bie Sfjatfadfjen fein m5gen, entgegnet man und, bie Beugtiift
fur bie friiljefte Sntttricfelung ber {Religion ablegen fotlen, unb bie ja nur
bcr reine 3ufafl und aufbetoa^rt Ijat, SRiemanb barf baran jtoeifeln, baft
ed eine Sett gegeben, fei ed in fjiftorifdfjen ober toorljiftorifd&en ^erioben,
too bie 2Renfdjen nur ©t5cfe ober ©teine, unb nidjtd toeiter, toereljrten.
3df) geljore nun gar nidjt ju benen, bie meinen, baft unter feinen
Umftanben eine rein ttyeoretifdje $Betoei3fuf)rung ebenfo iiberjeugenb fein
tdnne aid ljiftorifdf}e Xfjatfadjen. $n Sejug auf bie grage aber, bie und
§ier befd&aftigt, gtaubte idj aKerbingd genug gettjan ju Ijaben, inbem id)
nad^toied, baft fidj gerabe bei ben S3olfern, bie und aid tebenbige 83etoeife
bed urfpriinglidfjen getifdjbienfted toorgefiiljrt ttmrben, religiflfe Sbeen oft
&on folder SRetnljeit unb ©rfjabenljeit finben, ttrie toix fie faum bei Corner
unb $eftob extoarten. 2!jatfad(jen follten Ijier eine S^eorie betoeifen, ja
fatten anerfanntermaften ben erften Slnftoft ju einer Stjeorie gegeben, unb
biefe Ifjeorie foil nun bteiben, trojjbem baft bie Iljatfad^en toerfdjttmnben
ober jebenfaDd burdf) unb burd) toeranbert finb.
2)a ed nun aber nie ratljfam ift, eine geftung im Stiiden ju laffen,
toenn ttrir fie aud& auf unferem SDtarfdj feljr gut unberiidfi^tigt laffen
ttnnten, fo ttritt idf} toerfudfjen, aud^ nod^ biefe rein tljeoretifcfje 2tnfid^t
bed fjetifd^idmud fo furs a^ moglid^ einer ^riifung ju unternjerfen.
SBir fonnen ed toot fiir jugeftanben anne^men, baft biejenigen, tuelc^e
bie 2lnft4t feft^alten, 9teligion ^abe iiberatt mit getifd^bienft angefangen,
bad SBort getifd^ audfd^tieftli^ in ber Sebeutung toon jufattigen ©egenftanben
gebraud^eu, bie aud einem ober bem anberen ®runb, ober fogar o^ne
aflen ©runb, aid mit au3nat}tn3toeifen Sigenfd^aften bt$abt, betra^tet,
unb aflmafjtidE) jur SSiirbe toon ©eiftem unb ©ottern er^oben wurben.
21 *
3\0 tXlai miiller in 0rforb.
Sg fd^eint unmogtidf), bafc fie ber anberen 9foftd()t fcin fonnten, loonadj
cin getifdf) Don Mnfang ait nur cin Smbtem obcr ©ijmbol, cin dufjer-
Itc^eS Beidfjen Don ettoag 2lnberera geloefeu fet, toct^c^ Stnbere urfprung*
licfy bom getifdfj oerfd&ieben, crfl f pater in iljn fjineinDerfefct unb fdjltefr
lid) mit i!jm ibentificirt lourbe. 2)enn in biefem galle ttmrbe ja bag problem,
loeldfjeg cin Seobad&ter ber ©ntttncfelung beg menfd&lidfjen ©eifteg tofen
tyat, nidfjt ber Urfprung unb bie ©ntioicfetung beg getifdf}, fonbern ber
Urfprung unb bie Sntloicfetung toon jenem anberen ©tloag fein, loeld^eg in
ben getifdj IjineinDerfefct unb mit tljm ibentificirt loirb. Derioatyre Jlrfprung
ber Stetigion tdge bort, unb ber getifdj toiirbe nur eine jloeite ©tufe in
itjrer ©ntloicfelung barftetten. ©g geniigt audj nid&t, mit ?|5rofeffor 3«tler
ju fagen: „baf3 bie ^antafte Dernunftlofe, fclbft leblofe J)inge gu ©ottern
perfomficiren fann." 2)ie grage fur ung ift, looker !am jene $$antafie?
unb looker fam t)or alien Dingen jeneg ganj grunblofe, ganj unberecfj-
tigte $rdbicat ©ott? Die Iljeorie beg getifdfjigmug, mit ber aflein ttrir
Ijier gu redjnen tyaben, ift alfo bie, baft eine SJereljrung jufdttiger @egen~
ftdnbe ber erfte unDermeiblid&e ©(§ritt in ber ffintloicfelung beg reltgiofen
Settmfctfeing geloefen fein mufj unb geloefen ift. Steligion, fo Derfidjert
man ung, mufc anfangen unb fdngt an mit einer S3eobadf)tung toon
©teinen, SKufcfyeln, Snod&en unb dljnttdjen 2)ingen, unb fann fid) crft
Don biefer ©tufe ju einem SBegreifen toon etloag Stnberem erfjeben, nennen
ttrir eg 2Rddf)te, ©eifter, ©otter ober mit irgenb loeldjem anberen 9iamen.
Die ubernaturiidjen Prafcicate bes ^etifefy.
gaffen loir biefe 2tnfidf)t fdjarf tn'g Sluge. SBenn SReifenbe, ©t§no;
logen ober $l)itofopli)en ung erjaljten, bafj geioiffe loitbe ©tamme ©teine,
ffnodfjen ober Saume alg tyre ©otter betradf)ten, looruber lounbern ttrir
ung benn? ©ettrifj nidjt iiber bie ©teine, Sfnodjen unb Sdurne; nid)t
iiber bie ©ubjecte, fonbern iiber bag ^rabicat, bag Don biefen ©ubjecten
auggefagt loirb, ndmtid) ©ott. ©teine, ffnod&en unb Saume ftnb meit
unb breit ju finben. 23ag ber lotffenfd&afttidfje S3eobadf)ter beg SBa^g-
tljumg beg menfc^Ii^en ©eifteg ju ttriffen toiinf^t, ift, toeg^alb man fte
nidjt einfad^ bag nennt, toag fie finb, fonbern etmag Stnbereg, namlit^
©5tter. ^ier tiegt bie ganje ©c^toierigfeit, unb ^ier eben loitt man fie
ni(^t feljen. S33enn ein fleineg Sinb ung feine Safce brad^te unb ung
fagte, eg fei ein SBirbelttjier, fo tourben toir ung bodfj getoife am meiften
baruber lounbern, loo ein Sinb bag SBort S33irbett^ier ge^ort ^abe. S33enn
ung alfo ein getifd)biener einen ©tein bringt unb fagt, eg fei ein ©ott,
fo ift unfere erfte grage natiirlidf} bie: 2Bo ^aft 3)u bag SBort ©ott Ijer
unb loag benffl 3)u S)ir barunter? Unb bod^ fdjeint faft Sliemanb, ber
iiber bie @efdf}idf)te ber alten 3leligionen gefdfjrieben, bag problem ba ge^
fefjen ju ^aben, loo eg loirflidf) liegt.
Uefcer f ctifdjtsmus. — —
gufalliger llrfprung 6cs ^etifcfyismus.
2)ic Srage, bie loir ju beanttoorten ijaben, obcr auf loeld)e bie,
roeldje an cincm urfyriingltd&en getifd&temuS feftljalten, ju anttoorten Ijaben,
ift alfo bie: ffiann fidf) ettoaS ©eiftigeS ober ©ottlid&eS auS btofjen
©teinen enttoicfefa? Sfflnnen loir begreifen, loie e3 einen Uebergang Don
bcr SBafjrnetjmung eineS ©teineS obcr einer 3Rufdf)el obcr eineS ffnod&en
511 bem Segriff Don ©etft ober ©ott geben fann?
3Ran oerfid^ert un3, nidfjte fei leidjter.*) Slber loie! 2Bir follen un3
cinen ©eifteSjuftanb tjorftettcn, toenn ber SKenfdfj nodE) !eine Sbeen Ijat,
aufcer benen, tuelc^c tf>m feinc fiinf ©inne bieten. Pofclidj fietjt er einen
gldnjcnben ©tein ober eine IjeKe 2Rufd&el. Sr $ebt fie auf ate eigcn^
tljiimlidfj, beloaljrt fie, fie loerben i^m lieb unb t^euer, unb bann glaubt
er, baft biefer ©tein ntd&t ein geioflljnlicfjer ©tein, toic anbere ©teine,
baft biefe SDlufdfjet nidfjt einc getoflijnli^e SKufdjel, loie anbere SJluf^eln
fei, fonbern baft fie Krafte befifcen, bie fein anberer ©tein, feine anbere
2Rufd)et je befcffen. 2Ran fagt un£, loir braudEjten un3 nur oorjufteflen,
baft ber ©tein friil) am SRorgen aufgelefen lourbe, baft bcr, ioet<f)er itjn
auflaS, toatyrenb be$ £age3 einen Sampf ju beftefjen ijatte, baft er fieg=
reidf) barau3 Ijeroorging, unb baf* er atfo ganj natiirlid) ben guten ©r-
folg feineS SampfcS bem ©teine jufdjrieb. ©pater, fo t)eifct e3 wetter,
lourbe er biefen ©tein ate einen ©liicteftein auf beloaljrt Ijaben; toatjrs
fdf>einftdf> toiirbe er ftdf) metjr ate einmal ate gliicfbringenb bett)ii^rt ljaben;
ja e3 toiirben eben nur bie ©teine, bie fidfj meljr ate einmat ate gliicfs
bringenb beioatjrten, eine 2tu3fi(§t fjaben, im Sampf um'S Stofein ate
getifcfye iibrig &u bteiben. 9Wan miirbe bann gtauben, baft ber ©tein
eine iibernatiirlidje SKa^t befafce, ntdfjt ein btofcer ©tein, fonbern etloaS
ganj SlnbereS, ein madf)tiger ©eift fei, unb atfo jebe SSere^rung oerbienc,
bie ifjm fein gtiicflicfyer SBefifcer beloeifen !6nne.
S)iefer ^rojefi, oerfid&ert man un3, fei ganj naturlidf), ganj oer-
niinftig in fciner Unoernunft. 3d& leugne e3 nidjt, nur jloeifle idf), ob
nnr barin bie Unoernunft eine^ no^ ganj unenttoicfetten ©eifte^ ju er-
fennen t)aben. 2)er ganje SSorgang, tone er ung ^ier befd^rieben roorben
ift, erinnert un§ loeit meljr an moberne ate an alte unb naturtoiidjfige
Unoernunft. %a toix fonnen un8 benfetben faum toerftanblidE) madden,
aufeer toenn loir anne^men, baft ber SWenfc^ in feinem ©u^cn na^ bem
Unenblid^en bereite loeit oorgefc^ritten unb im Sefifc bcr Segriffe oon
©eiftig unb ©ottttdj loar, beren Urfprung bie loaljre 9te(igion^ioiffeni
fd^aft Dor 2lHem ju erftaren fud^en mu|.
*) SBaifc, II, 6. 187.
5\2
f. Iltaj tKiUIcr in 0jforb.
Stn6 Me H)iI6cn Kin6er?
SKan madfjte fidj bie§ friiljer jiemtidfj teidfjt, inbem man meinte, baft
ba3 tm Setifd&iSmuS enttyattene pfod&otogtfd&e problem burdj einett bloften
£intoei3 auf Sinber erftdrt Herbert fdnne, bic mit tt>ren Spuppen fpieten,
ober bic ben Stutjt fdfjtagen, an ben fie ftdfj geftoften Ijaben. Die Un=
jutdnglidfjfeit biefer ©rttdrungatoeife tourbe jebod) balb erlannt, benn fctbft
jugegeben, baft Setifd&tSmuS nur barin beftdnbe, baft man Icblofcn S)ingen
eine 2trt toon Seben, toon Ifjatigfeit nnb SPerf5nlid)feit jufdjreibt (man
mag bie3 nun StguriSmuS, StnimiSmuS, ^erfonification, 9lntf}ropomor=
pt)t3mu3 ober 2tntljropopatf)i3mu3 nennen), fo fann un3 offenbar bie
lijatfadje, baft ftinber baSfetbe tfjun ate ermad&fene SBtlbe, ntd&t iiber
bie Xljatfad&e felbft fjintoegtyetfen, ober un3 ben ©dfjliiffet jur Sdfung
beiber pfedjotogifdfjen ^robleme in bie $anb geben. S)ie Xfjatfadje, an=
genommen baft e3 eine Ifyttfadfje ift, bleibt bet ben ftinbern fo unerfldr-
lid) ate bei ben SBitben. S)enn obgteidf) eine getoiffe SBaljrfjett barin
liegt, Sinber SBitbe ober SEBttbc ®inber ju nennen, fo miiffen ttrir bodj
tyier, ttrie bei alien SJergleidjen, ju unterfdjeiben fud&en. SBtlbe fhtb
Sinber in gettriffen SHngen, aber nid&t in alien. @3 t>at nod) nie etnen
SBitben gegeben, ber, toenn er Ijerantoddjft, nid&t jtoifdjen Iebenbigen unb
tebtofen S)ingen, alfo jttnfd&en einem ©tricf unb einer ©d)tange, ju unter*
fd&eiben terttte. $u betjaupten, baft fie in SBejug auf fotdje 3)inge ®inber
bteiben, Ijeiftt nur, ftd> felbft burdfc SKeta^ern ju tdufdfjen. Hudfj ISmten
SHnber, fo ttrie fie jefet finb, un$ nur toenig tietfen, urn eine ridjtige
SSorfteQung Don bem ju gettunnen, tt>a8 SBitbe in tootlem SKaturjuftanbe
getoefen fein m5gen. SSom erften ©rtoadjen iljreS geiftigen SebenS airmen
unfere $ tuber eine Sttmofpfjdre, bie burdfc unb burd) toon ben %btcn
einer toeit toorgefdfjrittenen ©itoitifation erfuHt tft. ®in ftinb, bag md)t
burdf) eine fd)5n angejogene $uppe angefiiljrt toerben fann, ober bag
fid) fo befjerrfd^t, baft e$ nidfjt gegen ben ©tuljt auSfdjtdgt, gegen ben
e§ mit bem ftopf gerannt, tourbe toiet eljer ein junger ^^ilofo^ ate
ein SBtlber fein, ber fidfj nodE) ni^t iiber ben getifd^bienft erljoben ^ai S)ie
gaugen Umftdnbe unb Sebingungen finb fo toerfd^ieben fur ba8 ffinb unb
ben SBitben, baft 93ergleidje jloifd^en ben beiben mit ber grflftten Sorftd^t
auSgeftitjrt toerben miiffen, e^e Jte auf irgenb tueldjen loiffenfc^aftti^en
SBert^ Slntyrudf) madden IBnneiL
Sd^ ftimme fotoeit ganj mit ben Stn^dngern ber getifdfjtfjeorie iibereht,
baft id^ tooDfommen jugebe, baft, toenn toir SRetigion at^ ein attgemeine^
S^arafterifticum beS menfd^ti^en ©efc^ted^tg betra^tet miffen tootlen, Wir
btefetbc au^ 93ebingungen erftdren mujfen, bie aUgemein gegentoartig finb.
Unb id& fann ed i^nen burd^au^ ni^t toerbenfen, toenn fte e3 abte^nen,
iiber ben Urfprung ber Sletigton mit benen ju biScutiren, bie eine Uroffen-
barung annetjmen, ober eine fogenannte retigiofe Stntage, bie ben SRenfd^en
toom 2^ier unterfc^eibet. SBir miiffen jebenfatte toon gemeinfamen unb toon
Uebcr $ etif djismus.
3\o
fidjern ^Jramiffen audgeljen. SBir miiffen ben SWenfdjen fo nefjmen, toie
er ift, im 93efi$ fetner funf ©inne, unb jur 3eit nod) otyne irgenb toetdjed
SBiffen aufcer bent, toad i^m feine filnf ©inne bringen. Sin folder
2Jlenfd& fann atlerbtngd cinen ©tein auflefen, obcr einc Stufd&el, ober cincn
ftuocf>en. Stber bann fommt bic Stage ; bie toir toergebend an bic SBer*
fedjter bed uranffinglid&en getifd)tdmud ridjten, too tieft bicfer SMenfdj,
toenn er ©teine, HRufd&eln unb ffnodjen aufgelefen, jugteidj ben Segriff
eined iiberfinnlidjen SBefend, eined ©eifted, eined ©otted auf, unb tote fommt
er baju, biefe unfutytbaren SBefen ju toeretyren?
Die pier Stufen.
(Sine !lrt Don 2tnttoort toirb und fdjon gegeben in ben befannten
trier gactoren, ober ben trier ©tufen, burdf) toeldje Silled erflart unb ber
Urfprung bed getifdjtdmud toottfommen toerftanblidf) gejnadjt toerben foil.
(Srft fontmt bie SSorfteHung toon bent fetyr feltfamen Dbjecte atd einem
flerabe bedtyalb fefjr eigentpntlidjen, ganj befonbern, toertljtoollen. &tot\ttn%,
bie antijropopattjifdje Sluffaffung biefed Objected aid eined lebenbig fu^tcn^
ben unb tooDenben. Drtttend, bie ©efcung bed ©aufatjufammenljanged
jtoifdjen biefent Dbjecte unb anbern SSorftettungen. SSiertend, bie Sfaerfem
itung bed Objected aid eined madjttooDen, toetd&ed btdfyalb mit Sljrfurdjt
ju be^anbetn ift, bantit ed nid)t feinblid), fonbern freunblid) gefinnt fei
unb toirte; b. Ij. alfo eined Objected, toetdjed in golge feined i^m, juge*
fdjriebenen SBefend unb SBirfend ©egenftanb ber SSere^rung toirb.
SEBirb aber burd) fotc^e Srftarungen bie ©djtoierigleit nidjt toielmeljr
burdj einen ©olbregen toon SBorten toerpllt, aid toatyrljaft getoft?
gegeben, baft ein 9Renfd) itber einen feltfamen ©tein ober eine SDlufdfjel
in ©taunen geratlj, obgleidj ed fo totete anbere S)inge gibt, bie ben SRenfdjen
in feiner erften gnttoicfelung in ©taunen toerfefet Ijaben miiffen, toad ift
benn bann eine antfjropopatljifdie Stuffaffung eined fold&en ©teined? SBenn
toir bied 2Bort in'd S)eutfd)e iiberfefcen, fo bebeutet ed eben toeber mefjr
nod) toeniger, aid baft man ben ©tein ntd)t aid einen ©tein, toie afle
anberen ©teine, betra^tet, fonbern aid lebenbig, fitfjlenb unb tooKenb.
Died mag feljr einfad) unb nattirlicf) fltngen, toenn ed in tedjnifdje Stud*
briide itberfefct toirb, toenn toir und burd) lange SBorte toie Stnttyropopatljtds
mud, Stntljropomorpfjidmud, Stnimidmud, giguridmud unb toie fie fonft
tjeifjen, befiedjien laffen. Slber rufjig betradjtet fd&eint nidjtd bem gefunben
SDlenfdjentoerftanbe ober unferen funf ©innen gr5j$ere ©etoalt anjut^un, aid
ju fagen, biefer ©tein ift ein ©tein, aber bodj nid^t ganj ein ©tein; ober,
biefer ©tein ift ein SRenfd), aber bod? ni$t ganj ein SRenfd^. (£d ift gan;
toa^r, baft nad) einer Iangen 9iei^e toon 3toifdjenftufen fold^e SBiberfprii^e
im menf^Iid^en ®eifte m5glid^ toerben, aber fie entftefjen nic^t plofelid^, fie
finben fid)nid)t am Slnfang ber 2)inge, toenn toir nidjt ein toa^red SBunber ans
ne^men toollen, bad nod} tounberbarer toare, aid bie alte Uroffenbarung.
3^ $. UTaj IKiUlcr in (Djfotb.
Stein, eg ift eben bic Stufgobe ber fftcIigionStoiffcnf^aft, bte tang-
famen unb furdjtfam ttneberljolten ©djritte gu beobad^ten, burdj luetic bcr
menfdf)Iidf>e ©eift toojt bem, toag einfacl) unb toerftanbttdj ift, gu bem fort*
fdjrettet, ttmg guerft iibcr alien menfd&Iid&en Serftanb tyintoeg gu gc^en
fdfjeint. SBenn totr bad, toag ttnr erflart feljen ttjollcn, o§ne SBeitereg al$
gang naturlidf} ljinnefjmen; toenn ttrir einmal gugeben, bafc eg fur einen
naturttmd&figen SBilben gang naturlidj toar, cincn ©tein antt)ropopatl)if<$
aufgufaffen, b. 1}. cinen ©tcin fiir ettoag 3Renfdfjlidf>eg gu betradf)ten; toenti
ir»ir ung mit SBortcn ttrie 9lntl)rot>ontorpf>igmug, Hnimigmug, giguriS*
mug u. f. to. befriebigt ffiljlen, nun bann ift atlerbtngg hn 3etifdf}igmii£
toenig ju erfl&ren iibrig, unb nrir !5nnen iljn cbenfo gut ffir einc frfilje
alg fiir cine fpate $t)afe beg rcligidfcn Seioufctfeing auggeben. Sin tnenfdjz
tidjer ©tcin tyat aHeg Sledjt, fiir fibermenfdjlidf) gu gelten, unb fibers
menfd<dj ift nidjt nteljr feljr toett oom ©dttlidfjen entfernt. 9tod) brauc^t
eg ung ju tounbern, baft bic Seretjrung, bic man cincm foldfjen Object
ertoeift, griper ift alg bic, tueld&e eincm ©tcinc obcr cincm 3Jtenfdjen ju=
fommt, bafj alfo audfj bic SJcrc^rung fibermenfdfjlidj, unb nidjt fe^r wcii
entfernt toon gotttid^er 93cre^rung fei.
X)er ^etifdfismus nic urf prunglicfy.
3Reine ©tettung gum getifd&igmug ift alfo einfadj biefe: 2Rir fdjetnt
eg, bafi bic, ioeldje aUe Sleligton mit cinem urfprfinglid&en getifefjigmug
anfangen laffen, bag annc^mcn, toag erft gu erioeifen ift, bafj nftmlidj) jebeg
menfcf)Iid)e SBcfen auf ttmnberbare SBeife mit bem Segriff bcfdfjenft morben
ift, toeldjer bag $rabicat eineg jeben 3etifdf)g bilbet, nennen ttrir eg nun
SDladjt, ©etft ober ®ott. Stafe JufftDigc Dbjecte tine ©teinc, SKufdjeln, ber
®3>toang eineg 25toen, cin 3opf &on $aaren obcr ftljnlid&er Unratlj eineu
tljeogonifdjen ©tyarafter Ijaben, b. Ij. gur St^nung toon ettoag Ueberfum*
lidjem unb Unenblicfyem ^infii^rcn, ift nic betoiefen worben, toa^renb bie
I^atfa^e, bafj aDc totlbc SSiJIfcr, na^bem fte fidf) einmat jur ^nung
eineS Ucberfinntid^cn, Unenbtid^cn unb ®5ttti^cn erfjoben, fpatcr bic ©cgen^
mart be3felben aud^ in rein jufSIligcn, unfdtjeinbaren Dbjecten gu finben
' meintcn, iibcrfe^cn morben ift. @g ift erft nod^ ju betoeifen, baft eg jefct ein
SSotf gibt, obcr ba^ eg jemalg ein SBoIf gcgeben ^at, beffen ganjc 9ieIU
gion aug getifd^igmug beftanb. @g ift erft nod^ ju bemeifen, bafe eg irgenb
ein SSol! gibt, beffen SReligion gang feci toon getifd&igmug geblicbcn. SReine
lefetc, aber ni^t meine geringftc 93efdf)toerbe ift, ba| Side, bic fiber Sfeti-
fd^igmug atg cine atlgemcine, urtoelttid^e Stetigion gef^rieben, fid) |oft
auf Stutoritaten tocrlaffen tyaben, bic fein 5p^Uolog unb fein #iftorifer
atg gulaffig anerfennen tourbe.
®g ift alfo unfere $flidjt, neue SBcge eingufd^tagen, toenn ttnr ttriffeit
lootten, toeld^e finnlid^e ©inbrude eg nmren, bic im menfd^tid^en ®eifte guerp
bic St^nung cineg Ueberfinnlidfjen, Unenbtid^cn unb ©dttlid&en ^crtoorriefen.
Tin ben <8xen$en bex Strategic unb Caftif-
Von
Slufhi? ^djeiiitMrt-
— Stuttgart. —
3m iftlbe, bo ift ber Sfamn no* tuaS twrtlj,
3)o toirb bad $erj nodj aeteoflenJ
iefe, jebem ©olbaten bic S3ruft Jjebenbe Strode fdjeint ifjre
2Bal)rf)eit bertoren ju ljaben; tuenigftcnS ift e3 in ben „getei)rs
teren" folbatifdjen unb Sfoilfreifen ljeute SKobe getoorben, bic
tabetlofe Strategic ate bie unfeljtbare SRutter ber Srfolge
{jinjufteflen.
93efonber3 ift eg bent norbbeutfefjen ^ubltfum fo oft in SemfletonS
unb toon iDHfttarfdjriftfteflern, ja felbft in ©cbic^tcu erjftf)tt toorben, biefe eblc
Sunft fjabe ntdjt nur bie ©aat ju ber tnilitarifdj glanjenben Spodje ber galjre 64
bis 71 gelegt, fonbern btcfctbc fogar reifen laffen, baft idj e3 nur fdjiidj*
temen 2Jhitf>e3 toerfudje, bie SBirfungSgrenje ber ffirieggfunft ju fonbiren.
Son lefeterer erfreut ftdj bie Strategic, b. 1). bie Shinft, bie Slrmeen &u
renter %t\t, in ridjtiger ©tdrfe unb ^^er^ftcgt" auf ben ©djauplafc ber
Xljaten ju bringen, einer befonberen 5(Jopularitat; biefelbe, fohrie bie Saftif,
bie ftunft, fidj mit militarifd^em Slnftanbe auf ber blutigen S3iil)ne ju be*
wegen, finb 3^iHing^tt)efternf bie fo in einanber fcertuacfyfen unb Der*
tooben finb, bafe fein militartfdjeS ©ecirmeffer e£ tuagen ttrirb, fie ganjltdj
ju trennen. Safe beibe unmittelbar unb naturgemafi au3 ben aflgenteinen
politifcfjen unb finanjicHen SSer^altniffen be3 SanbeS, au3 bent eigentt)ums
fidjen SSolfes unb ©taatsleben, ber Drganifation ber Slrmeen unb ber
(Sefcfytdjte emporfeitnen unb toon atten biefen ©inflilffen befrudjtet unb
beftimntt ju bem jetoeiligen ©tanbpunft ber ®rieg3hinft etnportoadjfen, ift
bem beutfefyen 9Solfe burd) bie ©reigniffe fo ual)e gelegt toorben, bafe idfj
biefe SBaijrfjeit ate befannt fcorauSfefce.
@in Umftanb jcbodj ift, nteiner Stnfidjt nacf), ber aflgemeinen 9tuf-
tnerffamfeit toeniger getoiirbigt toorben, bag ift ber Uebergang ber Seitung
3\6 3uftus Sdjetfccrt in Stuttgart.
bcr gelbjiige au3 bcr £anb b& oberften ^ccrfii^rer^ toon ©tufe ju ©tufe
abtodrtS bi£ jur ©elbftleitung beS gemeinen 2Ranne3. SKein 9lad)benfen
ttmrbe befonber3 burdf) ben ©eneral 31. 6. See, cinft gutter bcr com
foberirten Strmec im ©ecefftonSfriege, auf biefen ©egenftanb gclenft, ate cr
f cine f iinf jc^ntc grSfjere ©d&ladjt birigirte. ffir fagte mir ndmlidj, ate cr muftig
im ©cfylacfytgetummet bet (£l}ancet[or3tott[e ftanb unb ntit faft objectitoer Un=
jjarteilidjfeit ben gortgang ber ©d)lacf)t beobad&tete: „(£aj)tan, idj arbeitc
mit ber ganjen #ingabe meiner ffraft unb unter Stbtudgung aDer Details
unb Stadjridfjten, beren id) midf) toerfidjern fann, barauf f)in, meine Strmec
an ben ridjtigen Drt ju bringen. 3n bem SDtomente, in tuetdjem bic
©djladjt entbrennt, iiberanttoorte idj in ©otteS Sftamen bic gortfiiljrung
ber ©d&lad)t meincn ©enerdlen, bie bann beffer fef)en nnb beurttjeilen
Wnnen, toaS 9totI) tfjut, ate idj fetber." Sludj bie Seitnng ber commas
birenben ©enerdle, ber Sitoifiong- unb Srigabecommanbeure enbigt in ber
$auptfad£)e mit bem ridjtigen 2lnfefcen ber Xxuppzn jum Jiampfe unb
crftrecft fidj I)5djften3 auf baS gelcgentlid&e Sinfefcen ber Stefertoen. 3)ic
Siitjrer befinben fidj in einem dfjnlicf)en SSer^altniffc tone bic ©pietcr
bcim Sfegetoerfen. S)er Scgctf^ictcr Ijat bic ffiugel nur fo lange in bcr
©etualt, al3 cr biefetbe in ber £anb unb famt burdj ben ridjttgcn
©d)teung be$ SlrmeS unb irgcnb einc raffinirte ©eittodrtsbreljung iljr toicle
©jancen geben, einc tudfjtige SSer^cerung anjuridjtett, attcin fobalb bie
Sugel bcr #anb cntroHt tft, l)flrt ber ©influfj be3 ©pielerS auf unb
irgcnb cin jufdDigeS £inberntf$ fann aHe 93ered&nung ju nidjte madjen.
3c glattcr bie 93al)n, je runber bie Sugel ift, befto me^r toirb ba£ 3te=
fultat bem „$tuffafc" ber Sugel entforedjen; je auSgebilbeter bie Iru^pcn,
je beffer tfjr ©eift unb je einfadjer bie dufteren 93erf}dltniffe ftnb, befto
erfotgreidjer tncrben fic ben $lan beg Dberfclb^errn auSjufiiljren im ©tanbe
fein. ©o entgleitet bic 2trmee mit bcr StuSgabe ber 2)t3pofition fiir bie
2)auer bcr ©djladjt bcr giifjrung be3 Dberfelbljerm, bic SHtoifion bem
©ommanbeur :c. unb felbft ber SRegtmentScommanbeur tocrliert batb bic
eigentlidjen 8^9*1 ber ©efedjtsf Sprung au3 ber $anb; ber 83ataiflon3=
commanbeur toirb in ben grofeen rangirten ©djtad)ten bcr 3ufunft nodj
am langften bie Xxnppt leiten, toa^renb bei ben Heincren ©djladjten unb
Oefc^ten, ober in coupirtem terrain ber Kom^agnie^cf nod) einigc &\t
©intoirfung auf ben Sauf ber ©reigniff e befjcilt. SSci bem tefcten Slingen abcr
ift eS ^eute oft ber gemcine 3Rann, bcr ben Sampf faft felbftanbig au^fi^t.
Urn biefen fd^einbar bijarren 2tuSf}>ru(^ na^er ju bcleu^tcn, m5gc
cin 931icf in bic ©efdjidjte bcr ncueften ^riegc getoorfen toerben. 3«
biefer 3^it gerabe l)at bie Strategic uncr^5rte Iriump^c gefeiert; bie toon
cincm 9Rottfe fdjon 3^^^ ^or bem Slu^bru^e bcr Sriegc enttoorfenen
aHgcmeinen Setbiuggpldnc tourben faft programmma|ig auggefii^rt unb
mufjten, ob gem ober ungem, bic einmiitfjige unb gercc^te S3cJuunbcrung
bcr mititdrifdjen SBelt erregen.
2in ben <Sven$en ber Strategic unb (Eaftif.
517
2Bo btieb ba3 Stefultat be3 betounberten SBurfeS, too bic genialc
©onception be3 gefdfjidfteften ©trategen, ioenn bic ©cfyladfjt bei 3B6rtf>
toerloren ober bic bei ©pid&ern ungliicflidf} auSgefdfjlagen toare, ober aud)
nur in unentf^icbenem 9tingcn geenbigt ljatte? Unb bafc in beiben
©d&ladjten bic 9Rdgtid)fcit toenigftena eineS jioeifelljaften ©rfolgeS nidfjt
auSgefd&loffen tear, ttrirb 3eber jugeben, bcr ben Sauf ber Sampffjanb*
lungen au3 bcr 9lo^c beobadf)tet f)at. Sine foldfje Stefultatlofigfeit abcr
Ijatte ben beutfd&en Strmeen bic einfadfje (Soncentration im 3tmern Sranf*
reidjS toerfagt unb fo mit einem ©djtage ben ftrategif d&en #auM>lan
tjcrlummcrt nnb ttjenn cr bem ootlfommenften aller jc bagetoefenen ntilttari-
fc^en (Sebanlen entfprungen toare. 9teue Sntttmrfe, auf ncuen SSorbcbin^
gungen fuftenb, fatten auSgeorbeitet toerben miiffen. 9ln ber erften ©aide,
toeldje jene ©djladfjten er5ffnete, lag unb liegt audfj in alien $reffen ber
Sufunft bie ©renjbarricre, toeld&e bag 9luf^5rcn bcr birccten SBirfung
bcr ©trategie beseidjnet, unb bie laftif, unb bie mit il)r in engftcm 3«5
fammenljange ftefjenbe StuSbilbung bcr Seutc jum ®efedf>te, trat unb tritt
nun in bie ©telle berfelben ein. 3n ri^tigcr SBurbigung biefer £f)at-
fad&e toirb in aDen europaifefyen 3trmeen ber Sruppenbreffur eine toaljr^aft
ttjettcifernbe Stufmerffamfeit getoibmet; mit toafjrem gcuereifcr ttrirb ge^
brittt, cjercirt, geturnt, gefd&offcn, inftruirt, Selbbienft geiibt unb in fleineren
unb grofceren Serbanben manBtorirt, unb jtt)ar bis jur dufcerften Stnfpan*
nung bcr ftrdfte, unter bem ©runbfafce, bafj ein SSogen burdf) flfteren
(Sebraud) an Slafticitdt gettrinnt unb baft bie Untfjattgfeit be3 ©djtoerteS
ben ©tatyl jum SRoften brtngt. S)ic Saftif, alS foldlje, feiert gr5fjere
Irium^e in ben rangirten ®dE)lad)ten; jebod) in ben ljalb tmprotrifirten
ffdmpfen, ttrie ben oben ertodljnten, bei 2B8rtt), too iiberbie3 ba3 fteile,
oft terraffirte terrain, bic^t beftanbene SBeinberge, 5)ratljjdune unb un-
betretbarc Stbfdfce bic taftifefyen S3erbdnbe loderten, .unb bei ©pidfjern,
too bcr ©cfytadjtenbonner bic Iruppen meljrerer SlrmeecorpS faft compagnic-
toeife jufammenrief, oerbieten oft bie eigentljumlidjen ©efefce ber Stotfc
menbigfeit ben rationeHen ©ebraudf} taftifdfjer SDtaffen, unb legen ba§
Snbrefultat ber ©dfjladfjt ben einjelnen gd^rern minoris gradus in bie
$anb. ©erabe biefe ©iegc aber maren unb finb aud^ ferncr bie un?
erlafelid^en Duoertiiren ju ben gro^en, Slrmcen jcrfd^mettcrnben Sieged
bramen.
Sine nd^cre Sctra^tung ber Xaltif ber beiben be^ro^enen ©df)lacf)=
ten jeigt Icinerlei befonberS getoanbte SKan5oer; and) feincrlei ®reiglie^
berung in einleitung«^ gntfd^eibung«5 unb 2lu3nufcung3treffen :c, mel^e
bic rationctten ©runbfafce ber ^eutigen Sampftocife faft ju gebieten fd^einen,
fonbern bic einfadfjften tattifc^en 93organge. 3^ felbft ber fefyterloS an^
gefefete SSormarfd^ be$ ©arbecorp^ gegen ©t. $rioat ^at ju bem glan^en^
ben SRefuttate wol nid^t au3 bem ®runbe gefil^rt, loeil bie iibcrlegen
taftifdfje Slnorbnung ber Ireffen ober bie genialc aSerfd^mi^eit ber 9Ser-
3\8 3»jlus Sd>etbert in Stuttgart.
toenbung ber ftampfeinfjeiten bet fetnbtidfjen #anb , bag ©dfjioert enttoanb ;
aUc bte tapferen Xfjetfneljmer jeneg blutigen Stuftritteg merben mit etnem
entfdfjiebenen Stein! anttoorten; bic ©rfinbe, btc ben ©teg fjerbeifiifjrten,
lagen a(g tieferer Sent in ber taftifdfjen ©djale beg Unmarfdfjeg.
Um biefem Serne ndljer ju fommen, bitte idfj ben Sefer, mir in etnc
gelbfdfjtadjt ju fotgen, meldje aug ftrategtfdf) ridjtigem SInfafce fid) ent~
midelt fjat unb in foetdfjer aud) feine groben taftifdfjen getter begangen
fein fottctt ; bie feinere Xaftif ndmlid), twelve in fleineren gelbbienft-
iibungen fogar einer „fauren" ftritif Sob entlocft ober bet ben fogenannten
„£iirfen" (ben HRobettoorftellungen auf ben Sjercierpldfeen) bag Sntjucfen
taftifdfjer ©ourmanbg tyertoorruft, toirb and) in 3ufunft im geuer, nnb mit
Sledjt, einer einfad&en fjaugbadenen £anbljabung ber Zxuppt Spiafc
madjen, nnb bie gemifcten ginten ber ©d)etnf)iebe nnb $araben pftegen
ftdj in bag ftobige 5)rauflogt}auen toon ©nafgfinbern ju toermanbetn. 2>ie
©dfjladjt befteljt nidfjt, tote oiete Saien ftdf) bieg toorfteflen, ang einetn fort^
banemben gefefytoffenen 5)af)tnfturmen fiegegmutljiger Sfagreifer ober bent
glietyen gefd&Iagener Ungtudtid&er. 3)ie SBeridjterftatter miiffen bieg
in if)ren Srjdljlungen, bie ©dftfadfjtenmaler in tfjren ©emdlben fo bar;
fteflen, um ben Sefer in Stnfregung nnb ©pannung ju erfjaften; ja fetbft
ber Stebacteur ber officiellen Seriate fann fidj nnr auf b*c Storftelhmg
berjenigen SRomente bef(§rdnfen, tueld^e bie $anblung forberten ober auf
bie Spifoben, in meldjen taftifdf) nridfjtige ober lefjrreidje 3Ran5toer t)or=
famen. 9tHe jenen ftiDer fidj abfpielenben ©reigniffe, metdje oft toon eim
fcfyneibenber SBidjtigfeit in tljrer ©umme finb, fann ber SReferent nidjt
barlegen, oljne entfefelidf) breit ju merben, unb auf alle jene fleinen ©cenen
nid)t eingeljen, loo eben bie gu^rung iljr ©nbe erreidjjt. 2Bag alfo feine
officidfc ober nid)t offtci5fe 2)arlegung ben Saien bietet, jene laufenbe
toon SSorgdngen in ber ©dE)lad&t, bie nur toon ben Kameraben jugegeben
merben, mrfdje bie £>anb auf bag £erj legen; bie ungejdfjlten Slbfdjmtte,
in benen bie Seitung ben SSorgefefeten aug ber $anb fd)neHt, mogen in
fludf)tigen ©fijjen f)ier angebeutet toerben.
©df)on ber S3eginn eineg ©(^la^ttageg ift meift ein fe^r ^rofaif^er.
9la6) einer ungemut^tic^, in naff em ober faltem Sit)ouaf Derbradjten
Stad^t, in welder bie Seute oft mit Dor groft fdjtottemben ^nieen unb
umge^dngten SDldnteln an bem Sagerfeuer oergebti^ toarm in merben
fud^ten unb einem einfadfjften Dejeuner a la main, bei ioeldjem t)iet-
leid^t ber ©djlud eau naturelle bag einjig ioatyrfjaft Oeniefebare mar,
ge^t ber ©olbat in bie ©d^Iad^t. 3« berfelben befommt er ^duftg feinen
©egner nid^t einmat ju fe^en; f einer barren Dielme^r Idngere ?lufent^alte
im Stnmarfd^e, unangene^meg ©tittfte^en im ©Ijrapnetbereidje, oft fc^ein=
bar erfolgtofeg Sagern im ©d^mu^e unb im ©emefjrfeuer. Sag ®efu^I,
ben unerbitttidf)en unb unberedjenbaren feinblic^en ©efd^offen auggefefet ju
fein, Dermifdt)t mit bem unbetyagftdfjen 3)rude ber Untoiffen^eit, toag redfjtg
2ln ben <Sven$en fcer Strategic unb (Eaftif. 5$
unb linfg toon itynen toorgeljt, ttifjt oft bei ben beften Iruppen einc fonft
unertlarlidfje 9tiebergefd)Iagenf)eU einreifcen, bic burdf} ttuffenttid&eg SSer=
brciten toon 9ladf>ridf)ten iibelgefinnter geigltnge gendljrt ioirb; ba fieljt
man mandfjmal cin (Srlatjmen bcr Dffenfitofraft nnb ber ©pannung, fetbft
tt)cnn cin ©efedfjt irq erfolgreidfjen SSorfd^reitcn begriffen ift. %n fol^en
SDlomenten f)at bic Xaftif faft auggeftriett unb eg Ijanbelt fi(fy lebigltd)
um „?lugl)arren" unb ,,$flidfjterfiillung".
9lodj bringenber ift ber Stppetf an bie Sftoral bcr 2ru^cn, ioenn
cin unglutftidjer Stuggang ber ©dE)Iad£)t eine Strntcc, toctdje it)rc tootle
©dfjulbigfeit getljan ljat, nadf} rttcftodrtg br&ngt. Sluggebrannt big auf ben
tefcten #audf> feetifdfjer (Stafttcitat unb fiJrperticfjer 9Rugfetfraft tdfct bic
big auf bag ^)5df)fte 9Raf$ gefpannte SBiberftanbgfraft ptflfctidf) nadf) unb
furdfjtbar reagirenb todtjt ftdf) eine unauftjattfame, tjaltlofe SRaffe nadf)
rucftodrtg. 5)ag ift fjeut ju £age lein geglieberteg Buriicfgeljen meljr, toon
sgofition ju $ofition, tt>ie eg unferc Stlttoorbern leljrten unb augfttipten,
fonbem ungeftum nrie cin juriiefftauenbeg ©ebirgghmffer ergiefct fi(§ ber
itbergrofee unb burdj bie Ijeutige energise Sampftoeifc erfdjiitterte SWenfd&en-
ftront iiber bag ©eldnbe. 2Be^e bem Sanbe, toetdfjeg biefent ©trome leine
anberen S)dmme cntgegen ju toerfen f)at, alg bie Strategic, bic Xaftif
unb bie Stugbtlbung ber Xxuppt) toeggefyiitt ttmrben fie toerben, line
©anbljaufen toon SBaffermaffen.
25odf) ift eg nidjt ttbt^ig, bei bicfem ejttenten Seifpiele, toeldjeg fid)
allerbingg in alien cntfdjiebenen ©dfjladjten auf einer ©cite toieberljolt,
fteljen ju bteiben, fonbem eg biirften nodf) einige Spifoben betradfjtet toerben,
toridje fidf) in alien ©efed^ten afytlidf) abjufpieten pflegen: bie Srigaben
riiden toor, bie SRegimenter fommen nadf) unb nadf) in giifyfung mit bem
geinbe, bic Sataillone, burdf) 5rtlidf)e £>inbemiffe gejttmngen, toon ben
ncuerbingg belicbten Sinienattafen mit toorgef^obenen ©dfjiifcenfcfjleiero
abjutaffen, I5fen fidj in Kompagntecolonnen auf, bic anjugreifenbe $ofttion
loirb genommen, inbem bic Ijintercn Sreffen toereint mit bcr ©dfjiifcenlinie
in bem 3iefyunfte bcr Stttafe cintreffen. Sine allgcmeinc 93ermtfdfjung
ber Xruppencabreg unb cine momentane Stuffofung bcr mciften SJerbdnbe
ift bie golge. SDtan ift ttueberum bid^t an ber ©renje bcr Saftif anges
langt. SRunme^r ift eg namli^ nicf)t me^r rat^Iidf), mit ben burclj ben
lefetcn Sampf faft aufgebraud^tcn Iru^cnI5r}?ern nod^ toeitere auggebe^nte
Stngriffgmaniputationen toorjune^men, toielmc^r mu§ nun mit ber 2^at-
fa^e ciner fitter ju leitenben ©olbatenmaffe gered^net toerben. S)ennoc^
brennt bcr Sam^f toeiter; bie Dffijierc, weld^c in bem oft bunt geiourfeltcn
$aufcn toon Sampfenben nur ^icr unb ba iljren betcbenben unb orbnen=
ben Sinfluft augiiben fonnen, ^aben in biefcm ©tabium beg Sampfeg feljr
oft nur nod^ einc fecunbdre 9toHe in ber gortleitung beg ©efedfjteg 5U
f^ielcn, ber SRann ift im ©ro^en unb ©anjen fi4) fctbft iiberlaffen, feiu
$flidf}tgefut)l ift eg, toag if)xi controtirt, auf feiner pcrf5ntict)en Sa^ferfeit
320 3uftus 5d?etbert in Stuttgart.
aflein funbamentiren oft bie taftifdfjen aWafcna^men, bic nun ettoa nodf)
getroffen toerben, unb bcr Sampf ttrirb auf bicfcm Xljeile bcr ©cljlacfjti
tinic cittern grofcen SJlofailbilbe gletd&en, toelcf)e3 au3 gr5fceren unb fleinereu
Seiftungen jufammengefefct ift, toetdje mit loufenben muftiplicirt fdtftefc
lidf) ba3 (Enbfacit bcr ©ntfd&eibung ergeben.
SRodj wetter m5ge nttr bcr Sefer in baS 3)etailgetriebe be3 SampfeS
folgen. 3Me HRannfd&aft, oft au£ tiiclcn SRegimentem bunt gemtfdjt, liegt,
jum grofcen Xfjeile fidf) felbft tiberlaffen, in ber genommcnen ^option,
cin leister ©raben obcr eine lerrainfattc gibt iljr 2)edung; ber getnb
beabfidfjtigt eincn ©egenftofj, toel^en er mit einem SSerberben bringenben
£agel toon ©eloef)rs unb ©Ijrapnrfgefdjoffen einleitet. 3)a£ ©efumfe ber
Shtgetn, bie aHe auf ben Siegenben jujufommen fdfjeinen, fo f)eU Ijdrt
man bie ©tiide SBIei f auf en, pfeifen unb purren, fliiftcrt bem ©olbatett
ju: ^ab1 9td&t!" Unb biefe ununterbrodjene SBaroung fjat eine nert>en=
ergreifenbe SBirfung auf ben jungen ©olbaten; benn jeber SRenfdj tft
meljr ober minber ein fteigling, tjorneljmlidf} bem ungefefjenen geinbe —
bem @ef(§offe — gegeniiber, toeldjeS ifjm gettnffermafjen in ber Xarnfappe,
unangreifbar unb fdjeinbar unabtnefjrbar, gegentibertritt.
35em natiirlidjen SRenfcfyen naljt bie berlodenbe SJerfudjmtg, ft(§
burcf) eine fleine Sopf- ober Sorperbeugung bem unljetmli(f)en &agel gait^
lid) ju entjiefjen, inbem er fid) einfad) Winter ber 3)edung toerbirgt, ober
fic§ fjerunterbudt, urn toenigftenS nidfjt gefeljen ju toerben. 8ud^ bie befte
taftifdje Studbilbutig toirb ben unbeobadfjteten SKann nidjt baju bemegen,
freien StugeS bem feinblic^en ©efdjof^aget entgegenjubliden. @3 ift bie
©elbftiibertoinbung, toeldfje ben ©d&iifcen ljter toerantafct, feine ^fttdjt
ju tljun, bie ifjn britngt, au£ ber Dedung tjer&orjufpaljen, urn ju entbeden,
toaS ber geinb beabficfjtigt unb bie iljn fdjKefctid) baju bringt, ben ettoaigen
■Kaftregeln be3 getnbeS burdf) ©d&ufc ober ©tofj entgegenjutoirfen.
SBemt aHe Seute in ber Dedung tiegen blieben, tottrbe e3 nattirlidj
bem geinbe teid&t unb gefafjrfoS gemad^t toerben, bie fo toertljeibigte ©tcl=
tung einjune^men. 93on bem Stuffjeben ber Kityfe fjangt alfo einerfeitS
ba3 Seben unb bie momentane ©id>erf)eit be£ einjelnen SftanneS, anber^
fdt3, im umgefe^rten SJer^altniffe, ba§ ©dfjidfal ber ganjen Zxnppt, ja
toom5gtici) baS eine^ gro^en XtyiU ber 6df)tadf)tftetlung ab. 6^ ift alfo
bie ®elbftiibertt)inbung, wit man ben 9Rutlj in ben ^eutigen ©cfytadjten
tool beffer iiberfefeen mti^te, toeld)e bie ©d^Iad^ten entfd^eibet unb neben
ber ©trategie unb ber laftif eine Sebeutung ^at, beren SBertf} ni^t ^od^
genug angefd^tagen toerben fann. ©ie ppgt ben Slder, auf bem bie
^rieg§!unft erft itjre ©aaten befteDen fann, oljne fie ift attc ?lnftrengung
ber laftifer bergebli^e ©if^^u^arbeit unb ein entfdf)eibenber ©ieg un-
benlbar. 2Bie bie auSerlefenftc ©ef(^idlid)feit ber ©dfjleifer unb bie beft=
arbeitenben SWafdfjinen ni^t« augrid^ten, toenn ber bo^renbe Diamant
nid^t garter ift atS ba^ 511 be^anbelnbe ©belgeftein, fo fann aud) fcine
2In ben <S r e it 3 e ti ber Strategic unb (Eaftif. 32J
lafttf ben ©ieg erringen, toemt bic eigenen Slemente nic^t ben feinte
lichen iiberlegen finb. 2Bo matte £erjen bie ©df)toerter fiifjren, ba toirb
bie fdfjneibigfte Slinge jur ftumpfen SSaffe, unb bie fBftlidfjften $erlen ber
©trategie toiirben im fiotlje toerberben, ioenn nidjt flantmenbe ^erjen ba
finb, urn fie itrt red)te Sidjt ju fefcen.
2)iefe ©elbftbetyerrfdjung, toeld&e bie #erjen ber SRenf^en ftaljlt, Ijat
ebenfo manntdjfadje HRotitoe, fo toiel ©tufen in ber grofcen Setter ber
Smpfutbungen, ate eg SRenfdjendjaraftere unb ©rjiefjunggarten gibt.
ginjelne blicfen fo toett, bafe fie bag (Snbjiel ber ©djtadfjt, ja bag ©e-
fdjttf be^ ganjen S3aterlanbeg abljdngtg feljen toon jebem einjelnen Slcte,
ber fid) auf bem ©efedjtgtfjeater abfpiett. ©ieg finben loir befonberg bei
ben gufjrern, ben gebilbeteren (Stementen ber Strmee, unb id) fanb eg in
auggepragtefter 9trt in ber Slrmee ber SRebeHenftaaten, wo fidf} biefe Sr-
fenntnifc, ein notf)toenbigeg ©lieb in ber ©efammtfraft beg SBiberftanbeg
ju fein, oft in originellfter SBeife p erfennen gab. ©0 riefen nad) einem
toerungliidten ©turm auf bie SBefeftigungen bei ©{janceHorgtoitle, bei bem
in einem toerf>eerenben Sugelregen augjuftiijrenben 3imidgel)en, bie Seutc
ftd^ „steady, steady!" ju, urn fid) gegenfeitig toom Baufen abjufjalten,
loeil bei ben taftifd) ungetoanbten Xxupptn ftetg tyeittofe Serttrirrung eim
jureifcen pffegte, fobatb ber Sliidjug in ein Slieijen augartete. Sin anber^
mat riefen bie Seute aug bem ©licbe ijeraug: „bie Dffijiere Ijaben i^re
$flidjt ju t!jun, bag 9lugtreten mufe toerljinbert toerben!" alg bei einem in
fiird)terli<f)er £ifce untemommenen aRarfdfje, nadfj ioeldjem man eine ©djtadfjt
ertoartete, bie Seute aug ben ©Kebern feittoiirtg in bie ©raben fieten. —
89ci Slnberen ift eg bag g^rgefiifyf, toeldfjeg, befonberg im Dffisierftanbe,
bag ^auptmotito jur 9lufred)terl}altung ber $flidjttreue ift; nidjt bag reij-
bare ©efuftf, toeldjeg nadf} aufcen ljin ben SKann intaft erljatt, fonbern
nod) meljr bag innere, toeldjeg ben eigenen Stntoanblungen toon ®djtt>fi(f)e
errottjenb entgegentritt. Sefctereg foil — ben militarifdjen S^tentionen
gemafe — etgentlid) audj bem gemeinen SKanne eingeimpft toerben; aber
tote foil bei ber furjen 2)ienftjeit unb ber, faft bie ganje ffraft beg
Dffijierg in Stnfprudf) neljmenben tyarten Slrbeit 3*manb audfj nodE) bag
„®I)rorgan" beg SKanneg fotoett augbitben, bafj ber rid)tig befjanbette
©olbat im ©etiimmel ber ©dfjladfjt unb in prefaren ©ituationen, benn
fotdje finb eg ^au^tfad^Iid^, toeldfje ben $riifftein an ben moralifdjen ©olb^
get^att tegen, bei ber augenfdjeinlidEtftett lobeggefa^r rut)ig unb gelaffen
bleibt. 2)teg fbnnte nur burdE) eine Iangja^rige forgfame ©rjie^ung ge-
f^e^en, ettoa tt)ie foldjc in ben ®abettenf)aufem organifirt ift, in benen
toon ben Sinbegbeinen an bie Silbung auf ben Sijrenpunft jugefpi^t ift.
®g ift iiberljaupt unmogtid^, trofe alter Stnftrengungen ber Slrmee, bem
©olbaten neue moralifd&e Sigenfd^aften aniuerjie^en. 3Ran fann nur
bag ju erljalten fudf)en unb auf bem gonb meiter bauen, loel^en bie
militarifd^e Srjie^ung toorftnbet. SBeber bie Silbung, nodf) bag ®t)rfleful)l,
522 3uftus Sd?eibert in Stuttgart.
nod) bie 5Pftidf)ttreue, meld)e mand&e Scute au£ guten bauerlidfjen unb
biirgcrlic^cn ftamilien ate fefteS Srbttjett mit in bic Slrmee bringen, f omten
benfelben in menigen gatjren eingeimpft toerben; ba£ SSoIf unb bie ©d&ute
finb bcr Strmce fiir ba3 93orf>anbenfein biefer gunbamcnte Deranttoortlidj.
3)a3 #auptmotto aber, meldjeS ben SKonn am ©idjerften jum 9tu3l)aften
in gefaljrlidfjen ©efed)t3tagen bringt unb ifjn jur aufjerften ©rfuflung fei=
ncr $riegerpftidf)ten treibt, ift bic religi5fe Ueberjeugung toon eincm 3Da;
fein nad) bem lobe, in toeldjem bic audi ungefetyene £reue ifjren Soljn
empfdngt. 3* ^cr bicfe Setofjnung fteljt, befto tapferer ttrirb fic ben
Sampfer madjen; jc roljer biefe Stnfdfjauungen finb unb je birccter fie
fidj auf ben Sampf mit SBaffen bejieljen, befto fanatifdjer unb muftet
mirb fidj bic 83raoour bcr Seute entflammen, jc burdjgeiftigter fie ift, auf
je ibealercm Soben fie fidf) betoegt, befto meljr ttrirb fie ba3 gonje friege*
rifdf);menfd)Iidje SSerljalten be$ ©treiter£ burd^glii^en. 5)e3f)alb feljen toir
in ben SReligionSfriegen, aud& in benen inbirecter 9tatur, Ijier bie furdjts
barfte SButt), bort bic erljabenfte $ingebung fiir bie ©adEje fidj entttrideln.
©in l)fldf)ft • intereffanteS Setftnel bietet un£ ber lefcte orientalise
Srieg, auf ioeldfjen \6) au£ pfodfjologifdjen ©riinben na^cr eingc^en m5djte.
9luf ber einen ©eitc ftanben bie Stuffen, tt>etd)e, nadj StuSfage atter Un=
befangenen, feit ©djebo s gerroti un3 in feiner geiftreidfjen Srittf bie
inneren ©dfjaben be3 Sjarenreidfja erbarmungStoS aufbedte, mamud&fad&e
Sortfd&ritte gemadfjt Ijaben, bic in ber SluSbilbung ber Dffijiere unb
SRamtfdfjaften fottrie ber attgemeinen Sitbung unb ber lafti! tiidjtig toor^
marts gegangen unb ben orientalifcfyen SBoIteftdmmen in alien biefen
SHngen bebeutenb iibertegen finb. 2)iefe Ueberlegenljett ift eine fo grofce,
bafi man in militdrtfd)en ffireifen faum mit grower ©pannung bem in
ber Siirfei entbrennenben ®riege entgegenfa^, in bem tooKen ®(auben,
baft beffen balbigeS ©nbe dor ober in Sonftantinopel ficfyer ju ertoarten
ftanbe. S)enn bie tiirftfdje 9lrmee jeigte, nadj ben intereffanten 93e=
rid&ten competenter 3ad)mdnner, cine fo gdnjtid)e SBertoatjrlofung fomol
in £infidE)t auf ben SitbungSftanb ber Dffijierc ate audfj auf bie taftifdfje
SluSbitbung ber ©olbaten, bafj man ein taftifd)e3 Dperiren im ©inne
ber europdifdjen Strmeen toot nid^t ertoartcn fonnte. 25ie$ ^at fic^
aufy burd^ bie £fjat beloicfcn unb fetbft bie Strategic mar cine fo tter-
fe^fte, ba§ fie nid)t einmat bie grofien Seller ber ruffifdjen $eere^=
leitung aug^unii^en t>ermo^tc; menn itber^aupt oon eincr ©trategie in
einer ganj unge^obetten Slrmee bie SRebe fcin !ann, meld^c megen ber
faft ganjti^ mangelnben 2tu3bitbung ber Sruppen manbtortrunfa^ig ge-
nannt merben mufe. 2)ie tiirKfd^en Suljrer, ftatt mit compacten SKaffen
Ijier unb bort iiberrafd^enb aufjutreten, maren ba^er im ©rofeen unb
®anjen geimungen, bie Iruppen fid) bort fdfjlagen ju laffen, mo man
fic mii^fam ^ingcfd)teppt ^atte. Unb bennodt), mie ftauncngmert^ marcn
bie SRefuttate bcim Seginue be^ 3fetbjuge3! ®ic toon mittelmafeigen
2In ben <5ten$en ber Strategic nnb (CafttF.
323
IgafdjaS gefitljrten unb t>ott ben unfd^igftcn Dffijieren geteiteten taftifd)
roljen 2Jlo3lem3 Ijieften bie grofte ntffifcfye Slrmee burdj empfinblidfje
©d&ldge meljrere SKonatc Ijinburdf) in ©dfjadf), bi£ erft bcbcutcnbc 9Scr=
ftdrfungen bic SBaage nrieber auf bic ©cite bcr tefcteren neigten. Unb
bie Urfadfje bicfer merftoiirbigen SBiberftanbSfraft — getoifc nid&t bie
Xattil — war bic toon alien S3erid)terftattem geriifjmte unb felbft Don
ben SRuffen audj ljeute nodj anerfannte tobeSfreubige lapferfeit ber lilrlen.
3f>nen fpiegrft ber Soran unb bie Sefjren be£ ^roptjeten ein $arabie3
Dor, in toetdEjem ben tapfer ©efaflenen atte matcrietten ©eniiffe, bie einen
Siirfen jur ^Sd^ften SBegeifterung anreijen fonnen, in ungcjdfytter SDlenge
bargereidjt toerben, ©eniiffe, ju benen eine enrige SugenMraft ben ftern
unb gt&njenbe ^aldfte bie anmutljige ©d&ate geben. ©ottte ein armer,
fufefranfer, ljatbberfjungerter, in ben naff en ©rdben frierenber SDtufel;
mann fidj nidljt feljnlidjft cine tobtftdje Suget i)erbeitounfd)en, bie if)n
t>on bem clenbeften S)afein crtdft unb if)n auf fanften Sittidjen in einem
Sfogenbtfde ljinuberfutyrt in ben SJSalaft ber aauberfpenbenben $mri3?
3ft e3 ba no$ unerfldrlicf}, bafc ber Siirfe tnit fataliftifdjer Sftulje bem
Sobe entgegenfieljt, ber iljm nur greuben ttrinft, bie ifjm Ijier toerfagt
ober nur in fdrgtidEjftem ©rabe jugetljeilt toaren?
Soldier jur Sftaferei ju fteigernben lapfcrfeit gegeniiber ift bie
tEaltit attetn nur ein ftumpfer ©piefc unb nur ba3 ©djmieben einer
iiljnlidj tyarten, audj in retigiofer ©laubenSgtutl) feft geftdljften SBaffe ift
tm ©tanbe, burd) bag geuer eine£ foldjen (SiferS erfotgreid? ljinburd^
juftofcen.
9lud) bie fatfjotifdje ®ird)e in if)ren greifbareren Stnfc^auungen be3
3enfeit§ ift baju befafjigt, einen riidfidjtStofen SampfeSeifer ju ertoeden;
fo falj id) bei 2)iippet einen tat^ottfd^en Starrer, ber unter £od)l)attung
be3 ©rucifijeS jebem ©olbaten Stbla^ unb ©etigfeit berfpradE), ber in
bem ©turme fatten ttriirbe; natiirlidf) toaren bie Slefuttate biefer Slnfpradje
gldnjenbe.
SBenn bie3 aud) extreme ffleifpiele finb, fo ift bodj bie ©ad)e
ju flar, afe bafe fie toeitldufiger SBetoeife bebiirfte, bafc ein retigibfer
3Renfdj, ber an bie 2Beiterfiif)rung eine3 betoufjtfeinbotten 3)afein3 nadj
bem lobe glaubt, fei in toel^cr ©eftalt e^ fci, immer tapferer fein
tuirb, ate ber materiette ©enufjmenfdj, ber mit bem Slbf^lufe be3 Scben^
jugteic^ ba^ SSerfie^en ber einjigen Quette ber greuben unb ber ©eniiffe
bor \\6) fieljt, unb ber fo lange er gefunb ift, Slides me^r fiirdfjtet aU
ben lob, ber i^n mit ro^er $anb in bag mefentofe Sli^t^ ^ineinfd^Ieubert.
3)iefelbe 2Baf)rf)eit fd^reibt ja aud) bie @efd)id)te mit e^ernen Settern
auf if)re lafetn, bag bic Srieg^aten eineS SBotfe^ gleid^en ©d^ritt fatten
mit bem fittlid£)en unb religiofen 2Bertl)e be^felben. S)ie gr5§ten I^aten
finb nidjt bie burd^ iiberlegene SDtaffen unb SBaffcn erjwungenen Unters
toerfungen untergeorbneter, ^alb barbarifd)er SS5t!er, fonbern e^ finb bie
Worb unb ©ub. VII, 21. 22
52^
3uftus Sdfcxbevt in Stuttgart.
toon enter SKinbcrja^t unter ungimftigen Scbingungen erfod)tenen ©iege.
#$>ier ftefjen an ber ©jnfce bic SBaffenttjaten bcr (Sbraer, toetdEje unter
ben SRidjtern unb $onigen unb tyater unter ben 2Raffabaern ©d)lage
au3fiit)rten, bic nod) bic SRad^tnelt ntit Settmnberung crfuDcn, ©djldge,
toeldje nur jum ©iege fiiljrten, fo langc bag religibfe SBetoufctfein jur
Gotten Sntfaltung gelangte, ttieldfje aber fofort in fdf)mal)lidf)e Stiebcrlagen
fid) oertoanbelten, fobalb bic 3fraeliten ben f)eibnifd)en ©ottern anljingen
unb fjeibnifefjen Saftern frbljnten. (Sbenfo fjaben bic crftcn ©enerationen
ber ©riedfjen unb 9tomer bie jebem ffnaben eingepragten, getoaltigen
®ampfe geftifjrt, ati fie nod) an bic fjefjren Dumpier glaubten; beibe
SSblfcr finb aber jerfatten unb su ©runbe gegangen, ate fie ber ©fatten
im Drfug &u gotten beganncn. ®ie grofcen 3«flc rine* 9tlejanbcr, eine&
©afar unb beffen ©pigonen toaren bie 3frudl)te iibertegener 9Raffen, 93U-
bung unb ©etoaffnung, bic SRapoteong bie golgen eineg frtfdjen politifdjen
©eifteS, bcr burd) bag SSolt cing; fobalb biefeg gieber aber im Sullen
urn 9tuf)m unb @£jre oerraud)t war, lag aud) bic SBaffe &erbrodf)en ant
93oben unb boppelt ttmrbe bag iiber ©ebiiljr brio^ntc ©djtoert gebemut^igt.
SBitt ein Solf, roeld)cg bie attgemeine 2Bef)rpftid)t eingefiifjrt Ijat,
feincn ©tanb in ber Staatcnfamitie aufredjt erljalten, b. 1). will eg eine
frtiftige, alien Stufgaben getoadjfene Strmec befifecn, fo mufc eg mit ber
ganjen ffraft Dor 2111cm baljin &u tradjten fucfjen, baft fcine ©lieber an
innercm SBertlje, an ©elbftbeljerrfdfjung, lapferfeit unb ©eelenftarfe, b. f).
alfo an ben ibealcn ©iitern ben 9lad)barn iiberlegen finb unb blciben;
benn nur mit tiidjtigen unb fd£)neibigen ©lementen fonnen bie beiben
©cfjtoefterfiinfte, bic Strategic unb bic Saftif, entfdjeibenbe ©iegc er-
fedjten. 3)a bic ibcaten ©titer etneg SSolfeg fid) aber nur in beffen 8te*
ligion oerbidjtet finben, bie fur bic ©taubigen aufcerbent iiber bic tefcte
Seiftung beg Sriegerg, ben 2ob fiir'g SSaterlanb ljinaug fdjidfalgtenfenb
unb fcgcnfpenbenb toirft, fo m5ge jebeg SSolf, toeldieg nadj Ijofjen 3iclen
ftrebt, fcine 9teligionen tjegen unb pflegcn; reifcen biefclben bod) iiberbieS
ben 3Wann aug ber ernicbrigenben unb crfdjlaffcnben §ingabe an ©inn;
tid)feit unb ©enufc ljeraug unb fiifjren if)n in bic §o^e fjiniiber, bic ba
leljrt, freubig ba§ Scben cinjufefecn fur ba§ SSaterlanb, unb ben 2ob
Siid^t^ ju a^ten, too e3 ^eifet, eine t^eure unb grofee ^flid^t 511 erfiiaen:
3)enn fe&et i^r nic^t ba§ fieben ein,
3Hc wirb eu(^ bag Seben gemonnen fcin.
Die 5ar&en&(inM}eit
Don
Ifjugci jlSagnus;
— Breslau. —
$t)ijfiotogie, bic Sefjre toon ben normalen gunctionen beg
tenfdjtidjen unb t^ierifc^ett Drgani£mu£, gilt mit 3ted)t fur
ineS bcr intereffantcften Eapitel bcr gefammten 9laturttriffen*
.J^aftctt. giiljrt un£ ja bod) bicfc 2)i3ctyltn in unmtttelbarfter
SBeife in bic geljeimen SBcrfftdtten bcr Statur unb jeigt un£ l)ier, tt)ic
bic grofce 9Reifterin in emfiger, nic raftenber 2lrbeit fdjafft unb ttrirft an
bem bunten ©ctriebc beg SebenS. SDttt ftcmnenbcm Slid fdjauen ttrir,
wic gaben auf SJaben einfd)Idgt in bem getoalttgen SBert unb ttrie fid)
®tieb an ©lieb rcifjt in bcr melglieberigen, unenblidjen ffctte ifjreS reid^
geftattigen 2Birfen3. 3a felbft auf bic bunHen, wcit abfdjtoeifenben Si*5
toege, auf toetdje audj cine SKciftcrin tone bic SRatur nidjt attju fclten
gerdtl), toermogen n>ir iljr ju folgen, unb bie SBeobadjtungen, toeld)e toix
gcrabc Ijierbei madjen I5nncn, gefjorcn ganj getuifc ju ben uberrafdjenbften
unb intcreffanteftcn. ©ic fiiljren un£ auf ein ©ebtct, ba3 eigenttid) mitten
inne tiegt jttrifdjen $f)tjfiologie unb ^atljotogic, auf ein ©renjgebiet,
innertjalb beffen bie pl)t)fioIogifd)e SBert^igfeit ber einjelnen Drgane jttmr
bereitS ben %t)pu$ be3 SRormalen fcertoren I)at, ofjne abcr fdjon ben
Sfjaralter be3 Sranftyaften, SJJatfjologifd&en bafiir angenommcn ju Ijaben.
Unb gcrabe biefc eigentf}utnlid&e jnritterljafte ©teflung madjt un§ bie&
(Sebiet ganj befonber3 intereffant unb btetet bem ftox^tx ein reitfjeS,
bigger eigentlid) nod!) jiemlid) toentg cutttoirteS getb feiner Ifjdtigfeit bar.
SineS ber beftgefannten unb am fleifcigften burd)forfd)ten ©apitel biefeS
fo ttrid)tigen ©ebieteS bcr pf)t)fiotogifd)en 2lnomaIien ift unftrettig bie
garbenbtinb^eit.
S)ie Sorbcnbltnb^eit, b. f). bie angeborene, burd) feinerlei Iranlf)afte
SSerdnberungen be£ 2tuge£ ober be3 ©et)irne3 bebingtc Unempfinbtidtfeit
326
^ugo ITCagnus in Breslau.
gegen cine obcr tool aud) gegen atte garben ift ber toiffenfdjaftlidfjen
SBcIt crft im lefcten Srtttel be3 fcortgen 3aljrl)unbert3 genaucr befamtt
getoorben. 3)ie crftc bicSbejugtidje 2Rittf)eilung betraf cin farbenblinbeS
Sritberpaar, ba3 ju SDtartjport in Sumbertanb entbetft unb beobadtjtet
toorben roar. 9tn biefe jiemtidf) fragmentarifd) geljaltene SRotii fc&Iofj fid)
atebann cine auSfitfjrfidje SDtitt^cilung an, tocWje ber berutjmte englif<$e
3taturforfd)er 2)afton gab, unb jtoar toar biefelbc um fo toertfjtooller, ate
Station fctbft rot^blinb toar unb fomit bicfc eigentfjumfidjie pljtjfiotogifdje
Sibnormitat au3 cigenfter ©rfaljrung unb unmittelbarfter 2BaI)rneljmung
befdjreiben fonnte. ©cine ©dfjilberung ber abfonberttdfjen ©mpfinbungen,
toetdE)e bie toerfdjiebenen garben bci iljm erregten, ricf bic atlgemeinfte
unb lebljaftefte SSertounberung ljeroor; Hang e£ ja bod) faft toie cin
SDl&rd&en, toenn ber beriif)mte ©ele^rte toerfidjerte: bie garbe ber 9tofe
uub bic bc^ £immete feien fur fcin 2tugc bureaus bic gleid)en; obcr
bag gtanjenbe 9iotf) be£ ©iegeltadte unterfdEjeibe fidf) fur ifjn in 9tid)t3
toon ber garbuttg eineS fommerttd) griinen Sflafenteppid^^. SEBarum man
abcr bent geredjten ©taunen itber bertei, faft abenteuerlid) flingenbe 3RiU
tljeitungen baburdj ant SBeften 2tu8brucf ju geben glaubte, bajs man bie*
fen eigenartigen 3uftanb ber ftarbenempfinbung mit bem -Ramen jene3
grofcen (Meljrten bclegte unb ifjn fcfytedjttoeg 3)attoni3mu3 nannte, ift
un3 niemalS redjt toerftanblidf) getoorben. S)ie ©ngtanber ljaben benn
fdjliejstid) aud) gegen biefc eigentl)umlid)e SSerl)errIidf)ung if)re§ bcru^mtcn
2anb3manne3 ganj energifdj proteftirt unb gemeint: Station fci burdj
feine toieten toiffenfdjafttirfien SSctbicnfte bereitS ju unfterbtidjem SRuljm
getangt, unb braudje beSljatb fein 9iame nidf)t in ber SBeife toeretoigt
ju toerben, baft man i^n jur fflejeidjnung jeneS pljtjftotogtfd&en ©ebrectjenS
benufce. ©ie toerlangten beSljatb, unb loot ni$t mit Unrest, bajj ber
2lu3brudf S)aItoni3mu3 ganj au3 ber mijfenfdjafttidjen SBett toerfdjtoinben
unb bafilr ber Stame garbenblinbtjeit cingefil^rt toerben folic 3)o<$ toie
ja oft genug im Seben gcrabe bic beredjtigtftcn gorberungen unb Stufpriidje
unberiitffict|tigt bteiben, fo gefd&al) e3 audj mit biefem SJJroteft ber ©ngs
timber; einc grofce 9tci^e toon gorf^cm unb Unterfu^crn fummcrtc ftdj
fo gut loie gar nid^t um benf dben unb fo lann man in granfreid^, in
Stalicn unb toot auty nodj in S)eutfd^tanb oft genug Don StattoniSmuS
reben ^oren. Unb fo ift e3 benn gclommen, bajs ber 2Iu§brud S)alto=
ni^muS trofe alien 833iberfpruc§§ ber ©nglanber unb trofcbent berfetbe
cigentlid^ nur ganj f^ccictt fitr bie SRot^blinb^eit, an toetdjer 2)aIton gc*
titten tyatte, gebrauc^t toerben biirftc, niemate abcr fitr bic ©riin- obcr
931aubtinbl)eit, bod^ cin gctoiffeS $eimat§re^t in ber SEBiffenfdjaft ertangt
tiat, ein Sled^t, ba^ jtoar abufit), bodj bur(^ fein 2tttcr eine nid)t ju
teugnenbe Segitimation getoonnen Ijat; unb fo fc^en toir un£ benn gegen-
mdrtig in bem 93cfifc Don jtoei Slu^briiien: S)attoni3mu§ unb garben-
blinb^cit.
1 Die ;f arbenbltnbfjett.
327
©tetten mir un3 nunmeljr bic 2lufgabe: ba$ SBcfcn bcr garbed
blinbtyeit pfjtjfiotogifdf) ju erflaren unb att t^rc toerfdjiebenen ©rfcf)einungen
ju einem gememfamen S3ilbc &u cinen, fo merben mir ju biefem Stoed
un3 mit grofcem 93ortf)eil bcr ^oung^elmljolfc'fcfjett garbentjjeorie be*
bienen; menigftenS Ijabcn mcinc cigcncn ©tubien iiber garbenbfinbljeit
mir bic $cftnfr>fy'f$e Ifjeorie im beften ©inttang mit ben praftifdjen
I^atfac^cn fteljenb gcjctgt. ©efjen mir alfo toon ben tfjeoretifdjen 93ors
ftellungen, meldje bie Soung^elmljol&'fdje $typotf)efe Ic^rt, au3: fo ift
bie gefammte garbenempfinbung ba3 ^robuct einer gcmeinfamen, jebodfj)
nidjt gteidfjmdfcigen SReijung breier ©runbempfinbungen, ndmlicf) ber be3
SRotljen, ©riinen unb 93Iauen rety. SBiotetten. (Sine jebe einjelne garben*
empfinbung fefct fidj au3 biefen brei ©runbempfinbungen jufammen, unb
jmar Ijaben mir un3 biefen SSorgang in ber SBeife ju benfen, ba& j. 95.
bei ber ©mpfinbung be3 SRotfj bie ber ©runbempfinbung fur SRotlj bie*
nenben SRertoenfafern ganj befonberS ftarf, bie ©rim unb SSiotett empfin*
benben gafern aber nur fefjr menig erregt merben; bei ber ©mpfinbung
toon ©riin merben bementfpredjenb ftarf bie griin*, bagegen feljr fdfjmadf)
bie rot^ unb fciotettempfinbenben gafern gereijt, mdljrenb bei ber ©m-
pfinbung toon 93tau unb SSiotett ein dt)nfid)e3 ©rregungStoerljaltnijs ber
blauen gafern gegeniiber ben grunen unb rotten ftattfinbet. 2)a3 SBefen
ber garbenblinbljeit beru^t nun barm, baft au3 biefem pfyjfiotogifdjen
DreiHang, au3 bem fxc^ unfere normale garbentoorftetlung aufbaut, bie
eine ©runbempfinbung auSfdflt; unb je nadjbem nun bie ©runbempfins
bung be3 SRotijen, ©riinen ober 93ioIetten auger function tritt, jeigt fid)
bie garbenblinbfjeit ate SRotf};, ©rim* ober 951au= reft). 93iolettbIinbljeit.
2)odE) mie mir bied fdjon au3 bem fiir bie uormalen garbenempfinbungen
entmorfenen ©djema erfefjen merben, fann ber SSerluft einer biefer brei
©runbempfinbungen nidfjt o^ne SRiidmirfung auf bie perception fammt*
Kd)er garben bleiben. 3)enn ba eine jebe garbentoorftetlung fidE) au3
einer gleidfoeitigen ©rregung jener brei ©runbempfinbungen jufammen^
fefct, fo mufc ber SSertuft eineS bicfer brei ©runbfactoren natiirlid) aud)
bie ©mpfinbung fdmmttidfjer garben metjr ober minber beeintrddEjtigen.
©o mirb 3. 93. ein SRotljbttnber, bem alfo bie ©runbempfinbung be3
SRotfjen mangelt, audf) ©riin nidjt in bcr SBeifc ju empfinben im ©tanbe
fcin, mic bie3 ein normaleS 2tuge t^ut; benn ba ja ©riin cine ©mpfin-
bung ift, bie fid) auS ber ©rregung bcr griin= fomie ber rot^empfinben^
ben 5lerDcneIemente combinirt, fo mug natiirlidj bei Unt^atigfeit ber rott)*
cmpfinbenben 9lert)enfafern aud^ bie ©mpfinbung ber grunen garbe teiben.
2tu§ bemfelben ©runbe mug aud) ein ©riinblinber bie rot^e garbe in
anberer SSeifc empfinben, ate ein SRormatfidfjtiger, unb ber SBioIettbtinbc
Dom ©riin eincn anbern ©inbrud cmpfangen, ate ber 93oHfid^tige. 3ft
metier SBcife fid^ bic 93orftcIIungen ber berfd^icbencn garben in ber
©mpfinbungSfpljdre ber garbenblinbcn geftalten, fann man an ber §anb
528
*}ugo JTCagnns in 3reslau.
bcr ^oung^etm^ol^fdjen £f)eorie fe^r gut ftubiren, unb ba gcrabe bic
9trt unb SBeife, hrie ein farbenblinbeg Snbitribuum bic garben fieljt, fiir
ben SRormalficfytigen ein ganj befonbereg Sniereffe barbietet, fo trjottcn
toir biefem ^unfte nod) auf cinigc 2lugenbttcfe unfcrc Stufmerffamfeit
fdfjenlen. Holmgren, ^rofeffor bcr ^fjtjfiologie in Upfala, toeldjer fid)
in bcr jiingften 3cit bic grogten SSerbienfte utn unfcrc ®enntnig bcr
garbenblinbljeit ertoorben I|at, f filbert bic ©mpfinbungen, totltyt bic »er=
fdjtebenen gormen beg 3)attonigmug t)on bem Spectrum empfangen, im
2tnfd)Iuffe an $etmf)otfeg flaffifefje SBeijanblung btefeg ©toff eg ttrie folgt:
2)cr 3lot^blinbc fic^t bag fpectrale S*ot^ ate ein gefattigteg Iid>t=
\6)toai)t$ ©run; bag ©etb ate cin lid&tftarfereg ©rim; bag ©riin ate cine
&toar lictjtftarfere, abcr toeigfidje SIbftufung berfelben garbe ftrie Stotlj
unb ©elb; bag 83Iau ate Stau unb bag SSioIctt ate SSioIctt obcr S)un!et^
blau. S)er ©riinblinbe fieljt bag SRotfj beg ©pectrumg ate ein
fdjtoadfjeg abcr fef)r gefattigteg Stott); bag ©elb ate lidjtftarfereg 3totl);
bag ©riin ate SBeig obcr ©rau; bag S31au ate cine bem Snbigo a^n=
tid&e garbe; bag SSiolett ate fefjr gefattigteg SBioIeit. $er SSiotett;
b tin be fie^t !Rot^ ate 9tott); ©ctb ate 2Beig obcr ©ran; ©riin ate Sfau*
grim; 93Iau ate ©riin unb SSiotctt ate lidfjtfdjroadjeg ©riin.
2Bir fctyen atfo, bag bic guile bcr garbenempfinbungen bei jebem
garbenblinben, toetdjer bcr brci tocrfdjiebenen gormen cr aud) angeljoren
mag, einc fetjr armlidje unb befdfjranfte ift. garben, toelctje cinem nor-
malftdjtigen 2luge ate t)dllig toerfdjiebene erfdjeincn, fdjmetjen bem S)al~
toniften in cin unb benfetben ©mpfinbunggoorgang jufammen. ®g faun
ung begtyatb nic^t toeiter mefjr befrcmbenb erfdfjetnen, toenn cin garben -
blinbcr ©egenftftnbe, bic fiir ung bic tocrfd)iebenften garbungen beftfcen,
ate burdjaug -glcic^farbig anfpridjt, unb n>ir toerben nidjt nte^r toertoun^
bernb ben ®opf fdf)iitteln, roenn roir ljiJren, bag cin 3totl)btinber, tote bieg
33. Salton mar, bag SRotl) beg ©tegellacfg unb bag ©riin beg SRafeng
fiir bic gteidje garbe erfldrt.
95ig jefct Ijaben toix immer toorauggefefct, bag bem farbenblinben 3n-
bimbuum cine ber brci pf)t)fioIogifcf)cn ©runbempfinbungen toollftanbig
feljlen folic; atfo j. 93. bem ©riinblinbcn bic ©runbtoorftetlung beg ©runcn.
2)od£) finb berartigc gallc tooflftanbigen SDtangete immerljm bic fetteneren,
unb bag gett)6f)ntirf)e SBorfommen ift ein fotcfyeg, bag cine ber brei QaupU
toorftettungen in i^rer I^atigfeit nur metyr obcr minber becintra^tigt ift.
@g ift alfo bann nid^t fotool ein toirfiic^er gunctiongmangcl, ate Diet-
meljr nur einc gunctiongftorung toorljanben, unb j[e na^bcm biefclbe nun
einen grogcren obcr gcringercn Umfang befi^t, toirb aud^ bcr garbenfinn
beg betreffenben ^nbiuibuumg mc^r ober toeniger abwcic^cnb fid^ t)cr-
fatten, ©g e^iftirt nun in SBirfiid^feit eine gan^ crftaunlid^c SRet^c toon
^o^cren ober gcringcren Sntcnfitdtggrabcn einer fotdEjen ©t5rung;*t)on
ben auggepragteftcn gallen, in benen bic bcjiiglid^e gunctiongft5rung be?
Die J arbenbltnbfiett.
529
rettg bcm tooflftanbigen gunctiongmangel naljefommt, bis ben attcr^
letdjteften gormen, bic faum nod? tnit ©i^cr^cit Don bcm fid) normal
bettyitigenben garbenfinn unterfdfjieben toerben fonnen, finben fid) bie toer;
fdjiebenften unb jafytreidjften Uebcrganggftufen. @g gettrinnt burA cine
berartigc giitle toon Srfdfjeinunggformen bag 93ilb bcr garbenbtinbljeit
tin ungemcin bunted unb btelgeftaltigeg Slugfefjen, bag abcr in f einen
©renjen gegen ben normalen garbenfinn §in attmdtjlidj abblafet unb feinc
djarafteriftifd&en ©igenartigfeiten metjr unb mc^r toertiert, big eg f(f)liefc
lid) ganj unmerflid) in bie normale garbenempftnbung uberge^t. S3ei
finer berartigen SKenge toon Slbftufungen unb Sntenfitdtggraben muft
naturtict) ber ©rfcfjeinunggdfjarafter ber garbenbttnbfjeit gleidljfatlg ein fc^r
toedjfetnber fein; toafjrenb bie Ijodf)ften Stttcnfitdtggrabe eine fo auffafc
lenbe ©eeintrddjtigung in ber garbenempfinbung jeigen, ba& man bei
i^nen mit toottem Stedjt toon einer ttrirflidjen garbenbtinbljeit fpredjen
lann, toerbienen bie geringeren unb niebrigften Slbftufungen biefen 5lamen
bureaus nidjt me^r. 3)enn bie mit ifjnen befjafteten Sgerfonen finb fe^r
tt)o^I nodf) im ©tanbe, attc garbeu ju erfennen unb fitter toon einanber
ju trennen, fo lange btefclben in d)arafterifttfd)en ©djattirungen auftreten,
unb if)r ©cbredjen lommt erft bann an ben lag, tuenn eg fid) urn bie
Unterfctjeibung fetter unb toenig auggefprocf)ener X5ne l)anbelt. ©o tocr;
mogen fte 5. S3, ein farbenfatteg ©run miifyetog ju empfinben unb beffen
SSorftettung aud) noty feftjuljatten, felbft toenn biefe garbe burdf) Set;
mifdjung toon SBeifc in ifjrer ©dttigung mefjr unb mefjr gefd)toddf)t ttrirb.
<£rft toemt biefe Seimifdjung toon SBeifj einen fotdfjen Umfang getoonnen
ljat, baft bag ©rim eine ganj ljette unb jarte ©djattirung jeigt, toerfdjttnns
bet tfjre galjigfeit, ben fo befdjaffenen ljetten garbenton ridfjtig ju enu
jjfinben, unb nun toert&edjfeln fie benfelben mit alien mogtidjen anberen
©d&attirungen. $>elleg ©rau, fjelleg ©etb, tjelleg 9iot£) unb tjelleg ©run,
fie atle madden afebann ben gleidjen ©inbrud auf iljre Stefctjaut, unb
todtjrenb folcfjc Snbitoibuen ben auggefprocfyenen garbentflnen gegenuber
mit grofeter ©idjertjeit fid) benatjmen, fte^en fie jefct rati); unb tjiitflog
ba unb miiffen fidj fur bie fatten ©d)attirungen aU 3)aItoniften befenuen.
3)a^ aber fiir ein berartigeS ^^fiologifd^eg ©ebred^en ber garbenempfin=
bung bie 93ejeid^nuug ^garbenblinb^eit" ganj unb gar ni^t pafet, ift
eigentlicf) felbfttjerftdnblid^, unb barum $at fiir fie bie SBiffenfd^aft aucf)
anbere 9lamen gefd^affen unb nennt fie ^garbenf^mad^e" ober „garben-
tragljeit". Unb baran t^ut fie ganj gewife red^t, benn eS fonntc bem
SSerftdnbnife einer fo eigent^umlid^en ©rfc^einung, tok eS ber 3)attoni§;
mug ift, boc^ nur fdjabfid) fein, toenn man bie gdtte totater garbenblinb^
^eit, in benen bie betreffenben 3nbiDibuen iiber^aupt gar feine garben
-em^finben unb barum bie SEBett nur grau in grau fetyen, ettoa in ber
SBeife, toie ein SRormalfi^tiger einen Sfupferftid) ober eine ?P^otograp^ie,
in benfetben 2o^f merfen wottte, ton jene bereitS ber ©renje beg nor-
330
Ijugo ItTagttus in 3reslau.
malen garbenfinneS unmittelbar Icnadjbarten leidjteften gormen ber gar-
benfd)toad)e. ©erabe bic Unterfdjcibung bcr einjelnen gormen bcr gar-
benbtinbtjcit itadj i^rcn SntenfitatSgraben ift ^rafttfd^ toie ttriffenfcfjaftlidj
burd&auS notljtoenbig unb bringenb geboten.
Sinen nad) ben Segriffen eineS garbenfeijenben aflerbingS redjt
fd)toad)tidjen unb unjulangenben ©rfafc fiir bie mangelnbe obcr fc^tcr^aftc
garbenempfinbung befifeen bic 3)altoniften in cincr ungemein gefdfjarfteit
nnb toerfeinerten Smpfinblidjfeit gegen Sidjteinbritcfc. ©3 ift alien gor~
fdjern, bic fid) eingeljenber ntit bem ©tubium bcr garbcnblinb^cit be-
fdfjiiftigt Ijaben, cine ganj gcldufige unb befannte ©rfdljeinung, baft bic
garbcnblinbcn auffattenb fcinfu^Iig finb in bcr Unterfd>eibung unb SBaljrs
nefjmung bcr feinftcn unb jarieften 2idf)teffecte. Sidjtfdjattirungen, toeldje
cinem fcottfidjtigen Sluge fd)on lange nidfjt [meljr in gorm eineS gefon-
bcrtcn unb <f)arafteriftifdf)en ©mpfinbungStoorgangeS bemcrfbar finb, er=
fdjemen cinem farbenblinbcn Slugc nodj ati tDo^Ibiffcrcnjirtc unb fdjarf
auSgepragte 93eleud)tung3effecte. Unb bicfe eigenartige ©mpfinbung be3
fic umgebenben 2idf)te3 fudjen bic garbenbtinben, natiirii^ nur bic ©e;
bilbeteren unb SntcIIigentcren unter itynen, aud) in iljrer ©pradje jum
Stu^brutf ju bringen. ©ie bebienen fid) ntit S3orIiebe gem foldjer
briicfe, toetdfje auf bie Guantttat unb nidjt auf bie Dualitfit ber jett>ei=
ligen SBeleudfjtung SJejug neljmen, unb barum toirb man aud) niemala
fo oft Don $>ell, ©tanjenb, ®d)immernb, $albbunfel u.f.to. rcben Ijorenr
al3 hrie gerabc in ber Unterfjaltung mit cinem gebilbeten garbenblinben.
©3 erfjatt bc3t)alb aud) bic Spradje bc3 gebilbctcn garbcnblinbcn cincn
ganj eigenttjumlidfjen unb befremblidfjen ©Ijarafter, ben man am treffenb;
ften tool mit ber befannten ©igenartigfett bcr $omerifd)en ©pradje t>ex-
glcic^cn fann, toetd)e befanntlid) ja aud) an SSejeidjnungen fiir Sidjteffecte
fo aufcerorbenttid) reicf) ift, loa^renb fie bagegen in ber SBiebcrgabe far-
biger SBorftellungen auf ciner ©tufe fteljt, bic fid) toon ber nid&t toefents
lid) unterfefyeibet, toetdje cin Sinb einnimmt, ba3 bie ©mpfinbungen be$
garbigen nocf). nic^t ju bifferenjirten unb fetbftanbigen S3orftcHungen
auSjuarbeiten gclernt tjat. 3)iefe auffattenbe 2lef)ntic§Iett bcr §omerifdf)en
SluSbrudfetoeife mit ber cine3 garbcnblinbcn lafct bic 9lnnaf)me: e§ fflmte
ber ©runb ju ber $>omerifd)en ©prac§eigentf)umlidf)feii tool aucfj in ge*
toiffen eigenartigen Buftanben be£ bamaligen garbenfinneS gclcgen ljaben,
benn bod^ nid^t fo untoafjrfdjeinlid) erfc^cinen, toic bie^ t)on SSielen be^
^auptet toirb. 3cbenfatt^ betoeift bie Xfiatfac^c, bafe ber ^eutige garben^
blinbe aud^ eine fcinem 3uftanbe congrucnte ©f)ra^c fid^ ju fd^affen tocife,
beutlid^, bafe bic fprad)tid)en ©ebilbc im cngften Bufammenfjang ftc^cn
mit bcr ^^fiologifd^cn SBertljigfeit unferer Drganc unb ba^ atte too^l-
biffercniirtcn unb fcin auSgebilbeten ©mpfiubungen fic§ aud^ f^rad^lic^
©cltung ju Derfc^affen miffen. 3)c^^alb finb augenblicflidj aud^ nur bic-
jenigen unferer ©inneScm^finbungen, bie e§ bereitS ju cincr gemiffen
Die J arbenbltnbtfett.
331
§o£)e bcr (Sntttutfelung gebradjt ljaben, in unfcrm ©pradtfdjafc befonberS
reidtfid) bebadjt, ttntfjrenb biejenigen SmpfinbungSfpijdren, bic gegentodrtig
nur crft nodfj toenig culttoirt finb, lute j. 8. ©erudj ober (Sefdfjmadt,
aud) nur iiber fcerljaltnifjmdfcig toenige fpradtfidtie 83erI5rperungen tfjrer
Xljatigfeit ju fcerfiigen ljaben.
Unierfud&en ttrir nun, footer benn eigentltdj bem garbenblinben fcine
befonbere ffintpfdnglidftfeit gegen jarte Sidjteffecte gelommen fet, fo fonntcn
®icjenigen, toeldje bag SBebiirfmfc fitfjlen, iljre 2Beftanfd)auung auf bic
fcorforglid&en unb miittertidj) beforgten ^rinctyien cincr teleologifdjen
9tatureinrid)tung jit griinben, in biefer Setoorjugung be3 garbenbtinben
tool aud) einen 2Bot)Itf)dtigfeit3act bcr beforgten SDtuttcr Slatur finben
tootten. ffilingt e3 ja boc^ fo troftenb, toenn man fagen !ann: bic armen
Sarbenbtinben, benen bic Slatur ben ©enufc bcr garben fcerfagt Ijat, tyaben
aU ©ntgett fiir iljr pt)t)fiologifd)e3 ®ebred£)en jenc geinfutjtigfeit gegen
bie jartcftcn Sidjteffecte tjon bcr ©djityfung erjjaften. SBenn nun abcr
bic SRatur cine fotd)e Sntfdjdbigung be3 Sarbenblinben fiir nottjtoenbig
era<$tet, toarum Ijat fie fidf) ba erft felbft in bic Sage gebrad)t, cinen ber*
artigen 2lu£gteidj toornetymen ju muff en? $>dtte fie ben garbenbtinben
nidfjt ftiefmiitterlid) befjanbelt unb fcincn garbenfinn ju eincm 8lfcf)en*
brdbel untcr ben ©innen gemadfjt, fo ^atte fie t§> gettrifc bann nidjt notfjig
geljabt, biefc ungeredjt* £drte ju milbern unb fid) felbft ju toerbeffern.
D^nc Senjenigen, bic ciner teleologifdjen SBettanfdjauung ju Ijulbigen fidj
gen5tl)igt fetyen, irgenbtoie ju natje trcten ju tootten, mufc id) bod) be*
fennen, bajs in bem Eapttel bcr garbenblinbljeit berartigc Slef(cjionen
tool laum am SJJIafce fein bur f ten. S)ie grd&ere Sidjtempfangtidjfeit be3
garbenblinben ift fein mttbcmbeS ©efdfjenf ber giitigen SDtutter SRatur,
fonbem ber 2)aItonift l)at fid£) btefdbe ganj aflein errungen. 3)aburd), baft
e§ iljm toerfagt blieb, bic jafytreidjen ©inbriidc ber garben ju empfinben,
tyat cr feinc ganje Slufmerffamfeit auf bie SSerfd^icben^citen ber SBeleud^
tung refo. ber Sid^tquantitdt rid)ten miiffen unb fo feinc 9te$)aut all*
mdl)Iid) ju eincm pfjeren ©rabe ber Stdjtempfdngftdjfeit erjogen. Unb
biefc miiljfam crfdm^fte SReaction^ftcigerung feiner Sie^aut gegen feinc
Sid^teffcctc toetfc ber garbenblinbc praftifd^ fe^r too^l ju t)ern)ert^ett. ®r
beniifet fie Ijdufig, urn garben, bie er na<§ i^ren c^arafteriftifc^cn garben^
cigcnt^umlid^feiten ja nid^t erfennen unb unterfdfjeiben fann, ju trenncn,
inbem cr ba§ unterfcf)eibenbe SKoment eben in ben toerfdjiebenen, fiir ein
normatfidjtigeS 2luge laum bemerfbarcn Sid^tunterfd)ieben ber bejiiglidjen
garben finbet. ©o ^abe id^ j. S3, einen rotfjblinben Socomotbfii^rer ge^
!annt, bcr bic rotfje unb griine garbc abfolut nid^t ju empfinben t)er^
modjte; unb bod& war er im ©tanbe, ba^ rot^e ga^rfignal toon bem
griincn ju unterfd^eiben, inbem er eben mittetft feineS fdfjarf unb ^od^
cnttt)idclten Sid^tfinnc^ ben toerfdjiebenen St^tge^att bc^ rotten unb griinen
Signals ju empfinben toermocf)te.
532
*}ugo HTagnus in Breslau.
@o fdjdfeenStoertf) cine berartigc gertigfeit nun audj fur ba£ cinjclnc
farbenblinbe Snbitoibuum fcin mag, fo tjat fie boct) aud) ifjre re$t be*
benf lichen ©eiten. ©3 fann ndmlidf) gelingen, unb bieS gefdjieljt ganj
getoift oft genug, bag ein garbenbtinber burd) bie erljoljte SluSbilbung
feineS SidjtfimteS feinen eigentlidjen gefyter ju toerbergen toermag unb
fcincr Umgebung ben ©lauben beibringt, er fei burdjauS normalfidjtig,
todljrenb er e£ in SBafjrljcit aber bod) nidf)t ift. 2)a nun aber bie garben*
unterfdjeibung, toctdje ber garbenblinbe mit $mtfe fcinc^ gefd&drften Sic^t-
finneS auSfiiljrt, immer nur ein I)5d)ft unfidjereS Sunftftiid bleibt, bag
l)unbert SDtal ganj gut gtiirft, aber ba3 fjunbert unb erfte 3RaI fcoflig
miftlingen fann, fo ift e3 bodf) immer ein fetyr mtftlidjeS 3)ing, toenn ein
farbenblinber ©ifenba^nbeamter, ettoa ein Socomottofiiljrcr, feinen geljler
and) nur eine 3eitlang ju t)erbergcn im ©tanbe ift. ©o lange er bie£
Dcrmag, fdjtoeben aurf) bie Stfenbafjnjuge, bie er $u fil^ren Ijat, in fteter
<Sefal)r; benn ttrie leidfjt toerfagt bem farbenbtinben gityrer fein ®unftftud,
mit £>iilfe beffen er bie rot^e unb griine ©ignatlateme toon einanber
unterfd&eibet. Slur bie forgfamfte Unterfudjung aHer mit bem galjrbienft
betrauten Seamten toermag ba£ SJJublifum toor berartigen ©efafjren ju
fdtjiifeen, eine SDlaftregel, toetdje 2)anf ber Umfidjt unferer ©ifenba^nbe^orben
jefct tool auf alien beutfdfjen Sa^nlinien getroffen tuorben ift.
SBenn nun fdjon bie garbenbtinbljeit fur bag einjetne mit if)i it-
Ijaftete Snbitoibuum redjt unangene^me ©t5rungen ju bebingen toermag,
fo toerben biefelben noS) grower unb belangreidfjer, fobalb wir in (Jr*
faljrung bringen, baft ber 2)aItoniSmu3 eine befonbere SSortiebe jeigt, fid)
auf bem SBege ber SSererbung audj auf bie 9tad)fommen farbenblinber
^erfonen ju erftredfen. Unb jtoar ift biefe SGeigung, fid) burd) SSer=
erbung auf bie toerfdfjiebenften ©enerationen einer gamitie au§jubet)nen,
eine fo Ijertoorragenbe unb fo entfdjieben auSgefprod&ene, baft gerabe in
biefem $un!t bie 9lngaben aHer gorfdjer, unb m5gen fie im Uebrigen
aud) nodfj fo toerfdjieben tauten, bodt) eine feltene Uebereinftimmung er^
fennen laffen. S)er SDlobuS, naif) toetd)em nun bie SSererbung ber garbem
blinbljeit erfolgen fann, fcfjeint nidjt unter alien Umftdnben immer ber
ndmlid)e fein ju miiffen, toietmeljr biirften ljter toerfdfjiebene Sariationen
anjuneljmen fein. (Sin befonberS auffatlenbe£ unb df)arafteriftifdf)e§ ®efe^
fiir biefen SBererbung^gang ift in ber neueften 3ctt bon 5JJrofeffor Corner
in 8"^t^ aufgeftettt unb burd^ bie Seoba^tungen $oImgren$, fomie bur(^
meine eigenen ©rfaljrungen toielfad^ beftdtigt worben. S)iefe§ ©efefc lautet
ba^in, baft ein farbenblinber 9Rann b5Dig normalfe^enbe ffiinber mfinn*
lid^en unb meiblid^en ©ef^Ied^te^ tjat unb baft erft bie SKadjfommen biefer
feiner Sinber toieber an garbenblinbljeit ju leibeu ^aben. Unb jioar
fd^einen bie ©5^ne foldjer normalfid^tigen grauen, beren SJdtcr farben*
blinb toaren, ganj befonber^ oft toon bem ndmlidjcn getter ton ifjr
©roftuater ^eimgefud^t ju toerben. ilberfpringt ^iernad^ bie garben^
• Die (f arbcnblinbfyett.
555
blmbljeit immer cine feneration; toererbt fic^ alfo bom ©roftfcater auf
ben ©nfel. ®anj befonberS intereffant ttrirb bieS ©efefe aber nod) burdf)
ben Umftanb, baft ganj in ber gleidfjen SBeife audi) nod) anbere pty\\oz
logifdje ©ebredjen fid) ju toererben fdjeinen, fo 5. S3, bie 9ieigung ju
931utungen unb bie 9iadjtblinbf)eit. -Radf) ben Srfaljrungen $>olmgren3 foil
bie in einjelnen gantilien erbtid)e garbenblinbljeit aud) l)inficl}ttidf) iljrcr
Strt unb iljreS ©rabeS getoiffe immer ttrieberfeljrenbe ©igentf)umlicl)feiten
jetgen; fo loirb j. 93. in einjelnen gantilien nur bie ©riinbtinbljeit t>er=
erbt, toaljrenb anbere gamilien ttrieber bie 9totf)blinbf)eit erfc unb eigen-
tljumlid) befifcen.
SRatiirlid^ fdf)tteftt aber ber eben genannte ©rblidf)feit3tt)pu3 nid^t un=
bebingt bie 9R5glid)fett au3, baft bie garbenblinbljeit getegenttidj aud)
einmal in anberer SBeife fortyflanjt unb 5. 95. bom SSater birect auf
ben ©ofjn itbergeljt. ©0 fenne id) gegentodrtig jtoei gamilien, in benen
beiben ber SBater farbenblinb ift unb bie ©51jne bie gleicfye Stbnormitdt
jeigen.
S)a3 iporner'fdje ©rblidjfeitSgefefc, todies toir foeben ffijjirt ljaben,
crbringt alfo ben 93etoei3, baft bie garbenbtinbtjeit ljauptfdd)Iicf) burdfj
bie im Uebrigen bureaus normalfic^tigen I5d)ter farbenblinber Sater
fortgepflanjt unb alfo burd) bie grauen in bie gamilien etngefuf)rt nrirb.
(£3 fann J)ieroacf) ein mdnnlidjeS Snbbibuum, toetdf^ einc ganj normale
garbenempfinbung befifct unb beffen gamilie burdf)au3 feinerlei 21ntoanb=
lungen toon garbenblinb^eit aufjutoeifen fjat, bod) farbenblinbe 9lad)fotmnen
erljalten, fobalb c§ eine @l)e mit einer normalficfjtigen grau einge^t,
beren SSater aber farbenblinb tear. 3)iefer Umftanb ttrirb aber um fo auf*
faHenber unb befrembtidjer, ba e3 nunme^r buret) bie fcerfcljiebenften Sorter
ubereinftitnmenb feftgeftettt toorben ift, baft bie garbenbtinbfjeit gerabe beim
toeibticfjen ©efdjlcdjt nur feljr felten tjorjufontnten pflegt unb iljre ^auptoer;
breitung in ber 2Jldnnertt>elt finbet. Unb jtoar ift ber Unterfd)ieb, tneld&cn
URanner unb grauen ljinfidfjtticl) ber Stntage ju biefer Slbnormitdt jeigen,
ein ganj aufterorbentlid)er. So Ijat }. 93. Holmgren unter 7119 toeifc
lidfjen Snbitoibuen nur 19 garbenblinbe gefunben, alfo einen ^rocentfafc
t)on 0,26; id) tjabe unter 2216 SDldbdjen gar nur eine garbenblinbe
iiacfjtoeifen fonnen, toaS alfo einem ^rocentfafc toon 0,04 entfpred)en hriirbe.
®agegen luaren unter 32,165 mdnulid&en Snbttoibuen, toelcf)e Holmgren
unterfud^t fjat, 1019 farbenblinb, alfo 3,25%, unb unter 3273 ©d^iilern,
tueld^e idf) ^ier in 93re^lau ju priifen ©elegen^eit ^atte, fanben fi^ 100
garbenblinbe, b. ^. 3,27%. @& betrdgt alfo nad^ biefen 2lngaben ber
Unterf^ieb, tueld^er jtoifd^en SDldnnern unb grauen betreff^ ber &aufig=
feit ber garbenblinb^eit l^errf^t, ettoaS iiber brei $JJrocent, ein 93erfjfitt=
uift, tt)elcf)e^ bei alien neueren gorfd^ern toenn au6) nid^t eine abfolute,
fo bo^ eine relative 2te^nlid^feit jeigt. tt)iirbe un3 ju loeit fii^ren,
toollten tt)ir un§ in eine genaue Srorterung unb fritifd^c 93eleud^tung ber
53^
£}ugo IHagnus in Sreslau.
©rffarung cinlaffen, toelcfie bic tnobcme SBtffenfdjaft fiir bicfe auffallenbe
grfdjetnung bictet unb miiffen xoix un3 beSljalb mit ber Scmerhmg ge;
niigen laffcn, baft man bie geringe Slntage be£ toeiblicfyen ®efdjledjte3
jur <$arbenbltnbf)eit burd) bte fdjon friit) beginnenbe unb emfig fortge*
fii^rte 93efd)aftigung mit bunten (Segenftanben, loeldje bic groucntoclt am
©ti(f ragmen, am Xoilcttentifc^ u. f. to. ubt, erflaren ju fonnen glaubt.
Die t)ierburd| eingeteitete unb burd)gefiiljrte Krjieljung unb ©nttoidelung
be3 3tobenfinne3 pffanst fidj toon (generation ju (feneration fort unb
fiifjrt fdjtiefelid) §u einer fejuetten Uebertegenljeit be3 toeiblid)en garben-
finned iiber ben manntidjen, tucld^e fid) eben in ber geringeren 9teigung
jur garbenbtinbfjeit offenbart.
SKan Ijat aud) fjinfidjtltd) ber fRace fotoie ber toerfdjiebenen VdttobU
ferung£fd)id)ten getoijfe SerbreitungSeigentijtimlidjfeiten ber ftarbenblinb-
fjeit finben tooflen; bod) finb ade biefe 9tngaben toor ber £anb nod) nidjt
geniigenb gefidjtet, urn fie in bem ©etoanb einer fidjeren Iljatfadje fdjon
jefct einem grofteren ^ublifum toorfufjren ju fifttnen; barum jietje td> e&
aud) toor, iiber biefen $unft toor ber £anb nod& ein toorfid)tige3 ©djtoeigeit
ju betoa^ren.
£ldfter unb £lofterleben in ber fyvcegovina.
Von
4Me0ftieti tapper.
- ptfa. -
I.
tc am Slfyein, am Sftecfar, an bcr -JJlofet bie SBurgruinen, fo finb
g in ben Iljafern ber 9Korafca, beg S^ar, beg Sim bic
tuinen t>oit ®I5ftern, bic bcr 2anbfd)aft jeneg ©enrage t)er-
eifjen, bag, id) fjabe eigentlidj nic redjt begreifen fonnen,
warum, man ate romantifd) ju bejeidjnen fid) getodljnt ljat. $>abei finb
bte SRttterburgen jebenfaflg toofjter baran. ©ie finb nidjt nur ja^Ireid^er,
foitbcm aud) bejfer erfjatten. 3)ag ift, toeil bag menfdjlidje Sntereffe an
t^ncn §aftet. Unb bicfe^f abgefeljen toon fo toielen anberen tounberbaren
©eljeimfraften, $at audj nodj bag merfttmrbige ©igene, baft eg 9IHc3,
toomit eg in Seriiljrung fommt, — confertoirt. Urn toad ber SDlenfd)
fid) fiimmert, 3ltteg, toag er, forfct)enb ober in SJSictat, in ben ®reig
f enter 93ead)tung jieljt, bag, unb tfjut cr audj fonft toeiter nid)tg bafiir,
getjt nid)t ju ©runbe. 2)cr menfefytidje Dbem, ber eg antoet)t, fymcf)t
itym ettoag toon ber etoigen SDleufdjenfeele an, unb bie erf)att eg.
Sticfyt fo gut baran finb bie Ueberbleibfel ber alten ffitdfter unb
Sircfyen in jencn Zfyaltxn unfereg ©iiboft, benen nodj mand&eg 9lnbere
bieg; unb jenfeitg beg Saltan, fotoie burd) Sllbanien, Gtyirug, Xtyeffalien
bi^ ljinab an'g „blauenbe 2Jleer" fid) Ijinjufiigen ttefce. ©g finb bag nur
mc^r fparlid)e 9tubera, 5erftreut in toerttrilberten Deben, bie efjemalg
Ijerrtic^eg, frudjtbareg ©artentanb getoefen, in fallen gelgf<f)Iud)ten, burd)
bie eljebem iippiger SBiefengrunb unb fdjattiger SBatb fid) tynangejogen,
berbedt t)on ©eftrityp, t)erfunfen in ©d)utt, begraben in ©erfltt: toenig
gefannt, fdjtoer auffinbbar; toenn auffinbbar, unbebeutenb unb unergibig
fur bie gorfdjung. Sag toeitaug SWeifte ift toerfdjttmnben, t)on ber ©tatte,
bie eg cinft eingenommen, toie tjintoeggefegt. 3)er SRcft, t)erlaffen toon
536
Stegfrieb Kapper in pi fa.
ben SDlenfdfjen unb toergeffen, ift etngegangen, fjat fidf) aufgejefjrt, tnotijte
man fagen, aug 9Jlangcl an menfdfjlidfjer £fjeilnal|me, menfdjlidfjer ©cele.
Unb bod) fatten audf) biefc Scugcn toergangener 3at)tf)unberte iljre Sage
bcr SBebeutung unb ber $racf)t, bcr 3Jlad)t unb beg 9ieidf)tl)umg, unb
felbft bcr Sunft, toie ba&on, allerbtngg nur Ijodjft fporabifdj, I)ie unb
ba nod) aug bent ©djutt ljerborragenbe ©autentrummer, Don ©rdfern
iiberttnidjertc Slttarftufen, toerftummette Silbtoerfe unb SDrnamente, mtt
offenbarer 9tbfid)tlid>fett big jur Unfennttidjfeit mifefjanbette SBanbgemdlbc
nod) immer genug berebteg 3cugnife geben. 28ie bag gefommen, nrie
Diet an biefer SBertoiiftung iglamitifdje Unbutbfamfeit, toie uiel fpdtcre
djrtfttidje Snbofenj ©djutb fjabe, bag mag, ba bie SSerlufte nun einmal
unerfefclid) finb, fo jiemtidf) unter bie miifftgen gragen gereiljt loerben.
(£g toirb tool etneg ttrie bag anbere fein gut Sfjeil baran tjaben, toietool
man, ofjne im minbeften ein Unrest bamit $u begeljen, ben 25tnenant^cil
immerfjin bem erftern toirb juerfennen biirfen, — aud£) ot)ne befonbere
©rflrterung.
8u jener fernen 3eit bereitg, ba bag Sljriftentfjum ben norbtic^en
unb flftlidjen ©laDen faum nod) bem Stamen nad) belannt toar, ftanben
bei ifjren ©tammeggenoffen im ©iiben SWfter unb Sloftertoefen in blu^cnb=
ftcr ©ntttridelung. 3)ic bulgarifdjen 93riiber Stjrittog unb SKetljobiog,
bie bag Sljrifteuttjum nad) 2Kal)rcn unb ©flymen brad£)ten, toaren aug
biefen SWftern ljertoorgegangen. (Sin cjedjifdjer ©ifdjof trug eg fpater
an bie ©eftabe ber Dftfee. grufjjeittg fdjon Ijatte auf ber fd)malen Sanb-
5unge beg 2ltljog eine Strt Stafterrepublif fidj angefiebelt, iiberreidj aug;
geftattet bon iljren SBefdEjiifcern, ben b^jantimfdjen ®aifern, mtt SBcfifcungen,
©djafcen unb *Prh)iIegien, ber Sftittetyunft bamalg afleg oricntalifdjen
SirdEjenlebeng, barin attc 9S5Ifer ber SBatfanljalbinfet, ja felbft bie djrift*
lichen ©tdmme Sleinafieng, abgefonbert bon einanber, fid) toertreten fanben.
Stud^ bie fcrbifdjen Stynaften, frttfjmogltdjft, beeitten fidj, atg ©tifter fid)
ba einjufteflen, iljnen fcoran unb beifpielgebenb ©tefan Stemanja, ber
©riinber ber nad£)mafg fo madjtigen Stynaftie ber 9lemanjiben, unter ber
©erbien fid£) jur ©rofcmadfjt aufgefdjnmngen, mit ben SBulgaren unb mit
93%anj urn bie §egemonie ringen unb ben batmatifdjen ^anbefgre^ubli-
fen 93iinbniffe bictiren lonnte. Sag fflofter ©^ilinbar, bag er aDba tx-
baute, gilt alien ©iibftaben alg bag $5c^ftef toag Slufwanb ju erreie^en,
Suuft §u letften toermag. Sg ift ber 2Rontfafoatfct> i^rer Segenbe. Samcn
bie jafjtrcidjen ffilofter, bie er in ben eigeneu Sanben erbaute, an ^rad^t
biefem au6) nic^t gteid), fo maren fie bocf) ntd)t minber reic^ »on i^m
bebacfjt. ®enn ^I5fter ju bauen unb mit reicfyen ©tiftungen augjuftattenf
gait alg bag gr5fete fflerbienft etneg iperrfc^erg, bag Seben in einem ber*
felben alg einfad^er 2Jtond) ju befcfjliefeen alg ber loiirbigfte Slbfc^Iu^
feiner irbifd^cu Saufba^u. ©eine 9tad)foIger ftanben in frommem ©ifer
i^m nict)t nad^. Seiner ifjrer, beffeu 2lngebenfcn uid^t cine grofcere obcr
Klofter unb Klofterleben in ber fjercegooina. r 337
gcringerc 9lnjaf)t toon Slofter^ unb ®ircf)enbauten toerenngt f)dtte, nur
roenige, bic nic^t in eincm berfelben tf)r Safein beenbet, i^rc tefcte
JRuljeftdtte gefunben fatten, ©tefan Urofd) II. atfetn foil bercn nicfjt
toeniger ate einunbtoierjig erbaut ljaben.
Srft bic §errfcf)aft be£ Xurlentl)um3 fefcte bicfem frommcn @ifcrr
bcr, auSgegangen unb getragen urfpritnglid) toon ben loblidfjften Qtot&ttt,
aflerbingS nacfjgerabe in toiirbetofe SBerffjeitigfeit unb toerberblid)e
©unbentoSfaufcrei auSgeartet tear, ein Snbe. S)cr 331am murbc fcine
SDliffiott toerfefjtt fjaben, toenn cr neben fief} nocfj SlnbereS gcbutbet fjdtte.
2BaS fidf) toorfanb, ttmrbe tfjeite bent Sobcn gleidjgemadfjt, incite in
SRofcfjeen, in ©rabfapetten gefciertcr SriegSfjetben unb §abfcf)i3, in
£an§ fitr ©aumrof^ unb 2Jlautefeltreiber untgetoanbelt, tf)eite nieber*
geriffen unb jur SluSmauerung unb ©infaffung toon SSrunncn unb ju
SBrudfen toertoenbet. 2)ic Strcfjengerdtfje ttntrben incite jerfd£)Ieift, incite
eingefcf)ntolsen, bic geftiftcten SBefifcungen bem SSafuf iiberanttoortet. 28a$
bent Serberben entgiug, entgiug ifjm nur trite burcf) ein SBunber, toer=
ttyeibigt fjeute nut bent SDtutlje ber 2Jer$tt)eiflung, morgen auSgefoft burd)
bie S^twng grower ©ranbfdjafeungen, jebocf) nur um ubermorgen ncuer-
bingS toertf>eibigt ober neuerbingS au3gc!5ft ju toerben. SteueS ju bauen,
fomie ber SBerfudj, 93eftef)enbe3 burdf) Slu^beffcrung, ©tiifcung unb ber;
gleicfjen in ©tanb 511 crf)atten, toar unb blieb 3af)rfjunberte lang au3-
naljnt^ unb bebingungSloS toerboten unb jtoar bei ben ljarteften ©trafen,
beren SSer^angung iibrigenS tone Strt burcfjtoeg bem ©rmeffen unb ber
SBittftir ber jetoeifigen locaten SDladfjtljaber anfyeimftanb. Sn ber £er;
ccgotoina fyecietl, bcr ttrir unfere Stufmerffamfcit ^icr junddjft jutoenben,
gatt bic SRornt, bag fur jebe berlei Eontratocntion jtootf gamilienf)dupter
ntit bent Seben gu biifcen fatten, — cine SDlafcregef, toon ber nid)t ju
leugnen ift, bafj fie bent Uebel allerbtngS rabical ju Scibe ging unb
bureaus anget^an toar, ben Sfjauren if)re gotteSdrgertidfje Saufuft griinb-
lief) ju toerteiben.
©rft jieinltcf) fpdt unb ba ber ©tern ber o3manifd)en SDtactyt bereite
nterHidt) ju erbteidfjen begomten, fdngt cine ntilberc $ra£te an 9taum ju
geminnen. Sn Sonftantmopel toirb ttrieberfjott bic greifjeit be3 Softer*
unb Sircf)enbaue3 jugeficfjert. 3)ic 9Jlad£)tf)aber in ben ^rotoinjen jebod)
tooflen toon biefen 3ufleftanbniffen nid^tg toiffen, unb ignorircn bie ©inen
fie gdnjlic^, tod^renb bie Stnberu fie ba^tn au^legen, bafc e^ bcr SRaja
jtt)ar nun freiftelje, bci i^ren jcnjetligcn ^afdjaS ober SSefiren unt bie
(Srtaubnifj jum S3auc eine^ ^toftcr^ ober etner Sird^e anjufud^en, ebenfo
abcr aucf) biefen, jc nad^ Srmcffcn fie i^nen ju gewd^rcu ober aucf} —
ju tocrtoeigern. ®tefc ©rtaubnife aber ift toeuiger ein fcfjtoer ju cr?
(angenbe^, ate ein foftfpieligeS 3)ing. Unb fd)on baburd^ befd^ranft ber
©ebraud^, ber batoon gema(f)t mcrbett !ann, fief} auf Idngcr ate ein 3at)r;
Ijunbert ^inau§ toon felbft. 3)ie ^crren ^afc^a^ forbcrten intmenfe
338 Siegfrieb Kapper in ptfa.
©ummen unb bariiber audj nod) cine @£traremuneration an #eerben,
SRoffen unb — - jungen fdf)5nen 2Jlabd)en. Unb ba bem nidjt entfprodfjen
toerben fonnte, fo muftte, tuic fef)r aud) bcr alte Saueifer, ben nun bag
SSolf aufgenommen, fid) regte, unb hue fiif)lbar bag Sebiirfnifj fid} gets
tenb madjte, bag SBauen bod) unterbleiben, big bic #erren, ba eg mit
bem Ucbcrtricbcncn nun einmal nid)t ging, fid) enblid), urn bie SOtttte
beg fcorigen Sa^unbertd, ju SBittigerem Ijerbeiliefeen. S)ic Spreife fcit-
bem fur bie ©rt^eilung ber Sicenj jum 93au einer Jiirdje ober eineg
®lofterg, ba eine attgemeine SRorm bafiir nidf)t beftanb, toariirten t>er=
fdfjieben, ie nad) Sanb unb — Saune. 3k ber ©ercegotoina fpeciett
ttmrbe fie im htfrtftdjften ©inne beg 8tugbrudg nad) ber — ©He t>tx^
fauft. 2Bie lang, toie breit unb toie fjodj gebaut toerben tootle, bag tear
bie erfte grage, unb barnad) tourbe bag ©flenmafe ermittelt. S)ann lam
ber $reig, 10, 15, fetbft 20 S)ucaten bie ®He, nid)t ettoa ©runbeg unb
SobenS (ber modjte gei)5ren toem tmmer, ja felbft ©igentljum ber 93e-
toerber fein), fonbern bie (Site — Sicenj, fo baf$ ber greibrief jur <£r?
bauung fetbft eineg fteinen SHrd)leing leid&t auf 5 — 600, ber ju einem
Slofter tool auf bag 3^nfad^e fid) fteHen fonnte. $amit aber tear eg
nod) gar nidjt abgetljan. 3)enn toar man mit bem SSaue fertig, bann
famen erft bie entfanbten ©adfj&erftanbigen, urn mit ber (Site in ber $anb
nadjjumeffen. Unb merfttuirbig! 2Bie forgfaltig man fid) aud) an bag
Sebungene gefjatten, eg tourbe nidjtgbeftotoemger ftetg iiberf Written ge*
funben, freitid) tool toeniger ju bem Specie, bie S3urger um if)re S?5pfe,
alg ifyre a55rfen um ein Ijalbeg ober ganjeg §unbert $>ucaten 9taty
ja^lung ju fiirjen.
S)a§ bag ti)atfadf)lid)e SBauen unter biefen Umftanben mit bem Stfer
fiigfid) nidfjt ©d^ritt ju fatten fcermod)te, ift toot Iciest ju ermeffen.
©df)on bie SBefdf)affung beg ©etbeg fur ben greibrief toar ein fd&toereg
©tfid Strbeit. S3ei Sirdjen inbefj madf)te fidfj bag nodj. ©o ©tanjenbeg
unb ©roftartigeg bie Ueberlieferung alg SSorbilb aufbetoaljrt, man be-
f granite fidf) auf bag SRot^biirftigfte: 6— 7 ©tten Sreite, 10 ©Hen Sange,
7—8 6tten §o^e. 2>ag toar gerabe genug, um ben nad) Slbgang ber
SKauerbide toerbliebenen Staum, ben bie auggeftredten Strme jtoeier
SKanner tei^t burc^mafeen, in bie erforbertidjen jtoei X^eile ju t^eilen,
ben fiir ben 9tltar unb ben fiir bie ©emeinbe. greilidf) ^aben in einem
fotdf)en „©^iff'/, bem man xiberbieg, toenn auc^ nur anbeutunggtoeife,
gerne bie Sfreujform ju geben fid^ benuit)t, nic^t felten faum breifeig, ja
faum jtoanjig ^erfonen $Ia|. Stber man mufe fid^ bef^eiben. gur bie
§augt)dter unb fonft fiir ^erfonen, bie ben SBortritt Ijaben, reic^t bag
^in. 2tu^ fiir bie SBeiber bleibt rudtoSrtg gegen bie I^iir nod^ einiger
SRaum. SIHc Stnbern miiffen eben brauften fte^u. ©ott nimmt'g nid^t
fo genau. Segniigt er fidE) ja aud) bamit, toenn man im SBalbe ober
auf ^o^em einfamen Sergeggipfet feiner gebenft! SBag aber an gefaufter
tfUfter unb Klofterleben in ber Ejercegooina.
339
£5tje ate unjureidjenb ftdf) ertoeift, bag tradf)tet man burdf) Slbgraben in
bic Siefe ju erfefcen, toag meift — toenn namlid) bic tiirfifdjen $>erren
©adjtoerftiinbigen nidf)t batjinter tommen obcr nid&t bafjinter fommcn
ttwflen — nidjtg obcr bod) nid)t Diet foftet. Unb ftatt Don aufcen bcr
grcitrc^pcn fiiljren bann toon innen cin paar ^ettertreppen jur 2Bof)nung
bc$ $>errn. 9ln Drnamentif natiirtict) ift nidjt ju benfen. Dag 2lfleg
loftct SRaum unb bafjer — ©elb. Der cinjige ©til ift bic ®afjfijeit,
aufjen toie innen, bag einjige Ornament an gefttagen ein Saubgetoiub
ftber bem (Singang.
©cf)toerer fdjon geftaltet fid) bie ©ad)e, toenn ber fiif)ne ©ebanfe
auffommt, ein ®Iofter ju bauen. Unb ein Softer innerfjalb feiner ©e*
marfung ju Ijaben, ift, fo langc er eineg nid)t §at, ber fet)nlicf)fte SBunfdj
eineg ©tammeg, unb Ijat er enblicfj eineg, fein grofcter ©tols. „Imamo
monastir! 2Bir tjaben ein Softer!" Jjei&t fo toiel, atg: „Ung biirft gf)r
nidf)t fiir SBarbaren anfeljeul" S^elang toortjer fcfjon toerben 9Serfamms
lungen abgetjalten, auf ber Denne beg ffnefen, unter einem 93aume, auf
einem freien ^lafce im SBatbe, unb ber ©egenftanb nad) alien ©eiten
burdjberattjen. Da ift juerft bie Srage: too foil gebaut toerben? ®in
$unft iibrigeng, barin, toietool toon toerfdf)iebenem S^tereffe auggeljenb,
8taja unb -Dtadjttjaber in tootter Uebercinftimmung einanber begegnen. Diefe
junadjft, toenn fie fdjon in ben Drtfdjaften fetbft ober in beren unmittel*
barer Stitfje bie Sircfye bulben, tootten bag gteidje Slergeruifj feinegtoegg
audf) mit 93e$ug auf bag Stofter fidf) gefattcn laffeu. Daljer: fo toiel toie
m5glidj abfeitg, mo ber Stnblid fein gldubigeg Huge beteibigt. Slber
audj bie 8taja Ijat iljren guten ©runb, bie SSerborgenljeit, bie (Sntlegen;
fjeit ju fud&en, niimtid) bie ©orge urn bie ©idjerljeit. Denn bie SBurun-
tija, ben greibrief nur toermag ber SSefir ju geben; batoor aber ju f<f)iifeen,
bafc bie gerecfyte (Sntriiftung ber ©laubigen nid)t in geredjtfertigten XfydU
lid^feiten ftd) Suft macfje, toermag ober toitt er gar nidjt. Die (Srfaljrung
ljat bieg fattfam unb toarnenb ertoiefen. SWan^eg Slofter ftanb fdjon
fertig, unb in f einem 9trcfjitoe, urn toortommenben gatleg fie ben Diirfen
toorjutoeifen, toofytoertoaljrt, tag bie SBuruntija. Stber toag frugen bie
barnac^? ©ie brangen in'g Slofter ein, ^uben |>anbet an, mi^anbelten
ober erfcf)Iugen bie ajtondje, na^men, toag irgenb SBertt) ^atte, unb liefeen,
mit 3ubelget)eule abjietjenb, auf bem S)ac^e ben rotfjen §a^n juriid.
Cber fie f cfjritten, toenn bag nid)t fo teic^t ging, ju einer f6rmlicf)en Se^
lagerung. Die armen SW5n^e jttjar tuetjren fid^ toie bte £5toen. 3tud)
Slot^fignale toerben gegeben. ®g fommt ©uccurg. @g toirb gefampft.
Kllein ber Sluggang atten ^ampfeg ift in ©otteg $anb. „Prema Boga
nima generaia!" Ueber ©ott ift fein ©enerat! @g ift \a ihimer moglid},
ba§ — ein SSunber ni^t gefd^ief)t, unb man ber Uebermadjt fic^ nic^t
toe^ren fann. Dann toirb bag Slofter jum ©djuttljaufen, jum ©rabs
^iigel iiber ben Seicfjen feiner SSert^eibiger. Dber eg gefdjieljt ein — SBunberf
Rotb unb ®Cb. vn, 21. 23
3^0 Siegfrieb Kapper in ptfa.
man erfoetjrt fid) iljrer, tobtet meHeid^t gar ©iuen obcr ben Stnbern, unb
bann ift crft redjt feineS 93leiben3 an bem Drte. #eine ©tunbe ift man
fidfjer Dor bcr unauabteibtidfjen SRadfje. SWan getjt batjer licber gtcid), efje
man mit $ed)franjen tjinauSgetrieben tt)trbf urn fd&ttefjlidf) unter ben ®otben
ber 2Butf)enben bann bod) nnr ben lob ju finben. Die SKondje jer?
ftreuen fid). 2>a3 Stofter bleibt leer unb Derfattt. Unb mill man eine£
mieber tjaben, fo mufj man eben timber Don Dome anfangen, namltdj bei
ben Ducatenrotten fur bie ©rtaubnift. 3)aS finb bann bie 9tuinen jiingeren
DatumS. 3)at)er, urn atte bem borjubeugen, lieber gtetdf) fo meit mogltd)
au£ bem SBege, in irgenb einen, Don fteiten getetoanben umragten ZfyaU
feffet, in bie 5be ©teinttmfte, in bie tiefe Urmatbeinfamteit, auf eine
fdjtoer ju erftimmenbe $>5Ije. 3e fdjmerer auffinbbar unb je fcfjmerer
jugaugtid), befto beffer.
Unb nun man ben Drt tjat, unb audj bie 9Rafte feftgefefct finb,
nun fommt bie SBuruntija. Sine grofie ©orge! %<if)vt tang mteber mirb
t)in unb f)er beratljen. 3Jlan tegt jufammen, e3 reidjt nid)t au£. SKan
jd)ie§t ju. ©3 tangt nod) nidjt. ©o getjt e3 benn an'S Umfammeln.
©in Seber tljut ba, tt>a$ er fann. SRiemanb fdjtiefct fidfj au3. $)te fjrauen
tofen if)re Setttein Dom &ate, bie SDtabcfjen itjre SRinge au3 ben Dtjren,
bie $>irten opfern iljren Rcfyrtdlofyn. ©3 ift eineS ber rii^renbften Sieber,
ba3 Dom blinben ©aDro, ber, urn einen SBeitrag ju einer fotdjen ffiottecte
angegaugen, ba er nidfjt einmat einen $ara in ber Xafdje t)at, fidj frifd)s
meg mitten in ben $rei3 auf einen Stein fefct, unb mit ben SBorten:
„3)a icfj ein armer SBtinber bin, unb uid^t^ beifteuern faun, fo mitt tdj
fur bie $irdje menigfteng ein Sieb fingen!" einen ©efang Don ber 3«5
ftorung beg StofterS Sorbofd) bei Srebinje (1669) improDtfirt, fo er=
gretfenb, baf$ atte Slnfoefenben barttber in £t)ranen auSbredjen, unb Ujr
tauten SBetnen unb ©djtucfjjen ttrieberljott itjn nottjtgt, abjufefcen. Slber
aucfj bie ©itbermitnjen fatten reidjticfj in feine auf bem Soben tiegenbe
fiappt, unb ©aDro, ber SBlinbe, ftetjt mit einem ber grofcten SBeitrage
obenan an ber ©pifce ber ©tifter. ficiber in feinem ©ifer mar er fo urn
bebadjt, fidf) ju eintgen ettoaS ftarfen ©jpectorationen fortreifeen ju taffen.
3)a^ murbe bem SBefir ^interbrac^t, unb nifyt nur tjatte er in tanger
fd^merer Serferfyaft feinen D^fereifer ju bitten, audj bie ©rtangung ber
95uruntija murbe baburc^ ni(^t menig erf^mert unb — oerttjeuert.
©nbtid) nun f 5nnte man bauen, menu man nur bie erforbertidjen SKittel
ljatte ! 95auteute Don ber 2Reere3ftifte, „maistori ot primorja"t au^ Datmatien
namtid^, ba^ Don Sitter^ jjer bag §intertanb mit Str^iteften, SDtaurern
unb ©teinmefeen oerforgt ju t)aben fd^eint, fann man nic^t fommeu taffen.
©o madE)t man fid) benn fetbft baran, abermalS in gemeinfdjafttidfjer ®e^
t^eitigung. 9Kan bridjt ©teine, man ^ebt ©anb au£ unb tragt i^n auf
©fetn unb SDtautttjieren ju, man brennt Satf, man mauert f^tiefeti^, man
jimmert, bie eine SBo^e bie ©inen, bie na^fte bie 3tnberen unb fo fort,
Klofier unb Klojierleben in ber ^crcegocina.
big man bei bent ganjen ©tamm tjerum ift. Stiemaub uimmt 3of)fang.
3)en Slrmen todf)renb f einer SIrbeitgtoodje erndtjren bic SBemittelten. S)ennod),
ba cin Seber aud) fur fid) ju tljun Ijat, fann eg nur langfam toon flatten
getjen nnb nur ftiidtoeife. @g ift genug, toenn man bag erftc ben
©runb Ijeraugbetommt. ®ag jtoeite %a1)x fommt'g big jur jjalben SRauers
tyolje, bag britte big jur ganjen, bag toierte bringt bie (Sinbadjung unb
im fiinften, tt>enn nidjtg bajtoifdjen fommt, ift eg trietleidjt moglid), ben
93ifd)of don SDtoftar jur @inh)eif)ung ju bitten, bag fjeifet, menu man
fo Diet (Mb Ijat! Senn aud) ber SKann madjt nid)tg bittig. 3m tiirs
fifteen Sfteid) bie 93ifd)5fe finb $afd)ag in ber ®utte. 2Bo nidjt, mufi eg
audj ein SKinberer treffen, — unb er trifft'gl
9lun ift toenigfteng ber Stnfang gemadjt. 3Ran Ijat bie $ird)e, eine
im t)6d)ften ©rabe primitive unb befefyriinfte jtoar, nid)t gr5f$er mandjmal,
a(g in unferen ®ird)en eine — 9Hfd)e, bie ©inridjtung armlid), bitrftig,
rofjgejimmerteg £otj, |>eitigenbitber toom 3<rf)*ntarft einer ber benadj*
barten ©tdbte, bie SSorfjdnge, bag ljeimifd)e ©etoebe opferhritliger $aug?
frauen, aber bod) bie £auptfad)e, ben ®ern, urn ben, tommt 3^it, fommt
SRatf), bag SBeitere fid) anfefcen tann; nad) einiger 3eit, fo balb man fid)
erft ein toenig ertjolt, unb Stugftdjt ift, bafj man aud) einen 9R6nd) tnerbe
erfjaften fonnen, eine 3*He, barin eine Sagerftatte unb ein 93etfd)emet,
nebenan eine geuerftette mit einem fupferneu $od)feffel unb einem eben*
foldjen SBafferfiibel, unb ein aug ein paar ^(Jfdljlen rof) jufammengefitgter
Stall mit einer 3i*ge ober einer ©felin, unb — bag Sfofter ift eigent*
lid) fertig. Denn man ift Ijierin fo geniigfam, bafc man, urn ben lang*
getjegten SBunfd) enblid) einmal t>ertoirftt$t ju fef)en, felbft Don bem
©runbgefefce ber 3>rei, bie erft ein ©oHegium madjen, abfiefyt. S3o
nidjt mefjr ju Ijaben finb, ift aud} @iner ein Collegium. 9laty %af)xtn
mefleidjt hrirb'g moglid}, ber einen &tUt eine jtoeite, bann toeiter nadj
Saljren eine britte, toietleid)t fogar eine toierte tymjujufugen. 2ludj bie
Umfaffunggmauer big ba^in mirb metleid)t fertig gebrad^t unb fein URenfd)
me^r loirb gegen bie SBeredjtigung beg ftotjen SBorteg „Imamo monastir!44
ettuag einjutoenben ^aben. 93icl $runf freili^ tnirb mit bem „9Ronaftir''
nic^t ju ma^en fein. $Ian- unb ftiltog in f^mudlofem 9to^, oft im ur^
fpriinglidien ©tjclopenbau ^at ©tiid an ©tiid fid) angefiigt, nur jit)ei ©e?
fefcen folgenb: bem ber mbgli^ften ©parfamfeit im SRaume unb bem ber
©idjerljeit. S)a^er bie ^na^p^eit in Stttem, bie ©ebrungen^eit, bie un*
derpltnifemafeige ©tarfe ber 3Kauern bei ber untoerljaltni&maftigen S5e^
f^rdnft^eit beg umfd)Ioffenen SRaumeg. S)ie 3cHe ift fo eng, ba§ ein
SKenfdj jur 5Rot^ barin beten unb fdjlafen fann 3um 3tuf- unb 2lbs
ge^en ift fie nidjt gemac^t. Daju ift ber |>of ba. Slber auc^ ber £of
nid^t felten ift fo befdjrdnft, baft bag 2luf- unb Stbge^en barin, jumat
fiir me^r alg ein ober jloei ^Jerfonen, nidjt gut moglic^ ift. @iuen fo
gerdumigen ipof, wie bag Slofter S)uf(^i (fpri^ toie franjofifc^ douji),
23*
3^2 Siegfrieb Kappcr in ptfa.
Dag fo oft fdjon ein formlidjeg Sriegglager in fid) aufgenommen, fjat nidjt
jebeg Slofter. Uub batjcr audf) bag faftettartige 2tugfel)en: bic mddi)tige
Umfaffuuggmauer, gefront oben mit einer Ijoljen Sage locfer ubereinanber
gef<f)t<f)teter fefftoerer ©teine, bic bci jebem SSerfudje, bic SKauer ju iiber;
fteigen, derberbeubringenb auf ben (Sinbringliug nieberrotten, unb aufcen
urn fie t)er bcr brcitc mit tdufdjenbem SReifig derbedte ©raben; bcr
derborgene 3ugang, bcr toeiter nid)tg ift, alg cine fdfjmale, iiberbieg forg=
faltig derbecfte ©palte in bcr 2Rauer, fo eng unb fo niebrig, ba§ ftetg
nur cin (Sinjelner, unb bicfer nur gebticft unb mit 2Ru^c fidf) burdj fie
burd)fd)ieben fann; bic ©djiefcfdjarten atlentfjalben, in bcr UmfaffungS-
mauer, unb ftatt bcr genfter in ben 3eHen, unb felbft in bcr ®ircf|e; bie
ftetg alarmbereite, jugleidj bic derbotene ©tocfe dertretenbe Slepetatfdja,
cin jtoifdjen jtoei §ot}pfdt}Ien befeftigteg SBret, baran mit einem ljoljernen
®\'6pptl gestagen toirb, fur geto51)ttlicfj ber SBccfer ber 9Rondf)e unb 9Ser-
funbigcr beg ©ottegbienfteg, ju 3?iten ber SBebrdngntfi abcr ber ©tiirmer
unb $iilferufer, beffen ©djrei toeitljinaug brtngt aug ©djtucfyt unb SBalb;
einfamfcit in bie benacf)barten Sadler, unb ftatt jum ©ebete $u ben
SBaffen ruft.
2)ajs untcr bem SBaltcn folder Buftdnbe in ben fiibfladifdfyen Sdnbern
gcgen etjebem unb junta! im SSergteidje mit bcr Sebeutung, tuett^e biefer
Snftitution innerfjalb ber ortfjobojen S?ird&e beigemeffen ift, ber ffilofter
derf)dttnif3mdfiig jiemlidf) toenige finb, ber ©taub ber SDWndje barin nur ein
geringer ift, fann tool nidjt befrcmben. S)ie gauje &ercegodina 2[Heg
in Slflem f)at ifyrer nidjt mefjr alg fieben: 2)ag Slofter 2)ufdf)i, in ben
beriitjmten ©ngpdffen gleidjen Siameng, bic in ben 2tufftdnben bcr £er-
cegodina unb in ben Srieggjiigcn ber SKontencgriner don jetjer cine fo
toidjtige SRofle gefpielt; — bag Slofter Badala, toenige SBegftunben
nSrblid) don Irebinje auf bem SPopodopolje; — 3)obritfd)edo in ber
Stdtje ber montenegrinifefyen S3rbis®iftricte; — ©d)itomifdf)titi (fprid)
toie franjofifcf) jito) im ©ebirge ©totfefja; — ©oranffo in ber Sanb-
fcfjaft SJSida untoeit 3)robnjaf; — Sofjijerodo, untoeit beg in ben lefcten
ffdmpfen diet, aber ftetg fdtfdjlidf) „$Bitef" genannten Drteg Siletji; —
enbticf) bag Slofter gotfdja auf bem Stjelopolje. Der ©tanb in fcinem
biefer Stofter, dor bem Slufftanbe, fanf tool unter dier, erljob aber and)
in fcinem fief) iiber fed^g Salubjercn. 9tid)t alg ob bieg bem SBebarfe
geniigte, fonbern cinfadE), toeil feineg bcrcn met>r ju ertjalten im ©tanbe ift.
Uub toic bie f)od)ftmogIicf)e S3cf^rdnfuug eg ift, bie bem ganjen
ftloftcrtocfen don 9tnbeginn an ©eftalt unb ©ctjatt gibt, fo ift fie eg
aud), nid)t ber feetforgerif^e Sebarf, bcr bei ben ©orgen fiir ben $lafy
toud^g alg SJlafe gift. 5Rid)t bie grage entfte^t: „3Bie diet ^?open, toie
diet Salubjeren bcn5t^igt bie aSedoIfcrung?" fonbern: „gitr toie diet
©d)olaren fann bag Softer bag SKittaggbrob aufbringen? 2Bie diet
beren braud)t ]eg in fcinem eigenen ipaug^alt?" 3)cnn bie 2cl)rjat>re
KlSper unb Kloperleben in ber Jjercegoru na. 5^3
eiitc^ fotd)en ©djotareu, 3)jaf genaunt, ftnb jtoar tang, ber gnfjatt aber
bcr fie augfiittt, iiber atte 9Sorfteltuug biirftig unb einformig, ber $aupt*
ttjett begfetben — orbeiten toie ein Diener unb bienen tote ein gamutug.
Diotnjen gibt eg ba nid)t, nur Snedjte ber SKonc^c, bie einft ffnedjte beg
4?errn toerben fotten, — iibrigeng burdjaug barnad) angetljau, ben jungen
3Rann fur bag fiimmertid)e, befdjranfte, entfagunggtoolte 3)afeiu, bem er
entgegenreift, griinblid) toorjubereiten.
Unb bennod) fiir ein tjercegotoinifdjeg $aug gibt eg nidjtg ©rftrcbeng;
roerttjereg, feine gro&ere (Sljre, ate unter feinen ©ot)nen einen Satubjer,
ober minbefteng einen $open ju tjaben. @g ift bag bag $6d)fte, toag
erreidjt toerben fann in einetn Sanbe, beffen gefammter SMlbunggbefjelf
fid) auf einige nortjbiirftigfte ©tementarfdjutftuben befdjrdnft, unb bag erft
jeit ganj Surjem, in toetdjem bem ©trebenben toeber bag £anbtocrf bie
Sttltaggtaufbatjn ber ndtjrenben, nod) bie Sunft bie tj5t)ere beg 9tul)meg
crdffnct, unb in toetdjem, 2)anf bem ogmanifdjen SBotfgerjietjunggftjftem,
alleg SBiffen unb S5nnen beg SSoIfeg in primititofter getbarbeit unb in
ber notljburftigften SBiefoudjt fid) erfdjopft. S)a ift nun aber im &aufe
cin gefdjeiter, getoecfter Suuge, ber Siebling ber gamitie. 3Jon Sinbljeit
auf f)aftet fein Stuge an ben $eitigenbitbern beg |>aufeg unb ber Sirdje
unb bemiiljt er fid), bie Unterfdjriften barunter ju entratf)fetn. 3Jer-
gebeng. Stiemanb ift ba, ber itjn anteite, fie ju lofen. ©ooiet aber ift
Sttten flar, er ift ju ettoag $51jerem prabeftinirt. 3unad)ft allerbingg nur
jum Satubjer, jum $opcn. Slber fann er nidjt aud) Sgumen toerben,
Slrdjimanbrit, ^rotojer? 2)er entfdjtufc atfo ift gefafct: „2Bir fiif)ren iljn
in'g Sloftcrl" S)a fleibet it>n benn bie SKutter in feinen ©onntagganjug,
binbet itjm ju bem, toag er am Seibe Ijat, nod) ettoag fiir „atte Xage"
unb ettoag Seibtodfdje in ein Staujtein, ober, urn ber SBaljrljeit bie @f)re
ju taffen, in einen $>aferfad, unb baju einen gro&en Sudjen, eine ^ogatfdja;
bie ©djtoefter t^olt aug ber SBorrattjgfammer eine ©djotle Gutter, einen
gtaben Safe, ein Sorbdjen 6ier, ber Sruber aug bem Setter einen
©djlaudj 2Bein unb einen ©cfjtaud) SRafia; ber Sater bann greift aug
ber |>urbe aud) nod) ein Samm Ijeraug unb fort getjt'g ju Dreien, ber
6fet ndmlid), betaben mit atten biefen ©djafeen, obenauf Ijodenb ber
Sunge unb nebentjerfdjreitenb ber SSater, nadj bem Stofter. Sftit fjeitiger
©djeu brdngt ber 3unge fid) buret) bie SDtauertude. S)er ®fet, ber nid)t
bur^fann, bteibt natiirtic^ 'braufjen, unb bie SKonc^e bemii^en fid) fdjon
ju t^m ^eraug, urn iljm bie S3iirbe abjune^men, bie, mag bag Stefuttat
beg Stufnat)mebetoerbeng nun fein toet^eg immer, jebenfaflg bem Stofter
Derbteibt. S)enn toag S)u bem Stofter einmat aud) nur jugebadjt ^aft,
bag ift fo toie fein eigen, unb S)u fottft eg i^m nid)t Dorent^atten. S)ie
Setoerbung aber ift eine giinftige. 3)er Sunge gefattt bem Sgumen unb
aud^ ben anbern Satubjeren. %n ber ©eite feineg SSaterg nimmt er —
augnatjmgtoeife, toeit er noc^ atg ©aft gitt, — am fpartidjen SWate S^eit.
5^4 Siegfrieb Kapper in pifa.
3)ann getyt bcr SBater. Der Sunge bteibt. ©cine 8ef)rjal)re beginnen.
3wtacf)ft bamit, bafe er cittern ber f atubjeren — bcr 3)jaf begfelben tft
furjtid) abgegangen, unb biefem Untftattbc tjauptfadjlidf) ljat bcr junge
SBetoerber bie gunfttge Slufnatjme ju fcerbanfen — jum Unterridfjt ju=
gettriefen ttrirb. 3)cntt ©djule ttrirb im Stofter nidjt gcljaltcn. Seber bcr
2Rond)e te^rt, unb bag Kottegium eineg jebett befdjrantt fid) auf ben tfjtn
jugetoiefenen ®jaf. 3)ag SBentge, beffen eg bebarf, urn eine Stoftersefle
ober ba^ Stmt eineg tyoptn mit SBitrbe augjuftttten, ttrirb bicfem fdjon
fcin SKcifter betbrtngen. @r ljat 3eit genug baju. SBorauf eg fitr'g
(Srfte anfomtnt, tft, baft bcr 2)jaf mit ben Dbttegenfieiten ftdf) toertraut
madje unb fid) in itjnen einfdjute, bie cr gegen bag Sflofter bafitr ju er-
fiitten fjat, bafe eg itjn aufgenommen, gegen feincn SReifter, ba§ cr ifjn
unterridjten — ttrirb. 2)cnn in bcr (Srfuttung bicfer Dbliegentjeiten, ttrie
gefagt, ttrirb \a ofjneljin bcr toeitaug grdfetc 9tbfdf)nitt feiner Setjrjeit ftcfj
erfdj5pfen. @r ttrirb %<rt)rt fattfl bamit tjinbringen, bic 3rile f eineg
Setjrerg ju fcfjeuem, 511 fegen, aufjuraumen, fic mit SBaffer unb £ot$
ju toerforgen, fitr feincn SKciftcr Sfaffee ju fodfjen, fcinc — bag tjeifjt,
toenn bergteidjen itjm ein Sebitrfnifc tft — Sfutte ju bitrften, fcin #emb
ju toafdjen. @r miniftrirt ijjm bci fcinen firdjtid&en gunctionen, cr be*
gteitct iljn auf fcinen SBanberungen, trdgt iljm feine ©adjen, fammett bie
©efdjenfe an SSictualien ein, bie er befommt, unb fdf)Ieppt in etnem grofeen
©acfc fic iljm nadi, lauft fitr i^n atte SBotengange, ift fein ©ourier, fcin
Ouartiermadjer, fcin getbfod), fein factotum. Seine iibrige S^tt oer-
toeubet er baju, beg Stofterg ©djafe unb Btegen ju tjiiten, im 28atbe
&ots iu fatten unb bie gef&ttten ©tamme unb ^Jritgct in'g Stofter ju
fdjaffen, ben ©tall ju reinigen, ben 3)unger^aufen in Drbnung gu fatten,
im gctbe 511 arbciten. Unb erft bie 3eit, bie nad) allebcm tym nod)
eritbrigt, geljBrt ber — ©etetyrfamfeit. ©titdtidjertoeife ift biefe ntdjt
fetjr umfajfenb, fonft fame ber 3)jaf tt?ot jeittcbeng nic^t baju, mit ifjr
fcrtig ju tuerben. Sraudjt er \a mti)t fctten cin Dotteg 3at|r, c^c er
tibcr bag fdjttrierigfte Sapitet berfetben, itber bag beg ffluc^ftabireng,
^intuegfommt! 3)ann grofee $aufc. Sti^tg foil bcr SDtenfdj itberciten.
6r ^at fo nid^t mc^r Diet dor fid). Dcnn !ann er ben Xfdjagtot)a|, eine
2trt gibct, unb ben ^falter, bcibe in attftatjifc^er ©pradje unb ©c^rift,
o^ne Slnftofe tefen — ju toerfte^en, toag er tieft, ift itbcrftitfftg —
jur 9lot^ auc^ ein toenig fdjreiben, unb ^at cr bic rituatcn ^roceburen
unb gormctn perfect imte, fo gitt bag gerabe fo triet, atg toenn cin
©anbibat an ber Alma mater ju 3^na bag 3)octorat in theologicis maximo
cum applausu erroorben. Seine ber SBtirben, bcr toctttic^en fotool toie
bcr floftcrtic^en ^picrard^ie, ift if)m unerreid^bar. ©r fann fetbft 93if(^of,
ja fogar ^atriard^ roerbeu, — bag ^ei§t, infofcrn ber $>ercegot)iuer i^m
nic^t im SBege ftc^t. Denn feit bem tefcten ^ercegodinifc^en SWetropotitcn
Stt)jrentijcf big auf roetdjen bie SKctropotiten ber §ercegofcina ftetg ©in-
KISfter unb Klofterlebcn in ber £>ercegorina. 5^5
geborene getoefen, ljat Icin §ercegotriner meljr ba3 ©liid gefjabt, in biefe
SBfirbe eingefefct ju toerben. 2>ie $>ercegotoina nadj bcm 2obe 2lt)£entije§
tourbe furjer $>anb bcm 9$atriard)en toon Sonftantinopel untergeorbnet,
unb ben bifdjSfttdjen ©ifc ju SDtoftar naljm feitbem ftetS enttoeber cin
©riedje obcr cin 93ulgare cin, bcr toenigftenS ben SSorjug Ijat, baft cr
bic ©pradje feiner ®i5cefanen — nidjt toerftef)t, fonad) in iljren nationotcn
©trebungen fic iebenfatte nidf)t f&rbern toirb, tt>ie bieS bic friiljeren fjer*
cegotoinifdjen SWetropotiten jum Xl)eil atterbingS getfjan.
Unb nun, nadjbem unfer 2>jaf fo toeit gebietjen, nun tommt bic
©tunbe bcr ©ntfdjcibung. ©oil unb toirb cr im Slofter bleiben, obcr
nid)t? ®a£ Ijdngt nun freitid) toor SlUcrn batoon ab, baft cin $Iafc vacant
fei, fobann aber and) batoon, ob cr Suft unb SReigung tyabe, iljn einjus
nefjmen. ©erabe bie£ aber, e3 fann nidjt toerfdjtoiegen loerben, tft
untcr alien gdHen bcr feltenfte. 3)a3 &>o3 eincS Ijercegotoiuifdfjen 3R5n=
d)e£ f)at eben nid)t£ SBerlodenbeS. 2)ann ift aber aud) fur ben jungen
SKamt, ber mittlertoetfe feine 18—20 Safjre alt getuorben, im Stofter
nidf)t (anger SBteibenS. ©o tritt er benn Dor ben 3gumen t)in, bebantt
fid) bci itjm, banft feinem SKeifter fur ben genoffenen Unterrtdjt, banft
ben iibrigen 9K8ud)en fur bie erttriefene 9tad)ftd)t, ben juriicfbleibenben
©enoffen fur bic ertoiefene 2Jruberfid)feit, empfdngt nod) ben ©egen be3
Sgumen, fagt ber ©tatte, an ber er ad)t 3a$re bamit augebradjt, bcr
©djitbfnappe feineS SKeifterS ju fein unb biirftig fdjreibeu unb tefen ju
lenten, Sebetoofjl, bridjt toom #afelbufd) im Slofterljof fidf) eincn ©tab
unb — feljrt juriicf in'3 SaterfjauS: er toirb tyop toerben. 3)er erftc
©djritt nun, ben er auf biefcr erforcnen Sebcn^ba^n tljut, ift, baft cr —
cin SBcib nimmt. Damit ift if)m bie Slofterjette ein fur attentat ber;
fperrt, e3 fci benn, baft e3 bem tieben ©ott gcfaHt, iljn jum SBitttoer ju
madjen, in toetdjem gatte e£ iljm immer hrieber freiftefjt, ju berfetben
jurudjufetjren. S)ann fietjt er ju, ttrie cr fi^ ba^ n8tf)ige ©ctb bef^afft
tt)et^e^ „ba^ #anbauflegen", b. i. bic cigentti^c ^rieftcrtoeitjc foftet.
2)icfe aber fann einjig unb attein bcr SWctropolit, ber SBifdjof Don SKoftar
i^m ertljeilen, unb bcr — laftt fid) jaljlen. Unter 20, minbeftcn^ aber
10 3)ucaten, cine Sludfic^t, bie er nur bem 2lHerarmften ju X^eit totx*
ben laftt, ift fcine £anb nic^t ju Ijaben. ©ein ©runbfafe ift: „9Ki^ ^at
mein Sigt^um genug gefoftet; ben ^atriardjen ju Sonftantino^d, bcr
bic SiStljiuner feit ^at, fann man nidjt mit einer ffiteinigfeit abfertigen;
cr weift bi§ auf cine $ara, toa% jebc^ trdgt, unb madjt barnac^ bie $rcifc;
ba3 gc^t glei^ in bic ljotjen laufcnbe unb barna^ muft bann au^ i^
meinc 5J5rcifc madden; fe^1 ber $op bann, toie cr loeiter fcine Soften
Ijereinbringt; ©ef^dft ift ©cfd^dft, aud^ ein IjeiligeS!" Unb ^at feinc
^eiligfeit ju SWoftar i^m bie £anb enblic^ gliidlic^ aufgetcgt, bann —
fieljt cr ju, too fidj cin S)orf fdnbe, bag feiner Dienftc benbt^ige. 3)a«
finbet fid) oft balb genug. S)enn cincn $opcn im Drte ^aben, ift untcr
Siegfricb Kapper in pifa*
alien Umftdnben einc fdjone ©acfje unb auf einen &nitt SBotjnen unb einen
fiiibel SKaig fommt eg juft nidjt an, toenn man einen Ijaben !ann. SRodj
ofter aber finbet fidij feineg, unb bann tradjtet er enttoeber, einen bereitS
ljodjbetagten ^Jopen augfinbig ju madjen, bem er in ben feelforgerifdjen
(Sefdjaften nur Sfagljiilfgbienfte leifkct, natiirfidj unentgelttidj unb oft %<d)re
tang, big ber ^often cnblic^ ftei toirb, ober — greift ju ettoag 3lnberem,
toirb ©djulmetfter, tooju in letter 3eit, feit bie 8taja auf ifjre ftofte*
fiir bie SBotfgfdjulen ju forgen begonnen, ftdj mandje ©elegenljeit trifft,
ober treibt gelbbau, aSietyjudjt, &eerbenl)anbet, ober befafet jtdj aud) nit
2rangportgefd)aften, toag fo Diet Ijeifct, ate, fdijafft fid) ein ©aumrofj an
ober ein 2Raultf)ier unb fradjtet tjin unb §er jtoifdjen SRagufa unb Irebinje,
5toifcf)en Xrebinje unb 9Koftar. ©oldjer $open, bie Don if)rer ^riefter-
fdjaft „feinen ©ebraudj madden", gibt eg fetjr Diete, oft audj in befferett
©tettungen, hrie man bag toaljrenb ber lefcten Snfurrection ljaufig genng ju
beobacfyten ©elegen^eit getjabt, too man ifjrer nidjt toenige ate SBojfcoben,
SBarjaftare, Sommanbanten an ber ©pifce betoaffneter Eolonnen feljen fonnte.
Irifft eg fid) jebodj einmal jufaKig, baft cine 3eHe leer ftetjt unb
baft ein Djaf Suft tjat, bag 9Kond)ggett>anb anjutegen, fo toirb §ur ©in*
fleibung gefdjritten. Dag canonifd)e Sifter t)ierfiir ift jtoar auf 28 3al}re
f eftgefefct unb bag ift feljr toeife. Demt tt>er big bafjin ben ioetttidjen
ffiunjdjengttritrbigteiten entfagen gelernt unb fid) in atf bie Serjidjte beg
Sloftcrlebeng eingelebt, Don bem ift taum mefjr ju befiird)ten, ba& er eg
bereuen toerbe. Die ©rfaljrung aber, bafj in biefem Sitter bie meiften
bereitg betoeibt feien, ober aud) fonft toenig SReigung unb (Signung fur
bag Stofter betoaljrt Ijabcn, t>at Don 3*it ju Sett ju immer toetterem
afliicfgange Don biefer 9lorm genotljigt, big man enblid) bafyin gefommen,
audj laum erft mit ber Secture ber gibel unb beg ^falterg fertig getoor*
bene Sunglinge Don 20, ja aud) nur Don 18 3<*f)*en ju pokaludjeriti,
b. i. ju Dermondjen, toie ber Dolfgtf)umlid)e Stugbrud ^eifet.
2luc^ in biefem gatle ift bag ©rfte, toofiir geforgt merben mufe, bie
§anbauflegung ju SWoftar. 3)ag ©rib baju gibt bie gamilie §er, bie
bieg nidjt ungerne t^ut, ba permit einmal fiir immer bie Slnfyrudje beg
jungen SRanneg an fie auf^oren ober, toenn biefe eg nic^t aufjubringen
Dermag, bag Softer felbft. 3)er Sorgang babei ift gans berfelbe, mie bet
ber SBei^e jum $open, ba aui) ber 3R5nc^, unb jtoar Dorjuggweife unb
no^ Dor bem $open jur ?Priefterf^aft berufen ift. 3)ann erft, na^ ber
£anbauflegung, fommt bag „aSerm5n^en//. @g beginnt fc^on in SKoftar,
unb jtoar bamit, bafe ber SKetropoIit bem iungen „^riefter" in ber
ftatljebrale unb unter feierti^er Slffiftenj bag ^aupt^aar fiber bem
®d)eitel in ffireujform augfc^neibet. Da finb aud) ftetg feine 8tnge^5rigen
iugegen, fein 9Sater, feine SWutter, feine Sriiber unb ©d)toeftemf feine
Dtjeime unb SKu^men. 93ig ba^in ift er iljnen noc^ @o^n, ©ruber,
95ettcr. Son bem 5lugenb(td aber, ba bag ffireus iiber feinem S^eitel
Klojler unb Kloftcrlebeu in ber Ejercegotmta. 5^7
auggefcfjnitteu ift, ift cr iljnen, toeun aud) nid)t entfrembet, fo bod) tnU
riidt fur immer. Sr ift hue cin l)5f)ereg SEBefen, &u bcm fic emporbtiden
mit @f)rfurd)t, aber aud) mit ©tolj, unb nid)t nur bic SBruber unb bic
©djtoeftero, audj bic alte SKuttcr unb bcr SBater, fetbft bag toanlenbc
©ro&miitterdjen unb bcr gebiidte ©rofftater, bic, gcftufet auf ben ©tab,
nad) Sftoftar fidj gefc^Icppt, urn bcim (Sljrenfefte beg @n!elg nidjt ju
fetylen, fiiffen tf>m bic $anb. Dcr crftc ©egen bafiir, ben er ertfjeilt,
gc^5rt il)nen. 3)ann begleiten fic iljn 2We nodj big §u feincm neucn
SBaterfjaufe, bent Slofter. 2)od) nur big jur ^forte. #ier erft fliefeen
bie Sljranen, unb fic fliefcen nod) lange, unb bic ©egengfpriidje bcr
SKaroier unb bie 2lbfd)iebgtieber ber grauen, nidjt una()nttd) ben ©e*
fangen ber ®lagetoeiber urn einen Serftorbenen, folgcn iiber bie SKauern
Ijimiber ifjm nodj lange nad), Winter benen er ifjrem Slide unb iljren
2lrmen nun oerfdjiounben. (Snblidj finb fic fortgejogen. Unb nun tritt
bcr postriznik, b. i. bcr, bcm bag $aar abgefdjnitten toorben — eine
S9ejcic^nung, bie nidjt ettoa in Ijerabfefcenbem ©inne ju nef)tnen ift, fom
bcm ganj g(eid) bebcutenb ift mit kaludjer, unb bic bei fciner Unters
thrift er fcfbft fogar feinem 9Zamen beifefet — oor ben 3gumcn Ijin,
unb uberreidjt iljm Inieenb bie |>aarIode. 2>amit ubergibt er i^m unb
bcm Slofter fid) fclbft. S)er Sgumen ubernimmt bie Sode, lmdelt fie
in ein feineg 2ud)Ieiu, einc vezana marama, bag lefcte ©efdjenf ber
©djtoeftern beg postriznik, tfjut fie in ein fleineg ©djadjtetdjen unb oers
fieljt biefeg mit feinem ©iegel. S)ann umtauft er ben postriznik auf
ben fttofternamen, ben er oon nun an futfren mirb, toobei ftetg ein fol-
djer getoaljlt mirb, ber mit bcmfelben 93ud)ftaben beginnt, hne ber bigfjer
gefiiljrte 2aufname, 5. S3. 9hfifor ftatt 9tifolaug, Srfenije ftatt Storam,
unb fiiljrt ifjn in bic fiir il)n beftimmte 3eHe ein. Stuf bag ©djadjtel;
djen mit ber Code abcr fdjreibt cr bie SBorte: „2)ag ^auptljaar beg
9K5ndjeg 91. 9?., an bicfem unb bicfem lagc beg fo unb fo nielten So^reg
beg §eilg," unb oertoaf)rt eg in bcr Sirdje tjinter einem ber Stltarbilber.
Unb ba toirb fie nun bteiben, unentfernbar aug bem SHofter, mic ber
9!R6nd) 91. 9t., bem fie gel)5rt, big ju bicfem ber 9tttegenber, ber 2ob,
in bie 3ette tritt unb tyn ctnfammclt ju 3^nen, bic aug ityr i^m bcreitg
Dorangcgangen ^inab in ben Slofterljof unter bic $afel? unb ©oHunber^
ftrauc^e ringg urn bie £ird)e; unb fic unter einem ber SSiifdje auc^ ifjn
ba begraben, unb i^m bie Sode in ben ©arg mitgeben, unb Slfleg mit
einem groften flaxen, auf bag ©rab gelcgten Stein abfe^tiefeen, mcift
o^ne attc Snf^rift, jutoeiten mit ben furjen SBortcn: „§ier ru^t im
$>crrn ber 9Kond^ 91. 91., geftorben ben unb ben lag in bem unb bem
Safjre beg £eitg."
5^8
Siegfrieb Kapper in pifa.
II.
2>ie Drganifation beg Klofterg innerl)alb feineg fleinen SreifeS tjt
bic eincr gamilie. 3)ag fyaupt berfelben ift bcr 3gumen, bet rEyov(uyogy
bcr gitfjrer, bcr Seitenbe, ben bie SKflndfje ftetg felbft toaljlen aug tfjrer
SDtitte unb fur 2ebengjeit, toobei, toenn nidfjt augnaljmgttjeife (Sinen ober
ben Stnbem befonbere giil)ig!eiten unb beadjten$tt>ertf)e gamilientoerbin=
bungen empfefyten, fur gettjflfjnlid) lebigttdf) bag {jfltjere Sifter mafcgebenb
ift. (Seine ©flljne ftnb bie Salubjeren — er foridjt fie aucfj ate sinovi,
©5f)ne, ober audj ate bratja, SBriiber, an; feine $inber, gletd)fam bie
unertoadjfenen, unmiinbigen, bie djaci, bie er batyer auclj deco moja,
meine ftinber, anf priest. @r reprafentirt bag Slofter nadfj innen toxc
nad) aufeen in jeber SBejieljung. ©r toertualtet bag SSermflgen begfetben,
er nimmt bie Sllumnen auf, er fiit^rt bie ©orrefponbenj, er empfangt bie
©afte, er nimmt bie ©efdjenfe entgegen, hrie benn uberljaupt ein Seber,
ber im fflofter ein 9tnliegen Ijat, fidj an iljn toenbet. ©r orbnet bie
Srbeiten in gelb unb ©arten an unb toertljeitt, attjaf)rlicl) ju SBeiljnadjten,
bie toerfdjiebenen gunctionen in £>aug unb Slirdfje unter bie ftalubjeren,
inbem er fiir bag neu beginnenbe 3al)r, ber SReilje nad) abtoedjfelnb, ben
einen jum $au$taptVian ernennt, einen jtoeiten, ben fogenannten Detonom,
mit ber giifjrung beg $>aug1jafteg betraut, bie aubern in bie augttmrtigen,
jum ftlofter geljBrigen $arodf)ien entfenbet. 3n ber Sirdje ift aHein cr
beredjtigt, bag SSaterunfer unb bag ©laubengbefenntnifj ju fpredjen, unb
nur toenn er leibenb ober abloefenb ift, tljut bieg ftatt feiner ber aftefte
Salubjer, jebod) auf fein augbrficflidjeg ©efjeifc. ©inen Unterfd)ieb unter
ben ffalubjeren unb audj unter ben 3)jaci foil er nidjt madden, ©r fott
fie, toie eg tjei&t, Slttc mit gteidjer toatertidjer giirforge unb Siebe urn-
faffen. SBag jebodf) nid)t ^inbert, bafj er, namentlidj unter ben $)jaci,
einen ober ben anbern begabtern unb gefdjidtern fid) alg feinen Siefc
ling erfietjt, biefen na^er an fid) !)eranjiei)t, iljn fetbft unterridjtet, if)n
ju feinem ©ecretar madjt, iljn xiberljaupt mit aller augjeidjnung be=
fjanbeft unb fur bag ®lofter ju erljalten tradjtet. SKi^etligfeiten im
Slofter foH er nidjt auffommen laffen. 3^igen fid) foldje, fei eg nun
unter ben Salubjeren ober unter ben S)jaci, fo foil er bie SBetreffenben
ofjne SBerjug in feine QzVit rufen, unb ot>ne ©rorterung — benn ©r^
firterung fii^rt jur Ztyxlnafymt fiir ©inen ober ben Stnbern, unb biefe
nur jur SWetjrung ber ©egnerfdjaft — i^nen bie SBerfStjnung aufertegen,
in feiner ©cgentoart unb fogleidf). SBag jebod^ gteic^fattg nidjt ^inbert,
baft felbft in biefem befdjrantten gamitienfreife bie erbittertften (Segner-
fc^aften fid) ja^relang fortfpinnen, naturlid) ^eimltd^ unb Derbedt, unb
bie raffinirteften Sntriguen ebenfo lange im ftillen 2)unfet fic^ fortroeben,
big eg enb(id) einmal pr Sataftroplje fommt. 2)enn §aber ift nun
einmat mcnfdjlid), unb SKenfc^ bteibt 9Renfd), fei er aud^ ffalubjer.
Klofter unb Klofterleben in ber Jjercegorina. 349
3)ie Salubjercn itjrerfeite, unb um fo metjr bic 2)jaci, Ijaben bent
3flumen mil bcr tjodjften ©fjrfurd&t ju begegnen. 93ei 9tflem, toaS fic
unternefynen, Ijaben fic border fcincn SRatl) cinju^olcn unb fein SRatf)
tjat iljnen (Sebot ju fetn. 2Bo immcr cin ftatubjer bic Siturgie lieft,
ift cr fcerpflidfjtet, in fcincm Ocbcte gleicf) nadj bcm SRamen be3 SDtetro;
politen ben feineS Sgumen einjufdjalten. 3n 8^ttc be3 3gumen tritt
er nie anberS ate eutblflftten $aupte3, unb nie, betoor er fein SInftegen
toorbtingt, ttrirb er untertaffen, it)m mit einer tiefen SBerneigung bie &anb
ju fiiffen. 9iie anberS, ate fteljenb, fprid)t er mit it)m, unb nie in feiner
@egentoart toirb er fid) fefcen, e3 fei benn auf bie auSbriidlidje 6in=
labung be£ 39umeu. ©pridfjt biefer, fo fdjtoeigen 9lHe. SBiberforedjen
tturb ifjm iiberf)aupt IKiemanb, fetbft toenn er fid) irren fottte ober im
Unrest toare. SBitt er iiber lifdj ober im &ofe im ©fatten ber SBiifclje,
mo man gem in ber Stbenbfiiljle jur Unterljattung jufammentommt, biefe
ni^t auf eigene often fiUjren, fo mufi er ben bratja burdf) irgenb ein
SBort ober Bcic^en auSbriicflicf) bie Sicenj jur ungenirten freien ©on*
Dcrfatiott geben. ©3 mag eine fotdje ©crujmlofitat, junta! in fo engem
Sreife, met be3 ^einlidjen tjaben. ©ehrift aber, unb jtoar gerabe n>eit
ber Srete fo ftein ift, tragt fie unenbftd) bid baju bei, ben SBenigen,
im ©runbe einanber SBilbfremben, bie in Siebe unb ©intrant bte an'S
©rab bei einanber auSfjarren foflen, bie£ burdf) bie ©tdfjerung ber erften
Sebingung ljierfiir, namlid) ber gegenfeitigen 9ld)tung, ju ermoglidjen.
3)enn o^ne SRefpcct, felbft too nur jtoei Seute auf einanber angetoiefen
finb, gibt e£ nun einmal feinen 93eftanb. 2)iefefbe 9ld)tung aber fiefyt
man beSljatb aud) in bem SBerfefyre ber Salubjeren unter einanber be=
toaljrt, unb um fo mefjr ber 5)jaci biefen gegeniiber. ©tete unb iiberatt
fytt ba£ Sitter ben Sorrang. 9lie toirb ein jiingerer Salubjer einem
altern anberS ate jur Sinfen fid) fatten, nie toor ttjm bag SBort ergreifen,
nie in bie ©djiiffel langen. 2)a3 9Sert)altnif$ jttrifdfjen bem 2)jaf junta!
unb f einem SWeifter — jener nennt biefen nie anberS ate otce, sveti
otce, b. i. Sater, ^eiliger SSater, biefer jenen nie anberS ate sinko,
©8ljn!ein — ift oft ein riitjrenbcS, uidf)t felten toa^aft ibeateS. Unbe-
grenjt ift bie Siebe, bie SSere^rung, bie §ingebung, mit ber ber ©emitter
bem Setjrer, unbegrenjt bie Siebe, bie 4?ingebung, Wc 2tuf opening, mit
ber biefer jenem an^angt. finb bie fdj5uften Segenben, bie bie^ SSer^
^attni§ jum ©egenftanbe ^aben, unb nur bei ben atten Snbem, too
gteid^fatlS fo getetjrt unb gelernt tourbe, finbet fid^ aeljttlidjeS an finniger
liefe.
S)em fttofter, in ba§ er einmat eingetreten, ift ber ffialubjer 3^it
feine£ Seben§ unjertrennlid^ toerbunben. 6r fte^t ju bemfetben gleid^-
fam in bem SBerfjaltniffe ber 9tboption. ©3 ift fein' jtoeiteS, fein 9Sater-
^au§. SBeber tann er fetbft fid) toon bemfelben loSfagen, nod^ !ann
irgenb ein SWa^tgebot it)ti badon fd^eiben. ®a§ ein Slofter einen i^m
550 Siegfrieb Kapper in pifa.
angef)drigen 3R8nd) aug feiner ©emeinfdjaft auggcftofjen tjdtte, bag ift
nod) nid)t toorgefommen. ®fjer toerljangt eg iibcr iljn bie Ijdrteften Sufccn,
ate bafc eg iljn toerftd&t, unb et>er untertoirft cr fid) ben fdjtoerften $a*
fteiungen, ate bafe cr ginge. &aufig genug tool entfemt fid) bcr cine
ober anbere ftalubjer aug bem SElofter, feiner ©tubien fjatber ober urn
fird)tid£)en, tool aud) mitunter ^otitifd^en Serufungen ju folgen. 9tie
aber ljflrt er auf, fid) ate bemfetben ange^5rig ju betrad)ten, unb ftetg
ift feine $tUt, bie unbefefet bteibt, bereit, iljn toieber aufjune^men. (£g
f)at bieg iibrigeng audi) feine pritoatred)ttid)e ©cite. 3)enn ftirbt ein
Salubjer, fo ift fein 6rbe nid)t „fein &aug", ebenfo toenig ate aud) er
Don biefem erbt, fonbern bag Stofter. 2Bag an SBaargetb *nad) il)tn fid)
oorfinbet, bag fommt ber gemeinfdfjaftlicfjen Stofterfaffe ju gut; feine
Steiber unb 3Bafd)e oertf)eitt ber Sswmen unter bie Salubjeren unb
drmeren Sltumnen. 9lur fein ^Jrieftergetoanb bteibt ifym, unb in biefem,
ganj fo ate ob eg pr Siturgie ginge, toirb er aucfy in'g ©rab getegt.
3)iefem aSertjaltniffc entft>red)enb todre benn aud) bag Stofter eigent?
lid) uerpftidjtet, fur ben oottftdnbigen Untertjatt feiner SKonc^e ju forgen.
3n ben toorogmanifdfjen 3*iten, ate bie Softer noct) toeittdufiger Sanbe=
reien, auggebef)nter SBdlber, eintragtidfjer gifdjereiredjte, auggiebiger
3e^nten unb felber nidf)t unbebeutenber Slnttyeite an ben 3oHen unb SKautljen
fidf) erfreuten, ttrirb bieg toot aud) ber gall getoefen fein. Dann aber,
feit bie Xiirfen bie reidfjen ©tiftungen fur ben SSafuf conftecirt, ift eg
anberg getoorben. 9lfleg, toag eg fyeute bem Satubjer bietet — unb bag
im Sergleidf) mit ettoa nod) oor breifeig, oierjig 3af)ren ift fdjon toieber
eiue SBenbung jum S3effern — ift, aufter ber 3ette unb attenfaffg beg
Strmg oott £otj im SBinter jur (Srtodrmung berfelben, toeiter nidjtg, ate
ber SWtttaggtifd) unb bag 2tbenbbrob. Unb toatprfid), eg finb biefe be*
fdjeiben genug! S)enn toag ber 9Sorratl)gfammer beg Stofterg aug beffen
©igenem jugef)t, ift ntd)t oiet. Sttoa^ ©emiife, ba§ bie Heine ©arten^
unb getbtoirttifc^aft, etloa^ Sutter unb Safe, ba§ bie Heine £>eerbe bringt,
cttoa^ s^ofdfleifc^r bag iibcr ber eigenen geuerftette geraudjert ttjirb.
gur'g SBeitere ^dngt StlleS baoon ab, n>ie bie 3upff* oon Slufeen fi(^
geftalten, in3befonbere toa$ bie jtoei ^auptbebiirfniffe SEBein unb Det bes
trifft. 3)enn eigene Srauben ju feltern unb eigene Dtioen ju preffen
ift ein t)ercegot)inifdf)e3 Stofter fo leicfyt nic^t in ber Sage. Staturlidj
bann mu§ bag erfte ©ebot, morauf ber Sater^Defonom, toenn er bem
Sod) ben Sebarf fur ben Sag augfolgt, ju adjten ^at, bag ber grofeten
Sparfamfeit fein. S)a fi^en fie nun urn ben 2ifdE), bie brei big mer
9Konc^e, obenan ber Sflwnten. 3)ag ©ebet oon biefem ift gef proven, bag
3eid)en beg Sreujeg iibcr bie Safe! gemadjt. 2>ic ©c^uler, bie ben
Safetbienft ju toerfe^en t)aben, unbebedten §aupteg, lautlog unb auf ben
3c^enfpi^en, ge^en jtoifd^en ber Siic^e unb bem SRefectorium ab unb §u.
3u unterft am Sifdje Ijat audE) ber dltefte ®jaf feinen ^?Ia^ eingenommenr
Klofter unb Klojierleben in ber fjercegooina. 55J
ftetjenb, unb lieft, bamit bie frommcn SSdter aud) tua^rcnb ber greubcn
bcr lafel ber feetifcijen Sabung nidjt entratljen, ein ftapitet au$ bem
fieben irgenb eineS $eitigen toor, unberftdnbtid) itjm fetbft tote ben &vl-
Ijdrero, ba e3 in attftaoifd&er ©pradje gefefjrieben ift, bem (Stjatbdifd)
ber ortljobojen ftirdje. Unb bie „greuben" ber 2afet, bie eineS fotdjen
©egengehrid)t3 bebiirfen, urn bie frommen SSdter nidf)t ettoa im Ueber;
maft irbtfdjer ©cniiffe ju tief finfen ober gar untergetjen ju laffen?
©in SDtetjtbrei ober ein griine3 ©emiife, ein ©titddjen Samm; ober
8iegenfteifd) (nid)t atte Sage!), ein ®Ia3 SBeiu, unb je nad) bcr
gatjreSjeit ein ger5fteter 2Jtai£fotben, eine 9Mone, eine gcigef ein Styfet.
9Rit ber 9iad£)tefe oergniigen fid) bie ©djiiter, bie fi^ nieberfefcen, toenn
jene aufgeftanben, nur baft fie, ba fcom SEBein nie ettoaS iibrig bteibt, ftatt
beSfetben fief) mit bem SBaffer ber Stofterctjfterne abjufinben fjaben. 3ur
3eit ber gaften toottenbS, bie aufS ©trengfte beobacfytet loerben (toer biefe
uidjt Ijdtt, ber ift ein „2utor," b. i. ein Sutfjeraner, unb biefer ift «toon
alter 3Jtenfdj)f)eit ba§ ©djtimmfte, fdjtimmer nod) ate ein $eibe unb fetbft
ate ein Siirfel), fo ftreng, baft man mandjerorte fogar be3 DeteS fid)
enttjdtt, bie $utfenfriid)te unb ©emiife, ba§ einjig ©eftattete, nur in
SBaffer abgefotten unb mit ettoaS ©alj genieftt, toirb be§ JagS nur ein-
mat gegeffen. „$enn," tautet bie SReget, „einmat be3 £age3 effen aud)
bie (Snget; jtoeimat effen ift menfcfjtidj; toa§ baruber get)t, ift fduifdf)."
S5ei attebem jebod) ift ©afttidjfeit eine ber §au})tyftid)ten be3 StofterS,
befonberS gegen Strme unb 9leifenbe. S)enn toer untertoegS ift, ber ift
immer hue ein &eimatetofer unb Serlaffener. SBo foil er ©rfafc finben
fiir ben f)du3ticf)en §eerb unb bie tiebetootte 9$flegc ber Samilic, toenn
uidjt im SRonaftir? Unb e3 ift bie£ in jenen unttrirttjficfjen ©egenben
in ber Sfyat eine grofte SBotjtttjat, jumat in ben ©dfjneefturmen bc3
©inters unb im fengenben SSranbe be§ ©ommerS. greitid) muft ber
©aft fiirlieb nef)men mit bem, toa§ fid) eben finbet: im SEBinter ein
gtimmenbeS ©djeit unb ein toarmeS ©ericfjt, im ©ommer eine fdjattige
©tdtte unb eine ©djiiffet fiiljtenber 9Jtitdf). 2)ocf) l;at biefer $flid)t gegen-
iiber, ber ba§ Stofter am Snbe bod) nur in befdjeibenem SKafte geredjt
merben fann, bie attgemeine &od)t)attung be^felben unb in^befonbere bie
aUgemeine ^peilig^attung feine^ ©igent^um^ freitoiKig geioiffe ©d^ranfen
aufgeftettt. S5eu gall ber tuirfli^en dufterften Stotf) au^genommen, j. S.
bei einbre^enber Sta^t, plofclidjer Srfrqnfung, fott Sliemanb bie ©aft-
lidjfeit be§ Stofter^ in Stnfpru^ ne^men. 6§ ift ba^ unfdjidfid) unb
gilt gerabeju fiir fiinbljaft. Sim attertoenigften aber fott man bemfetben
tdnger, ate unbebingt nott)ig, 5ur Saft fatten. -S)od todre gerabeju tird^eu^
rduberifd^cr 9Kiftbrau^. 2lud) fc^enfen, too mogtid^, foil man fidE) nic^te
laffen. 2Ber nur immer fann, fott ba£ ©enoffene burd^ ein ©egengefcfjenf
entgetten, fann er e£ niijt gteid), fo fpater. Unb e^ toirb t)ieran un^
toerbriic^ti^ getjatten. Stad^ 9Ronaten oft, gefitf)rt oon eiuem Snaben
352 Siegfrieb Kapper in pif a.
obcr auf ffriiden, fprirfjt cin Slrnter oor, unb bittet ben Sgumen, von
ifjm cin Sdmmleiu, cin paax SBalbtauben, cincn %op\ $onig anjunc^mcn.
SRicmanb fennt if)n meljr. Sr §at lefeten SBinter eiumat tjier Dbbad)
unb ein ©Idgtein SRafia gefunben.
3iir all f cincn anbern SBebarf nun, oom ©eloanbe, in bag er fidj
fleibet, big jum Safedfjen Saffee, beffen er, in biefem ^untte gang Xiirfe,
nidjt gerne entbeljrt, bom SBudje, bag cr gem fjaben mddjte, big ju bem
Delldmpdjen obcr bcr Salgferje, toenn er ben langeu SBinterabenb burdj
bie Sccturc begfelben fidj tureen milt, mufj cr felbft forgen, aug feincm
Sigcnen. 3um ©liide finb fcine Sebiirfniffe nid)t cben gro§. 3)ag
s#rteftergetoanb ljat er nodfj Com |>aufe mit befommen. ®g toirb tool
augljalten, fo langc ate cr felbft. Unb fotttcn SBetter unb 3aljre baran
audf) mandf)eg fdjabigen, eg toirb ftdj nur urn fo etjrtourbiger anfe^en.
3n feiner Mtaggtradjt unterfdjeibet cr ftdfj burd) nidjtg bon jebem anbern
£>ejrcegobiner, ate ettoa burdfj ben langen ©art, burd) bag langc, nadj
riidtoartg gcfdjlidjtete $aar unb burd) bie ftarailatofa, bie SRondljgfappe,
fo toie bom $open nur baburc^, bag feinc ®amilaofa ein tnenig tyoljer
ift unb bafj er fie aud) in ber filrdfje unb beim ©ottegbienft aufbefjdlt,
iodf)renb ber tyop, ber SBeltgeiftlid&e, uttbebedten $auptt% in bie ftirdje
tritt unb aud) todf)renb beg ©ottegbienfteg barljaupt bteibt. Scfommt
cr SBefudf), fo ift bic 2Jetoirtf)Uttg begfelben, ba bag nidjt ©dfte beg
ftlofterg, fonbern lebigtid) fcinc perfflnlidjen ftnb, gletdjfatte feinc cigene
©ad)e. 3ft cr fiir foldfje gdtte Dorgefc^cn, um fo beffer; ift er eg nidjt,
o leiljt bcr Delonom iljm tool gern, bodj toirb er fid) beetlen, eg balb
ioieber abjutragen. 2)odf) Ijat aucl) barin bic ©itte einfdjrdnfenb oorge?
forgt. SKeljr ate etnen 3l\pp fd)toar$en ®affeeg, nur um bcr aUgemein
angenommcnen gutcn SebenSart ju geniigen, ertoartet bon cincm fialubjcrcn
iftiemanb, toeber fcin SSater, nod^ fcin ©ruber. SBottcn fie bei if)tn in
feiner 3rtle fpeifen, fo bringen fie fid} bag SBrob, ben Safe, bic Soljnen
unb bie Qtokid, tooHen fie raud)en, ben Saba! fetter mit. Sommt bic
SWutter, fommt bie ©djtoefter, fo fommt fie otjnetjin nic oljne cine $o-
gatfe^a, bie bann bag gemeinfame 3Raf)t abgibt. Dag 9la(^tlagcr jubem
toirb im ^lofter nur fclten genommcn. S)aju ift bcr 3taum ju befd^rdnft.
Unb 3frauen ootlcnbg bilrfen ba gar nic^t iibcrnad)ten, I|5d^ftcng bie
Sffluttcr, bic 2RuI)me, bic Dcr^eirat^etc ©d^weftcr, jeboc^ ftctg in Se^
gleitung, - unb biefc mufj bcr ^alubjcr in feiner 3ette unterbringen, mdgc
cr fid^ babei befjetfen, tvk er fann.
UnfdE)tt)er aug allcbcm mag man auf bic matcriettcn SScr^dltniffe
beg f)ercegobinifdjen ^loftcrg unb beg ^ercegobinifd^cn ffialubjcrcn jurud^
fc^fie^en, unb man toirb nid&t irrcn, toenn man fie barnad) ate in ^o^cm
©rabc fiimmerlict) unb prefdr boraugfefet. 3ttlc §abc beg Slofterg oon
tyeute ftammt, toie ja auc^ bcr S3au bcgfelbcn, bom 9SoI!cf aug ben frei;
toidigen Scitrdgen unb ©aben begfetben. Unb bag 9Solf ift arm. „Sc^
Klojier unb Klojierleben in ber ijerceg o&ina. 553
gegneft 2)u cincm 3trmen," fagt bag ©priidjtoort, „fo griifc1 ifjn getroft:
©elobt fci 3efug (Sljriftug! bcnn cr ift ein SRaja." ©runb imb ©oben
fyat eg nidjt toiel; cincn fleinen ©arten, einige ft rumen Stderlanb, t>icl-
Iciest ein ©tud 33alb, ein ©Hid SBeibe, angefauft attmdtylidf) aug feinen
ffirfpamiffen, ertoorben burdf) ©efdfjenf unb SJermadEjtnifj. 2Bag eg an @in*
rtdjhmg ber 3ctten unb ber Siid)e befifct, big auf bie Keffel jum $od)en
unb bie Supferfubel jum SBaffertragen, ift beigefdEjafft, jufammengetragen
aug alien ®den unb (Snben. Seine §eerben finb bie ©ottecte frommer
Dpferttrittigfeit, bie ifym bie erften ©djafe, bie erfte 3iege, bie erfte $uf),
bag erfte ©fetein jugefiiljrt. SRidEjt fonberlidE) ergibig, toiemol fie bag
einjige fije ©infommen beg Stofterg bilben, finb bie jafjrlid)en ©eitrage,
bie eg toon feinen $arod£)iaten bejiefjt, bie tym jebodf) feinegmegg gefefclidj
Derbiirgt, fonbem lebiglid) burdf) ben frommen ©emeinfinn geficfjert finb.
©ie betragen per £aug 10 Dtta, b. i. nid)t ganj 15 Silo, ©etreibe,
ober in ©etb 12 ©rofd)en, ben ©rofefjen ju 10 ofterr. 3leufreujern ober
20 beutfd)en ^fennigen. SSobei jeboci) ju bemerfen, bafc ein $aug ftetS^
nad) bem Dbertjattyte gere^net ttrirb, alfo gemoljnlidE) mefjrere gamilien
(in unferem ©inne), nidf)t felten beren fiinf big fedjg umfafct. Unb nidjt
mel ergibiger geftatten fid) bie ©ebiifyren, toon benen itbrigeng bie $alfte
bem jetoeiligen gunctionar toerbleibt. ©etauft niimlid), bem SReuigen bie
35eidf)te abgenommen, bem ©terbenben bie lefcte SBegjeljrung toerabreid&t,
ber Serftorbene jur etoigen SRuIje eingefiiljrt foil toon SRedjtgs unb ©Ijriftis
toegen eigentlid) umfonft merben. S)enn bag muft fein. Slur umfonft
ju trauen braud)t ber $riefter nidjt; benn — bag mufc nid)t fein; bag
ift f<$on mefjr 2ujug. Snbeg ttrirb !aum ie ettoag umfonft beanfprud)t,
unb l)at bag $erfommen genriffe ©ntloljnungen feftgefefet, benen ju ge*
niigen felbft ber Stermfte fid) bemiiljt. ©ie betragen fur eine laufe
6 ©rof<f)en, fiir ein SBegrabnifi, nadf) Stlter unb ©tanb, 8 — 24 ©rofdfjen.
(Sine Irauung foftet fij 24 ©rofdjen, felbfttoerftanblid), oljne ber ©rofc
mutl) ©d)ranfen ju fefcen unb o^ne bie fleinen Dpfergaben, bie bei biefer
©elegen^eit aug ben ©cideln ber Sertoanbten beg ©rautpaareg in ben
Dpferftod fatten, unb o^ne bie $ud)en unb Sraten, bie ber trauenbe
f alubjer, ber bann getodtynlid) audEj an bem $o^jeitgma^le t^eilnimmt,
mm bemfelben mit na^ §aufe bringt.
Suggibiger jebenfaUg alg atte biefe SGormalien finb bie acciben-
tietlcn 8uftuffe, bie ba^er au^ bag eigentlidEje ^aupteinfommen beg Slofter^
bilben.
Dbenan unter i^nen fte^en bie ©ef^enfe. 2)a& man toom Slofter
ni^tg umfonft anne^men, toon bemfelben umfonft feinen Dienft in 2ln^
fpru^ ne^men foil, ift einfad)e 5Pflid)t. ©elbft ben ©taub toon Deinen
So^len follft 2)u alg gettnffenfjafter ©^rift abftreifen, hjenn 3)u fortge^ft
aug bem ^lofter, bamit Du ja ni^tg mit 2)ir nimmft, mag ju i^m ge=
^ort. S)em fitofter ju fdjenfen aber, b. i). ju geben, oljne etmag bagegen
55^
Stegfriefo Kapper in Ptfa. — -
ju empfangen, ift bag grofjtc SJerbienft, bag eitt red£)tgldubiger Shrift fid>
ertoerben faun. Dag ift bcnn aud) in bcr Ifjat bcr Drt, too bcr
fromme ©prud) „®eben ift feliger bcnn JReljmen" ju feiner fcotten pvab
tifctjen SBebeutung gelangt. 2Bag unb toann immer ©iner im Slofter ju
fctjaffen tjabe, alg ©runbfafc gilt, baft cr nidjt mit Iccrcn ipdnben fomme.
SQ3o unb toann fid) immer cine ©etegentjeit finbet, bcm fttoftcr ettoag ju^
jutoenben, alg ©afcung gilt, fic nid£)t ju oerabfdumen. 3ft & jur $t\t
ber 3clb- unb ©artenarbeit, fo toirb man, obtoot bic Satubieren mit
$ulfe iljrer Djaci ungefdEjeut die ?trbeit felbft toerridfjten, eg nid)t leidjt
unterlaffen, itjnen bei bcrfelben augjuljelfen. Untereinanber abtoedjfelnb
fenben bann bic $dufer je einen obcr jfoei iljrer Scute in ben ®lofter-
garten, auf ben Slofterader, fiir bie blofje ®oft, ober audf) fclbft oljne biefe.
Sbenfo jnr 2Biefenmal)b, ober toenn eg Ijei&t, fiir ben SB inter #o!j im
SBalb ju fatten. $aben bic SDioglim bem Slofter oorfruf) bie Srnte toom
gelbe gefi^elt ober iljm bic &eerbe fortgetricben, toag SScibeS tool Dor;
jufommen pftegte, fo beeilt man fid), ben ©dfjaben burd) 3ufammenfdf)iefien
fofort toieber toett ju madfjen, unb Ijdufig genug in fotd)em %adt bringt
ber ©rfafc foeitaug mefjr, alg ber Scrluft genommcn. Unb fo ergeben
fid) jaljraug jatjrein nod) taufenb anberc Stntdffe, ben frommcn ©eberfinu
ju betfjdtigen.
(Siner ber toittfommenften — beiben £l)eilen, bem SBIoftcr hrie fcincn
$arod)iaten — unb baju cin jdljrlidf) toieberfetyrenber, ift ber ®irdf)tag
beg Stofterg, mcift jugleid) cin Ijoljer Sirdjenfefttag, Dreifaltigfeit, cin
SJlarientag, ©anct Sucag, ©anct ©liag u. f. to. Da fommen fic benn
toon nalj unb fern Ijerbei, fclbft aug frcmben Slofterbejirfen, aug Sfflonte^
negro, aug Sognien, aug SUtferbien, aug Dalmatien, atte fefttaglidj auf*
gejmfet, oft nad) itjren SBoljnfifcen unb ©tammen in langen Saratoanen,
©reife, SDldnner, SBeibcr unb Sinber, ju SRofc, ju @fel unb ju %vl% bic
SJldnner in SBaffen unb einer mit bcr Satjne tooran. glintenfdjuffe oer;
fiinben iljr Sommen. Den SHaum um bie SMoftermauern unb ben Slofter-
tjof bebeden iljre Sagcr. Dann ttrirb ber Sgumen begriifct mit Snie-
beugung unb &anbfufc, bann bie ©efctjenle abgetiefert, bic man felbft
fpenbet, unb bic bie 2tbtoefcnben fenben: toag ©elb ift, in bic ipanb beg
Sgumen, Slnbereg, loic SBotte, SBadjg, Del, 93utter, Kdfc, in neuerer
3eit aud) Saffce, guder unb 2aba!, in bic $dnbc beg Defonomcn, bie
an biefcm Sage enblidE) cinmal botlauf — ju netjmen ^aben. Dann gc^t
eg in bic Siirdje. Da ift bag SMIbnifj beg ^eiligcn auggefefet, bem bag
geft gilt. 3n tieffter @f)rfurc^t, untcr forttoa^renbem ©id)befreujen unb
oft auf ben Snien na^cn betcnb fid^ i^m bie SlnbdcJjtigen, fiiffen eg mit
Snbrunft, unb legen bafiir, c^e fic fid) juriidjietjen, in bie $anb beg
Salubier, bcr im ^rieftergefoanb babci ftc^t, ati Dpfergabc cine Sffliinje.
