TXotb unb Süb.
(Eine ö ^ u t f cfy e ZtTonatsfdjrift.
herausgegeben
von
Paul Cinbait
mit >en Portrait: von:
jacfl £I)Iooum<j von £>o!ien[ol)e.Sd)ilUttgsfflrji, tPolfgutiij Klrd)b(id), prinj fimil
ju Sd)ocnai<i|>CaioIati).
2&r eglau
£d}lefif<f;e 8ud)brucf etei, Kunft' unb Derlags-^nftalt
v. S. Sdjottlaenbcr.
3nfyalt bes 75. &anbes.
<®ttofter. — .OoUcniücr. — ©efemfier.
(895.
-HO
Seile
Ktcfjarö Betf in groiefau i. 5.
IlTont Saint mid)el. <£tn Hetfebitb :*<)
K. <ß. Bocfenr/eimer in ZTfaity.
Das 8riefg.el}eimm§ n>8l[reti& ber fran3Öftfdjen Ueootution 85
^ranyois <£opp6e in Paris.
Hipalinnen. ZXoveüe 93
JJufcoIf pon (ßottfdjall in £etp5ig.
Die 3üngftbentf<l)en bes ad^eljnten Jaljrtfiinberts U«
Sfans fjermann in Breslau.
ITTobeblumen 25 \
£u6t»ig ^acobowsti in Berlin.
©ebidjte (76
3°feP*? 3©cften in Köln.
21ns Duffelborfs tfMansepodje. Ungebrucfte Briefe »on <Jelij IKenbeIs<
fotin'Bartljolbv 308
Berlf/a Katfdjer in Ba&en (Hie6erȣ)efterreicr/).
#reibenferin unb <Et(eofopb,in 33 <
2?idjar& tfoer/lid) in Breslau.
(Ein ftirftlidpr Dieter. (ptin3 <2mil ju Sd)oenaia><IaroIatlj.). . . . :88
ZTTite Kremnitj in Bufareft.
Sein Brief. ZToceHe 3?o
<£. 2TTafcf/fe in Breslau.
Hnfjlanb in £entralafien 200. 3(6
ZTCartin 2TTenöelfor/n in Berlin.
Kranfenpflege unb fpeciflfdje ttljerapie 56
3nb,alt bes 75. Banbes.
£ntf
Utfteb Xufyemann in 2?om.
Die Soge rom (Eroigen Rubelt in 3*al'en 67
<£mil Scfy>enaicfj=CaroIat&, in Pal5gaar6=3ue'sm'n^*-' bei Dorfens
(Dänemarf).
ptfilemon unb Bancis 277
(ßeotg Steinhaufen in 3ena.
„Das gelehrte jfraue^immer." «Ein €ffai über bas grauen*
ftubium in Deutfdjlanb 5m Hococo« unb gopfseit *6
illfreö Stoegel in Dresöen.
IDolfgang Kirdjbad; 160
2Tt. Stona auf Sdjlog Strsebou>i£ (©eftenvSdjIeften).
Hut 3n>ei Deildjen. ZTooeKe \hs
Konrai» Celmann in 2?om.
3n ber fjodjjeitsnadft. ttooeUe I
JHefanöer Cille in (ßlasgom.
(Ebomas ^nrley 222
^rieöridj IDegmüller in ZHündjen.
Der IDifo. «Eine Sfttjetifdfe Stubie 358
2fuguft IPfinfdje in Dresden.
Der beutfrfje OTidjel mit feinem myttiologifcben Qintergrnnbe 349
©ebfyarö <3ernin in Darmftaot.
(Jürft CCt)(obn>ig con £jol;enlob,e=Scblilltngsfürft, Kanzler bes Deutfdjen
Hetdjes. CEine £ebens> unb €l)orafterffi33e 30
Sibliograpfyte 26\. ^02
8iMtograpb,tfd)e Ho^en 13*. 269. $07
Ulit btn portraits oon:
<$ürft CLbJobroig con fjob,enlot(e=5d)iIIingsf firft, rabirt con 3°^""
finbner in Itlündjen; IDoIfgang Kirdjbadj, rabirt con 3»fta«t« ünbner
in OTündjen; Ptinä CEmil 3U Sdjoenaia}-(£aroIatb,, rabirt con tfran3 Horid}
in Dürnberg.
I
<£ine b e u t f <ff e 2Ttonatsfcf?rift.
herausgegeben
»Ort
Paul Ctnbati.
LXXV. Sanb. — ©ctober J895. — tyft 223.
(Dlit einem Portrait in HaMrung: Stx\t £t)IoOtt>i« von fj o I7 e ttlol) e ■ Sdji II ing sf ü r
25r e£Iau
S^lefifdje Bndj&nirferei, Knnji« nno De rlags>2In(la!t
». S. Sdjottlaenber.
(Dctobev 1895»
3nlfalt
Seilt
Konrab Celmann in Horn.
3n ber ßodj3eitsnad}t. ZTooetle {
(Bebfyarb $etnin in Darmftabt.
jntfi <£f}lobmig von Ejotjcnlotje. Sdjiüingsf firfi, Kalter bes Deiitfdjen
Seines. «Eine £ebens> nnb öiarafterftijje 30
(Beorg Steinhaufen in 3ena-
„Das gelehrte frauensimmer." (Ein <Effai fiber bas Kranen-
flubium in Deutfetyanb änr Sococo« unb §©pf3eit ^6
ZtTarttn ZTlenbelfofyn in Berlin.
Kranfenpflege unb fpeciftfdje Itjerapie 56
2Ufreb Hufyemann in Horn.
Die Sage vom (Ewigen Juben in 3t«lien 67
2C. <B. Bocfentjeüner in 2Hain3.
Das 8riefgeb,eimnij$ »ätirenb ber fran3öflfd;en Heoolution 85
5ran<?ois <£opp6e in Paris.
Hioalmnen. HooeBe. 93
Bibliographie \3\
Scutfdtlanbs tolonien. (Dlit Jünftrotionfn.)
SiWiograpb,if(b,e rtot^en J3^
Qierjn ein Portrait: ^ürfi £b,Iobn>ig von fjotienloljesSajillingsf firjl.
Habirnng oon 3ot)ann f inbner in münden.
.Ctorti unb Sab* erfdjrint am llrttaitg jebes OTonais in fjeften mit jt einer Knnßbellag*.
prrl» pro Quartal (3 QcfM) 6 OTart.
Äd( Bnd>banb[anacn nnb poftanftalttn nel)mm jcbtrjrit BtfttOungm an.
Tille auf 6en re&adtonellen Onfyalt oon „Jßotb unb «50b" be
5ügltd?en Senkungen ftnö ofrne Angabe eines Personennamens $u
richten an oie
Hebaction oon „j&otb unb &fibM Breslau.
Siebentyufenerftr. \\, \3, \5,
3n 5er fjodföettsnacfjt.
iTooelle.
Don
üfonrab Jeimann.
— Horn. —
l^&^^gie fagen im fteftaurant be$ ülugftellungSparfs, »ont an bett
K^^y offenen ®la3s<3dnebefenftern, wo man ben Slttf frei l)atte übet
E»i ba3 mogenbe SJleer t>on Äöpfen brunten unb bie bunte ÜWeuge, bie
fidj'in iinabläffigem SBedjfel an bem 2Jlufifpat>i(lon Dorüberfdjob. 9lud) bie
eleftrifirenben SBetfen ber öfterreidjifdjen (Sapelle brüben »ernafim man biet
beutlid) trofc be§ nidt)t rufienben StimmengefdjroirrS unb be* 2)feffer« unb
©abelgeflapperä an ben faft fämmtlidj befefeten Etfdjen be$ großen Saales.
S5ie 33eiben fyatten ibre Slbenbmafyljeit beenbet, bie t)at& geleerte JHfjeinwein«
flafdje ftanb t>or tf)nen, unb fte flauten 23eibe in ben Sßarf tjinau«, oljne
»iel ju fpredjen. (53 mar feltfam: fte fyatten fidj auf biefen 9lbenb fo
ganj befonberä gefreut, unb nun wollte eine etgentttd&e gröbjtdjfeit jroifdien
itinen nidjt auffommen. Sie redjte (Stimmung blieb aus. Herbert gürft
ftrieb fi<f> mit ber langen, wei&en, woljlgepflegten £anb, bie nur burd)
einige braune Sommerfjtetfe entfteüt würbe, immer wieber burd) ben ftatt=
lidjen, rotf)blonbcn 3Mbart, ber ba$ feine, fdjmale ©efidjt über ©cbütjr
ju »erlängern fd)ien, unb raudite fdjroetgenb feine ßigarre, für bie er Öerbaä
©rlaubnifj erft eingeholt Ijatte.
<5r fonnte fid) bieS Se&te nod) immer nidbt abgewöhnen, obgleidj fie, bie
am liebften lidj gleid&fallS i^rc Gigarette angejünbet Ijätte unb es nur aus
5Rü<füdjt auf if)n unterlieft, iljn jebeSmal besroegen auslaste. Gr blieb nun
einmal ber alljeit Ijöffidje, bie <yormen ber guten @efeHfdjaft angftlid) umbrenbe
9Wann, audj feitbem au8 bem 3tegierungS;9Jefcrenbar ein freier ©d)rif>
2
Konrab Celmanu in Korn.
ftetCer, aus bent ©pröfjltng bet reichen, banfeatifcljen Sßatricierfamilie ber
33räutigam ber ©chaufpielerin ©erba Sinbbeim geworben war. Unb tro|*
bem er fid) einbitbete, fid) 6troaS borauf su ©ute ttjat, »on allem <Son«
oentionetlen, welchen tarnen es aud) fügten mottete, fid) loSgelöft ju t»abem,
er, ber bieS in 9tnfef)ung fetner Stbftammung, erjiefmng unb 2lnlage un*
fägtid) t>iet fernerer gehabt, als irgenb ein 3luberer, unb alfo aud) oiet
ftoljer barauf fein fonnte.
„Gorrect!" $>as war bas 2Bort, mit bem fie ihn am fdjroerften
oerrounben fonnte, was itm am ^eftigften aufbraßte. S)a3 warf alle
feine ©rrungenfd)aften, alle feine (Sinbilbungen über ben Raufen; eS mar
nid)t »iel anberS, als ein @d)tag in'S ©efid)t für ifm. @r wollte triebt
correct fein, — alles 3lnbere, nur nid)t bas. ®aS roar für ifm ber 3n«
begriff alle« gaben, ©ebanfenlofen unb ßäd)erlid)en, was er nad) langen,
inneren unb äufjeren kämpfen mit feiner fonftigen ÜDietamorphofe jugteid)
abgeftreift ju hohen glaubte. S)aS rootlt' er benen laffen, aus beren SReifjett
er ausgetreten war, baS l)atte für einen unabhängigen, mobem benfenben
unb empfmbenben Äünftler unbebingt etwa« ÄomifdjeS, etwas ©ntwürbigenbes.
9iur bafe er über feine 9iatur nicht hinauSfonnte. ©erba wenigftenS
behauptete baS. ©ie tjänfelte il)n gern etwas, ftichette gern über biefen
5ßunft. ©etbftoerftänbliä) nur, weil fie tljn nod) weiter treiben wollte, als
er fd)on roar, roeil er iljr immer nod) ntd)t „frei" genug bad)te. 9iun, fie
hatte gut reben. ©ine @d>aufpielertod)ter — felbft eine @d)aufpielerin —
ba fonnte freilief) »on 6orrectf)eit unb ßonoention nicht otel bie 9tebe fein.
Unb fd)lie&lid) hatte *hn ja gerabe mit ju it)r hingejogen: biefe lodere
Ungebunbentjett, bieS freie @id)gehentaffen, in bem fooiet ©rajie, fooiel
©elbftrtd)ert)eit unb fomel Xact — natürlicher £act tag. $a, gerabe ba*
roar baS 33ewunbemSwertl)e, ba«, was ihn immer neu entjücfte unb be-
raufd)te. ©erba roar ja aud) fd)ön, — eigenthümliä) fd)ön, — fie hatte
eine ganje 9let^e oon beftriefenben ©tgenfdjaften an fid), unb fie roar eine
Äünftlerin oon Stuf unb 2lnfet)en. 2lber ba« 2ltleS wog für ihn bod) bie*
©ine nid»t auf: ifire reijootte Uncorrectt)ett, bei ber man bod) immer baS
beftimmte ©efühl ^atte, aud) als 2)titglieb ber guten ©efeHfd)aft fönne man
fid) »oUfommen ruhig unb gefahrlos in ihrer JJähe bewegen.
Dafj fie ihm 5U ©efallen 3Rand)eS ablegte unb unterbräche, was fte
ihrer SRatur nad) gern gethan hätte, ahnte er ebenfowenig, wie bofe iljr bas
hin unb roieber als ein taftiger, faum mehr erträglicher $roang erfefnen, bafj
fie ju 3eiten fogar über einem ©eroaltmittel brütete, um ftch biefer Slotb*
roenbigfeit ju entjtehen. ®S juefte unb priefette ihr bann in att' ihren
fleinen, weif3en, neroöfen Ringern, enbtid) einmal ßtroas ju fagen, (StwaS,
was ihn mit einem <Sd)tage über ihr uncorrecteS ©elbft im ganjen Umfange,
in ber ganjen Tragweite aufflären mujjte, fetbft auf bie ©efahr hin, bafj ihm
bas einen gewaltigen ©tofs gab unb ihn »otlftänbig an ihr irre mad)te.
33iSf)er mar it)m nie ein anberer ©ebanfe gefommen, als bafe fie es roab>
3n &er Fjodjjeitsnadjt.
3
^aftig leidet gehabt ^atte, ftd) »om „ßorrecten" fern ju Ratten; ihr ein
SBerbienft barauS ju machen, ba§ fie niemals ajitfjbraud) mit ihrer Freiheit
getrieben, baran backte er gar md)t. <Sr hatte fid) bie SJlöglic^feit eines
folgen ÜWifjbraudjS nod) garniert überlegt. ©r, Herbert gürft, blatte fieb mit
©erba ßinbb,eim werlobt; baS i)ie§ eigentlich beinahe fooiel, als bafj er iljr
»or aller SBelt baS glänjenbfte ßeumunbäeugnij? auäfteUte unb it>r Vorleben
als mafellos erflärte, eS geroiffermafjen abelte.
Safe fie ^eute tjier allein roaren, blatte einen Keinen, ganj f leinen
Äampf gefoftet. @S mar baS erfte 9Kat. Herbert fanb es in ber Xfyat
nicht ganj paffenb, baß fte als ^Brautpaar ohne jebe Begleitung StbenbS in
ben SluSftetlungSparf gingen. 5Wan fonnte boc^ garnicht roiffen, roaS anbere
Seute baju fagen mürben. @S faf) immerhin ein bischen pror-ocant aus.
tDiefer ober ftener hätte ©ott roeij? roaS? unter biefem harmlofen Rammen«
fein ä deux »ermuthen tonnen, jumal 2lbenbS im 2luSftellungSparf bod)
notorifd) allerlei jroeifelbafte roeibliche ©riftenjen V)t SBefen trieben, $urj:
Herbert ^atte allerlei fleine 23ebenfen gehabt. 33or 3lllem fah er gar feinen
regten ©runb für biefe Neuerung ein. 9)?an mar mit ©erbaS Sante —
einer biefer fef»r entfernten Tanten, ju ber baS »erroanbtfchafttiche Sßertjälts
niß burd)au3 nicht mehr ganj flargeftellt roerben fonnte, bie aber feit
fahren mit ihrer „Richte" jufammenlebte — immer ganj ungenirt geroefen,
unb es ha*tc. f00^ anftänbiger auSgefehen. Slber ©erba fefete nun einmal
ihren Äopf barauf. Unb er roollte ja nicht correct fein. S)aS gab ben
2luSfd)lag. ©djliefsKch fanb er eS felbft ganj amüfant, einmal mit ihr
allein im äuSftellungSsSteftaurant ju foupiren, unb fte hatten fidt) S3eibe
mie bie ßinber barauf gefreut.
9iun roar'S boch nicht ganj fo geworben, mie fie gebadet. SBoran baS
lag — roer mußte eS ? £atte Herbert nachträglich nun bod) roieber @crupel
fcefommen? ©enirten ihn bie SBlicfe unb SWienen irgcnbroeld)er SBefannten
ober Unbefannten, bie ju ihnen hinüberfdjielten? fürchtete er, ihrer Leiber
Serhältniß roerbe nicht ganj flar »or aller Sffielt erfdjeinen? ®enn baS mar
ihm jeittebenS baS @chrecflid)fte geroefen: unflare ßSerhaltniffe, — alles
SSerroorrene, Unbeutliche, nicht ganj 3n>«ifet^freie. Ober roaS ^atte er fonft?
4?atte überhaupt er angefangen mit biefem freubtofen Stillefein, ober roar
©erba es felbft geroefen? 3?adf)benflich erfdjien fie heute {ebenfalls, fo nach«
benflich, roie er fie garnicht fannte. 2lud) baS mochte ihn »erbrieften, eine
anfteefenbe SBtrfung ausüben, benn er roollte fie immer heiter, ftrahlenb,
— ihr ganjer $auber beruhte barin; lieber mochte fie auSgelaffen unb
iibermüthig fein, als fo, — nur nicht fo roie heute, baS ftanb ihr garnicht.
„2)u bift heute fo merfroürbig ftiU," fagte er enblich 3rotfdt)ert jtuei
£>ampfroölfchen feiner ©igarre, „haft $>u 'roaS?"
(£s flang übellaunig unb ein bisdjen berrtfd), roeniger als theilnehmenbe
grage, roie oielmehr als bie bringlid)e 3lufforberung, Vichts „ju h«f>en"
unb nid)t mehr ftille ju fein, ©erba begriff baS »oQfommen. (Sie er*
^ Kourab Celmann in Horn.
wiberte aber nur: „3u btft aud) friß, fd)eint mit. 3Ran muß bod) aud)
nid^t immer fd)wafcen."
„3dl!" @r madjte mit feiner frönen £anb eine 33emeguttg, al« ob er
fagen wollte: ,,3d) fann mir ba« eben teiften. $d) bin id)." Saut aber
fügte er tjittju: „3a, ba« ift woljl waljr. f)abe tyeut »iel gearbeitet,
— ein fdjwterige«, pft)d)ologifd)e« Problem, rocifet 2)u. Unferetn« lebt
ba« immer gleidj fo mit. Unb e« ift garnid)t leidjt, immer bie correcte
Söfung — " <£r ftodte, würbe etwa« rotf) unb warf einen faft ängftltd)en
39ti<f ju it)r hinüber, ©a mar e« iljm nun bod) einmal wieber entfahren,
bie« 2Bort, ba« er jefet cjafäte unb mieb, ba« ibn in ©erba« 9tugen gerabeju
compromittirte, — unb bei foldier ©etegenljeit! „Gorrecte Söflingen" wollte
er ja in SBafjrfjeit garniert bei feinen ©efdjidjten ftnben, — wa« ©erba
— unb neuerbing« er mit t^r — benn fo „correct" nannte. Qm ©egen-
tfjetl. ©in alberner Sapfu«! Unb er mar feft entfd)(offen, mitjuladjen,
wenn ©erba itjn jefet au«lad)en mürbe.
$)a« ttjat fte aber nid)t. 3JJerfroürbigerroeife liefs fie fidt) bie ©elegen*
tjeit baju bie«mal entgegen unb fagte nur jerftreut: „$a, ja, id) tarn mir*«
benfen. @« ift fefjr fd)mierig. 3m Seben ja aud)." Unb bann, nadjbem
fie ba« grüne ©la§ oor ifjr an bie Sippen geführt, mit einem oertorenen
93ttdE in bie grünen SßarfrotpfeE tjtnau«: „Sollen mir nid)t ein bt«d)en
binau«get)en? $d) benfe mir'« jefct ^übfdt) braufjen. Unb wenn $tr'« red)t
ift, abfeit« »on ber 9Kufif unb »on ben 9Renfd)en. 9ttan befommt'« auf
bie SDaucr fatt. GS betäubt, aber e« befriebigt nid)t."
„2Bie S)u roillft/' fagte er pt)legmatifd), etma« nachgiebig geftimmt,
weil fie lief) bie ©elegenfieit, if)n au«äulad)en, blatte entgegen (äffen. „3Bir
roerben bann audj mof)l balb ben £eimweg antreten müffen." £abei fd)lug
er bi«crct mit bem SDeffertmeffer an fein öla«, um ben Kellner ju rufen.
,,9iad) £aufe?" fragte fie. ,,©d)on? 2Barum benn?" ©ie fab, auf
bie Uf)r.
(Sr tjattc eigentlich ermtbern wollen: „2Beit e« unfd)id(id) ift, wenn
mir Selbe allein ju fo fpäter ©tunbe — " 316er er begriff, baf? fie ja ba«
»orau«fefete, bafe fie barauf gerabeju wartete. Unb be«t)alb fagte er*«
nid)t, fonbern ftattbeffen: „25ie legten ^ßferbebalmen finb immer fo überfüllt,
auf bie barf man'« ntd)t anfommen (äffen."
ein ftid)f)altiger ©runb war aud) ba« nid)t. £>enn e« blieb Unten bann
immer nod) bie ©tabtbalm, unb er war burebau« in ben SBerfjältntffen, audj
eine 91ad)tbrofd)fe neljmen ju fönnen, fie roar für feine 33erbä(tniffe fogar
ba« natürtid)fte 93eförberung«mtttel; aber ©erba fagte 9iid)t« mehr. @t
jablte, ohne nadjjuredmen ober ein 2ßort einjuwenben, legte ein reid)lid)eS
Srinfgetb neben feine fauber jufammengelegte ©eroiette unb ftanb auf. 25amt
half er ihr in ihr ^aquet, lief? fid) uom JMner feinen lid)tgrauen &aDeto<f
umhängen unb nahm feinen Grjlinber. Sie gingen, ßr fall fel)r groft
3n *er t$od)3«itsnad}t.
unb ftattli<Jt) aus, als er fic am 2lrm führte, alle Seute fat)en ficfj nach
ben "Setben um.
"Sraufeen Ratten fie 3Rtye, fidf) burdh bie 2)Jenfdhettmaffen ju minben,
bie immer noch auf bem breiten SBege oor ber SJJufiffapeUe ficfj hin* unb
herfdhoben. ©te gingen gegen baS ^ergamon^anorama ju, immer noch
olme su fpre<f>en.
3Cdmäfj[tcr) oerflang baS ©treichconcert hinter üjnen, — nodf» ein
Straufj'fcher SBaljer, mit bem es für heute fdt>Iofe. ©anj leife unb gebämpft
haßten bie £öne herüber, untermifdht mit 2Wenfchenftimmen, t)in unb luiebcr
burchfcfjrillt oon bem Sßfiff einer ßocomotioe, übertäubt vom bröhnenben
©eraffel eines jagenben ©tabtbalmjugeS. ©ann gelangten bie Reiben in
ftißere, einfame ©eitenwege. 2Bie wunberooll btefe Quninadht eigentlich mar,
fpürten fie erft b,ier, wo ber fternenübergtujerte SRadjthimmel ju ihren
.Raupten lag unb nur bie geheimnifwollen Stimmen bes grühfommerbuufels
um fie lier laut würben, für bie fie boppelt empfänglich geworben nach, bem
lärntenben ©erooge, baS fie burch ©tunben unb ©tunben umbrauft. &ie
unb ba gleißten bie 33üfd»e, roie oerfilbert oom eteftrifdjen Sidbt ber ©lüf|=
lampen in ben föauptwegen, fic atmeten eine fül)le grifdhe, einen ßaudh
oon Unberührtheit aus. ^tgenbroo in einem taufdjtgen Sßinfel, aus bem
ber ©uft ber ©olbregentrauben herüberwehte, fdlilug in Keinen 3n>ifdhen=
räumen eine StacbttgaU an, leife unb fdjücfitern, als magte fie fleh nicht
re<jf)t heroor.
Herbert fcf)ien in eine weiche ©ttmmung ju oerfallen. <£r mar fehr
empfänglich foldhen 9?aturreijen gegenüber, unb wenn er bann allein mit
©erba mar unb SRtemanb feine 9Kienen in Dbacht nehmen fonnte, — benn
in fotetjetn %aü hätte er fidf) genirt, — rourbe er fentimental, er fing an
ju fchroärmen. 2lucfj jefct begann er bamit. @S waren überfchwänglidfje,
glüheube Söorte, bie oon feinen Sippen brachen, coHer Verliebtheit, 33egierbe
unb irrer, ftammetnber £runfenf)ett. ©erba erwiberte fein SBort. 9Jur
manchmal surfte ihr 2lrm ganj leife in bem feinen. Unb bann gingen fie
weiter unb weiter, ganj langfam, ganj wie in einer fremben SÖelt.
$)a plöfclicf), als fie oon einer ©ebüfchlücfe am Sßege aus bie große
Fontaine fahen, bie brüben wie ein mächtiger ©ilberftrahl in ben SEetdj
nieberwaHte, faßte ©erba leife, bumpf: „^a, baS tft 2WeS ein fdjöner
Staum, Herbert, baS 9llleS hätte werben fönnen. Slber 2>u bift ju fpät
gefommen. Verseih' mir! Verseif)' mir! $ch fonnte fttr'S nicht eher
fagen."
©r ftarrte fie, mitten aus feinem oerjüdften ©dhwärmen auffafirenb,
mit erblaffenbem ©eficht an. „SßaS ift baS? SBaS fotl baS heißen?
©erba!"
©ie niefte leife oor fidf) hin. Dann jog fie ihn mit fanfter ©ewalt
weiter in baS ©unfet beS SaubgangS hinein, als ob ihre Stugen baS ©tücf
.§etle ba brüben nicht oertrügen, unb nun, fid) an ihn flammemb, raunte
6
Kourab Celmaiiu in Korn.
fie an ü)m empor: „GS fott fieifjen, rote td)'3 fagte. GS fott fyetjjen, bafj
©eine Siebe ju mir auf bie fjärtefte ^ßrobe geftettt roirb, bie es geben
fann, Herbert; oerbamme mid), bafj id) biä fjeute gefd)roiegen b,abe! ^d)
bin ia oerbammenSroertf) um beSroitlen. 3lber $)u mufjt aud) begreifen
— 3d) ^abe &id) fo lieb, Herbert, unb <£>u jetgteft mir ein fo Iro^eS
©lücf, — unb ba fottte td) nun mit einem äBorte, mit einem @d)tage —
nein! id) fonnt'ä nid)t. Seidjt ift eä für ein ÜRäbdjen ofjnetjin nid)t, fo
Gtroa« au$jufpred)en, — fo GtroaS einem UJlanne einjugeftefien, aud) nur
anäubeuten — Uitb roenn man ben 9Wann nun gar liebt — Unb toenn
man fid) nun burd) ba§ ©eftänbnifc gar bie Pforte jum ©lüd oerrammelt
für immer, — Herbert, Sit mufet begreifen, bafj id)'§ nid)t über und)
brachte, bafe id) fdjroieg, — ©id) betrog. 2Bir roaren aud) fo feiten allein,
— e3 mar nie eine ©etegenfiett, — id) rooHt'S ja fo oft; — taufenb, taufenb
ftad)elnbe Vorwürfe mad)t' id) mir jeben Sag, — jeben Sag ton jenem
erften, gtüctfeligen an nabjn id) mir oor: b^eute — fjeute ganj geroifj —
Unb bann gefd)ab'3 bod) loieber nid)t, bann roar bod) roieber bie 2tngft
p grofe unb fdntürtc mir bie Äefile 5U, — bie 3lngft, Sid) ju oertteren,
Herbert! 3lber id) blatte burd) mein «Sdjrocigen — burd) bies eroige
£inau§fd)ieben feine roaf)rl)aft glüd*lid)e ©tunbe. Unb be^ljalb — bto£
be^alb fönnteft Su mir »ergeben — "
G$ quoll SlfleS oon ib,ren Sippen tonlo«, ftd) überftürjenb, ein Mein
roenig fd)anfpielerifd). 3lber baS merfte er nid)t. Gr merfte überhaupt
nid)t auf bie 2lrt, rote fie fprad). Gr griff fid) nur ein paarmal an bie
©tirn, roeil er immer nod) glaubte, er träume. Gr atmete fd)roer, rote
ein Grftidenber. Gr blieb fteben, er griff jid) oorn in ben &al3fragen, um
Um ju todern, er nabm ben $ut ab. Gr roufjte gamidit mebr, roaä er
tfjat, er roufite überhaupt 9lid)t3 meljr oon fid). 2lHe3 in Unit roirbelte unb
quirlte burdjeinanbcr. Gr batte bie Gmpfinbung oon lauter ©türjenbem
unb 2ked)enbem um ftd) b,er. Grft ganj aflmcu)lid) begriff er, bafj er es
fid) fd)ulbig fei, &err ber Situation 5U bleiben, bafj er fid) eine unbeitbare
33löfje gab, roenn bieS nid)t gefd)al). Gr rid)tete fid) geroaltfam auf, aber
er fd)üttelte fie oon fid) ab, er lehnte fid) gegen einen SBaum am Sßegc
unb roarf tr)r einen 93ticf ju ooller 9lnflage, Sfrmmer unb Gntfefcen. Gr
wußte felbft nid)t, toaS baoon eigentlid) in tf»m oorl;errfd)te; — am elften
roofil baS Gntfefeen über baS, roaS er tjier erfuhr, — plöfcttd), unoorbereitet,
mitten in feine oerliebte Gfftafe l)inein. 9Bie ein 23ltfefd)lag fam baS 2We3,
betäubenb, oermirrenb, unb bicfe jät)c #eHc blenbete ifin. „3)Jetn ©ort,"
fagte er nur ftöljnenb, „wie ift baS Stiles möglid)? SEBaS fott baS Stiles
Reißen?"
«Sie surfte troftloS bie <Sd)ultern. „3m ©ruube," fagte fie tetfe, mit
gefenftem ©efid)t, „Ijätteft Su Sir'S faft benfen fönnen. SBenn £>u mein
Seben, meine Grjietmng in 23etrad)t jietjft — 2)Ut fieben Sauren bin id)
jum erften 3M aufgetreten, ©eitbem immer in biefer Sttmofpbarc oon
3n bet ^od}3eitsnad)t.
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£eid)tfinn, Verführung unb Ungebunbenheit — 3ft es ba ein SBunber?
J3ft eS ba ein Verbrechen? Wlan fönnte fid) eigentlich nur wunbern, ba&
eS fo fpät gefd)ah — unb nur einmal — 3a) bin ja nie belaufet geroefen.
2ln mid) barf man ben 3Jiafeftab aus ©einen Greifen bodj roa^r|oftig nicht
anlegen, gut ein ©chaufpielerfinb mar id) tugenbhaft genug. ©arüber (äff'
id) mir feine grauen £aare machfen. 9tur bafj tdj ©id) in ber £äufd)ting
tiefe — bis £)eute, — baS mar unrecht, ^efct, reo tcb/S enblid) uom £erjen
^abe, roirb mir leidjt. $e|t merb' id) wemgftenS ©erotfefievt haben, ob ©u
mid; wirtlich fo liebft, wie ©u mir'S oft — eben noch — gefagt tjaft, unb
ob ©eine Siebe su mir ftärfer tft, als alles — alles Stnbere."
3bt £on hatte fid) tangfam um etroaS geroanbett, er mar weniger
uerjroeifelt, ruhiger, fixerer geworben, es lag fogar etwas 3JtafmenbeS unb
gorbernbeS barin. 2lber auch biefe Veränberung entging Herbert. ©r war
immer nod) faffnngSloS. ©ieS 2tQ[eS fam ju unoorbereitet, mar ju nieber=
fdjmetternb. gür folgen %aü hatte er bie nötbige Haltung nicht bereit,
er war fid) nidjt Mar über baS, was er jefct ju tfyun unb 5U fagen hatte,
unb baS »erwirrte tljn, brad)te Um in ©onfüct mit fid) felber. Vlöfctidj
fiel ü)m ©twaS ein, eine Stelle aus Hebbels „ÜDiaria SOtagbalena", unb bie
fprad) er jefct in feiner Verlegenheit über ein eigenes SBort, baS er hätte
fagen f ollen unb baS er nidjt fanb, t>or fid) hin: „darüber fann fein 3JJann
roeg" — Unb bann bebedte er feine 9iugen mit ben §änben unb fd)lud)3te.
■Jtun hatte er »löfetid) bie Stoße gefunben, bie er in bem gegebenen $aUe
ju fptelen hotte, ©S erleichterte ihn orbentlid).
©ine 3«tlang fagte ©erba 9iid)tS. @S war fo ftiH }wifd)en ihnen,
bafj man baS »lätfd)ernbe 9lieberfalten beS SBafferS brüben unb teife
5J?enfä)eutritte auf ben anberen Varfwegen beutlid) »emeljmen fonnte. ©ann
flang ihre Stimme saghaft ju il)m hinüber: „2A>enn baS ©ein lefeteS —
einiges 2Bort ift, bann ift'S ja wohl am beften, wir gehen gleich, jefet
unb hier auSeinanber — für alle £eit. 2Bosu foHte bann ein weiteres
£erumjerren nod) fein, — swedlofe Vorwürfe unb Etagen, ba ja nun bod)
einmal 9tidjts mehr gutjumad)en ift? 2Rit bem (Sefchehenen müffen wir
unS eben abfinben. Unb wenn ©u entfdjtoffen bift — 3d) habe bann 9ttdjtS
mehr ju fagen, als: „Verseil)'! unb Seb' wohl!"
9lun fam Seben in ihn. ©r ftredte bie £änbe nad) ihr aus. „9ietn,
nein, nidjt fo — ich — id) habe ja noch nietjt — id) weif? ja noch gar*
nidjt, — id) bin nod) immer fo oerwirrt, fo rathloS, — baS Stiles erfd)eint
mir immer nod) fo unglaublich, — fo unmöglich — "
„2Bir müffen aber bod) nun sn ©nbe fommeu," fagte fie teife, herb,
ungebutbig. „©0 ober fo. ©iefe gräf?lid)e Ungeroifjheit hat lange genug
angebauert, mir Dualen genug gemacht, ^efet trag' ich fie nicht mehr.
3d) habe ©id) fo unfäglidj lieb, Herbert, bafj ich iebe ©tunbe befinnungS=
toS für ©ich fterben fönnte. 3°) möchte wiffen, ob es bei ©ir ebenfo
ift, ob ©eine Siebe 5U mir gröfjer unb ftärfer ift, als 9llleS fonft in ber
8
Konrab Celmann in Horn.
SBelt, — ob Sit burd) fie — mit ib,r 3llle3 überroinben fannft, — aud)
bieg 3Xeufecrftc; — ob id) Sir, rote id) ba bin, mefir roertlj bin, als
bie fcbmeid)terifd)e giction, — bcr (Srfte ju fein, bic jeben 3Wann fo ftotj
mad)t!"
Herbert ftöfynte nod) einmal auf, bann roanbte et ü)r fein ©ejtdjt ju,
baä jefet füt)l unb ruljig erfdjien. sJiur feine 3Runbroinfel surften leife.
„©ömte mir 3eit," faßte er mit Reiferen, raupen Sönen. „3d) fomt mid)
jefet nid)t au3fpred)en. Su mußt ba3 bod) begreifen. 3Rorgen — über«
morgen — Safe mid) nur erft einmal ju mir felbft fommen! Su fannft
bod) md)t verlangen, bafe id) jefct unb bier über fo ßtroaä — über eine
fo mistige, einfdjneibenbe SebenSfrage — Sa« ift bod) unmöglid). Sag
roäre ja gerabe, aU roemt Su mir fo ea passant »orfd)lügeft — " er
roufete offenbar nid)t gletd), roaä er fagen follte, ober unterbräche ba$ roieber,
roaä er Ijatte oorbringen wollen, um nad) einer Meinen Sßaufe murmelnb
beijufügen: — „üorfdjlügeft, oon jefet an ntd)t mein- ju fd)riftftettern ober mid)
t>on ber (Sonne abäufperren ober bergleid)en. SaS ift bod) roie eine furdjt«
bare SReootution bieS, — unb nun fo unoermutfjet, unb jefct unb Ijier,
roäbrenb — " @r troefnete fid) roieberljott bie Stirn mit einem tid)tbtauen,
feibenen Safd)entud)e. „Drbentlid) ber falte Slngftfdjroeife ift mir auäge=
brodjen," fagte er mit einer geroiffen fud)enben &ilftofigfeit, aber ofjne ©erba
anjufeb,en, benn baoor fd)ien er fid) ju fürd)ten, — „aber fo Gtroaä aucf>!
$n meinem gansen Seben b^abe id) eine äljnltd) peinooHe (Situation — Su
tjaft Str roirflid) eine Stunbe auSgefudjt ju bem 2tHen! Safe un8 nur
jefct gellen, — rooinögltd) fönnt' uns nod) roer 33efannte3 begegnen, — ba§
fefjtte gerabe! Unb man roeife aud) garnid)t, roer @inen b,ier Stiles Ijören
fann hinter ben S3üfd)en. 9Jiein ©Ott, mein ©ott, roag finb baä für ©ad)en!
2Bemt id) mir fo 'roaS je fjätte träumen laffen!"
®r attnnete mübjatn, fteefte fein Sud) ein unb oerfudjte, fid) roieber
eine Gattung ju geben. Gr batte fie »ölltg »erloren gehabt. Sabet fonnte
er aber nid)t umf)in, feine Stugen eine SBeile mit fd)euer 3lngft runblaufen
ju laffen. ©erba betrachtete ü)n roäbjenb attebem mit einer geroiffen fübten
Neugier. Sann, als er ib,r feinen 3lrm bot, fagte fie: „Dl), sroinge Sid)
nid)t bap! ^d) fann ja allein gefien — Cber nein," fefete fie fjinju, unb
e3 judte ©troaS sroifdjeu Oberlippe unb SRafenflügeln, roäbrenb fie ibren
3lrm leid)t in ben feinen fd)ob, — „gerabe baä fönnte auffallen, roenn man
unä fäl>e. Unb e3 ift ja gartrid)t nötfytg, bafe man üor ber 3eit erfährt,
roas nad)b,er immer nod) friu) genug unter bie Seute fommt."
lag 6troa3 roie ein fd)mer}lid)er (Spott in iliren SBorten unb mad)te
ilm neroös. 6r äuefte orbentlid) jufammen, als er fie jefet an feinem 9lrm
gegen ben @tabtbal)tit)of ya führte. Unb bann fagte er: „Tu tbuft ja,
als roäre es fd)on entfd)ieben, bafe roir — bafe id) — ©o roeit Tmb roir
ja bod) nid)t. 3d) bin feljr confternirt — begretflidjerroeife — unb id) fann
in meiner 33erroirrung, in biefer heftigen, allgemeinen ©emütfjSbepreffion
3n ber ^ocfoeitsna^t.
9
burd)au$ leine« 6ntfd)luf3 faffen, mir garniert einmal flar werben über baS,
was id) ju tlnm Ijabe, — ober bie 9Jiöglid)fett liegt ja bod) »or — 68
ift etroaS $furd)tbareS, ©erba. ;3d) wollte, bieS märe mir erfpart geblieben.
3Kan fönnte barüber roatinfinnig roerben."
9?ad) biefem testen 2luSbrud) fagte fie 9lid^t* mefir, unb er führte
fie weiter. «Sie frieden jefet fortroäljrenb auf 9Jlenfd)eit, bie gleich ifjnen
bem Ausgange jubrängten; fie fernliegen SBeibe. 6rft als fie bie Stoppen
5iun Safinljof f)inaufgeftiegen roaren unb in ber weiten £aHe broben bie
ÜJienfd)en fid) wieber »erteilten, fo bafj fie allein unb ungeftört abfeits
bleiben fonnten, fagte er mitten in baS bonnembe ©etöfe hinein, mit
bem ein einfabrenber 3»9> i»cr ntd)t ber iljre mar, ben gewaltigen 9?aum
burd)fd)ütterte: „}Jad)bem $Du mir baS furchtbare 33efeimtnif? einmal gemalt
fiaft, ©erba, mufjt &u mir nun aud) Sftffc* fagen. £>aS fnlft 9iic^t8. $d)
mufj nun, ba $>u mir bie 93inbe von ben 2lugen geriffen tiaft, bod) aud)
gleid) »öllig flar fetjen, um geredet urteilen 5U fönnen. Sd) mujj alles
Ginjelne rotffen, — wie unb manu es gefdjal) unb — "
„9iein, nein." <5ie fd)üttette rubjg ben Äopf. „&aS nic^t. £)aS
erlafj mir! 63 ift fo roiberroärttg, ba« nod) einmal aufwübten ju fotten,
fo f)äj?ttd), — unb cor 2lHem fo sroecfloS. SBoju follt' e§ benn etwa bienen?
60 mad)t 9ttd)t8 beffer unb StidjtS fd)limmer. $d) füble mid) nid)t oer«
pflichtet baju, unb icr) »erroetgere es 2>ir. Söerjeitj' ! 3lber ®u mufjt ja
felbft begreifen — Xie £b,atfad)e mufe $)ir genügen, bie f>ab' id) jugegeben.
ÜJUt ber mufjt ©u ®id) abfinben, — fo ober fo. 9JJeI»r bin td^ 35ir nid)t
fd)utbig, — baS märe unbelicat. SBenn roir erft »erljeirattiet ftnb — id)
meine: falls ©u ®td) tro| 2lllem bennod) bereit finben follteft, — bann,
barnt natürlid) — bann märe eS etwas 2lnbre3, wenn SDu bann nod)
barauf beftef)en follteft, — aber jefet: nein. S3itte, reben roir nid)t mebr
baoon! 63 ift gerabe genug unb übergenug!"
Herbert roar fct)r rotl) geroorben, er murmelte 6troa3 jroifd)en ben
3äf)nen, roaS fie nid)t oerftanb. %fov 3»8 fufyr jefct ein, unb fie mufjten
fid) eilen, einjufteigen. Sßäfirenb fie e3 traten, fagte fie: „&err ©Ott, roir
wollten ja mit ber ^ferbebalm fahren! 2Bie bumm!"
6r begriff md)t, bafj fie je&t unb fo oon biefer <Sad)e reben fonnte.
63 fd)wott 6troa3 in ifnn empor oon Sitterfeit, 6mpörung unb £aj3. 3)ie3
9JJäbd)en, feine Srautf, bie il)m eben geftanben blatte, — merf würbig
fpät geftanben blatte, — bafj fie nid)t bie roar, bie er in tt)r ju finben
geglaubt, baß fie nid)t meb,r rein roar, — bieg 9M>d)en amüfirte fid)
jefct barüber, baft fie nun bod) mit ber ©tabtbalin unb nid)t, roie er ge=
rooUt, mit ber 5ßferbebal)n nad) §aufe fuhren, barüber alfo, bafj er bieä
bei ad' bem auf ü)n einftürmenben @d)re(flid)en nergeffen blatte! 6S roar
ungtaublid), einfad) unglaublid). 6ine Äomöbiantin — baS war's! ®arin
lag'S! ©ie jinb alle nid)t üiet anberS. 2>aS ©eroerbe, baS fie treiben,
mad)t fie fo. 3m ©runbe fann man fid) nie bei ibnen barauf oerlaffen,
\0 Kontob Celmann in 8cm.
bafe fie in ber einen ©tunbe noch fo finb, rote in ber anbten; baS ift eben
baS traurige, bem »erbanfte er biefe 33efdjeerungen von heute 2lbenb.
©rojjer ©ort, roenn er baS fo redjt bebaute: — feine 33raut! Unb fdron
in eines 2tnbren &änbeu geroefen! Sßfut, cS mar abfdjeulidj, es mar faum
auSjubenfen.
Unb fie fjätte e$ Unn fogen muffen, benor fic ihm ihr ^aroort gab,
ib,n um fie roerben tiefe, — bamals bodj jum SJttnbefteu. «Statt beffen
— aber natürlich: eine Äomöbiantin! SBarum war er auf ben »errücften
Gmfall gefommen, eine ftomöbiantin ^eirat^en ju motten? Die nehmen
baS alle nid)t gar fo genau, bic fiaben bie „fptefebürgerlidjen" ©runte
fäfee ber foliben, bürgerlichen ©efettfdjaft md>t unb bilben fic^i nodj
fogar GtroaS barauf ein, wenn mdjt 2tttes bei ihnen fo flappt, roie bort.
9Jun blatte er'S! 9tun mit guter Spanier toSfommen, baS mar eine eigene
©adje. ©erebe gab'S natürlich, — unb roaS fär'n ©erebe! Das mar
peinlia). 2lber fdhliefjlidj: wenn man jum ©egenftanb ber attgemeinen
Sfofmerffamfeit rourbe, — $u ojradjten mar baS aud) mdjt, eS fonnte
immerhin für einen ©djriftftetter, ber nodj at« Anfänger gelten mufne unb
ben Ghrgetj l)atte, fdjnett ju einem tarnen ju fommen, oon 93ortbeil fein.
3)tan mürbe fragen: „Die Sinbfieim im ©ttdje gelaffen »on ihrem
»räutigam? 2Ber ift benn ber? 2ldj, ber ©chriftfteffer ftürft! 2BaS bat
er bodj gleidj gefdjrieben?" Unb bann fo meiter. GS fonnte gerabeju ju
einer neuen Auflage feiner „^ßfttdjt" führen. Die 2Mt mar nun einmal
fo, unb man mufjte fie nehmen, roie fie mar.
9lur — eä roar bodj eigentlich fdjabe. Gr fiatte ©erba lieb. Unb ber
■Blamt einer befannten ©djaufpielerin, — felber ein Dieter — GS machte
fid) bod) ganj gut. GS mar fo geroiffermafjen baS Siegel barauf, baf? er
fid) »on fetner hodjrooblauftänbigen ©efippfdjaft emaneipirt hatte unb feine
eignen SBege roanbelte als ein freier unb unabhängiger ftünftler. 9Jitt biefer
SSeroeggrunb batte ihn getrieben, — ganj geroife. Weben feiner Seibenfdjaft
ein geroiffer %xo§, ein tytbtt Gigenroitte, eine beftimmte, berouf3te Stbfic^t.
Söenn er freilidj geroufjt hätte, — bann natürlich nicht; nicht im Sraum
roär'S i^m bann eingefallen. 9lber nun roürb' eS roie ein Sflücfjug aus*
feljn, gerabe roie roenn er bodj bereute, fid) »on feinen ©ippen getrennt 51t
fiaben, unb einfähe, eS fei mit Seuten anbren ©d)lageS fein erotger 33unb
ju flechten. Unb baS roofft' er nun bodj nid;t, baS burft' er ihnen um
feiner felbft mitten nid)t gönnen, ©ine fatale Sage alfo —
Das Goup6, in baS fie geftiegen roaren, roar fo coli, unb ber 3ug
raffelte mit fo betäubenbem Särm bahin, bafj eine Unterhaltung jroifdjen
bem Brautpaar, baS fidj gegenüberfafj, nid)t roohl möglidj geroefen märe,
am roenigften über baS Gine, roaS Herbert nun unabläffig in feiner ©eele
b,ins unb herroäljte GS roar ihm audj gerabe recht fo. 9lur ruhten ©erbas
2tugen unuerroanbt auf ihm, unb baS genirte ihn, baS mad)tc ihn neroöS.
SBaS roottte fie eigentlidj mit biefem eroigen ^erüberblicfen? GS roar ja gerabe,
3«t ber ^odj3ejtsnad|t.
u
als rooHtc fie aus feinen ÜWienen feine wedjfelnben ©ebanfen ablefen. 9iun, baS
fotlte tfjr bodj woljl fdjwer werben. ©twaS fo SDringenbeS, fo 5BerlangenbeS
tag in Unten Slugen. Herbert rücfte unruhig auf feinem ©ife l)tn unb f)er.
©ie liebte if)n bodj fcb>, biefe ©erba. ©ine furdjtbare 2lngft mufjte je&t
in itjr wühlen, ilm ju »erHeren. «Sie wollte mit ijjren 2lugen ilm jroingen,
ilm bannen, it)rt feftfjalten. $>aS war'S! Sieber Gimmel, ja, es märe audj
2WeS fo gut unb fdjön gewefen, nur — @S ging itim eben bodj gegen
bie innerfte 9iatur. ©r, Herbert gürft, unb ntdjt ber ©rfte bei bem SBeibe,
baS er liebte, baS er l)eiratl)en toollte! %n feinen eignen Slugen ent=
würbigte es ib>. @r mar garnidjt mebr er, wenn er baS ttjat, wenn es
roirflidj bafjiu fam. 9Zein, nein, eS ging nidtjt, eS ging nidjt.
®ie raffelnben 9iäber beS 3ufleS toiebertjoltert es unabläffig, waS aus
all' feinen ©ebanfen heraus tönte unb fdjrie: ,,©S gef)t ntdjt, — eS gefjt
ntdjt, — eS getjt nid^t — "
Salmbof griebri#ra6e! ©ie fliegen aus, gingen bie treppe Ijinab,
taudjten unter in baS immer nodj flutljenbe ©ewübX Sßieber tiatte er il|t
feinen 3lrm geboten, wieber blatte fie Um genommen, ©djroeigenb fdjritten
fie nebeneinanber t)er, burd» all' baS laute, aufgeregte ©ommernadjtleben
ber ©rofjftabt. ©ie überquerten bie Sinben. ©erba warf einen Slicf 5um
6af6 Sauer hinüber, burdj beffen offene Spüren unb genfter man auf bie
lidjtüberf)ellte, bunte SDienfdjenmaffe faf), bie ftdj an all' ben Keinen £ifd)en
}ufainmenbrängte, — es mar ein fefjnfüdjtiger SBlicf, bem ein Heiner
©eufjer folgte. „33in idj burftig, §erbert!" unb ttjr 3lrm machte in bem
feinen eine jucfenbe ^Bewegung nadj bem 6af6 f)in. 3;cfet einen ©isfaffee
bort — es mü&te föftlidj fein. Unb mitten in bie bunte, internationale,
ein Mein bissen „gemifdjte" ©efellfdjaft hinein, nad) bem fteifen, lang»
weiligen SluSfteliungS^eftaurant — %n allen 3^nfpifeen pricfelte eS fie
banadj. 9Bojit benn audj jefet fdjon ju 33ett get)rt? ©S mar woljl nodj
garnidjt einmal 9JJitternadjt, — bodj t»ar)rrjafttg nodj feine ©djlafenSjeü.
9tber Herbert mar entfefct über bie &Io§e Slnbeutung UjreS SBunfcfieS.
3e|t in'S ©af6 SBauer, — fie 33eibe allein, — unb nad) bem, was eben
oorgefallen mar, nad) biefen ©röffnungen, bie von fo lebeneinfdjneibenber
Sebeutung waren — ? £>a muf3te man ndj benn bodj wirflidj fragen,
ob man redjt gehört blatte; baS mar in jebem galle ein &ä(S)eti vm
grioolität, — »on nidjts Slnbrem. SBenn ©erba baju im ©tanbe
mar, — nun, bann erleichterte fie tfjtn feinen ©ntfdjluf3 roenigftenS, ber
ja roo\)l obneb,in Ijötte feiner ©igenroürbe falber oon ib,m gefaßt werben
muffen!
©eljr »erbroffen fdjlugen fie 33eibe ben 3Beg in bie ftüfe (S^arlotten*
ftraße ein unb ftanben nadj wenigen SRinuten »or ©erbaS ^aufe. ©ie
{»atten fein SBort me^r gemedjfelt. 311s fie fid» jum Stbfdjiebe bie £anb
reidjten, fübl, ob^ne fräftigen £)rucf, ftanb er mit bem abge3ogenen Gnlinber
in ber Sinfen oor iljr, fjodj, ftetf, gemeffen, wie ein frember 9J?ann. Unb
\2 Konrob (Eelmann in Hern.
ba fagte fie, — nod) unter bet äitternben Sfacfjnrirfimg iljre« 2lerger« unb
ber Gnttäufdjung oon »orb,in, — geroollt fiatte fie e« nidjt, unb faum bafe
fie e« au«gefprodjen, bereute fie e« aud) ftfron roieber: — „3$ werbe ©eine
Gntfdjeibung bann ja roolil erfahren, wenn ©u e« an ber 3eit f>ältft. 2Wff
fie fo, wie ©u fie correct ftnbeft! ©ute 9tad)t!"
•Jlocf) nie batte ifire ©timme fo Ijart geflungen. Unb e(>c er nodj ein
SBort fjätte erroibern fönnen, mar fie im £aufe »erfdjrounben. 9htr bafj
er glüfirotb, im ©efid)t geroorben mar, f)atte fie nodj gefefm. 23etnabe t^at
er if»r leib. Stber »or allen ©ingen roar e« fefir unoorfidjttg oon ibr
geroefen, ba« SBort ju gebrauchen, — be«roegen, roeil e« il;n beeinfluffen, ibn
beftimtnen fonnte. ©ie roufete ja, bafc er, roie ber ©dmtetterltng unter ber
9labe(, beim 2lnf)ören biefe« SBorte« juefte unb jappette. Unb er batte
fic^» bodj frei entleiben follen, abfolut frei, bamit — 3Son folgen ßteinig*
feiten, oon foldj' einem einjelnen SBort f)ing mandjmat ein 2eben«fdjicffat
ab. Unb bann roar'« fein SBunber, roemt bie SReue barauf folgte. 9ietn,
lieber als auf folgern ©runbe ba« ©lüd feine« ©afein? aufbauen —
SBemt e« überhaupt ein ©lücf roar, je roerben fonnte
SBäbrenb ©erba mit folgen ©ebanfen bie treppen ju tbrer SBobnuug
fjtnaufftieg, fegte Herbert gürft feinen §eimroeg fort. Gr mufcte bie Sinben
hinunter, jum S3ranbenburger £f)or fiinau«. Gr ging in ber SKitte be«
SBege«, jtoifc^crt ben »erftaubten Säumen, unter ben eleftrifdjen ©lüfylampen
b,in. SHodt) immer glübte fein ©efid&t. SBie ein ^eitfdjenfdjlag fiatte ba«
SBort ibn getroffen: — „rote ©u fie correct finbeft!" Teufel audj! Gr wollte
ja niefit correct fein, barin fjotte er ein föaar gefunben, unb ©erba mußte
ba«. Gorrect! 2llle« Slnbere efjer, al« ba«. SBie ein freibenfenber, mobern
empftnbenber SDienfdfj roollte, muf3te er entfcfjeiben. SRatürlid), ba« roar er
fid) unb feiner neu errungenen Stellung fdjulbig. 2lber fdjtieftlidj: ba« roar
eine grage — nidjt ber Floxal — jum teufet mit ber SOioral! — fonbern
ber ©elbfteinfdjä|ung. SBenn man ficf> bodj nun einmal für ju gut fyielt,
um ber „9lad)folger" ju fein, roo man ber Grfte unb Ginjige fein rooHtc,
— ba« roar ber fpringenbe 5$unft, ganj allein ba«. Unb bann: baf? fie
tfjn getäufdit, belogen rjatte bi« fieute 3lbenb! 9luf fo Gine, bie ba« fertig
braute, roar feinerlei Skrtafj, jefct ntcfjt unb nie, auf fo Gine braudjte man
feine jarte 9tüditd)t ju nefmten.
Studi eine anbere 2lngft roar nod) in Herbert lebenbig. ©iefer Gine,
ber ©erba einmal befeffen blatte, lebte bod) roabrfdjeinltcb, nodj, roar oielleidjt
fogar fiter in 33erlin. SBenn ber nun eine« Sage« in einer luftigen ©e=
fedfdjaft, am SMertifd) — roo e« audj roar — tnit ber gauft auf ben
£tfd) fd)lug, al« bie Siebe auf bie fcfjöne grau ©erba $ürft gefommen
roar, unb ladjenb — mit jenem Sacben, ba« Herbert »on äbnlid)en Grteb=
niffen f»er nur allju gut fannte, au«rief: „Äinber, idj roeif3 — im 93er=
trauen gefagt: id) l)ab' fie aueb 'mal gehabt, idj — unb idj roar ber Grftc —
famt'« befebroören!" Uumögticb,, unmöglid)!
3™ öer l}od)3eitsnad}t.
\5
Herbert fyatte im 2Bciterf(^rcitcn bie gäufte geballt. $>aS t^ut fein
G&renmann, natürlid) nid)t. SBtoS baf? mandjmal Gtnen eine roeinfettge
SRenommiftenftimmung boju I)inreif3t. Unb bamt: roar er benn ein Gf)rcn=
mann, ber SBetreffenbe? 2Ber bürgte Herbert bafür? Unb roenn erft ein*
mal einer fid) gerühmt f>at, glaubt natürlid) alle 28ett, es mären ü)rer
•Dieljrere geroefen unb ber jefeige ©bemann nur gerabe ber ßefete, ber baS
Sufeenb coli mad)t. $fut Teufel! 216er bem trete einmal Giner entgegen!
SBomit benn? 2Bte beim fold)' einem efelb>ften, nieberträd)tigen ©erüd)t
baS SebenSlidjt auSblafen? ®urd) eine $erauSforberung? £a fonnte
man fein IjalbeS Seben mit Quellen »erbringen. Unb bafj fo ein ©uetl mit
feinem 3ufaK*au^9a«0 überhaupt garnidjts beroieS, fooiel roufjte er bod)
nun aud) fd)on; auf bem ©tanbpunft befanb er fid) feit Sängern. 2llfo —
9tun, sunt genfer, man burfte es eben nid)t barauf anfommen laffen.
GS gab ba feinen 2luSroeg. Herbert $ürft burfte feine bemafelte grau
b>ben, — um feiner felbft mitten nid)t unb um ber 2(nberen mitten nid)t,
benen er feinen Sßorroanb für ib> geifernbes ©ejüngel bieten burfte. SDabei
blieb er fteb>n, barüber fam er nid)t liinroeg, — mit all' feinem ©inniren,
mit all' feinem ©etüftel niebt. 2Rit einem großen, mänulid)en ©ntfd)luf?
fid) freimad)en, — weiter blieb 9iid)tS. $>aS mar er fid) felber fd)ulbig.
Unb roer eS gut mit ibm meinte, mufcte if»m SJcifaU sollen. 9iur bafs
er über bie ©rünbe biefeS SluSetnanbergefntS nie mürbe fpred)en bürfen.
Unb baf? bie, roeld)e ilmt SöcifaU sollten, eS t)ermutf)lid) tb>n mürben,
roeil fie überhaupt — in Unfemttnifi ber ©ad)lage — annahmen, er
fei fid) über bie Unmöglid)feit einer Skrbinbung mit einer Äomöbiantin
Ilar geroorben, bemt fold)e 3?erbinbung fei nun einmal ein Sing ber Uns
mögltd)feit für einen correcten 2Benfd)en. Sßul)! Summ! $DaS roollte er
md)t, gerabe baS nid)t.
Gr blatte injroifd)en feine 2Bof»nung braufsen in ber Slöniggräfeer*
ftrafje erreidjt, in einem großen, »oraeljmen £aufe, eine Xreppe f)od), —
ein paar 3ü"roer m}t «Hern mobernen Gomfort, üppig, von petnttdjer
©auberfeit ber Ginridnung, faft ein bisdjen roeibifd>lururiös. ©erba blatte
baS roenigftenS gefunben, als fie liier geroefen, — jum erften unb legten
9Ral unb natürlid) in Segleitung ber £ante. GS rod) fogar etroaS nad)
Skild)enparfüm in ben 3immer"/ gerabe rote fein £afd)entud) unb bie
<Seibenauffd)läge feines UeberrodS. Herbert fleibete fid) auS unb legte fid)
ju 33ett. GS mar ein roeidjes, breites Sett mit fd)roellenben geberfiffen,
unb er fd)lief fonft immer fefir gut barin, — faft mit bem ©locfenfd)lage,
von 3Witternad)t bis fieben Uf»r 3RorgenS ofme jebe Unterbredmng. 9tur
feltene 3luSnal)men fernen babei »or. $eute fonute er burdjauS nid)t ein«
fd)lafen. 2ltteS ftörle Um. $aS öeflingel ber ^ferbebafm braufjen roollte
gar fein Gnbe nehmen, — unb biefe eroigen SBagen, bie ba »orbeirottten
— unb im 3immer über üjm rourbe Glaoier gefpielt. Unb 51t attebem,
nod) irgenbroo ein betteuber £unb. Grmürgen l;ätt' er iEjn mögen. §unbe
H Konrai» Selmann in Som.
tonnte er überhaupt nid)t ausfielen; es mar einer fetner ©treitpunfte mit
©erba, bie für igunbe fd)wärmte unb burcbauS »on Umt »erlangte, er foHtc
fid) eine größte Ulmer ®ogge anfdjaffen. 3)aS fjätt' ibm gefehlt! @in grofjer
£unb in einer georbneten ^Berliner ©tabtwohmmg, wo er 2ftteS umftiefe,
oerunreinigte, Derbarb, bie beften greunbe mit wütfienbem ©eftäff anfuhr,
— alle paar £age ein ©dmtersenSgelb an einen gebiffenen Settter, ein
ewiges ©ejage hinter ibm bretn, ©djerereien mit ber ^olijei, mit ben
9Jacbbarn — 9tber ©erba fiatte gefagt: „©onft fieirath' td) $)id) ntd)t!"
2Bie bumm! 2BeSf)alb ü)m baS jefet wohl 2ttteS fam? @S mar ja fonriefo
ju @nbe — mußte 5U ®nbe fein —
9iuf)eloS wäljte fidt) Herbert in feinen Äiffen f>in nnb her. @r er*
bitterte fid) immer mehr gegen ©erba, je weiter bie 9tod)t »orrücfte. ©af?
fie ihm biefe ©cbmad) angetban blatte! 35af? trjn biefer 5ieulenfd)lag bleute
batte treffen müffen! Sftöglid), baf? fie entfcbulbbar, — in höherem ©inne
fogar uufdjulbig war, er wollt' es ja gern glauben; aber baf} Tie feine
SBerbung angenommen, ohne ihm ihren moralifcben Sefect eutjugefteben,
baf? fie ihn bis beute »erfdjwiegen batte, — baS mar unoeräeibUd), bafür gab
e§ feinen ©chatten einer ^Rechtfertigung, ©ie blatte ihn bodt) wohl erft fieser
machen motten, — offenbar nidjts 2lnbere3; fie blatte ibn erft fo feft an fid)
fetten motten, baf? er nicht mehr jurüeffonnte, bafe er einen 2i)eil feine*
SebenS babei einbüfste, wenn er es tbat. ©cbmäbtidje Seredbnung mar es
gewefen. ©ingefangen follt' er erft fein unb bann nicht mehr jurüdföttnen.
©erabe baS empörte ibn am attermeiften. ©o banbelte eine raffinirte
Äofette, eine fdjlaue, überfchlaue Äomöbiantin. ©in paar SBodjen oor ber
.§od)seit! $>enn jeben Sag fonnten ja nun bod) biefe bummen, fo fä)roer
ju befdbaffenben Rapiere aus ihrem böbmtfdjen föeimatSort enblid) eintreffen,
unb bamt fonnte baS Aufgebot fofort beftettt werben, $ätte beftettt werben
fönnen. Unb beSfialb war'S ihr enblid) an ber 3«t erfdbtenen, ben 3Runb
aufptbun. 9?ur weit eS fonft 5U fpät mürbe, weil es fonft einen böfen
Äracb hätte geben müffen, wenn er felbft erft — ben Teufel auch! 2Ber
ein 2Häbcben fieiratbet, nimmt fie boeb in bem felfenfeften ©lauben Inn,
wirtlich ein 9Jiäbd)en ju befommen, unb nicht —
9lun, fie fottte fid) in ibren feinen ^Berechnungen benn bod) getäufebt
haben. 35ie ©d)lingen, in benen fie Um hielt, waren nod) feineSroegS fo
feft gefnüpft, baß es fein Gntrimten mehr baraus gegeben hätte. Dbo,
nein! Unb wenn felbft ein 5ttjeit feines beften ©eins babei ju ©runbe
ging, wäbrenb er fid) freimad)te — Keffer, ein ©tüd SebenSgtüd, Hoffnung
unb ^ttufion aufopfern, als feine (Sljre. SHe @bre muf?te gewahrt werben
um jeben ^Breis, aud) um ben f)öd)ften unb äufierften.
Diefcr ©cbtuf?gebanfe gab Herbert eine gewiffe 9tube jurüd. ©eine
3WanneSef)re verlangte bie Trennung oon biefer $rau, bie nid)t me^r rein
war unb bie ifjn Untergängen hatte. ®amit fertig; barüber IjinauS gab
eS Vichts inebr ju flügeln. Um feiner (Sb,re willen mufjte er entfagen unb
3n bet £;od;3citsnad;t.
leiben; baä roar 2)ienid)enloo3, unb e3 war eines SDiamteS roürbtg, fo ju
tjanbeln. 3Jiit biefem 93eroußtfein »erfaßte er geftärft einsufd)lafen, nad)bem
e§ enblid) ganj ftitt braußen unb im &aufe geworben mar, uttb eS gelang
ifmt nad) einiger 3eü aud) roirflid). —
2lm anberen -JJiorgen füllte er fid) imax weniger frifd), als fonft, aber
im Uebrigen war er ganj rutjtg. Sie Trennung mußte »or fid) gefyen,
baran mar fein 3roeifet mef)r. ©r f)ätte ©erba gletd) jefct ben 2lbfd)ieb3»
brief fd)reiben fönnen, aber e£ foUte nid)t ben 2lnfd)ein tjaben, als ob er
fid) übereilte, borgen war ja aud) nod) 3*'* genug, ßr fleibete fid) mit
ber gewolmten, umftänblid)en $einltd)feit an, frübjüdte, tag bie 3eitungen,
— 2llIeS genau, wie fonft, 2llleS ganj nad) bem S<$uürd)en. Unb bann
wollte er arbeiten. „3n biefen Stunben pflege id) ju bieten," blatte ©erba
in ifjrem übermütigen «Spott »on feinen SBormittagen gefagt. 9iun,
fd)ließlid) mußt' es bodj audf» in biefen Singen eine gemiffe 9tegelmäßigfeit
geben, ©ctjriftfteKcr fein fließ bod) nod) lange nid)t gauteitjer fein, ftm
©egentfjeil. Sie Ungebunbenljeit mußte bod) aud) itjrc ©renken fjaben, eS
roar bod) immer nod) ein gewaltiger Unterfdjieb jwifdjen einem geregelten
SebenSroanbel unb einer fteif leinenen, pebanttfdjen Gorrectljeit, roie fic in
ber @pt)äre Ijeimifd) roar, aus ber er fjeroorgegangen —
ßorrectfjeit! Sa roar baS roiberroärtige Sßort fd)on roieber, mit bem
©erba ifm geftern 9lbenb entlaffen blatte unb baS immer roie ein Sßeitfdjen*
fd)lag auf ifm roirfte. ßorrect! ßorrect roollt er garnid)t fjanbeln. $efct
nid)t unb nie. 2tber fdjließlid): roenn eS bie @E)re gebot —
©r fefete fid) an feinen ©djreibtifd). 2tUeS lag unb ftanb fner, roie
er eS brauchte. (Sine oortrefflidje geber, lein £>ärd)en in ber £inte —
®r überlas bie legten 9)?anufcrtptfeiten. „3erriffene Ueffeln," follte ber
SRoman Reißen. Unb t)icr ftanb: „2Benn er baS tfjat, roaS in feinen
Streifen »eroefmtt unb unmöglid) geroefen roäre, fo mußte er jebcSmat ganj
genau, baß bieS in feiner jefcigen Sage unb roenn er fid) roirflid) — aud)
innerlid) — freimachen roollte, gerabe baS 9üd)tige unb baS einjig ©ebotene
roar, baS, rooju fein £erj feine 3uftimmung gab." — SaS blatte er geftern
gefd)rieben, beoor ©erba ifjm — Seltfam! Unb ba follte er nun ijcute
roieber anfnüpfen. 9fein, bas founte er nid)t. 3rotfd)en geftern unb fjeute
lag für ifm ein Slbgrunb. <Sd)lteßltdj roar ber ©djriftfteHer bod) aud) nur
ein 3JIenfd). ©r ftrid) ben <Safc aus, mehrmals fjintereinanber, mit biefen
g-eberftridjen. Slber bie ganje ©efd)id)te roar fdjließlid) auf biefe ©entenj
angelegt, bie ganje ®efd)id)te follte im ©ranbe 9ttdjtS weiter befagen.
©in £l)eit feiner eigenen SebenSgefd)id)te, — jured)t geftu^t, »erbrämt, auf
anbere ^ertjättniffe, in eine anbere SBeltgegenb übertragen, — roie man ba§
benn fo mad)t. Unb nmt — es roar bumm. @r roujüte burd)au§ nid)t
roeiter. Sd)led)terbing« mußte man bod) 2lu3nat)men »on jener Siegel
conftatiren; in fold)er 3lttgemeinf)eit, mit fold)em 2lnfpmd) auf ©iltigfeit
war fie abfurb. 2Bo bie 61)« in'S Spiel fam — Sa3 ©anje roar über=
»ort unb ©üb. LXXV. 223. 2
\6 Konrab Celmann in Horn.
Ijaupt 9Ud)t«, al« eine feb,r natürltd)e SJeacrton, bie nun natürlid) aud)
roieber über'« 3iel frinau«fd»oß unb in'« ©rtrem verfiel. 3n bet 9Witte log,
wie immer, bie 2Baljrf>eit.
6r wollte roeiterfd)retben. 9lein, ba« ging aud) roieber nid)t, ba« mit
ber golbenen Witte. ©« roar gar ju abgebrofd)en, unb gerabe gegen bie
gebanfenlofen ®urc&jdmitt«anfd)auungen ber „SDJitte" follte fid) ba« SBud)
ja in erfter Sinie rid)ten. Gr fd)ob bie Stätter fort, er ftanb auf. ©anj
tieiß mar er geworben, bie £aare liebten if)tn an ben ©djläfen. S>iefe
erbärmtid)e ©efd)id)te! ©aß bie nun aud) in feine Arbeit eingriff, über;
ftieg bod) äße begriffe. Herbert mar rofitfienb. 9iun fonnte er ben ganjen
tyad 23lätter ba nur 5erreißen, nun roar ba« 2ffte« umfonft gefa)rieben
roorben. Denn in'« ©efidjt fd)tagen fonnt' er fid) bod) nid)t gerabeju; wie
man fämeb, fo mußte man bod) aud» leben, im Seben tianbeln. Unb nad)
feinen papiernen SCenbenjen ba f)ätte er alfo jefct ©erba ^eiratljen müffen,
gerabe weil in feinen Streifen ^ebermann ofme Unterfd)ieb ba« für unmöglid)
erflärt Ijaben mürbe, gerabe beSfiatb. 2Beit es nid)t correct roar!
Gr ging mit großen ©djritten im 3ünmer l)in unb tier. 2llle« in tlmt
roar in 2lufrul)r. SBenn er fid) nur irgenbroo f>ätte OTattj einholen fönnen!
Slber roie ging ba« benn an? 2Ber fann beim uon fo Gtroa« aud) nur
anbeutung«roeife mit einem 3lnbern reben? Uebrigen«: roa« blatte man
itim aud) ratzen foffen? @otd)e ®inge muß ^eber mit fid) felbft im füllen
Jtämmerlein abmad)en unb nad) feiner eigenften 9iatur entfd)eiben, $eber
Wirb ju einem anberen SWefuItat babei fommen. ©einer 9iatur — barüber
roar er garnid)t mefir im Sweifel — roiberftrebte e«, ©erba fefct noch, 5U
feinem SBeibe su mad)en. 6« fragte fid) eben nur, ob er feine SNatur
ntd)t befämpfen, nidbt mebersroingen mußte roegen — nun, roie follte
man e« gleid) nennen? — roegen höherer ^ntereffen, — um jtd) at«
roabrbaft freier SJlenfd) ju jetgen, — um ju beroeifen, baß bie früheren
geffeln feiner 2lnfd)auungen, Gmpfutbungen, S8orurtr)cile roirflid) unb enbs
giltig jerriffen roaren. ®a« roar'« : ein Stampf, eine Feuerprobe. Gr mußte
ba burd), um fid) al« ber neue SKenfd) p legitimiren, ber er \a fein
roollte. Unb roenn ba« ein ©tücf r-on feinem innerften ©elbft foftete, —
unb ba« roürbe e« ja, — roenn er unter biefen Stampfen unb Dualen fo
fd)roer ju (etben hatte, baß er fd)ier 5ufammenjubred)en brobte: e« r)a[f
9iid)t«, e« mußte fein. Gr hatte bann befhtitiu berotefeu, baß er roirflid)
fein correct er 9JJcnfd) roar. Tie« hier roar eine Seben«frage, eine Seben« =
entfebeibung!
Herbert bulbcte e« nid)t mehr im ßimtner. G« roar ihm ju eng hier.
Gr mußte weite ^orijonte um fid) haben, ber Särm be« branbenben Beben«
mußte ihn umfallen. Gr batte bie Gmpfinbung, al« ob c« ibm am
rooblften fein roürbe, wenn er jefet feine Gßenbogen gebrauchen unb mit
fräfttgen 3trmcn eine fid) gegen ihn anbrängenbe SDJenge geroaltfam jertbeilen
fönme. Gr feinte fid) nad) Stampf, nad) einer SBethätigung feiner 9)ht«fel=
3« b er ijodjjeitsnadjt. \~
frfiftc. 2ltle« in ifnn mar in Seroegung, e« ftürmte in feiner Seele. 2Bie
ein ©rfticfenber füllte et fid) ftettenroeife. Gin tyetfjer ©roll gegen ©erba
brannte in ifim. SBenn er fie jefct l)ter »or fid) gefefin Ijätte, er märe mit
geballten gäuften melleid)t auf fic loggegangen, er l»ätte ü|r SBorte suge*
fd)rieen in feiner allmäljlid) fidfj fteigemben ©rlnfcung, bie roilb unb brutal
geroefen fein mürben, ©r faßte fid) in biefer ©tunbe, bafj er fie {»äffe.
2Be«f)alb jroang fte itjn in bie« 2flle« binein, — in biefen Äampf, biefe
©elbftquälerei, bieg t)ä&tid)e Stxrolfylen unb 3ermartern feine« Qtmern?
©r mochte ba« nid)t, il>m mar att' ba« nod) taufenbntal rotbriger unb pein*
»oller, als jebem 3lnberen. @« pafcte fo garniert ju i\)tn, braute Um mit
fiel» felber in fd)retenben ©egenfa(j. ©r mar ein SDiann ber 9?ufie, ber
Drbnung, ber füllen 3lrbeit. 3töm tt)at man <Sd)roerere« an, al« irgenb
©inem fonft, mit allebem. 2Benn er ba nur erft roieber fjerau«, bamit
nur erft fertig geroefen roäre!
©r blatte feinen &ut aufgeftttlpt unb roar in'« greie gelaufen, ©r
mußte md)t, roof)in er fotlte. £)er £ag roar ftrafilenb fd)ön, er ftanb in
fo fdjroffem ©egenfafc 5U Herbert'« 33erftörtl)eit, bafe tfjm biefe leudjtenbe
©ommerljerrlidjfeit förmlid) einen förperlid)en <5d)mer$ »erurfadjte. ©«
tjätte lieber ftärmen unb regnen follen. 2Ba« fing er mit biefem £age
jefct an? ©ine Secunbe lang burd)fd)ofj tfm ber Webanfe, 5U ©erba 51t
gelien unb fie su einer gafirt nad) SBannfee abjuljolen. 3)amt fd)ämte er
fid) feiner Ütegung. 2Bie er bod) fd)on an fie geroötjnt roar! ©« roürbe
3Jtül)e foften, fid) »on ib.r to«sureij3en, — e« b,ätte 3)iü^e gefoftet! Sßenn
er freilid) nun entfd)ieben roar, eingefefyen blatte, baß er bod) nid)t anber«
fomtte, al« fie Ijeiratljen — '.Hein, aud) bann nid)t. 3aPPcln lajfen roollt'
et fte bod) in jebem ^alle eine 3«t lang. SBie fie fid) jefct roof)( Wärmen,
bangen unb ängftigen roürbe! 9Jiit roeld)er (Sorge fie feiner ©ntfd)eibung
entgegenfeb^n mod)te! $>enn fie roar ja roirtlid) fetjr »erliebt in ü)n, unb
bie brobenbe 2Jtöglid)feit, tfm in leftter ©tunbe nun bod) nod) ju »erlieren,
mußte it)r furd)tbar fein. 2Bafn"id)einlid) batte fie ja bod) aud) be«roegen
allein tf»r uerfyängnifroolle« Slefeuntniü immer roeiter unb weiter f)inau«=
gefd)oben; fie fyatte Um trid)t »erlieren roollen. sJlun, Herbert gürft«
©attin ju roerben, — e« begriff fid), ba« roar nid)t« kleine«. Slber büfjen
muffte fte ilire Unaufrtd)tigfeit bod). tftidjt bleute unb niefit morgen roürbe
er ü)r 33otfd>aft fenben, ba« ftanb bei if)tn feft. "Bi« an ben 9?anb
bet ißerjroeiflung roollt' er fie erft gelangen taffen, biefe ©enugtljuung
roenigften« burft' er fid) gönnen. SBenn er alle biefe inneren Dualen ju
burd)leiben ^atte unb fo gan; au« bem ©leicbgeroidjt gefd)leubert rourbe,
roe«Ijalb follte fie frei au«geb,en, fie, bie bod) an aH' biefem 3lbfd)eulid)en
bie ©d)ulb trug?
Herbert roar am 9ianb be« £f»iergarten« ^ingefdfjtenbert unb fab, fid)
jefct mitten im roirten ©etriebe be« fieipjiger Sßlatse«. 311« er bei ftoft»
oorüber roollte, rief man ib,n an. Äuno SSarrentjols, — roa^rliaftig. ®a
2*
\8 Konrafc (Lelmann in Horn.
faft er an einem ber £ifd)e im Vorgarten, üier, fünf 3*üungen um fid),
bie 33eine lang auSgeftretft, ein batb leere« ©las SHabetra unb ein paar
spaftetdjen »or fid), an bie er fid) gerabe mad)te. Herbert ging hinein
unb fefete fid) ju ifnn. „2Ba3 treiben ©ie betm f)ier? 3cihmgett
tefen? Vormittag«? 3ft ba$ aud) eine 33efd)äftigung, eine« ©d)riftfteller*
ttmrbig?"
$uno Sarren^olä breite feinen fdjroaräen ©pifcbart unb jnrinferte
burd) feinen Äneifer. „©rofeftabtftubien mad)en," brummte er. „gamofer
Dbferoationäpoften f>ier. 9ta unb ©ie — 9trbeitstrjtcr? SBofitn be« SBeges?
©tettbid)ein mit geinäUebdjen?"
Herbert mürbe etmaä »erlegen. „Dffen geftanben, — id) bin fo
auf's ©eratl)en)ot)t in bie SBett gelaufen. @3 mollte mit ber Strbett beut
nid)t fo red)t fleden."
„Slenne id)," meinte ber 2lnbere, beljaglid) fauenb. „gfedt bei mir
faft nie. «Profit !"
„©in fd)mterigeS Problem, miffen ©ie. 3>a mufi man fid) 3«t laffen,
innerltd) ruhiger unb reifer merbeit. ©onft ift'3 ja bod) nur $pfufd)erei."
&m," mad)te ber ©d)roarje. „©ans mein gaH. Uebrigen« — "
@r fd)lürfte fein ©las langfam teer, „^ntereffanter Stoff? 2Ba3? @r*
jagten ©ie bod) 'mal!" 31(1 Herbert zögerte, fügte er üeräd)tltd) bei:
„9Ja, ©ie glauben roal>rfd)emlid), id) fönnt' ^Ijneu bie ©efdbtd)te megfapern?
9tid)t? 9Ja, baben ©ie man blos feene Slngft! ^d) b>be meljr ©toffe
oorrättjig, als föaare aufm ßopf. 3d) fönnt' ^Irnen im ©egentljetl »ieHeid)t
bod) 'n guten 9Jatb geben, 3m 21uefpred)en roirb man fid) oft erft Kar
über baa, roas man roitt unb fott."
Herbert lädjette f)alb »erlegen. ©t roufjte feljr gut, bafj Äuno 5Bar=
renliotj bafür berühmt mar, bie „(Sollegen" nad) if>ren neuen Stoffen au»«
juliordjen, unb biefe bann, menn fie „ifmt lagen", in ©d)nettarbett »orroeg
ju »ermertlien. Siein SJlenfd) mollte ifmt beö^atb mein- ßtroas ersähen, unb
feitbem fd)rieb er faft 9iid)t3 mefjr. ©ein #auptaugcnmerf rid)tete er auf
9teutinge im %ad). Sßlöfelid) fiel Herbert ©troas ein. @r erjäljlte Shmo
SBarrerifiolj nid)t feinen Vornan, ben er in Slrbeit f)atte, fonbern feinen
eigenen gaH, wie menn es fid) ba um einen Dlomanftoff banbelte, —
natürltd) nur in ganj allgemeinen Umriffen, r.nter »eränberten SSerbältniffen
unb nur im föinblicf auf bie eine, ausfdjfaggebenbe grage: Tarf ein
9Jtann unter foldjen Umftänben feine 33raut nod) su feiner grau madjen?
Gs mar bod) immerhin f)öd)ft intereffant, mie ein moberner jRomancter
— benn ba« mar Kuno SBarrenfjolj unb gar fein unbebeutenber, im ©egen*
tfyetl: ein fef)r fd)arfer, logifd) analnfirenber, burd) unb burd) »on moberner
©mpfinbungsroeife burd)tränfter — über bie ©ad)e r«on feinem ©taub*
punft au« urteilte. G» mußte ifrni einen fefir beutlid)en gingerjeig geben.
Slnfangs börte ber ©d)ti)aräe fid)tlid) mit gefpamtter 3lufmerffamfeü
üu. 9?ad) einiger 3«t aber jeigte fid) ein geringfd)äfeigeä ßäd)eln auf feinen
3n ber £jodf3eitsnad}t.
\9
Sippen. Unb fcbitefelidj unterbrad) er Herbert mit einer abroinfenbeu
£anbberoegung. „3t6er lieber £err, baS ift bod) fein moberneä Problem,
©eien Sie gut!"
Herbert mar fetjr »erblüfft. „ertauben ©ie 'mal! ©ine fo ernfte
©adje — "
„Sief), gefjen ©ie bodj! ©oldje abgeflapperte ©efdbi($te! lieber fo
'roa'S jerbridjt man ftd) bie Äöpfe fieutjutage nid»t meljr. sJie, ne, ba$ ift
abgetan; ba$ ift überhaupt fein moberneS Problem. £>amit locfen Sie
feinen föunb »om Dfen. 2lntiquirte ©adje."
Herbert roufjte nidjt met)r, roaS er fagen fottte, er mar fefyr fleinlaut.
,,©o 'was fommt aber bodj »or," fagte er »erfd)üd)tcrt. „föeute aucb nod)."
„3Ja!" ®er 2lnbre (adjte. „®aä perfteljt ficr). @rft redjt. »Iber
tia nun längft feftfteljt, roie ein mobem benfenber SDienfdj fo 'roaS auf»
nimmt, ift baä eben fein Problem mefjr, fonbern 'n ganj mtlgärer $urd)*
fdntittgfaa."
,,©o!" Herbert warf bem ©predjer einen fdjrägen 33licf ju. „9iun,
tdj roetfj bod) nidit recfjt — ÜKein £etb befinbet ftd) gerabe im fjödjften
gioevfetsftabtum. 2lber er 'wirb mo\)l fdjltefjlid) bod) alle Sebenfen über»
nrinben unb trofe aHebem unb allebem — "
„Watürlid) wirb er." ßuno 33arrenf)olj brannte fid) eine ßigarrette
an. „Sßenn er 'n moberner SWenfdj ift, roolifoerftanben. 3)emt fie fönnten
ja audj 'n 2Bafd)lappen unb gebanfenlofen Qammerling fdjilbern motten,
©onft aber roirb er fagen, bafj foldj' 2Jtäbel mit 'm fogenannten fittlidjen
©efect fftr einen benfenben 2Jtenfdjen ganj genau baSfelbe ift, roie 'ne
2Bitlroe ober 'ne gefdjiebene grau. £at er gegen fo ©ine feinen ©6gout,
fann er aud) f)ier feine morattfdjen Sebenfen nur getroft su £aufe laffen.
Ober fteljen ©ie etwa auf bem ©tanbpunft »on ©tanbeSamt unb
fttrcb>? S)a3 ift ja freilidj ganj correct nadf) 'm alten ©tiefet, aber für"n
flarföpfigen UJtenfdjen roirb fo 'roas mit ober otme ftaatlicfje ©anction nidjt
beffer unb md)t fdjledjter. $m ©egettt^eit: fo' roaS au« Siebe 51t tljun
olme ftanbeäamtlid&e 9tegiftratur ift {ebenfalls »iel moralifdjer, als ojme
Siebe, mit b>f)er, obrigfetttidjer ©rlaubnif?. SBorauä ju folgern ift —
Donnerwetter! ©ie finb ja ganj rott» geworben, ßollege. 3$ fag' ffinm
ba bod) Iwffeirtlidj nid)t3 9ieue3?"
„Stein, nein," madjte Herbert gebefjnt unb »erfudjte, überlegen ju
lädjeln. ,,9tarürtid) nidrt. 3Uter ftram. ©tanbeSamt unb &ird)e fönncn
feine ßb,e fittlid) machen, bie ,§auptfadje muf? ba nod» erft fiinsufommen.
Unb anbererfeits fann audj olme @f)e — 3a, e3 fommt immer auf ben
<5tajelfall an. 2lber natürtid): ein Problem liegt ba nidjt »or, — »on
einem mobernen Problem fann gar feine 9tebe fein. Qd) banf Sfmen,
lieber SSarrenbolä. SBiffen ©ie, roenn man feinen $opf fo mitten in bie
ftrbeit fjineinftecft unb löffelt unb löffelt immerfort baran Ijerum, »ertiert
man fd)lie|tid; ganj ben freien 33li<f über ben eigentlichen Äernpunft ber
20
Kourab Celmann in Rom.
©ad)e. Unb meiftenä ift ber fo einfad), — fo fpotteinfad). 68 ift bie
©efd)td)te oon bcm 2Balbe, ben man t>or lauter Säumen nid)t fieftf."
„3a, wenn ©ie roeiter 5tid)t8 oor^aben — " 93arrenf>ot} Blies Keine,
blau*graue 9Ungeld)en in bie Suft. „£>en SRoman roürb' icfj ungefdjrieben
laffen. ©er fommt um ein »iertel ©acutum ju fpät Slber fonjl oieffeid)t
'roa8 auf Sager? £m?"
„Seiber nein, ©arnid)t8." Herbert ftanb auf. ,,3d) banf Qlmen
nodmtate. $d) Ijätt' ba leid)t einen faux pas machen fönnen. 2lbieu."
„©ie motten fd)on fort?"
„6ine SSerabrebung, ja. «Sie miffen ja: ein oerlobter ÜHamt, —
SBetberbienft get)t ba oor £errenbienft."
„3a, richtig. Unb fietratfjen balb?"
„3n atterffirjefter Seit. Sluf 2Bieberfel)n!" @r roinfte läd)elnb mit
ber föanb unb ging.
9118 er auf'8 ©cratfjeroolil bie Sßot§bamer ©trafce fyinunterfdjlenberte,
— roofnn er nun fottte, raufet' er garniert, nur affein b,art' er fein motten,
— • jagte er tonlos jroeimat »or fid^ Inn: — „roie 'ne ÜBittroe ober 'ne
gefd)iebene grau — " 2Wit einem 3Wa( Ijatte er ba8 erlöfenbe SBort.
SDiefer SSarrenb^ols mar im ©runbe ein au8gefprod)ener Sump, aber Herbert
flätte ü)m oon 9Red)t8roegen um ben &al8 fallen jotten.
* *
*
dreimal »ierunbjroanjig ©tunben roaren nun oergangen feit bem Slbenb
im 3lu8ftettung8parf, unb Serba Sinbljetm tiatte nod) immer feine 9tod)rid)t
oon Herbert erhalten, ©ie fottte eben „jappeln". Herbert überlegte gar
nidjt, bafj fie au8 biefer langen, über bie Sßerabrebung au8gebebnten Sebent
jeit nur einen ©d)lufi auf feine balttofe Unentfd£)loffent)eit sieben fotmte, ber
feine8roeg8 günftig auf il)r ©efammturtf)eil über feinen CSljarafter roirfen
mufjte. 6r wollte fie um feinen ^reia merfen laffen, bafj er längft ent=
fd)ieben mar, nod) roeniger natürlid), mer unb mag eigentlich ben 2CuSfd^tag.
gegeben batte. ©ie fottte nidjt benfen, ba{j er bie @ad)e leidjt naljm unb
rafd) bamit fertig mar. 3n 2Baf)rf)eü mar bie8 aud) gar nid)t ber %cSL. ©r
Ijatte im ©egentbeil unabläffig roeiter baran ju fd)lucfen unb ju roürgen. £ro&
3tttem unb 2111cm mottle e8 ifun gar nidjt eingeben, baf? feine 33raut
2Ba8 nüfeten ü)m ba alle anberen ©d)tagroorte unb brüchigen ©opbifte«
reien? SRatürlid), ja, man mufjte ftd) nidjt b'ran feb^ren, man mufcte als
mobemer SDlenfd) bie ©adje »om mobernen ©tanbpmtft aus betrachten, unb
er »or 2lttem — gerabe er — burfte nid)t „correct", „nad)'m alten ©tiefei"
fid) refoloiren. 2ltte8 gut unb fd)ön. Unb e8 lebte aud) roirflid) fein
3roeifel mein- in ü)m. 9lber eine abfd)eulid)e ©ad)e blieb e8 be8b,alb bod).
(Srft ba8 factum felbft unb bann iljre 5ßerbeimlid)ung — Sßfui, nein, ba*
»erroanb fid) nid)t fo leid)t. ftnnertid) geroife nidjt, roenn man aud) äufters
tid) tbun muftte, al8 liätte ba3 2ltte8 nid)t »iel ju fagen. 2Ber foimte gegen
3n öer f?od}3»itsnad)t.
21
feine Jtatur? $>er (Ütitnnt unb ©roll übet baä ©efdjefyene blieb befielen,
ber lief? ftdj nidjt ausrotten, ber frafs innerlidj immer roeiter. Serbergen
fonnte man Um, aber beilegen, uerfdjeudjen, — nein, unmögltdj. £a3
mar nun einmal, rote e3 roar.
9Jttt ber 3«t begann Herbert ftdj auf feine ©elbftfibermmbung immer
meb,r einjubilben. ®r fonnte fid^ förmlidj barin. 68 roar bodj roirflidj
etwa« ©rojjeS, roas er tfjat, fjier flagloä unb »orrourfsloil ju oerjeujen.
9ttdjt 3eber b,ätte e3 tfjm nadjgemadjt. 2lu3 feinen Greifen — ben urfprüng«
lidjen Streifen — nun fidjerlidj fc^on Sltemanb. Qa, « war eben ein
freier 9Jtenfdj, er f>atte fidj to3gemadjt r<on allem Gonoenttonellen, er geroif3,
— fo fdjroer baä gerabe ilmt geroorben roar.' 63 roar nidjt abgegangen
ofme tuet SBeb, unb £erjeleib. 3lber nun liatte er audj roirflidj ©runb, mit
fidj juftieben, auf fidj ftolj }U fein, 6iner »on jenen mobernen ÜDfärtijrern
roar er, bie bie 3cit gebar unb bie an ber Sßenbe eine« neuen 3^ito IterS
ftanben, um für bie fommenben, freieren 9J?enfdjen mit ju leiben unb ju
entbehren.
3lm 9lbenb be3 britten £age3 fdirieb Herbert folgenben Srtef an
©erba:
„©eltebte!
$dj Ijabe entfdjteben. $)u roirft mein SEBeib roerben trofc 2ulem. ?öon
ber ©tunbe unfereS 2Bieberfef)en3 an roirb nidjt mef)r »on bem ©efdjefieueu
Sioifdjen unä bie Siebe fein, nidjt roafjr? 9iein, mit feiner Slnbeutung.
darauf beftefje idj, baä ift gerabeju meine SBebingung. 63 fotl 9Ule3 fein,
ofö roäre jene« SBort nie gefprodjen, jene fdjroere 6ntfdjetbung nie an midj
herangetreten. Sßtr rooHen es auälöfdjen unb »ergeffen. 63 ift abgetfjan.
9iur barfft ®u um beSroiHen nidjt glauben, baf? e3 mir leidjt geroorben
roäre. Sei ©Ott, nein, ©erba. Qdj bringe ®ir ein Dpfer meiner innerften
Ueberjeugungen. $u t)aft nidjt redjt an mir gefjanbelt. 3lber banfe mir
nidjt bafür, — roenüjftenS nidjt mit Söorten. .tomm' gar nidjt mefjr auf
bie? traurige unb Seinlidje jurüd! Saufe mir Ijödjftenä burdj ©ein Ser*
galten, £eute finb ©eine Sapiere enblidj bei mir eingetroffen, borgen
früb, getje idj jum @tanbe3amt, um ben 9lu3ljang ju »eranlaffen, unb bann
fomme idj ju 3Mr. SBtä baljiu fdjlicfee idj ®idj mit erafter 6rgriffenf)eit
in meine 9lrme. 2JHr ift, als £>ätte idj Stdj neu errungen unb gewonnen.
Dein Herbert."
2lm nädjften £age, um bie für feine früheren Sefudje üblidj geroefenc
9todjmittag3ftunbe, ging Herbert 5U ©erba. 6r fab, blafj unb angegriffen
au«. 9Jadjt3 ^atte er uor 3«^"1d)mer5en, an benen er mandjmal litt, bie
er aber nie eingeftanb, roeil er ba» für ein manneSunroürbtgeS Seiben l)ielt,
toenig gefdjlafen. 2ludj ber ©ang uorljer jum ©tanbeSamt mit feinem 3"=
befjör »on läftigem SBarten unb £erumfteljen blatte Üjn ermübet. ®tefe
2eiben«miene fleibete itjrt aber gut, mai er felbft fel»r genau rouf3te, unb
fie roar Ujm gerabe je^t redjt. ®r roar fefjr geljalten in feinem 9Befen,
22
Konrab (Eelmann in Som.
eine gewiffe gebämpfte ©cbroermutb lag übet ihm ausgegoffen. gn Mem,
uom jeroetltgen 3»den feiner SDtunbwinfel biä ju betn [eifert, etwas fingenben
STon, in betn er fprad), bie ©ttrn leidet gefenft, bas 2luge bobjcenb auf
immer ben gleiten ©egenfknb gerietet, prägte fidb's aus, bafc tjier ein
gro&er ©dmterä männlid) ju ©nbe gerungen fei. ©r t)atte ©erbas beibe
.§änbe eine Heine SBeile mit fräftigem ©rucf umfd)loffen gehalten unb bann
wortlos ihre ©tim gefüfjt. ©predben fonnte er eine 3eit lang gar nicht;
als er*^ tbat, fprad) er von gtetcbgilttgen fingen.
©erba threrfeits mar »oder $ubel. 9Ran fat) ihr freilich 9}id)ts bauon
an, bafj fic gelitten l)abe ober aud) nur in fcbroerer ©orge gewefen fei,
in ihren ftrat)lenben 2Jiienen fprad) fid) üHichts t>on irgenb weld)em Sangen
unb Sangen au«; aber gerabe bas ÜeberroaHenbe in ihrem ©lücfsgefttbl
jefct fcbien »on ben früheren 3roeifeln ju reben. ©s mar fogar t)in unb
wieber etwas Uebermütbiges in ihrem Soeben, wenn fie aud) in fid) nur
hinein lacbte, um bei Serbert feinen Sfaftotj ju erregen. 3Jfan tonnte bei=
nabe argwöhnen, bafj ihr irgenb ©twas im ©runbe fefjr fomifd) bei biefem
2lHen erfcbien, — ob feine etwas gemachte ©cbmerjensbaltung ober fonft
©twas, blieb unaufgeflärt. ^ebenfalls hielt fie bas 33erfpred)en, mit
feinetn 3Bort auf bas jurttcfjuJommen, was jroifcben Urnen geftanben fyattt,
unb es mar, als fei 2tffeS beim 3llteu. 2lrm in 2lrm gingen fie jufammen
fpajieren, — obne Begleitung ber £ante; bas erfcbien jefct felbftoerftanbltd),
»on ber mar überhaupt nicbt mehr bie 9lebe.
^ad) ber fcbweren ßrife fcbien bas Sßerbältnifj swifdhen ben Seiben
gefefteter ju fein, als »orber. Serbert »erbarrte freilid) bei ber etwas
fd)wermütbig*gemeffetten Haltung, bie er feiner 33raut gegenüber eingenommen,
aber er mar »ou jarterer 9tücffid)t gegen fie, als früber, unb »ermteb ben
fcbulmetfternben Xon von fonft faft »ödig. ©r fd)ien jeber ÜRöglidjfctt eine*
neuen Gonfücts ängftlid) au« bem SBege jn geben. @s mad)te fo etwa
ben ©inbrud, als ob er ©erba unb fid) als jmei »om ©cbicfial gezeichnete
Seibgenoffen betrachtete, bie feft pfammenbalten unb ftd) bas Sehen nid)t
felbft nod) febmerer mad)en mußten, als es obnebin fd)on für fie war.
©erba felbft mar banfbar, gefügiger, als fonft, unb immer »oll beiterer 3"; -
friebenbeit. $>ie ©enugtbuung über etwas Sßohlgelungenes leud)tete ans
ibrem SÜBefen.
Herbert fam fid) eigentlich mit jebem Sage braoer vor. ©s »erging
feiner, an bem er nicht bas, was er getban, »or fid) hätte aufleben
laffen, um fid) barin ju fpiegeln. ©r betrachtete fein Silb, wie es aus
feiner Sanblungsweife beroortrat, mit waebfenbem SBoblgefaßen. $a, er
war eigentlich ein ganjer ßerl. SBenn bas ein 3lnberer über fid) »ermod)t
unb fertig gebracht hätte, ©iner, ber aus anberen Äreifen herootgegangen,
in anberen 3lnfd)auungen groti geworben war, moebte es ja nid)t »iel be-
beuten. Seichtfinn, ©ebanfenlofigfeit, 9Serftänbnif3lofigfeit unb was ättes nod)
fonnte ber ©runb bafür fein. 9)ian fonnte ja aud) einfad) ©erba, bie ja
3n ber £^odj3eitsnadjt.
23
ein reijenbeS ©efdjöpf mar, nicht haben »ertieren motten. Dber man hatte
nid)t ben fdfjarf ausgeprägten, mäimlidjen ©htbegriff, ber tt)m in ber 93ruft
tuohnte, unb baS natürlidje Setbftbenmfetfein, ben natürlichen SBunfdf), bet
@rfte unb Ginjige ju fein. 33ei ^unbert 3lnberen hätte baS Stiles alfo nicht
oiel ju fagen gehabt. 33ei ifnn aber
täglich blatte er noä) neu ju fämpfen, täglich ftiejj ü)m baS Unge*
cjeuerltdje neu roieber auf. $>er reiche, fchöne SJtann, ber ©otm eines
jener „fürftttdfjen" Äaufleute, er, ber iebe grau hätte fein nennen tonnen,
— unb begnügte fidj nun mit ber, bie ihm nicht mehr baS eitrige ©ut
einmal entgegenbrachte, über baS bo<h bie Slrmfeligfte ihrer ©chroeftern
oerfügt, unb baS ber armfeligfte -DJann als etroaS ©elbftoetftänblirfjeö, Un=
erfefcbareS beanfprucfjt! ®aS mar etroaS ©rofieS, es roar eine £f)at.
Sterin tonnte er immer mit 9teä)t roüfilen, baS burfte tfm mabjlidj ftolj
machen.
Unb nur um fo mehr, roeil er fidt) äufjerlia) gegen TOemanben beffen
rühmen tonnte, nie audE» nur anbeutungSroetfe bawon überhaupt fpredhen
burfte. ©erba gegenüber roäre ihm baS tactloS unb unjart »orgefommen,
— Tic follte ja auch 9<*r ntccjt roiffen, nrie fdfiroer ihm baS ©efdhebene
geworben, unb follte bie ganje £ragroeite, bie ganje SBebeutung feines
<5ntfct)luffeS nicht ermeffen. Sei 3lnberen »erbot eS ftch ohnehin oon felbft.
2BaS SBunber aber, bafc er nun um fo fetbftgefättiger fein eigenes 33tlb
betrachtete, fict) an biefem Silbe geroiffermafjen beraufdfjte? 2Beldt)e ©elbfl*
bejroingung, roelcfj' greiheitSempfinben, meldte SetbenSentfdfjloffenhett bodt) in
bem Sitten! 3a, er mar ein ungewöhnlicher 9Jienfc^. Unb baf? er bieS
33erouf?tfein f»atte, haben burfte, baS allein lief? Um fiä) in baS Unabänber=
lidje fo ohne Älage unb ohne SBorrourf fmben, baS gab ilmt ©eltung, Äraft
unb 3lub,e. (SS ftimmte Hm. fogar milbe gegen ©erba, benn er fagte fieb,
ohne fie unb ohne ihren gehltritt mürbe er nie ©elegenheit gehabt ttaben,
fict) t>or ihr unb »or fich felber in feiner ganjen ©röf?e unb in feinem
ganjen Heroismus ju seigen.
@o »ergingen bie Sßodfjen bis jum föoehjettstage ben 33eiben in fo
ungetrübter Harmonie, roie es fonft »ermuthlich nidjt ber gall geroefen fein
mürbe, ©emt auet) ©erba blieb meid) geftimmt; für fte lag etroaS 9tührenbeS
in biefem gelaffenen, fdjmerjDerbeifjenben SBefen Herberts. „®r ift bodj
mirflidh ein guter fterl," backte fie immer roieber, „roaS bebeutet baneben
baS bisdjen 33er f c^robettejeit ?" @S tarn ju gar feinem SBortroed^fel, ju gar
fetner SSerftimmung meb^r jroifd)en ib^nen.
©ie ,§odhjeit follte ganj in ber ©tille gefeiert merben. Herbert roar
mit feinen SSerroanbten, obgleict) fie gar nidjt ahnten, roaS für Gine er in
2Bal)rf)eit ju feiner grau machen roollte, fcljort längft roegen feiner SBerufS*
roa^l unb roegen feiner £eiratl) üerfaUen. Gr galt als „aus ber 9lrt ge«
fct)lagen", man adjfeljucfte über ib^n. 9taf»eftefienbe greunbe blatte er faum,
unb ©erbaS 9lnbang reijte ibn nid)t. ©S entfpradE» übrigens au$ ihren
2\
Konrab Celmaun in Som.
SBünfchen burchauS, olme t>iet ©epränge feine grau ju werben. Sie firch*
liehe Trauung, bie tf)tn Anfangs als etwas UnoermeibticheS erfduenen roax,
hatte fie Ujm glücflidt) auSgerebet; er fat) fchliefjlicf) felbft ein, baß fie in
üjrem gaffe eine jener jabllofen „correcten Sögen" gewefen wäre, »cm
benen eS im Seben ber „gut bürgerlichen" ©efefffdjaft wimmelte. 9tur
bejüglich ber $o<hjeitSreife fam es ju ^einungSoerfchtebenheiten jwifdjen
ihnen, ©onberbarer SBeife beftanb ©erba barauf, obgleich Herbert gerabe
bie« für ©chablonenthum ohne jeben tieferen ©inn unb Qrotd erflärte.
©erba wollte nun einmal fort. gür adt)t, für uierjelm Sage, unb gar nidjt
weit weg, aber in feinem gaff in SBerlin bleiben, enbltch gab er nach,
er fagte fi<h, bafe eS einem, ber baS über fidt> gebraut, was er, nicht
fcfjwer faffen femne, einer fleinen ©rille ju weichen, ©ine fleine ©rh^olung
mürbe übrigens auch il)m gut thun; er tjatte in ber legten 3eit itemlich
angeftrengt gearbeitet, unb bie feelifdjen Erregungen, bic er burdjgemadjt,
5etjrten fidjtlich an Umt. es fam tjinju, bafj fein Vornan immer mehr
3le^nlic^feit mit feinen eigenen ©chicffalen unb ©rlebniffen gewann. 3>aS
war ü)m jugleiclj eine Sefriebigung — eS jwang ifm gerabeSroegS baju —
unb ein bauernbeS Sohren unb SBüljten in feinen eigenen SBunben. e$
jetjrte an feiner SebenSfraft. 3lber irgenbwie l)atte er fi<h boct) äufeera
müffen. Unb nun brauste er wirflidt) eine erfiolung, er mar neroöS ge*
worben.
SKan befdjlojj, am ©ochjeitStage nach Hamburg ju fahren, »on bort
anberen SageS nach £elgolanb. 35a« ^odjjeitäbiner in einem öffentlichen
Socal, unter 2lffiftenj »on allerlei 3Jtenfcf)en, benen man bie ©live hatte
anthun müffen, ohne ib>en irgenbwie nahe ju flehen, »erlief jtemliä) fteif.
es waren ba fetjr heterogene ©erneute jufammengefommen, unb man fanb
net) nicht red)t jufammen. erft gegen ben ©djlufe Ijin würbe eS animirt;
ber »orjügliche ehampagner tb>t ba feine SBirfung. 9lun brohte bie
Stimmung aber auch gleich in'* 2lfljub>itere umjufdilagen. Unter ben
33fil)nen5@lementen waren einige, bie anfingen, fi<h in burfdjifofen 3ln»
fpielungen ju ergehen unb Sieben ju tmpro»ifiren, bie fchon nicht mehr
jweibeutig waren, es lief natürlich 2lffeS auf ben einen $unft heraus :
„9JUt bem ©ürtel, mit bem ©djleier" — Herbert b>lt eS fchliefjlich nicht
mehr auS. 2BaS wufrten biefe luftigen Printer freilich baoon, in was für
nie »erb>rfchenben SBimben baS MeS bohrte unb wühlte! er brach auf,
ohne 2l6fd)ieb ging er mit ©erba bat)on. eine ©tnnbe fpäter waren fie
auf bem Sehrter Sahnhof, unb halb barnach raffelten fie in einem Soup6
erfter Klaffe allein im ©chneHjuge nach Hamburg.
©erba legte fich fofott mit bem Kopf in bie Kiffen unb fdt)lo& bie
9lugen. ©ie war fehr inübe, eine wohlige 2lbgefpanntf)eit löfte ihre ©lieber.
Sabei lächelte fie, mit jenem ftiffen, ftegbewufjten Säcbeln, baS er aus ber
legten 3eit an ihr fannte unb baS ihm immer fagen ju wollen fchien:
„Siehft Su wohl, baf? 2>u o^ne mich nicht fein fannft? Unb wemt ich
3n ber ^od? jeitsnadjt.
25
nod) taufenbmat ©d)ltmmere$ besangen Ijätte, als baS, — £>u bltebft mir
bod) »erfaßen! (Sä f)atte it>n fd)on früher mand)mal aufgeregt, ifyn sum
2Bü>erfprud) gcrcijt, bieS Säbeln. Unb jefct — @r war otnteljin fefir neroös
burd) baS &od)äeit»biner geworben, an bem ifjm eigenttid) 3lDed mißfallen
blatte, baS ifnt in bauernber Unruhe gebalten blatte. ßr begriff gar nid)t,
rote ©erba fd»lafen tonnte — ober roenigftenS fo tf)un, als ob fie fd)ltefe.
Unb baju bieS Säbeln! SBenn fie roenigftenS ftumm feine £anb in ber
ifiren gehalten blatte! 2lljnte fie benn gar 9ttd)tS »on bem, roaS jefet, gerabe
jefet roieber »or tljm fieraufftieg, in tf»m gäfyrte unb tlm folterte? SBäre
es nid)t natürlid» geroefen, wenn fie tb,m jefct SBorte beS ®anfeS, ber %n-
erfemtung, ber 33erounberung gefagt blatte? Segriff fie benn md)t, baß
er feit jener Ärife itmerlidj ein 2lnberer geroorben roar, baß ein ganjeS
Seben fid) barnad) umgeftaltet l)atte, unb bätte fie ifwn ntdjt au3fpred»en
müffen, baß aud) fie ftotj auf ibn roar, roie er auf ftd) felber?
(Srft, als ber raftloS jagenbc 3ug auf bem ^Berliner 99ab,nbof in Hamburg
Ijielt, fd)lug ©erba bie 3tugen auf. Herbert roar feljr uerfttmmt. @S
fodjte (StroaS in if»m. „©inb roir fdjon ba?" fragte (Serba erftaunt. ©r
bejahte für} unb fierb. (Sein ©elbftberoußtfein bäumte ftd) auf, er füllte
ftd) febr gefränft. „@S fdbeint 2>ir nid)t gerabe eilig ju fein," murmelte
er bitter. ©ie lachte Ijell auf. „Sieber fterl!" Sie ftrid) ibm über bie
SBange t)in. ©S roar etroaS fo berablaffenb ©utmütfyigeS in £on unb 3^e-
roegung, baß es ifnt ctjer nod) mebr aufftadjelte, als baß es ifnt befänftigte.
©ie fd)ten ifmt fagen ju motten: „Sld), fo einem guten jungen, roie &ir,
fatm man ja bod) Stiles bieten, — »erftebt ftd)." ÜWit biefer ©mpfinbung
»erliefe er baS 6oup6 unb f>alf tb,r ausftetgen.
Sie fuhren in ben „Hamburger &of". Unterwegs ^atte ©erba nur
ÜBorte ber Serounberung für bie fternflare SDHlbe beS ©ommerabenbs „t|ter
oben im SRorben", für ben Sinbenblütfienbuft, ber überall bie br'eiten
Sfoenüen burdjroogte, für bie fid) brängenben SDienfdbemnaffen auf ben
©traßen unb enblidj für baS präd)tige ©tabtbilb am 9(lfterbafftn. ©ie
roar in ber ftrablenbften Saune, fie fanb SllleS fdjöner unb großartiger, als
in 33erlin. %m „Hamburger £of" fjatte Herbert bie 3immer »orauSbefteflt.
"3?om Salfon irjrcS lururiöS eingeridjteten ©alonä im erften ©toct Ijatten
üe bie Sluäfidjt frei über bie StlftersDuaiS. ©erba fonnte fidj »on bem
Slnblid garnidjt losreißen. 2113 Herbert fie fragte, roaS fie am liebften
nodj nehmen roolle, be»or Tie jur SJube gingen, fd)lug fie »or, nod) auSju*
ge^en, ju bummeln, brüben im 9llfterpa»ilIon nad)b,er eine ©rfrifdjung ju
nehmen, „eine föftlid^e ^bee, nidit?" ©ie flatfd)te in bie &änbe »or
lauter 2lu«gelaffenb,eit.
Herbert roußte ntdjt redjt, ob fie fdjerjte ober im @rn|t fpradj. ^e|t
nod) ausgeben, roäb^renb er — %a, roar fic benn »on ©tein unb GifenV
Ober wollte fie bie ©tunbe nur abfid)tlid) l)inauSfd)ieben, roo er nod) ein*
mal roieber pein»ofl mitten in allen SBonneempfinbungen baran erinnert
26
Kontaft (telmann in Horn.
werben mußte, bafj — er nicht ber ©rfte war? Dbet war baS 9ttte§ ©cham,
2lngft, fofetteS (Spiel? @r würbe nicht flug baraus. (Sr fieberte bereits,
es jammerte ihm in ben ©dfjläfen, baS 33lut brängte fich ihm in ben &opf,
mährenb ihm falte Stauer ü6er Staden unb Stücfen herabriefetten. ©eine
•Heroen waren wirflicfj in einer unleiblichen SBerfaffung. 2tber (Serba that
benn aud» wahrlich baS ^lirige baju, ihn wilb ju machen. @S mufjte nun
einmal ein ©nbe ^a6en.
„Stein, mir geben nicht mehr aus," fagte er mit einer eigentümlich
Reiferen ©timme, „heute 2lbenb nicht mehv. ©ntfd&eibe ©ich, was $>u noch
nehmen nridft. Slber balb, bitte, balb!"
©eine £anb fratlte fi<h foft in ü)ren 2trm ein, feine SBorte prefeten
fich jwifchen ben 3äDnen b^eroor, in feinen 2tugen glühte eS irr auf. (Serba
würbe unruhig, ^r Sachen Hang etwa* unnatürlich, ihre ftm8cr jueften,
wäfjrenb auf ihrem ©efidfjt bie 3tötr)e in ©ecunbenhaft fam unb ging.
„SJtein ©ott, 2)u tfiuft mir weh, Herbert. SJteinetwegen! bleiben
mir! $>u fannft mir baS ja in anberem £one fagen. SefteH' nur, was
®u TDittft ! 9JHr ift MeS gleich», junger t»ab' tdr) noch 9^ ni<^t wieber.
Unb mübe bin id^ auch nicht, 9ar wicht — " ©ie lachte ihm, wähtenb ein
paar echte Xhränen an ihren 2Bimpern perlten, fchon mieber fpifebübifdj
in'S ©efi<f)t.
„®u hoft ia auch im 6oup6 bie ganje 3eit gefchlafen," fagte er in
empfinbttchem Xon, währenb er bem Äeßner fcheDte.
Samt afjen unb tranfen fie noch ©ttoaS. giber es gefdjah ohne alle
Suft, unb fie warfen Reh über ben £ifdj weg hin unb wieber fdfjeue 23licfe
ju. ®ie fleine 9WaI»Ijcit wollte fein rechtes ©nbe nehmen. 2llS ber
Kellner jum 2lbräumen fam, fnupperte ©erba immer noch in ihren fruchten
umher. 5Dann wollte fie wieber auf ben $atcon hinaus. Stun würbe
Herbert aber ärgerlich unb fchloß flirrenb bie £hur-
„3u 33ett! Sefet geht'S ju 33ett!"
©raupen war baS Nachtleben fchon faft »erftummt.
„©ute Stacht alfo!"
©ie ftanb oor ihm, jroinferte ihn mit halb gefdjloffenen 3lugen an,
reichte ihm mit einer matten Bewegung bie &anb unb fchien fWfj ihm in
ber nächften ©ecunbe an bie 93ruft legen 5U wollen.
6r «erftanb baS MeS aber nicht recht, ©ollte baS ©pott fein?
Sßar'S wieber nur ein Spiel, um ihn ju reisen? @S berührte ihn unbe*
haglich.
,,0eh' nur woraus," murmelte er, „ich fomme gleich nach."
Unb babei breite er fich um. 2BaS -mm teufet war benn baS? Gr
würbe ja ganj rort). 2Bar er bemt ein fttnb? ©ein benehmen mar in
jebem gall baS eines Änaben, — unerhört albern.
SWS er fich wieber umwanbte, fo ärgerlich über fich felbft, bafe er mit
bem gu&e hätte aufftampfen mögen, war ©erba fchon hinaus, ©ie
/
— 3« &et £?od}jettsnadft. 27
^ortiöre, bie baS ©dtfafaimmer vom Salon trennte, beroegte fidj nod) teifc.
(£r roarf fidj in einen ©orametfeffel. 2Bie fein $erj flopfte! Unb bie§
Tiefen unb jammern in ben «Stirnabern! ©er Sltfjem rourbe ibm orbentlid)
fnapp. SEBenn nur bie SDHnuten etiuaä rafd&er Ratten Eingeben motten!
konnte er jefet fdmn — ? SBie weit modjte fie — ? ®r l)orcf)te. ®r
fpannte alle feine ©Urne an, um ©troaä ju »ernebmen, baS leifefte ©eräufd),
ein ßniftern unb Änittern »cm fallenben Eleibungäftücfen — 9?ein, er borte
sJUd)t3. ©a§ SBCut faufte unb fang ü)m »iel ju laut in ben Dtyren, fein
£er§ fd)lug »iel 5U ftünnifdj. ©r mu&te — %a, nun muftte, wollte er ju
iljr hinein, gleidjoiel, roie roett fie — 2lf>!
2U3 er fid) eben ber ^ßortiöre näherte, mit rafd) attjmenber SBruft, mit
langen, fdjleidjenben ©dritten, bie £änbe etroaS »orgeftredt, feilte fie fid)
auSeinanber, unb ©erba erfd)ien im Salon, ©ie ^atte ibr Dberfleib ab»
geworfen, Ijatte nadte Sinne, mar aber fonft nodj ganj befleibet. sJiur i^r
$aar b,atte fie fid» gelöft, e3 fjing iljr in langer, breiter SBeHe in ben
Hadert biuab. ftljr ©efidjt mar ^eife gerottet, aber ein Säbeln tag auf
ibren Sippen, — roteber bieä überlegene, trtumpfiirenbe Sädjeln. Unb in
ifjren Slugenroinfetn judte unb gitterte e& @ä mar etroaS Verhaltenes in
all' ifjren SStienen.
„2Ba8 — roaS roittft ©u nod), ©erba?" ftammelte er, fjalb erfreut,
balb oerlegen äurüdroeidjenb. „§aft ©u nod) (Stroaä tjier »ergeffen?
$d> — " ßr benahm fidj roirflid) roieber wie ein buntmer Sunge.
roufete gar nidjt, roaä er tb,un foHte. 2Barum ging er nun jefet nidbt roemgftenS
auf fie ju, ftatt mit itir ju fdjroafeen, rife fie in feine Sinne — unb —
,,©u," fagte ©erba, unb es flang iljm aui itjren SBorten, roie ein
mübfam »erbiffeneS, fd)abenfrofie3 SUdiern an'3 Dfjr, „id> muf? ©ir erft
nodj 'mal 'roaä fagen, Herbert."
Unb eb,' er fid/§ »erfafi, faft fie auf feinem ©djoofj, iljre beiben 3lrme
umflammerten feinen £alio, unb er atfmtcte bie 3Mb,e ibjeS meinen, an ifm
gefdnniegten SeibeS ein.
„©erba," murmelte er, „roaS — mag bemt?" 9totl)e glede tagten
»or feinen Slugen f)in unb fjer.
©a brad) 'fie plöfclid) au3: „@3 ift ja Stiles Unfinn, ®u, — oerfte^ft
©u? 3fd) babe Dir baS ja bloS »orgerebet bamals, um Dieb, auf bie
$robe ju fteUen. 3d> bin gar feine ©efaUcne, ©ort beroaljre! ©u roirft
ber Grfte fein. ©3 mar Sug unb Trug. 93toö miffen rooflt' id) ja, ob ®u
mid) roor)t mirflid) fo liebteft, um ba3 ju überroinben — fo, roie id)'^
brauste, mie id) 3Md) roollte, tjerftetjft ®u — Unb ob S>u mob,l mirflid)
ba^ „ßorrecte" grünblid) abgetb,an Ijätteft, benn fonft — roeifjt ©u — %i)
mär' ja geftorben »or langer SBetle an ©einer Seite, rabical &u ©runbe
gegangen — ©o'n correcten 9Kann — na, begreif mal, ba§ mar bod)
9iidjt§ für midb,. 3la, unb bann t)aft ©u bie Sßrobe ja glänjenb be-
ftanben, mein 2tttercf>en, — glänjenb, — obgleidj e« ein bisdien fange ge=
28
Konrad (Lelmann in Horn.
bauert f»at unb $)u £>ir baS wahrfd)einltd) ein bisd)en fd)wer abgerungen
haft. $aft es natürlid) wiebcr »iel ju tragifd) genommen, alter ^ebant!
■Jla, bie £auptfad)e bleibt aber — Unb nun wirft 3)u ja aud) be*
lotjnt — "
$DaS 2llleS ftrömte jmifdjen immer fid) erneuernbem, übermüthigem
©eläd)ter »on ihren Sippen. 3Wand)mal warf fie fid) wor 2luSgelaffenhett
fogar hintenüber, fo mcffyxft, fo ungebunben, bafi er benfen muffte, fie
glitte ihm »on ben Änieen. 3111' bie fonft »or ihm äurücfgebämmte,
triumphirenbe Suftigfeit über biefen wohlgelungenen ©treid), an ber fie
juroeilen beinahe erfticft wäre, mad)te fid) nun gewaltfam Suft. @ie fonnte
fid) gar nid)t faffen. Sie ladbte, lad)te, lad)te. <So GtroaS »on Sad)en
blatte Herbert nod) nie erlebt. Unb eS flang fd)tief3lid) gar nid)t mehr
fd)ön, fonbern fdjritt unb getfenb, es war beinah* fd)on wie ein Ärampf.
Unb er felbft blatte immer nod) fein Sßort gefagt, gefdjweige beim in ihr
Sachen eiitgeftimmt. Gr rührte unb regte fid) gar nid)t, er ftreefte nicht
bie &anb aus, um fie ju galten, wenn fie fallen wollte. 2Bte erftarrt,
wie »erfteinert fafe er ba angefidjts biefeS Ungeheuerltd)en.
Unb er felbft füllte ganj beutlid), baf3 GtroaS in ihm erftarb, unter
ihrem Sad)en t)infd)roanb unb erlofd) unb in feiner 33ruft beftattet würbe.
Gr wufjte nid)t, was es war, er mad)te es fid) nid)t flar, aber aufleben
fonnte eS fid)erlid) niemals wieber. kalt, mcrfroürbig falt pulfirte baS
33lut in ihm. „Sug unb £rug!" flang es in ihm wieber. (Sie felbft
^atte ja fo gefagt. 2llIeS baS Süge, — Süge — 2SaS ib,n ben fd)werften
Äampf feines Sehens gefoftet hatte, was umgeftaltenb auf fein Sßefen unb
©enfen gewirrt hatte, maS ihn innerlid) loSgeriffen hatte »on 9lUem, was
ihm bisher als heilig unb unumftöfjlid) gegolten! Süge — Äomöbie!
2llleS um 3lid)tS, für einen ©pajj, ben fie fid) mit iljm erlaubt, — für
eine ^urjweil, um ihr Stoff jutn Sad)en ju geben — SSetl es fonft bod)
gar ju langweilig war, baS Seben mit ihm unb für ihn! Äomöbie!
SBie ein ungeheurer 2lbgrunb gähnte es ihn plöfelid) an. Unb ba
brühen, jenfeits beS SKbgrunbeS ftanb fie, bieS hcrJl°fe, lad)burftige SBeib,
baS eine fold)e garce mit bem &eiligften gewagt, fie über fid) t>ermod)t
hatte! Unb eS führte feine 33rücfe bort hinüber. Äomöbie, baS war's!
3ltteS ftomöbie: ihre Siebe fogar, — bie oor 3Wem, — 9lid)tS, als Äomöbie.
3Kit einer Äomöbiantin hatt' er fid) eingeladen gehabt! Unb nun — 2lUe
jammeruoll ftanb er »or fid) felber ba, er, ber fo ftolj auf fid), auf feine
unter Dualen errungene SBerjeihung für fie unb ihren gehltritt gewefen,
— wie erbärmlid), wie lächerlich! 3«'» ^opanj war er geworben, — eine
»eräd)tlid)e, fomifd)c gigur, — ÜNidbtS weiter —
Gin heißer, wilber 3orn, eine unbejroingbare SButh quott in ihtn auf.
SBenn er biefer Äomöbiantenbime aud) 2llleS hätte oerjeihen fönnen, baS
nid)t, — baS wahrhaftig nid)t! Grbroffeln f)ätt' er fie fönnen um biefeS
Giuen willen. Unb fie lachte immer nod), lachte, wie über ben tollften
— 3n ber £jed[3eitsnadjt.
29
©paf?, ben e$ nur geben fonnte. ©ie fonnte ja aud) lachen, ^efct h«tte
fte ihn fidher. SBohlroetSltdb, ^atte fie geroartet, bis fie ib,n fidler hatte,
«he fie if»m eingeftanb — Unb jefct buhlte fte »or ilmt mit ihren nacften
2lrmen, tfjrcnt lofen £aar, ihrem oerführerifdjen, fdjmiegfamen Setbe —
©in ungeheurer ©fei fafete itjn an. 5Hein! SRein! 9Jetn! ©ie foUte
nid)t jum $id fominen. &atte fie if)n benn roirflicf» fcfion fo fidler? ©ab
«3 feine Rettung mef)r? Reine »or ber ©elbfterniebrigung, — »or ber
platten Sädjertidifeit? 2Bar er biefer abgefeimten Romöbiantin »erfatten mit
4jaut unb &aar?
9lod) md)t — ©ein ganjeä $<f) fträubte fid) grimmig bagegen, bäumte
fid) jäh auf. sJlocfj nidjt!
Unb ptöfclicf) blatte er (Serba »on feinen Rnieen fjerabgteiten laffen,
itjre 3lrme »on feinem £aife getöft. Unb nun ftanb er »or ihr, ftarr,
»tafe, b^oc^mütfiig, ohne jeben leifeften 2lu3bru<f »on Seibenfdjaft ober 33e=
<jehrltd)feit, — aud) nur »on sJtachfidjt — unb fagte, fie mit fiujler 58er«
«drtung meffenb: „2tlfo Romöbie roar ba§ Me«? 9tun, bann erlaubft ®u
roof)t, baft id) meinerfeitä biefer Äomöbie nun für immer ein ®nbe mad)e.
3J2icf) gelüftet nicfjt nach SSteberfyohmgen. SBir SBeibe paffen nidjt 5U ein»
anber. 2Bie mit einem 33lifeftraf)[ ift mir ba3 jefct erteilt roorben. Unb
beä^alb — Sache $idf) ungeftört weiter aus, meine Siebe! 3dj gebe —
Unb tct) gehe für immer. Sebe rooht!"
<£r fud^te nach feinem Ueberjieher, roarf it)n um bie ©djuttern unb
griff nad) feinem igut. ©erba ftanb faffungSloä ba, baS Sachen erftarb
ifjr auf ben Sippen, fie ftierte Um offenen 9Jiunbe3 an, roie einen 2Balm=
finnigen. „2)u gefjft, — roillft 35idj »on mir trennen, weil id.)
weil td) noch rein bin? ®u bift atfo — roahnfinmg?!" ©ie freifd)te ba§
lefcte SBort IjerauS mit roilb »erjerrten, fchrecfenSbteichen Lienen, ©ie
brad) faft jufammen unter ber 2Budjt biefeä Ungeheuerlichen, ber Gontraft
jermalmte fie.
<£r aber c)atte feinen Snlmber aufgejroängt unb oerbeugte fid) ganj
fm% bie Sippen jitternb »on äff bem »erhaltenen ©rimm unb ©roll.
„3Rein Stnroalt wirb adeS 2Beitere jroifd)en uns orbnen. 2Bir finb ge=
fdfnebene Seute. &alte mich, roofür ®u roiKft! Grtaube mir aber auch ®tr
gegenüber ba« ©leiche. ©ute 9iad)t."
Unb bie £f)ür be$ 3ünmer3 fiel hinter ihm ju, ©erbaS Stuffcljrei
mit ihrem fnarrenben ©eräufdfj übertäubenb.
Jürft <£f}lo£mng von J3ofanIofje=S<f}illtngsfürft,
Kaller bes Dcutfdjcn Hetdjes.
<£ttie Cebens» unb Cljarafterff 133c.
Don
aSefi&arb Sernfn.
— Darmjlaot. —
[{blobroig gürft »on &oljenlob><Sd)iffing3fürft entftainmt einem
alten »ornefimen ©efdjtecfyt. GS giebt toentge dürften, nament=
lidf) fotd^e, bie feine Ärone tragen, meldte »on älterer 3l6Iunft
wären als ber gegenroärtige beutfdje 9teidb>fanäter. ©in furjer Stöcf&licf
auf feine 33orfaf)ren roirb bie« bartfiun.
2)a£ £>au§ &ob,enlot)e leitet feinen Urfprung ab »on ©isbertus,
&erjog »on Dftfranfen, ber ein @ol>n be3 .ftersogS Gfjtobioig »on granfen
mar unb im 3al»re 688 ben cfjriftlidjen ©lauben annahm, ©iäbertuä'
<Sobn — Kunibert — rourbe erfter ©raf »on 9iotb>n&urg (t 710).
Tiefe S^atfad^e erhielt für ben jefttgen dürften öoljenlolje baburd) eine
befonbere 33ebeutung, bafj bie 9iotf)enburgf<fien 33eftfcungen fpäter als
Grbfdjaft unvermutet an feine gamilie tarnen, ©er eigentliche (Stamm*
»ater ber gärften »on &ofienlof)e mar jeboef) „^ermann ber $urdb>
laudjtige", toeldjer fid) mit ber SBittroe be3 £er5ogS ^einrieb, »on granfen,
Ülbelb^eib, ber SDcutter be3 Äaiferä Stonrab II., in jroeiter Gb>. »ermäljlte.
Leiber ©otnt, Gb erwarb (etroa 1042), änberte ben tarnen 9iott)enburg
naä) ber Teilung mit feinen 33rübern unb nannte fidj nacl) bem über*
nommenen <S<f)loffe £oljenlobe. ©iegfrieb, ein ©ojjn Gberliarbs, be=
gleitete ben Äatfer §einridj IV. auf ber Sieife nad) Italien (1077), als
biefer nad) Ganoffa ging. Gr mar, mag gefdjidjtlid) beglaubigt ift, einer
ber entfdjtebenften ©egner beS ^apfte« ©regor VII. @o ift alfo ber
Äampf mit ben fyierardjifdien Uebergriffen ber 9Jömif^en Gurie, toeld)en
gürft Gli lobt» ig fo ;entfd)toffen burdE»gcfüt»rt f)at, ein faft taufenbjäfirigeä
Grbtljeil feiner §amilie. Ter genannte Gberfiarb »on &oI)enlof)e tourbe
,fütjl €l)I*^n,i9 "0" ^oljenlotifSdjillingsfärji. 3{
von &einrid) IV. mit »ieten ttalientfd)en £errfd)aften betest unb nannte
fid) nad) benfelben Comes de Altaflamma et Romaniolae. Gr ging aber
nidjt mit nad) Ganoffa, fonbern fefirte nad) ®eutfd)[anb jurüä, wo fpäter
(1230) bie Srüber ©ottfrieb unb Äonrab alle Senkungen feilten unb bie
beiben Sinien „föofjenlofies&oljentof)" unb „£ot)entoI)e=23rauned"' grünbeten.
<3d)on 1390 erfofd) bie lefctere, aud) bie erftere jäfjfte im Saljre 1407
nur nod) einen ©proffen, 2Ubred)t, ber fid) bem geiftlid)en ©tanbe geroibmet
ftatte. Um ba§ ©efd)(ed)t nidjt anwerben p laffen, t>ermäl>(te er fid) nad)
päpftlidjem ©iSpenä unb brad)te at§ ein fefir nertrauter SRat^ beä ÄaiferS
<SiegiSmuttb bie &obentof)efd)e gamtiie jn f)of)em 2lnfef)en. SBä^renb ber
Regierung biefeä ÄaiferS fjat er beifpteteroeife auä feinen SBefifcungen nid)t
roeniger ai8 255 33afaHen belehnt. $m 3at)r 1553 mürben burd) ©runb=
Leitung be3 ©efammtbefi|eö bie beiben nod) jefet blüfienben £aupttinien
— bie ?leuenffeinfd)e (proteftanrifdje) unb bie 2Batbenburgfd)e (fatl)o*
Ufd)e) — begrünbet; ber lederen gehört unfer gürft Gbjobmig an.
Gldobmtg Starl Victor, giirft ju öo^enIo^e-(S(^iIIingöfürft, «prinj ju
SRatifior unb Goroei), nurbe am 31. 9J?ärs 1819 ju 9totf)enburg an ber
gulba aU ber jroeite <Sof»i be3 dürften ^ranj Sofepf» unb ber gürftin
Gonftanäe, geborenen ^oljentolje - Sangenburg, geboren. Unter fieben
©efd)n>iftern blatte er nod) »ier 33rüber: ben Grbprinjen SBictor ÜRortts Äarl,
bie jüngeren Srüber Sßrinä $l)üipp Grnft, Sßrinä ©ufta» SIbolf, ben
fpäteren fefir befannten Garbinal unb ben ^rinjen Gonftantin, fpäter
f. f. ©enerat ber ßaoallerie unb Dberbofmeifter be§ JtaiferS {jranj 3ofepl)
von Cefterreid). £a bie SFermögenSBer^ältniffe ber gamilie fid) »er«
änbert batten, aud) feine <Secunbo=©enitur ju »ergeben mar, fo muf?te in
bem gürftenfofni fid) balb ber ©ebanfe regen, fid) auf eigene güfie ju
ftellen, eine tüdjtige 33ilbung fid) anjueignen unb bem 2lbet feines Jlamenä
baburd) ©Iait5 5U »erteilen, baf? er fid) burd) $[eifj unb Stubium 511
beroorragenben Seiftungen befähigte.
Gr befud)te juuädift bie ©nmnafien in 3In3bad) unb Grfurt unb bejog
bann, mit Äenntniffen rootylauSgerüfict, bie £od)fd)ule. %n föeibelberg,
©öttingen unb 33onn ftubirte er bie 9Jed)t§5 unb ©taatSnriffenfdjafteu unb
rourbe im Sabje 1841 — a(fo im 9ttter »on 22 %a$ren — als 2Iu3cuU
tator bei bem ©eridjt in Gfyrenbreitftein, fobann alz JWeferenbar bei ber
^Regierung in Sßotebam befdjäftigt. $n biefen 2et)r= unb SBanbcrjafjren
mar er eifrig beftiffen, fid) tüdjtige ^adjfenntniffe ju erwerben unb feine
Prüfungen gut ju befteben. Seibeö gelang ibm vortrefflid), obrcofjt bie
gelehrten bürgerlichen Graminatoren ü)m ba§ ^ortfommen nid)t gerabe er«
teid)terten, fonbern im ©egentfyeü ben t)od)ariftofratifd)en Ganbibaten ber
3led)t3funbe feijr fireng prüften.
2Bäf»renb fein älterer SBruber als gürft, ja felbft ^öersog in ber gro&en
2Bett erfdjien, trat aud) für if)n ein mistiger SBenbepunft in feinem
Scben ein. XaS §au§ §ob,en[ob,e=©d)it(ing§fürft blatte burd) £eftamcnt
«ort nnb Sftb. LXXV. 2?3. 3
32 (Sebtjarb gernin in Darmfiabt.
be$ finberlo* oerftorbenen Sanbgrafen oon ^effero^heinfelä^othenburg eine
bebeutenbe ©rbfdjaft gemalt unb ba6ei aud) bie grofeen £errfchaften,
Statibor unb Goroe» erlangt. ®er Grbprinj Victor SDtorife Äarl oon
Hohenlohe trat bie lefetere an unb rourbe oon König griebridj SBilhetm IV.
gleid)äeitig jutn ^»ersog erhoben, roäbrenb ^ßrinj Ghlobrotg baö sroette
ihm oom Sanbgrafen oon Reffen oermad)te $ibekommif? antrat unb ben £itel
eine? Sßrinjen oom SRotibor unb Goroeo erhielt. ®er fürftftche 33efifc in
Sanern ging an ben britten SSruber Philipp ©mit ü6er.
2113 aber biefer im Sahre 1845 plöfeltdj unb jroar ohne Gr&en ftart»,
fielen bie in Sägern gelegenen $amiliengüter an Gtilobroig jurücf, ein
Greigml, roelcheä für feine ,8ufunft ^ödjft bebeutungSooU rourbe, benn er
faf) fidE> nun genötigt, feine Seamtenlaufbahn aufjugeben unb bie ©tanbeSs
l)errfd)aft @d)iÜmgSfürft in SJtittelfranfen ju übernehmen. 3lm 12. gebrnar
1846 — alfo 27 Qahre alt — mar er ba£ fürftlid)e &aupt einer ber oor=
nehmften ftanbe3f»errlid)en gamitien Stenerns geworben unb rourbe als
erbliches SJiitglteb in bie Äammer ber banrifd)en 9leidjSräthe eingeführt.
SDamit begann feine öffentliche SBirffamfeit in einer Stellung, bie foroo^l
feiner &er fünft, als aud) ben erroorbenen ftemttniffen unb Grfabrunqen
entfprad), unb bie üm oon ©rfolg ju Grfolg führen fottte.
9lun roar es ihm befdneben, bie in langen entfagungSretd)en 3at)rc"
gereiften $rüd)te p genießen, bas Grlentte unb ©urdjgearbeitete ;ur praftt«
fd)en Slnroenbung ju bringen unb im ^ntereffe feine« ihm ftets am £erjen
gelegenen &etmatlanbeS ju oerroerthen. Sicher roar er ein tüdjtiger, aber
nid)t immer einflußreicher Beamter geroefen; nun trat bas 3tnfehen feine*
fürftUcben ©tanbeS ju ben perfönlicben Sßorjügcn: er rourbe eine Sßerfönlid)5
fett oon ftcts road)fenber 93ebeutung.
9Jad)bcm bie äußeren i*erhältniffe beS ^ßrinjen ©l)lo broig fid) io
gläitjenb geftaltet hotten, badjte er aud) an bie 33egrünbung einer gamilie.
3lm 16. gebruar 1847 oermählte er fid), nicht ganj 28 Qahre alt, mit
ber ^Srinjeffin 9Karie oon ©at)n=3Bittgenftein aus bem £aufe SBerle;
bürg, einer ebenfo geiftoollen roie UebenSroürbigen £>ame. ©iefer ©eelenbunb
roar eine golge ber reinften gegenfeitigen Neigung unb beglüefte baljer
beibe ST^eitc auf baS ^itnigfte. Tk ^rinjeffin roar eine grofj angelegte
•Jlatur, bie Äopf unb J§erj auf bem richtigen gteefe hotte. 3ln ben otel*
fettigen Seftrebungcn ifjree ©emahlS nahm fie ben regften 3lnthetl unb
oerftanb eS, feine aSertraute roerben unb jroar in fo hohem ®rabe, wie
baS ein grojicS unb tiefe? grauengemüth immer ju erreichen oerfteht, toenn
bie betberfeitigen ©eelen glctd)geftitnmt fiitb. Sic tft ihm auf feinem ganjen
SebenSroege eine treue öefährtin unb bie befte greunbin geblieben.
©er junge 9leid)*rath follte aber aud) fd)on frühjeitig ntamtigfad)e
Kämpfe auSjufedjten befommeit, ©treitigfeiten ber oerfdnebenften 3lrt, oft
mehr ober weniger hortnäefiger 9Jutur. 3unächft roar e§ bie öfterrcichifcb/
tiltraniontane ^ol'tif ber beibeii aJJtmfterien ©chrenef unb oon ber
ifärft <£tilot>i»ig ton ^ottenlotiesSdftlliit^sfflrft. 33
spfotbten, gegen roeldje bet mit einem roeiten ftaatSmännifdjen SBttcf
auSgerüftete ^rinj entfdjloffen auftrat. ®aim waren es 3JHfebräudje unb
uerattete Gtnricbtungen überhaupt, welche if(n »eranla§ten, gront gegen
fte ju mad)en unb einem »ernünfttgen gortfdjrittc möglichst bie Sßege ju
bahnen. Sjierburd) madite er fid^ freiließ juerft bei feinen ©tanbeSgenoffen
nid)t beliebt, er mürbe felbft mit bem smeifel^aften Xitel eines „33olfS*
freunbeS" belegt, bod) al« baS Qafjr 1848 mit feiner freieren SBeroegung
Ijerbeigefoinmen mar, gercann er fef»r balb atigemeine SInerfennung bafür,
bafj er baS, roaS als richtig in ben gorberungen ber 3«t jugegeben
merben mu&te, »orauSgefeljen unb empfohlen fjatte.
So fam es benn audj, bafj ber junge 5Reid)Sratf) an ben 33eratf)ungen
über baS SlblöfungSgefefc in ber Stammer tätigen 3tntf»eil nal»m, roeldjeS
ben Uebergang 33anernS vom ehemaligen geubalftaate jum jeitgemäfien
5Red)tSftaate befiegelte. @S gelang bamats, objte SSerlefeung berechtigter
2tnfprüdje unb in burd)auS gefefemäftfger SBeife jene nridttige Umgeftaltung
»orjunefymen, bie fo gut gelang, ba| felbft in ber fpäteren 9teacttonS5
Sßeriobe niebt einmal ber SSerfud) itjrcr 3lnfed)tung gemacht mürbe. Unb
baS mar b,auptfäd)lid) baS SBerbienft bes Sßrinjen Gbjobnng von £ol»en=
lotie. ©iefer gab audj burd) fein perfönlid)eS SSerfyalten ein burd)auS
uneigemtüfcigeS 93eifpiel, inbem er, als einer ber erften bagerifd)en ©tanbeS-
b^erren, in ber 9lb(öfungSfrage unaufgeforbert Dpfer brachte unb f)ierburd)
feine ©enoffen jur 9Jad)al)mung ueranlafjte. <So fam es benn, bajj, roenngleid)
im ^ab,re 1848 mit mand)en »errotteten ,3uftänben in 33anern aufgeräumt
rourbe, man bod) ftets baS 9JJafe ju galten »erftanb, fo baft biefer (Staat ber
einjige blieb, in meinem eine Dctromrung in ber fonft nirgenbs ausgebliebenen
9teactionS=$Periobe fid) als burdjauS nid)t notf>n>enbtg IjerauSftellte.
(Sin fdjarfer SBeobadjter ber politifd)en 3ufönoc Jauerns aus ber
3eit ber beutfd)en 93efreiungSfriege bis jum 3af)re 1870 entwirft oon ben«
felben fotgenbeS Silb: „2)ie 9Jletamorpf)ofe, roeldje bie GabinetSs^olitif
unb bie 9iegterungS=9J?arimen SkijernS »on.1816 bis jum <Sd)tuf beS
^aflteS 1872 erlitten, ift fef)r tateiboffopifd) unb beroegt. SSier beutlid)e
Sßbafen jeiebnen fie aus unb geben ber $eit it»r ©epräge. 33on 1817 bis
1837 ift bie Gpodje bes flauen ©d)ein^6onftitutionaliSmuS. 5ßon 1837,
mit bem ^Regiment 21 bei beginnenb, unb Gnbe 1848 mit ben» Gabinet
S3raüs9iingelmann fdjliefeenb, tritt bie innere ßrifis SanernS ein.
1849 begann mit ber SReactionSsGpodie unter oon ber ^forbten, um
mit Jauerns äußerer unb fdjroerfter 5?ataftropf)c 1866 ju ettben. £>te
le|te ?pj»afe begann baS Gabinet $obenlol)e unb fdjlofj mit bem beutfeben
Äaifcrtbum, ber 5Reid)Seinb,eit unb bem Anfange beS flerifal-politifcben
ÄampfeS ber ^efetjeit*)." ©iefer ©cbjufjfafe beutet bereits ben rotd)tigen
*) SDJon beraleidie „'Sit 2Jlänner ber neuen beutfäjen 3«it, öon
81. 6. SBtadioogel," 3. SBanb, @. 170. liefern Sakrte, bo8 nad) offenbat fefit fluten
3*
3<*
(Sebfyarb gernin in Darmftabt.
äöenbepunft an, meiner in ber SebenSftettung be§ jungen 9tetd)3ratf)$ ein;
treten fottte, unb auf melden wir bemnädift netter etnjugefien fjaben.
3roet $ar)re fyinburd) ^atte ^tinj Gfytobrotg feine roarnenbe Stimme
erhoben, bod) mar fie ungeljört «erhallt, man fjatte lfm »erfannt unb fogar
beargwöhnt, ©a fam ba3 %dfyc 1848: Stönig Subroig I. trat freinriüig
t>on ber ^Regierung jurücf, unb in ganj £)eutfd)lanb brauen Unrufjen aus.
SDte bamate . gefdjaffene beutfd}e Gentratgeroalt in $ranffurt a./9Dt., t»eld)e
bie emften Seftrebungen beä ^rinjen Gt)lobroig roofyl erfannt blatte, roanbte
iljre Slufmerf famfett auf ü)n: er rourbe su it>rem ©efanbten in 2ltf)en, ^lorenj
unb 3tom ernannt, ©ern folgte er einem fo eljreirooHen Stufe unb begrüßte
in 2ltfjen bie bortigen £)eutfdjen mit einer fo beutfdj=nationalen Siebe, bafj
biefe roegen ü)re§ lange md)t oemommenen 2one§ in ganj Guropa roiber^
ballte. ©a§ 9Wd)3miniftertum gab ifmt ben Auftrag, »on ©riedjenlanb
nad) ©aeta ju ger)en, roofnn papft piuS IX. geflogen mar. lieberall tfjat
ber tljatfräfttge ^rtnj feine ©djulbigfeit im ^ntereffe feines beutfdjen S8ater=
lanbeS; bod) lehnte er ba3 Portefeuille im SUünifterium ab, ba3 ünn gürft
SBittgenftein im grübjal>r 1849 antrug, um feine Straft nid)t ju jerfplittern.
3n ben nädjftfotgenben ^abren, nadjbem bie öfterreid)ifd)e Sßoltttf
gefiegt unb ben grofjcn Grfolg »on Dlmüfe erreicht rjatte, nadjbem feteft
ber SknbeStag roteber »on ben lobten erftanben war, fab, ^ßrinj Gelobt» ig
feine SCljätigfeit, bie er ftets in nationalem ©inne ju entroicfeln fid) geroölmt
ttatte, lahmgelegt. Gr uerfudjtc jruar nod), in ber banerifdjen Kammer ber
9teid)Srätl)e mit feinen ©efumung?genoffcn bie ^olitif be3 -DJimfterS »on
ber ^forbten ju befämpfen, allein er begriff feb^r balb, bafi in einem
fold)en Streite »orläufxg fein «Sieg su erringen, baf? ber Stampf felbft für
bie SBotjlfafnl 33a»ern3 fd)äblid) fei. <Bo gab er einftroeilcn jeben SBiberjtanb
auf unb jog fid) auf feine ©üter prücf, »on benen aus er bie Gntroicfelung
ber Glinge aufmerffam »erfolgte.
©iefe 3ctt ber länblid)en 9tub,e — fie bauerte etroa ein ftaftrselmt —
roar für tt)n feine »erlorene. Seit bem ^aljre 1850 aßen Aufregungen
ber politifdjen Streife ber 9tefiben3 entrüeft, fafj er auf feinem ©tammfife
<Sd)iningöfürft in sMttetfranfen unb (ernte bie ruhige SBefiagltcfifeit eines
SanbebelmanneS in ber $ßro»in5 fennen. 9iunmcl)r fonme er fid) be§
Umgange» mit feiner ifmt geiftig ebenbürtigen ©emaljlin, bie ifjm im 3abre
1847 eine £od)ter, bie ^ßrinseffin Glif ab ett) , gefd)enft fyaite, erfreuen
unb gleichzeitig bie mannigfaltigen $rüd)te be3 Sanblebcnä genießen. Slber
in ftrenger <5d)ulung feinet ©eiftes ftets gcroöfjnt 5U arbeiten unb erft ju
facti, be»or er an bie ©inb^eimfung ber Gntte bad)te, fud;te er aud) rjicrbci
eine grunblcgenbe SfiätigfeU 5U entfalten. Sic Serooljner unb bie 9iad)bam
be§ glecfenä <Sd)itlingfürft oon 9iotf)cn6nrg biä 2ln^bad) erinnern fid) nod)
QucDcn bearbeitet tooeben ift, tjaben toii »etfdjiebeue tt)atfö(r)Ii(t)e Stngaben für unfere
biograbbifdje ©tiüje entnommen.