Den 2lngefcf)eneren reid)t ber ffalubjcr bag Sitb jum Suffe fclbft bar,
tt)ofiir naturlid^ aud) bic SKunje, bie in feinc £anb gleitct, ge^alttid)er
Klflfter unb Klojlerleben in ber fjercegori na.
355
<mgfdttt. Stud) cine 2Bad)gferje bei bicfer ©etegenljeit fauft man, gabrU
fat bc^ SHofterg ' felbft unb feilgefjatten in ber SHrdje felbft, abfeitg
auf einem 2ifd)e, toon einem ber Salubjeren ober einem ber ©filler,
urn fie, angejiinbet, bem Sllofter gleidE) toieber juriidjufdienfen. S)ie
$auptgetegenl)eit, feine ©penbabilitdt ju bettjdtigen, lommt aber erft.
@g ift ba^; nadj abgetljaner ®irc!)enfeier, bie grofce gefttafel, ju ber ber
Sgumen Sttteg toon (Einflufc unb ©tettung einldbt, toag jur geier beg
£ageg fidj eingefunben, bie Snefen atte, bie SBojtooben, bie £>du})ter ber
•angefefjeneren unb — reidjeren ipaufer. 3)ag SDta^I ift fdjlidjt unb furj,
fein ipauptmoment ein ganjeS gebrateneg Samm, bag, fo ton eg ift, bom
SBratfpiefe toeg, nidjt fetten mit bentfelben, auf ben %x\6) fommt; jebenfallg
tag gtdnjenbfte unb . reidjlidjfte beg ganjen Saljreg. 31)m unmittelbar
fdtfiefct ber grofje, fpenbenbringenbe ?tft fidf) an, ber beg fogenannten
zapisanije, beg ©infdjreibeng. ©iner ber Salubjeren, ober aucf) ber Sgumen
felbft, nimmt ein bereit geljalteneg, ber Sdnge nad) in jluei Eolumnen
gefalteteg 93latt papier 5ur $>anb, iiber beren einer oben gefdjrieben fteljt:
„®ie Xobten", ber anbern: „2)ie Sebenben". Unb nun toirb bie grag.e
geftetlt: „3ljr $erren, mem beliebt, einfd&reiben ju taffen?" Statitrlidj
fdf)tie&t fidf) 9liemanb aug, toag ein ganj unoerjeiljlidEjer SSerftofe gegen attc
Sebengart toare, unb (Siner nad) bem Slnbem tritt nun l)in, unb bictirt
bem ©dfjreiber bie Stamen in bie geber, &uerft bie feiner Serftorbenen,
bann bie ber lebenben 9Kitgtieber feineg $>aufeg. SDtit toeniger alg einem
Sucaten lann er bie 9leif>c bcrfelben nidEjt abfd)lieften, gibt aber gerne,
ttjenn ber Stamen Diet finb, audi) bag ©o^ette, 3)reifad)e. S)ag ift ber
©otbtag beg ®lofterg, bie finanjiette ©eite ber Eeremonie. Sfc retigidfer
3tt>ed aber ift, bafj am nddjften ©amftag bei ber Siturgie ber ®atubier,
toaljrenb bie 5)jaci babei forttodfjrenb „gospodi pomiluj" fingen, bie Stamen
ber Singefd)riebenen toom 93tatt ^erab taut toertieft, unb jum ©ctjluffe
Don ©ott fur bie Sobten ett)ige SRu^ unb ©etigfeit, filr bie Sebenben
Oefunbtjeit unb ©eelenljeil erbittet.
S)en ©efd)enfen junddfjft fommen bie fogenannten Stccibentien, bie ju=
gteidE) bag perfdnlidje ©infommen beg ®atubjeren bilben, bem, alg bem
gunctionirenben, fie gejatjtt toerben, unb ber fobann mit bem Slofter jur
4?atfte fid) in fie ttjeitt.
S)a ift autoorberft bag Dettoeiljen bei Sieubauten, bei ©pibemien,
bei fdjtoeren ®ranff)eitgfatten. ©in neueg §aug betoafjrt nid)tg fo fidjer
t)or Sranb^ unb anbertoeitigem ©^aben alg — getoeifjteg Del, unb gegen
fc^mere Sfranfljeiten gibt eg fein beffereg 2Rittet. ®ag foftet pro 3R5n^,
beren man ju biefem ©ef^dfte toenigfteng jmei brau^t, 8—10 ©rof^en.
4?ilft eg nid^t, fo uerfud^t man eg mit einem gteid? fid)eren 3Rittet. 2Ran
Idfet iiber ben Sranfen — beten, benn „93eten ift beffer benn Slrjnei, unb
tin Salubjer gilt bei ©ott me^r, alg fetbft beg Kjaren Seibfelbf^er."
biefem 3h)ede bringt man ben Sranfen in'g Slofter, ober ^olt ben
92otb unb ©ub. YII, 21. 24
356
Siegffieb tfapper in pifa.
^alubjcr in'S $au^. 3ft ober beibeS nid^t mflglidE), fo fdf)i<ft man, tocnn
bcr ftrante etn 9Kann ift, feine flappt, ift e3 cin SBeib, if>r Sopftud) in'3
Softer, unb bcr ®alubjer betet baruber. #ilft audf) ba3 nidjt, toaS tool
tjorfommen biirfte, fo tyott man fi<f) au$ bem $tofter cinen zapis, b. i.
einc 3iinbe getoeitjten S3robe8, auf bic cincr ber ftalubjcren etn' getoiffeS,
iibrigenS fcoflftanbig finnlofeS #rt#togramm fdjreibt. Unb ba$ f)at bcr
ftranfe friif) morgenS anf ben nii^ternen SKagen ju neljmen. 33efonber£
gegen ben SJife ttriitfjenber £mnbe foil ba3 gut fein, unb eben fo probat,
toie gegen ©efdjhmtft (toeldjer 8trt immer) ba3 toon ber §anb eine£
®atubjeren barauf gejet^nete ffreuj ©alomonte V V SBerfagt au<$ ba3,
fo ttrirb ju etnem meljr Ijeroifdjen SDtittel gefdfjritten. 3Kan tragt ben
ftranfen, gel)' e3 ttrie e$ tootte, in'3 Slofter unb legt itjn ba, toor 39egitra
ber Siturgie, toor ben mittferen (Singang gum 9tttar auf bie 6rbe nieber,
fo bag ber Salubjer toaljrenb ber tjeiligen SlmtSfjanblung ttrieberljolt
tiber iljn f^reiten mug. ®in nod) tjeroifdjereS, aber and) — rabicatereS
SRittel ift: fDlan beniifet, toenn gerabe eine feierft<f)e fir<$Iid)e SProceffton
itjren 28eg burets Dorf nimmt, bie fidj nt<$t tagti<$ bietenbe gute ©e-
Iegenf)eit unb legt ben Sranfen quer iiber ben SBeg, toofyf eingefyfiOt, ba*
mit iljn Stiemanb erfenne. S)a fdjreiten nun bie toielen (jnnberte Don
ERenfdjen iiber i§n t)tntoeg, unb ein 3eber, greuub nrie 3einb, f^rt^tt
„®ott gebe 2)tr ©enefung!" Unb ba fie 9Ifle ftrenje, ftirdjenfaljnen, Stoan*
gelien unb §eiligenbitber tragen, unb afle ftatubjeren unb S^open be*
©prengete babei finb, fo ift an bem (Srfolge nidEjt ju jtoeifeln. Unb in
ber Xtjat Ijat bamit ba3 Euriren meift — fein ©nbe.
J)ann fommt ber ©alanbar, b. i. ein EtycIuS toon 40 Sjtraliturgien,
gelefen toon einem ber Salubjeren in ber ®tofterfirc§e in ber 3eit smifd^en
Dftern unb SKaria #immetfafjrt, toaS 200 <Srofd)en foftet; ein Sfoftoanb
fonadE), ben atterbingS nur reii)e Seute fi<$ eriauben fonnen unb ber
ba^er immerljin ju ben ©elten^eiten ge^Srt. SJlan mufe ndmti^ toiffcn,
bafe bie fflofterlircfje immer ethjag me^r ift, ate jebc anbere gett)5^nlt(^e,
unb ber ffalubjer me^r ate ber tyop, ba^er man and), menu man fdjon
eine Stu^Iage mai)t, fi^ ftete lieber an bag ffilofter unb an einen
Kalubjeren, ate an bie S)orffir^e unb an ben tyoptn toenbet.
®ann bie93ereibigungr ober, rid^tiger bejeidjnet, bie 93ertoiiufd)ung,
ein Setoei^not^be^elf, iiberfommen au3 bcm attflat)if^en ^rocefet)erfa^rcn,
toon ben £iirfen, bci bem t)5Higen Slbgang eine§ geregettcn ©crid^tes
njefen^ auf iljrer ©cite, gebulbct, unb bci atlcn ©iibflatten, ate ina^ettabler
freitoittiger Slu^trag jcgtid^en ©trcitt)orfommniffe3 unb urn too mogtidj
ben SBiflfurlic^feitcn ber tiirfifdfjen Suftij au^ bem SBegc ju ge^cn,
im 93raud^ unb f)eilig gc^alten. S)er ganje Sorgang babci, nic^t o^ne
gotteggcrid^tlic^cn ©etgefdjmadf, ift ein cmfter, feicrlid^ biiftercr, unb fo
fcltfam er aucf) bcm grcmbcn fid^ barfteKen mag, fiir bie Set^ciligten
KIBfter nnb tflofterleben in ber fjercegorina. 357
ein tief ergreifenber, ttrirfungStoolIer. 2)ie ffieremonte fann &toar in jeber
$irdje tjorgenommen toerben, ja e$ bebarf boju nic^t einmal einer fotdf)en.
Sfflein man todljlt beinafje au3naljm3lo$ bie irgenb etneS SlofterS, unb
ift e3 junta! bad Stofter ®ofierotoo, toeldEjem t>or alien anbem f)ierin
man ben Sorjug gibt. ipierfjer, urn p fdE>to5ren ober toielmeljr fi<$ ber*
tounfdjen ju Iaffen, fommen bie ©treitfil^renben au3 bem ganjen Sanbe,
ja fetbft au$ ©erbien, ©oSnien unb SRontenegro. 3)ie baju toorbeljaltene
©tfitte ift bie nur toenige ©d^ritte umfaffenbe unter bem kolo bogoro-
dicno, bem SRuttergotteSringe, einem toon ber ftuppel an einer ffette
nieberf)angenben groften SReifen, an ioeldf)em ring3f)erum atterlei $eiligen;,
f)auptfd<$Iidj aber (SI}riftu3s unb aRuttergotteSbitber unb bie Slbbilbungen
unterfdf)ieblidjer Snget unb ©erafim befeftigt finb. S)er Drt ift nadf)
bem Slltar ber Ijeiligfte in ber Sir<$e, unb ioirb nur mit ber gr5fjten
©f)rfurd£)t betreten. Unter biefeS Solo nun, na<$bem man bem 3gumen,
untgeben toon fetnen ftalubjeren, ben %aU toorgetragen unb biefer einen
lefcten SBerfudf) gutli^en SBergleidEjS gemadf)t, trttt ber ©<$toorenbe, b. i.
ber ju Serttmnfdjenbe , unb urn iljn im $atbfrete ne^men bie ffialubjeren
©tettung. ©ie fjaben iljre f^marjen ©etodnber angelegt unb bie SBadjSs
fcr jen toerfefjrt angejitnbet. S)enn toenn Ijier eine Unh)aljrf}eit befd)tooren
ttnirbe, fo mii&te bag ber Umfturj alter SBcIt fein! SSor fie I)in trttt
ber anbere ber beiben ©treitenben unb beginnt nun feinem ©egenpart
bie ^aarftraubenbften gtii^e unb Sertoimfdjungen an ben Sbpf ju fcftfeu*
bem, mit gebattter Sauft, tljrdnenbem Sluge, bramatifdjer ©ntyfjafe. „©o
mdge ®ott midj md)t fennen! ©o m5gen SBfllfe im offenen Sclb mi<$
jerfleifcf)en! ©o mSgen bie gifcfje be3 SDteereS an meinem gleifdj fid)
afcen! ©o m5gen meine (Sebeine unbeftattet am SBege bleidfjen! ©o
tnflge mein ©ofnt mtdf) mit gu&en ftofcen, mein SBruber mid) toerratljen,
ntetn SBeib ben Itirfen jur SWefce toerben unb too id) gefeffen ober ge*
ftanben, fein efjrlidjer 2Renf<$ mefjr fifeen ober ftefjen toottenl" Unb in
biefer SBeife fo Iange ioeiter, ate er belannter ©ntfefclidjfetten fidO ju
erinnern, neue au^ Sigenem Ijinjujuerfinnen ttermag. Unb ailed biefed
fagt 2Bort fiir SBort ber ©cf)tt)5renbe i^m nad^: „©o m5ge mein ©oljn
tni(^ mit giiften ftofcen, mein ©ruber mid) oerrat^en" u. f. to. SSer^
fte^e ftillf^hjeigenb: „h)enn bad, toad i^ fage, nic^t toafyx ift 1" Unb bie
Salubieren befraftigen jebe SSeriounfdfjung befonberd mit einem ein=
ftimmigen ^Stmin!" gallt bem ffiertoilnf^enben nidf)t3 me^r ein, ift er
erfd)5t>ft, ober erfldrt er fonft fid? fiir befriebigt, fo ift ber ^rocefj ju
(£nbe. S)er ©ad&fattige fiigt fi^ mit tjoHftdnbigfter ©emutfjSrulje. ®r
ift fi^er, ba§ il)m lein Unrest gefc^te^t. S)enn an biefer ©tdtte, „feit
e§ S^riften gibt", ift noc^ niemate falf^ gefc^tooren toorben. S)ie
beiben ©treitfiiljrer, nad^bem bie Salubjeren beja^It finb — e3 fommen
einem jeben 2—6 S^onjiger ju, unb e3 ift bte§ ©ad^e 3)edjenigen, ber
auf bie§ 93eh)eidmittel angetragen — uerlaffen bad Slofter ate bie —
24*
358 Siegfrieb Kapper in ptfa.
beften Sreunbe. $ie ©treittfjeite iibrigeng finb feinegfoegg gefjalten,
perfonlid) ju fommcn. ®ie fSnnen aud) bic Serttmnfdning in absentia
bornefjmen taffen, nur bafe cine fotd)e kletvena denija, tt)ie fie §eifit,
b. i. Sertounfd)unggmgilie, meljr foftet; aufjer einer ©penbe toon jtoei
bicfen 2Bacf)gferaen, einem Krug Del unb einer SSud^fc SBeiljraudj, \t
2 Sucaten jebem Salubjer unb mot audj mefjr. S)ie Sfalubjeren fingen
bann erft bie Semper unb bie ffiigilien hrie fcor einem gefttagcf treten
bann unter bag Soto unb einer uon itnten foridjt: ,,$erttmnfdjt fei 2)er,
ber bem 31. 31. abteugnet, bag er itjm 500 ©rofdjen fd)utbig ift, auf
bafc ©ott unb bag gefammte kolo bogorodicno aud£) iljn toerteugnen, unb
toon $>aug, £eerbe unb gelb fortan il)m alter ©egen toeidje!" 35 ie
Slnbern fagen „2lminr unb eg ift gerabe fo gut, ate toare ber ©d)tods
renbe fetter unter bem Solo geftanben.
©in toeniger com 3ufaH abljdngiger ©infommengquett unb batyer
ein mit befonberem gleifje gepflegter ift ber beg Sbfammetng bei ben
3ugefjorigen beg Slofterg, uon 3)orf ju ®orf, Don $aug ju $aug, mm
Sircf>e ju ftircfje; fpeciett fiir ben Salubjer felbft jttmr, ben gerabe bie
JRci^c trifft, bag miiljfeligfte ©tiicf feineg SBerufeg, fur fein jafjraug ja^r-
ein ebbenbeg ©elbfddlein aber bag banfbarfte, ber eigentlidEje ©runbftodf
feiner geringen ipabe.
3)a ift eg ju 2) re if 5nigen, bie gcit beg vodo-krsije, ber SBaffer^
taufe. 2)a tritt er feine erfte SBanberung an. S)ie &tit ift bdfe. 2>ie
Sfcorbftiirme toben, ber ©djnee fegt fdjneibenb iiber bie ©rate unb burdj
bie ©dE)Iu(J)ten. Stber ba f)ilft fein SBarten unb ba tfifct fid) nidjtg auf=
fd£)ieben. ®er ljercegoinnifd)e SBinter fjdtt $tafc, unb bie SParodnalen,
bie bag Slofter gebaut fjaben, bamit fie gut uerforgt feien mit aflem
©l}riftlid£)en, neljmen nicf)tg fo iibet auf, alg toenn man fie marten lafjt.
2Ufo fjinaug! ©r toirft feine ©unja iiber bie ©dfntltem, ftiilpt
bie Sapuje iiber ben Sopf unb fdjniirt mit ©triden iiber bic ©anbaten
nocf) einige todrmenbe Sofcenftiide. J)er 2)jaf, jung unb nodj minber
empfinblid), ^iillt, fo gut eg gefjt, fid) in feine ©trufa. $ann fjangen
SBeibe nocf) ifjre ©ctoefjrc urn, benn man ift gar nid£)t fidEjer fcor einer
SBegegnung mit einem SRubel SBitffen ober einem „93ruber ©ar", uub
fort gefjfg iiber SBeg unb Untoeg, big an bie Snie im ©d)nee unb big
in*g $erj ^inein ftarrenb t>or grimmigem fjroft. ©nblic^ ift bag erfte
IDorf erreid^t. 3ft c3 nodE) jeitig genug am Sage, fo beginnt er mit
feinem ©efd^dfte fofort, bef^rengt ber SRci^e nacf) ein ^aug naty bem art-
iem mit getoei^tem SBaffer, am §aufe jeben baju ge^5rigen £f)etf be^
•fonberg, ben ^)of, ben Seller, bie SBorratljgfammer, ben ©tall, benn bag
t)erbiirgt ein guteg 3a^r, unb bann im £aufe Side, bie barin finb unb
iaju ge^oren, uoran ben fmugoater, bann bie §augfrau, bann bie ©oljne,
iie I5^ter, bie Snedfjte, bie SWdgbe, jegli^eg narf) 9ttter unb Slang, unb
fo fort big er mit bem Dorfe fertig ift. 3ft & fd)on 5^ \P^t f° 8e^t
KlSjUr nn& Kloflerleben in ber *}ercegor>ina. 359
ct jeitig friil) an'g SBcrf unb gleidj gefjt'g tuicbcr toeiter. @g ift trie*
jenige feiner prieftertidjen SBanberungen, bic iljm am toenigften SRaft gc^
ftattet, bcnn tiberatt, toare eg moglid), fotlte cr am fetben Sage fein.
SDtan fann nid)t hriffen, toeldjen ©djaben cine 93erjdgerung bringt! 2o^
nenb ift fie aber am atterfoenigften : % ©rofdjen per ®opf, fjodjfteng
2 ©rofd)en, baju t>ietteid)t, in guten #aufern, ein ©tiid SBurft, einc ge*
raudjerte $ammel* obcr S3odfeuIe, ein SBrob. ©g ift eben nac^ SS3ci^
nad)ten. S)ic Sefttage Robert mel aufgejefjrt unb auc^ bie 93orratl)e
neigen fd)on bem ©nbe ju. 5)a ift fdjfoer frcigebig fein. 2Bag er an
©elb befommt, bag ttrirft er in ben SBaffcrfeffef. $ag ift bent SBaffer
geopfert, naturlid^ nur ftjmboltfd). $er $)jaf tjernad) hrirb eg fcf)on
Ijeraugfifdien. 2)ie 2ebenSmitteI aber fommen in einen ©ad, unb toenn
biefer toott ift, trdgt irgenb ein gefatliger guter Sljrtft if>n in'g Softer,
fur einen ©ottegtoljn unb ein ©lag SRafia.
2)a geftatten fid) bie krsno-ime-Iage fdjon angenefjmer. ©ie fallen
meift in bie #erbftjeit. 3)a toanbert fidj'g beffer unb in $aug unb
©peicfjer ift 2ttteg tooQauf. 2)ieg krsno-ime ift fein aQgemeiner Sefttag.
(Sr ift ba§ 5rttid)e geft nur eineg gettriffen ftorfeg, eineg ©tammeg,
eineg &aufe$ unb feiner 5)egcenbenjen, gan$ eigentfjiimlicl) in Slrt unb
SSebeutung unb am ef)eften nod) ben ©djufepatronfeften in fattjolifdjen
Sanbem toergteidjbar. SBie j. 93. in 935ljmen ber Sag beg t). 2Ben$et,
in 9tieber5fterreid) jener beg f). Seopolb locate Seftc finb, fo feiem bei
ben ©ubftatoen bie ©inen ben t). SRartin, bie Slnbern ben f). Sftifolaug
atg if)ren ©tammeg^ ober Samilienpatron, unb bejeidjnen fic^ aud) bar-
nad) alg martinstaci, nikolstaci u. f. to. 3)iefer lag nun ift einer ber
freubigften im 3at)re, unb an ifjm gefjt eg fo tjod) Ijer, ttrie an feinem
anbem. „£)ffneg £>erj, offner SJlunb unb offne £anb" finb feine ©ignatur.
@r ift toon foldjer SBidjtigfeit, bafe bag ftlofter nid)t erft toarten foil, big
eg angegangen ttrirb, einen feiner ^alubjeren ju entfenben. ©g foil bag
ttriffen unb eg unaufgeforbert tfjun. 2Begf)atb bcnn audi) bag Softer
fiber bie krsno-ime-Xage feineg Siftricteg ein befonbereg Salenbarium
ftiljrt unb felbeg ftetg in forgfdltigfter ©tribenj l)att. 2)a ift eg g. 83.
mitrov-dan, ©anct SDemetriugtag. lagg uor^er fd)on ma^t ber Salubjer
mit feinem 2)ja! fi^ auf ben SBeg nac^ bem Sorfe, bag biefen 2ag
morgen feiern toirb. SBeld) ein anbereg SEBanbern, alg urn bie fitrd)ter-
lidjen S)reif5niggfr5fte! Ueberatt Seute im gtreien unb afle, an benen er
fcoruberfommt unb bie i^m begegnen, griifecn i^n e^rerbietig, fiiffen ifjm
bie $anb unb bitten urn feinen ©egen. ©ie toiffen, toofjin er gefjt, unb
molten au<$ ettoag t)on bem lage tjaben, n?enn eg au^ nic^t ber itjre
ift, unb eg ttrirb i^nen nid)t toerfagt. 93alb, im Stbenbfonnenfdjein, auf
bem ©ipfel beg $ugelg bort, erfd^immert bie „toeif$e Sir^e". 3)enn mer
eine ®ird)e baut, ber foQ fie ijod) ^inauf bauen, bamit atle SBelt fie
fe^e, unb ber £itt auf ber femen S3ergle^ne, toemt er frii^ morgeng
360 Siegfried Kapper in ptfa.
Winter feiner $>eerbe einljergefjt, fic grit&en unb gegen fie gemanbt fcin
©ebet toerridjten fdnne. ©ie ift bag ganje %af)x gef<$loffen. Slur morgett
ftrirb fie offen fcin, unb f)eute fdjon prangt fic in Saub^ unb %afynm*
fdjmucf. ©g ift cine 9Jlitrotoftrd)e, erbaut toon ben SRitrotogtaci beg S)orfe3
eigeng fur iljren 2Ritroto*3)an. 33ig toeit Ijeraug toor bag ®orf tommcn bie
gamilienljaupter, gefolgt toon ber ganjen mannftdjen SBetodtferung, if)m
entgegen. ©ie miff en, bafj er fommcn nrirb, unb nun, na<f)bem cr fidj
mit Sttten getiifct, beginnt ber SBetteifer, tt>er ifyt ju ®aft Ijaben foQ.
S)enn bag ftraffrt einen 2id)tfd)ein toon ©tyre aug iiber bag ganje $au$,
ber not) big toeit in'g nadtfte 3af>r tjinein teu<f)tet. Sein Sort toorljer
ift bariiber gefpro^en morben. SDtan Ijat ifjm bie 33af)l laffen tuotten.
©r Ijat geto&ljtt, toon $au3 aug bereitg unterri^tet, on toem biegmal bie
{Reitje fei, bamit Sliemanb iibergongen ioerbe. Unb nun fifet er oben in
ber guten ©tube — benn au<$ bag beffere ' ljercegotoinifd)e #aug §at
fein „oben" unb feine „gute ©tube", toenn audj ate foldje an toeiter
nid£)t3 fenntlid), ate an einem rieftgen Xf)orug, fiir aHfattige ®&fte it-
ftimmt, an einem %x\$, einigen primititoen ©tu^Ien, bent SBaffenredjen
beg $auSl)errn unb einigen $eiligenbttbern unb fd)led)ten Sit^ograf^ien
bratoer ^atrioten an ben SBdnben — obenan, auf bent ©Ijrenplafce, gegen?
tiber ber Zfyixx, unb ringg urn if)n $er fifcen bie |>onoratioren beg
®orfeg, unb tt>er teinen ©tuf)l finbet, ber ftetyt. S)ie ©tube ift gebrdngt
toott, bie female greitreppe befefet big Ijinab in ben $of. ©g ift eine
fjarte unb im todrtlid^ften ©inne Ijeifje ©tunbe fiir ben 3Kann, erl)6f)t
nod) burd) bie gluljenben £fd)ibufg unb ben aromatifd)en 3)ampf beg
unaufljdrlid) circulirenben fd)h)ar$en Sfaffeeg. 3*ber tjat eine grage an
if)n. $er eine ©ehriffengfrage, jener einen rituetten ©frupet. ©iuer
m5d)te tt)iffen, ttrie fid} Defterreidj tool baju ftetten toitrbe, toenn bie
£ercegotoiner im gatte eineg SCufftanbeg itjren ?(nfd)Iu& an bagfelbe pro;
clamiren ioitrben; einem Stnbern madjt eg bie grdfjten ©orgen, toag aug
SRuftfanb tool toerben ttritrbe, toenn SRapoteon fi<$ auf bie ©eite beg
©ultang fc^Iagt, unb ein fritter lann nidjt redjt begreifen, »ag mit
feiner SReife bur^ @uro<)a eigentli^ ber ©rfjaf) toon ^erfien beabftc^tige.
Unb bag ?ltlcg foil ber arrae SDtann toiffen, benn er ift in ber gtudlidjen
fiage, toon 3*it ju S^it dnmal ein 3ritunggblatt jtt ®efi(^t ju befommen
unb barin — Icfen ju fdnnen! @r anttoortet, fo gut unb fo fd^lw^t
er*g meife, big, oft gegen SKittema^t erft, ©rfc^apfung unb Stafia bem
Snquifitorium ein ®nbe mac^en. SRorgen bann juerft grofce Siiturgie in
ber Sirc^e. $ann grii^ftiicf, — ein 3Ka^t, bag imterljalb ber Softer-
mauern atlerbingg nid)t ge!annt ift. ©in erfreuli^er Slnbtid ^arrt babei
feiner: bie 3Refjopferbrobe, ein jegli^eg ju 2— 3 $Pfunb, unb bie glafdjen
unb Sriige SBeineg atte, bie bie $aufer ber SDtitrotogtacen gefanbt ^aben.
©r nrirb eineg befonbern Iragerg beburfen, urn atteg bag, ba er bod}
nur eineg toertoenben tann, nad) §aufe ju fc^icfen. 3)ann ^ftt^tfc^ulbiger
KIBjier unb KlojierleSen in ber ^ercegooina. 36\
Umgang bei 9Wen toon $aug ju $aug, bic bag f)euttge geft begeljen,
unb in jebem Stnraudjern bcr lobten unb ©egnen bcr Sebenben. 9tttc
umftefjen fie ben Xifdj, an beffen obcrcm ffinbe er $Iafc nimmt unb ben
2Beif)raudj, ben ber S)jaf in einem ©d)&ldf)en auf ben lifdj geftetlt, ein
©ebet baju fpredjenb, anjunbet. 3)aritber juerft toerben bie $>eiligens
bilber beg $aufeg eingeraudjert. 3)ann fadf)t ein jeber ber Uratjerfteljens
ben fidj eine $>anb&ott beg SRaudjeg ju, urn il)n einjuatljmen. 2)ag toer^
urfadi)t jtoar ftarfen £uften, ift aber anbertoeitig aufierft tootjftfjuenb.
IHJfttyrenb biefeg Snljatationgacteg l)at er mittlertoeile bie Slamen ber
SJerftorbenen ber gamilie atlefammt, fie in ein ©ebct einfdf)attenb, laut
aufgefagt, befeudEjtet tyierauf bie auf einem Xifdj bereit tiegenben, toitrfel=
fflrmigen SBeijenbrobftiiddfjen freujtoeife mit 2Bein, geniefct eined batoon
felbft unb reid)t toon ben ilbrigen jebem ber Sntoefenben ber 9teil)e na<$
je eineg bar, baju fpredjenb: „©ei ®ott iljrer ©eete gndbig unb f<$enfe
IBir ©efunbjjeit unb 2BoI)lergei)en!" ®ag ift bag zapisanije im fleinen
©til unb toirb, aufeer mit einer anfetjntidjen ©penbe an Sictualien im
Ulamen beg £aufeg, toon jebem einjelnen aud) nod) befonberg mit ettoag
baarer SWunje, 2 — 5 ®rofc!)en, toergottfn. ®ag zapisanye im grofcen
©til, bag eigentlid)e, toie toir eg bereitg bom ftirdfjtage fjer fennen, too;
bei bie „gospoda", bie $erren, mit ®uft>enftuden, mit &rontl)alern, mit
tDucaten, ja felbft mit SRapoteong ficij feljen laffen, finbet, erft na<$ ber
gro^en iafet ftatt, bie bem priefterfidjen ®afte ju gljren bag #aug gibt,
bag iljn befjerbergt. ©ie toatjrt tief in bie 9lad)t, fie toal)rt big in ben
listen SDtorgen Ijinein. Unb nun, reidj an ®aben unb mit befdf)toertem
©eutet, gilfg ben $eimtoeg. S)ag ift ein fd)toer ©tiid. 3)enn au<$ ein
IDWndEj ift nicfjt gefeit toor ben 9iadf)toel)en iiber bie ©djnur Ijinaug;
ftrflmenber Sftafia, iiber bag 3Ra& quittenben SBeineg. 2Wein eg ift toor^
bebadjt! 3m #of unten an ber greitreppe tjarrt f einer f<$on beg Knefen
ftdjerfdjreitenbeg Seibrofj. ®er $jaf fyat junge Seine. Sr ^at bag 2eib,
bag bie Sftafia i^m angetfjan, toa^renb bie „gospodau nod) tief im Spolitis
ftren unb im ®ruge fta!, in einer ©tubenede auggefdjtafen. @r toirb eg
fii^ren. Unb fo fe^rt er benn in'g ffilofter priid, jufrieben mit feinen
Sammern, gliidti^ in fi<$. @g toar ein fd^5ner lag, nur ©djabe, ba^
bag 3a$r nur ©inen fotd^en f)at SReblidj ju $aufe enblic^ angefommen,
tljeitt er mit bem Sgwntcn; bann ftredt er in feiner QtUt ftc^ auf fein
fiager unb traumt ben Iraum ber ®Iudttic§en im ©d^Iaf ber ©eligen
nodj lange, lange fort, big im nac^ften SWorgengrauen bag ®eraufd^ ber
Slepetatfdja i^n toedt unb iljn ma^nt, ba§ ein Satubjer ni<$t ba ift blo^
jum SBofjtteben, fonbern auti) 5PfIic^ten ^at.
Die 3 r a u t*
Don
ft. ffic&ter,*)
— prag. —
I.
i liegt an ber fdjonen, toon {jiigelreidjen Ufcm eingefd)loffenenr
:ul)igen (SIbc cine biiftere, toon Soljlenrufc unb 2)ampf gefd}tt>ar$te
Stabt. ©ie ift faft an bic ©ren$e 23of)men3 gefdjoben unb
fire S3et>5Iferung toermefjrt fid) aud) in bcr Xfyat meljr au&
bem fteifcigen 9tad)barlanbe, bcnn au3 bcr urfpriingtid)en @intt)ol}nerfd)aft.
£ier Icgcn bic 5)ampffd)iffe, bie jaljlreidjen grudjtfdjlepper unb Saftfdjiffe
an unb ttnntern fid), toenn bcr Sroft fommt, im $afen cin. £ier trcffcn
fic^ bie Sifenbaljnen toon 5Rorb unb ©iib, toon Oft unb SBcft unb jafjl-
reidje ©trafcen burdjfreujen bic ©tabt. Unb foeit in'3 Sanb Ijinein
*) Wad) bcr 93erdffentlid)ung ber SRooette „2)ie ©rofjmutter" Don darl
Stomas tuurben mir Don oielen ©eiten nad) bent warren Seamen beS 3)td)tcr&
gefragt, ber fid) burd) biefeS eine SBerf allein jafjlreidje ftreunbe ertuorben Ijatte.
$eute f5nnen roir bie ftragen beanttuorten, — roir ljaben ein tragi jd)e3 ©efdjtd
ju beridjten. 2)er geniale 2)td)ter, au3 befjcn SRadjlaffe totr permit etneS feiner
reifften SBerfe unfern Sefern mittljeilen, ift Dor einigen SBodjen, faum 40 3af)re
alt, 511 $rag plo^lic^ geftorben. (5r ift in juriftifd)en ftreifen unter feinem
biirgerltdjen 9tamen unb Xitel, ^rofeffor Dr. Sari SljomaS fRic^ter, tooljl be=
fannt. Slber aud) bie 83erlincr ©efeflfdjaft ttrirb fid) mit Siebe jeneS fdjdncn unb
lebenSluftigen SttanneS crinnern, bcr al§ Dr. (Sari SRidjter in bic preufeifdje $aupt=
ftabt tarn, Ijier im SBanntreife Don SaffaHe ooltemirtljfdjaftlidjen Stubten oblag unb
fdjliefjlid) — al3 er auf bem Umtoege itber $ari3 in fetn SSaterlanb Deftreicfy
auriirffeljrte, urn bort eine ^rofeffnr an ber $rager Unioerfitat $u iiberneljmen —
bie fd)5ne 2Karic 2ttori&, bie Sodjter be3 befannten Sd|aufpieler3, bem foniglidjen
@d>aufpielljauje ate feine (Sattin entfiifyrte. 2)ic Sljatigfeit, mcldje SRidjter in
$rag trofc ber ©dmnerigfcit ber SSerljaltnifje, im ftampfe ber beutfdjen unb
Die Braut.
363
fttctft fie iljre mdd)tig anttMd)fenben inbufirielten 2trme. ©djlott reifjt
fit§ an ©d)tott, bcr jammer regt fid), bic ©pule freift, bag 28eberfd)iffd)en
fliegt ba ruljrfog f)in unb Ijer unb utxtct manctjem 3)ampffeffel gtiifjet
bic Sofjte, bic bag h)eftbof)mifd)e SBraunfoljlenbeden in unerfdjopflicfyer
SKaffe ju £age f5rbert. SSor jtoanjig unb breifcig 3>o^ren toar ba&
anberg. S)a war bic ©tabt an bcr Elbe cin Heineg, befdjeibeneg ©tdbtdjen,
bag nur bcr ©tubent befudjte, urn toon ba auf bic altc gefte, ben ©^recfen^
ftcin ju fteigen; bag mand)tnal bcr ©Smuggler atg SRaftort todfjtte, toetf
cr eg aug „©ott berttmnfdjten Seiten" fo getooljnt toax, in ber cr fein
©efdjdft beg Unredjtg fo regelmd&ig trieb, ttrie irgenb cin 9Iuberer fein
efjrtidj ©anbtoerf. Slur ba bom SRingpIafc in bic SBranbgaffe f)inein
^crrf^tc cin numtcrcg Scben.
S)a ^atte Subhrig ©laner bic crftc SBirftoaarenfabrif angelegt, bie
langfam aber fitter fjeramoudjg, fid) ertoeiterte unb immer ttrieber er;
tucitcrte unb nad) toenig 3at)ren ju ben grflfcten unb bliifyenbften ©efdjdften
beg Sanbeg jdljtte. $ie ganje ©tabt fanntc ifjn, $>unberte Don Strbeitern
fcgneten if)n unb, fiigtc er fdjerjenb tjinju, menu man fo fein ©efd)dft
riiljmte, unb taufenb ©orgen qualen mid). Unb fic qudlten it>n, benn
efjrtidj ©ctb hrirb intmer fdjtoer ertoorben unb nod) fdjtoerer erfjatten unb
einc SKittion, erfldrte ©laner ben Seuten, bie if)n cincn 2RiKiondr fdjon
nannten, cine SDtiHion ift furdjtbar t>icf ©elb. 2Ran meifc bag faum,
toenn man fie nidjt fjat unb begreift eg nod) tange nidjt, felbft toenn
man fic befifct.
©o fcfjerjte er auf ber ©trafje, menu bic Scute ifjn aug^olen tooHten,
fo tadjte er an feincm $ifd), toenn cr mit bertrauteu greunben iiber bic
Seutc fprad). 2)enn aufcer bem Sannfrcig feiner Sabrif get)6rte er ben
Srcunben unb greuben beg Sebcng. Unb fo faf$ er aud) tjeute in ber
caedjifdjen ftreife, entfaltete, war eine aujjerorbentlidj uielfeitige unb gebeiljlidje. (5r
tourbc burd) feine ftetg anregenben SSortrage ein iMebling ber beutfdjen 6tnbentcn
unb fanb baneben nod) Qtit, burd) ©riinbung gejcHiger unb nu^lic^er SSeretne,
fotoie burd) fyimfige popnIdrttriffenfd)aftlid)e $ortrage bie $entfd)en in $rag urn fid)
ju fd)aaren. Sange Qeit nmfjte SRiemanb Don ben &al)lreid)en poetifdjen Slrbeiten,
weld)e fid) in feinem ?hilte fjauften. @rft in ben Iefcten 3at)ren bxafytt ber be=
fd>eibene 2)ic^tcr ^ie unb ba (Sinigcg, beina^e niiberftrebcnb, an'g £ic^t unb fyatte
bie ^ot>e gtcube, nidjt nur mit jcinen etjd^lenben $id)tungen Diele SSere^rer,
fonbern aud) mit feiner £rag5bie ;/@amjon unb $elitfa" einen gro^en t^eatralijd^en
©rfofg in jeiner §eimat 311 erringen. 2Ber in ber Sage war, bag reidje SUiaterial
511 ftubiren, erftaunte iiber bie giitfe poetif^er ftraft, Sprac^gcwanbt^eit unb
ibealer QkU, weldje ber bei ung noc^ ju wenig befannte 55>ic§ter in feinem $ulte
bergraben tjatte. — Sftad) me^rid^rigen Seiben wurbc Garl Sfyomag SRic^ter am
13. October b. 3. plofclid) ton einem ^crjfdjfoge getdbtct. ©r ^interla&t auger
feiner SBittme brei unmiinbige ^inber. SBie wir ^oren, wilt bie beutfdje ©fitter-
ftiftung bie SSerbienfte beg £obten wurbigen. S). fR.
K. Hitter in prag.
<£de feineS 3)itoan3, bie 9tad)t fdjaute langft burc§ bie genfter unb bie
Sifter ttmren ticf l)erunter gebramtt unb fdEjerjte unb ta<$te, rau^tc babei
unb tran! ben lefcten 8tcft cincr madjtigen glafdje feurigen ©jernofeferS.
3t)m jur ©cite fafc feine grau. 3tynt gegeniiber eine junge ®ame. Unb
filr fie fdjien ©laner ju foredfjen, fiir fie unb 5U ifjr.
„&etene, meine fdE)5ne, attertugenbfamfte S3raut, fef)en ©ie mir nie
ttrieber fo tang, bem 3Kanne in bie Stugen, ber foeben burd) bie 2^ur
f<$ritt!" ©0 rief er unb blinjelte mit feinen fleinen, braunen, uberauS
Ilugen Stugen uber feine ©igarre Ijintoeg gu grautein &elene fjinuber.
„9td£)!" erttriberte biefe, „id£) bin ja nodf) nid)t toerljeiratfjet unb barf
nodf) immer einen fdfjdnen unb geifttoollen 2Rann bettmnbew."
„grauen bettmnbern nut, ioenn fie fteben tootten!"
„Dber tt)enn fie bemitleiben I5nnen! 2Ba3 Ifinnte S)octor Slitter ber
HBelt, n>a3 feinen greunben fein, toenn ®eift unb ©eele in einem frafs
tigen Sfdrper iooljnten. 2Ba3 — "
„£>alt!" rief (Staner, „ba£ ift Ictnc Setounberung nte^r, ba$ ift
©df)ttmrmerei! 2Ba3, ift ber SDtann nod) franf? (Sr ntac^t 3^nen ja ben
Jpof unb fagt fo fd)dne 3)inge, toenn ®ie an biefetn lifdj fifcen, ate ob
«r nodf) auf ben ©triimpfen feiner erften jtoanjig 3al)re ginge."
#elene fenfte errbtijenb ba3 ®eftdf)t auf itjre ©tiderei, ate fudjte fie
bie Slabet, bie fie bod) in ben leid&t jitternben gingern Ijielt. ©tancr
lacf)te toor fi<$ t)in, ate freute er fid) im ©tillen, bafc fein treuefter greunb
eine fo fdjihte Setounbrerin gefunben f)fttte. Dann rief er pldfclid):
„D! ©ie fennen iljn nodi) nidjt! 8lber ©ie tuerben iljn nod) ganj
lennen (ernen. %f)tt $odE)jeit ift ja erft in trier SBodjen, 3$* Srautigam
fommt erft in brei SEBodfjen unb trier Sagen. S)a Ijat aud) eine ©raut
nod) Stxtf ©tubien fiber un3 #erren ber ©dfj5pfung unb be£ SBeibeS ju
madjen. Stber id£) fag* e3 3^nen ate 31}* Jtoeiter SJater, ben ©ie ja,
toit ©ie immer betfjeuern, lieben unb toereljren, id) fag' eS 3^en, ljuten
©ie fidE), mein grautein! 3)er 9Kann, ber mit feinen jtoeiunbbreifcig 3^ren
foeben im golbenen Sfltoen nod^ einige 93e!annte ju begriifeen ^at unb
bariiber ba3 fc^5nfte SKdb^en unb bie fd)flnfte Sraut unferer ©egenb
<jKein in meiner trodenen ©efettfdjaft fifecn Ue&, biefer SDlann ift ein
3)amon! @r meife mit 2Rdnnem ju fpred^en, fo bafe fie if)m; o^ne i^n
ju unterbred^en, gern jutyflren. 5tber er ^at ein gel)eime§ $ebat in fci-
item ©tammregifter, ba^ er toirfen Iafjt, toenn er mit grauen fori<$t.
©e^en ©ie biefe meine grau anl 3)iefe grau toar einft fo in ben SKamt
tjertiebt, ba& fie — "
„9lber Subtoig," firi grau ®Ianer i^m in'S SQ5ort, „tok f^rid^ft ®u
toieber! 3df) ^abe Dr. Slitter tyeut nod^ fo lieb, tok Dor jeljn S^ten,
^te ic^ ifjn lennen lernte unb ^eut nod^ ganj fo lieb, h)ie bamate, o^ne
bafe ©efa^r fiir mein ©eetenljeil baraug ertt)ad^fen mare!"
„9t<$, fo fommt mir nic^t!" plafete ^err ©laner Ud unb fein ®ejtd)t
Die Sraut.
565
ftraljlte greube, ba feine ©cfettfd^aft mit feinem greunb fic§ unterfjatten
licfe. „3d) totify, toa^ fur @ud) grauen cin $aar melandjolifdje Stugen
finb. Unb gar in bem Sopf eine3 ©djriftgeletjrten unb SpfjarifaerS! ©in
efjrfamer ©trumpfttrirfer madjt ©udE) leinen ©inbrud unb toenn cr ber
fdjonfte SKann marc. 3^r fount ®w§ gar !cinc SKetandEjoIie unb ©dfjttmrmerei
benfen, toenn man ©triimpfe tt)irft fein Seben lang."
„3Bie unbanfbar!" ricf §clenc. „2Bir beten ©ie bod) atte an ate
ben beften, liebften unb gefdjeibteften 3Kann unferer ©tabt."
„®anfe fur ba3 ©omptimentl Stber bie ©tabt ift ftein unb ba
i&fytt bcr gefdijeibtefte 2Kann nidEjt bid. Unb fcit maun betct 3f)r mid)
benn fo an? ©eit toierjeljn £agen, feitbem id) 6udj ate griiljftngSgabe,
ate Dfterei, ben Dr. Slitter tjergefaafft tjabe."
„©d)motlen ©ie nur mit un3! 63 getjt S^nen bodf) nidfjt toom
4?erjen."
„2Barum nid)t?"
„2Betf ©ie felbft ftolj auf g^ren greunb finb, toeil ©ie ftdf) freuen,
tpenn ifyn bie anbem betounbern!"
„©inbitbung!"
„3Baljrt)eit ! Unb ©ie follen iljn mir noc^ ju guter Sefet fdjilbern
unb erjatjlen, h)ie ©ie benn eigentlic^ mit if>m jufammen fidf) fanben. ©ie
Ijaben e3 mir fo oft fdjon toerfprodjen."
„9tun, fo ttritt itf) mein Serfpredfjen jefct einlofen, menu ©ie auf;
, merffam lj5ren tootten," filgte er fdjalffjaft Ijinju.
$>elene legte bie ©tiderei bei ©cite, letynte fidj in ben ©tufjl juriid
unb, ben ffiopf auf i^re $anb geftiifet, l)5rte fie mit Ijalbgefdtfoffenen
9tugen ju. grau ©laner ftridte ruljig toeiter, toon 3*it ju Sett ber
<Srjat)Iung iljreS ©atten mit einem teid)ten ®opfniden beiftimmenb.
„2Bir finb ©djutfameraben unb gugenbfreunbe, mein tiebeS gran*
lein. SBenige Sa^re trennen un3 im ?tlter, ba id) ba3 ©Kid tjatte, brei
Sa^re friif>er jur SBelt unb bag Ungliid, brei 3<*f)*e foater jur ©djute
ju fommen! S3 mar eine fd)8ne 3cit ju Seipjig auf bem ©tymnafium
unb bann auf ber Untoerfitat. 3df) toax niimlidE) aucfj auf ber Unitoerfis
tat, toaS ©ie toon bem eljrfamen ©trumpfnrirfer toon Ijeute tool faum
glauben toerben. Unb idj Ijatte fogar aUe Slnlage, ein guter 3urift ju
toerben. 3$ &in & S^m ©liid nidjt gemorben. 2Witten in meiner
frozen ©tubienjeit ftarb mein 9Sater. ®a gab^ ©ritber ju erjie^en,
©djtoeftern ju uer^eirat^en, eine liebe Stutter ju er^alten. 3^ ^atte
Sleigung ju gef^aftli^en Unteme^mungen unb toenn ity auf Steifen
fling, reifte id) mit ben 8lugen eineS ®auf manned. SReine 3^ifterei
liimmerte mid) fo tt>enig, to'xt bamate bie SDtebicin meinen greunb. Sr
begteitete mi^. 3^ S^igte i^m oft, ba& ©olb auf biefem gted bo^mif^er
(Srbe liege, ©r fal) e^ nie unb i^ tootlte e^ no^ nid^t auf^eben.
9hm mu^te ic^ e^ t^un. $er tiebe ©ott gab ben ©djafen SBotte, bamit
566 K. (Efy. Hitter in prag.
cinft bic SBeb* unb SBSirfcret fie toertoenbe jur 93efleibung be3 fiinbigett
2Renfdjengefd}Ied)te$. 3d) griinbete tjier in ber ©tabt mit iljren bitligeit
?trbeit3frdften, ifjrer trefflid)en Sage bie erfte SBirftoaarenfabrif. S)u
lieber ©ottl 3)er SBinter toar furj; bie ©ried)en toottten feine Sarfen,
bie SBaUadjen feine ©triimpfe jerreifcen, bie 93auer3leute ber gansen
SBelt flagten uber §tfce, unb id) Ijatte babei 3eit, ben lieben $>errgoti
in Stritmpfen, 3aden unb 2Binter;©I)alote mit alien feinen $f(itf)ten, bie
er gegen bie 3^re^jeit unb bie ©trumpftoirfer fjdtte, ju conterfeien.
3)a ging id) benn oft nad) Seipjig, gucfte mit meinem greunbe ben £erreit
SJJrofefforen in'S ©ottegium, ben 2Birtf)3f)aufern in'S SBeinglaS, unb ttmrbe
babei gerabe ein fo grojser ©elcfjrter toie mein greunb, ber aud) midj
gar oft befudjte, ein getoanbter SBeber unb ©trumpftoirfer. ©o fjaben
toir un§ nie oertoren unb nie toergeffen. ©ie toiffen baoon ntdijtS, mein
liebeS grdutein. ®enn ©ie toaren bamate im ^enfionat ju 3)re3ben unb
fafjeu, toenn ©ie fiir furje 3^it nad) #aufe famen, ben SKdnnern nod>
nidjt in bie 2tugen. — Die 3eiten dnberten fid) aber. ©3 hmrbe einige
Safjre fefjr fait. — 3d) bin au3 ©efd^dftsintereffe ein greunb be§
SBinterS. 3d) befam Ungef)eure§ ju fd)affen, ju tciften. 3d) fonnte nidjt
mefjr nad) Seipjig, ftettte eine 3)ampfmafd)ine auf, fjeiratfjete biefeS efjr-
fame SBeib, ttmrbe ber piinftlid) ja^Ienbe SDtietljcr be£ erften ©todeS in
bem $>aufe S^red 93ater3, mein grdulein, unb bin, tote bie Seute fagen,
ein reidjer SKann. S)ie Seute toiffen ba§ getoflfjnlid). $a fam mein
greunb unb ging. ©r fam unb freute fid), bag mein ©efdjdft erbliilje,
fam toieber unb tear ernft unb traurig getoorben. 5)ann trug er £rauer,
benu er Ijatte in einem 3«f)re SSater unb SKutter begraben. Unb fo fam
er mit jebem %ai)tc, bod) immer fiir furjere S^it, balb nur fiir toenige,
einfamc Sage unb toar immer bleidjer unb immer gebriidter. 3)a£
©djitffal fjat iljn ftarf f)erumgepeitfd)t. S)er tiebe #errgott, fagen bie
^riefter, oerftefjt ba3 nun beffer ate toir. 3$ totifc e3 nur, aber Ijab*
e3 nocf) nid)t oerftanbenl 3m 3&f)re 1848 toar er atten Stnberen Ooran.
®r fjatte Don feinem 9Sater ein grofteS Sermflgen ererbt. @r beugte fid>
oor feiner SSerfoIgung unb Sfjifane. 8Sie mein greunb mit ben tefeten
3af)ren burd^ feine 5|3raji§ al§ Slrjt einen grofeen 8Suf ertoorben,
^atte er au^ ja^Irei^e Sefannte unb greunbe- unb toufete ju tro^en.
2tber er toarb oerbittert in ber etoigen Dual ber 3)rof)ungen. Sr fud)te
ein §eri, bem er aHein ange^5ren f5nne unb ba^ i^m Sliemanb ent-
reifeen burfte. ©r nimmt oom Sranfenbette fi^ bie grau. (Sine fdjone
grau! ©ie mu§ toie bie ^eiltge 3ungfrau au^gefe^en f)aben, ate fie fo
batag unb fterben toottte unb Don if)m gerettet tourbe. ©ie liebte ben
errettenben Strjt unb gab fid) if)m ganj ^in mit ber erften Seibenfdjaft
einer neu pm Seben ertoad)enben ©eete. @r freute fid) ber ©enefenben
unb liebte fie ober glaubte fie ju lieben. ©3 ift feine gliidlidje ©fje
getoorben. ©in Sinb fjatte bag 93anb ettoag fefter toieber gefdjlungen.
Die Brant.
36?
3)a ftarb e3. ©eit ber Sett fteljt er ttrie fremb ber fdjonen 3rau gegen*
iiber. Unb toenn bag ungliicflid)e SBeib, toon iljrem ©ram ganj toerjetyrt,
t>en ©atten bodj nodj fudjt, er mitt fidj nid)t meljr finben laffen. ©r
I)at fie getiebt, bodf) feine Siebe mit bent ®inbe begraben. ©3 toar ein
longer, fdjmerjlid)er, innerer Sampf. ©r fampft ifjn toietteidjt not§ Ijeut
unb toeifc ntd^t, toaS gut unb bofe in feinem $erjen! 2)a hmrbe er
Iranf, fdjtoer franf unb tootlte !aum meljr genefen. ®od) er genaS unb
t>en ©enefenben rief \6) ju ntir. 8tn ber getreuen 93ruft hrirb er toieber
gefunb loerben, bad)te id). Unb fdf)on lebt er toieber auf. 2Rir ift,
tuenn id) ifjn fo neben 3f)tten, $elene, fefje, ate fetye \6) ben 3Kann toor
3ef)n 3af)ren mit feiner Kraft unb Suft ju bejaubern. 2tdj, er toax fo
berufen, glitdlidj ju fein unb gliicflid) ju madjen. Unb er hntrbe fo
unglitcflicf) ! — Saufenb! bie ©igarre ift fd^Iec^t" — unterbrac^ ©laner
bie ©rjafjlung — „fie treibt mir faft Sfjrcinen in bie Stugen!" — @r
fonnte faum auSreben. ©r fprang auf unb eilte an'3 genfter unb l)inau3*
ilitfenb in bie monbfjetle Sladjt, trommelte er mit ungebulbigen unb
^tirnenben fjingern an'S ftenfter. Seife erljob fid) $elene, gab grau
©laner bie ipanb unb ttmnfdfjte i{jr mit einem toarmen $u& ©ute Sladfjt I
3)ann fdjritt fie leife an'3 Senfter, legte ifjre 9Jed)te auf $errn ©lanerS
©djulter unb mit ifjrer Sinfen feine $>anb ergreifenb unb briidenb fagte
fie audE) iljm ©ute Sladjt.
„@(auben ©ie," fefcte fie f)iniu, „bafe idj 3^nen mit ganjem
4?erjen nadjempfinbe. Slber e§ finbet fidf) fcfjon fo: fdf)Bn unb ungliidlidE)!"
,.©ie iootlen bod) nid)t bamit fagen, bag id£) tyafelidj bin, toeit id?
glucflic!)?" fo fiel iljx ptofetid) ©laner in'S SBort unb feine fril^ere ernft
getoorbene ©timmung f<f)ien toie toerfdfjttmnben.
„2Bie abfdjeulidj I" ertoiberte ifjm £elene, fidj f<$mottenb jum fdjnetten
<3et)en toenbatb.
„&att, mein Srautein! ©ie finb tool bofe, toetf i<$ 3^nen eincn
metand)ofifdf)en ©ebanfeu serft5rt, mit bem ©ie gem fd&lafen gegangen
ttaren? 9licf)t3 ba! ©ie finb Sraut! ©ie fjabcn fiir fold^e ©ebanfeu feine
4}eit me^r. 3)od), loollen ©ie mit einer 2Bei3l)eit belaben fortgefjen,
merfen ©ie fid) ©ing: 9tidt)t3 ernft ne^men auf biefer 2BeIt!"
/;StIg bie ©trum^fttjirferei!'' fefete mit Ijoljem, feierlidjem lone, fic^
ganj auf i^ren fleinen Sii^en emporftredenb, $elene ^inju, jiinbete
f^nett itjr Si^t an unb t?erfd^tt)anb fjinter ber S^iire. §err ©laner
ladfjelte unb feftte fi^, ein 93ud) ergreifenb, neben feine grau, il)r burdf)
eine furje flectiire nodf) bie 3^it i^reg abenbli^en 3teifce3 ju jerftreuen.
Sangfam fd^ritt ^elene bie ireppe ^inauf jum jtoeiten ©todmerf
t)e§ §aufeg, in bem ifjre ©Item unb jiingeren ©efefynrifter too^nten. ©ie
^atte bereitg Slllen ©ute Slad^t gefagt unb toar nur fiir ein ©tiinbdf)ett
traulic^en ©eplauberg ju $errn unb grau ©laner ^erabgeftiegen. 3^t
BItcfte fie pdjtig burc^ bie ©lagtpre, toeldje bie Ireppcnftur toon einem
368
K. (Etj. Hitter in prag.
geraumigen SBorfaal tretmte unb fa!) an bcm Keinen, bereitd entjiinbeten
9lad}tlampdf)en, bag tyre 3lngel)Srigen (ftngft ju SBette. Siligen ©djritt£
fctyritt fie nad) bcm, filr bic \t ftltefte Xodjter beftimmten, cine Zttppt l)5Ijer
gelegenen ©tiibd&en, in bcm fU nun fcit jtoei 3<tyi*tt aHein Ijauftc, unb
oft fcfyon, fcit fic SBraut getoorben, bcm tioHcn SJionb iiber bic ®&tyer
ber $aufer toeg in'd 9lngefidE)t gefdjaut Ijattc. S)ancbcn fdjlief bic alte
Dicucrin unb ed toaren in cincm brittcn SRaume Siften unb &aften, 3Bafdf)e
unb alter, audgebienter $audraty aufgetyauft. ©orgtid} f)iett $etene bie
$anb Dor ba8 2idE)t unb hue fic mit fcincn Singcrn bic glammc fd)fifctc,
fiel ber ganje SidjtfdEjein tyr auf'd 9lngefid)t. S)ad tear gerabe in biefem
Stugenblid fo cinfam unb jauberljaft, unb hrie cine $audfee fdEjritt fie
baljin, bic nadf) ©dEjrein unb hammer fdEjaut. Sd tear ein fdE)6ned ©Ub.
2)ie grofjen, fdEitoarjen Kugcn bedten jefet bie Slugenliber pr $&tfte unb
gaben bem fdjdnen ®efid&t eincn fanften, ftitt ertoartenben 3ludbrud. S)er
9Runb tear teidEjt gefdfjloffen. 3)ad feine, jitternbe SRoty biefcr 2typen
ttmr tok Don cinem fliidfjtigen ®uffe Ijingefiifjt. (Sine fein gefdjnittene
SKafe mit teife jitternben SRafenftflgeln bertief in jtoei tief bunfte, fdjmat
gc^eic^nete 2Iugenbrauen. Unb gteid} bunfet tear bad $aar, bad in lofen
Soden bie Ketne, Ieid)t betoegtidEje ©tint einraljmte unb f)inter jtoei burty*
ftd&tigen Df>mt mit einem blauen 99anb jufammenge^alten tourbe.
©o fKeg fie empor unb bad fdfjtoarje, gftnjtidj fdjmudlofe, fic aKein
ftymudenbe ftleib toaUte in langen galtcn tyr nadf). 3)odj ba tear bie
Xljur tyred &\mmtx$. 8Bie fie btefetbe dffnete, f)ielt fie an, urn mit
fcotten &ix%trt ben baraud Ijertjorfhdmenbcn S)uft ber erftcn, in blanlen
Idpfen forgfam gepftegten 3SeiIdf)en einjufaugen. ©ie toaren Ijeute, ate
bie ©onne fidE) fenlte, aufgeblityt unb #elene fd&aute fie, faum eingetreten,
lange an. S)ann fefcte fie fid) an tyren ©dEjreibtifdj unb fdEjrieb.auf lofe
©latter, bie fie eined jum anbern erft iramer nad} 3a^redfrift ju einem
©anjen jufammentjeftete: #eute Slbenbd fpradE) \6) doctor Slitter. @r
ift feljr, — fetyr ungliidftd)! —
©ie legte bic geber nicber unb blidte bad SBort, bad fie fo lei$t
gefdf)rieben, an unb bftdte ed immcr toieber an unb tyre Slide fonnteit
fid) batoon nityt menben. ©ic traumte langen, taufenbfad^ tjerfd^iebeneu
3n^alt btefed rafd)en, furjen SSorted! S)oty ber 2)uft ber erftcn SScittyen
umtoc^te fie unb jog burdf) i^re Iraume. 5)a ticrgafe fie bad Ungtud
unb traumte bom ©liid. —
SBttyrenb beffen fafecn bie lefeten ©afte, jttjei jungc 9Kdnner, im (Soft*
l)of jum golbenen Sotoen tief t^erfunlen in i^r ©efpradE) unb faum a^nenbr
bag bie Ityr fd^on auf e(f toied. S)er einc ipar ©eriditdabjunct beim
©trafgeridf)t. ©d tear ein feiner Sopf. 9lud ben ^ellen mit golbencr
93rttte bettjaffneten 9lugen Iad)te SSife unb fluger ©inn unb urn bie biinnen
2ippen fpielte greubc unb ©enu§. S)ie £aftung bed gan^en SWann^end
tear bel)errfd)t t)on ctner belpeglid^en ©leganj. £err ©ermann ^atte in
Die 3raut.
369
$rag ftubirt unb bort ben jungen 2)octor {Ritter „aug Seipjig" fennen
gelernt. 2)er war nadj $rag gefommen, urn ba an bcm SSeften, n>ad bie
©tabt bamalg bot, an bcr beriiljmten gacultdt ju ftubircn. Unb nun
fanbcn fid) bic eljemaligen Sameraben unb ©tubienfreunbe in bcr geos
graptyifdjen SJiitte jtoifdEjen Seipjig unb $rag toieber. S)er (Sine tear
nod} intmcr lebengfrolj unb forgloS tote bamalg, ber 9tnbere toar Don
Summer jerriffen, laum nacf) langer Sranft)eit toieber genefen unb fdjud)*
tern bie gragen beg neuen Sebeng ertoartenb. SBag gab eg ba ju er*
jaljlen Don tuftigen 3lbenben, toon tollen ©treidEjen, Don Ijeiteren Satljeber-
getoot)nt)eiten ber ^rofefforen! 2Bag tourben ba Stamen Don SJldbdEjen
genannt, bie fidE) fur ben „9lugtdnber" begeifterten, fur feine ©pradje,
feine $JSoefie, unb bie nun-alle efjrfame $augfrauen fd^on getoorben uni>
gar oft nic^tS mefyr Don $oefie unb Stegeifttnmg tonfcten, bie audj nidjtg
meljr Don Dr. Slitter tmifjtcn mtb toenn fie an ifjn erinnert tourbfn, ttrit
mux fU^tigra S5efanntfd)aft feiner gebad&ten. Unb bocf) t>at ber SRamt
mit feinen toeidjen braunen ?tugen SJlan^er bag erfte, befte Siebeggliicf
gebradjt! —
„SBag tourben all bie grauen fagen," rief §err ©ermann, „toentt
id) if)nen erjdt)Ite, bafj id) ©ie toieber gefeljen unb big elf Uf>r Sftadjtfc
toieber mit S^nen gefdjtoarmt Ijabe?"
„Unb nodj baju toieber iiber ein SBeibl" entgegnete Slitter mit
einem langen, faft fpottenben ©eufjer.
„$eute aber iiber ein ungtiidlidjeg SBeib ober iiber ein SBeib, bag-
eg toerben toittl"
„@ie fennen alfo grdutein $elene?"
„®eit fedjg 3a^ren. ©eitbem id) eben fjterljer berfefet tourbe. ©ie
toar bamalg trierjeljn 3<4re oft unb idj blieb oft beg SBegeg fteljen,
toenn bag fdjflne ftinb jur ©djule ging. Unb alg fie nadj langer Slbs
toefenljeit, fie toar in 2)regben, urn bort in einem $enfionat fidj augju^
bilben, juriidfet)rte, ba blieb id) toieber ftefjen unb falj mir bie fdE)6n
erbftitjte Sungfrau an unb oft Dertoeilte icf) unter ben genftem il)re3
cltcrlidficn £aufeg, toenn fie auf bem fflatoier ^antafirte. 34 Krte
fonft bie SRabdjen ni^t am Slabier. 34 bin felbft ein ju guter SJiufifer,
um fo nert>ofe ©dnfefiife^en auf ben Xaften Ijerumtan&en ju fetyen. 3lber
bag toar nidjt bie §anb eineg SDtabdfjeng, bag toar bie §anb eineg mann^
lid^en Siinftlerg, bie ba in bie Slccorbe griff. 34 ^attc mid^ iu fie
toerliebt unb ba i^ eg nidEjt tf)at, lann i^ eg fagen. 34 ^attc ia f4°«
SSater unb SKutter unb bie ganje ©ippe fennen gelemt, bie fidE) um
bag 3Jldbd)en fd^log/ toi* bit S)ornreifer um bie junge JRofe. SBag ^eifet
biefen ®elbfaden gegeniiber SKenf^en^erj unb ©efii^I? S)a fommt nun
tior beitdufig adE)t SKonaten eine Xante unb fagt: $ort am W^ein ift
mein ®inb tocr^ciratfjet. ©ie ^at einen SKann fennen gelernt, ber mit
9iufcen ©eibenftoffe t^erfauft. S)er toitt ©iter Sinb. Sticmanb toei| toa3
370
K. <El}. Hitter in prag.
©dE)tecf)te£ toon itjm ju fagen. ©ebt i^m ©ucr Sinb. — Unb bcr SKaim
fontntt. ©r fjdlt 93rautfd)au. Unb ber Sater ift jufricbcn! ©r fcerfauft
©eibenftoffe mit Stufcen! Unb bic 9Rutter ift jufrieben! ©r ift Hug
unb retell Unb bic lante entbedt Derborgene ©djafce in bem SRann.
2)a ttrirb gebeten, iiberrebet, getoeiut, enblidE) fagt bag -JKdbdjen 3a unb
t>ag ©otbbergtoerf rcift ab. @r ljat bic £od£)ter — am jtoolften SKai
ift £odf)jeit. gunfunbjtoansigtaufenb Staler finb itjm toerfprodjen. SScnn
trie ©Itern fterben, erfjdlt cr bag 83ierfad)e nod£) nadi! 2)ag Hnbere ift
Ulebenfadje. ©r ttrirb immcr mit SRufcen toerfaufen — unb eg ttrirb cine
gliidlid&e ©fje feinl"
©o plauberte ber SDtann fort unb entente unferm grcunbe bic
<Sefcf)idf)te, bic fidf) aflc Sage auf ©otteg fcfjdner ©rbe abftrielt.
„Unb ©ie gtauben nidf)t, baft Sljre Siebe gelotjnt toorben toare,
toenn ©ie fic nur fatten gebeifjen laffen?" frug Slitter fcincn ©tubicn=
freunb, a(g biefer mit feiner launigen ©djitberung geenbet.
„3a, mar' id) fdjon Slbtoocat, toofiir id) mid) jefct toorbereite, ba
lag' bie ©acfje anberg, bann fdEjtodnben triele bcr Sebenfen, toetdfje
4?elencng reiser unb ftuger SSater bem SBeamten gcgeniiber gcltenb madjt,
ber idt) fo nod) big auf SBeitereg bin. 2)od), freunb, ©ic muffen ju
83ette. giir cinen SRecontoalegcenten ift 12 Uljr juft nify bic beftc Qtit
Z\\m ©<f)tafengef)cn."
3)ie beiben Sreunbe cr^oben fid), grufjten ben SBirtt), ber mit feljr
toerbunbenem 2dd)eln bem iperrn (SeridEjtgabjuncten fidE) empfafyt unb
trennten fid) batb an ber ©de ber ©trafte mit cinem toarmen £>dnbes
trud. S)octor SRitter fd&ritt langfamen @d)ritte3 iiber ben SRingpIafc unb
ba, ttrie cr fein feaupt 8um ftaren £rimmel erljob, fielcn fcinc 9lugen
auf ein ®ac$ftiibdf)en, bort im £aufe feineg Srcunbeg ©Ianer. 3)ic
beiben genfter toaren nodE) ^ctl erteudjtet, abcr leinc ©eftalt, fein ©fatten
fdjtoebte an bem licfjttjeflen 3taum borbei.
„2Bag madjt bie junge Sraut nodj?" fagtc SRitter fiir fic§ unb
fdfjritt auf fein ipaug ju. „9ld£)! irictleidjt fdfjreibt fie ifjrem jufiinftigen
fatten: «bie ©eibc mit 9iufcen t3erfauft»."
©ein Slid tjcrbitfterte fid) unb fcinc Sippen ^refetcn fid) feft auf;
dnanber. ®od) toenn ein ©eufjcr i^nen cntfd^tiipfte, briidte cr bie $)anb
ouf'd §erj; aU tooUV cr i^n tief in ber SSruft erftiden. ©o ftfjritt cr
ba^in unb badjte be^ SWdbd^cng, bag cr faum fannte unb bcrcn fieben
unb Sufmtft er bod^ fd^on priifte unb crioog. Unb feme bem 2Rann
fafe cin fd^oneg, btonbeS 2Bcib, ^iclt bie ^dnbe in iljrem ©c^oofe gefaltct
unb fat) mit matten Sliden Dor fid^ ^in. ©ie tou|tc ni^t, toaS fie
bad)tc, fie toufete uidEjt, toag fic fii^Itc. ©ie ttmfste nur, ba§ ftc cinen
URamt gelicbt, ber niemalg biefer Sicbc gliid(idf) »arb. ©ie bac^tc baran,
fic fiit)(tc e§ unb faf) fi^ ungliidlid^ unb i^n unb fonntc eg bodf) nic^t
iinbew.
Die Brant.
37(
II.
grau ©optjie ©(aner toar cine ftitte, forgfame, befonnene grau. ©ie
gel)6rte bcr SBeft nid£)t an unb forgte nidjt um fie unb badjte nidE)t an
fie. 2)er $immet toeifj, ob fie fidj felbft getyorte, bod) atfc SBelt aner=
tannte, bafc fie ityre ^Jfttc^t crfutttc. Unb fo toax fie ftitt nnb forgfam
in &au3 unb $of, toax forgfam unb befonnen fiir #au3 unb $of, badf)te
ifjrer $flid)ten unb erfiittte fie unb toar gludlidf) in biefer ©rfiittung.
3$ glaube, bie SBett tyatte au3 ben gugen geljen f5nnen, grau ©laner
todre bariiber ni(^t in ©dEjreden, tool aber in ©orge gerottjen, bamit
StUc^ in befter Drbnung in Unorbnung geratlje. ©ie Ijatte e3 fo gelernt
in ber ©d)ule be3 SebenS unb ba3 2eben ift oft eine fdjlintme fletyr-
meifterin. griiljjeitig toertoaift unb otyne 83cftfe unb SBermSgen, getyorte
bie SRulje ifyreS £erjen3 baju, fid} fd^nett in frembe unb oft in bie
frembeften Sertjdttniffe ju fiigen. ©o trat fie in ba3 $au3 einea reidfjen
9Ramte3 ein, bie §au3t)aftung beSfetben ju fiiljren unb bie ®inber an
©telle ber friif) berftorbenen £au§frau ju erjte^en. 3)ann tyatte $>err
Berber fie in fein §au3 berufen in ber Beit, ate bie dltefte Xod)ter
$elene nadE) $)re§ben jur meiteren 9lu£bilbung abgereift toax. 9tud^ tyier
gait e^f bie $>au3t)attung ju fiityren, bie fteinen JHnber ju beauffid)tigen
an ©telle ber #au$frau, bie feine 3^it bafiir tyatte. 3)a faf) £err ©laner
grdulein ©opljie nrirfen unb fdjaffen. ©r faty fie unb fanb, bafj e3 aucty
fiir ifjn 3dt fei, feine ^au^attung ju orbnen. @r fat) fie bann ofterS
unb ate er fie immer ttrieber fal), liebte er ba3 9Kdbd£)en unb Ijeirattyete
ba3 um einige 3al)re dttere graulein. ©3 ift iibrigenS moglidf), bafc er
fid) niemate 9tedE)enfdE)aft iiber feinen ©roberungSjug abgetegt unb bie
Drbnung beSfetben nictyt fo ftatt Ijatte, nrie toxt ba oben aufgefdjrieben.
2)enn #err ©laner, einmal au3 bem 2)irection3bureau feiner gabrif fjer*
au3, toar ettoaS jerftreut unb niemate Ijat er mit bem Segriff ber Drb-
nung etneS 2Bof)njimmer£ fid} bertraut madden lonnen. ©r mar ftarf
furjfidjtig unb ba§ mag ein ©runb metyr biefer geinbfdfjaft jtoifc^en i^m
unb ber Drbnung getoefen fein. Unb fo pafcte graulein ©op^ie iiber^
au3 gut in ben 3ta^men ber gran ©laner. ©ie btieb aud) jefet nod^,
toa$ fie friiljer toax: bie ftetS forgenbe, immer Har blidenbe unb ru^ig
benfenbe grau, bie treu ergebene greunbin i^re^ 3Kanne3.
doctor SRitter ftanb iljr neben i^rem SKanne &iel nd^er ate atte
i^re toeibtidfjen 8eIanntfdE)aften. Stnbere SKdnner lannte fie nid)t unb
liefe fie nie naf)er in i^r $au^ unb SBefen blirfen. Slitter ^atte bie (Stye
mit ®Ianer au3 ber gerne mit beftfrbert, obiool er ©optyie nur nad^ ben
©dEjtfberungen be^ greunbe^ fannte. S)a3 aber toar itym gemtg. ©r
lannte feinen greunb unb toufete, toa% er beburfte. ©r toax in ben erften
Satjren ber ©tye ber ftete mit greuben begriiftte ©aft, bcr ba Seben unb
grotyfimt in'g ^au§ brad^te. ©r fctylang immer wieber bie 93anbe ber
Worb unD ©ub. VII, 21. 25
372
K. (Eti. Hitter in prag.
Ciebe bcr beiben ©atten fcft ineinanber, alg fie mand)mal fid) $u lofen
broken. $)enu ©laner begliidten fcine fiinber unb cr empfanb ben HRangel
fc^r tief. 9iid)tg fann @()en fefter fdjliefcen alg Sinber, nid)tg fann fie
leister trennen, alg ber SRangel biefer ertoarteten greube. Slitter burd^
fdjaute ben ©runb ber toon S^it Scit erfdjeinenben fiatte, tou&te ju
troften, ju jcrftreuen, onbere 3i*te beg Sebeng augjumalen unb bradjte
balb bag ©fjepaar iiber bie 93riide ber 3ft>cifcl unb furamerfcollen 3Belj=
mutl) bortfjin, too fte enbtid) entfagenb ben SSerluft nidjt meljr empfanben.
Sebengfreuben im gegenfeitigen ©liid ftellten fid) ein, bag potitifdje Seben,
bie um fid} greifenbe Slugbefjnung ber gabrif fjielten $errn ©laner ges
fangen, fo bafc er nur in fid) teben mufcte, um alien Slnforberungen gu
geniigen. Unb fo toar eineg Xageg Soctor Slitter bei grau ©laner, bie
emfig arbeitenb in einer tiefen genfternifdje faft, unb fprad) balb bieg
unb jeneg SBort iiber ©fje unb efjelidjeg ©liid. ©r Ijatte ja ntdjt ge-
funben, toag er feiuem greunbe fo bereittoitlig ju begriinben ntit gefjolfen,
er fonnte nidjt iiber jene Kluft fjintoeg, bie bag fterbenbe erfte Sinb
jtoifdjen iljm unb feiner grau geriffen.
,/Bie ©f)e ift ein eigentfjiimlidjeg ©liidgfjriet/' fagte er jefct unb
( ging rafdjen ©djritteg burcf) bag 3inimer. „9Ran greift in'g ©liidgrab,
l)at bie eine Stummer in ber #anb unb bie nadjfte toirb gejogen. ©ie
tft bie aSefttntmung beg SBeibeg, fein fjddjfteg ©liid; bie ©efcttfe^aft ljat
fie mit bem fjeiligften 9ted)te auggeftattet, jebe SReligion natjm fie in fidj
auf, erfjob fie jur gottlidjen Snftitution unb bod} — nod) fein 3Renfcf),
fein ©efcfcgeber, fein ^riefter teljrte, too bie SBafjrfjeit unb ©idjerfjeit
beg ©liideg in if)r finb, too fie getoifc in iljr ju finben finb."
@r Ijatte faum auggefprodjen, alg bie Itjiire fid} Bffnete unb $>elene
Ijereintrat. ©ie fjiett ein jierlic^ gearbeiteteg, mit rotljem ©ammet belled
beteg @tui, bag nadj gorm unb Sterlidjfeit einen ©cfjmud ju bergen
fdjien. Unb eg toar fo. gem lebenbe Sertoanbte fatten, um nidjt burd)
bie ©ntfernung t?eranla|t ju fpdt ju fommen, 511 friif) i^re ffiunfe^e,
begteitet t)on einem jiertidjen, in ©otb unb ©belfteinen gearbeiteten ©c^mud,
ber jungen 93raut gefenbet. $elene fam, um ber greunbin i^reg Sltern-
^aufeg bie Ueberrafdjung ju jeigen. Qoi) fie getoann faum 3cit
griiften, fie fonnte faum ben ©djmud jeigen, alg JRitter i^n rafdj ergriff
unb, i^n betra^tenb, ju §elene fagte:
„©ie fommen gerabe, ba id) mit unferer greunbin iiber bie S^e
unb bag fo fdjtoer unb fo felten ju begriinbenbe e^eli^e ®Iud pljilo-
fop^ire. Unb toa^renb toir fo benfen unb forgen, tuaf)renb jeber 9J?enfdj
im Seben t^ielfad^ baf)in gelangt, fo ju benfen, betoegen fic^ boc^ attc
SDlenf^en in ber ©orge unb bem SBunfd)e, ©f)en 511 ftiften unb fie gliitf;
lid) ju geftalten. $a feubct 3^ Cnfet aug graufreidj biefen ©d)mud.
3)ic uielglieberige Slette, bie gef^loffen loot bie Uncnbli<f)fcit beg 93anbeg
unb bie UiUogbarfeit augbriiden foil, bic foil toot and) fdjon 3^
Die Braut. 373
bcmb bebeuten. Unb ber SWann in $arig fennt 3f)ren Srautigam md)t;
fennt ©ie fetbft faum mefjr unb toerfucf)t bod), 3f)r anfiinftigeg ©liid
fcfjon fombolifiren. Unb menu eg fcin ©liicf fein mirb — " @r
tliert inne, bcnn mie er mit cincm rafdjen 93tidE $>e(ene anfaf), bcmerftc
er, mie fie Iciest erblafcte unb ifjre Singer frampffjaft um bic Scljne beg
©tufjleg fid) jufammenfcfjloffen, auf ben geftiifct fie feiner 9tebe laufdjte.
5tud) Stan ©(oner bticfte mit einent toermeifeuben 931irf auf Slitter.
„D, feieu ©ie mir ni^t bdfe, ntein graulein," fefcte er nun rafd)
fjinju, bag ©djmudfaftdjen auf ben lifdj fteflenb unb £eleneng £anb er^
greifenb. „©eien ©ie mir tticfjt b5fe. 3d) mill nid)t mit bilfterm Slid
fiir ©ie in S^re 3ufunft bliden. Sliemanb fann ©ie gliidltdjer miinfdjen
ate id), ffiommen ©ie, fefcen ©ie fid} ju ung. §kx auf biefer breiten
genfterftuf e , )u giifcen unferer fieben greunbin, Iaffen ©ie ung ein
©tiinbdjen plaubern, unb menn ©ie moflen, fcergnitgt iiber @f)e unb (Sfje^
gliid fpred)cn."
Unb fie folgte ifjm miflig. ©r fprad) ja fo meidj, fo einfdjmeidjelnb
unb tonenb, bafc eg ifjr taut im ^erjen mieberljaflte. Unb tone er fie
anfaf), fo marm unb bertraut, unb mie er nod} einmat bat, itjm nidjt
bofe ju fein, ba gab fie ifjm bic £anb unb fagte mit juriidgebrangter
©timme :
„2ldj, i<f) meifc ja nod) nidjt, ob ©ie SRedjt ober Unredjt Ijaben."
„9lein," ermiberte er, „idj fjabe Unrest, ©ie, fo fd)5n, fo gut unb
fo treu, ©ie miiffen gliidlidj merben. Unb mie immer icf) mir ben 3Rann
benfe, bem ©ie nun balb angef)8ren fotlen, id) fann ifjn mir nur ebel,
ftof§ unb geredjt benfen, um miirbig foldjer ©abe ju fein, bie %1)xt
Siebe bietct."
$>etcne faf) ben ©predjenben grog an unb fudjte in bem glanjenben
9luge, in ben Sippen, bie nod) leidjt bebten, ob bag SBort, bag fie eben
fpracfjen, ©djerj ober SBaljrfjeit fei.
grau ©laner afjntc iljre ©ebanfen unb meinte: $>err Sergmann fei
ein fefjr brat>er SKanru
„2ld), liebe ©opfjie," fiel Sftitter ein, „l)5ren ©ie mir auf mit %f)xtm
«brat>l» 93raD ift ber 9Ranu, ber ung ben SMffen 93rob reidjt, menn
mir fjungern, ben £runf bietet, menn mir biirften. 3ft benn brat) Stfleg,
mag bag SBeib t)om SJtannc ermarten fann? S)arf eine junge, fd)6ne
grau nid)t mefp: forbern? Unb ©ie, #elene, ©ie miiffen tfjn ebel for;
bem, bamit er begrcift, me(d)1 @ut S^re Siebe unb Sfyxt 2eibenfc^aft
ift, ©ie miiffen ifjn ftol^ forbern, bamit er ftetg bieg ©ut afg bag
l)5d)fte ac^tet, unb gered^t, bamit er fiir 2iebe unb Seibenfdjaft Siebe
unb Seibenfdjaft geben faun. Sag nur fann bie ©f)e fdjttcfcen, bag fann
fie aDein gliidtid^ mac^en, aud) menn_fein Jgrieftcr fie fegnct"
S)ie beiben grauen fc^miegen. grau ©laner fenfte ifjre 2tugen tiefer
in bie Sfrbcit. §elene fa^ ftarr box fid) fjin, o^ne ju af)neu, in meffen
25*
37^ K. Hitter in prag.
£anb bie itjre nod) imntcr rutjte, oljne ju atynen, toem fie ben toarmen,
innigen 3)rud bcr #anb fo toarm unb innig ertoiberte.
„3d) braudje ©ie mir," fu^r 9?itter fort, „gar nidjt alg gefefclid)
unb redjtlid) angetraute grau ju benfen, um ©ie alg gliidlid) unb be=
gtitdenb an bcr ©cite beg SRanneg mir tiorjuftcttcn. ©tc Wnncn nur
fteben unb bag ift Sltleg. ©tc fonnen, mo fic tieben. niemalg untreu
toerben. %cfrt toar1 bag bag SRed)t ber SMt, eft g*ft* QTitrfrtrf^™ gp*^
^chen iinb gtfttftjcftgrg CEfrgnl &ig ^ufunft toirb and) nod) bft3 gtedjt ber
Siebc alg fyo$ftei_@kI^&£ftalleii iinh- flfflpft, tons bancftcn jUM^-gctten
toitl, feiner $err[djajt .bctau^?? "
„9iein, bic 9Kenf<$en finb ju fdjledjt fiir fold)eg (Stud, ju Ijabfiidftig
unb felbftifdj, urn eg toiirbigen unb genieften ju fonnen." ©o farad)
$elene Ijalblaut toor fid) f)in.
„SBie? — 2lud) ©ie fSnnen an bcr 9R5gtid)feit etner fotdjen 3*tt
jtoeifeln?" Unb {Ritier biintpfte feinc ©timntc ettoag unb neigte fid), tote
unt nur fiir ftc ju fpredjen, ju #elene. „©ie, bic ©tc fo attmadjtig in
3^rcr ©d)8nl)eit finb, ©tc fimnten glauben, baft ein SDfcenfd) foldfem 9iei$
gegeniiber gentcin benfen fihtnte. SRein, $rfene, ©ie glauben bag nidjt!
©ic fonnten ja fonft nte gliidlid) toerben, nic bent SDtann, bent ©tc am
gefjdren follen, toirftid) angefyoren. ©ie miiffen ja Sltteg toon ber Stebe
unb itjrer Seibenfdjaft ertoarten, ba man ©ie ja Derfauft tjat. SBag toirb
aug Stynen, to«tn ©ie einft ben §anbet ntd^t mit bent ©c^cimniffe bcr
Siebe bebetfen?"
£elene fyatte fid} rafd) erfjoben. 3#re Sinfe preftte fid) auf bag
unrutjige $>erj, iljre Sippen toaren feft gefdjloffen unb, toie um bent SSer-
fiifyrer ju entflietyen, ergriff ftc rafd) bag ©d)tnutffaftd)en unb fagte unter
nidjtigem S3ortoanbe: Slbieul Sag ®cfid)t ergliitjte, alg Dr. Slitter, fie
jur Hjiir geleitenb unb bort fic nod) einntat mit cincm ganjen Slid
erfaffenb, itjre |>anb briidte, unb il)r Icifc auf balbigeg SBieberfefjen ju-
fliifterte. — SBenige SBodjen fatten bic SBefanntfdjaft fo gereift. $eleue
fam mandjmat SKorgeng, um fiir S)ieg ober 3eneg SRatl) bci Srau ©laner
fid) ju er^otcn unb traf jufallig ben greunb beg £aufeg. ©ic fam beg
2tbenbg, too fie i^n beftimmt traf. 3)a t)5rte fie i^n fpredjen, ba folgte
fic i^m in bic Iraume feiner Sugenb, fic toerftanb bie leifen Slnbeutungcn
feineg Ungliidg. SBie fie i^n in ben crften lagen mit Sntereffe an-
blidte, fie fat) i^n balb mit toarmem SKitgcfii^l an. 2)a fonnte SRitter
im firinigen ©pict biefcr Sleigung gar mandjen langen Slbenb big tief
in bie Stadjt tjincin fd^erjen unb ben ©c^erj mit ©rnft oerbinben unb
J^atfa^cn, rci^e ©rinnerungen mit Sbecn, fo baft balb alleg ©innen
am lagc bic unbebadjtfame greunbin jeben Stugcnblid mit ifjm unb
immcr toiebcr it)m fcerbanb. SSor i^m, bem crfa^rencn unb gefdjulten
tenner bcr ^crjen, tag rafd) ©innen unb Sii^lctt ber jungen Sreunbin
off en toie cin 93ud). 3^, fic toax fcerfauft toorben. S)ic ©Item unb
Die Brant.
375
lantcn fatten eg abgemad)t, bic Serlobung toar t»or 3cugcn mit SBort
unb {Ring bcfiegelt toorben unb ba atle Scute bett bratoen SKonn riifjmten,
fo glaubte eg audE) bie 93raut. @g Ijat aud) einft Slugenblide gegeben,
in benen fie bog i^r miiljfam abgerungene 2Bort nidjt bereute. Sr iiber;
ragte ja, toenn aud£) nidjt um SJopfeglange, bie £5toen ber ©tabt, er
fjatte ja SOtandEjeg gefcljen unb gelernt unb er toax ja gefommen, fie ju
fudjen. $ag mar einft, bag toax t>or faum brei SKonaten unb ntd£)tg ljat
Xreu unb ©lauben in bent ungepriiften unb nic^t DerfudEjten §erjen ge*
ftort. S)a naf)te ber 93erfud)er, bag ©ebaube erfd£)ien tootl Sug unb
Srug. ®g toanfte. ©g fotlte ftiirjen unb ift geftiirjt.
„©ie tfjun Unrest, lieber Slitter/' fagte grau ©laner, alg biefer
toieber an'g genfter trat. „©ie fennen ja bie ©efd}tdE)tc biefeg armen
§erjeng! SBag erregen ©ie fo triigerifdje £raume, bie ja bod) nid£)t
erfiitlt toerben fonnen."
„3Barum nicfyt?" erroiberte er fdjeinbar ernft.
„2Barum nidjt? — SBeil bag 9RabdEjen S3raut ift unb nid)t mefjr
juriid fann!"
„ipinbert bag, ben ©elicbtcn mit 2eibenfd)aft ju lieben?"
„5Rein! Slber fie fann ben bodj nidfjt fo lieben, ber Ijeut ifjr @e-
liebter Ijei&t unb morgen iljr SJiann."
„©o mag fie einen Slnbern, SBiirbigeren lieben."
„3Bag fonnen ©ie toon einer foldjen Serirrung l)aben?"
„2Benn fie fid) in mid) toerliebt?"
„Sflnnen ©ie foldfje Siebe befriebigen?"
„2Barum nidEjt?"
„©ie finb fjeut in toller, iibermiittjiger Saune!" fagte jefct grau
©laner unb erf)ob fid), iljre Slrbeit jufammenfudjenb. „©g ift mit Stjnen
ni^t ju fpredfjen, toenn ©ie SHnge beljaupten, bie ©ie bod) felbft nid)t
glauben. Stber merfen ©ie fid) (Sineg, lieber greunb: #elene fjat ein
leibenfdjaftlidfjeg £erj, madtjen ©ie mir bag ®inb nic^t irre, ©ie madden
fte ungliirflid)!"
„2Birb man ungliidlidj, tt>enn man lieben ternt! 2ld), ©opfjie, ©ie
a^nen gar nidf)t, ftrie jufrieben id} bin, toenn id) bem 9Rabd£)en in bie
8lugen fefje. 3d) liebc fie, tone mein Sinb, ttrie meine ©djmefterl Stein!
3d& liebe fie nrie meine ©eliebte. 3d) bin t)ier gefunb getoorben, mit
neuen 2lugen fef)' idf) bag Seben an unb toenn i<$ fo lebengburftig fie
felje, bann gtaube id}, bafe id) gliidtid) bin unb gtiidlidj bleiben fann."
„^5ren ©ie auf, tjoren ©ie auf!" toefjrte Sfrau ©laner ab unb fjielt
auggeftredt beibe ipdnbe gegen iljn. Unb fid^ jur If)iire toenbenb, Winter
ber fie ©d^ritte IjSrte unb gleid^ barauf i^ren SDtamt eintreten fa^, rief
fie aug: „®ott fei S)anf, baft S)u fommft! gii^r1 mir ben SKann ba
in'g Sreie — eg ift nidf)t mit i^m augjutjalten!"
„9Kit S)ir aud^ ni^t! S)u fie^ft ja f^redlic^ erregt aug!" ertoiberte
376
K. Zt(. Hitter in prag.
#err ©laner, &ut unb ©tod in ber #anb betjaltenb. „©g ift cin pxafy
tiger griitjtinggabenb ba brauften, fo prdd^tig, baft eg fetbft mid& aug
bent S3ureau trieb. 2)ag fyeiftt, eg gab eben nidjtg ju tljun!"
„©ntfd£)utbigen ©ie 3()ren £eidf)tfinn nidjt, ©taner!" toarf Slitter ein.
„3dj bin gefommen, urn ©te einem ©pajiergange abjufjolen.
3)ie (SIbe flieftt fo filberfjett unb fruljlinggmunter baljin unb bie $rome=
nabe fdjieftt an ©den unb ©nben fdjon in bie flatter unb SBIiittjen. 8tfo
fommen ©ie."
„8d) toerbe SReue unb Seib in ber freien SRatur ermeden unb Stbenbg
nteiner guten ©opf)ie ben $of madjen, auf baft fie nid)t eiferfiic^tig nrirbl"
©o fdfjerjte fitter im Ucbermutl) feiner Saune unb ging, ber jiirnenben
guten Srau griiftenb bie £>anb ftiffenb, mit frof)licf)em 2ad)en jur Iljiir
Ijinaug. 3)a fpielten freunblicfye ©onnenftraljten auf ben fdjledjt gcpflaftcr-
ten ©traften unb uedten fd)on ben ©taub in bie Siiftc, mie mit bem
uidjt fernen 9(benb ein leister buftiger SBinb Don ben 93ergen ber fad);
fifdjen ©dEjmeij burd} bie ©traften ftricf).
9Kand£) ©iner fjatte Ijeut friiljer feinen Strbeitgtifd) Derlaffen, urn in'g
greie unb auf bie ^Jromenabe ju eilen. 2)ag war nun freilidj nic^tg
meljr, atg ein longer SBeg Idngg ber ©trafte mit einigen SSiegungen unb
©eitentoegen, tjin unb nrieber mit Slieber unb ©otbregen bepflanjt unb
augnu^enb ben ©d)mud reid>er grud)tbdume, bie bie 2anbftrafte jierten,
unb bie naljeliegenben ©drten ber SBiirger. Slber eg mar ja grut}jal)r unb
baneben ftromte bie fanfte ©tbe mit iljrem frifdjen, Don leid)ten SBeHen
gctrdufelten SBaffer unb toeitfyin tonnte Don jebem ^unft ber 93tid aug;
fdjauen nadj ben buftigen S3ergen. 3)a nrirb jeber 2Beg fd£)5n, toenn er
aud£) fetbft nid^t Dertoden unb geniigen mag! £eut bedt ber t)o!je 2)amm
ber ©ifenbatjn ben einftigen ©pa^iergang ber Siirgerfdjaft unfereg ©tdbt*
d)eng unb ber SReifenbe griiftt fdjon Don feme bag f<f)5ne, t)ier fict) ent=
fattenbe 93itb. Die beiben greunbe f^ritten tapferen ©<i)rittcg bie ©traften
enttang nadj bem Ufer ber ©Ibe. ©taner tjat SRitter gefragt, xoa$ eg
benn ju ipaufe jmifc^en it)m unb feiner grau gegeben. S)iefer Ijatte aug=
roeidjenb geanttoortet. S)a fd)toiegen Seibe unb gingen nun, nadEjbem fte
bie ^romenabe erreidt)tr fc^Ienbernb be^ SBegeS enttang. SBer fie fo fal),
ber muftte toie §elene an jenem Dertraulic^en 9(benb, an bem fie SRitter
erft fennen lernte, fragen: SBie lommt i^r jufammen? ©ie tamen eben
jufammen, toie fid| fo oft bag SBerfdjiebene finbet. SDag ernfte ©ef^aft
braud)te §ur ©r^oluug ben fu^nen glug beg ©eifteg, urn auc^ beg £im;
melg eingebenl ju fein; bie freie ^^antafie beburfte ber niidjternen Sr-
fenntnift, urn ftetg an bie ®rbe unb ifcre Scbingungen gema^nt ^u loer-
ben. ©o fauben fic^ bie Sreunbc, fo ^ielten fie feft an einanber.
©runbDerfc^ieben in i^rem SBefen, mie in t>er dufteren ©rfdjeinung, maren
fie fid) eine 5Rotf)tocnbigfeit, eine ftetg tebenbig toirtenbe ©rgdnjung.
^Riematg I)atte SRitter itber bag SSer^dltuift na^gebad^t, obglcid^ eg ifjm
Die 3raut.
57?
ganj flar im Skmufetfein war. SKiemate fjatte ©taner bariiber nadjge*
bad)t, unb bod) roar bic ©egenfeitigfeit ber greunbe it)m naturgemdfc unb
geredjt erfdjienen. £eute Dielleidjt, bag erftc SDtat, Ijeute fam bei ben
greunben bie 93erfd)iebent)eit ifjreg SBefeng alg etmag Xrennenbeg Dor.
SRitter ipollte bic an ifjn gericfytete grage nid)t beanttoortcn, toeit cr
nmfjte, ba& ©laner fur fcine Sbeen, fomeit cr fic fetbft bem 3Ranne
gegeniiber aufredjt fatten moHte, fein S3erftdnbnifs Ijabe. @r tjatte il)n
nie toon ban SRedjt beg #erieng iiberjeugen fonnen. ©faner fefete ttjm
ftetg bie ©einalt beg Serftanbeg, bic 30tad)t unb bag SRedjt ber 9tufetidj=
fcit, bie Drbnung ber ©efetlfdjaft entgegen. #eute fiifjfte ©laner feme
©runbfdfce iljn mad)tig briicfen. ©r afjnte, bafe Slitter ettoag tjerfc^metge,
toag er, nad) beg greunbeg ©(auben, nie unb nimmcr Derftetje. ©ern
todr' cr tjeute auf bie ©rflrterung eingegangen, fctbft geneigt n>dre er,
in 9Kand)cm bem greunbe nadjjugeben. S)ic griifjlinggtuft umfpiefte mit
fo toeidjen gingern fein fonft fo ftarfeg £er$ unb — nun mit fedjgunb-
breifeig i^aljren *ann row immer nod} mandjmal irrc toerben an feinem
©lauben: ba toar eg ein Iroft ben beiben ftummcn ©pajicrgdngern, bafi
ifjnen ©ermann entgegen lam unb fdjon Don feme itjnen jutoinfte unb grille :
„&attot), id) fomme, ©ud) einjulaben, nddjften ©onntag nadj bem
©djretfenftein augjufliegcn!" rief er fie an unb briidte mit unDerttmfts
liefer 93onf)omie ben Sefannten bie $anbe.
„2)ag I)at bod) immer nur bie greube, ben ©pafe unb bag SSer-
gniigen im Sopf!" Iad)te ©laner, frof), feine fritfjerc ©ttmmung mit einem
©d)er$ log ju toerben.
„9Hfo nad) bem ©djretfenftein foil ber SSSeg gefjen? 2)a miiffen toir
mit. 3dE) fame bag fd)6ne SRaubfdjlofe nur Don aufeen. 3<f| roufc eg
biegmal, ef)1 id) abreife, Don inncn fefjen. SBir fommen, $err ©ermann,
unb Ijoffen, bag Sfyr latent StHeg big auf ben blauen ^immct befteng anorbnen
tt)irb." ©o fprad) SHitter unb briidte bem muntern geftorbner bie #anb.
„3tfj fann nidjt!" letjnte ©laner ab. „3Berbe SKadjmittag Dietleidjt
nadjfommen!"
Samit toar bie ©adje abgemadjt. ©ermann unb Slitter tou&ten,
baf$ ©laner, jeben Sag an bie $artie erinnert unb gebrdngt, fic ganj
mitjuma^cn, big jum ©onntag 9Zein fagen toirb. S)anu f)at er fein gc*
fc^dftlic^eg ©eroiffen berufjigt, er !ann eg nify toeiter abfd^tagen, er fotgt
ber „ljo()ern ©etoalt^ tt)ie bag ©trafre^t fagt, ift ©onntagg ber ©rfte
auf bem ?piafce unb ber Suftigfte Don Sltlen.
©o trennten fid) bie Sefannten. ©ermann ging feine ©dfte fudjen
unb mie cr baf)infrf)lenberte, fummte er, bem &errn fiir ben fd)5ncn
4)imme( unb feinem 2)id)ter fiir bie guten ©ebanten banlenb, fo Dor
fid) t)in:
SSom (£ife befreit finb ©trom unb $ad)e
2)urc^ beg griifjlingg !)olben, belebenben ©lid!
378
K. <Etj. Hitter in prag. .
(Staner, brummenb unb fpottenb iibcr bic 93ergniigunggluft bcr SKenfdjen,
unb Slitter, it)tt nedenb, bodj audj cinmot einen lag bag Seben ju geniefcen,
— fa fjwgen *>ic beibett greunbe ioeiter. S)a biegen fie in einen ©eitens
meg, beffen Snfang cin fdjdner, in hotter 93liitlje prangenber gtieber ber-
beeft unb fteljen t?or #elene unb ifyrer Xante. @g f)atte fic aud) nid)t
im 3i"tntcr gebulbet, bag marmfiiljlenbe SRabdfjen! 3)a fdf)ttrirrten bic
SEBorte {Ritterg in ben engen SDtauern Ijin unb ttrieber; bag fummte
unb necfte unb toottte nid)t toeiefcen. ©ie griff jur Siabel unb fonnte ntd)t
naljen, fie trennte eine fur if)ren SBrautigam angefangene ©tiderei ttrieber
auf. S)odE) adfj, bag ging fo f^nett unb fie fag ttrieber ba unb bie SBorte
beg bdfen SRanneg fumntteu unb — necften ifjr ffopf unb #erj.
S)a fprang fie auf, nafjm §ut unb ©fjamt unb eilte fort, §inau£
in bie befreienbe Suft beg tjerrlicfjen griiljttttggtageg. ©ie moHte iljre
Xante fudjen, bie ttrirb fie begleiten. S)ie SKutter Ijat ja feine $eit in
trauter 3lbenbftunbe, menn bie ©onne nod) freunbtidj im ©djeiben grii&t,
mit iljrem ®inbe fid} ju ergeljen. ©ie Ijat feine $eit fiir bag $erj i^rer
Softer unb iljren ®eift. Slber bie Xante Ijat Seit. S)te fifct am genfter
auf einem genftertritt unb jaf)U bie Seute, bie ba fcorbeigeljen unb ftritft
atte mflglidjen Sptfine in ben ©trumpf, mit benen fie bag Seben jebeS
©injelnen, ber ba fommt unb geljt, augfiillt. ©ie Ijat fo bie @l)e tfjrer
erften Xodfjter auggeredjnet, fie Ijat bann bie SSerlobung £eleneng aug=
geredjnet unb fie ttrirb aud} bie ©fje iljrer jtingeren Xocfyter augredjnen.
S)a fifct fie im genfter unb breitet itjrer 9ltd)te bie Strme entgegen.
„3a, mein ffinb, ttrir tootten fpajieren gef)en. 3$ Wc, S)u fommft
mid) abjuf)oten. 3ft mir feljr angenef)tn, bin augenbtidttidE) bereit, mein
liebeg SHnb. ©o, fomm! Slbieu, mein Safcdjen, fiifjre bid) bratt auf,
friedEje mir nic^t auf bie ©tiif)le unb Sanapeeg. ®omm, $elene, mein
SHnb! — 3ld), ttrie bag buf tet. S)ie ©trafeen finb fd)on friif)tinggfrifdj.
3)ag #erj gef)t einem auf. SRun erjatjle mir, mein Sinb, toag S)u ben
tieben ganjen Xag getfjan. 3<*, cine 83raut meift freitid^ nidjt, mie ftc^
bie ©tunben langfam abfpielen. 9llg id) box breifcig 3a^w — "
Unb fo plauberte fte fic^ unb ifjr „ liebeg ^inb" aug bem §aufe
^eraug, burc^ bie ©tragen, nadj ber ^romenabe. ©ie plauberte im
©ef)en unb ^lauberte, tt)ie fte fo ba auf ber 83anf fafcen. Unb toie gem
Kef* ipelene fie plaubern! ©o war fie ja t)or jeber ©torung gefid^ert unb
i^re Oebanfen fonnten fic^ frei unter (Sotteg btauem §immel erge^en.
3Bag man im engen Sinimer nic^t ju benfen magt, toir t^un eg leidjt
unb o^ne SKii^en im greien. %m S^^cr erbriidft eg ung, unter bem
freien ^immel fpielen mir mit i^m. Unb fie fpielte mit i^ren ©ebanfen
jefct unb ging i^nen nac^ unb lief* fid^ turn i^nen fatten. S)a na^en
©c^ritte, ber frifdie ©anb fniftert, ba fte^t er ja ttrieber Dor i^r, bei bem
fie in (Sebanlen toeilt unb tion bem fie ni<f)t in i^ren ©ebanfen laffen famt.
ff3Rad)tn ©ie aud^ ben SKarrenjug nad^ften ©onntag mit, meine gnabige
Die 3raut.
379
Srau?" grotltc §err ©taner. „3)iefer ©ermann f>at ©ie genrifc fdjon an-
gefatten ?"
„6in allertiebfter 2Renfd), bicfer §err ©ermann, mcin befter $err
©lancr/' ernriberte bic Xante. „3d) lonnte il)m nidE)t SKein fagen. 3*
utib mcinc Xodjter toerben mit toon ber ^artei fein."
„2BunfdE)e Sljnen triel 93ergniigen !" murrtc ©lancr.
,,30, ©ie tjaben nod) leine Sinber!"
„2affen @ie'§ gut fein, mcinc beftc gndbigc graul"
Slber fic licfj e£ nid^t gut fcin!
„2Benn ©ic cinft cine Softer tjaben roerben, bann toerben ©ic be*
gretfen, toa3 bic $Pflid)t cincr SKuttcr ift. SDtan fjat ja bie ®inber, urn
fic ju jcigen. SJian mufc fic toerfjeiratfjen. £eut ju Xage fudjt man bic
gutcn grauen ni<f)t mefjr im $au3 — "
„2eiber!" toarf ©laner cin. „9Kan fudjt fic mit 3ted)t auf bem
©djredenftein!"
„Unb ©ic, mcin grdutcin, tt>erben bic fd^dne <gartie nidjt mit-
tnadjen?" naljm Slitter ba3 2Bort, ju §etene getoenbet.
„Die I)at ifyren SDtann, mcin befter &err Sector!" erttnberte ftatt
#clene bie gutc Xante. „5)ie braudjt nidEjt meljr untcr bic Scute ju
getjen."
Unb fic ftanb auf unb fdjritt, an itjrer ©eitc §err ©laner, ben
fdjmalen 2Beg entlang bem #aufe ju. SRittcr ging mit §elenen.
„®ommen ©ie, graulein #elene!" fagtc Sftitter tjatbletfe. „S)ie
SPartic toirb fr5f)lidj fein unb nad) ber langcn 2Binterruf)e unferc ©eiftcr
erfrifdjen. ©ic muffen mit in ber ©efettfdjaft fein."
„3iir toen Ijab' id) nod) 3ntereffe?" ermiberte £elene unb bereute,
faum gef prodjen, ba3 (cere SBort. Slber SRittcr griff e3 auf unb leljrte
e$ ju cincr itjr ungeaf)nten Xiefe.
„3<f) tame cinen SJienfdjen," fagte cr traurig unb feine ©timme
jtttcrtc in iljrem Xon jebem SBortc nadj, „idj lenne cinen 3Jienfd)en,
ber, lange Irani, nun n>ieber am 2eben fief} crfreut. ©r fetjnt fid) tjin*
au3 in bie fdjflne SRatur unb mfldEjte bort, too ifjn ba3 freic Seben toon
SBalb unb Selb umgibt, gem in jfoei bunlle 3lugen feljen, toie fidj bag
©liid unb ber ©egen ber Statur barin fpiegeln mag. 3f)nt finb bie
anberen SJienfdjen nur $uppcn unb toenn fie feincm SSegc fotgen, nur
Iccre ©fatten, ©ie aDein mit ben bunleln Sfagen lebt fur itjn. ©ic
ttnnten, #elene, bicfem ajtenfdjen cinen gliidti^en Xag fdE)cntenl"
„3d) werbc mcine SJluttcr fragen!" $audjte ber ^albge5ffnetc SJlunb
unb fog in fdjnetlen $ti$tn bic frifdje Slbenbluft ein.
„9tcin, ©ie muffen felbft entfdjeiben! ©ie Wnncn e3 ja. %$xt
3Rutter toirb ©ie nidjt ^inbern. ©ic Wnnen 3J)rer Xante fid^ anf^Iie^cn.
Sltemanb toirb barin cttt)a§ 99cfonbere§ finben. D, fagen ©ic, baft ©ic
fommen. 3<f) benlc e^ mir fo fcfyfln, ©ie mitten in ber ertoadjenben
580
K. (Efy. Hitter in prag.
SWatur ju fefjen. ©ie ertoadjen ja audj jefet erft jum Seben, jefct, too
©ie balb mit &oflen £>anben in bag ©eljeimnig&olle alleg beffen greifen,
toag bag irbifdje Seben an Suft unb greube bictct. 2)ort toitt idj ©ie
fetjen unb tocnn idf) bort 31)re §onb briitfen barf, bann ttnfl idf) glauben,
bag eg toatjr ift, toag ©ic tnir fd)on oft gefagt tjaben, bag ©ic in mir
cincn greunb fudEjen nnb finbcn toollen. greunbfdjaft ttritl SBertrauen.
2)ort, mo nidjtg ung an bic 33efd)ranfung bcr ©tabt matjnt, bort, too
bic erftc Serdf)e Ijodf) im reincn §immel ertjebt, bort muff en ©ie
mir toertrauen, mag ©ic finb, mag ©ie fein fonnen. 3)ort laffen ©ie
mid) einmal in bcm ftitlcn 9Rabdjen bag SBeib aljnen, bag balb ein
Slnberer, grember, fcin cigcn ncnncn toirb."
©o toaren fie fcor bag $aug itjrer ©Item gefommen unb aljnten
gar nidfjt, bag bie Seute, bie beg SBegcg famen, bag $aar mufterten unb
al)nten gar nidjt, bag bie Xante unb £err ©taner fdEjon Iange tjor iljnen
ftanben. S)a gab &elene jum 3tbfdE)ieb Slitter bie §anb unb o^ne bafc
eg bie Slnbern berftanben, fpradEjen bie 2tugen lauter atg ber 3Runb:
„3df) toerbe fommen!"
Unb fie lam I 3Rit reinem ©lanje ftieg bie ©onne empor unb §St)er
unb immer Ijoljer, big fie bie toeite fcom bdt)tnifd)en SRittelgebirge nadj
©iibtoeften fid) augbreitenbe ©bene mit ifjrem tootlen ©lanje augfuttte.
S5ie SSetten ber (Slit tanjten luftig im frozen ©dfjeine beg jungen reinen
Sicfjteg. $>ie Stiitljen ber Saume bffneten fidE), urn ben filberljetlen %$au
ein^ufaugen unb eg fliifterten auf toeiten getbern bie £alme i^re greube
unb Sufriebenljeit einanber ju. SDtand} ®aferdjen, bag friilj ber grueling
bringt, Irodj fdjon gefdf)aftig iiber ben 2Bcg, auf ben ©efteinen fonnte
fid) bie Stmeife unb t)in unb toieber fyufdfjten frfjon bie toeifcen gaiter
burd£) bie Sitfte. $oi) oben aber im blaueu flaren Stet^er fang bie fierce.
S)em Sanbunggplafc ber ©IbbampffdEjiffe entlang getjen jtoei HRanner
mit tjurtigem ©dfjritt auf unb nieber. ©ie genicfjen bie erfte ©dj5ne
beg iageg. ©ie finb gut im 3mterften iljreg SBefeng, liar unb betoufct
atleg beffen, toag fie anftrebeu unb motten. Sljre fraftigen 9kturen
regen fid} im Slnbtid ber itppigen, ftrebeuben gluren, ber £>alme unb
S3aume, ber ©rafer unb 93lumen. ©r toar ber ©rfte auf bem ^Blafee,
ber grimmige geinb ber Sanb^artien. Unb faum ertoad&t aug feftem,
ru^igem ©<f)Iaf, ^atte er befc^toffen, bie greube bcr Stnbern mit ju tljeilen.
Unb toenn er fic^ audi Dornaljm, nod^ bie crften ©tunben beg Xageg ju
murren iiber „bie SRarret^ei bcr aRenfd^en", fo regte fic^ bod^ in itjm
fd^on Saune unb Suft, mit benen er bie ©tunben fidf) unb Slnbern toiirjen
tooDte. Saum angeflcibet ^olte $>err ©laner feinen greunb. S)od^ e^'
er ging, erma^nte er nod| feine ^ogernbe grau, fid^ ju fputen unb nidjt
iiber ein moglic^eg ©taubdfjen auf ©d^ranl unb Siften bie Stit ber 2tb-
fa^rt ju uerfaumen. Sr tougte nidjt, bag feine grau unb £elene be;
f<f)(offen, mit einanber ju geljen.
Die Brant.
58*
„©ie Ijaben eg bod} burd)gefc|}t," natjm ©laner bag SBort, „baf$
4>e!ene tyeute mit t)on bcr ^Jartie ift."
„3ft benn bcr SBrautftanb ein ©efdngnijj, cine ftloftcr jefle, bcr bag
3Beib unempfinblid) mad^t fiir bic greuben beg Sebeng unb bcr 5Katur?"
„$ag nidf)t; abcr ^cleuc Ijat eg $>errn ©ermann abgefdjtagen, mit
toon bcr garlic ju fcin!"
„Unb ba Ijat fie gang 9?ed)t, tocntt $err ©ermann atlcin bic 5JJartie
maty, ©o abcr — "
„©ef)en ©ie mit/' fiel ©loner ein, „unb bag ift ein ©runb."
„23arum nid)t? ^elenc toeifc, baft id) mid) oljne fic me bcr ©e=
fellfdjaft angefdjloffen ^atte. 3$ liebe bic grcuben ber 5Katnr attcin
ober mit einer, nur eincr mir toermanbten ©eele &u geniefeen."
„£aben ©ie ifjr bag gefagt?"
„9tetn, ober #elene ift empfinbfam genug, urn eg jn atjnen."
„©o!?" erttriberte ©laner mit ernftem, gejogenem Ion.
„2Bag tt)oflen ©ie bamit fagen?" frug Sitter, feinen Sreunb fdjarf
anblidenb.
©laner fjatte bie Slugen ju 93oben gefenft, unb tt)ie er cinen 2tugcn-
blid ftitle ftanb, jeidjnete er tt>irre 2inicn in ben ©anb, Itffte fie auf unb
ocrbanb fic bann ju ciner ttaren, beftimmt auggepragten ©eftolt. ©g
roar, alg ob cr burd) bag 93ilb feinc eigenen ©cbanfen crft flaren ttwtlte.
2>ann legtc er toertraulidj bie £)anb auf bic ©cf)ultern beg greunbeg unb
fprad): „3reunb! 3d) natjm juerft bag leidjte ©pielcn 3^rcg SBifceg,
bie Silbcr Sfjrer Spijantafie, bic ©ic fo oft toor #elene cntrotlten, fiir
cine einfadje Sfjatigfeit S^red regen ©eifteg, ber burdj bie Sranfljeit
unb bie ©infamleit bei ung ju Innge in $u enge- ©renjen eingefcfjnitrt
toar. S5a f)or' id) t)on alien ©eiten mefyr. 3d) felbft fefje anberg. SBo^iu
fiiljren ©ie bag uuerfaljrene forgtofe 3Rabdj)en?"
„93ietleid)t 5um 93eroufjtfein trbifefjen ©littfg/' anttoortete SRitter rutjig
unb tt)ie langft bic Srage feineg greunbeg crtoartenb.
„Unb toenn ©ie felbft bie 3^9^ Wc fjeute bag ©piel nod) teiten,
tterlieren?"
„3)ag toerb' idj mfytl"
„S33ic/ tjaben ©ie bie Seibenfdjaft, toenn fie errcgt nad) bem ©enuffe
ftiirjt, mitten tm SSege fdjon tnne fatten fefjen?"
„9tein; abcr t>ietleidjt fann i(^ eg fel)cn unb S^nen jeigen."
9?ac^ einer langcn $aufe antwortete ©laner mit rutjigem unb faft
n?eid)em Ion:
„@ie ma^en mid) irre in meincr ©orge, ©ic ma^cn mid^ irre in
mcinem Summer. 3^ toeifc, bafe S^nen 3^ SBSort ftctg ^eitig war.
3^ lueife, ba& ©ie beg SWenfc^cn §erj fennen unb bc^errfdjen. Unb
bod), unb bod) nrirb ber 3Renfc^ gum ©claDcn, menu er irrt, ober ben
3rrtf)um fact!"
582
K. (E^. Hitter in prag.
„©uten SDlorgen!" ricf eg ba ptflfctidj Winter ben beiben Srcunben
unb „©uten SRorgen!" tflnte eg an ben (Snben otter SBege, bie toon bcr
©tabt nad) bem §afenplafc fiif)rten. £err ©ermann tear mit einigen
feincr greunbe foeben angefommen.
„9tdj! $ag $>eer ber barren!" rief tadEjenb §err ©Inner, bcr
feinen innern SDleufdjen, bag ©efdjdftgteben fjatte iljn bofur gefd)ult, feljt
gut mit bem dufcern bebecfen fonnte.
„$ag $eer ber Starren begrii&t bie Sorpoften begfelben!" ertoiberte ©er*
mannunb eitte in ben $afen, urn ju fetjen, ob bieSdfjne, bie bie @efettfd)aft an
bag anbere Ufer bringen fotlten, in Drbnmtg, trocfen unb gut auggeruftct feien.
3Me ©efettfdjaft toar balb Dottjdtilig unb uuter 2adE>en unb ©djerjen
berttjeitte man fid) in bie Satjne. Sliemanb orbnete ben Bug ober toieS
ben ©dften bie $tdfce an, aber eg traf fid) fo jufdttig unb toar bod)
aud) ganj natiirtid), baft Slitter unb £etene in benfetben ffatyn ftiegen,
baft fie, ate bie ©efellfdjaft am anbern Ufer anfam, neben einanber unb
mit einanber gingen. Slitter fannte ja bie iibrigen 5)amen faft gar nidjt
unb er toar f#on, toie StDe touftten, ein feljr fcertrauter greunb $etenen$
getoorben. Stiemanb ft5rtc batjer bie Seiben, toenn fie einige ©djritte
tjinter ben Uebrigen juriidblieben, ober eben fo toeit bie ©efetlfdjaft iibet*
gotten, ober gar, ofjne ber Stnbern ju adjten, mitten in fie geriettjen.
Uebrigeng fpradj Slitter mit feinem tooDen Drgan aud), abfidEjtltd) ober
otjne 2tbfidjt unb nur feiner ©etootjntjeit folgenb, fo laut, baft batb S)er,
baft 3ener 3euge beg ©efprddjeg mar. S)oc§ bie iibermiitljtge ©efettfdjaft
fyatte tjeute toenig Sntereffe, ben fcertoegenen Slaturbetradjtungen ju folgen,
bie Slitter anfteHte. ©ie touftte ja nic^t, toag er fiir £etene fpradj, toenn
er einem SBogel, ber juft aug ben 3toetgen I)ufd)te, mit ben ?tugen fotgte,
bann fal), toie er ein $8rnd)en too erl)afd)te unb nun rafdjen Stugeg
toieber juriidlam. Unb toenn Slitter toor einer Slume mit Dotler 931iitt)e
unb manner nod) trdumenben Stiittjenfnofpe ftetjen blieb, fie |>elenen
jeigte unb fidj bantt neigte, urn bie tootle 95tutt)c unb bie ffnofpen ber
SSlume ju fiiffen. 93atb fam ba tool ber Sine ober 2tnbere ber ©efett*
fdjaft unb fal) fid} bag mit an. 9lber er ging toieber unb Ijatte nidjt
toerftanben, toag er gefefjen unb tyatte eg balb toergejfen. Slur bie Xante
getoann feine Sett fiir iljre Slidjte. ©ie tjatte mit itjrer ftadjgblonben
Jotter gar toiel ju fdjaffen. ©ie touftte immer einen Untoerfjeiratljeten
aufjutefen, urn mit i^m iiber bag ©lud ber @^e ju fpredfjen.
©ermann ^atte fic^ ^eute ganj innig an grau ©laner angefdjloffen
unb toerfudjte mit 3^rt^eit unb 93orfidE)t toon i^rem Sufammenleben mit
$elene unb Slitter ju tjoren. S)er feine ©enufemenfc^ ^atte mit ffugem
Slid erfannt, toeldfjen Sleij §elene fiir bie Ieibenfd>aftlid)e Statur Slitterg
^aben mu§te. Unb fo fpielte er batb^ier, balb bort an, gab balb fdjer;
jenb in einigen Sleben ettoag ju, batb toert^eibigte er gegen mandjeg ^arte
SBort ber fieute £etene unb Slitter.
Die Braut.
383
?tbcr grau ©taner toax flug unb tuctfe. Sic toid) ben gragen aud,
fte t)orte ruljig ber ©djilberung mandjed ©tabtgefprddjed $u. ©ei tafU
\ Doll! fagte fic fid) immcr, feitbem fic ettnad iiber bad i^r liebgetoorbene
\ JRdbdjen fontntcn fat), toad fic fetbft nod) nid)t beftimmen, aber fd>on
Y and) nidjt t)inbern fonnte. Unb cincr grau ttiifct iaft tneljr ate 9Scr-
ftaub. 3)ad liebte iljr SWann fo feljr an il)r, er, ben bie arbettenbe
Sfraft bed 93erftanbed fo oft fortrifj. Sr lief* bafjer ungeftort fcine 3rau
an bcr ©cite ©ermannd, obtool er ttmfjte unb burd) manned SBort, bad
an fein €f)r fdjlug, fid) benfen fonntc, toad bcr ©egenftanb ifjred tyeiim
lichen ©efprddjed toax. Unb fo eilte er l)in unb toieber unb toar oft
an £>elenend ©eite, balb mit guter 2lbfid)t, balb otjne fie, unb babei er;
tdnte tnand) entpfinbf anted SBort aud bcr bcrben $rofa feiner Sebend-
anfdjauungen.
3)urd) bltitjenbe SBiefen unb untcr bem teidjten ©fatten blut^en^
reiser Sdume fticg bie ©efellfdjaft bad ipiigellanb tjinan unb griifjte nad)
furjem, froljem SDtarfd) ben alten romantifdjen ©cfyredenftein.
5)ad alte ©d)lof$, tyalb oerf alien unb nur in toenigen, auf cinem
fdjrdg in bie @Ibe abfattenben gclfen crbauten Snellen gut erljalten, griifct
pldfctid), toenn man ben tefeten ipugel bed toeQenftfrmigen fdjonen Canbed
itberfefyreitet, ben SBanberer. ©d fifct ba in griinen, frieblidjen fjelbcrn
toic ein Iraum aud fcergeffenen lagen. Site! ©taub ift er getoorben, ber
©djredenftein oergangener 3^it. SRandje ©age aber tyat fid) Don itjm
bci ben Seuten im Sanbe cr^alten, unb balb crja^lt fie ben ©dften £>err
©ermann, toic ftc burdj bad Xljor in ben SSor^of fdjreiten, bic oerfatle=
ncn @emdd)er burdjeilen unb bie nod) gut er^altenen groften SRdume, bic
gegen bie Slbe fid) fjinfefjren, in Slugenfdjein netjmen. 93alb ergrcift
£err ©laner bad SBort, unb toie er bie ©efeflfdjaft in bie ^aI6derfc^ut=
tcten ^cUerrdutnc fitljrt, erjdljlt cr jammeroolle ©efdjidjten Don ben ge=
fangenen 3ungfrauen, bie titer i^re ©eele audtoeittten, bringt bann ctnen
oom SRegen audgetoafd)enen ©tein tjerbor unb jeigt bic ©rube, bie ba
bie Xfjrdnen ciner Sungfrau audgefjmlt Ijaben. 3)ann toeift er nad) einem
Sod) in ber SJRauer, burd) bad ber blaue £immel blidt, unb erjd^lt mit
grofjer ©enauigfeit, toic bic tugenbtjafte ©celc eined mittelalterlid)en aJlild);
tndbd)end fo an bie ©teinc gerannt fei, aid fie jum #immel fafjren tootlte,
ba| fic bied Sod} in bie SRauer geriffen Ijabe. „aJlan finbet folc^e 3Bil^=
mabd)en ^cutc nic^t me^r!" fefet er mit grofcem Srnft unb faft erftidter
©timme tjinju. 5)ie gute Xante ttrifdjt fid^ einc £f>rane aud ben Stugen.
Sangfam tanbelt fi^ ber lag ba^in. 9Rit ben ©c^iiffeln unb lellern
freifte ber feurigc ©jernofefer, bic cble SKelnifcr 9tebc luftig in ber
SRunbe. 93alb ertont ein Sieb, balb beclamirt ©ermann ein finniged
@cbid)td)cn jum 5JJrcid bed 2fttit)littgd unb bed SJlonbf Reined, bann bringt
ein 9lnberer etne ©efc^ic^te, ein fritter ein luftiged, n^enn aud) alted
8tnetbotd)en. 3e^t offnet fid) bad Ifjor bed $ofed unb mit lannenreid
58<t K. (EIj. Hitter in prag.
unb gelbblumen bic |>ute unb bic 83ruft gefdjmiidt, bringen einige ber
greunbe auf cincr 33al)re Don griineu Sleften cin fdjon bcfranjte^ gag5
djen. SUlan umtanjt ed, man fdjerjt unb ladjt unb japft ben jungen
©efetten, bcr ba auf griincm SReifig tiegt, munter an.
Snblid) erl)ob fid) nad) bem langen, bid tneit iibcr ben SKittag f)im
aud baucrnben ajlafjl unb luftigen £reiben bic ©efeflfdjaft unb gerftreute
fid) in bem nafjen ©efjfllj unb in bem Snnern bed ©djloffed, in benen
ber SBadjter 93dnfe unb ©tufjle aufgefteflt. 5)ie Sinen fpiclten ffiarten, bic
Slnbern fd)lenberten burd) bie fdjattenfitf)tenben SBalbbaume. Sin bic
Sftauer mit feinem breiten SRiicfen gelefjut fdjlummerte mit grunjenbem
©d)nard)en ber tuftige ©teuerratl) unb bie gute Xante fi$t neben itjrn unb
ftricft unb freut fid), baft gerabe jefct in fo traulidjer £>err @er-
mann mit ifjrer Softer burd) ben SBalb fpa^ierte.
35ort im Dorfpringenben ©rferjimmer bed grofcen fiit)Ien ©aaled fafj
auf bem breiten ©teinroft einer 95anf $elene! ©ie f^aute in bie ttjeitc
2anbfd)aft fjinand unb auf ben fonnenumfpielten, rufjigen Strom, ©ic
fjielt iljren $opf, bie Singer in bad tofe, lodige $aar gebriidt, auf bic
#anb geftiifct unb bie 9ted)te flofc tnie matt unb miibe in ben langen
Salten ifjred fdjttjarjeu Stleibed nieber. SBer bod) ben eilenben ©ebanfen
eined fdjonen jungen SBeibed folgen fonnte, bad ba iljre 9lugcn aufgetjen
lafct in ber tueiten giiHe ber Siatur! 9Rand)maI jog fie bie 9ted)te frfjnctt
fyerauf unb briidte fie auf iljr $erj unb liefe fie, roie of)nmad)tig, bad
Soben ba brinnen ju ftitten, ttrieber finfen. Unb nrie fie fo bafafj unb
tt>ie fie fo faun, ttrnftte fic gar nidjt, baft langft, fjalb ju itjr geneigt,
Sftitter neben it)r ftanb unb mit feinen Slicfen ben ifjren fotgte unb mit
feinen ©ebanfen ben iljren fid) aerbanb. ©ie legte bie £anb in feine
§anb, aid fear' er nur bad 93ilb ifjred Sraumed unb aid er fprad), ba
laufdjte fie ber ©timme, aid war* ed bad $audjen einer fbrperlofen ©eftalt.
„3d) m5d)te nriffen" — fprad^ fie baim &or fid) Ijin — „roie bad
fo bliifjt unb immer ttrieber bliif)t unb fid) freuen fann mit jebem Sag
fort in bie ©ttrigfeitl"
„2Bie bad bluf)t unb immer ttrieber btiiljt im etn'gen SBedjfel ber 3ett,
bad tneifc fein 9Renfd), bad tneife nur ber, ber in feiner unenblidjen giille
ben Stugenblid gibt jum ©enufe unb bem 9tnbern jum lob."
,;3Ruffen loir fterben, toenn mir genie^en?"
„953ir fterben ettrig, »eim ttjir nid^t geniefcen."
„2a§ mic^ leben!" ^auc^te fie unb fanf n?ic trdumenb an feine Sruft.
9Ziemanb fa^ ed, 9?icmanb a^ntc ed, 5Riemaub nmfttc ed, wie ein
f^merjli^er, jitternber ©euf^er ftc^ i^rer 99ruft entrang unb fie f)inaud
eilte, in ben bunfetn ©ang, i^re glitfjcnben Sippen ju Dcrbergen.
9liemanb fat) ed, SWiemanb af)nte ed, SRiemanb mufete ed, tuie ein
felig jitternber ©either fic^ ber S3ruft bed SKanned entrang, bcr, bie §anb
awf'd $erj geprefet, ba in ber Senfternifdje ftanb unb f)inaudfd)aute in
Die Sraut.
385
bic roeite, freie, reinc SJlatur. 2)ic 5tugen gtiifjten iljm im sietlofen 93Iid.
®ie Gotten frifdjen Sippen prefcten fid) feft auf einanber, urn bag 3aud)jen
feineg £erjeng in'g Snnere bcr 93ruft ju bannen, bafj -Jiiemanb afjne,
toad cr tjoffen barf, unb toad cr erfefjnt.
3)od) burd) bic Siifte tonte unb raufdjte eg unb in ben SBalbcrn
pftert'g:
gerne bafjeim fifct cin fd)5neg, blonbeg SBeib unb Ijalt bic $>anbe in
iljrem ©djoofie gefaltct unb fieljt mit mattcn 93tiden Dor fid) f)in. ©ie
roeift nid)t, toag fic benft, fie toeifj nid)t, toad fie fiiljlt. ©ie toeifj nur,
bafc fic cinen SRann geliebt, ber niemalg bicfer Siebc gliitflid) toarb. ©ic
benft baran unb fufjtt eg unb ftct^t fid) ungliidlid) unb ifjn, unb fann eg
bod) nid)t anbern!
111.
ffig ift cin fonberbareg ®ing bcr ©laube bcr 9Rcnfd)en. ®r toirb
Don 3*DeifeI ergriffen bci Slttem, toag Don 5triftoteIeg big auf ®ant, Don
(Efjriftug big auf Sutler gelefjrt toorben. 2tber bei bem, toag „alle Seute"
fagen, finb fic ju glaubcn bereit unb fcin S^^ifcl befd)leid)t fic. SBcr
finb benn bicfe f/aHc Scute"? SBofjer fjaben fic benn itjre SBeigfjeit unb
ifjre Unfeljlbarfeit? grage idj: toer fagt bag? Stnttoortct man mir:
„attc Scute I" Unb id} mufe eg glaubcn. SBcr Ijat bag crjS^It ? „9ltle
Scute!" 3$ barf nid)t jtoeifeht. ©agt bag ®d)Ied)tefte Don bem beften
SKenfdjen unb fefct fjinju: 9ttte Scute fagen eg unb man ttrirb an feincm
©lauben irrc. 3)ie 3Jtenfd)en glauben eben gent, loo fie nid)tg ju ben=
fen fyaben.
Sltte Seute fagen, grautein $elene ift in Dr. SRittcr Derliebt. SlUc
Scute fagen: Dr. fRitter madjt grautein |>elene ben $of. 2lKe Scute
fagen: @g ift Unrest Don £>elene, eincm oerljeiratfjeten SRanne fid) am
5ufd)lief$en. 5ltle Seute fagen: @g ift fiinbljaft, bafi Dr. SRitter bag „arme
SWcibc^cn" fo umftridt! Unb get)t £>elene burd) bie ©trafjen, ba fliiftcrn
fic fid) ju: „©ie ift Derliebt!" „3lun ja, fie ift [a Sraut!" „9lein! bag
ift eg nid)t, fie liebt cinen Slnbern!" „©o, toer fagt bag?" „9IHe Scute!"
Unb fommt fie ©onntagg aug bcr Sirdje unb blidt mit frommen Slugen
jur Srbe, ba fagen bie fritfjeren ©cfpielcn: „2Rau barf fie nid)t ftdrcn I
©ic bcnlt nod) betenb an ifjren doctor Sftitter!" „2ln toen?" fragt ein
9laioer. „2Biffen ©ie bag nid)t? ©ie ift ja in ifjn Derliebt!" 9ldj!
„Sa wofjil, eg fagen'g ja — aflc Seute!"
Unb eg fagten'g atte Seute. Slur $err (Planer njugte eg nic^t. @r
ging tool me^rmal beg Sageg burd) bic ©trafeen ^inaug in feinc Sabrif,
er fain in'g Saffcetjaug — aber „atle Scute" fdjtoiegen. ©al) er ja au^
fo ganj anberg aug biefcr $err ©lancr atg „atle Seute". S)er fd)aute
niijt red^tg, nic^t linfg. S)er frug gteic^, toenn if)m „atle Scute" ettoag
crja^Ien tooHten, nac^ bem, bcr eg juerft erja^tt. „3Bic f)ei§cu aHe
586
K. (Efj. Hitter in prag.
Scute"? „28er finb fte?" „?tlle Scute ift fur mid) SRiemanb." — „S5er
fennt -fttemanb, toer fpridjt mit SRiemanb?" unb fo fort. SKit bent
SRann toax ja uber ernfte SMnge tttd^t $u reben. — ®r toufcte nun frei=
lid) nidjt, tt)a$ atte Scute fagen, abcr er trug cinen fdfjtocren ©ebanfen
in fciner Sruft. „2Bdr' bod) ipelene fdfjon fort/' feufjte er oft, toemt cr
SlbenbS mit fciner grau aDein toax. grau ©laner touftte tooljl, toa$ „atle
Scute" fagten. ©ie fatten e3 ifjr nidjt crj&^It. Stber it)r fudjenbeS
SBefen toar langft eingebrungen in bag ©efpradf) ber ©tabt, ^atte bort
ein 2Bort, ba3 iljr auf bem SBege in'3 Dljr tarn, ergdnjt, bort ehten
Slid, ein Qc'\6)tn erfldrt. ©ie glaubtc nid£)t, toaS „atle Scute" fagten
unb fie fdjnrieg bariibcr. 9lber in itjrem ©inn fudjte fic nadf) alleS
SBiffen beftcm SRiiftjeug, nad) ifjrer ©rfalpmng unb badjte nad) iibcr be£
ajlenfdjen $erj unb ttrie man e§ Icite unb lenfe. Unb ttrie fie gefunben,
toaS fie fudjte, ba toax fie hrieber ftitt unb fidjer, orbnete iljr $auS unb
iljre Sitdje, griifcte ben greunb, toenn er fam, mit freunbtidjem Sddjeln
unb griifjte ipelene, tt)enn fic, ttrie oft, gleidj nad) bem greunb in'S Sim-
mer trat. ©ie frug nidjt nadfj bem Srdutigam, ber nun fdjon mit ben
erften Sagen be£ SJlai gefommcn toax, fie ft>radj Don ber SSergangenljeit
unb ifjren fd&onen £agen unb fdjerjte bann iiber ben SBedftfel alleS ®e-
fd)id§ unb ben SBanbel menfdjlid&er ©ebanfen unb ©efu^le.
SBdr1 fie nur tt)drmer gemefen, bie gute ftrau. 2lber fjrau ©laner
mifd&te fidf) fdfjmer in ber SKenfdfjen ©innen, unb glaubtc genug getfym
ju t)abeu, toenn fic leife bort bajttrifdfjen trat, too fie ben 2Beg jum galf djen
eingefdfjtagen faf).
„Saf$ gut fein, mein greunbl" fagtc fic bann oft ju ifjrem HRann
unb ftrid) it)tn bie Salten Don ber ©tirn; „lafc gut fein! 3Ba3 ba ge=
fdfjetjen, f5nnen toix nid£)t dnbern. Slur ben redfjten SBeg miiffen ttrir
fudfjen unb jeigen. ©ei nidjt tjart, nidfjt gegen ben ©inen, nid&t gegen
ben Slnbern! 3n brci Sagen ift 2ttle$ toorbei!"
„3a, in brei Sagen!" feufjte ©laner, „o todren fie fdjon fcorbei!"
„3)ie Slugcn off en tjalten! ift mein ©runbfafc unb ba fein, mo ttrir
unb toann toix uott)ig finbl"
Unb fie fd)lief fdjon rufjig unb ftitl, ba nod) ©lancr tange nid)t
ben troftenben ©djlaf gefunben fjatte. Sr tjatte e£ lommen feljen unb
tt)ottte e§ bod) nici)t glaubeu. %a, cr ^attc bie lieben 9Renfd)en felbft
t)ieDcid)t an einanber gebraugt mit fcinem ©djcrj unb feincr Saune. ©r
Ijatte ja gebulbct, bag fie fid} feljen unb finben balb fyier, balb bort unb
oft aud) in ber leid^tlebigen ©efetlf^aft ber ©tabt. 9lber cr ^ottc audf)
t»ict bem greunbe getraut unb aljnte nid^t, tva$ menfd)lid)e Seibcnfd)aft
fd)affcn fonne. Sr toar ja of)ne 8eibenfd)aft. Unb nun fal) er jcbeit
2ag ben grcunb langer unb ofter in feincm ipaufe, benu friif)er. Unb
jeben Sag fat) cr ba§ liebe SRabd^en, ba§ er fc^on al3 Sinb fo licb gc^
Ijabt ^atte, an feincm Sifc^. @r fa^ bag ^cifec SBliden Skiber unb fal),
Die Braut.
387
tok bic £>dnbe Idnger in cinanber rufjten beim ®ommen unb bcim ®et)en,
*enn fcxl^er. (Sr fat) ben tyeftigen SDScc^fcl bcr ©timmung feineS greuns
be$ unb tt)ic bicfer balb tibermutfjig unb toott Sauncn unb batb urn-
bilftcrt bic ©tirn unb matt unb abgefpannt in Slid unb SBprt. $16),
bag tobt in bicfer 33ruft unb foeifc nocf) nidjt, tootyin fief} menben, bad)te
*t bci fid}. Unb crnft unb traurig fafj cr bann, mie fidE) bie ©timmung
be3 greunbeS bcr greunbin mitttyeilte, toie fie, bic SBcIt unb fid) t>er*
4jeffenb, t>on fcincn Sauncn fid) tragen licfj unb ttrie gebrodjen fic unb
jme mit tfjranenbotter ©timme fic nur anttoortete, njenn cr mit langen,
iuftcrn Slidcn fic anblicfte. „©ie tt)irb ungliicHid)!" fcufjtc ©laner unb
briidtc bic finger iufammcn, ate foottte unb I5nntc cr 9ttle3, toaS
5flefd)ef)en, jerbrodrfn unb nadj ben bier SBinben ftrcucn. 3)a, toenn
fol^c ©timmung ifjn befdjtid), ba anttoortete cr bcr SRuttcr #elenen3
fcljr raufj, tt)cnn fic itjn juft nad) ber loiter fragtc. 9tn bic Saben*
•fenfter am fonnigen SRaitag geletjnt, ricf fie itjn an unb fagtc DortourfSs
*toH, baf* cr if)r bic loiter ganj entjietje:
/f©ic lebt \a mefjr bei %1)ntn ate bci un3. 3d) fetje fic faum am
-Stbcnb unb ber lag getjort nid)t mir."
„2eiber, leiber!" ricf ba #err ©laner, „t)erfaufen ©ic Siebc ftatt
rfiouteb'or unb ©ie gettrinnen 3*1* Sinb!"
„6in narrif^er SRannl" fagte fidj bic runbe grau unb blidfte it)m
itadj, tok cr mit langen ©djritten bic ©trafce forteiltc.
„9lber cin tiidjtiger (Sefdjftftemann!" fefete fie bann tjinju unb fjatte
Hofytv unb 2Rietf)er fcergeffen. 3n bem Kcinen ffopfe ty&mmerte unb
^arbeitcte e3 ttrie in eincr SRunjft&tte unb atte ©ebanfen tt)urben ju ©olb
unb atleS gii^tcn ttmrbe ju ®oIb unb bag ©oft foQten bic ffiinber be*
lommen unb fo toirb SltteS gut. Unb Winter ifjr, in cinem fleinen, an
icn offentlidjen Saben anftofjenben ©abinet, fafj #err 93ergmann, if)t
jufiinf tiger ©djtt>iegcrfof)n. ®ie Sampe brannte oberljalb eineS bowels
4>uttigen ©djreibtifdjeS unb foarf iljr £id)t auf 33ud)er unb tyapkxt, bic
bcr iungc Jfaufmann priifte unb immcr ttueber priifte. Unb braufjen
•fd)ien bie Sonne fo toarm unb fiifjte bie brautlidjen glurcn unb fiifcte
ien brautlidjen SEBalb unb fd)Iid) fid) iiber bic 93Iumen auf bem genfter
in baS 2)ad)ftubdjen ^denen^ unb fa§ ifjr in'S Slngeftc^t unb flagtc:
^Selt, mcin Sinb, ®u m5^teft gem mit Seinem S3rautigam fpajiercn
vge^en, ®id) jeigen, i^n jcigen unb mit il)m noc^mate bic ©pidptafec
•bcr 3u9*nb unb ber fro^eftcn ©tunben befuc^en. 9t6cr ber fifct ba unten
unb rennet unb fiefjt bie S3iic^er S)cine« S3ater^ ein unb befpric^t mit
i^m, tok unb toann cr ba^ £>eiratl)3gut er^altcn fott unb geftern
ift er boc^ crft angelommcn.
3a, geftern toar er angefommen unb fyatte fic^, t)om SanbungSpIafc
icr S)ampffd^iffe jn gufe mit fciner Sraut unb bercn ©Item, bie iljtt
<rtt)artet, bic ©tabt burd^fc^rcitenb, ben Ceutcn gejeigt.
9lorb unb ©ub. vn ,21. 26
388
K. <E f|. Kidjter in prag.
2)ic Stnfunft beg 3)ampffd)tffeg tvax bamate unb ift fyeute nod) tin
SJergnugen, bag gar SRandjen Ijerbeilotft, urn ben Steifenben untcr bic
Slafe ju feljen, ben 2Beg ju fcerftetten, auf bie giifje ju treten unb an-
bere S3ergniigungen me^r ju gentefcen, bie fo umfonft bet foldjen ®e-
legenfjeiten bem fleinen SDtann fid) bieten.
Sludj ©ermann tyatte fid) unter bie Steugierigen gemifdjt unb ate
er bie bide grau beg ©djutteljrerg bemerfte, fid) rafd) an fie angefdjloffen.
Stun begleitete er fie nad) $aufe.
fatten ©ie ben SKann fiir $>elenen paffenb?" frug er bie bide
grau, mefjr urn fein Urtljeil suriidjutyatten, ate bag feiner Segteiterttt
ju t)5ren.
„SBarum ntc^t ? " anttoortete fie gebanfenlog. „@r ift crn fraf tiger,
gefunber SDtann I"
„3a toofjU" erganjte ©ermamt rafd). „©d)tt)arie, Heine 2tugenr
fdjtoarjeg, ettoag bitmteg £aar — "
„®iinneg £aar? 3)ag Ijab' id) nod) nid)t bemerft!"
„3d) fat) e«, tote er mid) griifjte, ate id) ifjm t>orgcftcttt ttmrbe."
„8Iber er tyat etnen ftarfen ©art!"
/f3a! ©djtoarjen ©art, unbebeutenbe Stafe, unbebeutenben 2Runber
rotlje SBangen, bito £>anbe. ©men breiten SRiiden unb brette ©oljlen
an ben ©tiefeln. ©in frafttger, unterfefcter SRann. 2)a ftnb ©ie ju
#aufe, metne gnabtge grau! 3$ entile mid) 3^nen!"
©r eilte fort, oljne ben 2)an! fiir bie Segleitung ju ertoarten. @r
tooUte anbere 2Renfd)en feljen, l)5ren, foremen, anbere, bie anberg benfett
ate biefe Heine fette grau. ©einem priifenben ©efdjmad toar ber neue
©aft ein ©reuel unb ein ©djauer burd)Iief Ujn, in feinen 9trmen £elenen&
ebte, ftolje ©eftalt ju benfen. ©r forad) auf ber ©trafje neue SBefannte,
er fprad) alte 83efannte, er fprad) im Saffeel)aug Seute, bie er nid)t ju
feinen SWannten jat)Ite.
2lm anbern Sage fagten „alle Seute", baft £err 93ergmann toenig
fiir #elene paffe. Slber eg ift ju fpat, bie ©adje ju anbern. ©te ttnrb
fid) fiigen, fagten „a£(e Seute". ®r ift ein tiidjtiger ©efdjfiftgmann. ©r
ift reid), unb bag lann fte trflftenl ©r ift ein bra&er SDtann! SBarum
fott fie benn ntd)t jufrteben fein? fragten allc Seute. ©tiidttd)? S)u
Iteber ©ottl Swfrteben^eit ift ©liid! ©o fagten aKe Seute unb tiefjen
Sraut unb 93rdutigam unb toarteten auf ben britten Sag, urn an ber
Sird)e ju fte^en unb bag SSrautttetb ju feijen unb beg S|5riefterg Slebe
ju t)5ren unb nid)tg ju benfen.
S3eit Winter ber ©tabt burd) einfante gelbtoege unb unter ben toogens
ben £>almen beg fforneg ging Sftitter atlein unb Dor ftd^ ^tnbriltenb. ©r
toar nic^t auf bem Sanbunggplafc, er toar nid)t im Saffeeijaug, er tt>ar
auc^ nic^t bet ©laner getoefen. 3Kan^er llo^fte bort an, urn „einen
©onntagggrufe ju bringen" unb „ein ©tiinbd^en ju plaubern,,. 3n S33a^r-
Die Brant.
389
f>eit tooQten adc nur Ijoren, toag tool nun £>err Slitter fage unb tt)ic
cr eg fagc. Sltle fleute fatten 3ntcrcffc bafiir unb f/aHc Seute" fonntcn
fidj nid)t benfen, toie er tool bic 2lnfunft beg SSrdutigamg aufne^mc.
Unb aud) £elene fam nod) am ?lbenb tyerab, nadjbem iljr Srdutigam,
iiber ©rmubung flagenb, fid) empfofjlen unb nad) fcinem ©aftfjof, in bem
cr eingejogen, fi$ begeben fjatte. ©o ^atte eg \a au$ bic gutc Xante
getyattcn, ate ifjre loiter §eiratl)ete. ©o mufcte eg audf) #eleneng SRuttcr
tfjun. 2)ie Xante toeifc, toad fid) fd&idt. Unb £elene erjaljtte, bag
SRitttoodj bic Irauung fcin fottte, bann tooQte bic SDtutter im grofcen
©aal bed angefc^enften £otete mit SRaljl unb lanj bic £>odjjeit fciem
unb nod) cinntal aKe greunbe unb ©efpielen urn bie fdjeibenbe loiter
toerfammeln. Stm anbern lagc crft folic fic abreifen, ba fic fonft bie
9iad(jt im SBagcn unb auf bcr Sanbftrafje jubringen miifjten. 3Kit bem
griiljeften aber toirb fic 2)onnergtag bag Dampffdjiff nad) 2)regben unb
tociter bringen. „3d| toeifc nid&t," fefcte fic traurig tyinju, „tool)in eg
geljen foil, toag man bic £odfoeitgreife nennt. 3d) toeifc nur, bafi ttrir
balb am 9tt)ein cintreffen miiffen, benn gerabc jefct fei in £erm 35ergs
manng ©efdjdften grofje Uebcrfjaufung ju ertoarten."
Unb fic blidte nadj ber Xljiir, ob fic fid) nidjt flffnen unb ein ge*
liebter SKann burd) fie fc^reitcn unb fi<$ iljr jur ©eite fefcen unb mit
roeidjer ©timme iljr bic Sreubcn beg Sebeng augmalen toerbe, auf bag
fic no6) glauben unb fjoffen fonne.
9lber er fam nidjt unb tyre ©efjnfud&t toud)g, unb aud) am SRorgen
beg anbem Xageg lam er nidfjt unb fie toeinte ftittc Xfjrdnen mit Ijinein
in bic ftiften unb ftaften, bie fie Bffnete unb toieber fd)Iofj, in bencn
SIDeg bcreitg fertig fiir bie 9teifc gepadt toar. Unb immer Joieber toollte
fic augpaden. 3Ran toirb ja fo frcmb im ©Iternljaug burd) biefe fcft-
t>erfd)Ioffenen ffiften unb fiaften. SDtan geljflrt nid&t mefjr l)er unb Ijat
bocfj nod) fcin anbereg Safein.
Unb too ift benn bie Siebe, an bic man fid) anfdjliefct, auf bafj
man toeifc, bag man fid) tool trennt, aber baburdj nidjt gefdtjieben ift?
SBo ift benn bie SKutter, too ber SSater — too ift benn ber SSrautigam?
©ie Ijaben atle ju t^un, §u orbnen, ju red^nen, ©efc^dftc abiufdjftefjen.
3lur bie fflraut ift aHein. S)a toitl fie ju Olaner ^inab, %ut 3citf ju bcr
fitter ftetg ba toar unb in ber genfternifdje neben grau ©laner fag.
Stber cr toar nidfjt gefommcn. ©ie fefcte fid} ^in auf feinen 5|Jlafe, fie
ftiifete bie |)anb auf bag genfterpolfter, legte bag ^oc^enbe fiBpfdjen ^in^
ein unb fa^ in bie ©trafcen unb ^inaug auf ben grofcen Spiafe. Da er-
gldniten i^rc 2lugen. ©r iffg, bcr bort aug bcr ©trafce f)craugtritt.
©r ^emmt feinen ©d)ritt. (Sr iibcrlcgt, ob er fommen foil. ®r blidt
^icr^er! — Stein! 2)cr Slid fuc^te nid^t bag $aug, cr fud^te Stid&tgl ©r
fommt antf) nic^t. (Sr toartet auf 3cmanb, bcr in bic Sud^^anblung, bort
an bcr ©dc ber ©tragc eingctretcn. 3a, ba tritt er ^eraug, ad&! eg
26*
590 K. (C^. Hitter in prag.
ift einc 3)ame. Unb cr t)emcigt fidE} unb nimmt bie Sucker t>oU £5f(i<f)~
feit unb 3)ienftfertigfeit, er fyridf)t fo rafd&, adf), cr ttrirb toarm toie immcr
fpred&en. ©ie fefjren um, fic promcniren im ©fatten bcr $aufer. „3d)
toitt tfjn fpred&en, id& rnufc iljtt fpredjen!" ruft fic tetlb ju fid) unb cilt
baDon.
2)ort in bem ©fatten bcr £aufcr geljt langfamen ©df)ritteg 3)octor
Witter unb tragt bic Siidfjer, bie bic blau&ugige, ffadjgblonbe Eoufhte
$>ctcnen3 aug bcr £eit)bibKotf)ef, bic mit ber cinjigen S3ucl)l)anblung in
bcr ©tabt Derbunben, fid) gefjoft. ©cit ben Iefetcn Xagen t)crmicb Slitter
bag Dereinfamte, unbebcutenbe fiinb nidjt mel>r, tok friifjer. (£r ttmfcte
ja, mit toeldE} finbifdf)sf)eftiger ©djtoarmerei bad SRabd&en Don il)m fpradj.
©r falj eg ja, toenn cr 'juft bci ®taner fie traf, tt)ie fic anbetenb an
fcinent SDtunbe f)ing mit ben grofjen, mafferblauen Slugen. ffir Ijatte fie
nid&t beadjtet, trofcbem mandjmaf ©rbarmen fein iperj ru^rtc, toenn er
fat), ttue ba^ Stub Don bcr SRutter gequalt ttmrbe mit 83anbd)en unb
SJtafdjen in ©ang unb ipaltung. 3e nat)er aber bcr lag bcr SSermaf^
lung #eleneng fam, je mefjr cr begfjalb bad £aug it)rer ©Item unb
©lanerg mieb, befto metyr fud^tc er bag Derlaffene ©efd&dpf. SBenn er
fic auf bcr ©trafje traf, fpradf) cr fic an unb begtcitcte fic. Sr frug
nad) iljren ©pajiergangen unb fanb fid& babci cin, felbft bie SJlutter
in ben ®auf nefjmenb. ©cin $crj tear ubertjott, feine Sruft brofjte if>m
mand&mal ju jerfpringen unb bod) fonntc er, bodf) tooKte unb burfte er
mit SRiemanb foremen. 35a fam if)m bag SWabdjen entgegen. SKit tfjr
fonnte cr foremen, oljne ganj Derftanben ju merben. Unb bag SWabdjen
tyorte itjn an, gludtidf) if)n ju lj5ren unb fagte, tt>cnn er frug, balb 3a,
balb SRcin unb toufjte bod) gar nidjt, toarum fie eg tljat. 2Ba3 fann
cr ju fragen fjaben, cr, ber 2llleg toeifc, bcr Sltteg ift! Unb toenn fie
mandjmal audf) Diet Don fetnen SReben Derftanb, niemalg fonnte fie be*
greifen, ttmrum cr nur Don £>elenen fpred)e, unb toarum er nur fur fie
3ntercffc l)abe. Unb fo gingen fie aud} Ijeute btc #auferreit)e entlang
unb Slitter er§at)fte if)r, tote cr tyeute $errn Scrgmann mit #etenenS Sater
gefc^cn, wit ifyn bie ©rfc^cinung beg Srautigamg eifig fait bcrii^rt, tt)ie
- er um #eleneng 3wtu«ft bange unb fo fort, toag 5ttlcg cin £erj fprec^en
fann, bag Don Siebe unb ©ifcrfu^t, Don ©ef)nfud)t unb ©ntfagen jcr-
riff en. Dann brad^tc er bort, too ber Sttngplafc in eine Oaffe gegen
9?orbcn ju auglauft unb bag £aug ber Xante ftanb, bag SRabdjen nad^
$aufc unb fd)ritt juriid.
S)a trat ^clcne aug bem $aufc. ©ic ^atte mit tyaftiger @itc Xuc^
unb ©dftfeier umgetoorfen. %fyxt S33angen gtii^tcn, iljre $utfe tobtcn in
atten Stbcrn. Xief im Snncrn baumte fid) Slttcg, toag fie fii^Ite, auf
gegen atteg Sflat^cn unb S)enfcn. Sliest i^r Dcrlc^tcr ©tolj tricb i^r bag
fi3Iut in bie SSSangcn, nid^t ©ifcrfuc^t umgarnte iljr ^crj. ©ic ^attc ja
ifjre ©oufinc erfannt. ©ic toufete ja, bafj cr ^icr, too er fie gefunben,
Die Braut.
f eine Stnbcrc mefjr fud)en toirb, bic tfjn tiebt, bic er lieben fimnte. ?lber
jerftreuen toitl cr fid), frufjer toiU er Dergeffen lernen, cf)c fie nur benfen
fann ju t>crgcffcnf t)crgcffcn ttuQ cr lernen, fo lange fie nod) in ben
SDtauem ber ©tabt foeilt, urn ftarf ju fein, toenn fie in feliger @(f)tt>dd>e
nod) ju feinen giifjen jufammenbredfjen m5d)te. Slidjt Stotj, nidfjt ©ifer*
fud>t, bie ganje Seibenfdjaft ber ©inne bdumte ficif) in iljrer 83ruft auf,
unb jagte ttnlb bag fyeifje 33lut burdfj bie ?lbern.
S)a fam fie in ben ©djatten ber £>dufer, fie l)iett atljemtog an, fie
blitfte unt fid), ber ganje SRingpIafc war 8be nnb menfdf)enleer. Slur
leidjten glugg ftrielten bie gliegen in ben ©onnenftraljten. ©ie ftiifcte
fid) mit ber £anb an bie fiitjlen SRauern. ©ie briidfte bie gefiif)Ite $>anb
an bie tjeifje ©time, ©ie Ijolte tief 2tt^em! Stiemanb fal) fie. Sliemanb
fjat fie no6) gefefjen. 3)ag fear nidjt mefjr bie Sungfrau Don geftern,
bag ttmr bag SBeib, beffen Iraume unb fetjnfudjtgDotte ^fjantafie t)on ©liicf
unb Oenuft fidf) fldrten.
©ie tooQte nad) £aufe foieber ge^en unb lenfte itjre ©d&ritte bod)
Dom £>aufe fort in ben ©fatten ber $dufer gegen bie SudjfjanMung ju.
®a blieb fie ftetyen unb blidfte mit umfeudfteten Slugen auf ben Winter
bsm ©d)aufenfter fjdngenben ©tid) Don ©orreggiog SRagbalena. ©dtjtoer
feufjte £>elene unb trat, toie bie ©ebanfen buret) gteidjgultige 9Renf djen
unb gteidfjgultige gragen ju jerftreuen, in bie 93udf)f)anblung, nad) einem
langft befteKten SEBcrf ju fragen. Sein 3)iener fear f)ter. 3)er £err beg
©efdfjdftg felbft tt>ar in bie lefcten SRdume beg 2agerg gegangen, urn fur
ben einjigen ©aft, ber ba auf bent 3)ioan fafj unb in einem 93ud) btdfc
terte, ettoag ju fudfjen. SEBic bie Xfjiir fidf) tdrmenb fdtjtofj bom 3ugtoinb
meljr jugemorfen, alg Don £>eleneng #anb gefdfjloffen, erfjob er ben ffopf.
3toei 9Renfd)en, bie fidf) fudfjten unb bod) nidfjt mefjr finben tooQten, trafen
mit fdfjnetlem Slid jufammen unb auggefiiflt toax bie 3eit, bie fie fid}
nidfjt gefefjen, mit SIDem, toag fie an Summer unb ©d&merj erlebt.
^elene ftredfte bem fjeifjgeliebten 2Kann beibe |)dnbe entgegen unb
tone er fte ergriff unb briidtte, ba jog fie itjn ju fid^ unb fliifterte i^m
in1g D^r:
f,SBarum barf idf) ©ie nic^t me^r fefjen?"
3)raufeen auf ber ©trafee an ben tfcnftem ber Su^anblung ttorbei
fd^ritt $err Sergmann mit #eleneng SSater unb rennet i^m auf £eQer
unb pfennig ben SBertlj unb bag 3a^regertragni^ feineg auggebetjnten
©efc^dfteg am SR^ein Dor.
S)er Stbenb fam unb fr5^Iid^ betoegte fid^ fd^on oben im jtoeiten
©toctoerf bie ©efetlfd^aft Don SSefannten unb SSertoanbten ber 93raut unb
beg Srdutigamg.
SWanc^ iibermiit^iger ©dEjerj toar fd^on erja^It n>orben unb £err
©laner Dor 2ttten liefi feiner flaune freie 3^8^. Stiemanb a^nte, tt)arum
er gerabe Ijeute nad^ ber $>errfd^aft im ®efj>rad£)e ftrebte. Sliemanb,
392 K. (CI?. Hitter in prag.
tt)arum cr ftetg bic 93raut an .ben Srautigam brdngtc unb bom ©liitf
oQein fpradj, bag in bcr Sretfjeit Don alien ©orgen beftelje, im 93er=
mdgen nnb 93efife. 9ticmonb ttmfjte, roarum er aud} ben Heinften ibealen
Xraum beg SRenfdjenljerieng mit dfcenber SSeradjtung iibergoft nnb atle
©dfjtodrmerei alg bie DueDe beg Ungliidg erfldrte. Stiemanb a^nte,
toarum er julefct bie fogenannten ©titdtidf)ften ber ©tabt nannte, if)r
®IM fd£)onunggIog jerjupfte nnb immer em S3iinbel Ungliid, Summer unb
©nttdufdf)ung fjerborbradjte, bag, ttrie er fpottenb bann tynjufugte, aug ben
£dufd)ungen beg #erjeng, aug eitlen ©djro&rmereien aDein Ijertoorfdjie&t ;
SRiemanb aljnte eg atg feine grau, bie tyeute, etye fie bie Zxtppt Ijinauf-
ftieg, mit ifjm feufjte: SBdre Sttteg fd&on toorbei!
Unb fo (}5rte man tfjm ju, man ftimmte i^m bei, man erjdljlte
bann bag ©leidfje nnb toax nalje baran, ju jeigen, ba& aKeg Unglucf aug
ber ©fje ftantme, toag ja Seiner jeigen toottte, alg bie Efjur gcdffnct ttmrbe
unb fitter eintrat.
S)ie ©(tern ber SBraut f listen fid) geet)rt, bafc er bie ©inlabung
angenommen, bie grauen pfterten einanber in bie Dfyren, bie jungen
SRdbdjen tauten i^m entgegen, bie jungen banner toaren ftolj, i^n alg
einen ber 3^ren fjeut ben Sremben jeigen ju fonnen. SKun ging eg an
bie DarfteHung ber tebenben Silber. SRitter fjatte bie Sbeen gegeben,
Hermann bie 9lugfiif)rung ilbernommen. £elene, tok fie batb ba, batb
bort fjingejogen ttmrbe, tybrte ben muntern ©d)er$en ju, otyne ju toiffen,
toarum man locate, toarum audi) fie getadEjt. ©ie fjielt fidf) feme nur
toon itjm, ber fie immer fudjte unb bod) aud} ju meiben fdfjten. gurdfjt
befdf)tidf) bag bebenbe #erj unb bergebeng fd>aute fie nadj Sftettung aug.
$a ertjob fid) audj bie unbefdjdftigte ©efellfcijaft unb brdngte nad)
bem anbem 3immer, in bem ©pie! unb £anj nun Slfleg frolj unb fitter
ertjatten foHte.
^n einem gerdumigen ©aal tt)aren ©tiifyle geftellt fur bie ©Item
ber Sraut unb beg SBrautigamg, fur biefen unb fur fo btet ©afte, ate
juft $Iafc finben fonnten. ©in Heineg ^obium toar alg SBiityne bor bie
%i)i\x gefdf)oben, bie nad) einem anbem Simmer fiiffrte, burd) bag bie
SBerbinbung toteber mit bem ©peife^ unb 2Bof)n$immer, aug bem bie ©e-
fellfdjaft !am, er^alten toar. Sftitter toar ben barftettenben ^iinftlem unb
St iinftlerinnen mit ©ermann gef olgt unb ging, toie er bie lefeten Stnorbnungen
noc^ fiir bie Stugfiiljrung feiner 3been gemuftert unb gut geljeifjen, burd^
bag anftofjenbe SSorjimmer unb riidtodrtg nac^ ben anbem SBo^nrdumen,
urn, Winter ber ©efeKfd)aft fte^enb, bie 93ilber felbft mit anjufefien. 2tber
ba tt)ar eg fo fiifjl in biefem tangen nad^ bem ©arten beg £>aufeg bie
offenen genftern jufe^renben 3intmer, bag alg grii^ftudgjimmer benufct
unb barnad^ eingerid^tet toar. $eute toax eg mit ©lumen gefdjmudtt
unb gritnen Srdnjen, ber Sfjiir gegeniiber in ber Xiefe beg Simmerg
ftanb ein breiter gebedter lifc^. @r trug ein grofceg bergolbeteg ©rucifij
Pie Braut.
393
unb fdfjioere fitberne Seudtjter. £ier fotltc morgen bic 93raut bic ©afte
*rtoarten, bic 3eugen unb ben befreunbeten ^riefter, bcr fie fetbft au3
bem £au3 ber ©Item jur ftirdje filtjren toottte. ©£ tt)or ein geioeiljter
Crt unb nur bie lebenSgrofien 93ruftbitber Don £>errn unb Srau Berber
burften fiir biefe £age bie breite Sangentoanb fdjmiiden. Slitter iPoQte
fid) nidjt umfefjen in bem SRaume. ©r blidte finfter auf bie beiben
ffiilber ber ©Item, naljm einen ©tuljt unb faf) tjinauS in bie fpielenben,
raufdjenben ©latter ber 93aume, ©r Ijorte nidjtS a!3 ba8 Sonen ber
URufif unb einmat, gteid} nad) feinem ©intritt in ba£ Simmx, bie Xfyux
nod) in ber #anb tjattenb, ben Stamen £>etene, ber toon oielen ©timmen
gerufen, au£ bem 9lnHeibejimmer ber Siinftlerinnen ju itjm tjeriiber
tonte. S)ann toarb 9lQe§ ftitt unb er traumte in ber ©title feine ttnlben
Irdume t)on ©et)nen unb SSegefjren.
Sangfam unb leife 5ffnete fid) jefet bie £ljur unb §elene trat Ijer*
*in in langem toettfattigen toeifeen ftletbe. ©ie toar gerufen toorben, efje
nodf) ba3 erfte lebenbe 83ilb geftetlt toorben toar, urn rafdj nodf) S3Iumen
unb Sanber fiir eine ©5ttin ber Sugenb tjerbeijufdjaffen. ®ann Ijatte
jie felbft in einem S3ilb „ber ©egen ber 93raut", tt>ie Slitter e3 nannte,
mitgehrirft, nun wollte fie in ben 3ufdf)auerraum unt> muftte burd) ba£
gefdjmiidte 3inimer. Unb ba faft er, beffen $anb fie ju briiden meinte,
<iU fie in bem 93ilb neben einem fernen Sert&anbten fniete unb bie
Oenien ber Siebe, be3 Sleid)tt)um3 unb ber Shreube anbltdte. ©ie tootlte
{jefjen unb blieb nrie feft gebannt an ber Xfjiir ftefjen. ©ie tooQte ifjn
nidjt fefjen unb ifjre Slide umfdjlangen il)n mit fetjnfudjtS&oHem Sangen.
©ie ttJoDte tfjn nidf)t fpredf)en unb fdf)on neigte fie fidf) ju ifjm unb fyatte
bie eine #anb auf feine ©gutter getegt unb bie anbere auf bie Se^ne
be£ @tut)l3 geftiifct. Slitter tjob ben 83lid. ©r fd)aute ityr lange in bie
tfjranenfeudjten Slugen, fiifjte fie bann mit leifem ®ufe auf bie fidf) neigenbe
©tirn unb prefete bie £anbe toor feine Slugen, al3 tootlte, a!3 fonnte
er bem Saubtv, ber ba toie betenb oor iljm fidf) ergofe, nidjt in bie
Utugen fetjen.
„8Barum flie^ft S)u midj, ©elicbtcr?" ^aud)te $elene unb iljre
©timme ftodte, ,ttt)arum toergbnnft 5)u mir nic^t ben tefcten, einjigen
Xxo\t?"
f,S)arf ic§ benn bei $ir fein?" ermiberte Slitter unb feine Stugen
^tii^ten, ttrie fie ba^ bebenbe SKabd^en faljen. — /fS)arf ic^ bei Sir
bleiben, too mid^ bie ©el>nfucf)t toerje^rt? Safe mic^ iie^cn, S)u fiifee^
^erj, unb toenn ®u fannft, fo fag' eg mir, baft $u nid^t mef|r an
mid? benlft!"
fann e3 nid^t!" Hagte ^elene unb fan! tote gebrodjen in bie
Sniee.
/;®ann fage id) S)ir Sebetooljl!"
©0 fpra^ Slitter mit bumpfer ©timmc unb erfjob fic^.
39^ K. (CIj. Hitter in prag.
„2)u ttnUft geljen? ©efjen Dor mir? 9teinl SRcin! Sleibe! ^ab*
(Srbarmen mit ntcincm Ungliicf uttb Derlafc mid) nid^t!"
„8Bag bin id) ®ir bcnn? 2Bag lamt id) S)ir bcnn fein?"
„2HIeg! S5u bflfer 3Jtann!" ricf £etene, fid) fetbft unb aDc ?lnberet*
Dergeffenb unb fanf on fcine 83ruft.
„Unb morgen bin idf) JiidjtS! 2)ie Srau ttrirb anberc 2Bimfd>c
natjren atg bag 3Babd)en!"
„3tenbert bag #erj, toag ung bic $flid)t aufjnringt?"
„9lein! Stber bic ®ett)ot)nl)eit beg ©efdjidg I5ft unfer Sangcn im
leidtjteg Sntfagcn auf."
„3Rir toirb eg nid)t fo toerben!"
Sg fanfen iljr bie £anbe toic crftcrbcnb nicbcr unb bag §aupt
ticigtc fid) jur SBruft. SBic bic ©iinberin Dor bem iperrn cinft ftaniv
fo ftanb fic Dor bcm gclicbtcn 2Ranne unb rcgtc ftdf) nid)t unb atfjmett
laum. S)a brangcn bic lefeten Slccorbe Ijeriiber, eineg Siebeg, bag bir
Sifter bcfdjltc&cn foQte. 3Me ©efellfdjaft ntag fid) tool fdf)on erfjeben.
SWan fudfjt fic oietleidOt.
„2Benn S)u mid) liebfit, fo bleibe!" flefjte fic ben tjeifjgeliebtew
SKann an.
„2Betl id) Qify liebe, mufc id) geljenl" anttoortctc Sitter unb hf)xtt
fcin ©efidf)t Don itjr ab.
S)a pre&te fic bic #anb auf'g £erj, fic toanfte unb Ijaftig griff fit
natf) bcm ©tul)I.
„3Rorgen Sladfjmittag" — fprad) fic bebenb — „h>irb bag ganje
$aug leer fcin! Srtoarte mid) oben — in mcincm ©tubmen! 3$ toerbe
fommen — attein!" SBic erftarrt ftanb fie bor bcm 2$erfu(f)er. Sir
toagtc itjn nid)t anjubliden, nal)m aUe ®raft jufammen unb ftilrjte
^inaug.
Witter faf) if)r nad). Seidjenbl&ffe jagte bag Srglut)en aug feinent
Slngefidfjt unb ttrieber folgtc Srgliityen bem Srblaffen. Sr lonntc ntdjte
fcenfen, er futjlte ntdjtg, cr tjdrte fcin #er$ nur podfjen unb jaud)ietv
alg ob eg Suft unb Sebcn iugenbfjetfi burd()gluf)e. S)ann tyrang er auf
unb eiltc fort. Sr fudfjte bic Stadfjt, bic finftcre 9tad)t, bod) and) bert
$immrf iiber fid), ben toeiten, unenbtid)en, fternenbefdeten ^immel. Sr
fal) bag fdjmale Heine ®5pfd)en beg alten Berber nid)t, bag iljm au$
bem S3itbe an bcr SBanb junidte mit fcinen iitternben Slugen unb feinen
biinncn #aaren, bic grau, feit Sangem fc^on grau gctoorben in bcr ©orge
urn bag QblM bcr Sinber. Sr fal) auc^ bag runbe Dottoangige ©efic^t
ber attcn grau Berber nid)t, bag i^m ba oben Don ber SBanb nac^blidte, ate
tootltc eg auc^ jefet nodf) toic fonft, toenn eg iljn griigtc, fagen: Sin
fd^oncr SRann biefcr $err S)octor! Unb cin Sljrenmann! Sr fa^
uidjt, er ^5rte eg ni^t unb eincn 9higenblidf nur toax eg tfjm, ate
toeintc eg burdf) bie Stad^t unb alg jflg' eg jitternb burc^ bie SBolfen:
Die Brant.
395
gerne bafjeim fifet ein fd^5nc^, blonbeg SBeib; fjdlt bic &dnbe in
ifjrem ©(fjoofi gefaltet unb ftefyt mit mattcn ©tiden Dor fid) Ijin. ©ie
toeifc nidf)t, toag fie benft, jie ttjeifc nid)t, ttmg fic fitfjtt. ©ic toeifj nu*,
bafi fic cincn SWann gelicbt, bcr niemalg biefer Siebe gliidlidj toarb.
©ic bcnlt barcm, fic futjlt eg unb fic^t fidt) ungtiidlicf) unb iljn unb
fann eg bod) nidf)t finbcm!
IV.
„#eut ift ^odfoeit!" riefen bic flcincn 93riiber unb ©djtocftcrn
£eleneng, toenn fic gefdjdftig bic Steven ^inauf unb tjinunter cUten.
„|>eut ift ^odjjeit!" tauten bic 3)iener unb ©d)reiber im ©efdfdfte beg
£errn Berber unb fperrten bic Ifjiircn bcr ©d)reibftube ab unb Icgtcn
bic ©ifenfltigel toor bic genfter. „$eut ift #od)5cit!" fagtcn bic Scute
ouf ben ©trafjen unb brdngten, tote eg 12 f^Iug, nad) bcr $ird)e.
SBagen raffeltcn iibcr bag tjotyrtge ^flafter bcr ©trafjen unb fdfjoben
fid) balb fjierljin, botb bortl)in, urn bie gclobcncn ©dfte ju Ijolen unb
in bcr S3raut $aug ju fitljren. 2Rit finftcrem 931ttf, mit unru^igen
©Written ging #err ©taner in fcincm 3intmer auf unb niebcr. @r toar
langc t>or bcr geftftunbe fdjon feftlidj angefleibet.
(Sr ttmrgte bie toeifjen #anbfd)uf}e in fcinen #dnben unb ricf Don
3cit ju 3^it cinige raulje SBorte in bag 3itnmer fcincr grau, in bent
aud) fic nun nadE} ifjrer Jfirdfjen^gefttoilette falj.
„2Bctl)nfinnige 9Renfd)en, biefc Slitter beg ©eifteg, bcr Sunft, bcr
2Biffenfd)aft! ©otttcn bcr SBelt borangel)en, bem ©d)tt)adfjcn ein 3eid)en
bcr Kraft, bem ©df)Ied)ten cin S3ilb beg ©uten, bem ©iinbigen ein cr*
fjabeneg SBeifoiel bcr $>errfd)aft iibcr Sftleg, toag ung toerttrirrt unb ju
gef}I unb 3rrtJ)um fitfjrt. S)odE) eg ift cine Siige! ©ie erfjebt ung nidjt
bic fjolbe Jhmft, fie beffert unb ftarft ung ntdfjt bie ftolje 2Biffenfd)aft.
SRenfdfjen bleibcn ttrir, fiinbigc 2Renfd(jen mit ifjr, tt)ie oljne fic! ®ag ift
ercrbt! Son Uranfang an crerbtl SBir toerben eg nidjt meljr log ouf
bicfer SBcttI £aft ®u iljn gefeljen, biefen ttntben, entfetytidfjen 2Renfd)en,
toie er geftern mit £elene f^rac^? 3$ l)dtt* iljn an'g #erj brucfen
mdgen, benn cr ttmr ttrieber ttrie einft fo fdjfln, fo fpritljenb unb beriidenb.
Unb bod), id) Ijdtf tyrt jcrtreten fdnnen, tok \6) i^n fo fafj in bag arme
SRdbc^en rcben, bafe fic balb bletd^ unb balb rot!) tourbe. S33a« tt>itt er
nur? 3Bag lann cr nur tooflen? berftef)' e3 nic^t! Unb boc^!
ffir mufj t§> ja Dcrfte^en! ©r toeifc ja, toa$ cr t^utl 6r ^at eg mir
*>tx\pxo6)tn, fid) trcu ju bleiben unb er ift ftarf. ®od), tt)enn cr fid)
bctrugt! ®r mad^t fi(f) ungliidlid^, fic^ unb bag arme 9RabdE}en!"
©0 ricf ©faner au£ unb fanf in ben ©tufyt. SEBic cr bag §aupt
in bic #anb ftiifete, fagte er bann ftiDer unb ru^igcr, bod) ®d)merj
burd^jittcrtc bie SBorte, t>or fic^ ^in:
„@g ift fcin fd)IedE}ter SRann, biefcr $err Sergmann! Rein ©d^ftjarmcr,
396 K. (Eft. Hitter in prag.
ein ernfter, forgenber Saufmann, ttrie fo aide, tone toir SlUe! Unb bod),
er ift faft ettoag metjr alg roir SlUc! SBetfjt 2)u, ©opfjie, toomit er
{cine grau in it)rer neuen £eimat iiberrafd&en ttrirb? ©r l)at cin £aug
gefauft, ganj dljntidf) biefem #aug ba. Untcn bag ©efdjdft, bann ein
crfteg ©todmerf, er toil! eg toermietljen, bann ein jtoeiteg, bag er mit
feiner Srau bctootjnen tuirb, nnb oben cin fd}5neg 2)ad)ftubdf)en. ©r Ijat
eg genau fo einrid)ten taffen mie #eleneng 3intmer nnb fagte ntir Iadjenb:
giir mcinc erfle loiter! — ©r ift gut, ber 3Rann. Unb fie fjdtte gtud-
lid) toerben f5nnen."
25a trat grau ©laner aug iljrem 3intmer, reidjte ifjrem 3Bann bie
4?anb, ftrid) mit ber anbern bie galten ber ©time gfatt unb troftete:
„®etroft! ©ie toirb fcergeffen unb bann alg ©liid geniefjen, toag fie
befifct. 21ud) ber 3rrtl)um fiityrt jur ©rfenntnifi !"
„Db Slitter fool jur Sirdje fommen toirb?" frug auf ber ©trafce
3rau ©laner.
„3dj tooUt\ cr ttjdt1 eg nidjt!" feufete ©laner.
Slbcr er ttjat eg! ©r mar feit geftcnt toieber gemorben, wag er
einfteng mar. 9tod) \pat in ber Stadjt fafi er mit ©ermann im golbenen
Somen unb liefc feinc milbe Saune burdf) bie SSergangenljeit unb iljre
einftigen ©enitffe fdjmeifen unb ndljrte feine Suft an ben leidjtfinnigen
SBorten beg altcn ©tubienfreunbeg, bie balb fdjerjenb unb balb ernft
4?elene unb iljre Siebe ju itjm in'g ©efordd) jogen.
3n ben ©trafjen ber ©tabt brdngte fid) SBagen an SBagen unb
langfamen ©df)ritteg nur founten bie ©dfte jur ffird&e. Sliest fern bem
9lftar, mit ftolj er^obenem Sopf, bie meiftcn ber 3ufc§auer unb 9tnbddf)'
tigen iiberragenb, ftanb Sitter unb fafete mit fpriifjenben SSIiden bie
93raut fdEjarf uTg 9luge, ttrie fie nun mit toanlenbem ©dfjritt, Don ©loner
gefiit)rt, eintrat. ®em 9Rann ftanben bie £f)rdnen im Sluge unb mandj
ljer$tid)eg SBort Ijatte er ber ©ebrodjenen beg SBegeg entlang in'g bange
©emittf) getyrodjen. ©r ftufete mit jitternber £anb unb felbft am ganjen
SJorper bebenb bie S3raut, alg fie toor ben ©tufen beg Slltarg Ijinfniete.
3)a trat ber greife ^riefter an ben feftlid) gej^mudten Stltar. ®r fprad) ^eute
uic^t SBorte, tt)ie fie gemflfytlidf) bie fatten unfruc^tbaren Sippen ber 5|JriefUt
bemegen. ©r fpradj t)om ©d^5neu man^cg SBort, Dom ©uten unb t)om
Sle^ten. 93on ben S^cifetn beg Sebeng farad) er unb Don ber SBanbefc
barf eit beg ©liideg. S)ann, alg griff' eg ifjm felbft an'g $crj, toie er bie Meidje
S5raut ba Dor fic^ fafy, bann farad^ er mit tiefer, einbringlidfjer ©timme:
„S)ie ^erjen jmeier Siebenben finb toxt bie ©efe&tafeln 3)iofig.
^teufeerli^ getrennt, nid^tg fur fidf) attein, finb fie Sing unb Sltteg burc^
tag 8tedf)t, bag in fie eingegraben. 3)enf 3)u eble Sraut, bag ©ott
tiefeg 3led^t gete^rt, unb baft eg ber 2Renfd)l)eit gegeben, auf bag fie
IcidEfter trage, butbe unb leibe, benn biefe SBelt tft arm unb Seinem
bietet fie, toag cr alg l)od)fteg ©litd bege^rt."
Die Brant.
397
2)amt erfjob er fein ftaupt, toarf bie grauen Socfcn jurftcf unb
blicftc iiber bic 9Jtenfcf)enmenge Ijin, alg toollte cr ben fudjen, bcr fidf)
gliicflidf), ftetg gliidflidf) ncnncn barf unb ff>rad^: „2Bag aber ift benn
UJtenfdEjenglud? ©in iEraum bcr ©imte, bcr entriidt ung ift unb toer^
{jeffen, toenn cr getoefen! ©liidfelig bcr, bcr Ujn nidEjt nad)jubenfen braudf)t.
S)enn audf) bag ©tiid fann 3)id) t)crirren unb jcbet lag t)at fcinc 9ta<f)t.
SEBe^ benen, bie ben lag nidjt ttneber traumcn m5gen!"
2)a erljob bic 93raut bic 9tugen. S)ic Slide fcf}tt)eiften fudfjenb iibcr
bic SDtenge. 2)odj fanben fic nicijt, toa$ fic fudf)ten unb toag fie toot, bag
ftolj emporgeljobene £auj>t Dcrliinbct eg, jum lefeten 9Ral gritfjen toollten.
2eid)t r5tf)eten fid) ifjre SBangen, ifjre 2\pptn judten unb auf ben SKann,
bcr ncben it)r fnietc unb crnft unb ftitt unb oljne ©d)eu bent ^rieftcr
in'g Stugc falj, nieberblidenb, fagte fic, alg fic ber ^ricfter frug: SSillft
2)u bic ©Ije fdjtiefcen? mit fefter ©timme: „3a!"
Sangfam fid ber 2tbenb mit fcinen crften ©fatten ein. — - 9Sor bcr
toerfd&loffenen $l)ur jur SBoljnmtg ©lanerg tefynt im 3)unfel beg Xxtpptfe
gangeS ein bleidf)er 9Rann. ©r finnt iibcr jeben ©df)ritt, ben cr madjt,
er finnt iibcr jcben ©ebanfen tt)iebcr, bcr iljn befdfjteidjt. @r ift pWfc
l\6) irre gemorben in feincr ©ef)nfu<j)t, alg cr ba auf bic %xtppt beat
unb Ijineinfaf) burdj bic ©tagfenfter bcr 93ortf)iir in bic ftittcn frieblidjen
SRaume. ©g ift ifjm alg ftiinbe fein alter, treuer greunb t)ier unb ricfc
iljm ju, ber 2eibenfd)aft in bie 3ugel ju fallen! „9tein!" fagt bcr eim
fame ©aft Ijalblaut — „er ift eg nidfjt! ©r ift ja beim £odf)5eitgmal)t.
3df) follte audfj bort fein, aber iclj — " ©r fyalt inne unb blidt toieber
burd) bic Xfjiir unb ruft ben Stamen feineg greunbeg unb laufdjt. $od()
eg bleibt OTeg ftitt. S)a fafet er 2Jtutl>! $ie ©loden an ben $ird)s
t^urmcn fdjlagen ad£)t, er mufj eilenl $te Sicnftleutc fdnnen lommcn!
©r barf nidfjt gefetjen toerben. Unb er fteigt bic jtoeite Xxtppt mutljig
Ijinan. 3Rit fatten 2tugen blidt cr tjier burdj bic genfter beg SSor^aufeg
in bie S^mcx unb fteigt bic tefcten ©tufen Ijinauf. 2)ag ift bie Xljiir
beg ftitlcn ©tiibd)eng. ©r l)alt ben ©d)tiiffel in feiner §anb. ©r toirb
auffperren. Sticmanb fie^t i^n, Stiemanb fann i$n fefjen. ©r fdfjreitet
t)or. ©r ^att »iebcr inne unb ftiifct fic^ auf bie falte rau^c SRauer.
2)ie 95ruft ^ebt fid^ unb fenft fid). Sftadjtig toie mit fd^tocrem ©cufjen
ringt fid^ bcr Slt^cm burd) bie Si^en.
„©g ift fait tyier oben!" feufjt er, „unb ber S33inb fd^rt bur^ bie
Salfen beg S)ad^eg. Slud^ in ber Sirdje War eg fo fait unb mid) fror,
atg id^ bci ben SBorten beg ^riefterg in ber 93anf jufammenbrad^. SBag
fagte ber ^rieftcr? Stein! ber ^rieftcr fd)ft)ieg, aber #elene f^gte — "
©r prefct bie $anb aufg $erj. — ©in fonberbarer ©aft. SD3ag faljrt i^m tool
burd^ bic ©inne, bafc er pt5felid^ fo bleid^ unb immcr bleid^er toirb? $)odf)
nein! ©g ift nic^tg! S)ic SBangen rdtf^cn fid^ toiebcr, eg gtiiljen tt)icber bic
Slugen, er rafft fid^ auf. S)a fnacft bag ©dfjlo^, er fte^t im 3intmcr.
398 K. <Efj. Hid?ter in prag.
®aum magt cr aufjublicfen, cr cilt an ben Xifdj unb finft in bett
©tutjl. SBie grett ftidjt bcr ©aft ab toon bem traulicfjen Simmer. SBie
ift ba Sttte^ l)eimli<$ unb gliicttidj. Die ©lumen bort im genfler, bie
fleineu iierlidjen ©tiitjte, ber feine ©djreibtifel) mit fdjmucfen SRityifadjen,
bieg ©opfja, mie einlabenb jum ^laubern unb jum ffofen. Unb
t)ier t)on meifeen SSorljangen umljangen bieg tueifce f<f)tt>ettenbe Sett, in
bem fo mandje SRadjt ein Heiner fdjwarjer Socfenlopf fidj auggetraumt
unb adj, gar oft fi<$ auggetoeint. ©ie l)at mot audj t)on itjm getraumt
unb iiber il)n getoeint. ©ibt eg fein 3ci^en l)ier, nidjt ein £au<$ fd)h>ebt
iiber ben toeifeen ffiffen, ni<f)t eine I^rane Ijangt baran, bie befennen
ttriirbe? — ©o ruft ber ©aft unb finft auf bie Sfniee unb bruit fein
#aupt in bie ffiffen unb nefct fie mit Iljranen. Do<$ wag ift bag? SBer
ruft tfjn bei feinem Seamen? SBer fagt il)m, bag er bag Bimmer Der*
laffen foil, toer jiirnt ifjm entgegen: ©te^ auf unb ftflre nidjt ben reinen
grieben, ber tyer geijerrfdjt! 9tein! @g ift nidjtS! @g ift ein 93itb bort
an ber SBanb, bag er fo lange fdjon angefeljen! ©g fmb bie ernften Stugen
feineg greunbeg! Da fdjauen fie ijertoor unter ben fdjarfen bunfeln Srauen
unb unter ber Dotyen reinen ©time. Da ftetjt er in feiner ganjen feften
gebrungenen ©eftait. Unb ringg urn itjn feine erften Slrbeiter. ©r fennt
fie atte, atte, biefe frdftigen bartigen ©eftalten. Der ba mit bem etmag
gefriimmten SRiicfen ift ber 93u<f)l)alter, ber ber ffaffirer, bort ber 2Rafd)inens
fiitjrer unb tjier bag fummer tootle ©eficfjt, eg ift bag @efid)t beg erften
SBerffut)rerg. ©r benft tool an bie SKiiljen beg Dageg unb toie er fern
toom $aug fein S3rob toerbienen mu&! ©in Sump l)at ba fein einjig fiinb
tjcrfii^rt unb eg bann toerlaffen. Dag Ijat il)n fo alt gemadjt unb fo
gramtoott, benn er l)ielt etmag auf ©tjre unb ^flidfjt. Unb $flid)t ringt
eg fidj iiber bie Sippen beg fiitten ©afteg. Da ftefjt eg audj: Seben
Ijeifet fcinc ^flidjt erfiitten! ©g ift ©lanerg SBeigljeit, er l)at fie unter
bag S9ilb gefdjrieben, bag bie Slrbeiter feiner gabrif nadj jeljnidljrigem
ffleftanb berfelben §aben madden laffen. Seben Ijeifct feine $Pfti<f)t erfiitten I
@r fpridjt eg tuieber ber bleidje ©aft unb fj5rt eg nidjt, trie er eg
f priest, ©r fifet an bem ©dfjreibtifd), bag $aupt in bie $anb geftiifet
unb ^ort bie ©locfen nic^t, bie bumpf burdj bie fii^Ie 9lad^t neun fd)tt>ere
©c^Iage fc^Iagen. ©r finnt unb finnt, er fc^aut unb fdjaut: ©in fro^er,
ftoljer, gliicfii^er SKann ftreic^t burc^ bie ©trafeen. @r ift geliebt, mie
fo toiele, er ^at fo t)iel geliebt. @r fann Sltteg, mag er toill, unb er tail!
Sltteg. Die ftranfen fuc^en i^n, benn fie genefen, toenn fie in fein jugenb*
tic^ feligeg 2tntlifc fe^en. Da ruft i^n eine ©terbenbe an il)r Sett. SBie
fd)on fie i^r blei^eg 3tntlifc in bie Siffen gebettet tjat. Dag reid^e blonbe
$aar mailt iiber bie Decfe ^erab. ©ie mitt nicfjt fterben unb fie ftirbt
nic^t. ©r ruft fie in'g Seben iuriidf. ©ie liebt iljn, unb liebt i^n in i^rem
Danle. ©r freut fid) ber ©enefenben unb nimmt in tranter ©tunbe feine
greube fur Siebe. ©ie tjeirattjen. Unb bag erfiittte SBflnfc^en erjeugt
Die Sraut.
599
cut ettug neueg SBimfdjen. ©r tiebt bag SBeib, cr Kebt fie mit gather
©eete, cr Ijat fic fo Ijeife geliebtl 3a, \al 3)ag Sinb f>at eg itjm \a
trjaf)lt mit feinem crftcn Casein, mit fcincn crftcn Straiten, ate cr eg
in fcinen ftrmen Ijielt unb fjerjte unb fiifjte. D fii&e, Ijeilige ^flidjt!
28ie befdjKdj fic fcin ^erj, mie leljrte fic iljn bag SBeib tieben, bag i^m
fold) ©liicf gemdl)rt. 3)od) ncin! Sag Sinb ift nid)t meljr! @g ift
iegraben unb licgt ticf untcn in bcr ©rbe unb bci tl)m liegt fcinc 2iebe,
fcinc tyfiify, unb 2ttteg, wag cr mottte unb foUtc. 3a, ja, fo ruft cr
<mg bcr bleid)e ©aft unb fdjlagt bic £anbe t)or fcin ©efidjt unb meint.
3a, ia, bag fjat mir bag £erj jerfreffen unb Ijat midj etenb gemadjt.
Sag Ijat iljr bag #erj jerfreffen unb l)at fic in SRotl) geftofeen unb ©lenb.
Utidjt fatten f5nnen, mag man liebt! STttmac^tigcr ©ott unb clenb wer*
"ben, Weil man licbtl
©0 fdjrcit cr auf, bafe eg Don ben SJanben mieberljallt unb in'g
SBeite bringt, meit in'g SBeite, unb mie cr laufd)t, ba ift'g, ate fityr' eg
ouf ben Silftcn raufdjenb bafjin: geroe, Du 2Rann ba, 5)u bleidjer, feme
'baljeim fifet ein fdj5neg, btonbeg SBeib unb f)alt bie £anbe in i^rcm
©djoofc gefaltct unb fie^t mit matten ffilicfcn t)or fi<f) f)in. ©ie toeife
nidfjt, mag fie benft, fic meifj nidjt, mag fic fiifjlt. ©ie meifj nur, bafj
fic cinen SKann gcliebt, bcr niemate bicfer Siebe gliicflidj marb. ©ic
benft baran, fic fiifjlt eg unb fie^t fidj ungliicflid) unb i§n unb !ann eg
♦ iorf) nid)t anbern.
„3<$ aber faun eg finbern unb mill eg!" Unb cr fpringt auf!
©einc ffntcc beben nid)t, cr manft nidjt unb braud)t nid)t taftcnb an ber
tBanb fidj ju ljalten, mie er fjinabfteigt bie Xxtpptn beg menfdjenleeren
£aufeg. ©r fief)t nidjt ben crnftcn 2Rann, ber im S)unfel beg ©angeg
fteljt unb ifjm na<f)folgt mit gtitfjenben SStidfcn unb ifjm nadtfaufdjt mit
bangenbem, jittcrnbem £erjen. ©r fytt audj nidjt gefefjen, mie f)inter
ifjm, ate er bie Ireppe Ijerabftieg, aug bem ®unfcl ber SKauem mit
leifen ©Written eine mei^e ©eftalt naty bem 3intmer fd^ritt, bag er fo-
eben Derlaffen unb ttrie fic bort in bic ffniee gefunfen unb langc getoeint
^atte, big fie, ben f<f)tt>arjen Socfenfo^f auf bic Sante beg SBetteg geletint,
entfc^Iafen mar. Unb fcin Iraum ^at ben ©djlaf geftort, fcin Iraum
^at fie jitternb ermecft.
©g mar bic ©onne, bie ladjelnb ben SKorgen griifetc unb ber S)uft
ier SSIumen, ber jtc jum lefcten SKat in bem Dertrauten Slaum ermetftc.
Derlag oon (Scorg Stilfe in Berlin, NW., 32. £ouifenfha§e.
Hebigirt untet Derantmortlidjfeit bes Derlegcrs.
Drncf von S» <S. (Eeubner in Ceip3tg.
Xlnbered?tigtcr Uad^bxndf aus bem 3ntjah btefer geitfdjrift nnterfagt. Ufbcrfr^angsrfdjt porbef}aIteiu
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DtuJ pou B. <S. Ceubnet in feipjig*
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Inhalt des 6. Vandes.
Juli — August — September.
M8.
t. Anzengruber in wien. A„
Das Sundkind i2y
Aarl Vartsch in Heidelberg.
Ioseph Vietor von Schessel 5Z
Mit dem Portrat von Ioftph Vietor von Scheffel, Gestochen von H, Lachs
in Verlin,
G. Vaur in leipzig.
Der ElsaB als eine Pslegestatte deutschen Lebens und deutscher
Gesinnung 99
Aarl Viedermann in leipzig.
Lessing in England zu
f). IV. Forchhammer in «iel.
Dos goldene VlieB und die Argonauten 201
Aarl Gutzkow in sachsenhausen.
Bognmil Dawison H75
Mit «em Portrat von «ort Gntzkow, uiaviiung von D, Raab in Munchen,
f)aul Aeyse in Munchen. Reisebriese.
An Arnold Bocklin in Florenz 1
An Otto Ribbeck in Leipzig b
An Wilhelm Hertz in Berlin 167
An die zu Hause Gebliebenen 172
Rudolph tinbau in Paris.
Ein verkehrtes Leben. Novelle 1 1
(Lmil Naumann in Dresden.
Clavierspiel ohne Ende 112
Friedrich Ratzel in Munchen. 5.1„
Die Beurtheilung der Volker 177
I. Rosenthal in Erlangen.
Emil du Bois-Reymond, Ein Lebensbild 15z
Mit dem Portrat 0«n Emil du Noi« Reymond. Nach der llriglnalzeichnnng
»on Adols Menzel in Photogravure au«zesuhrt durch Voupil« Co. in Pari«,
Franz Riihl in UonigLberg.
Theodor von Schon 21H
R. ochoener in Rom.
Der Palatin und seine Ausgrabungen 549
«iiarl Thiersch in leipzig.
Medieinische Glossen zum Hamlet 2Zi
t). U). Vogel in Verlin.
Die Telegraphenschrist des Himmels ZZ5
<ii. Voit in Munchen.
Ueber die Bedeutung des Blutes 87
Adols wilbrandt in wien.
Der Mitschuldige. Novelle 25Z
Aveiscbriese.
Von -. :'
p.nil Oense. .- - . - .-A
— Miinchen. —
An Arnold Vocklin in Florenz.
Is ich in Rom nur eine Nacht geschlasen, An die Ripetta zog es mich hinab, Zu jenem Hause, wo wir ost uns trasen.
Heut salin die Fenster sremd aus mich herab. stumm schlichen hin des alten stromes wellen, Und Niemand war, der mir willkommen gab.
wo sind sie nun, die srohlichen Gesellen,
Die Vienen gleich hier schwarmten aus und ein,
2er Riinste Honig tragend in die Zellen?
Ich iiberwand mich nicht und trat hinein.
Ich stand in alter Tage Traum verloren
Und glaubte wieder jung und sroh zu sein.
Oon Neuem klang der larm vor meinen Vhren
wie jenen Morgen, da an diesem Haus
Der wagen hielt, den wir zur Fahrt erkoren
Zum Haine der Egeria hinaus,
wo Jahr um Jahr das lustige Gelichter
Zu halten pflegte den Getoberschmaus.
Nun stiegen ein sechs lachende Gesichter,
Vildhauer drei, zwei Maler auBer dir
Und aus den Vock ein griiner junger Dichter.
Den groBen Korb zu hiiten gab man mir
Mit unserm Vorrats, dem gewalt'gen Vraten
Und Allem was gehort zur Taselzier:
Dazu die Aschenurne voll pataten,
Ein Flaschchen goldnen Gels war auch zur Hand
Und was an Friichten lieB der Herbst gerathen.
so saus'ten wir durch Rom. Die 2onne stand Klar am Vctoberhimmel; jede linie Des Horizontes schars und rein gespannt.
Und wo dem Thore nah die alte Pinie
Heruberwinkend ihren wipsel hob,
Hielt das Gesahrt vor einer schlichten Vigne.
..' VeA'vtailerol, ein buschiger Eyklop,
A lud uns ein FaBlein Rolhen aus den wagen,
X>tl HniL dAs» neuen last von dannen stob.
so aus der GraberstraBe hingetragen 2ah ich die wiiste Roms zum ersten Mai Und bald auch der Vase waldchen ragen.
Du sagumklungen quellenruhles Thai, Dem zwei Jahrtausende vorubergingen, seit Numa sich zu seiner Nymphe stahl,
Nie sahst du schon-re Glut zum Himmel dringen, Als wir entsacht im Eichenschatten dort, wo wir uns lagernd unser Fest begingen.
Du aber zogst, o Freund, den Neuling sort, Ihm erst der Grotte Heiligthum zu zeigen Versteckt im Hochgras, sommerlich verdorrt.
Rings die Eampagna lag im Mittagsschweigen Und wie wir traten aus der seuchten Nacht, sahn wir den Rauch in stiller wolke steigen
Aus immergriinen wipseln, wie gemacht Zum Tempel, drin ein Vpser zu entstammen Den alten Gottern, deren ew ge Macht
Die klugen Nachgebornen kiihl verdammen, wir aber schlangen wucherndes Gerank Des Epheulanbs zu Kranzen leicht zusammen.
Die sanden bei den Andern groBen Dank, Und so bekranzt nun iiberm stillen Thale Erhoben wir die Hand zu 2peis' und Trank.
Gedenkst du noch, wie Franz mit voller schale
In Vriesterandacht unsres Herdes Glut
Umschritt, den Gottern spendend vor dem Mahle?
Und Koch und hoker schwoll der Uebermuth.
Vacchantisch lodert' aus die Festeslaune,
Geschurt von des Velletri dunkler Flut;
Vis unser Dane dann, der Vart'ge, Vraune,
Die Kleider abwars und urns Feuer nackt
Mit Jauchzen sprang gleich einem ries'gen Faune.
Drei thaten's nach, von gleichem Rausch gepackt,
Und an den schultern sestlich sich umschlingend
Den Voden stamp sten sie im Reigentakt,
Im Vierklang eine nordische weise singend,
Die hell und wild die wipsel iiberflog,
Mit dunklem Heimweh uns das Herz bezwingend.
Da rauscht-s im Vusch, und auseinanderbog
Die Zweige scheu ein strupp'ger Campagnole,
Den der Gesang aus seiner Hiitte zog.
Er suhr zuriick und sloh mit hast'ger sohle,
Als er den nackten satArntanz erschaut,
Voll Angst, daB ihn der Gottseibeiuns hole.
wir aber eilten nach und lachten laut,
Ihm Muth einsprechend, und ein voller Vecher
Aus unserm FaBchen macht' ihn bald vertraut.
Dann wieder ehrbar lagerten die Zecher
Und brieten plaudernd der Kastanie Frucht;
Der Abend sank, die Flamme brannte schwacher.
Doch meine Augen hatten Franz gesucht,
Der von den Andern still sich weggeschlichen:
Und bald entdeckt' ich ihn am Rand der schlucht.
Ich dacht' , er sei des weines Macht gewichen
Und schlummre nun, in sel'gen Traum versenkt.
Doch er, das Vlondhaar von der stirn gestrichen,
Die Hand zum willkomm iiberm Haupt geschwenkt. Ries mich heran, daB ich sein lager theile, Den Vlick ins stille land hinaus gelenkt.
so ruhten wir und schwiegen eine weile Und sahn im Abenddust die Verge gluhn Und roth des Aquaductes Vogenzeile.
wohl ward ich inne, wie sein Auge kiihn sich aus zur Hobe schwang, wo eben leise Des Mondes silberlilie wollt' erbluhn.
Und plotzlich fing er wunderlicher weise
Zu reden an, wie mit dem eignen Ich
Ein Traumer spricht, einsaltiglich und weise.
Es klang so ties und klar und seierlich,
DaB worte kaum die Flut der stimmung saBten
Und athemloses staunen mich beschlich.
wie wenn ein Meister aus den elsnen Tasten Die Finger gleiten laBt, daB unbewuBt Die seele sich in Tonen kann entlasten:
so drang hervor aus dieser jungen Vrust In regem spiel geheimste lebenssiille, Die Rathsel dieser welt in leid nnd lust.
Der schmerz, der in der Tollheit bunter Hiille Die stacheln birgt, wenn uns das wort der Kunst Zweideutig klingt wie spriiche der sibylle.
Und ach, wie launisch gonnt sie ihre Gunst!
wie laBt sie ost den lechzenden versiechen
Und kuhlt mit keinem Tropsen seine Vrunst! >
Und jetzt, emport am Voden hinzukriechen,
Ermannt er sich zum Fluge srech und sroh
Und diinkt sich gleich den Gottern oder Griechen.
was soll-s? was muhet sich die seele so? 1st denn Natur nicht aus sich selbst vollkommen? Harrt sie aus uns, daB irgendwie und wo
Der blinden schopsung wir zu Hiilse kommen? Kann dort die Abendglut erst selig sein, wenn von der leinwand sie zuruckerglommen?
Genug! laB mich Grinnrung nicht entweihn, Nachstaminelnd jene gottverworrnen worte, Die mir das Vlut erregt wie siiBer wein.
Ihm lauschend lag ich am geweihten Vrte wohl eine stunde lang, indessen er stets neues Gold mir bot von seinein Horte.
wie war er reich! wie schien er die Gewahr Des hochsten Kranzes in der Vrust zu tragen! Und dennoch gab er seiner Zeit nicht Mehr.
Natur, die weich aus Handen ihn getragen,
Ihm Aug' und seele mutterlich geseit,
was muBte sie dem liebling Eins versagen,
wodurch allein sie Herrschgewalt verleiht:
Die siiBe Dumpsheit, jedes Hochsten Vnelle,
Die seine wurzeln trankt mit lauterkeit!
sein Auge war zu schars, sein Geist zu schnelle;
Er ward zu klug aus Allem was er schus;
Der Vaum erkrankt bei steter lampenhelle.
Zu willig solgte weisheit seinem Rus
Und lehrte sinnend ihn das All umsassen,
Da schranken heischt des schaffenden Verus.
so hat er manch ein werk zuriickgelassen,
Veseelt von seines wesens edlem Hauch,
Doch nicht erklingt sein Name aus den Gassen.
Und damals, wie er schwieg und endlich auch
Zuriick sich wandte nach der Feuerstatte,
Erblickt ich dich bei einem Ginsterstrauch.
Du hattest mit den Andern um die wette
Kastanien in der Asche dir gegliiht,
Als ob die welt nicht hoh're Freuden hatte.
Kein schwarmend wort war deinem Mund entsprllht,
Doch ties im Innern sammelnd alle Gluten
Des schonsten Abends, brannte dein Gemiith.
Indes; aus Farb' und Form d-ie Augen ruhten,
sog still der Geist das Mark der schopsung ein
Und stahlte sich im Vad der schonheitssluten.
Kunst ist ein schatz, und Geister huten sein,
wer glaubt und schweigt, wird ihn herausbeschworen.
Dem Kliigler wird der Zauber nicht gedeihn.
Und ob sie deine Eirkel wollten storen,
Dich meisternd locken aus dir selbst heraus,
Du lerntest sriih, dir schweigend angehoren.
so wuchsest du in stolzer Krast dich aus,
Da unser Freund so sriih dahingegangen;
Ich aber dachte beim Ripettahaus
Des Herrlichen, was wir von dir empsangen.
Rom, 2«. Deeember 1877.
An Gtto Ribbeck in Leipzig.
Neulich, Theuerster, hab' ich lachen mussen. Da ein schoner Essay mir in die Hand kam, Drin ein trefflicher Gonner deines Freundes leben, Thaten und Romsahrt abgeschildert, Mit pragmatischer Kunst die Faden
knupsend Eines schlichten poetenlebenslausleins. Ao erzahlt er die Mar, wie Martinueei Aus der Vibliothek der Vatieana Mich harmlosesten Fremdling weggewiesen, Der ich srohlichen Muthes hingepilgert, Als
romanischer philolog in lierdi In handschriftlichen 2taub mich einzuwuhlen. Denn so stand es in meinem paB geschrieben, Da zu diesem Vehus ein wohlgeneigtes Ministerium einen Reisepsennig Mir bewilligt. Ich dacht'
ihn heimzuzahlen Mit sehr loblichen Troubadour-Ereerpten. Doch verdachtig erschien's dem heil'gen Vater, Und so sandt' er den Enge! in Gestalt des Monsignore Eusiode, mich aus seinem pergamentenen Paradies zu
bannen. Nur ein winziges Vlatt aus Edens Garten — Nicht zu stehlen, behute! — nachzuzeichnen Halt' ich Thor mich erkuhnt, durch so verwegnen sllndensall des Permesses Heil verscherzend. wohl ihm! ruft der verehrte
Freund: durch diesen 2ehr verstimmenden Zwischensall entschied sich's, DaB er ganz sich der Dichtung zugewendet. Uns entging ein gelehrter Handschristkenner Mehr, wie Matzner und Mahn und Vartsch und Tobler,
Doch statt dessen erhielten wir — das weit're lies du selber am angesuhrten Vrte.
lachen muBt' ich surwahr. Ich sah im Geist mich, Nicht unwiirdig des Vaters, Ahns und Vheims, Aus erhabnem Katheder, einer Handvoll Guter Jiinglinge den petrark erklaren, Altsranzosisches Epos oder lope's Dramen
oder Cervantes in zweistiindig 2chwachbesuchtem Eolleg zum Vesten geben Und alljahrlich die Zahl der Texte mehren, Dran Oelduo Velnemo, jenes treue paar romanischer leser, sich ergotzen, war's das bessere Theil?
wer weiB! der Tropsen philologischen Vluts in meinen Adern war' zum 2trome vielleicht noch angeschwollen.
Und „Erkanntes erkennen", wie einst Vater
Voeckh der Philologie das Ziel ge wie sen,
Hatte mehr mich getrostet, als im Irrsal
Armer menschlicher 2chuld und schicksalsnothe
Tastend mich zu ergehn in Furcht und Mitleid,
Um des lebens GeheimniB nachzustammeln.
Doch was srommt es, verlorne Moglichkeiten
Auszugriibeln? Es denkt der Mensch, der heil'ge
Oater lenkt, und ein deutsches Dichterloos wird
An der schwelle des Vaticans entschieden.
Nein, im Ernste: von dir, vor dessen Augen
Jener geistliche Vann an mir vollstreckt ward,
wunscht' ich heut mir ein un verdachtig ZeugniB,
Vb mich wirklich so ties des Interdietes
Vliy getroffen, ob wirklich unter 2enszen
An die Psorte des Vaticans ich einschlug
Jenen Nagel, daran den Philologen
Ich aus ewige Zeiten hing, verzichtend
Aus der Matzner und Mahn und Tobler lorbeern.
Noch des lerculun, primum wol gedenkst du
„Oom Resrain bei den provenzalen" (cuiu8
Tu par8 Manila M81i, da mit meinem
Eignen bischen latein ich schier zu Ende):
Noch, wie seelenvergniigt, indeB du selber
Dich an wurdigen Pergamenon miihtest,
Ich in Villen, Musee'n und Kirchenhallen
Als ein srohlicher Idiot herumstrich,
Tonn' und lieder und Vrvieto schliirsend,
Die du sreilich denn auch zu schatzen wuBtest.
Ach, schon lange geheim im Vnsen warnte
Mich mein Genius: Eitle Miih' und Arbeit,
In den spuren des groBen Diez zu wandeln!
Am historischen sinn gebricht dir-s leider,
Der Gewesenes schatzt, dieweil es da war,
Und was lange vermoderter Geschlechter
Herz nur maBig bewegt, mit oder Andacht
Aus papierenen Griisten neu ans licht zieht.
wohl! unsterbliches werk vom Unrath saubern,
Den ihm Thoren und Rliigler angehestet,
Aus erblichener 2pur des Geistes wandeln,
Aus zerstiickeltem Trummerwerk der Dichtung
Und des lebens Gestalt herauszudeuten,
1st des schweiBes der Edlen werth; doch dazu
Vrancht's bewahrterer Hand, berusnen Auges,
Und nicht psusche des Dilettanten Fiirwitz
Hoher kritischer Meisterschast ins Hand werk.
Dir ward Andres verhangt: ein unversalschter sohn des Heute zu sein, des gegenwart'gen weltlauss buntes Gebilde zu verew'gen Mit nachdenklichem wort. Darum ins leben lenke riistig den schritt vom Dunst des
Vuchersaals und blick in die welt und in dich selber, Und dann sage der welt, was du erschautest.
so mein eigener Damon, der in simplem Deutsch mich immer berath und von Romanisch wenig weiB. Und ich that nach seinen winken, Und so hab' ich in sunsundzwanzig Jahren Vst ein Heimweh gespiirt nach Ponte
Molle, Nach den Oillen, Musee'n und Kirchenhallen, Nach dem Hause der Dame Rubicoudi, wo beim strohernen Fiasco wir so manche Nacht verplauderten in lueians Gesellschast: Nie nach jenem verbotnen Paradiese, wo
vom Vaum der Erkenntnis; des Erkannten Noch manch seltene Frucht sich pslucken lieBe. Ja, gesteh' ich es srei — und mag voll Mitleid Auch ein Archaoman die Nase riimpsen — : Nicht unwillig betracht' ich heut der
neuen Aera spuren, so stach und breit sie manchmal Zwischen hehre Vergangenheit sich hinpslanzt. Iraun, noch iibergenug des unverganglich Hohen Alten verblieb, das Herz zu stillen Und den Geist des Vetrachters
einzuwiegen In elegischen Traum vom FluB der Dinge! Doch dem wachen gehort die welt. Erwacht ist Heut Italiens Volk und hat des Reiches Thron im Herzen des landes ausgerichtet, Mag dariiber des Vatieanes
Zwingherr In ohnmachtigem Grimm als ein entthronter Erdengotze sich ties in wolken hullen. Ja, heut lieBe sich hier von Erdenmuhsal Nicht nur sriedlich mit andern Todten ausruhn In der Eestiuspyramide schatten, —
Nein, auch leben, von hochgeschwellter woge Des lebendigen Zeitenstroms getragen, wie ergreisend erklang sein tieses krausen, Als er neulich entlang dem alten Eorso Eines trefflichen Herrschers ird'sche Hiille Trug in
diisterem Oomp, und mit im Zuge schritt der Erbe der deutschen Kaiserkrone, Dessen ragendes Haupt noch lang die sonne Thatensreudiger Krast umleuchten moge.
Und nach wenigen Tagen wieder stromt' es
Ueber Viazza Eolonna, und ein ganzes
Volk, um Monte Eitorio sich schaarend,
Horcht' in gluhender stille, wie sein junger
Fur st ihm schwor, an Gesetz und Recht zu halten,
Und das theuerste Gut der Volkessreiheit
Gleich dem Vater ihm unversehrt zu huten,
laut voni Vineio erdrohnten Vollerschusse,
Und nachdonnerte Jauchzen tausendstimmig,
Als der trauernde 3ohn vom 2arg des Vaters
21usnahm eines Regenten Dornenkrone
Und das schneidige Kriegsschwert der 2aooyer.
Und ich suhlte den Vuls des Heute krastvoll
Durch die menscheugeschwellten Gassenadern
Der ergreiseten IVeltenherrin pochen,
Hoher wahrlich als einst, wenn f>io nono,
Aus dem sessel herumgetragen, schlasrig
In da- knieende Volk den oegen nickte,
weihrauchwolkenumqualmt, von Vsauenwedeln,
Einem Dalai-lama gleich, umsachelt.
Abends, als sich der Mond im Vlau verkundet,
Mit dem 2trome des Volkes iibers Forum
Am zerkliisteten Valatin voriiber
langsam wandelten wir zum Eoliseo.
2onst die schweigende statte dunkler schwermuth,
Nur durchschwirrt von der Vrut des Nachtgevogels,
Ein entseeltes Gerivp, ein wundersamer
(yuadern- Vlesiosaurus: heut von sern schon
Klang's und wimmelt' es von lebend'gem Regen.
Genuesische lanzenreiter, ihrem
Todten Konig ein letzt Geleit zu geben,
Hatten jagend die ungeheure 21recke
In drei Tagen zuriickgelegt und Gbdach
Hier gesunden im alten Riesenrundbau.
Rings in hochuberwolbten Trummerhohlen,
Kaum sich selber die diirstige streu vergonnend,
DaB nur ja sie den Thieren nicht ermangle,
lagernd, schlendernd, die blanken Gaule striegelnd
Trieb die reisige schaar sich hin und wieder.
In Eavernen, wo einst gedung'ne Fechter —
Kloriluri! — geharrt des grausen Kampsspiels,
Gder bebenden Martyrern von serne
Dumpses lowengebrull heruberdrohte,
Dann durch manches Jahrhundert blode Monche
Vor den holzernen Eruzisiren naselnd
litaneien gesummt, erscholl von Neuem
Die Parole lebendiger Oolksgeschichte, Zwar gedampst in der srischen Grabeslrauer, lierzbeweglicher doch, als selbst der dunkle weltschmerzselige laut von Vyron's Klage. '2acht ausgliihte der Mond, die schone Cella
Dort am Tempel der Oenus und der Roma leicht vergoldend, und still im Mondlicht wallte Aus Feldkesseln der Rauch, darin die karge Nachtkost rusteten die bescheidnen Gaste. Doch im bleichen Gewolk erblickt' ich
traumend wundersames Gesicht, Italiens Zukunst Mir vordeutend — genug! Dich seh' ich lacheln, DaB nun gar der f>oet sich des f>ropbetenAmts zn walten erkuhnt. so laB uns leben, wir erleben'? vielleicht. — V»Ie
li>v«<ue !
Rom, 23, Ianuar 187«.
Novelle
von
NlidolM Lindau.
— pari«. —
in Monat November des Iahres 186. besand ich mich in einer kleinen Stadt Thuringens, Ich war dort bereits seit einer Woche, hatte die Geschaste, die meine Anwesenheit nothig gemacht hatten, erledigt und beabsichtigte
am nachsten Tage zu einer bequemen Stunde abzureisen, als ich um vier Uhr Nachmittags eine Depesche erhielt, welche mich zur Regulirung einer stir mich wichtigen Angelegenheit schleunigst nach Paris eitirte. Den
Nachteourierzug konnte ich, da ich von der Haupteisenbahnlinie mehrere Stunden Weges entsernt war, nicht mehr erreichen; nm den daraus solgenden Tagesschnellzug benutzen zu konnen, muBte ich entweder am nachsten
Morgen um suns Uhr ausbrechen, oder ich konnte am Abend noch bis zur Stationsstadt sahren, dort ruhig ubernachten und dann am nachsten Tage meine Reise aus der Eisenbahn sortsetzen.
Es war unsreundliches, naBkaltes Wetter, Der Gedanke, in der Dunkelheit auszustehen, mich in einem ungeheizten Zimmer anzukleiden und, bereits srierend, in einen schlecht verschlossenen Wagen zu steigen, um mich
von langsamen Gaulen, vier Stnuden lang, aus holperigen Wegen, bergaus, bergab ziehen zu lassen, war wenig einladend. Ich zog vor, sosort abzureisen. Ich bestellte einen Wagen, packte schnell meinen Koffer, trank ein
Glas Gluhwein, lieB mir ein Biindel Stroh in den Wagen legen, wickelte mich in ein paar dicke Decken sorgsaltig ein und machte mich guten Muthes aus deu Weg.
Es dammerte bereits, als ich aus der Stadt suhr; eine halbe Stunde spater war rings um mich her dnnkle Nacht. Ich versiel bald daraus in einen unerquicklicheu Halbschlas, aus dem ich alle zehn Minuten, wie es mir
schien, durch Peitschenknallen oder Rusen des Kutschers geweckt wurde; auch bemerkte ich, daB wir eine groBe Anzahl von Dorsern passirten. Ich sah dann mit halbgeoffneten Augen, durch die angelausenen Scheiben des
Wagens, niedrige, dunkle Hauser mit dunstigen, matterleuchteten Fenstern; aber ehe ich mir klar machen konnte, wo ich mich wol besinden mochte, war ich dann schon wieder aus der sinstern LandstraBe. — Endlich
verbesserte sich der Weg; das Rutteln und StoBen des Wagens wurde weniger unbequem, ging in ein ganz angenehmes Wiegen und Schaukeln iiber; das Rusen des Kutschers storte mich nicht mehr — und ich schlies sest
ein. Als ich erwachte, hielten wir iu W. vor dem „Gasthos zum Erbprinzen", dem Ziele meiner Fahrt. Ein diensteisriger Kellner hatte den Kutschenschlag ausgerissen und war mir behulslich, aus dem Wagen zu steigen.
Nachdem ich den Kutscher verabschiedet und die Frage des Kellners, ob ich ein Zimmer besehle, bejaht hatte, bat mich dieser, ihm zu solgen und siihrte mich die helle Treppe hinaus in ein groBes, hohes, kaltes Gemach, Er
ging mir dabei in stolzer Haltung voran, in der weit ausgestreckten Rechten ein Licht tragend, als habe er mir den Weg durch ein dunkles Labyrinth zu zeigen.
In dem mir angewiesenen Zimmer sah es auBerst ungemiithlich aus. Es schien seit Beginn des Winters nicht geheizt worden zu sein. Ich sah mich srostelnd in demselben um, wahrenddem der Kellner damit beschastigt
war, zwei dunne Stearinkerzen anzuzunden und einen Aschenbecher und eine porzellanene Schaale stir Streichholzer symmetrisch daneben zu stellen. Dann nahm mein Begleiter eine Tanzmeisterposition an, stiitzte sich mit
der halbgeschlosseuen Hand leicht aus den Tisch und sragte gravitatisch, ob ich noch Besehle zu ertheileu habe.
Ich war hungrig; ich wunschte Etwas zu essen; und ich hatte gern Feuer iu meinem Zimmer gehabt. Konnte dies noch besorgt werden; oder schliesen die Leute schon?
Der Kellner sah mich mit einem Lacheln unendlich wohlwollender und mitleidiger Ueberlegenheit an und antwortete mit groBer Sanslmuth: es sei erst zehn Uhr; der Speisesaal werde niemals vor Mitternacht
geschlossen, und einer der Hausknechte A als ob eine Legion davon existirt hatte — ging wahrend der ganzen Nacht nicht zu Bette, da hausig Gaste aus der Nachbarschast zu spater Stunde eintrasen, um mit dem Friihzuge
weiterzureisen. — Nachdem er mir aus diese Weise eine richtige Idee von der GroBe der Wirtschast, der er seine Dieuste widmete, beigebracht hatte, zeigte er sich wieder bereit, meine Bestellungen zu empsangen. Er
nahm dieselben ohne eine Miene zu verziehen, die Augen gesenkt, entgegen.
„Der Hausknecht wird sosort einheizen, und das Abeudbrod kann in Wanzig Minnten servirt sein. Besehlen Sie unten zu speisen oder aus Ihrem Zimmer?"
„Unten ist es wol bequemer," bemerkte ich schuchtern.
„Wie Sie besehlen!"
Er machte Kehrt und war verschwunden.
Ich brachte meine Toilette etwas in Ordnung, nahm ein Buch ans dem Koffer, da ich mir dachte, daB die zwanzig Minuten, von denen der Herr Oberkellner gesprochen hatte, etwas lange dauern konnten und stieg die
Treppe hinunter, um mich in den Speisesaal zu begeben.
Im Hausslur uberholte ich einen Herrn. — Ich bemerkte im Vorubergehen nur, daB er eine zu groBe, schwarzseidene Miitze trug, die die Ohren halb bedeckte und den Kops auBergewohnlich klein erscheinen lieB. Ter
Unbekannte solgte mir aus den Fersen und wir langten gleichzeitig an der Speisesaalthur an. Ich offnete dieselbe, nnd lud ihn durch eine Handbewegung eiu, voranzugehen. Er trat einen Schritt zuriick und sagte mit hoher,
dunner Stimme: .
„Bitte ganz gehorsamst; bitte ganz gehorsamst! Nach Ihnen!"
Ich hatte keine Veranlassung, Complimente zu machen und trat in den Speisesaal. Der Mann mit der groBen Miitze solgte mir, und es war mir, als hore ich ihn hinter meinem Rucken noch einmal leise murmeln: „Bitte
ganz gehorsamst; nach Ihnen." — „Ein hosliches Mannchen," sagte ich mir.
An dem einen Ende der langen, schmalen Tasel, iiber die ein etwas beslecktes, weiBes Tischtuch gelegt war, hatte man siir zwei Personen gedeckt. Ich wars einen sragenden Blick aus den wichtigen Oberkellner, und
dieser kam sosort ans mich zugeeilt nnd wies mir mit einer graeiosen Verbeugung den einen der beiden Platze an. Das hosliche Mannchen, das mit mir in das Zimmer getreten war, nahm aus dem andern Stuhle, mir
gegeniiber, Platz. Es hatte die weite Miitze abgenommen nnd war nun damit beschastigt, sich mit groBer Geschwindigkeit die schmalen, knochigen, verdorrten Hande zu reiben. Ich sah ihn mir etwas genauer an:
Ein kleiner, aussallend elegant gekleideter, alterer Herr von vielleicht sechszig Iahren. - Er trug einen hellgrauen, gutgemachten Reiseanzug, ein buntes Hemde, dem man an den geknissten Manschetten nnd Kragen
ansehen konnte, daB es soeben ans dem Koffer genommen sei, und eine jugendliche, blauseidene, lange Cravatte, in der eine geschmackvolle nnd kostbare Tuchnadel steckte. Der Kops war, wie ich dies bereits im Hansfiur
bemerkt hatte, sehr klein; die grauen, diinnen, langen Haare, dicht iiber dem linken Ohr gescheitelt, waren sorgsaltig iiber den Schadel gekammt, um die Glatze dort bestmoglichst zu verdecken. Unter der niedrigen,
tiesgesurchten Stirn lagen ein Paar kleine, runde, lebhaste braune Augen. Die Nase war schars gebogen, ziemlich groB, aber so auBerordentlich sein, daB ich, als der Mann sich plotzlich hestig schnanzte, mich sragte, ob die
diinnen, sast durchsichtigen Nasenfliigel, durch die starke Pression, die in diesem Augenblick aus sie ausgeiibt wurde, nicht vielleicht ladirt werden konnten. Die schmalen Lippen waren blutlos; die groBen, weit vom Kopse
abstehenden Ohren hatten Sommersprossenflecke; das lange, spitze Kinn war, wie die Lippe, glatt rasirt. — Der alte Herr kaute sortwahrend ohne etwas im Munde zu haben, und da er die Wangen dabei seltsam einzog, so
kam er mir vor, als sei er bemiiht, sich in seine eigenen Backen zu beiBen.
„Das hosliche Mannchen ist ein possierliches Mannchen," sagte ich mir, und da es mich sonst nicht weiter interessirte, so schlug ich das Buch aus, das ich mit heruntergebracht hatte, und begann zu lesen.
Als ich nach einigen Minuten ausblickte, begegneten meine Augen denen meines Tischnachbarn. Sie ruhten mit einem so unverkennbaren Ausdruck vou Wohlwollen und naiver Neugierde aus mir, daB ich unwillkurlich
lachelte. Der alte Herr antwortete daraus sosort durch ein sreundliches, beinah kindliches Lacheln.
„Sie scheinen da ein interessantes Buch zu lesen," sagte er. „Hubsche bunte Bilder darin, wie ich sehe."
„Ia," antwortete ich nachlassig, „ein harmloses und ein gutes Buch: Grimm's Marchen."
„Grimm's Marchen!" ries der kleine Mann mit einem Ausdruck sreudiger Ueberraschung; „das ist iu der That eiu gutes Buch. Ich habe es hundert Male gelesen; es ist eines meiner Lieblingsbucher: Grimm's Marchen,
und Musaeus' Marchen, und die Ostereier, der Ritter von Reitzenstein, Rinaldo Rinaldini — das sind gute Biicher, die lob' ich mir! Ich lese gar keine andern als diese und ahnliche."
„Nicht sehr ausregende Leetiire," wars ich dazwischen. „Sie halt den Menschen jung."
„Sie halt den Menschen nicht nur jung, sie macht ihn wieder jung, verehrter Herr," entgegnete mein Nachbar mit groBem Nachdruck aus das Wort: macht. „Wie unvergleichlich besser, belehrender, amusanter,
moralischer sind diese hubschen Geschichten, als die abgeschmackten, unwahrscheinlichen sogenannten Sensationsromane, mit denen sich die heutige Leserwelt siittert."
Der alte Herr sing an, mich zu amusiren. Ich legte die Ellenbogen aus den Tisch, stiitzte den Kops aus die Haude und betrachtete ihn ausmerksamer. Er hatte in seinem Gesichte einen besremdenden Zug, den ich nicht
genau desiuiren konnte: etwas Exaltirtes und Naives, Verschmitztes und Treuherziges.
„Nun," sagte ich, um ihn durch leichten Widerspruch zu ermuntern, weiterzusprecheu, „an groBer Wahrscheinlichkeit laboriren Marchen doch gerade auch nicht; und mehr Mord und Todtschlag als in Rinaldo oder im
Ritter von Reitzenstein — wenn mich mein Gedachtnis! nicht tauscht — dursten Sie in den beruchtigtsten Sensationsromanen schwerlich sinden. . ."
„Erlauben Sie, erlauben Sie, mein Verehrtester," unterbrach mich mein Nachbar. „Ich eoneedire, daB meine Helden manchmal auch recht blutdiirstig sind; aber sie sind, wenn ich mich so ausdriicken dars, honnete Leute
in ihrer Art, die sosort Farbe bekennen und aus ihren Herzen keine Mordergrube machen. Wenn ich den bosen Riesen mit dem groBen Messer, oder den Rauberhauptmann mit dem Carabiner aus der Schulter und den
geladenen Pistolen im Giirtel, oder den Raubritter mit seinen Knappen austreten sehe, so ersahre ich sosort, was die Leute im Schilde siihren — : »Bin's, den alle Hascher suchen; Bin's, dem alle Mutter sluchen; Bin der
Rauber Iaromir« — das laB ich mir gesallen! Da weiB ich sosort, woran ich bin, und habe mich nicht mit allerhand unheimlichen Gedanken und Vermuthungen zu qualen, wie wenn ich im modernen Romane den Mann mit
den schwarzen, stechenden Augen und dem boshasten Lacheln um den schmallippigen Mund austreten sehe. Dann srage ich mich die ganze Zeit: »Was wird der Bosewicht nun vornehmen?« und bis zur letzten Seite des
Buches komme ich nicht einen Augenblick aus der Unruhe heraus. Das macht alt, mein Herr; das macht alt! Kein solcher Roman dars mir mehr in das Haus gebracht werden. — Wie anders ist es mit den guten Rauber- und
Rittergeschichten, an denen ich mich ergotze! Die machen mir keine schlaslose Nacht, obgleich ich mich siir die tapsern Leute interessire und mich sreue, wenn ich lese, daB sie iiber die bewasfnete Macht einen Sieg davon
getragen oder einen Kramer »geworsen« haben. — Wollen Sie wol glauben, daB ich soeben von Quedlinburg komme und daB ich nur dorthin gereist bin, um mir den Kasig anzusehen, in dem der Ritter von Reitzenstein
gesangen gehalten wurde? "
„Weshalb sollte ich das nicht glauben? Ich glaube es Ihnen gern," antwortete ich.
„Das ist ein sreundliches, gutes Wort, was Sie da ausgesprochen haben," siel das Mannchen wieder ein. „Sie konnen nicht wissen, welch' groBe Freude Sie mir damit machen. Ich hasse Menschen, die Alles, was sie nicht
wissen konnen oder nicht verstehen, bezweiseln, und die sich dann noch obendrein siir uberlegene Geister halten. Oh, die kurzsichtigen Schwachkopse! Ie mehr ein Mensch gelernt und ersahren hat, je mehr ist er geneigt,
das siir moglich zu halten, zu glauben, was er noch nicht aus direeter Anschaunng oder eigener Ersahrung kennen gelernt hat. — Ein asrikanischer Neger glaubt weder an Dampsmaschinen noch elektrische Telegraphen;
und unsere Bauern schutteln verschmitzt und unglaubig die dickschadeligen Kopse, wenn man ihnen sagt, daB die Astronomen begonnen haben, die Sterne zu wiegen. — Ie mehr ein Mensch zu glauben sahig ist, je weiser
ist er. Ril aamirari heiBt, nach meiner Uebersetzung,
«ordund Sud. VI, Is. 2
Alles siir moglich halten, Nichts absolut bezweiseln. — Sind Sie meiner Meinung?"
Ich bin ein sriedsertiger Mensch, und antwortete „Vollkommen."
„Das sreut mich, sreut mich ungemein . . . Gestatten Sie. .."
Der alte Herr war ausgestanden und reichte mir iiber den Tisch seine Hand, die ich herzhast driickte.
„Ein ganz unerwartetes Vergnugen, noch so angenehme Gesellschast zu sinden," suhr er sort. „Ich bin hier in dieser Beziehung nicht verwohnt. Seit langer Zeit habe ich nicht das Gliick gehabt, einen so vernunstigen,
liebenswurdigen Menschen kennen zu lernen, wie Sie."
Ich siihlte mich beschamt und verbeugte mich stumm mit einem verlegenen Lacheln.
„Mein Name ist Arj ClaaBen," schwatzte das Mannchen weiter; „ich bin ein Holsteiner, aber ich wohne bereits seit langen Iahren in Deutschland. Seit einiger Zeit bin ich in der Nahe von W. ansassig. Ich komme sehr
hausig nach dem »ErbprinzeM. Dars ich vielleicht aus das Vergnugen rechnen, Sie spater hier wieder zu jsehen? Sind Sie aus dieser Gegend?"
Ich verneinte die letzte Frage, hielt es jedoch siir meine Pslicht und Schuldigkeit, mich nun ebensalls vorzustellen.
„Dars ich mir die Frage erlauben, wie alt Sie sind?" sragte mich Herr ClaaBen.
„Zwei und dreiBig Iahre," antwortete ich.
„Ein sehr schones Alter; ich mochte sagen das schonste Alter," — mit scharsem Ausdruck aus das Wort „das". — „Ich werde nun auch bald so alt sein."
Ich sah etwas verwundert aus. Der alte Herr saB vollstandig ruhig und ernsthast da. Als er meinen Blick bemerkte, wurde er jedoch etwas verlegen und sagte: „Ich hoffe, wenn wir uns genauer kennen lernen — was ich
ausrichtig wunsche — Ihnen zu erklaren, was Sie jetzt zu verwundern scheint."
In diesem Augenblick erschien der Kellner mit unserm Abendbrode. Er bediente zuerst Herrn ClaaBen; daraus trat er einen Schritt hinter dessen Stuhl zuriick und, mir vertraulich zublinzelnd und mit einem schlauen Blick
aus meinen Tischgenossen deutend, klopfte er sich mit dem Zeigesinger mehrere Male aus die Stirn.
Ich hatte wol schon bemerkt, daB Herr Arj ClaaBen ein Original zu sein scheine; aber er war jedensalls ein artiger, alter Herr. Ich wollte mich durch die Mimik des Kellners nicht beirren lassen und setzte wahrend der
Mahlzeit die Unterhaltung mit meinem Nachbar ruhig sort.
Er richtete viele Fragen an mich; aber stets in einem so sreundlichen, wohlwollenden Tone, daB ich dieselben gern nnd aussuhrlich beantwortete.
„Ia, ja!" sagte Herr ClaaBen, als ich ihm etwas von einem sernen Welttheile, in dem ich gelebt, erzahlt hatte; „Sie sind ein weitgereister, vielersahrener Mann. Einer wie Sie verirrt sich selten nach dieser kleinen Stadt.
Ich habe noch keinen kennen gelernt. — Was siir wunderbare Dinge Sie gesehen und erlebt haben miissen! Ich konnte Ihnen stundenlang zuhoren. Und bemerken Sie geneigtest, hochverehrter Herr, daB ich jedes
Wortchen, was Sie mir sagen, aus innigster Ueberzeugung glaube."
Ich war etwas piquirt iiber diese AeuBerung. „Ich hoffe, meine Erzahlungen klingen nicht wie Miinchauseniaden," sagte ich trocken.
„MiBverstehen Sie mich nicht, mein werther Herr Nachbar!" unterbrach mich das Mannchen. „Ich spreche schlicht und einsach, und meine Worte sollen nicht ein Titelchen mehr ausdriicken, als sie gerade heraus sagen.
Ich wollte Sie nur daraus ausmerksam machen, daB Sie in mir einen respektvollen Zuhorer gesunden haben, urn Sie dadurch auszusordern, mir noch etwas mehr von Ihren kostbaren Ersahrungen mitzutheilen. Sie konnen
nicht wissen, Sie konnen gar nicht ermessen, wie sehr ich mich stir alles Wunderbare, Neue, das ich wahr weiB, interessire."
Eine kleine Pause trat ein. Dann sragte mich Herr ClaaBen plotzlich: „Wenn Sie einen Wunsch aussprechen dursten, dessen Ersiillung Ihnen von einer gutigen Fee gewahrt werden konnte, was wiirden Sie sich wunschen?
... GroBen Reichthum?"
Ich schuttelte den Kops.
„Die Liebe der Geliebten? ... Ehre und Ruhm? ... Gute Gesundheit? ... Ein hohes Alter?"
„Ohne die Gebrechen des Alters ware das schon etwas recht Wunschenswerthes," meinte ich nachlassig.
„Thuen Sie mir einen Gesallen, verehrter Herr," suhr Herr ClaaBen sehr eisrig sort. „Denken Sie einmal suns Minuten, aber voile suns Minuten dariiber nach, was Sie sich wunschen wiirden! — la? — Wollen Sie mir
diesen Gesallen erweisen? "
Er sah mich wieder so sreundlich lachelnd an, daB ich ihm gern Zustimmung zunickte.
„Ietzt sangen die siins Minuten an," sagte er. Er zog eine schwere goldene Uhr aus der Tasche, legte sie vor sich hin und beugte sich iiber seinen Teller, so daB ich seine Augen nicht mehr sehen konnte, gleichsam als
wolle er vermeiden, mich durch einen Blick in meinen Betrachtungen zu storen.
„Nun? Die siins Minuten siud um. — Was wunschen Sie sich?"
Meine Gedanken waren aus der Fahrte weitergewandert, die sie eingeschlagen hatten, als ich ein hohes Alter ohne die Gebrechen desselben als etwas Wunschenswerthes bezeichnet hatte.
„Ich mochte mir wol wunschen," sagte ich, „daB ich die letzten zwanzig Iahre meines Lebens, von sechszig vis achtzig, — denn so alt beabsichtige ich zu werden — gegen die Iahre von zwanzig bis vierzig vertauschen
und diese also noch einmal durchleben konnte."
Ich blickte verwundert aus. Das Mannchen war wie elektrisirt in die Hohe gesprungen und eilte aus mich zu.
„Ihre Hand, mein Freund! Ihre Hand!" ries er. — „Hat Ihnen Niemand etwas gesagt? Sprechen Sie ausrichtig?"
„Mit wem sollte ich gesprochen haben? Ich bin vor einer Stunde hier angekommen und kenne in ganz W. keine Seele. Was ich sage, ist ganz ausrichtig."
„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen." Herr ClaaBen schien sehr ausgeregt, indem er jetzt sprach: „Kommen Sie aus mein Zimmer; ein behagliches, warmes Zimmer; das beste im ganzen Hause. Mein Diener versteht
wie kein Zweiter, einen guten Punsch zu brauen. Kosten Sie ein Glaschen davon. Ich mochte noch mit Ihnen reden. Es ist soeben els Uhr. Der Zug sahrt erst morgen sriih um zehu. Sie konnen mir eine Stunde schenken,
und haben doch noch Zeit, .gehorig auszuschlasen. — Erweisen Sie mir die Ehre, meine Einladung anzunehmen."
Ich hatte nicht den Muth, diese Bitte abzuschlagen und da ich meine Mahlzeit nun beendet hatte, und Herr ClaaBen mir sagte, die Cigarre wiirde mir aus einem bequemen Sessel in seiner Stube besser schmecken als aus
den harten Stuhlen des Speisesaales, so solgte ich ihm willig und auch etwas neugierig nach seinem Zimmer.
II.
Ein alter Diener, der im Corridor gewartet hatte, offnete die Thiir, als wir uns dem Zimmer des Herrn ClaaBen naherten. Er musterte mich ausmerksam und, so schien es mir wenigstens, mit einem gewissen MiBtrauen.
Sein Herr nahm ihn bei Seite und fliisterte ihm einige Worte in das Ohr. Er hielt ihn dabei vertraulich am Arme sest, mehr als ob er mit einem gleichgestellten Bekannten als einem Untergebenen spreche. Der alte Mann
entsernte sich, ohne ein Wort erwidert zu haben und kehrte uach einer ziemlich langen Weile mit einer dampsenden Bowie und Glasern zuriick. Er stellte diese aus den Tisch, legte ein Paquet Cigarren daneben und blieb
dann, seinen Herrn anblickend, an der Thiire stehen, als erwarte er von diesem Besehle.
„Sie konnen zu Bette gehen," sagte ihm mein Wirth. „Der Herr ist so sreundlich, mir noch etwas Gesellschast zu leisten. Ich bedars Ihrer nicht mehr."
Der Mann sah mich noch einmal mit demselben miBtrauischen Blicke an, mit dem er mich bereits gemustert hatte.
„Ich bin nicht miide," sagte er, „Ich werde in mein Zimmer gehen, und der Herr brauchen mich mir zu rusen, wenn ich spater beim Ausziehen behulslich sein soil."
„Wie Sie wollen, Franz; wie Sie wollen! Aber wenn Sie schlasrig werden sollten, so gehen Sie ruhig zu Bett."
Der Diener entsernte sich, und ich blieb nun mit Herrn ClaaBen wieder allein. Er hatte, ehe der Punsch kam, die bei Tische angesangene Unterredung sortgesetzt und verschiedene Fragen an mich gerichtet. Ich glaubte
jedoch zu bemerken, daB er nur abwartete, vor jeder Stoning gesichert zu sein, um mit mir iiber einen ganz bestimmten Gegenstand, der ihn interessirte, zu sprechen. — Ich hatte mich darin nicht getauscht: kaum hatte
Franz die Thiir geschlossen, so siillte ClaaBen zwei Glaser, stieB mit mir an, nippte an dem Getrank, rausperte sich laut und sprach wie solgt:
„Ich habe Sie gebeten, mir einen Theil Ihres Abends zu schenken. Der Grund, weshalb ich dies gethau, ist — in erster Linie — mein Wunsch, eine Bekanntschast, die mir bereits groBes Vergnugen verschafft hat, soviel
wie moglich zu eultiviren; — und sodann, Ihre Meinung, die Meinung eines weitgereisten, vielersahrenen, vorurtheilssreien Mannes iiber gewisse Fragen zu horen, die siir mich vom allergroBten Interesse sind. — Haben
Sie sich mit Medieiu beschastigt?"
„Nein."
„Mit Chemie, Physik, Magnetismus?"
Ich schuttelte den Kops.
„Glauben Sie an die Moglichkeit direeter Einwirkung der unsichtbaren, der Geissterwelt, aus die Welt, in der wir leben, aus die Menschen?"
Ich hatte von Herrn Arj ClaaBen bereits genug gesehen, um zu begreisen, daB eine schroffe Verneinung dieser Frage ihn eingeschuchtert und wahrscheinlich zum Schweigen gebracht haben wiirde. Da ich nun aber nicht
die geringste Miidigkeit verspiirte und mich in dem behaglichen Zimmer, aus einem bequemen Sessel, hinter einem Glase vortrefflichen Punsches, sehr wohl besand, und ClaaBen's Gesellschast die einzige Zerstreunng war,
aus die ich siir den langen Abend rechnen konnte, so machte ich ernsthaste Miene zu seiner Frage und eitirte Hamlet: „Es gibt mehr Ding' im Himmel und aus Erden, als Euere Schulweisheit sich traumt, Horatio!"
„Sehr gut, sehr richtig," bekraftigte Herr ClaaBen. „Ia, es gibt viele Dinge, von denen niemals Iemand getraumt hat, und die doch wahr sind."
Er trank hastig einen Schluck Punsch und wiederholte hestig, indem er mich dabei sinster ansah, als ob ich ihm widersprochen hatte: „Die doch, die dennoch wahr sind." Daraus versank er in tieses Nachsinnen und nach
einer langen Pause suhr er in dem alten, ruhigen, sreundlichen Tone sort:
„Dars ich Ihre Zeit noch siir ein Stiindchen in Anspruch nehmen? Ich habe selten das Gliick, mit einem Manne wie Sie zusammenzutreffen, und es wiirde mir eine Erleichterung sein, mich einmal wieder iiber Manches,
was ich aus dem Herzen habe, aussprechen zu konnen."
Ich entgegnete, daB ich mit groBem Vergnugen zu seiner Versiigung stande.
„Vielen Dank!" antwortete Herr ClaaBen. Er rausperte sich von Neuem und begann endlich seine Erzahlung,
„Ich bin von sehr reichen Eltern geboren, die mich zartlich liebten und mir in Allem, was ich thun und lassen wollte, ziemlich sreies Spiel lieBen. Meine Iugend war glucklich; viel gelernt habe ich wahrend derselben
jedoch nicht. Meine Eltern hatten die Absicht, mir eine ganz auBerordentlich gute Erziehung zu geben; aber anstatt mich zu dem Zweck in eine ordentliche Schule zu schicken, engagirten sie siir theueres Geld die
verschiedenartigsten Haus- und Stundenlehrer, unter deren nachsichtiger Leitung ich nur sehr langsame Fortschritte machte. Glucklicherweise hatte ich ein vorzugliches GedachtniB; auch war ich nicht arbeitsscheu, und so
brachte ich es denn endlich, im zwei nnd zwanzigsten Iahre, mit Miihe nnd Noth dahinA mein Abiturientenexamen machen und bald daraus eine Universitat beziehen zu konnen. Dort studirte ich zunachst Philosophic und
Geschichte.
Der Zusall wollte, daB ich in einem alten Hause eine Wohnung bezog, in der vor mehr als zweihundert Iahren ein beruhmter Gelehrter gelebt hatte. Sein Name war in groBen Buchstaben unter dem Fenster meines
Arbeitsstubchens angeschrieben, und ich konnte niemals in mein Haus treten, ohne diese Inschrist zu sehen. — Was Wunder! daB mich der Mann zu iuteressiren ansing. Ich besuchte fleiBig die Bibliothek, um dort seine
Lebensgeschichte zu studiren; und bei dieser Gelegenheit sand ich ein altes, vergilbtes Opuseulum, das keiner seiner spateren Biographen benutzt zu haben schien, und in dem gesagt war, daB sich der groBe Gelehrte, gegen
Ende seines Lebens, eisrig mit Astrologie, Alchymie und Magie beschastigt, und die Ergebnisse seiner tiessinnigen Forschungen in einem Manuseript niedergelegt habe. Ueber den Verbleib dieser. Schrist konnte das,
sunszig Iahre nach dem Tode des Gelehrten veroffentlichte, Werk keine genaue Auskunst geben. Es deutete an, daB das Manuseript wahrscheinlich aus der Bibliothek in Ley den oder in Paris zu sinden sein werde.
Ich dachte viel iiber diese Sache nach, und mein Wunsch, das kostbare Schriststuck auszusinden, wurde auBerordentlich groB. Meine Gedanken beschastigten sich dermaBen damit, daB ich sormlich tiessinnig wurde.
Eines Nachts wachte ich plotzlich, ohne vorher einen Traum gehabt zu haben, laut schreiend, mit einem surchtbaren Grausen, aus. Ich sprang, am ganzen Leibe zitternd, aus dem Bette und stiirzte an das Fenster. Da sah
ich deutlich im Mondesschein ein Schattenbild, das zwanzig Schritte vor mir in der Lust schwebte, und in dem ich den groBen Gelehrten, wie er in dem alten Opuseulum abkonterseit war, erkannte. — Das Gebild zeigte
mit der erhobenen Hand nach Osten. Nach einer Minute vielleicht erbleichte es sodann und zersloB und verschwand.
Ich zundete ein Licht an. Ich war so ausgeregt, daB ich wol sah, es wiirde mir unmoglich sein, wieder einzuschlasen. Ich zog mich also schnell an und klopste an die Thiir meines Stnbennachbarn, dem ich einige kleine
Dienste erwiesen hatte und von dem ich wuBte, daB er mir gern gesallig sein wiirde. Uebrigens machte er hausig die Nacht zum Tage und gehorte nicht zu den Leuten, die es iibel nehmen, wenn man sie im Schlase stort.
Er war ein ganz auBergewohnlicher Mensch. Er hieB Dr. Sigismund Soden und gait bei den Studenten siir den gelehrtesten Mann der Stadt. Er sprach und schrieb Griechisch und Lateinisch mit derselben Gelausigkeit wie
seine Muttersprache. Bei den Prosessoren stand er nicht in gutem Ansehen. Wir schrieben dies dem Umstande zu, daB er ihnen schars aus die Finger sah und sich nicht selten in geringschatziger Weise iiber sie auBerte. Er
schien ein kleines Vermogen zu haben; auch ertheilte er, wenn man ihn sehr gut bezahlte, Privatstunden. Ich gehorte zu seinen Schulern. Aber er hatte verschiedene schlechte Gewohnheiten: er trank, spielte, srequentirte
die schlechteste Gesellschast und war immer in Schulden und hausig in Geldverlegenheit.
Ich klopste nur ganz leise an seine Thiir. Er horte mich sosort und ries: „Herein!"
„Was siihrt Sie zu dieser Stunde zu mir?" sragte er. „Es ist zwei Uhr voriiber?"
Er hatte sich in seinem kleinen, unordentlichen Bette in die Hohe gerichtet und sah mich mit seinen grauen, klugen Augen schars an. Sein Aussehen war nicht Vertrauen erweckend, und ich suchte nach einer
ausweichenden Antwort, als er, ehe ich gesprochen hatte, sortsuhr:
„Haben Sie Geister gesehen? Sie sind todtenblaB."
Ich nickte stumm.
„Setzen Sie sich. Erzahlen Sie mir, was Ihnen begegnet ist."
Ich that wie Soden mir geheiBen. Er horte ausmerksam zu. Als ich geendet hatte, sragte er ruhig, als ob ich von etwas ganz Alltaglichem gesprochen habe:
„Was halten Sie von der Geschichte?"
Ich war aus Hohn und Spott gesaBt gewesen. Nun hatte ich den Muth zu bekennen, meine Meinung sei, der alte Gelehrte habe mir die Richtung zeigen wollen, in der ich zu suchen habe, um das Manuseript, an das ich
sortwahrend dachte, zu sinden.
„Das ist auch meine Meinung," sagte Soden. „Aber wenn Sie meinem Rathe solgen wollen, so sprechen Sie mit Niemand von der Erscheinung. Geister konnen Indiseretionen nicht vertragen und bestrasen sie streng."
Ich war uberrascht und ersreut, einen Gesinnungsgenossen, und zwar in dem hellsten Kopse der Universitat, gesunden zu haben und versprach, das, was er mir angerathen habe, wol zu beherzigen.
Soden sagte mir daraus, er werde am nachsten Tage aussuhrlicher mit mir iiber die ganze Angelegenheit sprechen. Dann stand er aus, zog einen alten Lederkosser unter dem Bette hervor, mischte einen Trunk aus
verschiedenen dunkeln Fiolen, die sich darin besanden, lieB mich denselben leeren und sagte, ich solle jetzt nur wieder zu Bette gehen, er biirge mir dasiir, daB ich gut schlasen werde. — Er hatte sich nicht geirrt. Kaum
hatte ich mich wieder niedergelegt, so schlies ich sest ein und erwachte erst am nachsten Morgen zu einer auBergewohnlich spaten Stunde.
Soden holte mich bald daraus ab, um mit ihm zu sruhstucken. Nach der Mahlzeit sorderte er mich zu einer Promenade auBerhalb der Stadt aus, um ungestort mit mir berathen zu konnen, aus welche Weise ich dem
Winke des Geistes solgen konne. Nach langem Hin- und Herreden kamen wir dahin uberein, daB es zunachst gerathen sein wiirde, Nachsorschungen nach dem Mannseript in Ley den anzustellen. Die Schwierigkeit stir mich
war nur, mich dorthin zu begeben, da ich besurchten muBte, daB meine Eltern ihre Zustimmung zu einer nicht zu motivirenden Uebersiedlung nach Leyden verweigern wurden. — Soden hals mir aus dieser Verlegenheit. Er
erbot sich, die Reise stir mich zu machen und die genauesten Nachsorschungen anzustellen. Es ware mir unmoglich gewesen, einen besseren Stellvertreter zu sinden; denn alte Manuseripte suchen und sinden war eine
Speeialitat, aus die Soden sich, wie er mir sagte, ganz besonders geworsen hatte.
Ein paar Monate spater erhielt ich einen etwas beunruhigten Bries von meinem Vater. Er wiinschte zu wissen, was ich mit all' dem Gelde, das er mir schickte, ansange. Ich durste ihm nicht sagen, daB die
Nachsorschungen in Leyden ziemlich kostspielig seien; aber ich versprach, in Zukunst sparsamer zu leben, und schrankte mich denn auch so sehr ein, daB ich, ohne groBe Schulden zu machen, mit meineni Wechsel
meinen Unterhalt bestreiten und gleichzeitig die Arbeiten in Holland sortsetzen lassen konnte.
Um diese Zeit empsing ich einen Bries von Soden, in dem er mir sagte, er habe in Leyden viel Interessantes, aber nicht Das gesunden, was er stir mich suche, und er beabsichtige nun, nach H. zuriickzukehren. Aus
einigen Andeutungen in seinem Briese glaubte ich ersehen zu konnen, daB er vielleicht geneigt sein wiirde, seine Nachsorschungen stir mich in Paris sortzusetzen. Dazu bedurste es aber einer, stir meine damaligen
Verhaltnisse, bedeutenden Summe Geldes; und da ich iiber eine solche nicht versiigen konnte, so beschloB ich, nach meiner Heimat zu reisen, um mir das Geld im Geheimen von meiner Mutter geben zu lassen.
In meinem elterlichen Hause war, wahrend meiner Abwesenheit, eine groBe und traurige Veranderung vorgegangen. Meine gute Mutter war sehr leidend. Mein Vater hatte mir dies, um mich nicht zu beunruhigen,
verschwiegen. Er theilte mir nun mit, daB meine Mutter schwermuthig geworden sei und daB die Doetoreu anempsohlen haben, sie nach einer Heilanstalt stir Geisteskranke zu senden, da zu besurchten sei, daB sie den
Versuch machen werde, sich das Leben zu nehmen.
Ich war sehr niedergeschlagen iiber diese Nachricht. Meine Mutter war mir stets die zartlichste, nachsichtigste Freundin gewesen. Ich begab mich aus ihr Zimmer. Sie empsing mich ruhig, als seien kaum ein paar
Stunden vergangen seitdem wir uns gesehen, und klagte nur dariiber, daB sie Kopsweh habe, schlecht schlase und an Appetitlosigkeit leide. Nach meinem Besinden, stir das sie sriiher angstlich gesorgt hatte, erkundigte sie
sich gar nicht. — Als mein Vater, der mit mir in das Zimmer getreten war, einen Augenblick den Riicken kehrte, winkte sie mir schnell und bedeutsam zu und gab mir durch hestige Geberden zu verstehen, daB sie mich
allein sehen wolle. — Es wurde mir nicht schwer, diesem Wunsche zu willsahren. Ich verlieB das Zimmer mit meinem Vater, sagte ihm ganz offen, die Kranke scheine mit mir sprechen zu wollen und bat ihn, unsere
Unterredung nicht zu storen.
Sobald meine Mutter mich allein zuruckkommen sah, sprang sie in
die Hone und ging mir schnell entgegen. Dann schloB sie mich leidenschastlich in ihre Arme; aber anstatt mich zu kiissen, hauchte sie mir ihren heiBen Athem in das Gesicht. Dann trat sie einen Schritt zuriick und
schiittelte die ausgestreckten Hande iiber meinen Kops, in der Art
der Magnetiseure, wenn diese das ihnen innewohnende Fluidum aus ein
anderes Individunm ubertragen wollen.
Ich wich erschreckt zuriick: „Mutter, was soil das bedeuten?" sragte ich.
„Hsch .. Hsch . . mein Sohn!" fliisterte sie geheimniBvoll . . . „Ich
schenke Dir den Rest meines Lebens ... Es ist mir zur Last, zur Last!
Ich will sterben, bald sterben."
Sie sah bereits wie eine Sterbende aus: entsetzlich abgemagert; das
graue, wiiste Haar die bleiche Stirn, die hohlen Wangen bedeckend. Die
Augen glanzten mit surchtbarer Intensitat aus tiesen, dunkeln Hohlen
hervor.
Sechs Stunden spater, am Abend jenes Tages, lag sie im hestigsten
Fieber, irreredend aus ihrem Lager; und in derselben Nacht hauchte sie
ihren Geist aus. — Sie hatte mir den Rest ihres Lebens geschenkt. Mein armer Vater war untrostlich. Ich durste nicht daran denken,
ihn zu verlassen. Ich blieb drei Monate lang bei ihm. Dann kehrte ich
nach H. zuriick, urn meine aus so traurige Weise unterbrochenen Studien sortzusetzen. — Der Tod meiner Mutter hatte mich in den Besitz eines bedeutenden Vermogens gesetzt, dessen Verwaltung ich selbstredend
meinem Vater uberlassen hatte, aber von dem mir, aus mein Gesuch, eine gewisse Summe uberwiesen worden war, die ich zur Fortsetzung der Nachsorschungen nach dem Manuseript benutzen wollte. — Ich hatte meinem
Vater gesagt, ich gebrauche das Geld zu wissenschastlichen Zwecken; und da es sich nicht um einen groBen Betrag handelte, und mein Vater wenig ausgelegt war, sich, unmittelbar nach dem Tode meiner Mutter, um
geschastliche Fragen zu kiimmern, so wurde mir die verlangte Summe ohne Weiteres ausgehandigt. — Ich schickte einen Theil davon an Soden und bat ihn, stir mich nach Paris zu gehen und keine Miihe zu scheuen, um
das Manuseript zu sinden.
Die ersten Briese, die ich von meinem Abgesandten erhielt, waren nicht sehr ermuthigend. Dann schrieb er, er glaube endlich aus der richtigen Spur zu seiu, und bald daraus konnte er mir mittheilen, er habe das
Manuseript gesunden, habe es gesehen und in Handen gehabt; unglucklicherweise sei es Eigenthum eines direeten Nachkommen des alten Gelehrten, der nm keinen Preis gestatten wolle, daB eine Abschrist davon
genommen werde. Soden schlug mir vor, ich solle selbst nach Paris kommen und versuchen, den Besitzer der Handschrist zu uberreden, meinen Wunschen nachzugeben.
Ich machte mich sosort aus den Weg nach Frankreich. Die Reise war zu der Zeit noch lang und beschwerlich, denn die Eisenbahnverbindung zwischen Paris und Deutschland war noch nicht vollstandig hergestellt.
Soden empsing mich am Bahnhose und siihrte mich nach seiner, im Quartier Latin gelegenen, Wohnung. Wahrend der Fahrt dorthin bestatigte er mir, daB seine Bemuhungen, eine Abschrist der Handschrist zu erhalten,
ersolglos geblieben seien. Er habe nur einen Blick in das Manuseript wersen konnen: es sei in lateinischer Sprache versaBt und enthalte ans 144 groBen Folio-Seiten eine Masse merkwiirdiger Reeepte und zwei langere
Abhandlungen iiber die Zusammensetzung und Zubereitung eines Lebenselixirs. — Die Art und Weise, wie Soden das Manuseript entdeckt hatte, war sehr merkwiirdig; aber da dies mit meiner Geschichte nichts zu thun
hat, so schweige ich dariiber. — Der Zusall hatte ihm geholsen.
Der Besitzer des Manuscripts war ein verarmter italienischer Edelmann. Seine Urahne war die leibliche Tochter des alten Gelehrten gewesen. Das Manuseript war immer in seiner Familie geblieben, und es konnte kein
Zweisel dariiber obwalten, daB dasselbe authentisch sei.
Ich wurde am nachsten Tage von Soden zu dem Besitzer der Handschrist gesuhrt, und sand in einer armlichen Wohnung, ebensalls im Quartier Latin gelegen, einen noch jungen, sehr hoslichen, aber dessen ungeachtet
nicht sonderlich sympathischen Mann, mit dem ich mich ubrigens nur schlecht verstandigen konnte, da ich italienisch gar nicht sprach und auch im Franzosischen nur wenig Uebung besaB,
Der Italiener holte das Manuseript aus eiuem alten, eisernen Kasten. Es war in ein verblichenes, seidenes Tuch eingewickelt. Aus dem ledernen, altmodischen Einband erkannte man undeutlich ein grasliches Wappen, das
in Gold ans denselben gepreBt worden war,
„Das Wappen meiner Familie," sagte der italienische Edelmann.
Ich offnete den Band mit einem andachtigen, geheimniBvollen Schauern. Das Manuseript war wnnderbar erhalten. Die Dinte und das Papier waren zwar vergilbt; aber das schone, alte, seste Papier war so unversehrt, die
Schrist so klar und deutlich, die Seiten so makellos rein, daB man keinen Zweisel dariiber hegen konnte, daB alle Generationen, welche das kostbare Manuseript besessen, es aus das sorgsaltigste ausbewahrt hatten.
Ich blieb drei Wochen in Paris. Ich sah den Italiener hausig, Soden wohnte all' meinen Unterredungen mit ihm bei, um, wenn es nothig wurde, als Dolmetscher behulslich sein zu konnen; aber er mischte sich beinah nie
in meine Unterhaltung mit dem Grasen. Dieser lieB sich endlich uberreden, mir das Mannseript zu verkausen. Er sorderte eine hohe Summe, mehrere Tausend Thaler dasiir; ich seilschte nicht und versprach, dieselbe zu
zahlen.
Ich schrieb meinem Vater, sagte ihm, ohne aus Details einzugehen, daB ich eiu werth voiles Werk zu erwerben wunsche, nnd bat ihn, mir die dazu nothige Summe in Paris anweisen las sen zu wollen. — Mein Vater
schickte mir das Geld ohne Saumen. — Ich iibergab, wie dies verabredet worden war, den Kauspreis an Soden, und dieser brachte mir am selben Abend das Manuseript. — Wenige Tage daraus kehrte ich nach Deutschland
zuriick.
Soden blieb in Paris. Ich wandte mich bald nach meiner Riickkehr nach H. an ihn, um ihn zu bitten, mir bei der Uebersetznng der Handschrist behulslich sein zu wollen. Mein Bries blieb ohne Antwort. — Lange Iahre
nachher horte ich erst wieder von ihm. Er schrieb mir aus Amerika, wohin er ausgewandert war; erzahlte mir, daB er sich verheirathet habe, daB seine Frau kurzlich gestorben sei und daB er nun nach Europa
zuruckzukehren beabsichtige. Er sagte mir, es sei ihm jenseits des Oeeans schlecht gegangen, und er bat mich um ein Darlehen, das ich stir ihn an seinen Schwager, einen Herrn Millner, wenn ich nicht irre, adressiren sollte.
— Ich schickte ihm das Geld, und er zeigte mir den Empsang desselben an. Gleichzeitig theilte er mir mit, daB seine Abreise von Newyork aus einige Zeit hinausgeschoben sei. — Seitdem habe ich nichts wieder von ihm
gehort. Er ist vielleicht gestorben. Wenn er noch lebt, so muB er ein Greis sein."
Herr ClaaBen hatte schnell, ohne anzuhalten gesprochen. Aber von
dem „Stiindchen", stir das er meine Ausmerksamkeit beansprucht hatte,
war die Halste bereits hingegangen, und er schien noch immer an der
Vorrede zu seiner Geschichte zu sein. Ich steckte mir also eine srische
Cigarre an, schenkte mir ein zweites Glas Punsch ein und bereitete mich
daraus vor, die Fortsetzung der Erzahlung zu horen. Ich sah voraus,
daB mich dieselbe noch lange wach halten wiirde. Herr ClaaBen wartete
bis ich wieder ruhig vor ihm saB. Dann suhr er sort:
III.
„Das Manuseript hat den allergroBten EinfluB aus mein ganzes Leben ausgeiibt. — Bald nach meiner Riickkehr nach H. beschloB ich, mich dem Studium desselben ausschlieBlich zu widmen. — Ich verlieB zu dem
Zweck die Universitat und kehrte nach K., meiner Vaterstadt, zuriick. Dort lieB ich mich in meinem elterlichen Hause nieder. Mein Vater, der ein einsames Leben siihrte, war so sroh dariiber, mich sortwahrend in seiner
Nahe zu haben, daB er meine Griinde, weshalb ich meine Universitatsstudieu zu unterbrechen wiinschte, schnell billigte. Ich sagte ihm, ich habe ein merkwiirdiges Manuseript aus dem XVII. Iahrhundert entdeckt und
beabsichtige, dasselbe mit Noten und Commentaren zu veroffentlichen. Die Arbeit, so meinte ich, werde mir mehr Ruhm und Ehre einbringen, als ich durch Vollendung meiner Studien aus der Universitat erreichen konne.
— Mein Vater war damit einverstanden. Eine bequeme Wohnung wurde in dem einen Fliigel des Hauses stir mich eingerichtet, und dort verlebte ich die ruhigsten Iahre meines Lebens.
Die Uebersetzung des Manuscripts gab mir unendlich viel zu schaffen. Zwar war es in elegantem und leicht verstandlichem Latein geschrieben, aber der Sinn einiger Satze blieb mir ost wochenlang verborgen; und ich
verbrachte schlaslose Nachte, um denselben zu ergriinden. — Ich verlor dariiber alles Interesse an der AuBenwelt. Mein Vater war, so zu sagen, der einzige Mensch, den ich sah; nnd auch mit ihm war ich nur wahrend der
Mahlzeiten und der Spaziergange, bei denen ich ihn begleitete, zusammen. — Mein Gesundheitszustand floBte ihm BesorgniB ein. Er erkundigte sich angelegentlich nach dem Gegenstand meiner Studien. Ich sprach ganz
offen mit ihm davon. Er schiittelte unglaubig das Haupt.
Eines Tages iiberraschte er mich in meinem Zimmer. Er war in Gesellschast eines beruhmten Gelehrten, Prosessors an der Universitat von H, Dieser sagte mir, er habe von dem seltenen Manuseript, das in meinem
Besitz sei, sprechen horen und bate um die ErlaubniB, dasselbe in Augenschein nehmen zu diirsen. Ich zeigte es ihm. Er ging damit an das Fenster, zog eine Lupe aus der Tasche und priiste es ausmerksam. Er las auch
einige Seiten darin durch. Dann gab er es mir, ohne ein Wort zu sagen, zuriick und verlieB mit meinem Vater das Zimmer.
Am nachsten Tage zeigte mir dieser an, seine Gesundheit mache es nothwendig, daB er einen groBen Arzt in Berlin eonsultire. Er bat mich, ihn zu begleiten. Ich konnte dies Gesuch nicht abschlagen, obschon es mir
schwer wurde, mich von meinen Studien zu trennen.
Ich begleitete meinen Vater zu dem beruhmten Arzte. Dieser unterhielt sich zunachst mit meinem Vater und verordnete ihm Verschiedenes, vor allem Zerstreunng, eine Reise nach Italien z. B. Daraus wandte er sich an
mich und lieB sich in eine lange Unterredung mit mir ein. Er war ein unangenehmer Mann; er hatte eigenthumliche, schroffe Ansichten, und ich muBte mich iiber Vieles, was er sagte, argern. Ich erinnere mich, daB ich,
trotz des bekiimmerten Gesichtes, das mein Vater dazu machte, sehr hestig wurde. Dies schien Eindruck aus den Arzt zu machen, denn er wurde plotzlich wieder hoslich und sreundlich. Er sand, daB ich angegriffen
aussehe, untersuchte mich ausmerksam und, sich an meinen Vater wendend, sagte er:
„Das Beste, was Sie thun konnen, ist, Ihren Herrn Sohn mit nach Italien zu nehmen. Er bedars der Erholung und Zerstreunng beinah ebenso wie Sie. Aber erlauben Sie ihm nicht, zu arbeiten. Lassen Sie ihn sich viel
Bewegung machen und sich amiisiren."
Damit wurden wir Beide entlassen, und sobald wir in der StraBe angelangt waren, sagte mir mein Vater, er hoffe, daB ich ihn nach Italien begleiten werde. Er sei alt; er konne und wolle nicht allein reisen; er habe keinen
bessern Freund als mich und er rechne aus meine Gesellschast.
Ich durste dagegen Nichts einwenden. Ich nahm mir vor, mein Manuseript mitzunehmen und meine Studien wahrend der Reise sortzusetzen. Aber davon wollte mein Vater Nichts horen. Er verlangte, daB ich mich ihm
ausschlieBlich widmen solle; und ich muBte, obschon mit schwerem Herzen, seinem Gesuche nachgeben.
Unsere Reise war eine angenehme; nur hatte ich, zu Ansang, iiber die Tyrannei meines Vaters zu klagen, der mir nicht die geringste Freiheit schenken wollte und mich zwang, Tag und Nacht in seiner Nahe zu bleiben.
— Dies auderte sich jedoch, als wir in Rom angekommen waren. Mein Vater tras dort mit einigen alten Bekannten zusammen, mit denen er die Zeit angenehm verbrachte, und billigte es vollstandig, daB ich meinerseits
die Gesellschast jiingerer Leute aussuchte, um mich zu zerstreuen.
„Alles, was ich von Dir verlange," sagte er, „ist, daB Du Dich so viel wie moglich amiisirest und jede Arbeit ruhen laBt. Es scheint mir, daB ich kein allzustrenger Vater bin, und daB Du Dich dem, was ich Dir
vorschreibe, wol unterwersen kannst."
Ich that dies und besand mich bei dem Leben, das ich nun siihrte, auch bald recht wohl. Ich hatte bis jetzt nur in Gesellschast von Mannern und Biichern gelebt. Die schonen Frauen und Madchen, mit denen ich in Rom
bekannt wurde, erschienen mir iiberaus liebenswiirdig und aumuthig; und es dauerte nicht lange, so kannte ich kein groBeres Vergniigen, als mit ihnen zusammen zu sein. Wenn ich dann des Abends meinem Vater
berichtete, daB ich den Tag in der angenehmsten Weise verbracht, mit jungen Mannern und Frauen und Madchen geschwarmt, getanzt, gesungen habe, so sagte er: „Das ist recht, mein -Sohn! Fahre sort. Du kannst mir
keine groBere Freude machen — und es thut Dir wohl."
Ich war in der That seit meiner Abreise von K. ein ganz anderer Mensch geworden. Manchmal war ich sormlich iiberrascht von dem Bilde, das mir der Spiegel zuriickwars. Es zeigte das lachende, bluhende Angesicht
eines jungen, sorglosen Mannes, der mit hellen, sreundlichen Augen vertrauend in die Welt hinausblickte. In K. hatte ich hohlaugig und niedergeschlagen ausgesehen. — Meine Gedanken wanderten dann wol nach meinem
heimischen Studirzimmer zuriick und ich dachte an das Manuseript, iiber das ich jahrelang gebriitet hatte, ohne seinen geheimniBvollen Text ganz entzissern zu konnen. Ich sagte mir, daB ich, wenn mein Vater geheilt sei
und wir wieder in dem stillen Hause saBen, meine Arbeiten mit neuer Krast und hossentlich mit besserem Ersolge von Neuem ausnehmen werde, aber daB ich mir einstweilen Alles, was der Vergangenheit angehore, aus
dem Kopse schlagen und nur der Gegenwart leben wolle. Dies wurde mir bald sehr leicht. — Ich verliebte mich namlich."
ClaaBen schwieg und blickte starr vor sich hin; dann leerte er ein voiles Glas; und mit dem Zeigesinger drohend, sagte er, zur Lust sprechend, als sahe er dort eine Erscheinung: „Elende Creatur!" Daraus saB er noch
eine Weile stumm da und dann hob er von Neuem an:
„Meine Geschichte wiirde zu lang werden, wenn ich Ihnen erzahlen wollte, welche Kunstgriffe man anwandte, um mich in die Falle zu locken, in die ich schlieBlich siel. — Ich war reich; und man wuBte es. Ich war
gutmuthig, leichtglaubig — man beutete dies schandlich aus. Ich war sieben und zwanzig Iahre alt und hatte nicht mehr Ersahrung als ein Schuler haben kann, dessen Leben unter der Aussicht und Leitung seiner Eltern und
Lehrer dahingeslossen ist. — Sie hatte bereits ein bewegtes, reiches Leben hinter sich, obgleich sie erst zwei und zwanzig Iahre zahlte. Sie hatte sich als achtzehnjahriges Madchen mit einem alten, vornehmen Manne
verheirathet, dessen Titel und Stellung sie bestochen hatten, und von dem sie getauscht worden war, denn er hatte sich stir reich ausgegeben und besaB nichts. Als er, zwei Jahre nach seiner Verheirathung, starb, lieB er die
junge Wittwe mittellos. Aber sie wuBte sich zu helsen. Sie sand Leute, die ihr Geld borgten: aus ihren groBen Namen, ihre unwiderstehliche Schonheit, ihre Iugend, ihre Klugheit, ihr Vertrauen aus eine reiche Zukunst. —
Ich war wie weiches Wachs in ihrer Hand. Nachdem ich sie sechs Wochen kannte, lebte ich nnr noch stir sie, durch sie; und als sie mir ihre Hand reichte, nm die ich sie aus den Knieen slehentlich gebeten hatte, da glaubte
ich mich der gliicklichste der Sterblichen.
Mein Vater war erstaunt, als ich ihm meine Verlobung mit der Grasin Susanne von S. anzeigte und ihn bat, seine Zustimmung zu meiner Verheirathnng mit ihr zu geben. Er schien zuerst an eine Mystifteation zu
glauben und wollte die Sache gar nicht ernsthast erwagen. Aber als ich ihm sagte: „Vater, wenn Du mich verhinderst, Susanne zu heiratheu, so werde ich vor Gram sterben, oder mich aus Verzweislung urn's Leben
bringen," da sank er seuszend und jammernd aus einen Stuhl und ries ein iiber das andere Mai: „Weshalb habe ich Dich unbewacht gelassen? Oh, ich Ungliicklicher!"
Er versuchte, mich durch zartliche, sreundliche Reden von meinem Vorsatze abzubringen: „Gib die Frau aus," sagte er. „Ars! Thue es Deinem alten Vater zu Liebe. Du machst Dich und mich ungliicklich, wenn Du bei
Deinem Vorhaben behaust."
Aber ich war verstockt. Das Weib hatte mir einen Trank eingegeben, der meine Sinne beriickte. Das Flehen meines Vaters, den ich so innig liebte, riihrte mich nicht mehr, als ware ich von Stein, gewesen.
„Mein Leben und mein Gliick hangen an Susanne," sagte ich. „Trennst Du mich von ihr, so muB ich verderben."
Wochenlang widerstand mein Vater noch; dann, als er sah, wie mich Ausregung und Liebesgram verzehrten, gab er endlich seine Einwilligung. — Der Heirathseontraet wurde iu Rom gezeichnet. Susanne war entriistet
tiber gewisse Clauseln, die mein Vater in demselben ausgenommen hatte, und die es, ihr sowol wie mir, unmoglich machten, iiber mehr als einen geringen Theil der Capitalien, die ich nach dem Ableben meines Vaters zu
erwarten hatte, zu versugen. Sie sah darin den Beweis verletzenden MiBtrauens. Ich bot meine ganze Beredtsamkeit aus, um sie zu beruhigen.
„Was schadet das Alles?" sagte ich. „Mein Vater mag miBtrauisch sein; aber weiBt Du nicht, daB ich Dir mit Leib und Seele ergeben bin?"
Da sah sie mich mit einem ganz eigenen Blick an und dann lachte sie plotzlich und klopste mir aus die Wangen, wie einem Kinde: „Nun ja, Arj," sagte sie; „mag es sein! Ich denke auch, Du und ich, wir werden uns
schon verstandigen."
Bald daraus verheiratheteu wir uns und gleich nach der Hochzeit siihrte ich meine junge schone Frau nach K., in das vaterliche Haus, das sortau ihre Heimat werden sollte."
Als Herr ClaaBen aus diesem Punkt seiner Erzahlung angelangt war, erhob er sich langsam und pochte mit dem gekriimmten Mittelsinger der rechten Hand mehrere Male bedeutsam aus den Tisch. Daraus sah er mich so
sest und schars an, daB mir geradezu unheimlich unter seinem Blick wurde und dann sliisterte er geheimniBvoll:
„Sie hatte mir einen Liebestrank eingegeben . . meinen Vater hat sie getodtet — vergistet. Sie war Meisterin in alien bosen Kunsten."
Ich sah Herrn ClaaBen verwundert an. Er beantwortete meine stumme Frage durch gewichtiges Nicken und Winken. „Ia, ja," sagte er daraus; „das wundert Sie! — Sie war eine Hexe. Ich entdeckte es erst, als es zu spat
war; und Niemand wollte mir glauben. Die schwachkovsigen Narren wahnten, Wunder wie klug zu sein, als sie mich auslachten. — Unglaubigkeit laBt vieles Schlechte ungestrast und erschwert das Vollbringen mancher
guten That! Ich, Arj ClaaBen, weiB ein trauriges Lied davon zu singen."
Daraus setzte er sich wieder nieder und sprach ruhig weiter:
„Sechs Monate, nachdem ich mich verheirathet hatte, starb mein Vater. Es war inmitteu des bittern, nordischen Winters. Ich war trostlos und verschloB mich vier und zwanzig Stunden lang in meinem Zimmer, ohne
Nahrung zu mir zu nehmen, ohne irgend Iemand sehen zu wollen. — Als ich am nachsten Morgen in die Kammer trat, in der die Leiche des Mannes, der mich iiber Alles geliebt hatte, aus dem Todtenbette starr und kalt
ausgestreckt lag, als ich in das schone, ruhige, strenge, abgemagerte Antlitz sah, da ubermannte mich entsetzlicher Iammer und ich weinte und stohnte laut. — Susanne trat in das Zimmer und sagte kalt:
„Du geberdest Dich wie eiu Wahnsinniger. Die Leute lausen aus der StraBe zusammen. VerlaB' diesen Raum."
Ich war in tiesster Seele emport. Ich hatte schon verschiedene Male Grund gehabt, an ihrer Giite zu zweiseln; nun erkannte ich mit GewiBheit, welch' herzloses, boses Wesen sie sein musse, um den Sohn von dem
Todtenbette des Vaters verscheuchen zu wollen. Ich sah sie sinster an. — Sie erbleichte und entsernte sich.
Als ich allein war, trat ich wieder an das Sterbelager meines Vaters. Es that mir weh, ihn so kalt und vereinsamt daliegen zu sehen. Er hatte immer Gesellschast und Warme geliebt, und nun war er so verlassen in der
eisigen Stube. Ich lieB ein groBes Feuer anziinden und dann begab ich mich zu einigen alten Freunden meines Vaters, um sie zu bitten, sich in dem Zimmer, in dem die Leiche lag, zu versammeln. — Sie sahen mich
verwundert an; sie versprachen zu kommen; aber sie erschienen erst im Lause des Nachmittags und blieben nur kurze Zeit. — Der Doetor, der meinen Vater behandelt hatte und mich seit meiner Geburt kannte, nahm mich
bei Seite und sagte mir, ich moge alle MaBregeln, die bei dem BegrabniB zu treffen seien, ihm uberlassen. Er wisse, was zu thun sei und sich schicke; wogegen die Verordnungen, die ich treffen zu wollen scheme,
Aus sehen erregen. Es sei die Pslicht wohlerzogener Leute, dies zu vermeiden, das Andenken Verstorbener durch eine ernste, ruhige Feier zu ehren. — Ich gab diesen Vorstellungen nach.
Nach der Beerdigung meines Vaters zog ich mich ganz von der Welt zuriick. Das VerhaltniB zwischen meiner Frau und mir war ein auBerst peinliches geworden. Ich konnte ihr ihr Benehmen am Todtenbett meines
Vaters nicht verzeihen, und sie schien sich vor mir zu siirchten. Sie vermied, allein mit mir zu sein, ging mir iiberall aus dem Wege und sah mich eigentlich nur in Gegenwart der Diener, wahrend der kurzen Mahlzeiten,
wo sie mir stumm und theilnahmlos gegeniiber saB.
Ich hatte meine alte Wohnung in einem entlegenen Theile des Hauses wieder bezogen und beschastigte mich nun dort von Neuem mit der Uebersetzung meines Manuscripts, das ich wahrend der ersten Monate meiner
Verheirathung und der langen Krankheit meines Vaters ganzlich vernachlassigt hatte. — Vieles von Dem, was mir in dem Werke sriiher unverstandlich gewesen war, wurde mir nun klarer. Ich erkannte, daB der groBe
Geist, der seine gottliche Weisheit vor Hunderten von Iahren in der kostbaren Handschrist, die nun in meinem Besitze war, niedergelegt hatte, nicht gewillt gewesen war, mit gewohnlichen Sterblichen zu verkehren,
sondern, daB der tiese, verborgene Sinn seiner geheimniBvollen Sprache stir Geistesgenossen bestimmt war, die denselben ergrunden, errathen, ja, nicht selten vervollstandigen muBten. — Ich vertieste mich so vollstandig in
dieses edle Studium, daB die AuBenwelt bald jedes Interesse stir mich verlor. Ich vernachlassigte dariiber Vieles, womit sich die Alltagsmenschen beschastigen und will gern zugestehen, daB, der groBen, uneingeweihten
Menge gegeniiber, Manches in meinem Benehmen sonderbar erscheinen muBte.
Eines Tages, als ich wie gewohnlich in meinem Arbeitszimmer mit der Entzifferung des Manuscripts beschastigt war, meldete mir der Diener, daB drei Herren im Wohnzimmer aus mich warteten und mich sosort zu
sprechen wiinschten. Der Eine von ihnen, so sagte mir der Diener, ware der alte Hausarzt.
Ich war verdrieBlich, bei meiner Arbeit gestort zu werden, und gab mir nicht einmal die Miihe, meinen Anzug zu ordnen, um den unerwarteten und unerwunschten Besuch zu empsangen. Die drei Herren kamen mir
hoslich gruBend entgegen. In dem einen erkannte ich den beruhmten Doetor, den mein Vater vor unserer Reise nach Italien eonsultirt hatte; der andere war, wie der Bediente bereits gemeldet, unser alter Hausarzt; den
dritten kannte ich nicht. — Ich blieb miBtrauisch und miBmuthig vor ihnen stehen und sragte kalt, was mir die Ehre dieses Besuches verschaffe. Sie antworteten daraus nicht, sondern singen an, verschiedene, vollstandig
unniitze Fragen an mich zu richten. Ich argerte mich iiber ihr unmotivirtes Eindringen in mein Privatleben und gab «ord und Liid. VI, IN, 3
dies durch meine Antworten deutlich zu erkennen. Aber die Indiseretion der drei Menschen schien eine beabsichtigte zu sein, denn sie suhren, unbekummert um meine iible Laune, sort, mich auszusorschen, mir zu
widersprechen und mich dadurch schlieBlich dermaBen zu reizen, daB ich sagte, ich musse sie ersuchen, mein Haus zu verlassen und wiirde, wenn sie meinem Gesuche nicht ungesaumt Folge leisteten, Gewalt anwenden,
um meine, von ihnen in sonderbarer Weise verkannten, Rechte als Hausherr zur Geltung zu bringen. — Daraus wurden sie wieder hoslich und artig und bald daraus verlieBen sie mich mit der Bitte, ich moge mich
beruhigen, es walte ein MiBverstandniB ob, sie haben durchaus nicht die Absicht gehabt, mich zu beleidigen. — Als sie die Thiir ausmachten, um sich zu entsernen, sah ich Susanne hinter derselben stehen. Sie hatte
gelauscht, um zu ersahren, was zwischen den Leuten und mir vorgehe.
Die Ereignisse der nachsten Tage haben sich in meinem GedachtniB etwas verwischt. Ich muB annehmen, daB der Tod meines Vaters, die anstrengenden Studien, denen ich mich hingegeben hatte, das peinliche
Verhaltnis zwischen mir und meiner Frau endlich — denn ich ahnte damals bereits, daB sie die Morderin meines Vaters sei — meine Nerven erschiittert und mir eine Krankheit, moglicherweise ein Gehirnsieber, zugezogen
hatten. — Ich erinnere mich undeutlich, daB ich eines Tages in einen hestigen Streit mit meiner Frau gerieth, daB sie, um Hiilse schreiend, aus dem Zimmer stiirzte, und daB ich mich plotzlich gegen zwei starke, sremde
Manner zu wehren hatte, die, wie aus dem Boden gewachsen, vor mir standen und mich nach kurzem, wuthendem Kamps, gesesselt, halb ohnmachtig aus mein Bett warsen. Dann erinnere ich mich einer langen, peinlichen
Fahrt in einem verschlossenen Wagen, in Gesellschast der beiden sremden Manner, und endlich der Ankunst in einem stillen, sreundlichen Ort, wo mich ein alter Herr mit wohlwollendem Gesichte empsing, mir die Hand
nahm und sagte: „Nun seien Sie ruhig, mein lieber Herr ClaaBen. Hier wird Sie Niemand mehr kranken und argern." Er siihrte mich daraus in ein einsach und hiibsch moblirtes, reinlich gehaltenes Hauschen, das inmitten
eines groBen Parkes gelegen war und vor dem sich ein gutgehaltener Blumengarten besand. „Sie werden hier allein mit Ihrem Diener wohnen," sagte er; „und ich hoffe, es wird Ihnen an Nichts sehlen und Sie werden sich
iiber Niemand zu beklagen haben. In einer Stunde werde ich Sie zum Essen abholen, denn es wohnen hier noch mehrere Herren und Damen, und wir sinden es alle bequemer und angenehmer, unsere Mahlzeiten zur selben
Stunde und an derselben Tasel einzunehmen."
ClaaBen schwieg eine Weile und rieb sich das Kinn in sichtlicher Verlegenheit. Dann sah er mich schiichtern an, einem Kinde gleich, das einen von ihm begangenen Fehler eingestehen, aber sich zuvor der Nachsicht
seines Zuhorers versichern will; endlich sragte er leise: „Nicht wahr, Sie glauben mir?"
„Ich glaube Ihnen Alles, Herr ClaaBen," antwortete ich mit groBer Bestimmtheit.
„Vielen Dank, mein hochverehrter Herr," sagte er sichtlich beruhigt. „Vielen Dank!" Daraus sprach er, mit einiger Unentschlossenheit zu Ansang, weiter:
„Es war den niedertrachtigen Iutriguen meiner Frau gelungen, mich in ein Irrenhaus sperreu zu lassen. Ich scheue mich nicht, Ihnen dies zu sagen. Meine Meinung, aus sorgsaltigem Studium der Biographien beriihmter
Manner und aus unermudlicher Beobachtung meiner Mitmenschen begriindet, ist, daB Iedermann — verstehen Sie mich — daB Iedermann stir das Irrenhaus reis erklart werden kann, wenn er einen boswilligen und
machtigen Feind besitzt, der sich angelegen sein laBt, alles Eigenthiimliche, Sonderbare in dem Wesen des von ihm Versolgten grell zu beleuchten, das Alltagliche, Gewohnliche in seinen Ansichten, Charakter und Leben in
den Schatten zu stellen, und den Kranken — denn an irgend einer Stelle unseres Geistes sind wir Alle nicht ganz gesund — in dieser salschen, ungiinstigen Beleuchtung zu zeigen. — Ich war nicht vollstandig srei von
Sonderbarkeiten; — Sie werden auch die Ihrigen haben — hatte iiber Manches eigenthiimliche, sogenannte originelle Ansichten; — wie Sie, wie Iedermann, der nicht ein gewohnlicher Dutzendmensch ist; — aber ich
schwore Ihnen, bei Allem, was mir heilig ist, daB ich, nach gewohnlichen Begriffen, bei vollem, klarem Verstande war. Ich glaube, daB mein Benehmen in der Heilanstalt, in die man mich gebracht hatte, den besten
Beweis stir die Richtigkeit meiner Behauptung liesert.
Ich machte mir klar, daB jeder Widerstand gegen den ungerechten Zwang, den man mir auserlegt hatte, meine Lage nur verschlimmern konne. Es gahrte und kochte in meinem Herzen; ich diirstete nach Rache; aber ich
verbarg, was ich empsand. Ich hatte nur einen Zweck im Auge: ich wollte den Direetor der Anstalt uberzeugen, daB ich ein verniinstiger, unschadlicher Mensch sei. — Ich unterhielt mich hausig, lange und ruhig mit ihm.
Ich schame mich nicht, zu bekennen, daB ich heuchelte. Ich muBte es thun, um meine mir boswillig geraubte Freiheit wieder zu erlangen. Ich sagte ihm, daB ich sehr wohl begreise, wie die traurigen Ereignisse der letzten
Zeit mein Gemiith ties erschiittert hatten und daB mein Geist einer besonderen und ausmerksamen Pslege bediirse; er konne daraus rechnen, daB ich mich seinen Vorschristen unbedingt unterwersen werde, da ich mich der
Hoffnung hingebe, daB er meinen Zustand als heilbar erkennen werde und es, erklarlicher Weise, mein innigster Wunsch sei, bald wieder in Freiheit gesetzt zu werden.
Der Direetor gewann nach und nach groBes Vertrauen zu mir. Er sagte, ich sei der siigsamste Kranke, den er in der Anstalt habe nnd er zweisle kaum daran, mich nach einigen Monaten bereits, vollstandig geheilt,
entlassen zu konnen.
Ich war sehr begierig, in Ersahrung zu bringen, wie meine Frau es angesangen habe, um die Autorisation zu erlangen, mich in ein Irrenhans einsperren zu lassen. Ich wuBte sehr wohl, daB eine direete Frage iiber diesen
Gegenstand hochst wahrscheinlich unbeantwortet geblieben sein wiirde, und hiitete mich, eine solche an den Direetor zu richten. Aber ich dars mir, ohne mich zu riihmen, nachsagen, daB ich dem Arzte, der mich behandelte
und der in seiner Speeialitat etwas ganz Ausgezeichnetes war, an allgemeiner Lebensklugheit weit uberlegen war. So gelang es mir denn auch, indem ich mit vieler Geduld und in langen Zwischenraumen anscheinend
unversangliche Fragen stellte, Alles von ihm zu ersahren, was ich zu wissen wiinschte.
Die drei Leute, die mich in meiner Wohnung besucht hatten, waren Aerzte gewesen: zwei von ihnen Speeialisten stir Geisteskranke. Sie waren von meiner Frau zu einer Consultation nach K. eitirt worden und hatten sich
von dieser dermaBen beeinslussen lassen, daB sie meine Entriistung iiber ihr unbesugtes Eindringen in meine Wohnung als ein Symptom von Geisteszerriittung gedeutet hatten. — Meine Frau hatte mit teuslischer Kunst
Alles zusammengestellt, was mich in der Meinung der Aerzte vernichten konnte. Sie hatte erzahlt, daB Wahnsinn in meiner Familie erblich, daB meine Mutter an einer Geisteskrankheit gestorben sei, daB ich aus der
Universitat Hallueiuationen gehabt habe und dort einem notorischen Sch windier in die Hande gesallen sei, der meine kindische, an vollstandige Unzurechnungssahigkeit grenzende Leichtglaubigkeit ausgebeutet habe, um
mir ein von ihm selbst angesertigtes Manuseript zu hohem Preise zu verkausen. Diese Handschrist sei vollstandig werthlos und enthalte Nichts als verdrehte, unsinnige Phrasen und einige Reeepte aus der Kinderzeit der
Chemie, die aus irgend einem Werke des Mittelalters eopirt worden seien. Mein Briiten und Studiren iiber dieses Machwerk deute an, daB es damals bereits in meinem Geiste nicht ganz richtig zugegangen sei. Mein
verstorbener Vater habe dies erkannt und mich zu heilen versucht, indem er mich aus Reisen gesiihrt und mich gezwungen habe, meine Studien auszugeben und mich zu zerstreuen. Niese Kur sei ansanglich von bestem
Ersolg gekront gewesen, und man habe angenommen, daB ich wieder hergestellt sei. Aber bald nach meiner Verheirathung seien neue Symptome meiner Krankheit hervorgetreten. Nach dem Tode meines Vaters habe ich
mich wie ein Wahnsinniger geberdet, und durch die sonderbarsten Anliegen, die ich an verschiedene achtbare Einwohner von K. gestellt, den deutlichsten Beweis geliesert, daB die in meiner Familie erbliche Krankheit nun
auch mich gepackt habe. — Meine Frau habe dies eine Zeit lang mit Ergebung ertragen; sie habe einen Skandal vermeiden wollen, und Mancherlei versucht, um mich zu heilen. Aber ich sei immer bosartiger und
gesahrlicher geworden; sie habe angesangen, mich zu siirchten und sei endlich im Interesse ihrer personlichen Sicherheit genothigt worden, arztliche Hiilse herbeizurusen. — Zu guterletzt ersuhr ich auch, daB die Elende
jetzt mein Vermogen verwalte und in der Hauptstadt lebe. Der Doetor siigte hinzu — um mir eine Freude zu machen, vermuthe ich — meine Frau werde mir einen Bestich abstatten, sobald mein Gemiithszuftand dies
zulassig erscheinen lasse.
Ich horte Alles ruhig mit an und grub es unverwischlich in mein GedachtniB ein. Ich wuBte sehr wohl, daB das bose Weib keinen andern Zweck versolgt hatte, als den, sich in den Besitz meines Vermogens zu setzen;
und ich wiinschte sehnlichst die Stunde herbei, wo ich ihr dasselbe wieder entreiBen und sie dadurch bestrasen konnte.
Eine lange, lange Zeit ging dahin; aber ich wurde nicht ungednldig. Ich hatte in der Anstalt mehrere interessante Bekanntschasten gemacht; man behandelte mich dort sreundlich; ich war gut gepslegt und ersreute mich
vollkommener Rune. Ich sagte mir, daB ich noch jung sei, daB meine Rache warten konne, daB ich keine Ungeduld an den Tag legen diirste und vor alien Dingen bemiiht bleiben mtiBte, den guten Rus, in dem ich bei dem
Direetor der Anstalt stand, ausrecht zu erhalten.
Da, eines Tages, theilte mir der Arzt mit, daB er meiner Frau gestattet habe, mich zu besuchen. Ein hestiges Zittern iibersiel mich bei dieser Nachricht; aber ich sammelte mich schnell und sagte ruhig, es werde mir groBe
Freude machen, meine geliebte Znsanne wieder umarmen zu konnen. Bald daraus trat sie, von dem Direetor begleitet, in mein Zimmer. Bei ihrem Anblick war es mir, als miisse ich vor Zorn vergehen. — Der Gedanke an
alles Schlechte, das sie veriibt, an das namenlose Elend, in das sie mich gestiirzt, verwirrte meine Sinne. Ich sah ein Lacheln aus ihren Lippen, ein Lacheln teuslischen Triumphes, das erreicht zu haben, wonach ihr salsches
Herz gestrebt, als sie mir ihre Hand gereicht hatte. Ich konnte den Anblick nicht ertragen: ich sprang mit einem wilden Satze aus sie zu, packte sie an die Kehle und wurde sie erwiirgt haben, wenn mein Diener, der bei'm
ersten Rus des Doetors herbeigeeilt war, sie mir nicht entrissen und mich gebandigt hatte. — Man trug sie halbtodt aus dem Zimmer. Sobald ich das verhaBte Antlitz nicht mehr sah, wurde ich sosort wieder ruhig.
Dieser Austritt hatte die traurigsten Folgen stir mich. Ich wuBte sehr wohl, was ich gethan hatte. Ich hatte Rache an der elenden Creatur nehmen wollen, die mein ganzes Leben vergistet hatte. In meiner Handlung war
nichts Unverniinstiges, Unsinniges; aber ich machte mir klar, daB der Direetor den Austritt mit meiner boswillig entstellten Vergangenheit in Zusammenhang bringen und mich stir wahnsinnig, tobsiichtig, rasend halten
werde. Ich wuBte, daB ich nun daraus zu verzichten habe, meine Freiheit bald wieder zu erlangen, und Traurigkeit siillte meine Seele.
Der Direetor behandelte mich mehrere Wochen lang mit groBem MiBtrauen. Nachdem ich ihn aber gebeten, mir die Hestigkeit, zu der ich mich hatte hinreiBen lassen, zu verzeihen nnd da ich mir sortwahrend die groBte
Miihe gab, sein Wohlwollen durch Freundlichkeit, Sanstmuth, Ruhe zu gewinnen, so bildeten sich endlich die alten, angenehmen Beziehungen wieder, die vor dem Besuche meiner Frau zwischen ihm und mir bestanden
hatten.
Die Zeit ging einsormig, schnell dahin. Ich gewohnte mich an das Leben, das ich siihrte; ja, wenn ich daran dachte, daB ich auBerhalb des Gesangnisses mit meiner Frau zusammentreffen konnte, und daB ich schwerlich
im Stande sein werde, in ihrer Gegenwart meine Entriistung zu bemustern, so sagte ich mir, daB ich wol nirgends so gut ausgehoben sein konnte als in dem stillen, sreundlichen Hause, in dem ich mich besand und wo
Iedermann mir sreundlich und wohlwollend entgegenkam.
Monate, Iahre schwanden dahin. Die groBen Festtage kamen, gingen, wiederholten sich: Ostern, Psingsten, Weihnachten, Neujahr. Ich blieb immer in derselben Lage, blieb immer derselbe. Die Zeit hatte ausgehort,
Werth stir mich zu haben.
Eines Tages siel mir ein Iournal in die Hande. Das Datum war mit groBen, setten Buchstaben gedruckt, die mir in die Augen sprangen. Ich las: „den 13. Oetober 1847." Es liberties mich eiskalt. Ich war am 13. Oetober
1812 geboren; ich war also siins und dreiBig Iahre alt. — Mein Vater war gestorben, als ich acht und zwanzig Iahre alt war, und bald daraus hatte man mich meiner Freiheit beraubt. Seit sieben Iahren war ich Gesangener!
— Ich ging in mein Zimmer, setzte mich in eine dunkele Ecke, kehrte den Kops gegen die Wand und weinte bitterlich. Sieben voile, schone Iahre hatte man mir gestohlen! Und die Rauberin, das Weib, das meinen Namen
trug, lebte in Freiheit und Freuden, das Geld verprassend, das sie mir entwandt, das sie mit dem Leben meines Vaters, mit meinem ganzen irdischen Gliick erkaust hatte! Unbeschreiblicher Iammer siillte meine Seele und
wochenlang war ich der Verzweislung nahe. Aber nach und nach ging der brennende Schmerz in tiese Wehmuth iiber und endlich sand ich Frieden und Ruhe; — ja, mehr als das: Hoffnung nnd Gliick!
Ich hatte, wie ich Ihnen bereits gesagt, das mir von Soden verkauste Mauuseript jahrelang mit groBtem Bemiihen studirt. Ich griibelte in der Einsamkeit iiber Das, was ich gelesen hatte, nach. — Feder und Dinte standen
zu meiner Versiigung und ich sing an niederzuschreiben, was mir von den Reeepten und Lehren im GedachtniB geblieben war. Mit der Zeit wurde Alles wunderbar klar in meinem Kopse. Iedes Wort der Abhandlungen,
iiber die ich vor Iahren nachgedacht hatte, siel mir wieder ein. In wenigen Tagen war ich im Stande, die Reeepte zur Bereitung des Lebenselixirs niederzuschreiben. Und wahrend ich schrieb, offenbarte sich meinem Geiste
Alles, was mir bis dahin in diesen Texten rathselhast gewesen war,
Sie werden wissen, daB in der groBen Menge der Uneingeweihten die albernsten Ansichten iiber die Zubereitung und Anwendung des Trankes, der dem Menschen Unsterblichkeit verleiht, in Umlaus sind. Ich
beabsichtige nicht, dieselben hier zu widerlegen. Nur einen Hauptpunkt will ich kurz erortern, weil dies zum VerstandniB meiner Geschichte nothwendig ist.
Zwei Sachen sind zu beobachten, um das Lebenselixir mit Nutzen und ungestrast anwenden zu konnen: KenntniB der mannichsachen, seltenen, unter ganz bestimmten, auBerst schwierigen Verhaltnissen zu sammelnden
und zu eombinirenden Krauter und Metalle, welche zur Zubereitung des kostbaren Trankes ersorderlich sind — und sodann absolute Unterwersung, wahrend einer langen Reihe von Iahren, unter einer auBerordentlich
strengen Lebensdiseiplin.
Ich hatte das GeheimniB der Zubereitung des Elixirs endlich erkannt; ich siihlte die Krast in mir, alle Entbehrungen zu ertragen, alien Vorurtheilen zu trotzen, alle Pslichten zu ersiillen, um die Wirkung der Arznei zu
einer segensreichen zu machen. Ich beschloB, meinen Ausenthalt in der Heilanstalt zu benutzen, um mir Unsterblichkeit zu geben. Was kummerten mich sieben, oder zehn, oder zwanzig erbarmliche Iahre, die eine Elende
mir geraubt hatte, wenn sich tausendjahriges Dasein, unermeBlich lang, vor mir ausdehnte!
Der Direetor der Anstalt ertheilte mir willig die ErlaubniB, mich mit chemischen Arbeiten und Versuchen zu beschastigen. Er betrachtete dies als eine harmlose Zerstreunng, die mir, da ich auch im GesangniB iiber
verhaltniBmaBig groBe Geldmittel versiigte, nicht verweigert werden sollte. Er bestand nur daraus, daB mir ein von ihm ernannter Famulus bei meinen Experimenten behiilslich sein sollte. — Ich richtete ein kleines
Laboratorium ein, in dem ich sortan von sriih bis spat fleiBig arbeitete. Gleichzeitig sing ich an, meine Lebensweise nach den Vorschristen zu reguliren, die in dem alten Manuseript niedergelegt und die mir nun erst in
ihrer ganzen Tragweite verstandlich geworden waren.
Mein Geist erweiterte sich mehr und mehr. Allnachtig im Traume erschien mir der groBe Weise, der mich zuerst in die Geheimnisse der Magie eingeweiht hatte und offenbarte mir neue, bis dahin von keinem Sterblichen
ergriindete Schatze seines gottlichen Wissens. „Du hast mir vertraut," sagte er; „herrlicher Lohn soil Dir werden." — Er wurde mir . . . Denn innerhalb der nachsten sechs Monate sand ich, was unsere altesten Vorsahren
dunkel geahnt, aber was vor mir kein Erdensohn entdeckt hatte: Das GeheimniB, nicht nur den Tod nach Belieben sern zu halten — sondern die weit tiesere, schonere, edlere Knnst, das Leben zuriickzuschrauben . . ., sich
allmahlich wieder zu verjiingen."
Arj ClaaBen hatte die letzten Worte mit Begeisterung gesprochen; seine Augen leuchteten.
„Oh! iiber den kostbaren Fund! Er brachte mir Hossnung, Gliick! Nun konnte ich das Elend der Gesangenschast ohne Murren ertragen; wuBte ich doch, daB es mir gestattet sein werde, die Iahre, die ich in der Einsamkeit
vertrauert hatte, wieder ungelebt zu machen. — Die groBe, selige Zusriedenheit, die mein Herz siillte, auBerte sich in meinem ganzen Wesen. Ich wurde der sreundlichste, wohlwollendste Mensch; ich glaube sagen zu
diirsen, ich wurde, im wahren Sinne des Wortes, ein liebenswiirdiger Mensch. Alle, die mich umringten: der Direetor, mein Diener, die Kranken, und darunter viel boswillige, eigensinnige Geschopse, schlossen sich
sreundlich, zutraulich an mich an.
Und so gingen wieder Iahre dahin, viele, lange Iahre. — Der alte Direetor starb. Wir begruben ihn. Ein neuer kam an seine Stelle. Er schenkte mir bald dasselbe Wohlwollen, dessen ich mich unter seinem Vorganger
ersreut hatte; — und eines Tages, im Winter des Iahres 1857, brachte er mir die Kunde von dem Tode meiner Frau. Ich nahm die Nachricht mit vollstandigem Gleichmnth aus und sagte nur: „Gott sei ihr gnadig!" — Aber
nun, da mein boses Genie von der Oberwelt verschwunden war, diirstete mich nach Freiheit.
Ich lieB mich bei dem Direetor anmelden und hatte eine lange Unterredung mit ihm. Ich hatte mich zu derselben sorgsaltig vorbereitet; ich wuBte, daB ich mich verstellen mtiBte, daB ich, der ich alien anderen Menschen
an Weisheit so unendlich iiberlegen war, mir den Anschein zu geben hatte, als wisse ich davon nichts, als halte ich mich im Gegentheil stir ein geistesarmes, geistesschwaches Geschops, Ich that dies. Es war mir ein neuer
Beweis meiner Ueberlegenheit.
„Herr Direetor," sagte ich, „Sie kennen mich nun seit einer langen Reihe von Iahren. Bin ich ein schlechter, bin ich ein gesahrlicher Mensch? Ist es moglich, ein harmloseres Leben zu siihren als das, welches Sie mich
hier leben sehen? — Ich weiB, daB ich vor laugen Iahren, unter dem EinfluB hestiger Schmerzen, leidenschastlichen Zornes, Handlungen begangen habe, welche es im Interesse der Gesellschast und in meinem eigenen
nothwendig machten, mich hierher zu bringen. Aber seitdem sind siebenzehn Iahre dahin gegangen! — Siebenzehn Iahre! — Ich bin nun siins und vierzig Iahre alt. Der schonste Theil meines Lebens ist dahin. Lassen Sie
mich den kurzen Rest desselben noch genieBen; verurtheilen Sie mich nicht zu lebenslanglicher Gesangenschast. Ich habe nicht verdient, so grausam bestrast zu werden. — Das einzige Wesen, dem ich hatte gesahrlich
werden konnen, meine Frau ist todt. Es lebt heute Niemand in der ganzen, groBen Welt, stir den ich andere Gesiihle als Gesiihle des Wohlwollens hege. Geben Sie mich srei, damit ich, im Bereich meiner Kraste, noch
Gutes im Leben thun kann. — Ich bin ein wohlhabender Mann. — Sie haben arme Leute in Ihrer Anstalt. Ich verspreche Ihnen reichliche Hiilse stir dieselben; ich will, daB meine Wohlthatigkeit sich zunachst an meinen
alten Leidensgenossen bethatige; aber ermoglichen Sie mir, in weiteren Kreisen Gutes zu wirken. Ein Wort von Ihnen geniigt, um mir meine Freiheit wiederzugeben. Sprechen Sie dies Wort aus! Seien Sie barmherzig —
gerecht; erklaren Sie mich stir geheilt; oder, wenn Ihr Gewissen Ihnen dies nicht erlaubt, stir unschadlich, harmlos. Ich bin es, Herr Direetor; und Sie wissen es. Haben Sie Erbarmen mit einem armen Manne, der die
schonsten Iahre seines Lebens elend vertrauert und der niemals Boses gewollt hat und nicht schlecht ist."
Die Thranen standen mir in den Augen und der Direetor war ties geriihrt.
„Ich will mein Bestes stir Sie thun," sagte er.
Nach einigen Tagen wurde ich von zwei sremden Herreu besucht. Ich erkannte sosort Aerzte in ihnen und war aus meiner Hut. Sie sragten mich iiber Vieles: iiber meine Studien und Beschastigungen. — Ich gab ihnen
hoslichen Bescheid. Der Eine wollte mich argern, wie sein College dies vor zwanzig Iahren gethan hatte. Ich erkannte seine Absicht und ging nicht in die Falle. „Es ist moglich, daB ich irre," antwortete ich aus seine
hohnischen Bemerkungen iiber meine Arbeiten; „aber mein Irrthum schadet keinem Menschen und macht mich gliicklich."
Bald daraus verlieBen mich die beiden Herren wieder, und acht Tage spater brachte mir der gute Direetor, mit sreudestrahlendem Gesichte, die Nachricht, daB ich srei sei.
„Ich gratulire Ihnen, mein lieber Herr ClaaBen," sagte er, „und ich hoffe und wiinsche ausrichtig, daB Sie Ihres Lebens noch wahrend langer Iahre recht sroh werden mogen. — Sie werden sich gewissen MaBregeln zu
unterwersen haben, die Sie aber in keiner Weise behelligen werden; und ich rathe Ihnen, sich nicht dagegen zu strauben. — Es wird gewiinscht, daB Franz Braun, der Bediente, der seit Iahren zu Ihrer Versiigung gestanden
hat und mit dem Sie, wenn ich nicht irre, stets zusrieden gewesen sind, auch serner in Ihren Diensten bleibe; und ich soli Sie ersuchen, die Verwaltung Ihres Vermogens, das sich wahrend der letzten Iahre noch um ein
Bedeutendes vermehrt hat, einigen achtbaren und tiichtigen Geschastsleuten anzuvertrauen. Sie selbst sind alien Geldangelegenheiten sremd geworden und wiirden nur Sorgen und Noth haben, wenn Sie sich nun plotzlich
um die Administration Ihrer Capitalien bekiimmern sollten. Die Herren, die Ihnen diese Arbeit abnehmen wollen, werden Ihnen so viel Geld, wie Sie nur verniinstigerweise gebrauchen konnen, zur Versiigung stellen. —
Lassen Sie es dabei beruhen, da dies als eine der Bedingungen Ihrer Insreiheitsetzung gewiinscht wird. — Sollten Sie Rath gebrauchen, so wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. Sie haben meine Achtung gewonnen, und
ich werde stets Ihr treuer Freund bleiben."
Ich sagte zu Allem willig: „ja"; wir umarmten uns; und am nachsten Tage verlieB ich, unter den Segenswiinschen der Aerzte, Kranken und Warter, die Anstalt, in der ich siebenzehn Iahre lang gelebt hatte."
„Herr ClaaBen," sagte ich; „es ist sehr spat geworden. Ihre Geschichte interessirt mich wirklich ungemein; aber ich habe morgen eine weite Reise vor mir, und mochte Sie nun um die ErlaubniB bitten, mich zuriickziehen
zu diirsen. Ich komme nicht selten nach W., wenigstens einmal jedes Iahr. Ich werde mir, bei meiner nachsten Anwesenheit hier, das Vergniigen machen, Sie auszusuchen und Sie dann bitten, Ihre Erzahlung beenden zu
wollen."
Ich war ausgestanden und wollte Abschied nehmen; aber ein riihrend trauriger Blick, den ClaaBen aus mich wars, der Blick des Kindes, dem eine erwartete groBe Freude plotzlich entzogen wird, lieB mich zaudern.
„Sie wollen mich verlassen?" sragte er kleinlaut.
„Es ist spat," antwortete ich.
„Ia, es ist spat," wiederholte er zerstreut. Dann seuszte er ties und setzte hinzu: „Ich dars nicht erwarten, daB meine Geschichte Sie interessire. Was ich sage ist unwahrscheinlich. Sie horen mir wahrscheinlich zu wie
Andere vor Ihnen es gethan haben: Sie glauben mir nicht. . ."
„Seien Sie versichert, Herr ClaaBen," unterbrach ich, „daB ich Ihre Ausrichtigkeit nicht einen Augenblick bezweisele."
Er nickte dazu traurig. „Hier ist meine Adresse," sagte er. „Ich wohne in einem Landhause, eine Viertelstunde von hier. Ieder Kutscher kennt den Weg; jedes Kind wird Ihnen die »Villa Iuventa« zeigen. Es soli mich sehr
sreuen, Sie bei mir empsangen zu konnen; aber wenn Ihre Zeit Ihnen nicht erlaubt, mich auszusuchen, so telegraphiren Sie mir einige Worte, und ich komme dann hierher, um Sie zu sehen. Ich schlase beinah ebenso ost
im »Erbprinzen« wie bei mir zu Hause. Es ist ein Bischen einsam in meiner Villa; wogegen ich hier von Zeit zu Zeit das Gliick habe, eine Bekanntschast zu machen. — Seit Iahren habe ich nicht so liebenswiirdige
Gesellschast gesunden wie die Ihrige. Es ist ein wirklicher Schmerz stir mich, derselben so schnell wieder entsagen zu miissen — aber ich dars nicht indiseret sein; ich will Sie nicht zuriickhalten. Aus Wiedersehen! —
Nicht wahr? Aus Wiedersehen!"
Er reichte mir die Hand. Es war etwas so schmerzlich Resignirtes in dem Ton seiner Stimme und in seiner Miene, daB mir der Muth ausging, bei meinem ersten Entschlusse zu beharren. „Ich kann morgen im Wagen
schlasen/' sagte ich mir, „Ich will dem armen Mann den Rest meiner Nacht schenken."
„Herr ClaaBen," bemerkte ich daraus laut; „es ist sehr schmeichelhast stir mich, daB Sie an meiner Gesellschast Gesallen sinden. Ich kann meine Dankbarkeit dasiir nur bezeugen, indem ich Sie nun um die ErlaubniB
bitte, noch einige Zeit bei Ihnen zu bleiben. — Ist Ihnen dies genehm?"
Seine Angen leuchteten aus in Freude. „Ob es mir geuehm ist?" ries er. „Nichts kann mir angenehmer sein, verehrter Freund! — Halten Sie mich nicht stir einen Schwatzer, der den ersten, besten Menschen, den er
antrisft, zum Opser seiner Redseligkeit macht. Nein! - Was mich zu Ihnen hinzieht, was Sie mir als Zuhorer so werthvoll macht, ist das Vertrauen, das Sie mir zu bezeugen die Giite haben. Sie konnen nicht ahnen, wie
unendlich wohlthuend dies stir einen einsamen Mann ist, an dem wahrend eines langen, bewegten Lebens viele Menschen vorubergegangen sind, von denen ihn aber die meisten mit Unglaubigkeit, andere mit Spott und
Hohn, nur wenige, sehr wenige mit einer richtigen Wiirdigung seiner Eigenthumlichkeiten behandelt haben. Ich bitte Sie, mir Ihre Adresse ganz genau ausgeben zu wollen. Sie sollen spater von mir horen. Ich kann Ihnen
vielleicht im Leben noch einmal niitzlich sein."
Ich gab ihm meine Karte, aus der meine Adresse verzeichnet war. Er kniff ein Monoele in das Auge, was dem alten Mann ein eigenthiimlich stutzerhastes Aussehen gab, las die Adresse mit lauter Stimme vor, damit ich
einen etwaigen Irrthum darin eorrigiren mochte, und steckte die Karte sodann in eine elegante Visiteukartentasche. Daraus bot er mir eine srische Cigarre an, bat mich, durch eine sreundliche Handbewegung, meinen alten
Platz einzunehmen, setzte sich mir gegeniiber nieder und suhr in seiner Erzahlung sort.
„Ich begab mich, von meinem treuen Diener begleitet, nach meiner Heimat und bezog dort das Haus, in dem mein Vater und meine Mntter das Zeitliche gesegnet hatten und ich geboren war. Es war seit siebenzehn
Iahren unbewohnt; aber meine verstorbene Frau, die sich aus alles Geschastliche gut verstand, hatte es von einem bejahrten Ehepaar, das schon zu Lebzeiten meiner Eltern in unserm Dienste gestanden hatte, in Stand halten
lassen; und obgleich das Mobiliar nicht wenig gelitten hatte, so sand ich doch mehrere Zimmer gut genug eonservirt, um mich darin, mit Hiilse meines gewandten Dieners, bequem einrichten zu konnen. — Auch mein
Manuseript sand ich wieder, mein geliebtes Manuseript! Es war leider nicht so sorgsam gehiitet worden, wie wahrend der Iahrhunderte, wo die Nachkommen des Versassers es ausbewahrt hatten. Das Papier war noch mehr
vergilbt, die Dinte verblaBt; Motten und Wiirmer hatten die Zeiten durchsressen und stark beschadigt; aber stir Iemand, der es so genau wie ich kannte, war es noch immer leserlich und von nnschatzbarem Werthe.
Meine erste Sorge war, die vorziiglichsten Aussatze und Reeepte mit den Handschristen zu vergleichen, die ich im GesangniB aus dem GedachtniB ausgesetzt hatte. Sonderbarer Weise stimmten sie mit dem Original
nicht so vollkommen uberein, wie ich dies angenommen hatte. Dies beunruhigte mich jedoch nicht. Das, was ich geschrieben hatte, war so zu sagen von dem Versasser des Manuscripts dietirt worden und besaB dieselbe
Autoritat wie der Inhalt des Originals; es war gewissermaBen ein Commentar, eine Vervollstandigung desselben. — Ich richtete mir ein Laboratorium ein, weit vollstandiger als das, was ich sriiher besessen hatte, und
machte mich sodann ohne Saumen an die Zubereitung des von mir entdeckten Verjiingungstrankes. — Ich lebte nun bereits seit suns und vierzig Iahren; zwar siihlte ich noch nichts von den Gebrechen des Alters; aber ich
bemerkte doch, daB mein Korper sowol wie mein Geist die Elastieitat und Frische der Bliithe der Iugend eingebiiBt hatten, und ich wollte je eher je lieber ansangen, wieder jiinger zu werden. — Nach sechsmonatlicher
Arbeit gelang es mir, das unschatzbare Getrank zu bereiten."
Er hielt inne und sah mich argwohnisch an. Ich ruhrte mich nicht.
„Ich wiirde Ihnen gern von dem Elixir schenken" — erklarte er ruhig; „aber Ihnen konnte es nichts niitzen. Mir allein kann es srommen. Eine der Bedingungen, unter denen der Trank mit Ersolg gebraucht werden kann,
ist, daB er von demselben Menschen, der ihn anwenden will, entdeckt und destillirt worden »sei. Ware dies nicht der Fall, so wiirde alle Welt wissen, was ich weiB; — denn ich bin kein Egoist. Ungliicklicher Weise stir die
arme leidende Menschheit kann ich allein Vortheil aus meiner Entdeckung ziehen."
„Ich verstehe," sagte ich.
Er nickte mir sreundlich zu und suhr sort:
„Ich machte aus meiner Beschastigung kein GeheimniB. Das war mir nicht geboten. — Meine Familie war in K. sehr bekannt gewesen; ich sand dort einige entsernte Verwandte, und es bildete sich bald ein Kreis
wohlwollender Freunde um mich. Diesen erzahlte ich bereitwillig, was Sie nun von mir ersahren haben. -A Ich sah wol, daB ich nirgends Glauben sand; aber das kiimmerte mich wenig. Das positive Wissen von dem Dasein
der mir innewohnenden auBerordentlichen Weisheit geniigte mir, um mich gliicklich zu machen.
Am 13. Oetober 1858, nachdem ich meinen 46. Geburtstag geseiert hatte, begann ich meine Kur. Ich bemerkte mit Besriedigung, daB ich mich mit jedem Tage um einen Tag verjiingte; und am 13. Oetober des nachsten
Iahres konnte ich zu meiner unbeschreiblichen Freude meinen 45. Geburtstag seiern.
Iahr aus Iahr schrieb ich sortan von meinem Leben ab. Neue Iugend, neue Krast zogen mit jedem Tage in mein Wesen ein und ersullten mich mit, von Sterblichen nicht zu ahnender, Wonne.
Im Winter des Iahres 1861 machte ich in meiner Vaterstadt die Bekanntschast eines jungen Madchens von siinszehn Iahren. Es war das lieblichste Geschops, das die Einbildung erdenken kann: srisch, heiter, lebenslustig,
bildhubsch und so klug, daB sie bei Vielen stir vorwitzig gait. Sie war die Tochter eines meiner Schulkameraden, und ich kam hausig in das Haus ihrer Eltern. — Sie hatte bis vor Kurzem bei, einer alten kinderlosen Tante
gelebt, von der sie adovtirt worden war. Nach dem Tode dieser Verwandten, die ihr ein kleines Vermogen hinterlassen hatte, war sie in das Haus ihrer Eltern zuriickgekehrt. Ich erkor sie zu meinem Liebling und benutzte
jede Gelegenheit, um ihr eine Freude zu machen. Ich hatte die Genugthunng, zu sehen, daB sie sich dasiir in kindlicher Dankbarkeit und Hingebung an mich anschloB.
Eines Tages, als ich in dem heimischen Wohnzimmer ihrer Eltern neben ihr saB, sagte sie plotzlich:
„Herr ClaaBen, ist es wahr, daB Sie ein Mittel ersunden haben, wieder jung zu werden, und daB Sie damit beschastigt sind, sich wieder jung zu machen?"
„Helene!" ries die Mutter verweisend.
„Lassen Sie das Kind sprechen," sagte ich. Dann wandte ich mich an sie und antwortete aus ihre Frage: „Ia, ich besitze dies Mittel; aber weshalb sragen Sie danach?"
Sie lachelte schelmisch und dann antwortete sie mir: „Ich habe, seitdem ich hier bin, viel iiber meine Zukunst nachgedacht. Ich werde mich natiirlich eines Tages verheirathen. Nun gesallt mir aber von den jungen
Leuten, die ich sehe, Keiner halb so gut wie Sie. — Wie alt sind Sie, Herr ClaaBen?"
„Ich bin vor neun und vierzig Iahren geboren," antwortete ich, „und bin zwei und vierzig Iahre alt."
„Das paBt herrlich," suhr sie sort. „Nun werden Sie noch sieben Iahre jiinger; dann sind Sie suns und dreiBig und ich zwei und zwanzig Iahre alt; und dann nehmen Sie mich zu Ihrer Frau."
„Helene, Helene!" ries die Mutter wieder.
Aber ich stand aus und sagte sehr bestimmt: „Ich bitte ganz gehorsamst, meine verehrte Freundin, Ihre Tochter sprechen zu lassen; es sei denn, daB das, was sie sagt, mit Ihren Wiinschen und Ansichten in Widerspruch
stehe."
Die Dame wurde verlegen und entgegnete: „Helene ist ein unartiges Kind;" aber ich wandte mich nun an das junge Madchen und sragte, ob sie im Ernst gesprochen habe.
Sie blickte lachelnd, etwas scheu, nach ihrer Mutter, und dann antwortete sie mir zutraulich: „Wenn Sie suns und dreiBig Iahre alt sind, und ich zwei und zwanzig bin, dann verheirathen wir uns, Herr ClaaBen. Das ist
abgemacht."
Daraus nahm ich ihre Hand und sagte seierlich: „So betrachte ich Sie als meine Braut." Dann naherte ich mich der Mutter wieder und setzte hinzu: „Mit Ihrer Bewilligung, hochverehrte Freundin." Sie lieB meine Frage
unbeantwortet; aber sie wies meinen Antrag nicht zuriick. Ihre Worte waren: „Sieben Iahre ist eine lange Frist. Wir wollen spater wieder von der Sache reden."
Am nachsten Tage sagte mir Helene: „Mama hat mich gestern ausgescholten. Sie meint, es schicke sich nicht stir ein groBes Madchen wie ich, so zu sprechen, wie ich gethan habe. Wir miissen die Sache vorlausig ruhen
lassen; aber es bleibt bei unserer Verabredung, Herr ClaaBen."
Vier Iahre gingen dahin. Ich sah Helene zur schonsten Iungsrau heranreisen. Sie war neunzehn Iahre alt. Seit einiger Zeit war sie auBerordentlich still und zuriickhaltend geworden. Zwar hatte sie noch immer ein
sreundliches, gutes Lacheln stir mich, wenn sie mich erblickte; aber sie vermied, mit mir allein zu sein; und vertrauliche Unterredungen, die sriiher so hausig zwischen uns gewesen waren, sanden nicht mehr statt.
Was war vorgesallen? Ich zerbrach mir den Kops dariiber und war sehr ungliicklich. — Und da, eines Tages theilte mir Helenens Vater in diirren, kalten Worten mit, als ginge mich die Sache gar nichts an, daB sich
seine Tochter verlobt habe und sich in wenigen Monaten, im nachsten Fruhjahr, verheirathen werde.
Ich stand sprachlos, grenzenlos verwirrt; — aber ich blieb ruhig. Mit keiner Miene, mit keinem Worte verrieth ich, was ich litt.
Ich ging nach Hause und verbarg mich in meinem Zimmer und weinte. — Mein elendes Leben zog vor meiner verdiisterten Seele voriiber: der Tod meiner Eltern, der einzigen Wesen, die mich geliebt; meine knrze,
ungliickliche Ehe; meine lange Gesangenschast. Ich sragte mich, ob es sich der Miihe verlohne, noch einmal jung zu werden, nachdem mein eigenes Leben ZeugniB davon ablegte, wie wenig Freude die Iugend eines
Menschen enthalten kann. Ich war nahe daran zu verzweiseln. War es nicht rathsamer, mir den Tod zu geben, als ein Leben zu sristen, das mir keine Freude mehr versprach? — Giticklicherweise siel mein Blick ans das
Manuseript, das aus dem Arbeitstische lag. Seltsam beredt glanzten mir die alten, verblichenen Buchstaben entgegen. — Die gottliche Weisheit, die sie mich gelehrt hatten, siillte mein Herz wieder mit der Ruhe, der die
Unsterblichen allein sich ersreuen konnen. — Was war der Kummer eines Augenblicks stir ein Wesen, das der Zeit gebieten konnte stir ihn still zu stehen oder gar zuriickzuweichen? Ich lachelte ob der Schwache, die mich
ubermaunt hatte und siihlte mich starker, machtiger, weiser als je zuvor.
Aber meine Heimatsstadt hatte ihren Reiz stir mich verloren. Ich ziirnte Helene nicht; sie war meines Zornes nicht wiirdig; aber ich wollte nicht wieder mit ihr zusammentressen. Drei Tage nachdem ich die Nachricht von
ihrer Verlobung empsangen hatte, verlieB ich K. stir immer."
Herr ClaaBen hielt einen Augenblick inne, wie um sich zu sammeln. Als er bemerkte, daB ich mit miiden Augen nach der Uhr blickte, sagte er:
„Haben Sie nur noch wenige Minuten Geduld: meine Geschichte ist beendet."
Dann sprach er schnell weiter, als siirchte er, meine Ausmerksamkeit moge vor dem SchluB seiner Erzahlung ermatten:
„Seit zwei Iahren lebe ich in groBer Zuriickgezogenheit in der Nahe von W. Ich habe meine Studien ungestort sortsetzen konnen und neue, herrliche Entdeckungen gemacht. In Folge dessen habe ich einen EntschluB
gesaBt, der stir mich von der allergroBten Wichtigkeit ist, — Es ist mir gelungen, den von mir zubereiteten Trank in einer Weise zu eondensiren, der seine Krast verzwanzigsocht. Ich habe ihn in dieser neuen Form noch
nicht anwenden konnen, weil ich, um dies mit Ersolg zu thun, gewisse giinstige Sterneonstellationen abwarten muB. Aber im nachsten Iahre dars ich das starke Getrank, das jeden andern als mich todten wiirde, ungestrast
einnehmen. — Ich werde dies thun . . denn . . meine Absicht ist ..."
Er stand aus, beugte sich zu mir heruber und sagte fliisternd, langsam, jedes Wort bedeutsam betonend:
„Meine Absicht ist, mein Leben in kiirzest moglicher Frist bis zu meiner Geburt zuriickzudrangen."
Er sah mich lange an, und suhr dann mit leiser Stimme traurig sort:
„Ich habe mir klar gemacht, daB meine jetzige Existenz unter alien Verhaltnissen eine elende bleiben werde. Die entsetzlichen Ersahrungen, die ich gemacht, die triiben Erinnerungen, die sich nicht aus meinem Geiste
verscheuchen lassen, wiirden mir, so lange ich den alten Menschen mit mir herumtrage, jede Freude vergisten. Ich kann, so lange ich mein jetziges Leben lebe, nicht ungeschehen machen, daB man mich siebenzehn voile,
lange Iahre im GesangniB hat schmachten lassen; daB ich, wie selten ein Mensch, betrogen, gemiBhandelt worden bin. Alles dies muB aus meinem Dasein herausgenommen werden, wenn ich wieder ruhig und gliicklich
werden soil, und deshalb ..."
Er nahm jetzt wieder den seierlichen Ton an, in dem er mir die Mittheilung gemacht hatte, daB er sein Leben bis aus seine Geburt zuriickzudrangen beabsichtige:
„. . . Deshalb will ich zur Wiege zuriickkehren, um als Neugeborener, oder vielmehr als Wiedergeborener ein neues Leben von Ansang an beginnen zu konnen."
Er richtete sich, nachdem er dies gesagt hatte, empor und sah mich unruhig aiA
„Glauben Sie, daB mir dies gelingen wird?" sragte er. „Oder werden Sie meiner nun auch spotten, wie Andere es gethan haben, die ich, wie Sie, in mein Vertrauen gezogen hatte?"
„Nein, Herr ClaaBen," antwortete ich. „Seien Sie versichert, daB ich Ihrer nicht spotte und niemals spotten werde. Ich wiinsche, daB Ihnen Ihre, in der That hochst eigenthumlichen, Experimente gelingen mogen."
Er war so geriihrt iiber diese Worte, die ich, mit ausrichtigem Mitleiden, ruhig und ernst gesprochen hatte, daB ihm die Thranen in die Augen traten.
„Ich werde Ihnen nie vergessen, daB Sie nicht an mir gezweiselt haben," sagte er. „Sie geben mir neuen Muth. Ich bin Ihr Freund siir Ihr ganzes Leben. Vergessen Sie mich nicht. Ich werde ost an Sie denken."
Ich war nun ebensalls ausgestanden und reichte ihm die Hand zum Abschied. Er nahm sie zwischen seine beiden Hande, driickte sie herzhast und sagte:
„Aus Wiedersehen, mein lieber, werther Freund! Dank siir den mir geschenkten Glauben. Ich wunsche, Ihnen noch einmal beweisen zu konnen, daB ich Ihre Giite anerkenne. Ich hoffe, daB mir dies gelingen wird.
Vergessen Sie meine Adresse nicht: Arj ClaaBen, Villa Iuventa, bei W. — Aus Wiedersehen!"
VI.
Im Lause des nachsten Iahres empsing ich verschiedene, lange, leidlich eonsuse Briese von meinem neuen Freunde. Ich schien durch die Ausmerksamkeit, die ich ihm geschenkt hatte, sein Herz gewonnen zu haben,
denn er versicherte mich ein iiber das andere Mai seiner Dankbarkeit und Freundschast und bat mich in jedem Briese, ich mochte, wenn mein Weg mich nach W. suhren sollte, nicht versehlen, ihm einen, wenn auch nur
kurzen Besuch zu machen. — Ich konnte diesem Wunsche erst im nachsten Iahre, zur Weihnachtszeit Folge leisten.
Ich sand, daB Herr ClaaBen wahrend der vierzehn Monate, wo ich ihn nicht gesehen, sehr gealtert hatte. Da mir das Datum seiner Geburt bekannt war, so konnte ich mit Leichtigkeit ausrechnen, daB er kaum sechszig
Iahre alt sei. Er sah wie ein Achtziger aus: abgemagert, schwach, hulslos — und dies machte einen betrubenden und gleichzeitig auch einen komischen Eindruck, da sein Anzug und ganzes Wesen mit seinem hinsalligen
Korper in grotesker Weise in Widerspruch standen. — Er war wie ein Schuler angezogen. — Etwas Klaglicheres und Lacherlicheres als die dunnen Beinchen, die in Kniehosen und langen bunten Strumpsen staken, kann
man sich kaum vorstellen. Ein breiter, weiter Hemdenkragen, der, blendend weiB, iiber dem Kragen eines kurzen Iackchens gesaltet war, und unter dem er ein buntes, seidenes Halstuch in losem Schifferknoten gebunden
hatte, lieB seinen magern, sehnigen Hals — den Hals eines gerupsten Huhnes — und sein gelbes, verschrumpstes Gesicht grauenhast alt erscheinen.
Er begrtiBte mich mit lautem, kindischem Iubel, versuchte vor mir herzuhupsen, wobei er schwersallig stolperte und, ohne den Beistand des Dieners, der sich ruhig und ausmerksam an seiner Seite hielt, gesallen sein
wiirde, und siihrte mich in sein Wohnzimmer. Es war mit Spielzeug, wie zehnjahrige Knaben es lieben, angesiillt. — Dann begleitete er mich in sein Laboratorium, in dem ich einen jungen, blassen, stillen Mann sand, den
er mir als seinen Famulus vorstellte; und endlich muBte ich ihm in sein Studirzimmer solgen, um das „kostbare" Manuseript, dem er all' seine Weisheit verdankte, in Augenschein zu nehmen. Er streichelte es sanst mit der
Hand, als ware es ein lebendes Wesen, und wies mit dem Finger aus einen Satz, der aus der ersten Seite verzeichnet stand: „Lst 5kl Lopboruiu, sius guo, «Meurnquy opBlktur, est siout LaAittHrius, yui ziue odoraa
s«HittHt." — Das Manuseript sah alt und ehrwurdig genug aus, und, selbst wenn ich beriicksichtigte, daB Herr ClaaBen es nun bereits seit langen Iahren besaB und benutzte, muBte ich gestehen, daB derjenige, der es
versertigt, sich aus Falschung alter Handschristen vortrefflich verstanden hatte.
Als wir uns zu Tische setzten, band der Diener Herrn ClaaBen eine groBe Serviette um den Hals. Sie war wohl angebracht, denn die zitternden Hande des alten Mannes konnten die Speisen nur ungeschickt zum Munde
suhren, und das weiBe Tuch war bald arg befleckt. — Er machte mich mit einer gewissen Besriedigung aus diesen Umstand ausmerksam.
Wahrend der Mahlzeit erzahlte er mir, daB er nun seit drei Monaten den von ihm gebrauten Verjungungstrank in Form des starksten Eztraetes einnehme und bereits, wie ich selbst bemerkt haben werde, mit dieser neuen
Methode die wunderbarsten Resultate erzielt habe.
„Sie werden es kaum glauben," sagte er; „aber ich versichere Sie, daB es mir gelungen ist, mich in den letzten drei Monaten um nah' an suns und zwanzig Iahre zu verjungen. Meine alten Geburtstage solgen jetzt mit
solcher Geschwindigkeit einer aus den andern, daB ich ausgegeben habe, sie zu seiern. Gestern bin ich els Iahre alt geworden. — Gratuliren Sie mir nicht, werther Herr! Sie wiirden mir in wenigen Tagen bereits neue
Gliickwiinsche zu meinem zehnten Geburtstage darzubringen haben. — Aber um Eins mochte ich Sie instandigst bitten: Wollen Sie die Giite haben, eine Einladung zu meinem allerletzten, oder vielmehr allerersten
Geburtstage anzunehmen? . . . Mein Leben wird nunmehr namlich solgenden Verlaus nehmen: ich werde in verhaltniBmaBig kurzer
Nord und Viid. VI, Is. 4
Zeit vom zehnten bis ersten Iahre jung werden. Im letzten, ersten Iahre meines alten Lebens, werde ich natiirlicher Weise alle Eigenthumlichkeiten eines Kindes haben, weder gehen, noch sprechen, noch verstehen konnen.
Ich habe Vorrichtungen getroffen, um den Trank sodann in dermaBen eoneentrirter Form administrirt zu bekommen, daB ich dies besinnungslose Iahr in wenigen Minuten durchfliegen muB. Wahrend dieser kurzen, aber
siir den Philosophen wichtigsten Periode, mochte ich Sie an meiner Seite wissen, um spater, nach meiner Wiedergeburt — denn in demselben Augenblick, wo mein altes Leben aus Nichts redueirt ist, sange ich mein neues
Leben an — aus Ihrem Munde ersahren zu konnen, in welcher Weise die Arzuei, wahrenddem mein Geist schlummerte, gewirkt hat. Ich werde um diese Ausklarung in nicht zu langer Frist bitten, denn ich habe Alles
beriicksichtigt, auch den Umstand, daB ich als yuasi neugeborenes Kind unter gewohnlichen Umstanden jahrelang unsahig sein wiirde, das, was ich von Ihnen zu ersahren wunsche, zu ersassen. — Fur einen Mann, der das
GeheimniB, sich in kurzer Zeit zu verjungen, ersorscht hat, konnte die Kunst, schnell zu altern, nicht schwer zu erlernen sein. Ich habe mir dieselbe ohne Miihe angeeignet, und in meinem Laboratorium besinden sich
verschiedene, sorgsaltigst etiquettirte Fiolen, sammtliche Elixire enthaltend, die mir nach meiner Wiedergeburt, wahrend der Periode kindlicher Unzurechnungssahigkeit, eingegeben werden sollen. — Um der Aussiihrung
meiner Bestimmungen strieten Gehorsam zu sicheru, habe ich ein notariell beglaubigtes Schriststiick ausgesetzt, von dem ich meinem Diener und meinem Famulus KenntniB gegeben habe, und welches einem Ieden von
ihnen die Summe von zehntausend Thalern sichert, die ihnen an dem Tage, an dem ich meinen achtzehnten Wiedergebnrtstag seiere, ausgezahlt werden soli. — Braun und der Famulus sind Leute, die am Gelde hangen, siir
die zehntausend Thaler eine groBe Summe ist; und ich bin deshalb ganz sicher, daB sie den von mir getroffenen Dispositionen getreulich Folge leisten werden. — Aber das ist Alles, was ich von ihnen erwarten dars. Es
sehlt den Leuten die Bildung, das Urtheil, um den nunmehr nahe bevorstehenden Uebergang aus meinem alten in das neue Leben beobachten und mir dariiber seiner Zeit einen wissenschastlichen, zuverlassigen Bericht
erstatten zu konnen. — Ich habe Sie auserkoren, dies zu thun; denn da ich meiner Identitat nicht aus einen Augenblick entsage, so ist es siir mich von groBter Wichtigkeit, spater aus Ihren Mittheilungen ersahren und
wurdigen zu konnen, wie sich mein Korper und Geist wahrend der, in der Geschichte der Menschheit einzig dastehenden Passage aus einem alten in ein neues irdisches Leben verhalten haben. A Nach den Berechnungen,
die ich mit groBter Sorgsalt gemacht und eontrolirt habe, kann ich mit absoluter GewiBheit behaupten, daB ich, genau sechs Monate nach dem AbschluB meines alten Lebens, meinen achtzehnten Wiedergeburtstag seiern
werde. Von diesem Augenblick ab entsage ich dem Alterungstranke, um wahrend einer gewissen Reihe von Iahren ein Alltagsleben zu suhren; aber an diesem Tage mochte ich Sie wiedersehen, um Ihren Bericht iiber die
geheimniBvollste und interessanteste Phase in meinem Dasein empsangen zu konnen. — Verehrter, lieber Freund, der einzige, den ich noch aus der Welt habe, wollen Sie mir versprechen, zu mir zu eilen, wenn ich Ihnen
mittheile, daB ich aus dem Punkte stehe, mit meinem alten Leben abzuschlieBen? "
Er sah mich slehend an. Ich wollte bereits „ja" sagen, ohne in meinem Geiste diesem Versprechen groBe Wichtigkeit beizulegen; aber Arj ClaaBen war, wie er sich selbst geriihmt hatte, ein kluger Mann, der Mittel und
Wege besaB, vieles von dem, was er wiinschte, zu erreichen, und den man nicht leicht tauschen konnte.
„Wenn Sie mir Das, worum ich Sie instandigst bitte, versprechen wollen," suhr er sort, „so miissen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, Ihr Versprechen auch getreulich zu halten. Nur unter dieser Bedingung kann ich den
bevorstehenden groBen Ereignissen ruhig entgegen sehen."
Nun wurde mir die Sache doch etwas bedenklich. — Ich war ein sehr beschaftigter Mann; mein gewohnlicher Wohnsitz war weit von W. entsernt. Ich zauderte, seierlich zu versprechen, Herrn ClaaBen's Rus unbedingt
Folge zu leisten. Er durchschaute, was in meinem Geiste vorging.
„Lieber, werther Freund," sagte er, und seine Stimme hatte etwas unbeschreiblich Ruhrendes, und sein altes, elendes Gesicht einen Ausdruck verzweiselter Hilslosigkeit; „schlagen Sie mir nicht ab, worum ich Sie bitte.
— Wenn Sie wuBten, was ich in diesem Augenblick, was ich seit Monaten leide! Oh! es halt schwer, ein Leben in seinem naturlichen Gange zu hemmen, es zusammenzupressen, zu zwingen sich umzukehren,
zuriickzugehen. Die ganze Natur, alles Menschliche in mir emport sich gegen diesen unerhorten Zwang und kampst mit surchtbarer Gewalt dagegen. Es sriBt und brennt in meinen Eingeweiden, in meinem Herzen, in
meinem Hirn wie hollisches Feuer. Ich leide Unsagliches. Aber sehen Sie: ich klage nicht ... ich kann noch lacheln ... Ich weiB ja, warum ich leide, daB ich mit den Qualen, die ich erdulde, ein neues, schones,
schmerzensreies Leben erkause. — Verbittern Sie mir die letzten Augenblicke meines Daseins im alten Leben nicht noch mehr! Sie konnen mir wahrend derselben gottliche Ruhe geben, wenn Sie mir versprechen, meine
Bitte zu ersullen. Thun Sie es; oh! thun Sie es! Ich will es Ihnen vergelten — oder thun Sie es, ohne Hoffnung aus Belohnung, weil es eine gute, barmherzige Thai ist."
Es war mir unmoglich, diesem Flehen zu widerstehen. „Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr ClaaBen," sagte ich seierlich, „daB ich, sobald Sie mich rusen, zu Ihnen eilen werde."
Daraus ergriff er meine Hand und sagte einsach: „Ich habe mich nicht in Ihnen getauscht. Sie sind mein Freund. Ich danke Ihnen."
Ehe ich die Villa Iuventa verlieB, nahm ich den alten Diener bei Seite.
„Es scheint mir sehr schlecht mit Ihrem Herrn zu gehen," sagte ich. „Er hat mir von einem starken Trank gesprochen, den er selbst zubereitet habe und einnehme. Der Ungliickliche hat sich doch nicht etwa vergiftet?"
Der Diener schuttelte das Haupt und antwortete ruhig: „Nein, er hat sich nicht vergistet; aber es geht in der That schnell zu Ende mit ihm. Das Getrank, das er in seinem Laboratorium braut, ist unschadlich. Der Herr, den
Sie vorhin dort gesehen haben, ist ein gelernter Apotheker, der Herrn ClaaBen anstatt der todtlichen Giste, die er zu destilliren und einzunehmen glaubt, harmlose.Essenzen und Oele gibt, zu denen gewohnlich noch
beruhigende Tropsen gemischt werden, die der Doetor verschrieben hat. Aber seine Kraste sind nun ausgezehrt; sein armes Gehirn, das seit dreiBig Iahren nie geruht, hat sich endlich zu Tode gearbeitet. Ich gebe Herrn
ClaaBen keine vierzehn Tage mehr zu leben. Es thut mir leid um ihn. Ich bin seit nahe an vierzig Iahren Krankenwarter und stehe seit iiber zwanzig Iahren in Herrn ClaaBen's Diensten. Ich habe viel Irrsinnige gesehen: der
bosesten und gesahrlichsten, sowie der harmlosesten Art. Aber unter den vielen Kranken, die ich gekannt und gepflegt habe, ist nicht Einer gewesen, der Herrn ClaaBen an Herzensgiite gleich kam. Seit den langen Iahren,
wo er mir anvertraut ist, habe ich ihn nur ein einziges Mai wild gesehen. Ich hatte es bereits vergessen, wenn er mich nicht von Zeit zu Zeit daran erinnerte; denn er hat ein GedachtniB, wie wenig Menschen in seinem
Alter; und siir viele kleine Dienste, die ich ihm im Lause unseres-langen Zusammenseins habe leisten konnen, ist er mir heute noch so dankbar, als ware ich ihm gestern gesallig gewesen. Ich werde nie einen so guten
Herrn wie ihn wiederbekommen, und es thut mir in tiesster Seele leid, ihn zu verlieren."
Braun mochte wirklich geruhrt sein; aber in seinem versteinerten Gesichte zeigte sich nicht die geringste Bewegung. Der Mann, der sich wahrend seines ganzen Lebens daran gewohnt hatte, Wahnsinn und Elend mit
auBerem Gleichmuth zu betrachten, hatte vielleicht die Faeultat verloren, das, was in ihm vorging, aus seinem Gesichte zeigen zu konnen.
In den ersten Tagen des Monat Ianuar, zwei Wochen ungesahr nachdem ich Herrn ClaaBen meinen Besuch abgestattet hatte, empsing ich, als ich bereits wieder nach meinem gewohnlichen Wohnsitz zuruckgekehrt war,
eine Depesche aus W, die „Franz Braun, Diener des Herrn Arj ClaaBen", unterschrieben war und solgendermaBen lautete:
„Herr ClaaBen verlangt nach Ihnen. Wenn Sie ihn noch lebend sehen wollen, so empsehle ich an, sosort zu kommen."
Ich erinnerte mich des seierlichen Versprechens, das ich dem kranken Manne gegeben hatte, reiste noch am selben Abend nach W. ab, und kam am nachsten Tage, im Lause des Vormittags, dort an.
Braun, dem ich telegraphirt hatte, empsing mich an der Eisenbahn. Die erste Frage, die ich an ihn richtete, war, ob sein Herr noch am Leben sei.
„Er lebt noch," antwortete mir Braun, „aber ich glaube schwerlich, daB er den heutigen Abend noch sehen wird."
„Wie besindet er sich?" sragte ich weiter.
„Die Schmerzen haben seit gestern nachgelassen," war die Antwort. „Er ist ruhiger geworden und bei vollstandiger Besinnung. Er hat wahrend der letzten Stunden ost nach Ihnen gesragt. — Sie haben ein gutes Werk
gethan, zu kommen."
Als ich in das Krankenzimmer trat, in dem die Vorhange niedergelassen waren und ein stilles Halbdunkel herrschte, erblickte ich Herrn ClaaBen, bis zur Unkenntlichkeit abgemagert, aus dem Bette liegend. Sein Kops
war nicht groBer als der eines Kindes; und die dunnen, blut- und sleischlosen Hande glichen denen einer alten, vertrockneten Mumie. — Er offnete die, in dem kleinen Gesichte ubernaturlich groB scheinenden Augen, und
helle Freude erglanzte darin, als er mich erkannte. Er lenkte das Gesprach sosort aus das alte wahnsinnige Thema, das ich nun schon so gut kannte. Es war unheimlich, den Sterbenden immer und immer wieder von seiner
Geburt reden zu horen. Dabei machte er Bemerkungen, iiber die ich gelachelt haben wiirde, wenn der Tod dem Leidensbilde, das ich vor mir sah, nicht bereits seinen unverkennbaren, grausig heiligen Stempel ausgedriickt
hatte.
„Ein ohnmachtiges Kind bin ich, das nur noch lallen kann," sagte er mit diinner, klangloser Stimme.
Er war so schwach, daB er jedes Wort nur mit groBter Anstrengung hervorbringen konnte. — Von Zeit zu Zeit verlieBen ihn auch die letzten Kraste. Dann lag er mit geschlossenen Augen, laut, beklommen athmend da.
Bei jedem Athemzuge glaubte ich, es wiirde der letzte sein und ostmals richtete ich einen angstlich sragenden Blick aus den Diener, der unbeweglich neben mir stand und den Sterbenden beobachtete.
Plotzlich zuckte es schmerzlich iiber das Gesicht des Kranken. Er achzte laut und suhr mit der Hand nach der Brust.
„Wo leiden Sie?" sragte ich, in der Hoffnung, ihm irgend welche Linderung verschaffen zu konnen.
Sein Gehirn blieb bis zum letzten Augenblicke logisch in dem Wahnsinn, von dem es seit Iahren besessen war.
„Die ersten Wehen der Wiedergeburt," stohnte er.
Nach einer schrecklichen Weile wurde er allmahlich ruhig; der Ausdruck des Schmerzes verschwand von seinem Gesichte. Er offnete die tiesen Augen und sah mich sreundlich an.
„Sie sind iiberstanden," fliisterte er.
Dann lag er lange Zeit, sriedlich lachelnd, still da. Daraus horte ich ein unverstandliches Murmeln, das endlich in leise gehauchte, abgebrochene Worte iiberging: — „Nacht. . . Dunkle Nacht.. . Vergessen." — Eine lange,
schwere Pause. — Aus einmal riB er die todtmiiden Augen weit aus und sagte mit sester Stimme: „Und aus der Nacht . . dem Vergessen . . erwache ich zu neuem Leben. Aubsute Deo lux apparedit!"
Es war mir, als wurde ein seiner, seuchter Nebelschleier, hinter dem die harten, eckigen Ziige weicher, sanster erschienen, von einer unsichtbaren Hand iiber das erstarrende Gesicht gezogen; die Augen verloren ihren
Glanz, erloschen; die Lider senkten sich langsam, schlass dariiber. — Der schwache, elende Korper rang noch eine Stunde lang mit dem Tode. Ich sah und siihlte, wie dieser langsam, sicher, unbarmherzig siegte. Die
Hande erkalteten; das Athmen wurde kiirzer, leiser; — es zuckte noch um die Augen, um den Mund; — auch diese Bewegungen wurden seltener, schwacher. Ich wartete mit peinlicher Beklemmung aus ihre Wiederkehr.
Die Pausen wurden immer langer und immer langer... und plotzlich suhr ich erschreckt in die Hohe. Es war mir, als ware ich eingeschlasen, nnd Iemand habe mich unwirsch geweckt. — Arj ClaaBen war todt.
Joseph Victor von Scheffel.
Von
Karl Wartsch.
— Heidelberg. —
Is im Februar des Iahres 1876 Schessels sunszigjahriger Geburtstag geseiert wurde, da muBten sich demjenigen, der davon las oder selbst etwas davon mitmachte, mancherlei Betrachtungen ausdrangen. Es war das erste
Mai, daB ein Dichter bei solchem AnlaB aus solche Weise geehrt wurde. Von selbst sucht das Auge nach Vergleichungspunkten. Das hundertjahrige Iubilaum Goethes war weit davon entsernt, auch nur in den Kreisen der
Gebildeten allgemein geseiert zu werden. Anders stand es mit der Schillerseier im Iahre 1859. Sie war wirklich eine allgemeine und legte beredtes ZeugniB ab von der Liebe, mit weicher das deutsche Volk in alien seinen
Schichten an seinem Lieblingsdichter hangt. Unverkennbar ist es, daB die Begeisterung eine politische Farbung trug. Es war eine Zeit, aus die Deutschland nicht stolz sein dars: eine Periode politischer Schwache, eine Zeit
des Hossens und Hinaussehnens aus diesen Zustanden. DaB damals das Iubelsest des Sangers der Freiheit, der in seinem Tell wie ein letztes VermachtniB das „Seid einig, einig, einig" seinem Volke zugerusen, der Ausdruck
dieser sreiheitlichen Bestrebungen wurde, begreist sich leicht.
Die beiden groBen Dichter, denen diese Feiern galten, weilten nicht mehr unter den Lebenden. Doch ist dem lebenden Goethe auch schon in seiner Vaterstadt eine Huldigung dargebracht worden, aber allerdings erst bei
seinem siebzigsten Geburtstage (1819). Scheffel ist der erste Dichter, dem bei zuriickgelegtem sunszigsten Lebensjahre eine allgemeine Ovation bereitet wurde. Vor allem in seiner engeru Heimat, wo selbst der Landesherr
sich an dem Festeommers betheiligte, aber auch in weiter Feme, in Wien und anderwarts. Auszeichnungen durch Orden, durch die Erhebung in den erblichen Adelsstand, BegruBungen der hervorragendsten Manner
Deutschlands, wie des Fursten Bismarck, verliehen dem Festtage einen glanzenden Schmuck. Festgaben jeder Art stromten dem Dichter zu und sullten alle Raume seiner Wohnung. Es ist vielleicht nicht ohne Interesse,
daran zu erinnern, daB Goethe im Iahre 1809 nicht mehr als zwei Orden besaB; er war Ritter des kaiserlich russischen St. Annenordens und der kaiserlich sranzosischen Ehrenlegion. Und das war Goethe, damals aus der
Hohe seines Ruhms, im sechzigsten Lebensjahre, und zudem seit Iahren Weimarischer Minister. Denkt man an die ordengeschmuckte Brust unserer heutigen dichterischen Beruhmtheiten, so wird das „tsmpor» uiutHutuv"
einem recht lebendig und anschaulich. Bei der Adelsverleihung dars man in der Seele des Dichters selbst mit seinen eigenen Worten sagen:
Wen die Kunst geadelt, dem ist
Solcher Schmuck unnutzes Beiwerk.
Wenige Monate nach Scheffel seierte Anastasius Griin seinen siebzigsten Geburtstag, den letzten, den zu erleben ihm beschieden war. Auch ihm wurden Huldigungen aller Art zu Theil, die iiber Oesterreichs Grenzen
hinaus sich erstreckten.*) Der Grunseier sehlte jedoch, namentlich im Heimatlande des Dichters selbst, nicht der politische Beigeschmack; es gait nicht nur den bedeutenden Dichter zu seiern, sondern auch den politischen
Dichter, den wackeren Kampser stir Freiheit und liberale Ideen aus der Rednerbuhne, wie im Poetenstubchen. Nichts von solcher politischer Farbung bei dem Scheffeljubilaum; hier war es die reine Liebe und Begeisterung
stir den popularen Dichter, die in Tausenden von Zeugnissen sich kundgab.
Einen Dichter, der sich schlichten Sinn bewahrt hat — und wir halten Scheffel stir einen solchen — , den nicht krankhastes Selbstgesiihl iiber sich selbst verblendet, kann und dars bei solchen Auszeichnungen, im
Hinblick aus unsere groBten Dichter, wol das Gesiihl begleichen: Es ist zu viel! Wir andern aber diirsen und sollen uns dessen sreuen, daB nun auch Zeiten gekommen sind, wo der Lebende geehrt wird, wo man den
Ausdruck der Anerkennung nicht erst der Nachwelt und der Saeularseier iiberlaBt. Fragen wir uns, wer die erste Anregung zu einer Scheffelseier gegeben hat, so ist es unzweiselhaft die akademische Iugend, sind es die
studentischen Kreise gewesen, die ihrem langjahrigen Lieblingsdichter ihre Zuneigung bezeugen wollten. Iugendliche Begeisterung und Enthusiasmus aber reiBen hin, gerade weil sie so selbstlos sind, und rasch wurde in
alien Lebensstanden und Kreisen der Wunsch lebendig, an der Feier sich zu betheiligen.
') Die beiden Dichter haben nachher sreundliche GriiBe getauscht. Scheffel schickte Griin die Photographie des Zimmers, in welchem sammlliche Festgeschenke ausgestellt waren, und begleitete die Sendung mit ein paar
Versen, die von Griin mit der gleichen Gabe und poetischer Negleitschrist erwidert winden.
Keiner der lebenden Dichter kann wol eines solchen Einslusses aus die studirende Iugend sich riihmen wie Scheffel. Er hat in den Gesangen der Studenten eine wahrhaste Revolution hervorgebracht. Viele der einst, der
in meiner Studienzeit (um das Iahr 1850) gesungenen Studentenlieder sind vergessen, und hauptsachlich sind es Schesselsche Lieder, die sie verdrangt haben. Sie werden jetzt, in ganz Deutschland, aus alien Universitaten
sicherlich am meisten von alien Studentenliedern gesungen. Aber wie wenige eignen sie sich auch dazu, wie in wenigen ist in ihnen der Geist jugendlich srischen Lebens verkorpert und zum Ausdruck gekommen. Dieser
studentische burschikose Zug gehort zum Charakter der Scheffelschen Muse, und etwas davon ist ihr auch in ihren spateren Tagen geblieben.
Scheffel wurde am 16. Februar 1826 zu Karlsruhe geboren, wo sein Vater Major a. D. und Oberbaurath war. Wenn der Dichter von sich sagt, daB unersiillte Sehnsucht nach der bildenden Kunst und die Oede des
mechanischen Beruss in ihrem Zusammenwirken die Poesie in ihm wach gerusen hatten, so ist das wol nicht wortlich zu nehmen. Die Muse hat ihn sicherlich schon in sriihen Tagen mit liebreichen Augen angeblickt; aber
von seinen sruhesten poetischen Versuchen hat der Dichter mit einer nicht immer zu sindenden Enthaltsamkeit nichts veroffentlicht. Wol aber ist es richtig, daB erst unter dem Druck einer unbesriedigten Existenz seine
innerste Dichternatur sich regte. Er bezog mit siebzehn Iahren (1843) die Universitat. Ohne inneren Trieb, vielmehr durch auBere Verhaltnisse bestimmt, hatte er das Studium der Iurisprudenz ergriffen und konnte ihm auch
in der Folge keinen Reiz abgewinnen. Er studirte zuerst in Miinchen, ging dann nach Heidelberg und von da nach Berlin. Die bedeutenden Rechtslehrer, die er horte, Arndts in Miinchen, Vangerow und Mittermaier in
Heidelberg, Puchta und Homey er in Berlin vermochten ebenso wenig die seine kunstlerische Anlage unbesriedigt lassende Wissenschast ihm lieb zu machen. Er hat selbst in dem in Heidelberg studirenden lung Werner
sein eigenes BekenntniB abgelegt, wenn er diesen solgendermaBen sprechen laBt:
Also ward ich ein Iuriste,
Kauste mir ein groBes TintsaB,
Kauft' mir eine Ledermavpe
Und ein schwere« Orlms 5uriz,
Und saB eisrig in dem Horsaal,
Wo mit mumiengelbem Antlitz
Zamuel Brunnquell, der Prosessor,
Uns das romische Recht doeirte.
Romisch Recht, gedent" ich deiner,
Liegt's wie Alpdruck aus dem Herzen,
Liegt's wie Muhlstein mir im Magen,
Ist der Kops wie bretlvernagelt!
Ein Geflunker muBt' ich horen,
Wie sie einst aus rom'schem Forum
Klaffend mit einander zankten,
Wie Herr Gaius Dies behauptet
Und Herr Ulpianus Ienes,
Wie dann Spatre drein gepsuschet,
Bis der Kaiser Iustinianus,
Er, der Psuscher allergroBter,
All' mit einem FuBtritt heimschickt' .
So trieb er das Berussstudium nur auBerlich und lag daneben seiner Lieblingsbeschastigung mit Kunstgeschichte und Alterthumern ob.' Durch Waagens und Kuglers Vorlesungen in Berlin war er aus die Kunstgeschichte
hingelenkt worden;, das Gebiet der Alterthumer hatte er von der Seite des Rechts betreten, das Studium der deutschen Rechtsgeschichte suhrte aus das der Rechtsalterthumer, er las die alten Volksrechte (die IsAes
d»rbarorum), den Sachsen- und Schwabenspiegel und andere Quellen. Dies war die einzige Seite, von der aus die Rechts studien ihm lieb wurden, aber die Freude an der Poesie im heimischen Rechte wurde verbittert durch
den Ingrimm dariiber, daB dasselbe durch das romische ganz verdrangt worden war. Auch hier diirsen wir getrost lung Werners Anschaunngen mit denen seines Dichters identisieiren:
Sind verdammt wir immerdar, den
GroBen Knochen zu benagen,
Den als Absall ihres Mahles
Uns die Romer hinge worsen?
Soli nicht auch der deutschen Erde
Eignen Rechtes Blum' entsprieBen,
Waldesdustig, schlicht, kein iippig
Wuchernd Schlinggewachs des Sudens?
Durch Emil Ruth in Heidelberg wurde er in das Studium Dantes eingesiihrt und wurde schon in sruhen Iahren ein begeisterter Verehrer des groBen Florentiners. In Berlin hielt er noch als Student einen Vortrag iiber
Dantes politische Schristen.
Wenn die herrliche Naturumgebung an den lachenden, rebenumbluhten Hugeln des Neckars des jungen Dichters Seele ergriff und ihn dichterisch stimmte, so muBte das ungeliebte Fachstudium ihm in um so weniger
liebenswurdigem Lichte erscheinen und der Zwiespalt zwischen innerem und auBerem Berus jene innere Melancholie hervorrusen, die Scheffel selbst als einen Grundzug seiner Dichtung bezeichnet. Zwar vermogen wir
nicht nachzuweisen, daB eine der Schesselschen Poesien oder eins seiner Lieder schon in der Heidelberger Studienzeit entstanden sei; aber doch ist eins seiner schonsten und am meisten gesungenen Lieder, das „Alt
Heidelberg, du Feine", wenn auch erst in Italien geschrieben, gleichwol in Geist und Stimmung in Heidelberg empsangen und spiegelt die Zeit wieder, die der Dichter in der Musenstadt am Neckar als Student verlebte.
1847 schloB er in Heidelberg seine Studien ab und machte im solgenden Iahre daselbst sein juristisches Doetorexamen. Dann trat er in die Praxis. 1850—51 war er Dienstre visor in Sackingen am Oberrhein, wo der Plan zu
seiner ersten groBeren Dichtung in ihm keimte. Nachdem er sich noch ganz kurze Zeit (1852) als Zeeretar am groBherzoglichen Hosgericht zu Bruchsal ausgehalten, war er zu der klaren ErkenntniB gelangt, daB der
gewahlte Berus ihm keine Besriedigung gewahre. Er brach daher rasch und entschieden mit ihm und zog noch im selben Iahre (Mai 1852) gen Suden, in das Land der Kunst, wohin ihn dichterische und kunstlerische
Neigung zog.
Aus italischem Boden, in Sorrent und Capri, wo Schessel mit Paul Heyse in sreundschastlichem Verkehr lebte, entstand (vom Marz bis Mai 1853) seine erste groBere Dichtung, „Der Trompeter von Sackingen, ein Sang
vom Oberrhein" (Stuttgart 1854). Das poetische Vorwort ist Capri 1. Mai 1853 datirt. Die Anregung hatte er aus der Heimat mitgebracht. In der zauberischen Welt des Sudens wird Scheffel nicht wie sein dichterischer
Genosse zu Schopsungen angeregt, die aus italischem Boden spielen, sondern vor ihm steigt wie im Traume der heimische Schwarzwald aus
und die Geschichte
Von dem jungen Spielmann Werner
Und der schonen Margaretho..
An der Beiden Grab am Rheine
Stand ich ost in jungen Tagen.
Allerdings spielt die Geschichte zuletzt nach Italien hinuber und sindet ihre Losung in Rom; das ist aber auch die einzige Einwirkung, im Uebrigen ist es ein rein deutscher Hauch, der Hauch deutscher Vergangenheit, der
uns entgegenweht. Werners „Lieder aus Walschland" zeigen uns den deutschen Iungling, der inmitten der ihn umgebenden Pracht des Sudens sich nach seiner rheinischen Heimat sehnt. Die Fahigkeit, uns aus's Lebendigste
in Fuhlen und Denken einer zuriickliegenden Zeit zu versetzen, bewahrt der Dichter schon im Trompeter aus's glanzendste, hier an einem Stoffe, der sast ganz seine sreie Ersindung ist. In's siebzehnte Iahrhundert, in die
Zeit nach dem dreiBigjahrigen Kriege siihrt uns die Erzahlung hinein, angelehnt an Leben und Lieben eines sahrenden Schulers. Eine bestimmte Iahreszahl wird am Schlusse genannt, 1679, in welches Iahr die gluckliche
Losung verlegt wird. lung Werner der Spielmann, der kecke Typus eines Fahrenden, hat in Heidelberg studirt, aber am Studium des Rechtes keine Freude gesunden, um so groBere am Trompetenblasen und am Zechen
beim groBen Heidelberger FaB in Gesellschast des kursurstlichen Hosnarren Perkeo. In seliger Weinlaune hat er einst aus dem SchloBaltan der Kursiirstin Leonore ein schmachtendes Liebeslied gesungen und wird dasiir
relegirt. Er bezahlt, „was in solchen Fallen etwas ungewohnlich, vorher noch die Schulden alle" und trat dann, die geliebte Trompete aus dem Rucken, seine Wanderung durch die Welt als sahrender Spielmann an. Bei
einem Schwarzwalder Psarrherrn in der Nahe von Sackingen gastlich ausgenommen, wird er von diesem nach Sackingen gewiesen, wo am solgenden Tage des Schutzpatrons St. Fridolin Fest geseiert wird. Beim Festzuge
erblickt er des alten Freiherrn junges Tochterlein, die liebliche Margaretha, und sein Schicksal ist entschieden.
„Den Mann hat's!" so nennt der Sprachbrauch
Dortl»nds jenen Zustand, wo der
Liebe Zauber uns gepackt hat.
Voll Sehnsucht, die rasch entschwundene Geliebte wieder zu sehen, sahrt er, die Trompete blasend, aus dem Rhein und wird von dem Freiherrn gehort, der, ein alter Haudegen und begeisterter Musiksreund, den Austrag
gibt, den rathselhasten Trompetenblaser aussindig zu machen. Werner wird von ihm in Dienst genommen und weiB bald die Gunst des alten Herrn und seines Tochterleins zu erringen. Bei dem Mairitte, den die Sackinger
an den Bergsee im Walde unternehmen, wird ihm zum Dank stir sein liebliches Aeeompagnement des vom Schulmeister versaBten Mailiedes von Margarethens Hand ein Kranz aus's Haupt gedriickt. Bei einem im
Gartenpavillon stattsindenden Coneert, wobei Werner als Kapellmeister mitwirkt, wird ihm von der Angebeteten ein erster Handedruck zu Theil:
's ware moglich, daB der Handdruck
Etwas inhaltsvoll gewesen,
Doch es sehlt an sichrer Kunde,
Gait er nur dem Kunstler, oder
Auch dem jungen Mann als solchem?
Der Unterricht im Trompetenblasen siihrt die jungen Leutchen einander noch naher. Aber in dies idyllische Leben dringt rauh der Bauernaus stand im Hauensteiner Landlein*). In tapserer Vertheidigung des sreihertlichen
Schlosses empsangt Werner eine todtliche Wunde, aber Iugendkrast und Margarethens sorgliche Pflege erhalten ihn am Leben. Den Genesenden begliickt Margarethens GestandniB ihrer Liebe. Das gibt ihm den Muth, als
Werber vor den alten Freiherrn zu treten. Dieser aber weist den Unebenburtigen zuriick. Entschlossen, niemals oder nur als ebenbiirtiger Freier wiederzukehren, nimmt Werner Abschied, zieht in die Welt und kommt nach
Italien, wird Kapellmeister des Papstes und wird als solcher von Margaretha wiederge sehen, die in Harm sich verzehrend und ver
Vergl, dariiber Scheffels Hauensteiner Briese im Morgenblatt 1852.
bluhend, in Begleitung der Furstabtissin zur „Lustveranderung" nach Italien gekommen war. Papst Iulius selbst spielt den Eheproeurator und beseitigt den Standesunterschied dadurch, daB er den burgerlichen Werner
Kirchhos in einen „Nai-ebess (?»nipo 8anto" tibersetzt.
Der Reiz einer kecken, srischen Iugendliebe, die keine Schranken kennt, in voller Lieblichkeit und Naturlichkeit dargestellt, bildet den Mittelpunkt des Gemaldes, in welchem tiesste lyrische Empsindung und ergotzlicher
Humor zu schonstem Bunde sich die Hand reichen. Die austretenden Personen sind von plastischer Scharse der Zeichnung und wirken mit unmittelbarer Naturwahrheit. Die Liebe des jungen Paares ist ohne hohes Pathos,
vielmehr mit leichtem Humor behandelt; aber die tiesste Empsindung, das innigste Verstehen der Regungen des liebenden Herzens blickt uberall durch. Von herrlicher Poesie getragen ist der Exeurs iiber den „ersten suBen
KuB der Liebe", den das erste Menschenpaar sich gab, und der vom Dichter ahnend geschaute „letzte KuB" beim Untergang der Erde. Mit vollendeter Meisterschast weiB der Dichter an solchen Stellen auch die Form zu
handhaben. Er laBt uns aber nicht bei den weichen Empsindungen verweilen, sondern unmittelbar solgen daraus die Betrachtungen des philosophirenden Katers, der den ersten KuB der Liebenden mit angesehen, dem
unbegreislich bleibt
Warum kussen sich die Menschen?
Warum meistens nur die jungern?
Warum diese meist im Fruhling?
und der sich vornimmt, iiber diese Punkte morgen aus des Daches Giebel etwas naher zu meditiren. Mit kostlichem Humor sind der Schwarzwalder Psarrherr und der alte Freiherr gezeichnet, ein Prachtstiick ist der
Freseomaler Fludribus, dem
die besten Kunstideen,
Die er selbst im Busen hegte,
Ein gewisser Rasael schon
Weggenommen,
und die Schilderung der Coneertisten, insbesondere der hagere Unterlehrer, „dem die Musika den Mangel des Gehalts so schon erganzte".
Den Gipsel des Humors bildet unstreitig der Kater Hiddigeigei, die „selbstbewuBte epische Charakterkatze", den „die Mutter aus Angoras Stamme einem wilden PuBta-Kater gehoren", und der daher verachtend aus die
„ordinaren autochthonschen Waldstadtkatzen" von Sackingen herabblickt. Ohne Zweisel ist aus diese Figur der Kater Murr des geistvollen E. T. A. Hossmann von EinsluB gewesen. Hiddigeigeis humoristische
Weltbetrachtung ist nicht ohne ironischen Beigeschmack; so in dem Liede, das die Katerliedersammlung eroffnet:
Eigner Lang ersreut den Biedern,
Denn die Kunst ging langst ins Breite.
Leinen Hausbedars an Liedern
Schafft ein Ieder selbst sich heute.
Drum der Dichtung leichte Schwingen
Strebt' auch ich mir anzueignen;
Wer wagt's, den Berus zum Singen
Einem Kater abzuleugnen?
Und es kommt mich minder theuer
Als zur Buchhandlung zu lausen
Und der Audern matt Geleier
Fein in Goldschnitt einzukausen.
Doch sind solche Ziige selten; der Humor Schessels ist uberwiegend gutmiithig und harmlos.
Heinesche Anklange kommen vereinzelt vor; so da, wo der Dichter verzichtet, die junge Liebe zu besingen.
Ach, ich bin ein Epigone,
Und viel hundert tapsre Manner
Lebten schon vor Agamemnon,
Und ich kenn' den Konig Salom'
Und die schlechten deutscheu Dichter.
Unter den lyrischen Gedichten zeigt nur das Wernersche Lied „Am grunen See von Nenn" mit seinem Schlusse bestimmte Heinesche Anklange.
Auch die politischen Seitenblicke sind vereinzelt, wie denn uberhaupt Schessel kein politisch gearteter Dichter ist. Ich erwahne den beabsichtigten Faustschlag Werners, der „so wie die deutsche Einheit und manch
andres, nur ein schon gedacht Projeet blieb".
Vom Pathos halt sich der Dichter wie absichtlich sern. „Leider," sagt er selbst mit Bezug daraus ironisch in dem poetischen Vorwort von seinem Liede:
Fehlt ihm tragisch hoher Stelzgang,
Fehlt ihm der Tendenz Verpsessrung,
Fehlt ihm auch der amaranthne
Weihrauchdust der srommen Seele
Und die anspruchs voile Blasse.
Nein! mit impertinenter Gesundheit, mit srischen rothen Backen blickt diese Erstlingsdichtung Scheffels in die Welt. Daher macht es einen komischen und zwar beabsichtigt komischen Eindruck, wenn Stellen aus
ernsten und pathetischen Dichtungen halb parodisch eingeslochten werden. So, wenn der alte Psarrherr den jungen Werner in homerischer Weise „nach vollbrachtem Mahle" sragt: „wer er sei, woher der Manner? wo die
Heimat und die Eltern?" Oder wenn der Kater Hiddigeigei des edlen Dulders Odysseus «'A«6» sA xy«cklA sie. anwendend sagt: „Dulde, tapsres Katerherze, das so vieles schon erduldet!" Oder wenn Heetors Abschied von
dem in der Zechstube sitzenden Bauern parodirt wird, den die treue Gattin am RockschoB zupft, um ihn zum Ausbruch zu bewegen, woraus er: „Theures Weib, gebiete deinen Thrauen, heut muB alles hin sein." Oder wenn
der Kater Tiecks Worte nachahmend sagt: „Wenn unsre Katerliebe nachtlich suB in Tonen denkt."
Die in die Dichtung eingestreuten Lieder sind von hoher lyrischer Schonheit und wol die reizendsten Bluthen Scheffelscher Lyrik. Eine ganze Abtheilung (das vierzehnte Stuck, „das Buchlein der Lieder") ist lyrisch, aber
nicht als lyrisches Intermezzo des Dichters, sondern als Stimmungsbilder der in dem Buche austretenden Gestalten, deren Gemuthszustand darin vorgesuhrt wird. So die Lieder Werners, Margarethens, sogar des Katers.
Lieder wie „Lind dustig ist die Maiennacht" oder „Das ist im Leben haBlich eingerichtet", mit dem Resrain „Behiit dich Gott! es war' zu schon gewesen, Behiit dich Gott! es hat nicht sollen sein" sind unvergleichlich
schon. Auch das „Mailied" des Schulmeisters ist von zauberischer Frische und Volksthumlichkeit. Dagegen ist eins der schonsten und popularsten Schesselschen Lieder „Alt Heidelberg, du Feine" an nicht ganz passender
Stelle eingesiigt. lung Werner, vom Psarrer ausgesordert, seine Lebensschicksale zu erzahlen, kann nicht siiglich, nachdem er drei Zeilen gesprochen, gleich ein Preislied aus Heidelberg singen. Dazu ware nach Beendigung
seiner Erzahlung, indem ihn etwa der Psarrer aussorderte, ein Lied anzustimmen, ein passenderer AnlaB gewesen. Eine Abtheilung in dem lyrischen Intermezzo nehmen „die Lieder des stillen Mannes" ein. Dies ist die
einzige etwas mystische Gestalt des Buches. Er und der ganze ihn betreffende Abschnitt von Werners Verirren in die Hohlen des Erdgeistes Meysenhart ist eine Episode, die unbeschadet des Zusammenhanges wegbleiben
durste. Sie ist ersichtlich angeregt durch den Ausenthalt in Capri und durch die blaue Grotte, aus deren Entdeckung durch den sahrenden Spielmann und leichtsertigen Maler (A. Kopisch) angespielt wird.
Wenn einzelne Klange der Lyrik an Heine gemahnten, so noch mehr die Form. In Scheffels Iunglingsjahre sallt das Erscheinen von Heines Atta Troll, der ebensalls in reimlosen achtsilbigen Trochaen versaBt ist. Und
auch die Behandlung dieser Trochaen erinnert an Heine. Dieselbe ungebundene Nonchalanee, scheinbare Nachlassigkeit und doch wohlberechnet. So beim Ausziehen des Netzes:
Aber in sich selbst verwickelt,
Hob sich's langsam, hob sich und war
Leer —
wo das allein am Ansang der Zeile stehende „Leer" in Verbindung mit dem VersschluB „und war" einen sehr gliicklichen Effeet macht. Doch sind im Ganzen die Heineschen Verse kunstvoller. Scheffel selbst sagt von
seinem Liede im Vorworte zur zweiten Auflage:
Ich weiB es wohl, du bist nicht wohl gerathen.
Und dein Trochaenbau steht ostmals schies.
Aber er hat sich mit Recht gehutet, an dem aus einem GuB entworsenen Gedichte spater in anderer Stimmung zu andern, so leicht das im einzelnen Falle auch gewesen ware. Einige aussallende Wortbetonungen machen
sich nicht gut; so wenn Montsaueon aus der mittleren Silbe betont wird.
Der Ersolg des Trompeters war ein erstaunlicher. Zwar die zweite Auslage erschien, von einem neuen poetischen Vorwort begleitet, erst siins Iahre nach der ersten (1858). Auch die dritte (1862) und die vierte (1864)
bekamen uoch besondere poetische Vorreden aus den Weg mit; von da an aber drangten sich die Auslagen Schlag aus Schlag, so daB bei des Dichters Iubelseier (1876) die sunszigste Auslage erscheinen konnte — in der
That ein Ersolg, dessen wenige deutsche Biicher sich ruhmen dursen.
Nachdem Scheffel (1853) aus Italien zuriickgekehrt war, lebte er zunachst in Heidelberg. Hier that sich in einem gleichgestimmten Freundeskreise dem von allem Zwang und Druck des Lebens besreiten Dichter eine
erneuerte akademische Zeit aus. Unter dem Namen „der Engere" bestand oder bildete sich ein geselliger Kreis, der jeden Mittwoch Abend zusammenkam, oder, wie der Dichter sagt
Den Mittwoch in den Donnerstag zu langern
Bei goldnem Rheinwein oft beslissen war.
Ansanglich der Adler, spater das Museum war der Vereinigungsort. Theilnehmer waren auBer Scheffel der Ziegelhauser Psarrer Schmetzer, der Philologe Iulius Braun, der Geschichtschreiber und Publicist von Rochau,
Rath Mays, Kunsthandler Meder, Notar Sachs, Hauptmann a. D. Pseiffer u. a. Die Seele des ganzen Kreises aber war Ludwig HauBer, nach dessen Tode (1867) der Kreis allmahlich zersiel — er ist der in dem poetischen
Vorwort zum Gaudeamus erwahnte „Meister, dessen Tod wir beklagen"; der „mit kundiger Hand den Maientrank gebraut". Personlich am nachsten stand Scheffel wol der Psarrer Schmetzer, mit dem er auBer im „Engern"
auch im Hollander Hos hausig zusammen kam.
Diese Zeit war stir Scheffel eine liederreiche, und wie das echte Lied, das Volkslied, gleich mit der Melodie geboren wird, so waren auch diese jetzt entstandenen Lieder gleich von vornherein nicht zum Lesen, sondern
zum Singen bestimmt. Sie wurden von Psarrer Schmetzer bekannten Studentenmelodien angepaBt und von ihm selbst, der im Vortragen Scheffelscher Lieder eine wahre Meisterschast besaB und, ein guter Siebziger, noch
besitzt, im „Engern" vorgetragen. Die Schmetzerschen Compositionen sind, obgleich sich nachher auch Meister vom Fach, wie Lachner, an denselben Liedern versucht haben, doch die popularsten geblieben. Die Frische
und Sangbarkeit, die Naturwuchsigkeit und Originalitat dieser Schesselschen Lieder verbreitete sie allmahlich in immer weiteren Kreisen, vor allem in den studentischen. Von Heidelberg wurden sie, lange bevor sie als
Sammlung gedruckt allgemein zuganglich wurden, mundlich und in Abschristen nach den andern deutscheu Universitaten getragen und mancher Musensohn hat sie gesungen, ohne des Dichters "Namen zu kennen — auch
dies das Schicksal echter Volkslieder, deren Dichter in den Hintergrund tritt und mit seinem Namen meist verschwindet. Erst 1867 '(mit der Iahreszahl 1868 aus dem Titel) erschienen sie als Sammlung unter dem Titel
„Gaudeamus, Lieder aus dem Engeren und Weiteren"; jetzt (1877) liegt bereits die 26. Auslage vor. Die erste Abtheilung dieser Lieder, „Naturwissenschastlich" betitelt, verdankt ihr Entstehen indireet ebensalls dem Psarrer
Schmetzer. Dieser hielt im hollandischen Hose populare naturwissenschastliche Vortrage. Daher die geologischen Stoffe, Stoffe der Urwelt, die hier mit ergotzlicher Laune behandelt sind. Die Komik liegt in dem
Hineintragen moderner Verhaltnisse und Empsindungen in eine urweltliche Zeit. So, wenn im Ichthyosaurus von betrunkenen und verliebten Pterodaktylen und Iguanodons die Rede ist; so im „Basalt", wo ein geologischer
Romeo sich in die Molasse verliebt hat. In der zweiten Abtheilung „Culturgeschichtlich" sind des Dichters eigene Alterthumsstudien aus den verschiedensten Gebieten verwerthet; er „hat selber den Moder durch wiihlt und
bei den gesundenen Dingen sich stolz als Culturmensch gesiihlt". Auch hier liegt die Komik wesentlich in dem Gegensatz vergangener, zum Theil uralter Zustande und hineingetragener moderner Beziehungen und
Empsindungen — so wenn der „Psahlmann" von Borsengewinn in Papieren ie. redet; so wirkt im „Pumpus von Perusia" zwerchsellerschutterud das MiBverhaltniB zwischen der Feierlichkeit der Togadraperie und des
antiken Trimeters gegen die banale Idee des Anpumpens, welche durch Pumpus in die Welt gekommen. Tresslich ist der Bankelsangerton in der „Teutoburger Schlacht" getroffen, trefflich auch die groteske Parodie des
Hildebrandliedes; die Lieder der sahrenden Schuler :e. Zu den eulturgeschichtlichen Liedern gehort seinem Inhalt nach auch das stir die Heidelberger Philologenversammlung (1865) gedichtete Festlied vom Heidelberger
Fasse, das ein culturgeschichtliches Bild des Trinkens und der TrinkgesaBe bei den verschiedenen Volkern in heiterstem Tone gibt. DaB das Trinken in diesen Liedern eine Hauptrolle spielt, wird, wer bedenkt, daB „der
tteuius loei Heidelbergs seucht ist", nicht besremdlich sinden. Den Gipselpunkt der Trinklieder bildet der Cyelus vom Rodensteiner, in welchem der Dichter alte volksthiimliche Traditionen von der wilden Iagd zu
trefflichen, echt
Nori> und Siid. VI, 16 5
volksmaBigen Zechliedern benutzt hat. Sie suhren uns die ganze wilde Zechlust des ausgehenden Mittelalters in lebendigster und anschaulichster Weise vor und sind nach meinem Bediinken das Vollendetste in der ganzen
Sammlung,
Wie diese Lieder durch ihre loealen Beziehungen und Anspielungen aus Heidelberg hinweisen — die Wirthshauser zum „Hirschen" und zum „Waldhorn"; auch das Lied „Der Knapp" mit dem Resrain „Wo steckt mein
treuer Knapp" enthalt in dem Namen Knapp eine personliche Beziehung — so finden sich solche anch in den ubrigen Abtheilungen, am meisten natiirlich in der „Heidelbergisch" betitelten. Ich erinnere nur an den „Faulen
Pelz", ein bekanntes Heidelberger Kneiploeal, an den Zwerg „Perkeii", an den „trockenen Kenner und Deuter des romischen Rechts", an den „weitumgereisten Philologus" (I. Braun), an „Nummer acht" im Hollander Hos,
wo die srohlichen Ueberkneiper ost zusammen waren und nachtigten. Selbst dem Hutmacher, der des Dichters Hut geliesert, ist in dem „Sohn Irions", dem Hute, den er aus dem Sorrentiner Marktschiss verliert, ein
Denkmal gesetzt.
Schon im Trompeter sanden wir Citate alterer Dichtungen zu komischer Wirkung benutzt. Das Gleiche begegnet in den Liedern des Gaudeamus und mit gleichem Effeete. So wenn in dem einen Urweltsliede ein
bekanntes Stndentenlied in den Worten „Was soli ans dem Lias noch werden?" parodirt wird; wenn der Rodensteiner an seinen Stabstrompeter Hans Brenning die Worte Leouorens „Bist untreu oder todt?" richtet; wenn
Schillers „denn das Ungliick schreitet schnell" in der „letzten Hose" parodisch benutzt wird in „Und das Psandrecht schreitet schnell"; wenn der Nachtwachter eingesuhrt wird mit den Worten „der blies eine wundersame
gewaltige Melodei", mit welcher er die Polizeistunde ankiindigt; wenn in dem Liede „die Heimkehr" das Tanhauserlied parodirt und aus den auch aus Walschland zuriickkehrenden Dichter bezogen wird, den der Psarrer von
ABmaunshausen zur BuBe drei Tage und drei Nachte in den Weinkeller einschlieBt; wenn der Ansang des Kampss mit dem Drachen in dem „Grindwalsang" nachgeahmt ist in den Worten „Was rennet das Volk an
Thorhavens Strand?" oder endlich, wenn der Dichter, sich selbst als Sir Iuseppe einsuhrend, den Eingang desHerderschen Cid verwendet und singt:
Tramrnd ties stand 2ir Iust-ppe
In dem 3aal der (!aso Baldi,
Wol war keiner je so traurig.
Auch nachdem Scheffel Heidelberg verlassen und aus jenem „Engern" ausgeschieden war, „ward manch ein Schreibebries noch aus dem Weitern mit FreundesgruB dem Engern zugesandt". Auch diese spater
entstandenen Lieder sind in die Sammlung „Gaudeamus" ausgenommen; sie reichen bis AB67. Der Ton ist hier ein etwas anderer, er ist ernster, mitunter sogar nuchterner. Die Statten, die der wandernde Dichter beriihrt,
lassen seine Wanderungen versolgen. Italien (1855, Venedig), Siidsrankreich (1856), die Donausahrten (1859—60), Schweiz (1861), ebenso Tirol, ElsaB, die Psalz, Baden — sie alle haben Stoffe zu Liedern geboten. Am
wenigsten ansprechend ist der „Grindwalsang", wo einiges sich wie ein Stuck naturgeschichtlicher Beschreibung ausnimmt („Der Grindewal, vom Geschlecht des Delphins, auch Butzkops geheiBen, ist sanstlichen Sinns,
kein Raubthier" :e.). Doch sehlt es auch hier nicht cm wahrer Poesie und kostlichem Humor. In letzterer Hinsicht ist namentlich das zweite der aus Rippoldsau bezuglichen Gedichte, „die Schweden in Rippoldsau",
hervorzuheben. Nicht unerwahnt dars auch das den SchluB bildende Gedicht zur Feier von Hebels hundertjahrigem Geburtstag bleiben, das einzige, was, so viel mir bekannt, Scheffel in allemannischer Mundart gedichtet
hat. Die Meisterschast, mit welcher nicht die Mundart allein, sondern auch der eigenthumliche Stil, den mundartliche Dichtung haben muB, wenn sie nicht bios verkapptes Hochdentsch sein soil, behandelt ist, laBt
bedauern, daB der Dichter sich nicht oster aus diesem Gebiete versucht hat, zu welchem sein Humor ihn besonders besahigte.
In Heidelberg, wo die Lieder des Gaudeamus zumeist entstanden, saBte Scheffel auch den Plan zu seinem Ekkehard. Dies ist unzweiselhast sein bedeutendstes Werk. Er wurde 1854 geschrieben und erschien im
solgenden Iahre unter dem Titel: „ENehard, eine Geschichte aus dem zehnten Iahrhundert" . Den Stoff entnahm er aus den alten St. Gallischen Klostergeschichten, den liiasvis ZAneti ttalli, die (wie die Vorrede mit Recht
hervorhebt) „gleich einer Perlenschnur" aus der Fiille mittelalterlicher Geschichtsqnellen glanzen. In der That gibt wol kaum ein anderes Buch jener Zeit ein so lebendiges Bild nicht nur des Klosterlebens, sondern der
ganzen Culturzustande. Gerade die Zeit, iu welcher Scheffels Erzahlung spielt, ist uns von dem jiingeren Ekkehard, der selbst Dichter war, geschildert und reich an individuellen Zugen, die iiberall kleine anmuthige Bilder
gewahren. DaB eine solche Quelle, es mag mit ihrer historischen Glaubwiirdigkeit stehen wie es wolle, einen Dichter anziehen muBte, des sen Studien nach dem deutschen Mittelalter hin lagen, begreist sich leicht. Er ist aber
nicht tiber dem alten monchischen Geschichtswerk in seiner Studirstube sitzen geblieben und hat aus Buchern ein Buch gemacht, sondern er hat sich ausgemacht und an Ort und Stelle Natur, Land und Leute, die seine
Quelle schilderte, selbst geschaut. Er ist aus dem Hohentwiel und in der ehrwurdigen Bucherei des heiligen Gallus gewesen und schlieBlich zu deu lustigen Alpeuhohen des Santis emporgestiegen. Und dort „in den
Revieren des schwabischen Meers, die Seele ersiillt von dem Walten erloschener Geschlechter, das Herz erquickt von warmem Sonnenschein und wiirziger Berglust" hat er seinen Ekkehard entworsen und groBtentheils
geschrieben; aus dem Wildkirchli am Santis sind die letzten Cavitel entstanden.
Nicht mit den Augen des Forschers allein hat er geschaut, sondern mit denen des Dichters, und was noch mehr ist, des an seiner Heimat innig hangenden Dichters. Dieser warme Herzschlag der Liebe stir das schone
schwabisch-alemannische Land tont durch das ganze Buch und verleiht den Schilderungen den warmen Hauch, der auch in die Seele des Lesers uberstromt.
Es ist selten, daB sich Forscher und Dichter in einer Person verbinden. Meist iiberwiegt die eine oder die andere Seite. Wie manchem Forscher, dem die Studien nicht bios ein Gegenstand der Gelehrsamkeit, sondern der
herzlichen Liebe sind, lebt im Innern der Drang, die Bilder seiner Forschung kunstlerisch zu gestalten — aber ihm gebricht die gestaltende und schopserische Krast. Und wie mancher Dichter wieder wagt sich au die
Schilderung und Darstellung vergangener Zeiten, dem die nothige Grundlage soliden Forschens sehlt. Wenn in jenem Falle das Resultat ein srostiges Werk ist, dem man das Gemachte ansiihlt und das allzusehr nach der
Studirlamve riecht, so in diesem ein seichtes Machwerk, das in bunter Willkiir Modernes und Altes vermischt — wie wir dergleichen als sogenannte historische Romane zu Dutzenden hatten und haben.
Schessel ist eine der gliicklichen Naturen, in denen das dichterische Konnen von einem redlichen Forschungstriebe, der auch die Minutien der Forschung nicht verschmaht, begleitet ist. Er hat es verstanden, aus den
Quellen ein Culturbild herauszuarbeiten, das an Plastik und Greisbarkeit wenige seines gleichen hat. Die unter der Flache des Bildes waltende Forschung ist organisch mit der dichterischen Ersindung verwebt, so daB keins
das andere beeintrachtigt und stort. Es liegt in der Natur der Sache, daB ein solches Culturbild einer vergangenen Zeit etwas vom Charakter einer Mosaik haben muB. Die zahllosen Einzelziige zerstreuter und
mannichsaltiger Quellen sind wie die Tausende von bunten Steinchen, die sich in einem sarbigen Mosaikbilde zu einem lebendigen Ganzen zusammenstellen. Wie die antike Kunst es verstanden hat, wunderbare Mosaiken
zu schassen, die den Eindruck eines vollendeten einheitlichen Kunstwerkes machen, so gibt es auch eine literarische Mosaikarbeit, die keine Fugen und keine Zusammensetzung verrath, sondern den Eindruck eines
einheitlichen Bildes macht. Wenn Scheffel nicht in den beigegebenen Anmerkungen die Nachweise der Quellenstellen geliesert hatte, es wurde schwer sein, aus seiner Darstellung dasjenige auszuscheiden, was treu benutzt
und was des Dichters mehr oder weniger sreie Ersindung ist. So sehr ist hier alles aus einem Gusse. Und doch hat Scheffel recht gethan, jene Quellennachweise beizusugen, nicht bios „zur Beruhigung derer, die sonst nur
Fabel und muBige Ersindung in dem Dargestellten zu wittern geneigt sein konnten", sondern, was jedensalls mehr bedeutet, um denjenigen, die den Dichter und sein Werk wirklich verstehen wollen und sich nicht bios mit
dem GenuB einer angenehmen Leetiire besriedigen, zu ermoglichen, in seine Werkstatte hineinzuschauen und einen Blick in das Werden eines Kunstwerkes zu thun.
Alle Seiten des mittelalterlichen Lebens sind Scheffel vertraut, seine griindliche KenntniB der mittelalterlichen bildenden Kunst blickt iiberall durch. Die scheinbar trockensten Gegenstande laBt er nicht unbeachtet und
weiB ihnen eine lebendige, eine dichterische Seite abzugewinnen. Wenn er in der St. Galler Bibliothek die kostbaren Psalterienhandschristen studirt, so geschieht es, um an den Bildern derselben sich die Trachten der Zeit
zu veranschaulichen; wenn er selbst die so undichterisch als moglich erscheinenden althochdeutschen Glossensammlungen durcharbeitet, so weiB er auch hier aus dem trockenen philologischen Material lebendige Funken
zu schlagen. Da liesert eine St. Galler Handschrist zum Buche Levitieus die Glosse: lisoalvaster est clui in anteriore parte eapitis auo ealvitia liabet, meaietate iutsr eos Ukbeute pilos, ut 6st- (iirolok abbas et >Villi-am (wie
der Glossator schalkhast hinzusugt), so verwendet Scheffel diesen Zug reizend zur Schilderung seines Abtes Cralo, von dem wir im Ekkehard lesen: „Sosort schurzte er seine Kutte, strich den schmalen Biischel Haare
zurecht, der ihm inmitten des kahlen Scheitels noch stattlich emporwuchs gleich einer Fichte im oden Sandseld." GewiB ist, die Anmerkung deutet daraus hin, dieser Zug der Personalbeschreibung aus jener Glosse
entstanden; aber wer miichte ohne die Anmerkung behaupten, daB hier ein solcher Quellenzug vorliege? So sind uberhaupt in der Schilderung der St. Galler und Reichenauer Monche die einzelnen Ziige der Quelle, die
gelegentlichen Eintrage in Handschristen, die erhaltenen dichterischen Fragmente auss geschickteste benutzt und verwerthet. So bei der Schilderung des vom Dichter ersundenen Romeias die altdeutschen Verse vom Eber;
an einer andern Stelle die sagenhasten Ueberlieserungen vom Vogel Caradrius u. s. w. Nicht minder glucklich ist der Dichter in dem Hineinverweben heidnischer Ziige, die im Leben und Deuken jener Zeit noch eine groBe
Rolle spielen.