^ürft <Ll[lol>n>tg oon E}oljeTtlol}e>5d}illtngsf iirft. 35
tjeute mit greuben jener lOjctyrtgen Speriobe länbltdier 3urö<Ifieä09cnf»eit
beS grinsen ©f)lobrotg, in roeldjer er fein angeftammteS ©ebiet fo grünb*
ltd>eu SBerbefferungen unterwarf, ba£ es förmtid) ganj neu aufblühte. ©in
2luSflufj biefer guten SReinung war j. 33., ba§ gürft Subroig oon
<3aon*2Bittgenftein, ber ©dbnriegeroater ©lilobroigS, fid) bewogen
fanb, bem lefcteren feine eigenen grojjen, in Sittfiauen belegenen ©fiter jur
Seroirtljfdiaftung anjuoertrauen. ^rinj Glilobroig entfpradj gern einer
foldjen Slufforberung unb ging perföntidi nad) Sittljauen, bann madjte er audj
anbere gröf3ere Sieifen, fo nad) gwmfreid), Italien, ©nglanb, um neue Sfo«
fd>auungen ju gewinnen unb mistige Vereiterungen feiner Äetmtniffe über
bie nationalen, politifdjen, fociaten 3uftänbe beS 2luSlanbeS baoonjutragen.
Run fam ber öfterreid)ifd)e Svteg mit Italien unb granfreid» oon 1859,
unb sprins Gf»tobroig, ber roäfjrenb feines ©tilllebenS in ©djillingSffirft audj
feinen gfamilienfreis fid) blatte erweitern fefjcn — ^Jrinjeffin Stephanie
mar it)tn am 6. ^uli 1851 unb ©rbprinj sp^ttipp ©ruft am 5. Sutti
1853 bort geboren worben — mürbe wieber in ben SSorbergrunb ber
potitifd)en 33ül>ne geftedt. £)ie ©reigniffe in ber großen SBelt ber legten
Safyxt Ratten fein &erj mit froren, neuen ©Wartungen gefdjwefft; nadjbem
ifm SßreufjenS ®emütf)igung bei Dlmüfc 1850 ftarf niebergebeugt, mar er
burdj ben Regierungsantritt beS $ßrins=Regenten oon ^ßreufeen 7 ftaljre
fpäter erhoben roorben unb trat nun roieber freiroillig auf ben ©djauplafc ber
politifdjen kämpfe, weldjer, roie er wob,l füllte, ib,m ©rfolge gewähren mufjte.
Rod) mar fein alter ©egner, ber -Diinifter ©djrend", als 2fcrfed)ter ber
öfterreid)ifd)5flerifalen ^Poltti!, am Ruber, aber Defterreidj blatte in Italien
eine fdjroere Rieberlage erlitten, unb bamit mar aud) bie «Stellung ©direncf S
in 3Jiünd)en einigermaßen erfdjüttert roorben. Run galt es, in offener
3?el)be bem immer nod» mädbtigen 9Jlann unb allgemein gefürdjteten Seiter
ber politischen Angelegenheiten 33at»ernS fidj roieber gegenüberstellen.
Sßrinj ©tjtobroig trat if>m 1859 furchtlos unter bie Stugen. ßier*
mit nab^m er jebod» einen Äampf auf fid), ber fernerer roar, als es
äujjerlid) fdjien. ©r roar felbft ein guter, aufridjtiger Sktfiolif unb rjatte
itoei 33rüber, oon benen einer, ©uftao 3lbolf, roie roir oben gefefien,
ber fpätere ©arbinal in Rom, ber anbere, ©onftantin, erfter Dber^of=
meifter beS SaiferS granj ^ofepb, roar. SDIufjte es nun tridjt für ©trtob*
roig einen ernften ©ntfdrjlufs bebeuten, roenn er bei feinem SEBiebereintritt
in bie batjerifdje Reid)SratljSfammer ftdj oornaljm, eine antiflerifale, antü
öfterreidjifdie unb preuf3en= roie beutfdfcfreunblidie Sßolitif ju treiben unb
feine beiben 93rüber hierbnrdj ebenfo ju «erleben roie ju fdjäbtgen? Mein baS
^ntereffe unb bie ©bjc SaoernS unb beS beutfdjen 33atertanbeS gingen it)m
über 2lHeS unb überwogen etroaige Siebenten, roenn fid) biefelben einfallen
wollten. @S galt ifjm barum, Sauern aus feiner gefährlichen politifdben
Sage ju befreien unb feinen 2lnfd)luf3 an ben preufjifdjen ©taat oorju=
bereiten, — ben einjigen, roetd^en er als gefunb unb lebensfähig erfannte.
36
iSebf)arb §erntn in DarmfJabt.
9tid)t etroa roeil ifmt beffen Sßolitif bei bem öfter roedjfelnben 3Kimftetium
gefiel, n>ot>l aber be*l»alb, tuetl ifjm ba3 geiftige, fittlid)e unb tt)atfäd)[id)e
SJiatertal sufagte, aus roeldjem man allein einen rüstigen, fraftoollen unb
leiftung$fäf)igen ©taat fo jU bitben im ©tanbe roar, roie er ben %xi-
forberungen ber 3«t genügen fomtte.
$)iefe8 Material batte Gf)lobrotg roofjt f ernten unb roürbigen gelernt.
©3 beftanb nad) feiner feften Ueberjeugung junädfjft in bem preu§ifd)en
SBolfSlieere, ju bcffen ©ntroicfelung ein ©djarnljorft in ben Satiren ber
©rniebrigung be3 Staate« ben ©runb gelegt Ijatte, unb burd) roeld)eä
Dorneljmliä) ber franjöfifdje ©olbatenfaifer in ben Safjren ber 33efreiung8«
friege niebergefämpft roorben mar; fobann in bem ernften preufnfdjen
aSolfefinne, ben ber fürftlid)e ©tubent auf ber Uninerfität unter feinen
(Sommilitonen, als 3ficf>ter unb $errcaltung3=33eamter in jroei ^Jroninjen,
ber ÜJlarf unb ©djtefien, als befonbereS Äennsetd)en aufgefunben ^atte.
Sei feinem anberen ©taatöroefen waren U)m äljnlid) gute SWaterialien als
©runblagen ber Drbnung unb be£ ©emeinberoefenS befannt geworben, unb fo
erflärt fic^> ganj etnfad) feine Neigung ju bem größten reinbeutfd)en ©taate
beS Horbens, bie ttjn frühzeitig angeflogen unb fpäter nie roieber »ertaffen
fjat. Jlirgenbroo fonft fanb er, ber bie SBelt genau fannte unb, wie wir
gcfef»en, granfreid), ©nglaub, Italien, ©rted)enlanb ic bereift blatte,
nationalere unb fittlid) gelegenere (Sigenfd)aften als bei ben Greußen, unb
bieS erflärt wotyl aucf) jur ©enüge feine ganje Sßolitif.
©d)on im 3iaf)re 1860, furje $eit nad) bem SBieberauftreten beö
^ßrinjen 6b, lob n> ig im banerifdjen 9teid)Sratf) , erfannte man allgemein,
weldje 33ebeutung baSfelbe in fid) fd)lief$en müffe. 9toa) flarer würbe es,
als er im folgenben Qafjre bem banertfd)en 3Jtimfterium feine ernften unb
einbringlid)en SBarnungen jurief unb unter 3lnberem baSfelbe erfudjte: jene
unglücflid)e ^Solitif bod) ju oerlaffen, bie, auf Defterreid) geftüfet, ^jkeufienS
©tellung in $)eutfd)lanb ju negiren, ja fdf>Cic^ticf> felbjl gewaltfam ju vtx-
nieten beftrebt fei. ©päter fd)eute fid) baSfelbe furdjtlofe 9teid)Sratf)Smitglieb
nid)t, bem SRintfter »on ber ^ßforbten jujurufen, bafj bie oon bem
Se&tercn gern gehegte „S'riaS'Qbee" Tawern niemals ©lücf bringen fönne.
3m $al)re 1864 ftarb ßönig SKarimiltan II. oon SBanern, unb fein
©otntßubwig II. nmrbe mit 18 V2 2ebenSjal)ren fein 9?ad)fola.er auf bem
£f)ron. 2lbermalS rourbe nad) ber ßnttaffung beS gretberrn oon ©djrencf ber
5 ^ofjre uorlier uon bemfelben ^Soften abbentfene frühere oon ber ^forbten
banertfd)er SJiinifterpräfibent, unb jroar ju berfelben 3eit, als ^ßreufeen mit
Defterretcij gemetnfd)aftlic&, in @d)leSwtg=<£>olftein auftrat, ©eine ^Jläne
eines ©reifönigSbunbeS afe britte ©taatSgruppe in £)eutfd»lanb lounte
unb wollte er nid)t aufgeben, bod) jerfcfiellten fie balb in fläglid)er SEBetfc
$m ©ommer 1866 brad) ber Ärieg jroifcfjen Greußen unb Defterreid)
am, ber fd)on längft eine gefd)id)tltd)e 3?otb,roenbigfeit geworben unb butd()
ben Vertrag »on ©aftein nur fünftlid) um ein $af)r 5urüdgef)alten roorben
<$ürft <£ljloi>tt>'9 von t?oljenlolies£d}fningsfnrji. — 37
mar. Dbtoojjl bamals nod) in lefcter ©tunbe Prinj oon £ofjenlol)e in
bet baperifdjen $Retd)3ratf)3fifeung bie bringenbe SDtafmung an bic ÜDKnifter
unb baä £au3 richtete, befonnen ju fyanbeln, ba nur ein freunbfd)aftlid)es
^crr)ättnife 33anern3 mit Greußen attein nod) ben Strieg, bamit aber „9iotf),
(Slenb unb £>emütf|tgung" oon 33anern abioenben fömte, fo brang greifen:
oon ber Pforbten bod) mit feinen Anträgen burd). £>ie SBürfel beä
Krieges würben batb barauf getoorfen unb ber gfelbjug felbft fcljr fefmed
entfebieben: am 14. Sunt war in granffurt a. 3JI. bie Wobilmadnmg bc*
beutfd)en SBunbeäljeereä gegen preufsen befdjtoffen roorben, unb am 2. Sfoguft
rücfte bie 9Wain=2lnnee fiegreief) in SBütsburg ein. Uhtn mar e3 toieber
Gfltobioig, toeldjer am 23. Sfaguft in ber Äammer e£ auSfprad), „bajj
bie Ratification beS ^riebenä ber lefcte politifd)e 3(ct bc3 3Rinifterium$
oon ber Pforbten fein muffe unb nur bei fofortigem SiüdHritt biefeä
3JJintfterium§ baS Sanb oon feiner ferneren Prüfung ftd) erfjolen fönne".
allgemein mürbe nunmehr erfannt, bajj gürft $of)enlo§e ber
Wann ber 3uhmft für 33anern fei. S)cr jugenblid)e Äönig Subtoig II.
forberte ifm auf, iljm ein Programm ber ©runbfäfce einäureid)en, roie er
fie als Seiter beS banerifd)en ©taatSioefenS für bie geänberten 33erf)ältniffe
für geeignet fjotte. GrjCobtotg folgte biefem 33cfel)l, unb ber 1. Januar
1867 brachte feine SBeftauung als pforbten« S»ad)folger: als SHinifter
beS fömglid)en £aufeS unb beS SluStoärtigen. Seinem Programm gemäß,
roeld)eS offenen unb ef>rlid)en 9tnfd)luf? an Sßreufjen unb Stellung ber füb=
beutfd)en ßonttngents unter preujnfdje güijrung im ßrnftfaHe »erlangte,
fjanbelte ber neue ÜDtmifter unb fdjlof? fofort ein Scfmfc5 unb S'ru^bünbnife
mit Preufjen ab. Samit mar ber 2Benbepunft in ber bat)erifd)en Politif
eingetreten unb eine neue fegenSretd)e 2lera begonnen.
2>ret ootte $al)re b>t gürft £ot)entofje feinem &eimat(anbe bie er»
fpriefelid)ften ©ienfte als Seiter beS Auswärtigen geletftet. ©iner ber
wefentlidjften mar es, bafe er bie 3"tteinigung ber fübbeutfdjen Staaten
mit preufjen burd)fefcte, obwofjl bie bat»erifd)en ßlerifalen unb bie fpeci*
ftfdjen fogenannten Patrioten ifnn hierbei ben häftigften SBiberftanb leifteten.
Selbft jum 3tbgeorbneten beS 30U*Par(amentS w bem Greife $ord)l)etm ge=
gewählt, ging gürft &of)enlol)e nadj Berlin unb mar 3 Sefftonen b^in=
burd) ber erfte SSices^räfibent biefeS Parlaments, — ber erften beutfdjen
gefefcmäjngen Bereinigung, beS Vorgängers beS beutfd)en 3ietd)StagS.
ßrreid)te ber Iprft hierbei feinen 3roc^/ f° mx btä in feinem 2tuf=
treten unb 35orget)en gegen bie ultramontanen ^arteten in Saoern unb
befonberS bie ^efuiten nid)t ber gall. Qbnt lag fefjt ber Berfud) am
.'öerjen, 5nnäd)ft bie fatl)olifd)en Staaten ®eutfd)lanbs, fobann aber aud)
alle fatbotifd)en 9Jfäd)te (SuropaS ju einer gemeinfamen Slbroel^r be>3 oon
bem 33atifanifd)en ßoncilium brofienben 9lngrip ju gewinnen. 3H biefem
3roerfe erliefe er unter bem 9. 9lpril 1869 eine 6ircular=$>epefd)e, roeldjc
bem burd) bie Unfef)lbarfeit brofienben Scfiiema ber fatljolifdjen Gfiriften*
38
(Sebtjarb gerntn in Darmftabt.
fyeit »orjubeugen fucljtc, nadjbent ^apft ^Jiu$ IX. für ben ©ecember 1869
ein allgemeines (Soncilium in SRom auSgefdjrieben f)atte. <&<fyon »or bem
3ufammentritt biefe« (Sonette fanben in Sianern 9feui»ahten jur Äatnmer
ftatt, unb als btefetben im Uiooember 1869 eine SDlajorität bcr Uttra=
montanen ergeben tjatten, gab ba« aJHnifterium be£ gürften £obenlo§e
feine (Sntlaffung. giirft ^otienlobe unb ber ÄriegSminifter »on^ßranefrj
ließen ftcfj jroar »om Äönig Subroig II. beftimmen, ihr ©efudf) surücf=
junelimen; allein baä teibenfdhaftltdfje entgegentreten ber Äammer mußte
©rfteren »eranlaffcn, am 15. gebruar nochmals feine ©nttaffung ju erbitten,
worauf berfelbe am 7. 9Mrj, mit ben l)ödfjften Drben feine« IMonarchen
gefchmücft, feinen SÜicftritt ausführte, ©r ging, weil fein bleiben, roie er
toohl einfaf), ber nationalen ©ache nichts mebr nüfeen fonnte; er mar
roieber ^rioatmann geroorben unb sog fidj in bie befannte ©rille von
©chloß ©dhiOutgSfürft juriier.
3Ket)rere SWonate »ergingen: fie bilbeten bie unheimliche 9im)e »or
bem ©turnt, welchen gürft Hohenlohes 93orauSficht in bem beutfdj-
franjofifchen Äriege längft tjatte fommen fe|en. 3n ben ^ulitagen beS
entfeheibenbeu QaljreS 1870 trieb es ©b^lobroig roieber nadh SRündhen.
Gr roottte, roemt nötljig, auch feinen einfluß baju »erroenben, baß Sapern
in bem ju erroartenben SBeltfampfe fidb, fofort auf bie ©eite beS &aupt*
ftreiters fteUcn möchte, ©ein 2Bunf<f) ging in Erfüllung, unb mit be=
rechtigtem Stolje fah er bie SBapern an ben 9tbein unb über tt)n hinaus
eilen, um unter ber ritterlichen Oberleitung beS preußifdf>en ßömgSfoljneS
für £)eutfdh(anbs Unabhängigfeit ju fechten. $ie erften ©d)läge »on
Sßeißenburg unb 333örtt» brachten bie Feuertaufe, unb baS gemeinfam
»ergoffene 33lut bilbete ben Ättt ber ftolsen unb frönen Bereinigung
ber beutfegen ©tämmc, meiere am 18. Januar 1871 in bem alten fran=
jöfifcfien siöTtigäfcf»loffe »on 23erfaiHeS bie SBiebererrichtung beS SReidfjeS
befiegette. gürft Hohenlohe, ber fchon am 30. ©ecember 1870 für
ben Eintritt SBatjernS in baS ©eutfdge Stfeicf) geftimmt hatte, füllte fidb, fwdh
erhoben »on ber erfüttung feiner langgehegten SBünfche unb fal) eine reiche
3ufunft feinem engeren unb weiteren itoterlanbe erroaebfen, in ber auch
ihm, roaS er bamats in feiner ©elbftlofigfeit nicht im entfernteren ahnte,
eine einflußreiche unb »ielfeitige SBirffamfeit befchieben fein follte.
9Jadhbem Stönig 2Bilb>tm alz erfter SDeutfcfier ftaifer beS neu errief
teten 9teicf)S in bie £eimat jurüefgefehrt roar, trat ber ®eutfdje Steicfjstag
in Berlin jufammen. gürft Hohenlohe roar als 3lbgeorbneter feine«
Greife« Dorchheim beffen SWitglieb unb fcfjloß fich ber liberalen SWeichSpartct
an. $)as allgemeine Vertrauen berief ihn fchon am 23. SWärj 1871 als
erften SSice^räfibenten in bie Seitung, roetche ©tellung er auch roährenb
ber Segi«latur--1ßeriobe »on 1874 — 1877 befleibete. ©eine politifche
5Cl)ätigfeit fah er nunmehr mit bcn größten (Srfolgen gefrönt; jefet follte ihm
auch befchieben fein, auf bem ©ebietc ber Diplomatie bem neugeeinten
^firfl £l(lobnng »on tjotfenlotie-rd; iüingsf ncfi. 39
Steide SMenfte }u Cciftcn, beten Sebeutfamfeit fid^ in ftets fteigernbem ©rabe
5u äufiern Ijatte.
@S war im 3)?ai beS 3af)reS 1874, als gürft £ob>nlof)e jur 33c=
fefcung beS Xeutfcfien SBotfdiafterpoftenS in 5ßariS, reeller burä) bie 31b'
Berufung beS ©rafen uon 3lrnim frei geroorben toar, auSerfefien rourbe.
Um feine SßillcnSmeinung befragt, jögerte ber gürft feinen Slugenblicf mit
ber Slnnafyme ber ebenfo »erantroorrungSretcfien wie efirenuotlen ©teile.
2Me 11 Satire — »om 3M 1874 bis sunt 3uli 1885 — ift $ürft
Gfjlobroig als beutfäjer 33otfdjafter in ^ßariS trjätig geroefen unb l»at
roäfirenb biefer langen burdj fein ccE»t patriotifcfies unb entfdf)loffeneS,
wie taftuolles unb umfidjtigeS Stuftreten feinem roofilerroorbenen Stufe im
3n* unb 2luStanbe Grjre gemadjt. Unter ben »erfcfiiebenften SRegierungS»
leitern granfreid)3 unb bei beffen fo oft roecrjfelnben 3Winifterien b>t es ber
gürft ftets »erftanben, fein fcf»öneS grofjeS SSaterianb roürbig in $aris ju
uertreten, mannen roä^renb biefer 3«t eingetretenen Sterftimmungen jebe
©djärfe ju nehmen unb feine 2mgelegenf»eiten fo ju führen, bafe er bie
allgemeinfte §od)ad>tung genofi unb faft überall 3lnerfennung fanb.
SBir bürfen liier einige beroorragenbe ©elegenb^eiten anführen, bei benen
fidj ber gürft uornelimlidj als Sefierrfdier beS SlugenbticfS beroäfjrte. Sei
bem ^Berliner ©ongrefj beS QatireS 1878 roirfte er als smeiter 33euoU=
mäditigter beS ®eutfdf)en 9iet<f)S neben ^ürft SiSmarcf unb ©taatSminifter
»on 23ütoro*); feine SBirffamfeit foQ befonberS „hinter ben Gouliffen" eine
ebenfo bebeutfame wie uielfeitige geroefen fein. @S roar bicS baSfelbc 3al)r,
in bem ber gürft eine beutfd^e HunftauSftellung in ^ßariS eröffnet blatte,
burd» roeldie ben granjofen eine Ijerrjorragenbe 3al)l »on ©emälben unb
S3ilb|auenoerfen uorgefütjrt roorben mar. (6ine Setljeiligung an ber 2Bett=
auSfteHung »on 1878 war »on ber SieidjSregierung aus inbuftriellen unb
polittidfjen ©rünben abgelehnt roorben.) 3m 3Wärj beS ftafires 1880 über*
naljm ber gürft prooifortfdj bie Seitung ber ©efcfjäfte eines ©taatSfecretärS
ber auswärtigen Slngelegenlietten unb trat junädbjt mannhaft für Slnnafime
ber ©amoa=Sßorlage ber SRegierung ein (im Slpril), bann präfibtrte er ber
berliner Gonferens jur ©cfjtiefung ber ©renjftreitigfeiten sroifdien ber
SEürfei unb ©riedgenlanb (16. Quni bis 1. ^utt) unb fetjrte im November
auf feinen 23otfcf)after=$often itad) $ßaris jurücf, auf meinem er bann nodj
ein Suftrum l»inburclj feine erfprtefjlidie £f)ätigfeit fortfefcen foDte.
2tm 17. 3uni 1885 ftarb unerroartet ber ©tattb>lter uon @tfaf>
Sotb^ringen, ©eneral'jyelbmarfcfiall greifjerr »on SDtanteuffel, an Sungen*
entjünbung. ©iefe mistige ©teile erforberte eine balbige 3ßeubefefeung,
bocf) madjte eine foldb> im ^inblicf auf bie beroäb^rten ©igenfc^aften bes
^ürpen &of)enlot)e als ©taatsmamt unb aSerroaltungSbeamter Jeine
*) Da8 btlannte S3itb oder SBcDoflmäc&tiflten bc8 $roftffor8 Slnton bon SBerner
3<iflt ben Surften §of)entoI)e in einer befonber» fleluugenen Sluffüffung fetner äußeren
©rf Meinung.
(Sebtjarb gernin in Da r m ftab t. — —
©dmncrigJeit. Stuf ben Antrag be« güriten 33i«mar<f, roeldjer am beften
in ber Sage geroefen mar, bie gäljigfeiten unb Seiftungen be« bisherigen
39otfd)after« in ^5ari« ju roürbigen, rourbe bie freigeroorbere ©teile eine«
Statthalter« ber 9teidj«tanbe mit au«gebehnten lanbe«herrlid)en 23efugmjfen
unter bem 28. September 1885 bem dürften Hohenlohe übertragen, Sdjon
am 8. Dctober überreizte ber gürft bem ^räfibenten ber franjöfifdjen
9tepublif, $errn ©reoo, fein AbberufungSfchreiben, reelles mit bem Aus*
brucf höchsten 33ebauems entgegengenommen rourbe, unb traf am 5. 9looember
jur Uebernafime feiner neuen Stürbe in Strafiburg ein.
Ueberau« Ijerjlicf) roar ber ©mpfang, ber bort bem neuernannten Statt'
kalter bereitet rourbe. Sdjon bei feinem erfien Austritt au« bem 33afmhofe
rourbe Jürft Hohenlohe mit bomtemben itd» oft emeuernben Hochrufen miß«
fommen geheißen, bie S*rieger=, Sd>üfcen=, Turner» unb ©efangoereine oeran=
ftalteten ilmt ju ©hten am erften Abenb einen gacfetsug, brauten ihm ein
Stänbdjen, unb am folgenben £age fdjlofj fiä) eine glanjenbe Auffahrt ber
Stubentenfdjaft mit Gommer« an. Sei biefer ©elegenhett b^ielt ber neue
Statthalter eine Anfpradje an bie afabemifd)e Sugenb, roeld»e oon jünbenber
SSirfung roar. Selbft in SRefc, roofjin ber gürft ftd£) am 16. Stooember be*
gab, rourbe berfetbe in überrafdjenb feftlidjer unb überaus herjlicher SBeife bc-
roülfommt;' 33eflaggung ber Käufer unb Jyade^ug bilbeten bie äußeren Äemt=
jetcfien. Sehr bemertt rourbe bie bei bem ©alabiner am 17. 9tooember oon
bem Statthalter gehaltene Siebe. @r tnüpfte an eine Aeufjerung feine« SSor»
ganger« an, roeldjer gefagt blatte, baß er rooht begreife, roie man in ©Ifafc
Sothrmgen nod) nid)t bie 3ufammenget)örigfeit mit granfreid) Dcrgejfen ^abe,
unb fuhr bann fort roie folgt: „$d) gehe aber roeiter unb fage: id) begreife,
bafj bie SJerooljner be« Sanbe«, als fie oor 2 ^aljrbunberten oon 2)eutfd>=
lanb getrennt, mit Jyranfreid) oereinigt rourben, bie Aenberung nidjt 5u fetir
empfanben. 2)eutfd)lanb roar bamal« ein serriffene« Sanb, ba« roebcr feine
Angehörigen fdjüfeen, nod) ihre 3Bo^tfal»rt förbern fonnte, roährenb Jrcmfc
reid) naf)eju auf ber $öf)e feiner geiftigen unb matericlleu ©ntrotcfelung
ftanb. $>a fonntc bie Trennung oon $)eutfd)lanb leidjt oerfthmerjt roerben.
SBenn id) aber fo einer hiftorifdjen Itfyat geredjt roerbe, barf id) nun aud)
auf bie ©egenroart oerroeifen. Au« einem madjtlofen jerriffenen ®eutfdj*
lanb ift ein mächtiges Stetd) geroorben. 2Bie bie Einigung 5ur SBieber«
geroimtung oerloreuer Sanbe«tb,eite geführt, fo b^at fie un« aud) bie 9Ra<ht
gegeben, ba« SBiebergeroonnene feftsuhalten, bie Angehörigen ju fdjüfcen unb
ifjnen bie 33ebingungen bc« geiftigen unb materiellen ©ebeifjen« ju bieten,
©amit fdjroinbet ba« 9Jiotio, ba« bie 33eroohner bc« Sanbe« auf granfretd)
blicfen läßt. So gebe tdj mid) ber Grroartung Irin, Glfafj-Sothringen roerbe
meht unb mehr erfennen, bie Trennung oon granfreid) fei fein Unglücf, bie
SSieberocreinigung mit $>eutfd)lanb fei eine ©eroähr einer glücflidjen 3ufunft."
©djon bei ben am 12. $uli 1886 erfolgten ©cmeinberath«roah(en in
ben 3ieich«lanben jeigte fid) ein ^ortfchreiten be« Teutfdjthum«. £er
iffirji tljlobmig von t^oljenlotie'SditUingsf njft. <^
gürfti <StattI»a ttcr, weld)er als aufjerorbentlidjer SBe»olImäd)tigter beS SiaiferS
3Stlf>elm I. ttod^ im Secember 1885 nad) SRabrib geeilt mar, um an ber
8eid)enfeter beS ftönigS 2ttfonö XII. tfieitjuneljmen, hatte ein fold)eS nad)
beften Gräften ansubatynen gefugt. Sei ber ©röffnung beS SanbeSauSfdjuffeS
im 3<"tuar 1886 bjelt er mieber eine bemerfenSwertlje Siebe unb fagte
barin, bajj er fein polittfdjeS Programm »ortragen wolle. Sann futjr er
fort: „<Selbft ber Staatsmann, weldjer bie 9Jtad)t {>at, feine 33erfpredmngen
311 erfüllen, wirb wol)l baran ttiun, bamit fparfam ju fein, ba er md)t
weife, ob bie 33erf)ältniffe ifun erlauben werben, fein Programm burd)ju=
führen. SBer aber wie id) mit gactoren ju redjnen l)at, bie über unb
außerhalb ber (Sphäre feiner ©inwirfung ftefjen, ber mu& boppett oorfidjtig
fein. ®a3 beftc Programm ift eine gute SBerroaltuug. Sarin erblidfe id)
3unäd)ft meine 2lufgabe. Qd) werbe fie ju erfüllen fud)en mit ©ewiffen*
fiaftigfeit unb pflichttreue unb in bcm ©efübt aufrichtigen ®anfe3 für ba§
Vertrauen, mit bem man mir in biefem Sanbe entgegengefommen ift."
Sie liier betonte „©ewiffenhaftigfeit unb pflichttreue" war es benn
aud), welche ber gürft in bem SReidbSlanbe ebenfo jur 2tnwenbung brad)te,
wie bie« feinerjeit auf bem 93otfd»afterpoften in Paris gefd)el)en war, unb
bic aud) im Sanbe felbft wadjfenbe 2lnerfennung fanb. ©S mufjte baber
Ueberrafd)ung erregen, als bei ben 9teid)StagSroaf)(en am 21. gebruar 1887
in fämmtttd)en 15 SBablbejirfen r>on ©IfafrSotfiringen SßrotcftCer burd>gebrad)t
würben, bod) tieft fid) bie Stf)atfad)e wol)[ baburd) erflären, bajs weit
weniger eine 2lenberung ber ©efinmmg, als bie SBefürcbtung einer Staate
granfretdjs bei einem bod) immer möglichen 9Jeoand)efriege ju ©runbe lag.
gürft Hohenlohe äögerte aber nid)t, ftrengere ÜDlaferegeln ju ergreifen; fo
beantwortete er bereits am 22. gebruar baS SBalilergebntf? mit einem
3tunbfd)reiben an bie SBejirtS^räfibenten, worin er eine ftrengere S8eauf=
fid)tigung beS gefammten 33eretnSlebenS anorbnete unb bie beiben GentraU
»erbänbe ber ©lfäjftfd)en ©efangs unb £urnoereine auflöfte. %m 3fiär5
beSfelben $afireS begab fid) ber $ürft nad> SBertin, um SBeridjt über ben
Stanb ber Singe ju erftatten unb an ben Sßer^anbtungen über bie 9ieu*
geftaltung ber ftaatlid)en 23erf)ä[tmffe ber 9teid)Slanbe tljeilsunebmen. ©r
oertrat bie 3lnfid)t, baf5 ©IfafcSotbringen in ftaatSred)tlid)er 33esief)ung ben
übrigen beutfeben Staaten bann gleicbgeftellt werben fotlte, wenn es ben
beftelienben 9iecbtSäuftanb rücfrjattloS anerfennen unb baS Proteftiren ent=
trieben aufgeben würbe. ©S beftanben bamals polirifdje 3KeinungSs
uerfcr)iebenc)eitcn einflußreicher ^Serfotien in Berlin über bie ©eftaltung ber
ftaatSredbtlidjen 33ert)ältniffe ber 9?eid)Slanbe, oon benen ©injelne bie Stuf*
Hebung beS «StatthatterpoftenS wünfd)ten, bod) weber gürft Cismar et, nod)
Staifer SBtlhetm I. trat fold)em Verlangen bei. SBoljl würben einige seit
gemäfse 2Robificationen in ben inneren ©inricfjtungen beS SBerwaltungS*
SJiechamSmuS oorgenommen, bod; blieb ber ©tattfjalterpoften befielen, unb
gürft §of)enlof)e fefirte mit ben 33eweifen »ollftänbigen Vertrauens auf
\2 (Sebtjajb §etnin in Datmfiabt.
benfelben äurücf. $)ie neue ©eftaltung ber 2)inge fieberte ihm ein ftroffercS
Auftreten, et liefe fiä) burdj ©inreben oon beutfd^freunbltdjen Stimmen ntd^t
beirren unb erreidjte fc^r balb, baß bie 2W)tung »or bem neuen ^egimente
ftieg. 2lud) baS ©rgebniß ber SBejirfSwahten beS Jahres 1888 war ein
erfreuliches.
iftadj bem £obe beS b^oeb! fetigen ÄaifcrS SBittjetm 1. wanbte audtj beffen
j weiter jugenblidjer SRadjf olger Sßithetm II. bem dürften Hohenlohe
große &ulb unb oöttigeS Vertrauen }U. ©te ©inge gingen in ben SRetd)^
lanben ü)ren ungeftörten ©ang, fo baß ber Statthafter bei feiner ©röffnungS*
rebe ber 17. Tagung beS SanbeSauSfdmffeS am 29. Januar 1889 redit
befriebigt ftd) auSfpred)en fonnte. 3m $riU)(ing beS folgenben Sab^eS er-
öffnete er bie 2tuSftcffung ber beutfdjen StonbwirthfdjaftSgefettfdiaft in Straß=
bürg, welche großes Qntereffe erregte, unb brachte ber gleich barauf er«
folgten ©rünbung eines elfaß=tothringifchen SängerbunbeS wahre unb warme
Snmpatrjie entgegen. 3ft bex golgejett gelang es bem dürften £ohen»
lohe, ben einige Safere twrber eingeführten Sßaßjwang für SReifenbe tbetls
weife auf jubeben (er nmrbe nur nod) für auSlänbtfdie 9Jctlttärperfonen unb
für SluSgewanberte unter 45 fahren beibehalten) unb baburdj im Sanbe
große greube p oerbreiten. 2tlS er am 10. Dcto&er beS genannten Saferes
oon einem Sommerurlaube nad» Strasburg jurüeffeferte, würbe er am
Sahnhofe oon einer großen Serfammtung hcrjlia) begrüßt unb bureb eine
2lnfprache als „ebelmütfeiger greunb ber 93eoölferung, »erfiänbnißooller unb
roohlmeinenber görberer aller Qntereffen ber 9teidjslanbe" gefeiert, worauf
ber Statthalter ber aBabrfeeit gemäß erwibern tonnte, baß ©laßsSotbringen
feinen aufrichtigeren unb treueren greunb habe als ihn. 2>aS allgemeine
Vertrauen, welches ihm febon längere 3ett fnnbureb vs>n ben 33ewobnern
ber fcfeönen Stetdjslanbe entgegengebracht worben mar, ^atte feierburd) eine
wefentlidje Stärfimg erfahren unb follte niemals mehr getrübt werben.
Scbon bei ben SHeidjStagSwafelen am 20. gebruar 1890 hatte ftd»
feerauSgeftellt, baß bie 3«hl ber Stimmen ber Sßrotcfttcr »on 247000 auf
100000 jurücf gegangen mar, fo baß oier beutfdjfreunblidbe SBertreter nadj
SBertin entfanbt werben tonnten, welche 3ahl °rei 3ftfete fpäter noch um
eine oermehrt würbe, inbem ber eigene Sohn beS dürften, ^ßrinj ülleranber
»on Hohenlohe, am 15. 3uni 1893 als gewähltes SfteicbStagSmttglieb
feinjutrat. @ine noch gefteigerte günftige Stimmung ber Stabt* unb £anb=
bemobner follte jum 3luSbrud gelangen, als SJatfer SSitbelm II. im Sommer
biefeS Jahres persönlich bie SietcbSlanbe burch einen 33efuch auSjetchnete.
3lm 3. September 1883 war es, genau 65 Safere nach bem ©injuge
beS ÄöntgS Äarl X. oon granfreidj, als unter bem ©eläute aller ©locfen
Äaifer Sßilfeelm IL feinen feierlichen ©injug in bie &auptftabt SothringenS,
baS alt*ehrwürbige 2Wefe, hielt. 9todj an bemfelben SWittage begab er fich
in ^Begleitung beS Statthalters nach fturjel unb »on bort su SBagen nach
feinem neu erworbenen Sdjloffe UroiHe, 511m erften Scale als lothringifdjer
iJütfi <£l(lobn>ig »Ott Ejotienlofje'SdfUlingsfürjt. ^3
©utsbefi|er. Sei ber ^arabetafel, welche am folgenben Sage in 9Kefc
ftattfanb, mar es eine ijofie Sefriebigung, wetdje bcn Kaifer bie frönen
SBorte fprecben tiefe: „3$ fct>c, . . . bafe SotlnHngen fidb wof)l im 9?eidje
fübjt . . . -Kit ©enugtf)uung fefye id), bafe Sotliringen baS SBerftänbnife für
beS JieidjeS ©röfee unb für feine «Stellung im 9teidfje gewonnen I»at."
Unb baS SBerbienft, ftfersu ein wefentltcbeS ©tüdf beigetragen, mit aßen
Kräften babet mügewirft ju haben, mufete bem ©tattljalter dürften ©bjobroig
»on &of)enlof)e äugefdjjrieben werben, welker t)ieran beinahe ein »oHeS
3af)rjel)nt bie Slrbeit feiner reifften ÜDianneSjobre gefegt hatte.
©S erregte baljer allgemeines 33ebauern, als im $erbft 1894, nadjjbem
ber ©enerat »on ßap rioi als S'ieichSfansfer äurücfgetreten mar, gürft
Hohenlohe aus ben 9feid)Slanben abberufen mürbe. 9Rit ber Sßürbe beS
einflußreichen ©tattljatteramts befleibet, mag es bem dürften wohl nicht
leidet geworben fein, fleh jur Sfonahme ber neuen Söürbe ju entfdfjliefeen,
allein fein nationales Pflichtgefühl liefe ihm feine anbere SBabl: er folgte
entfdbtoffen bem 3?ufe feines faiferlidjen ßerrn. Seit bem 26. Dctober
1894 fteljt gürft ©rjlobroig an ber ©pifce ber Seitung beS beutfdben
©taatSfdfjiffeS, unb ba ber feitbem oerftoffene furje 3cifraum su einer Döllen
SBürbigung feiner SBirffamfeit noch nicht ausreichen bürfte, fo fdjtiefeen mir
hier feine eigentliche SebenSffisse.
* *
*
GS bürfte wohl angezeigt fein, nad&bem tyex »erfucht worben, ein
furjeS Sebents unb Gfyarafterbilb beS dürften ßbjobwig »on £of»en-
tofie ju entwerfen, nunmehr aud) eine ©df»ilberung beS ©tnbruefs ju
unternehmen, welchen bie ^erfönlicbfeit beS bebeutenben -KanncS macht, unb
lefetere überhaupt ju frieren. SBir wollen ber Söfung biefer 2lufgabe unS
nidbt entjieben.
35er Stetdjefanäler gürft Sofienlohe hat im 9J?ärs 1895 baS 76. SebenS*
jaf)r »oflenbet, liebst aber jünger aus. 6r benfet eine »otjüglidic ©efunbheit
unb l)at »on Qugcnb auf bem ©eifte bie äufere &ütle bienftbar gemalt,
fo bafe er audfj gegenwärtig, nadbbem bie erfte Hälfte beS 8. ^ahrsebuts über«
fd»ritten worben, fcineSwegS etwas ©retfert^aftcS an fiel) trägt, ©eine
fünf ©inne finb gut entwicfelt unb felbft theilweifc noch gefdjärft worben;
nur ben|t feine ©timme, ähnlich wie bieS bei feinem grofecn 2lmtS»orgänger,
bem dürften SBiSmarcf, auch ber $all ift, einen etwas fcfjwadjen Klang, bodb
pflegt fie audf) niemals überangeftrengt ju werben.
9JJan begegnet im Seben öfters männlichen ^piiufiognomien, aus welchen
fid) fefyr febwer ober überhaupt faum mit einiger Sicherheit ©cblüffe auf
bcn Gbarafter ableiten laffen. @tn berartigeS ©efiebt jeigt gürft 6t)lobwig
nidit. ©aS feinige madbt »ielmeb.r ben offenften ©inbruef unb giebt mit
grofeer Ätarljeit unb 5Ereue wieber, was biefer ÜRann ift unb nidjt ift.
3lber etwas ungewöhnlich erfdbeint es boeb: bie gönn feines £aupteS, wof)l=
44 (Sobljotb §frn<« «" Darmftabt.
gebilbet unb regelmäßig, bie Sittien beS Profils unb baS fräfttg entmicfelte
Äinn taffen erlernten, baß man biet einen feinen Äopf oor fid) t)at. ®aS
Stuge brücft jugleid) Klugheit unb &erjenSgüte auS; es pflegt in rubiger
Prüfung unb mit natürlichem Sßoblrootlen jeben if>m jutn erften 3Jlal $e=
gegnenben ju meffen; es jeigt eine Uebertegenb>it an ©eift unb $erj, von
ber man fofort überjeugt ift, baß fie nur bem ©ienfte bet guten ©ad)e
fid) wibmen werbe, ©ine »ornebme 9tub,e unb Sßfirbe ift über ber ganjen
Sßerfönlid)feU auSgegoffen, bie allerbingS nid)t erfennen läßt, baß biefer
beroorragenbe ÜDJann nod) |eute in bemfelben Qugenbfeuer erglühen fann,
weldjeS einft ben bagerifdjen 9Jeid)StagSrebner befonberS fennjeidmete. Samt
erfd)eint baS bunfle Stuge, welches fonft in ftiller 2Bad)famfeit um fid) ju
blicfen pflegt, in leud)tenbem ©lanje, es »ergtößert fid) unb äußert eine
burd)bringenbe, felbft burd)bobjenbe Kraft. 3JJan fülilt es atsbaim ganj
beutlid): biefer 2Rann ift jum 33efef)len geboren, er weiß, was er will,
unb min ftets nur, was er fott unb muß. ^eber $oll a" ^m ift beutfd).
SMe ©tirnmuSfel tritt oberhalb ber SlafemnuSfel etwas ^eroor, fie
fünbet uns bie folgen ber ©enfarbeit, weld)e fid) fd)on mand)eS ^a^rjetint
Ijinburdj in bem ©ifee ber menfdjltdien £aupttf)ättgfeit »olljogen t>at Sie
©tirn felbft ift bod), aber nid)t felir breit, über fie legt fid) baS in früheren
ftatycen teid)t gefräufelte fd)marje Äopfljaar, wetd)eS lieute ergraut ift.
3iud) ber ootte ©d)nurrbart, wetdjer bie feinen Sippen bebecft unb baS
b,eimlid)e unmittfürlidje ©piel berfelben oerbedt, ofme es ju oerbergen, Ijat
bie garbe beS 2llterS angenommen, ©neu anberen Skrt foH ber gürft
niemals getragen f)aben, fo bafj er, jumal ba er wenig gealtert ift, »on
33efannten fofort roieber erfannt worben ift, bie ifm Qa^rje^nte lang nid>t
gefeben fiaben. $>te gigur ift iierlid) fd)lanf, nid)t ju l)od) unb feineSwegS
unterfe|t, fie entfpridjt ber rubigen, »ometiinen Haltung eines SßeltmannS,
weldjer r»on .fUnbfjeit auf fid) unter ben ©roßen biefer ®rbe bewegt Ijat.
®aß gürft §obenlobe einen fef)r einfad)en, anfprud)Slofen ßfiarafter
befitst, fatm man fd)on an ber außerorbentlid) befd)eibenen Einrichtung feines
2trbeitSsimtnerS in bem ^eidjsfanäter^alais ju SBerlin maljmetimen. S)ie
genfter biefeS StaumeS geben auf ben Sßarf ^inauS, an einem berfelben,
ber ©ingangStbür gcrabc gegenüber, ftebt fein ©dbreibtifd). 3luf bem
lefeteren erblicfen wir eine ganj gewö^ntidie ©d)reib5tlnterlage, ein hinten*
unb ©anbfafe au§ weißem ^Sorjellan, einen Söfd)er, eine ©d)eere, alfo MeS,
was auf einen ©djreibtifd) gehört, unb »on berfelben einfachen 3?efd)affen:
^cit, wie man fie in faft jebem öffentlichen SBureau finbet. ®rei geber=
balter — „©tücf für ©tuet einen ©ilbergrofd)en" — liegen auf bem
SHntenfafe. S!aS %>etfd)aft, ein großes SefeglaS, 8eud)ter, 3ön^fl0^ft5ni,cr,
©garrenfialter — alles biefeS ift »on ber großen ©nfad)f)eit, wie fie bem
dürften feit feiner Sleferenbarjeit lieb unb jur ©emobnbeit geworben ift. ©in
^apiermeffer aus 33ronje uon etwa 30 Zentimeter Sänge, beffen fd)ioerer
©riff »on 53ronjeftreifcn fpiratenförmig umfcblungen nürb, bient bem SReicbS^
ijürji <£tjlobn>tg von ^o!jenIolie=Sd(iHingsf flrfi. $5
fattjler als 2Baffe gegen btdfelltgeS Äanjleipapier. SBott einem etwa
% Sälttex flogen DbeliSfen aus 3Rarmor, beffen «Södel ein mit fitberf)eHein
©lö<fd)en ausgelüftetes Ubrroerf birgt, lieft ber gürft bie 3^tt ab, meiner
burd) Säuteroerfe ben Liener herbeirufen fann, mä^renb er nod) einen
Älingeljug nebft Duafte über feinem Raupte pr SBerfügung f)at.
3Sor bem <Sd)reibtifd) fteb,t ein leberbejogener Siofirftuljl; aufjerbem bes
finbet fid) »or bem ^feilerfpiegel ein größerer «Sorgenfrei mit fleinem
Sefetifd). hieben bem non «Säulen umgebenen grünen Äamin aus SKajotica
fielen «Seffel rings um einen onaten £ifd), auf roeld)en ein lebensgroßes
Delgemälbe beS £erjogS »on 9?attbor f)erabbli<ft. 9ln ber gegenüberliegen'
ben SBanb f)ängt baS moblgetr offene Delbilb beS ÄatferS SBilljelm I.,
unter n>eld)em fid) ein fünf 3M geseiltes $üd)er=3tegal mit 3tcten, ©d)riften,
©rucfroerfen tjinjiebt, — jum Seroeife, baß es bem 9teid)Sfanjler an
arbettsröd)em «Stoff nid)t fef)lt. ©ie langen ©efimfe finb oon ^Sbotos
grapsten aus ber gamilie beS dürften &ol)enlof)e bebedt, aud) reiben fid)
b^eran Qßöbrrop'E»^"/ pumpen, Äannen, ©läfer :c. SDafe ber gürft
9iaud)er ift, erfennt man aus ben »erfd)iebenen Utenfilien: auf jebem £tfd)
fteb,t geuerjeug mit Gtgarrenftänber, iebod) aud) alles bieS in etnfadjfter
2luSftattung; ber 9teid)Sfanöler raud)t am liebften Gtgaretten unb jroar rufti--
fd)en föerfommenS. Ser ganje 3Jaum biefeS 2lrbeitSjtmmerS b,at tuet 2tn=
IjeimelnbeS unb baS ©emütb, 2lnfpred)enbeS.
SDaS Temperament beS dürften ift mafrooH unb roitb burd) lang*
jährige £errfd)aft beS ©eiftes über ben Äörper bebingt, roaS bei ber
Sebljaftigfeit beS $>enfeu3 unb bem aufjerorbentltd) fdmellen atuffaffungS'
»ermögen feines ©eiftes genrif, nid)t leid)t $u erreid)eu geroefen ift. SBeber
«Sanguimfer, nod) Sfiolertfer ift gürft &ot)entof)e, aber aud) fetneSroegS
ein ^blegmatifer, rool)l aber f)at er fid) eine ifmi fefir n>ob,l anftetjenbe ge«
nriffe 3urücfljaltung angeeignet, bie ifjn oft ruhiger erfd)cinen läßt, als er
tt)atfäd)lid) ift. %fym ift es gelungen, baS 511 erreichen, roaS SSater iooraj
jebem aRamte anempfiehlt, n>emt er fein Aequam memento rebus in
arduis servare mentem anftimmt.
|>anpteigenfd)aften unb gctfiigfetten beS dürften, bie er roäfirenb feines
langen unb »ielfeittgen ^Berufslebens ftets p betätigen gefud)t Ijat, finb:
Ätarfjeit beS ©eifteS, rid)tigeS ©rfaffen, ©rfennen unb ©urdjbringen felbft
üernridelter 35inge, ©eroanbtbeit ber geber in fd)rtftlid)em StuSbrude, uner^
fd)ütterlid)e 9iub,e unb 8eibenfd)aftSlofigfeit in 33enrtl)eilung ber "XfyaU
fad)en, ftrengeS geftbalten an bem für 9ied)t Grfannten, oöllige Uneigen'
nüfcigfeit, treue Eingabe an alles ©rofee, «Sd)öne unb ^olie, bann eine eble
SKilbe beS ^ergenS unb ber SBißc, jebem ■äJtttmenfdjen gered)t ju werben
unb lieber ju Derföbnen als ju fränfen. Man wirb gefteb,en muffen, baft
biefe @igenfd)aften ein ©anjeS bilben, beffen 33efi^ Gebern ju n>ünfd)en ift.
Unb baS ift ber aWann, in beffen $änbe bie Seitung beS ferneren 9lmts
eines beutfdjen 9Jeid)Sfan}lerS gelegt ift. 9Jlöge fie tb,nt ftets roo^tgeliu^cn !
„Das geluvte $vaum$immcv."
£tn €ffaf über bas ^rauonftuöium in Deutfdjlanb sut 2?ococo* unb
^opf3ctf.
!cfj bitte meine Sefer unb namentlidj meine Seierinnen, in bem
gctoätjften Xitel feine irgenbroie matitiöfe gärbung feigen ju
SaiLsäsf wollen. £er 3lu8brud: „ba§ gelehrte grauenjimmer" ift ein
allgemein üblicher SluSbrud ber 3^t, »on ber id) b>nbeln null, unb
be(t|t jene gärbung burcfjauä nidjt. 60 nennt betfpietSroeife ein bamoliger
SSerttieibiger ber gelehrten grauen, 6. g. Spouüini, ein von ü)m »erfafteS
23udj „&oa> unb 2Bob> gelafjrteä beutfcfieä grauen 3imroer"; unb in
äf)nliä)en ©Triften 5. 33. von ©ngelcfen, (Sberti, ginauer feljrt bie S8e=
jeidmung überall nrieber. Wltfyx fönnte bie (Srfdieinung felbft, über bie idj
f)ier ©inigeä beibringen nriff, auffallen, bafj man nämlicf) fd»on bamals
überhaupt »on einem grauenftubtum rebcn fattn. 9Zatürlidj nidjt
»on einem organifirten, obgleicb, nrie mir feiert werben, aucf) baju ein 9ln=
lauf genommen tourbe: aber bodj von einer auffälligen Neigung be3
roeibttdjen ©efcbledjts ju geteerten Stubien. £eute, im 3eitatter °w
fdjriftftetlernben Tanten, ift jtoar bie allgemeine Silbung ber grauen un*
enblicfj »iel größer geworben als bamalS. 216er »on gelehrten grauen fann
bocfj nur in erljcblicfj geringerem Umfange gefprodien werben, unb eine
neuere ©djriftftellerin Ijat 9Je<f>t, wenn fie meint, „bajj e§ wäfjrenb jener
^eriobe wenigftenä äiwnjig gelehrte SBeiber gebe gegen eine 3«itfl6"oftm,
bie unfere gegenwärtigen ©eleljrten für ebenbürtig anerfennen motten. "
©clef)rte grauen b>t e3 ja faft 51t allen Reiten gegeben. ©djon
(SuripibeS meint: 3<f) fmffe ein gelebrte3 SBeib, unb feine foll mir in'8
£au3 fommen, bie mct)r weife, als bem 9Beibe nüfee ift. 211« auffällige
(Srfcfieinung aber tritt — in 2)eutfd)lanb nenigftens — bie ©elcbrfomfeit
Von
d5eot0 ^telnfjaufEn.
— 3eno. —
„Das gelehrte ^ tanensimmer."
ber grauen wft in ber bejeidineten s$eriobe fjeroor. — ßs fcfjeint bas im
SBiberfprucfj ju fteben mit bem allgemeinen 3HfbungS3uftanb ber grauen
unb Mäbdien jener 3ett. 3m Mittelalter roar biefer weit Ijöljer geroefen
afS ber ber Männer; baS Mimtejeitalter f)atte bann bie grau mit einem
ftrafifenben gefettfdjaftlicfjen DttmbuS umgeben. 33eibeS mar anberS geworben :
in getfttger nrie in gefellfd)aftltcf)er Sesie^ung trat bie grau 5urücf; ftc
mürbe auf baS $auS befdjränft, unb in t)äuSlid)er 2t6gefc^toffen^ctt roud)S
baS weibtidje ©efd)led)t fyetan: feine ©rjieljung unb 33ttbung würben »er*
nadjläffigt. 2>ie itatienifdie SRenaiffance, bie fo niete f)od)gebilbcte grauen
fyeroorbradite, erroedte nur fd)road)e sJiad)flängc auf beutfcf)em 33oben. ©egen*
über biefen wenigen StuSnaljmen, wie ber ©fjaritaS ^irfiieimer unb anberen,
tritt bie große Waffe »öfftg prüd. ©er ©urdrfdmitt ber grauen mar oijne
jebes tiöliere geiftige .^ntereffe. meinem äuffafc: „<£>ie beutfcfjen
grauen im fiebjefmten $ab>I)unbert" (abgebruett in ben Gulturftubien) b>be id)
baS näfjer ausgeführt unb befegt, freilief) babei flarf betont, roie fefir biefe
2lbgefd)loffent)eit ein ©tüd für bie grauen mar. (Sie retteten ©emütf) unb
9totürlid)fett burd) eine ganj »erbilbete 3ett tyinburdj: bem »iefen 9teuen
unb 2fbfto§enben gegenüber blieben ftc — namentlicf) bie grauen beS Mittet
ftanbeS — treue Hüterinnen beS alten gamitiengeiftcS unb frifdjer ÜRatoetät.
$n biefen 3uftönben trat nun gegen 2luSgang beS fiebjebnten 3ab>
fmnberts — in einjelncn Grfdieinungen aud) fcfjon früfjer — eine geroiffe
2tenberung burd) baS 2tuffommen jener gelehrten ©pecieS ein, beren
Gremptare immer jablreidjer rourben. greitid), bie große Maffe ber grauen
rourbe aud) jefct baoon wenig berührt.
3mmerl)in rourbe bie gelehrte grau ju einem geroiffen £npuS
unb ift infofem culturf)iftorifd) bemerfenSroertt). Man fcfjeint baS
f»eute nielfadj »ergeffen ju baben. ©o fiel)t Subroig ©eiger in feinem
tüdjtigen 93ucf): „SBerlin 1688—1840" bie gelehrten ^ntereffen ber Königin
©opfyte (S&arlotte anfdjeinenb all eine befonbere 3lusnal>me an. £aS ift
nid)t ber gaff. 3d) bewerfe eS auSbrfidfid), bafc id) f)ier nidjt non fd)ön«
geiftigen Seftrebungcn fjanble, obgleid) aud) auf bem ©ebiet bcr Sitteratur,
wie auf bem beS SirdjenliebeS, eine ganje SWeirjc grauennamen (5.
©ibntle ©djwarj) ju nennen wären, fonbern oon gelehrten ©tubten.
2ln bie Stenaiffance fnüpft biefe ©rfdieinung nur in gewiffem ©inne
an, fo namentfid) infofern, als bie tljeoretifdjen Erörterungen über
bie Unterfdjtebe ber beiben ®efd)led)ter unb über bie grage,
ob bie grauen ftd) mit gelehrten ©ingen befd)äftia.en bürften, bereits
ein beliebtes Xfyma ttalienifcfjer ßumaniften waren. %atoh 93urff)arbt
unb 3faitüfd>ef ty&en barüber eingefienber gefjanbelt 2Bäf)renb aber
biefe tljeoretifdje grage in bem Italien ber Sienaiffance, in bem bie
Silbung ber grau ber beS Mannes völlig ebenbürtig war, praftifefj bereits
5U ©unften ber grau gelöft war, wanbte fidfj baS ^ntereffe ber beutfd^en
4?umantften jroar gelegentlid) aud) ber grage $u — fo pries Gonrab
Korb unb «üb. LXXT. 223. 4
48 (Seoig Steinhaufen in 3eno-
Gelte« bie £ro3mitba — ober fie tonnten bod> nur auf loenige beutfdje
grauen ju tbjer 3«t fumoeifen, bie ber flaffifdjen 33ilbung t^eit^aftig
roaren. Sfad) ©raSmuS l>at biefe grauenfrage erörtert, ©n befonberer
93erfed)ter ber grauen mürbe Slgrippa oon 9tetteSl)etm, ber ü)nen fogar
eine ©uperiorttät oor ben -Könnern beilegte, ©eine ©djrift tft betitelt: De
nobilitate et praecellentia foeminini sexus eiusdemque supra virilem
eminentia.. ©egen @nbe beä fecbjef)Jtten 3al)rb,unbert8 traten bann eine
ganje Steide beutfdjer Sterttieibiger ber grauen auf, fo 1595 ber ©octor
©imon ©ebicfe, ber in allem ©mft ba3 meiblidje ©efd)led)t gegen eine
2}et»auptung, bie bamalä aufgeftellt unb in oielen SRadjbruden oerbreitet
mar, bafj nämlid) bie SBetber feine 9ftenfd)en feien, oertbeibigte, fo 1596
2lnbrea8 ©djoppiu« unb 1597 Saltyafar SBanbel, bie aus bemfelben ©runbe
für bie grauen auftraten.
©anj unoerb^ltnifjmäfjig ftärfer tritt bann biefe Sitteratur erft in ber
jtoeiten fiätfte be8 fiebjeljnten Qafir^unbertä auf unb jroar, weil
bamal«, mie gefagt, ba$ gelehrte grauenjimmer eine ©rfdjeinung mar, bie
auffatten mußte.
SBober fam biefe @rfd)einung. Qn erfter Slnie, meine id), ift fie
in bem Gtiarafter ber ganjen 3^tt begrünbet. 9JKt 9led)t t)at man
biefe« 3cWaftw «13 baS polt)bJftortfd)e, als ba8 gelehrte kat' exochen
bejeidmet. ©3 ift ja im ©runbe eine b,öd)ft nnbenoärtige Verlobe; in mora-
lifd)er unb geiftiger 33ejieb,ung jeigt fid) feit 2lu8gang beS 16. QfabjrtjunbettS
eine ftarfe SDepreffion, unb fo ift benn biefe« Attribut ber ©etefirtljeit nidjt
fdrtedjttjin al« 33orjug aufjufaffen. 3roeifettoS ift in biefer 3ett gerabe
auf gelehrtem ©ebiet Diel getriftet roorben: aber ebenfo unjmeifelb>ft wiegt
ber ©tyarafter be3 ©pigonenfjaften, nid)t ber frifd)er unb fröblidjer Sßro=
buctioit oor. Unb nodj fdjlimmer ift ber banauftfd)e 3"9/ ber ftä) jeigt,
unb roeiter bie ©ud)t, ftd) einen 3(nftrid), ein 2lir ju geben. 9Jid»t gelehrt,
fonbern wenn mir baä SBort, ba« beute eine bejeidjnenbe gärbung erhalten
Ijat, amoenben motten: geldljrt erfdjeint uns bie 3e^ ©urlofttÄten unb
älfanjereten merben befonberS roertf) gehalten: oft fdjreitet ber beeile 33löb:
finn in geteert aufgepufctem ©eroanbe einher. ©aS ©tnfadbfte roirb burd)
gelefirteS Srimborium oerbunlett: nod) ^eute ^aben otele ©elebrte es nid)t
fertig bringen fönnen, fid) oon ber oben Lanier ber Unoerftänbltdjfeit freiju;
madjen, als ob üe bamit ber SBaljrfjeit bienten — mit einem SBort: $te
©cle^rtfieit rourbe bamaU 3Jlobe.
SBereinjelt tritt uns baS „gelehrte grauenjimmer" fd)on juSlnfang
beS f tebjefjnten 3abrf)unbert8 entgegen. SBaren oortyer einjelne grauen
fdjoit auf bem ©ebiet ber ©rbauungSlitteratur — man oergleldje barüber
ben 9faffa| oon Ealoj: „$>eutfd)lanbs ©d;riftftellerinnen" im $tftortfd)en
£afdjenbud; — tljätig geroefen, fo famen jefet roeiblid)e „SBunber" ber
reinen ©eteljrfamfeit pm $Oorfcb.eiu. Um jene 3«t ftanb befanntlid) bie ge^
teerte ^ätigfeit oor Mem in ben 9Jieberlanben in »lüt^e. tarnen
„Das gelehrte frauenjimmer."
rote ßipfiu«, Sealiget, ^einflu« finb ja 3tHen geläufig. ©o ift e« erflär--
Kd), bajj gerabe in ben 9Jieberlanben bie gelehrten grauen — al§ 33eü
fpiel wirb öfter (Sornelia SBoffiu« angeführt — suerft häufiger roerben. Sie
■JUeberlanbe nannten auch jene 9tnna SWaria Bon ©d)urmann,
bie meberlänbifche 3Jttnen>a„ mit ©tolj bie irrige.. SSon GJeburt eine
$>eutfche — fie ift 1607 in Köln geboren — hat fie ben größten S^eil
i^rc« Sebent in Utrecht sugebrad)t. ÜDlan ftnbet über fie in jaljlreichen
Suchern Nähere«: t>ier genüge anjuführen, bafe fie »ierjetnt «Spraken Ber*
ftanb, mit sahlreid)en (Seiehrten in Sriefroechfel ftanb unb felbft fc^rift=
ftellerte. ^ntereffant ift aber namentlich, «nie biefem „gelehrten grauen*
jimmer" bie gefammte gelehrte SBelt t)ulbißte. $>ie jehnte SJtufe, ba«
SBunber be« ^atirb^unbertg, biefe unb ähnliche Sejeidjnungen mürben jab>
reic§ auf Tie angeroanbt. ©ie imponirte biefer polnb^iftorifdjen 3eü, unb
bafe fie ein SBeib mar, machte fie biefer curiofitätenlüfternen ©poche nur
noch intereffanter. $)er ©udjjt jener 3eit nach bem „SBunberbarlidien unb
Unerhörten" fchreibe ich biefe« ftwXtxefte nicht jum fleinften £beil ju.
%ma SJJaria oon @d)urmann, bie übrigen« ihrerfett« Schriften pro
domo b. h- für bie gelehrten grauen (j. 23. de ingenii muliebris ad doctri-
nam et meliores literas aptitudine) fdjrieb, fanb nun in $eutfd)lanb
felbft balb jablreidfie Nachfolgerinnen. 2lu« anberen Sänbem, roo man
biefelbe erfdjeinung beobachten fann, miß id) r)icr im Vorbeigehen nur an bie
©nglänberin SBefton unb bie berühmte Gf»riftine oon ©chtoeben erinnern.
©ie betannten unb unbefannten „gelehrten grauenjimmer" ®eutfd)=
lanb« \)iex einjeln aufzählen, hat wenig 3n)ecf. ©ie $auptfacb> ift, feft*
aufteilen, baß fie gegen 1700 h"' gerabe in $>eutfd)lanb eine
3Robeerfd)einung roerben. ©o fpridjt ein bamaliger Slutor, Johann
©erharb SHeufcljen, ber SBerfaffer eine „Courieusen ©d)au=8ühne 3)urcb>
läud)tigfts©elehrter Dames" Bon ©eutfdjlanb als „einem Sanbe, fo fid)
bot allen anbern Diel grunbsgetahrter Dames ju rühmen hat"- 33"n
einjelnen ©rfcheinungen au« ber erften Hälfte be« 3"hrhunbert« roiü id)
hier 2lnna 5Diaria Gramer nennen, bie im Sllter Bon 14 fahren, mahrfdiein'
ttd) in golge ber Ueberlabung mit gelehrten Singen, ftarb. ©er SSater,
ber SWagbeburger Sßaftor 2tnbreo« Gramer, rühmt Bon ihr in einem
lateimfdjen Gpitaphium, baf) fie historiae et poeticae studiosissima,
Unguis latina et hebraica elegantissime exculta et sacrarum litterarum
studüs unice dedita geroefen fei 3luf fein „SBunberfinb" mar ber
SSater jroeifello« fehr ftolj geroefen, unb ähnlich bachten Biete ©eleljrten
unb fud)ten au« ihren £öd)tern gelehrte SWionftra ju machen.
216er nid)t nur bie £öd)ter ber ©elehrten, fonberw namentlich auch
gürftentödjter, an beren ©rjiehung mehr hcrumerperimentirt mürbe, al«
an ber geringerer grauen, bieten S3eifpiete, wie Suife 2lmöne Bon 9lnl)alt,
bie ^ebräifd) »erftanb, bie fertige Sateinerin Katharina Urfula bou Stoben,
Stntonia oon SBürttemberg „mit ihrer ungemeinen Sßiffenfchafft in ber
i*
50
(Seorg Steinhaufen in 3*na.
©rtedjifdben, tromebmttd) in ber &ebräif<ben ©pradbe", bie Dödjter bes
SBinterfönigS, @ltfa6et^, ätebtiffin von föerforb, bie gelebrte greunbin
De3carte$', unb ©opbie »on 33raunfd)roeig. 33on ber Sefeteren rübmt ber
obenerroäbnte 9Jleufd)en, bafj bie „©trollen Jbrer burdbbringenben SBetfc
bett, fc^arffcn 5Berftanbe3 unb ineffabler SBiffenfdjaft in bet Theologie,
Geographie, Historie unb »ielerlen ©prägen fo bettglänfcetib femtb, bafj fie baS
Sidbt feinet blöben Säugen »erbunfein unb madben, bafj er fie meljr in ftiHer
SBerrounberung »erebre als ju entroerffen ftd) uberroinbe." Jfyre Tochter
i»ar bie befannte ©opbie (Sbarlotte, bie greunbin SeibnijenS.
Sieben biefen furftlicben geteerten grauen — bie SBeifptete liefen fid)
leidet oemebren — mären gar oiete aus bürgerlidjen unb obtigen Greifen ju
nennen, von benen ehtjetne, n»ie URarta Barbara Sebmann, ÜJlaria Runifc,
Helene ©ibtjUe SSagenfeil, weit unb breit befannt waren. Dodf) roill id)
bier nidbt mit Siotijen ennübeit. 3ablreid&e Seifpiete „gelehrter grauen*
jimmer" ftnbet man in bem erroäbnten 2tuffa|$ ber %alv'\ unb in bcr
gleicb ju nemtenben Sitteraturgattung beS 17. unb 18. JaljrbunbertS.
^eroorjuljeben ift nämlidj, baf3 man bamals »on folgen grauen unb
Jungfrauen — nidjt bloS jener, fonbern aud) früherer Seit — befonbetS
gern börte unb las. ©eljr jaf)lreid) roerben bie ©cbrtften, bie — oft
in trodener 2luf$äl)lung — »on gelehrten grauen berieten, ©o finb ju
nennen: Job. grauenlob, bie tobroürbige ©efellfdbaft ber gelebrten Sßeiber,
Sßafdbii gynaeceum doctum, ©. g. Sßauttini, &od> nnb SBobkgetabrteS
DeutfcbeS grauen'S'mmer, Job. ©afp. (Sberti eröffnetes (Sabinet beS ge*
lebrten grauenjimmerS unb febr »iete anbere. Dtefe Sitteratur mufj alfo
febr beliebt geroefen fein unb jablreicbe Sefer gefunben baben. Diefe ©alerien
fottten „jum angenehmen 3eit»ertreib" bienen, man fottte, wie eS bei
Sßauüuri beißt, barauS erfeben, „wie unfer geliebtes Deutfdjlanb roeber ben
bodfjtrabenben ©paniern nod) ben ehrgeizigen 3Belfd)en ober aufgeblafenen
granfeofen bifcfatts im geringften nadbjugeben babe, ftntemabl bierimt
foldje Sßierinnen gejeigt roerben, bie »iele 2luSlänberinnen in ben SBinfel
jagen." Unb bann Reifet es ftolj: „Denn roie roeit glüdffeltger unb jier»
lieber ift unfer jefeigeS Deutfdblanb, als ju SCaciti 3eiten, ba roeber SKaim
nod) grau roaS fünftlidjes tont* ober rouften."
Diefe Sitteratur jeugt weiter ba»on, bafj man in Bieten Äreifen,
namentltd) natürlidb ben gelehrten, bie gelebrten grauenjimmer befonberS
bodbacfitete. SBenn fcbon ju 2lnfang beS Jabrbwtbertö bie Jenaifdfje
tbeologifcöe gacultät ein gelehrtes ^udb ber Siegina »on (Srflnab :
„Der geiftlidbe SBagen" — ba8 33ud) felbft tonnte idj iridjt erlangen,
auf ber Jenaer 93ibliotbef ift es niiftt — mit einer empfeblenben 3?orrebe
einleitete, fo jelgt ba8 bie roadbfenbe 3ld)tung. 9Wit befonberer SSorliebe
roanbte man fid) auf« 9teue ber grage p, ob ben grauen baS ge«
lefirte ©tubium bienlid) fei. 3lud) biefe Sitteratur ift fe^r jablreid):
ei roflrbe 3U roeit fübren, biet 9?ad)roeife ju geben. @« Ift ja aud) er«
„Das gelehrte ^ranenjimmer."
5{
flärlid), bafs bic SJtenge ber geteerten grauen bic grage unb bas $ntereffe
boran befonberS in glufü bringen muftfe. 5Jamentlid} um 1700 läßt fidr
bas bemerfen. 3n bem großen enajflopäblfdien Sßerfe beS von ßoljberg:
„Georgica curiosa ober 2lbetigeS Sanbleben" ftnbct ftd) in ber 2luSgabe
von 1682 bie grage niä)t berührt, in ber Don 1701 ift bann ober ein
neue? ©apttel enthalten: „Ob einem SBeibSbtlb bas ©tubium roof)l anftelje?"
©ie meiften Tutoren nun nebmen in ber grage einen jiemlid) vet-
nünftigen ©tanbpunft ein, roenngletd) fie ben altgemeinen SWefpect oor ben
gelehrten grauen meiftenS t^eiten. ©in befonberer 33erel}rer berfetben
ift Sßauutni. ©r fagt »on ber oben ermähnten ©uripibesftelle: „@S ift ja
roobj eine Ddjfenftimme, wenn ©uriptbes alfo IjerauSptumpet." ©r fd)t(t, bafj
bie grauen felbft, b. I). bie 2)laffe berfetben, biefe geteerten 3ictben wenig
adjten, unb läßt eine alfo fpredjen: „%a fo gar finb mir jur Barbarei unb Un«
nriffenfyett üerbammt, baf3 nidjt allein bie -DtamtSperfonen, fonbern aud) bie
meiften »on unferem ©efd)ted)t [elfter, roeil fie in ber ©itetfelt unb Unroiffem
b>tt »ertoitbert finb, uns »eradjten unb »erladjen, roenn eine ober bie anbere
auf löbliche 2Biffenfd)aft fid) befteifet, unb nidjts auf gelebrte SBeibSperfonen
fcatten." ©in anberer roarmer SBert^eibiger ift ^auttinte greunb, £err
SiotjamteS ©auerbret, ber jroei Disputationen de feminarum eruditione tjtelt.
©in roenig anberS urteilt ber ermähnte $err von £obj6erg; er be=
rounbert „bie excellenten Ingenia" unter ben grauen, aber für allgemeine
gelehrte 33ilbung ift er nid)t. „SBann id) gerinnen," fagt er, „meine
ÜJtetmung unmaf?ge6lid) benfügen follte, geb idj jroar gerne ju, baf3 mel)r
©djab ats SRufeen barauS entfprütgen follte, roenn fid) bie SBeiber ins*
gemein auf 3 ©tubium begeben roolten; baS fann man aber bennod) nid)t
laugnen, bafj fie fo rool ©DtteS ©benbilb finb als bie 9Mnner, unb roo
ftd) extraordinarie Ijotje Ingenia, fdjarffimtige Judicia unb fürtrefflidje
©infäHe unter ib^nen befinben, unb fte fotd)e ju ©DtteS Sob unb SDienft
beS ÜJlädjften befd)eibentlid) anroenben, eS md)t allein untabelid}, fonbern
aud) löbltd) unb rulimlid) fen; rote id) bann »on bergtetd)en fürtrefflid)en
roeiffen grauenjimmer oiel ©rempel anjie^en fönnte u. f. ro. SBetl aber
biefeS abfonberlidbe unb b,eroifd)e ©rempel finb, roäre es »erroegen, mann
man i&nen inSgemetn nadjabmen follte, fonberlid), roann man babew bie
roeiblicbe $flid)t, ©ebül)r= unb 23eruffSs2lrbett begfetts fefcen, oerfaumen
unb »ernad)täfftgen roolte." Qn äbjtlid)er SBeife fprtdjt fid) ein etroaS
fpäter erfd)ienene3 2Berf : „JiufebareS, galantes unb curtöfeS grauenjimmer«
Serifon" au«. %n ber SBorrebe beSfelben roirb auf ben neuerbings {»eftig
entbrannten «Streit über bie gelehrten grauen (jingetoiefen : ber SBerfaffer
roill beSbalb „einige un»orgretff(id)e ©ebanfen: Db unb roie roeit ein grauen*
jimmer ftd) in bie gelehrte S55iffenfd)aften einjulaffeu Urfad)e b,abe", auS=
führen, ©r ift burd)auS für roiffenfd)aftlid)e SBilbung, aber in einem be5
fdjränften ©inn. „3Wit folgen SBeibeS=5ßerfoneit aber," fäbrt er fort, „bie
ftd) in ber Mathematic, Philosophia scientifica, ©taatö^Slunft, Critic,
52
(Beorg Steinhaufen in 3*"a-
Philologie, Poesie, ©prägen, ber J)öj)eren Theologie, Jurisprudenz imb
Medicin attju )t\)x »crtiefft Ijaben, wirb rool)l niemanben triet gebienet feijn.
ßommt ein bergleid)eu ©eroäd)fe in bcn geteerten ©efilben sunt SSorfdjetn,
fo muß man eS roie eine rare auSlänbifdje Sflan|e berounbetn,
feineSroegS aber jur 9Jad)ab,mung norjeigen."
®iefer ©tanbpunft roirb attmälitid) immer (läufiger vertreten. Steine
gelehrten SBunber, aber größere Silbung beS roeiblid)en ©efdjtedjte«.
$>etm tnan muß nid)t oergeffen, worauf id) fdjon ju Anfang biefer »Sfijje
bjngerotefen fjabe, baß, roenn auf ber einen (Seite ba« „geteerte §rauen=
jhnmer" nid)t feiten mar, auf ber anberen bod) ganj auffattenbe UnbUbung
unb Unwiffenb>it fierrfdjte. SDarauf weift j. 33. Seit Subnrig von «Seden*
borff in feinem „6h>iftens<Stat" feb> nad)brüctlid) bin. „3ft alfo," fagt
er, „eine groffe unb uuoerautroortltdie 9iad)läfftgfeit, baß fo wenig Sorge
für bie Unterweifung unb gute ©rjielntng beS weibltd)en @efd)led)ts getragen
wirb, ©in fet»r weniges gefdjteljet in ben 9Jlägblein=6d)ulen unb bleibet
gemeinigltd) unb bei bem atterunterften ©rab ber Catechisation." Un=
bebingt für „gelehrte SBeiber" ift er aud) nid)t, aber es ift „aud) eine
SJHttekStraße ju treffen". So bebauert er, baß aus bem Staue beS Äur=
fürften 3luguft uon <Sad)fen 1555, „bren fo genante 3ungfrau5©d)ulen,
iebe »or 40 Serfoneit, im Sanbe ju ftiften," 9itd)t8 geworben ift; „nrie
anberä ©uteS meljr, ift aud) biefeS o|ne effect geblieben, fo bod) ein jjerrlid)
(Srempel gegeben bätte, bem l)in unb mteber nachzufolgen gewefen märe".
9luf biefe widitige unb intereffante Bewegung jur Hebung beS weiblidjen
©efd)led)teS will id; b,ier nidjt näb,er eingeben: man weiß, rote namentlid) bie
moraltfd)en 9Bod)enfd)riften feb> barauf btnroirften. TaS „grauemSolf ' fottte,
roie e« in ben „©tScurfen ber 2JJal)ter" Reifet, „wifcig unb angenehm, aber nid)t
gelehrt unb pebantifd;" roerben. 3ln ©ellert ift ebenfalls ju erinnern: bie
Sremer Seiträge roanbten ftd) namentlid) an baS „gebttbete grauenjimmet".
Son biefer focialen Seroegung roerbe id) in größerem 3"1<""menb^ang über
furj ober lang ju b/mbeln »erfud)en.
feiet befd)ränfe id)micb barauf, bie gelehrte SpecieS weiter ju beobad)ten.
3n biefer Seäiebung ftoßen wir im 3tnfang beS 18. QabrhunbertS auf Se*
ftrebungen, bie trofc ber Angriffe auf bie „gelehrten SBeiber" unb trofc ber
oben angeführten SBarnungen oor Uebertreibungen ben grauen höhere ©e*
lebrfamtett nachbrüdlicber ju fidlem fud)en.
®er ©ebanfe einer äfabemie tritt auf unb wirb nielfad) erörtert.
Namentlid) in 3«tfd)riften. So roirb in ben „auSerlefenen Slnmerfungen
über aHerbanb roid)tige 9Jiaterten unb Sd)riften" 1707 eine „Jungfer«
Slfabemie" uorgefebtagen. $)er 9lutor roill aßerbingS roefentlid) „eine ©eletirts
r)eit in realibus", feine „geteerten £borheiten, roeldje man bisber eine
©rubition genennet", ©a nun bie Unioerfitäten „jur 3e^ m
©tanbe" roären, „baß man Jungfern unb SBeibern ratben bürfte, mit ben
Herren «Stubenten im Gollegio eine bunte Slettie 5U mad)en", fo muffe man
„Das gelehrte ^raueit3tmmer."
53
eben für fic „eigene Schulen unb Untperfitäten" aufrichten. (5r fdjlägt beim
eiue üoltftänbige Drganifation oor, roid j. 95. aud) Promotionen, alfo
meibtid)e ©octoren, unb »erfprid)t oon einer folgen SCnftatt bem Sanbe auch
materiellen 33ortr)ctt. „dergleichen SungfersSlfabemie mürbe über ben 9iufeen,
fo oon ber S83cibergeteb,rt|eit ber SRepublif jugetjt, auch ber ©tobt unb bem
Sanbe ein ©rofeeS eintragen". $5aS gleite Tfytma fptelt in ben moraltfchen
©od)enid)riften eine er£>ef»ttd»c SRottc. &in unb roieber mirb eS bort freilich
ctroaS fatirifd) behanbett. „®er Patriot", bie Hamburger SBodjenfchrift,
fommt fd^on im britten (StödE beS erften ^afireä barauf 5U fpredjen. „2Bir
meinen, bie SBtffenfchaften ftnb bem graunjtmmer Siic^tä nüfee; es werbe
berfetben nad) feiner natürlichen ©cbroaä)heit mif?braud)en, unb taffen beäroegeu
mit gletf} unfere £öd)ter in ber bideften Unmtffenheit aufmachten." „©tefeä
Setragen" mirb „unoerantroorttid)" gefunben, unb aud) Ijier eine 2lfabemie
»orgefd)lagen, bie aber roefentlich auch eine gebtlbete unb gute £nu§frau
ergehen folt. (Sie foU „in allen SBiffenfchaften afabemifche ghten«©tellen"
uertb,eilen fönnen, unb uornetmilich fott fie, mirb mobl etroaä fd)alff)aft
hinjugefügt, „in ber ^jauäljaltung&ftunft fie ju aJJagifterinnen, Sicentta*
tinnen unb ioctorinnen machen". £>ie Seipjiger äBochenfdjrift „©er
Siebermann" beljanbelt bie ©adjc aud) anfangs nid)t ernft, inbem e§ einen
täd)erlid;en 23orfä)lag, nämlich ba8 männliche ©efd)teä)t oom Äatbeber ab«
suroeifcn unb an beffen ©teile lauter galante« unb gelehrtes 3?rauen}immer
ate Sßrofefforinnen unb ©octorimien ber ftubtrenben 3(ugenb »orjufefcen",
erörtern unb abroeifen läfjt. £>ann aber mirb ein 35rief oeröffenttid)t, in
bem fotgenbe Steden oorfommen: ,,3d) jmeifte feineäroegS, bafj nid)t bie
in 33orfdjtag gebrachte grauenjimmer»2lfabemie in'3 SBerf ju richten,
möglich fein follte, unb jroar auf fotgenbe 9lrt: gänben bie 5Rütter bei)
ihren annod) jarten £öd)tern, bafe fie ©aben pm Stubiren bef äffen, fo
börfteu fte biefelben nur mit einem unb bem anberen ©etehrten ^rioatj
©tunben galten taffen, bis fie bie SBoHfommenljeit erreichet hätten, bafj fie
weiter feinen Unterricht brauchten. Söoju iljre Sietgung eine jebe triebe,
baju müfete man fie anführen taffen, fo bafs man unter tt)nen ©eiftlidje,
9lecht35®etehrte, 9trfeenet)s33erftänbige unb 2Bett=2Beife, \a überhaupt alle
3lrten ber (Mehrten anträfe, bergeftatt mürbe in roentg fahren fo oiet ge*
fd)icfte3 grauenjimmer als -JJJannSperfonen ju ftnben femt. Syrern SEBert^e
unb SBiffenfd)aft nad) müffte man eben aus ilmen ©octoreS unb ^rofejforeä
mad)en, bamit ihre Bemühungen gleichfalls einige Belohnung uon @hren«
Stellen ju gemartert Ratten". %m ©anjen roiH ber ©djreiber bemeifen,
„bafe bie jjraueniimmer=2tfabemien ber gelehrten SBett mehr 9tufcen als
Stäben ftiften mürben, itn galt fie foDten aufgerichtet roerben". Sie
mürben nid)t aufgerichtet, aud) ein ^tan im ^abre 1748, ben 50?olin in
.öamburg aufführen roollte, mürbe nid)t »ermirflidjt.
2tber bie Seflrebungen seigen bod), bafe baä „gelehrte grauenjimmer"
nod) immer fid) ernfthafte ©ettung »erfd)affte. 9Tm hmgebenbften mirb e3 in
(Beorg Steinhaufen in Jena.
ber crften Hälfte be« 18. Qa^unbertä in ber ffiod)enfd)rtft: „Sic oers
nünfttgen Sablertnnen" »ertljeibigt — leidjt erflärltd), benn e« ift ba«
Drgan ©ottfc^eb^. ©in Slrrtfel in berfetben »on „Gallifte", b. ij. von
©ottfd)eb felber, fommt barauf au«fül)rlid) ju fpred)en. „$d) tnufe mid)
oftmals nmnbern," beginnt er, „bafe ber -^jaf? gegen bie ©elefjrfamfeit
be« toetbltd^cn ©efd)led)t« Ben »ieten Seuten fo gat grojj ift. 2Ran fann
bei) ben meiften Seuten ein grauenjimmer ntd)t läd)ertid)er, itid^t abfd)eu*
tid)er abbilben, al« roenn man tfmi ben £itet eine« geleftrten grauenjimmer«
beileget." Stuf feine S3ertb,eibigung und id) fjier nid)t eingeben, ba« £l)ema
wirb in ber 3eitfd)rift nod) njicbcrtjolt bebanbelt. ©o wirb einmal in einem
©tütf mit bem HKotto „3ft irgenbroo ein 2Rann, ber einer ©djurmaitnin
fid) gleid) erroeifen fann?" (9tad)et) auSfübjlid) bie oben ermähnte <Sd)rift
ber @d)urmatm au«gejogen unb bamit bie 9totf)roenbigfeit be« grauem
ftubium« bargelegt, ©in anbere« ÜDtol toirb ba« Sob ber gelehrten grau
alfo gefungen: „3d) ergebe mid), fo oft id) baran gebenfe, nrie ber be-
rühmte ©acier mit feiner gelehrten grauen gelebet b>6en müffe. 3$
ftette mir jum ©rempel »or, wie becbe ©Ijegattinnen bepfammen fifeen, unb
bie weifen ©prüdje be« großen Äaifer« Slntomnu« au« bem @ried)ifd)en in'«
granäöfifd)e überfein. SBeld) ein angenehmer «Streit ift biefe«, ba ber
aWann e« ber grauen, bie grau aber bem SDiamte in ber ©elebrfamfeit
juüor tf)un Toiff ; enblid) aber fid) mit einanber oergleidjen unb julebt ein
33ud) unter benber ÜJlamen an'« Sidjt ftellen."
. Unroitifürlid) füljlt man fid) an ©ottfd)eb unb feine grau erinnert.
%n grau ©ottfdjeb, ber früheren „Jungfer ßulmu«", Iwben nur nod)
eine d)arafteriftifd)e aSertreterin ber gelehrten grauen cor un«. <Sie oerftanb
mehrere ©pradjen, aud) Sateinifd) unb ©rtednfd), unb ü)re Qntereffen maren
fef»r weite, greilid) fonnte fie gleichzeitig auf ben Slamen einer gebilbeten
grau Slnfprud) mad)en. £)aoon jeugen ibre 33riefe; in meiner „®efd)td)te
be« beutfcben 33riefe«" habe id) too^l mit Stecht auf fie befonber« bingeroiefen.
33or ben gebilbeten grauen mufften aber bann bie „gelehrten" weichen.
3n ber jroetten Hälfte be« ftahrbunbcrt« fterben fie au«, trofc SBor*
fämpferinnen, rote ber Dichterin ©ibonia &ebrolg 3äunemaitn> °ie &
bitter rügt, baf? ben grauen bie Sebrfäle »erfchloffen feien, unb bie 3Wänner«
roelt anflogt roegen ihrer Serhöbnung: „©in 2Mb, ba« bid)tet unb fd)reibt,
beifjt fie (bebeuft e« nur) ein fd)öne« Ungeheuer unb Slenbroerf ber Siatur."
Sie Säunciwun f»at aber bod) nid)t ganj 5Red)t. 2)ie geteb^e SBelt
liielt nod) in ber SWitte be« 3flf>^wwberts an mand)en Drten bie gelelirte
grau ^od) unb »erfd)lof? tfjr mitunter fogar nid)t bie ßeb^rfäle.
^afiir will id) nod) ein bisher roofjl unbefannte« Seifpiel am
fäb,ren, ein gelehrte« grauenjimmer au« Bommern, ba« un« jugleid) al«
le^te Sßertreterin be« au«fterbenben ^t»pu« bienen mag. ©8 ift
21mm Gbriftine ©^renfrieb oon SBaltbafar, ber SBSeltiüciSrjeit 33accalaurea in
©reif«roa[b. 9lm 14. Quli 1750 9Jad)mittag« ^ielt fie jur ©röffmmg ber
„Das gelehrte ^raueit3tmmer."
55
afabemifä)en 33ibttotr)ef eine 9tebe, bie nad)get)enb£ gebrueft ift : „ßrroete,
baf? SBibliot^efen bie ftefjerften SBofmftätten einer wahren unb ödsten greunb*
fd^aft finb." $er Anfang ift d)arafteriftifdj, unb id) tljeite ir)n ^ier mit:
„©ie ertaubten es mir, £o<ijgefd)äfete ©lieber ber Äöngl. Afabemte,
bet; ben erften get)erlid)feiten in bem neuen Tempel ber SDlufen bie ©efinttung
ber greube unb ber 2lnbad)t ju fdrilbern. ©ie erlaubten eS nid)t nur; ©ie
benriefen aud) auf eine, für mid) unb mein ©efd>led>t fo uorttjeilljafte Art,
nrie weit ifrr rübmlid)er Srteb für bie Ausbreitung ber SBiffenfdjaften gebiet
unb nrie bereitroillig ©ie finb, bie sJieigung ju benfelben aud) an betten
p lieben unb 5U belohnen, roelctjen bie &errfd)aft ber ©erootiufiett fonft
ben 3«tritt ju Sefyriälen unb Ratgebern betjnat)e »erfdjloffen tjatte."
3iod) intereffanter ift eine ©drrift, bie an fie, „bie ©reifSroalbtfdje
ÜJhtfe," gerietet ift unb jroar aus Königsberg: „An bie &ocr)rootjlgebor)rne
gräulein, gräulein Anna ßfrriftine ©tjrenfrteb oon 33altt)afar, ber 2MtrueiSr)eit
33accalaurea, ber ftöntgl. ©efettfdjaft ber frönen 2Btffenfd)aften ju ©reifs*
roalb unb ber ÄönigL beutfdfjen ©efettfetjaft &u Königsberg ©fjrettmitglieb,
ber) ber Afabemtfdjen ^ubelferjcr 51t ©reifSroalbe gerietet, £en 18. beS
SBeinmonatS 1756." 2)artn tjetfrt es unter Anberem:
„3efct erratt)en ©ie fci)on gnäbige gräulein, roarum uttfere ©efellfdjaft
biefe üölätter an ©ie gerietet tjat. ©ie finb bie 3terbe ber ©reifSroalbtfcfien
■äRufen. SHefe r)ot)e ©dfjule järjlt es unter bie gröffeften ©lücfSgüter
ber; ifirem ^ubelfeft, in it)ren dauern eine gelehrte &ame auf=
jeigen ju fönnen. 3fjre einfielt in baS 9teid) ber ©eletjrfamfeit, ber
fdjönen 2Biffenfd)aften ift ber gelehrten SBelt befannt. gftre @inrt>eir)ung3=
rebe beS ©reifStt>albifd)ett ÜJiufentempelS, bie ©ie in lateinifd)er ©pradje
gehalten, bie AntrittSrebe in bie Stöniglidje ©eutfdje ©efellfdjaft, unb bie
SRebe bei) ©röffnung ber afabemifd)en SKbliotcjcf finb eroige SDenfmäler icjrer
feinen unb nritiigen 33erebfamfeit, bie bie 9iad)ruelt als einen feltenen ©djafc
aufberrjar)ren wirb."
Unb weiter: „granfretd) mag fict) immerhin einer ©acier unb 6t)atelet
unb Italien einer 33afsi, Seipjig einer ©ottfdjebtn unb ©djroeben fefbft einer
gelehrten ©räfin »on ©deblab rürmten; nrir fjaben eine getetjrte, eine roißige
unb eine tugenbrjafte »on 33attr)afar aufzeigen unb fönnen mit Sftectjt auf
unfere 6r)re ftolj fein. %e feltener eS ift, ein grauenjimmer 001t ©tanbe
ju femt unb fid> jugleid) über baS ©enie biefeS $al)rf)unberts, nur betmt
5Wad)tifd) unb Somberfpiel jtt benfen unb in frauenjimmerlicben Äleinigfeiten
grof? ju werben, ju ergeben unb ben fd)önen ©eift ber öeler)rfamfeit p
roibmen; je met)r Adjtfamfeit unb SSerrounberung bejeugt bie oernünftige
SBett, roenn fie »on fct)önen Sippen bie Seljren ber 3BeiSr)eit ftiefeen t)öret.
2)ie ©ratien umfd)roärmen läd}etnb it)r ^aupt unb jebeS SBort ftöfjet ©nt*
üücfung in bie ©eele beS 3ur)örerS."
©tärferen 2tu3brucf fann ber EultttS ber gelehrten grau nidt)t gut ftnben.
üranfenpffege unö fpecififcfje (Efjerapfe.
Don
JJSartüi Änbelfofjn.
— Berlin. —
egenüber einer tiefgeljenben 2lnfd)auung ber Golfer, tueidjc äffen
Crtcn unb äffen getteu eigentljumticb, anjugefyören fdjeiut, f»at
bie tnebicinifc^e 2öiffenfd)aft, irjenigftenä roaä ibje Slmocnbung
im Seben unb if)re tf)atfäd)lid)en Seiftungen anbetrifft, if>re SBertfifdjäkung
mit 3)?üf)» aufredet ju ermatten unb su »ertljetbigcn: ber 2(n}d)auung gegen*
über, äffe tfranffyiten müßten geseilt werben fönnen, bie 9)?enfd)f>eit fjabe
gerabeju einen 9tnfprud) barauf, rjon ber 5DJebictn eine fotdje, nie »erfagenbe
ßeiftungefä^igfeit 51t »erlangen. Unb bodj ift fold) ein 9lnfprud) nidjfcS
SlnbereS, als rooffte man etwa 001t bem 2tftronomen »erlangen, er foHc nidjt
nur eine beftimmte ßonfteffotion bc$ 9)conbc$ jur Grbe »orauäfagen unb
beredjuen, fonbern audj eine fjierburd) »iefleidt cintntenbe Sturmflut!} »er*
l)inbern unb abrcenben. Tcnn ben gleiten, ewigen, cremen, großen ©efefcen,
wie bie Äörper be$ SBeltatl^ in ifjrcn gewaltigen ^Bewegungen, gefyordjen and)
mir, aud) nad) ifmen muffen mir unfereä £afein3 Äreife »offenben, unb
ba$, was mir Slranffjeit 51t nennen gewöhnt finb, ift nid)t$ 3(nbereS, aU
ber SBiberljaff ber gefammten (Sinffüffc unb ©inwirfungen ber un§ um*
gebenben 9iatur auf ben jeber S3cciufluffung jugänglid^en menfcfilidwn
Crgaui*mu$, ber 2Biberl)aff »01t (Sinwirfungen, bie mir nie unb nimmer
aus ber 2Mt 31t fdjaffen »ermögen, benn fie umfaffen eben bie gefammte
Üliatur; unb wie unfer ganje3 Seben nidt* anbere« ift, alä ein „Sidjab*
finben" unfere« 3d>S mit feiner Umgebung, fo finb bie Gpodjcn ber Äranfljeit
nur jene ^erioben im Sieben, wo bie« beut CrganiSmuS nur fdjwer unb
Kranfenpflege itu& fpectfifdje (Eljerapie. 57
nur mit 9)iüljc gelingt. Unb borum ift eS eine ttatoe unb hinter bet heutigen
2Beltanfd)auung weit jurürffeteibettbc Stuffaffung beS SegriffeS ber Sranfljeit,
roenn man fidj oorftettt, baß in ber 9iatur, roie für iebeS ©ift ein ©egen*
gift, roiber jebc "Rranfljeit ein Äraut gerotteten fei, bat? eS gegen jebe
„ftranffiett" ein „Littel" geben müffe. 9?ur ber SBunfd) roar hier ber
Sater beS ©ebanfenS; unb ber SBunfd) nad) fo hohem, fo unerreichbarem
3iet f»at bie beften ©eifter, roeterje bie mebicinifd)e SBiffenfdjaft aufjuroeifen
b^at, immer roieber oerfudjt, nad) Mitteln gegen bie Äranffjeiten ju forfdben,
fpecififd)en Mitteln, roetdje bie Jlranfheiten t)ernid)teten. 916er niemals ift
©ncr mit biefem heißen SBemütm weiter von roafjrer £eitfunft entfernt,
als roenn er fo mit gier'ger .$anb nad) Sdwfeen gräbt unb frof( ift, roenn
er SMcgenroürmer finbet.
Um GtroaS befämpfen unb befiegen ju fönnen, muß es ein ©reifbares,
ein Jtörperlid)eS fein, ein reales SHng, gegen baS man fid) roenben fann.
Unb fo hat bie 2tnfd)auung einer birecten Sefämpfung einer Äranftyeit burd»
ein fpecififdjeS 5D?ittel eine gar bebenflid)e Hinneigung ju jener mnftifdjen,
einer oergangenen $eit angehörenben 2luffaffung »on ben ftranfheiten als
förpcrtid)er SBefen, bie ben 3Renfdjen befallen, als ftrafenber 2lbgefancter
ber ©ötter, bie man burd) Opfer unb ©ebet nerföfmen fann. ®enn nur
ber ^n^att beS förpertid)en, roefenhaften ÄranfheitSbegriffeS roürbe fid) bann
im Saufe ber Qahrbunberte geänbert haben ; ber begriff ber Äranffjcit fclber
roäre nad) roie wr ein greifbares, materielles GtroaS, baS außerhalb beS
menfdjlidtcn Organismus ftänbe, ob eS nun ein 3lbgefanbter einer höheren
9J?ad)t ober eine in ber Suft umher fliegenbe 23acterie ift, bie fid) Stöbe
bann ganj nad) ihrem belieben im menfd)lid)en Organismus niebertaffen
unb narürlid) aud) burd) entfpred)enbe 3Jiittet barauS roieber nertrieben
werben fönnten. Slber fetbft bei ben ^nfectionsfranfheiten, bereu 9?amen
fd)on auf fold) ein (Einbringen einer fremben Sd)äbltd)feit funroeift, ift biefe
bod) nur ein einjigeS ©lieb in einer großen Äette oon ÜHeijen unb dieac-
tionen, bie an einem beftimmten 3lnbimbuum sufammenroirfen müffen, um
$u einer Stranfhett ju roerben, unb 3ftd)tS roäre unroiffenfehaftticher, als
oon biefem äußeren 9lgenS allein ben ganjen Äranfb>itSbegriff ableiten ju
motten unb etroa mit einem bequemen Schema ju fagen: ubi Bacillus
ibi Cholera.
Äranfheiteu an fid) giebt es überhaupt nidjt, es giebt nur fraufe
■äKenfd^en; unb aud) fyex ift ber Segriff $ranfb>it etroaS burdjauS 9MartoeS,
baS allein nad) ber ^nbioibualität ber einjelnen ^ßerfon ju beurtheiten
ift. 3Bie es feine abfolute ©efunbf)eit giebt, fo giebt eS aud) feine abfolute
Ämnffieit. ®er lebenbe unb hanbelnbe Organismus beS ÜWenfdjen ift in
eine SBelt oon Sdjäblidifciten hincingefe&r, burd) bie er hinburdh muß unb
mit benen er fid) abjufinben hat; 3ltteS, aber aud) 9WeS, bie Suft, bie er
athmet, ber £runf, ben er genießt, baS 3Kaß ber Bewegung, bie er vott--
führt, unb bie 9htb>, bte ihm roirb, 9ltteS, 9ltteS roirft auf baS feinftorganifirte
58 Martin OTenbelfoltn in Berlin.
unb complirirtefte öebitbc ber 9Zatur bauemb unb bodf) in ewigem Sßechfel
ein, 2llleS hinterläßt an if»m feinen Ginbrucf, SllleS beeinftufit ben 2lblauf
feines SebenSproceffeS: auf SllleS reagirt er. 2Bir haben uns gewöhnt, ben
$uftanb, in welchem biefer ßebenSproceß fich leiblich abfpielt, in bem bie
Organe orbentliä) funetioniren, wo mir uns fo eben behaglich fühlen unb
unfere Seiftungsfähigfeit ben Umfang fwt, welchen wir nun einmal ber
einzelnen ^erfönlidjfeit je nach ihrer .gnbioibualität als ben normalen 311;
rechnen, als ©efunbf»eit ju bejeidmen; aber an feinem £age erreichen biefe
Functionen ben gleichen ®rab wie an einem anbern, unb bie »erwirrenöe
Vielheit ber äußeren Ginftüffe läfjt auch bie Seiftungen, bie Xhätigfeit, baS
funetioniren beS menfchlichen Organismus täglid) anberS fid) geftalten. ©0
unfägtich fein ift bie ©inwirfung biefer äußeren Ginftüffe, baß fie nicht
einmal materieller SNatur ju fein brauchen, um beutliche golgeroirfungen
auSjulöfen, bafj ©cmütf)Sbewegungen, Stimmungen, pfpchtfdje Ginbrüde nicht
nur eine Grl)öhung ober &crabtmnberung ber SeiftungSfähigteit, fonbern
auch birecte förperliche 25eränberungen unb felbft ÄranffjevtSjuftänbe im
(befolge haben fönnen. $n biefem ewigen Spiel unb ©egenfpiel ber Gräfte,
welche auf ben üDlcnfcfjen in ber 9iatur einwirfen, unb auf bie er wieberum
reagirt, läßt fich oon einer abfoluten ©efunbheit nicht fprechen; wir finb
ficherlich 3eten übergefunb, fühlen uns wohter, finb leiftungSfähiger als
bem uns jufommenben burchfdjnittlichen SDttttel entfpricht, unb ebenfo finft
ber Slblauf unferer Functionen oft auch unter biefeS Nüttel, ohne gleich
eine tieffte Stelle ju erreichen, wo wir bann uns als „unwohl" erachten,
nicht jeboä) oon einer £ranff)eit befallen glauben. 2>ie Guroe unfereS
JßebenS, beren höchfte Spifce bie ooflftc ©efunbheit, beren tiefftcr gall bie
fchwere $ranff)eit ift, fchwanft eben in ftetem äöccfjfel auf unb nieber.
9lun bringen eS bie ®tnge ber SBelt mit fich, bafj man folche
minberen Störungen geringachtet'; nur bie gan& ferneren SBeeinträdjtigungen
in ber normalen Arbeitsteilung beS Organismus finb ju „Sranfheiten"
geworben. Gine 2lnjat)l oon Grfcheinungen, welche gleichartig an r>er=
fehiebenen Qnbioibuen bei erheblicheren Störungen in ben SSorbergrunb ber
3tufmerffamfett traten, finb $u biefem Siehufe ju EranfheitSlulbern ju=
fammengefaßt worben, ein Swftematifiren unb Gtnorbnen, welches für eine
fpätere Grtenntntß jmeifeUoS ber erfte Schritt fein muß. 3lbcr man barf
babei niemals oergeffen, baß in biefen ÄranfhJttSbilbern, oon benen jebeS
eine beftimmte Summe flinifcher Smnptome enthält, ein 3ufa'nnienfaffen
von Grfdjeinungen »orgenommen worben ift, welche uns jmar auffällig unb
außergewöhnlich genug erfdjeinen, um regiftrirt ju werben, bie jebod) babura),
bafj fie in bem Äranfheitsbilbe gerabe für unfere Sinne befonbers b>n>or-
treten, noch burchauS nicht eben baS SBefentliche in bem außergewöhnlichen
Vorgang, welcher fich ba abfpielt, 511 fein brauchen. ®enn bie Eranfheit
ift nichts 3lnbercS als ber 3lnpaffungSoorgang beS iDienfchengefchlechtS an
bie Scfjäblicbfeiten ber Umgebung im Kampfe um'S Safein, unb gerabe in
Kranfenpf lege unb fpecififdje (Therapie. 59
if»r tritt baS große ©efc^ SarroinS an bem f)ö<$ftorgamfirten lebenben
2Befen am greifbarsten in bic @rfd)einung. SBaS für einjelne, unfcrcn
9Citgcn beutlidj oerfolgbare 33erhältntffe ber Vorgang bcr 3lcclimatifation
ift, baS ift für baS ganje 3)Jenfd)engefd)techt bic ©efammtheit ber Äranf«
Reiten, in melden bie etnjelnen Snbitn'buen entroeber ben Sdjäbtidjfeiten,
roeld)e fie umgeben, fid) anpaffen ober in bem ohnmächtigen 93erfu<Jje b^ierju
erliegen. Unb biefer 2lnpaffungSoorgang geht mit einem fo erbeten
unb fo angefpannten <yunctioniren beftimmter ©nippen unb Snftcme beS
menfd)ltd)en Organismus einher, bafj bie augenfälligen, bie unferen ©innen
wahrnehmbaren unter biefen ©rfdjetnungen uns als bie Swmptome ber
5?ranff)eiten imponiren unb jum eigentlichen ßranfheitSbtlbe werben. 2lbcr
ebenforoenig, roie biefe gerabe ju Jage tretenben (Srfdjeinungen nun aud)
bie gefammten, b,ier überhaupt fid) abfpiclenben 2lbroeidmngen »on bem
normalen Saufe ber Singe finb, ebenforoenig bürfen fie gerabe als bie
eigentlichen franffiaften Spmptome angefehen roerben, mit beren 23cfeitigung
etroa aud) eine 23efeitigung ber Störung erjtelt roürbe. SllleS baS, roaS
als Smnptom in bem ÄranfheitSbilbe in ben Storbergrunb tritt, ift nur ein
£f)eit, nur bcr unferen Sinnen erfennbare üb, eil bcr »eränberten 2lrbeitS=
leiftung beS Organismus, nur eine Steigerung ober eine £erabfefeung feine«
natürlichen gunctionirenS in bem 33eftreben, fid) ber Sd)äblid)fett anjupaffen ;
unb fo ift ber Segriff ber Äranffjeit burdjauS ein rein functioneller, nicht
nur ber eines Sebent unter neränberten 23ebingungen, fonbern bcr eines
23eftrebenS, fid) ben oeränberten 53ebingungen anjupaffen. 9tie unb nimmer
fann allein bie eine ober bie anberc äußere Sd)äblid)feit ben 93cgriff ber
Äranfheit ganj für fid) ausmachen, unb ebenforoenig finb eS etroa bie
anatomischen 23eränberungen, roetdjc hinterher als S'Jefibuen beS ,Qranff)eitS=
proceffeS auf bem Seidjentifd» gefunben roerben, aus benen fid) baS SBcfen
ber Äranftieit allein sufammenfefct. Sie $ranff)eit ift trielmehr in febem
einjelnen $alle baS erhöhte, oeränberte, abgetenfte gunetioniren beS OrgamS*
muS in feinem 23eftreben einer 3lnpaffung an bie äußeren 5Retse, gleid)*
gütig, ob merfbare anatomifd)e SBeränberungen nebenhergehen ober nid)t,
fie hängt ihrem üBefen unb ihrer Sd)roere nach immer nur »on ber 3ln=
paffungSfähigfeit beS einselnen Organismus ab, non bem Umfange, in
welchem biefer feine SebenSoorgänge ber Sd)äblid)fett entfprcd)cnb ju
regultren üermag, mit Ginem 9Borte lebiglid) oon ßigenfd)aften, welche in
bem erfranften Organismus fclbcr liegen, rocld)e ihm eigentümlich, non
ihm unjertrennlidj finb.
Unb in biefes »erroidette Spiel ber Äräfte roirffam unb nach ihrem
SSillen eingreifen ju fönnen, nerfpridjt fich jene fpeeipfche Therapie, bie alle
bie melfadien (Sinffüffe unb 9Jeije, bie bem Traufen aus feinem SUitteu er=
roadjfen, alle bie wrfchiebenartigen 9teactionS= unb 9lnpaffungSmöglid)fetten,
bie ein jebeS 3nbimbuum in anberem 9J?afje befifct, geringachten unb »er*
nachläffigen ju fönnen glaubt unb nur gegen einen, allerbings ben legten
60
DTattin OTenbetfotitt in Berlin.
unb augenfätligften ber einroirfenbcn ©inflüffe meint anfämpfen ju muffen.
Contra vim mortis non medicamen in hortis; ein beftimmte* „bittet"
gegen eine beftimmte „Äranfljeit" giebt e* ntdjt unb fann es nidjt geben.
3Bo eine Xtyerapie nidjt an ben natürlidjen Gräften be* Drgani*mu* anfefct,
roo fie nid)t ftet* oor 2lugen b>t, bajj ba*, n>a* mir al* Stranfiieit »or un*
fetjen, nidjt in erfter Sinie von ber Störte ber einbringenben Sdjäbltdbfett,
fonbern oon ber Sdmracbe be* Überfallenen Körpers abfängt, ba mufj
fte mit unabänberttdjer 9totfm>enbigfeit Sdjiffbrud) leiben. £>enn ber ©rab
ber ©rfranfung t)ängt oon bem ©rabe ber in jebem %ak norljanbenen
©<$nHtdjung ber natürlidjen Sdjufefräfte be* ftörper* ab; unb e* ift
ber gleidje Vorgang, ob eine töbttidbe ®ofi* 3lrfeitiC, ba« eine 9)iat an
einem geroofynljeitsmäjitgcn 2lrfenifeffer, beffen Drgani*mu* ber Scfiäblidbfeit
bereit* gans angepajjt ift, oöllig fmnptomlo* abprallt, ba* anbere 2M eine
fßerfon fofort jum £obe bringt, ober ob bei bem eptbemifdjen Auftreten
einer Seuche, voo alle SWenfdjen ben ©iftfetm gleid)jeitig in ftd» aufnehmen,
bie einen, weil fie eben gerabe über bie entfpredjenben Sdmfcfräfte »er*
fügen, ttjn ofine Söeitere* elimtniren, bie anberen bie* nur unter ber (»ödjften
2lrbeit*leiftung berjenigen Functionen tb^un fönnen, roeldje im gegebenen
galle einen 9lu*gleidj l»erbei5ufüf)ren »ermögen, eine Steigerung ber %ant--
tionen, bie eben alä ©rfranfung fid) un* bartfjut, unb bie Dritten, nid)t
p einer genügenben unb auereidjenben ÜKeaction fähigen, ber Sdjäblidjfeit
erliegen, ^rnrner ift ber lefcte unb anfd)einenb etnjige 9ieij nur ba*jenige
SJioment, n>etd)e* ben &ranff)eitsoorgang au*löft, ba* bie Gräfte be* Drga=
ni*mu* anftöjjt, ba« Spiel ber 9lbroel)r unb ber Slnpaffung in bem 3Waf3c
unb bem Umfang ju beginnen, beffen fie iljrer inbimbuellen 9iatur nad)
fälug finb; unb biefe* 9J?af? l)ängt, ba mir 2llle ba* drohtet au* unferem
übertommenen (Srbtfyeil unb ben fämmtlicben un* treffenben (Sinflüffen
unferer Umgebung finb, »on biefen gefammten ©nftüffen, nid)t nur »on
bem legten, ben Vorgang unmittelbar auölöfenben ab. SMefe SBerfyiltniffe
laffen fid; »telleidtf jttjecfmäjtfg mit benjenigen »ergtetdjen, roeldie bei bem
allgemein gefannten Vorgänge be* 2Bad)*tl)um* in Stetradjt tommen: in
jebem tf)terifd)en Drgani*mu*, ber nod) in ber Gntroidelung begriffen ift,
beftfcen bie einjelnen Seftnnbtfjeile, au* benen er fid) jufammenfefet, bie
$äl)igfctt, au* ber eingeführten 3iät)rfubftanj Stoffe feftjub,alten unb p
u)rem 3lufbau ju »erroenben, unb jroar befi|en fie bie ftälngfeit in fel»r
»erfd>iebenem, aber beftimmtem 2)Jaf?e, oerfd;ieben uid)t nur bei ©attung
unb 3trt, bei beginn unb 2lbfd)luf3 ber Gntroicfelung, fonbern aud) ganj
inbtoibucU, je nadjbem @rbtf)eil ober ungünftige äujjere Ginnrirfungen biefe
3töf)igfeit ber 2Badj*tf)um*aufnaf)me mein- ober weniger geftört b,abcn.
SBoUte man tjier bei einem SBerfudje ju einer günftigeren SSenbung nur
ba* eine -Moment, meldte* bei bem Vorgang ba* äufjertidje ift: bie ein=
geführte 'JJaljrung, im 3luge behalten, fo mürbe eine günftigere Oeftaltnng
biefe*, alfo oielleidjt eine rcidjlidjere ober geeignetere 9Jalirung, nur ju einem
Kraitfenpflege unb f pecif if <^e (Etjetapie.
6\
ganj geringen Steile eine 33efferung herbeiführen; benn nidjt barouf fotnntt e*
Sunöd»ft an, bafi bas SiabrungSmateriat in überreidrfidier SDfenge »orfianben
ift, fonbem bafj bie ntd>t »ölßg leiftungsfäljige >$k geneigt unb befähigt
wirb, e§ ju affimitiren. Unb ebenfo fomtnt es, unb jroar in geroiffem
©imte geraie umgefefirt, bei bem Vorgang ber Äranffyeit nid)t fotoo^t barauf
an, bas eine äuftertidje Slgens labm ju legen, als" »ielmebr ben Organismus
$u befähigen, ber ©djäblidtfeit, bie ifim bie eigentlidjen Sebensbebingungen
ftreitig mad)t, föerr ju werben, 6me fpectfifdfie STierapie, bie in bem
galle ber SßadjStljumSftörung nid>ts weiter fönnte, als meljr unb beffer ju
effen geben, mürbe aud) im günftigften %a\k nidjt mef)r leiften, als ben
einen fdjäbttcfien Stets ju »ernidjten, ofjne jebodj bamit biejenigen Vorgänge
»erimberten gunctionirenS im Organismus in'S ©teidjc bringen ju fönnen,
ju beren SluSlöfung unb Slbroidelung biefer ben 2lnfto& gegeben b,at.
9hm unterliegt es feinem Sroeif^/ ^aÖ bort, roo ein fotetjer 9?eij fort*
bauemb unb immer roieber »on Beuern roirffam ift, bei ben QttfectionS*
franftjeiten alfo, roo er »on belebten unb fdmell ftdj oermetjrenben DrganiS«
tnen auSjugeften fdjetnt, feine 33efeitigung immerbin fetyr »iel roertf) fein
nwfj. 2lber roenn aud) eine« £ageS einer »on ben ganj ©roj?en fäme, bie
auf bem 28ege nadj Qnbien 2tmerifa finben, unb uns äUittet an bie &anb
gäbe, roeldje aud) innerhalb beS menfd)ltdjen ÄörperS organifirte Äranft)eitS=
feime $u »ernidjten im ©tanbe finb, bamit allein roürbe bie 9Kebicin
niemals über eine auSreidjenbe £f)erapte in jebem Äranftyeitsfalle »erfügen.
Unb roie geringe finb bie 2tu3fid)ten foteber inneren 9lntifepfiS überhaupt!
<Die menfdrfidte ©eroebSjelle ift im 33erl)äItniB ju ber primiti»en 3eUe ber
Sacterie ein fo fein organtfirteS unb fubtileS ©ebitoe, bafj a priori ein
jebeS 2lgenS, roeldjeS auf biefe fdjäbigenb einroirft, in nodj »iet Oberem
2Jtaj3c unb erfycblid) früher fie fel&er »ernteten mujj, aud; wenn es ein=
mal gelingen follte, bie Sdjroierigfeiten ber gro&en SSerbünnung in ber
reidtftdten glüfftgfeitSmaffe beS SlörperS, ber fdmellen Elimination ber ein«
geführten Subftans, ber fdjroeren 3ugängtid)feit ber ftnfectionSfetme ju
umgeben.
SWein, roo es hunbertfadje äöegc giebt, bie ©efunbljeit ju »ertieren,
mup aud; tnef)r als einer befdjritten roerben fönnen, fie roieber ju erlangen.
2Bie bie ©rfranfung ein 3lnfämpfen be« menfdjltdjen Organismus ift gegen
bie auf tlm einftürmenben @d)äblidjfeiten, fo muffen roir, roo fid) biefe
©egner nun einmal ntdjt aus ber 2Belt fdjaffen laffen, roo bie Slbroeljr ber
f)unbertfältigen äufeern 3ictge nid)t in unferer 4?anb liegt, ben menfd)tid)en
Organismus in biefem Kampfe fo unterftü^en, bafi er in bie beften SBc-
bingungen gebraut roirb, ib,n aufsunehmen unb felber burtbjuführen, bafe
mir fein Seftreben einer 3lnpaffung an bie @d)äblid)feiten in möglid}ft
roeitem SWaße erteidjtern unb förbern. groar bie größten, bie geroid)tigften
unter biefen (Sinflüffen: ben SD?angel unb ben junger, bie Ueberarbeitung
unb bie leidrte 5Wögfid)feit, 51t »erungfücfen, ift unfere in ber baS tägliche
62
tnartin Illenbelfoljn in Berlin.
@ebet ber 2lrmen nun tautet: „unfcr sürob für morgen gieb unS Ijeute",
mef)r unb mefir ju »erfiüten unb ju befeitigen beftrebt. 2lber all bie Reinen
9tabelftid)e beä Sebent unb feine SDJifören, benen deiner entgeht, bie ©orge
unb ber Kummer, bie aufreibenbe Arbeit, bie 2fosfd)roeifung unb bie <$x-
fd)öpfung, bie Erregungen be$ GtjrgeijeS unb ber Siebe, ber 3trbett unb be3
Softer^, bie <£ntbcl)rungeu unb alle, all bie rieten dornen unb SDifteln,
bie ba£ !IDJenfcb^ngefd)ted)t auf bem Uebergange jur ßroigfeit auf feinem
SBege fänbet, rco t)art im 3?aumc ftofjen fid) bie Saasen, fic alle hinter;
faffen itjre ©inbrüefe an jeber ^erfönlidjfeit, fie alle beftimmen feine 2Biber=
ftanbäfäfjigfeit — feine 3MSpofttion, rote mir jetrt fagen — ben Slblauf
feiner Functionen unb feine änpaffungSfäWgfeit an bie ocbäblidjfeiten, unb
fie alle fiub in tfiren gotgemirfungen auf ben Organismus ba unb fpredjen
mit, roenn biefer einmal »on einer befonberen, testen, augenfälligen Sdjäblicfjj
feit fo arg aus" bem ©leid)geroid)t gebraut wirb, bafj mir bas" Äranfljeit
nennen. Unb alle biefe ©d)äblid)feiten roerben fein, fo lange bas aflenfdfjem
gefd)led)t fein roirb unb fo lange ein Äranfer oon ber 9Webicin £ttfe fieifdrt.
(Segen bie Äranftjeit itjm ein SJHttet ju geben, oermag ftentd)t; aber einem
einjetnen Äranfen bie 2lnpaffung an feine oeränberten Sebenöbebingungen
$u erteiltem unb ju ermöglichen, baä fann fie root)t. Unb roemi Semanb
einen ^erjfeb^ter b,at ober eine d)ronifd)e 9iterenentjünbung, fo fommt e£
nic^t forootjl barauf an, bie ."oerjflappen roieber ganj ju madjen, ober bie 33er«
änberungen im ;Jiierengeroebe su befeitigen, fonbern barauf, ben gefammten
Organismus" beä $ranfen fo ju beeinfluffen, bafj trofe feiner nid)t intacten
Etappen unb trofc feiner 9Jierenläfion bie Functionen in itmt fid) in ber
größtmöglichen 2lnnäf)erung an bie 9Jorm abfpieten. ^>ai fd)öne unb oor
3tHem ba3 einer jeben Stnforberung an bie mebtrinifdje 2Bijfenfd)aft burd)=
aus ©enüge teiftenbe Siefuttat fötalen 2?eftrebenS roirb bann fein, baft ber
ftranfe ben gtetdjen Sebenägenufs unb bie gtetd)e Sebensfäliigfeit, menn
mögtid) bi§ jutn natürlichen 9lbfd)tuf$ beS 3>afeins beibehält, mie menn
feine Organe normal funetionirten. (£3 märe ja aud) gerabeju abfurb, oon
einer fpeciftfd)en Leitung ber &eräftappenfef)ter ober ber 9itercncntjünbungen
ju fpredjen; unb bie ^nM^n bitben bod) nur einen Keinen Xfjeil aller
Äranfljeiten.
§ter ern)äd)ft ber 9)Jebicin bie große unb umfaffenbe Stufgabe ber
Äranfenpflege. Unb roeit fie eben feine Äranffieiten fennt, fonbem nur
Äranfe, t)<»t fie, in jebem gälte immer mieber auf's 3leue unb immer mieber
als ein neues Problem, junäd)ft bie SlrbeitSteiftung unb bie Functi°tt,!s
fäfögfeit beS betreffenben Organismus unb feiner einjelnen Steile feftju*
ftellen unb fennen ju lernen, um einen ftaren ßinblicf gerabe in bie ab;
roetdjenben Seiftungen unb bie aufjergeroöfmtidje Sljätigfett biefe« franfen
Körper« ju geroinnen, ^enn jeber ÜDfenfd), mag er gefunb fein ober franf,
ift ja in feinen Functionen nur bas Sßrobuct ber fämmtlid)en auf itm ein«
roirfenben (Sinftüffe feiner Umgebung, unb franf ift er eben nur baim,
Kranf enpflege nni fpecififdje Cfyerapie. 63
wenn bie ungünftigen ßtnflüffe in if>m präponberiren. 3>er Äranfenpflege
crroäd»ft ba^er als nädjfte Aufgabe bie 5pflid)t, ben Äranfen auä feinem
bisherigen 9Jitlieu fierauSjunebmen, beffen einsehe, etnfeittge Factoren fie
tiid)t fennt, unb ibn bafttr unter SBebingungen ju bringen, roeld)e big in
bie fleinjten 2>etail3 ber gefammten SebenSroeife befannt unb in ibrer ©in«
nurfung auf ib> oerfotgbar finb. Dann labt fid) ein ftarer Gtnbttcf ge=
roinnen, roeldje Functionen in p angeftrengtem, roeldje in ju täffigem
SBlafje arbeiten, unb bie Äranfenpflege f)at bie -ffiöglicbfeit, fuer einjufefcen,
bie aHäugroße ^nanfprudjnaljme ju tnilbern, bie fjerabgefetrten Seiftungen
wteber anjuregen; unb ju biefem 3w>ccEc ift ein jebeS SJHttel redjt, roetdjeS
überhaupt eine ©nroirfimg auf ben menfdjlidjen Organismus ausüben
wnnag. Sßetm irgenb roer, fo fann bie Äranfenpflege fagen ,je prends
mon bien oü je le trouve". 3We 3Jiomente ber Regelung t)on $örper=
beroegung unb 3tub>, oon ©ffen unb Printen, oon ©djlafen unb 3ßad)en,
oon pfodjifdjer ©rregung unb gernb^atten geiftiger Sfaftrengung, alle bie
unseligen birecten ©nroirfungen auf ben Organismus unb feine einseinen
£fjeite, wie fie als ÜRaffage unb ©teftrotfjerapte befannt finb, wie fie auf
bem SBedjfel beS SUimaS unb bem ©ebraudj oon SBäbern berufen, alle bie
ntetliobifdjen Uebungen beS ÄörperS unb feiner Organe, bie quantitatioen
unb qualitatioen 2lenberungen ber Grnäfjrung, alle bie unjäfiligen #anb*
b>ben, bie SRatur unb SBelt unb SBiffenfdjaft unb Äunft uns barbieten, fte
alle finb in jebem galle fo nad) bem einen, einigen QitU bin anjurcenben,
bajj bie in ifirem ®teid)gen)id)t geftörten Functionen beS Äranfen lieber
in Harmonie s" einanber fommen, roieber bie gröfjtmögltdjc Slnpaffung an
bie ©djäbigung erlangen. ®aS nennt man ^nbtoibuattfiren, unb es ift
etroaS gar fo 9ieueS nid)t; unb nur bie unfelige <Sud)t, -Wittel ju finben
gegen bie Äranffjeiten, f)at es roieber meb^r in ben föintergrunb treten
laffen. ®ie inbiotbualiftrenbe Äranfenpflege ift eS, auf ber baS £eil ber
Äranfen beruht, bie ©rfemttnifi, bafj nid)t eine »ereinjelte ÜDfafmalnne,
ein 2Jiebicament, ein Stecept einen Äranfen roieber b>rjufiellen oermag,
fonbern nur bie forgfälttge, anbauernb burd)gefüb>te Regelung aller feiner
einjelnen Functionen. @S giebt eben feine SBunber, roenigftenS in ber
aWebicin nid)t; b>r ift 2llle3 lange, mübfame, gebutbige, fünftlerifdje 3lrbeit.
•gier ift 9UleS nur FunctionSftörung unb Siegelung biefer FunctionSftörung,
unb an jebem Äranfen, an jeber ^crfönlitfjfeit ift biefe eine anbere. Unb
barum ift f)ier Sftdits fo fdjäbfid) unb fo rotrfungSloS roie ein <Sd)ema,
ein oon oornf»erem feftjteb/nber Zeitplan, roie er in ben fogenannten (Suren
feinen 2luSbru<J finbet, bie aud) nur roieber gegen bie Äranfb>tt fid) rid)ten,
gegen biejenigen auffälligen (Srfdjeinungen, roeldje einer ganjen ©ruppe oon
Äranfen baS ©emeinfame, aber ntd;t bag SBefentlidje finb.
9ion fold) fnmptomatifd)er 23ef>anblung ift bie roiffenfd)afttid)e Äranfen=
pflege fern; bie ©mnptome finb ja gamid)t bie Äranfb^eit. 9Sob,t aber ftrebt
fie eine ®rteid)terung unb 33efeitigung ber mit ein^ergebenben quälenben &-
Slot» unb 6iib. LXXV. 223. 5
6^ OTartin ITteiibelfoljn in Berlin.
fdbeimmgen an, unb batnit erfüllt fic ntd)t nur eine humanitäre 23er*
pftid)iungi fonbem Tie trägt aud) baburd) roteberum jum 3(uSgleid) beS
franfhaften ,3uftanbeS ©erabe weil ber überaus fein organifirte
menfd)lid)e Organismus auf einen jeben SWeij, ber Um trifft, in feiner SBeife
reagirt, roirb jeber quätenbe ©inbrud am Körper roieberum ju einem neuen
3teije unb jur Quelle neuer gunctlonSänberungen. „Saluti et solatio
aegrotorum" lautet bie Qlnfc^rift am SBiener Allgemeinen ÄranJenfiaufe;
ni(f»t nur jum feilen ber Äranfen, aud) ju ihrer ©rletd)terung ift bie
SWebicin ba, unb gerabe ba& fie ben Äranfen ein gröjjtmöglid)es 9fla& von
Sßoljlbefutben, »on ©omfort ju fd)affen »ermag, ift eine ber fdjönften 9tufc
gaben ber Rranfenpflege.
9tuS ber gewaltigen Sßielfättigfeit ihrer 3fele «nb bem enormen Um«
fange ihrer SKtttel ergiebt fid) bie ©röf,e beS wiffenfd)aftlid)en ftunbas
ments, auf bem fid) bie Äranfenpflege aufbaut, &emt ber naturmiffen*
fd)afttid) benfenbe 3lrjt barf für fein £anbeln bie naturwiffenfd)aftltd)e
33egrünbung md)t nermiffen. ©erabe weil fie mit allen jactoren beS
SebenS einjumirfen »ermag unb einjuwitfen fud)en foll, mufj bie Äranfen=
pflege bie 2BirIung eine* jeben einjelnen biefer gactoren auf ben menfdb>
tidjen Organismus auf baS ©enauefte ju fennen beftrebt fein. ©aS ift
in eracter, wijfenfd)aftttd)er SBeife bistier allerbingS nur für ben fteinften
XtyU ber fiati. 216er barum ift baS feurige SÜStmen ber Stranfenpflege
nid)t gering ju adjten. ©emifj finb »tele unferer bisherigen &anbhaben
aus ber ©mpirte fjeroorgegangen, aus ber Erfahrung, metd)e bie SWutter
ber £b>rapte ift; aber fie werben alle fidjertid) bei einem weiteren gort;
fdjreiten ber SBiffenfdjaft in ihrem thatfäd)lid)en SBirfen erfannt roerben.
©aS ift ja bei aller probuctiüer ©etfteSthätigfett ber 9Wenfd)en »on 9tns
beginn an fo geroefen, baß alles baS, was bie SBiffenfdjaft nid)t in Raren,
eracten gormein wieberjugeben Bermodjte, bie Äunft mehr intniti» unb faft
unberoufjt jum 2luSbrucf brad)te: unb mit jebem Stritt, ben bie 3Btffen=
fd)aft in ber GrfenntntB weiter »orfd)rettet, nimmt fie ber Eunft bie be=
treffenben Dbjecte fort unb reiht fie ihrem ©ebiete ein. <Bo ift eS aud) mit ber
Äranfenpflege. 2)aS 9ted)t ber $Perfönltd)feit, baS ber Äranfe für fid) mit
gug ooll in Slnfprud) nimmt, fommt hier fogar in ber $erfon beSjenigen
jum 3luSbru<f, ber bie $eitanorbnungen trifft, beS 2trjteS, beffen fßerfön*
lidjfeit oft eine befonbere ©innrirfung auf ben Äranfen unb ben Slblauf beS
ÄranfhetteproceffeS ausübt. Unb biefe unb bie Bielen anberen Qmponbera*
bitten ber Äranfenpflege, bie wiffenfehaftttdjer 3tnalpfe bisher nod) nidjt
jugänglid)' roaren, wiegen gar gewidjtig, unb aud) bie &\t roirb fommen,
roo fie alle in ihrem inneren Sßejen burd) bie 3Biffenfd)aft eine ©röärung
finben werben, gür b>ute finb fie nod> ungefannte ®inge hinfid)tlid) ihrer
SBirfung, 9iamen nennen fie nid)t; fie ju etfemten, ift eben baS Cbject
fünftiger roiffenfd)aftlid)er $orfd)ung. 3lber fid) ihrer ju bebienen, fie alle
flar unb jielberou&t jum SuSgteid) ber geftörten gtonettonen ju Berwenben,
Kranf enpflege unb fpecififcfye (Efytrapie. 65
l»at burdiauS bie »olle wiffenfdjaftltdie Seredjtigung, unb über fie abju*
urteilen, oljne fie ju fennen, märe ein fernerer geiler. Senn jebes Urtfiett
übet UnbefanntcS ift ein SSorurt^eil.
Unb ebenfo teidbtfertig wäre bie 9J?emung, baS forgfättige @ingef>en
in'S ©etail, bie Siegelung ber ftemften unb unwefentlidiften ®inge, toeCd^e
ben ftranfen betreffen, für überftüffig unb fleinlid» ju eradjten. Minima
non curat praetor, gewifj; in ber Äranfenpftege jcbodt) fott fid) ber Sßrdtor
um 2UleS fümmern. Qft bie ÄranKjeit nun einmal ein iiampf, fo foll ber
SRatfjer unb Reifer in ibjn itdj aud) bie bewährten ©epflogentieiten ber
(Strategie tbjrtfädjlid) ju 9iufee mad)en. SBaS baS beutfdje £eer unüber*
nrinblid) mad)t, ift md»t allein ber ©eniuS feiner 5u&rerr fonbem bie un«
abläfftge Sorgfalt unb peinliche ©enauigfett, mit welcher biefe aud) baS
©eringfte unb fdjeinbar ©teidjgültigfte in bem grofjen betriebe felber an*
orbnen unb beftimmen. iDa ift fein ©amafdjenfnopf, fein Stodjgefdjirr, ba8
rtidt)t uon ber t)öcf)ften GommanbofteUe aus geprüft unb angeorbnet märe;
benn biefe roeif} fef>r xoo% weld)' einen gewaltigen ©influfj ein SBerfagen
trgenb eine* 5D?omentS an einer anfdjeinenb unbebeutenben Stelle auf bau
gunctioniren beS ©efammtapparateS f)at. Um wieoiel gewaltiger ift bie
9Hltfnjirfung einer jeben, felbft ber geringfügigften 9J?afmalime in bem fub*
tilen, lebenben Organismus, wie wirft liier ber fleinfte 3tcij burdj bie
Summation feiner ©ffecte bis ju erfjebtidjen Steuerungen fort, wie mufj
an einem fo überaus reacttonSfäfiigen SBefen Stiles, ausnahmslos SUleS, was
an if»m eine (Sinwirfung auSlöfen fann, in 33ered)nung gebogen unb geleitet
unb geregelt werben. ®a ift baS Äteinfte eben nodj grofc genug, um beamtet
ju roerben.
So ift benn bie Sranfenpflege nur anfdjeinenb eine rein praftifdje
SHSriplin; ttiatfädjlid) ruf)t fie burdjauS auf wiffenfdjaftlidjem Soben. 3)te
3lufgabe ber 2Biffenfd)aft ift eS, nad) ber berühmten Definition, bie 3Sor«
gdnge in ber JJatur ;u befcbreiben. 9?un benn, teuren wir bie iungen
SJiebiriner, m bie Vorgänge am menfdjlidjen Eörper, weldje infolge feinet
iägUd&en Slnpaffung an bie Umgebung in ifym fid) abfpielen, fennen unb
erfaffen ;u lernen, madjen mir fie »ertraut mit ben SBedjfelwirfungen
jwtfcljen bem menfdjltdjen Organismus unb feinem materiellen unb geiftigen
UJHlieu, lehren mir fie ftar feljen in ben taufenbfältigen Sebingungen beS
SebenS, bann werben fie aud) bermaleinft im Stanbe fein, wenn fie für
Äranfe Statfigeber unb Reifer fein follen, mit allen Mitteln, weldje JJatur
unb Äunft uns an bie &anb geben, ben franfen Organismus in bie beften
für ifm möglidjen 33ebingungen ju bringen. Sie werben bann bie liofie
33efriebigung in tfjrem ^Berufe bauontragen, ben Eampf um'^ £>afein in
biefer Söelt, wo SUleS Sfllem feinblid) wirb, für ben üftenfdjen gemitbert,
ju feiner Stbfinbung mit ifjm baS SEWöglidje beigetragen ju Ijaben. Sie
werben bann aud), wenn fie fo iljre Slufgabe unb if>ren SebenSjwed er«
faffen, fernbleiben »on öbem, unwiffenfdfjaftltdjem Schematismus, fern uon
5*
66
Itlatttn nien&elfofin in Serltn.
beut £a)djen nad» fpecififdjen ÜDUtteln gegen bie Äranffjeiten. 2lf>er audj
bie (Sefammtfyeit, bie e§ bod) am nädjften angebt, wirb fid) bann bet natör^
tidfien ©renjen ber mebicinifdien 2Biffenfd)aft benmft roerben, fie wirb nidjtä
UnmöglidjeS, nidjtä UnnatürltdjeS mei)t t>on % beanfprud)en unb xäfy
mef)r oon, ber gel)eimnt&ooUen gormel ^ SReccptS in tobtet ©pradje,
nod) »on ber gleichermaßen ge^eimnifeooll erjeugten ©ubftanj fpeciftfd^er
Heilmittel alles &ett unb alle ©efunbfyeit erwarten, $enn nur auf ber
tiefften Gulturftufe glaubt man an bic üJtebicinmätmer.
Die Sage vom (Ewigen 3"öen in 3taliem
Don
Stlfccb ßufjemann.
— Horn. —
rj^MjS ift feine attjurüfme, üietleid^t aud) md)t einmal attjuneue 33e=
l'iZOfl Ijauptung, bafi man in Statten über alles 2lnbere beffer unter-
ErSifiSwfli ridjtet ift, als Aber baS eigene Jßolf, feine ©mpfinbungen, ©e=
Bräune unb geiftigen ©djäfee. ®er gebitbete Stattener l»at bie flafüfdje
SBergangenfieit feines SanbeS stemltd) gut am Sdjnürdjen; er fennt bic
Cateimfdjen £)td)ter unb bie »aterlanbifd)e Sitteratur bis in bie neufte 3cit
hinein. ®r fpridjt faft täglid) von SttiuS unb GaiuS unb wirft gern mit
flafftfd)en Gitaten um fid), roaS fid) ftetS feljr großartig anhört — bie
©agen unb «Sitten ber fieute feiner eigenen Heimat aber fennt er nid)t,
unb er giebt fid) aud) feine aMje, forooljl ftej, nrie bie ^Jromnsen beS
ßanbeS überhaupt fennen ju lernen, nid)t einmal biejenigen, bie an jben
großen SerbtnbungSftraSen, liegen. 3d) fönnte ein gutes ©ufeenb von
römifd)en 33efaimten: beeren Beamten, 3lerjten, alfo gebilbeten Seuten an=
führen, bie fid) nid)t einmal foroeit aus if)rer angeborenen ^rägtjeit auf»
juraffen oermögen, um — mit einer ©ifenbalmfafyrt oon nur 5l/-i ©tunben —
SReapel fennen ju lernen! Qd) fenne in Neapel nod) gebilbetere Seute,
Sßrofefforen ber Utrtoerfität unb ©elefirte, roetd)en bie 2lbf)änge unb ber
SMcan beS SßefuoS nod) eine „terra incoguita" ftnb!
311s am 20. September 1870 bie Äugeln ber itattemfdjen Gruppen
93refd)e in bie Sßorta pa in 9iom legten, jog ein unoerfemtbarer &aud)
ber 3lufflärung unb beS 3fortfd)rttteS mit if»nen in bie eroige Stabt unb
in bie ©efilbe beS ehemaligen Äird)enftaateS ein. $>te mit blutigen Dpfern
erfämpfte ©nigfeit mar enblid) gefidjert roorben, unb eS b,ätte bie flrönung
biefeS DpferS fein müffen — fo roenigftenS fjatte man es erroarten bürfen —
68
2Uf*eb Huljemann in Horn.
bafj bie feit Qatyrfiunberten getrennten ^Jromnjen Statten* fid) um fo tttmger
an ben fo tjeifj erfelmten ©tamm, an 9tom alfo, fdjltefcen mürben. Stnfiatt
beffen fpuft ba3 ©efpenfi beS StegionaliSmuä b>ute toller als juoor int
politifdjen unb nnrtb^d)aftlid)en Seben biefer unglücflidjen Station, unb biefe
Qntereffennnrt^aft, oon beren SBorfianbenfein ber italienifcfje SparlamentariSs
mus ben fdjlagenbften 33en>ei§ liefert,, tjält natfirlidj aud) baS getflige unb>
rotffenfd>aftlid)e ßeben nieber unb im 33amt.
Unter folgen Umftanben fomrte ber grunblegenbfte $n>eig ber neujeitigen
©efcifjidjtgforfcfmng, bie 33olfSfunbe, in Statten bisset nur fümmerlid) ge-
betf>en. geubaltSmuS unb Sßrieftertljum, reelle jebe felbftftänbige Siegung
beä 33olf8d)arafter3 erfücften unb bie allgemeine Unroiffenfyett jtärften, fabelt
nid)t nur bie ftdjtbaren SJterfmate ber gröfjten <Sulturepod)e ber SBelt jer*
trfimmert, fonbern aud) — roaS nod) fdjltmmer — mit bem ©dfllamme
ber fünftlid)en SBerbummung bie frudjtbaren ©efitbe ber Ueberlieferungerc
unb ©agen be« SBolfeS jugebedt. 2)te legten breifeig unb einige Satire
$aben wollt t»ier unb ba biefen ©d)tamm ein roenig gelüftet, ©in fnappe$
$ufeenb betjerjter SJtänner unb grauen, ba§ ben flogen SBertf) be« „golflore"
erfannte, Ijat fid) roofit baran gemadjt, ju retten, roaS nod) 5U retten mar:
bisher aber waren ifinen nur SBemge auf biefem SBege gefolgt. @8 ift
auf biefe SBeife ein ungeheures unb unerfe&ttd)e3 3Wateriat für bie ©rforfdjung
ber ®efd)id)te ber italienifd)en SSölferftämme aus feinen ©agen unb aus
beren SBergleidjung mit ben ©agen unb Siebern anberer Staffen unb SBötter
oerloren gegangen. ®ie in ba« ©rab gefunfenen @efd)led)ter b>ben bie
SJlärdjen unb ©efänge, roeldje itjr 3Kunb in jenen fd)lid)teren 3ci*«n genrifj
nod) in großer gülle ju erjäljlen mußte, mit in bie 58ergeffem)eit hinüber«
genommen, bemt e§ ift feine gfeber üorfyanben getoefen, roeldbe fte aufgejetdmet
blatte. 33ei ber gegenwärtigen aSerflod)ung ber ©itten unb ©eroofmb^etten be£
Sebent aber, nun fid) fdjon ber Sauer felbft feiner attebjrnmrbtgen ©onberfjeiten
unb ©onberfprüd)lein ju fd)ämen beginnt, brofjte bie ernfte ©efafjr, bafj bie
legten Stefte ber non ben Sinnen ererbten ÜJlftrdjen unb ©ejänge be3 italieni*
fdjen SBolfeS faum nod) t>or bem Untergange unb bem Sergejfemoerben ja
retten waren.
Italien! $n feinem anberen Sanbe b>ben fid) burd) jwei ftafirtaufenbe
bie Staffen ber brei alten ©rbtbeile fo gemifdjt wie fjier. 2Bo fonji, wenn
nid)t in Italien, fonnte ein Sßolf aus bem enblofen ©ctcüfjl b>ibnifd)er
©ottfjeiten unb d)riftlid)er SRärtprer, fagenb>fter unb gefd)id)tlid)er gelben
bi« ju Stapoleon bem (Srjten, SSictor ©manuet unb ©aribalbi hinauf bie
füfmften ÜJlärd)engebilbe fptnnen? 63 bezweifelt Stiemanb, bafj e3 ba»
getfjan fjat. 306er erft ber madere ©iufeppe Sßitrd mad)te ben ©ebanfen
in ben fiebjiger ^atjren jur Jb^at, als er sufammenjuraffen begann, roa*
ba« 23olf auf ©teilten an geiftigen ©cfjäfeen unb S3ermäd)tnijfen nod) befafj.
9tad) ib^m fmb ®'3lncona, $>e ©ubernatis, ©raf, ÜKaria ©aoUSopej unb-
nod» tiefer ober 3ener gefommen; an einer plarnnäjsigen, n»iffenf(ibaftlid)ett
Die Sage com C2toigen 3uben in Italien. 69
Ausbeutung be£ ttaltemfdjen „gottlore" aber Ijat e3 bis oor 3af>r wirb £<*9
gefehlt.
Qn (e|ter Stunbe aber ift jum ©lud nod) ein £offnung3ftem auf*
gegangen: feit 3iouembcr 1893 beutst Italien, banf ber unermubltd)en &tn=
gäbe be§ ^kofefforS 2lngelo be ©ubernatiä an btefen ©ebanfen, eine ©efellfd)aft
jur Sammlung aller im SöoCf umlaufenben llebertieferungen. 2tn i^re Spifee
t»at fid» Königin 3Rargb,erita in ^ßerfon geftettt, unb jroar als ÜJittarbeiterin,
inbem fie felbft SBolfefagen in ben 2llpentftälem ber Serge ^ßtemonts unb
SaoonenS ju fammeln gebaute. 91U bte ©efetlfdwft gegen 6nbe SRouembet
tljre S^ätigfeit eröffnete, 3äf)tte fie bereite an adjtfiunbert SWitgtieber in atten
feilen 3t<*Iien§, benen fid) fötale in ®eutfd)lanb, ©ngtanb, 3lmerifa unb
anberen Sänbern fofort angefd)loffen fiabcn. ®er 3Winifter fiat ebenfalls bas
feinige getfjan, inbem er bte Sebjer in ben Sßrotmtjen ganj befonberS anfielt,
ifjre äfofmerffamfeit auf bte Sagen unb Sieber be3 93olfe3 5U rieten. GS ift
nunmehr alfo bte erfreuliche 2luSfidjt oorb/mben, baf? bie legten SRcfte ber
3SolfSüberlieferungen in Stalten feftgefialten roerben, e§e fie t>öttig »er=
fdjroinben, unb baf} aus tfinen f>erau3 mandje nod) bunRe fünfte ber ©es
fcf)iä}te bicfeö SanbeS eine roilttommene 3lufftärung erhalten.*)
9Ran wirb aus 93orftefienbem fcrjr leid)t begreifen, roie eS tarn, bafj nod)
im 3aljre 1880, unb jroar in ber „Encyclopedie des Sciences Religieuses"
ein fo bebeutenber Stomanift nrie ©afton sparte feine bamalige Stbfianblung
mit ben Sßorten fdjliefjen fomrte: „$>te 5BolfStf)ümlid)fett beS „©roigen
3uben" ift auf geroiffe Striche beS norbroeftlidjen ©uropaS, fo auf 2)eutfd)«
lanb, Sfanbinamen, bie 9tieberlanbe unb granfretcb/befcb^änft", unb: „2öir
nrieberfjolen am Sdjluf? biefer 2lbl>anbtung über bie «Sage »om 2lf)aS»er,
bie fid) in einem beutfdjen unb proteftantifdjen SWilieu gebilbet l)at, bafe
fie in Spanien, Italien unb bem öftlidien Europa uötlig ungefannt ju
fein fdjeint." ^njnnfdjen rjat aud) bie böfe SBiffenfdjaft bie fo triel burdjs
forfdjte unb fo riW»renb umbtd)tete Sage vom ©roigen 3"ben jeber ^oefie
ju entfleiben »erfudjt. $er fürjlid) oerftorbene grofje ©fiarcot in ©emetn=
fdiaft mit feinem 3lffiftent 9)teige I)aben nadjgeroiefen, bafj ben femittfd)en
Staffen befonberS eine eigene 3trt oon $i)fterie unb 9Jer»ofttät anhaftet,
metdje fte ju einem raftlofen Umb^erroanbern jimngt. SHefe ßrantfjeit befällt
ganj befonberS biejenigen Suben, roeldje im öftlidien ©uropa unter ber
rufftfdjen Äratte im ttefften ©lenb fd)mad)ten. Sie fudjen ib,r Unglüc!
himer fid) p lajfen, inbem fie fid) in oerfe^räreid)ere 9)(ittelpunfte begeben.
3lber aud) l)ier oerbeffert fid) i^r £ooä nid)t. Unb biefe^ bäftere SBertiängnif},
roeld)e* tb^nen anhaftet, treibt fie rufyeloS »on Drt ju Drt, felbft au§ ben
^eilftätten, an bereu Pforten fie b,atb oerliungert, lialb entfteibet jufammen«
*) Unb nie t«f)t §aüt id), als ie^ obige SinleitinigSxoite fd^ricbl 9tad) taum anbtrt=
balbiä^riflnn £eben ift au* bicfe ©cffDfcfiaft hinüber, gevettert an ixt ®le!*flültiflftit
unb grcibtuteret, treld)e in 3talien rrgelmägig ber erßen SSegeifttrunfl unb Opferfreubigfeit
ju folgen pflegt! 2>er «erfaffer.
70 — 2llfte> Kutjemann in Horn.
bred)en. ©o gewaltig tragifd) aud) biefe 2lu«legung ber Gntfte^ung bcr
2ll)a«»eru«fage ift, fo foH fte un« bod) mcfjt bic uns lieb unb oertraut
geworbenen poetifdjen ©ebilbe eine« &amerling, &auff, eine« ©ue unb
Duinet jertrümmern. $)te mebicimfd)e SBtffcnfd^aft foH 9ted>t behalten, aber
aud) btejenige, welche bie wirren (Sänge aufjuttären fud)t, bie biefe« wunber*
barfte, bunfelfte, ergreifenbfte aller 3JJärd)en im Saufe ber Saljrtaufenbe
burd)laufen ift. glaube be«l>alb, bafj mir tro| Gfyaxcot unb SBieige in
®eutfd)lanb, bem SßatronatSlanbe ber Sage nom 2lf)a«t)er, 9Wemanb gram
fein wirb, wenn id) »iele, bei un« nod) unbefannte SHnge über ben ©wtgen
3uben au« Italien berichte, unb wie fid) im Äopfe be« ttalienifd)en 33olfe«
feine büftere ©eftatt gemalt f>at unb nod) malt.