Aber nirgend macht Scheffel von seinem Wissen und seiner Gelehrsamkeit ungehorigen Gebrauch. Als Ekkehard die Raume der Klosterbibliothek betritt, um die Virgilhandschrist zu holen, die er mit nach dem
Hohentwiel nehmen soil, da ware stir einen, der wie Scheffel selbst in den Schatzen der Bibliothek geschwelgt, wol die Versuchung naheliegend gewesen, auch dem Leser einen Blick in diese Schatze thun zu lassen. Mit
weiser Zuriickhaltung nennt der Dichter nur das kleine, in metallene Decke gebundene Glossarium, in dem einst der heilige Gallus, der am Bodensee ublichen Landessprache unkundig, sich vom Psarrherrn von Arbon die
nothwendigsten Worte hatte verdeutschen lassen. Aus dieses sallt Ekkehards Blick und er denkt an des Klosters Stister, der mit so wenig Ausriistung und Hiilse dereinst ausgezogen, ein sremder Mann unter die Heiden; und
das starkt ihm den eigenen Muth. Wie reizend ist auch hier ein so unscheinbares, wenn auch sprachlich hochst merkwiirdiges Denkmal zu einem Stimmungsbilde verwerthet! Das schildernde und beschreibende Element ist
tiberhaupt in hochst maB- und taktvoller Weise behandelt, und es verdient das nm so mehr hervorgehoben zu werden, als der Altmeister des historischen Romans, Walter Seott, nach dieser Seite gerade des Guten zu viel
gethan hat.
Die Sprache des Ekkehard hat ein gewisses altertiimliches Geprage. Man konnte sie ahnlich wie den Inhalt und die Schilderungen eine Art Mosaik nennen. Der Dichter weiB von Zugen und Wendungen der alten Sprache
so geschickt Gebrauch zu machen, daB es wie ein Hauch des Alten uns anweht; ohne daB dadurch etwas Manierirtes hineinkommt. Ich will aus ein paar solcher ost unscheinbarer kleiner Ziige ausmerksam macheu.
Schessel wendet beim Neutrum mit Vorliebe die unsleetirte Form an; er sagt „ein sremdlandisch Raucherwerk, eiu geslickt Hemde, ein umsangreich Kloster, ein klappernd Miihlrad"; er braucht alterthumliche Wortsormen,
wie Grase stir Gras, Wittib stir Wittwe, itzt stir jetzt, einand stir einander, das Gejaid, Twinger statt Zwinger, empsahen stir empsangen, was sonst nur in der Poesie noch iiblich ist, Sigill statt Siegel, grinzen statt grinsen,
Zwiespruch statt Zwiesprache, ubrigen statt erubrigen, in wahrender Hitze; „Praxedis war weder vom Gezanke noch von Romeias Friedensstistnng auserbaut." Er hat manche eigenartige Bildungen: wir sprechen von einer
stumpsen Nase; Schessel sagt von Hadwig: „ihre Nase brach unvermerkt kurz und stumpslich im Antlitz ab"; der Staar „ersah noch ein Gelegenheitlein und entwischte"; serner „war ihrem Seelenheil nudiensam"; „einen
sonderbarlichen Blick"; „er griff sein Horn" (statt ergriff); „ward betriiblich iiberrascht." Manche Wendungen sind vollkommen altdeutsch: „das anmuthige Grublein, so den Franen so miunig ansteht"; „der Wolsshund
dessen von Fridingen"; „sothanes Gotteshaus"; „einer von denen, die am wenigsten sich des unerwarteten Besuches ergotzten"; „mit einiger (— irgend einer) Ausrede"; „deine Augen erschauerten seines Anblicks"; „wohl
aber loste er der lebenden Haslein zwei ihrer Baude"; „ich weiB einen Fels, daraus schillt und schallt" u. s. w. Sogar vollstandige altdeutsche Phrasen wendet er an, so die AegruBungssormel „Heil Herro! heil Liebo!" Die
Ankniipsungen von Satzen mit „nnd" und invertirter Wortsolge: „er sprachs und lag weder Freudigkeit noch Auserbaunng in seinem Worte"; „es war ein ungesiiger Ton, und war dem Hornblasen deutlich zu entnehmen,
daB"; oder die Weglassung des Pronomens am Ansang von Satzen „War noch manches draus abgebildet"; „ist auch gar nicht so gleichgultig, in was Stube und Umgebung einer haust". Man hat auch hier die Empsindung,
daB der Dichter wol heimisch ist in den alten Chronikeu und ihrer traulichen naiven Erzahlungsweise. Dabei ist aber in der Art, wie die Menschen im Ekkehard reden, nichts Geziertes und gegen unsere Sprechund
Denkweise VerstoBendes; nicht aus kiinstlichem Wege, wie andere es versucht haben, will er ein Spiegelbild mittelalterlichen Gesprachstones uns vorsuhren.
Fiir den Stoss bot ihm die St. Galler Klosterchronik den auBeren Rahmen. Wie er aber die Erzahlung benutzte, ist sehr anziehend zu versolgen; und darum ist es nicht ohne Interesse, dasjenige Stuck der <5hronik, das
den Hauptstoss geboten, zu vergleichen und mit ihren eigenen Worten anzusuhren. Da lesen wir von Frau Hadwig Folgendes: Hadalviga, die Tochter des Herzogs Heinrich, nach dem Tode ihres Gatten Burchard
verwittwete Herzogin von Schwaben, wohnte aus Hohentwiel; «ine gar schone Frau, aber von groBer Strenge gegen die Ihrigen, weshalb sie weit und breit im Lande gesiirchtet war, Sie war, noch sehr jung, einst dem
griechischen Prinzen Constantin verlobt nnd durch Eunuchen, die zu diesem Zwecke gesandt waren, in den Ansang sgriinden des Griechischen unterrichtet worden; als aber der eine der Eunuchen, der Maler war, das Bild
der Iungsrau malen wollte, um es seinem Herrn zu schicken, und damit es recht ahnlich wiirde, sie ausmerksam anschaute, da verzerrte sie, weil ihr die Heirath leid war, den Mund und verdrehte die Augen und wies aus
diese Weise den Griechen mit Lebhastigkeit zuriick. Als sie dann die lateinische Sprache stndirte, nahm der Herzog Burchard sie sammt ihrer reichen Mitgist zur Frau; er war ober schou sehr alt, und wie man sagt, vollzog
er das Beilager nicht. Er starb nicht lange darnach und lieB sie im Besitze der Mitgist und des Herzogthums als Iungsrau zuriick, Einst war sie als Wittwe nach St. Gallen gekommen, um ihre Andacht zu verrichten. Der Abt
Burchard nahm sie als seine Verwandte sestlich ans und riistete allerlei Geschenke stir sie; aber sie sagte, sie wolle keine anderen Geschenke, sondern nur, daB man ihr den Ekkehard als Lehrer aus dem Hohentwiel stir eine
Zeit lang bewillige. Dieser war namlich des Klosters Psortner; sie hatte daher tiber seine Geneigtheit mit ihm schon am Tage vorher heimlich sich besprochen. Der Abt bewilligte es ungern und Ekkehards Oheim <der auch
Ekkehard hieB und Deean war) rieth ab; aber Ekkehard setzte trotzdem durch, was mau' von ihm gewiinscht hatte. Er kam am sestgesetzten Tage nach Hohentwiel, wo man ihn mit Ungeduld erwartete, und ward viel besser,
als er selbst begehrte, empsangen. Sie siihrte ihren Lehrer, wie sie selbst ihn nannte, in ein Zimmer, das dem ihrigen zunachst lag. Dort pslegte sie bei Tage wie bei Nacht mit einer vertrauten Dienerin einzutreten und zu
lesen, dabei aber standen die Thiiren immer offen, damit, wenn einer auch gewagt hatte etwas Boses zu sagen, er doch keinen Grund dazu sande. Dort trasen die Beiden hausig auch ihre Beamten und Ritter, ja sogar die
GroBen des Landes, beim Lesen oder im Gesprach. Durch ihr strenges und wildes Wesen brachte sie den Mann aber ostmals aus, und es kam so weit, daB er manchmal lieber in seiner Behausung stir sich als mit ihr
zusammen war. Sie hatte ihm ein kostbares Bett mit Vorhangen bereiten lassen, was er aber in seiner Demuth wegnehmen lieB; sie besahl, ihn dasiir mit Schlagen zu bestrasen, und nur aus viele Bitten des Lehrers bestand
sie nicht daraus, daB ihm die Haare abgeschnitten wurden (was bei dem sreien Manne eine groBe Schande und Strase war). Wenn er bei Festen oder wann es ihm gesiel nach Hause (in's Kloster) ging, so war es. ergotzlich,
welchen Auswand sie dem Manne die Steinah hinab aus Booten vorausschickte; immer etwas Neues wuBte diese scharssinnige Minerva zu seinem eigenen Gebrauch oder als Geschenk stir das Kloster zu bereiten. Unter
diesen Dingen besindet sich auBer seidnen Casuln, Manteln und Stolen jene Alba, die mit Darstellungen der Vermahlung der Philologie in Golt> geschmiickt ist; serner eine Dalmatiea und eine Subtile, sast ganz von Gold,
die sie nachher, als der Abt Immo ihr ein Antiphonarium, das sie wiinschte, verweigerte, mit launischer Arglist wieder zuriicknahm.
Aus der Riickkehr nach Hohentwiel sprach einmal Ekkehard, begleitet von seinem Namensvetter Ekkehard, dem spateren Deean, und dem Kloster schuler Burchard, dem spateren Abte, in Reichenan bei dem
stellvertretenden Abte dieses Klosters, Ruodemann, vor, der dem Kloster St. Gallen wenig giinstig gesinnt war. In der Unterhaltung sand der schlaue Man« in Ekkehard einen ihm gewachsenen Gegner. Beim Abschiede
beschenkte er ihn, der es eilig hatte, um bei seiner strengen Schulerin nicht zu spat anzukommen, mit einem Rosse. Unter Kiissen und Umarmungen sliisterte er dem scheidenden Gaste in's Ohr: „Du Glucklicher, der du
eine so schone Schulerin in der Grammatik zu unterrichten hast!" Woraus Ekkehard ihm scherzend gleichsalls in's Ohr zuriickgab: „So wie du, Heiliger des Herrn, die schone Nonne Gotelind, deine theure Schulerin, in der
Dialektik unterrichtet hast!" — Ekkehard ritt mit den beiden Begleitern von dannen. Am solgenden Tage, als sie in der Dammerung, wie sie dort pflegten, das von der Klosterregel gebotene Schweigen, das sie sogar selbst
eisrig verlangt hatte, der Sitte gemaB beobachtet hatte (denn sie sing schon an ein Kloster aus dem Berge anzulegen), kam sie zum Meister, um zu lesen. Als sie sich gesetzt, sragte sie unter anderem, weshalb der Knabe
gekommen sei. „Des Griechischen wegen, meine Herrin," sagte Ekkehard, „damit er eurem Munde etwas ablausche, hab' ich ihn, der im Uebrigen schon viel weiB, euch hierher gebracht." Der Knabe aber, ein hubscher
lunge und sertig im Versemachen, hub an:
„Herrin, gern war' ich ein Grieche, der kaum ich noch bin ein Lateiner!"
Daran sand die nach neuem immer begierige Frau solches Wohlgesallen, daB sie ihn an sich zog, ihn kiiBte und aus einer FuBbank naher bei sich sitzen hieB. Daraus verlangte sie, daB er ihr noch weitere Verse auK dem
Stegreis machte. Der Knabe sah aus seine beiden Lehrer — ein solcher KuB war ihm etwas Ungewohntes. Daraus sprach er:
„ Verse von wiirdigem FluB vermag ich nicht weit« zu dichten,
Denn ich erschrak zu sehr von der Herzogin lieblichem Kusse."
Da brach die sonst so strenge Frau in herzliches Lachen aus, stellte den Knaben vor sich hin und lehrte ihn die Antiphone „Meere und Fliisse", die sie selbst in's Griechische iibersetzt hatte, solgendermaBen: I'ualaAi Ks
potami euloFitou KAriou, Amuits piAanton KArion, Kllsliy-a! Noch ost nachher lieB sie ihn, wenn sie MuBe hatte, kommen, verlangte von ihm extemporirte Verse, lehrte ihn griechisch sprechen und hatte ihn sehr lieb.
Endlich als er wegging, beschenkte sie ihn mit einem Horaz und einigen andern Buchern, welche der Biicherschrank unseres Klosters noch enthalt. Der jiingere Ekkehard war inzwischen mit dem Knaben zu einigen andern
Kaplanen der Herzogin gegangen, um sie zu unterrichten. Denn sie duldete nicht, daB die Psassen an ihrem Hose muBig waren.
Sie blieb mit Ekkehard in gewohnter Weise allein um zu lesen. Sie hatte den Virgil in der Hand und gerade die Stelle vor sich „linieo Dkii»os et aorm lersutss." „Diese Stelle," sagte Ekkehard, „konnte ich gestern, meine
Herrin, mir mit Fug in's GedachtniB zuriickrusen." Er theilte ihr nun mit, wie der Abt von Reichenan ihn eingeladen und mit einem stattlichen Rosse beschenkt, aber bei alledem hinterlistiger Reden sich nicht enthalten
habe. Doch verschwieg er die letzten Worte, die sie sich von beiden Seiten in's Ohr gefhistert. „Ich wiinschte," antwortete sie, „den ganzen Streit, der neuerdings zwischen euch vorgesallen, von Ansang an zu vernehmen;
denn ich weiB nicht, ob ich ihn recht gehort habe. Ich wundre mich, daB zwei Kloster meines Herzogthums, wo ich, die Vertreterin des Reiches, so nahe sitze, in solche unselige Handel sich einlassen, mit volliger
Nichtachtung meiner Person, und wenn meine Rathgeber mir nicht abrathen, so habe ich vor, sobald ich den Sachverhalt ersunden, nach Gebiihr zu bestrasen." „Es ist treulos," erwiderte Ekkehard, „erlauchte Herrin, daB
ich, der ich nachst meinem Oheim hauptsachlich die Versohnung gestistet, dir anklagerisch etwas sage, nachdem ich den FriedensluB gegeben — ich kann aber nicht anders. Obgleich mich Ruodemann gestern -A du kennst
ihn ja — wahrend er mich beschenkte, heimlich gereizt hat, so liegt es doch mir nicht ob, den geschlossenen Frieden zu brechen; deswegen werde ich nicht ablassen, den Frieden, wie er selbst auch will, mit ihm zu
halten." Dieser Grund und diese Rechtsertigung. gesiel der Frau.
Es ist nicht nothig, weitere wortliche Mittheilungen ans der alten Quelle zu machen. Es wird geniigen zu bemerken, daB sie iiber Ekkehards sernere Schicksale berichtet, er sei aus Hadwigs Empsehlung an den
kaiserlichen Hos Ottos I. gekommen und dort namentlich von der Kaiserin Adelheid hochgeschatzt worden. Er siihrte wegen seines langeren Verweilen» am Hose den Beinamen „palatinus, der Hosling" und starb am 23.
April 990 in Mainz, wo er in St. Alban beerdigt wurde. Die angesiihrten Stellen reichen vollkommen hin, um einerseits die anmuthige Erzahlungsweise des sanetgallischen Geschichtsschreibers zu zeigen, und anderseits
um das VerhaltniB der Schesselschen Dichtung zu seiner Quelle zu beurtheileu. Die historische Hadwig und der historische Ekkehard sind im Charakter von den Gestalten des Dichters sehr wesentlich verschieden. Zwar
hat die Launenhastigkeit der Herzogin, wovon die Quelle berichtet, auch Schessel beibehalten; aber er hat aus dem mannischen Weibe der Geschichte, das im Sinne der Zeit recht derbe und rohe Ziige zeigt, ein ohne
Verletzung der historischen Treue doch ungleich mehr uns anmuthendes Bild geschaffen. Die historische Hadwig ist eine jener hochstehenden Damen mit gelehrten Liebhabereien, wie wir sie im zehnten Iahrhundert in der
Verwandtschast der sachsischen Kaiser mehrsach sinden. Der Monch, den sie zu sich nimmt, hat unter ihren Launen zu leiden; die Streitigkeiten der Kloster Reichenau und St. Gallen interessiren sie, weil ihre
Hoheitsrechte dadurch beeintrachtigt werden. Von einem gemuthvollen Wesen, von einer herzlichen Beziehung zwischen ihr und ihrem Lehrer blickt in der Quelle nichts durch. Wirklich anmuthig erscheint sie nur in der
Seene mit dem Alosterschiiler. Diese hat auch Scheffel am treuesten benutzt; indeB auch die andern Einzelziige sind von ihm in bester Weise verwerthet.
Die Schesselsche Hadwig kommt nach St. Gallen aus Langerweile; der Anblick des schonen jugendlichen Psortners, der sie iiber die Quelle des Klosters getragen, weil nach den Satzungen kein Weib dieselbe
uberschreiten durste, weckt ein Wohlgesallen in ihr; seine begeisterte Lobrede aus die alten Lateiner den weiteren EntschluB, lateinisch zu lernen — und Ekkehard soil der Lehrer sein. Sie hat einen ungeliebten alternden
Gatten nach kurzer sreudloser Ehe begraben; sie hat noch nicht geliebt — ist es L.ebe, was sich in ihrem Busen regt? Kaum — ihr Gesiihl geht iiber ein sinnliches Wohlgesallen nicht hinaus. Ganz anders bei Ekkehard.
Schon in den ersten Seenen hat der Dichter dasiir gesorgt, uns ahnen zu lassen, daB in der Seele des jungen Monches diese Begegnung und der ihm gewordene Austrag verhangniBvoll werden wird. Er liest bei Tisch von
der Versuchung des heiligen Benediet, des Stisters des Ordens, vor — zu geringer Erbaunng der Herzogin, und gleich daraus tritt an ihn selbst die Versuchung in der Frage Hadwigs heran, vb er ihr Lehrer sein wolle. „Da
klang es in Ekkehards Herz, wie ein Widerhall des Gelesenen: Wirs dich in die Nesseln und Dornen und sag nein! Er aber sprach: Besehlet, ich gehorche!" Damit ist der Wiirsel gesallen, das Schicksal geht seinen Gang,
Noch einmal klingt die warnende Stimme des trotz seiner Blindheit mit Seheraugen in die Zukunst schauenden Thielo; des Scheidenden Ange sallt ans den Santis, in dessen erhabener Einsamkeit er dereinst den Frieden
wiederfinden soil. Aus dem Hohentwiel angekommen, erhalt er von der Herzogin ein „groB lustig Gemach mit saulendurchtheiltem Rundbogensenster" angewiesen, „an demselben Gang gelegen, an den auch der Herzogin
Saal und Zimmer stieBen". So sand es sich schon in der Quelle, aber der sein motivirende Dichter laBt Ekkehard die Herzogin bitten, ihm auch „ein sern gelegenes Stiibchen" zu geben, wo er in einsamer Stille Gott und der
Wissenschast dienen konne. „Da legte sich eine leise Falte iiber Frau Hadwigs Stirn." Es ist die erste Wolke, „ein Wolklein" nennt's der Dichter, und erweckt ihre erste spottische Bemerkung iiber den nugeschickten und
ihre Absicht so wenig verstehenden Monch. Der erste Hauch von Eisersucht aus die anmuthige Griechin Praxedis, eine der reizendsten Gestalten der Dichtung, rust die Stirnsalte zum zweiten Mai hervor. Als Hadwig nach
der ersten Lehrstunde deu Lehrer sragt, ob er die Nacht nicht etwas getraumt habe, zeigt sich sein Nichtverstehen ihrer geheimen Absichten aus's neue; das Gesprach laBt in die arglose Seele des jungen Monchs wie in die
listig herausholende des Weibes einen tiesen Blick thun. Die Leeture Virgils, namentlich die Geschichte von Aeneas und Dido, die ihren ersten Gemahl vergiBt und in den schonen Ankommling sich verliebt, bietet weitere
Anlasse zu Vergleichungen, und da diese der unschuldige Ekkehard nicht heraussiihlt oder nicht im Sinne Hadwigs empsindet, so gibt es eine Verstimmung und spitzige Reden. Schlimmer wird es, als beide aus dem
Hohenkrahen stehen, das schone Weib, weich geworden im Anblick der groBen weiten Natur, ihren Arm aus Ekkehards Schulter lehnt, als ihr Auge aus die kurze Entsernung in das seine hinuberslammt nud sie mit weicher
Stimme sragt: „Was denkt mein Freund?" — und als Ekkehard, wie aus einem Traum aussahrend, erwidert, er habe an die Versuchung des Herrn durch deu Satan denken miissen — da slammt der Zorn des leidenschastlich
erregten Weibes iiber die Thorheit des Monches hell aus und sie kehrt ihm nnmuthig den Riicken. Auch jetzt uoch ist Ekkehard unbesangen. Und als bei der gemeinsamen Noth, beim Herannahen der hunnischen Horden
die iible Laune der Herzogin gewichen, als sie am Morgen vor der Schlacht in Ekkehards Gemach tritt und ihm Herzog Burchards Schwert umhangt — da, in eben demselben Augenblick, wo das Weib VerstandniB der
eigenen Empsindung von dem Manne verlangt, dem sie so weit wie moglich entgegengekommen — da tritt der unheilbare RiB ein. Wol ist es Ekkehard, „als mtiBte er sich niederwersen vor ihr, die so huldvoll seiner
gedachte"; aber „auskeimende Neigung braucht Zeit iiber sich selbst klar zu werden, und in Dingen der Liebe hatte er nicht rechnen und abzahlen gelernt wie in den VersmaBen des Virgilius, sonst hatte er sich sagen
miissen, daB, wer ihn aus des Klosters Stille zu sich gezogen, wer an jenem Abend aus Hohenkrahen, wer am Morgen der Schlacht so vor ihm stand wie Frau Hadwig, jetzt wol ein Wort aus der Tiese des Herzens, vielleicht
mehr als ein Wort von ihm erwarten mochte." Wie hestig auch seine Pulse schlagen, das Wort bleibt ungesprochen, und er weiB nur mit gebrochener Stimme ein „Wie soil ich meiner Herrin danken?" hervorzustammeln.
Das Weib ist in seinem Stolze aus's Tiesste gekrankt, die Liebende siihlt sich unverstanden und verschmaht — von diesem Moment an tritt bei ihr die Wandlung ein. In Hadwigs beleidigter Seele schwindet die Liebe und
Leidenschast wie vom Frost geknickt. „Im Augenblick uberschwanglichen Gesiihls nicht verstanden werden, ist gleich der Verschmahung, der Stachel weicht nicht wieder. Wenn sie ihn jetzt anschaute, pochte das Herz
nicht in hoherem Schlag; ost war's Mitleid, was ihre Blicke ihm noch zusuhrte, aber nicht jenes siiBe Mitleid, aus dem die Liebe aussprieBt wie aus kiihlem Grunde die Lilie — es barg, einen bosen Keim von
Geringschatzung in sich." In Ekkehards Herzen aber ist erst jetzt der Keim ausgegangen, erwacht erst jetzt das BewuBtsein der Liebe, wachst die Leidenschast heran, um so gliihender und verderblicher, je mehr er sie
bekampst. Die vorhandenen MiBtone zu steigern, muB jetzt auch die wieder ausgenommene Virgilleeture dienen; Didos Schwache beleidigt Frau Hadwig, „ vielleicht daB sie sich selber didonischer Anwandlungeu
erinnerte". Der gesellige Abend, an welchem jeder im Kreise eine Erzahlung zum besten gibt, verrath Ekkehards tiesstes Empsinden in der Erzahlung vom Nachtsalter, der in das Licht hineinsliegt — in ihrer
Ungeschminktheit und Durchsichtigkeit wieder ein riihrendes Bild von dem einsachen Wesen des Erzahlers. Aber es ist zu spat, Frau Hadwig hegt jetzt siir ihn nur Unwillen und Verachtung. Wie er dann am solgenden
Tage die einsam am Sarkophage des verstorbenen Gatten Betende halb wahnsinnig in seine Arme schlieBt, in wuthender Leidenschast, und von den lauernde« Gegnern dabei iiberrascht wird — da ist alles vorbei; die tiesste
Erniedrigung, die schwerste Strase steht dem eidbriichigen Monche bevor. Hadwigs Stolz ist zum zweiten Mai, und jetzt in Gegenwart von Zeugen, aus's empsindlichste verletzt — sie gibt ihn den Feinden preis. Da ist die
bei aller Frohlichkeit und scheinbarer Oberflachlichkeit tieser empsindende Praxedis seine Retterin; sie verhilst ihm zur Flucht. In der Einsamkeit des Santis genest der Tieskranke, und wie die srische Alpenlust sich heilend
um seine siebernden Schlase legt, so heilt die Dichtkunst sein krankes Herz.
Der Dichter hat sich hier eine Freiheit genommen und hat mit dem Ekkehard, den wir vorher aus der Quelle kennen lernten, den alteren Dichter des Waltharius verschmolzen. Er konnte die weitere Entwickelung und die
weiteren Schicksale des „H6slings" Ekkehard siir seinen Helden, mit seiner Gemuthsanlage, nicht brauchen. Die besreiende Macht der Poesie gegeniiber der Leidenschast und dem Schmerze hat der Dichter an sich selbst
empsunden und laBt seinen Helden diesen LauterungsproeeB ebensalls durchmnchen. Als das sertige Lied, um den Schast eines Pseiles gewunden, vor Frau Hadwigs FiiBen niedersallt, mit seiner Ausschrist: „Der Herzogin
von Schwaben ein AbschiedsgruB" und dem Bibelspruch: „Selig der Mann, der die Priisung bestanden" — da neigte die stolze Frau ihr Haupt und weinte bitterlich. So tont diese Liebe rem und voll aus, in wiirdigstem
Abschlusse. Aber so sehr wir auch die Verschmelzung des Dichters Ekkehard mit dem Hosling billigen, so scheint uns doch eines — und das ist die einzige erhebliche Ausstellung, die wir an dem trefflichen Buche zu
machen wiiBten — vom Standpunkte kunstlerischer Composition nicht gerechtsertigt: die Ausnahme des vollstandigen Waltharius in deutscher Uebersetzung in den Roman. Die Uebersetzung ist sriiher entstanden, in
Heidelberg im Winter 1853/54 und hat im Ekkehard ihre erste Veroffentlichung gesunden; seitdem hat sie Scheffel in Begleitung des lateinischen von Holder herausgegebenen Originals mit anziehenden literarischen und
culturgeschichtlichen Beigaben veroffentlicht und auch eine Sonderausgabe der Uebersetzung allein ist erschienen. GewiB ist der Waltharius eine schone Dichtung und sie liest sich in Scheffels gereimter Verdeutschung
sehr anmuthig und srisch; aber ein anderes ist es, ob sie hier am Platze ist. Man konnte sreilich eine innere, gegensatzliche Beziehung hineinlegen: zwischen der heldenkrastigen Liebe des jungen Paares Walthari und
Hildegund, die in ihrer Gesundheit der krankenden Leidenschast des Monchs und der Herzogin gegenubersteht. Aber auch dann bedurste es nicht der Mittheilung des ganzen Gedichtes. So wenig storend die an dem
Erzahlungsabend vorgetragene Geschichte von Konig Rother als epische Episode wirkt, so sehr stort, mich wenigstens, jedesmal das eingelegte Waltharilied; um so mehr, als in dem reizenden Bilde von Audisax und
Hadumoth die Flucht eines liebenden Paares aus dem Hunnenlager, eines Paares, das durch alle Gesahren des Weges seinen Schatz mitnimmt, schon zu sehr an die Flucht Waltharis und Hildegunds erinnert. Gesetzt der
Dichter hatte etwa Wolsram oder einen anderen Dichter aus hosischer Zeit zum Gegenstande seiner Erzahlung genommen (und wir wiinschten, er hatte es gethau), er wiirde schwerlich, auch wenn er die Vollendung seines
Parzivals darin erzahlte, den Parzival selbst in Uebersetzung hineinverwebt haben. Eine Hinweisung aus den Inhalt der Dichtung und ihre Beziehung zum Seelenleben Ekkehards wiirde an dieser Stelle vollstandig geniigt
haben. Auch hat sich Scheffel durch die vollstandige Hineinziehung des Walthariliedes einer interessanten und ergiebigen Quelle beraubt, die ihm reiches Material siir die Schilderung der Sitten des zehnten Iahrhunderts
geboten hatte. Denn wenn auch der Waltharius dem Stoffe nach einer weit hinter dem zehnten Iahrhundert liegenden Zeit angehort, so doch nicht die darin geschilderten Sitten; hier gibt vielmehr, wie jeder mittelalterliche
Dichter jedem Stoffe gegeniiber that, Ekkehard ein Sittenbild seiner eigenen Zeit. Und so hatte der gleichsalls namentlich siir das seine hosische Leben der damaligen Zeit sehr ergiebige Ruodlieb noch starker herangezogen
werden diirsen.
Hell und schars heben die beiden Hauptgestalteu, deren psychologische Entwickelung wir eben vorsiihrten, sich aus dem Hintergrunde des Zeitgemaldes ab. Den breitesten Raum darin nimmt selbstverstandlich das
Klosterleben ein, das in einer Fiille von Gestalten uns geschildert wird. Bei allem Humor, der hieriiber ausgegossen ist, liegt dem Dichter doch eine Verspottung des Klosterwesens ganzlich sern. Wol zeichnet er uns die
Entartung namentlich in Reichenan: aber sie entspricht den thatsachlichen Verhaltnissen; wol ist auch die Schilderung von St. Gallen nicht srei von einem etwas ironischen Beigeschmack, aber die ernsten
menschheitbildenden Bestrebungen der Kloster kommen dabei nicht zu kurz. Das Ungesunde der mittelalterlichen Monchswelt durste nicht verhehlt werden; in der Schilderung der Reelusa Wiborad tritt das hervor; zur
Erganzung gehort der irische Leutpriester Moengal, der erst, wie er im SchweiBe des Angesichts den Tannenbaum sallt und den Nachen zimmert, und den Strichvogel aus den Liisten herunterholt, wirklich an Leib und
Seele gesundet.
Im Gegensatz zu dem siegenden Christenthum ist das untergehende Heidenthum mit unverkennbarer, aber nicht einseitiger Liebe gezeichnet, in aller seiner GroBartigkeit, aber auch Bosheit in der heidnischen Waldsrau.
Die Schilderung der Hunnen von ihrem Heersuhrer und der wilden Eriea. bis herab zu dem gutmuthigen Coppan ist voll Leben und Anschaulichkeit. Vollendete Meisterschast aber bekundet die Zeichnung des jungen
Paares Audisax und Hadumoth, nicht zu vergessen der groBartigen Gestalt des Alten in der Heidenhohle, und des wackern Wachters Romeias mit seiner rauhen uaturwuchsigeu Liebe zu Praxedis, mit dem in seiner
Unbeholsrnheit so reizenden Briese, womit er den Auerhahn an die Griechin iibersendet.
Bei allem Reichthum des Humors, der seine leuchtenden Blitze iiber das Gemalde schieBt, ist doch ein melancholischer Zug in dem Mittelpunkte desselben unverkennbar. Wenn der T.rompeter nns eine kecke, srische
Iugendliebe vorsiihrt, die im Vertrauen daraus, daB die Welt ihr gehore, hosst und wagt, endlich gliicklich alle Hindernisse beseitigt und ihr Ziel erreicht — so klingt in Ekkehard durch die Liebe ein Ton des Entsagens. Die
Hand, die ihn geschrieben, hat sich schon schmerzlich vor das brennende Auge gelegt, das Herz, das ihn ersonnen, hat selbst schon manchem goldenen Traum entsagt. Das ist aber des echten Humors Wesen, daB er des
Lebens Ernst und heiteres Spiel zu harmonischem Bilde zu vereinen weiB. Des Dichters Empsinden driickt am besten aus, was er 1855, also um die Zeit, da der Ekkehard entstand, schreibt: „Nach Naturanlage und Neigung
hatte ich ein Maler werden sollen, Erziehung und Verhaltnisse wendeten zum Dienste der Iustiz, die unersiillte Sehnsucht nach der bildenden Kunst und die Oede eines mechauischen Beruses ries in ihrem
Zusammenwirken die Poesie wach, das Anschauen und zum Theil das Selbsterleben der vielen schiesen und eonsuseu Verhaltnisse im ossentlichen und Privatleben, an deueu seit 184« unser Vaterland so reich ist, gaben
dieser Poesie eine ironische Beimischung, und meine Komik ist ost nur die umgekehrte Form innerer Melancholic "
Das Gebiet des eulturhistorischen Romans, zu dessen Pslege Schessels nach dem Ekkehard zu urtheilen, in einem MaBe wie Wenige berusen war, hat der Dichter nachher nur noch in zwei kleineren novellenartigeu
Erzahlungen gepslegt, die aber beide in ihrer Art sehr anziehend sind. Die erste derselben erschien unter dem Titel „Hugideo, eine alte Geschichte" im dritten Bande von Westermanns illustrirten deutschen Monatshesten
(1858, S. 22— 2N) und ist 1857 versaBt. Sie siihrt nns in eine noch sriihere Periode der deutschen Geschichte als Ekkehard, iu die Mitte des stinsten Iahrhunderts, iu die Zeit der Schlacht aus den eatalaunischen Gesilden.
Sie spielt aus jener steil in den Rhein absallenden Kalkwand unterhalb Basels, die den Namen „Der Klotz von Istein" tragt. Ein junger Inthung, Namens Hugideo, der langere Zeit unter den Romern gelebt und ihnen einiges
von ihrer Kunst abgesehen hat, richtet sich in dem Felsen eine Einsiedlerwohnung her, in weicher er in einer Nische die mitgebrachte Marmorbiiste einer jugendschonen Romerin ausstellt. Als Etzels Schaaren iiber den
Rhein den Romern entgegenziehen, als die germanischen Stamme sich ihnen anschlieBen, setzt Hugideo der Aussorderung auch mitzugehen ein hartnackiges und entschiedenes „Nein" entgegen. Er will nicht gegen das
Volk kampsen, dem das schone Urbild jener Marmorbuste angehort. Die ruckkehrenden Schaaren wiisten und, brennen das Land; heller Feuerschein von dem nicht sernen H.ussnsta It2ur»ooi-„m (dem heutigen Angst)
rothet den Himmel; mit mancher anderen Leiche treibt anch die jener Romerin, deren Bild in Hngideos Siedelei steht, den Strom hinab, wird von dem Salmensischer NebiA Hugideos einzigem Freunde, ausgesischt und von
Hugideo in stiller Mondnacht begraben; ein zweites Grab, das er daneben bereitet, laBt er leer. Auch die Leiche eines romischen Centurio kommt herabgeschwommen und wird von Nebi ausgesangen. Hugideo lost von dem
Giirtel des Todten einen zweischneidigen Dolch, und als am andern Morgen der Fischer ihn aussticht, sindet er ihn in seiner Hohle sitzend, von dem Dolche durchbohrt; er begrabt ihn an der Seite der Iungsrau.
Es ist ein Bild voll Poesie, bei dem man nur eines bedauert: daB es nicht noch mehr ausgesuhrt ist. Der Reiz des Mysteriums liegt aus der ganzen Erscheinung Hugideos und aus dem weiBen Marmorbilde. Zwar liistet der
Dichter am Schlusse den Schleier ein wenig und berichtet uns, die schone Romerin, Benigna Serena geheiBen, sei die Tochter eines kaiserlichen Beamten in A."8A» Ilkuracorum ge wesen, wo auch Hugideo einige Zeit
gelebt; sie habe ein Iahr vor ihrem Tode den Schleier als Priesterin der Gottin Knbele genommen. Wir errathen, daB der junge Iuthung und die schone Romerin einander geliebt, aber daB ihrer Vereinigung Hindernisse
entgegentraten, daB jener romische Centurio, dessen Leiche Hugideo mit hohnenden Worten empsangt, des Deutschen verhaBter Mitbewerber war; daB Hugideo, vom Vater des Madchens Zuriickgewiesen, hinweggezogen,
und daB Benigna Serena Priesterin geworden, um einem verhaBten Ehebunde mit einem ungeliebten Manne Hu entgehen. Es ware dem Dichter sicher ein Leichtes ge wesen, diese Vergangenheit der Liebenden uns in
ausgesuhrter Erzahlung vorzusuhren; er hatte hier Gelegenheit gehabt, ein reicheres Bild von der romischen Cultur jener Tage in einer Provinzialstadt aus deutschem Boden und von der Beriihrung derselben mit
altgermanischem Leben zu entwersen, mit den zwei jugendlichen Gestalten als Mittelpunkt. Stil und Sprache sind ganz wie im Ekkehard, auch hier mit einer leisen chronikalisch-alterthiimlichen Farbung, mit denselben
kleinen Wendungen und Eigenheiten. Gesuchte Redeweisen sind auch hier vermieden und nichts Fremdartiges darin; vermieden gesehen hatten wir indeB gern eine so moderne Wendung wie die dem Salmensischer Nebi in
den Mund gelegte: „Alles muB ruinirt sein! sagt Herzog Krokus' selige GroBmutter." Nicht die Anwendung des apologischen Sprichwortes, denn dieses ist jedensalls uralt, stort uns dabei, sondern der moderne Ton, den
dasselbe hier anschlagt.
Die zweite Novelle, „Iuniperns, Geschichte eines Kreuzsahrers", entstand in Donaueschingen, wo der Dichter einige Zeit das Amt eines siirstlich Furstenbergischen Bibliothekars verwaltete. Es war die einzige etwas
langere Station in dem Wanderleben, welches aus die Vollendung des Ekkehard solgte. Scheffel war 1855, unmittelbar nach AbschluB desselben, zum zweiten Male nach Italien und von da (1856) nach Sudsrankreich
gegangen; 1857 sinden wir ihn in Miinchen, dem Kreise der um Konig Max II. versammelten Dichter ange schlos sen; 1858 ging er nach Donaueschingen, wo er bis 1859 blieb. Von seinen Wandersahrten legen die drei
„Aus den Tridentiner Alpen" betitelten Berichte im Franksurter Museum 1856, und drei andere „Aus Siidsrankreich" in Westermanns Monatshesten (Bd. 2, S. 39—46. 522—533. 626 — 642) ZeugniB ab. Sie bekunden auch
des Dichters Begabung stir die darstellende Kunst, denn die beigegebenen Holzschnitte sind nach seinen Zeichnungen gemacht. Die jiingsten solcher Reiseberichte sind die „Aus dem ElsaB" vom Iahre 1872 (in „Ueber
Land und Meer").
In Donaueschingen erschloB sich dem mit besonderer Vorliebe die alemannischen Alterthumer studirenden Dichter ein reicher Schatz in der LaBbergischen Bibliothek, deren altdeutsche Handschristen er ordnete und in
einem gedruckten Cataloge (Stuttgart 1859) beschrieb. Eine dichterische Frucht dieser Studien ist der im Iahre 1866 mit Zeichnungen von A, v. Werner herausgegebene Iuniperus, der uns in die Bliithezeit des ritterlich
hosischen Lebens, in die Zeit des ausgehenden zwolsten Jahrhunderts, in die Periode der Kreuzziige einsuhrt. Die Handlung selbst spielt vor und um 1188, die sie berichtende Erzahlung sallt in den Kreuzzug Friedrich
Barbarossas (1190). Der Stoss ist sreie Ersindung, aber die eulturhistorischen Grundlagen wahr und treu, auch an genealogischen Studien als Unterlage sehlt es nicht, wenn auch die handelnden Personen selbst nicht
geschichtlich sind. Der Dichter kann daher mit Recht sagen, daB er „seinen geschichtverstandigen Lesern weder stosslose Phantasmen noch eingetrocknete Mumien unter Glaskasten, sondern lebendige Gestalten aus alter
Zeit" vorgesiihrt habe. Der Held, ein junger Ritter aus Schwaben, ist aus zwei Iahre zur BuBe verdammt stumm zu sein, und erst vor Akkon, im Kampse mit den Heiden, ist der Zeitpunkt seiner Zungenlosung eingetreten.
Er erzahlt, als Verwundeter im Kloster aus dem Karmel weilend, seine Geschichte. Aus der schwabischen Burg Neuenhalden, als Sohn eines Dienstmannen geboren, wird er als Knabe in die Klosterschule zu Rheinau
gethan, wo er in Diethelm von Blumenegg, ebensalls eines Ministerialen Sohn, einen Genossen und Freund sindet, mit welchem er die Vaeanz oster in Almishosen, aus der Burg des Herrn Markwart, zubringt, in jugendlich
srohen Spielen mit des Burgherrn drei Tochtern. Unter diesen wird die dritte, Rothraut, das Ideal der beiden Knaben. Sie halten es endlich vor Liebessehnsucht im engen Kloster nicht mehr aus, erst Diethelm, dann aus
gleichem Wege Iuniperus — wie der Held nach seiner Vorliebe stir den aus der heimischen Burg wuchernden Wachholder benannt wird — entfliehen und beginnen nun ein aus Ritterschast zustrebendes weltliches Leben.
Bei der Feier der Fastnacht aus Almishosen im Iahre 118« kommt die gegenseitige Eisersucht der jungen Liebhaber zum seindlichen Ausdruck, Rothraut aber will von keinem von ihnen, die sie als halbe Kloster schuler
nicht recht mannesgleich achtet, etwas wissen, sondern wendet ihre Gunst und Huld dem hosischen Rainald zu, mit dem sie nach damaliger „eurtoiser" Sitte sranzosisch „parlieret". Mit der Freundschast ist es aus; bei einer
Begegnung reiten sie gewassnet als ernstliche Gegner einander an und verwunden sich gegenseitig schwer. Da keiner von Rothraut ablassen will, so beschlieBen sie, daB ein Gottesurtheil entscheide, wem sie gehoren soli.
Jeder aus einem leichten Kahn wollen sie von Schasshausen ab den Rheinsall hinuntersahren: wer am Leben bleibt, dessen soil Rothraut sein. Die Geliebte wird heimlich benachrichtigt, daB sie am 5. Mai vom Soller eine
schone „Aventiure" sehen konne; sie steht auch richtig an jenem Morgen aus dem Soller — durch ein rothgesarbtes Glas, damit die Wirkung gesteigert werde, betrachtet sie den Kamps um Leben und Tod, dem zwei junge
treuliebende Herzen hier entgegen gehen. Iuniperus bleibt wie durch ein Wunder am Leben; die Fischer von Rheinau
Noid und«ud. VI, IS, 6
sangen den mit den Wellen Ringenden aus und bringen ihn in's Kloster, wo den zum BewuBtsein erwachenden Iiingling der greise Abt mit strengem Verweis empsangt wegen des gottversuchenden Frevels, den er
begangen. Er legt ihm als BuBe aus, nach dem heiligen Lande zu ziehen und zwei Iahre lang kein Wort zu sprechen. Die ganze Erzahlung wurzelt im Geiste des Mittelalters. Der phantastische Sinn der Ritterzeit ist in dem
romantischen Minnewerben der Iiinglinge, in ihrer tollen Wagesahrt, in der zweijahrigen Stummheit tresslich gezeichnet. Die Loealund Zeitsarben sind auch hier wie im Ekkehard aus den Grund ernstlicher Studien
ausgetragen, und ein lebendiges Gemalde des Zeitalters der Kreuzziige dadurch geschassen worden. Von ergreisender Schonheit und Naturwahrheit ist die Schilderung der schauerlichen Wettsahrt aus dem Rheine.
Die Zeit, die im Iuniperus geschildert ist, bildet den Hohepunkt des mittelalterlichen Lebens und seiner ritterlichen Cultur. Fiir das zwolste und dreizehnte Iahrhundert flieBen namentlich in den hosischen Dichtungen
dieser Periode die Quellen stir eine genaue DetailkenntniB des Lebens, des offentlichen wie des privaten, ungleich reicher und ergiebiger als stir die Zeit, welche Scheffel in seinem ENehard schilderte. Ihn muBte bei seiner
Begabung stir culturgeschichtliche Gemalde die Ausgabe wol locken und reizen, gerade diesen Abschnitt unserer Vergangenheit, der durch die Bliithe unserer alten Poesie einen besonderen Glanz erhalt, .in einem
eulturgeschichtlichen Bilde zusammenzusassen. Schon lange bevor der Iuniperus an die Oessentlichkeit trat, trug sich der Dichter mit diesem Gedanken; es war nach dem ENehard die erste groBere Ausgabe, die er sich
stellte. 1857 besuchte er Weimar und wohnte der Enthullung des Goethe-Schiller-Denkmals bei. Aus dem Heimwege sah er im Sangersaal der Wartburg die Darstellungen aus dem Sangerwettstreit durch Moriz von
Schwind. „Damals," schreibt er, „gedachte ich: Hei, wer so viel ersahren diirste und ersuhre, daB er mit den halbmythischen Schemen dieser mittelalterlichen Sanger, ihrem Leben, Fuhlen und Dichten sammt den starken
und treibenden Kraften ihrer Epoche vertraut wiirde wie mit Goethes und Schillers klarer Zeit." Frau Aventiure, die Muse der ritterlich hosischen Zeit, gewahrte seine Bitte. Sie hat ihn „mit den Gesahrten ihrer Bluthentage
bekannt gemacht, daB mir deren Sprache und Kunst keine sremde mehr ist. Manch guten Rasttag nab' ich jenen Findern wilder Maren gelauscht, manch guten Wandertag bin ich iiber Berg und Thai ihren Spuren, die bis
weit an die Donau hinab weisen, nachgezogen." Damals also ist der Gedanke entstanden, die Zeit des Wartburgkrieges zum Gegenstande einer eulturgeschichtlichen Darstellung zu machen. Der Dichter weilte langere Zeit
aus der Wartburg (im Herbste 1859) und machte seine Studien. Auch hier wie beim Ekkehard nach der Natur selbst, indem er Land und Leute unmittelbar ersorschte. Als Resultat dieser Studien erschien 1863 ein dem
Ekkehard in Riicksicht aus die Form sehr unahnliches Werk, die 1X60 bis 1862 gedichtete „Frau Aventiure, Lieder aus Heinrich von Osterdingens Zeit". Scheffel bezeichnet diesen LiederstrauB, den er dem GroBherzog'
von Weimar widmete, „als unvollkommenen, langsamen und ernsten Studien mit Fiedelklang vorauseilenden Ausdruck ausrichtigen Dankes, den er einem hohen Schirmherrn deutscher Kunst schuldet". Es begreist sich
leicht, daB das Abbild der lyrisch gesarbten und angehauchten Zeit des Minnesangs zunachst auch ein lyrisches und nicht ein episches wurde. Aber der epische Hintergrund sehlt keineswegs, die episch gestaltende Krast des
Dichters verrath sich auch hier in den lyrischen Formen. Das Buch zersallt in verschiedene Liedergruppen, die sich an sest und klar hervortretende Gestalten lehnen, oder wie die Vagantenlieder einen ganzen Stand in
plastischer Weise schildern. Die ersten Lieder, „Wartburglieder" genannt, sind allgemein gehalten, und konnen ebenso gut die Stimmung des Dichters selbst ausdriicken, wenngleich das erste als Wachterlied in der
Neujahrsnacht des Iahres 1200, ein zweites als der Bauleute Sang nach Vollendung des Landgrasenhauses bezeichnet ist. Das letzte, an Walthers Spruch aus den milden Landgrasen und an Wolsrams Kritik von dessen
Umgebung ankniipsend, schildert den Abschied des Sangers von der gastlichen Burg, auch hier in sremdem Gewande des Dichters personliche Empsindung. Den Mittelpunkt der „Frau Aventiure" bildet der von der Sage
in's Iahr 1207 gelegte Saugerstreit, der in einem am Ende des Iahrhunderts entstandeneu Gedichte uns vorgesiihrt wird. So sehr es diesem EreigniB auch an einer realen Grundlage sehlt, so muB das Recht des Dichters doch
unbedingt anerkannt werden, es als Realitat auszusassen. Von den dabei betheiligten Sangern hat Scheffel nur vier vorgesiihrt, zwei in der Geschichte unserer Dichtung wohlbekannte Namen, Wolsram von Eschenbach und
Reimar den Alten, und zwei dem dammernden Gebiete zwischen Sage und Wirklichkeit angehorende, Biterols und Heinrich von Osterdingen. Die vier Lieder, die Wolsram in den Mund gelegt sind, enthalten ebenso viel
Situationsbilder aus des Dichters Leben. Das erste „Im Stegreis" kniipst an Worte Wolsrams in seinem Parzival an; von besonderem Wohllaut ist das zweite „die Ausreise", die einem ahnlichen von Ulrich von Lichtenstein
in Form und Ton nachgebildet ist. Ein anderes siihrt uns Wolsram vor, wie er dem Landgrasen Hermann von Thiiringen den vollendeten Parzival iiberreicht und dabei in echt Wolsramschem Humor iiber sich selber scherzt.
Der sinnige Reimar schlieBt sich zunachst an mit vier Liedern, die sreilich andere Tone anschlagen, als wir sie aus seinen eigenen Liedern kennen. Der sagenhafte Biterols erscheint aus der Kreuzsahrt und nach der
Heimkehr von derselben, trauernd am Grabe des Landgrasen Ludwig. Die bedeutsamst hervortretende Gestalt ist aber der den SchluB bildende Heinrich von Osterdingen. Die halbmythische Figur dieses Dichters, der im
Gedichte vom Wartburgkrieg eine so hervorragende Rolle spielt und dem eine jiingere Tradition das Gedicht vom Konig Laurin beilegt, muBte gerade wegen des Rathselhasten seiner Erscheinung einen Dichter reizen. Wie
schon in den Tagen der romantischen Schule Novalis ihn zum Heiden eines Romanes und zum Trager seiner eigenen mystischen Gedanken machte, so hat unzweiselhast auch Scheffel ihn zum Mittelpunkt seines epischen
Gemaldes zu machen die Absicht gehabt. Die auch der Frau Aventiure beigegebenen gelehrten Anmerkung.'n, die des Dichters griindliche Studien bekunden, verrathen uns, daB Scheffel Heinrich von Osterdingen
keineswegs stir eine sagenhaste Personlichkeit halt. Er weist mit Recht aus das in der Donaugegend vorkommende Geschlecht von Oftheringen, das seit der Mitte des zwolsten Iahrhunderts urkundlich vorkommt, und ist
geneigt, im Hinblick aus den ihm beigelegten Laurin und die Forschungen iiber den Kiirenberger ihm einen Antheil an der Absassung des Nibelungenliedes zu geben. Wie es auch mit der Berechtigung dazu vom
wissenschastlichen Standpunkte stehen moge, der Dichter hat ohne Zweisel das Recht so zu versahren. Und so entspricht die bedeutende Stellung, die Scheffel den Osterdinger im Kreise seiner Dichtergenoffen einnehmen
laBt, seiner aus das Vaterlandische und Nationale gerichteten Gesinnung, durch welche er einen scharsen Gegensatz gegen die aus sranzosischen Quellen und Stoffen suBenden Dichter bildet. Den scharssten Ausdruck sindet
diese Gesinnung in dem „Riigelied wider Wolsram von Eschenbach und die ubereisrigen Nachahmer sranzosischer Art und Dichtung", worin ihnen auBer der Vorliebe stir sremdlandische Stoffe auch die stir sranzosische
Worte und Redensarten vorgeworsen wird. Die ihm in den Mund gelegten Lieder sind wieder Stimmungsbilder aus dem Leben und Sinnen des Dichters und geben in ihrer Gesammtheit ein anschauliches Bild von seiner
Personlichkeit. Hervorheben will ich besonders die prachtigen und srischen Tanzlieder, unter denen das zweite mit dem Resrain „Der Heini von Steier ist wieder im Land" wol den Preis verdient. DaB er der „blauen
Blume" nachjagte, ist ein aus Novalis und der romantischeu Schule hineingetragener Zug, den wir bei dem klaren gestaltenschaffenden Dichter gern vermiBt hatten.
DaB der Dichter nicht auch Walther von der Vogelweide eingesiihrt hat, kann besremden; in dem epischen Bilde, das uns der Roman selbst geliesert hatte, wiirde er sicherlich nicht gesehlt haben. In der „Frau Aventiure"
ist er durch seinen Spielmann, Berlt den jungen, vertreten, eine sreie Ersindung des Dichters. Auch die thatsachlichen Ziige, die des Spielmanns Lieder enthalten, sind Ersindung: ein Liebesverhaltnitz Walthers mit einer
Burgsrau in der Dauphins, aus die er Lieder gesungen, denen er jedoch in seinem „Liederpsalter" als undeutsch keinen Raum gegonnt habe. Wir werden wol nicht sehlgehen, wenn wir hierin Reminiseenzen und Nachklange
aus des Dichters eigenen Wanderungen durch die Dauphins erblicken. Die Ersindung aus Walther zu ubertragen, mag Scheffel durch den Spruch Walthers angeregt worden sein, worin er seiner Wanderungen von der Seine
bis zur Mur gedenkt.
Doch nicht in dem Kreise der Wartburgdichter und ihrer Gegensatze erschopsen sich die Gestalten der „Frau Aventiure". Erganzend treten zunachst die Lieder der sahrenden Schuler hinzu, und in ihnen, den lateinischen
wie den deutschen, zeigt sich, wie sehr Scheffel in eine serne Zeit sich hineinzuleben versteht. Die Verdeutschung des horazischen Gedichtes „H.a* Lualiki-olium" ist nicht eine Uebersetzung in unserem Sinne, sondern eine
Umdeutschung im Sinne des Mittelalters. Wie die Naivetat mittelalterlicher Dichter antike Stoffe ohne Weiteres in das Gewand der eigenen Zeit, in die unmittelbare Gegenwart und Umgebung hiillt, die Heiden des
Alterthums in hosischem Kostiim und als Rittersleule einherschreiten — so werden in dieser Umdeutschung die romischen Verhaltnisse und romischen Loealbeziehungen in's „geliebte Deutsch" ubertragen. Das „ai3 solve
triKus, liFn» super toco l»rFs repouas, atAue dernFuius cteprome cluaarinium 8adiim, o Ilialiarolis, iuerum 6iot»/ wird so wiedergegeben:
Hu hu wie kali! Heiz' tapser ein,
Hoi' aus dem Holzstall Scheit um Scheit,
Ein starkes FaBlein Bolmer Wein,
O Thaldurchschnarcher, halt' bereit.
Der „Thaldurchschnarcher" ist eine vollstandig Fischartsche Umgestaltung; Fischart machte ganz ahnlich aus dem Podgra einen „Psotenkramps" :e. Herrliche Poesie in echt volkstumlichem Tone klingt aus dem „Irregang",
der an ein altes deutsches Gedicht ankniipst. Wie durch diese Vagantenlieder der Gesichtskreis erweitert wird, so durch die Heranziehung einzelner sranzosischer Gedichte, einer aumuthigen Nachbildung eines
altsranzosischen niedlichen Tanzliedes, einer Verdeutschung des von Richard Lowenherz in der deutschen Gesangenschast gedichteten Liedes (wobei sreilich gleich im Ansang dem Uebersetzer ein artiges MiBverstandniB
begegnet ist) und eines Liedes, das Crestien de Troies, dem welschen Vorbilde Hartmanns und Wolsrams, in den Mund gelegt ist. Eine Erweiterung nach anderer Seite ist die Gestalt des Byzantiners Anastasios, der uns in
diisterem Gemalde das verrottete Byzanz um 1204 vorsiihrt. Wie diese Gestalt, so sind sreie Ersindung des Dichters auch der kecke aumuthige Vogt von Tannenberg, der unverbesserliche Iunggeselle, der sich endlich dem
Ioche der Ehe beugt und Kinder wiegt, der humoristische Monch von Banth, mit dem kostlichen Berichte von den Miicken, und das duster schone Gemalde, welches uns Magnus vom sinstern Grunde entrollt.
In welchem MaBe der Dichter sich in Sprach- und Denkweise jener Zeit eingelebt, zeigt am besten der EinfluB, welchen die mittelhochdeutsche Sprache aus seine eigene ausgeiibt hat. Nicht bios im ganzen Colorit,
sondern auch in einer Menge von Wortern, die er unmittelbar aus dem Altdeutschen herubergenommen, die aber doch wol dem Laien nicht immer verstandlich sein mochten. So „der Saelde Thau", „glasten" stir glanzen,
„vreislich" stir surchtbar, die Form „hirz" stir Hirsch (dies ganz ohne Noth), dorperlich — baurisch, garzun Knappe, wkt stir Kleidung, Verge stir Fahrmann, Unterschlaus im Sinne von Versteck*), „im schmucken
Convenanz", oder „wer sich aus Dichten peint", „man gibt ihm ein Iungsrau kiissen". Auch an eignen kiihnen Bildungen sehlt es nicht, „der Bedeut" stir die Bedeutung, Tuck stir Tiicke, luck stir liickenhast, Zisch
Zischen oder Gezisch, verwindigt, „Hechte sorgt" — besorgt mein Garn in's Haus, mich sehnt ich sehne mich u. a. Nicht immer sind diese Neubildungen gerade gliicklich, z. B. „und war am Niedern kieblich" (im
Reime aus vergeblich) oder „Gebrustschutzt sitzen die Schoffen beim Wein." Sehr hiibsch dagegen ist das lautmalende „susurrend", womit in dem erwahnten horazischen Liede das „suzurro" verdeutscht wird.
Alle die erwahnten Gestalten, die vom Dichter vorgesundenen wie die von ihm ersundenen, wiirden als handelnde Personen in dem vom Dichter beabsichtigten Culturromane „Der Sangerkrieg aus Wartburg" ihre Stelle
gesunden haben. Schon aus den aiAeoti lusmdra poet»s laBt sich das Bild in seinen Hauptziigen zusammensetzen; aber ganz anders wiirde es noch gewirkt haben, wenn die hier wirksame Gestaltungskrast um eine epische
Handlung als Mittelpunkt sich gerankt hatte.
Seit der Veroffentlichung des Iuniperus (1866) ist Scheffel nur noch mit einem Werke hervorgetreten, den Bergpsalmen (1869). Es ist eine lyrische Dichtung, aber von ganz anderem Charakter als die Lyrik im Trompeter
oder im Gaudeamus, auch als in der Frau Aventiure. Sie ist im Odenstil gehalten und bewegt sich in sreien, meist reimlosen Rhythmen. Hymnenartig wird die einsame GroBe der Alpen welt uns vorgesiihrt, aber nicht als
lyrische Stimmung des Dichters, sondern seine gestaltenschaffende Phantasie stellt auch hier eine Gestalt der Vergangenheit in den Mittelpunkt und macht sie zum Trager der seierlichen Gedanken. Das ist ein
charakteristischer Zug der Schesselschen Lyrik, dem wir schon im Trompeter, dem wir in der Frau Aventiure, im Gaudeamus und endlich auch in den Bergpsalmen begegnen. Scheffels Lyrik baut sich durchaus aus
epischem Hintergrunde aus, sie objeetivirt wie es die Lyrik des Volksliedes thut. In den Bergpsalmen ist es Sanet Wolsgang, der Bischos von Regensburg, der im neunten Iahrhundert lebend, „aus
*) Wie wenig solche altdeutsche Ausdriicke verstanden werden, zeigt die derbe Randbemerkung in einem mir in die Hand gekommenen Exemplare, wo bei „Unterschlaus" mit Bleistist steht: Unsinn!
Kaisersehde und Fiirstenstreit entflieht zur Alpeneinsamkeit" hinan, an den Abersee in den Salzburgischen Alpen. Dort hoch oben eine Siedelei und ein Einodkirchlein erbauend, siihlt er dem Larm und Drang des Lebens
sich enthoben. In Sturmeswehen tritt ihm der Herr entgegen, im Nebel drangen versuchend und lockend die Spukgestalten vergangener Zeit sich an ihn heran; aber der Nebel weicht sreundlichem Sonuenglanz, aus dem
Bergsee schaukelt sich der Kahn des Bischoss, der dem Fischsauge obliegt. In die Einsamkeit der erhabensten Gletscherwelt steigt er empor, um endlich, als die Sennhirten gegen des Sommers Ende thalwarts ziehen, auch
er, dankenden Herzens, hernieder zu steigen. Die Gestalt des Bischoss ist jedoch nur Rahmen: den Mittelpunkt bilden die Naturschilderungen, in denen die auch die unbelebte Natur zu Gestalten belebende Dichterkrast
hervortritt, unter Benutzung der heidnischen mythologischen Darstellungen, die gerade damals, im neunten Iahrhundert, noch lebendig genug im VolksbewuBtsein waren, um auch einem christlichen Bischos noch als
machtig empsundene Gewalten zu erscheinen. Es begreist sich, daB die darstellende Kunst eines A. von Werner sich gelockt siihlen muBte, des Dichters Schilderungen in Bildern zu gestalten, und diese Bilder stehen an
reicher Phantasie jenen dichterischen Gebilden durchaus nicht nach. Der geringere Ersolg dieser Dichtung liegt wol mit im Stoffe; das hymnenartige Element der Bergpsalmen ist auch nicht die ureigenste Sphare der
Schesselschen Poesie.
Wenn wir die Bergpsalmen abrechnen, so ist stir die letzten zehn Iahre nahezu ein Verstummen der Schesselschen Muse wahrzunehmen. Es ist merkwurdig, daB dies Verstummen ziemlich genau mit dem Aushoren der
Wanderjahre des Dichters, mit dem dauernden Einleben in Karlsruhe (seit 1865) zusammentrifft. Wir. wollen dabei nicht vergessen, daB manches innere und auBere Leid iiber den Dichter hereingebrochen ist, daB ein kaum
begrundetes hausliches Gliick ihm zerstort wurde, und aus den Trummern desselben ihm ein einziger Knabe blieb, in dessen Erziehung er sortan eine Hauptausgabe seines Lebens erblickte. In den letzten Iahren verlebt er
die Sommer- und Herbstmonate regelmaBig aus seiner Villa Seehalde am Bodensee, in Radolsszell, in derselben Gegend, welche er durch seinen ENehard aus's neue mit dem Zauber unverganglicher Poesie geschmiickt
hat, mit dem Blick aus den Hohentwiel und die ganze Herrlichkeit des schwabischen Meeres. Mancher mochte denken, daB dies idyllische Leben in landlicher Zuriickgezogenheit, in einer reizenden Umgebung den
schopserischen Trieb des Dichters aus's neue beleben muBte. Nun, mit der Zuriickgezogenheit ist es nicht so weit her, im Sommer zieht der Strom der Touristen auch jenes Weges, und der beruhmte Name lockt manchen
Wanderer an, nicht immer nur solche, die dem Dichter im Verkehr Anregung bieten, sondern ost genug und uberwiegend die Neugier, die sern zu halten schwer sein mag.
Scheffels Dichtungen entstanden in ziemlich rascher Auseinandersolge in einem Zeitraum von etwa zehn Iahren. Ein Ausruhen war ihm, das begreist man, BedursniB; unablassiges dichterisches Schaffen verzehrt und
reibt aus. Das hat Scheffel selbst sehr richtig ausgesprochen. „Das menschliche Gehirn," auBerte er gegen einen Freund, „gleicht einem Saiteninstrument; wenn es iibermaBig gespielt wird, zerspringen die Saiten, nur daB bei
ersterem keine Reparatur mehr moglich ist. Nun gibt es aber kaum eine anstrengendere, ausreibendere Thatigkeit, als die des Dichters, der mit voller Krast seiner Seele und aus seinem Innersten heraus schafft. Da werden
alle Kraste des Geistes in gleicher Weise angespannt. Deshalb sind stir ihn Ruhepausen nothiger als stir irgend einen andern." Wenn auch jetzt nach langerem Ausruhen der Dichter zum Schaffen eines groBeren Werkes
sich nicht gedrangt siihlt — ist es, miissen wir sragen, das BewuBtsein, daB er sein Bestes gegeben, daB der lebendige Born der Production, der keines kunstlichen Druckwerkes bedars, versiegt ist? Hat, wie einst Uhland,
in noch sruheren Lebensjahren, vom Dichten Abschied nahm, um sich ganz dem gelehrten Triebe hinzugeben und uns Meisterwerke der Forschungsarbeit zu liesern — so auch Scheffel dem dichterischen Schaffen
Lebewohl gesagt, um die iibrige Zeit seines Wirkens und Forschens der heimischen Alterthumskunde zu widmen? Wenn es so ist, dann iibt der Dichter eine weise Enthaltsamkeit, die seinem dichterischen Namen eher zum
Vortheil als zum Nachtheil gereichen wird. Unzweiselhast besser ist es, man sagt von einem Dichter: Wie schade, daB er nicht noch mehr derartiges geschaffen hat! als daB man bei nie versiegender Produetionslust, aber
abnehmender Produetionskrast ausrust: Hatte er doch das nicht mehr geschrieben — es ware besser stir seinen Ruhm!
Gleichwol geben wir die Hoffnung noch nicht aus, daB wir dem Dichter uoch einmal aus dem ihm so vertrauten Gebiete des eulturhistorischen Romans, und vor allem aus dem so lockenden Boden des dreizehnten
Iahrhunderts begegnen werden!
Heber die Vedeutung des Vlutes.
Von
6. Voit.
— Miinchen. —
>ie Leistungen des lebenden thierischen oder menschlichen Organismus erscheinen den Meisten vollig unerklarlich und von ganz anderer Art zu sein als die in der ubrigen Natur. Wenn auch viele derselben unserer
Einsicht noch verschlossen sind, so sind doch andere schon aus ihre Ursachen zuriickgesiihrt. Es ist meine Absicht, an einigen, allerdings verhaltniBmaBig einsachen Beispielen zu zeigen, daB auch die
Lebenserscheinungen, wie die Vorgange an den unbelebten Korpern der Ersorschung und Erklarung zuganglich sind.
Es wiirde mir schwer sallen, selbst durch eingehende Betrachtungen allgemein verstandlich das zu desiniren, was man unter Leben versteht.
Gewohnlich sieht man die sichtbaren Bewegungen des Leibes als das hauptsachlichste Anzeichen des Lebens an. Ein in tieser Ohnmacht besindlicher Mensch scheint deshalb den Meisten leblos zu sein, und zum Leben
zu erwachen, sobald er wieder Bewegungen seiner Glieder zeigt. Aus Grund jener Vorstellung wird der Tod mit dem Schlase, in welchem wir kaum Athemziige des Ruhenden wahrnehmen, verglichen. Die Indianer hielten
die tickende Taschenuhr der WeiBen stir ein lebendes Wesen, weil sie die Ursache der Bewegung ihrer Theile nicht zu ergriinden vermochten, wahrend jetzt die Physiologen im Gegensatze dazu bestrebt sind, die
Bewegungen in den lebenden Organismen aus das Spiel eines Mechanismus zuriickzusuhren.
Diese groben sichtbaren Bewegungen sind jedoch nur eine Folge von ununterbrochen vor sich gehenden, viel seineren Bewegungen der kleinsten Theilchen der Materie des lebenden Korpers, welche sich auch da sinden,
wo wir mit unserem Auge vollkommene Ruhe zu erblicken meinen, wie
z. B. in einem erschlafften Muskel, einem Nerven oder einer Druse. Keiner der den Korper zusammensetzenden Stoffe ist stir sich belebt; das Leben wird vielmehr hervorgerusen durch die unter bestimmten Bedingungen
stattsindende Wechselwirkung jener Stoffe in den in eigenthiimlicher und charakteristischer Weise ausgebauten, sogenannten organisirten Formen. Dabei geht im groBen Ganzen eine immer weiter vorschreitende Spaltung
und Zerstorung eomplieirter Verbindungen zu einsacheren vor sich, wodurch einerseits die stir das Auge nicht erkennbaren, die Lebenserscheinungen bedingenden Bewegungen der kleinsten Theilchen eingeleitet werden,
andererseits aber auch die Notwendigkeit eines bestandigen Ersatzes und der Wegsuhr des Verbrauchten eintritt.
Wenn wir bei der Betrachtung der im unendlichen Weltraume anch einer bestimmten Ordnung vertheilten und sich bewegenden Himmelskorper stets von Neuem von Bewunderung ersiillt werden, so ist es vor Allem die
GroBartigkeit der Massen und der Entsernungen, welche unsere Sinne gesangen halt und uns deshalb mehr wie andere Naturerscheinungen das Walten noch weiterer als menschlicher Kraste darthun.
Aber die Vorgange an den kleinsten Theilchen der Materie und in den geringsten Entsernungen, wie z. B. die bei dem Entstehen und dem Zersall einer chemischen Verbindung oder die, welche am Lebendigen ablausen,
sie sind nicht minder bewundernswerth. Auch hier erkennen wir ein ebenso gesetzmaBiges Wirken der Materie, nur von kleinen Massen im kleinsten Raume. Das, was wir diesem Mikrokosmos ablauschen, ist wahrlich
gleich bedeutungsvoll wie die Erscheinungen des Makrokosmos.
Das Leben kommt, wie gesagt, nur unter bestimmten Bedingungen zu Stande. Es ist z. B. eine gewisse Temperatur der Umgebung dazu nothig, denn wenn der Korper eines Menschen durch und durch aus ->- 19°
abgekiihlt oder aus -s- 42" erwarmt ist, so erlischt das Leben, da bei solchen Temperaturen die vorher erwahnten Prozesse nicht mehr in richtiger Art vor sich gehen.
In ahnlicher Weise zeigt sich das Leben der hoheren thierischen Organismen abhangig von dem Vorhandensein des Blutes, dessen Bedeutung ich in Folgendem darlegen will.
Das Blut besteht aus Zellen, den Blutkorperchen, welche in einer Fliissigkeit, dem Plasma, schwimmen. Die Blutkorperchen machen etwa Eindritttheil, das Plasma Zweidritttheile des Blutes aus.
Wird bei einem Menschen durch einen ungliicklichen Schnitt eine groBere Pulsader verletzt, so scheint mit dem entstromenden Blute auch das Leben zu entweichen. In wenigen Augenblicken nehmen wir an dem vorher
in vollster Krast besindlichen Organismus kein Zeichen des Lebens mehr wahr. Diese und andere Beobachtungen hatten sriiher dazu gesiihrt, den Sitz des Lebens in das Blut zu verlegen und dem letzteren die
merkwiirdigsten Eigenschasten und Funetionen zuzuschreiben.
Zu einer Zeit, in der man iiber die Rolle anderer Organe, z. B. der Muskeln, des Auges, schon ganz richtige Vorstellungen hatte, war die Bedeutung des Blutes noch wenig ausgeklart. Man erkannte seine Wichtigkeit stir
das Leben der Organismen, ohne jedoch naher sagen zu konnen, worin diese bestand. Es klebte daher dem Blute lange etwas GeheimniBvolles an, es erschien als ein ganz besonderer Sast, und noch in unseren Tagen
verbinden Manche damit sonderbare Begriffe und besitzen davor eine eigenthiimliche Scheu.
Nach den jetzigen Anschaunngen hat das Leben nicht ausschlieBlich seinen Sitz an irgend einer Stelle des Korpers, von welcher aus der letztere regiert wird. Das Leben des Organismus ist vielmehr das Resultat der
mannichsaltigsten Prozesse aller seiner Theile, von denen jeder, auch der kleinste, lebt.
Es konnen daher die Lebensvorgange nicht im Blute allein ablausen, ja es laBt sich zeigen, daB stir viele Thiere zum Leben gar kein Blut nothig ist.
Die niedersten Thiere enthalten namlich kein Blut. Dieselben sind kleinste Gebilde, deren Leib aus der umgebenden Fliissigkeit die Nahrungsstosse bezieht und das Verbrauchte dahin abgibt.
Wenn aber viele kleinste Theilchen oder Zellen zu einem zusammengesetzten Organismus vereint sind, dann ist eine Zusuhr oder Absuhr jener Stoffe in der angegebenen Weise nicht mehr moglich, weil dabei nur die
wenigen Zellen der auBeren Oberslache direet mit den Nahrungsstoffen in Beriihrung treten wiirden.
Bei einem hoheren Thiere sindet sich bekanntlich ein den Korper durchsetzender Schlauch, in welchen die seste und sliissige Nahrung ausgenommen wird; serner ein besonderes Organ, wo das Sauerstoffgas der
atmospharischen Lust eintritt, und andere Stellen, zu denen die unbrauchbaren Zersallproduete gelangen. Es miiBten dabei also, ohne eine weitere Veranstaltung, die gelosten Nahrung s stoffe von dem Magen aus von Zelle
zu Zelle nach der Peripherie durchsickern, oder die in den Zellen entstandenen Zersetzungsproduete langsam von Theilchen zu Theilchen sortwandern, bis sie endlich die Ausscheidungsorgane sanden.
Die Folge ware gewesen, daB die dem Verdaunngs schlauch zunachst gelegenen Zellen in erster Linie die neuen Stoffe bezogen hatten und viel reichlicher damit versorgt worden waren als die entsernteren, welche nur
das erhalten hatten, was die besser situirten iibrig gelassen.
Es war daher die Ausgabe zu ersiillen, alle Zellen des ganzen groBen Korpers gleichmaBig zu ernahren und die unbrauchbaren Stoffe rasch wegzusiihren, gerade so wie bei einem einzelligen Organismus, welcher in der
die Nahrung enthaltenden Fliissigkeit schwimmt. Dies ist ermoglicht durch vielsach im Korper verzweigte, mit dem bewegten Blute ersiillte Kanale, in welche die neuen Stoffe aus dem Darm und von der Lunge eintreten,
und welche die verbrauchten Stoffe zu den Ausscheidungsorganen, der Lunge und der Niere, siihren.
Das BlutgesaBsystem ist, wie bekannt, ein in sich geschlossenes Rohrensystem, das an einer Stelle seiner Bahn einen das Blut treibenden Muskel, das Herz, enthalt. Die sich verastelnden Arterien bringen das Blut nach
den Organen, wo sie sich unter Bildung eines breiten Strombettes in die seinsten Rohrchen, die Capillaren, auslosen, welche in den Organen ein enges Maschennetz bilden, aus welchem sich die das Blut zum Herzen
zuriicksiihrenden Venen sammeln. Durch diese Anordnung werden die in den Capillarmaschen liegenden Zellen und kleinsten Theilchen der Gewebe von einer Fliissigkeit umspiilt, aus welcher den Zellen die zum Leben
nothwendigen Stoffe geliesert werden und in welche das in den Zellen Verbrauchte abgegeben wird.
Das Blut ist darnach ein durch den ganzen Korper verzweigtes Organ. Darin und in seiner Fliissigkeit und Beweglichkeit liegt seine ganze Bedeutung; nur dadurch kann neues Material bis zu den kleinsten
Organtheilchen gebracht und das Zerstorte in kiirzester Zeit sortgeschafft werden. Die BlutgesaBe stellen WasserstraBen dar, welche den regsten stofflichen Verkehr der einzelnen Theile des Korpers unterhalten und wie
Drainagerohren die Absuhr besorgen.
Die zusammengesetzten Organismen sind nicht alle in gleichem Grade von der stofflichen Erneuerung und Reinigung abhangig. Es gibt Thiere, in deren Leib die Zerstorung eine weniger intensive ist, welche daher
langere Zeit ohne erneute Zusuhr durch das Blut sortleben. Froschen vermag man das Blut vollig durch eine verdiinnte Kochsalzlosung zu ersetzen, ohne daB sosort der Tod eintritt, das Thier hiipst vielmehr noch Stunden
lang wie in normalem Zustande umher. Ganz anders verhalten sich in dieser Beziehung die Saugethiere und der Mensch. Wird die Hauptpulsader eines Beines unterbunden, so ist in demselben Momente der Wille nicht
mehr im Stande es zu bewegen; die Umschniirung der das Blut zum Gehirn tragenden GesaBe hat alsbald den Tod zur Folge; das Steckenbleiben eines kleinen Gerinnsels in der die Netzhaut unseres Auges versorgenden
Arterie bewirkt sosortige Blindheit.
Das Blut muB sich in bestandiger Kreisbewegung besinden, um seiner vorher angegebenen Ausgabe zu geniigen. Wiirde es stagniren, dann konnte es nicht in jedem Augenblicke die Organe mit neuen Stoffen versehen
und das Schadliche entsernen. Die Geschwindigkeit, mit der das Blut durch die GesaBe stromt, dars deshalb nicht unter eine gewisse Grenze sinken. Die Stromungsgeschwindigkeit betragt in den groBeren Arterien 300—
400° "n in der Seeunde; sie laBt sich messen aus der Zeit, welche das Blut nothig hat, um eine in eine Arterie eingeschaltete gebogene Glasrohre von bekannter Lange zu durchlausen. In den Capillaren, in denen man an
durchsichtigen Theilen die merkwiirdigen Erscheinungen der Blutbewegung mit dem Mikroskop zu betrachten vermag, wird wegen der Verbreiterung des Strombettes in einer Seeunde nur ein Weg von 7z""" zuriickgelegt.
Da die Lange der Capillarbahn etwa A""° betragt, so vergeht nur eine Seeunde, um ein Blutkorperchen durch sie hindurchzusuhren, und doch gehen in dieser kurzen Zeit die lebhastesten und eingreisendsten Umanderungen
im Blute durch die Thatigkeit der Qrgane vor sich.
Die Stromung des Blutes wird nicht direet durch das Herz, sondern dadurch bewirkt, daB der Druck des Blutes in den Arterien, wie gleich naher erortert werden soli, betrachtlich groBer ist als in den Venen und daher
eine Ausgleichung von der starker zur schwacher gespannten Stelle stattsindet. Das Herz macht nur den Druck im GesaBsystem ungleich; hort das Herz zu schlagen aus, so steht nicht alsbald die Blutbewegung still, sie geht
vielmehr noch sort, bis der Druck in den Arterien und Venen der gleiche ist.
Die Bewegung des Blutes in den Kapillaren dars serner nicht eine intermittirende sein. Die eontinuirliche Stromung ist aus eine hochst einsache Weise erreicht. Treibt man stoB weise, wie es durch die rhythmischen
Zusammenziehungen des Herzens geschieht, Fliissigkeit in eine starrwandige Rohre, z. B. eine Bleirohre ein, so tritt dieselbe nur bei jedem StoBe aus. Wendet man aber eine elastische Rohre an, dann dehnt sich dieselbe
durch das Einpressen der Fliissigkeit aus, und indem sie in der Zwischenzeit wieder zusammensinkt, wird das Ausstromen eontinuirlich. Die BlutgesaBe sind nun auBerordentlich elastisch wie Kautschnkschlauche und
be wirken dadurch eine ununterbrochene Stromung auch wahrend der Erschlaffung des Herzens. Haben die GesaBe, wie es bei Erkrankungen derselben eintritt, ihre Elastieitat eingebiiBt, dann leidet durch die Unterbrechung
der Stromung die Versorgung der Organe.
Durch die rasche Bewegung des Blutes wird es verstandlich, wie die in die Blutbahn gelangten Stoffe in der kiirzesten Zeit im ganzen Korper verbreitet werden und in wenigen Seeunden an entsernten Stellen ihre
Wirkung ausiiben oder in Seereten von Driisen nachzuweisen sind.
Man kann untersuchen, wie lange Zeit ein Bluttheilchen braucht, um von einer Stelle des GesaBsystems aus den ganzen Blutkreislaus zu durchwandern, also z. B. von dem rechten Herzen durch die Lunge, das linke
Herz, die Korperarterien, die Venen zum rechten Herzen zuriick. Der lange Weg ist in 2 A Seeunden zuriickgelegt.
Da die BlutgesaBe geschlossene Rohren sind, so miissen die Stoffe, welche aus dem Blute in die Gewebe dringen, durch Membranen hindurch gehen und zwar durch die auBerordentlich diinnen Wandungen der
Capillaren, welche iiberhaupt den Verkehr zwischen dem Blute und den Geweben vermitteln.
Ein einsacher Austausch der in den Fliissigkeiten gelosten Stoffe durch die Membran hatte viel zu lange Zeit in Anspruch genommen. Es wird vielmehr das Blutplasma durch die Wandung der Capillaren
hindurchgepreBt oder hindurchsiltrirt und zwar durch den in den GesaBen vorhandenen Druck, den Blutdruck.
Durch jede Zusammenziehung des Herzens wird eine Portion Blut, etwa 180°°, in die bluthaltigen Arterien getrieben. Dieses Blut ist ansangs nicht vollstandig durch die engen Capillaren abgeslossen, wenn wieder eine
neue Portion Blut durch die solgende Zusammenziehung anlangt; es staut sich deshalb das Blut in den ausgedehnten Arterien so lange, bis der dadurch bewirkte Druck so groB ge worden ist, daB eben so viel abstromt als
zuflieBt.
Dieser aus jedem Bluttheilchen sowie aus der GesaBwandung lastende Druck ist in den Arterien hochst bedeutend. Man kann ihn messen, indem man eine senkrechte Glasrohre seitlich in eine Arterie einsetzt und zusieht,
wie hoch das Blut in der Rohre ansteigt. Es steigt darin 2— 27A Meter hoch. In den Capillaren, wo die groBten Hindernisse schon besiegt sind, betragt der Druck nur mehr etwa 400""°.
Die Bewegung des Blutes und der groBe Druck, welcher die der Stromung entgegenstehenden Widerstande zu iiberwinden hat, wird durch eine kleine Maschine, das Herz, hervorgerusen. Man macht sich gewohnlich
keine Vorstellung davon, welche gewaltige Leistung unser Herz vollbringt, da wir in gesunden Tagen gliicklicher Weise nur selten, etwa bei einer sreudigen Erregung, von- seinem geschastigen Treiben etwas ersahren.
Dieselbe ist so bedeutend, weil der Herzmuskel Tag und Nacht, so lange unser Leben wahrt, thatig ist. Die Arbeit des Herzens laBt sich bestimmen, wie die Leistung einer Maschine, indem man ermittelt, welches Gewicht
das Herz bei jeder Zusammenziehung hebt und aus welche Hohe dasselbe gehoben wird; man sagt auch hier, die Leistung betrage 1 Kilogrammmeter, wenn 1 Kilogramm Gewicht aus 1 Meter Hohe gehoben worden ist. Mit
jedem Schlag der linken Herzkammer werden ohngesahr 188 Gramm Blut in den Ansang der Arterien gepreBt und zwar entsprechend einem Druck von 3,2 Meter; dies betragt 0,i88 Kilogramm X 3,2 Meter — 0,602
Kilogrammmeter. Wenn nun in der Minute 75 Herzschlage ersolgen, so macht dies in 1 Minute 45,2 Kilogrammmeter oder in 24 Stunden 65,0«A> Kilogrammmeter. Die Arbeit der rechten Herzkammer ist geringer wie
die der linken; die tagliche Arbeit beider Kammern, ohne die der Vorkammern, betragt etwa «7,00«) Kilogrammmeter d. h. es wird dadurch eine Last von 87,0c)0 Kilogramm Gewicht 1 Meter oder eine solche von 1
Kilogramm Gewicht 8 7,(>c)c> Meter hoch gehoben. Fiir einen Arbeiter rechnet man bei einer Arbeitszeit von 8 Stunden eine Arbeit von 250,cX)0 ililogrammmeter; der kleine Herzmuskel leistet daher den dritten Theil
der Tagesarbeit eines angestrengt thatigen Mannes.
Unter dem vorher angegebenen Drucke wird durch die nur 7z«„"""
dicken Wandungen der Capillaren bestandig Blutplasma mit alien darin gelosten Bestandtheilen und Nahrungsstossen gepreBt, die Blutkorperchen gehen durch die Poren der Wandung nicht hindurch. Die ausgepreBte, siir
alle Organe nahezu gleiche Ernahrungssliissigkeit umspiilt nun die kleinsten Theilchen der Organe; dieselben nehmen davon aus, zerstoren einen Theil und behalten das, was sie siir sich brauchen.
Es wird aber mehr Plasma aus den BlutgesaBen in die Organe besordert als diese nothig haben. Der UeberschuB wird durch den durchwirkenden Blutdruck groBtentheils in die LymphgesaBe eingetrieben und bildet die
Lymphe. Diese GesaBe entspringen mit ossenen Miindungen in den Maschen des die Organe durchsetzenden Bindegewebes und stehen an ihrem eentralen Ende in Zusammenhang mit den BlutgesaBen, so daB das
iiberschiissig aus den BlutgesaBen in die Gewebe iibergegangene Plasma wieder in die BlutgesaBe zuriickkehrt.
Aus diese Weise existirt neben dem Blutstrom in den BlutgesaBen ein zweiter machtiger Strom von Plasma oder von Ernahrungssliissigkeit durch die Organe, der aus seinem Wege manche der von den Zellen erzeugten
Zersetzungsproduete ausnimmt und dem Blute zusiihrt.
Zu den bis jetzt betrachteten Vorgangen der Speisung der Zellen des Korpers mit Nahrungsstoffen geniigt das Blutplasma. Aber auch die in dem Plasma schwimmenden Blutkorperchen haben ihre groBe Bedeutung,
insosern sie die Trager des aus der Lust eingeathmeten Sauerstosss sind.
Es ist allgemein bekannt, daB zu den Stoffen, welche die Zellen zum Leben bediirsen und zu denen, welche als unbrauchbar entsernt werden miissen, auch Gase gehoren.
Der Wechsel der Gase hatte durch eigene im ganzen Korper verzweigte, lusthaltige Ventilationsrohren geschehen konnen, wie es bei den Insekten der Fall ist. Eine solche Anordnung ist jedoch bei den hoheren Thieren
nicht durchgesuhrt, sie hatte auch eine groBe Complieation mit sich gebracht; die Liistung der Gewebe ist vielmehr ebensalls den BlutgesaBen iiberlassen.
Das Sauerstoffgas der uns umgebenden Lust ist das stir das Leben nothwendige Gas, und die in den Geweben dnrch den Zersall entstehende Kohlensaure das hauptsachlichste schadliche Gas. Der Sauerstoff wird von der
Lunge, wo er in das Blut eintritt, bis zu den Geweben getragen, die Kohlensaure nimmt den umgekehrten Weg, von den Geweben durch das Blut zu der Lunge.
Der in den rothen Blutkorperchen eingeschlossene rothe eisenhaltige Farbstoff hat die merkwurdige Eigenschaft, Sauerstossgas zu verdichten und locker chemisch zu binden. In dem hellrothen arteriellen Blute ist mehr
Sauerstoff enthalten, im dunkelrothen venosen Blute mehr Kohlensaure. 100°° Arterienblut binden etwa 17°° reinen Sauerstoff. Die in den Geweben sich immer weiter spaltenden Stoffe entziehen den Sauerstoss dem
Blutroth, das dann, wieder zur Lunge gelangt, von Neuem sich mit Sauerstoss beladet. Die lebhast kreisenden Blutkorperchen sind Fahrzeuge und der Sauerstoff ihre Fracht, die an den verschiedensten und entlegensten
Punkten des Korpers, in alien Organen, abgesetzt wird. Trotz ihrer winzigen GroBe vermogen diese nur unter dem Mikroskope sichtbaren Liliputanerschisschen in 24 Stunden in uns 1 Kilo Sauerstoff zu schleppen und so
ohne alles Aussehen und Gerausch in dieser Frist ost mehr als 700 Liter Sauerstoffgas aus der Lust iu sich zu verdichten. Darum braucht der Mensch zum Athmen ein so groBes Volum atmospharische Lust, die nur zu '/»
aus Sauerstoff, zu A aus Stickstoff besteht.
Die in den Geweben gebildete Kohlensaure ist die Riicksracht, welche groBtentheils das Blutplasma besorgt. Ein Theil der Kohlensaure ist iu demselben einsach absorbirt, wie in dem kiinstlich dargestellten kohlensauren
Wasser, ein anderer Theil ist chemisch gebunden an das im Plasma enthaltene Alkali. Die Kohlensaure des Blutes wird in der Lunge gegen die betrachtlich weniger Kohlensaure enthaltende Lungenlust ausgetauscht,
ahnlich wie die unter groBerer Spannung im kohlensauren Wasser besindliche Kohlensaure beim Oessnen des Stopsens der Flasche entweicht. Sowie wir die Reinhaltung der Lust unserer Wohnraume durch eine ausgiebige
Ventilation besorgen, so sollen auch die Zellen unseres Leibes stets srische Lust erhalten und von den schadlichen Gasen besreit werden.
Durch die ununterbrochene Stromung des Blutes werden, wie wir gesehen, alle Zellen des Korpers in jedem Augenblicke mit Nahrungsstossen versorgt; ebenso muB auch der Gaswechsel ein eontinuirlicher sein. Dies
ware jedoch nicht moglich, wenn die elastische Lunge wahrend der Ausathmung ganz zusammensiele. Aus diesem Grunde enthalt die Lunge im lebenden Korper auch bei der tiessten Ausathmung immer uoch eine gewisse
Menge von Lust, wodurch der Gasaustausch sortwahrend vor sich gehen kann.
Der Ventilator stir das Blut ist die Lunge, der Trager der Stoffe zu und von den Organen das Blut. Die die Organe zusammensetzenden lebenden Zellen hungern, wenn ihnen nicht durch das Blut neues Material gebracht
wird, und sie ersticken, wenn sie nicht von den Zersallprodueten gereinigt werden.
Nachdem !vir hiermit die wichtigsten Vorgange im Blute kurz skizzirt haben, ist es, um ein vollstandiges Bild von der Bedeutung dieses Sastes zu erhalten, noch nothig, einige hochst bemerkenswerthe Anordnungen siir
die Vertheilung desselben im Korper zu besprechen.
Die verschiedenen Theile des Korpers erhalten aus die gleich groBe Masse nicht die gleiche Quantitat von Blut, sie werden vielmehr hierin auBerordentlich ungleich bedacht.
Wenn auch jedes Organ an dem Zustandekommen des Lebens beteiliget ist, so ist doch die Art und der Grad dieser Betheiligung sehr verschieden. Diejenigen Organe, in welchen mehr Stosse verarbeitet werden, wie z,
B, die Leber, das Gehirn, haben hausiger Ersatz und deshalb reichlichere Durchspulung mit Blut nothig als andere, in denen die Zersetzung wenig lebhast ist, wie z. B. die Sehnen. Diese ungleiche Blutzusuhr geschieht
zunachst durch die verschiedene Zahl und Weite der das Organ versorgenden Arterien, vor Allem aber durch die ungleiche Nichtigkeit der Capillarnetze. In den ersteren Organen sind die Maschen der Netze eng, in den
letzteren dagegen weit und sparlich. Hatten alle Theile des Korpers, auch die dasselbe weniger bediirstigen, gleichmaBig Blut erhalten, dann ware in manche nnnothig viel Plasma gepreBt worden und hatte die
Gesammtmenge des Blutes im Korper bedeutend groBer sein miissen.
Ein und dasselbe Organ hat aber zu verschiedenen Zeiten wechselnde Quantitaten von Blut nothig, da der Grad der Thatigkeit groBen Schwankungen nnterworsen ist. Wir vermogen mit den Muskeln nicht iiber 8
Stunden aus die Dauer starke Arbeit zu leisten, das Gehirn versagt nach langerer Anstrengung den Dienst und wir versallen in Schlas, aus dem wir neu gestarkt wieder erwachen; der Darm kann nicht Tag und Nacht
verdauen, schon deshalb nicht, weil gewisse Driisen nicht im Stande sind eontinuirlich Verdaunngssaste zu bereiten. Es ist daher die merkwurdige Einrichtung getrossen, daB durch einen besonderen Mechanismus die
Muskeln der BlutgesaBe in dem thatigeren Organe erschlafft werden, wodurch ansehnlich mehr Blut zuslieBt als im weniger thatigen Zustande. Wird z. B. kein Seeret in den Speicheldriisen abgesondert, so sind die Driisen
blaB und die GesaBe eng; bei lebhaster Absonderung sind sie dagegen intensiv gerothet und die GesaBe stark mit Blut angesiillt. Wahrend der Verdaunng ist ein groBer Theil unseres Gesammtblutes in der Bauchhohle
angesammelt, wahrend der Muskelarbeit in den Muskeln; beim eisrigen Studium werden uns die FiiBe kalt und der Kops heiB, ja man hat nachgewiesen, daB das Volumen des Arms bei Anstrengung des Gehirns z. B. bei
Losung einer einsachen mathematischen Ausgabe durch Nlutabgabe nach dem Gehirne abnimmt und umgekehrt wahrend des Schlases zunimmt.
So also dient das Blut einmal mehr diesem, das andere Mai mehr jenem Organe. Es hatte ohne eine solche Einrichtung abermals einer sehr viel groBeren Blutmasse bedurst, da sonst jedes Organ stets die ihm bei der
starksten Anstrengung nothige Maximalblutmenge hatte erhalten muffen. Sie bedingt aber auch den Nachtheil, daB nicht alle Organe zu gleicher Zeit angestrengt thatig sein konnen. Das alte Sprichwort: „nach der Mahlzeit
sollst du stehn oder tausend Schritte gehn" schlieBt daher eine Wahrheit in sich. Wiirden wir uns mit vollem Magen zu starker Muskel- oder Gehirnarbeit zwingen, so wiirde die Verdaunng leiden; es ist auch eine
Ersahrung, daB wir nach reichlichem Essen zum Arbeiten nicht sehr geeignet sind.
Noid und Sud. VI, Is, 7
Aber noch eine andere wichtige Bedeutung hat die Moglichkeit einer ungleichen Vertheilung des Blutes im Korper durch Ausdehnung gewisser GesaBbezirke und entsprechende Verengerung anderer, namlich der
Teilnahme an der Regulation der Warme in dem Organismus. Die Vorgange im Korper beanspruchen eine ganz bestimmte Temperaturhohe. Im heiBesten Tropenklima und in der Kalte der Pole lebt der Mensch und besitzt
die gleiche Temperatur seines Blutes von 37 — 38°. Es wird also stets ebenso viel Warme in seinem Korper erzeugt als von ihm abgegeben wird. In der Kalte ist aber unter sonst gleichen Umstanden der Warme verlust
selbstverstandlich groBer als in hoher temperirter Lust. Es kann daher hier nur durch eine groBere Warmebildung oder durch eine Aenderung in dem WarmeabsluB die eonstante Korpertemperatur erhalten werden.
Der innere Kern des Korpers ist durch eine die Warme schlecht leitende Fettschicht von der auBeren Oberflache getrennt. In der Kalte sind die GesaBe der Haut zusammengezogen und die Haut blaB; das warme Blut
wird hinter die Fettschicht in das Innere des Korpers gedrangt und so weniger Warme an der Haut abgegeben. Besinden wir uns dagegen in warmer Umgebung, dann dehnen sich die BlutgesaBe der Haut weit aus und die
Haut erscheint gerothet, da ein ansehnlicher Theil des im Innern des Korpers erwarmten Blutes an die Peripherie nach AuBen von der Fettschicht getragen wird. Aus diese Weise wird in der Hitze dem Korper durch
Begiinstigung der Leitung und Strahlung, vorziiglich aber durch reichliche Wasserverdunstung mehr Warme entsuhrt.
Wenn das Blut seiner Ausgabe geniigen soli, so mnB es in einer bestimmten Menge im Organismus vorhanden sein. Man hat sriiher geglaubt, das Blut mache einen sehr betrachtlichen Bruchtheil des Korpers aus, im
Menschen z. B. 10—15 Liter. Ie genauer jedoch die Messungen gemacht worden sind, desto niedriger sielen die Zahlen aus. Man weiB jetzt, daB in einem krastigen Menschen nur etwa 47A Liter Blut enthalten sind, also
hochstens 87« des gesammten Korpergewichtes.
Der Organismus kann einen betrachtlichen Verlust von Blut ertragen. Bei Entziehung der Halste der normalen Blutmenge tritt aber der Tod ein, wenn nicht alsbald Ersatz solgt. Alle die vorher beschriebenen Thatigkeiten
des Blutes werden durch ausgiebige Blutverluste in ihrer Intensitat herabgesetzt. Durch die Abnahme der Blutmenge und des Blutdrucks tritt weniger Ernahrungssliissigkeit in die Gewebe iiber, ja die vorher schon darin
besindliche gleicht sich mit dem Blute aus, vermehrt so dessen Plasmagehalt und vermindert verhaltniBmaBig noch weiter die Menge der Blutkorperchen. In Folge davon werden die Zellen des Korpers ungeniigend ernahrt,
es wird weniger in ihnen zersetzt und weniger lebendige Krast produeirt, daher der Korper darnach matt und schwach ist. Bei einem ausgiebigen Aderlasse ersolgt durch die plotzliche Aenderung in der Zusuhr des Blutes
zum Gehirn eine vorubergehende Leistungsunsahigkeit desselben oder Ohnmacht
Aber bald stellt sich der erlittene Verlust wieder her; das Plasma aus den ausgenommenen Nahrnngsstoffen, die Blutkorperchen in eigenen Organen, vorziiglich in der Milz, den Lymphdriisen, dem Knochenmarke.
Bestandig gehen in uns auch bei voller Nahrungsausnahme Blutkorperchen zu Grunde und werden neue erzeugt, wahrend eine solche Neubildung von Organisirtem siir die meisten ubrigen Organe nicht eonstatirt ist; in den
letzteren werden groBtentheils die unorganisirten Stoffe des Plasmas und des Zelleninhaltes zerstort, die eigentlich organisirte Form dagegen bleibt bestehen.
Ist in Folge eines groBen Blutverlustes das Leben bedroht, so kann durch rasche Wiederzusuhr von Blut d. h. durch Einspritzen desselben in eine Vene geholsen werden. Man hat vielsach solche Transsusionen von Blut
am Menschen gemacht, sriiher mit von Faserstoss besreitem Thierblut, spater mit Blut von einem anderen lebenden Menschen. Nach dem, was ich vorher iiber die Bedeutung der Blutkorperchen gesagt habe, ist es klar, daB
Einspritzen von Plasma keine voile Wirkung hat, denn es sehlen darin die Trager des Sauerstosss, die Blutkorperchen. Man hat in neuerer Zeit durch Versuche an Thieren die merkwurdige Ersahrung gemacht, daB das Blut
einer anderen Thierart nur vorubergehend die Rolle ubernimmt; nach einigen Tagen zersallen die sremden Blutkorperchen und zwar in solcher Anzahl, daB durch die Zersetzungsproduete der Tod des Thieres herbeigesuhrt
wird. Nimmt man einem Hunde einen ansehnlichen Theil seines Blutes weg, so viel, daB er in tieser Ohnmacht und nahe dem Tode ist, so erholt er sich in kiirzester Zeit durch Wiedereinspritzen des abgelassenen Blutes
oder durch Einspritzen von Blut eines anderen Hundes dauernd. Das Gleiche tritt scheinbar ein bei Einspritzen von Kalbsblut, dessen Blutkorperchen man mit dem Mikroskope von denen des Hundeblutes nicht zu
unterscheiden vermag; das Thier ist munter und nimmt Nahrung zu sich, in wenigen Tagen dagegen beginnt der Untergang der Kalbsblutkorperchen, die in dem sremden Organismus nicht aus die Dauer sortleben. Wir
ziehen daraus die Lehre, daB man bei groBeren Blutverlusten gut thut, einem Menschen nur Menschenblnt wiederzugeben.
Zu der Zeit, in welcher man das Blut siir den Mittelpunkt der Lebens vorgange ansah, dachte man sich den Charakter und andere derartige Eigenschasten des Menschen und der Thiere von der Beschaffenheit des Blutes
abhangig. Man meinte, wenn man einem Menschen das Blut eines Lowen geben konnte, ihm dann damit auch den Muth dieses Thieres zu verleihen. Man erzahlt von einem anglieanischen Geistlichen, der sich mehrmals
Lammblut einspritzen lieB, um die Unschuld und die Sanstmuth dieses Thierchens zu empsangen.
Noch heut zu Tage sinden sich Anklange an diese vergangeneu Aussassungen in manchen Ausdriicken vor. Wir nennen Menschen mit leicht erregbarem Temperamente heiBblutig, obwol ihr Blut nicht warmer ist als das
der Phlegmatiker, oder wir verleihen surchtsamen Leuten Hasenblut.
Wenn uns solche Meinungen jetzt sogar lacherlich erscheinen, so beweist dies, daB wir in der ErkenntniB des Lebens Fortschritte gemacht haben.
Um die Thatigkeiten in einem hoheren thierischen Organismus zu ermoglichen, sind, wie wol aus meinen Darlegungen hervorgeht, die eomplieirtesten Einrichtungen nothig, weshalb leider auch leicht Storungen und
Krankheiten eintreten. Erst mit der KenntniB der normalen Vorgange und ihrer Ursachen gewinnt man die Grundlage zum VerstandniB und zur Bekampsung der krankhasten Prozesse.
Wo man in dieser Richtung zu untersuchen beginnt, begegnet man den merkwiirdigsten Anordnungen und Regulationen. Es ist noch nicht sehr lange her, daB man das Leben der Ersorschung zu unterziehen wagt. Aber
erst in den letzten siinszig Iahren ist die Physiologie vollkommen in den Kreis der experimentirenden nnd erklarenden Naturwissenschasten eingetreten, vorbereitet durch die Arbeiten der sruheren Zeit, vorziiglich jedoch
ermoglicht durch das rasche Ausbluhen einiger wichtiger Hulsswissenschasten, vor Allem der Physik und der Chemie, und durch die Aushellung der seineren Formen der Organisation durch das Mikroskop.
Dadurch, daB es gelang, immer mehr Erscheinungen des Lebens durch die experimentelle Behandlung aus ihren Ursachen abzuleiten, hat sich die Ueberzeugung besestigt, daB in der belebten Natur dieselben Ursachen
und Wirkungen walten wie in der unbelebten, und daB es gelingen werde, immer mehr derselben aus mechanistische Weise zu erklaren. Es hat sich schon jetzt eine Fiille von ErkenntniB erschlossen, welche nicht nur die
Physiologie gesordert hat, sondern auch aus die Vorstellungen von der Natur von bestimmendem Einslnsse gewesen ist, und auBerdem dem Menschengeschlechte siir die Verbesserung seines Daseins und siir die Heilung
und Verhiitung von Krankheiten schon vielsachen Nutzen gebracht hat und noch ungleich mehr bringen wird.
3er ElsaB als eine f)slegestatte deutschen Hebens und deutscher Gesinnung.
Von
<5. Vaur.
- leipzig. —
Hm IB, Ianuar des Iahres 1871 war es, daB Konig Wilhelm von PreuBen, wie es in seiner an demselben Tage von Versailles aus an das deutsche Volk ergangenen Proelamation heiBt, dem einmuthigen Ruse der deutschen
Fiirsten und sreien Stadte solgend, die deutsche Kaiserwiirde in seiner Person erneuerte, in dem BewuBtsein der Pslicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schiitzen, den Frieden zu wahren, die
Unabhangigkeit Deutschlands zu stiitzen und die Krast des Volkes zu starken; in der Hoffnung, daB es der deutschen Nation gegeben sein werde, nnter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer
segensreichen Zukunst entgegenzusiihren und den Lohn ihrer heiBen und opserwilligen Kampse in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genieBen, welche dem Vaterlande die seit Iahrhunderten entbehrte
Sicherheit gegen erneute Angriffe Frankreichs ge wahren werden; und endlich unter dem Gebete, daB Gott dem Kaiser und seinen Nachsolgern verleihen wolle, allezeit Mehrer des deutschen Reichs zu sein, nicht in
kriegerischen Eroberungen, sondern in den Werken des Friedens aus dem Gebiete nationaler Wohlsahrt, Freiheit und Gesittung, Etwa sechs Wochen nachher wurden durch die am 27. Februar unterzeichneten
Friedenspraliminarien dem wiederhergestellten deutschen Reiche die verheiBenen Grenzen wiedergegeben, welche Deutschland, das bisher trotz der Siege von 1814 und 1815 jedem seindlichen Angriffe des unruhigen
Nachbars ossen gestanden hatte, stir die Zukunst Sicherheit gegen solche Angriffe versprechen. Aber gleich damals wurde von Feinden die Hoffnung, von Freunden die Besurchtung ausgesprochen, daB das deutsche Reich
in dem ElsaB und in Deutschlothringen nur ein Venetien erworben habe. Wenn jemals eine Vergleichung gehinkt hat, so ist es diese. Dort ein Volk, welches durch Sprache und Nationalist von O esterreich, mit dem es
verbunden worden ist, aus das Bestimmteste geschieden war; hier ein deutscher Volksstamm, dem selbst eine zweihundertjahrige politische Verbindung mit Frankreich seine deutsche Volksthumlichkeit kaum zu
verkummern, geschweige zu rauben vermocht hat. Dort eine lediglich aus politischen Riicksichten gewaltsam hergestellte Verbindung eines einst selbstandigen und aus seine Selbstandigkeit stolzen Staates mit einer ihm
vollig sremden Regierung; hier nur die Wiederausnahme einer deutschen Provinz in die uralte und nur aus verhaltniBmaBig kurze Zeit unterbrochene Verbindung mit dem deutschen Mutterreiche. Allerdings hat sich bei
den Elsassern in der Zeit ihrer Zugehorigkeit zu dem machtigen Frankreich nicht gerade ein Heimweh nach der Wiedervereinigung mit dem ohnmachtigen und zerrissenen deutschen Reiche oder deutschen Bunde
entwickeln konnen. Vielmehr sind sie in demselben MaBe, in welchem ihre Anhanglichkeit an die neue Regierung allmahlich wuchs, dem Mutterlande mehr und mehr entsremdet worden. Aber dabei sind sie doch im
Grunde ihres Wesens Deutsche geblieben, und eigentlich nur die stadtische Bevolkerung in ihren oberen Schichten hat eine oberflachliche sranzosische Farbung angenommen. Wenn nun aber der ElsaB geblieben ist, was er
von Alters her war, namlich ein deutsches Land, nnd wenn andererseits Deutschland nicht geblieben ist, was es damals war, als dieses Glied ihm vom Leibe gerissen wurde, namlich ein ohnmachtiges Conglomerat aus
einzelnen Staaten und Statchen, welches weder die Krast noch den Willen hatte, zu schiitzen und sestzuhalten was sein eigen war: so ist ja gewiB die Hoffnung berechtigt, daB das zeitweilig getrennte Glied, welches wir um
unserer Selbsterhaltung willen nicht wieder lassen diirsen, auch aus eigenem Triebe sich wieder lebendig mit dem Leibe verbinden werde, dessen Haupt nun wieder ein deutscher Kaiser ist, und zwar ein Kaiser, der nicht
bios den Schmuck der Krone und des Seepters tragt, sondern auch mit Schild und Schwert wohl bewaffnet ist zu Schutz und Trutz. Und zur Belebung und Besestigung dieser Hoffnung wird ein rascher Gang durch eine
mehr als tausendjahrige Geschichte dienen, aus welchem wir, bei einigen Hauptmomenten derselben kurz verweilend, uns vergegenwartigen, wie der ElsaB uicht bios als ein deutsches Land, sondern geradezu als eine der
bedeutendsten Pslegestatten deutschen Lebens und deutscher Gesinnung sich bewahrt hat.
Die Franzosen sreilich haben es niemals wollen gelten lassen, daB der ElsaB zum deutschen Reiche gehore; sie haben vielmehr von jeher behauptet, daB das, was westlich vom Rheine liege, von Rechts wegen ihr Eigen
sei. Schon der deutsche Konig Heinrich I. und der Kaiser Otto I. sahen sich genothigt, das linke Rheinland mit Waffengewalt gegen Der ElsaB als eine Pslegestatte deutschen leVl'n-s. A' I.c7f/
den schlimmen Nachbar im Westen zu sichern, und-als oo.,- jcht-gAra'di neunhundert Iahren, im Iahre 1>78, der westsrankische Konig Lothar ohne Kriegserklarung in die deutschen Reichslande einbrach und den Adler aus
dem Palaste Karls des GroBen in Aachen, der nach Deutschland schaute, umkehren und nach Frankreich hin wenden lieB, da riickte Kaiser Otto II. mit einem Heere von sechszigtausend Maun siegreich bis vor die Thore
von Paris und bewies, daB man damals deutsches Reichsgebiet und die deutsche Reichsehre nicht ungestrast antasten durste. Ganz besonders aber sind in den letzten drei Iahrhunderten alle die listigen oder gewaltthatigen
Angriffe Frankreichs aus das linksrheinische deutsche Gebiet, unter Ludwig XIII. von Richelieu, unter Ludwig XIV. von Mazarin und dann von Colbert und Louvois, hundert Iahre spater von den Leitern der
Revolutionsheere, und in der neuesten Zeit von den Ministern Napoleons III., mit der jedem Franzosen als ein selbstverstandliches Axiom geltenden Behauptung gerechtsertigt worden, daB der Rhein Frankreichs
Naturgrenze sei. Es ist sonderbar, daB dieser Rus von einer Stadt ausgeht, welche, wie London und Dresden, selbst von einem machtigen Strome durchflossen, den thatsachlichen Beweis liesert, daB dadurch der Verkehr
eher belebt, als gehemmt wird. Und was daraus zu antworten ist, das hat schon kurz nach der Schlacht bei Leipzig E, M. Arndt tresslich gesagt in seiner Schrift: „Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands
Grenze." Begrenzt ist das obere Rheinthal im Osten vom Schwarzwald und im Westen von den Vogesen. Innerhalb dieser Grenzen aber wohnt deutsches Volk desselben Stammes und derselben Mundart, dessen
Sprachgrenze nach Westen auch unter der sranzosischen Herrschast so gut wie gar nicht hat verschoben werden konnen. Und wie zum Zeichen, daB deutsche Stammesgenossen aus beiden Seiten des Rheins zu ihren FuBen
wohnen, sind bekanntlich zwei einander gegeniiber liegende Bergeshaupter des Schwarzwaldes und der Vogesen mit demselben Namen des Belchen bezeichnet, wie auch sonst zahlreiche Orte hiiben und driiben den
gleichen Namen siihren. Zwischen den Bewohnern des rechten und linken Rheinusers aber hat, zumal so lange dieses zu Deutschland gehorte, stets ein eben so leichter als lebhaster Verkehr bestanden.
Und die Geschichte bezeugt, daB der ElsaB selbst, wie kaum ein anderes deutsches Land, der sruchtbare Boden eines reich und mannichsaltigbewegtenundsiirdieGesammtentwickelung unseres Volkes hochst sruchtbaren
eigenthumlich deutschen Lebens gewesen ist. StraBburg, das Ai-Ssutoratum der Romer, kommt schon am Schlusse des <>. Iahrhunderts in Gregors von Tours srankischer Geschichte unter jenem deutschen Namen vor. Dort
war es denn auch, wo die erste offentliche Urkunde politischen Inhaltes in deutscher Sprache vollzogen wurde, die uns noch erhalten ist. Es ist dies jener Eid, durch welchen im Iahre 842 die Konige Ludwig der Deutsche
und Karl der Kahle,
'- lnAl>eft>'nder'e"Ze,g,en 'ihren Bruder Lothar, sich verbiindeteu, und welchen Ludwig in romanischer, Karl aber in deutscher Sprache leistete, damit ein jeder von dem Heere des Bruders verstanden werden konne. Als
dann im nachsolgenden Iahre durch den Vertrag, zu Verdun die Selbstandigkeit des ostsrankischen oder deutschen Reiches ihre staatsrechtliche Begriindung sand, da wurde damit auch der selbstandigen Entwickelung der
deutschen Sprache und Literatur ein sester und gesicherter Boden gegeben. Und der Name, welcher mit der Erinnerung an die ersten herzerhebenden Siegesklange, die am 4. August 1870 vom ElsaB zu uns
heruberschallten, unzertrennlich verbunden bleibt, bezeichnet zugleich den Ort, wo das erste wahrhast grundlegende Literaturwerk in althochdeutscher Sprache entstanden ist. Die Benedietinerabtei zu WeiBenburg war es,
wo vor tausend Iahren, gegen das Iahr 87U hin, der Monch Otsried seine unter dem Namen des Krist bekannte Evangelienharmonie vollendete. Schon etwa ein Menschenalter vorher hatte ein sachsischer Dichter in
niederdeutscher Sprache die Berichte der vier Evangelisten zu einem Epos vom Holland oder Heiland verbunden, welches zeigt, Ivie wunderbar ties damals schon die Thatsachen und Lehren des Evangeliums das deutsche
Gemiith ergriffen und durchdrungen hatten. Nicht so volksmaBig ist die Dichtung des WeiBenburger Monchs. Er versolgt in ihr ausgesprochenermaBen den Nebenzweck, die im Volke noch lebendigen volksthiimlichen
Heldenlieder durch seine christlichen Gesange zu verdrangen. Aber schon das BediirsniB, das Evangelium zu dem deutscheu Volke deutsch reden zu lassen, ist aus dem deutschen Geiste heraus geboren, dessen Innerlichkeit
sich nicht damit begniigen will, den Satzungen der Kirche nur auBerlich sich zu unterwersen, sondern der mit eignen Augen zu sehen, mit dem eignen Herzen zu verstehen begehrt. Und auch unter der Monchskutte schlagt
dem Dichter noch sein Herz in dem Hochgesiihle, dem hochbegabten und kriegsgewaltigen deutschen Frankenvolke anzugehoren, welches den Griechen und Romern keineswegs nachstehe; und seine Gebundenheit an seine
biblischen und patriotischen Vorlagen ist doch nicht groB genug, um verhindern zu konnen, daB nicht da und dort ein Ausdruck deutscher Treue, deutschen Heldensinnes, deutschen Familiengesiihls, deutscher Heimatliebe
machtig hervorbricht, um so ergreisender, je mehr man es dem Dichter ansiihlt, daB sein Gedanke noch mit einer neuen und ihm unbequemen poetischen Form zu ringen hat. Denn dadurch vor allem ist dieses alteste
umsangreiche und in seinem ganzen Umsang uns erhaltene epische Gedicht in hochdeutscher Sprache stir die gesammte nachsolgende deutsche Poesie epochemachend und vorbildlich geworden, daB Otsried seine Verse
zuerst anstatt durch die sriiher iibliche Alliteration durch den Reim verbunden hat. Und wenn wir jetzt iiberall in Deutschland in den Kirchen „Besiehl du deine Wege", oder „0 Haupt voll Blut und Wunden" singen, oder in
geselligen Kreisen „Frisch aus zum srohlichen Iagen", oder „Erhebt euch von der Erde", so klingen gerade in der unserer Poesie gelausigsten Form dieser Lieder besonders deutlich die Tone nach, welche vor tausend
Iahren im ElsaB zuerst angestimmt worden sind. Aber der Geist des deutschen Volkes lieB sich durch die geistliche Dichtung Otsrieds mit ihrer wohlgemeinten Lehrhastigkeit nicht wehren, an dem wunderbaren Gebilde
seiner Sagen sortzuwehen und damit den ElsaB ganz besonders reich auszustatten. Nur beispielsweise sei aus die Sage vom Riesensraulein von Burg Nideck und aus die Sage vom Odilienberge hingewiesen, welche durch
Chamisso und Wickert auch aus das rechte Rheinuser verpslanzt worden sind, nm des srommen Knechtes Fridolin zu geschweige,,, dessen Grasin von Savern eine gute Deutsche und zu Zabern im ElsaB zu Hause war. Die
Geister einer der gewaltigsten unter unsern alten Heldensagen umschweben die Hohe des Wasgensteins, aus welcher die aus der Geiselschast bei dem Hunnenkonig Attila sliichtenden brautlich verbundenen Konigskinder
Walther von Aquitaine,, und Hildegund von Burgund rasteten und Walther mit dem Frankenkonig Gunther von Worms und dessen Helden, namentlich mit seinem alten Waffenbruder Hagen, jenen surchtbaren Kamps zu
bestehen hatte. Mag dieser Wasgenstein in dem etwa drei Stunden westlich von Worth gelegenen Berge, welcher heute noch diesen Namen tragt, oder mag er mit I. Grimm siidlicher in einer Hohe der mittleren Vogesen zu
suchen sein: jedensalls gehort wieder dem ElsaB die Oertlichkeit an, an welche das alte, mit dem Nibelungenlied innig verzweigte Waltharilied sich anlehnt und in welcher es in seiner urspriinglich deutschen Grundlage wol
auch entstanden ist. Im 10. Iahrhundert ist es dann im Kloster zu St. Gallen in lateinische Hexameter gebracht und aus diesen bekanntlich von Scheffel in seinem Ekkehard wieder in's Deutsche umgedichtet worden. Aber
neben der Heldensage hat der deutsche Geist als ein ihm ganz eigenthiimliches ErzeugniB die Thiersage hervorgebildet. Nicht die lehrhaste Thiersabel, sondern die eigentliche Thiersage, welche der unbesangenen echt
deutschen Freude an Natur und Wald und an dem mannichsaltigeu und eigenthiimlichen Leben der Thierwelt entspringt und ihren deutschen Ursprung auch dadurch verrath, daB in ihr urspriinglich nicht der Lowe, sondern
der Bar das konigliche Seepter gesiihrt hat. Diese Thiersage war von deutschem aus sranzosischen Boden hiniibergewandert, am Schlusse des 12. Iahrhunderts aber hat sie ein Elsasser Dichter, Heinrich der Glichesare oder
der GleiBner, in die alte Heimat wieder zuriickgesiihrt, und zwar in derberer und srischerer Gestalt, als sie uns in dem nach mancherlei Wanderungen iiber Frankreich und Holland erst 1498 nach Deutschland
zuruckgekehrten niederdeutschen Gedichte von Reinecke Vos begegnet. Als so Heinrich um das Iahr 1170 einen aus deutschem Boden gewachsenen, volksthiimlichen Sagenstoff auss Neue belebte, begann das hosische
Kunste pos, welches seine Stoffe auslandischen Sagenkreisen entlehnte, seinen ruhmvollen Entwickelungsgang und damit die erste klassische Periode der deutschen Literatur. Auch unter seinen drei groBten und alle andern
weit iiberragenden Vertretern, Hartmann von Aue, Wolsram von Eschenbach und Gottsried von StraBburg, besindet sich wieder ein Elsasser. Und wenn Hartmann durch die besonnene Klarheit und Sauberkeit seiner
Gedanken und durch die tadellose Correetheit seiner Form anspricht, Wolsram durch den tiesen Ernst und den kiihnen Schwung seiner Gedanken ergreist und sortreiBt, so gewinnt Gottsried nicht bios durch die bezaubernde
Leichtigkeit nnd Anmuth, durch die siiBe Melodie seiner Sprache, sondern auch durch die kecke individuelle Frische und Lebendigkeit unser Herz, in welcher er sich von den schon zur Regel gewordenen
gewohnheitsmaBigen Normen des epischen Stils mehr als Andere emaneipirt hat. Allerdings behandelt er einen bedenklichen Stoff , Es beruhrt ost peinlich, wirkt manchmal geradezu abstoBend, daB das VerhaltniB der
beiden Liebenden Tristan und Isolde durch das physische Mittel eines von beiden unbewuBt genossenen Liebestrankes bewirkt und also innerlich unsrei und ohne sittliches Interesse ist. Aber Gottsried hat den sproden
bretonischen Stoff mit deutscher Innigkeit durchgeistigt, und deutsches Naturgesiihl ist es, was ihm die reizenden Verse dietirt hat, in welchen er die „Sommeraue" schildert, aus welcher Konig Marke von Kurnewal und
Engelland ein liebliches Maiensest veranstaltet:
Uau vAllt clil, 8v?a2 iu»,n wolts,
D»2 6er meis dringen 861te,
Den sciiate bi 6er sunnen,
viS Iill6en d! 6eni brunueu.
Diu 8US2s boumblout 8aeli 6su man
Lo reule 8uo2e lacben6e au,
D»2 sieli 6»2 lier2s uua u,l 6er iuuot
A Vi6er all 6ie 1 »elleu6e bluot
Nit 8pilll6ell OnFell illUobsto
Hua* ir alle2 v?i6erl»,cliete.
I)a2 8eufle voFe!Ae6oeue
Dli2 slleae, 6»2 seuoene,
Da2 Iren unas uiuots
Vil 6ic>!0 Kumet 2s Fuote,
Da2 lulte 62, dere uu6e tal.
Diu 811eliFS nauteZk!,
Da2 liebe 8UsHS vozeliu,
Du2 ieuier 8iie2e uiiie2e 8in,
Da? llallete U2 6er bliiete
Mit 8c>lllsr iiberluiiete,
1)A2 62, M»uo e6e!e ber2e vail
?r66' lm6 bobeu luuot gevrau.
Aber auch von anderen Nachtigallen weiB Gottsried zn reden, die ihr Amt wohl verstehen und mit ihrer lauteren und guten Stimme den Herzen wohl thun. Er versteht darunter an einer spateren Stelle seines Tristan, wo
er die Dichter seiner Zeit die Revue passiren laBt, die zahlreichen Minnesanger seiner Zeit, und als ihrer aller „Leitesrau" bezeichnet er eine aus Hagenau, die jetzt leider stir die Welt verstummt sei. Es ist damit jedensalls
ein hervorragender Minnesanger aus dem ElsaB, aller Wahrscheinlichkeit nach Reimar der Alte gemeint. Ein geborener Elsasser, trat er spater am osterreichischen Hose zu Walther von der Vogelweide in nahere
Beziehung, welcher ihm einen ehrenvollen Nachrus gewidmet hat und auBer welchem er der sruchtbarste aller Minnesanger war. Zugleich aber war er ein Dichter, der, wie Uhland sagt, vor alien niedersteigt in das innerste
Gemuth und wie kein Anderer den Ausdruck der lauteren Liebe hat, der ausdauernden Treue, der zartlichen Klage, des ergebenen Duldens. Und wahrend so die Nachtigallen durch Wald und Flur im schonen deutschen
ElsaB ihren vielstimmigen Gesang erschallen lieBen, erstand unter den Handen Erwins von Steinbach ein neues herrliches Denkmal deutschen Geistes in jener Fahade des Munsters zu StraBburg, in welcher der zuerst in
Nordsrankreich ausgebildete sogenannte gothische Baustil seine vollkommenste und stir andere Orte maBgebend gewordene Umbildung zu einem deutschen Baustil ersuhr.
Das alles sind laut redende Zeugnisse dasiir, daB der ElsaB eine der ergiebigsten und gesegnetsten Pslegestatten deutschen Lebens gewesen ist. Aber auch eine Pslegestatte deutscher Gesinnung habe ich ihn genannt, jener
Gesinnung, welche entschlossen ist, deutsches Recht und deutsche Ehre gegen sremde An- und Eingrisse zu wahren. Gerade durch die immer bedrohliche Nachbarschast Frankreichs wurde im ElsaB diese Gesinnung
geweckt, und so lange er zu dem deutschen Reiche gehorte, behauptete er den Ruhm, das reichstreueste Land zu sein. Allerdings nahmen die schwabischen Herzoge, welche seit der Mitte des tt. Iahrhunderts zugleich
Herzoge des Elsasses waren, an diesem Ruhm nicht Theil. Vielmehr hatten die deutschen Kaiser aus sachsischem und srankischem Stamm mit den partieularistischen Geliisten dieser machtigen Herren sortwahrend zu
kampsen, oster im Bunde mit den Bischosen von StraBburg, aus welche der deutsche Kaiser damals noch als aus treue Bundesgenossen rechnen durfte. Wol aber durste das Volk, dursten insbesondere die Stadte im ElsaB,
Hagenau, StraBburg, Colmar, Schlettstadt, Muhlhausen, Kaisersberg, ihrer Reichstreue sich riihmen. Und jene Kaiser hielten mit Vorliebe bei den treuen Elsassern sich aus und lieBen sie ihre kaiserliche Gunst reichlich
ersahren. Noch inniger wurde dieses VerhaltniB, als die auch im ElsaB reich begiiterten Herzoge von Schwaben, die gewaltigen Staus en, selbst zur Kaiserwiirde erhoben wurden. Konradlll. erbaute sich in Hagenau einen
herzoglichen Palast, welchen Friedrich der Rothbart in eine seste kaiserliche Burg umgestaltete. Dort kam 1193 der gesangene Richard Lowenherz mit Heinrich VI. zusammen, nachdem er aus seiner Hast aus der Burg
Trisels in den psalzischen Vogesen entlassen war. Seit Philipp von Schwaben suhrten die deutschen Konige personlich die Verwaltung von Schwaben und ElsaB, bis der letzte Stauser nach vergeblichem Kampse um sein
sieilisches Erbe 1268 zu Neapel aus dem Blutgeriiste endete. Aber suns Iahre spater vernahmen die Elsasser mit srohem Erstaunen, daB ihr Hauptmann und Feldoberster, der Landgras des oberen Elsasses, Rudols Gras von
Habsburg zum romischen Konig gewahlt sei. Die Tage, in welchen er aus der Fahrt zur Kronung in Aachen mit zwolshundert Reisigen in StraBburg einkehrte und dort Hos hielt, waren hohe Festtage stir die treue
Reichsstadt. Und als er, mit reichen Gastgeschenken uberhaust und von vier stattlichen Schissen ehrenvoll rheinabwarts geleitet, geschieden war, da hatte die ihm nachsolgende Konigin Anna in Muhlhausen, in Colmar, in
StraBburg gleich begeisterter Huldigungen sich zu ersreuen. Insbesondere miissen die wackeren StraBburger der hohen Frau einen ungewohnlichen Durst zugetraut haben, denn sie erhielt sechszig FaB „Edelwein" zum
Geschenk, wahrend ihr Gatte mit sechszehn Fuder bedacht worden war. Der weitere Verlaus der deutschen Reichsgeschichte entsprach sreilich diesen sreudigen Erwartungen nicht. Die Erhebung der Habsburger bedeutete
einen verhangniBvollen Umschlag in der Handhabung des deutschen Konigthums. Die groBartige Idee des Kaiserthums, stir deren Verwirklichung die Stausen, allerdings vergebens, ihre ganze Krast eingesetzt hatten, gaben
die Habsburger aus. Der Italiener Dante verdammt Konig Rudols zu langer BuBe im Fegeseuer, weil er, seine Kaiserpslicht versaumend, dem zerriitteten Italien nicht mit Gewalt Frieden und Ordnung wiedergegeben hat.
Aber auch in Deutschland war es dem neuen Herrscherhause nicht sowol um Mehrung des Reiches, als um Vermehrung seiner Hausmacht zu thun. Von dem deutschen Reiche, oder vielmehr von Oesterreich, hatten die
reichstreuen Elsasser jetzt aus Schutz gegen den bosen Nachbar im Westen nicht mehr zu rechnen. Sie aber horten darum nicht aus, treu zum Reiche zu stehen, und erwehrten sich selbst, im Bunde mit den von demselben
Feinde bedrohten Schweizern,, der Angriffe von Frankreich und Burgund her, welche wahrend des 14. und 15. Iahrhunderts sich immer wiederholten. Diese Sachlage schildert solgende Strophe eines aus die Niederlage
Karls des Kiihnen bei Granson (am 2. Marz 147«) versaBten gleichzeitigen Siegesliedes:
Oesterrien, clu scul»iest Aar lang,
Ok8 clien nit vseeKt cler vozelskuA,
II a8t aien cler mette versnmet!
Der LnrAunner n»,t sieii Aan2 vermessen,
iir Aiilt 2n Lern unc 1 1'liburF iiueulin e8sen,
Der 2er nat inl clie pkannen Feruwet,
Dem Berner Baren aber haben damals, wahrend Oesterreich saumte, auch Elsasser, insbesondere die StraBbnrger, geholsen, dem Burgunder Geier die Psanne zu raumen und die Fange zu stutzen. Erst unter Maximilian I.
spann sich ein naheres VerhaltniB zwischeni dem ElsaB und seinem Kaiser wieder an. Als Landgras von ElsaB und als Herr in Nurgund dem Lande doppelt verbunden und iiberhaupt den Stadten geneigt, schien er die alten
Zeiten wieder herstellen zu wollen, in welchen die Kaiser so gern im ElsaB geweilt hatten. Und gewiB wiirde das VerhaltniB noch inniger ge worden sein, wenn Kaiser Max nicht sortwahrend in der Lage gewesen ware,
seine guten Freunde um Aushulse in seinen Geldverlegenheiten angehen zu miissen. Als er jedoch mit den Schweizern in Streit gerieth, gaben die elsassischen Stadte, insbesondere StraBburg, Colmar und Schlettstadt,
sreilich mehr zu ihrer Ehre, als zu ihrem Vortheil, lieber ihre alten Bundesgenossen als ihren Kaiser aus und halsen ihm am 22. Iuli 14W treulich die Schlacht bei Dorneck verlieren. Und unter Maximilian war es denn
auch, daB die ersten deutsch-patriotischen Schristen im eigentlichen Sinne veroffentlicht wurden, d. h. Schristen, welche den bestimmten Zweck haben, Deutschlands Recht und Ehre dem Auslande gegeniiber zu vertreten.
Bei aller Anhanglichkeit an die Heimat und an das heimatliche Wesen, welche dem Deutschen eigen ist, waren doch, wenn man etwa von einem bekannten Liede Walthers von der Vogelweide absieht, derartige Schristen
bisher nicht erschienen. Nun aber traten sie hervor, veranlaBt theils durch die immer unertraglicher werdende Frechheit, mit welcher Rom das deutsche Volk auszusaugen suchte, theils durch die mit der Wiedererweckung
des klassischen Alterthums wieder an das Licht getretenen Vorbilder griechischer und romischer Patrioten. Unter ihren Versassern aber ragt wieder ein Elsasser, der 1450 in Schlettstadt geborene und nach einem
vielbewegten Leben 1528 ebenda gestorbene Iaeob Wimpheling, hervor. Er hat in mehreren Schristen das wiiste und eitle Geschrei der Franzosen nach der Rheingrenze gebuhrend widerlegt und energisch zuriickgewiesen,
hat die wahre Grenze Deutschlands sestzustellen versucht und seine Aussuhrungen mit den Worten bekrastigt: „Was unser ist, das soli der ubermuthige Gallier sich nicht anmaBen; das wollen wir baB verhiiten!" Zur
Verbreitung dieser und anderer Schristen aber bediente man sich namentlich zu StraBburg und Hagenau mit Eiser des Mittels der Buchd ruckerkunst, mit deren ersten Ansangen Gutenberg schon vor 1440 in StraBburg
hervorgetreten war, wohin er, aus seiner Vaterstadt Mainz verbannt, sich gewendet hatte.
Wahrend nun in diesen Kampsen mit der Waffe des Schwertes und der Feder die deutsche Gesinnung sich bewahrte, vollzog sich gleichzeitig aus einem vesonderen Gebiete die Bildung eines neuen ganz eigentiimlich
deutschen geistigen Lebens. Ungesahr gleichzeitig mit der Erhebung der Habsburger zur deutschen Konigs wiirde schickte die romische Kirche sich an, den Gipsel ihrer hierarchischen AnmaBung zu ersteigen. Im Kampse
dagegen standen die Elsasser ihrem Kaiser wieder treu zur Seite. StraBburg duldete mit Ludwig dem Baier, ja iiber dessen 1347 ersolgten Tod hinaus, Bann und Interdiet; und als es bei Gelegenheit der Belehnung seines
Bischoss durch Karl IV. von jenem schweren Druck besreit wurde, da verwahrte sich doch der wackere Ammeister, Herr Peter Schwarber, aus das entschiedenste dagegen, daB der Name Kaisers Ludwig verunglimpst
werde. Zugleich aber zog das deutsche Gemuth, unbesriedigt von den auBerlichen hierarchischen Satzungen, sich in die geheimniBvollen Tiesen des christlichen Glaubens zuriick, nicht aus dem Wege der Reslexion oder
Speculation, sondern der unmittelbaren lebendigen Ersahrung des Herzens. Als den Philosophen dieser deutschen Mystik kann man den Meister Eckard, als ihren Dichter Heinrich Suso, als ihren Prediger Iohann Tauler
bezeichnen. Und von diesen haben wieder Eckard und Tauler in StraBburg gewirkt, wo auch als Taulers Zeit- und Gesinnungsgenosse der Kausmann Rulman Merswin in seiner Schrist von den neun Felsen die Stusen
beschrieb, aus welchen die Seele zum Ziele ihrer himmlischen Berusung hinansteige; und aus der Wende des 15. und 1U. Iahrhunderts hat Geiler von Kaisersberg dort seine hochst wirksamen volksthumlichen Predigten
gehalten. Das eigenthumlich deutsche Wesen jener Mystiker offenbart sich schon darin, daB sie nicht, wie die sranzosischeu und italienischen, in lateinischer, sondern in deutscher Sprache schrieben; und wahrend die
deutsche Poesie im 14. Iahrhundert mehr und mehr in Versall gerieth, schmiegt sich die von ihnen vorzugsweise ausgebildete deutsche Prosa mit bewunderungswiirdiger Leichtigkeit, Zartheit und Innigkeit den seinsten und
tiessten Wendungen des Gedankens an. Luther hat sich aus diese deutsche Mystik, insbesondere aus Tauler, gern berusen, weil in ihr der Gedanke vorbereitet ist, aus welchem sein Resormationswerk entsprang. Und wenn
man die Resormation mit Recht die groBte That des deutschen Geistes genannt hat, so haben die Elsasser ihre deutsche Gesinnung auch durch die Entschiedenheit und Freudigkeit bezeugt, mit Welcher sie der
evangelischen Lehre zusielen. Es geniigt hier, an die Namen der StraBburger Resormatoren Michael Zell, Wolsgang Capito, Martin Butzer und vor alien an den trefflichen Stadtmeister Iaeob Sturm von Sturmeck zu
erinnern; an jenes VierstadtebekenntniB, welches StraBburg im Bunde mit Lindau, Memmingen und Constanz aus dem Augsburger Reichstage von 153(1 iibergab; an die mit der Natur der evangelischen Kirche
unzertrennlich verbundene sorgsame Pslege, welche die Stadte des Elsasses, vor alien StraBburg, dem Schulwesen angedeihen lieBen und welche aus sranzosischem Boden bis heute nicht recht heimisch werden will. Von
nun an ist die deutsche Gesinnung der Elsasser mit ihrer protestantischen Gesinnung innig verkniipst. Es ist natiirlich, daB in einer Zeit der Gahrung und des Kampses, wie die am Ansange des 16. Iahrhunderts, die Poesie
eine vorherrschend satirische Richtung einschlagt. Die drei bedeutendsten deutschen Satiriker jener Zeit gehoren wieder StraBburg an. Und wahrend nun Sebastian Brant, der zwar bei der romischen Kirche bleibt, aber doch
der Resormation nicht ungeneigt ist, mit Freuden die Hoffnung ausrecht erhalt, d,iB man den gallischen Hahn vom deutschen Hosraum vertreiben und ihm die Federn ausrupsen werde, verkiindet Thomas Murner, welcher
der Resormation seindlich entgegentritt, zugleich die Lehre, daB der ElsaB von rechtswegen zu Frankreich gehore. Dagegen ist wieder der seine beiden Vorg anger weit uberragende geistsprudelnde und sprachmachtige
Fischart ebenso ein guter Deutscher, wie er ein ehrlicher Protestant ist. Welch ein lebensvolles Bild selbstbewuBten deutschen Biirgerthums, deutscher Kraft und srischen deutschen Humors thut sich vor uns aus, wenn er in
seinem „Gliickhasten Schiss" die wunderbare Fahrt jeuer 53 Ziiricher beschreibt, welche am sriihen Morgen des 29. Iuni 1576 mit einem ungeheuren Kessel voll heiBen Hirsenbreies aus der Limmat sich einschifften und ihn
am Abend desselben Tags noch warm aus dem Rhein nach StraBburg brachten, als Festgabe zu dem dort geseierten groBen SchieBen; und wie weiB er den groBartigen Schwank zu ernstem und eindringlichem Preise
deutscher Treue, deutscher Siindhastigkeit und ausdauernder Arbeit zu verwerthen!
Leclit, wa8 aie 'Treu Uat fiir Arc>8 Xrilt,
Dis ain stlirk ?reuuaseb.»,!t stHrlier 8clialt,
DeHkld «cd ?eut8elier 'Treu Aeui8zen,
Um cUe 8<Kts iv»,ni 6ie l'entzeueii Aprie8en,
llucl Aeleuer un8 <Ier Hrt wiU senilen,
Den soil ll-«u "leutseuen sein m»,» 8kAen!
Leider aber muBte ein halbes Jahrhundert nachher der ElsaB seine treue Zugehorigkeit zu Deutschland auch dadurch beweisen, daB die surchtbaren Drangsale des dreiBigjahrigen Krieges iiber ihn hingingen. Da warnte
noch einmal der von diese« Drangsalen personlich aus's schwerste heimgesuchte biedere elsassische Amtmann Moscherosch (1° 1669), unter dem Namen Philander von Sittenwald, lauter als irgend ein anderer deutscher
Schriststeller dieser Zeit, vor der verderblichen Thorheit der Auslanderei:
», la mocie macht mir bang,
Weil der Deutschen Untergang
In der Neuen -Sucht
Seinen Ansang sucht.
5i la moae bringt uns noch
Unter ein sremd Reich und loch!
Die Warnung kam zu spat. Im westphalischen Frieden wurde Frankreich durch Abtretung eines groBen Theils des Elsasses stir die A0 G. Vaur in leipziZ.
sehr sraglichen Dienste belohnt, die es dem deutschen Reiche geleistet. Auch an StraBburg sollte bald die Reihe kommen. Noch im Iahre 1552 hatte es Heinrich II., welchen nach der Besitznahme der Lothringischen
Bisthiimer Metz, Toul und Verdun auch nach der sesten Reichsstadt am Rhein geliistete, derb heimgeschickt und ihm bewiesen, daB es noch seinen alten Ruhm bewahre, das Metall nicht bios zu Buchdruckertypen, sondern
auch zu Geschiitzkugeln verwenden zu konnen. Aber am 30. September 1681 konnte Ludwig XIV. die Stadt, welche von der Ohnmacht des deutschen Reiches keine Hiilse, stir's erste nicht einmal einen Racher zu erwarten
hatte, mitten im Frieden von General Montelar besetzen lassen. Am 23. Oetober hielt er selbst seinen Einzug, von dem Bischos Franz Egon von Fiirstenberg, welcher von einem deutschen Reichssiirsten zu einem richtigen
Reptil herabgesunken war, mit der gotteslasterlichen BegruBung empsangen: „Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden sahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen!" Aber kein „Es lebe der Konig!" ist
aus der Bevolkerung als Echo aus diesen GruB erklungen. Die Elsasser blieben im Ganzen und im Grunde ihres Herzens Deutsche. Und nach wie vor slogen manche sruchtbare Samenkorner aus ihrem Lande aus das rechte
Rheinuser heriiber. Gerade mit die gesegnetsten hat damals, zuerst in Franksurt a. M., dann (seit 1686) als Oberhosprediger in Dresden, zuletzt als Propst in Berlin, ein hochbegabter Mann ausgestreut, dessen Wiege zu
Rappoltsweiler im ElsaB gestanden hatte, Philipp Iakob Spener, welcher in die vom dreiBigjahrigen Kriege her noch klaffenden Wunden unseres Volkes den Balsam eines lebendigen Glaubens gegossen hat, der in der
Liebe thatig ist und der Armen und Verwahrlosten sich annimmt. Und in ahnlicher Richtung wirkt heute noch die von Iohann Friedrich Oberlin aus StraBburg ausgegangene Bewegung sort, welcher bis zu seinem Tode
(1826) sechzig Iahre lang ein armer Psarrer in dem wilden Steinthal in den mittleren Vogesen gewesen ist, aber wie seinen Gemeinden, so der evangelischen Christenheit weithin zum reichsten Segen gesetzt war. Und noch
viel zahlreicher waren die nach dem ElsaB, insbesondere zum Besuche der Universitat StraBburg, Hinuberziehenden, unter ihnen im Friihjahr 1770, also sast neunzig Iahre nach der Besitznahme StraBburgs durch Ludwig
XIV., der junge Goethe. Wenn man das 9., 10. und 11. Buch von Dichtung und Wahrheit liest, wo der Greis die Erinnerungen des Iunglings in srischester Lebendigkeit wiederspiegelt, so empsangt man durchaus den
Eindruck, daB damals noch StraBburg eine deutsche Stadt, der ElsaB ein deutsches Land war. Der Anblick des StraBburger Munsters hat den jungen Dichter zu einer Verherrlichung der altdeutschen Baukunst und ihres
Meisters Erwin begeistert; die Universitat tragt einen entschieden deutschen Charakter, der Kreis von Studirenden und einigen alteren Genossen, welcher unter
dem Vorsitz des „lieben Aetuarius" Salzmann sich taglich zum gemeinsamen Mittagsmahl versammelt, ist eine deutsche Gesellschaft, unter ihnen ein verheiBungs voiles vierblattriges Kleeblatt von deutschen Schriststellern:
auBer Goethe selbst, Herder, lung Stilling und Lenz, und daneben jener Elsasser Lerse, welchen Goethe als das Urbild eines deutschen Mannes in seinem Gotz verewigt hat. Was der Dichter sreilich von seinen Erlebnissen
im Hause seines sranzosischen Tanzmeisters erzahlt, ist echt sranzosisch und erinnert an den FirniB, mit welchem die sranzosischen Formen das deutsche Material zu uberziehen trachteten. Unmittelbar daraus aber werden
wir im Psarrhause zu Sessenheim in eine deutsche Familie eingesiihrt, in dem VerhaltniB Goethes zu Friedericke in eine deutsche Liebe, deren Darstellung man mit Recht das lieblichste Idyll genannt hatte, wenn ein Idyll
einen tragischen Ausgang haben diirste. Im ElsaB hat Goethe dem Mund des Volkes jene 12 deutschen Volkslieder abgelauscht, welche er nachher an Herder stir dessen „Stimmen der Volker" gesandt hat. Die srische
deutsche Lust des Elsasses erst hat seinen eigenen Dichtungen die -sranzosirenden Formen abgestreist, welche er aus Deutschlands damaligem kleinen Paris noch mit herubergebracht hatte, so daB jetzt erst aus seinen
Liedern uns entgegenklingt, was nach seinem eigenen Ausspruch den Dichter macht: ein von Einer Empsindung ganz voiles Gemuth. WuBten wir weiter nichts, als daB dort dieser Dichter, welchen selbst der alte
Turnervater Iahn den deutschesten Dichter nannte, den ersten Gedanken zu seinem Gotz und Faust empsangen hat, wir waren berechtigt, den ElsaB als eine gesegnete Pflegestatte deutschen Geistes und Lebens zu
bezeichnen.
Allerdings ist bald daraus der plumpe Schwamm der sranzosischen Revolution iiber das deutsche Land hingesahren und hat manche alte Ueberlieserung und Sitte weggewischt. Nachher wirkte der Zauber von Napoleons
Macht um so anziehender, als unter ihm gerade viele Elsasser, Kellermann, Kleber, Rapp, Lesevre, mit hohen Ehren gedient hatten. Und als schlieBlich dem deutschen Volke auch nicht einmal als Preis stir seine schwer
erkausten Siege StraBburg, die wunderschone Stadt, mit dem ElsaB zuriickgegeben worden war, da war sreilich unser nun gliicklich entschlasener Bundestag doch zu sehr ein Ritter von der traurigen Gestalt, als daB er im
Stande gewesen ware, die alte Liebe der schonen Ungetreuen wieder zur Flamme anzusachen. Aber die Anhanglichkeit der Elsasser an die sranzosische Regierung bedeutete keineswegs ein Ausgeben ihrer deutschen
Volksthumlichkeit. Vielmehr haben auch nach dem 1809 verstorbenen Colmarer Psessel noch ihre zahlreichen und zum Theil trefflichen Dichter, unter welchen hier nur die Dichtersamilie Stober genannt sei, ihre Ehre
darin gesucht, in deutscher Sprache zu dichten, und der eigentliche Kern des Volkes hat sein deutsches Wesen mit unuberwindlicher Zahigkeit bewahrt: das Volk hat nicht ausgehort, deutsch zu singen und «oid und Liid. vi,
is. 8
deutsch zu beten. Es ist besonders bezeichnend stir die Anhanglichkeit der Elsasser an das Eigenthiimlichste, was ein Volksstamm hat, an seine eigenthiimliche Mundart, daB die Literatur der Dialektpoesie vielleicht in
keinem anderen deutschen Lande so sruchtbar sich erwiesen hat, wie dort, von dem „Psingstmontag" an, jenem im Iahre 1816 zu StraBburg erschienenen, vom Prosessor Arnold versaBten volksthumlichen Lustspiel,
welches noch Goethe einer aussuhrlichen und ehrenvollen Anzeige gewiirdigt hat, bis aus die neueste Zeit. Wir horen es gern, wenn der greise Drechslermeister Daniel Hirtz zu StraBburg seinen Landsleuten zurust:
So lang noch unser Minister steht —
Und dies isch noch gesund —
Au die Muedersproch nit untergeht 1
Denn viel gang dnoh zu Grund!
Und noch lieber horen wir es, wenn er, stir alle Deutschen verstandlich, singt:
Nicht Grenzen sollen scheiden
Dies biedre Volk und Land.
Fiirwahr! 's war zu beneiden,
Umschlang's ein sestes Band.
Verwachst zu Einem Stamme
Dies Volk einst und dies Thai,
Gliiht eine Freudenslamme
Aus Erwins Ehrenmahl! —
Es ware stir mich selbst bequemer gewesen, meiner Fachwissenschast verwandter, vielleicht auch im Einzelnen belehrender, wenn ich aus dem reichen Material, aus welches ich nur hindeuten konnte, einen bestimmten
Gegenstand zu eingehender Behandlung ausgewahlt hatte, etwa Otsried, oder die deutschen Mystiker, oder Spener, oder Obexlin. Es schien mir jedoch angemessener zu sein, diese Wolke von Zeugen voriiberzusiihren, zum
Beweise, daB der ElsaB von je an ein deutsches Land gewesen und es im Grunde bis heute geblieben ist, und zur Belebung der zuversichtlichen Hossnung, daB die Zeit kommen werde, in welcher die lange getrennte
Tochter dem Mutterhause wieder mit vollem und ungetheiltem Herzen angehoren wird. Ich grunde diese Hoffnung zum Schlusse aus den guten Spruch, daB alte Liebe nicht rostet. Ie mehr es dem deutschen Reiche gelingt,
auch durch zweckmaBigen und dauerhaften inneren Ausbau zu beweisen, daB es der Liebe werth ist, desto gewisser wird die alte Liebe ihre unverwiistliche Krast beweisen, wird dem in die Krone unseres erlauchten Kaisers
neu wieder eingesiigten Edelstein seinen jetzt noch etwas blinden Schein nehmen und ihn im alten Glanze leuchten lassen in der Krone deutscher Ehre und Herrlichkeit!
(Alavierspiel ohne (3nde.
Von
EmilUauluann.
— Dresden. —
!!st es musikalisch ersreulich, daB in unseren Tagen ziemlich Iedermann, vom Fiirsten bis zum kleinsten Dorsschulmeisterlein hinab, so gut oder so schlecht als er es vermag, Clavier spielt, und daB damit nicht etwa erst
beim Backsisch und Gymnasiasten, sondern schon bei der noch in den Kinderschuhen stehenden Menschheit, d. h. bei sechs- oder siebenjahrigen Knaben und Madchen begonnen wird? — Oder ist es etwa stir unsere
musikalische Cultur im Ganzen sorderlich, daB an vielen unserer Musikschulen bereits eine heerdenweise Abrichtung so und so vieler Clavierklassen zum Piano sorte spiel stattsindet, daB jede Pensionarin weiblicher
Erziehungs-Institute aus genau dieselben Salon- und Zugstiicke, die gerade in der Mode sind, dressirt wird und kaum eine Abendgesellschast stattsindet, in welcher nicht das Tochterlein des Hanses mit einem eingelernten
Paradepserdchen aus den Tasten ihres Fliigels vor uns zu brilliren sucht? — Man kann daraus ohne Weiteres antworten, daB dergleichen nicht nur kein Gliick, sondern geradezu ein Ungliick stir unsere musikalischen
Zustande ist!
In jeder andern Kunst — und zwar auch in solchen Fallen, in denen sie nicht als Lebensberus erwahlt worden ist, sondern dem Dasein nur zum Schmucke dienen soil — wird zu allererst danach gesragt, ob Iemand ein,
wenn auch nur bescheidenes MaB von Anlage besitzt. Erst wenn diese Vorbedingung ersiillt ist, entscheiden sich Eltern, Vormiinder und Lehrer hinsichtlich des zu wahlenden Faches stir ihre betreffenden Kinder, Miindel
und Schiller. Und wenn auch das Zeichnen in mancher unserer Zeichenschulen neuerdings ebensalls ansangt, etwas bedrohliche Dimensionen anzunehmen, so wird doch kein Dritter dadurch geschadigt. Es kann
uns Niemand zwingen, an den Stiimpereien des Dilettantismus und der Talentlosigkeit aus diesem Felde einen unsreiwilligen Antheil zu nehmen; auch ist es noch nicht Mode geworden, uns mit den ersten Versuchen junger
Ansangerinnen im Zeichnen im Familiensalon in gleicher Weise zu regaliren, wie mit den ersten Wagnissen junger Damen aus den Tasten. Die Hauptsache aber bleibt, daB in der Musik durchaus nicht mehr nach der
Anlage des Schiilers gesragt wird, sondern daB das Musieiren und Clavierspielen, namentlich stir unsere weibliche Iugend, ein unentbehrliches Stuck modischer Erziehung geworden ist, welche letztere geradezu als
unvollstandig gilt, wenn ein junges Madchen nicht ein paar Iahr lang mindestens seine zwei bis drei Stunden taglich am Fortepiano zugebracht hat. Und nun denke man gar erst an diejenigen Iungsrauen und Iiinglinge, die
sich der Musik vollig widmen wollen und hierbei das Clavier zu ihrem Hauptlnstrumente erwahlt haben. Bei diesen sind 4—5 Stunden taglichen Uebens das Geringste, was ihre Lehrer und sie selber voraussetzen; und da
es hier zunachst nur aus Entwickelung von Technik und Virtuositat und, in weiterer Consequenz, auch aus baldmoglichste Produeirung und Verwerthung dieser, aus Kosten der Nerven und der Gesundheit schwer
errungenen Gelausigkeit ankommt, so kann sich Ieder denken, oder hat vielmehr Ieder schonAschaudernd ersahren, in welcher musikalischen Sphare sich die von solchen jungen Musikern und Musikerinnen gespielten
Stiicke meist bewegen. Ia es ist sast noch schlimmer, wenn uns diese hoffnungsvollen Kunstjiinger und Iiingerinnen gediegene und von wahrhast poetischem Geiste ersiillte Tonwerke zu Gehor bringen wollen, da sie an
solche Compositionen meistens nicht nur innerlich ganz unvorbereitet herantreten, sondern auch die Ausbildung des Vortrags bis jetzt die schwachste Seite unsers gesammten Clavierunterrichtes ist, — Was aber ist die
Folge hiervon? — Ebensowol eine immer mehr um sich greisende musikalische Verflachung, die die gottliche Kunst der Tone zu einem bloBen Spielzeug, Handwerk oder Metier herabwiirdigt, als die steigende Marter
aller echten Tonkiinstler und Musiksreunde, die genothigt sind, an diesem blasirten Treiben einen hochst unsreiwilligen Antheil zu nehmen. Denn wenn auch das Auge nicht zu sehen braucht, so ist doch das Ohr
gezwungen zu horen, d. h. das Clavierspielen ist keine harmlose Kunst, wie das Zeichnen, welches Niemand behelligt, sondern es greist taglich und mitunter sogar stiindlich in sremde Rechtsspharen ein; wenigstens
moralisch genommen, und insosern jeder Mensch einen bescheidenen Anspruch aus ungestorten Frieden, Erholung und Ruhe uach schwerer Arbeit besitzt. Von einem solchen Gliick innerhalb unserer vier Wande ist aber
nicht mehr die Rede, seitdem sich Goethes klassisches Wort: „In jedem Haus ein Leierkasten" ersiillt und selbst dahin gesteigert hat, daB man jetzt mit Fug und Recht ausrusen kann: „In jedem Stockwerk ein Clavier!" —
Ich glaube, daB Hausbesitzer, die die Anzeige brachten: „In diesem Hause wird ausnahmsweise nicht Clavier gespielt", glanzende Geschaste machen mtiBten!
Aber bin ich denn ein Feind des Clavierspiels oder bilde ich mir ein, daB die elavierspielenden Leser und Leserinnen dieses Blattes gerade sehr entziickt dariiber sein diirsten, daB ich eben das Instrument, welches sie mit
Vorliebe zu dem ihren erwahlten, schlecht mache? — GewiB nicht! — Ich bin ebenso weit da von entsernt, der Feind eines Instrumentes zu sein, das stir sich allein den vollstandigsten Begriss eines Kunstwerkes zu geben
vermag und deshalb auch gerade stir unsere Hausmusik das unentbehrlichste aller Instrumente ist, als es mir beikommt, in einem Blatte gegen dasselbe zu eisern, das, wie ich voraussetze, es in jeder Weise vermeidet, und
hiersiir biirgen schon die Namen seines Begriinders und seiner Mitarbeiter, seine Leser in ihren Privatgesiihlen zu verletzen. Ich weiB aber auch, daB ihr Organ nicht davor zuruckschreckt, Auswiichsen unserer Cultur
entgegenzutreten; zu diesen aber gehort das epidemisch gewordene Clavierspielen: eine Barbarei, die einen so echt musikalischen Menschen, wie unsern deutschen Dichter Berthold Auerbach, dazu brachte,
drucken zu las sen:
„Kartatschen in die Cl»viere!"
Allerdings konnte das Clavierspiel und zwar gerade in seiner jetzigen groBen Verbreitung, ein wahres Volksbildungsmittel werden. Aber sreilich nur unter ganzlich veranderten Bedingungen. — Zunachst miiBte es Pflicht
eines jeden Conservatoriums, ja selbst einer jeden Privat-Musikschule, sowie eines jeden Privatlehrers werden, keine Individuen zum Unterricht im Clavierspiel mehr zuzulassen, bei denen es offen zu Tage tritt, daB ihnen
jede musikalische Begabung und ost selbst jeder musikalische Sinn (wie Gehor, GedachtniB, Taktgesiihl, musikalische Unterscheidungsgabe u. s. w.) abgeht. Es miiBte dies ein Ehrenpunkt unter alien Musikern werden, die
echte Kiinstler und nicht bios Handlanger in der Musik sein wollen. Gingen dariiber auch ein paar Clavierspieler von der Sorte derer zu Grunde, die lediglich musikalische Salon- und Fabrikarbeit von Haus zu Haus
eolportiren, wir wiirden ihnen keine Thrane nachweinen. Ihnen ist ja doch die Kunst nur die Kuh, die sie mit Butter versorgt, welche letztere ihnen jedes andere Metier im Leben in einer weit sicherern und weniger
gemeinschadlichen Weise verspricht. Die Musik wiirde dabei nur gewinnen, zumal da sich iiberdies, wenn das Vorhandensein musikalischen Sinnes die Bedingung des Unterrichts geworden ware, auch die Zahl der Eleven
des Clavierspiels sehr ermaBigen, die Bedeutung der Qualitat ihrer Leistungen dagegen in ersreulicher Weise steigern wiirde.
Ein zweiter Punkt, aus den es ankame, ware, daB dem Schiiler von Ansang an ein Begriff von der Hoheit der Tonkunst beigebracht wiirde, die er darum, auch als Clavierspieler, nicht nur aus dem Grunde zu treiben habe,
um sein kleines Licht vor den Leuten leuchten zu lassen (und noch dazu mit Etiiden, deren einziger Zweck Production der Fingersertigkeit, oder mit Salonpioeen, die keine andere Ausgabe kennen, als auBerlichen Kitzel
des Gehorsinns), sondern die er erlernen soil, um ein besserer und edlerer Mensch zu werden. Es muB ihm klar gemacht werden, daB die Technik nicht der eigentliche letzte Zweck des Unterrichts ist, sondern daB alle
Gelausigkeit nur dazu dienen soli, ihn dereinst zu besahigen, die Tondichtungen unserer groBen Meister flieBend und ohne jedes HemmniB darzustellen. Er soli inne werden, daB alle Virtuositat nur dann berechtigt ist,
wenn sie ihn dahin siihrt, sich ganz srei und ungehindert in der Sprache der Tone auszudriicken, gleichwie der Schauspieler und Deelamator erst dann ein Dolmetscher unserer groBen Dichter zu sein vermag, wenn er die
Sprache, die wir alle reden, vollig und glanzend beherrscht. Man mag ihm selbst, sobald er das VerstandniB dasiir erlangt hat, mittheilen, daB schon Aristoteles gesagt hat: BloBes Virtuosenthum sei ein eines sreien
Menschen unwiirdiger Berus (eben weil die Virtuositat uns nichts Ideelles mehr vermittelt), daher eine Beschaftigung stir Unsreie und Selavenl
Mehr aber sast noch, als aus eine solche Erweckung der ErkenntniB und Wiirdigung der ethischen Stellung und Bedeutung des Clavierspielers kommt es daraus an, daB der Lehrer den Geschmack des Schiilers am
Gediegenen und Guten wecke, ihn dadurch vor der Verflachung durch die vergangliche Flitterwaare des Salons bewahre und ihm Herz und Gemiich stir die Schatze unserer klassischen Clavierliteratur erschlieBe. Dies Alles
ist nur zu erreichen durch einen verstandniBvollen Vortrag klassischer Clavierwerke, dessen Lehre im heutigen Clavierunterricht nur eine ganz untergeordnete Stelle einnimmt, wahrend doch ein Heranbilden des Schiilers
zu einer kiinstlerisch gediegenen Wiedergabe bedeutender Tondichtungen das Hochste und Letzte des Unterrichts, j a das Ziel sein miiBte, aus das derselbe von Ansang an allein hinarbeiten sollte.
Die materielle Vorbedingung einer Heranbildung des Schiilers zu wahrhast kiinstlerischem Vortrag besteht in der sorgsaltigsten Ueberwachung und Ausbildung seines Anschlags. Man hat ost behaupten horen, daB die
Zeit eines, nnr durch Krastprodnetionen die blode Menge in Erstaunen setzenden Virtuosenthums giticklicherweise hinter uns lage; gedenke ich aber der Verwilderung des Anschlags der groBen Majoritat unserer heute
umherreisenden und in Coneerten gastirenden Clavierhelden, so iiberzeuge ich mich da von, daB wir noch ties in der Barbarei jenes musikalischen Kunstreiterthums stecken, welches man schon stir iiberwunden hielt. Man
hore nicht nur, sondern man sehe auch, wie diese Herren sich aus die Tasten stiirzen: nicht als gelte es, dieselben zu spielen und dem Instrumente Wohllaut zu entlocken, sondern als handle es sich um die Vernichtung eines
Feindes, um den Zweikamps eines Thierbandigers mit einer wilden Bestie. Ost genug sreilich erleben wir auch bei derartigen Gelegenheiten die ossentliche Hinrichtung des armen Opsers von Coneertsliigel, der sich in
solcher Art bearbeiten lassen muB. Einer der Spieler dieses Schlages theilte mir voll hoher Besriedigung mit, ein beriihmter Kritiker habe ihn den „Othello des Clavierspiels" genannt. Als ich ihn das erste Mai horte und ein
schones, der Cantilene und einem seelenvollen Vortrage besonders giinstiges Instrument wie eine Desdemona unter seinen Handen erbeben und mit schrillem Klang springender Saiten verenden sah, bat ich ihn, sich in
seinem eigenen Interesse des eitirten Wortes jenes geistvollen Humoristen lieber nicht mehr zu riihmen, da dasselbe doch einen versanglichen Doppelsinn besitze!
Unsere modernen Clavierspieler schlagen die Tasten nicht mehr an, sondern sallen aus dieselben herab. Sie liebkosen ihr erwahltes Instrument nicht, wie der Araber sein treues Pserd, sondern bearbeiten es mit Fausten.
Sie binden und singen ihre Melodien nicht, sondern zerhacken, zerstechen und zersetzen sie. Und dies Alles unter der Beschonigung durch pomphaste Phrasen, wie: „Aus Tonziehen, aus Pointiren, aus Krastentwickelung
kommt es an!" Nun — der bloBen Krastentwickelung dars sich auch der Herkules in der Bereiterbude riihmen, und wol noch mit etwas mehr Recht; und wenn es sich um das Tanzen aus den Tasten, oder aus dem Seile
handelt, so floBt mir immer noch das letztere mehr Respeet ein, weil da, wo ein einziger Fehltritt den Tod bringen kann, wenigstens groBe Kaltbliitigkeit, Selbstbeherrschung und personlicher Muth vorausgesetzt werden
muB.
Die eigentliche Unsitte und Verwilderung im Anschlag eines groBen Theiles unserer modernen Clavierspieler besteht, kurz gesagt, darin, daB derselbe wol noch Schlag, aber eben kein Anschlag mehr ist, Dies erklart
sich hochst einsach daraus, daB alle Bewegung, alle Krast, alles Spiel und aller Ton weniger von den Fingerwurzeln und von den Gelenken der Finger ausgeht und Ursprung nimmt, als aus dem Handgelenke herkommt.
Nun ist zwar die Anwendung des Handgelenkes unschatzbar bei Oetavengangen, detachirt anzuschlagenden Aeeorden und Aeeordenreihen, sowie bei Terzen- und Sechstengangen. Selbst beim sehr prononeirten und starken
Staeeato, besonders wenn die Hande viel zu greisen haben, kann die Anwendung des Handgelenkes von trefflicher Wirkung sein. Wird dasselbe jedoch beim kleinen oder leichten Staeeato, welches viel seiner und delieater
durch die Finger allein erzeugt wird, oder gar — eine Barbarei, die ich selbst erlebt habe — in Momenten angewandt, in denen es sich darum handelt, aus dem Instrumente zu singen, so hat man es mit dem Untergange des
wirklichen Clavierspiels zu thun, an dessen Stelle dann das Clavierschlagen tritt. Wer es noch nicht erlebt hat, konnte sreilich sragen, wie es denn iiberhaupt moglich sei, ein Legato oder eine gebundene und getragene
Melodie unter Anwendung des Handgelenkes zu spielen, ohne dieselbe zu zerstiicken und gerade in ihrer Gebundenheit auszuheben? Hieraus ist zu antworten, daB zunachst dem verdorbenen Sinn und Gesiihl jener Spieler
eine zerstiickte Cantilene geistvoller und origineller vorkommt, als eine gesungene; serner, daB sie es versuchen, eine allzu merkliche Zerstiickelung der Melodie durch einen weniger hoch gesiihrten Schlag des
Handgelenkes und durch ausgehobenes Pedal (sei es im Ganzen, sei es zu jedem einzelnen Ton) einigermaBen zu verdecken, sowie endlich, daB den Herren ja gerade hier die schonste Gelegenheit zu ihrem oben schon
erwahnten „Pointiren" einzelner Stusen eines derartig vorgetragenen Gesanges gegeben wird. Ienes Pointiren ist aber gerade das Abscheulichste, was mir im Clavierspiel vorgekommen ist. An die Stelle einer wahren
Empsindung und eines wahren Gesiihls treten hier rein mechanisch erzeugte und bis zur Widerwartigkeit gesteigerte Wirkungen. Der Finger wird hier zur bloBen Hammerspitze des ihn herabsallenlassenden Handgelenkes,
um mit dem nackten, harten, metallischen und seelenlosen Klang eines wirklichen kleinen Stahlhammers den zu pointirenden Ton hervorzuheben, oder ihn mit der schneidenden Scharse eines Federmessers aus dem
Zusammenhange der iibrigen Melodie loszutrennen. Und diese Pein stir das Ohr, eine solche musikalische Rohheit wird uns nicht allein noch als musikalischer Ausdruck, sondern als der Gipsel desselben, als die
Errungenschast einer sortgeschrittenen Zeit ausgetischt. Geht zu den Botokuden und Kassern, wenn ihr mit dergleichen wirken wollt, nicht aber zu Menschen, die noch, wie der Dichter sagt: „die Eintracht holder Tone
riihrt!"
Nur also erst, wenn die geschilderten Auswiichse modernen Anschlags beseitigt und damit zugleich die gesammte Technik wieder aus andere Grundlagen gestellt wird, vermag nach meiner Ueberzeugung das Terrain
wiedergewonnen zu werden, aus welchem ein kiinstlerischer Vortrag der Claviereompositionen unserer klassischen deutschen Tondichter iiberhaupt moglich ist. — Man unterscheidet mit Unrecht eine altklassische und eine
moderne Technik und zwar in dem Sinne, als wenn beide absolute Gegensatze waren. Das Hochste des Clavierspiels ist eine Vereinigung der Vorziige beider Methoden. Nur Wenigen, selbst unter den Musikern von Fach,
ist Forkels treffliche Schrist: „Iohann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke" bekannt. Dieselbe enthalt, was hier stir uns von ganz besonderer Wichtigkeit ist, eine genaue und detaillirte Beschreibung des
Anschlags, der Haltung der Finger, sowie der ganzen Spielweise des gewaltigen Mannes, der durch seine Clavierwerke der Begriinder des ganzen modernen Pianosortespiels geworden, da heute noch zu einer hinreichenden
Aussiihrung derselben die hochste Meisterschast ersorderlich ist. Die Ueberlieserungen, aus welche sich Forkel stiitzt, riihren theilweise von Bachs eigenen Sohnen, den selbst so hochbegabten Tonsetzern Philipp Emanuel
und Wilhelm Friedemann her, sind daher' von groBter Bedeutung, — Es heiBt in Forkels Mittheilungen unter Anderem: „Nach der Seb. Bach'schen Art, die Hand aus dem Clavier zu halten, werden die siins Finger so
gebogen, daB die Spitzen derselben in eine gerade Linie kommen, die sodann aus die in einer Flache nebeneinander liegenden Tasten so passen, daB kein einziger Finger bei vorkommenden Fallen erst naher herbeigezogen
werden muB, sondern daB jeder iiber der Taste, die er niederdriicken soli, schon schwebt." Es wird dann dargethan, daB hiermit kein Fallen und Wersen der Finger aus die Tasten, sondern vielmehr ein, jeden Zusall
ausschlieBendes Uebertragen ihrer Krast aus die Claviatur verbunden sei. Als eine sernere Eigenthiimlichkeit des Spiels des Altmeisters wird mitgetheilt, daB er die Finger nicht gerade auswarts von den Tasten gehoben,
sondern dieselben, durch ein allmahliches Zuriickziehen ihrer Spitzen nach der inneren Flache der Hand, von dem vorderen Theil der Tasten gleichsam habe abgleiten lassen-, durch dieses Abgleiten sei erreicht worden,
daB beim Uebergange von einer Taste zur andern das MaB von Krast und Druck, welches aus den ersten Ton gewirkt, in groBter Geschwindigkeit aus den nachsten Ton iibertragen worden sei, so daB nun die beiden Tone
weder von einander gerissen, noch ineinander tonend hatten klingen konnen. Alles dies zusammen genommen habe endlich noch den iiberaus groBen Vortheil im Gesolge gehabt, daB jede Verschwendung von Krast durch
unniitze Anstrengung und durch Zwang in den Bewegungen vermieden worden sei. Darum hatte auch Seb. Bach mit einer so kleinen Bewegung der Finger gespielt, daB man sie kaum bemerkt habe. „Nur die vorderen
Gelenke der Finger waren in Bewegung, die Hand behielt auch bei den schwersten Stellen ihre gerundete Form, die Finger hoben sich nur wenig von den Tasten aus, sast nicht mehr als bei Trillerbewegungeiif und wenn
der eine zu thun hatte, blieb der andere in seiner ruhigen Lage. Noch weniger nahmen die iibrigen Theile seines Korpers Antheil an seinem Spielen, wie es bei Vielen geschieht, deren Hand nicht leicht genug gewohnt ist."
Diese Art zu spielen blieb nun in der Hauptsache die Methode aller Koryphaen des klassischen Clavierspiels von Bach bis aus Felix Mendelssohn. Die durchsichtige Klarheit, die die unbedeutendste Fioritur mit gleicher
Liebe und Delieatesse behandelt, als sie das Bedeutende hervorhebt und an seinen Platz stellt, der saubere Anschlag und gesangreiche Ton, die Fahigkeit, den Tonstoff stir das Gehor in von einander sich sondernde
Stimmen zu gliedern, die durch hochste Egalitat sich auszeichnenden perlenden Passagen — kurz alle die uns durch die Tradition iiberlieserten oder noch mit eigenem Ohr vernommenen Leistungen von Meistern des
klassischen Clavierspiels, wie Mozart, Hummel, Clement,, Moscheles, Field, Cramer, Berger, Pleyel, Felix Mendelssohn, Schulhoss, Clara Schumann — sind mehr oder weniger aus Bachs undA seiner Sonne Methode als
aus ihre Basis zuriickzusiihren. Das Handgelenk spielte unter den Genannten bis in die neuere Zeit hinein eine nur untergeordnete Rolle. Hummel und Moscheles bedienten sich desselben so gut wie iiberhaupt noch nicht,
und auch Mendelssohn wandte es nur auBerst maBig, die Schumann, Hiller und Taubert, denen Mendelssohn als Virtuose Vorbild geblieben, ohne jede Uebertreibung an und ohne daB etwas in ihrem Spiel zu sehlen schien.
Erst die Pariser Schule und alle diejenigen, die im nichtsranzosischen Ausland in naherer oder entsernterer Beziehung zu ihr standen, daher Virtuosen wie Kalkbrenner, Thalberg, Chopin, Henselt, Drenschock, Rubin st ein
und vor allem der Konig des modernen Clavierspiels: Franz Liszt und seine Schiiler Biilow und Tausig entwickelten das Handgelenk zu der Bedeutung, die es heute im Piano sorte vortrag erlangt hat. Die Vorziige der einen
Schule schlieBen aber die Vorziige der anderen nicht aus; auch hier ist die Vereinigung des Entgegengesetzten das Hochste, und daB dies erreichbar, hat Liszt, der eigentlich iiber jeder besonderen Schule steht, glanzend
bewiesen. Alle Spielarten sind ihm gleich gerecht und wenn er will, hat er stir jedes Iahrhundert, jede besondere Richtung und Gattung, ja selbst stir jeden Meister seinen besonderen Anschlag und Vortrag. Manches von
einer solchen genialen Durchgeistung des Clavierspiels ist schon aus seine Schiiler oder Enkelschiiler iibergegangen. Talente wie Hermann Scholz, Ignaz Briill, Mary Krebs und Andere zeigen, daB sich die ganze
Gewissenhastigkeit und Durchsichtigkeit des klassischen Clavierspiels mit den Errungenschaften der modernen Technik aus das Schonste verschmelzen lassen.
Eigentumlich ist es, daB gerade eine solche Verschmelzung des Tiichtigsten, waV altere und neuere Zeit geleistet, auch eine Haltung der Hand hervorgerusen hat, die einer Mittelstellung zwischen beiden Schulen
entspricht. Wenn derselben auch die Bach'sche Haltung noch als ihr urspriingliches Modell zu Grunde liegt, so erscheint doch die Hand nicht mehr in gleicher Weise zusammengezogen; namentlich hat das vordere
Fingerglied eine sreiere und daher auch eine etwas gestrecktere Stellung erhalten. Da dasselbe nun aber doch noch immer, wie es die Methode Bachs vorschreibt, beim Anschlag ein wenig gegen die innere Handflache
zuriickgezogen wird und alle Krast daher so wol bei der Cantilene wie bei dem flieBenden Passagenspiel ausschlieBlich von den Fingerwurzeln ausgeht, so entsteht ein Handprosil, das in mancher Beziehung an ein
Meisterwerk der bildenden Kunst erinnert. Die Vereinigung jener schonen und ungezwungenen Lage der Fingerspitzen iiber den Tasten mit der Doppelausgabe, einerseits den Ton in jener legirten Bach'schen Art zu
erzeugen und (bei einem bloBen Nebeneinander von Tonen) von einer Taste aus die andere zu ubertragen, andererseits die Hand in steter Bereitschast stir eine plotzliche Anwendung des Handgelenkes zu erhalten, ist
namlich nur moglich, wenn der Arm so gehalten wird, als ob er aus dem sogenannten Handleiter (auch 6ui6s-Aams, Abiroplast genannt) auslage, so daB die Hand von ihrem sie an den Arm anschlieBenden Gelenke aus mit
einer nur ganz sansten, kaum merklichen Biegung horizontal zur Claoiatur zu stehen kommt, was bei der Festhaltung des klassischen Anschlags stir Melodien und Lause zur Folge hat, daB an den Fingerwurzeln eine
abermalige sanste kleine Einsenkung stattsindet, an welche sich denn auch wiederum die Finger mit einer gesalligen Wolbung, zwischen dem ersten Gliede einerseits und dem zweiten und dritten Gliede anderseits,
anschlieBen. Die aus diese Weise entstehenden Umrisse erinnern aber lebhast an die Contoure der Seitenansicht der Hande der heiligen Caeilie von Carlo Dolee und habe ich dieselbe sich, namentlich bei jungen
Virtuosinnen, so zum Beispiel bei Frau von Szarady, als sie noch Wilhelmine Klaus war, und bei Frau Rappoldi nahezu zu einer ganz unbewuBten Copie des genannten lieblichen Bildes steigern sehen. Nicht also nur die
Dichter haben Divination und sind berechtigt- sich, wie dies schon bei den Alten geschah, v»tes d. h. Weissager zu nennen, auch ein talentvoller Maler des 17. Iahrhunderts hat, wie wir sehen, das moderne Clavierspiel des
19. gleichsam antieipirt.
Nach welcher Seite hin nun auch die Ausbildung des Clavierspielers hinsichtlich seines Anschlages ersolge, in jedem Falle muB so viel von der stir alle Zeiten mustergultigen Weise Sebastian Bachs, den Ton aus die
Tasten zu ubertragen, darin erhalten bleiben, daB der Spieler das MaB der angewendeten oder zuriickgehaltenen Krast, bis zu nicht mehr zu desinirenden Graden, bis in die leiseste Andeutung, die zarteste Niianee hinein,
vollig in seiner Gewalt behalt. Nichts in seinem Spiel dars dem Zusall, dem Ungesahr — ich mochte sast sagen, der korperlichen Disposition oder der Ermudung, welche letztere z. B. einen zu starken Druck des Armes aus
die Hand im Gesolge haben kann (eine Gesahr, welche die Bach'sche Spielart vollig beseitigt), uberlassen bleiben. Die Finger miissen sich als die zuverlassigen Vermittler des leisesten Druckes, der besondersten,
eigenartigsten Beruhrung der Taste, und zwar ebensowol in den einsachsten als in den verwickeltesten Fallen, erweisen. Aus diese Weise wird der Anschlag ein Theil unseres Willens, in den er vollig iiber- und ausgeht,
und zugleich ein treues Echo der leisesten Regungen unseres Fuhlens und Empsindens, der Finger aber das mit elektrischer Blitzartigkeit photographirende Organ des in unserer Seele sich wiederspiegelnden Tonbildes. Nur
aus diesem Wege sind wir, wenn wir unseren Platz am Piano eingenommen, davor bewahrt, in der Sprache der Tone gelegentlich mehr oder weniger zu sagen, als uns selbst im Gemuthe lag, daher auch davor behiitet,
entweder zu ubertreiben, oder zu gleichgultig zu spielen. Nur diese Methode laBt endlich die Tasten der Claviatur zu Tasten der Seele werden und setzt uns in den Stand, das, was der Maler Schatten, Licht, Hervortreten
und Zuriicktreten ganzer Partien, Abtonung, Colorit, Helldunkel u. s, w. nennt, in unser Tongemalde zu bringen.
Das Vorstehende diirfte unsere Leser und Leserinnen davon iiberzeugt haben, daB meine sriihere Bemerkung, der kiinstlerische Anschlag sei die unumgangliche Vorbedingung alles musikalischen Vortrages, nicht zu viel
behauptete. Was hilft uns das gliicklichste Dichterwort, wenn es nicht in der Stimme des Redners, aus dessen Herzen es hervordringen soli, ergreisend nachzittert und wenn nicht diese Stimme auch an und stir sich
schmiegsam und biegsam nach jeder Seite hin ist, so daB sie uns ebenso sehr durch einschmeichelnden Wohllaut zu bezaubern, wie durch die Gluth der Leidenschast oder den Donner edeln Zornes zu erschiittern vermag.
Und doch ist eine, in Bezug aus Tonsarbe, Aeeente, Caesuren, Athemvertheilung, Satzgliederung, Beherrschung der Volubilitat des Organs, muhelose Ansprache desselben u. s. w. tadellose Reeitation nur die materielle
Unterlage, aus welcher das Letzte und Hochste der Darstellung eines Meisterwerkes: sein empsundener, verstandniBvoller und durchgeisteter Vortrag, moglich wird. In der Poesie verhalt es sich also genau so hinsichtlich
der Darstellungsmittel wie in der Musik, in welcher, wie wir wissen, der Anschlag gleichsalls nichts anderes sein will und soil, als die Vorstuse zu einer von aller materiellen Schwere erlosten Wiedergabe des
Tongedichtes. Gehen wir daher nunmehr noch mit ein paar Worten zu dieser aus dem Inneren geborenen Wiedergabe eines Kunstwerks, die ja auch in der Tonkunst Vortrag genannt wird, als zu dem Punkte iiber, aus
welchen alles Bisherige nur hinzielte.
Was wiirde man zu einem Schauspieler, Deelamator, ja selbst nur zu einem Dilettanten sagen, der ein Gedicht vor Zuhorern zu reeitiren unternahme, ohne dessen Strophenbau und Metrum genau zu kennen und
gleichsam spielend zu beherrschen? Man diirste sicherlich keinen Ausdruck stark genug sinden, um die AnmaBung eines solchen Unberusenen zu geiBeln, der ohnedies dem Fluche der Lacherlichkeit versallen wiirde. Aber
in manchen Fallen geniigt uns bei solchen Gelegenheiten nicht einmal die genaue KenntniB des Versbaues und aller seiner Wandlungen, Varianten, Lieenzeu und Caesuren seitens des Vortragenden; wir verlangen von ihm
noch mehr. Es gibt besondere Gattungsgedichte oder Dichtungsarten, wie etwa das Sonett, das Ghasel, die Glosse, das Rundlied mit sich wiederholendem oder steigerndem Resrain, die Ballade, die Elegie, das Volkslied
einer sremden Nation oder eines besonderen Stammes, bei denen wir vom Reeitirenden zu allem Uebrigen auch eine speeielle KenntniB der ganzen Stilweise und Herkunst derselben, oder der eigenartigen Loealitat, an die
sie sich kniipsen, sordern; und es gibt wiederum Verse (so namentlich die ungereimten antiken Rhythmen, z. B. der Hexameter, die sapphische und die alkaische Strophe, oder die Dichtungen unserer deutschen Minne- und
Meistersinger), die wir vom Vortragenden mit um so groBerer Freiheit hergesagt verlangen, als sie nicht mehr der TagesPoesie angehoren und er uns eben darum durch die Naivetat und Frische seines Vortrags dariiber
tauschen soil, daB sie die Culturbliithen vergangener Zeiten sind.
Von alien solchen Voraussetzungen ist in der Tonkunst, und zwar namentlich in unserem modernen Claviervortrag, kaum noch die Rede. Nicht nur Dilettanten, sondern auch eine hubsche Anzahl von Claviervirtuosen
weiB und ahnt nichts von dem musikalischen Ausbau der Kunstsorm, von deren Gliederung nach hervortretenden und zuriicktretenden Theilen und dem ganzen thematischen, rhythmischen und modulatorischen
Zusammenhang und Gesiige der Praludien, Fugen, kanonischen Satze, Sonaten, Rondos, Scherzi, Caprieeios, klassischen Variationen, Fantasien, Duos, Trios, Quatuors, oder den sormalen Verhaltnissen der auch in zwei-
oder vierhandigen Clavierarrangements vorhandenen Streichquartette, Kammermusiken, Orchesterintroduetionen, Ouverturen und Sinsonien, die uns jene Fingerhelden trotzdem mit der souverainen Miene der
Unsehlbarkeit vorzutragen wagen, welche auch in der Tonkunst das besondere und nicht beneidenswerthe Kennzeichen der Unwissenheit ist. Wir miissen im Rayon der Claviermusik und ihres Vortrags unsere Anspriiche
iiberhaupt aus ein weit geringeres MaB, als das bei poetischen Vortragen angedeutete hinunterschrauben. Hier ist man schon leidlich zusrieden, wenn nur iiberhaupt die musikalische Stimmung, das Tempo eines Tonsatzes
und die wesentlichsten Ziige seines im Allgemeinen hervortretenden Charakters nicht ganzlich vergrissen werden, man lobt bereits, wenn dem Spieler zuweilen der Sinn und Zusammenhang eines hervortretenden, wenn
auch eigentlich nicht miBzuverstehenden musikalischen Gedankens ausgegangen ist, oder wenn sich ihm der Geist besonders ausdrucksvoller Themen, Motive und tonender Ausrusungs- und Fragezeichen erschlossen hat.
Aber ist denn nicht eine solche Geniigsamkeit schon ein schlagender Beweis dasiir, wie weit sich die Anspriiche des Horers an den Spieler im Felde des Claviervortrages redueirt haben? Zumal da in der, von der
Voealmusik losgelosten Instrumentalmusik die Kunstsorm die Stelle einnimmt, welche in der Umgangs sprache, daher auch in der Sprache der Poesie, begrifflicher Zusammenhang, Logik, satzliche Gliederung und
Abrundung, Interpunktion und Rechtschreibung einnehmen. Wer nun diese elementaren Vorbedingungen der Tonsprache weder kennt, noch in ihrer ideellen und sormalen Bedeutung zu unterscheiden und zu wiirdigen
weiB, der kann in die Lage kommen, in einem Musikstiick, beim Vortrage einer Melodie, einer Periode oder eines ganzen Abschnittes, vollig salsche Caesureu, Aeeente und Satzeintheilungen eintreten zu lassen. Taher
gleichen manche unserer elavierspielenden Dilettanten jenen Kindern, die eine, in Folge mangelnder Interpunktion zu einem Fluche werdende Liebeserklarung, etwa im Stile der nachstehenden, in das Album ihrer
Bekannten schreiben:
Alles Bose'wunsch' ich Dir
Fern vom Halse bleibe mir
Alles Ungliick treffe Dich
Niemals komm und liebe mich!
Nur daB bei den Kindern absichtlicher Scherz ist, was am Claviere doua 2ae geschieht. So horte ich einmal einen Dilettanten, dessen Trennung des Zusammengehorigen mich lebhast an den Bratenbarden eines kleinen
Stadtchens erinnerte, der den SchluB der Episode von der Feuersbrunst aus Schillers Glocke wie solgt reeitirte:
Wachst sie (die Flamme namlich) in des Himmels Hohen!
RiesengroB, hoffnungslos weicht der Mensch der Gotterstarke.
Doch SpaB bei Seite — es handelt sich bei unserem modernen Claviervortrag meist nicht allein um solche VerstoBe gegen das Einzelne und Besondere, sondern vielmehr um eine Entwiirdigung eines Kunstwerkes im
Ganzen und Allgemeinen. Eine solche tritt ein, wenn der Spieler das Nebensachliche, nur zur Ausschmiickung Gehorende (das, was in der Malerei lediglich als Aussullung, Verbramung, oder Verzierung gilt, z. B. der
geschmackvoll gemusterte Saum eiues Gewandes, oder die Rose im Haare eines schonen Madchens) in ubertriebener Weise hervorhebt, das Wesentliche, den Kern des musikalischen Gedankens Enthaltende dagegen nur
obenhin streist, oder wenn der Vortragende, durch den Mangel einer jeden Berucksichtigung der sormalen Abschnitte eines kunstlerischen Organismus, uns dessen ganzen Zusammenhang unverstandlich werden laBt, wie
dies geschieht, wenn iiber die Themata und die ihnen entnommenen Motive leicht, verstandniBlos und gleichgultig hinweggeeilt wird, Passagen und Lause dagegen, die nur Fullungen, Arabesken oder Ornamente sein
sollen, zur Hauptsache gemacht werden, weil der beschrankte Aussuhrende darin das, was allein seineu Ehrgeiz reizt: seine leidige Fingersertigkeit produeiren nnd an den Mann bringen kann.
Habe ich doch nicht nur bei Dilettanten und Dilettantinnen, sondern selbst bei Virtuosen und Virtuosinnen dieses Schlages das Unglaubliche erlebt! Sebastian Bachs Praludien trugen sie vor, als seien es Etiiden der von
ihnen gewohnten Art, oder Proben aus einer Schule der Gelausigkeit; des GroBmeisters Fugen behandelten sie in einer Weise, daB man sagen durste: hier hat der Spieler nichts gedacht, hier braucht der Horer nichts zu
deuken! — Die von Herzensgluth ersullten und von Empsindung uberquellenden Sonaten und Kammermusiken unserer groBen Tondichter Haydn, Mozart und Beethoven entstellten sie durch salsche Tempi, Vergreisung
des Charakters oder — noch schlimmer — durch salsche Sentimentalitat und das damit verbundene hausige und willkiirliche Ritenuto, und verdunkelten ihren Zusammenhang hierdurch bis zu einem Grade, daB lean
Iaeques Rousseau auch im neunzehnten Iahrhundert zu seiner Frage abermals berechtigt gewesen ware: Hus me veux tu, 8ormts? —
Ich habe die OmoU-Fuge aus dem ersten Theil von Bachs wohltemperirtem Clavier von solchen Patronen und Damchen als ein lustig tanzelndes Pizzieato herunterspielen horen (und zwar von der ersten bis zur letzten
Note), im Uebrigen aber ohne alien Begriff und Sinn. Andere wiederum, deren musikalischen Leistungen ich beizuwohnen verurtheilt war, meinten, es sei im Fugenvortrage alles zu Fordernde geleistet, wenn nur die
Stimmeneintritte recht schars hervorgehoben wiirden, was nun abermals in so ubertriebener Weise geschah, daB den Horer die Empsindung iiberkam, der Spieler packe ihn beim Kopse und stoBe ihn mit der Nase gegen
jeden Pseiler des in Tonen ausgesuhrten Wunderbaues, damit er recht derb an eigener Haut ersahre, wie gewissenhast der Vortragende die am Kunstwerk auBerlich erkennbaren Abschnitte beriicksichtige. Derartig
messerschars pointirte Einsatze der Stimmen verletzen aber nicht nur die ideale Einheit eines solchen Tongedichtes, sondern auch dessen Kunstsorm, die sie aus das Grausamste zerhacken und zerschneiden. Von dem
Elemente der Steigerung, welches durch jede klassische Fuge geht und von dem Umstande, daB auch die Eintritte der Stimmen mitunter recht getragen (daher auch mit singendem und gebundenem Anschlag) ersolgen
sollen, ja zuweilen selbst in schiichterner, beklommener Weise, oder wie von Ruhrung durchbebt wieder auszutreten haben, daher bei solcher Gelegenheit auch so vorgetragen sein wollen, als blicke ein schones srommes
Auge mit dem Ausdruck heiliger Ueberzeugung zu den Wolken empor, haben Spieler der geschilderten Art natiirlich keine Ahnung.
Aehnliche Entstellungen des Geistes und Stiles einer ganzen Kunstgattung erlebte ich im Gebiete der Sonate. Den ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate, der einer musikalischen Paraphrasirung von Goethes
„Fiillest wieder Busch und Thai" gleicht, horte ich von dem musikalischen Lowen eines aristokratischen Salons als ?smpo ai maroi». mit marschartiger Markirung der die Melodie im Diseante einleitenden punktirten Achtel
und nachsolgenden Sechszehntel spielen; das leidenschastliche Finale dagegen trug- der Geseierte als ein Bravourstiick in gebrochenen Aeeordpassagen mit untermischten Uebungen stir das Handgelenk vor, was eigentlich
nur ganz natiirlich war, da Beethovens (.'ig -moll -Sonate in dem Programm jenes Clavierhelden zwischen einer Pieee, genannt ?Inis clez psrles und einer Etiide stir die linke Hand eingeschachtelt stand.
Mit der Mittheilung solcher und ahnlicher Ersahrungen konnte ich noch lange sortsahren; aber genug des grausamen Spiels — hier in einem doppelten Sinne gemeint — sowie der Erinnerungen an solche Klaglichkeiten.
Ich will hier nur noch hinzusiigen, daB es in Dilettantenkreisen in manchen besonderen Fallen schon so weit gekommen ist, daB unter zwei Personen das nicht elavierspielende Individunm der musikalischere Mensch zu
sein pslegt; namentlich wenn derselbe horen gelernt hat oder durch angebornen unverdorbenen Sinn mehr dazu gedrangt worden ist, sich am Zuhoren zu ersreuen, als sich selber zu vrodueiren. Im Allgemeinen jedoch treibt
jeder Dilettant die Musik nur aus dem Grunde, um Anderen seine primitiven Leistungen auszunothigen, unbekummert, ob er damit den Frieden seiner Wand- und Hausnachbarn vernichtet, zu welchem es doch ossenbar
auch gehort, daB Niemand genothigt sei, durch die Fingerubungen oder durch ein und denselben, Monate lang sich wiederholenden und stets in gleicher Weise maltraitirten Chopin' sehen Walzer, mit dem ein neben, iiber
oder unter ihm wohnendes Ganschen taglich stundenlang ihre Zeit vollig gedankenlos aussiillt, gequalt zu werden. DaB dergleichen aber das ganz Gewohnliche in unserem burgerlichen Leben ge worden und zugleich das
Unausweichliche, dem man sich ebenso geduldig zu siigen hat, wie anderen Lebensplagen, driickt schon stir sich allein die ganze Misere unseres heutigen Musiktreibens aus. Was konnte unsere Hausmusik sein (man denke
nur an die Schatze, die wir in unseren klassischen Sonaten, Duos, Trios, Quatuors u. s. w. besitzen) und was ist aus derselben ge worden! Und wie verhalt es sich mit der Weckung des musikalischen Sinns, ich meine mit
der Heranbildung eines wirklichen musikalischen Empsindens und Verstehens der Meisterwerke unserer klassischen Tondichtung beim Schuler, aus die doch jeder Lehrer, der nicht ein bloBer Handwerker ist, sein ganzes
Augenmerk zu richten hatte, sobald die ersten technischen Grundlagen gelegt sind?! Anstatt daB man unserer Jugend, die man vorlausig sast nur zum Vorspielen von ein paar Sachelchen dressirt, den weiten unendlichen
Horizont der Tonkunst erschlieBt, was nur geschehen konnte, wenn man sie zu einem verstandniBvollen Horen heranbildete und erzoge (und wahrlich das Horen ist eine groBe Kunst, in der es mit ein wenig Naturanlage
allein nicht gethan ist, sondern die ebensalls erlernt sein will), laBt man Kinder und junge Leute die Welt mit dem geisttotendsten Klingklang ersullen, mit einem Klimpern, das selbst aus ihren Charakter verderblich
einwirkt, da es nichts als ein beschastigter und aus die Besriedigung kleinlichster personlicher Eitelkeit gerichteter MuBiggang ist, und — was das Schlimmste — den wahren Sinn stir Musik und deren hohe Idealitat in
ihnen und selbst bei ihren unsreiwilligen Zuhorern abtodtet. Den letzteren kann man es, bei der ihnen in dieser Weise taglich zugesuhrten musikalischen Nahrung, schlieBlich nicht mehr verubeln, wenn der Eine oder der
Andere darunter in den StoBseuszer ausbricht: daB ihm unter alien Gerauschen die Musik das unleidlichste sei! — Ich kenne einen Ort, in welchem sich, in Folge der geschilderten musikalischen Zustande, ein
„Antimusikverein" bildete, der, gerade weil seine Mitglieder ans lauter echten Musiksreunden bestanden, unserem ganzen heutigen musikalischen Salon- und Gesellschaststreiben prineipiell aus dem Wege ging. Wahrlich
— es muB nicht so iibel sein, Einladungen zu gewissen Matineen und Soireen mit den einsachen Worten resiisiren zu diirsen: „Entschuldigen Sie, ich gehore zum Antimusikverein!" Die Tonkunst konnte, bei der
unglaublichen Volksthumlichkeit, die sie in der Gegenwart gewann, eines der wichtigsten Volksbildungsmittel sein nud sie ist, statt dessen, eines der probatesten Mittel zur Verbreitung gelangweilter Blasirtheit und
Gedankenlosigkeit geworden, — ja noch mehr — die Wirkungen unseres Musiktreibens aus das Gemiith haben sich in eine Karikatur jener hohen und edeln Wirkungen verwandelt, die nns Rasael in so ergreisender Weise
in den Gruppen seines Cacilienbildes dargestellt hat. Die keusche reine Himmelstochter, Nusie», genannt, ist, wenn man sie nach dem Antlitz beurtheilen will, das sie in unseren Salons und Pensionaten zur Schau tragt,
eine Coquette geworden, welcher auBerlicher Flitter und Plunder iiber jeden inneren Gehalt geht und die sogar mit dem Gemeinen buhlt. Den groBten Theil der Schuld hiervon tragt aber eben jeue allgemeine Clavierwuth,
die sich gerade der sogenannten besseren Gesellschastsklassen bemachtigt hat und jede unserer GroBstadte zu einem Pianopolis, jede unserer, Miethskasernen gleichenden Wohnungen zum Schauplatz eines, vom sriihen
Morgen bis ties in die beleidigte Nacht hinein nicht ruhenden Charivari Dutzender von ineinander tonender Claviere macht. Die Polizei kann diesem Treiben gegenuber erst nach Mitternacht einschreiten. Viel dagegen
konnte der deutsche Reichstag durch die Bewilligung einer Claviersteuer thun, von welcher nur Musiker von Fach auszuschlieBen waren. Da die Parole der Zeit die Besteuerung des Luxus ist, den gerade das allgemeine
ClavierbediirsniB von seiner hohlsten und unsittlichsten Seite reprasentirt, so empsehlen wir die genannte Steuer unserem groBen Reichskanzler zur geneigten sreundlichen Beriicksichtigung.
Verlag von <8ec>rg 2tilke in Arilin, KAV., 22. louisensiraBe,
Heuck von V. <8. Teilbner in leipzig.
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Die Gegenwart.
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Literatur, Kunst und ossentliches Leben.
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preis pr. Quartal 4 M. 50 Pf., vr. Jahrg. A8 M.
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lie „Gegenwart" ist die verbreitetste politiseh-literarische Woehensehrift dea deutsehen Meiehes, sie zahlt zu ihren Mitarbeitern die bedeutendsten Sehriftsteller und Gelehrten, Von Jahr zu Jahr hat sich ihr leserkreis
erweitert. Die „ Gegenwart" ist das erste deutsehe Mlatt, welches vornehmlich den ernsten geistigen Interessen der Nation gewidmet, ohne die machtige Veihulse der Novelle und Illustration in die weiteren Areise des
gebildeten Publikums gedrungen ist. Im unmittelbaren und steten Zusammenhange mit alien wichtigen Vorgangen aus dem Gebiete des offentlichen und geistigen lebens, bestrebt sie sich in wahrheit das zu sein, was ihr
Titel sagt: ein guter und echter Ausdruck des Schaffens in der Gegenwart.
Inhalt.
t. Anzengruber in Wien. 2««
Das sundkind 1.29
). 2Aosentbal in Erlangen.
Emil du Vois-Reymond. Ein lebensbild A53
f>aul Aeyse in NUmchen.
Reisebriese.
An wilhelm Hertz in Verlin 1 .6?
An die zu Hause Gebliebenen l.?2
Friedrich Ratzel in 2Nnnchen.
Die Veurtheilung der Volker 1.??
j?. w. Forchhammer in Riel.
Das goldene VlieB und die Argonauten 201.
Franz Riihl in R6nigAberg.
Theodor von 2ch6n 21.3
<Aarl Chiersch in teipzig.
Medieinische Glossen zum Hamlet 231.
Hierzu das Portrat Emil du Vois-Reymond's, nach der Vriginalzeichnung von Adols Menzel in f>hotogravure ausgesuhrt durch Goupil sc Co. in Varis.
Das Sundkind.
Erzahlung
ron
T. Uuzcngrulier.
- wien.
?un ja," sagte der Pechleitner, indem um seine Mundwinkel ein Lacheln spielte, das sogleich wieder verslog, „Nun ja, das war damals eine verzwieselte Geschicht' mit meiner Frau AA Mutter, Gott hab' sie selig. Will's
meinen, ganz eine nnbeschaffene Geschicht', Vor suns und dreiBig Iahren war's, ich hab' damals meine dreiBig gezahlt, meine Mutter hat ihre siius und vierzig voll aus dem Rucken gehabt. Ia, da mogt Ihr Augen machen
wie Ihr wollt, was hilst's? Es lebt Keiner mehr, der es bezeugen konnt', aber damal, in der Zeit, von der ich red', da konnt' ich's Euch an den Fingern herzahlen die Leut', die sich besonnen haben, wie sriih meine Mutter
mannbar war und die sich nicht genug haben wundern konnen, wie lang sie sich ihr Alter hat gar nicht anmerken lassen. Ich war ihr Erster, das schwachste unter vielleicht einem Dutzend Geschwister nnd hab' sie doch alle
iiberlebt; daB ich also recht angib, vor suns und dreiBig Iahren war ich der einzig Uebrige, der Vater war vor drei Iahreu verstorben gewest und so haben wir, ich und meine Mutter, allein aus unserm Giitel gehaust. Es ist
uns rechtschaffen vorwarts gegangen mit der Arbeit, na, ich war vollkrastig und ich lug' nit, viel hat nit gesehlt, leicht gar nur, um was allweil ein Weib in der Arbeit gegen ein' Mann zuruckstehen muB, so hatt' sie mir's
gleich gethan. Aus einmal aber andert sich's in der Sach', sie wird lassig und ist aus die Letzt gauz unbeholsen. Na, sie war als eine ehrsame Wittib ausgerusen, nachzureden hat mer sich ihr nichts getraut, hatt's auch Keiner
und Keinem rathen mogen! >Die Pechleitnerin ist siech,« haben die Lent' gesagt, 'die hat schier die Wassersucht., Dabei ist's erne gute Weil' geblieben.
So hab' ich damal alle Arbeit aus mir gehabt und wie ich an einem Abend' hundmud' nach Haus tress', was sind' ich? Ich hab' gemeint, ich bracht' vor Verwundern Maul und Augen gar nimmer zu. Die Stuben voll
Weibsleut' aus der Nachbarschast, die Hebmutter dabei, daB ich's kurz mach', 's ist aus einmal die alte Kindswasch', die lang vergessen im Schrein gelegen hat, wieder in Gebranch kommen.
Wie 's nachtig worden ist, haben sich die Besuchweiber eine um die andere verloren, 'letzt steh' ich allein, steh' beim Fenster und trommel' an die Scheiben nnd je langer ich so steh' und trommel', je verlegener werd' ich
und das hatt' doch ich, weiB Gott, nit Noth gehabt, so kehr' ich mich mit brennrothem Gesicht um und sag': Sollt'st Dich doch schamen, Mutter. Schamen sollt'st Dich! Da sie nichts red't nnd nichts deut't, hab' ich meine
Pseise genommen und biu gegangen, wollt' naturlich in der Wochenstuben kein' Qualm verursachen.
Wie ich mit meiner Pseise zu End' war, da hab' ich mir's iiberlegt gehabt. Das Redeu hintennach, das srucht't rein gar nichts. So war's auch ganz ungehorig und dumm, daB ich meine eigene Mutter vermahnt hab'. Was
mocht's auch helsen, wenn sie aus das verkehrte Wesen einging' und von mir eine Lehr annahm'? Hat sie sich vorderher nit geschamt, zu was war' das jetzt hintennach gut? DaB sie sich krankt? Davon hat doch alle Welt
nichts. Auch hab' ich mich besonnen, daB mir Alle entgegen geschrieen haben: Dein' Mutter hat ein Kind 'kriegt! Keins hat gesagt: Du hast ein Briiderl 'kriegt! Gegen der Leut' Reden war ich all' mein Lebtag widerhaarig;
was denken sie sich denn, die mit ihren langen Zopsen und dem kurzen Verstand? Denken's leicht, ich werd' dem unschuldigen Wurm was nachtragen? Und wenn ich gleich kein Herz hatt', so no just nit, schon der Leut'
wegen, mein Bruder ist's! Hollsakermenter 6s, die ihr die Kinder von einer Mutter auseinander scheiden mocht's!
Ich bin schon still nach der Stube 'gangen, thu' die Thiir' ans, da sind's alle zwei gelegen und haben geschlasen, da hab' ich mich neben das Bett hingesetzt und zu dem Kleinen hinunter gebeugt, erst sauber mir mit dem
Aermel das Maul abgewischt und ihm zum Zeichen, daB ich ihm gut Freund sein will, einen Schmatz 'geben; da hab' ich aber 's Richtige 'troffen gehabt, paar Tag' schon bin ich unrasirt 'gangen, das muB ihu wol gekratzt
haben wie mit einem Pserdestriegel und er hat ein Gezetter angehoben, wie nit gescheidt. Dariiber ist die Mutter auch wach 'worden, doch wie sie mich so neben sitzen sieht, weud't sie sich ent' hinuber, aus die andere
Seite.
Und wie das halt doch schon gar eigen ist, wieder werd' ich ganz verlegen. Rausper' eine Weil' und sag: Bleib' nur in Deiner Lag', das Hin- und Umwenden konnt' Dir etwa schaden. Und — wie ich mein' — so ist
geschehen, geschehen. Und stark ist nit Ieder. Und nit Alle kriegt's Gleiche herum, aber Ieder hat seine Schwache!
Da dreht sie sich langsam halb iiber und schaut mich so von der Seit' an; kein' Dim mit siebzehn, die schon weiB, aber es nit aussagt, ob aus ihrer Kammer die Fensterriegel hart oder leicht schlieBen, kann so
gottverbotene Augen machen, wie zur selben Stund' mein' Mutter. In dem Stuck sind sie Eins die Weibsleut, ob alt oder jung.
Wie die Mutter wieder auBer Bett war, da haben wir uns wie voreh' in die Arbeit getheilt, sie ist uns sogar um ein Stuck vergniiglicher vorkommen, denn nun hat's auch siir den klein' Leopold gegolten. In der Sorg' um
ihn sind wir Eins gewesen und sind's geblieben bis zur Zeit, wo er schon ziemlich ansg'schosseu war, so daB man hat sragen konnen, was mit ihm werden soli; da sind wir, ich und die Mutter, uneins geworden und
geblieben, gleich vom ersten Mai, wo sie es Rede gehabt hat.
Eines Abends ist's gewesen, der Bruder hat sich mit gleichaltrigen Burschchen im Ort herumgetrieben, ich saB aus der Bank vor'm Haus und rauchte meine Pseise und die Alte verhielt sich eine geringe Weil' iiber in der
Stube, dann kam sie heraus, setzte sich neben mich, saltete eine Zeitlang ihre Schurze auseinander und wie ihr die glatt genug mag geschienen haben, hebt sie an, aber ohne daB sie dabei mit einem Auge ausschaut: »Mein
lieber Martin,« sagte sie, Du bist ein guter Bursch, ich weiB das und alien Leuten giltst Du dasiir, Du hast rechtschaffen das Deine siir den Leopold gethan, — vergelt' Dir's Gott, — aber es war' sundhast, wenn man Dich
siir Deine Gutheit zu Schaden kommen lieB und ein himmelschreiend Unrecht, wenn Dir das Deiue sollt' durch den Buben geschmalert werden. «
Der Eingang hat mir gleich nicht gesallen, es macht mich immer stutzig, wenn Einer mit einer Red' angestochen kommt,, die meinen Vortheil voran stellt, es ist das sonst nicht Brauch in der Welt und Ieder setzt den
eigenen zu oberst. Meist soli Einem damit der Wasserkiibel gewiesen werden, in dem eine Hand die andere wascht, oder es gilt mir ein Scheuleder vor's Aug' zu thun, daB ich nicht sen', was Einer knapp nebenan handtirt.
Ich sag' also nichts, thu' einen richtigen Zug aus der Pseise und hull' mich in einen Nebel wie eine Bergspitz', die keinen guten Tag zu sehen vermeint.
Das war aber ungesundes Wetter stir meine Alte, sie sing zu husten an. »DaB Du aber den rauchen magst?« sagte sie. »Nun, es werden bessere Tage kommen, wo Du Dir auch bessern kausen kannst, wenn wir erst den
Poldel nimmer iiber der Schussel liegen haben.«
„Ei, mag er dariiber liegen, so lang er will," sagte ich, „er hat mich bis dato nicht arm gesressen und wird mich nicht arm sressen; jetzt noch weniger als voreh', wo er nun doch schon sein Theil sich rechtschaffen
erarbeitet. 's gedeiht ihm auch und das sreut mich. Ich bin schon ein alter Kerl, viel alter wie er, der lung' ist gesund und es muBt' mit ganz verkehrten Dingen zugehen, wenn er mir nicht in die Grube nachsehen konnte und
dann , .. Na, Du weiBt's ja, Mutter, aus's Heirathen hab' ich mich nie eingelassen, werd's auch nicht."
„Sag' das nicht," meinte die Alte, „so was uberkommt Einen mit einem Male."
Ich nahm die Pseise langsam aus dem Maul, blinzelte die Frau Mutter schies iiber au und sagte: „Ich weiB davon nichts, aber wenn Du es sagst, muB ich es wol glauben." Ich hab' sie damit necken wollen, meinte auch,
sie wiird' es nicht anders ausnehmen, denn ich dachte so wenig Uebles wie damals an Poldels Wiege und war mir die Iahr iiber gegen sie ganz gleich geblieben, aber da merkte ich, sie war nimmer die Friihere; statt mir,
wie ich's erwartete, ohne ein sonderlich streng' Gesicht mein los' Maul zu verbieten, hob sie die Schurze und begann darunter zu weinen.
Das ist mir von Allem das Ueberquerste; ich mag eiumal Keines weinen sehen, geschweig' denn gar, weinen machen und hier wuBt' ich mich gar nicht aus, zuweg' und warum eigentlich? DaB ich es da angestistet hatte,
das argerte mich in die Seele hinein, weil ich mir aber keiner argen Meinung bewuBt war, so brachte ich es nicht um alle Welt iiber mich, ein begutigendes Wort zu sagen, wenn mir auch eines oder das andere beigesallen
ware, was just nit der Fall war. So saB ich nnd hielt meine Pseise beim Rohr, so handsam wie ein Kind seine Schelleurodel und mag dabei nicht gar klug ausgesehen haben.
„0 mein Gott," schluchzte die Mutter nnter ihrem pereaillenen Furtuch. „Ietzt kommt mir's heim! Mein Aelterer erlaubt sich unseine Reden gegen mich und was werd' ich erst vom Iungen, von dem Sundkind', anhoren
miissen, wenn er bei Iahren sein wird und die Leut' ihn verhetzen, was gewiB nicht ausbleibt. Ia, ja, es gibt nur einen Weg, einen einzigen, wo mir der Bnrsch unverdorben bleibt und ich zu Fried' und Vergebung meiner
Schuld komm'. Es muB sein."
„Was muB sein?" srag' ich.
„Ganz muB ich ihn unserm lieben Herrgott hingeben, er muB geistlich werden."
„Geistlich soil er werden, Deinetwegen?" denk' ich, „Nun, das ist doch die leichteste Weis', eigener Siinden ledig zu werden, wenn man ein Fremdes dasiir buBen laBt." Gesagt hab' ich das aber nicht, wer getrant sich so
was der leiblichen Mutter iu's Gesicht zu sagen? Ich duck' mich also eiu wenig nach vorne iiber, daB ich nicht auzusehen brauch, was sie aus meine Red' stir Augeu macht und sag': „Ich mocht' mir's an Deiner Stell' doch
erst noch eine Weil' uberlegen, 'leicht mocht' das dem Poldel doch eine zu harte NuB sein, der er sein Lebtag' nicht aus den Kern kommt, denk' nur, wenn er Dein hitzig Blut hat..."
Mit Eius war sie ausgestanden, geht nach der Thiir' nnd wortelt dabei, ich sollt' nit so dumm daherreden, der Poldel war' noch zu jung, um da ein Arg zu haben und ich war' alt genug, um zu wissen, daB aus der Welt nie
Keines sein Lebtag' aus so Hallodereien versallen mocht', wenn man's nicht daraus siihrte und das werd' hier Gottes Hiilse und srommer Lent' Aussicht wol verhiiten. Damit war sie hineingewischt und seh' ich nur mehr
ihren Rockzipsel zur Thiir hineinschwanzen.
So lang' sie noch hurtig wie ein Wiesel iiber Feld und Rain lausen konnte und ihr die Arbeit so slink wie voreh' von der Hand gegangen ist, die Zeit iiber hab' ich ihr — weiB Gott, — kein unruhiges Ge wissen anmerken
konnen; aber mit einmal hat sie angesangen an der Gicht zu leiden und hat ganze Tag' lang, wenn Alles nach dem Feld aus war, mutterseelenallein im Bett' liegen miissen und da schreibt sich's wol her, daB ihr mein
unverhoffter Bruder plotzlich so schwer aus die Seel' gesallen ist. Uebrigens setzte sie ihre Worte so neuartig, daB ich nicht besonders auszuhorchen brauchte, um zu wissen, es rede noch ein Anderer aus ihr.
Konnt' mir's ja denken wer! Es war unser» Poldels Vormund, der Kirchendiener aus unserer Psarre, ein so richtiger Betbruder wie nur Einer, der hat sie wol zuerst aus den srommen Vorsatz oder das gottgesallige Werk
— wie man's just heiBen will, — gebracht und hinterher sleiBig darin bestarkt. Ich hab' die Art nie recht leiden mogen, sie mengen sich allzu gern in sremder Leut' Angelegenheiten und ich denk', gerad' Einer, dem es mit
der Frommheit Ernst ist, sand' dazu keine Zeit und hatt' vollaus mit sich selbst zu thun. Mag mich sreilich auch irren und es kann ja sein, wenn so ein Frommer merkt, er kam' mit sich selber nie zurecht, daB er hergeht und
aus sremdem Feld Diinger hauselt; man sollte sich aber vorsehen, denn hinterher konnen sie,gelausen kommen und sagen, es war' Alles aus ihrem Mist gewachsen.
Das mit dem Poldel war beschlossene Sach, die Mutter war damit einverstanden, der Vormund war damit einverstanden nnd der Bub'
— was wol vermocht' man so einem dummen Buben nicht einzureden?
— der war auch einverstanden. Was wollt' ich machen? Ich sagte: „Thut, wie Ihr wollt, aber mich laBt dabei ganz aus dem Spiel; seit ich um die Sache weiB, hab' ich es gesagt und sag' es noch, von mir aus konnte der lung'
all' mein' Lebtag' und dariiber hinaus all' sein' Lebtag' da aus dem Hos bleiben. Wenn es Unheil setzt, mir schiebt kein Sandkorn groB Schuld in die Schuhe!"
Sie spottelten und sagten: ich wiird' meine FiiBe heil behalten, sie wiirden mir kein Sandkorn groB Schuld in die Schuhe schieben, 's mocht' sich auch dergleichen bei einer so heiligmaBigen, gottgesalligen Sach' nit
aussinden lassen.
Und als ein Ieder im Ort wuBte, der Pechleitner-Poldel wiirde geistlich, da kamen sie ihm zugestiegen und machten ihn hossahrtig, die altesten Leute baten ihn, wenn er die Weihen hatte, ihrer nicht zu vergessen und sie
in sein Gebet einzuschlieBen, Kinder waren daraus aus, zu ersahren, ob es wahr sei, daB ein Geistlicher mit unserm Herrgott und den lieben Heiligen wie mit seines Gleichen verkehre? Er lieB sie bei dem gnten Glauben.
Bald hatte er gar keinen andern Gedanken mehr als den an seine kiinstige Geistlichkeit und er mochte stehen und gehen, wo er wollte, da war ihm nichts zu gut oder zu schlecht, um ihn daran zu erinnern. Kam er durch
den Garten und sah nach den Gestrauchen, da waren die schwarzen Blattlause aus dem Hollunderbusch Monche, die griinen aus den Rosen- und anderen Stauden Weltgeistliche und die Ameisen, die ihnen zuliesen, Laien,
und wenn sie so ausdringlich mit den Fuhlhornern herumstrichen, so baten sie um Segen und Absolution. „Ia, du weiBt's, dummer lunge," dachte ich, „melken thun sie sie und da weis' mir einen Psaffen aus, der dazu still
hielte! Wenn Du den SpieB umkehrtest und lieBest die Blattlaus' die Laien sein und die Ameisen die Andern, dann sah' es wie ein richtiges GleichniB aus."
Er stromte einen ganzen Sommer herum und verstund sich zu keinem Bischen Arbeit, aber wenn ich mit Taglohnern drauBen aus der Wiese heuete oder aus dem Felde schnitt, da geschah es zum ostern, daB er
unversehens aus einem Busch hervorbrach und ihnen vorpredigte; das war dem saulen Volk' gerade recht, sie lieBen die Arbeit liegen und stehen, schaarten sich um ihn und horten ihm andachtig zu und so 'ne ausbiindige
Frommheit durste ich ihnen nicht iibel nehmen. Die Mutter meinte das auch und sand sein unsinniges Daherreden recht zu Herzen gehend, ja wohl und zwar kurzen Weg's, denn die StraBe, die durch den Kops siihrt, blieb
dabei als ein Umweg seitwarts liegen.
Ich erschrack nicht wenig, so ost ich vom andern Ende des Feldes her meinen Bruder anheben horte: »In der Zeit sprach der Herr Iesus zu seinen Iiingern . . .« Ei ja, der Herr Iesus sprach in der Zeit, mein Bruder
Leopold aber auBer der Zeit, ich merkt 's, im Nu waren alle Dagwerkerleute davon; einer Arbeit gegenuber, die ihr voiles Dutzend Hande brauchte, wuBte ich auch nichts Anderes zu thun, als die meinen in die
Hosentaschen zu stecken und zu warten, bis der dort driiben »Amen« sagte.
Am Ende war ich recht sroh, als mit Herbstausang die Mutter und der Vormund ihn zwischen sich aus den Wagen nahmen und nach dem Seminar suhren. Ich gab ihm die Hand und sagte: „Poldel, bleib' brav, auch wenn
Du ein Psass' wirst!"
Er lachte und damit suhr er hin.
Sein sollte es einmal, er hatte kein Bang und ging blind aus ein Ziel los, von dem er so viel wuBte, als eben ein Schuljung' davon wissen konnte. Es war besser nichts zu sagen und ihu bei Courage zu lassen. Ich mein'
immer, daraus sollte man Keinen lernen lassen, wie aus's Tischlern, Weben und Schneidern. Ei ja, was den Psarrer in der Kirche ausmacht, das mag Einer aus die Art wegkriegen, aber wenn ihm Eines gerannt kommt, das
in seinem Herzen kein heiles Fleckel mehr hat, und schreit: »Ietzt hils Du!« da muB er sich auswissen, die wundeste Stell' muB er heraussinden und gleichschauen muB es, als langt' er in' Himmel, saBte des Herrgotts Hand
und legte sie aus das Gebrest. Das laBt sich nicht erlernen. Ich lob' mir meinen Psarrer weit da driiben im Gewand', den alten eisgrauen Mann, der erst mit der Welt sertig geworden ist, eh' er sich hat weihen lassen.
Nun, wie auch, — der Mensch ist einmal so thoricht, verlaust etwas hundertmal im Gleichen, da merkt er wol, das war' so Regel aus der Welt, kommt ihm aber die Regel in's eigene Haus, so hosst er aus eine Ausnahm'.
Der Arzt kann gleich siech sein wie der Kranke und doetert doch nicht an sich selber herum.
Hatt' ich's damals wissen konnen, welch' Weges der lung' eigentlich dahinsahrt, ich hatt' als sein bluteigeuer Vormund den andern und die Mutter vom Sitzbrett' gejagt und ihn bei mir behalten.
Sechszehn Iahr' hat er damals gehabt und uns're Mutter war im umgekehrten Alter, das heiBt, bei ihr ging der Sechser voran und der Einser hintennach. Wenn sich ab und zu eine Gelegenheit schickte, suhr sie in die
Stadt und sah im Seminar nach, wie es mit dem Poldel vorwarts ginge und ob er nicht schon einen kleinen Ansatz zu einem Heiligenschein hatte, war's auch nur ein Fiinkchen wie von einem Iohanniskaserl, natiirlich aus
dem Kops und nicht da, wo's diese Wiirmer haben, bei denen es auch gar nichts Heiliges zu bedeuten hat.
Zwei Iahr' war er vom Hause weg gewesen, da bettelte ihn die Mutter aus ein paar Tage los, brachte ihn zu uns und da hab' ich ihn das erste Mai wieder zu Gesicht bekommen. Zur selben Zeit besand sich auch eine
entsernte Verwandte bei uns aus Besuch, ein dralles Stuck Weibsbild, die Lustigkeit und die Gesundheit selbst, zu der hielt sich der Bursche am liebsten. Trotz seiner achtzehn Jahre sah er noch kindisch genug aus und das
machte er sich zu Nutze, kalberte mit ihr und die zweimal so alte Ursel lachte iiber den »klein' Vetter Poldel«, wie sie ihn nannte, ich aber dachte mir mein Theil.
WeiB nit, wann es gewesen, als er seine erste Mess' las, aber Wagen waren nit genug im Ort auszutreiben, Alle, die ihn kannten, wollten dabei sein. Das hat also die Alte noch erlebt, auch das noch, daB man ihn in einem
nahen Kirchsprengel einem kranken Psarrer zur Aushuls' zutheilte. Nun war er ein richtiger Geistlicher und dazu hatte er es in acht Iahren gebracht und gerad' in diesem achten Iahr legte sich die Mutter hin und starb.
Zuletzt hat sie mir noch etwas sagen wollen, — vielleicht wer Vater zu dem Poldel gewesen, — aber sie vermocht' s nimmer und das war mir auch lieber, ich hab' es ihr nie onthun mogen, daB ich dem nachgesragt hatt';
und einen Lumpen oder 'ne Letseigen mehr aus der Welt zu kennen, um das war mir's nit zu thnn.
Beim BegrabniB der Mutter war der Le'pold zugegen, auch die dralle Bauerin war da, und etliche Dirnen, mit denen er seinzeit barsuB durch die Stoppeln gelausen, drangten sich an ihn, beileidshalber war ihr Vorgeben,
wollten aber eigentlich nur horen, daB er sich ihrer noch entsinne. Er wich einer Ieden scheu aus und gab Keiner die Hand, wie zuthulich sie sich auch gehaben mochte. Sonst immer hat er ausgesehen wie Milch und Blut,
jetzt hatte er ein ungesund' Wesen, keine Farbe, eingesallene Wangen nnd die Augen lagen ihm ties d'rin, er sturte damit nach dem Erdboden und hielt keinem sremden Blick Stand. Mir gesiel's nicht. Als er nach der
Leiche aus den Wagen stieg, saBt' ich seine Hand und sagte: „Was ist Dir, Bruder?"
„Nichts," sagt' er.
„Es durst' Dir doch was sein," meinte ich.
Da verzog er das Gesicht, als sollte das gelacht sein, sagte nochmal ihm ware nichts und setzte hastig hinzu: „Willst nicht einmal hinuberkommen nach Rodenstein aus unsere Psarre? Es ist hiibsch dort."
„Werd' schon kommen," sagt' ich. „Behiit' Gott, Bruder!"
„Behiit' Gott, Martin," rust er und sahrt seines Weges.
Sonntags daraus bered' ich meinen altesten Knecht, daB er heimbleibt und das Haus hiitet, und geh hinuber nach Rodenstein. Nun es ist das ein gut' Stuck Weg und wenn mau einmal, den Wald durch, zu hochst
angestiegen ist, so geht er etwa eine Viertelstund' lang unter lauter WeiBbirken dahin. Es ist mir das kein lustiges Holz. Wo es sein recht' Gedeihen hat, da ist der Boden locker, die Stamm' stehen einschichtig empor, die
Sonn' brennt durch das wenige Laub und die weiBe Rinde sieht aus wie gebleichtes Bein. Den Tag tras ich's gar iibel, Morgens war ein Strichregen niedergegangen und jetzt stachen gliihheiBe Sonnenstrahlen von einem
Himmel nieder, der keine Farb' annehmen wollte, wie unter einem Schleier lag Alles, aus der Erd' stieg ein Brodem aus, daB man in SchweiB und mit halbem Athem sich vorwarts miihte.
Freilich hatt' es mich suns Viertelstund' Umweg gekostet, wenn ich nnten um den Berg hatt' herumgehen wollen, aber dort siihrte ein Steig durch den Wald, beidseitig stand junges Holz und verastelte sich oben unter
einander, daB man wie in einem Laubengang dahinging. Nun war ich aber einmal oben und dachte, Gott behiite jeden Christmenschen vor einem birkenen Lebensweg, und es iiberkam mich wie eine Ahnung, ob nicht etwa
mein Bruder aus einen solchen gerathen war' und sich seitab davon viel besser besinden mocht' ?
Du lieber Gott, wie viel Dinge aus der Welt erwecken in dem Menschen ein Verlangen nach ihnen, und das kann bis zur unvernunstigen Begier anwachsen, daB sich Einer dann nimmer aus noch ein weiB. Da stehen
alien voran stir die Burschen die Dirnen und stir die Dirnen die Burschen. Hatt' auch mal einen Schatz, war mein Gespiel von Kind aus und wir Beide waren noch was zu blutjung, um ernstlich zu meinen, wir konnten's
ernst meinen; aber wie sie mir eiust vor meinen Augen im Weiher ertrunken ist und wie ich an ihrer Todtenbahr' die lange Nacht iiber gesessen bin, wie sie lag, lang, bleich, kalt, die srohgemuth'ten Augen eingesallen unter
den halb zugedriickten Lidern, da hab' ich mir's ein stir alle Mal bedeutet sein lassen. Noch hab' ich meinen Schatz, denk' nicht, ich hatt' ihn in die Erde gelegt; denn ich hab' sie mir nachmals immer vorgebildet, wie sie
gelebt hat, so srisch an Farb' und Aussehen, so manierlich von Hand und Geberd' und so tanzlich und huvserisch in Schritt und Gang. Hab' nichts von ihr behalten als das Anschauen und hab' mich zeither auch an Allem
und Iedem damit begniigt. Verlang' mehr, schon hast Du Neid und Ungunst im eigenen Herzen, oder in sremden wider Dich, laB Dich ein und es gibt schou Ungelegenheit, Alles hat man im Anschanen, wenn man nicht
Eines stir sich will, Eines kaun man auch wieder verlieren, aber Alles haltet aus. Das ist mir gekommen von selbst, hat mir Niemand gesagt: Du sollst nicht verlangen! Hat mir Niemand gesagt: Du muBt entsagen!
Sag' ich Einem: Sei zusrieden! Ei, so mach' ich ihn selber dariiber grubeln, daB er etwa Ursach' hatt', es nicht zu sein, und griibelt er rechtschassen, so sindet er wol bald eine heraus. Sag' ich Eiuem: Entsage! Da mahn'
ich ihn daran, daB er ein Verlangen haben konnt' und mag er bis zur Stunde keines gehabt haben, es wird sich einstellen. Ich bildete mir lange ein, keines zu haben, weil ich mich mit dem Anschauen zusrieden gab', aber da
siel mir ein, eben darnach stund' mein Verlangen, ich braucht' nicht einmal das Augenlicht zu verlieren, nur in einer unschonen Gegend hausen zu mussen, wo mir unsaubere Leut' unter den Augen herumliesen, so war' mir
das Leben verleidet. Nein, dem Verlangen entgeht Keiner im Leben, und dem Entsagen kommt er nicht aus, und keine Lehr' und keine Predigt hilst dagegen oder dasiir. Die Welt ist nicht da zum Verlangen und die Welt ist
nicht da zum Entsagen, sie ist da — mein' ich — zum Arbeiten, und was Einem zwischen Begehr' und Verwehr' werden mag, das soil man ihm nicht neiden und nicht verleiden.
Nun sitzt der jung' Mensch da nnten aus der Psarr' und weiB von all' dem so viel wie ein zweitagiger Hund von der Farb', die sein Balg hat.
Ich kam nach Rodenstein, mein Bruder war noch in der Kirche, so ging ich dahin und sah ihn aus der Kanzel stehen und horte ihn predigen.
Er wetterte gar nicht schlecht von H611' und Teusel und mocht's schon eine Weile so getrieben haben, denn die Leute saBen alle da, als ob ihnen himmelangst ware. Ei, Du mein hochwurdiger Herr Bruder, dacht' ich,
hebst Du es auch beim verkehrten Ende an? Machst Du auch die Leute siirchten? Furcht und Sorg' haben die so genug aus erster Hand, von Zeit ab, wo sie das Feld bestellen, bis wo sie die Ernte unter Dach bringen und
dariiber hinaus. Gibt's ein gesegnet Iahr oder MiBwachs? Kommt Frost, Schauer, FaulniB, Diirre und Brand, oder bleiben sie davon? Und wenn, driickt der UebersluB die Preise oder schnellt sie der Wucher in die Hohe?
Nein, Bruder, surchtenshalber mocht' ich aus keiner Psarre sitzen, Trost brauchen die Leute, guten Muth solltest Du ihnen machen; wer hier aus Erden sein' Tag' nicht sroh werden mag, der bleibt wol auch im Himmel ein
trauriger Narr.
Und dann redte er weiter im Texte vou dem Teusel als Versuhrer und von all' dem seinen bosen Eingebungen. Ach, laBt alle Versuchung Iedem aus dem eigenen Herzen aussteigen, mit dem kommt er wol zurecht und
ringt es ihm ab, daB es noch zu letzter Stund' sich vom schlimmen Wege kehrt, setzt ihm aber keinen Teusel, der ihm uberlegen ist und dem er alles Verschulden in die Schuh schieben kann, zur Ausred'! Und als ich den
lung' so anhorte, wie er zu sagen wuBte, was all' stir iible Gedanken dem Menschen kommen und wie sie ihn meistern konnen, da schiittelte ich den Kops und dachte mir: Wenn Du es anders woher als ans Deinen Biichern
hast, dann magst Du Dich nur selber sleiBig bekreuzen und segnen!
Daran scheint er aber nicht gedacht zu haben, denn zum SchluB hat er noch ein groB' Geschrei erhoben, mit den Fausten aus der Kanzel getrommelt und Allen zusammen gedroht, der Teuxel werde sie holen — und die
Leute haben dazu »Amen« gesagt. Ich hab' mir sagen lassen, das hieBe aus deutsch: »So soil es sein!« Nun, wenn sie das zusrieden waren, dann gab es aus keinem Fleck der Welt einen unnutzeren Menschen, als meinen
Bruder Seelsorger zu Rodenstein.
Als er von der Kanzel herabgestiegen war, drangte ich mich durch die Leute nach der Sakristei, dort lieB er sich das Chorhemd iiber den Kops weg ziehen. Wir gingen dann nach dem Psarrhos, der lag ein klein wenig
seitab hinter der Kirche, die srei aus dem Platze stand.
Es war noch nicht Essenszeit, so gingen wir denn eine Weil' im Garten aus und ab. „Nun," sagte mein geistlicher Herr Bruder, „Du hast mich heut' mal wieder von der Kanzel gehort, mach' ich Dir's nun besser zu Dank,
wie einstmal aus dem Feld?"
„Hm," brummte ich, „konnt's nicht sagen, damal war's Kindspiel mit groBen Leuten, heut' scheint's mir Leutspiel mit groBen Kindern."
„Du Krittler," lachte er. „Nun, Gedanken sind zollsrei, nur laB' Dir davon nichts merken."
„Nein," sagt' ich, „das bin ich nicht willens. Ich werd' meines Bruders Gewerksweis' nicht verschimpsiren, mochtest Du was immer stir eine haben; warst Du beispielsweis ein Schuster und lieBest das gauze Dors in
engem Schuhzeug herumhinken, ich sagte nicht: Mein Bruder ist ein schlechter Schuster! Aber da daraus mochten wol die Leute von selbst kommen. Was predigst Du auch gerade so, wie Du thnst?"
„Ei," ries er argerlich, „lehr' Du unser Einem Baueru predigen!"
„So so," sag' ich und deut' ihm nach dem Fleck, worunter Einer das Herz sitzen hat. „Du hoist es also nicht von da heraus? Meinst Du auch mit ausgetiipseltem Wesen und gemachtem Wetter den Leuten in die Seel'
hineinreden zu konnen? Ei, was doch Euer Einer sich wol vorstellt, daB die Leute stir eine Seel' hatten?! Das ist mir ein stolzer Hammel, der nicht immer vorlauten will und die Glock' gern zeitweis in den Sack schob',
hatt' er einen. Bald werden Alle so gescheidt sein wie Du, und Du wirst ausgetiipselte Sitteulehr' und gemacht' Christenthum haben so weit Dein Sprengel reicht."
Daraus legt er mir die Hand aus die Achsel und sagt: „Martin, das verstehst Du uicht. Sag' mir lieber, warum ihr Bauern es nicht der Grasin von Thurnschart nachmachen wollt, die zwar in der Umgegend die narrische
Grasin genannt wird, aber ihre Felder so bewirthschastet, daB sie aus magerem Grund des Iahres zweimal erntet."
„Die narrische Grasin," sag' ich daraus, „hat leicht zweimal sechsnen und wenn wir mehr aus einen Acker wenden wollten, als er tragt, dann trasen wir's auch. Aber, Bruder, das verstehst Du nicht."
Da schreit aus einmal Eines: „Angericht' is!" Und unweit aus dem Gartenweg steht ein Franenzimmer, so groB und stark, daB sie stir Drei von gewohnlicher Art ausgereicht hatt', hat auch ein dreisach Kinn gehabt. Mag
einmal eine saubere Psarrerkochin gewesen sein, jetzt war sie nur Kochin aus der Psarre, von Sauberkeit hatt' man ihr nichts nachsagen konnen. Hinter ihr ist ein langes, spindeldiirres Ding dahergeschossen kommen, ein
Dirndel etwa sechszehn Iahr' alt, hat im Gesicht gelb und ganz verhutzelt ausgesehen, nur ein paar Augen brannten ihr darin und die wars sie herum wie ein Falk, War das Einzige an ihr, was sie mit Vortheil gebraucht hat,
denn mit Handen und FuBen hat sie sich nicht zu lassen gewuBt, da tappte und lappte sie damit, so eckig und unbeholsen, daB es ein Iammer war.
Wie die Dicke sieht, daB mich mein Bruder nicht verabschiedet, sondern an der Hand saBt, kommt sie naher und der Leopold sagt zu ihr: „Wir haben heut' meinen Bruder Martin da."
„Ie, der Bruder Martiu," sagt sie. „Nun, versteht sich, daB der mitkommt aus einen Loffel Suppe."
Ich mein', es that sich nicht schicken, daB ich jetzt mit zu Tisch kam', wo der Herr Psarrer gar nit um mein Auwesensein gewuBt hatt', aber die Andern sagten mir, der war' gar nit dabei, der lag' krank.
„Macht's wol auch nimmer lang," sagte die Dicke und blinzelte meinem Bruder zu und das Dirndel lachte vor sich hin.
So sind wir all' Viere, wie wir waren, in das Psarrhaus gegangen und haben uns zu Tisch gesetzt. Ich brauch' wol erst Keinem zu sagen, daB es den Tag mein Schnabel gut hatte, denn in einem Psarrhaus iBt man nicht
schlecht und nicht wenig.
Abends, wie ich bereit war zu gehen und mein Bruder, mich ein Stuck Weges zu begleiten, nimmt mich die Dicke bei der Hand und suhrt mich ein wenig zur Seite. „Der Alte lebt nur mehr von heut' aus morgen," sagt
sie, „und dann soli es Dein Bruder gut bei uns haben; sie werden ihm sicher die Psarre geben, denn sie sind mit seinem Eiser recht zusrieden."
„Mit seinem H611'- und Teuselseiser?" denk' ich. „Nun ja, weun nur die Herren mit ihm zusrieden sind — ." Sag' zu der Psarrkochin, daB ich doch auch was rede: das war' mir Alles recht lieb zu horen. Damit wenden wir
uns und ich sen' die spindelige Dim mit dem Leopold sliistern.
Wir gingen und als wir Rodenstein hinter dem Riicken hatten und aus das sreie Feld kamen, sagte ich: „Geht es Deinem Psarrherrn wirklich so schlecht?"
„Sehr schlecht," sagte mein Bruder.
„Sag' mir," sragte ich weiter, „ist das dicke Weibsstiick durch ihn aus den Psarrhos gekommen?"
„Ia," antwortete er, „die ist sein'zeit mit ihm gekommen und er haust mit ihr seit siinszehn Iahren."
„So," sagt' ich, „und wer ist denn das klebere Dirndl?"
„Ihre Tochter," bescheidet er mich.
„Ist sie denn als Wittwe bei dem Psarrer in' Dienst eingestanden?" srag' ich ganz dumm.
„Nun," schmunzelte mein Bruder, „Du muBt gerade nicht Alles wissen."
„So, so," sagte ich, „nun begreis' ich sreilich, daB sie sich noch gewichtiger macht, als sie schwer ist, und das will bei ihr was sagen. Sie thut ja just, als hatt' sie die Psarre in Bestand und den jeweiligen Psarrherrn dazu.
Sagt' sie mir doch, Du wiirdest stir sicher daraus kommen und meint dann auch ihrtheils daraus verbleiben zu konnen."
„Sie denkt sich halt aus, was sie wiinscht," brummte Leopold.
„Ia," sag' ich, „und wiird'st Du sie denn bei Dir behalten wollen?"
„Ei," sagte er, „das ist leeres Stroh gedroschen, ich kriege die Psarre ja doch nicht." Und dabei sah er ans, als ware er bei dem Gedanken, sie nicht zu kriegen, getroster, als bei dem, daB sie ihm werden sollte.
Unter den Redeu waren wir zur Briicke gekommen, die iiber den Rodensteiner Miihlbach siihrte, von da an sollte mein Weg allein gehen. Hundert und einige Schritte weiter, den Berg hinaus zu, lag die Miihle, wir sahen
durch das Laubwerk das weiB' Gemauer hervorschimmern, das Rad hatten sie gestellt, es war nichts zu horen als das Rauschen des Wassers und einzelner Vogelrus, vor uns am Himmel hing der Mond, eine schmale, kaum
sichtbare Sichel und hinter uns standen tiesrothe Wolken iiber der Sonne. Ich kann nicht immer daraus Acht haben, was die Welt um mich stir ein Gesicht macht, aber da konnt' ich's gerade und es kam mir Alles so
sriedsam vor, daB ich lange stillstand, so sacht Athem holte, daB sich mir kaum die Brust hob, und dachte, das Leben war' doch eigentlich gar ein einschmeichelnd' Ding,
Als ich meinem Bruder die Hand darreichte, verspiirte ich die Bretter unter mir leicht schiittern, merkt', da kam' Eines von entgegengesetzt iiber die Briicke, eh' ich mich aber umsehen mag, wer es ist, daB ich ihn
vorbeilasse, sen' ich meines Bruders Augen groB werden und die wenige Rome, die er hat, ihm in's Gesicht steigen, ich wend' mich also und vor uns steht eiue Dim, wie ich aus GruB und Dank ersahr', desselbigen Miillers
Tochter und Marie -Lies' geheiBen.
Ia, das war 'ne Dim! led' Glied wie gedrechselt, wellig bauschte sich das goldgelbe Haar iiber der Stirn aus und siel riickwarts in schweren Zopsen herunter, aus groBen, kornblumenblauen Augen hat sie eben so klug wie
treuherzig in die Welt gegnckt, die Nase war ein ganz klein wenig oben gebogen und stand unten gar zierlich rundrandlig weg, ihr Mund war gar lieb, nicht groBer und nicht blasser wie eine Kirsche, das ganze Gesicht so
weiBroth wie eine gesunde Apselbliih', nicht rnnd als wollt's die Backen sprengen und nicht eingesallen, am Kinn hat sie ein Griiberl gehabt und aus einem Hals ist das Kopserl gesessen, der war so drall und doch so
bewegsam — , ei ja, wenn mir's nur beisiele, wie der war! Aber so geht's, wenn sich so ein alter Schiippel wie ich daraus einlassen will, eine junge Dim zu beschreiben; aber ich vergeB' es all' mein Lebtag nicht, wie
Miillers Marie-Lies' zu Rodenstein ihrzeit ausgesehen hat.
Nun damal hat sie an ihrer Schiirze ein wenig gedreht und gesagt: „Hochwiirden, weil Dn schon da bist, willst nicht ein wenig zu uns hinein in's Haus kommen? Meine Eltern mochten sich sreuen."
Da hat er mir die Hand gedriickt und ist ohne ein Wort still mit ihr dahingeschritten aus dem Weg, der zur Miihle siihrte.
Ich hab' ihnen Beiden nachgesehen, bis sie hinter den Baumen verschwunden waren und bin dann ausgeschritten. Ich weiB es nicht, was es war, aber es wollte mir den ganzen Weg iiber nimmer so sroh werden, wie mir's
gerade noch vor wenig Augenblicken gewesen war. Als ich aus der Anhohe durch den Birkenwald ging, der jetzt in vollem Mondlicht lag, daB alle Stamme gleisten wie verkalkte Knochen, da siel mir wieder mein Bruder
ein und der birkene Lebensweg. Ia, da muB die Sonne schon hinunter und die Nacht kiihl sein, wenn man da ohne Beschwer gehen will,
Der alte Psarrer von Rodenstein hatte zwar nur von heut' aus morgen zu leben, aber er theilte sich's so genau ein, daB er noch gut drei Wochen damit ausreichte und erst in der vierten starb. Zu seinem BegrabniB wurde
ich von meinem Bruder eingeladen, ich ging hinuber und sah mir's an. Die dicke Psarrkochin suhr sich ein paarmal mit dem Sacktuch iiber's Gesicht und die spindelige Psarrdiru wars wenigstens ihre Augen nicht, wie
sonst, herum.
Mein Bruder segnete die Leiche ein. Es ist zwar sonst nicht Brauch bei uns Katholischen, daB man Einem in's Grab nachredet, aber der Bruder meinte, es wiird' die Gemeinde erbauen, wenn er ein paar Worte iiber den
Seligen sagte, und so standen die Leute um das ossene Grab her und Leopold zu Haupten und hielt eine Ansprache.
Ansangs schaute er in die Grube hinunter nach dem Sarg, als er aber das gute Beispiel, das der Verstorbene gegeben hatte, den Umstehenden an's Herz legen wollte, hob er den Blick und sah aus uns; mit einmal, mitten
in der Red', blieb er stecken und sand sich erst mit Miih' weiter in seinem Text. Ich hatte gleichzeitig schars ausgelugt und wuBte, was es war. Unweit von ihm stand Miillers Marie-Lies', sie horte andachtig zu und lieB kein
Auge von ihm, gerad' als hatt' er ein Empsinden da von, blickt er hastig nach der Richt', steht Aug' in Aug' mit ihr und vergiBt aus das zweitnachste Wort.
Es war hoch am Mittag, als wir aus den Psarrhos zuriicktrasen, der war heut' 'was aus der Ordnung gekommen und wir muBten mit der Mahlzeit zuwarten, so trieben wir uns denn im Garten herum. Mein Bruder lehnte
sich zwischen den Buschen iiber den Zaun und sein Schatten siel iiber den schmalen Rasenstreis, der auBen hinlies, und iiber deu FuBsteig ueben.
Leute gingen voriiber — immer Eins hinter dem Andern — und gruBten, es kam auch der Miiller, die Mullerin und, als Dritte der Rein' nach, Marie-Lies', die trat an den Zaun und setzte dabei die FuBchen gar sorglich,
um dem Schatten meines Bruders uicht aus den Kops zu treten. Sie zeigte ein wenig die weiBen Zahne und die Grubchen in den Wangen und sagte: „Ich hab' Dich heut' verwirrt gemacht, hochwurdiger Herr, Verzeihst
schon, aber ich hab' daran nicht gedacht und ich will Dich nimmer so angassen."
Er meinte, das hatte nichts zu bedeuten.
„Nein, nein/' sagte sie, „nit um alle Welt mocht' ich ein Gered unter den Leuten, jetzt, wo Du wol der Nachste zu der Psarre bist und cs Dir schaden konnt'."
Er schuttelte den Kops.
„Man sagt es/' meinte sie, „und nur davon soli man reden und weiter nichts zu sagen wissen. Wenn ich Dir nicht zu gering bin stir einen Rath, so mocht' ich Tir wol einen geben."
„Nun, Marie-Lies?" Sagte er und saBte sie an der Hand.
Die driickt sie ihm, zieht sie aber dann hastig zuriick, neigt sich gegen sein Ohr und wispelt ihm zu: „Mit Tenen da am Psarrhos laB' Dich nit ein." Und weg war sie.
Wovor laust sie mit einmal weg? denk' ich. Ich wend' mich um und seh' die Psarrdirn knapp hinter uns stehen. Wie ich mir das magere Ding betracht', das so unhorbar angeschlichen gekommen ist, diinkt mich's nicht
anders, als sie glich einer ausgehungerten Katz'.
Die Hande hat sie geballt gehabt und an den Husten niederhangen lassen, aber allsort hat sie damit weggezuckt, als hatt' sie den Kramps darein und war' ich nicht nebengestanden, ich denk', sie hatt' meinem Bruder die
Fauste gewiesen. Ihre schwarzen Augen waren etwas seucht, aber die Augenbrauen zornig zusammengezogen. Einen Schritt thut sie nach meinem Bruder und hebt die Hand !mit ausgespreit'ten Fingern, als wollt' sie ihn in
den Arm kneipen und ties aus der Brust heraus holt sie's, wie sie sagt: „Gelt, das war wieder die Mullersdirn?"
„Ia," sagte er und kehrt ihr den Riicken.
Einen Augenblick hat's ausgesehen, als wollt' sie in's Schluchzen ausbrechen, dann aber lacht sie, — es klang nit anders, als wie wenn eine Katz' blast, — zeigt zwischen den Zahnen die Zungenspitz, kehrt sich ab und
dreht die Elbogen hinten h'naus.
Ich bin mit groBen Augen dagestanden, die Frag' ist mir schon aus der Zunge gelegen, wie die Katz' dazu kam', sich gegen meinen Bruder so geberden zu dursen, er muB mich aber errathen haben, legt mir die Hand aus
die Schulter und sagt: „Wenn Du mich lieb hast Martin, dariiber kein Wort!"
Bei Tisch ist's diesmal recht still hergegangen, und wie ich mich spater aus den Heimweg mach' und mein Bruder, um mich zu begleiten, hinter mir aus dem Haus treten will, halt ihn die dicke Alte am Aermel zuriick,
zieht ihn in eine Ecke und da haben sie Beide eine Weile zusammen gezischelt und dabei mit den Handen herumgesochten. Ich hab' davon nichts horen konnen, nur End' zu sagt die Alte lauter: „Du kannst sie ja doch nicht
haben und glaub' auch kaum, daB sie Dich wird haben wollen." Daraus tuscheln sie noch Eins hinwieder und zuriick, und dann sind wir gegangen.
Da ich gerad' das nit Red' haben sollte, was ich gern' zur Sprach' gebracht hatt', so stapsten wir ohne viel Plauderns den Weg neben einander her und beredeten, daB der Feldmohn roth war' — und die Kornblumen blau
— und wie Einer, der heuer Buchweizen baute, sich verrechnet haben durst' — und wie die Menschen aus der Welt gemeintheils
NoidundSud. VI, 17. 11
Gesindel waren, — alle Viertelstund' so ein Gesetze!, wobei das Maul leiert und das Ohr seiert, weil man seinen eigenen Gedanken nachhangen will.
Wieder an der Muhlbachbrucke haben wir uns die Hande gereicht, ich bin vorwarts der StraBe nach, er ist aber nicht zuriick in's Dors gegangen, sondern seitab der lautklappernden Miihle zu.
Das war das zweite und letzte Mai, daB ich meinen Bruder zu Rodenstein besuchte. Bis der Entscheid kam, saB er sreilich dort so warm wie ein richtiger Psarrer und zu so einem machten sie ihn auch, aber Rodenstein
schien doch ein zu setter Bissen siir so junge Zahne, die sollten erst hart' Brod kauen; und so setzte man denn einen alteren geistlichen Herrn daraus, und mein Bruder kam paar Meilen weiter in's Land aus ein kleines
Dorsel. Das schrieb er mir und schrieb mir's so kurz und gerad'zu, daB ich dachte, er hatt' damal wol nur den Gleichgultigen gespielt, als von der Rodensteiner Psarr' die Red' gewesen und jetzt hinterher wunnte es ihn
gewaltig, oder er schamte sich, daB es damit nichts geworden. Nach diesem einen Schreiben horte und sah ich nichts von ihm drei voile Vierteljahr lang.
Da kommt mir eines Tages ein Bries in's Haus, — KrackelstiBe, wie sie Hiihner in den Sand scharren — und ich entnehme daraus, mein Bruder lage schwer krank und wunschte mich zu sehen.
Ueber Hinsinden, Verweilen und Rucksahren konnte wol ein Tag vergehen, ich iiberlegte nicht lange, sorgte siir unterweile Ordnung im Haus und suhr nach WeiBenhosen, so hieB der Ort.
Rauh war's dort, rauhe Lust, rauher Boden, rauhe Leut'. Das Dorsel lag aus einem Berge, ein Dutzend Hauser etwa, der steilen StraB' entlang, das war Alles, und dariiber weg guckte vom Bergkamm die Kirche weit in's
Thai. Ich hab' mich ost gewundert, daB Kirchen einsam im Land verstreut liegen, in welchen die ganze Gemeinde Platz sand', triig' auch Ieder wie eine Schnecke sein Haus aus dem Riicken mit. War da einsmals eine Stadt
herum, oder sollte eine werden? Wer kann's sagen? Waren es vergessene Gnadenorte, von denen mit der Zeit Wunder und Wallsahrer weggeblieben sind, die einen oder die andern vorerst und zuletzt alle beide? Wer weiB
es?
Gerad' so eine ubermachtig groBe Kirche war die WeiBenhosner. An der einen hohen Seitenmauer, rechts vom Eingang iiber Eck', war dos Psarrhaus angeklebt wie ein klein' Vogelnest nnt' an einem Steinblock und war
nur ein ganz winzig Gartel, nach vorne heraus, dabei. Es mocht' wol auch da aus der Hohe nicht viel Wachsthum leiden.
Das ist ein arm' Psarrhausel gewesen, das namliche, dem ich zugeschritten bin, hat zwar ein Stockwerk aussitzen gehabt, war aber Alles so nieder und gedriickt, drei kleine viereckigte Guckerln oben, unten zwei und an
des dritten seiner Stell' die schmale Thiir'; wie ich die austhu', ist das Erste, was ich sehe, die dicke Psarrkochin von Rodenstein und das Zweite die ausgehungerte Katz'. Es war' schon, daB ich gekommen, sagten sie. Die
Alte bedeutete mir, mein Bruder lag' zwar rechtschassen darnieder, aber ich mocht' ihn nur sragen, ob er nicht all' gute Pfleg' und Wartung hatt'. Und die lunge hiipst aus mich zu, schlagt mir in die Hande, als waren wir all'
Zeit her die besten Freunde gewesen und sagt: „Ich hoff , wir kriegen ihn bald wieder aus dem Bett, krank ist mir Iedweder zuwider!"
Und nun werd' sie ihm's sagen, daB ich da war'. Damit schieBt sie die kurze Treppe hinan und wirst hinter sich zwei Thiiren in's SchloB, daB ein Gesunder dazu hatt' fluchen mogen.
Ich srag' indeB die Alte, ob sie denn da heroben ganz allein waren, ob Niemand kam', Nachschau halten?
Sie sagt daraus: sie waren wol die meiste Zeit tagiiber allein, aber gegen Abend kam' der Holzschnitzer aus'm Ort heraus, der hatt' das Lauten iiber und that auch ministriren. Wenn was nothig sein mocht', so sah' der
dazu.
„Ei," sag' ich, „kann denn der Bruder noch Mess' lesen?"
„Wohl," sagt sie, das hatt' er bis jetzt noch Tag siir Tag gethan; von seiner Stube aus ging eine Thiir* aus einen kurzen Gang, iiber den war' er mit paar Schritt' aus der Kanzel und — die Treppe hinunter — mitten in der
Kirche.
Nun will sie just ein Langes und Breites anheben, wie das dem Bruder nur moglich war' bei all' der guten Pfleg' und Wartung, — aber da poltert die lunge herunter und sagt, der Leopold that' mich erwarten, — so sag'
ich, sie soli das Schnattern siir spater sein lassen, und steig' langsam die Stiege hinaus. Ich mach' die Thiir oben aus und komm' in ein kleines Kammerl, das voller Geriimpelwerk steckt, dann tret' ich an die zweite Thiir
und klops' leis' an, und matt, wie wenn ein verschlasenes Kind es reden mocht', sagt es drinnen: Herein!
Ich geh' hinein und gerad' gegeniiber liegt der Leopold im Bett. Ausgesehen hat er, wie man den Christus aus'm Kreuz malt. Ich bin dagestanden und hab' nit gewuBt, was ich sagen soil und kehre mich ein wenig um,
damit ich die Thiir hinter mir in's SchloB ziehe; und wie ich mich wieder ansricht' und ihm zuwend', da streckt er beide elend hagern Arme gegen mich, ein paar Schrei, ties aus der Brust heraus, erstickt es ihm, dann sangt
er an hellaus zu weinen wie ein Kind. Da hab' ich meinen Hut mitten in die Stube ge worsen und bin aus ihn zu,
„Iesus, mein Heiland! Leopold, was ist mit Dir?!" Hab' ich geschrieen. Er aber hat mir mit seinen schmalen, schier durchscheinenden Fingern iiber's Haar gestrichen, — war schon ein wenig graues darunter,
— und hat in ein'msort gesagt: „Du bist mir wie mein Vater — Martin,
— Dn bist mir wie mein Vater!" Und von Zeit zu Zeit hat er hinzugesetzt: „Verzeih' mir!"
Ich aber hab' mir mit keinem Wort vermerken lassen, wie mich sein Hausstand betroffen und sein Aussehen erschreckt hat.
Und wie er wieder ruhiger 'worden ist, da hab' ich meine Arme miissen iiber seiner Bettdecke liegen lassen und er hat mir meine rauhen Psoten gedriickt und gestreichelt, die Hand' — hat er gesagt — die ihm als
kleinem Bnb'n Brod erarbeitet hatten.
Da hab' ich mich zusammennehmen miissen, daB ich nicht wein'!
Aus einmal lehnt er sich zuriick, schaut ganz heiter und sagt: „Ich mocht' wol auch lieber solche Hand' haben."
„Nun," sag' ich d'rans, „an denen ist doch nit viel Sauber's!"
Ein ganz klein wenig verzieht er den Mund zum Lachen, neigt sich 'was zu mir und sagt leis': „Du verstehst mich nit, Martin. Ich will Dir was sagen, — Geistlicher hatt' ich nit werden sollen."
Eine Weil' waren wir allzwei still, dann hat er wieder angehoben: „Martin, niemal hatt' ich dann die Andern kennen gelernt," — er hat nur die Hand ein wenig gehoben und keine drei Finger an ihr bewegt und doch hab'
ich wohl gewuBt, wen er mit den „Andern" meint, — „niemal hatt' ich die Andern kennen gelernt und nach der Rodensteiner Miihl' hatt' ich vielleicht doch hingetroffen und es war' Alles gut geworden."
„Denk' nicht daran," sag' ich. Daraus waren wir wieder eine Zeitlang still, mit einmal sragt er: „WeiBt Du, daB sie geheirathet hat?"
„Die Marie-Lies'?" entgegn' ich.
„Die Marie-Lies'," sagt' er vor sich hin und weiter zu mir: „Martin, Du machst Dir keinen Begriff, wie hart Einer laust, der in einem Sack steckt, da kostet's rechtschaffen Miih', sich ausrecht zu halten, komm' ihm noch
mit Schlingen, so sallt er dahin. Fur mich war die Kutte so ein Sack. Frei liiftig in Kniehosen war' ich wol mit alien Andern einen Weg gegangen, so lieg' ich jetzt abseit von alien, keinem zu nutz und mir selber gram.
Bruder, — schreit er, — ich bin unversehens, wie Wild in die Fanggrube, in die Schand' gerathen und ich hab' mich ihrer geschamt wie vielleicht nit der argste Sunder dessen, was er mit Vorsatz und aus Bosheit gethan.
Ich war' auch nit darin verblieben, hatt' sich nur siir'» Erste Alles verheimlichen lassen, daB sich Keines scheut, mir die reine Hand zu reichen, an der ich mich heraussind' und wieder der Welt und Allen angehoren mag;
aber das wuBten die Andern recht gut und die wollten mich siir sich und darum haben sie sich ohne Scheu und Scham geberdet, daB bald Alles offenbar war siir ganz Rodenstein, vom Forsthaus an dem einen End' bis zur
Miihl' am andern! Von da an hab' ich kein sreundlich' Aug' mehr gesehen und die blauen, ja, die blauen, die sind mir zu Trutz immer abgewend't geblieben. Und weil sie mir bos war, ist sie mit einmal Einem gut
geworden, den sie sriiher nicht hat ausstehen mogen. Die Leute haben die Kops' geschuttelt und ihr wenig Gutes prophezeit. So ist die Zeit herangekommen, wo ich hieher aus die Psarre muBte. Aus mir lag, was bald Einen
zu Boden drucken kann: Ehr' und Friede waren verspielt, die, die mir's abgewonnen, hingen wie Kletten an mir, und das Bischen Sonn'nschein, das mir im Leben geworden, sollte ich in Rodenstein dahinten lassen, — als
aber die Sorg' um sie, der ich's verdankte, dazukam, da brach ich darunter zusammen und da griffen sie mich aus und suhrten mich hieher und ich lieB mich siihren."
Unterdem mein Bruder so redet, klopst es an und ein vierschrotiger Kerl tritt herein, sagt: „Guten Abend, Hochwurden" und nimmt einen Schlussel von der Wand und geht damit wieder sort. Es war das der Holzschnitzer
und ist wegen des Avelantens gekommen.
Eine Weil', nachdem der gegangen, sagt mein Bruder: „Und sie hat es auch nit gut getroffen."
IndeB hebt es zu lauten an, die Weiber unten beten laut: „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschast. . ." und ich stimm' oben ein. Mein Bruder hat weder laut noch im Stillen mitgethan, sondern sich zuriickgelehnt
nnd starr vor sich hingeschaut.
Nach dem Lauten kommt der Holzschnitzer wieder, hangt den Schlussel an seinen Ort und sagt: „Hochwurden, wenn Du mir 'leicht was wollen thatst . . ."
Mein Bruder hat den Kops 'beutelt.
Der Holzschnitzer schaut ihn an, kraut sich hinter'm Ohr und sragt: „Tollt' ich Dir nit doch em' von die andern Psarrer, da herum, holen? Etwa den von Rohrhausen oder von Giildsdors? 's sein die nachsten und ist ein
Weg zu einem wie zum andern."
„LaB' mich mit Fried', Holzschnitzer- Veit," sagt der Bruder. „Verlangt mich nach Einem, werd' ich's schon sagen."
„Ei mein," sagt der Veitel noch unter der Thiir, „der Leut' wegen sollt's halt doch geschehen, schon der Leut' wegen! Na, gut' Nacht, Hochwurden!"
„Ia, ja," brummt der Leopold, „wir sollten wol Einer den Andern abhoren wie Schulbuben beim Auswendiglernen?!" Daraus verhalt er sich mauserlstill, eine geraume Weil', immer langer und wie ich naher zuseh', liegt
er mit geschlossenen Augen und schlast, da heb' ich mich sacht vom Stnhl, geh' aus den Zehen iiber die Stube und steig' hinab zu den Weibsleuten,
Die raumten mir stir die Nacht die untere, ebenerdige Stube, wo sie stir gewohnlich ihre Liegerstatt hatten. Ich wollt' es erst nicht annehmen und meinte, in der Kiiche war' ich gerad' so gut ausgehoben, aber sie sagten,
das ging' nicht an, da schliese immer eines von ihnen, daB sie zur Hand waren, wenn etwa der Bruder 'was bediirst und wenn sie stir den Fall an mir voriiber muBten, so hatt' ich keine rnhsame Nacht.
Ich sagte noch, daB ich mir's ausbehalten hatt', morgen sriih die Kirche anzusehen, weil ich nicht heimsahren mocht', ohne drinnen gewesen zu sein.
Sagt die Dim, das zahle sich wol aus. Damit gaben wir uns gute Nacht.
Mitten in der Nacht werd' ich geweckt, steht die Dim vor mir, hat in der einen Hand eine kleine Latern' und in der andern einen groBen Schlussel,
Ich sahr' in die Hoh': „Himmlische Mutter! Was ist denn geschehen?"
„Nichts," sagt sie. „Komm' die Kirche anschau'n."
„Bist Du narrisch," sag' ich, „daB Du solche Stiickeln angibst? Hab' ich nit gesagt, morgen sriih sah' ich sie mir noch rechtzeitig genug?"
„Geh' nur mit," sagt sie. „Die Kirch' macht sich im Mondschein viel schoner als im Morgengrau und dann ist es just Zeit, wenn Du was sehen willst, was man nur jetzt in der Mitternachtsstund' sehen kann."
„Vielleicht gar einen Spuk?" srag' ich verdrieBlich, „Dabei verlang' ich mir nit zu sein." Mit den Worten kehr' ich mich aus die andere Seite.
Sie thut, als wollt' sie sortgehen und brummt: „Mein'twegen. Du willst also Deinen Bruder nit predigen horen?"
„Predigen horen, jetzt um Mitternacht, vor leeren Banken?" schrei' ich und bin mit einem Satz aus dem Bett. „Um des blutigen Heilands willen, da weis' mich doch zurecht..."
„Da schau' Du nur selber dazu," sagt sie. „Versaumen wir uns nit langer, es mocht' sonst zu spat werden." Damit stellt sie die Laterne weg, legt den Schlussel neben, daB sie die Hand' srei kriegt, wirst mir vom Sessel
meine Gewandstiick' zu und hilst mir hinein. So unschenirt hab' ich bald kein alteres Weibsleut' gesehen wie dieselbe lunge.
Dann saBt sie das Weggelegte wieder aus und wir gehen aus dem Haus. AuBen ist heller Mondschein gelegen und schars ist der Wind iiber die Hoh' gestrichen. Die Dim ist vor mir her, die offenen Haar' hat es ihr nach
vorniiber geweht, sie war barsuB und hatte nichts am Leibe als ein Hemd und einen Kittel, der hat bald geslattert, bald sich um sie geschlagen, das Licht in der Laterne hat sie mit der Hand decken miissen, die hat gluthroth
ausgesehen, als brennte sie, wenn ich knapp hinterher trat und war wie verloschen, wenn ich einen Schritt zuriickblieb. Da kam mir die Dim nimmer wie eine ausgehungerte Katze, sondern wie eine richtige Hexe vor und
das mehr und mehr, nachdem wir um die Ecke herum waren und vor dem groBen Kirchthor standen und sie den Schlussel in das SchloB stieB und ich so neben stand und ihr in's Gesicht sah, daraus der Mond schien; die
Zahne hatte sie aus einander gepreBt, ihre Augen glanzten und damit sah sie vor sich hin, gerad' aus, als ob durch das schwere Kirchenthor durch.
Als wir das offen hatten, traten wir ein. Es war ein groBes, schones Gotteshaus mit reichen Altaren, an den Fenstern waren, — wol von alt her, — sarbige Bilder, aber mit der Zeit mochten einzelne Scheiben
ausgebrochen sein nnd an deren Stell' gab es jetzt welche von einer Farbe oder gar weiBe, so daB die Schildereien geflickt und durchlochert aussahen.
Ich hatt' mich kaum umgesehen, so schlug die Thurmuhr raBlig und hart: zwols, indem knarrt oben an der Kanzel das Thurchen und der Leopold tritt heraus. Gerad' iiber, durch eine weiBe Glasscheibe ist ein heller
Lichtstreis hereingebrochen, hat sich quer iiber die Kanzel gelegt und meines Bruders Gesicht getroffen und ich seh', der hat die Augen geschloffen, wie schlasend.
„Iesus, Maria," sag' ich leis' vor mich hin. „Er ist mondsiichtig." Und sass' die Dim' am Arm und srag': „Seit wann ist er so?"
„Seit wir da sind," sagt die. „Von der ersten Nacht, seit wir da sind, treibt er's so und immer das Gleiche. Ich bin ihm nit ein Mai nachgeschlichen."
IndeB kniet er oben aus der Kanzel, die gesalteten Hand' vor sich aus dem gepolsterten Rand, den Kops dariiber gesenkt, gleichsam wie in stillem Gebet und zur Sammlung, wie auch vor einer Predigt iiblich ist. Mit
einmal erhebt er sich, beugt sich ein wenig vorniiber, als waren die Kirchstuhl' unten voller Leut' und die wollt' er erst mustern, dann wirst er beidseitig die Arme von sich und steht da wie Einer, der sagen mocht': Schlagt
mich todt, wenn ich euch ein AergerniB gebe, aber ich kann nicht anders! Das hat er nun wol nicht gesagt, aber mit einer Stimm', wie Eines wol im Traume spricht, hat er die Worte geredet: „Ich weiB von nichts!" Und
dann noch einmal, — die Hand' gegen Himmel geworsen und dann dargelegt, als weis'te er damit aus Alles inner und umher der Kirch'. — „Ich weiB von nichts!" Darnach wandte er sich um und ging.
Mich hat es kalt uberlausen. „Poldel," rus' ich, „so weit bist schon?"
Da lacht die Hex' hinter mir.
„Wie magst Du dazu lachen?" srag ich sinster. „Willst Du vielleicht auch schon nichts wiffen um 'n Glauben?"
Da sagt sie rauh: „Meinst Du, ich weiB nit, daB ich ein Psaffenkind bin? Unsereins sollt' gar nit da sein. Gab's ein' Herrgott, sein' Gnad' lieB die Eltern nit sehlen, oder sein Zorn muBt' so Kinder vernichtigen. Aber ich
denk', ich bin gerad' lang genug gewachsen, daB ich Dir bis unter die Nase reich' und so kann ich wol nit ubersehen worden sein."
Am andern Morgen tress' ich meinen Bruder recht schlecht, den Tag hat er keine Messe lesen konnen. Ich weiB nit, ob er um sein Schlaswandeln gewuBt hat, ich hab' mir nichts davon merken lassen, daB ich ihn
dergestalt gesehen hab', bin aber eben deshalb eine Weil' ganz scheu neben seiner Liegerstatt gesessen, dann aber hat er angehoben von seinen Kindertagen zu redeu; es war merkwiirdig, wie er sich dabei aus das
Allergeringste besonnen hat und mir hat geschienen, als wenn ihn das, inmitten der Red', ost selber Wunder nahm'.
Da ich gesehen hab', daB ihn die Ansprach' mit mir ausheitert, so hab' ich das Heimkehren ausgeschoben und bin geblieben.
Stiickl stir Stiickl hat er so seine Lebenszeit vorgenommen und wir haben sie mit einander durchgesprochen, von der Zeit an, wo er im Kinderhemderl iiber Stube und Hos gelausen ist, bis wo er in die Schul' kam, — in's
Seminar, — nach Rodenstein ....
Die Sonne war schon hinunter gegangen, als wir mit unserm Plausch da ankamen, wo wir waren — in WeiBenhosen.
„Da hat's ein End'," sagt' ich, „und es bleibt weiter nichts zu erzahlen."
„Ia, ja," sagte mein Bruder nachdenklich, „da hat's ein End' und es bleibt weiter nichts zu erzahlen."
Ich schau' aus ihn.
Er laBt eine Weil' den Kops hangen . . . „Martin," sragt er mit einmal hastig, „bist Du noch da?"
„Nah' bei der Hand," sag' ich.
„Gib mir die Hand," sagt er . . . „Du hor', Martin, mir ist — ich konnt' Dir's gar nit sagen wie."
„Geschieht Dir hart?" srag' ich.
„Eben nit," seuszt er, „aber mir scheint, 's End' diirst' da sein."
„Denk' doch nit," rus' ich und will aus, damit ich uns einen Beistand such'.
Er aber halt mich an der Hand zuriick. „LaB' gut sein," sagt er. „Hetz' mir nicht die Andern aus den Hals. Ich krieg's allein sertig."
„Poldel," dring' ich in ihn, „es wird doch nit sein, aber wenn's sollt', so vergiB nit aus Gott."
Da driickt' er mir die Hand. „Du mein Herzbruder," sagt er, „geh' Dir's gut, geh' Dir's nur recht gut! Um mich sorg' Dich nit. Gerathe ich auch wo anders hin als nur unter den kiihlen Rasen, mir ist nit bang; ich denk', mit
ein'm Gott im Himmel konnen wir uns wohl verstehen und es braucht uns gar nit zu gut zu kommen, was wir um den aus Erden gelitten haben."
„Bruder, Bruder," — bitt' ich ihn, — „lasier' doch nit!"
„Du verstehst's!" sagte er und lachelt klein wenig. „Ich hab' lang' kein' so andachtigen Gedanken mehr gehabt wie den."
»Ia, ja," stimm' ich zu, „mag schon sein, daB ich davon nichts versteh', aber jetzt verhalt' Dich ein wenig ruhig." Denn ich hab' gemerkt, daB ihn das Reden angreist, wenn es auch kein lautes gewesen ist, doch hat er von
sriih ab sast in einem Zug weg gesprochen. Denk' ich, spater bereden wir ihn wol noch. Der Holzschnitzer- Veitl hat Recht, schon der Leut' wegen soil er den letzten Trost nit zuriickweisen.
So ist's mauserlstill geworden in der Stube.
Nach einer Viertelstund' etwa hor' ich ihn sagen: „Ia, ja, nun waren wir zusammen, nur muBt mich nit so sest um die Brust nehmen." Damit wirst er sich mit einmal — link ist er gelegen — rechts iiber, thut ein' tiesen
Athemzug und aus war's.
Mich hat's vom Stuhl in die Hoh' gerissen, ich hab' mich iiber ihn gebeugt, kein Hauch ist mehr von ihm gegangen. Ich war lang' nit im Stand, ihm die Augen zu schlieBen, so unsicher war ich in den Handen und ich
wollt' ihn nicht hart anruhren. Endlich hab' ich's doch zuweg' gebracht. Dann bin ich sort, unter der Thiir hab' ich mir ihn noch einmal betracht't, wie so still er daliegt, hab' „B'hiit' Dich Gott, Poldel" gesagt und das SchloB
sacht hinter mir zugezogen.
Wie ich hinunterkomm' , haben die Weibsleut' gleich ausgeschrieen: „Mein Iesus! Was hast Du? Was ist geschehen?" Sie hatten auch blind sein miissen, wenn sie mir nichts angemerkt hatten. Sag' ich daraus: „Der
Bruder hat's schon iiber standen." Eine Weil' hat's gedauert, bis sie sich besonnen haben, was sie eigentlich gehort hatten, dann aber hat die Alte laut zu heulen angesangen und wollte aus mich zu, ich hab' sie aber
abgewehrt, und sie ist die Treppe hinausgerannt. Die lunge ist ganz erschreckt und scheu nach einer Stubeneck' zuriickgewichen und dort gestanden, ohne Laut und Geberd', wie von Holz. Ich bin vor's Haus getreten und
bin gegangen, sort und sort, bis ich heim getroffen habe.
Am zweiten Tag daraus war des Bruders BegrabniB, da war ich ein zweites Mai in WeiBenhosen, — wie ich denn auch zwei Mai in Rodenstein gewesen bin, — da hab' ich die beiden Weibsleut' noch einmal gesehen,
seither nicht wieder, weiB auch nicht, was aus ihnen geworden.
Gleich nach dem BegrabniB hab' ich mich aus den Heimweg gemacht. All' mein Denken den weiten Weg iiber war aus den Leopold gerichtet. So hab' ich denn auch sein End' mit ansehen miissen, wie das so vieler
meiner Geschwister! Aber ich mein' heut noch, das hatt' es nit Noth gehabt, hatt' ihm die Mutter sein Leben gegonnt, wie sich's srei von selber herausgewachsen hatt'! Die Kinder miissen so wie so stir der Eltern Siinden
buBen, gegen das Angebor'ne kommt Einer gar nit, gegen das Angewohnte nur schwer aus und wie ihm das ausliegt stir all' sein' Tag', das miissen die Alten hinterher mit ansehen Voreh' muB's die Mutter gerad' nit stir eine
so groBe Siind' gehalten haben, denn sonst hatt's niemal aus der Welt einen Pechleitner-Poldel gehabt,
wenn sie sich'» nach der Hand einbildet, es war' eine, so hatt's dazusehen sollen, wie sie sich mit'm Herrgott absind't. Ei ja, in die Kutte hat er miissen, die hat sreilich groBere Sack' wie eine Bauernjoppe und da geht alle
sremde Siind' hinein, aber da soil Keiner aus eigene Faust eine begeh'n, wo bracht' er die auch unter?
Wenn ich nur damal meinen Kops ausgesetzt hatt', wie das geplant worden ist, ich hab' doch Unheil vorhergesehen und hab' doch gewuBt, die Mutter ist ein alt' Weib und bei Vielen wacht das Gewissen aus, wenn der
Verstand einschlast! Glaub', Ehr' und Fried' hatt' er nit verspielt, denn der Bauernstand kartelt nit mit so hohe Einsatz'. Heut noch lies mir der Bursch' srischlebig aus meinem Hos unter den Augen herum und neben —
Lieberes verlangte ich nicht, — die Marie-Lies' mit kleiner Waar', und er sagte mir einmal „Behtit' Gott" und es war' ein groB' Kranken um den alten Onkel. Ietzt slennt mir wol keine Katz' nach.
Und das war', das war' Alles so geworden, wie ich sag', ich weiB das, denn die Marie-Lies' die hab' ich noch einmal wieder gesehen. Vierzehn Iahr' war's nach dem Bruder seinen Tod, anderthalb vor heuer. Handels und
Wandels wegen war ich am Allerseelentag gerad' nah' bei WeiBenhosen. Denk' ich, gehst hin, ein Vaterunser aus des Bruders Grab beten und dort hab' ich sie getroffen, die Marie-Lies', ein stattlich Weib, schon seit acht
Iahr' Wittsran und sie hat auch nit wieder geheirathet bis aus den heutigen Tag, neben ihr ist ein Burschel gestanden, das mit groBen blauen Augen gar ernst darein gesehen hat, er war ihr. Wie ich hinzukomm', ist sie
gerade nit verlegen geworden, das konnt' ich nit sagen, aber sie hat sich ein wenig zur Seit' gewendet, als sollten wir Eins aus das Andere nit achten.
„Mullerin," sag' ich, „Du kennst mich vielleicht nimmer, ich bin deB' Bruder, der da unter der Erd' liegt, und daB ich Dich da betreff , — was mir gar eigen, wohl und weh zu Herzen geht, — da dariiber hast Du Dich nit
zu schamen."
„Nein," sagt sie und wir haben uns iiber seinem Grab die Hand' gereicht.
Ei, Du arm' Sundkind, Du, wie muthwillig ist Dir die Freud' am Leben zernicht't worden! Selbst vom Nachsten zum Nachsten sindet sich wenig Einverstehen und ErbarmniB ans der Welt. Ich hab' an seine zwei
Herrgotter denken mussen, der eine stir aus Erden, der andere im Himmel; lang' kann's nimmer dauern, so geh' ich aus Nimmerkehr. und da war' mir wol lieb, ich sand' den zweiten und war' dem gerecht' Nun, wie's wird,
ich werd's schon inne werden, Alle werden wir's inne werden, wie wir da sitzen. Ruck' mir Einer das Feuerzeug heraus, die Pseis' hat lang genug geseiert, ich muB mir die Grillen ausrauchern, die wurlen mir jetzt so viel
hausig im Kops herum, seit ich siebzig zahl' und Niemand hab', der sich dariiber sreut, denn selber thut man's ja doch nit."
(3mil du Vois-Reymond.
«3 i n lebensbild
von
F. Nosenchill.
— Erlangen. —
Der Aussorderung, ein Begleitwort zu dem Bilde meines verehrten Lehrers dn Bois-Reymond zu schreiben, komme ich A nicht ohne Zagen nach. Denn ich bin mir sehr wohl bewuBt, 'wie schwer die mir gestellte
Ausgabe ist. Der Dichter oder der bildende Kunstler stehen in ihrem Wirken dem Publikum nahe, man kennt ihre Werke, und wer von ihrem Leben und ihrer Personlichkeit spricht, kann aus theilnehmende und
verstandniBvolle Leser rechnen. Der Gelehrte aber, der nur au den kleinen Kreis von Fachgenossen sich in seinen Schristen wendet, kann wol, wenn seine Thatigkeit iiber den Kreis derselben hinaus bekannt geworden, sei
es durch besonders hervorragende Leistungen oder sonstige Umstande, ein popularer Mann werden, von dem alle Welt spricht; aber wenn man nun versucht, sein Wirken, seine eigentliche wissenschastliche Bedeutung
darzulegen, stoBt man doch aus sast unuberwindliche Schwierigkeiten. Wie soli man den Standpunkt darlegen, aus welchem die Wissenschast stand, als der Forscher seine Thatigkeit begann, wenn der Gegenstand, um
welchen es sich handelt, vollkommen unbekannt ist? Und das kann oder muB ich vielmehr von der Mehrzahl meiner Leser voraussetzen bei einem so schwierigen und verwickelten Gebiet, wie das von dn Bois-Reymond
bearbeitete, welches selbst unter den Gelehrten von Fach nur einen kleinen Kreis von Kennern hat, dem groBen Publikum aber vollends ein Buch mit sieben Siegeln ist, dem Publikum, welches durch die Richtung, die nun
einmal nnsere Iugenderziehung genommen hat, wol leidlich vorbereitet ist, das Wirken eines Geschichtsund Natursorschers einigermaBen zu wurdigen, dem es aber meist an den Vorkenntnissen sehlt, um eine Entdeckung
oder Ersindung, wie z. B. die des Augenspiegels durch Helmholtz, zu verstehen, obgleich diese in der Geschichte der Menschheit eine groBere Bedeutung hat als sehr viele Dinge, welche in der Weltgeschichte gelehrt zu
werden pflegen. Wenn ich nun trotzdem dem an mich ergangenen Wunsche Folge leiste, so muB ich dabei die Freiheit stir mich in Anspruch nehmen, zur Erlauterung der Wirksamkeit du Bois-Reymonds etwas weit
auszuholen.
Emil du Bois-Reymond wurde am 7. November 1818 zu Berlin geboren. Sein Vater war ein seltener Mann, welcher durch Armuth und Elend sich durch eigene Krast hindurchgearbeitet hatte zu einer geachteten Stellung
und welcher dem Sohne eine sorgsaltige Erziehung zu Theil werden lieB, in dem Wunsche, das, was ihm ein widriges Geschick versagt hatte, ein Gelehrter von Berus zu werden, an dem Sohne zu erleben. Und es gelang
ihm in der That, den Sohn zu einem der beruhmtesten Gelehrten seiner Zeit heranwachsen zu seheu. Mit Running gedenke ich noch heute, wo ich dieses schreibe, des alten Herrn, mit welcher innigen Freude er von seinem
Sohne sprach, und wie er jahrlich an dessen Geburtstage die endlosen Treppen zu dem damaligen physiologischen Laboratorium im Universitatsgebaude hinausstieg, um ihm seinen Gliickwunsch abzustatten. Mit der
zartlichsten Liebe hing aber auch der Sohn an seinem Vater und er hat ihm, zuerst in der Vorrede zu seinem groBen Werke, dann in einem Nekrolog, welcher in der Nationalzeitung erschien, den Zoll der Dankbarkeit in
schonster Weise abgestattet.
Felix Henri du Bois, der Vater, 1782 in einem Dorschen bei NeuchAel geboren, erlernte das Uhrmacherhandwerk. Von Wissensdrang getrieben suchte er sich durch Lesen eine hohere Bildung anzueignen und es gelang
ihm, nach mannichsachen Entbehrungen endlich Empsehlungen nach Berlin zu erhalten, welches ja damals auch die Hauptstadt des zu PreuBen gehorigen Furstenthums Neuenburg war. Hier lernte er zunachst die deutsche
Sprache, wandte sich dem Studium der Mediein zu, von welchem er jedoch durch auBere Umstande wieder abkam, wurde dann Lehrer am Kadettenhause und beschastigte sich mit sprach wissenschastlichen Studien. Die
Friichte derselben wurden zum Theil erst im Iahre 1862 unter dem Titel: „Kadmus oder allgemeine Alphabetik" herausgegeben. Damals wurde er diesen Studien durch den Krieg entrissen, welchen er als Hauptmann in
Bernadottes Generalstab mitmachte. Nach demselben erhielt er eine Stellung im auswartigen Ministerium, in der Abtheilung stir die Neuenburger Angelegenheiten, und vermahlte sich mit der Tochter des Predigers der
sranzosischen Gemeinde Henry, einer Enkelin Chodowieckis. Von 1830—39 lebte er in Neuchktel als Civiladjutant des Statthalters, General Psuel, wurde dann, nach Berlin zuriickgekehrt, mit dem Titel eines Geheimen
Regierungsraths Direetor der Abtheilung stir die Neuenburger Angelegenheiten. Er blieb in dieser Stellung bis 1848, wo die Abtrennung NeuchiUels von PreuBen seiner Verwaltungsthatigkeit ein Ende machte. Er starb im
Iahre 1865, wenige Monate nach seiner Gattin.
Sein alterer Sohn Emil, von dem hier die Rede sein soli, besuchte das College zu Neuchktel und das sranzosische Gymnasium zu Berlin und bezog dann zu Ostern 1837 die dortige Universitat, um Theologie zu studiren.
Dieses Fach, zu welchem er sich wol durch den Verkehr mit dem GroBvater, einem der angesehensten Mitglieder der Berliner sranzosischen Colonie, hingezogen siihlen mochte, entsprach aber seiner Geistesrichtung nicht.
Denn 'nach einem Besuch der Vorlesungen des beruhmten Chemikers Eilhardt Mitscherlich reiste in ihm der EntschluB, sich dem Studium der Naturwissenschasten zuzuwenden. So sinden wir ihn denn im solgenden Iahre
in Bonn, wo er namentlich Geologie trieb. Dann nach Berlin zuriickgekehrt, veranlaBte ihn ein Freund, der talentvolle, sruhverstorbene Arzt Hallmann, sich der Mediein zu widmen, indem er ihn iiberzeugte, daB in der
Ersorschung der Lebenserscheinungen die hochsten Ausgaben aller Naturwissenschaft zusammenliesen, eine Ueberzeugung, welcher du Bois-Reymond spater oft, zuletzt noch in der Rede zur Eroffnung des neuen, von ihm
gebauten physiologischen Laboratoriums der Universitat Berlin, beredten Ausdruck gegeben hat. Im Iahre 1839 trat daher der junge Natursorscher unter die Zahl der Schuler des beruhmten Anatomen und Physiologen
Iohannes Miiller. Die stir einen Medieiner nicht gewohnliche grundliche Vorbildung des jungen Mannes in der Physik veranlaBte seinen Lehrer, ihm im Iahre 1841 eine Schrist des italienischen Physikers Matteueei: „Nss»i
sur Iss pbenomouez Aeo rriques aes animaux" zur Priisung zu ubergeben. Dies wurde entscheidend stir sein ganzes Leben. Mit einer stir ihn charakteristischen Energie unterzog er sich der ihm gestellten Ausgabe und seit
jener Zeit hat du Bois-Reymond nicht ausgehort, alle seine Kraste der Ersorschung der elektrischen Erscheinungen an lebenden Geweben zu widmen. Diesen Untersuchungen verdankt er seinen Weltruhm, sie haben ihn zu
dem Range eines der groBten Physiker und Physiologen erhoben, durch sie ist er das anerkannte Haupt der neuern deutschen Physiologie geworden.
Zur Zeit, als du Bois-Reymond von Johannes Miiller den erwahnten Austrag erhielt, nahm der letztere ungesahr die Stellung ein, welche der erstere jetzt inne hat. Er war der Begriinder einer physiologischen Schule. Sein
Ruhm sachte in begabten Iiingern den Eiser an, sich dem Studium der Lebenserscheinungen hinzugeben und die ersten Namen unserer heutigen Wissenschaft, neben du Bois-Reymond Manner wie Briicke, Helmholtz,
Ludwig, nennen sich mit Stolz seine Schuler. Nicht daB neben Miiller keine andern hervorragenden Manner in diesem Wissenszweige gewirkt hatten. Die Gebriider Weber in Leipzig haben sich um die Physiologie nicht
mindere Verdienste erworben als Miiller, wenn sie auch nicht mit gleicher Vielseitigkeit wie er auch noch aus andern Gebieten so GroBes geleistet haben. Aber sie haben keine Schule gebildet. Und ebenso ist es in der
solgenden Generation gewesen. Von alien den hervorragenden Mannern, welche sich um Miiller geschaart hatten, ist du Bois-Reymoud allein der Lehrer einer groBeren Zahl von Schulern geworden, welche jetzt aus vielen
deutschen Hochschulen und aus manchen des Auslands die Lehrstuhle der Physiologie inne haben. Diese Ausnahms stellung verdankt du Bois-Reymond zumeist dem Umstande, daB er die Methode physiologischer
Forschung aus eine ganz neue Stuse brachte. Durch ihn wurde ein groBer Zweig der Physiologie gleichsam zu einem Theil der Physik erhoben, die exaete Untersuchungs weise dieser Wissenschast wurde der Physiologie
dienstbar gemacht. Das erklart den groBen EinfluB, welchen er aus die jiingeren Forscher und damit aus die Entwicklung der gesammten Wissenschast gewann.*)
Die andern oben genannten Manner, welche mit du Bois-Reymond zusammen als Schuler Iohannes Miillers ihre Lausbahn begannen, haben neben ihm, jeder in seiner Art, gleichsalls GroBes zur Entwicklung der
Physiologie beigetragen. Ihrem gemeinsamen Wirken ist es zu danken, daB die Physiologie seit jener Zeit einen ungeahnten Ausschwung genommen hat, und daB Deutschland sich riihmen kann, das Meiste und Beste zu
dieser Entwicklung beigesteuert zu haben. Vergleichen wir den Zustand der Forschung zu jener Zeit Miillers mit dem heutigen, so ergibt sich, daB dieser groBe Fortschritt durch die innige Verbindung der Physiologie mit
der Physik und Chemie herbeigesuhrt worden ist. Zu jener Zeit war die Physiologie noch ein Theil der Anatomie, die Forschung geschah vorzugs weise aus dem Wege der Zergliederung. Man schloB aus die Funetionen der
lebenden Organismen aus den Formen ihrer Organe, die man nach dem Tode untersuchte. Die auBerordentliche Vervollkommnung der Mikroskope ergab ganz neue Ausschliisse iiber diese Formen und die von Iohannes
Miiller ganz besonders entwickelte vergleichende Anatomie eroffnete neue Gesichtspunkte. Mit diesen Mitteln wurde ganz Bedeutendes geleistet, aber die Ansange der experimentellen Ersorschung der Eigenschasten der
Gewebe
*) Unter denen, welche aus deutschen Hochschulen die Physiologie vertreten, sind Bernstein in Halle, v. Bezold (f) in Wiirzburg, Heidenhain in Breslau, Hermann in Zurich, Kiihne in Heidelberg, Psliiger in Bonn,
Preyer in Iena, Rosenthal in Erlangen uumittelbare Schuler du Bois-Reymonds. Rechnet man dazu noch diejenigen, welche als auBerordentliche Prosessoren und Doeenten wirken, serner die im Auslande lebenden
Physiologen, welche seine Schuler waren, bedenkt man weiter, wie viele Forscher, auch ohne ihm personlich nahe getreten zu sein, aus dem Studium seiner Schristen und aus den von ihm ersundenen
Unter suchungsniethoden Anregung und Mittel zu ihren Forschungen geschopst haben, so kaun man wol, ohne irgend Iemandem zu nahe zu treten, du Bois-Reymond als das anerkannte Haupt der heutigen Physiologen
bezeichnen.
zeigten doch das Unzulangliche jener einseitig anatomischen Forschungsweise. Einer durchgreisenden Entwicklung der experimentellen Ersorschung standen aber vielerlei Hindernisse entgegen: die ungeniigende KenntniB
der Erscheinungen selbst, deren Studium noch kaum begonnen hatte, die Verwickelung derselben, welche die Erklarung erschwert, dann die mangelhaste KenntniB der Physik bei denen, welche nur anatomisch vorgebildet
an die Ersorschung der Lebenserscheinungen gingen. Wo aber vereinzelte Physiker und Chemiker gelegentlich an die Deutung organischer Proeesse gingen, wurde zwar hier und da vereinzeltes Werth voile, im Ganzen aber
wenig gewonnen, weil es diesen wieder an der ausreichenden KenntniB des lebendigen Organismus sehlte. Zudem muBten, um eine nutzbringende Verbindung von Physik und Chemie mit der Physiologie anzubahnen, jene
selbst erst noch erweitert und ausgebaut werden. Viele Ausgaben stellten sich dem Physiologen entgegen, welche Physiker und Chemiker noch gar nicht in Angriff genommen hatten, weil erst eine physiologische Frage aus
dieselben hinsuhrte. Der Physiologe muBte im Stande sein, die Vorsrage selbst zu losen, wenn er aus seinem Wege weiter schreiten wollte. Neue Versuchsweisen und Apparate muBten ersonnen und eonstruirt werden, ehe
eingehende Priisung des Thatsachlichen moglich war. Das Alles ersorderte langsame und grundliche Vorbereitung, ersorderte Manner, welche neben einer anatomischen Vorbereitung hinreichende physikalische und
chemische Kenntnisse hatten. Darum kann es nicht wunderbar erscheinen, daB erst mancher sruchtlose Versuch vorherging, ehe ein wirksames Arbeiten in der neuen Richtung iiberhaupt moglich war.
Aus dem Boden, aus welchem die damalige ErkenntniB der organischen Natur stand, und unter dem EinfluB der damals herrschenden philosophischen Ideen hatte man sich gewohnt, als letzte Ursache der
Lebenserscheinungen eine sogenannte „Lebenskrast" anzusehen. Man sprach von derselben, wie man von der Schwerkrast oder magnetischen Krast sprach, als ware sie die Ursache dessen, was man beobachtete, ohne sich
ganz klar dariiber zu sein, wo man diese Ursache zu suchen habe, ob sie ein auBerhalb der Stoffe, aus die sie wirken sollte, bestehendes Ding oder nnr ein Namen stir die unbekannte Ursache sei. Den Forschern, welche
ansingen, die Lebenserscheinungen genauer zu zergliedern und im Einzelnen zu beobachten, muBte das Ungeniigende und Unhaltbare dieser Fietion aussallen. Gerade damals sing man an einzusehen, daB das, was man in
der Physik als „Krast" bezeichnete, nur die Eigenschast der Materie sein 76nne, nicht ein neben und auBerhalb der Materie bestehendes Etwas, das aus die Materie von auBen her einwirkt. DaB aber vollends die
verwickelten Erscheinungen eines so zusammengesetzten Mechanismus, wie sie eine lebende Pflanze oder ein lebendes Thier darstellen, nicht als AusfluB einer Krast angesehen werden, sondern nur verstanden werden
konnen, wenn man sie in ihre einzelnen Phasen versolgt und nach und nach den ganzen Zusammenhang ermittelt, das war die damals unter den Physiologen eben erst zum Durchbruch gelangte ErkenntniB, welche die Bahn
zu wirksamen Fortschritten erossnete.
Dieser neuen Aussassung der Lebenserscheinungen gab du Bois-Reymond einen beredten und eindringlichen Ausdruck in der schon erwahnten Vorrede zu seinen „Untersuchungen iiber thierische Elektrizitat" . In groBen
Ziigen entwirst er hier ein Bild, welches die Unhaltbarkeit jener alten Aussassung und die Grundlage der neuen biologischen Anschaunngen enthalt. Mit anschaulicher Klarheit entwickelt er den Standpunkt, welcher
seitdem der herrschende in der Physiologie geworden ist: die Lebenserscheinungen sind nichts als eine Reihe physikalischer und chemischer Proeesse; die Eigenschasten der Materie sind iiberall und zu alien Zeiten
dieselben; die scheinbar so abweichenden Erscheinungen der lebenden Natur mussen aus die allbekannten Eigenschasten der Materie zuriickgesiihrt werden, indem wir sie genauer im Einzelnen ersorschen. Das ist die
Ausgabe, welche sortan der Physiologe vor Augen haben muB, und als einen Beitrag in diesem Sinne bietet er die Untersuchungen iiber die elektrischen Erscheinungen thierischer Gewebe.
Diese Untersuchungen hatten, wie wir oben sahen, ihren AnstoB erhalten durch ein Buch Matteueeis. Im Iahre 1841 begonnen, waren sie im Herbst 1842 so weit gediehen, daB er die Ergebnisse der Forschung unter dem
Titel: „Vorlausiger AbriB einer Untersuchung iiber den sogenannten Froschstrom und iiber die elektromotorischen Fische" zusammenstellen konnte. Der „AbriB" wurde im Ianuarhest des Iahrgangs 1843 von Poggendorsss
Annalen abgedruckt. Aber erst im Iahre 1848 erschien der erste Band der „Untersuchungen", in welchen die Forschungen mit genauer Angabe der Versuchsmethoden, mit literarischen Nachweisungen und historischen
Studien iiber den Gegenstand dargelegt sind. Im solgenden Iahre erschien die erste Abtheilung des zweiten Bandes; 24 Bogen der zweiten Abtheilung waren schon damals gedruckt, wurden aber erst 1860 ausgegeben.
Seitdem scheint es, als sollte das Werk ein Torso bleiben. Zahlreiche einzelne Abhandlungen hat der Versasser seitdem in den Monatsberichten der Berliner Akademie und in dem von ihm redigirten Archiv stir Anatomie
und Physiologie*) veroffentlicht. Die meisten derselben sind in zwei starken Banden gesammelt erschienen. Ich werde nun versuchen, in gedrangter Darstellung die Grundziige von du Bois-Reymonds Entdeckungen und
der daraus begriindeten Lehren zu geben.
*) Dieses Archiv erschien als Fortsetzung des von Ioh. Miiller herausgegebenen von 1858 — 187« unter der gemeinschastlichen Redaction von Reichert und du BoisReymond, Leitdem ist es mit dem Archiv stir Anatomie
und Entwicklungsgeschichte von His und Vraune vereinigt, dessen anatomische Abtheilung von den eben Genannten, dessen physiologische Abtheilnng von du Bois-Reymond redigirt wird.
Im Iahre 178N hatte Gcilvani die Entdeckung gemacht, daB ein Froschmuskel durch Anlegung eines metallischen Bogens an seinen Nerven zum Zucken gebracht werden kann. Er hatte daraus geschlossen, daB in dem
Muskel elektrische Kraste ihren Sitz haben; er verglich den Muskel mit einer Leydner Flasche; das Innere des Muskels hielt er stir positiv, das AeuBere stir negativ elektrisch. Sein Landsmann Volta wies dann nach, daB die
Wirkung aus Entstehung von Elektrieitat in dem angelegten Bogen zuriickzusiihren sei. Obgleich nun spater Galvani den Nachweis siihrte, daB auch ohne Metalle Zuckungen erhalten werden konnen, hatten doch Voltas
weitere Untersuchungen iiber die durch Contaet der Metalle erzeugte Elektrieitat so die Ausmerksamkeit der gelehrten Welt in Anspruch genommen, daB die thierische Elektrieitat dabei ganz vergessen wurde. Vergebens
haben sich Humboldt, Psass und Ritter mit dem Gegenstande beschastigt; die Physiologen, welche die Sache doch am meisten anging, scheinen ihre Wichtigkeit nicht begrissen zu haben, und die Physiker hatten genug zu
thun, die neuentdeckte Wirkung weiter zu versolgen, welche ja den Keim zu den stolzesten Ersindungen des neunzehnten Iahrhunderts, dem elektrischen Telegraphen, der Galvanoplastik u. s, w. enthielt. Erst im Jahre 1827
kam Nobili aus die thierische Elektrieitat zuriick. Er hatte zuerst einen empsindlichen Multiplieator eonstruirt, mit Hiilse dessen man auch schwache elektrische Strome nachweisen konnte. In den Nerven konnte er dies
nicht (dazu war sein Multiplieator doch nicht empsindlich genug), wol aber in den Muskeln. Er suchte sreilich die Ursache dieser Strome in einem Zusammenwirken von Nerv und Muskel, aber Matteueei hat spater gezeigt,
daB diese Erklarung nicht richtig sei. Als nun du BoisReymond den Gegenstand in Angriss nahm, kam er zu solgenden Ergebnissen: Muskeln und Nerven sind elektrisch wirksam, alle andern Gewebe sind unwirksam.*)
Die Wirksamkeit der Muskeln und Nerven ist an ihre Lebenseigenschasten gebunden, mit dem Absterben derselben verlieren sich auch die elektrischen Eigenschasten. Die elektrischen Kraste zeigen Veranderungen bei der
Thatigkeit, in den Nerven auBerdem auch noch unter dem EinfluB elektrischer Strome. Die elektrischen Kraste sind im Muskel und Nerven aus eine regelmaBige Weise angeordnet, welche man erklaren kann, wenn man
annimmt, daB im Innern derselben viele'kleine, regelmaBig angeordnete, mit elektrischen Krasten ausgeriistete Theilchen vorhanden seien.**)
Die wunderbaren Wirkungen der Muskeln und Nerven, besonders
*) Eine Ausnahme machen die Driisen, wie du Bois-Reymond spater zeigte. Ties ist insosern von groBem Interesse, als die Driisen in ihren physiologischen Eigenschasten den Muskeln sehr nahe stehen.
**) Diejenigen, welche sich genauer mit dem Gegenstand bekannt machen wollen, verweise ich aus meine „Allgemeine Physiologie der Muskeln und Nerven". Leipzig 1877.
Nord und Siid. VI, 17. 12
der Zusammenhang beider unter einander hatte von jeher die Phantasie d« Physiologen lebhast beschastigt. Eine Beziehung zwischen Nerventhatigkeit und Elektrieitat war schon lange geahnt worden. Was Wunder, daB
auch du Bois-Reymond, als er die elektrischen Wirkungen der Muskeln und Nerven mit den exaetesten Mitteln der Physik sestgestellt, als er die Veranderungen derselben bei der Thatigkeit nachgewiesen hatte, die
langgesuchte Losung des Rathsels gesunden zu haben vermeinte. Die angekiindigte Auseinandersetzung iiber diesen Gegenstand ist jedoch bisher nicht erschienen, ebenso wenig der Abschnitt iiber die elektrischen Fische.
Was seitdem in einzelnen Abhandlungen von ihm veroffentlicht wurde, enthalt thatsachliche Zusatze und Berichtigungen, eine reichliche Fiille neuen Materials, aber keine abgeschlossene Theorie. Andere haben die weise
Zuriickhaltung des Meisters nicht immer bewahrt. Aus zuweilen nur oberflachliche KenntniB des Gegenstands gestiitzt, haben Manche Theorien ausgestellt, welche nuchterner Betrachtung gegeniiber nicht stichhalten. Fiir
solche Ausschreitungen ist du Bois-Reymond natiirlich nicht verantwortlich zu machen. Was er selbst gesagt, ist allein der Beurtheilung seines Standpunkts zu Grunde zu legen.
War es du Bois-Reymond gelungen, die vor ihm schon bekannten elektrischen Wirkungen der Muskeln vollstandiger zu erkennen und die wechselnden Erscheinungen aus eine gesetzmaBige Vertheilung der elektrischen
Spannungen zuriickzusiihren, so machten doch hauptsachlich seine Entdeckungen iiber die elektrischen Strome der Nerven und ihre Veranderungen bei der Nerventatigkeit das groBte Aussehen. Dem Nobilischen
Multiplieator zum Nachweis schwacher elektrischer Strome gab er, um diese Untersuchungen anstellen zu konnen, eine bis dahin unerhorte Empsindlichkeit. Was in einem Nerven vorgeht, wenn er, durch einen Reiz in
den thatigen Zustand versetzt, im Muskel Zusammenziehung, im Gehirn Empsindung veranlaBt, das war von jeher eines der groBten Rathsel der Physiologie gewesen. Die Alten hatten von Nerven- oder Lebensgeistern
gesprochen, welche von den Nerven in die Muskeln einstromen und sie ausblahen. Das sogenannte „Nervenprineip" war nichts als ein Wort, ein leerer Schall, bei dem sich Niemand etwas denken konnte, oder ein anderer
Name stir jene alten Kobolde. Nun lehrte du Bois-Reymond, daB in dem thatigen Nerven, an dem man bisher keine Veranderung sehen oder sonstwie hatte wahrnehmen konnen, etwas vorgehen miisse, was mit einer
Aenderung seiner elektrischen Eigenschasten verbunden ist. Er zeigte, daB man diese Aenderung durch Bewegungen der kleinsten Theile (Molekiile) des Nerven darstellen konne, ahnlich wie man die magnetischen
Erscheinungen an einem Eisenstab als Lageveranderungen seiner kleinsten Theilchen darstellt. Der Vorgang der Nerventhatigkeit war damit in den Borstellungskreis geriickt, der auch andere physikalische Vorgange
umsaBt, er war seines mystischen Charakters entkleidet. Aber die neu gewonnene ErkenntniB hatte auch noch andere wichtige Folgen. Bis dahin hatte mau, ob ein Nero thatig sei oder nicht, nur an seiner Wirkung aus einen
Muskel oder aus das Gehirn sehen konnen. Ietzt war man davon unabhangig. Man konnte an dem isolirten Nerven selbst operiren, der an ihn angelegte Multiplieator zeigte durch seine Aenderung an, daB im Nerven etwas
vorgehe. Sosort machte du Bois-Reymond eine wichtige Nutzanwendung von diesem Unter suchungsmittel. Man wuBte, daB es zweierlei Nerven gebe, solche, die nur aus den Muskel wirken, und solche, die nur aus das
Gehirn wirken und dort Empsindungen und Vorstellungen hervorrusen. Liegt das nun daran, daB ein Reiz in der einen Nervenart nur nach der Peripherie zum Muskel, in der andern nur nach dem Centrum zum Gehirn
sortgeleitet werden kann? Der Multiplieator lehrte, daB dies nicht der Fall sei, und die weitere Erklarung muB mit dieser Thatsache rechnen. Noch mehr Aussehen vielleicht, wenigstens bei den Nichtphysiologen, machte
du Bois-Reymonds Versuch, die elektrischen Veranderungen bei der Muskelthatigkeit am Menschen nachzuweisen, indem er zeigte, wie der Mensch durch die Macht seines Willens die Magnetnadel eines Multiplieators
abzulenken im Stande ist.
Als du Bois-Reymond seine Untersuchungen begann, waren die Methoden noch sehr unvollkommen. Er muBte sie sast alle erst selbst schaffen und im Lause der langen Zeit hat er sie dann mannichsach verandert und
stetig verbessert. Es gibt kaum einen namhasten Fortschritt in dieser Hinsicht, der nicht von ihm selbst herruhrte. Unter diesen Umstanden konnte auch das Thatsachliche nicht ganz unberuhrt bleiben. Mit seinen sruhern
Vorrichtungen sand du Bois-Reymond an jedem srischen Muskel stets und ohne Ausnahme regelmaBig angeordnete elektrische Strome. Spater zeigten sich Ausnahmen; ein Muskel, mit moglichster Sorgsalt unversehrt
erhalten, zeigt hausig gar keinen oder nur einen sehr schwachen Strom, derselbe tritt aber sosort hervor, wenn man den Muskel anschneidet oder atzt oder sonst aus irgend eine Weise verletzt. Aus dieser, von du Bois selbst
gesundenen Thatsache haben nun verschiedene Forscher geschlossen, daB unversehrte Muskeln iiberhaupt niemals Strome geben, daB die von ihnen erhaltenen Strome stets erst Folge der Verletzung seien. Die Frage,
soweit sie das rein Thatsachliche betrifft, kann man als eine offene bezeichnen. Zwingende Beweise stir die eine oder andere Meinung sind bisher nicht gegeben worden. Ihre Bedeutung stir den eigentlichen Kern der
Angelegenheit ist aber von jenen Forschern zu hoch angeschlagen worden. Iedensalls ist die Frage mit Unrecht in Beziehung gesetzt worden zu der von du Bois-Reymond entwickelten Hypothese iiber die Ursachen der
auBerlich an den Muskeln und Nerven nachweisbaren Strome. Iene Hypothese gibt von alien bisher bekannt gewordenen Erscheinungen ungezwungen Rechenschast, und mehr kann und soil eine Hypothese nicht leisten.
Der Rus von diesen Entdeckungen machte du Bois-Reymond mit einem Schlage zu einem der beruhmtesten Physiologen. Ein Gebiet, welches bis dahin der Tummelplatz oberflachlichen Dilettantismus gewesen, war
durch sein Verdienst exaeter wissenschastlicher Ersorschung erschlossen. Diejenigen, welche zuerst unglaubig gewesen waren und seine Forschungen stir ebenso oberslachlich gehalten hatten, als was bis dahin im Gebiet
der thierischen Elektrieitat zu Tage gesordert worden war, wurden bald eines Bessern belehrt. Der Altmeister der Natursorscher, Alexander v. Humboldt, kam selbst in des jungen Gelehrten bescheidene Wohnung und lieB
sich dort alle Versuche zeigen. 1850 ging dieser nach Paris und zeigte dort dieselben einer von der Akademie der Wissenschasten niedergesetzten Commission, welche sich von der Richtigkeit derselben iiberzeugte. Nach
Berlin zuruckgekehrt, wurde er, aus Humboldts und Iohannes Miillers Vorschlag, zum Mitglied der preuBischen Akademie der Wissenschasten gewahlt, deren bestandiger Seeretar er seit 1867 ist. 1852 ging er nach
London, um auch dort Vortrage zu halten und seine Versuche zu zeigen. Er wiederholte diese Reisen 1855 und 1866 aus Einladung der Royal Institution. Im Iahre 1855 wurde er zum auBerordentlichen Prosessor an der
Berliner Universitat ernannt, 1858 nach Ioh. Miillers Tode wurde er dessen Nachsolger aus dem Lehrstuhl der Physiologie, den er noch jetzt iune hat. In diesen Stellungen hat er sich ganz besondere Verdienste um die
Methoden des Unterrichts erworben. Es war sein Bestreben, den Schulern die schwierige Aussassung der verwickelten Erscheinungen moglichst zu erleichtern. Darum verwendet er groBe Sorgsalt aus die Erlauterung des
Vortrags durch Wandtaseln, welche er in groBer Zahl hat sertigen lassen, sowie aus die Anstellung von Vorlesungsversuchen in moglichst anschaulicher Form. Eingreisender aber noch ist seine Wirksamkeit als Lehrer im
Laboratorium, wo er, wie schon erwahnt, eine groBe Zahl von jiingeren Gelehrten in die Methoden der Forschung eingesuhrt hat. Die Menge und das Gewicht der aus diesem Laboratorium hervorgegangenen Arbeiten ist
um so wunderbarer, als dasselbe aus das Diirstigste eingerichtet war. Aber man lernte bei du Bois-Reymond auch, sich mit kleinen Mitteln einrichten, aus Holzstabchen, Kork und Glas Apparate eonstruiren, die dann spater
ost in eleganter Ausstattung nachgemacht wurden, wenn die Arbeit langst vollendet war.
Wenn du Bois-Reymond zunachst auch nur die elektrischen Erscheinungen an Muskeln nnd Nerven ersorscht hatte, so waren diese Untersuchungen doch noch in weiterem Sinne stir die gesammte Physiologie sruchtbar.
Gleichzeitig mit seinen Studien hatte Eduard Weber in Leipzigdie mechanischen Verhaltnisse der Muskelzusammenziehung ersorscht. Weber hatte mit unvollkommenen Hulssmitteln gearbeitet. Durch die verbesserten
Apparate, welche du Bois-Reymond einsuhrte, nahm dieser neue Zweig der Physiologie einen ungeahnten Ausschwung. Helmholtz wandte sich demselben zu, von alien Seiten kamen Schuler herbeigestromt, welche unter
du Bois-Reymonds Leitung an demselben arbeiteten, und heute gehort die von ihm eigentlich erst neubegriindete allgemeine Physiologie der Nerven und Muskeln zu den bestbearbeiteten Theilen der ganzen Physiologie.
Aber auch iiber dieselbe hinaus erstreckte sich seine Wirksamkeit. Alle Zweige der Physiologie und die praktische Mediein haben von ihr Nutzen gezogen. Wichtige Ausgaben der Physik sind von ihm theils selbst
bearbeitet worden, theils hat er den AnstoB dazu gegeben. Mit groBem mechanischen Talent ausgestattet, hat er iiberall, wo er Hand anlegte, neue Methoden ersonnen, Apparate erdacht, welche sichere Beobachtung
ermoglichten, wo bis dahin nur unsicheres Umhertasten moglich war. Seine vielseitige Thatigkeit machte ihn daher unter den Physikern ebenso bekannt und beriihmt als unter den Physiologen. Er war einer der Griinder
und viele Iahre hindurch Vorsitzender der Berliner physikalischen Gesellschast. Zahlreiche andere gelehrte Gesellschasten und Akademien, darunter die von Gottingen, Miinchen, Wien, Upsala, London, haben ihn zu ihrem
auswartigen bez. Ehrenmitgliede ernannt. Es wurden ihm ehrenvolle Antrage zur Wirksamkeit im Auslande gemacht, welche er jedoch ausschlug, um seine Kraste dem Vaterlande zu widmen und das, was er als seine
Lebensausgabe betrachtet, zu vollenden: die Einrichtung eines mit alien Mitteln der Forschung ausgestatteten, alle Zweige der LebensWissenschast umsassenden Instituts. Der Bau desselben ist seit Kurzem vollendet, mit
der inneren Einrichtung ist er noch beschastigt. Seit seiner Ernennung zum ordentlichen Prosessor im Iahre 1858 war dieser Bau in Aussicht genommen, aber erst siinszehn Iahre spater ging man an die Aussuhrung. Ietzt
ist das neue physiologische Institut zu Berlin wol das groBte und besteingerichtete der Welt. Moge viel ErsprieBliches stir die Wissenschast aus ihm hervorgehen!
Neben seiner streng sachmannischen Thatigkeit hat du Bois-Reymond auch aus andern Gebieten des Wissens als Redner und Schriststeller Hervorragendes geleistet. In der Auseinandersetzung allgemeiner Prineipien und
der Behandlung von Ausgaben aus der Geschichte der Wissenschast ist er von keinem Schriststeller ubertroffen worden. Wahrend er bei Mittheilung der Ergebnisse seiner Untersuchungen den Leser mit peinlicher
Genauigkeit durch alle Windungen des von ihm zuriickgelegten Weges siihrt, keinen Einwurs iibergeht, den man vielleicht machen konnte, Kleines und GroBes mit gleicher Grundlichkeit erortert und, jedes Fiir und Wider
angstlich abwagend, hausig erst aus groBen Umwegen an das vorgesteckte Ziel gelangt, siihrt er in seinen Arbeiten allgemeineren Inhalts den Leser durch eine Reihe anziehender Gedanken, gleichsam wie aus den
verschlungenen Psaden eines Lustgartens, hier und da Ausblicke aus schone Punkte eroffnend, dem Ziele zu, welches dann plotzlich dem uberraschten Blick in voller Scharse und Klarheit und in schonster Beleuchtung sich
enthullt. Dabei kommt ihm seine vielseitige KenntniB der verschiedensten Wissenschasten und seine staimenswerthe Belesenheit in den Literaturen sast aller Volker zu Hiilse. Seine Sprache ist markig, voll edlem
Schwung, der sich hausig zum Pathos steigert, seine Darstellung klar und durchsichtig. Wahrend sein Stil in den sruheren Schristen zuweilen etwas Gesuchtes und Gezwungenes hatte, ist er im Lause der Iahre immer
sreier und vollkommener geworden, so daB du Bois-Reymond jetzt den besten deutschen Schriststellern zugezahlt werden kann. In seiner Sprache macht sich ubrigens die sranzosische Erziehung, und nicht zu ihrem
Nachtheil, geltend; besonders tritt dies in der strengen Gliederung des Satzbaues hervor, welcher im Deutschen hausig iiber Gebiihr vernachlassigt wird. Auch die englische Sprache und Literatur sind ihm vollig gelausig.
Durch seinen wiederholten langeren Ausenthalt in England und in Folge seiner Vermahlung mit einer in England erzogenen Deutschen hat er die Sitten und Gewohnheiten der drei Nationen vielsach in sich verschmolzen.
In seinen Anschaunngen aber ist du Bois - Revmond durchaus deutsch. Ein edler Patriotismus macht sich in ihnen geltend; seine Rede iiber den deutsch-sranzosischen Krieg, seine verschiedenen Reden zur
Geburtstagsseier des Kaisers, in seiner Eigenschast als Reetor der Universitat oder als Seeretar der Akademie gehalten, geben davon ZeugniB. DaB dieser Patriotismus nicht in das Zerrbild des in neuerer Zeit auch in
Deutschland heimischen Chauvinismus ausartet, wissen die Leser dieser Blatter aus seiner jiingsten Rede iiber das Nationalgesiihl.
Mit groBem Geschick weiB du Bois-Reymond derartigen Gelegenheitsreden stets einen bedeutenden, aus dem auBern AnlaB zwanglos sich ergebenden Inhalt von allgemeinem dauernden Interesse zu geben. Die jahrlich
wiederkehrenden Feiern der Geburtstage Friedrichs des GroBen und ihres Griinders Leibnitz, welche die Akademie durch Festreden eines ihrer bestandigen Seeretare begeht, haben ihm Veranlassung zu einer Reihe von
Studien gegeben, welche, getragen von einer genauen KenntniB der geistigen Regungen jener Zeiten, hochst werthvolle Beitrage zur Geschichte der Wissenschast und Literatur aus der Periode der Ausklarung darstellen.
Voltaire und seine Zeitgenossen, die geistige Taselrunde des Weisen von Sanssouei, haben in ihm einen Schilderer gesunden, welcher nur mit Adols Menzel, dem Maler jener Gestalten, verglichen werden kann. Wie dieser
die korperlichen Erscheinungen wiederbelebt hat, so du BoisReymond die geistigen. Unerschopslich ist der Schatz des Wissens, aus welchem er bei jeder dieser Gelegenheiten immer wieder ein neues Bild aus jener groBen
Zeit uns vorzusuhren vermag, in welcher der Geist des modernen Europas seinen Ursprung hat. Ebenso anregend sind die Gedanken, welche er iiber den Zusammenhang der Leibnitzschen Philosophic mit den modernen
Geistesregungen, besonders auch den in den Naturwissenschasten sich kundgebenden entwickelt hat. Seiten wol wird man bei einem Natursorscher dieses allgemeine Wissen, diese Vertrautheit mit der philosophischen und
schon wissenschastlichen Literatur aller Zeiten und Volker sinden. Ie mehr bei der Entwickelung der Wissenschasten die Arbeitstheilung auch in diesen Platz greist, desto hervorragender sind Erscheinungen wie die du
Bois-Reymonds, bei denen die groBte Vertiesung .in die geringsiigigsten Einzelnheiten eines Fachstudiums mit so allgemeinen, ganz entlegene Gebiete umsassenden grundlichen Kenntnissen sich vereint zeigen.
Auch als popularer Redner und Schriststeller iiber naturwissenschastliche Gegenstande ist du Bois-Reymond ausgetreten, aber verhaltniBmaBig seiten. Ein Vortrag, den er 1851 in der Singakademie iiber „thierische
Bewegung" gehalten hat, ist auch im Druck erschienen. Wiederholten Aussorderungen zu solchen Vortragen wich er aus, weil nach seiner Meinung derartige Vortrage, wenn sie nicht von Versuchen begleitet waren,
nutzlos seien, die Anstellung von Versuchen vor einem groBeren Publikum aber einen nicht zu beschaffenden Apparat ersordere. Wo er als Redner vor einem groBeren Publikum austrat, wahlte er daher lieber Themata von
allgemeinerem Charakter; so sprach er in Leipzig aus der Natursorscherversammlung iiber die Grenzen des Naturerkennens, so in Koln iiber die Beziehungen der Culturgeschichte zur Naturwissenschast. Elstere Rede hat
ihm einen, nur aus MiBverstandniB beruhenden Vorwurs von Seiten Hackels zugezogen. Wer du Bois-Reymond in seinem Wirken und in seinen Werken versolgt, der weiB, daB er vor keinen Consequenzen seines Denkens
zuriickschreckt, daB in ihm die aus der wissenschastlichen Ersorschung der Natur sich ergebenden Lehren einen vor keiner Autoritat sich beugenden Vertheidiger sinden. Aber die Starke des Forschers liegt nach ihm darin,
daB er sich der Grenzen seiner Hiilssmittel bewuBt bleibt. Gleich dem Riesen Antaus ist er unbezwiuglich, so lange er sich aus dem mutterlichen Boden der Thatsachen bewegt und nichts kann ihm widerstehen, was er von
diesem aus mit seinen weittragenden und nimmersehlenden Geschossen zu erreichen vermag. Wenn er aber jenen Boden verlassend sich dem Fluge der Phantasie gar zu willig uberlaBt, konnen ihn die Winde leicht
verschlagen und er gerath in Gesahr, daB ihm die mit schwachem Wachs angeklebten Flugelchen absallen und er schmahlich niederstiirzt wie einstens Iearus.
Zu diesen mehr popularen Leistungen mussen wir aber auch die offentlichen Vorlesungen rechnen, welche er seit einer Reihe von Iahren an der Berliner Universitat in jedem Winter abwechselnd iiber Anthropologic und
iiber „einige neuere Fortschritte der Naturwissenschasten" zu halten pslegt. Bei der glanzenden Darstellung und der Fiille geistvoller Betrachtungen konnte es nicht sehlen, daB der Vortragende immer wieder ein zahlreiches
Publikum nicht bios von Studirenden aller Faeultaten, sondern auch von gereisten Mannern aller Berusskreise um sich versammelt, so daB der groBte Horsaal der Universitat die zustromende Menge kaum zu sassen
vermag, s)
Du Bois-Reymonds auBere Erscheinung ist eine derbe, krastige, von den seinen Manieren des Weltmanns gemilderte. Sein robuster Korper (er war stets eiu eisriger Turner und hat seiner Zeit das Barrenturnen gegen die
Angriffe der Leiter der Militarturnschule lebhast vertheidigt) hat alien Anstrengungen krastig widerstanden, nnd ein schmerzhastes Hustleiden, welches ihn vor eiuigeu Iahren besiel, wird hoffentlich keine nachhaltigen
Spuren zuriicklassen. Sein Charakter ist offen, bieder und mannlich; seine Zuvorkommenheit namentlich gegen jiingere Gelehrte unubertrefflich. Seine reichhaltige Bibliothek, sein werthvoller Rath nnd seine thatige
Unterstiitzung werden Iedem, der sich an ihn wendet, stets mit der groBten Bereitwilligkeit zur Versugung gestellt. Politisch bekennt er sich zu gemaBigt liberalen Anschaunngen und hat stets bei Wahlen und anderen
Gelegenheiten thatigen Antheil an ossentlichen Angelegenheiten genommen, ohne jedoch eine politische Rolle spielen zu wollen. In glucklichen Familienverhaltnissen lebt er theils in Berlin, theils, soweit es seine
zahlreichen Amtsgeschaste gestatten, in seinem Landhause bei Potsdam, au der Seite einer ihm ebenburtigen Gattin, im Kreise bluhender Kinder, ein Gelehrter und eiu Burger im besten Sinne des Worts.
*) Eine kleine Anekdote moge hier ihren Platz sinden. Als du Bois-Reymond diese Vorlesungen zum ersten Mai hielt, kam ein junger Wann zu ihm aus's Laboratorium. Er sei ein Schweizer, sagte er, und Student der
Theologie; er habe seine Vorlesung gehort und Lust bekommen, auch die andere iiber Physiologie zu horen; ob er ihm dazu rathen konne? Ter Prosessor sagte, er konne das nicht; denn wenn er erst ansange, Physiologie zu
lernen, wiirde er vielleicht keine Lust mehr haben, Theologe zu bleiben. Der Student ging und kam, soviel ich weiB, nicht in die Vorlesung iiber Physiologie. Dn Bois-Reymond selbst hatte sreilich, als er sich in der
gleichen Lage besand, nicht vorher den betreffenden Prosessor um Rath gesragt. Andernsalls ware vielleicht die Welt jetzt um einen Theologen reicher und um viele Natursorscher armer.
2» hab' ich selbst einmal gesprochen,
Aller Psuscherei den 2tab gebrochen.
Und war doch selber unter der Hand
Ein gottvergniigter Dilettant,
Den's hochlich auserbaut, zu Zeiten
3ein steckenvserdlein srisch zu reiten.
Noch denkst du wol der Tage, Freund,
Da wir selband herumgestreunt
In Thurings Verg- und waldgeheg,
All wo dir kund sind weg und 2teg,
Und wie wir ost im Griinen saBen,
Ueberm Kritzeln 2peis' und Crank vergaBen,
Ein Vrockchen Fels, ein alt Gemauer
Hinstrichelten mit heil'gem Feuer
In jenes Buchlein schlank und schmachtig,
Das du erstanden wohlbedachtig
In Jena neben Frommann's Haus,
2ah wie ein 2chulerschreibhest aus,
Vlau der Umschlag und diinn die Vlatter,
Doch wir in gut' und schlechtem wetter
Erprobten dran mit leidenschast
Unsre verstohlne Kunstlerkrast,
Fanden auch nichts Kurioses dran,
DaB Einer macht, was er nicht kann.
Ach, wenn in Ferien dann und wann, wer einer Kunst sich zugeschworen, <vder sonst ein schwer Geschast erkoren, In andern sreien Kunsten psuscht, Flote blast oder Vildlein tuscht, Niemand zur last, sich zum
Vergnugen Zumal aus einsamen wanderzugen, soli man nicht gleich so hitzig lastern. sind doch die Musen liebe schwestern. Fiihrt man die Eine heim als Frau, sie nimmt's wol einmal nicht genau, wird lachelnd durch die
Finger sehn, Thut man mit einer schwagerin schon, Da es ja in der Familie bleibt: Dasern man's nur in Zuchten treibt, Mit seinem stillen Dilettiren Nicht vor den leuten will renommiren.
so hab' ich's all mein Tag getrieben, Ist mir darum auch sern geblieben Das Naserumpsen und hohnisch lachen, wenn's Andre eben nicht anders machen. Ja oft empsand ich einen Neid, sah ich die Himmels-seligkeit, womit
ein unbesugt Talent Von hoher schopserlust entbrennt, skizzenbucher zusammenschichtet, Dicke Heste voll liedern dichtet Und wie ein Geiziger, wenn es nachtet, Den angehausten schatz betrachtet. Vlieb's nur dabei!
Doch leider reiBt Die Guten hin ein boser Geist, Dem licht auch endlich zu offenbaren, wie vergniigt sie im Dunkeln waren, Da dann am kalten Vlick der welt Ihr Reichthmn nicht die Vrobe halt. Dann wird der segen
schonster stunden Gezahlt, gewogen, zu leicht ersunden.
Denn jene Zeit ist langst entstohn,
Da ein begnadeter Muttersohn
In seines wesens macht'gem Ring
Die sieben sreien Kunst' umsing,
Und es sich schier von selbst verstand.
DaB eines bildenden Meisters Hand,
Gewohnt den Marmor zu behauen,
Auch miisse wissen ein Haus zn bauen,
Ein Vild zu malen, laute zu schlagen,
In Versen seine liebe zu klagen.
Noch war, von Zweiseln ungehemmt,
Nichts Gottliches dem Menschen sremd,
Und wer dran sein liileuo sand,
ward nicht beschrie'n als Dilettant.
Noch lebten die Kiinste gar vertraglich;
Doch heut verseindeten sie sich klaglich,
schaut Jede eisersiichtig drein,
will ihren Mann siir sich allein,
Ja selbst in eignen Reiches Grenzen
soil er nur durch Beschrankung glanzen
Und sich bornirend sriih und spat
Ausbilden eine „speeialitat" .
wer Vaume malt, soli klugermaBen
Von Menschen seinen Fiirwitz las sen,
wer etwa Novellen lernte schreiben,
Nur ja dein Drama serne bleiben.
Ein Mannesschuster sich nicht erdreisten
Hand anzulegen an weiberleisten.
Doch seit wir iiber die Alpen reis'ten,
Fiihl' ich, o Freund, mich neu genesen
Von manchem deutschen f>edantenwesen,
Daher mich wiederum ungescheut
Mein bischen Psuscherei ersreut,
Und wo sich hinlenkt unser schritt,
wandert das Zeichenbuchlein mit,
Nicht »ie in junger Zeit siirwahr,
wo's manchmal ein Galeotto war
Und etwa mir bei schonen Augen
MuBt« die Thiir zu of men taugen,
Da ein Vittore in Dors und stadt
Unweigerlich sreien Zutritt hat.
Heut kritzl' ich nur mit stillem sinn
Einen schlichten Vusch oder Felsen hin,
Ein Hauschen, Hiittchen, Zaun oder scheuer,
Vorbei die Zeit der Abenteuer,
Die nur zu jungen Jahren passen.
Nichts will ich, als ins Auge s as sen,
was vor mir schwebt wie Eden schon,
Die sanstgewiegten Vergeshoh'n,
strenge Cypres sen, weiche Pinien,
All die Magie von Farb' und linien,
Und was davon ins Viichlein kommt,
Erinnrung nur zu beleben srommt.
Daneben, Geschichten zu erzahlen,
wird's auch nicht an staff age sehlen,
wenn du sie nur zum Reden bring st.
2» suhrt' uns unsre wandrung jiingst Vis weit hinunter gegen die Chore Voriiber an Marie Maggiore. Da wachs't empor eine neue stadt, sechs stock hoch, weiB getiincht und glatt, Gemuthlos widerwart'ge Kasten, Die
nach dem Kopnickerselde paBten. Dazwischen schaut ein Ruinentrumm Verlegen und betriibt sich um Und scheint von naher Zeit zu traumen, wo es nun auch den Platz soil raumen, wir sahn das braune Gemauer winken,
Einen hohlen Zahn mit schartigen Zinken, Dahinter unweit herubersah Die alte Minerva mediea, Auch ein stuck eines Aquaduets. Und gleich mir in den Fingern zuckt's, Als ob hier was zu holen sei. Nun lag ein Huttlein
nebenbei, Dem Alterthum just gegeniiber; (liunco 6i docce las man iiber Der niedern Thiir, und aus der Kiiche Kamen Zwiebel- und lVeingeriiche, wie man's wol kennt in romischen schenken. Dahin wir slugs die schritte
lenken Und bitten, daB man vor die Ihiir Uns ein paar sitze triig' hersiir, Mein f>suschwerk eilig zu beginnen. Ein junges Ehpaar haus'te drinnen, Das eben sein pi-»„A mit salat Und Vrod und wein vollendet hat. Die trugen
zwei sessel vor das Haus, saBen dann selbst zu uns hinaus, Und wahrend stink mein stist sich riihrte, Man eine Zwiesprach zusammen siihrte. Ein Jahr erst waren sie vermahlt, Hatten dies arme Nest erwahlt, weil Niemand
sonst sich dazu sand, Da es langst aus dem Abbruch stand. Die Frau, ein harmlos muntres wesen, war' gar so iibel nicht gewesen, Halt' nur ein wenig waschen gebraucht, so war sie staubig und angeraucht. Ihr Gatte gruBte
mich als Collegen. Er that' einst selber der Malkunst pslegen; Nach solserino hab' er einmal wund mussen liegen im spital
Viel dde wochen und Monden lang,
Da hab' er so aus Herzensdrang
Mit Zeichnen sich die Zeit vertrieben,
Nun sei ihm nur die lust geblieben.
Er konn' an diesen Vergen dort
2ich nimmer satt sehn sort und sort.
Ich sollt' nur sein die zwei Erpressen
Dort aus dein Hiigel nicht vergessen.
Gut sei's, daB doch ein Abbild bliebe,
wenn hier der Neubau sie vertriebe.
Er selber hab's versucht; doch sei
Es ihm zu schwer, er sag' es srei.
2« plauderten ein stundlein wir
In guter Freundschast alle Oier.
so still und lieblich war der Vrt,
2o lenzhast schien die 2onne dort
2ch«n in des Februars Veginne — ,
Es ward uns wunderwoh! zu sinne.
Und als mein 2kizzchen nun vollbracht —
Eilsertig, wie's ein 2tiimper macht —
MuBt' ich mit meiner lieben Frauen
Das Huttlein auch von innen schauen.
Da war nun Alles nach landesbrauch
Gar diirstig, fahl, voll RuB und Rauch,
Der Tisch am Herde schlecht und recht,
Ein Riesen-Fiaseo in 2trohgeslecht,
Nur wenig Hausrath rings umher,
Als stammt' er noch von den Cagen her.
Da Hannibal vor den Choren stand.
Doch hinter der schwarzen Bretterwand
Chat sich noch aus ein Kammerlein,
Da suhrt das f>aar uns stolz hinein,
war zwar nichts Uostlich's dran zu sehn,
Kaum silatz, sich nur herumzudrehn,
Ein Vett mit strohsack, vielgefiickt.
Doch wie wir sorschend umgeblickt,
2ahn wir die armen wande rings.
Die schiese Decke rechts und links
Capeziert mit Vildern allerhand,
sammtlich von Einer schweren Hand
Mit bunten Htisten iibermalt.
Unseres wirthes Auge strahlt,
Da er uns seine werke wies.
„Rcco! Das Eapitol ist dies,
Und dies der Hasen von Criest:
Auch dies sich wol erkennen laBt,
Die spanische Treppe stellt es vor,
Und dies den lateran, signor,
Und dies — und dies 2ind arme 2achen,
Und war doch lustig, sie zu machen."
wir aber standen und staunten machtig,
Velobten Alles gar andachtig
Und sprachen unter uns: Es heiBt
In wahrheit „2elig, die arm am Geist."
Der biedre Dilettant, ich wette,
Erwacht er sriih in seinem Vette
Und sieht ringsum an Deck' und wand
Die bunte schopsung seiner Land,
Nicht Rasael war so selig, da
Ihm vorgeschwebt die Disputa.
Und also schieden wir. Der Gute
wunscht' meinem weib dunn» salute,
seitdem, seh' ich mein Viichlein an,
Hab' ich auch meine Freude dran
Und spreche getrost: 2ind arme 2achen,
Und war doch lustig, sie zu machen.
Rom, ll,Februar 1878.
An die zu Hause Gebliebenen.
Ja, gesteht nur: dann und wann
Neidet ihr uns doch ein wenig,
DaB wir erst den Ehrenmann
Veigesetzt, den guten Konig,
Und nach kurzer Tage Frist
Thut der Papst uns den Gesallen,
(Fleisch ist Heu! ruft der psalmist)
Ihm ins Jenseits nachzuwallen.
wer doch in sanet Peter stehn,
wer doch miterleben konnte,
wenn sie just in seene gehn,
welthistorische Momente.
2chwebt nicht ob der ew'gen 2tadt
Ein erhaben banges Trauern,
Da sie beide Fursten hat
Eingesargt in ihren Mauern? —
Ach, die ew'ge stadt erwies
GroBern schon die letzte Ehre,
1st zu alt, als daB ihr dies
Neue Grab so wichtig ware.
Und die welt — sie ist auch hier
Nur der GroBen Kammerdiener:
wer zu nah verkehrt mit ihr,
Nimmer ihr als Held erschien er.
Nur der Feme Zauberdust
wird uns die Gestalt verklaren.
Einen schritt von ihrer Gruft
pslegt man kiihler sie zu ehren.
Zwar bei dieses Konigs Tod
Zuckt' es durch des Reiches Glieder:
2eines Volkes Gliick und Noth
Trug er mit, getreu und bieder:
Heilig kaum, doch sest an sinn,
Vaterlich, ein Freund und Rather,
Und beweint ging er dahin,
wer beweint den heil'gen Vater?
Da er lag im Todesgraus
Ringend, mit entsarbtem Munde,
Machten wir in seinem Hans
schaubegierig noch die Runde.
Ganz wie sonst im Vatiean
Durch die schweizer, Vsaffen, schranzen
stieg die Fremdenschaar hinan
Zur sistina und den stanzen.
Und doch wuBt' es alle welt:
Heut noch unter diesem Dache
Athmet aus der Glaubensheld,
Der verwegne, blinde, schwache.
wohl herab vom Vetersdom
Klagt' um ihn ein ernst Gelaute,
Doch gelassen sagte Rom:
Also wirklich? starb er heute? —
Junge Vsafflein, dichtgereiht,
Die im Grunen sich ergingen,
sahn wir, wie zu andrer Zeit,
Munter wie die Vocklein springen.
Ihr, da euch die Mar von sern
Zugeblitzt der Drath, der rasche,
wahntet, um den alten Herrn
Craure Rom in sack und Asche.
Ach, von seinem Gnadenschatz
sollt' er wenig Dank ersahren,
Raumt nun unbeklagt den Platz
Einem neuen Unsehlbaren.
Zwar, da sie ihn ausgebahrt
In der 2acramentskapelle,
wogt die Volksfiut buntgeschaart
Um des hohen Tempels schwelle.
Vlode Neugier, lachen, schrei'n —
Und so sind die Menschenwogen
Zu dem Katasalk hinein
Nach dem Gitterthor gezogen.
Rothgekleidet, rothbemutzt,
Rothbehandschuht lag die leiche,
Kerzenschimmeruberblitzt
Das Gesicht, das wachsernbleiche.
Um die wangengrubchen schier
Zuckt' s wie ein ironisch lachen,
Gleich als sprach' er: Rinder, ihr
Creibt auch gar zu tolle 2achen.
war's genug des wahnsinns doch, lebend mich als Gott zu gruBen. MiiBt ihr meiner leiche noch Vrunstig den Pantoffel kussen? —
Doch die wache mahnt und rust
Ihr ,-lvHnti! ins Gedrange,
Und hinaus in bessre lust
Retten wir uns aus der Enge.
Ruhig ist die ew'ge stadt.
Doch ein Kiesel, den man leise
In den sumps ge worsen hat,
MuB erregen Kreis um Kreise.
Unser Dienst im Hause ward
Anvertraut zwei wackren schwestern,
Ungleich an Gemuth und Art,
so im lieben wie im lastern.
Unsre sromme Meniea
Hat's dem Konig nie vergeben,
DaB der Papst — so heiBt es ja —
Diirstig muBt' im Kerker leben.
Denn sie wusch die wasche lang
Fur ein uralt Nonnenkloster.
DaB gesprengt der Klosterzwang,
Macht die Gute nur erbos'ter.
MuB sie doch, seitdem so laut
Mit dem einigen Reich sie prahlen,
Von dem Weinberg, den sie baut,
Vierzehn scudi steuern zahlen. ,
Als der Zug zu Grabe wallt' ,
Horte man sie triumphiren:
seht, er muBte schon so bald
Den gestohlnen Thron verlieren! —
Doch der Psaffen list und Crug
2ah die sch wester, die Giovanna,
Dauchte sich zu gut und klug,
Mitzusingen ihr Hosiannah.
Da nun auch der Papst verschied.
Riihrt' es kaum die Giovannina,
wahrend auBer sich gerieth
Meniea die Papalina.
Und der Himmel sah betriibt,
wie die sch western sich entzweiten,
Aber denen, die er liebt,
Pslegt er Priisung zu bereiten.
Nach sanet Peter sriih am Tag
Ging Giovanna mit der Menge,
wo der heil'ge Vater lag,
Mitzugaffen im Gedrange.
wie sie dann nach Hause kam,
weinend klagte sie es Allen:
Aus dem einen Vhr — o Gram! —
war der Goldreis ihr entsallen.
Und sie sucht' und sorschte viel,
Doch das Kleinod blieb verschwunden,
Rasch zertreten im Gewiihl,
<l)der — allzu gut gesunden.
Und sie siihlt Gewissensbrand,
war's ihr doch so vorgekommen,
Pio nono's Geisterhand
Habe sie beim Vhr genommen.
Vord und Siid. vr, 17. 13
Doch die schwester sprach kein wort,
Ging — zum zweitenmal naturlich —
Nach sanet f>eter, wollte dort
Knien und beten, wie gebiihrlich;
Aber von Giovanna lieB
Cuch und schleier sie sich borgen,
Denn die Tramontane blies
Ungelind an jenem Morgen.
Und sie sah von schmerz entstammt
Durch das Gitter, kiiBte wieder
Des Pantoffels rotten sammt,
Kniete dann in Andacht nieder.
wie den Vlick sie niederschlug,
Ganz in ihr Gebet versunken —
plotzlich aus Giovanna' s Tuch
Glanzt es wie ein goldner Funken.
Ja, er ist's, Giovanna's Ring!
Der der Ketzerin entschwunden,
Hat sich aus des Himmels wink
Zu der Glaub'gen heimgesunden.
Denk nur! rust sie gluhend, da
2ie nach Haus zur schwester kehrte,
welch ein wunder mir geschah,
weil ich stets den f>apst verehrte!
Deinem Konig — nimmerdar
Konnt' ihm solch ein werk gelingen,
weil er viel zu haBlich war,
Um ein wunder zu vollbringen.
wirst du jetzt noch ungescheut
Unsre heil'ge Kirche lastern? —
Doch Giovanna schweigt seit heut,
Und versohnt sind nun die sch western.
wunder nimmt mich's, daB sosort GroBres nicht daraus hervorging. Konnte nicht ein wallsahrtsort HeiBen: „Zum verlornen Vhrring"? Rom, 16. Februar 1878.
Die Veurtheilung der Volker.
Von
Friedrich Katze».
— Miinchen. —
I.
sseder ehrliche Reisende, dem es darum zu thun ist, Eindriicke von Landern und Volkern, die er besucht, mit Treue und Gerechtigkeit in sich auszunehmen, um sie Anderen mitzutheilen, sei es zur Ergotzung oder zur
Belehrung, erblickt seine schwerste und verantwortungsvollste Ausgabe in der Beurtheilung der Volkscharaktere. Ie gewissenhaster er ist, um so klarer sieht er die Schwierigkeiten in dieser Unternehmung und ich habe sehr
intelligente und ers«hrene Beobachter gekannt, welche an der Moglichkeit verzweiselten, jemals ein vollkommen richtiges Charakterbild eines Volkes zu entwersen. In der That, wenn es, wie man sagt, den Geist eines
Philosophen braucht, um den Charakter eines Menschen zu ersassen und die Seele eines Dichters, um denselben zu zeichnen, was muB erst Dem nothig sein, der einem ganzen Volke gegeniibertritt und der gerecht werden
will der ganzen auBeren Mannichsaltigkeit und dem inneren Reichthum dieses hochst veranderlichen, organisch wachsenden und im Wachsen bestandig absterbenden und nen sich verjiingenden Wesens, das wir Volk
nennen? Ich sinde eine sehr tressende Beschreibung der Erwagungen, die einem ernsten Geist gegeniiber diesen Ausgaben sich ausdrangen, in dem Entwurs eines Charakterbildes von Nordamerika von der Hand Harriet
Martineaus, das gewiB zu den treuesteu und fleiBigsten gehort, die jemals gezeichnet wurden. „So ost ich," sagt die Dame, „einem halben Dutzend unvereinbarer, aber achtungswerther Meinungen iiber einen und denselben
Streitpunkt der Politik begegnete, so ost eben so viele verschiedene und doch in gutem Glauben gegebene Berichte iiber eine und dieselbe Thatsache mir erstattet wurden, so ost ein Ausleuchten von Freude iiber den
Gewinn irgend einer wichtigen Einsicht, welchen vielleicht ein trivialer Zusall vermittelte, sich in den Schmerz der Resignation verwandelte bei dem Gedanken, wie viel da verborgen bleiben muBte, wo schon dieser
gelegentliche Einblick so viel enthullte; so ost ich das Gesiihl hatte, mit der Geringsugigkeit meiner Kenntnisse und dem Schwanken meiner Ueberzeugungen in der Hand unbeherrschbarer Einslusse zu sein, bald hier- bald
dorthin abgelenkt zu werden durch die widerstreitenden Strome der Meinungen, die mir begegneten, so daB ich manchmal mich vergleichen muBte mit einem Forscher, der die Erde aus dem Schiffchen eines Lustballons
iiberblickt bei keinem anderen Lichte als dem der Sterne iiber ihm — ebenso ost war ich geneigt, der Ausgabe der Verallgemeinerung dessen, was ich sah und horte, vollstandig zu entsagen. In den weniger bedrangten
Intervallen siihlte ich indessen, daB dies unrichtig gehandelt sein wiirde, denn die Menschen werden nie zu einer KenntniB von einander gelangen, wenn die, welche die Moglichkeit der Beobachtung in sremden Landen
haben, sich weigern, Bericht zu erstatten iiber das, was sie gelernt zu haben glauben oder, wenn dies nicht, so doch das Material vorzulegen, welches sie gesammelt haben, aus welches sie sich aber scheuen Theorien
auszubauen oder weittragende Schlusse zu begriinden."*) A Man versteht diese Scheu, denn wie breit miissen allerdings nicht bios die Fahigkeiten, sondern vor allem aiich die Sympathien sein, welche ein Volk in seinen so
ungemein vielsaltigen AeuBerungen verstehen wollen! In wie vieles und vielerlei muB der Beurtheiler sich hineindenken, mit wie Vielen mitsuhlen konnen! Er sollte die Wege in Dichters Lande wissen, sollte jetzt dem
Flug des kunstlerischen Genius solgen, jetzt im Staub und Rauch des alltaglichen Lebens den wirthschastlichen Erscheinungen nachgehen; die dumpsen und einsormigen Lebensbedingungen der Massen soli er nicht
weniger zu verstehen trachten als die meteorische, iiber unser mittleres MenschenmaB hinausstrebende Bahn der Helden. Und dann die praktischen Schwierigkeiten, nicht alles, denn das ist unmoglich, aber doch moglichst
viel mit eigenen Sinnen zu ersahren! Man wiirde in der That, alle Ansorderungen stellend, endlich zu dem Schlusse kommen, daB nur ein umsassender Genius, etwa von Goetheschem Typus, dieselben zu ersullen
vermochte, wenn nicht die praktische Notwendigkeit uns ermahnte, den MaBstab nicht in's Unmogliche zu verlangern. Ich will, um diese praktische Notwendigkeit anzudeuten, nicht an die landlausigen Urtheile erinnern,
die ein Volk iiber das andere sallt, denn das sind im besten Fall witzige Variationen iiber irgend einen Splitter von Wahrheit. Aber wenn man sieht, wie mitten in der Praeision des Ausdruckes und der Angaben iiber das
Physische, das Geschichtliche, die Wirtschast eines Volkes, welche man neuerdings in unseren besseren Handbuchern der Geographie zu sinden gewohnt ist, willkurlich
*) U»riiet Hlai-tiueau, Looiet)- in Huieriea 1837. 1. VII.
gewahlte Citate aus manchmal schon Menschenalter hinter uns liegenden Reisewerken, Beobachtungen, die einseitig gesaBt sind, damit sie blendend oder pikant erscheinen u. dgl., als Beitrage zur Volkerbeurtheilung
stehen, und wenn dies alles ist, was in solchen Werken iiber die Volkscharaktere gesagt wird, so erschrickt man iiber solche Leere. Es macht den Eindruck einer Brombeerhecke, welche man aus Capriee mitten in einem
wohlgepflegten Feld hat stehen lassen, und man hat das Gesiihl, als miisse man gleich Hand anlegen, um Ordnung zu schaffen. Und hier ware es doch, wo man erwarten diirfte, AusschluB zu sinden iiber das innere Wesen
der Volker, da ohne ihn die Schilderung, die ein solches Buch sich vorsetzt, nie vollstandig sein kann. Aber was man gibt, sind im besten Falle Charakterzuge ohne Zusammenhang. Wer hat, um ein Beispiel zu nennen, je
in einem solchen Werke auch nur den Versuch einer Erklarung des Widerspruches gesunden, den die Oberflache des englischen Lebens mit seiner Freiheit in vielen und seiner unerklarlichen Gebundenheit in nicht wenigen
Dingen bietet?
Es ist moglich, daB die Furcht vor der GroBe der Ausgabe diese Unvollkommenheit der Anlause zur Volkerbeurtheilung zu einem guten Theile verschuldet. Man hat Beispiele genug von der retardirenden Wirkung,
welche eine gewisse Zaghastigkeit im Ansassen der Dinge aus den Fortschritt der ErkenntniB iibt. Iedensalls wiirde es, da eine gewisse Entschlossenheit des Ansassens auch der schwierigsten Ausgaben mit zu den
Vorbedingungen der Gewinnung von ErkenntniB gehort, weit gesehlt sein, wenn man sich nur und immer wieder die Schwierigkeiten der Sache vorstellen wollte, um so mehr gesehlt, als dann diese Probleme dennoch nicht
immer vollstandig bei Seite liegen gelassen, sondern wenigstens betrachtet und besprochen, aber im Gesiihl, daB sie doch nie zu losen seien, wahrscheinlich mit einer Oberflachlichkeit betrachtet und besprochen werden,
welche schlimmer ist als der ungeschickteste Versuch eines ernstgemeinten Nahertretend Man kann sogar sagen, daB in manchen Beziehungen die Menschen in Masse wieder leichter zu sassen sind als die Einzelnen. Ein
Volk ist vor allem nie verschlossen und bietet in der groBartigen Unmittelbarkeit seiner AeuBerungen viel mehr Punkte, an denen man ihm nahekommen kann. In die weit offenen Biicher seines literarischen und
wissenschastlichen Lebens und aus die weit sichtbaren Gedenksteine seiner Geschichte zeichnet es mit der moglichsten Unbesangenheit das Wesen seines Geistes und aus den Allen zuganglichen Markten seines
offentlichen Lebens zeigen die Helden und die Massen ohne Maske, was sie wollen und konnen. Die Schwierigkeit liegt nur im Lesen jener Schrist und im Schatzen dieser Handlungen. Der bedrangende
Erscheinungsreichthum eines Volkslebens erleichtert auch wiederum sein Studium darin, daB die eine Thatsache oft laut ausspricht, was die andere verschweigt, und daB das Licht, welches von einer ausstrahlt, vielleicht
ganze Gruppen erhellt, welche stir
sich im Schatten stehen wiirden. Dem Einzelnen ist mit der Statistik nicht beizukommen, wol aber einer Gesammtheit. Auch ist nicht selten die Volkergeschichte leichter zu ersorschen als die eines Einzelnen und die
Weltgeschichte minder vorgesaBt und einseitig uberliesert als die Biographie.
II.
Die Betatigungen der Volker scheinen sich am naturlichsten in zwei Gruppen theilen zu lassen: in innere und auBere. Die inneren sind aus Erhaltung und Fortbildung, die auBeren aus Wechselwirkung mit anderen
gerichtet. Diese Unterscheidung entspricht derjenigen in vegetative und animalische Thatigkeiten, die wir in jedem organischen Korper als eine von selbst sich ergebende treffen. Wir handeln animalisch, wenn wir schreiten
und es handelt in uns vegetativ, wenn wir verdauen oder wenn unser Herz schlagt. Beiderlei Thatigkeiteu sind innig mit einander verbunden und bedingen einander. Von der Gesundheit des Innern hangt die auBere
Thatigkeit ab bei Volkern wie bei Einzelnen. Nur zum praktischen Zweck der Uebersichtlichkeit kann es gestattet sein, sie von einander zu trennen.
Und wer sind die Trager dieser Thatigkeiten? Die Einzelnen und die Familien: die ersteren vorziiglich der auBeren, die letzteren mehr der inneren. An jenen nimmt ein Geschlecht, das der Manner, sast ausschlieBlich
Theil, an diesen ist die Gesammtheit des Volkes betheiligt. Das Innenleben des Volkes wurzelt in der Familie, in welcher dem groBten Theil jeder Bevolkerung, den Frauen und den Kindern, ihre natiirliche Stellung
angewiesen ist. Die Familie ist die letzte Einheit des inneren Lebens der Volker. Man hat sie jenen lebendigen ElementarOrganismen der Zellen verglichen, aus denen unser Korper und tiberhaupt der aller organischen
Wesen besteht. Lebensmittelpunkte stir sich sind diese Zellen gleichzeitig Trager des Lebens im Gesammtorganismus. Indem jede einzelne von ihnen ihre eigene Entwickelung, ihr Leben, ihr Wachsthum sordert, tragt und
sordert sie Leben und Wachsthnm des Ganzen. Ie vollkommener die einzelne Zelle, das einzelne Klumpchen Protoplasma seine Ausgabe ersiillt, desto vollkommener wird das Leben des Organismus sein. Ie thatiger sich das
Leben im Innern der Zellen regt, desto rascher pulsirt es im Gesammtorganismus. Die Vermehrung der Zellen ist sein Wachsthnm, die Ablosung junger Zellen seine Vermehrung, die AusstoBung alter Zellen bedingt seine
Erneuerung und das Absterben der Zellen bedeutet seinen Tod.
Die Familien sind stir ein Volk, was die Zellen stir den Organismus, die Centren des Lebens, und zwar sind sie es in mehrsachem Sinn: Sie sind die Mittelpunkte, von denen die Erneuerung und Vermehrung des Volkes
ausgeht, sie sind die Sammelpunkte seines wirthschastlichen Lebens und die Statten des wichtigsten Theiles seiner Erziehung. Aus wessen Wunsch und BediirsniB aber als der Frauen beruht die Familie? Wer anders als sie
hat das Wesentlichste an ihr geschaffen und tragt das Meiste zu ihrer Erhaltung bei? Mit groBerem Rechte als den Mannern gebiihrt ihnen der Ruhm, mit der Griindung der Familie am meisten zu den Fundamenten unserer
Cultur beigetragen zu haben. Und wahrscheinlich dars die Bedeutung der Wirksamkeit der Frauen in den Ansangen der Cultur hoher angeschlagen werden als in den spateren sortgeschritteneren Zeiten. Man ist gewohnlich
der entgegengesetzten Meinung, weil der Wirkungskreis der Frauen sich mit dem Fortschreiten der Civilisation immer mehr erweitert hat. Aber hier kommt es nur aus die verhaltniBmaBige, nicht aus die absolute GroBe der
Leistung an, und vielleicht war kein Wendepunkt entscheidender stir das Schicksal der menschlichen Cultur, als jener gliickliche Augenblick, in welchem das Weib zum ersten Mai erkannte, daB sie als Hiiterin der Hiitte
oder Hohle und als Bewahrerin des Feuers besser an ihrem Platze sei denn als Iagerin oder Fischerin. Mit vollem Recht wird gesordert, daB die Stellung der Frau Zimmer in erster Linie betrachtet werde, wenn man ein
Volk beurtheilt. In weitem Sinne ist es wahr, daB wie die Frau, so die Familie, und wie die Familie, so das Volk geartet sei. Ein Volk, das seine Frauen achtet, wird ein inniges Familienleben haben und was der Familie zu
Gute kommt, niitzt unsehlbar der inneren Gesundheit, der guten Erziehung und dem wirthschastlichen Gedeihen. Die niedere Stellung der Frau racht sich im Versall der Familie und des Volkes. Nirgends stehen die Manner
selbst tieser als da, wo sie ihre Frauen ties stellen, diese ziehen sie mit sich herab. Es ist unbezweiselt, daB die Manner aller jener Volker, bei denen die Frauen gedriickt oder zuriickgedrangt feben, Charakterziige an sich
tragen, die man nicht anders als weibisch nennen kann. In Europa sind die Spanier dasjenige Volk, das seine Frauen in der groBten Abgeschlossenheit halt und seine Manner sind, was man auch von ihrem Stolze sabeln
mag, die weibischsten mit ihrer SuBlichkeit und Geziertheit, ihrem Mangel an Tiese, ihrer kurzathmigen Logik, die gegen gehatschelte Leidenschasten nicht Stich halt. Die Orientalen sind selten mannlich im hoheren Sinn.
Krast, Muth, GroBmuth mogen viele Bessere unter ihnen hegen, aber nur das innige Familienleben vermag die Selbstbeschrankung zu erzeugen, welche das Kennzeichen des wahrhast mannlichen Charakters ist und welche
jenem sehr seinen Begriffe der Selbstachtung Ursprung gibt, den wir als MaBstab der Charakterbildung nur bei den sittlichsten Volkern des Abendlandes anlegen konnen. Es ist, beilausig gesagt, merkwiirdig, wie viel
seltener man dieses Wort von Deutschen oder Franzosen als von Englandern anwenden hort; mag auch Gewohnheit mit unterlausen, es ist doch Thatsache, daB der Gentleman, das Produet eines aus das Kleinste sich
erstreckenden ssll-rsspeet. hier weitaus hausiger ist als iiberall dort.
Von der wirtschastlichen Bedeutung der Familie braucht man kaum zu reden, denn sie ist offenkundig und wol nirgends mehr als in Deutschland, wo die wirthschastliche Hauptsunetion derselben, namlich das
Zusammenhalten, das Sparen, bis aus die neueste Zeit eine sast groBere Rolle spielte als das Erwerben. Es liegt indessen aus der Hand, daB auch stir den Erwerb die Familiengriindung einen der hauptsachlichsten Antriebe
bildet.
Mit der Innigkeit des Familienlebens hangen noch zwei Punkte zusammen, welche stir die Volkerbeurtheilung wichtig sind und welche man doch, wenigstens in diesem Zusammenhange, wenig beachtet. Ohne Zweisel
wird der groBe Unterschied im Gemuthsleben der Frau und des Mannes da am scharssten hervortreten, wo die Familie beide nur locker zusammenkniipst, und ebendort wird die stir ein Volk in seiner Gesammtheit nie
heilsame Sonderung der mannlichen und weiblichen Interessen und Tendenzen am tiessten gehen. So ist es gewiB kein Zusall, daB wir den Frauen als machtigen Faetoren in der inneren und auBeren Politik, als Werkzeugen
von Parteien, welche sie zu niitzen wissen vorziiglich da begegnen, wo das Familienleben aus niedriger Stuse steht, wo der hausliche Herd am wenigsten heilig gehalten und der Frau die geringste Achtung gezollt wird.
Findet nicht die Haremspolitik des Orients ihr Gegenstiick in der Beichtstuhlpolitik Spaniens, Frankreichs und anderer uns noch naher gelegener Lander?
Aber die weitest hinausgreisende und gleichzeitig augensalligste Wirkung iibt das Familienleben aus die Coloniengriindung. Man hat in uberseeischen Landen» bluhende und dauerhaste Colonien nur solche Volker
anlegen sehen, welche ein inniges Familienleben pflegen. Ursache und Wirkung liegen da naher beisammen als es vielleicht den Anschein hat. Das Auswandern reiBt den Menschen mit sammt den Wurzeln gemuthlicher
und geistiger Beziehungen und Bedingungen aus seiner Muttererde heraus und die Zeit zwischen diesem Ausgerissenwerden und neuerlichem Wurzelschlagen ist eine gesahrliche Priisungszeit stir seinen Charakter, iiber die
dem Durchschnittsmenschen — und die Coloniengriinder sind in der Regel keine sittlichen Helden — nur der Halt der Familie gliicklich wegzuhelsen vermag. Der Verleitung zur Ziigellosigkeit, den wirthschastlichen
Schwierigkeiten, der Reue des Heimwehes, denen die meisten jungen Colonien versallen, widersteht der Einzelne selten, die Familie in der Regel. Darum ist es von weltgeschichtlicher Bedeutung und hat das Schicksal
eines ganzen Erdtheiles bestimmt, daB die Englander und Deutschen in Nordamerika von Ansang an in Familien einwanderten, wahrend in Mittelund Siidamerika die Spanier und Portugiesen vorwiegend als Einzelne, als
gliicksuchende junge Manner heruberkamen. Iene nordlichen Colonien sind gediehen, die spanischen und portugiesischen sind zuriickgeblieben trotz all ihrer naturlichen Vortheile und sind aus dem sicheren Wege, Denen,
die sie gegriindet, nicht bios politisch, sondern auch wirthschastlich und den Cultureinsliissen nach verloren zu gehen.
In der Innigkeit des Familienlebens sinden wir auch einen MaBstab, aber allerdings einen sehr vorsichtig anzulegenden, stir die Beurtheilung der Sittlichkeit in einem Volke. Keine Eigenschast wird so leicht salsch taxirt
wie diese, in keiner liegt die Moglichkeit der Tauschung so nahe. Wenn schon der moralische Werth des Einzelnen ost selbst von seinen Nachsten nicht richtig abgeschatzt werden kann, wie schwer muB er bei ganzen
Volkern zu wagen sein! Die Heuchelei spielt hier eine Rolle, welche oft der scharssten Analyse spottet, und eine Stimmung, die sich in jedem Fall aus das Schlimmste gesaBt halt, scheint die zu sein, welche sich am Ende
noch am wenigsten der Enttauschung ausgesetzt sehen diirste. Und dennoch sind gerade jene landlausigen pessimistischen Urtheile iiber den Sittenzustand von Volkern, die zusallig anders denken, suhlen oder handeln als
wir, sast immer unrichtig. Wer unter sremden Volkern sich bewegte, kennt die Neigung der Zugewanderten, die Moral des Volkes, in dessen SchooBe sie leben, so dunkel wie moglich zu malen, und solche Urtheile, die
aus moglichst geringer Welt- und MenschenkenntniB basiren, haben ost genug Curs erhalten; bei Licht betrachtet, erheben sie sich aber selten iiber das Niveau philisterhasten Skandalklatsches. Dem Beobachter, der iiber
Taet versiigt, wird vielleicht etwas, das ich „6ffentliches Schamgesiihl" nennen mochte, namlich die seine Empsindung stir das, was erlaubt sein dars und was nicht, der sicherste Leitsaden aus diesem dornigsten Abschnitte
der Volkerbeurtheilung scheinen. Aber der Stand des offentlichen Gewissens ist mit Taet allein nicht zu ermessen, und wenn es auch einem Feinsinnigen in weiter Ausdehnung gelingt, durch die Schale tauschender
Oberslachenerscheinungen nach dem Kerne hin vorzutasten, so laBt die Formulirung des Urtheils um so mehr an Deutlichkeit zu wiinschen iibrig, je groBer das vollstandig berechtigte Bestreben ist, die Abstusungen
zwischen Licht und Schatten in ihrer naturgemaBen Vermitteltheit wiederzugeben. Am meisten ist vor der versruhten Anwendung statistischer Methoden zu warnen. Nachst der Unwissenheit hat nichts aus der Welt eine so
groBe Macht, Vorurtheile zu besestigen, als die Zahlen der Statistik. Die Gesahr, in Vorurtheile zu versallen, ist bei der Sittenstatistik noch groBer als die Aussicht aus Ersolglosigkeit. Die Statistik versahrt gegeniiber den
Thatsachen, die in das Gebiet der Sittenstatistik sallen, in der Regel umgekehrt wie Derjenige versahren muBte, der aus denselben Schliisse zur Volkerbeurtheilung zu ziehen wiinscht: sie saBt die Resultate einer Anzahl von
Ursachen zusammen, wahrend wir darnach streben miissen, sie moglichst anseinanberzuhalten. Ein tieserer Blick in das Familienleben auch nur einer einzigen Classe eines Volkes ist stir den Volkerbeurtheiler gewiB
wichtiger als Bande von Ehen- oder Geburts- oder Prostitutionsstatistiken; sreilich muB er dann etwas mehr verstehen als Zahlen sammeln, addiren und dividiren. Es ist ubrigens schon sehr charakteristisch, daB die
Resultate der Statistif eine auBerordentlich groBe Verschiedenheit unter den Volkern hinsichtlich der Erscheinungen ausweisen, die mit der Sittlichkeit in naherem Zusammenhange stehen, wahrend es umgekehrt immer das
letzte Resultat der Betrachtungen der genialsten vergleichenden Beobachter gewesen ist und voraussichtlich auch bleiben wird, daB die Volker sich in dieser Beziehung viel mehr gleichen als mancher auBere Schein
vermuthen laBt. GewiB siihren manche scheinbar groBe Unterschiede in der Sittlichkeit unserer modernen Culturvolker mehr aus Verschiedenheiten des Gefiihls stir Sitte oder des ossentlichen Schamgesuhls als des
wirklichen Betrages der sittlichen oder unsittlichen Handlungen zuriick.
Der EinsluB der Familie aus die Erziehung des Volkes ist stir Ieden klar, der unter den Fruchten der Iugendbildung die Bildung des Charakters hoher stellt als die Aneignung von Kenntnissen. Es ist allerdings von Werth,
wenn sast jeder verniinstige Mensch lesen, rechnen und schreiben kann, wie es heute in Deutschland der Fall. Das bedars gar keiner Erwahnung. Aber beim Vergleich eines derartig durchgeschulten Volkes mit anderen, die
der allgemeinen Schulpslicht sich nicht ersreuen, will doch ost der Werth derselben erheblich geringer scheinen, als man bei uns selbstgesallig glaubt. Die Bildung des Geistes wird nur da einen tieseren EinsluB aus die
Handlungen der Menschen iiben, wo sie Zeit und Mittel sindet, eine Durchbildung zu werden; ohne diese tiesere Aneignung sind Kenntnisse niitzliche Werkzeuge und weiter nichts. Vom Standpunkt einer vergleichenden
Abschatzung sinden wir ein sest eingepragtes Moralprineip, dessen Keime nur die Familie oder das Leben ties genug in die Seele senken kann, eine ganz zu eigen gemachte Maxime, werth voller als den gesammten
Elementarunterricht, aus dessen Fruchten der gemeine Mann doch herzlich wenig zu machen weiB. Wenn man in New Jork oder in Sydney deutsche und englische Auswanderer zusammen ankommen sieht, merkt man nur
zu wenig von dem Schulzwang, dem die einen unterworsen, und dem Mangel an allem Schulunterricht, dem die anderen ausgesetzt waren; der Deutsche hat eine Linkischkeit, Unselbstandigkeit und Ungeschicktheit, welche
ihm die Schulung nicht nehmen konnte, und den Englander verhindert die mangelnde Schulbildung nicht an der Entsaltung eines Selbstgesiihles, eines praktischen Blickes, einer Sicherheit, welche nicht bios in dieser
kritischen Lage ihm zu Statten kommen, sondern von sriih an ihn durch' s Lebeu begleiten.
Ich behaupte, wir haben tiberhaupt einen viel geringeren Werth in der Beurtheilung der Volker aus Wissen, Wissenschast, Geistesbildung zu legen als man gewohnlich glaubt. Vom prosessionell Wissenden, vorziiglich
vom Gelehrten abgesehen, nehmen wir im gewohnlichen Leben nicht das MaB des Wissens als Dasjenige, nach dem wir die Tiichtigkeit eines Menschen beurtheilen. Wir sehen viel mehr nach der Art, wie er sein Wissen
anwendet; dies entscheidet unser Urtheil und dasselbe muB uns auch bei den Volkern bestimmen. Fiir uns Deutsche ist das eine besonders wichtige Frage, denn kein Volk legt solchen Werth aus das Wissen an und stir sich.
Man merkt uns noch immer an, daB wir Iahrhunderte der politischen und wissenschastlichen Schwache hindurch den Trost stir die Achtung, welche damals andere Volker uns versagten, in der Pflege der Kunst und
vorziiglich der- Wisseuschasten zu suchen hatten. Man muB in dieser Beziehung etwas immer im Auge behalten, was tiberhaupt als allgemeine Regel der Volkerbeurtheilung gelten kann, daB ein Volk immer am meisten
durch jene Leistungen gewinnen wird, deren Friichte es nicht mit anderen zu theilen braucht. An dem Nutzen dessen, was ein Volk weiB nnd was es durch Wissenschastspslege schasst, nimmt die ganze Welt Theil. Ein
einzelnes Volk, das, wie das deutsche, vorziiglich den Wissenschasten sich widmet, hat hauptsachlich nur den idealen Nutzen der Ehre davon. Erst wo unsere Gelehrten Lehrer werden, gereicht ihre Tatigkeit dem eigenen
Volke zu praktischem Nutzen. Es ist ganz so mit Literatur und Kunst. Ihr Werth stir die Menschheit kann ein auBerordentlicher sein, aber ihr Werth stir das Volk, das sie pslegt, beruht in der Zahl von Ideen, Prineipien n.
dgl., die aus ihnen sich in's praktische Leben ubersetzen lassen, kurz gesagt in ihrer Anwendung. Die Dichtungen unserer Minnesanger haben wahrscheinlich das deutsche Volk in keiner Hinsicht erheblich weitergebracht,
weil sie groBentheils Eigenthum einer Classe, eines Theiles des Volkes blieben. Hingegen wird man wichtige Ereignisse in unserem neueren nationalen und nicht bios geistigen Leben nicht richtig beurtheilen, wenn man
nicht die in weiteste Kreise sich erstreckenden Wirkungen einiger unserer neueren Dichter beachtet, und vielleicht hat kein Volk stir sein Leben so viel wirklichen Nutzen gezogen, wie das deutsche aus seinem Schiller.
Priisen wir also ein Volk aus den Nerth seiner geistigen Besitztiimer, so sragen wir nicht in erster Reihe: Wie viel groBe Gelehrte, wie viel hervorragende Dichter und Kiinstler hat es erzeugt, sondern: Wie viel von seinen
Geistes schatzen ist in enrsirsahige Miinze umgesetzt? Wie viel der schonen Schopsungen haben wahre Volkstiimlichkeit erlangt? Merkt man es den Ideen und Handlungen dieses Volkes an, daB ein Schiller und Goethe in
seiner Mitte gewandelt sind? Tragt jenes die Spuren eines Dante, eines Cervantes noch in seinen Ziigen?
Von den geistigen Schatzen eines Volkes, sinde ich, dringt auBerordentlich wenig in tiesere Schichten. Die Sonnenwarme dringt nur wenige FuB ties in die Erde hinein, nur so ties nehmen die Schichten der Erdrinde an
den Schwankungen des Sommers nnd Winters Theil; die taglichen Warmeschwankungen gehen noch weniger ties. Fiir alles, was iiber eine gewisse Tiese hinaus liegt, gibt es weder Sommer noch Tages- noch Iahreszeiten.
So dringen auch die Warmestrahlen der geistigen Sonnen nur wenig ties in die Masse. Nur eine diinne Schicht solgt ihren Bahnen, empsindet ihre Peripetieen mit. Tieser solgt eine Schicht, die nur die groBen Epochen
mitmacht und in der Regel um eine Generation im geistigen Leben zuriick ist. Dariiber hinaus ist's sinster und leer. Wie gering ware, wenn man sie zahlen konnte, die Zahl der Deutschen, die an den Schatzen unserer
Literatur und Kunst, wie viel geringer noch die, welche an den Errungenschasten unserer Forscher theilzunehmen vermogen?
Wo sich aber auch die Fahigkeit sindet, Literatur und Kunst mit zu genieBen, da genieBt man eben nur. Haben jedoch nicht die Geniisse alle das Eigene an sich, daB sie meist keine dauernden Friichte tragen und daB
ihren Fruchten, wenn sie welche tragen, doch nur eine geringe praktische Anwendbarkeit und Verbreitungssahigkeit innewohnt? Was mich Schones begliickt, was GroBes mich entziickt, wie kann ich es Anderen mittheilen,
die nicht ebensalls genieBen und nachempsinden wollen? Das Beste und Verwerthbarste, was ein Mensch in sich tragt, das muB er sich erarbeiten und was darin vom Einzelnen gilt, laBt sich auch von einem Volke im
Ganzen sagen.
Nach alledem dars man der Meinung sein, daB aus das geistige Leben eines Volkes nicht der Ton bei der Beurtheilung zu legen sei, wie aus andere AeuBerungen seines inneren Lebens. Es ist jedensalls geradezu salsch,
daraus, wie es ost geschieht, das Urtheil allein griinden zu wollen. Die Schopsungen groBer Geister sind Bliithen, die ein Stamm nicht alle Iahre treibt und die erst dann hervorkommen, wenn auBer anderen giinstigen
Bedingungen auch die der Ansammlung einer ge wissen inneren, versiigbaren Krast durch langerdauerndes, bluthenloses Wachsthum ersiillt ist. Ost verrathen Stengel und Blatter mehr vom eigentlichen Wesen der Pslanze
als diese sliichtige Erscheinung einer Bliithe, die leicht tauschen kann. Es bleibt immer das Sicherste, zunachst diejenigen AeuBerungen eines Volkes mit aus die Wage zu legen, denen Arbeit zu Grunde liegt. Ein Beispiel:
Spanien macht seit 50 Iahren mitten im Verlaus einer Geschichte, die man nicht, ungliicklicher denken kann, erhebliche Anstrengungen, urn aus der geistigen Verdumpsung herauszukommen, in die sruhere Iahrhunderte es
versenkt hatten. Es ist seit 30 Iahren geistig regsamer als es je seit der Zeit des Cervantes und Calderon gewesen, aber den Stempel groBer Genien tragen seine Produete nicht an sich. Weil stir diese die Stunde noch nicht
geschlagen hat, erkuhnte man sich zu sagen, Spanien sei geistig todt. Vor einiger Zeit blickte ich statt in die karglichen Bande neuspanischer Lyrik und Erzahlungskunst, welche in Madrid gedruckt werden, einmal in die
Spalten der letzten Handelsberichte, wo ich sinde, daB Spaniens Aussuhr in den letzten 50 Iahren sich verachtsacht hat. Hier ist es, wo ich eine Hoffnung ankniipse. Mogen die hoheren, literarisch gebildeten und regsamen
Classen immerhin geistig todt sein, das Volk arbeitet und steigert seine Arbeit, daran ist kein Zweisel, die Zahlen lehren es. Wenn es arbeitet, so daB es erst wieder materiell vorwarts geht, wenn auch langsam, so ist es nicht
verloren und auch die Hoheren werden sicher wieder einmal aus ihrem Schlase erwachen, wenn das Blut aus den arbeitenden Lungen srischer und reicher'nach Kops und Herz der Nation stromen wird. Dieses ist sreilich nur
ein Beispiel. Aber wie weit sowol wir als die Italiener, zwei der in Wissenschast und Kunst thatigsten Volker von Europa, bei all unserem geistigen Erzeugen zuruckgekommen waren, hat die Geschichte nur zu deutlich
gelehrt und es ist wahrscheinlich dann kein Zusall gewesen, daB es gerade die wirthschastlichen Fragen waren, welche in beider nationaler Erneuerung eine so groBe Rolle spielten.
Aus die wirthschastliche Arbeit eines Volkes ist schon darum bei der Veurtheilung so groBes Gewicht zu legen, weil eben an dieser Arbeit Alle theilnehmen. Wenn es sicher ist, was wol nicht bestritten werden kann, daB
Lebens- oder SchaffensauBerungen eines Volkes um so geeigneter sind zur Grundlage unseres Urtheiles zu dienen, von je mehr Gliedern eines Volkes sie getragen werden, so steht die wirthschastliche Thatigkeit, welche
mehr als jede andere das ganze Volk in Anspruch nimmt, in erster Reihe und tritt an Gewicht in der Wage, in der man die Volker wagt, nur hinter der Familie zuriick. Freilich ist dabei nicht die Handelsstatistik nach dem -
j- oder — der Bilanz nachzusehen, sondern die Spareassenstatistik, die Wohn- und Arbeitsweise, die Tabellen iiber den Consum der geistigen Getranke und manches andere der Art ware hier ausmerksamst zu betrachten.
Man diirste sich auch eine Frage erlauben, die merkwurdig selten gestellt wird, namlich: Welcher Schatzung ersreut sich die Arbeit bei denjenigen Standen, die nicht zu arbeiten brauchen? Diese Schatzung bildet einen sehr
wichtigen Theil der Achtung, welche der Arbeit gezollt wird, den Adel der Arbeit. Die Adelung der Arbeit aber kittet die auseinanderstrebenden Classen inniger zusammen als alle Gemeinsamkeit der Geschichte und der
Gesetze. Immer werden die soeialen Consliete innerhalb der Volker um so schwerer sein, je weniger die hoheren Classen an ihrem Theil, in ihrer Sphare sich an der Arbeit betheiligen, deren Last aus das ganze Volk gelegt
ist, die aber von den niedrigen Classen am hartesten empsunden wird.
Wo sinden aber dann die groBen Geisteshelden eines Volkes ihren Platz? Die groBen Dichter, Denker und Kiinstler? Und auch die groBen Staatsmanner? Ist nicht ein Volk, das viele groBe Manner hervorbringt, hoher zu
stellen als eines, das arm an denselben ist? Wird nicht ein Volk auBerordentlich gesordert durch seine groBen Manner? Und ist nicht der MaBstab, den ein Volk an seine GroBen legt, auch gleichzeitig ein MaBstab stir den
Geist, der dieses Volk beseelt? Das Letztere ist unbedingt zuzugeben, denn das alte Sprichwort „Unter Blinden ist der Einaugige Konig" ist nirgends wahrer als hier. Was dagegen das Gewicht betrisst, das die groBen
Manner in die Wagschale der Volkerbeurtheilung wersen, so sollte man gewiB vorsichtiger damit umgehen als man pslegt, denn immer wird die Hausigkeit der groBen Manner in einem Volke abhangig sein von den
Umstanden, unter denen dieses lebt. Es gibt Volker, wo die groBen Staatsmanner Handwerk oder Handel treiben, weil man sie am Steuerruder nicht nothig hat oder weil sie nicht bis zu demselben gelangen konnen, und wo
die groBen Denker hinter dem Psluge gehen oder die Axt schwingen, weil es an den Strahlen sehlt, die ihren Gedankenkeimen zur Bliithe verhelsen konnten. Auch sinden wir, daB alle Volker zu gewissen Zeiten mehr
GroBen hervorbringen als zu anderen und daB meistens das Hervortreten Einer GroBe das anderer bedingt. Man sieht jeden groBen Herrscher von groBen Mannern umgeben, jede groBe Zeit gebiert groBe Manner, selten
leuchtet ein groBes Gestirn allein, sast immer rust es Constellationen hervor. Nur da, wo Volker so groBe Ausgaben zu ersullen haben, daB sie jederzeit bedeutender Kraste benothigt sind, da sehen wir, wenn ich mich so
prosaisch ausdriieken dars, daB bestandig das Angebot der Nachsrage entspricht, und so hat es z. B. in GroBbritannien seit 100 Iahren sast nie an Staatsmannern gesehlt, welche den Stempel wahrer GroBe trugen und der
groBartigen Ausgabe der Regierung eines sreien Landes, das gleichzeitig Weltreich ist, Geniige zu leisten vermochten. Warum gab es sie hier, wahrend andere ebenso groBe und nicht minder begabte Volker vergeblich
nach ihnen seuszten? Warum? Weil die groBen Ausgaben sich ohne UnterlaB in dem machtigen, au mannichsaltigen Interessen reichen Lande stellten und weil die Wege zum Commando und zum Steuer jedwedem
ossenstanden, der Krast und Fahigkeit bewies, diese Wege zu beschreiten. Wenn bei uns in Deutschland die letzten Iahrzehnte des vorigen Iahrhunderts eine ganze Schaar wunderbarer Geistesheroen erstehen sahen, so kann
ich schwer glauben, daB in den 250 Iahren zwischen der Geburt Luthers und dem Austreten Lessings eine so unersreuliche Unsruchtbarkeit aus geistigen Gebieten geherrscht haben soil, wie die Geringsiigigkeit der
Leistungen zu beweisen scheint. Man wird nicht anders denken konnen, als daB die GroBen da waren, daB sie aber latent blieben, weil nichts sie ausries, nichts sie sorderte. Ich kann mir vorstellen, daB ein Goethe des 16.
Iahrhunderts seine Geisteskraft als lutherischer Dorsprediger verpuffte oder daB der Lessing des 17. als Kriegsknecht durch' s Land zog oder daB der Bismarck des 18. einen Duodezstaat verwaltete. Wenn man die Art des
Austretens der geistigen Heroen betrachtet, ist es unmoglich, sich nicht zu sagen, daB ein Volk immer eine ziemlich gleichbleibende Zahl derselben umschlieBt, die aber je nach den Umstanden entweder sich entwickeln
oder im Keime verharren.
Es wird dadurch schwer, aus dieselben sehr groBes Gewicht zu legen bei der Volkerbeurtheilung. Die Heroen des geistigen Lebens gehoren auch nicht einem Volke allein, sondern alle Volker, die zu einer bestimmten Zeit
den geistig regen Theil der Menschheit bilden, nehmen Theil an ihnen. Aristoteles hat aus die mittelalterliche Cultur vielleicht einen viel groBeren EinfluB geiibt als aus die Griechen, denen er angehort, und stir die englische
Literatur ist Shakespeare zu keiner Zeit so bestimmend gewesen wie stir die deutsche in unserer klassischen Zeit. Aber Niemand verkennt, daB allein schon der Besitz zahlreicher GroBen aus den Gebieten idealer Thatigkeit
der Geschichte eines Volkes im Allgemeinen einen edeln und groBen Charakter auspragt; die hohe Zier, die sie dem Ruhme eines Volkes zusiigen, dars nicht unterschatzt werden und ihren realen Werth zu verkennen ist
heute weniger als je erlaubt. Es ist Phrase, wenn man von der Undankbarkeit als einem Grundzug in den groBen Beziehungen der Volker spricht. Es sind mit die idealsten, reinsten Ziige in der geschichtlichen
Physiognomie unseres Zeitalters jene Beispiele von Dankbarkeit, die nicht bios in Mitgesuhlen, sondern in voll wichtigen Thaten den Neugriechen und Italienern Zoll der Anerkennung abzutragen suchte stir das, was das
alte Griechenland und das alte Rom der gebildeten Menschheit gewesen sind. Es ist in der That nicht ohne Werth stir ein Volk, und ich rede hier nicht bios von schwachen Nationen, von den Edelsten und Besten anderer
Volker geachtet zu sein. Wie rein leuchtet die Flamme solcher Anerkennung durch die Triibe der Verkennung und UnkenntniB, welche die internationalen Beziehungen der Massen charakterisirt! Gerade wir muBten das
wissen, denn es ist noch nicht lange her, daB es uns wohlthat, wenn unsere groBen Dichter und Forscher jenseits des Rheines und des Canales die ossene Schatzung sanden, welche unserer praktischen Thatigkeit in Politik
und Wirtschast versagt blieb. Solche Vereinigungen Gebildeter verschiedenster Volker in Einer Bewunderung und Verehrung, Volkerallianzen der schonsten Art, sind sreilich ebenso zart und verganglich wie sie
herzersreuend sind. Zu leicht dorren sie im Gluthhauch des Volkerhasses ab. Doch bleiben ihre Wurzeln und es scheinen ihre Triebe die ersten zu sein, welche sich sriihlingverkiindigend wieder hervorwagen in den
Wiisten, zu welchen ost schwere Stiirme der Weltgeschichte die Volkerbeziehungen umpsliigen.
Vom direetesten Nutzen stir ein Volk sind von alien GroBen, die es erzeugt, ohue Zweisel die groBen Staatsmanner, welche seine Geschicke nach auBen hin bestimmen. Was aber die politische Wirkung der groBen
Manner im Inneren eines sertigen Volkes betrifft, so glaube ich, daB die Volkerbeurtheilung sich ohne Weiteres aus den Standpunkt des republikanischen Grundsatzes stellen wird, daB dasjenige Volk am gliicklichsten ist
und die beste Gewahr einer gedeihlichen Zukunst birgt, welches gewaltiger Manner in seinen inneren Angelegenheiten nicht bedars, weil in seinen Massen Hingabe und Geschick genug wohnt, um aus's Beste zu besorgen,
was hierin nothig ist. Die innere Entwickelung eines Volkes verlangt Ungestortheit und ruhiges Tempo, — beides Dinge, die sich schwer vereinigen mit der Sprunghastigkeit und der Ungeduld genialer Naturen.
III.
Das BewuBtsein der Zusammengehorigkeit, welches aus Einzelmeuschen Volker macht, ist nicht bei alien Volkern gleich innig. Es ist bei manchen eine erstarrte Form ohne Leben, wahrend es bei anderen den ganzen
Volkskorper mit jener nationalen Lebenslust durchdringt, jenem gesunden Behagen, welche den groBen Leistungen der Volker zu Grunde liegen. Ie inniger und krastiger dieses BewuBtsein der Zusammengehorigkeit in
einem Volke lebendig ist, um so sester zusammengesaBt werden seine Krafte, um so leistungssahiger wird es sein und um so mehr von jenen sestwurzelnden Sitten, Anschaunngen und Institutionen wird es entwickeln,
welche man das Knochengeriist eines solchen Korpers nennen mochte und welche allerdings das Zusammenhaltende in einem Organismus, derjenige Theil desselben sind, welcher es ebensowol zur Ertragung groBer
historischer Schicksale als auch zur Losung groBer Ausgaben besahigt. Schon in diesem BewuBtsein sinden wir daher einen MaBstab, mit welchem Dauer und Werth eines Volkes zu messen sind. Ie lockerer ein Volk
zusammeuhangt, um so weniger wird es als Volk leisten und um so weniger Dauer ist ihm vorherzusagen; je starker dagegen jenes BewuBtsein der Zusammengehorigkeit, das NationalbewuBtsein es zusammenkittet, um so
leistungssahiger wird es sich erweisen und um so langere Dauer scheint ihm beschieken.
Manche Volker sind so gliicklich, schon durch ihre geographische Lage aus die Entwickelung dieses ZusammenhangsbewuBtseins hingewiesen zu werden. In erster Reihe sind das die Inselvolker, weiterhin aber auch
diejenigen, deren Wohnsitze von der Natur mit den Mauern und Wallen guter Naturgrenzen geschiitzt sind. Die Briten, die Norweger, die Spanier und Portugiesen, iu minderem Grade die Hollander und Schweizer, sind
Volker, an deren Zusammenkittung die Natur selber mitarbeitet. Die Natur ihrer Lage weist solche Volker ebenso entschieden auseinander an, als sie dieselben nach auBen hin abschlieBt. Es kann nicht sehlen, daB unter
solchen Umstanden sich ein lebhastes NationalbewuBtsein entwickelt, denn wahrend die Storungen von auBen abgehalten werden, machen sich die inneren Beziehungen mit um so groBerer Krast geltend und von zwei
Richtungen her wird dergestalt ubereinstimmend der Zusammenhalt gesordert. Nur in so giinstiger Lage konnte ein Volkergemisch, wie es z. B. in England und Schottland zusammengeweht war, zu einem der in sich
abgeschlossensten Volker erwachsen, und nur im Umkreis der Naturwalle der Alpen und des Iura konnte das ungewohnte, aber hochersreuliche Experiment gelingen, vier verschiedensprachige Volker sriedlich zu Einem
Staatswesen zu vereinigen. Wie ties solche gliickliche Naturgaben aus die Volksentwickelung zuriickwirken, lehrt auch schon die einzige Thatsache, daB von alien unseren germanischen Brudervolkern nur die von Natur
wohlumgrenzten, wie Schweizer, Norweger, Islander, Niederlander sich im Vollbesitz ihrer politischen Freiheit zu erhalten vermochten.
Wo diese auBeren Forderungen sehlen, miissen die inneren, aus dem Volke selbst herauswachsenden um so starker sein, wenn sie dasselbe Resultat erzielen wollen. Man hat bei politisch so vollkommen unselbstandigen
Volkern wie Iuden und Armeniern die Religionsgemeinschast ihre zusammenhaltende Krast sogar iiber die weiteste Zerstreunng und iiber Bedriickungen aller Art hinaus entsalten sehen. Geschichtliche Erinnerungen groBer
Art, gemeinsame Sprache und Sitte und das erst in engen, dann immer weiteren Kreisen gepslegte Gesiihl der Notwendigkeit sesten Zusammenhalts in einem Nationalstaat hat aus den groBen, aber tieszerkliisteten Volkern
der Deutschen und Italiener Nationen von starkem BewuBtsein und sestem Zusammenhalt gemacht. Die verzweiselte Aussicht volliger Vernichtung halt nach den schwersten Schicksalen noch immer die
zusammenschmelzenden Reste des Polenvolkes bei einander und ein an Zahl so kleines Volk wie die Magyaren hat in den letzten Iahren unerwartete und von unerwarteten Ersolgen gekronte Anstrengungen gemacht, um
seinem Volksthum, gegeniiber den ringsum wohnenden Volkern, von denen es in seinen zersplitterten Wohnsitzen wie Inseln umschlossen ist, einen sesten Halt zu geben.
Bei solchen kampsenden Volkern, sei es nun, daB sie kampsen, um drohenden Untergang abzuwenden, oder daB sie nach Ausstreben und Ausbreitung ringen, spielt immer die Muttersprache eine groBe Rolle. In der
Regel bringt sich bei ihnen durch die Pflege ihrer Sprache und einer nationalen Literatur das NationalbewuBtsein zuerst zu deutlicher Auspragung. In der Entwickelung der kleinen Nationalitaten, die sich seit einigen
Iahrzehnten aus dem bunten Volkergemisch der unteren Donaulander scharser gesondert haben, der schon sriiher selbstaudigen Magyaren, der Serben, Kroaten, Rumanen, macht die Griindung von Anstalten zur Pflege des
nationalen Idioms, der wissenschastlichen und literarischen Akademien, der Nationaltheater, das Austreten von Dichtern und Schriststellern, die dieser Sprache sich bedienen u. dgl. nicht weniger Epoche, als in der
Entwickelung groBerer Volker es die groBen politischen Veranderungen oder die Feuertause siegreicher Kriege thun. Es ist natiirlich. Bei diesen kleinen ausstrebenden Nationalitaten kommt es vor allem daraus an, sich
zusammenzuschlieBen, ihre Reihen zu mustern, einen Begriff von ihrer Starke zu bekommen. Wer ihre Sprache spricht, ist gewissermaBen mit ihrem Stempel gepragt. Konnen sie sich nicht politisch oder wirthichastlich
unabhangig machen von den Volkern, von welchen sie umwohnt Nord und Liid. VI, 17. 14
sind, so wollen sie es wenigstens aus dem Gebiete des geistigen Lebens versuchen. Und wenn selbst im Kreise eines groBen Volkes die Bewohner einer Provinz oder irgend eines kleineren Abschnittes einen anheimelnden
Reiz darin sinden, ihren Dialekt zu pslegen, der die heimatlichen ErA innerungen am lebhastesten verkorpert, so begreist man dasselbe Streben noch leichter, wenn es, wie bei diesen jungen Nationalitaten, sich aus
eigenthumliche Sprachen richtet, welche ost nicht unbedeutende geschichtliche Erinnerungen umschlieBen und bereits die Ansange von Nationalliteraturen auszuweisen haben. In einem groBen Volke ist aber das BediirsniB
der Sprachgemeinschast kein ebenso gebieterisches. AuBer in Oesterreich-Ungarn und der Tiirkei sehen wir zwar heute in Europa bei alien groBen Volkern die Sprache einer imposanten Majoritat zur Nationalsprache
erhoben, in der die Sprachen kleinerer Volkerbruchstiicke verschwinden. In Frankreich ist die Zahl Derjenigen, die nicht sranzosisch sprechen, nach der Abtrennung unseres Reichslandes, eine verschwindende, denn die
Millionen, welche provenAalisch sprechen, verstehen wenigstens und schreiben auch sehr hausig das Hoch- oder Schristsranzosische, wenn sie sich seiner auch nicht im taglichen Leben bedienen; in GroBbritannien und
Irland kann man kaum 27, der Bevolkerung als des Englischen unkundig bezeichnen; im Deutschen Reich sprechen hochstens e°„ nicht deutsch; das europaische RuBland wird von 52 Millionen echter Russen bewohnt,
welche 70°/, der Gesammtbevolkerung ausmachen und daneben spricht die Mehrzahl der Deutschen und zahlreiche Finnen, Polen, Lithauer u. a. russisch slieBend; Italien ist im Wesentlichen ein wohlabgerundetes
Sprachgebiet und mit der geringen Ausnahme der Catalanen und Basken, die wol zur Halste auch spanisch verstehen, kann man dasselbe von Spanien sagen.
Wenn nun bei solchen entschieden uberwiegenden Mehrheiten das BediirsniB, auch den Minderheiten die Mehrheits sprache auszudrangen, dieselben sprachlich zu assimiliren, sich nicht so stark geltend macht wie bei
den kleineren Nationalitaten, so legt man doch auch bei ihnen einen gewissen Werth aus die Spracheinheit, weil ohne sie jener leichte und damit regere Gedankenaustausch, jene Gemeinschast der historischen Erinnerungen
und jene Gleichartigkeit der Bildung nicht erreichbar sind, ohne die wir uns ein eompaktes, durchaus nationalbewuBtes Volk nicht vorstellen konnen. Schon die praktische Notwendigkeit eines glatten Ganges der
Verwaltungsmaschinerie muB ubrigens den Wunsch nach Spracheinheit hervorrusen. Wo die Mehrheit einem begabten, regsamen, tiichtigen Volke angehort, wird nun — und das ist sehr bemerkenswerth — diese
vielgewiinschte Assimilirung der kleinen Volkerbruchtheile ganz von selbst sich vollziehen. Im nordostlichen Deutschland, in GroBbritannien, vor allem aber in den Vereinigten Staaten von Amerika hat man dies in groBer
Ausdehnung geschehen sehen. Entschieden gehort diese Verdaunngssahigkeit stir sremde Elemente zu den Merkmalen eines gesunden und krastigen Volkes und daher gehort es auch zu den Merkmalen eines ebeu solchen
Volkes, daB es nicht angstlich daraus bedacht zu sein braucht, die sremden Elemente als solche auszurotten, sondern daB es das Vertrauen in seine eigene Ueberlegenheit hat, es werde ihm gelingen, sie unmerklich
auszusaugen. Der Kamps eines machtigen Volkes wie z. B. der Russen gegen die Deutschen der Ostseeprovinzen oder gegen die Polen ist ein hierher gehoriger Fall, welcher zum mindesten einen hohen Grad von
Culturschwache im BewuBtsein des unterdriickenden Theiles voraussehen laBt, wogegen die Toleranz der groBen Mehrheit des in den Vereinigten Staaten dominirenden englisch sprechenden Volkes gegeniiber den
zahlreichen anderen Nationalitaten, die die Auswanderung in jenem groBen Lande zusammengeschwemmt hat, uns einen vortrefflichen Begriff von dem Selbstvertrauen und der Einsicht dieser Mehrheit gibt. DaB ein
wirklich tiichtiges und krastiges Volk sich zu solchen angstlichen Unterdriickungs versuchen in keiner Weise gezwungen sehen wird, ist eine der besten Friichte der Erziehung, die es sich selbst und die ihm die Geschichte
hat angedeihen lassen, denn immer werden solche erbitternde Bemuhungen Kraste lahmen, die nach anderen Richtungen besser zu verwerthen waren. Ost genug bringen derartige Unterdriickungs versuche, die aus
mangelndem KrastbewuBtsein entspringen, direete Schwachungen hervor und rachen sich dadurch in einer Weise, die manchmal jedes Gutmachen ausschlieBt, und so datirt z. B. der wirtschastliche Versall Mexikos, der
dieses schone Land heute nm vieles armer sein laBt als es vor sechzig Iahren war, von der wiederholten Austreibung der Spanier, die nationale Eisersucht dietirte. Uebrigens ist es eine ganz allgemeine Regel, daB groBe
Volker, die gesund und tiichtig sind, eine natiirliche Anziehung aus kleinere ausiiben und eine natiirliche Fahigkeit besitzen, kleine Volkersplitter ohne Zwang in sich auszunehmen.