©in Sanb, meiere« bie erften d)riftlid)en SDlärrorer in feinem ©djofee
barg, ba« mit bem 93lute berfelben nod) f efter al« burd) bie römifdjen
Söaffen mit bem Orient unb ben Seiben«ftätten be« £eitanb« fid) oerbanb,
fonnte in feinem ©rwad)en au« bem £etbentl)ume, wie man bod) woI)l
annehmen muß, fein einjige« ber 33egebniffe au« bem Seben unb 2Birfen
be« Sefu« uon üWajaretlj miffen, am wentgften eine«, weldje« bie lefeten
©tunben be« eblen äRärtnrer« »erbitterte. $)a« mit einer aufjerorbentlidjen
©inbilbungStraft au«geftattete S3olt galten« ftellte fid) in feinem ebenfo
fdmett empfänglichen, roie letd)t »erwirrbaren ©eifte balb bie ©djanbrtiat
be« Slrieg«fned)tc« 2Wald)u« ober 9Warcu« vor, ber, anftatt ber empfangenen
SBofyltljaten eingeben! ju fein, bie U)m ber ©rlöfer bamit erroie«, bafe er il»m
ba« im ©arten oon ©ethfemane abgehauene Db,r roieber anheilte, ben föeilanb
auf feinem leiten SBege oerfpottete. 3Wan blieb aud) md)t bei ber 3Jer*
fpottung fielen, fonbern glaubte melmefir ber @d)ilberung, bafj SWarcu« —
biefer 9lame rourbe lanb läufiger al« SDZaldju« — bem SSerurtfieitten mit ber
etfenbefd)uhten Sinfen in ba« ©eftd)t gefd)lagen b,abe. ©« ift faum baran ju
jweifeln, bafj burd) bie ©nangeliften biefe 2Wald)u«fage nad) Italien gebracht
würbe unb bafc fie be«l»alb al« bie ältefte ber un« befamtten betrachtet werben
barf. ©ie ift fcfmeH genug »olf«tf)ümlid) geworben, woju »iel gebruette
33erid)te, wie bie be« ßarlo SRanjo, ©blen tron SSenebtg, unb be« ^ßriefter«
grance«co 3llcarotti, lefetere »on ^ßitrö unb £>'2lncona in einem 9iad)brucfe
be« 3<rf)re« 1849 entbeeft, wefentlid) beigetragen haben. $n einem palatiitü
fd)en Gober be« 17. ^af)rb,unbert« unb in einem SWanufcripte, weld)e« fid)
— nad) SDfittheilung uon 3t. 3tenier im „Journal für bie ©efd)id)te ber
italienifd)en ßitteratur" — unter fedjjig anberen „glorentinifd)en 5Ro»eHen
unb fonftigen fid) befonber« auf bie ©tabt gtorenj bejieb,enben Grjäljlungen"
in ber fönigl. 2tfabemie ber 3Biffenfd)aften in £urin beftnbet, lautet ber £itel
biefer ©age gleid)mäfeig in beutfd)er Uebertragung: „©rjabtung eine« fic6>
lid)en unb leiblichen älugenjeugen, weld)er al« gewifj behauptet unb fagt,
gefe^en unb mit feinen §änben berührt ju haben jenen ©olbaten, ber neben
2tima bem Qefu« 9?ajarenu« eine D^rfeige gab, mit gan? befonberer
©d)ilberung, in weld)er 3Beife er fo glüdlid) gewefen ift, eine fo großartig
Die Sage com (Ewigen 3uben in 3ta(ien. 7\
wunberbare @ad)e ju erblicfen, wie fic no<$ niemals gefehlt morben ift."
^ßitrö t^eitt baS SBorljanbenfein eines weiteren SelegS für bie 9)iatd)uSfage
mit, ber nd), nad) ©rfunbigungen unfereS oerbienftooHen gorfd)erS Dr. 9leu=
6aur in ©Ibing, in ber Untoerfitatsbtbtiotljef ju Bologna befinbet. &ier
lautet ber £itel in ber Uebertragung: „©rjctylung jene« Lieners, ber unferm
&eilanbe Qefu ©^rifto einen SBacfenftreid) gab, unb meldte ©träfe er bulbet.
Unb eine onbere ©rjäljlung, bie ein unu)erirrenber 3ube tljat, ber fid) bei
bem SeibenSgange unb bem £obe beS ©rlöferS jugegen fanb. £urtn,
bei ©arlo ©roffo, a3ud)f)änbler im SBejirf beS ©aBto. 9Jlit ©rlaubttifc."
5E)er £itel beS fd)on erwähnten 9Jeubru<fS beS 3af)reS 1849 §eijjt: ,,©r«
jäfjlung | beS 3uftaiwe3, meldjem fid) befinbet | ber t>erflud)te unb unbanfc
barfte 1 3Md)uS | ber bie Äübntjeit blatte ju geben | eine Dbrfeige | ©Inifto
unfrem $errn | roie man t>on einem ernften (grave) SBerfaffer fiört. | Neapel |
bei 2tt>aUone 1849". @d)tiefslidj fanb $>'2lncona, rote er in ber „SHuooa
Sfototogia" mitgeteilt b,at, einen nod) anberen ®rucf bei ben Verlegern
SRtglto unb ©rottt in ÜRooara. 3ln biefen 5Bertd)t beSfelben SSenetianerS
SRanjo ift ebenfalls bie gleid)e „©rjäbjung beS umb^erirrenben Quben" an»
gelängt, roeldje spitrö in ber Muriner luSgabe fanb. ©iefer [elftere 33erid)t
ift aber leiber feine itafienifd)e Driginalerjctfilung vom ©roigen ^uben, fonbem
lebiglid) eine Ueberfefcung ber befannten, beutfd)en, grunblegenben (Sage
vom ©roigen Suben, bie ^Saul t>on ©ifcen getrieben fyat. SDtfan I;at aller«
bingS ©ifeen in ©rijen üerroanbelt unb fpridjt »on „2fljaSueruS, ber fid)
je|t ^SutabeuS nennt." ftum ©dtfuffe ift aud) eine Strt roiffenfd)aftlid)er
©rflärung ber ©rfd)einung vom rafttoS roanbernben 3uben angefügt, roeld)e
bie Seliauptung »erroirft, baf? ber Qube ein böfeS ©efpenft fei, »ielmeln-
ein natürlicher 3Kenfcb. Seben bod), nad) ben 50?a£robiern, bie 2JJenfd)en unter
bem 2lequator fiebenbunbert Satire, unb gab es bod) jur 3ett ßarls beS
©rof?en ©inen, ber breüjunbert ^ab^re alt würbe.
.Qene genannten SDrucfe unb 9Zeubrucfe ber Sage Dom £riegSfned)te
2WaldmS roeid)en in »ielen 3u9en von eiuanber ab, roenn aud) ber ©runb»
tenor beS 9Mrd)enS ftets berfelbe bleibt: ein Seroeis, baf? biefe Sitteratur
fdjon feit Bielen Qabrtiuttberten beftanb unb sroar in einer aufjerorbentlidjen
gülle, »ielfad) auSgelienb »on bemfelben 33erid)te beS 9tanjo, uielfad) aber
aud) fd)on Dor bemfelben. %a, es ift eigentlid) mertroürbig, bafe nur fo
wenige unb faft gleid)lautenbe ©ruefe auf uns überfommen finb; ift bod)
ber 3^9 ber ^ilger nad) bem ÜKorgenlanbe bis in baS 16. 3al|rf)unbert
b^inein ein aufjerorbentlidfjer geblieben, unb faum geringer bie münblidje
ober f(6riftlid;e 33erid)terftattung ib^rer ©rlebniffe. SBäb^renb nämlid; im
Muriner, uon Stenier angeführten ©ober ©arlo 9?an50 beim ©belmamte
SDiorofini in Sßenebig baS Segebnife erjä^lt, ift ber ©ewctyrSmamt beS
Sianso im 3ladE)brucfe »on 5Ro»ara ber »icentinifd)e ©belmamt ^Senaglio
Sorenjo. ®er fd)on ermähnte 5^nceSco Mcarotti, Pfarrer an ber Äatfye»
brale ber Stabt 5Ra»ara — augenfd)etnlid) 5Rooara — roeldjer bie gleid)e
72
21lfreb Hnljemann in Rom.
©Tjäfjlung beS iRanjo als eigene miebergtebt, fü^rt als bie 3eugen „feiner"
©efä)iä)te ben Carbtnal Delftno, ^Jatriardj r>on Slquila (Slquileta), ben
©eneralprocurator oon ©. SRarco ©tacomo ©oranjo unb ben jum 33ot«
fdjafter in ftonftantinopel an ©teile beS Antonio Drupota — foQ Ijeifeen
Diepolo? — beftimmten ©tonauni ©oronario — ©ornaro? — an, fdjliefjlicb,
ben £errn ©iooanni 6nea Staporto — Da Sßorto? — au« SKcenja.
Unb beS Weiteren muf? bie ©rjäljlung beS 9tonjo in ber einen ober
anberen ftorm bem SSerfaffer ber non 4?elbig unb 9leubaur angesogenen
beutfctjen „3tetation" befannt geroefen fein, bie au« bem 17. Qa^r^unbert
flammt. Der beutfdje 2lutor aber glaubt ju roiffen, bafe ber oenetianifd)e
$Patrijier, weld&er baS merfroürbige Abenteuer in ^erufatem erlebte, au8
bem ©efdjteäjte ber 33iand)i gewefen fei. 9tanjo, Siandji, 9Ucarotti ober
wie immer ber nacfj :$erufatem ©epttgerte geheißen Ijaben möge, blatte baS
©lud, in ber ^eiligen ©tabt einem dürfen jn begegnen, ber einflmals von
beS Pilgers ©efdjlecfjt jum ©efangenen gemalt, oon feinem £errn aber gut
befianbelt worben mar. ©er ehemalige ©flaoe labet ben ^rembling pm
3tbenbeffen ein, unb um feine Stbfage ju fyören, »erfpridjt er ü)m eine
aufierorbentltcfje ©etienSwürbigfeit. SHadj genoffenem Smbifj entnahm ber
Dürfe einer Drufie einen ©(filüffelbunb, eine Satente unb eine b>tbe Äerje.
2llleS biefeS »erftedfte er unter feinem Äaftau. @r liefe fobann ben djrift«
lidjen ©belmamt fdjwören, »or 3tblauf oon jelm Satiren feiner menfcfjtidjen
©eele ju oerratljen, was er u)m jeigen würbe, weil ifnn felbft fonft ein
grofeeS £eib jufttefje. Die 33eiben wanberten nun eine gute Sßiertelmeile,
bis fie an einen fdjönen Sßataft gelangten. Der Dürfe fdjlofj nadjeincmber
brei eiferne Df)üren auf, worauf fie ein unterirbifcfieS ©emadj betraten,
beffen Söänbe unb gliefen aus SRofaif gemalt waren. DiefeS ©emadj
war aber feineSwegS unbewohnt, ein ganj in ®ifen gefüllter UJtann mit bem
©abwerte an ber &fifte fpajicrtc barin unermübltet) »on einer SBanb jur
anbern mit ber wie jum ©daläge erhobenen 9Jed)ten. Carlo -Wanjo merfte Rdj
jebe ©injelljett biefer merfwürbigen Grfdjeinung. @r faf), bafj ber ©ewappnete
uon mittlerer, fwgerer ©tatur unb ftarf gebräunter ©eficfjtsfarbe war, 1)tif)U
liegenbe 2lugen unb einen leisten Sartanflug fjatte. Der Dürfe t»ob" »on
Beuern an: „©eljt einmal, &err Carlo, ob e§ ßudfj gelingt, ifm jum ©tili*
fteben ju bringen." £err Carlo oerfud)te es mutljig, aber tro|bem er felbft
ftarf unb fräftig mar, gelang eS tljm nicf)t, ben SRarfdj beS ÄriegerS ju
unterbrechen. Der Dürfe erflärte nunmehr bem aSenettaner, biefeS fei ber
©olbat, weiter an biefer ©tätte bem ^efuS JlajavenuS eine D^rfeige ge«
geben Ijabe. @r fei beStialb bis jum Dage beS jüngften ©erid^ts an biefen
Drt gebannt worben. Der ©olbat effe nidjt, trltife unb fcf;lafe nicfjt, fprecfje
nid;t, fonbern geb^e raftlo« auf unb ab. &err Carlo SRanjo tjat fein SBort
gehalten, ©rft äwötf ^ab^re fpäter b^at er bei einem ©anfett beim Gbel=
mann 9Rorofmi in Sßenebig fein Grlebnij? üerratf^en unb b^injugefefct: „3d>
ging eines DageS an einem fjerrlicfien, mit einem ©äulengange gefijmücften
Die Sage vom (Hungen 3n&en in Italien. 73
Sßatafte üorüber unb ^örtc bafetbft einen wältigen £ärm von Letten unb
©etjjelböläern. @S befanb fid^ aber feine anbere ©eele in ber 9fäh> als
eine Ijod^betagte (grau. 3" Hjr 9^9 «&/ um ftc 8U fase«/ was n>ol)t
btefer Sarm ju bebeuten fiätte. ^ert', fagte fie, ,fd)on feit trierjig gafyxtn
ftebe td) b>r, unb forooljl am £age roie in ber 9lad)t b«be id) biefeit Särm
»emommett. 3Han fagt, bicfcS fei ber SJMaft beS ^Hiatus geroefen, wo
QefuS üftajaremtä an bie ©äule gebuitben war unb gegetfjelt mürbe.' 3$,
3br Vetren, bin @ud) ein toaI>rt)aftigcr SBürge für SlHeS bas, was td} ©ud)
erjagt bttbe, betm id) felbft babe jenen ©otbaten gefetyen unb it)n mit ber
£anb berührt; bie ©eifjet aber Ijabe td) mit biefen meinen eigenen Dbren
Dernommen."
SBäbrenb ber 33erid)t beS SRanjo, rote anjunebmen ift, ju 93egimt beS
fecbjelmten SabrbunbertS im SDrucf erfdnen, \)at bie $erfd)met5ung ber &e-
ftalt beS ÄrtegSfnedjteS 3Md)uS mit bem Stpoftet 3of)anne§ ober mit bern
Pförtner ^o^anneS, roorauS bie gigur beS ©roigen $uben jroeifelloS enfc
ftanben fein bürfte, felbft in Italien fd)on Diel eber ftattgefunben. SSor»
berrfdjenb in ber SBorftettung ber Italiener aber blieb trofcbem bie 2luffaffmtg,
baf3 es 2Md)uS geroefen ift, ber ben £errn fdjlug, unb ber für biefe
3fre»eltbat manbern muft, bis it)m ber £err felbft gebieten wirb, jur eroigen
9tub> ein5ugeb>n. ^ßrofeffor $)'2tncona »erbanfen mir bie 2Rttt|eilung, bafj
ber von 1482 bis 1528 in ©iena lebenbe ©jtonift ©igismonbo £ijto
bei 33efpredmng ber ©emälbe von 2lnbrea bi SSantri unter bem ^abre 1400
dou #obaimeS SuttabeuS fpridjt, weit ber Mnftter, ber von 1369 bis 1413
lebte, biefen Reiniger beS ©rlöferS in ber @cte eines ©imälbes abgebilbet rjatte.
%i%io erjäljlt beS SBeiteren, ba§ aud) er von ber @rfcb>inung beS $obamteS
©uttabeuS in ©iena felbft beS Sängeren gehört, biefe jebod) für fabelhaft erflärt
bätte. @S fdjien i^m, als ftüfcte man ftdj lebigtid) auf bie Setiauptung beS
Slftrologen ©uibo SBonatrt aus gorli, beffen ©ante im 20. ©efang ber
„&öHe" gebenft. 23onatti erjäljtt, baB er in Staoetma einem genriffen
9rid)arb begegnet wäre, ber ftd) rülimt, bereits am £ofe ÄarlS beS ©rofjen,
alfo um oierbunbert Sabre früber gelebt ju bflben. @S fei audb bamafö,
fo fäljrt Sonatti fort, ein grofjeS ©erebe »on einem 3of)amte3 33uttabeuS
geroefen, ber jur &tit ©^rifii gelebt b«be, als ber ©rlöfer jum Äreuje ge*
fübrt tourbe, unb ju biefem felbft b>be ©b^ftuS gefagt: „Tu expectabis
me, dum venero." 3[obanneS SuttabeuS fei auf einer a23allfat)rt jum
^eiligen QlacobuS im ^abre 1267 burd) gorli gefommen. 33onattiS 33ericf)t ift,
roie sJieubaur beroeift, aud) in einem ber älteften beutfdjen ©niete ber Sage
entbalten.
9iiinmt man liier nod) einen S8erid)t beS ©er SWariano aus ©iena
über feine Steife in baS getobte ftmb bwju> roeld)er ebenfalls t>on ber
©d)anbtbat eines genriffen Cannes 33uttabeuS fprid^t, aber ebrlid) genug
ift, ju gefteben, bafj er nur von biefem gebort, Um nid)t felbft erblicft fyatte,
fo roären biefeS roobl bie Anfänge jur 3SolfSfage uom ©roigen 3"ben in
- — 2llfre> Sutjemann in Horn.
Italien. 3)ian barf fidj eben nidjt an bie Benennung ftoßen, bie ©eftatt
treibt immer biefelbe. $on 3Md)u« ober SDlarcu« fpridjt bie itatiemfcöe
Ueberlieferung, »ort ^oljanne« bie uiel ältere englifd>e, unb ben ©pitmamen
33uttabeo t)at nad» ber ©trmtologie be« Sßorte« unb nadj 2tnftd)t aller
gorfdier oljne 3roeifel Italien bem rätl)fefi)aften 2Befen be« ruljetofen, iübtfdjen
£rieg«fned)te« ober Pförtner« be« Sßontiu« $ilatu« gegeben. Buttare=ftoßen,
fdjlagen; deo = ber ©ort: euo bell'e fritto! £>ie «Sage ift eben, »on
kreusrittem juerft nad) Guropa überführt, t>on Sanb ju Sanb unb nrteber
jurüdgeroanbert unb fjat bab>r btefe« fo«mopotiti)d)e 2lu«fel)en erhalten.
$ebe ^Jrotnnj Italien« E»at fic fid) bann nad) eigenem ©efaHen sured)tgeftu|t.
£aben mm bie wenigen ätteften italienifdjen S)id)ter, bie ftdj mit ber ©es
ftalt be« bie 9tMfel)r be« ©rlöfer« erroartenben „33uttabeo" — nidbt be«
umb>rirrenben — befdjäftigen, au« biefem Äo«mopoliti«mu« gefdjöpft ober
bereit« au« ben SBorfteHungen be« eigenen SBolfe«? (Eecco 2lngiolieri in
©iena, jum SBeifpiel, bebiente fid) bereit« oor ©er ÜJfartano unb »or £ijio
biefe« 9lamen« in einem ber haßerfüllten ©onette gegen feinen Stoter, in
meinem er fagt:
II pessimo e '1 crudele odio cli'i porto
A diritta ragione al padre meo
II farä vivar piü che Botadeo:
E di ciö, buon di mc, ne Sono aecorto;
50lein graufamer, aber geredeter &aß gegen meinen SBater wirb iljtt
nod) fo lange leben laffen, nne Suttabeu«. %m felben «Sinne äußert fid),
nad» 2Rittb>ilung be« Florentiner ©elefirten 2Korpurgo, SRicolö be Stoffi au«
Xreoifo. @« fdieint ftd) alfo ju ergeben, baß bie ©age uom „roartenben"
©unber urfprünglid) in Italien allein »erbrettet mar, unb baß itire <5r*
Weiterung jum „ruljelofen" Quben erft burdj fremblänbifd)e ©inftüffe erfolgte.
©8 fdieint ferner feftjuftcrjen, baß ber llrfprung foroolil ber einen mie ber
anberen 3lu«legung im Horben Italien« rourjelt, beim bisher erroälmte idj
t^atfäd;lid) nur ^Serfonen unb ©täbte be« nörblid^en Italien«. 3n ©iena
namentlid» ift ber ©taube an ba« teiblid)e SBorfjanbenfein be« ©roigen Suben
nod) beute feljr lebenbig. 2)ie ©age tritt bort in sroeierlei ©eftalten auf.
■Jlad) ber einen t)at fid) bie ©rbe umer 2llia§oer aufgetf)an, unb er ift in
ein tiefe« Sod) gefallen, ©r bemüht ftdj nun, biefe« Sod) weiter au«jugraben;
roemt er mit biefer Slrbeit fertig ift, fällt er gerabemoeg« in bie $ötte. 2Bo
33uttabeu« oon ber ©rbe »erfd)lungen nmrbe, l)ört man ben unaufl)örltd)ett
Särm, ben fein ©rabewerf »erurfadjt. Sefetere 2lmtabme märe alfo bie gort*
pftanjung ber ©rjäljlung be« SOenetianer« Stonjo uon bem Särm ber ©eißetung
im Sßalafte be« gMtatu« ju ^erufalem. 5lad) ber anberen, in ©iena um«
laufenben Stillegung, bie 3lleffanbro SD'ülncona »on 2Warjocä)i in ©iena
mttgetl)eilt mürbe, märe SButtabeo, gleid) bem 3Raldm«, ebcnfaH« in ein
unterirbifd)e« ©emad) eingefd^loffen. Gr tobt in biefem ©emadje umb^er
unb »erabreid^t fidj felbft unermübtid) bie D^rfeige, bie er einft ©Eirifto ju
Die Sage com «Ewigen 3»>«n «n Jtalien.
75
£beil werben tiefe. 9Kit ber &e\t ift unter feinen gfüfjen eine 3lrt ©rube
entftanben, in ber er jefet fdjon 5is jur SRafe fteeft. SBenn bie $öbtung
iljm erft über ben ftopf retdjen wirb, wirb bie SBelt untergeben. Rn ber
^romnj Siena untertreibet man bemnad) bie ©eftalt beS 3Md)uS aus«
brüdltd) oon bem ©roigen Ruhen. Qd) möd)te baljer behaupten, bafe burd)
bie oon aufjen nad) Italien überführten, abweidjenben Auslegungen ber
(Sage oom ©roigen Raben fid) nad) unb nad) SRaldmS »on StbaSoer getrennt
^at, unb baß Selbe bann als jroei befonbere SBefen bis heutigen £ageS
in ber Sßbatttafte beS SolfeS weiterlebten. 3luffaßenb ift, baß, nad) Sßittoli,
man in einer ©egenb Sßiemonts bem $uben ben -Kamen „balarin d'
Padona" beigelegt bat. ©ine oenetianifdje Auslegung bat mit ber lefcts
genannten au* Siena eine große 2lelmlid)feit. Rn SSenetien läßt man ben
$uben um eine auf einem Serge ftejjenbe Säule freifen unb ibr bie <D\)v-
feige geben, bie er ebebem ntdjt SefuS felbft, wobt aber 2J?aria, beffen
95iutter, »erabretd)te. 2>iefe 33eteibtgung fonnte $efuS ntdjt »ergeben! 2lud)
bort bat er fdjon einen ©raben unter fid) burd)getreten, in wetdjem er
bereits bis an ben $als fteeft. 2lud) bort nrirb fein 33erfin!en bis über
ben Äopf ben Untergang ber SBelt mit fid) bringen. $>er SSenetianer aber
überlädt ©Ott bie ©ntfdjeibung über baS <5d)idiat, roetdjeS ben ©roigen
Rüben nad) Untergang ber SBelt treffen foll. Seiber bat ber Severe wenig
SluSfidjt, fo balb »on feinem Seiben erlöft 5U werben. Äommt 3emanb beS
SBegeS über jenen 23erg, auf weldjem 2lbaS»er bie «Säule obrfeigt, fo fragt
ber Severe, gerabefo wie wir fragen: ©ntfdntlbigen Sie, wie fpät ift es am
£age, ob bie SBeiber nod) immer gefd)lagen werben. S3ejabt ber ©efragte,
wie felbftoerftänblidj, fo feufjt 33uttabeo tief auf unb fagt: „So ift es
nod) immer nid)t 3ett, benn ebe bie SBelt untergeben fann, bürfen bie
SBeiber lieben Qabre feine Sßrügel befommen!" ©aS ift ed)t italienifdje 3tuf=
faffung!
©in bcrjbafter Sprung über bie 3J?eerenge oon üDtfefftna nad) Sicilien,
unb bie tanbläufige Sage erbätt fofort ein anbereS, wärmeres ©efid)t.
$ier finb „s)Jtorcu" unb „23uttabeo" bem 93olfe in ftteifd) unb S3lut über«
gegangen: fie finb fprüd)wörtlid) geworben. 33on einer 93erfon, bäßlid) »on
3luSfeben unb ©barafter, fagt ber Sicilianer: „Havi 'na faccia di lu
judeu Maren." ®er Äerl bat ein ©efid)t wie ber Rabe SJiarcuS. SSon
einem 2Jlenfd)en, ber nidjt einen Slugenblicf 5ur SRube fommen famt, meint
ber ^nfulaner: ß un Buttadeu; ö come Buttadeu; nun sta mai
ferma come Buttadeu, curri sempre come Buttadeu", unb fo fort.
Sßttrö, ber »erbienftoottfte „ftolflorift" Italiens, beridjtet aud) oon ber
äußeren ©rfd)einung beSfelben. ©r trägt einen unfauberen £ut (cappelaccio)
mit breiten Ärämpen, überaus langen S3art unb £aare, beibe weif? wie
Sdmee; fein 2lnttifc briieft ftarfeS Seiben auS; fein Äörper ift bebedt mit
einem langen unb weiten Ueberrod »on tiefrotber garbe; feine Stiefel ffnb
arg jerriffen. Rn biefem Stufäuge wirb er wobt aud) nad) ber SWeinung
76
2IIf r eb Kut)emann in Horn.
ber Seute in ©ataparuta bem Sauer Slntonino Gafcto unb feiner jüngften
£od)ter erfdjienen fein, als Selbe jur SBinterSäeit aufeerbatb beS genannten
DrteS in einer £ütte weilten, um ftd) am geuer ju wärmen. 3)ie £od)ter
beS Sauern erjä^It, bafj &ut unb ©d)ub> ber frembartigen ©rfd)einung
gelb, rotl) unb fd)warj geftreift waren. 2lntoitino Ijatte eine mädfjtige gurdjt
vor bem gfrembltng. Sefeterer aber beruhigte ilnt, inbem er fagte: „3Srd)te
©td) nid)t, id) Reifte SuttabeuS." ©ofort erinnerte fid) Gafcio ber ©age;
er lub ben ©wigen 3uben ein, ftd) neben i(in an baS geuer ju fefeen, unb
iljm bie merfroürbtge ©efd)id)te feiner SBanberungen ju erjäbjten. Suttabeo
TOiflfab^rt bem 2Bunfd)e beS ßafcio, ba er aber md)t fiftert barf, fo roanbert
er roäljrenb ber ©rjätylung im 3""roer aufgeregt unb raftloS unu)er. @t)e
Suttabeo ben Säuern unb feine £od)ter »erliefe, teerte er fte nod) „fünf
©ebete an bie l)immlifd)e &anb, aufeerbem nod) eines an bie linfe £anb Sefu".
®in jroeiter gorfdjer ftriltatrifd)er Segenben, @aIomone»3Warino, tljeilt
jroei weitere Auslegungen ber ©age mit, nrie He in Sorgetto oon 3Kunb
ju SWunb ge^en. SBte ©atomone jtd) überzeugte, ift biefe tteberlieferung aud)
in Palermo, Sßartinico unb anberen Drten lebenbig geblieben. SBie ber
Sauer ^ßietro SRanbesjo in Sorgetto bem genannten $errn erjagte, ^abe
ber fret)etr)afte „abreu" vor ber £T)ür feines Kaufes auf ber Sani gefeffen,
unb als SefuS, ber mit bem Äreuj auf ber ©dmlter an itim »orüberfam,
3fenen bat, fic^ ausrufen ju bürfen, iljn mit ©d)tmpfraorten fortgeroiefen.
E maneu tu ha a' rripusari nni la to' vita, caminannu sempri sempri,
antwortete tl»m ber ©rlöfer. „Unb $)u follft ©ein Sebelang 9ttd)tS jum
Ausrufen ^aben, $u roanbre immer unb eroig." Unb fo ift es gefdjeliett.
„Qefet ift er alt," fubjc ber Sauer Sianbejso fort ju erjagten, „ja überalt,
aber er ftirbt nie, biefer Hebräer, ber ben SWamen Suttabeo erhielt, roeil
er $efu8 6f)riftu8 jurücfgefto&en (arributtau) Fiat. Unb mandber rjat ilm
fd)on burd) Sorgetto fommen fetyen, roäbrenb es um 3Jiitternad)t ftarf
regnete, blifete unb bonnerte; 9tiemanb aber fab, ilnt fteljen bleiben ober aud)
nur ein ©tücfdjen SBrob annehmen, roeil, roie er felbft fagt, es u)m t»er=
boten ift, fo ju tfjun, bis baS lefcte ©eridjt gefprodjen ift" £ier bat alfo
bie ©age leine 2lelmliä)feü mit ber bes 9Md)uS, ebenforoenig in ber faft
gletd)lautenben ©rjäljtung beS Sauern ©iufeppe SRorici aus bemfelben
Drte. $er Sefctere nennt ben Quben aber nid)t Suttabeo, fonbern
2trributta*2)tu", ben „©ottfto&er", roörtlid) überfefet. „2Ber ilin erblicft,"
meint biefer le|tere ©eroäb^rSmann, „bem erjitylt er gern bie Seiben Qefu,
bie ©d)merjen unb Jolte^t/ bie biefer erlitt, unb babei roeint ber ,©ottftofeerl
blutige 3^ränen. 6r trägt einen Durban, einen 9to<f, ber roie ein $embe
ausfielt, aber uon blutroter, ein wenig bunfler garbe; aud) für)rt er
einen fiöljernen ©teefen in §änben." Som wahren 3Jlald)uS bagegen
fymbelt baS ©ebid)t Dom „Marcu disperatu", bem „oerjroeifelten SWarfuS",
roeld)em aud) eine gleidjlautenbe in ©icilien umlaufenbe ©rjäb^lung in
Srofa entfprid)t:
Die Sagt oom £»tgen 3»&"i «« Italien.
77
Lu' Judeu Marcu 'n pedi si spinciu
Ca 'na 'nguanta di ferru ben armatu
A Cristu dotti un schiaffu fortimenti,
Di 'mmacca sdillintö Ii aagri denti.
©er %ube 3Warcuä gtebt fiter alfo ©Ijrifto einen fo heftigen ©djlag
mit bem «fernen $anbfdjuf), bafe ifjm „alle 3öf)ttc im 3Jtunbe fpringen".
®ie ^antafie be$ Stoffes »eranfdjautidjt an ber &anb tägliä&er ©reigniffe
ficf» foldje Situation fefjr beuttiö?, wie man fiefjt. ©ine jweite Snrif »on
SRarcua, roie er auf ©icilien burd>au§ tjeifjt, finbet fid) im britten Steile
ber „Sßafftonen ftefu ©fjrlfti" »or, roo gefagt wirb:
E cu 'na vogghia tränna si slancian
Lu Juda Marcu a lu Signuri Diu;
Di rabbia 'na guanciata cci tiran
Ca 'n terra menza facci cci scinniu
E San Petru piriculu 'un guardan,
Tagghia 'n orrichia a ddu cani Judiu:
Uesü Cristu di 'n terra la pigghian,
Unn 'era la flrita la junciu.
©a$ roäre alfo bie ©efd)id)te aus bem ©arten oon ©etfjfemane, §u*
farnmengemürfeü mit bem Vorfalle auf bem testen ©ange be$ &eitanb3.
©ie ftctttamfdie Sfeffaffung von ber Vertreibung Gfjrifti rjon bem ßaufe
beS Quben, bot roeldjem er ausrufen rooHte, entfprä^e ben SBorten in bem
alten franäöfifdjen Siebe com „©nrigen ftuben":
Ote-toi, criminel,
De devant ma maison
Avance et marche donc
Car tu me fais affront.
Weben Spittrö miH aud) ®'3tncona fi<fj oon ber ©innrirfuwg ber
franjöfifdjen 3Md)tungen über benfelben ©egenftanb auf bie italieirifd&e
SoI&Ktteratur überjeugt traben, ©r fanb bei einem ber fliegenben
£änbler in Sfooti, bie allerlei ©anjonen unb äfmlidje geiftige 33ofltefpeifen
oertdufen, als ba finb £raumbüdjer, 33erid)te oon grauftgen 2Horbrl>aten in
Sßoefie unb gJrofa unb fo fort, eine in SJSoefie gefteibete Segenbe vom
©roigen Suben, bie fid) aber bei näherer 33efid)tigung ate eine faft nwrt;
getreue Uebertragung ber franjöfifd)en „©omptainte" eroie?. Sud) ber
9tome be£ .Quben tautet foumfjl in ber franjöfifd)en nrie italienifdjen
Sttdltunfl gleidjmäfjtg, Qfaac Saquebem:
Isaac Iiaquedem
Pour nome rne fut donne
Mb a Jerusalem.
unb ber ttatiemfdje SDidjter ©iooatmi 3tomani:
Isaac Laquedenime e il nome mio,
Jerusalemme mio sol natiö ....
78
21lfre& Hnljemann in Horn.
©in ungteid) poetifd)ere3 ©eroanb ^at bie ©age oom ©roigen Quben
in ben ttalienifd)en Alpen angenommen, befonbera im Aofta*$T)ale. ©o
erjagten ÜWaria ©at>U£opes in iliren »ortrefflidjen „Alpenfagen" (Stuttgart
3lb. Sonj unb 60.) unb ©orona in „Aria di Monte." 9tod) ifjnen: „ce
bougre de Mont Cervio non c'era." An ber ©teile, roo fid) jefct bie
riefige ^ßnramibe be$ 3Jtonte ©eroino ergebt, gab es einft eine btttyenbe
©tabt, in roeldjer ber ©roige ^ube eine freunbfd)aftlid)e Aufnahme fanb,
fo ba§ er in einer furjen 5Jaft feine müben ©lieber rubren fomite. Als
er aber nad) taufenb ^afiren roteberfelirte, fanb er an ©teile ber gaffe
freunblidjen ©tabt ben unb>imlid)en ©ebirgSriefen. £tef betrübt über ba«
©djtcffal berfetben, meinte er lange, unb au$ feinen JTiränen ift ber
fd)marje ©ee unroeit »on gexmait entftanben. $)ie ©aoisßopej unb aud)
£fd)ubi b^aben gefunben, baß im ganjen 3uge ber Alpenfette ber ©laube
umgebt, ba§ ©rfdjetnen be3 ©roigen Quben jiefie Ungtüd nad; fid). £>er=
felbe Aberglaube ift in Jranfreid) eingerourjett. 33e»or 9tooaiHac ^einrid) IV.
ermorbete, mar Afyaäoer in 23eau»ai3, itöoi)on unb anberen ©täbten
granfreid»^ gefeb>n morben. $n ber ©djroetj gilt, ber ©roige Qube aud)
als Sßropfiet. Stuf bem ^ßaffe »on 3ermatt nad) SBreil rw)te ebenfalls
ber §lud), ben Af>a3»er burd) ba3 Ueberfdrc-eiten beSfelben barauf $avü&
gelaffen blatte. ®er tieilige S^eobuluS brad) benfelben, inbem er
juerft nad) ifmt ben ^afi überfduitt unb bie bort fid) auflialtenben giftigen
©d)langen befdjroor. $er $ügel ift bab^er nad) bem ^eiligen benannt
morben.
2>ie SSermutfmng, baß aud) in Italien ber ©laube an bie ©riftenj
unb baS jeitroeilige ©rfd)etnen be« ©roigen $uben »orfyanben unb meit
älter fein müßte, aU bie bisher befamtte Sitteratur ergab, ift glfinjenb
gered)tfertigt roorben burd) eine neuere ©ntbedung, bie aber [eiber aud)
©eutfdjlanb ben 9htbm ju nehmen fd)eint, bie ältefte ©efdndne vom
©roigen Suben ju befifcen. Smfyvafoext $cfyxe vot bem Auftreten 2fl)a3s
»erä in ©eutfdjlanb ift er in £o3cana roieberfiolt erfdjienen, unb baß liier
feine $ßf)antaftereien, fonbem tf>atfäd)tid)e Segebmffe erjagt werben, bemeifen
auf ba§ ©d)lagenbfte bie außerorbentlidj intereffanten ®ocumente, roetd)e
©. SRorpurgo, ber »erbienftoolle 23ibliotljefar an ber „3fäccarbiana" in
glorenj, gefunben unb geprüft b>t. Qn ber fdilidjten, gemeißelten Sßeife
be$ 15. 3«b^rl)unbert§ erjä^lt uns ein gerotffer Antonio bi g-ranceSco
b'Anbrea, ber mit feinen 33rfibern Anbrea unb SBartotomeo in Siorgo a ©an
Sorenjo unb in glorenj felbft anfäffig mar, »on ifirem nrieberl)otten
3ufammentreffen mit „©to»amri 33otabbio, aud) genannt ©iooannt, ®otte«=
biener" roäljrenb ber Qab^re 1410 bis 1420; femer »on ben ©reigniffen,
bie fid) auf ©runb ber ©rfdjeimmg beS ©roigen 3"ben in gtorenj ab=
gefpielt Ijaben.
„3u ©firen unb jum 9tulim beS allmädjtigen ©otte«, in feiner ®ret*
b>ittgfeit 3?ater, ©ob^n unb {»eiliger ©eift, unb feiner immer jungfräulidjen
Die Soge com €n>igen 3«ben in 3talien. "9
■ättaria, unb beS gefammten l)tmmlifd)en £ofeS oom ^ßarabiefe," fo Riefet
ber genannte Slntonio feinen merrroürbtgen Seridit an, „werbe id;, arm=
feiiger ©ünber ober beffer gefagt, großer geroolntfyeitSmäßiger unb häufiger
©ünber, in biefem £efte eines ber nmnberbarften 2)inge in Erinnerung
bringen, roie fie oieUetd)t ber größte 2t»ei[ ber bleute Sebenben niemals
wirb oernommen t»aben. Unb mit großem 3agen ^be id) bie geber in
bie ^anb genommen, um biefe fo nmnberbaren £>inge ju erinnern unb
nieberjufdjreiben, roeil man mir barin nid)t glauben möd)te. ®eSb,alb gefje
id) mit $urd)t an baS SBerf. Qd) will mir aber SDtutb, jufpred)en unb
rufe @ott unb bie anbent Seroolmer beS Rimmels als meine 3*ugen
an, aud) Qfene, bie nod) am Seben finb unb jum £l)eil jene ©inge mit
anfallen, bie id) im golgenben erjäf)len null. $>eren Flamen roerbe id)
nad) !äJiaß unb 93ebarf funbgeben, fobalb im Verläufe ber ärbeit es 3eit
fein wirb, fie ju nennen."
■Jiad) biefer oertrauenerioedenben ©inteitung tt>cilt uns 2lntonio bi
granceSco b'2lnbrea mit, baß it>m bie ©rfd)einung beS ©otteSbienerS
$ot)anneS oom ^örenfagen bereits befaimt mar, el)e er beffen oerfönlidje 33e*
fanntfdjaft madjte. „2>otabbto" ober Suttabeo — id) mitt b«. bem ge*
läufigeren tarnen bleiben — fei faft in allen feilen ber ^rooinjen ^ta£ien8
gefe^en roorben. SUte Seute oerfid)erten 2lntonio, baß fie fetbft ben ftubtn
gefetien unb gefprod)en Ratten, ©in ganj befonberS glaubroürbiger ©e=
mäljrSmaim hierfür fei ilmt ber greife Sartoto bi Qadjooo aus gaena im
©ebtete oon 3=iren}uola, ein 3Jiamt, ber ftets fromm unb ad)tbar gelebt
fiabe. tiefer b>be Antonio oerfid)ert, baß Spannes in feinem &aufe in
S3orgo a ©an Sorenjo bi SKugetto fid) ausgeruht unb tym oon oielen
fingen gefprod)en fiabe, bie nur ©ott allein Ijätte nriffeu fönnen. ©eitbem Ijabe
fid) Suttabeo in Italien nid)t meljr fetyen taffen, toeil er ja aud) bie übrigen
Steile ber SBelt befugen muffe. Antonio roiH gefunben t)aben, baß eS un=
gefä^r an Ijunbert Saljre bauert, etye ber $ube roteber bemfelben Sanbe einen
33efud) abftatte. ©emnad) märe alfo fd)on ju Seginn beS 14. QabjlnmbertS
bie Sage unb bie ®rfd)einung beS ©roigen in Italien, menigfienS im nörb«
tid)en Steile ber ipatbinfet, befamtt gemefen! ©enug, in bem ®ecember beS
^alireS 1411 — nad) ben Unterfud)ungen SDlorpurgoS muß eS aber boJ
:$at)r 1416 getoefen fein — gegen SBetlntaditen !eb,rte ein geroiffer ©iano
bi ®ucdo aus 33ologna nad) lefcterer ©tabt jurüd, auS roeldjer er fid) nad)
£oScana unb jroar nad) 33orgo a ©an Sorenjo geflüchtet batte, weil bie
SSerbatmten S3olognaS, namentlid) bie ©Ijuibottt ifjm gebro^t, fie mürben tlm
fo lange Jüngern laffen, bis er bie eigenen Äinber äße. ©iano bi SDuccio
mar nämtid) ein ^reunb »on Suigi ba fjßrato, bem Regenten Bolognas. $>a
bie ©uibotti feine 3tu8fid)t ju einer ^cRe^r nad) Bologna Ratten, fo liielt
es ©iano für rid)tig, felbft nad) Sologna jurüdjureifen-. ,,©ie brad)en
alfo oon Sorgo auf mit einem ^iferbe, baS jtoei Äörbe trug. 3m einem
faßen 3)uccio, jroölf 3tu)re alt, im anberen ©iooanni im älter oon ad)t
Sort unb SOb. LXXV. 223. 6
80
Zllfteb 8ut(emann in Horn.
fahren — beibe bie ©ötme be§ genannten ©iano." 2lnbrea, bet 33ruber
beS ©poniften Antonio, führte baS ^Jferb, mährenb hinter ifoten ©iano
felbft auf einem ftarlen ©aule bahertrabte. %m ©ebirge nun überfiel fie
ein fo fürchterliches Schneetreiben, baß bie Sßferbe fortmährenb ausglitten,
fielen unb bie Äinber fontit in großer ©efaljr fchwebten. 3JKt 9Jlühe unb
9toth erreichten fte SRifrebi, an ber alten ©traße naa) Bologna.
„SBährenb fie ftdj ein wenig ruhten, erreichte fie ber genannte ©ionatmi
SSotabbio, ber fräftig bergab marfdhirte. ©er bemußte Stnbrea rief ib^n
besbalb an unb fagte: „D Sruber, wenn es ©ir beliebt, leifte uns au*
Siebe ju ©ott ein wenig ©efettfcfjaft, bamit biefe ßinber nicht ju ©<Ijaben
fommen." ^ener mar nämlich im ©ewanbe beS „pinzochero" vom
britten Drben beS heiligen 3-ranjiScuS, aber ofme SJlantel unb mit nur
einem ©4mhe oerfeben. ©r antwortete: ,,©ut, ©ott p Siebe." ©o ging
er mit Urnen, bie &änbe an bie Äörbe gelegt. Unb Slnbrea führte bas
Sßferb, währenb ©iano auf feinem Sßferbe ritt. SBährenb fie fo reiften —
unb bie ©efahr mar groß — roanbte ficf> ber bewußte ^«"neS ©ottes«
biener an ©iano unb fragte: „2BiHft ©u, baß ich biefe Änabeu rette?"
Antwortete ©iano: „3a, bei ©ott." ©agte Johannes : „2Bo motten mir
übernachten?" $n ©chartchalafino," antwortete ©iano. „2luf benn, im
SRamen ©ottes," fagte 3"f>anne3. Unb mit biefen SBortfen fefete er ftd) auf
jebe ©d)ulter einen ber Änaben unb fagte: „galtet (Such feft an meinen
paaren." Gr blatte bie ßapuje heruntergenommen, unb fo gefdjah es.
Unb ba ifim ber ©dmh unbequem mar, warf er tf»n fort. Gr ging bacon,
unb in wenigen 2lugenblicfen mar er ihren 3lugen entfehmunben, fo baß
fie ttm nicht mehr erblidten. Gr langte bei ber Verberge eines aBirt^e«,
•JlamenS 6t)apec^io an. Gr fefete bie Äinber bafelbft an bas g^uer, tröftete fie,
ließ ein ^Jaar guter Kapaunen abfdjlachten unb über baS geuer Rängen, unb
fie fdmtorten fcfion im £opfe, als ©iano eintraf, ber fict)er glaubte, feine
©öfme oerloren ju haben, jefet aber in großer greube mar."
$n ber Verberge nach bem 9tad)tmaf)te legt 33uttabeo bie erfte Sßrobe
feiner unheimlichen 3tttnriffenheit ab. 2BäIjrenb man| behaglich am geuer
ftftt, fragt ©iano ben SBirrtj, nrie bie ©efdjäfte gehen, ©er 2Birtb, jammert
ob ber fchledjten ©efdfiäfte, bie ihm nicht einmal erlauben, feine ©ödtrter ju
oerheirathen. darauf lacht SButtabeo unb erflärt ben 9teifegefäb>ten, es
gäbe auf ber ganjen ©trecfe »on Bologna nach ^lorenj fein ftärfer befudhteS
©aftfjauS wie btefes. 2luct) tyibe ber 2öirth ©elb genug, um feine ©öchter
ju oerheirathen, benn er halte 240 ©olbgulben in einem Soctje, feine jwei
2trmlängen oon ©iano« 33ette entfernt, »erftecft. ©er Sffiirth leugnet unb
man janft fich ein roenig. „3ct) glotme, ich h^e ©aufler (ciarlatani) im
föaufe," meim ber erbofte SBirth- 2(m nächften SWorgen aber jiefit er boch
Suttabeo bei ©eite unb fragt ihn um Start), „^erheirathe ©eine Töchter,"
antwortet ihm ber aHrotffenbe, „anbrenfalls oerfünbe ich ©»*/ ^oß fte fchled/t
gerathen werben." ©er ^erbergSoater that, wa§ ihm ber Qube rieth, unb
Die Sage com (Etpigen 3U&*" «« 3tal«en. 8[
er Ijatte es mä)t ju bereuen. ®S muß übrigens bemerft werben, baß
Antonio auSbrücflicf) ermähnt, ber ©otteSbtener habe fiefj nicht beS 33etteS
als Sagerftätte bebient. £rofcbem SlhaSoer hier uns als ein ganj anbereS
SBefen erfdjeint, ift ber urfprüngltche ©{«rrafterjug beS 3tuf)etofen burcbauS
nicht »erwifdjt worbeit. „Unb baS jefet h«be td) etjcujlt, batnit $fot vtx*
flehet, rote ihm alle verborgenen ©inge offenbar (tnb," fcljließt Slntonio biefen
©heil feiner Slufoeicfmungen, „jefet wollen roir von größeren Saaten fprechen."
S3uttabeo beroeift in SBalir^eit, baß er nicht ein Gfiarlatan ift, ber
nur gefchieft erraten, wohin ber SBtrth feine ©olbgulben ju fteefen pflegt.
SBäfirenb er mit ©iano, Stnbrea unb ben beiben Änaben roeiter beS 2BegeS
nach ^Bologna siebt, erflärt ©iano tf)m bie SSerantaffung jur befdfiwerlichen
SReife in ftorrer SBinterSjeit. üliicht roenig »erblufft mag Sefcterer geroefen
fein, als ü)m Johannes mit aller (Seelenruhe »errieth, baß innerhalb jelnt
©agen bie ©fmibotti fid) roieber im Sei'ifce uon Bologna befinben mürben!
©iano roill fofort umfehren, ber 3ube aber fagt, er hätte $u fürchten,
menn er feinem 9iattje folgen wollte, im ©egentheit, er roürbe alsbalb ber
befte $reunb ber if»m bisher feinbttchen ©tppe fein. Unb fomit nerblieb
2lhaS»er »om ©omtabenb 3lbenb bis ÜDJontag früh im &aufe ©wnoS ju
Bologna. SBährenb biefer grift bertetf) fieb. nicht nur Smttabeo mit ©iano,
fonbern ftellte ihm auch ein „brieve", ein 23re»e atfo au«, welches ifjn »or
jeber £auSburcbfuchung ober ähnlichen Seläftigungen fcf)ü|en roürbe. ©attn
oertiefe SButtabeo feinen ©aftfreunb. 9lnbrea begleitete ben 5Rut>elofen bis
$um ©höre unb wollte ihm unterwegs ein Sßaar neue ©tiefei taufen, ©er
3ube aber fct)tug fie aus, oerfpradb bagegen 2lnbrea bureb, §anbfd)tag, if)n
in feinen Käufern in Sorgo unb in Dörens ju befudben. 2Bte es SlhaSoer
twrauSgefagt, fo gefebab. es. ©iano würbe ber gute greunb ber ©huibotti.
©ie Grabung ber SBolognefen ju ©unften ber Seftteren fanb am 5. Januar
1416 ftatt. @S ift bafier leicht nac^juweifen, bat?, wie febon oben bemerft,
Slntonio, ber ©rjronift, fiel) im ©atum irrte, wenn er 1411 febrieb.
©er ewige ^ube burebftreifte barauf bie ganje Sombarbei, bie 50?arfen
oon £reoifo unb 3lncona. %,n SSicenja wollte ihn ber „chapitano", ber
Statthalter, auffnüpfen laffen. 211? man aber ben ©trief anjietien wollte,
war ber 93uttabeo nicht oon ber ©rbe freijubefommen, trofcbem ber ©tatt*
Rätter felbft anfaßte, ©in neuer ©trief riß in brei ©tücfe. „D wahrer
unb flttmädfjtiger ©ort," ruft an biefer ©teile ber 6l>romft mit ber ganjen
9taioetät feiner 3eit unb feines ©laubenä aus, „wie groß ift bodfj ©eine
Siebe ju ©einen ^reunben, baß ein fotdljer .^anfftrief, ber einen ^urm
hätte heben fönnen, in mehr ©tücfe jerfiel, atö Re felbft bie gäulnif}
hätte fchaffen mögen!" Unb fo gelangte enblidj ber Qiube auch "tch Sorgo
a ©an Sorenjo, währenb Antonio bi ©er SEommafo Siebbiti bafelbft als
«ßobefiä waltete (23. Slpril bis 23. Dctober 1416). ©eine Slnwefenheit
würbe fdmett befatmt, unb bie ganse ©tabt lief auf bem ^ßlafce jufammen,
um 33uttabeo mit ben tölpelljafteften %vaQ«n ju beläftigen, „thierifcfi unb
6*
82
Ulfreii Huljemann in Som.
wenig ehrerbietig", rote ber Gtyronift in geregtem Unmutl) fid) auäbrütft. ©ie
fragten Ü)n: „2Bie lange werbe id) nod) ju leben l>aben?" „SBirb mir baS
©lüd* belieben fein?" „SBerbe id) ßinber b,aben?" Unb 3le$nßd)eS. ©er
Qube felbft ift es, ber ben Seuten »on SBorgo ben @mjt beS Sebent in
bie eriraterung ruft. 3>»m Sßobeftä geroenbet, fagt er: „Senn $tyc wfifjtet,
was td) weife, fo würbet %fyc fe^r betrübt fein, unb 3)Jand)er würbe fieifje
£f)ränen weinen. ®E»e $fot nod) aus bem Slmte treten werbet, fott einer,
ber fid) in biefem Äreife befinbet, an eben biefer ©teile gelängt werben."
Unb fo gefdjab, eS, benn bafelbji würbe auf Sefefyt beSfelben Sßobeftä
©ra^ole, ben man für ben beften aller jungen 3Mmter b,ielt, an ben ©algen
gefnüpft. SSon 33orgo fiebelte ber @wige nad) ^lorenj über in baS $aus
beS „bemfitl>igen" Antonio, wofelbfi üm aud) SJteffer Sionarbo b*3lre}jo, ber
Äanjler ber 9tepubttf, auffudjte, unb über brei ©tunben mit itnn im ge*
Reimen ©efpräd)e blieb. SWeffer Sionarbo, »on oielen bürgern befragt, was
er »on bem ©otteSbtener tjalte, gab jur 2lntwort: „@ntweber ijt er ein
@ngel ©otteS, ober er ijt ber Teufel. @r l>at alle 2Biffenfdjaften ber SBelt
imie, er fennt alle ©pradjen, alle SSocabeln »on aßen auSerlefenen Sßro»tnjen."
SReb^r oerrietb, -Keffer Sionarbo ntdjt. @3 mujj bemerft werben, bajj Sio*
narbo 33runi, genannt b'äreäjo, einer ber gelebrteften 3Jfämter feiner S«t
war. ©täubte er wtrflid) an baS 3J?ärd)en, weldjeS Ü)m SButtabeo aufttfdjte?
Qm folgenben Safjre lehrte ber Qube abermals in baS an ber ®de
»on Sllberti ba ©an SRomeo gelegene £auS ber Srüber »on grauceSco
b'2lnbrea jurüd. ©er Gtyronift nennt alle bie ^atricier, bie S3uttabeo be*
fud)ten, fo bie Sßerujji, SRtcafoti, Sufmi, SRorelli, 2llberti unb Slnbere »on
nab^ unb fern. „Sdj blatte 3furd)t, bafj bie ^Meiert meine« alten unb Keinen
föaufeS bred)en würben, unb fo fagte id) ülflen: @r wirb geroi§ lieute Slbenb
in einer Verberge übernadjten. Unb Meä wartete gebulbig cor ber £l)ür,
bis bie ganje ©trafee überfüllt war. 68 fanben fid) in ben erften Slbenb«
ftunben Diele SBürbenträger ber SRepublif ein, mit biefen, bem ©ruber
Sartolomeo unb bem ©d)reiber felbft fd)ritten wir mit gadeln burd) bie
geftaute 9Wenge, um ben ©wigen jum ßaufe beS ©er Sßagolo bi ©er
Sanbo gortini, beS bamaligen ftanjterS, ju führen, unb bod) würben wir
nid)t gefefien. D wahrer ©ort, wie bewunberungSwürbig finb bod) ©eine
SBerfe!" 3lm nädjften SKorgen führte man ben $uben in ben tpalajjo ber
©ignoria felbft, unb filtere erhielt »on ü)m fel»r wid)tige politifd)e SHuf*
fd)(üffe. ©er bamalige 3f^anneä ooer 33uttabeo fd)eint bemnad) feine
äugen b^übfd) offen gehalten ju ^aben. & ift jebenfalls ein äufterft ge=
fd)i(fter, feiner 3ett weit überlegener SRenfd) gewefen, unter Umftänben niel«
leid)t aud) ein polttifdjer 9lgent! ©ie »orneb^men Herren Ratten am 3lbenb
bis 3Wittemad)t auf baS erfd)einen S3uttabeoS gewartet unb oerabreidjten
bafür Slntonio eine berbe Sopfwäfdje. ©rft auf baS 3ß"9"i§ b& ÄanjlerS
l)in würbe geglaubt, bafc ber ^o^anneS in ber 2^at trofe ber gadeln un»
gefeb^en burd) bie Wenge gefdjritten fei. Unter Qenen, bie trofcbem nidjt
Die Sagr oom €n>igen 3ut>en in Italien. — - 85
an bie Gräfte beS ©otteSbtenerä glauben roottten, bcfonb fid) aud) ber
<^f<$id)t3fd)retber ©tooanni aWoretti. @r roünfdjte fid) ein 2lmt, um er»
proben ju fötmen, 06 ber rounberbare grembling aud) bie gäf)igfeit befifce,
burd) bie Suft ju »erfdjroinben. 2)iefe ©elegenfjeit liefe nicfjt auf ftd} warten.
3KoreHi rourbe im $af)re 1413 jum SBicar von 3HugclIo ernannt. Suttabeo
befudjte in bemfelben Safyre ben Drt unb rw)te, »on »ielem SBolfe be«
gleitet, in ber Ätrdje ©an SDonnino, nörblid) »on ber ©tobt felbft aus.
&ierb>r fd)i(fte ber SBicar feine ©enbboten, fd)tiefelid) bie ganse berittene
2etbroad)e aus, um ben ©roigen ju fid) ju entbieten unb tlm unter Um«
ftänben mit ©eroalt unb gefeffelt »or fid) führen ju taffen. 2Bäf)renb ba8
SSolf in 33uttabeo brang, ber Dbrigfett nidit SBiberftanb ju teiften, lad)te
er unb meinte, nid)t einmal ber 93icar fönne if)n ju ©troaä sroingen, was
ifmt nid)t gefiele. Um aber fdiliefetid) bem Dberbefel|l3l)aber ber „fami-
gliari", ber 2eibroäd)ter, feine Ungetegenljeüen ju bereiten, rief er bem fid)
fd)on erfolglos ©ntfernenben nad), er werbe fd)on »or ib,m beim SSicar fein.
5Der 3ube fd)lug barauf einen anberen 2Beg ein unb mar ridjtig »iet früher
beim Sßicar. ©iefer liefe Um jroifd)en fid) unb feiner ©emalilm Sßlafe
nehmen, unb eS rourbe SSieleS geflatfd)t. 2lud) beflagte ftd) ©iooatmi
SWoreut beim Suttabeo, bafe tfmt feine junge ftrau feinen 9lad)roud)8 be*
fd)eeren rooHte. 33uttabeo »erliefe tfmt einen ©of)n, nod) cf»e. er t>om 3lmte
fdjeiben mürbe. SDiefe $ropt)ejeiung ift nad) 3uTem, roaS befanm, nid)t
eingetroffen, rooljl aber ift e§ erroiefen, bafe bie junge grau bem SMcar nod)
roäbrenb feiner Amtsführung burd)bratmte. Äurj, SRoretti blatte feines Uns
glaubend nid)t »ergeffen. 2lls ftd) 3o()anneS nad) bem 5Rad)tmaf)le »erab=
fd)ieben wollte, complimentirte ü)n ber SHcar in ein „ehrenwertes" ®e*
fängnife, bas Reifet in eine fixere Äammer, bie unter bem gunbament beS
Sturmes in ben Reifen eingelaffen roar. $n blefer Cammer „befanb ftd)
aud) ein eljrbareS 33ett, trofcbem Cannes nid)t in einem folgen ju
fd)lafen pflegte. 35er 9taum enthielt jroei Keine genfter, bie mit ftarfem
©ifen fo bid)t befleibet roaren, bafe nid« eine 3JJauS f|ätte ^inburd)fd)lüpfen
föraten; ferner eine S3obJentt)ür mit einer niebrigen engen Deffnung, eben«
falls mit ftarfem ©ifen auSgefd)lagen unb einem mächtigen ©djloffe t>er=
fefjen." &ter hinein rourbe Cannes gefperrt. 2ltS ber 33icar am näd)ften
SJtorgen baS Verliefe öffnen liefe, roar natürlid) fein 3ob>mteS meb> barin
ju entbecfen.
S)ie oon Antonio erjitt)lte ®efd)td)te berid)tet beS SBeiteren, bafe Sutta*
beo aud) in ben 3af)ren 1414, 1415 unb 1416 in feinem £aufe weilte,
unb von anberen ftd) an biefe 33efud)e fnüpfenben Segebniffen. SBä^renb
beS jroeiten 33efud)eS roo^nte Suttabeo in ber Verberge unb gab fjier ben
Srubern ein grofeeS ©ffen. 3um ©d)luffe brannte 3lntonio, bem Gbjoniften,
eine grage auf ber $unge. @r »erlangte ju roiffen, ob ber 3"be roirflid)
ber ©iooanni Sßotabbio fei. $Diefer belehrte itm barauf, bafe man feinen
■Warnen oerftümmelt f>abe. 6t nenne ftd) „©iooanni 23att6bio", baS Reifet
8$ Zllfteb Rntjemann in Horn.
Spanne«, bcr „©ottprügler". Unb nun roieber&olte er bem -Neugierigen
bie fattfam befonnte (Srjäljlung »om lefeten ©ange beä $eUanb8. Sita
Antonio fd)liefetid) aber nodjmalä fragte, ob er aud) tb/rtfäd)ttd) berfel&e
„©ottprügler" fei, antwortete Suttabeo: „5Berfud)e nic^t aBeitereS }u er«
forfdjen, Antonio." Unb bamit fd)lug er bie 2tugen nieber, au« benen eine
Sliräne ^ernieberrottte. $>er ©djlufj ber ©lironil beä Antonio ifl rüljrenb.
2U8 ber Qlube jum legten 9Me bei i^m einteerte, rang feine grau mit
bem $obe. 33uttabeo feilte fie, inbem er abermals ein 93re»e ausfertigte
unb e8 ber Äranfen um ben £al§ Ijtng. „9JHt biefem 33rene Ijabe id) nodj
triele unb »erfd^iebene Äranltieiten Reiten fönnen," fdjretbt Antonio. „@nb<
lid) lieb, td) e8 einem, ber e8 mir nid)t roiebergab: ©ort oerjei^e iljm! 2tl8
3o^anne8 mid) »erliefe, umarmte er mid), xoaä er »or&er nie getrau. 3$
ftaunte barob unb fragte: „2Berbe id) @ud) nie nrieberfeljen?" ®r ant*
roorte: „9lie metir mit ben förperltdjen 2lugen." Unb fo ging er. @r
begab ftd) m baä ßlofter oom Sßarabiefe, wo Ujn bie 3Jlönd)e gefangen
nahmen, um ü)n ber Dbrigfeit auSjultefern. 2Bät)renb ber 5Rad)t aber oer*
fd)roanb er, unb bie 3Jlönd)e ftanben oerbufet ba. ©eitbem fam er nid)t
mebj in biefe ©egenben. Unb fo trabt er burd) bie SBelt, big ©ort bie
Sebenbigen unb bie lobten rid)ten ttrirb in fetner 2Rajeftät unb im S^ale
uon Qofapliat SKöge er für uns beten, bamit ©ort uns unfere ©ünben
»erge6e, unb er uns jum Gimmel eingeben taffe. 9lmen!"
®er trefflidje SRorpurgo Ijat außer obiger ©b,romf, bie fid) unter ben
©trajji'fdjen SDotUmenten »orjtnbet, aud) ein £agebud) be3 ©afoejtro bi ©fo*
ratmi SRannini entbedt, ber im $df)tt 1416 ^ßobeftä »on SKgtiana war, ben
Sefud) 33uttabeo§ unb beffen politifd)e Drafel empfing. 2Ba3 fagen unfere
©eletnten ju fo merfroürbigen Seiträgen jur ©efd)td)te ber ©age uom
„Groigen Quben"?
Das 3rtefgefKimni§ tDäfyrenö bev frati3öfifcfien
Hepolutton.
Von
Jt. <& 25orftenfjetaier.
— ITtairi3. —
| nter ben aWifjftänben, beren Sefeitigung bie 2Bcif)ler ju ben
Etats generaux $rcmfreicf)!3 im 3^f)rc 1789 faft einftimmtg Der»
langten, erfdjeint in ben f. g. Galjierä bie oon ber Regierung
bi« botiin gebulbete, trielfadf) fogat r-erlangte SSerleftung be§ 33riefgeljeims
niffeS. $ie Unmlefclidjfeit be§ lederen ftefften bie SBäljler auf gteidje
©rufe mit ber greiljeit ber Sßerfon, beä ©igentf)um3 unb mit bem Siedjte
ber freien aJietnunggäufcerung. ©olcbe ©teidjftetlung mar burdfiauS ju=
treffenb, infofern jebcS einbringen in bie in Briefen niebergelegten ©e*
Iieimniffe Sfoberer alä eine 33eeinträdfjtigung ber aus bem Segriffe ber
^Jerfönlidfifett Ijeroorgeljenbett unb mit ber teueren Derfnfipften SWcd^te, ate
eine S8erle|ung be8 2tnfprudj3 auf £reue ftdj barftettt. $n bem SWafje,
in meinem eine Regierung bie ^erfönttdjteit roürbigt unb fdjüfct, in bem*
felben SDfa&e umrbigt unb fdjüfet fie ba« ©eljebnmfj be§ 25rtefoerfef)r3.
®afür bietet bie ©efdndjte granfreicfjä im 18. ^alnfymberte unb ju Slnfang
biefeS Qialirljunbertö btn heften SBeleg. SBie bie Regierung SubnngS XIV.
in grotfreicf) in 3Jcif3acfjtung ber perfönlicfjen greifieit ba8 Steufeerfte tetftete,
fo fdjroer oerfünbigte fie fidt) an bem SBriefgefyeimniffe, nidjt etwa bloä
unter bem Ijeudderifcfjen 33ora>anbe ber ftürforge für baS ©taatäroofil,
fonbern autfi jur Sefriebigung ber 9ieugierbe bes ftönigS, ber über ben
Sßarifer Rlatfö auf bem Saufenben ficfj galten rooKte. 2lu<$ bie -Jtacfjfolger
SubroigS XIV. trieben neben bem üJKfjbraudie mit ben lettres de cachet
ben fyergebradjten Unfug mit ber ©röffnung ber ©riefe, nrie bieg aus ben
Sefc^roerben ber 2BöI)ler ber Etats genöraux erhellt.
86 K. <S. 8otf entjeimer in ITla«n3.
2)Ut bem Sufarcnwirttttai ber festeren burftc man bie SBeenbigung
beS fdjroer empfunbencn 9J?if?braucfjeS erwarten. Qn ber 2^ot verfünbigte
bic SBolfSDertretung bereits im 3uli 1789 ben ©runbfafe ber Uiroerle&Udjfeü
beS »riefgetyeimniffeS. ©ie t^at bieS nodj, beoor fie mit ber Slufftetlung
ber 9Henfdjenred)te, mit ber ©eroäfirleiftung ber »ollen ©ntfalrung ber
perfönlid)en ^reilieit, fid) befd)äftigte. ■Jtadjbem bie gefefegebenbe ©eroalt
roiebertjolt Deranlafjt roorben, für ben 33rieffd)ufc einjutreten, ging fie fpäter
boju über, ben jugefagten ©d)u| burd) ernfte ©trafbefttmmungen ju erbten.
Allein rote in onberen Singen, fo erwies fid) aud) tiier im Fortgänge ber
9?e»otution bie ©efefcgebung als rotrfungSloS gegenüber bem 2luftreten ber
jeroetttgen 2Rad)tljaber in SßariS unb in ben Sßrooinjen, roeldjie in S3er=
Übung »on 8BiiDEürlid)feiten unb ©eroalttljätigfeiten bie alten 33et)örben roeit
in ©d)atten fteHten. 2Bo immer mit ber bereinbred)enben 2lnard)ie neben
ben gefefemäfcigen ©eroatten bie &errfd)aft beS Röbels ober ber ßtubs fid)
geltenb madjte, unb reo immer bie eingelegten 93e$örben in ben Srtenft ber
Parteien unb beren £etbenfd)aften fid) ftettten, ba gab eS, ben ©rflärungen
unb ©trafanbrolmngen ber gefefcgebenben ©eroalt jum irofc, roeber einen
©d)ufc ber $erföntid)fett, ber freien 9Keinung§äufeerung, nod) einen <Sd)ufc
beS SriefgefietmnijfeS. 2ttS gar bie repubtifanifd)e ©efefegebung in einem
Slugenblicfe beS b^eftigften Kampfes jroifd)en ben um bie Dberl|errfd)aft
jtreitenben Parteien für einen ganj bestimmten gall bie ®urd)forfd)ung ber
Sriefe geftattete, ba matten bie bamats allgeroaltigen ©emeinbeoerroaltungen
bie StuSnatnne jur 9feget. $fox 33eifpiel blieb mafjgebenb für bie fie ab»
löfenben republifanifcfjen 33eljörben, namentlid) jur 3«* te* SrtrectoriumS.
SBäb^renb aber bie teueren Sur ^Rechtfertigung tb>eS 33erb>ltenS ber Sßoft
gegenüber ju einer atterbingS roifflürlidjen Auslegung beS ©efefceS if»re
3uflud)t nahmen, glaubten bie Sßolijeiminifter beS Staiferreid)S über alle
Sebenfen fid) roegfefeen ju bürfen unb beeinträd)tigten ben Sriefoerfeh^r in
einer ÜBeife, bie baS SBerljatten ber 33ef)örben bei SSegimt ber 3too[ution
nod) formlos erfd)einen tiefe.
2>en Stntafe ju ber oben erwähnten erften Steuerung ber SSolfSoertretung
»om 25. Quti 1789 gab ein in jeber #inftd)t merfroürbiger SJorfau*. Um
mittelbar nad) (Srftürmung ber ^arifer 23aftiHe (14. %ulx 1789) waren an
ben oerfd)iebenften Drten granfreid)S ernfte Unruhen ausgebrochen, bie
bereits am 16. 3fuli einen 2^eil beS SlbetS, barunter aud) ben ©rafen
SlrtoiS, ben »ruber beS ÄönigS Subroig XVI., jur glud)t in'S StuSlanb
oerantafeten. 2)er rafd) fid) ooUjieb^enbe Verfall ber löniglid)en ©eroalt
ermutigte bie Siäbetsfüljrer ber ^Bewegungen in SßariS unb in ben
^ProDinjen, auf eigene gauft neue 33eljörben etnjufefcen. So entftanb in
$PariS ein republifanifdjer ©emeinberatl), ber ben äftronomen Saittn jum
aWaire beftellte unb es als feine erfte Stufgabe erad)tete, ben »errätb^erifdjen
3tbfid)ten ber StönigSpartei nad)jufpüren. Qn Verfolg biefes SJeflrebenS
fing bie neue S3e$örbe eine ©enbung beS SBaronS (Saftelnau, beS SBertreterS
Das 8riefg»lieimni§ »äliwnb ber fran33jtfd(en Secotntion. 87
tjfranfreichs in ©enf, ab, um fid^ in ben Veftfe oon Vriefen, bie an ben
©rafen ärtois beftimtnt waren, eigenmächtig ju fefeen. Vattln fanbte bie
alfo erlangten Vriefe an ben Vräfibenten bet SRationaloerfammlung in
VerfatHeS, ber fidE» weigerte, bie ©chrtftftücfe, bie nic^t ettoa in Verlauf
einer Unterfudjung ju golge ritterlicher Vefdjlagnahme angehalten toorben
waren, ju öffnen unb ber Verfammlung funbjugeben. Sfa biefe in öffent«
liä)er @i|ung oom 25. Quli 1789 erfolgte SEBeigerung beS Vorjifcenben
fnüpfte fidj fofort eine lebhafte Vefpredjung, inbem mehrere SDtitgtteber ber
VolfSoertretung, unjufrteben mit ber Haltung if)teS Vorfifcenben, auf 9Jlit=
Teilung ber Vriefe beftanben, unter bem Vorbringen, bafj hier bie SRiicfficfjt
auf baS ©taatStooljl allein in Vetradjt fomme. ©iner ber entfd)iebenften
Vertreter biefer ainfidjt mar ber rebegetoanbte, ju ben ßonftitutionetlen
jäljlenbe ÜJlarquiS ©oug*b'2lrciS, ber baoon ausging, baß man in &riegS=
jeiten Vriefe erbrechen bürfe, bem Striege aber bie 3eit ber Unruhen unb
geheimen Treibereien oöllig gleidjftehe. einer lebhaften Unterftüfcung rjatte
ber SRarquiS oon «Seiten SRobeSpierreS ftch 5U erfreuen. „Db,ne 3roeifel,"
fo bemerft biefer, „ift baS Vriefgeheimml unoerle&ttch; aber, roenn eine
ganje Nation in ©efaljr ift, toemt Slnfchtäge gegen tr)rc gfreifjeit geplant
werben, bamt wirb baS, was ju anberer 3^tt als Verbrechen erfc^eint, ju
löblichem £anbetn. 92ad)fid^t gegen Verfdjmörer ift Venrath gegen baS
Volf." Qn ber 2Bibertegung biefer Slnftcht begegneten fid) bie SBortfüfjrer
ber oerfdjiebenften Vartetrichtungen innerhalb ber Verfammlung. der
cfiarafterfefte Slrmanb ©afton 6amuS, einer ber Vertreter ber ©tabt Vorig,
oerrotes auf bie in ben GahierS ju dag getretene SßillenSäufjerung aller
SBaljlfreife unb auf baS eigentliche SBefen beS VriefoerfehrS. ©in gefdjloffener
Vrief, fo meinte ber 3iebner, ift gemeinfdiaftlidjeS ©gentium desjenigen,
ber ihn abgefenbet hat, unb desjenigen, ber ihn empfangen foH ober em»
pfangen h<rt; ohne fid) gegen bie erften SlechtSgrunbfäfee aufzuleimen, barf
man barum fein Vriefitegel eröffnen, den SftedjtSftanbpunft ftreifte auch
ber Vifdjof oon SangreS. Gr hielt es jwar für erlaubt, ©riefe eines bem
Vaterlanbe oerbädjrigen 9Renf(hen su erbrechen; allein ber Verbacht mufe
Begrünbet fein unb barf fid) nicht lebigtich auf irgenb eine Sfojeige ftü|en.
©anj entfehieben trat ber demohat duport gegen bie Gröffnung ber
Vriefe ein. „GS ift," fo rief er, „einer Station, welche bie ©eredjtigfeit
liebt, bie fich auf @r>rltdt)fctt unb Offenheit GtwaS ju gut thun will, burdfc
aus unwürbtg, eine berartige Schnüffelei ju begehen." den ftärfften ©tofj
»erfefete bem Stntrage auf SDJittheilung ber Vriefe einer ber Väter ber
Resolution, ©raf SJiirabeau. 9Bo immer bamats eine Veetnträdjtigung
ber greiheit in grage ftanb, hotte fein 3Jlitglieb ber Verfammlung fo
jfinbenbe SBorte wie er; babei oerftanb fein Slnberer gleich ihm bie jeweils
auftauchenben fragen an ber £anb ber Grfahrungen beS SebenS ju prüfen
unb ju behanbetn. gür ihn mar hier nicht bloS eine Rechtsfrage im Spiele,
für ihn brehte eS ftch noch um ben SJadjweiS, baß ber Vertrauensbruch
88
K. <S. Botf enljeimer in ntatns.
oöllig nufelo« fei „2Ba8 erfährt man/' fo fragte er, „auä Briefe«? ©laubt
man im ©rnjle, bafj bie 2tafd)läge su gefäf»rtiä)en Unternehmungen burd)
bie Sßoft beförbert werben? ©elbft politifdje 9lad)rid)ten erfährt man ntdjt
auf biefem SBege. 2Beld)e große ©efanbtfd)aft, welcher £rfiger eine« bt>
fonber« mistigen Auftrag« umgebt nid)t bie ©efafjr ber ÜNadjfpürung auf
ber Sßoft?" die ju erwartenbe 2lu«beute fteht nad) fetner 2lnftd)t in feinem
33erf)älrmffe jur 33erffinbigung an £reue unb ©tauben unter ben 9)lenfd)en.
3tm Sd)luffe feiner Stbfttmmung fdjtlbert ÜDtirabeau ben oon ber begehrten
aBaferegel ju beforgenben ©inbrucf wie folgt: „%n granfretd) beraubt man
unter bem SBormanbe ber öffentlichen (Sicherheit bie SSörger beS ©genthum«
an ihren Briefen, weld)e bie Gingebungen be$ ^erjen«, ben 6d)at} beS
SBertrauenS verwahren, diefe lefcte ,3ufM)t oer Sr^eit h«ben diejenigen
»erlebt, welche oon ber Nation sunt ®d)ufc irjrcr SRedjte berufen mürben;
fie haben burd) ü)ren SBefdjtufj ei ermögttd)t, bafj bie geheimften Regungen
be« &erjen3, bie fünften ©ingebungen be« ©eiftes, bie ©rgüffe eine«
oft unbegrünbeten 3onK3/ °k oielfad) fd)on im nädjften 2lugenblufe
roieber jurücfgenommenen irrigen Uitterfteüungen ju Beweismitteln gegen
brüte Sßerfonen ftd) geftalten, bafj, ohne es ju niiffen, Bürger gegen
33ürger, greunbe gegen greunbe, Söhne unb Sßäter gegeneinanber ju
9Kd)tern werben, bafj fte einanber oerberben, benn bie SBerfammCung hat
e3 auSgefprodjen, baß fte 5U ©runblagen ihrer Urtheile jwetbeuttge SJRt*
theilungen machen werbe, bie fte ftd) nur burd) ein Verbrechen befd)affen
fomtte."
9lad) biefen SluSeinanberfefeungen unterblieb bie @rbred)ung ber Briefe.
(Sine gefe$lid)e Siegelung ber angeregten grage erfolgte weber in ber
©ifeung 00m 25. Quli 1789 nod) in jener 00m 27. Quli barauf, als bie
grage oon Beuern befprod)en würbe.
die 2teufjerungen ber -Jtotionaloerfammlung hmberten nid)t bie gort*
fefcung be« einmal eingeriffenen 3föfjbrauche3. 3iad) SaljreSfrift fam bie
grage nochmals an bie aSolfSoertretung. @S fyatte nämlich bie SJhtniä«
patttät oon @aints3tubin eine an ben ©eneralintenbanten ber $oft,
b'Dgno, gerichtete Sßoftfenbung angehalten unb eine SRcirje oon Briefen
erbrod)en, welche für ben -äJUnifter ber auswärtigen 3lngelegenh«ten in
SPariS unb für bie SKinifter Spanien« befrimmt waren, diesmal belatmte
bie SBerfammlung garbe, inbem fie burd) decret 00m 10. — 14. Sluguft 1790
baä Srtefgeheimmfj für unoerlefclid) erftärte unb Sßrioaten wie SBehörben
bie S3efugnifj, ©riefe ju eröffnen, abfprad). 3lod) einmal oerfünbigte bie
SBerfammlung in bemfelben 2Konat Sluguft 1790 ben ©runbfafc ber Unoers
lefelichfett beS SSriefgeheimniffeS, als fte burd) decret 00m 26.-29. Sfoguft
ben oon ben 5ßoftcommiffären ju leiftenben @ib regelte, diefe mußten
eiblid) geloben, baä Sriefgeheimntfj treu ju wahren unb ben ©eridjten jebe
3uwiberhonblung gegen ben 33rieffd)u$, fobalb Re baoon Äenntnife erhielten,
unoerjfiglid) anjujeigen.
Das BriefgeJjeimnig Ȋljtenb btx fransSfifdjen Heoolntion. 89
Stuf biejenigen, welken an ber 2lufred)tertiattung ber Drbmmg !JUd)tS
gelegen mar, matten bie oorgenannten ®ecrete, wetd)e ber Strafanbroljungen
für ben galt ber SBerlefeungen beS ©rtefgeiieimniffeS entbehrten, feinen
fonbertid)en ©inbrucf. 3Bo immer Unruhen entftanben, bo waren auä) bie
©riefe in ©efaljr. So nmrbe bie Qagb nad) ©riefen in sparte in groß*
artigem SOiafee betrieben im %vmi 1791 aus 2lnlafj ber gtud)t ber f ihrig*
liefen Familie unb in ©erfolg eines ©ecretes ber 9totionaloerfammtung
com 21. Qunt, baS bie Bürger oon ©aris jur 21ufred)terljaltung ber
Drbmmg unb pr ©ertljeibigung beS ©atertanbeS aufforberte. ©ine ber
erften Sd)ufema§regeln war bie @inb>ltung aller eingelaufenen ©riefe, wo*
gegen bie 9iationaloerfammlung nod) am nämlichen 21. Qunl eintritt.
£rofebem ging bie gfafmbung nad) ©riefen ruljig weiter, wie bieS ein
®ecret ber SRatwnafoerfammlung oom 10.-20. 3uli 1791 belegt, ©arnadj
Ratten einjelne ©erwattungen unb ©emeinbeoorftänbe junt Sdjufee beS
Staate« bie Ueberwadjung beS ©oftoerfet)rS in bie $anb genommen, ©oft*
fuhren angehalten, bie 3füf»rer ber fetten gesroungen, ©aefete an anberen
Orten als in ben ©ofträumen nieberjulegen, bie SDienfträume ber ^oft=
birectoren unterfudjt unb bie SluStfieUung ber ©riefe Derjögert. ©a nad)
2tnftd)t ber ^ationafoerfammlung ungefefclidje SClittel ber bejeidfjneten 2lrt
hödjflenS im Slugenblicfe bro^enber ©efahr ober allgemeiner Unruhen ge*
bulbet werben bürften, nid)t aber ju 3«*««' wo alle jur 2tufred)terfialtung
ber Drbnung erforberlidjen SJiajjregeln bereits getroffen mären, fo fdjürfte
bie JlationalDerfammlung nod) einmal bie jum Sdjufee beS ©oftoerfefirS
erlajfenen gefefelidjen ©eftimmungen jur 9iad)ad)tung ein. %n ber ©egrünbung
itrreS ©efd)tuffeä hatte bie SHationafoerfammlung angebeutet, baß eS gälte
gäbe, in wetzen ber ©runbfafc ber Unoertefetidjfeit beS ©riefgeheimniffeS
nid)t in ©etradjt fäme. Soldje gälte fid) jured)tjutegen, mar feine befonberS
fdhwierige Stufgabe für biejenigen, wetdje Unruhen anjujetteln im ©egriffe
waren, ober roeld)e burd) ©erbäd)tigung ihrer ©egner fid) biefe »om föatfe
fd)affen wollten.
SMe in bem äulefct erwähnten ©ecrete unterlaufene 2lbfd)wäd)ung beS
©runbfafceS ber Unoerlefctid)feit beS ©riefgeheimniffeS fottte burd) ©traf*
beftimmungen auSgegttdjen werben. %n biefer 2tbfid)t bebroljte ber Code
pönale oom 25. September MS 6. Dctober 1791 (im 2. Stjeil I. £itet,
3. 2tbtf>. 2lrt. 23) bie »orfä&tid)e, abfid)ttid)e Unterbrüdfung eines ber ©oft
anoertrauten ©riefeS fowie bie ©ertefeung ober ®rbred)ung oon ©rieffiegetn
mit ber Strafe ber degradation civique. SBurbe baS »orbejeidmete ©er*
bredjen auf ©runb eines ©efehls ber »oltjtehenben ©ewalt ober burd) einen
©oftbeamten begangen, fo traf ben SWinifter, weld)er ben ©efeb,l erteilt ober
ben ©efeht mit feiner ©egenfdjrift gejeid)net, ferner ^eben, ber ben ©efef)t in
©ottjug gefefct, ben ©ofkgenten, ber ohne ©efeljt gehanbelt, eine Strafe »on
jwei ^ren ©efängnifj. SBentge 2Bod)en nad» ©erfünbigung beS ©efefeeS
überfanbte ein ©arifer ©ürger ber gefeftgebenben ©erfammtung einen ©rief,
90 K. <S. Socfentteimer in IItain3.
bcr jur SSerlefung gebraut werben foffte. ftaum bemerfte bie SSetjamm»
lung, bafc ber SBrief burd) unbefugte £anb eröffnet worben mar, als fie
fofort bie Verbrennung beS Briefes uerorbnete (10. ©ecember 1791).
Slufjerljalb beS ©ifcungSfaaleS ber gefefcgebenben Berfammlung legte
man ftd) feineSwegS Befdjränfungen auf, um baS Briefgeheimnis ju fronen.
®ie 3Köuner, meldte bie ©reuett^aten beS 1. September 1792 ueran»
ftalteten, Ratten Upen SBerfseugen bie SBeifung erteilt, bei ®urchfud)ung
ber 2Bof)ttungett ber Bürger vor allen fingen nach Briefen ju forfdjen.
©riefe, einerlei wie ber Befifc berfelben erworben worben, waren, als etn*
mal baS 9to>olutionSgericht feine £f)ätigreit' eröffnete, bie beften Beweis*
mittel, um polittfd)e ©egner an'S SDleffer }u bringen, fo lange baS
9teüolutiott3gerid)t überhaupt nod) auf bie Beobachtung ber 3formen eines
Verfahrens 9Berth legte.
©ine ©orte »on Briefen würbe jur 3«t/ als ber grofje 6ntfd)eibungSs
fampf jnjifdjen ©ironbiften unb ^acobinern bereit* begonnen blatte, burd)
beeret beS 9?ationalcon»enteS »om 9. — 11. 3Kai 1793 »on bem Voftfdjufce
förmlid) auSgefdjtoffen unb oogelfrei erflärt, nämlid) ber Briefroedjfel ber
auf bie Sifte ber Emigranten gefefcten Verfonen. 9lad) 2lrt. 3 beS ge*
baegten ©ecreteS foHten bie Briefe biefer Verfonen in ©egenwart beS
©eneralratheS ber ©emeinben eröffnet, bie »orgefunbenen SBerthgegenftänbe
befd)lapatimt werben.
Um bieferit ©efefce nad)jufommen, burd)forfd)ten bie ©emeinben täglid)
bie Brieffenbungen. Ueber bie 9lrt unb SBeife, wie bicfeS ©efd)äft be*
trieben würbe, belehren uns bie SßrotofbUe ber ©trafjburger aRunicU
palität, bie im ©ruefe oorlagen. 3ft Strasburg befdjlofj am 15. grimaire II
ber 2luSfd)u§ ber 2Bad)famfeit unb allgemeinen Sicherheit, „bafj bem
$)tredor ber Briefpoft eingefd)ärft werben foff, bie anfommenben Briefe
nicht anberS ju öffnen, als in ©egenwart ber SHitglieber ber Vropaganba,
welchen bie Bürger Qung unb SBiloot beigegeben werben foHen." $m
befferen SBürbigung biefeS Befd)tuffeS fei nur barauf bjngewtefen, bafj bie
Vropaganba eine Vriuatgefellfd)aft, unb ber Bürger ^ung feines 3*id)en3
©djufter war. SBenige £age fpäter, am 24. gtouaire, würbe ber Bürger
©tamm mit ber SDurchfucfning ber Briefe betraut, auf beffen Bericht b,in
bie weiteren SBeifungen an'ben Voftbirector, Brütbaut, ergeben foHten.
Bejetdmenb für baS treiben biefer ©trafjburger ift bie £hatfad)e, baß fie
eines £ageS eine an einen Kaufmann in Kopenhagen gerichtete ©enbung
eröffneten unb barin einen Brief beS HJKnifteriumS beS Sleufteren in VariS
antrafen, ber jum SEheil d)iffrirt war. Stach »ottenbeter ©urdjlefung, fo
weit biefelbe möglich war, ging ber Brief an ben Ort feiner Befrimmung
ab. Einmal entnahm man einer Voftfenbung einen Saarbetrag »on
300 Stores, um iljn gegen Slffignaten in gleichem Betrage umjuwed)feln.
2BaS man ftd) in ©trafjburg herausnahm, baS erlaubte man fidj allere
wärts in ftrantreid) währenb ber &it ber ©d)redVn3herrfd)aft unb ber
Das Sriefgelieimmtt »Sljrenb ber fraii3öjtfd)en Heoolution. 9 \
ättgeroalt beS QacobinetclubS. 3lttein aud) nad) bem Stutje JtobeSpietreS
unb ttadj ®infüf>rung bet ©ttectorialregietung glaubten bie oberflen SJebörbeu
von bem ©tunbfafee bet unbebingten Utroetteftlidjfeit beS SriefgebeitffiriffeS
jut Sidjetbett beS StaatSroobleS Slbftattb nehmen ju bürfett.
3unäd)fl erhielt bet obenerwähnte 2lrtifet be§ Strafgefe&budjeS in bem
neuen Code des dölits et des peines com 3. Srumatre IV" einen 3ufa6
babtn: „®urdj ben gegenwärtigen 3Cttifet roirb 9>Ud)t8 geänbett an bein bet
9?egietung juftebenben Stechte bet Uebetroadjung bet ©riefe, roeldje aus
ftemben Sänbetn fommen unb nad) folgen Sänbetn befümmt finb." %m
©inflange mit biefem, ben SBertb, beS gefefelid) oetfünbigten SdjufeeS beS
StiefoerfebrS bebenflid) fietabminbetnben Sufafee ium ©efefce erfdjeint
fobattn ein 2luSfdjreiben ©arnots oom 11. gloreal IV, meldjeS ben
ßommipt bet »ollätebenben ©eroalt bei ben 3)hmicipatitäten — jene oon
^SariS ausgenommen — anroteS, bie aus (Spanien unb Italien fommenben
obet bottbin befttmmten ©tiefe ju öffnen unb jene ©riefe surü<f}ubebalten,
roeldje an bepottitte ^tieftet obet Emigranten gerichtet roaten, obet roeldje
9luff£ätung übet Angriffe gegen bie Sidjetbett beS Staates enthielten.
Site suriidbetyalteneit ©riefe fottten fofott >em ^oltjetminifter trorgelegt
roetben.
2luf ©runb btefer 3lnotbnungen entroidette fid) ein regelmäßiger
Spionitbienfi auf bet Sßoft, bet einen foldjen Umfang 'annahm, bafe ein
•Nitgtieb beS 9latbeS bet günfijunbert fid} »etanlafet fab, ben eingeriffenen
Unfug öffentlidj jut Spradje }U btingen. MetbingS roitft es ein ungünftigeS
Sidjt auf bie ©efinnung, aus roeldjer bie Anregung beS 3lbgeotbneten
Smbert ßotomes ^etootging, roenn noch im Saufe bet butd) ü)n »et*
anlasten ©erijanbtungen bie ©ntbectung gemad)t mürbe, baf? (SolontöS in
geheimer ©erbtnbung mit bem Sßtinjen 6onb6 fknb. %n ben Sifeungen
Dom 26. SJleffibot unb 8. gntctibot V routbe für unb gegen bie Unoer?
le|Iid)feit beS ©riefgebeimniffeS roeittäufig »erbanbelt. %üx bie ©eredjtigung
bet Regierung jut Uebetroadjung beS ©tiefroedjfels ttat mit aßet ®nt«
fdjiebenbett ein SRann ein, bet fdjon einmal bet ron bet feinet hattet fo bod)
gehaltenen freien ©eroegung bet ©ürget einen empfinbtidjen Stof? retfefet
^atte, Qean Sebtn, bet ©atet beS gtembengefefceS, baS, angeblid) jum
3roe<fe bet Uebetroadjung bet ftemben etlaffen, bie ©efinnung bet ©ürget
einet füt ©iele »erfjängnifroollen Beobachtung unb ©rfotfdjung untetroatf.
es ift ein metfroütbiges ©erfjängttifj geroefen, bafj bet Sdjufe ftembet
Rapiere fo wenig ©nabe fanb in ben Slugen eines 90tanneS, bet um ge«
beimet ©apiete batbet beinahe fein Seben hätte laffen müffen. 9tut butd)
einen unbegteifli^en ©lüdsfall entging $>ebtt) bem Sd)ic!fale, baS am
28. Stptil 1799 oot 9iaftatt bie übrigen 3Ritglieber bet ftanjöfifdjen ©e-
fanbtfd)aft ereilte, als jbie Sßapiete bet testeten getaubt roetben foHten.
3m 9?athe ber günfhunbert ftanb ©ebn; fo jiemlid) allein; bagegen ging
feine 3lnfid)t im Math 3^<e« ^urd)/ We bet SKeinung roaten, bie Regierung
92 K. <8. 8od entjeimer in OTaiti3.
beS ®irectortum8 fönne oljne bie bisher beliebte 8ef)anblung ber Briefe
nic^t auSfommen, womit allerbingS ber gefefegebenbe Körper ber bamaligen
3ett "ber Staatsgewalt fein rülmtltcffe« 3cupi& auSflettte.
9lafy wie cor würbe unter ber oon ber äcfjtung ber 3«tgenojfen
tüof)t nic^t getrogenen ®trectorialljerrfdjaft nadE» bent 33riefwedf)fel oerbä^tiger
^ßerfonen gefafjnbet. aSerbädjttg war aber unter bem ©irectorium gerabe
fo wie jur 3"* btx <Sd(jrecfenä§errfdE)aft ein Seber, ber bem jeweiligen
aRadjtljaber nidfjt gefiel.
£ielt fcfjon bo8 SDirectorium fiefj befugt, über einen im Qafire 1789
fo feierltcfj »erfünbigten ©ranbfafe ftc^ tiinroegfefeen ju bürfen, fo erwies
fiefj bie »on einem aufjergewöljnticfien ©elbftbenmfetfein geleitete Siegierung
be3 Gonfutat« unb be3 $aiferro<f)§ in biefer Sejieljung nodfj »iel weniger
ängftlidfj. SEBeber Napoleon nodf) goudf)6 fcfjrecften oor bem ©rbredfjen
»on Sriefen surücf, mm fie hinter ©eJjeimtriffe 3lnberer fommen wollten.
<Sie fanben hierbei eine aHjett bereite Seiljilfe bei bem oberften Seiter
beä SßoftwefenS, Sooalette, ber, nrie 6cf)loffer berietet, bie „polijeU
lidfje SSerlefeung beS ©el»einmiffe8 ber sprtoatcorrefponbenjen unb ba« Gr«
brechen ber Sriefe im ©rofjen betreiben" liefe. $>en fööbepunft ber SRiS«
acfjtung ber Sßerfönlicfjfett unb ber freien aJleinungSäufeerung erreichte bie
Botfcrlidbc Regierung naefj ben Süeberlagen in Stufelanb. Um baS ©eljeim»
nifj ber lederen fo lange wie möglicf) »or ben granjofen ju bewahren, gab
ber Jtaifer ben Sefeljl, bie vom 2lu3lanbe fommenben unb bafyht abgefien-
ben 33riefe anjuljaiten. 3" &em für foteä^e 3we<fe bereit« in tyavis er«
richteten ©abinet gefeilten fiefj von ba an bie geheimen Gabtnete in Dftenbe,
Trüffel, Hamburg, Sertin, 3Wailanb unb glorenj. ©in SBinf ber oberen
33ef)örbe genügte, um SBriefe anjuljalten, beren ^nbatt ber Äaifer ober
beffen 3JHnifter fennen wollten. &>tö ftanb in twllem Ginflange mit ben
übrigen SffiiflfürlicWeiten, bie fiefj bie ^Solijei in granfreidj gegen Gnbe be3
ÄatferreidjS erlauben burfte, nadfj SDfaßgabe be8 faiferlidfjen beeret« oom
3. 9Kärj 1810, wonadd bie Regierung befugt war, mit Umgebung aller
jum ©djufce ber perfönlidbeit %teü)dt erlaffenen ©efefce auf ©runb ein«
gesogener 33ericfjte oljne Sßettereä unb auf unbeftimmte 3^i* Sßerfonen ju
aerljaften, bie man ben ©endeten niefit überliefern wollte.
33on 2mwenbung ber großen ©runbfäfee beä $al)rea 1789 war, wie
bjer an einem 33eifpiel gejeigt worben, fcfion balb nadfj beren SBerfünbigung
feine Siebe mel)r gemefen, weil bie granjofen feine Siepublifaner waren
wie bie 9Jorbamerifaner, bie nodt) oor ben granjofen bie gret^eit ficf> er«
rangen Ratten unb fie ju bewahren uerftanben.
Hfoaltnnen.*)
Xloveüe
von
fran^ofs Coppee.
— paris. —
er 2luäblid auf baä $ötcl uitb bie (£$planabe ber ^noattben ge«
roäljrt eine ber grofjarttgften 3tnfi<^tcn oon tyatiz. @3 giebt
fautn etroaS SBontelntiereS, ©tattttd^erc^ ju flauen al« biefen
gewaltigen Sßtafc mit feinen alten Säumen uitb — ganj im &intergrunbe,
jenfett« ber ©dmfegtäben unb ber erbeuteten Kanonen — bie gotbene Äuppel
pon -äWanfarb, unter toeldjer ber legenbarifdje ©arg rufit, ben man »on
©anct^elena fjicrrjer überfährt f>at. ©elbft ber nüdjternfte grembe, roeldjen,
im carrirten 2lnjug, ben 33äbeder in ber £anb, ba3 Dietfebureau oon 6oof
nad) $ari8 bringt, famt fidj bem feterlidjen ©inbrud nidjt entjteljen. Gr
benft an ben grofjen Äönig unb an ben großen Äaifer, er bleibt benmnbernb
unb mandjmal audj beneibenb fteben. 3ln jene« 3llt;granfreid), baS fold»'
bauerbafte unb foldj' impofante 3eugen feine« 9tubmeS befifet, modjte roofjl
audj Stemard benfen, als ilin in gferriöreS ber 2lbpocat $ute8 gaure
•JtamenS ber 9iepubltf um ^rieben bat unb üjn fragte: „©egen toen motten
©ie benn eigentltd) nodj Ärieg fähren?" — „®egen Subtotg ben SSier«
jelmten," fotl ba ber eiferne Äanjler geantwortet Ijaben.
^nbeffen, in ben 2lugen be« SpariferS, ber ja fdjon feit Sängern an
ben glänjenben Sfablid gctoöfjnt ift, f>at bie ©äplanabe ber ^npaliben n>of)l
audj ib,re melandmlifdjen Seiten, ©anj in ber 9iäbe befinbet ficb, ein arm*
feltgeS ©tabtotertet, ber „©rofec Uiefelftein" genannt, unb roenn baä
SBetter milb ober audj nur erträgltd» ift, fo fenbet baäfelbe in bie pradb>
»ollen Anlagen feine betrübten Müßiggänger, feine in Sumpen gefüllten
*) (Knjij autotiftrte Uefcrfefeung oon ßotljar @#mibt
jran<;ois Coppee in Paris.
Spaziergänger f)inau3. ein fettfamer $l)ilemon, ein brauet älter, beffen
©ruft mit ÜWebaillen befät ift unb ber an feiner ©olbatenmüfee eine
ßocarbe trägt, Rumpelt auf Ijölsernen ©tetjfüfjen neben einer f^eufeli^en
SauciS in fdjmufeigem ßamifol baljin. ©in uraltes 3Wütterdfjen mit ge^
beugtem fH&den treibt »or fidfj ober jtef)t am 3todEe hinter ftdj jroei ober
brei ungefunbe Äinber Ijer. 2lu§geftrecft auf einer 33anf unb ben fdjäbigen
gitäjjut in bie 2lugen gebrttdft, fdtjCäft ein Sanbftreidjer unb träumt »telleid&t
oon einem a3erbredjen, ba3 er im ©Urne l)at.
©et ©egenfafe jroifdpen bem fdfjmufetgen eienb unb bem fömgltcfien Suru£
ift mir immer fcfmtetilidb, geroefen.
$ti SSenebig verleiben mir bie SBeiber mit langem Äopftucf», bie mit
ben Pantoffeln flappern unb ftdj in einem fort in itirer rotten 3M)ne mit
ben Ringern l)erumfrafeen, ©an ÜJlarco unb ben ©ogenpalaft, unb im
&t|bes$Parf ju Sonbon machen mir bie jerlumpten ©eftalten mit nacften
gfi§en, meiere ficf> attentb/ttben auf bem SRafen Ijerumfielen, baS ©eroimmel
ber equipagen unb baS leiten ber blonben 3tmajonen gerabeju «erljafjt.
2lnbererfeit§ liat aber bie SBolfSmenge für mtd) nrieberum einen
großen SReij. 3$ mifdje mW) gern unter fie. ©e§I)atb füb,re idj oft
meine ©ebanfen nad» ber esptanabe unb nadfj bem „©roßen Äiefelftetn"
fpasieren.
2113 idj fo eine« SEageS unter ben großen Säumen ber esplanabe ber
3noaliben einfierging, bemerfte id& jroei alte grauen-
©er SJionat gebruar neigte fict) feinem enbe ju, unb bie bereits
roarme 9ladjmittag3fotme liefe an ben &mä$en bie bronjefarbenen Änoäpen
erglänjen. ©ie beiben 2llten, roeldje, roa^rfdjjeinlidj wegen ber gfcudfjtigfeit,
nodj itic^t im freien ju fifcen wagten, wandelten langfam ba^in, roobet bie
33ejab,rtere ftdfj jitternb unb fdjroerfäffig auf ben 3lrm ber ©enofjin ftüfete,
bie, obfcf»on eine Magere, elenbe ©eftalt, ftdb, bennod) ferjengerabe trug unb
voller energte festen. Stffc Seibe roaren ärmlldö, aber fauber gefleibet.
$b,re fdjroarjen föalstütfjer roaren forgfältig aufgefteeft, Ujre roeißen Rauben
glänjten »or Sieinltdjfeit. ©amtt bie Äranfe bei ber geringften ermübung
ausrufen fonnte, trug bie 9föftigere einen Älappftul)l unter'm 3lnne. Sie
richtete gebulbig i^re ©dritte nad; benen ber greunbin unb flaute fie alle
äugenbtiefe järtlic^ unb liebevoll an. ©ie mod&te etwa jelm 3al)re jünger
fein ate bie Slnbere, meldte, eine Steine in 3Jtenfdjengeftalt, minbeftewJ
fedf^ig jätilte. ©ie aHein befaß oon Seiben nodj ein roenig Äraft, ein wenig
©efunbjjeit. ©a§ mußte für ^[ene mit genügen. Sffienn man irrten be=
gegnete, fo backte man unrotflturlidfj an jene länbtidjen ©efpattne, roo ein
Sßferb einäugig unb baä anbere »öfltg blinb ift unb bie trofebem ben
Marren jielien.
©te beiben grauen intereffirten mtdfj fofort. 3dj beobachtete fie.
©ie ©reifin mußte ficfjer einftmafö fc^öti geroefen fein, ©ie föaube
oermodfjte faum baS retdjlidfje fdnteeroeifie £aat jufammenjuljalten. eben*
Hisalinnen.
95
mäfeig waren bie 3"ge i^reS unberoegltdjen, gelbe«, gid)tbrüd)igen ®efid)te3,
unb unter ben nod) fdjroarjen brauen flimmerten bie tief eingefunfenen
Stugen in einem fieberhaften ©lanje.
£>ie 2tnbere, rotl)f)aartg, einftmals mit n>eid)er .§aut unb roeifjem steint
— mod)te trietleid)t ebenfalls fnibfd) geroefen fein. £)od) graufam »erfährt
bie 3eit mit Den SReijen ber ^ugenb! SRur SRunjetn unb Rieden läßt fte'
jurüd. Unb trofcbem erregte biefeS elenbe, roelfe ©eftdjt nod) ©efalfen burd)
feinen mitben Slid unb fein gütiges £äd)eln.
<Sd)roeftern waren fte nid)t; fie Ratten nidjt bie geringfte 3Cet»ntt<^fcit
mit einanber.
®er Slnbtid jener beiben armen ©efdjöpfe, bie aufeinanber geftüfet,
if»re fd)road)en fträfte »ereinten, blatte mid) roa^r^aft geriu)rt. — ®a3
fdjöne SBetter t)ielt einige £age an, unb fo traf id) bie beiben Sitten öfters
roieber.
3ln gerotffen @in$ell)eitett, an th>en £änben, über nieldje fie immer
&anbfd)ub> oon grauer Saumrootte gejogen Ratten, an einem unerflärlidjen
etroaS in iljrer ganjen @rfd)eimmg, merfte id), bajj fte nid)t immer eine
fo geroötnutdje Äletbung getragen Ratten unb bafj fie einftmalS, roie baS
33ol( fagt, beffere £age gefeljen Ratten. $f)* Verlangen, beS geringften
@onnenftral)le3 31t geniefjen, trofe ib^reS 2l(terS unb iljrer $infäHigfeit aus*
3ugerjen, lief3 mid) oermutfien, ba§ fie roätirenb beS fangen äBinterS in
irgenb einer traurigen SJJanfarbe beS „©rofjen ÄiefelftetnS" eine 2lrt
©efangenen=$)afein führten. Qd) ftettte fie mir »or im ©eifte, roie fie
ba f)odten, bie güf?e auf ber Sßärmflafdje, unb t>on i()ren ©rinnerungen
jetjrten.
Sie erregten immer metjr mein ÜDfitleib unb — bafj id) es nur ge»
fteb> — aud) meine 9Jeugierbe.
}iun rannten aud) fie mid) »om ©ef^en. föineS £age3, als bie ganj
ungeroöb^ntid) laue Suft Urnen geftattete, fid) auf einer 23anf nieberjulaffen,
fe&te id) mid) neben fie, unb alsbalb fnüpften mir ein ©efpräd) an. 33er
roeiblid)e Snftinct, ber roeit fid)erer unb jarter als ber beS anberen ©e=
fd)led)teS ift, tiefe fie Vertrauen ju mir faffen. Unb furj unb gut, nad)
einer «Stunbe fannte id) tfjre SebenSgefd)id)te.
Siefelbe ift rüf)renb, id) roitt fie erjäljlen.
II.
(sjiftirt nod) ein S3efud)er beS ^aubemHetfieaterS, ber fid) an 5Mb
SJobin erinnert?
8Sielleid)t nein. 3lber im SBinter beS $af)reS 1859 roar fie eine ber
fd)önften £uri$ beS mufelmännifd)en SßarabiefeS, baS bamals bie Gruppe
biefeS Sweaters aufführte, greitid) jroifd)en biefer £)arftetlung unb bem
Gimmel beS Sßroptieten b>rrfd)te ber Unterfd)ieb, bafj aU' biefe reijenben
JJotb unb ©ift. LXXV. 223. 7
96
^ranvois Coppee in parts.
©ä)aufpielerinnen nur fehr jweifelhalte 2lnfprüehe auf ben £itel „gräulein"
Ratten, einen £itel, toelc^er, wenn anber« man bem Äoran glauben will,
ben ißurt« ewig unb unwrbrucf)lich jufommt.
Sie war brünett, blatte einen marmorblaffen Teint unb weiche«,
wollige« Soäenhaar. ©rofj unb fä)lanf, »on wunberbarem 2Bu<hfe, befafj
fie ein Sßaar bunfle 2lugen, bie immer in finnige« träumen »erloren
fdjtenen.
3hte göttergleiä)e ©chönheii, in ber fid» SBürbe unb SKnmuth paarten,
hätte bie fiorenHnifchen 2Reifter ber Slenaiffance entjüdt. Unb bod) blatte
keüt) nur einen armen £utniad)ergeljilfen jum SSater, ben bie ©orge um
feine sahlreid)e gamilie faft ju 33oben brfidfte. Stein SBunber, bafc ba«
SDtäbdjen, um weld)e« man fidt) wenig fümmem fonnte, in allen ©äffen
ber ©tabt fid) herumtrieb. @in SWachbar, ber SDkfchütift am SMemife
Sweater war, »erführe fie unb nahm fie ju fi<^. i^efet mufjte fic arbeiten,
baft ihre £änbe rauh unb rott) würben, mufjte fie für ben Trunfenbolb, ber
fie mit @d)lägen tractirte, fod)en unb ihm feine fdjmufeige 33ube ausfeilen,
©ie war bereit« faft jweiunbjwanjig ftafyn alt, at« Samorltöre, ber erfte
£elbenbarfteUer be« ^eater«, welker trofc feiner Särentafcen, feine« ge*
färbten ©djmtrrbarte« unb feiner fünfzig Qaljre nod) immer $afd}a hinter
ben Coultffen geblieben war, fie ju bemerfen unb ü)r jum 3*<*>*n \tmex
©mtft ba« Tafdjentud) b,inäuroerfen geruhte. ®ie 33orftabtbewoImerin be*
fam einen riefigen 9tefpect am erften 9lbenb, wo fie ba« befdjetbene Sogi«
be« ©djaufpieler« betrat, ber feine eigenen 3Höbeln befafj unb bie 3hnroer=
wänbe mit alten ^eaterjetteln unb golbenen Sßaplerfronen becorirt blatte,
ben glorreidjen 3eu9en faner ehemaligen Grfolge im ©üben, in Slgen,
9fod) unb SJlontauban.
©er ©d)aufpieler war }meifello« gegen bie SSerehrung »on ©eiten
ber bolben 2Beiblid)fett bereit« abgeftumpft. ©hemal« blatte er bei feinen
©aftroüen in ber gJrooinj ben häu«lid)en ^rieben von mehr al« einer
Familie geftört. <bie §rau eine« Steuereinnehmer« im Departement
iam=ets©aronne war ihm nachgelaufen, unb in ©er« hatte er bie ©attin
eine« Unter=$ßräfecten ftarf compromittirt. ©emtod) aber fd)meid)elte bie
naioe Sewunberung be« armen 2Räbd)en« bem ^erjen be« alten ©d)met=
terling«, ber e« bereit« mübe war, raftto« Don 33lume &u Slume su
flattern, ©ie follte am nädjften ÜDJorgen wieber t)eimfeb,ren; fo war e«
abgemad)t. Qnbeffen nad) acE)t Tagen wufd) unb plättete fie ifmt be^
reit« feine äöäfd)e.
Sic fnüpften alfo ein SBerhältnif. mit einanber an. Uielln lebte an
ber ©eite bc« erften gelben in einer beftänbigen Slufreguttg. ©ie nannte
ihn „&err fiamorliöre", wenn Tie mit ben 9iad)barn von ihm fprad), ftc
biente ibm wie eine »ertiebte ©Katrin, ©ie forgte auf« $ßeinlid)fte für
i^n, würbe in feine Totlettengeheimmffe eingeweiht unb lernte ihm ba$
#aar färben, welche« fie mit &ilfe von Söaffern unb ©alben au« ©rau*
Rioalinnett.
9?
©rün'Siotb, in'* fdtfnfte ©djwarj fid} oerwanbeln fat», obne baf? fie barum
aud) nur im ©eringften aufgehört Ijätte, Samorltdre al« beti Stüngften imb
©d)önften unter ben ©terblidjen ju betrauten.
@r war im ©runbe genommen ein guter ßerl. @r mar gerührt, bafj
fie iljn fo feljr berounberte unb fo gut bebiente. @r intereffirte fid) für
3Mo, erfannte, baf? biefelbe trofe ibjer Unwtffenliett burdjau« nid)t bumm
war, gab ibj ein wenig beclamatorifcfien llnterridjt unb forgte bafür, baf?
fie in Keinen 9Men bebätiren burfte. SRadj einem falben 3(u)re gab fie
fdjon ganj leiblid) bie Naiven.
Samorliöre, ber bereit« feit mehreren Sauren nur nod) in fleinen
Drten gafttrte, befam burd) einen glü<flid)en 3ufatf Engagement an
bem ,,©rof?en Sweater" ju Sitte, wo fein in ber 5ßro»inj erworbener 9hu)m
jum festen SRale fiell aufftral)lte. diejenigen, wetdje iljn bamal« nid)t in
ben „Giraten ber ©aoatme" bie grofje SBa^nfinnöfcene fptelen gefeljen
Ijaben, in ber er, wilb anftadjenb, an »ergiftetem 3aoa4Hqueur ftirbt,
fömten fid) feinen Segriff »on bem alten patljetifrftcn Spiel madjen, ba«
bleute gänjlid) au« ber SJJobe gefommen ift. da er juft um biefe Seit eine
Meine ®r6f(3t)aft machte, fo formte 3?effn in präfentablen Goftümen neben
iljm bebütiren. @ie war unb fonnte aud) nur immer eine mittetmäfjige
©d)aufptelerin fein. dod) bei iljrer auj?erorbenttid)en ©djönfieU fjatte fie
trofcbem glänsenbe ©rfolge. 2tffe reiben Sebemänner fingen $euer. dod)
fie fdjroärmten »ergeben«, stellt), bie r-oller 33ewunberung unb danfbarfeit
für Samorliere war, blieb tlmt unerfd)ütterlid) treu, unb brei ftcfyve lang
fallen bie SSerooljner »on Sitte mit Staunen, wie biefe« wunberbare ©es
fdjöpf in einem ©djmucf au« £almi Äomöbie fpiette unb erlief» ftttfam
am 3lrme be« alten ©d)aufpieler« allabenbltd) au« bem Sweater fam.
911« Samortiöre am Slbenbe feine« SJenefije«, wo er fid) in ber Stotte
be« gtfdjer« ©a«parbe feljr erf|i|t blatte, (jeimfefnte, erfältete er fidr) unter*
weg« berartig, baf? er balb barauf an einer .ßungenentjünbung ftarb. der
©d)merj 9Mn« war ein aufrichtiger; inbeffen fte ließ fid) balb — wie
ba« nid)t anber« $u erwarten ftanb — »on einem reiben 3Wüfnggänger,
einem oier= ober fünffachen üfiittionär tröften, ber feit brei ^aljren nur bamt
feinen Ärimfted)er tjeroor^oltc unb in'« Sweater ging, wenn ba« l>errlid)e
3Räbd)en auf bie SMifine fam. diefer gefdjmacEootfe 9Jienfd) begriff, bafe
ju fold)' mattem Steint unb fold)' bunflen paaren nur ed)te diamanten
pafsten. @r mietete ibj eine pradjtoolle SBofjnung unb lief? fie auf ®ummi=
räbern fahren.
35a« ehemalige ©affenmäbdjen au« Sb^aronne, welche« früher fid) oft
für jroei ©011« Skcfroerf in einer düte jum $vrül)ftücf gefauft fwtte, naljm
biefen Sunt« al« etwa« ganj ©elbftoerftänblidje« Inn, olme be«f)alb inter*
effirt ober l)abfüd)tig p werben. Qm ©runbe genommen, langweilte fie
tbjre neue Seben«weife fogar. $n ber ©efettfajaft ibre« ©eliebten, eine«
bjtbfd^en, faum merjigjälnigen 5|Srooinjialen, ber fieft febr tnet auf feinen
7*
98 Jratt';ots <£oppee in Paris.
blonben ÜtadEenbart $u gute tfiot, worin nodj fein einjige3 Silberpaar erglöitjte
unb beffen greigebigfeit 9telln 'Stobra Äutfdjer, Äödjtn unb Äammerfrau
uerbanfte, feinte fie fidj faft nadj ber 3cit äurücf, wo fie ihren Samorli&re
mitteljt einer Sßomabe oerjüngte ober ihm nach ber &eimfehr oon ber
Sßrobe eigenpänbig ba£ ÜDItttageffen bereitete.
Sarmorli&re tiatte immer feine u)m ergebene Stownbi'1 mit 9tod)fidjt
unb ©djonung behanbelt, wenn er aud) if)r gegenüber ben überlegenen fton
beS erften &etbenbarftetter3 unb bie ^ßrotectormiene eines uom publicum
oerhätfdielten ©djaufpielerS niemals »erleugnete. §r trug es ihr md)t nadi,
bafe fie auä bem nieberen Sßolfe flammte unb baf3 fie gewiffe, ben 2)Jäbd;ett
aus ben SBorfläbten eigene SWanteren beibehielt, fo j. S. ihr tautet Soweit
ober oerfdjiebene 9iebenSarten ober ihre Siebfr, weld)e fie mit leiernber
(Stimme Verfang, wenn fie ihre befdjeibene ©arberobe ausbefferte. ©ie
blatte für ben alten ©dwnfpieler ein aufridjtigeS ©efühl ber Tanfbarfeit
unb greunbfdjaft empfunben, mährenb 2Rattet;®eSh<*umeS — fo htef? ihr
jefetger aSereljrer — in Dieter Ziehung ihr einen läftigen 3wang «uf*
erlegte.
@r war ein bischen conoentionett, ber fd)öne J&err au« Sitte, unb
wollte fid) mit feiner 9Jlaitreffe ©hre einlegen, wollte, bafj fie benehmen
jeigte. ©r blatte eine unangenehme 9lrt unb SBetfe, alle äfogenblicfe ju
wieberholen: „2lber meine Siebe, fo was fagt man nidjt, fo was thut man
nicht," unb babei ftridj er fid> mit einem ©djilbpattfämmd)ett, baS er
ftets bei fid) trug, ben golbenen Sart. Qnbem fo ber correcte ©entleman
oier Safere lang an it)r herumfdmlmeifterte, langweilte fidj SJellu 9tobm
5roar gehörig, erhielt aber ©rjiehung unb mürbe eine Tarne, ohne inbeffen
ttjre natürlidje £eiterfeit einsubüßen.
9hm fam eines £ageS ber 3>trector beS a?aube»ille*^b,eater8 nadj
Sitte, um ftd> einen ilomifer anjufehett, welcher bafelbft mit grof3em Crrfolge
auftrat, weil feine 9?afe jwei Zentimeter länger war als bie beS berühmten
£anSwurftS £uacinth. SBet biefer ©elegenhett befam er 9lettn Stobiu ju
©efidjt unb mar [oon ihrem 2lnblicf wie geblenbet. Sie mar 28 %afyct
alt unb hatte ben £öljepunft ihrer Schönheit erretdjt. ©erabe um biefe
3eit fucfite er bie fdjönften SBeiber ju engagiren, benn er wollte bie
„Srtrnen" fpielen, eines jener fatirifdjen Suftfpiele gegen ben SuruS ber
Halbwelt, bie bamals in ber 2Jiobe waren unb worin bie hübfeheften
•Mbdjen, mit diamanten bebeeft, auf ber SBüIjne erfdjetnen muften, um
bie jornigen £iraben beS ©ÜtenridjterS einigermaßen ju redftfertigen. ÜDttt
einem ßontracte in ber £anb fam ber SMrector in 9iettnS ©arberobe. —
„©djnett, 5cber unb Fintel" ©ie unterjeidjnete alsbalb ben geftempelten
Sogen auf bem Xoilettentifdie jwif<hen ©djminfen unb ?Pomaben. S)etm
ftc hatte bie ^roolnj unb bie Sebemänner oon Sitte he*ili<h f«tt, bie beim
©ouper 00m Steigen ber 99aumwoffe fpradjen. ©ie ^atte genug oon
SDJatlct^TeShaumeS unb feinem becoratioen Sarte. sJlodj an bemfelben
Hioalinnen.
99
Sftenb brad) fic mit tijm, unb fed)S 2Bod)en fpäter bebütirte fie im Sßaube»
utile in bcn „Dirnen".
Die Slotte mar Mein. Sie trat erft im britten 2tctc auf unb blatte
nur 25 Reiten ju fagen. 2lber bei ber ^ßremiöre Ijerrfcbte in ben ßouloirS
«ine Aufregung: „Stein, roaS baS für ein l)übfd)eS 2Jtäbd)en tft!" Die
Sßarifer oerloren bie Äöpfe. %m gotjer lieg ftd) eine Unmenge von Herren
im fdjroarjen graef unb meiner ©raoatte Stellt) SJobin, bie man umringte,
»orftetten. Qb^r Director Ijüpfte oergnügt in ber @d)aar ber 33erounberer
fcerum. — „Siebe greunbin, id) ftcHe Sfönen &errn (Solm Dor." Unb ber
jübifd)e Sanfter präfentirte feinen mit SBreloqueS behängten bieten 33aud).
— „Obrift ©ag6 von ben ©arbereitern." Der Dffijier fniefte mit einer
fteifen SSerbeugung jufammen rote ein gebermeffer. Dod) auf einmal
mad)te 2ltteS refpeetnott einem etroa fed)jigjäl)rigen &errn mit |roetfen Sippen
unb h>l)len 2lugen Der Director ftürjte auf it)n ju: „ßrcellenj! . ."
— ©S mar ©raf 33 . . ., ber 9tatti bes ÄaiferS. ©r nai)m bie ©d)au«
fpielerin bei (Seite unb fprad) lange teife mit ibr. Sie f»örte mit ju 33oben
gefenften SHugen ju.
©nblid) fonnte fic in bie ©arberobe jurüdffefiren unb fid) umf leiben;
aber alle 2lugenbli<fe flopfte eS: „toct, toi!" — ©S mar bie ©arberobiöre,
bie mit einer 23Lfitenfarte unb mit Stumen fam. Sitte 23lumentäben ber
9tad)barfd)aft rourben an jenem 9tbenb geplünbert.
©ie rourbe eine jener galanten ©ebieterinnen, eine t)erf$roenberifd)e,
lururiöfe ©ourtifane. ©ie beroob,nte ein eigenes $ötel, befaß bie tfieuerften
Toiletten unb fufjr bie Sfoenue bu 23otS in einem foftbaren SBagen entlang,
ben ein $aar Sßferbc im greife oon fünf jelmljunbert SouiSbor jogen. 2ltte
$pi)otograpf)en fteflten in ben ©djaufenftern tfir SBilb aus. Die Damen ber
ßalbroelt platten »or 3Zeib, unb bie Damen ber guten ©efettfdjaft ahmten
ifjre $üte nad). ©in gefd)i<fter @d)roanfbid)ter fdbrieb |tl)r jroei ober brei
leid)te Stollen auf ben Seib, in benen fie faft Talent jeigte unb womit baS
Dbeater fotoffate ©imtafimen erjielte. ^retroegen ruinirte ftd) Sobn an
foer 23örfe unb flof) nad) SBelgien, unb bie alte ^erjogin ooit ©Smont mußte
ifire ©üter »erlaufen unb ib,ren ©oljn, ber fid) in roafmfinnige ©djulben
geftürjt blatte, unter ©uratet ftetten taffen. ©erabe burd) bie abroeifenbe
Äälte, mit ber fie bie jab,lreid)en 3tnbeter bebanbelte, erjielte Tie bie größten
Dnumplje. Saunifd), aus purem £rofc, fagte fic Stein unb immer roieber
Stein ju einer norbifd)en £oljeit, einem bilbf)übfd)en dürften, ber ertra
tfiretroegen in $artS blieb unb fie allabenbtid) »on feiner Soge aus
anfdwnad)tete. „Der fann roarten, bis er fd)roarj roirb!" pflegte fie lädjelnb
,ju fagen. Dod) fie tjattc nidjt mit Unred)t fold)' große (Srfotge. ©ie mar
gutmütig, flug unb ungejiert; fie befaß ben für ein SBeib ib^rer 3lrt um
fd)öfcbaren SJorjug, baß Re attejeit luftig unb guter Dinge fein fonnte, fie
flttjücfte unb nabm für ftd) ein burd) ben ©egenfafe sroifd^en il»rer oorne^men
©djön^eit unb ibrer ^eiteren SebenSfreube. ©ie bejauberte i^re Steb^aber
\00 ;Jran<;ois <£oppee in Paris.
gerabeju. ÜRan behauptete allen ©rnfteS, bafi ©ag6, ber Dberft oon bat
©arbereitern, für ben ber Äaifer bunberttaufenb granfen ©Bulben bejahte,
bie jener ibretroegen gemadjt fjattc, bei ©olferino ben £ob gefugt fyabe,
roeü fic 9ttd)t3 mebr oon ibjn roiffen wollte.
©ejtel biefe Sebenäroeife Stellt)? 2Bar fie babei glücttid)? 9Mn
©ott, ja! (Sie feljnte fidj burdbauS ntd)t mebr nad) jener 3^ n>a
fie Samorltere bie 2Birtf)fd)aft geführt blatte. SGBic follte auä) ein armeä
3Wäbd)en, baS obne äffe moratifd)e @rjiel)ung aufgeroad)fen roar unb in ber
frubeften 3"9eno bereits baS Safter fennen gelernt blatte, nid)t burd) ein
fold)e8 „©lücf" geblenbet werben?
3n jroei ^abren f>atte fie r-ier ober fünf Siebbaber, benen fie roiH-
fäbrig, ja, ju benen fie fogar liebenSroürbig roar; aber fie bradfjte fte äffe,
ofine e§ felbft ju rooffen, an ben Settelftab. ©8 roar ibjre ©djroäcbe unb
aud) ibr SBorjug, bafj baS ©olb in tbrer £cmb «erbampfte roie SBaffertropfen
auf glübenbem 3KetalI. ©ie t>erfd)roenbete ungel)eure.©ummen mit unglaub*
lid)em Seid)tfum. 3>ie -Könner, bie fid) ibretroegen ruinirten, fie beflagte
fie ntdjt einmal. Unb fie bitte 9ied)t. deiner oon ibnen b<*tte fic roirflid)
geliebt. 9Jid)t au« £eibenfd)aft, fonbern aus ©enufjfudjt unb (Sitelfett
batten biefelben nad) intern 23ent$e geftrebt. 3fn bem feftlidjen Trubel be«
eleganten Sßaris jur $eit beä $atferreid)§ lebte ba§ fd)öne 2Jtäbd)en, beraufdjt
oon ben £riumpben, bie e§ feierte, babin, obne 5U abnen, bafj e§ ein
&erj befafe.
m.
2ln einem 9iooembernad}mittage febrte SReHt) SRobin »on einer langen
$Probe ermübet beim, ©ie batte fid) eben in ibrem ©d)[afjimmer auf ber
©baifelongue auägeftrecft unb raudjte eine ruffifdje ©igarette, at« ibr bie
Äammerfrau, inbem fie üerädjtlid) ein fdjtefeä 9Maut jog, eine iiemlid) be«
fdjmufete Sßifitenfarte überreid)te, roorauf bie ©d)aufpielerin folgenben
tarnen la§:
©aintsgirmin,
jroeiter Siegiffeur am faiferlidjen Dbeon*23)eater.
„2öie! lebt ber arme gute Teufel roirflid) nod)? ... @r foff gleiä)
bereinfomtnen," rief 9tettt) mit ibrem munteren Sädjeln.
erinnerte fie an irjre Qugenbjeit. tiefer ©ainfeftirmtn roar ein
ßotmfer, ber einftmati in 33elle»iffe mit ibr unb Samorttöre jufammen ge*
fpielt tjattc.
®r erfd)ien auf ber £bürfä)roeffe, mad)te eine Verbeugung, bie bentütljtg
unb anfprud)3üoH sugteid) roar, unb obfd)on iReffn ibn bereit* feit mebreren
3fabren nid)t gefeben bitte, fo erfannte fte bod) fofort ben Meinen 5Hamt
mit bem ©efidbt, ba« braun roar roie bie ftarbe einer gefoäjten Äartoffel,
unb mit bem fd)roarjen £aar, baS roie eine ^errüdfe am ©d)äbel Hebte.
Rivalinnen.
©r roar jtemtich tebucirt gefleibet unb trug einen falfdjen diamanten für
riesig ©ouS in ber ©raoatte aus rothem ©atin.
©ie fonnte nicht einmal Jagen, bafe er gealtert hatte, ©atnkgirmtn
hatte jene ferner auf ihr 2llter ju taruenben ©efidjtSsüge ber ©chaufpieler,
roelcfje fchnell roelf werben, roelche fich aber bennodj ©errjälttttfentäfeig lange
gegen ben 3af)n ber $eit oertheibtgen.
„(Suten ©ag, ©aintsgirmin!" fagte SieUp hwjUcfj unb reichte ihm it>re
fdböne, warme $anb. — „2Bie getjt'g ©ir? 2ßaS ift injroifchen auS ©ir
geroorben? . . . ©aS ift aber 'mal ein gefdjeibter ©ebanfe von ©ir, baß
Du ©eine alte ©oßegin befuchft."
©aS trübfelige ©eficht beS Äomöbianten {»eilte fich auf. ©er fetnblidje
93ltcf ber Kammerfrau unb bie foftbaren ©apifferien beS SBorjiiumcrS Ratten
ifm einen ganj anberen ©mpfang befürchten laffen.
©r redte fid) unb reifte 3feHp mit theatralifcher ©eberbe bie £anb.
„9ia! ic^ fef>e, ba§ ©u ein gutes SERäbet geblieben bift rote früher su
SamorliöreS 3^t-"
Unb inbem er feine roirfltcfje 33eroegung noch übertrieb unb in feinen
aufgeriffenen 2lugen bie SWiräne, welche ben Seuten t>om Sfjeater immer
}itr Verfügung ftel)t, erblinfen tiefe, fuhr er fort:
„3Kan ^at gut über fie reben . . . es gef»t bennodj nichts über bie
Äünftler."
©ie hiefj ihn neben fich nieberjufifeen auf einem bequemen Sefmfeffel.
„9iun, ©aint=§irmin, roomit famt ich ®ür helfen? . . . 2luf ©einer
Äarte hob' ich gefehlt, bajj ©u jeßt am Dbeon, an einem faiferlidjen
2T»eater bift . . . ©ntfdmlbigen ©ie, baf3 ich ■ • • • 31b" er als Stegiffeur ....
©u fpielft alfo nicht mehr Jtomöbie? . . ."
— „Siein," erroiberte er, „ich l)abz »orläuftg auf bie Sühne t)er=
jichtet .... ich bin nur noch bei ber Seitung beschäftigt."
$n SBahrheit roar feine £auptbefct)äftigung am Dbeon, bie 9hife unb bie
ßouliffengeräufche 5U machen unb auf treppen unb ©fingen mit einer
Älingel h^ropkwftti- ©r roar ber roHenbe ©onner, ber plätfehernbe
JJegen, ber heulenbe SBinb. ©r roar bie raffelnbe Sßoftfdjaife, roelche banon
fährt, ber Papagei ber alten ©ame, welche fdjreit: „£aft ©u gefrühftücft,
Sora?" ©er ©tofj ©eller, roelcher flirrenb ju S9oben fällt, bie Uhr, welche
beim ©intreten bei SBerrätherS bie SDiitternadjtSftunbe mit jwölf fdjaurigen
©djtägen »erfünbet, ber ^SiftolenfcTjuf} beS Serjroetfelten, ber fich «i ber
©trafieneefe eine ßugel burch ben Äopf jagt, ©och oa^ hex Qlluftonä'
fä^igfett ber Äomöbianten, banf ihrer ©abe, Sittel in ein glänjenbereS
Sicht 5U ftellen, fprad» er jenes SBort „Seitung" aus, als wenn er 2* auf*
birector ober ^räfibent irgenb einer ©ifenbahngefettfdjaft gewefen wäre.
„3$ fann mir benfen," . . . fagte Stellt) mit freunblichem Sädjeln.
„^unbertfünfunbsroansig Raufen monatlich, nicht roahr? . . . ©oßteft ©u
{02 ^ran?ois <£oppee in paris.
©id) in momentaner ©etbnetlegen^eit befmben, fo genire ©id) nidrt . . .
©u weißt ja . . ."
©od) ber alte SWime mar, obwohl fefyr arm, ein redjtfdjaffener 9Henfd),
ber etwas auf Stnftanb unb Sßürbe gab. <Sr mad)te bie ftafnfd)e ©efte
ber Slblelmung, bie ©efte beS ßtppofrateS cor ben ©efdjenfen beS
StrtarerreS unb fagte, otjne fid^ »ertefet ju fügten, fonbem im ©egeittf>eil
üon -JtellnS eblem 2tnerbieten gerührt:
3d) banfe, Siobin, ic^ brause 9UdjtS. SDian ift nidjt reid), aber man
fdjlägt fid) fo burd» . . . 9Mn, id) tomme, ©td) um etwas oiel 2Btd)tigereS
ju bitten . . . 3$ protegire einen jungen ©id)ter unb tyab' mir in ben
ßopf gefefet, feinem erften (Stüde su einer 2tupf)rung ju oerljelfen."
SCngefidjtS ber trübfeligen -DHene beS 23iebermanneS »erfudjte 9tefli)
vergebens ein mitteibtgeS Säbeln ju unterbrücfen. ©ie fannte baS Sweater
unb wußte, baß ber ©influß eines jroeiten StegtffeurS im günftigften galle
gerabe ausreiße, um ber ©odjter eines SßortterS, meldte iljre 3lbenbe frei
Ijat, eine ©tatiftenrofle ju oerfdjaffen.
„fööre unb ftaune!" fagte ©aint=gtrmin. „@S Iianbelt fid) um feine
Siolle für ©id), nod) überhaupt um ein ©tüd" für'S ^aubemttetbeater ....
©as 2Berf, »on bem td) rebc, id) möd)te, baß bie @d)aufpieler beS ÄatferS
eS im ©lj6ätre gra^ais pr 9tuffüf)rung brächten. Unb baS wäre audj
nidjt mefyr als billig . . . ©u Ijaft nun glänjenbe Sejielmngen — ja ja,
«um fdjöneS gräulein, mir wtffen baS — S9ejiel)ungen, weldje bis in'S
■Dtinifterium, ja fogar bis in bie ©uilerien reiben, unb wenn ©u ©td)
für meinen jungen 2Wann intereffiren toittft, fo famtft ©u triel für iljn
ttiun . . . ©u ftef)ft, Hebe 3tobin, was id) »on ©ir erwarte, ift eine
©efäHigfeit, an ber id) perfönttdj gar nidjt intereffirt bin . . . @S ^anbelt
fid) nid»t um ein umfangreiches 2Berf", fügte er bjnju, inbem er aus ber
©afdje feines UeberjiefjerS ein fleineS ipeft b^eroorjog . . . „nur um einen
©inacter in SBerfen . . . Sfber eS ift etwas ßöftlidjeS, eS fei benn, baß
id) SRtdjtS »on ber ©adje »erftänbe. Unb idj «erftefje und) barauf . . .
©u weißt bod) nod) in 33eHe»ilIe? . . . -Dian nannte midj ba immer ben
Dramaturgen .... 2tlfo barf id) auf ©id) rennen, Siobin?"
Stellt) füllte fid) feljr gefdjmeidjelt. 33isb,er Ijatte fie äffe SBelt, itir
©irector, if»re Gollegen, felbft iljre £iebeb,aber nur als fd)önes Sßeib
betradjtet, unb baS mar SlDeS gewefen. ©er alte ©ainfcgtrmin, ber 5U
tf)r fdjled}tl)in als Äünftlerin fprad), fabelte bie (Sitetfeit beS fd)önen
3)täbd;enS. Sie oerfprad) ttjre Unterftüfeung unb wollte miffen, wie ber
^ßrotögö beS alten 9IegiffeurS b,iefe.
„9lun, erjät)!' mal, 2llterd)en," fagte fie Reiter: „2Bte b,aft ©u il)n
fennen gelernt? . . . 2Bo b^aft ©u ib,n getroffen?"
— „3n ber ©arfüd)«! feb^r einfad)," antwortete ber gute 9)Jann.
„aJteiner ©reue, ©u farnift ©ir beuten, Jiobin, ba| id) nid)t im ,@nglifdjen
6af6l ju 3JJittag effe unb baß id) nid)t gleidj beim erften ©tafe eine anbere
Xtcaltnnen.
S$flafd)e Gfjampagner für 20 granfen geben taffe unter bem SBorroanbe,
ba§ bie erfte nad) bem Dorfen fd)me<fe. 3$ nehme meine aJJa^Ijeiten bei
einem SBeinfaufmamt in ber 9lue 33augirarb ein, an roetdje eine Äutfdjers
ftube anftöfjt. ©afelbft ^abe id) mein ©idjterlein bemerft, ber, wie ©u
mir glauben fannft, fid^ fein Steeffteaf mit 33rattartoffeln unb feinen
©djoppen 9tothroein leiften barf. ©er arme £ropf! ©aju reidjen feine
SHittel nid)t au«. Gr begnügt fid) geroölmlid) tnit einem 9Kenu für fünf jig
Gentime«, roe(d)e« au« 35rot, ©uppe unb au«gefod)tem 9linbfleifd) befielt,
unb baju trinft er eine glafd)e „Pumpenheimer", ©er gute $unge gefiel
mir auf ben erften SBticE. 2lermltd), aber fauber. ©eine btonben &aare
gläujen golbig im ©omtenfdjein, er trägt einen Keinen, am Äinn geseilten
33art, hot braune fd)üd)terne 2lugen, bie fid) ju Soben fenfen, wenn man
Um anblidft, mit einem SBorte, er fd)aut fanft unb traurig brein, roie ein
25 jähriger Gljriftu«. 3d) mod)te if)tn nod) fo oft Det unb SWoftrtd) rjin=
übereilen, e« mar nid)t möglid), mit ihm ein ©efpräd) anjufnüpfen. 211«
id) ilim aber enblid) betgebrad)t blatte, bafj id) ein alter Äünftler märe,
ber feit 30 Satiren ßomöbie fpielte unb am Dbeon engagirt fei, ba blatte
er feine $urd)t vor mir unb rourbe aufgefnöpfter . . . SBir finb mit=
fammen im parf t>on Suremburg fpajieren gegangen, unb bort |at er mir,
mährenb mir um ben Springbrunnen fierumroanbelten, fein atterliebfte«
fleine« ©tücf au«roenbig »orgetragen. 33ei ber jroanjigften 9Junbe fagte er
ben legten 33crö. 3d) mar ganj roeg! 9Sor bem ©djroänehaufe fiabe td)
ib> umarmt. Gr hat mir fein SKanufcript anvertraut, ^d) hab'« nod)*
mal« gelefen. $amo«! Mein, ©u begreifft, roa« fonnte id) für ilm thun.
©odte id) oon bem ©tücfe mit bem ©irector be« Dbeon« fpredjen?
ber äroeite SWegiffeur? Gr mürbe ju mir gefagt hoben: ,,©d)ön, fd)ön,"
mürbe barauf ba« ©ing in eine ©djublabe geworfen unb mir ben Auftrag
gegeben fiaben, in ber ©arberobe einen Sottet anjufdjlagen, ber befagte,
bafj bie bumme ©an«, bie ©eborah, sroanjig ftranfen ©träfe ju jahlen
habe, roeil ftc nur bamt pünftlid) jur Probe fäme, wenn itjr fleiner Unter*
Sieutenant Slrreft hätte . . . Unb bann fagte id) mir aud): „©u braud)ft
ja nid)t gleid) mit bem Slopf burd) bie 2Banb ju rennen. Sßer fann ©ir
hierbei behilfltd) fein?" fragte id) mid). Unb ba bad)te id) gleid) an ©id),
mein fd)öne« Äinb. ^d; roufete, bafj ©u ©ein ©lücf gemad)t hatteft, id)
blatte mir erjählen laffen, bafj ©u ben ©eneral=3ntenbanten perfönlid)
fennft unb aufserbem nod) eine Unmenge anberer großer Spiere . . . Unb
id) fyaV »ieUeid)t ganj gut baran getrau, ©id) $u befudjen, benn ©u bift
immer nod) ba« gute 9M>el, ba« ©u früher roarft . . . 2ld), roie mürbe
id) mid) freuen, menn'« ©ir gelingen möd)te • • • benn, ohne ©d)erj: id)
bab' ben Qungen fcfjr lieb gewonnen, Gr ift gerabe fo alt, mie metner jefct
fein fönnte, menn id) geheirathet hätte ober menn id) eine ©eliebte gehabt
hätte, ©od) ©u roeißt ja, roie ba« ift 2We« ift immer nur für bie erften
3Men ba. Unferein«, beim fomifd)en gad) ift nur im beften gatte im
\0<^ franvois <£oppee in pari?.
©tanbe, eine ftüd^tige Neigung ju erweden. $d) bin allein alt geworben
wie eine ©oulifjenratte . . . 3la, ©u b>ft nun baS SRanufctipt nebjt 9ktnen
unb SBo^nung. 3^u, was ©u fannft, unb fobalb ©u üRätiereS weißt, fo
fd)reib' mir, id) will ©ir bann meinen jungen ©id)ter b>rfd)icfen. ©emt
td^ b>b' ilmt 9tid)tS oon biefem ©abritte erjäfilt, für ben §aD, baß es mtfc
glüefte."
„Unb wie Reifet benn ©ein ©finftling, ©atnfcgirmin?" fragte Uiettg
Siobin, wetd)e wäljrenb ber malerifdjen @rjäl)lung bei Äomöbianten träumerifd)
unb fimtenb an jenen armen, unbefamtten unb Ijübfd)en ©tdjter benfen
mußte.
„3eau ©eUn ... unb biefer 9kme wirb bereinft berühmt werben,
bafür fte^e id) ©ir."
,,3d) miß mid) gleid) morgen für ©einen jungen -Kamt uermenben,"
»erfefcte 9Jettt). „@S trifft fid) gerabe gut, baß id) morgen mit einigen ein*
flußreidjen $erfönlid)feiten foupiren muß . . 3d) Ijoffe, 2ttterd)en, ©u wirft
balb gute 9tad)rid)ten »on mir erhalten. $e|t aber muß id) Toilette mad)en.
$d) fpeife b>ut außerhalb."
©ie ftreefte bem alten SRegiffeur tljre föanb Ijin, bie biefer artig nadj
ben ftrengften aSorfdjrtften bei £b>aterftils füßte. ©ann entfernte er vidi,
guter Hoffnung t>oH.
IV.
$rau ©eilt), bie äBittwe eines SnfanterieofftjierS, welcher in ber
Strim ber (Spolera erlegen war, blatte burd) protection in 83eau»aiS bie
Seitung eine! £abaflabenS erhalten, ©iefer war itire alleinige ©innalmtes
quelle. %fyc einjiger ©ob>, ber auf bem ©nmnafium feiner SBaterftabt
eine greifielle .erhielt, madjte bafelbft gute gortfdjritte, obwohl er eine
fd)wäd)lid)e ©efunbljeit befaß unb oft träumerifd) unb jerftreut war. 9Jtit
neun Satiren oerlor er feine UWutter, unb nad)bem bie 23egräbnißfoften be*
jaljlt waren, blatte er feine b>nbert granfen in ber Tafdje. ÜDiit bem
problematifdjen 3eugniffe eines SaccalaureuS »erfetien unb bem &trn »oller
oager Sßläne unb fd)öner träume tarn er nadj SßariS unb friftete bort ein
fümmerlidjeS ©afein, ©er bebauewSmertlie junge Wann, in bem eine
flamme reinfter Segeifterung glühte, mußte ©djreiberbienfte oerrid)ten unb
oerfaufte außerbem an bie ©d)üler b^öljerer Sefyranftalten ein wenig oon
feiner claffifdjen 33ilbung. ©er ©id)ter mit ber feinen, jarten ©mpfinbung
trug gebraudjte ©tiefein, weld)e er bei bem @d)ul)fticfer billig erftanb, unb
aß in übelriedjenben Äneipen bie breite Settelfuppe ber ©agelöfiner. ©r
blatte feine 2tnget)örigen. ©ein 3Sater blatte lange oor feinem üCobe bie
wenigen SSerwattbten, bie er befaß, aus bem ©efidjte »etloren. ©eine
■äJtuttcr war ein natürliches Äinb gewefen, unb als ber Dffijier fte aus
Siebe Ijeiratfiete, mußte er baS SWtlitärreglement, baS, wie man weiß, eine
gewiffe SDJätgift »orfdjretbt, b>imliä) umgeben. 2Bof)l blatte ©ellu wäljrenb
Rivalinnen.
[05
feinet ©djuljett einige greunbfcfiaften gefchloffen, unb bie meiften feiner
ehemaligen 3Jtitfchüler wohnten in ^SariS. ®och biefe gehörten roohlhabenben
gamilten an, unb bet dichter in feinem ©tolje fuctjte feinen oon Urnen auf,
ja er mieb fie fogar gefttffentlid}.
©o lebte er brei 3al)re lang in fdjrecfltcher SBereinfamung. @r be=
wohnte in einem alten &aufe am Duai ©amt=3Jttchel eine elenbe SHanfarbe,
in ber man im ©ommer oor $tfce umfam, roäfirenb ©tnern im SBtnter baS
Sßafchroaffer im ftruge gefror. Sie Äammer mar gar ju traurig. S)ettn
hielt ftch barin nur auf, um ben fdjönen ©djlaf ber $u$enb $u fcfilafen.
@r langweilte fich furchtbar. 2ldj, bie langen ©tunben, bie er mit nieberem
©efinbcl, mit betrunfenen Sopiften jufammen im ©chröbbureau »erbringen
mußte, bis tief in bie 9lacht hinein, um lumpige brei granfen ju »er;
bienen. Sann tonnte er enbttch, nadjbem er ©eite an ©eite gefugt, mit
©djmerjen im Ärcitj unb mit bem Ärampf in ber &anb heimfehten. 3ln
einigen Tagen ber Sßodje gab er in fleinbürgerlichen Käufern Unterricht,
bie ©tunbe für »ierjig ©ouS. Unb auch &ie8 n">r eine wenig erfreuliche
Sefchäftigung, roenn er fo neben feinen unfauberen 33uben fifeen mufjte,
bie fich mit ben Ringern in ber ^tafe herumftöberten unb fich bie gfebern
in ben paaren abroifdjten.
Sabei fonnte er noch »on ©lücf reben, roenn er äbfdnHften ju machen
ober Jlachhilfeftunben ju geben hatte, ©eine leiber attju jahlreichen SWujse»
ftunben oerbrachte er mit Sefen auf ber SHbliothef ©aittte»©ene»iö»e, ober
er füHtc fie mit jiel« unb enblofen ©pajiergängen aus, bei benen er,
langfam fchlenbernb, feinen Träumereien nachhing.
33ei einer folch' erbärmlichen SebenSroeife hätte ber arme Sichter
fchliefjlich geiftig »erfommen müffen. @r fchrieb 9ltd&tS mehr unb fügte ber
©ammtung feiner jarten finnigen ©ebichte, bie er trofe aDebem in weniger
fchlimmen ©tunben »erfaßt hatte, feine 3eile hmJu>
$ean SeHn roar bereits ber aSerjroeiflung nahe, ba rettete ihn bie
Siebe.
@S roar an einem ^unifonntage. Sie fiuft roar, nachbem es foeben
aufgehört hotte ju regnen, lau unb feucht. 3ean Seil», roanbelte im Harbin
beS sptanteS einher. Sem aufgeweichten ©rbboben entftrömte ein ©eruch
»on frifchem naffen ©rün. 9luS ber Menagerie herüber ertönte in ©inem
fort fettfameS SBogelgefdjrei. $ean bewunberte bie rothen Trauben an ben
Säumen aus 'ißaläftina, welche Suffon tyexfyex uerpflanjt hotte. 35a be*
gegnete ihm bie, welche feine ^reunbin werben follte.
fflxe ^anbfchuhe waren gerabe nicht mehr gut, ihre ©dmhe nicht
mehr neu ju nennen. 3m SHcmat gjuni trug fie ein fchroarjeS Äleib ! ©ie
■hatte einen garftigen Strohhut auf, welcher mit brei Kornblumen gamirt
roar. ©och welch' ein ©lanj, roaS für eine jugenbe grifdje ftrahlte aus
biefem gefunben, jroanjigiährigen ©efichte, baS »on bichtem rothen ©olbs
haar umrahmt roar!
\06 ^ranpois tHoppee in paris.
©in ßenner mürbe »ieHetdjt aud) bie frönen Äörperformen beS
•äRäbdjenä mit Sßohlgefauen betrautet tyobett, bodj Sean ©ellti fah nur bic
bunfelbraunen Stugen, bie ihn fanft anblidten.
©ie mar offenbar arm wie er unb madjte ebenfalls ihren ©omttag^
nadjmittagSfpajiergang. Qnftinctio folgte er ihr einige ©dritte, ©ie ging
in bie 3Renagerie unb blieb oor ben 3ebra§ fteben. @r machte ebenfalte
nicht weit oon ihr Qalt, unb jum jroeiten ÜBtale begegneten fidj bie 33li<fe
SSeiber. 2>a§ fcbltdjte SSotf liebt nicht bie langen Rbifit, unb fo ftanben
fie bentt balb barauf bid^t nebeneinanber über bie 93rüftung be3 Sären*
jroingerg gelernt. Unb roieberum eine SBeile fpäter, al$ fie bei ben Sinti«
lopen oorbeifamen, liatte 3ean SDettn, beffen Sippen trocfen unb beffen
Dhren glühenb rotjj roaren, ben3Jluth p fagen: „21$ bie hübfdjen Spiere,
nicht, gräutein?" ©o fam, wenn audj Slnfangf nur ftocfenb, ein ©efprädj
in ©ang. Sßor bem Slffenhaufe taufdjten fie ihre SRamen aus, unb al§ bie
SBanbelgänge beä ©artenS fie jum sehnten 2Me jutn ©lepljanten führten,
ba gaben fie fidj ben Slrm unb niaren in eine fo intereffante Unterhaltung
vertieft, baß fie jefet garniert tnefyr baran bauten, bem $)icfhäuter Joggen;
brot anzubieten, obroobl biefer feinen 9iüffel mit einer ©ebutb, bie einer
befferen ©adje roerth mar, nadj Urnen auSftrecfte.