Uebrigens wiirden solche Reibereien der verschiedenen Nationalitaten innerhalb eines Volkes iiberhaupt schon minder hestig austreten, wenn diese nicht vollstandig iibertriebene Begriffe von der Reinheit ihrer
Abstammung hatten. Die Rassenlehre ist im Verlans ihrer Untersuchungen immer mehr dem Grundsatze zugesiihrt worden: Es gibt keine reinen Rassen, alle Rassen sind Mischungen. Auch von den Volkern kann man es
als eine allgemeine Regel aussprechen, daB sie viel verschiedenere Elemente in sich einschlieBen, als sie selber anzunehmen geneigt sind. Die Bedeutung, welche das nationale Element in ihrer Geschichte, soweit sie ihnen
ossenliegt, und in ihrer Gegenwart hat, verleitet sie zu einer Ueberschatzung desselben auch stir die langst vergangenen Zeiten. Man kann es begreisen, daB es so ist, aber es ist wenig logisch. In dem Bestreben, ihre
Abstammung soweit wie moglich hinauszusuhren und ihren Stammbaum so rein darzustellen wie moglich, kniipsen sie gern bei den altesten Bewohnern ihres Landes an, von denen die Geschichte Kunde gibt, wahrend aus
den eigentlichen Bestand, das auBere und innere Wesen des Volkes ost spatere Einfliisse, und zwar besonders Mischungen mit anderen Volkern, viel machtiger gewirkt haben. Die Franzosen, eines der gemischtesten
Volker, die es gibt, erklaren sich am liebsten stir Abkommlinge der Gallier. Die Italiener sind sehr wenig gewillt, die keltische, germanische und sogar slavische Blutmischung anzuerkennen, die in Oberitalien, und andere,
welche im Siiden stattgesunden haben, wiewol es dem unparteiischen Beobachter scheinen will, als ob wenigstens die ersteren gar nicht so unvortheilhast gewirkt hatten; der Italiener will aber ein Nachkomme des Romers
sein. Bei uns in Deutschland kann man Leute, deren Gesichtsschnitt einen Irlander oder Russen beschamt, sich der Abstammung von den blonden Sohnen Teuts riihmen horen und die ehrenvollen Schilderungen des Taeitus
wendet der halbslavische Mecklenburger oder Schlesier mit nicht weniger Selbstgesiihl aus sich an als der halbkeltische Psalzer oder Badens«. Selbst in England, wo die Thatsache der Mischung so klar aus der Hand liegt,
streiten sich die Volkskundigen noch heute darum, ob das keltische Blut der Ureinwohner einen starken EinsluB aus Charakter und Entwickelung der eingewanderten Germanen geiibt habe oder nicht.
Nicht bios die Geschichte widerspricht dieser Vorliebe der Volker stir reine und alte Abstammung, sondern es ruht dieselbe auch an und stir sich aus einer ganz salschen Schatzung des Unterschiedes zwischen Volkern
reiner und gemischter Rasse. GewiB ist es gut, wenn ein Voll in seiner Vergangenheit Dinge hat, aus welche es ein Recht besitzt, stolz zu sein. Eine groBe Vergangenheit ist das Schonste und Edelste, was ein Volk haben
kann nnd sie ist unentwendbar. Auch praktisch ist es nicht bedeutungslos, wenn der Ruhm vergangener Zeiten die Ideale hoher Ziele aus die leere Wand der Zukunst vorauswirst. Man wird das nie verkennen diirsen. Aber
zu diesen wiinschenswerthen Dingen ist doch nie die Rasseneinheit zu rechnen. So wenig wir bei den Familien die Inzucht d. h. die sortgesetze Vermischung von Blutsverwandten gutheiBen diirsen, die wir von Folgen
begleitet sehen, welche stir Geist und Korper gleich verderblich sind, so wenig konnen wir sie bei Volkern billigen und aus mehr als einem Grunde diirsen wir es nicht. Einseitige Anlagen, die die Volker so gut wie die
Einzelnen von der Natur mitbekommen, konnen durch Inzucht bis zur Krankhastigkeit gesteigert, durch Mischung aber abgeschwacht oder vernichtet werden. Aber einen anderen nnd wahrscheinlich, wenigstens stir nusere
kurzzeitige Beobachtung, viel bedeutsameren Vortheil erreicht die Mischung durch Steigerung der Zahl und Mannichsaltigkeit der Anlagen. Wir sehen sast bei jedem Volke Europas diese Vortheile ausgepragt. Ich erinnere
au die Rolle, welche die deutscheu Elsasser und Lothringer in Frankreich spielten. Als Nichtsranzosen erganzten sie die Franzosen an so vielen Punkten, daB ihr Verlust, wie wir Alle wissen, stir Frankreich viel mehr
bedeutet, als wenn es ebenso viel Auverguaten oder Gaseogner verloren hatte. Frankreich ist durch diesen Verlust nicht bios volksarmer, sondern anch einseitiger geworden. DaB die groBe wirthschastliche Bliithe Belgiens
eine ihrer Hauptursachen in der vortrefflichen Mischung der Bevolkerung hat, ist schon langst anerkannt; der schisssahrts- und handelsknndige Flame und der industrielle und niichterne Wallone haben sich vortrefflich in
die Arbeit getheilt. Iener wiirde nie ein so guter Eisenarbeiter sein wie dieser und aus der andern Seite wiirde dieser am Meer und am Getriebe des Welthandels nicht dasselbe Gesallen sinden wie jener. In ahnlicher
Verkeilung ist in England der Angelsachse mit Vorliebe Seesahrer und Handelsmann, wahrend der Kelte der Mann des Eisens und der Kohle bleibt. Wie einseitig, wie viel weniger bewegt und beweglich sind im Vergleich
zu diesen Mischvolkern die rein germanischen Skandinavier und Niederlander. Und hat nicht auch in der Geschichte Deutschlands sich der Contrast des halbslavischen Ostens mit dem germanischen Westen und Norden
sruchtbar genug gezeigt an heilsamen Wirkungen? Wie sehr haben diese Wechselwirkungen die beschrankten Traume jener sanatischen Urteutonen beschamt, welche das Volk jenseits der Elbe stir ties unter Schwaben und
Baiern stehend erklarten, weil in seinen Adern slavisches Blut flieBe! Am deutlichsten tritt iibrigens der Vortheil der Volkermischung wahrscheinlich in jiingeren Staatswesen hervor, wo dieselbe noch starker im Gange ist.
Sehen wir nach RuBland, so sinden wir einen deutschen Bevolkerung sbestandtheil, der zwar klein an Zahl, aber groB an Bedeutung stir die Verwaltung und besonders die wirtschastliche Eutwickelung des Landes ist. In den
Vereinigten Staaten ist es vielleicht klarer als irgendwo zu sehen, wie das Volk im Stande ist, verschiedene Funetionen an verschiedene Rassen oder Nationalitaten zu vertheilen, die sich nun gerade am besten stir dieselben
eignen. Der Deutsche mit seiner Stabilitat, seinem Hasten an der Scholle, seinem FleiB und seiner Sparsamkeit ist die Stiitze des Landbaues, wahrend keiner so gut wie der Irlander sich stir die niedrigen Fabriks- und
Taglohnerarbeiten eignet. Es ist ost genug von Amerikanern selbst anerkannt, daB ohne diese beiden Ackerbau und Industrie in den Vereinigten Staaten noch weit von der Stuse der Ausbildung entsernt sein wiirden, aus
welcher sie .heute stehen. Was ware das wirthschastliche Leben Polens oder Rumaniens ohne die Iuden? Und das Kleinasiens und der Pontuslander ohne Armenier und Griechen? Bis in die Spitze und Krone unserer
modernen Culturentwickelung, bis in die Metropole der modernen Welt konnen wir diese groBe Bedeutung der Volkermischung versolgen, wo wir in der City von London, diesem Mittelpunkt des Welthandels, dem Iuden
und dem Deutschen als einem nicht mehr zu entbehrenden Element der groBhaudeltreibenden Bevolkerung und besonders des in Geldgeschasten thatigen Theiles derselben begegnen. Man kann die Vortheile der
Mischungen anerkennen, ohne darum jedwede beliebige Rassenvermengung stir vortheilhast zu halten. Wenn sich ein weiBes Volk durch unbeschrankte Mischung mit Negern, Malayen :e. so degradirt, wie es die
Portugiesen in alien ihren iiberseeischen Besitzungen gethan, so ist das einsach ein Herabsteigen von einer einmal erreichten hoheren Stuse und als solches bedauerlich. Auch ein so buntes und disparates Volkergemisch
wie das der europaischen Tiirkei oder der osterreichisch-ungarischen Monarchic ist gewiB nichts Wiinschenswerthes. Hingegen diirsten unsere Paar Millionen Slaven, Danen und Franzosen ini Deutschen Reiche mit der
Zeit als gar keine so ganz unwillkommene Zugabe zu unseren reindeutschen Elementen erscheinen, da sie aus der einen Seite nicht zahlreich genug sind, um den wesentlich deutschen Charakter nnseres Reiches zu storen,
sosern wir unsere innere Gesundheit bewahren, und da sie aus der anderen dazu helsen, diesen Charakter vor Einsormigkeit und Erstarrung zu bewahren. Sie konnen sogar sehr niitzlich werden, wenn ihre Opposition uns
daran erinnert, daB es mit dem starken Nationalgefiihl allein aus die Dauer nicht gethan ist, sondern daB nur unsere eigene Tiichtigkeit und die zunehmende Vortresslichkeit unserer Staatseinrichtungen im Stande ist,
dieselben immer sester- mit uns zusammenzuschmieden.
Das wird man sreilich nicht leugnen, daB die Zusiigung eines erheblichen Bruchtheils sremden Volkes zu einer schon vorhandenen, sertigen Nation ein gesahrliches Experiment ist, das nur in der Atmosphare der groBten
Freiheit, in der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten mit Gliick versucht wird. Fiir uns andere, die ein groBes Gewicht legen miissen aus nuseren ungesahrdeten inneren Zusammenhang, ist in neuerer Zeit schon durch
den regen Verkehr von Volk zu Volk stir die Einsuhr einer nicht geringen Menge srischen Blutes in die Adern unseres Organismus Sorge getragen. Wenn wir heute aus der Grundlage eines gesunden Staatswesens jene
schon immer zum Weltbiirgerthum hinneigenden Gedanken unserer besten Geister weiterspinnen, scheint diese Mengung, Mischung und hiilsreiche Arbeitsvertheilung der Volker die einzige Form zu sein, unter der wir uns
den Kosmopolitismus praktisch moglich deuken konnen. Nicht an ein schrankenloses, an Pflichten und Neigungen armes Weltbiirgerthum denkeil wir, wenn wir uns das Gute vorzustellen suchen, was die Zukunst den
Volkern bringen mag, sondern an diese langsame, aber bestandige Ausnahme sremder Volkselemente, die in jedem noch so abgeschlossenen Volksthum sich vollzieht und an den damit Hand in Hand gehenden
Wechselverkehr und die wechselseitige Schatzung der Volker. Dies sind Giiter unserer Zeit, welche sie vor alien vorhergegangenen voraus hat und dieselben haben in den letzten hundert Iahren schon auBerordentlich viel
stir die Annaherung der Volker geleistet und werden ihren mildernden, humanisirenden EinsluB auch sernerhin zur Geltung bringen. Sie bereichern und verjiingen uns im Inneren, ohne daB sie den Geist und die Formen
unseres Volkes mehr und rascher verandern als das Interesse unseres harmonischen Wachsthums es erheischt. Um ihre Wirkungen zu ermessen, muB man sreilich z. B. nicht die ost gehorte miiBige Frage auswersen:
Werden die Kriege seltener? Horen sie nicht endlich einmal ganzlich aus? Die Kriege hangen nicht ab von den Bevolkerungselassen, die hier vorziiglich in Frage kommen und man kann sie wie Ansalle von Iahzorn
betrachten, welche als Riicksalle auch die schonste Charakterentwickelung durchbrechen konnen, den Gesammtwerth derselben aber nicht erheblich zu storen vermogen. Wenn wir aber sragen: Ist nicht der Volkerverkehr
auBerhalb der Kriegszeiten viel menschlicher, inniger, oerstandniBvoller und damit toleranter geworden, so muB man entschieden antworten: „Ia". Und in dieser Richtung liegt gewiB noch manches zu Erstrebende.
Betrachtet man die vielverketzerte und jedensalls sehr viel miBverstandene Volkermischung ans diesen ersreulicheren Gesichtspunkten, so muB man sicher zugeben, daB auch unser Urtheil, das geneigt ist, sehr
tiesgehende Unterschiede zwischen den Volkern anzunehmen, dieselbe zu beriicksichtigen hat. Die Frage liegt nahe, ob denn iiberhaupt die Volker so verschieden sein konnen, wenn durch Mischung so zahlreiche
Bestandteile ihnen gemeinsam zugesallen sind? Es ist sicher, daB der Fehler, eine tiesere Verschiedenheit der Volker anzunehmen, als wirklich vorhanden ist, sehr hausig begangen wird: man laBt die AeuBerlichkeiten zu
stark hervortreten, Sprachverschiedenheiten, Abweichungen im Korperlichen, in der Sitte n. dgl. Aber gehort nicht so vieles von diesen Unterschieden zu dem, was ein Volk wahrend seiner Geschichte erwirbt und zu den
Wirkungen der Lage, in welcher es sich monentan besindet? Und sind nicht andere sast ohne alien merklichen EinsluB aus das innere Wesen nnd die bedeutenderen AeuBerungen eines Volkes? Es sallt aus, daB die
Geschichte gemischter Volker bald von diesem, bald von jenem Charakterzug bestimmt erscheint, je nachdem dieses oder jenes Mischungselement an die Oberslache tritt. Die alte Geschichte Britanniens war eine keltische,
sie war ein Stuck Volkerwanderungsgeschichte nach der Einwirkung der Sachsen und Angeln, sie erhielt einen romanischen Anstrich in den ersten Iahrhunderten nach der Eroberung durch die Normannen, sie hatte
vielleicht den germanischsten Typus zur Zeit der Elisabeth und in Her Revolution und nahm seitdem einen eigentumlichen Charakter an, der der heutigen britischen Nation, diesem immer mehr in sich verschmelzenden
und in immer groBerer Zahl sremde Elemente absorbirenden Produete einer der bemerkenswerthesten Volkermischungen entspricht. In jenen Staaten, wo die einzelnen Volker noch gesondert zu erkennen sind, nehmen wir
keinen Anstand, ihre verschiedenen Einfliisse anzuerkennen und es leugnet z. B. Niemand, daB die osterreichische Politik italienisch-spanische, deutsche, slavische, magyarische Episoden gehabt hat. Das russische
Staatswesen hat gegenwartig einen deutscheren Charakter als es wahrscheinlich in 50 Iahren haben wird, aber vor 309 Iahren war es sogar mongolisch angehaucht. Warum soil nun nicht dasselbe anzunehmen sein bei
Volkern, in denen die Ungleichartigkeit der Elemente nur verdeckt ist durch das iibergeworsene Gewand der gemeinsamen Sprache, Geschichte und Staatszugehorigkeit? Ein Volk verliert mit seiner Sprache mancherlei
und vorziiglich sein SonderbewuBtsein, aber nicht auch seine Charaktereigenthumlichkeiten und es wird dieselben besonders da, wo es eompakt wohnt, noch langehin zur Geltung bringen. Hat man nicht selbst in den
Kampsen der Nordspanier stir ihre Fueros noch Reste alter gothischer Unbengsamkeit erkennen wollen?
Wir diirsen iiber dieser starken Betonung der Einfliisse der Mischung nicht die sehr bemerkenswerthen Wirkungen vergessen, welche das Gegentheil der Vermischung, namlich die Absonderung von Volksbruchtheilen
ans das Ganze iibt. Uebersehen wir einmal die Verkleinerung des letzteren, welche mit dem Moment der Ablosung eintritt, so werden wir sinden, daB diese Bruchtheile in den meisten Fallen das Muttervolk erheblich
bereichern und ich meine, gerade wir Deutsche diirsten uns sreuen, daB selbstandig thatige und productive Glieder unseres Volkskorpers in der Schweiz, in Oesterreich, in den russischen Ostseeprovinzen uns erhalten sind.
Diese politisch abgelosten, geistig aber im Zusammenhang gebliebenen Glieder leben unter anderen Verhaltnissen, denken und siihlen in manchen Beziehungen ganz anders als wir. Wahrend es sraglich ist, ob ihre
politische Wiederansiigung uns starken wiirde, ist es sicher, daB dieselbe unser deutsches Geistesleben nicht bereichern, sondern nur einsormiger gestalten wiirde. Auch sollte man nie vergessen, daB durch Wechselsalle der
Geschichte ost genug solchen Bruchstiicken eine groBe Bedeutung stir das Volksganze verliehen worden ist. Es ist doch noch nicht lange her, daB die deutsche Schweiz das Asyl unserer politischen Fliichtlinge war. Der
Tyroler Freiheitskamps von 1809 wurde auBerhalb der damaligen und heutigen Grenze Deutschlands ausgesochten und war doch ein hochwichtiges Stuck deutscher Geschichte. MuB man daran erinnern, was die
sranzosische Schweiz, und besonders Gens, dieser merkwiirdige Mittelpunkt internationalen geistigen Verkehres stir Frankreich ge wesen ist? Verniinstige Franzosen haben immer erkannt, daB das Geistesleben der
Franzosen nicht gewinnen wiirde, wenn man diese halbe Million sranzosisch Sprechender mit Frankreich vereinigte. Mit der Zeit wird unzweiselhast das rasche Wachsthum europaischer Colonialstaaten in Amerika und
Australien solchen abgelosten Volkerbruchstiicken eine viel groBartigere Bedeutung verleihen; stiitzt sich doch heute schon die erste Rolle, welche englische Sprache und theilweise sogar englische Sitte im groBten Theile
der auBereuropaischen Welt spielen, nicht bios aus das Mutterland vieler Colonien, GroBbritannien selbst, sondern bald ebenso sehr aus die Vereinigten Staaten, dieses abgeloste Stuck des britischen Colonialreiches, und in
Australien, Neuseeland, Siidasrika wachsen ahnliche Glieder eines englisch redenden und bis zu einem gewissen Grade auch englisch denkenden auBereuropaischen Colonial volkes empor. Bei einem groBen Ueberblick der
heutigen Weltlage scheint dadurch die englische Sprache und was in ihr niedergelegt ist, scheinen englische Gesetze, Gebrauche und Sitten sicherer vor dem Untergang gewahrt als die irgend einer anderen Nation. Wir
anderen Volker mogen noch so krastige Baume sein, aber wir stiitzen unsere Entsaltung aus Einen Stamm, wahrend England einem indischen Riesenseigenbaum gleich aus zahlreichen, in neue Erde gesenkten Saulen ruht.
Freilich muB ein Volk starkes Wachsthum haben, um solchen Tochteruolkern Ursprung zu geben und auBerdem muB es die Fahigkeit der Coloniengriindung besitzen. Wie verschieden aber gerade hinsichtlich des
Wachsthum» die groBen europaischen Volker seien, wird selten geniigend beachtet, wiewol es doch einer der bedeutendsten Faetoren in einem Volksleben ist. DaB die durchschnittliche jahrliche Zunahme der Bevolkerung
in Frankreich bios etwa ein Dritttheil von der in PreuBen betragt, so daB, wie ein deutscher Statistiker berechnet hat, im Iahre 2000 Deutschland mehr als doppelt so volkreich sein konnte als Frankreich, ist in dem letzteren
Lande bekanntlich in neuester Zeit viel erortert worden; sriiher .beachtet und zur Selbstbeurtheilung angewandt, hatte diese Thatsache vielleicht die kriegerischen Tendenzen und die gewagte Politik Frankreichs in den
letztverslossenen Iahrzehnten erheblich dampsen konnen.
Man spricht viel von Wachsthum, von der Vermehrung der Volker, es gibt aber auch ein Absterben, einen Volkertod. Es will sreilich scheinen, wenn man bios die groBen Volker in Betracht zieht, daB ein Volk weder
durch Alter noch durch die hartesten Schicksale vollig getodtet werden konne. Leben nicht die Romer in den Italienern, die Griechen in den Neugriechen, die Inder in den Hindus, die Aegypter in den Kopten sort? Und
bieten nicht die Chinesen ein sehr merkwiirdiges Bild hohen Alters, indem sie, wiewol alter als alle unsere europaischen Volker, noch riistig genug sind, um mit ihrer enormen Zahl den Abendlandern sogar den gelben
Schrecken einer chinesischen Ueberschwemmung einzufloBen? Doch gibt es genug Erinnerungen an verstorbene, vollig untergegangene Volker, die diesen gegeniiberzustellen sind. Aus den britischen Inseln sind die
keltischen Stamme sast ausgestorben, in Nordostdeutschland das Volk der PreuBen, in Kurland die Kuren. Die Basken in den Pyrenaen gehen zuriick. Eiuige von diesen Volkern sind in sriiheren Iahrhunderten geradezu
ausgerottet, an Leib und Seele getodtet worden. Neuerdings sterben sie in der Weise aus, daB sie ihre Seele, und zunachst deren Hauptausdruck, die Sprache, dann auch andere besondere Merkmale verlieren, um dann
allmahlich in die umwohnenden Volker sich zu verlieren. Ost klingt noch die Tracht nach, die Sitte, das Marchen geben noch Kunde von den Verschollenen, ahnlich wie eigene Pflanzen aus den Statten aussprieBen, wo
einst Menschen wohnten. Zuletzt sind aber ihre Spuren hochstens noch in den Biichereien zu suchen. Indessen ist das Einzige wenigstens trostlich, daB dies Alles minder zahlreiche Volker waren, die auch keine
betrachtliche Culturhohe aus eigener Krast erklommen hatten. Es waren mehr Stamme als Volker. Wir haben zwar auch Beispiele von kleinen Volkern, welche sich selbstandig erhielten und manchmal unter den
allerschwierigsten Verhaltnissen, wie die Iuden, die Schweizer, einige christliche Volker der europaischen Tiirkei u. a. Aber es bleibt trotzdem die Regel bestehen, daB man numerisch groBe Volker bis jetzt in der
Weltgeschichte nicht hat sterben sehen, und daB die an Zahl bedeutendsten Volker, die wir heute kennen, in den meisten Beziehungen die groBte Gewahr des Fortlebens zu bieten scheinen.
Mit dem Vegetiren, dem bloBen Nichtsterbenkonneu ist es sreilich nicht gethan; Krast und Macht gehoren zum gedeihlichen Leben eines Volkes. Und in vielen Fallen sind sie es, die die schwersten Gewichte in die
Wage der Volkerbeurtheilung wersen, denn wenn auch manches Gute von einem Volke zu sagen ist, so werden doch alle Anerkennungen und Belobungen nicht eher gegen allzu leicht eintretende Schwankungen des
Urtheiles geschiitzt sein und ihm selbst nicht sriiher zum Nutzen gereichen, als bis sie sich aus der Granitbasis einer achtunggebietenden Stellung erheben, die nur erarbeitet und erkampst werden kann.
Das goldene OlieB und die Argonauten.
Von
p. lv. Forchhammcr,
- Kiel. -
A. Das goldene VlieB,
ie jiingst am Berliner Hose geseierte Verleihimg des Ordens ,des goldenen VlieBes an den GroBherzog von Baden siihrte bei einer Tischgesellschast aus die Frage nach der Entstehung 1 dieses Ordens und weiter zuriick
nach der Entstehung und der Bedeutung des goldenen VlieBes. Dariiber war man einig, daB Pierre de Sainet Iulien in seinen OriAinilins Vui-Fiinaicis sich irre, wenn er den Namen des Iason aus die suns Ansangsbuchstaben
der Monate Iuli, August, September, Oetober und November deutete, in welchen Monaten die Erde die Nahrung und den Unterhalt aller lebenden Wesen hervorbrachte. Und doch war ein Kornchen Wahrheit in dem Wort.
Die Sage von dem goldenen VlieB ist kurz diese. Athamas war Herrscher eines Theils des niedrigen Users des kopaischen Sees im Gebiet des bootischen Orchomenos, vermahlt aus Besehl der Hera mit der Nephele, welche
ihm zwei Kinder, den Phrixos und die Helle gebar. Heimlich aber vermahlte sich Athamas mit der Ino, mit der er zwei Sonne erzeugte. Nephele verlieB erzurnt den Athamas und slog in den Himmel. Ino haBte die Kinder
der Nephele; um sie zu verderben, veranlaBte sie einen Orakelspruch, der dem Athamas besahl, seinen Sohn Phrixos dem schlursenden Zeus zu opsern. Als er den Phrixos vom Felde holen laBt, besiehlt diesem ein redender
Widder, er solle sich mit seiner Schwester aus seinen, des Widders, Rucken setzen, nnd machte nun mit beiden die Fahrt durch die Liiste. Als sie iiber die WasserstraBe zwischen Europa und Asien kamen, siel Helle bei der
Stadt Paktya in's Wasser, daher der Name Hellespont. Phrixos schwebte weiter iiber Kleinasien dem Kaukasos zu und opserte in Kolchis den Widder dem Zeus; das, Fell desselben hing er aus an den Baumen des Hains des
Areo. Dieses VlieB war urspriinglich weiB, aber Hermes machte es golden.
Der, wie sich ergeben wird, sehr einsachen Erklarung dieses Mythos mag eine kurze Beschreibung der raumlichen und klimatischen Verhaltnisse jener Gegend vorausgehen. Der aus Phokis herabkommende FluB
Kephissos sindet wegen der hemmenden Gebirge keinen direeten AbsluB in's Meer, Daher bildet er unterhalb Orchomenos den groBen kopaischen See, dessen User und Ausdehnung nach der Verschiedenheit der
Iahreszeiten sehr wechseln. Doch beruht die Verminderung der winterlichen Gewasser nicht bios aus der Verdampsung und dem Eindringen in die immer trockener werdende Erde, sondern auch aus dem unsichtbaren
AbflieBen durch die groBen unter dem Gebirge verborgenen naturlichen Abzugseanale, die sog. Katabothras. Erst nachdem schon ein groBer Theil der winterlichen Ueberschwemmung im Fruhling verdampst ist, tritt das
AbflieBen dnrch die weiten Oessnungen der Katabothras zu Tage. Die aussteigenden Dunste werden durch die im Fruhling herrschenden Westwinde dem Hellespont zugetragen, verwandeln sich iiber den aus dem kalten
Norden durch Donau, Borysthenes, Tanais, Hypanis und durch das schwarze Meer und den Bosporos herabstromenden Gewassern der StraBe der Dardanellen zum Theil in Regen, wahrend die Masse der Wolken weiter
nach Nordost zieht, wo sie sich um den die Halste des Iahres in Nebel gehullten Kaukasos lagern.
Nach diesen Bemerkungen brauchen wir nur mit Uebersetzung einiger Namen und Worter den Mythos zu wiederholen, um seineu Sinn klarzulegen. Athamas ist die mythische Personisieation einer Anzahl
„Athamantischer Ebenen", welche jahrlicher Ueberschwemmung ausgesetzt sind und nur langsam ihr Wasser verlieren. Athamas heiBt der Nichtsauger (9«co), dessen Reich die Nasse nicht einsaugt. Wenn sich ihm aus
GeheiB der Wolkengottin Hera, die ja selbst dem Ixion und dem Endymion als eine Wolke erschien, die Nephele, d. h. die Wolke, vermahlt, dann entsteht ein Helos oder Helios, d. h. eine wasserreiche Niederung und eine
durch Gras und Wellen rauhe unebene Flache, Helle und Phrixos (von y,A«?«?«). Erhebt sich die Nephele durch die Lust, dann verdampst die Nasse wieder. Die Athamas-Nasse vermindert sich auch durch die verborgen
ableitenden Katabothras. Daher sagte der Mythos, Athamas habe sich heimlich mit der Ino, der Heroine der Ausleerung durch AbflieBen fl'vi'u leeren), vermahlt. Diese war natiirlich den Kindern der Nephele seind. Sosern
die durch Helle und Phrixos personisieirte Nasse die Katabothras nicht erreichte, konnte sie nur durch Verdampsung beseitigt werden, d. h. durch ein dem schlursenden Zeus gebrachtes Rauchopser, und obgleich dieses
Opser nicht gebracht wurde, geschah doch durch die Lustsahrt des Phrixos und der Helle dasselbe. Was aber sangen wir mit dem sprechenden Widder an? In dem Reich des Athamas war ein slieBendes „vorwartsgehendes"
Bachlein 'Probatia. Die Gewasser waren schon so weit gesunken, daB sie an den Kieseln (A«A«<) des FluBbettes rauschten, und in der That war das Sprechen des Widders nur ein Lallen <A«<H6«1 iov xA>lc>v heiBt es). So
bedeutet also der Widder, der sich mit seiner doppelten Last durch die Liiste erhebt, nichts anderes als die Wolke, welche sich im Fruhling mit der uberflieBenden und nun iibersliissigen Nasse entsernt. AusdaB Leben und
Wohlsein in der Natur gedeihe und das Dasein des Menschengeschlechts uberhaupt moglich sei, muB das Wasser nicht nur kommen, sondern auch wieder gehen.
Warum Helle in den Hellespont siel und sallen muBte, ist schon oben durch das Erkalten der Wolke erklart. Der Dichter des Mythos wuBte auch, warum es so geschehen muBte. Darum lieB er die Helle bei „Paktya", der
Stadt der Kalte, des Gesrierens, von dem Riieken des Widders hinabgleiten.
Kein Reisender, der den Kaukasos besuchte, der nicht von den dichten Nebeln und Wolken zu erzahlen wiiBte, welche dieses gewaltige Gebirge umschweben, zuweilen aus Augenblicke ihn in hellem Licht erscheinen
lassen, dann aber schnell wieder ihn umhullen, so daB er 6 bis 8 Monate des Iahres nur momentan sich den Blicken darstellt. Das goldene VlieB ist Symbol aller jener Wolken und Nebel, die aus Griechenland und den
angrenzenden Landern jahrlich im Fruhling die winterliche Nasse sorttragen. Aber wehe, wenn es nicht zuruckgebracht wurde, wenn es nicht mit den Argonauten im Ansang des nachsten Winters zuruckkehrte. Nicht aber
kehrt es zuriick als weiBes, sondern als goldenes VlieB, als Reichthum und segenbringender Regen. Denn Hermes, der Regengott, der Bote der Gotter zu den Menschen und zur Unterwelt, hat es in ein goldenes verwandelt,
d. h. in slieBenden Regen. Denn slieBend nannten jene alten primitiven Naturdichter golden. Darum erscheint Zeus der Danao im goldenen Regen, und nach Pindar beregnete Zeus aus goldener Wolke die Insel Rhodos. Die
Argonauten sollten das goldene VlieB zuriickholen und so thun sie noch jedes Iahr.
2. Die Argonauten.
Die Tischgesellschast zeigte sich geneigt, die gegebene Erklarung des goldenen VlieBes gelten zu lassen, und verlangte nun einmuthig — es waren keine philologische und linguistische Stubengelehrte darunter — zu
horen, wer die Argonauten seien, und wie sie das goldene VlieB nach Hellas zuriickbringen. Der Redende suhr also sort, er muBte sich ein wenig mehr Zeit ausbitten, um diesem Wunsche zu genugen, da die Erzahlungen
aus dem Alterthum in drei epischen Gedichten und in vielen andern Mittheilungen iiber die Argonautensahrt viel reichhaltiger und aussuhrlicher seien, als die iiber den Ursprung des goldenen VlieBes, auch hin und wieder
aus die griechischen Worte der Erzahlung Riicksicht zu nehmen sei. Letzteres solle jedoch so sehr als moglich beschrankt bleiben.
Die Besreiung der Erde von dem UebersluB der winterlichen Nasse, die ja ost genug in den nordlichen Gegenden Europas die rechtzeitige Bearbeitung des Bodens verzogert, geschieht, wie Ieder weiB, keineswegs allein
durch die Verdampsung, durch die Lustsahrt des Wolken- Widders mit dem Phrixos und der Helle. Ein viel starker wirkendes Mittel zur Erreichung dieses Zweckes hat sich die Natur durch das AbslieBen der Gewasser von
Berg und Thai geschaffen. Gleichwol gibt es kaum ein Thai an der Mundung eines Flusses oder Baches, wo sich nicht durch die allmahliche Abdachung eine Niederung bildet, in der die Gewasser sich langer halten und
den Boden so sehr mit Nasse durchdringen, daB er erst sehr spat, zuweilen gcir nicht dem Pflug zuganglich wird. Namentlich ist dies in den meisten Thalebenen Griechenlands der Fall, wo es sast keine Thalmundung gibt,
die nicht am Rande des Meeres aus eine Zeitlang sich in ein unbebanbares sumpsiges „Helos" verwandelt. Aber auch das ganze Thai wurde unbaubar werden, wenn sich nicht zu der Verdampsung das AbflieBen rechtzeitig
einstellte. Wie am Nil und in tropischen Gegenden das Ausbleiben des Regens oder der Ueberschwemmung des Flusses Unheil und Hungersnoth verkundet, so sind die mehr nordlichen Gegenden im Fruhling durch das
Verharren der Nasse bedroht.
In Griechenland nannte man einen durch tibermaBige Nasse „unbaubar" gewordenen Boden „Argos" («9703, ««(,703). Pausanias berichtet ausdriicklich, daB die „Argos-Ebene" von Nestane ihren Namen davon habe, daB
das vom Himmel herabkommende Wasser die Ebene unbaubar mache, und die Ebene in einen See verwandeln wurde, wenn dasselbe nicht durch einen Erdschlund verschwande, woraus es jenseits der Berge im argolischen
Meerbusen als eine SiiBwasserquelle mitten im Meer wieder erscheine. Von einer ahnlichen unbaubaren Niederung im Niveau mit dem Meer, worin sich der Inachos und der Charadros verlieren, hat die Stadt und die
Provinz Argos ihren Namen, — und schlieBlich gibt es in Griechenland unzahlige Gebiete, aus welche im Ansang des Fruhlings derselbe Beiname ebenso gut passen wurde, und welche alle erst sruchtbar werden, wenn die
Argosnasse sich entsernt hat. Die Argo, das Schiff, ist das Symbol jener Nasse, Argos ist der Baumeister, und die Argonauten sind die Heroen, welche jene abflieBende Nasse vertreten.
Velias, Konig von Iolkos, hatte dem Vater des Iason das Reich geraubt. Um sich von der Gesahr, die ihm vom Iason drohte, zu besreien, besahl er diesem, der zur Zeit der Ueberschwemmung durch den FluB Anauros vor
ihm erschien, er solle das goldene VlieB aus Kolchis holen. Iason ist der „Heiler", der Heilsheros, der von der Argosnasse in Folge der Ueberschwemmung des „Anauros" (ein Name, mit dem man uberhaupt ausgetretene
Fliisse bezeichnete) heilte, indem er sie entsernte. Iason versammelt nun die Heroen ans alien Gebieten, aus denen die Argosnasse in's Meer slieBt, oder aus andere Weise sich entsernt. Denn auBerhalb des kopaischen Sees
gab es noch andere Argosniederungen im Binnenlande, deren Nasse zwar durch Bache und Nebensliisse, zum Theil aber nur durch Verdampsung entsernt werden konnte, daher auch Heroen der Verdampsung die Argo mit
bestiegen, wie Herakles. Und selbstverstandlich verlor sich auch bei den abflieBenden Gewassern ein Theil durch Verdampsung, wie insonderheit Iason durch jedes Mittel der Entwasserung ein Heilsheros war, vor allem
seitdem er die Medeia unter den Argosahrern ausgenommen hatte.
Wenn es nun auch zunachst nur das Bestreben des um sein Reich besorgten Pelias war, daB Iason sich entsernte, so war es doch zugleich das Interesse aller griechischen Staaten, daB die Argo die Reise in's Meer und
iiber's Meer antrete. Die Argoheldeu kamen daher aus die Aussorderung des Iason von alien Seiten herbei, und heiBen als Argonauten sammtlich Minyer d. h. Regen- oder Wasserminderer.
Die Argo lag am Strande zur Absahrt bereit, allein der Sand des Users und angeschwemmter trockener Tang hinderten das Auslausen in's Meer. Da griff Orpheus in die Leier und gleich wurde die Argo slott. Das
geschah nach dem Scholion zu Theokrit (13, 34) im Ansang des Fruhlings, als die Heerden aus die Weide getrieben wurden. Orpheus war der Sohn des Flusses Oiagros und der Muse Kalliope. Aber der Sohn des Oiagros
war auch der FluB Hebros, und Orpheus der Sanger ist nur ein anderer Name dieses machtigen vom Hamos und Rhodope mit lautem Rauschen herabstromenden Flusses, dessen Gewalt Baumstamme und Felsblocke mit
sich sortreiBt, daher die Sage, daB der Gesang des Orpheus Baume und Felsen herbeigelockt habe. Wo nun ein FluB Aehnliches wirkte, da war Orpheus. So konnte er also auch vom Pelion - Gebirge herabrauschend die
Argo durch seinen Gesang in Bewegung setzen.
Die Argonauten suhren also in See und aus der weiten Reise durch die Propontis und das schwarze Meer, wo immer eine Argos -Niederung war, da landeten sie, und wo sie landeten, da erlebten sie irgend ein Abenteuer,
welches mit der Oertlichkeit und der klimatischen Eigenthumlichkeit in nachster Verbindung stand und steht. Es wurde zu weit suhren, diese alle zu erzahlen und zu erklaren, was iiberdies ohne eine genaue
Naturbeschreibung der einzelnen Orte nnd ohne eine genaue mythologische KenntniB nicht thunlich sein wurde; und wenn auch eine solche Erklarung die Bedeutung der Argonautensahrt vollstandig bestatigen wurde, so
ware sie doch siir das VerstandniB des Mythos in der Hauptsache, wie sich hoffentlich zeigen wird, nicht nothwendig.
Wir wollen nur Eins besonders hervorheben. Es ist oben bemerkt, daB Herakles sich aus der Argo mit einschiffte. Herakles ist der Heros der hellen wolkenleeren Lust, daher vor allem im hohen Sommer thatig, weshalb
man ihn auch siir eine Sonnen-Inearnation gehalten hat. Seine s. g. zwols Arbeiten beziehen sich alle aus den Sieg der Warme iiber die Nasse, welche durch mythische Thiere vertreten ist. Vor allem erscheint er in seiner
wahren Natur als Grunder der Olympischen Spiele um die Seit des Sommersolstiz, DaB dieser Lustklarer sA«-«A3) von der Wolkengottin Hera angeseindet wurde, versteht sich von selbst. Er hatte daher auch das
Obereommando abgelehnt und veranlaBt, daB dasselbe dem Iason ubertragen wurde; denn er wuBte, daB die Argonauten zur Gewinnung des VlieBes des Beistandes der Hera bedursten, und daB Iason in ihrer Gunst stand.
Ie mehr sich die Argo dem schwarzen Meer mit seiner starken Ausdunstung naherte, desto weniger war siir den Herakles des Bleibens. In Mysien beim Arganthonios -Gebirge war er an's Land gestiegen und kehrte nicht
zuriick, sondern begab sich nach Hellas, wo bereits der Sommer nahte und die Zeit, da Herakles seine zwols Arbeiten siir den Eurystheus anzusangen hatte. Die Argonauten suhren weiter aus Besehl des Steuermanns Tiphys
aus Tipha, welches von dem dortigen kleinen Binnenwasser (riy-o3) seinen Namen hatte. Nachdem sie die kyanischen Felsen (urspriinglich die Felsen des Bosporos) hinter sich hatten, suhren sie langs dem sudlichen User
des Euxeinos mit der sortwahrenden Stromung nach Kolchis an die Mundung des Phasis. Zum VerstandniB der Erzahlung von dem, was hier geschah, wird man sich, in Uebereinstimmung mit den Berichten der vielen
bedeutenden Reisenden, eine genaue Vorstellung von dem Phasisgebiet unter dem Kankasos und neben dem Euxeinos machen miissen. Wahrend des Winters und des Fruhlings und zum Theil bis in den Sommer hinein
haben sich durch Niederschlag aus der Lust und durch schmelzenden Schnee die Zufliisse zum schwarzen Meer aus vielen kleinen Flussen und besonders aus den machtigen Stromen des Nordens, der Donau, dem Dniester,
Dnieper, Don und Kuban auBerordentlich gemehrt; und selbst in der wasserarmsten Zeit sind diese Zufliisse so stark, daB der meistens nur vier Stadien breite Bosporos nicht im Stande ist, die Gewasser des Euxeinos
abzuleiten, trotzdem daB diese Ableitung ununterbrochen dauert. Unter diesen Umstanden muBte das Wasser des Euxeinos immersort steigen und die Userlander an alien Seiten uberschwemmen. DaB dies nicht geschieht,
hat allein seinen Grund in der starken Verdampsung der groBen Flache des Euxeinos, deren Nebel- und Wolkenbildung nicht nur die Luft der nordlichen Kiisten, wie schon Ovid klagt, mit „Bergen" von Wasser ersiillt,
sondern auch bei den meistens herrschenden Westwinden vorzugs weise den Kaukasos wahrend der groBeren Halste des Iahres in Wolken und Nebel einhullt. Die naturliche Folge ist, daB sich vom Kaukasos eine groBe
Zahl reiBender Bergstrome ergieBen, die sich au jeder Seite zu zwei machtigen Flussen vereinigen, die sich westlich und ostrich in das schwarze und kaspische Meer ergieBen, an der Nordseite der Kuban (Saranges «der
Hypanis) und der Terek (Hybristes), an der Sudseite der Phasis und der Kur IKyros), Unter diesen ist der Phasis zwar der kleinste, aber er hat seine Quellen hauptsachlich zwischen den hochsten Spitzen des Kaukasos, dem
Elbros und dem Kasbek. Von hier stiirzen die Gewasser in steilen Betten herab und suhren eine Menge der verschiedensten Gesteine und bunter Kiesel bis an die Mundung des Phasis, denen sich dann am Strande noch
Muschelschalen zugesellen. Von diesen Kieseln und Muscheln (20A03, xc!/.i«5) hat Kolchis seinen Namen.
Da die ganze Gegend von Wald bedeckt ist „wie Germanien zur Zeit des Taeitus", so bringen die Fliisse natiirlich nach einem Regensturm eine Menge Holz mit herab, so daB die Schiffe ihren nothigen Holzvorrath aus
dem Meere aussischen. Es treibt namlich das durch die Fliisse und namentlich durch den Phasis herabgebrachte Holz vermittelst einer unabanderlichen Stromung von Siiden nach Norden an der Kiiste entlang. Diese
Beobachtung Gambas bestatigt Taitbon de Morigny in seinem Pilot 6e la mer uoirs st els la mer a'H.ssov: „die Stromungen im schwarzen Meer (sagt er) gehen vom Bosporos ostlich bis Kertsch immer starker an der
Kiiste riickwarts. Der Khopi und der Phasis und alle andern Fliisse wersen eine Menge Holz in's Meer, welches der Strom nach Norden mit sich sortnimmt. Vor den Mundungen der beiden Fliisse bilden sich Ablagerungen
von Erde und Kieseln, welche das Einlausen von groBen Schiff en nnthunlich machen." Diese Stromung erklart sich leicht aus der Uebersullung der westlichen Halste des Euxeinos durch die Fliisse und dem Streben
derselben nach dem Eingang des Bosporos. Das nicht durchgelesene Wasser wird genothigt, seinen Weg an der Kiiste entlang nach der ostlichen Halste zu nehmen, bis die Stromung die Meerenge von Assow erreicht. Von
hier wird sie durch die Fluthen des Don und Kuban unter die User der Taurischen Halbinsel und von da weiter nach Westen gedrangt.
Wahrend nun ZufluB, AbfluB und Verdampsung des Euxeinos sich in schonster Harmonie besinden, erzeugen die um den Kaukasos sich hausenden Dunste in den hoheren Regionen den surchtbarsten Streit der Elemente,
welche von jeher das schwarze Meer in den bosesten Rus gebracht haben. Es moge genugen zur Schilderung der hestigen Winde und Gewitterstiirme an den SchluB von Aeschylos Prometheus zu erinnern, wo sich die
Drohung des Zeus ersiillt:
„Schon wird es zur That! kein nichtiges Wort!
Es wanket der Grund, es emport sich die 2«,
Und Donnergebriill dumpsbrausend erschallt
Herrolleud, es zuckt in geschlangelteui Strahl
Lohgluhender Blitz, und der WindstoB jagt
Dunstwirbel empor; in verworrenem Streit
Wild toben die Wind' »u einander gehetzt
Allseitig im Ausruhr rasender Wuth.
In einander gepeitscht stiirzt Himmel und Meer!"
«lord ,-ndLl>d. vi, 17. 15
Es ist also wol kein Wunder, daB der Mythos dem Lande Kolchis am FuBe des Kaukasos einen Konig gab, der vom Winde seinen Namen hatte, Aietes (A1,A; von «??A1 wie «llro3 — «lroz), und daB dieser Konig eine
Tochter hatte, deren Name Medeia eine Heroine des Nebels, bezeichnet von s««» in der Bedeutung von „ausstreben", ahnlich wie Metis, die dem Zeus im Himmel vermahlte Tochter des Okeanos. Wer sich nun des
Ansangs der Sophokleischen Tragodie erinnert, wo Deianeira sich beklagt, daB der FluB Acheloos um sie sreie bald in Gestalt eines machtig einher schreitenden Stiers, bald in Gestalt eines sich schlangelnden Drachen, der
wird es auch begreiflich sinden, daB der Mythos dasselbe Bild vom Phasis gebrauchte, der bald als ein machtiger Stier vom Gebirg herabsturmte, bald durch die slache Ebene in Schlangenwindungen dahin floB.
Die Argonauten landen also an der groBen Argos -Ebene der Mundung des Phasis. Sie gewahrten den Kranz der machtigen Mauern des Aietes d. i, die Berge um Kolchis, und den Hain, die Waldungen des Ares, in denen
das goldene VlieB hing, „gleich einer Wolke" (nach Apollonios) au „schlossenumreister Buche". Aus Anstisten der Hera erschien nun Aietes mit seinen Tochtern, der Chalkiope, der Gemahlin des aus dem Riicken des
Widders hergetragenen, aber bereits verstorbenen Phrixos und der Nebelheroine Medeia. Im Wechselgesprach mit dem Iason wuchs dem Aietes der Zorn „wie ein Sturm wind": sie mochten den Besten der Ihrigen
auswahlen, wenn dieser die Kampse, welche er ausgeben werde, bestande, mochten sie das VlieB nehmen. Iason besteht diese Kampse mit Hiilse der Medeia, welche sogleich in Liebe stir ihn entbrannte. Die Stiere, welche
durch die aussteigenden Dampse als „seuerschnaubend" erschienen, jochte er ein und saete die Drachenzahne, welche einst Phrixos mitgebracht hatte. Den Drachen, der sich in gewaltigen Windungen um die Buche
schlangelte und seine Augen unverwandt aus das VlieB richtete, schlaserte er mit Zaubermitteln der Medeia ein. Daraus nahm er das VlieB vom Baum und brachte es aus das Schiff. Mit diesem, mit der Wolke und mit der
Medeia traten die Argonauten die Riickreise an.
Mit dem weichenden Winter hatten die Minyer Hellas verlassen; die winterliche Nasse hatte angesangen sich zu mindern, je weiter gegen Norden, desto spater. Als die Minyer sich anschickten, mit der Wolke d. h. mit
den Wolken den Phasis zu verlassen, war Herakles mit den Arbeiten, die Eurystheus, der sich vor ihm in den Brunnen verkroch, ausgegeben, wol meistens schon sertig, und es nahte sich die Zeit, da er um das
Sommersolstiz die Olympischen Spiele einsetzte oder erneuerte. Hin und wieder mochte ein Gewitter die durstende Erde erquicken; aber die dauernde Bewasserung aus der goldeueu Wolke konnte erst im Monat des
Erdbeuetzers, im Poseideon (Deeember) oder im Hochzeitsiuonat des Urauos und der Ge, im Gamelion (Ianuar) zuriickkehreu. Die Argonauten hatten also Zeit zu einer weiten Reise, deren Drangsale ihnen der Mythos
nicht erspart hat.
DaB die winterliche Nasse nach dem in Wolken gehullten Kaukasos hindrangte, konnte den Griechen in Europa und Kleinasien nicht verborgen bleiben, und sie haben dieser Natur-Ersahrung und Anschaunng auch in
andern epischen Gedichten Ausdruck gegeben. Wer aber vermochte den Wolken einen bestimmten eng begrenzten Weg zur Riickkehr vorzuschreiben? Das muBte Ieder sich sagen, daB jenes Wasser aus dem „redenden"
GieBbach bei Orchomeuos und alles Wasser, welches irgendwo in's Meer abslieBend als „Argosnasse" das Land verlassen hatte, nie aus demselben Wege zuruckkehren konnte. Dagegen muBte Ieder im Ansang des
nachsten Winters, des gieBenden Cheimon, die Ersahrung machen: das den Regen herabsendende WolkenvlieB kommt mit dem Regen sendenden Sudwind, dem Notos oder dem Romischen H.ust«r, von dem Vergil spricht
(.4 .en. 5, 696) ruit »Atlie« totu turdiaus imdsr «HUa aensiAus uiFBi-iimn3 auztris. Dieser Wind wehte von Asrika her, und welchen Weg ein Dichter die Argonauten mit der Medeia aus der Fahrt nach der Heimat nehmen
lieB, immer muBte er die Argo, sei es aus Fliissen und Meeren, sei es iiber Land, so leiten, daB sie an der Nordkiiste Asrikas ankam und von dort nach Hellas zuruckkehrte. So haben auch alle Dichter gethan, und wenn auch
die verschiedenen aus den verschiedensten Wegen die Argo abwechselnd bald aus dem Wasser schwimmend bald iiber Land getragen heimsuhren, immer geht der Weg iiber die Nordkiiste Asrikas. Es wird uns jetzt noch
obliegen, alle diese Wege nach den uns erhaltenen Sagen nachzuweisen. Wir diirsen dabei nicht vergessen, daB jetzt auch die Medeia, die Heroine der aussteigenden Dampse, die Argo bestiegen und mit ihrer Hiilse Iason
das VlieB, die Wolke, ans das Schiff gebracht hatte.
Welchen Weg Homer die „allen am Herzen liegende Argo vom Aietes" zuruckkehren lieB (Ocl. 12, 66), laBt sich nicht genau bestimmen. Hesiod lieB sie den Phasis stromaus warts sahren, dann den ostlichen Oeean
durchschiffen und an der Ostkiiste Libyens landen; von hier wird die Argo mit dem VlieB von den Argonauten durch die Wiiste bis an das Mittelmeer getragen, von wo die Fahrt bei Kreta vorbei nach Iolkos geht.
Denselben Weg nahmen Pindar und Antimachos an. Pindar bezeichnet denselben noch naher durch die Durchschiffung des Erythraischen Meers; auBerdem aber hebt er besonders hervor, daB die Argonauten aus den Rath
der Medeia das Schiff wahrend zwols Tage durch die Wiiste aus ihren Schultern getragen hatten. Wenn er unterlieB, dieselbe Bemerkung rucksichtlich der Reise von den Quellen des Phasis bis zum Oeean zu machen, so
geschah dies wol nicht aus geographischer Unkunde, sondern weil es die Ausgabe des Mythos war, Wahres zu erzahlen, aber scheinbar Wunderbares, Unglaubliches. Hekataos der Milesier lieB die Argo denselben Weg
nehmen und aus dem Oeean zum Nil kommen.
Aus einem andern Wege suhrten Timagetos, Kallimachos, Apollonios und andere die Argo zuriick. Nach ihnen ging die Argo von der Mundung des Phasis durch den Euxeinos an den Istros (Donau), suhr den FluB
hinaus bis an zwei Arme, welche die Sage in's Ionische Meer sich ergieBen lieB. Apollonios laBt sie diesen Weg nehmen, dann den Eridanos (Po) hinaussahren und iiber die Gebirge hinuber in den Rhodanos (Rhone). Von
hier geht die Fahrt durch das Tyrrhenische Meer, zwischen der Seylla und Charybdis hindurch nach Kerkyra, dem Reich des Alkinoos. Indem sie weitersahren, wirst ein Sturm sie in die Syrte an der Libyschen Kiiste, aus
der sie keinen Aus weg sinden, bis sie die Argo aus ihren Schultern und aus ihren Speeren zum See Triton tragen. Triton zeigt ihnen den Weg zum Meer und so kehren sie wohlbehalten heim. Auch Sophokles scheint die
Argo von der Mundung des Phasis durch den Euxeinos nach dem Istros gesiihrt zu haben.
Einen dritten Weg wahlen die Argonautika des Orpheus. Auch sie siihren den Iason und seine Begleiter iiber die Nordkiiste Libyens nach Hellas zuriick, aus einem Wege, der von dem bisher erwahnten sehr abweicht,
jedoch mit dem ubereinstimmt, der (nach Diodor 4, 56) von vielen alten und spateren Schriststellern, unter denen auch Timaos, angenommen war. Die Argonauten sahren den Phasis stromaus warts, gelangen aber nicht in
den ostlichen Oeean, sondern iiber den Kaukasos hinuber in den Saranges (Kuban), der sich in die Maotische See ergieBt. Wer bedenkt, daB es die Argosnasse ist, welche die Wolken tragt, der wird leicht begreisen, daB
diese Argo jetzt mit Leichtigkeit vom oberen Laus des Phasis iiber das Gebirge hinweg zu den Quellen des Saranges an der Nordseite des Elbros ihren Weg nimmt.
Wie heute haben auch schon im Alterthum diejenigen Gelehrten, welche die Mythen nicht verstanden, diese nnd ahnliche Sagen, deren wir schon mehrere erwahnt haben, als Beweise groBer geographischer Unwissenheit
angesehen. Man ist nur gar zu geneigt, zu meinen, daB die Alten in Dingen, worin wir unwissend sind, auch unwissend gewesen seien. Ieden Augenblick treffen wir im Homer und andern epischen Gedichten
Unglaubliches, Widersinniges, und vergessen, daB Aristoteles uns belehrt, daB es die Ausgabe des epischen Gedichtes ist, „Wirkliches zu erzahlen in ei.ner Form und Wortsassung, daB es unglaublich nnd wie ein Wunder
erscheine". Wer die Argonautensage verstand, stir den brauchte der Dichter nicht zu sagen, wie die Fahrt der Argo mit dem VlieB von den Quellen des Phasis zu den Quellen des Saranges durchaus mit der Wirklichkeit
ubereinstimme; und stir den, der den Mythos nicht verstand, wollte er es nicht sagen; ja, hatte er es gesagt, hatte er gerade seinen Zweck versehlt.
Unser Dichter siihrt nun die Argo den Saranges hinab in die Mitotische See. Er hiitet sich wohl, dieselbe durch den Kimmerischen Bosporos zu leiten, weil er wuBte, daB das winterliche NaB immer weiter nach Norden
zieht. Freilich kommt die Argo in unbekannte Gegenden, dem Dichter ist gar nicht darum zu thun, Geographie und Volkerkunde zu lehren. Manche Namen, die das Epos ersand, sind spater in die Geographie
ubergegangen. Nach Umschissung der Maoris scheint der Dichter zu sagen, die Argo habe das Wasser des Meeres mit den slachen Hiigeln und den brausenden endlosen Waldungen vertauscht und habe sich nun durch die
arktischen Grenzlande nach dem nordlichen Oeean bewegt. Er laBt aber nicht durchblicken, was Skymnos erzahlt, daB die Argonauten (wie nach jener andern Sage in Libyen) ihr Schiss aus ihr.en Speeren (in! c,«Awi»/yuv)
getragen hatten. Sie sanden an den Usern eines Flusses das Volk der Pakter und die Arkteier d. h. des „nordischen Eises". Aus den Thalebenen der Rhipaen kamen sie durch eine enge Stromung in den Oeean, den die
Menschen die hyperboraische See und das stumme Meer nennen. Hier wandten sie sich links, zur Rechten des Users. An der Nordseite des Oeecms zogen sie das Schiff, bis sie wieder unter den Westwind gelangten. Sie
sahren nun an der Westkiiste Europas entlang, erhalten hier von der Kirke Weisungen zur Siihne wegen der Ermordung des Avsyrtos, des Bruders der Medeia, und passireu dann die Saulen des Herakles, dann das
Sardoische Meer, die Seylla und Charybdis. Nach einem Ausenthalt aus Kerkyra, wo Iason und Medeia Hochzeit seiern, werden sie durch Stiirme in die Syrten verschlagen. Von hier kehren sie zuriick uach Hellas.
Die Rucksahrt von der asrikanischen Kiiste nach Hellas, worin also alle ubereinstimmen, erzahlten die Epiker kurz. Die Ausgabe war gelost, das goldene VlieB war zuriickgebracht — sreilich nicht zum Gliick des Pelias.
Er, der Heros des Flusses im Kiesbett (»lAu Kiesel, AA«3), wurde durch die Zauberkiinste der Heroine der aussteigenden Dampse in einem heiBen Kessel gekocht, und sand seinen Tod zwar nicht durch den Iason, aber
durch die von ihm mitgebrachte Medeia, welche noch die Heldin einer Anzahl Mythen wurde, schlieBlich ihre Nebenbuhlerin durch ein vergistetes Gewand verbrannte, ihre eigenen Kinder todtete und ihrem Wesen
entsprechend aus einem von der Sonne empsangenen Wagen sich in die Liiste erhob. Die Argo aber ankerte schlieBlich vor der oben erwahnten kleinen Stadt Tipha, der Heimat des Steuermanns Tipheus. — So war der
Kreislaus der Argosahrt beendet, um im nachsten Fruhjahr wieder von vorn anzusangen. Der religiose Mythos stellte das stets Wiederkehrende als Ein Mai geschehen dar, die Bewegung in der Natur als gewollte
Handlung. Nur in den Festen wahrend des Iahres seierte man die Wiederkehr. Wir aber im Norden ersahren jeden Sommer mehr oder weniger den Durchzug der Argonauten mit dem goldenen VlieB, wahrend sie von
Hellas sern bleiben, bis die Nephele sich wieder dem Athamas Vermahlt. Ohne die Riickkehr des goldenen VlieBes und der Argosnasse hort alle Vegetation und alles Leben aus, und Alle sind dem Hungertode
preisgegeben. Der Mythos nnd seine Symbole haben einen wiirdigen und wahren Inhalt, und mit Recht sang Homer (Odyss. 12, 70): „Arg» die alien ersehnte, die heimwarts suhr vom Aietes".
Theodor von Schon.
Von
Franz Kiihl.
— Konig sberg. —
mmer und immer wieder wendet sich die ossentliche Ausmerksmnkeit jenen traurigen Tagen zu, wo die napoleonische Zwingherrschast aus Deutschland lastete, wo es schien, als ob der Name der Deutschen aus der Zahl
der lebeuden Nationen weggestrichen werden sollte. Bestandig mehren sich die Veroffentlichungen, welche uns neue Ausschliisse iiber jene denkwiirdige Epoche und die handelnden Personlichkeiten darbieten, aber weder
das Interesse der Forscher, noch das des groBeren Publikums zeigt auch nur die geringste Spur von Ermattung. Im Gegentheil, es scheint sast, als ob alles Neue, das wir ersahren, das Verlangen nach weiterer Kunde unr
noch vermehre. Begreislicherweise ist es die preuBische Geschichte, welcher am meisten Antheil entgegengebracht wird. Denn — von allem Anderen abgesehen — so merkwiirdig auch die groBen inneren Umwalzungen
sind, welche sich damals in dem ubrigen Deutschland vollzogen, so miissen sie doch sowol dem Sinne nach, in dem sie ausgesuhrt wurden, als der Wirkung nach, die sie hervorbrachten, weit hinter der gleichzeitigen
Resormbewegung in PreuBen zuriicktreten. Es wird nicht zu viel behauptet sein, wenn man es ausspricht, daB jene ungliicklichste Zeit des preuBischen Staats zugleich die glorreichste in seiner Geschichte gewesen ist.
Welche tieseinschneidenden Wandlungen wurden damals vollzogen, welche Ausgaben gelost, welche Ziele gesteckt! Die Bestrebungen von damals sind auch heute noch nicht veraltet und bei dem langsamen Gange,
welchen seitdem unsere Entwicklung genommen hat, so rasch sich auch iu unseren Tagen die auBeren Ereignisse gesolgt zu sein scheinen, wird wol noch ein voiles Menschenalter vergehen miissen, ehe Alles verwirklicht
ist, was damals Einsicht und Vaterlandsliebe geplant. Ob aber mit der wachsenden ErkenntniB der Thatsachen aus jener Epoche und ihres allgemeinen Zusammenhanges auch die Einsicht in das Wesen der handelnden
Personen gleichmaBig sortgeschritten sei, dariiber lieBe sich streiten. Werden doch die Ansichten und Urtheile dariiber stets eine gewisse individuelle Farbung tragen miissen und werden Liebe und HaB hier doch noch viel
eher das Auge selbst Desjenigen zu blenden vermogen, welcher sich bewuBt ist, nur nach der reinen Wahrheit zu streben, als bei der Feststellung der nackten Thatsache, dessen, was geschehen ist. So wird denn vielleicht
der Versuch nicht unwillkommen sein, hier das Andenken eines Mannes zu erneuern, der in den Bewegungen jener groBen Zeit mitten inue gestanden und spater durch eine lange und reich gesegnete Wirksamkeit seinen
Namen mit der Geschichte der groBten Provinz des preuBischen Staates aus das Innigste verbunden hat, Theodor von Schons.
Zwar das Leben Schons historisch zu ersassen, alle Seiten seiner Thatigkeit genau sestzustellen und zu begrenzen, dazu reicht das Material, welches der Oessentlichkeit vorliegt, nicht aus. Aber um das Wesen des
Mannes zu erkennen, dazu geniigt es. Die vier Bande, welche bis jetzt von seinem schristlichen NachlaB dem Druck ubergeben worden sind, gestatten, von Wenigem und Geringsiigigem abgesehen, auch dem, welchem
nicht mehr das Gliick zu Theil geworden ist, ihn personlich zu kennen, einen vollen und tiesen Einblick in seinen Charakter, Die Publieatiou entspricht sreilich nicht alien Ansorderungen, die man billiger Weise stellen
konnte, wir haben jedoch alien Grund, dem Herausgeber dankbar zu sein, daB er uns gegeben hat, was er zu geben vermochte, statt uns noch langer aus die Verbs sentlichung so kostbarer Auszeichnungen harren zu lassen.
Es gibt allerdings, wie ja wol auch dem groBeren Publikum bekannt ist, verschiedene Ansichten iiber den historischen Werth dieser Papiere. Es hat sich ein lebhaster Streit dariiber entsponnen; stir mich personlich einer der
unerquicklichsten, denen ich begegnet bin. Mir wenigstens haben diese Verhandlungen stets einen ahnlichen Eindruck gemacht wie die zwischen Sachwaltern vor Gericht; man sehnt sich hinweg aus dieser schwulen
Atmosphare nach der reinen Lust unbesangener historischer Betrachtung. Aber ich mochte doch — um meinen Standpunkt von vornherein zu bezeichnen — nicht verhehlen, daB mir iiberall, wo ich in der Lage war,
nachzupriisen, die,Verteidigung starker erschienen ist, als der Angriff. Andere Betrachtungen, zu denen diese Polemik Veranlassung geben konnte, scheint es an diesem Orte angemessener, zu unterdriicken. Nur einen
Punkt ist es vielleicht zweckmaBig, noch besonders hervorzuheben. Wer eine wichtige Epoche in der Geschichte eines Staates zuerst im Zusammenhange darstellt, der wird als Historiker vielsach gegen die Spateren im
Nachtheil sein, denn die Quellen werden ihm in der Regel weniger reichlich flieBen, als seinen Nachsolgern. Aber Eines hat er vor ihnen voraus. Er schafft die populare Tradition; das Bild, welches sich ihm ergab, so
einseitig und individuell gesarbt es auch sein mag, wird das herrschende. Man wird daher zunachst immer geneigt sein, spater zu Tage kommenden Quellen und Aussassungen, welche seiner Darstellung wider sprechen, das
lebhasteste MiBtrauen entgegen zu bringen, wahrend es doch nicht immer ein ungiinstiges Zeichen stir den Werth einer historischen Quelle ist, wenn sie mit der gemeinen Ueberlieserung nicht ubereinstimmt.
Indessen die Leser brauchen nicht zu besurchten, daB sie in diese Fehden verwickelt werden sollen. Nur in wenig Fallen wird es stir unsern Zweck nothig sein, bestrittene Thatsachen heranzuziehen. Eine unbesangene
Charakterzeichnung Schous kann aber vielleicht wieder ihrerseits nach ihrem bescheidenen Theil dazu beitragen, die Anschaunngen iiber den Werth dessen zu klaren, was man als Schons Memoiren bezeichnet hat.
Bestimmend stir den Charakter Schons als Mensch wie als Staatsmann sind zwei Dinge gewesen: seine Konigsberger Studienzeit und seine groBe Reise. Er hat sich im Einzelnen nachher noch weiter entwickelt, er hat nie
ausgehort, Neues zu lernen', er ist klarer, einsichtiger, reiser geworden, aber er war im Wesentlichen mit seiner Bildung sertig, als er aus England zuriickkehrte. Die Einsichten und Anschaunngen, die er bis dahin
gewonnen, sie haben ihn durch's Leben geleitet. Wie umsassend, wie erhaben und andererseits wie ties eindringend muBten sie sein, wenn das moglich war, ohne daB er jemals hinter den Ausgaben der Zeit, hinter den
hochsten Ideen, die sie beherrschten, zuriickblieb! Es war sreilich eine Bildung, die er genossen, wie sie wenigen Staatsmannern iiberhaupt, keinem seiner Zeit zu Theil geworden ist.
„Mein Vater war ein gebildeter Mann", sagt er bezeichnend genug im Eingang seiner ersten Selbstbiographie, aber er war mehr als das, er war ein Freund Kants. Der groBe Weise ubernahm die Leitung der Studien des
sruhreisen Iiinglings, und Schon wurde, nach einem Ausdruck Rankes, zwar nicht wissenschastlich, aber praktisch sein groBter Schuler. Es ist zunachst seine tiese philosophische nnd allgemein wissenschastliche, nicht bios
aus die Gegenstande seines Fachs gerichtete Bildung, welche er Kant verdankt. Das weitgehende Interesse an jedem Fortschritt menschlicher ErkenntniB, die hohe Achtung vor der Wissenschast als solcher und das innige
VerstandniB, das er ihr entgegenbrachte, die bestandige Beschastigung mit der schonen Literatur, was Alles bei ihm weit tieser ging, als gemeiniglich in seinen Kreisen, wo man dergleichen vielsach zu treiben pslegt nicht
aus innerem BediirsniB, sondern als eine Art von Zierrath an dem Ernste des Daseins, das Alles diirsen wir wol aus den EinfluB Kants zuriicksiihren. Die letzten und hochsten Fragen, zu denen alle Philosophic siihrt, sie
haben Schon all sein Lebelang beschastigt. Der Reserendar bei der Kouigsberger Kammer verhandelte mit seinem Freunde Fichte iiber den Ossenbarungsbegriss und die Beweise stir das Dasein Gottes, der Greis studirte
Fenerbachs Wesen des Christenthums. Und ebenso geht aus Kant zuriick, wenn es auch durch den Verkehr mit Fichte gesestigt und ihm selbst wol erst zum BewuBtsein gebracht wurde, die Art, wie er die Dinge und das
Leben anschaute, das Ausgehen von Ideen, die Erhabenheit iiber den „Notizenkram", das Regeln jeder Sache nach Prineipieu, ohne sich durch zusallige oder vorubergehende AeuBerlichkeiteu, wie sie den Kern der Sache
zu verhullen pslegen, irre machen zu lassen. Die Weisheit, stets das zu thun, was der Augenblick ersordert, war uicht seine Weisheit; es war sein Bestreben, „nicht dem Augenblick zu leben, sondern der Idee", und zu
dieser suchte er iiberall vorzudringen. Ich glaube, kein Substantiv kommt in seinen Auszeichnungen so hausig vor, als das Wort Idee. Es war ihm das eigentliche Hauptwort. Es war ihm aber auch die Hauptsach«:. Nichts
ist ihm widerwartiger, als Ideenlosigkeit, das Kramen in historischen Reminiseenzen, statt aus die Sache selbst zu sehen, sein heutiges Handeln nicht durch das bestimmen zu lassen, was gut und zweckmaBig ist, sondern
durch das, was man selbst oder ein Anderer gestern gethan hat. „Wo Gedanken sehlen, da greist man immer nach Ersahrung," meint er einmal. Aber es gait ihm nicht nur selbst der Idee zu leben, sondern auch der
Gemeinheit zu trotzen. „Das Wesen meines Lebens ist ein Sturm aus Ideenlosigkeit und Gemeinheit gewesen," schrieb er in spaten Iahren an Varnhagen von Ense, und es ist die lautere Wahrheit. Er war kein Mann der
Compromisse, weder im Leben noch in der Wissenschast. „Man muh H. und non A sagen konnen," war seine Ueberzeugung. Die stolze Antwort, die er Friedrich Wilhelm IV. geben lieB, Se. Majestat konne iiber seinen
Kops disponiren, aber nicht iiber seinen Charakter, sie ist Nichts als der eorreete Ausdruck seines ganzen BewuBtseins.
Aber er hatte auch Vertrauen aus die Idee. Ihre Macht war ihm unendlich, und er war iiberzeugt, wenn man nur etwas unbedingt Gutes, welches zeitgemaB sei, vorhabe, so konne man gewiB aus Beistand von alien Seiten
rechnen. Und sein Vertrauen hat sich ost und glanzend bewahrt. Er siihrt als ein Beispiel die Wiederherstellung von Marienburg an; kaum eines erscheint aber wol so schlagend, als jenes Gesprach mit dem polnischen
Edelmann aus WestpreuBen, der zu Schon kam, um sich zu beschweren, daB er seinen Bauern eine Schule bauen solle, wahrend er doch ein Edelmann sei, und der von ihm sortging mit dem Entschlusse, die Schule zu
bauen, weil er ein Edelmann sei.
Kantisch ist auch die Ethik Schons, wieder sreilich stark beeinsluBt durch Fichte. „Du muBt, weil Du sollst," bekennt er als Grundsatz. Und kantisch scheinen seine religiosen Anschaunngen sein ganzes Leben hindurch
geblieben zu sein. Er hielt es stir eine Ausgabe des Staates, Gottessurcht im Volke zu nahren, aber nicht, wie wol Andere gethan haben, als ein Machtmittel stir die herrschenden Classen. Die Ausklarung der Nation deshalb
weniger zu besordern, weil dadurch der Geist des Zweisels geweckt wiirde, lag ihm sern. Er scheint einen verniinstigen Volksglauben stir einen Ersatz der Philosophic gehalten zu haben, welche doch nicht Allen zuganglich
ist. Von ihm selbst dars man wol sagen, daB er in dieser Riicksicht ein Kantianer strieter Observanz war. In den Verdacht, ein Atheist zu sein, ist er nie gekommen. Fiir ihn waren die Antinomien der reinen Vernunst kein
Hinterpsortchen, sondern das groBe Prachtthor, das zu seines Vaters Hause siihrte. Die Kirche dagegen diirste er als eine auBere Form betrachtet haben, entstanden in der Zeit, wandelbar und verganglich in der Zeit, ohne
eigenen und eigenthiimlicheu Werth. Vor Allem, was an Frommelei streiste, hatte er einen grundlichen Abscheu und nicht minder vor aller Theologie, die sich ausdringlich in den Vordergrund drangt und womoglich gar
Leben und Staat mit ihrem FirniB uberziehen will.
Und nun erwage man noch den EinsluB der Staatslehre Kants. Es hat allezeit eine Richtung gegeben, der sie auBerordentlich unbequem war, und noch ganz neuerdings hat sie Iemand dadurch herabsetzen zu konnen
geglaubt, daB er sie als einen AusfluB Rousseanscher Theorien bezeichnete. Es ist das nur ein Beweis davon, was unsere Zeit zu ertragen vermag. Welche politische Gedankenatmosphare Kant in Konigsberg verbreitet,
zeigt nichts deutlicher, als die neulich wieder hervorgezogene Schrist eines so loyalen Mannes wie Morgenbesser. Zu dem Friderieianischen PreuBen muBte diese Konigsberger Richtung theoretisch im schroffsten
Gegensatz stehen, wenn sie gleich praktisch zugeben muBte, daB unter den gegebenen Verhaltnissen eine andere Regierungssorm unmoglich und sast undenkbar sei. Was Schon hier ergriff, war vor Allem die Ueberzeugung
von der Notwendigkeit, die Idee der personlichen Freiheit zu verwirklichen, eine Ueberzeugung gegriindet aus die Achtung vor der Wiirde des Menschen, wie aus die Einsicht in ihre Unentbehrlichkeit stir einen wirklichen
Staat. Ein gluhender HaB gegen alle Selaverei, gegen Alles, was die angeborenen und unverauBerlichen Rechte des Menschen verletzte, lebte in seiner Brust; wenn er sich der Herrlichkeit Griechenlands ganz hingab, so
vermochte er doch nie iiber den schwarzen Schatten hinwegzukommen „der Selave ist ein lebendiger Hausrath" oder wie er es weniger eorreet ausdriickte: „8ervus ezt rss." Schon Kant — und er kaum als der erste — hatte
die Erbnnterthanigkeit als einen Schandfleck des preuBischen Staates bezeichnet, Schon selbst trat sie nachher in Schlesien in ihrer schlimmsten Gestalt vor Augen. Ihre Beseitigung war seitdem ein Hauptziel, das er sich
gesteckt, aber er schien nach seinem eigenen Ausdruck Arabisch zu den Leuten zu sprechen, die Nichts davon verstanden noch davon verstehen wollten. Erst nach dem Tilsiter Frieden erlebte er den Triumph seiner Idee,
und aus Nichts ist er mehr stolz gewesen, als daB er hier als eine Art Sprachrohr stir die bei alien Bessern allgemein verbreitete Meinung austreten konnte. Mehr aber als ein solches Sprachrohr gewesen zu sein, hat er in
dieser Frage niemals in Anspruch genommen.
Neben Kant preist Schon als seinen „herrlichen Lehrer" Kraus. Kraus ist der erste Lehrer der Staatswissenschasten in Deutschland gewesen, der sie von einem hoheren, als dem eameralistischen Gesichtspunkte aus
aussaBte. Er hat das System von Adam Smith in Deutschland eingebiirgert, mit uniibertrossener Klarheit dargestellt und aus dem Schat z seines Wissens nnd seiner Einsicht in vielen Punkten erlautert, modisieirt und
verbessert. Auch er war ein Mann der Ideen und zugleich wie Wenige geeignet, zu erkennen, wie diese Ideen aus das Leben anzuwenden und den gegebenen Zustanden mit moglichst groBer Schonung anzupassen seien.
Von Kraus stammt die staatswirthschastliche Bildung Schons, und die GroBe des Lehrers zeigte sich auch iu diesem Falle namentlich darin, daB er den Schuler nicht an seine Lehren sestbannte, sondern daB er ihm als
werth vollste Gabe den Trieb und das BediirsniB einfloBte, selbstandig weiter zu denken und weiter zu lernen. Die nationalokonomischen Grundsatze Schons zu erortern, die Art zu kennzeichnen, wie er sie anwandte, ist
hier nicht der Ort; er ist bekanntlich auch als Schriststeller aus diesem Gebiete ausgetreten. DaB er durch seine Ansichten vielsach in Gegensatz zu andern Staatsmannern gerieth, denen er sonst nahe stand, lieBe sich
erwarten, auch wenn man es nicht wiiBte. Nichts kann in dieser Hinsicht bezeichnender sein, als seine Bemerkungen iiber den Hardenbergschen Finanzplan von 1810, daB der Staatskanzler „gleich Ansangs von Geldmangel
und anderen unwissenschastlichen Dingen" ausgegangen sei. Nur die Aussassung mag es hier gestattet sein zuriickzuweisen, welche Schon die Grundsatze der sogenannten Manchesterschule zuschreibt. Es laBt sich im
Gegentheil nachweisen, daB er z. B. Zollund Verkehrspolitik nicht bios vom wirthschastlichen Gesichtspunkte aus betrachtete, sondern sie in Zusammenhang stellte mit alien andern Ausgaben des Staats, wie er denn,
obwol selbst ein Freihandler, sogar das russische Prohibitivsystem billigte, insosern es danach strebe, den sehlenden Mittelstand zu erzeugen.
Mit dieser theoretischen Ausbildung trat der junge Manu in den Staatsdienst; daB ihm der herrschende Schlendrian nicht behagte, wer mochte sich dariiber wundern? So reiste der EntschluB zu einer groBen Reise,
ansangs ohne daB ein bestimmterer Zweck damit verbunden war, als der, die Welt kennen zu lernen. Schon besuchte die westlicheren preuBischen Provinzen, Hannover, Hessen, Sachsen und Schlesien. Seine
Auschaunngen wuchsen, der Verkehr mit ausgezeichneten Mannern eroffnete ihm neue Gesichtspunkte, er lernte Vieles praktisch kennen, von dem er bis dahin nur theoretisch gewuBt hatte. Die sruchtbarsten Vergleiche
drangten sich in Menge aus. Aber entscheidend wurde sein zwolsmonatlicher Ausenthalt in England. Sein Freund WeiB hatte die Idee dazu angeregt; er schlug Schon vor, zusammen dorthin zu reisen, weil dort Richtungen
und Meinungen vorwalteten, welche von denen im groBten Theil der eivilisirten Welt abwichen. Die Vorbereitungen zu dieser Reise leitete Lichtenberg. Wer mehr von Lichtenberg weiB, als daB er Prosessor der Physik in
Gottingen und eiuer der glauzeudsten humoristischen Schriststeller war, wird das zu wiirdigen wissen. England und sein offentliches Leben haben in dem Deutschland des 18. Iahrhunderts, welches ein offentliches Leben
nicht kannte, zwei groBe Apostel gehabt, Georg Forster und Lichtenberg, beide verwandt in ihren Anschaunngen, aber Ieder eine andere Seite in den Vordergrund stellend, der Eine mehr die politische Freiheit betonend, der
Andere die groBartige Bewegung des soeialen Korpers. Und wie Forster eingewirkt hat aus Alexander von Humboldt, so Lichtenberg aus Schon. „Es gibt viele Leute, die Postpserde nehmen," hat ein geistreicher Franzose
gesagt, „aber wenige, die reisen," eine Ersahrung, welche sich im Zeitalter der Eisenbahnen nur noch schneidender ausdrangt. Schon verstand zu reisen und die Reise machte so zu sagen einen neuen Menschen aus ihm.
Horeu wir ihn selbst! „England stellte mir," sagt er in seiner ersten Selbstbiographie, „in Beziehung aus Staat, Theilung der Gewalten, Ttaatseinrichtungen, Justiz und Finanzwesen groBtentheils das vor Augen, was die
Wissenschast bis dahin mir gezeigt hatte. Durch England wurde ich erst ein Staatsmann. Wo der Mann, den wir als Bauer bezeichnen wiirden, iiber die gesetzgebende und vollziehende Gewalt klar spricht und die
Notwendigkeit der Trennung derselben einsieht, wo der Arbeiter, welcher die Ruben behackt, mir mit Freude zuries, daB er gelesen habe, mein Konig wiirde nun auch mit England verbunden der Coalition gegen Frankreich
beitreten, da ist im vollkommensten Sinne des Worts: offentliches Leben. ... In keinem Lande von Europa ist die Achtung gegen den Menschen und dessen Rechte so groB, als in England . . . und die Privatmeinung hilst
hier den offentlichen Gesetzen zur Sicherung der unverauBerlichen Menschenrechte noch nach. Die Gleichheit vor dem Gesetze hemmt alle AnmaBung der hoheren Stande und die Theilnahme au der Rechtsverwaltung
veranlaBt nicht allein Selbstandigkeit und Starke des Charakters, sondern verbreitet auch eine GesetzkenntuiB und eine KenntniB der gerichtlichen Formel, wie sie in keinem Lande Europas anzutreffen ist." Die Reise
machte Schon „klar iiber Staat und Volk". Nicht am Wenigsten iiber die Stellung des Konigthums. Das monarchische Prineip verstand sich stir den PreuBen von selbst, aber erst in England lernte Schon es philosophisch
begreisen. Der Konig ist ihm eine hohe Idee, aber er weiB ihn abzusondern von der Person des Menschen, der die Krone tragt. Und diese Idee des Konigs kann in einem groBen Staate nur verwirklicht werden, wenn ihn ein
in Einheit handelndes und dem Geiste, der Bildung und dem Charakter der Mitglieder nach in Achtung stehendes Ministerium umgibt und eine Representation des Volkes ihm zur Seite steht. „Der Satz: der Konig kann
thun, was er will, ist der seindseligste stir einen Souverain, der gedacht werden kann. Im rohen Zustande ubersehen die Volker Willkiir, ja Grausamkeit, wird es aber im Volke Tag, so werden jene beiden Institutionen aus
dem Interesse des Monarchen und aus dem intelleetuellen und moralischen Staudpunkte des Volkes von selbst hervorgehen und keine Macht der Erde kann ihre Entstehung verhindern." Wie ihm das englische Konigthum
als ein Ideal erschien, so auch die englische Aristokratie und zwar wegen der bedeutsamen Stellung, die sie zwischen Konig und Volk einnimmt und wegen der untrennbaren und sich immer erneuernden Verbindung, in
welcher sie mit dem letzteren steht. Schon gab sehr wenig aus den Adel, er war ihm ein nothwendiges Produet des niedern Culturstandes des Volkes und schien ihm in der Gegenwart nur noch Bedeutung zu haben, wenn er
als Kern des ossentlichen Lebens und als Bewahrer wie der Rechte des Thrones, so der Freiheit des Volkes dastehe. Die kiinstlichen Galvanisirungsversuche abgelebter Institutionen sand er mehr als lacherlich. Das
Werthvollste aber, was Schon von seiner englischen Reise mitbrachte, blieb immer die Anschaunng eines sreien Volkes, das sich selbst regiert, mit einer einsluBlosen Bureaukratie, wo durch die sreie Bewegung aller Kraste
das Gute gleichsam von selbst zum Durchbruch kommt, gesordert sogar durch den Widerstand, den es sindet.
Es war ein surchtbarer Coutrast, dem sich Schon ausgesetzt sah, als er unmittelbar nach seiner Riickkehr von London als Kriegsrath in das verkommene Nest Bialystok versetzt ward. Aber stir seine Entwicklung war es
nicht ohne Werth. Er war ja rein theoretisch gebildet und seine langjahrige Reise hatte ihn erst recht „aus die allgemeinen Verhaltnisse gestellt". Lebensklugheit hatte er, seinem eigenen GestandniB zusolge, aus AieBro 6s
oMoiis gelernt, einem Buche sreilich wie geschaffen stir einen Staatsmann, der lernen will, die Ansorderungen der Ethik mit dem Handeln in der Welt zu vereinigen. Selbstandig thatig war er im Staatsleben noch nie
gewesen. Der Minister von Schrotter verstand es, in die Entwicklung des werdenden Staatsmannes mit richtigem Blicke einzugreisen; wie er ihn sriiher eine Weile aus's Land geschickt hatte, um sich eine praktische
KenntniB bauerlicher Verhaltnisse zu verschaffen, so versetzte er ihn jetzt in diese kleinen und kleinlichen Zustande, wo er zu den ersten Grundlagen des Staatslebens zuriickgesiihrt wurde. Es war eine Zeit der
Contemplation und nicht von langer Dauer. Bereits 1802 ward Schon in das Geueraldireetorium in Berlin berusen und nun „ging ihm das Leben in der Staatskunst praktisch aus". Aber eiue Wirksamkeit im GroBen ward ihm
doch erst nach der Katastrophe von Iena zu Theil. Die Iahre 1807 und 180» sind ihm allezeit als der Glanzpunkt seines Lebens erschienen, weil es damals wirklich moglich war, von Ideen auszugehen und weil von den
hochsten Begriffen des Staatslebens in der That ausgegangen wurde. Der Antheil Schons an der Gesetzgebung jener Jahre ist ein hochst bedeutender, in manchen Punkten entscheidender gewesen; es ist indessen nicht
meine Ausgabe, aus die Fragen, welche sich hier ausdrangen, naher einzugehen. In den Hauptsachen waren die leitenden Staatsmanner wesentlich einig, im Einzelnen gingen sie vielsach auseinander und auch die Griinde
waren verschieden, welche einen jeden dieselbe MaBregel als nothwendig erkennen lieBen. Schon selbst hat spater bemerkt, bei der Betrachtung dieser Epoche nehme der PreuBe mit Stolz wahr, wie hier alle Ideen der
sranzosischen National versammlung durchgesuhrt seien, nur mit dem Unterschiede, daB in Frankreich Emporung und Ansruhr und Verbrechen aller Art die Entwicklung begleiteten, weil man dem Verstande dabei sein
Recht nicht zugestanden hatte, bei uns aber die Idee unmittelbar und allein durch ihre Macht und Herrlichkeit in's Leben treten konnte, weil dabei dem Verstande die ihm gebuhrende Ehre gegeben war. Denn von oben
sollte nach seiner Meinung in PreuBen die Revolution kommen, vom Konig sollte der Umschwung ausgehen; nicht zerbrechend, sondern auslosend sollte gewirkt werden. DaB nicht Alles erreicht wurde, was Schon
erstrebte, ist bekannt; ich mochte uameutlich daraus hinweisen, daB seine Vorstellungen, wie Heer und Volk mit einander in Verbindung gebracht werden sollten, niemals verwirklicht worden sind. Altenstein auBert in
einem Briese an Hardenberg vom Iahre 1808, Schon habe kein Attachement an den Konig, wohl aber die Idee der Gewalt des Volkes. Das ist eine Aussassung, die vielleicht nur der augenblicklichen Stimmung
entsprungen, jedensalls einer unbesangenen Betrachtung gegeniiber nicht haltbar ist. Altenstein hatte eben von der Stellung des Konigs zum Staate und zum Volke andere Anschaunngen, als Schon und eine geringere
Meinung von der Leistungssahigkeit eines sreien und patriotischen Volkes, als dieser. Und nicht minder unhaltbar ist die neuerdings hervorgetretene Ansicht, als habe Schon die historischen Grundlagen des Staates
miBachtet, als sei er unsahig gewesen, das historisch Gewordene in seiner Bedeutung zu verstehen. Im Gegentheil, er ist eher ein historischer Griibler zu uennen, er sucht die Charaktere aus ihrem Entwicklung sgauge, die
Zustande der Staaten aus ihrer Geschichte zu begreisen; iiberall geht er daraus aus, die Gegenwart „in den Gang der Weltordnung einzuordnen" . .Was er aber allerdings nicht konnte, das war zu begreisen, daB etwas
erhalten werden miisse, weil es historisch erwachsen sei, daB etwas gut sei, weil es lange bestehe. Als sein eigentliches politisches Programm hat er immer das sog. politische Testament Steins sestgehalten. Diese
Staatsschrist ist unzweiselhast von Schon versaBt, es sind seine Ideen, die sich darin aussprechen, er hat sich als Versasser in einem Moment und aus eine Weise bekannt, die jeden Gedanken an Popularitatshascherei
ausschlieBen: es ist kein Grund vorhanden, seine Mitteilungen iiber die Entstehung derselben zu bezweiseln. Stein hat sie unterzeichnet und dadurch mit zu seinem Eigenthum gemacht, das gehort mit zu seinem Ruhm. Es
sind drei Texte dieses Aktenstiickes bekannt, vielleicht gibt es noch mehr. Die Abweichungen sind unbedeutend, bios redaetioneller Art; es wird schwer sestzustellen sein und ist im Grunde gleichgiiltig, ob wir eigene
Correeturen Steins in einer der beiden erhaltenen Reinschristen vor uns haben. Aber wie war uberhaupt das VerhaltniB Schons zu Stein? Liegt eine Veranlassung siir die Verehrer Steins vor, ihn gegenuber den Urtheilen zu
vertheidigen, die Schon iiber ihn gesallt hat? Man wird doch kaum umhin konnen zu sagen: Schon ist dem groBen Manne nicht vollkommen gerecht geworden. Es ist sreilich kein bewuBt ungerechtes Urtheil, das er sallt,
am Wenigsten ein voni Neid dietirtes, und saBt man Alles zusammen, was Schon zu verschiedenen Zeiten iiber Stein geauBert hat, so ist er ihm ein genialischer Mann von eigenthumlicher nnd bewundernswerther GroBe.
Aber es ist nicht das Auge der Liebe, mit dem er ihn anschaut. Selten mag es auch in der That zwei Naturen gegeben haben, die sich antipathischer waren, wahrend sie doch zusammen nach demselben Ziele hinwirkten,
und diese Antipathie muBte bei Schon um so klarer zum BewuBtsein kommen, je weiter die Iahre gemeinsamen Wirkens zuriicklagen. Der Reichssreiherr vom und zum Stein war stolz aus den Adel und wollte ihm eine
leitende Rolle bewahren, Schon war ein Politiker des dritten Standes; Steins Staatsideal war stark mittelalterlich gesarbt, Schon lebte in den Ideen der neuen Zeit; der Eine hatte ein Christeuthum, das er angenommen ans
die Autoritat sriiherer Iahrhunderte hin, nnd einen starken Hang zur Mystik, der Andere war ein Kantianer; jener handelte aus Instinkt, sein Geist ersaBte und entzundete blitzartig, dieser ging vom Begriff aus, ruhige
Klarheit war sein Wesen; Stein war historisch, Schon war philosophisch gebildet. Und auch den kleinen Zug wollen wir nicht vergessen, daB Stein 18W noch nichts von Goethe kannte nnd als man ihn dazu brachte, den
Faust zu lesen, im Grunde weiter nichts da von zu sagen wuBte, als daB dies ein unanstandiges Buch sei, was ihn sreilich nicht verhinderte, sich den damals noch nicht erschienenen zweiten Theil auszubitten. Und dazu
kam noch etwas Anderes. Schon ist ein PreuBe durch und durch, auch die deutschen Dinge immer wesentlich vom preuBischen Standpunkte aus ansehend, mit einer gewissen Abneigung gegen die Auslander, welche, wie
er meinte, „unser Volk nicht verstehen", von anerzogener und nie verleugneter Anhanglichkeit an das konigliche Haus. Stein ist ein Mann ohne jede Ader speeisisch preuBischer Gesinnung, er siihlt sich als Deutscher
schlechtweg; er ist in den preuBischen Staatsdienst getreten, weil PreuBen die Interessen Deutschlands, wie er sie aussaBte, in die Hand genommen; alle deutschen Dynastien, die preuBische miteingeschlossen, sind ihm
zwar nicht praktisch, aber im Prineip gleichgiiltig.
Dieser letzte Gegensatz ist einmal ganz schroff zu Tage getreten, im Januar 1813. Stein hatte nur das deutsche und das allgemein europaische Interesse im Auge, aber er ubersah, wie die Art seines Austretens das
speeisisch russische besordern muBte; indem Schon ihm vom preuBischen Standpunkte aus entgegentrat, war der Consliet da. Die Art aber, wie er sich loste, gehort zu den schonsten Ruhmestiteln beider Manner. Schon
setzt nun die GroBe Steins darin, daB er „mit einem eminenten Geiste einer mit dem Herzen ausgesaBten Idee gelebt habe, namlich der des Vaterlandes, und dieser mit ganzer Seele und mit vollem Gemuthe und unbedingt,
mit ganzlicher Verleugnung seiner Person." „Dies," so sagt er, „ist seine GroBe, vor der ich mich beuge." Allein dabei hat er ein Moment vielleicht gesiihlt, aber nicht vollig begriffen, das Titanische in Stein, die
rucksichtslose Energie seines Charakters. Man kann Schon Recht geben, wenn er sagt, daB die Ursache zu Steins erster Entlassung ein kleinlicher Streit ge wesen sei; aber hatte Stein ebenso gedacht, so waren die Plane der
Immediateommission vielleicht niemals zur Aussuhrung gekommen, und es ist nicht, wie man gesagt hat, ein politischer Fehler Schons gewesen, daB er 1807 nicht selbst die Leitung des Staates ubernahm, sondern der
EntschluB ging hervor aus einer klaren Wurdigung dessen, was die Lage sorderte.
Denn Schons Energie war doch zum guten Theil eine Energie der Resignation. Er harrte der guten Zeit, er war der Mann, sie vorzubereiten und sie zu ersassen, sobald sie gekommen war oder gekommen zu sein schien,
aber er war kein Sturmer und Dranger, der das Alte iiber den Hausen wirst. Das hangt zusammen mit der triiben Grundstimmung seines Gemuths. Er war ein Optimist, aber nicht aus angebornem Gesiihl, sondern aus
Erwagungen des Verstandes, von Natur war er der ausgesprochenste Schwarzseher, Dingen wie Menschen gegenuber. In seinen spateren Iahren hat er diese Neigung zur Hypochondrie richtig erkannt und redlich mit
Kantischer Philosophic und Sauerkraut bekampst, aber sie laBt sich bis in die sruheste Zeit seiner amtlichen Wirksamkeit zuriickversolgen. Die schlimme Seite siel ihm leicht zuerst in's Auge, und das Ideenlose in den
Dienst der Idee zu zwingen, ward ihm schwer. Er hatte in seinem Verkehr nicht ganz den sittlichen Rigorismus Niebuhrs, aber es war nicht leicht siir ihn, in Kreisen zu verkehren und zu wirten, die er siir srivol und
verderbt hielt. In solchem Falle zog er es vor, sich zuruckzuziehen. Er mochte nichts von seiner sittlichen Personlichkeit auch nur zeitweise opsern, um seine Zwecke, und waren es die edelsten gewesen, zu erreichen. Den
inneren Kamps zwischen „Weltmann und Dichter" hat er nie gekampst. Er war allerdings weit entsernt davon, das siir einen Vorzug zu halten. Er bewunderte Wilhelm von Humboldt, dem es moglich war, sich in jede
Gesellschast hinein zu begeben, mit jeder und in jeder zu wirken, ohne innerlich von ihr be
Noro und Siid. VI, 17. IN
riihrt zu werden. Nichts kann diesen Grundzug seines Temperaments besser erlautern, als seine Tagebiicher von 1808 und 1813. Die Urtheile iiber einzelne Personen, wie sie sich dort sinden, eingegeben von den
Eindrucken des Augenblicks und von der Insormation, wie sie der Augenblick bringt, sind schwerlich harter, als Andere sie in derselben Zeit gesallt; man braucht bios an die Stimmung zu denken, der Jort so ost gegenuber
dem Blucherschen Hauptquartier Ausdruck verliehen hat. Bezeichnend siir Schon aber .ist die diistere Auffassung des Ganges der Dinge uberhaupt, das bestandige Betonen des Gegensatzes, welcher zwischen den
Anschaunngen und dem Charakter so vieler der maBgebenden Personlichkeiten und den Ansorderungen der neuen Zeit bestand. Man muBte mit der Geschichte der Folgezeit ganz unbekannt sein, wenn man im Ernst die
wenigstens theilweise Berechtigung dieses Standpunktes leugnen wollte, aber es verdient beachtet zu werden, wie Schon selbst diese Stimmungsbilder nachher als solche betrachtete, wie er seine damalige Auffassung
milderte und in das rechte Licht riickte, und mir wenigstens will es scheinen, — denn ein vollkommen ausreichendes Material liegt nicht vor, — als ob er mit den Jahren in seinen Urtheilen iiber Menschen und Dinge
immer edler und klarer und objeetiver geworden sei.
BeeinfluBt mag seine Stimmung auch dadurch sein, daB er mit seiner Bildung, ich will nicht sagen iiber, aber auBerhalb des Niveaus stand, welches der damaligen Entwicklungsstuse des preuBischen Staates entsprach.
Man braucht sich nur an seine Ansichten iiber das Militairwesen und an seine geringe Achtung vor den Ausgaben der auswartigen Politik und vollends vor den Diplomaten zu erinnern. Er ware ein groBer Minister in einem
eonstitutionellen Staate geworden, oder auch unter der Herrschast eines ausgeklarten Absolutismus im Stile Karls III., aber er war nicht der gegebene Mann siir das PreuBen Friedrich Wilhelms III. Es lag das sreilich nicht
zum wenigsten an dem Konige selbst. Ungemessenes Vertrauen hat er Schon entgegengebracht, in den zartesten Angelegenheiten seines Herzens unterwars er sich seiner Entscheidung; aber ihm einen leitenden EinfluB aus
den Staat zu geben, hat dem Konige immer widerstrebt. Er liebte es nicht, Manner dauernd in seiner Umgebung zu haben, deren geistige Ueberlegenheit ihm druckend werden konnte. Und so hoch Schon den Konig auch
stellte, das hat er gesiihlt und das empsand er schmerzlich.
Denn ein verzehrender Ehrgeiz oder, wenn man lieber will, ein grenzenloser Thatendrang lebte in dem Manne. Er war sich seines Werthes vollkommen bewuBt und auch von gelegentlichen Anwandlungen von Eitelkeit
ist er nicht ganz sreizusprechen. Aber nicht die Macht, geschweige denn Titel und Rang war es, was er erstrebte. Er war verschiedene Male in der Lage, Minister werden zu konnen, er hat jedesmal abgelehnt, weil man sein
Programm nicht annahm. Er surchtete, es werde Alles zu nichts siihren, als daB er selbst sinke und das wollte er verhuten. So nahm er mit einer bescheidenen provinziellen Wirksamkeit vorlieb, weil er hier nach seinen
Ideen verwalten konnte. Es ist merkwurdig, was er als Grund angibt, warum er sich 1809 gerade den Gumbinner Regierungsbezirk zuweisen lieB, Dort sei doch noch die wenigste Verbildung gewesen und er habe mit
Recht von den einsachen Menschen die meiste Klarheit erwartet. Das ist keine Rousseausche Ansicht von der Civilisation, sondern einsach die Einsicht, daB es leichter war, dort die Ideen der neuen Zeit zu pslanzen, wo
die der alten noch nicht recht Wurzel geschlagen. Ich muB es mir versagen, hier darzulegen, was er siir Litthauen, was er spater als Oberprasident siir WestpreuBen und dann siir die ganze Provinz PreuBen gethan hat, es
erscheint auch kaum nothig zu einer Zeit, wo die Erinnerung an diese Wirksamkeit Schons noch nicht erloschen sein kann. Nur die Art, wie er wirkte, lohnt es sich wol in kurzen Ziigen zu charakterisiren. Er saBte den
Oberprasidenten als einen Beamten, der ebenso wie der Minister die Verwaltung im Ganzen und im GroBen und nur so handhaben miisse, doch von dem Standpunkte der Provinz aus. Seine Hauptbestimmung miisse die
Verwaltung des „Departements des guten Geistes" sein, die Controle der Administrativbehorde erscheine daneben als untergeordnet. Zum Gist aber werde der Oberprasident siir die Provinz, wenn er es unterlasse,
Ministerialanordnungen, die siir die Provinz nicht passen, entgegenzutreten und in jedem solchen Falle seine politische Existenz einzusetzen. „Pers6nliche Unselbstandigkeit," so sagt Schon in seiner zweiten
Autobiographic, die eigentlich mehr eine Staatsschrist zur Lehre ist, „steht keinem Beamten wohl an und kann siir den Souverain niemals gute Fruchte tragen, aber bei dem Oberprasidenten ist sie die Siinde wider den
heiligen Geist, welche weder in diesem noch in jenem Leben verziehen werden kann." Und da ihm PreuBen als ein Staat mit protestantischen Unterthanen nur in der Intelligenz seine Basis zu haben schien, so war es die
Hebung der Intelligenz, die er in erster Linie versolgte. Er hat sich in der verschiedensten Weise der Ausklarung des Volkes angenommen; die Grundung einer Bibliothek und einer Zeitung gehorten zu seinen ersten
Handlungen in Litthauen. Mit Stolz konnte er aus die 400 neuen Schulen in WestpreuBen hinweisen, die unter seiner Verwaltung entstanden waren, aus die Bliithe der Universitat und der Gymnasien, aus die Ansange der
Realschulen, aus die politische und humane Bildung, durch die sich die Provinz auszeichnete. Diese Seite seiner Thatigkeit war ihm geradezu HerzensbedursniB. Denn ein allgemein wissenschastlicher, polyhistorischer
Trieb war immer in ihm rege. Er lebte mit alien Standen; seit er Arnau erworben, war er ein rechter Landwirth geworden; der Umgang mit dem gebildeten Kausmann war ihm vorzugsweise angenehm: aber am liebsten war
ihm doch der Verkehr mit Gelehrten. Er sah es gern, wenn er in die Probleme auch solcher Wissenschasten eingesuhrt wurde, welche ihm an und siir sich sern lagen; um Lebende nicht zu nennen, sei es gestattet, nur aus
seinen Verkehr mit Meineke, Bessel und dem Mathematiker Iaeobi hinzuweisen. Seine Beziehungen zur Universitat waren ihm iiber Alles theuer und es wird behauptet, daB es wesentlich mit an der Personlichkeit Sch6n»
gelegen habe, daB von den groBen Gelehrten, welche damals die Zierde der Konigsberger Hochschule ausmachten, keiner einem Ruse nach auswarts, so lockend sie auch oft waren, gesolgt ist. Aber Schon vergaB doch
auch niemals, daB er Staatsmann sei und kein Gelehrter. Er hatte zu viel Achtung vor der Wissenschast, um sich ihr gegenuber eine Competenz zuzuschreiben, die ihm nicht zukam und er wuBte auch zu wurdigen, warum
jener alte Konig seinem Sohn zuries: „Schamst Du Dich nicht, so gut die Flote zu blasen?" Systematische Studien hat er aus Gebieten, die ihm sern lagen, nicht gemacht. Die Gegenstande muBten ihm entgegengebracht
werden, er verlangte Anregung. So hat ihn Meineke zum Studium der Baukunst der Alten gesiihrt, so weckte Grote seine Beschastigung mit griechischer Geschichte. Aber wie empsanglich er siir alles GroBe war, das
bezeugen mehr als Anderes jene sast ruhrend zu nennenden Worte kurze Zeit vor seinem Tode: „Soll ich denn wirklich sterben, ohne den 12. Band von Grotes „MswrA ol fti-escs" gelesen zu haben?" Das VerstandniB siir
die bildende Kunst ist ihm spat ausgegangen, wie so oft im Norden, aber einmal erweckt, hat es die herrlichsten Fruchte getragen; Zeugen deB die Malerakademie in Konigsberg und Marienburg, Es diirste gegenwartig ein
besonderes Interesse gewahren, zu sehen, wie sich Schon als Verwaltungsbeamter zur katholischen Kirche gestellt uud wie er die preuBische Politik iusbesondere in dem Kolner Kirchenstreite beurtheilt hat. Bei seiner
ganzen Richtung konnte ihm das Versahren des Ministeriums in dieser Angelegenheit von Ansang bis zu Ende nur als eine Kette von Fehlern erscheinen, die schlieBlich zu einer Verwirrung gesiihrt, aus der eine Rettung
nicht mehr zu hossen war. Er muBte sich durch eine himmelweite Klust von einer Betrachtungs weise, wie etwa die Bunsens, getrennt siihlen und er hat diesem Gegensatz lebhaften Ausdruck verliehen. Was konnten auch
diese beiden Manner mit einander gemein haben, deren ganze Art zu empsinden ebenso verschieden war wie ihre Ziele? Ob Droste-Vischering moralisch berechtigt war, in Sachen der gemischten Ehen anders zn
versahren, als sein Vorganger, war siir Schon eine sehr untergeordnete Frage. Er hielt es siir den Grundsehler der preuBischen Politik, uberhaupt mit dem Papste oder gar mit einem Erzbischos wie mit einem eoordinirten
Souvercnn verhandelt zu haben. Ganz dieselben MiBhelligkeiten wiirden sich herausgestellt haben, so meint er, wenn man etwa mit dem hohen Rath der Herrnhuter oder dem Ober-Ermahner der Mennoniten verhandelt
hatte. Das einzig Richtige in der Kolner Frage ware gewesen, vor alien Dingen sestzustellen, ob man den Erzbischos geri chtlich zwingen konne, einer Anordnung des Papstes entgegen, gemischte Ehe einsegnen zu lassen,
ohne daB eine Verpflichtung zur katholischen Erziehung der Kinder eingegangen wurde. Im Falle diese Frage bejaht wurde, hatte eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet und als Folge derselben mit Geldstrase, Arrest
und Cassation durch Zuriicknahme des koniglichen Plaeets vorgegangen werden miissen. Erschien aber das gerichtliche Urtheil zweiselhast oder wollte man der politischen Folgen wegen eine Strase bis zur Entsetzung
vermeiden, so hatte man einsach die Civilehe allgemein einsuhren sollen. Dem letzteren Versahren wurden aber schon damals dieselben Grunde entgegengehalten, wie in unseren Tagen. „Theils konnte man sich," bemerkt
Schon, „von dem Gedanken, daB die Traunng die Ehe eonstituire, nicht lossagen, theils wollte man aus Pietat die Wichtigkeit der Kirche dabei erhalten." Hatte man sich doch in Berlin Rom gegenuber sogar bereit erklart,
die Civilehe aus dem linken Rheinuser abzuschassen! DaB sreilich damals Iemand der Regierung als eine mogliche MaBregel empsohlen habe, was ein protestantischer Prosessor der Theologie noch 1868 siir zweckmaBig
zu erklaren sich nicht entblodet hat, namlich den Brautleuten verschiedener Consession zu rathen, aus die Verbindung mit einander zu verzichten, wollen wir vorlausig siir unmoglich halten. Den kirchenrechtlichen Theil
des allgemeinen Landrechts hielt Schon gerade darum siir vorzuglich, weil von der Kirche als solcher darin gar keine Notiz genommen, sondern nur von der Kirchengesellschast, wie sie im Staate besteht, geredet wird.
Dieses Prineip habe man nur sesthalten und die einzelnen Bestimmungen vervollstandigen sollen. „Die katholische Kirche," so siihrt er aus, „gibt niemals ein Prineip aus, und jedes Negotiiren ist zwecklos. Findet es statt, so
kann es nur gute Folgen siir die Kirche haben. Nimmt man aber von der katholischen Kirche und deren Oberhaupte gar keine Notiz und kennt von Seiten des Staats nur die katholische Kirchengesellschast, welche im Staate
ist, und setzt dieser Prineipe mit der Forderung des unbedingten Gehorsams entgegen, so glaubt sich die Kirchengesellschast im Zustande des Zwanges, laBt ihr kirchliches Prineip .... aus sich beruhen und sucht selbst
Ausgleichung auszumitteln, wozu die katholische Kirche an sich und vorzugsweise der Iesuitismus ganz geeignet ist." Schon selbst ist, seinem eigenen ZengniB zusolge, mit acht katholischen Bischosen ganz gut
ausgekommen; einige AnstoBe, die sich ergaben, seien sehr bald wieder ausgeglichen worden. Es sei nur daraus angekommen, die Bischose zu der Ueberzeugung zu bringen, daB, wie sie aus jeden zulassigen Beistand im
Voraus rechnen konnten, auch nicht entsernt ein Uebergriss von Seiten der Geistlichkeit geduldet werden wurde, aus der andern Seite aber auch sie nicht mit Znmuthungen zu behelligen, aus welche ein katholischer
Geistlicher einzugehen auBer Stande ist. Das Festhalten an diesen Grundsatzen hat denn auch bewirkt, daB der kirchliche Friede in der Provinz PreuBen wahrend der Schonschell Verwaltung niemals gestort worden ist.
Ueber der Forderung der geistigen vergaB Schon indeB nicht die der materiellen Bedursnisse der Provinz. Sie verdankt ihm u. A. den Chausseebau und die erste Anwendung des Systems Mae Adam in Deutschland, die
Einsuhrung der seinen Schaszucht, vor Allem die Erwirkung und die einsichtige und uneigennutzige Durchsuhrung der allgemeinen Landesunterstiitzung. Und dabei ist es bezeichnend, wie er versuhr. Er liebte die
Bureaukratie nicht, das Berliner Beamtenthum war ihm speeiell ein Greuel, er suchte mit wenig Beamten, mit der Heranziehung moglichst vieler burgerlicher Kraste zu wirken. Er ging uberhaupt nicht daraus aus, Alles
von sich aus thun zu wollen, es handelte sich siir ihn im Grunde nur um die Anregung, in der Ueberzeugung, daB sich vermoge der Macht der Idee nachher Alles von selber machen werde. Und so lieB er denn auch
Manner, die einmal sein Vertrauen erworben hatten, wie Dint er, schalten und walten nach Gesallen, wahrend es im Allgemeinen nicht gerade zu den Annehmlichkeiten gehort haben kann, unter ihm zu dienen. Denn
wahrend er im vollen Besitz der seinsten Umgangssormen war und hosliche Beziehungen, wenn auch mit einer gewissen Ironie, mit Mannern zu unterhalten vermochte, welche ihm so antipathisch waren wie Kamptz;
wahrend er in Bezug aus eine wichtige Episode seines Lebens alien Anseindungen gegenuber einen Zartsinn bewiesen hat, welcher nicht allseitig genugend gewiirdigt zu werden scheint: so lag doch andererseits in seiner
Natur eine gewisse Derbheit und wurde bei seiuem ungeduldigen und galligen Temperament nicht bios von Beamten der alteren Schule osters geklagt, daB amtlich nicht mit ihm auszukommen sei. DaB man das in Berlin,
wo sich aus anderen Grunden ein griindlicher HaB gegen ihn ansammelte, doppelt empsand, versteht sich von selbst. Der glanzendste Moment der Schonschen Verwaltung ist bekanntlich die Zeit der Choleraepidemie von
1831. Ich mochte nicht so viel Gewicht aus die Seene legen, wie er von Arnau in die Stadt hereinkommt und, der surchtbaren Seuche Trotz bietend, wahrend die Zahl seiner Begleiter immer mehr zusammenschmilzt, an das
Lager der Kranken und Sterbenden tritt; es ist das des hochsten Lobes wiirdig, aber es war das doch nur ein physischer Muth, wie er ihn auch schon sriiher gezeigt, und wie er vielen Anderen auch inne wohnte.
Bedeutsamer scheint mir der moralische Muth zu sein, den er bewies, als er die sammtlichen koniglichen Verordnungen in Bezug aus die Krankheit ohne Weiteres von sich aus auBer Krast setzte. Und hierbei zeigte sich
auch aus das Glanzendste, wie seine ganze Erscheinung selbst einem Manne wie Friedrich Wilhelm III. imponirte. Der Konig, der sonst so eisersuchtig aus seine Macht und aus die Vollziehung seiner Anordnungen war",
sagte der Commission, die zur Untersuchung des eigenmachtigen Versahrens des Oberprasidenten nach Konigsberg gesandt wurde, beim Abgange: „Wird nicht viel dabei herauskommen; Schon immer Recht haben." Wie es
sich denn auch herausstellte.
So verwuchs Schon immer mehr mit der Provinz, er sah den Samen gedeihen, den er ausgestreut, er war stolz aus die Provinz und sie aus ihn. Allein es ware irrig, ihn in irgend einer Periode seines Lebens als einen
vorzugsweise provinziellen Staatsmann zu betrachten. Die Gesammtverhaltnisse des Staates, selbst die allgemeinen europaischen Angelegenheiten behielt er immer im Auge. Er harrte der Zeit, wo wieder Ideen wurden
wirksam sein konnen; trotz der truben Ersahrungen, die er von der Wirkung des herrschenden Systems machte, zweiselte er nicht, daB sie kommen wurde. Mit der Regierung Friedrich Wilhelms IV. schien sie angebrochen.
Schon hatte eine auBerordentlich hohe Meinung von dem Kronprinzen, insbesondere von der Reinheit und Idealitat seines Gemuths. Er stand ihm personlich nahe, und der Kronprinz gab seiner Verehrung stir ihn ost den
innigsten Ausdruck. Nach jenem Besuch in den Choleralazarethen z. B. machte er ihm brieslich die zartlichsten Vorwiirse, daB er sich so offenbarer Lebensgesahr aussetze, er musse daraus bedacht sein, sich seinen
Freunden, dem Vaterlande und ihm selbst zu erhalten. „Aber," so siigte er am Schlusse hinzu, „Sie werden antworten, was der Grunschnabel sagt, dem lege ich keinen Werth bei, ich thue doch, was recht ist." So glaubte
denn Schon das Beste von dem Prinzen hoffen zu dursen, obwol er in den letzten Iahren mit Schmerz bemerkt hatte, daB, insbesondere seit dem Tode Niebuhrs, die „Manner der sruheren sinsteren Zeit" groBen EinfluB aus
ihn erlangt hatten. Er hielt das nur stir Schatten, die wieder voruberziehen wurden, wenn auch einen Andern gewisse hyperromantische Ideen, die schon damals zu Tage traten, in seinem Vertrauen hatten wankend machen
miissen. Ietzt, nach der Thronbesteigung, suchte er direet aus den Konig zu wirken, in „Woher und Wohin?" entwickelte er ihm sein Programm. Wie das Alles gescheitert ist, habe ich hier nicht auszusuhren. Die Tage
Konig Friedrich Wilhelms IV. harren noch des taeiteischen Griffels, der sie den Nachgebornen vorsiihre zum unverlierbaren GedachtniB, denen aber, die sie durchlebt, im Zusammenhange deute. Nur Eins habe ich noch zu
erortern, die ost gehorte Behauptung, Schon habe in OstpreuBen die Opposition groB gezogen. Es haben sich gar seltsame Mythen daran gekniipst; es ist sogar behauptet worden, er sei bei der Absassung der „Vier Fragen"
betheiligt gewesen und habe Iaeoby bei seinen verschiedenen Rechtsertigungsschristen unterstiitzt. Das bedars wol kaum noch der Widerlegung. Denn wenn jemals Iemand geistig aus eigenen FuBen gestanden hat, so war
es, dariiber sind wir wol Alle einig, Iohann Iaeoby. Ueberhaupt ist die kiirzlich wie eine allgemein bekannte Thatsache keck in die Welt geschleuderte Ersindung von einer innigen Verbindung der beiden Manner ohne
jeden historischen Kern, so wenig man auch etwas Aussallendes darin sinden
konnte, wenn sie wahr ware. Vor dem Erscheinen der „Vier Fragen" bestand zwischen ihnen, wie Schon au den Konig schrieb, auch nicht die geringste gesellschastliche Beziehung; spater haben sie, wie Iaeoby kurze Zeit
vor seinem Tode aus Besragen erklarte, einige wenige Male mit einander verkehrt, wie es natiirlich ist bei Mannern, die eine hervorragende politische Stellung einnehmen, ohne sich jedoch jemals personlich naher getreten
zu sein. Die jetzt veroffentlichten Briese Schons aus dem Ansang der 40 er Iahre gestatten nicht einmal, ihn so ganz eigentlich als den Fuhrer der standischen Opposition zu betrachten. Seine damalige politische Stellung ist
iiberhaupt schwer zu desiniren; er laBt sich in den politischen Parteien seiner Zeit sast so wenig unterbringen, als in denen der unsrigen. Und ein Parteimann war er gewiB nicht. Ieder musse in dieser Zeit aus sich selbst
stehen, schrieb er 1847 an Gervinus, als er die Widmung von dessen Pamphlet iiber das Patent vom 3. Februar ablehnte, obwol er mit dem Inhalt der Schrist ganz einverstanden war. Aber jene Ansicht ist doch nicht ganz
unbegriindet. Den Geist, der in der standischen Opposition hervortrat, hatte Schon geweckt, ihre Forderungen waren nach seinem Sinn und er war stolz aus die Haltung PreuBens. DaB man in Berlin ihn stir den Landtag
nahm, hat ihm geschmeichelt. Die Gewahrung jener Forderungen, die Ersullung des Versprechens von 1815 hielt er zudem stir ein Gebot politischer Notwendigkeit, und schwere Katastrophen waren dem Vaterland erspart
geblieben, wenn man seine treuen Warnungen nicht iiberhort hatte. Die ganze Schwere dessen, was da kommen sollte, hat er sreilich selbst 1844 noch nicht vorausgesehen; er meinte damals noch, das preuBische Volk sei
zu gesetzlich und zu treu, als daB das Bemuhen, gewaltsam seinen Culturzustand zuriickzustellen, zu Gewalthandlungen suhren sollte.
Es gabe noch manche Seite in dem Charakter Schons, welche Stoff zu sruchtbaren Erorterungen darbote; ich konnte noch aus sein Privatleben eingehen, ich konnte — ein gar nicht unwichtiges Moment! — seine
Urtheile iiber Zeitgenossen analysiren, die von anderen Aussassungen ja oft so weit abstehen, ich konnte — doch was lieBe sich nicht noch Alles iiber Schon sagen! Das Ausschlaggebende hoffe ich in dem Vorstehenden
zusammengesaBt zu haben und ich wiirde hochersreut sein, wenn kundige Beurtheiler sinden sollten, daB es mir gelungen sei, wenigstens die Hauptziige in dem Wesen Schons richtig zu ersassen. Gliicklich aber wird der zu
preisen sein, dem es vergonnt sein wird, im vollen Besitz und mit voller Beherrschung des Stoffes der Nachwelt ein ganzes und in sich geschlossenes Lebensbild des groBen Mannes zu entwersen.
Medicinische Glossen zum Hamlet.*)
Von
Aarl LHiersch.
— leipzig. —
iir einen Prosessor der Chirurgie ist es schwer, ein Thema zu finden, mit dem er vertraut ist und das sich zugleich stir eine Gelegenheit, wie die heutige, eignet. Halt er sich innerhalb der Schranken seines Beruss, bleibt er
bei seinem Leisten, spricht er z, B. iiber Hospitaler, iiber weibliche Krankenpflege, oder wie wir es so herrlich weit in der Chirurgie gebracht, so mag das recht belehrend sein, aber trotz all' seines Bemuhens wird sich nach
kurzer Zeit die unersreuliche Wolke der Langenweile aus die hochansehnliche Versammlung herabseuken.
Wahlt er dagegen ein Thema von allgemeinem Interesse, dem er jedoch serner steht, so ist er der Gesahr ausgesetzt ein, wenn auch wohlwollendes, doch geringschatziges Lacheln bei seinen Zuhorern hervorzurusen.
Alles dies und noch einiges habe ich dem Herrn Direetor Dr. Wachsmutl) entgegengehalten, als er mir die ehren voile Aussorderung brachte, mich an diesen „monumentalen" Vorlesungen zu betheiligen, indessen, wer kann
seiner liebenswiirdigen Energie widerstehen, und so habe ich mich entschlossen, mein Lichtstiimpschen an dem Sonnenseuer Shakespeares anzuziinden und vor Ihnen als Dilettant zu erscheinen, denn am Ende ist es doch
besser ein lachelndes, als ein gahnendes Publikum vor sich zu haben.
DaB ich aus Shakespeare und Hamlet kam, war ein Zusall; nach langer Pause hatte der Theaterzettel einmal wieder „Hamlet" angekiindigt, und da es stir einen Vater immer ein sestlicher Tag ist, wenn er Ge
*) Vortrag, gehalten zum Besten des Leipziger Eiegesdeukmals am 1, Marz 1878 inl Gewandhaussaale zu Leipzig,
legenheit sindet, seinen Kindern zur rechten Zeit die personliche Bekanntschast der Meisterwerke aller Zeiten zu vermitteln, so war ich veranlaBt, die Vorstellung zu besuchen. Sie werden von mir keine Kritik der
Vorstellung erwarten, stir Kritik ist in unserem Leipzig hinreichend gesorgt, auch gehore ich weder zu den „Theatersreunden"A) noch zu den Theaterseinden, bin ein Mann des Friedens, halte es mit einer vorsichtigen
Neutralitat, ersreue mich des Guten, laB mich vom Besten uberraschen, dem Geringen geh' ich aus dem Wege — und besinde mich wohl dabei.
Da ich die ganze Zeit mich mit der Sorge trug, ob sich wol ein geeignetes Thema stir meinen Vortrag sinden wiirde, da ich bereits ansing als Redner, der ein Thema sucht, meinen Freunden gesahrlich zu werden, da
mich die graue Sorge auch in's Theater begleitete, so ist es nur natiirlich, daB ich in dem Bericht des alten Hamlet, wie er im Schlas urn's Leben gekommen, sosort ein geeignetes Thema erblickte. Gleichzeitig gruppirte sich
vor meinem inneren Auge der ganze iibrige medieinische Stoff, welcher im Hamlet zu Tage liegt: die Todtung des Polonius, — der wirkliche Wahnsinn der Ophelia und ihr Tod, — der verstellte Wahnsinn Hamlets, — der
Tod des Hamlet und des Liiertes durch vergistete Waffen, — der Tod der Konigin durch den Gistbecher, des Konigs durch Gist und Degen zugleich, und wenn auch die Auslosung der Perle im Wein mehr in's
Pharmaeeutische schlagt, so haben hinwieder die Ansichten Hamlets und der Todtengraber iiber Verwesung und Stoffwechsel entschieden einen medieinischen Beigeschmack; kurz Stoff genug, um einen Folianten mit
medieinischen Commentarien zu sullen, aber surchten Sie nichts, ich werde mich aus eine kleine Auswahl beschranken und mit der vorgeschriebenen Zeit auskommen, die Todesart des alten Hamlet, Ophelias wirklichen
und Hamlets verstellten Wahnsinn werde ich mir erlauben vom arztlichen Standpunkt zu erlautern.
Meine KenntniB Shakespeares, als ich an die Arbeit ging, etwas stir Sie zurecht zu machen, iiberstieg nicht den gewohnlichen Durchschnitt. Ich wuBte beilausig, was Lichtenberg, Lessing, Goethe, Gervinus und einige
andere iiber ihn geschrieben, nun aber besand ich mich plotzlich in einer zahlreichen Gesellschast, zusammengesetzt aus vielen hundert Personen sast aller Volker und Berussklassen. Merkwiirdig gingen in dieser
Gesellschast die Meinungen iiber unsern Dichter auseinander: den Einen war er der hochste Genius der Menschheit von umsassender Bildung, den Andern ein unwissender Schauspieler von mittelmaBiger Begabung; den
Einen der Typus mannlicher Unabhangigkeit und makelloser Lebenssuhrung, den Andern ein serviler Schmeichler ohne jeden moralischen
1) Eine tiesgehende und weitverbreitete Verstimmung der Leipziger iiber ihre Theaterzustande hat den „Verein der Theatersreunde" in's Leben gerusen, der zur Erreichung seiner Zwecke auch vor starken Mitteln nicht
zuriickscheut.
Halt, den Einen ein planvoller und tiessinniger Dichter, den Andern ein leichtsertiger Zusammenslicker von Dramen aus gestohlenen Fetzen. Dabei bemerkte ich, wie die Vertreter der verschiedensten Geistesrichtungen und
Leoensthatigkeiten ihn zu dem Ihrigen rechneten. Die orthodoxen Protestanten, die eisrigen Katholiken, die Deisten, die Pantheisten, Atheisten, Pessimisten und Nihilisten erklarten ihn stir den Ihrigen, die Iuristen und die
Medieiner, die Philosophen, die Botaniker, die Stallmeister, die Jager, die Landwirthe, Seesahrer und Andere — alle meinten, er musse sich gerade mit ihrem Fache, nicht bios theoretisch sondern auch praktisch, besonders
beschastigt haben. Kein Wunder, denn A
„Im Spiegel, der Natur vom Dichter vorgehalten,
Mag dem Beschauer sich sein liebes Ich gestalten."
Auch iiber Hamlet als Kunstwerk, und iiber Hamlet als Charakter, sand ich groBe Meinungsverschiedenheit. Die alte Goethesche Aussassung, daB Hamlet zu Grunde gehe, weil er von „des Gedankens Blasse
angekrankelt", zu schwach sei stir die ihm gewordene Ausgabe/ hat die verschiedensten Einschrankungen und Entgegnungen ersahren; ja einer der neuesten Kritiker sindet, daB Hamlet ein durchaus thatkrastiger und
energischer Charakter ist, der nur deswegen mit der Rache zogert, um vorher die Schuld des Morders vor aller Welt zu enthullen und so bei der Aussuhrung der Rache vor der offentlichen Meinung gerechtsertigt zu
erscheinen. Wahrend die Einen in Hamlet das tiessinnigste und kunstvollste Produet des menschlichen Geistes erblicken, sehen die Andern in ihm ein Stuck voller Widerspriiche, in welchem die Katastrophe miihsam bis
zum siinsten Akt hinausgeschoben wird, weil mit der Ermordung des Konigs im ersten Akt das Stuck sosort zu Ende ware, und bekannt ist Voltaires Urtheil, daB Hamlet trotz mancher Schonheiten der Traum eines
betrunkenen Wilden sei, „ 1 -imaFiuarwu a'uu 3»uvacfs ivre". Leider sand ich nicht Zeit, mich bei alien Shakespearekundigen Raths zu erholen, und so muB ich aus Ihre Nachsicht rechnen, wenn ich ein oder das Andere
iibersehen haben sollte. A)
2) Sehr erleichtert wird das Hamletstudium durch die Hamletausgabe von FurneB, Lond. und Philad. 1877 (III. und IV. Band der „Nsn variorum eairlou of Lnakszpeare"), Diese FurneBsche Ausgabe gibt den Text mit
alien Varianten und kritischen Bemerkungen, daneben u. A. aussuhrliche Ausziige von Schriften und Aussatzen iiber Hamlet, ansangend mit H.ntnon? eAI ol Lb.«.ttezdui7, 1710, „tHaraetsriztie8 , aavies to an autbor" bis aus
Dr. H, Baumgart, 1877, „Die Hamlettragodie und ihre Kritik". — William Shakespeare von C, Elze, Halle 1876, Shakespeares Hamlet von demselben, Leipzig 1857, Shakespeares Hamlet von Tzschischwitz, Halle 1869,
Lnali8spBare in Uei-man? von Albert Lohn, Lond. 1865, sind die Biicher, denen ich neben dem FurneBschen Hamlet am meisten Belehrung verdanke. Auch sind mir aus mein Ersuchen von verschiedenen Seiten
namentlich iiber „Hebenon" brieslich Nachweise zugegangen, stir die ich zu Dank verpflichtet bin.
Lriel let ine de. — 3IeepinB witnin mv orcnara*
AIv cu81c>m alwa;8 in tne »lternoon,
Upon in)' secure nour tnv uncle 8 wie,
-VVitn Auice ol cur8e6 uedenon in a vial,
Hn6 in tne porches ol inv ears c!i6 nour
Lne Ieperc>u8 cti8tilment; wno8e ellect
Ho 168 8ucn an enmitv witn dloc>6 ol man,
Lnat swilt a8 Huic!18ilver, it cour8es tnrouAn
Lne natural Aate8 an6 allev8 ol lne do6v;
A.ncl, with a 8u66en viAour, it 6otli pu88et
Ancl cur6 like eaBer 6ronninB8 into milk
lne tliin an6 wnole8nine dloodi 8c> 6ic> it mine
Ana* a mo8t instant tetter darkecl adout,
>I«8t lalarlike witn vile an6 loatli8ome crust
All inv 8mc>otn do6v.
Inu8 Aa8 I 81eepinA, dv a drotners liana*
Ul lile, ul crcnvn, c>l cAueen, at once 6i8f>atcne6:
A. w. 5chlegels Uebersetzung.
Geist: Doch still, mich diinkt, ich witt're Morgenluft:
Kurz laB mich sein. — Da ich im Garten schlies,
wie immer meine sitte Nachmittags,
Veschlich Dein Vheim meine sichre stunde,
Mit sast verfluchten Vilsenkrauts*) im Flaschchen,
Und trauselt in den Eingang meines Ghr's
Das schwarende Getrank, wovon die wirkung
so mit des Menschen Vlut in Feindschaft steht,
DaB es durch, die naturlichen Kanale
Des Korpers hurtig, wie Vuecksilber laust;
Und wie ein saures laab, in Milch getropst,
Mit plotzlicher Gewalt gerinnen macht
Das leichte, reine Vlut. so that es meinem,
Und Aussatz schuppte sich mir augenblicklich
wie einem Lazarus, mit ekler Rinde
Ganz um den glatten leib.
2o ward ich schlasend und durch Vruderhand
Veschnellt um leben, Krone nnd Gemahl
Die entsprechende 5telle aus der Tragodie „der bestraste Vrudermord
oder Prinz Hamlet aus Dannemark". Manuscript mit dem Datum
„pretz 2? October A7A0".
ADieses MS, ist als die modernisirte Copie einer viel alteren Redaction zu betrachten. Es war eine Zeitlang im Besitz des beruhmten Schauspielers Conrad Eckhos (geb. in Hamburg 1720, gest. in Gotha 1778) und wurde
1781 von H. A. O. Reichard in seiner Zeitschrist „011a Potrida" gedruckt. A. Cohns Shakespeare in Germany. London 1865, p. 236.)
Geist: Hore mich, Hamlet, denn die Zeit kommt bald, daB ich mich wieder an denselben Vrt begeben muB, wo ich hergekommen; hore, und gieb wohl Achtung, was ich dir erzahlen werde.
Hamlet: Rede, du seliger schatten meines Koniglichen Herrn Vaters.
Geist: 2o hore, mein 2ohn Hamlet, was ich dir erzahlen will von deines Vaters unnaturlichem Tode.
Hamlet: was? Unnaturlichem Tode?
Geist: Ja, unnaturlichem Tode! wisse, daB ich den Gebrauch hatte, welchen mir die Natur angewohnet, daB ich taglich nach der Mahlzeit zu Mittage in meinem Koniglichen lustgarten zu gehen pstegte um allda mich
eine stunde der Ruhe zu bedienen. Als ich denn eines Tages auch also that, siehe, da kommt mein Kronsiichtiger Vruder zu mir, und hatte einen subtilen 2aft von Ebeno genannt bei sich: dieses Vel oder sast hat diese
wirkung, daB, sobald etliche Tropsen von diesen unter das menschliche Gebliit kommen, sie alsobald
*) versluchten Bilsenkrauts) in Bodenstedts Ubersetzung „giftigen Eibensaftes". alle lebensadern verstopsen, und ihm das leben nehmen. Diesen 2aft goB er mir, als ich schlies, in meine Vhren, sobald dasselbe in den
Kops kam, muBte ich augenblicklich sterben, hernach gab man vor, ich hatte einen starken 3chlagsluB bekommen. Also bin ich meines Reichs, meines weibes, und meines lebens von diesem Tyrannen beraubt.
Unter 1 sinden Sie den altesten englischen Text, wie ihn die Ouarto I vom Iahre 1603 gibt. Diese Quarto I ist eine sogenannte Raubausgabe, ein illegitimes Kind des Buchhandels. Sie wird von Manchen stir eine
Verstummelung des echten Textes gehalten, ich glaube aber, daB diejenigen recht haben, welche in ihr eine sriihere Redaction, die wol bis in die 80 er Iahre zuriickreicht, erblicken.
Sie ist allerdings bedeutend kiirzer als der spatere Text, sie zahlt 2143 Zeilen, Quarto II um etwa 576 Zeilen mehr, und es ist richtig, daB derartige Verkiirzungen gewohnlich dann stattsinden, wenn das Stuck bei der
ersten Aussuhrung Langen zeigte, ja Schiller muBte seine Stiicke schon vor den ersten Aussuhrungen kurzen. Mit Shakespeares Dramen mag es sich jedoch anders verhalten haben. Shakespeare war kein studirter Dichter,
seine Dramen entstanden gleichsam aus der Buhne, wuchsen, entwickelten und veredelten sich mit dem Dichter; von mehreren Stiicken ist dies nachgewiesen, wahrend Titus Andronieus in seiner ersten Fassung stehen
blieb, in seiner Entwickelung gehemmt wurde.
Der Charakter der Konigin ist in dieser Quarto I weniger ungiinstig dargestellt, der Wahnsinn Hamlets tritt mehr hervor, den seenischen Ausbau sanden die beiden Devrient wirksamer und legten ihn deshalb ihrer
Buhnenbearbeitung zu Grunde. Sie werden bemerken, daB die Orthographie dieses altesten Textes mangelhast ist, und Sie glauben vielleicht, dies riihre daher, weil die Ausgabe eine unrechtmaBige war, indessen auch die
spateren legitimen Ausgaben zu Shakespeares Lebzeiten sind kaum besser beschaffen. Die Orthographie war noch nicht sestgestellt, von einer sachverstandigen Revision des Druckes war keine Rede, und Shakespeare selbst
bekummerte sich nicht darum. Ein aussallender Umstand, da er redlichem Erwerb nicht abgeneigt und sich des Werthes seiner Werke wohl bewuBt war. Vielleicht waren seine Dramen in den Besitz seiner
Theatergesellschast ubergegangen, so daB er an ihrer Herausgabe kein Geldinteresse hatte, aber auch so sollte man denken, daB es ihm nicht gleichgultig sein konnte, in welcher Gestalt seine Werke aus die Nach welt
kommen wurden. So kam es, daB der Text aller Shakespeareschen dramatischen Werke ein, durch die Schuld von Abschreibern und Setzern durchaus verdorbener ist und die Text-Kritik besitzt in ihnen eine nie versiegende
Quelle. Shakespeare zog sich beim Anwachsen seines wohlerworbenen Besitzes mehr und mehr vom Theater zuriick, und als er wenige Iahre vor seinem Tode ganz nach Stratsord iibersiedelte, um als wohlhabender Haus-
und Grund-Besitzer sich unabhangiger MuBe zu ersreuen, hegte er vielleicht die Absicht, eine eorreete Ausgabe seiner Werke zu veranstalten; allein schon 1616 starb er, erst 52 Iahre alt, wahrscheinlich an einem rasch
verlausenden typhosen Fieber.
Fur Freunde alter Drucke diene die Notiz, daB von Quarto I zwei Exemplare bekannt sind. Das eine wurde in ganz verdorbenem Zustande 1823 in Barton ausgesunden und ist stir 230 ,L in den Besitz des Herzogs von
Devonshire ubergegangen; das andere Exemplar wurde 1856 einem Studenten vom Triuity College in Dublin von einem Antiquar stir einen Shilling abgekaust, ging stir 120 Lstr. in den Besitz von Halliwell iiber und
besindet sich jetzt im „British Museum". Dem ersten Exemplar sehlt das letzte, dem zweiten das erste Blatt.
Der 2. englische Text ist der gewohnliche, nach den spateren Ausgaben sestgestellte.
3. ist die Ihnen alien gelausige Schlegelsche Uebersetzung mit einer Vodenstedt'schen Variante, welche das Gist als „Eibensast" bezeichnet.
Unter 4 habe ich den Text eines altmodischen deutschen Hamlet abdrucken lassen, in welchem Hamlet den Geist als den „seligen Schatten seines Koniglichen Herrn Vaters" anredet. Schon zu Lebzeiten Shakespeares
bereisten englische Schauspielergesellschasten Deutschland, gaben in Braunschweig, Cassel, Dresden und andern Orten Vorstellungen, erst in englischer Sprache, spater auch in deutscher Uebersetzung. Unter ihren Stiicken
waren mehrere Shakespearesche, 1611 wurde Hamlet in Halle an der Saale ausgesiihrt. Die Biihnenmanuseripte dieser Gesellschasten haben sich in einigen spateren Abschristen erhalten. Unsere Abschrist ist vom Iahre
1710, hat also eine hundertjahrige Vorgeschichte. DaB in der Barbarei des 30jahrigen Krieges und wahrend der daraus solgenden geistigen Verodung Deutschlands eine VerderbniB dieser, von einer Hand in die andere
wandernden Handschristen eintrat, ist ja nur natiirlich. Zusatze und Auslassungen im Geschmack der Zeit waren unvermeidlich, und so wie dieser deutsche Hamlet uns jetzt vorliegt, hat man den Eindruck, als ob ein
Hanswurst in den Ruinen eines prunkenden RenaissaneePalastes seine Buhne ausgeschlagen. Wenn es wahr ist, daB der Mensch wirklich von einem affenartigen Vater abstamme, angesichts dieses deutschen Hamlets,
dieser Carrieatur eines hohen Menschen werkes, beschleicht einen der Gedanke, ob nicht der Mensch durch Iahrhunderte von Barbarei der entgegengesetzten Metamorphose versallen konnte. Ein Beispiel: Hamlet soil aus
einer Insel von „zwei redenden Banditen", die der Konig gedungen, ermordet werden. Er legt sich aus's Bitten, es hilst nichts, zuletzt wird ihm noch ein Gebet gestattet; er veranlaBt die beiden Banditen, zwischen denen er
steht, ihre Pistolen rechts und links aus seine Brust auszusetzen, wenn er mit seinem Gebet sertig sei, werde er die Hande erheben und dann sollten sie schieBen. Er erhebt die Hande, stiirzt sich zugleich nach vorwarts, so
daB die beiden Banditen sich gegenseitig erschieBen. Die noch zuckenden Leichen durchbohrt er wiederholt mit dem Degen.
Indessen trotz aller VerderbniB dieses deutschen Hamlet ist er von groBem Werthe, denn es sind Merkmale vorhanden, die vermuthen lassen, daB er aus eine noch altere Redaction als die der Qu. I zuriickreicht, j a wenn
es einen vorshakespeareschen Hamlet gegeben, der von Manchen dem Dichter Kyd zugeschrieben wird, so schlieBt er sich vielleicht an diesen an.
Beschastigen wir uns nun mit der medieinischen Seite des vorliegenden Meuchelmordes. Das Gist, welches Shakespeare als Sast von Hebona (Qu. I) oder Hebenon (spatere Lesart) bezeichnet, gehort jedensalls wie das
Morphium zu den nareotischen. Ein derartiges Gist von solcher Starke, daB einige Tropsen in's Ohr gebracht sosort den Tod bewirken, gab es zu Shakespeares Zeit nicht, ob es ein solches unter den modernen Gisten gibt,
lasse ich dahingestellt. Welches Gist hatte der Dichter im Sinn? Das Wort Hebenon sindet sich bei ihm nur an dieser Stelle. Sie wundern sich vielleicht iiber meine Belesenheit, — es ist nicht weit her damit. Wir haben ein
Worterbuch, worin alle Worte Shakespeares mit ihren Standorten ausgesiihrt sind, ein muhsames Werk deutschen FleiBes. A) Ein Blick in dieses Lexikon belehrt, daB Hebenon nur an dieser Stelle vorkommt.
Gelegentlich bemerke ich, daB Shakespeare iiber einen Vorrath von 15,000 Worten versiigt, Milton iiber 8000, im alten Testament hat man 5642 Worte gezahlt, ans einen Operntext rechnet man 6—700 Worte ohne die
„Wagala-Weia-Formationen". Da wir nur in Worten denken, so laBt dies ZahlenverhaltniB aus Shakespeares Gedankenreichthum schlieBen.
Bei Marlowe kommt das Gist als „Hebon" vor, bei Gower wird „Hebenus" als der schlasmachende Baum erwahnt, und damit sind die Parallelstellen bereits erschopst. Schlegel iibersetzt das Wort mit „Bilsenkraut",
indem er der Vermuthung des Dr. Grey solgt. Dieser meint, aus „Hebenon" ergebe sich durch Metathesis „Henebon", Henebon sei eine Corruption von „Henbane", Hen-bane heiBt „Bilsenkraut". Dagegen ist zweierlei zu
erinnern, einmal, wenn an dieser Stelle urspriinglich „Henbane" gestanden hatte, so ware ein MiBverstandnis nicht denkbar, denn Iedermann, auch jeder Zuhorer, Schreiber und Nachschreiber hatte vom Bilsenkraut gewuBt
und daB es gistig, dann: „Henbane" patzt nicht in das VersmaB; und so hat man diese Uebersetzung ausgegeben, obwol Plinius behauptet, daB Bilsenkrauts! — nebenbei gesagt ein ganz unschadliches Praparat — in's Ohr
getrauselt toll mache.
Zum „Eibensast" gelangt man aus einer andern Fahrte. Die danische Sage des Saxogrammatieus vom Prinz Amlet, welche unserm Trauerspiel zu Grunde liegt, weiB nichts von einem heimlichen Gistmorde des
3) Alexander Schmidt, Shakespeare-Lexikon. Berlin 1874,
alten Danenkonigs Horvendil, er wird von seinem Schwager Fengo offenkundig erschlagen; es ist daher wahrscheinlich, daB Shakespeare stir die von ihm eingesetzte Todesart eine andere Quelle benutzt habe. In dem„Stiick
im Stuck", durch welches Hamlet den Morder entlarvt, wird dieser Giftmord dargestellt, und da die Namen dieses „Stiickes im Stuck" zum Theil italienisch sind, so ist es wahrscheinlich, daB eine italienische Quelle zu
Grunde liegt, und so mochte denn der Name des Giftes ebendaher entnommen sein. Wir bekommen ein italienisches Wort, wenn wir von „Hebenon" das initiale „H" und das SchluB-„n" entsernen, wir haben dann „ebeno".
Diese Veranderung bietet keine Schwierigkeit, denn wie die Englander aus dem „Amlet" einen „Hamlet", so werden sie aus „ebenon" „hebenon" gemacht haben — besonders die Londoner sind durch ihren
Sprachmechanismus veranlaBt, die initialen Voeale mit einem rauhen Hauch zu versehen, wahrend der, dem Weichen und Bequemen geneigte, Italiener die initialen „H" abstoBt, den Hamlet in „Amleto", Horatio in
„Orazio" verwandelt. Das n,am SchluB von hebenon ist eingesetzt zur Vermeidung des Hiatus: „Nsdeno in a viai" ware hart. Nie Qu. I, wo das Wort am Ende des Satzes steht, bedurste keines SchluB-n's siir Hebona.
Hebona verwandelt sich durch Voealversetzung in „Ebano" und sdmuo ist im Italienischen synonym mit „sdeno".A) Nun trifft es sich, daB in unserm altdeutschen Hamlet das Gist als „Ebeno" bezeichnet wird, und das ist
wol als das urspriingliche Wort zu betrachten. Es war von dem deutschen Uebersetzer gewiB sehr klug, es bei dem lathselhasten Worte „Ebeno" zu belassen, statt sich mit Bilsenkraut, Eibensast oder anderen
Uebersetzungsversuchen zu bemuhen. Indessen ist mit „Ebeno" noch nicht viel gewonnen, „edsuo" heiBt Ebenholz, Ebenholz ist aber kein Gist, wurde auch nie siir Gist gehalten. Es ist zwar im Papyros Ebers unter dem
Namen „Hebni" als ein Mittel siir Augen
4) Tzschischwitz, Hamlet S. 45, hat, soviel ich sinden konnte, zuerst die Verniuthung ausgestellt, daB „Bdoim" der Qu, I durch Umsetzung aus dem italienischspanischen „edano" entstanden sei. Der erste Hinweis aus
eine italienische Quelle siir das Stuck im Stuck riihrt, wie ich glaube, von Delius her. Die gesuchte Novelle hat sich noch nicht gesunden. Dunlops Geschichte der Prosadichtungen, iibersetzt von Liebrecht, Berlin 1851,
Giraldi Cinthios ucu.wlnmiti enthalten nichts. Ser. Giovannis II?eoorc>ns und Massueeios di Salerno Novellensammlung, die mir beide gleichsalls zur Durchsicht von Pros. Ebert empsohlen wurden, waren nicht zur Hand,
indeB sind sie gewiB schon von Andern vergeblich durchsucht worden. DaB Elliot Brown 187« im Athenaum aus den Herzog Maria Franeeseo d'Urbino die Ausmerksamkeit gelenkt, ersuhr ich durch Herrn Bibliothekar R.
Kohler. Vgl. FurneB Hamlet II, S. 241 .
Meine Ansragen in Italien bei Cardueei, Barbieri und Rnseoni, ob vielleicht eine, noch im Volksmunde lebende, aus Shakespearescher Zeit stammende Erzahlung von einem derartigen Gistmord bekannt sei, ergaben
nichts Positives.
Nord undEiid. VI, 17. 17
krankheit bezeichnet, aber nirgends und auch spater nicht tritt es als Gist aus. Das Ebenholz war wie Gold und Elsenbein ein Exportartikel Asrikas, kam durch den agyptischen Handel nach Griechenland, vielleicht brachte
es seinen Namen mit, der dann bei den Griechen zu «/Hkv03 und i/31v?? wurde. Es ist ein Holz von auBerordentlicher Dichtigkeit und bekanntlich von schwarzer Farbung. Mit der Zeit erhielten auch andere dichte Holzer,
die schwarze Farbe besaBen oder annahmen, die Bezeichnung „Ebenholz", und wahrend Ebenholz urspriinglich ein botanischer Einzelname war, wurde es nun zu einer Bezeichnung siir Holzer verschiedenartiger Herkunst.
So haben wir auch ein deutsches Ebenholz, und dieses deutsche Ebenholz ist die Eibe, eine schone, langsam wachsende Conisere mit rothen Beeren; es ware aber gewagt, in dem Wort „Eibe" einen Abkommling des
agyptischen „Hebni" zu sehen, da es einer altgermanischen Wnrzel angehoren soil. Diese Eibe wird in den Reeepten alter Krauterbucher ausdriicklich als ein Substitut des Ebenholzes bezeichnet, z. B. als Ingredienz einer
Latwerge, die gegen Wasserscheu angewandt wurde. Heut zu Tage ist die Eibe aus dem Arzueischatz verschwunden, und obwol ihr gewisse arzueiliche Wirkungen nicht abzusprechen sind, so gehort sie doch keineswegs
zu den nareotischen Substanzen im engeren Sinne. Gerade nareotische Kraste schrieb man ihr aber zu Shakespeares Zeit zu. Schon Dioseorides siihrt an, daB der Eibenbaum deu in seinem Schatten Schlasenden todtlich
werde. Diese Angabe pflanzt sich durch alle spateren Schristen sort und in altdeutschen Krauterbuchern heiBt es, daB dieser Baum dem Menschen, der unter seinen Zweigen ruhe, „ein schlassend end bereite".
Coneentriren Sie den schlasmachenden Hauch der Eibe, des „slespis tres", in ein Destillat, so haben Sie das Shakespearesche Gist. Die Erklarung hat jedoch noch einen Haken, es sehlt noch ein Glied in der Kette; die
Eibe, t»xus daec-abi, heiBt im Italienischen taszo, tu.sso mortis isro, libo und livo, ich konnte aber nicht sinden, daB sie auch den Namen edBno, ebbo siihrt. Es sehlt somit der Nachweis, daB in der vermutheten
italienischen Quelle „edeuo" siir Eibe gebraucht war, und auch dasiir, daB etwa in Italien das Ebenholz selbst siir ein Gist gegolten habe, sehlen die Belege; im Gegentheil, gistwidrige Eigenschasten wurden ihm
zugeschrieben. Mit ihrem englischen Namen — Av — kommt die Eibe im Maebeth vor, wo Eibenzweige unter den 25 Ingredienzien des Hexentrankes, einer Art eoneentrirter Fleischbruhe, neben Iudenlebern, Turkennasen
und Tartarenlippen siguriren.
Nach der italienischen Quelle wurde bisher vergeblich gesucht. Im Jahre 1538 starb der Herzog von Urbino Maria Franeeseo, ein namhaster Feldherr aus dem Hause der Rovere. Seine Frau war eine Gonzaga, der Herzog
des „Stiicks im Stuck" heiBt Gonzago. Nach dem Tode des Herzogs Maria Franeeseo ging das Gerucht, daB sein Barbier ihn durch Eintrauseln von Gist in das Ohr getodtet habe. Das Gist sinde ich nicht genannt. Dieser
Barbier wurde auch in der Thai verurtheilt und in den StraBen von Pesaro mit gluhenden Zangen gezwickt und lebendig geviertheilt. Er war sicher unschuldig. Ich habe die zeitgenossischen Nachrichten nachgesehen, Maria
Franeeseo besand sich unwohl, stieg trotzdem zu Pserde, wurde krank, verlor, vom Schlage geruhrt, die Sprache, nach einigen Tagen das BewuBtsein und starbt) Man kann mit groBer Wahrscheinlichkeit sagen, daB er an
einem BluterguB in das Gehirn gestorben, und daB dieser BluterguB sich aus der linken Seite an der dritten Windung des GroBhirn besunden, eine Todesart, die mit einer Vergistung nicht das Geringste zu thun hat.
Eine andere Spur siihrt aus Konig Franz II. von Frankreich.") Dieser kam 17jahrig 1559 aus den Thron. Auch Franz II. sollte durch's Ohr vergistet worden sein, und zwar von keinem Geringeren, als von dem beruhmten
Ambroise Paro, dem ersten Chirurgen des Iahrhunderts, dem Leibarzte dreier Konige von Frankreich, dem einzigen Hugenotten, der aus Besehl des Konigs, nach Brantome, in der Bartholomausnacht verschont wurde. Ich
habe vergeblich nach Spuren dieses Geriichtes in den zeitgenossischen Schriststellern gesucht, es wird erzahlt, daB der junge Konig seit
5) HAolini, Ltonn. clei eonti B Duclii clllrdinn, IAir, 1859. t. II, p, 254. veuuistoun, Asmoir8 ol tbe Dukes ol Hrdino, I.oncl, 1851. t, III. p, 66 u. 67. Daselbst wird wegen des Naheren u. A. verwiesen aus Vu.t. Urd, Ms.
Nr. 992 und Gozzis Chroniele, 01iverian», Nss. Nr. 324. Vielleicht sindet sich in diesen U88. der Name des Giftes genannt, dessen sich der Barbier bedient haben soil.
6) Die Notiz Caldeeotts, daB Ambr. Paro im Verdacht gestanden, Konig Franz II., dessen Leibarzt er gewesen, durch Eintrauseln von Gift in's Ohr ermordet zu haben, sand ich in FurneB, Hamlet I, S, 102 ohne
Quellenangabe. Ohne Zweisel wurden dem Konig, der Krankheit wegen, Einspritzungen in's Ohr gemacht, und da die Krankheit todtlich endete, so mag daraus das Gerucht der Vergistung durch's ii)hr entstanden sein. —
Das post doe ei-Fo propter doe schlagt nicht selten auch zum Nachtheil der Aerzte aus. — In Schlossers Weltgeschichte, 2. Auft,, Bd. X, S. 268, heiBt es, Franz habe an einem Uebel gelitten, das boshafter Weise Aussatz
genannt worden. Die Quelle ist leider nicht angegeben. Sonderbarerweise trase also Franz II, betr, Vergiftung mit Aussatz zusammen, wie in der Erzahlung des alten Hamlet iiber seine eigene Todesart. In: I,oui8, ?
<eAociatic)n8 , lettreA et pieees cliverse8 relative au reBue cle ?niueoi8 II, ?ari8 1871, und in liegnier cle 111 Vlanelie, Nemoiiez an marertml cle VieilleviUe, ?ari8 1757, geschieht weder einer Vergiftung noch einer
aussatzartigen Krankheit Erwahnnng. — I. Plmnptre M. A, (1796) hat nachzuweisen gesucht, daB mit der Konigin (Gertrud) Maria Stuart gemeint sei, die ja auch nach der kurzen Zeit von drei Monaten Bothwell, den
Morder Darnleys, ihres zweiten Gemahls, heirathete, und C. Silberschlag hat in diesem Iahrhundert (1860), ohne von seinem Vorganger zu wissen, die gleiche Ansicht ausgestellt. — Furnetz' Hamlet II, S. 236 u, s. —
Durch die angebliche Vergistung und den Aussatz Franz II, eroffnet sich siir Freunde der Plumvtreschen Hypothese eine neue wenn auch triibe Quelle von Vermuthnngen. seiner Kindheit an einem AusfluB aus dem Ohr
gelitten, das Uebel verschlimmerte sich nach einem Iagdritt, es traten BewuBtlosigkeit und andere Gehinisymptome ein, man diagnostieirte einen AbseeB im Gehirn, die Aerzte versammelten sich, darunter auch Paro, zur
Berathung; es wurde vorgeschlagen, in den Schadel ein Loch zu bohren, um dem Eiter AusfluB zu verschaffen, es kam aber nicht dazu, wol aus Furcht vor der Verantwortung und der Konig starb nach 14tagiger Krankheit.
Es kann kaum einem Zweisel unterliegen, daB die seit Iahren'bestehende Eiterung der tiesliegenden Theile des Gehororgans sich zum SchluB dem Gehirn mittheilte, an eine Vergistung ist jedoch nicht zu denken.
Franz II. gibt noch zu einer andern Erinnerung Veranlassung. Er hinterlieB eine 18 jahrige Wittwe von bewunderter Schonheit, welche damals nicht ahnen konnte, daB sie 1587 nach 19jahriger Gesangenschaft das
Schassot besteigen werde. Es war Maria Stuart. . Der erste Entwurs Hamlets sallt vielleicht in das Iahr dieser Hinrichtung, und auch sonst war die Zeit dazu angethan, den dunkeln Hintergrund zu Shakespeares Tragodien zu
liesern. Politische und religiose Gegner wurden mit Feuer und Schwert versolgt, Krieg und Pest losten sich ab, Essex, der Gonner Shakespeares, wurde im 33. Iahre seines Lebens enthauptet, Southampton, der Beschutzer
Shakespeares, kam in's GesangniB, und schon siihlte man das Wehen des puritanischen Geistes, welches, zum Sturm angewachsen, dem „rasriA <M NnFlaua" ein Ende bereitete und England zu einer Statte siir Fanatiker,
Heuchler und Martyrer machte.
Doch kehren wir zu unserem Hebenon zuriick. Immerhin ist es wahrscheinlich, daB diese und ahnliche Marchen, wie sie von Maria Franeeseo und von Franz II. erzahlt wurden, Shakespeare aus die Vergistung durch's
Ohr gebracht haben. Wurden wir den „seligen Schatten unseres koniglichen Herrn Shakespeare" besragen, was ja heut zu Tage keine Schwierigkeiten macht, so wurde er vielleicht, wol etwas verdrieBlich, antworten: ich
habe das Wort Ebeno in irgend einer alten Scharteke gesunden, ich brauchte ein sabelhastes Gist, der diistere Klang des Wortes gesiel mir und damit gut.
Wie nun die Wirkung des Gistes beschrieben wird, ist nicht ohne Interesse. DaB es vom Gehorgang aus durch Aussaugung in das Blut gelangen konne, wenn auch nur in kleinster Dosis, unterliegt keinem Zweisel, daB es
durch den Eintritt in das Blut seine todtliche Wirkung erst entsalten kann, ist ganz eorreet. An eine Gerinnung des Blutes jedoch durch das Gist dars nicht gedacht werden. Allerdings wurde eine solche Gerinnung des
Blutes sosort todten, denn das Blut muB in sortwahrender Bewegung sein, aber nareotische Giste bewirken keine derartige Gerinnung. Die Gerinnung des Blutes wird mit der Gerinnung der Milch durch Zusatz von Saure
verglichen, die deutschen Uebersetzer jedoch lassen die Milch durch Laad gerinnen. Dies ist nicht ganz richtig, und es scheint, daB Shakespeare die Milchwirtschast besser verstand als seine Uebersetzer; er laBt die Milch
durch Saure, die in Milch getrauselt wird, gerinnen. Laab ist keine Saure und keine Fliissigkeit, es ist die Schleimhaut des Laabmagens, wird in Stiickchen geschnitten, in ein Sackchen gebunden, in die Milch hineingehangt
und kann nicht hineingetrauselt werden, macht auch die Milch nicht sosort gerinnen. Wohl ersolgt aber sosortige Gerinnung beim Eintrauseln von Saure, z. B. von Essig.
Wie Quecksilber durcheilt das Gist die naturlichen Canale und Thore des Korpers. Daraus wurde geschlossen, daB Shakespeare den Kreislaus des Blutes bereits gekannt habe. Das ist Hu weit gegangen. Sein Zeitgenosse
Harvey trat erst im Iahre 1619 nach vieljahrigen Beobachtungen und Versuchen mit seiner groBen Entdeckung au die Ofsentlichkeit, und daB das Blut in sortwahrender Bewegung sei, war ja schon vor Harvey bekannt.
Wir konnten uns also damit einverstanden erklaren, daB der alte Hamlet durch ein nareotisches Gist, in's Ohr getrauselt, sein Leben verlor.
Nun ergibt sich noch eine besondere Schwierigkeit. Der Sast von Hebenou wird als ein Aussatz erzeugendes Praparat, leperous aistilment, bezeichnet, so daB im Nu die ganze glatte Haut mit Krusten, Schorsen und
Grinden sich bedeckte, gleich einem Lazarus. Ein Gist von derartiger Wirkung gibt es nicht, auch keines, dem man eine solche Wirkung zu Shakespeares Zeit zugeschrieben, auch liegt eine physiologische Unmoglichkeit
vor. Schorse u, s. w. sind die getrockneten Ruckstande von Eiter und ahnlichem, zu ihrer Entstehung reicht die kurze Zeit eines Nachmittagsschlases nicht aus, Tage, Wochen sind ersorderlich. War aber der Leib des todten
Konigs wirklich in dieser ekelhasten Weise entstellt, wie konnte man einen SchlagsluB oder SchlangenbiB als Todesursache vermuthen, und warum geschieht dieser Entstellung spater, wenn von der Unthat des Claudius die
Rede ist, keine Erwahnung? Sie ist doch hinzugesugt, um diese Unthat in einem noch grelleren Lichte erscheinen zu lassen. Der deutsche Hamlet erwahnt des Aussatzes gar nicht, und doch hatte gerade er sich diese
drastische Zugabe, wenn er sie in dem Original gesunden, sicher nicht entgehen lassen. Die Qu. I widmet dem Aussatz eine Zeile, der spatere Text drei und ich bin geneigt, diese Zugabe des Aussatzes siir eine spatere
Ausschmuckung zu halten, bei der man allerdings zunachst an Shakespeare selbst denken muB, denn kaum ein Anderer hatte vermocht, mit wenigen kurzen Worten einen so starken sinnlichen Eindruck hervorzubringen.
Sollte jedoch der Zusatz von einem Anderen stammen, so lieBe sich vermuthen, daB durch Versehen, eines Ab- oder Nachschreibers vielleicht aus „treaelierous 6istilment" „leperous cUstilmsut" entstanden sei, und hieran
mag sich die Ausschmuckung angeschlossen haben. Nothig hatte Shakespeare diese leprose Complieation keinensalls, denn wer hat je die todtliche Wirkung nareotischer Giste treuer und anschaulicher geschildert.
„Nimm dieses Flaschchen dann mit dir zu Bett,
Und trink den Krautergeist, den es verwahrt.
Dann rinnt alsbald ein kalter matter Schauer
Durch deine Adern, und bemeistert sich
Der Lebensgeister; den gewohnten Gang
Hemmt jeder Puis und hVrt zu schlagen aus.
Kein Odem, keine Warme zeugt von Leben;
Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden
Zu bleicher Asche; deiner Augen Vorhang
Fallt, wie wenn Tod des Lebens Tag verschlieBt.
Ein jedes Glied, gelenker Krast beraubt,
Soli steis nnd starr und kalt wie todt erscheinen."
So spricht der Monch zu Iulia, nur ist es nicht Scheintod, sondern der wirkliche Tod, den er schildert.
II.
Hiermit wollen wir uns von dem Geiste verabschieden und zu dem Wahnsinn der Ophelia ubergehen. Die Schilderung desselben gilt auch bei Irrenarzten als ein Meisterstiick wahrheitsgetreuer Nachbildung, doch ist das
nicht so zu verstehen, als ob der poetisch verklarte Wahnsinn Ophelias in der nuchternen Wirklichkeit unserer Irrenanstalten zu sinden sei.
Der Grundton ihrer Melancholie erklingt in der leisen, melodischen Klage um den geliebten Vater:
Er ist lange todt und hin,
Todt und hin, Fraulein!
Ihm zu Haupten ein Rasen griin,
Ihm zu FuB ein Stein. , .
Sie trugen ihn aus der Bahre bloB
Leider, ach leider!
Und manche Thran' siel in GrabesschooB,
Und kommt er nicht mehr zuriick?
Und kommt er nicht mehr zuriick?
Nein, nein! er ist todt,
1st gangen zu Gott,
Er kommt ja nimmer zuriick.
Sein Bart war so weiB wie Schnee,
Sein Haupt dem Flachse gleich:
Er ist hin, er ist hin!
Und kein Leid bringt Gewinn!
Gott hels ihm in's Himmelreich!
Ihr grambeklemmtes Herz sindet nirgends Ruhe und irrt von Ort zu Ort, Kolanolwlm «-i-aduna».. Andere Melancholische verharren, in ihren Gram versunken, an einen Ort gebannt, schlaslos und sprachlos in's Weite
starrend, Uelanouolia lUtonit»,; ein Gegensatz, der sich auch sindet, wenn geistig Gesunde von schwerem Ungliick heimgesucht werden, wo dann die einen rastlos umherirren, wahrend die andern in apathische Ruhe
versinken.
Neben dem Kummer um den verlorenen Vater kommen Illusionen, Wahnvorstellungen und Anklange an verlorenes Liebesgltick zum Vorschein. Diese Anklange haben eine erotische Farbung, und manche Kritiker,
leider namentlich Deutsche, hielten sich dadurch siir berechtigt, aus die Reinheit der ungliicklichen Ophelia einen Schatten zu wersen, einen Schatten, der aus diese Kritiker zuriicksallt; denn indem sie Shakespeares holde
Blume geknickt, haben sie ihre UnkenntniB in Sachen des Wahnsinns gezeigt.
Freilich ist es ein weitverbreitetes Vorurtheil, daB im Wahnsinn die wahre Natur des Menschen zum Vorschein komme, — gerade das Gegentheil ist der Fall. Ophelia hat die lockeren Liebes verse, wol ohne ihr Zuthun,
in Feld und Wald gehort, aber sie lagen ties im Grunde ihres Denkens verborgen, gebunden, erst der Wahnsinn bringt sie an die Oberflache. So sind es z. B. meist religios hoch entwickelte Naturen, welche, einmal dem
Wahnsinn versallen, in Gotteslasterungen ausbrechen, vor denen sie in gesunden Tagen entsetzt geflohen waren. Es liegt in der Natur des menschlichen Denkvermogens, daB jeder Gedanke seinen Gegensatz bei sich hat,
neben: „es gibt einen Gott": „es gibt keinen Gott"; neben: „Gott ist giitig": „Gott ist grausam". In gesunden Tagen verhalt sich das Ich diesen Gedanken gegenuber entschieden bejahend oder verneinend, die verneinten
bilden nur in ihrer Verneinung einen Theil der geistigen Personlichkeit. Diese geistige Personlichkeit, das denkende bewuBte Ich, welches nach Deseartes einzig und allein unsere Existenz verbiirgt, dieses einzig Sichere,
von dem wir wissen und von dem wir zugleich sicher am wenigsten wissen, dieses Ich versinkt im Schlas in die Tiesen der BewuBtlosigkeit, im Traum treiben Gedanken und Phantasmen ihr Spiel mit ihm, und der
Wahnsinn ist der Traum eines Wachenden. Wie im Traum machen sich die gebundenen Gedanken und Vorstellungen srei, ja in jener Form, die man Besessenheit nennt, bemachtigen sie sich des gesammten
Sprachmechanismus .
Dieser Sprachmechanismus hat seine Wurzeln, sein Centrum im Gehirn und endet nach auBen in den Sprachwerkzeugen; einmal in Gang gesetzt, besorgt er die Mittheilung sertig gestellter Gedankengange mit derselben
Zuverlassigkeit, mit der uns unsere Gehwerkzeuge einen gewohnten Weg ohne weiteres Zuthun zuriicklegen lassen. Manchem alteren Prosessor gehen seine Vorlesungen in dieser Art vom Munde, wahrend sein Ich
nebenbei anderweit beschastigt ist, z. B. mit dem Entwurs eines Experimentes, das eine lang gesiihlte Schwierigkeit losen soli, oder mit etwas Wichtigem, was seine Familie betrifft. Sind diese Thatigkeiten seines Geistes
lebhaft, so kommt es vor, daB sremdartige Worte oder Satze, zu allgemeiner Heiterkeit, seinen Vortrag durchbrechen. Wenn der im Gehirn gelegene Theil des Sprachapparates verletzt wird, geht plotzlich die Sprache
verloren, wie bei dem Herzog Maria Franeeseo von Urbino, ganz oder bis aus wenige Worte, manchmal ohne die geringste Trubung der Intelligenz; je nach der getroffenen Stelle kann der Verletzte die Worte noch
schristlich mittheilen, ein anderes Mai ist die ganze Wortbildung untergegangen.')
Wenn nun beim religiosen Wahnsinn gotteslasterliche Vorstellungsreihen sich von ihrer Gebundenheit srei machen, sich aus den Sprachmechanismus stiirzen und mit rauher sremdartiger Stimme ihre Blasphemien aus
dem Kehlkops jugendlicher Madchen herausbrullen, so kann man es verzeihlich sinden, daB Laien, namentlich Geistliche, den Wahn hegen, ein sremdartiges Wesen habe von dem Kranken Besitz ergriffen. Worte setzen
sich leicht in Thaten um, psychische Asseetionen sind ansteckend, und so kam es vor einigen Iahren in einem savoyischen Dorse vor, daB die Regierung einschreiten muBte, weil der Psarrer am Altar vor seinen weiblichen
Psarrkindern seines Lebens nicht mehr sicher war.
MuBte Ophelia wahnsinnig werden? Ich weiB es nicht, indeB scheint mir, daB die Katastrophe, welche in ihr bis dahin ruhig dahinflieBendes Leben einbrach, Lossagung und vermeintlicher Wahnsinn des Geliebten, der
Tod des Vaters durch des Geliebten Hand, hinreichend war, um auch eine starkere Natur als die der zarten Ophelia aus dem Gleichgewicht zu bringen. Freilich meint ein Kritiker, die Sache sei gar nicht so schlimm
gewesen, die Todtung des Polonius habe ja nur aus einem MiBverstandnisse beruht, der Wahnsinn des Hamlet sei ein verstellter gewesen und eine Heirath hatte Alles in's Gleiche gebracht. Ia wohl, warum nicht, aus eine
Perle mehr oder weniger kommt es in der Krone Shakespeares nicht an, begleiten wir Ophelia aus das Standesamt und statt uns in Trauer iiber ihren Wahnsinn zu versenken, laden wir uns aus ihrer Hochzeit zu Gast, vom
praktischen Standpunkte laBt sich nichts dagegen einwenden.
7) Das von Gall ausgehende Bestreben, das Sprachvermogen im Gehirn zu loealisiren, hat namentlich durch die Bemuhungen sranzosischer Forscher, Bonillaud, die beiden Dax und Broea, zu thatsachlichen Resultaten
der merkwurdigsten Art gesuhrt. Z. B. ist es zur Zeit sestgestellt — Broea — , daB im menschlichen Gehirn zwei Spracheentra vorhanden sind, eines rechts und eines links an gleichnamigen Stellen der GroBhirn-
Hemispharen, und zwar an der dritten Stirnwindung. Fur gewohnlich wird nur das eine Lpracheentrum eingeiibt und zwar von Rechtshandigen das links gelegene und umgekehrt. Wird das eingeiibte Centrum zerstort, so
kann die Sprache nach und nach wiedergewonnen werden durch Einubung des bis dahin unbenutzten Centrums, ahnlich wie ein Rechtshandiger bei Verlust der rechten Hand den Gebrauch der linken einiibt.
Erwahnt muB noch werden, daB Shakespeare mit seiner menschlichen Aussassung des Wahnsinns um Iahrhunderte seinen Zeitgenossen voraus war. Wer gelesen hat, wie damals Geisteskranke verhohnt, gehetzt,
miBhandelt wurden, wie sie in dunkeln VerlieBen schmachteten, wer sich erinnert, daB noch in diesem Iahrhundert Geisteskranke in kasigartigen Zellen an Ketten der offentlichen Neugierde bloBgestellt waren s), z. B. in
dem „Narrenthurm" zu Wien, der muB es als eine der groBten Thaten des Shakespeareschen Genius preisen, daB er seinen Zeitgenossen das humane VerstandniB psychischer Krankheiten zu eroffnen suchte, wie im Hamlet,
so im Lear und Maebeth, und daB er zugleich aus eine schonende psychische Behandlung mit den Worten hinwies: „die beste Wart'rin der Natur ist Ruhe."
III.
Wir kommen zum SchluB, zu der Frage, war Hamlet geistig voll« kommen gesund, war er wahnsinnig, stand er an der Grenze des Wahnsinns?
Von diesen drei Ansichten, von welchen jede ihre Vertreter hat, schlieBe ich mich der letzten an. Wegen Kiirze der Zeit kann ich aber nur die Hauptgriinde hervorheben, die mich hierzu bestimmen, und muB auf eine
aussuhrliche Analyse des psychologischen Problems verzichten.
Hamlet gehort zu den zweiselnden Naturen, er verhalt sich intelleetuellen und moralischen Fragen gegenuber unentschieden, seine Gedanken, Gedanken der tiessinnigsten Art, stromen ihm zu und beleuchten beide Seiten
eines Themas, mit dem er sich beschastigt, gleichmaBig; solche Naturen sind nicht geeignet zu raschem EntschluB, zu rascher Handlung. Das MiBtrauen in die Mittel des menschlichen Geistes, die Wahrheit zu erkennen,
die Unsicherheit dariiber, was siir gut, was siir bos zu halten sei, lahmen die Thatkrast; in ein schweres Geschick verflochten, verhalten sich solche Naturen mehr leidend als handelnd, wie denn auch im Hamlet die
Katastrophe hereinbricht ohne daB es zum Handeln gekommen ist. Als eine weitere Eigenschast Hamlets muB eine auBerordentlich lebhaste Phantasie bezeichnet werden. Beim ersten Begegnen des Horatio am Hose des
neuen Konigs Akt I, Seene 2 rust er aus: „Mein Vater, mich diinkt, ich sehe meinen Vater!", also zu einer Zeit, wo nur erst Trauer iiber den Tod des Vaters und Widerwillen iiber die rasche Heirath der Mutter sein Gemiith
bewegt, erscheint ihm bereits seines Vaters Gestalt in Art einer Vision. «)
8) Noch 1828 sah Dr. E. W, Giintz im 0Asaale 3. 8pirito zu Rom einen Geisteskranken mit der Kette um den Hals, sast nackt, an eine Saule des Hoseorridors angeschlossen. — Don Pietro Boron Pisani von Dr. E. W.
Giintz 8en. Leipzig 1878.
!>) Diese Stelle wird, soviel ich mich erinnere, von deutschen Hamletdarstellern nicht hervorgehoben, sondern wie eine gleichgultige Redensart gesprochen. In der
Was die Gedankengange betrifft, die in den beruhmten Monologen sich wiederspiegeln, so kann man wol sagen, daB Hamlet sich ihnen gegenuber beobachtend, zuwartend verhalt. Er gibt im wahren Sinne des Worts
seinen Gedanken Audienz und verschiebt die entscheidende That. Seine Gedanken gehen wol auch ihre eigenen Wege, so daB die Personlichkeit und was sie am meisten be wegen sollte, zurucktritt.
Fur besonders merkwurdig in dieser Beziehung halte ich die bekannte Stelle iiber die tadelnswerthe Trunksalligkeit der Danen. Hamlet hat von Horatio die Nachricht bekommen, daB ein Geist in Gestalt seines Vaters
den wachehabenden Ossieieren in winterlicher Nacht erschienen sei; in hochster Spannung erwartet er in der nachsten Nacht das Gespenst. Mitternacht hat geschlagen und alle sind aus das sosortige Erscheinen des Geistes
gespannt; nun sollte man glauben, in diesem Zustande hochster Erregung hatte kein anderer Gedanke als an den verstorbenen Vater Raum gehabt in dem bewuBten Denken Hamlets. Keineswegs. Man hort aus der Feme
einen Trompetentusch, Horatio sragt, was das bedeute, Hamlet sagt: „der Konig wacht die Nacht durch, zecht vollaus, halt Schmaus" :e., und nun kommt eine Vorlesung von 26 Versen iiber die Nachtheile der Trunksucht
im Allgemeinen und speeiell siir seine Landsleute.
Man hat diese Stelle siir eingeschoben gehalten, weil sie so gar nicht in die Situation zu passen scheint, nnd auch in der Satzeonstruetion, in der Wahl der Ausdriicke wollte man Schwachen sinden, die sie Shakespeares
unwiirdig erscheinen lassen. In der That sehlt sie auch in einigen Ausgaben, um spater wieder auszutauchen. Es wurde vermuthet, sie sei eine Zeit lang weggelassen worden, weil Iaeob I., der 1603 den Thron bestieg, eine
danische Prinzessin zur Frau hatte; mir scheint aber, daB nichts geeigneter ist, als dieses Abirren, um die Ideenslucht zu bezeichnen, die sich so ost bei Personen sindet, welche siir Geisteskrankheit pradisponirt sind. Gerade
an dieser Stelle und in der getadelten syntaetischen Form macht sie den Eindruck, daB Hamlet nicht der Mann ist, um im gegebenen Augenblick den starken Willen und seine ganze Krast aus einen Zweck zu vereinigen.
Ware es Shakespeare bios um die Einslechtung eines Tadels der Trunksucht gewesen, so hatte er leicht einen geeigneteren Ort sinden konnen; da, wo sie steht, beweist sie, daB er Hamlet als geistig belastet darstellen
wollte.
Nachdem der Geist abgegangen, kundigt Hamlet an, daB es ihm
That ist es auch eine gewohnliche Ausdrucksweise, zu sagen: „Mich diinkt, ich sehe ihn noch vor mir, wie er leibt und lebt." Hier aber ist es, wie ich glanbe, mehr als Redensart, hier wird der kunstige Geisterseher
angekundigt, es ist das Wetterleuchten des Wahnsinns. Die Stelle sollte deshalb mimisch markirt werden. Wie lame sonst Horatio dazu, erstaunt zu sragen: „Wo seht Ihr ihn, mein Prinz?"
vielleicht in Zukunst dienlich scheinen werde, ein wunderliches Wesen anzulegen, und daraus wurde geschlossen, daB alles Auffallende in seinem Benehmen nur aus Verstellung beruhe, aber stir Hamlet war es gesahrlich,
mit dem Wahnsinn zu spielen. Zwar in der Seene, welche Ophelia schildert, wo er sich schweigend von ihr lossagt „und einen solchen Seuszer holt, als sollte er seinen ganzen Bau zertrummern und endigen sein Dasein",
kann weder von wirklichem noch verstelltem Wahnsinn die Rede sein. Erschiittert von der Ausgabe, die ihm geworden, reiBt er sich, im Zustande tiessten melancholischen Druckes, von seiner Geliebten los, um ganz der
Rache sich zu widmen.
Verstellter Wahnsinn ist in der harten Seene, wo er nach dem Monolog „Sein oder nicht Sein" die reizende Ophelia erblickt; die Harte seiner sarkastischen Bemerkungen ist jedoch zu entschuldigen durch die
Wahrnehmung, daB sich Ophelia, wenn auch in guter Absicht, hergegeben, ihn auszusorschen. Verstellter Wahnsinn ist in alien Seenen mit dem Konig, Polonius, Rosenkranz, Guldenstern, Osrik. Bedenklich ist dagegen
der jubelnde Ausschrei, nachdem die List mit dem Zwischenspiel gelungen und der Konig entlarvt ist, denn dieser Ausschrei mit seinen tollen Versen ist ganz geeignet, Hamlets Plane zu vereiteln."') Unmittelbar daraus
sindet
10) In Deutschland wird es mehr und mehr iiblich, in der Rolle Hamlets die Anklange an Geistesstorung abzuschwachen oder ganz zn streichen; wie mir scheint, nicht zum Vortheil der Rolle; denn wenn wir in Hamlet
nichts sehen, als den skeptischen, unschlussigen Spotter, so schwindet unsere Theilnahme an seinem Schicksal. Selbst in seinen Sarkasmen und wunderlichen Reden sollten die Zeichen eines unwiderstehlichen Antriebes,
unter dessen Zwang er steht, nicht sehlen; kommen sie wohluberlegt mit dem kalten, selbstgesalligen Lacheln des hochgebornen, hochmuthigen Prinzen zum Vorschein, oder mit der gesteisten trockenen Breite des
pedantischen Magisters, so thun sie nur die halbe Wirkung. Freilich vermindert sich mit dem Hervortreten der pathologischen Gemuthsversassung die Schuld Hamlets, indessen unser gewohnliches Versahren, den Helden
aus die moralische Anklagebank zu setzen, um ihn nach den Paragraphen des dramatischen Strasgesetzbuches abznurtheilen, reicht bei Hamlet so wie so nicht aus, bei Hamlet so wenig als bei Ophelia. Mit der
herrschenden Auffassung stimmt es, die Seene am Grabe der Ophelia wegzulassen oder zu kurzen, den unheimlichen Ausbruch bei Entlarvung des Claudius zu mildern n. s. w. - Irving, der stir den ersten lebenden
Hamletdarsteller Englands gilt, sieht die Sache anders an. Nach den vorliegenden Schilderungen muB seine Tarstellung den Eindruck hervorbringen, daB Hamlet mehr und mehr in Geisteszerriittung versallt und durch
verschiedene Paroxysmen momentaner Storungen hindurchgeht. Z.B.: In der Seene, wahrend des „Stiickes im Stuck", erhebt sich der Konig, verwirrt und bestiirzt, und verlaBt eilig den Saal. Bei der jetzt hie und da
herrschenden Buhneneinrichtung kommt der Zuschauer hochstens zu der schwachen Empsindung, daB die List gelungen, wie das ohnedem vorauszusehen war, denn der Zuschauer hat nie an der Schuld des Claudius
gezweiselt. Die Hauptsache, der Eindruck, den die Uebersuhrung des Konigs aus Hamlet macht,
er den Konig im Gebet. Die sentenzenschweren Hammerschlage des Zwischenspiels haben das erzgepanzerte Herz des Schuldigen erschiittert, der nun vergeblich nach Reue ringt. Nun kann ihn Hamlet todten, er verschiebt
die Rache, denn er will ihn nicht betend zum Himmel, sondern als S tinder zur Holle schicken. Von Wahnsinn ist hier nicht die Rede.
kommt nicht zur Geltung. Bekanntlich konnnt auch Uebertreibung in der entgegengesetzten Richtung vor, deshalb war es mir interessant, eine Notiz zu sinden, wie Irving die Seene spielt. In Edward I. Russels Irving und
Hamlet, London 1875, — FurneB Hamlet II, S. 259 — wird das Spiel beilaufig solgendermaBen geschildert: „So lange er mit Horatio allein, driickt sich gespannte Erwartung und diistere Stimmung in seinem Wesen aus.
Man sieht ihm an, was aus dem Wurse steht, mehr als sein Leben. Sowie der Konig mit dem Hos eingetreten, zeigt er sich heiter und sorglos, wie er es mit Horatio verabredet. Zu den FuBen Ophelias, spielt er mit ihrem
Facher von Psauensedern. Bei den Worten: „Ew. Majestat und wir haben gute Gewissen", klopst er sich mit dem Facher aus die Brust und seine Stimmung scheint so leicht beschwingt, wie der Psouenwedel. In seinen
doppelsinnigen Antworten, die er dem Konig gibt, ist nichts von der boshasten Betonung, mit der Hamletdarsteller gewohnlich den Triumph ihrer List im Voraus eseomptiren. Das: „Nicht das geringste AergerniB von der
Welt" kommt trocken heraus, und damit gut. Seine Ueberwachung des Konigs ist nicht aussallig, er kriecht nicht iiber die Buhne, saBt den Konig nicht am Kleid. Seine Ausregung steigt, aber seine Stimmung halt sich bis
hart zur Krisis, beinahe scherzhast. Sowie jedoch der Konig Plotzlich den Saal verlaBt, springt er mit einem Satze in die Hohe und wirst sich mit grellem Schrei in den eben vom Konig verlassenen Stuhl, von korperlicher
nnd geistiger Ausregung uberwaltigt, wiegt er sich hin und her und spricht, obgleich der Sturm des Beisalls die Worte sast nnhorbar macht, die bekannten Reime: „>VA, lBt tlw strickAn c!ser Bu limp!" (sie.) Eine noch
starkere Wirkung von wilder und absonderlicher Art ersolgt, als Hamlet den Stuhl verlaBt und in ubermuthig narrischer Weise die meist gestrichenen Zeilen singt:
?or tliou «lost KnoA, o Okuiou 6eai,
Alii8 realm cli8mkntBlea AVK8
c)f AsovB diuissll, micl uow i-siAn8 lie«
O Damon lieb. Dir ist bekannt,
Todt liegt in seiner Gruft
Der wie ein Zeus beherrscht das Land,
Ietzt herrscht ein schnoder — Psau.
Wahrend der Pause nach vsrA verA — wo „a8s" kommen sollte, sieht er Ophelias Facher an, stoBt das Wort „peacocK" heraus und schleudert den Facher, der ihm das sehlende Wort geliesert, von sich. Dieser anscheinend
kindische Streich ist so charakteristisch, daB er von dem Publikum mit Enthusiasmus ausgenommen wird. Er wird als eine vollkommen solgerichtige Steigerung ausgesaBt." Da nur Horatio zugegen, handelt es sich in
Kieser Seene um wirkliche, nicht um verstellte Ueberreizung, die durch die Wahl der Verse noch an pathologischer Farbung gewinnt.
Es solgt die Seene mit der Mutter, in welcher Polonius als Opser seines Diensteisers an Stelle des Konigs umkommt. Der gleichgultige Hohn, den Hamlet dariiber kundgibt, kann wol als ein Zeichen augenblicklicher
geistiger Zerriittung gelten. Nachdem der Paroxysmus sein Ende erreicht, kommt mit den Worten „siir diesen Herrn thut es mir leid", noch starker im Original „tor tliis sams IAora* i 60 rspsnt" die natiirliche und wahre
Empsindung Hamlets zum Durchbruch.
Von der Reise nach England, die ihm den Tod bringen soli, zuriickgekehrt, durch eigene List gerettet, sinden wir ihn aus dem Kirchhos zuerst im Gesprach mit den Todtengraber-Clowns, dann erleben wir den
Wuthansall am Grabe der Ophelia, Wir bekommen den Eindruck eines Tobsiichtigen, denn stir einen geistig Gesunden ist die Wuth gegen Laertes nicht hinreichend motivirt, indeB er sindet sich wieder und es bleibt bei
einem Ausbruch in Worten.
In der letzten Seene, vor dem Waffengang mit Laertes, entschuldigt er diesem gegenuber sein Benehmen mit schwerem Trubsinn, der ihn in der letzten Zeit geplagt, sein Wahnsinn, nicht er selbst sei es ge wesen, der ihn
gekrankt. Dies ist keine Redensart, denn diese Erklarung wird in einem seierlichen Augenblick gegeben, im Gesiihle des hereinbrechenden Verhangnisses. Unmittelbar vorher sagt er zu Horatio: „Du kannst Dir nicht
vorstellen, wie iibel es mir hier urn's Herz ist und geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunst. In Bereitschast sein ist Alles. Da kein Mensch weiB, was er verlaBt, was kommt daraus an, sriihzeitig zu
verlassen? Mag sein!" Kein Zweisel, er siihlt sich krank und zwar geistig krank, nur der Tod kam dem Ausbruch des Wahnsinns zuvor.
Das Abirren der Gedanken unmittelbar vor der mit hochster Spannung erwarteten Erscheinung des Geistes, der leidenschastliche Iubel nach Entlarvung des Konigs, der gleichgultige Hohn beim Tode des Polonius, der
Wuthausbruch am Grabe der Ophelia, das eigene BekenntniB Hamlets, alles dies sind, wie mir scheint, starke Griinde stir die Annahme, daB Hamlets geistiger Zustand von Ansang an krankhast erscheinen soil und sich
mehr und mehr verdiisterte.
Ich gehe einen Schritt weiter, ich meine, es ist ein objertives Merkmal dasiir vorhanden, daB Shakespeare Hamlet an die Schwelle des Wahnsinns gestellt haben wollte, und zwar sinde ich dieses Merkmal in der schon
erwahnten groBen Seene mit der Mutter. Polonius ist gesallen, immer eindringlicher redet Hamlet zum Gewissen seiner Mutter, er vergleicht den Gemordeten mit dem Morder, -sein Asseet steigert sich zur Wuth, —
plotzlich versagt ihm die Stimme, der Geist schreitet durch das Zimmer.
Wie kommt es, daB die Konigin den Geist nicht sieht? Wir kennen ihn doch schon aus dem ersten Akt, da wurde er von Allen gesehen, nicht bios von Hamlet, es ist ein „ehrliches Gespenst", wie Hamlet sagt, halt seine
Zeiten ein, kommt mit Mitternacht, geht mit dem Hahnschrei, spricht mit hohler Stimme, kann mehr als aus Schiesertaseln schreiben, denn er steht Red' und Antwort, ja im deutschen Hamlet gibt er der Schildwache eine
Ohrseige, schlagt ihr die Muskete aus der Hand, und ehe er Hamlet anredet, heiBt es: „Der Geist sperrt dreimal das Maul aus." Kann man mehr verlangen?
Ieder mag iiber Gespenster denken, wie er will, und vielleicht interessirt es Sie, an die Meinung eines beruhmten Verehrers Shakespeares erinnert zu werden, seine Worte sind: „Wir glauben jetzt keine Gespenster, kann
also nur so viel heiBen: In dieser Sache, iiber die sich sast eben so viel dasiir als dawider sagen laBt, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwartig herrschende Art zu denken den Griinden
dawider das Uebergewicht gegeben; einige Wenige haben diese Art zu deuken, und Viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der groBe Hause schweigt und verhalt sich
gleichgultig, und denkt bald so, bald anders, hort am hellen Tage mit Vergniigen iiber die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen da von erzahlen."
Dies sind die vorsichtigen Worte Lessings und wir konnen deshalb, wie ich glaube, dem Geiste des ersten Aktes, welcher der Hebel des ganzen Dramas ist, immerhin noch eine Statte aus unserer Buhne gewahren.
Ganz anders verhalt es sich mit dem Geist im Zimmer der Konigin. Er macht einen besremdenden Eindruck, weil er vom Publikum, von Hamlet, aber nicht von der Konigin gesehen wird. Als die Quartausgabe I im
Iahre 1823 gesunden wurde, sand sich die Regie- Anmerkung: „Der Geist erscheint im Schlasrock" (uiFbt.Fonu), und Goethe sprach sich 1825 stir Schlasrock oder Nachtkleid gegen die Riistung aus. Ich habe den Geist in
einer Art Schlasrock gesehen, aber die Sache wurde dadurch nicht besser. Das Besremdende der Seene liegt nicht in der Riistung, sondern darin, daB wir es mit einer Hallucination Hamlets zu thun haben, bei der die
Erscheinung nur Hamlet selbst sichtbar sein sollte.
Sicher hatte Shakespeare eine Hallucination im Sinne, denn warum sieht die Konigiu den Geist nicht? Ein Kritiker meint, der Anblick werde ihr aus Schonung erspart, in unserem altdeutschen Hamlet wird ihre
Verschuldung als Grund angesiihrt, gewiB schwache Griinde, und die Konigin hat ganz recht, ihren Sohn stir wahnsinnig zu halten, da er sich trotz seiner hoch entwickelten Intelligenz nicht von der subjertiven Tauschung,
welcher er unterliegt, uberzeugen will. Wenn eine Nonne oder ein Bauernmadchen eine Madonnen vision stir wirklich halt, so ist sie deshalb nicht wahnsinnig, es sehlen ihr die Mittel, die Vision aus ihre Objectivitat zu
priisen, wenn aber ein Hamlet der Tauschung unterliegt, so steht er an der Schwelle des Wahnsinns.
Wir haben manches Beispiel von hochbegabten Mannern, welche ihre Hallueinationen als solche erkannten; ich erinnere an die widerwartige Negergestalt, welche Spinoza belastigte, an das Doppelgesicht Goethes, als er
nach dem Abschiede von Friederike Brion aus dem Heimwege sich selbst begegnete, Moses Mendelssohn wurde langere Zeit die Nachte hindurch von gellenden Gehorshallueinationen gepeinigt, der beriihmte Physiologe
Iohannes Miiller hat, ausgehend von seinen eigenen, beim Einschlasen eintretenden Gesichtsvisionen, eine grundlegende Arbeit iiber diese Phantasmen geliesert") und Goethe konnte gewisse Visionen bei geschlossenen
Augen willkiirlich hervorrusen.
Bekannt sind die Visionen des Berliner Buchhandlers und Philosophen Nieolai; Monate lang besand er sich bei Tag und bei Nacht in Gesellschast von hunderten von ein- und ausgehenden Gestalten, Bekannten und
Unbekannten, Lebenden und Verstorbenen, die auch zeitweilig mit ihm Gesprache suhrten. Es war ein eigener Zusall, daB gerade ihm, dem personisieirten gesunden Menschenverstand, dem niichternsten Vertreter der
Ausklarung, dem selbst Kant zu phantastisch war, diese Visionen zu Theil werden muBten. Er machte ubrigens dabei eine seinsinnige Bemerkung, die ihm zu Gute geschrieben werden muB: Iederzeit sei er im Stande
ge wesen, auch die redenden Gestalten von wirklichen zu unterscheiden, denn der Stimme hatten jene Nebengerausche gesehlt, die in Mund und Nase entstehen.")
Shakespeare kannte sicher den Unterschied, der zwischen wirklichen Geistererscheinungen und Hallueinationen zu machen, vielleicht aus eigener Ersahrung, aber die Lehre von den Hallueinationen gehort der neueren
Wissenschast an und Shakespeare konnte seinen Zuschauern nicht zumuthen, an eine solche Sinnestauschung zu glauben.
Heut zu Tage wiirde es kein WagniB sein, wenn es nicht gegen die Pietat verstieBe, die Seene ohne Gespenst zu spielen. Die Worte des Geistes konnen Hamlet als scheinbar gehorte und von ihm nachgesliisterte in den
Mund gelegt werden, wahrend er der Vision mit starren Augen solgt.
Nach meiner Ersahrung, die ich aus Beobachtungen an Geisteskranken
11) Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen von vr, Iohannes Miiller. Coblenz 1876. Ioh. Miiller war 182« angehender Prosessor in Bonn; Philipp Franz v. Walther, der beriihmte, spater nach Miinchen bernseue
Chirurg, stand ihm als alterer Freund unter schwierigen Umstanden nahe. Ans Walthers Mund weiB ich, daB Ioh. Miiller nahe daran war, durch seine Hallueinationen geistig gestort zu werden und daB er diese Gesahr
gewissermaBen durch wissenschastliche Ersorschung seines krankh»sten Zustandes iiberwunden habe.
12) Die Visionen verschwanden ans Blutegel, die an einen gewissen Korperlheil gesetzt wurden, und Goethe, der es ihm bekanntlich nicht recht machen konnte, hat diesen medieinischen Ersolg im Fanst verewigt.
schopse, wiirde die Wirkung eine auBerordentliche sein. Wahrend jetzt der Geist Miihe hat, wenn er auch wie bei uns in den besten Handen ist, mit Anstand aus dem Zimmer zu kommen, wiirde uns Alle jenes Entsetzen
ergreisen, welches nie ausbleibt, wenn wir mit einem Schlage die Vernunst eines geistig hochstehenden Mannes dem Wahnsinn versallen glauben.
Unberechtigter Nachdruck au; dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt. Uebersehungsrecht vorbehalte.i».
Soeben erschien und ist in alien Buchhandlungen zu haben: ans
Fritz Renter's NachlaB:
Zie drei AcrngHanfe,
Lustspiel in drei Aeten.
(Fur die Nuhnenaussuhrung eingerichtet von Gmis?«hl.) V«i» »roch. 1 M. 5« Ps. «leg»nt gl». 2 VI. 25 Ps. Einer besonderen Empsehlung eines neuen Buches von Fritz Reuter glauben wir uns enthalten zu diirsen.
I» die Voll«»Un«g»»t der fummtkichen Werl« wird dies« V»nd nicht »usgenimmen. Mnfiorff iche Hosbuchhandlung in Wismar.
Inhalt.
Adolf wilbrandt. A s«»
Der Mitschuldig/ Lovelle 255
Aarl Viedermann in teipzig.
lessing in England 5A
i). w. Vogel in Verlin.
Die Celegrarchenschrist des Fimmels 555
R. 5choener in Rom.
Der Palatin und seine Ausgrabungen 5H)
Karl Gutzkow in Aachsenbausen.
Vogumil Dawison 3?5
Hierzu das Portrat Karl Gutzkow's, Radirung von D. Raab in Miinchen.
Der Mitschuldige.
Novelle
von
Adolf Wilbrmidt.
ch, gehn Sie doch noch nicht sort! sagte Fraulein Nmolie zu Herrn Wenzel, der nach seinem Hut griff. Was wollen Sie zu Hause in dem kalten Zimmer. Gehn Sie doch noch nicht fort!
Herr Wenzel stand, den abgeschabten, schwarzen, hohen Hut in der Hand, neben dem braunen, runden Kachelosen, in einer hellblauen Stube, und sah durch das Fenster in den Nachthimmel und aus die Schiffe hinaus,
die im Rostocker Hasen lagen. Warum sollte ich noch nicht sortgehn, antwortete er, ohne. Fraulein Amelie anzusehn. Unsere Stunde ist ja aus. Ich habe ja das Vergniigen gehabt, Ihren Aussatz zu lesen. Ich habe darunter
geschrieben: „Sehr besriedigt". Warum sollte ich nun nicht gehn. Gute Nacht, Fraulein Amalie.
Ach, warum sagen Sie immer „Amalie", erwiderte das Madchen. „Am61ie" ist doch hiibscher! musikalischer! — Ich hab' einmal eine Schulsreundin gehabt, die mich „Male" nannte; die nab' ich zuletzt gehaBt;
wahrhastig . . . Gehn Sie doch noch nicht sort.
Warum sollt' ich nicht sortgehn, wiederholte er. Ich habe ja schon das Vergniigen gehabt, in Ihrem Aussatz zu lesen, daB die Liebe das Hochste und Schonste in diesem Iammerthal ist. Ich habe schon mehr als einmal die
Ehre gehabt, Fraulein Amalie, von Ihren Empsindungen stir diesen unbekannten Iiingling aus der Fremde zu horen. Sie wollen mir wieder davon erzahlen. Wozu sollt' ich das horen. Wer weiB, ob es mich ebenso gliicklich
macht, wie Sie. Also gute Nacht!
O du srommer Gott! sagte das Madchen und seuszte. Wollen Sie mich nicht einmal ansehn?
Der arme Herr Wenzel sah sie also an. Er wars einen unsreiwilligen Blick aus die hohe, voile Gestalt in dem dunkelgriinen Hauskleid, das sich so angenehm an die Formen schmiegte. Fraulein Amolie stand, die Hande
hinter sich, an die Kommode gelehnt, und schaute ihm mit ihren etwas iibergroBen, slachliegenden, leuchtenden blauen Augen kokett vorwurssvoll in das blasse Gesicht. Sie war sast zu groB, und was man von Knochen an
ihr sah, war nichts weniger als zerbrechlich; aber die Natur hatte dieses beinerne Geriist so anmuthig mit Fleisch und Blut bekleidet, daB es stir Wenzel besser gewesen ware, die Betrachtung der Schisssmasten im Strom
nicht auszugeben. Fraulein Amolie's Thusnelden-Gestalt war in diesem Zustand volliger, iippiger Reise angelangt, die sich nicht immer mit der nothigen Kaltbliitigkeit betrachten laBt; ihr rundliches Gesicht war wie eine
Apselbliithe, und selbst ein gewisses dummlich holdes Lacheln stand ihr gut. Der arme Herr Wenzel sah sie also an. Er lieB seine hohe Gestalt so zusammensinken, daB er kleiner erschien als sie; was er doch nicht war.
Haben Sie noch etwas zu besehlen? murmelte er dann und versuchte es mit einem matten Lacheln.
Iesus, Gottes Sohn! wie Sie immer reden! A Ich hab' Ihnen noch nie etwas besohlen; ich bin Ihre dankbare, dankbare Schiilerin; ich verehre Sie; ach, das wissen Sie ja. Stellen Sie doch den Hut wieder aus den Stuhl! —
Ihnen verdank ich ja Alles! — Wie Sie das erste Mai zu uns kamen, als ich ja noch so ungebildet war, daB es Gott im Himmel jammern konnte — und Sie mir sagten: „Bildung macht srei" — und „Freiheit macht uns zu
Menschen" — das hat mich so gehoben, so gehoben, ich kann's Ihnen nicht sagen. Nehmen Sie doch wieder Platz! — Und Sie haben viel Geduld mit mir gehabt; und nie, nie werd' ich's Ihnen vergessen. Und es passirt mir
wol noch manchesmal, daB ich ein ungebildetes Wort gebrauche, weil ich's so gelernt habe; ich bedars noch manchmal einer Reparatur — (er wollte sie unterbrechen, aber sie sprach sort:) doch was kann ich dasiir, Herr
Wenzel, daB mein Vater ein Gastwirth am Hasen, stir die Seeleute, ist, und keine Bildung gelernt hat; und war' ich immer mit Ihnen, dann sollte mir nichts
mehr passiren — das weiB ich gewiB! Ach Gott ne ja, warum
sehen Sie mich so an. Sie wollen mir durch die Blume sagen: ich konnte ja immer mit Ihnen sein, wenn ich wollte; wenn ich Sie heirathen wollte —
Ich will gar nichts sagen, siel er ihr in's Wort; doch so kalt und ruhig, wie er sich's gedacht hatte, kam es ihm nicht iiber die Lippen. Wie konnte ich mir herausnehmen wollen, Sie zu heirathen, Fraulein Amalie. Ihr
Vater hat ein gutes Geschast und ein hiibsches Vermogen; ich habe kein Geschast und kein Vermogen. Sie sind jung, ich bin alt!
Ach, vom Alter wollen wir nur nicht reden! antwortete sie treuherzig. So ein junger Krabauter bin ich ja auch nicht mehr Aber „Krabauter" ist ja wol kein gebildetes Wort. Wie kommt mir das in den Mund! — Wir
Plattdeutschen haben so viele unpassende
Worter Wovon sprachen wir. Zeigen Sie doch nicht mit dem
Finger aus Ihre hohe Stirn! Sie sagen „Kahlkops" dazu; ich sage, das ist nur eine hohe Stirn; eine „Denkerstirn". Und „phantasie voile" Menschen bleiben ja immer jung, wie ich in einem von Ihren Klassikern gelesen habe;
und Sie sind gewiB ein phantasievoller Mensch! Sie haben nur viel, viel zu viel Phantasie; das ist Ihr Ungliick, Herr Wenzel! — Und haben Sie nicht einen schonen, herrlichen Berus: zu unterrichten — Bildung zu
verbreiten — Und abzuschreiben — la, Sie schreiben sich todt; bios damit Sie Ihre kleinen Nichten
ernahren konnen ach, Sie sind ja so ein guter, guter Mensch! —
Stehn Sie doch nicht aus. Sie sollten sich noch ein bischen verpusten
Sie sollten noch ein bischen ausruhen! berichtigte sie sich und
ward roth. Es ware mir ja eine hohe Ehre, Ihre Frau zu sein; — nein, wahrhastig und Gott! — Aber ich werde nie heirathen; nie, nie, nie —
Also auch nicht den Gastwirth zum „Cap der guten Hoffnung"? sragte Herr Wenzel.
Mit was stir einem sonderbaren Ton Sie das aussprechen! antwortete sie und ward wieder roth. Dann ereiserte sie sich plotzlich: Den sollt' ich heirathen? So eine Quadux? So ein tralliges, appeldwatsches Gestell?
Herr Wenzel lachelte.
Ach Gott, ich war ja wol wieder gar zu ungebildet! unterbrach sie sich und legte sich die groBen, vollen Hande einen Augenblick vor's Gesicht. Verzeihen Sie —
Bitte sehr! Thun Sie sich keinen Zwang an. Fiir diesen Wirth zum Cap der guten Hoffnung sind diese alten Kernworte sehr gut —
Warum miissen Sie denn das vom Cap und so weiter noch einmal sagen! siel sie ihm in's Wort. Und Sie thun's auch nur aus Eisersucht; — aber wie Sie aus diesen Iammerlappen eisersiichtig sein konnen, das muB mich
doch von Ihnen wundern, Herr Wenzel. Ich Den heirathen! O Gott! — Er kann sich was prosten lassen! Lieber gehe ich in die Warnow, wo sie am tiessten ist!
Herr Wenzel murmelte hieraus etwas, das sie nicht verstand. Was sagen Sie? sragte Fraulein AmAlie. Das dars man wol nicht sagen, Herr Wenzel: „er kann sich was prosten lassen"?
In einem deutschen Aussatz miissen Sie's nicht schreiben, antwortete er sanst; aber stir diesen Wirth zum Cap der stir den war es gut! Uebrigens was hilst das. Sie wollen nicht heirathen, sagen Sie. Aber stir
den Iiingling da aus der Fremde, den jungen Schweden, stir den schlagt Ihr Herz. Heirathen wollen Sie ihn also nicht; — also was wollen Sie thun?
Ach Gott! ach Gott! wie Sie sragen. Ach, wie schlecht Sie sind; — und Sie sind doch so gut. Was kann ich dasiir, Herr Wenzel, daB diese ungliickliche Liebe so iiber mich gekommen ist, wie in den Romanen und in
den Trauerspielen; — ja, eine ungliickliche Liebe — sehn Sie mich doch nicht so von der Seite an Eine ungliickliche Liebe, denn so ein seiner, vornehmer, reicher junger Mensch, und so ein Adonix, ach der heirathet
mich nicht! — Aber ein rechtschaffenes Madchen bleib' ich doch, Herr Wenzel; ja, und wenn Sie auch die Stirn zwischen Ihren Augenbrauen zehnmal zusammenziehn — gut bleib' ich doch; — ja und wenn Sie auch — A
Sie horte plotzlich aus zu reden, denn sie sing an zu weinen. Sie zog ihr Taschentuch, das sie ganz zusammengedriickt hatte, auseinander, legte es sich vor die Augen und schluchzte.
Hm! murmelte Herr Wenzel, der ihr gegeniiber saB, und starrte sie, durch diesen Ausbruch etwas geangstigt, an. Er beugte sich vor, als miisse er ihr irgendwie zu Hiilse kommen; sein Gesicht verzog sich, weil er selber
weich wurde; denn stir lautes Weinen hatte er eine ungliickselige Empsindlichkeit, und wie sollte er nun gar Fraulein Amalie ruhig schluchzen horen. Dazu war sein Gemiith ohnehin in trauriger Versassung... Er schwieg,
aber er bewegte sich unruhig aus seinem Stuhl hin und her; doch als er dieses alte, wackelige Gestell knarren horte, saB er wieder still. Fraulein Amolie weinte sort, hinter ihrem Tuch. Dariiber erwachte seine Phantasie,
denn es bedurste immer nur wenig, sie zu wecken. Er sah in die Zukunst hinaus ... Er sah diesen verhaBten „Iiingling aus der Fremde" vor sich; er kannte ihn nicht, aber er stellte ihn sich vor: schlank, blond, unverschamt
jung, in einem seinen Pelz, mit einem kalten Lacheln um den madchenhast kleinen Mund. Amalie lag vor ihm aus den Knieen: heirathe mich! heirathe mich! stohnte sie; du hast mich rechtschaffenes Madchen in die
Schande gebracht! — Doch der insame junge Schwede lachelte dazu, bewegte nur abwehrend seinen rechten Pelzarmel, und trat von der Briicke aus's Schiff: denn den Herrn Wenzel hatte seine rasche Phantasie plotzlich in
den Hasen, an den FluB, zur Schnickmannsbriicke gesiihrt. Die Brigg „Gustav Adols", mit der schwedischen Flagge, stieB ab. Der Versiihrer stand an Bord und lachelte. Mit einem siirchterlichen Schrei hob die verlassene
Amalie ihre Hande und sprang in den FluB ... Da schwimmt ja auch schon ihre Leiche hinter dem Schiffe her. Wer schwimmt denn da neben ihr? Das ist er selbst — Gottlieb Wenzel. Er lebt; er schwimmt wie ein Fisch; er
knirscht mit den Zahnen, denn er lechzt nach Rache. Das Schiff segelt wie der Teusel den FluB hinab, aber Gottlieb Wenzel ist schneller. Er holt es cin, er klettert hinaus, er steht aus dem Verdeck. Hab' ich dich,
Versiihrer! ruft er dem zusammenbrechenden jungen Schweden zu; Elender! sieh hin, wer dort hinten schwimmt! — Und sein geossnetes Taschenmesser schwingend, stoBt er es dem stohnenden Iiingling aus der Fremde in
die Brust...
Iesus, Gottes Sohn! was machen Sie? ries das Madchen aus und suhr in die Hohe. Sie schlagen mir ja wol den ganzen Tisch in den Grund! — Herr Wenzel, was haben Sie — Gott soli mich bewahren —
Herr Wenzel stand aus, starrte aus den Tisch, den er mit der gehobenen Faust getroffen hatte, dann im Zimmer umher und aus Fraulein Amalie. Er sah, daB sie sich die letzte Thrane von der Wange wischte .. Bitte sehr
um Vergebung! stammelte er.
Sie schien nun zu begreisen, was ihm geschehen war; denn sie sing an zu lacheln. Endlich lachte sie laut.
Es war also noch nicht so schlimm: sie schwamm nicht steis und kalt hinter dem davonsegelnden „Gustav Adols" her, sondern in all' ihrer bliihenden Ueppigkeit stand sie da und lachte. Sie lachte noch so, wie nur die
Unschuld lacht ... Er hatte nur getraumt, wie gewohnlich. Es ward ihm etwas leichter urn's Herz. Doch was niitzte es, daB sie noch so dastand? — Nicht stir ihn war sie so bliihend, so hiibsch. Diesen Andern liebt sie, der
sie nicht heirathen wird. Und wie rechtschaffen sie auch ist, — wie wird's eines Tages enden ... Er nahm wieder seinen alten, abgenutzten, hochstammigen Hut. Bitte nochmals um Vergebung, sagte er mit einem
unsicheren, getriibten Lacheln. Ich habe phantasirt; meine alte Schwache. Das nimmt bei mir iiberhand. Fraulein Amalie, eine wohlschlasende Nacht!
Warum wollen Sie plotzlich wieder gehn? Weil ich eben gehojahnt habe — gegahnt, wollte ich sagen — ?
Nicht weil Sie gehojahnt, auch nicht weil Sie gegahnt haben, antwortete Herr Wenzel. Aber wir haben uns ja ausgesprochen, Fraulein Amalie. Wir haben uns iiber Ihre ungliickliche Liebe ausgesprochen; — was konnte
uns nun noch interessiren, Fraulein Amalie. Ich will mit meinen Nichten zu Nacht essen. Gott segne Sie, und so weiter!
Sie wollen sort, wirklich und wahrhastig? — Und. Sie haben noch nicht einmal — seine Photographie gesehn; Sie wissen noch nicht, wie ich Denjenigen denn eigentlich kennen gelernt habe — wie er heiBt — was er ist
Herr Wenzel richtete seine lange breitschultrige Gestalt, die er gewohnlich etwas nach vorne neigte, steis und storrig aus. Ich wiinsch' es auch nicht zu wissen, Fraulein Amalie, sagte er, ohne sie anzusehn. Ich habe kein
Interesse stir seine Photographie. Ich hasse ihn, setzte er hinzu.
Ach Gott! seuszte das Madchen.
Sie waren beide still. Sie nahm eine Stricknadel vom Tisch unt> rieb sich damit die Stirn. Er ging langsam zur Thiir.
Ach, ich bin ja auch nicht glticklich! sagte sie endlich, wie um ihn zu trosten. Sie gehn also wirklich sort ... Ich hab' noch was in Petto, Herr Wenzel: diese Knallbonbons stir die Zwillinge, stir die kleinen Nichten. Der
Kapitan von der „Pommerania" hat sie mir geschenkt. Ach, diese lieben kleinen Zwillinge, diese Waisenkinder, die immer so mager sind — aber immer so putzlustig, so vergniigt. Ach, Herr Wenzel, nehmen Sie doch diese
kleine Tiite, und kiissen Sie die Zwillinge von mir!
So langsam, wie er gegangen war, kam er zu ihr zuriick. Fraulein Amalie, Sie sind ein gutes Madchen, sagte er geruhrt. Ich danke Ihnen fur die Diite. Lassen Sie mich nun gehn!
Ia, nun sollen Sie gehn; aber wie sehn Sie leeg aus schlecht,
wollt' ich sagen. Auch so mager, Herr Wenzel Nun horen Sie einmal da unten den Hopphei in den Gastzimmern; wie Die wieder marachen! Dieses Iuchen und Hucheln; — wie wenn es aus der Welt keinen Kummer
gabe, Herr Wenzel; wie wenn Alles aus der Welt so ware wie es muBte; — ach, geben Sie mir wenigstens die Hand. Ich mochte Ihnen so gern viele Freude machen; ich verehre Sie;
aber horen Sie einmal dieses Takelzeug ! Dies Geraster da unten
Ist das ein Schriftwort, Herr Wenzel?
Nein, es ist kein Schristwort; und lassen Sie meine Hand!
Sie sind so blaB, Herr Wenzel; und so mager, wie die Zwillinge; — Sie leben wol auch von Naphta und Ambrosia, wie die alten Gotter! — Und ich dagegen, ich werde so pummelig ... Wie viel Ungerechtigkeit gibt es
aus dieser Welt! Sie miissen sich starken, Herr Wenzel; — ubrigens, das hatt' ich doch gleich in den Tod vergessen: Sie bekommen ja noch Ihr — Ihr Honorar stir die letzten Stunden. Mein Papa hat mir's heut
gegeben. Fiir sechzehn Stunden, nicht wahr. Bitte, nehmen Sie!
Herr Wenzel runzelte die Stirn, um nachzudenken, und schiittelte dann den Kops. Sie sind im Irrthum, Fraulein Amalie. Was reden Sie von sechzehn Stunden; es sind nur noch zehn. Alles Friihere hab' ich schon
bekommen —
Das weiB ich besser, erwiderte sie keck, wahrend sie sich abwendete, um ihm nicht in die Augen zu sehn. Sie sind ja ein so gescheiter und so gebildeter Mann; aber jeder Tutendreher kann besser rechnen als Sie. Und
Sie haben ein schlechtes GedachtniB stir Geldsachen, weil Sie so viel Andres im Kops haben; und ich weiB, was ich weiB. Ach Gott ne ja, nehmen Sie doch Ihr Geld; stehn Sie doch nicht so da!
Aber Sie irren wirklich
Machen Sie mich nicht bose! siel ihm das Madchen in's Wort und hob die Stricknadel, wie um ihn damit anzugreisen. Sie wollen mir wol was schenken, wie ich merke. Ich soli mich wol umsonst von Ihneu bilden
lassen; damit Sie verhungern konnen A und die armen Zwillinge dazu. Wenn ich drei gezahlt habe, Herr Wenzel, und Sie haben dann noch nicht genommen, was Ihnen zukommt, — dann stoB' ich Ihnen dieses Schwert der
Rache in die Brust!
Herr Wenzel lachelte; wehmiithig und sroh zugleich. Hab' ich mich wirklich verrechnet? sragte er dann unschuldig. Ich dachte doch —
Aber ich weiB ! — Eins — zwei —
Er nahm das kleine Packet mit dem Geld, eh sie Drei sagte, und hielt es in die Hohe. Was sang' ich damit an, sagte er; aus eine so gewaltige Summe hatt' ich nicht gerechnet —
Ich will Ihnen sagen, was Sie damit ansangen, siel das Madchen ein: Sie gehn zunachst in das warme Gastzimmer hinunter und vergonnen sich endlich einmal einen guten Trunk, und eine Cigarre dazu; denn Ihre
Nichten sind bei der alten Frau Schwabke gut ausgehoben, und Sie, Sie leben nicht besser als ein Hund, und sehn aus wie Waddik und Wehdag'! Und zuerst aber lassen Sie sich ein englisches Beessteak geben, mit oder
ohne Zwiebeln, wie Sie wollen; und wenn Sie satt sind, dann denken Sie einmal an mich, aber sreundlich; und bei dem Aussatz zur nachsten Stunde, iiber „die weiblichen Tugenden", will ich mir alle, alle
Miihe geben; nun, so gehn Sie, Herr Wenzel! Aber Sie kommen
nicht erst am Mittwoch wieder, sondern morgen, oder ubermorgen; Ansehn thut gedenken! Und trinken Sie von dem dunklen Bier, das geht Ihnen besser in's Blut; — und bedenken Sie nur, setzte sie leiser hinzu: ich bin
auch nicht glticklich! Ach du mein Gott! — Gute Nacht. Fallen Sie nicht aus der Treppe, Herr Wenzel, gehn Sie sachting hinunter. Unsre alte Treppe ist so sueeessive!
II.
Herr Wenzel solgte der Weisung, die Fraulein Amalie ihm gegeben hatte: er stieg mit Vorsicht hinab und trat dann in das vordere, groBere der beiden Gastzimmer ein, in denen der Wirth zur „Stadt London", der Vater
Amaliens, warme und kalte Speisen, milde und strenge Getranke an die seesahrende Bevolkerung verkauste. Doch Kajiitenjungen, Halbmatrosen und Vollmatrosen pflegten (zur Zeit, da diese Geschichte sich begab) die
Gastzimmer der „Stadt London" nicht zu entwiirdigen; hier erschollen die Fliiche der Schissskapitane und Steuerleute, und Schisssbaumeister, Segel- und KompaBmacher, alte ehrwiirdige Seesahrer im Ruhestand holten
sich hier ihre Sonntagsrausche. Als Wenzel die Thiir zogernd offnete und der Tabaksqualm ihm gleichsam seine blaulichen Wolken-Arme entgegenstreckte, war ihm danach zu Muth, wieder umzukehren; denn was sollte er
hier, die Landratte unter den Wasserratten. Doch Amaliens sreundliche Worte sielen ihm wieder ein; und es war ihm doch ein wehmiithig wohliger Gedanke, sein Glas Bier unter ihrem Zimmer und bei ihrem Vater zu
trinken. Er rieb sich die Augen, die an diesen beiBenden Qualm nicht mehr gewohnt, die durch das nachtliche Abschreiben angegriffen und gerothet waren, hangte seinen Hut an die Wand und suchte sich einen Platz.
Beide Zimmer waren gesiillt; an langen Tischen saBen sie, Mann an Mann, wie die Krahen, oder um kleinere Tische zu Dreien und zu Vieren, Karten aus dem Tisch und in der Hand, lange und kurze Pseisen im Munde.
Alte Invaliden mit unzahligen Runzeln in so gedorrten Gesichtern, als hatten sie Iahre lang in der Sonne gelegen; junge Kapitane mit sast eleganten Backenbarten, mit sester, bluhender Haut, und gewahlt gekleidet. Grobe
Fuhrmannsgesichter mit kleinen, blinzelnden Augen, die nie ein groBeres Wasser als die Ostsee gesehen, mit kupsersesten Nasen, die nie etwas Besseres als russische Talglichter und grime Seise gerochen hatten; dunkel
verbrannte, magere, scharsaugige „Gallionen", die aus „der Atlantik" oder sonst von „langer Fahrt" nach Hause kamen, die der Passatwind ersrischt und der Teisun gepeitscht hatte. Rothwein von „Burdanks", Rum aus „der
Batavia", dunkles, schaumendes Doppelbier und „steiser" Grog schwammen in den Glasern. Lustige Geschichten aus alien Welttheilen, Durcheinanderschelten der Spieler, Nothruse von Durstigen, deren Glaser leer waren,
durchschwirrten die tabakschwere Lust. Dann suhr einmal wie eine srische Bo drohnendes Lachen iiber einen surchterlichen Seemannswitz dazwischen; dann wieder ward es still. Herr Wenzel blieb stehn, blickte umher
und horchte. Niemand gab aus ihn Acht. Endlich sah er hinter sich, nahe bei der Thiir, den einzigen leeren Tisch, der dort einsam stand. Er nahm einen ausgesessenen Rohrstuhl aus der Ecke, riickte ihn an den Tisch, und
ohne Gerausch setzte er sich nieder.
Herr Berring, der Wirth, kam heran; Amalie Berrings Vater, groB und blond wie sie, doch zu sehr in die Runde gewachsen. Er schwitzte stark, denn seine Gaste lieBen ihm keine Ruhe; aber Behagen und Zusriedenheit
leuchteten aus dem bluhenden, backenbartigen, lachelnden Gesicht. Gott soli mir 'nen Thaler schenken: Sie mal wieder bei mir! ries er aus, und machte eine Art von Verbeugung, um seine besondere Ehrerbietung
auszudriicken; denn vor Herrn Wenzel, dem „schristgelehrten" Mann, hatte er einen dunklen, seierlichen Respekt. Seltene Ehre, Herr Wenzel! Womit kann ich dienen, wonach steht Ihnen der Gusto? — Beessteak;
Doppelbier. Sehr wohl, sehr wohl; haben wir alles, Herr Wenzel. Ist mir ein sehr angenehmes Raukonter; — mit Zwiebeln, sehr wohl, sehr wohl. Bildung muB sein, das weiB ich; und Sie machen ja aus meiner Tochter eine
ordentliche Feine, Hochdeutsche, wie sich das jetzt gehort; A nicht durchgebraten; sehr wohl. Was meine selige Frau war, die war nicht stir Bildung; und da muBte ich mich wol geben: und davon haben wir's nun, daB das
Kind sich nicht so belernt hat, wie sie sollte und wollte. Aber da sitzt ja nun der Schristgelehrte, unser Herr Wenzel, der den Schaden ausslickt. Von dem dunklen Bier; ganz, wie Sie besehlen! — Ich machte mich gerne
auch noch an die Wissenschasten; aber Sie wissen ja: was Hanschen nicht gelernt hat, und so weiter; der alte Kops ist zu wedderdansch; und aus einem Schweineschwanz laBt sich kein seidenes Halstuch machen. Karl,
einen doppelten Kiimmel stir den Herrn Kapitan! Ahoy! Ahoy! — Mit Ihrem gutigen Wohlnehmen, Herr Wenzel: ich muB in die Kiiche. Englisch, mit Zwiebeln; sehr wohl!
Herr Wenzel saB wieder allein, stiitzte den groBen, haarbuschigen Kops in beide Hande, und versank in seine Gedanken. Da oben sitzt sie nun, dachte er, iiber dieser Decke, und seuszt nach ihrem „Adonix". Wie in aller
Welt ist's nur moglich, daB ein ehemaliger Candidat der Theologie sich in ein Madchen vernarrt, das von „sueeessiven Treppen" und „Adonixen" spricht, und einen Andern gern hat! — Und sie sagt mir's noch in's Gesicht:
diesen Andern lieb' ich. Und ich alter Kindskops —
Ehrlich wenigstens ist sie! Treuherzig; und so gut; ach, so lacherlich
gut. Und diese Gestalt; diese srischen Wangen War' ich nie in dies Haus gekommen! Fiir die paar Thaler, die ich mehr verdiene, ist meine Seelenruhe hin. Ach, ein schlechter Handel! — Da sitzt nun so ein alter
„schristgelehrter" Narr, einsam und gottserbarmlich Recht hat sie: dieses Doppelbier ist gut. Und diese braune Farbe; dieser Glanz darin, wenn das Licht hindurchscheint. Wie der dunkle Bernstein, den ich als
lunge am Seestrand bei der Rostocker Haide sand; — serne, serne Zeiten! — Wie die Blasen aussteigen; diese wilde Iagd, als kamen sie sonst zu spat. Seid ihr auch was, ihr kleinen Lustperlen, die ihr's so eilig habt; die
ihr's nicht erwarten konnt, bis ihr da oben zerplatzt? Und wenn ihr nicht gleich zerplatzt, stiirzt ihr aus einander zu, wie ein Paar Liebende, und aus Zweien wird Eine — hast du mich nicht gesehlt. Sachte, sachte, sachte,
Iungser Blaschen; ja, du da Weg ist sie. Mit Herrn Blaschen vereinigt; — und nun platzen sie; gemeinsamer Sprung in's Nichts: nicht in's Wasser, aber in die Lust. Und da sitzt so ein sechs Schuh langer Kerl,
Namens Gottlieb Wenzel, nnd sieht euch zu, wie es euch ergeht. Sitzt denn irgendwo Einer, den ich nicht sehe, und sieht ebenso aus die Lustblase Gottlieb Wenzel herab? und macht seine Glossen iiber diese ruppige alte
Blase, die auch immer steigen, immer steigen wollte, und immer die Sehnsucht hatte, sich mit einem Iungser Blaschen zu vereinigen — und endlich zerplatzen wird? Und dann sragt vielleicht noch irgend ein perlendes
Blaschen: „wo ist Gottlieb Wenzel geblieben?" — und indem sie das sragt, ist sie auch dahin
Er sah von seinem Glase aus, da ein groBer Schatten es verdunkelte, und starrte den Schatten an. Ein junger Mensch war herangetreten, dem ein Zweiter solgte. Beide nahmen ihre modischen kleinen Hiite vom Kops,
machten eine leichte gruBende Bewegung und setzten sich an den Tisch. Herr Wenzel erwiderte den GruB. Unwillkiirlich riickte er dann ein wenig mit seinem Stuhl; denn es gesiel ihm nicht, daB er nicht allein blieb. Der
eine junge Mensch bemerkte dies und sing an zu lacheln.
Es ist eben nirgends mehr Platz, sagte er mit einem leisen auslandischen Aeeent.
Ich habe auch diesen Tisch nicht gepachtet, erwiderte Wenzel hoslich. Dann errothete er, weil er gern etwas Besseres, Artigeres gesagt hatte; doch es war zu spat.
Die jungen Manner sorderten eine Flasche Wein; sie hatten brennende Cigarren in der Hand und suhren sort zu rauchen. Herr Wenzel betrachtete sie; fliichtig und bescheiden. Der, welcher gesprochen hatte, war ein
hubscher Mensch, eher klein als groB, auBerst zierlich gebaut. Er hatte ein seines Naschen, lichtbraune Rehaugen, die, wie bei einem neugierigen Vogel, lebhast hin und her blickten, und leicht gekrauseltes
kastanienbraunes Haar, in das er von Zeit zu Zeit seine unruhigen Hande vergrub. Der Andere war groBer, etwas aschsarben und iiberhaupt unscheinbar. Auch war von seinen blassen Brauen und Wimpern kaum etwas zu
sehn, so daB man aus den ersten Blick gezwungen ward, sie zu suchen. Dies that denn auch Wenzel; doch nachdem er's gethan, sah er wieder in sein Glas, nahm es und trank es aus.
Die beiden jungen Leute begannen mit einander zu sprechen; aber in einer sremden Sprache, die er nicht verstand. Einzelne Worte klangen sast wie deutsch; er horchte eisriger hin. Dann war wieder Alles sremd. Endlich
schien ihm gewiB, daB sie entweder Danisch oder Schwedisch sprachen; entscheiden konnte er's nicht, da er sich um diese beiden Sprachen nie bekummert hatte. . . Wie! sollte Einer von ihnen unser „Adonix" sein? suhr
ihm aus einmal durch den Kops. Es lies ihm heiB iiber das Gesicht. Er betrachtete die Beiden von Neuem. Sie waren nicht seemannisch, sondern eher modisch gekleidet; ein dunkelblaues, seines, durchscheinendes Halstuch
siel dem Kastanienbraunen, nachlassig geschlungen, iiber das blendend weiBe Hemd. Kostbare Ringe trug er an den Fingern; wenigstens schien der groBe Stein in dem einen Ring ein Rubin zu sein. Davon konnt' ich ja wol
ein Iahr leben, dachte Wenzel; ich mit meinen Nichten . . . War' etwa das dieser Iiingling aus der Fremde? Er sah noch einmal hin, dann schiittelte er den Kops. Wie ganz anders stellte er sich „Denjenigen" vor: groB,
schlank, blond, mit einem kalten Lacheln, kalte SiegesgewiBheit in den blauen Augen. Und dieser Kastanienbraune hier war ein halber Knabe, der so herzlich lachte, wenn der Andere sprach; der so lustig schwatzte; der
den Flaum iiber seiner Oberlippe strich, wie ein Vogel sein Gesieder putzt. Der Andere aber, der Aschgraue — weniger Adonis, als der, konnte man nicht sein.
Nun, so mogen sie Danen oder Schweden oder auch Lapplander sein, wie es ihnen beliebt! dachte Wenzel beruhigt, da eben sein Beessteak kam; sorderte ein neues Glas Bier, und mit der Begierde eines Menschen, der
an diesem Mittag nur Kartosseln aus seinem Teller hatte, sing er an zu essen.
Also bei Deiner Abreise bleibt es, alter lunge? sragte der Kastanienbraune, in seiner nordischen Sprache weitersprechend, wahrend Wenzel aB. Nicht Einen Tag gibst Du mehr zu?
Axel, es muB sein! antwortete der Andre. Morgen mit dem ersten Zug sahre ich nach Stettin; von da mit dem Dampser nach Malmo. Denn es erwarten mich die liebenden Eltern, und so weiter. . . Neulich sagtest Du mir:
„wenn Du gehst, geh' ich mit!" Warum willst Du nun nicht?
Ach, ich wollte wohl! Lund, ich wollte wohl! In dieser verdammten alten Hansestadt ist kein Leben, Lund; ich langweile mich wie ein alter Seehund; Gott der Herr mag wissen, warum mein Vater mich in dieses Nest
geschickt hat, um Deutsch parliren zu lernen! — Gut, nun bin ich hier gewesen, und ich hab's gelernt —
Von den schonen Tochtern Deines Pensions vater s —
Das ist voriiber, Lund! Dieser zarte, lyrische Bund der Herzen ist zu Ende!
Und Emma, die „holde Kleine"?
Voriiber, Lund, voriiber!
Wie dieser kleine Don Iuan spricht! sagte der Aschgraue und betrachtete ihn ironisch durch seine halbgeschlossenen, wimperlosen Augen. „Voriiber, Lund, voriiber!" — Da hat unser schones Axelchen einmal gelesen,
daB wir Schweden die „Franzosen des Nordens" sind, und halt nun siir seine Pflicht, die Wahrheit dieses Satzes zu beweisen! — LaB Deinen sogenannten „Bart", kleiner Don Iuan; dieser braune Weizen will Zeit haben; mit
den Fingern herausziehen laBt er sich nicht, ich gebe Dir mein Wort. — Du hattest Dir ja vorgenommen, Deinem Pensionsvater durchzugehen, wenn Du ein halbes Dutzend dieser sreundlichen kleinen Madchen hinlanglich
ungliicklich gemacht hattest —
Das sagte ich damals, aus Unsinn, als ich zu viel von diesem hollischen Grog getrunken hatte. Du alter Satiriker! so ein gewissenloser Rattensanger und Seelenverderber bin ich nicht; aus Ehr' und Seligkeit! Aber was
kann ich dasiir, daB die deutschen Madchen mir so sreundliche Augen machen, statt meinen Freund Lund zu beehren; und daB sie in Verzuckung gerathen, wenn ich ihnen mit meinem hohen Tenor schwedische Lieder
singe —
Und daB ihnen das Herz bricht, siel der Andere ein, wenn das schwedische Nachtigallenmannchen aus achtundvierzig Stunden in den Kafig muB, weil es mit einem Nachtwachter kampste —
Das vergess' ich ihnen nicht! ries der Kastanienbraune aus, zog seine Hand aus dem lockigen Haar und ballte sie zur Faust. Diesem Nachtwachter zu glauben, diesem Schust, der behauptete, ich hatte ihn geohrseigt
Eine Luge, Lund! Ich wollte mich nur von dem schmutzigen alten Kerl nicht beruhren lassen, und ich machte mich los. Dasiir mich einzusperren! Das war ungerecht! Dieser Polizei-Senator, dieser Rechtsverdreher, dieser
eitle Geek hort noch von mir, Lund; dem thu' ich noch einen Possen an, daB die Wickelkinder in der Wiege driiber lachen sollen; daraus kannst Du Gist nehmen, Lund!
Ich will's nehmen, Axel; aber undankbar bist Du: denn dieser Polizei-Senator hat Dir ja vollends die Madchen toll gemacht. Mit Deinem Gesichtchen und Gestellchen sing's an, dann kam Dein Tenor dazu, dann wurdest
Du Martyrer und muBtest hinter SchloB und Riegel: da waren die Herzen verloren! — Schone Deinen Bart; seine Iugend, Axel, sei Dir heilig. Du willst also nicht mit?
Lund, ich wollte wohl —
Nun, wer will denn nicht? Irgend eine neue blauaugige Thusnelda —
Lund! suhr Axel aus. Wir sind nicht allein, Lund!
Lund zog die Brauen in die Hohe, daB ihre blassen Linien deutlich sichtbar wurden, legte den Kops aus die Seite und sing an zu pseisen. Also eine groBe Blauaugige ist es! sagte er dann mit einem schlauen Lacheln.
Nicht so ausgeregt, Axel; der Mann da mit dem Beessteak und den Nachtwandler -Augen versteht uns ja nicht; denkt auch gar nicht an uns. Meinst Du, ich hatte nicht gemerkt, daB es wieder brennt? Warum hast Du mich
in diese Seemannskneipe gelockt? Warum hat der Wirth eine hubsche, groBe, blauaugige Tochter? Warum summtest Du unterwegs das Lied vom blonden Wirthstochterlein? — Du, nimm Dich in Acht. Wenn irgend ein
Seesahrer diesem Wirthstochterlein den Hos macht — mit so 'ner Wasserratte ist dann nicht zu spaBen —
Ich siirchte mich nicht so viel! ries der junge Mensch mit einer wegwersenden, stolzen Geberde aus. Seine Augen blitzten; ein hinreiBender Ausdruck mannlicher Schonheit kam in sein unbartiges Gesicht. Von Furchten
und Sorgen muBt Du mir nicht reden —
Gut; ich sage nichts! — Mit der Wirthstochter aber hat es also seine Richtigkeit. Wieder ein Bund der Herzen —
Sie muB mein werden, Lund! ries der Iungling mit plotzlichem Feuer aus.
Es sehlt nicht mehr viel daran, setzte er dann, die Stimme dampsend, hinzu.
Er wollte noch etwas sagen; doch er setzte die weiBen Zahne aus die Unterlippe und blickte stumm in sein Glas. Endlich nahm er's und leerte es aus Einen Zug.
Hml murmelte Lund. Du „Franzose des Nordens"
Er brach ab, denn der dritte Mann am Tisch siel ihm wieder in's Auge und sesselte aus einmal seine Ausmerksamkeit. Herr Wenzel hatte den hochstirnigen Kops iiber seinen Teller geneigt, von dem der letzte Rest des
Beessteaks verschwunden war; der Haarbusch iiber seiner Stirn stand wie gestraubt in die Hohe, und die weitausgerissenen Augen, deren blauliches WeiB uberall an den gerotheten Randern sichtbar ward, starrten schrag
aus den Tisch. Mit den unruhigen Handen zerrte er seinen Schnurrbart, so daB ihm rechts und links einige lange Haare zwischen den Fingern blieben. Dann bewegte er die gespannten Lippen, wie wenn er sliisterte. Dann
durchsuhr er wieder den Bart, wie wenn er zwei Seile daraus machen wollte, und bewegte die Brauen aus und nieder. Endlich fliisterte er wieder und schuttelte den Kops.
Der Schwede lachelte. Er gab dem Kastanienbraunen einen Wink; mm blickte auch dieser aus Wenzel. Der sonderbare Anblick weckte sosort seine Neugier. Die hellen Rehaugen des Iunglings thaten sich weit aus und
solgten jeder Bewegung, die der Mann da machte; als sahen sie ein interessantes Wunderthier, das man studiren muB. So beobachteten sie ihn Beide, auBerst ausmerksam, ohne sich zu riihren.
Herr Wenzel sah nichts da von; er traumte. Das Beessteak und das Doppelbier hatten sein Gehirn erwarmt und belebt; die tabakdicke Lust umwolkte es. Er war wieder aus dem „Gustav Adols", aus der schwedischen
Brigg, und der ermordete Iungling aus der Fremde lag zu seinen FuBen. Da lag er an der Reling, die Pelzarmel iiber der Brust gekreuzt, und riihrte sich nicht mehr. Wenzel stand und sah aus ihn herab; ein dumpses Gesiihl
der Reue legte sich ihm aus die Brust; und doch that's ihm sonderbar wohl, daB er etwas Ungeheures, Unmenschliches, nie wieder gut zu Machendes vollbracht hatte . .. Was haben Sie gethan? sragte ihn eine
geschastsmaBig strenge, kurz abbrechende Stimme. Der Polizei-Senator, Herr Ludwig Grotius, stand vor ihm da (Gott mag wissen, wie der so schnell an Bord kam). Das wohlbekannte kleine Gesicht mit dem kurzen,
schwarzlichen Bartchen unter der Nase und den klugen Augen blickte iiber die dicke goldene Uhrkette, die aus dem sanst gewolbten Bauch lag, aus den Morder herab; denn dieser kniete aus einmal neben seinem Opser.
Was haben Sie gethan? wiederholte die scharse Stimme
Ich habe Amalie Berring geracht! antwortete Wenzel mit siirchterlicher Ruhe. Thun Sie mit mir, Herr Senator, was Ihres Amtes ist; ich habe Amalie Berring geracht, und ich muBte es thun!
Nehmt ihn sest! sagte Herr Ludwig Grotius kurz; zwei bewaffnete Polizisten traten vor. Sie bereuen nicht, was Sie gethan haben? — Nein! antwortete Wenzel und schuttelte den Kops. Dieser junge Schwede muBte
sterben; er hat zwei Menschen um Gliick und Leben gebracht! Und wenn das siebenmal geschahe, was Amalie Berring geschehen ist, siebenmal wiirde ich thun, was ich gethan habe — sieben, sieben Mai
In seiner sinstern, verzweiselten Entschlossenheit schlug er aus den Tisch.
Ein Bierglas, zwei Weinglaser und eine Flasche klirrten. Wenzel horte es und verstort blickte er aus. Er sah die beiden lachelnden Gesichter der jungen Schweden, die ihn anstarrten. Sogleich ward er seuerroth.
Sie haben eine verteuselt lebhaste Phantasie, lieber Herr! sagte aus deutsch der Iungere, der Schone, den dieser ganze Vorgang auBerordentlich erheiterte. Wem Sie da wol eben in Gedanken an's Leben gehn, daB Sie so
grausam in den Tisch hineinschlagen! — Bitte, bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Wir sind junge Leute; uns macht das Vergnugen, Herr; wir haben Humor, Herr. Ich hatte gar nicht gedacht, daB in dieser braven alten
Stadt so seurige, phantastische Kerle Verzeihen Sie; so ein phantastischer Herr, wollt' ich sagen Ihr Wohl, lieber Herr! Ich trinke aus Ihr Wohl. Mein Freund Lund trinkt mit!
Ich trinke mit, sagte Lund.
Dars man einmal unbescheiden sragen? suhr Axel sort, nachdem er sein Glas ausgetrunken hatte. Hatten Sie die Gewogenheit, uns mitzutheilen, mit welchem Hallunken Sie es eben zu thun hatten, als Sie aus den Tisch
schlugen?
Herr Wenzel sah den Iungling ausmerksamer und mit wachsendem Wohlgesallen an. Das heitere, zutrauliche, bluhende Gesicht, dessen neugieriger Blick nicht beleidigte, weil er wie der Blick eines muntern Vogels war,
der aus eiuem Ast einem sremden, bunten Wandervogel begegnet, — dieses Gesicht machte ihm Vergnugen; und die weiche, srische Tenorstimme klang ihm iiberaus angenehm im Ohr. Ich bitte um Entschuldigung, mein
lieber Herr, sagte Wenzel, mit noch schuchterner Heiterkeit. Wie komme ich dazu, meine Herren, daB Sie so sreundlich sind. Dieses braune Getrank ist mir wol zu Kops gestiegen; ich habe phantasirt. Das ist meine
Schwache.
Das gesallt mir gerade an Ihnen; das amusirt mich; das ist interessant! gab ihm Axel zuriick. Wenn man nur wissen diirste, woriiber Sie phantasirten —
Ich muB Ihnen erklaren, wie das kommt, siel Wenzel ein und ward wieder roth. Da sind diese verwunschten Criminalgeschichten; — schon meine selige Schwester sagte mir zuweilen: Du ubernimmst Dich darin, Du
vertiesst Dich zu sehr in dieses Teuselszeug; — sie hatte ubrigens Recht. Menschen mit ausgeregter Phantasie sollten mehr Verstandesbucher lesen; nicht diese geheimniBvollen, blutigen, verbrecherischen
Seelenkrankheitsgeschichten; denn Verbrechen sind Erkrankungen der Seele, meine Herren; oder meinen Sie nicht?
Gut gesagt! sehr gut desinirt! antwortete Axel und nickte seinem Freund Lund zu, der dann gleichsalls nickte. Aber beantworten Sie mir gesalligst eine Frage: was haben die Criminalgeschichten mit Ihrem Phantasiren
zu thun?
Ich habe zu viel davon genossen, gab Herr Wenzel zuriick. Ich Hab' mir die Phantasie damit vergistet; — das ist meine Schwache. Wenn mich nun irgend etwas ausregt — lassen wir bei Seite, was es ist — so wird mir
gleich gewaltthatig zu Muth! Nicht in der Wirklichkeit: da verlass' ich nicht leicht den rechten Weg, da bin ich ein sriedsertiger Mensch; — aber in der Phantasie stist' ich so viel Ungltick an, daB es schrecklich ist. Da
beginnt es allemal mit Schlechtigkeiten und endigt mit Mord und Tod; da kenn' ich keine Grenzen, Herr; da gibt's keine Schonung. Plotzlich kommt ein Blutdurst iiber mich, den ich sonst
nicht kenne Blutdurst ich habe Durst. Herr Berring, noch
ein Glas Bier —
Trinken Sie doch nicht mehr von dem braunen Bier da, siel ihm Axel in's Wort. Trinken Sie ein Glas mit uns, von unserm Wein! — Karl, noch eine Flasche, und ein drittes Glas! — Sie werden doch nicht so ein Philister
sein, sich zu widersetzen. Ich muB noch viel mit Ihnen reden, Herr; Sie sind ja die merkwurdigste Speeialitat, die ich in diesem alten Nest gesunden habe; — bitte, stoBen Sie an! Es kommt also ein Blutdurst iiber Sie —
Herr Wenzel nickte; doch in diesem Augenblick — da er das Glas mit dem rothen Wein an den Mund gesetzt hatte — war etwas Anderes als Blutdurst iiber ihn gekommen. Sein blasses Antlitz leuchtete von VerstandniB
und GenuB, je mehr er schlurste. Denn er trank nicht, er sog, langsam, tropsenweise, und jeden einzelnen Tropsen schien er mit herzlicher Freude zu begruBen. Dann setzte er ab, hielt das Glas gegen das Licht, driickte die
Unterlippe schmeckend gegen die Oberlippe, und machte ein wehmuthig beisalliges Gesicht.
Hm! murmelte er.
Es scheint, Sie haben ein seines Gesiihl siir so einen Tropsen, sagte Axel heiter.
Herr Wenzel nickte.
Aber es scheint, Sie genieBen ihn nicht ost.
Kann's nicht, lieber Herr! antwortete Wenzel treuherzig. Ich habe keine Rubine an den Fingern, — sehen Sie; und die beiden kleinen Edelsteine, die ich zu Hause habe, sind ein sressendes Capital, wie man zu sagen
pslegt.
Noid und Siid. VI, 18. 19
Was stir Edelsteine? sragte Lund, eine neue Cigarre in Brand setzend.
Ein paar Nichten, Herr. Die mir die schon erwahnte Sch wester hinterlassen hat. — Wirklich ein guter Tropsen; mild und stark!
Und diese Nichten, die ernahren Sie auch?
So gut es geht! erwiderte Wenzel, mit sanst wehmuthigem Lacheln. Man thut eben, was man kann!
Und womit ernahren Sie das alles, wenn man sragen dars?
Bei richtiger Eintheilung der Zeit geht es, lieber Herr. Tags, wenn die Leute wachen, geb' ich ihnen Stunden: Deutsch, Franzosisch, Geschichte, Geographie. Nachts, wenn sie schlasen, schreib' ich stir sie ab.
Und wann schlasen Sie? sragte Lund in ruhiger Logik weiter, die Augen halb schlieBend.
Wenzel lachelte. In der Zwischenzeit, antwortete er.
Aus welchem Stoss bildet sich diese Zwischenzeit, wenn ich sragen dars?
Aus dem Mangel an Beschastigung. Dasiir sorgen die Andern; daran sehlt es nicht! — Wenn ich zum Beispiel nichts abzuschreibeil habe — wie jetzt — nun, dann kann ich ja schlasen, so viel ich will. Oder wenn ein
Vater mir sagt: „mein Sohn ist jetzt mit das Deutsche sartig, ineommodiren Sie sich nicht weiter, da haben Sie Ihr Salar" — dann hab' ich ja auch bei Tage Schlasenszeit; — und das ereignet sich ost. Also stir meinen
Schlas brauchen wir nicht zu sorgen . .. Schone, purpurne Farbe! — Mild und stark!
Nun, so trinken Sie endlich einmal aus! sagte Lund.
Wenzel lachelte und trank aus.
Unterdessen riickte Axel aus seinem Stuhl unruhig hin und her: so bewegte ihn das Mitgesiihl mit dem blassen Menschen, der nicht klagte, nicht seuszte, sondern zusrieden wie ein Kind „purpurnen" Wein genoB. Wie es
den Nachtschmetterling zum Lichte zieht, muBte der Iiingling sort und sort aus diese traumerischen, gerotheten Augen schauen, die die Nachtarbeit entziindet hatte, und die nun vom Gliick des Momentes strahlten. Und ein
sechs Schuh langer Kerl! dachte er bei sich. Zweieinhalb Schuh zwischen den Schultern breit! Und ein Kerl voll Bildung und Verstand; und bei Nacht schreibt er ab! Der Rubin an seinem eigenen, wohlgepslegten
Finger siel ihm in die Augen. Er schamte sich, ihn zu sehen. Es zuckte ihm in der andern Hand, ihn abzustreisen und dem blassen Philosophen gegeniiber in das Glas zu wersen; und dabei zu sagen:
Herr, vermobeln Sie das! Ftir die Nichten, Herr! Doch er schamte
sich wieder dieser prahlerischen GroBmuth. Es hatte sie ja Niemand begehrt . . . Trinken wir einen kleinen Liqueur? sagte er endlich, um etwas zu sagen.
Ich wol nicht, entgegnete Herr Wenzel. So eine „Orgie" mit drei Getranken bin ich nicht mehr gewohnt.
Auch nicht, wenn ich es Ihnen vormache? sragte Axel wieder. Er ries nach einer Flasche vom seinsten Liqueur, und drei Glasern dazu Dann siillte er sich ein Glas, stellte es aus den Tisch, saBte es rund umher mit den
Lippen, ohne es mit den Handen zu beruhren, hob es so in die Hohe und goB es sich kunstgerecht in die Kehle hinab.
Das hab' ich noch nie gesehen! sagte Wenzel mit ausrichtigem, kindlichem Erstaunen. Was der Mensch Alles kann; es ist wunderbar!
Und konnen Sie wenigstens immer ein Beessteak zu Nacht essen? sragte Axel, dem durchaus sein Mitgesiihl iiber die Lippen wollte.
Das nun wol gerade nicht! antwortete Wenzel mit bedachtigem Lacheln. Dies war eine Ausnahme, Herr; aus ganz besondern Griinden ... Er wars einen unwillkiirlichen Blick zur Decke hinaus, iiber der „Diejenige"
wohnte . , . Sondern stir gewohnlich ess' ich nicht zu Nacht, setzte er dann hinzu,
Sie essen stir gewohnlich nicht zu Nacht, Herr?
Nein. Es bekommt mir besser. Wenn ich etwas hungrig zu Bett gehe — wann es nun auch ist — so schlase ich wie ein Gott; oder wie ein Sack, wenn Sie lieber wollen. Dagegen, wenn ich gegessen habe, wird das Blut
zu iippig und der Geist zu wach; dann kommen die CriminalPhantasien, Herr. Dann lieg' ich da und verwickele mich in Proeesse, Herr. Da unten am Strand zum Beispiel liegt Iemand erschlagen; ich gehe ahnungslos
meiner Wege, komme vorbei, sehe ihn mir an. Plotzlich ergreist man mich von hinten; — die Polizei. Der Morder! Haltet ihn sest! Haltet ihn sest! — Ich sange an zu zittern, denn ich sage mir: wie willst Du nun beweisen,
daB Du unschuldig bist — wie willst Du
es beweisen Dieses Zittern spricht gegen mich; dieses Zittern wird
mein Ungliick. Woher dieses Blut an Ihren Fingern und an Ihrer Hose? sahrt mich der Polizei -Senator an. Neues Ungliick: suns Minuten vorher hatt' ich Nasenbluten; hinter dem Bretterstapel, siinszig Schritte davon; —
Herr, wer glaubt mir das! — Ich bin der Morder, natiirlich —
Und so lieg' ich da, phantasire weiter, verwickele mich, bis ich nicht mehr zu retten bin. Zuletzt bekenne ich Alles, was sie von mir wollen, nur damit die Sache zu Ende kommt und ich schlasen kann . . . Aber dann im
Schlas erleb' ich gewohnlich meine letzte Stunde
Tausend Schissslasten Teusel! ries Axel aus, mit einem schwedischen Fluch, und suhr von seinem Stuhl in die Hohe. Das ist teuslisch, Herr! Das ist ein Pechvogel, Lund! Das ist ein ausgesuchter Martyrer! Die
erbarmliche Wirklichkeit mit den beiden Nichten und ohne Beessteak, die geniigt ihm nicht: er traumt sich dieses schauderhaste Phantasieleben dazu; — das ist ein Abgrund, Lund!
Das ist, so zu sagen, Uebermuth, erwiderte Lund, mit den wimperlosen Augen zwinkernd.
Wenzel betrachtete die Beiden, Einen nach dem Andern. Langsam verklarte sich dann sein Gesicht zu einem ruhrenden Lacheln. Meine Herren! sagte er, nichts aus dieser Welt ist ganz so schlimm, wie es scheint! Diese
Phantasie, die mir schon manche letzte Stunde verschasst hat, — die ist ja auch mein Gliick. Wenn ich so dasitze, wahrend es vielleicht drauBen regnet oder stiirmt, und mir ein Leben ausmale, wie es noch werden
konnte — oder wie es geworden ware, wenn nur Dies und Das
Ich hab' drei Leben, meine liebe Herren. Ein mittelmaBiges: das ist die Wirklichkeit; ein schlechtes und ein gutes: das sind die getraumten. Dabei kann man bestehen . . . Und nun werd' ich zu all dem GenuB, den ich heute
habe, auch noch eine Cigarre rauchen —
Er griss in seine Tasche, in der er eine in Papier gewickelte letzte Cigarre wuBte. Doch Axel kam ihm zuvor. Sich iiber den Tisch lehnend griff er nach Wenzels Arm und hielt ihn sest. Das werden Sie doch nicht thun!
sagte er mit seinem herzlichsten, wohlklingendsten Tenor. Eine von meinen Cigarren werden Sie doch rauchen! — Sehen Sie, diese da; sie ist klein, aber nicht schlecht. Herr, stir einen Mann wie Sie ware die beste gerade
gut genug; Alles, was theuer und gut ist . . . Und nun geht's Ihnen so! Blasen Sie hinein, daB sie besser brennt. Sie konnen nicht blasen, Herr ... Ich glaube, Sie waren ein Pechvogel, ein Martyrer, so lange Sie aus der
Welt sind. Ich glaube, Sie gehoren zu Denen, die sich nicht zu helsen wissen; aber ich achte Sie; rauchen Sie nur zu!
Ich danke Ihnen, Herr; sowol stir die Achtung, als auch stir die Cigarre, sagte Wenzel und lachelte verbindlich. Dann riickte er zutraulich naher an den Tisch und stiitzte einen Arm aus: Dariiber laBt sich Folgendes
sagen! suhr er langsam sort. Als ich ein kleiner lunge war, hatte ich einmal die Ehre, einer groBen Hochzeit beizuwohnen; und ein Geschenk zu uberreichen und dabei Verse zu sprechen; — dieses ging auch recht gut.
Daraus kamen die Lohndiener, gingen in der Gesellschast umher, boten Torte und Wein an; — ich war ein kleiner Kerl, iiber mich sahen sie weg; ich ward verges sen. Wie ich dann nach Hause komme
eine seine Cigarre, Herr; bewundernswiirdig! wie ich dann
nach Hause komme, sragt mich meine Mutter, die im Bette lag: Nun, Gottlieb, wie war's? — Schon war's, Mutter; o wie schon war's! sag' ich. Und einmal, Mutter, kam die Torte ganz nah bei mir vorbei!... Das war damals,
Herr. Und so ist's geblieben. Die Torte ist immer ganz, ganz nah bei mir vorbeigekommen; — sehen Sie, das ist meine Biographic
Hm! murmelte Lund nach einer Weile, ohne sich zu auBern, ob er damit Geringschatzung oder Beileid auszudriicken wiinsche. Axel aber gerieth wieder in korperliche Unruhe vor Mitgesiihl. Er suhr sich mit einer Hand
durch das schone Haar, biB ein Stuck von seiner Cigarre ab, und murmelte etwas vor sich hin; seine Wangen gluhten. Endlich sagte er, um seine weichen Gesiihle zu verbergen: Sie sind Sie sind ein richtiges
Original. Kommt vielleicht noch anders; nicht verzagen, Herr!
Kommt nicht mehr anders! antwortete Wenzel ruhig. Sehen Sie, ich war einmal Candidat der Theologie; vor dem Examen lag ich. Eine junge Psarrerswittwe, die ich kannte, war in der sonderbaren Gemiithsversassung,
daB sie mich geheirathet hatte, sobald ich die Psarre hatte; und von hoher, hoher Seite war mir die Psarre versprochen; — das war die Torte, sehn Sie. Da — wahrend ich stir's Examen studire — werd' ich irre an der
Theologie. Ich studire mich aus ihr hinaus, Herr. Ich melde mich ab, sattle um, werde Philolog; ich verliere den Glauben, die Psarre und die Wittwe
Warum thaten Sie das? unterbrach ihn Lund. Sie konnten ja den Glauben verlieren und die Psarre nehmen — wie das oft geschieht —
Was vermag der Mensch gegen seine Ueberzeugung, erwiderte Wenzel unschuldig und schlicht. Ich konnte nicht, lieber Herr.
Axel stieB einen beisalligen Laut ohne Worte aus.
Herr, ich kann Ihnen nicht sagen wie Sie mir gesallen, setzte er dann hinzu, sich mit ausgestiitzten Armen zu ihm hinuberbeugend. Sie
find Ich habe stir Sie Weg mit dieser Wittwe, wenn
sie am andern Ende von der Psarre hing! — Aber kam denn die Torte nicht mehr wieder —
Doch; sie kam noch wieder, antwortete Wenzel, dem die Theilnahme dieses seinen Iiinglings und der gute Wein sanst zu Kopse stiegen. Er stieB mit vollem Behagen ein paar blaue, geringelte Wolken aus; es war ihm ein
genuBvolles Vergniigen, seine tragischen Erinnerungen auszusrischen. Sehen Sie, da war ein Madchen — lachen Sie mich nicht aus, daB ich davon rede — in dem Madchen war viel beisammen: Schonheit, seine Manieren,
Englisch und Franzosisch und was Sie wollen, und ein gutes Herz — nur zu empsindlich, Herr — und ein Berg voll Geld. Denn sie hatte einen Millionar zum Vater; — und was geschieht drei Tage nachdem ich gemerkt
hatte, daB sie mich armen Burschen will und keinen Andern: ihr Vater, der mich nicht will, legt sich hin und stirbt. So weit ist ja Alles gut verzeihn Sie, daB ich es so
ausdriicke Nun, mein Gott, so recht ausrichtig trauern iiber sein
Ende, das konnt' ich nicht. Sie dars mich nun heirathen, das wuBt' ich . . . Aber mein ungliickseliges, heiteres Temperament; meine lebhafte Phantasie! Der Mann hatte eine Villa drauBen an der Bahn,
da wollt' er begraben sein; es wird also ein Extrazug genommen — denn das Geld war ja da — und wol ein Hundert Leidtragende sahren hinaus, ich mit. In der Villa ist stir uns angerichtet, uns nach der Fahrt, am
Wintertag, zu starken, verstehn Sie; gute Speisen, gute, starke Weine. Wir sitzen beisammen, Herr, und starken uns. Wir kommen in anregende, muntere Gesprache; mein Nachbar schenkt immer ein, und ich trinke aus.
Und da mir so leicht urn's Herz war, weil mein elendes Leben nun endlich schon und lieblich werden sollte — und da ich den Himmel voller Geigen sehe — wird mir so sestlich zu Muth, Herr; und der gute, starke Wein
stimmt mich so dankbar, und ich sehe die muntere Gesellschaft an der langen Tasel — weiter seh' ich nichts mehr — und das voile Herz tritt mir aus die Zunge, ich stehe aus, kling' an'sGlas: „StoBen Sie mit mir an! Der
edle Geber dieses Festes, er lebe hoch! hoch! hoch!"
Herr Wenzel schwieg einen Augenblick, dann wollte er weiter reden; doch er kam nicht dazu. Lund, der bis dahin stillgesessen hatte, brach in ein hestiges, anhaltendes Lachen aus. Axel aber, den die Heiterkeit vollends
ubermannte, sprang aus, lachte so iiberlaut, daB die Spieler und Trinker an den andern Tischen heruberhorchten, hielt sich die Seiten, lehnte sich an seinen Stuhl und dann gegen den Tisch, und die Thranen liesen ihm iiber
beide Wangen.
Halte mich, Lund! sagte er zuletzt, mit erstickter Stimme. Lund', halte mich!
Wenzel sah diesem Ausbruch eine Weile mit elegischem Lacheln zu. Endlich packte es auch ihn, und er lachte mit.
Ein Prachtkerl, Lund! ries Axel aus, als er wieder reden konnte. Ein damonischer Humor steckt in diesem alten
Er hatte ein allzu dreistes Wort aus der Zunge, das er noch zuriickhielt. Dann aber ging er aus Gottlieb Wenzel zu, zog ihn vom Stuhl in die Hohe, und driickte ihn in jugendlichem Uebermuth an seine Brust. Ich muB
Sie umarmen, Mann! sagte er, und that es sosort noch einmal. Solche Kerle lieb' ich; — verzeihen Sie mir das Wort. „Gott soil mir 'nen Thaler schenken", wie Herr Berring sagt, wenn ich Sie nicht liebe!
Mein verehrter Herr — ! murmelte Wenzel verwirrt und lachelte; und wars einen Seitenblick aus Herrn Berring, der verwundert und neugierig naher getreten war. Dariiber siel ihm Amalie wieder ein, die er iiber diesem
gemuthlichen Gesprach vergessen hatte. Er sah zur Decke hinaus. Das unsichere Lacheln aus seinem Gesicht verschwand. Amalie Berring A — das war die dritte Torte, die an ihm vorbei kam. Ia, sie war auch vorbei . , .
Seine gutmuthigen Augen versinsterten sich, und ihr Blick bohrte sich in den Tisch.
Er versuchte dem jungen Menschen noch einige sreundliche Worte zu erwidern; doch es ward nur ein Murmeln, das man nicht verstand. Leise zog er seine Hand zuriick, die Axel ergrissen hatte, und begann unruhig an
seinen geflickten Rocklochern zu knopsen.
Was wollen Sie? sragte Axel. Was heiBt das?
Gehn! antwortete Wenzel,
Plotzlich gehn? Warum?
Wenzel zog eine alte silberne Uhr hervor, tupste aus das dicke Glas und murmelte: Es ist Zeit. War mir eine Ehre, meine Herren
Doch der junge Schwede driickte ihn, ohne viele Umstande zu machen, aus den Sessel nieder. Mann, was reden Sie da! sagte er und zog seinen Stuhl heran, neben ihm zu sitzen. Wahrend ich Ihnen meine Liebe erklare,
wollen Sie gehn; — daraus wird nichts, Herr. Sie waren einmal Student, und wir sind es noch, — wenn auch nicht hier zu Lande; und unsre Seelen haben sich gesunden; und so miissen wir noch eine Flasche trinken.
StoBen Sie an; aus Ihr Wohl! Ich sage, wie Sie beim BegrabniB Ihres Schwiegervaters: „Er lebe hoch! hoch! hoch!"
Wozu soil ich noch leben, antwortete Wenzel, dem kein Lacheln mehr gelingen wollte. Ich stir meine unbedeutende Person habe da von genug!
So dursen Sie nicht reden; Alles kann noch kommen . . . Und nach dieser Tischrede nahm die Tochter Sie nicht mehr?
Hatten Sie's noch gethan? sragte Wenzel zuriick.
Wirklich, es ging nicht mehr, sagte Lund mit seiner heiteren Ruhe.
Sie hat einen Andern geheirathet, setzte Wenzel hinzu.
Und es kam dann keine Torte mehr an Ihnen vorbei? sragte Axel weiter, indem er ihm eine Hand aus die Schulter legte.
So eine nicht mehr!
Nie geheirathet?
Nein.
Trinken Sie doch aus! Konnt' ich Ihnen Eine schassen, Herr,
that ich's aus der Stelle. Ein Mann wie Sie — noch in so guten Iahren A — Herr, wie soil sie aussehn?
Wenzel gab keine Antwort. Aber er athmete einen leisen Seuszer aus.
Sie brauchen Eine, die Sie pslegt, die Sie zu schatzen weiB; die Ihnen das Phantasiren ab- und das Nachtessen angewohnt. Ich mochte Ihnen helsen; aus Ehr' und Seligkeit! Wissen Sie Keine, Herr?
Warum sehn Sie da oben hinaus? sragte Axel weiter, da Wenzel stumm blieb.
Aus diese Frage ward Wenzel seuerroth. Es war eine seiner Schwachen, daB er sich auch das Errothen nicht abgewohnen konnte. Wie ein ertapptes Kind lachelte er verlegen und singerte aus dem bis zur
Fadenscheinigkeit abgebiirsteten Ausschlag seines Rocks.
Mir ist nicht bewuBt, daB ich hinaussah, gab er dann zur Antwort. Uebrigens, ich muB gehn!
Vielleicht weiB er da oben Eine! wars Lund hin und blies den Rauch durch die Nase.
Wieder errothete der arme Wenzel. Axel betrachtete ihn ausmerksamer, indem er die Hand von seiner Schulter sortnahm.
Sie werden ja abermals roth! sagte er betroffen.
In diesem Augenblick kam die majestatische Gestalt des Herrn Berrina., die schon hundertmal gekommen und gegangen war, wieder zur Thiir herein; diesmal hatte sie eine Diite in der Hand und segelte aus die drei
„Landratten" zu. Namlich diese Tiite haben Sie vergessen! sagte Herr Berring zu Wenzel. Die Tiite stir Ihre kleinen NichtenTwaschen; meine Amalie schickt sie Ihnen herunter. Und Sie sollten nur auch bald Koje angehn,
laBt sie Ihnen sagen, — weil es schon so spat ware und Sie so nusterbleich aussehn; und ob das Beessteak auch gut gewesen ware; und Sie sollten auch nicht vergessen: „Ansehn thut gedenken!"
Uebrigens, nusterbleich sehn Sie grade nicht aus, setzte der Wirth hinzu. Haben ja eine schone rothe Farbe. Wol vom Wein, Herr Wenzel!
Ia, vom Wein, stammelte der verwirrte Wenzel, der aus dem Errothen gar nicht mehr herauskam. Meinen ergebensten Dank, Herr Berring; — stir die Diite, mein' ich. Richtig, ich hatte sie — oben liegen lassen. Was hab'
ich zu zahlen, Herr Berring denn ich muB nun sort!
Eine Mark und siinszehn Psennige, wenn's gesallig ist, sagte der Wirth. Wenzel zog seine alte, sehr aus der Form gegangene Geldtasche hervor; zahlte und wars dabei aus die jungen Manner einen halben Blick. Die
Gesichter der Beiden waren in sonderbarer Bewegung. Lund sah zu Axel iiber den Tisch hinuber, und dieser, auffallend erblaBt, starrte Herrn Wenzel und Herrn Berring an, und zur Decke hinaus.
Dieses ungliickselige Roth werden! dachte der arme Wenzel; denn er siihlte, daB er zum vierten Mai errothete. Der Wirth ging. Im Zimmer ward es leer; die Gaste entsernten sich, Wenzel war ausgestanden und suchte
sich so zu sammeln, daB er ein harmloses Abschiedswort hervorbringen konnte; doch „war' ich nur erst so weit!" dachte er und schwieg.
Also die Wirthstochter ist es! sagte aus einmal Lund, scheinbar mit groBer Ruhe.
Wenzel suhr zusammen.
Wieder eine Torte? setzte Lund nach einer Pause mit derselben erbarmungslosen Ruhe hinzu, durch die zusammengedriickten Augen hinuberschielend.
Axel winkte ihm, zu schweigen, und biB sich aus die Lippe. Doch der Andere, ohne eine Miene zu verziehen, suhr mit seiner kaltblutigen BaBstimme sort: Sie werden ein Pechvogel bleiben, Herr, so viel ich davon sehe.
Sie haben kein Gliick mit dem thorichten Weibervolk; Sie sollten' s ausgeben, — wenn ich Ihnen rathen dars. Da saet der Teusel immer sein Unkraut hinein . . . Bleib doch sitzen, Axel. — Lassen Sie die Weiber gehn, wie
ich, und erwerben Sie sich den Frieden Gottes!
Wenzel bewegte die Lippen, wie um etwas zu sagen. Aber von dieser altklugen Weisheit schien er kaum etwas gehort zu haben, denn er legte die ungliickselige Diite sester und sester zusammen, als beabsichtige irgend
etwas Lebendiges herauszuspringen, und driickte sie dann hestig, wie um Dem da drinnen wehzuthun. Wo ist mein Hut, murmelte er endlich. Seine umherirrenden, tabaksrauchmuden Augen sanden ihn; er nahm ihn vom
Riegel an der Wand. Er knopste den engen Rock iiber der Brust zusammen, und stand nun wieder in seiner elegischen, nach vorn geneigten Haltung, ein ruhrend hulsloses Bild der Entsagung, da. Uebrigens
Uebrigens, Sie irren, meine Herren! brachte er jetzt hervor, indem er die Stimme dampste.
Worin irren wir? sragte Lund, ohne sich zu riihren.
In — in der Sache, von der Sie sprachen. Wozu hatte ich noch ein Herz; ich in meinen Iahren und in meinem Zustand; — das ware ja lacherlich. Woraus konnte ich wol noch hossen; bedenken Sie, meine Herren . . .
Bitte, sagen Sie nichts mehr; lassen Sie mich gehn. An irgend einem Punkt ist der Mensch empsindlich . . . Sie sind junge Leute; Sie werden nun lachen iiber den alten Burschen, der mit Ihnen getrunken und so viel
geschwatzt hat. Stillschweigen war besser! Aber wenn man ost Wochen lang schweigt wenn man zu keinem Menschen Meinen ergebensten Dank stir die Gastsreundschast. Es
war mir eine Ehre, meine Herren. Leben Sie wohl!
Er bewegte seinen Hut, wie zum AbschiedsgruB, und ging, leise schwankend, hinaus.
III.
Nun, was ist Dir, Axel? sragte Lund in seiner Muttersprache, nachdem sie sich eine Weile in dem verodeten Zimmer stumm gegenubergesessen hatten. Du kau'st ja an Deiner Cigarre, wie jenes gramliche Krokodil in
dem deutschen Gedicht an seinem Lotosstiel kau't. Wenn ich vor der Abreise noch etwas schlasen will, sollte ich nun nach Hause gehn. Komm, Du Sieger iiber Frauenherzen; komm, brechen wir aus.
Um welche Stunde sahrst Du ab? sragte Axel und sah plotzlich aus.
Morgen sriih sechs Uhr und siinsundzwanzig Minuten. Nach Mittag bin ich in Stettin; von da sogleich weiter.
Mit dem Dampser,
Ia.
Die kleinen, weiBen Zahne Axels bis sen die Cigarre mitten durch. — Ich reise mit, Lund.
Was?
Ia, ich reise mit.
Der iiberraschte Lund sah mit gekniffenen Augen und halb offenem Mund Axeln in's Gesicht; eine geraume Zeit. Der Iiingling blieb aber still und riihrte sich nicht. Er blickte nur aus den Rubin an seinem Finger, mit
einem sonderbaren Lacheln, das ihn sehr verschonte.
Das konnte mir ja gesallen, sagte Lund nach diesem Schweigen. Aber vorhin wolltest Du ja nicht. Warum willst Du jetzt?
Axel antwortete nicht. Er hatte offenbar mit sich selbst zu sprechen. Er bewegte sogar die Lippen. Dann zog er seine Briestasche hervor; eine zierliche, rothe, juchtene, aus die man in Goldbuchstaben „8ouvsnir"
gedruckt hatte. Langsam offnete er sie und griff in eine ihrer Taschen, nach einer kleinen weiblichen Photographic Doch es lag eine zweite daneben, und beide sielen zugleich aus den Tisch. Lund betrachtete sie sorschend
durch sein rechtes Auge, indem er das linke schloB. Er glaubte in der weiblichen — einer iippigen jungen Dame mit rundlichem Gesicht und groBen, hellen, flachliegenden Augen — die „blonde Thusnelda", die Tochter
dieses Hauses zu erkennen; und er irrte nicht. Aus der andern Photographie sah ein Mann in mittleren Iahren, ein kurz geschnittenes, schwarzliches Bartchen aus der Oberlippe, mit kleinen, klugen Augen dem Beschauer
entgegen. Das ist ja der Senator Ludwig Grotius! sagte Lund und lachelte erstaunt.
Axel wollte etwas erwidern; doch die andere Photographie sesselte ihn zu sehr. Seine schonen, zartlichen Augen vertiesten sich in das kleine Bild, Allerlei Erinnerungen schienen in ihm auszuwachen. Seine langen
Wimpern senkten sich; seine vollen Lippen driickten sich gegen einander, und rundeten sich, wie wenn man kiissen will. Dies alles bemerkte Lund sehr wohl; aber er storte ihn nicht.
Ia, das ist der Senator; der Polizei -Senator! sagte Axel endlich, als Lund seine Frage von vorhin schon vergessen hatte. Das ist dieser aiigenehme Herr, der mich wegen des alten Liigners, des Nachtwachters, zwei Tage
sitzen lieB. Sieh ihn Dir an, Lund!
Ia, ich sen' ihn schon an. Warum tragst Du seine Photographie in der Tasche?
Wegen der Rache, Lund! Damit ich ihn nicht vergesse. Damit ich mich immer wieder daran erinnere, daB ich ihm etwas schuldig bin.. .
Plotzlich begannen die Rehaugen des jungen Schweden zu leuchten. Bist Du wirklich mein Freund? sragte er.
Ich glaube wohl.
Wollen wir noch einen letzten tollen SpaB mit einander machen? und ihm als Andenken zuriicklassen? — Damals, im Polizei-Haus oder wie es heiBt, hab' ich's geschworen, Lund! Morgen sriih, noch eh der
Morgen graut, sahren wir ab. Heute Nacht aber
Nun, was?
Da drauBen am Hasen, beim Krahn, liegt ja noch das Schiff, das damals vom Stapel lies. „Ludwig Grotius" haben sie's getaust, diesem kleinen Senator zu Ehren, der sich so schon sindet, Lund. Und in ganzer Figur
haben sie ihn geschnitzt, mit weiBen Hosen und niedlichen Vatermordern, damit er vorn unter dem Bugspriet, als „Gallion", mit durch die Wellen kitscht, und den staunenden Hasenvolkern in Helsingor und Malmo und
Stockholm und Bergen zeigt: so ein Kerl bin ich, Ludwig Grotius! — Heute Morgen brachten sie ihn hin, um ihn sestzumachen; aber die ungeschickten Kerle haben ihn sallen lassen, daB von der Unterlage so ein Stuck
abgesprungen ist; — nun liegt der schone Herr Ludwig Grotius in ganzer Figur aus dem Verdeck. Sollen sie ihn morgen ausbessern und an seinen Platz bringen, Lund? Geben wir das zu? — Nein! — Wenn morgen der
wirkliche, lebendige Polizei -Senator kommt, um den geschnitzten Polizei -Senator zu besuchen, — dann soil er ihm Nachvseisen, Lund. Dann soil er sich seine sieben Bartharchen ausrausen und sragen: wo bin ich
geblieben?
Und wie wolltest Du das ansangen?
Mit Deiner Hiilse, Lund! — Wenn 's gegen Mitternacht geht, und am Strand Todtenstille ist, dann steigen wir vom Bollwerk aus aus das Schiff. Wir binden dem geschnitzten Ludwig Grotius einen Strick um den Leib,
ziehn ihn iiber Bord und an's Land; und suhren ihn dann zwischen uns, Arm in Arm, durch die leeren StrandstraBen, bis an den stillen alten Ballast-Platz da hinten bei den Bretterstapeln. Da wunschen wir ihm dann gute
Nacht und wersen ihn sanst, mit einem Stein um den Hals, in's Wasser —
Du verruchter Kerl! sagte Lund und lachte.
Daraus gehen wir heim, jeder in sein Quartier.- Ich schleiche in mein Zimmer, packe mir nur eine Reisetasche, meine anderen Sachen lasse ich beim Pensionsvater stehn; — damit er nicht gleich am sruhen Morgen
merkt, daB ich ihm davongeflogen bin, und mir nachtelegraphirt! Sind wir erst druben in Malmo, — das Herz meines Vaters werd' ich wol erweichen. Er ist sehr in der Uebung, Lund, mir zu verzeihn! . . . Unterdessen
lausen sie hier am Strand umher, wie Ameisen, denen Du ein Loch in ihr Nest gestoBen: „wo ist unser groBer Ludwig Grotius? wo ist der holzerne Senator mit den weiBen Hosen?" Und der Beschutzer
der Nachtwachter legt seine schone Hand aus sein gekranktes Herz
Warum siehst Du mich so an, Lund? Willst Du nicht?
Und wenn sie den geschnitzten Herrn dann nicht wiedersinden? sragte Lund zuriick.
Von Schweden aus thun wir ihnen kund und zu wissen, wo sie ihn suchen konnen! A
Lund sah den Iiingling mit durchdringendem Blick von der Seite an. Und warum willst Du aus einmal mit mir sort? sragte er wieder.
Axels Gesicht ward ernst. In den Muskeln seiner Wangen regte sich etwas, das eine weiche Empsindung seines Gemuths starker verrieth, als er wollte. Ich will Dir etwas sagen, murmelte er dann; alter Satyr, lache mich
nicht aus !
Nun, je nachdem!
Das ist dieselbe Amalie, die da oben wohnt, suhr Axel mit halber Stimme sort, aus die Photographie deutend, 's ist dieselbe, Lund, die — der Andre zu gern hat; der ruhrende alte Kerl; — der Martyrer mit der Torte. Ich
bin einer von diesen „Franzosen des Nordens", sagst Du . . . Lund, es mag sein! Ich will auch nur sagen: einem Andern hatt' ich sie wol nicht gelassen; aber dieser gute Mensch — A dieser Gotterkerl Ietzt nicht lachen,
Lund. Sie ware in acht Tagen mein geworden, wenn ich wollte; — aber ich reise ab. Ich mochte, daB sie eines Tages seine Frau wiirde, Lund; daB die Torte nicht wieder an ihm voruberginge. Ich mochte, daB er endlich
einmal gute Tage hatte; und er liebt sie; ich hab's gesehn. Das einzige Schas des Armen! — Ich dagegen, der ich noch das ganze Leben vor mir habe; ich, der junge, reiche, hubsche — denn wir mussen zugeben, daB ich ein
hubscher Kerl bin; warum das leugnen, Lund wahrend Er
Mit einer plotzlichen Bewegung nahm Axel Amaliens Photographie vom Tisch, sah sie noch einmal an, und zerriB sie dann in viele Stiicke. Nachdem dies geschehen war, sammelte er sie langsam und versenkte sie in
seine Tasche. Ich bin wirklich nicht schlecht in sie verliebt, murmelte er mit verhaltener Bewegung. Und sie in mich . . . Aber eines Tages, hoff ich, wird das alles anders; und sie macht ihn glticklich ... Woriiber lachelst
Du?
Ich hab' nur so meine Freude, weiter nichts, antwortete Lund.
Darum also will ich mit Dir sort! Und Du, willst Du nun diese letzte Dummheit mit mir machen? Die mit dem holzernen Ludwig Grotius? Willst Du, oder nicht?
Sonderbarer Narr Du! — Warum willst Du sie machen?
Axel sah vor sich hin; dann, mit einem ausgeregten Lacheln, zu dem Freund hinuber. Ich muB mich los werden, Lund! Ich muB mich ableiten; — lache nur, es macht nichts. Wir kleben uns Barte an; stir den Fall, daB
uns Iemand dabei sehen sollte. Du bist ja auch ein „schenkelrascher Pelide": jedensalls lausen wir diesen schwerbeinigen Seehunden davon ... Ich muB mich austoben, Lund! Und dann noch Eins (er saBte ihn vorn an
einem der Knopse seines Rocks, rieb und drehte daran, und strich mit der seinen Hand iiber das Tuch herunter): Lund, ich habe edle Regungen; aber Blut hab' ich auch! Wenn zum Beispiel mir das Madchen nach Malmo
schriebe: ich kann nicht ohne dich leben, komm wieder; ich thue dir ja Alles zu Liebe, Alles was du willst hubsch ist sie, Lund. Hab' ich aber diesen Streich gemacht, dann kann ich nicht wiederkommen. Das ist das
Gute an der Sache, Lund! — Wir wollen zahlen und gehn!
IV.
Es war, stir so winterliche Zeit, eine milde Nacht. Wenzel, den die Noch — namlich der Mangel eines warmen Ueberrocks — abgehartet hatte, siihlte sich bald zu warm bei seinem raschen Schritt. Er ossnete den Rock,
liiftete das Halstuch und stand zuweilen, ties Athem holend, still. Sein Weg nach Hause hatte ihn am Strande entlang gesiihrt; aber obgleich es so spat war, wandelte er in einem groBen Bogen um die Stadt herum, aus den
alten „Wallen", unter den Linden hin: denn wo hatte er jetzt schon Schlas gesunden, bei dieser siebernden Unruhe seines Hirns. Das Gesprach, der Wein, zuletzt die Enthullung des geheimen Kummers, mit dem er zu
kampsen hatte, trieben ihm das Blut in heiBen Wellen zum Kops. Er bereute seine Geschwatzigkeit; dann sreute er sich wieder, daB der Wein so gut war; dann blieb er wieder stehn und seuszte iiber Amalie und iiber sein
Geschick. Die kahlen, schwarzen Aeste iiber ihm kletterten in krausen Linien durch die graue Lust. Fast unbewegliche Wolken standen hoch dariiber und verhullten das Sternenseld; aber ein blasser Lichtschein
durchdammerte das Gewolk und verrieth die Wirkung des unsichtbaren Mondes, der im Osten ausstieg. Die dunklen Hauser und die braunen Garten der Vorstadt lagen jenseits des breiten, tiesen Wallgrabens still wie in
sestem Schlas; nur hier und da schimmerte eine helle Haussront, von einer Laterne beleuchtet, aus dem sarblosen StraBenzug heraus. Der Weg, aus dem Wenzel ging, krummte sich wie ein Kreis; denn der Wall zog hier,
als Bastion vorspringend, um die alte „Teuselsgrube" herum, einen ties eingebetteten Teich, aus den man wie aus einen halbgesullten Trichter hinuntersah. Uralte, schwarze Kanonen standen oben aus der Hohe. Von da
iiber die „Teuselsgrube" hinwegblickend starrte der einsame Traumer aus den Thurm des „Kr6peliner Thors", der wie ein machtiges Wahrzeichen zum Gewolk emporstieg, und aus die Kirchen und Mauern dieser alten
Stadt. Nahe und serne Kirchen-Uhren schlugen. Wenzel horchte; es war Mitternacht.
Ist es moglich? dachte er. Geh' ich schon so lange? Und hatten
wir so stundenlang in dieser Strandkneipe geschwatzt? Der Thurmer
blies vom Iakobithurm seinen eintonigen, sast klanglos verslatternden Stundenrus in die Nacht hinein. Aus der Tiese, vom Teuselsteich, kamen sonderbare Tone heraus, es war zuerst, wie wenn Frosche quakten. Bald aber
erkannte Wenzel, daB einige der Enten schnatterten, die den Teich bewohnten. Sie mochten halb oder ganz aus dem Schlas erwachen; sie schnatterten offenbar ohne Sinn und Verstand; ein widerliches,
unheimlichniichternes Alteweiber-Geschwatz in der Geisterstunde. Plotzlich erhob sich aber, wahrend dies verstummte, ein anderer, gespenstischerer Klang. Eine der unsichtbaren Krahen aus den sernen Dachern begann
laut zu krachzen, wie aus dem Schlas geschreckt. Es ertonte wie ein heiseres Wehgeschrei durch die tiese Stille. Sogleich erwachten, wie es schien, Hunderte von Krahen und Dohlen aus ihrem sonst so sriedlichen
Schlummer; von alien Dachern schienen sie zu rusen, zu sragen, zu schreien und zu jammern, so verwirrend erscholl dieses Durcheinanderkrachzen. Druben aus der Vorstadt warsen die Hauserreihen den Wiederhat!
zuriick; es klang, wie wenn auch dort ebenso viele Hunderte erwachten und Antwort gaben. In diesem Augenblick brach der spate Halbmond durch das auseinanderweichende Gewolk. Neben dem horchenden, leise
schaudernden Wenzel, ihm zur Seite, zwischen den schwarzen Kanonen, ward etwas Dunkles, wie eine Menschengestalt, am Boden sichtbar, Wenzel schrak zusammen . . . Er blickte hin; doch mit Scheu. Ihn durchsuhr
plotzlich der Gedanke: dort liegt Das, warum die Krahen erwachten, und warum sie krachzen. Ein Erschlagener. . .
Das Mondlicht ward heller, und Wenzel lachelte. Er athmete beruhigt aus. Was dort am Boden lag, war sein eigner Schatten; der Mond zeichnete ihn aus das vergilbte Gras.- Doch nun siihlte er erst, wie seine Pulse
schlugen. Er hatte eine Hand aus die schwer athmende Brust gelegt, ohne es zu wissen; ein Schauder, der ihm iiber den Riicken gelausen war, saB ihm noch im Nacken, im Hinterhaupt, sodaB ihm war, als greise dort eine
Faust in sein zusammengepreBtes Haar. GroBer Gott! dachte er und schamte sich. Wessen Schatten ist das? Eines alten Narren, der noch immer ein Kind ist. Warum sollte hier ein todter Mann liegen; was sind das siir
Gedanken. . . Mitternacht. Nun ja, warum denn nicht Mitternacht; — an Geister glaubt ja doch wol der alte Esel nicht mehr! — Was gehn die Krahen mich an; jetzt werden sie still. Dieses ungliickselige Gesprach
iiber meine Criminal -Phantasien, meine Mord- und ProeeB -Gedanken; das geht mir nun nach . . . Und das Bier, der Wein; -A — doch der Wein war gut. Mild und stark! — Was siir eine Gottesgabe! Geh nach Hause,
Wenzel. Beruhige Dich, wasch Dir den heiBen Kops, und dann schlase aus. Siehst Du, wenn Du gehst, geht auch der „todte Mann", der da unten lag. Siehst Du wol, wie er vor Dir her geht. Er ist gescheidter als Du, er geht
Dir voran, nach Haus. Geh ihm nach; geh schlasen!
Wenzel ging seinem Schatten nach; den Weg zuriick, den er gekommen war, und durch die StrandstraBen hin. Hier verschwand der Schatten; der Mond beleuchtete nur die Giebel und die Dacher, denn die Hohe des
Himmels hatte er noch nicht erstiegen, und in diese einsamen, todten, engen Gassen, die mit dem FluB in gleicher Richtung liesen, dammerte nur sein Widerschein hinab. Von Zeit zu Zeit senkte sich, iiber Kreuz, eine
hellere, breitere StraBe aus der hiigeligen Stadt herunter, lies aus den Hasen zu, und die im Mondlicht glanzenden Masten der Schiffe erschienen. Dann verschwanden sie wieder, und die alte Strandgassen-Dammerung legte
sich dem Traumer vor's Gesicht. Er dachte an die kleinen Nichten, die nun sriedlich schliesen; und an die Geschichte von der Torte, die den sreundlichen jungen Fremden so geriihrt hatte...
Du! es geht langsam mit dem alten Burschen! horte er plotzlich eine Stimme sagen.
Eine andere Stimme antwortete, wie zur Ruhe verweisend; doch in einer Sprache, die Wenzel nicht verstand. Er sah nur aus und ging weiter. Drei mannliche Gestalten besanden sich vor ihm aus der StraBe; in dunklen
Kleidern, nur die mittlere hatte helle Hosen, die in dem ungewissen Dunkel leuchteten. Der muB warmes Blut haben, dachte Wenzel, daB er in dieser Iahreszeit Sommerhosen tragt!
Einer der Manner sliisterte, als Wenzel naher herankam, und sie wichen aus. Zwei von ihnen suhrten den Dritten, den in den Sommerhosen; dieser Dritte schien nicht sehr sicher aus den FuBen zu sein, denn bei jedem
Schritt schwankte er etwas, bald nach rechts, bald nach links, und willenlos schien er sich den Andern zu uberlassen. Sie suhrten ihn von der StraBe aus den Biirgersteig, wobei er strauchelte, und zogen ihn hinaus wie ein
kleines Kind.
Kann er denn nicht die Beine selber heben! dachte Wenzel, der sonst in aller Gutmuthigkeit die Menschen gewahren lieB. Dieser Trunkenbold!
Er blieb unwillkiirlich aus der StraBe stehn.
Dies schien den Andern, den Niichternen, etwas peinlich zu sein; denn sie sliisterten wieder, von ihm abgewandt, und der Eine von ihnen suchte den Elenden, der nicht stehen konnte, mit seinem ausgesvannten Mantel zu
verdecken. Auch driickte er ihm den hohen, weichen Filzhut sester aus den Kops. Das gesallt mir an ihm, dachte Wenzel, daB er siir den Schweinigel, den Betrunkenen, so viel Schamgesuhl hat. Der aber steht wie ein
Klotz; mit dem Kops gegen die Wand . . . Was siir ein Elend ist es doch, in der edlen Gottesgabe sich zu ubernehmen! Wenn ich damals Friederikens todten Vater nicht hatte leben lassen
Nun, erbrich Dich einmal, alter lunge! sagte einer der Niichternen mit heller Stimme zu Dem in den hellen Hosen, der sich gegen ein Haus lehnte. Vielleicht, alter lunge, daB Dir dann besser wird!
Der „alte lunge" erwiderte nichts; nur ein unterdriicktes Lachen, von dem Andern zur Rechten, lieB sich horen.
Wenzel stand nicht langer; aus Zartgesiihl ging er seines Weges weiter. Sie sollten ihm eine Feder oder dergleichen in den Mund stecken! dachte er im Gehen. Diese helle Stimme war mir so bekannt; — doch wem sie
gehort, konnte ich, nicht sagen- Der „alte lunge" (er blickte einmal zuriick) steht noch immer, ohne sich zu riihren. Ein Puppe von Holz kann nicht hulsloser, klotziger, willenloser sein, als dieses sogenannte „Ebenbild
Gottes" da. O Du „Krone der Schopsung", was kann aus Dir werden!'
Indem er das dachte, lieB er die Drei hinter sich, im Dunkel, und trat durch eines der Strandthore (zur Zeit dieser Geschichte standen sie noch) aus den „Strand" hinaus. Hier lag heller Mondschein aus den Ziegel- und
Balkenhausen, den am User hingestreckten Ankern und Ketten, den hochragenden Schiffen, den Landungsbriicken und dem sast wie ein See ausgebreiteten FluB. Links, hart am Wasser, erhob sich der „Krahn", mit dem
man die Masten in die neugebauten Schiffe einlaBt; er streckte seinen Hebearm wie einen ungeheuren Elephantenriissel schrag in den Himmel hinaus. Mit sest eingerefften, kaum bemerkbaren Segeln aus den langen Raaen
lagen die groBen Fahrzeuge, dicht gedrangt, wie ein winterlicher Wald ohne Blatter da; die dunklen Rumpse, die noch keine Fracht zu tragen hatten, stiegen hoch iiber dem Bollwerk aus. Alles war still und todt, wohin man
sah. Aus den verlassenen Strickleitern kletterte nur das Mondlicht aus und ab. Die Schiffe ruhrten sich nicht, denn die Lust war leblos. Glatt lag die bleigraue Flache des Wassers, bis zum niedrigen User driiben; vorne aber
am Bollwerk, an das Wenzel herantrat, schwarzte sie tieser Schatten, der sich nicht bewegte. Nur ein leichter Wasserdunst schien herauszusteigen; und dem schnobernden Wenzel war's, als rieche er sogar Meerlust, obwol
die See noch mehr als eine Meile entsernt war. So still schlies die Nacht, daB er das klingende Platzen der Blasen im Wasser horte. Auch das leise Schnalzen der kleinen Fische erklang; zuweilen erknarrte langsam eines
der straffen Taue aus den Schiffen, oder am Bollwerk glucks'te, kaum vernehmbar, ein einziges, letztes, eingesangenes Wellchen, das in seinem Winkel zwischen Psahl und User sein mudes Dasein verhauchte.
Wenzel sah umher und begann zu traumen. Ueber ihm ragten die langen Bugspriete der dem Land zugekehrten Dreimaster wie riesige Kanonenlause in die Lust hinein, iiber den Hasendamm weg. Die weiBen Gestalten
und Brustbilder am schwarzen Bug sahen ihn ernsthast und gespenstisch an, wie Gesangene, Verzauberte, die sich nicht ruhren konnen. Die beiden groBen Locher rechts nnd links im Bug, durch welche die Ketten liesen,
erschienen ihm wie die Augen des Schiffsgesichts; die groBen Anker hingen wie gewaltige Haarlocken iiber den Bord herab. Wenn mir vielleicht eines Tages — dachte Wenzel — so ein Ungeheuer Amalie Berring
entsiihrt, in's Meer hinaus! Ihr Iiingling steht dort an Bord und lockt sie; und sie springt ihm nach und das Schiff stoBt ab! ... Soli ich das dulden? Nein. Ich springe auch; klammere mich an
Sein Blut ward wieder wild; er bewegte die Finger, und mit groBen Schritten ging er am User sort, ohne auszusehen, ohne zu wissen, wohin. An die Schisssleiter, dachte er, klammere ich mich an; ich schwinge mich
iiber Bord . . , Will er mir das Einzige, was ich habe, lassen, oder nicht? — Will er nicht? — Wie, Du schlagst nach mir? Vor den Augen Amaliens schlagst Du mir in's Gesicht Das ist zu viel. Das sordert Blut.
Schurke, das wird Dein Tod! — Ich bin stark, siehst Du; ich hab' noch Krast in den Armen; siihlst Du, wie ich Dich halte? Und wenn Du Dein Messer ziehst, driick' ich Dich zusammen, wie wenn Du von Gummi warst,
und werse Dich iiber Bord . . . Halte Dich nur an der Strickleiter sest; es hilst Dir nichts! So, so, so reiB' ich Dich los; hinunter in's Wasser muBt Du, elender Versiihrer Du
Plotzlich sah er aus. Da hinein mit Dir! horte er Iemand sagen.
Am Bollwerk, nicht weit von ihm, standen zwei Manner, die einen dritten hielten. Sie waren ihm abgewandt, ihre Gesichter konnte er nicht sehen. Eh er noch „drei" hatte zahlen konnen, zog Einer den Dritten naher bis
zum Rand, gab ihm einen gewaltigen StoB, und der Mensch sank wehrlos und lautlos in den FluB hinab.
Herr mein Gott! ries Wenzel aus.
Im nachsten Augenblick sahen die beiden Uebelthater ihn an; helle Gesichter mit schwarzen Barten erschienen in dem ungewissen Mondlicht, das wieder durch Gewolk verschleiert war. Der GroBere von den Beiden
stieB einen kurzen, raschen Laut hervor, und lies dann mit solcher Geschwindigkeit davon, daB er sogleich hinter Bretterstapeln verschwand. Der Andere blieb — wie es schien, vor Ueberraschung — stehn. Vom Wasser
her kam ein harter, dumps klatschender Schall; doch kein Schrei, kein Stohnen, kein Laut einer Menschenstimme; nichts mehr. Herr mein Gott! ries Wenzel noch einmal aus.
Nun schien auch der Andere, Kleinere an Flucht zu denken; er wandte sich und setzte sich in Bewegung. Indessen Wenzel, der sein erstes Entsetzen uberwand, sprang mit langen Schritten aus ihu zu und ereilte ihn.
Morder! Morder! sagte er mit zitternder Stimme und packte ihn am Arm.
Der Andere riB sich los. Er schien etwas erwidern zu wollen, wahrend er seinem Versolger schars in das Gesicht sah. Doch er schloB den Mund wieder, und dem sassungslosen Wenzel war's, als ob dieses jugendliche,
schwarzbartige Ungeheuer lachelte. Fliehen Sie! Schweigen Sie! sagte endlich die Stimme dieses Ungeheuers in einem kunstlichen, gezwungenen BaB. Nehmen Sie das da! Behalten Sie 's!
Damit zog der Mensch einen Ring vom Finger — wenigstens schien es so — , steckte ihn mit unglaublicher Geschwindigkeit an den kleinen Finger von Wenzels rechter Hand, und schlug dem noch immer Fassungslosen
aus die rechte Schulter. Im nachsten Augenblick lies er davon, auch den Brettern zu. Fliehen Sie! Schweigen Sie! ries er noch zuriick. Fliehen Sie!
Die in der Phantasie so traumbildend, so ergiebig leben, sind selten die Geistesgegenwartigsten in der Wirklichkeit; — wenigstens Herr Wenzel war in diesem Falle, und sein rasches Erwachen aus dem ersten Schreck
hatte ihn selbst uberrascht. Der zweite Schreck — den Morder lacheln zu sehen, und so reden zu horen — verflog nicht so bald. Bewegungslos wie der Ungliickliche, den das Wasser verschlungen hatte, starrte er dem
Fluchtling nach, bis dieser hinter dem ersten, zweiten, dritten Bretterhausen verschwunden war. Dann erst schuttelte er die Erstarrung von sich ab und lies hinterdrein.
Tauschte er sich, oder lies ihm selber Iemand aus der Feme nach?
— Er wuBte nicht mehr, was er sah und horte. Auch die Schatten hinter den Brettern verwirrten ihn, als er um die Ecke kam; mehr noch die Schatten der Baume, die aus der angrenzenden Allee herubersielen: bald schienen
sie Menschen zu sein, die sich verbargen, bald auch wieder nicht. Endlich sah er einen andern, korperlicheren Schatten, der weit hinten in der Allee voriiberhuschte; daraus einen zweiten, der ebenso rasch verschwand. Das
sind sie ja wieder! dachte er und seuszte. Athemlos — denn er war des Lausens nicht mehr gewohnt — stiirzte er ihnen nach, bis er nicht mehr konnte. Wieder schien Iemand hinterdrein zu traben, aus der Feme her. Dann
erscholl ein Psiff . . .
So war er bis zum Petrithor gekommen; erschopst stand er hier still. Die Beiden, die er versolgte, waren langst verschwunden; vielleicht in eine der NebenstraBen geflohen; — wie sollte er wissen, wohin. Er ging noch
durch das Thor hindurch, an dem der gemalte „Vogel Greis", das Wahrzeichen der Stadt, seinen Marchen-Schweis ringelte; ging ein paar Hauser weiter, die Sliiter-StraBe hinaus. Dann, da er in der oden Stille nichts mehr
sah, nichts horte, blieb er rathlos stehn.
Da war' ich nun richtig vor meinem Haus! dachte er verwirrt. Links, eine grime kleine Anhohe hinaus, erhob sich die Petri-Kirche mit ihrem endlosen spitzen Thurm, dem hochsten der Stadt; rechts, in der Hauserreihe,
stand das kleine, diirstige Gebaude, in dessen oberem Stock er mit Marthe und Grete Schmidt, seinen Nichten, wohnte. Denn in dieser armseligen Gegend lieB sich billig leben; und er hatte das unentgeltliche Vergnugen,
von seinem Fenster aus den stillen, seierlichen Kirchenplatz und den zum Himmel hinansweisenden Thurm zu sehn . . . Warum ist denn Licht in meineni Zimmer? sragte er sich verwundert. Oder sen' ich salsch? Traum'
ich? Bin ich nicht recht bei Sinnen? Hab' ich auch dieses surchterliche EreigniB, und die Flucht, die Versolgung, alles nur getraumt?
Wenn ich wirklich bei Sinnen bin, sen' ich da oben Licht. Was bedeutet das? Er griff in die Tasche, zog mit zitternder Hand seinen Hausschlussel hervor, und offnete die Thiir.
Mit drei Schritten war er bei der engen, holzernen Treppe, die er im Dunkeln sand; er stolperte hinaus. Doch als er in sein Zimmer kam, stand er beruhigt still. In der That brannte die Lampe aus seinem Tisch; Frau
Schwabke hatte offenbar in der Schlastrunkenheit vergessen, sie auszuloschen; aber sie selber schnarchte sriedlich nebenan (die Thiir war ossen), und ebenso unversehrt und ungestort schliesen Marthe nnd Grete in ihrem
gemeinsamen Bett. Neben dem seinen stand es an der Wand; denn „ich bin ihnen ja Onkel und Tante, Frau Schwabke", pflegte er zu sagen. Die kleine Kammer nebenan war stir Frau Schwabke allein; in diesem „Salon"
aber, oder dieser „besten Stube", wie Wenzel der Humorist sein einziges Zimmer nannte, lebte die „Familie" bei Tag und bei Nacht. Hier spielten die Kleinen, wenn er als Lehrer der Iugend in die Hauser der „Reichen"
ging; hier schrieb er ab, wenn sie schliesen; hier walzte er sich noch zuweilen phantasirend aus seinem Strohsack, wenn sie schon erwachten ... Er trat an ihr Bett. Unter einer blau und weiB gestreisten, groBen Decke lagen
die Zwillinge, Nachtmutzchen aus dem Kops, so ubereinstimmend da, als waren sie ein einziges Geschops mit zwei kleinen Kopsen und vier kleinen Armen. Ie zwei dieser Arme — alle mager nnd sein — lagen mit
ineinander gesalteten Handen aus der Decke. Die Kopse hatten sich ein wenig aus die Seite geneigt, beide nach links, lieber jede Stirn sielen ein paar Loschen; darunter streckte sich je ein langliches Naschen, das schon
jetzt verrieth, daB es einst der groBen Nase des Onkels gleichen wolle. Dieses zweikopsige Wesen schien nur Ein Lungenftaar zu haben: denn gleichmaBig hob und senkte sich die Decke hier und dort. Sogar die Lippen
hatten sich hier und dort geoffnet; Beide schienen zu lacheln.
Hm! murmelte Wenzel. Wenn man sie so ansieht — und nicht ihr Onkel und ihre Tante ist — konnte man wol sragen: warum wurden Zwei daraus? — Wohlseiler lieBen sie sich ernahren, wenn die Natur die Sache
vereinsacht hatte (er lachelte wehmuthig); wenn dieses Wesen nur Grete oder Marthe hieBe Nichts stir ungut, Grete — oder Marthe — je nachdem. Ich sage nur so. Ich meine es nicht so. Keiner von euch will ich zu
nahe treten; ich will eine Grete und eine Marthe haben; und euch beide zu groBen Frauenzimmern zu machen, dazu wird's ja noch reichen! — Ich bin ja gesund; dieser Schwindel hat nichts zu sagen
Indem er das murmelte, setzte er sich hin; denn die uberreizten Nerven spielten plotzlich ein thorichtes Spiel mit seinem Blut, lieBen es nicht zum Hirn, und das BewuBtsein drohte ihm zu entfliehen. Er griff nach der
Lehne des Ztuhls, in den er gesunken war, und hielt sich sest. Eine Weile war ihm, als wisse er nur noch von sich, daB er Wenzel heiBe; — dann weckte ein lauter Psiff, von der StraBe her, ihn wieder aus. Schwere Tritte
ertonten aus dem Pilaster. Eine BaBstimme lieB sich vernehmen; bald daraus eine zweite, die nur sliisterte. Wenzel suhr wieder empor.
Wird die StraBe noch einmal lebendig, dachte er, in so tieser Nacht?
Psiff nicht Iemand; ebenso wie vorhin? Vorhin Hatt' ich
denn ganz vergessen, was vorhin geschehen ist. Warum steh' ich denn hier? MuB ich nicht zum Steinthor lausen, aus die Polizei — melden, was ich gesehen habe, ich mit meinen Augen -A wie er in's Wasser siel
Lautlos, wie ein Stuck Holz, siel der Mensch hinein. War er denn schon todt? Und dieser Schwarzbartige, der lachelte und mir sagte
In diesem Augenblick sah er aus seine Hand, und sah den Ring. Es war ein wirklicher, leibhastiger Ring, den ihm der Morder an den Finger gesteckt hatte. Von Neuem entsetzt nahm er ihn in die Hand. Ein groBer Rubin
leuchtete ihm entgegen. . . Wie? Hatte er nicht so einen Rubin heute Nacht gesehn? bei dessen Anblick ihm der Gedanke kam: „Davon konnt' ich ja wol ein Iahr leben, ich mit meinen Nichten?" — Und dieser Rubin
steckte an einer weiBen Hand; an der Hand des hubschen jungen Fremden, der ihn so zartlich umarmt hatte
Man polterte die Treppe heraus, und dieses Gerausch unterbrach seinen Gedankengang. Die Thiir seines Zimmers ward geoffnet, ohne daB Iemand geklopst hatte. Ein Nachtwachter trat herein; dann ein Schutzmann in
seiner Unisorm, und ein alter Matrose — wie es schien — der sich keuchend den SchweiB von der Stirne wischte. Doch als diese alte „Theerjacke" den plotzlich erblassenden Wenzel in's Auge gesaBt und eine Weile schars
beobachtet hatte, keuchte er dem Schutzmann zu: Sehen Sie, da steht er! Das is er! Herr, varhasten Sie diesen Herrn; das is einer von die Varbrecher! warrastig und Gott!
VI.
In der „Schreiberei" saB der kleine Senator Ludwig Grotius, der Direetor des Polizei-Amts dieser alten Stadt, am Morgen nach dieser Nacht hinter seinem Tisch, Es war das Zimmer, in dem er die Feinde der offentlichen
Ordnung und des Gesetzes zu verhoren pflegte; ein altes, einsaches, trauriges Gemach, wie es selbst Wenzels diistere Phantasie sich nicht einsacher und trauriger gedacht hatte. Mitten in diesem Zimmer stand er selbst,
Gottlieb Wenzel, vor des Herrn Grotius Tisch. Die Feder des Polizei -Schreibers, der etwas zur Seite saB, knisterte mit mechanischer Geschastigkeit iiber den groBen Protokoll-Bogen hin, immer von links nach rechts.
Wenzel hatte gesprochen, nun verstummte er. Er zog sein groBes, buntes Schnupstuch aus der Tasche, um sich die „hohe Denkerstirn" zu trocknen; zog dabei auch eine Diite mit hervor, sah sie zu Boden sallen, biickte sich
aber nicht, um sie auszuheben, sondern mit sinsterer Unbeweglichkeit sah er aus sie herab.
Was ist das? sragte der Senator Ludwig Grotius, schars und streng.
Knallbonbons, antwortete Wenzel.
Warum hat mau sie Ihnen nicht abgenommen? sragte der Senator.
Die Diite hatte sich in mein Taschentuch verwickelt, darum hat man sie vermuthlich nicht bemerkt, antwortete Wenzel gutmuthig, um den nachlassigen Schutzmann zu entschuldigen.
Und mit Ihrer Geschichte sind Sie nun zu Ende?
Ich habe sie erzahlt, Herr Senator, wie sie sich zugetragen hat, erwiderte Wenzel; ganz der Wahrheit gemaB!
Der Polizei -Schreiber sah von seinem Bogen aus und lachelte.
Wir kennen diese Geschichte, sagte der kleine Senator selbstbewuBt, indem er eines seiner kleinen, klugen Augen schloB und mit dem andern aus Wenzel zielte. Sie wird ost erzahlt! Man kommt gerade von ungesahr
dazu, wahrend der Mord — oder was es nun ist — geschieht. Man ist ganz unbetheiligt. Man will sogar den Verbrecher sesthalten — kommt ihm dabei zu nahe — er steckt Einem etwas in die Hand und laust davon; A so
erklart sich dann sehr einsach, daB man das coi-pus «leliori bei uns sindet. Wie gesagt, diese Geschichte ist sehr beliebt; sie wird ost erzahlt. Nur miissen Sie sich nicht wundern, daB ich sie nicht glaube.
Ich wundere mich auch nicht! erwiderte Wenzel mit diisterer, schwermuthiger Resignation, ohne zu widersprechen. Ich wuBte, daB ich keinen Glauben sinden wiirde. Ich habe es gewuBt.
Woher haben Sie es gewuBt?
Wenzel schwieg. Er machte nur eine Bewegung, wie wenn er dies alles schon vor Iahr und Tag erwartet hatte. Dann sah er mit verzweiselter Ruhe vor sich hin.
Es wiirde Ihnen auch nichts niitzen, wenn Sie sich wunderten, suhr der Senator selbstzusrieden und sast heiter sort. Ich will Ihnen nun sagen, was ich von der Sache denke. Fiir's Erste gesallen mir diese angeblichen
„harmlosen Wanderer" nicht, die Iemand in's Wasser wersen sehn und nicht um Hiilse rusen —
Ich war so betaubt, Herr
Die dann selber davonlausen, wenn ein Dritter kommt —
Ich lies ihm ja nach, Herr
Die dann einsach nach Hause gehen, statt die Polizei zu allarmiren —
Das Licht, das ich in meinem Zimmer sah
Und die man dann sindet, wahrend sie mit einem Rubinring liebaugeln, den ihnen Niemand geschenkt hat! — Fur's Zweite aber will ich Ihplen sagen, was der Zeuge Iakob Russow, Matrose, von hier, vor mir ausgesagt
hat. Er kommt eben von der KosselderstraBe aus den Strand hinaus, und geht nach links, nach dem Wall zu; da hort er hinter sich, in der stillen Nacht, einen schweren Fall in's Wasser, wie wenn ein Mensch hineinsallt.
Wo, kann er nicht sagen, denn es kommt von sern; — aber er macht Kehrt, wie es die Schuldigkeit jedes ordentlichen Menschen ist, und geht aus die Richtung zu. Da sieht er zwei Manner davonlausen, einen Kleinen und
einen GroBen. Der ist also nicht von selber hineingesallen! denkt er — wie es richtig war — und laust ihnen nach. Doch weil er ein alterer Mann und etwas kurzathmig ist, holt er sie nicht ein. Er rust aber den
Nachtwachter an, den er die GrubenstraBe herunterkommen hort; und dieser pseist einem andern; und unterdessen eilen sie, so schnell sie konnen, dem GroBen, dem Langen nach, der auch stehen bleibt und Athem holt;
und behalten ihn im Auge bis zu seiner Thiir. Und als hier ein Schutzmann zu ihnen stoBt, dringen sie in's Haus durch die unverschlossene Thiir —
Ich schloB nicht wieder zu — weil das Licht in meineni Zimmer mich so sehr verwirrte
Und diese Drei sinden den GroBen, und in seiner Hand diesen Ring; — und der GroBe sind Sie!
Ia, der GroBe bin ich, sagte Wenzel und sah resignirt an sich hinunter. Ich aber war's, der dem Kleinen nachlies
Unterbrechen Sie nicht. Ich bin nicht zu Ende. Fur's Dritte will ich Ihnen sagen, was sich an diesem Morgen weiter begeben hat. Herr Schwan, Inhaber einer Pension siir junge Auslander, dahier, schickt heute Vormittag
aus die Polizei: einer seiner Pensionare, ein junger Schwede, Namens Axel Palmblad, sei in dieser Nacht nicht nach Hause gekommen; ob vielleicht die lobliche Polizei — wie schon einmal der Fall war — seinen
gegenwartigen, sreiwilligen oder unsreiwilligen, Ausenthalt anzugeben wisse. Ich lasse daraus zuriickmelden: bei uns besindet sich besagter Axel Palmblad diesmal nicht; den Herrn Schwan aber lasse ich ersuchen — und
so weiter. Herr Schwan kommt zu mir, und ich zeige ihm den bei Ihnen gesundenen Ring. Er erkennt ihn sogleich . . . Warum werden Sie blaB. — Er erkennt ihn sogleich. Diesen Ring trug eben derselbe Axel Palmblad an
der Hand, der heute Nacht nicht nach Hause kam; der noch bis zu diesem Augenblick, zwols Uhr Mittags, vermiBt wird; der verschwunden ist. Ineulvat, sehen Sie mich an!
Wenzel sah den Senator an, ohne sich zu ruhren. Diese Verwickelung der Sache betaubte, versteinerte ihn.
Ist Ihnen dieser Axel Palmblad bekannt?
Mir? Nein, Herr Senator. Das heiBt, doch; — vermuthlich
Drei Aussagen siir eine! „Nein; doch; vermuthlich!" — Wir werden ja bald ergrunden, welche von den dreien die am wenigsten salsche ist
Der Schreiber sah wieder aus und lachelte.
Sehen Sie mich an, Ineulvat; mich, den Inquirenten! — Diesen Ring, dessen Eigenthumer spurlos verschwunden ist, steckte Ihnen also Iemand an den kleinen Finger, wie Sie sagen; und zwar ein Mann mit einem
schwarzen Bart; und zwar eben derselbe, der, wie Sie versichern, den Andern in's Wasser stieB. Nehmen wir einmal an, dieser rathselhaste Mann mit dem schwarzen Bart, der die Ringe, die er raubt, an Vorubergehende
verschenkt, der existire wirklich: wo geschah denn das? Wo wars man den Axel Palmblad — jenen Unbekannten, will ich einstweilen sagen — iiber das Bollwerk in's Wasser?
Ich weiB es nicht, Herr Senator, antwortete Wenzel, dem sich ein immer dunklerer Schleier vor die Augen legte. Mir ist es nicht bewuBt.
Aber Sie werden zugeben, daB wir wunschen mussen, es zu ersahren; um diesen Menschen im Wasser auszusinden! — Sie standen dabei, wie Sie sagen, und Sie wissen es nicht?
Es war irgendwo aber ich hatte kein Gesiihl davon, wo es war. Ich ging so dahin, ohne -zu wissen, wo. Ich war so ties in meinen Gedanken
Der Schreiber lachelte wieder.
In was siir Gedanken? sragte der Senator.
Wenzels blasses Gesicht wurde dunkelroth. Er vergrub die Hande in sein groBes Schnupstuch. Seine Gedanken in jenem verhangniBvollen Augenblick standen ihm plotzlich wieder vor der Seele: seine Mordgedanken. Er
hatte das Schiff erklettert, aus dem der Entsuhrer Amaliens eben davonsegeln wollte; er hatte ihn gepackt und riB ihn von der Schisssleiter los: „hinunter in's Wasser muBt du, elender Versuhrer du"
In was siir Gedanken? wiederholte der Senator.
Ich kann's nicht sagen, murmelte Wenzel.
Hm! Sie konnen's nicht sagen. Sie standen dabei, aber Sie wuBten nicht, wo Sie sich besanden; Sie wuBten es nicht, weil Sie so ties in Ihren Gedanken waren; aber diese Ihre Gedanken konnen Sie uns nicht sagen.
Vielleicht sagen Sie sie uns ein andermal
Herr Grotius klingelte. Der Schutzmann erschien, der Wenzel verhaftet hatte.
Fiihren Sie die junge Dame herein, die sich als Zeugin gemeldet hat, sagte der Senator.
Wenzel, der tiesgebeugten Kopses wie ein Verlorener dastand, horchte aus. Was siir eine Dame? in seiner Sache? — Er wendete seinen schlaffen, hinsalligen Oberkorper und sah nach der Thiir. Ein Laut der
Neberraschung entsuhr ihm, als, in schuchtern seierlicher Haltung und mit nassen Augen, Amalie Berring erschien.
Sie wunschen siir diesen Angeklagten ZeugniB abzulegen, sragte der Senator.
Ia, sagte sie muthig, obwol sie zugleich stark errothete. O Herr Senator
Herr Grotius unterbrach sie, um die ublichen Fragen an sie zu richten: nach Namen, Stand und so weiter. Fraulein Amalie antwortete mit Festigkeit, indem sie dem Senator starr in's Antlitz sah. Dann aber wars sie aus
ihren groBen, hervortretenden, leuchtenden blauen Augen einen so mitleidsvollen Blick aus den armen Wenzel, daB diesen plotzliche, tiese Ruhrung ergriff, als ware er ein Weib. Ein Gesiihl des Gliicks kam ihm mitten in
seiner Noth. Nur daB ihn zugleich die Angst besiel, er konnte weinen; und um dieser Beschamung zu entgehn, driickte er die Hande und die Zahne zusammen, sah von Amalien hinweg und aus den Schreiber, dessen
Benehmen ihn wohlthuend erbitterte und verhartete, und erhob seinen Kops.
Sie kennen diesen Herrn, sragte der Senator sanst, in dem ruhigen Gesiihl seiner Un wider stehlichkeit.
O ja, Herr Senator; o, ich kenne ihn, antwortete das Madchen.
Und Sie wissen, warum er hier steht —
Iesus, Gottes Sohn! Wie ist es moglich, Herr Senator; ach, wie ist es moglich! — Ich steh' vor der Thiir, da kommt Frau Schwabke gelausen: „der Herr Wenzel sitzt in der Schreiberei, er soil Einen umgebracht haben" —
— Wie ich das hore, denk' ich doch, ich muB gleich in die Kniec sacken. Und mir wird so vor den Augen, Herr Senator
Es handelt sich hier nicht darum, wie Ihnen wurde, unterbrach sie Herr Grotius ruhig, aber bestimmt; sondern was Sie in dieser Sache zu bezeugen vermogen. Deshalb sind Sie hier —
Ia, Herr Senator, deshalb bin ich hier; und entschuldigen Sie nur, ich bin noch so perplex denn (sie blickte wieder aus Wenzel, voll Mitleid und voll Vertrauen) so ein Mann, Herr Senator! Eine Seele von einem
Menschen, Herr Senator — und Dem sagen Sie nach, er hat Einen umgebracht! Aber ein Ungliick war in der Lust; das siihlt' ich schon heute Nacht. Mich hat der Alp gedriickt — und schon vor Thau und Tag konnt'
ich nicht mehr schlasen, und mir war so — ich weiB nicht; und ich verlieB meinen Nachtplatz, Herr Senator, als es noch stickendunkel war —
Wollen Sie zur Sache kommen, oder nicht? siel ihr jetzt der Senator streng und schars in's Wort. Was haben Sie zu bezeugen —
Ach, daB er gewiB nicht schuldig ist! sagte sie mit weicher Stimme und einem ruhrenden Blick. DaB er eine Seele von einem Menschen ist; und er hat's nicht gethan! — Sehen Sie, Herr Senator, er hat nichts aus der
Welt; auBer ein paar Zwillinge — aber es sind nicht seine — aber er hat sie geerbt; und wie er sich abextert, um sie zu ernahren, konnen Sie nicht glauben! Und ihm ist immer Alles ooutrs eosur gegangen, und er geht so
mit der Hungerharke durch das Leben hin; — aber er ist wie ein Held, Herr Senator! er thnt seine Pflicht! Und ich sagte mir gleich, als ich davon horte: nun sitzt er verlassen da, denn er hat ja Niemand! Aber Eine hat er,
die siir ihn sprechen will, — was auch die Leute dariiber sagen mogen; A- und wenn ich nun auch roth werde, es thut nichts. Darum bin ich gekommen, Herr Senator; daB ich siir ihn rede. Und verzeihen Sie mir, wenn ich
das Schluchzen kriege aber es ist mir so beweglich und glauben Sie'» nicht! Er hat's nicht gethan!
Herr Grotius schwieg eine Weile. Er betrachtete dieses sonderbare Madchen, das sich in so gemischter Redeweise so gesuhlvoll ereiserte, und den Angeklagten, der nun auch vor Running leise schluckte. Sie gehoren
zum unjuristischen Geschlecht, sagte er endlich, mit so viel herablas sender Milde, als ihm an diesem Ort und hinter diesem Tisch zulassig schien. Daher haben Sie denn auch nicht bedacht, daB es sich hier nicht um Ihre
subjeetive Meinung iiber den Charakter des Angeklagten handelt, sondern daB wir den objeetiven Thatbestand eruiren wollen. Die Armuth ist gewiB eine sehr bedauernswerthe Sache; aber wenn wir bei einem armen
Menschen einen solchen Ring sinden, der einem Andern gehort
Was haben Sie? unterbrach Herr Grotius sich selbst, da er das Madchen erblassen und die groBen Augen noch groBer ausreiBen sah. Er hatte den Ring in die Hand genommen und hielt ihn zwischen Zeigesinger und
Daumen in der Lust. Warum starren Sie so . . . Was sehen Sie an dem Ring?
Ich kann nicht sprechen, sagte sie nach einer Pause wie flusternd, mit erstickter Stimme. Ich bin aus der Pust! Diesen Ring — sagen Sie — sanden Sie bei Herrn Wenzel
Ia, diesen Ring! Der dem vermiBten jungen Schweden gehort —
Dem VermiBten, sagen Sie! stammelte das Madchen. Er wird also vermiBt
Schutzmann, halten Sie das Fraulein ausrecht! sagte der Senator. Fiihren Sie sie an den Stuhl. Setzen Sie sie hin! Fassen Sie sich, mein Fraulein. Wir werden warten, bis Sie zu sich kommen —
O, ich bin ganz bei mir! sagte sie, stoBweise athmend und mit noch starren, verwilderten Augen um sich blickend. Herr Axel Palmblad, sagen Sie, wird vermiBt Iesus, Gottes Sohn!
Sie kennen ihn, wie ich sehe. Sie kennen auch diesen Ring —
Amalie nickte stumm. Plotzlich ward sie roth; dann wieder blaB. Sie wars aus den armen Wenzel, der durch das Licht, das ihm ausging, wie vernichtet dastand, einen Blick voll Grauen, voll Entsetzen. Herr Wenzel, Sie
zittern ja! sagte sie, wieder ohne Stimme.
Er horte aus, zu zittern, aber er antwortete nicht.
Den Ring da hatten Sie den Ring mit dem rothen Stein Antworten Sie doch!
Sie haben ja gehort, sagte der Senator zu Amalien, da Wenzel schwieg. Heute Nacht sand man ihn bei ihm. Nachdem er entslohen war
Herr du meines Lebens! ries das Madchen aus; die Hand aus der Brust. Herr Wenzel! Herr Wenzel! Sehen Sie mich an. Sie sind ja ganz benau't; ganz von Gott verlassen. Sie haben ja wol das Leben nicht mehr . . . Was
haben Sie ihm gethan?
Nichts, murmelte Wenzel.
Was haben Sie ihm gethan? wiederholte sie. Antworten Sie wie vor Gottes Thron: was haben Sie ihm gethan? — Sie hassen ihn, sagten Sie mir gestern. Und Sie bruteten so vor sich hin und schlugen dann aus den Tisch
— und ich versierte mich und entsetzte mich, so wild sahen Sie aus — und ich sagte noch: „was haben Sie — Gott soli
mich bewahren!" Herr Wenzel! Sehen Sie mich an! Was haben
Sie ihm gethan?
Wenn ich Ihnen antworte: „nichts", so glauben Sie mir ja nicht, sagte Wenzel mit der Ruhe der Verzweislung, indem er sein Taschentuch durch die Finger zog. Ich wuBte vorher, daB mir Niemand glauben wiirde. Ich
hab's gewuBt.
O Gott! O Gott! ries sie und stand aus. Herr Wenzel, Herr Wenzel, reden Sie die Wahrheit; seien Sie nicht steinvottig und verstockt, denn Sie stehen vor Gott! — Sie sind dann hinuntergegangen, als Sie mich verlieBen,
und unten im Gastzimmer haben Sie ihn gesunden — den Sie haBten, Herr Wenzel — und haben mit ihm gesessen und getrunken —
Hm! hat er das! siel der Senator ein.
Ia, das hat er, ich weiB es! ries das Madchen und schluchzte. Denn mein Vater kam noch hinaus und erzahlte mir's —
Davon haben Sie mir ja nichts bekannt! sagte der Senator, sich zu Wenzel wendend. Sie versicherten mir ja auch, Sie kennten Herrn Palmblad nicht.
Ich kannte ihn auch nicht, murmelte Wenzel.
O Gott! O du groBer Gott! ries Amalie aus, die vor krampshastem Schluchzen kaum mehr reden konnte. Und ich kam noch her, um stir Sie zu reden — und geweint hab' ich um Sie, wahrend ich da drauBen warten
muBte und da stehn Sie nun, von Gott verlassen! — Und Sie haben noch mit ihm gegessen und getrunken — und
er war gestern Nachmittag noch so grell und grail und jetzt
O mein Gott. Kam, Kain Herr Senator, ich kann keine Lust
mehr kriegen
Nachdem sie Dies noch gesagt hatte, siel sie vom Stuhl. Herr Wenzel riihrte sich mechanisch, um sie auszuheben; doch er schwankte selbst. Er taumelte. DaB er dem Schutzmann in die Arme siel, war ihm noch bewuBt;
dann hatte er das Gesiihl, in's Wasser und zu dem jungen Schweden aus den Grund zu sinken, und zu seiner groBen Erleichterung verlieBen ihn die Sinne.
VII.
Die „Schreiberei" oder, wie das Volk sie nennt, das ,,Brummbarloch" — das CriminalgesangniB dieser ehemals sreien Stadt, die noch immer einen Theil ihrer alten Gerichtsbarkeit iiber ihre Missethater ausiibte — sah
mehr einem Kasten als einem Hause gleich. Sie lag mitten in der Stadt, aber am odesten Theil des Marienplatzes. In die sichtbare Wand dieses Kastens, die der Rauch einer sonderbar ties angebrachten Schornsteinossnung
schwarzte, waren eine Thiir, einige unregelmaBige Fenster, und oben unter dem Dach eine Reihe kleiner, viereckiger Locher eingeschnitten: hinter diesen Lochern, die triibes Glas bedeckte, wohnten die angeklagten
Missethater, oder Tie, welche man dasiir hielt. Hinter dem letzten Loch, an der Ecke, wohnte Gottlieb Wenzel, Die Zelle an sich konnte ihm nicht miBsallen; denn sie entsprach dem Bild, das seine Verbrechen-dichtende
Phantasie sich von einem Wohnraum dieser Art gemacht hatte. So leer wie die Tonne des Diogenes war sie nicht, auch konnte man sie ausrecht durchschreiten, wenn man sich miide gesessen oder munter geschlasen hatte
(„vielleicht schliesen hier Andere; ich nicht," dachte Gottlieb Wenzel); dagegen sah Diogenes durch die Oessnung seiner Tonne mehr von Athen, als Wenzel durch das Loch da oben von seiner Vaterstadt sah. Denn das
kleine Quadrat verengten noch dicke Eisenstabe; dann legte sich von auBen der holzerue Fensterrahmen davor; und das dicke, hier und da sast erblindete Glas gab von dem reinen Licht, das es von drauBen erhielt, nur einen
Bruchtheil an den „Unreinen" da drinnen ab. Auch muBte man klettern, wenn man sein Gesicht an die Eisenstabe bringen wollte, um den Psarrhos mit seiner kleinen Spielschachtelmauer links, und gradeaus den riesigen,
gothisch ausstrebenden Vau der Marienkirche zu sehn, der wie mit einem ausgebreiteten Mantel von Stein die Welt verdeckte. Himmelhoch stiegen die schmalen Fenster an den Seiten aus; hoher noch der Vorbau iiber
dem unsichtbaren Portal, der von Wenzels „Tonne" aus wie ein ungeheurer Thurm erschien, seinen spitzen Stachel in die Wolken bohrend und von Krahen umslattert. Unten aber am FuB dieses backsteinernen Marchens
schlies der ode Platz. Schubkarren und Handwagen standen umher, wie Schisse im Winterhasen; Lebendiges bewegte sich hier nicht. Denn es war ein Wochentag, und die Kirche geschlossen. Und auch morgen wird ein
Wochentag sein, dachte Gottlieb Wenzel. Und ubermorgen; — und wie wird es enden . . .
Er sah einen Mann vor sich, den er beneidete. Dieser Mann stand an einem sernen — getraumteu — Fenster in der Sliiter-StraBe; er hatte seine Hande rechts und links aus die Zwillingskopse von kleinen Madchen
gelegt, die, aus Stiihle geklettert, ihre neugierigen Gesichter an die Scheiben druckten; und er blickte aus den Platz ihm gegeniiber hinaus. Auch ein stiller Platz; auch ein Kirchenbau, der in die Wolken stieg. Nicht so edel
gegliedert, wie die Marienkirche hier; nicht so vornehm in ein wechselndes Prunkgewand von glasirten und matten, griinlichen, gelblichen, rothlichen Backsteinen gekleidet; — aber aus den sreien Platz davor sah ein sreier
Mann. Ein Mann, der seine Nichten und sich schlecht und recht ernahrte. Ein Mann, an dem zwar die „Torte", aber auch das Verderben stets voruberging. Ein Mann, der seinen Hausschliissel in der Tasche hatte; und der
mitten in der Nacht zu sich sagen konnte: wohin gehn wir, Gottlieb? Ein Mann, dem keine schluchzende Stimme „Kam, Kam" zuries; der nicht einem Schutzmann in die Arme siel, weil Amalie Berring ihn als Morder
verwunschte; der nicht zu sich sagte: mitschuldig bist du, Gottlieb
Denn wie kann ich es leugnen, sagte Wenzel, wieder aus seinem Lager sitzend, dumps vor sich hin. Wozu mich belugen; was hilst das. Mitschuldig bin ich; — das hat die Vorsehung wunderbar gesiigt, daB nun ich hier
sitze: gethan hat's ein Anderer, aber „vor Gottes Thron" mitschuldig bin ich! — Warum dachte ich mir diesen Iungling aus der Fremde wie ein Ungeheuer, das man umbringen muB. Warum stellte ich ihm nach mit
Mordgedanken. Warum verlockte ich ihn aus schwedische Briggs und in Schlechtigkeiten, und stieB ihm dann mein Messer in die Brust, oder wars ihn iiber Bord! — Und indem ich das thue, in dem namlichen Augenblick
thut's ein Andrer auch. Ich in Gedanken, er in Wirklichkeit. Er entwischt, mich ergreisen sie. Ich stehe als Morder da ... Wenn das nicht ein seines Stuck, ein Plan der Vorsehung ist, dann versteh' ich's nicht! — „Du
Gedankensunder," sagt der Geist, der die Welt regiert; „Du denkst, Dir kann nichts geschehn; aber ich sasse Dich! Gottlieb Wenzel, die »Torte« des Gliicks geht ost am Menschen vorbei; aber die Vorsehung nicht! Was
hatte Dir dieser Iungling gethan, der vielleicht unschuldiger, besser war als Du? der in seiner ahnungslosen Herzensgiite sreundlicher zu Dir war, als Du's verdientest? Hatte ich Amalie Berring nur stir Dich geschaffen?
Hatte ich sie Dir ubergeben, iiber sie zu wachen, und alle Die in Gedanken umzubringen, denen sie gesiele? — Du Gedanken -Kain! Ich habe Dich an den Ort gebracht, wohin Du gehorst. Siindige nicht wieder in Deinem
Herzen: murre nicht gegen mich! Sei ganz still, Gottlieb Wenzel. Frage nicht, wie es enden wird. Ich weiB, wie es enden wird; Du nicht. Wart's ab; murre nicht!"
In solchen und ahnlichen Gedanken saB Wenzel da; so verging der Tag. Essen konnte er nicht; Schlasen war unmoglich. Dachte er an seine Nichten, so schwoll ihm das Herz; dachte er an Amalie, so lies er Gesahr, wie
ein Kind zu weinen ... Doch dann richtete er sich wieder steiser aus und sagte in sich hinein: „Sei ganz still! Murre nicht!"
Es war endlich dunkel geworden, doch die Sterne schienen vom unbewolkten, stahlsarbigen Himmel herab. Er saB, vielleicht stundenlang, unter seinem Fenster und traumte zu ihnen hinaus, sich durch philosophische
Vetrachtungen zu erleichtern suchend; zuletzt erstaunte er iiber ein Gesiihl, das sein Herz bewegte: tieses Mitleid mit Amalie, daB sie ihren geliebten, schonen Iungling verloren hatte. Diesen sreundlichen, lebenssrohen,
gutigen Iungling; — dem er sein Herz ausgeschiittet, ohne es zu ahnen. Ihm entsuhr ein so schwerer, lauter Seuszer, daB er vor dem unerwarteten Ton in der tiesen Stille erschrak. Es war ihm aus einmal unertraglich, so
allein zu sein. Indem er sein seuchtes Gesicht an die Eiseustabe seines Fensters brachte, suchte er irgend etwas Lebendes zu entdecken ... Wer steht dort? dachte er.
Eine groBe, weibliche Gestalt, den Kops durch ein dunkles Tuch bedeckt und das Gesicht verschleiert, stand nicht weit von der Kirchenthiir und schien heruberzuschauen. Sie bewegte sich nicht.
Sie hat Amaliens GroBe, dachte er. Doch warum denk' ich immer an Amalie! Die liegt zu Hause aus dem Sopha oder im Bett, weint um ihn und verwunscht mich. Vielleicht sitzt hier neben mir ein Andrer, der
glucklicher ist als ich; der eine Liebste hat, die von unten herausseuszt. Und was stir ein elender Schust mag er dabei sein ... Sei Du still. Murre nicht!
Die Gestalt blieb noch eine Weile stehen; dann legte sie die Arme ineinander (ganz wie Amalie! dachte er); endlich ging sie langsam an der Kirche hin. Doch von Zeit zu Zeit wandte sie sich und sah noch zuriick. Leise
that es ihm wohl, daB es doch irgend einen Menschen gebe, der sich stir die „Schreiberei" und ihre Bewohner interessire; — wenn auch nicht stir mich! dachte er. Als sie an die Ecke kam, stand sie noch einmal still. Sie
zog ein Schnupstuch hervor und brachte es, den Schleier liistend, an's Gesicht; und wenn es nicht der Nase gait, so schien sie zu weinen. O dieser Gliickliche! murmelte Gottlieh Wenzel vor sich hin.
Das Licht einer nahen Laterne siel aus sie und das Schnupstuch; doch der Schleier lag wieder wie zuvor, vom Gesicht konnte er nichts sehen. Das Schnupstuch entsaltete sich iiber ihrer Hand. Es war groB und bunt. Wie
kam dieses Frauenzimmer zu einem so groBen Taschentuch von denselben Farben, wie Er — Gottlieb Wenzel — eins in der Tasche trug; wie er deren noch vier zu Hause hatte: denn das sechste hatte er einmal, im Scherz,
Amalie Berring geschenkt. Am Dreikonigstag war's; und er hatte es ihr geschenkt, damit sie nicht langer iiber seine ungeheuerlichen „Schnups-Laken" lachen, sondern ihren praktischen Werth selber erkennen sollte. Wie
kam jetzt dieses Frauenzimmer dazu, so ein „Laken" in der Hand zu halten
Sie hob es empor, wie eine Fahne; wie wenn sie es zeigen, damit winken wolle. Dann sank es wieder, und sie verschwand um die Ecke.
GroBer Gott! sagte Wenzel laut. Er sank aus seinen Stuhl. Das war Amalie; oder Alles liigt! Ia, das war Amalie und wie ist es moglich!
VIII.
Bis zum Dunkelwerden hatte Amalie Berring aus ihrem Bett gelegen; zuweilen mit geschlossenen Augen, wie wenn die BewuBtlosigkeit, aus der sie im Vorzimmer der „Schreiberei" erwacht war, wiederkame; zuweilen
trostlos gegen die Decke starrend und in jammervoller Klarheit der Gedanken. Sie hatte sich eingeschlossen; Niemand durste zu ihr. Erst als die Sterne in die Fenster schienen, raffte sie sich ans. Doch sie saB noch lange
aus ihrem Bett; trat endlich aus dem Cabinet, in dem sie schlies, in ihr Wohnzimmer, nahm ihre Lampe vom Spiegeltisch, ziindete sie an, und trug sie zum Nahtisch, der am Fenster stand. Es war ein Verlangen iiber sie
gekommen, die eine der beiden Photographien zu sehen, die sie in der Schublade des Nahtisches verschlossen hielt; die sie taglich in unbewachten Stunden herausnahm, damit sie sie bei der Arbeit, beim Lesen, beim
stillen Denken vor Augen habe. Der eine war ihr theurer „Meister" und „Bildner" Gottlieb Wenzel; wer der Andre war, brauch' ich nicht zu sagen. Diesen wollte sie sehen. Sie schloB aus, und mit nassen Augen blickte sie
aus die beiden Photographien hinab. Neben Scheere und Fingerhut lagen sie iiber einander; Gottlieb Wenzel lag oben.
Dich will ich nicht sehn! sagte sie mit einer schaudernden Bewegung. Kam, Kain
Sie nahm ihn in die Hand, um ihn wegzuwersen. Indem sie ihn so zwischen den Fingern hielt, verweilte ihr Auge daraus; — o wie anders wird er mir jetzt, jetzt vorkommen! dachte sie. Er sah aus dem Bilde heraus, ihr
in's Gesicht; sein groBer Kops siillte sast die ganze Photographic Ueber der „Denkerstirn" stieg das zuriickgewichene Haar buschig in die Hohe. Sie suchte es recht mit Abscheu anzublicken; in diesem ungebandigten
Gelock schien sich ihr — ach, heute zum ersten Mai — eine verwilderte Seele zu verrathen, die sich sonst verbarg. O, was stir Gedanken — sagte sie vor sich hin — was stir Gedanken steckten hinter dieser surchtbaren,
groBen Stirn
Ach mein Gott! seuszte sie. Ach, und doch so 'ue edle Stiru. Und so blink und blank. Gott im Himmelsstrom, wie soil man sich prekawiren, wenn die Schlechtigkeit in so einem Tempel Gottes wohnen kann! Diese
groBe, blasse Nase, die so treuherzig zwischen den mageren Backen in die Welt hineinsieht: „ist da auch Platz stir mich?" Und die dunkeln Augen, die so ties, ties hinter der Stirn liegen, — wie nnter 'nem hohen, hohen
Giebeldach; und wie wehmiithig kucken sie mich an. Ich mag gar nicht mehr hinsehen; wir wird ja wol ganz miserabel und erbarmlich zu Sinn. Sie wollen mir's ja wol rein zum Vorwurs machen, daB ich ihnen nicht mehr
glauben will. Ach, sie sind so gut! Und so angegriffen von dem Schreiben und Schreiben, — und so ehrlich kucken sie mich an. Und die diinnen Lippen. Als hatten sie sich nach und nach so schmal gemacht, weil ihnen
auch nur schmal zugemessen wird; — ach, und es kam ja auch immer mehr Gutes aus ihnen heraus, als in sie hinein! — Aber sie lacheln doch ein bischen; so gutherzig. Als wenn sie sagen wollten: „Viel haben wir nicht
vom Leben; aber vergratzt und verbittert sind wir darum doch nicht! Und sehn Sie uns doch nur an, Fraulein Amalie; sehn Sie Ihren alten Lehrer und Freund doch recht ordentlich an"
Ach! seuszte sie plotzlich, und ihre leicht geruhrten Augen sullten sich mit Thranen. Ia, sie sah ihn an. Fort und sort sah sie ihn an; denn er that es auch; und er schien zu ihr zu sprechen und zu klagen. Wie wenn er leise
und traurig sagte (wenigstens dachte sie sich seine Worte so): „Wie konneu Sie so schlecht von mir denken, Fraulein Amalie. Sehen Sie doch her. Eine hubsche Extremitat hab' ich sreilich nicht; piik und sein bin ich nicht;
aber Mord und Todtschlag sehn Sie mir doch nicht an! Hab' ich wol ein Gesicht stir Schlechtigkeiten? Und hab' ich nicht gehungert und gedarbt, ohne zu murren; und hab' ich Sie nicht immer lieb gehabt, ohne
unbescheiden zu werden; und haben Sie je ein Wort von mir gehort, das nicht unschuldig und gut gewesen ware; und warum glauben Sie nun, ich hatte Axel Palmblad umgebracht? Hab' ich Ihnen nicht in der Schreiberei,
vor meinem Richter, und vor Gottes Thron, gesagt, daB ich unschuldig bin? Fraulein Amalie, warum glauben Sie mir nicht? Sehen Sie mich doch an"
Sie konnte ihn nicht mehr sehn, sein Gesicht verschwamm ihr vor den nassen Augen. Ach, Herr Wenzel! Herr Wenzel! seuszte sie und stand aus. Das Bild siel ihr aus den Fingern, aus den Tisch, Sie lieB es liegen;
ich will zu Herrn Lund gehn! sagte sie aus einmal. Hatte ihr nicht Axel Palmblad zuweilen, so im Reden, gesagt: „wie mein Freund Lund behauptet"? Hatte er ihr nicht erzahlt, daB er aus Malmo sei, „und mein Freund
Lund ist es auch"? Hatte er sie nicht eines Abends, als sie aus dem Theater kam, nach Hause gesiihrt; und waren sie nicht durch die KosselderstraBe gegangen, und hatte ihr nicht Axel Palmblad das grime Eckhaus gezeigt
und gesagt: „da oben wohnt mein Freund Lund"? — Ich weiB also, wo er wohnt, dachte sie; nahm nicht ihren Hut, sondern ein Tuch, umhullte damit ihren Kops und die runden Schultern, band sich einen Schleier vor's
Gesicht, und loschte die Lampe aus. Ich will ihn sragen, ob er nichts von Axel Palmblad
weiB! dachte sie im Gehn. Ach, nnd Herr Wenzel ach, mein guter
Herr Wenzel hat es nicht gethan! Wie war ich schlecht, wie war ich schlecht, daB ich ihm nicht glaubte. Ach, wie war' es moglich!
Sie stieg die Treppe hinunter, nahm ihren Bruder, einen Knaben, mit, urn zu dem sremden jungen Mann nicht allein zu kommen, und ging in die Nacht hinaus. Es war spat geworden; die Leute aber standen noch vor den
Thiiren und sprachen iiber die Gasse hinuber, und Alle schienen nur von Axel Palmblad und Gottlieb Wenzel zu sprechen. „Ie, der ist ja nun auch ein bischen todtgeblieben", horte sie einen SpaBmacher sagen, der im
Schurzsell aus der Schwelle stand. „Erst hat er ihn abgemurkst, und dann 'ringeschmissen", sagte druben unter dem Thorweg eine andre Stimme.
Amalie konnte nicht hiusehn, aus was stir einem Mund diese Stimme kam; sie hatte es gern gethan, aber sie konnte es nicht; so sehr emporte sich ihre arme Seele. Sie driickte sich ihren Schleier gegen das Gesicht und
ging rascher sort. O gemeine, gemeine Welt! dachte sie (es war ein Vers aus einem Gedicht) und seuszte. Doch da stand sie schon vor dem Haus „seines Freundes Lund". Ach, kein Licht hinter seinen Fenstern . . .
Zu wem wunschen Sie? sragte eine alte Frau, die drinnen im Haus aus der Treppe stand.
Zu Herrn Lund! sagte sie verlegen.
Der ist sort, antwortete die Frau.
Wohin?
Nun, wohin er gehort! In sein Schwedenland! Da mogen sie ja wol alle mit Pinseln Gesichter aus die Fensterscheiben malen; — wenigstens Herr Lund hat's da oben aus meinen Fenstern gethan. Wenn's nicht der Andre
gethan hat, der Musche Palmblad; der nun ja wol in der Warnow liegt.
Amalie zitterte.
Ist er nach Malmo abgereist? sragte sie.
Wer?
Herr Lund.
Wenn er nicht gelogen hat, ist er wol nach Malmo! Denn da wollte er hin!
Ich danke Ihnen. Adieu,
Bitte; keine Ursache! Wenn Sie ihm vielleicht telegraphiren
wollen (die Frau lachelte hohnisch), so melden Sie ihm nur auch gesalligst, ich hatte Ihnen gesagt, er ware ein
Amalie war schon sort. Das letzte Wort horte sie nicht mehr. Es thut auch nichts! dachte sie . . . Aber die Frau hat Recht, suhr ihr durch den Kops: warum sollte ich ihm nicht telegraphiren . , . Ia, ich telegraphire! — So
viel Geld habe ich ja noch. Als ich ge stern Herrn
Wenzel die sechs Stunden zu viel bezahlte ach, der arme Schlucker!
da behielt ich ja noch mein Monatsgeld, Ich telegraphire an Herrn Lund in Malmo: „Axel Palmblad wird vermiBt; soil ermordet in der Warnow liegen. EinAUnschuldiger wird verdachtigt. Um Gottes Barmherzigkeit
willen, was wissen Sie von ihm? Antwort bezahlt"... Und meinen Namen setze ich darunter . . .
Du kannst nach Hause gehn; ich komme bald! sagte sie zu dem Knaben und schickte ihn sort. Sie stiirzte weiter durch die StraBen, dem Telegraphenamt zu.
Arme Amalie! Sie hatte heute kein Gliick. Im Telegraphenamt war schon die Thiir geschlossen; der Tagesdienst war zu Ende. Nachtdienst gab es hier nicht. Ach, was nun? dachte sie verzweiselnd, und iiber die runden
Wangen rollten wieder Thranen. Warten bis morgen sriih! — Ach, und nun wohin?
Sie lachelte aus einmal, es war ein liebliches Lacheln; denn sie wuBte, wohin. Ich gehe aus den Marienkirchhos, sagte sie zu sich; und kucke ein bischen hinaus nach der Schreiberei. Vielleicht, daB ich sein liebes altes
Gesicht an seinem Kuckloch sehe; oder wenn auch nicht, — ich bin ihm doch nah — und es ist mir doch so zu Muth. „Schleier,
Schleier, der du mich verhullest" Und dann sen' ich noch einmal
nach den Nichten hin. Ach, die armen, kleinen, magern Zwillinge; die armen Spirrsixe: die werden nun jammern um den Onkel Gottlieb, ihren Beschutzer und Erhalter ... Ia, ich spring' noch hin! — Und dann morgen sriih
das Telegramm an Herrn Lund. Sagte nicht Axel einmal zu mir — ich weinte ja noch, aber er merkte es nicht — : „wenn ich sortgehe, Amolie, geh' ich plotzlich sort; ohne Abschied, gerauschlos; wie eine Sternschnuppe
verschwind' ich dann, Amalie!" — Gott im Himmel! vielleicht hat er's so gemacht. Vielleicht ist er mir so davongeburrt , . . Ach, wie s.,A das gut. Wenn es so war',Aich wollte ja nicht mehr weinen; nie, nie, nie sollt' er
wiederkommen; — er soli thun,
was er will! Ich kenn' mich ja wol nicht mehr. Ich bin ja wol
in den jungen Menschen gar nicht mehr verliebt! Armer Martyrer;
armer, lieber Herr Wenzel. Wie konnte ich nur so sein, daB ich den jungen Menschen lieber hatte, als Sie. Ach, wenn er doch noch lebte und in Schweden saBe — und wenn Sie mir verzeihen konnten Ich stelle mich
an der Marienkirche hin, und da bitte ich Ihnen ab. Ach, Herr Wenzel! Herr Wenzel!
Und so ging sie hin.
IX.
Stehen Sie ruhig, Angeklagter. Sehen Sie mich an. Sie haben gestern nicht gestehen wollen; vielleicht sind Sie heute Morgen in der Stimmung, es zu thun. Sie haben sich gestern nicht erinnern konnen, wo Herr
Palmblad — oder sagen wir, der Unbekannte — in's Wasser gesallen ist; vielleicht hat sich iiber Nacht Ihr GedachtniB gestarkt. Schutzmann, Sie konnen gehn. Hat es sich gestarkt?
Roid und 2iid. vi„s. 21
Nein, antwortete Wenzel.
Sehn Sie aus diesen Herrn! Herr Schwan, bei dem besagter Axel Palmblad wohnte, hat gestern Abend von dem noch ahnungslosen Vater, Kausmann Palmblad in Malmo, einen Bries erhalten: der junge Herr Axel soil
nach Hause kommen, er soli sich einem wissenschastlichen Unternehmen anschlieBen; — hier ist der Bries, Das wird eine traurige Ueberraschung stir den Vater werden . . . Wir wunschen ihm wenigstens GewiBheit zu
geben. Also wo sahen Sie seinen Sohn — sagen wir, den Unbekannten — in die Warnow sallen?
Ich weiB es nicht, antwortete Wenzel.
Sie gestehen auch heute nicht?
Wenzel schwieg eine Weile. Herr Senator, sagte er dann langsam,
— ich konnte Ihnen ja die ganze Geschichte erzahlen, wie sie sich zugetragen haben konnte; denn heute Nacht hab' ich mir's durchdacht. Wenn dieser junge Schwede, statt den beiden Andern zwischen die Hande zu
kommen, damals Nachts, am Strand, mir begegnet ware; und wenn wir uns iiber eine gewisse Sache ausgesprochen hatten — und wenn dann der bose Geist iiber mich gekommen ware, und der junge Mensch mich gereizt
hatte, und er mich vielleicht angepackt hatte, und ich ihn wieder, und so weiter dann war ich es. Und dann wiiBte ich auch wahrscheinlich, wo er lage; und dann wiird' ich's sagen. Denn meinem Richter entgehn wollte ich
dann nicht! Aber nun ist's ein Andrer, — oder Zwei; und ich stehe hier nicht vor meinem Richter, Herr Senator. Ich entziehe mich meinem Richter nicht. Aber Sie sind es nicht. Und wenn Sie als Inquirent mich sragen, wo
er liegt, und wer es gethan hat, so antworte ich als ganz gehorsamster Inquisit: Herr Senator, ich weiB es nicht!
Herr Ludwig Grotius blickte aus den wunderlichen Redner mit geoffnetem Mund und sehr unklarem, sragendem Gesicht. Seine beste Waffe
— sein gewohnheitsmaBiges selbstgesalliges Lacheln — lieB ihn diesmal im Stich. Danu blickte er aus Herrn Schwan, und dieser aus den Senator; und so schwiegen sie alle. Hm! Hm! sagte endlich Herr Grotius.
Kleesattel, was gibt's? suhr er sort, da der Schutzmann, der abgetreten war, wieder erschien. Was bringen Sie da?
Eine Depesche, Herr Senator. Dringlich.
Nun, so geben Sie her!
Der Senator nahm sein Glas, klemmte es in's Auge, und offnete die Depesche. Seine kleinen Augen wuchsen, wahrend er las. Er psiff vor sich hin.
Es war ein Telegramm aus Malmo, an den Senator Ludwig Grotius gerichtet, und es lautete:
„Suchen Sie den Ermordeten in der Warnow bei der alten BallastStatte wo das srischgetheerte Boot am Bollwerk liegt dem Busen der Leda gegeniiber man begrabe ihn"
Unterzeichnet: „Lexa".
Schutzmann, siihren Sie den Angeklagten zuriick! sagte der Senator, der sich ausrichtete und einen triumphirend durchdringenden Blick aus Herrn Wenzel wars. Bis aus Weiteres siihren Sie ihn zuriick! — Herr Schwan,
solgen Sie mir, wenn's gesallig ist. Ihre Gegenwart ist mir erwiinscht. DrauBen sage ich Ihnen mehr! Kleesattel, Sie kommen mir nach, wenn Sie hier sertig sind. Unten ersahren Sie, wohin. Meine Herren, wir gehn! Meine
Herren, wir gehn!
Wohin gehn sie? dachte Wenzel beklommen und sah ihnen nach . . . Doch er sah nichts mehr; der noch jugendlich riistige Herr Grotius stiirmte schon hinunter. DrauBen sammelte sich bald eine Schaar seiner Trabanten
um ihn. Die kleine Gestalt des Senators schien gewachsen zu sein; der Glanz der Selbstzusriedenheit strahlte von ihr aus. Zugleich schien sie auch dunkel ihre Schonheit zu siihlen ... Es wird Licht, Herr Schwan! sagte Herr
Grotius vergniigt, wahrend er mit Herrn Schwan voran und zum Strand hinab ging. Nach und nach; aber es wird Licht!
Wie werden wir diesen armen Burschen sinden; — es war ein
leichtsinniger Strick, Herr Schwan, und ein dreister Schlingel; aber er hatte ja auch gute Gaben, hor' ich. Ihre schonen Tochter werden recht bewegt sein; — die weichen, mitsuhlenden Frauenherzen, Herr Schwan. .. Bitte,
gehn Sie rascher. Aus Malmo? Was heiBt das? Und die Unterschrist „Lexa"! Wer ist Lexa? — Denken wir dariiber nach, wenn wir Zeit dazu haben. Dieser Fall, Herr Schwan, wird von sich reden machen! Nur nicht
ausgeregt; nur kaltes Blut, — wie wir ihn auch sinden. Halten Sie sich an die Hauptsache: es wird Licht, es wird Licht!
Sie hatten den FluBhasen und den Platz erreicht, wo sie suchen sollten: die ehemalige Ballast-Statte vor dem Monchenthor, wo jetzt eine Abzweigung der Eisenbahn am User hinlies. Holzerne Schuppen, Balkenund
Bretter-Stapel erhoben sich neben dem Geleise. Wenige Schritte von da, wo die Bahn endete, lagen srisch getheerte Bote in der Sonne. Ein kleineres lag stir sich, in nachster Nahe des Bollwerks, den Schnabel gegen den
FluB gekehrt; — und hier loste sich dem Herrn Senator das Rathsel, warum die Depesche vom „Busen der Leda" sprach. Eine groBe Vrigg, die den Namen „Leda" siihrte — einen aus blauen Grund genialten Schwan trug
sie hinten am Stern — lag hier angekettet, am User entlang; da, wo ihr Bug aus dem Wasser schwamm, wandte ihr das Noot seinen Schnabel zu, Sie lag aber aus mehr als Manneslange vom holzernen Bollwerk entsernt;
eine machtige Stange hielt sie davon ab. Das dunkle, schmutzige Wasser sloB hier also srei zwischen Brigg und Bollwerk; ties genug, daB man seinen Grund nicht sehen konnte; breit genug, um selbst einen Elephanten, der
hier hinunterge worsen wiirde, in sich auszunehmen.
Meine Herren, dies ist der Platz! sagte der Senator, als Alles, was helsen sollte lund noch Einige mehr), sich versammelt hatte. Herr Kapitan, ich danke Ihnen sehr, daB Sie sich bemuhen! Wenn Ihre Leute die
Bootshaken hier hinunterlassen, miissen sie ihn sinden. Sie da, nicht drangeln, wenn ich bitten dars. Ruhe! — Hinein! Hinein!
Nun? Haben Sie ihn? sragte er einen Matrosen, der von der „Leda" her seinen langen Bootshaken in die Tiese senkte, wahrend Andere vom User aus mit Stangen und Rudern sischten. Haben Sie ihn, oder haben Sie ihn
nicht?
Ich hatte ihn wol, Harr Senator, sagte der Mann bedachtig. Aber mir ist das nur markwurdig, Harr Senator, daB er von Holz oder von sonst was ist; denn weich ansuhlen thut er sich nicht, das ist mal gewiB.
Nun, so wird es ein Stuck Holz sein, und kein Mensch. Suchen Sie weiter, Mann!
Aber mir ware doch beinahe so, als wenn er es ware, sagte der Matrose, nachdem er von Neuem getastet hatte. Denn ein bloBes Stuck Holz, Harr Senator, ist das nicht. Das ist so lang wie ein Mensch. Gott vardamm'
mich! Wir sollten es doch wol mal 'ransziehn, daB wir sehen, Harr Senator, was stir ein Diert das ist!
Nun, so zieht es heraus, in des Teusels Namen! sagte der Senator.
Viele Hande ruhrten sich zu gleicher Zeit, vom Schiff und vom Bollwerk her; mit Stricken, Stangen und Haken.
Alle Handen ahoy! Ahoy! ries ein alter Matrose mit seiner singenden Stimme.
Langsam erhob sich die Gestalt — denn es war eine menschliche Gestalt, man sah es schon — aus der truben Fluth. Nur nicht so nervos, Herr Schwan; nur ruhiges Blut! sagte der Senator. Ein schoner Anblick ist das
nicht — aber was hilst's
Plotzlich erhob sich ein krastiges, herzliches Gelachter, und von vielen Stimmen. Die holzerne Gestalt des Herrn Ludwig Grotius, mit den weiBen Hosen, die aber der Schlamm unwiirdig befleckt und besudelt hatte, stieg
aus dem Wasser an's Licht des Tages heraus. Einige Ziegelsteine, die man ihr mit einem Strick aus den Bauch gebunden, um sie schwer zu machen, losten sich -und prasselten in die Fluth zuriick.
Gott vardamm' mich, Harr Senator, das siind Sie! sagte der Matrose und greinte iiber das ganze Gesicht.
Herr Grotius betrachtete sein Ebenbild — das er iiber diesem geheimniBvollen Mord ganz vergessen hatte — mit tiesem Schweigen uud sast dummem Gesicht. Lachen konnte er nicht; aber es erbitterte ihn, daB auch
Herr Schwan hinter ihm zu lachen ansing.
Was wollen Sie? suhr er Fraulein Amalie Berrinn, an, die in diesem Augenblick herankam, sich durch die heiteren Menschen hastig zu ihm drangte, mit den groBen Augen ihn anstrahlte und ein Blatt Papier in die Hone
hielt.
O Herr Senator, Herr Jenator! Ein Telegramm! keuchte sie athemlos. O Herr Schwan, Herr Schwan Lesen Sie! lesen Sie!
Herr Schwan nahm das Blatt in die Hand, da der verstorte Senator wieder aus den triesenden, holzernen Ludwig Grotius starrte.
„Fraulein Amalie Berring Stadt London StrandstraBe."
„Axel Palmblad lebt und iBt nebenan Bucklinge mit Eiern Bries solgt"
Unterschrieben: „Lund" .
X.
Es war Abend geworden, und noch einmal Abend, Gottlieb Wenzel stand wieder, wie vordem, in seinem Zimmer; seinem eigenen. Seine Lampe brannte; der Rest eines sreundlichen kleinen Kohlenseners gliihte noch im
Osen. Ein ausgeschlagener Band seines geliebten Schiller — in der Thaler- Ausgabe — lag neben der Rostocker Chronik und dem Rostocker Gesangbuch aus dem Schreibtisch. Die schone Stille des Abends ruhte drauBen
iiber der StraBe und hier iiber dem Zimmer; deun es war schon neun Uhr, und die Zwillinge schliesen. Unter der groBen, blau und weiB gestreisten Decke, die Nachtmutzchen aus dem, Kops, lagen sie wieder gerauschlos,
in sriedlicher Eintracht, wieder wie ein einziges Naturgebilde da. Sie athmeteu ebenso regelmaBig, aber bescheidener, als die alte Wanduhr, die vorlaut, etwas schnarrend, tickte; dieses einzige Erbstuck Wenzels — auBer
den Zwillingen — und das einzige Gerausch in seiner schweigenden Zelle.
Gottlieb Wenzel lachelte wehmuthig vor sich hin. Da steht er ja, dachte er: der Mann, den ich so beneidete, als ich in der Schreiberei saB. Da steht er ja an seinem Fenster in der Sliiter-StraBe und sieht aus den Petri-
Kirchenvlat z hinaus. Er ist srei wie ein Vogel. Er kann mit seinem Hausschlussel in der Tasche spielen; Niemand nennt ihn „Kam". Niemand verachtet ihn. Niemand schlieBt hinter ihm zu. Nun, warum beneid' ich ihn
denn nicht? Warum hiipst mir nicht das Herz „wie ein Lammerschwanz", daB ich selber die Ehre habe, dieser Mann zu sein? — Das ist ja doch wol eine groBe Sache. Wer beneidet denn den Gottlieb Wenzel nicht. Er kann
nun wieder abschreiben und Stunden geben, sasten und phantasiren, Alles was er will. Niemand stort ihn, wenn er einsam ist. Die alte ruppige Blase kann wieder stir sich allein obenaus schwimmen, — bis sie platzt.
Immer lustig! Ahoy!
Er legte sein Gesicht an die Fensterscheibe und sah in die triibe Nacht. Schwarz war die Kirche, sternenlos der Himmel; denn ein Wolkensack verhullte ihn. Lautloser, seiner Regen spriihte unaushorlich herab. Wenzel
dachte an Frau Schwabke, die nun in dem kalten Regen durch die StraBen zog, um noch stir ihn zu holen — er hatte vergessen, was; und an Amalie Berring, die nun wol in ihrem dunkelgrunen Kleid in ihrem Zimmer saB.
Die er nicht wiedergesehn, seit sie ihn Kam genannt hatte; — „die nun auch ganz, ganz vorubergegangen ist", dachte er und seuszte. . . Was stir Schritte kamen denn wol jetzt die stille StraBe herunter? Was stir ein lustiger
lunge psiff sich da die Melodie vom Iungsernkranz, und erschien aus dem auBersten Rand des Trottoirs, wo er die Arme hob, um sich aus den schmalen Steinen im Gleichgewicht zu erhalten? Und was stir eine groBe
weibliche Gestalt ging neben dem Iungen hin? blieb dann vor Wenzels Hause stehen, machte ihren Regenschirm zu und sah zum Fenster heraus?
Ich bin ja iu's Zimmer zuriickgetreten; warum that ich das, dachte Gottlieb Wenzel, Er horchte, und eine seiner Hande legte sich ihm aus's Herz. Die kleine Glocke an seiner Hausthur erklang; wie allemal, wenn man sie
offnete. Schritte aus seiner Treppe. Seine Thiir ging aus. Amalie Berring, in Hut und Mantel, erschien, den Regenschirm in der Hand; hinter ihr der lunge, ihr Bruder, einen Korb am Arm.
Sehen Sie nicht her, Herr Wenzel, sagte Amalie, mit bittender, weicher Stimme, und blieb an der Thiir. Sehn Sie mich nicht an. Bleiben Sie da nur stehu!
Warum soil ich hier stehen bleiben, sragte er, — ebenso verlegen wie sie.
Ich schame mich so... Gestern hatt' ich nicht den Muth; heute Morgen auch nicht. Nun bin ich endlich hier. . . Sehen Sie meinen Heinrich an, wie sein Rockschen naB ist. Denn er wollte ja um Alles in der Welt keinen
Regenschirm nehmen —
Es drippelt ja mau bios! sagte der lunge verachtlich.
Gib Deinen Korb her, Heinrich, suhr das Madchen sort. Stell' ihn ans den Tisch! — Namlich, ich dachte, Herr Wenzel, Sie essen so gern saures Gansefleisch, und wir hatten welches. Und es thut Ihnen so gut, wenn Sie
Bier dazu trinken; — und wenn Sie mich nicht hassen und verachten Ach thun Sie's nicht, Herr Wenzel! ach, thun Sie's nicht! setzte sie mit einem flehenden, seuchten Blick hinzu.
Wie kame ich dazu? erwiderte er, dem die Kehle sich zusammenschnurte. Auch wars er einen Blick aus den Iungen; wie konnte er denn vor dem Iungen reden. Nehmen Sie doch Platz! sagte er nach einer Weile, um
etwas zu sagen.
Doch das Madchen blieb stehn. Wie sie schlasen, die beiden kleinen, magern Engel! sagte sie geriihrt. Die werden es nun auch besser haben, Herr Wenzel; denn das muB ich Ihnen nur gleich sagen, und das wird Sie
sreuen: Sie werden ja wol noch wohlhabend, Herr Wenzel! Und Sie werden ja wol noch ein beriihmter Mann! In der ganzen Stadt spricht man nur von Ihnen, und daB Sie als Morder im Brummbarloch gesessen haben, aber
daB es nun klipp und klar ist, daB Sie unschuldig sind. Und die schonsten jungen Damen schwarmen nun von Ihnen — lacheln Sie doch nicht so — und wissen vor Mitgesiihl nicht, wie sie sich haben sollen; und zehn aus
meiner Bekanntschast, lauter junge Madchen, wollen partout gemeinschastlich Stunden bei Ihnen nehmen, deutsche Literatur, und Geschichte, und allerhand! Und was der Pensionsvater von — von ihm war, der Herr
Schwan, der will Sie stir seine jungen Auslander als deutschen Lehrer haben —
Sie spaBen wol! sagte Wenzel mit Miihe; doch er richtete sich unwillkiirlich etwas hoher aus.
Ich war' wol nicht recht bei Trost, wenn ich jetzt spaBen konnte! erwiderte das Madchen. O Herr Wenzel! Und hier nab' ich auch einen Bries, den Sie lesen miissen; heute Abend gekommen . . . Sehn Sie mich nicht
an. Lesen sie ihn; ich kann ja den Korb unterdessen auspacken; — 's ist auch ein Bischen zum Naschen stir die Zwillinge drin. Setzen Sie sich an die Lampe; sehn Sie mich nicht an!
Wenzel nahm den Bries. Eine jugendliche, sluchtige Hand hatte ihn geschrieben; bald mit groBen, weitlausigen Buchstaben, bald kleiner und gedrangt; keine Reihe lies wie die andere. „Gegeben Malmo, im Hause
meines Vaters", stand obenan. Wenzel trat zur Lampe und las:
„Liebes Fraulein AmAlie! Wie sagte ich Ihnen einmal? «Wie eine Sternschnuppe werde ich verschwinden« und so ist es gekommen! Konnten Sie in die tiesste Tiese des unermeBlichen Abgrunds meiner
Seele blicken, so wiirden Sie mich achten, Fraulein AmAlie; ja Sie wiirden mich bewundern, daB ich mich so aus dem Paradies meines Lebens losriB; — aber Sie sehen nicht bis in diese Tiese, und ich kann's Ihnen nicht
sagen. Vielleicht werden Sie mir niemals verzeihn; und ich muB es tragen. Ruhelos, wie bisher, werde ich weiter durch das Leben sturmen; ohne eine andere Heimat, als die des Gedankens und der Wissenschast, — denn
es wird nun Ernst; ihr Bummeljahre, ihr seid nun dahin. Ich werde arbeiten, Antt'lie, mich zum Manne Schmieden; ruhelos aber wird mein irrendes Leben sein; eine zarte, weiche Seele zu beglucken bin ich nicht
geschassen. Fluchen Sie mir nicht, Amiilie, sondern segnen Sie mich; sagen Sie mir, daB Sie mir verzeihn!
Ich habe noch den Senator Ludwig Grotius in den Strom ge worsen,
und dann nab' ich den Ort verlassen, wo ich so gliicklich war —
Wenn dieser Bries in Ihre Hande kommt, wird man wol den holzernen Herrn mit den weiBen Hosen schon gesunden haben; und der mir unbekannte Unschuldige, von dem Sie telegraphirten, der mich Unglucklichen
»ermordet« haben sollte, wird wieder in Freiheit seinem Schopser danken! — Fur mein sundhastes Vergehn an Herrn Grotius bin ich
bereit eine GeldbuBe zu zahlen; eine Freiheitsstrase nein! Dazu
kriegt man mich nicht! Polizei -Senator, wir sind quitt; leben Sie ewig wohl!
Ich bleibe nicht in Malmo. Mein Vater — oder wie ihr Deutschen sagt, mein Alter — will einen groBen Gelehrten aus mir machen; ich soli mitgehn aus eine wissenschastliche Reise, und ich gehe mit. Nehmen Sie denn
meinen AbschiedsgruB, holde Amolie; — und gruBen Sie mir noch Einen, theure Anwlie; einen »samosen Kerl«, wie die Deutschen sagen; einen Mann, den ich liebe. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie er heiBt; aber Sie
kennen ihn. An einem Ring mit einem Rubin darin werden Sie ihn erkennen; — diesen Ring erlaubte ich mir ihm an den Finger zu stecken, aus Uebermuth und aus Freundschast; wenn er eine groBe Seele ist, wie ich von
ihm glaube, so behalt er ihn — denn darum bitte ich — und »verklopst« ihn, und es bekomme ihm wohl! Ich mochte recht von Herzen gern, theure Amalie, daB dieser »samose Kerl« endlich gliicklich wiirde. Ich mochte,
daB die Torte nicht wieder an ihm vorbeiginge. Sagen Sie ihm das Sie aber, verzeihen Sie mir, und leben Sie wohl!
Ich lege ein beglaubigtes LebenszeugniB bei, damit die Kerle (ich meine, die Polizei und die hohe Iustiz) nicht etwa Den aushangen, der mich ermordet hat. Mein Freund Lund sruhstuckt nebenan, und empsiehlt
sich Ihnen unbekannter Weise. O Amolie! O Amalie!!! Gute
Nacht!"
Amalie Berring sah, daB Herr Wenzel ausgelesen hatte. Heinrich! sagte sie. Mein lunging, willst Du nicht einmal da drauBen die Treppe zum Kirchhos hinaus lausen und iiber den Platz an die Ecke gehn, wo das Sliiter-
Denkmal steht? und mir aus dem Immortellenkranz, der da am Postament wol noch liegen wird, drei Immortellen pflucken? Ich hab' den Kranz neulich hingelegt
Der Knabe war schon aus der Thiir. Wenzel hatte sich aus einen Stuhl gesetzt, den Bries noch in der Hand. Er horte, daB Amalie sich ihm naherte. Plotzlich sah er, wie sie vor ihm in die Kniee sank und seine linke Hand
nahm und an die Lippen driickte.
Sind Sie toll? stammelte er und stand aus.
Ach, ich mochte mich lings und langs vor Ihnen hinwersen, sagte sie zerknirscht und geriihrt. Wie konnt' ich so schlecht von Ihnen denken, Herr Wenzel. Schlagen Sie mich; tuchtig ... Aber wenn Sie mich geschlagen
haben, seien Sie wieder gut!
Er zog sie in die Hohe, da sie noch immer nicht ausstand. Was Sie auch heute alles reden! sagte er ganz verwirrt. Warum sollten Sie nicht schlecht von mir denken; Alles sprach ja dasiir, daB ich mitschuldig war
Sie schuttelte den Kops. Ich, Ihre Schulerin, Ihre Ihre
Amalie, durste das nicht denken! Wie konnte ich nur so sein . . . O wie scham' ich mich. — Aber ich bin doch auch nicht so schlecht, wie Sie nun wol glauben. Sehn Sie diesen Aussatz, Herr Wenzel: den hab' ich heute
Morgen geschrieben, als ich so traurig in meiner Stube saB. Nicht „uber die weiblichen Tugenden", wie Sie mir's ausgegeben hatten; sondern „iiber den Nutzen und Segen der Photographie". Das hab' ich mir selber
ausgegeben, Herr Wenzel-, und da hab' ich die Geschichte erzahlt, wie ein Mensch, der an einem andern Menschen irre geworden war, zusallig die Photographie dieses andern Menschen vor die Augen nahm und sich darin
wieder zurechtsand; — und einem dummen Madchen ist es so gegangen. Ach, lesen Sie's doch, Herr Wenzel
Ich las schon zu viel! sagte er und deutete aus den Bries.
Es ist ja auch von Ihnen in dem Bries die Rede; muBten Sie ihn nicht lesen? Amalie trat von ihm hinweg und an's Fenster, als sahe sie hinaus. Sie schien zu warten, was er iiber diesen Bries, iiber Axel Palmblad
und so weiter, ihr nun sagen werde. Doch Wenzel vertieste sich nur in den wehmuthig-trostlichen Anblick ihrer starken, schonen, blonden Flechten und ihres wohlgesormten Ruckens, und erwiderte nichts.
Wir kriegen ja wol beide das Stillschweigen, sagte das Madchen endlich. Und da kommt Heinrich schon zuriick! — Ich wollt' Ihnen noch sagen, Herr Wenzel (sie blieb abgewandt stehn): ich hab' viel geweint iiber Axel
Palmblad; — aber wie mir dann der Gedanke kam: vielleicht ist er dir nur so weggewutscht— als Sternschnuppe, wie er sagt — da hab' ich nicht mehr geweint. Da hab' ich aus einmal gedacht: ach, wenn's doch so ware;
und wenn ich doch aus diesen Abweg nie gerathen ware; — und wie wenn man einen dicken, schweren Mantel
auszieht, so war es sort! Und ich danke nun Gott recht von
Herzen, daB es so gekommen ist, Herr Wenzel, wie — wie es gekommen ist; denn ich hab' in mein Inneres geblickt, Herr Wenzel. DaB dieser Iungling aus der Fremde, wie Sie sagen, mich verlassen hat, das thut mir
nicht weh. Aber wenn ich Sie verloren hatte, weil Sie was Unrechtes gethan hatten — oder weil Sie mir nicht vergeben hatten — nie, nie, nie hatt' ich das iiberlebt!
Ich danke Ihnen, murmelte er geruhrt.
Vielleicht hatte er noch mehr gesagt; aber der Knabe trat nun wieder ein. Er hatte drei Immortellen in der Hand. Trocken sind sie nicht! sagte er und schuttelte sie.
Nun erst wendete sich Amalie; ging deni Iungen entgegen, nahm ihm die nassen Blumen aus der Hand und kam damit zu Gottlieb Wenzel zuriick. Wissen Sie das noch, sagte sie mit ihrer herzlichen, bewegten Stimme,
wie Sie mir so schon von diesem alten Tliiter aus der Lutherzeit erzahlten; von dem Resormator unsrer alten Stadt! Darum hab' ich ihm auch neulich diesen Kranz gebracht... Sie sind mein Resormator; — nein, lachen
miissen Sie nicht. Sie haben mich dummes Madchen ausgeweckt, und mich besser gemacht und Sie sollen mich immer, immer besser machen; und das will ich Ihnen ja nur „durch die Blume" sagen. Ach nehmen Sie sie
doch hin!
Outes Fraulein
Und nun essen Sie! — Komm, Bruding; wir gehn!
Wollen Sie schon gehn?
Ach ich muB ja wol; schickt es sich denn, daB ich langer bleibe? — Aber Sie kommen zu mir . . . Lieber Gott, wie die kleinen Dinger schlasen und schlasen, wahrend wir reden und reden. Geben Sie mir eine schone
Hand, wenn Sie mir wirklich verzeihn —
So schon, wie ich sie habe! sagte Wenzel lachelnd.
Sie hielt seine Hand, und so stand sie bei ihm. Leise sagte sie: Und Ihre kleinen Zwillinge will ich nie verlassen! Ich will ihnen wie eine Tante sein oder wie Sie wollen. Ich nenne mich auch nie mehr Amolie;
sondern Amalie ... O, wie sehn Sie mich an. Wenn das Heinrich sieht
Heinrich stand in der Thiir. Kommst Du denn nicht? sragte er ungeduldig.
Gute Nacht, gute Nacht, Herr Wenzel! sagte sie nun laut. Und lesen Sie meinen Aussatz iiber die Photographie! Und wenn Sie ihn mir dann bringen, so sagen Sie mir, was A was noch daran sehlt; was ich noch
hinzusetzen soil. Ich bin ja Ihre gehorsame Schulerin, ich thue ja, was Sie wollen. Schlasen Sie schon! Gute Nacht!
Sie ging hinaus. Die Thiir siel hinter ihr zu. Wenzel stand wieder allein in der Einsamkeit. Doch ein sonderbares, ausgeregtes, jugendliches, schwarmerisches Lacheln ging ihm iiber's Gesicht . . .
Er sah den Tisch, die Bescheerung, die die gute Amalie ihm ausgepackt, aus die er noch keinen Blick geworsen hatte. Zwischen Fleisch und Bier stand eine kleine Marzipan-Torte, von Blumen und Epheu bekranzt. Ein
beschriebenes Blatt lag daraus. Er nahm es und las:
„Verse von Einer, die 's nicht kann; o verzeihen Sie!"
„Tu lieBest mich einst in Dein Herze sehn:
Viele Torten sahst Du Armer an Dir vorubergehn.
Ich geh' nicht sort, ich bleib' hier steh«
Du muBt mich nur auch recht versteh«
Aus Wiedersehn!"
Messing in England.
Von
Narl Viederm.imi.
— leipzig. —
!on unsern groBen Dichtern des vorigen Iahrhunderts hatten bisher nur Goethe und Schiller ihre Biographen in England, der Heimat unserer angelsachsischen Stammesvettern, gesunden. Messing ermangelte eines
solchen. Es durste das Wunder nehmen, nicht allein, weil Lessing derjenige deutsche Schriststeller war, der zuerst Shakespeares hohen Genius seiueu Landsleuten ganz erschlossen und so zu jener tiesen und
verstandniBvollen Verehrung des groBen britischen Dramatikers den Grund gelegt hatte, in welcher Deutschland beinahe dessen eigenes Vaterland iibersliigelte, sondern auch deshalb, weil Lessings eigner krastiger und
durchaus realistisch angelegter Geist vorzugsweise, sollte man meinen, gerade dem englischen wahlverwandt und sympathisch hatte sein miissen. Schon vor mehr als 50 Iahren that Carlyle, der seitdem eine so groBe
literarische Autoritat in England geworden ist, den Ausspruch: „Fiir Lessing muB ein Englander die starkste Zuneigung siihleu und man muB sich wundern, daB von diesem Manne noch so wenig bei nns bekannt ist." Aber
es bewendete bei einem Artikel iiber Lessings Charakter und Werke in der lucunburFb, Itevisw 1845; zu einer umsanglicheren Biographie kam es nicht. Ietzt endlich ist diese Liicke ausgesiillt, und zwar in wiirdigster
Weise. Ie spater die Anerkennung, welche England diesem dritten unserer groBen Geisteshelden schuldete, nachgeholt worden, desto vollstandiger ist es nun geschehen. Das stattliche Werk des Englanders lames Sime iiber
Lessings), zwei starke Bande, ist ein Ehrendenkmal stir den deutschen Dichter und
*) IAS88iuF, d> AaMS8 Lim?, 2 volumS8, witd portrait8. 1.Ouaou, "Iruduer K Oo. 1877. (Die Portrats sind die Lessings und seiner svatern Gattin Eva Konig.) Eine deutsche Bearbeitung des Werkes erschien soeben
unter dem Titel: „G, E. Lessing. Ein Lebensbild. Nach lames Sinnes ie. srei bearbeitet von Adols 2trodt.mann." Autorisirte deutsche Ausgabe. Berlin, 1878. A, Hosmann K Eo, Denker, aber auch stir den Biographen, der so
viel FleiB, Griindlichkeit und warme Hingebung seinem Gegenstande zugewendet hat.
In gewisser Hinsicht iibertrifft diese Biographie Lessmgs von Silue die gleichartigen Arbeiten von Carlyle iiber Schiller und von Lewes iiber Goethe. Carlnles Buch iiber Schiller ist der ErguB eines dichterisch gearteten
Geistes iiber einen von ihm enthusiastisch bewunderten und verehrten hoheren Geist, an welchem er selbst sich theilweise herangebildet, durch dessen Strahlen er sich beseuert hat; es hat die Vorziige, aber auch die
Schwachen eines Panegyrieus; der Biograph wird selbst zum Dichter, aber er vergiBt dariiber bisweilen den Kritiker und Literarhistoriker; er ist ganz in seinen Gegenstand versenkt, sast zu sehr, um ihn in gehoriger Feme
ruhig und objeetiv zu betrachten. Das „Leben Goethes" von Lewes bietet eine Menge geistreicher, ost glanzender Apercus mit manchen treffenden Winken, manchen schars eindringenden Beobachtungen iiber den
Charakter und das Genie des Dichters, aber es ist mehr eine Reihesolge seuilletonartiger Artikel, die ihr Thema von den verschiedensten Seiten her in's Licht stellen, als eine stetig sortschreitende, organisch sich gliedernde
Darstellung, Simes „Lessing" konnte man vielleicht hier und da beinahe zu aussuhrlich sinden, zu sehr in alle, auch die kleinsten Einzelheiten des Lebensganges und der schriststellerischen Thatigkeit seines Helden
eindringend, zu lange dabei verweilend. Wir diirsen indeB nicht vergessen, daB es ihm gait, seine Landsleute mit einem Geiste bekannt zu machen, der ihnen bis dahin noch ziemlich sremd gewesen. Wenn diese Landsleute
des Versassers, deren Geschmack er jedensalls kennt, mit derselben Geduld und Pietat Lessings Leben und Wirken bis in seine seinsten Details an der Hand des Werkes von Sime studiren, mit welcher letzterer selbst dieses
Detail zusammentrug, sichtete, ordnete und zu einem wohlabgerundeten Gemalde verarbeitete, so konnen wir uns dariiber nur sreuen im Interesse unseres groBen Dichter», Kritikers und Philosophen, der ihnen dadurch
innerlichst vertraut und lieb werden muB. Und mit Vergniigen vernehmen wir, daB Simes Buch in England rasch Anklang und Verbreitung gesunden hat. Uebrigens verliert Sime niemals iiber dem reichen Detail, das er
vor uns ausbreitet, die groBen allgemeinen Gesichtspunkte aus den Augen, von denen aus erst das rechte Licht aus solche Einzelheiten sallt.
Ein besonderer Vorzug des Buches ist es, daB der Vers, desselben die Literatur iiber Lessing, besonders auch die monographische, mit einer namentlich bei einem Auslander sast staunenswerthen Sorgsalt versolgt und
stir seine Arbeit verwerthet hat. Gerade die letzten Iahre sind an Monographien iiber Lessing ziemlich sruchtbar gewesen. Man hat nachgeholt, was man nur zu lange versaumt hatte. So stand dem Vers, ein Material zu
Gebote, welches sriihere, selbst deutsche Bearbeiter Lessings entbehrten, und mau muB bekennen, daB er von diesem Material bis aus die allerueueste Zeit herab den besten Gebrauch gemacht hat, indem er es fleiBig zu
Rathe zog, ohne doch dabei die Freiheit der eigenen Kritik auszugeben. Nicht bios die unmittelbar aus Lessing beziiglichen Schristen hat er sorgsaltig studirt, selbst verstandlich vor Allem die Werke von Danzel, Guhrauer
und Stahr, daneben auch (vielleicht zu viel) das nicht immer sehr kritische Leben Lessings von seinem Bruder, dann neben Lachmanns und von Maltzahns groBen Lessingausgaben auch die neueste von Hempel, Lehmanns
„Forschungen iiber Lessings Sprache", Diintzers „Erlauterungen", Prohles Biichlein iiber „Lessing, Wieland und Heinse", von Heinemanns „Zur Erinnerung an Lessing", Schones „Brieswechsel Lessings mit seiner Frau",
Blumners Commentar zum „Laokoon", Cosacks und Schroders und Thieles Arbeiten iiber die „Hamburger Dramaturgic", Gottschlichs „Lessings Aristotelische Studien", Baumgarts „Aristoteles, Lessing und Goethe", die
Bemerkungen von Caro, StrauB, Kuno Fischer zum „Nathan", sodann neben dem alteren Werke von Schwarz iiber „Lessing als Theolog" die neueren „Les sing studien" Heblers und die neueste Schrift in derselben Richtung,
Rehorn „Ueber Lessings Stellung zu Spinoza", — auch von andern Literaturwerken hat er herbeigezogen, was nur irgend ein Licht aus sein Thema wersen konnte, wie Staudlins und Neanders Kirchengeschichte, Brunns,
Welckers, Vischers, Liibkes antiquarische, asthetische, kunsthistorische Forschungen (mit Bezug aus den „Laokoon"), Eckermanns und Anderer Goethiana — bis heraus zu Kuno Fischers erst im vorigen Iahre erschienenen
Aussatz iiber „Iohannes Faust" in dieser Zeitschrist. Ebenso bewandert zeigt er sich, neien der eigenen heimischen, auch in der sranzosischen Literatur, besonders in der des vorigen Jahrhunderts. Endlich besitzt er, was
ihm bei der Kritik der antiquarischen und der aus die plastische Kunst beziiglichen Arbeiten Lessings sehr zu Statten kommt, eine vielseitige personliche Anschaunng antiker und moderner Kunstwerke. Fiir die allgemeine
eultur- und literaturgeschichtliche Grundlegung zu seinem Bilde von Lessing und dessen Zeit hat er namentlich zwei Werke benutzt, wie er in der Vorrede ausdriicklich anmerkt, „Deutschland im 18. Iahrhundert" von dem
Versasser dieses Artikels, und Hettners „Literaturgeschichte des 18. Iahrhunderts".
So wohl ausgeriistet, dazu mit einer warmen Hingabe an seinen Stoss, die gleichwol ebenso srei ist von selavischer Bewunderung stir seinen Helden, wie von blindem Nachsprechen sremder Autoritaten, ging Sime an
die stir einen Auslander immerhin schwierige Ausgabe, einen Schriststeller zu ersassen und zu schildern, der, bei mancher nahen Geistesverwandtschast zu englischem Wesen, doch in anderer Beziehung wiederum so
speeisisch dentsch und iiberhaupt so eigengeartet ist, daB sein tieseres VerstandniB nicht eben leicht sein mag stir einen Biographen, der nicht in der Atmosphare des allgemeinen geistigen Lebens unserer Nation sich
bewegt. Um so groBer das Verdienst Simes, diese Schwierigkeit in lobenswerthester Weise bemeistert zu haben.
In einer Einleitung schildert Sime die politischen, sittlichen und literarischen Zustande Deutschlands vom 30jahrigen Kriege an bis zu Lessing, Er kennzeichnet die Abwendung der Fiirsten und Hose vom deutschen
Wesen, ihre assische Nachahmung der Sprache und Sitte Frankreichs; die Ertodtung des Volks- und Nationalgeistes durch einen brutalen und engherzigen Despotismus; die Verkummerung des kirchlichen Lebens im Banne
einer starren Orthodoxie, des wissenschastlichen durch den pedantischen Geist, der aus vielen Universitaten Platz griff. Er geht dann iiber zu den speeiellen Zustanden der Literatur, als des Ausdrucks ihrer Zeit. Denn,
bemerkt er zutreffend, „so wenig die auBeren Umstande einen Genius zu schaffen vermogen, so wenig kann doch auch der Genius seine voile Krast entsalten in einer Zeit der Verwirrung oder der Schwache". Die „erste
schlesische Schule" mit ihrer niichternen „Correetheit" (nur an Paul Flemming riihmt er einen krastigeren, naturlicheren Ton — er hatte daneben auch Simon Dach nennen konnen), die „zweite" mit ihrer Schwulst und
ihrer „eynischen" Leichtsertigkeit, die „hosischen Dichter" mit ihrer zwar weniger ausschweisenden, aber um so mehr bios „eonventionellen" Poesie — dies alles charakterisirt er als Anzeichen einer an innerer Geisteskrast
armen, durch salsche Muster verbildeten oder entarteten Zeitrichtung. Etwas mehr Schwung sindet er bei den Satirikern des 17. Iahrhunderts, wie Logau, Neukirch, Wernike. Noch srischeres Leben wiirde ihm begegnet
sein bei Moscherosch und dem Versasser des „Simplieissimus", die er iibergeht. Mit Recht riihmt er die Krast und Innigkeit des geistlichen deutschen Liedes, aber mit Unrecht schreibt er das Hauptverdienst davon den
Pietisten zu. Paul Gerhardt war kein Pietist (in eben dem Iahre, wo dessen geistliche Lieder erschienen, 1666, begann erst Spener, der Vater des Pietismus, seine Wirksamkeit); vielmehr war er ein strammer Orthodoxer,
ein so strammer, daB er die Staaten des groBen Kursiirsten verlieB, weil dieser den Nleuobus uominaiiz, das Schimpsen aus die Andersglaubigen mit Namensnennung von den Kanzeln herab, untersagte. Die pietistischen
Lieder sind (wenigstens zu einem groBen Theile) von einer gewissen weichlichen Empsindsamkeit angekrankelt, wahrend in denen, die aus dem Boden des „alten Glaubens" erwuchsen, meist ein krastiger, ost sogar
streitbarer Geist (wie bei Luther selbst) weht. Die Verdienste Speners und seiner echten lunger liegen nach einer anderen Seite hin.
Die Ungunst des auBern, besonders des nationalen Lebens brachte damals zuerst, wie Sime richtig bemerkt, in den Deutschen jene Hinwendung zu rein idealen Interessen und jene seltsame Verachtung der AuBenwelt
zuwege, wegen deren das deutsche Volk spater so — sollen wir sagen „beruhmt" oder „beruchtigt"? — ward idas englische Wort t-amous, dessen sich Sime bedient, kann beides bedeuten), eine Richtung, „welche," wie
Sime treffend bemerkt, „es lange Zeit ebensowol unpraktisch
und zu Thaten unsertig (im auBeren Leben, in der Politik), wie andererseits zu dem geistig regsamsten Volke in Europa machte".
Die Verdienste eines Leibnitz, Thomasius, Wols urn die Wiedererhebung des deutschen Volkes aus der geistigen Verkummerung, in die es der 30jahrige Krieg gestiirzt, das allmahliche Hervorbrechen einer naturlicheren
Empsindung auch in der Poesie (in den Liedern Giinthers, den Naturschilderungen von Brockes und Haller, den Satiren Hagedorns, den leichten Klangen Gleims und seiner Genossen), Gottscheds wohlgemeinter, aber
irregehender Versuch, ein deutsches Nationaldrama zu schassen, sein Streit mit den Schweizern — das alles wird kurz, aber im Ganzen richtig dargestellt, und so werden wir allmahlich an die Schwelle jener Zeit gesuhrt,
wo Deutschland endlich reis war stir einen krastigeren Ausschwung, dessen Prophet Lessing werden sollte.
Ein ganzes Capitel — uberschrieben linvbnoci — ist der ersten Jugendzeit Lessings bis zu dessen Uebergang aus die Universitat gewidmet. Eine Menge kleiner Ziige — uns Deutschen meist wohlbekannt — sind hier
angesuhrt aus Lessings Knabenzeit im Elternhause und aus seiner Schulzeit zu St. Asra. Fur den englischen Biographen Lessings, der so pietatvoll alien Spuren des Dichters schon in den Ansangen seiner Bildung nachgeht,
mag es von Interesse sein (nicht minder auch stir die Kenner und Bewunderer des Lessingschen Geistes in dessen eignem Vaterlande), die Censuren kennen zu lernen, die der junge Lessing wahrend der siins Iahre, die er in
St. Asra zubrachte (21. Iuni 1741 bis 30. Iuni 1746), von Halbjahr zu Halbjahr erhielt. Sie sind in dem unlangst erschienenen „Asraner -Album, VerzeichniB sammtlicher Schiller der konigl. Landesschule zu MeiBen von
1543 — 1875, zusammengestellt von A. H. KreyBig", einem Werke von echt deutschem FleiBe, aus den Akten der Anstalt ausgesuhrt und lauten solgendermaBen: 1) nach dem Michaelisexamen 1741: Ae, cAnoa Iauais ex
venust» Kieie bkdet, lieentia llliHull et prneaoiil eontaminet, monitus, nwnitisAue A»rere visns est. (Ein Rest dieser pi-oeAem war es wol, was zu jenem auch von Sime eitirten Ausruse eines Lehrers: „Admirabler Lessing!"
AnlaB gab und zu der Mahnung des Reetors an Lessings jiingeren Bruder bei dessen Ausnahme: er moge so sleiBig, aber nicht so vorlaut sein wie jener); 2) nach dem Osterexamen 1742: InFenio uon obscuro, sea* reFenaus
et Audernanclus, ut recte et iiulustrie, Huae leFibus aebet exsolvat; 3) nach dem Michaelisexamen 1742: ?ollet mentis iaeultate et traiMiille aFit; ab inouriae vero nota udiclue non est iiber; 4) nach dem Osterexamen
1743: lluA-us inFenii nervis »eeurata ailiFentm, cliliFentia« oAtata proAressin responaet; 5) nach dem Michaelisexamen 1743: In Uteris Iiromptum et inaustriuni inFsniuni »perts proiieit; in morum eultura teetius aAit, ynaui,
ut omnis simulationis expers Ajuaieari possit; 6) nach dem Osterexamen 1744: Heri inFenio et eAregiis memoriae viribus v»Ist, atcAue »a.iuoruui aiAnitHtsru animuni «i>Alic»,t; 7) nach dem Michaelisexamen 1744: ?
raBst»,utillm inFsuii cisdris exeroitiiB, eti»nA Fson,etriois, smsllaatiAAue moriduz rsaait lauaadiliorem; 8) nach dem Osterexamen 1745: luAsnio »romuto art«s mlltli6iuatic:as et, cAu»e tra«luntur, alill aaaisoit, se«l
monetur, ne stAli exBreitatiousiu neAliAat (der Lehrer ahnte wol nicht, daB der, von dem er dies schrieb, der groBte Stylist Deutschlands werden sollte!); 9) nach dem Michaelisexamen 1745>: Nulluni est aoetrinae Feuus,
cjuoa uon ».vBAt vsAetus uujus aniiuus, et. oapikt, iBvoeknaus intercluiu, us in Msto ulura aistraliatur; 10) nach dem Osterexamen 1746: A6 omne Fsnus aootiinas st iutsntuni et iaolisum iuFsuium mkZna sxerost
assiauit«.te, exereitum laetis ni-n»t inorsmsntis, Animo nsuticluaiu piavo, tAmotsi IBrvicliors.
In dem Capitel „Leipzig" treffen wir wieder meist aus Bekanntes, doch auch aus einige seine Anmerkungen des Versassers iiber Lessing, Bei Gelegenheit der kleinen lyrischen Sachen Lessings (spater zusammengestellt
in dessen „Kleinigkeiten") kommt er aus eine Vergleichung der Lessingschen Lyrik mit der Goetheschen. Natiirlich sallt es ihm nicht ein, jene irgendwie dieser gleichzustellen. Aber er benutzt diesen Vergleich, um aus
einige Grundverschiedenheiten in Lessings Charakter gegeniiber dem Goethes hinzuweisen, die sich in seiner Lyrik wiederspiegeln. Das Eine ist Lessings ganzlicher Mangel an -A wir mochten nicht sagen: Natursinn, aber
an jener empsindsamen Hingebung an die Eindriicke der Natur, welche im vorigen Iahrhundert in Deutschland so weitverbreitet war und welcher Goethe in seinen Naturschilderungen einen so bezaubernden, von den
banalen Uebertreibnngen sich sreihaltenden Ausdruck gibt. „Ueberhaupt," sagt Sime, „hatte Lessing nicht jene vagen Anwandlungen von Sehnsucht, von innerer Uebersiille und Drang des Geistes, womit die romantische
Schule (richtiger hatte Sime die naher an Lessing grenzende „Sturm- und Draugperiode" genannt) die Welt ansah; alle Gegenstande seiner Betrachtung sind genau begrenzt, alle seine Ideen sind klar und bestimmt." Auch
die Liebe, sahrt Sime sort, spiele eben darum in Lessings Lyrik bei weitem die Rolle nicht wie bei Goethe. „Liebe und Wein kommen neben einander wol in seinen Liedern vor, aber die Liebe, wie der Wein, nur als das
Vergniigen einer miissigen Stunde, das man genieBt und dann wieder vergiBt, nicht als eine das ganze Leben aussullende und erschopsende Leidenschast."
In dem Abschnitte „Berlin" schildert Sime, wie Lessing das damals noch weniger hausige WagniB, nur von seiner Feder A- gleichsam als „sahrender Literat" — zu leben, unternommen und bestanden habe. Er hatte dabei
aus zwei stir Lessings Bildungsgang wichtige Folgen dieser Lebensweise ausmerksam machen konnen: einmal aus die groBe Masse und Vielseitigkeit des Wissens, welche Lessiug aus diesem Wege (durch Uebersetzen,
Bearbeiten, Kritisiren der verschiedensten Schristen aus den verschiedensten Gebieten) sich aneignete, was ihm dann auch bei seinen wissenschastlichen Originalarbeiten zu gute kam, sodann aus die Unabhangigkeit und
Festigkeit des Charakters, die er aus diesem taglichen „Kampse mit dem Leben" stir sich gewann. Wenn Lewes einmal von Goethe sagt: er habe nie den Kamps mit dem Leben gekannt, und daher sehlten ihm als Dichter,
namentlich als Dramatiker, manche Eigenschasten, die nur in einem solchen Kampse erworben und entwickelt wiirden, so gilt gerade das Umgekehrte von Lessing.
Fiir einen englischen Biographen Lessings muBte es von besonderem Interesse sein, die Spuren Shakespeareschen Einflusses aus den jungen deutschen Dichter und Kritiker zu versolgen. Sime sindet einen solchen im
„Henzi", in welchem er eine Nachbildung des Brutus aus „Iulius Casar" erblickt (beilausig gesagt, erschien Borckes Uebersetzung des „Casar" nicht 1749, sondern schon 1741) und in dem Fragment „Das besreite Rom".