©ie, gnäbige grau, bie fie breimal am Sage ftdj an= unb ausstehen,
ärgern fid) jefet oiefleicht, roenn ©ie mid) lefen. ©rftenä nämlid) mürben
©ie niemals ju bemerfen geruhen, baß ein junger 9Jiann ^übfdje Slugen
^at, roenn er nidtf Qb^rer ©efellfdiaftsfphäre angehört unb roenn er 3bnen
nidjt in aller gorm »orgeftellt märe. Unb fobamt mürben ©ie aud), beoor
©ie ihn ^t)rc ©dfiroäche almen liegen, il)m alle nur möglichen ©ebulb=
proben auferlegen. @r bätte Tie erft bei unzähligen SrtnerS, £hee$ unb
SorfteUungen in ber Gom6bie*3fran<?aife unb ber Dper treffen müffen. ßr
märe gejroungen geroefen, fich fünf' ober fechSmal im igintergrunbe !$xev
Soge bie „ftanoritin" anju^ören, ef»e 3br 33licf gelegentlich beS großen
Duetts : „Dh, tomm', fomm', 2>ir mill icb, mid) ergeben" crmutfiigenb ben
feinigen getroffen hätte unb mahrfdjeinlid) erft nad) brei ©allen unb einem
©ufcenb SSJaljern hätte ^t)rc £anb bie feinige bebeutfam gebrüeft —
9lid)t als ob ©ie, fd)öne grau, ein SluSbunb »on £ugenb mären, aber
©ie oerlangen eine beftimmte Sßerbejeit oon 3hrem Verehrer. SBerben ©ie
es bem armen Äinbe, baS $ean ©elln im Harbin beS ^lanteä traf, oerjeiben,
baß es fo menig Umfd)roeife inadjte? SBieDeidjt hotten ©ie gar baS 2J?äbd)en
für fdjamloS. Sod) eS mar eben nur freimüthig unb nai». ÜBäbrenb
jene« Spazierganges burd) bie SBcenagerie am 2lrme be§ S)id)ter* mit ber
fanften ©timmc unb ben traurigen 2lugen f>atte -Karie im $erjen ein ge;
heimnifjtolle« 9)Ja§liebd)en entblättert: „er liebt ©ich • • • »on fersen . . .
mit ©d)merjen" u. f. m., unb auf ben lefeten ©tiel mar ba8 SBort: „fami'3
garnid)t tafTen" gefommen. Sltebalb hatte Qean 9Marie erjählt, bafe er
allein unb unglüeflid) märe, unb 3)iarie äußerte fofort barauf ben h»$s
Hioalinnen.
{07
beräigen SBunfch, feine ©enoffin $u werben unb iljm ein wenig ©lücf ju
bringen, ©od), glauben Sie mit, gnöbige grau: allju fchneU gab ÜRarie
bennod) nicht bem Ungeftäm fetner äärtltä)en Siebe nach. Sie mar ein
28eib, wie Sie es finb, unb wie Sie befafj fie (Schamgefühl unb fogar
auöf) ein bischen Äofetterie. 2td^t Sage waren erforberlidj unb brei 9tenbej=
»ouS jur Slbenbjeit in ber frieblidjen 9tue £u»ier, be»or fie fid) entfchlofj,
ju %ean in bie 3JJanfarbe am Dual SainkSDiichel hinaufkommen. 2lber
in jener grühtingSnatfit würbe ba oben im 2Jlonbenfdb>tne, ber bie £>ad)ftube
erleuchtete, ein geft »on S^ränen unb Äüffen gefeiert, wie ich %fonm,
gnäbige grau, nur eines wünfdjen möchte, naä)bem Sie für gut befunben,
bafj ^Jtincn 3hr Verehrer genügenb ben £of gemalt f)at unb öftrer ©egen«
liebe mürbig ift.
9Warie, bereits mit jelm fahren Söaife, war »on einem Dnfet, einem
©ifenbahnbeamten, aufgesogen worben. tiefer war ein redjtfchaffner unb
nicht mehr junger SDtonn, ein finberlofer Sßittwer. SluS ©utmütljigfeit unb
aucg, weit er es bequem fanb, beim ^eimfommen ben £tfä) gebecft unb
baS 33ett gemacht ju fehen, t»atte er bie 9ftä)te ju fich genommen, Später
war btefelbe Sehrmäbdjen unb fpätertnn ©ehitfin bei grau Bibiana, einer
fehr befd)äftigten ÜJfobiftin, geworben. Sie befam aber bafelbft nur einen
geringen ©ehalt, benn fie war nicht fehr getieft. 2Wan »erwanbte fie
beähalb h^uptföchlich baju, gefchäftlidje ©änge ju beforgen. $t)x alter
Dnfet überwachte fie fo gut wie gar nicht. 2113 fie ftean $)eHt) fennen
lernte, war fie nicht mehr unfd)ulbig. Pflegen boä) bie Unterhaltungen ber
SWäbchen in berartigen SttetierS mitunter fel)r inbecent 5U fein. 9lacf)bem
fie im Slltcr »on fechäefm Sauren »on einem Sabenfdhwengel »erführt unb
halb barauf »erlaffen worben war, hotte fie einen gewiffen Slbfccjeu cor ben
Scannern befommen unb mar oorfidhtig genug, fich nrit feinem Slnberen mehr
einjulaffen. .^ftbeffen, bie Siebfofungen eines Richters, ber in SlUem, was
er fprad) unb that, baS Sßeib in ihr rejpectirte, beraufcfjten unb »erfüf)rten
fie. Sie beiben jungen Seute, welche Vichts bitten als ihre Mffe, beteten
einanber an. üflarie mußte in ©inem fort an ihren greunb benfen, fei es
nun, bafe fie im Sltetier faß unb nähte ober burd) bie Straften »on sparis
lief. $a felbft, wenn fie beS 3tbenbs ^u Sette ging unb fogar noch im
Traume »erfolgte fie fein 33ilb. Unb ^ean lebte nur noch ber 9Winute,
wo SDiarte 5wifd)en einer 33eforgung unb ber anbern ju ihm herau^am/
ihre &utfd)ad}teln unter'm 2trm, baS ^ßarabieS im Sluge unb im ßerjen.
So tarn neue SebenSluft über ben dichter, er fing mieber an ju arbeiten,
unb in einigen Stunben reiner, begeifterter greube febrieb er in Siatogform
jenes entjüdenbe „Sie Sternennacht" nieber, baS fpäter nad) ber
Sluffühnmg im Spätre gran9ais »on Seiten beS SßublicumS ihm bie 33e=
5eid)nung „£f)eofrit »on tyam" eintrug.
Qean las 5uweilen 2)Jarie feine Serfe »ot. Sie hörte ihm begeiftert
unb »ietteidjt mit mehr ©efüf)l als mit SBerftänbmf? 5U. 3h" befeligte es,
{08 .^rancots Coppee in Paris.
berounbert werben, unb feine 3ärtüd&Jeit f0* 9Rarie nmdjä infolgebeffen
noä). SÜTerbingS, er liebte jte niärf mit gleidjer ,3ftnigfeit tote fte ü»t.
33ei einer berartigen SOtufif giebt e8 triebt einen üoHfommenen Slccorb.
3ean mar gut, aber er befaß ein beträdjtltdje« £f>eil @goi8muS roie alle
ttjab>fjaften Äünftter. £rofebem t>ermod)te er nidjt oljne SBärme unb olme
innerltdje 3"friebenl)eit an biefe fdjlidjte gfreunbin ju benfen, bie ftdb üjm
mit Seib unb Seele btogegeben "nb bie fiöf) befttmungSloä in feine 2lrme
geroorfen botte, roie man fxd& in einen 2Ibgrunb ftürjt. @r »ermodjte ftd)
fein Seben niä)t mebr »orjuftellen olme fie; unb ba er, im ©runbe genommen,
billig unb geredjt badjte, fo träumte er mdf)t von ©lücf unb ©rfolg, ob,ne
baf3 er in feiner ?P^antafte bie mit einbegriff, roelefje Umt in feinem gegen*
roartigen Slenb eine Sröfterin roar.
©o liebten ftä) Sean unb 3Warie bereits feit meieren Qabren mit
einer Siebe, beren eben nur bie armen Seute, roeld)e feinen emberen ©enufj
unb feine anbere 3crftreuun0 famen, fäb,ig finb. ©djücfjtern uon Statur
unb aller Qmttattoe &ar/ jungC gjtenfdj ba^in, arbeitete roobl bin
unb roieber, fud)te aber feine ©elegenbett auf, bie u)n jur ©eltung bringen
fömtte. S)a führte ü»n ber 3«faß ta ben» 2Birtb>bnu§> roo er ju fpeifen
pflegte, mit bem alten ©aintsgirmtn ^ufammen. Qean $>eltp fyattt feinet
weg« an'« Sweater gebadjt, als er feine „©tememtadjt" fcfjrieb, unb ber
@ntf)ufia8mu8 beä ftomöbianten nabm Um ba^er Sßhtnber. 5Wit triebt »iel
Hoffnung Bertraute er ibm fein ajfanufcript an. 2BaS bötte audj ein
armer Unter=9tegiffeur am Dbeontljeater ausrichten fömten? Um fo gröfjer
roar besbalb baS ©rftaunen bes ®idjters, all er trierjebn £age fpäter
einen Sufcerft liebenSroürbigen 33rief erbielt, worin ibn ber Seiter ber
©omöbie gran^aife cigenbänbig p feinem SBerf beglücfroünfdjte unb itm
einlub, ibn balbigft ju befudjen.
V.
s)lo6) an bemfelben 2lbenb, roo ©ainfcgirmtn ü»r ba* SDtanufcript
übergeben, ^attc Stellt) 9iobin es im 33ette gelefen. ®a8 bu&föe 3JJäbä)en
Berftanb triebt »iel oon Sttteratur. 2Bie uiele ©ä)aufpteleritmen lernte fte
ihje SRoHe auSroenbtg, obne baS ©tfief ju fennen, unb fdjliefcliä) madjte fie
ifire ©adbe ganj leiblidj, na<$bem SBerfaffer unb 5tegiffeur fie in ben groben
gebörig gebrillt b«tten. SDodj für SBerfe, für gereimte trafen, bie x»on
Siebe fpracfien, fyatte fte jene* inftinetiue ©efübl/ ^ bie 3Jiäbä)en ber
aSorftäbte bereit* als ©cbulfinber befunben, inbem fie auf ben ©djreibbeften
für 10 ©etttimeS eifrig ben 2:ert ber Stomanje ju entjiffern fu^en, roelcöe
ber Seiermann, feinen haften brebenb, mit näfelnber ©timme betfingt. ®ie
SWufif in ^ean ®eHn* ©ebidbt roar föftlid). ©iefelbe rübrte S^edr) unb
fd)ien i^r nodj roeit fdjöner al* bie Couplet», bie fte als Keine« ©äffen*
mäbdjen auf ben ©trafen gefummt botte. ©ie fd)lief enblid) ein unb
Ricalinnen.
träumte oon betn jungen 2>id)ter, ber mit ben ftutfdjern sufammen effen
mußte unb beffen SBerfe tf)r fo ju &erjen gegongen waren.
£)er ©eltebte 9tettnS mar bamals ber $erjog oon ©olau, ber natür*
lid)e Solm beS h^etben^aften ■ötarfdjalls, be§ ehemaligen Tambours, melier
auf ber Srücfe oon 2lrcole neben Napoleon jum Singriffe getrommelt hatte.
@r mar ein hübfdjer, ein wenig blafirter SDlann, oon eleganten 3J?anieren,
bod£> oon weniger als mittelmäßiger 3ftteHigenä. S>aS jweite Äatferreid)
tiatte aus ihm nid)t mehr als einen Äammer^errn mad)en tonnen. 33eim
Souper, welches ber föerjog am folgenben Sage in einem oornehmen
Sleftaurant einigen gfreunben aus ben Sutlerien gab, erfdiien 3teüx) mit bem
■äJlanufcrtpt 3fean ©ellnS. @S mar nid)t gerabe eine für SiebeSpoefien
empfänglidje ©efettfdjaft ba oerfammelt. Sauter Seute mit grauen ftöpfen
unb fteifen hälfen. 3(6er jur 9ied)ten ber Sdjaufpielerin faß ßerr ßabuc,
ber Sßrioatfecretär unb inHmfte greunb beS SlaiferS. ®r mar ein wob>
wotlenber, titterartfd) ^od^gebilbeter SDienfdj, oon ungeheurem Einfluß auf
baS -^eater. $>iefer mußte ihr baS 33erfpred)en geben, bie „Sternennacht"
ju lefen. 2ld)t Sage barauf erhielt 3?ellt) oon ßabuc eine Äarte folgenben
Inhalts: „(Sin Keines Sftetftertoerf. 3fct) begebe mid» fofort nad) bet
(SomGbte gra^atfe."
SteHi) fchrieb hocherfreut über ben ©rfolg ihrer Empfehlung an Saint*
Pirmin. ®od) ber arme alte 3Jiime befam ben 33rtef nicht ju lefen. $rei
Sage lang lag er bereits im ßofpitat tobtfranf barnieber, Unb ba er
bem ®iä)ter oon feinem 33efud) bei ber Sd)aufptelerin SRidjtS gefagt hatte,
fo erhielt biefe feine Slntwort unb mar beleibigt wegen beS Sd)wetgenS, in
baS fidj Saint-.fttrmin unb fein ©ünftling hüllten. S9alb hatte (xe im
©trübet ber Vergnügungen Veibe oergeffen.
.^nbeffen baS mitunter recht launenhafte ©lud entfd)äbigte plö^ltd) %tan
®etto für feine unberühmte Vergangenheit.
JJod) waren nid)t oierjelm Sage oerftrid)cn, feitbem er SainHyirnim
baS ÜWanufcript übergeben hatte, als er eines 3HorgenS ein Sittel oom
SHrector ber 6om6bie gran<?aife erhielt. SDiarie fonnte ihn an biefem Sage
nid)t befuchen, unb ber Umftanb, baß er bie gute ftunbe feiner lieben
greunbin nicht alsbalb mittheilen fonnte, erfüllte ben S)td)ter trofe feiner
auSgelaffenen greube mit einem ©efühl oon Sraurigfeit. £eut war aud)
nid)t einmal im föoSpital 33efud)S5eit, fobaß er felbft nicht bem alten
Saint*$irmin feinen heißen innigen S>anf auSfpred)en burfte.
9Rit flopfenbem £erjen unb fester beängftigt oon feinem ©eheimniß,
machte %ean S>eHt), nadjbem er ben räthfelljaften 33rief minbeftenS jelm
3Wal burdjgelefen, forgfältig Toilette, um fid) nad) bem Sb&Üre 5ran<?ais
ju begeben. Qum ©lücf hatte er einen paffablen ©efettfd)aftSrocf unb eine
nette Graoatte, ein ©efdjenf 2JiarieS. 6r oerließ baS £auS. $>ie fdjmufeigen
Straßen machten auf ben ©lücflidben einen feftlidjen ©nbrud, ber wolfen«
fdjwangere, traurige 3?ooemberhimmel fd)ien su lad)en, nnb bie Seute, bie
\{0 .frattvois £oppee in paris.
et unterroeg* traf, famen ihm oot, al* roären fte bie »erförperte ©üte unb
greunblichfeit. 3ean ^atte nod) mehrere ©tunben 3^it bis ju feinem 33e=
fud). ©r ging nadfj ber 9lue 9Wonfteur*le=$|Srince, um einem feinet ©dfnller
Unterridht ju geben. $n feinet (Erregtheit überfah et biefem ben fefireefttchen
23arbari*mu* „Romanibus" im lateinifdfjen (^rercitium. ®ie $otge baoon
mar, bafi bet atme ©djludet oon ©mnnafiaft bi* an'* @nbe be* ©dmk
jähre* fät btefen entfefelidfien ©dEmifeer bie ätgften ©tidfjeteien oon Seiten
feine* Dtbinariu* ju etttagen blatte. ©arauf wanbette Start nadjj bet
©arfüdhe. Unb roäbjenb er nun in ©efeUfdjaft oon ®rofchferrfutfcb>rn
fpeifte, glaubte er mit ben ©öttem be* Dlomp* bei £ifd)e 5U fifcen unb
Steftar «nb 2tmbrofia ju genießen, obn>of)l man in 2öirftitf)feit ihm nut einen
in tauigem Del gebadenen ßatb*fopf unb einen ©djoppen fyödOft »et«
bädjtigen SBeine* oorgefefet blatte. 9tad) bem 3)iittag*ejTen machte et fid>
feften ©chritte* unb erhobenen Raupte* auf ben 2Beg.
®odj faum mar er oot bem berühmten „3Miöre=£aufe" angelangt,
al* feine ganje 33egeifterung fdmianb. @* überfam ihn auf einmal eine
unbefdjreiblidie ©dnid»ternheit. 3luf bet Sßenbeltreppe fdbienen itm bie
prachtvollen Portrait* unb bie ftoljen SBüften ber berühmten ©djaufpteler
ber Vergangenheit anjublicfen, als tooUten fte fagen: „2Ba* null bemt biefer
annfelige ©efetl bei un*?" Unb ber Sortier, bem er feinen 9Jamen nannte,
mufterte i^n mit einer fo t-erädjtUdjen SKiene, baft et ftdj ftagte, ob er nic^t
geträumt habe, ober ob er mirflid» nach biefer «Stätte be* £od)tnuth* berufen
rootben fei.
©er Sinter fanb inbeffen in ©egenroart be* ©enetaU^ntenbanten,
ber ilm auf* (Sdr)metcf>elt)aftefte empfing, feinen ©leidbmutfj mieber. ©ein
©tüct roärbe binnen Sturjem, in jroei ober fpäteften* brei SKonaten, »on
bem fiefecomitö geprüft unb gleidj barauf angenommen unb gefpielt werben.
&err 6abuc blatte ben faiferlidjen ©djaufpi eiern einen aufeerorbentlidjen
©ienft geleiftet, inbem et biefe* fleine SDieifterroerf 5U ihter Äemttnifj ge=
bracht b^abe. 9iun begriff bet junge -Kann mit Staunen, bafü er vom §ofe
ptotegitt nmtbe. Unb al* et nerniirrt ©anfe*n>orte ftammelte, ba ant«
roortete u)m bet ftntenbant:
„©anfen ©ie £etrn 6abuc. SBefudjen ©ie ilm nut.
@t ift ein SRann oon feinem littetarifdfjen ©efdjmad unb mob^nt hier
ganj in bet sJJähe, 9tue be Sftooli . . ."
Qean begab fidj al*balb bahin unb mürbe in ein fdjöne*, heH=
erleuchtete* 33ibliothef*}tmmer geführt, beffen beibe genfter nadjj bem ©arten
ber Suilerien hinabgingen, ©er lieben*nmrbtge ©rei* tieft nidt)t lange
auf fich warten unb begtüfite ihn mit bet geroanbten ©leganj eine* &of»
manne*:
,,©ie finb mit ya feinetlei ©anfe verpflichtet. 3m ©egenthetl, idh
bin ftols barauf, bem publicum mit $b>er ©idjtung biefelbe greube ju
bereiten, roeldfie id? bei ber Seetüre biefer reijenben SJerfe empfunben
Hipalinnen.
babe . . . UebrtgenS l»abe tdj baS 28erfdjen felbft erft von anberer Seite
empfangen unb 5war aus ben £änben ber <Sd)önf)eit. Utettn 9iobin »om
'öaubemffe^eater ^at mir 3br SJfanufcript übergeben, <Ste fagte, baß
fie es von einem ftfinen befannten ©djaufpieler befommen fiabe . . ."
Unb als ber junge 9J?enfd» in immer größeres ©rftaunen geriet!), fügte
(Sabuc fyinju:
„aBufetcn Sie es benn ntdjt? . . . ^>a, ja, baS ^arifer Seben, oon
bem man uiet ju iriet @d)lcd>teS fprid^t unb in bem trog adebem ein
ÜWenfdj »on SBerbienft nidjt lange unoerborgen bleibt, bringt mitunter
wunberbare 3«fäffc mit fidj . . . Segen Sie atfo gräutein 9tobin ftfiren
$>anf ä" f^äfeen. ©ie fptett f)eut 2lbenb; Sie werben fie in ifirem
©arberobenjtmmer finben . . . Unb id) bin überzeugt/' fo fdjtoß ber freunb=
lidje ©reis mit einem Säbeln, baS ein ganj Hein wenig »erfdEjmifct auSfaf),
„ber 2)idjter wirb il)X ebenfo gut gefallen wie bie S)id)tung."
■Kettn Siobin! . . . Qean 2)eHn. wteberfiolte biefen 3?anten in Einern
fort, inbem er burd) bie «Straßen oon SßariS barjtnctlte. ®r blatte biefen
'Jkmen bisweilen in ber 3eito"9 9«^fen, unb mit bemfelben oerbanb fid)
ibm bie ^bee ber greube, beS 3ieid)tt)umS unb ber Ueppigfeit. @r fiatte
bei ben $lwtograpl)en baS 33ilb ber bfenbenb frönen ©djaufpielerin gefefien.
2ltfo Mt) Stfobin oerbanfte er biefen $>ienft! @r fünfte fid) feltfam bc
roegt bei bem ©ebanfen, baß biefeS fdjöne SBefen, baS, man mod)te if)t
nad»reben, was man wollte, bod) immerhin eine fiünftlerin mar, ifyn aus
bem Glenb unb aus bem ©unfel empordienen mürbe.
„SBenn id) morgen 2Rarie mein Abenteuer erjäblen werbe, wirb fie
biefe 3RcUt> 9?obin anbeten," backte er.
£od) alsbatb ftieg ityn ein B10«^ t« biefer ^infidjt auf.
„33er weiß? 3Warie wirb eS oicCfcid^t oerbrießen, baß biefeS ©lücf
von einem anberen Sßeibc fommt . . . 5ßab, id) werbe if)r bie ©adje fdjon
auSeinanberfefcen."
Unb nun ging eS über bie Sf)ampS*@li)f6eS, wol)in ber 3ufaH feine
(Stritte gelenft fjatte. TaS 33ilb feiner flehten ^rcuitbin begann ein
wenig in feiner Erinnerung ju oerblaffen bei bem ©ebanfen an bie fdjöne
SQSorjlt^äterin. 3tcf>, wie Biete ©tunben mußten noefj »ergeben, beoor er fie
fefien tonnte. Sie würbe tf»n in ibjer ©arberobe empfangen. @r fottte in
i bie ©ef»eimniffe beS Sweaters einbringen, rjirttcr jene mnfteriöfen Gouliffen
gef)en, rjinter benen feine nai»e ^ßfjantafie eine 2Jiärd)enmelt »erborgen
glaubte, ©r füllte fid» fo unfidjer, baß er fürdjtete, er würbe fid) Itnfifdj
unb ungefdndt benehmen. 2Bie fottte er baS paffenbe 2Bort unb ben
richtigen £on finben, ifir ju banfen? Unb bann nürbe fie läct)ctn unb ifmt
bie .^anb reiben . . .
£)er empfinbfame ®id)ter fd)rieb bie Unruhe feines $er$enS bem
®anftarfeitSgefüt)[e %n, baS ifm be^ierrfdjte.
«ort unb ©üb. LXXV. ?23. 8
\\2 ,$ran<;ois <£oppee in paris.
9ln jenem 2t6cnbc war -Jtelli) bei fd)led>ter Saune, als fie in*« Sweater
tarn, ©rftenS ^atte fte nämlid) mit bem merunbfünfjigjäbrigen £erjog t»on
©ntau eine fd)recftid) langweilige Partie S6jtgue ton trfer bis um fcd^S
Uhr fpielen muffen, unb fobann t»attc fie ber Äammerherr es aud) entgelten
laffen, baß ber neu erfdjtenene ©otha'fd)e ßoffalenber einen genealogifdjen
Qrrtbum enthielt. 2Bie ber ©turmwinb war Mn in ihr änfleibejimmer
geeilt unb trotte babei eine ©arberobenfrau faft über ben Raufen gerannt,
i^nbeffen unfähig, lange böfe ju fein, tjattc fie fid) im Sßubermantel an ben
£oilettentifd) gefe|t unb begann fid) ju frifiren, als ber 2^eaterbiener ihr
melben fam, baß ein gemiffer jQcrr 3ean £)eflu beim Sortier fei unb fie
einen 3lugenblid ju fpredjen wünfdje.
„Scan 2>eKt)?" . . . 2Ber ift baS, 3ean ©etto? . . . 20», ja, ber
junge $id)ter, ber greunb ©aint^rminS . . . 9ia, ber bat fid) aber 'mal
3eit genommen, mir feinen Sanf ju fagen .... 6r foll hereinfommen."
©ie nahm fid) »or, trofe allebem liebenSwürbtg su fein unb bem genialen
jungen 3Kamte einen freunblid)en empfang ju bereiten.
Unb aU er nun auf ber £bMd)wetle erfd)ien, freibewetß im @efid)t
cor 3lufregung, ba erhob fie fid), unb, ohne ben spubermantel, ber über
bem foftbaren SKieber geöffnet mar, ju fdjtteßen, ging Tie auf ihn ju unb
ftrecfte ihm beibe $änbe entgegen.
„kommen ©ie nur näher, bamit man ©ie beglü(froünfd)t, mein £>err
. . . fleine« ©tficf ift aHertiebft, unb id) ^offe, es wirb balb aufgeführt
werben . . . Äommen ©ie nur weiter, laffen ©ie fid) bod) 'mal anfdjanen
. . . id) bin erfreut, ^foxe Sefatmtfdjaft ju machen."
©ie 30g ihn in'S 3imnter herein unb b<eß tlm neben if»r auf einem
fd)malen Titian nieberfujen. Unb roäbrenb nun 3ean, in golge beS \pqf
Iid)en ©mpfangeS, beS ^arfümS ihrer jtleibung, beS mannen ©rutfeS ihrer
,§änbe unb überhaupt ber 33erüfjrung mit bem fd)önen SBetbe uerwirrt
unb entjüdt, SBorte be§ ©anfeS ftammelte, betrad)tete fie ilm mit 9Iuf=
merffamfeit.
9ZeHi) jäljlte bereite breiftig Safjre unb hatte eine jiemlich fd)welgerif<he
Vergangenheit hinter fid). ^ennod) überfam fie plöfclid) ein ganj eigenartiges
©efühl, wie fie eS nie juoor gerannt ^atte. SHefer fd)öne junge SRattn,
biefer talentnoHe $rtd)ter, ber mit großen feelenooHen äugen fd)üd)tern $u
ihr auffd)aute, wie fam es nur, baß er einen fo feltfamen ©inbrurf auf
fie machte?
2Bar ba? etwa Siebe, was fie heut jum erften ÜM in ihrem Seben
empfanb?
Qnftinctir» unb unnriberftehlid) fühlte fie fid) ju ihm hingejogen. Sie
mar wieber bas fd)ltd)te 2Wäbd)en aus bem SBolfe geworben unb erinnerte
ftä) ihrer heißblütigen Sugenbgefährtimten oon ben ©traßen ber Sßorftabt,
ju benen ber brutale ©eliebte nur ju fagen braucht: „Stomm!" unb welche
biefem bann gefenftcn £aupteS folgen.
Ricalinnen.
2BaS fie einanber Tagten ? ©anale Sßln-afen. Sie mad)te ü)m trgenb
einige ©omplimente, wobei fie mehrmals biefetben SBorte gebrannte. SDamt
aud> befragte fie ihn, wenn aud) in wohlroottatber, fo bod) in siemlid) un=
gefd)icfter SBeife, über fein bisheriges Seben. ©r antwortete faum. Srofc
feiner Unerfaljrenheit grauen gegenüber, fiel if»m bod) an ber <Sd)aufpielertn
eine geroiffe Unruhe auf, beren Urfad)e er fid) freilich nid)t ju beuten
wujjte. $>ie warme, parfümgefd)roängerte Suft im ©arberobenjimmer natjm
ihm ben topf ein, unb ba er 9iid)tS mehr p fagen trotte unb burd) längeres
SBerbleiben ju ftören fürchtete, ftanb er auf, um fid) $u oerabfd)ieben.
„Sie werben mid) batb wieber befudjen, nid)t wahr?" . . . fagte iReffn
teife, faft bittenb.
„9Wit ftreuben," antroortete er. „SBamt barf id) . . .?"
„Um biefelbe 3«t in meinem 2tnfleibe5tmmer . . . bin id) ftets
allein."
@r oerbeugte fid); fie reid)te ibm il)re £anb. Unb als nun $ean in
bie fühle 2lbenbtuft hinaustrat, ba fd)ieu e-J tlmt, als ob SteHnS £anb
»orb,in in ber feimgen gejittert habe.
„2Bie fd)öu fie ift!" bad)te er, roäfjrenb er feiner entfernten 2Botinung
5ufd)ritt . . . „deiner Sreu! id) roill bod) lieber SJJarie fagen, baß «Saint«
grirmin mein 9Itonufcript birect ©abuc übergeben b,at. 3Benn ÜJlarie er»
führe, bafs biefe herrliche <ßerfon mid) protegirt, fo roürbe fie am ©nbe
trielleid)t eiferfüd)tig werben unb fid) betrüben . . . Seffer, bie kleine er=
fä^rt 9tid)tS."
VI.
2>er $)id)ter brad)te feine £üge oor, unb 9JtarieS greube mar grofj,
als fie hörte, ba§ bie „Sternennadjt" balb aufgeführt roerben roürbe. 9lber
es bauerte nid)t lange, ba oerbrängten Kummer unb (Sorgen bie gefteS«
ftimmung in ihr. ®S fd)ien ihr, als ob mit einem 9Kate ber ©eltebte
fühler gegen fie geworben wäre. Sßor Äurjem nod), wenn fie ju ihm fam,
fo ftanb :gean fd)on ungebulbig unb erwartete fie auf ber 2$ürfd)roelle,
nod) beoor fie bie lefete Stoppe erftiegen hotte. Unb bann baS gtücffeltge
Säd)eln, bie Umarmung, ber Äuf?, womit er fie empfing! ®od) iefct war
er nid)t mehr berfelbe. ftmnKx nod) fanft unb gut ju ihr, ja, aber weniger
järtlid). 33abei jerftreut. Sie fud)te ihn ju entfdjutbigen. Ohne Broeifel
ging ihm gegenwärtig Mieles im Äopfe herum. Sßläne unb Hoffnungen
Bejüglid) ber ©eftattung feines ferneren <Sd)i<ffalS befdjäftigten ihn. £>emtod)
Beunruhigte es fie, baß er fo war, fogar in ihren 2trmen, im älugenblicf ber
tmtigften Eingebung. Slengfttid) fragte fie ihn:
„2Boran benfft ®u eigentlich?"
®ie Antwort, bie er gab, tonnte fie beruhigen.
„9lun, an mein StüdM 2Boran benn fonft . . . 3n merjelm Sagen
ift Sefeprobe, $>u roeifjt es ja."
8*
ifran<?ois <£oppee in paris.
@r fagte bie Unroaljrfjeit, unb wäljrenb SRarie fid) bid)t an tljn
fdjmiegte unb fein ©eftdjt mit unseligen Hüffen bebecfte, bad)te er an
3ltü.x), an jene üppige Slume, beren $)uft er eine Seile lang geatmet
fiatte unb beren fumeuerwtrrenbeS Sßarfüm ü)n überaß Inn »erfolgte.
SBarum war er feit jetm Sagen immer nod) niefit wieber im 3?aube=
»ille=Sl)eater gewefen? 3lm einfad): 2)?ariensS wegen. @S war bod) tridfjt
fjübfd) »on iljm, if)r gegenüber ein ©efieimmfi ju tiaben. (£r tabette ftd)
felbft wegen feiner Sreulofigfeit. ©ie liebte Um bod) fo feb^r! Unb er
liebte fic bodj aud)! 2Baö aud) fommen mürbe, fie fottte immer feine ©e=
fäljrtin, feine greunbin bleiben, immer im ^mterften feinet &erjen3 bie crfte
©teile einnehmen. Unb nun lehnte er ltebe§trunfen fein £aupt an iljre
©dmlter unb betrachtete biefes naiue Äinbergeftd)t, baS lange, aufgetöfte unb
in golbigen ©träfinen über itjren 9?ücfen fjinabfaflenbe rötl)lid)e £aar, ba3
weid)e, runblid)e Slinn unb bie bunfelbraunen, großen Slugen, bie oon 3«t
5U 3«* »ertrauenluotl entgegenglänsten.
„Stein! e3 märe unred)t »on mir!" fagte er fid). „^d) werbe biefe
5ReHn SRobin nidjt mefjr befudjen."
3lber er foUte if>r balb wieber begegnen, otjne bafj er e£ beabftdjtigte.
©3 gefd)af) bieS auf bem Stirdjfiofe 5ßöres£ad)aife an einem offenen ©rabe,
in ba$ man foeben ben ©arg be3 im &ofpitale »crftorbenen ©aintsgirmin
binabgelaffen fiatte. ©d)merälid) bewegt burd) ben SSerluft bes if)m aufs
rid)tig unb treu ergebenen ftreunbeä, fjörte $ean $>eflu, beffen ©tücf am
Sage juoor mit großem 33eifaH in ber 6om6bie gran<?aife aufgenommen
roorben war, bie SBorte be§ De profundis an. ©in fetner, falter Siegen
fiel »om Gimmel fjermeber, unb nur eine Keine Slnjafil ©»Hegen beä alten
SRegiffeurS fjatte biefem bis nad) bem Äird)f)of ba3 ©eleit gegeben. 9lur
brei ober uier junge ©d)aufpieler uom Dbeon unb etwa ein Sntfcenb alter
ÜDMmen mit glattrafirten, weifen ©efid)tern, bie einftenS jufamntett mit
©ainfcgirmin gefptelt tjatten, waren anroefenb.
2113 man baä 28eib>affer fprengte, erfd)ien plöfclid), in einen prächtigen
Sßelä gefüllt unb einen foftbaren Äranj am Slrme tragenb, ein SBeib. %ean
erfannte alsbalb Stellt» JHobin. £>a3 gute 3Jiäbd)en fam, bem beugen ih>er
traurigen Sßergangentjeit ben legten Siebeebienft ju erroeifen.
9tafd) näherte fie fid) bem ©rabe, fenfte ba3 &aupt, fd)lug ein Äreuj,
murmelte leife ein furjeS ©ebet unb übergab bem Sobtengräber ben Äranj.
SRun bemerfte fie $ean, ber fie begrüßte.
Unter bem fdjwarjen ©cbteier fjeroor warf fie ifmt einen 5ärtlid)en unb
jugleid) betrübten 33ltcf ju. ©eit vieren Sagen fjatte fie immerwäbrenb
an ben jungen £>id)ter benfen müffen. 3[ebcn 9tbcnb blatte fie ifjn in if)rem
Slnfleibejimmer erroartet, aber »ergeben«. 9Bie ein Vorwurf lag'? in il)ren
Slugen, unb er beutete fid) baS ju feinen ©unften.
©ie ftanben auf bem fdmtufeigen Äird)l)ofe in ber Stäfie bev Seid)enf)atte,
unb über ifjnen breitete fid), büfter unb wolfenfd)wer, ber S*ecemberl)immel au§.
Xtoalinnen. \\5
Die Siede ift ftärfer alä ber xob.
©ie <Sd)aufpielerin manbte ftd^ an $ean.
„®er anne (Saintsgirmin ! . . . 2Bir Ratten ü)n ade SBeibe gern, nidjt wal)r?"
3n SBatjrfyeit aber badeten fie faum nod) an Hm, ben armen Saint*
ginmn. 9Jadt)ftdr>tig lädjelnb, fal; fein «Schatten gewife fdwn auf fie fierab
aus bem Sßarabiefe ber @d)aufpieler, wo biefe alle immer eine banfbare
Hauptrolle 51t fpielen fiaben unb wo fie ifjren Hainen immer fett gebrucft
auf bem 2lnfd)lag3äettel erbliden.
$ean unb 9ieHt) entfernten fi<$> »on bem ©rabe unb fdjritten bie mit
traurigen, entlaubten Säumen beftanbene 2lHee entlang.
„3Barum h>ben Sie mid) bemt rtidt)t befudjt?" fragte fie leife.
©r antwortete in bemfelben £one:
„3$ wagte es nid)t . . ."
9iun gingen fie fd)weigenb neben einanber l)er. 9tm Ausgange be3
£ird)f)ofeö wartete baä Soup6 5ietti; 9?obin3.
„Sie fahren bodE» mit mir nad) ^SariS jurücf ? 9ttd)t waf)r, Herr 2>eHn ?"
tfaum fafe %tan neben if»r in bem engen SBagen, btdt)t an fie gebrängt
unb t)on ifirem Parfüm unb »on bem roeidjen $elje fanft umfd)meid)ett, ba
»erlor er ben .ftopf. SReHi), bie gar wof)l ba3 £eud)ten feiner 3lugen bemerfte,
fd)miegte fid) nod) bidfjter an Hm unb leimte ben ßopf auf feine ©dmtter.
„Sdf) lieb* lid) ja, weifet 2>u'3 benn nid)t?" Ijaudjte fie.
(Sie Ratten Stüffe ofine gaty gewechselt, als baS ßoupö »or ber
2Bof>nung ber Sd)aufpielerin f)telt. 9?elh) fprang suerft au3 bem 2Bagen,
^ean b^interbrein. Gr wollte fid) »erabfd)teben, bod) fie 50g Hm mit fid)
in'« Hauä hinein.
3m SBorjimmer fam ifmen bie Äammerfrau entgegen.
„Der Herr Herjog ift feit äwansig Minuten ba," fagte fie. „Gr er*
wartet 9Jiabame im SBouboir."
©er Herzog ! <3ie blatte ganj »ergeffen! ®a3 war bie 3«t, um wetd)e
er mit H>r feine enblofe Partie 3365tgue 3U fpielen pflegte.
9JIU einer Hanbbewegung entliefe fie bie ftammerfrau; unb, inbem fie
um ben $at§ 3ean3, beffen ©eftd)t plöfcttd) einen ftotjcit, pnfteren SluSbrucf
angenommen blatte, ib>e 3lrme fcblang, bat fie:
,,9t(i», fei nid)t böä! S?cräetr) mir. SRorgen, wenn ®u wiHft, wirft
®u ber Herr tjicr im Haufe fein . . . Unb ®u mufet mir aud) »er»
fpred)en, beut 9fbenb in'S 3Saube»iIIe ju fommen . . ."
3llfo it»rj ©eliebter! Giner »on SSielen! ... D nein; er befaß
@E»rgefül)l unb Gigenliebe, ber 5Did)ter. Gr mad)te fid) »on it)r lo§, grüfete
unb »erliefe ot)ite Antwort baä 3imnicr'
©raufeen auf ber ©trafee eilte er erregt mit grofeen ©d)rttteu bafiin,
„Stein!" badjte er, „id> werbe b>ut 3lbenb beftimmt nid)t in'S SBaubeuille
geljen! . . . <Sd)ön ift fie wie ber £ag, unb wie geuer brennen u)re
Äüffe auf ben Sippen. 2lber id) bin nid)t einer »on benen, bie mit
\\6 jrattfois (Loppee in paris.
2tnbeten bie Siebe Reiten unb bie, meint einer »on biefen 2lnberen plöfcttd)
erfd)eint, ftd) im Äteiberfdjranf »erfteden . . . ©et £ert! b,at fte gefagt . . .
morgen, meint id) miß! ©er &err in aß' bem Suruä, ben Tic einem
9lnberen . . . mehreren 2lnberen »erbanft! Unb id) ^abe nid)t@elb genug
in ber ©afdje, um ü)r einen Mofenftraufc ju taufen! . . . SEBofür f|ält fte
mief) bemt eigentltd)? . . . Unb bennodf) . . . id) bin tf)örid)t unb un*
banfbar . . . 2lber SWarie? . . ."
@r fudjte ftd) burd) ben ©ebanfen on SDiarie ju ergeben. $atte er
roirflid) entfttid^ baran gebaut, fte ju »e'rtaffen? MemalS! ©in bi§d)en
Untreue, baS mar ba3 ganje SBerbrec^en, ba§ er fiatte begeben rooHen. ©a£
war am ©übe »erjeiljlid), unb er fiatte barum nod) lange nidjt aufgehört, feine
f leine greunbin p lieben . . . Qebod)? , . . geatt tounberte ftd) felbft
barüber, mit roeldjer ©emütb^rulje er foeben e8 fertig gebraut blatte, fte,
wenn aud) nur in ©ebanfen, }u betrügen. Unroiflffirlid) oergltd) er bie
beiben grauen mit einanber, unb alsbalb bemäd)tigte ftd) ein plöfelidjer
9taufd) feiner «Sinne. 9lod) füllte er auf feinen Sippen bie glfifjenben
pfiffe ber fjeijjblütigen Sünbertn! 2ld) roaS! er war aud) gar ju
fctupulöS . . . ©a3 fdjöne ©efd)öpf blatte für ü)n eben einen Keinen
gatbte. SJarum fottte et ftd) baS nid)t gefallen laffen? greüid), oor
allen ©tngen Offenheit, (Sie foHte e3 erfaßten, bafj er ntdjt frei mar;
er roürbe baä ü)r felbft fagen, bleute äbenb nod).
Um ad)t Uljr mar er im 3lnKeiberaum bei 3telln. Sie befiürmte ifnt
mit Siebfofungen. Sie fniete oor ilmt nieber, füfjte ifmt bie £änbe.
,,©u braud)ft nut ein SBort ju fagen," mieberljotte fie ein 3M über
baS anbere, „unb ic^ weife bem £erjog bie ©fjür, unb id) geböte ©ir,
©ir ganj allein."
©er ©tdjter fafete ftd) ein £erj unb beid^tete.
33ebenb fctjnefftc fie empor:
„2Bte, ©u cjaft eine ©eliebte?"
Qiean fuefite einjulenfen, ju erflären. 3a, ein ÜNäbdjen, baS gut unb
lieb in feinem Unglücf unb in feinet ©infamfeit ju u)m geroefen märe.
2lu$ ©anf barfeit Barte er fte anfangt roteber geliebt, jefct füllte er nur
nod) greunbfdjaft für fte. — Unb et fprad) bie SBabrbcit. —
Stellt) fonnte fict) nid)t barüber nwnbern. SBat e3 i6r bod) beteinft
ebenfo gegangen!
,,3d) roerbe bem £erjog mein £auS nerbieten!" rief bie ©d)au*
fpielerin . . . ,,33rid) ©u mit bem 2Räbdjen."
©ine fo gtaufame Sogif erfd)recfte ^ean ©ettn förmlid). $n feiner
iQarmtofigfeit mad)te er ben tl)örid)ten unb unnfifeen SSerfud), ein SBetb
feiner SRtoalin gegenüber ju »errtjeibigen. 9tle mürbe et e8 übefs $erj
bringen, 3)?arie fo fd)nöbe ju »etlaffen. ©te mürbe ja ganj nerjmeifett
fein, ©r mufcte 3«t ^aben, fie auf bie ©tennung »orjuberetten, fcmfl
märe fte jn 3lttem fär>ig. Sie liebte if»n ja fo grenjenlo^.
Kicalinnen-
3n ben Slugen einer Äofette würbe Qean fid) burd) eine berartige
Ungefd)t<fli<bfeit unmöglid) gemalt baben. Da aber 9Mn roirflid) in ibn
oertiebt mar unb ein gutes .^erj befaß, fo fenfte fie ben Äopf nnb
flüfterte:
„'S ift roabr. Die Äleine bat Dia) gewiß fcrjr lieb . . ."
Nun mad)te fid) ber Didjter bie eigne SRaioetät jum SBorrourf. @r
umarmte 9ielty, fprad) ju it>r särtlid), teibenfd)aftltd):
„2BaS fd)ert uns Dein &erjog? 2BaS fdjert uns ÜWarie? Äönnen
mir unä nidjt trofebem gut fein?"
9(ber fie roanbte ben Äopf bei (Seite.
„Wellt), roaS ift Dir?" rief er beforgt.
Unb roie er nun einen ftuß auf ifiren 9JJunb brüden wollte, fall er,
baß baS fd)öne 9)läbd)en bie 2lugen »oller ^bränen blatte.
<§r glaubte fie oerlefet su baben unb bat fie reumütig um SSerjeibung.
Da ergriff fie von Steuern feine £änbe, bebetfte fie mit Äüffen, ne|te fie
mit ber warmen gftitb tbjer Dbränen unb fagte ibm, roie innig lieb er
ibr fei. 9Jetn, böfe roar fie ibm nidbt. %m ©egentbeil, fie ^atte ibn um
@ntfd)ulbigung $u bitten bafür, baß fie U)n ju geroinnen gebofft. @ie
batte, roie ibreSgleicben alle es rocnigftenS einmal in ibrem Seben tbun,
fid) ber trügerifdjen Hoffnung hingegeben, tfjre ©d)ulb burd) Siebe 51t
fübncn. Das roar eine Sorbett, fie far) es ein. UeberbieS fei er ja
aud) nid)t mebr frei.
„(Sntroeber Du täufd)ft mid) abfid)tlid), ober Du belügft Did) felbft,"
rief fie fd)lud)jenb, „roenn Du bebaupteft, baß Du Deine SWarie nid)t
mebr liebft. ©ie ift Deine erfte unb einjige gfreunbin geroefen, fie bat
Dir £roft gebracht in ben Sagen beS UnglüifS. 3d> beneibe fie, aber id)
fann fie nicbt rjaffen. . . . £ören ©te, tbeurer greunb," futjr fie nad)
einer ^Saufe f<f»einbar rubig fort, „glauben ©ie, es ift baS 23efte, roir
geben »on einanber jefet unb. feben uns nie roieber, — baS wirb Qbnen
unb mir gut fein. 3Serfud)en roir, einanber 5U oergeffen."
2lußer fid) uor ©djmerj, ftürjte ber Dieter 9Mtj 5U güßen, bat unb
flebte, fd)rour, baß er fie aufrid)tig liebte, unb glaubte an. feine ©djroüre.
Dod) fte blieb ftanbbaft unb befaß fogar bie Äraft, ibm „nur nod) einen
einjigen Äuß" ju »erfagen. $u a^ innen 33etbeuerungen fd)üttelte fie
blos ben Äopf. Unb als er enblid), mebr gejwungen, als freiroillig, fie
»erließ, ba tonnte fie (»offen — ober aud) fürcbten — baß er md)t mebr
jurücffebren roürbe.
VII.
6t tarn fd)on am näd)fteit Sage roieber, er fam alle 9lbenbe roieber,
unb fie empfing ibn, roar gut unb järtlidj 5U ibm, obne ibm inbeß nad)*
jugeben, nod) ibm Hoffnung 311 laffen, baß fie ibm jemals nad)gebcn
{\8 jftaittj'ois £oppee in Paris.
föntttc. Unb, rote es fo oft bei SiebeSabenteuern »orfommt : fie roaren 2l£Ic
unglücftid).
2üle; junädift 9teHu. Sie Ijatte jefet wolle (»croi^eit, bafj ber 2)id)tcr
rafenb in fie uerliebt unb völlig bereit mar, feine 3)tarie ju tjerlaffen. 9ludj
fie badete jefet baran, itjrc Äette ju Breden, unb man mürbe alsbatm, fo
gut es anging, als ein rechtes SiebcSpaar, oon Siebe unb Suft leben. 2lber
fie befaß einen gonbs von Gbelmuth. GS roiberftrebte ihr, baß ihr ©lud
baS Unglücf einer Slnberen herbeiführen, baS ©rgebnife einer graufamen
SanblungSroeife fein follte. 2luf alle ftälle toottte fie bieS nicht oeranlaffen.
Niemals ^ätte fie ju $ean gefagt: ,,S3ridf» mit ©einer ÜHarie," unb
roieberum, märe er gekommen, il;r su fagen: habe mit iljr gebrochen,"
fie märe ihm an ben £>als geflogen. Snbeffen, er fagte es nicht, unb fie
fragte fid) bann mit gar bitterem Btoeifel, °& cr benu für fie mir finnliche
33egier, nur eine »orübergehenbe 'Neigung tjege.
9Karie war nicht minber ju befragen, ^eben Sag rourbe %ean Seilt)
gleichgiltiger, »erbriefjlidier. SJeflagte fie fid) barüber, fo entfchulbigte er
ben SBechfel feiner Saune mit feiner S^ffteutheit: benn er ging jefct alle
Nachmittage in'S Th&itre gransaia, ber Gmftubirung feine« Stüdes beim;
wohnen. 3lber baS einfache -Weibchen, gewarnt burch ben fehr ficheren
^nftinet beS t>eruadjtäffigten SBeibeS, täufchte fid) Sterin nicht, unb jeben
Slugenblid burch ein rauhes 2Bort, burd) eine ttngebulbtge Öefte ihres &t-
liebten erfdjredt, lebte bie arme Ä leine in beftänbigem Sttttfrubr beS &er$enS
unb ahnte eine Äataftrophe.
ftean litt ebenfalls. SBar er bei Stellt) 9tobin, fo lebte er, unaufhör-
lich °Äen Tantalusqualen preisgegeben, in einer Aufregung ber ©iitne, unb
fobalb er ju SJtarie äitrücffehrtc, empfanb er ein fchrecfücheS ©efüfjl »on
SDtübigfett unb SJtitletb. £>etm, ohne fid) bis jcjjt baju entfchliefeen 511
fönnen, bad)te cr bod» bereits baran, fie ju üerlaffen, unb babei empfanb
er im Boraus 2l(ifdjeu »or feiner Feigheit unb feiner Uubanfbarfeit.
Sie roaren eben 3(He unglücf lid). %a\ 2llle, bis 511 bem unglücf feügen
&erjog »on Gt)lau, ber jefct mehr benn je bie ©abe befaß, bie nerwöfc
Stellt) Jtobin im höd)ften GJrabe 5U reijen, unb ber bie barfdjen 9lbt»eifungen
feiner SJtaitreffe ebenfo roem'g wie bie jahttofen gehler begriff, bie er fett
einiger $t\t beging, meint er itejigue fpiette.
Gr mar baS erfte Opfer ber Situation, ber arme &erjog: SSegen eines
9iid)t3, beS SluSfpielcnS einer ßarte — runbroeg »erabfd)iebet. Gr mar
gteichroohl nicht anfprud)S»oH gemefen, roemt er nur feine obligate Partie
»on 4 bis 6 hatte. Gr entfernte fid) biScret, unb mit ihm »erfd)roanben
bie Rädchen Saufenbfranffcbetne. 33atj! Stellt) fümmerte fid) »tel um ®elb!
Sie liebte.
Dl)ne irgenbroie ihre 2luSgabcn, ihr .ftauSroefen 51t »errtngern, »erfauftc
fie einen Sdmtucf nad) bem anbent unb lebte in ben Sag hinein mit ber
Sorglofigfeit ber SRaitreffen.
Hicaünnen.
©nbltd^ mürbe bie „(Sternemtaäjt" im Spätre gran^at* gefpielt.
2>?an erinnert fief) noefj be£ SriumpfjeS! Sa£ SPremiärenpublicum, alle
bie alten, abgelebten 9tou6S meinten babei uor 9?ül)rung. SaS erfrifdrte
fie, baS tf)at ifmen moljl.
Sen Sag naef) ber 2lupl)rung machte ber 9Jame ftean Seil«, Ijodj
gepriefen, bie 9hinbe biirdt) bie 3eitungen, b. f). buref» granfreict), burd)
©uropa. ©er Sidjter, beffen ©efidit nod» ganj pubrig mar vom Araber:
fu{? feiner Interpreten, mürbe hinter einer ©ouliffe von bem biefen Verleger
23eer ermifd)t, ber ifim fdjnurftracte baS SRanufcript feinet Stüdes abfaufte
unb itjm 5000 granfen in bie £anb brütfte. 33ei ben erften 3tupb,rungen
fafj 9Mi) in ber Soge beS £errn Gabuc, meinte greubentfjränen unb
applaubirte fo fiürmifd), bafj fie ifjren gäcfier serbrad), roäfirenb ganj im
■Öintergrunbe ber emsigen Soge, bie man bem Sidjter beroilltgt {jatte,
•JJiarie in ben 2(rmen ber $reunbin auS bem 9ltetier, bie fie begleitet blatte,
uor Aufregung »erging.
Sllifjtrauen mir bem ©lücf. ©S mad)t bie ©uten beffer, aber für ben
©goiften ift es gefäljrlicf), unb ber SDJamt, ber ©rfolg gehabt, glaubt, if)m
fei 2llIeS erlaubt.
Sei feinem fpäten ©rroadjen am nädiften SDiorgen in ber SRanfarbe beS
Duai @t. 3Jlidt)et erhielt &an Seilt) uon sJiefln 9?obin einen übcrfdmiäng=
tiefen 23rief unb ein $adet Journale, bie marm feinen 9?ut)m nerfünbeten.
©r mar berühmt, er mar geliebt. Sluf einmal. sJfein ! ©r befafe ja 9Mi)
nid)t. ©in einiges £inberatfj — unb baS mar SRarie. Sa fiel fein
ffllicf auf bie SBanfnoten, bie if)tn 2Jeer am 2lbenb gegeben, unb bie er bei
ber ^eimfebj: auf ben xifdj gemorfen blatte, ©elb! Soften fid) mdjt mit
©elb am fyäufigften bie Qugenbliebfdjaften, bie Siebcleien beS Duartier
Satin ? 5000 granten, baS mar für eine $anbroerferin fdjon ©troaS, momit
fie fidj etabliren fonnte, eine 3lrt 2luSftcuer, ber 3lnfang eines ©lüds
trieUetdjt. Unb für ifm fonnten fie baS Söfegelb, feine f^reiEieit bebeuten.
llnb fdjttefjlid) fiattc er ja feine Jungfrau »erfüfirt. 2)?arie blatte iljm nur,
unb smar aus eigenftem freien 2Intrtebe, juiei Qafjre ibjeS SebenS gefdjenft.
5000 granfen! SaS t)iefc bejaht! ...
Unb 3ean Seilt) mar fein SBöfemidjt! 9Jod) am 3lbenb, im ßodjgefüljt
beS SriumpfieS, blatte er feine fleine greunbin, bie ifjn ganj fdnldjtern auf
ber ©trafje, am ©ingang für bie Sdjaufpteter, erroartete, freubig umarmt
. . . Slber ein ungeftillter, rafenber SBunfdj »erblenbete Um.
D ©efüfjtlofigfeit, o &ärte beS 2Wenfdjenl)ersenS! D über bie fiebrig«
feiten, bie in einer SDiinute erbaut, befa)loffen, ausgeführt finb!
SDiarie mürbe tf>n ol»ne S'^'M fo a^ möglidj befudjen, üielleicpt
biefen 3JJorgen fdjon.
©r fleibete fieb, Ijaftig an unb fdjrieb in einem &üQt ben SabfdfnebS*
brief. ©r befd?mor SDJarie, il;m ju tjerjeifien. Slber er liebte fte nun ein=
mal nidfit meljr. Sie fonnten fid) liinfort gegenfeitig bodj nur nod» 3ur
\20 ;ftan<jois Coppee in patis.
öuat leben. Unb, ba$ ©etb aitäubieteit, fanb er, ber SDtamt ber %eoex,
eine getftooHe, faft särttidje SBenbung.
@r legte bie £Me, bie ben SBrief unb bie 33anfnoten enthielt, red)t
augenfällig auf ben ©tfd), fagte im gortgefyen bem Sortier, bafj, wetm
gfräulein SJtarie täme, oben @twa§ für fie tage, ftieg in eine ©rofdjfe unb
liefj fid) ju Stellt) fahren.
Seit einigen Sagen fpielte fte nid)t mein- im Siaubeuifle, wo iljr
©ngagement foeben ju ©nbe gegangen war. Einige SJtonate sur>or blatte
fie, angeftd)t3 fef»r ttortrjeil^aftcr Slnerbietungen nad) Stufclanb, abgelehnt, eä
ju erneuern. ©amt mar 3ean erfd)tenen, fie fjatte fid) md)t meb^r von tljm
entfernen motten, unb nod) am 3lbenb juuor l)atte fie ben STjeateragenten
abgefdjüttelt, ber in fie brang unb fid) nid)t erflären fonnte, warum ein
f)übfd)e3 SSeib eine Steife in bas Sanb ber Stubel abfdjlug.
„@§ ift gefdjeljen. f>abe mit ix)v gebrod)en!" rief ^ean in ben
2lrmen ber <Sd)aufpielerin.
Unb er erjäljlte iljr, mit {»äfjtid&er, egoiftifdjer greube, bie fd)led)te
ißanblung, bie er foeben begangen. Stellt), eine SJtattreffe trofe allebem,
bewunberte itin unb war ftolj unb gerüljrt, bafj er, oljne ;u äögern, um
ganj iljr anjugeljören, ba§ erfte ©olb geopfert blatte, ba§ if)tn ba§ ©lüd
juwarf.
„Unb id), id) bin aud) frei!" fagte fie ju ifmt, auf feine <Sd)ulter
gelernt, ,,id) bin ©ein unb gehöre ©tr für immer! . . . tiefer £upu8, ber
mid) umgiebt, erregt ©ir 2lbfd)eu . . . ©u bift ftolj, ©u Ijaft 9ted)t . . .
Stun, beruhige ©id) nur . . . $d) Ijabe bis jefct, oljne ju redmen, gelebt,
unb feit meräefyn Sagen b/tbe id) ben ßerjog fortgefdjicft, ber meine
©djulben bejahen wollte . . . 2Bol)lan, SJiöbel, SToiletten, <Sd)mu<f, Slffed
laffe id) meinen ©laubigem . . . ©u wirft eine Äamerabin baben, bie eben
fo arm ift wie ©n . . «Spredjen <Sie, mein §err, werben (Sie bann audj
nod) $t)ve greunbin im ©rtfettenfleibe lieb b>ben? 33af|! @S ift gar nidjt
fo lange fyer, bafj id) f)öd)ft eigenf)änbig meine 2Bäfd)e ausbefferte unb
meine Suppe fod)te . . . $d) werbe baä Stjeater oerlaffen, wiHft ©u? . . .
©u würbeft bod) 5U eiferfüd)tig fein, nid)t wal)r? wenn id) bort bliebe,
unb id), id) fönnte nidjt genug bei ©ir fein . . . Stein, id) will ©eine
3Birt^fd)afterin werben, unb ©u follft fefjen, wie id) ©id) pflegen werbe,
wäfjrenb ©u aHerljanb fd)öne ©ad)en fd)reiben wirft . . . 3uuäd)ft wirft
©u je|t ©einen £cben3unterf»alt »erbtenen; ©u wirft nidjt reid) fein, bei
©ott! . . . ©id)ter f>aben fein ©lüd. Slber id) werbe fo oentünftig fein
... 3a! wir werben fogar nod) große Sprünge madjen fönnen. Unb ©u
wirft mir balb mein erfteö Sd)mudftü<f taufen . . . Ohrringe in ©oubl6,
5e^n granfen ba§ ^ßam, wie jene beim Juwelier in ber 9iue 9Jt6mlmontant,
bie fo felir meinen Steib erregten, ba id) mid) nod) als Äinb auf ber
©trafje um^ertrieb . . . D mein ^ean, wie liebe id) ©id)!" . . .
Rivalinnen.
\2\
Unb rote et fie feurig an ftd) preiste, fügte fie, fid^ loSmadjenb, (jinju:
„9tein, nod) md)t, nod) nid)t unb ntd)t hier . . . &ier erinnert mid)
2lfleS an meine Vergangenheit, roibert mid) 2tlles an ... D oergieb mir!
3$ roar ja ©ir nod) md)t begegnet, id) wußte ja tridjt, was es E>eifet, ju
lieben . . . SRein, td) will nod) tieut Slbenb ju ©ir fommen, in bie arm*
licb> Sßofinung, roo ©u fo ungtücfltd) geroefen bift 3d) werbe borten
fommen, um nidjt mehr fortjugeb^en, unb sJHd)tS will id) mitbringen als
bie SUeiber, bie id) am Seibe trage . . . ©pritf), bift ©u einuerftanben?
. . . 3efct gehe an ©eine ©efebäfte . . . ©u mußt ©tdj im Sweater
5«gen, ©u mußt allen ©einen 23efantrten banfen, ©einen Interpreten,
jenen $0 urnaliften, bie ©id) foeben als großen ©td)ter auSpofaunt Ijaben
unb bie man fubtit befianbeln muß . . . 3d) fenne baS . . . SBährenbbem
werbe id) Ijier 2lUeö regeln, unb baS roirb nid)t lange bauern, id) Derfidjere
©id). werbe nidjt einmal bie wenigen SouiS in meinem Portemonnaie
behalten ... 6^ giebt ja genug <Sammelbüd)fen für bie 9lrmen . . .
Erwarte mid) b^eut 3lbenb, um fedjs Uh>, unb laß uns unfer gemeinsames
Sehen bamit beginnen, baß wir in ©einer Äneipe fpeifen, mit jenen
$utfd>ern äufammen, weißt ©u? bort, wo ©u ben armen <St. girmin
fennen gelernt- fiaft . . . (SS liegt mit baran, bafe aud) id) ein wenig
©ein großes @lenb geseilt habe!" . . .
$ean ging, beraufd)t dou @tol$, eine fold)e Setbenfdjaft eingeflößt,
fold)e Dpfer oeranlaßt ju haben.
Mein unb »on bem SBunfdje befeelt, fobalb als möglid) bie ©puren
ihreö galanten SebenS 5U üernid)ten, nahm SWellt) suerft aus einem ©djub*
fad)e einige ^kefete Sriefe unb warf fie in'S geuer.
«Sie fah fie brennen unb wollte gerabe ihrer Äammcrfrau flingeln, um
ihr ben foeben gefaßten ©ntfdjluß anjufünbigen, als biefe erfd)ien unb fagte:
„ftann 3JJabame baS 3JJäbd)cn öftrer SKobifttn empfangen? . . . 6ie
ift unten mit bem bewußten &ut, ben SWabame oor ad)t £agen befteUt hat."
„Saß fie herauffommen," erroiberte SMi) 3tobin med)anifd).
Unb währenb bie Äammerfrau gehord)te, bad)te bie ©d)aufpielerin
unb fonnte nid)t umhin ju tädtetn:
„(Sin $ut für fünfSouiS! Qdj werbe ohne 3roeifet auf lange hinaus
feinen folgen mehr tragen, unb biefer foff nad) ber ®recution burd) bie
®erid)tsbiener bejaht werben wie baS Uebrige . . . ©ah', id) will ihn (jeut
3lbenb auffefeen, wenn id) mid) bei %tan eintogiren werbe."
©enn welche 2Uad)t ber ©rbc vermöchte eine grau, felbft wenn fie
närrifd) oor Siebe, felbft wenn fie in einer Strife ber Seibenfdjaft ift, ju
hinbern, baß fie einen f)übfd)en £ut probirt?
©aS 2Wäbd)en trat ein unb öffnete feinen ßarton.
„Sajfen Sie fehen," fagte Slefft;.
Sie ftellte fid) oor ihren (Spiegel, rücfte ben fofetten «S^iffon auf ihrem
Äopfe 5itred)t unb bemerfte erft jefct im «Spiegel baS ©eftdjt ber jungen ÜWobifrin.
\22 JratKjots £oppee in parts.
2Ba« t;atte fic nur, bic arme Stteine mit bctt golbrothen föaaren?
aBarum roaren jene hübfdjen faffeebraunen 2lugen mit S^ränen gefüllt?
Unb warum ftüfete fic ftdj roie ohnmädng auf bie Seime eine« gauteutts ?
©« mar SÖJarie, bie ben £ut gebraut blatte.
Dh! roie roar fic heut 2Rorgen fo fröhltd; au« bem Stttetier roeg»
gegangen, ihren ©arton unter'm 2lrm!
©dmett, erft ju 3ean! ©r mußte lange gefdjtafen haben, nach all'
ben Aufregungen feinet Triumphes. Sie roürbe Um beim Stufftehen finben,
ihren 93ielgeliebten, ihren dichter, roie er enbltd; glüdttd; roat. 2lber nein,
fd»on ausgegangen! „(Sie fönnen fofort hinaufgehen, gräutein," blatte ihr
ber Sortier gefagt, „es ift oben ©troa« für Sie."
SBas baS oben roar? großer (Sott! e« roar ber fdjredlidje 33rief unb
jene 23anfnoten, bie fie fogleid) roieber fortgeroorfen hatte, bie ihr in ben
Ringern gebrannt bitten. So, ba« roar ju ©nbe. 3ean liebte fic md)t
meb^r unb »erabfcfiiebete fte, bejahte fie roie eine SDirne. 9ioth, al« hätte
fie einen 23acfenftrei<f> erhalten, tobt ba« &erj, ba« 33lut im (Sehtrn, roar
fie geflohen unb weinte auf ber (Straße, ohne fid» ju fchämen.
SBenn Sie einen großen Stummer hoben, roemt 3hr Siebhaber Sie
»erläßt, fdjöne ®ame mit ben brei Toiletten tägltd), fo oerriegeln Sie
3hte £hür, Sie fdjtießen fid) in ffi 23oubotr ein mit einem glacon
engtifdjen jüechfalje«,, unb Sie fönnen bann roemgften« in ber ©tnfamfeit
fdtjludjjen. beflage Sie, geroiß! benn ba« Seiben ift baäfelbe für ba«
&erj einer »erlaffenen grau, ob ei nun unter Seibe ober unter grobem
3roiHidj fdjtägt. 2fl>er haben Sie gütigft ÜJlitleib mit bem Keinen Sauf»
burfdjen »on SDJobiftin, bie oor allen Sßaffanten, bie £rottoir* entlang, um
ihr oerlorenes ©lud roeint, unb bie, trofc ihre« Schmerle«, — ber ebenfo
graufam ift rote ber übrige, fdjöne Same, — bennodj ihre trioiale 23e«
forgung nidjt »ergeffen barf unb einen $ut 5ur Sunbtn tragen muß.
ÜDJarie hatte 3leä\) 3?obin niemal« gefehen, hotte ihren 9iamen erjt
heut borgen erfahren, roußte 9tidjt8 won ihr. Dhne baß bie ©ine ober bie
Slitbere e« ahnte, ftanben fid; bie beiben Jtitmtinnen gegenüber.
23or bem ©efidjt ber Unbefannten, ba« burdj ben Schmers »erftövt
roar, rourbe SReHt) üon ÜJHtleib erfüllt. 33on SRatur feljr gutmüthig, roar
fie e« um fo mehr an biefem für fie fo glüdlidjen Sage.
„2Ba3 fehlt $fmen benn, meine liebe Steine?"
2lber 3J?arie fanf unter ber SBudjt ihre« allju fdiroeren Äuminers auf
einen ©toan unb barg ben Äopf in ihren &änben. sJleHt) fe|te ftd; lieb»
reidj neben fte unb roar mit mütterlicher gärttidjfett um fie bemüht.
„©in fdjroerer Stummer roohl? . . . kommen Sie, mein liebet Stinb,
»einen Sie md)t fo . . . Sie fennen mich jroar nidtt, aber Sie fönnen
SBertrauen ju mir haben! . . . 3d; roürbe fo sufrieben fein, roenn tdj Stuten
helfen fönnte . . . Unb, auf alle gälte, fagen Sie mir getroft, roa« Sie
fo betrübt."
Rivalinnen.
\23
©id) anvertrauen ift ein fo natürlidbe« Öebürfnil, unb biefe fdböne
©ante fchten fo gütig! Seit sroei ©tunben irrte SWarie in Sßari« umher,
fterben«matt oor SJerjroetflung: ©ie offenbarte ba« ©ebeimnif) berfelben in
einem SBeberuf.
„3ean! . . . 3Jtetn Qean bat mtd) Derlaffen! . . ."
3br 3lean? . . . 9iettn mar ba« £erj rote jugefdjnürt infolge einer
23oralmung. ÜDJebrmal« blatte fie mit eiferfücfjtiger Neugier ben 35td)ter
über feine fleine ftreunbin befragt: „&übfd), nicht roabr? 2Bie fteht
fie benn au«? Unb jefet, juft roäbrenb fie biefe« jugenblicbe, von Xfycänen
überftrömte ©efidht betrachtete, ba« bem ihren fo nahe roar, unb unter
bem in Unorbnung gerathenen rotten £aar biefe ©tirn, auf bie fie, einer
Regung ber ©mnpatbie fotgenb, beinahe ihre Sippen gebrücft blatte, er=
innerte fid) bie ©cbaufptelerin ber oerlegenen Slntroort Scan ®cttn«: „(Sin
5ftotbfopf mit braunen Stugen."
„®in Stebe«fummer alfo. Qd) backte mir*«," fagte SRettn mit t>er=
änberter Stimme. „Soffen Sie t)ören, Siebdfjen, crjät»lcn ©ie mir ba« . .
Unb vot 2DIem : wie beißt benn ba« heilige Äinb, ba« fo großen Stummer bat ?"
Unb ba« junge SDJäbdben roarf 9iettn unter SCbränen einen 33lt<f ber
£anfbarfeit 5U unb antwortete mit 3lnftrengung:
„SBic gütig ©ie finb, 3J?abame! . . . 3<& ^cifee SDfarie."
2>a nmrbe bie £anb, meiere bie irrige brüdfte, eifig falt, ber Slrm,
ber um ihje Statte lag, fanf herab. Slber ÜHarie achtete nicht barauf.
(Sine ©timme oon ÜDiitgefülil blatte fie gebeten, if)r ieer-i 5U erleichtern. @«
fchüttete fid) au«, e« ergoß fid) in Älagen unb ©d)Iud)äen.
„Wein 3ean! . . . 3cb liebte ihn fo fef)r! . . . SBenn ©ie müßten!"
Unb 9Jiarie liefe fid) ju 9tethj« güßen gleiten, behielt bie ßanb ber
©ante, bie foüiet 9Jiitletb jeigte, in ber ihrigen, fügte fie roieberbolt
fchmeicbelnb roie ein franfe« Äinb unb ersetzte von ben jroei fahren ihre«
©fücf« unb ihrer Siebe, roo alle 3JHmtten tf>re» Sehen« $ean gehört Ratten,
wo jeber ©tief» ifirer 9?abel von einem ©ebanfen ber Slnbetung für ihren
33ielgeliebte.n begleitet geroefen roar. ©ie blatte geglaubt, baß er fie liebte.
Slber fie roar roeber thöriebt nod) eitel geroefen. ©ie fagte fid) roobl
manchmal mit ©eufjen, baß ein unroiffenbe« 9Jcabd)en roie fie nid)t bie
einjige Siebe eine« ®id)ter« fein fönnte. 3wcifetlo§ roirb er uon anberen
grauen »erführt roerben, bie Um liebten — er mar ja fo entjücfenb! —
unb roürbe ifyr untreu roerben. Sitte« »ergebt, Sitte« l»at ein ®nbe, fte
wußte e« roobl. ©ie burfte nur f)offen, baß er ihr einen Meinen 9iaum
in feiner greunbfebaft wahren roerbe, baß er ftet« ein wenig 3Ärttid)!eit
für biejenige haben roerbe, bie ihm roäljrenb feiner traurigen äugenb ©lücf
gefpenbet hätte, £unbert 3M hatte er es ihr gefdbrooren. SBenn fie ihn
bod) roenigften« fehen, mit ihm jufammenfommen fönnte — unb gar nid)t
einmal oft, roenn er e« fo geforbert hätte — ihn ju pflegen, fobalb er
franf roäre, fte hätte iid) mit einer fargen 3ärtlid)feit begnügt, fold) einer,
^raiifois Ceppec in patis.
wie man fte wollt beiläufig bem föunbe be« Quartiers ju 2$eU werben läjjt.
2lber nein. Crr trieb fte in Ijartyerjiger, in brutaler SBeife »on fid). Dlj!
über ben @d)led)ten unb Unbanfbaren! Unb er warf ib^r wie einen ©d)impf
biefe« elenbe ©elb l)tn! ©elb! ©ie brauste 9Ud)t« mebr. Sftr 3ean blatte
\%x ba« £erj gebrod)en. ©te würbe baran fterben, ja wo&l! fie würbe
baran fterben! Unb wenn ber £ob auf ftd) warten liefje, je nun, e« gab
2Baffer unter ben 33rü<fen unb Äoljlen bei bem Äob^enljänbler! . . .
heftig legte i^r SRellt) bie &anb auf ben 3Wunb.
,,2Ba« fagen Sie ba, Keine Unglfidflidje? . . ."
$or ib^rer 9ü»alin bjngefunfen, ben Äopf auf beren Änteen, fd)wieg
2Warie, unb je|t weinte fie, weime unb weinte.
Unb wätjrenb 9teHt) nod) ba« troftlofe 3)?äbd)en betrachtete, füblte fie
fid) »on namenlofem ÜJJitleib ergriffen. 33eim: ba« Unglücf, ba« fie l)ier
»or 3lugen blatte, e« war tfjr eigene« SBerf. 2Saf)rt>afttg, ba« erfte
3Rat, wo fie ernftltd) liebte, fiatte fte fein ©lü<f. ©ie fonnte nur glüdlid)
fein, inbem fie Sööfe« ftiftete. Unb wäljrenb fie biefe arme Keine SWarie
betrad)tete, bie 3ean % opferte, empfanb fie ein unbeftimmte« ©effitit be«
bleibe«, ©ie felbft l)atte biefe ed)te unb aufridjtige 8eibenfd)aft, biefen
frönen ©d)merj, nie fennen gelernt. ®a« SBefte, wa« ifir nod) ba« Seben,
beffen golbene @d)anbe fie jeftt »erabfd)eute, geboten blatte, ba« waren —
weld>er &olm! — bie bei Samorli&re «erlebten ^aljre, tt)re (Srgebenljett al«
bienenbe UMtreffe eine« alten unb läd)erlid)en Stomöbianten. 2Rarie foratte
bod) nad) attebem wenigften« fterben. ©ic Ijatte gelebt, tiatte geliebt; fie
l»atte eine furje, aber entjüdenbe Qugenb genoffen. DE)! 2Bie beneibete
9lell» fie um Ujren fd)önen Staum, felbft um ben Sßrei« eine« fo raupen
©rwadben«! . . . 2lber wie fte fo t>on Beuern t^r Opfer betrad)tete, ba«
»öHtg niebergefd)mettert war, bem beftänbig grofje £l)ränen unter ben ge«
fd)loffenen 9lugenlibern fierworquotten, unb ba« ben riujrenben ©inbruef eine«
»erwunbeten 33öglein« mad)te, ba regte fid) ba« gute £erj SleHn«, unb fie
würbe sugleid) »on einer unbeftimmten 3Serad)tung, einer 3lrt »on 3tbfd)en
gegen biefen Qean erfaßt, biefen ©goiften unb »erfül>rertfd)en ©tdjter, bem
fte fid) fo unKug fiingegebcn tjatte, bem fie, fie fonnte e« fid) nid)t »erb,eb,len,
jene fd)(ed)te £anblung«weife infpirirt blatte, unb ber fie oline 3wetfel balb
ifirerfeit« würbe Qualen erleiben [äffen, ba fie Um ja aud» liebte.
„Unb fagen ©ie mir, Stebdjen," fragte fie ba« junge HJiäbdjen, ba«
fid) ein wenig beruhigte, „wiffen ©ie, um weffen willen ©ie »erlaffen ftnb?"
,,2ld)! nein," antwortete 3Jiarie. ,,©eit einiger 3ett rjatte id) wobj be»
merft, bafj Qean mir gegenüber nid)t mefjr berfelbe war. 2lber id) ^atte
fo »iel Vertrauen su tfmt! Qd) wie« meinen Slrgrooljn weit »on mir,
tabelte mid) fogar be« wegen . . . 2lber bie £eben«weife 3ean« ift eine
anbere geworben; er gebt jefct bunter bie ßouliffen. £)ort wirb er »ermutljtid)
irgenb eine fdjöne ©d)aufpielerin gefunben Ijaben, bie »iel lieben«würbiger
ift al« id), Toiletten t»at unb Sunt« treibt, »on £>ulbigungen umgeben ift,
Hioalinnen.
[25
unb bie e« uerftcljt, bie Äofette fpielen unb einen 9JJatm etferfüdf)tig jn
madjen...Db! fo ift e«, gewiß, unb id) mar t>on 2lnfang an oerloren...
Stenn idj »erftanb ja nur, ü;n unfinnig ju lieben, meinen ^ean, unb batte
tijm 9ticf)t« roetter ju geben, at« mein armes £er}! . . ."
Unb mä^renb SWarie mit feudjenben SBorten ibrem ©djmerse nodj
freien Sauf läßt, fiebe, ba ift im ©eifte 9leHi) ^obin« foeben ein Sßunfdfj
entftanben, ad»! ein SBunf db, ber ibr triel ©cbmer$ bereitet, ber aber
gebietertfdb, unnriberftebtidb ift, nämlicfi: fie nriff auf %ecm »ersidjten unb
Um biefer armen Äleinen prüdgeben. ©ie fennt ba« Seben, fie roeiß, n>a«
fie aufgiebt. 2Rit breifeig %afyxen liebte fie pm erften ÜDtale, unb e« mar
föftlidb. 9td& ! e« ift fet)r bart, biefe fpäte £iebe«blütbe fid> au« bem fersen
p reißen, ©tefelbe wirb nidjt wieberfeljren, beß ift fie fjdjer. Unb nidjt
«Hein Sean »ermißt fie, fonbern audb bie ©mpftnbung, bie fie für tfm biegte.
3a, e$ ift bart! SK6cr ba« fdjöne ÜWäbdben fyat alle SBerberbniß gefoftet,
obne ibren gonb« t>on ©belmutb, obne ibr angeborene« ©eredutgfeit«gefiu)l,
Ujren plebejifdben ©inn für ©letd&beit p »erlieren. ©aß tljr bie fcbönen,
aber buftlofen Gamelien roiberroärtig geworben finb, ift ba« ein ©runb,
jenem ßtnbe, ba« ba »orttbergeljt, fein armfetige« Beildbenfträußdjen p
nelimen, ba« nur p>et ©ou« toertl) ift, aber gut buftet? . . .
©cböne ®ame, mit ben brei Toiletten täglid), ©ie mürben ebenfo
banbeln, ba»on bin id) überjeugt. ©ie tragen in ^jerjenSangetegen«
Reiten feine ©ttelfeit unb feine ©elbftliebe ftnein; unb fottte ber (Sar-alier
3brer beften greunbin tierfudben, Zfonen ben &of p mad)en, fo ift Qbnen
ba«, id) äroeiffe nidot baran, im fiödbften ©rabe unangenebm. ©eben ©ie
mir nur ba« Gine p: baß biefe SReHt) SRobin, trofe all' tb^rer gteden, ba«
£erj ganj ebenfo auf bem rechten %kd fyatte, ba fie, felbft in »oller
Seibenfdjaft, in »ollem 93egebren, einem Snftincte ber ©erecfitigfeit 'unb be«
©rbarmen« gel)ord)te.
9lettv i>aüt 9Warie aufgehoben, ^atte fie neben fid) nieberfifeen laffen.
„SBoHen ©ie, mein Äinb," fagte fie mit ber$lid)er Stimme, „baß icb
3buat jefct einen guten 9iatb, gebe?"
„©eroiß, SRabame, aber poor laffen ©ie mtd> ffinen fagen, roie febr
id) »erroirrt bin . . . 3$ \)abe Sfonm foeben taufenb Sorbetten erjäblt,
unb id) bitte ©ie bafür redbt febr um Vergebung."
„ßaffen mir ba«. ©ie foHen mir fpäter banfen . . . Sie Brutalität,
womit 3br ©eliebter ©ie »erlaffen bat, ift meine« Gradjten« ein 33en»ei«
bafür, baß er in einer 9lugenblid«laune, in ber £eftigfeit gebanbelt bat
. . . Unb bie« ift tridit ba« ©emöbnlicbe bei ibm, nid)t »alir? . . ."
„Ob! geroiß ntd)t . . . ßr ift immer fo nett gegen midj geroefen!"
„3Iun wobl, ©ie muffen ibn nneberfebcn. %a\ id) fenne bie aWenfdien.
3u biefer ©tunbe, icb mödjte barauf fd)roören, bereut er fc^on, fo fcblecgt
geroefen ju fein; benn er muß mjroifdjen nadj J^aufe jurüdtgefebrt fein unb
[26
iJtanQois Coppee in pari«. - —
bort jeneö (Mb roiebergefunben Ijaben . . . Sie müffen il)n fo batb als
möglid) roteberfefien . . . Dörnten Sie es fd)on b>ute?"
,,3d) fann }u ifnn gefeit, rote id) es oft tb>t, nadj 6 Ufjr, wenn id)
auä bem ©efd&äft fomme."
„9Serfäumen Sie ba£ mdjt. SBoHen Sic e>3 mir oerfpred)en? . . .
©ntroeber f>at biefer %ean fein £erj, ober er roirb erröten über feine
£anbtung3roeife oor biefen fd)önen, gan} üerroetnten 2lugen . . ."
,,2ld), SJiabame, hoffen Sie ba3? . . . Dl»! id) bin nid^t fo ftotj, id)
würbe fdjon met)r aU jufrieben fein, roeun er mid) nur nod) ein bisdjen
lieben roollte, nur aus 9)?itteib . . . 3lber id) roagc felbft baran nid)t $u
glauben."
„2lber id), mein Stebling, id) bin beinahe geroifs, baft er hinten einen
Empfang bereiten roirb, über ben Sie erftaunt fein werben . . . 2llfo ab-
gemadjt. Sie roerben fjeut Slbenb ju tf)m gefjen . . . SSerfudjen Sie nur,
bis baf)in ntd»t mefir ju roeinen . . . Unb jefct umarmen Sie mid), benn
idj roerbe Sfonm }u beroeifen roiffen, roie fetjr id> Stire greunbin bin."
Unb Stellt) füftte fie auf bie Stirn . unb »erabfdjiebete ba£ junge
■Btäbdjen, baä nod» feljr in Unruhe roar, ein roenig getröftet jebod) unb »on
einer leidsten Hoffnung befeelt.
Sei ber 9tüdfeljr in feine SBoljnung fiatte Qean auf feinem £ifd)e bie
SBanfüoten trorgefunben, bie SWarie blatte liegen laffen.
„Sab,! id) roerbe fd»on madjen, ba§ fie baä ©elb nimmt," blatte er
5U fid) gefagt, roobei er tnbejfen ein roenig üble Saune unb einige Sd»am
empfanb.
3lber er blatte audj nidjt umb^in gefomrt, 5U benfen:
„®iefe fierjige steine! Sie liebte mid) tro|bem."
$)amt blatte er aber biefe unbequeme (Erinnerung roicber oon fid) ge=
roiefen, f»atte ein roenig Drbnung in fein 3ta"iter gebracht unb fdjritt nun,
in neroöfer Stufregung, mit flopfenbem $erjen, roie ein gefangener Söroe im
ftäftg auf unb ab; er feinte ja fo tjeifj bie Stunbe b>rbei, ben 2lugenbltd
beä Sruimpljes unb ber Siebe, ba 3?eHn ;u tbm fommen roürbe.
9lber um 51/* Ut)r erfdjien ber ^Sortier mit einem 93riefe, ben ein
©ienftmann foeben gebradjt blatte, olme auf 2lntroort ju roarten, unb Scan ta$,
ba3 £erj non einem Sd)üttelfroft burd)bebt, fotgenbe abfdjeulidje Qältn:
„Grroarten Sie mid) I)cut Slbenb nidit, mein lieber Sßoet. SBeber
l»eut 9lbenb, nod) jemals. 33eb>nbcln Sie mid) aU Mette, als eine ©lenbe.
33erad)ten Sie mid), tjaffen Sie mid). Slber eS cjcf)t nun einmal nid)t anberS.
£eute SDtorgen, nad) Syrern Weggänge, ift mir plöfclid) flar geroorben,
baf, roir alle SBeibe im begriff ftanben, eine grofje £l)orl)eit ju begeben.
Unb jroar Ijat mid), id) gebe es ju, eine unbebeutenbe Äteinigfeit an«
meinem Traume geriffelt. 3J?einc SDiobiftin r)at mir einen neuen £ut für
fünf Souis gebrad)t, unb id) b,abe mid) hierbei erinnert, baft fold)e Blumen
nid)t am gcnfter einer ÜJJanfarbe road)fen. 3lad) ad)t Tagen fdwn b,ätte
Sicolinnen.
[27
icf) bie f)übfcf)en £üte unb baä Uebrige oermifst. «Sie fjabeu ft<^ getäufd)t,
td) bin nur eine 9)Jaitreffe, aber eine gute* 2Räbd»en, ba$ ftfmett trofc atle*
bem eine grofje Enttäufdmng erfpart. 33erfud)en <Sie nid)t, mtcf) roieber«
jufefjen. 3;d) >f>abe foeben ein Engagement nad) <St. Petersburg abgefdjtoffen,
roo ber ©ro^erjog, ber mid) »origen SBinter in einer Soge be3 SSaubetmle
berounberte, mid) burdjau«, unb sroar nid)t fo fel)r auS ber Entfernung,
roieberfefien roiH. 316er beoor icf) mid) nad) ben Etefelbern be£ Horbens
aufmache, roill id) ein ©onnenbab neunten unb reife bafjer nod) fjeut 3lbenb
nad) sJJt55a ab, roofjin mid) ber ^erjog »on Eulau, ein greunb, gegen ben
icb, feljr ungerecht mar, begleiten wirb. Seben Sie roobj unb triet ©lüd.
Qd) fjoffe, bafj ©ie in einigen £agen, nad) rufjiger Ueberlegung, nicf»t üü$a
fefir einem SBeibe jürnen werben, bie fo glütflid) geroefen ift, mein lieber
poet, 3b,r erfteS Sebüt am £f)eater ju erteiltem, unb bie nid)t aufboren
wirb, fid) [für bie neuen Erfolge 3U intereffiren, bie ^fmen fidjerlid) nod)
befdneben finb.
S(f)re greunbin trofe allebem 9Jelln SRobin."
Siefen 33rief, ben 9Jettn im gieber iljrer guten Regung, aber bodj
mit red)t fdjroerem £>er$en unb mit fo müf)famer 2lnftrengung gefd)rieben
batte, laä Qean Settn 5um jeljnten 3Wate roieber, allen Dualen ber unge«
ftiHten ©ef>nfud)t unb töbtlid) »erlebten Eigenliebe preisgegeben, als Sfftarie
(tnfam. ,»
DbroobJ ber ©djlüffel in ber £f)ür ftecfte, rjattc baS junge ÜWäbcrjen
bccf; juerft fdjüdjtern gcflopft, ad»! roie bei einem grember. Slber ftean,
ganj aufjer gaffung, Ijatte 9Wd)t3 gehört, ©ie crfc^ien bafier plöfelid), ganj
etngefd)üd)tert r<or itjtn unb richtete ju ifjrem unbanfbaren greunbe einen
furcbtfamen unb treuen $lid empor roie ein gefd)[agener &unb.
Sie aute ^elln v)atte fid) tricfjt getäufcfjt. 3n einem ©ebanfenblifee
oergltdj ber pf)antaftereid)e SWamt .bie beiben grauen, i^rc beiberfeitige
Siebe ya ttjm. 2Bie fjatte er bod» biefem beigen Stinbe entfagen fönneti
um 'eine« eitlen unb »erborbenen grauenjimmerS roillen? 3f»n fdjcmberte.
Unb bann fam SDfarie aud) gelegen: fie mar bie STröftung.
3ean eilte auf fie 5U unb preßte fie leibenfcf)aftltd) an fid).
„aSergieb mir!" fagte er su ifjr mit jitternber Stimme. „33ergleb mir,
meine innig geliebte 3Karie! .' . . Su bift bie Sreufjerjigfeit, bie Offenheit,
Su bift baS fd)tid)te ©lüd unb bie roaf)rf)afte Siebe! Unb vü) ftanb itn
begriff, ®td) 511 nerlaffen, um einer Sügnerin, einer Elenben roillen! . . .
aber ba§ ift ganj au«, id) fdfjroöre e« Sir! ... Unb ba td) fjinfort fein
©efieimnift meb,r uor Sir liaben roiß, nimm, lies" — fügte er f)ittju, inbem
er ibr ben Srief reifte — „unb Tief), um roeldjer ^erfon willen id) im
Segriff mar, Sir fouiet Seiben ju bereiten unb eine ^ffa"«* u«b eine
geigb,eit ju begeben!"
SWarie, beraufdjt unb rote betäubt oon ©lüd, fdjroanfte unb liefe fid)
auf einen 6tuf)l nieber, unb roäbrenb ber Sid)ter oor ifir auf bie Äniee
»ort nnb ©to. LXXV. 223. 9
^28 franQots Coppee in ports. —
fanf unb feine »or ©djam rotb,e ©tirn in ben ©droofj feiner ©eltebten
barg, las fic ben mljängmfroou'en 33rief nnb ben üftamen, mit bem er
unterjetd)net roar: ,,9leHt) 9tobin!"
@o, alfo um 9ielln 9tobin fiatte' fie ^ean »erlaffen wollen! ülettn
Stobin, biefelbe, ber fie f»eut SDiorgen i^r Unglüd1 anoertraut tyatte! . . .
Unb nun begriff 2Jtarie bie grofjmütljige Süge unb baS ^o^erjige Opfer
iljrer Siioalin unb mar gerührt bis in'S imterfte .§erj.
VIII.
®reifjig finb nun feit bainals oergangen, unb bie beiben alten
greunbimten, bie mir an einem lauen 9tad)mittage beS $orfrül)ltngS auf
einer 33anf ber ©Splanabe ber ^»aliben if»re ©efdt)ict)te erjagt b>ben,
finb Siiemanb anberS als ÜWarie unb ^eUt).
3ltle 33eibe aus bem SBolfe unb aus bem ©lenbe fyertorgegangen, ftnb
fte auf ii)X alten £age, gebrängt burd) rotbrtgeS ©efd)id, borten juriidf--
gefeljrt.
$ean ^tüx) erfd)ten am ®id)terf)iinmel wie ein UJieteor: er glänjte
plöfclid) I)ellleud)tenb auf, um alsbalb wieber su »erfdjroinben. Äurje geit
uad) bem erfolge feiner „©ternennad)t" unb beS 23anbeS ©ebidjte, toelö^cr
t^r folgte unb ber ber litterar if^en 2öelt bie Hoffnung gab, baf? ein
großer £>id)ter geboren fei, — mürbe er franf, ftedjte baf»in unb arbeitete
nid)t mef)r. Äaum 25 3af|r alt, ftarb er, twn ber ©d)roinbfud)t bah^in»
gerafft, in ben 2lrmen feiner treuen SRarie, ber er, ein ©goift bis jum
Gnbe, nidjt einmal feinen tarnen »ermadjte. 9JJit ber befd)eibenen Saar*
fd)aft, bie er il)r Unterlief?, mietete baS arme 3M>d)en einen f leinen
Saben unb »erfud)te, oon tfjrem ©efd)äft 511 leben. Stbcr fie roar roebcr
eine geroanbte ^erfäufcrtn nod) eine fein- gefdjitfte Arbeiterin; if)r Untere
nehmen profperirte nid)t, unb fie roar überglüdltd), bafj fie, banf einer
geringen Summe ©elb, bie if)r nod) blieb, eine alte £eiI)bibttott)ef im „©rojjen
Ätefelftetn" faufen fonnte, roo fie ib> Stafein friftete, inbem fte gtetcfierroeife
©d)reibmaterialien roie 3eitungen uerfaufte. 3^ ©tnne waren ab=
geftorben am Slranfenbett 3eanS, in ben langen 9iad)troad)en, unb üjr &erj
blatte üd) bei bem legten ©eufjer beS 3)id)terS für immer gefdjloffen.
UebrigenS, t^r roeiblid)er JHetj, ganj Stamutl) unb 3ftfd)e, »erging fdnteß.
3lad) unb nad), in golge nagenber 3lrbeit bcs ÄummerS, ber 3lrmutb„ ber
©infamfeit, tiefe fie fid) geb,en unb mürbe jiemlid) rafd) eine alte grau,
bie in einem Umfdjlagetud) unb einer £aube einljerging.
sJJelIt) hingegen, bie bis in bie 5ßierjiger fd)ön geblieben, feftte i^r
tolles Seben in @t. Petersburg fort, als fte plöfelid) »on einer ©lieber*
lälmtung getroffen rourbe. 3för SßerfaH uoHjog fid) rafd) unb roar fd)recf lid).
■Kad) Paris faft laljm jurüdgefeb^rt, lebte fie bafelbft eine fo«8 von
ben Prummern ibreS ©d)iffbrud)s unb oon bem ©rtrag einer tfjr be*
Hipalinnen.
129
rotlltgten Sienefijüorftellung. 9lber ba fie in feiner Söeife auf bie Bufunft
bebaut mar, fo [ernte fie raf«^> baS @lenb fennen. 2>te alten Serounberer
waren tobt ober in alle SBinbe jerftreut. «Sie mußte bei einigen
(Kolleginnen »on ehemals, bie glficflidfier ober »erftänbiger als fie geroefen
roaren, bie bemütbjgenbe Stoße einer Ijeruntergefommenen greunbin fpielen,
ber man fite unb ba einen SouiS ober ein altes SMeib gießt. Salb, ad)!
»erjagten tb> aud) biefe fdjmadrootlen 2llmofen. 3ftre aHju bittere 9iotIj,
il»re ©ebred)lid)fett roirften abftof3enb. $>a, mitten in Uirer SSerjroelflung
fdjöpfte bie unglüdlidje grau roieber ein wenig 9Jtutl). Sie erinnerte ftdj,
bafj fie ja als junges 9)iäbdf)en im ßamifol gegangen unb oft jum grübjtüd
eine ganj geroötmlid&e SBurft gegeffen, bie fie im Sdjtäd)terlaben fdmiaro|t
l>atte. 311s ehemalige Sdjaufptelerin fonnte fie auf Unterftufeung, febr
minimale jroar, aber regelmäßige, »on Seiten ber £ljeatersSSerroaltung
unb einiger S33of)ltf|ätigfeitSgefelIfdbaften rennen. Sie »erfaufte itjre legten
galanten Sumpen, mietbete in einem entlegenen Viertel nalje am SWarSs
felbe eine ÜWanfarbe unb befdjicb fid) bamit, bort roie eine Scttelfrau,
aber ofme Sdjanbe, ju leben.
So trat vJieUp Siobtn, ber Ißrinäen »on (Geblüt ju güßen gelegen
Ratten, bie aber jetjt ungefähr rote eine alte 2BoKfämmerin ausfafi, eine*
£ages, um ifjr „StletneS Journal" ju faufen, in ben Saben 2JJarieS, ber
„9Jfutter SDJarte", rote man fie in ber Sorftabt ju nennen pflegte.
Sie Ijatten fid) nur einmal in ifjrem Seben gefefjen, aber in roelcber
unoergefjltdjen Stunbe! Sie betradjteten einanber lange, unb trofc ibrer
fo graufam »erroüfteten 3üge erfannten fie einanber fcbließlid) am SBlicE,
ber ftd» mdjt »eränbert.
„2tber ... Sie finb bie ©eliebte 3ean £etl»*? ..."
„Sie finb 9teU» 9tobin!"
Unb, bie Siebte roie jugefdmürt, erftidenb »or 9lufregung, näherten fid»
bie beiben grauen, faxten fidt) an ben £änben unb umarmten ftdj unter
Ordnen.
Sie fafjen fidt> alle £age, um »on ber SBergangenfjett ju plaubern.
Sötorie fagte jefet 3ieHt), roie banfbar fie iljr ftets bafär geroefen fei, baß
Qene ibjc einft Sdionung beroiefen; unb Stellt) tonnte ÜRarie geftefjen, baß
iene Siebe, bie fie angefidjts beS Unglüds tyrer Nebenbuhlerin geopfert
trotte, bie einjige roafjrliafte ibjeS jügetlofen, im ©runbe fo traurigen SebenS
geroefen roar.
@S tfjat ifmen allen Setbeu unenbltd» roofjl, »on bem teuren $er=
ftorbenen 5U fpredjen. Sie liebten einanber im 3lnbenfen an itm. Salb
entfdjtoffen fie ftd), beifammen ju roofmen, unb bie gutmütf)ige SlJarte
pflegte bie ©ebredjlicbe nad) beften Straften unb bradbte eS burd) bie SWadit
beS 33eifpiels nadj unb nadb babm, baß bie einftige ©ourtifane ibre ©e=
mofinljeiten ber Drbnung unb ber ©ecenj almahm. Sfor beiberfettigeS Un»
glücf rourbe »ereint erträglidj. 2Beldj' fauberen unb anftänbigen ©nbrud
9*
\30
^ramjois £oppee in parts.
matten bie betben armen greunbinnen an' bcnt Sage, roo fie mir ibre
2)?ittf)eilungen anvertrauten! 2Wan l)ätte fie für sroet rcdtjt roürbtge SWatronen
gesotten, icf) »erfidEjere es. SBic rüfjrenb mar es, roenn Sfiaric in üjren
£änben bie faft leblofe ^aitb ber ©elätimten imeber ju erroämen »erfudjte!
Unb roic glänjten bie nodj immer rounberoollen 2tugen 9tellnS, bie einjt
ganje Säle »on 3ufdf>auern entjürft Ratten, »on Stonfbarfeit, roemt ftc auf
iljrer ftreunbin ruhten!
„(Sie fomten fidEj feinen 93egrtff madjen, mein £err, ocm tljrer <S>
gebenf»eit für midj," fagte bie alte tJicttp am Sdjtuffe tljreS 33ericfjtS ju
mir. „2lber fie ift ein roafirer ©d?a| für midj, biefe ÜRarie . . . Unb fo
erfinberifclj, fo fparfam! 2Benn mir nnfere »ier SouS jufammenlegen, fo
leiben mir njarjrtjaftig an 9Jtdf)tS 3Kangel . . . MemalS eine ßtage, eine
Ungebulb, obgletdj idj immer frant unb redfjt befdfjroerlid) bin . . . bie
järtlicfifte £od)ter fönnte mcfjt me^r für ujre 9>?utter tfnm . . . Unb warum
ift fie fo? — frage id> Sie. SBeit idf> fie einmal, baS ift fdfjon fe^r lange
b,er, unglüdlidEj gefefien unb ein gutes &erj gehabt ^abe . . . Sollte man
tttcfjt meinen, fie fiit)tt fidEj, um ein fo ©eringeS, meine Sd)ulbnerin?" . .
Silber bie anbere ©reifin unterbrach fte mit einem 33ltcf, unb id) roerbe
niemals ben tiefen, ben leibenfd&aftlidjen Älang ib^rer Sßorte »ergeffen:
„9tun ja, icf) bin Steine Sdjulbnerin, &eine Scfjulbnerin auf ewig!
. . . 2)u r)aft mir einft baS gelaffen, was ®u mir nehmen fonnteft unb
roaS ®u felbft adj! niemals befeffen f»aft, meine liebe 3lettn . . . ^d) werbe
baS niemals oergeffen, unb idfj roerbe niemals genug für £)t<$ tlmn . .
2>enn, fefjen Sie," fügte fie fjtnju unb roanbte mir tf>r »erroelfteS ©efidt>t ju,
beut itjr Sädjeln gteidfjrootil einen ffüdjtigen 9iei} oerlieb, — „fefyen Sie, ein
roenig SiebeSglücf in ber ^ugenb, baS ift 2llIeS, roaS mir ©utcS im Seben
baben, mir armen grauen."
3üuftrtrte 3tf>ltograpf}k.
$tÄ!™)!!!,^Ä\®e|'1,Itu"i (Snttoirftlunß unb $Uf8quelIen. SSon
2Äufbr©iaaÄ?nb!'ni ftarte"- *** " "«*• btr
3>er Serfaffer bes borltegenben
SBerfeS tft fcinreidienb betonnt, ©ein
früherer G&ef, SWaior Bon SB tff mann,
nennt i&n in einem rinleitenben SBorte
einen ber im Stfrifabienfte erfabrenften
Dfftjiere unb meift barauf $\n, bafj,
toenn er audb bislang nidjt 3eit unb ©e»
Ieaenljdt gefunben babe, bie älrbelt butdj«
gulefen unb in ffolge beffen übet ba8
SBerf felbft Sfritit nirfit üben tönne, ber
Ianaiä&tige 3IuFentf)aIt beS 23etfafferS
in Ofi«2lfrifa, feine Stellung mäbrenb
be8 SlufftanbeB, unb enblicb. feine Sfjätig«
feit als Offtjier ber fatferfidjen <Sdm&.
truböe ein toettbbolIcS Urteil getoäbt»
leiften; er ift überzeugt, bafj biefeS
23udj toie faum ein anbete« beitragen
toitb gut SlufHärung ber Serfjältniffe
in uitfeten überfecifdjen SBefnjungfn, unb
ba& ei ba8 3ntereffe an benfelben ftärfen
unb meljren tvicb.
®aS SBui) befjanbelt im erften
SBatibe Oft=2l frifa unb im gleiten S3anbe
2Beft=2lfrifo unb bie Sübfee. £er 23et«
faffer, bet au8 eigener 3lnfd>auung nur
übet Dft.3lfrita ftfrciben fann, ift roett
banon entfernt, feine bort getoonnenen
Stfafjtungen hu betatfaemeineni unb auf
anbere 6o(onien gu übertragen. ®r &at
giUBparlit auf Sontra.
^1 r_ t t - «. . , , „, unüeie \ioiumen gu uoenrogen. ot nat
Welmrbr beguglt4 ber «Subfee unb 2Beit.Slfrifa8 bie tiorljanbenen Quellen gefiftet unb
benu&t unb au* uon ben SKittbeUungen unb Beiträgen feiner in ben Solonien tuobl=
erfahrenen g-reunbe unb SBetannten reidiliafat ©ebraud) gemaajt. @o ftammen g. 83 bie
\Ö2
Jlotb uni Süb.
Station Soabonl.
HuJ: SHo^uä Sdjmibt: „2>eutfd)fanb» Solonitn". Bcreln ber SMdjerfteunb», Sdjall unb Stunk
3ünflrirte Bibliographie.
\33
Slbfdjnitte über bie (Kolonien in ber «sübfce fämtntlid) aus bei Qfeber bes bort toob>
btttanberten Dr. SReubaur.
3m erften SBanbe folgt auf eine furse „©infüfjrung", in ber bie GoIonialbeiBcgutig
in $eutfd)[anb aI8 SluSfluß einer rjanbelSpontiidjeu, für bie näd)fteu 3af)rfjuuberte mafe*
gebenben Strömung fjingeftettt wirb, eine (Sefdjidjte bet colonialcn llnterneljmuiig söraitbcn =
burg-SlSreufsenS an ber
2Bcftfüfte3lfrifa8, ein
STbfdmitt, ber feinen
$Iafe beffer im amei*
ten S3anbe gefunbeu
tjättc, luälirenb ba8
5. unb 6. StaBitet be8
^Weiten SöanbeS, bie
lief) mit bem bentfetjeu
<3cf)U|$gebteie in ber
Sübfee unb auf ben
©amoa = 3nfe(u be=
fdjaftigen, utelmeljr in
ben elften SSanb l)in=
eingesogen tterben
mußten. Scn Sicft
biefc8 23anbe3 füllt
bann bie ©djilberuug
ßft=2lfrifa3, fo tueit
e8 ben Seutidjen ge=
f/ört. ©cbmiot gebt
Bon ber tScircrbung
ber Kolonie burefj Dr.
(Sari Meters am,
legt bann ifjre UtU
lere (SnttDtcfclung bi8
sunt ©ingreifen ber
SteicfiSregierung bar,
fc&ilbert ferner bie
SJicbertnerfuug be3
2lufftanbe8 burd)
SDtaior uon Skiff«
mann unb giebt eub=
lief) ein 2HlD Bon ber
Colonie nad) bcni
beutfdj'engltfdjen Skr-
trage, roobei and) ber
SÜbtretnng ber beut*
fdien Sdiuöbcrrfdjaft
über Sffiitu an ©ng=
lanb ©rluäbnuug gc=
fd)icb,t. 3n fieben >rei-
terenffapiterniDerbeu
bie naturiDiffeufdjaft»
lidien, militärifdien 3tu3: !Hodju« 3i>mibt:
unb toirtfjfdjaftlidjeu
äBertjaltniffe 3)eutfd)=
Dft=2lfrtfa3 eingeljeub berücfTufitigt unb Slnttictaberei, Hciffion unb GoIouialueriBattung
in meift angemeffener äBeife befBrodjeit.
2)cn größten Sfjcil be8 stoeiten 2?aube8 nimmt bie Xarfteiluug Teutfcfi=2Beft*
SlfrifaS ein, mosu im heiteren Sinne aud) Kamerun unb ba8 Xogolanb geredmet iraben.
2en bcutfdjen ÜHiffioiten in biefen (Kolonien ift ein befonbereS Stapitct getuibmet. Ten
~")luß bilbet bann eine Sarftellung ber ©utmiefeiung unb SSeoeutung öou Saifer
>ilf)elm§=£anb, be8 S8i8rnarcf=2Xrd)ipelS, ber ©atomor^, Warfdjall* unb ©amoa'Qnfeiu.
ftUtma«Kbiaro.
„Deutfdjlanbä Kolonien",
■Sttjoll unb Wtunb.
Uerein bet 8iuf)«fceunbe,
H3t Horb nnb Snb.
SSriben 33änben finb gufammtn über 200 Söilbtr uub 8 Starten in ©chwarjbrucf bei
gegeben; bie erften jeidmen ficb ntcht immer burd) Seutlidjfeit au8.
35er äierfaffer fteht in »egug auf unteren auswärtigen SBeftB mit ruhigem, aber
oertrauensootlem SBlicf tn ble 3ufanft. »ejeidmenb hierfür ift j. SB. feine 9tnfid)t über
S5eutfd)-2Beft=2lfrita. fciefe erfte beutf<fje Golonte bat eine fchwere 3eit im erften 3abrjebit
iljreS S3eftehen8 bucchgemadjt, aber fie fjat nunmehr bie größten ©chwierigfeiten überamuben;
bie 3«t her frieblidien Slrbett, ber eigentlichen Suisfaat ift jcöt gtfommen, unb gerabe
hier ift eine gute ©rnte ju erhoffen, ba biefe Solonie in einem $unft alte anberen über»
trifft, ©ie bietet bem beutfdicn Slnfiebler ©elegenbeit, wenn aud) nur burd) Graft unb
Sirbett, ftd) unb feinen Jtachtommen bauernb eine beutfdje fteimat über bem Ocean an
ber ©renje ber Xropen ju fdjaffen, wo er nicht bergeffen ift, foniern unter bem ©d)W}e
einer örtlichen beutfdjen Regierung fein beutfdjeS Seien, feine beutfdje Strt unb «Sitte
ficb unb feinem 2$aterlanbe erhalten fann. —
3Bir ftimmen, im ©anjen genommen, bem llrtbeile SEBiffmannS über ben inneren
SEBertb be8 SBucheS bei, münfdjen aber bei ferneren Sluftagen ben fprachltchen unb fnntac«
tifcheii Stuibrucf, ber an manchen ©teilen Diel gu wünfchen übrig lägt, einer grünb«
lieben Skrbefferung unterjogen. H. J.
«vuti&vin »er Wtteholoaie auf estim«
tuetitcllcr (»runJXatte. Stargeftellt von
Oswalb Jrül je, Sßrioatbocenten an ber
Unioerfität Seipjtg. «Kit 10 giguren
im Xer.ce. Seipjig, SBerlaa von 2SiI«
heim (Sngelmann.
ßülje, gegenwärtig $rofef?or ber 3?biIo-
fopbie au ber Unioerfität SZBüijburg, ift
ein ©chüler 2Bunbt8. 3bm ift, unb mit
Stecht, bie Sßinchologie feine pbiloiopbifche,
fonbern eine (SrfabrungSwiffenfdjaft. Sßohl
huIMgen allen neueren Sßfndwlogen biefem
©runbiafc:, nod) nie ift aber bie ©eelen»
lehre fo confequent oon aller metapbtifiicben
©pcculation befreit unb auSfdjlie<dj aU
eine prjtjftfdje SiSiffenfdjaft beijanbelt worben,
Wie oon ffülje. ©o läßt er bie gfrage,
Wae bie ©eele ift, ganj au8 bem ©piele;
ein tranfcenbentaleä SSeroufjtfein , eine
fubftantielle ©eele, ein immaterieller ©etft
unb Slehnlicheä ftnb ihm nicht Sßorwürfe
wiffenfchaftlicher ©rörterung, werben raber
gan i au&er 2ld)t gelaffen unb in ba8 ©ebiet
ber iDietaphBfif oerroiefen, SBejttdjnungen,
wie bie erwähnten, finb ihm nicrjtB SlnbereS
ali 2lu«briicfe, welche baSienige an ben Gr«
[ebniffen aitbeuten follen, wa8 oon erlebenben
3nbioibuen abhängig ift. Sie fubjectioen
ober fubjectioirten Vorgänge, 2*ewu6tfein8>
thatiadjen, pfndjifchen ober geifttgen 3U=
ftänbe haben für ihn nur biefen ©inu, unb
ba8 Söeraufjtfein, bie ©eele ober bec ©etft
fteHen uns bie ©utnme aller folcher <Sr»
fcheinungen in unterem Sprachgebraucbe
bar. ©o ift bem SSetfaffer bie Sßindiologie
eine ooüftäubige Söefchreibung ber oon er=
lebenben 3nbibibuen abhängigen ®igen=
fchaften ber fcrlebniffe. 3)aju gehören nidjt
nur foldje. bie feinen objeclioen 3ufammen=
bang barftetten, alfo leblgllch inbioibueHe
3uftänbe fmb, wie Effecte, Xriebe unb
begleichen, fonbern aud) 3;batfad)en, bie
gugleich ein öom Snbioibuum unabbängigeä
Verhalten aufroeifen unb fomit aud) einer
natunoiff enf cbaftlicben Unterfuchung anheim»
fallen, wie bie S?ovftetlung8obiecte mit itjren
raum'geitlichen 23egiebungen. SJon biefetn
©tanbpunfte au8 bebmtbelt Sülje gunädjft
bie Elemente bcS sBewufjtfeinS, wobei er
ftch gan* befonberä ber ejoerimenteHen
pfDd)0»pbt)fi|'d)en SKethobe hefteifeigt. 9118
(demente bc8 23ewu6t!ein8 betradjtet er bie
<Smpf inbungen, al« Welche er biejenigen
einfadjen 93ewuf3tfein8oorgänge, beren Slb=
bängigfettabejiehunpeii ju beftimmten ner=
böfen Organen in $eripherie uni Gentium
bc8 ©ehirn8 ftetjen, anfleht, unb bie ®e=
fühle, bie pd) alSSuft unb llnluft cbarafte»
rifiren. ©o haben bie ©efühle feine objectioe
SBebeutung neben ihrer pfacbologifchen, fte
Rnb etwa« rein ©ubjecttoeB, währenb bie
•ämpfinbungen aud) eine bem ©ubject
unabhängige ©eite aufaxifen. SBei ben
©mpfinbungen fmb Qualität unb Sntenfität
gu unterfcheiben. 3)er eigentliche »teicht^um
unfereS ©eelenl.bene beruht hierauf. @o
fann man etwa 13000 unterfdjeibbare
Dualitäten ber Smcfinbungen unterfcheiben,
beren 3ahl noch burd) bie mannigfaltigen
Sombinationen biefer Elemente unb burd)
bie unterfcheibbaren 3uftänbe, in benen
iebe Qualität nach ibren (ügenfdjaften ge=
33tbliograpt;ifd;e flogen.
\35
geben fein fann, toef entließ erhöbt toirb.
®ang außerorbentlicb arm erfdjeint gegen«
über bei (Smpfinbung bei qualitatioe S8c»
ftanb bei ®efü(jle, bie fid) nui in bie beiben
©nippen bei 2uft= unb Unluftgef üble fdjeiben
laffen. — 3n einem jweiten Xijeile toiib
barm oon ben Serbmbungen bei Bewußt»
feinSelemente grf)anbelt, bie uns al« Söei»
fchmetgung unb 0(8 Berfnüpfung entgegen:
tiefen. Sene ift baburd) dioialtctifttt,
baß bie Slnalpfe bei in ifjr enthaltenen
(Slemente burd) bie Berbinbung etfebmert,
biefe bagegen baburd), baß bie Slnalnfe bei
oon ihr enthaltenen (Slemente burd) bie
Berbinbun« erleichtert ift. Bei ben Ber»
fnüpfungen werben bann läumlicbe unb
geitlidje untetfebieben unb berengigenf chatten
unb Begehungen erörtert. Sin tiittei
X^til bc8 ffleifeS befchäftigt fid) enblid)
mit bem 3»ftanbe be8 Sero ußtf ein?, wobei
nod) bie grage be8 SffiiUenS unb beS ©elbft»
bewußtfeinS, foroie Schlaf, Sraum unb
$Bpnofe sui Spractje gebracht roerben.
H. 0.
&runbjüßc »cv öttttfiologticbf u Vfttdjo«
lagt«. Bon SDJtltjelm SBunbt, *ro*
feffor an bei Unioerfität Jieipjig. Bierte
umgearbeitete Auflage. 3'oei Bänbe.
Srfter Banb mit 143 öoljfcrjnitten.
3n>eiter Banb mtt 94 Soljfdmittrn.
ßeipjig, Berlag bon SZBilrjelm @ngel=
mann.
3wei3ahraehnte fmbnunmehr Dcrfloffen,
feitbem Mlbclm Sßunbt mit feinet pfffifio*
logtfdjen Binchologie 00t bie Oeffentliajfeit
trat. @8 war im 3at>re 1874, al« ba8
2ßerf jum eilten 2)Ta(e erfd)ien; feitbem
hat eS oiei Auflagen erlebt unb einen äBelt»
iuf erlangt, ift e8 boch ein Standard work,
rote toii auf biefem ©ebiete fein aweiteS
befüjen. Sie ejpenmentelle 3Rett)obe, bie bon
(Stnft Heinrich SBeber in genialer SBeife in
bie pfDdjoIogifche gorfdmng eingeführt unb
bon geefmer fhftematifd) ausgebildet worben
ift juji3roecfe ber (Sigrünbutrg ber SBedjfel»
begiebungen gmifetjen ben phpftfehen unb
pfpdjifchen Vorgängen be8 i.'ebeu8, fie ift
oon iBunbt in einer äöeife entwicfelt unb
DerDoüfommnet roorben, baß bie »ßeipgiger
pftjcbologtfctje @d)ule" tjeute bie Hegemonie
ausübt SBenn auch SJtoncbcS Don ber ßehre
2Bunbt8 noch piobtematifch ift, SDIancfcea
2Biberfprudj herauSforbett, fo hat et bod) in
feinen „®runbjügen bei phöfiologifchen
jpfrKfiologie" ein SBerf Pon eminenter Be=
beutung, pon flaffifchem SEBerthe gefehaffen,
fin SSBerf, ba8 wor)l funbirt unb feft ge*
fügt ift, beffen ®runbpfeiler riebet ftehen,
wenn aud) ber innete SluSbau nod) manche
Beränberungen nöthig madjeu roito. Ste8=
feit« wie jenfeitS be8 OceanS, in ber alten
wie in ber neuen 2Bclt, hat ffiunöt begeifterte
Anhänger gefurtben, nod) nie ift ein Bl'qdjolog
bei aller ©elehrfatnfeit, mit möchten fagen,
fo populär gewefen, als SBJunbt, atterbing«
nicht bon einei ^Popularität, Wie fie Bulwet
meint, wenn et fagt: „2Bit werten populät,
inbem wir affeettten, ärmer an ®eift ju
fein, als wir wirfiieh finb,* fonbeiu bon
einet Popularität, wie fie auf biologischem
©ebtete £arwin, ober auf allgemein natut>
wiffenfc&aftlidjem SUlejanbcr Pon fcumbolbt
errungen haben, eine Bopularttät, biegührer«
fdjaft bebeutet. Sßcnn nun auch bie 2ln«
fchauungen 2Bunbt§ in ben betreffenben
ftreiien fattfam betannt finb unb aud) in
eiuem (Sffau in biefeit Blättern bereits bei»
felben eingehenber gebadjt worben ift, fo
hat e8 eine befoubere SöewanbtntB, wenn
wir ber neuen Sluftage feiner „®runbjüge
ber phuftologifchen Pi'pdjologie" hier ®rwäh=
nung ttmn, inbem ba8 SBerf nidjt nur in
allen Zfjtilm eine grünbliche Umarbeitung
erfahren hat, fonbem inbem ihm aud)
in einem fpecietten SPunfte eine wefentlid)e
©rgängung unb ©rweiterung ju Xtjeil ge=
worben ift, burd) bie e8 namentlich für ben
gorfdjer werthboller geworben ift unb an
üürauchbarfeit für benfelben aufäcrortentlich
gewonnen hat. 3n ben gwei 3ahtgehnten
pon SSunbtS SChätigfeit auf pfud)0>
phhftologifchem ®ebiete f)<xt fid) für bie
betreffenben Untersuchungen eine eigenartige
3Jiethobl( herauägebilbct, wie fie in 2Bunbt8
Laboratorium geübt wirb, tiefer Der=
änberten Sage ift nun bei söerfaffer in ber
neuen Sluftage beS2Berfe8 burd) eingehen^
bete ©rörterung ber principiellen methobo«
logifchen Probleme unb burd) eine genauere
SBefdjreibung bcrwidjtigften t(d)nifd)en Hilfs-
mittel gerecht geworben, woburch er gewiß
Bielen, namentlich benen, bie fid) mit pfncbo*
Phnfiologifcheu 5orfd)una8arbeiteii befd)äfti«
gen, einen großen Dienft erwiefen hat.
SHidjt unerwähnt wollen wir hierbei laffen,
baß aud) bie SöerlagShanblung, bie feit
ihrem »eftchen eine befonbete <Sr)te barin
gefucht hat, nid)t nur bebeutenbe wiffen=
fdjaftlidie Jfflerte hetouäjugeben, fonbern
fie auch in möglichfter SJollenbung erfdjeinen
gu laffen, baß bie BerlagShanblung, fagen
wir, bie Erreichung be8 genannten Qivedei
burd) reichere 3lu8ftattung be8 2l'erte8 mit
gut aufgeführten ^oljfdjnitten in banfenS»
werthefter Üßeife geförbert t>at
H. 0.
\36 tlotb n
«fielt unb eurono. Wach altägqptifchen
SJenfmölern bon SB. SJtas SJHtllcr. 3Rit
einem Vorworte »on ®eorg SberS.
äRit ga&lreicben Stbbilbungen in3intott)pie
unb einer Ratte, ßeipgig, SJerlag öon
SBilljelm (Sngelmann.
SBir haben b,ier ba8 SBerf eine« iüngtten
Äegtwtologen bor un8, ber fich bereits
manche Sporen auf bem ©ebiete gelehrter
gorfdjung »erbient bat. SBaren feine bis»
herigen Arbeiten auSfdjIießticb feiner tJaa>
biSciplin gewibmet unb fchroerften flaltbert,
fo wenbet er fich in bem »ortiegenben
23udje an einen weiteren SeferfreiS. Ter
®efcfjicbt8forfcher, ber ®eograpb unb ©6110=
grapjj, wie ber Stunfthiftorifer unb Slrchäo«
löge, finben nicht nur außerorbentliche
Anregung in bem Berte, fonbem auch SBe=
friebigung. ©in reiches unb wettbbolIeB
SWaterial ift hier fritifd) ßefidjtet mit gröfjter
Sorgfalt unb ®ewiffenhaftigfeit gufammen»
getragen worben, worauf bann ber Skr»
faffer baB ©ebäube bet eigenen Schluß»
fofgerungen errichtet, bie nicht feiten »on
ben oltbergebrad)ten unb breitgetretenen
Sßcgen abweichen, fo baf} aud) bem SBerfe
eine ougerfletnöbnlidt) originelle unb neue
SluSblicfe eröffnenbe Seite eigen ift, wobtt
ber SJerfaffer »mar fübn unb mit biel
felbftbewußter Energie gu SBerfe geht, ohne
fidj iebod) auf gemagte, in ber fiuft
fehwebenbe Speculationcn einjulaffen. SL!on
ganj befonberem 3ntereffe finb bie 6rgeb»
niffe beS SBerfafferB für Sänber« unb 23ölfer«
funbe; in biefer S3egief)ung ift nod) fein
SBerf öorhanben, ba8 bem Don SWüHer
ebenbürtig an bie Seite geftedt werben
tonnte. Singclforfchungen giebt c« tDorjl
nad) biefer Seite bin mebrfadi, allerbingS
oft febr »erborgen unb namentlich, für
toeitere Streife, worunter wir nicht Saien
in ber SBtffenfcfcaft berfteben, aber nicht
Slegijptologen, fchwer gugänglid). Ter Stoff
bat aber nicht allein für (e&tcre 2?eteutuug
unb Würbe nur gum Heineren Ibeil »er«
Werthet fein, gelangte er nur in bie ©änbe
biefer. Ta8 Sl'erf ift aber nicht nur ba=
burd) Bon SBichtigfeit, baß c8 ba8 ft hr ger»
frreute unb biclfach bergrabene SKaterial
ju einem ®.ingen »ercint, fonbem aud) burd)
beffen Deutung, ^warbürfteeS hin mandjem
äBiberfpruche begegnen, gumat e8 fehr
fclbft|tänbtg unb ohne Diel 9iücfiicr,t auf
SSnberer SDceinungen gu nehmen, »orgebt.
S)ieB wäre nun, wenn bie entgegengefefote
SlnRcht wohl begrünbet wirb, fefjr löblich,
borausgefe&t, baß babei auch bie gehörige
Oform unb ber fchicfliche Ton gewahrt
bleiben. «Run ift SDlüHer aUerbingS außer»
k Säb. —
orbentnd) borftebtig, nicht (eicht wirb er fid)
eine ffllbße geben, oon$eifrreicben, aber leicht«
fertigen Sonjecturen hält er fid) fern, unb
Wenn einmal eine Schlußfolgerung auf nicht
allgu fiften Süßen fleht, fo ift booon Wohl
Scicmanb mdjr übergeugt, als er felbft, ben
bann freilich auch bie Schulb nicht trifft,
fonbem bie SWangclhaftigfcit unbTürftigfett
ber Ueberliefemngen. (Sr ift fid) aber auch
biefer [einer SSorgüge bewußt unb macht »on
biefem Siewußtfetn ausgiebigen ®ebraud).
SBir bebauent, auf etogetbeiten beS ebenfo
gebaltooHen, wie gebanfenreieben SBerf d
hier nicht näher eingeben ju föirnen, eB ift
eine überaus berbienfieoUe 2lrbeit, fowohl
burd) bit mit peinlicher Sorgfalt ergielre
SJollftänbiafeit im neitrften «ahmen, wie
burch bie wiffenfcfcaftlidje S?ermertbung beS
Materials, bie immer einen gewaltigen
Steig ausübt, auch, wenn man ber Slnficht
be8 SSerfafferS nidt beiftimmen famt, unb
gur $olc mit berauSforbernD foirft, woburch
Sie anregmbe SBirfung beS ftutbeä außer*
orbenlltd) gefteigert wirb. 9mr beipff ichtm
föimen wir SJlüllcr, wenn er am Sdjluffe
feines S!orworte8 bemerft: „Ulan berehrter
Sehrer ®eorg (SbcrS hat biefe müheootte
Slrbeit mit fo ihätigem 3ntereffe berfolgt
unb gef&rbcrt, ba§ e8 mir boppelt eine
55flid)t ber Tanfbarfeit fdjien, feinen Warnen
auf baS SBibmungSblatt gu fegen. 35anf
fctjulee id) auch ber S?erlag8bud)hanblung,
welche bie großen Sfoften bec äßcröffentlidjung
au8fd)ließltch getragen bat unb brn anteiligen
Seßern ber ®rugulin'fd;en 2>rucferei in
ßeipjig." <S8 ift nur red;t unb billig, baß
hier aud) ber SjcrlagSbudj^anblung unb
irueferei rühmenb (SraähuunB gethan wirb,
beibe haben fich um bie SluSfübrung beS
fchwicrigen unb Opfer erheifdjenben SBerfeS
nicht geringe Serbienfte erworben.
H. 0.
Hütt. — tfvorrölo'ß SbuaBoac. — ttv
bavmhcv,{igc ©vuftcr. — SJon ©ein«
r i cf) S t e i n e n (§. 2) 0 r f). Bresben, ßeip«
gig unb SBien, i&. $ierfon.
Tie im ®eifte religiöfer Tolerang per«
faßten Lobelien ftnb inhaltlich fehr an=
fprcchenb gefchrieben, ebenfo ift an ibnen
gu rühmen, baß jebcS läftige SSorbringen
einer Xenbeng »ermteben ift, — nur bie
Sorm, in welcher fie uns geboten werben,
laßt iUiandieS gu wünichen übrig, ftiliftlicbe
9tad)IäiHflteiten unb fprachlicbe Unfcbön>
heilen ftnb uns wieberholt aufgefallen.
mz.
Bibliograph
«dvan bie t»ie&e. S3on S. Sri«. Stieine
©efdjidjten. XicSben uiib Seipgig, 6ar(
»eigner.
Sie Keinen feuillctoniftifdien 5B(aube«
reien finb ebenfo unterboltenb, tote ftiliftifd)
elegant aefdjrieben unberfdjetnen un8 mufter«
gütig füi baS ©enre, bent fie angehören.
mz.
8toi?d)cn jtoci »ädjtcn. «Reue ©ebtcbte
»on ®nftab Satte. Stuttgart, Sotta»
f djc J8ud)banblung.
Sdjon ber llmftanb, bafj ber alt»
renommirteSSeilag öon (Jotta ba8 neueSBücb»
lein beS Hamburger DidjterS in SJerlag
genommen bar, betoeift, ba& teil eS b,iet
mit einem gangen SWann gu tbun ftaben,
einer SPtrfSnlidjfeit, treldie fidj erbebt über
baS ©roS ber ßtjrtfer. Unb in ber Sljat,
galfe repräfentirt eine ©igenart, ebenfo toeit
entfernt ron ben ©efüfjlSauSbrücfen ber
lörlfdjen ©tdjter älterer, toieton ben bimmet»
frürmenben, pbrafenBotien, toeit» unb form«
oeradjteitben ©aben neuerer Stiftung. ©8
ift ein gewaltiger Bfortfdjritt, ben er feit
feinem erftcn SBudie „Sang unb Slnbadjt"
gemadjt bat. S3errietb fid) aud) bort fdjon
ber begabte Sßoet, fo mar bod) SDtanrbeS
nod) unabgeflärt, mandje SJortoürfe ber
biditerifcben SPebanblung nidjt gan? teürbig
unb toieberSRancbeS in benmt)ftifdien@d)leier
gebüQt, ben jegt bie moberne Sßoefie unb
bie moberne 3Merci fo febr lieben. SBiS
auf tecnige 3lu8nabmen Ijält ftd) „3toifdjen
gtoei Snädjten" Bon mnftifdjen ©cbaiifen
frei, ©ine bofl>, eigenartige $erfönttd)feit
tritt un8 bier entgegen, eine touubcrbare
3artbeit ber SRaturauffaffung unb bei allem
$e!ftmi8mu8, ber be8 2>id)ter8 Seele er»
griffen bat, bod) eine Bcrfobnttcbe SMtmeta«
beit, toelcbe jebe einzelne poetifdje ©abe
abgeflärt erfdjeinen faffen.
ifdje Zlotisen. \37
So fommt aud) ber $umor in bem
S3ud)e gu feinem Stedjte, („3>eutfdjfanb über
SrHeS", »SJieSoncurrenten", „3tm£immel8"
tljron"), toenn er aud) nur mit einem Sluae
ladjt unb im anberen bie SDJanncStbräne
geigt
®a& bie frorm tabcIJoS ift, Berftebt fidj
bei gälte ton felbft; unb ber $id)ter befifet
aud) bie feltene Shmft, mit furgen Stridjen
unenblid) biet gu fagen. ©8 fei geftattet gur
©baraftertfirung bc8 SMdjterB, — (ber ben
Sefern biefer ätüfdjrift burd) bie im 3uli*
föefte Deröffentlidjten ®id)tungen bereits
auj'8 SSortbeilbaf tefte befannt gehjorben ift.
2). 9teb.) — eine furje SJkobe gu geben:
3teiegefpräd).
ein mittle« Stuge, eine (iifjlc §anb,
(Sin nüt'ger 3Jiunb mit einem teilen SUS
Bon Scbdmerei. Sr mar'«, ber vor mir flank.
Den 14 Bon je als 3rreiuib im fcerjen trug.
3d> fomm' ju mahnen, fprad) fein fünftes SBort.
©ei guten SRutbet, Wenn wir fjefi'n. 3)« roeifet,
6« ift nod) einem (litten SriebenfSort,
Hub baf) van, btt bort »ebnen, felis prüft.
3uoor iSfcb' id) ein rnflbe* Jflocterlidt,
Hüffe Bon einer tränten Stirn ben Ccbmer}.
Sin «inb. «in $elb. tfiti brautlld) Mngefldjt,
Sin Saiferbermetin. (Sin 9))Brberr)erj.
»(»eroaltiger, jeljt fierjil Du fdjrrcttid) aus!*
SBie aud) mein £fran Dieb Sngfligt, id) bin gut.
3erilreute Sinter bot' id) eud) rad) $au»,
Dafs Wieber ibr im Scijof! ber »lütter rnljt.
ls.
©in tKrforcnfä Cctcii. ßnrii'dieS 6po8.
5ßon§ugo Segel. Bresben, S.SPierfon.
©8 finb tteine ©ebidjte berfebiebenften
©enreS, weldje gnfamtnen bie <3d)i(berung
eines berfeblten DafeiitS geben; bamnter
ed)te $erUn beutfd)er Snrif, melcbe an bie
f ruberen Schöpfungen bc8®ld)ter8 in feinem,
bereits in Bierter Sluflage erfdjienenen SBud;e:
„®egen ben Strom" erinnern. ls.
Eingegangene Bücher. Besprechung nach Auswahl der Redaction vorbehalten.
Baglnaky, Dr. Adolf, Die hygienischen Grund-
ztlge der mosaischen Genelrgebung. Zweite
Auflage. BraniiBchweig, Friedrich Vieweg und
Sohn.
Bamntwtoh, Rudolf, Aus der Jugendzeit. Fflnftee
Tausend. Leipzig, A. Q. Liebeskind.
Das Berlinertimm in Lltteratur, Knaik
and Ennat. Von einem Unbefangenen.
Wolfenbfluel, Julius Zwissler.
Beyerlein, Franz Adam, DUmon Othello. Trauer-
spiel In vier Aufzügen. Leipzig, Konstantin
Wild.
BoieTwedel, Carl, Wetterbdchleln. Praktische
Anleitung zur Beobachtung und Voraussage
des Wetters mit einem Anhang: Falb's
kritische Tage. Mit 24 Abbildungen. Dresden,
C. C. Meinhold & »Ihne.
Deutschland» Ruhme« tage 1870—71. In
Schilderungen von Mitstreitern. Lieferung 1.
Rathenow, Max Babenzlen.
Donnelly, Ignatius, Atlantis, die vor-
sintfluthliche Welt. Deutsch von Wolfgang
Schaumburg. I^ipzlg, Siegbert Schnurpfeil.
Die Qrondgreaetze der sittlichen Welt-
ordnungr in ihren Beziehungen zur
BelleTion, sowie zum Staate- und
Beehtaleben. Als Eingabe an das König-
lich Preus8lsche Justizministerium in Berlin.
Herausgegeben von T. H. Franke (H. Wort-
mann), ZOrlch und Sackingen, H. Wortmann.
Hanstein, Dr. Adalbert von, Gustav Freytag,
Gedächtniss-Rede, gehalten auf dem vierten
allgemeinen deutsohen Schriftsteller- und
Jnurnalistentag. Heidelberg, J. HOrning.
38
: Zlotb unt> Sü&.
Harlan. Walter, N'eue Traktätohen. Mit einer
Utnschlagzeichnung von Walter Caspar!
Leipzig, Constantln Wild.
Hürth, Georg, Die Locallsntfoustheorie, augewandt
auf psychologische Probleme, Beispiel: Warum
sind wir „zerstreut" ? Mit einer Einleitung
von Ludwig Ed Inger. Zweite vermehrte Auf-
lage. München, G. Hirth's Verlag.
Jahn, Dr. Hermann, Aus Deutachlands grossen
Tagen. Erlebnisse eines 24crs im deutsch*
französischen Kriege. Eine Jubelgabe. Braun-
schweig, Albert IJmbach.
Kahlenberg, Hans von, Ein Narr. Roman.
Dresden und Leipzig, Karl Belssner.
Königsberg, Werner von. Nimm mich mit.
1. Auflage. Hirscbberg, Gelsler u. Ike.
Das neue Allgemeine Krankenhans zu
Hamburg- Eppendorf Unter Mitwirkung
von Dr. H. Curschmann, Geb. Med.-Rath, o.
O.Professor der klinischen Medicin in Leipzig,
früherem Director des Neuen Allgemeinen
Krankenhauses zu Hamburg, bearbeitet von
Dr. Th. Deneke, Physlcus in Hamburg. Zweite
vermehrte Aullage, mit Beitragen von Dr.
H. Schmillnsky, mit einem Situationsplan
und 25 In den Text gedruckten Abbildungen.
Brau n schweig, Friedr. Vieweg & Sohn.
Kraasa, Friedrich, S., Billige Braute. Lustspiel.
Wien, Carl Graeser.
Die Kritik, Wochenschau des öffentlichen Lebens.
Herausg. v. Karl Schnei dt. U. Jahrgang.
Nr. 43—45. Berlin, Hugo Storni.
Kann» Heiniich. In einer Familie. Koman.
Zweite Auflage. München, Carl Rupprecht.
Martens, Kurt, Wie ein Strahl verglimmt.
Drama in einem Act Leipzig, C. Wild.
Ueyert Julius, und Sill-ermenn, I., Die Frau im
Handel und Gewerbe. Berlin, Richard Tandler,
Keyers Konversations-Lexikon Ein Nach-
schlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte,
gänzlich neu bearbeitete Auflage. Mit un-
gefähr 10 000 Abbildungen Im Text und auf
1000 Btldertafeln, Karlen und Planen. Neunter
Band. Hubbe-Scbleiden bis Kau Hier. Leipzig
und Wien, Bibliographisches Institut.
Mokraner Maine , Oscar , Die Entstehungs-
geschiclite patriotischer Lieder verschiedener
VOlker und Zelten. Leipzig und Baden-Baden,
Constantln Wild.
Nordhausen, Richard, Urias Weib. Eine Gross-
stadt-Geschichte. Berlin , Richard Eckstein
Nachf.
Die Nothwendigkeit weiträumiger Be-
bauung bei Stadterweiterungen und
die rechtlichen und technischen Mittel
zu ihrer Ausführung. Mit u ein-
sedruckten Abbildungen. Braunschwelg,
Friedrich Vieweg & Sohn.
Perfall, Anton Freiherr von, DleSOnde. Novelle.
Berlin, Richard Eckstein Nachfolger.
Plan von Budapest mit kurzem Weg-
weiser und Strassenverxeiohniss in
ungarischer und deutscher Sprache.
Vierte Auflage. Wien, Pest und Leipzig, A.
Hartlebens Verlag.
Ostdeutsche Beform, Blatter zur Förderung
der Humanität. Vierter Jahrgang, Nr. 15 u. 10.
Königsberg 1. Ft., Braun und Weber.
Beiohhold, Karl, Kunst und Zeichnen an den
Mittelschulen. II. Das Flachormament des
Altcrthums. Mit 46 Tafeln in Photo lithographle.
Berlin, Georg Siemens.
Hein« W., Encyklopadlsches Handbuch der Päda-
gogik.. Erster Band, II. u. 12. Lieferung.
Langensalza, Hermann Beyer <fc Söhne.
Bigutlni, Giuseppe, und Bulle, Oskar, Neues
italienisch-deutsches und deutsch-italienisches
Wörterbuch. Dritte Lieferung. Leipzig, Bern-
hard Tauchnitz.
Kogge, Dr. Bernhard, Vom Kurhut zur Kaiser-
krone. Zweiter Band: Das Buch von den
preussischen Königen. Mit 9 Brustbildern.
Zweite verbesserte und vermehrte Auflage.
Rüderer, Joseph, Die Fahnenweihe. Eine
Komödie In drei Acten. München, Carl
Rupprechts Verlag.
Saubert» Dr. B., Germanische Welt- und GoUon-
schauung in Miirchen, Sagen, Fest gebrauchen
und Liedern, eine zum Verstand niss der
Märchen u. s. w. gebotene Erläuterung.
Hannover, Helwlng'scbe Verlagsbuchondlung.
Echweiger-Leroheiifeld, A. Unterwegs,
Schilderungen und Natu ran sichten von den
beliebtesten Reisewegen. Attersee — Mond-
see — Wolfgangsee. Mit 9 Tonbildern, &4 Text-
Abbildungen, einer Planskizze, einem Veber-
slehtskartchen und einem Panorama. Wien,
Pest, Leipzig, A. Hartleben.
— Die Donau als Völkerweg, Schiffahns Strosse
und Reiseroute. Mit 300 Abbildungen und
Karten. 10 Lieferung. Wien, A. Hartlebens
Verlag.
Sommer feldt, Dr. Gustav, Nationalstaat oder
Demokratie ? Ueber das Woher und Wohin
der Reichspolitik am Ende des 19. Jahr-
hunderts. Königsberg i. Pr.t Bernhard Teichen.
Suttnex\ Bertha von. Einsam und arm« Erster
Band. Dresden, Leipzig und Wien. E. Piersons
Verlag.
Telmann, Konrad, Dunkle Tiefen. Geschichten.
München, Carl Rupprechts Verlag.
Thiele, Dr. phii. Richard, Die Theaterzettel der
sogenannten Hamburgischen Entreprlse
(1767—69). Beitrüge zur deutschon Litteratur-
und Theatergeschichte. Die Wichtigkeit der
Theaterzettel für Leasings Hamburgische
Dramaturgie. Erfurt, Hugo Güther.
Tbieme, Karl Ludwig, Richard Wagner Im Dienste
französischer Maler. Eine kritlscho Studie.
Leipzig, Constantln Wild.
VeritatiS Amious, Jesus von Kozareth nach
neutes tarnen tllchen Quellen. Hellbronn, Max
Klelmanu.
— Was uns Jesus noch weiter sagt.
Zweite unveränderte Auflage, Heilbronn, Max
Kielmann.
Wegen er, Dr. Richard, Poetischer Fruchtgarten.
Cöthen, Paul Schettlers Erben.
Wehmer, Dr. R., GrundrissderSchulgesundheita-
pflege unter Zugrundelegung der für Preussen
gUltigeu Bestimmungen. Mit 17 Abbildungen.
Berlin, Richard Schoetz.
Weingartner, Felix, Die Lehre von der Wieder-
geburt und dos musikalische Drama nebst dem
Entwurf eines Mysteriums. Die „Erlösung."
Klei und Leipzig, Ltpsius und Tischer.
Wienf lUustrirtcr Wegweiser durch Wien und
Umgegend. Sechste Auflage. Mit 76 Illustra-
tionen, zwei Plänen Im Texte, einem Plan
vou Wien und einer Karte des Pemmerings.
Wien, Pest, Leizpig, A. Hartleben.
Ziel, Ernst, Das Prinzip des Moderuen In der
heutigen deutschen Dichtung. Zettgemasse
Betrachtungen. München, Carl Rupprecht.
Beoigirt unter DnanttDortHdjfeit bes Qeraasgebtr».
5d>leflfd>e Budj&mcfttfl, Knnß* nnb Oerings* HnßaW p. 5. Scbottlaenb«, Brrslda.
Unberechtigter rtadjornrf an» brm 3nba» biefer Seitfd>rift unterfagt. Utbrrfetpntgmc^t oorbt ballen.
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(Sebidjte \76
Hubolf oon (Bottfdjafl in Ceipjia,.
Die 3iingßbentfd}en bes ad}t3elinten 3ab.rl)unberts \~8
<£. ZHafdjfe in Breslau.
Kuglanb in <£entralafien 200
2Ueyanber (CiQe in <5lasa,on>.
(Eftomas £jnjleY 222
fjans fjermann in Breslau.
ITtobeblumen 25 \
HidjGrb Becf in 5K,^au
mont Saint midjel. €in Helfebilb 259
Bibliographie 26<t
Jeremias (Bottljtlf, 2Iusaea>a1|lte Wtxtt. (mit JDuSraHontn.)
J3tWiograptttfd)e nottjen 269
^ierju ein Portrait: IDoIfgang Kirdjbad).
Habirung von 3of)ann £inbner in münden.
.Horb unb 54b* erfa>eliU am Anfang jrtet DIonalt in fteften mit je ein« KairtfreUage.
— preis pro (Quartal (3 ßefte) « Dtarf. — —
WU Önii)t)Otiti langen ani> poftanMtrn nehmen jetajrit SefteHnitgen an.
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$äglid}en Senkungen ftnö ofrne Ztngabe eines perfonennamens 511
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Xlotb unb Süb.
<£ine öeutfd?* tftortatsf cf? r i f t
herausgegeben
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paul Ctnbau.
LXXV. 3anb. — Zlooember — fjeft 22^.
(IHit einem Portrait in HaMning: IDoIfgang Kitcrjbait;.)
Sdjlefffdfe Sncfc&rnd erei, Knnft. nnb De rlags-Hnftalt
». 5. Sd^ottloenicr.
I
Hur $voti Veildtm.
Xiovelk.
Von
M &tona.
— £^Io§ Sivitbowx^ ((Dejhrr.'Sdjleften). —
I.
ofepf)o war eine füfce, liebe Heine grau, md)t gerabe g(üdtid),
aber audj nidit ungtüdlid». 3f)r 2eben ffofs in ber ungennffen
Täinmerung baljin, bie bem 3Jtorgen ober ber 9Jad)t r>orangef)t.
Sfyr ©atte, (Serfyarb filier, war ju Reiten fo übelgelaunt unb uer=
briefjlid), baft fic e3 mand)inat bereute, ifjn gefyeiratfyet ju Ijaben. £od)
formte fic Sttemanb einen Vorwurf tnad)en, benn fic t)atte fid; ifjr ©dndfat
felbft gerodelt, ffix 5ßater unb ifire ©cfd}iniftcr — bie SDiutter mar fd>on
lange geftorben — roarnten fic cor ber ©f)e mit bem um sroanjig 3<*bre
älteren ü)Janne; fic aber f)örte auf Seinen. ©erf»arb fdrjrowr, baf? er fic
auf ben $änben tragen motte, unb fic glaubte es ib,m.
£>a3 junge ^aar nafmi feinen SBofmftfe auf föittcrä Sanbgut 9Ittborf
in einer öfterreid;ifd)en ^rooinj.
©djon bie glitterroodjen bereiteten 3<>fepf)a mandje @nttäufd)un<j. $er
^ageftotä, ber fid) fpät entfdjlicfet, eine ©£)e einjugcfien, bringt feiner grau
afe SRorgengabe ein ganjeä Softem oerfnödjerter ©erootjnfjeiten unb ©igen*
Reiten mit, für baä er eine ttebeaolle 9?üdficf)t aU etroaä ©etbftoerftänb;
Iidr)cö nertangt. Um 3ofepb,a baS Stubium feiner Saunen ju erfeiditern,
beeifte fid; ©erfiarb, fic fogleid) mit ifjnen befannt ju madjen.
(Sie fanb bafb, bafj er eine jum SKinbcften eigentlmmliäje 9lrt Ijabe,
fic auf ben £änben ju tragen, £atte fic irgenb ein SSerfäumnif? uerfdntlbct,
mar eine Sd)teife ttjireö bleibe« ungefnüpft, ftanb baä SDJittagcffen um fünf
SKiituten 51t fpät auf bem £ifd): fo founte er aufjer fid) geraden unb
fdjmäben, ate ob fic ein 93erbred)en begangen f)ättc. 2lnfänglid) roofftc fic
10*
HO Ul. Stona in Str3ef>on>tö (<Dejierr.=S<IfUfien).
»erätocifeln. ©od) als fic fatj, bafe er roegen jeber Äleinigfeit in bie gleite
Aufregung gerietl), ftumpfte ifjre diene fidj ab, unb ftc nafmt bie 9lu^f>rü<^e
feinet 30n'8 jjteidjgttttg t)in.
©erwarb gehörte ju jenen Scannern, bie flug genug ftnb, tljrer Übeln
Saune nur vor itirer grau bie 3ügel fd)ief?en ju laffen, in ©efeüfdjaft aber
ftets tjeiter, gefprädjig unb unterfjattenb erfdieinen. SBenn fie befonberS
gut aufgelegt finb, roerben fie fogar roifcig. Soldje SJiänner bleiben ifjrer
grau gegenüber fteta im SJorttjeil; benn roemt biefe unter beut £*u<f ber
flemlidjen Quälereien, bie fie ju &aufe erbulbet, einmal eä roagt, ifirem
©ebieter cor 3«u9Cn ein heftige« 2Bort $u fagen, fo läfjt er e£ mit ber
■Dtiene eines 'Märturerä über fieb fjinbraufen, roofjt roiffenb, bag 2flle, bie
e§ gehört, auf feiner (Seite ftefien werben. „2BeId>e unbefounene grau!
©er arme ÜDiamt mag bittere Stunben erleben!"
^ofeplja rjatte ifirem ©otten — oielleidjt nod) mel>r fiel) felbft — ein
©ödbtercfien gefdjenft, unb ba$ fleine SZßefen füllte ib> ganjea &erj aus.
^f)m erjäfjlte fie ifjr Seib unb ifjre greuben, al« e3 nod) roie eine ge*
fd)loffene 33lume in feinem Stetigen lag, unb roie e§ fpäter bie 2lermdjen
um ifiren £als fcblang, ba ronr e3 ifjr, als ob ifjr in bem .tinbe eine
järtticfie greunbin fieranroadife.
Onbeffen fodte ifjr balb uom Sdjidfal eine jroeite greunbin imgefüfjrt
roerben, bie an 3»^u, ßrfafjrung unb roeltlidjer Stlugljeit ^ofep^a roeit
überlegen roar.
Sie fjie& Helene »on SBattfjeim. 3f>r 9)?ann, ein reifer gabrifant,
roar ba$ genaue ©egentljeil »on ^ofepfiag ©atten; ftiH unb oerfdjloffen in
großer ©efellfdjaft, bodj »on liebenSroürbiger ©efprädjigfeit in »ertrautem
Äreife, babei jung, fraftooU unb gütig, mit einem für einen ÜWann faft ju
roeidjen ©emütl). . @r betete Helene an; fie erfdjien ifjm a(3 baä 9Rufter
jeber jßottenbung. llnb Helene roar eä jnfrieben.
Sie liebte ^einrieb auf ibre 9lrt. 9Jidjt blinb unb abgöttifdj, ntdE>t
tjeifi unb leibenfdjaftlidj, fonbern mit rufjiger 3<>rtlid)fett. Sie war fidj
über feine gefjler unb ä'orjüge ganj ftar unb roog bie einen gegen bie
anberen mit Uebertegung ab.
Unb roeil feine 33orjüge ju jenen gehörten, bie itjr frmtpatljifd) roaren
— eä gab aueb foldie, bie fie nidbt leiben fonnte, j. 33. eiferuer gleiß unb
6onfequen5 — feine gefjler aber, bie alljugroße 9Jadjgielugfeit unb ber &ang
jur ilerfdjrocnbung, fefjr leid)t fidj ertragen ließen, roar fie mit £einridj
uollfommen jufrieben. ®r fdjmüdte i^r Seben mit ^oftbarfeiten, fie
fdjmüdte ba§ feine mit ifjrer frörjlicfjen Saune.
Sie roar r>iel ju flug, fidj iljm je mürrifdj ober »erbrießlidj su jeigen,
vielleicht aud; ju eitel baju; benn fie liebte ibre Sd)önf(eit roeit mefjr aU
ifjrert ©alten. 3i)te Sd)önl>eit roar r>on jener eigenen 9lrt, bie roie ein
Sauber in einem ©efidjtdjen aufjuleudjten »ermag, ba* un§ fonft btafe unb
uubebeuteub erfcfjeirtt. ©er ©eift ift cS, ber all bie anmutbigen Sinien
ZTur 3u>ei l?eild;en.
toecft unb baä 9tntli| gleicbfam »cm innen heraus erBtütien läßt. Helene
rouftfe in folgen 2lugenbliden genau, wie fie auSfab, raupte, batf fie im*
roiberfteblicb roar.
$n ben 3Jiaitagen beS SafyxeZ 1892 bereitete Ü)r ©arte it)r eine
freubige Ueberrafdjung. Gr taufte ihr eine iUlla auf bem Sanbe. Sie
fiel ihm bafür um ben &aU unb nannte ihn iljren lieben, einjigen ^einrieb.
SWadjbem Helene mit ©atten unb £ienerfcbaft — Äinber Ratten fie
nicht — in baä neue Sommerljeim überfiebelt mar, hielt fie llmfdjau in
ber lieben 9cacbbarfcbaft.
GS fam bie grofse grage, mit wem man »erfebren foHtc. grauen,
unbebeutenbe, gefcbmadlofe Sanbfrauen, reijten Helene gar nicht. Gine
Aber bie anbere wollte fte ertragen, wenn e3 beS 2Jfanne3 roegen jtdj lohnte
— mehr abfolut nicht.
Sie mar ber 2lnficbt, baß ein bummer HWann noch, immer mit feinem
jüerftanbe für eine Klauberei ausreicht, roäbrenb bie befebränfte grau 511
einem lebenben 33leigerotcbt roirb, ba§ Ginen unbarmtierjig in bie liefen
"ber Sangenroeile jiebt.
GS traf fieb oortrefflid), baß 2i5attbeim3 gleich bei ber erften Drientirungä*
reife in bie näcbfte Stabt einem alten Stubiengenoffen £einricb3 begegneten,
ber mit feiner jungen grau nur eine Stunbe oon ber SßiUa entfernt lebte.
GS mar ©erbarb filier, ©erbarb mar in »orjüglidjfter Stimmung, unb
feine Ginfälle eittjücften Helene. 2JJan befebloß, gute Macbbarfcbaft 51t
hatten. Helene beforgte heimlich nur GineS: baß £itferä grau eine gar
ju langweilige ^ßromnjterin fein werbe.
$roei £age fpäter nmrbe ber ÜBefud) in 3lltborf gemacht.
„©ort, roie gefcbmadtoS!" fagte Helene fich, als fie Sofepba erbtiefte.
„Gimmel, roie elegant!" baebte 3;ofep^a.
9Wan ließ ftdb um einen runben gamitientifch nieber. ©erbarb roar
in feinem Glement. Sein ©eift pboSpfyoreScirte förmlich. Gr unterhielt
feine ©äfte, inbem er fteine Slnefboten oon feiner grau jum heften gab.
Sofepha roar an biete Grjähtungen geroöbnt, bie bem ©efpräcbe auf ihre
Soften einen pifanten 9*lei$ gaben, bennodb »erlebte fie heute biefer Ion.
Sie beforgte nicht, tädhertieb ju erfcheinen; allein fie fürchtete, bie Dcbe
ihrer Ghe fönnte errathen roerben. 9luch fchien eS ihr nid)t bie richtige
Slrt, grau »on 2SallbetmS 3ntereffe ju erregen, an bem ihr fo otel lag.
gür ihr Sehen gern fiätte fie mit ber febönen, roeltgeroanbten ©ame ner*
fehrt. Sie tarn fich unfeheinbar neben ihr cor, bie 2Borte fielen ihr
fo blöbe von ben Sippen, unb berounbernb blidte fie auf Helene, bie fo
anmuthig plauberte, fo grajiös fich jurüdtehnte unb cS fich gar nicht
merfen lief3, bafs fie ein neues Rleib trug, — ein Greigmft, baS man allen
Nachbarinnen aus ber ^Sroöins auf ben erften 33tid anfah.
9tuch Helene fühlte fid) ju Qofcpha hingezogen — um ber SBerounberung
«ritten, bie unverhohlen au? ben 2lugen ber (leinen grau fpradj. Sie blatte
H2 81. Stona in Str3ebon>ifc (®efterr.«S($leften).
gern mit ifir allein geplaubert, benn bafe ^ofeplja in ©egenroart ifireä
©arten befangen mar, fjatte fie auf ben erften SBIidf gemerft. eine grage
nad» bem ©arten braute ben erroünfditen ©rfotg: ©erwarb fd>lug einen
Spaziergang oor.
£ie beiben Brauen gingen mit einanber, unb Qofeplja fdjten nun
aufäuatb,men. 9llle3, roa3 fie fagte, trug ben $aubev einer ungefügen
Originalität.
„&aben Sie »iel 33erfef)r in ber Umgebung?" fragte Helene.
„Seiber nidit, unb ba3 ift fo fcfjabe, beim idj l)abe ba3 ©lud, baß
mir fo viele SWenfdfieit gefallen!"
Sie weiß gar nidit, roie ^erjig fie ift, badjte Helene.
gaft ju lange bauerte bie erfte SBiftte, unb bettn 3lbfdf»ieb oerfprad>
man, einanber oft ju befudjen.
„2lu3 biefer ^ofeptia tiefte fidj »iel machen," fagte Helene bei ber
9Wdfaf)rt. „ftdj 'glaube, e§ märe nidjt fdjroer, ü)r bie ^rooinjterin ein
roenig abjufdileifen."
„SBenn fie nur f)übfd»er märe," meinte £einridj.
,,§übfd)? Sie fönnte es baju bringen, reijenb ju fein. liegt fo
mel in ifyc, aber e§ müjjte erft geroedt merben. 3fyr -BJämter afjnt ja gar
nid)t, bafj fogenannte Sdjönfjeit oft nur eine gefdndte Bereinigung jafytfofer
Äünfte unb einiger befdjeibener ©aben ber 9iatur ift. Gine grau mufe ü»re
SSorjüge unb Ujre Sdjroädjen fennen unb jene ju Ijeben, biefe ju oerbergen
Derftefjen. 2>ie arme 3ofepb,a aber ift fid) roeber ber einen nod) ber anbern
beroufjt. Sie lebt bin, roie eine gefdjmadlofe Sdmeiberin fie nerjeidmet,
unb frifirt fid;, als ob fie tyre eigene &öd)in märe. Srofebem gefällt fte
mir Diel beffer aU itjr ©arte."
„2Bie? ©erwarb ift bod) ein famofer 3Jienfd)!"
„2Bie man'« nimmt, ©in 3Wann, ber e3 roagt, in ©efellfdjaft bie Keinen
Sdjroädjen feiner grau ju getfeeln, ift ber geborene &au3tm*amt unter oier
2lugen. 2Bte fror) bin tdj, bafj ©u nidit fo bift, £einrtd)!" ladjte fte nnb
roanbte itnn irjr rofigeS öefidrt ju.
„%bex ©erwarb ift fo roifeig, unb ba$ bin idj leiber nidjt," fagte er.
„£>afür bift Su gut, unb baS ift mir taufenbmal lieber."
II.
3roifd)eu 9lltborf unb ber SJttta entfpamt fid) ein lebhafter SBerfetyr.
£a Helene füllte, bafj Sofcvtyx nod» immer eine Keine Sdjeu oor tf)r tyabe,
trug fie iljr ba$ £u an. Qofepfia roar feiig, unb in ttjre 33ejieb,ungen &u
geleite trat nun eine innige $ertraulid)feit. SBie unter greunben ber eine
Styeil immer ber ©omimrenbe ift, fo roar es aud) t)icr. $ofepf>a unter*
roarf fid) notlfommen bem überlegenen Urtfjeil SjelenenS, liefe fid) oon if(r
2lQe3 fagen unb nafmt fogar if)re 9iügen mit banfbarem Säbeln tun.
Zlnt 3»ei Deildjen.
(Sinmal traf Qofept)a Helene vox beut £oilettetifd), U)r bloitbeS &aar
orbnenb.
„5icin, roie gefd)madoofl Du Did) frifirft," rief fie „unb — unb
f»aft bod) —
„$iel weniger £aar als Du, rotHft Du fagen?" oodenbete Helene
ladjenb. „3a, fiefift Du, Äinb, nid)t bic güde, ber ©efdmtad ift ent»
fdjeibenb. ©efce Did) einmal nieber, td» roill Dir jeigen, rote man es
madfjt." Unb in wenigen 9Jtinuten »eränberte fie ^ofepbaS 2lu3fel)en auf
baS itortfjeityaftefte, inbem fie if>r £aar in einen prächtigen Änoten fdntrjte
unb an ber Stirn, roo es früher ftraff angefpannt geroefen, in leichten
bellen empor f)oh.
„Du oerftefrft aber aud) MeS!" rief 3ofepf)a.
3iun füllte Helene fie in ein SDJorgenfleib aus meiner rofa Seibe
unb führte fie cor ben «Spiegel. 3ofep{»a errötbete vox Vergnügen, als fie
fid) erblitfte.
„Siefift Du, roie entjüdenb Dir t»elle J-arben fielen! Du Heibeft
Did) rote eine ÜJfatrone. Unter uns gefagt: Du »ernad)läffigft Did) fogar.
SBenn id} an Deinen grauen Sd)lafrod benfe, in bem id) Did) tefettjitt
überrafdjte — brr! Sffiie fannft Du tjoffen, Deinem 5)iann 5U gefallen,
roenn er Did) mit a6gerijfenen SBanbfd)leifeit unb fetjlenbeu ßnöpfen fiel)t?"
„@r fief)t mtd) ja gar nid)t an!"
„Dag begreif id). ©laub' mir, Qofeplja, mir grauen follen ftcts auf
unfer SleufjereS ad)ten. Die SNänner finb eitler auf uns, als roir eS
almen, unb roenn roir aufhören, uns ;u fdjmüden, fangen roir an, fie p
langroeilen. GS ift »iet beffer, man fiefjt roie bie Dod)ter feines ©atten
aus, als roie feine üDfutter."
,,9(d), Helene," feufjte ^ofepb^a, „roenn Du ©erfyarbs Saunen fetmen
roürbeft, »erginge Dir »ielleid)t aud) bie Suft, an Did) $u benfen!"
„3$ roürbe oor 2lllem trad)ten, mit ©erwarb gut auSjufommen."
„2Bie benn?"
„DaS roill id) Dir fagen. Dein etjrlicfter Gfyarafter roirb fid) tnelleicfjt
bagegeit fträuben, bod) nid)t alle SBege finb gerabe, unb bie frummen führen
uns oft am fdniellften an'S 3iel, roeit roir fie burdjlaufen fönnen, roä^renb
roir auf ben geraben breiten Strafjen fein fd)id(id) unb gemeffen bafjin*
fdjreiten müffen. 3$ roürbe »or 3lllem bie Sd)roäd)en ©erfyarbS ftubiren,
benn bef)errfd)en 'roir bie ©djroädjen eines SDfanneS, bann befjerrfdjen roir
ibjt felbft."
„So flug bin id) nidjt. 3d) l)abe längft alle 3Kad)t ü6er ©erb>rb
oerloren."
„So geroinne fie roieber!"
„Daju ift es ju fpät."
„(SS ift nie ju fpät," entgegnete gleite. ,,,§ör' meinen 9Jatf).
SBenn Du im Unred)t bift — unb glaube mir, Du bift es oft — fd)roeig'
m. Stono in Striebotuig (<Defterr.*S<fflefien).
unb ertrage feine Saunen. Sßarte, bi« Du im 9ied)t fein wirft. £aft
£>u einen eflatanten gatt, bann tritt rubig unb beftimmt gegen ©erbarb
auf. £obt er, fo lafj ibn toben, bebarre aber mit fefter @Tttfd)loffenbeit
auf ©einem ©tanbpunft. ©obaib fein 3<>rn »erraucbt, roirb er fein Un-
redjt einfefien, unb ba« ift SDein erfter ©teg."
„3$ min e« Derfudfjen," fagte 3°fePba unb umarmte bie »erftänbige
greuitbin.
©ne« £age« ruf)te Helene auf einer inbifeben Gbaifetongue in il)rem
©djreibjimmer. SBeidbe, feibene Äiffen in allen 3tegenbogenfarben umgaben
fie, eine foftbare ®ede, bie fie einft au« ©gnptcn gebradjt, breitete fid)
über ibre fdjmalen güfse.
grau »on SBaDljeim war nid)t etwa franf; im ©egentbeil, bie füfje
9tube, ber fie fid) fytiQab, roar ba« Seiten cittc^ befonberen Sßobl-
beftnbeit«.
SBie eine 9tofe auf ben 2BeIIen be« ÜKeere«, wiegte fie fid) in ibren
träumen. 2JKt immer gleichem Vergnügen tiefe fie bie 2lugen über aQ
bie ftoftbarfeiten unb bunten ©ebäd)tnifejeid)en gleiten, bie fie »on ibren
Reifen mitgebracht unb mit tänbefabem @efd)macf auf £ifd)d)en unb
ßonfolen oerftreut Ijatte. %fyv 3intmer mar ein Heine« ÜWufeum, beffen
SBerHj feine Sefifcerm auf eine caprieiöfe SBeife beftimmte. 3Rand)e 23anb:
fdjleife, manebe wette 33tume galt ibr mebr als ber Ärug au« Pompeji
ober bie funftoolle G(fenbeinfd)nifcerei, roeld)e bie SBerroanblung ber $Dapbne
barftellte. 9htr Helene werftänblid), erjäblte jebe« 35ing feine ©efdjicbte
unb säuberte entfdjrounbene Silber oor bie ©eele ber Petrin.
$n 9Jijja roar'«, wäbrenb ber unoergefelidjen (SarneoalStage, ba batte
fie jene $>rabtma«fe, bie bort in ber @cfe bing, über ibren Äopf geftülpt,
jene« 4?irtentäfd)d)en mit „Confetti" umgetban unb mit ber fleinen ©d)aufel
auf biegfamem SRorjr fampfluftig bie weilen ©efdboffe nad) reebt« unb linf«
gefdjteubert, roäbrenb ein tolle« 9fla«fentreiben fie umtobte. . . . Unb bann
roar plöfclid) eine 3Kenfd)enrooge gefommen, bie fie oon ibrem Satten
trennte. ÜRur ber beutfebe SJaron blieb an ibrer «Seite, ber fo lange auf
bie ©elegenbeit geroartet, ibr feine Siebe ju gefteben. bot fid) bie
©elegenbeit, unb er — er fanb nid)t bie Sßorte. SBie blöbe er roar!
Dber aebtete er fie fo bod), bafe er fürd)tete, fie burd) fein ©eftänbnif}
}u beleibigen?
©ie bätte ttjm fo gern jugebört — fold)e ©eftänbniffe roaren eine
berauf d)enbe ÜJhifif für ibre fleinen Dbren — unb fie fjätte üjn bamt
berjlid) au«getad)t, fo berjlid), bafj er in ibr Sad)en eingeftimmt f)abcn
roürbe, roie eS bie -Keiften trjaten, bie banfbar bie roeifee &anb füßten,
roelcbe fie au« greunbfd)aft ibnen bot. 9Jland)e freilid) murrten unb sogen
fid) groHenb surücf — roa« tbat'«! 3lnbere fd)loffen bie Reiben.
Stun rubten ibre 3lugen eine ©ecunbe lang auf einem SBlatt Rapier,
ba* läffig an einen 93atmenfäd)er gefteeft roar unb bie SBorte trug: Tout
tlur 3n>ei Dellien.
bonheur, que la main n'atteiut pas, n'est qu'un reve. (Sin Unglück
lidjer fjatte i^>r einft bieten ©prudj gefd^idft, unb fie bewahrte Um in ber
bämtnernben Slfjnung, baß aud» i^r baS edjtc ©tücf ewig fern bleiben
würbe.
2Bät)renb fie jefet finnenb »or ftdj l»iitfa^, flopfte es an bie £f)ür, unb
3ofepf)a ftünnte in'S 3immer.
„93erjeif>', baß id) ©id) überfalle. ... ©te @el)nfud)t, ©id) ju ferjen,
mar ju groß!"
Helene erfjob fid} freubig unb begrüßte bie greunbin. Sie ptauberten
ein 2Beildjen oon gleidtgiltigen ©ingen, bann bat 3[ofep^a: „Saß' uns in
ben SBalb ge^en! ©ie Suft im Limmer ift fo fdjwül."
2lrm in 9lrm »erließen fie bie SBiffa. Helene betrachtete lädjetnb bie
junge grau. ,,$d) fef»e mit greube, baß meine SRatfjfdjläge ©tr fdjon Gr=
folge brauten," fagte fie. ,,©u bift felbftftänbiger, rubiger, fixerer ge-
worben — unb fjunbertmal f)übftf»er . . . weißt ©u baS?"
„$dj weiß nur, baß id} Sir banfbar bin. Dtme ©id; märe id) t>er=
fauert, »erbauert, »erfumpft unb »erftumpft!"
„Unb nun wirb am (Snbe gar eine Meine SBeltbame aus ©tr! GS
tfjut !Jlidf)tS, wenn ©u nur glücfltdj bift .... unb baS bift ©u bod),
nid;t?"
„Qa, fiefift ©u, mit bem ©lücf ift baS eine eigene ©adje. $d) war
ja früher audj nid)t glücflidj, aber mir ift, als ob id) erft jefet erfenne,
wie arm mein Seben ift, baS Seben meines ^e^enS. . . . ©ag' mir,
Helene, tjaft ©u nie bie ©ef)nfud)t gehabt, ju lieben, glütjenb ju lieben?"
„9Mn." grau oon Sßallljeim fannte in ber £f)at nur bie ©efmfudit,
geliebt ju werben.
„©iebjt ®u, id; mödjte GtmaS erleben, baS groß, fyerrlid), göttlid)
wäre unb mit einem ÜDJate biefe entfefclidje Seere ausfüllen würbe, bie mir
ba briunen entgegen gäljnt. 3Wir ift mandmtal, als ob mein £erj eine
finftere &öt)le wäre, grüner I)ab' id) gebadjt, baß eS fo fein müffe, baß
gewiß »iele grauen mit mir baS gleidje ©djicffal Reiten, aber jefet fdt)eint
es mir oft, als ob tct)'s nidjt länger ertragen fönnte! Sieber taufenb
Dualen leiben unb wiffen, baß man gelebt Ijat, als biefeS gteidjgilrige
©afein weiter führen!"
„2lber baS ift ja offene ßmpörung!" neefte Helene.
„<5S ift ©efmfudjt, b>iße, übermäßige ©el»nfud)t nad) etwas Uns
erreichbarem, nad; etwas, baS meine SBege nie burdifreujen foH. Unb
oieMdjt ift biefe ©ef)nfud)t barum, weil fie fid» ib>er £offnungSloftgfett
bewußt ift, fo uersefirenb."
©ie waren 5U einer alten @id)e gefommen. Sfjre mächtigen 3lefte 3um
Gimmel erljebenb, fdjten fie ftolj aus bem 33obeu emporstreben, ein Urs
bilb ber Äraft unb 3öE»igfcit. ©ine Jtafenban! jog fid; um fie Ijin. $ier
H6 IH. ftona in Strjeboroitj (<De(lert."5djIefien). — '
warf fid) 3ofepf)a ni^bet unb blidfte mit ifyren fonft fo träumerifd)en, jefct
brennenben 3(ugen auf Helene, bie rul)ig fagte:
,,3d) weiß nidjt, roaS baS Seben 3Mr nod) bringen roirb, ob es ©eine
2Bünfd)e erfüllen fann ober ntd)t. Sief» biete mäd&rige 6td)e. ©ie roollte
aud) einmal in ben Gimmel warfen, unb als fie fab, baj? es nid)t ging,
ba begnügte fie ftd) bamit, ifyre SBurjeln um fo tiefer in ben fyeimatlidjen
©oben ju fenfen. 33on biefer Gid)e fönnen wir oiet lernen."
„®u bift fo rub,ig, fo befonnen. Sag' mir, Ijaft £u fdfjon geliebt?"
,,$d) glaube ja," erroiberte Helene gebanfemwll; „als id) ein ganj
fleineS, faunt elf ftafyxe altes 3Käbc^en mar. damals t}atte id) ein fo
letbeufdjaftlidjeS &erj rote £u, unb icb liebte einen jungen 9)?ann »on
äioanjig Sauren, ber geroifi feine 3lf»nung blatte, nrie »iel er bem Äinbe
mar. 9ltteS, roaS ein SBeib an f)eimlid)er Siebe empfinben fann, »on bem
füfjen ©rroadjen beS ©efüf)ls unb ber letbenfdfjaftltdjen 3örtlidifeit bis jum
glüfjcnbcn XrennungSfdfimerj, 2WeS ift bamals burdj bie Seele beS SUnbeS
gesogen, unbead)tet »on 3lllen unb ungefannt. 3J?ein &erj mar eine fleine
(kutfjentoelt, in ber bie nmnberfamften 2)inge »or fid) gingen. 3lber roie
es baS ©d)icffal ber äBelten ift, fid? immer mefyc unb mefjr abjufüljlen, fo
mar es aud) mein ©djtdfal, immer fälter ju werben, unb id) glaube, baß
id) ber »ollftänbigen ^Bereifung nid»t mef)r fem ftefje."
„3>u bift ju früb, gereift, id) bin $u lange Äinb geblieben" — fagte
^ofeyfia. „3Jian führte mid» nid»t in bie SBelt, id) lernte SRiemanb fennen
. . . id) mar ja baS ©tieffinb ber Familie, flein unb bäjjlid). deiner
beadjtete mid). Unb als bann enbltd) ein SRann fam, ber um fo »ieleS
älter unb »eroünftiger mar all id), bem id) gefiel, ber eS mir fa&te, ba
mar id) fo ftolj, fo überglücflidfj! 3d) faJ» mid) mit einem 5Diate gefeiert,
»on meinen ©efdinriftera beneibet, unb jögerte feinen 2lugenbticf, biefem
Warnt in feine |>eimat ju folgen. Unb bort erfannte id), meld)' ein falter
Ggoift er ift, ber mid) nur bamt bead)tet, roenn er GtroaS an mir ju tabeln
finbet, unb ber in ber Ueberjeuguitg lebt, baf? id) ©Ott bafür banfen fann,
baft er, Werbarb filier, mid) ju feiner ^xau erhoben f)at. GS ift matjr,
mid) fiungert unb bürftet nidjt; bod) nad) bem junger unb bem £urft ber
Seele fragt SWiemanb! £aS ift mein Seben: eine freubtofe 3"{ienb, eine
glücflofe Gl)j, eingefd)loffen rings »on Sugenben unb ^Jftid)ten. Unb meint
id) enblid) bafjin gefommen fein roerbe, biefeS jaud)äenbe, pod»enbe £erj,
baS nad) Siebe »erlangt, ftücftoeife ju Xobe gemartert ju ijaben, bann roirb
man mid) jur Setofmimg für att' btefe 33ra»f)eit in ber Familiengruft bei*
fetten."
„£u bift eine fleine eraltirte ^erfon," fagte Helene unb legte iljre
Öanb auf 3ofepl»aS Sdjulter. ,,^d) fage 2)ir oorauS, baft ©u nod) fe^r
»iel fünbigen wirft, aber blos in deinen Sebanfen. 35u gel)5rft 5U ben
grauen, roeld)e bie fd)recflid)ften ©inge auSfübren — in ib,rer ^ß^antafie,
bie aber in 2M)rI)eit nie ein Saar breit oom 3Sege ber S'ugenb abwetten,
Vlut 3icei Deildjen.
bcntt ibr ^flid&tgefüljl ift größer als if)te ©ctjnfud^t. 3u ifjrcm ©lüde;
beim fo genießen fic in ityren träumen alle SBomten, ofnte je von einem
erbrüdenben ©dmlbgefübj jermolmt ju werben. 3um ©ünbtgen nadj ben
geroölmtid)en Gegriffen ber SBett gehören entweber fel)r letditfinnige, gebanfem
lofe grauen, bie nid)t tröffen, was fic tf)un, ober ftarfe Naturen, bie mit
ilcberlegung fallen, ©u geliörft weber m ben einen nod) ju ben anbern."
„Unb 3u?"
«3$ gehöre ju ben falten grauen, unb bie gehören auf ein aubereS 33latt."
in.
Söenige Sage fpäter follte bie länbtidje Stille ber iUUa burd) einen
Sefucfc. unterbrochen werben. Heinrid) erhielt ben SBrief eines greunbeS
aus SBien, in weltfern biefer um bie ©rlaubniß bat, für einige Tage 35?all-
Ijeimä ©aftfreunbfd)aft in Stnfprud) nehmen ju bürfen.
Helene tjatte Sßalter t>on Grlad) vor jwei #ab,ren im ©alon einer
SBefamtten femten gelernt. @r war iljr burd; fein wunbertwUeä Gtaoierfpiel
aufgefallen, unb fic entbedte fpäter eine überrafd)cnbe 23ielfeitigfeit ber
Talente an ifint. ©enial als SDiufifer wie als 2Mer, mit einer ©eele,
bie für bie Runft güW)te, unb einem Slörper, ber bie ©trapajen jebeS Sports
beburfte, um ben Ueberfdjuß an Straft auszugeben, glid) er bem lieber*
menfdjen ber 3Woberneu ober ben Halbgöttern ber Slntife.
ipelene wußte nad) ber erften ©tunbe, bie fie mit ibm »erplanberte,
baß tf)r t)ier ein 3Jfann entgegentrat, ber bem Raubet tf»rer ^Serfönlid)feit
nid)t erliegen würbe.
Sie fpracben bamats oiel mit einanber, unter 2lnberem aud) oon ber
Siebe. Helene fagte, baß fie bie ÜWeigung über bie Siebe ftelle, benn bie
Siebe fei oeränberlid), fie »erfprädje einen Himmel unb gäbe mandmtal
9lid)tS; bie Steigung aber, ifire gütige ©djwefter, ift treu unb unwanbelbar.
Herr oon ©rladj bliefte fie forfdjenb an, als wollte er auf bem ©runb
if)rer ©eele tefen, unb fagte bann: „2Bte mobern! @o fpridit nur, ber
feiner Siebe meljr fällig ift . . ." ©ein Urteil über grau »on SBaUfieim
faßte SBalter am nädjfien Tage in bie SBorte jufainmen: „©ine ber inter*
effanteften grauen, bie id) fenne. ©ie ift wie ein SßafteHbtlb mit ben rotten
warmen Sippen unb ben großen falten 3lugen, bie ben fdjönen 9J?unb Sügen
ftrafen."
Helene füllte inftinetto, baß fie feinen ©eift intereffire, olme fein Her}
ju berühren, unb fie war oiel ju flug, um fid) nur einen 3lugenblid ben
©djein ju geben, als fudje fie mit if>m ju fofettiren. £a$ rettete ifjr feine
©mnpatljie. @r fudjte itirc ©cfellfdjaft unb würbe im Saufe ber 3eit ein
gern gelegener ©aft tljreS ©alonS. 9lufrid»tige 3iweigung bradjte 2Balter
HelenenS ©arten entgegen, mit bem er auf fportlidbem ©ebiete otete 9ln=
fnüpfungSpunfte fanb unb beffen ritfjige ©üte if)tn wobi tfiat.
H8 ITT. Stona in Strsebowifc (Q)ejlert..5d(Iefien).
ÜRun war ber tntereffante ©aft in ber SBiffa eingetroffen.
„Sie werben ftd) bei uns furchtbar langweilen," fagte Umt Helene
balb nach feiner 2lnfunft. „Sie bürfen nidjt hoffen, hier einen getfioollen
«Salon ju finben, wo Sie bas ©otb öftrer einfalle auSftreuen fönnen.
2Bir finb nur auf Äupfer eingerichtet. $öchftens bafj manchmal bürftig
etwas £almi aufblifct."
„Um fo beffer, gnäbige grau. 2ltteS, monad) id) mid) febne, ift Stühe,
göttliche Jtulje. So im grünen SBalbe liegen, too ©räfer buften unb 33ögel
fingen, bie 3«ü »orüber gleiten laffen unb MchtS füllen, roeber Hoffnung
nod) Seib, roeber Sefmfud)t noch Siebe, baS fdjroebte mir als baS ,§ödjfte
oor, wenn id) an ben 33efud) Sei ^ftnen bad)te."
„Sehr fchmeichelhaft. 3Hefe befdjeibenen SBünfcbe fönnen 3huen ooßauf
erfüllt roerben. Sie bürfen mit Unterbrechung ber 3Wab^t}eiten täglich jwölf
Stunben im 2Mbe träumen unb Vichts empfinben, wenn Sie baS
SEBege bringen. 33eoor Sie aber biefeS tlofterleben im ©rünen beginnen,
motten Sie mit uns bei einem ©utsbeftfeer in ber 9tod)barfd)aft einen
sBefud) mad)en, ja?"
„2Bo bleibt bie tänblidje Stille, bie äbgefefttebenheit!" flagte SBalter.
„3$ felje fd)on, eine fchöne grau befud)en, unb roenn es im entlegenfien
SBinfel ber 2Belt märe, fyeifjt immer, fidb in ben Strubel ber ©efelligfett
ftürjen."
„Sie fabeln. S?on einem Strubel ber ©efelligfeit ift feine 9iebe. $er
©utsbefifeer t>at eine einsige Xoä)kx, bic nod) nicht jählt, unb eine grau,
bie ganj einjig ift."
„Unb natürlid) erroartet, bafe man ifyc ben Jöof macht."
„SBenn fte bas erroarten würbe, wäre fie nicht einjig. UebrigenS roiff
id) Wichts mehr oon ib,r fagen. Sie follen fte morgen felbft fennett lernen."
3ofepb> mar burd) einige geilen oon geleite auf ben neuen ©aft oor:
bereitet roorben. Sie fd)ten fehr befangen ju fein. £err »on ©rlacb
tmponirte it»r offenbar, unb fie oertor ganj bie natürliche Sicherheit ihres
SBefenS. %n ber Sunft, ßonoerfatton ju machen, hatte fie es noch gar niefit
roeit gebradjt, roie Helene mit Schrecfen bemerfte. Sie nahm fid) »or, ibr
bei nädjfter ©elegenheit eine fleine Anleitung über bas ©efpräd) mit
gremben ju geben, ^ofepfea fümmerte fid) nicht im ©eringften barum, mos
bie ©äfte intereffiren fonnte; fie erfdjöpfte ein %1)ema bis jur Ermattung
unb brach baä näcbfte in bem Slugenblicf ab, als man fi<h bafür ju er*
wärmen begann. 2ludj fprach fte juwiel uon ftdj unb ihrer gamilie.
2luf SBalterS grage, ob fie tnel befchäftigt fei, erroiberte fte: „2ldj
nein. 3JJan braucht mid) nid)t. 3)?ein SRamt hat feinen 99eruf, mein Äinb
bie SEBärterin, bie £öd)in bie 2Sirthfd)aft — nur ich h^,e 9tiemanb. ©S
fommt mir manchmal oor, als ob ich Ueberjtüffigfte in meinem £>aufe roäre."
Um bem planlofen Umherirren bcS ©efpräd)S ein @nbc 511 machen,
forberte Helene 2Mter auf, @troaS oorjufpieten."
IXnt jniei Petldjen. ^9
„211), ©ie finb mufifattfd)!" rief Sofepfia unb flatfdjte in bie Jpänbe.
„$a$ ift Ijerrlid)! 3$ liebe bie SRufif fo fef»r."
äBalter trug ein fdjroermütfyigeä Sieb »or unb bat bann 3ofepf)a,
Jeinem Setfpiete ju folgen.
„3$ finge bloS," entgegnete fie.
2tud) baä nodj! backte Helene mit ©dpretfen. ^ofeplia, bie eine
fdjöne, flangootle ©timme fjatte, pflegte nämlidj häufig in reijenber Skr*
roirrung mitten in einem Siebe SDielobie unb £ert ju oergeffen. 9ludj l>eute
cerior fie gleid) nad) ben erften £acten ben gaben unb unterbrach fiel).
2Balters8 mufifalifdjeS geingefüb,! fdnen jebodi gar nidjt barunter ju
leiben. <5r rul)te nid)t eljer, al# bi« ba3 Sieb ju tabellofem Vortrag ge=
bracht war.
©erwarb unb £einrtdj ftaunten über btefen unerwarteten gortfdjritt.
grau Bon SBalllieim mar fefir gefpamtt, auf bem Stucfroeg 2Balter3 Urteil
über Qofepfia ju Ijören. ©r tonnte nidfjt genug SSorte beS (SntjüdenS
finbeu. SBeldje SRatürlidjfeit! roeldje griffe! Sßaljrlid), biefe junge grau
mar v>on einem $auber, roie er il»n nie gefannt. ©ie glidj jenem bunflen
93ergij3tneinnid)t, ba§ in fdiattigen SßalbeSgrünben oergeffen blüf)t, unb
nur barum jenes tiefe, fierrlicbc 93lau behalten t)at, weil bie ©onne irjin
nod; nie gtutfjoerfengenb in'S $erj gebtieft.
Helene fafj ifm überrafdjt an. SDJerfroürbtger ÜDienfcb! bad)te fie.
Gä giebt für i^n fein grauenratfifet. —
®ie nädjften 2Bod)en oergingen für Sofeplja in einem Taumel oon
Vergnügungen. ©0 glücflid) roie jefet fjatte fie fidj nod» nie gefüllt. ®ine
faft ausgelaffene gröljlidjfeü befjerrfdjte fie; fie gtieb, einem übermütigen
Äinbe; oft erfann fie tolle ©piele, mit benen fie Helene 5ur aSerjroetflung
bradite unb kalter entjiüdte. Qt fonnte fidj nidjt fatt feljen an if»ren an=
mutigen ^Bewegungen, nidbt fatt Ijören an iljrem betten flingenben Sachen,
©ie erfaßten iljm roie eine fonnige gee. ®r füllte, bafj er einem jungen
Serjen gegenfiberftefje, roeldieS einer leibenfdjaftlidien Siebe fällig fei, unb
über baS er mit jebem £age an 9)?ad)t geroann. ©er ©ebanfe, biefe*
gtüljenbe ©mpfinben ju roeefen, reiste itjn.
Sofeplja mar fo ganj anberS als bie »erroöfmten grauen, bie er bisher
gefannt; als bie falten, beredmenben Metten, benen er auägewtdjen, ober
bie alljuweidjen, empfinbfamen ©eelen, bie feiner Seibenfdjaft fid) Angegeben
fjatten. £ier umfing ilm }um erften 9M ber ganje Sauber einer editen,
jarten Sßeiblidftfeit. @r füfilte fid; rooljt roie nie; er »ergaf? jebeS tänbelnbe
©piel. Viel früher als 3ofet>f>« fclbft roufjte er, baj? fie ifin liebte. Sie
Situation fdjien itim neu; fie madjte ilm nadjbenflid), unb roaS ihm lange
mdjt paffirt roar — er roarb natürlid).
Qofepba hingegen fam gar nicht jum Denfen. ©ie lebte einjig ber
roomtigen ©egenroart unb forgte nidjt einen 2lugenblid um baS 9)forgen.
©er blaue .!0immet ladjte iljr tn'e öerj.
\50 Ol Stona in Stt3«bow«ö ((De(ierr.=Sdflefie n).
Helene beobadjtete fte unb SBalter mit roadjfenber Unruhe.
Da* roar fein fofette*, grajiöfeä Spiet, wie fte el liebte; e* bro^te
ein l)imme(ftürmenber Grnft ju werben, unb fte mufjte 2ttle* boran fefeen,
um ben lieben Sanbfrieben ju beroabren.
Sd»on roünfdjte fie febnlidjft SBalter* 3tbreife ^erbei, allein ber junge
■Kann fc^ien gefonnen, ba* ®nbe feiner £age in ber 33iHa abjuroarten.
©ine* 9iatf)mittag* erfebien Qofepb^a allein bei Helene, „©erb^otb b,at
ein neue* Sßferb befommen, ba* er jefet oerfud)t," erjagte fte. „@r will
fpäter Ijerüberreiten."
„2Ba* beginnen nur beute?" fragte SBalter. „'öefebten Sie 3)hmf
ober lawn tennis, ober finb Sie gegen $>§tc fonftige Weroolntbett für ba*
Stillftfcen eingenommen ?"
„3$ bin ju gar 9tid)t« aufgelegt," entgegnete .^ofepba.
„SBaö febtt Sbnen?" fragte ÜMter beforgt.
,,@igentlid) 9tid)t*. Stber idj bin fo unrubtg, beinabe forgentroll. 3d)
glaube, idj roar in ber legten 3tU $u luftig, nein — nidjt luftig, 511
fröblid)."
„2Ba* foll beim ba* für ein Unterfcbieb fein?" fragte Helene.
„3fdj tonn Dir ba* niebt erftäreu. Die £uftigfeit fann Gittern für
einige Stunben oon außen anfliegen, bie ^röblidbfeit fommt immer au*
ber liefe be* ©emütb*."
Da* roar einer jener 2lu*fprüd)e, bie SBalter an ber flehten $rau
fo feEir liebte; fie enthüllten bltfcartig ben grübelnben Sinn, ber ibr bei
aller fttnb(id)feit eigen blieb.
„©eben mir fpajieren," fdjlug Helene oor.
^ofepba ertjob fid). (5* roar ein trüber sJiad)inittag mit roarmer,
fdjroüler, gefättigter Suft. Sdjon fanfen bie erften gelben' Blätter oon ben
Säumen. „Sebnfücbtige Sdjroärmer, bie ben Dob nid)t erroarten fönnen,"
roie öelene fie nannte.
9J?an näberte fid) beut Sßatbe. 3llte ©idjen mit mäd)tigcn, fnorrigen
Stämmen umfäumten ben 2Beg.
ftein redjte* öefpräd) roollte fid) entfpinnen. Da fam ein Diener
Urnen nadjgeeilt unb bat bie ©näbige, für einige Slugenblicfe nad) &aufe
311 fommen. 9lur ungern »erlief? Helene ba* $aar unb oerfpradi, fo balo
al* möglid) jurüdmfebren.
SMter unb ^ofeptya Heften fid) auf einer SBanf nieber, um ju roarten.
^ftt^trocgen bätte Helene fid) md)t ju beeilen braueben; fie waren gar niebt
ungebuloig. Söalter fab bie junge jfrau oon ber Seite an. Sie tmg ein
roeifte* ftlcib, ba* in jarten SBcllenlinien fie umflof?. (Sr fomttc ben Slid
nid;t oon il)r lo*reif?en. Sie füllte eS unb errötbete über unb über.
Sßertuirrt neigte fie ben Dberförper leidit oor, |al* roollte fie Helene nad)«
fpaljen. (St mufite an fid) bnftett, um ber 'yerfudnmg ju roiberfteben, fid)
»or ibv nieoersuroerfen unb il)re #änbe, ibre Sippen, ibre ganjc roonnige
Hur 5»ei Deildjen.
151
©eftalt mit Reiften Muffen ju bebeden. Sßuftte er bod), fie würbe it)n
erfdjredt unb jornig jurütfroeifett, wie feljr fie ib,n aud) liebte, benn e«
träumte ifjre 9ieinf>eit doii einer fctjulblofen Siebe. Da fam ifjin ber
©ebanfe, roie balb er von if)r fdjeiben müffe, oielleidjt of»ne fie ein einsige«
5tfat an fein ^erj gebogen 51t tiaben, unb feine Setbenfdjaft wud)«.
„9lur nocf) wenige Tage, unb id) fct)e Sie oielleidjt nie wieber!"
lagt er plöfclid) mit 6ebenber Stimme.
Sie erfdnidt. Da« ©ntfefelidje, bie Debe ifjre* »erlaffenen Seben«
taudjt »or iljr auf. Sie ftel)t ftarr oor fid) t)in, bann, al« ob fie reben
wollte, wenbet fie ben Stopf, iljre 3lngen heften fid) mit einem wadifcnben
»lid auf ifjn, bod) fie fagt ü>iid)t«.
„Sie werben midi nidjt oergeffen, nidit wa^r?" fragt er.
Sie ift fef»r bleid) geworben, fief)t roieber oor fid) t)in, fdjüttelt ben
Äopf unb fagt: „9lie." Dann atfjmet fie tief unb will aufbringen.
Dod) fie »ermag e« nidjt. Sehnige 2trme galten fie umfd)lungen, unb
jugenbfrifdje, brennenbe Sippen preffen fid) auf bie iljren. ©ine Secunbe
gtebt fie ber SBomte nad), bie über fie b>reinflutf>et . . . Dann erfaftt fie
plöfclid) eine wilbe Sfagft, fie reift fidj lo« unb ffieljt wie befinnung«lo«
bem SBalbe su. @r if)r nad). 9J!it wenigen Säfcen l)at er fie crretdjt.
„3ofepfia!" jubelt er.
Da bringt ber Sd)all oon s}}ferbcf)ufen an ib> Dljr, unb im nädjften
3üt'genbttd fprengt ©erfjarb in rafenbem ©atopp ifinen entgegen. Qofepfia
b>t nur nod) 3eit, au« bem SBege ju fpringen. Die plöfelidje, blifcartige
Bewegung be« weiften bleibe« erfdjrecft ba« burd)gegangene ^ferb; e«
wirft fid) jur Seite unb fdileubert ben 9ietter au* bem Sattel. SDiit bem
ßopfe gegen einen Saumftamm anprallenb, ftürjt er 51t Üwben, inbeft
ba« fdmaubenbe 9ioft baoonjagt.
Da« 2llle« war in wenigen Secunben gefdjeb>n. ^ofeplja, nodi
jitternb »on ben ftüffen be* ©eliebten, fntet, if)rer Sinne faum mäd)tig,
oor bem leblofen ©atten unb fud)t ba« SBlut, ba« einer tiefen Äopfrounbe
entquillt, mit i^rem Dafdjentud) *u ftillen.
„@r ift tobt!" jammert fie.
SBalter erwibert fein SBort, er tjebt mit feiner ftiefenfraft ben $ßer=
wunbeten empor unb trägt ifin wie ein ftinb ber SBitla ju.
IV.
Helene »erlor feinen lugenbtid bie ©eifte*gegenmart, al« 9Balter ifjr
mit ber fdjredlidjen 93ürbe entgegen fam. Sie traf fofort alle nötigen
SJorfefn-ungen, lieft ben Äranfcn in iljr 3t"«"« betten unb fd)idte in bie
Ttädjfte Stabt nad) bem ärjt, wäljrenb £einrid) telegrapljifd) au* SBieit bie
fdjleunige 3tnfunft eine« ^ßrofeffor* erbat.
\Ö2 BT. Stona in StrjebonMfc (0ejJert.»5d|Ufien).
Sofeplja faf? ju einet 33ilbföule erftorrt an bem Saget beS Äranfen.
£aufenb nrirre ©ebanfen flogen tfjt butcf) ben Äopf; abgeriffene 9feime oon
Siebern, bie fie als 5Unb gehört, unb bie in feinem 3ufammenl)ang mft
bem atugenbtid ftanben. Klein, ©erfyarb burfte nicf)t fierBen; fo grof? fotmte
it»re ©dfmlb nidfjt fein! 6t mufjte if|r erfjalten bleiben, it»r unb intern
Äinbe; et mufjte gefunb werben! 3b, t ganjes übriges Seben follte eine
fdfjroeigenbe Abbitte fein:
©et fierbetgeljotte ärjt etflärte bie flaffenbe Slopfrounbe als unge=
fäfjrticf); ein Stopfen 33lut jebocfj, bet auS bem tinfen Dtyr gebtungen mar,
biefj ilm bie Sefürdfjtung auSfptedjen, bafj bie ©dfjäbelbecfe burdj ben fdbatfen
älnptall einen ©ptung befommen f»abe. 3ln eine Uebetfüfjtung beS Ätanfen
nacfj 2tttbotf fonnte nidf)t gebaut roetben.
9Jad6 fecfjS 6tunben ttaf bet Sßrofeffor aus SBien ein. @r fcfjlojj ftdj
bet ©iagnofe feines Gollegen an uub fajeidfjnete bie ©teile, roo bet muttjs
majjlidfje ©pmng ficfj befanb. ©ein 2lu3fprucfj lautete etnft, abet triebt
hoffnungslos. 3Bof)l fdfnoebte bet Patient augenblicfltdb. in 8ebenSgefaf>t,
abet et fonnte genefen; freilief) roar bie SKöglicfjfeit nicfjt auSgefcfjloffen,
bafü eine ©ef)itnetfa)uttetung bie übelften folgen nadf) nef» jiefjen fonnte.
9flIeS fnng »on bem 93etlauf bet nädjften £age ab.
9Jacf)bem er tnit bem orbinitenben 2lt3te eine genaue ^efjanbtungS*
roeife »eteinbart blatte, reifte bet ^ßtofeffot nacfj 2Bien jutücf. $ett »on
©rlacb, fcfjlof? fief) Ü)m an, objte Qofeplja roiebergefefjen $u b^aben. —
Sie 93tHa roar in tiefes ©döroeigen getaucht; man flüfterte nur, man
ging auf ben gufjfptfcen; eine ängftlidfje ©pamtung tag auf allen ©efidjtern.
.^etnrief) unb Helene beroiefen in biefen £agen 3ofepf)a eine fjingebungS*
trolle greunbfcfjaft.
©nbtidf) roar bet gefütcfjtete S'etmin abgelaufen: 0erf)atb3 3"ftanb
befferte fidb, unb 3ofepf)a atmete auf. 9teue Hoffnung erfüllte fie, unb mit
ber Hoffnung fam langfam unb jögentb — bie Erinnerung. SBie roeit
fortgefdfjeucfrte Ifögel feierten bie ©ebanfen an SBalter roiebet. 3>etgeblic^
fucfjte fie fein 33ttb jurüifjubrängen . . . 9luS itgenb einet gälte ifitee
#etjenS tauajte eS oor it)t auf. ©ie preßte bie £änbe an bie ©cbfäfen
unb fonnte es boef) niebt fjinbent, bafi eine füfce, feiige Erinnerung fie
burcfjglüljte.
SBie eine ftide, namenlofe ftreube tag es oft über itjt Stnttife fyn--
gegoffen. Deffnete ©erwarb in folgen Momenten bie 9lugen, ba faf) er fie
übettafajt an. ©0 roar fie ifmt noef) nie etfcfjienen, fo roeief), fo ttäumerifdb,
fo glüdftidfj. GS rührte ilm tief.
„Sie roeif?, baf3 id) gerettet bin," backte er. „SBie gut fie ift!"
3ofepf)a pflegte ifjn mit liebeooller ©orgfalt. ©ein 33eroufrtfein feierte
immer aufyaltenbet surücf. 3roat uerfanf et noefj bann unb roann in eine
9(rt 33ctäubung ober fprad) mit roeit geöffneten Ülugen oetrootrene ©inge,
bodE) beffette fief» fein 3uf'anD m^ ieoem ■Stage-
ITut 3»ei Detlefen.
\53
Salb madjte et fid) fcfiroere Sorroürfe barüber, baß er in baS friebltdie
Seben ber Wia eine foldje Störung gebraut, unb begehrte, nadj Slltborf
überführt 511 werben. 2ttS nton feinen SBünfdjen nid)t nachgeben wollte,
fteigerte fid) fein Verlangen 311 maßlofer .fteftigfeit.
Ser 2trjt t»ielt es für baS 3wetfmäßigfte, il)m ben SLUHen ju tlnm,
ba {einerlei ©efaljr meljr bornit »erbunben war.
So fuljr benn eines Borgens Sofeptja mit ifjrem (Satten, vom Soctor
geleitet, nad) 2lltborf.
Sie fyatte alle Urfadje, jufrieben 5U fein. Sie Befürchtungen ber
3lerjte waren grunbloS geblieben; als einige golge oon ©erljarbs ilranf-
fjeit blieb eine neiuöfe Jteijbarfeit surücf, bie fid) fonberbarer 2Beife nie
gegen feine grau richtete. 3Jfit it)r mar er gütig wie nie juuor. 9luS feinem
ganjeit SBefen fprad» Sanfbarfeit. SBemt fie fid) anflagte, burd) ibren
übereilten Sprung ©dmlb an feinem Sturj 511 fein, wiberfprad) er lebhaft.
& allein f»atte baS UngtücE berbeigefüfnt, weil er baS bnrd)gegangene
ipferb nietjt ju jfigeln gewußt . . . ©eine frühere ^üdftdjtslofigfeit unb
Strenge wid) einer milben 3ärttid)feit.
6r munberte fief» jefet, wie leid)t mit 3ofepf)a auSäufommen mar.
@tn wenig 9iad)fid)t, ein freunbticfyer ©lief, unb er erreichte mefir als ef)e*
malS mit einer glutf) oon sormgen 2Borten. —
Snjmifdjen mar ber föerbft gefommen, baS große 3JcaSfenfeft ber 9iatur.
Helene fanb bie bunte Scenerie in SBalb unb gelb reijenb; fie liefe aber
bod) bie Äoffer paefen, benn t»om Sanbtebeit rjattc fie gerabe genug. Sie
ertlärte &einrtd), baß fie bringenb einer (SrljolungSreife bebürfe, unb be=
ftimmte ifm, nadj einem mef)rroöd)entltd)en 2lufentf)alt in SBien mit tipe
über $ariS an bie 3lioiera ju geljen.
2ludj für ©erljarb mar eine Suftoeränberung geboten; ber SCrjt empfahl
iljm 3Trco.
So mürben benn Sd)loß unb SHlla ju gleicher 3eit von if)ren 33e*
roofmern »erlaffen. 9lur ^ofepfiaS £öd»terdjen, bie Keine ©Ife, blieb mit
ifjrcr Äinbcrfrau in 3lltborf jurütf, ba ifire Sebfjafttgfeit ©erwarb 51t fct»r
aufregte.
V.
■Sie erften Sage in 2lrco erfcf)ienen 3ofepl)a redit einfam. Sie fremben
Ü)?enfd)en ließen fie gleidjgiltig; fie feinte fid» gar ntctjt banadj, SBefannt*
fdjaften ju madjen.
häufig fdjrieb fie an Helene. „216er rote umflänblid) ift bod) biefe*
Schreiben," ftogte fie einmal. „33om £erjen in ben Äopf, in bie &anb,
in bie geber, aufs Rapier unb nodj immer uidt)t bei Sir!"
©in geft war es für fie, roenn öetenenS 9lntroort eintraf, grau
oon 3Öallb,eim roar eine routinirte SRrieff d^reiberitt ; fie mußte fid) ikU bem
©eifte beSjenigen an3itpaffen, bem fie fdjrieb — fie fouitte audj brieflich
Kort unb ©üb. LXXV. ?24. 11
Dt. Stona in Strjeboroitj (<Dejterr.\Sd}lef ten).
fofettiren, wenn es ber 3M)e lohnte. Dlxt 3ofept)a ptauberte fie heiter unb
wifcig unb crjätjltc von Sanb unb Seilten, bie fie fat). SBon ihren @rleb=
niffen erjä^tte fie 9iid)tS. 9iur eine 33emerfung tiefe auf fie fd)liefeen.
„Sßenn grauen bas Sewufetfein b>&en, ju gefallen, bann fagen fie,
bafe fie fid> üortrefflid) unterhalten. 3llfo: id) unterhatte mtd) föirigtid)!"
SineS £ageS follte ftofepha eine unerwartete Ueberrafdjung erleben.
2lls fie »on einem Spaäiergange nad) £aufe jurücffehrte, rief it)r ©erwarb
entgegen: „SRathe, wer in 2lrco angefommen ift!"
„«Helene!" rief ^ofepha, »on plö|ltdjer greube erfüllt.
• «Sehtaefdjoffen! ©n &err ift es, ein intereffantcr junger SKann. 9iun
— räthft $u'S nod) nid)t?"
„9tein, baS tarnt id) unmöglid) erraten," ftanimelte Sofepha. Den
SRamen, ber fid) ib> auf bie Sippen brängte, »ermod)te fie nid)t auSjufpredjen.
2J?it um fo größerer Seidjtigfeit tr)at eS ©erwarb. „$err uon ©rlad) ift
geftern angefommen. %<f) bin ihm foeben begegnet unb habe ihm gefagt, bafe
mir heute auf ber ^ßromenabe fein werben. 216er Du fd)einft ja gar nid)t
erfreut . . ."
„Da« ift roirflid) eine Ueberrafd)ung. 33letbt er lange t)iet?"
„Gr weife es nicht. ©S hängt x»on 9iad)rid)ten ab, bie er erroartet.
ÜDlad)' Did) nur rafd) bereit, Du fiehft etwas btafe aus . . . eS fehlt Dir
bod) 9Kd)tS?"
„9lid)t baS ©eringfte. 3m ©egentheil, id) fühle mid) fo wohl."
„(Sott fei Danf!"
3ofepb,a wanbte fid) ab, um ihre Bewegung ju »erbergen, unb ging
in ihr Bimmer.
Sie follte ihn mieberfehen! Äein Smtfd, nur um ihretnrillen mar
er gefommen.
SBiberftreitenbe ©mpfinbungen ftürmten auf fie ein. $n ben 3uf>et,
ber fie erfüllte, mifd)te fid) 2lngft, gurd)t uor ber 3ufunft. ©S war ja
jefct Stile«, 2llleS anbers geworben! ^früher, als ©erharb falt unb rücfücbtSs
los mit ihr war, überliefe fie fid) ofjne Veünnen ihren (Gefühlen; fie roufete
ja, bafe er nid)t nad» bem Penise ihres £erjenS fragte, wenn fie ihm mir
treu blieb, ^efct aber bewies er it>r mit jebem £age, wie theuer fie ihm
fei. Gr liebte fie, unb feine Siebe legte ihr Verpflichtungen auf. SBte
follte fie SBalter begegnen? Sie »ergrub ben .topf in ben £änben.
„33ift Du batb fertig?" fragte ©erharb aus bem ÜRebenjiimmer.
„©leid;, mein greunb," erroiberte fie.
Ginigc Minuten fpäter trat fie mit ihrem ©atten aus bem .{Saufe.
£>err »on (frlad) fam ihnen entgegen.
Sie begrüfeten fid) her.ilid) wie gute ©efannte; nur bie .§änbe bebten,
bie fie einanber reidjten.
Sftan fprad) uon gteichgittigeu Dingen, wm2lrco, »onSBten. ©erharb blieb
ptaubernb mit einem ^Mannten surüd, unb baS junge ißaar fdnitt allein weiter.
Xlttx 3»ei Oeildf en.
[55
3efct erft wagte äBalter, ^ofeplja coli in'ä Slntlüj 51t bticfen. $n feinen
2lugen Riegelte ftcf) bie ganse ftreube, fie wiebersufefjen. Sann glitt ein
©Ratten über feine 3üge. „Sie f)«ben eine fdjwere ftelt burdjgemac&t,"
fagte er in tiefer ^Bewegung.
„$a, e§ war furchtbar. @ine jener 3«^«/ bie ganje &>anblungen
in bem SHenfdjen fyeroorbringen."
6r falj fte forfdjenb an. „GS fdjetnt mirftidj, bafe Sie eritfter ge=
worben ftnb?"
„$inberi Sie? D, id) fann nodj gerabe fo fyerjlidj ladben, wie
früher."
„Unb id) wollte, idj fönnte Sie börcn ... wie früher. @3 war
fo fdjön!"
^ofepfia erfdjraf. 9tur um ©otteäroillen an feine genieinfamen Gr*
innerungen rühren. „SBirflidf)? $d) l)a^ fdjledjte« ©ebädjtnij?. 3$
fjabe 2We3 »ergeffen."
„3t(teö fragte er mit wetdber Stimme.
Sic tadjte; in ifjrcm Sadjen mar ein gelungener £on, ber if)n
»erlebte.
„Safür fjaben Sic etwas ÜJieues gelernt," fagte er.
„2BaS benn?"
„©in graufameä &td)en!"
Seine 9ütgen ftreiften fie mit einem bitteren 'Borwurf. Sie fünfte,
bafj er litt, unb fjatte nur ben einen SBunfd), tfjn 511 »erfölmen. 2f?it
ber alten £er$tid)feit rief fte au$: „Sinb Sie böfe? ^er$eil»en
Sie mir!"
„ÜDian ift nur 311 leid)t geneigt, ^l)nen ju oerjeiljen!" fagte er glücftid).
$n biefem 9lugenblicfe fyatte ©erwarb fie erreidjt. —
5ÖJef)rere £age »ergingen. SBalter wufjte niebt, mai er von A)ofepl)a
galten follte. Sie oermieb es, mit ifim allein ju fein; 9lllem, 10a* er
fagte, fud)te fie mit einer gesnmngenen $eiterfeit 511 begegnen, bie oft in
einem grellen äStbcrfprudj ju feinen Sorten ftanb. Qfyre bejauberube
9Jatärlid)feit mar perfd>wunben, unb, was er nie an ib> beobaditet: e3
ernmdjte eine faft neroöfc Sudjt in tfjr, ftd» in ben Strubel ber ©cfelligfeit
%ü ftürjen. Sic würbe batb ber SJttttelpunft eine* Greife*, ber fie
bewunberte.
©erljarb war nidit im ©eringften eiferfüdjttg; er freute fid) über
;3ofepf»a§ Heine Sriumpfje unb bradrte tt»r ein blinbes Vertrauen
entgegen.
Sßalter bagegen füllte alle Dualen ber Gnferfudjt. 93erfül)rertfd)er,
begefjrenswertber beim je erfdjien tfjrn ^ofepfta, unb bie Sef>nfud)t, fie in
feine Sinuc 51t fdjtiefien, bef)errfd)te feine Sinne mit übermächtiger ©eroalt.
Unb bod» gab e>3 2lugenblicfe, wo fein ©laube an fie erfdnittert war, unb
11*
{56 m. Stona in Strstbomit; (<Dejletr.'Sd)Uften).
er üc für falt unb f)erjlo$ f)iett. 2Bteberl)ott wollte er abreifen of>ne ein
2Bort be* 2tbfd)ieb$, aber er oermodrte es nid)t. Siebte Sie tfm? Satte
fie aufgehört, ilm ju lieben? ®en feinen grauenfenner »erließ ba§ fidlere
Urtfjeil, ba3 er in jebem attbent gatfe gefällt fyaben würbe. Seine Seiben*
fdjaft »erroirrte fein 2)enfen.
©ine$ 2tbenb$ fanb eine iJanjunterfiattung ftatt. $ofepl)a Ijatte iljr
©rfd)einen jugefagt; an ©erf»arb3 9trm betrat fie ben Saal. Sie mar
bleid), unb il)re Sippen umfpielte ein neroöfeä Sädjeln.
Sei if»rem Slnbtid frampfte fid) 2Balter$ .$erj jufammen. Seine
ßanb prefjte bie it)rc. $>ie junge grau erfdbraf unb wanbtc fid) »on Umt
ab einem &errn ju, ber fie um bie erfte £our bat.
2Balter3 33(tde folgten iljr mit lobernber dual. 9Jur einmal trafen
fie bie itjren, unb ein roübe* SBef) ergriff SofepbA als fie feine fdmterj«
erfüllten 3«ge fat). Sie flätte fid) an feine 93ruft werfen, willenlos all
bem Äampf entfagen unb ba$ Seben Eingeben mögen für eine Stunbe be£
©lüd*. ... 35a begegneten itire Slugen ©erwarb, ber freunblidj lädjelnb
ibr sunidte, unb fie gewann iljre Raffung wieber. 9iid)t um fie allein
tyanbelte cS fid), c§ galt ©erljarbs ^rieben, e3 galt il)r Äiub.
9118 wollte fie fid) betäuben, gab fie fid) an biefem Slbenb immer
leibenfdjaftttdjer bem £anje bin, unb auägclaffener benn je fdjtcn tb,re
Saune. 3Jtemanb Ijätte atmen fönnen, bafs hinter ber glänjenbcn 9Wa*fe
bie Herjweiflung fid) barg. •
SBnlter börte feinen 9lugenblid auf, fie ju beobad)ten. ©r tonnte
nid)t barau jweifeln, bafe fie fid) t-ortrefftid) unterhielt. 93on ben £bränen,
bie burd» itjr Sadjen silierten, merfte er 9lid)t$. (?3 erfaßte ifm plö|lid)
ber brennenbe 2Bunfd), mit tr)r ju fpredjen.
2Bäf)renb einer Sßaufe trat er auf fie ju. Sie füllte, baf? feine
9(ugen bie ibren fud)ten, unb if»r Slid wid) iljm aus. 25a3 mad)te itnt
rafenb. Gr neigte fid) ju ifir nieber unb flüfterte mit bebenber
Stimme: ,,^d) fiabe einft geglaubt, baf? Sie ein £erj haben, aber 2HIe£
be weift mir, wie febr id) midj täufd)te. Sie fpielen nur mit föerjen,
unb $b,tt ilofcttcrie ift barum raffinirter als jebe anbere, weil fie fdjroerer
ju burcftblicfen ift. $dj «ber l)abe fie burdbbltcft, gnäbige grau . . . feien
Sie beffen fidjer — unb . . . leben Sie wot»t für immer!"
Unb cf)e fie nod) bie Sraft fanb, ein ©ort ju erroibern, »erbeugte er
fid) unb »crlief3 fie.
2lm nädjften 9)forgen war er abgereift. sJliemanb wufjte woljin.
VI.
9Jad) einem fed)3wöd):ntlid)en 2lufentljalt in 9lrco feljrten ©crf»arb unb
3ofepl)a in if»re .öeimat jurüd. ©erwarb, oöllig wieber b,ergeftellt, war in
fröl)lid)fter Stimmimg. Sie fieine Glfe erquidfte feine WuBeftunben burd)
£lur jwet Detldjen.
ifir rofige« ©eplaubcr, unb SofepH bie forgfame, püitfttic^c 3ofepf)a gab
ityn nie roieber Urfad)e, umnutljig ju werben, ©eine Slugen rubren oft
mit innigem 23ot)tgefallen auf Ujrer jiertidien ©eftalt. 2ßie Inmmelweit
t)erfd)ieben ift bie $ofepf)a »on einft unb bie Sofeplja von fyeute! fagte er
fid) oft. ©afj aud) er ein 2lnberer geworben, barem badite er nidjt. (*r
märe uollfommen aufrieben gemefen, roenn nid)t ©ine« itjn befrembet Ijätte:
bie trübe (Stimmung, ber ^ofeplja fid) oon 3^tt 5u &it tjingab. Sie
fomtte olme jeben äufjern ©runb einfitbig, ja traurig werben. Still bliefte
fie bann oor fid) tjtn, unb wenn er fie anfprad», ba fd)ten e«, al« muffe
fie ifyre ©ebanfen erft an« weiter gerne f)jrbcif>olen, um iljm antworten ju
fönnen.
2Ba« it>r roof)t fehlen mod)te? SBergeben« jerbradi er fid) ben ftopf
barüber. ©ie Ginfamfeit, fagte er fid) enbtidj, ber Ijarte SBinter »erberben
iljre Saune. 2Jiit beut grityting unb mit Helene roirb ifire gröt»tid)fett
mieberfeb^ren. ©amit tröftete er fid).
©od) bie fatte Qal»re*jeit mar e« nid)t, bie ^ofepfya bebrüefte. Sie
franfte an einem anbem Seib. 3Jiit einem fdjrillen 2JHfeton war ber Sraum
itjreS &erjen« serfprungen; fie füllte fid) oerfannt, ber Süge angertagt von
bem ÜJlanne, um beffen mitten fie fo »iel gelitten, unb biefe« SBeroujjtfein
«erbitterte ir)r ba« Seben. Sie roar ja jufrieben mit bem ruhigen ©afein
an ©erwarb« Seite; ba« leibenftfgaftlidfje ©ebenen, ba« fie einft erfüllt,
roar erlofdjen; nur ben einen glütienben SBunfd) fonntc fie nid)t au«
tfjrer Seete bannen: bafj SBalter ibr ©ebäd)tnifj r>od^r)olte, rote fie e«
»erbiente.
Anfangs 2lprit ferjrten $einrid) unb Helene in ifire Scilla jturücf.
Helene befd)leunigte ifjre 9lnfunft 3ofepl>a 31t Siebe, beren Briefe
fie riefen.
i^ubetnb fd)lojfen fid) bie greunbhmen in bie 9lrmc.
„eigentlich fottte id) ©ir jürnen!" rief Helene, als bie beiben grauen
fid) jurüefgejogen Ratten, unb mpfte ^ofepfja ladjenb am Ofn\ ,,©u Ijaft
mir einen tneincr getreueften 3lnbeter geraubt — "
„m - ©ir?"
,,9iatürlid)! ©einen ©atten. ©laubft ©u, id) ^abe e« nid)t glcid)
gemerft, bajj er jefet nur 3lugen für ©id) b«t?"
Qofepba lächelte. ,,2ld) ja — er ift febr lieb unb gut mit mir — "
„SBarum fiebjt ©u aber bann befümmert au« ? 3* glaube gar, roir
fiaben Sorgen!"
,,3ld), Helene roenn ©u roüfeteft . . ."
„So beid)te ©ir ba« Seib »on ber Seele! 2\>05it bin id) benn ba,
wenn nid)t, um ©ir ju ratzen, ju Reifen?"
Unb 3ofepf»a begann ttjre ©efd)id)te. Sic fd)ilbcrte Sßalter« Stnfunft
in 2lrco, jebe« 2Bort, jeben 33lidf bi« ju bem legten bitteren SeberoobX
„Qefct roeijjt ©u, roarum id) fo traurig bin," fdjfojj fie. „2Betl id) eine
\58 Ilt Stona in 5tr3ebou>ttj (©efUtr.-Sdjtefien).
ebjltdbe grau bleiben wollte, hält er mich für eine herjlofe Äofette, unb
biefeS ©eumßtfein ift mir unerträglid)!"
„©ein ©enebmen mar eben banacb, ibn an $)ir irre werben ju laffen.
£>u hätteft ihm e^rlia) bie SBabrbett fagen foHen."
„£aju fanb ich nidht ben 2Jiutb/."
„D über 6ud) tugenbljafte grauen, bie ^br fo ftolj feib auf @ure
Störte unb bodj fo elenb in ©urer Sifyroäcbe! Unb maS nun?"
„S)aS frag' ich ©ich! ftannft £>u tfun nidbt fagen, rote 3ÜIeS ge*
fommen ift? Unb baß cö fo fomtnen mußte?"
„Dhin, mein ftinb, baS mußt $u fctbft thun."
„$<S) — aber rote?"
„3Ste?" roieberholte grübetnb Helene, ©ann fagte fie einfach,:
„Sdjreib' cS ihm. 9lid)\ in gorm eine* ©riefe*. Grjäbl' ibm ein SJcärcben.
©S mar einmal ein cinfameS grauenberj, baS febnte rieh nach Siebe '. ."
„3a, baS will id) tbun!" rief ^ofepbo, oon bem ©ebanfen bingeriffen,
mit (eudbtenben 9lugen. roitt ihm fchreibett, unb er rotrb midj »er«
ftehen. — "
Sdbon am näc&ften £age braute fie Helene ben ©rief. „.Qdj bitte
©ich, lies . . . 3ft es gut fo?"
$eteue überflog baS ©latt nnb fab bie greunbtn überrafcbt an. So
Biel ^artbeit, f° ©ollenbung batte fie ttjr nicht sugetraut. .Qofepba
erjähtte ein 2Mrcben oon ber jungen grau eines nicbt mehr jungen gifcberS,
bie fid) in einen fremben ©urfdben ocrliebt hatte. Dbne etwa* DlrgeS ju
beuten, gab fie fid) bem befctigenben Öefübl ber ^ugcnb bin, bie fid> an
3ugenb fdjlicßt. ©a fcblug im Sturm ber dachen beS gifdberS um,
.slameraben retteten ben ©rtrinfenbcn unb bradjten ihn erftarrt an'* Ufer,
©ei feinem 2tnblict erfebraf bie grau bie in bie Seele oor bem ©ebanten
au einen anberen Sturm, ber plöfeltcb hereinbrechen unb oom ©ater it/rcS
jUnbcS fie für immer trennen tonnte. So groß ihre Slngft, fo groß mar
ihr ^ubel, als ber öatte bie 3lugen auffdhtuc. Sie getobte fteb/in jener
Stunbe, U>r fölüd hinfort nur an feiner Seite ju fuchen. — SBocben »er*
gingen; ba fab fie ben ©urfchen roieber. Sie flob ihn, er aber rief ihr
graufame 2Borte ju, bie itjre ©rinnerung an ben fchulblofen 2Babn, ber fo
fchön unb fo füß mar, oergifteten, toeil fie fid) oon bemjenigen oerfannt fab,
beffen Sichtung fie oor jeber Sfoberen oerbiente. ^ofepba fdbloß mit ben
Korten: „®3 roaebfen roobt am ©onaujtranb oiel blaue ©eitdien. 9htr
jroei oon ihnen in baS betgefdbloffene ©ouoert gelegt, mürben einem grauen*
herjeu fagen, baB es oerftanben ift, einem .^erjen, ba« oiel gefämpft bat,
bis eS 51t jener Gntfagung fid) emporgerungen, bie in fid) felbft baS reinfte
©tüd einfcblief5t."
©as ßouoert, roeldjeS fie bem ©riefe beilegte, trug Helenen« 9tbrcffe.
(Snne 2Bod)e fpäter fuhr .^einrieb in bie Stabt Helene batte abgelebnt,
ihn ju begleiten. Sie lag in ihrer Ghaifelongue unb baebte an 3ofeP&««
Hur 3n>ei Deitdjeit. J59
$>a Köpfte es an bic £bür; ber bereintretenbe dienet brachte bie ein*
getroffenen SBrtefe.
Helene liefe fie flüchtig burd) bie ginger gleiten, ^löfelid) ftufete fie.
2Sa3 mar bas? ©in @ou»ert, fo leidet, als 06 e3 leer wäre. Sie t)ielt
e3 gegen baa Sicht. ^$a, bas waren fie, bie 33ettcben!
Sie flingette nnb befaßt, foglelcb einfpannen 5U laffen. ©ine halbe
Stunbe fpäter mar fie auf bem SBege nach 9lttborf.
Sie traf ^ofep^a #aUein oor bem .£aufe. „3cb bringe $)tr Sotfdbaft!"
flüfterte fie unb gab ihr ben ©rief.
„.Öelene!" rief Sofepha ntit einem 2luffd)rei unb brüefte ihn an fid).
Tann 30g fie bie greunbin in ftürmifdber Aufregung mit fid) fort in ihr
3immer. &ier riß fie bas Gouuert auf. Qmei Steildien, an ein ©pbeubtatt
gefnüpft, fielen ihr entgegen. .^aucbjenb brüefte fie bie Blumen an ihre
Sippen unb bebetfte fie mit Hüffen; ihr ganjeS SBefen offenbarte eine
namenlofe Seligfeit. Sacbenb unb roeinenb jugleid) fanf fie neben einem
Stuhl jit »oben.
„Sieb mich nidjt an!" bat fie. „Saf? midi, bis biefer (Sturm uorüber*
geljt. (Sx bat mich verftanben! D Wott, uüe glüdlicb bin ich!"
Helene ftanb inbeffen au bie Xbür gelehnt unb dürfte mit grofjett,
nieitgeöffneten Slugen auf bie greunbin. £>as tjattc fie nie empfunben!
2Sie arm fam fie fid) »or. Sie gebadete all ber untoürbigen Äofetterien,
all ber bunten 9lbenteuer, hinter benett nicht ein warmes ©efübl fid) ge=
borgen, unb fd)aubentb erfannte fie mit einem SWale bie ganje Debe unb
Secre ihres Sebent. 2Bas lag ihr an ben Seibenfchaften, bie fie erroerft.
DJur Siebe giebt ber Siebe Siterth. Sie hatte fo lange mit ^erjen gefpielt,
bis bie Siebe »erfpielt war.
„Xu Mft io ftumm," fagte Mepba unb blirfte auf. „^d) fomme ®ir
red)t fittbifd) »or, nid)t wabrV"
geleite fcbiittelte ernft ben Äopf. ;E>atm fagte fie leife: ,,3d) be*
neibe Tty."
IDolfgang £trcf}&acfj.
Port
Sltlfceb &toef3ri.
— Bresben. —
er titterarifdtje SRubrifeneifer unferer £age — übrigen* feine
fpectfifd) ittoberne Äranfbeit — pflegt tu ber Sieget mit jroei
Kategorien fid» ju bereifen, ©r tbeilt, roaS ba freuet unb fteudfjt
in ber SBelt ber Sitteratur, in bie beiben grofien ©ruppen ber „2tlten" unb
„jungen" ober ber lieben 2lbroed>felung falber audj in bie ber „Obealiften"
unb „SRealiften" unb begebt bamit ju ben taufenb gebfern, beren er bannt
fidj fd>ulbtg madjt, aueb ben taufenbunberften: tnbem er eine ganje, grofee
©ruppe uon Seuten einfadj ignorirt, bie roeber alt ftnb nodj jung, roeber
auäfdrttefjlid) ^bealiften, nod) unbebingte SRealtften, bie aber in bem litterarU
fdt)ett ßoncerte bodt) fo geroicfjtige ^ßarte fpielen, bafj man fie triebt über*
jeljen fann, obne bamit baS Sitteraturbilb ber 3cit gerabeju ju fälfdjen.
Zfoxt ^ugenbjabre fa^n in eine ^eriobe, wo biejenigen, bie all bie
„2llten" nochmals fo »iel x>crläftert unb begeifert mürben, im 3«ritf)e tt»rer
©eltung ftanben, unb roo ber beutfdje Sefer feine ©ötter fannte aufter
Unten; in ben 3lnfang ber fiebriger Safyxe, ber %otftt nad) bem Kriege,
bie jugteidj bie ^orjre einer großen, breit bafiinflutljenben liberalen Strömung
unb jenes »olf$roirtbfd)aftlid)en 2Iuffcfjrounge3 waren, ber in bem Ärad)
von 1878 nadnnals fein freilid» nidbt gerabe überrafdjenb fdbneffeS Gnbe
fanb. Der &egeliam$mu§, wenn audj im ©runbe längft flberrounben, roarf
bod) nod) feine legten, matt aufleud)tenben SBetlen, ber 2Jlaterialt$mu3:
ftreit war nod) nidjt »erfhtmmt, unb mäditig mürben r>or Mein bie ©eifter
burd) ^efftmiSmuS unb Darwinismus aufgerübrt, bie ibrem §öl)epunft jus
ftrebten.
iDolfgang Kirdfbadj. - —
\6\
Seine 3"9enbeinbrücfe wirb man fo leidjt nid)t lo3. Unb als ber
9taturaltömuS auffam unb alsbalb üppig in bie £alme fdjofe, ba fjattc
ein £l)eil aus jener ©ruppe fid) überbieS feine erften litterarifd)en ©poren
bereite »erbient. ©ie warfen fid) ber norwärts ftürmenben unb attju oft
über** 3iet f)inau3 fdjiefjenben Bewegung nidjt bltnbling« in bie 2lrme; fie
fknben i&r »ielmeljr fcf>on fritifd) gegenüber; aber ganj frcitit^ »ermodjten
fie es aud) nidjt, fidj ibrer ©inwirfung ju entjieljen. ©aju waren fie nodj
nidjt genug in fid) gefeftigt, nod) 5U unfertig, ju Diel nod) in ber ©ut*
wicflung begriffen. ©o entftanb eine eigenartige 2Hifd)ung in iljnen — Unb
ftdjer nidjt bie fdjledjtefte — , bie jene ©ruppe fc^arf fonberte »on ben an
ber bisherigen Äunftubung ftarr feft^attenben „Sitten" unb fie nidjt mtnber
ftarf audj fdjieb »on ben int aßeinfelig madjenben 9faturaliSmuS befangenen
unb alles Uebrige uerbammenben „jungen", bie, Äinber einer anberen,
weniger Ijiftorifdjen, weniger pl)Uofo»l)tfd)en unb faft mödjte icf> fagen,
weniger gebilbeten &e\t leid)ten Wersens ©ötter ftürjten, an bie jene Slnbern
ftd):r nie ju rübren gewagt Ratten, eine ef)rfurd)tS»olIe ©djeu oor iljnen,
baS ©rbt^eil ifjrer ^ugenbja^re, aHjutief nod) im ^erjen.
3u jener litterarifd)en ©ruppe, bie jwifdjen jwei SBelten fo redjt in
ber «Witte fteb,t, gehört aud) SBolfgang ftirc&badj. Gr ift 1857 in
Sonbon geboren, ©ein SBater, ein 9Jtaler unb begabter ©djüler SdjnorrS, »on
beffen fünftlerifd)en gäbigfeiten unter änberem aud) bie £e<fengemälbe in
bem 9tubenSfaate ber 2>reSbner ©alerie 3«upift geben, ftamntte aus
Bresben, war aber 1852 nad) Sonbon ausgemanbert, wo er eine junge,
geiftüolle 9^einlänberin f)etratl)ete, eine intime $reunbin ber grau SJionte*
fioreS, beS befannten ^8t)ilantb,ropen, ber in feinem eigenen £aufe fogar
bem jungen Sßaare bie &odjsett rüftete. 2BaS in Sonbon bamals an inter«
effanten SDeutfdjen fidj auffielt, ftanb auef) mit ftird)6ad)8 ©Itern in regem
Staffeln:; fo inSbefonbere baä (S&epaar Äinfel unb gerbinanb greiligratl);
Jtarl S3linb war ib,r £auSnadjbar, unb beffen burd) fein 33iSmar<fattentat
1866 ju fo trauriger 23erüfjmtl)eit gelangter ©oljn gerbinanb war beS
Meinen SBolfgang eifrigfter ©»telfamerab, big ÄirdjbadjS (Sltem fd)on 1860
wieber nad) ©reSben überftebelten. £ier ließen fie bem Änaben feinen
erften Unterrid)t angebenden, wie er f)ier im SKefentltdjen feine ganje wiffen=
fdjaftlidje 9luSbilbung überb^aupt erhielt, juerft in bem aud) über Bresben
InnauS eine* guten JJufeS fidj erfreuenben Straufe'fdjen Qnftitute, wo 2ltbert
HJlöfer, ber fid)er nidjt nad) ©ebüljr gefannte unb gewürbigte Snrifer, fein
&auptlef)rer war, unb bann nad) bem £obe ber SWntter unb nadjbem ber
SBater eine ©teile al8 ©irector ber ftunftafabemie in Gf)ile angenommen
f»atte, bie il)n fieben $abre lang »on ber Heimat unb feinen Äinbern ferne
f)telt, im 9ieuftäbter ©mnnafium bafelbft.
Sern greifen ^ermann ©rimm ift jüngft bae ©elbftbefenntnif) entfdblüpft,
ba§, was bunter bem 33eginn biefeS 3!ölirl)unbert* liege, ibn nid)t meb.r feft=
galten »ermöge. 311? jwängen bie »öm'g neränberten SebenSbebingungen
2Itfr«& Stoefjel in Dtesben.
auch ,u oölttg neuer ©ebanfenarbett, fo concentrire ftd£> oft' feine geiftige
£f)ätigfeit nur noch auf bie ©egentoart. 316er für eine jüngere ©eneration,
als bie, ber ©rimm angehört, ift biefe ©renje ju fern noch gerücft, unb
über ben ßrieg oon 1870 hinaus oermag nod) fautn ©troaS baS Qntereffe
unfereS litterarifcben 9Jeuroud)feS ju erregen. ftirchbad) jebod) hatte oon feinen
©ttern nidt)t nur bie Erinnerung an jenen großen greiheitsfturm, ber über
gan, ©uropa babin gebrauft roar, als Srbtbeit überfommen, auch oon ber
geiftigen Sttntofpbäre ber %tit mar ibm ein gut ©tücf baften geblieben, in
ber ja aud) nod) ein großer £heU berjenigen atbmete, bie feine Sebrer waren,
©er Srud» mit beut Realismus, mit ber fpecutatioen ?ßbiiofopbie hatte
fid), roenigftenS in ben Sletteren »on ihnen, nod) nicht oolljogen, unb maS
in ibnen noch tebenbig roar, tbeilte fid) naturgemäß auch ibren <5d)ülern
mit. 2lber bane&en fanben bocb aud) fdjon bie neu bie 3ett beroegenben
Sebren eines $)arroin unb Schopenhauer, eines Strauß unb Beuerbach
ibren (Singang in bie Schule, unb bejeicbnenb für ben 3^0^ faw*
sJ?eriobe ift es, bofj an bem ©ptnafium, auf beffen Sänfen ftirdbbacb faß,
ein naturroiffenfcbaftlicber 3Sanberoerein oon ben Schülern begründet rourbe,
bem (ich halb auch eine (Sitte aus anberen ©oinnaften anfcbloß. hieben
naturrotffenfcbaftlicben Grcurfionen in SteSbens l)errltd)e Umgebung Hefen
regelmäßig bann aud) SSorträge ber ÜJtttglieber, in benen man, oon ben
3caturroiffenfd)aften auSgcbenb, bem Urgrunb aller Tinge in feiner Söeife
uacbäufpüren fid) bemühte. „Alraft unb Stoff", bie „SSelt als Sßitle unb
23orftettung", Tarroin, .öäcfel unb .öartmann, -Wichts roar biefen jungen
Seuten fremb, unb mit SBebntMtb blicft man jenem naturrotffenfcbaftlidben
Sßanberoerein roiffenSburftiger Jünglinge gegenüber auf unfere beutige
©mnnafialjugenb, bie sunt großen Steile oon allen biefen fingen 9tid)tS
ober fjerjlidj roenig nur roeiß, bafür aber im Jiefcroelieutenant unb <£orpS=
ftubenten als ftbeat gar oielfad) einem ©igerl= unb Strebertbnm nacheifert,
oon bem bie ^ugcnb oon efiebem SRid&tS mußte.
Sugleid) aber jeitigte bie nachhaltige unb feineSroegS nur fportSmäfeig
betriebene 23efcbäftigung mit fo ernften Singen bei oielen oon jenen jungen
Seuten eine geiftige frühreife, bie in mancherlei felbftftänbigen 93erfucben
nach biefer ober jener ^Richtung bin fid) mauifeftirte. ^n ßtrebbaeb brängte
fie nach ber Seite beS poetifeben Schaffens, unb neben jabllofen bid^terif^en
Sdhülerarbeiten, bie ben (Stempel oon foleben unoerfennbar auf ber Stirn
tragen, finbet fid) bod) fchon auch SHancbeS, roas roeit über bie fmbltdjen
©eh' unb Steboerfucbe bes bichtenben ©nmnafiaften bJnauSragt. ®o
ftammt bie in feinen „2luSgeroäblteu ©ebiebten"*) enthaltene 33atlabe
„Stranbräuber" aus jener 3«t, fo bas Trauerfpiel: „Sginbarb unb
Gtmua", bas ber Slutor jebod) erft bemttädift, in oöllig neuer Bearbeitung
freilid), erfdjeinen (äffen roirb; fo roar oor 9lllem aud) baS erfte 33ucb, mit
*) fitipjifl, SBitljflm ftritbricfi, 18S3.
iVolfgang Kird)ba<^.
\G3
bem stircbbadj als SdjrtftfteHer »or bct Deffenttidjfett bebutirte, feine fdjon
1878 erfd)ieuenen „üRärdjen"*), von Sfafang bis ju (Snbe auf bem
©mmtafium gefdjrieben.
©in ftarfeS latent fpricfjt aus biefen feinen poetifrfjeu ©rftlingcu, eine
üppig nmrfjernbe ^Dicfiterpfjantafie, ein pf)Uofopf)ifd)er £ieffinn, bet baS
Baubergeroanb ber SDJärdjenform nur lofe oft fid) um bie Sdmltern l)ängt,
unb eine feltene gätjigfeit, felbft foldje ©rfdjeinungen unfereS mobernen
Sebent, bie man geroöfmlidj fonft als aller s^oefie feinblid) bjnjuftellen
pflegt, für feine ®idjtung ficjj nufebar ju machen; f)erauSsuf)olen, was an
poettfdjem Sterne audj in Urnen enthalten ift, unb bamit einen ffiirflidjfeits=
jug, einen $audj mobenten SebenS in jene ©idjtungSart ju bringen, bie
au* bem iReirfie ber ^«ntafie allein jiimeift fonft bod» nur ifjre SBurjeln
nät»rt; Stile« nur nicfjt bie fjelle Stimme beS Stüters, ber aus einem un=
reifen Slnabengefidjt bamals nodj in bie SBelt blicfte, als er feine „9Kärdjen"
fd)rieb.
Dafür ift es ber naturroiffenfdjaftticfie Söanberoerein, beffen Spuren
beutticb. erfenn6ar, nid>t nur burdj biefeS Surf) allein, fonbern faft burdj
Äircfjbadjs gefammte bidjterifdje ^robuction fiinburdj firfj »erfolgen laffen.
ditxn äußerlid) betrautet frfjon, fpielt ber 9laturforfrfier, ber Sammler, ber
ben ©rbbau nadj irgenb einer naturnnffenfdjaftlidben 5Dierfroürbigfeit buraV
ftöbernbe ©eletnte in 5lird)badjS SBerfen eine große sJ?oHe; unterlief» ift es
bie aus feinen, aucb fpäter fortgefefcten naturroiffenfdjaftlidjen Stubien ge=
monnene SBettanfdjauung, ber pbUofopfjifdlje ttntergrunb fojufagen, unb oft
aud» bie HJtetljobe ber ^aturroiffenftfmft, bereit 2ßdlenfef)lag faft aus jeber
feiner Arbeiten mebr ober minber beutticb, an unfer Dfjr fcblägt. 2öaS
naturaliftifdb an ÄtrdjbadjS fünftlerifdjem Schaffen genannt werben fann,
räljrt au« biefer Duelle. 2lber eS ift barin nur enthalten, roie ein ftarfer
Ginfdjtag in ein im Uebrigen ganj anberS geartetes Öeroebe, beffen Structur
bie gute Srfjule unferer flaffifrfjen Sttfjterperiobe nur ju beuttief) Der*
rättj. tiefer ©infdjtag wirb größer in ber $eit, uarfjbem ßird)bad) baS
©Humanuni üertaffen unb au* ber immerhin burdj bie Sdjule im 2Befent;
licfjen beftimmten ©eifteSroelt hinausgetreten mar in eine anbere, in ber
eS mädjttg eben ju gälten anfing, unb roo aUjufdjriHe Trompetenftößc ber
erften titterarifdjen 9teuolutionäre gerabe jum 9tnfturm riefen gegen bie in
ausgefahrenen ©teifen einer immer größer toerbenben 5Berflad»ung entgegen»
gefjenbe fogenannte ibealiftifdje Dichtung. ®enn er mar jung, wie bie
.^eerrufer alle ber neuen, tmlbauffdjäumenben SBeroegung, unb if)r ©inftuß
marfjte fid) umfo ftarfer auf ihn geltenb, je mehr er in perfönlidje 33e=
rüfjrung mit ihnen trat. So mar, als Gonrab feine „©efeflfdjaft" in
9JMindjen begrünbete, auch Äirdibarf) mit bei bem „lebhaften ^ßlänflergefedfjt
gegen genrtffe nertjocfte 3uftänbe ber beutfdfjen Sitteratur", baS aus biefer
*) Stipjig, SBreitfopf & Spartet.
2Jlfrtb 5toe§tl in Dresbert.
3eitfd)rtft ^et eröffnet rourbe. freilich nur fo lange es ein SßtänHergefecbt
blieb. 211s ober in langen unb erbitterten kämpfen bann ein ruber 2cm
auf ©eite ber »orroärtsftürmenben Qugenb etniureifjen begann, ba mar
Ätrcl)6ocr) nierjt mehr unter jenen „Stümpern", bie „ben eblen, alten Soiner
felbft als grasgrünen Anfänger ju bejeiebnen" fid) erbreifteten. Sie
©Reibung roarb reinlich sratfeben ihm unb ibnen »offjogen. Äircbbacb batte
genug an äffen ben „Variier ©Dreiern" unb mef»r nocb an tbren
„beulten 9lad)rebnem". 9Ktt fc^arfer ftltnge siebt er jefet gegen biejenigen
felbft ju gelbe, in beren Sager er »or ßurjem noch geroeilt blatte, unb ihre
^rrtbümer unb opfert nrieber ben alten ©öttern, bie gänjlid) freilich nie=
mal« aus feinem Serjen »erbrängt waren, felbft ju jener $eit uid)t, ba er
anfd)einenb ber neuen Sebre eifrigfter SCbcpt geroefen.
3lun roiff ibm auch bie einfettige 2luffaffung ber SHMffenfcbaft als
SRaturroiffenfcbaft niebt ganj mehr besagen, er lieft roieber fteifng Segel
unb benennt fiel) als einen SBerebrer feiner ^bttofopbie. 2Iber er »erfällt
bod) auch roieber niebt in baS anbere Grtrem, in tbörtebtem Uebereifer baS
$inb mit bem 93abe ju »erfd)ütten. (Sr ift nid)t blinb bafür, baf? bie
beutfebe Sitteratur aflmäblicb ju einer grauenlitteratur fierabgefunfen mar,
in roeld)er ber nad) beroäbrten SRecepten immer »cm SWeuem roieber ange*
fertigte gamilienblattroman eine faft unumfd)ränftc, aber 2lffeS, nur feine
fegenbringenbe Serrfcbaft übte, unb er beflagt es, baf? es fo geworben.
„Selber roeif; td)," fagte er, „bafj in 35eutfd)lanb gegenroärtig gar »icle
SJeänner »on ibren grauen bie poetifd)e Uiabrung fid) »orfd)reiben laffen;
ja, fie betrachten bie 2Birfung eines ÄunftrocrfeS auf ibre grauen womöglich
als baS äftbetifebe Kriterium ber ©adje. £aS ift eine ^tbatfacbe, unb
mit biefer SCbatfacbe abe Siftorienmalerei in Äunft unb 25icbtung! 9lbe
©bafefpeare, abe ©oetbe unb alle Äunft, bie al fresoo malt!" Unb bei
einer anberen ©elegenbeit, roo er eintritt für baS SRedjt beS ÄünftlerS, fid)
feine ©toffe 5U boten, roober es ibm beliebe, ein j)iecbt, baS er burch
Gliquen* unb ©djulenroeiS^eit fid) nid)t febmätern laffen roiff, fagt er:
„®ie SDlifjacbtung beS gefcbicbtlicben StomaneS, roelcbe man neuerbingS mit
einer geroiffen tt)cc-äftr)etifcfteit Itornebmtbuerei betreibt, ift gerabe fo »iel
roertb, roie im anbern Sager bie gefliffentlicbe Socbmütbigfeit, mit ber man
bie SRobernen unb 9Jtobernften für feinen ©(büß Sßuloer roertb, erflärt."
ßr hingegen roeifj red)t roobl, roaS an ben -Kobernen unb SBiobernften aud)
©uteS ift, su fcbäfcen, unb mebr als einmal greift er beShalb nach bem
@cbiffcben, baS mobernen unb mobernften SebenS fräftige gäben genug
bann in feine Sichtung mit »erroebt.
Sie Sarfteffung ber fünfttcrifeben ©utroicflung ÄircbbacbS ift bto ber
©ebitberung feines SebenSgangeS »orangeeilt. 9Jocb roäbrenb Äircbbacb auf
bein ©tmtnafium faf?, roar fein SBater aus Gbile betmgefebrt. @r fanb
feine beiben ©ohne — ber ©ruber beS Siebter« ift ber befannte 9}(und)ener
3Mer gleichen -WarnenS — berangeroaebfen unb 511 ben fd)önften Soffnungen
HMfgang Kirdfbad}.
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berechtigenb. Stttein es mar il)m nicht lange oergömrt, ftdj ihrer erfreuen,
unb nur furje 3"* \d)on, nacfjbem er ben Soben beS igeimattanbeS bt-
treten, rourbe er ben ©einigen roieberum entriffen. GS mar nicht oiel,
roaS nach feinem Tobe surücfgeblieben, unb bie trüber roaren in ber
£auptfadf)e nun auf fid) felbft angeroiefen, auf ihre eigenen Gräfte unb
gäf>igfeiten. Unfer Sinter bejog, nadjbem er feine ©omnafialftubien be=
enbigt, bie Unioerfität Seipjig unb fyörte hier ein paar ©emefter lang
hiftorifdfje unb philofopbifdje SSorlefungen, roemt aud) ohne rechte innerliche
•öefriebigung. 2luf ber einen «Seite waren es allerlei bid^terifd^e Richte
unb Arbeiten, roeldf)e ihn 5U fehr befchäftigten unb erfüllten, um für Biel
2lnbereS baneben Staum ju laffen; mehr aber war es noch eine 5teif»e
äufjerer Momente, meiere ben SBunfdj in ihm jeitigen mujjten, raf^er ju
einer felbftftänbigen Stellung 5U gelangen, als bie* auf ben ©dmeden:
roegen einer auf ein langwieriges UnioerfitätSftubium fid) grünbenben
Garriöre möglich geroefen wäre. GS roaren bieS feine bef<f)ränften ftnan=
Stellen SDWttel unb ein SSerlöbnife, baS er fd»on als Primaner eingegangen
mar, unb baS tfm übermächtig nun nad) einer Bereinigung mit ber ge=
liebten Sraut brängte. ©0 roarb eine quälenbe Unruhe unb Ungebulb in
ib^m erjeugt, bie Um immer ftärfer oon feinen Unioerfitätsftubien abjog
unb immer mehr ber Sitteratur juführte. ®enn er fal) barin, baf? er ganj
fiel) tfjr roibmetc, bie einige SRögltchfeit, rafd) fic^ auf eigene güfie 51t
ftellen, unb tnand)erlei Grfolge, bie er, fo mit feinem Vornan „©aloator
9iofa", frf)on errungen, ermutigten itin ju bem Stritte, baS S3rotftubium
ganj an ben Magel ju hängen. Trotjbem roaren es fdiroere innere Ääinpfe,
bie er burdjlebte, ehe er 511 bem entfeheibenben «Schritte fid) entfcfjlofj.
Slrge 3wctfel plagten Um, ob fein Talent auch ftarf genug ftd) erroeifen
mürbe, um über bie böfen Tage, bie burdj bie %aab nad) einer Griffen?
it)tn unä«)cifelf»aft nod) beoorftanben, tljm f)inroegäut)elfen, bis er für? ent-
fchloffen enblirf) bie ©cfiiffe hinter fid) oerbrannte, Seipjig unb ber Um=
»erfität ben Dtücfen feb^rte, nach üDlünchen überfiebelte unb fid) bort, noch
nicht sroeiunbäroaitsig 3al»re alt, oerheirathete.
ÜHeun 3af)re lang blieb er, mit einer einjigen größeren Unterbrechung
oon faft einem ftafyte, baS er in Italien jubradite, in ÜKünd)en, unb faft
mit allen bort lebenben @d)riftftettem, fo mit &e«fe, Singg, ©reif, ©roffe,
gulba, ©tieler, Gonrab, SBeltrid) u. 31. trat er nad) unb nad) in perfönlicfien
2?erfebr.
Sie 9Jlünd)uer Qa^re roaren für .Uirdjbach mehr bie 3ahre einer
innerlichen Gntroidlung, mehr bie eines geiftigen 3luSreifenS, als bie ^aljre
einer reichen unb bebeutfameu bichterifchen 5ßrobuctiou. SBaS in ber 3*it
gäfjrte, mufjte aud) in ihm fid) erft noch Koten. 9Zach feinen erften
fchöpferifchen Slnläufen ftanb ilnn jeber SBeg offen, ©r fomtte nach redhts
eben fo gut gehen, roie nadh linfs. 2lber er roar boch ein oiel ju philo=
fophifcher ßopf, um fid) bei ber Dichtung, bie er ju nehmeit hatte, 00m
\66 aifrtb Stoefjel in Dtesbett.
3ufatt allein nur beftimmen ju taffen. @r mußte ben neuen Theorien erft
auf ben ©runb feben, fid) mit ibnen auSeinanberfefeen, unb aud) ben alten
SKaln-betten nochmals tn'S ©efidit leudjten, ob fie jtd) audj als ecbt nod)
emriefen, eöe er fidj entfcbteb.
Qn einer SRetye non 2luffä|en, bie gefammett unb mit einigem 3lnberen
oereint unter bem Titel „Gin SebenSbud)"*) erfd)ienen finb, bat er bieS
aud) getljan. «Sie jeugen alle oon einer großen 33etefenf)eit unb oon ein'
gebenbften ftenntniffen auf mannigfachen (Gebieten feitenS ttjreS SBerfafferS,
beffen geiftigeS SRüftjcug atterbtngS ein ganj anbereS ift, als bas fo mancher
jüngerer 9lutoren, bie mit erftaunlid) leichtem ©epäd in biefer öinficbt oft
üjreS SSegeS roanbeln. 3tber fie jeigen juroetlen aud) einen fpintifirenben
©eift, nrie er fo nieten feiner fädjfifdjen SanbSleute eigen ift, einen bobrenben
Tieffinn, ber fid) in Sacfgaffen »errennen fann, ohne eigenfinnigerwetfe
einen 2tuSn>eg barauS aud) nur jänben 51t motten.
3ttö eine foldje Sadgaffe motten uns 5. 33. ÄircbbadjS Theorien über
ben SBerS erfdjexnen, ben er als bie nratire realifttfd»e §orm ber Tidrtung
im ©egenfaöe jur $rofa preift, bie „rein als äußerlidbe gorm eine burdwuS
unbtdjterifdje, unpoetifd)e gorm" fein foff, niemals im ©tanbe, eine poetifdje
gorm roerben ju fönnen. 2l(Ie ^rofafcbrtftftetter unb felbft Tutoren, mie
TidenS, Retter unb 3ola, finb ihm benmad» im gemiffen ©inn feine roirf=
lidjen ©idjter, unb nur bie „£albbrüber" ber eigentlidjen Sßoeten.
(SS ift erftaunlid), roeldjen Scbarfftnn ßirdjbadj aufroenbet, um eine
folcbe Theorie ju ftüfcen, für bie er immer roieber neue ©riinbe in'S Treffen
ju führen meiß. 3«erft ift ibm ber SSerS fdbon beSbalb bie raabre realiftifdje
^orm ber Tidbtung, meil bie üttatur felbft in biefer realtftifd)en ^omrbntbmifd)
arbeitet unb ihre ftraftleiftungen bewältigt. T>ann aber erfdjetnt ü)m bie
Lebensart, fein 9Kenfd) rebe in Herfen, fein (Sinroanb. „T>enn es rebet
erft recbt fein SRenfdb non 9totur in ^Srofa. ®aS, roaS mir Sßrofa nennen,
ift eine febr mübfam errungene ©enfform, rocld)e mir Sitte erft baben erlernen
muffen . . . Tie $rofa ift beSbalb feine reatifrifdbe Jorm, fonbern eine
abftracte."
3lber memt bie ganse 9totur aud) auSfcbließlidj nur in SJlbntbmen
fprädje, roaS fie, nebenbei gefagt, aber feineSroegS tbut, unb idj erinnere
in biefer öinfiebt nur an ben SBinb, ber in ben unregelmäßigften unb un-
rbi)tbmifd)fteu Stößen suroeilen bodb fid) austobt — bie $rofa bliebe bod)
bie realiftifebere ^orm ber Ticbtung, fo lange bie 3J?enfdben nicht in SSerfen
reben; roofern man unter einer mebr ober minber realiftifdien ^idjtung nur
eine foldie nerftebt, bie in mefir ober minber getreuer SSeife ba5 ©üb be>5
im'rflidjen SebenS in ber ^idjtung fimftterifcb toiberfpiegelt. Unb es rebet
fein 3Jienfdj in Herfen. Selbft roenn man bie Äird)bad)'fdbe 9lnfid)t gelten
laffen mitt, baß bie $rofa, meil fie fid) ber fogenaimten ©imtar in ibrer
*) S. Gfttermann, XrfSben.
tt»olfgang Kirdjbadj. {Cu
ausgebildeten gorm bebtent, eine abfttacte ©enfform fei, bie wir erft müt)fam
alle t)aben erlernen muffen, bann ift biefe müljfam erlernte, abftracte ^enfe
form bod) bie reattftifdjere gönn, roctt bie SRenfdjen it)rer fid£> bebtenen
unb ntd)t ber urfprünglidien gorm beS 23erfeS. 2tber märe bann nid)t bie
atlerurfprüngtid)fte gönn sugleid) bie realiftifdjfte, unb mar biefe aller:
urfprüngltdrfte gorm wirflid) ber 23erS? Unb bann: ©pred)en bie gifd)er
an ber "Jiorbfee ober bie ^otjfnedjte in ben baoerifdien SBergen etroa in
funftooll gebauten ^ierioben, ober mit einem größeren fptaftifdten 2(pparate,
als aud) ber 58er* it)n nid)t entbehren fann? 316er fpred)en fie beStialb
in 33erfen? Unb fdjeudit ber 2}erS wirfltd), wie ßird)bad) an einer
anberen ©teile wteber meint, bie Grinnerung an jene banale SBir£lid»feit
hinweg, bie in einem Stüde roie feinem „©orbon $afd)a" j. 33. ftörenb
fonft es uns jum Seroufjtfein bräd)te, bajj ©orbon unb ber 5Diat)bi ja
nidjt beutfd), fonbern englifd) refp. arabifd) gefprodjen l)abcn? Unb tl)äte
er es, märe er bann roieber realtftifd)er, als bie ^ßrofa, ba bod) ber
realiftifdje Effect, bafj man nämlid) jene fogenannten „pf)ilologtfd)en liebem
gebanfen" über ben 23erS oergeffen foll, nur burd) ben SBcr^idjt auf bie 23or*
flellung erjielt würbe, als märe es ein ©tüd rotrflidjen Sebent, roaS fid)
ba »or unferen 3lugen abfpielt?
9lber roie es ^Jrofa genug giebt, bie unrealiftifd) ift im l)öd)ften ©rabe,
fo t)aben roir aud) "Wer je in $üHe, bie reattftifd)er rotrfen als mandje
Sßrofa, unb es wirb 2llleS nur barauf anfommen, roie ^rofa unb 23erS ge«
fymbt)abt werben, ©en fanatifdjen ^Brofaoerfünbem, benen jeber 23er§ wie
ein SSerbredjen gegen bie roabre ^oefie erfdieint, ift Äird)bad) mit 3{cd)t
entgegengetreten, mit Unredjt aber ift er umgefeljrt wieber felbft jum fanati=
fdjen 23erS»erfünber geworben, ber feine ©öfter gelten laffen will, aiifjer
bem 9tlwtl)muS, bem er meines 33ebünfenS fogar eines feiner SBerfe, baS
£rauerfpiel „2>er Ingenieur"*) ä^nt Dpfer gebraut l)at. %n feiner ur-
fprüngltd)en Sßrofafaffung l)at baS ©tüd in 2Jtünd)en reid)en 33eifall fid)
errungen; in feiner Umarbeitung in Herfen will es mir faft als bie
fdjwädjfte oon ßird)bad)S Arbeiten erfd)einen, unb ganj beutlid) fann
man an met)r als einer ©teile es erfefjen, baf? oft nichts 2lnbereS bie
SBirfung ber 3)idiiung beeinträditigt, als ber sl*erS alfein. 5>lag man eben
Imnbert ÜDial aud) bem 33erS bie 33ered)tigung 5iigeftel)en, für jeben be-
liebigen ©toff angeroanbt p werben; es wirb immer bod) £t)cmata geben,
bie meljr für eine ^Srofabetjanblung fid) eignen, als für eine foldie in
93erfen, £t)emata, bei benen bie ooüenbctfte 3Jleifterjd)aft beS SßerSs
bidjterS bie gleite SBirfung ju erbeten im ©tanbc ift, bie bem aud) weit
weniger begabten $rofafd>riftfteüer 511 erreichen ganj mül)eloS gelingt. Gin
foldjeS S|ema ift ber SBorwurf beS Ingenieurs jweifelloS, unb ber 93erS
ftfet il)m bat)er aud) nur wie ein getiet)enes ©eroanb, baS ibn brüdt unb
*) 35re8ben, 2. ®f)termaiin.
\C,8
Jllfreb Stoegel in Bresben.
beengt an allen Gden unb ©nben unb i&n an jebet freien 93eroegung
Ijinbert.
ÜWit bem „Ingenieur" fajliefjt gleid)jeutg bie erfte ^ßeriobe »on
ftird)bad)S fünftlerifdjem ©d)affen, in ber außer ben bereits angeführten
Serien nod) bie jroeibänbige 9to»elIenfammlung „Rinber beS 9fleid)S", ein
SBanb „2luSgeroä1jlte ©ebid)te", foroie baS £>rama „$er 3Wenfd)enfemter," *)
entftanben finb. GS war bieS, roie bereits ermähnt, mefjr bie $Periobe
einer mnerltd)en Gntroidlung eines gelingen ©idjauSreifenS, 2Bad)fen3
unb SBerbenS, als bie einer reid)en unb bebeutfamen bid)terifd)en Sßro«
buction, unb fo finbct fid) naturgemäß »tet ungegofirener 2Roft nod) in
bem bamals ©efd)affenen; baneben aber freilid) aud) gar 3J?and)eS, baS
man mit ju bem SJeften jälilen muß, roaS Äird)bad) überhaupt b,er»or«
gebrad)t.
Wt bem im leiten ^abje feines 3Jfünd)ner 3luf enthalt eS gefdjriebenen
Sioman „£>er SBeltfaljrer**") beginnt bann eine neue ^eriobe feine«
bid)terifd)en <Sd)affenS. $>er ÜJioft (jat auSgegofiren. GS ift fein £aftenber,
©ud)enber meljr, ber uns aus ben in rafd)em 9lufeinanber fid) nun
folgenben 2Berten entgegentritt; fonbem eine fertige, gereifte Siebter*
pbnfiognomie. ©ein „SBeltfafjrer" aber bilbet md)t nur äufjerlid) ben Slb^
fd)iuf? feiner 2)iünd)ner %ahxe, er siebt aud) gleid)fam bie (Summe aus
allen ben Ginbrüden, bie ber £id)ter in einer fo langen Beitperiobe
empfangen, unb er geftaltet fid) su einer grünblid)en 2tbred)mmg mit bem
9Künd)ner Naturalismus unb beffen Ijauptfädrtidjften SBertretem, con benen
einjetne, mef>r ober minber beutlid) porträtirt, in bem 2ßerfe felbft er«
fd)einen. Mein er ift beSroegen nod) lange nid)t etwa eine ^utbigung für
eine ftunftübung, bie, roie $ird)bad) fc^r roobl mußte, in Gonoentionen afl«
mäfittd) erftarrt roar. %m ©egentljeil; er ift »ielmeb,r ein Sßroteft gegen
bie b,erfömmlid)e 3lnfd)auting »on bem, roaS poetifd) fein fott, unb roaS
nid)t. „GS ift bod) eine l)errlid)e 3ett, in ber mir leben," ruft Äonrab
^ermann, ein junger naturaliftifdjer Sortier unb eine ber am beften ge=
5eid)neten gigiiren aus bem „Sßeltfafirer" aus, „nid)t baS 3eitalter Römers,
ja, nid)t baS 3^itatter QtoetbeS mödjte id) um bie lebenbige, gefteigerte
s4>oeüc geben, roeld)e uns gerabe ber tcd)nifd)e gortfd)ritt gebrad)t hat. . . .
Sieln't $)u, bie 9Wür)lc, baS ^Küb^lenrab, baS erfdjeint ^ebermann poetifd). . . .
So roirb eine 3^it fomtnen, roo man aud) baS Gifenbafmrab als bie trau»
lidjfte ^oefie bei'tngt, ja, mir fielen fd)on jur Hälfte mitten in biefer 3«t.
Senn aud) bie 9JJül)le unb baS 2)?ühlenrab ift ja nur eine uralte 3Kafd)ine;
follten ba nid)t unfre unenblidj oerooHfommneten ®ampfmafd)inen,
eleftrifd)en 9J?afd)inen aud) unenblid) bid)terifd)er fein? GS ift nur ©e*
roöbnung. Sdjön unb poetifd) roirb bie 2Belt erft 5U ber 3^tt roerben, ba
*) ©ammtlicfi erfdjienen bei S. ©Ijlermann, Bresben.
**) SrtBben, <g. «Pierfon.
EDolfgang Ktrdjbad;.
169
man 2llle3 in s3)?afd)inen unb 9)Jed)ani3men aufgctöft f)at. . . . ®a§ ift
unfre neue ^oefie! ®ie roollen nrir »erfünben; bie roiff td) (Sud) bringen!"
Sie SBege biefer neuen ^oefie mar $ird)badj freilid) fd)on in feinem
©rftlingäroerfe, in ben „SJiärdjen" geroanbelt; aber jefct »ermod)te er fie
bod) mit einer ganj anberen, gereifteren $ef)errfd)ung ber fünftlerifdien
Littel ju getien, roie efiebem. 2Ber ben epifobifd) in ben „Sßettfaiirer"
evttgeflodrtenen „2Hiftobenroman" getefen, ber wirb fid) aud) bem ©in«
brucfe nid)t ju entjiefjen »ermögen, bafj er liier einem Gabtnetftücfd)en
gegenüberftetie, roeld)e-3 allein fdjon ba$ Sßerf über ba$ $urd)fdmitt§niöeau
geroölmtidjer Unterljaltungätectüre f)inau3 ju lieben wermödite. 2lber baS
ift ber Sfoman aud) fottft in feiner SBeife. 2>aju ift er ju fetjr gefättigt
mit bem geifttgen ^ntjalte ber 3e^- ®3 ift, als fiätte &ird)bad) in bem
Sßeltfafirer fein SebenSroerf $u fdjreiben beabfidjtigt. 9flle$, mag ü)n be=
roegte, roaS er erlebt, gcfebeu unb gelernt in feinem bis baf)in »erliättnifc
mäjjig nod) fo furjen unb bod) fo infiattSreidjen Seben, bie ©rinnerungen
feiner ©pinnafiaftenjeit mit itiren 2icbf)abereien unb bem naturrotffenfdmfte
ttcr)en 2Banbert>eretn, beffen Slnbenfen baS Söitd^ aud) gcroibmet ift, feine
fpäteren inneren Äämpfe, bie SMtreifen feines SBaterS, alle feine mannig;
fadjen plnlofoptjifdjen, naturrotffenfdjaftltdjen unb Ijiftorifdjen ©rubien, fein
fingen nadj geiftiger greifieit, nad) llnabljängigfeit von jcglidjer Sdjuk
m einung, baS ganje Slilb ber 3ett mit if)ren Imnbertfadj fid) burdifreusenben
Strömungen unb Unterftrömungen, baä 2lllcä, SCDfe^ fud)te er in baä eine
©emälbe jufammenjufaffen. Unb bod) ift es ntcbt Übertaben, unb feine
frifdjen garben erfreuen, gteidjgiltig 06 fie aus bem naturaliftifc&en garben=
topfe geholt finb, roie in bem ©djlufkapitet mit feinem faft jolamäfeigen
SluSflingen ober in bem graufig paefenben 9iad)tftücfe, roo bie freiroillig »on
ibrem SJtonne gefdjiebene grau Streiter, bie nur beSfyalb ben ©atten
freigab, bamit biefer feinen in'S SBanten geratenen finanziellen 3>erf)ält=
niffen mit einer freilidj ftarf »erbrausten, aber rool)lfituirten ^önjerin auf*
f)etfc, bem roieber oermät)lten 3J?anne, bem fie in frmiftjafter Sentimentalität
felbft baS Skautbett gerietet, unb bann aud) fid) felbft in ber £od)seitSnad)t
bie ©urgel abftfmeibet — ober ob jene färben bem 3Katfafteu ber ibealifti=
fd)en 9Ud)tung entflammen, roie in ber reiäenbeit 3bnlle beS jroeitett GapitelS.
Slber fo roenig t)auSf)älterifd) ber <£id)ter in feinem „2ßeltfaf)rer" mit
feinen 3Kitteln aud) umgegangen ift, er \)at bod) bei SBettem nid)t fid) auS;
3ugeben »ermodjt, unb roaS faft roie ber Sdjlufeftein feines ganjen £>idjtefr=
le6enS fid) ausnahm, roar bod) erft ber ©runbftein ju einem 33au, bei bem
ber Stünftter emfig nod) am Sßerfe ift. 3)aS SBefte ift ifjtn meHeidjt nod)
»orbefjalten; baS SBefte, roa§ ib^m bieder aber gelungen ift, f»«t er gleid)
in feinem näd)ften Sffierfe, bem Süb^nenmärcfjen „®ie legten ajfenfdjen"*)
gegeben, einem Vorläufer jener ungesagten 3Jlärd)en, roeldje bie 2l>eater ein
*) ®. gMerfon, Bresben.
«ort mi Silb. LXXV. 22*. 1"^
\~0 Hlfreb Stoegel in Bresben.
paar 3at)re fpäter als 9lücfid)tag ber großen natitraliftiid)en föodjflutl) nun
uns attjufreigebig faft crebcnjcn.
©in ©tücf für bie grofje 3)?affe finb bie „Sefeten 9Jienfd)en" jebod) in
nod) roeit geringerem ©rabe, als ber „SÖettfaljrer" etwa ein 9toman für
bie 3Kenge berjentgen ift, bie mit Ü)rer Seetüre nur bem platteften Unter:
IjaltungSbebürfnijfe ju &ütfe fommen fönnen ober motten; oiel rnetjr iiiib
fie ein ©tücf für titterarifdje geinfdjmecfer, unb roie fie felbft f)öl)ere 9ln=
fprüd)e an ben Stauer ftellen, fo werben fie in ber £auptfad)e aud) foldje
befonberS mtereffiren, bie it>rerfeits ein größeres 3JJaf? »on 2lnfprüd)en in
litterarifd)en ©ingen ju ftellen geroob,nt finb. Slber baS fott nid)t etma ein
Säbel fein, 'Sie „Sefcten 9)ienfd)en" finb fein 33ud)brama. ©in ftarfer
bramatifdjer 3"Ö k&t in ^nen tro^ oeS tieferen P§ilofopl)ifd)en ©tnnee,
ber burd) bie reid)beroegte ßanblung b^nburd^fefummert, oljne ifm bod) mebr
ju belaften, als etroa ber Slütbenftaub, ber bie glfigel beS ^alters über»
beeft, unb eine glutt) oon p&antafie unb Stimmung ift über baS Gtanje
gegoffen, bie aud) benjenigen in iljre 3a«bcrfreife jroingen, benen jener
tiefere ©inn beS ©tücfeS immer ein ungelöfteS Stätbfel bleiben muft.
©S ift ber SBetten ©nbe, baS uns in ben „Seiten 9)ienf<^en" »orgefüljrt
wirb ; aber md)t, roie cS in ben uralten SDJnt^en gemalt fid) finbet, fonbent
roie bie 9?aturroiffenfd)aft als unausbleiblich) es uns »orberfagt. $>te ©otme
roill »erlöfd)en, unb ber ©rbbatl »ereift.
„Docrj et)' bei eif'ae %o\> bie ftarre 2Belt umfcbKe&ei,
SRod) einmal 2eben aus ber bangen 9tad)t entfprie&et,
Stoaj einmal trifft ber ©onne lefeter ©traf)!
(Jrroärmenb in baS fiible (Srbentijal . .
35a blübt bie ffitbe auf im fanften 2id)t . . .
©in Sßarabie» crtDäcbft im ©Uberfranse
$er ©Sflebirfle . . . ,"
burd) baS ein UHenfdjenpaar, bas lefete, r)inburd)roanbelt. Unb ringe
um biefeS bemm tummeln fid) ju neuem Seben erroeefte gabelroefen, gaune
unb ©irenen, Kentauren unb Sritonen, ©aturn unb 9tympben, Proteus
unb ber alte, grofje 5ßan felbft, mit einem göttlichen 33el)ctgen, baS oon
ben quälenben 3roetfeln, "on all ben Seiben, bie aud) beS legten 3)cenfcr)erts
paare* 3)ruft burd)roüt)len, 9iid)tS fennt unb roeifj. ©S ift oft faft roie ein
©tücf gebid)teten SBöcflinS, au« beffen Silbern in ber ©d)ad"fd)en ©aleric
ju 3Jlünd)en .ftirebbad) ja aud) tnannigfad)e 2lnr«gung empfangen l)aben mag;
aber eS roebt aud) ein grofter tragifdjer 3^9 burd) baS ©tücf l)inburd), ber
aus ber ©egenüberftettung jener mit glüt)enben färben gematten, faunifcb
ben Slugeublicf geniefienben unb um bie 3ufunft unbefümmerten gabelnelt
unb bem unfäglidjen Jammer erfliefst, ber bie legten 2J?enfcr)en ibrem eigenen
uitb ber ©rbe fidjer nabem ©nbe gegenüber erfaßt.
£>er red)te 3Kann mar t)tcr an ben redeten ©toff gefommeu. SaS
9Jeid) ber ?|3f)antafic ift fo eigentlid) ,«ird)bad)S Domäne unb baneben bie
pl)ilofopl)ifd)e ©peculation, unb in beiben 9rtd)tungen fonnte er b,ier nad)
IDolfgang Kttdjbac^. \7\
4?erjenStuft ftd) aufleben, ofme bod) Gefügten m muffen, bnrd) ein Zuviel
uad) btefer ober jener ©eite l)in, roie es in anbeten feiner SBerfe ab unb
ju bod) fid) geltenb mad)t, entroeber a(S aflju p^antaftifc^ ober attju tief=
finnig 3U erfd)einen.
©o rourben feine ©d)roäd)en felbft ju SJorjügen an biefem ©toffe, an
beut ber 2tutor einen ebenfo glücflidjen ©riff getfjan, wie an bem Stoffe
ju feinem näd)ftfolgenben unb bisher rooljl oerbteitetften SBerfe, bem „Seben
auf ber aBalje"*). ©o grunboerfd)ieben bie beiben SSoramrfe aber aud)
finb, es leitet bod) eine SBrücfe »on bem einen jum anbem, bie nad) einem
rein aus bem SBoben ber Ißfiantafie entfproffenen SBerfe, une bie „Seiten
SHenfdjen" eS finb, bie SBaljl eines Steinas oerftänblid) erfdjeinen läßt, in
bem baS erbärmliche Seben beS £anbnierfsburfd)en unb SJennbruberS bebanbelt
ift. Unb biefe SBrücfe ift nid)t nur in bem ©ontraft 51t fud)en, nidjt nur
barin, bafj baS SJenbel, nad)bem eS nad) ber einen ©ette fid) aus*
gefd)roungen, nun aud) jurücf unb nad) ber entgegengefefcten ©eite fd)lagen
mui SUrd)bad) ift fein ©efettfdjaftSmenfd), fein SJiann beS glatten ©alonS;
er fü< fid) am rootjlften in SBalb unb glur, auf roetten gujjroanberungeit
ober in ber ©title feiner ©tubirftube, oertieft in feine S3üd)er unb
©tubien, unb er fennt bemnad) bie il)m gleichgültige SBelt, bie bie ©alonS
beoölfert, roeit weniger, als jene SBelt, ber er baS gröfjte Qfntereffe, eine
roarmfiersige, tiefe Siebe entgegenbringt, bie SBelt ber ®id)ter unb
©enfer, nrie baS Seben unb SBeben braufeen in ber 9Jatur. ©auon Imt
er jioei ©eiten biSfjer uns nur gefdjilbert, im „SBeltfafyrer" baS ftille, ge=
^eimnifeoolle Seben ber *Bftanjenn>elt, in ben „Seiten 9Renfd)en" baS
treiben aller ber gabetroefen, mit benen feine iptjantafie tljm bie 9tatur
fceoölfert; nun roenbet er fid) aud) bem ju, was an 2Kenfd)enfinbern im
2)unfel beS SBalbeS ober auf ber jroifdjen enblofen gelbem fid) baf)in=
jiefjenben Sanbftrafje umljerfrabbelt, jener tagfdjeuen S3rüberfd)aft, bie fein
anberes .§eim b,at, als 9Jiutter ©rün unb bie $enne. Unb er fcfjitbert
fie trofe bem n>afd)ed)teften 9kturalifteii. Gr fennt irjre ©prad)e, jenes feit«
fame 9Jotf)roelfd), in bem fie mit einanber »erfef)ren, unb ifire ©doofin*
Reiten, alle bie -Jiüancen ber ©pecieS, u)re guten unb böfen ©eiten, unb
er roeifj fie plaftifd) unb anfd)autid) genug uns ju fd)ilbent. ®aft ber
^Hornau überbieS in eine 3e^ ftd/ wo cine 9anäe SKdjtung in ber ftnnft
mit Vorliebe baS Seben ber Enterbten unb (Henben jum ©egenftanbe tfyrer
®arfteHung m«d)te unb bei bem eben Ijerrfcfjenben grofjen ^ntereffe für
alle fogenannten focialen fragen aud) ben tebtjafteften SBiberbaK erroecfte,
in eine 3«t/ wo bu*0) beS Geologen ^aul ©öfire intereffante ©tubie:
„®rei ÜKonate gabrifarbeiter" bie SSjeilnalmte für bie in Äird)bad)S
SBerfe gefd)tlberte 9)?enfd)enflaffe gerabe eine befonberS ftarfe war, uer«
modjte beit SBertf) ber Slrbeit freilid) nid)t ju erb,öf)en; aber eS oertjatf
*) SBerlin, herein ber Südjerfremtbe.
12*
\72 aifteb Stoegel in Bresben.
bem ;8ud)e boct) mit 311 einer größeren Popularität, al3 frühere Slrbeüen
be$ 2lutor3 ifirer mef»r ober minber ftarfen (Srclufioität roegen fid) je »er»
muttjlidj errungen Ratten, fo baß $ird)bacE) feit bem „Seben auf ber SBalje"
roofjl mit $u bem r>erf)ättnifmtäfsig fefjr Meinen Greife oon 3tutoren ju
5äf)(en ift, beren tarnen aud) roeiteren Greifen geläufig finb.
2lber, als märe e§ ibm barum su tlntn geroefen, nad) biefem feinem
erfolgreichen SBerfe nidit ein für alle ÜM jum SJaturaliften geftempelt ju
werben, fo finben mir ben 3Md)ter fd>on in feiner nädjften größeren 2lrbeit,
bie er auf eine «Sammlung »on 9to»effen unter bem £itel „^Miniaturen"*)
t>at erfdjeinen laffen, in „Te$ Sonnenreidje« Untergang"**) auf ganj
anberen pfaben. 63 ift ber 2Bcg ber f)iftorifd)en Stragöbie, ben er bie««
mal fdireitet, ber 2Beg ©fiafefpeareä unb <Sd)ilIer3, auf bem er, ob er
gteid) nie Um bisher nod) geroanbelt, merfroürbig gut fid) jured)t ftnbet.
(Sans anberS, roie in ben 33ü^nenroerfen feiner erften ©djaffengperiobe,
roie im „Ingenieur" unb im „3Renfd)enfenner", ift er jefct £err be£
ted)mfd)en ^anbroerfsjeugs, fennt er bie ftorberungen be3 Sweaters, weife
er feine ^anblung 3U gruppiren unb bramatifd) roirffam aufjubauen. ©er
gortfd)ritt ift ganj uiroerfennbar. £>te §lügel finb ttmt geroad)fen, unb fie
erlabmen md)t inebr nad) furjem lytuge, fonbern tragen ilm fid)er empor
nad) bem l)of)en 3wfe, ba? er fid) geftecft.
63 ift ein banfbareS 21jema, bie Eroberung $eru3 burd) bie ©panier,
ba3 ber £id)ter fid) roteber 3um SBorrourf für feine £ragöbie ertoren, reid^
an tragifd)en Momenten unb roirffamen Gontraften, bie nad) einer $ra*
matifirung förmtid) ju brängen fd)einen, unb bie e3 un§ oergeffen laffen,
nrie fernab jene 6reigniffe alle unä im örunbe liegen. SSBad in bem
Stoffe tag, tjat JUrd)bad) aud) gefd)i(ft l)erau3üulrolen oerftanben. 2lber
ebenfo gefdndft bat er sugleid) mit feinen fünftterifd)en Mitteln IjauSjutialten
geroufit, unb ob baä ©rama aud) feinen ^öbepunft am 6nbe beä jroeiten
9lcte§ fd)on erreicht: eä roeifi bod) bis jum ©d)luf? nod) un§ ju feffeln.
Ter 3*erfud)ung in biefem „Gulturbrama" ber ©djilberung jene« b>d)ent=
roicfelten 6ulturjuftanbe3, rote er un$ in bem auf communiftifdier ©ntnb=
läge aufgebauten peruanifd)en ©taatäroefen in brafttfdjem ©egenfafce ju ber
empörenben Barbarei unb ©raufamfeit jenes bigotten, robben unb aßen
Softem ergebenen fpanifdjen ^ßöbelbaufenS entgegentritt, beffen £?ü(jrcr
^ijarro nid)t einmal beä SefenS unb ©d)reibenS funbig mar, auf ftoften
ber ©efammtroirfung einen aHjubreiten SRaum ju gönnen, ift $ird)bad) ba=
bei flug au>J bem SBege gegangen, unb roaä er an culturbjftorifdjen
SRemini^censen geboten, cjat er biScret unb ofjne alle 9lufbringlid)feit get^an.
Sd)abe, bafj gerabe bie Hauptfigur be§ 2)rama«, ber lefcte ^nfa
9ltal)ual[pa, einige Ungleid)f»eiten in ber 6l»arafter}eid)nung aufroeift. 3m
*) Stuttgart 1892. 3. ^oita.
**) TrtSben 1894. @. spifrfonB Sfrtag.
tDolfgang Kirdjbadj.
erften 2lcte, in bem Qmtfie mit feinem Araber £uasfar, ben 2ttatmallpa
t>om Throne oerbrängte, um ftä) felbet barauf jn fefeen, finb bte ©rnnpaibjen
beS 3uf^auw* im ©runbe alle auf &uaSfarS ©eite. Unb mit 9teüK.
35enn wenn 2ltafmaHpa alle feine SSerroanbten, bie ju bem 35ruber geftanben,
HTCänner unb grauen, nacfj glüdTicfj errungenem ©iege, auf baft fic itmt
nidjt weiter gefätjrlicf) werben fönnen, in ben gelfenabgrunb ftürjen läjjt
unb iljnen, benen in wenigen 2lugenblid?en bie „^eiligen Häupter" äerfdjlagen
werben fotten, auf itirem traurigen SBege jur SRicfjtftätte, als wollte er fic
ttodj f)iu)nen, juruft:
„SBie flliitfli* fetb 3&r Mtl 3&t ge&t tfn,
2Bo ®ndj unftetblidj £eben blühen wirb,
Snbefien wir in bicfex SBelt ber Slrbrit
9?odj länget unf're SJlü&fal tragen muffen!"
fo fann man nicfjt anberS, als mit £ua*!ar ficf) über eine fo grobe
£eucf»elei in tieffter ©eele ju entrüften. ©S wirb ©inem ferner, bemfelben
URanne bann in ben £agen feines UnglücfS jenes 9ftaf} »on 3)Jitleib ent*
gegenjubringen, bas ber $>idjter in uns offenbar ertoecfen miH, unb bas
wir fidber fonft audfj für ib^n empfunben bitten. Unb mit SRüb^e nur oer=
mag man beSfjalb in ber fonft b>d)bramatifcf>en ©cene, wo Sttafjuatlpa in
ber 3fi)nengruft bie 3Jhtmien ber tobten 3ftfa8 befragt, ef»e er, ftdl> 31t
retten, ben Sruber b^eimlid) um'S Seben bringen täfjt, ben ©ebanfen $u
unterbrüdten, ob biefer grofje Äomöbiant, als ber er im erften 3lcte fidE)
erwiefen, nidjt aud) Ijict abermals unrein S^eaterftüdldjen aupbrt, wäbrenb
fein Gntfdilufj, ben 23ruber ju opfern, längft fdjion gefafjt mar, unb baf?
ein ©dmrfe, 2ltaf)uallpa, fomit iiier nur an einen nod) weit größeren
©dfmrfen, Sßijarro, geraten.
Um fo beffer ift &trd>bad> bafür bie Gfiaraftertftif ber ©panier ge=
lungen, unb für einige ©dm>äd)en beS ©tüdfs bietet er reic^ttd)ctt ©rfafe in
einer 3tetb> unleugbarer Sßorjüge, fo in einer brillanten garbengebung,
bie bie Silber tängftoergangener Seiten lebensfrifd; uns oor bas 3luge ftellt,
unb in einigen fein abgetönten lnrifd)en Momenten, bie, als 5Ruf)epunfte
gleidifam, bie bramatifd) ftarf bewegte 2lction ftimmungSooH unterbreiten.
Smmerlnn war es, fo banfbar, wie ermähnt, bas £b>ma einerfeits aud)
ift, auf ber anberen ©eite bod» ein nidjt ju unterfdjäfcenbeS SBagnift, in
ber gät 3&fenS unb beS focialen SrauerfpielS für eine tiiftoriidje £ragöbie
in fünffüßigen Jamben nodj ^futercffc erroecfen ju wollen; aber ber ©rfolg
ber erften 2Iuffül)rung am ©reSbner £oftfieater, ber weitere 2tuffüf)rungen
auf einer ganjen SRetfje erfter Sühnen folgen fotten, b>t es allein fd)on
bewiefen, baft bas SÜBagnifj geglüdt ift.
©inen ungleidj größeren SBagemutf) b>t $it#adj aber bodf) nod) mit
feiner nädjften £ragöbie „Oorbon $Pafcf»a" bewiefen. 9Bir baben bie ©r-
eigniffe alle miterlebt, bie bem ©tüdfe ju ©runbe liegen. 2Wit ängftlic^er
Spannung fiaben wir f. 3« monatelang baS SßorwärtSbringen beS ßntfat=
\71( Zllfteb Stoejjel in Dresden.
Iieeres unter SBolfeten oerfolgt, in banger Grregung, 06 es nod^ gelingen;
würbe, ©orbon unb feine ©etreuen su erretten, um enblid) bte Äunbe von
bem »er^ängniBootten „,3" fpät" ju »ernebmen. Unb nun foff uns baS
Sitte* auf bem Sweater »orgefübrt roerben, unb nid)t etroa in einem äus«
ftattung*ftücfe ober in einer jener ©enfationsfomöbien, bie mit SSorliebe
ja be* 2fllerneueften unb 2lctueflften ftd) bemädbtigen, fonbero in einem
ernftgemeinten Drama, ba* mit ber »ollen ^Prätention einer roirflidjen
litterarifdjen Seiftung auf bcn ^ßlan tritt. Das Grperiment ift neu,
roenigfteits für unfere Tage. 2Ü>er roarum, meint Äirdjbad), fotl ba«, toa*
oor mebr als jroeitaufenb ftabren bem 2lefcbt)lus mit feinen Werfern et*
laubt mar, oljne bafj ein b9Poa)onbrifd)er äftbetiidier Gober es ibm r»er=
roebrte, nidjt aud) bem mobernen Didbter geftattet fein?
Die 3*iten babeu fid) geroanbelt, bte ÜWenfdben am Gnbe be* neun«
jebnten ^abrbunberts finb biefetben nidjt mebr, rote bie in Slefdjnlu*' ober
©^afefpeare« Tagen. Sie finb weit roeniger naio, als jene, ju febr
barauf erptd)t, bte Didjtung barauf Ijin anheben, ob fie aud) nur ber
35?abrbeit, ber 2Birflid)feit eutfpräd)e, ju roenig baran geroöbnt, bie (Sin*
ridjtungen unb Grrungenfdjaften unfere« mobernen Sebens aud) al* poetifdje
©(erneute anjufe^en, beren eine b°bere 9lnfprüd)e erljebenbe Didjtung febr
roobl fid) bebienen barf. Unb besbalb ift ba« Unternebmen, ben Seit*
genoffen ein Drama, ba* fie felber miterlebt b«ben, im «Spiegel ber
Did)tung oorjufübren, bentptage ein ganj anbers gewagtes, als es ebebem
geroefen, unb aud) be*roegen, roeil bie ©efaljr aHjunabe liegt, in ba« ©enre
eben jener ©enfationstomöbien biteinjugeratben, »on benen roir eben ge*
fprodjen. ^nbem Äirdjbad) feinen „©orbon" in 3?erfe go&, bot er biefe
tefcte JUippe roenigftens mit ©efdbid 5U umgeben gerouf3t. 3Son oomberem
bat er bamit fein Drama in ein böbere* 9Ji»eau gerüdt unb ben 3ufd)auer
ju einem ganj anberen ÜWaftftab für bie 33eurtbeilung gejroungen, fo feljr
befremblid) e* für ben erften 2lugenbltcf aud) roirft, ©orbon ^fctfdja ober
ben 33erid)terftatter ber Dirne* mit bem febr roenig poetifd) flingenben
■Jiamen sporoer in SBerfen reben ju bören.
äßie in bes „@omtenreid)es Untergang", fo finb es aud) bier jroet SBelten,
bie einanber gegenüberfteben. Stber biesmal finb nid)t roie bort bie SSilben
bie befferen aJfenfd)en, fonbern bie burd) ben eblen unb bod)berjigen ©orbon
rcyräfentirten Guropäer, benen im 9)?abbt unb beffen laroinenartig ftd>
meb,rcnben Slnbängern eine nad) auften jroar glanjüolle ©ruppe entgegen«
gefegt roirb, glanjooll, roeil im Steftfce einer ungeheuren 3Had)tfülle, aber
morfd) unb faul im Innern bis auf bie $nod)en, roeil auf Süge unb ©einig
aufgebaut. Unb roie in bem Qnfabrama, fo erliegt aud) bier ba* ©ute
im ftampfe mit ber brutalen Uebermad)t. Da* Sööfe triumpbirt. 9lber
e* ift nun einmal fo ber ©ang ber Greigniffe geroefen, an benen, gerabe,
roeil fie uns fo »erjrceifelt nabe liegen, freilid) nid)t »iel fid) änbern lieft, unb
Äird)bad) glaubte oon ber biftorifcben SPabrbett fd)on be*roegen umforoeniger
nJclfgang KSrdjbadf.
U5
abweisen ju bürfe«, als eben biefe SBirflidjfeit im oorliegenben gälte it»m
„baS befte ct^tfdf>e unb ftttlidje 2)fotio bcr ganjen Did)tung" ju fem fd)ien.
Unb bod) wäre eine Heine 9letoud)e ber 2Birftid)feit bem ©efammtbilbe
»telleid)t oon 33ortf)eil gewefen, in betn bie einseinen gtguren immerhin plafttfd)
unb fd)arf oon betn ftimmungSootl gezeichneten ftintergrunb ftd) abgeben.
Unter Urnen gebührt bem SKaljbi unb feinet ©ruppe, bie freiließ baS
tebenbige Golortt beS DrientS unb mit bem malerifdjeren Goftüm weit mef>r
£f)eatralifd)eS überhaupt fd)on oon Saufe aus oor ben in bem Drama
auftretenben Europäern oorauS fiat, unbebittgt ber SSorjug, unb nur baS
roeiblidje Clement fdjeint uns in ber Gljarafteriftu' ein Kein wenig ju furj
gefommen ju fein. 9lber baS ift eine @d)wäd)e beS DidjterS überhaupt;
unb mit 2luSnatyme ber grau «Streiter in feinem „2£eltfab,rer", in ber
tttrdbbad) fretlid) einen Gfiarafterfopf oon blenbenber SBtrfung gefdjaffen,
finb faft ade feine grauengeftalten, wenigstens infofern fie ben befferen
©täuben angehören, mel)t auSgebadjt, als geflaut. @r fennt bie grauen
ju menig; aber ber Dabei, ber in biefen 2Borten für ben Didjter liegt,
fdjliefjt jugleid) bod) wieber baS fjödjfte Sob für ben 3JJenfd)en Rirdjbad)
ein, ber feit feiner, toie erwähnt, in fo jungen Sabren eingegangenen ©fye
in ScrjenSfadjen oetmuttjlid) 9iid)tS weiter mef)r erlebt f)at.
3>or wenigen 3Bod)en ooüenbete ftird)bad) fein 38. SebenSjaljr; er ftefjt
fomit in einem 2ltter, in weld)cm anbere Talente fid) oft erft ju ent=
wtcfein pflegen; aber wenn man bie gülle beffen überblidft, was er bereits
gefdjaffen — unb ju ben fd)on erwähnten 25>erfen finb nod) feine legten
Arbeiten, ein SRoman „Der SGBein", baS bereits citirte Drama „<Sginb>rb
unb 6mma", fowie ein Dperntert „Der ©piegel" OJiufif oon granj Gurti)
ju ergänjen, auf bie Ijier nur aus bem ©runbe nid)t näljer eingegangen
werben fonnte, weil fie, im (Stfdfjeinen begriffen, nod) nid)t oorlagen —
bann nimmt bie ftattlid)e Sfajaljt oon 33änben fid) aus, wie baS @nb:
ergebnifi eines langen unb arbeitfamen DidjterlebenS, beffen aud) ein boppett
fo 3llter wie Äird)bad) feineSfallS fid) ju fdjämen braud)te. Unb fid)er b,at
fiirdjbad) aud) ben ©ipfel feines Könnens nod) lange nid)t erreicht. Denn
ob baS 33efte, waS er uns bisher gegeben, feine „Seiten 9)Jenfd)en", gleid)
in ben 2Cnfang feiner jweiten ©djaffcnSperiobe fällt, fo ift bod) ein gort«
fdjreiten, wie e$ oon feiner erften ju feiner ^weiten ^ßeriobe conftatirt würbe,
nud) innerhalb eben biefeS jweiten 2tbfd)nitteS in oieter &infid)t nid)t p
oerfennen, ein 25?ad)fen unb Gntfalten feiner Äräfte, baS offenbar immer
nod) im Steigen begriffen ift. ©eine beften Äarten f»at Äirdbbad) alfo oer;
mutfjlid) nod) nid)t auSgefpielt; aber er Ijat bod) genug baoon gejeigt, um
bie (Sprung gerechtfertigt crfd)einen ju laffen, bie if)tn baburd) wiberfabren,
bajj ber in DreSben tagenbe Gongref? ber „Association litteraire et
artistique internationale" tf»rt ju feinem SJorfifeenben erforen, eine
ebrung, bie allerlei jufällige unb äufscrtidie ©rünbe allein roofyl faum
fierbeigefüljrt Ratten.
Don
ICubtofg üCato&otapi.
— Berlin. —
Dorftöyll.
Des Küfters blonbes Odjterlein
Sifet mit bcm £ etjrer gan3 allein.
3m ^lieber fingt bie Zladjttgall
Unb fingt von Siebe mit ffigem Sdjatl.
Sie fieb,t nur Seite, er fpridjt fein IDort,
Das Döglein fingt nodj immerfort.
Das flingt fo bell con £uft unb tfreub',
Da rücft er ftill an ib,re Seit'
Unb fügt bas Blonbtjaar immcrsu,
Sie fajliegt bie beiben 2iugen ja . . .
3m 33rombeerbufa7 am «Sartenjaun,
Da ift ein junger Bnrftb, 5a fdjaun.
Der £?anfe( ift's, ber 2ltferfned>t,
Dem war bie Sadje gar nidjt recht.
3n €rlenbläitern ber Hadjtminb raufdjt,
£r ftet}t am §aun nnb fterjt unb lanfdjt
Dann fdjletdjt er fort burdj's Hübenfelb.
(Er pfeift jetjt auf bie ganje IDelt.
3m tDirttistjaus ift t)eut' Sauferei,
Da frfjlägt er Ciftb, unb Sanf cntjroeil
Die Xiadjl
Unb wenn micb, Deine füge Stimme 3* will nicr/t freoclnb nadj ben Sternen
riefe, greifen,
So füg, wie feine ITadjtigaU gelacht, Dod; nadj ben Blumen, bie in meiner
3d? müfjte ttfun, als wenn idj tief fcbon UTadjt,
fdjtiefe, — Denn um in's Ungemegne 3U entfdjweifen,
3«i? b,abe ^urdft, benn braugen fterft bie 31*? ^"be ^urdjt, benn brangen ftetft bie
ttadjt. Haait.
J}alt' aus, mein I^erj, wenn aud; mit
Scr/roertesfcrfärfen
(Ein groges tt>eb, Dieb, überelenb madjt,
Denn um mein fleines £eben tjinju*
werfen, —
3«b, tfabe tfurdjt, benn braugen ftet[t bie
rTaajt . . .
<Sebid)te.
\T7
<&n Körbchen Hofen fanbt' idj Dir in's
fjans.
Du fuajteft Dir bie beiben fdjönftcn aas.
£jeut 2lbenb prangt bas bunfelrottje paar
2Ms ein3'ger Sdjmncf in Deinem f djn>ar3en ^
^aar.
2?ofert.
miaj fiet(ftDu nidjt! 3<1} aber fctjan Diaban.
(Es arjnt fein OTeiifd;, roas idj Dir an=
getrau,
Kein lITcnfcb, im Saal, baß mit bem
Hofenpaar
tTteiu Segen rnl}t auf Deinem totfenrjaar.
Der JDunöcrDogel.
Dor'm ienfter f.efjt ein Jlbornbaum,
Da fingt ein Döglein feltne Sieber,
Das fommt aus frembem fjimmelsraum
3n jeber Sommernacht b.ernieber.
Dorf; wenn bie legten Blütfjcn blüljn
Unb roeiß unb rott? 3ur €rbe werten.
Dann mufj es in bie ^rembe äieljn,
VOo anbre Stützen anferficb.cn.
(Eiefbuufel war bie Sommernacht,
Da tjob bas Döglein feine Scf/wingen.
3dj rjSrte b,alb im Cranme fad;t
Sein letjtes Klagelieb oerflingen.
3<*? bin fo fterbensmübe jetjt
Unb möchte fcblafen rote bie Knbern.
iDas fang bas Döglein bod) julefet? —
„sei ftiO, ciud) Du wirft balbe wanbern . . ."
Die 3üngftbeutfdjen bes adityfyntm 3afjrf?un6ert«.
Don
ßnbolf bon «fcottfrijall.
— £eip3ig. —
f/äfjfgU:- ift etwa« 9Kifeti<^e^ mit ben gefd)idjt(td)en unb litterargefd)id)t=
1 lid^cn parallelen: Ter Safe „omne simile Claudicat" finbct
ä) aud) auf biefe feine 2Inroenbung. ©leid)roof)l finb fie immerhin
leljrreid), ba fie bod) ba$ GJleidjartige f)eroorf)eben, was »erfdjiebenen burd)
bie 3"t getrennten ©podjen eigen ift, unb roenn eine neue Ittterarifdje
9tid)tung fid) lärmenb als eine Steoolution anffinbigt, meldte alles bisher
©ageroefene üüer ben Raufen roirft unb carmina non prieus audita
auf bem litterarifdjen ÜRarfte anftimmt, fo mag man fie bod) mit ber
SöeiSljett be$ SBen 2Äiba $ur Drbnung rufen unb if»r nadjroeifen, ba§ fdjon
oor einem ^Wunbert in baSfelbe .öorn gefto&en nmrbe unb $>telc* »Ott
bem, roaä fie als eine unerhörte Neuerung auSpofaunt, nur eine SBieber«
Rötung, ein 2lbf(atfd) früherer bidjterifdjer 33eftrebungen unb Seiftungen ift,
meiere bie 8itteraturgefd)id)te aus bem Setlje, in bem fie fonft oergraben
finb, bisweilen l)en>orf)oit.
GS mürbe bie ©renjen eines @ffat)S überfdjreiten, maßte id) bie parallele
jroifdjen ben ^üngftbeutfdien beS neunjefjnteu unb benen beS adjtjelnrten
3afjrt)unbert3 im Gi^elnen burdjfütiren; es fommt liier nur barauf an,
einige §auytgefid)ts»unfte Ijeroorjufieben, um ju seigen, roie fid) ba«
5Weucftc, baS fid; fo ftünnifd) geberbet, mit bem Sitten, baS lättgft ocrfdwtten
ift, berührt.
SBie in jener Seit, befonberS in bem ^afyrjeljnt oon 1770 ab, roimmelt
eS aud) gegenwärtig von ®enieS auf bem ^arnaft, unb bie -Reriolution ber
Die 3»n9Pea,f(1!en &es ad;t3et)ttten 3<>l(rliuiiöert«.
l"9
Sitteratur wirft 2llleS über Sorb, roaS bie früheren ^afyrjefutte biefeö „Jaljrs
InmbertS gefd)affen. Sief)t man biefe ©enteS aber näf»er an, fo pafjt auf
fie iUcleS oon bem, roaS bie bamaligen älteren Sttteraturgröfjen über bie
jüngeren Stürmer unb Oranger äufjerten; eine Heine 33tütf)enlefe fold)er
■DteinungSäußerungen mag bieS betätigen, ©egen bie Selbftberäudjerung
biefer ©enialüaten roanbte fid) Sauater: „®eme! taufenbmal unb niemals
me()r als in unferer 2lftergente3eit IjergenwrfeneS Söort — aber ber ©ante
bleibt md)t, jeber £audj beS 2BinbeS n>ef)t if»n roeg — jebeS Keine Talent«
müddjen nennt nod) ein Heinere« ©enie, bamit bie* roieber ju kleineren
ffinabrufe: feilt an bie £öf)e fnnan! 9lbcr Flieger, 9tufer unb Stürmer,
bie fid) einanber £)inauf unb l)inabräud)erten unb cor — genierten,
bie Sonne gellt auf, unb wenn fie aufgegangen, roaS feib i^r?" 3lef)tilid)
fdjrieb Nicolai 1776; ,,^n nur fünf 3af)ren nrirb baS nntbe Sßefien oer=
raufd)t fein, unb bann nrirb man ein paar Kröpfen Seift im ,§elm unb im
Tigel ein grofjeS caput mortuum treffen." „T)a3 publicum", fagt %can
Sjkul, „las unb (alte fid) an bem äftljetifdien Sdjnepfenbrede biefer cnnifdien
Tid)ter, ba eS für eckten IBombaft melleid)t mef)r ©efd)mad befifct als ganj
sJ>ariS, benn roenn ber ungefunftelte einfältige, natürlid) rofie ©efdnnacf
nid>t nur ber rid)tigfte ift, fonbent aud) ber ift, ber brennenbe bide färben,
Quoblibetbilber unb mäßige Uebertreibung ju genießen weiß, fo inufj er
bod) lüaljrljaftig bei einem Sefepublicum 5U finben fein, ba« größtenteils
aus jungen Seutcn, Stubenten, SlaufmanuSbienem unb ungebilbeten ©efd)äfts«
leuteu beftel)t. 3efct ift ber ^arnaij ein aufgebrannter SMcan, unb 100
l)abeu mo\)l jene Männer, bie aus ©oetljeS @ffe funfetnb ftoben, ib,ren
©lanj unb if)re 2l*ärme gelaffen?" 3>ict fdjärfer nod) ging ben Satirifer
Sidrtenberg biefen Sitteraturrewolutionären unb fid) gegenseitig oergötternben
©enieapofteln ju Seibe. „Das beutfdje publicum," jagte er in feinem
„^arafletor ober Troftgrünbe für bie Unglüdltdjen, bie feine DriginalgenieS
finb," „»erlangte DriginalgenieS unb Driginalroerfe. (£S war eine fiuft
an$ufef)en, breijjig 3)orife ritten auf itjrert Stedenpferben in Spiralen um
ein 3iet t)erum, baS fie ben Tag juoor mit einem Schritt erreid,t Ijätten,
uub ber, ber fonft beim 3lnblid beS sJJiecreS unb beS geftirnten Rimmels
Vichts benfen founte , fd)rieb 2lnbad)ten über eine SdjnupftabafSbofe.