Ueber das Erstere lieBe sich streiten; Hettner erkennt als das Vorbild des „Henzi" (vielleicht richtiger) Otways „Gerettetes Venedig". In der Vorrede zu den „Beitragen zur Historie und Ausnahme des Theaters", die aus dem
Iahre 1749 stammen, stellt Lessing Shakespeare noch unterschiedslos mit englischen Dichtern ziemlich niedern Ranges aus der sranzosisch angekrankelten Restaurationszeit zusammen, wie Wicherley, Cibber, Vanbrugh u.
a. Aussallend ist, daB Sime weder Nieolais anerkennenden Ausspruch iiber Shakespeare in den (von ihm erwahnten) „Briesen iiber den gegenwartigen Zustand der schonen Wissenschasten in Deutschland", noch aber auch
Lessings Schweigen iiber den groBen britischen Dichter (mit Ausnahme jener etwas zweideutigen Ansiihrung aus dem Iahre 1749) bis zu dem beriihmten 17. Literaturbriese (Ende des Jahres 1759) einer besondern
Beachtung werth gesunden hat.
Sime meint, Lessing sei, „indem er sich an die Englander und speeiell an Shakespeare anschloB", nur „dem allgemeinen Zuge der Zeit gesolgt", da „die krastigsten und sreiesteu Geister in Deutschland beinahe alle nach
England um Hiilse ausschauten"; andererseits aber habe Lessiug „die Bedeutung Shakespeares von englischen Schriststellern gelernt".
Beide Behauptungen mochten wol einer Berichtigung oder mindestens Einschrankung bediirsen. Was den „Zug der Zeit" nach der englischen Literatur hin betrisst, so ist es zwar richtig, daB trotz Gottsched die deutschen
Dichter sich von den Franzosen ab- und den Englandern zuzuwenden begonnen hatten. Allein ihre Muster waren ganz andere als Shakespeare, namlich auBer Milton, den Klopstock nachahmte, Thomson, Pope, Richardson,
Joung — insgesammt Dichter, deren Wege von denen Shakespeares weit ablagen. Wenn serner Sime von englischen Lehrmeistern Lessings in Bezug aus die intimere KenntniB Shakespeares spricht, so diirste es ihm schwer
sallen, dariiber etwas Bestimmtes nachzuweisen. Selbst stir die deutschen Ausleger Lessings ist es ein bisher noch unge
Nord und Suv, VI, 18 22
lostes Problem, wann und von wannen demselben jene tiesere Einsicht in Shakespeares Geist und seine eigentiimliche GroBe als Dramatiker gekommen, welche er zuallererst in dem 17. Literaturbriese, aussiihrlicher dann
in der „Hamburgischen Dramaturgic" bekundet, nachdem er bis 1759, wie schon bemerkt, keinerlei Andeutung einer solchen Einsicht oder iiberhaupt einer naheren theoretischen Beschastigung mit Shakespeare gegeben.
Wir veriibeln es dem englischen Biographen Lessings nicht, wenn er seinen Landsleuten gern den beschamenden Vorwurs ersparen mochte, als habe ein Fremder ihnen den Vorrang abgelausen in der Bewunderung und
dem VerstandniB ihres groBten Nationaldichters. Wir wissen wohl, daB in England selbst Shakespeare (nachdem er weit iiber ein Iahrhundert nicht bios so gut wie vergessen, sondern verdrangt gewesen war durch Dichter
untergeordneten Ranges, die zum groBten Theil bei den Franzosen in die Schule gegangen) um 1740 gleichsam von den Todten wieder erweckt ward durch das Genie Garricks, der dessen gigantische Figuren, zuerst
Richard III., von Neuem aus die Biihne brachte. DaB indessen noch einige Zeit verging, bevor das Interesse und VerstandniB des groBen Dichters in seinem eignen Vaterlande wieder ein allgemeineres und tieser
gewurzeltes ward, schlieBen wir daraus, daB erst 1769 — siins Hahre nach Shakespeares 200jahrigem Geburtstag — Garrick es unternahm, eine „Shakespeareseier" zu veranstalten, die dann allerdings glanzend aussiel.
Allein damals war es schon voile 10 Iahre her, seit in Deutschland Lessing in den Literaturbriesen durch seine begeisterte und verstandniBvolle Schilderung von Shakespeares groBen Eigenschasten als Dramatiker das
entsesselnde Wort gesprochen hatte zu dem eindringenderen Studium in dessen Meisterwerke. Es geschah dies nur um zwei Iahre spater, als in England Dodds LBautiBs c»l 31i»k6spe»iB, in demselben Iahre, wo Mungs
zguch on oriAUikl noi-Iis, und drei Iahre sriiher, als Homes prinoiplss ol eritieiizm erschienen, welche beide letzteren Werke sich ebensalls mit Shakespeare beschastigen. Und kaum einer dieser englischen Schriststeller —
dies wird uns vielleicht Sime selbst zugestehen — drang so ties in das innerste Wesen Shakespeares ein, wie Lessing, hob seine Vorziige gegeniiber den Franzosen so schlagend hervor, ohne doch nach der andern Seite hin
in Uebertreibung oder Einseitigkeit zu versallen.
Iedensalls ist es merkwiirdig, daB in Deutschland das rechte VerstandniB Shakespeares nur durch Lessing geweckt und gesordert ward, wahrend die englischen Quellen iiber ihn, namentlich Joungs weniger kritische als
phantastische Schilderung seines Wesens, theilweise zu einer einseitigen und miBverstandlichen Ersassung und Nachahmung des Ehakespeareschen Genius versiihrten.
Doch — wir mochten uns nicht gern in einen Streit um nationale Prioritat oder Superiority einlassen mit einem Manne, der stir unsern Lessing eine so ausrichtige Hochschatzung und Wiirdigung bekundet. Fiir den
Englander aber ist es, meinen wir, Besriedigung genug seines nationalen BewuBtseins, zu sehen, wie der groBte Genius, den sein Land hervorgebracht, auch in Deutschland als solcher anerkannt und verehrt wird, und
neidlos mag er dem deutschen Kritiker das Verdienst zuerkennen, dazu in erster Linie beigetragen zu haben.
Vollkommen im Rechte ist Sime, wenn er den deutschen Dichter bei der Schassung seiner „MiB Sara Sampson" im englischen Fahrwasser segeln und jenem Impulse solgen laBt, den in England Lillo durch seinen
„Kausmann von London" zur Begriindung einer neuen Gattung dramatischer Poesie, des „burgerlichen Trauerspiels", gegeben hatte, obschon einigen Antheil daran wol auch Diderot gehabt. Ebenso geben wir ihm Recht,
wenn er eine Schwache jenes Lessingschen Stiicks in dem schwankenden Charakter Mellesonts, vor Allem aber in dem MiBgriff erblickt, den der Dichter beging, indem er diesen Mellesont in wenig motivirter Weise seine
sriihere Geliebte, die wilde Marwood, mit seiner neuen, edleren, der Sara, in personliche Beruhrung bringt, ja sie mit letzterer allein laBt, wodurch dann statt einer innern Losung des Consliets eine rein auBerliche
Katastrophe, die Vergistung der Sara, herbeigesuhrt wird. Dagegen zollt er der Kuhnheit Lessings in der Schaffung eines so leidenschastlichen Charakters, wie eben der Marwood, voile Gerechtigkeit.
Wir gehen iiber den „Zweiten Ausenthalt Lessings in Leipzig" (1755 — 1758) rasch hinweg, da Sime hier meist nur Speeialitaten erwahnt, die (wie Lessings verschiedene Bearbeitungen sremder Stiicke und
Ubersetzungen) zwar an sich nicht uninteressant, aber doch stir den eigentlichen Bildungsgang Lessings von untergeordneter Bedeutung sind. Bei dem nach unserer Ansicht bedeutungsvolleren Brieswechsel Lessings mit
Nieolai und Mendelssohn iiber den Zweck der Tragodie verweilt Sime kiirzer, als wir wiinschen mochten. So wenig besriedigend das letzte Resultat dieser gemeinschastlichen asthetisch-dramaturgischen Erorterungen der
drei Freunde erscheint, so kommen doch darin einzelne, stir damals uberraschend seine Bemerkungen vor — z. B. iiber die Einheit des Ortes und der Zeit, iiber die dramatische Illusion n. s. w., so daB ein naheres Eingehen
daraus sich wol verlohnt hatte.
Was Sime iiber Lessings grundsatzliche Abneigung vor allem Cliquewesen, iiber seine Strenge gegen sich selbst in Bezug aus stetiges Weiterstreben von Stuse zu Stuse und iiber das dadurch veranlaBte Alleinstehen
Lessings — trotz vieler Freunde, die er hatte und die bewundernd zu ihm ausblickten — ausspricht, dem stimmen wir vollkommen bei.
Am Ansang des Capitels iiber Lessings dritten Ausenthalt in Berlin sinden wir einen langeren Exeurs des Versassers iiber Lessings Patriotismus, oder, richtiger gesagt, iiber dessen Mangel an Patriotismus. Bekannt und
vielberusen sind jene Worte Lessings: „Ich habe von der Liebe zum Vaterland keinen Begriff, und sie erscheint mir hochstens wie eine heroische Schwache, die ich gern entbehre." Sime halt sich stir verpflichtet, dieses
SelbstbekenntniB Lessings zu erklaren und den Dichter deshalb zu entschuldigen. Er will (wenn wir ihn recht verstehen) Lessings Patriotismus retten theils durch den Hinweis aus das, was derselbe stir die geistige GroBe
Deutschlands und stir dessen Unabhangigkeit nach dieser Seite hin von dem Auslande gethan, theils dadurch, daB er aussiihrt, wie eine Nation um so groBer sei, je mehr sie in sich das allgemeine Bild der Menschheit
darstelle, und wie daher „Lessings Kosmopolitismus der beste Theil seines Patriotismus war".
Der Standpunkt, von welchem aus eine Zeit lang die literarische Kritik sich verpflichtet wahnte, unsere groBen Dichter aus ihre politischen — sreiheitlichen oder nationalen — Gesinnungen zu inquiriren (es geschah das
namentlich bald nach 1848), ist jetzt ein so ziemlich wieder uberwundener. Wir verlangen nicht mehr von unsern Dichtern im vorigen Iahrhundert ein politisches Programm, weder ein klein- noch ein groBdeutsches, weder
ein sortschrittliches, noch ein conservatives; wir messen sie mit dem MaBstabe ihrer Zeit und betrachten sie im Rahmen ihrer Zeit. Was speeiell jenen allerdings etwas provoeatorischen Ausspruch Lessings anbelangt, so
muB er, wie auch Sime ganz richtig andeutet, zunachst in engster Beziehung zu der Veranlassung beurtheilt werden, die ihn hervorries. Es war Lessings Freund Gleim, der „preuBische Grenadier" der ihn dazu
heraussorderte. Lessing hatte an dem srischen Tone der Grenadierlieder von Haus aus seine herzliche Freude gehabt. Er theilte auch bis aus einen gewissen Grad Gleims Begeisterung stir dessen groBen Heldenkonig. Er
selbst hatte — lange ehe die Grenadierlieder erschienen — in dem von ihm redigirten „Gelehrten Artikel zur Vossischen Zeitung" 1751 ff.) regelmaBig zu Neujahr (wahrscheinlich einer hergebrachten Sitte solgend, aber
augenscheinlich mit sreiester Ueberzeugung und ohne eine Spur von bios soreirter Begeisterung) den Monarchen besungen, unter dessen Schutz er damals lebte. Er hatte in Leipzig an der Wirthstasel den Sieger von
RoBbach als Sachse gegen seine Landsleute, die in Friedrich II. nur den „Landesseind" sahen und bekampsten, beharrlich, selbst heftig, in Schutz genommen. Er laBt in seiner „Minna" das sachsische Fraulein von
Baruhelm zu dem preuBischen Major von Tellheim sagen: „Ich will gern glauben, daB Ihr Konig nicht bios ein groBer, sondern auch ein guter Konig ist." Allein er haBte die Superlative und vor Allem die pathetischen
Extravaganzen. Er besaB eineu Widerspruchsgeist, der sich gern da auslehnte, wo irgend Etwas allzu absolut behauptet, das Gegentheil allzu absolut geleuguet wurde. Wir wissen, wie dieser Widerspruchsgeist und diese
Abneigung gegen Einseitigkeiten ihn spater sogar dazu trieb, sich des orthodoxen Hauptpastors Goetze eine Zeit lang gegen seine Feinde, die sog. Neologen, anzunehmen. Bei den PreuBen und namentlich in Berlin mochte
ihm wol hausig dieses Sprechen in Superlativen, diese einseitige Selbstuberhebung iiber andere Stamme, dieses allzu emphatische Pochen aus die eignen Vorziige begegnet sein. War ihm doch durch das viele Renommiren
der Berliner mit ihrer „Ausklarung" und ihrer „Denksreiheit" beinahe diese selbst verleidet , so daB er sich zu jenem in alle Wege ubertriebenen und ungerechten Ausspruche hinreiBen lieB: es herrsche dort weniger wahre
Den!- und Schreibsreiheit, als unter Maria Theresia in Wien. So verdroB ihn auch seines Freundes Gleim allzu sanatischer Patriotismus, der, nicht zusrieden, die Vorziige des eignen Landes und Volkes und die GroBe seines
Konigs hervorzuheben, mit besonderer Vorliebe in der Schmahung und Herabsetzung der Feinde PreuBens sich erging. Zumal stir einen Dichter, der immer einen hohern, sreiern Standpunkt einnehmen soli, sand Lessing
dieses ewige HaB- und Rachegeschrei nicht passend; er „siirchtete, der Patriot mochte den Dichter uberschreien".
So erklaren sich aus ungesuchte Weise jene abmahnenden Worte, die Lessing an Gleim richtete. Was er dann gleichsam noch als Trumps daraus setzte: „Ich habe von der Vaterlandsliebe keinen Begriss" — das klingt
sreilich sehr ketzerisch. Allein vergegenwartigen wir uns doch, was damals, um die Mitte des vorigen Iahrhunderts, in Deutschland „ Vaterland" und „ Vaterlandsliebe" hi«h und war! Erinnern wir uns doch des Ausspruchs
eines Schriststellers der damaligen Zeit, Eggers, der in seiner „Geschichte der Menschheit" sagt: „Ieder Deutsche zahlt sich zu den Oestreichern, den PreuBen, den Sachsen, den Hannoveranern, den Mecklenburgern; nur
die, welche kein besonderes Vaterland haben, nennen sich Deutsche!" Erinnern wir uns, daB Lessings Berliner Freund Nieolai — gegenuber K. Fr. v. Mosers Schrist „vom deutschen Nationalgeist", worin dieser den Mangel
eines solchen beklagt, — die Idee eines deutschen Nationalgeistes ein „politisches Unding" nennt, und das Bestreben, die Gemuther stir diese Idee zu erwarmen, einen „hamischen Parteizweck" ! Sime will es nicht gelten
lassen (und er spielt dabei wol aus den Versasser dieses Artikels an), daB „einige Schriststeller jenen Ausspruch Lessings nicht aus Deutschland, sondern aus Sachsen beziehen". Allein in der That gab es, wie damals in
Deutschland die Dinge lagen, keine „deutsche" Vaterlandsliebe, sondern lediglich eine „preuBische, sachsische" u, s. w. Und daB der Sachse Lessing von einer solchen „keinen Begriss hatte", laBt sich wol denken. Woher
hatte einem sreier denkenden und hoher strebenden Geiste wie Lessing sachsische Vaterlandsliebe kommen sollen unter einem Grasen Briihl? Aber auch die preuBische Vaterlandsliebe seines Freundes Gleim erschien ihm
als eine beschrankte, zumal so weit sie sich doch vorzugsweise nur aus die „heroische", die militarische GroBe PreuBens bezog, welche Lessing zwar gelten lieB, aber nicht als alleinigen MaBstab der GroBe einer Nation
angesehen wissen wollte.
DaB Lessing stir das, was einer Nation wirklich noth thut, was aber der deutschen damals noch sehlte, gar wohl Sinn und Empsindung hatte, und zwar eine sehr tiese und sehr warme Empsindung, geht u. A, hervor aus
jenen schmerzlichen Worten, mit denen er in seiner „Hamburger Dramaturgic" von seinem „Traum" eines „deutschen Nationaltheaters" (wie solches in Hamburg hatte begriindet werden sollen) Abschied nahm, jenen
Worten: „0 iiber den gutherzigen Einsall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind. Ich rede nicht von der politischen Versassung, sondern bios von dem sittlichen
Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eignen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschworenen Nachahmer alles Auslandischen."
Eben dahin deuten einzelne Ausspriiche in seinen Dramen, in der Form scherzhast gehalten, aber doch nicht ohne den bittern Beigeschmack eines durch die damals allverbreitete Auslanderei tiesverletzten
vaterlandischen, nationalen Gesiihles. So, wenn er in seinen „Iuden" den Bedienten Christoph aus die Frage des Kammermadchens Lisette: „Sie sind wol gar ein Franzose?" mit beiBender Satire lob ganz im Charakter eines
damaligen Bedienten, ist sreilich etwas zweiselhast) antworten laBt: „Nein, ich muB meine Schande gestehen, ich bin nur ein Deutscher." So, wenn er seiner Minna von Barnhelm (hier nlit vollem Recht) die stolze
Absertigung des windigen Franzosen Rieeaut de la Marliniiire in den Mund legt, als dieser wie selbst verstandlich voraussetzt, daB sie sranzosisch spreche: „In Frankreich wiirde ich es zu sprechen suchen, aber warum hier?
Welchen seinen Sinn Lessing stir das natiirliche und richtige VerhaltniB zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus, zwischen der Zubehorigkeit des Einzelnen zu einem bestimmten Staate und seiner sreien Erhebung
iiber die Beschranktheit des bloBen EinzelstaatsbewuBtseins zu dem BewuBtsein des alien Menschen Gemeinsamen hatte, dasiir legen die von Sime umstandlich analysirten „Freimaurergesprache" Lessings (oder „Ernst und
Falk") ein glanzendes ZeuguiB ab. Allerdings gehoren sie einer viel spateren Periode seines Lebens an (1778); sie sind Zeitgenossen und Geistesverwandte des „Nathan" und der „Erziehung des Menschengeschlechts".
Lessing beriihrt in ihnen die hochsten Probleme des Staats und der burgerlichen Gesellschast: die Fragen der Regierung von oben her und der Selbstregierung, des sogenannten „Staatswohls", welches aber nur zu ost eiu
bloBer Deckmantel der Tyrannei oder des egoistischen Vortheils einer herrschenden Minderheit sei, und des Wohls der Einzelnen als hochsten Staatszweckes, endlich die naturlichen Ungleichheiten der Menschen nach
Stand, Berus, Besitzthum in der burgerlichen Gesellschast. Er beriihrt alle diese Probleme, ohne jedoch sie losen zu wollen. Nur in Bezug aus das zweite hat er eine sestbegriindete Ansicht — dieselbe, welche, wie Sime
treffend erinnert, Friedrich der GroBe so glanzend bethatigte, sreilich darin sast alleinstehend unter den Hunderten deutscher Landesherren — : die Ansicht, daB der Regent eines Landes nm des Volkes willen da sei, nicht
umgekehrt. Den Gedanken einer Gesellschast von Individuen, die keiner Regierung bediirsten, weil Ieder sich selbst regiere, Jeder recht und gesetzlich handle, wirst er nur so hin — unter Hinweis aus den Ameisenstaat im
Gegensatz zum Bieuenstaat. DaB er dabei nicht au Rousseaus „Naturzustand" dachte, darin stimmen wir vollstandig mit Sime uberein; hatte er doch Rousseaus Schrist gegen die Civilisation schon in seinem „Gelehrten
Artikel zur Voss. Zeitung" (1751) als eine Uebertreibung bekampst. Und ebeuso wenig siel es ihm ein, etwa die soeiale Ungleichheit unter den Menschen wirklich abstellen zu wollen. Solche Bestrebungen waren, wie
Sime ebensalls richtig bemerkt, dem vorigen Iahrhundert, in Deutschland wenigstens, sremd. Leibnitz, aus den Lessing viel gab, hatte in seiner Theorie von der „besten Welt" die soeiale Ungleichheit, sogar in ihrer
schroffsten Gestalt, der Leibeigenschast, noch als ein unabanderliches Naturgesetz hingestellt.
Woraus Lessing in seinen „Freimaurergesprachen" abzielte, war ein Anderes. Einzelne, durch Versassung, Gesetzgebung, Landesart, Sitte u. s. w. von einander getrennte Staaten miissen sein und werden immer sein,
ebenso verschiedene Religionen; desgleichen werden die Standes- und Vermogensunterschiede in der burgerlichen Gesellschast schwerlich je aushoren. Aber das Uebel, welches diese Verschiedenheiten, diese Trennungen,
diese Gegensatze unvermeidlich mit sich siihren, — „wie das Feuer den Rauch", sagt er in einem nicht unebenen Bilde — dieses Uebel laBt sich, wenn nicht ganzlich beseitigen, so doch wesentlich mildern, — „wie der
Rauch durch Rauchsange entsernt wird", sahrt er in seinem Bilde sort — wenn die einzelnen Menschen ihre Denk- und Handlungsweise so einrichten, daB sie nicht als Deutsche und Franzosen, oder als Franzosen und
Englander, nicht als Muhamedaner, Iuden und Christen, nicht als Reiche und Arme, Vornehme und Geringe einander gegenubertreten, vielmehr als Menschen dem Menschen, also nach dem, was ihnen alien gemeinsam,
nicht nach dem, was zwischen ihnen Trennendes ist. In der Bildung und Uebung einer solchen Denkweise sindet er das WesenA die Ausgabe, das GeheimniB der wahren, echten Freimaurerei, — nicht in den Formen und
Ceremonien, womit diese sich theilweise umgibt.
GewiB ein schoner, groBer Gedanke! Man kann denselben, wie Sime thut, einen demokratischen, man kann ihn auch einen weltburgerlichen nennen. Lebte Lessing heute, in der Zeit der groBen internationalen
Bestrebungen aus den materiellsten, wie aus den idealsten Gebieten, — von den Weltposteongressen an bis zu den internationalen Vereinigungen stir Wissenschast, Knnst, Erziehung, Wohlthatigkeit, kurz
Menschenveredelung jeder Art — und der nicht minder gewaltigen, zwar zum Theil miBverstandenen und miBleiteten, aber doch auch in vielen ihrer Richtungen gesunden und ersolgreichen Bestrebungen stir Linderung der
Uebel, die in der soeialen Ungleichheit ihre Wurzel haben: gewiB, er wiirde nicht unempsindlich sein stir diesen Fortschritt der Menschheit und wiirde vielleicht ebenso sehr darin eine Verwirklichung jenes seines schonen
menschensreundlichen Wunsches erblicken, wie andererseits in dem unbeschadet dessen viel mehr gekrastigteu NationalbewuBtsein seines eignen, des deutschen Volkes eine Besriedigung jenes richtigen Gesiihls, welches
ihm damals den schmerzlichen Ausrus erpreBte: „Ach, wir sind keine Nation, und unser Charakter besteht beinahe nur darin, keinen Charakter zu haben!"
Einmal bei Lessings politischen Ansichten verweilend, erinnert Sime auch an jenes satirische Gesprach an einer andern Stelle der Lessingschen Schristen: ob es mehr Monche oder mehr Soldaten gebe und was von
Beiden schlimmer sei (wobei Lessing zu dem Schlusse kommt, daB es stir den Landmann dasselbe sei, ob seine Saaten von den Schnecken oder von den Mansen verheert wiirden), serner an Lessings aphoristische
Bemerkungen (in seinen „Colleetaneen") iiber den Versall der alten deutschen Stande, den er beklagt.
Doch — wir haben den chronologischen Gang der biographischen Schilderung verlassen, der uns zunachst zu Lessings Antheil an den „Literaturbriesen" siihrt.
Sime verweilt bei dieser lange und mit sichtlicher Vorliebe. Einer sehr gerechtsertigten! Denn hier ist es, wo Lessings kritisches Talent zuerst in voller Krast sich entsaltet; hier ist es, wo er zuerst ganz und entschieden
mit dem sranzosischen Klassieismus und mit dessen Nachbeter, Gottsched, bricht und beiden eine Niederlage beibringt, von der sie sich nicht wieder erholten, wo er zuerst seine voile Vertrautheit mit und seine ausrichtige
Bewunderung stir Shakespeare an den Tag legt.
Wir ubergehen die Ehrenrettung Gottscheds in Bezug aus dessen Hinneigung zu der sranzosischen Klassieitat, welche Sime unternimmt. Sie macht seinem Billigkeitsgesiihl alle Ehre, allein im Namen der deutschen
Literaturgeschichte und Kritik konnen wir sie nicht aeeeptiren. Das AeuBerste, was man zu Gunsten dieser Gottschedschen Richtung allensalls zugeben kann, ist, daB dieselbe ein pis ».Uor, ein Nothbehels gewesen sei zur
Sauberung der deutschen Biihne von Rohheit und Gemeinheit; daB aber der deutsche Geist, wie Sime auszusuhren versucht, iiberhaupt der Zucht des sranzosischen Klassieismus bedurst hatte, um den rechten Weg zu
sinden, das mochte schwer ans der Geschichte dieses Geistes zu begriinden sein. Doch — lassen wir Gottsched, iiber den in Deutschland die Akten geschlossen sind, und wenden wir uns wieder zu Lessing!
In Bezug aus das Faustsragment Lessings erwahnt Sime die hergebrachte Tradition von zwei verschiedenen Planen, die der Dichter ausgearbeitet, den einen mit, den andern ohne damonisches Beiwerk; er miBversteht
aber die dariiber vorhandenen Nachrichten, wenn er beide Plane in der verhangniBvollen Kiste aus dem Transport von Dresden nach Braunschweig verloren gehen laBt. Im Uebrigen entscheidet er sich stir die Ansicht, die
auch wir stir die richtige halten, daB Lessing den Stoff doch stir eine dramatische Bearbeitung zu sprode ersunden habe und deshalb davon abgestanden sei.
Ueber den „Philotas" urtheilt er: der Patriotismus, aus welchem dessen Handlungsweise entspringe, sei zu ubertrieben, zu „theatralisch"; Philotas selbst sei „mehr ein eigensinniger Knabe, als ein seiner That und ihrer
Bedeutung sich klar bewuBter Mann". Wir konnen ihm darin nicht ganz Unrecht geben.
Von dem Breslauer Ausenthalt Lessings entwirst Sime ein sarbenreiches Bild nach Lessings eignen und seiner Freunde Briesen. Er laBt sich durch das scheinbar zerstreunngs voile Leben, das Lessing dort siihrte, nicht irre
machen an der unverriickbaren Tendenz seines Wesens nach dem Hochsten und Besten, darin Goethes treffendem Ausspruch solgend: „Lessing wars bisweilen seine personliche Wiirde weg, sicher, wie er war, sie jeden
Augenblick wieder ausnehmen zu konnen."
Von den beiden kostlichen Friichten des Breslauer Ausenthaltes Lessings, „Minna von Barnhelm" und „Laokoon", handelt Sime mit dankenswerther Aussuhrlichkeit. Im Eingange seiner Analyse der „Minna" besindet er
sich wol in einem Irrthum. Bekanntlich wird erzahlt, daB Lessing die Geschichte von einer Braut, die ihrem Brautigam, einem verabschiedeten Ossizier, nachgereist sei, als in Breslau wirklich vorgesallen gehort habe. Ein
ebenso wirkliches ErlebniB soil dann jener Zug von Edelmnth eines preuBischen Ossiziers gegen eine von ihm besetzte seindliche Provinz gewesen sein. DaB aber jener und dieser Ossizier in der Wirklichkeit als eine und
dieselbe Person ausgesaBt worden sei, wie er dies in dem Lessingschen Stiicke ist, davon ist uns nichts bekannt. Ebenso neu, beilausig gesagt, war es uns, von Prohle (in dessen Schristchen: „Lessing, Wieland und Heinse")
zu vernehmen, — sreilich ohne Beweis oder Quellenangabe — daB jener edelmulhige Ossizier kein anderer gewesen sein solle, als der preuBische Major Kleist, Lessings Freund und aller Wahrscheinlichkeit nach dessen
Musterbild zum „Tellheim" .
DaB Lessing sich selbst im Tellheim abgebildet habe, wie einzelne deutsche Kritiker gemeint, bestreitet Sime mit Recht. Solche poetische Selbstabspiegelungen oder „Selbstbekenntnisse" lagen durchaus nicht in Lessings
Natur. Die Charakterzeichnung in der „Minna von BarnHelm" erweckt Simes hochste Bewunderung. Er bedient sich des schonen Bildes: diese Charaktere glichen „Hiigeln, deren Conturen in hellem Licht vom klaren
Morgenhimmel sich schars abheben". Das Vorurtheil, als habe Lessing nicht verstanden, den Reiz einer echt weiblichen Natur zu schildern, widerlege treffend der Charakter der Minna. Aber auch die anderen Personen des
Stiicks seien mit gleicher Meisterschast individualisirt.
In Betreff der Composition stimmt Sime Goethen darin bei, daB sie vortrefflich sei bis aus die Retardation im dritten Akte, wo Lessing, statt, wie man erwarte, die Haupthandlung stetig sortzusuhren, dieselbe durch ein
Zwiegesprach untergeordneter Personen, Franziskas und lusts, unterbricht. Dagegen ist er unabhangig genug, die Richtigkeit der von Goethe ausgestellten, allerdings wol schwer zu begriindenden, Ansicht, als ob das Stuck
eine Art poetischer Aussohnung zwischen PreuBen und Sachsen bezwecke, anzuzweiseln.
Dem „Laokoon" hat Sime eines der langsten Capitel seines Buches gewidmet. Wir konnen ihm nicht in alle seine, meist sehr ties in ihr Thema eingehenden, seinsinnigen Erorterungen solgen und wollen daher nur im
Allgemeinen anerkennen, daB er die von Lessing angestellten Betrachtungen ebenso nach der Seite der bildenden Kunst, wie der Poesie, mit viel Scharssinn und Freimuth kritisirt, dabei hier und da in der ersteren Richtung
zu etwas andern Resultaten, als Iener, gelangt, zum Theil gestiitzt aus neue Forschungen und Entdeckungen im Gebiete der antiken Plastik, welche Lessing noch nicht benutzen konnte.
Mit der gleichen dankenswerthen Griindlichkeit ist Lessings „Hamburgische Dramaturgic" besprochen. Sogar in die klippenreichen Untiesen der Aristotelischen Theorie von der ««H«yc?13 Acov ?r«HAn?a,v und der
vielen gelehrten Commentare dazu alteren und neueren Datums taucht Sime unverzagt hinab und versucht, Lessiugs Ansicht dariiber — welche nicht durchweg ganz klar ist — in das beste Licht zu stellen. Uns will
bedllnken, er miiht sich allzusehr ab, die Aristotelischen Kategorien von Mitleid und Furcht aus die Tragodien einerseils Shakespeares, andererseits der Franzosen anzu wenden und diese modernen Dramen danach zu
beurtheilen. Auch Lessiug hing noch zu sest an diesen Kategorien, die doch nur aus das antike Drama passen mit seiner sast unbedingten Herrschast des Fatums oder des Willens der Gotter iiber die Menschen, nicht aber
aus das moderne, dessen Lebensnerv der sreie Wille des Menschen und der daraus entspringende tragische Consliet ist.
Mit Recht ist, bemerkt worden (u. A. von Hettner), daB diese einseitige Theorie Lessings vom Drama, die dessen Zweck nur in der Erregung von Mitleid und Furcht sand und zu dem Begriffe der tragischen Schuld noch
nicht durchgedrungen war, sich an dem Dramatiker Lessiug geracht habe in seiner „Emilia Galotti". Verlaus und SchluB dieses Trauerspiels sind ruhrend, erst unsere Furcht, dann unser Mitleid erweckend, aber nicht
eigentlich tragisch, denn es sehlt die innerlich zwingende Notwendigkeit zu der tragischen Katastrophe, der Ermordung einer Tochter durch ihren Vater. Was man, um eiue solche zwingende Nolhwendigkeit
herbeizusuhren, dem Dichter untergeschoben hat, eine geheime Leidenschast Emilias zu dem Prinzen, das weist Sime mit richtigem Gesiihle zuriick, und auch Goethes Autoritat, der bekanntlich einer solchen Ansicht
zuneigte, macht ihn darin nicht irre. Er will lieber einen Fehler in der Composition zugeben, als daB er wagen mochte, um den Dichter gegen diesen Vorwurs zu schiitzen, ihn dem viel groBeren auszusetzen, den Charakter
Lmiliens in einem salschen Lichte und in einem grellen Widerspruch mit sich selbst gezeigt zu haben.
Das VerhaltniB Lessings zu Eva Konig, seiner spatern Gattin, zwar kein Liebesroman in dem reizvollen Genre etwa der Goetheschen, zeigt uns doch Lessing den Menschen von neuen, liebenswiirdigen Seiten, als den
einerseits ernst verstandigen nnd charaktervollen, andererseits aber ties suhlenden Mann. Er verlor bekanntlich nach ganz knrzem gliicklichen Vesitz die Gattin und das kaum von ihr geborene Kind und stand wieder so
einsam da, wie vorher. Kein Wunder, wenn Iaeobi ihn lebensmude und bisweilen von einer Bitterkeit sand, die sich in unheimlich gezwungener Lustigkeit auBerte.
Was ihm um ebeu jene Zeit, wo er in seinen nachsten Empsindungen so ties und schmerzlich litt, auch die Freude au der literarischen Thatigkeit beinahe verleidete, war das Austauchen eiuer gauz neuen, der seinigen so
unahnlichen Richtung iu der Literatur, der Schule der sog. „Originalgenies" oder des „Sturmes und Dranges". Schon am SchluB seiner „Dramaturgie" hatte Lessing davor gewarnt, daB man nicht, nachdem man den
salschen, beengenden Regeln der Franzosen sich gliicklich entwunden, in das andere Extrem versalle und Regellosigkeit stir das Anzeichen des wahren Genies nehme. Die Warnung war in den Wind gesprochen. In
Goethes „G6tz" seierte die Regellosigkeit ihren Triumph, mid alle Welt jauchzte dieser neuen Richtung zu, Lessiug siihlte, daB seine kurz vorher erschienene „Emilia", welche Freiheit mit RegelmaBigkeit zu gatten
versuchte, mit diesem sturmischen, Alles vor sich niederwersenden Anlaus der jungen Schule nicht Schritt halten konne. Vielleicht war es die MiBempsindung dariiber, welche machte, daB er nicht gern von diesem seinem
jiingsten Geistesproduete reden horen mochte. Wir brauchen ihn weder des Egoismus, noch des Neides anzuklagen, sondern es erklart sich hinlanglich aus seinem Festgewurzeltsein in einer andern, wohlerwogenen Ansicht
von der dramatischen Kunst, wenn er an dem lauten Beisall, den der „G6tz" aus der Berliner Biihne sand, nicht gerade Freude hatte. Noch viel natiirlicher war des durch und durch mannlichen und thatkrastigen Lessing
tiese Antipathie gegen den Werther, die n in den bekannten spottischen Worten aussprach: „der mannhaste Grieche wiirde selbst einem schwachen Madchen eine solche Weichlichkeit des Gesiihls, wie sie Werther zeige,
kaum verziehen haben." Wir sreuen uns, daB der englische Biograph Lessings sich in dieser Frage ohne Schwanken aus die Seite seines Autors stellt, unbekummert urn die Verketzerung, welcher er sich dadurch bei
manchen deutschen Kritikern vielleicht aussetzt. Die .vollendete poetische Meisterschast Goethes in der Schilderung eines solchen Charakters erkennt er bereitwillig und riickhaltlos an; aber der Charakter selbst in seiner
„Hypersentimentalitat" erscheint ihm zum Helden, selber nur eines Romans, zu wenig geeignet.
Nahezu die Halste des zweiten Bandes seiner Schrist hat Sime der Analyse und Kritik Lessings als Philosoph und Theolog gewidmet. Man durste gespannt sein, wie ein Englander diese Seite des Lessiugschen Geistes
behandeln wiirde. In seinen theologischen Schristen hat Lessing eine unverkennbare Geistesverwandtschast mit den englischen Freidenkern. Aus der andern Seite ist bekannt, daB so ties gehende kritische
Auslosungsversuche in Bezug aus die positive Substanz der christlichen Dogmenlehre, wie sie die Untersuchungen Lessings, wie sie namentlich auch die von ihm herausgegebenen und wenigstens in vielen Punkten
vertheidigten und besurworteten „Wolsenbuttler Fragmente" enthalten, in England weitverbreiteten Bedenken begegnen, hergenommen von der dort traditionellen Ansicht, daB die Mysterien des Glaubens ein nnli nie
tAuFers seien stir den kritischen Verstand. Aber auch hier bewahrt Sime seine wissenschastliche Unbesangenheit. Er gibt die verschiedenen Lessingschen Aussuhrungen iiber religiose Dinge getreu und mit scharsem
Eindringen in deren wahren Sinn wieder, und er wiirdigt sie nicht von einem voreingenommenen Standpunkt aus, sondern nach ihrem Zusammenhange unter einander, sowie mit dem Charakter Lessings und mit dem
Gesammtzustande der Theologie und Philosophie Deutschlands in der damaligen Zeit.
Mit wissenschastlich eindringender Scharse beleuchtet er Lessings Ansichten von dem Christenthum vor der Bibel, von der Tradition und der i-yFula Ka«, besonders auch von dem Urevangelium; als den eigentlich
springenden Punkt aber, von welchem Lessing in seinen Kampsen mit den Theologen ausgegangen sei und aus den er sich immer wieder, als aus das sicherste Bollwerk, zuriickgezogen habe, betrachtet er die von ihm in
den mannichsachsten Wendungen und unter den treffendsten Bildern >z. B. jenem von dem Palast und den verschiedenen Baurissen dazu) wiederholte Aussassung des Christenthums als einer Sache nicht des Grubelns, des
Speeulirens, sondern des Handelns, und zwar des Recht- und Guthandelns, als des unverganglichen Denkmals jener Idealitat, Reinheit und Hoheit der Gesinnung und des Lebenswandels, von der Christus selbst uns ein so
erhabenes Beispiel gegeben.
Darin besteht nach Lessing, wie Sime richtig bemerkt, die „Religion Christi", die That des edelsten, erhabensten Menschen — weit unterschieden von der „christlichen Religion", jenem Gewebe von Dogmen, durch
welche Christus zu einem Gegenstande des Wunderglaubens gemacht, aber eben dadurch unsrer rein menschlichen, innigen Verehrung und Bewunderung serner geriickt werde. Diese „Religion Christi" sand Lessing am
Schonsten ausgepragt in dem „Testamente Iohannis", jenem immer und immer wiederholten: „Kindlein, liebet Euch unter einander!"
Dieselbe rein praktisch-sittliche Anschaunng vom Wesen und vom Werthe der Religionen sindet sich dann wieder im „Nathan", als ihrer schonsten dichterischen Bekraftigung und Verherrlichung. Als dramatische
Composition, meint Sime, lasse der „Nathan" Manches vermissen; in rein dichterischer Bedeutung konne er sich mit „Antigone", „Hamlet", „Faust" nicht messen; allein „das wiirde ein enger Begriff von Poesie sein,
welcher den »Nathan« von einem hohen und dauernden Platze in der Weltliteratur ausschlieBen wollte".
Die Vereinbarung des „Nathan" mit der „Erziehung des Menschengeschlechts" hat den deutschen Auslegern Lessings viel Kopszerbrechen verursacht. Dort, scheint es, stellt Lessing alle Religionen gleich hoch oder
gleich niedrig, indem er nur das ihnen alien Gemeinsame — das rein Menschliche — als das allein an alien Werthvolle hervorhebt; ja, wenn er einer Religion einen Vorzug vor der andern zu geben scheint, so ist es eher die
jiidische oder die muhamedanische gegeniiber der christlichen, als umgekehrt. In der „Erziehung des Menschengeschlechts" dagegen nimmt er einen Fortschritt an von dem Iudenthum als einer unvollkommenen zu dem
Christenthum als einer vollkommneren Stuse der Offenbarung. Sime sucht diesen Widerspruch dadurch auszugleichen, daB er einerseits im „Nathan" die Personen des Nathan und Saladin nicht als speeisische
Reprasentanten des Iudenthums und des Islams ansieht (Nathan wiirde als solcher von den wirklichen Iuden nie anerkannt worden sein, der historische Saladin war nichts weniger als duldsam), sondern als Charaktere, die
eben iiber der Beschranktheit ihrer besonderen Religion stehen, diese Beschranktheit abgestreift haben, und indem er andererseits in der „Erziehung des Menschengeschlechts" weniger das Hervorgehen einer
Ossenbarungsstuse aus der andern, als vielmehr das hervorhebt, daB der Fortschritt der Menschheit in der Erhebung iiber das Speeisische jeder einzelnen Religion bestehe, in jener allgemein menschlichen Denkweise, wie
sie im „Nathan" betont sei, insbesondere aber in jener reinen, uneigennutzigen, selbstlosen Moral, welche die „Krast des echten Ringes" ausmacht. Diese Losung der Frage, wenn sie auch nicht vollig erschopsend ist, hat
jedensalls viel Ansprechendes und Sinniges.
Sime erkennt an, daB der wahre Begriff der „Offenbarung" aus das, was Lessing in der „Erziehung des Menschengeschlechts" so nennt, streng genommen nicht paBt. Denn dieser Begriff bezeichne etwas Absolutes,
Etwas, was stir alle Zeiten und stir alle Menschen bestimmt ist, nicht Etwas von bios vorubergehender Dauer und Geltung. Auch werde der Inhalt einer wirklichen Ossenbarung nicht als ein solcher gedacht, der auch aus
anderem Wege, mittelst der menschlichen Vernunst, gesunden werden konnte. Allein war es denn Lessings Absicht, eine Apologie des Christenthums, etwa gegen Reimarus, zu schreiben? Er leistete der Religion schon
einen groBen Dienst, indem er, gegeniiber der von Voltaire ausgebrachten und von manchen deutschen Schriststellern, auch Reimarus, nachgeahmten Aussassung des Christenthums als eines Werkes der Selbsttauschung
oder des Priesterbetrugs, ihm und alien Religionen die erhabene Bedeutung von Mitteln der Veredelung der Menschheit, des Fortschrittes zu immer groBerer Sittlichkeit, Cultur, Humanitat beilegte.
Am Schlusse dieses ganzen Abschnittes versucht Sime, „Lessings Philosophie" naher zu praeisiren. Er geht dabei von der Ansicht aus, daB es stir einen Geist wie Lessing unmoglich gewesen sei, unempsindlich zu
bleiben gegen die groBen philosophischen Probleme seiner Zeit; daB er, der niemals sich begniigt mit halben Erklarungen, nothwendiger Weise dazu getrieben worden sei, die letzten Griinde der Wahrheit zu ersorschen,
und daB er daher sich eine zusammenhangende Theorie der Welt zu bilden gesucht habe. Wols konnte ihn unmoglich lange besriedigen. Von seiner sruheren Bekanntschast mit Leibnitz sinden sich Spuren schon in der
Abhandlung iiber „Pope als Metaphysiker" , die er gemeinsam mit Mendelssohn schrieb. Aber auch mit Spinoza machte er bald Bekanntschast; aussiihrlicher beschastigte er sich mit ihm in Breslau. DaB er es grundlich that,
weist Sime treffend aus einem Briese Lessings an Mendelssohn aus dem Iahre 1763 nach, wo Lessinn sehr sein unterscheidet zwischen der „prastabilirten Harmonie" bei Leibnitz und der Annahme einer einzigen Substanz,
die bald unter der Form des Deukens, bald unter jener der Ausdehnung sich darstellt, wie Spinoza sie aussaBt.
„Was aber waren die positiven Resultate, zu denen Lessing in seinem Philosophiren gelangte?" Diese Frage, welche Sime auswirst, hat auch unsere deutschen Lessing -Commentatoren vielsach beschastigt; aber noch
keiner hat sie so gelost, daB jeder Widerspruch geschwiegen hatte. Der gleichnamige Abschnitt: „Lessings Philosophie" in „Heblers Lessingsstudien" gibt davon ZeugniB. Sehen wir, wie der englische Autor sie
beantwortet! Sime kniipst an das vielberusene Gesprach Iaeobis mit Lessing an, aus Grund dessen Lessing von Iaeobi zum Spinozisteu i'ur san<; gestempelt ward. Sime geht nicht soweit wie Guhrauer und der neueste
Ausleger Lessings in der Hempel-Ausgabe von Lessings Schristen, welche beide dem Iaeobischen Berichte iiber dessen Gesprach mit Lessing keiu Gewicht beilegen; er halt diesen Bericht stir richtig aus inneren
Wahrscheinlichkeitsgrunden. Allein er will nicht zugeben (und er schlieBt sich darin den meisten deutschen Bearbeitern Lessings an), daB damit Lessing zu einem Spinozisten mit Haut und Haar werde. Alles, was man
sagen konne, sei, daB er sich in gewissen Beziehungen dem groBen judischen Denker naher gesiihlt habe, als irgend einem anderen Philosophen. Dasiir glaubt Sime in Lessings Schristen die Beweise zu sinden.
Freilich muB Sime zugeben (und darin theilt er nur die allgemein dariiber in Deutschland herrschende Ansicht), daB Lessing ein vollstandiges philosophisches System, auch wenn er es vielleicht hatte, doch niemals in
bestimmter Form auspragte. Wir miissen uns seine philosophischen Ansichten theils aus einzelnen Aussatzen von ihm, die speeisisch philosophischen Inhalts sind, theils aus einzelnen AeuBerungen in seinen sonstigen
Schristen heraussuchen.
Dies unternimmt Sime. Die erste hier einschlagende Schrift Lesfings ist das „ Gesprach iiber die Herrnhuter" (aus dem Iahre 1750 oder 1755). Als dessen letztes Wort bezeichnet Sime die Ansicht des Versassers, daB der
Mensch zum Handeln, nicht zum Verniinsteln geschassen sei, daB es also auch in der Religion weit mehr aus die guten Handlungen, als aus die Spitzsindigkeiten der Dogmatik ankomme. Es ist das dieselbe Ansicht, die
Lejsing auch in seinen vielen Streitschristen gegen Goetze u. A. vertrat.
DaB Lessing damit eine absolute Gleichgultigkeit gegen alles speculative Wissen habe predigen wollen, nimmt Sime nicht an; mindestens sei er aus diesem Standpunkte nicht lange geblieben. Der beriihmte Ausspruch
Lessings von der vollen Wahrheit und dem Streben nach Wahrheit beweise zwar, daB er den Menschen stir unsahig hielt, jemals in den Besitz der absoluten Wahrheit zu gelangen, aber auch, daB er eine stetige
Beschastigung mit den hochsten Problemen des Denkens als die Bestimmung des Menschen erkannte. Einer solchen stets sortschreitenden ErkenntniB werde auch in der „Erziehung des Menschengeschlechts" das Wort
geredet.
In einer ganz anderen Richtung als jene iiber die Herrnhuter bewegt sich eine zweite Schrist Lessings ohngesahr aus derselben Zeit (1758 oder 1754): „Das Christenthum der Vernunft". Hier unternimmt Lessing eine
speculative Ableitung oder Erklarung der Dreieinigkeit und ebenso der Schopsung. Sime sindet darin Spuren der Denkungsweise Spinozas. Aber konnen wir wol ernstlich einen judischen Philosophen als den intelleetuellen
Urheber einer Deduction der Dreieinigkeit, dieses so speeisisch christlichen Dogmas, ansehen? Auch begegnen wir in derselben Schrist dem Gedanken einer Stusenreihe von Wesen, einem Gedanken, der weit mehr an
Leibnitzens Monadenlehre erinnert. Uns scheint, diese Schrist, wie auch die kleine Abhandlung „iiber die Wirklichkeit der Dinge auBer Gott", sind Iugendversuche Lessings, sich von dem VerhaltniB der Welt zu Gott und
der verschiedenen Wesen in der Welt zu einander eine philosophische Vorstellung zu bilden, Versuche, die eben Versuche blieben, wie denn die erstgenannte Schrist selbst ohne eigentlichen AbschluB plotzlich abbricht. In
der „Erziehung des Menschengeschlechts" 1Z. 73) kehrt die gleiche Vorstellung von der Dreieinigkeit wieder, aber auch nur aphoristisch, eingeleitet mit jenem bei Lessing so hausigen: Wie?, womit er ostmals einen
Gedanken oder richtiger einen Gedankenaulaus zu markiren pslegte, den er nur als ein Problem, als ein Ferment weitern Denkens hinwars, ohne ihn allemal selbst aus- und zu Ende zu denken. Wir diirsen nicht vergessen,
daB, wie Sime selbst sagt, Lessing kein systematischer Philosoph war, keiner sein wollte, daB es ihm ost mehr um das Anregen zu thun war, als um die strenge Durchsuhrung eines Satzes oder einer Behauptung,
Schwerlich werden wir irregehen, wenn wir als den eigentlichen Kern aller Speenlationen Lessings iiber des Menschen Bestimmung und seine hochsten Ziele aus der Erde einerseits die Erhebung zu thatkrastiger
Sittlichkeit und Selbstveredlung, andrerseits die moglichste Abstreisung alles Dessen erkennen, was den Menschen vom Menschen trennt und den Einzelnen in die beengenden Schranken einer ausschlieBenden,
unduldsamen, lieblosen Lebensaussassung bannt.
Noch eine besondere Seite Lessingscher Philosophie! Lessing speeulirt iiber Freiheit oder Unsreiheit des Willens. In dem Gesprache mit Iaeobi auBerte er (nach Iaeobis Angabe): er verlange gar keine Willenssreiheit, er
danke vielmehr Gott dasiir, „daB er miisse, das Beste miisse". In der kurzen Bemerkung, womit er des jungen Ierusalem Aussatz „iiber die Freiheit" begleitet, sindet sich ganz derselbe Gedanke: „Zwang und
Notwendigkeit," heiBt es hier, „nach welchen die Vorstellung des Besten wirket, wie viel willkommner sind sie mir, als kahle Vermogenheit, unter den namlichen Umstanden bald so, bald anders handeln zu konnen!" Zur
Erklarung, wie er jenes „das Beste miissen," meine, siigte er in dem Gesprache mit Iaeobi hinzu: es sei ein Irrthum, wenn man den menschlichen Verstand als ein Erstes, AnstoBgebendes betrachte, da er doch, wie alles
Andere, „von einer hohern Krast abhangt, die unendlich erhaben iiber alles dieses Einzelne ist".
Offenbar dachte hier Lessing entweder an die „prastabilirte Harmonie" von Leibnitz, durch welche der ganze Zusammenhang der Begebenheiten in der Welt von Ewigkeit her durch Gott bestimmt ist, oder noch
wahrscheinlicher (da er neben dem menschlichen Verstand auch die „Ausdehnung" nennt) an die Substanz Spinozas und die Abhangigkeit aller Einzelwesen von dieser, als bloBer „Modifikationen" derselben. Iedensalls sah
er dasjenige, was „die Vorstellung des »Besten« im Menschen wirket," stir etwas Hoheres, Vollkommneres an, als den menschlichen Einzelwillen.
Wunderbar ist es, daB weder Sime, noch aber auch die deutschen Ausleger Lessings in diesem Punkte, weder Ritter noch Danzel, weder Schwarz noch Hebler, daraus ausmerksam gemacht haben, wie grundverschieden
diese Aussassung Lessings von der Unsreiheit des menschlichen Willens von derjenigen Ierusalems ist, dessen Ansichten doch Lessing hier bekrastigen und vertheidigen will. Ierusalem sindet die Unsreiheit des
menschlichen Willens darin, daB jedem Denk- nnd Willensakte gewisse „dunkle Vorstellungen" vorausgehen, d. h. gewisse unklare Eindriicke auBerer Dinge aus die Seele des Menschen, durch welche der Wille bestimmt
werde. Es heiBt in dem Aussatze: „Das erste Glied in der Kette (unserer Handlungen oder Vorstellungen) ist immer eine Vorstellung, die durch einen sinnlichen Gegenstand rege gemacht ist." Wer sande nicht hierin jene
Theorie von den „kleinen" Vorstellungen wieder (petita perc:eptious), die Leibnitz in seinen wider Locke gerichteten Nouveanx Nss»is sur 1' iintsuaeiueut numaiu so geistreich und mit so viel Scharssinn entwickelte?
Leibnitz bedient sich daselbst der auBerst seinen und sinnigen Unterscheidung zwischen bios veranlassenden und wirklich zwingenden Ursachen menschlicher Handlungen. l,es pstiws psresptions, sagt er, tont psuonsr la
volonte numnius, mais ue lk nooes5iteut p»s, d. h. die „kleinen" oder „dunklen" Vorstellungen (die vorausgegangenen sinnlichen Eindriicke) lenken zwar den menschlichen Willen hierhin oder dorthin, aber sie zwingen
ihn nicht, gerade so oder so zu handeln; der Wille ist immer noch stark genug, sich diesem Einflusse zu entziehen, gegen die sinnlichen Eindriicke zu reagiren. Jerusalem sindet die Freiheit des menschlichen Willens darin,
daB derselbe im Stande ist, die „dunklen" Vorstellungen „zu deutlichen auszuklaren" und dadurch „dasjenige, was unsere Vernunft uns als das hochste Gut vorstellt, demjenigen, was unsere Leidenschasten als Gut
vorstellen, bei der Wahl vorzuziehen und danach seine Handlungen einzurichten". Bei Ierusalem, wie bei Leibnitz, ist also das, was den menschlichen Willen beeinfluBt (nicht „zwingt"), etwas Niedereres, als der Wille,
etwas Materielles; bei Lessing ist es etwas Hoheres, namlich jene „hohere Krast, von der Alles abhangt" und die „unendlich erhaben iiber alles Einzelne ist". Anderwarts, allerdings, z. B. in dem Zusatz zum zweiten
„Wolsenbiittler Fragment", bedient sich auch Lessing (wie Hebler richtig hervorhebt) jener Aussassungsweise Ierusalems von den „dunklen Vorstellungen" oder „sinnlichen Begierden", die „zu schwachen" wir in uns das
Vermogen haben. Sime hat sich die Sache noch etwas anders zurechtgelegt — geistvoll und in seiner Art auch consequent, nur zweiseln wir, ob im Sinne jener oben angesuhrten Worte Lessings. Er sagt: ein Mensch von
ausgepragtem Charakter wird im gegebenen Falle, wo er zwischen gut und bos zu wahlen hat, das Erstere wahlen. Dies stimmt ohngesahr mit dem zusammen, was Kant den „intelligibeln Willen" oder „Charakter" des
Menschen nannte. Sime berust sich dabei aus eine Stelle im „Nathan", wo Nathan zum Derwisch sagt: „Niemand muB miissen, und ein Derwisch muBte? Was muBt' er denn?" Derwisch: „Warum man ihn recht bittet und er
stir gut erkennt, das muB ein Derwisch." Nathan: „Bei unsrem Gott, da sagst du wahr." Hier trisst allerdings das zu, was Sime vom „Charakter" sagt; allein diese Stelle im „Nathan" und jene andere AeuBerung Lessings sind
offenbar zwei ganz vermiedene Dinge — wiederum ein Beweis, daB wir es bei Lessing nicht mit einem abgeschlossenen philosophischen Systeme zu thun haben, sondern daB er es liebte, solche spe
Noriund Siid. VI, Is. 23
culative Probleme auch einmal von verschiedenen Seiten zu betrachten. Es kam ihm eben daraus an (wie er selbst dies aussprach), unablassig die Wahrheit zu suchen, ohne sich einzubilden, jemals die ganze Wahrheit
entdeckt zu haben.
Lessings Theorie von der „Seelenwanderung" betrachtet Sime mehr als einen geistreichen Gedanken, denn als eine wohlbegriindete und klar entwickelte Ansicht. Dagegen halt er Lessing stir einen entschiedenen
Anhanger der Leibnitzschen Idee von der „besten Welt" — nicht in dem Sinne, daB in der wirklichen Welt Alles aus's Beste sich verhalte, wohl aber in dem, daB die Welt und namentlich die moralische Welt, die
Menschheit, in einem stetigen Fortschritt zum Besten begriff en sei.
Doch — wir miissen mit unseren Betrachtungen auch iiber diesen Theil des Simeschen Buches zu Ende kommen! Wir scheiden von demselben mit ausrichtiger Achtung stir des Versassers Griindlichkeit, Unbesangenheit
und stir sein seines Eindringen in alle Seiten und Richtungen des Lessingschen Wesens und mit dem nochmaligen Ausdruck herzlicher Freude dariiber, daB -unser groBer Kritiker, Dichter und Denker einen seiner wiirdigen
Biographen und Ausleger in dem uns stammverwandten englischen Volke gefunden hat.
Die Telegraphenschrist des Himmels.
Von
y. W. Vogel.
— Verlin. —
zu der elektrischen Telegraphie benutzt man einen sogenannten Ichreibapparat, der von dem amerikanischen Maler Morse ersunden wurde. Dieser Apparat macht aus einem Papierstreisen Punkte oder Striche, wenn ein
Telegraphist aus einer sernen Station den mit dem Apparate in Verbindung stehenden elektrischen Strom offnet und schlieBt. Diese Punkte und Striche bilden die Buchstaben der elektrischen Telegraphenschrist. Eine
ahnliche Telegraphenschrist empsangen wir von den Sternen, nicht aus den Schwingen des elektrischen Stromes, sondern aus den Schwingen des Lichts, es sind die dunklen Linien, die sich in dem Speetrum des
Sternenlichts zeigen.
Seit 200 Iahren kennt man das Sonnen- Speetrum, aber erst im Ansang dieses Iahrhunderts beobachtete Wollaston dunkle Streisen in demselben. Fraunhoser, der beriihmte Munchner Optiker, unterwars diese einem
sorgsaltigen Studium und erkannte bereits, daB das Speetrum der Fixsterne zum Theil ganz andere, zum Theil dieselben Linien zeigt, als das der Sonne, aber er vermochte nicht, die seltsame Linienschrist zu entrathseln,
und sast 50 Iahre vergingen, ehe man in diesen Linien Buchstaben erkannte, in welchen uns die selbstleuchtenden Himmelskorper ihre Bestandtheile telegraphiren. Die Entrathselung dieser Schrist erinnert an die
Entzifferung der Hieroglyphen.
Im Lritisb. Nussilm besindet sich ein unter dem Namen des Steins von Rosette bekannter schwarzer Stein, der in Unteragypten gesunden wurde. Er enthalt eine dreisache Inschrist, eine griechische, demotische und
hieroglyphische, die beiden ersteren leicht lesbar, die letztere ein Rathsel. Aus der griechischen Inschrist ging hervor, daB alle drei Schristen desselben Inhalts sind. Dennoch war bei der Verschiedenheit der Wort- und
Tatzbildung in den verschiedenen Sprachen eine Deutung der hieroglyphischen Zeichen mehr als schwierig. Da erkannte Thomas Aoung, der beriihmte Physiker, der schon als Knabe Proben seines staunenswiirdigen
Sprachentalents gegeben hatte, daB jedem Konigsnamen in der griechischen Inschrist gewisse, mit einer elliptischen Linie umzogene Zeichen in der Hieroglyphenschrist entsprechen und daB bei Wiederkehr desselben
Konigsnamens in der griechischen Schrist die gleichen Zeichen in der Hieroglyphenschrist sich wiederholen. Diese RegelmaBigkeit konnte kein Zusall sein; diese Zeichen und diese Namen bedeuten dasselbe, sagte Th.
Ionng und der erste Schritt zur Losung der Hieroglyphenschrist war damit gethan.
In ahnlicher Weise lernte man die Telegraphenschrist der Sterne erst dann lesen, als mau andere analoge Schristen, deren Bedeutung man kannte, mit ihr verglich und die aussallende Uebereinstimmnng der Zeichen
gewahr wurde.
In dem Speetrum der Sonne gibt es tausende von dunklen Linien. Fraunhoser erkannte, daB dieselben eine sest bestimmte Lage zu einander haben, so daB man gewisse Linien und Liniengruppen sosort wieder erkennt,
gleichviel mit welchem Instrument man dieselben beobachtet. Er stellte die Lage von nicht weniger als 576 Sonnenlinien sest, entwars eine genaue Zeichnung derselben und benannte die charakteristischsten derselben mit
Buchstaben, die in dem Speetrum eingeschrieben sind, dessen Entstehung beisolgende Figur 1 versinnlicht, die bereits bei einer sruhern Gelegenheit in dieser Zeitschrist zur Erlauterung diente (siehe Oetoberhest 1877 S.
102).
Fi«, 1.
LaBt man aus das in dieser Figur sichtbare Glasprisma ? , statt des schmalen Biindels Sonnenlicht das Licht einer mit Kochsalz gelb ge
sarbten Spiritusslamme sallen, so entsteht, statt des leuchtenden siebensarbigen Speetrums mit seinen dunklen Linien, eine einzige helle gelbe Linie und diese nimmt genau die Stelle der mit 11 bezeichneten dunklen
Sonnenlinie ein. Man bemerkt diese Uebereinstimmung der Lage sosort, wenn man aus die untere Halste des Prismas das Kochsalzspirituslicht, aus die obere Halste Sonnenlicht sallen laBt. Die helle gelbe Linie liegt dann
genau in der Verlangerung der dunklen mit 11 bezeichneten Linie, wie solches Fig. 2 darstellt.
LaBt man das Licht beider Lichtquellen nacheinander durch 2 Prismen gehen, so spaltet sich sowol die helle Kochsalzlichtlinie als auch die dunkle Sonnenlinie v in zwei Linien und wiederum liegen die hellen Linien
genau in der Verlangerung der dunklen.
Diese wahrhast srappirende Uebereinstimmung entdeckte bereits Fraunhoser, er hatte somit in der unter einander gestellten spertralen Sonneuund Flammenschrist zwei ubereinstimmende Zeichen gesunden; aber das eine
Zeichen war hell, das andere dunkel und dieser Gegensatz war zu aussallig, um die Uebereinstimmung stir etwas mehr als einen Zusall zu nehmen.
So blieb das Rathsel der Sonnenschrist vorlausig ungelost und nur schrittweise kam man seiner Losung naher.
Schon Fraunhoser hatte sestgestellt, daB in dem Licht unserer Kerzen, Lampen und Gasslammen nicht die Spur von dunklen Linien sichtbar ist. Alle diese Flammen liesern ein Speetrum, welches aus einem homogenen
ununterbrochenen Regenbogensarbenstreisen besteht. Man erkannte aber bald, daB wenn die Strahlen dieser Flammen durch gewisse durchsichtige, namentlich sarbige Korper gehen, sich in ihrem Speetrum dunkle Streisen
bilden. So liesert Anilinroth-Losung, in den Gang der Strahlen eingeschaltet, einen dunklen Streisen im Gelbgriiu (siehe Fig. 3), indem es von den vielen sarbigen Strahlen, die im Lampenlichte enthalten sind, die
griingelben verschluckt oder absorbirt, alle ubrigen aber durchlaBt.
Mit den seinen zarten Sonnenlinien hat dieser dicke verwaschene Streis sreilich nur eine oberflachliche Aehnlichkeit. Bringt man aber in das Flaschchen 1' (Fig. 3) einen Tropsen rother rauchender Salpetersaure, so siillt
dieses sich mit dem Damps der gedachten Fliissigkeit und dann erscheinen in dem Speetrum des durchgehenden Lampenlichts den Sonnenlinien ahnliche, seine dunkle Linien zu Hunderten, indem der Damps der
genannten Saure ebensalls gewisse Strahlen des Speetrums verschluckt oder absorbirt.
Diese Thatsache berechtigte zu der Annahme, daB auch die zahlreichen dunklen Linien des Sonnenspeetrums durch „Absorption" in irgend einem Dampse oder Gase Entstiinden, und damit sing der Schleier des
Geheimnisses der Sonnenlinien an, sich allmahlich zu liisten. Bald entdeckte man andere sarbige Dampse, die ahnliche, wenn auch in ihren Linien verschiedene Speetra lieserten. Aber keins dieser „Linienspeetra" stimmte
mit dem Sonnenspeetrum uberein.
Da beobachtete der verdienstvolle Optiker Brewster beim genaueren Studium des Sonnenspeetrums, daB manche dunklen Linien aussallend breiter werden, wenn die Sonne sich dem Horizont nahert, daB sogar alsdann
neue Linien austreten, und diese Erscheinung lieB sich nur daraus erklaren, daB die atmospharische Lust diese Linien verursacht, indem sie, gleich den genannten Dampsen, gewisse Strahlen verschluckt. Morgens und
Abends ist die Dicke der Lustschicht, welche die Sonnenstrahlen durchlausen miissen, um bis zum Erdboden zu dringen, bedeutend groBer als am Mittag, in Folge dessen ist auch die Absorption starker; daher erklart sich
das Erscheinen neuer und das Breiterwerden schon vorhandener Linien.
Leider aber konnten nicht alle, sondern nur einzelne Linien des Sonnenspeetrums als durch die Atmosphare veranlaBt gedeutet werden; ware letztere die alleinige Ursache derselben, so muBten sich in den Speetren der
Fixsterne genau dieselben Linien zeigen, wie im Sonnenlicht. DaB dieses nicht der Fall sei, erkannte schon Fraunhoser, er erklarte daher mit groBter Zuversicht bereits im Iahre 1814, daB, was auch immer die Ursache der
Linien sein moge, diese nicht innerhalb, sondern auBerhalb der Atmosphare gesucht werden miisse.
Das war ungesahr der Standpunkt unserer Kenntnisse bis zum Iahre 1859. Streng genommen waren wir von 1814 bis 1859 nur wenig vorwarts gekommen. Es herrschte im Gebiete des Wissens iiber die geheimnisvolle
Sonnensernschrift dunkle Nacht und ihr entsprachen die hochgelehrten und jetzt so kindlich erscheinenden Hypothesen iiber die Natur der Sonne, die um jene Zeit in alien Schulen, in welchen Physik getrieben wurde, als
Wahrheit gelehrt wurden und die Arago, der groBe Physiker, solgendermaBen hinstellt:
„Man ist zu der desinitiven (!) Annahme genothigt, daB die Sonne aus einem dunklen Korper besteht, welchen zunachst eine in gewissem Grade undurchsichtige, das Licht zuriickstrahlende Atmosphare umhullt, daB
hieraus eine leuchtende Atmosphare oder Photosphare solgt, die selbst wiederum in einer gewissen Entsernung von einer durchsichtigen Atmosphare umgeben ist. — Wenn man mich sragt, ob die Sonne von Wesen
bewohnt sein kann, welche eine 'analoge Organisation besitzen wie die, welche unsere Erde bevolkern, so werde ich nicht anstehen, eine bejahende Antwort zu ertheilen." Wie Arago
so lehrten vom Katheder Herr Puffendors und Feder und sanden Glauben bei lung und Alt, denn auch im Bereiche der Naturwissenschasten gibt es Dogmen, die aus Treu und Glauben genommen werden miissen und
genommen werden. In ihrer maBlosen Selbstuberschatzung als sogenannte Herren der Schopsung sahen sich die Menschen stir einen so unentbehrlichen Faetor innerhalb der letzteren an, daB sie ihr Dasein aus Sonne,
Mond, Planeten und Fixsternen als selbst verstandlich erachteten und alle Theorien, welche dieser Anschaunng huldigten, mit Vergniigen aeeeptirten. — Da wurde es plotzlich und sast unerwartet Tag. Im Oetober 1859
verkiindete der Bericht der Berliner Akademie der Wissenschaften der Welt die Losung des Rathsels der Sterntelegraphenschrist, die Entdeckung der wahren Ursache der Fraunhoserschen Linien durch G.Kirchhoss. Bald
daraus solgte in Poggendorsss Annalen 1860 die Publication der „chemischen Analyse durch Speetralbeobachtungen" durch Kirchhoff und Bunsen, und mit Staunen und Bewunderung vernahmen die Chemiker und
Astronomen von einer ganz neuen Unter suchungsmethode, welche ihre bisher getrennt neben einander wandelnden Fachwissenschasten eng verkniipste, ihren Gesichtskreis in's Ungemessene erweiterte und neue
wunderbare Geheimnisse der Schopsung offenbarte. Horen wir, wie das Rathsel der Sonneulinienschrist gelost wurde.
Kirchhoff erzahlt: „Um die mehrsach behauptete Coineidenz (das Zusammensallen) der durch eine Kochsalzflamme erzeugten Natriumlinien mit den VLinien des Sonnenspeetrums zu priisen, entwars ich ein maBig
helles Sonnenspeetrum und brachte dann vor den Spalt des Apparats (d. i. die schmale schlitzsormige Oeffnung, durch welche man das flache Sonnensstrahlenbiindel sAFig. 1A erzeugt) eine Natrium-(Kochsalz)-Flamme.
Ich sah dabei die dunklen D-Linien in helle sich verwandeln. — Ich lieB dann vollen Sonnenschein durch die Natriumslamme aus den Spalt sallen und sah da zu meiner Verwunderung die dunklen D-Linien in
auBerordentlicher Starke hervortreten. Ich ersetzte das Licht der Sonne durch das Drummondsche Kalklicht, dessen Speetrum — keine dunkeln Linien hat; wurde dieses Licht durch eine geeignete Kochsalzslamme geleitet,
so zeigten sich im Speetrum dunkle Linien an den Orten der Natriumlinien!" So hatte Kirchhoff in dem Speetrum eines Lichts, welches stir sich keine dunklen Linien gibt, solche erzeugt, und zwar durch eine helle
Flamme; es klingt paradox, aber es ist Thatsache.
Dieselbe Flamme, deren Licht im Speetrum zwei helle gelbe Linien liesert, verschluckt das gelbe Licht einer andern Lichtquelle, deren Strahlen durch die bewuBte gelbe Flamme gehen. In der gelben Flamme aber ist der
gelbe Damps des Metalls enthalten, welcher einen Hauptbestandtheil des Kochsalzes bildet, das Natrium, und so wurde die groBe Wahrheit-entdeckt: die dunklen Linien D des Sonnenspeetrums werden durch gluhenden
Natriumdamps erzeugt.
Der Sonnenbuchstabe D war somit entrathselt und zu gleicher Zeit der Schliissel zur Losung der ubrigen gesunden. Kirchhosss Genius erkannte das diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Naturgesetz: dieselben
Strahlen, welche ein gluhender Damps aussendet, werden von dem Dampse absorbirt, wenn sremdes Licht durch ihn hindurchgeht. Und was Kirchhoff durch Speculation gesunden, das bestatigte das Experiment getreu dem
Dichterwort: Mit dem Genius steht Natur im ewigen Bunde, Was der eine verspricht, halt die andre gewiB. Nachdem das Gesetz der Absorption gluhender Dampse (diese sind es auch, welche die Flammen unserer
Feuerwerkskorper sarben: Strontiandamps leuchtet in diesen mit rothem, Barytdamps mit griinem, Kupserdamps mit blauem Licht) erkannt war, hatte die weitere Losung des Rathsels der Sonnenschrist keine
Schwierigkeiten mehr.
Die Entzifferung des Steins von Rosette wiederholte sich in anderer Form. Kirchhoff lieB das Licht gluhender Metalldampse aus den unteren Theil, das Sonnenlicht aus den oberen Theil seines Prismas sallen, so erhielt
er die dunklen Linien der Sonnenschrist und die hellen Linien des leuchtenden Dampses ubereinander und so erkannte er die Uebereinstimmung einer ganzen Reihe von Linien.
Manche Leser werden zu wissen wiinschen, wie man Metalldampse erzeugt. Solches ist leicht mit Hiilse des elektrischen Funkens. Springt derselbe zwischen Metallen iiber, so ersolgt gleichzeitig durch die dabei sich
entwickelnde sehr hohe Temperatur eine LosreiBung und Verfluchtigung von Metalltheilchen unter glanzender Lichterscheinung. So kann man Eisen, Kupser, Gold, selbst Platina versliichtigen. Die Speetra, welche diese
Metallsunken geben, bestehen aus einer groBen Zahl heller Linien. Eisen gibt deren z. B. 450 und als Kirchhoff diese neben dem Sonnenspeetrum beobachtete, da zeigte sich eine srappante Uebereinstimmung mit gewissen
Sonnenlinien, wie sie beisolgende Figur, welche einen Theil des Speetrums im Griin darstellt, veranschaulicht. Kirchhoff erkannte, daB nicht nur jeder hellen Eisenlinie eine dunkle Sonnenlinie entspricht, sondern daB auch
die Intensitat, Dicke, kurz der ganze Charakter derselben mit
einander harmoniren, und diese Thatsache erklart sich nur durch die Annahme, daB das Licht der Sonne durch Eisendampse gegangen ist, bevor es zur Erde gelangte. So hatte Kirchhoss durch Vergleichung der
Sonnenlinienschrist mit der kiinstlich entworsenen Eisenlinienschrist einen zweiten Sonnenbuchstaben entrathselt, und dieser bedeutete Eisen.
Wohl kannte man die Speetra der gluhenden Metalldampse schon sriiher. Wheatstone, der bekannte Physiker, welcher die Geschwindigkeit der Elektrieitat maB, hatte bereits im Iahre 1835 Metallspeetra beobachtet, aber
abgesehen von einem sliichtigen Versuch von Brewster war es Niemandem eingesallen, ein solches Metallspeetrum neben dem Sonnenspeetrum zu beobachten, Kirchhoff unternahm es und er entdeckte den Schliissel zur
Telegraphenschrist des Himmels.
Wo besinden sich aber die gliihenden Eisendampse, welche durch Absorption des weiBen Sonnenlichts jene schwarzen Linien erzeugen?
Horen wir Kirchhoffs Antwort, die er in den Berichten der Berliner Akademie vom Iahre 1861 publieirte: „Die Eisendampse konnten in der Atmosphare der Sonne oder in der der Erde vorhanden sein. Aber in unserer
Atmosphare kann man unmoglich Eisendampse in einer Menge annehmen, die zureichend ware, urn so ausgezeichnete Absorptionslinien im Sonnenspeetrum hervorzurusen, als die den Eisenlinien entsprechenden sind; um
so weniger, als diese Linien nicht eine merkbare Veranderung erleiden, wenn die Sonne sich dem Horizonte nahert. Der Annahme solcher Dampse in der Atmosphare der Sonne steht aber bei der Hohe der Temperatur, die
wir dieser zuschreiben miissen, Nichts entgegen. Die Beobachtungen des Sonnenspeetrums scheinen mir hiernach die Gegenwart von Eisendampsen in der Sonnenatmosphare mit einer so groBen Sicherheit zu beweisen, als
sie bei den Naturwissenschasten iiberhaupt erreichbar ist. — Nachdem so die Gegenwart eines irdischen Stoffes in der Sonnenatmosphare sestgestellt und durch dieselbe eine groBe Zahl der Fraunhoserschen Linien erklart
ist, liegt die Vermuthung nahe, daB auch andere irdische Stoffe dort sich besinden und durch die Absorption, die sie ausiiben, andere von den Fraunhoserschen Linien hervorbringen. Es ist namentlich wahrscheinlich, daB
Stoffe, welche hier an der Erdoberslache in groBen Mas sen vorhanden sind und welche zugleich durch besonders helle Linien in ihren Speetren sich auszeichnen, aus ahnliche Weise, wie das Eisen, sich in der
Sonnenatmosphare bemerklich machen werden. Es ist das in der That der Fall bei Caleium, Magnesium und Natrium. Allerdings ist die Zahl der hellen Linien in dem Speetrum eines jeden dieser Metalle nur ein kleine,
aber diese Linien, sowie diejenigen des Sonnenspeetrums, mit denen sie zu eoineidiren scheinen, sind von so ausgezeichneter Deutlichkeit, daB ihre Coineidenzen sich mit ganz besonderer Scharse beobachten lassen.
Hierzu tragt der Umstand noch wesentlich sordernd bei, daB diese Linien in Gruppen vorkommen, deren Coineidenzen scharser als die Coineidenzen einzelner Linien wahrgenommen werden konnen.' Die Linien des
Chroms bilden auch eine sehr ausgezeichnete Gruppe, die mit eiuer gleichsalls sehr deutlichen Gruppe Frannhoserscher Linien ubereinstimmt; auch die Anwesenheit des Chroms in der Sonnenatmosphare glaube ich
hiernach behaupten zu diirsen. — Es schien von Interesse, zu priisen, ob in der Sonnenatmosphare auch Nickel und Kobalt vorhanden sind, diese steten Begleiter des Eisens in den Meteormassen. Die Speetren dieser beiden
Metalle zeichnen sich, wie das des Eisens, durch die auBerordentlich groBe Zahl ihrer Linien aus. Aber die Linien des Nickels und mehr noch die des Kobalts sind sehr viel weniger hell, als die des Eisens; ich konnte ihre
Lage daher lange nicht mit der Genauigkeit beobachten, wie es bei den Eisenlinien moglich gewesen war. Die helleren Linien des Nickels scheinen alle mit Linien des Sonnenspeetrums zu eoineidiren; dasselbe sindet statt
bei einigen Linien des Kobalts, bei anderen von merklich gleicher Helligkeit aber nicht. Ich glaube aus meinen Beobachtungen schlieBen zu diirsen, daB Nickel in der Sonnenatmosphare sichtbar ist, ob dasselbe von Kobalt
gilt, dariiber halte ich mein Urtheil zuriick. Baryum, Kupser und Zink scheinen in der Sonnenatmosphare vorhanden, aber nur in geringer Menge. Die iibrigen Metalle, welche ich zu untersuchen habe, namlich Gold, Silber,
Quecksilber, Aluminium, Kadmium, Zinn, Blei, Antimon, Arsen, Strontium und Lithium sind im Speetrum der Sonnenatmosphare nicht sichtbar."
Nach diesen Thatsachen blieb zur Erklarung der dunklen Linien des Sonnenspeetrums nur die Annahme iibrig, daB die Sonne aus einem hellleuchtenden, in hochster WeiBgluth besindlichen Kern besteht, der umgeben ist
von einer gliihenden Dampsatmosphare von etwas geringerer Temperatur.
„Diese Vorstellung von der Beschaffenheit der Sonne ist in Uebereinstimmung mit der von Laplaee begriindeten Hypothese iiber die Bildung unseres Planetensystemes. Wenn die Masse, die jetzt in den einzelnen
Korpern desselben eoneentrirt ist, in sriiheren Zeiten einen zusammenhangenden Nebel von ungeheurer Ausdehnung bildete, durch dessen Zusammenziehung Sonne, Planeten und Monde entstanden sind, so muBten alle
diese Korper bei ihrer Bildung im Wesentlichen von ahnlicher Beschaffenheit sein. Die Geologie hat gelehrt, daB die Erde einst in gliihend slussigem Zustande sich besunden hat, man muB annehmen, daB auch die andern
Korper unseres Systemen einmal in einem solchen gewesen sind. Die Abkiihlung, die in Folge der Ausstrahlung der Warme bei alien eingetreten ist, hat aber bei ihnen, vornehmlich je nach der verschiedenen GroBe, sehr
verschiedene Grade erlangt und wahrend der Mond kalter als die Erde geworden ist, ist die Temperatur der Oberslache des Sonnenkorpers noch nicht unter die WeiBgluhhitze gesunken."
„Die irdische Atmosphare, die jetzt nur wenige Elemente (hauptsachlich Stickstoff und Sauerstoff) enthalt, muBte, als die Erde noch gliihte, eine viel mannichsaltigere Zusammensetzung haben, alle in der Gluhhitze
sliichtigen Stoffe muBten in ihr vorkommen. Eine entsprechende Beschaffenheit muB noch heute die Oberslache der Sonne besitzen."
Diese Kirchhoffsche Lehre war so iiberzeugend, sie war so sicher durch die Theorie und das Experiment gestiitzt, daB sie alle Gelehrten sosort stir sich gewann, unahnlich anderen Theorien, die aus zahen Widerstand
stieBen und erst nach jahrelangem Kampse den Sieg gewannen, z. B. die Lehre von der Axendrehung der Erde, die Wellentheorie des Lichtes, die Lehre vom Lustdruck und die Newtonsche Farbenlehre.
Wie Columbus' Entdeckung den tellurischen Gesichtskreis der Menschen erweiterte und eine neue Welt aus Erden erschloB, so erweiterte die Entzifferung der Sternschrist den kosmischen Gesichtskreis und erschloB ein
neues Gebiet der Wissenschasten, „die Chemie des gestirnten Himmels".
Kirchhoff begniigte sich damit, den Schliissel zur Losung der Telegraphenschrist des Himmels geliesert zu haben. Es lag ihm sern, das Rathsel aller Sonnenlinien losen zu wollen. Er tiberlieB das den zahlreichen
Forschern, die mit Feuereiser die neue Beobachtungsmethode ergriffen.
Bald entdeckte man noch andere Metalle, wie Strontian, Kadmium, Kobalt, (dessen Gegenwart Kirchhoff zweiselhast erschienen war), Mangan, Titan, Kupser und Uran und auch ein Nichtmetall, das Wasserstossgas.
Nach Kirchhoffs Anschaunng miissen die gliihenden Dampse und Gase, welche in dem Lichte des weiBgltihenden Sonnenkorpers gewisse Strahlen ausloschen und dadurch dunkle Linien liesern, stir sich allein (ohne das
Licht des Sonnenkorpers dahinter) helle Linien erzeugen, ebenso wie eine Kochsalzspiritusslamme, die, vor ein Knallgaslicht gehalten, zwei dunkle Linien erzeugt, stir sich allein durch das Prisma betrachtet, zwei helle
Linien liesert.
Nun ist man bei gewissen Gelegenheiten in der Lage, das Licht der Dampse der Sonnenatmosphare stir sich allein, ohne das Licht des darunter besindlichen Sonnenkorpers, beobachten zu konnen, das ist bei totalen
Sonnensinsternissen.
Mit Ungeduld erwartete man nach Kirchhosss Entdeckung die erste SonnensinsterniB, es war die beriihmt gewordene von 1868. Deutsche, englische und sranzosische Beobachter begaben sich zu ihrer Beobachtung nach
Indien, und dem Franzosen Ianssen gliickte es zuerst, helle Linien in der Atmosphare der total versinsterten Sonne zu sehen; diese Linien gehorten dem Wasserstoff an. Somit war Kirchhoffs Theorie aus das Schonste
bestatigt.
Ianssen erkannte diese Linien zuerst in dem Speetrum der Protuberanzen, d. h. der rosasarbenen Hervorragungen, die gleich Wolken oder Feuersbriinsten, oder gewaltigen Hornern iiber den versinsterten Sonnenrand
hoch hinausragen. Er erkannte aber auch, daB die gesehenen hellen Linien von solcher Intensitat waren, daB er die Hoffnung auBerte, dieselben auch bei hellem Tage, trotz des gliihenden Lichtes der Sonne, wahrnehmen zu
konnen. Und diese Hoffnung ging in Ersiillung. Als er sein Instrument am solgenden Tage aus den Sonnenrand einstellte, erkannte er helle Linien und zwar dieselben, die er Tags vorher gesehen. Er erkannte dadurch, daB
die gewaltige, an 20,000 Meilen hohe Protuberanz, welche er wahrend der FinsterniB beobachtete, einen Tag spater nicht mehr vorhanden war. Ehe der Bericht iiber seine Beobachtungen nach Europa gekommen war,
gliickte es Lockyer, die hellen Protuberanzenlinien ohne SonnensinsterniB zu beobachten. Mit Eiser wurde nunmehr der Sonnenrand aus helle Linien im Speetroskope gepriift, die Sonnenflecke und die sie umgebenden
Halbschatten und hellglanzenden Fackeln wurden in gleicher Weise aus's Korn, oder besser gesagt, aus den Spalt des Speetroskops genommen und Lockyer, Respighi, Ianssen, Zoellner, H. C. Vogel, Tachini, Seechi, Joung
«. sorderten durch ihre Beobachtungen innerhalb weniger Iahre groBartiges Material iiber die Natur unseres Sonnenkorpers zu Tage.
Man stellte sest, daB die Protuberanzen nur loeale Anhausungen von Wasserstoff sind, Sonneneruptionen, bei welchen die gliihenden Gasmassen hoch hinausgeschleudert werden, so daB sie zum Theil bis zu 14
Erddurchmesser iiber den Sonnenkorper emporsteigen. Man erkannte in diesen gliihenden Gasmassen auch noch die hellen Linien des Kalks, Magnesiums, Natriums, Baryums, Nickels, Eisens und Mangans. Man stellte
sest, daB abgesehen von loealen Wasserstossanhausungen die Sonne ringsum mit einer wesentlich wasserstoffhaltigen, helle Linien im Speetrum zeigenden Atmosphare umgeben ist, die Lockyer Chromosphare nannte, und
Voung gelang es, bei der SonnensinsterniB von 18 70, in schonster Bestatigung der Kirchhoff schen Theorie, nicht nur einzelne helle Linien darin wahrzunehmen, sondern sammtliche dunkle Linien des Sonnenspeetrums im
Moment der volligen Bedeckung der Sonne durch den Mond als helle Linien zu erblicken.
Die Wasserstossmassen, welche die Sonne umgeben, leuchten aber zum Theil mit solcher Gluth, daB sie selbst mitten aus der Sonnenscheibe als helle Linien erscheinen. Dieses geschieht namentlich an den
hochglanzenden Stellen, welche die sogenannten Sonnensackeln bilden und die nichts weiter darstellen, als Protuberanzen mitten aus der Sonnenscheibe.
Neuerdings erkennt man aber die Protuberauzen am Rande der Sonne nicht bios an ihren hellen Linien. Vervollkommnete Speetralapparate erlauben, nach der Methode des trefflichen Astrophysikers Zoellner in Leipzig,
dieselben in ihrer vollen Gestalt wahrzunehmen. Zoellner selbst wurde durch seine Beobachtnngsmethode am 1. Iuli 1869 Zeuge einer hochinteressanten Sonnenre volution, bei welcher plotzlich machtige Protuberauzen vor
seinen Augen austauchten, ihre Gestalt in der seltsamsten Weise veranderten und wieder verschwanden. Wir geben nachfolgend Zoellners Beschreibung nnd Abbildungen.
„Die erste Protuberanz, welche ich beobachtete, ist in Figur 5 dargestellt. Ueber einer intensiv leuchtenden kegelsormig am Sonnenrand aussteigenden Masse breitet sich ein wolkenartiges Gebilde von geringer Intensitat
aus.
„Eins der merkwiirdigsten Gebilde war die in Figur 6 dargestellte Protuberanz. Ich traute meinen Augen kaum, als ich an demselben die ziingelnden Bewegungen einer Flamme wahrnahm. Diese Bewegung war jedoch
langsamer, als die entsprechende hochauslodernder Flammen bei Feuersbriinsten, sie dauerte 2 bis 3 Sekunden."
Eine dieser ahnliche Protuberanz beobachtete die norddeutsche SonnensinsterniBexpedition, bei welcher Schreiber dieses betheiligt war, 1868 in Aden in Siidarabien und gelang es der Expedition, deren etwas gekriimmte
Gestalt photographisch zu sesseln.
Von der groBen Schnelligkeit, mit welcher Protuberanzen, ihrer Form und Intensitat nach, sich verandern, geben die Abbildungen in Fig. 7 Beispiele. In diesen sind die verschiedenen Gestalten dargestellt,
welche eine und dieselbe von Zollner beobachtete Protuberanz in den darunter angegebenen Zeiten annahm.*)
Zieht man in Betracht, daB die Protuberanzen Fig, 5 und 7 eine Hohe gleich dem viersachen Erddurchmesser auswiesen, die Protuberanz Fig. 6 sogar eine Hohe gleich dem 13A sachen, daB serner bei den in
Fi» s.
Fig. 7 abgebildeten Veranderungen der Gestalt die einzelnen Theile Bewegungen durch eine Strecke von eirea 6000 geogr. Meilen innerhalb weniger Minuten vollsiihrten, so bekommt man einen annahernden Begriff von
der Kolossalitat der Sounenausbriiche, mit denen verglichen die verheerendsten Vulkanausbriiche unserer Erde als eitel Spielerei erscheinen. Und diese Sonnenre volutionen gehen sast taglich vor sich, wenn auch Perioden
der Ruhe eintreten, wo sie minder hestig erscheinen. Man hat Bewegungen an Protuberanzen beobachtet, bei deneu diese in der Sekunde 20 Meilen durchliesen, wahrend der siirchterlichste irdische Orkan kaum mehr als A
Meile in der Sekunde durchrast.
So bedeutende Resultate die Svertroskopie der Sonne aber auch
*) Die Zeitangabe unter der ersten Figur ist unrichtig. Es ist statt 5A- 45n' 617. 45«. z„ lesen.
zu verzeichnen hat, so sind wir noch weit entsernt, die Ursache aller Sonnenlinien bestimmen zu konnen. Etwa 1700 Linien haben Kirchhoff, Hoffmann, Angstrom und Thalen in dem sichtbaren Theile des
Sonnenspeetrums verzeichnet, aber nur ungesahr der sechste Theil derselben ist bisher sicher gedeutet worden.
Uebersieht man die Zahl der aus der Sonne gesundenen Elemente, so erscheint es auffallig, daB Korper, die unter den Bestandtheilen unserer Erde eine wichtige Rolle spielen, z. B. der Sauerstoff, der allein 76 unserer
Atmosphare ausmacht und einen Hauptbestandtheil der sesten und fliissigen Erdoberflache und sicher auch des Erdinnern bildet, dort oben noch nicht gesunden worden ist.
Man hat die Linien des gliihenden Sauerstoffs aus das Ausmerksamste mit den Sonnenlinien verglichen, jedoch ohne positives Resultat. Ebenso vergeblich war das Forschen nach den Linien des Stickstoffs, des
Schwesels, des Silieiums und anderer Nichtmetalle.
In neuester Zeit ist die Losung dieses Rathsels versucht worden. Prosessor Draper photographirte den violetten Theil des Sonnenspeetrums und das Speetrum eines durch Lust schlagenden elektrischen Funkens und zu
seiner Ueberraschung erkannte er in dem Bilde, das wir hier in Fig. 9 reprodueiren, daB die (in der Figur mit 0 bezeichneten) hellen Linien des Sauerstoffgases nicht mit dunklen Linien der Sonne, sondern mit hellen
Zwischenraumen ubereinstimmten.
Diese Thatsache wiirde nach Kirchhoffs Theorie gegen die Anwesenheit des Sauerstoffes in der Sonne sprechen, denn der gliihende Sauerstoff sollte sich eigentlich durch schwarze Absorptionslinien verrathen, wie die
iibrigen Elemente der Sonnenatmosphare.
Zieht man aber die Thatsache in Betracht, daB bei den Sonnensackeln (s. o.) auch andere Gase, z. B. Wasserstoffgas sich nicht in dunklen, sondern in hellen Linien aus der Sonnenscheibe markiren, daB serner in den
Protuberanzen eine helle gelbe Linie sichtbar ist, stir welche wir keine analoge dunkle im Sonnenspeetrum kennen und deren Ursprung noch nicht entrathselt ist, daB endlich die Breiten der Sauerstosslinien und die Breiten
der damit zusammensallenden Zwischenraume im Sonnenspeetrum einander entsprechen, so erscheint es wol glaublich, daB auch der Sauerstoff so hell leuchtet, daB sein Ausstrahlungsvermogen sein Absorptionsvermogen
iibersteigt, d, h. daB er helle Linien statt der dunklen im Speetrum erzeugt. Somit wiirde nach Drapers Ansicht das Sonnenspeetrum als ein Gemisch von dunklen und hellen Linien erscheinen und Sauerstoff und
Wasserstoff, die sich bei maBig hoher Temperatur unter gewaltiger Explosion mit einander verbinden, dort oben noch neben einander existiren, durch die ungeheure Gluth des Sonnenkorpers an ihrer Vereinigung
verhindert.
Das sind in Kurzem die wesentlichsten Resultate der speetralaualytischen Untersuchung der Sonne.
Die Entrathselung ihrer Telegraphenschrist hat uns mit kolossalen Revolutionen aus deren Oberflache bekannt gemacht, sie hat aber auch eine ebenso groBe Revolution in unsern Anschaunngen iiber dieselbe
hervorgebracht.
Wie harmlos erscheint uns jetzt die sunszig Iahre lang von alien Kathedern gelehrte nnd von aller Welt geglaubte Hypothese vom bewohnbaren Sonnenkorper, eine Anschaunng, welche empsindsamen Seelen gestattete,
sich den Mittelpunkt unseres Planetensy stems als Ort des ewigen Fruhlings, als Ausenthaltsort gliicklicher Menschen auszumalen. Man traumte von einer Helligkeit ohne erschlaffende Warme, von einem Paradies, so recht
geeignet zum Wohnsitz der Seligen.
Da zog Kirchhoff den Schleier von dem Phantasiegemalde. Aus dem getrimmten Paradies wurde ein schauerlicher Hollenpsuhl, entsetzlicher als die unheimlichsten Bilder aus Dantes Inserno, ein ewig aahrender,
kustenloser Feueroeean, dessen grausen voile Hitze nicht nur jede Spur organischen Lebens aus weite Feme unmoglich macht, sondern selbst das Vereinigungsbestreben der Elemente vereitelt und die strengslussigsten
Korper wie Kalk, Magnesia, Eisen zu Gasen verfliichtigt, welche als brodelnde Gluthatmosphare den (vielleicht slussigen) Sonnenkorper umtosen, sich theils zu Wolken verdichten, theils in Feuernebel zerstieben, und in
surchterlichen Orkanen, gegen welche die irdischen Teisuns wie Kindesodem erscheinen, die Wellen des chaotischen Gluthmeeres peitschen.
Der f)alatin und seine Ausgrabungen.
Von
li. Fchuener.
— Rom. —
er hervorragendste und anziehendste unter den „sieben Hiigeln" Roms ist heute der Palatin. Die beiden zusammenhangenden nordostlichen, d. h. der Quirinal und der Viminal, sind vollig mit modernen Gebaudeu
iiberdeckt; der erstere tragt bekanntlich den zur koniglichen Residenz gewordenen machtigen papstlichen Palast, der andere dichtgedrangte Wohnungsquartiere. Im Norden hat die erweiterte Stadt auch den Monte Pineio
noch mit in ihre Grenzen gezogen nnd sich dadurch die schone von den Romern und den Fremden gleichmaBig geschatzte, aber auch einzige Promenaden-Anlage erworben. Der ausgedehnte Esquilin, im Alterthnm dnrch
die Garten des Maeenas, die Titnsthermen nnd das Goldene Haus Neros geschmuckt, spater entvolkert und verlassen, ist neuerdings zum Schauplatz der groBartigen Erweiterungsanlagen geworden und bereits zum groBen
Theil von breiten geradlinigen StraBen und von modernen Hausern und Villeu bedeckt. Alles aber, was weiter sudlich liegt, tragt jene Spuren der Verodung, jeneu traumhasten Charakter des Geschwundeuseins einstiger
Pracht und GroBe, der nns die alten Ruinenstatten so anziehend macht und in Rom dnrch seine Contraste ganz besonders sesselnd wirkt. Kaum hat man die neuesten Stadtquartiere und die prachtige Basiliea Sa, Maria
Maggiore hinter sich, so glaubt mau sich in der oden Campagna zu besinden. Weite unbebaute Strecken, wie drauBen vor den Thoren, dehnen sich hier aus: und doch sind wir noch innerhalb der Anrelianischen
Stadtmauer, aus eiuem Boden, der einst dicht bewohnt war. — Der ganze Caelius ist jetzt unbewohnt und nur von vereinzelten Prachtbauten, wie dem Lateran, besetzt, welche seine Verodung noch augensalliger macheu.
Ausgedehnte Vignen, Garten nnd Felder nehmen die Stellen ein, wo einst dichtbevolkerte StraBenquartiere lagen; halbversallene Maueru und Dornenhecken schlieBen sie ein. Hie
Noid Und Siid. VI, 18,24
und da erhebt sich eine antike Ruine, von dichtem Grim uberwuchert. Trummerhaste Bogenreihen alter Wasserleitungen ziehen majestatisch durch die Niederungen und iiber die Hiigel, von denen aus sie die gleich alten
und gleich trummerhasten Mitzeugen drauBen in der weiten Campagna zu gruBen scheinen. So ist es aus dem Caelius. Denselben Anblick bietet der Aventin, zur Zeit der Republik Hauptsitz der zahlreichen plebejischen
Bevolkerung. Aus unabsehbaren Vignen, die von wenigen krummen Wegen durchschnitten sind, ragen ein paar graue uud stumme Kirchen, Kloster und Osterieen aus. An Sonn- und Festtagen vergniigt sich das Volk in den
letzteren. Sonst ist es still und einsam dort oben; kaum ein Laut zu horen; auBer einem Monche kaum ein Mensch zu sehen.
Anders sieht es aus dem eapitolinischen Hiigel aus. Er liegt inmitten bevolkerter Stadttheile; die stadtische Verwaltung hat sich aus ihm niedergelassen, und er wird von Geschastspslegenden und Schaulustigen nicht leer.
Hier steht eine vielbesuchte Kirche aus der Hohe des Tempels der Iuno Moneta, der Gesandtschastspalast und das Archaologische Institut Deutschlands aus der des Iupitertempels. Hier ist das Stadthaus, der Senatorenpalast
und die beiden Palaste Giaeomos del Dum mit den Museen des Capitols. Hier steht die Reiterstatue Mare Aurels, und hier ist, von tropischen Gewachsen beschattet, der Kasig mit der Wolsin, dem Wappenthiere der Stadt
des Romulus und Remus.
Von Siiden her windet sich ein Fahrweg nach dem Capitol hinaus. Er halt ungesahr die Richtung der alten TriumphstraBe, des lulivus (Apiwliuus. Von seinem Scheitel aus schaut man hinab aus das Forum Romanum mit
seinen dichtgedrangten, Ehrsurcht gebietenden Ruinen, mit den malerischen Saulen und SteinslieBen und weiterhin aus den Titusbogen und das Colosseum. Unmittelbar gegeniiber aber ragen an einem steilen Abhang
machtige Backsteinruinen empor, geborsten unter der Last der Iahrtausende, am FuBe von ewig jungem Rankenwerk umflochten, zu Haupten von dunkeln Baumen beschattet, nach zwei Seiten sich weit hinziehend, wie um
eine verzauberte Burg zu umschlieBen.
Es ist der Palatin, der geheimniBvollste und anziehendste von alien romischen Hugeln. Auch aus ihm haben sich ein paar Kloster, sriiher noch einige Villen und Garten angesiedelt und sorglos iiber und zwischen den ties
verschutteten Bauten des Alterthums ausgebreitet. Aber sie thun dem Charakter dieser keinen Abbruch; im Gegentheil — die Palmen und Cupressen erhohen den poetischen Reiz der geheimniBvollen Hohe, und gern ersreut
sich der Wanderer, wahrend er die ubereinander gethurmten Ruinen durchstobert, an der uppigen und dustigen Vegetation und an der unvergleichlichen Fernsicht iiber die griinen Hohen und die weite Campagna.
Der Palatin ist von der Sage wie von der Geschichte gleichmaBig bevorzugt und darum immer als eins der erinnerungsreichsten und ehrwurdigsten Stiicke romischen Bodens betrachtet worden. An ihn knupsen sich die
Griindungssagen und der geschichtliche Ansang der ewigen Stadt, an ihn ihr groBter Glanz und die Ereignisse, welche den Untergang ihrer alten GroBe begleiteten. Denn hier erbauten die ersten Ansiedler ihre bescheidenen
Hiitten, wo angeblich auch Romulus die seinige gehabt hatte; hier erhoben sich spater die stolzen Hauser der vornehmsten Burger und die Kaiserpalaste von nie geahnter Pracht; hier war ein Hauptseld stir die raub- und
zerstorungslustigen Hande der nordischen Kriegsschalden, welche das tausendjahrige Romerreich in Triimmer schlugen, und noch mehr stir die der Nachkommen der Quirlten selbst, welche ohne Bedenken sortschleppten,
was sie brauchen konnten.
Gewaltige Wandlungen hat der Palatin mit der Stadt und dem Reiche zugleich durchgemacht. Die romischen Dichter der Glanzzeit gesallen sich darin, seine urspriingliche landlich einsache Erscheinung mit der
derzeitigen Pracht in Vergleichung zu stellen und daran zu erinnern, daB dort, wo man zu ihrer Zeit nichts als von Marmor, Gold und Farben strahlende Gebaude sah, dereinst Wald und Sumps, rohes Gemauer und Bauern-
und Hirtenhauser gewesen waren. Aber die Wandlungen waren zur Zeit jener Dichter noch nicht voriiber. Die stolzen Besitzer, die iibermiithigen Herren Roms und der Welt, verschwanden vom Palatin; die Palaste sielen in
Schutt, und wieder nahmen Baume, Straiicher und Pslanzungen Besitz von dem Hiigel, von dem aus die Welt regiert worden war, so daB man schier vergaB, daB dort Kaiser und Konige gehaust hatten. Und dann brach
wieder eine Zeit an, die sich an das Vergangene erinnerte und die Verlangen trug, mit Augen zu sehen, was von den unsterblichen Werken des gewaltigsten Volkes iibrig geblieben war, um daran sich selbst zu bilden und
zu starken, — und es wurden abermals die Baume gesallt und das Gestriipp ausgerodet, und aus dem Schutte der Iahrhunderte stiegen die Reste der Vergangenheit deutlich und staunenerregend wieder an's Tageslicht.
Noch ist bei Weitem nicht Alles, was der Boden des Palatins birgt, wieder sichtbar geworden. Die geordneten Ausgrabungen sind erst seit verhaltniBmaBig kurzer Zeit im Werke, und ein groBer Theil des Terrains hat
noch nicht durchsorscht werden konnen, weil er in Privatbesitz sich besindet. Dennoch haben die Arbeiten derartige Resultate geliesert, daB man die Unternehmung als eine der gliicklichsten bezeichnen muB und durch sie
der alte Ruineneomplex zu dem lohnendsten Flecke romischen Bodens geworden ist.
Die vollige Zerstorung der palatinischen Gebaude wie zahlloser anderer Reste des Alterthums hat nicht, wie die Romer gerne sagen, durch die nordischen Barbaren, sondern durch die surchtbaren inneren Wirren in den
sinsteren Iahrhunderten des Mittelalters stattgesunden. Wie die Gebaude aus und am Forum Romanum: der Severus-, Titus- und Constantinsbogen, das Colosseum und die Tempelruinen, so werden auch die starken Mauern
der Kaiserpalaste von den kampsenden Baronen und Pralaten als Schutzwehren benutzt worden sein. Was sie an beweglichen Kostbarkeiten enthielten, ging dabei verloren. Kunstwerke, kostbare Wandbekleidungen,
Mosaiken und FuBboden wurden sortgeschleppt, die Mauern und Substruetionen dienten als Steinbriiche, und Unmassen von Marmor wanderten in die Kalkosen. Als im N, Iahrhundert der Anonymus von Einsiedeln seinen
Besuch in Rom machte, von dem er uns eine Beschreibung hinterlassen hat, scheint er schon den Palatin in vollem Versall gesunden zu haben. Von den Klostern, welche sich aus und an ihm ansiedelten, erhielt das des
Heil. Gregorius am FuBe des Caelius 975 einen groBen Theil des Terrains zun« Geschenk, bei welcher Gelegenheit zwei Logalitaten: 8BMm 8ali». >lajor und Ainor erwahnt werden. Die Namen sind mittelalterliche
Verballhornisirungen von sspti-ouium mA-u« und miu»s, und die letzteren bezeichnen Bauten — vermuthlich einen Palast und ein Grabmal — des Septimius Severus. Ein Bericht des Poggio aus dem 15. Iahrhundert sagt,
der Palatin sei derartig versallen, daB man keines einzigen Gebaudes Form oder Bedeutung mehr bestimmen konne.
Um die Mitte des lc>. Iahrhunderts erbauten die Mattei iiber den Ruinen im Siiden eine Villa und legten einen groBen Garten an, wahrend Papst Paul III. (Alexander Farnese) durch Vignoia, Sangallo und Michelangelo
im nordlichen Theile die nach ihm genannten Anlagen herstellen lieB. Die Villa Mattei kam 168 !> in den Besitz der Spada, 1777 in den des Franzosen Raneoureil und 1818 in den des gelehrten und um die romischen
Alterthiimer hochverdienten Briten William Gell, der sie bald seinem Freunde Charles Mills abtrat. Seit 1857 wohnen Nonnen vom Orden des Franz von Sales darin, weshalb gegenwartig sowol Besuche als Ausgrabungen
dort unmoglich sind.
In den sarnesischen Garten hat Herzog Franz von Parma 1760 — 172s unter Leitung des Marquis Ignazio de' Santi und des Grasen Suzzani Nachgrabungen anstellen lassen. Der bei denselben gegenwartige Monsignor
Bianchini, der in seinem Eiser einmal durch den Sturz von einer Wolbung des Domitianischen Palastes in Lebensgesahr geriet!), hat dieselben in einem illustrirteu Folianten — „Del kalaAn ac-' (.'eAri, Vei-oun. 1738" —
genau beschrieben. — Nach dem Erloschen des mannlichen Stammes der Farnese kam der Besitz mit deren Erbschast an die Bourbonen von Neapel und von dem Exkonig Franz im Iahre 1861 durch Verkaus au Napoleon
III., der am 4. November desselben Iahres nuter Leitung Pietro Rosas die systematischen Ausgrabungen beginnen lieB, deren hochwichtige Resultate wir jetzt anstaunen.
Auch in der sudlichen Besitzung, die jetzt ihrer Wiedereroffnung harrt, sind schon vereinzelte, aber mehr ans Werthsunde gerichtete Nachgrabungen vorgenommen worden. Man glaubte dort das Haus des Augustus
gesunden zu haben, und Piranesi, einer der eisrigsten Altertumssorscher, der 1756 sein stupendes Prachtwerk „IAs.Antiebitii, IlomausA herausgab, wuBte sich trotz der Wachsamkeit und Eisersucht des Besitzers Plane davon
zu verschassen. Ein gewisser Benedetto Mori schlich in seinem Austrage bei Nacht in die Ruinen und machte seine Zeichnungen, „die Taschen voll Brot", wie Guattaui sagt, „um sich des Wohlwollens eines grimmigen
Schaserhundes zu versichern, der als Wachter dort gelassen war". Einen vollstandigen Plan jener Ruinen, der so bei Lampen- und Mondschein ausgenommen war, brachte Guattani in seinen „llonumenti autielii ineaiti 6el!'
»nun 1785". Wie aber damals mit den Fundgegenstauden Versahren ward, zeigt eine AeuBerung desselben. Er sagt, man konne sich unmoglich vorstellen, iu welcher Menge Seulpturen, Simsstiicke, Friese, Kapitale,
darunter zwei herrliche gauz unversehrte von Giallo antieo, in ganzen Karrenladungeu als gemeiner Schutt in die Werkstatte des Steinhauers Vinelli am Campo Vaeeino geschasst worden seien.
Erst die Ausgrabungen Napoleons III. haben, ungeachtet des tendenziosen Antheils, den sein Eiser stir das altromische Casarenthum daran hatte, das Verdienst, in wissenschastlicher Weise und zu dem alleinigen Zwecke
der Feststellung der alten Topographie unternommen zu sein. Nachst dem Forum und dem Capitolium sorderte kein Punkt Roms mehr dazu aus und versprach reichere Resultate. Denn was kniipste sich Alles an das
Palatium und die Casaren, von denen die Herrscher-„Psalzen", die „Palaste" und die „Kaiser" ihre Namen bekommen!
Der Palatin liegt inmitten der andern Hiigel. Er erhebt sich ungesahr 35 Meter iiber den heutzutage bedeuteud erhohten Boden der alten Stadt und hat einen Umsang von etwa 1800 Metern. Er besteht aus theils
weicherem, theils harterem vuleanischem Tuffstein, und seine ein verschobenes Viereck bildenden Seiten sallen aus alien Seiten ziemlich steil ab, nur an wenigen Punkten einen bequemen Ausgang gestattend. Der eine
Ausgang lag an der Nordostseite, von wo man noch heute den Palatin betritt und zweigte sich von der Via-Laera da ab, wo diese, von der Ebene des Forums nach der des Colosseums lausend, den hochsten Punkt der
zwischenliegenden Erhebung, der Velia, iiberschritt, d. h. wo jetzt der Titusbogen steht. Der andere Ausgang lag an der Nordwestseite, die Verbindung mit einer nicht minder als das Forum wichtigen Niederung, dem
Velabrum, herstellend. Das letztere reichte bis zum Tiberstrom, der hier mit einer krastigen Biegung dem Palatin am nachsten kam. Beide Niederungen waren urspriinglich, sei es von Natur, sei es durch die
Ueberschwemmungen des Tiber, sumpsig und wurden erst durch den erstaunlichen Bau der Konigszeit, die (lloae», Aaxima, trocken gelegt.
Kein Wunder, daB aus diesem von der Natur so begiinstigten Hiigel die Ansange der neuen Stadt entstanden. Er war gegen Angriffe leicht zu sichern, lag nahe an dem schiffbaren Strome, der die Ackerbauproduete zum
Meere und industrielle Erzeugnisse zur Stadt schaffen konnte und dessen Miindung inmitten der Westkiiste Italiens, also an einem der vortheilhastesten Punkte des Mittelmeeres, lag. Kein Wunder, daB hierher die
mythischen Ansange der Stadt verlegt und noch in spatester Zeit die sagengeheiligten Loealitaten gewiesen wurden. Hier sollten schon in der gliickseligen Zeit des Gotterkonigs Faunus die Arkader unter Evander sich
angesiedelt, hier Hereules den Unhold Caeus, der ihm die Rinder gestohlen und in einer Hohle des Palatin geborgen hatte, erschlagen haben, woraus Evander dem Heros einen Altar gegriindet habe. Bis in spate Zeit besand
sich im Velabrum der Hauptaltar des Hereules, und die sogenannte „Treppe des Caeus" glaubt man heute wiedergesunden zu habeu. Am nahen Tiberuser landete der Sage nach das Schiff des Urahnen der romischen
Konige, des Troers Aeneas, Sohnes der Gottin Venus, der von Evander sreundlich empsangen und zu den Hirtenwohnungen aus dem Palatin geleitet wurde. Ebendaselbst landete dann ein anderes Fahrzeug, welches den
Stammvater des romischen Volkes trug. Es war die Wanne mit den ausgesetzten Zwillingen Romulus und Remuc-, die unter dem Feigenbaume hangen blieb, wo die Wolsin die Knaben sand, in ihre Hohle trug und saugte.
Auch diese Hohle scheint, wenigstens in ihrer spateren veranderten Gestalt, heute wiedergesunden zu sein; und nichts ist wahrscheinlicher, als daB eine so ehrwiirdige Statte, wie das Lupereal, bei alien spateren Bauten
geschont worden ist. Die Hohle soil schon zu der Arkader Zeiten dem grottenliebenden Pan geweiht gewesen sein. Dionys von HaliearnaB sagt, daB sie zu seiner Zeit ihren urspriinglichen Anblick verloren gehabt habe;
denn urspriinglich habe sie im dichten Walde gelegen, von Baumen beschattet und einer kiihlen Quelle benachbart. Ein Erzbild der Wolsin mit den Zwillingen wurde von den Aedilen Gnaeus und Quintus Ogulnins im
Iahre 296 v. Chr. in der Nahe ansgestellt, und vermuthlich ist dies dasselbe, welches heute im Museum des Conservatorenpalastes aus dem Capitol ausbewahrt wird. Auch der heilige Feigenbaum, der Kens Ituminalis,
wurde lange am NordwestsuBe des Berges verehrt und soli einer Nachricht zusolge erst abgestorben sein, als bei der Erbaunng der Treppe des Caligula seine Wurzeln verletzt wurden, wahrend einer andern Angabe zusolge
er durch ein Wunder des Augurn Attius Navius aus das Forum versetzt worden ist. An letzterer Stelle und zwar neben der Basiliea Inlia und dem Tribunal zeigt ihn uns ein aus dem Forum gesundenes und noch dort
besindliches Relies.
Mit der Stadtgriindung des Romnlus nlehrten sich aus dem Palatin und besonders an seinem Westabhange die von einer spateren Zeit als heilig verehrten mythischen Zeugen. Man zeigte da das alteste Heiligthum der
Laren, das Grab der Aeea Larentia, das Haus des Romulus „am Wege nach dem Cireus", d. h. am Abhange iiber dem Velabrum, und den Cornelkirschbaum, der aus der von Romulus vom Aventin nach dem Palatin
geschleuderten Lanze entsprossen war.
Ohne aus die Sagen von Roms Griindung Rucksicht zu nehmen, muB doch als unzweiselhast gelten, daB die alteste Stadt aus dem Palatin gelegen hat, und es ist auch hochst wahrscheinlich, daB ihre Anlage in der von
den Chronisten gemeldeten rituellen Weise stattgesunden hat. Die altesten in Rom nachweisbaren Besestigungsreste sind aus dem Palatin zu Tage gekommen. An verschiedenen Stellen sieht man Reste jener Mauer, welche
die alteste Ansiedelung schutzte, so daB man ihren Laus, der mit den Beschreibungen ubereinstimmt, deutlich versolgen kann. Sie ist aus rechtwinklig behauenen Tuffblocken, die aus dem Berge selbst gebrochen sind,
ohne Mortel ausgeschichtet und zwar so, daB dieselben lagenweise abwechselnd nach der Lange und nach der Breite gelegt sind. Sie umzog im Viereck den ganzen Hiigel — weshalb die alteste Stadt Itoma ciu26i-at» heiBt
— nur da unterbrochen, wo der naturliche oder durch Abschaffung des Tuffgesteins hergestellte Abhang sie unnothig machte.
Der bei der Anlage angewendete Ritus -war der etruskische. Mit einem Psluge, vor welchen ein Stier und eine Kuh, diese links, jener rechts, gespannt waren, zog man eine Furche, so daB die Schollen nach innen sielen,
damit Wall und Graben der Stadt bezeichnend. Wo ein Thor sein sollte, deren dieser Ritus drei verlangte, wurde der Pslug ausgehoben und getragen (daher pm-ta). Die Umwallung und ein unmittelbar daran grenzender
Streisen Landes, der i,omc>siium hieB, waren geweiht und unbenutzbar. Gellius gibt uns die bestimmte Nachricht: „Das alteste polnoerium, das von Romulus angelegt ist, wurde durch den FuB des palatinischen Berges
begrenzt," und Taeitus beschreibt sogar genau den Laus der altesten Mauer. „Deu Ansang der Griindung," sagt er, „und das pomomium, welches Romulus angelegt hat, zu kennen, scheint mir nicht tiberslussig. Also: vom
?orum Vnm-iuiu, wo wir das eherne Bild des Stieres erblicken, weil diese die Thiergattung ist, die vor den Pslug gespannt wird, begann die Furche zur Bezeichnung der Stadt, so daB sie den groBen Altar des Hereules
umsaBte. Von da reichten die in bestimmten Zwischenraumen gelegten Steine am FuBe des Palatinus bis zum Altar des Consus, dann zu den Aurms Vewrsz, dann zum Heiligthum der Laren und dem romischen Forum." —
Der „Rindermarkt" war der Platz zwischen dem Velabrum und dem Tiber; der Consusaltar lag am SiidsuBe, die „Alten Curien" am Ostrande, die Larenkapelle noch in der Kaiserzeit am Nordostabhange an dem hochsten
Punkte der Heiligen StraBe, also nahe dem Ausgange zum Mugonischen Thore. Den Rest der Ummauerung, die aber unzweiselhast in der Richtung der „Neuen StraBe" um den Nordabhang bis zum Velabrum herumzog,
nennt Taeitus nicht mehr, wol weil sie zu seiner Zeit durch die Kaiserbauten ganzlich iiberdeckt war, oder weil sich ihre Fortsetzung von selbst verstand.
Naturlich war diese alteste Burg anch die Statte der altesten Heiligthumer. Es wird berichtet, daB schon in Urzeiten ein Tempel des Iupiter und einer der Vietoria aus dem Palatin gewesen sind; desgleichen das
Heiligthum der palatiuischen Salier, wo die zwols heiligen Schilde und der Augurstab des Romulus ausbewahrt wurden, sowie das Auguratorium selbst, die Ausmauerung, von der aus die Himmelszeichen beobachtet
wurden. Der uralte, der Sage nach von Romnlus in der Schlacht gegen die Sabiuer unter Tatins gelobte und spater erneuerte Tempel des Iupiter Stator ist unzweiselhast wiedererkannt worden, besonders mit Hiilse der
bekannten Stelle der l>orta AuFnni», in deren Nahe er sich besinden muBte. Letzteres Thor, spater Vstus ?orw kalatii genannt, hat immer den Haupteingang zum Palatin gebildet. Ein Theil der alten StraBe, die von der
Vi». Laor« zu ihm hinaussuhrte, ist gleichsalls wiederausgedeckt.
Neben den Heiligthumern waren auch die Wohnungen der Herrscher aus der Hohe, und sie blieben es, selbst als die Stadt sich viel weiter ausgebreitet hatte. Die Konige Tullus Hostilius, Aneus Martins und Tarquinius
Priseus hatten dort ihre Hauser, und in dem des letzteren hat wol auch der letzte Konig, Tarquinius Superbus, gewohnt. Es lag nahe am Tempel des Iupiter Stator, und die Konigin Tanaquil konnte aus seinen Fenstern zu
dem aus der Xov». Via versammelten Volke reden. Nach dem Sturze der Alleinherrschast wurden au Stelle der Konigshauser Heiligthumer gebaut; nur das des Tarquinius blieb stehen, um dem „Opserk6nig" als Wohnung
zu dienen. So erhielt der Palatin immer mehr einen geweihten und ehrwurdigen Charakter, und zugleich wurde er von den Burgern der jungen Republik als einstige Herrscherburg mit einer gewissen Scheu betrachtet, so
daB lange Zeit wenige Privathauser dort entstanden sein mogen. Als der Consul Valerius Publieola sich in der geweihten Gegend ein Haus bauen wollte, gerieth er in den Verdacht, nach der Konigsgewalt zu streben und
muBte das angesangene niederreiBen, und im Thale wieder ausbauen.
Diese Bedeutung des Palatin ist wohl zu beachten. Sie erklart es, weshalb am Ende der Republik die vornehmsten und hochstrebendsten Manner aus ihm sich anbauten und nur er der Sitz der neuen Alleinherrschast, des
Casarenthums, werden konnte. Iulius Casar zog als Pontisex Maximus in die alte Konig s wohnung, die Regia am FuBe des Palatin neben dem Vestatempel, ein. Oetavianus wohnte nach Suetons Angabe „ansangs am Forum
Romanum oberhalb der anularischen Treppe in dem sriiher dem Redner Calvus gehorigen Hause; nachher im Palatium, indessen in dem bescheidenen Hortensiusschen Hause". Aber kaum hatte er — es war im Iahre 36 v.
Chr., in welchem dieses Haus vom Blitze getrosten wurde — den groBen Sieg iiber Sextus Pompejus ersochten, so lieB er benachbarte Grundstucke dazu kausen und erweiterte das Haus zu einem Palast, Dieser wurde nach
der Schlacht bei Aetium die Residenz des Imperators, und damit war der Palatin wieder zur Herrscherburg gestempelt, welche die meisten solgenden Kaiser bewohnten; denn kein anderer Platz war so dazu pradestinirt, wie
das Palatium, an dem die alte monarchische Tradition hastete.
Schon in der letzten Zeit der Republik hatten viele hervorragende Manner Kauser aus dem Palatin, der nach den Beschreibungen damals schon einen stolzen Anblick geboten haben muB.
Gajus Graechus, der Volkstribun, wohnte aus dem Palatin. Er verlieB ihn aber und siedelte sich am Forum an, um sich popular zu machen, ein Beweis, daB die aus dem Hiigel Wohnenden immer im Gernche der
Vornehmheit und des Hochstrebens standen. Auch des Graechus Freund Fulvius Flaeeus besaB dort ein Haus, welches von den Optimaten nach ihrem blutigen Siege niedergerissen wurde. An seiner Stelle erbaute Q.
Catulus, der College des Marius, ein Haus mit einer Portiens, geschmuckt mit der Siegesbeute aus dem Cimbernkriege. Dicht dabei lag ein von dem Tribunen M. Livius Drusus erbautes Haus, das spater einem P. Crassus
gehorte und von Cieero stir drei und eine halbe Million Sesterzen (sast «14,000 Mark) gekaust wurde. Bekannt ist, daB sein Feind Clodius, nachdem er die Verbannung des Redners im Iahre 58 durchgesetzt hatte, auch den
BeschluB erwirkte, jeues Haus neben der Portieus des Catulus niederzureiBen, daB aber Cieero nach seiner Zuriickberusung den Wiederausbau aus Staatskosten erlangte. Ueber die Lage dieses Hauses, aus das der
glanzliebende und eitle Redner sich nicht wenig einbildete, wissen wir nur soviel, daB es an der dem Forum zugewendeten Seite und nicht weit vom Tempel des Iupiter Stator gelegen haben muB. Das Letztere geht daraus
hervor, daB Cieero als Consul am Morgen nach der Nacht, in welcher er durch Fulvia von dem Mordplane der Catiliuarier unterrichtet worden war, den Senat in jenen Tempel zusammenberies, in der Absicht, sich nicht
weit von seiner Wohnung entsernen zu miissen; das Erstere solgt aus einer AeuBerung Cieeros gegen Clodius, dessen Haus hinter dem seinigen lag. Er drohte diesem namlich, er wolle sein eigenes Dach erhohen, um ihm
den Anblick der Stadt, die er habe zerstoren wollen, zu entziehen.
Ein Haus von unerhorter Pracht war dasjenige, welches einige Iahre spater, namlich 53 v. Chr., derselbe Clodius von M. Aemilius Seaurus stir nicht weniger als vierzehn Millionen achthunderttausend Sesterzen (gegen
2,600 ,00») Mark) erwarb. Auch dies muB in der Nahe der schon genannten Hauser unweit der Heiligen StraBe gelegen haben, „wo man von der 8umma 8»«» Via in die nachste Gasse links einbiegt", und zwar an der Stelle
eines alten Hauses des Cn. Oetavius, Besiegers des Perseus von Maeedonien, welches Cieero als „aus dem Palatium" gelegen bezeichnet. Seaurus, der als Aedil im Iahre 58 einen kolossalen Auswand gemacht und stir die
vierwochentlichen Festspiele eigens ein prachtiges Theater erbaut hatte, schmiickte nachher mit den stir dasselbe angesertigten Statuen und Saulen, Tausenden an der Zahl, sowie den Gemalden, Mosaiken, Spiegelscheiben
u. s. w. den genannten Palast. Im Atrium desselben z. B. standen dreihundertundsechzig Saulen aus sogenanntem lueullischen Marmor, 38 FuB hoch, die eigens von den Nilinseln herbeigeschasst waren und deren Transport
die StraBen beschadigt hatte.
Wenn wir noch erwahnen, daB auch Catilina, Milo, M. Antonius der Triumvir und Ti. Claudius Nero, der Vater des Tiberius und Drusus, aus dem Palatin gewohnt haben und daB wahrend der Iahrhunderte der Republik
noch verschiedene Tempel, namentlich ein beriihmtes Heiligthum der GroBen Gottermutter Cvbele 191 v, Chr. und ein solches des Baechus dort gegriindet worden sind, so konnen wir nun zu den bedeutenderen Bauten der
Kaiserzeit iibergehen.
Der jetzige von den Farnese angelegte Eingang zum Palatin liegt an der Nordostseite ganz nahe dem Titusbogen, also unweit des alten Ausganges zur ?c>i-tk ZluFiouis. Wenn man die Freitreppe hinausgestiegen ist,
oberhalb deren aus antiken Gewolben, von Blumenbeeten und immergriinen Baumen umgeben, die hubsche Wohnung des Directors Pietro Rosa liegt, und sich von hier aus links wendet, so steht mau nach wenigen
Schritten vor dem Unterbau eines maBig groBen Tempels, vor dessen Front die Stelle eines alten Thores und ein Stuck einer FahrstraBe aus ungewohnlich groBen polygonen Steinblockeu zu sehen ist. Es sind der uralte
Tempel des Iupiter Stator, das palatinische Thor und der (,'Iivus I'ulatinus, der von der 8acra Via, die Novg, Via durchschneidend, nach dem Hiigel hinaussuhrte. Die Oertlichkeit wird mit den deutlichsten Ziigen von Ovid
in einer Stelle beschrieben, welche wegen einer Andeutung der Lage des Augusteischen Palastes merkwiirdig ist. Der Dichter, der am unwirthlichen Strande des schwarzen Meeres in der Verbannung lebte, seudet das dritte
Buch seiner Trauergedichte nach Rom und laBt es aus die Frage nach dem Wege zum kaiserlichen Palaste die Antwort erhalten:
„Dies sind die Foren des Casar,
Dies die StraBe, die nach Heiligthumern benannt.
Dies ist der Vesta Platz, die das Feuer und Pallasbild hiitet;
Hier war der kleine Palast Num»s, des Alten ,»dereinst.
Ietzo wende zur Rechten: Hier ist des P»latinms Psorte,
Iupiter Stator, und hier legte den Grund man zur Stadt."
Die topographische Schilderung konnte kaum deutlicher sein: Vom Forum schlagt man die Heilige StraBe. ein, geht am Vestatempel und der Regia voriiber, biegt rechts in den (Alivus I'al»tinu5 ein und steht vor dem
Thore und dem Statortempel.
DaB nun auch der Palast des Augustus nahe dabei gelegen haben, wenigstens von hier aus deutlich sichtbar gewesen sein muB, lehrt die weitere Beschreibung Ovids. Das Buch rust aus:
„Staunend betracht' ich die Dinge; da sallen mir glanzend in's Auge
Psosten, wassengeziert, gotterwiird'gen Palast-s.
Ist das Iupiters Haus? — so sragt' ich- es schien meinem Sinne
Ein Wahrzeichen davon jener eichene Kranz,
Als mir der Herr war genannt, so ries ich: Nicht also irrt' ich-.
Wahr ist-s, daB der Palast Iupiters Wohnung ist!
Warum also verdeckt gepslanzter Lorbeer die Thiire
Und der schattige Baum kranzt das erhabene Haar?
Etwa weil dieses Haus bestand'ge Triumphe verdiente?
Oder weil es geliebt stets der leueadische Gott?
Ist es eiu Festhaus selbst? Verbreitet es iiberall Feste?
Ist es des Friedens Bild, den es den Landern bescheert?"
Es ist schon gesagt worden, daB Oetaviauus, als er kaum den Weg zur Alleinherrschast betreten hatte, sein Haus aus dem Palatin zu einem Palaste umschus. Der kluge Mann unterlieB nichts, was, ohne Verdacht und
MiBstimmung zu erregen, seiner Stellung auch auBerlich Ansehen und Weihe geben konnte. Er vermied in seinem Hause alle iiberfliissige und iibermaBige Pracht; wohl aber machte er es ansehnlich und geraumig genug,
um mehr als ein bloBes Privathans zu sein. Er empsing dort die Beamten, die sremden Fiirsten und Gesandten, hielt dort Versammlungen und Berathuna.en ab und beries in sem Hans den Senat. So erhielt dasselbe einen
ganz hervorragenden Charakter, wurde gewissermaBen zu einem Staatsgebaude, und als nach dem Tode des Lepidus im Iahre 12 v. Chr, Augustus die hohe Wiirde des Pontisex Maximus mit seinen ubrigen Wurden
vereinigte, wuBte er seinem Hause sogar eine heilige Bedeutung zu geben. Er erklarte namlich, um nicht in die alte Amtswohnung des Oberpriesters neben dem Vestatempel ziehen zu miissen, einen Theil seines Palastes
zum offentlichen Gebaude, da iu einem solchen der Pontisex Maximus wohnen muBte, und erreichte damit, daB durch jene Wiirde, welche alle solgenden Imperatoren beibehielten, nicht bios seine Person, sondern auch der
kaiserliche Palast eine religiose Weihe empsing.
Eine andere auBerliche Auszeichnung, aus welche die oben eitirten Verse Ovids anspielen, hatte das Haus schon nach seiner Vollendung im Iahre 27 v. Chr,, in welchem dem Imperator der Titel „Augustus" beigelegt
wurde, erhalten. Aus SenatsbeschluB namlich wurden vor der Thiir zwei Lorbeerbaume gepslanzt und iiber derselben der Eichenkranz mit der Ausschrist Od (.'ivez 8erv»,ws, die Auszeichnung siir'Rettung von romischen
Burgern, angehestet, was Ovid anch noch in den Worten erwahnt, mit welchen Apollo die Taphne iiber ihre Verwandlung in eiueu Lorbeer trostet:
„An den erhabenen Psosten als treueste Wachterin wirst du
Vor der Thiire nun steh'n und inmitten den Eichenkranz schutzen."
In diesem Hause wohnte Augnstus bis zu seinem Tode, also vierzig Iahre lang. Nach seinem Tode stand es lange unversehrt, nnd noch zu Hadrians Zeit wurdeu Mobel und Gerathschasten aus Augustus Besitz darin
gezeigt.
Von seiner inneren Einrichtung wissen wir, daB es, wie die meisten Hauser, ein Peristyl, d. h. einen von einer Saulenhalle im Viereck umgebenen Gartenhos mit einer Fontaine hatte. Im Sommer ruhte er ost bei
offenstehenden Thuren im Schlaszimmer oder auch im Peristyl selbst bei dem platschernden Brunnen, wobei er sich von einem Sklaven sacheln lieB. Vierzig Iahre soli er hier dasselbe Schlaszimmer benutzt haben. Nur,
wenn er krank war, zog er vor, im Hause seines Vertrauten Maeenas zu weilen, was seltsam erscheint, da doch seine Gemahlin Livia immer um ihn war. Die Seinigen wohnten mit in dem Palaste. So seine Stiessohne,
seine Tochter Iulia mit ihrem Gemahl Mareellus, den der Kaiser adoptirte, seine Enkel und auch sein Feldherr Agrippa, der zweite Gemahl der Iulia; dieser seit dem Iahre 25 v. Chr., als das sriihere Haus des Antonius,
welches er und Messala im I. 30 zum Geschenk erhalten hatten, abgebrannt war.
Sind Reste des Augustus -Palastes vorhanden? Unter den jetzt vor uns liegenden Ruinen in den sarnesischen Garten, namentlich in der Nahe des Statortemvels, wo er nach Ovids Worten vermuthet werden muBte, sindet
sich nichts, was man dasiir halten kann. Dagegen ist unterhalb des Casino der ehemaligen Villa Mills und Raneoureil, des jetzigen Salesianeriunen-Klosters, bei den seit 1777 angestellten Nachgrabungen ein groBes
zweistockiges Gebaude entdeckt worden, dessen vollstandige in der oben erwahnten heimlichen Weise gewonnene Plane in Guattanis „Nouumenti inecliti Nov. s Die. 1785" herausgegeben sind. Dieses nach seiner
Ausplunderung wieder verschuttete und jetzt unzugangliche Gebaude wird, hauptsachlich wegen der mit den Bauten Agrippas ubereinstimmenden Ziegeleonstruetion, von Einigen stir den Palast des Augustus gehalten.
Dagegen scheint seine bedeutende Entsernung vom Statortempel und der ?nrta olnFoniu, zu sprechen, obwol es nicht unmoglich war, wenn keine anderen Gebaude dazwischen lagen, auch von dort aus seine Front zu
erblicken. Eine Entscheidung der Frage muB von der Wiederausnahme der Ausgrabungen in der Villa Mills erwartet werden. Gegenwartig sind nur wenige Zimmer des unteren Geschosses, das nach alien Beschreibungen
von groBer Pracht gewesen sein muB, und auch diese nur den Klosterinsassen, zuganglich. Das obere ist zerstort, und an seiner Stelle erheben sich ernst die machtigen Cypressen, die gleich Schildwachen langs des Randes
einer Terrasse stehen, welche von einem gewaltigen Ziegelnnterbau getragen wird und eine herrliche Aussicht iiber das Thai des Cireus Maximus und die griinen Abhange des Aventin gewahrt.
In demselben Iahre, in welchem Oetavianus die Erweiterung seines alten vom Blitze getroffenen Hauses in's Auge saBte, gelobte er auch aus demselben Terrain einen Tempel stir Apollo zu erbauen, nachdem die
Haruspiees erklart hatten, daB der Gott durch den Blitzschlag sich selbst jenen Ort ausgewahlt habe. Oetavianus bewies dabei um so groBeren Eiser, als er dem Apollo ganz besonders ergeben war und sich sogar gern siir
einen Sohn desselben halten lieB.
Bekanntlich schmiickte und vergroBerte Oetavian nach dem Siege bei Aetium den dortigen beruhmten Apollotempel, und drei Iahre spater, 28 v, Chr., weihte er den aus dem Palatin seierlich ein. Auch von diesem ist bis
zur Stunde noch nichts ausgesunden worden; die Vermuthung spricht dasiir, daB auch er im Gebiete der Villa Mills sich sinden wird.
Das Gotteshaus war groB und prachtig, wie es sich siir ein zugleich zur Verherrlichung der neu entstandenen Monarchic bestimmtes Votiv-Heiligthum ziemte. Es war aus Marmor von Luna errichtet, und seinen Giebel
kronte eine Statue des Phobus aus einem vergoldeten Viergespann. Der Vorplatz, die ost genannte H.rsa Arwlliuis, war von einer Halle aus asrikanischen Marmorsaulen mit vergoldeter Cassettendecke eingeschlossen, und
hier standen zwischen den zweiundsiinszig Saulen der einen Seite die Standbilder des Danans mit geziicktem Schwert und seiner siinszig Tochter, ihnen gegeniiber in der Area die siinszig Sonne des Aegnptus aus bronzenen
Rossen. In der Mitte des Platzes sah man eine MarmorStatue des leierspielenden Apollo und um den Altar am FuBe der Tempelstusen vier eherne Stiere von des beruhmten Myron Hand. Die Psorte des Tempels war mit
Elsenbeinreliess geschmiickt, welche die Verjagung der Gallier aus Delphi und die Todtung der Niobiden darstellten.
Im Innern stand die majestatische Gestalt Apollos zwischen Latona und Diana, angethan mit dem langen Gewande des Citharoden und in die Saiten der Lyra greisend, ein Werk des Seopas, unter dessen Basis die
sibyllinischen Biicher verwahrt lagen. Den Raum schmiickten DreisiiBe, die Augustus nach der Einschmelzung der ihm selbst errichteten silbernen Bildsaulen hatte herstellen lassen. Im Allerheiligsten stand ein Kandelaber
in Form eines Baumes, von dessen Zweigen Lampen in Gestalt von Aepseln herabhingen, einst von Alexander dem GroBen bei der Ersturmung Thebens erbeutet und dem Apollotempel im kleinasiatischen Kyme geschenkt.
In Verbindung mit dem Tempel hatte der Kaiser die beiden beruhmten Bibliotheken, die lateinische und die griechische, gegriindet, welche den zahlreichen in Rom lebenden Gelehrten und Schriststellern das Studium
und die Forschung erleichterten und viel zum Ausschwung der Literatur beitrugen. In den Biichersalen standen Portrats der beruhmten Schriststeller und eine Slawe des Kaisers als Apollo. — In einem Saale mit
flachrundem AbschluB, der an einen andern ahnlichen anstoBt und nahe der Mitte des Sudwestrandes unweit des vermeintlichen Hauses des Augustus liegt, hat Rosa die Bibliothek erkennen wollen. Doch ist diese
Bestimmung ebenso sraglich, wie die des andern mit rundumlausenden Sitzstusen versehenen als „Akademie". Beide haben etwa 20 Meter Lange und sast die gleiche Breite und sind von NNW nach SSlii gerichtet.
Der Tempel brannte im Iahre 363 n. Chr. nieder, wobei mit Miihe die sibyllinischen Biicher gerettet wurden, und ist, da lauter christliche Kaiser solgten und 394 durch Theodosius die heidnischen Tempel geschlossen
wurden, wol nicht wieder ausgebaut worden. Er muB mit der Portieus und der Bibliothek aus dem Terrain der Villa Mills und des an dieselbe anstoBenden gleich ihr jetzt unzuganglichen und noch der Ersorschung
harrenden Klosters S. Bonaventura gelegen haben. Bei der Erbaunng des letzteren um 1675 hat man viele Spuren von Prachtgebauden mit Resten kostbarer FuBboden und Seulpturen ausgesunden, darunter Saulen von
asrikanischem Marmor und nach Flaminio Vaeeas Versicherung achtzehn bis zwanzig weibliche Marmortorsen, die er siir Amazonen hielt, Bianchini aber mit groBerer Wahrscheinlichkeit siir Reste der Danaiden aus der
Tempelportieus erklarte. Bianchini gibt sogar einen Plan des Tempels mit einer rundumlausenden Halle und zwei Salen, welche denen in den sarnesischen Garten ahnlich sind und bezieht sich dabei aus altere
Untersuchungen des Panvini, der noch Reste da von gesehen hatte. Doch beweist nichts, daB dies nicht ebensowol der Vestatempel oder der der Cybele hatte sein konnen.
Den Vestatempel hatte Augustus aus dem von ihm gekausten Grund neu errichtet, den der Cybele erneuert. Der letztere war im Iahre 204, als man in der Noth des hannibalischen Krieges den schwarzen Meteorstein aus
Pessinus, das Bild der „GroBen Gottermutter vom Ida", nach Rom gebracht hatte, in Angriff genommen und dreizehn Iahre spater geweiht worden. Schon Metellus hatte ihn einmal erneuert. An die Uebersuhrung des
Bildes kniipste sich die Erzahlung von der wunderbaren That der Vestalin Claudia, die aus einem eapitolinischen Relies dargestellt ist. Als das Schiff mit den Heiligthumern aus einer Untiese im Tiber sestgesahren war,
wars sie, deren Rus einigen Makel erlitten hatte, demselben ihren Giirtel zu und zog es unter dem Ruse: „Folge mir, so wahr ich eine reine Iungsrau bin!" vorwarts. — Vor der Schlacht von Mutina 43, in Folge deren der
neunzehnjahrige Oetavian sein erstes Consulat errang, soli die Bildsaule der Cybele, die nach Osten schaute, sich nach Westen gewendet haben. Sie mnB noch im Iahre 394 gestanden haben, denn es wird erzahlt, daB
damals Serena, des Stilicho Frau, eine kostbare Halskette derselben abgenommen habe.
Auch dieser Tempel scheint ein Rundtempel gewesen zu sein und nebst einem Baechusheiligthum am Abhauge nach der Vi» 8aera, vielleicht wo sich von dieser der Nivus kalktinus abzweigte, gelegen zu haben. Denn es
wird kaum ein anderer als dieser sein, dessen Martial Erwahnung thut, indem er seinem Buche den Weg zum Palaste Domitians beschreibt, der mit jenem bei Ovid beschriebenen vollig ubereinstimmt. Er sagt:
„Welche StraBe du nimmst? — Am nahen Tempel des Castor,
Am jungsraulichen Haus Vestas gehe vorbei,
Steig- aus dem Heiligen Weg zum Palatium aus, dem verehrten,
Wo des obersten Herrn BildniB am meisten erglanzt.
Und nicht halte dich aus die Masse des Strahleukolosses,
Den es sreut, daB er selbst Rhodus- Werk iiberragt.
Biege du ub. wo das Haus sich des seuchten Lyaus erhebet
Und, korybantenbemalt, Cybeles Kuppelgebau."
Von dem Tempel der Iuventas, welchen Augustus aus dem Palatin gegriindet, ist bis jetzt nichts gesunden. Dagegen dars man glauben, einen alteren Tempel wiederentdeckt zu haben, und zwar den des Iupiter Vietor,
welchen Q. Fabius Rullianus in der schweren Schlacht von Sentinum 295 gelobt hatte. Er liegt aus dem nordlichen Theile der Westseite, wo noch das VerzeichniB der Regionen in der Zeit Coustantins ihn nennt. Sein
hohes Alter beweisen die Reste einiger urspriinglich mit Stuck uberzogener Peperinsaulen sowie die groBen Tuffblocke der Fundamente. Der sast quadratische Unterbau, bei einer Restaurirung mit einem Marmorpaviment
umlegt, ist vollstandig erhalten. 26 Stusen siihren in suns Absatzen von Westen her zu seinem Eingang hinaus.
Nach Augustus bestieg sein Sties- und Adoptivsohn Tiberius, der Livia Sohn, den Casarenthron und richtete sich mit kaiserlichem Glanze aus dem Palatin ein. Hatten die Anlagen des Augustus- wesentlich die siidliche
Halste des von einer Einsenkung durchschnittenen Hiigels eingenommen, so nahm nun Tiberius sast die ganze Nordhalste, soweit sie nicht von Heiligthumern besetzt war, siir sich in Anspruch, Der ausgedehnte Palast, den
er, wahrscheinlich in der Gegend des von seinem Vater Nero ererbten Hauses, aussiihrte, ist die betrachtlichste Ruine der sarnesischen Garten, doch ist nichts als die machtigen Grundmauern nebst mehreren
durchkreuzenden Corridoren des Erdgeschosses und einer Anzahl von kleinen AuBenzimmern erhalten. Diese wie die Corridore sind gewolbt, z. Th. noch mit Resten der Stuckirung und der MosaiksuBboden versehen,
gestatten aber keinen SchluB aus ihre einstige Bestimmung. Der groBte Theil ist noch mit Erde angesiillt, und die Gewolbe tragen einen Garten, in welchem die Romer Sonntags unter bluhenden Rosen, Oleander und
immergriinen Eichen spazieren gehen, ohne an den surchtbaren rathselhasten Mann zu deuken, der von hier aus die einsichtigsten und segensreichsten Anordnungen in das gewaltige Reich erlieB, und dann wieder seine
Umgebung mit Furcht und Entsetzen ersiillte. Seine schrecklichsten Thaten sah sreilich nicht Rom, sondern die schone Insel Capri, aus der er die letzten els Iahre seines miBtrauischen Greisenthums zubrachte.
Dagegen spielten die Tollheiten und Greuel des eiteln Wiistlings Caligula sich hauptsachlich aus dem Palatin ab. Die kolossalen Pseiler und Wolbungen, die uns bei der Annaherung vom Forum her zuerst iu's Auge
sallen, die hohen ubereinander gethurmten Gemacher und Untergeschosse, aus denen jetzt das Casino steht und die durch die sarnesischen Anlagen zum Theil in Grotten und Souterrains verwandelt waren, gehoren den
Bauten Caligulas an. Von unsinniger Verschwendungs- und Bausucht ersaBt, dehnte er den tiberianischen Palast noch weit iiber die Abhange nach dem Forum hin aus. Der (llivus Viewriae, der Hain der Vesta oberhalb der
Via Xova und selbst der an der Nordspitze liegende von Tiberius erbaute Tempel des Augustus wurden von den Wolbungen des neuen Palastes iiberdeckt. Am bekanntesten ist sein unsinniges Unternehmen, dieses Haus
durch eine Pseilerbriicke mit dem Tempel des Iupiter aus dem Capitol zu verbinden, aus der erklarten Absicht, einer Einladung des Gottes, mit dessen Bildsaule er ost sprach, zu solgen und leichter mit ihm zu verkehren.
Die riesigen Ausatzpseiler dieser Briicke und selbst ein Theil ihres Marmorgelanders sind noch vorhanden; ebenso Ruinen des Palastes, welcher sich bis zum Tempel der Dioseuren am Forum ausdehnte und den letzteren
als Vestibulum noch mit umsaBte. Moderne Hauser sind aus und zwischen die Rninen gebaut, und ein paar gewaltige Mauern umschlieBen jetzt ein Orangengartchen hinter der Kirche S. Maria Liberatriee. — In einem
verdeckten Gange des Palatins, vermutlich iu einem der tiberianischen Corridore, war es, wo Caligula, aus dem Cireus zuriickkehrend, von den Verschworenen ermordet wurde. Seine Leiche wurde eilig nur halb verbraunt
und uothdiirstig verscharrt, sein Andenken verwiinscht, sein Name aus Monumenten vertilgt. Wenige Bilder sind von ihm vorhanden. Aber die Riesentrummer des Palatins illustriren auch dieses Wahnwitzigen Geschichte.
Der Oheim des Ermordeten, der blodsinnige Claudius, war in der Begleitung Caligulas gewesen und hatte sich aus Angst in den Palast gesliichtet und iu eiuem Erkerzimmer versteckt. Iammernd hervorgezogen, ward er
von den Pratorianern iu ihr Lager gesuhrt und zum Kaiser ausgerusen. Am nachsten Tage, nachdem sein Zagen besiegt war, kehrte er in das Palatium zuriick und lieB sich dort vom Senate hnldigen.
Nach seinem gleichsalls im Palatium und zwar durch seine Frau Agrippina veranlaBten gewaltsamen Tode wurde dasselbe die Residenz Neros und damit der Schauplatz nie gesehener Orgien, iippiger Feste und vieler der
exeentrischen Seenen, durch welche das Leben dieses Kaisers bezeichnet ist. Seiner MaBlosigkeit nud Prachtliebe geniigte das Vorhandene bei weitem nicht. Was an Privathauseru etwa noch ans dem nordlichen Theile des
Palatins sich besand, muBte weichen, um seinen Erweiterung sbauten Platz zu schaffen, die er mit aus dem ganzen Reiche zusammengerafften Kunstwerken schmiickte. Ia der Palatin geniigte ihm nicht mehr. Er baute sich
die sogenannte Downs Iransitoria, das „Passagehaus", welches den Palatin mit den „Garten des Maeenas" aus dem Esquilin verbinden sollte, und nachdem dies durch den groBen Brand des Iahres 65 zerstort war, legte er
das beriihmte und beriichtigte „Goldene Haus" an, welches an Ausdehnung wie an verschwenderischer Pracht alles Dagewesene iibertras. Es war eine Parkanlage mit Hiigeln und Thalern, Wiesen und Bosquets,
Springbrunnen, Seen und den verschiedensten Gebauden, die vom Palatin sich iiber die ganze Velia und die Carmen bis weit aus den Esquilin hinaus erstreckte. Das Atrium besand sich da, wo jetzt die Reste des
hadrianischen Venus- und Romatempels stehen. Im Vestibulum stand die 120 FuB hohe eherne vergoldete Statue Neros als Sonnengottes mit dem Strahlenkranze, deren Basis man vor dem Colosseum sieht.
Das Goldene Haus hatte nicht viel langeren Bestand als die Herrschast seines Urhebers. An der Stelle des groBen Teiches erbaute Vespasian das Amphitheater, iiber einem Theil der Gebaude Titus seine Bader. Die
kaiserliche Residenz ward wieder aus den Palatin beschrankt, aber etwas nach Siiden verlegt, wo Domitian den neuen glanzvollen Gebaudeeomplex vollendete, der unter dem Namen der slavischen Palaste den
besterhaltenen Theil der neuesten Ausgrabungen ausmacht. Er liegt zwischen dem tiberianischen und dem augusteischen Hause, theilweise noch unter dem Gebiete der Villa Mills. Sein Atrium beginnt unmittelbar beim
Statortempel und der ?ortH ?alatii und erstreckt sich, an den Tempel des Iupiter Vietor angelehnt, bis an den Sudwest-Abhang des Berges.
Dank der guten Conservirung sind wir hier sogar im Stande, die einzelnen Raume, welche im GroBen ein Abbild des gewohnlichen romischen Hauses sind, zu bestimmen.
Die Haupttheile des romischen, allerdings sriih nach griechischer Weise modisieirten Hauses sind, wie wir es in Pompeji durch weg sinden, die zwei hintereinander liegenden reetangularen Hose, das Atrium und das
Peristyl, beide von einer bedeckten Halle umgeben, aus welche die Zimmer miinden, und durch ein zwischen beiden liegendes Hauptzimmer, das Tablinum, von einander getrennt.
Das Atrium sehlt bei dem flavischen Palaste. Dagegen sind alle andern Theile, natiirlich vergroBert und den Bediirsnissen der kaiserlichen Residenz, in welcher die Regierung des Reiches eoneentrirt war, angepaBt, ihrem
Plane nach wohl zu erkennen, da selbst die Mauern bis zur Hohe von 3 — 6 Metern erhalten sind.
Aus dem ebenen Vorplatz am palatinischen Thore stehend hat man
Noid und Siid. VI, 18. 2',
eine hohe Rampe vor sich, die jedensalls einst durch eine Freitreppe zuganglich war. Von ihr aus tritt man durch weite Thiiren in drei nebeneinander liegende und auch unter sich eommunieirende Sale. Der groBte in der
Mitte, im Privathause das Tablinum, das Cabinet des Hausherrn, ist hier als Thron- und Empsangssaal zu denken, bestimmt zu wichtigen Regierungssunetionen und Reprasentationen der kaiserlichen Macht. An den
Wanden sind rechts und links abwechselnd viereckige und runde Nischen, welche mit Statuen geziert waren. Einen Hereules und einen Baechus von Basalt hat man umgestiirzt dort gesunden. An der Ruckwand dem
Eingange gegeniiber ist eine groBe halbrunde Nische stir den Thronsitz des Imperators; dort sieht man Reste des FuBbodens und der Wandbekleidung, die durch weg aus verschiedenartigem buntem Marmor bestand. Nach
dem Berichte Bianchinis, welcher der Ausgrabung im Iahre 1720 beiwohnte, wurden daselbst noch sechzehn Saulen von Giallo autieo, Paonazzo und andern Marmorsorten mit zum Theil auBerordentlich kunstreich
gearbeiteten Basen und Capitalen ausgesunden, welche vor den Nischen standen, sowie zahlreiche Marmortaseln von der Wandbekleidung. Zwei der schonsten Saulen, 28 palmi hoch und 3,25 im Durchmesser, wurden stir
3000 venetianische Zeechinen verkaust. Wo sind sie und der iibrige Reichthum hingekommen? Man sieht jetzt nicht viel mehr als die Ziegelmauern, diese aber mit der jener Zeit eigenen Soliditat und Meisterschast
eonstruirt, welche sie sast neu erscheinen laBt. — Der Saal ist 150 rom. FuB lang und 120 FuB breit.
Ihm zur Rechten liegt ein kleinerer oblonger Saal mit Spuren zweier Saulenreihen und einer erhohten halbrunden Tribune, zu welcher man, gerade wie in der Basiliea von Pompeji, aus zwei halbversteckten schmalen
seitlichen Treppen hinaussteigt. Offenbar haben wir auch hier eine Basiliea vor uns, in welcher der Kaiser Recht gesprochen hat, und der Rest einer marmornen Gitterschranke kann, auch wenn er nicht an Ort und Stelle
gesunden sein sollte, sehr wohl sich dort besunden haben, um den Raum stir die Parteien von dem der Advoeaten zu trennen. Aussallig ist ein hoher starker Ziegelpseiler in der vorderen nordlichen Ecke der Basiliea.
Links vom Tablinum besindet sich ein noch kleinerer mit mehreren Hinterzimmerchen in Verbindung stehender Saal, welcher jetzt als IArai-iuiu, d. h. Hanskapelle, bezeichnet wird; ob mit Recht, muB dahinstehen, da
der hier ausgestellte kleine Altar mit den Reliesbildern der Laren und des Familiengenius nicht hier gesunden worden sein soil.
Hinter den genannten drei Salen dehnt sich nun das imposante Peristyl, ein Saulenhos von iiber 3000 H! Meter aus, von welchem ein Theil noch durch den Garten der Salesianerinnen bedeckt wird. Eine Portieus aus
Saulen von karischem Marmor umgab hier einen Garten mit Blumen und Wasserwerken, und ein Sockel aus Giallo antieo zog sich rings um die Wande, von dem aber nur geringe Reste zu sehen sind.
Um das Peristyl liegen, wie in alien Privathausern, kleinere und groBere Zimmer, deren Bestimmung sich nicht sicher mehr nachweisen laBt. Ein groBer Saal aus der hinteren Seite mit Resten eines schonen
MosaiksuBbodens aus Marmor und Porphyr hat wol als 'lrielinium, d. h. Speisesaal, gedient; denn er hat die stir einen solchen iibliche Lage mit dem sreien Blick aus die Beete und Springbrunnen des Peristyls. Zur Rechten
des Trieliniums besindet sich ein kleines Zimmer mit einem erhohten elliptischen Bassin, das ganz mit weiBem Marmor ausgelegt ist, mit Saulchen und Statuen, wahrscheinlich auch Gewachsen geschmiickt war und in
welches ein Wasserstrahl hineinsiel, dessen bleierne Leitungsrohren erhalten sind. Hier konnte man, behaglich aus Stuhlen in den Nischen sitzend, nach dem Mahl sich der Kiihle, des Wassergeplatschers und des
Blumenduftes ersreuen. — An das Peristyl stoBt noch ein kleiner Durchgangssaal, der es mit einer nordlichen AuBengallerie, welche an Stelle der sonst ublichen lauess als Communieation zwischen Atrium und Peristyl
diente, verbindet, und neben dem Durchgangssaal sind je vier halbrunde mit dem Riicken aneinandergelehnte kleine Gemacher, in denen man wol sxs6i-».e, Ruheplatze mit dem Blick in's Freie, zu sehen hat.
Die planmaBig symmetrische Anlage und gleichmaBige Construetivn dieses Palastes beweist, daB er in einem Zuge, die zahlreichen Ziegelstempel, daB er wirklich von Domitian erbaut worden ist. Wenn er von
geringerem Umsange war, so muB er nicht viel weniger prachtig gewesen sein als das Goldene Haus. Der Schmeichler Martiai vergleicht ihn mit einer Gotterwohnung und sagt, Iupiter miisse besorgen, daB das Haus sich
bis zum Himmel erhebe; der ermudete Blick erreiche kaum die gewaltig hohen Wolbungen und miisse die goldenen Cassettenselder stir den Himmel halten. Er erwahnt, daB kostbares Gestein aus Libyen, Ilium, Syene,
Chios und Luna dort verwendet sei und setzt der Lobpreisung die Krone aus, indem er ausrust:
„Dieser Palast, o Erhabner, der mit dem Scheitel die Sterne
Riihrt, ist dem Himmel gleich, aber nicht gleich seinem Herrn."
In der That war der Palast, der auch den nachsten Kaisern als Residenz diente, der Herren der Welt wiirdig, und wenn sie von hier aus aus die seit Augustus in Wahrheit zu einer marmornen gewordene und noch immer
sich verschonernde Stadt hinabblickten, so konnten sie mit noch groBerem Rechte, als die Dichter der augusteischen Zeit, sagen, daB keine Stadt der Erde Rom gleich komme. Nach Sudwesten blickte man aus den Cireus
Maximus mit seinen Triumphthoren und den in ungeheuren Ellipsen ansteigenden an Spieltagen von einem meerahnlichen Menschengewoge ersullten Sitzreihen nieder. Im Westen glitt der Blick iiber die Heiligthiimer des
I'oruiu Loai-ium und den von bunten Barken belebten Tiber hinuber nach dem Ianieulum mit seinen villenbesetzten Abhangen, die Abends in seenhastem Glanze leuchteten, und zu dem Cireus in Neros vatieanischen
Garten, die einst durch Tausende von Christen als Fackeln erleuchtet worden waren. Nordwarts ragten in der Feme die statuengeschmiickten Theater des Pompejus und des Balbus, naher das des Mareellns und die
Prachtbauten des stolzen Capitols empor — Alles eitel glanzender Marmor. Welcher Anblick aber erst in der Tiese gen Norden und Osten, wo ein Prachtsorum neben dem andern angelegt war: das des Casar, des Augustus,
des Vespasian, des Nerva, des Trajan — alle angesiillt mit Tempeln, Basiliken, Saulenhallen, Statuen und Triumphbogen! Gerade gegeniiber der Front des Palastes lag an der Velia der imposanteste aller Tempel Roms, der
der Venus und Roma, von Hadrian 135 nach seinem eigenen Entwurse erbaut, und neben ihm endlich erhob sich, den Palatin noch uberragend, der Wunderbau des slavischen Amphitheaters. Neben ihm und den Thermen
des Titus vorbei aber schweiste der Blick, wie jetzt, in die weite Landschast, die aber damals nicht, wie jetzt, melancholisch, ode und verlassen, sondern bis zu den sernen Albanerbergen von schimmernden Landhausern
bedeckt war, daB sie wie eine Fortsetzung der endlosen Stadt erschien.
UngewiB ist, ob eine an die Riickseite des domitianischen Palastes sich anschlieBende Portieus, von deren Cipollin- Saulen einige in Hohe von 6 Metern noch ausrecht stehen, sowie die beiden als „Akademie" und
„Bibliothek" (?) bezeichneten Sale noch zu jenem Palaste gehort haben. Derselbe ist iiber alteren durch ihn ganz verdeckten Bauten errichtet, die zum Theil aus vorsullanischer Zeit herstammen miissen, da sie aus dem
spater nicht mehr verwendeten romischen Gestein — vom Caelius — bestehen. Aus dem Peristyl kann man in ein paar hohe unterirdische Gemacher hinabsteigen, die 1726 entdeckt und ohne Grund mit dem Namen „Bader
der Livia" bezeichnet worden sind. Sie sind gewolbt und hatten an der Decke schone, jetzt verblichene Malereien in WeiB, Blau und Gold bewahrt. Man sand sie ohne Thiiren und Fenster, woraus zu schlieBen ist, daB sie
nach der Ueberbaunng durch den slavischen Palast iiberhaupt nicht mehr gebraucht worden sind.
Nerva erklarte den ganzen Palast zum Staatsgebaude und lieB daran schreiben: Asaes publicas. Trajan und Hadrian nahmen einige Veranderungen vor. Unter Commodus 191 n. Chr. sand ein Brand statt, und dieser wird
die Ursache gewesen sein, weshalb dieser Kaiser einen neuen Palastbau unternahm, den Septimius Severus sortsetzte und erweiterte. Der einzige noch sreie Raum war die Siidseite, und der gewaltige Ruineneomplex, den
wir hier anstaunen, gehort den Bauten jener beiden Kaiser an.
Ehe wir zu diesen hinuberw andern, wollen wir noch ein Privathaus aus der Noroseite betrachten, welches allein von den zahlreichen Kaiserbauten nicht verdrangt worden ist. Es ist das des Prators Ti. Claudius Nero,
ersten Gemahls der Lima und Vaters des Kaisers Tiberius, in welchem Livia mit ihrem Sohne gelebt haben wird, be vor sie Augustus heirathete, und in das sie nach des Letzteren Tode zuriickkehrte. Erhalten ist eine
ziemliche Anzahl kleiner Diener- und Wirthschastsraume aus gutem opus retieulkwm und das Atrium nebst Vestibiil und vier Zimmern, welche mit schonen Fresken in pompejanischer Weise bemalt sind. Das Haus lehnt
sich an die Siidwestecke des groBen tiberianischen Palastes an, und man gelangt von diesem aus mittelst einer abwarts suhrenden Treppe in das Atrium, einen mosaieirten Hos mit der Basis eines Altars. Von demselben aus
tritt man rechts in das oblonge Trielinium, das mit Landschasten, Thieren und GesaBen bemalt ist und seine Farben, namentlich ein seuriges Roth, in bewundernswerther Frische bewahrt hat, geradeaus aber in das
Tablinum und zwei Fliigelzimmer, die gegen das Atrium ganz offen sind und dereinst durch Vorhange abgeschlossen wurden. Das Tablinum hat Wandgemalde von seltener Vollendung, die durch die auch in Pompeji
allgemein angewendete gemalte Saulen- und Veranden-Architektur unterbrochen werden. An der Hinterwand ist — als ein Ausblick in's Freie gedacht und durch treffliche Perspective ausgezeichnet — ein Seebild mit
Polyphem und Galatea, rechts Io, Argus und Merkur und eine StraBenseene. Zwei kleinere Bilder mit Opserdarstellungen sind wie zusammenlegbare Taselbilder gemalt. Die rechte Ala ist mit pomposen Blumenguirlanden,
Masken und einem gemalten Fries mit eigentiimlichen landschastlichen und sigiirlichen Seenen, die linke mit anmuthigen Fliigelgestalten und Arabesken oberhalb brauner, roth und grim eingesaBter Flachen geschmiickt.
Das Ganze macht den Eindruck eines eleganten und wohnlichen Heims, und man mag sich recht wohl die intrigante Livia hier in Beratung mit ihren Vertrauten oder im einsamen Nachsinnen iiber die Plane denken, die sie
in den nahen Palasten auszusuhren beabsichtigte.
In dem sudlichen Ruineneomplex, zu welchem uns ein verbindender Gartenpsad um die Villa Mills herumsuhrt, sehen wir zuerst eine Rennbahn von einer Portieus umgeben, die mit Pseilern und Halbsaulen versehen
war. An ihrem Ende bei dem halbrunden AbschluB bezeichnet ein Wasserbassin das Ziel, um welches die Wettlauser herumzulausen hatten. Es ist das Stadium Domitians, welches sich genau an die Sudgrenze der Villa
Mills, also muthmaBlich an die Bauten des Augustus, anlehnt und mit den im Garten des Klosters Bonaventura besindlichen ubrigen domitianischen Gebauden in Verbindung steht. — In der Mitte der sudlichen Portieus
besinden sich drei zum Stadium gehorige Gemacher, in deren einem Stuck und Malereien gut erhalten sind. Ueber diesen ist spater eine gewaltige halbrunde gewolbte Apsis oder Loge — vielleicht zum Anschauen der
Wettlause — errichtet worden, die von einem bedeckten Gange mit machtigem Cassettengewolbe umgeben ist.
Ein Gewirr von noch nicht genau bestimmten Gemachern durchzieht in mehreren Stockwerken diesen Theil des palatinischen Hiigels. Die zahlreichen groBen und kleinen Badezimmer, zum Theil mit Cassettengewolben
und Stuckverzierungen, gehoren den Bauten des Commodus an, die riesigen Unterbauten endlich, die am weitesten nach Sudwesten vortreten, denen des Alexander Severus. Wer den Palatin besucht, versaumt nicht iiber die
schmale, holzerne Briicke zu gehen, welche eine Liicke in einem der riesenhohen Gewolbe uberspannt, und das Plateau der Severusbauten zu betreten, von dem man, namentlich bei Sonnenuntergang, eine unvergeBliche
Aus sieht iiber den sudlichen Theil der Stadt und die Campagna bis zu den Albanerbergen genieBt.
Spurlos verschwunden ist ein namentlich bezeichnetes Gebaude de« Septimius Severus, das Lspti-ouiun,, obwol von demselben bis zum Ende des sechzehnten Iahrhunderts bedeutende Reste vorhanden waren. Es lag an
der auBersten Siidspitze des Palatin, und war von dem Kaiser, der aus Asrika stammte, mit groBem Auswande dort errichtet worden, um seinen durch die Porta Capena nach Rom kommenden Landsleuten sogleich in die
Augen zu sallen. Aus Abbildungen bei Du Porae und Gamueei sieht man noch eine Ruine von drei Stockwerken mit Saulengallerien oder Logen korinthischer Ordnung, welche von Sixtus V. abgebrochen und in den
Vatiean geschafft wurden — eins der zahllosen Beispiele von Zerstorungen der romischen Monumente, welche man den „Barbaren" zuzuschreiben liebt.
Auch Elagabal und Alexander Severus errichteten noch Bauten aus dem Palatin, und zwar der Erstere einen Thurm von schwindelnder Hohe, dessen FuB er mit Gold und edeln Steinen umgeben lieB, um, wenn er sich
durch einen Sturz von dem Thurme das Leben nehme, wenigstens unter Pracht und Kostbarkeit umzukommen.
Unbestimmbare Ruinen, meist gewolbte Zimmer, sieht man noch am Ost- und Nordost-Abhange des Palatin. Sie sind versteckt im Griin der Garten und Vignen, aus denen malerisch einige der neronianischen Bogen der
H.yua 01auai», ausragen.
Aus der Seite des Cireus Maximus endlich und zwar nahe den machtigen Unterbauten der Palastloge, aus welcher die Kaiser den Cireusspielen zusahen, ist noch ein Zimmereomplex ausgegraben worden, der durch eine
Anzahl von Grassiti, d. h. den in Pompeji so hausigen Einkritzelungen aus dem Stuck der Wande, Interesse gewonnen hat. Eine derselben, welche besagt: (Aol-illtduzexitAepAeaAoFio, hat die vermuthungsweise Bezeichnung
dieser Raume als ?aeaaAoFiuui, d. h. Erziehungsanstalt der kaiserlichen Selaven, veranlaBt, und allerdings lassen sowol Inhalt als Form der mannichsaltigen lateinischen und griechischen Bemerkungen und die karrikirten
Zeichnungen sich recht wohl aus kecke Schulerhande zuriicksiihren. Es sind darunter viele Eigennamen, manche mit groBen Buchstaben wie kalligraphische Uebungen ausgesiihrt, z. B. ?LI.ici ct>A!X! — LaVTsAIAioV
ZA<I!A1I01I - H.VNNI 8IL7IIH.M - I.ILH ,AV8 N?I800?V8 - 8V7NNVV8 LIVI - «0NDIH.NV8 - /Al'f ITMAc :e.
Unter der Zeichnung eines Esels, der eine Miihle dreht, steht die launige Bemerkung: Iladora, a5slls, cAuomoao eAo IaborAvi, «t proavrit tibi — „Arbeite, Eselein, wie ich gearbeitet habe, und es wird dir gut thun." Die
merkwiirdigste ist eine jetzt im Kirchnerianischen Museum verwahrte Spottinschrist aus das Christenthum. Neben einem Manne mit Pserde- oder Eselskops, der an's Kreuz geheftet ist und neben dem ein Anderer steht,
liest man: /A-K!"»A0<I «L1U11 650!,>1 „Alexamenos betet Gott an".
Als die hier noch verspottete Religion im romischen Reiche zum Siege gelangt war, ging es mit dem Glanze des Palatins zu Ende. Schon nach der Theilung des Reiches unter Dioeletian blieb Rom nicht mehr die
gewohnliche Residenz der Kaiser; Constantin machte Byzanz gar zur Hauptstadt. Nach dem Sturze des westromischen Reiches durch Odoaker nahm dieser nicht in Rom, sondern in Ravenna seinen Sitz. Ebenso that sein
Besieger und Nachsolger Theodorich und die ostromischen Statthalter, die Exarchen. Theodorich siihrte noch einige Bauten aus dem Palatin aus, und die byzantinischen Kaiser ernannten im 7. Iahrhundert „Intendanten des
Palatiums". Nach der Chronik von Monte Cassino kam 629 der Kaiser Heraelius, nachdem er das Kreuz wiedergewonnen, nach Rom, „wurde vom Senat aus den Augustusthron des Casarenpalastes gesetzt", mit dem
Diadem geschmiickt und zum Alleinherrscher gemacht. Aber dies war die letzte Erneuerung der alten Bedeutung des Palatins. Schon langst war der Brauch ausgekommen— mindestens seit dem 3. Iahrhundert — jede
Residenz des Kaisers Palatium zu nennen. Im 8. Iahrhundert wohnten die „Herz6ge" von Rom in dem schon halb versallenen und unzahlige Male gepliinderten Palast.
DaB schon im 10. Iahrhundert das Palatium kaum mehr beachtet ward und spater immer mehr verwiistet wurde, ist schon gesagt worden; ebenso, daB wichtige Ausgrabungen erst im vorigen Iahrhundert gemacht worden
sind.
1846 begann der Kaiser Nieolaus von RuBland in der ehemaligen Vigna Nussiner aus der Seite des Cireus Maximus Ausgrabungen anstellen zu lassen, welche unter der Leitung Veseovalis zur Aussindung von Resten
der altesten Mauer und von dem sogenannten Paedagogium suhrten, woran sich die Entdeckung des kaiserlichen Pulvinar und einer Strecke der Via Nova anschloB.
Am 4. November 1861 haben die von Napoleon III. veranlaBten Arbeiten in den sarnesischen Garten begonnen. Schon am 16. November hatte Rosa den Umsang des Domitianischen Palastes sestgestellt und die Grenzen
der Augusteischen, Tiberianischen und Caligulaschen Bauten in groBen Ziigen bestimmt.
Was diese Arbeit des Nestors der italienischen Archaologen bisher ergeben, haben wir gesehen. Eigenthumsverhaltnisse haben der Vollendung der Ausdeckungen noch Hindernisse in den Weg gelegt; doch werden auch
diese schwinden, und es wird dereinst im Zusammenhange vor uns liegen, was die Iahrtausende von den Menschenwerken aus dem ehr wiirdig sten der romischen Hiigel iibrig gelassen haben. Ist derselbe schon jetzt ein
sprechender und imposanter Zeuge der glanzendsten Periode Roms, so wird diese seine Eigenschast dadurch noch gesteigert werden. Kann er dann auch nicht die malerische Erscheinung bewahren, die ihm die Vignen, die
Kloster und Garten gegenwartig noch verleihen, so wird er deshalb nicht weniger anziehend sein; denn allenthalben werden wir an Stelle der Baume und Blumen Menschenwerke aus dem Boden auserstehen sehen und mit
Sophokles sagen:
„Vieles Gewaltige gibt's, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch."
Von
lltarl Gutzkow.
— sachseilhausen. —
essing spricht im Ansang seiner Dramaturgic einsach und nuchtern, wie seine Weise war, dieselbe Wahrheit aus, welche eine spatere Zeit, die einen blumenreicheren Ausdruck liebte, dahin bezeichnete, daB dem Mimen die
Nachwelt keine Kranze flechte.
Man kann nicht sagen, daB Lessing seine Analysen der in Hamburg angetroffenen Spielweisen, besonders Ekhoss, in der sentimentalen Absicht schrieb, das Andenken dieser Kunstler zu erhalten. Es ist wahr, in seinen
Berichten geht sein jugendlicher Feuereiser zuweilen selbst bei dem klaren und verstandig denkenden Kopse so weit, daB man sragen mochte: Wo will das hinaus? Die Betrachtung z. B. iiber die Art, wie Ekhos Sentenzen
behandelte, diese ruhig einwars und hoffentlich (denn das ist allein das Richtige) als Theile der Handlung betrachtete, verliert sich in Labyrinthe der Psychologie, wo man dem originellen Denker kaum nachsolgen kann!
GewiB gehort es zur Verseinerung der Bildung eines Volkes und zur Belebung des asthetischen Verkehrs, wenn der Grundsatz angenommen wird, daB, wenn man einmal die Feder suhrt, man auch verpslichtet ist, iiber
das Lebeu und die Kunst beruhmter Darsteller zu berichten, mit denen uns das Leben zusammensuhrte. Und nicht einmal um die Kunstgebilde handelt es sich, sondern um den ganzen, vielleicht von Niemand so, wie von
irgend einem Eingeweihten, belauschten Charakter, Dawisons Leben, Extravaganzen, Thorheiten erzahlen, heiBt seine Spiel weise charakterisiren. Wer braucht eine Schilderung der Art und Weise, wie einst die Clairon
spielte! Man liest einsach ihre Memoiren, ihren originellen Lebenslaus, ihre in Ansbach iiber ein Land, einen Fursten, dessen rechtmaBige Gemahlin ausgeiibte Herrschast, eine Herrschast wie mit der Reitgerte, und hat das
ganze Bild der Dejazet des vorigen Iahrhunderts vor sich. Sie wird die des unsrigen gewiB bei Weitem sowol im Leben wie aus den Brettern an Capriee und heraussorderndem Humor ubertroffen haben. Das tagliche
Spielenmussen machte leider zuweilen die Dejazet recht schlasrig.
Gluckliche Stunden, die ich Iahre lang im vertraulichsten Verkehr mit Dawison verlebte, sollen sie verrauscht sein im Strom der Zeiten? Soli sich nicht die Pflicht des Schriststellers regen, Annalist zu sein von allem,
was die Zeit auch hier in seine unmittelbare Nahe riickte? Und zumal, da die Berichte, die beim Tode des leider an Geisteskrankheit gestorbenen Kunstlers sast durchgangig gegen ihn gerichtet waren, mehr seine
Schwachen, als seine Vorziige hervorhoben, und wie von neidischen „Collegen" geschrieben schienen. Die junge Feuilletonistik hat meist Theaterstiicke aus dem Lager und witterte die beisallige Ausnahme ihrer absalligen
Artikel bei einer in Theatersachen machtbegabten Instanz, die aus Dawison einen speeiellen HaB ge worsen hatte.
Die Lebensumstande Dawisons sind bekannt. Er war kein Pole. Er war im Deutschsprechen ausgewachsen, wie alle Iuden in Polen. Es handelte sich bei ihm nur darum, die gemeine Sprechweise des Deutschen zu
verlernen und sich den gebildeten Ausdruck unserer Schrist anzueignen. DaB er eine Zeit lang seine KenntniB der polnischen Sprache ausnutzte und Schauspieler in Lemberg wurde, brachte ihm den Vortheil, eine Gattin zu
gewinnen, die am Lemberger Theater, unter dem Grasen Skarbek, die ersten Liebhaberinnen spielte und Anmuth sowol wie klares VerstandniB ihrer Rollen und ein strenges asthetisches Gewissen besaB. Diese slavischen
Stamme um die Donau herum bilden sich alle nach Frankreichs Beispiel! Dieselben Regeln werden dort besolgt, derselbe Stil wird eingehalten! Die junge Gemahlin, jBuue prswiors der polnischen Biihne in Lemberg,
wurde Dawisons erster Instructor. Sie legte, er gestand es mir ost, selbst wenn er mit ihr zankte, den Grund zu jener ernsten, nichts iiber's Knie brechenden, gewissenhaften Spielweise, die ihm eigen war und allerdings z.
B. in seinem Hamlet, in seinem Philipp II. in eine akademische Haltung ausarten konnte, welche dem Wort mehr einraumte, als ihm gebuhrte und der ganzen Leistung etwas Ungelenkes und Steises gab.
Ich habe den tresslichen, vorzugsweise gewissenhasten Kunstler mehrere Iahre lang sast jeden Abend, wo derselbe eine neue oder irgend bedeutende Rolle spielte, in seinem kleineu Ankleidestubchen besucht, ehe ich in
den Zuschauerraum ging. Es war in Dresden, in einem versteckten Winkeleingang des abgebrannten Semperschen Theaters. Mit Bescheidenheit lieB er sich mustern, ob sein Bart als Alba nicht zu lang sei, ob die
Andeutung des Hockers in Richard III. nicht zu schwach hervortrete. Immer bekamen daraus die dienenden Hande, die seinen groBen Stehspiegel umkreisten, Anweisungen, da oder dort zu andern, hier zu maBigen, dort
zuzusetzen, die Ausmalung des Gesichts zu andern oder zu vervollstandigen. bis er endlich mit einem gewissen Zagen hinausging, und in der Seene die Minen abbrannte, die er aus der Probe gelegt hatte.
Denn ich habe viel Theaterproben in meinem Leben durchgemacht, schatze viele Darsteller, hege viele im dankbarsten GedachtniB, aber das muB ich bekennen, nie kam mir ein Schauspieler vorbereiteter, sertiger, mit
alien Anzeichen des vorausgegangenen Studiums versehener aus die des Vormittags ach! so nuchternen, so unheimlichen, so unpoetischen Bretter, Dort der sich erst an einem Lampchen aus dem Buch langsam orientireude
Regisseur! Da die ewig mit dem Soussleur zankenden, kaum das Notwendigste ihrer Rollen wissenden Schauspieler! Dawison allein durchaus sertig in seinem Part, sicher in jeder Stellung, die entweder er selbst oder seine
Mitspielenden einzunehmen hatten. Es gab zuweilen harte Kampse. Die MittelmaBigkeit glaubt bekanntlich bedeutend zu werden, wenn sie sich ausbaumt. Es ist die gewohnliche Theaterersahrung, gegen die sich ein guter
Buhnenlenker sriih zu wehren lernen muB. Manches bittre Wort slog von des polnischen Iuden witzbelebten Lippen. Er war von hoher Gestalt, gerade wie die Schauspieler den Shylock zu spielen lieben, obschon Polen die
Gestalten des Orients schwerlich hausig zeigen mag. Seine Mutter hatte einen hohen stolzen Wuchs wie eine Furstin, eine Prophetin. Sie war zum Besuch in Dresden. Kommen Sie, ries mir Dawison in der Wilsdrusser
Gasse entgegen, ich will meiner Mutter eine goldne Uhr kausen! Er zog mich sort, ich muBte ihn begleiten. Charakteristisch stir seine Schwankungen, stir seine kunstlerischen Velleitaten, die jedoch den Reiz jeder
poetischen Natur machen konnen, wenn sie nicht uberwuchern, war sein Wort am Eingang des Uhrmacherladens. Goldne Uhr? Was meinen Sie? Nicht wahr? Eine silberne thut's auch! — Hatte ich mit Emphase gesagt:
Nein, eine goldne ziemt sich! er wiirde dem Worte gesolgt sein. Ich war mitleidig genug mit seiner Schwache und erleichterte ihm die Ineonsequenz durch ein Allerdings! Die Frau gehorte ja ganz dem ungebildeten Volke
an.
Dawison trat seine Dresdener Stellung mit den sreudigsten Hoffnungen, wie eine Erlosung aus Ketten und Banden an. Er hatte am Burgtheater zu keiner Geltung kommen konnen; denn die zweiten Rollen standen ihm
nicht. Es gibt Schauspieler, die nicht erganzend wirken konnen, aber vortrefflich am Platze sind, wenn sie ein Stuck zu tragen haben. Der Episodenspieler, der Ensemblecharakteristiker hat eine andere Begabung, als sie der
„ Virtuose" besitzt, wie man die Schauspieler genannt hat, die in Folge ihres angeborenen Naturells nur erste Rollen, Titelrollen spielen konnen. Einem verniinstig geleiteten Theater muB alles zu Gute kommen Man qualte
Dawison in Ausgaben hinein, denen seine hohe Gestalt, seine scharsbetonende Sprechweise, sein BediirsniB, dem Publikum eindringlich zu sein, widersprach. Dieser Trieb zur Ueberredung, zur Gewinnung des Antheils stir
die Fabel ist wahrlich nicht zu unterschatzen und geringer zu achten, als das Vermogen achtbarer MittelmaBigkeiten, im Wallenstein einen Buttler, im Lear einen „nicht storenden" Edgar durchzusuhren. Der Kunstler wollte
aus dieser Stellung heraus. Die maBgebende Macht versagte die Entlassung. In einer Seene der auBersten Hestigkeit ries der Verzweiselnde, der die Losung seiner Contraete verlangte: Ich sterbe, wenn ich bleiben muB! Die
Antwort soli gelautet haben: Sterben Sie! Dies Wort, wenn es gesallen, war angethan, dem gereizten Hirn des Kunstlers, der in Geistesschwache starb, den ersten StoB zu geben. Denn zerstorend, surchtbar vernichtend
wirken im Menschen die Vorstellungen dessen, was Andere zu thun, in ihrem Interesse zu unterlassen vermogen! Nicht um ein Eignes handelt es sich dann, nicht um den personlichen Wunsch, den vielleicht nur der
erkannte Eigensinn begehrte; es wird die Weigerung, der nie zu uberwindende Widerstand, die kalte Betrachtung der gluhendsten Erregung geradezu zu einer EinbuBe des Lebens. Da bringt man mir eben das Zeitungsblatt!
Es gibt sogleich ein Beispiel! Man denke an Tschech, den schleichen Biirgermeister! Auch Michael Kohlhaas liegt von jenem „Sterben Sie!" nicht zu sern.
Dresden brachte allerdings sogleich wiederum die Storung durch Emil Devrient. Sogleich die erste Rolle, Hamlet, gab AnlaB zur Vergleichung. Geistreich hat Emil Devrient den Hamlet nie gespielt. Dann sprach nur der
Dichter, die gelernte Rolle aus ihm, wenn die Schauspieler vorgesiihrt wurden oder Polonius gar zu weise schwatzen wollte. Aber Anmuth konnte sich Dawison nicht geben, nicht die Verbindung seines dramatischen Spiels
mit den Monologen. Letztere blieben, ich nannte es damals, unvermittelte Parabasen. Er ziirnte darum nicht, iiberraschte mich vielmehr mit der eingehendsten KenntniB meiner Schristen und urtheilte nur in sarkastischer
Laune dariiber, wobei er manchen kleinen versteckten Tadel anbrachte, den ich auszugreisen verstand und wohlbenutzte. Wie ein so scharssinniger, theaterkundiger Schriststeller, wie der kiirzlich verstorbene Versasser von
„Geistige Liebe" und andern kleinen Stiicken, vi-. Lederer, einen solchen HaB aus Dawison hat wersen konnen, daB er regelmaBig behauptete: „Sie werden erleben, er kommt noch mit dem Hut in der Hand, bettelt und
macht Colleete!" glaube ich zu verstehen und zwar aus den Tantiomeverhaltnissen des Burgtheaters. Aber die meisterhafte Darstellung des „Spielwaarenhandlers" machte in der That die Vision des srivolen Witzhaschers
zur Wahrheit. Auch Dawisons „Heinrich" im „Lorbeerbaum und Bettelstab" schilderte den Wahnsinn mit einer erschreckenden Versenkung in die Nachtseiten der Natur und des menschlichen Geistes. Der Schmerz, der den
Kunstler, als wir seine erste Gattin begruben, bewog, in die Grust nachzuspringen, wie Hamlet bei Ophelien that, war nicht asseetirt. Er kam von einem Menschen, der unendlich viel erlebt und mit der Todten verloren
hatte; er kam von der Reue iiber tausend Uebertretungen dessen, was die iibliche Moral voraussetzt und was in der christlichen Todtenseier eine so bewaltigende Verklarung empsangt. Es driickte ihn nieder zum wesenlosen
Schatten. DaB er dann doch wieder lachen, scherzen konnte, das sind eben die Vorrechte der menschlichen Natur,
Zwei Dinge sind es besonders, die Dawisons Geist zuletzt umdiisterten, und von denen ich mich entsinne, in den Nekrologen, die nach seinem Tode erschienen sind, auch nicht die Spur einer Andeutung gesunden zu
haben. So gering ist der Apparat von Thatsachen, mit welchem unsere junge Feuilletonistik an die Spaltensullung unserer zahllosen Zeitungen geht! Es war der Mord, den sein eigner Diener aus seinem eignen Grundstiick
an einem jungen Kausmannsgehulsen beging, und ein Duell mit einem nur noch wenig genannten Schriststeller Robert Heller in Hamburg.
Dawison hatte sich von den Ertragen seiner glanzenden, ost aus zwanzig Abende gesteigerten Gastrollen ein kleines Vermogen erworben, das ihm der geist- und gemuthvolle Aduoeat Fasoldt treulich verwaltete. Er
erwarb der Blindenanstalt gegeniiber einen ansehnlichen Flachenraum, um daraus eine Villa, eine Remise, einen Stall zu bauen. Diese Schopsung, die Anlage eines kleinen Gartens war seine Erholung. Seinem sturmischen
Temperament konnte nicht rasch genug die Vollendung solgen. Endlich war das Ganze ein reizender Ausenthalt stir seine leider todtkranke Gattin, sein eigenes, von einer reich ausgestatteten Bibliothek unter stiitztes
Studium und die Erholung seiner zahlreichen Freunde, stir welche die sinnigsten Veranstaltungen zur Bewirthung getroffen wurden. Nichts anregender als eine Kaffee- und Cigarrenstunde bei dem vielseitig gebildeten
Kunstler, der immer etwas las, immer iiber die Schwierigkeiten einer Rolle sich aussprach, gern sremde Ansichten horte, rasch vom Biicherbrett ein theures Werk herabnehmen und vergleichen konnte und dabei nach alien
Richtungen hin, der politischen und soeialen Bewegung der Zeit, Empsanglichkeit besaB. Zwei, drei Stunden anzuordnen und sich und seiner Gattin allein ein neues Stuck vom Autor desselben vorlesen zu lassen,
verschlug ihm nichts. Er sreute sich iiber die Gelegenheit zur Diseussion. Aus Wahrheit, wenn auch aus Wohlwollen negativ vorgetragen, konnte man gesaBt sein. Wo wollen Sie die Darsteller sinden? Ein solches Wort
sagte sogleich alles. Denn nur der sranzosische Schauspieler setzt die Arbeit des Dichters sort, greist den Faden der Handlung da aus. wo der Autor endete, und macht die Arbeit, die er darzustellen hat, zu seiner eignen.
Und in diesen stillen Frieden, in diese geschmackvoll gepslegte Blumenwelt brach der Mord mit seinen unmittelbaren nachhaltigen Schrecken! Ein junger Bankiergehulse brachte jeden Sonnabend aus einen nahegelegenen
Bauplatz den Lohn der Arbeiter, einen VorschuB seines Principals von etwa 250 Thalern, wie der Unvorsichtige dem mit ihm iiber den Gartenzaun plaudernden Faetotum der Villa erzahlte. Dieser lockt dann das Opser
eines teuslischen Mordplanes in den inneren Gartenraum, in den Stall und wirst ihm eine in Bereitschast gehaltene Schlinge um den Hals. Der ungliickliche entseelte Iiingling wird zuerst in einer dunkeln Ecke des kleinen
Parkes verscharrt (die Herrschast war verreist), dann bei Nacht iiber einen andern Theil der Mauer geschleppt und dort an einem Baum, zum Schein einer Selbstentleibung, ausgehangt. RoBhaare, die sich an den Kleidern
des Erhangten besanden, suhrten aus die Spur des Ursprungs der That, die Niemanden so ergriff, wie den, von der Reise zuriickeilenden, man mochte sagen, phantasieuberladenen Kunstler. „Ich war stiindlich mit dem
Unseligen allein," sagte er zitternd, „ich plauderte im Stall mit ihm, ich ging mit dem Morder durch die dunkeln Gange des Gartens, ordnete, zimmerte und bohrte im Keller mit ihm, alles vertrauensvoll und wie an einem
Haar hing mein Schicksal! Ich sass' es nicht! Der Ausenthalt ist mir unheimlich geworden! Ich sehe auch, er liegt in der That zu isolirt, zu unbewacht, man vergistet meinen Hund und macht mit mir was man will!" So
klagte er mit bebender Stimme, die kaum eine zusammenhangende Rede hervorbringen konnte. Immer sah er das Schleppen des Opsers iiber die Mauer seiner schonen Wein- Veranda, das Aushangen desselben an einen
Bliithenbaum, der dicht unter seinem Fenster stand. Obschon unser gemeinschastlicher Freund, der Direetor des Blindeninstituts, der sinnige Dichter Karl Georgi, sich erbot, bei ihm zu wachen und zu schlasen, so hatte er
doch keine Ruhe mehr, bis er in Zschachwitz bei Pillnitz, wo sein Advoeat Theodor Fasoldt eine kleine Besitzung bewohnte, sich neben dem Hiiter seiner Vermogensverhaltnisse ansiedelte und die Villa gar nicht mehr
betrat.
Einen zweiten StoB aus Dawisons Hirn siihrte das in den Nekrologen ganz vergessene Robert Hellersche Duell! Ich war Zeuge der surchtbaren Wirkung einer Verpflichtung, der er sich, das war die Pointe seines
Schmerzes, als jener kiihne Matador, stir welchen er seither so gern gelten mochte, nicht entziehen konnte. Wenn die Velleitat des taglichen Lebens die Segel streicht, so lacht man und das Komische kann da niemals
tragisch werden. Dawisons Angst aber vor dem Gedanken, eine Kugel des Hamburger Iournalisten saBe ihm in der Brust, war in der That tragisch. Er lag an meinem Halse und weinte wie ein Kind. Sein besonderer
Schmerz war der, daB man gerade ihn, den „Polen", der groBten Entschlossenheit stir sahig hielt und daB seine bisherige Art des-Austretens ihn eine Duellsorderung wie eine Bagatelle hatte betrachten lassen miissen.
Letztere war die Folge eines in einer Zeitung erschienenen Dawisonschen Brieses, in welchem er die kritischen Urtheile Robert Hellers zuriickgewiesen und mit Personlichkeiten zuriickgewiesen hatte. Dann bereitete er
sich noch den besonderen Kummer, iiber die Rolle zu verzweiseln, welche in diesem Handel der bekannte Schauspieler Heinrich Marr spielte. Dieser, auch in anderen Fallen ein Mephisto, hatte die Absendung des Brieses
erst gebilligt und war dann doch aus die Seite des tonangebenden machtigen Hamburger Kritikers getreten. Mein Rath, an die sachsische Grenze zu reisen und das Erscheinen der Hamburger Partei, die gewiB nicht ohne
Friedensvorschlage kommen wiirde, ruhig abzuwarten, wurde mit den Ausdriicken des auBersten Schmerzes und dem standigen Ausrus: Er schieBt mich todt! ausgenommen. Die Lippen bebten, die Brust hob und senkte
sich krampshast, der ganze Mensch war in Furcht und Zagen ausgelost.
Und man dars hier nicht geradezu von Feigheit reden, sondern nur von einem uberreizten Vor stellung s vermogen. Die Phantasie des Ungliicklichen sah geschehen, was doch nur im Reich einer traurigen Moglichkeit lag.
Das Hirn war schon krank, die Nerven waren zu zerriittet. Er raffte sich noch zu jener anstrengenden Reise nach Amerika aus, lebte aber schon machtlos ganz unter dem Schutz und der steten Obhut einer vortrefflichen
zweiten Gattin, die er gesunden. Bald war der irrsinnige „Spielwaarenhandler" — er selbst!
Den Tadel mancher seiner Leistungen bestreite ich nicht. Die Form, wie das Damonische innerhalb der germanischen Welt hervortritt, war ihm versagt. Er bedurste des rhetorischen Beiwerks. Er hatte nicht jenen Ton
passiver Leidenschast, die englischen, die deutschen Schauspielern eigen ist. Sein Verstand muBte gestalten, das Gegebene erschopsen konnen. Der Zusatz einer latenten Schonheit, die wir Poesie nennen, war in der Regel
bei ihm sraglich. Und doch waren sein Richard III., sein, Othello, Franz Moor hinreiBende Gebilde, wie selbstverstandlich alles in der rein verstandigen Sphare Liegende, Carlos im Clavigo, Marinelli, Rieeaut de la
Marliniore, sranzosische Chargen, wie sein Bonjour. Eine absolut seltsame und ganz vergriffen herauskommende Rolle war die des Philipp im Don Carlos. Hier wollte er die spanische Bigotterie, die steise Andachtelei
charakterisiren, aber das Gebilde wurde dariiber duster, aschgrau, langweilig. Sein hochliegendes, ost zur Fistelstimme greisendes Organ storte ihn uberall, besonders wo schon im Ton die breite Pinselsuhrung edler
Leidenschaft, tragischer Wurde liegen muBte. Er war kein Wallenstein. Immer kam die Rede spitz und eckig heraus. Dennoch war sie durch die klare Darlegung des Inhalts der Rollen hinreiBend stir den wahren Freund der
dramatischen Muse. Man sollte nur aus das Lobens- nicht Tadelnswerthe im GedachtniB dieses groBen Kiinstlers halten. Dawison war ein Muster von Gewissenhastigkeit und als Mensch, wenn auch schwach und allzu
biegsam, doch liebenswiirdig stir die, die iiberhaupt zu lieben verstehen.
Verlag von Georg 2tilke In Verlin, 5IAV., 22. louisenstraBe.
Aedigirt unter verantwartlichleit de; verlege«.
vruck von V. <3. Cenbner in leifzig.
Unberechtigt« Nachdruck au« dem Inhalt dieser Zeitschrift untersag>. Uebersehung8recht varbebalten.
Soeben erschien und ist in alien Buchhandlungen zu haben: aus
Fritz Renter's NachlaB:
Zie drei AangHanfe,
Lustspiel in drei Aeten.
(Fiir die Buhnenaussuhrung eingerichtet von Bmll?«hl.) Preis lr«ch. 1 M. 5« Ps. Elegant geb. 2 VI. 23 Ps. Einer besonderen Empsehlung eines neuen Nuches von Fritz Reuter glauben wir uns enthalten zu Kiirsen.
In die Noll«»Nu«gllbe der siimmtlichen Werke wird dieser Vand nicht ausgenommen. Kinstorss'sche Hosbuchhandlung in Wismar.
Inhalt des ?. Vandes.
ctober — Oovemder — Vecemiier.
A878.
IAarl Vraun- wiesbaden in Verlin. §,«.
Eine unfindbare sreie Reichsstadt. Kulturgeschichtliche Skizze , . 17z
lAarl Lrdm. Edler in wien.
Eine Glocknersahrt. Novelle 100
Aarl Lmil Franzos in wien.
Die Locke der heiligen Agathe. Eine moderne Legende .... 1
(Lmanuel Geibel in liibeck.
Sieben Oden des Horaz i6K
Siegsried Aapper in Pisa.
Kloster und Klosterleben in der Hereegovina zz;
Heinrich iiAruse in Verlin.
Idyllen.
Die Dachreiter. 28 H
Wider Wind und Wellen 288
Hugo Magnus in Vreslau.
Die Farbenblindheit H25
F. Max Miiller in Oxsord.
Heber Fetischismus, I iZ7
Ueber Fetischismus II 29g
ludwig Noiro in Mainz.
Max Miiller und die Sprachphilosophie 24
Mit dem Portrat von Mill Miiller, Radiiung »0n 3>, Rallb in Miinchen.
tudwig Freiherr von Ompteda in wiesbaden.
Bilder aus englischen Landsitzen und Garten 1 68
Bilder aus englischen Landsitzen und Garten. II 224 Ludwig Aietsch in Verlin. 5A„
Iwan Turgsnjew. Personliche Erinnerungen 242
Mit dem Portrat «00 I won lurgi'Njew, Nadiiung von A, Monnfeld in Aerlin,
1<. Th. Richter in Prag.
Die Braut. Novelle 362
)ustus 5cheibert in Stuttgart.
An den Grenzen der Strategic und Taktik H15
«Lduard 5chelle in wien.
Richard Wagner 26,
Mit «em Portrlt von Richard Wagner, Raoiiung von I. L, Raab in Miinchen,
Vernhard wagener in Kiel.
Bilder uus Deutschlands Kriegsmarine 120
«Lrnst wichertin «vnigsberg.
Sommersrische am Baltischen Strande 88
I. h. Witte in Vonn.
Kant und die Frauen ioi
Inhalt.
Rarl Emil Franzos in Wien. AA„
Die locke der heiligen Agathe. Eine moderne legende ... 1
tudwig Noirs in Mainz.
Max Miiller und die 2prachpdilosophie 2A
tndwig Freiherr von Gmpteda in wiegbaden.
Vilder aus englischen Landsitzen und Garten 68
Ernst wichert in Konigsberg.
2ommersrische am Valtischen strande 88
).H. Witte in Vonn.
Kant und die Frauen 1 ,01 .
Vernhard wagener in Aiel.
Vilder aus Deutschlands Kriegsmarine A20
Hierzu das Portrat Mar Miiller' s, Radirung von D. Raab in Miinchen.