Sljafefpeare ftanbeu ju Dutsenben auf, roo nid)t allemal in einem Trauer«
fpiel, ba in einer Stecenfion; ba mürben ^beeu in ftreunbfdjaft gebradt,
bie fid) außer in SBeblam nie gcfelien (»arten, 9Jaum unb &\t in einen
$irfd)fem geflappt unb in bie (Sroigfeit oerfd)offen; es triefe: eins, jroei,
brei; ba gefdjalien tiefe SMide in baS menid)tid)e öerj; man fagte feine
$eimltd)feiten, unb fo warb SDfenfdjenfemttniß." ©egen bie Spradje unb
ben Stol ber .siraftgenieS richtet er feine nrifcigen SluSfäHe in ber „IMttfdjrift
beS SBaljnfinnigen"; er copirte bie beliebten ©lifionen. „©ebs'n, rooll'S n't
fonfi'n. Sief)'S öenie, roie'S u' SBolfen roebt? Db b'S ©enie fieb^ft? SBenn
b'S nit fiel)ft, l)oi"t bie 9iafen 11 it 'S öenie j'riedjei»." Ct't angefübrt ift bie
\80 Hutiolf (Soltfdjall in £eipätg.
aieujjerung Sidjtenbergä, et müffe tägltd) feben, baß &ute jum Namen öenie
tarnen, wie bie tfelleraffeln sum tarnen Taufcnbfujj, nidjt weil fic fooicle
güfje b<tben, fonbern weit bie SDieiften uidbt bi* auf üierje^n jä^len wollen.
2lu<f) SBielanb, ber oon ben jüngeren »iel getefen, aber aud) beftig angegriffen
nmrbe, ärgerte fid) über bie „laufidbten ©elbfdmäbel, bie fid) air geben, als
ob fic mit @ba!Mpeate 3Müibcfub ju fpielen geioofint mären." ©er burdj
feine geiftootten Sieifebriefe befannte Sdjriftfteller Sturj ermabnte bie jüngeren
©ememänner $ur SBefdjcibentjett unb »eröffentttd)te einen fefyr heftigen Grgufj
feine? Unroillen* über bie jüngfte l'itteratur unter ber 9)?a*fe eincö greunbe*,
ber ein bcrartige* Senbfcbreiben an ibn gerichtet; er fprtrfjt barin von ber
finntofen, 5erf)adten, bolprigen s4>rofa ober ben fkdjen Slnittelreimen, bie uns
jefct nad) jebn 3abren geboten würben, nadjbem wir Effing, SDienbelefofm,
Zimmermann, ben 2lgatbon unb Suljcr getefen, um an Ätopftocf* b^mmlifdien
©ebid)ten, an SBtetanb* trbifdjen ergäbt bätten; er weift bin auf bie ^Jöbeteien
im Srama unb ber Satire, auf bie Ginfätte, fid) nieberjulaffen in ber
leeren fumpfigen ©egenb ber -Natur, bort allein Wloot- unb £aibeblumen
511 fammeln: burd) foldje SBürfe feien bie ©riecben wabrtid) iricbt unfterblid»
geworben. $on ifirem ©enie, ba* in ber üoHfominenften Gupbemie tiefen
©ebatt in reijenben 2lu*brud gefteibet, bat 2lriftotele* feine Siegeln em-
pfangen unb nidrt ©efebe bem ©enie gegeben, bie man jefct fo gern »er=
ad)ten mödjte, weil man fic ntdbt inebr aueüben tonne.
Giner ber |>auptfübrer ber ©türm« unb ©rangperiobe unb i^r Statf«
patbe, ßlinger, geborte bod) ju benen, bie fd)on im nädbften ^abrsebnt jur
Sefinnung tarnen, menngteid) feine bid)terifd)e <Sd)öpferfraft mit jenem
jugenblid)en Ungeftüm mebr ober weniger »ertöfd)t 5U fein fdbicn. $n ber
2tu*gabe feine* Sweater* 1785 fprid)t er fid) über feine frieren bramatü
fd)en Arbeiten unb biejenigen feiner ©enoffeu au*; er nennt fie inbi»ibuellc
©emälbe einer jugenblidjen ^b<*ntafic, eine* nad) 2T)ätigfeit unb 33eftimmung
ftrebenben ©eifte*, bie in ba* 9leid) ber träume geboren, mit benen fie nabe
»erwanbt ju fein fdjeinen. „2Ber aber gar fein Siebt in biefen Grplofionen
be* jugenblidjen ©eifte* unb Uttmutbc* fud)t, ift nie in bem fjoff gewefen,
Gtwa* banon in fid) fetbft ju füllen, 3d) fann beute fo gut barüber ladjen,
at* Giner, aber fooiel ift wabr, ba§ jeber junge 3Kann bie SBelt mebr ober
weniger at* Siebter ober Träumer anfierjt. Grfabrung, Uebung, Umgang,
Mampf unb Slnftofje r)etlen un* oon biefen überfpannten Qbealen unb ©es
finnungeu. ©ben biefe* lebren bie ©id)ter unb ßünftler, bafj Ginfad)b«t,
Drbnung unb SBo^r^cit bie 3a"berrutben feien, womit man an ba* &er$
be* SDJenfdjen fd)lagen müffe, wenn e* ertönen fott. Sie klagen finb un=
enblid), bie man über bie wilben Sßrobuctc fübrt, bie ju Seiten in ber
beutfd)en SBelt unb befonber* für'* Sweater erfd)einen. Somel ift tnbefj gewin,
bafj wir Teutleben burd) biefe SSerjerrungen geben müffen, bt* mir fagen
mögen, fo unb nid)t anber* bebagt'* bem beutfd)cn Sinn. 9iid)t* reift
obne ©äbrung." Unb »iele 3al)re fpäter, al* ber £id)ter Älinger längft
Die 3än9ftbentfc^en bes adjtsetmten 3allrfiuni,e*ts. \8\
jum SMtmamt geworben unb baS Ätnb auS bet Sßrotetarierwicge eine b>hc
SebenSftellung erreidrt hatte, fdfjricb er in ben 1803 herausgegebenen „Söe*
Pachtungen unb ©ebanfen über verfdjtebene ©egenftänbe ber 2Bett unb
Sitteratur": „SBaruin fonn ein welterfahrener 9Jfann nidjtS (SrcentrifcbeS
vertragend SBeit er gefetjen f>at, bojs es ju RidjtS führt, ju RidtS taugt,
9iid)tS beförbert, felbft baS Sadjen nid)t. 2HleS, was es wirft, beftcl)t barin,
baß eS bem ein $ti<fyen auflebt, ber fid) bantit fd)leppt ober ber r>on
biefem SBefen befeffen ift. $n ber 2öett ift i^nt feine Stelle angewtefen,
unb in ber Sitteratur ift es gegen ben 2ttenfd)enverftanb. 2tber warum
treten fo viele unfercr jungen Seute mit bein Qtifyn als Sdwiftfteller auf?
(?ben barum, weit fie junge Seute finb unb eS ihnen nod) an affebem
fehlt, was fie jum Auftreten berechtigen fönnte."
Sen Stennern ber jüttgftbeutfdjen £urba wirb eS nicht entgehen, bafj
foroofjt biefe tefcte 9(cuf3erung, als aud) fetrr viele anbere Söemerfungen
bamaliger namhafter Sd)riftfteller gegen bie Stürmer unb Oranger, bie
mir l)ier angeführt, mutatis mutandis, aud) auf bie 3üngftbcutfd)cn paffen,
bie wie jene eine Revolution ber Sitteratur mit vollen Jadeit auSpofaunen,
bie bisherigen Sitteraturgötter 51t entthronen unb fid) an ihre Stelle ju
feljen fudjen. Sie haben 3ied»t, wie ihre bamaltgen Vorgänger, wenn eS
fich um SKobegöfecn hanbelt, unb es ift bamals fowie jeöt fehr viel ge=
bred)Iid)eS Rippjeug jur Slnbetuug unb üBerehrung auf ben Toitettenaltären
aufgeteilt worben; wenn bieS von ben ©llenbogen einer jüngeren (Generation
heruntergeftoften wirb, baß eS im Staub jufammenftirrt, fo ift hierin nur
ein tfortfdjritt ju fcfjeit. Unb wie in jener 3«t beS Sturms unb SDrangS,
fo wel)t aud) in ber jüngften, fid) überftürjenben litterarifd)en Bewegung
ein frifdjer £aud), unb ein burdj offene genfter hereinfommenber Suftjug
verfd)eud)t bie Miasmen, bie fid) allmählid) in ber Stidluft beS ©öfcenbienftes
mit gefeierten Ridrttgfeiten erjeugt haben; aber ber Sturm ift junädift mehr
Programm, unb es ju verwirflidjen, bemüht fid) meiftenS vergebens bie
fünftterifd)e Ohnmacht.
9leu ift aber aud) baS ^rtneip ttid)t, bas iefct auf bie gähne ge-
fd)rieben wirb, baS s$rtncip beS Naturalismus; wir finben cS wieber in
bem Programme ber Stünner unb Oranger beS vorigen ^[ahrhunberts.
damals aber hatte es ben Gronegf, $raf)e, ©leim, ben ©ottfd)ebianern
gegenüber mel)r ^Berechtigung als jet?t, wo wir eine flaffifd)c Sitteraturepodje
hinter uns haben, unb wo ©oetf)e IDleifterwerfe eines geläuterten 9?eali«=
mns gcfd)affen hat. damals fudjte mau bie falfdjen ©öfcen mit &itfe
StjafefpearcS 51t ftürjen; jefet ift Sbafefpeare uns in'S SBtut übergegangen,
unb einen Schiller unb ©oetlje 51t ben falfchcu ©öfeen ju redmen, baS ge-
trauen fid) bod) unfere verwegeufteu SMtbcrftürmer nidjt; nur bie ©pigonen
jener Ätaffifer werben meud)liugS aus bem SBegc geräumt. $m ©anjen
aber ift ber neue Naturalismus ein Rüdfall in baS unftare treiben ber
alten Stürmer unb Oranger unb in bie äfthctifd)c Anarchie, wctd)e jene
\82 Hubolf (Sottfdjall in £eip3tg.
geprebigt Ijaben. T>a begegnen mir auffattenben 2letmtid)fetten in ©fiiorie
unb ^ßrajil, unb roie in einem SSerirfpiegct mögen mana> ber ^ünflften
iljr grotelfel Qebatiren in ben 3Ser$errungen jener 3eit mieberfinben.
* *
*
Slidjt blol bie Stürmer unb ©ränger prebigten bamal* ben 9tatnrali#=
mul; aud) ber nad) 58olfltt)ümlid)feit ftrebenbe Sürger, ber verlangte, baft
bie beutfd)e SRufe nidjt auf Steifen geljen, fonbern ifjren Stoturfatednämuä
ju £aufe aulroenbig lerne. Gbenfo erflärt Sd)loffer in feinem Senbfdjreiben
an Senj, „bie SSerfemadjer Ijätten alle nur an ber §ülle gegangen unb ben
©eift nid»t gefamtt, ber fie belebte; el gebe taufenb gönnen, unb el fei
nur ein ©eift, ber fie belebe, eine Siegel, unb bie fei: füljte, mal 35u
fügten madien mittft. Unb bie Siegel letjre feine Aefttjetif." Gmancipatton
»on ben Siegeln — bal mar bie Sofung; mal Stotberg fang: füfte,
{»eilige Statur, lafj midi getm auf beiner Spur — bas mar bie alleinige
Siegel aud) für bal bid)terifd)c Sdjaffen. Siatürlid) galt ber ^roteft »or=
juglroetfe ber SBeilfieit bei 2lriftotelel; namenttid) bal ©rama follte ftdj
»on bejfen 2Betll)eit freimadjen. $atte Scnj fdjon bie franjöfif^e falfd)e
Auslegung ber ariftotelifdjen Siegeln niiebertegt, fo gingen bie Stürmer unb
Oranger nod) weiter unb madjten mit bem ganjen AriftoteleS reinen £iid).
33or Allem tf>at bie3 .^acob SWidjel Sieinljolb Senj, einer ber begabteften,
aber aud) »ernrilbertften jünger jener £>id)terepod)e, in feinen „Anmeldungen
über'l 3^eater", bie er in Strasburg nod) »or bem Grfdteinen »on ©oetl)e$
„©öfe »on $Berlid)ingen" gefdjrieben fjatte. ©afi biel Güangeltum ber
Stürmer unb ©ränger aud) baS Goangelium ber ^üngftbeutfdjen ift,
baran fatm man um fo weniger smeifeln, all el in merfnmrbiger SÖeife
»on einem jüngeren Sdjriftftetter roieberfiott wirb, ber inbefe f)immeli»ett
ba»on entfernt ift, »on einem foldjen Vorgänger GtroaS miffen ju motten,
fonbern etroal gunfelnagetncueS ju bieten glaubt unb bie ganje Aefttjetif
früheren ©atum* aus itjren Angeln liebt, mir meinen $cnri ©ertelmaim,
ber 1892 eine „©ramatif, Äritif bei mntlwlogifdien SnftemS unb ^c-
grünbung eine! neuen" herausgegeben r)at. Sd)ou ber 2Jitet beroetft, bafj
fid) ber SSerfaffer für einen Sieformator l)ält, ber novum quid atque ioau-
ditum »erfünbigt; jebenfaüs aber ift feine Xbeorie im ©inHang mit ber
jüngftbeutfdjcn s4$rarts. Gr menbet fid), ganj wie Senj, gegen ben Safc
bei Ariftoteles, baß bie 3ufammenfc^ung ocr ^egebeul)eiten, bie gäbet für
ben bramatifdjen ÄunfUer baS nnd)tigfte, bajj bie ,'panbtung ber tefcte Gnb=
Swecf bei ©ramal fei. „©iefc 5>orfd)rift," fngt l'cnj, „müffe für bie
neueren ©id)ter gerabejn umgefeljrt merben; nid;t bie gäbet fei bas ^rä^
eipium unb gleidjfam bie Seele uitferer Jragöbic, fonbern bie Gb^raftere.
Fabuk est una, si circa uniim sit. ©al leugnet 3lriftotetel. „33ei
ben atten ©rieben," fagt Senj, „mar'* bie £anblung, bie fid; bal SPotf
ju feben uerfammette; bei uns ift'l bie Steide »on ^anbtungen, bie mic
Die 3iittgft&entfd?en bes adftjefjnten ^atjttjnnbetts. \83
Donnerfd)täge aufeinonbcr folgen, eine bie anbete ftüfeen unb heben, in ein
großes ©anje sufammenftie&en muffen, ba* hernad» mdus mein- unb ni&fis
minber ausmtadjt, ate bie £auptperfon, wie fie in ber ganjen ©ruppc ihrer
3Mitl)änbler hetöorftidjt." Üenj behauptet, bie 2)?aunigfaltigfeit ber 6t)araftere
unb ber ^füdjologteen fei bie ftunbgrubc ber ütotur; fykx allein fd)tage bie
2Bünfd»eIrutf)e be* Weine*, unb fie allein beftiintne bie unenblidje 3)iannig=
faltigfeit oer £anblung unb Gegebenheiten in ber Stfelt. Unb an einer
anberen Stelle fagt er, bie heutigen Slriftotelifer malten Seibenfdwften ohne
Gharaftere. „2Bo aber bleibt ba ber Dtduer? roo bie golie, n>o bie tubim*
buelle Äenntnifj ber menfd)Ud)en Seele, n>o bie unefle, immer gleid)
glänjenbc, rüdfpiegelnbc, fie mag in Dobtengräberbufen forfdjen ober unter
bem 3leifrod ber Königin? 9!ad» meiner Gmpftnbung fdjäV id) ben
<harafteriftifd)cn, felbft bie Garicaturenmaler jehnmal höhet al$ ben ibcali;
fdjen — tjimcrbolifd) gefprodjen, benn es gehört jelmmal mehr baju, eine
gigur mit eben ber Öeuauigfeit unb SBal)rl)eit barjuftellen, ate baä ®enie
fie erfannt, al* selnt ^aljre an einem Qbeal ber Schönheit ju cirfeln,
ba£ enblid) boeb nur in bem öebirn be* ftünftler*, ber ee l»ert)orgcbrad)t,
ein foldjes ift." 9){an fiebt, Senj fdjredt nid)t »or ber Gonfcqucnj jurüd,
baf3 felbft ein Dramatifer, ber Garicaturen fdjafft, mehr auf bem redeten
SBcge fei, al* ein ibealer ^abulift, ber eine cinjjeittidjc .franblung 51t
fdiaffen fud)t. 2£a* ein §enri Wertelmann mit bem 2lnfprud), ein neues*
äfthetifebe* Suftem ju grünben, in feiner Sdjrift proclamirt, ba* bedt fid)
in fo auffallenber SSeife mit ben Wrunbfäfcen »on i'enj, bafe e* bem
Shtnbigen ah eine natfte SBieberholung erfd>eint. Die Gbaraftere, fagt er,
bilben ben eigentlichen Wcgenftanb be* Drama*. Slufgabc ber Didjtung
ift e*, Vergnügen *u bereiten burd) Darftellung oott Gharafteren. Die
Öanblung im Drama ift in erfter ßinie 511 beurthcilen in %b)iä)t auf bie
ß^araftere; ale Wunjes fommt fie erft in sroetter Sinie in Getrad)t, unb
ihre fogenannte Ginbeit ift fein bramatifdjeiS öefefc. Gr fügt fnnju, baj?
bie Spradjc be* Drama« bie ber 2Birf(id)fett nachahmen unb bie ^erfonen
ajarafterifiren müjjte. Da3 neue Spftem erroeift fid) alfo aH ctrca# fel)r
2Utee, unb bie Uebcretnftimmung ber burd) mehr al* ein 3al)rhunbert ge=
fannten Dramaturgen beroeift nur bie geiftige 33erroanbtfd)aft in ben litterari=
fdjen SBeftrcbungen ber beiben Gpocben.
öiebt man bie (Sinfjeit ber £anölung prei*, fo fommt mau leid»t
bei ben 3ofa'idicn lambeaux de la vie bumaine audj im Drama an.
Unb ba$ ift ben Stürmern unb Drängern ebenfo oft begegnet, wie ben
3üngftbeutfd)en, obfdjon ber bramatifdje Qnftinct bei oieten lebenbig genug
uiar, um bie gotgeu einer falfdjen Dbeorie abjnnjeljren; bod) bie uon Sfcnj
uerlangte ü){annigfaltigfeit ber Gegebenheiten jeigte fid) oft genug in einem
Denoirrenben ^cl'eneinanber oon §aublungen, ba« im Drama ganj unp«
läffig ift, weil e$ aud) bie Dl)eilnaf)me ^erfplittert. Die Gompofitioit'?;
tofigfeit ift ber .^auptfebler biefer ganjen Dramatif bec- aditjebnten unb and)
\8<k Hubolf (Sottfdjall in Seidig.
beS neunjeljiiten $af)rljunberts. Senj fetbft gießt bafür SBctfptetc genug ; her
genial wraulagte Diajter, ber aus einem SBirrfat beS SebenS in'S anbere
gerietf) unb bem ^rrfinn nerftet, f;at Stüde gefdjrieben, roie „Der £>ofmeifter",
t>ou benen man ntcfjt begreift, roie fic auf bie Büfme fommeu fonnten; au*er=
btngS gefd>al) bas nur in einer Sdjröber'fajen Bearbeitung am Sjamburger
Stabttl»eater. Die .§anblung fpringt in bicfem Drama, in roelcbem mehr
als stoansig s}ierfoncn mitfpielen, tjiu unb fier; fic üerroanbelt ftdj oft in
ein Sittengemälbe, bas felbftgenugfam im Berhältmj? ju ben fonfttgen
bramatifdjen SafoniSmen einen breiten ^ßtalj einnimmt. DicS f)ättgt mit ber
Zfyoxk beS DidjterS jufammen, nad) roeldjer bie Gharaftere fid) im
Drama ausleben muffen; bie einjelnen öruppen entfalten fidj faft ganj
felbftftänbtg, bie Berfnüpfung ift überaus [oder. Der (beliebte beS in bem
£ofmeifter entführten ©uftdjenS, $yrifc, unb fein greunb hoben in Seipjta,
bie mannigfadjften 9lbcnteuer, bie mit jener ben Gober ber ^anbtung
bitbenben @efd)id)te gar Vichts gemein f)aben. Unb überbieS geht 2Uleä
burdjeinanber, bie $anbtung fpringt f)in unb her. Grid) Sdjmibt fagt in
feiner Sdnift über „Senj unb Ältngcr" in Bejug auf ben „&ofmetfter":
„Bei biefem rafdjen 3Bed)fel ber Bitbcr ift es mir immer, als hörte id)
baS luftige ,Sd)au fic, gud fie' unb fälie Seilte äioifdjen ben getrennt
fteljenben Berfonen ober ©ruppen bebenb Inn unb t)er fpringen. 9luf einer
Seite breimaliger Scenemredjfel! Äaum hält er bei Gütern füll, fo fällt
ilmt ein, roa« wohl gerabe ber 3lnberc mad)t. Der 3>M*d;ai!er foll 3llle3
feb,en, fo will es bie mifjoerftanbene englifdje Dedmif." üiodj ärger geb/S
im „leiten Sttenoja" Ijer, beffen SqcIo mit ber Diogeneslaterne 9Benfd)en
fudjt — ber Dichter h«t feinen Begriff von bramatifajem gufammenhalt,
oon fünftterifdjer Defonomie. $tt ben Dramen SUingcrS ift BeibeS trofc aller
Uebertriebenljeit ber Gmpftnbung unb ber Grfinbung beffer gercahrt, nod)
mehr in $einridj Seopolb SBagnerS „ÄtnbeSmörberiu". 9ludj unfere jüngfte
Dichtung tjulbigt ber 9lnfdb,auung, baß ein Drama nur aus jufammen«
gerüdten SebenSbilbern beftchen foK. Die Ginhett ber £anblung gilt für
3tterglou6er. SEBir brauchen btoS auf ©erf)art Hauptmann« „SSeber" ju
oerroeifen, bie nur aus einer fficifie uon DabteauS unb ©enrebilbent be«
ftehen. Die Berfonett fommen unb t)erfd)roinben; jeber 9lct, ja faft jebe
Scene b,at einen neuen Felben. Der bramattfebe Slufbau ift f)öd)ft pri=
mitiuer 3lrt unb mit ber .ftoläart igejimmert; baS (Sanje finb ©udfaften-
bilber, unb ba§ D^eater nähert fid; bem „3laritätenfaften", ber in mandjer
.§inud)t ba« ^beai ber Stürmer unb Dränger mar.
2Bir b,aben gefefjen, mie ßenj felbft ben Garicaturenmaler für einen
größeren Äünftter hält als ben afabemifd) ctrfelnben Dichter, meldjer auf
bie gabel ben &auptnadjbrud legt. Gr fah fid) roo^l felbft babet im
Spiegel, benn feine Gt)araftere finb ilmt nur ,u oft als Garicaturen ge=
ratfjen, ja, roo bie ^rafce i^r gutes 9icd)t f)<rt/ roie in ber ^Soffe, ba letftet
er bisweilen 2lnerfennenSroertl)eS. 9lud) in feiner ernften Dramatif fdjafft
Die 3üitg|t&entfd!en bes actjtjeljnten ^aljrfjunberts. \85
bei ifmt bie Ueberlabung mit cb^rartertfttfdjen 3ügen, bie 511 fdjarf auS=
geprägt finb bis in'S 33arode unb ^tjarre, bie Garicatur. ©raf Gamäleon
nnb ©ottua ©iana im „9ieuen -Dtenosa" finb fotd^e bis jur Ungeniefcbarfeit
djargirte bramatifdje Jigurett. $n ÄltngerS „Sturm unb ©rang" ift ber
alte itartenrjäuferbauer 33erflep eine ungewollte Garicatur, unb es ift nid)t
leid)t, ben logifdjen Sinn auä feinem blöbfinnigen ©eftammet t)erauSju=
frören; beabfid)tigte Gartcaturen aber finb bie greunbe beS gelben SBilb,
ber blaftrte SlaftuS, ber mit feiner Sangenroeile auch, feine geliebte
Suife anftedt, unb ber überfdjroänglicbe Sa ft-eu mit feinen paftoralen
Schwärmereien unb fetner Siebe ju ber reifen Sd)önljeit Slatharine; bod)
bie bloS im Uebertriebcnen beftebenbe 'jßoffenhafttgfett crmübet. 2lud) bie
tragifeben Gbaraftere rote bie betben ©nelfos in ben „Sroittingen" finb fo
cfiargtrt, bafj fie btcht an ber ©rettje &er Garicatur fteficn. Sagt bodj
33ürger »on bem jüngeren ©uelfo, eine SHeftie roie biefett muffe man tötten
rote einen tollen &unb, unb ba« Sttdjroort „ein Söroeublutfäufer" fam auf
bie £agcSorbmtng. ©od) aud) 100 baS Gh^ratteriftifche fid) innerhalb
äftf)etifd)er ©reusen hält, fann fein .Uebergeroidjt bie £anblung lähmen.
©aS finb Ginfettigfetten einer falfdjen Sheorie, bie fid) roie ^Bleigewichte
an oie bramatifdjen ©eftalten in »tcteit ©ramen jener Gpodje hängen.
Gbaraftere, bie fid) Setbftjroed finb, gehören in baS 2Berf beS Üheophraft,
aber nicht auf bie 23übne. 2Bie baS bramatifche ^ntereffe unb bie Sebent
fäfjigfeit ber Stüde barunter teiltet, baS beroetft j. $*. ber „College Grampton"
©ertjart Hauptmanns, beffen .frelb ein bebauerltdier, bem Trunf ergebener
Mnftler ift — ein Gfiarafter, aus bem nur einige bürftige Jäben ber
.^anblung fierauSgcfponuen finb. 3lebnltd) ift es in vielen auberen jüngft=
bcutfdjen Stüden. 3?od; heute gilt, was Berber in ber „9lbraftea" fagt:
„Sie Gharafterfomöbien rote btc aufgepmjten Gharaftertrauerfpiete finb
hinfenbe Stüde. 28ill id) Gharaftere befd)rieben fehen, fo nehme id) 2heo=
phraft, la 33rut)6rc, 3lriftotele-j' JRhetortf. Cfnte t>afs fie in eine Jabel
greifen unb mit ihr imtig oerroebt finb, hinbern fie baS Suftfpiel. .^folirt
ftebt fobann ber breit angemetbete (Sharafter oor mir, gcfdtftoert, nid)t
fjanbelnb. 9lngepufet roirb er unb angezogen, rings um il)n roerben Spiegel
geftellt, baß man ihn ja r>on allen Seiten erbtiefe nnb wahrnehme, ©ann
roirb er entfleibct, man scigt feine .<pöder, roohl gar roirb er lebenbigen
SeibeS operirt, fecirt — eine pctnttdje Äunft!" Namentlich roaS bie £öder
betrifft, barin letften bie Stürmer unb ©ränger, bie ^üngftbeutfdjen unb oor
9(llem itrr 2Mfter ^bfen mehr, als Berber in ahnenbem ©emütbe t>orgefd)aut.
,,©te trefflid)ften Stüde," fagt Berber, „finb nie ohne Jabel, unb je beffer
es ber ©id}tcr »erftanb, befto forgfamer tiefe er ben Gbarafter bem ©e=
roebe ber Jabel nur ötenen." ©ie abfonberltchen bijarren Gbaraftere, bereit
.§aublungSroeife ctroaS Unberechenbares bat, finb in neuefter fy.it roieber
SRobe geroorben, unb befonberS ber ^tafiuS ÄlingerS fiubet mausen 9tb*
flatfd) unter ben jüngftbeutfd)en -öetben.
9lotl> nnb Süb. LXXV. 124. 13
\86 Hubolf von <5ott|<ff<xll in £etp3tg.
Sllle gramen ber „Stürmer unb ©ränger" finb in Sßrofa gcfdmeben;
ee tag barin gegenüber ber etwa*? pb>afenf)aften ©ramatif ber Gronegf,
33rafje, Stiegel, SBetf? ein ^roteft, bie Sü'enbung jur Jiatur* unb Sebent
toafirtieit; ©erftenberge „Ugolino", ber aud) biefer 3ri<f)tung angehörte,
unb ber mafwollere „ftuliu* von ©arent" von Seifcwifc finb ebenfalls in
Sßrofa gefebrieben. ©od) biefe $rofa erfdjetnt uid)t in alltäglicher &e-
wanbung; fie jeigt ben ©egenfd)lag gegen bie getragene iBer*bid)tung junädjft
in ber ©erbbeit unb iHotiljeit be$ 2luebrucf3, reelle bem fteifbeinigen
tragifdien ?ßot^o§ fyerauäforbernb auf bie Hühneraugen trat. ©arin unb
fid) alle biefe ©id)ter g(eid); bcr Gpiemu* als craffer Vertreter bcr
9iaturn>al)rl)eit f»at ba* grojjc 2i'ort. 3« einer ber originellften Scenen bc*
„Hofmeifter*" non Sen$, al* ber alte SHajor feine entehrte ©od)ter au* bem
©eid)e jie^t, in ben fie fid) geftürjt l)at, fdjmanft berfetbe jroifcb>n feiner
greube über bie Rettung be* Äinbe* unb feiner inneren Gmpörung über
if)re Sd)anbe unb giebt biefen miberfprudjSüollcn ©efüfjlen in fcf)r fräftigen
SBenbungen ?lu*brucf: „Wuftel, was fef)tt ©tr? Haft Gaffer eingefdjtudt?
33ift weg, mein ©uftel? - Wotttofe Canaille! Hättet ©u mir nur ein
3Bort t>orf)er banon gejagt, id) Jjätte bem Saufejungen einen 3lbet«brief ge-
lauft, ba bättet 3b> fönneu ,3ufummenfricd)en!'" 2JJeit;rl)in fagt er: „3<b
t>erjeif)' ©ir, »eräeib/ ©u nur mir! 3a aber nun ift'3 nidjt meljr 511 änbern;
idj l)abe bem Hunbsfott eine Sauget burd) ben Äopf getnaHt;" unb bann
wieber: „D ©u mein einjig tljeuerfter Sd)afc! 3>a& id) ©id) in meinen
Slrmclt tragen fann, gottlofe Canaille." GHne äfmlidje Äraftfpradbe ftnbet
fid) in SiSagucr* „ÄinbeSmörbcrin" ; ba fagt ber alte H"iwpred)t, ein "Jtor=
gänger bc* 9Ruftfu* ÜKüüer in „ftabale unb Siebe": ,,©a* Sumpengejeug!
©er »erbammt- sJJidel! ©cn Stugenbtid foll fie mir au* bem Haufe!
deinen Riffen fann id) in 9iub> freffen, fotange bie Hure nod) unter einem
©adje mit mir ift!" unb at* er ben Sünbenfall feiner ©odjter erfäbrt,
fagt er *ur mttfdntlbigen 2Kutter: „33eftie, üermalcbctte 33eftie, b>ft ©u
meine £od)ter jur Hure gemacht!" ;]jn Sllinger* „Sturm unb ©rang"
fagt Sa acu gleidj beim beginne bc* Stüde*: „$ft feine alte Here ba,
mit ber id) d)armiren fönnte? 3f>re Stunjctn follen mir ju SBelleulmien
ber Schönheit werben, if)re b>rau*ftef)enben fdjwarjen 3äfme ju marmornen
Säulen an ©iana* ©empet, if)re f)erab()ängcnben tebemen Bifeeu Helena*
33ufen übertreffen." ©er Helb be* Sd)aufpiet*, 2Btlb, fagt ein anoere*
99tol: „9?tmm ©einen ©egen fo, nimm ©einen ©egen, ober id) würge
©id) in biefcin lieber unb frejj ©ir'* HctJ «w* bem Seibe." 3lud)
bei SBialer SÖiiiller finben fid)1 genug berartige, fd)on »on Jvriebridj
©cblegel gerügte .siraftp^rafen. „©er ^saulferl", „lümmelt", „3)Jiftgeftdit",
„^affion*f(cgel", „id) idnueiß' ©ir ©eine Örimaffe". 3n feinen ^bnUcn,
forool)l in feinen antifen wie in feinen beutfdjen, Iäftt 3J?üllcr im ©egenfafee
jur Sentimentalität ©ejjner* unb feinen empftnbfam ausgemalten 2lrfabicn
bie ©erbbeit bcr rol)en 9tatiir unb einer oft y'tgellofcn Sinnlidjfeit walten.
Die 3ün(jjfteutfd(en bes adjtjefyiten Zak^nt)ttts. 187
IDlüllerä „Sator 9)?opfu3" ucrfpridf)t ber 9ttmtphe aU haften @tüd$=
genug: „er wolle fie im ©rünen jagen, il»r bie Äteiber vom ßetbe reiften,
fie giften unb fifeeln nad) &erjen£tuft, fie auf bem Saud) herumwerfen
nnb ihre Sdjenfel folange platten, bafj fie tf)r funfein follen wie
eine jeitige ©ranate; fie füttern unb mäften wolle er, bafj fie feift
würbe unb bidteibtg unb einen fragen üon Sped befäme wie ein fette*
Hertel." .
2lbgefef)en »on biefen rohen Derbheiten fd)wanft ber (Stil ber (Stürmer
unb ©ränger jnrifdien bem überfdjwänglidj @d»wülfttgen unb bem trimal
Dtüditeraen: eine -IIHfdmng', bie ftets wteberfehrt bei ben fraftgenialen
Dramatifern bt$ auf bie jüngften beutfdjen 9lu£täufer. Da§ fülmere 33itö,
ba# ber Dbe geläufig ift, bie |>i)perbel ift in bie bid)tirifd)e ©ewanbung
aU £auptfd)mud Ijineingemirft. Sei ÜDialer SJüller, befonberä in ben
bramatifdjen Fragmenten, reidjt eine £nperbel ber anberen bie $anb. „D
mein föcrj ^üpft mir oor $reuben, wenn id) an fie benfe! 3ft e3 nidjt,
als wenn <Srb' unb Gimmel fid) erfd)öpft Ratten, um SBoIlfommenheit ju
bilöen." „£ie§ es laut, bafj jebe Sßanb fid) entfefce unb ber unempfinbfame
St;in t>or Sdjam erröte.*' 2tud) 2Bagner$ „ÄinbeSmörberin" ift reid) an
4?t)perbeln: „Die mögen meinetroegen aud) ein ©ewiffen haben, baS gröfjcr
ift atö bie ÜDiefegerau brausen;" „Soll mid) ber Zeufel lebenbig jerretfjen,
et)' id) ein 2Bort hinsufetje." „2Benn er bleute SatiSfaction »on mir »er-
langt, fo fott er fie haben, unb wenn taufenb Sdiaffotte unb taufenb ©algen
baneben ftünben." „Die SJippen itn Seibe tret' id) if)r entzwei !" „Wtit
magrer £er}en3wonne will id) mid) in feinem Stut herumwäljen." Die
fd)wungf)aftefte, aber aud) fdtroütftigfte töraftfpradje finbet fid) bei Älinger,
fortmäfjrenbe Stnaftrophen unb (Spiftrophen, cmphatifdje 2Bieberl)oluugen, ge-
wagte, oft gefdjmadlofe Silber: „Der Dob b,at fid) längft um meine ©e*
beine gelängt, losreißen merb' id) it)n bieSmal nidjt. D Gamüla fann fönen
au£ Dbbeefdnaf weden, fann (£inen umwerfen mit einem Slid." ,,3d)
möd)te biefe Aeueriuotfeu jufammenpaden, Stunn unb SBetter anregen unb
mid) jerfd)mettert in beu 2lbgrunb ftürjen." „Sd)au nidtt, ßamiHa! Setter
©uetfo heult, unb wenn er heult, hentt Sieb' aus ihm." beulen unb Srüllen
finb Siebliugemenbungen be* Dichters. Gine fieberifd)e Bewegtheit dwrafteri«
firt feinen ganjen Dialog.
@S ift feine ftragc, bat) Sd)iHer3 ^ugcnbbidrtungen ben ©etft ber
^Stürmer unb Dränger athmen; fie waren ein 9?ad)fpiel biefer Gpodie, unb
ba§ SerbinbungSglieb bilbete ber gefangene Dtdjter Sd)ubart oben auf bem
.Öoftenafperg, ebenfalls ein Äraft« unb geuergeift. 9ln £t)pcrbeln finb
bie „Räuber", „gieäco" unb „Äabale unb Siebe" hod) reicher als bie
Dramen ftlingere unb feiner ©enoffen; bod» bem fdiärfer Slidenben fann
ce nid)t entgehen, bat's in ben Sdntter'fdien .^operbeln eine große bramatifdte
Mvaft liegt, währenb in benen Älinger* unb ber 9lnberen nur bie gefd)wollene
yiraftphrafe, hödtften- ^n ftfirnitfdjeä SJaturell fid) aueprägt, bem feine
13*
^ 88 Hnbolf Don öottfdjatl in £«{pjig.
SebenSäuBeruugen Selbftjroecf finb, aud) wo fie bic bramatifd)e SBirfung
oerpfufdjen, ftatt iljr ju bienen.
.£>anb in &anb mit biefen überfd)n>änglid)en ©rgüffen gelten aber bei
bot Äraftbramatifero bie ÜRaturtaute bcr ßtnpfinbnug; oft löft fwf» bcr
Dialog in ^ntenertionen auf. 3>ie Ijafta, f»of)o, f)u finb befonberS bei
Mttger überalt ju jtnben unb erfefcen oft baS ^ktfjoS beS SramatiferS,
J»aS fid) nad» Tegels Anftdit ftetS „erpticiren" folf. 3iamcntti<^ ber &elb
in „Sturm unb Drang", SBilb, ift unerfd)öpflidji in fotcben Ausrufungen,
unb aud) ber &etb ber „3t»illinge", Ghtelfo, roirb ftetS feine „&u" aus*
ftofjen, roenn etroaS ©rauftgeS in ber Suft liegt, ©ine ergöfclidje ^robe
biefer ^oefie ber Ausrufungen finbet fid) in bem Fragment, baS Seuffert
in feinem 2Berfe über ben 3Rater -Müller, au« beffen „.§einrid) V." miu
tfjeitt : „9Beg — meg, weg! 9ScrfCud;t fei aller £roft — o! $d) null bic
3unge jertreten, bie mir t»on öebulb fpridjt — of>! of)! ob,! ot|! ad)! So
mit mir um^ugelin — fo! — fo! — fo mit mir umjuge^en! 2Rein arme«
graues föaupt ju »erfto&en — SBinb unb SBetter, allen dementen preis!
€f), of)! ob,!" Das ftingt roie eine ^arobie auf Äönig 2ear.
Dafs aud) unfere iüngftbeutfd)e Dramatif ätoifdjen bem Ueberfdwäng*
liefen unb SBortfargen Ijin unb Ijer trrlidtterirt, ift unbeftreitbar. QbfenS
SJorbilb l)at ben fcanbina»ifd»en SafoniSmuS bei uns eingebürgert, unb
einige ber Süngften geberben ficb, als Ijätten fie in ber ©infamfett ber
norbifdjen ^jorbö baS Sprechen »erlernt. ©S ift roabx baß jtdj bei
©erfjart Hauptmann, beffen geber nur getcgentltdj einige ßnniSmen aus?
fpriW, too^I tjin unb roieber jene in Epigramme unb ©mpftnbungSlaute jtd)
pfpifeenbe SBortfargfieit finbet , ba§ er ficb, aber »on bem Sdjnnilftigett unb
Aufgebäumten freihält, unb baf? Subermann, tteldjer ben Qüngften ia »on
biefen felbft nid)t jitgeää^lt nrirb, aud) nur feiten eine töraftptirafe »erpufft
unb titetn- franjöfifdjcn ©fprit funfeln läßt; bod) mir Ijaben eine grojje Safyt
»on Dramen aus bem Atelier ber jüngftbeutfdien 3)iufe gelefen, in benen,
trofe ber bajroifdjen tiegenben geläuterten claffifdjen Gpod», bie Unarten
ber Stürmer unb Oranger, ifire GJefd)madlofigfeiten, Alles, roaS gleiten bic
„geftotterte ^Slirafe ber Unfttnft" nennt, fid) in auffaüenber SBeife nrieberf>olen.
* *
*
(jJeineinfain ift biefer jüngften @pod»c mit ber alten ©enieepodje bic
Vorliebe für bie comedie larmoyante, baS 9tul)rf(f)aufptel mit guten
Ausgängen ober audj mit traurigen, nur bafj bies traurige ftc^ ntdjt txtt-
fernt mit bem Xragtfdjen bedt.
.slein Geringerer als Berber in ber „Abraftea" b,at eine Sanje für baS
bürgerliche Drauerfpiel, für bie eomedie larmoyante gebrochen, „%e ge*
orbneter," meint er, „bie 5Dlenfd»en unb bie Staaten werben, befto meljr
rainbere fid) ber 3unber jur tragifd)en flamme; eine geroiffe 9Jaub,b^it bcr
Seele in £>errid)fud)t, 9?ad)e, Stolj, öraufamfeit fdjeine unter ber ^anb
Die 3nn$jibeutid|en &es ac^tjettntett Jaljriiunberts. ^89
i>er 3eit abgefchliffen, wemgfteus geglättet ju fein, baß fie fo fd)arf nic^t
äfce ober fdmeibe; mir forbern jefet einen fröhlichen, wenigften* einen ge;
mäßigten Ausgang." 3>ie &erabftimmung ber hohen Sragöbie ju bem
fogenonnten bürgerlichen £rauerfpiel ift alfo feine ©rniebrigung, feine 6nt=
roeitjung. ©er Ungeheuer auf fronen finb mir fatt; wir wollen in ben
uns näheren Stänben unb 23erf>ältniffen 9)tenfd»en fehen, bie mit eigenerer
firaft als »ielleid)t jene bie Sd)idung abwenben ober gegen fie fämpfen.
„!Qat bas rettenbe Stüd einen fröhlichen Slusgang, fo fdmterst uns ber Spott--
uame einer weinertidben Stomöbte (comedie larmoyante) ntd)t; mir f)aben
unter biefem tarnen rütjrenbe Stüde ber leibenbeu unb geretteten 2Renfd)=
tjeit. Ueberhaupt iffs ein gutes 3e*d)en, bafj mir ben ©efdjmad am
glitterftaat ber attfranjöftfd)en fomie an ber gotl)tfd)en ^ßradjt ber englifdien
Xragöbie »erloren tjaben; aud) bie 2:^eifnaf)me am ©eftirr unb ©elärm bes
alten gebanfentofen 9Uttermefens ift faft worüber". Unb biefen Stbfagebrief
an bie £ragöbie fdjrteb Berber 5U einer Qext, als, um einen uolfsthüm;
lid)en 9lusbrud ju gebrauchen, faum einen £unbeflaff »on ihm entfernt,
«Schiller in bemfelben SBeimar feine Xrauerfpiele: „SBallenftein", „2Karia
(Stuart", ,,©ie Jungfrau oon Drteans" gefdirieben hotte unb biefe «Stüde bort
am £oftt)eater gegeben mürben, ©erabe über bie ftofcebues unb ^fflanbs
trug Sdjtller mit biefen Stüden einen Sieg baoon, ber »on Sahrjefmt 511
Sahrjetmt fid) immer glorreicher bewährte. ©od) aud» bie »orausgehenben
«Stürmer unb Oranger hotten juglctd) mit bem SRatürlidjfeitiSprincip bie
comGdie larmoyante gepflegt, unb man fann aud) an ihren Stüden
uadnoeifen, wie in biefer SJJtfchgattung fid) leidjt bas $£ragtfd)e entweber
btos jutu traurigen abftumpft ober Leibes leer ausgeht unb ein barauf
angelegtes Stüd plöfelid) ein gutes ©übe nimmt, ^n bem „£ofmeifter"
»on Senj »erführt ber |>elb ein junges abltges 9Mbd)cn, feine Schülerin,
bereit Bräutigam auf ber Unioerfität fich herumtreibt unb fie ju twrgeffen
broht. ©a£ SJiäbchen will fid) in's 2öaffer ftürjen, ber eigene SBater rettet
fie. ©er junge Stubent aber rjeirot^et fie, ohne bas beneficium inventarii
oeltenb $u machen, darüber fefet man fid) leicht hinweg, ©in uerföhnlicher
Schluß erhält bas publicum bei guter Saune, ©er föofmeiftcr felbft aber
abälarbifirt fich; äbex auch biefer tragifchen ©reuelthat wirb bie Sptfce ab;
gebrochen, benn er t)siratl;ct trofcbem ein naioes, in ihn »erliebtes Sd>ul;
tnetftertöd)tertein. Sine merftoürbige ©he! ©od) mag's biegen ober
bredjen — es mujj fid) einmal 2lHes jum ©uten menben. $n Ältngers
„Sturm unb ©rang" t)errfd)t eine grimme £obfeinbfd)aft jroifd)cn Sorb
^Bufft) unb Sorb SBerflen. Sie Söhne von Reiben, bie in bie Sanbe
»erfprengt finb, finben fid) in Stmerifa wieber, ber ©ine, ber junge ^erflet),
«in üerroilberter Seecapitän feines 3e'd)cm3> l)at ben alten SBufft) auf
feinem Sd)iff entbedt unb ihn bei ftürmifeber See in einem 33oote aus;
gefegt unb bem fixeren £obe geweiht, ©arüber ergrimmt ber &elb bes
Stüde«, SiMlb, unb es foll jum 3iwifai"Pf fommen. ©a erjäf)lt ein
\90 Hubolf von (Sottfdjall in £etp3tg.
SWohrenfnabe, ein Siebting be« &apitän«, baf? er bamat« biefen getäufeht
unb ben 93ufft| in einem SBerftecf be« ©ct)iffe« in Sicherheit gebraut h«be.
Ta« fü^rt nun eine allfeitige SBerföIjramg fierbei — ba« ©tuet, eine
Tarantella be« roahnnnfeigen ^affeä, enbet mit einem fröhlichen SSatjer.
3n anberen ©Hufen ift ber 2tbfchtuf3 ein trauriger, ob>e iebe tragtfehe
Sebeutung. @o enbet in ben „©otbaten" von Senj ber ßonflict bamit,
baf} ber 3Sater feine Tochter, bie uon einem Dfftjier »erführt roorben, al«
©traftenbirne roieberfinbit. 9JJtt biefer fchmerjlidjen ©ntbectuug bricht ba«
©tuet ab — balnn führen bie Siebfchaften ber ©otbaten, ber Cfftjtere — ba«
ift biefetbe Tarnung unb HWatmung rote biejenige, mit welcher ber £ofmeifter
fd)tief.t. ©ort b^eifct e«: „|>ütet @ud) cor ben Söhnen be« War«!" tiier:
„ftütet ©ud) uor ber ^rinaterstehung ber Töchter!" Ta« 2llle« ift nicht
Tragöbie, fonbern com6die larmoyante. Seopotb SBagner« „£inbe«=
mörberin" mar anfang« al« Tragöbie gebaut unb niebergefdirieben. Tod)
brei Satire barauf b^at fie ber Tid)ter felbft in eine comedie larmoyante
uerroanbelt, burd) eine Umbid)tung, welche fie nid,t nur in unferen „beltcaten,
tugenblallenben Seiten" bühnenmöglid) machen follte, fonbern aud) bem Ting
am @nbe eine anbere SBenbung gab, „um allen feinen 3u^örern eine
fd)laftofe 9tod„t ju erfparen." $n biefem ironifd) angeführten SHoti» liegt
ja ber .fcauptgrunb für ben SBorjug, welchen bornat« roie je|t bie ^ülnten
bem 5Rüt)rftücf »or ber Tragöbie gaben.
$n heutiger $eit ift bie comedie larmoyante oon ^ranfreid) herüber«
gefommen unb bef)errfd)t bie fühlte. 93iele Tramen ber eigentlichen
9tepertoirebid)ter gehören biefem ©enre an, and) bie meiften ©rüde ber
3üngftbeutfd)en. Sin traurigen 2lu«gängcn fehlt e« in benfelben nid)t; aber
ba« Traurige ift nicht ba« Tragifcb>. $aft alle ^bfeniaben gehören in
biefen Bereich, aud) bie erfolgreichen ©rüde ber lefeten Qeit, ©ubermami«
„6t)re" unb „Heimat". Ter 2lbfd)tuf3 be« erften Trama« ift ein oerföhn*
lieber, bod) ba« Tragifcbe ber foäalen ©egenfäfce: ba« *8orber* unb hinter«
hau« fteHt nod) niete Tragöbien ber 3"hi«ft in 3lu«fid)t. $n ber „Heimat"
ift ber ©djtufe ebenfalls non jener abgeftumpften Tragif, bie bem 3Jüb>
ftüct eigen ift. Ter alte Solbat ftirbt gleichfam an ber 2Biebcrbegegnung
mit feiner Tochter; 3)?agba aber fefet nad) biefem pfncbotogifdjen fJJorb
roahrfcheinlid) ihren ©iegeetauf al« Mnftlerin fort. %n „©obom« ©nbe"
geht ber .§elb jioar ju ©runbe, aber ber Untergang biefe« innerlich
»erroüfteten unb gemüth«rohen 3)lenfd)en ift nur, rcie ba« SBertöfcben
einer hcrabgebrannten Äerje. 2i?enu in £atbe« „Jugcnb" bie £elbtn nach
ihrem gehltritt burd) bie Äuget eine« SBIöbfinmgen fällt, fo ift bie« ein
burd) einen 3ufal' hervorgerufener Änalleffect, ber mit ber inneren ©dwtb
unb ©ühne nicht ba« ©eringfte gemein fjat. Unb nenn in ©erhart £>aupt=
mann« „©infame SUenfdjen" ber .^elb, ber junge Roderath, ein geiftreicher
^rinatgelehrter unb Tarminift, fich in'« SBaffer ftürjt, weil bie 3urid)«r
©tubentin fein .öau« uertaffen hat, bie feinen ©eift unb andj fein £er$ ju
Die 3&n$fibtnt\dien adjtjeljnten 3<»1!rtiuni>*rts. \9\
fcffeüt oerftanb, fo ftel.t fidE» ber £elb be* Stüdes mit bicfem Selbfimorb
nur ein geiftige* 2lrmutf)*5eugmj} au*, unb man ftet)t in biefem 2lbfd)luj? nur
einen bebauerlidjen Vorgang. 9tud) Vertf)olb Sitsmann, einer ber eifrigften
Vorfämpfer Hauptmann*, befennt, bafj er biefc Sdjtuüfataftropfie rtidjt al*
organifd) empfinbet. Tie comMie larmoyante ift alfo bei ben Stürmern
unb Prangern fo beliebt, rote bei unferen 3üngftbeutfd)en; nur finb bic
letzteren nie über bicfelbe f)inau*gcfommen, betrachten fie al* bie allein*
beredjtigte #orm moberner Trainntif, roäljrenb von jenen Vorgängern nur
9ieint)olb Senj au*fd)lie£tttd) bei if»r fteljen blieb. Ter madjtüoHe Älinger
aber b,at nidjt nur »on &aufe au* aud) ed>te Trancrfpiele, wie bie „3roiUingc"
gebiditet, fonbern aud) ®efd)id)t*bramen, eine Äontöbie unb Trauten au* bem
2lltertf)um, roie 2lriftobemu*, Tamofle* unb bie Stüde, beren &elbin bie
2)Jebea ift, in betten er ftd) al* Vorläufer örillparser* jeigt.
*
Tie Sprit ber Sturmer unb Tränger ift nidjt frudjtbar gcroefen. Ta
ift bie jüngftbeutfdje Snrtf ergiebiger. 25M man jene in if)rcm ganjen Um;
fange roürbtgen, fo muf? man Talente mitf)eran3tcf)en, bie ttid)t in ben
engeren Slrei* ber Varnajjftürmer gehören, aber bod) ba* ©epräge ber
3iid)tuug meb,r ober roeniger- jur Sdjau tragen: ben Tnrannenfiaffer
Schubert, bie granbio* fief» geberbenben trüber Stolberg, unb fclbft ben
»olf*t()ümttd)ften wm 9lllen, Bürger, ber in feiner ungenirten Stoffroafjt
unb in feineu ennifdjen Terbf»eiten, in 9lllcm, roa* Sd}iller an ifmt fo fdjarf
tabelte, ber ÜKdjtung fein- naf)e ftanb. Tie 33rübcr Stolberg jäf)lte ©octfie
311 bem fyerfulifdjen Gentaurengefdjlectyt, ba* mit Vermögen unb Alraft nidjt
roufste roo an* unb ein. ©erabe in ifirer Snrif gehörten fie ganj 3U bem
©eniefturm. $)xe Dben Ijabeu einen überfdnuänglidjen Ton, oft aber geniale
Mfmtieit — unb ba* Uebcrfdjroänglidje, roenn aud) einem ganj anberen
3citgeift bulbigenb, finbet fid> in unferen jüngftbeutfeben Cben oon Vleib«
treu, Siufe, befonber* Gonrabi, ber feingeftimmte Ton oft burd) gelegene
ltd)e Terb()eiten unterbrochen, tute e* bei ben Stürmern unb Trängent unb
ifiren nädjften 3»"9«ni aud} ber $ali mar.
Von ben cigenttid)cu ^ü^rent ber Veroegnng roar J~ilingcr fein ütjrifer.
(*r hat biiroeilen „nütf)ige Verfe" gemadjt, roie er felbft in ber ,/JJeuen
3lrria" fie oorlefen läfct, Verfe ofme Metrum unb Harmonie — bie Sieget«
lofigfeit moberner äftfjctifdjer Starfgeiftcr önt aud) „niitfjigc Verfe" genug
an'* Sidjt geförbert. Ta* reijenbc ©ebid)t „Sophien* Siebe" ift ein au**
naf)m*roeife glüdlid)cr SBurf ber Mlinger'fdjen Sttufe. ÜNaler 3)iüller fwt
al* lurifdjer Tid)tcr faum eine beftimmte Vf)t)fiogitomie. Cbe unb ^bnlle
löfen fid) bei ifmt ab; er ift meift jügello* in ber ftonn; am beften gelingen
ifmt bie reimlofen freirfytjtfmtifdjen Ver*fnfteme, ber Ton ber £tjmne, aud)
für ba* £tebe*gebid)t; ba* Süftcrne überwiegt bei if)tit ba* Ueppige. Ter
roirflid) begabte Snrtfer jener 3«tt ift ffieinf)olb 2eny, feine erften Siebe*=
\<)2 Hubotf Bon (Scttfd)afl in £eipjig.
gebidjte laffen fid) faum oon ben 0oethe'fd)en uttterf ereilten; fie haben ben=
felbcu ©uft, biefelbe Slnmuth- 2Bemt Dtto ©ruppe in feiner Schrift „Steins
I)otb Öeiiä, Seben unb SBerfe" nad) einer 3^gUeberung feiner Siebesgebtdrte
fagt: „SDJödjten bie fo buref) bie ßebensumftänbe beleuchteten ©ebid)te ben
©nbruef erweden, baß" wir es b^er mit einein ber größten Snrifer ntdjt
nur ©eutfdilanbs, fonberu aller Qtittn $u tt)un haben," fo hat er wohl Den
sBogen bes Sobes etwa* $u ftraff gefpannt ©od) zweifellos nimmt i'cnj aU
Snrifer einen Sofien Slang ein. 28enn ©eroinuä fagt, baß feine Stiftungen
unt;r bie traurigften Seifpiele ber unfinnigen SSerirrungen gehören, bie ben
©eutfdjen eigentümlich finb, ba fie bas Gepräge feines wirren 2i>efcn*
an fid) tragen, wenn ÜWcnjel itm wegen feiner raftlofen ^iebertnfce unb
3ud)ttofigfeit ausfdjilt unb oon feinen öebtdjten nur fein fd)abloncnhafte£
Sanbplagenpoem ermähnt, fo würbe ein ©lief auf triefe Siebeslieber aller;
btngs bie geftrengeu 3üd)ter milber geftimmt haben. 2*?cnn er ber Qk-
liebten juruft:
„Du allein giebft Xroft unb ftreube;
JEBätft £u ntcfct in bitfer ffielt,
<Srra<f« fiel alle Suft §ufammcn,
SEBte ein g*uertt>erl jerfäJt.
8Benn bie fcbjjne Stamm' erlifdjet,
35ie baS all gejaubert bat,
Sleibtn 5Raud) unb Sränbe fte&en
SJon ber Bnifllidjen ©tabt."
fo ift ba« lnrifd)e ftracturfdjrift in ben fräftigften £üQax, unb ganj im
©oetb/feben Ton erftingen bie ^erfe:
„Unb unter Soden, toeldK fliegen
Um üjrer ©djultcrn (Hfenbeht,
SBerrätlj ein ©ettenblicf beim Siegen
Xen fdiBnen ffiunfcb, beftejt su fein!*
Stürmifdje Setbenfdjaft atfnnet bas frei rl)utr)mtfd)e ©cbtd)t: „©er m-
lorene 3lugenbtid". ©a* mödite nodj am meiften an cinjelne (*rgüffe ber
neueften Stürmer unb ©ränger erinnern, währenb jene ©oethc'fcbe ©rajie
itjnen unerreichbar geblieben ift.
* *
*
3Öas inbeß ber neueften litterarifchen ^Bewegung bas erfennbarfte (Ge-
präge aufbrüdt, bas ift bie rüdfidjtslofe Äüt)nl)cit in gefchlechtlidjen
©ingen, womit fie bas Sügengewcbe b,eud»lerifd)er Gonnentionen 511 5er*
reißen fud)en unb als 2lpoftel nadter £ebenswahrr)eit bie große 9Jcr>olution
ber Sitteratur burdjgeführt ju haben glauben. Unb bod) bewegen fie fid)
gerabe hier in ben alten ©eteifen, weldje bie fin-de-siecle-£itteratitr bes
norigen 3nl)vb,»«b;rts ausgefahren hat, unb es jeugt »011 einer gro&en Un=
fenntniß berfelben, wenn man hier etwas Sicues unb 9{tebagcmefenes ju
Die 3nng{ibeutfd)eit bes a^eljuten 3>itirl)uiii>ertä. 19^
bieten glaubt; ja eine 2ltrt()ologie btefer gefdjledjtlidjen ftülmfietten brauet
fid) nicfjt auf bie Stürmer unb ©ränger ju befdjränfen, fonbern fie fann
bie ganje bamalige Unterfyaltungslitteratur mit in ifire Streife $ief)en. &n
SUdt barauf ift aud) nad» einer anberen Seite feljr lefyrreid). S)ie Üitteratur
befanb fid) bem (Staate gegenüber bamal* in einem 3uft«>tf« ber Unfdndb;
bie 3umutf»ung, bafe bie 5l*ertreter ber ^fuftij fid» mit iljren (Srfinbungen
befdjäftigen unb fie oor ©erid»t ftellen mürben, t)ätte fie mef)r befrembet
aU erfd)redt. ©amate gab cä fein föetdjsftrafgefefcbud) mit Un$ud»t**
Paragraphen; bamate gab e* feine lex ^einje unb feine Umfturjoorlage,
unb ein blutiger StaatSanroalt mürbe einen 2tugia3ftall ausräumen muffen,
menn er alle biefe ©ramen unb JWomanc oor ba* Jorum beS Strafriditer*
jiefjen wollte. £ie Grnte ber 9)Hffetl)at ftanb bamate in »ollen Jahnen
unb erforberte einen „Sdjnitter fonber ©tetdjen".
bleiben mir junädift bei ben Stürmern unb ©rängern ber ftricten
Dbferoanj. Sieinfjotb Scnj uor 3lttem pflegte ba>3 „fepeüe Problem", um
biefen terminus technicus ju gebrauchen, mit bem fo oiel Unfug getrieben
mirb. Sein „föofmetfter" »erführt ba$ ©belfräulein, ba$ feiner ©rjiefmng
anwertraut ift; fie wirb fdjroanger. 2Bie l)at man fid) befreujigt »or Hebbel*
SJiaria SDJagbalena! — 3tt ben Siomanen unb ©ramen jener früheren &it
finb fdnoangere 99iäbdjen fo oft bie ^elbinnen, bafj man fie ju ben „fteljen=
ben Jviguren", befonberS ber ©ramatif redmeu fann. ©a« fdjroangere
^räulein aber miß fid» in'£ SBaffer ftürjen, mirb aber fdrtiejjtid) won ifirem
frütj^ren Bräutigam Jvrtfe gel)ciratt)et, ber über ba£ fteine Ükrfefjeu binweg*
fiefjt. „darüber fann fein ÜKann hinweg" — bamate ftanb man utdrt
auf bem Stanbpunfte be$ ^ebbel'fdjen Secretär*. ©ie ©pifoben fjaben ben
gleidjen Gbarafter wie bie £auptf)anblung. ®ae Uni»erfität-Meben in
Sctp5ig bringt %vi$, mit einem ©enoffen jufammen, meldier bie Xodjter
be3 ÜMifus 3iel)aar »erführt Ijat unb f)etratf)et, als er ba* grojje
£oo3 geroonnen. 1>ic Söfäbcbettoerfüljrungen ftcfien in biefem Stüde in
3Hütf»e. $m „9ieucn 2JJenoja" wirb bie lölutfdjanbc bramattfirt — wenigftenS
f)eiratb,en fid) ber $rinj unb feine (beliebte, in roeldjer er am Xage
nad) ber ftoefoeit feine Sdjroefter erfennt. ©od» bie 9ioue bee DebipuS
wirb tfnn erfpart — fie ift nid)t feine Sdjroefter, fonbern in ifirer ^ugenb
oertaufdit worben. ©leidjmofil ftedt ba$ Problem ber ©efdjnrifteretje un=
fieimtid) in ber Suft. $n bem Stüde „3)ie ^reunbe machen ben ^ßlnlo«
fopb/*n," banbelt ei fid) um eine Sd>emel)e, ä^nlid) etma roie in .ftebbete
„3utia". Stephan, ein junger, lieben^würbiger ^ß^ilofopf), ttebt Serapijine,
bie Skaut be^ ^rabo, unb am Sdjluf? ift ^Jrabo fo gefällig, fie ju beiratljeu,
bod) nur, um it>r feinen 9iamen ju geben; alle efjelidjen JWedjte tritt er an
ben ^5f)itofopf)en ab. $n ben „Solbaten" wirb 3Karie, bie £oa)ter be§
Jtaufmann« SBefcner, oon einem Dffijier »erführt unb aud) entführt. 9Bir
finben fie wieber im Tienfte ber 3>enu^ 9?utgioaga. 9)Jan fiebt, bie Scnj'fcbe
3>ramatif ift ein SBefpenneft ber pridelnbften unb anftöfiigften Ärbältniffe
W HnMf von (Sottfdjall tu £«ip3td-
unb wäre ein rechtes treffen für einen mobemen Staatsanwalt, wenn bie
beabfichtigten ©efefee burd>gegangen wären.
•iiHr b^aben fdjon gefefjen, Wefelen jügeltofen 3Serfehr bie gaune unb
Shmtphen in fötaler 2)?üuerS antifen 3br>uen mit einanber treiben, unb muh
in ben pfäfjifd»en ^bnüen, ber „Schaffdbur" unb befonberS ben „9hifcfernen",
fehlt es ntdrt" an epifdjen Semerfungen unb SUatfcbereien. Tie Stubenten:
feene in feinem „Jauft" tft übertrieben roh; fic »orjugSweife beftimmte
grtebrtdj Stiegel ju bem SutSfprudj, 9)?üllerS „$auft" fei £anbwerfsburfcfjens
poefte. Ter erfte 3fct »on SßagnerS „JlinbcSinörberin" fpielt int gelben
tfreuj, einem Horbell; bie 33erführungSfcene wirb hier beS breiteren vtx-
breitet. 2Bie ber fieudter »om Tifd) föCt unb baS Sidjt ausgebt —
(£wfjen fjebt ben Seudjter auf, ber Hauptmann greift barnod), ober er greift
„bran »orbei", was li»djen 511 bem 9(uSruf: s^fui! »eranlaft; baS finb
Scenen, bie an Wcrtjavt Hauptmanns „3Sor «Sonnenaufgang" erinnern.
TaS ©efpräd» beS Lieutenants mit ber fupplerifdjen unb oerltelten SJiutter
GödjenS ober gar feine Unterhaltung mit ber Ttenftmagb, beren SBefanntfdjait
er früher in einem trautid)en Gaf6 gemacht; baS tft Naturalismus de pur
sang unb mühte jüngftbcutfd)e 93ewunberung erregen. 2BaS ßlinger be*
trifft, fo hat and) er jur 3«", ^ er in ben (Jrbfotgefrieg 50g, 00m
wüften Solbateitlebeu mit fortgeriffen, mehrere red,t laSciöc iWomane ge«
fcf>rteben. 33on Mtinger faßt @rid) Sdnntbt, er bringe unbebenffid) ba£
Sinnltdtfte auf bie ^üfjne, nidjt obne einen führen SBurf in Simfone.
Ter „Simfone Wrifatbo" war es, ber bem Tidjter ben Spottnamen be§
„Söwenbtutfaufers" eil trug. $n feinem Suftfpiet „Ter Sdmntr wiber bie
Che", in weitem er, ber SSorrebe infolge, beutfehe Sitten fdulbern will,
täj,t ber @raf vBlumin, ein SBeibcrhaffer, feinen Sohn fdjmören, bafi er
nie ein SBeib fjeirathen, aber fo »iele Sßetber als möglich »erführen foDe.
(£r »ergift biefen Schwur, als er eine junge SBittwe fennen lernt, bie
auch ihrerseits gefchworen hat, alle ÜDtänner ju »erführen unb feinen -Kann
ju tyhaifyw. Ter 5?ater interoenirt unb bietet felbft ber SBittwc feine
£>anb. Sie fdjlägt ein, weift aber julefet SBater unb Sohn jurücf.
X'lud) Heinfe wirb oft ben Stürmern unb Trängern beigeäählt, obfdjon
er wefentlid) unter SBielanbs Gnnflüffcn ftanb, »on benen jene 9itd)tg
wiffen wollen; in bie fieberiger %afyct fällt nod) fein fd)lüpfrigeS ©ebid)t
„Tie Äirfdjen" unb fein „Laibion", weldjeS bie ©efdncfe ber SaiS behanbclt
Tie Jmhlerin wirb »on einem Sobtengertdt, bem fie ihre ÖebenSgefdnd)te
erzählt, »on jeber Sdjutb freigefprochen unb für würbig erflärt, bie elnftfdhen
SBonnen 51t genießen, befonberS, weil fie bie SBaage ber Öercd^tgfeit unter
bem .'öembe getragen, ^ugenb unb 3llter gleichmäßig beglüdt unb ihren
Wemhm mit ben 9(nneu getheitt. 2lu biefe SaiS erinnert bie 2f|<-rotg,ne
»on 39K'ricourt in bem jüngftbeutfdjen (SpoS ber ßngeme belle ©rasie „9iobe*s
pierre"; beim auch biefe ^h^oigne rühmt fidb, ihre ©unft ben .^äfelichen
gefdtenft unb biefen fo für fehlcnbe SebenSfrettbe (Sirtfdjäbigung geboten ju
Die ^fiiigfi&entfäen bes a<f)t3et[ttten 3al?*'t<»>'&'*te- \9§
fabelt, „Saibion" ift eine 2tpotf)eofe ber ^Jroftitution. ^eiitfes £auptroerf
„3lrbittg^eIIo" enthält neben ben Eunftbetradjtttngen, in benen manches
<3d)öne nnb S8ead»ten3roerrt)e gefagt ift, eine 9Jei^e oon SiebeSabenteuern,
in betten jum Tfyeil b,öd)ft emancipirte grauend»araftere bie Hauptrolle fpieten.
Seine erfte Siebe ift eine ßäcilia; fie roirb 2Hutter burd) Um, er crftidjt
iljren Bräutigam am £od»jeitetage. Tann gilt feine £eibenfd»aft einer
Sucinbe, bie er ju »erführen fudjt. ©ine greunbin berfelbeit, gutoia,
fdjleidjt fid) ju it)m unter bem Tanten SucinbenS unb beglücft ifm. «Sie
miß ifmt bafür biefe in bie 9lrme fptelen; bod) fie t»at fdwn einen Bräutigam,
ber bei ben ©aracenett gefangen ift. SBenn 3trbing|etto biefen befreie,
fo toolle fie tljm juerft angehören, darüber fteflt fie if)tn eine SBer*
fcfireibung aus. SBeiter fann man bie gretgeifterei ber Seibenfdjaft nid>t
treiben. 2lrbingb,elIo ftefft ifjr nad) ber ^Befreiung be8 SBräutigamS biefe
aSerfdtreibung prüd, unb fie toirb roa^nfimrig. Tann liebt Slrbingb^llo
eine tjöcbjt freibenfenbe Römerin, bie fidj Gebern fjingiebt, ber ihr gefällt.
9lad) mandjen Siebeäabenteuern Slrbing^eHo« f»eiratl)ct fie biefen, ift aber
bamit einoerftanben, bafj fidt) 3trbing^etto mit feinen greunben, allen feinen
früheren (Mtebten unb beren Erobern auf einer gried)tfd)en ftnfel anfiebett.
Tiefer Vornan, ber überbieä titele iftubitäten enthält, mürbe roofjt gegenmärtig
ba$ 2oo3 oon 3<>fo3 „9iana" geseilt fiaben.
SKodj trollen mir aber einen 2>li<f auf bie fin-de-siöcle=Sitteratur
werfen, bie mit ben principiellen SSertretern ber ©enieepodje roenig gemein f)at,
aber bod) unter if)ren ©inftüffen ftef)t: auf bie llnterfjaltungslitteratur in
Vornan unb Tramattf — unb aud) btefer^lid roirb uns jetgen, bajj bie
3Jtufe ber 3füngftbeutfd)en, infofern fie gefd)led)t(td) fed unb 5ügello$ auftritt,
fdjon im oorigen ^afjrb^unbert fogar in einer großen 2)?affenprobuction gleidj=
artige Sßenbungett unb gtetdjartigen ©tit toieberfinbett fann. Tie Sieblinge=
fdjrtftfteller waren bamafe Gramer, ©ptef? unb ßafontaine. Gramerä
„Teutfdjer 2l(ctbiabe$" ift ein ^nbant ju |»einfe§ 2trbirtgr)ello ; er lieft
immer mehrere SNäbdjen unb grauen jugleidj. Gr roirb gürft, unb jroei
berfelben, feine ©emafjlin 9Hfa unb feine ©etiebte ^ulie, teilen fid) if>n.
Gine eiferfüditige ©räfin fditefjt auf if)n, roirb aber oon einem feiner
3fäger mit einem $irfd)fänger getöbtet. ^n bem Vornan ber ,,©lücf3s
pilj" t)at grifc, ein junger ®ef)ilfe eine« alten iBerroatterS, ein et)ebred)es
rifd»eS 5ßerb,ältnif3 mit beffen grau Tord)en. Ter 2l(te entbedt baSfelbe,
fd}lägt aber roeiter nidjt Särm, fonbern fd)idt grifc fort. Terfetbe liebt unb
fjetratfjet ein anbere« SWäbdjen, Sieädjen. Torben f)at inbef3 mit feinem
9fad)folger baS gleite Spiel begonnen. 3m „greifjemt oon 9iubm" töbtet
ber £etb ben trüber feiner ©eltebten, bod) biefe felbft, aU feine grau,
bufjlt mit einem ^aron, ben er ebenfalls meberfd)te£t. 3" allen biefen
9?omanen fyerrfdjt ber gemeinfte Ton. ßrarncr« „3fafereien ber Siebe" finb
@rjäf)tungen tlödjft fd^lüpfriger 2lrt. SSon ben Slotnanen oon Spiefs wollen
roir nur jroei ermähnen: „Gäcilie ober bie gottlofe Tod)ter" nnb „9(ttretie
196
Hobolf von (SottfdfaU in £eip3tg.
2Mbenborn". Gäcilie ift ein ad)tsetynjäf)rigeg junges 2Heib, alten Softem
Eingegeben, rninirt itycen ©arten, tljre eitern, fliegt nad) 2lmerifa, n» fie
in bte £änbe »on Kannibalen gerätf», weldje tfiren greunben bie Prüfte a£»=
fdmeiben unb freffen, fie felbft ift nur baburd) »on biefem Sdndfal errettet
worben, weil bie Kannibalen, als fie bas nadte SBeib mit Keulen niebet*
fd)lagen wollen, Spuren »on einer niebrigen Kranf^eit entbeefen; iljr gletfd)
ift p unrein, um »erjefjrt ju werben.
3lurelie »on Söalbenborn toirb SDtattrcffe eines dürften, auf ©eljetfj
eines gebeimen SngenbbunbeS, ber burd) iljren (Sinftufj bewirten will, baß
er baS Sanb gut regiere unb bcglüde.
®er rüfirfelige Safontninc bewegt fid) jmar meiftenS auf bem ©ebtete
bürgertidjer Xugenb, bod) er t)at aud) Slnwanblungen, bei benen feine
Sentimentalität bebentlid) in'« grioole b^inäberfd)ielt. So ^at er meb>ere
Romane gefd}rieben, wie j. 23. „(SngelmannS Sagebud)" unb „£ermatm
Sange", in benen 3JJäbdien in aller Unfdntlö fdjwanger werben,
KniggeS Romanen, befonberS in ber „@efd)id)te Sßeter Glaufen*" unb
ben „SBerirrungen beS ^ilofopb^en" fommen »iele gemeine Scenen »or.
Julius »on 33oj3 fcfjtlbert in feinen Romanen ba§ wüfte preufnfd)e Dfftjier3=
leben, bas er jum ^eil mit emtifdjen Sdnnufefarben ausmalt. 33ieleä er=
innert an ben „SimpliciffimuS". ®in3 feiner ^auptroerfe finb bie „Stben^
teuer einer 2Rarfetenberin", bie aus 2S?eimar ftammt, in einem bortigen
Horbell geboren unb erjogen ift unb fid) bort einen gewiffen 23ilbungSfirmfe
angeeignet l)at. £>em Sdbufterleb^rling Samuel bringt fie biefe Silbung
bei, unb jwar fänben biefe platonifdjen ©efprädje auf jwei neben einanber
beftnblid)en Slbtritten ftatt, wo aud) 3Jomco juerft feine %vilie gefunben. 2Me
fpäteren 3lbenteuer ber ,§elbtrt bringen mandieS tragtfomtfdje Stttermesjo,
wie ben Sdjujj, ber fie bort »erwunbet, wo bie neapolitanifdje 33em»S ib^ren
unfterblid)en 9tul)m gefunben. $ie fleinen Grjäljlungen »on 3So& finb ein
ragoüt-fin für bie 3*i»olttät; fie erinnerit an bie „Traunen SKärdien" »on
Sternberg, ^te ©rjäfjlungen »on ©ufta» Shilling bewegen fid) in fädbfi-
fdien DfftjierSfreifen. Ser .§elb feine« grofjen SRomanS „©uibo »on
SoljnSbom" ift ein £on ^uan, ber SiebeSabcntcuer mit »ielen ®amen l»at,
fomofjl »or ber ©l)c, als aud) fpäter wälirenb ber föb/. Unb alle biefe
3)amen fpradien eine febj cinbeutige Spraye, 2>ie fündig 53änbe ber
Sdnlling'fd)en Grsä^lungen liefern aud) nad) biefer Seite l)in eine reitf)c
Ausbeute.
9?eben biefen leichtfertigen 9tomanen gingen anbere einher, welcbc fid}
weniger nad) franjöfifdtem als nad) englifdjem 3Kufter gebilbet Ratten unb
moralifirenbc Xenbenjcn »erfolgten. SBenn man biefe inbej} mit unferen
heutigen gamilienbtattromanen oergteidjt, fo jeigt fid) bod) aud) ein merf=
lid)er Unterfd)ieb; benn auf bem 2ßegc jur £ugenb unb iljrem Sdjlufjaccorb
berühren fie bod) baS Safter unb feine ®iffonanjen oft genug in einer
2*?eife, i»eld)e ben SRotf>ftift unfercr JRebacteure {»erauSforbern würbe,
bem oielbänbigen SRoman beS Superintenbenten Kermes, „Soppens 9leife
non 3Remel nad» Saufen", einem ber tugenbreidjften, ertebt bie £elbin
tnandjerlei Abenteuer, fie fommt fogar mit einem £errn Seffe in einem
SBett äufammen; bodj nrie es in ©Ijafejpcare^ „Du)ello" fyeifjt: she means
not any harro. „Daä gräuletn von Sternfjeim" ber grau Sarodje ift eine
brutale iterfüf)rungsgefdjid)te : bod) bie Dugenb bleibt fiegreidj, wenn fie
aud) ju ©runbe get)t. $n bem SRomane „^uldjen ©ruentfyal" roenbet fid)
Helene Unger gegen bie bamaligen fransöfifdjen Sitten, befonberS in ben
«PenfionSanftalten: bie ßelbin, Suite, bie Dodrter eines 2lnn>ate, gerätt) in
biefe SJerberbniß unb enbet als gemeine Sudlerin. $n bem Vornan „Die
Pupille" t>on 3°^ann 3afob Dufd) befte^t bie ftataftroptje barin, baß
SEBalter feine ©eliebte in ber Drunfenfiett auf einem SRaSfenbatl entefirt,
ftdj aber einbitbet, es fei eine Slnbere gemefen. 3n SdmmmetS „@mpfhtb=
f amen SReifen" entfdiliefet fid) ber &elb, ein ;DJäbdjen ju fieiratfjen, roeld)eS
fdnuanger ift. Die Romane uon SBejel, oon benen „Dobias Änaut"
eine la«9 felbft einem Berber unb SBietanb jugefdjoben mürbe
unb in weitem aud) ÖeroinuS einen tieferen 3U9 erfennt, Ijaben mit
ben ^ßrobueten ber eigentlichen ©enieepodje 9itd)ts gemein, unb bod) finb
fie feineSroegS frei t>on ben $ranfi)eiten berfetben. Die Abenteuer beS
smcrgljaften budtigen Änaut wären für unfere heutigen Jamtltenblätter
unmögttd). einmal, als er im Deid) babet, friert itmt eine 3MJCunerin
feine kleiber; jtöet junge gräuletns, barunter befonberS 2lbell»etb, nehmen
fid) fetner an unb erbarmen fid) feiner 9?adtljeit. 9lm Sd)tuffe beS SRomanS
befucfjt $naut ein Horbell, roo er feine frühere äl*ot)ltf>äterin mieberfinbet
unb otme 25>eitereS. rjeiratf>et. ^n „33elpt)egor", einem ber 9Soltaire'fd)en
Stomöbte nadbgebilbeten SRoman, gel»en nodj merfroürbigere, aber aud) meiftenS
fefir anftöfeige Dinge »or fid». Die fd»önc 3lfante roeift U)ren 33eref)rer aus
bem &aufe unb erteilt i^tit foldje gufjtritte, bajj er baS Hüftbein bridt,
gronat tritt an feine Stelle. Stelpfjegor jie^t in bie neitc äöelt. Der
^reunb unb bie greunbtn gefeiten fid) nrieber ju tfmt. Staute er$äf)lt, roie
fie bie SWaitreffe beS ^ßapfteS 9tleranbcrS III., unb bann biejenige eines
SWarfgrafen gemefen fei, auf beffen 93efet>lr als er ein 9?edjt 511 f)aben
glaubte, eiferfüdjtig ju fein, fie ber 9?afe unb ber redjten £anb beraubt
unb im ganjen ©eftd)t gefdmnben marb. Später geraten fie in einen
Slmajonenftaat, rco bie Sßetber fo lange SBrüfte f)aben, baß fie im fofetten
Spiet biefetben balb über bie 3ld)feln werfen, batb fallen laffen; aud} fiaben
fie ju CDefellfdjaftem 3lffen, beren Sdjnmnä ein natürtid;er Spiegel ift,
morin fie fid) befdiauen. 3lfantc roirb fpäter tobtgefdilagen, als fie einen
Gfjemann »erführen roilf. 9lefmlid) finb bie 9?omane: „Die rotlbe 93ettp",
„9Btlt)elmine Slrenb", in nwldiem eine Cpernfängerin bie Hauptrolle fpielt,
burdj meldte ein Hamburger .staufmann feiner ©attin untreu mirb. Diefe,
bie fid) nid)t fdjeiben loffen will, lebt bann in Bigamie mit einem ©eliebten
SSebfter.
*98
Knbolf o»n <Sottf djall in £etpjig.
2Bie her SRoman, fo bot audj bie Damalige ©djaubüfinc SSielee, roas fid;
IjeuttgentagS baS publicum triebt gefallen laffen roürbe. SBejel felbft l>ai einige
Derartige Suftfptele gefdirieben rote j. 33. „Ter bltnbe Samt", in roeldjetn ein
©belmann feiner oerroittroeten SRid^te nnr unter ber Sebingung ju l>etrartten
geftattet, bafj fie in ber @l>e brei Ätnber befomme. $\)T ©eliebter nrirt»
»on einer 9Jebenbul)lerin »erleumbet, er b,abe an fid) fo geljanbelt, nrie
ber &ofmeifter »on Senj; bod> ba$ tuirb burefj bie 3:^at rotberlegt; eine
Ißarifer Dpernfängerin ift »on ifmt guter Hoffnung, unb ber ©beltnann
giebt iljm nun »ertrauen§»oll bie £anb feiner 9Jidjte. S8on ftofeebue*
©djaufpielen ^at „3Wcnfcb,enl)af? unb 9ieue" roobj mit Unredit ben Ijeftigften
£abel ber fittenftrengen Sitterar^iftorifcr erfaliren alä eine $efd)önia.ung
beä ©bebrudjs. Tqdj bamt müßte bie diriftlidje Sef)re »on Siufte unb
Sfeue unb ©finbetroergebung ebenfalte beanftanbet werben. <£& ift ein Gb,e=
brudjäbrama, nrie bie neufranjöfifdjen; (Sulalie aef»t mit einem Dffijier
burd); bod) im ©tüde erfdjetnt fie als SDfagbalena, unb ber ©arte »erjeibt
irjr. Ta ift bod) ntdjt* 2lnftöfjigeä, roobl aber in ber »on ßofcebue
<jebid)teten gortfefcung, roo 3)?ainau bie reuige ©ulalia beruhigen roill, inbem
er fid) ber gleichen ©ünbe seibj unb ein »on einem Sauernburfcben ge=
fd)i»ängerte$ 2Wäbdjen beftidjt, bafj fie auSfagt, er fei ber ©djulbige.
sJtod) bleute befannt finb bie „beiben ÄlingSberge" uub ber »on Sorfeina, ju
einer Dper benufcte „9let)bod". Tie „©onnenjungfrau", 9ioc»a, bie guter
Hoffnung ift »on einem ©panier unb geopfert werben foll, bis ber 2)nfa
»on $eru felbft baS tb^öridjte ©efefe aufgebt, gerabc jur redeten 3«t/ frbajj
jefct alle ©onnenjungfrauen nadj föerjenSluft lieben fimnen, unb bie naioe
©urlt in ben „^nbianern in ©nglanb", roeldje »on europäifdjen ©itten
feinen begriff l»at unb in aller llnfdmlb bie anftöfjigften Tinge fagt,
roaren bamals fo beliebte ^ülmenrollen n>ie bie „©rille" unb bie „Sorle"
ber ^rau SMrcb, in ber jroeiten £älfte unfereS ^afirb.unbert8. Ter £elb
be£ SuftfpielS „33ruber SDiorifc" rottt burdjauS ein gefallenes 9Käbd)cn
beiratb/n, ba§ felbft feinen ©ünbenfatt eingeftcljt. 3tuf gleiten £on ge-
ftimmt roaren bie bamalS fo beliebten Suftfpiele »on 33re|ner unb jünger.
Sßir erroäfnten nur SrefcuerS „Siebe nad) ber üRobe", ein Suftfpict, in beffen
iDtittelpunft ein £>eiratl)$bureau ift mit »erfduebenen fein- loderen 6bebunb=
Werbern, aber nod) fd)limmere „Gljemänncr", benn ba finbet fid^ ber £>ofratb,
ber feine grau gegen ein foftbareS 35itb einem Hauptmann abtritt, ^n ber
„»erftorbenen (£f)efrau" fpiclt eine erroadite ©djeintobte bie Hauptrolle unb
orbnet einige mijjlidje Stebe3»erf)ältniffe, bie fid) nadj ifjrem Tobe ans
gefponnen. 3n Jüngers Suftfpielen: „SSerftanb unb Seid^tfinn", „Tie im*
»ermutl)ete SBcnbung" roirb baS frtoole SSiener Seben gefdjilbert.
Ueber biefe gan.^c ^robuetion fagt ber Sitteraturanjeiger »on 1799:
„Tie »erftuditeften ©cfiriften fommen feit ben legten 35 Sauren jum 33or-
fd)cin unb über 7000 Romane unb SiebeSbJftördjen, bie aU ©iftpflanjen
ben brauen Gbarafter ber beutfd)en SPeiber unb 2"8d»ter fd;on aud) oer=
Die 3ü"3fticntfd)cn &es ac^tjetinten. 3at>rtjunb«ts. J99
borben Ijaben." 2lu3 biefer SBerfumpfung t>at fiel) bie fcitteratur felbft empor*
gerafft unb geläutert, nadjbem bie (Slaffifer immer mefyr SBfoerfennung ge*
funben; eä b,at baju nic^t ber ©efefce, nidrt ber (Singriffe be$ ©taateä
beburft. Sie ßitteratur ift roie ber Speer ber -äHtneroa, fie beeilt felbft
bie Sßunben, bie fie fdjlägt.
* *
Un£ fttin eä barauf an, t)ter ben tlwtiädjlidjeu i>iad^«>eiö $u fübren,
bafe ba§ 9teue, roaS bie ^üngftbcutfc^en in S^eorie unb SßrariS ju £age
förbern unb beffen fie ftd) rübmen aU unerhörte ©rofjtfyaten unb
revolutionärer Umroaljungen ber ©Ute, jutn großen £f»eü bem alten
©türm unb ©rang be§ t>origen ^alirbmtberts angehört. 25?tr motten l)ter
feineSroegS ju ©eridjt fifym roeber über hie ©turmer ober ©ränger, nod)
über bie jüngften (Epigonen berfelben. 2ötr finb feine 2tnfyänger eines ge*
fd)led)tliä)en $)iuri£mu3, ber einer geiftwotten ©ntnwftung ber Sitteratur
ebenfo tyinberlid) ift, rote bie SDcafc unb 3ügelloftgfeit. 9){ögltd), bafj auS
bem neuen ©türm unb ©rang aud) eine neue ßlafficität l)en)orgeI)t roie
©oetlie unb ©djtffer aus bem ftreifc ber ©türmer unb ©ränger, benen
itpre ^ugenberjeugmffe angehörten unb bafi ©ubermann ber ©cbtller unb
Hauptmann ber ©oetb> be$ neunzehnten 3fl&rf)unbert$ wirb !
©od) roer fann bieS roiffen? G$ ruljt im ©ebofj ber Öottcr!
2^uflan6 in <£entralafien.
Von
€. Äafcöftc.
— Breslau. —
[te potittf^cn folgen ber neuefien friegerifdjen (Sreigmjfe in Dft*
afien jnrifcb>n Rapan unb ß^ina werben oorausftdjtlidj bie alte
Stioalität ©ngianbä unb 5Ruf?Ianb8 in btefem ©rbtljeUe oon Steuern
unb in oerfdiärftem ©rabe hervortreten laffen, eS bürfte bemnadj bie öffent*
Itcr>e 9lufmerffamfeit aucf) auf baä affmäfclid&e, aber unauffialtfame 33ors
bringen ber Muffen im anatifcfjen Sentralgebtete wieber in erf)öb>m SWafce
f)ingelenft rcerben. SBenn Gnglanb fein &anbetemonopol in 6f»ina möglidjft
aufregt ju erhalten unb bab>r bei ©e[egenb>tt beS griebenSoertrageS stoifdjen
GMna unb ^ayan im Gtnoerftänbmft tnit teuerer Stfadjt felbftfü^tig be=
fonbere commerjielte 3Sortf)ei(e für fvdf) ju -genrinnen fudjt, Stofelanb aber
bur<f> bie @mmgenfcf)aften ^apan^ in Ginna fi<$ in feinen oftafiatifcben
Sntereffen bebroljt fcb>n mufj, fo fptfet ftd) burdj btefe SBerljättniffe ber
©egenfafe sroifcfien beit beiben genannten europäifdjen ©rofjmädjten in be«
brot)liij)er SBetfe ju, unb eä nrirb bann 5n>ifri)en biefer ©ottifion ber ruffifdjen
unb engltfc&en Sntereffen in Dftafien unb ben äujjerft empfinblidfjen 33e--
rübrungSpunften beiber Staaten im Gentrafgebtete be§ @rbtb>il3 ferjr balb
eine geroiffe 2Bed)feIn)irfung eintreten müffen.
SBetm tjter oon Gentralafien bie SRebe ift, fo foll bamit nidf»t bfo* beS
(*rbtljeii8 eigentliches SDitttetgebiet gemeint fein, beffen engeren 39egriff greiljerr
oon SRichtlwfen in feinem grofjen 2Berfe „ßijina" (ebialidj auf bie Sänber
jnrifdfjen betn 2Utai'@ebirge im 9iorben, ben spamirS im SBeften, beut $odjs
tanb oon 2Hbet im ©üben unb ber SBafferfcfjeibe ber ^auptftröme oon
Gflina — ^antfefiang unb £oangI?o — fonrie bem Gtjangangebirge im
Dften befdjränft fefjen roitf. Tiefer Äern oon ^nnerafien ift bis jefct nod)
HnjjlanJ» in Centtolaf ien. 20\
mdjt 511m ©egenftanbe politifdjer ©treitigfeiten geworben, unb 6f)ina gilt
I)tcr nod) immer als unbestrittener 9Jtad)tljaber. gür bie oorfiegenbe ©tubte
fommen oielmef)r nur bic ber weftlidjen Sßeripf>erie beS eigenttid)en ßentrat*
gebietet oorüegenben Sättber oon £uran unb %xan in 33etrad)t, bie
3((eranber von £umbolbt ebenfalls ju feinem Gentralafien regnete, unb
oon biefen f)ier namentlid» bie ßirgifengebiete, SBefiturfiftan mit ben Granaten
SHodjara unb GInwa, bie £urfmenenfteppe unb 2lfgf)amftan.
§of)e gewaltige ©ebirgSmaffen fdjliefjen ÜJJirtetafien im Allgemeinen
oon ben nad) ben 9J?eeren ju geöffneten Sunbera be$ Grbtf)eifö ab unb
trennen e>3 anbererfeitS im Innern in oerfdiebene Steile.
3m Horben unb Dften wirb bie ©renje burd) ben 2lltat mit feinen
oftroärtS fid) erftreefenbeu SBerämeigungen gebilbet, bann burdj ben 3nfd)an,
9Uäfd)an unb baä I»of)e ©ebtrge beS ftofonor. ^m ©üben siebet fid) als
SS?afferfdf)eibe ber Äaraforum — 5D?uftagt) ober £f)angta — fyn, meftwärts
in bem .^inbufufd) fid) fortfefcenb. Ter .fiauptfamm biefeS ©ebirgeS, an
weites fid) im SBeften mittetft niebrigerer £öf)en;üge ber ben ©übranb bc§
ßafptfd)en 2J?eere3 begrenjenbe ©lbur-3 anfd)ltefit, ftellt fid) als ber Worb=
ranb be3 £tod)lanbe* von ^ran bar, mäljrenb feine 33erämetgungen in
3lfgt)antftan unb bie von Worben nad) ©üben ftreid)enbe ©olimanfette baS
©rensgebirge ^raus gegen 3nbten bitber. 3ttS weftltd)cn ©renäwatt von
9JUttelafien enblid) fefyen mir ben ßaufafu*.
ü)iit bem 2lttaifyftem im Bufammenljange unb oon ilrni nur burd) eine
etwa 21 km breite (Sinfenfung 'getrennt, 5ief)t fid) ba§ Tb/anfd)angebirge
ljin, unb jroar in jmei $auptrid)tungen, von ©übroeft nad) Worboft unb
oon Worbroeft gegen ©üboft. ,^m öftlidjen Tfrfanfdjan trennt eine riefen^
fiaft aufragenbe ©ebirgömaffe ben d)inefifd)en Äret* Äur*fara*ufu in ber
weftlidjen 2)iongo(ei oom Sanbe ber Tfdjulbuj in Dftturfeftan unb fefct fid)
öftlid) in weniger fyofyen ^ßarattelfetten fort bis jur d)inefifd)(n ^rooinj
Äanfu. Tie oon Worb nad) ©üb ftreidjenbe Mette bei- £f)ianfd)an fd)eibet
Cft* unb SBefttttrfeftan in bie jroei grofjen 2ängentl)älcr beä 2lmu=Tarja
unb bc£ Tarim unb ift oon ben uorbmeftlidjen gortfeßungen be§ ^imalarja
nid)t, wie im Worben oom 9lltai, burd) eine ©enfung gefdjiebcn, fonbern
beibe ©ebirgäfofteme geben b,ier burd) 3at)treict;e furje fid) abftnbcrnbe unb
einanber burd)fd)neibenbe Letten ba§ eine 311m anberen über. 3wifd)en ben
Guellflüffett Slmu^Tarja unb Xarim liegen bie wüftenäfmlidjen .ftod)=
flädten ber "pamirS auf ber ©renje oon Cft= unb SBeftturfeftan. 2)?it bem
.Öimalana ftetjeu uod) in 93ejief>ung ber ftaraforam, weldjer, if)in nörblidt
oorgelagert, fid) oon SBeften nad) Dften l)in,iief)t, femer ber ßüeutün unb,
biefem im SBeften fid) anfd)lief5enb, bie oon ©üboft gegen 9?orbioeft ftreid)en=
ben, uod) immer 6000 m <pöl)e überfteigenben ©cbirgSjüge, roeld)e unter
bem Warnen 33e(ur-Xagf) jufammengefaf5t werben. Ter am Teref^afj be=
ginnenbe, oon Worboft nad) ©übroeft fidj erftreefenbe mäd)tige ©ebirgäroall
fät)rt aber ben Warnen 3ltai. Terfeibe bilbet bie 33afferfd)eibe jroifd)cn
Hoxi unb Süb. LXXV. 224. 14
202
<£. IHafdffe in Sreslan.
bcm Sir= unb 2lmus®arja. Gentralafien ftefft fid) übrigens feineemegS al«
ein emsige*, ununterbrod)enc3 £od)plateau bar. £urfeftan, mit bctn (Strom«
gebiete be§ 2lmu»®arja im SBeften unb be§ £arim ($arfanb) im Dften,
bilbet eine grofie, in ber -äJKtte gehobene ©tnfentung, bie öftlid) im ©ebiete
ber Mongolei enbet. ©benfo fehlen mir im Sßlateau »on 3ran eine bt--
beutenbe ©epreffion in ©eiftan. $)ie auggebebntefte SJieberung befinbet
ftd) aber in ben nad) bem Äaäpifd)en 9Jteere ju fid) abbadjenben «Steppen,
©ie unabfebbaren ©inöben ©entratafienS finb mit fliegenbem ©anb, mit
©aljlad)en unb toeit^in fid) erftredenben SDJoräften bebeeft unb geftalten fid)
nur l)in unb nrieber ju Steppen mit einer an 9lrten »erbältnijjmäfjig reiben
gtora. ©inen ungeheuren ßänbercompler umfaßt bie aralo=faepifd)e
•JMeberung; öftlid) ba»on liegen bie SBüften Äififfum unb Satfatfum, unb
fäbli(f> oon biefen erftreeft fieb bie meift roafferarme Surfmenenfteppe. $n
©borafan fd)liefjt baS frudjtbare Sanb bie »öllig roeglofe SBüfte Sut ein.
3m ©üben bes Jßtnbufufd) nebmen bie unfruchtbaren ©egenben gtofee
gläcben ein. Deftlid) be§ 23)ianfd)an erftreeft fid) im 9torben bie SBüftc
©obi mit ibtem fd)mufeiggelben, fanbiglebmigem ©teppenboben, auf n>eld)em
aber aueb £ugel unb Serge über 2500 m bod) emporragen, in einem
Staunte, ber granfreid) »iermat an ©röfje übertrifft. Seblofe ©rille foll
bier r)crrf<^cn. ©8 feblt ätoar nid)t an Dafen, aber erft am 92orbabbange
ber Sfongolei, nad) Sibirien unb bem Satfalfee su jeigen fid) Slnfänge
»on gtüffen unb ein »ertyältnitjmä&ig reid)er entfaltetet Seben. ©barafte*
riftifd) für baä ©ebiet »on ©entralafien ift anbererfeits bie grofje 3<>bl von
bebeutenben ©een, roeld)e mit feinem ber großen Dceane in SSerbinbung
fteben unb bie ©ammelbecfen für jablreicbe pfiffe bilben, foroeit leitete
nid)t in ben 35?üften fid) »erlieren. 9lud) bie &od)gebirge fittb reid) an
3ttpenfeen, unb eine 9J?enge glüffe entfpringen ibnen.
£)te gebietenbe, ober toemgften* bie gefürd)tete unb »on ben Stomaben
als Herrin ber 2Belt betrad)tete 2f?ad)t in ©entralafien ift unbeftreitbar
Stnfjlanb. 2>te Sänber unmittelbar an ber ^Peripherie beS oben be5eid)neten
engeren ©entralgebieteä, alfo bie »on Xuran, befinben fid) fafi fämmtlid)
unter ruffifd)er .§errfd)aft, toäbrenb ben SBefifc beS iranifd)en £od)lanbe$
SRußlanb unt) ©nglanb fortgefefet fid) ftreitig mad)en.
©aä SSorgeben Slufjtanbä in ©entralaften wirb aber immer t)erfd)ieben
beurtbeilt werben, je nadjbem bie* »on bem einen ober »on bem anberen
polittfdjen Stanbpunfte aus gefdnebt.
©ie 2tnbänger ©ngtanbs roerben uatürlid) urtbeilen, wie ber Ungar
3Samb6rn in feiner ©d)rift „©entralafien unb bie englifd)=ruffifd)e ©renj«
frage". 3)tan roirb unter ibnen behaupten, ba& bie ©nglänber eifrig btr-
fliffen mären, ben armen unb unterbrächen Drientalen ba§ 93efte unb bödbfl
©rreiebbare ju bieten, ba§ bagegen burd) ben ruffifd)en GMtftrungSprocejj
bie afiatifd)en -Kationen, i»eld>e il)tn feit »ier ^abrbunberten fd)on unter?
roorfen feien, 9iid)t§ gewonnen, fonbern foroobl moralifcb nrie materiell mir
Knjjlanb in <£entralafien. 205
»erloren hätten, unb bajj biefe SBötfer heute nod) unferem meftlid)en ßultur*
begriffe ebenfo fem ftänben rote ihre unter ber £errfd)aft bes fanatifdfjen
HJcohammebamSmuS nod) lebenben ©tammesbrüber. ®3 roirb allerbingS ya-*
geftanben, baf? bie ruffifd)e ©imlifatton trofe aller URänget unb Saften, bie
iljr anhafteten, bod) nod) immer jener überlegen roäre, bie bem 3)Johamme=
baniSmuS entfpränge, ber, wie fruchtbar er auch in ber Vergangenheit ge*
roefen fein möge, jefct bodj nur mehr einem gänjltdjen Aufgeben aller
9BittenS= unb ^atfraft unb einem 3urücf»erfinfen in frühere primitioere
©ntwtcfelungSphafen jum SSorroanbe biene. SDian will aud) burdfwuS nid)t
leugnen, bafj Stufclanb, tnbem eS eine genriffe gefefclidfje Drbnung in einigen
barbarifdjen «Staaten SlfienS einführte, in benen ©eroatttfiätigfeiten unb 58lut=
»ergießen fd)on weite Sänberftreden oeröbet Ratten, aud) »telen im ©lenbe
fdjmad)tenben 3Jienfd)en 2Bof)lthaten erroiefen b^abe. ®od) fei es trofcbem
fraglid), ob man jene neuen 3ufiänbe unb 3Serhältniffe, bie in biefen Sanb;
ftridfjen auf rufftfdfjen ©inftufi surücf juführen wären, aud; wirfticb, ©hnlifation
uennen fönnte, unb ob man fagen bürfte, bafe Stufjlanb bamit aud) nur
einen ©trahl beS glorreichen Sicktes ber mobernen Guttur beS djriftlichen
2Befen3 nad) jenen Legionen gelenft tiabe. £>ie halbe 3JMton Siafans
Sartaren, bie einen geiftig begabten 33rud)tt)eil ber türfifdfien Nation bitbeten
unb in alten Seiten um ihrer moSlemitifd)en ©ultur mitten berühmt ge«
roefen feien, jeigteit, aujjer in einigen ljöd)ft oberflächlichen 3u9cn, in ihrem
focialen unb politifd)en Sehen aud) feine ©pur »om ©etfte unfereS $al)r=
hunberts. $aS 3Solf werbe in feiner moralifd)en 9tpatr)ie belaffen unb
banfe feine geringe ©eifteSbilbung einjig ber ©d)ule, bie es felbft gegrünbet
b,abe unb aus eigenen 3Kitteln erhalte. SKIerbtngS befänben fid) in üafan
»ou ber Regierung errichtete ©dmlen, bod) roäre ber ©eift unb bie Senbenj
beS Untcrrid)tS echt ruffifd), nur barauf auSgehenb, bie Sataren ju ©haften
unb -JKoSfowitern umjuroanbeln, bamit fie bem ruffifd)en SReidje um fo
leid)ter einäuoerleiben feien. 2letmlid) folle es bejüglid) ber 33afd)firen fid)
»erhalten, eines gleichfalls zahlreichen SheiteS ber turfo*tatarifd)en 9Jaffe,
roeld)er feit unbenflichen Reiten feinen ©ifc im Uralgebirge hat- ®ie
93afd)firen roären, obwohl fd)on feit jroei ^abrfiunberten uttt«r tuffifd)er
4?errfd)aft ftehenb, »om moratifchen roie »om materiellen ©eftd)tSpunfte aus
betrachtet, fd)limmer nod) baran als bie ©tammesbrüber an ber 2Mga.
2Irm unb bebrüeft, oon ben fanatifchen ortt)oboren Staffen »ernadjläffigt unb
»erachtet, roären fie naheju auf bie föätfte ihrer ehemaligen 3ahl 5ufammcn=
flefd)molsen. ©aSfetbe SBeobacbtangSrefuttat roill man norböftlidj hinauf lue
SobolSf unb im ©üben abwärts bis jum 3lltaigebirge feftgeftellt fyxbm.
Ueberafl trete bie £f>atfad)e entgegen, bafs mit bem ©rfdjeirten ber ruffifchen
€i»iltfatoren fich bie ©ingeborenen rafd) »erminberten unb baf? bie Regierung
anftatt fid) ber graufam unterbrächen Untcrthanen anzunehmen, weit eher
nod) baS 3etftörungSwerf ber ruffifd)en föofafen, 5ßopen unb Äaufleute untere
ftüfete. Um bie gänjltchc SBirfungSlofigfeit ber ntffifd)en GtoUifationS«
U*
<£. ntafd}!e in Breslau.
33e(lrebungeu ju erf ernten, brause man nur fotdje SBölferfdjaften ju betrauten,
bie, lange fdjon unter rufftfdjer $errfd)aft fletjenb unb jutn Gl)riftentbum
übergetreten, fogar ber gried)ifd)=fatf)olifd)en Äirdje angetjörenb, fomtt atfo
oon allen Seiten ben ©inflüffen von ftird)e unb Staat jugänglid), bennodj
feine SRefultate berfelben aufjunieifen gärten. 2113 Seifptcl werben 5unäd)ft
bie Tfdjuroafdjen aufgeführt, am regten Ufer ber SBolga unb am linfen
be3 <Strome§ in füböftltdjcr 9Jid)tung bis Dren6urg, bie fett 1528 Unter*
tfianen bcä &aten finb. ®lefe türftfd^e, auf naljesu 600 000 Seelen fid)
bejiffernbe 33ölferfd)aft fei 1743 jutn Gfyriftentljum übergetreten. Sie fjabe
feit ttirer Unterwerfung fid) auSfdfiliefilid) unter ber «fernen £anb ber
ruffifdien Sierroattung befunben unb, obuiofjl oorjugsroeife au§ frteblidjeit
2lcferbauern beftefienb, bennodj burd) bie cioilifatorifdje ^crrfdaft feinen
Segen erfahren, £er £fd)un)afd)e oon Ijeutc närc nod) fo utiroiffenb unb-
abergläubtfd), wie feine 3Sorfab,rcn einft getoefen, er fei nur "nominell eilt
Gljrift unb bete in^gefjeim immer nod) feine alten Ijeibnifcfjen ©älter an.
©ie ugrifdie 2,'eoölferung, roie bie £fd;ermiffen, SEotjafen unb SBogulen
fottten aber nod) übler brau fein. SBeber tfjr Mtagslcben nod) tljre £enf*
roeife ober ib,re focialen SPesielwngeu miefen aud) nur ben geringften ©nfluü
n»eftlid)er ßtoilifation auf. @ö fjätte fid) wenig ober 9iidjtä bei ifmeit ge»
änbert, feit fie ben »äterlid)en Sdjnts beä 3are" Stoffen, beffen Regierung:
fid) bamit begnüge, fricblidic unb willfährige Steuerjafiler heranziehen, unb
nidjt baran benfe, bie Griftenjbebingungen ber ihrer Sorge anuertrauten
SNölferfdjaften 5u oerbeffem. So feien beim bie fahrten im fernen Dften
an ben Ufern ber Sena beinahe auf bie föälfte ihrer früheren ftaty jU;
fammengefd}moläeii, unb bie SBogulen befänben fid) naheju fd>on auf bein
9lu£fterbeetat. 3>ie Mrim^ataren, eine berühmte @roberers9iaffe, bie ;u
Beginn beä oorigen ftahrhunberts eine l;albe SKiüion Seelen gejährt, be=
jifferteu fid) jefet nur nod) auf 80 000. £>icfelbe erfdjredenbe Slbnabmc
miefen bie nogaifdjeu Tataren auf, unb bie wegen ifireS ftampfe*mutbe$
unb UnabbängigfeitäfiimeS berühmten 33ewofmer beS weftlidjen Äaufafu&
feien beinahe gän}lid) com Scbauplafc ihrer Saaten t>erfd)wunben. — SBabrc
Soblieber ftimmt aber SBambfrt) auf bie Gnglänber in ^nbien an. 2ludj
erflärt er bie in Guropa oorhcrrfdienbe 2Reinung, baf? ©rofebritannien fein
^nbien ber Verarmung mfüfjre unb fid) an ihm nur bereitere, für eine
burd)roeg tädjerlidje.
SDie yreunbe Diufjlanbs bagegen eutfdmlbigen bie ungenügenben 9Jefultate
ber moäforoitifcbcu Gitnlifatoren, inbem fie behaupten, bafe bie 3Wt$erfolgc
ber letzteren md)t ber ungenügenben Befähigung berfelben ätijufcbreiben,
fonbent auf ben fialsftarrtgen SBiberftanb jurüdäuführen feien, welken bie
UJJoljammebaiier beinahe überall ben Gi»ilifations»erfud)en europäifdjer 6t»
oberer eutgegenfe^ten. ÜDJan fprid}t bie Ueberjeugung au§, baß $Rufelanb>,
beffen Beoölferung gröfstentljeils au§ 3lfien ftamme, unb baS in feinem focialen
Slufbau nod) gar manchen afiatifd)cn Gb^arafterjug aufmeife, {ebenfalls geeigneter
Kujj(ani> in <£entralafien.
203
jei, in bcn nod) Ijatbbarbarifdjen Säubern biefcr alten 2i>elt roeftttdje Gultur
31t »erbretten unb einer gefefctidjen Drbnung }ur ^errfdiaft ju »erljelfen,
at$ ba3 ftrenge, fatte, unbeugfame ©nglanb. ©ine weite Ituft trenne bcn
-oom potenjirt europäifdjen ©eift erfüllten Gnglänbcr »on bem »on einer
3af)rtaufenbe alten Gultur imprägnirten 2lfiaten. ©in tmnber oerfeinerter
©inftufj, eine inmitten ber beiben Gulrurftufcn fteljenbe 2J?adjt tnüpte eine
ungleid) roirffamere 33ermtttetung bilben, unb Jtufelanb, ba$ auf ber ©rense
tiefer beiben fo oerfdjiebenartigcn focialeu ©eftaltungeu fic3t> befinbe, »cr=
möge bafyer bie roeftlidje Gioilifation unbebingt erfolgreid)er im Orient ;u
»erbreiten, al« bie* für ©nglanb möglid) wäre, ©eneral Sfobelero, ein
genauer Kenner ber afiattfdjen 33crrjättmffc, fprad) aber feine 2lnfid)t he-
jüglid) ©nglanbä bar)in au§, ba§ biefeS bie ifmt untertoorfenen SJölfer fdjroer
»ebrüefe unb in einen Buftanb ber ©Kaoerei jurüdfjminge, einjig 51t ©unften
be3 englifdjeu föanbets unb bamit bie Sriten reid) mürben.
Sie 3Bal>rf)cit unb ba>3 Sftdjtige bürfte roof)[, roie meiften-3 bei ben
$nfch>uung$»erfd)tebenh>iten im Seben, aud) Ijier in ber SDJittc aller biefer
^eurtfieitungen liegen. 3tnbcrcrfcit^ »ermag man eine aud) nur annäl)ernb
richtige 'Borftellung »01t ber Sage Siufjlanbä in Gentralafien unb feinem
■JJerljatten bort nur ju gemimten, roenn man fidj oorf»er mit ber t)iftorifd)en
©ntroicrelung biefeS Sänberertoerbä oertraut gemalt fiat. 3ft lefctereS aber
geftt)et)en, fo roirb ber »on einem unparteiifd)en ©tanbpunfte au« Ur-
tfieitenbe beut jielberoufjten, flttgen unb bef)arrlid)en 33orgef»en Srufjlanbtf,
foroie ben Seiftungen feiner Offnere unb ©otbaten bie 2lnerfennung unb
eine geroiffe Sfieilnafnne roob^l nid)t »erfagen fönnen. —
Sie 9ii»alität jroifdjen 3htfjlanb unb ©nglanb mufete »on jenem 3<Jtt=
punfte an in' 3 Seben treten, roo Spanien, Portugal, £toUanb unb graufreid)
»on bem GroberungSgebiete in Stjten fid) jurücfjogen unb ba$ alte 3)turter=
lanb bem ©Ijrgeije unb bem ©igennufce ber beiben erftgenannten Nationen
überließen, ©nglanb b>t feine ©roberung$baf»u langfam, aber ftttig »on
©üben aufroärt'S »erfolgt, bis fid) au3 ber Keinen $anbct$gefellfd)aft ein
gewaltiges Dletd) aufgebaut. Sa§ £auptmotto war jebenfaHS baS ©etb»
»erbtenen! Unfcr germanifd)er Kelter jenfetts bei ©anal* ift frei »on
feber unpraftifdjen ©mpfinbfamteit. 2Ba$ Stujslanb aber anbelangt, fo finb
t>ic Urfad)en feiner ©roberungen unb ift aud) ber Verlauf berfelben
mefentlid) anberer 2lrt. Ser ganje Slufbau be§ ruffifd)en 9teid)c3 baftrt
au>3fd)tief}tid) auf ©roberangen unb 9Xnnerionen. Sie 9tuffen bitbeten ur*
fprünglid) eine Keine £örperfa)aft »on ©lanen, aufgepfropft auf ugrifd)e,
turfo4atarifd)e' unb finnifdje ©lemente. 9lltmäf)lid) belmten fie fid) bamt
aber au«, unb fie mürben fid)erlid) fd)on im Mittelalter eine l)cr»orragenbe
9toHe in ben gefd)id)tltd)en ©reigniffen gefpielt fabelt, roenn nidjt seit*
roeilige UmtȊl$ungen unb burd) afiatifd)e Eroberer {jenwrgerufene Kriege
bie ©ntroiifelung ber ruffifdjen Nation jurücfgelwtten Ijätten. Sie beiben
frebeutenbftcn ^emmniffe in ifjrem ©ntroidfctung'Jgangc bitbeten ber ©inbrud)
206
<E. inafd)fe in Sreslan.
ber 2J?ongolen unter ®fd)engiä ©fyan unb bcr grofee Ärieg gegen Xttnur.
©erabe burd) biefe gefd)id)tttd)en ©retgniffe mürbe bie im SBerben begriffene
mo3fowitifd)e 9)iad)t gewaltfam gelähmt. 9Som ©eifte d»riftlid)er ßioilifotion
getragen, »ermodne ba$ ruffifc^e Stolf fd)liefjlid) bod) über bie barbarifd)en
^Repräsentanten 3Cftenö ju triumpf)iren. Sie ©olbene $orbe würbe aus»
einanber geiogt, baä 9ieid) £imur£ fiel in krümmer, unb ba£ fiegreidje
Slufclanb, baä fid) eine eroberte ßänberftretfe nad) ber anbern einverleibte,
trat bie @rbfd)aft feiner a|"iatifd»en Vorgänger an. 9Jadjbem e£ fid) ben
Sanbftrld) an ber unteren Söolga unterworfen fyattt, tb>ilte es bann feine
Stufmerffamfeit äroifd)en bem SBeften unb öem Cften, unb nad) beiben
SRtdjtungen t)irt errang e$ unerwartete Grfotge. %tn Dften erfdjien eä jefct
aU ber Slepräfentant ©uropaS, wie biefeä t>or 300 bis 200 $al)ren mar;
mit befferen 2öaffen auSgerüftet, als ber barbarifdje ©egner, oermodite
SRufttanb mit üertyältnitjmäfjig fleinen $rtegerfd)aarcn grofje 5BöBerfd)aften
fid) ju unterwerfen. Sibirien würbe im 16. ^afjrljunbert erobert, unb
jroar f)auptfäd)ltdj mit |>ilfe bcr ruffifdjen Äofafen. 3n bemfelben Safyv-
b^unbert foll Stufjlanb aud) bereite mit ßentralafien in 4?anbefe»erfel|r ge=
treten fein, bie erften gefd)id)ttid) nadnoeisbaren 93ejieb,ungen finben mir
aber erft jur 3ett Meters be3 ©rofjen. £>ie 9tbfid)t, einen SBeg nad) 3nbien
auSfinbig ju mad)en, veranlagte im ^atyre 1717 ben Sax, eine fleine
2*uppenmad)t unter bem gürften Befewitfd) £fd»erfaffi nad) bem im ©üben
beä 2lralfee$ unb ber Jlirgifeufteppe gelegenen ßljanate Gf)iwa ju entfenben,
um f)ier mit bem afiarifdjen ©ouoerain 58erbtnbungen anjutnüpfen, mo-
möglid) bis %nbim oorjubringen. Sefewttfd) blatte inbeffen ju grofceS 2>er*
trauen in feine mititärifdje Störte gefegt, tiefe fid) aud) pon ben trügerifdjen
SSerfpredmngen be$ fd)lauen aftatifdjen dürften täufdien unb ging in gotge
beffen fammt feineu Gruppen burd) jßerratl) ju ©runbe. T>aä (Snbe be$
Unternehmens mar alfo ein fefjr fläglidieä gewefen. 3ur 3eü *>e~ £obe£
Meters bes ©rofeen, 1725, fjatte Mufelanb in 2J?ittelafien nod) feine Senkungen.
9fad)bem jebod) bie Muffen bic ©rense be$ 2>on unb beS Ural, ben
alten burd) bic Äafafcnlinien gebilbeten SBall, einmal fibcrfd)ritten batten,
fonnte sJHd)t£ mein- if)r weiteres 33orgel)en aufhalten. Um feine neuen Unter*
trauen ju fd)ü|sen, fal) fid) SRufetanb in bie unt>ermeibltd)e 9?otf)roenbigfett
Derfefet, aud) ben angrenjenben 93ölferfd&aftcn, bie nur non Staub unb
^ßlünberung lebten, fein 3"d) genmltfam aufjuerlegen. SBaren aber
bie einen biefer feinblid^en Sßötferftämme einmal unterjod)t, fo mußten
immer roieber nod) neue unterworfen werben, weil fic Beunruhigungen
t)erurfad)ten. Unb fo fam es attmäb^lid), baft wir bleute bie Muffen an ber
©renje con 3lfgl)ani)"tan ftelien fehlen. ®ie Sage Mufelanb« in ßentralafien
war alfo oon 9lnfang an biefelbe, wie bie aller cimlifirten 33ölfer, weld)e
mit ^albwilben 9iomabenftämmen in 35erüb,rung fommen. Mur inbem man
fic jum ©e^orfam jwang unb an ein frieblidjereS Seben ju gewönnen
fud)te, oermod)te man ü)ren friegerifd)en Einfällen unb Maubjügen @üu)att
Xnglanb in Centralafien.
207
ju tfnm. Die golge mar bann aber in bet Flegel, baß bie Unterworfenen
nun ihrerfeitö nrieber ben feinblid)en Seläftigungen bet eigenen unruhigen
sJJad)barn mehr auSgefefct waren, daraus entftanben für bie 9tuffen
periobtfd)e unb weit auSgreifenbe friegerifd)e Unternehmungen gegen einen
geinb, ber in $oIge feiner loderen Drganifation eigentlich unfaßbar war.
33efd)ränfte man fid) barauf, ifyx ju sfid;ttgen, fo fonnte tnan mit Sicherheit
barauf rechnen, bafj binnem Äurjem er feine geinbfeligfeiten erneuerte, benn
in feinen äugen war jeber Stüdsug bei ©egnerS ein S^djen oon beffen
Schroäche. Um biefen fortmährenben Unruhen alfo ein ®nbe ju mad)en,
blieb SRufjlanb fdjltefjlich 9Jid)t3 übrig, aU bei feinem SSorrüden in ben
feinblid) gefinnten Säubern in biefen aud) feftert gufe ju f äffen unb ftd)
burd) 2lntage von $efeftigungen Stüfcpunfte ju »erfd)affen. 93ei biefem
-Vorbringen f)at atlerbing* ber friegerifdie (Seift ber ruffifdjen Gruppenführer
roobt mitunter ben ©ang ber (Sreigniffe gegen bie ^läne ber Regierung
unb junt SSerbruffe ber Diplomaten befdrteuntgt. ^in 9lllgemeinen lehrt
uns aber bie ©efd)id)te, bafi bae Sd)tdfat aller Völler unter folgen $Ber=
hältniffen bod) ftetö ba$ gleiche gewefen. Ghtna mußte in ber Mongolei
erft ungeheuere Steppenflächen erobern, um feine natürlid)en ©renjen ge=
mimten ju fönnen. ßbenfo nmrbeu bie bereinigten «Staaten in 3lmerifa,
g-ranfmdj in Algerien, ®nglanb in ftnbien nidjt blo§ burd) ©goismuS unb
£abfud)t, fonbent auch burd) bie SRothwenbigfett, ftd) feftjufefeen unb ju
fidjent, unoermeiblid) auf ben Sßeg ber 9?ergröfjerung unb SluSbeljnung ge=
brängt. 3lud) Stufjtanb fjat bemnad) nid)t bloS au§ @roberung3fud)t bie fo
ungeheueren materiellen Dpfer unb Saften in ßcntralafien ftd) auferlegt. —
3n ber jmölfiährtgen SBerwaltungSpcriobe »on 1868 bt$ 1879 ergaben
5. S*. bie Ginnahmen gegenüber ben 3lu§gaben ein Deficit uon 66815940
Rubeln. —
93i§ in bie erfte £älfte beS ad)tjeb,nten ftahrhunbert* hinein f)aitt
alfo Stufjlanb nod) feinen Sanberwerb in (Sentralafien aufjuwetfen. Grft
im Qa^re 1734 unterwarf ftd) bie Äleine £orbc ber ftirgtfenfafafen in beut
weftltd)en Steile ber «Steppe, unb jwar anfd)einenb freiwillig. Die greube
über biefen (Sreignijj follte jebod) nid)t lange mähren, benn balb iahen ftd)
bie Muffen genötigt, ber Jtaubjüge ber neuen Untertanen beä 3teid)e«
in ba3 rufftfdje (Sulturlanb hinein ftd) ju ermehren, unb, um biefen feinb*
feltgen ^Beunruhigungen fchliefeltd) ein @nbe 3U mad)en, yat planmäßigen
Unterjochung ber SUrgtfenfteppen ju fcljreiten. Gi fiel bamtt Siufjlanb eine
überaus fchnüerige Aufgabe ju. 2lbgefef)en »on ben h«rtuädigen kämpfen,
loeldje c§ mit ben ©ngeborenen burd)jufed)ten hörte, ftellte ihm aud) bie
■JJatur gewaltige .^inberniffc in ben 2Beg. (Snblofe, müfte flächen mit ab-
ioed)felnbcm faxten ßehtlW0Den ober fufitiefem Sanb unb au*gebehnte waffer5
lofe Sanbftreden waren 5U überminben.
Die Steppe mürbe »on jwei Seiten, t>on Dften unb »on SBeften her,
in Eingriff genommen. %\u ba§ erftere Vorgehen bilbetc Sibirien bie 33aft*.
208
€. lltafdffe in Breslau.
3fo bet wcfilidjen ©renje Gf)inas glitten btc ruffifdjen ftafafen nom 2lltai
b>rab jum 3ffifid5See, ebenfo geräufd)lo£, toic cS ben ruffifdjen Vorpoften
am wefdtdjcn 3?anbe bc$ Stirgifenlanbcs »on ber Steinen £orbe gelang,
fid) an ben Slralfee unb an ben ©tr^arja heranjustefieu.
Tiefe* langfame, a6er ftetige fiegreidte Vorbringen, bas SBerf jweicr
3al)rrmnbeTte, d)arafterifirt bie £artnädigfeit, 2lusbauer unb Älugtjeit ber
Stoffen. SBenn toir aber mit (Srftaunen unb Vewunberung bie Grfolge bc=
tradfjten, bie 9hijjlanb mit mhältnifsmäfjtg fef>r geringen Gräften au feinen
urfprüngltdjen Dft= unb Sübgrensen unb weit barüber hinaus errungen b>t,
fo bürfen mir namentlid) einen Factor nid)t Überfellen, ber mefentlid) babei
mitgewirkt. @* finb bie* bie ruffifdjen Safafeiiwlfer. Sie waren ftete für
Stufelanb von unfdjäfe6arem SBerttje unb finb bie-S aud) heute nod), inbem
mit ihrer $itfe ^auptfäd)lid) bic weiten (Steppengebiete cufttoirt rourDen
unb werben. Sie ruffifd)en ftafafen bilben gewiffermafjen ben Uebergang
uon ben cioilifirten Muffen ju ben b.al6roilben nomabifirenben Steppen*
»ötfera unb ba« Sinbegtieb jwifdjen irrnen. Solange bie Äafafen Süb*
rufelanb* nod) ihre Unabhängigfeit galten unb oft mit ben getnben bc$
mosfowitifdjen 5RetdrjcS gemeinfame Sadje madten, waren ber Sruffcn gort*
fdjritte in ber Steppe nicht bebeutenb. (Srft nad)bem Stufjlanb biefe Äafafen
unterworfen unb fid) ju treuen Wienern gemad)t fjattc, war es ihm möglich,
allmät)lid) ber Steppengebiete feexv JU werben unb feine ©renjen immer
mef)r 5U erweitern. Von ben ©reni=Äafafenltmen aus würbe ein beftänbiger
33ert^eibigung!f= unb 2lngriffsfrieg gegen bie Steppen unterhatten, unb je
nadjbem man in ber festeren ©ebiete weiter »orbrang, würben bie alten
ilafafenlinien oerlaffen unb neue uorgefeboben. Tie .vtafafen bcfämpfteit
babei bie wilben Vötferfdjaften ber Steppe uidjt immer blo* mit ben
SBaffen, fie tnüpften aud) frieblidje Verbinbungen mit benfelben an unb
wirrten burd) Sift unb Ueberrebung. Sie afftmilirten fid) ihnen fogar,
würben am Äuban unb £eref h«lbe £fd)erfeffen, am Ural fialbe SUrgifen
unb boten fo, ba fie ftets eine fefte breite bem Qaxcn bewahrten, bas befte
HJHttet, bie wilben Völferfdiaften ju bänbigen unb $u sügeln. 3" bem
eigentljümlidjen Sßefen unb 6f>arafter ber ßafafen, bie geborene Krieger, fdilane
£anbet*leute unb 2lderbauer mit ben Sitten unb ©eroolmheitcn ber
9iomaben, Mes ju glcid)er $eit finb, finbet bas SRät^fet ber Unterwerfung
unb bes Sufammenbatts fo ungeheurer Steppengebiete, wie fie im
rufftfd)en SRetdje Bereinigt finb, l)auptfäd)ticfj feine ©rflärung unb
3luflöfung.
Tie Äirgifen, weld)e bas weite ©ebiet in SSorberafien bewohnen, ba*
im Horben »om Qucllgebtete bes UralftuffeS, ber gefrungölinie längs bes
£obot unb uon fyet öfttid) bis Dmsf am 3!rtifd), im 9iorboften unb Cften
»om ^rtifd), »om weftlid)en ©ebiete ber Seen Saian unb 9ltaful bec^renjt
wirb, im Süben aber oom 2llatau, bann »on ben glüffen S'fdju unb Sir--
©arja, bem 2tralfee unb bem Ufi«Urt, im 2?eften enblid) Pom Äafpi^^
Xufjlanb in <£entratafien, 209
©ee unb Uralfluß, repräfattiren bat SCnpuS bet türfifdjen SRomaben. 3?on
2lnfang an festen fic bat Ginbringlingen jäte fperieHc S5>iberftanb3form
entgegen, bie ebenforoobl bei ben 9?omaben 9tmertfa§, rote bei jenen 2lften3
ju beobachten iß. $uerft ließen fid) einige einflußreiche Häuptlinge burdj
©cfdjenfe unb Sluäjeidmungcn gewinnen. 9)iit ber eingegangenen Seljn«*
»erpfliditung rourbe e§ bann aber nidf)t ernft genommen, unb fobalb ber
ruffifdje Unterfiänbler bem ©dwuplafe ben 3?ücfen gefe^rt blatte, »ergaß ber
ßirgifenf)äuptling foroobl bie ©efdjenfe, rote ben ©ib, ben er geleiftet.
9?ußlanb mußte bemnadj ju anberen SWitteln greifen. ©£ legte an »er*
fdjiebencn fünften Heine gorts an, um ben HanbetSleutcn auf ibjen $fyen
Dbbadj unb ©diufc 51t geroäb^ren. £>en Äirgifen mürben aber ©djulen unb
©ebetfjäufcr erbaut, um fic burdj ©rjieljung unb Sieligion ju ctoitifiren.
33ci biefen festeren Maßregeln gefdjaljen große Mißgriffe feiten« ber ruffifdjen
33erroaltung. STOan pflegte officiell bie tatarifdje (Sprache, roäfircnb biefe
bod) gar nid)t bie 3Wutterfprad)e ber Steppenbewohner mar, unb legte
SDiofdjecn an, roät>rcnb ber 5Bolf3glaube nod) ein fdjamanifdjer war. ®urdj
biefe fefjlerf>aften ©tnridjtungen rourbe nur ben ©rbfeinben d)riftlidjer
^Regierungen, ben tatcmftfrmiofjammebanifdjen Sßrteftern 3Sorfd)ub geleiftet,
bie jefet in großer $afy au§ ^nnerafien herbeieilten, um ftdj in ber ©teppe
nieberjulaffen. Die rufftfdje Regierung cntfd)loß fid} baber im $al)re 1820,
bie Sfirgtfen »ollftänbig ju ruffifdicn Untertanen $u madjen. 3n ber ©teppe
mürben an fünften, bie fid) für bie Umgegcnb 5U i'erfehr&Sentren eigneten,
Sefeftigungen erbaut unb in benfefbat ruffifdje Äafafen angefiebelt. Siefen
(Softem fanb junäcbft am ^tifd) 9Inroenbung unb bann 1835 in ber
Drenburger ©teppe. ©0 entftanb eine 33efefttgung3linte in ber Mittleren,
unb bie ileäftfdje in ber steinen £orbe ber Äirgifen. 9Iber audj biefe
SKaßnafimat »ermodjten ben 3rocd, SRufie im tirgifentanbe ^erjuftetlen,
nod) nid}t ganj su erfüllen, fo lange bie räuberifdjen ©djaaren nodj ®e=
[egenfieit fanben, burd) ©ntroeidjen in bie unabt)ängigen Granate im ©üben
ber ©teppe, nämlid) nad) ßb^ofanb, 33od)ara unb 6l)iroa, ftd> eoentued ber
©träfe ju eutjiefjat. 9iamentltcfj rourbe ifmen Unterftüfcung geboten burdj
ben Gfjan »on Gf)iroa. SRacfibem baljer ruffifeberfeitä ber Soften SRoroo«
9lleranbroro3f an ber $aibabud)t beä Safpifdien Speere«, ber ©mba=^often,
400 Kilometer füblid) »on Drenburg, unb 2lfbulaf, etroa 160 Kilometer
weiter füblid) nadj bem UftsUrt^lateau ju, angelegt roorbat roarat, rourbe
1839 »on Orenburg au3 ein ©rpebitionäcorpS unter ©enerat $ßeroro#fi
gegen ©bium entfenbet. ^asfelbe blatte eine ©tarfe oon 20000 Sftann
unb einen £rain »on 10000 Sameelen. Heftige Äälte unb 3J?angel an
SebenSmitteln, foroie furdjtbare ©cfjneegeftöber nötfjigten aber 6nbe 3anu(ir
1840 ben ruffifd»en ©eneral nad) bem SSertufte ber SQtifte feiner 5D?annfd)aft
fdwn auf bem falben SBege jur Umfefjr. ©ine große 9lnjabl roegen ©r=
fd^öpfung auf ben 2Kärfd)en SurüdgeMi ebener roar in feinblid»e ©efangen«
fdjaft gcratben. ®ie ©rpebition roar alfo »otlftänbig gefd)eitert. 2lttd> nabm
2\0
€. OTafdjfe in Breslau.
bie rufftfcbe Regierung jefet 3l£>ftonb baoon, einen neuen ÄriegSjug burd)
bie Steppen am 2lralfee ju verfugen, entfdjlofc fid) otelmebr, in onberet
2Betfe einen entfd)eibenben ©cblag oorjubereiten, für melden bie ©tr=1)arja
(^ararteS^ßtnie als DperattonSbaftS bienen foHte. 3u teuerem 3"*<fc
muffte man fidf) aber sunäcbft bes ©banates oon ©b,ofanb bemäcbtigen, baS
1840 ber ©mir oon $od)ara feinem ©ebiete einoerleibt batte.
9fad) einem 1846 aufgebrochenen, oon ben Hüffen aber mit ©rfolg
niebergeroorfenen 3lufftanbe ber Slirgifen erhielten @mbin$f unb 2tfbutaf
fefte ©arnifonen, unb in ber ©teppe entftanben aufjerbem bie Soften
UralSfoje unb DrenburgSfoje. Qn bemfelben Bohrt hatten aud) bie SEirgifen
ber ©rojjen £orbe junfcben bem 33alfafd):©ee unb bem £bianfcban=©ebirge
bie ruffifcbe Dberberrfdjaft anerfannt. ©üböftlidj bes genannten ©eeS rourbe
oon ben Stuften ber ©tü|punft Äopal angelegt. Um btefelbe 3«t entftanb
9iaim3foje an ber ÜDiünbung beS ©ir^arja. 3n Drenburg fammelte man
SlriegSoorrätbe aller 2lrt an. %m 3abre 1847 begann bann ©eneral
^ßeroroSft, langfam aber fieser oorjurüefen, inbem er in getroffen ©tte
fentungen eine SWcirjc oon gort« errichtete, roelcbe bie erften ©lieber ber
Äette bilbeten, bie fpäter ben ©ir=®arja mit 9tuftlanb oerbinben foHte.
2luf bem 2lralfee mürbe eine Meine Flottille errichtet. £>ie 9tecognoScirung
beS SanbeS bebnte man bis ju bem feinblidjen gort 3tf=2Wcsbfcr)et im ®e*
biete oon ©bofanb au«. Sie rufftfd)e ©renje 50g ju btefer 3«* oon Oft
nad) SBeft über ben ^liftujj sum 2llataurüden unb längs bes £fd)u $um
©ir^arja. 3n ben folgenben fahren gelang eS bem ©eneral Sßerorosfi,
ben 9J?arfd) burd) bie SBüfte Äara^fum, im 9torboften 00m 2lra[fee, ju-be«
roerffteHigen unb nad) garten kämpfen fid) 2lf=9BeSbfdjetS ju bemädrtigen.
es rourbe l)ter baS gort $PeroioSfi angelegt. ®er Ärimfrieg unb bie
polnifdje SReoolution nahmen bann sroar eine 3eit lang bie S^ätigfeit her
9iuffen nacb anberen ©eiten bin in Slnfprud), niebtsbeftoroeniger rourbe aber
aud) in ©entrataften fortgefahren, roidjtige fünfte oon Sibirien aus 511
befefcen. .^nt ^abre 1854 rourbe bie geftung SBernoje am 9iorbabhange
beS tranSitienfifcben Sllatau gegrünbet. 3Me Sinie beS ©ir»£arja roar
bereits burd) baS gort 9?r. 1 ^ajalinSf, baS gort 9fr. 2 ftarmaffebt unb
baS oon SßeroroSft, lefctereS etroa 350 Kilometer öftlicb 00m 2lralfee ge=
legen, gut gefiebert.
®S begannen um biefe &it blutige innere gebben in bem Q. banale
oon ©bofanb, beroorgerufen burd) 2br°"ffteitig!etten 3roifd)en ben berrfebenben
gamilien. 2Iud) baS Granat 93od)ara rourbe in 9)Jitleibenfd;aft gejogen, unb
fd»lief3lid) fübrten biefe friegerifeften SSerroidelungen 5U geinbfeligteiten
jrotfdjen ben beiben genannten Staaten unb 9Juf}lanb. ^ie Gruppen be#
3aren unterroarfen 1861 bie Marafirgifen, nabmen baS gort 2)fd)ule! an
ber Sir=2inie unb eroberten im Sfuni 1864 2lulieata, foroie bie ©tabt
^urteftan (^ajret). ©leid)}eitig feboben fid) anbere ruffifebe Slbtbeilungen
00m Stebenftromlanb b«oor, inbem aus bem ^ejirf ©emiretfcbenSf eine
Knfjlattb in Cenitalaf ien. 2\\
©rpebition {»eranrücfte, um im <Süben tyre Serlnnbung mit ber ©oloune
com Sir^arja ju bewirten.
9ln ber ©pijje be$ Setad)ement$ oon SBernoje, weCd^eö nur eine (Störte
oon 2000 3)fann l»atte unb 12 alte Äanonen führte, mar ©eneral £fd)ernajero
ausgesogen, um für SRujjtanb eine weit au3gebel)nte ^rootnj ju erobern.
23or ben ÜWaucrn oon Sjdjimfent fd)(ug er bann bie 40000 ÜKann ftarfe
Slrmee beä ®£)an ton Gf»ofant unb trat fjierauf ben 2Harfd) gegen £afd)fent
an. SHe ©efd)id)te biefe$ $uge3 ift bamals in Gentralafien gerabeju ju
einer Gpopöe geroorben. £>te fd)led)t genährten unb mangelhaft ausgerüsteten
rufufdjen ©olbaten brangen in bem unbetannten fianbe vor, wie jur %t-
oberung einer neuen SBelt. 2ll# ©eneral £fd)erna|eto fd)tic^tidE) oor £afd)fent
ftanb unb eben im begriff mar, fid) in ben 33efi| biefeS @d)lüffel3 oon
Surfeftan ya fefcen, erfnelt er vom StriegSminifterium ben SBefebX umjus
fefiren. £od) ber ruffifd)e ©eneral ftedte bie $)cpefd)e ftillfd)raeigenb in
bie £afd)e unb nafmt bie fetnblidje .öauptftabt. 3tm £age nad) ber @nt=
fcb>tbung3fd)lad)t bei £afd)tent ging £fd)ernajero ganj allein, ojjne jebe 2Je*
beefung in bie äufterft femblid) gejinnte (Stabt hinein, um bort ein Sab
ju nehmen. 6r fannte wol)l feine Drientalen. ©iefer 3ug toflfüljnen
3Jhitf)e3 mar gleiä^jeitig ein 3lct beredjnenber ^olitif, benn er erwarb bem
©eneral mit einem @d)lage bie Sewunberung ber 9lfiaten, bie ba3 Stüter«
orbentlidje lieben unb auf beren (Stnbilbungäfraft oor 2Wem etngewirft
werben mu§, wenn ibnen imponirt werben foH. 93on biefer 3cit f)er fdjrieb
fid) ber weit oerbrettete grofee 9tuf, beffen £fd)ernajero bann al§ SÖittitär=
gouoemeur unb Gljan oon Xafdjfent genofe.
Sie ßittnaljme oon £afd)fent mirfte in ©nglanb äufjerft überrafdjenb.
Sßenige 2Bod)en oorljer, eb> biefeä ©reignife in ©uropa befannt würbe, foll
Sorb ^ßalmerfton fid) nod) babjn geäußert fjaben, bafi gar mandje ©eneration
nod) fommen unb geljen muffe, efje e3 9tufjlanb gelingen werbe, bie
tatarifdje @d)ranfe mebersureifsen unb fid) bem i'anbe jroifdjen S8od)ara
unb ^nbien 3U näljern.
$ürft ©ortfd)afoff oeröffeutlid)te bann aber in einer Gtrfularnote oon
1864 bie ©rünbe, meiere Stufjlanb baju beftimmt Ratten, fid) 2afd)fent3
ju bemäd)tigen. @3 rourbe ibarin auf bie unabweisbare 9iotfiroenbigfeit
t)ingebeutet, bie beiben SBefefrigungSlinien ber ruffifd)en ©renje, beren eine
fid) oon Gljina jum %)\\tal-<&et b^in, bie anbere oom 2lralfee ben @ir=
5Darja entlang jog, burd) fefte fünfte in fold)er 9lrt ju oerbinben, ba§
fämmtltd)e ruffifd)e Soften in bie Sage famen, roenn nötl)ig, einanber
uuterftüfeen ju fönnen, unb bafj fein 3wifd)enraum offen gelaffen rourbe,
ber ben nomabifd)en Stämmen geftattete, ifjre ^piünberungSeinfälle fortju»
fe|en. %etna rourbe als oon ber größten 2Bid)tigfeit bejeid)net, biefe
S3efeftigung8ltme berartig oorjufd)ieben, ba§ fie fid) in einem Sanbftridje be-
fanb, ber nid)t nur fruchtbar genug mar für bie SSerprootantirung ber 39e=
fa^ung, fonbern aud) geeignet für eine ßolonifation, bie allein nur er«
2\2
€. IJTafdjfe in Breslau.
möglichen fonnte, bem oecupirten Sanbc für bic Bufunft georbnete 3*er=
tyältniffe unb SBobJftanb su fiebern, inbem fic bic benachbarten SBölferfdiaften
'ber einilifatton gufutireit follte. ©dfjliefslidi rourbe für brtngenb notlpenbtg
erflärt, bie 33 cf eftigungstinie in enbgtlttger Sßeife ju firtren, um bat ge*
fäljrlicfjen uitb beinahe un»ermetblidjen iBeranlaffungen ju entgegen, bureb
bic fortroälirenben Beunruhigungen feitenS ber ©rensnadibarn jur Sßteberuers
gettung gebrängt 511 werben, bie fdjltefjlidj p einer enblofen 2ln*behnung
führen fonnte. 3JJit biefem ftide nor 9lugen wollte 9htfjlanb p beffen
33erroirflidjung ein ©uftem finben, ba3 nidjt allein auf SSermtnftgrünben
beruhte, bie immerhin cfaftifdt) roaren, fonbern aud) auf geographifcfjen unb
potittfdjeu 33ebingungen, bie von beftimmter unb bleibenber 2lrt fein mußten.
2)a3 neuerroorbene ftmb rourbe mit ber <Sir=S5aria:£'inie unb Den
am 3ffitul--(See gemachten ©roberungen, reo mau oom gort SBernoje bie
an ben 9Jarije oorgebrnngen roar, su bem ©renjgebtete Storfeftan oereinigt.
35ie rufüfd)en erfolge in 6I)ofant »eranlaftten jefct ben emir »on
SBodiara, in ben $ampf einjutreten. es erging »on ü)m an ben ©eneral
2jdf)emajero bie fategorifdje gorberung, bie Eroberungen ^erauesugeben,
anberenfaffs rourbe „ber tieUige ftrieg" proclamirt werben. 9twf rufjifcher
Seite roar tnjroifchen ein 2Bed»fel im ßommanbo eingetreten. $e§ abbe»
rufenen ©enerat ^fchernajero ©tetfoertreter, ber ©eneral 9{omanon»fi), ging
aber auf bie £erau3forberang Bocharas fühn unb nerroegen mit feineu
3600 «Wann ben überlegenen 3J?affen be§ (SmirS SDfosaffer entgegen. 3m
ÜRai 1866 fam es in ber ebene bei 3rbfd)ar, äroifdben Tafdrfent unb
Samarfanb, sum 3ufammenftofj mit ben 40000 9J?ann ftarfen ©chaaren
33od)ara3. £)te blutige ©chladjt nahm einen unglürflidjen 2lu3gang für
ben emir Sttojaffer, ber fein £eil in ber gtuebt fudjen mufte. 58on ba
an gehörte baä gan5e ©ir^lial ben 9tuffen, bereu ©tegesmarfd) bie
Solaren tief entmutigte, enbe 3Rai rourbe bie ©tabt Sfiobfdjent erftürmt.
9lnfang§ Dctober fiel $fd)ifaf unb SDiitte beleihen SJJonat« Ura Xjube,
SöeibeS ftrategifd) mistige fünfte an Raffen nad) Äafdbgar (Dft«£urfeftan).
3m 3«b^re 1867 rourbe baS bis baljin bem ©eneralgounernement Ctenburg
unterteilt geroefene mittelafiatifd^e Öebiet als felbftftänbiges ©eneral:
©ounentement £urfeftan organifirt. ©eneral oon Kaufmann trat an bie
©pibe beäfelben.
3n bem Gljanate SBodhara brängten injroifc^en bie UlemaS energifd)
auf bie gortfefeung bes Stampfen bis jum ateujjerften gegen bie ungläubigen
„Uruffen". Ter emir betrieb mit fieberhafter eile bie 33efeftigung r>on
©amarfanb unb concentrirte bann feine ©treitfräfte am linfen Ufer bes
©eraffd»an. ©eneral Kaufmann ftanb im 2M 1868 mit feinen 3500
SJfann bei £afä>$uprinf auf ber Strafe naef) ©amarfanb. Tie bebro^tid)en
5D?aftna^men be$ geinbe'S »eranlaftten ib^n, bie Qnitiatioe ju ergreifen unb
gegen ba? bocharifdje .§eer normgelien. 9lngefid^t§ beS ©egncrä bureb^
roateten bie Sittffcn ben glu§ oeraffdjan, o^ne ftdj buret) ba§ ^eucr btv
Hujjlanb in deittralafien.
2\3
auf bot gegenübet liegenbeu &öl)en aufgeftellten safilreidien fetublidjen
2lrtillerie aufhalten ju (äffen. 9)iit Ungeftütn roarfen fid^ bann bie tuffifdjen
Gruppen auf bie 23odjaren unb jagten fie in bie gludjt. 9lm folgenben
Sage jog ber Steger in Samarfanb ein unb befefcte bie (EitabeUe. öter
lief? ©eneral »on Kaufmann fein Kriegsmaterial unb bie gelbfpitäler unter
bem Sdjufee einer Befafcung r>on 700 SJJann jurüd, roäljrenb er felbft
bie Iserfolguug beä geinbeS roieber aufnahm. 3)ie (Sinroofmer »on
Samarfanb breiten aber bte 9lbroefenf)ett ber ruffifdjen föauptmadjt für eine
günftige ©elegentiett, um bie Stabt »om geinbe ju befreien. Sie öffneten
ben aus Sdjadjrifebs lierabgeftiegenen friegerifdjen 33ergberoofmem bie Sfjore
unb maa)t(it fiel) an bie Belagerung ber Gttabelle, beren fdjroadje Bejahung
ftd) plöfelidj von etroa 10000 Wann angegriffen fafy. SDJtt rüljmlidjer
Sapferfeit führten aber bie Dtuffeu oom 14. bis 20. %nni bie 33ertf)eibigung
burdj. Sittel, was nur nodf) ein ©eroeljr 51t lieben tjermodite, felbft bie
Kranfen unb 3>ernmubeten gelten bie über einen Kilometer langen SBäffe
mit unerfd)ütterltd;er &artnädtgfeit befefct. 9tad) einem erbitterten unb
fdjroeren Kampfe von fed)S Sagen unb fed)3 sJiäd)ten mürbe enblid» bie
braue 33efafcung, oon ber bereits mefyr als ein drittel getöbtet mar, burd}
baS SBiebereintreffen beS ©cuerals Kaufmann aus ifirer äufjerften 23e=
bräugnifi befreit. SaS ruffifdje GorpS f)ätte fidj ben emftcften ©efafjren
ausgefegt gefef»eu, wenn ber s$la(j in bie £änbe ber Sorten gefallen
märe. Somit mürben bie 9iuffen tfireS ganjen SDfaterialS beraubt unb oon
ber ^WüdjugSlinte abgcfdjmtten roorben fein. 3ur Strafe für ben 33erratf)
mürbe Samarfanb brei Sage lang ber Sßlünberung preisgegeben. Ser
©mir »« 23od)ara erfaufte jefct reumütig ben ^rieben. Stufjlanb ertlärte
fid) bereit, bie Selbftftänbigfeit beS GfjanatS 5U erhalten, annectirte jebod)
ben mittleren Sauf beS Seraffdjan mit Samarfanb unb Katta=Korum.
Sparen fomit Gliofttnb unb 3iod)ara 51t SSafallenftaaten ffiuntanbs ge=
roorben, fo blieb je(;t nod) Gbjroa ju unterroerfen. SaS Uuternelmten gegen
btefeS 6l)anat nnirbe aber auf ba* Sorgfamfte unb von langer £aub t>or=
bereitet. 3unäd)ft festen fid) bie Staffen am öftlidjeu Ufer beS Kafpifdtjen
3)feereS feft. ©eneral Stoljetoro grüubete 1869 an ber Stelle eines
faufaftfdjen gifdjerborfeS bie 3){ilitärftation oon KraSnoroobSf. %m %xvn)-
jaljr 1870 befefcte man baS in bem trattSfafpifdjeu ©rofjen SSalfan ge=
legene £afa>2lrroat mit ben beiben Gtappcnpoften SJiidjael unb 9Kulla=
Kari. ^m 4?erbft beSfelben ^afireS füfjrte eine Srpebttion fdjon 200 km
meiter naä) Dften. fernere SfecognoScirungen in ber 9Hd)tung auf ben
See Sart)=Kamt)fcf) fanben 1871 ftatt. 9lu ber ÜJtünbung beS 2ltref rourbe
baS gort Sfdjitifdjlar angelegt, TOärj 1873 trat Siufelanb bann in
ben Krieg gegen Gl)troa ein.
Sie ©cfammtftärfc ber für baS Unternebmen beftimmten ruffifdjen
Srttppeu betrug 14 300 9)}ann. ®em ©eneral=Gou»enteur von Surfeftau,
©eneral 0. Kaufmann in Safdjfent, rourbe ber iCberbefcltl übertragen. ^aS
2\\ €. HTafdffe in Breslau. —
©rpebition&Gorpä war in fedje Golotmen formirt, bie oon SWorben, Dftat
unb aSJeftcn auf weit auSetnanber liegenben ÜBegen nad» ber im Gentrum
befinbltchen Gulturoafe oorrficfen follten. Tie SluSgangspunfte ber per-
fdbiebenen 2fbtbeilungen waren: Tafdjfent, gort Sßeroroäfi, 500 km norb=
öftlid) oon erfterem gelegen, gort Stajalingf, weitere 300 km entfernt,
©mbinSfoje, 400 km norbweftlid» oon ÄajaltnSf, 2lteranbrowäf, über
700 km fübwejUid) oon GmbinSf, unb 5traSnowobSf, mehr aU 500 km
ffiblidj oon 2Heranbrow§f, unb jwar Suftlinle geredmet. 3*ef)t "ta" fetner
nod) in 33etradjt, bajj eä nidjt felbftftänbige Slrmeen waren, bie Incr
40 big 100 beutfdje 3Mlen oon einanber entfernt, nad) bem gleichen
DperationSjiele b,inftreben foHten, fonbern Keine Tetachementa »on
2000 big 4000 3Wann, fo müffen bie ungeheueren ©djwierigfeiten, mit
benen ba§ ganje Unternehmen ju fämpfen hatte, erft redjt flar werben,
namentlich ba bie obroaltenben Umftänbe erforberten, bafj bie einzelnen
Keinen Golonnen nod) enbtofe TrainS mit fid) führen mufeten. Ter Sßlan
für bie Grpebition war aber mit grofjer ©aditenntnifi unb äujjerjl gefdjidt
entworfen worben. Tie oerfd)iebenen 2lbtheitungen trafen trofc aller
ßinberniffe, bie überwunben werben mufften, bis auf nur eine oon ihnen,
gleichseitig oor ber $auptftabt Ghiroa ein. Ginjig unb allein bie oon
ÄraSnowobäf oorgegangene Golonne fyatte nicht burdjjubringen ocrmodjt,
babei aber bodj ihren £auptjmed erfüllt, nämlid) baS ganje Unternehmen
gegen bie ^Beunruhigungen burd) bie Teie;Turfmenen ju fidjern.
Tie Slbtheilungen be3 GorpS oon Turfeftan festen fidi junaeöf» am
13. SDtörj in 3Harfd). Ta3 ©ro« baoon, etwa 2650 2Ratm mit
6700 .ftameelen ftanb unter bem Befehl bc? ©enerals ©otowattdjeff unb
fchlug oon Tafd)fent au« bie fübltdje 9ttd)tuna ein. TaSfelbe gelangte am
16. ajJärj an ben <Sir*Taja unb nad) bem 3U9C bvxä) bie £mtgerwüfte,
wo bie 2Bafferbefd)affung bereit« fdjroiertg war, am 22. nad) Tfdniaf.
33on hier würbe bann in weftttdjer Dichtung läng« ber 9lorbabl)änge ber
23ergau3läufer beä 9Zuratau wettennarfd)irt. Tie Truppe hatte babei nidjt
bloS mit Gntbehrungen aller 2lrt, fonbern aud) mit ben jähen Temperatur*
wechfeln unb mit elementaren ©ewalten ju fämpfen. 3n ber 9lad)t jum
29. -DJärj wüthete }. $t. ein ©teppenfturm unb riß bie &dte bes Sager*
nieber, währenb bei 6° 9?6ctumur Slälte ein SReter hoa) <Sdmec fiel.
Ungteid) größere Strapazen nod) brachte bann aber bie Turchidjreitung ber
5lifiHum=Sß>üfte. Sei brüdenber £ifee unb erftiefenbem Staube, ber nur
zeitweilig burd) iftegcnfdjauer niebergehalten warb, ging ber 3)Jarfch nahe
ber bod)arifd)en ©renze burd) bie Sanbwüfte. Tic Truppen erreichten trofc=
bem in befter ©efunbljeü 9lriftan bei Äabuf, bann Ghataata, wo als Stiu>
punft bie St. ©eorge^efefttgung angelegt würbe. Stuf bem oerhältnifr
mafüg furzen SBcgc oon lefeterem Drte nad) bem 9lmu bradne jebod) ber
oölligc SSaffermangct baS ganze GorpS bem 33erfdE)mad)ten nahe. 9lur
ba? 3luffinbeu einiger 33runnen fchaffte nod) Rettung. 9lm 18. s3)fai mürbe
X
Rujjlattb in <£ entrolaf ien.
2*5
ber Uebergang über ben 9lmu»Sarja (Dru«) bei <3d)eid)arif geroaltfam er»
jroungen, nad)bem ba« turfeftamfdje ßorp« in biefen unroirtf)tid)en ©egenben
850 Stiometer in 67 Sagen jurfidgelegt Ijatte.
eine 3fi>tl>eUung be« 6orp«, 2500 SWann ftarf, mit 2800 ßameelen,
roar in jroei ©olonnen von $ajaltn«f unb gort $eroro«fi au« vorgerüdt,
fiatte fid» bann bei ^rbitfat am Qani Sarja unter Dberft ©oloro in fid)
vereinigt unb mar bei ßfialaata jur ßolonne ©otoroatfdjeff geflogen. SBci
Qrbitfai rourbe ba« Keine gort 33lagaroetfd)en«foje erbaut.
Sa« ßorp« oon embtn«foje unter ©eneral SBererofin trat feinen
9Karfd) am 7. 2CpriC an, unb jroar mit 2100 3ttann unb 2700 Äameelen.
Dlnte befonbere £inberniffe erretdjte e« auf bem, 1839 bem ©eneral
$ßeroro«ft burd) ben ©teppemvintcr fo gefäl»rlid) geworbenen, 670 km
langen Süege am 17. 3Kai bie Urgafpifce be« 2lralfee«, burd)fd)ritt bie
au«getrodnete 3libugirbud)t unb befanb fid) jefet im ©ulturlanbe.
©ine faufaftfdje 2lbtljettung von 2400 2Rann, roeldje unter Dberft
Somafin bei 2lleranbroro«f auf ber £al(>infel 2Hangifd)laf verfammelt
roorben mar, blatte einen 900 km wetten 2Beg bi« jum 2lralfee jurüd}us
legen unb vereinigte fid) bann am 26. 9Kai hinter Äungrab mit ber eolonne
SBererofin. Sa* fetfenjerftüftetc ^Slateau be« UffcUrt, ba« bis bab^in für
unpaffirbar gegolten, Satte nirgenb« unüberivinblidjc Sdmnerigfeiten ge«
boten. Sie Bereinigten 6olomten Somafin unb SBererofin mufjtcn bann
aber im eulturlanbe sal)lreid)e feinblidje Angriffe jurüdroetfen unb Sdjritt
für SduHtt fid) ben SBeg vorroärt« erfäinpfen. im 27. 9)?ai rourbe bie
©tabt ebobfdjeili befefct, roo 6000 d)ircaftfd)e Ärieger geftanben Ratten, unb
am 30. ÜHangit geroaltfam genommen.
eine zweite faufafifdje 2tt>tl»eiluttg roar unter Dberft SJfarfoforo von
£ra«noroob«f aus vorgegangen, um in bem fogenannten alten S^ett be«
Dru« gegen Gfyiwa vorjubringen. 3Son 3gbt an ftief? fte aber fd)on auf
enblofe glugfanbljügcl, fanb feine 33runnen unb fafj fid) bemnad) jur Um»
fefjr genötl)igt. ^inbeffen fiatte SWarfoforo mit feinen 2400 3)iann fiinter
ivgbi einen 2lngriff ber Surfmenen fo energifd) surüdgeroiefen, bafe biefer
mäd)tige SBüftenftamm infolge beffen bavon Slbftanb nat»m, bem eban von
Slliroa ju £ilfe ju eilen.
Sa« Unternehmen gegen 6f)iroa follte burd) eine bei SajalinSf au«»
gerüftete ruffifd)e Flottille von 2 Sampfern unb 3 anberen galjrjeugen,
mit in«gefammt 19 65efd)üfeen, unterftiüjt toerbeu. Sicfelbe vermod)te jebodj
nid)t 5ur 2lction ju gelangen, ba fie bereit« oberhalb Äungrab im Salbifarn
$alt mad)en muffte.
Sa« gefammte Gorp« be« ©eneral« von Kaufmann vereinigte fid) am
10. 3uni unter ben SJlauern von etjiroa in ber Störte von 12 000 9JJanu.
3?ad) einem furjen ©efedjte in ben SBorgärtcn unb nadjbem burd) ba«
Slrtilleriefeuer eine 33refd)e in bie Stabtmaner gelegt roorben, bot Gbjroa,
roo bereit« eine ^nfurrection au«gcbrod)eu roar, bie unbebingte Unter-
2\6
■ — iE. ntafdjfe in Breslon.
merfung an. 2er Gf)an follte bie Verwaltung bes SanbeS behalten, jebodj
unter ruffifcfjer Cberaufficht. 2er totdbtigfte Grfolg für bie Buffett war
aber bie mittetft Urfunbe unb ^koclamation erflärte ooüftänbige Aufhebung
ber Sflaueret in biefen ©egenben. Durdfj biefe SDcafjregcl würbe baS
greunbfchaftSbanb jwifchen Ghiwa unb bcn Siäubera ber Steppe, ben
Sürfmenen jerriffen.
Gl>e es jebocf) sunt tbatfächlichen griebenSfchluffe faut, mußte von ben
Muffen noch ein ^elbjug in baS £anb jwifchen Gliajawat unb 3ltt=Urgenbfd),
roejUidj ber Crte 3lm(>ar unb Safdbaus, gegen bie ^omubensXurfmenen unters
nommen werben, tiefer wtlbe Söüftenftamm bilbete bie größte Sßlage ber
benachbarten Sanbftriche. Gr branbfdjaßte bie frieblidje Sanbbemohnerfchaft
uon Ghiwa unb fpielte fich trofebem ben Stuffen gegenüber als Befreier ber
Gfnwefen auf. ©enerat uon Kaufmann bictirtc bemnad) ben ^omuben, um
fie bie rufftfche Ueberlegenheit füllen ju taffen, eine GontributionSftrafe ju
unb entfanbte betjufä bereu Beitreibung ben ©eneral ®otomatfd)eff mit
8 Gompagmen, 8 Sotnien Reiterei, 10 ©efchtüjen unb 1 SRafetenbatterie
in bie 9Jieberlaffungen ber Surfmcnen. Schon am 21. Quli fam bie
ruffifdje 3l6tt>ci£ung tu Gontact mit bem getnbe, ^u einem großen unb
blutigen ©efedbte führte aber ein Angriff, ben bie ^omuben am 25. bei
£fd)anbir mit ftarfen Sieiterfdfiaaren gegen bie 9tuffen unternahmen. Srotj
be8 gegen fie gerichteten mörbertfdjen Äartätfcheu= unb Sdjü&enfeuerS ftürjten
fich bie wilben Steppenreiter toiebercjott in bie Siethen ter SJuffen hin«"/
roähreub eS einem ^heite »on ihnen burch Umgehung ber Stellung bes ©egnerS
gelang, fich ber beim üNadjtrab befinblichen ruffifdjen Jtfamecle 5U bemächtigen.
Schließlich nötigte aber baS ruhige unb fidjcre $euer ber Sluffen bie ^omuben
boch jur gludjt, unb auch We erbeuteten Hameele umrben ihnen roieber
abgenommen. Sic oerfucfiten bann swar noch einen jweiten Angriff, umrben
ieboch abermals jurücfgejagt unb oon beu Slafafen bis in bie üRadbt hinein
»erfolgt. Srofc biefer Siicberlage wagten bie SurEmenen fdwn äuet Sage
fpäter, bie Stuffen in ihrem Sager »on ;Ual» unb ftnfuU£fd;afata anju«
greifen. 33or SageSanbrud) beS 27. v^uli warfen fich etwa 10 000
Somuben mit einer bei ben centralaftatifchen ÜDioSlemS bis bafnn noch nid)t
gefannten Gnergie unb Sapferfett auf baS fletne GorpS ©olomatfieff. Sie
Steppenreiter hatten auf ben Struppen ber ^Sferbe je einen sweiten ÜDiann
hinter fich fi^cii : biefe Seute waren barfuß unb nur mit einem &embe bt-
f leibet, beffen 9lermel Ejcraufgeflretft waren; fie bilbeten eine befonbere
Kategorie oon .Uriegern, es waren /fanattfer, bie fid» ausschließlich bem
£obe geweiht hotten. äBeuige Schritte uor oer ruffifdjen Stute fprang ber
auf ber ^ferbetruppe filicnbe Wuwm ab unb ftürjte fich, nur i«it blanfer
2Baffe in ber .ftanb, gegen bie ruffifchen Bajonette. SDiann cegen 33iatm,
Bruft an 33ruft würbe gefämpft. 2ic Feuerwaffen würben für bie Stoffen
faft unanweubbar, nur bie b laufe Söaffe allein fonnte gebraucht werben.
GS entftaub ein fürditerlicbe-j öanbgcmeuge unb blutiges ©cmefeel. 9;ad);
Knfjlanb in Cttttralaf ten.
2\7
beut ber Slampf in bie)er SBeife ben ganjen ÜRorgett über fortgenmtfjct
fjotte, gelang es eubltd) ber rufftfdjen Äaltblütigfeit unb TiScipltn, bie
Cberfianb über bie mel)rfad)e Ueberlegentieit beS rotlben ©egnerS ju ge*
roinnen. ©eneral ©oloroatfdjeff befanb fid) aber mit feiner Keinen ©djaar
in bem (Gebiete ber 3omuben in einer fo bebenflidjen Sage, bafs ©eneral
von Kaufmann fid) »erantafjt fati, am 27. 3uti mit bem 9ieft feine« 6orpS
naefourüden. ©olomatfdjeff jerftörte bann nod) am 29. brei Sßagenburgen
beS ^feinbes, moburd) biefer an 3000 gulirroerfe unb 9000 Äameele »erlor.
Sie äiomuben waren jefct gebemüttngt unb »erfpradjen ju besagen. SBian
nalmt ifnten ©eifeln ab, bod) mürben nad) bem 9C6juge ber ruffifdjen
Gruppen bie Turfmenen freiließ mieber ebenfo unbotmäfjtg, als fie »orljer
geroefen waren.
Ter Äampf mit ßfnroa blatte aber fein @nbe erreid)t. 9lm 24. 9luguft
mürben bie griebenSbebingungen unterjeidjnet. 2lHe Senkungen ber
Gfiiroefen am rechten Ufer beS 2lmu=Taria unb baS Telta btefeS ftluffes
bis pm ämusTalbif mürben bem rufftfdjen ©ebtete einverleibt. 3m
Uebrigen roarb Gliiroa ein 3?afaHenftaat ShtjjlanbS. ©egenüber von ©fianfa
unb bem UebergangSpunfte über ben 9lmu erridjteten bie Muffen in ber
überaus frud)tbaren ©egenb bie geftung 9Joroo=2lteranbroroSf, mo fortan
ber ©ifc ber militärifd) organifirten SBerroaltung beS neuen ©ebiets fid)
befanb. Ter SReft beS GorpS Kaufmann trat vom 24. bis 28. 2tuguft ben
Jtücfmarfdj in ber Stiftung auf SDianßifdjlaf, Drenburg unb Tafd)fent an.
Tie erften beiben Drte mürben in 30 Tagen, ber teuere nad) 42tägigem
9)iarfd)e erreid)t. Tie 5Wuffen Ratten bie 3eü tyrer 9lnroefenb,eit in ©Enma
ju oielfeitigen roiffenfd)aft(id)en Grpebitionen benutzt, bie bann aud) metter
fortgefe|t mürben unb beren ©rfaljrungen fpäter bie enbgiltige Seroäftigung
ber Turfmenen febr erleid)tern fußten.
3m 3al»re 1876 fam cS bann nodmtalS ju einem Äriege 9htf?laubS
mit Gfjofanb. Tiefe? Gljanat mürbe jeftt coUftänbig unterroorfen unb als
^ßrootnä gergfyana bem ©eneral 5©ou»ernement Turfeftan einverleibt.
9Juf?lanb breitete fid) bemnad) bereits über ben größten Tfyeil t>on GentraU
afien au«, »om tfafpifdjen 9Weerc im SEBeften bis 5um 3fftful'<See im
Dften, t>on Sibirien im 9iorben bis ju ben Turfmenen=@anbfteppen im
©üben.
Sföer aud) f)ier mufste ruffifd)erfeits fdbliejjlid) mit (Energie »orgegangen
roerben, menn baS Slnferjen beS 3arenreid)eS f»ci ben mittelafiatifd)en
33ölferfd)aften aud) ferner geroaljrt bleiben foOte. Ratten fd)on 1873 bie
Turfmenen eine Hauptrolle als <3tü£e beS GfjanS von Gljiroa unb als
Qegner ber Muffen gefpielt, fo festen fie aud) fpäter nodj baS ÜWäuber*
roefen fort unb beritten itjrc 3üge nid)t feiten bis in bie 9iät)e ber ruffifcfyen
S3efeftigungen beS tranSfafpifdicn TOlitärbejirfS aus. Dbmof)l bie oon ben
SRuffen feit 1874 mieberfiolt unternommenen Grpebitionen non ÄraSnomobSf
aus eigeutlidj gtütflid) »erlaufen maren, inbem 1876 Äi)fi)l-9lrroat erobert,
»ort unk ©ill>. LXXV. 524. 15
2\S
<£. tnafdjfe in Breslau.
1878 Tfdjab befcfet morben, fo ^atte ber £auptjwed, bie Turfmenen sur
Sotmäfjigfeit ;u snüngen, bod) ntd)t erreicht werben tonnen. SJlan war
ruffifdjerfeits immer triebet in ben Vereid) bee eigenen Territoriums prüd«
gegangen, unb bie Steppenbewohner Ratten bieS als ein Qtifym ber Sdjroädje
angefefien. Tie Dluffen befdjloffen bemnad) eine tefete Grpebition, um bie
Turfmenen ettbgiltig jur 9lul»e ju bringen. SJKt Shifaug beS Q^!)™9 1879
begannen bie nötigen Vorbereitungen. 9Bie bei ben Unternehmungen in
•DJittelafien in ber SHeget, fdiien eS fid) aud) f)ier mieber mef)r um einen
Kampf mit ben geograpliifdjen unb topograpfnfdien Verfjältntffen beS SanbeS
Ijanbeln ju foHen. SBarcn bie von biefen gebotenen ©djwierigfctten über;
wunben, fo glaubte man audj ben äßiberftanb ber Vewofoter leidjt bewältigen
$u fönnen. 3um SluSgangSpunfte ber ©rpebition mäljlte man Tfd»ififd)lar
an ber 2ftrefmflnbung. Von Wer aus war nur eine SBüftenftrede »on etroa
50 Kilometern bis jur Tefe:£>afc ju burdjfdjreiten. TaS für baS Unter«
nehmen beftimmte GorpS würbe aus 16 Sataittonen, 2 GScabronS unb
18 ©otnien 9ieiterci, 26 ©efdjüfeen, 1 Siafetenbatterie unb 1 Sappeur*
compagnie faufafifdjer Truppen unter ©enerat Sasarero gebilbet. liefern
Vefel)lSb>ber mar ©eneral Somafin als 3lblatuS beigegeben. Der Transport
ber Truppen nad) Tfdjiftfdjlar begann 9lnfangS 2lpril, mar aber in ftotge
ber großen SanbungSfdjwterigfeiten erft ®nbe ftuni beenbet. 2lud) bie Ve=
fdjaffung bee crforberlidjen großen Trains madjte »iel @d)wierigfeiten.
Jtamentlidj foftete es nid)t wenig 2M)e, bie nötigen Taufenbe »on
Äameelen aufjubringen. Taju famen nod) 1500 Starren mit 1700 Sterben.
3tud) bie 2luSrüftung unb bie Verpflegung ber Truppen »erlangten befonbere
ajJafjnab^men. 9tad) 2lbred)nung ber Gtappentruppe blieben bann 7 Vataillone,
2 GScabronS Tragoner, 7 Sotnien Äafafen mit 13 ©efdmfcen unb 1 ©appeur«
compagnie jum Vormarfdje nerfügbar.
2lm 6. Quni ging eine 2foaittgarbe unter Dberft Surft Tolgorudi in
ber -Ktdjtung auf Tfdjab »orauS. Sfoxe Hauptaufgabe war, für bie nad)-
folgenben Trappen ben 2Beg mögltdjft gangbar ju mad)en. Tem 3Itrcf
unb oon Tfd)ab aus bein ©fumbar folgenb, erreichte Tolgorudi am 17. $uni
TuSolum an teuerem gluffe. Tie Gntfernung non 208 Kilometern n>ar
in 12 Tagen jurüdgelegt worben. gut ©tdjerung ber rütfroärttgen i*er*
binbungen mit Tfcöififdjlar hatte man Gtappenpoften längs beS 2Itref unb
©fumbar etablirt. 3n Tfd)ab würben ÜDfagasine, ein 3lrtiIIerieparf unb
ein §ofpital beS Stoßen KreujeS angelegt. 9?adjbem bie 2lnantgarbe ibre
Aufgabe, ben 2Beg ju bahnen, gelöft hatte, marfdbirte fie in ber Sflidjtung.
auf bie Tefe^Cafe weiter. Gntgegentretenbe Turfmenen«©d)aaren würben
«erjagt. Tolgorudi erreichte am 6. 3luguft 58cnbeffen unb ging mit ber
Ganaflerie nad) 33ami t>or. gm Verfolgung ber in nörblidjer Jiiditung
jurüdgegangenen Tefe^Turfmenen würben jwei fleine Slbt^eilungen entfanbt,
welche ben $veinb beim 33ruunen Kara ©inger bejw. beim 3lul "JttaS
wieber erreiditen unb ibm 1200 ftameele unb 6000 Rammet abnahmen.
Knfjlanb in <£entralaf ien. 2\9
SaS ©roS beS rufnfd)en GrpebitionScorpS Ijatte insmifdien uod) oual=
»olle SBodjen im Sager »on ^fd)iftfd^tar ausarten muffen, bei fd)led)tem,
imgefunbem SBaffer unb einer «§ifce, bie 44 ©rab 3J6aumur erreichte. Grft
am 30. unb 31. ^uü t>ermod)te baSfelbe ber 2l»antgarbe ju folgen-
©eneral Sajarew {»arte franfljeitsfyalber jurüdbleiben muffen. 9lm 5. Slugnft
tjattc baS ©roS Sfdmb unb am 9. SiSolum erreicht. Sie 3Jlärfd)c waren
in golge ber &ifce »on oft 46 ©rab unb beS meift faljljalttgen SBafferS
überaus befd)roerlid). 21m 19. 3Iuguft würbe Gljobfdjafala erreid)t. Bei
Gfjorolum beginnt ein fyügeligeS Serrain, baS nad) unb nad) in Slatfberge
übergel)t, bie fid) in bem ®opet=Sagl) bis 3100 gufs £öl)e erftreden. SaS
Grfteigen beS ©ebirgSftodeS auf fdnnalen ©aumpfaben längs tiefer Stbgrünbe
uub fd)roffer gelSwänbe mar mit großen <Sd)wiertgfetten uerfnüpft. Sie
©efdjüfee muftten burd) 9Jiannfd)aften fortgefdjafft werben, ©enerat Sajarew
war feinen Gruppen bis £fd)ab nachgefolgt, tjier aber feinen Seiben erlegen,
©eneral Somafin übernahm vorläufig ben Dberbcfefit unb befdjloft, »on
(Sb,obfd)afala, baS jum (Stappenort gemacht würbe, ben (Sinmarfd) in bie Tete*
Dafe fofort fortjufefeen. 2lm 22. unb 23. Sluguft trat man bie Bewegung
an. Die Sloantgarbe beS #ürft Sotgorudi beftanb aus brei Bataillonen, ber
<Sappeur=€ompagnie, 4 ©djwabronen, 5 ©efdnujen unb ber 9ial"etenbatterie,
©eneral ©raf Bord) fütjrte bie jwette Golonne von 3 Bataillonen, 3 ©otnien
unb 3 ©efdmljen. Ser in bem gebirgigen ©elänbe äufterft müljfelige 9Jtarfcb
ging über Bamt, Beunna, 2lrtfd)man, Sarum nad) Qarobfd)a. Üttan [tieft
Dabei nur auf cereinjelte 2lbtfieilungen oon SefeS. 2llle 3lulS waren oer*
laffen. 9Jad) ben eingegangenen 9tod)rtd)ten füllten fid) bie Surfmenen
nad) ©eoftepe jurudgejogen baben unb l)ier erft 2Biberftanb leiften wollen.
3lm 27. mürbe »on ben Muffen Qarobfcba erreicht, unb am 28. war baS
9Karfd)3iel ©eoftepe. Ginige Kilometer »or lefcterem fünfte seigten fid)
in beiben ^laufen ber ruffifd>en Golonne berittene SefeS. 3lm g-ufte beS
Äopet-Sagb bei bem 9lul ^egman Batnr waren gröfterc Staffen beS $einbes
»erfammelt, bie bann bie Golonne Bord) angriffen, jebod) jurüdgeworfen
würben. 2lud> bie gegen bie Sloantgarbe »orgefyenben Surfmenen »ermodjten
ber ruffifd)en -Reiterei nid)t ©taub ju galten unb ben Bormarfdj nid)t ju »er*
l)inbern. ©eoftepe bilbet einen ber widjtigften fünfte ber £efc=Dafe unb
war mit Sengiltepe ju einer ^eftung Bereinigt, ©ine 2t>onmauer »on 5
bis 7 9Mer £öt)e unb etwa 2 -Dteter Breite, fowie ein bauor liegenber
1 J/a 3Wcter tiefer unb 5 2J?eter breiter ©raben fcbloffen einen großen ffiaum
ein, in welchem etwa 9000 Äibitfen (Seite) für bie geflüchtete Ginroofmers
fd)aft ber 2ld)al:Dafe aufgeteilt waren. 9JingS um bie Sefiung lagen nod)
Heinere £?ortS, $ala genannt. Sie waren quabratifd) angelegt, mit einer
Seitenlange »on 100 SRetent; ibre 9)?auern Ratten ebenfalls eine .ööfie
bis ju 7 SDietern unb einen ©raben »or fid). Sic nörblidjfte ber beiben
auf ber SBeftfette gelegenen ÄalaS war mit ber ftauptbefeftigung burd)
einen SEßall tierbunben. Süblid) bawon lag eine befeftigte 3Jfül)le. Unmittel;
15*
220
<£. IHafdjfe in Breslau.
bar an bem in bicfer ©egenb gänjlidj unjugänglidjen ßopet=Tagl) liegt ber
3tut Qangtfala, in weldjem bie 33eroofmer bet anberen »ertaffenen 2tufe
r>erfammett waren.
©egen Wittag traf bie rufnfdje 2tt>antgarbe uor ber Rettung ein unb
lief? burdj ifjre Artillerie bie nörbltdje unb bie Wüf)lenfala unter geuer
nehmen. Tie Turfmenen erlitten bebeutenbe SBerlufte, ergänzen fid» aber
immer roieber burd) neuen 3U5U9 au§ *>cr $cftang. ®ic nörblid» ber
lefcteren auftretenben TefeS mürben burdj bie ruffifdje ©aoallerie unb
Artillerie trofc uerjroeifelter ©egenrocljr unb trofe eines Stuäfollä femblidjen
$uf3ootf$ jurüdgetrieben. Audj eine Äala öftltdj oon ©eoftepe rourbe ge-
nommen, fo bafs man bie rücfroärtigen SJcrbinbungen bereite beb/rrfdjte.
2luf ber 3t>eftfeite mar e8 aber inswifcljen ber ruffifdjen Infanterie gelungen,
fid) ber oorgefdjobeuen 33efeftigung ju bemädjtigen. 3Sor bem Angriffe gegen
ben .£>auptmall follte inbeffen ba§ Eintreffen ber jroetten Golotme erft ab*
geroartet merben. Tiefe mar um 3 Uf)r }Jad)miltag3 jur Stelle, bodj 6e=
fanben fid) bie Wannfdjaften in golge ber föifee oon 40 ©rab in äuferft
erfdiöpftem 3uftaube. Tie Abteilung Sordj rourbe nad) ber SRorbfeite
ber geftung birigirt, itjre ©efdmfee uerftärften baä geuer ber A»antgarben=
Artillerie. (S3 mar fomit bie ganje 9Seft= unb ütorbfront unb tlieilroeife
audj bie Oftfront uon ©eoftepe umfaßt, ©egenüber ber 9iorbroeftede roaren
1 SBotaiHou unb 2 ©otnien al§ 9teferue jurüdgefiatten. Tafjinter ftanben
bie TrainS mit ifyrer jflebedung oerfammelt. 9?ad) ben bei ben früheren
Grpebitionen gemachten Erfahrungen glaubte ©encral Somafin auf einen
weiteren ernften Sßiberftanb ber Turfmenen nidtf rennen 3U brausen, unb
fo befdjlof? er benn, uodj an bcmfelben Tage bie Entfd&etbung fjerbeijufüliren,
jumal feine Truppen in Senbeffem nur auf 14 Tage oerprooiantirt roaren.
Um 5 Uf)r 9ladfmüttag<S rourben bie ruffifdjen Gruppen junt ©türm not*
geführt. Ter &auptmall ber Sforbfront roar balb in ifireu £änben, ber
"ikrtfieibiger rourbe Ijter mit bem Sajonett »ertrieben. ©in weiteres 3$or=
bringen gegen bie uon ben TefeS auf baS ^artnäcfigfte vertlieibigten
Äibitfen roar aber nid;t möglid). 2luf baS SteuBerfte erfdjöpft unb be*
beutenb in ber Winberjafjl, unterlagen bie Staffen trofe aller Tapferfeit bem
befonberS im 9iaf)fampfe ferjr gefäfjrliäjen geinbe. Ter ruffifd)e Singriff
rourbe fomoljl f)ier, rote auf ber SBeftfeite, roo nur unter ben größten
<Sd)roierigfciten ber £auptwal( fiatte erftiegen werben fönnen, uoUftänbig
abgefdjfagen. ©rofje Waffen beS 93ertfjeibtger§ warfen fid) iefct auf bie
surüdflutfienben Stoffen, unb nur ba« Eingreifen ber jReferoen rettete bie; -
felben uor oölliger itonidjtung. Tie SSertufte bei ben ruffifdjen Truppen
waren uerfyältnifimäjug bebeutenb. Tie im ©efedjt geroefenen 134 Dfft;iere
unb 2890 Wann ;äf)iten an Tobten unb SSerrounbeten 27 Cffijiere unb
411 Wann. Tie TefeS foHen allerbingS iaufcnbe uerloren liaben.
9lm 28. 2luguft Slbenbl tjotte ©eneral Somafin nod) in ber 9iärjc ber
Jvcftung ba§ SBioouac belogen, bodj fdion bei Tage^anbmd) ging er bis nad)
Hujjlanb in Ceiitrolaficu.
22\
ftarafap*, 10 Kilometer weit, 5urüd. 2(n eine Söieberljolung be* Angriffes
fonnte »ortäufig tt»of)C tridbt gebaut werben. 2lnbererfeit* ertaubten bie
unjurödjenben $erpflegungg:38orrätt)e nidfit, »on ben mUitärifdben Stü|=
punften länger entfernt 51t bleiben, ba el audj an ber 2ftögttd(jfeit fehlte,
3Jerpf(egung3mittet con bort tjeranjujieticn. £3 blieb atfo nur übrig, fid)
auf bie DperationebafiS jurüctäujiciien. 3lm 30. 9(uguft mürbe ber Stücf*
inarfcfj angetreten. ®er Transport ber ©ernmnbeten, für roeldje nur ganj
itngenügenbe gortfdjaffungätmttel »orfjanben waren, sroang ju flehten
}.)?ärfdf)en, fo bafj bie SCnfunft in £fd)ifiid)far fid) feb> »erjögerte. ®rft
(Snbe Secember trafen aber bie Truppen im faufafifd)en 9Jft(itärbe$irf
mieber ein. (8*iub foijt.)
(Efyomas fjuyfcy.
Von
SClejrantiet <&Üle.
— <ßlasgou>. —
ie in ber 3Jö(fcrgcfd)id)tc fid) ein Stamm teifc, faft unmerflid),
emporarbeitet uiib austratet, bis er bann mit einem Schlage
aH 9?iarf)t, rielleidit fogar als SBcttmadjt, auf ben Sd)auptafc
bet Staaten tritt, bie miteinanber im 2Mtberoerb um bie ©rbfjerrfdmft
fteljen, fo ift es aud) auf bem (Mnete ber ££cttanfd)animgSgefdndjte. SSährenb
rjier eine 9ieif)e ©eroalteu, oft aud) nur eine einige, bem äußeren 3(itfd)ein
nad) unbeftritten baS ganje Jyetb befjcrrfdjcn, bilbet fid) mitten unter tfmen
eine neue 9)Jad;t empor, bte faum .^emanb bemerft, unb bie, 100 jte bc-
merft rotrb, liödifteue Spott cinf)cimft, bis fic plöfclid) bei einem äujicren
2(nlaf? als SikltanfdjauungSmadjt in ben SBorbcrgrunb tritt unb bte anberen
2)täd)te fiegreid) äurücfroirft. 9l(S am (Jnbc bcS 15. ^aljrfmnberts Gljrijtopb,
ßolou 9lmerifa entbcette unb batb barauf bie .Hugclgcftalt ber (Srbe pofiti»
burd) bie erfte Crbumfegclung nadigenüefeir mürbe, mar bie (£rbc in ben
köpfen weniger begabter 511 einer im Siaumc frei fdnoebcnbeu $ugel gc=
morben, bie ben SDuttctpunft beS äikltall* bitbete, auf ber aber bod) für
geograpf)ifd)e begriffe mic ftölle, ^arabieS, (Snbe ber Söelt mdjt meljr
fo redjt 9f{aum mar. 911* bann .sioperuifu* im fofgenben ^al)rbunbert
ber (Srbe biefe ftol5c 9)iittetftcl(ung nalnn unb fic als einen ber Planeten
in einem Greife um bie Sonne laufen lieft, unb unmittelbar barauf .vlepler
bie Öefetjc ber ^ßlanctcnbcioegtiug entberfte, burd) bie aus jenem .Hreife
eine Gllipfe warb, ba nal)m bei menigen grofien ®eiftern bie SBorftellung
ein ©übe, als ob bie (Srbe ber 9)iittelpunft beS 2MtallS fei unb als fotdjer
unter ber ganj befonbereu Dbfnit beS SBeltgetteS f(ünbe. 2113 bann 9tercton
bie ©efebe beS ftalleS ergrünbetc unb bie 9)ionbbatiuen auf fic äitrücffübvte,
— Il;omas fjujley.
223
ba 509 iit biefett 2(nf<^auuitg*(rci§ bic i'orftelfung bcr ©efefemäf.igfcit ein,
roie fie nod) niemals barin geb>rrfd)t blatte, ©attteis aftronomifdje €nt-
bedungen unb p^tjfifattfd)e Jorfcljungen, bie ÜDicdjanif »on StemnuS unb
bie -DJaguetenlefyre ©ilberts trugen biefe $bee einer unbegrcnjtcn ©efefe*
möBigfeit burd) baS ©efammtgebiet ber unorganifdjeu sJiatur, roäf)rcnb trofc
ber anatomifdjen >sorfd)ungen in J-ranfreid) unb Italien baS ©ebiet ber
Sßf)i)ftofogie bttoon fo gut roie unberührt blieb, bis .£ar»ei) (1619) bie ©nt*
bedung beS SBlutfreiSlaufeS madjte. GS fann bie grage fein, ob bie faft
gleichzeitige (Sntbedung ber Sogaritfunen burd) Papier (1614) ober bie
(Snttbedung .$arr>et)S fdjliefelid) bie rocitertragenbe ift. 2tber baS ©ine ift
ficher, bafi erft £>aroet)S ©ntbetfung in ben engften $ad)freifen ber 5Dfebiriner
ber Storftellung, ein ßnbe bereitete, baf? ber menfd)lid)e Körper ber Hummel«
plafc immaterieller Dämonen fei, bie auf ifjm ifjre Stümpfe ausführten unb
if»re geftc feierten, roaS fid) bann als $aud)grhnmen, B^nf^111^ ober
Sadjluft unb SBefmgKdjfeit 511m SluSbrud brädjte. (5rft am (Snbe beS näd)ften
,3af)rf)unbertS fam burd) bie StanfcSaplace'fcöe ^cltentnndlungSfmpotbefe
ein neues Clement . in biefe ä?orfteUungSfreife ber ©cleftrten. i)Jad)bem
man junäcfift im Uninerfum Crbnung gefdjaffen blatte, begann man fid)
jetst mit fetner mög[id)en ©efd)id)te ju befd)äfttgen.
Tiefe nnffenfdjafttidjen ßntbcdungen fjabcn mit ber ©efd)id)te ber volU-
ti)ümtid)en SMtanfcbauung uon 1500 bis 1800 faum GtroaS su tfmn.
Ticfelbe ift uielmeljr roefentlid) »on ben tieften a(tgermanifd)er 2Belt=
anfd)auung (namcnttid) in etf)ifd)er $infid)t) unb bem Gf)riftentf)um befierrfdjt,
baS ben gennanifd)en Stämmen bereinft als fertiges Sefyrgebäube entgegen*
gebracht roorben mar. Seit bem 17. 3af)rf)ttnbert wirft bann bie $ors
ftellungSroelt unb 2tuffaffungSi»eifc beS griednfcf^römifcbcn 9lltertt)umS ein
wenig ein, inbem fie aus ben gcbifbeten Greifen t)erunterfidert. ,^m Kerne
aber bebeutet baS 16., 17. unb 18. ^afjrfmnbert für bie breiten <3d)idten
bes SSotfeS nod) immer eine ßurüdbrängung ber conferoatioen germanifd)eit
SBcItanfd)auungSelemente unb ein Ü>orbrängcn namentlich, aSfetifdb>büfterer
3Sorftellungen unb ber djriftlicfjeu Setjrc »on ber ©tcidjheit ber SÖlenfcben
untereinanber, bie fd)licflidj 31t ben bcmofrattfdjen ©eroegungen beS 18.
unb 19. ^afjrfmnbcrts führte. Qa felbft bie SMtanfdjauungSentroidlung
ber fjöljeren Stänbe ift in feiner SBeife abhängig von jenen gortfdjritten
in ber 3Zaturtt)iffenfd)aft. £ie roirb im ©egentfjeit »on benfetben ©eroalten
gefd)affen, von benen biefe gefdjaffett roerben, ftef)t atfo neben ifmen. Der
SeiSmuS mit feinem Lux naturae ift gauj unb gar fein Grjeugnif? natur«
roiffenfdjaftlidjcr ©ntbedungen, unb ebenfo roenig ift es ber DffenbaruugS»
Unglaube beS SeffingalterS. Brotfcfjen ber Gntroidlung ber ^bjtofopfüe unb
ber SBeltanfdjauung ber ©ebifbeten beftef)en bagegen in jenen £agen enge
53esief)ungen, toeit engere als Ijeute, unb faft jebc ^fiafe jener finbet im
Saufe eines ^abrjroausigft in biefer einen 9Zad)f)al(. ©eitbem baS 6f»rtften-
tfjum in ben ©ebifbeten äurüdgel)t — in Dcutfdjlanb faft genau feit bem
22$ Mlejanber (Etile in (Slasgoro.
(Snbe be« 30jährigen Äriegc«, in Guglanb feit etwa einem SWcnfdbenalter
eher — \)äü fid) bie 9J?affe ber ©ebiltieten an bie nidjt weniger bogmatU
fd)eu Offenbarungen ber abftracten £id)tung au« ^been, bie fie ^bilofopbie
nennt, unb glaubt babei, fid> emsig »on ber gottgegebenen Vernunft leiten
ju taffen. 211« ©oettie fid) emgehenb mit allerlei naturwiffenfd)aftlid)cr %a&
titteratur befd)äftigt unb l)ic unb ba fogar »erfud)t, feinen ©ebanfen barüber
poetifdjen 2lu«brud 5U geben, toie in ber 2)fetamorphofe ber ^ßflanjen unb
ber %l)im, ba oerftehcn irjtt feine 3c't9enoff«t einfad» nidjt, roäljrenb fie
Sdjiller sujaud^en, wie er im „^erfdjteierten SJilb ju Sai*" bie mittels
alterlidje Storftcllung »on ber öottgefäüigfeit be« 9iid)trorfd)en«, be« Sid)=
befdjeiben« mit feiner Unwiffenhett, »erf>errlid)t; benn felbft bie 9tatur*
fdiroännerei ber 9)titte be« 18. ^alirliunbertä hat bie rein litterarifcbe
SHltmng nid)t ju überwinben unb ber 9iaturforfd)ung bie föerjen ber ©e=
bilbeten nidjt $u erfdjlteßen »ermod)t.
Grft al« im 19. ^al)rl)unbert bie Gntbedungen fid) mit ungeahnter
Schnelle folgten, at« bie 3)Jolecularhnpothsfc breiteren Swbeu gewarnt unb
ba« ©efe(j »on ber @rf)altung ber ftraft ganj neue« £id;t auf ben Äraftbegriff
warf unb ba« 2lequi»alent »on 2i>ärme unb 9lrbeit cntbedt warb, al« fterbart
ben begriff ber 8eben«fraft jerftörte unb bie Seele jum Vorgang machte,
al« Snell« Theorie ber Gontinuität geologifdjer Sßeränbcrungen Slnnabmc
fanb unb Samard ber Vererbung erworbener ©igcnfdjaften 2lnhängcr ge=
mann, ba begann fid) in ber sJiaturwiffeufd)aft eine gewaltige Spannung
»orjuberettcn, bie 5U einer madjtuollcn Grplofion in ba« ©ebiet ber all*
gemeinen 2Mtanfd)auung hineinführen mufjte. 3lber nod) fehlte ber jünbenbe
gfunfe. @r crfdjien enblidj 1859 mit Karmin« „Urfprung ber Slrten".
Gr »ereinigte im 9lu bie »erfd)icbenartigen »creinjelten ©ntbecfungen, bie
fid) in bem großen ftellergcwölbe ber 9taturforfd)ung unter bem Tempel
ber mittelalterlid)en SMtanfdjauung aufgehäuft hatten, ju einer Spreng*
maffe »on 9itcfenfraft. Sangfam l)ob fid) ber Tempel unter bumpfcm
©rörmen, unb feitbein fielet ba« Slbenblanb eine Säule uad) ber anberen
nieberftnfen unb einen SBogcn nadj bem anberen einftürjen; unb wa« ba«
Sd)limmfte ift: ber ©runbbau ift »on ber tiefften Tiefe au« jerftört unb
jerborften, unb nur ba« Tad) l)ält fid) nod) notdürftig im ©leid)geroid)t,
weil gefd)äftige 3immerleute e« immer gleid) ba abtragen, wo ber Untere
bau jufammengeftürjt ift. 9lbcr fd&on fragen bie Äinber: „9Bann bürfen mir
alle Tempelftürfe jum Spielen nehmen?" Unb bie 9Inti»ort lautet: „SBenn
bie grofjen Seute bamit nidjt« Grnftc« mehr werben anfangen fönnen; unb
ba« wirb balb fein."
23i« sunt Qahre 1830 fann man nod) nidjt »on einer naturwiffem
fd)aftlid)cn äöeltanfd)auung reben. Sooiel audj ©aufteinc jugehauen ftnb :
ber Steifter fehlt nod), ber fie jum Tempel baut, unb wenn man gleid)
heute bauen wollte, man müftte morgen uiieber einreiben; benn ba« ©e=
bäube beleibigte bn« 2tnge, e« f»öttc (einen Stil. Solange man nod) mit
(Etjomas £ju{ley.
225
ber Sdjöpfung ber einzelnen 2lrten ber 2T)ier= unb ^flattjenwelt &u redmen
tyatb, fotange bicfc für unabänberlidje Sijpen galten, oon einanbcr burd)
Älüfte getrennt, bie eine übcrnatürtidje $anb befeftigt trotte, — fo lange
fomtte man ebenfo gut »cm bemfelben öott, ber all bas uollbradit Ijatte,
jeben SRegenfdjauer fenben, jeben Magneten Gifen anjiel)en unb jeben1
■DJenfcbenwefen eine «Seele einljaudjen laffen. Grft bie $bce ber Gnt--
widelung l)at bem Tempel ber 9Jaturwiffenfd)aft feinen Stil gegeben, unb
barnm gtebt e« eine naturwiffcnfdjaftlidtc 2Mtanfd)auung erft fettbem biefe
^bee ^oben fafrt, ja cigentlid» erft, feit fie in 2agesftarf)eit »or aller SBett
2lugen liegt. Tiefe 2Mtanfd)auung ift Ijeute nod) ntdjts roeniger als ab*
gefdjloffen; aber bie 2Mtanfd)auungsgefd)id)te fennt feinen jtueiten gall,
in bem fooiel auf bem ytloe bes Ausbaue« einer neuen 2Mtanfd)auung
in einem einigen 9)ienfd)enalter gcleiftct morben wäre, tote feit 1853. Starl
Tarwin gebüljrt ber -Hulmt, ben Stil bes glügel« ber organifdjen Sßelt
ollein entworfen ju Iwben, aber er Ijat für bie Umbilbung ber 2Mt=
anfd)auung feiner Qeit felbft wenig geleiftet. £0311 fehlte Unit vor 3Wem
ber fünftlerifdje Sinn, ber bie 2>orbebtngung jeber litterarifdjen 2i>irfung
auf bie weiten Greife bes 2>olfes ift, unb bie weite Umfaffenbljeit bes
geiftigen 0)end;trretfes. Gr ift Qeit feines Gebens bcr gadmtann
blieben, ber ben „Urfpruttg ber 2lrten" gefdjrieben batte, unb bat ben Streit:
fragen ber eigenen &eit immer faft hilflos gegenübergeftanben. 2lber was
er feinein Sßaterlanbe unb ber Gultunneitfdjbeit nid)t ju geben wermodjte,
bas Ijat ifmen ein greunb unb Sanbsmamt gegeben, Stomas föenrn &urley.
Gr ift trofc Herbert Spencer, bes $f)ilofopf)en bc* Camarcftsmus, bcr erfte
baramtiftifdje ^Ijtlofopl) Gnglanbs unb jugleid) beffen gröf-ter ai>ett=
aufdiauungsfämpfer im 19. 3«f)rl)unbert. Gr ift mebr als" ber Sßopulari--
fator be? Tarwinismus, er ift ein felbftftänbiger Teurer unb felbftftänbiger
gorfdjer, unb burdj feine Älarfieit unb SBornefnnbett be« Tcnfens jugteid)
cd)t t>olf3tl)ümlid). Gr füf)rt nirgenbs eine Spradje, wie fie Äarl SBogt in
feinem gegen 9tubolf 2Bagner gerichteten 23udje „Jlöljlerglaube unb SKiffen«
fd)aft" (1855) ober gar in feinen fpäteren unjäbligen Feuilleton« anfdilägt.
2ludj wo ifm ber öegner reijt, fteigt er niemals auf ein niebriges sJJit>eau
fyerab. 3lud) er fann fpotten, aber fein Spott »erlefct nidit wie bcr i'ogts,
unb an Älarbcit unb ttnerbtttlidjer Sogif ift er feinem feurig=romantifd)en
beutfdjen SJJttfämpfer überlegen. %üt bie moberae englifdje S^eof ogie mit
iljrem ©esänf sroifdien ben einzelnen Sccten bebeutet gurtet) ein reinigenbes
©ewitter. 2Bie ein fotdje« alle Stauf tb^eildjen aus ber Stift wegwäfdjt,
wögen fie nun von ben Straften, ben gelbem ober aus ben sJiaud)fängen
auffteigen, fo l)at er iljrc Streitfragen nicbcrgefdjtagen, um fie allefammt
auf baS Stubium ber wiffenfdjaftttdien beutfdjen 2Mbelfritif liinjuweifen.
gurten nimmt in mebr als einer öinfid)t in beut Gnglanb be«
19. Saljrliunbertö bie Stelle ein wie Seffing in bem Teutfcb,lanb be« 18.
Gr ift berfelbe ftreitbare 9iede wie ^ener, berfelbe überjeugungstreue Gieren;
226
aieratiber (EiUe in (Slasgom.
mann, berfelbe fcTjarffinnigc .stopf unb berfelbe mitteiblofe Spötter über
aufgeblafene Xummheit. 3Sic ber ^ßaftor öoefce in SeffingS „2triomata" unb
ftlofc in beu „Briefen gntiquarifd)en 3nl)altä" fortlebt, fo nrirb ical)rfcbeinlid)
eine 3eit fommen, iuo man ßenrn ©eorge3 „ Jortfdjritt unb 9lrmutf)" nur
nod) aus beut Strafgericht fennt, ba3 £ur(en in beu beiben (Sffan3
über „Natürliche unb potitifche 9?ed;te" unb über „Kapital, bie ÜDiutter ber
3lrbeit" über ben amerifanifdjen 2Kaulf)elben b,at ergeben laffen. £ie 2lrt
unb Seife, nrie gurtet) ba$ Theorem ber $Bobenöerftaatlid)ung in bem
einen unb bie Gapitalthcoric Gieorgeä in bcm anbeten Gffan in Keine Stüde
fd)(ägt, ift edt leffingifd). SBer bicfc Vernichtung eines fiitteraten mit an*
gehört ober burdjgclefen §at, ber Hefte fid) fid)erlid) nidjt fo gern mit bem
2fotor uon Progress and Poverty, ba$ nad) .§urler(3 SBorte mehr 2lnnutf)
enthält ali i5ortfd)ritt, auf ber Strafte fehen. ©eorgeä i?orau*fefcungen
finb falfcb, feine fBeifptele fiub falfdj, feine Sd)lüffe finb falfd), feine 23eroei^
füfjrung ift confitä, er n>iberfprid,t fid) unauSgefetst, unb an Rimbert Stellen
fdjtrofelt er einfad) baren Unfinu, fein ganjer $üdjerfram ift feinen geller
toevtl); ba$ ift baS (Srgebnift biefcr Jtritifen, wenn anbcrs man bicfe ^lifce
unb Tonnerfd)läge Äritifen nennen fann. 2luS bicfer sermalmenben Sdbärfe,
bie bie fdjarfgefcfjtiffenen Spieen bc3 SBifee^ nod) töbtlidjer madjen, fprid)t
ber Zeitige 3oru ber Gntrüftung über alles .frcdbunffen unb ^alfcfmuffen,
alles bemagogifd)e Sßljrafettren unb allen nid;tigcn rhetortfcbcn 9?ufe ül>er
halbuerftanbene, unbeioiefene, unbercetebare, nriberfinnige, uniinnige Specula=
tionen. „Gin öfonomifdjeS Problem »om pl)t)fiologifd)en Stanbpunfte aus
betrad;tet" nennt fid) „Gapitat, bie 3)?utter ber 2lrbeit"; aber aus biefen
blättern fprid)t nidjt bloS ber ^}f)i)fiologe, obgleid) aud) biefer fein 2Biffen
herfeiljt, fonbcrn ber 2Wann »on weitem äMtoerftänbntft uub riefigem
Süßiffen, uon leud)teuber Verftanbe-5fd)ärfe unb fieghafter ßtartjeit. Ticfetben
3üge, bie beu ^udliciften,. Sibliotfiefar unb 3Hd)ter Seffing bereinft in
2tllem, roa$. er fd)rieb, fo h°d) über feine 3eitgenoffen hinaus tjoben, fjeben
ben 3Jaturforfd)er unb $f)ilofop£)en £urlen barüber hinaus.
2lllerbing3 f)ot föurlen jur Biologie unb ^ßaläofogie ^ocbbebeutfame
Beiträge geliefert, unb auf bem öebiete ber t>ergleid)enben 2tnatcmie nnb
ber ^()i)fiologie bie ßrgebniffe ber mobemen Jyorfdnmg in muftergiltiger
Jßeife sufammengefaft; allerbingS bauft tfjm ber ^öfjerc naturn)iffenfd)aftlid)e
Unterricht ©rofebritanmeus feine Crganifatiou unb ber nieberc faft fein S^a«
fein; allerbiugä lebt feine £ef)rthätigfeit in taufenben »on 2lcr:,ten, Statur«
nuffenfdjaftlern unb Sehrern bauemb fort; aber fein eigentlicher 9fub,me«ritel
grüubct fid) bod) auf bie neun Jtfeinoctaubänbe in rothbraunem Seinroanb-
banb, bie beu befdjeibenen Xitel tragen Collected Essays by T. H. Huxley.
Sie finb berjenige 2: heil feines SebcnSroerfeS, burd) ben $urlen in lebenbige
Fühlung mit feiner 3^it unb feinem 3?olfe getreten ift, fie enthalten feine
Seiträge 51a Aortentroidelung ber allgemeinen äMtanfdjauung. 3n ihnen
fprid)t ber 9J?ann, ber ba erflärt fyat, bie Söiffenfdjaft fei nur exogener
(Eljomas tjurley.
227
unb organifirter gefunber ÜJienfdjenuerftanb, bcr fidj von bem einfachen
■Slenfdjenncrftanbc nur unterfdjcibc, rote ber Veteran Dorn Siefruten, in
Sdjerj unb Graft, mit fprubetnbetn ÜDluttenuiß unb umrbiger 2i$eiäl)eit,
aus bem Schafte eine* reiben äBiffenS unb eineä reichen Sebent ,u feinen
3ettgcnoffen, bie mental* Unterfudnmgen über ojeanifdje önbrojoen gemadjt
unb niemals uergletdjeube 2(natomie ftubirt fjaben. Sic ftefjen in toufenbeu
oon englifdjen Familien auf bem 'Bücherbrett, unb fie finb ba-5 bebeut«
famfte uoKet^ümU^ptjiCofoptjifcrjc Söerf, ba§ ba£ Gnglanb »on fjeute befifct.
2(n>3 ifinen fpridjt Zuriet», ber sp£)iCofop^, ber feiner Seit »orbenft, ih^rem
Teufen feine ^afjneu weift, unb if)r AÜfircr tft in ber gortentioidlung itjrer
3s?e(tanfcf)anung. einem 3al)rl)uitbcrt wirb e£ Qtit fein, 511 beftimmen,
nner>iel oon bem, roaä biefe Bänbe umfaffen, in bie allgemeine Slnidjauung
bcr Gulturmenfd)f)eit übergegangen ift. 2lllcs> wa« roir bleute 31t tfjun uers
mögen, ift, uns ju oergcgenniärtigen, aus meinem Borne biefe Ströme
entsprungen finb unb gegen rocldje anbereit g-lutt)cu fie angebrauft finb, um
fie enttoeber mit fiel) fortwreifieu ober in ifmen fpurloS 51t ücrfdjroinben.
3n .§infid)t auf biefe Seifrungen ift £urlen oon greunben unb 5^"°^/
bie aufter Staube roaren, ftd) eine 2!Mtaufd)ammg uorjuftellen, bie nid)t
blinb non einer bogmatifdien Religion abhängig mar, „ein Sfieolog antU
tf);ologifd)er 3Hd)tung" genannt roorben, b. \). in etroaS genauerem Teutfdj
überfefet, ein 9iV(tanfd}aunngsfämpfer, ber außerhalb ber bogntatifd)cn
?Borau>jfe6ungcn ber ftirdjenfrommen ftanb. Er ift einer bcr größten £ef»rer
feine-3 3?o(fes unb einer ber größten geiftigen Jütirer feiner Qt\t geroefen
nnb Ijat fein Tenten oorfciljfid) ben febroerften, gröften unb legten 3öcft=
anfcbauungSfrageu, bem 2Bob>r? unb 2i>otjin? bes 2)ienfdjeu, ben focialen
Kernfragen, ben Greven ber menfcfytidjcn ©rfeuntnifs unb bcr ©eltung bes
Sittengefcbes gerotbntct. So umfaßte fein ^ntereffe ungefähr baefetbe
(Gebiet, über bae bie „fjcrrfcbenbe" Religion uod) immer bie 2llleinf)crrfd}aft
ju fyaben behauptet, unb infofern mar er ein „£heolog". 2lbcr uon
bogmattfehem töeiftc mar faum eine Spur in ihm. Giujig blnftd;tltcb ber
2(nroenbung ber (Sntimdelungslehre auf bie (5thtf ift er an ben eigenen
Borurtbetlen gefcheitert. Stuf allen anberen ftelbern, auf benen er einer
eutfdriebenen eigenen SDceütung 2lu*brud tjertietjen hatte, ift er ber weiteren
Gittnndlung ber Jorfdmng mit gefpanntem 2luge gefolgt unb hat neue (Sv
gebniffe nur alläu gern angenommen, tute bie jablreidhen fpäteren 9ln=
merfuttgen ju feinen früheren ßffanS bereifen. (Sr tjatte bas ©lüd, auf
einem grofjen, umfaffenben ©ebiete, gerabe bemienigen ©ebiete, bas am
beftimmenbften auf bie geiftige unb foriale 2Belt bes 19. ^arjrfjuubertä ein*
gerotrft hat, bie grünbtichfteit $ad;femttmffe 311 befiben, unb fein Sehen fiel
in bie 3e"/ in °cr beffen grölte Gntbedung, bie (SrtTärung ber Aufwärts«
etttroidelung be« organtfdjen Sehens, gemad)t rourbe. 2(15 bcr „Urfprung
ber 2lrten" erfebien, mar gurtet) 34 $ahre alt, blatte in Sonbon bereits eine
wichtige Seb^rftelluttg inne unb ftd} als fetbftänbiger 2lrbeiter auf bem ©e=
228
2JIejanbet (Tille in (Slasgo».
biete ber »ergleiebcnben Sfnatomie bereit* einen gearteten 9iamen erworben,
©o mar if»m bie 2Köglicfjfeit gegeben, vom erften Tage an, wo tbm bic
@rfenntni|3 ber Siiefenbebeutung ber ©ntbeefung aufgebämmert war, naeb*
brüdlicb für fie einjutreten uub fic burd) eigene Seiftungen fortjubilben.
Bornas £enrn Zuriet) mar geboren am 4. 9>lai 1825 ju ©aling,
bamals einem Keinen ftiUen Saubftäbtdfjen anbertbalb ©tunben von Sonbon,
beute einem Vorort SonbonS mit fiber 30 000 ©inmobnern. ©ein SSater war
Sebrer an einer bortigen ©ebule, bie in bobem Slnfeben ftanb. ©einer
eigenen 3luSfage naeb bat er oou feinem Vater faum irgcnb roeleben 3U9
ererbt außer einem Reiften Temperament, „jenem 2Jlaf?e oon 3äbHJkit in ber
Verfolgung eines 3kleä, ba§ unfreunbliefj» 33eobadbter marabmaf ©igenftnn
nennen," unb einem bebeutmben 3^<^cntalent, baS er jwar niemals
fünftlertfdb auSgebtlbet bat, burefj baS aber ber 2fafebauungSreiebtbum feiner
miffenfefjaftltdjen Vortefungen bebeutenb geförbert worben ift. ©eine ©ebüler
erjäbfen uoll Stewunberung, wie er feine Vorlefung mit einem abenteuere
lieben Grafel an bie 25?anbtafel begann, ber 3tUen unuerftänblieb war, wie
er bann wäbrenb bcS ©preebens im Saufe einer balben ©tunbe ober ©tunbe
©trieb, für ©trief) eintrug, bis fcbliejjlid) baS beutlidjfte, febärfft umriffene
biologifdje 23ilb »or ben 3lugen feiner 3ubörer lag, baS mit feiner §ernor=
bebung alles Tiwifdjen unauSlöfcbtieb in ibrem ©ebädbtniö haftete. SWebr
bat ibih 5U feiner ©igenart feine 9)iutter gegeben: „^ßbnfifdb unb geiftig,"
crjäfjlt er, „bin ieb »oflftänbig meiner 3)iutter ©ofm, bis berab &c«
fonberen .^anbbewegungeu, bie bei mir hervortraten, a(S id) baS 3flter er»
reidbt fjatte, baS fie gefjabt batte, als icf) fie an ibj bemerfte . . . SDicine
ISJutter war eine fdbfanfe brünette »on erregtir unb tljatfräftiger ©emütbSs
art unb batte bie burebbringenbften febwarjen äugen, bic idj jemals in
einem grauenfopfe gefeben babe. 5Bei nid/t tieferer SBitbung, als fie bie
grauen ber Stttttetflaffe in if)ren Tagen batten, befaß fie eine auSgejeidmetc
Begabung. $br bejeicfmenbfter Stennjug war jebodb bie SBüfceSfefmelle ibreS
T>enfenS. Söenn ^emanb bie Vemerfung maebte, fie babe niebt eben oiel
3eit barauf »erwenbet, um ju einem ©ebluffe p gefangen, fo fagte fie:
,$d) fann mir nidbt beffen, mir blifet'S nur fo auf.1 SHefe ©igentbüm*
liebfeit ift in ibrer »ollen Stärfe auf mieb übergegangen; fie ift mir oft
nüfclieb gewefen, fie bat mir oft fdbfimme ©treiebe gefpielt, unb fie ift immer
eine ©efal)r für midj gewefen. Unb boeb, batte ieb meine Tage noeb einmal
ju burebfeben, ieb würbe mieb uon 9fiebts unlieber fdbeiben, als oon meinem
Grbe an SDiutterwife."
2ltS Änabe prebtgtj er Sonntags ben SienftmäWben in ber Äüdbe, unb
läcbetnb fügt er beut Veriebt biefcS 3»flcS bei: „$>aS ift baS frübefte mir
crinnerfia^e 3cid)cn t>on jenen ftarten, firefjtidben 3kigungen, bie mir mein
greunb Herbert ©pencer ftets jugefebrieben l)at, wenn ieb audb felbft ber
Meinung bin, baf? fie 511m größten Tl);ile latent geblieben finb." ©eine
9?;igung ging barauf, 3«9C"ieur 511 werben, aber baS ©efef^id wollte eS
(Eljomas £}njley.
229
anberS. iKod) fefjr jung, begann et unter einem <Sd)roager, ber SDiebiciner
mar, SDiebicin ju ftubiren; aber bie 2Kebicin al$ &ei(funft flimmerte ifm
nid)t fonberüd). ^fjnfiologie — bie 3"genwirfmtft ber (ebenbigen 2)?afd)inen
— mar baS Ginjige, roaS feine 2()eilna()me bauernb ju feffeln oermodjte,
unb baS ift fein gonjeS Seben fo geblieben. 2)er ^ilofopt) in ifnn fonnte
fid) nun unb nimmer mit ben blojjen Ginjelf)etten befcfjieiben, unb er mar
fid) beffen nur all-wgut benntfst: „Dbg(eid) bie 9iaturnnffenfd)aft mein eigent=
lieber Scbeneberuf geroorben ift, fo roofmt bod) fdjred(id) wenig uom edjten
3tatnrforfc^et- in mir. 3d) ()abe niemals GtroaS gefammelt, unb bie Ginje(=
forfdnmg ift ftetS eine Saft für mid) gercefen. 2l>irf(id) am ^erjen gelegen
f»at mir bagegen ber ardnteftonifdje unb med)anifd)e SC^eit ber Arbeit, baä
herausarbeiten be£ munberbar einfjeittidjen planes in ben taufenben unb
abertaufenbeu »on tebenbigen Gonftructionen unb bie -Dfobiftcationen ätmlidier
Apparate, um fie ju uerfdiiebenen 3n>erfcn geeignet ju machen."
-Jlaä) einer Vergiftung, bie er fid) bei einer ©ection jugejogen, unb
beren folgen er nod) ftatyce (ang in heftigen inneren Sdmieräanfätten ju
tragen tjatte, uollenbete er fein mebtcinifdjeS Stubium an ber Charing Cross
School of Medicine, ico bamatä SBfiarton ftoneS ^fmfiotogie lehrte, Gr
mar ber erfte unb einige Se()rer, beffen SBiffen unb $D?et(jobe auf ben ficb=
äef)njä()rigen (Stubenten einen nad)f)a(tigen Ginbrud mad-te. £>urd) eifrige
3(rbeit fudjte er fid) ben SBeifaH beS SefirerS ju erroerben, unb es getang
ifmi, beffen 3lufmerffamfeit auf fid) ju siefjen. 3one3 ermutigte irju jur
ä?eröffentfid)ung feine« erften natumjiffenfdjafttidjen SfuffafceS, ja corrigirte
bem nadmatigen 9)Jeifter beS Stile« unb bem formwollenbetften naturnriffens
fdjafttidien ©djriftftellet beS folgenbeu falben ^alirfjunbertä bie fleine Arbeit
ftitiftifd) burd), bie enb(id) in ber Medical Gazette 1845 erfd)icn. Gben
f>atte öur(et) — mit 20 ^afjren — fein obIigatorifd)e« mebicinifdeS Stubium
»oüenbet, unb im Slnfang 1846 beftanb er baS erfte Gramen eines S^acca«
(aureus ber ÜJIebicin an ber University of London. £aS Gramen eine«
SJtagtfter ber Chirurgie fonnte er nod) nidit mitmaden, ba er bafür nod)
ju jung mar. @(eidjroof)( tret bie 5Jotf)TOcnbigfeit an i(m (jeran, fid) fein
^rot 511 »erbienen, unb fo begann er feine Saufbafnt im felbftftänbigen
Seben g(eid) ben meiften jungen englifdjen Slerjten als SdjiffSarst. Gr
roanbte fid) brieffidj an ben ©eneralbirector beS ärjtlidjcn £ienftcS in ber
.slriegSflotte, beftanb fein Gramen all ÜJHtitärarjt unb warb junädjft neben
3)Jonate Stffiftenjarjt am .<gaS(ar=6oSpita( unb bann 9lfnften}ar;t auf ber
SWattfefnafc, bie itjn burd) ferne 9)ieere trug.
„,^n jenen Tagen," fo bcrid)tet er, „mar baS Seben auf ben Sdjiffen
ber Mxicgsffotte febr t>?rfd)iebcn von bem heutigen, unb baS unferc mar
ouSttalnnSrocife fyart, ba mir oft SJlonat; (ang feinen Vrief erhielten unb
anner uns felbft fdnen eimlifirten SHcnfdjen fahren. Tafür (jatteu mir
frei(id) baS 0>3(üd, fo ungcfäfjr bie (ctsten Mieifenben ju fein, bie nod) auf
Seilt; trafen, bie 3Jid)tS 001t ^euermaffen mußten — fo au bor Sübfüfte
230
Jlleraiiber Hille in <Slasgon>.
von Neuguinea — unb mit einer bunten 9)Jenge intereffanter wilber unb
f)albci»ilifirter Stämme Skfanntfdjaft machten. 9tber felbft abgefehen uon
berartigen Grfaljrungen unb ber Wc(cgcnl)eit ju wiffcnfdjafttidwn Arbeiten,
bie fid) mir bot, ift mir perfönlidj biefe Seefahrt »on aufserorbentlidj bobem
Sßertlje gewefen. Gs mar bcilfam für mid), unter ftrenger ^«Scipltn ju fein,
burd) bas Seben vom yiot^iocnbigftert mitten in ber 2Birflid)feit bee Safcrne
511 ftef)en, Ijerau^ufinben, roie aujjcrorbentlid) lebeusmcrtb, bod) ba8 Scben
erfd)eine, wenn man »on feiner 9iad)trnf); auf einer weieben flaute unb
mit bem Stimmet at* 23albad)tn aufi»ad)te unb jum ^yrüt)ftü<f nur Äafao
unb 3tt$cuit$ mit iölefjlmürmem »or fid) faf) ; unb ganj befonber* für
eigene Grgcbniffe arbeiten 311 lernen, felbft wenn 9llles 511m ftudfiuf ging
unb id) felbcr mit."
3?ier 3af)re lang fulu ber junge 2lffiftenjarjt auf ber „Jtlapperidjlangc"
burd) bie Sübmeere, »on einer Station sirc anberen, unb auf biefer Steife
legte er in fid) felbft ben CJrnnb 311m felbftftänbigen SJaturforfcber unb aufcer=
Ijalb ben Wrunb 311 feinem wiffenfdjaftlidjen 9Jamen. Beitrag auf Beitrag
ging an bie Linnean Society ab, aber feine 9(ntroort fam. 1849 cnbtid)
arbeitete er eine umfängtidiere 2tbbaubtung au* unb fanbte fie au bie
Royal Society. 9(ber and) über biefe bort: er feine Silbe. Um fo größer
mar feine Uebcrrafdjung, aU er fie bei feiner Stüdfebr uadj Gnglanb Gube
1850 nidjt nur angenommen, fonbern fogar gebrud't fanb. Gin gcmaltige-5
Sflünbel Sonbcrabjügc lag für ttm bereit.
Sie nädjften brei ^al)re roarb Ämrlen in £oubon befdjäftigt. %U er
aber bann mieber 33cfel)l erbielt, fid) eiit3iifd)iffcn, gab er ben ärjtlicbcn
®ienft in ber flotte auf unb bemüljte fid) um mehrere ^rofeffuren ber
Sßfinfiofogie unb »crgtetdienben 9tnatomie, jebod) »ergeben*. Sein ^rcunb
Snnball unb er bewarben fid) nad) englifcbcr Sitte um jroei 5profeffuren
an ber Untocrfität Toronto, aber 311 ifjrem ©lüde mürben fie nidjt geroäblt.
911* cnblid) 1854 Gbmarb ftorbes r«on Sonbon nad) Gbiuburgb berufen
mürbe, erhielt gurtet) beffen ^ocentur ber ^Jaläologie unb 9Jaturgcfd)id)te
au ber öeologifdien ^nfpection augeboten. Won ber, 5£aläotogie füllte er
fid) jebod) fo wenig angesogen, baß er bem öencratbirector ber Oeologifdjcn
.ftnfpectton erflärte, Aofufion feien ibm gleidjgiltig, unb er werbe bie £ocentur
für 9Jaturgefd)td)te aufgeben, fobalb er eine pttniiologifdjc ^ßrofcffur erhalte;
bennod) Ijat er fie bis 1885 befteibet, unb ein groftcr 2l)ei( feiner 9(rbeiten
bat fid) auf paläologifd)em Wcbietc bewegt. Selbft feine Collected' Essays
enthaften einen 33anb: Discourses Biological and Geological. £amit
trat Zuriet) feine afabemifdjc Saufbalm in Sonbon an, unb trob ber jabl-
reidien glän^cnben 9tucrbieten, bie ilmt »on auswärt'? gemadjt würben, bat
er Sonbon niemals u;rtaffeit. Tae öffentfiebe Spredten war ilmt anfangt
in bobem ^Janc unaugenebm, aber nadj unb nad) gewöbnte er fid) baran
unb warb ber flare, cinbringlidie, fclbftficfjerc Sebrer, ber Jaufcnbcn uon eng;
Iifdien 9(erjten unb Staturwiffenfdjaftlerit ben begriff ber ©iffenfdjaftlidrfeit
(Etiomas £jnjley.
2Z\
»ermittelt bat, ber ju feierlichen Welebrteui^rfammlungeu mit berfclben
•äMfterfdiaft fprad) wie 511 ben rujjbänbigen Arbeitern bei populären $or=
tragäabenben uub ber in feiner populären Sebcrrfdmng feine* Sebrftoffeä
felbft in Gitglanb cinjig boftanb.
&urlen Bjrbouft feiner 9lu§btltumg aU 3Jfebiciner mehr, aU er vielleicht
gemufft bat. (S«5 ift bic Sra3c/ ob er mit einer fpeciell auf feinen Seruf
jugefdmittenen Sorbitbung, felbft wenn c* eine foldje in ben Togen feiner
$ugenb gegeben bätte, ber umfaffenbe Oieift geworben märe, ben bie 2Mt
in if)m berouitbert bat. öerabe weil firf> nad>mot-?, ale er in'^ felbftftäubige
Seben eintrat, fein ^tnteref f eittrei?? fo ftarf fpecialifirte, würbe ee für ihn
fo bebeutfam, bafj er auf mehreren ßJebteten außerhalb bcsfelben &n$U
fenntniffe befaf?, wie fie Harrain fein Sebeu lang »ergeblidj crfelmt bat.
feilte fd»eint C* unglaublich, baft ber Segrünber bcr Gntmid[uug*lebre
nuf bem Syclbc ber oergleicbcnbcn Anatomie nur bie brudifiüdbaftefteu
Äenntmffe hatte; aber eben beeroegen warb es uon fo unenblicber Scbeutuitg,
bafe fie ba« Specialgebiet be§ SDfanue* war, ber juerft eine umfaffenbe
Gtaffification ber Seberocfeit auf bcr (\irunblage uon Darwin» Wrunbfäljcn
»erfu<hte.
Tic fcltfamen fötaetbierc ber füblichen 9)fecrc Ratten feilte 9lufmerf=
famfeit in bem 9)iaf?e gefcffelt, baft er bie Sipbonoptpren 511111 Wegcitftaub
einer (Siujetbarftcllung gemacht hatte, ber er ben Titel „Tie oceanifd)en
Änbrojocn" gab. Tatnit tljat er »on mehr o£* einem Wefiditspuufte aus
einen aufterorbentlid) glüdlidien Wriff; benn gerabe biefe Tbierc ünb es
gewefen, was ben (Sinblid in bie (Sntwicttung ber £>auptgruppcii bcr Vebc=
wefen im Saufe bes legten halben ^ahrhunbert* fo riefig geförbert bat.
Pehmen fie bod) eine cigcntbümlidic 9)?ittelftellmtg jwifdien ben jwei auberen
Thiergruppen ein, ben einfdiiebtigen unb ben breifdjiditigen, nnb finb be£=
halb fo wefentlid) für bic (Srfenntnif? be* Stufengange* bes Sebent auf
ber Sohn allmählicher Entfaltung. £atte i'iunö burd) feinen unermitb-
lidben ßlaffificotionseifcr in ber organifd^en 9Be.lt ein wenig Crbnitng gc=
fdwffcu unb einen Ueberblicf ermöglicbt, fo hatte Stoff on miubeftcit* bie
©runblage für ben mobernen Segriff ber Biologie als SSiffenfchaft gelegt
unb Gttirier bie »ergleid)enbe 2lnatomie unb Paläontologie begrünbet. Turd)
Samard war bcr Segriff ber GntwicfTuug wieber lebenbig gemacht unb
bie 3oologie bcr wirbcllofen Tbicre in ben Sorbergruub gefdioben worben.
$urlen verglich in feiner 9trbeit bereit-? gan,> ridttig bie gwcifdndjtigfeit
beS Saue* feiner Ölastbiere mit bcr 3weifd)id)tigfett, burd) weldje ba-J
höhere Thier t)om SBurm bis sunt SDienfdien in feiner cmbrponalen <int-
widlung geht, ein Sergleid), bcr erft nadjntal*, nachbem .fturlet) felbft, auf
TarwinS Gutbecfung fitfienb, bcr u;rgläcbenbcn 3(natomie eine neue Wrunb«
läge gegeben hatte, feine «olle Scbcutuitg erhielt.
Riefet, nad) feiner bauernben Weberlaffung in Sonbon, ftauben fturlei)
bie riefigen Sammlungen bcr englifdien ftauptftabt 51t Gebote, unb feine
232
2lleranber (Etile in (Slasgow
Tfyitigfcit an bcr Vergafabemie tieft tf)m reid)fid) £cit -m roiffenfdjaftlidn'r
Vefdjäftigung. Ta$ roarb für ifm »on grojier 2Btd)tigfeit; bcmt cimiiol bot
e§ ifmt bic 9)Jöglidjfeit, fid) in baä neue Sefirfadt, ba$ er 5U »ertreten fjttte,
grünblid) erarbeiten, unb fobann gemattete e3 ilmt, eine 9?eif)e opeciat=
unterfudfmngcn »orjunefmien, bie itju ali #orfd)er f)ol)en langes jeigen.
Sie al(e erretten ifjren Äernpunft erft »on bcr (httroidfungeteftre, bie mit
ben Satiren 1858 unb 1859 auf beu Sdtauptafe trat.
Gf)arte$ Karmin am 1. 3uli 1858 ber Linnean Society feine
eigene Arbeit „Ueber bie £enbenj ber 9lrtcn, Varietäten ä" InIben, unb
über bie Jyortfefcung ber Varietäten unb Slrteu burdj ba3 natürlidje 2)»ittel
bcr 9lu$tefe" pgteid) mit bem Gffaw »on 9tlfreb 9iuffet 5i?allace: „Ucbcr
bie icnbenj bcr Varietäten, uuenblid) »on ber Urform absuroetcf)en," »or=
fegte, mar gurtet) nidjt sugegen. 9lber bie neue öefjre geroann fdmeli
Voben, unb £urtew fetbft f)atte fic fid) fcf)ou 51t eigen gemadjt, ate am
24. 9io»cmbcr 1859 bie erftc Stuflage bc$ SSerfeS „Uebcr ben Urfprung
ber 2lrten burd) natürtidte 3w<i,troat)t ober bic Grfjaltung ber begünftigten
Waffen im Äampf um'« Tafetn" erfdjien.
ÜWit bem ifnn eigenen £umor bcrid)tet er uns »on jenem £age, an
bem „Ter Urfprung bcr 9trten" geboren roarb. „2Bcr fid) »on feinem
Öebädnnift fo roeit jurüdtragen laffen fann, bcr roirb fid) barauf beiinnen,
baft baä neugeborene Slinb aufterorbentlid) tcbt)aft roar, unb baß eine grl|fc
Stuäafil audgejeidjuete Seilte bie ftuubgebnngen feiner fräftigen (Eigenart
aU btone Unart auffaften. Um feine SBiegc gab eS 5iemtid)e Unruhe.
9Jfeine (Erinnerungen an biefe 3e't fwb bcfonberS lebhaft, benn id) blatte
eine sortc 3uiW9ung 3U bem tfinbc gefaft, ba$ mir au&crorbentlidj »iel
511 »erfpred)en fdjicn, unb fo roar id) einige 3«* in bcr (Sigenfdtaft a(3
Untcramme bei ifmt tt)ätig unb erf)iett fo mein Tb>il »on ben Stürmen,
bie ba$ £ebcu be£ jungen öefd)öpfc£ bebrotjten. TaS roar für einige
Satire fragfoS tjeifte Arbeit. SBenn man jebod) in 93ctract)t jiefjt, roic
aufjcrorbeutlid) unangenehm ba3 9tuftaud)en be$ Deutings allen benen
geroefen fein muß, bic fid) nidit auf ben erften Vtirf in ifm »erlictten,
fo fann man e$ uuferer $üt ju il)rcn Ounften anred)ncn, baß ber Äampf
nid)t t)eftigcr roar unb bcr bittere unb geroiffentofe SBtberftanb fo rafd)
abgeftorben ift, roic er ift."
SBenn mir uns fjeute faum me()r »orjuftetlcn vermögen, roic gegen ben
„Urfprung ber 9lrtcn" in beu fedijiger 3a()reu ein berartige« SB>utt)gef)eul
Io*bred)cn fonntc, roic ein "Tannin tief) fdjeuen fonnte, feine „?tbftammung be£
Htenfd;cn" su fdjreibcn, unb ein -äNann roie gurten für feine „3cugniffc für bie
Steftung beS SWenfdicn in bcr 9Jatur" »on atten Gl)riftenmenfd»en mit einer 3lrt
Vann belegt ju werben »ermodte, fo ift ba$ gcrabe bcr gcroattigftc Vernein
für bie riefige SRMrtung biefer Vüdjer unb biefer 9)?änner. 2tfa$ anberS
fjnt beu Umfdmmng gcfd)affen, traft beffen t)eute ftemanb, bcr mit feinem
Teilten noefj nid.t auf bem Voben bcr C-ntn.idfung?tel)rc ftef)t, faum meftr
Homas Ejurlty.
233
für einen (Mulbeten gelten fann? Ter jüngeren ©eneration ift bie $bee
ber ©ntwidtung jur felbftoerftänblicben BorauSfefcung beS TenfenS ge=
worbett, nnb fie judt über $eben bie 9ld)feln, ber von bem alten Stanbpunft
einer SttllftanbSweltaitfdjauung aus bie SSklt ber Thatfachen nnb $been
bctradrtet. Unb gcrabe bie allgemeine 2ßeltanfd)auung in ©ngtanb 'banft
biefen SBanbel tueit mehr .fturlen als Tarnritt. Reinen Banb beS „Wneteenth
(Senturn," ber „Gontemporarn 9le»iem" ober ber „gortnightln Retricw" fann
man in bie .£>anb nehmen, ohne irgcnbioie baS 2Bet)en von .§urlenS ©eift ju
»erfpüren, ber bem Sdriffe ber geiftigen 3ettfämpfe bie Segel bläht. Unb
wer ba weiß, melden gactor biefe SJtonatSfdiriften in bem geiftigen Seben
©roßbritannienS bebeuten unb wie bort alte bie großen fragen beS TageS
in ber 9JtonatS= unb BierteljahrSpreffe auSgefodrten werben, ber wirb barauf
boppeltcS ©ewiebt legen. UeberbieS waren biefc 3eüfd)riften md;t &urlen§
einsiger Äampfplan. 3n feiner engeren BerufSthätigfcit, in feinen SBerfen,
in öolfSthümlid)cn BorlefungScurfen, als Reformator beS Unterrid)tSwefenö
unb als SfJiitglieb einer großen 9lnsaf)t öffentlicher Körper von bem Tirectorium
beS Brittfdjen SJiufeumS bis 5itr Unioerfitätereformcommiffion unb bem
Sonboner SdjulauSfdmß' ift er im gleichen Sinne unaufhörlich thätig geroefen.
3n ber erften 2tuflagc beS „UrfprungS ber 9(rtcn" f)atte Tarwin ge=
fdn-teben: „3« ferner 3"funft fef»c id) freies gelb für weit wichtigere
Jforfdjuugen. Tie ^Sfochologie wirb auf eine neue ©runblage geftedt werben,
auf biefenige ber nothwenbigen (Erwerbung jeber geiftigen Rraft unb gälrig5
feit Schritt für Schritt. 3tuf ben Urfprung beS 3Kenfchen unb feine ®e=
fdnehte wirb bann 2id>t fallen." TaS ift eine gelegentliche nebenfädjtid)e
Bemerfung, bie fid) auf ferne S11^11^ besieht, unb wenn fie bie 9lbftammung
beS Sftenfdjen »on bem affenartigen 5proanthropoS einfdjließen foH, bann
fdjlteßen aud) BuffonS Säfec, wie: „Tie Siatur ift nad) meiner Behauptung
in 'einem S"^110 beharrlichen gluffeS unb beharrlicher Bewegung" ben
Safe oon ber Bcränberlidjfeit ber 9(rten ein. öurlen h'ubert wobi nur feine
Befdjeibenheit baran, in biefer Bewertung Vichts weiter 511 feljen als ein
hingeworfenes äl'ort. Tenn ihm fetbft gebührt ba* Bcrbicnft, jiterft unb
mit »oller Klarheit biefe wtcfitigfte aller Folgerungen an-? ber GntroidlungS*
(ehre gebogen ju haben, unb jwar bereits 1860. $n biefem ^aiire hielt
■Öurlet) fed)S Borlefungen für 2frbettcr über bie „Beziehungen beS ©ienfehen
*;\u ben nächftnieberen Tljieren" unb 1862 jwei weitere oor betn ^ilofoptjif^en
^nftitut in Gbinburgh. So fonntc er bereits 1868, als er fein Keines Buch
„3eugniffc für bie Stellung beS 9Jfenfd)en in ber 9iatur" r>cröffcnttid;te, fagen,
feine 2lnfd)auungen möchten ridjtig ober faffch fein, ficberlid» hätte er fie
fid) nicht übereilt gebilbet. Tarwin ahnte 1859 faum, wetdje Bebeutung
fein Budj für bie ©cfchicbtc ber allgemeinen SMtanfdjamittg befommen
werbe, .öurlen hotte jeboch mit feinem phitofopbifdjercn ©eiftc biefen $unft
fofort erfanut. So fehrieb er bamalS: „Tie ^rage ber fragen für bie
aJienfchheit, baS Problem, baS allen anberen 511 ©runbe liegt, ift bie Be=
9!ort unt> Siib. LXXV. 2?4. 16
23^ 2llejonber (Tille in (Slasgow.
ftimmung be* $lafee§, ben bet 2)ienfd) in bcr 9iatur einnimmt, unb feinet
SBejieliungen sunt 3ttt. SBofyer unfere SWaffe gefommen ift, was bie ©tenjen
unferer SJtocfit übet bie 9?atur unb ber 9)laä)t bet 5Jatur über un£ finb,
meinem $kk wir juftreben — ba# finb bie Probleme, bie fidj von 9leuem
unb mit um>erminberter S^eitno^me jebem aWenfdjen aufbringen, ber jur
2Mt geboren wirb." £>er ttefgebilbete $ooIoq £urlen, beffen 2ieblinge=
farf» oergfeid)enbe 3lnotomie mar, war auf biefem gelbe Harrain entfdneben
überlegen.
3n feinen „Seugmffen für bie (Stellung bes ÜDienfdjcu in ber 9iatur" jetgte
Jpurlet) burd) genaue anatomifdje 33ergteid)ung, baf3 ber Unterfd)ieb jitnfdien bem
ÜHenfdjen unb ben fyöfyjren Slffen tuet fleiner fei atä ber stüifc^en ben fiö^ercn
unb ben näöpftniebrtgeren 3lffen, unb bie 2lbbilbung, roeldje baS Sfelett
beS ©ibbon, Drang, ßbjmpanfe, ©orilla unb 90?enfä)en neben einanber seigt,
nerfeljlte ntd)t, Gntfefcen ju erregen. $n bem jmeiten ßapitel, „£ie 3te
jiebung be3 9)Jenfcf)en ju ben näcfjftnteberen gieren" fteüte er jum erften
3Bal jenen Stammbaum ber Sebewefen auf, wie ilnt bann ßarl 3k>gt in feinen
„Sorlefungen über ben 9)Jenfa)en, feine Stellung in ber Scfjöpfung unb
in ber öefdjidjte ber Grbe" (1863) übernahm unb $ae<fel in femer
„9Zatürlid)en Sä)öpfungägefd)id)te'' (1869) unb in fetner „Stntbropogenie"
grunbtegenb ausbaute. Unb in bem britten ©apitel befcfiäftigte er fia) mit
ben foffilen STCcnfrijenreften, beren populärfte beutfdie 3>arfteuung nadjmal*
Subwig 33üdmer in bem erften Steile feinet 2utd)e$: „35er 9Wenfä) unb
feine Stellung in sJ?atur unb ©efellfdjaft" (1869) gegeben l)at, unb bie »on
l)öd)fter 33ebeutung finb, weil fie bie Sücfe jrotfcijen bem peinigen 2)?enfäVn
unb ben 3lffenartcn ber grauen SSorjeit ausfüllen. 3Ktt biefem $ud)e sog
Jpurlen bie widjtigfte Folgerung auö ber GntroicflmtgSlebre unb begrünbete
bie Slffentljeorie ober äffenabftammuug beS SDJenfdjen in einer Sßeife, bafj
fie feitbem won ber öcrgleicf)enben 2lnatomic nidjt wieber in 3n,e'fe* 9(-
5ogen worben ift, unb na) ifmt Darwin mit feiner „9lbftammung be*
3)ienfd)en" (1871) »ollftcittbtg anfcblicäen fonnte.
tiefem SBcrfe folgten eine große gütle anberer Arbeiten, bie fid) faft
auf ba$ gefammte Tlnerreicb erftreefen, bie 2Birbeltl)iere jebodj benorjugen,
balb gröf3er, balb fleiner, balb ßinsclbeiten feftftellenb, balö Grgebniffe »cr=
fdjiebener gelber sufammenfaffenb unb babei niemals ben großen ©eficfite*
punft bcr generellen (Sntmicfehing au* bem Singe »erliercnb, unb barai*
fd)toffen fieft eine 9teil)e ^ufamntenfaffenber 3lrbeitcu, bie in erftcr Sinie ju
.ftanbbüdjem für ben atabemifdjen Unterridit beftimmt waren.
Gr begann mit feinen „55orlefungen über oergleid)enbe 9lnatomic" 1864
unb ließ biefen weitere SefnMcber folgen. Sein „.franbbueb bcr 3lnatomtc
ber SBtrbeltlnere" (1871) unb fein „.ftanbbud» ber 9lnototme ber wirbele
lofett iljiere (1877) finb bie Wrunblagc be-? afabemifeben Unterridjtef bcr wr=
gleid)cnben 9lnatomte in ganj Großbritannien gereorben. Seine ^bniiograpbie
(1877) ift eine (iintcttimg in ba* Stubium ber 9iatur, wie Tctttfcftlanb
(El;omas tjujley.
235
feine beutst, unb all bie fleinen älrbeiten nrie „®er Rrebä ober bct§ Stubium
ber $oologie" (1861) ftnb aU gemeinoerftänblid)e ©infüfirungen in ein
fdjnrierigel ©ebtet roatirfdjeinlidj unübertroffen. Sßon bem, roa3 $eber weife,
füfirt £urlen feine Qufyöxer ju bem Sßiffen, baä man roobl uon einem
^urdjfdmittlarät erwarten fann, »on ba aus 5U bcn örunbjügen aller
.Soologie unb fdiliejsttd) ju ifjven legten Problemen unb roeittragenbften 3$er=
aOgemeinerungen. „©in Stücf ftretbe" (1868), „&efe" (1871), „Sie
£ot)lenbilbung" (1870) finb nafjeju gleite SDieifierftüdcbeit. 3>er engtifdie
(Uebilbete, ber Ijeute über bie allgemeinen Grgebniffe ber 6f)allengererpebition
ober über ben Umfdmmng in ber geologifdjen gorfdjung fid) juuertäffig be^
leln-en will, ot»ne fetbft eine ganje gadjlitteratur ju fhtbiren, wcnbet fic^ an
4?ujlen3 „33iotogifd)e unb ©eologifdje $i*curfe".
2Bie gurtet; aU »ergleidjenber 2lnatom Äarl ©egenbaur nidjt erreidjt,
fo ftetjt er al$ fnftematifdjer 93iolog aud) hartem* größtem jünger,
©ruft £ädet, nad). 9Jttt beffen „©cncreHcr 9)Jorpf)ologie", „3lntf»ropogenie",
ober feloft beffen populärer „9fatürtt<f>er Sd&öpfungegefdjidite" fann fid)
feinet feiner SBerfe meffen, rote bie Seiftungen biefes $aumeifter$ beä
©nftems ber gefammten Seberoelt überhaupt in ber ©egenroart unübertroffen
baftet)en, aber barum ftef)t £mrlen bod) unter ben $yaf»nbredjern be3 ®arroU
niämuS in ber erften 9<eil)e, wenn aud) ber Sdjroerpunft feiner Seiftungen
in feiner Arbeit für bie SMtanfdwuungscntroicflung feiner 3e'* ^3*-
9111 |>urlen fein afabemtfdjeä Sef)ramt in Sonbon antrat, mar es um
bie naturroiffenfdjaftlidic SHlbung ©rofjbrttanmens fdjlimm beftelit. 'Sie
englifdjen Untueriitäten Ratten nod) nidjt einmal felbftänbige naturnriffem
fdmftlidje ^rofeffuren, aufjer fo weit e« ba« mebicinifdje Stubium unbe=
bingt forberte. 3luf ben großen ©nmnafien ©nglanb* in ©ton, .f)arron>,
2Bind)efter gab e3 überhaupt nod) feinen naturrotffenfdjaftlidjen Unterridjt;
bie tedmtfdje 93ilbung mar nod) in ben ftinberfdjnf)e)t unb madjte eben if»re
erften fdjüdjternen Saufuerfudjc. Staatlidie s3>olf3fdmten gab e$ nod) nid)t.
®a3 gefammte Sdmtroefen mar bem ^rioatuntcmefimeit überlaffen unb
ftanb auf ber niebrigften Stufe. Ueber Glementarunterridjt unb SBibelftunbe
fam man nur in ben größeren Stäbten f)inau*, unb roo Sprad»unterrid)t
ertt»eilt tourbe, ba bc5og er fid) einzig auf Satein unb Okiecfiifd).
1854 fprad) Surlep in ber <£t. 9J?artin3 &all in Sonbon junt erften
HHale über naturroiffenfdjaftlitfje SHlbung. „lieber ben crjieberifdjen 9Bcrtl)
ber naturgefdnditlidben 2Biffenfd)aftcn" tautet ber 'Xitel ein wenig fteif;
unb feitbem £»at er biefe§ gelt» nid)t mebr an* bcn 9lngcn oerlorcn. Db er
1868 in ber 2lrbetter=2ffabemie in Süblonbon über liberale SMlöung unb
ttjre Duellen fprad), ob er 1880 mit feiner ;}febc „ÜKaturmiffcitfdjaft unb
©eifteSbilüung" ba* Mason College in SMrmingtiam eröffnete, ob er 1884
alä Sorb ;)iector ber llnioerfität Slberbeen über Unioerfitäten in SBirflidjfeit
unb ba$ 3beal von Unioerfitäten fprad), oöer 1876 bie 3ob,n .^opfin?
Unioerfität in Baltimore mit feiner 3?cbc über „Unioerfität^bilbung" er=
16*
236
2UejanJ>er <Ei I le in (Slasgom.
öffnete, 06 er über baS Stubium bcr 'Biologie, beu ßtemcntarairterridjt in
bcr piwftologie, über baS tnebicinifc^e Stubium, über bie Stellung bcS
Staates jutn Slerjteberuf, über bie 33eäiel)ung ber biologifdjen SBiffen*
f triften 3ur -Kebicin ober über tedjnifdje Slusbilbung fprad): allüberall war
fein Streben barauf gerietet, ben Siatitrtotffcnft^aften ju ber Stellung in
bcr mobernen allgemeinen unb gelehrten Bilbung in oerljetfen, bie tfjrer
Sebeutung für bie Segrünbung einer eigenen Sßettanfdiauung, für bie
2(uSbübung beS ©eifteS unb bie Sdjärfung unb Uebung bcr Sinne enfc
fpricfjt. Um biefem gitte $u gelangen, f>at er feine 3Müf)e unb feine
9lnftrengung gefreut unb ift über merjig ,"\af)re lang ber güf)rer ber
mädjtigcn -Bewegung jur -Btobernifirung ber 2Ulbung in ©rofibritaimien
gewefen. i^m Sonboner SdjulauSfdjui) bat er ben Äampf gegen ben
keligionSunterrtdjt mit feinen mt)tl)ologifd)en Scnbeujen gefönten, unb
als eS 1870 barüber $um 2$af)lfampfe fam, feine Sacbe in 3äf)cr 3trbcit
•mm Siege geführt, .steinern einzelnen 9)Janne oerbanft ©nglanb fo viel
t)infid)tlid) ber 3lnSbreitung ber naturwiffenfdiaftlidien SMlbung im legten
9Kenfd)enatter. (Sr Ijat feinem SBolfe bie Sefjrcr auSgebtlbet, baS Sdnil*
gefetj reformiren Ijelfcn, bie UnterriditSpläne umgeftaltet unb in ber
Ijöfjeren 33ilbung ber iUüdjerroeiSlteit mandjen fräftigen Stof? »erfefct Sßknn
Satein unb ©riednfdj in biefer 3^it ein gutes £fieil oon tfyrcm SWonopol
eingebüft liabcn, fo gebort baS aud) auf $urlei;§ 9iedjnung.
Gftenfo gut rote Sötern unb ©riednfdj fönnte man ja Paläontologie
5um töern ber {(öfteren Sdmlbilbung madjen! „Unb cS ift rounberbar, eine
wie genaue parallele 311 ber ftafiifdjen Salbung fieb mit bcr Paläontologie
Sieben liefte. (Jrftlid) fönnte id) ein fo trodeneS, in feiner Terminologie
pcbantifcbeS unb bem jugenbtieben ©eifte fo roibrigeS ofteologifdjeS Sebr*
bud) aufbauen, baß id) bie neueren berühmten öeroorbringungen uon
Sdjulbirectoren in all biefen rBorjügen bamit ans bem $elbe febtüge. Tann
fönnte id) meine jungen« auf lcid)tc goffilien einbrillen unb all tbre ©e*
bädrtmfifraft unb ifiren Sßerftanb burd) bie 3lnroenbuug meiner ofteo-
grammatifdjen Siegeln auf bie SluStegung ober ßonftruetion biefer örudp
ftüde au'S Sidjt bringen. ISenen, bie in ben böberen Älaffen fäjjen, fönnte
id) bann ciirjelnc .Slnodjcn geben, um aus ifmen Sljicre ju bauen, unb bem,
bcr es in ber ßr^eugung uon Ungefjeuent in bcr genauften Uebereim
ftimmuug mit ben Regeln am roeiteften brädjte, fönnte id) gute ßenfuren
unb Prämien geben. TaS entfpräd)e bem 2?crfemad)cn unb 2luffäfce=
fd)reiben in ben tobten Spradjen. 2öenn ein großer »crgleidjenbcr Anatom
biefe Seiftungen fäfie, fo möchte er allcrbmgS feinen .Qopf fdwtteln ober
ladjen. 5lber roie? 2$itrbc eine berartige .stataftropbe »ielleidit bie Parallele
serftörcu? SBaS würbe wollt Cicero ober ^oraj über bie Crjcugung ber
beften berartigen Sdjullciftungen fagen? Unb roürbe fidr^erens uidit bie
Cbren juljatten unb fjinauStaufcn, wenn er bei bcr engtifdjen 9luffübrung
feiner eigenen Stüde .wgegen fein fönnte?"
(Ebomas ijurley.
237
Srofc ber jabtreidjen .Kämpfe, in bic Zuriet; ücnoicfett warb, bat
vicllcidit feiner feiner bebeutenben geitgcnoffen weniger geinbe gebäht als er.
•tfadjbem er einmal ben tbeologifdien ."paf; übcrwunben hatte, ben ifjtn feine
Slffcntbeorte eingebracht batte, unb man nur nod) au* beut SBerfted auf ihn
fdjimpfte, bat er felbft bei feinen natürlichen 3lntagoniften 3tnertennung,
ja $erounberung gefunben. 3" i&tr großen, nicht politifdjcn TageSfrage
pflegte man auf feine ÜKcinungsäuBerung 31t fpannen unb feinen SBorten
ju laufeben. 3coe wiffenfdhaftlidje Gbre ift ihm 511 Tbeil geiuorbeu. ^ebe
Gbre, bie ifjtn genehm gewefen märe, bätte ihm fein SSotf unter liberaler
tüie unter conferuatioer Regierung gegeben, aber er hatte feine eigene 3ln«
fdiauung über bicfe Tinge unb hätte ben Soröstitcl fidjcrlid) freunblid)
abgelehnt: „3d> ^abe ycrfönlid)," fdjrteb er vor einem SMertetjahrbunbert,
„f einerlei Vorliebe für 2lfabemien nach conttncntatcm 3)Jufter unb nod)
weniger für ba§ Softem, auSgejeicbnet; 9)?änner ber SiSiffenfcbaft, ber
Sittcratur ober Äunft mit Drben unb Titeln 51t fdwtüden oöer fie burd)
Sinecuren ju bereitem. Tie sJ?äuner ber 2i>iffenfd)aft braudjen nur ihren
(inftäubigcn Tagelobn für mehr als ein auftänbigc* Tagcmerf, unb bie
SReiften oon uns mürben wohl aujjerorbenttid) jufriebcn fein, wenn mir
nn* für unfcre unabläffigc Slnftrengung bei Tag unb bei 9iadbt ba§ ©e=
balt oerbienen fönnten, baä in Gnglanb ein Ainansfammerfecrctär erfter
.stlaffe begebt, ohne bajj er barum feine gälngfeiten irgcnbmic fiditlicb an»
juftrengen hätte. Ter emsige 3lbetöftern, ber nad) meinem Urtbcit einen
^Jbilofopben flcibet, ift jeuer 9iang, ben er in ber Sichtung feiner ftaa>
genoffen einnimmt: benn fie finb bie einjigen juftänbigeu 9üd)ter in fotdien
Tingen. 'Jleroton unb Gnoier haben fid> eruiebrigt, als ber Gine neu
2loel annahm unb ber 2lubere ein SBaron beS 9?eid>c3 mürbe. Tie grojjen
^fänner, bie mic 2)Jicf)ael ^araban unb ©corge ©rote in ihr ©rab ftiegen,
febetnen mir [bie SBürbe ber SBtffenfdbart fchr fein unb riditig üerftanben
ju baben, als fie allen berartigen uneebten ?ßufc ablehnten."
2ßer gurten einfeitig aU 9?aturfor jeher bejeidmen wollte, tbäte bei
aller Sebcutung biejes 28orte3 ihm Unrcdit. v)hm felbft fdhien e>3, aU
füblte er fid) von ber ^ngenieurfunft am ftärfften angezogen, aber im Äcntc
feiner Begabung mar er ^bilofopb unb ein ^bilofopb hohen Wange*. Gin
fertige* „Stiftern" in adjt kMnben hat er allertung* nidit binterlaffen, aber
jum 23aue ber moberneu 2i>ettanfcbauug hat er mabrjdieintid) mehr 33aiu
fteine geliefert als jeber anbere 3eitgcnoffe. Unb baju befähigte ihn auöer
feinem umfaffenben SBiffen feine pbilofopl)ifd)e Begabung unö feine philo»
fopbtfd)e 23i(bung.
?yür £urlen ift TeScarte* ber Später ber mobernen ^bilofopbie. „Sein
allgemeines Softem oon ben Tingen, feine SSorfte Hungen »on wiffenfdhaft'-
licber 2Retbobe unb »on ben SBebingungeu unb ©renjen ber ©eroijtyeit finb
weit wcfcntltdier unb beäeicbnenbcr mobent als bie eine-? feiner uumittel«
baren Vorgänger unb 9fad)folger." Gr ift ber mürtuge ^fadifolger tied
238 2IIejanbet (Etile in (Slosgoi».
erftcn 2lgnofriferS SofrateS, bcr eS nid)t bis ju eigentlichen Schülern gebradjt
fjat, unb eine ©eneration nad) bem bereite jenes nrilbeS Spiel ber @in=
bübungSfraft einfefct, baS Sßtato fennjeidmet. „Tie $ßfatomfd)e ^5f(Uofopl)ie
ift roabrfd)einlid) baS riefigfte 33eifptel beS unnriffenfdjaftlidjen ©ebraudjeS
ber ^fiantafie, baS es giebt, unb bie ÜDienge Schaben, bie feine Sbeenlejire
auf ber einen «Seite unb feine unfetige Theorie »on ber ©cmetnljeu ber
■Diaterie auf ber anberen unmittelbar ober mittelbar bem Karen Teufen
getljan fjaben, ift fd)roerlid) ab5ufd)äfeen." ftf)tn ftef)t ber moberne Weift
gegenüber. Gr ift ntd)t „ein ©eift, ber ftets »erneint unb feine £uft
einjig am Oiicberreifjen finbet. ©benfoioenig freilid) einer, ber lieber Sufu
fdjlöffer baut als ganj auf baS 33auen oersid)tet. @3 ift ber ©eift, ber
ba arbeitet unb arbeiten toirb „otnte £aft unb ofnte 9faft", eine 9Baf)rf)eit
nad) ber anberen- einerntet in feine Scheuern unb ben 3;rrtt)um mit un=
auSlöfd)lid)em ^euer oertilgt."
„Qn ber Reform ber $tn(ofopf)ie feit TeScarteS," meint £>urlep,
„finb loofjt bie größten unb frudjtbarften ßrgebniffe ber Tl)ätigfeit beS
mobernen ©eifteS — pielleid)t feine einjigen großen unb bauernben @rgeb=
niffe — biejenigen, ioeld)e Serflen unb $ume juerft in ifjren SBerfen ge=
boten tiaben. Ter eine t)ot ben ©runbfafe oon TeScarteS, baß abfotute
©etotBbdt nur ber Äenntnif? ber Tliatfadjen beS SBetoufjtfeinS eignet, bis
ju feinem logifd)en Grgebntfi burd)gefüf)rt; ber Slnbere bat bie Äritif beS
SarteftuS auf ba« ganje SReid) ber geroöfinlid) als 3£af»rf)etten Eingenommenen
Säfee auSgebefmt unb nadbgenriefen, baß nur in bcr Wletyr3aty ber nudjttgen
£?älle r>on bem 33efit$e flarer Grfenntmf? foroeit entfernt finb, ba& mir fagen
fönnen, mir befaßen überhaupt feine; bafj eS bcSroegen unfere ?ßftid)t ift,
ftiUjufdnoeigen, ober minbcftenS uns jum 2luffd)ieben beS Urteils ju be*
rennen."
3n .&tnfid,t auf bie pielcu fragen, auf tocld)c mir empirifd) nod)
feine 2lntioort ju geben oermögen, nennt ftd) ^ur(et) einen 2lgnofltfcr, feine
Tenfioetfe 2lgnofticiSmuS. TaS SZBort ift natürlid) bem bireften ©egenfafc
511 ben gnoftifdjen Sectcn ber früfpi cbriftlidjeu iiirebe entfprungen; unb
ber begriff rechtfertigt fid) bamit, baft es beffer fei, uns unfer Unocrmögen,
bie leisten SBcltanfdjauungSfragen ju beantworten, cinjugefteben, als uns
burd) eine bogmatifefte fdjetnbare Slnttoort über unfere Unroiffen^eit binroeg*
jutäufeben. Unb nid)t nur bicS : über oiele rein gefdnd)ttid)c fragen roiffen
mir abfolut 3Jid)tS. So wirb uns ioab/rfd)cinlid) bie gefd)tcbUtd)e ©eftalt
beS 9iabbi oon 9iajara für immer in Tunfei gefüllt bleiben. 3lud) bter
ift eS beffer, loir madjen uns nidjt mit .£>tjpotf)efcn blofjen 91Mnb oor,
fonbern befebeiben uns mit unferem DJiditroiffen.
Tiefes efji*ltcr)e Gingeftänbni|3 bcr Unji.länglicbfcit ber eigenen (Srfenut-
uifi, bcr loaljrc 3lgnofticiSmuS, ift aber nur bcr SBatcr beS 2Bunfd)cS nad)
mcfjr Riffen, nidjt fein Tämpfcr, unb es wäre Tf)orf)eit, mit bcr Tt)eologie
geiotffe GrfcbetnungSgebtete als bcr mcnfd)licben (Srfcnntnif? überhaupt im-
(Eltomas tjnjlev.
339
jugänglid) 511 oerfdjreien. ©egentf)eil, in mandjen fünften roiffen rotr
rueit mef)r, als bie Äirdje sugeftcfjen null, unb bieS gilt uor 3lllem »on
bet narürlidjen ©runblage beS SebenS.
2lm 8. 9to»ember 1868 fnelt £urlet) in ©binburgf) einen Sonntags«
»ortrag über Protoplasma. £aS mar bamalS ein ftarfeS Stücf unb um
fo mefjr, als fid) ber Vortrag in feinem Äem gegen baS ©efpenft einet
„SebeuSfraft" roanbte, baS in £eutfd)lanb bamalS fdjon geraume 3ett
burd) &erbart feinen XobeSftofj erhalten £>atte. ^ene fticfftofffialtige ftofjlen«
ftoffoerbinbung ift „lebenbig", fie ift ber alleinige Sxägcr beS Sebent,
Seben ift ifjre ©igenfdiaft, ttjr 9Jterfmat, unb obglcidj mir nod) nidjt im
Stanbe fiub, auf djemifdjem SBege lebenbigeS Protoplasma 51t erzeugen,
fo ift bod) bie Hoffnung gered)tfertigt, bafe baS bercinft nod) gelingen roerbe.
2lts £urlen 1870 jum präfibenten ber British Association ert»äl)lt
mürbe, gab er in feiner präfibentenanfpradje über „Biogenesis and
Abiogenesis" ben gcfd)id)tltd)en ^intergrunb ber Jyrage, inbem er bie ©nt*
midlung ber Äeimtfieoric »on Francisco 3iebi bis in bie öcgenroart ocrfolgte.
2lllcrbtngS giebt eS and) in iTeutfdjlanb eine Stiftung, bie, fid)
flinter nidjt roegjuleugnenbe erfenutnifjtfjeoretifdie itfwtfacfjen ocrfd)ansenb,
»on einer unüberbrüefbaren Äluft smifdien ©eift unb SDtatcrie rebet unb
bie »on bem ©efid)tSpunfte auS, bafe uns baS SBefen alles Stoff«
lidjen abfolut unerfennbar bleibt, mag man bie SDiaterie nun in „Äraft«
punfte" ober in materielle 3ltome auflöfen, fidj felbft ^ibealiSmuS nennt —
aber l)ier ift baS alte 9Üort in einem neuen Sinne gebraucht; cS ift nid)t
mef)r ber ©egenfals ätutfdjeit Stoff unb ©eift, ober 2Bett unb Sott, roie
Um bie Geologie beS adjtjefmten ^afirfmnberts auSgebilbet fjat, nad)bem
fie ben ©egenfafc jwifdjen ©ort unb Xcufel »on ber fortfdjreitenben Silbung
aufzugeben gejmungett roorben mar. £>ie 3unaf)inc erfenntmfjtbeoretifdjcr
©rfafjrung f»at biefe Äluft oiclmefir überbrüdt, unb biefe Ueberbrüdung
fointnt 5ttm 9luSbrud in einem SEBorte, baS ^üdmer unb SBunbt, &ädel
unb 2u prel in gleicher SBetfc braudjen unb baS oon ©oetfic poetifd) »er«
flärt roorben ift: in bem SBortc SHontSmuS. ©ine „SBeltanfcbauung auf
moniftifdjer örunbtage", mag fie fid) nun als natitrroiffenfd)aftlid)e ober als
überfinnlidje bejeidmen, f)at fid) bereits sunt Stidnoort b,erauSgebilbct.
„5Woniftifd)" ift baS Äampfroort gegen ben bogmatifdjen Dualismus ge<
roorben, ben bie ^uben einft ben Perfern ent leimten unb ber feit brittcfialb
,3af)rtaufenbeu fid) unaufl)altfam ausgebreitet l)at. ilt'od) liegt er in aller«
l)anb Spracfjfrnftallen feftgefroren oor uns, unb fobalb finb mof)l feine
(Spuren nidit ans bem Tenfen ©uropaS roeg}uroifd)en. 2lber bie Sßiffen«
fd)aft roeifj bereits, baß Seele unb Seif», ©eift unb ÜJiaterie, Äraft unb
Stoff nur 3lbftractionen ünb, bie nid)t als objectioe Sfiatfadfjen gelten
fömten, roeil fie unferem ©rfenntnißftanbpunfte nid)t mefjr entfpred)cn.
Äenncn mir bod) feinen unbewegten Stoff, feinen materielofen ©eift unb
feine Seele of»te Seib. ©rft mit bem felbftftänbigen Sellenteben entfielt
2^0
Ulejanber CHIe in (Slasjom.
roa* roir in feinen leeren Gntundlungcn als Seele bejeidmen. 9)Mt ben
einzelnen Dogmen ber überlieferten Religion regtet bie beutfdje &*iffenfdwit
nidit mel)r. lefcteä ^rineip ift es, roaS fie nod) ju befämpfen bat.
©nglanb bagegen ift non bem Süortc 2)iomsmu3 cd* ttampfroort fanm nod»
berührt. S)a3 nadjgelaffene Keine SBud) oon ©eorge 3of)n 9iomaneS „Mind
and Motion and Mouism" f)at in ©nglanb ein Unoerftänbnifj gefunben
roie faum je ein anbereS pbilofopljifd>e3 23ud). Fontanes mar ber 33Jelt=
anfd)auung feiner (*pod)e 31t weit »orauS, um bei feinem SBoffe 2lnflang
ju finben. Unb bennod) ift auf bie Trauer biefer 3tnfd)ounng ber Sieg
fidjer. 2Sie 9llbert Sange einft fagte: „ftmmer roieber rotrb bie 3){enfd)b,eit
ben SHamt freubig begrüfjen, ber es »erftefyt, in genialer Steife alle 5*ilbung3s
momente feiner Seit benufeenb, jene Einheit ber ÜBelt unb beS ©eifte*;
lebenS ju fdjaffen, roeldje unferer ©rfemttnij? uerfagt ift," fo fann aud) nie
eine SBeltanfdjauuug, bie roefenttidj in einem grofjen gragejetdjen beftet)t,
bie 2Beltanfd)auung ber Staffen, ber Golfer, ber ganjen Gulturmenfd)l)ett
werben; fonbern biefe fann immer nur in einer poftttoen Ueberjeugung
beftefien. ®er 2lgnoftiri3mu8 mag eine nod) fo rotdjttge ^afe im englifdjen
©eifteäleben non geftern unb bleute bebeuten, bie neue SBeltanfdjauung ift
er nod) ntd)t. Soweit er nidjt eine blof?e ©rmübungeerfdjetnung bes Kenten*
barftettt, bie e§ bem ©egner in bie Sd)ul)e fdjiebt, ben Sewete für bie
SHtdjtigfett feiner 9fnfd)auung anjutreten, ift er bewußter SfepticismuS, wie
er in 3e'ten heftiger 3Beltanfd)auungäfämpfe tyaufig auftritt, roie er aber
nod) niemals eine mefyr als »orübergefiettbe 9iolle in ber 2Beltanfd)aHung*=
entroidlung gefpiclt Ijat.
2lber bamit fott bem SlgnofticismuS, ber in ©roßbritannien 5mei
SRiHionen Slnfiänger jaulen foll, fein gefdncfjtlidjeö Sßerbienft burdiaus nidbt
abgefprod)en werben. 3n Otiten tyodjgcfpannten 2BunberglaubenS famt ber
SfepttäSmuS ebenfo am ^Slatje fein rote in Seiten ber 2luffd)lief;ung großer
unbefannter 9iaturgebiete bie füllte £t)potbefe, baS £inan3gel)en über bie
bereits ganj fidler geftcllten Grgelmiffe unb bie Eingabe an ein grofie*
^Srincip. £l)atfäd)lid) Ijat ja auf biefem SBcge bie ungeheure Grroeiterung
ber wiffenfd)aftlid)en ftenntnift ftattgefunben. Senor bie $bee nid)t wrf»anbcn
ift, läf3t fid) fd)led)t planmäßig erperimentiren. Ter StfgnofticiämuS ift ein
widriges ©lieb namentlich, in ber religiöfen ©ntaricflung beS englifeften
aSolfeS, unb roer ben ftarren paffiwen SBiberftanb fennt, ben biefe? 23olf ju
leiften »ermag, ber wirb feine 33cbeutung ju fdjäfcen miffen.
2>ie Stellung ber breiten Sdnditcn ber englifd)en ^coölferung 311 ben
(Sinjelticiten ber religiöfen Ueberlieferung »or anbertljalbem 2)tenfd)enalter
roar eine ganj eigenartige unb ift c-5 511m 2fieil nod) jefet. 3« %ol^e ber
93ibelftunben ber confeffioncllcu Sd)ulen, bereu Scbmerpnnft in ber (Sin-
Prägung bes genauen ^nfialt* bes alten unb neuen SeftamenteS lag, roar
ber ®urd)fd)nitt*brite unb ntellcidrt nod) mebr bie $ur<$fd)mtt*britin mit ben
(»eiligen Sd)riften ifirer 3Jeltgion in einem 9)iaf?e »ertraut, roie man c-5
(Eljomas Qufley.
fetbft in beutfchen proteftantifdjcn ^farrhäufern mahrfd)etnlid) feiten pnben
würbe. Siegt bod) ber Schwerpunkt be* beutfchen proteftantifd»en Religion*:
unterrichte'? auf ganj onberem Gebiete, nämlid) in ber ©nprägung be$
Sutherifchen ftatcdjtemus, in ber Erlernung einer grof?en Stnjabt von 3W»el*
fprüdjen, b. t). furzen Gitatcn meift fehr allgemeinen ^ntiolt^, unb in ber
Aienntnife ber „bibtifchen Gefdjichte", b. f>- etnjelner, befonberS nnjielienbcr
©rjäljhmgen, bie in befonberen Sehrbüchern Bereinigt finb unb nur eine
9Xu*maht barftellen. ^tefe Vertrautheit ber engtlfdjen Gebitbctcn mit ben
^itigeu Schriften fetbft mußte nottjgebrungen baju führen, bajj, 100 immer
eine Ärittf ber heiligen Ueberlieferung auftauchte, fie fid) gegen bie (Snnjcl=
beiten ber biblifdben Gr^ätjtuugen wanbte. 2Bät)renb in 2>eutfchlanb ber
fritifchc l'orftof?, ganj ber abftracteren Begabung be* £>eutfd)cn entfprccbenb,
burd) geuerbad) unb Strauj? principiell, theoretifd), auf ben .Uernpunft ber
retigiöfen Trabition geriditet warb, töfte fid) in ßnglanb ber 9lngriff in eine
enblofe 9){enge Ginjctgeplänfet über jeben befonberen ^ßunft auf. ®a jebodj
bie Slngrcifer in gotge beffen faft immer theitweifc auf bemfetben SHobcn
ftanben wie bie Angegriffenen, fo »ertor fid) faft jeber fotehe Streit in bie
Grörbrung »on 9Jebenpunften, wa§ Iangfam 5U ber Betrachtung ber Jyrage
führte, ob nnr übet ©Ott unb göttliche Singe überhaupt GtmaS wiffen
fönnen. .§ier mar nun Üante Ginftufj ctioa feit ber 9)iitte ber merjiger
3abre unfere3 .^ahrhunbertä entfd)eibenb. 2Bemt unferer Grfenntnifi einmal
Grenjen gefegt finb, unb mir ÜHidjtS ju benfen »ermögen, wass über Siaum
unb 3«t hinau^liegt, bann ift alle« Göttliche minbeftenS unferem birecten
GrfenntntfcDermögen unsugängüd). Gelingt el, ben Nachweis 511 führen,
bafs bie Singe, über bie bie Theologen Gtioa* 51t wiffen uorgeben, wie
persönliche Itnfterblidjfeit, Srcietnigfett ber Gottheit, Bejichungen bc*
9)Jenfd)cn ju einer übernatürltdjen 2Belt, ja bereu itorhanbeitfcin überhaupt,
jenfeit-j ber Grenjen untere* heutigen Grfemttniijpcrmögens liegen — bann,
ja bann ift ber gefammten „pofitiuen" Rheologie ber 9joben unter ben
güfjeu meggejogen. Sann ift fie auf ihrem eigenften At'lbe gefchlagcn, mit
SBaffen, bie fie fetbft oft gebraucht unb bereu Veredjtigung fie bamit an=
erfannt fjat.
Siefen .Uampf in Großbritannien aufgenommen 51t haben, ift baö
Sßerf bee 3tgnofticis>muji, beffen Bebcntung für ba§ ^nfelrcich in Seutfd)*
Ianb bisher fcuim oerftanben worben ift. $ft -ügnoftifer gleicbbebeutcnb mit
„üerfdjämter Slthcift?" i)ai wart gefragt, ^>raftifd)er 3(thcift ift ber Stgnoftifer
atterbing*, b. h. er lehnt jebe Folgerung au>? betu für ihn nicht beroiefenen t^ox-
banbenfetn eine* Gottes für bae> praftifdje Seben ab; aber potrbetn bogmati«
fchen 3lthetemus eine* Gl»arte3 Brabtaugb ift er weit entfernt. Ser 9tgnoftici*=
mit*, ber, ohne fid) 51t einem Ignorabimus 511 verfteigen, fich adtfetjutfenb
tlinter ba$ Igiioramus uerfdmnjt, fyxt in mancher .^»inficht 2Bunber getban.
Dbgleid) er in theologifchen Greifen bem Sltheiämus gteid) gehajjt wirb, ift
er bod) weit mehr Wctbobe ate Sogma unb hat babureb, bai; er ben
2^2 Jtlejanfcer (Eitle in <5tasgon>.
Streitpunft uon beut tikbalt ber Dogmen unb bcm SBortlaut bet 3iibeC
in bie hiftorifche Siritif »erlegte, ben religtöfen kämpfen ©rofebritannienä
»iel uon ifjrer Scfiärfe genommen. Um in bicfen fritifchen gragen mit'
reben ju fönnen, muß man fchon ein flanjeS £heil pofttioer iienntniffe haben,
unb in ber 3eit, n>o man fid) biefelben erwirbt, fühlt fid) ber ganütismu*
für einen f eftimmten Ölaubenspunft gewöhnlich siemltdb ftarf ab, unb fidjer
nicf,t jum i>Zad^tt)eiIe ber Sernenben. ätfenn wir gar ntä,t binreicbenbe
Wittel haben, um ba3 Original be>3 „2i?orte3 Rottes" feftjuftellen, wie
fönnen wir uns ba über feinen .Ofthalt ftreiten?
Wemanb fann emftlidf» biefcm Umfdjwuug bie 3lugen »erfcbliejjeu.
gurtet) feibft fagte einmal für,} oor feinem 2bbe: „33or breifeig Rohren
galt eine .slritif über „3Mofeä" bei ben meiflen achtbaren beuten für eine
Sobfünte. ^eftt ift fte 511m 9iange eineä blofen ^eccabitlo l)inabgefunfen,
minbeftens wenn fte »or ber ©efdncbte 9lbraham3 £alt mad;t." Sie Sagen
be3 neuen Aeftameitte* gelten bei ber grof5en 9)Jaffe ber ©ebilbeten ba*
gegen immer noch für über alle ilritif erl)abcn, unb if»rc SSorauafefcungen
finb noch immer äum großen Steile 3ugleicb bie ber »olfetfjümlicfjen 2Belt:
aufcbauung »on bleute, ©egcn fte wenbet fid) Surfen, in bem 33anbe „9iatur=
wiffenfdiaft unb dt)riftltdt)c Ueberltcferung" mit »oder Schärfe. Sö?aS ihm »or
2lßem als wünfcbenSwertb erfdjeint, ift bic Äfarlegung ber Shatfacibe, „baf3
bie Sämouologie bes UrdjriftentbumS jeber ©runblage bar ift". „Unb hier ift
e$ oietleicbt angebracht, 51t wicberfjolen, waö ich anberortä immer niieber unb
niicber betont babc, baß apriorifdje i'orftellungen über bie 9Wöglidjfeit ober
Unmöglichkeit be$ SBerljanbenfcinä einer (Mfterwelt, raie fte baS echte Gbriftens
tbum »orauSfcfct, feinen Ginflufj auf mein Senfen blähen, gür micb ift bie
Sache nur eine grage bei 33en)cwmaterial$: genügt baö ^eroeismaterial,
um bie Sbeorie 511 tragen ober nidjt? 9Jach meinem Urtheil ift e$ ober
nicbt nur ungenügenb, fonbern ganj ungereimt bebeutungSloS. Unb aus
biefem ©runbe müfste ich bie Theorie »erwerfen, feibft wenn e$ feine
pofitiuen ©rünbe für bie 2lnnahme einer »ollftänbig anberen SMtanfdjauung
gäbe." Unb er ift ber Uebcrjeugung , bafi bie gefcfcidjtliche ßntwicflung
ber -Dfenfcbheit jum grof5en Theil in einer 33efeitigung be$ Uebernatürtidjen
auä feiner ehemals behenfehenben Stellung f»efter)t. Sie grage, wie weit
biefer Vorgang ftcb fortjufe^en hat, ift nach feiner 9lnfd;auung bie grojje
Streitfrage unferer 3ett. „Sie ^ßhrafeologtc be3 Supranaturaliämuä mag
ben Seuten noch auf ben Sippen fdbroeben; in 2Birflicbfeit aber befeitnen
fte ftd) äur }Jaturwiffenfd)aft. Ser 9tid)ter, ber am Sonntag mit anbäcfrtiger
3lufmerffamfeit bcm Safce laufcht: „Sine .§ere foffft Su trierjt leben taffen,"
weift am 9Kontag eine Sltiflage einer alten grau megen S3eherung einer
.Hub aB albente§ 3c«!] ah. Ser Sirector eine§ Äranfenbaufe«, ber ben
©rorcismu§ für bie vernünftigen ^ehanblungSmetfen einführte, würbe niöbt
lauge in feiner Stellung bleiben. Selbft Äirdjenbudhführer bcjrocifefn ben
i)Ju^cu be>S ßebetc-S um Regelt, fo lange ber 9Binb »on Cften fommt,
dt)omas fjujley.
2<*3
unb ber SKuSbrud) einer Seudje lägt bie ü)ienfd)en nid)t mefir in bie Äird)e,
fonbern nad) — ben Slbjugeröljren gefjen. $ro| ber ©ebete für ben ©r*
folg unferer Staffen unb bie SebeumS für ben Sieg glauben nrir in
SBirfltdifeit an ftarfe Bataillone unb trocfeneS Sßufoer, an bie Äenntnifj ber
ÄriegSrotffenfdtaft, an 21)atfraft, ÜJiutr) unb SiSciplin. $n biefen rote in
allen anberen praftifdjen Singen f)anbetn roir nad) bem Sprud)e Laborare
est orare, geben $u, baß von bem Senfen 6cf»errf<^te Slrbeit bie einjig an*
neljmbare 2lnbad)t ift unb baß roir eS einjig mit ber 9Jatur 51t tf)un f)aben,
mag es eine übernatürliche SBelt geben ober nid)t."
2ritt Zuriet) aud) nidit planmäßig für bie momftifdje 3Beltanfd)auung
ein, fo roeift er boefj überjeugenb nad), baß ber ©laube an einen ®ualiS=
muS in ber Grfabrung nidit bie minbefte örunblage t»af>e, unb tfnit fo aud)
fein 2T>eil für bie Ausbreitung beS 3JioniSmuS. ©anj unabfidjtlidj aber
hat er GtroaS gcleiftet, roaS if)in bie englifdie Stjcologie fprslid) banfen
foltte. $>urd) feinen $inrociS auf bie beutfebe Stbelfritif mit ifjren ie-
rounbentSroertben ©rgebniffen Ijat er fie aus bem Sectengejänf erlöft unb
in bie 23af)n ber gefd)id;tlid)en gorfdmng gerotefen. £>aS ftot baS Unü
tierfitätsftubium ber Stjeologie roieber belebt unb in bem Sanbe, baS eben
baran gel)t, feine brittlefcte unb uorle|te Stirdje 511 entftaatliien, ben Sinn
für bie Ginl)eit ber d)riftlicben Äird)en neugeroerft unb ber Geologie roieber
bebeutenbere ©eifter äugefüfjrt, fo baß eine Steform ber Sogmattf »on innen
fterauS roieber ptr D?öglid)feit geroorben ift. Sie ftaatlid) untersten
©emeinbefebuten ©roßbritannieuS l)aben feinen oHigatorifdjen JJeligtonSs
Unterricht, unb baS trägt in jtemlidjem ütffaße baju bei, bie aufroadjfenbe
öeneration ben Sogmcn ber einzelnen Scfenntniffe 31t entfremben, fo baß
eine religiöfe Bewegung, roeldje bie bogmatifdicn Aonnen oerflüebtigt, fidj
in ©roßbritaimten bereits beute »orbereitet.
Satte §urtei) anfangs bie ^Solcmtf »erabfdjeut unb gemieben, fo roarb
if)m baS Rümpfen unb Streiten nad) unb nad) 51t einer lieben ©eroobnfieit.
Unb 1889 fonntc er fagent „3um Schaben meiner 93eljaglid;feit bin id)
bie legten 30 ^aljre uiel in Streitigfeiten uerrotcfelt geroefen, unb bie einjige
Vergütung für ben 3cüoerluft unb bie ©ebulbproben, bie baS mit fid) ge=
brad)t b,at, ift, baß id) bie ^Solemif nad) unb nad) als einen 3roeig ber
fd)önen Äünfle habe betradjten lernen unb ein unparteiifdjeS unb fünfilcrifdjeS
^ntereffe an ibrer Püning neunte." 3n feinen SluSlaffungen roar £uylen
fd)arf unb oftmals farfafttfd), aber niemals grob. Seine Slritif hatte immer
eine fd)arfe Spifee. 3" bem Gffai) „©labftonc unb bie ©enefis" fdmeb
er: „SofrateS foH »on ben Herfen fteraflitS gefagt Ijaben, roer fie ju »er*
flehen »erfudje, folle ein belifdjer Sd)roimmer fein, aber roaS er feinerfeitS
»erftehen fönnte, fei fo auSgejeid)net, baß er geneigt fei, aud) an bie £reff=
lidjfeit beffen ju glauben, roaS er uncerftänbtid) fänbe. Bei bem Berfuche,
beS Sinnes in biefen Seiten WtabftoneS &err ju roerben, f)at mid) oftmals
ein ©efüfil überfd)lid)en roie SofrateS, unb bennod) nid,t ganj baSfelbe.
2<H — JUejanber (Etile in ©lasgoro.
2BaS id) tr)atfäd)lid) »erftet)e, ift mir fo fct»r als baS ©egentf»eil beS ©uten
erfdjiencn, baf? idj mir manchmal einen Swift! an oer Xreffltdjfeit beffen
gcftattet ijabe, roaS idj nid)t »erftet)e." 3um SBoljte GnglanbS werben bie
groften Streitfragen ber Socialpoltttf rote ber äußeren 5polittf »on Saä>
funbigeu in ben großen 2RonatSfdiriften auSgefodrten, unb rooljl auf feinem
©ebiete jeigt ftd» bie britifdje Slampfluft beutlidjer, obwohl btefen Arbeiten
bte Mitterreit äfmltdier SluSetnanberfefcungcn in £eutfd)lanb gänstid) feljlt.
Trofc feiner £apfer!eit im Stampfe f)at lief) Zuriet) »on ben politifeben
Sämpfen feinet SanbcS »öllig fem gehalten, bis bte Home Rule Bill auf bem
^Mane erfdnen. 2lber ba r)telt eS Um beinahe ntdt)t länger: „3$ fcabe mtet),"
fdjrieb er, „mein ganjcS Seben lang forgfam außerhalb beS politifd)en 0c=
bietet gehalten, unb jefct ift eS 511 fpät, barau benfen, mid) jefct nod)
baf)tn ju begeben. 2lber roäre id) ein ^olitifer, idr) roürbe biefe Sill be=
fämpfen, folange td) Seben in mir fpürte . . . ^Regierung »crmittelft ber
burd)fd)mttlid)en SBiemnng ift nur ein Umroeg, auf bem ein SBolf 511m
Teufel gcl)t."
©erabe fo roie fid) bie £r)cologie sur 9iaturforfd)ung »erljält, »erhalten
fidt) bie focialen Sljcoricit, bte t)eute gang unb gäbe ftnb, ju einer roirf»
lidjen Socialroiffenfdmft. SBenn eS ein ©ebiet giebt, auf ba* man bie
(SntroidtungSlefire mit überroältigenbcm Crfolge anroenben fann, fo ift es
baSjenige beS Socialen. Ueber fragen aus biefem ©ebiete t)at Zuriet) ein
paar SffauS gefdnieben, bie ju bem 93efteu geboren, roaS alle 3c^en ^er
geleiftet fjaben, unb bie suglcidj 3eu8«iB für bie Straft unb Sdbärfe feinet
SenfenS ablegen. 3n einer 9lrbeit „Ueber bte natürlidbe Ung(eid)f)eit ber
2JJenfd)en" forbert er bte 0letd)r)eitSmanie 9JouffeauS unb ber mobenten
$)emofratie roie beS SoctaliSmuS »or bett 9ttdjterftuf)l ber 9Jaturrotffens
fdjaften unb jeigt, baf? bie 9Renfd)en «tt Hilter, ©efdiledit, ©efunbtjeit, Äraft,
Begabung, $letf>, £t)atfraft, SciftungSfätjtgfeit ntdjt gletct) finb unb niemals
gleict) geioefen fein tonnen, baf? es alfo »ollfommen finnlos ift, einem »oll*
fräftigen ÜWann unb einem Säugling gletdie 9iccr)te sujuerfenuen, unb bafe
infonberrjeit baS „allgemeine 9)Jenfd)cnred)t auf ben ©runb unb Soben"
^JtidjtS ift als eine leere ^Jtjrofc. 3n einer zweiten 2lrbeit „9Jatürlid)e unb
polittfdje 9ted»te" jeigt er ferner, baf? in ber ^atur alles 9>ied)t gleid) aWadjt
ift, baf? es nur ein etlnitrenber 9luSbrud ift, roemt ber 9Wenfdj beim Ttjiere
»on einem „9led)t auf sJ{ar)rimg" fprtd)t. Sie Xigerin r)at baS 9Jedit,
9lHeS 51t freffen, roaS fie erjagen unb töbten fann, unb ber 3)Jenfd) r)at baS
3led)t, bie Xtgerin mit bem breifaltbrigen Sidläufer 51t crfdjieften, wenn
er fie nämlid) trifft unb nid)t juwor »on i£>r gefreffen roorben ift. ?ßolitifd)e
3led)te hingegen finb baS 3lequioatent für geioiffe potitifdie ^ßflidjten, ttnb
es ift »öllig ungereimt, beibe oerfd}iebenarttgen ©ruppen „9ted)te" in einen
2opf ju werfen unb benfclben fleif?ig umjurüliren. 3J?it biefen 3luffäfeen
f>at Furien ein epod)emad)enbeS großem 3Jeinemaa)en im $auSr)alt ber lanb=
läufigen Sociotogie abgel)alten, nadt) bem fid) ber Scfimufe nidit fo letc6t
(Thomas ^njCey.
roieber fcftfefeen wirb, uitb unter bcn Ueberwinbern beS SlouffcauismuS unb
ber £emofratie toirb ilmt immerbar eilte ß^renftelte ficher fein. 2lber er
ift aud) no<^ ein gutes ©tücf weitergegangen.
MerbingS fjat biefer ftreitbare Kämpfer gegen alles apriorifd)e ^?lnfo5
fopfjiren fid) auf bem ©ebietc ber ©oriotogte nod) nidtjt ganj von berlei
apriorifdjen SBorauSfefeuttgen frei gcmad)t. Statt jeber 9)ienfd) nur infoweit
frei fein fall, als er nid)t bie gletd^e Freiheit 2faberer ftört, folltc bod) erft
benriefen werben. ®aft bie ©efcüfdtjaft ein fitttidjeS 3iel habe, in beffeu
(Srretdjung fid) bie oittlidjfeit »erförpert, bafe baS 3^1 ber Regierung baS
28ot)l ber 9)?enfd)f)eit fei, baS alles finb tiefte jener Senfweife, bie er be=
fämpft, aber fie betreffen faft alle ben ©taatsbegriff, über bcn er mit
©penccrS einfeitigen Xtyoxien abpredmen fiatte, unb berühren faum
ernfttief) bie ©efellfd)aftSorbnung, beren Äemjüge £urleu fdf>arf erfaßt fjat.
9Wag er liier aud) nod) nid;t baS tefete 2Bort gefprod)en b^aben: auf bem
35?ege t>on ber fpeculatioen ©octologie, bie baS ^eraupljren eines be*
ftimmten, aus etf)ifd)en (unb jwar ff(aucnmoralifd)en) ^Betrachtungen ab=
geleiteten foäalen 3uftQnbc§ in eine ©cmeinfd)aft als i^r tefeteä unb
einziges Qiei betrad)tet, jur 33olfSftanbSwirthfd)aft, beren le^tcS $\d baS
©id)bef|aupten unb SBarfffen ber ftärfften ©emeinfd)aften ift, ift Surfet)
jmetfelsohne. 3n bem ßffat) über ben „Äampf um'S 2>afein in ber menfd)=
lid)en ©efellfdjaft" fprid)t er fid) barüber ausführlich aus. SBenn ßngtanb
fünftig nod) 33rot haben will, „bann ift bie augenfällige ^orbebingung, bafs
unfere ^robuete beffer als bie anberer Sänber fein müffen. 9Jur aus einem
einigen ©runbe siehst man unfere Sstoaren benen unferer ffliualen »or:
unfere Slunbcn müffen fie ju bem gleiten greife beffer finben als anbere.
£aS f)eif3t, mir müffen mehr tontniß, ©efdjicf unb ^leif» auf ihre Qx-
jeugung wenben, ofnte baß bamit bie ^SrobuctionSfoften cntfpred)enb wüd)fen.
Unb ba ber 9trbeitSlofm einen bebeutenben SPeftanbtfycil biefer Soften bilbet,
fo muß ber Sohnfafc innerhalb beftimmter ©renjen bleiben. MerbingS finb
billige $robuction unb billige 9lrbeit feines wegS glcicbbebcutenb; aber ebenfo
wenig fönnen bie Söljne über ein befttmmteS 9)Jaß f)inauSroad)fen, ohne bie
Silligfett ber 2Baaren ju oemid)ten. Unb bie ^'illigfeit unb als eine ihrer
erften 93orauSfefcungen ein mäßiger ?lrbeitSlohn ift fomit wefentlid) ju
unferem «Siege im SBettbewerb auf bcn ÜBtärften ber 2Mt." @rjieht bie
Slrbeiter ju enormen Seiftungen, unb ,3$r werbet ifmen aud) enorme Sötine
5ab,len fönnen; unb fie werben trofe berfelben ttjre SDJttbewerber in ber SBett;
coneurrenj ausstechen; baS ift bie unmittelbare gotge barauS. $n ber ge=
fammten SRatur fommt ber gortfdjritt nad) bem heutigen ©tanbe ber
2Biffenfd)aft einjig burd) bie natürliche 9luSlefe ber Süchtigeren 51t
©tanbe. SBenn man bie StrbeitStetftung eines ganjen SBoffeS auf eine
böfiere (Stufe lieben will, fo muij man naturgemäß 3U allererft an baS
gleite 9Kittel benfen, an bie fociale SluSlefe, fraft bereit bie tüdjtigften
Arbeiter überleben unb reichliche 9?ad)fommenfchaft erjeugen, währenb bie
2^6 yiejanbet Cille in ölasgo».
untüdfjtigften roomögltd» fdfjon oor bem &eiratf)3alter ju ©runbe gefien. Güten
jioeiten Sßunft, oon fecunbärer SBebeutung allerbingä, bietet bann bie tedjmifctje
(Spülung unb 9lu$bilbung mögtidift aller oorfianbenen Arbeiter.
Obgleich Surfen an mcf)r als einer Stelle einer 9teih> Ifjatfadien
gebenft, beren ©urd&fufirung naturgemäß bie in'« Stocfen geratene fociale
StuSlefc neu beleben mufc, fo fieljt er bodj b,ier in ber £auptbetrad(>tung
ganj baoon ab. Xrofe aller fdfjarfen 2Borte, bie er gegen bie natürlidbe
©leidfjfieit ber SWenfcfien rietet, murjelt in ilnn bie Ueberjeugung oon ber
natürlichen Ungleia^beit ber Arbeiter unb ifycer Stiftungen nidfit fo tief,
bafj er fie jur ©runblage forialariftofrattfdjer 3ieformoorfd)läge madfjen
fönnte, mittete beren fidi jugleidfi jene fociale Stabilität erreichen liejje, bie
if)tn fo nrnnfcbenäroertl) fdjeint. 2Ba3 tfnt im Sterne an ber Umbilbung ber
Socwlogie jur $olföftanbäroirtf)fcfjaft b^nbert, ba$ ift fein ©taube an bie
2Jiöglid)feit einer Ueberoölferung, ben er nidjt ju übertoinben oermodftf Ijat.
5ßor einem ftatyrfiunbert l)at XfjomaS 9?obert 2ttaltfju$ biefe« föefpenft bes
3tltertf)umö roteber auä bem ©rabe gemedtt, unb feitbem ift e$ nrieber um*
gegangen, big in ©eutfdblanb Slabenfiaufen bagegen ju gelbe gesogen ift.
Sarroin bat bie Grfenntmfj oon ber unenblidjen Skrmetjrung alle« Sebenbigen
einen bebeutfamen SMenft geleiftet, inbem fie ifnt auf bie Sebeutung bee
®afeinäfampfe3 bjmoieä unb itim fo bie 3bee ber 2luälefe ber Sitdbtigften
braute. 2lber ein Ueberfdbietien ber 33eoölferung über ben 9iat)rungsfpiel*
räum ift nur eine giction, bie in ber SBirflidfjfeit gar nid)t oorfommen
famt, weil meb,r 9)Jenfd)en, als SMabjung ftnben, ja nidjt leben fönnen; unb
e« ift ganj finnloä, biefe gietton in focialnuffenfc^aftlic^en Grörterungen alä
!Tf)atfad)e ju betrachten.
9)}it 9iect)t roeift bagegen §urlep ben 9tnfprudj bes Gtnjetnen auf ben
»ollen Grtrag feiner 2lrbeit ab, joenigften« in fo roeit ftcfj berfelbe in
apriorifdjer SBeife begränbet.
,,^dt) glaube nid)t, baf? ei ju oiel gefagt ift, bafj oon allen in biefer
feltfamen 2Belt lanbläujtgen focialen Xäufdmngen bie bümmften biejenigen
finb, roeldbe amtefimen, 2lrbeit unb Kapital ftänben fi<ij nott)ioenbigerioeife
feinblid) gegenüber; alle« Gapital roerbe burdj 3lrbeit erjeugt unb fei bee;
balb oon itatürtieben MedjtS roegen ba« Gigentlium be« Arbeiter«; ber
Sflefifcer bei Gapital« fei ein Siäuber, ber ben Arbeiter beraubt unb fid)
felbft ba« aneignet, an beffen £eroorbringitng er feinen 9lntljeil b«t.
„3m ©egentbeit, Gapital unb 9lrbeit finb notfuoenbigertoeife enge
SBerbünbetc. (Sapital ift niemals einjig ein Grjeugmfj menfdtfidber 9lrbeit.
@>3 befielt getrennt oon menfd)ltd)er 9lrbeit unb ift bereu notb,ioenbtge aüorau«:
febung. 6« giebt ba3 Baiertal, auf ba3 bie 9lrbeit oerioenbet nnrb. Sie
einjige unentbebrlidje ?fonn be§ Gapitat«, baSjenige (Eapital, ioa§ jur Gr*
uäl)rung bient, läßt fid) md)t burd} iDienfdjenarbeit erjeugen. ®er 3)?enfd)
oermag ciusig feine Silbung burd) bie nürflidien Grjeuger ^u förbern.
G§ giebt feine roirflicbe Scsielntng jioifdjen bem betrag 9lrbeit, ber auf
tttjomas £jujley.
einen ©egenftanb nermanbt worben ift, unb feinem £aufd)wertb\ 'Ser 2ln=
fprudj ber Strbeit auf baS ©efammtergebnifj t>on $8errid)tungen, bie erft
burd) baä Gapital mögltd) werben, ift einfad) eine apriorifdje Ungered^tigfett."
£>a3 finb bie Grgebniffe, 5U benen Imylen burd) bie 9tatbetrad)tung ber
fragen geführt wirb, bie £enrn öeorge tnit blöbem ©efafet burd)etnanber
rmjrt, unb fie jeigen am beutltd)ften, worin bie Sebeutnng biefer @ffai)S
liegt, $n feiner £anb ift eine Srttif £>enr» ©eorgcS nidjt mefir eine .Writif
&enrt) ©eorgeS, fonbern fie wirb jur Ärittf ber focialen ©efammtbeftrebungen
feiner %eit ®a$ unglüdltdie Dbject, baä er gerabc beim Stopfe erwifdjt
unb grünbltd) abfd)üttett, jittert nidjt allein unter biefen 2lrmbewegungen,
fonbern in ifmt jittern alle btejenigen mit, bie burd) ftarfe ober bünne
göbdjen mit ii»m »erbunben finb, ber SJoben, auf bem e» ftefit, unb ber
Saum, an bem eS fid) in feiner Serjweifiung anflammert. ©8 ift SBenigen
gegeben, fo bas, was eine gan5e 3eit aufrührt, auS bem jufäUigen äufeeren
©ewanbe fyerauSjulöfen unb es rein unb ungetrübt burd) perfönlidje Neigung
ober SIbneigung oor ben 9iid)terftut)[ beS SenfenS ju serren.
$er SJJann, ber eS fid) jur 9tufgo6e gemad)t blatte, atfc mobernen
©enfgebiete mit bem Seifte ber mobernen 9Jaturwiffenfd)aft unb infonberl)eit
ber Gntwi<flungSlel)re ju bttrdjbringen, fonnte uumöglid) bei ber tfjeoretifdjen
Sßeltanfdjauung ftefien bleiben. ®a# ©efammtgebiet beS 3leftl)ctifd)en t)at
er allerbingS nid)t in ben SkciS fetner gotfdiuiig gebogen, wofyl aber ben
3weig baoon, ber für ben 9)fenfd)en bie größte prafttfd)e Skbeutung b>t,
ba§ (5tf)tfd)e. 9tm 18. SDiai 1893 trat er als Romanes Lccturer im
©belbonian Sweater in Drforb mit einer bebeutfamen 3lrbeit über „(Stfjif
unb Gittwidlung" uor eine gelehrte 3wf>örerfd)aft, unb ber ©turnt, ben
er bamit Iteroorrief, fyat iljn faft bis an fein SebenScnbe nmbrauft, minbeftenS
bis 3ur 2luSgabe beS legten (neunten) SanbeS feiner ©efammelten GffanS
1894. „Gtfiif tmb (Sntwidlung unb anbere ©ffaos" nennt fid) ber 33anb,
unb in ü)m antwortet ber ftreitbare ©reis auf bie sal)lreid)en Angriffe aus
allen Sagern. Gr, ber mit füfnten fritifd)en tfeulenfdjlägcn bie fpeculattoen
SJorauSfefeungen ber populären <Socialtf)eorieit zermalmt tjat, er ftef)t l)icr
üor ber $ragc: metd)e unmittelbaren folgen mufi bie bebingungSlofe 9ln=
nafnne ber GntwidlungSlebje für baS ©ebiet ber Glf)if b>bcn? unb er fud)t
fie in feiner SBeife 511 beantworten.
3n fetner „2lbftammung beS 9)ienfd>en" f»at Gf)arlcS ®arnnn fid) aud)
mit ber 23ebeutung ber Rumänen ©ittlidjfeit für ben 9lufftieg beS 9)Jenfd)en
befd)äftigt, wenn aud) nur flüd)tig. (St, ber grofje 3>erfünber ber natürlid)en
9IuStefe als beS gewaltigften, faft alleinigen ftortfdjrittSbebelS — gerabe
biefer $unft fd)ieb Darwin ja oon Samard, ber gletd) ©ir Francis ©alton
unb SBilltam Satefon tjeute allen SHadjbrud auf bie Vererbung erworbener
Gigenfdjaften legte — fab fid) E>icr iwr bem Problem: 2Beld)e Wolle fpiett
bie natürlid)e 9luSlefc in bem ©tüd 5öfenfd)^eitSentwidlung , baS wir in
engerem ©inne Wefd)id)te nennen? SBeldie äiolle fpiett fie im mobernen
2^8 yiejanber (Lille tii <81asgon\
93ölferbafcin, unb in roelcfjem SBertialtnif? ftel)t fie ju unferen fittlicfien %rt-
fdjauungen? ©en großen SBiotogen tjaben feine bemofratifdj Rumänen
Qbeate baran nertjinbert, bie unmittelbare Folgerung für bie mobeme @tr/if
auS feinem ©efeti ber 9luSlefe 5U sieben, unb obrootil feine 2lu§fprücbe
ü6er biefeu ^ßuntt ein fidjtltdjes Sdjroanfen beS StanbpunfteS »erraten,
fo ift eS üim bod) nid)t gelungen, l)ier enbgiltige Stlarljeit ;u fdfjaffen.
„Socialer $ortfd)rirt Gebeutet Slufeerfraftfefcen beS 2BaltenS ber 9tatur=
mächte unb baS Dafüreinfefcen von etwas 2tnberem, baS man baS SBaÜen
ber etf)ifd)en SJfädjte nennen fann." 3t6er biefeS Slufjerfraftfefcen beS
aBattens ber 9taturmäd)te bebeutet einen Stampf. 2>aS £umanfittlid)e
„fann fid) barauf »erlaffen, bafj es mit einem ääfyeu, madnoollen ©egner
;u redfinen l)aben roirb, fo lange bie SBelt ftefjt". Sarum ift bie Sfanäljenmg
ber 9J?enfcf)l)eit an baS fiumane 3beal nid)t r»on bem 9?ad}af)men beS 3tatur=
roaltcnS ju ericarten, rote «Spencer meint, unb and) nidjt »on ber glucbt
vor biefem SBalten, roie fein Sdjüler gisfe benft, fonbern »on bem Kampfe
gegen biefeS halten. 9Jaturn)aften unb Rumäne Sittlicbfett finb unnerföfm=
lid)e ©egner, Siebes bebeutet einen $l?if;ton für bie ©efüfytSroelt, in ber baS
9lnbere Ijeimifcf) ift. .
Sicfe febarf jugefpifete ^rageftellung allein erflärt ben Sturm, ber
auf biefe Darlegungen f)in in ber engtifdjen periobtfdjen Sitteratur gegen
.'Our(ei) »on beiben Seiten l)er toebradi. $ie gefammte ljumane (Stljif
feinet öeimatlanbeS, ja bie firdf)lid)e (£tl)if batte fidfj bereits baran geroöfmt,
bie Tljatfadjcn ber natürlid>cn (Sutroicflung 5ur Stiftung ber eigenen
etljifdjcn SBünfdic 5U üerroenben. 3Bie ber SocialiSmuS eines 23ebel mit
feineu ultrabeinofratifd)en ©runbfäfccn fid) auf baS ariftofratifd)e Sßrincip
ber organifcfjen Gutrotcftuug burd) natärlidjc SluSlefe beruft, fo battc man
fid) auf tljeologifdicr Seite bereits cntfdjtoffen, jur 9?erfrieblid)ung ber
fünftigen 9Jlcnfd)f)eit iid) in Brunft m'djt nur religiöfer Wittel, fonbern
aud) ber pbnfiologifdjen 9Iufl)äufung altruiftifdjer 3ügc ju bebienen. 3lnbrer=
fcitS erfd)icn eS felbftftäubigeu Senfern gar nidjt fo auSgemadit, baft itd)
baS allgewaltige Statten ber 9?aturmäditc »or ben ctf)ifd)en SBüitfdjen ber
fieutigcn Gulturmenfdjen 51t beugen bade. 2Bie, roenn fid} biefe tjumanen
2Sünfd>e r>ielmcf)r vor beut SBalten ber Watunnädite 511 beugen gärten?
äBcnn bie SOiitteibSmoral ber beiben testen $al)rtanfenbe mit iftrem
©cfolge »on »ermeb/rter Äranffieit, uermel)rtem Seiben, mit ifjrer Aenbcu}
jut Siftirung ber natürlichen SluStefe nur eine trübe unf)etlr/olle (Jpifobe
in ber ©efdndrte ber menfdf)lid)en ?lufroärtSentnncflung geroefen roärc, nur
ein SUifjgriff, baS fjumane ^beal ein falfdjcS ^beal, baS notb>enbig jmn
9ii ebergang ber ©attung führen müßte?
2Bie feine tbeorcrifdje Uebcrjeugung, ber 2lgnofticiSmuS, fo fütjrt aueb
feine ctbifdjc Ueberjeugung, ber ^umamtätSutititariSmnS, 511 einem großen
^ragejeidien. Sie finb beibe nid)t als bie enbgiftigen Söflingen jener
SKiefeitfrageu 51t betrachten, aber bennodj f)aben fie eine geroaltige 33cbeutung.
ütjomas fjujley.
2^9
Senn if»re grage}eid)en ftnb bie grage}etd)en ber Seit, bic gragejeidjen
ber mobemen SBettanfd;auung«fämpfe. Unb roie ber 2tgnofttaömu3, bie
Religion ber $efd)eibenen, burd) ben beutfdjen 9Jloni3muS überrouuben
roorben ift, fo ber $umamtät8utilitari8mu3 burd) ben beutfdjen ©attung8=
utititariSmuS, ber iüd)t mein: in ber frieblicb^bemürt)ig=mUben, fonbem in
ber froren, ftarten, gefunben, leifwng3fäl)tgen 3Jtenfd)f)ett fein Bufunftäibeal
fie^t. 3fn ilnn unb feinem neuen Qbeal ift bie @ntroidtungglef)re rotrfltd)
auf bie ©ittlid)feit angeroanbt, benn in ibm ift ba§ griebenSibeat ber
Humanität burd) ba3 ftampfibeal ber fdjönen Starte erfetjt.
2>ie Wmiit fämpft. «Sie bull bie ganje <5rbe
Srobernb übergießt mit ifjren ftinbem;
Unb jebe toitt'8, unb jebc Stift öer&inbent,
S3a& alles Saub gur oben $atbe »erbe.
2) er fttrfd) betoeift in töbtlicfiem ®eied)t,
Sag er ber ©tärtfte fei; bann barf er werben.1
3) e8 ©ditDäajIinflä »Übung foll f;td) nid)t »ererben,
Unb fdjöne ©tärle nur ift S5afein3recf>t.
$n betn ©djroingen feinet ©diniertet in ben 2Beltanfd)auung3fämpfen
ber ©egenroart ficgt ,$urlei;£ Sebeutung, unb er fetter f)at ba3 'gefügt,
geroufjt unb geroolit. 9Jur roer fid) barüber Kar ;ift, baf? bie« baS &öd)fte
ift, wa% ber ©injelne feiner 3«'t reiften fann, fann fdjreiben', rcaS
<<öurlet) an ben @d)tuf5 fetner @e(bftbiograpf)ie fefcte:
„Stm attcrroenigften mürbe eä fid) für mid) fd)iden, »on meinem
Sebeu$roerf ju fprecben ober je&t am ätbenb ju jagen, ob id) nad) meiner
ÜJJetuung meinen £of)it erhalten fjabe ober [xnäjt. £>ie 9Jlenfd)en fotten
varteiifdie Sitdtcr über fid) felbft fein. 33telleid)t ift baS bei jungen
attännern richtig, bei alten fdwerlid). Seim 3rüdblid erfdjeint baä Seben
fdjredltd) »erfürjt, unb ber 23erg, ben man fid) in ber $ugenb Su er*
flimmcn vornimmt, erroeift fid), wenn man bann atemlos feinen ©ipfcl
errcid)t, nur aU ber SluSläufer eines unenbtid) beeren ©ebirgSpgeS.
2i>enn id) aber uon ben Sielen fyredjcn barf, bie id) mefjr ober weniger
beftimmt im Singe gehabt Ijabc, feit id; mein £ügeld)en ju erfteigen beganr,
fo finb fie für} bie fotgenben geroefen : Sie görberung unb ^ermeljrung ber
iHaturerfenntntf? unb bie Slnroenbung roiffenfdjaftlidier gorfdjungSmetfioben
auf alle ©ebiete be§ Sebent, foroett cS eben in meinen Kräften ftelit.
'Senn in mir unb mit mir ift bie Uebcrjeugung grof? geroorben unb mit
meiner eigenen Straft gen>ad)fen, baf? bic cinjige Sinberung, bie eS für
bie Seiben ber 2)?enfcf)f)eit giebt, ift, im ©ettfen unb föanbeln 2£ab>f)aftif *
feit }u üben unb ber Sßelt entfd)loffen tn'S ©efid)t }u flauen, roie fie fid)
jeigt, roenn man bie £ütle beä ©taubenätrugeS abgestreift t)at, unter ber
fromme £änbe ibre tjäftticrjen 3üge oerfteeft l)aben.
Qu biefer 2lbfid)t b^abe id; ben uerftänbigen ober unBerfianbigen
eb>geij nad) n)iffenfd)aftHd)em 3luf)me, ben id) mir »ieKeidjt uerfiattet b^abe
3!ort unb Siib, LXXV, 1'
250
2Ueranber (Tille in (ßlasgoro.
ju anberen ftmeden ju liegen, ber &eroolf$tf)ümlidnmg her 3iaturroiffen-
fd^aft; ber ©ntrotdlung unb Drgamfvrung beä naturroiffenfd)aftlid)en Untere
rid>te3; ber enblofen SWci^e <Sd)(ad)ten unb ©diarrnüfeel über bie @nt=
roidlungSle^re unb ber unermübüd)en SBefämpfung beS ftrd)lid)en ©eifteS,
be8 $lird)entf|um3 untergeorbnet, baä in (£nglanb wie fonft allerwärts, es
fei roetd)e8 jtefenntmffeä es molle, ber £obfemb ber 3£tffenfd)aft ift
%m «Streben nad) biefen giekn bin id» nur einer ron Siefen ge-
roefen, unb id) mürbe überjufrieben fein, wenn man meiner aU eines biefer
Kämpfer gebenft ober aud) jnid)t gebenft. Umftänbe, unter bie td) mit
©tolj bie ergebene Siebe jafilreidjcr greunbe redtne, Ijaben baju geführt,
bafe id) "ju oerfd)iebenen Ijeroorragenben «Stellungen gelangt bin, unter
benen bie eines Sßräfibenten ber 9toi)at «Societn bie f)öd)fte ift. <§8
märe falfctje 33efd)eibenf»eit meinerfeits, roenu id) angefidbta bicfcr unb
anberer |mtffenfd)aftlid)er ©fjren, bie mir m ^tjeit geroorben finb, tf)im
wollte, als märe id) auf ber einmal eingefdjlagenen 33alm ntctyt »orroärts
gefommen, roeif id) fie nidrt ganj aus eigner SSab^l betreten fyabe, aber id)
mürbe fdjroertid) biefe $>ingc als Seifyen für ttgenbroetdje Seiftungen be*
tradjten, wenn id) nid)t hoffen bürfte, jenen 3BeItanfd)auung8umfd)nmng
einigermaßen geförbert ju ftaben, ben man bie 9ieue Deformation ge*
nannt b^at."
21To6eblumen.
Von
#an£ ^ermann.
— BresliD. —
| in fibeler Drt, ba3 mufe man fagen."
„Unb ein anftänbiger! Sticht gegen gemeine gettanfäfee ober
cfelhafte ^überfein, bto3 gerabe gegen fo'n feubalen, reinlichen
9?heumati3muS ober bito Änodjenbruch • — *
„Unb gegen no3j ein feubatel, reinliches Seiben: bie Sangeroeile — "
,/Jlicht ju »ergeben! — 9la, roaS ift benn ba lo§?"
$>te grage mar nicht unberechtigt. 2lrm in 2lrm roaren fic bie auf
ben ßurplafc münbenbe ^auptfirafee be§ rhetnifchen 2Beltbabe3 hinunter*
gefdfilcnbert, bie beiben Gaoaliere, bie einanber »on ^Berlin her fannten unb
ftdt), äbermübet unb bodfj SRiuje fTietjenb, hier miebergefunben hatten. SRun
hemmte ihre Schritte ber 2lnblicf einer ©ruppe oon Sieitpferben, bie Bor bem
portale be3 erften £otel§ be3 Äurortc« »on ©room§ sum abritt bereit ge*
halten mürben. £>a3 eleftrifchc Sicht, welches ju biefer 2lbenbftunbe taghell
ben roeiten, «tit feinen 93lumenanlagen, ^ontainen unb ©otonnaben einem
märchenhaften Suftgarten gleichenben $lafe überfluthete unb ebenfo au« bem
palaftarttgen |>aufe hetawStoang, Ke& jebe Schnalle an ©atteljeug unb
Si»r6e aufblifeen.
„2BaS taufenb, ein ©amenfattel? ©oUte am ®nbe gar fic
3$ hatte boch ihre ©rtaubnijj, «Sie ihr f»cutc 2lbenb .beim gefi »orfteHen
ju bürfen! äber es ift ihr ja 2tllc§ sujutrauen!" •
• 2Bie $ur Seantroortung biefer Siebe erfchien im felben"3tugenbticf eine
£>ame, begleitet »on mehreren Herren, im portale, 2HIe jum 9lu§ritt geräftet.
„SBahrhaftig! 2Ba§ h^fit oa§ nun loieber — ?" ba§ fwß> mifc
Wtligenb, halb beluftigt flingenbe -äRurmeln erftarb aber im 9tu, unb eine
17*
252
fjans fjermaun in Breslau.
oftetttatioe Begrüßung tönte aus bcmfelben ÜKnnbe! „Slber roaS jefje id),
gnäbige grau motten nod) ju fo fpäter ©tunbe ju Sßferbe, anftalt, rote ver-
fprodjen, mit 3f)rer ©egenroart bie italientfdje 9laä)t 5U »ertierrltdien?"
rourbe jener Ijinjugefügt.
SDte ©ame lädjelte falt unb fpöttifd". „3talienifd>e 9larf)t Inn,
ttalienifdje !Jtod)t foer! 3d) rcarb inne, baß ^uföQuj aud) ein 9Hcmt> am
Gimmel fte^t unb roiH lieber ben genießen. ®in 9Honbfd>etnritt — beulen
©ie nur! -Dieme Verehrer — l>m — ließen fid) ,aud) nrirfTid) baju aufs
bieten! SBotten |©te mttfetni? Siber nein, bleiben ©ie nur! ©tnb ja
ä quartre 6pingles für bie itaUenifdje 9?adjt. A quatre 6pingles unb,
comme toujours, auf ber §öf)e — bis auf bie neue SHume im
ffnopflod)!"'
„©näbigfte laben ein unb Ijeben Qfjre ©tnlabung auf in einem 3ttbem!
2BaS bleibt ©inem ba übrig, als ju bteibeni?!"
„9ttd)tS weiter. — @l)e ©ie mit ^Ijrem 2lbjufiement foroeit roären,
»erftänben fid) bie ©äute."
„2lnS fdjönem 3)Junbe l)at ber Gatmtter alle SBonuänbe gelten ju
laffen!"
„Unb maSfirt t)tnter $öftid)fcit — ©d>roäd)en!"
„D — ob, — aber — "
„©efdjroinb, gefdmunb!"
„2tber — "
„einiges ©igerltfmm fönneu Sie fid) beim beften SBtden nidbt ab-
leugnen!" — 9Kdjt?"
„D — ob — : aber, cS roäre ja allerbingS fraS erfte 9)ial, meine
©näbigfte, baß id) bie] 6t)re l»ätte, mit Sfonen jufammenjutreffen, otnte baß
3l)r 3Irfenal um eine 2Baffe reifer roäre! ©taube, ^aben nun roieber bto$
auö ber barmlofen 33lume eine gegen mtä) gefdmtiebet. 2BaS foQ man
benn mit fo einem bislang nod; orbenSlofen ßnopftotfje anfangen?"
„Db man fid) jemals felbft erfennt?"
„Unb nun belieben gnäbigfte grau gar nod), in aller ©djleunigfeit
pfjilofopfiiren 51t motten! Dl) — ab,!"
„Verfemen, [reines 23erfef)en — rorrflid). UebrtgenS: fd;miebe meiue
Sßaffen aus confiftenterem SDJaterial — wirb einem ja genug baju geliefert."
„Wan roetß factifd) nid)t mefjr, roaS man fagen foll."
„©0? ©ef>ett| ©ie [mal an! 3(ber id) bin gut: um ©ic aus ber
Verlegenheit ,u reißen, um bod) mal 3&r Sidjt leud)ten ju feb>n, eine ganj
fcfyulmäbd)em)afte grage: „2Bo ftammen benn eigentlid) bie ©inger t>er?"
©ie galbenc ftvüde beS 3ieitftödd)enS tippte gegen baS rounberbar getönte,
große (Sfjrgfantljemutn in beS $errn ftnopflod).
„Um ©otteSroillen, gnäbige grau, roerbeu ©ie ntdjt grünblid)! ©a fo
immer roärtfer."
„SBieber eine 9ttete!"
IHobeblumcn.
253
„Die Slume? ^a, fic buftet nid^t."
„%% feb> gut — roieber!"
„316er fef>ert Sie nur, rote tabello« fä)ön in'garbe unb gornt."
„3a, ja: tabelloä!" — Uebrigen« roemt td) jnidjt irre: gröfctent bette
5tulturprobuct baS!"
(§r ftanb nor it»r in beooter Haltung, bie iBlume in bec £anb.
„Sie wollen fie mir root)l gar üerebjen — au« öftrem ftnopflod)
h>rau«? 3" liebenäroürbig!" Sie nab>t bie $lume unb_fte<fte fie —
beut $ferbe in'ö .ftopfgeftell.
„Danfe geftorfamft," ftang e# pifirt.
©ie lädbette noclj fälter, nodj fpöttifdier unb fa§ auf. —
3f)re ^Begleiter waren roie auf (Sommanbo im Sattel, mit flingenbem
&uffd)tag trabte bie (Saoalcabe über ben ^ßlafc roeg, bie Strafje hinunter,
©er ganje SBortrojcfjfel f>attc bei ber fprubelnben rTleberoeife ber ©ante
faum SRinuten gebauert.
Der &err fafetc ben greunb, ber mit ber gequälten SWiene eine«
roofytgefitteten 5Jtenfcfjen, ber gern »orgeftellt fein mödjte, babei geftanben
blatte, für ben a6er feine Secunbe abgefallen mar, roieber unter ben 9(rm.
„(Sin pifanteS SBeib."
„5Bo flammt ba« Ding eigentltä) tier?"
„Um ©otteSroillen, roerben Sie nicfjt Jgrünblicf). Da fo ;immer
roärtfer."
,,©o, fo."
„9ta, fo fdjlimm ift e-i nidjt. öattin Jbe-3 befannten fportsfreubigen
9fabob Dppenftebt — "
,,9latürlid) unglücflicfje @f»e — unbefriebigte Seele, fo xoa*. 5Udjt
gerabe Scfiönfyeit, aber — "
„^ifant."
„©ans recljt."
„Änlturprobuct größtenteils, audfj ba-3, mein 8ie6er."
„Stimmt! Dodj roaS tfjut'«."
„SHlan amüfirt fidb — "
„SaroobX"
„Sä&t ftdE) gelegentlich] auefj etroa« am ^arrenfeil führen — "
„Ober tr)ut bodh, fo!"
„SBieber um fiä) &u amüfiren."
„C'est 9a!"
„C'est 9a!" —
Die Herren betraten ba<8 Äurbau«. ©tn falutirenber Sortier — "eine
tjofje, ernfte, toeifee, [fäutengetragene üWorinortjaffe, galonirte Diener barin
Spalier bilbenb — ein Saal, fdf)immernb[t)on*@olb, ©lüblid&t unb 2Banb=
gemälben — unb bann —
r
25$ fjans fjennaun in Steslan.
SBenn ein Blumenbeet im <5omtenlid)te loogt — genrife ein {jübfdjer
Slnblicf! Dtefer Ijier mar bem r>ergleid)bar, unb mand)eS 3wge t>ätte um
jenem rorgejogen. ©o tfiat ba$, mit roeld)em ifm bie beiben ©aoaliere in
ftd) aufnahmen; obgteid) et fem baoon mar, fie etwa in Begeiferung jn
oerfefeen! Unb ba3 mar er:
©ine 9Jlenfd)enmenge. 2lber nid)t fo ein Slrmooll, sufammengeftrictjeii
auf plumpe SWicfentoeife üou ber (Srboberfläd)e herunter in einen nmnber*
6aren ©acf, aufs ©etattjeroofjt: nein, eine mit fpifcem Ringer au«erlefener
beljutfam in biefen 3au^erfa<* »wfe&te, befmtfam nad) bem 9}trottmm*
raufd)enber £öne barin auf« unb abgefd)roungene 3Jknfd)enmenge. — Da*
war feine Stiefeufauft, baä mar eine geenljanb, bie ba£ t^at! Unb baß bie
baä fdjöne ©efd)led)t überrotegenb geroäfjlt f»atte, baS mar*«, roaä bie 3Wjn=
lid)feit mit bem Blumenbeete Ijenrorrief. Buroeilen bli|te ein Seudbjtafer
barin auf, eine Uniform — roaä von bunflen, farblofen Seberoefen neb,
barin bewegte, nrirfte jur golie bienenbem (Statten gletd). 916er ba§ Sidjt,
bcu8 fid) über 2tfle§ ergofj! Da3 einer bengalifd)en flamme mar'*, in
rotb> ©lutfj taudjenb ©ebüfd)e wie Säume, SBafferfptegel rote SBafferftralü,
©eroänber roie 2lngefid)ter. 3auberfjaft.
Die Seiben fteuerten unentroegt mitten tjtnburd).
„£ier Ijarrt mand)e3 Slümlein beä ©epflütftroerbens. Äönnte mir
fteijenben gufjeä eintgermafjer oolumtnöfen (Srfafc oerfd)affen."
„§aben aber nid)t bie 2lbnd)t."
„9iod) nid)t! Unb bann, ber ©enre — — Slber nidjtabeftoroeniger —
fommen <Sie bod^ mal — "
„3d) bitte Sie — junge aHabdjen!"
„3a, ja. @eb,e ]aber, ift aber aud) ber einsige £tfd), wo nod) ^5la|." —
Die ^rätibentin rücfte fid), ganj unmerflid) natürlid), in ^Sofitur unb
roarf bann, ebenfo unmerflid) natürlid), einen prüfenben Blid auf ba$
Dreigefrirn ifjrer £öd)ter; fie blatte aus einer ©djroenfung ber Herren, inbem
fie anfd)einenb gteicfjgiltig bie langgeftielte Sorgnette finfen liefe, bereit»
erratfjen, roa<S beoorftanb.
$ier rourbe fein »orftellungebebürftigeg männlidjeä Snbioibuum über*
f et>ert ; l)ier erfolgte bemnäd)ft eine ©mlabung ofme jeben SBiberruf ju bem
£fjee, roeld)en bie Damen nippten; bjer beftellte bie ÜWutter „nod) jroei
Waffen", fd)enfte bie ältefte Sodjter ein, reid)te bie jroeite bie «Salme, bie
britte ben 3u<fer. £w fom alsbalb eine Unterhaltung in gluf?, angeregt,
bod) nernünftig; bie 9)iutter mar liebenSroürbig, bie $öd)ter roujjten —
of>ne je ju fragen! — über Sittel ju reben,1 über SlHes! — nerfefjlten
jebod) babei nid)t, jutr-eiten in Meine nette Jtinblid)feiten ju rferfallen, unb
roaren ju aCebem au§nab,m«lo8 bitbfjübfd) unb fo d)tc roie möglid) —
9?afeten unb @d)roärmer fnatterten bajroifdjen, ein geuerroerf, ate
roolle Gimmel unb @rbe in Sranb fterfen, fpielte fid) ab um bie im
JTtoö eblumen. 255
©erooge liegenbe ^nfel biefeä Xiifyeä. giet fein jünbenber gunfe ab
für fie?
„2lfferliebft," fagte ber eine ber Herren jutn anbeten, als gerabe
roieber berounbernbe Ausrufe ber Damen ertönten. Dann empfahlen fid)
Seibe. —
„SBirftid) aüetlicbft."
„2Bat aber ßeit — "
„Dafe roir gingen."
„2ltterbing3!"
«3«, i« — aUerliebft, aber — "
„2(uf ben 3)Jann breffirt rote ber umtfyenbfte «§of()unb."
„Offenbar!!"
„Unb roerben faum reüffiren."
„Rulturprobucte gröjjtentb>U3 — rote bie ^ifaute — "
„Unb ber 3Jtt§erfoig fommt fdjlieftlidj über bie rootjlgeiogene 2111er*
liebftfjett rote baä Sltter über bie begagirte ^ifanterie — "
„bleibt — Debe."
„A qui la faute?!"
„A. qui la faute?!"
©ie fdjtenberten nocb eine 2öeile burd) bie 9)Jenge, raogten mit. ? 2ludj
fie )"o ein paar ©eftalten, mit fpifeen 2H"9eru «uSerlefer.
„Die Sarau DenniSs.frelbin."
„$reie 2foterifanerin!"
„Der 'S aber bod) böHifd) jn Äopfe geftiegen — "
„Dafj fie in Hornburg mit ber ©rofefjerjogin oon Tautenburg gefpielt
f»at — f>af)a!"
„Unb bie iHuffin — "
„£rau' nia)t red)t: Mfnlifrin."
„3lber jcujmbare fdbeinbar — tjalja!"
„9J{it ber «Dhitter — "
„^arire, eine angenommene."
„©djnöbe!"
„gteut eud» beS SämpcfjenS unb roenu'S pebigreeloe glüf)t!"
„2trm in 2lrm, bie Reiben!"
„SBaS man aus Siebe tfjut! $ebe roartet auf ben 2lpfel. Da«
Sßrinsdben ift baS Sinbeglteb."
„benimmt fid) aber mit mef)t ©efdjicf als roeitanb ^rin* ^aris,
&of)eit."
„9ia f)ören ©ie — aud) oiel leidster bei beuen! Tefmu'.u'S uidbt
fo ernft roie bie olnmpifdien Damen."
,,©eb> praftifd) — "
„3um flirten!"
„3um flirten!" —
256 Ejans £jermann in Sreslau.
Unb fie bemühten fid> »ergeben*, ben bieten &rei* 511 burdtbrecbett,
ber jtoei dornen »on eigenartiger, in 33ejug auf Üftter untarirbarer
©cbönbeit e*cortirte:
„Sollen un* bod) 'ranpürfdben — "
„9toturltd) — "
©* gelang tbnen nid)t. —
M."
„%W -
©in SMftuIjt, eine SBolfe »on licbter ©eibe nnb ©pifcen barin, fd)ob
fid) tfinen entgegen.
„®rüden nur un* um bie $ül)len."
„^a* mar nun ein ©tern — ber .Quttgc bacbte, er fanterte einfad)
in ben Gimmel — "
„Unb bot fid) ein Smnbel 9ier»en aufgelaben."
2lber felbft ba* „Zimbel 9ier»en" macbte fid) nodi anmutbig gemig,
um md)t bie Harmonie ber präd)tigen ©cene ju ftören. —
„9Ja, biben mobl flcmtg »on bem 3iuber."
„Bon, geben mir in* Gaf£."
SDiefe* fafbionable Socal lag an ber .§auptftrafje. ©ic gingen über
ben tagbellen tfurplafc unb bogen um bie Gcfe. 3Me Wunf brang beutlid)
bi* liier herüber, in S>atjertacten — ber £anj begann jefct.
Sßlöfcltd) fcbofj etroa* ©rofie*, £)unfle* »or ibrcn äugen burd) bie
Suft, abroört*. Gin bumpfe* 2luffd)lagen, unb e* lag ju ibren güfeen!
©* mar eine menfd)lid)e, eine tttetblidbe [©eftalt, t»a* fdnoarj, um
förmlid) unb regung*lo* »on betn glatten, lid)ten STrottoir fid) abbob; bie
Mlciber »errietben e*. .Raum bafj bie SBetben'ba* erfannt bitten, fo mürben
3 immen laut im £aufe, »or bem fie ftanben, Seute famen berau*geftürjt,
ein 9Kenfc5enauflauf fammelte fid) »on ;ber ©traf3e b*r 'm 9tu um bie
©teile. SDie Sßerfon b«tte man aufgeboben, au* nrirrem ®urd)einanberrufen,
au* Saftiger grage unb 2lttti»ort fonnten fidjÜneingeroeibte ungefähr sufammen*
reimen, roer fie mar. $>ie junge 3lerjtin nämlid), bie ben bod)berrfd)aftlid)en
jtoeiten ©tod innebatte, unb beren ©d)ilb |fo grofj unb reclamebaft unten
an [ber £au*tbüre prangte. Db ba* 'etroa* genügt bitte? 3J?an bitte
e* meinen foltert, toenigften* fab man fie alle Sage in ©quipage „in bie
Sßraji*" fabren — eine triebt unfeböne, febr elegante ©rfdbeittung, ben
beiben ©aoalieren mar fie fd)on angenebm aufgefallen.
©od) nun bitte fie fid) au* betn genfter beti"*geftürjt.
©ie mar niebt tobt, regte fid), fd)lug große, unheimliche 2lugen auf.
Gin unarttfutierte* ©tammein — bamt mochten £* ©d)merjempftnbungen
fein, bie fie aufftöbnenb toteber in Dbnmadjt jfinfen ließen. 211* man fie
fd)on im £au*evngange hatte, rourbe ein alterer, £err Isoctor angerebeter
$err an ifjre ©eite gefd)oben. „$n bie Jülinif," befahl ber nacb roenigen
©ecunben. ,,.<öolt bod) it)re ©ebroefter — ©laoierlebrerm, SRotbegaffe 4
OTobeblumen.
257
wohnhaft," fcbrie eine Stimme aue ber Portierloge, $emanb mufjtc bie
(benannte aber fdjon benachrichtigt haben; fie war e$ wobt, bie jefct bie
lebenbige flauer um bie UnglüdSftcittc burcbbracb. (Sine fchmäcbtige ®es
ftaCt in fdjtotternbem Siegenmantel, ein fpifceä öefubt hinter jerfd)lifenem
Schleier — aber 93eibe$ uon ftoifcbem töletcbmuth in Haltung unb 2lu3brucf
ber Stataftropbe gegenüber! SemerfewSroertb.
Unb fie fprad) ein paar ruhige 3Bort; mit bem 9lrjte, bicfe Sdjwefter.
Präger follteu mit einem tfranfenforbe fommen, bie Herimglücfte ju
fiolen — unb fcbjcfte fid) bann cbenfo rul)ig an, in einem SBinfel bc$
eleganten .'oau-jflurS eittftweileu eine 9lrt ^ager für biefelbe Ijerpftellen.
Sie beiben ßaualiere hatten natürlich ritterlid) &anb angelegt unb
tbaten e£ aud) jcfet. «Sie ftänben überhaupt ganj ju be§ gräuleinS
Stenften, uerfidjerten fie mit fo ooHenbeter ,§öftid)fett ber oerfümmerten
fabenfd)einigeu Glaüierlebrerin, wie fie e-3 einer Same ber grofeen Sßelt
fletban haben würben. Sabeli^.
^enc banfte furj. Ser eine betnerfte bamt nod) ftüfternb, bafs ber
Sturj @ott fei Sanf »erbältnifemäBig gut abgelaufen ju fein fdjetne; e§
foHte ein btecreter £roft fein.
„Sef>r gut," triefte baä 2Jcäbd)en ba — fie maß plöfclid) bie ganje
Grfdjetnung bes Spred)er3 mit einem fd)arfen 33tt<f — „febr gut. Senn
erftenS fann fie immer nod) fterbeu. 3™e'teU!?/ loentt fie nid}t geifteS*
geftört ift unb fein Krüppel bleibt, wirb fie nun üieUeid)t eine 33erüljmt=
fjett. Unb enblid) wenn 33eibe* ober ßines »on 93eibem ber $all ift, nun,
fo gel»t'$ aud) nur in einem @lenb bin."
(Sie tjatte Ijart unb langfam unb beinafje, als fage fie eine Section
her, bie fie febon lange auSwenbig tröffe unb unwillfürlicf) aud) einmal an*
bräd)te, gesprochen; nun famen bie Präger; fie wanbte fid) ibnen ju. —
?fad) wenigen Minuten mar ber elegante föauäflur leer. 9Iu# bem
Änmil, ber fid) bem büftera fletnen 3l,9c nad)fcbob, löften fid) bie beiben
.perren unb feisten ihren alten 2Beg fort. Sicemal hatten fie TOdjtS 5U
bemerfen. ftm 6af6 tranfen fie Sect — beutfdien; feit ber franjöfifdje an
mafsgebenber (Stelle au* bem Sattel gehoben, mar jener jeitgemäfe.
6t febfiumte — unb f»at feinen 33obenfa^, fo feiten bie Srinfer aud)
(rtwaS bar>on gewahr werben. SBemt ihnen ba-> aber ja einmal gefdhieht,
fo empfinben fie cö natürlich unangenehm — ungefähr fo wie bie beiben
3ed)er an ben .rierlicbeti blumeugefd)mücften SHfcfjleitt beef Sid) beS Gaf6
^mp6rial ben ©inbruef ber Scene empfunben hatten, bie fie eben mit»
erlebt.
Sie waren übrigens febou ü6er benfelben hinweg, fteeften auf einmal
bie Äöpfe bid)ter jufammen. Ser Sine erjäblt bem 3lnbern eine ganj Keine
$ofgefdhid)te — babei ift es mitunter fing, bie Äöpfe bidhter stammen*
jufteefen — weldje eine jugenbliche .slünftlerin, beren Talent in ftrage ftanb,
bie aber mit hohen Aufträgen beebrt würbe, jnr .^etbin hatte . . .
528 £jans fjermann in Breslau.
3urifd)en ©djaum unb SJobenfafc aber freift unb perlt bet flare froft-
»oHe SBein. Unb baä ift gut.
Slufeerbalb bet ©tabt Ijatte bie ©aoolcabe vorhin ein nod) f<f)ätfete*
Sempo angelegt; bie in ba3 ÄopfgefteH be§ Samenpferbes geftccfte Slume
lag batb am Sßegranb.
2)urd) bie Suft id»roirrte ein ©eiftdien. (£beu ^atte e£ auf beut
Ernftallranbe eineö ©Ijampagnerfeld)« im Gaf6 3mp6rial gelrotft, balb
golbig fd)iUernb unb fcbön, balb afdjgrau unb Ijäfilid), immer bie SSarfen
aufgeblafen wie ein SBofaunenengel. „3eitgemäft, seitgemäfs," §atte ti
alfo genüft unb fid) in bie Sruft geworfen. „D 3eitgeift, ungefdtfacbteter
©efette, nidrt anberä $u pacfen beim wie bie ^pramibe be3 ßgeopä oon ben
£änben eineö ©äuglingä, uerliere ®id>, verliere ®id) — vor mir, bem
©eiftlein beä 3eitgemäfjen, 3wtßemäfeeit — beffen Domäne finb ©djaum
nnb SBobenfafe, ©ä)aum unb SBobenfafc — benn bie finb d)arafterifnfd),
mobern, — djarafteriftifä), mobern mobern — "
Unb babei ttatte e3 bie 33aden nod) einmal tüdjtig aufgeblafen, unb
nad) bem flaren, perlenben SBetne t)atte ei gefdnelt mit fd»eelen SMiden.
•Öier in ber freien 3?atur war eä »iel weniger aufgeblafen. ^löfclid)
aber ftürjte e3 fid) auf bie 33lume f)erab: „©u rotrft aud) mit in ben
33obenfa& geftampft roie alle bie anbereu lieben, buftlofen, djaraftciiftifcben,
mobernen — "
„2lrmen," läa)elte ber SDconb mitleibig, unb fie in ifjreS Tafeittl
le&tem ätugenblufc noa) oerflärenb , füjjte er fie mit feinem reinen
£hnmel3üd)t — weil fie bod) trofc allebem eine 33tume blieb.
Slbcr baä roar in ben Singen bes ©eiftleinä, bas> bie Sinne pralp
lerifcf) hinter fein Df)r gefteeft £>attc, ebenfo undjarafteriftiid) unb unmobern
roie ber flare, fraftoolle SBein srotfe^en @d)aum nnb s8obenfat.
2Tlont Saint ZHidjel.
Don
UUcfjarb 25ecft.
gtnitfau i. S. —
jtt weiter SJudjt be8 blauen 3Weere3 erbebt ftd) unweit bct Säfte ftranfreidjg, [üb»
QjQ tueftlidj bon btr §aicnftabt ® ranbitte, bort, ho bie Warfen ber S3retag!ie unb
bcr Mormanbie einonbtr berühren, wetten über bie unenblidje ebene fidjtbar bcr bjftorifdj
benfroürbige, in Sage unb Xidjtung bieibefuncene SDtont et. 3Ridje(. Strohe unb
Sßalaft, SBurg unb ®efängniß, SHoftrr unb $>örffein finb auf bem ®ranitfrget mitten in
ber See auf» unb äbereinanber getbürmtj; bie Warfen goflbifdien ^feiler unb Streben,
ebebem in einen fptfcen £burm&elm enbenb, geftalten bie ©Ubouette pbramibal unb ber«
leiben bem [gangen ®ebilbe ba8 wunderbare |8tu8fcben einer romantifdjen ^elfenbura,
eine« berfteiiierten ©dbloffeS, eine» ,2Eunber8* unter ben SSauwerfen bon ÜWenfdjenbanb.
3n Sjronfreidj aI8 ÜBallfabrtSoit feit me^benn lfOO 2<uV«n bod) gefeiert unb Ifingft
ein 3uflP* wften StangeS für bie reifeluftigen SBctoobner ber beiben Ganaltänber, bat
ber [S9erg .etwa feit einem Safcrgelmt aud) in ®eutfcfjfanb feine SBercbrer gefunben, ab
unb gu fd;aut man fein Sitb in einer unferer größeren tüuftrirtcn 3eitfd)riften, bie unb
ba lieft, man einen mebr ober weniger bbantafttfd) gefdjriebenen «Jeuidetonartitel über
„baS SBunber be8 Sonate".
ftür ben [©djreiber biefer Stiltn, bcr bie Oftergeit in SßariS berlebte, ftanb eB
bon bornberein feft, bie lang erfebnte Statte gu befudjen, bie officieHe 9Rittbei(ung, rafs
bom 8. iSIptil ab 9tunbretfebittd8 mit 6tägiger ®iltigfeit gtoifdjeu $ari8 unb 3Ront
@t. SRidjel auggegeben würben, gab bie befte ®ewäbr für eine möglicbft bequeme SJer«
Wrrtlidiung beB $(ancS, toenngleid) fü bie SOufton, etwa eine fclige Debe menfdjenleeren
SafeinS gu betreten, nnbarmbcrg'g jerftörte. SSber fdjön unb gro&arttger Steige bott ae=
ftaltete ftd) tro&bem bie unternommene ^abrt, unb begünftigt bom berrlidjften in ogurner
SBIäue über bie teuren unb bie SDteerftutb fid) wölbenben Di'terbimmel, bat fle bem
Dtetfenben einen unau8lofd)tid>en Sinbrud bjtnterlaffen.
'Ulan benufct gu bem SfuSffage, ber fid) in brei Xagen brquem madjeu läfst, ben
©rbnetlgug, ber in $ari8 auf ber gare Montparnasse früb 8 t% 30 SRin. aißtljt.
Die SBabn burdjläuft gunädjft bie SJanlieue ton SßariS unb mit ibr bie etngig lanb»
fdjafttid) reigootte ©trede. §at man ben (Siffeltburm au8 bem ®efidjt berloren, gur
Stedden ben legten SBIitf auf ben SönigSbalaft bon SBerfailteS unb bie Slbollo«
260
Stidjarb Secf in gipicfau i. 5.
f ontatne im Spart geworfen, fo füljrt ber 3»8 bittet baS einige einerlei bei 9lormaiibte;
nur bie Iteblid) gelegene ©tabt ®reur. mit bei teeitbin jtebtfcaren ©rabcapelle ber
Orleans, bie bie irbtfcbeu Ueberrefie beS le&ten SönigS aus bem $aufe SBbüipBS (SgaUte,
ßubmig $6itippS birgt, bringt eine ttiiüfommene Slbtredjfetung in bie ebene fianb»
fajaft, bie Woljt frudjtbar unb obfrretrt, (Süter unb ©eböfte in äHenge jeigt, aber im
böc&ften ®rabe eintönig unb ertnübenb auf ben 9teifenben mirtt. 3n Strgentan fjält
ber 3"fl }U (urjer äNütagSrafr, bann ßet)t'-s in rajenbem £empo reeiter bureb, gleicb ein«
förmige Xriften bis gfotlignt). J&ier gweigt eine (Seitenlinie ab, bie ben Steifenben
feinem 3tele jufä6,rt; er ecteitft junäd)ft 2lBrandje8 unb fommt bamit in bie 9Jäbe
beS ÜJieereS, fdjon fest ber ©eeroinb ein unb tünbet burdrj fein SBroufen, baß bie Jrüfte
nlcbt me&r fern ift. ©8 lohnt fiefo für ben SBanberer, in SlorancfjeS auSjufteigen, ber
Ort ift bott Bon biftorifdjen Stimmungen. SiS 1498 mar er in enalifdjem SBtfifer int
älufftanb ber SBeitböer wäbrenb ber großen Mebotution eroberten bie SRebetten 1793 nasb
idjroeren Opfern baS ©täbtetjen, in ber Siattjebrale, bie ftcb auf bem ©ipfel eines £ügel3
erbebt, beugte ber ftönig Don (Snglanb, ber ftolje § ein rieb, II. feine Snie bor bem 91b*
gefanbten oeS $apfteS unb bezeugte bemütbiae SSu&e unb Bleue für ben an bem (Srj»
biftfjof »on ©auterburb, XljomaS SBedC et, Berübten SDlorb. pr ben ©efcbicbtBforfdjer
birgt bie !8ibIiotf)ff beS $ötel be Sitte reicfje banbfäriftticfje ©djäfce, 15 000 Söänbe, bie
efjebem auf bem SJlont St. 2Jlicbel ruhten, ©teigt man auf ben fcügel, ber bie Äatljes
brate trägt, fo bat man weite Umfiajt über bie S3al Bon ©ranbilte, Bor bem äuge beS
»efebauerS ergebt fiaj in ber gerne ber 3Ront @r. Wiebel unb mad)t wotjl ben SBunfdj
rege, fcf»on jeßt nadj bem erfeljnten ©tanb ju gelangen, aber bie $artie ift Bon biefer
Seite ber wegen ber gtuttjeer&ältniffe gefä&rlidj uno fdjwiertg gu unternehmen, mir
fe&ren um, befteigen ben 3u«. wieber unb Bertaffen ibn erft in $ontorfon, wo ein
Ziagen unfer wartet, uns naet) unferem 3<fte i» bringen.
(SS ift roabr, ber erfe&nte ftunft» unb 9?aturgenufj mufj tbeuer ertauft teerben; wir
finb mit unferem fcanbgepäcf bant: ber Beibältnißmäßig großen Slnjabl Oftergäfte auf
ein Winttnum Bon 5B(a& im 2Bagen befdjränfr, ber ÄBeg, ber mit ©efpann jurüefgetegt
nierbeu muf}, ift etwa V/i ©tunbe weit, bie gfa&rt gefjt burtf) eine wiiflidie SBüftenei.
in ber felbft baS bicfjt am ©tranbe gelegene £orf SWoibre« (eine Oafe abgeben fermt; baju
ftreicrjt über bie faltige burdjgebrannte Sanbftraße eine frifebe ©übbrife unb überftf üttet
äSkgen unb 3nfaffen mit Saften weißen ©taubes unb fdjweren ©cbmufceS. 9Jad) 33er*
(auf einer SBiertelftunbe (üften mir ein wenig bie faiweren SBorljänge aus ©egeltucb, ba
liegt bor uns in ber ftferoe im SDieer ber erfet)nte ÜJionf. ©djon ff ben wir bie gotfjifcben
©treben; wie eine Sßnramibe im ©ounenlicbt funlelno unb glieerab ragt 'er in ber
weiten tjtutij, immer Detter unb größer tritt ber SJHdjelSberg ju läge, ffurj Bor bem
SDteereSftranbe gewinnt bie 3Üufion botteB ßtben, fo mag bie 3flw»et6urg SKontfalwatich,
fo ber »rünfiilb ®urg auf Sfenftein in ber SBfjantafie ber b,öfifa)en Siebter auSgeieben
baben, wie jeßt bfe breitbafige, mit ©äufern, SWauem, Stürmen unb 3wnen biebt be«
feWe SWaffe! — Sinft lag baS ©tanb, auf beffen einer ©eite gar ein ©tücfcben ffiatb
©emäuer unb ©eftrebe burct>ittäd)ft, rings com 3Reere umgeben, ber bequemere Steife
eomfort bat gelS unb üanb mit einer feften 35igue, einem Sei*, berbunben, auf bem
ber Äeifenbe fonber 8ä§miB im SQSagen r)inübergetangen tann. 9!ur um jur Xorfgaffe
am Ju&e beS Reifens }U fommen, mufj ber Sßogen oon ber Dtgue Huts abbiegen unb
burd» ben 5Keere$fanb, ber je&t troefen ift, — erft gegen Stbenb fommt bie JJtutb; —
feinen (Singang jum Sorfe fudjen. SIbwecbfelnb wödjentlid) berrftbt ;^ier gro&eS unb
Keines SWeer, gwehnal tägllcb fommt bie gtutb, iebeSmoi 6 ©tunben an&attenb, bann
liegt ba« Silanb bon ben 2Bogen umtoft. 9fodj tag ber 3«flanfl jiemltdi troefen ju £age,
als roir cinfuf/ren unb an einem alten großen ©teintbor, ber wabbengejierten porte du
roi, beren üöogen bie Storfgaffe überfpamtt, §att matbten. 3e&t überfebauten wir autt)
Dorf @r. hiebet, baS unter bem fieberen ©dra&e mäd)tiger ©teinwätte, gefrönt bon ber
ftrinen $farrfircbe, am Sn&e beS iöergeS fid» fcbtangengleicfi binmmbet.
ItTont Saint OTidjel.
Seit langen Sagten fwfinbet iidi bei eifte ©aftbof im Sfötfdjen tu ben §änben
ber gamilte ^oularo, b. b- Sßoutarb ante, benn e8 giebt auch nodi eine ganje Sin«
jat)l anbetcr ©aftfjäufer unter betfelben girma, bie aber beS originellen Sltiftridje« unb
ber SJorjüglicbfeit entbebren, bie jener Verberge eigen ftnb. S>r erfte gintritt in baS
wobnlicbe §aus, ber mädjtige, granitene ftamin, in btm ein Sßaar fräfttge §ammel«
gigotS am ©pieBe fdjmorten, rief alte, liebe Erinnerungen an ©apii wai>, unb als
SRabame SPoularb uns patriardjaltl'd) unb aud) mieber tout moderne, empfing, beroifl-
fommnete unb bie 3tntmer anwies, ba mar man fofort tuie su §auie. Sieber ßefer,
(emtft S>u auf ©apri bie betannte ffneipe gum ffater ftioigeigei an ber $tajja beS
SHeftchenS? Jtennft £u ba ben ©tgnor Sßabione unb ©ignora Sßabrona? UeberjeSe
Dir Söetbe in'i grangofifebe, unb 3)u baft SKonfieur unb 3J!abame Sßoularb bor 2>ir.
©o bebeutenb ift ber (Sonftuj oon gremben auf bem felfigen ßtlanb, bafj uufer £ötel
gtoet S)epenbenjen, ba« „rote* unb baS „Weiße" &aus, tjat; mir erhielten unfere Sobnung
itt erfterem, etwa 50 ©tufen gum £betl oon febr gioetfelbafter Qualität führten uns
berauf; fo erbieltcn mir einen Storgefdjmacf ber morgenben Äletterpartie. $cr£Binbmar
io beftifl, ba% mir beftänbig (Mahr liefen, unferer fiopfbebcefungen beraubt gu werben.
Oben angefommen, wies uns 3Karie, ber emfige bienftbare (Seift beS $aufe8, immer im
fdjtoarjen ftteio, ben flopf mit bem blenbenb weißen normanntfcfjen §äubdjen bebeeft,
unier 3'mmer an, baS aujjen ein SBalto» umlief, ber eine monuige 2lu8fid)t auf baS
SWeer unb entjütftnoe (Stnfidjt in baS ©ewirr alter Käufer geftattete, baS am guße beS
SöergeS fleh ausbreitete. (Sin unentbebriicbeS Stequiftt ber (Sinridjtung unfereS 3immerB
bilbete eine Sßapierlatente, ben 2£eg über bie felfigen, ausgetretenen ©tufen binab nacb
bem ©peifefaat gu beleudjten. SRadjbem mir uns pon ben feft baftenben ©taubmaffen
gefäubert betten, fliegen mir unfere geistreppen binab, bei bem mebenben SBtnbe
roabrlicb fein IeicbteS ©tütf Arbeit, unb matten einen Slusflug in bie 3)orfgaffe. SBelaV
ein intereffanteS ©emintel! ©cbmalbenneftent gletd) febeinen bie Käufer in bie mädjtigen
geftungSmauem eiitgeflemmt, bie gepftaftette SJorfgaffe Pertitft ftdj in ber SWitte, um
bem SKaffer unb bem Unratb SJbflufs gu geben. £aS gange 3>orf ift ein großes $ötel
unb ein gro&er 2?agar, in bem man Slnbenfen an ben ÜDiont ©t. SKiajel in jeber
Qualität laufen foQ, $oft unb Xelegrapb, bie fieberen Stenngetcben mobemer (Sultur,
fehlen ntcöt |unb fteben in feltfamem ßontraft gu bem ©tütf edjteu 3RittelalterB, baS
unferem S3licfe fid) barbietet. UnS gu weit ton äHabame $oularb8 gaftlicben Räumen
gu entfernen, oerbot bie bereinbredjenbe Snmfelheit unb ber nabe beoorftebenbe beginn
beS Einers, baS mir uns beute reblicb Perbient batten. Sei ber SRütffebr gur porte
da roi gemabrten mir aueb febon bie §lutb, Wildje je&t bte 3nfet mit 2lu«nal)me ber
$>fgue umbranbete. Sei 3Hfd)e maebte bie Stau SBirtbm bie ftonnettrS, mäbrenb Die
beiben Xöcbter beS Kaufes, bie in Toilette unb grifur bie $arifer ^Benfion, bie Tie be«
fuebt batten, nicht Perleugnen tonnten, bie ©peifen baumreimten. Sftacb Xifaje Pereinte
ber ffaffee um ben 8tiefen(amm eine wefenttub ang[o>frangdfifcbe ©efettfebaft, S>eutf<be
formen nur fetten hierher. 9lad) 10 Übe toarb bie Satente ergriffen unb ber luftige
SSJeg über bie Xreppen nad) ber äBobnung angetreten; bie Ofternadjt mar fternenbell unb
monbbei'rrablt, fie liefi ein b«rlicbeB SBetter gur S3efid)tigung ber geftung unb beS
^etligtbnmS oon @t. 3Rid]et ermarten.
SSon 9 Ubr SBormtttag ab werben ben Ofremben bte Saultd)teiten gegeigt, eS hatte
ftd) eine giemlid) gablretdje ®efeöfchaft gufammengefunben, unb bte Sletterpartie follte
ieftt beginnen, guoor aber warb ein ©pagtergang um bie Ställe unternommm, bie eine
Otribe berrltcber SluSfichtSpuntte über SKeer unb Süfte bieten. 5)te bentoürbige ©efdjiebte
unfereS (SilanbeS beginnt mit bem Sab« 709, ba Söifcbof Hubertus Pon SlurandjeS
bie große ^btei gegrünbet baben foH, 763 einleiten fie bte SSenebittiner, beren Siebte
fie %n jenem mertroürbigen SBunbermerfe ausbauten, baS beute ben gelfen bebeeft ;
romanifche Waffen ^mit gotbifeben im bunten, mirren SBecbfelfpiel, fpifebogige ©alerieen
unb ®tebel, Stefttcerfe oon gialen unb SBimpergen Heben am ©ipfel unb an ben ©etten
262
Htdjarb Setf in groicfau i. S.
beS S8etge8. Sie Ijiftorifdjen ffirimterungen finb natürlich aufierorbentlidj teid) unb
mannigfaltig, fte brängen fid) best aSefcbauer bei iebcm Stritte auf. 3m großen
100 Jährigen ftriege gwifcben granfreich unb @ng(anb naib baS J&eiltglbum gut gfeftung,
bie Don ben (Sngläubern oft bergebenS beftürmt unb burd) ein auf ber Deinen Sfacbbar*
tnfef Xombelaine angelegtes 3rort ohne ©rfolg bebrobt roarb, bie S?efte tft immer
jungfräulich geblieben, nie Dom (Jeinb übettounben werben. 1469 warb auf ber 3nfd
Don ftöntg ßubwig XI. ber Orbeu beS (jeiligen iWtcbael geftiftet. Sange Qtit, nodj
bie in bie Witte beS borigen 3abr&unbertB, galt bie Slbtei au* als ©taatSgefängntfe,
aus bem ein ©ittroetdjen tticfjt möglid) war: hier fcbmacbtete im eifernen Räftg auf 93e=
fehl ßubrolgS XV. SSictor be la ©aftague. Bis ;gum Sah« 1886 trar ber Berg
SOkafabttSott, feitbem finb alle Sauten bafetbft ber SBerroallung beS SDiinifteriutnS ber
fronen Jtünfte unterftellt, bie äBaüfabrten haben aber beSbalb nld)t aufgehört, fonbern
finbcn nad) ber mit beu uralten BrocefflonBfabnen reich auSgefcbraütfteu Sorffirebe brr
3n|'el ftatt, bie als böcbfteS ^eiltgthuit bie nufifa filbecne ©tatue beS bradjentöbtenben
©rgengelS birgt, bie einft bie Slbtei gierte.
£>k UnbUoen ber SBitterung, benen bie Bauticbceiteit beS Berges ieber 3eit aus*
gefegt fmb, erforbern fortwähre«« Stebavaturen unb machen baS äBunber wm ©t ftttbel
gu einem febr teuren SBefiee beS frangöüicben ©taates. ©rofje Baugerüfte' fehlen biet
nie, fie geboren gum ©efammtbiloe ber ßocalität. ©ämmtlicbe Beridjtetftatter überbieten
fid) in ber ©dnlberung ber Slnftrengung, welche bie Berichtigung berurfacbte, Bor allen
Singen ber Dielen hoben unb fd)led)ten Srebpenftufen, bie man babei hinauf» unb binab>
jutlettern bat. ©ewife ift bem fo, aber eS liegt in biefer Slrt Befragung gerabe efat
gewiffer 9teig, gubem wirb man burd) eine Slngabl ber fdiönften SluSblicfe für baS müh»
feiige Stuf« unb Stieberfteigen wenigstens etioaB entfdjäbigt. Selber ift eB augenblicf«
lid; gang unmöglich, bie berüchtigte Plattform, bie einftmalS toobl ben boten Sfmtm, ber
baS (Sange frönte, trug, unb bie befannte „©pi&enrreppe" (escalier de dentelle), fo
genannt wegen beS reichen gotbifchen SJca&rcerfeS, baä fie gierlid) wie Spinnwebe fdjmüttr,
gwi[d)en bem @ewirr ber Strebebögen unb gialen beS (SborcS gu erfteigen, benn auch
hier finben weitläufige Weparaturbauten ftatt, bie baS fchtauffteigen oerbieten. ©o«
mit ift auch bie @efäbrltd)(eit ber Befteigung, bie gu fcbilbern bie Steif rbefebreibungen
nicht mübe Werben, in bog 9tcid) ber fjabel Derlegt. SfiaS man aber ficht, ift wahrlich
intereffant genug, um bie Begeicbnung „Merreille" für einen £&ei! beS SRiefenbaue» gu
rechtfertigen. 2Blr gelangen gunäcbft in bie ftirdbe, bie im 11. 3abrbunbert Dom STbt
©tlbebert II. begonnen, 1138 boHenbet würbe, natürlicb im romamfeben ©til, ben
emgelne Xfjeile beS ©ebäubeS noch, beute geigen. [JJeuerSbrünfte [unb (Smftürge er=
forberten einen gotbifeben Neubau beS hoben SboreS. Sllte ©cutpturen gieren noeb bie
SBänbe ber Äird)e, wir gewahren eine febr begeidjnenbe Sarftellung be» ©ünbenfatt«
unb in Otelicfbarftettung ba8 ©ebiff ber Strebe auf ben SMen fcbautelnb, ein ©etteiu
ftücf gu ® tottos ScabiceKa. Sin bie ftirebe fdjliefjen ftd) berfcbUbcne ©öle an, fammtlid)
nur burd) SWaffen bon treppen nnb ©tufen erreiebbar, unb ber berühmte gierlicbe Äreug«
gang, beffen ^ängebreietfe über ben gefämpferten ©äulencapitälen mit rounberboffen SBanb»
muftem, jebes anbers, gefdjmücft finb. |3)ie 3nnenfeite beS ffreuggangeS bedt leiber
ein moberncS 3iegelbad) in febreienoen bunten färben, ,baS gwar baS gerft&rte) ®ad)
genau ttaebabmett fod, aber bureb ben (9lang feiner SReubett unangenehm mit beut ehr*
würbigen alten (Bemäuer contraftirt. Sie gange fflirebe febeint am greifen gu Heben, bor
3ufammenbrud> febtrmen fte, inSbefonbere ben hohen (Sbor, burd) bie $rad)t feiner Uetail»
ben ^auptgierat beS gangen SSergeB, loloffale Unterbauten oon einer ©röfje unb ©tärte,
wie bergleichen nur noch in Slf fif i, in ber ®ruft(ird)e beS heiligen gfrang, gefunbea werben.
Sie ßaft ber fiirdje tragen |bie „gros Piliers", bie biefen 18 gufe im Surchmeffer
baltenben $fetler, gu benen [man burd) eine lange £reppenftud)t gelangt. Sie mrfften
©ewBlblatnmem biefer ©ubftructionen finb nun gu Flu^räumenCberWenbet, bie wiebrigften
berfelben finb: baS SPromenoir ber 3J}ön<he, ein fübleS ©emacb, bon mächtigen ©äulen
Jllont Saint OTtdjel.
263
geftü&t, auf benen weitauälabenbe ftreujatwöl6e rnljen, ferner bie S rtjbta beS Slquilon;
enblidj befinben fid) biet aud) bie fdjauber&aften 9täume bei ©efängnifie für ©taat8«
üerbredier, in bie ebenfoirenig, tote in bie entfe&lidjen ©efängniffe im ffiogenbalafte Don
SBenebtg, ein StdjtftrabI fid) Derirren tann. SBeitere ©tuftnfolgen führen jit bem £ft ef ec*
torium, bem ehemaligen ©belfefaale bet äWBndje, weldjeS gaei Stiefenfamine jieren; gur
Salle des hötes, bem Kaum, ber jutn Snwfang bei ©äfte kftimmt aar, ben Ietcrjtcre,
berbältnl&mä&ig gierlid) au8(abeitbf, bon bünnen Sßfeilem geftüßte ftreuggewb'Ibe tragen.
(Sine abermalige Sretbenffudjt geleitet in ben SRitterfaal (la salle des Chevaliers),
eine berrltdie gotbifdje Salle, bie elf fotoffale Sßfeiler in Bier ©drfffe trjetlen, boflenbet
anter bem lunftrmnigen »bte Sbomaa De8 SbambreS (1218—1225). 3" Metern
©aale fHftete 1469 Jtönig ßubtoig XI. ben Orben beS betligen Stengels 3Jlid)ael;
wenn aud) ber ©ig beS Orbene-fdjoit 1557 nad) SSincenne8 »erlegt würbe, fo erhielt
bod) ber Saat Bon bei ©tiftnngSfetertidjfeit feinen tarnen. Unter bem 3iitterfaal wölben
fid) bie weiten ßeHerräume, beftimmt, Sßtobiant unb ©etränfe in großen SWaffen aufgu»
neunten, um langen SSelagemnaen irofc }it bieten, tsie fie ber SUiont ©t. ÜRidjel im
bunbertjäbrigen flriege ber beiben Sanalmädjte fo oft aushalten tjatte.
9cad) anbertbalbftünbigem, mübfeligem herauf« unb $inabf(ettern Saufenber bon
©rufen gelangten wir loieber in'8 greie mit bem SSeteu&tfem, ein ©tuet SRtttelalter
gefeben ju baben, wie e8 fo auSgejeidjnet etbalten nidjt bäuftg in Suroba Borfommt.
Stadj einem trefffidjeit Dejeuner, bei bem bie bifiorifebe Omelette nid)t febltf, tebrte ber
größte £bei( ber Slnirefenben bem gafttieben $aufe SMabame SßoularbS Bieber ben Süden,
um neuen Oftergäften Sptaö 3" madjen. 9hir ju balb batten wir bie fbantaftifdie
5Pt)ramiöe beS unoergleldjltd) malerifdjen S3erge8 wieber bmter unS unb fubren nad)
©ranoüle an ben SDleeteSirranb, um bon bort aus am nädjften Sage ben ©djneHjug
wieber ju befteigen, ber uns in jä&tr (Sile wieber nad) ber franjofifdien ©aubtftabt
fflt)itn foQte.
3Uuftrirte Bibliographie.
3cvcmias «uttljclf, «uöflcwäftlte «Seife. 6rfte iüuftrtrte 5)3rad)tau8gabe. 9?adj
bem Drifltnalteste fjeraufcgegeben Don Sßrof. Otto ©utermeift er. SJorwort öon
Dr. fl. ©djenf, SDiitglieb be8 febweij. SBunbeBratbeS. 3JIU 200 3Huftrationen oon
21. änfer, »Ochmann, 20. SUgier. <Sbaur.=be»gonb8, »erlag öon (?. 3a&n.
©in angefe&ener fiiüerarljiftorifer unb Siebter weift in feinein in biefem $efte Oer«
bffentlicfjten Sffat) gegenüber ben ainfprüdjen ntobemer litterarifdjer DeePoIutionfire, als bie
Vertreter einer neuen, auf mefentlidj anberen ©runblagen rubenben Sidjtung betrautet
ju werben, barauf f>in, baß bie 2Bei8belt *en SlfibaS auch auf bem lüteratifd.en SRarfte
(Seltung babe. £er gortfdjritt, ter in ber mobeinen SBettegung tiegt, foll bamit geanjj
nidjt in Slbrebe gefteQt werben, unb ibre SluSteüchfe türfen uns nidt blinb machen gegen
bie »erbienfte üjrer Präger. $>af> aber biejenigen bou i^nen, welche glaubten etwas im
SPrincipe ganj 9leue8, nodj nicht SagewefencS ju serfünben, in fdrtrerer ©elbfttäufcbung be-
fangen toaren refp. fmb, baf ür liefert ©ottfd;alI in feiner parallele gtetfcfcen ben „SHobernen*
unb ben Stürmern unb Prangern bc8 vorigen ßoWwntertS febr lehrreiche SJeifpiele.
Slucfi ber Siebter, mit bem wir uns anlä&lich einer SReuauSgabe feiner SBetfe Wieber
ju befdjäftigen angeregt werben, tonnte als äöeiiptel bieuen. Sil« ber als ber S.!ater unb
ba8 föaupt beS ejtremen i)ieali8mu8 gefeierte (Smile 3<>la geboren würbe, im 3abre
1S40, waren bereits mehrere Sränbe ton einem Schweiger Siebter crfchteiien, ber halb als
ein 3)ieifter realiftifcfcer Saiftctluug unb al8 ein epifcreS Talent elften StongeS gepriefen
Würbe. Sa, ter Steatigrous SeumiaS ®otthelf8 ober Sllbert SBifciuS' ift mitunter fogar
fo träftig, fo urgcnirt, bafj ber wärmfte 2?erebrcr 3»IaS bauon befriebigt fein tonnte ;
bie befannte Schtlberung be8 SampfeS ber beiben mifttriefenben SHägte in „Uli ter
ftneeftt" löunte üon bem franjöfifdjcn 2J!eifter ße[djrieben fein; unb in ber übermäßigen
23erüdTid)ttgung be8 befcriptioen ©lernen t8 fleht ihm Jeremias @ottt)e(f nicht nad».
greilicb, im allgemeinen geilt fieb ber 8ceali8mu8 ©ottbelfS oon ben SRafäojtgfeiten
3oIa8 frei; er ift nidjt einfeitig auf bie SRaditfeiten unb bie pachologttchen ©rfdjeinungen
be8 menfdjlichen 2eben8 bejehränit; ber Schweiger Pfarrer, ber in engfter »erübrung
mit bem Sauern gelebt, fehilbert ta8 läublidje Sehen gang anbeiS unb fitf,« nicht
Weniger trabr unb treu, al8 3°to e8 in feinem »on ©räueln erfüllten JHoman „La Teire*
getban; anbererfeitS ift feine ratoe, realiftifcbe SBibcrfpiegelung ber bäuerlichen SBeit oon
ber fentimentalen Sluffaffung be8 burdj bie üöriHe beS Spinogt8mu8 blicfenben 2?ertboß>
Auerbach, beffen ©rfolge auf bem Gebiete ter Sorfgeichiebten in bitfefbe 3«it fallen,
meientlld) berf Illeben.
1
266 Zt»rb unb Sfi&.
3it 3etn«ia8 ©ottgelfS ©c&riften ift »um ©cbaben ibrer lünftlerffdjen SSirfung
neben bem Stifter febr häufig bei SParteimann unb bei $rebiger Ie6enbig: lang ans*
gefoonnene SBettacbtungen, paftorale Srgüffe, breite, rnxfen4cbrbafte Söefcbreibungen unter»
bleiben bie fcanbtung unb ermüben ben ßefet; unb bie iSejtebungen auf $erfonen unb
^uftanbe aus bei näberen Umgebung beS $)id)terB, bie aueb nui biefet Dertraut nnb
üüeteffant toaren, baben bem Sidjter in bei SBertbftfjäfcung unb bei bauernben Sanft
bei bem nidjtfdjtoetgertfdjen beutfcfjen publicum flaifen Slbbrudb getban. S)iefe SHänfld
baben eS and) oerfdjulbet, bafj ©ottbelf, taum Biergig 3abte nadj feinem Xobe, au&er*
balb bei ©renjen fetner engeren ftttmat mebe jene mumienhafte Unfteiblidjfeit in ben
£itteratutgefd)id)ten, als jene lebenbige Unfleiblfobfeit, bie in bei foribauemben, unmittel«
baten SBtitung bei SBerte auf empfängliche @emütt)er beftebt, geniefjt Unb ba« ift §u
bebauem, benn ©ottbelf ift mit allen feinen ©djaiädien ein b«oonagenbet epifebet
Siebter unb ein SSoH8fd)tiftfteüfi elften Stange«, ber al« foldjer erjiebeub unb etbebenb
ffliabtli a\i 5rau S4ulmci(ler.
8us: Jeremias rtoitjelf: „8u8flen>a$lte SBerfe*. SOufttitte sprac&tauäaobc.
Vetou*8'B«l"« »on *tof. D. ©utermttftet. JBertag Don %. 3 "fcn. SSoupbe^gonbi.
audj beute nod) ju Wirten bermag, wenn man ibn in reiner ©eftalt, in bem toabren
©efialt feinei Watut bem SBolte nabe bringt. Unb bie« gefdjiebt bind) eine nene
SluSgabe feinet beften SEBerfe burdj $rofeffor Otto ©utermeffter. $et Herausgeber, ber
fid) übet bie angebeuteten SJiängel in ben äBerten ©ottbelfS toobl Hai loai, bat eS
unternommen, biefelben ju befeitigen, ntdjt, inbem er eine fogenannte „Bearbeitung*
lieferte — babon bjelt ibn bie riebtige Btetät für ba8 SBort be8 2>id)ter8 ab — fonbetn
inbem et einfad) jene ftörenben epifobifeben SPartieen entfernte. 2>ie8 tonnte bier
obne ©efabr ßefdjeben, ba bei ©ottbelf bie £enbeng nidjt baS Jhinftoerf birrcbbringt,
fonbern gemeinbin nur äu&erltd) angebängt unb eingefügt ift. £er Herausgebet tonnte
alfo biefe toüben Staaten entfernen, obne in ben Organismus beS SSJerfeS fdjäbigenb
einjugreifen. 3lu&erbem bietet O. ©utermeifterB SluSgabe nod) nadj einer anbeten ©eite
bin eine Bereinigung, inbem fie bie erfte urfprünglidje SeSart, ben tmberfalfebten
Driginaltejt im ©egenfafc m ben fpateren für SDeutfdjIanb fpecieU beredmeten SluSgaben
unb ju ben bietfacben Siacbbrucfen giebt.
Bibliographie. —
267
ißfarrljau» Don öiiselftulj.
Hu»: Oettmloä Wottöetf: „Suäatttfityte SBerte." SHuttriWe $ta<$tau(gat>e.
§trouSflcgcben Bon iJtof. 0. Sutermeift et. «erlag tum 3. So^tt, ^o«j«b(«3onb8.
Sie SBerlagShanblung 8?- 3«^ i» <Shauj=be»3?onbS bat baS berbienftficbe Unter»
nehmen beg Herausgebers in freigtbiger Süieife unterftüBt, tnbetn fic bie SluSgabe Bon
©otthelfS ausgewählten SBerfen gu einet borncbmen Prachtausgabe gcftaltete, bor SlHem
burcfi bie J&erangiebung breier berborragenber ©djmeiger Äünftler: 81. Sinter, $. SSadjmann
unb SB. SSigler, welche 200 dottreffttctje 3Huftrationen geliefert fjabtn. Sie SluSgabe
wirb enthalten: Seiben unb greucen eines ©djulnteifterS; Uli ber ftnecht;
Uli ber gJäctjter; Ser SJauernfbtegel; Ser (Sonntag beS ©ro&baterS;
(Slfi bie feltfame SDcagb; Sinne SBäbt 3ottäger unb erfdjeint in 20—22 monat»
lieben ßieferungen gum ©ubfcribtionSbretfe bon je 1,20 SWf. — Sie fchöne SluSgabe fei
hiermit befterS empfohlen. 0. W.
(Erinnerungen oon Datjn.
Viertes Such, 2. Slbthtilung (1871— 1888). Seitogig. Sruef unb SBeilag bon SPreitfop
unb Härtel.
9?aeb ben barfenben ©ebilbetungen ber erften Slbtbcilung biefeS SBudjeS, baS un»
baS 3a^r 1870, inSbefonbere bie (Schlacht bei @eban, meiFtertjaft gur Slnfcbauung
brachte, hätte man eine (Srlabmung beä 3ntcreffe8 für ben »otliegenben söanb befürchten
lönnen. Ser Siebter bat biefe SBefütchtung — wenn Tie borljanben fear — auf's
(Mängenbfte gu niajte gemacht; ia, ich Fann nicht leugnen, bat) biefer lefcte SJanb —
WenigftenS für meinen ©efebmaet — feine SBorgänger an gülle beS 3ntereffanten, an
SReichthum beS ©barafterifiifcben noch übertrifft. <5» ift ber «ebenSabfcbnitt, in welchem
ber Sichtet ben £öhepunft feines biebterifeben unb roiffenfcbaftlicbcn flönnens unb
Sühlens erreicht, ben fcöbepmttt gugleiaj feines ßiebeB« unb SebenSglüefeS. 3" SönigS«
berg, toohin et am 19. 3uni 1872 berufen toorben ift, ftnb faft alle bie grofjen
hiftorifchen, philofopbifcben unb jutiftifchen Slrbeiten, bagu bie bebeutenbften poertfehen
SBetfe, bie gutn 2hetl fchon in SBürgburg, ja in SRünchfn geblaut unb begonnen toaren,
ausgeführt unb boQetibet morben. Uebcrfcbaut man bie nach 3abl unb Umfang, nach
toiffenfcbaftlicber unb poetifetjer ©ebiegenbett aufjerorbentlidie SKenge bon SBerten, fo fragt
man ftcb ftaunenb: toie ift eS möglich, bafj bie Straft eines UJienfcfjen, ber baut ein
18*
268 Horb unb Sül».
fcbtoere«, üeranttDortimgSreidjeS unb geitraubenbeB Statt bertraltet, auSreicben tonnte, baS
SMIeS berborgubringen? Sie Slntoort lautet: nur, »er tote Sabn (eine ©tunbe bei
SageB, öom frühen SWorgen bis gum fpfiten Slbenb, ungeuufet oorüberiäfjr, mer bie
©tunben ber -Kufef, ber (Sxbolung auf 8 Steu&erfte befcfjränlt unb feine 3«t fo eintbeiU,
&a& iebem Sage geroifferma&en ein genau innegehaltene? Sßroaramm gu @ranbe liegt,
nur ber rotrb im ©tanbe fein, bei gleicher SSegabung gleich ©rofeeS gu fdjaffen.
Stacbbem Sahn bie näheren Umftänbe feiner Ueberfiebelung nach. Königsberg be»
richtet, enhohft er bon Sanb unb Beuten in »reufjen unb tnSbefonbere mm ber £xnrj>t»
ftabt unb ihren SBemobnern eine böehft anfehauliebe, mit föfäicbem §umor burebfeßte
©cbtlberung, bie trofc mancher fatirifdjen Stcmbgloffen Bon toärmftem ffioblrootten mü>
aufriehtigfter STnerfennung getragen ift. Kommt er bod) am ©djluffe berfelben gu bem
Äefultat: ,3n Königsberg liegt bod) moI>I ber ©chmerbunft meines ßebenS, unb meine
banfbaiften Erinnerungen gelten — neben benen an bie glücHicbe Jrnabengeit im Stern«
garten gu Wlümbm — ber lieben alten $regelftabt: gang befonbeiS auch um ber
©rinnerungen mitten, bie ficr> an meine Sbätigteit als Se&rer, an baS bergerquirfenbe
SerfjäitniB gu meinen preu&ifchen (Schülern fnüpften.*
§ier in Königsberg mar eS aud), mo er nad) Jahrelangem Kampfe mit ro&rigen
SSerrjättniffen btn »unb für'S üeben mit S&erefen fchliefsen burfte, bie ihm feine $äu«ttcb=
feit gur ©tätte eebteften, unmaängltdjen ©lüefeS machte. Sie ©ehilberungen biefc»
trauten 3ufammenlebenS unb 3"fammenaibeiten8 finb bon gang befonberer SBärme unb
Sintnutb burcbbnmgen. (Srfreuudj ift babei aud), mabrgunebmen, tote bon 3<")t i" Satjr
bie Stnertetmung unb ber 9tubm beB StcbterS wäehfi unb mit ihm guglelch bie materietten
aietrjättnrffe fldS fortbauernb günftiger geftalten. Ser gro&e ftrelS bon greunben unb
guten fBefannten, bie fidj affmäljHd) um ihn fdjaaren, bemeifen aufjerbem, bafj nid»
nur ber Siebter unb ©eletjite bie roohlberbiente Slnerttnnung gefimben, fonbem ba| man
bor Slttem aud) ben äftenfehen ober blelmebr baS Sbepaar Sahn bon bergen lieb«
gemonnen hatte.
3n bie ©cbtlberung aller biefer 83erhältniffe, bie bon beS Siebter» Stellung in ber
©efeUfchaft, in ber Untocrfität, im öffentlichen Sebrn unb in ber $olirif flunbe geben,
finb eine SDeaffe reigenber fleiner Slnefbotrn eingeflößten, bie Saf)n fo meifterlüb ju
ergäblen berfterjt. 2i$er (Megenbeit gehabt bat, ihn mirnblich folctie Staefbötcbrn bortragen
gu tjören, ber wirb tbn bei ber geetüre biefeB 83ud)e8 gemifc an bieten ©teilen leibhaftig
bor fid) feben, mie er, ben Koöf ein menig gur cSeite geneigt, mit eihobenem Seigt*
finger unb bem ernfieftert ©eficfjt Bon ber SMt bie f*elmi(cfiften SDinge gum »eften
giebt, bie allemal baS herglidjfte Sachen ber 3uborer toaefirufen. fcietbei fei auch eine»
liebensmürbigen ©baraftergugeS Sabn'B ermähnt, ben er mit manchem anberen beuiftb.en
Siebter tbeilt: feine Siebe gur Sljiermelt, ingbefonbere gur gefieberten. ©er bädjte
Bterbei nieti an bie rübrenben fllagen, bie gfriebridi Hebbel feinem ^agebuaje anBertraure
behn Sobe femeS ©ünbeb.enS unb feine« @id)&Brnd)enS?ä
l'Ittjäbrlicf) in ben großen UniBerfüäiSferieu unternimmt Seujn mit feiner grau
SKeifen nacb bem ©üben ober an bie «Rorbfee, Bon benen er maneberlei iutereffante
«ngelfjeiten gu berichten rreife. 3n biefen ge^rt Bornebmlid» eine mebrfiünbige Unter«
rebung rntt^önig Submfg II. Bon »aBern, ber ben Siebter Bon ^artenfirebm au» nadj
feinem SSernfdjlofe Sttaeben abbolen liefe. 5Diefe8 3tDifgef»räc6, in bem ber König mit
einer gerabtgu Berblüffenben Offenbeit über ©taatSoerbältniffe rnib ^erfdnlidjfeitm fid)
auslief} unb ber Siebter ebenfo offen unb unerfcfirocfen antmortete, ge&Ört gn bem
5Paefenbftfn, bo8 id& je gelefen. ©djabe, baft ber Siebter buref/ notbaenbige 8rüeffi(it«
nafjme ge^inbert mar, ein anbereS 3miegefbräcb — mit bem gürften CiSmarcI — taS
er nur anbeutunggiueife roiebergiebt, auSfubrlicb gu beriebten: ba» märe bielleiebt nod)
intereffanter gemefen, als jenes mit bem unglücflicben König.
3n Königsberg nimmt Salm auefj guerft güölung mit bem S&eater, auf bem er
iT?e' *£L-fiIona*nbe **Wfle babontragen foKte. Safe fie troftbem niebt bon Ssauer
blieben, erfuttt ben Siebter mit geregtem Unmutb. @s ift in ber Sbat niefit webt be»
areifltcb, meSfialfi feine ©tiiefe, bie abgefeben bon ibrem boetifeben ®efialt, botfi burebmea
einen ftarlen tfjtatralffeben 3«fl &abra unb ü)re ffifrfung bei efntgerma&en guter Sar»
E5SSfl ^"2?' f0 fla"» 6011 ber btutf*tn ®«fi"e berfebmtnben fonnten. «ber
Srr T r"6?'"1 ^cater tmmt mmtt Mei a«b«8", »Bie ber alte ßaube ju faaen
Bffegte, befonberS in Seutfefilanb, eS bietet Hätbfel, bie fein »erftänbiger gu Sja
Bibliograph^ d)e notigen. 269
68 liege fidj nod) biet SdtfneS unb ®ute8 übet baS borltegenbe 23ud), baS trofe
ber S3erfid)ermig be8 S3idjterB boffentttdj nidjt ba» lefcte feiner örimterungen fein wirb,
faflen; Wer mnfj c8 genügen, borauf aufmerffam gemalt gu baben: gt&t bjn unb Iefet felbft!
©efdratücft tft ba8 23ud) burd) ein 23ilbniB bcS fedjBicujrigen ^elir, ©a&n, ein
aHerliebfteS ftinberpottrait, auf bem uns biefelben Singen entgegenleudjten, bie beute nod)
bcS ültanneS Slntlifc beleben: SDidjteraugen altern eben nidjt. ferner bietet ba8 S3ud)
ein moblgetroffenes 23ilb XljerefenS mto eine SDarfteHung bc8 gemeinfdjaftlidjen Sirbetts.
3tmmerB im ©mter=2;rag&eim gu flönigSberg.
gafjt man baS ©nbeigebnifj ber fünf ftarten SBänbe gufammen, in benen ber
3)id}ter Bon feinem Seben berietet, fo mu& man fagen: e8 ift eines ber glüdlldjften,
ba8 man fict) benfen tann, boll 9Rüb> unb Arbeit, Doli teblicbften, ebelften SrrebenS,
reidj an Segen unb 6tfolgen ber fdjönften Slrt Soffen Wir, bajj nod) »tele Sab« tt)m
ba8 alte ®lud treu bleibt. — e.
Btbltograpfyfdje XZotism.
»riefe »cö «trafen »ctr&arbt öon
Sncifcnau an Dr. 3obattn ©lafiuö
eiegling, $r«fcffor Oer WJarftetnattr
in ifrfurt. 33on Dr. St. sptd. 6rfurt,
Vertag bon Jiarl SBillaret.
Stoß bie clafftferje Siograbljie ®nelfe«
nauS oon Sßerfc unb Selbrüd biet nur
nod) ergänzt unb erweitert werben tarnt,
erfiebt man aus bem borliegenben Seinen
©djriftdjen. ®er SDienfdj ©neifenau bc
fonberS tritt bier in eine belle 8Meutfjtung.
S)er forgenbe unb tfjfilnebmenbe greunb,
ber tiebenbe unb aufopfenmgBfäbiae ©atte,
ber woljtiuollenbe ©onner, ber woblt&ätige
SDlenfdjenfreunb, fie 2Ue entbalten ©igen»
fdjaften, bie unferem genialen Sfetbbemt
burdjaus eigentbümlid) finb. 68 ift gerabegu
ein ®enu&, bie Briefe gu burdjmuftern,
bie er an feinen alten 3ugenbfreunb Siegltng
gefdjrteben bat. 3)afj aud) eine liebenS»
wfirbige SBonbommie, Hier unb ba ein
Orüntdjen Sronie bem gelbtnarfcbaH nidjt
fremb ift, geigt ftd) an Bielen ©teilen ber
Sörieffammlung. w8Beun fo ein paar ®e»
lehrte reifen, ba wirb geioöbnltd) etwas
bergeffen ober geftobten." 21 ber ber fixier
fo leife fpöttelt, tjatte felbft eine tüdjtige
Slber »on einem beutfdien ®eleljrten unb
Sßrofrffor in fictj; auB i&r erHärt ftd) nidjt
gum 9J!lnbeften, ba& ©neifeiiau nadj langem
SBarten fo fdmell borroärts gefornmen ift.
Wd.
WrtbttiW €t»vl Hon Ceftewetd). 6in
SebenSbüb. Won §. dl oon deifjberg.
I. 93b. 1. unb 2 i&älfte. SZBten unb
Seipgig SB. SöraumüKer.
68 ift mebr als ein ßebenSbilb, baS
fjier geboten wirb, c8 ift fdjliefjlid) im
gweiten Zfyü be8 1. S3anbe8 eine ©efefjtctjte
Defterretd)8 ht ber natfctljerefianifdjen 3ett,
in ber biefeS ßanb fid) gu einem mobernen
Staate entroitfelte. So betfolgen Wir ben
terjberjog burd) bie fftnber» unb Sugenb«
iabre, burd) baS 6Itembau8 bis auf bie
belgifdien Sdrfacbtfelber, wo bie frangöfifd)e
Üteoolution fid) in friegeiifc&en 6ru)>tionen
ßuft madite unb bem ^rinjen ©elegenbeit
gab, ftd) im ÄriegSbanbrnert fo auSju»
bilben, ba& et root)l befähigt toat, fbäter
als SHeorganifator beS Bfterreidjtfdjen §eer>
wefenS aufjutreten.
3Kan barf mit Spannung ben nädjften
SSänben bes SBerfeS entgegenfeben; tnüffen
fie uns bod) geigen, rote ber «Sieger bon
Stepern" bie Sirbett feiner Statines jaf)re
erfafjt unb burdjgefübtt babe.
äEelai umfaffenbet gleifj auf biefeS
SBerf berwanbt ift, unb weldjeS ungebeure
SWaterial ibm gu ©tunbe liegt, gebt untet
Slnbetem aus ben metjt als 2000 2ln«
merfungen umfdfienben Quellcnnadjttieifen
betbor, bie am Sd)luffe jebeS SBanbeB an»
gefügt finb. Wd.
»Arft ©iömarrf un» feine 3cit. S3on
§. Blum. 3. unb 4. ®b. 3Künd)en,
6. & 93ed'fd;e SBerlagSbud)banb>
lung.
Xer SBetfaffer b,at ftd) mit gto&et
Siebe in ben gewaltigen Stoff Derfenft, ben
eS gu betoältigen giebt, wemt eS gilt, einen
SötSmard unb bie bon ibm bebertfdjte 3eit
in's redjte £id)t gu rüden. Um fo
fdjttneriger ift biefe Slufgabe, als Snbel'8
naffifcfjeS SBerf borliegt. Slber 23lum
Wenbet fidj offenbar an ein gtö&ereB
publicum, als Stibel'8 bon biblomatiftbem
®eifte getragene Satftellung beanfbrudjen
tann. 3* glaube ht ber 2tjat, baf] btttdj
270
Horb unb Sfio.
SBlumS fntereffante Sdjilberungen bie
ffenntnif} Don brat Seben unb 2Btrfen beS
flctoalttgtn Staatsmannes ein geiftigeS
©rateingut btS gebiibeten beutfaien S3oIteB
werben tarnt $ra<I unb Slulftattung
laffen Stifts gu tDÜnfdjen übrig. Wogen
fld) Me folgenben SBSnbe ben »orberge«
gangenen toürbig anfdjliefjenl Wd.
Witmt Sajrtfren tum 1848-1868.
Sßon Subtoig ©arnberger. SBerlin,
Stofenbaum unb £art.
Sie Ijier gebotenen Seitattitel aus bent
3aljre 48, bte politifcbeu 6ffai)8 unb Streit*
fünften, toeld;e fajon früher gebraeft toorben
ftnb, fonnten mit Stedjt Bon SBamberger ju
einem SBanbe »ereinigt »erben. Sinb fiebod)
alle 3eit> unb Spfegelbitber einer gä&renben
©podje, in bet ficb ber SonftiiutionaliSmuS
enbgUttg gum fleben bjnburebrang unb
Sßreufjen, baS »ielgefjafjte Sßreu&en, immer
mtf>x in bie 5üb,rerfteHung SeutfdjlanbS
binehitoud)8.
Sarin Hegt ber Steig biefer Sluffäöe,
bafj fie bie 3ettftimmung mieberfpiegeln,
ber »tele benlenbe Sföpfe tamalB Dulbigten.
Sie Sarftellung ift immer patfenb unb
geiftreicn, mag Dornberger bon bem 8tet>oIu=
tiitadjen in ber SBfatj uon 1849 ergoöltdje
SBilber entwerfen, mag er fogar in frangöfi»
fcqer Spradje ben ©alliern beibringen, ba&
fie ben $emt bon SBiSmard burdiauS falfd)
beurteilen; SBamberger ift als Sßarlatnen*
tarier burd) feine fadjlidjen, fcöarffinntaen
unb r>äuftg »on pbjlofopljifdjem ©elfte bnrd>
brungenen Dieben betannter geworben benn
als Sdjtiftfteller. Sa& er aber gu einem
foldjen grofee Sfäljigfeiten befttjt, betoeifen
aud) biefe Keinen Sdjriften aus einer un*
geftüm »orttfirtS brängenben 3eit
Wd.
ttufjlanft iinter Haifa: «llesan&ev III.
(«wie Volitlt unb Hufgaicn KW«.
IttW II. 2?on 3. SReubürger. SBerlin,
SDt. SrteSner.
Set Xitel entfpridjt nid)t gang bem 3n=
Halt; mir erfahren mefjr »on SUeganber II.
als bon feinem Sobjte. Unb baS mit »ollem
Stedjte. Senn bie neimenStoerttjen 9teue*
rangen, ba;u bcftimmt, baS gro&e ©lauen«
reid) ben meftHdjen Staaten (SuropaS näber
ju bringen, fie fmb »on SMfjanber II. au8=
gegangen. Sod) baS nur nebenbei. SSaS
ba ergabt toirb bon bem ruffifd)en Sru«f erel»
unb 3titung8ttefen, Don ben (Sljicanen ber
SBebörben gegen Untergebene, »on ßirdje,
Serfaffung unb Staat, bon bem leid)t=
ftmiigen, mebr unb meljr oerarmenben Hbel,
oon bem altobolifirten, balb »ertbierren
SBauern, baS 9UeB ftnb totmbertare Sütßt,
bie ben anberen Europäern fatrm betatmt
fein bürften. SS lieft ftd) mie eine £ra«
aöble, jene Sdtllberartg bon ber SBauetn=
©manctpation älejanberB II., »on feinem
reblidjen Streben, feinen Utawtb/nten alle
(Srrangenfd)aften ber mobernen Guttur in
SJerfafjung, ftunft unb SBiffenfdjaft gugäng*
Hd) ju macbra. Unb bie »ntwort barauf?
Sie Stinamttbombe ber 9lü)iliften!
SlcuteB 3nteteffe bfitfen bie Partien beS
SBudjeB beanfpradjen, wo bie SRoalldjteiren
eines JhiegeB gmifeben SRufjIanb unb 3)entfd>
iatib unb feine tjotgen ermogen werben.
®el»if5, ber raffifd)e Sotbat wäre imnriber*
fteb,li* ob,ne ben — SdjnapS; ber rufüidje
iBauer ift intelligent, arbeitsluftig unb fä$a
ob,ne ben — SdjnapS. Sufelanb bat un«
ermefjliaje Saja^e, aber Tte fnu> «djt fle«
boben unb Braten alfo gegen SWemanb
auSgefpielt roerben. Slber bai benn Slufsbmb
ein 3ntereffe raran, einen iBaffeiiflang mit
£eutfd)lanb gu wagen? Set 33erf. txrnent
baS unb fügt b^fatgu, bafj beibe ZRädftt
babei nur »edleren unb 9tid)tB gewinnen
tonnten.
S)ie STuSfü^rangen bcB SJerf. tragen
ben Stempel fotgfamet Stubien an ber
Stirn, weshalb man ibnen gerne ©lattben
fd>enfen mag, um fo mepr, als ein gWangig«
jähriger »ufenüjalt im Sante unb ber
Jöerfebr mit allen S3ebolterung8flaffra nur
baju beitragen tonnte, ben Sajübernngen
bes Setf. ftdjeren Untetgraub unb ein
befthnmteS Solorit gu »trlelben. SKödjten
bte $topb>geiungen beS SBerf. aud) be=
güglid) ber 9tegterung8grunbfä|e beS jungea
regierenben Baxm fid) btwatjrbeiten! Samt
Wäre »on ber »üben <Sb> gmifd)en (SaSiera
unb Slaeen für Seutfdjlanb wenig gu
fürdjten. Wd.
«efd)id>te gicilienö. Son <S. 9(.
fjreeman. Seutfcbe SluSgabe oon
». 2upu8. 1. «3b. 3Rit bem söUbniffe
beS äßerfaffetB unb fünf »arten. Cetpgtp,
SB. ®. Seubner.
Ser Ueberfefeer unb ^erauigeber ^at
rtd) ein SBerbienft um bte SBtffenfdjaf t bamit
ertoorben, ba& er beS berühmten engGfdjen
gorfd)ei8 Sttert aud) einem grö&eren beut»
fetten publicum gugängltd) gemadjt fpL
3»ar ift eS nur ein Sorfo, ber bei bem
uorgeitigen lobe gfreemanS geboten werben
temn; aber aud) fo er&alten wir erneu
beutlidien SBegrlff »on ber »raft unb öoett-
23ibliograpb,i
fdjen ßebenbigfeit ber Starftellung beS
SSerfaffeiS, ber burd) feinen langen unb
»ieberijolten ittufentfjnlt auf bcm bertlidjen
©feilten in bie Sage gefetjt mar, fo gu
fdjilbern, ime et (8 mit eigenen Slugen et»
fdjaut Ijattc 3b>ar baben mit e8 in biefem
SBanbe mit bet älteften ®efd)td)te berSRirteW
meeruifel, mit ibren Urbemobnern unb 6er
SBefiebelung burd) Sßbjänitier unb ©riedjen
ju tljun, abet bie toppgrapbifdjen
©djilberungen halben auch, für bie SeQtjeit
nod) ibre äebeutung, unb »er jemals auf
ben ßöben bet Sldjrebina bei ©oratuS obet
auf bet trümmerbefäten Umgebung uon
SlfrogaS, bem beutigen ©itgenti, geftanben
hat, fier mitb bet fdjarfen 83eobad)tung unb
bei beutlidien, nod) ljeute geltenben
©barafteriftif Bon ©täbtebilbern, wie Tie
Ofteeman bietet, feine SBemunberung nidjt
Berfagen Tonnen.
©feilten ftanb einft im griedjifdjen
unb römifdjen 3eitaUer im aWittelpmifte
beS bamaligen iBkltbanbelS. §eute, feitbem
bie 3nfel iabrbunDertelanger SBergeffenljeit
anfjetmgef allen trat, giefjt bet mobeme
SBeltöerfebr naef) Ofttnbien, an ibren ®e»
ftaben batun, beute bilbet fie jafjrauS jatjr =
ein ba8 2Banberjiel ungejäblter Jaufenöe
Bon ®ebilbetcnl Siefen fei befonoerS
5reeman8 SBetl norm an'S §etj gelegt.
Wd.
$te Hutbioenfttgfett einer ' curopät«
fdjen ttfcräftung uuö Steucrent»
IftftUttft. iBon Dr. Jt. äüalrfer, 2)oc.
b. ©taatBlD. an ber Unioerfüät ßeipjig.
©onberSljaufen, 5r. 2lug. (Supel.
3)er 3nbalt bet ©djrift entfptidjt
Wenig bem Xitel. 3ttd)tiger märe e8 ge=
toefen, wie e8 bet »erfaffer urfpiiinglid)
Borbatte, als Xitel gu mäblen: „Xie
OrtiebenSgefeUfcbaf ten, ftrttif unb Mefotmoot»
fdjläge." 2Ba8 nun bie ffrittt ber SriebenB»
gefeufebaften anbetrifft, fo fdjeint bem
»erfaffet bie ©runbibce, Bon ber biefetben
ausgeben, nidjt »off gum Jöetuufetfein ge»
tommen gu fein, unt> fo fämpft et bäufig
gegen ätiinbmüblen. £a8, ma8 et übet bie
©ÄiebSgetidjtc fagt, balten mit füt größten'
tbeüS oBllig Betfeblt. Unb wenn er bier
Bon Utopien fpridjt, fo Berbienen unferet
SKeinung nad» feine eigenen i'orfdilfige
bieten Stamm »seit mehr. SeBenfallS mürben
biefetben eine Sßermirfltdjung erft etfabren
lönnen nad) langet SSotatbeit burch bie
Sriebensoereine. UebrtgenS Perfennt ber
«erfaffet bie höbe iBebeutung ber grieben«»
beroegung burdjauS nidjt. Wp.
fdje rietijen. 271,
GJefcbicöte »er 9tatfa>n<tttfi»tu>mic unb
Ucö SuciöliSmuS. S3on Dr. St.
Sßalder, £oe. b. ©taatsw. a. b. Uni»
Berfität Seipjig. 3. DöUig umgearb.
öluff. — 5 iöb. b. ©anbbud) ber «Ratio»
lialöfonomie. ßeipjig, iHoBberg'fcbe
©ofbudjbanblimg.
9?a<f| ber SJorrebe foll bie 2frbeit „eine
3lrt ®runbrifj gu SJorlefungen unb ©tubien
übet bie (Seidridjte bet 3?ationalöfonomie
nnb beS SocialiSmnS fein", ffiafüt mag
fie braudjbar fein; als ®runblage für baS
©elbftftubium atterbing« mobl nur burdj
bie reicblid;en £'itteraturnad,meife.
3n bem gmeiten ber betben angefügten
„Sjcurfe" ereifert ftd) ber 3?erfnffer gegen
ba» allgemeine gleiche äikibtredjt unb für
ein ©ocialiftengefetj. SBir fönnen nid)t be=
baupten, baft nnS biefet GrjfurS fonberfid)
imponirt bötte. Wp.
tit Sfvanenfrage unb Her nefunbe
üHenfdjenBevitanb S8on g. illi.
§igginfon. SHu8 bem Gmglifdjen über»
jetjt bon (Sugenie 3acobi. 9ceutoieb
unb Seipjtg, Slug. ©djupp.
5pr)tjiioIoflie, Xemperament, §cim, ®e»
fellfdjaft, ©rjiebung, Söetdjäftigung, ©timm«
redit, »erben jebeä in einer Sieibe furjer,
Iofe jufammenbängenber, faft ielbftftänbigcr
(Sopitel befprocten, bie ftd) abet gut lejen
unb anregenb tvirfen, ob mir ibnen ju«
ftimmen fönnen oDer jum 2Biberfprudj ge»
reijt toerben. Wp.
Vafttt frei! 6in ffiort für »ufere grauen.
33on Di. phil.3Koritä Popper. SfJrag,
3. ®. ßaloe.
Xa8 ©djttftdien mürbe nod) beffer für
feinen Sm^ mirten, al8 eS in ber Xljat
fdjon tbut, memt ber SSerfaffer fid) Bon
etnjelnen Uebertreibungen in Snbalt unb
Slufcbrucf freigehalten bötte.
t ie timwu alö »Sit ernten, «tbtff f ob vts»
fhafte unb Weifcvoutr. S8on 31. o.
©dimeiger»2erd)enfelb. SJlit 300
Slbbilbungen, barunter gablreidjen 25oU«
bilbem unb 50 Statten, leitete jum
Xbeil in garbenbruef. 3n 30 aieferungen
gn 50 SPf. 8f. $artlebeu8 »erlag,
üBicn.
2>er burd) gablreidje ©diriften, nament»
lief} auf geograpijifdjem ®ebiete, belannte
unb beliebt gemorbene S3erfaffer bot bjer
ein befonberS gelungenes, nmfangreidjeS
äöerf geliefert ör entrottt in bemfelbeu
I g(eid)fam bie £eben8gefd)id)te be« gröfsten
272
Xloti unb Süo.
©iiomeS 2JHltel»<8uropa8, oon bm roman»
tifcbcn SJjälern beS ©cbtoarjtoalbeg bis an
baS Gdjwarje SDleer — faft oor bie Dbore
(Sonf.anttnoOelS. — Der äßerf äffet thetlt
baS Ukrl in 1 $aupttbeile — in einen
^tjbrr . irap^tf «^»naturiuif f enf t^af tlicficn, einen
hifioifdien, einen nautifcb=tedinifd)ni unb
einen fcbilbemben £b>il. 3«ber biefer
Xbeilc gerfällt in eine Angabt Abfcfcnitte.
3n ben bis jefet hirr oorliegenben fünf jeftn
Lieferungen ftnb bie Xfcile 1 unb 2 be*
enbet unb ift mit beut nautifdHeconifcfjen
Xtjeu' begonnen. 3n belebrenber unb gu«
gleich unterhaltenber SBeife finb im elften
Dbeile, nach einem geologifdjen lieber«
bltcf, mit grofjer ©achfeimtniB bie SL'affer--
ftanbsoerhältniffe, bie »obenplafiif unb baS
organtfcbe Sehen in unb an ber Donau
gef gittert, toährenb ber gtoeite Sbeil in
feiner gefdjidjtlidjen Abfjanbiunfl, oon ben
©öuten ber Argonauten angefangen, bie
SBanblungen Oerfolgt, welche baS 9tömer«
tbum im Donaugebiete fomie bie SBölfer»
manberung jur golge hotte. Daran
fdjlie&t fid) bie ©taatenbtlbung, bie Surfen»
Wege unb bie gefchlchtlichen Sreigniffe bis
in bie Sleugett. SBefonberS ausführlich unb
oicl 92eue8 bringenb ift ber prähiftorifche
Slbfdmitt gehalten, tote überhaupt baS
(Sange eine grofje Anffaffung oon ber
biftorifcben SSebeutung ber Donaulänber
burcbgieht. — Das 2l*erf ift bürg [gabt
reiche Abbilbungert unb Sorten in tabel«
lofer Ausführung Borjüglid) auSgcftattet
wo fann fomit toarm empfohlen toerben.
K.
$aö «ol» »es »droeiiö. Sin 9tüdb(id
auf bie ©efcbidne beS SetnftemS. SSon
SBaul SWolbenhauer. Daiigig, Gar!
fctnftorff.
Die regt lefeitSmerthe ©chrift gicttt eine
inlcreffante DarfteUung beS 2Biffen8tt>crtbeften
über Slatur unb ®efgiö)te beS 23ernfteinS.
Sttdjt befreunben tonnen mir uns mit ben
Anfdjauungen be« SBerfafferS über bie 6nt«
ftebung ber SiSgeit. Die 3oW<mgaben auf
pag. 28 über bie ©öbe ber Diluoialflutbcn
fömten leicht tntfsOerftaiiben toerben.
Wp.
fad Beben &eö SWceree. SBon Dr. ßonr.
Seiler. Scipgig. fceft 2-12. X. O.
SEBelflel Slacbf. (6hr. Daudjniö,)
Die oorliegenben ©efte beS fdjon früher
oon uns angetünbigten ßieferungSloerfeS
behanbeln in einer Angab! Don Gapiteln
eine SRethe intereffanter allgemeiner bio»
logifeter fragen tote ©enoffenfdjaftslebat,
©chmaroberthum, färben ber SDteereSthiere,
3Reere&Ieudjten, SUanberungen ber 9ReereS<
tt>icre, ©tranbfauna, $odjfeefauna, Dhier»
leben ber Xieffee it., um bann girr fr*«
denen Sodoait übergugehen. SS finb frift
jefct föftemattfd) behanbdt bie ©äugethiere,
ä;öad, ffleptüien, Qtfajt, SWoauSfen, SBürmer,
SReffelthiere unb ein Dfrett ber UrtKert.
3ablreicbe gute fiolgfdmitte unb eine 8teibe
Oon tounberbaren garbentafeln erläutern
ben Xttt. Wp.
8Bettcvbüd>Ietn. ^raftifefce Anleitung gur
^Beobachtung unb SorauSfage beS SBettexS
oon Sari »urgwebel. Sfiit 24 Ab*
bilbungen. DreSben, aßeinbolb unb
Säfine.
3m SSortoort motioirt ber SJerfaffer
bie Seranlaffung }tt feiner @d)rift burtb
bie ©rmägung „bafs eB an einer furjen
unb leidjtfaftlicben Anleitung jur SBe»
obagtung unb SorauSfage beS XBettert
immer nod) feb,le." Siun finb aber inner«
halb ber le&ten io 3abre gerabe eine 3Renge
berartiger Heiner ©dirif ten erfdjienen, bie
baSfelbe 3"l beifolgen, fcaB ber SJerfaffer
fid) gefteeft bat. S3on biefen Stbriften febeint
ber söerfaffer leine Senntnifj ju bedien, ober
er ift ber Anfitfit, bafe fie bas oorgeltetfte
3iel nidjt erreidit haben. Der »erfaffer
befbriebt junäd,ft bie ßuftfttömungen,
31'olten unb SJieberfdjIäge unb toenbet ficq
bann ben funoptifebtn ZBetterfarten }u,
benen ber tieitau8 gröfjte 3nbalt bee Süd)«
leine getoibmet ift. (SS ift baber aueb er*
Uärlid), leenn ber SJerfaffer am ©djlufe
betont, „babnurmtt flenntnifj ber »Setter»
läge eines großen (SebieteS eine S3orau8«
fage beS ÜBetteiS moglicb ifl*. Saft möchte
eS nadj ben AuBlaffungen be« aJerfafferB
febeinen, als toären mit^ilfeberfqnoprifcben
harten 10O«/o Xreffer in ber 2Betterborau8*
fage ju erjielen, toaS iebod) in ffirrflicbleit
nicht ber ftad ift. Siel ;u toenig ÄBerttj
legt ber Seifafftr auf bie fpccififd) localen
S3erbältniffe, bie aber bon fieroorragenber
SBicbtigfeit finb. Aüe Diejenigen ÜBerter«
beobaditer, benen bie telegraphiftben Se«
rid)te über bie Wetterlage in Suiopa bin«
ftdrilid) ber barometrifdjen SKajima unb
äJiinima niebt reebrjeitig ober überhaupt
nicht jngänglid) finb, bleiben auf bie rehte
£ocalprognofeangemiefen. einjelne8,tDie*um
SBeifpicl baS ^ogrometer, aud) baS (Sftottrer
ift nur oberflächlich behanbelt, unb boeb finb
peiabe bie eleftrifchen Srfcheinungeu bei ber
2Betteroorberbcftimmung im gfrühiahr unb
©omraer oon größter Sebeutung. (Sanj
anertennenStoerth ift bagegen bieSöefprechung
8ibliogropf;if d;e nötigen.
273
bei allgemeinen meteorotogifdjen Vertiält«
niffe, fomie im ©pecieflen ble Erläuterung
übet bic Sbeitbepreffionen unb bit 9tuB*
waljt bon Vetfpielen übet einige mldjtige
tBetterlagen. Slm ©d>lu& befprld)t bet Ver»
faffer ttod) ,3falb8 fritifcbe Sage". Sem
fjierüber ©efagten tarnt man nui guftimmen.
K.
$er Keine Samariter. SMergtlic^er 9latb>
gebet bei plotfiajen (Srfcantungen unb
UnglücfSfätlen oon Dr. ©a) u I j. SreSbeit
unb Setpgig, Seemann.
3n ben .Behlingen lieft man faft tägltcb.
9tadjrid)ten über in SBoljnungen, in öffent»
liefert ßofalen ober auf ber ©traf« uor=
gefommene, oftgefabjrbrob^nbeftrfranfungen,
bei benen gumeift fdjleunige §ilfe ein
bringenbeS Srforbernifj ift. Sin Slrgt ift
aber geroöfenlid) nicfjt g(eid) gur ©teile, unb
eS tommt ba&er barauf an, bis gu feinem
eintreffen bte gefäbrltd)en unb bie Umgebung
oft beängfrigenben Ärfd)einungm febneü unb
fufier }u beteiligen, hierüber ben Saien gu
belebten unb ibm bie ertorberlicbe S(uf>
flärung gu geben, bamit er fofort tfcat=
fräftig eingreifen tarnt, f)at fieb. ber Verfaffer
mit bem dJiotto: „©cbnclte §ilfe, befte
fcitfe!" gur Stufgabe geftettt, beren SBfung
tijm burtjauS gelungen ift. 3m erfteit 9tb>
fermitt bebanbelt er bte plöölidjen 6rfran«
fungen unb im gweiten Slbfdmitt bie Unfälle
unb Verlegungen uno bie sttrt ber SeSinfi»
cirnng. (Sin au8füljrltä)e8 8iegifter am
©djtufj erteitfjteit bie Ucberfidit. SaB gut
ausgeftattete $5üt) tann beftenS empfoblen
werben. K.
$te f&r>erltä)e ^rjieftuttg Her dngenb.
Von Stngelo Ütfoffo, Vrofeffor ber
Vbafiologie gu Surin. Ueberfefct bon
3ob.anna @linger. Hamburg unb
Seipgig, Verlag Oon Seop. Vojj.
Von Steuern ift in ben legten 3ah>en
ber fäon für entf$ieben gefallene Äampf
über bte gfrage entbrannt, ob mir mit bem
„Xumen* auf bem ridjtigen 2Bege gu einer
geeigneten ßörperpflege unä befinben, immer
neue ©timmen laffen firf) böten, bie gum
SWinbeften ber «aeinfjerrichaft ber Xurnerei
gegenüber eine grö&ere Üöeaajtung be8 Ve*
tDegungSfpieteB forbern; immer metjr ßeute
beginnen fefcerifaje Meinung über ben
äBertb, ber Surnerci gu äu&ern.
SHtt bem borliegenben SBerfe tritt aueb,
ber Verf affer, einer ber berüfjmteften itolieni«
f ajen ^Irafiologen in ben ermäbnten Jfampf
ein, unb mir ftnb gemifj, ba& baB SBert ein
nid)t gemöljntictieS 9tuffeb>n erregen wirb.
©er Verfaffer fteßt Rdj auf ben bi8=
Der aDguoft aufjer Stcfjt gelaffenen ©tanb»
puntt, bafj bie Streitfrage, weldje bie
flBrperergleljung beljanbelt, von SJlilitär»
perfonen, ©dmtmännern ober Xurnleb,rern
allein nidjt gum 3lu8trag gebraut werben
tarnt, baft es bielmefjr bie Stufgabe ber
V&bfiologie ift, ftd) mit bem Junten gu
befchäftigen unb ein entfdjetbenbeB SBort
utitgufpredjen.
Unb fernere Staffagen ftnb e8, Welche
ber Verfaffer gegen ba8 Junten Pom
©tanbpunlte feiner äßiffenfdjaft ergeben
mufj; eben fo biete unb übermiegenbe
(Srünbefüretne natürltdjeVemcgungS«
gbmnafttt fjolt er aus bem Slrfenale biefer
SBiffenfa^aft b>rt>or. Siefen SäuSfü^rungen
gegenüber ift ein £obtfrf)n>eigen be8 SBudjeS
ober eht Verlumpfenlaffen beB 9ampf8 nidjt
mSglia). %a Stampf tnufj bura^gefoajten
»erben, unb wir glauben, bajj er mit einer
SRteberlage beS heutigen XurnenS enben
wirb.
Stber niatt allein für ben Xumle^ier
unb für ade bie, wetdje fia) mit ber förper*
tidjen @cgie^ung ber 3ugenb berufBmäfsig
ober aus Siebt) obere t bef äffen, ift baB
SBert unentbehrlich, aua) für militäriföe
Sfreife ift eS bon (jo&er SJebeutung, benn
au* ber förperlia^en StuSbitbung ber
©otbaten, iijrer (Srjtebung gum (Srtragen
bon ©trapagen wibmet bec Verfaffer auf
©runb femer (Sigenfcfjaft als Vb>)ftologe
unb SWititärargt einen grofeen X^ett beS>
fetben.
Um einen Ueberbluf über ben reid>
tialttgen 3nb,att gu geben, laffen wir ble
Ueberfcfjriftcn ber eingetnen Slbfcbnitte
folgen: 1) Sie törperlidje Srjiel)ttng In
Stallen im 3eitalter ber 9lenaiffance.
2) Sie moberne englifdje ®rgieb,ung. 3) Sie
törperlicbe ®r»ieb.ung auf ben Uniber»
fitäten. 4) Sie ©oflegeS unb bie ©tunben-
Pläne in ben ©cbulen önglat^ unb beB
(SontinentB. 6) Sie (Sntmirflung beS Sur»
nenS. 6) Veurtbetlung beS beutf djenSurnenB.
7) SaS atbletifaje Sumen. 8) Sie mili<
tärifdje StuSbilbung unb bie „bataillons
scolaires". 9) SaS ©Riegen naiä) bem 3iet.
10) Ser Sornifter. 11) Sie SNärfdie.
Sie Uebertragung tn baS Seutf*e ift
meifterbaft, Vapier unb Srucf gut. —
fturg ein nadj Jeber 9tiaitung t)in em«
pfet)IenSwertt)eS Söucb, baB in ber SStbliotfjet
feines SKanneS, ber ftä) mit t&rperlia)er
@rgieb.ung beftb.äftigt, fefjlen foffte.
Wp.
27<* Zlorb t
W»n«ttftefte »er «•weM»uS=«e?eU.
6<menUiö««lättev ffir «olfser jtchung.
üeipjig, 81. XSoigtlänber.
SBir freuen uns. conftatiren gu tonnen,
bat bie <5omeniu8>®efettfcbaft ihre früher
uon uns bargelegten glele unermüblicb
Wetter »erfolgt, bafe fle immer neue SBegc
fud)t, um bie Aufgaben, bie fte fich ftellt,
gu lofen. Sie „Monatshefte" bringen na*
tote cor gebicgene wiffcnfcbaftlicbe Arbeiten
iiur ©omeniusforfdjung, bie .SomeniuS«
SBIätter", welche an bie ©teile ber früheren
„2Jcitthetlungen" getreten finb, Retten fid)
oorwiegenb auf ben SBoben ber allgemeinen
SoltSbtlbung unb SSolfSergiehung, biefcS
nichtigen Factors auf bem GSebiete ber
focialen grage. Sie erftreben Unterftüfcung
unb flulammcnfaffung aller SBeftrebnngen
auf bTefem ®ebiet, Errichtung tonSBoltB»
hodjfcfjulen; <Srh<bw>g »er Sittenlehre
gu felbftftänbtgem Setjrgegenftanb, bie all«
gemeine SSoltSfajuIe unter äöabrung ber
Freiheit beS SpriBatunterrlditS, ©elbft«
»ertoaltung auf bem ©ebiet ber®ctule,
(SrWciterung ber Qfrauenrechte, Pflege
beS ®enoffenfd)Qft8ttiefenS rc.
SBir rufen ber ©..©. gu ihren S8e»
ftrebungen ein httäßcheS (Slüctauf gu.
Wp.
Svicfe eine« »dter« an feinen Sühn.
«ad) beffen Slbgang an bie UniBerfüät.
S8on *** 23re8lau, ©chleflfdje 58et»
lagS'Slnftalt b. @. ©chottlaenber.
£er unbef annte SJerfaffer theilt in SBrtef-
form eine Summe uon SebenSregeln mit,
bie mir Sitten, für bie fie beftimmt, b. h-
Xenjenigen, bie berufen finb, ber hcrange»
trachfenen männlichen 3ugcnb Sebreit gu
ertheilen, unb bietet felbft, fofern fie bie
löbliche abfidt hegt, fid) auf bie rechten
Säege leiten ju laffen, als fehr beachtenS»
Werth rühmen fönnen. (Sin ©obn ift auf
bie UniBerfität gesogen, unb ber Söater
fchreibt ihm in bem toarmen Zone etneS
älteren ÖfreunreS in einseinen Briefen,
maS in ienen ßebenSjabren, in benen bie
©tubienfemefter fich BoDsteben, als an»
ftrebenSioerth, als nüfcüdi ober fdjäblid) für
bie SebenSentwicfelung beS ©injelnen gu
erachten ift. 3)er Säerfaffer geht Bon ber,
letber, unleugbaren Xfptfaty aus, ba& m
ebt immer größeres SRifjBerhättnifj bie
Steigung gu leichtem, mühelofem ßebenS«
genuf? mit einer ibeellen Siicbtuna beS
SenfenS unb fcanbelnS tritt; bafj immer
berfdjobener werben bie Strengen Bon @ut
unb »on JPöfe, unb über bie SPflege ber
b Sfib.
ßrbetltchen unb materiell geiftigen Strafte
immer mehr bie Sultur jener 9tea.una.ro
in ben ^intergrunb tritt, für bie man,
fprachgebräudjlidi, baS ®emüth als Organ
bejeiebnet. £>iefe Xenbenj , m ber jene
SBitefe gefdjrieben, tonnen mir gar nicht
laut genug als richtig anerfennen, tonnen
nicht lebhaft genug ben SBunfd) auBfpredjen,
bafj ihr Inhalt in attermettefien »reifen,
bie Stiftung angebenb, in ber gerathen unb
geftrebt werben fottte, befaimt werben
möchte 1 Silber auch biete (Singelhetten ftnben
unteren Bollen Beifall unb Prien uns
grofee 2Berthfd)äfcung für baS flare Saiten,
bie reifen Stnichammgen ihres Tutors ein.
SRur ein SBuntt hätte Bielleicht eine ein*
gehenbere 83erücffid)tigung ftnben tonnen:
3n bem »riefe, ber als Sbema hat ,2>er
falidje fjfreunb als Serfucher" werben auch
jene mannigfachen aJerfuihungen, für bie
ein junger Wann am leichteften unb häufig*
ften gugänglich ift, bie weitreiehenbfh ®e»
fahr beS 3üngling8alterB, berührt $er
Sater hofft, baft fein ©obn äfthetijcbeS
®eiüh( genug befäfje, um ber grobften S5rt
ber SBetlocfung, unb 8ted)tSfinn genug, um
jenen berführerifdjen (Selegenheiten, an bie
fich SSerpftidjtungen tniipfen tonnten, )»
miberftehen. — $ier läfjt ber trefflube
SBater weniger feinen wägenben SSerftanb,
baS 9tefultat feiner Erfahrungen, als Biel'
mehr ben äBmtfch nur gum auSbrutf t&
langen. A. W.
SKajeftät. Vornan Bon ßouiS fiouperuS.
SreSben, Heinrich SRinben.
3n einem ^bantafieftaat, ber nirgenbS
auf ber ßanbtarte gu finben ift, h«tfcht
eine Stjnaftie, beren ©tammbaum vir
sergeblia) im ©othaer aimanach fuchen
würben, unb boch begegnen »k in ber
^frrfdjerfamilie felbft, fowie in bem fie
umgebenben ^ofabel manchem Bertrauten
3ug, ber unB an (fafajeinungen erinnert,
weldje im europäifdten ©taatenleben ber
SReugeit eine SRoQe gefpiclt hoben; — ber
9toman ift als eine parobiftiiehe ©tubie über
böflfdjeS Seben im allgemeinen unb Äron«
prtngenfchicffal im SBefonbereu aufjutaffen,
unb ber Sßerfaffer hat feine aufgäbe mit
pfnehologifcher ©rünblichfeit bearbeitet, ia>
bem er oerfucht, baS Seelenleben biefer auf
fchwinbetnber §öhe ftetjenben $erfönü4«
leiten gu erforfdjtn unb gu motiBircn. Set
SHoman ift aber Biel gu gefünftelt, um ein
wärmeres 3ntereffe erwetfen gu rönnen, nnb
bie auBbauer beB ßeferS wirb auf eise
recht harte $robe gefteUt, um bem SSep
faffer auf ben weiten 3rrgängcn, ben feine
Bibliograph
Bbantafie einfcftlagt, folgen ju tonnen, pmal
Ärotd unb beSfelben auch, am ©d&luffe
gtetnlich im UnHaren bleiben. mz.
Scr Montan einer Iväumcrin SBou
3Rarta@olina. SreSben, @.Bierfon.
Sei Vornan umfafjt baS Sdjicfiat
einet grau, bie aus einem aabtreiefaen
SdjwefternfreiS a!8 unreifes 2Jläbcben in
eine $3erforgung8elje gebrängt toiib, in loeldgei
fte bie febönften 3ab,re iijreS SebenS ge=
banfenf.08 Beiträumt, bis fte in einem
alter, in toetöra 3tnbere bie ©einstampfe
längft fonter ftcb Haben, gutn BetBttfjtfein
ibrer Siecfjtc an ba8 ®iücf ermaebt. Die
<56e toirb nun gelßft, unb ba fte ben «Wann
ibrer ßiebe nidjt befitjen fann, fo ift fte
gejtnungen, (üb in Slbbärgigfeit ju begeben,
um auf biefe SBeife, fiei Bon unnmrbtgen
geffeln, fi* felbft leben ju rönnen. . $ie fe^r
Dürftige fcanblung ift in bieiem turjen
SluBjug toiebergegeben, alles Uebrige ift
ein ©pielen mit ©efüfifen, bie alle mebr
ober minber unnalütlicb finb; überhaupt
ftnb bie banbelnben Berfonen (eine 3Kenfcf)en
Bon gleifcb unb sölut, fonoecn tünfttief) con«
ftruitte SDlarionetten, mit benen bie Ber=
fafferin naef) belieben manöBtitt; — ber«
artige Beßetriftif wirft auf unreife ©emütber
nur bertotrrenb, gereifte Sefer bütften
fcbtuerlid) ©efdjmarl an berfelben pnben.
mz.
ttv SBeg }um Sfriebcn. Sßon O.
geller. Berlin, »erlag beS Biblio*
grapbifdjen Bureaus.
3)er m einer fpannenb enttoiefelten
SSbofitiou baS Sntereffe be8 ßcferS er»
febe Zlotijeu. 275
wedVnbe SHoman bält in feinem g-OTtaanae
nidjt baS, toaS er im Beginne Berjpridjt;
baju ift ber $t(b ber ©rjäblung eine ju
abentcuerlicbe, roman&nfte Berfönliditett,
uub feine ©cbicffale, fotnie feine enbHdje
Sßdtfludjt liegen ju tneit ab Bon Dem ®e*
biet beS ©iaubbaften, um nidjt baS an»
fänglicbe 3«tcreffe erlabmen §u laffen.
D. fetter Berfügt über ein getoanbteS ®r=
jäblertatent; eS ift gu bebauen, toemt baS«
felbe auf Sibmegc gerätb unb aud) ben
SRattgel an SRaturroabrbeit nnbefriebigt
läfjt. mz.
Cie&cv fincö ÜHcnfdjen. Bonßubroig
©cbarf. aWüncben, Dr Sllbert unb
©omp., ©eparatconto.
(Sntfdjtebene Begabung, aber auefi
unangenebm berübrenbee ffraftmelertbum
fpridjt aus ben .Siebern eines TOenfdjen".
gauft'fdjeS unb §eine'idjc8 finben fid)
in bem Bliebe, §hnmelflürmenbe8 unb
SBeltDeradjtung. ®in fouoeräneS fttotocg«
fetten über ©ebanfenlogif unb 3orm lägt
(aum ein einjigeS ®ebid)t jur Bollen Sffiir*
fung fommen. Die Eigenart eines SidjterS
Bermag hiobl 3ntereffe ju erirecfen; toenn
er aber niebt oerftefit ober fid) baju nidjt
Berfteb.en mitt, biefelbe auch in ttirflicbe
SJum"tjd)öpfunflen umjufeöcn, fo erlabmt
baSfelbe. Süfcnige ßieber, roit ©tunne8=
treten (@. 14.), @ebet eines SDtenfcfjen (61),
tonnen mit ungetrübter (Smpfinbung gc--
lefen Werben.
ls.
Eingegangene BUcber. Besprechung nach Auswahl der Redactlon vorbehalten.
Bendler 0_ Der Eine, Roman In zwei Banden.
Berlin, F. Fontane und Co.
Bethuny-Huo, Gräfln, Alte nnd Junge.
Roman. Dresden, C. Relssner.
Beden des Fürsten Bismarck, II. Band.
Heraagg. von H. Kraemer. Halle ajS.,
0. Hendel.
Bormann, R, Neue Shakespeare-Enthflllungen
Heft L Leipzig, E. Bormann.
Brieger, A, Ausgewählte Gedichte. Grossenbaln
und Leipzig, Baumert & Rouge.
Buehwald, G. und J. Villa M81Ü und mehr.
Zweite Auflage. Leipzig, R. Fliese.
Bosse, C, Neuere Deutsche Lyrik. Halle a.jS.,
0. Hendel.
Brüse, H. H., Die Graphologie, eine werdende
Wissenschaft. Ihre Entwlckelung und Ihr
Stand. Eine orlenUrende, kritische Darlegung.
Hänchen. K. Schüler, (A. Ackermannes
Nachflg.i.
Oalmoleone, L, Der Rufer Im Streite, Drama
In drei Acten. Trlest. F. H. Schimpft.
Daudet, A., Die kleine Kirche. Ein Ebe-Romau.
Autorlsirte Uebersetzung t. Wolfgang Alexan-
der Meyer. Stattgart, Deutsche Verlagsanstalt.
Dayot, A, Napoleon I. in BUd nnd Wort, Ober-
trägen von 0. Harschall v. Bieberstein.
Llefrg. 4-6- Leipzig, H. Schmidt & C.
Günther.
Dinoklase, Frhr. v., (Hans Nagel v. Brawe)
Baroness Dr. Roman. Dresden, C. Relssner.
Duboo, J., Jenseits vom Wirklichen. Eine Studie
aus der Gegenwart Dresden, H. Henkler.
Eschen, H. \n Inmitten der Bewegung. Socialer
Roman. 2 Binde. Dresden, C. Relssner.
Friesius, Wn Die Waffen nieder! Schauspiel In
fünf Aufzügen. Zum 25. Gedenkjahre des
grossen Krieges. Leipzig-Anger, R. Lindner.
Goldschmidt, H, Neue Sinngedichte. Frank-
furt a./H.-Lelpzlg, Kesselring'sche Hofbuch-
handlung.
276
— Horb nnb Sflb.
Ghrollar, Bn Zehn Geschichten. Dresden, E.
Pierson.
Holtmann, L-, Richard Wagnert Tannhäuser-
Festschrift zum Gedenktage der ersten Auf-
führung am 19. October 1845 In Dresden.
Dresden, R. Bertling.
Hafner, J., Der Spiritismus und die moderne
Wissenschaft. An Eduard von Hartmann.
Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei A.-G.
(vormals J. J. Richter.)
Hartana;, V, Im Reigen, Neue Lieder. Glarus,
B. Vogel.
Jensen, W, Jenseits der Alpen. Novellen.
Dresden, C. Reissner.
Keller, C, Das Leben des Meeres. Llefg. 14—16.
Leipzig, T. 0. Welgel's Nacbf.
Klinokowström. A. v., Diebe. Zwei Binde.
Dresden und Leipzig. C. Reissner.
Kloas, I. E, Max Kretzer. Eine Studie zur
neueren Lltteratur. Dresden, E. Pierson.
Knaekfuaa. H, Dürer. Mit 187 Abbildungen
von Gemälden, Holzschnitten und Handzelcnn.
Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klaslng.
Kraasa, J, Ein Unglück. Sociales Schauspiel
aus der Gegenwart, In zwei Aufzügen. Düssel-
dorf, Blelfoss & Co.
Kretzer, M, Ein Unbertlhmter und andere Ge-
schichten. Dresden, E. Pierson.
Sie Kritik, Wochenschau des öffentlichen Lebens.
Herausg. von Karl Schneldt. IL Jahrgang.
No. 62. Berlin, H. Storm.
Die Kunst-Halle, Zeltschrift für die bildenden
Künste und das Kunstgewerbe. Jahrgang I.
No. 1. Berlin, Rosenbaum & Hart
Die Österreichische Landwehr. Eine kritische
Studie von einem ehemaligen österreichischen
Offizier. Braunschwelg, Rauert & Rocco
Nachflg.
Zioti, P, Madame Chrysantheme, Roman. Stutt-
gart, Deutsche Verlags-Anstalt.
Haflins, M_ Ein Roman vom ersten ConsuL
(Bibliothek der Gesammtlltter. No. 886-888).
Halle a./8- 0. Hendel.
— Die Frau Gouverneuriii von Paris. Bilder vom
Französischen Kaiserhofe 1807. Kopenhagen.
A. F. Host & Sohn.
Köret, encyclopädlsches Wörterbuch der eng-
lischen und deutschen Sprache, Lieferung 17.
Berlin, Langenscheldt'sche VerlagsbuchhdL
Nachrichten aus dem Buchhandel und den
verwandten Geschäftszweigen Fest-
nummer. Leipzig, Börsenverein der Deutschen
Buchhändler.
Newald, J, Friedrich Schlögl. Erinnerungen
an einen alten Wiener. Ein Gedenkblatt zur
dritten Wiederkehr seines Todestages. Wien,
Im Selbstverlage des Verfassers.
Nossdar, A., Ueber die bestimmende Ursache des
PhUosophlrens. Versuche einer praktischen
Kritik der Lehre Spinozas. Stuttgart, Deutsche
Verlagsanstalt
Pietsohker, K, Auf dem Siegesznge von Berlin
nach Paris. Potsdam, R HachTeld.
Presbar, R., Das Fellahmädcben und andere
Novellen. Berlin, F. Fontane und Co.
Freser, C, Das Arminslied. Grossenhain und
Leipzig, Baumert und Ronge.
Preusohen, H. v. Via Pagalonis. Lebenslieder.
Dresden, Carl Reissner.
Reform, Ostdeutsche. Blätter zur Forderung
der Humanität IV. Jahrg. Lief. 17—18. Königs-
berg i. Pr, Braun uud Weber.
Bia-uttnl, G. und Bulle, 0., Neues italienisch-
deutsches und deutsch-italienisches Warter-
buch. 4. Lieferung. Leipzig, B. Tmuchnitr,
Biotor. L, Le Sceptique loyaL Paris, Blblio-
tnüque AritlsUque et Lltteralre.
Boderioh, A., KUnstlerfahrten. Humoresken.
Iilustrirt von C. Sellner. Stuttgart, Deutsche
Verlags- Anstalt
Sohneidt K, Die Kritik. Wochensebau des
öffentlichen Lebens. IX Jahrgang. Lieferung
48—51. Berlin, W. H. Storm.
Schultz, A., Kunstgeschichte. Lief« rang 5.
Berlin, O. Grote'sche VerlagsbuchhdL
Schulze-Schmidt, B, Lümlcida. — II Briccon-
cello. Zwei Novellen. Dresden, C. Befesaer.
Schweijrer-Lerchenfeld, A. v., Die Denan
als Völkerweg , SchlSfahrtsstrasse und Reise-
route. Mit 300 Abbildungen und Karten.
Llefrg. 11—15. Wien, A. Hartleben.
Setteeast, Prof. Dr. IL, Woher- wohin? Eine
freimaurerische Betrachtung. Berlin, E. GoM-
schmWt
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Deutsch von Therese Krüger und Otto Erich
Hartleben. Berlin, Deutsche Schriftsteller-
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Stsgemann, IL, Des Horatius schönste Lieder.
Basel, B. Schwabe.
Struck, Dr. F, Die ältesten Zeiten des Theaters
zu Stralsund 1097—1834. Ein Beitrag zur
Geschichte des deutschen Theaters. Stralsund,
Verlag der Königlichen Regierung»- Buch-
druck&rci
Struck, Dr. W., Das Bündniss Wilhelms von
Weimar mit Gustav Adolf. Em Beitrag zur
Geschichte des drelasizJUirlgen Krieges.
Stralsund. Verlag der Königliche« Regienmgs-
Buchdruckerei.
Büttner, A. G. v., Ein Dämon. Roman aus der
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Berlin, Hacke und Grüzmacher.
Vinoenti. C. v, Erlebtes und Fabullrtes. Dres-
den, E. Pierson.
Wlttlar, G. C Urkunden und Beläge zur Gnnther-
Forschung. Striegau, A. Holtmann.
Btbigitt unter D«antmonlid)ff it bts $naasatbnt.
Sdjltfifdjt 8ad)brncfrrci, Knnfb nno Dtrlag»2InSalt p. S. Sdjottlombft, Breslau.
UnbrteArlattr UaOMai aat b»m Jntjalt biefti 3ritfd)rtf1 unttrfagt. Ueberi«*iina>r«drt socbfbaJtt«.
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(TT
Die Karlsbader Mineralwässer und Quellenproducte
lind cn bestehen durch die
Karlsbader Hüneralwasser-Yersendnns:
Löbel Schottländer, Karlsbad t/Böhme*
sowie durch
alle Mineralwasser-Handlungen, Apotheken und Droguisten.
Ueberseeische Depots in den grössten Städten aller Welttheile.
II
M
i
u
Li
n
Ermässigung der Preise für
Apollinaris
Natürlich kohlensaures Mineral Wasser.
Im Einzelnverkauf wird das obige Wasser, jetzt wie
folgt berechnet : —
Inclusive
des Gefässes.
Vergütung für
das leere Gefass.
Netto-Preis
des Wassers.
*/i Flasche
30 Pf-
5 Pf
25 Pf.
Flasche
23
3 .
20 ,.
Vi Krug
35 ,
5 »
30 ..
1/2 Krug
26 ,
3 ,.
23 »
Käuflich bei allen Apothekern und Mineralwasser-Händlern.
THE APOLLINARIS COMPANY,
LIMITED.
December 1895.
3nb,alt
Seile
€mil Sd?oenaid}«<£ctrolatlf in palsgaarbOuelsminbe bt\ Dorfens
(Dänemarf).
pbtfemon nnb 33ands 277
Hidjarb Koeljlicb, in Breslau.
«Ein für(ilicf)cr Didjtcr. (ptin3 (Emil ju 5d)oenaid)-<£arolatt).) 288
3ofcpl? 3oeften in Köln.
2lus Dflffelborfs <Slan3epod;e. Ungebrucf tc Briefe von ^elij OTenbels.
fotm-Barttiotby) 308
€. 2Tlafd?fe in Breslau.
Hnfjlanb in <£entralaften. (Schlug.) 3\6
Bertha Katfdjer in Baben (£tieber«©ejlerreid)).
^reibenferin unb Cfjeofopliin 337
2luguji tPunfdje in Dresben.
Der bentfdje OTidjel mit feinem mytfjologifdjen Hintergründe 3^9
^riebricb, JDegmtiHer in ZTlüncfyen.
Der 11% (Eine äflijetifdje Stubie 358
XKite Kremnit) in Bufareft
Sein »rief. HoceHe 370
Bibliographie 402
Silberntla» jnr <Stfd)id;tt ber beotfdjen nationallittc a \ r ("Tlt T'::':i vioir i '
i3ibliograpI}ifaje Hotten
Qierjn ein Portrait: prin3 (Emil 3U Sc *; a:.'- :.ir >.
Habirnng oon tfran3 Horid; in ; ii r •. 1? •. > ■,;
.rtorb unk Sab* erfdjemf am 2dif<ng jebe» Uloiutts in »f.— .. j: {.r .> •
ptt i» pro (Baartal (3 9efte) 6 : ■■ ■ —
XO* Badibanblanfen an» poftangalttn nehmen jeberjeit 3 e)lf Hungen a*.
Zille auf öen reöacttonellen 3n^alt oon „5Barb und ^ttb" be*
Sügltdjen Sen&ungen ftnfc ofytie Ztngabe eines perfonennamens 3U
rieten an «Me —
Hebaction oon „JSotb una £üu" Breslau.
Siebenfeufenerftr. U, {3, {5.
Setlagen 3U oiefem Jjefte
port
ttnor. 9«*. ftdR & *of)tt In Kopenhagen, (tnciaing, Sie {tan (Ponofmcurin von patis.)
<5. C. £cf)inann in Droben n. (Sd>utj, Der fleine Samariter.)
3. Keitmann in Heubamm. lS3Ild>e. «ntroi<feIunqs«eWajle ber Katar.)
<£l)t. #trm. Xaudmtt} in Ceipsig. («mpfer/lentmertlje <Srfd>rnta>erre.)
Woolf tirje in Ceipjl«. («mpfeblensmtnbe ©efienftperfe.)
(BOjUffla)« »ud|br.<t«rel, (tunfr u. BetlaaMUtfialt ». « «4|oltU«»HT in Sreslau.
(tfeiljnacfjtstatalog.)
n unfete ^bonnenten!
ES9|ie bereits erfcr/tertenen 3änt>e oon
„Horb unb SüM
tonnen entwebet in complet bxoföMen oöerfein geßnabenen Sänöen
oon uns nadjbesogen tperöen. Preis pro 23anö (=3 f)efte) bro-
fct/irt 6 ZlTarf, gebunöen in feinftem 0riginab<£inbanö mit reicher
(ßolöpreffung unö Scfytnars&rucf 8 ZlTarf.
€in5elne £)efte, weldje wir auf Verlangen, fotpeit öer Porratb,
reidjt, ebenfalls liefern, foften 2 ZTTarf.
Cbenfo liefern wir, wie bisher, gefdjmacfpolle
g)rtgmaC ■■ @i«ßan66ecßen
im Stil öes je^igen ^eft«Umfcr/Iags mit fcr/iparser unö (Bolöpreffung
aus englifct/er Ceimpanö, unö fter/en folct/e su Sanö LXXV (£>dober
bis Decembet (895), tpie aucb, 511 öen früheren öänöen I — LXXIV
ftets 5ur t?erfügung. — Der Preis ift nur { ZHarf 50 Pf. pro Seele.
5u 33eftellungen tPoüe man ficb, öes umfter/enöen Settels beöienen
unö öenfelben, mit Unterfct/rift perfet/en, an öie Bucr/r/anölung oöer
fonftige Sesugsquelle einfenöen, öurc^ »eldje öie Jortfetjungsb/efte
besogen tperöen. 2lud? ift öie unterseidmete Perlagsr/anölung gern
bereit, gegen <£infenöung öes Betrages (nebft 50 Pf. für ^rancatur)
öas <Sea>ünfajte 5U erpeöiren.
Breslau.
Scr/leftfct/e Buc^örucferei, Kunft« unö t?erlags«2lnftalt
p. 5. Sdjottlaenöer.
(Befalljettel Mmfteljettb.)
I
-g&efteazettei.
Sei ber Sucf/r/anblung pon
beftelle ict) Ijterburd}
„Horb uno Sflo"
herausgegeben oon poul Einbau.
Sdjltffldte Sudjtirnrfrrei, Knnf»- u. PetlagMnftalt o. 5. Stffottlaenber in Breslau.
€jpl. 8anb I., u., in., IV.. V., VI., VII.. VIII., IX., x., 1
XI., XII., XIII., XIV., XV., XVI., XVII., XVIII., XIX., XX.,
XXI., XXII., XXIII., XXIV., XXV., XXVI., XXVII., XXVIII., i
XXIX.. XXX., XXXI., XXXII., XXXIII., XXXIV., XXXV.,
XXXVI., XXXVII., XXXVIII., XXXIX., XL., XLI., XLU., XLIU., i
XLIV., XLV, XL VI., XL VII., XLVIII , XLIX., L., LI., LU., LIU., ,
LIV., LV., LVI., LVII., LVUI., LIX., LX., LXI., LXII., LXHI., !
LXIV., LXV, LXVI..LXVII., LXVIIL.LXIX., LXX., LXXL. LXXIL,
LXXIIL, LXXIV |
elegant brofcr/irt sunt Preife pon 1 6. — |
~ pro Sanb (= 3 ßefte)
fein gebunben 5um Preife pon M. 8. — pro Sanö.
«SPI. £Jeft », 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, U, 12, (3, »4, »5,
»6, »7, (8, 19, 20, 2», 22, 23, 24, 25, 26. 27, 28, 29, 30, 3», 32, 33,
34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 4», 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 5»,
52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64. 65, 66, 67, 68, 69,
70, 71, 72, 75, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 8», 82, 83, 84, 85, 86, 87,
88, 89, 90, 9L 92, 93, 94, 95, 96, 9?, 98, 99, »oo, »o», »02, »03,
104, 105, (06, (07, 108, »09, HO, »»», » »2, US, U4. U5, U6, »»7, |
»»8. U9, 120, \2\, 122, »23, 124, »25, 126, 127, (28, »29, »30, »3»,
»32, »33, »34, »35, »36, »37, »38. »39, »40, »41, »42, »43, »44. »45.
»46, »47, »48, »49, »50, »5», »52, »53, »54, »55, »56, \57, »58, »59,
»60, »6», »62, »63, »64, »65, »66, »67, »68, »69, »70, 17», »72, »73,
»74, »75, »76, »77, (78, »79, »80, »8», »82, »83, »84, »85, »86, »87, I
»88, »89, »90, »<M, »92, 193, »94, »95, »96, »97, »98, »99, 200, 20», ,
202, 203, 204, :05, 206, 207, 208, 209, 2»0, 2»», 2»2, 2»3, 2»4, 2»5, 1
2»6, 2»7, 2 »8, 2»9, 220, 22», 222, 223, 224
5um Preife pon M. 2. — pro ß,eft. i
€inbanbbecfe 311 So. LXXIV. Quli bis September J895) ,
«Spl. bo. 3U Sanb I., IL, III., IV., V., VI, VII., VIII.,
IX., X., XI., XII., XIII., XIV., XV., XVI., XVII., XVIII., XIX., I
XX , XXI., XXII., XXIII., XXIV., XXV, XXVI., XXVII.,
XXVIII., XXIX., XXX., XXXI., XXXII., XXXIII., XXXIV., !
XXXV., XXXVI., XXXVIL, XXXVIII., XXXIX., XL., XLI., j
XLU., XLIII., XLIV., XLV., XLVL, XLVII., XLVUI., XLIX., L., I
LI., LIL, LUI.. LIV., LV., LVL, LVII., LVUI., LIX., LX., LXI.,
LXII., LXUI., LXIV., LXV., LXVI .LXVIL, LXVUL, LXIX., LXX , •
LXXL, LXXIL, LXXIIL, LXXIV
3um Preife pon M. (.50 pro Z)ecfe.
IDoliitnng: Home:
nid)tgrnrflRf4tM bitten jn twrci)ftnid)tn.
Um grfl. redjt bntlldjt Hamm». nnt> HJofjmmgsanaabe nrirb «rfndjt.
•»•• ••••
tt 4.
IX-CMbcr i.;3.''
• -. 1 et f
-
€ine beutfcf^ ZTIonatsf djrif t
herausgegeben
von
Paul linbau.
LXXV. 3anb. — December — §cft 225.
(mit einem Portrait in Kobirang : p r i n 3 € m i I jn Sd>ocnaid;.CaroIatl!.)
2ßr eglau
Sdjlefffdje Budjbrucf eret, Knnfi* nnb De r(ags*2(n|)a(t
». 5. Sdjottlaenbct.
pfjüemon urtb 3aucis.
Don
€mil &ri)oenaidj'€aroIatf).
— palsgaarb'3ue(sminbe bei £jorfcns (Dänemarf). —
pbjlcmonl pfyilemon!
Sie Sonne ftid)t, fd}ipar3 ragt bet Sorbeerfyatn,
Don fernen f?6l('n natjt eine HMterrooIfe,
Birgt, ceilcfjenfarben, ferner 23litje Sdjein.
Die giegen bläfen rutjelos am Hain,
Unb er, ber <8ute, ging jum Sajnitteroolfe.
JTtid; bangt um iljn . . fein Sidjelton burd)fd)it)irrt
Die fdjwiile £uft mit froljgetjeimem taute,
Dies Schweigen lät|mt.
PDdemon : '
(Srnfj Dir, Du forglicb, (traute.
Den Klippenfanm b,ab' miitjpoü id; burdjirrt,
Die Bärftein abwärts fdjeurfjenb ju ben tDiefen,
Sie nafdjen gern am jungen Sdjotenfeim
Der golbgebrSmten giftigen <£vtt|ifen.
(Skid) bradjt' id; ^utter für bie (Ediere fjeim.
3etjt mödjt' idj, miib' com ungetooimten Steigen,
Danfbar bie Slirn bem ^üHenfd)atten neigen.
Dem Schatten nidjf, fomm in ben Sonnenfdjein,
Die ^oljbanf trag' id; in ben <SIan3 tjinein,
(2s rub,t ftctj gut an eigner £)üttenf<f;n>elle.
<£mü 5djoenaid>-£areIatb, in palsgaarb>3nelsminbe.
Jldj, ttjenre (Sattin, wo Sein fädjein weilt,
£jerrfd)t (Babenfälte, füge Dafeinsb,elle.
Xauct#:
3a, wir finb glürflid;, bodj — bie geit enteilt.
<Dft fptiajt mein £jer3 in ruljelofem Sdflage:
(Ein <£nbe brotjt bem allerfdjönften tEage,
£ängft warben fdjräg an unfrem pfab bie rdjatten.
2ld), altersgrauer, treuer Weggefährte,
Dag boaj bie 3ngenb ewig, ewig währte I
pijttenion:
Dergi§ ntdjt, Stebfte, wie fo gut wir's Ratten.
Was (Bötterrmlb uns Sterblidjen erlaubt, •
Du ftreuteft es als fanften Hofenregen
ITtilöfye^ig, frennbttdj auf mein altes £?aupt.
Sein tEtjun war <£>lü<S, Dein Cageswerf war Segen,
Unb täglidj nod; nimmt Deine (Säte 3a.
Oßautig :
Der Stärffte, Befie, Sd^nfte warft ftets Du.
PDKtman:
Dem (Eage preis, ber Dieb, mir angetraut,
tfir liebten uns, boaj jwifdjen Fallen Myrten
Sdjfid; Hungersnöte, bie «Eumcnibenbraut.
pofeibon boeb rjat unfern (Sram erfdjaut:
3m wilben Sübfturm branbeten bie Syrttjen
©lau, gifdjtbefränjt 3U111 Klippenftranbe b,er . .
25auct'si :
Da riffeft Du, 3U retlen uns con Ittangel,
2In rjodjgeftr/wungener, breigejaefter 2ingc(
Den filberfetten (Etjnnfifcb, aus bem IHeer.
3d} aber ffotj f<f/netlfü§ig oon ben Klippen
Unb fügte Cid;, befj 21rm nod? ftraff vom fang,
5al3fiberfd)äumt, ben tfaefen mir umfdjlang,
fjelljubelnb auf bie (Eriumpijatortippen.
(£in ITankerft ctfdjcint.)
lpfjilcmon
tDie warft Du fdjönl IDir fdjritten buraj bie tlaajt,
21uf fremben Bergen gelten ^irtenfeuer
Ejodjrott) unb einfam ftille £jöriena>ad)t.
3m Süben ftanb, golbäugig, erbenfern,
Des tiebesglficfes gro§er funfelftern.
3lus palmenüberbunfeltem (Semäuer
fjob fidj bas tttoosbarb,, unfer (Erbentjeim;
pjfilemon unb Baucis.
279
Du tranfeft fd;eu 00m felbftgebtantcn Seim,
Dann, fdjlucbjenb, bang, im feigen Hofenl(age —
aßaurig :
<D fdiweig, 0 fdftocitj . .
PDüemon :
Starb uns in Settgfeit
Der jungen Setjnfudjt tjerbe, lefote plage.
*aii£f#:
Sie ging batjin, ble nie perfd;mer3te §cit.
Pflifeman:
<D ferjrt 3nrncf, ib,r l}onigfd)ir>eren (Lage.
28auri0:
0?ie o>arb er alt. 3b.m fenfen fidf bie Etber,
«Er nitft, er fdjISft. Heb,, fäm' bie 3ugcnb toreber!
©et IPanberrr:
3tjr friebllajenl <£udf fiel ein feltnes £oos.
Jld;, baf} fte fdjlügen, treuer £ lebe flammen
Um jebes £}er3, auf jebem Ejerb 3ufammen,
Dann tagten Cenje, tierrlitb,, 3ufunftsgro§.
Dann Fönnten (Sötter biefe IPelt ermahnen
Um, nngeftraft, fid} OTenfdjen 3U permSi)(en.
IDeirf;' mir com Raupte, großer ronnentraum.
Beut «Eure fjötte bem Derirrten Kaum?
asaucl$:
<£in (Saft, ein (Saft! Seit ficb, 3um Dorfe fenft
Der £jänbler pfab, roarb uns fein (Saft gefdjenft.
Dem Hage ^eil, ber Did; uns 3ugefälirt —
ptjilemon, flinf, jetjt wirb ber Hopf gerührt.
pgilemon:
(Ein (Saft? t>ernet)m idj redjt? freunb, nimm rorfleb,
(Sleiaj flammt bas Seifig. Kurie Did? im Seffel,
Unb, Sauds, mos Du (Sutes ijaft, bas gieb.
26auci#:
§um f euer tjebe mir nod) rafdj ben Keffel,
Dann tummle Did). Dom (Särtletn bring rjerbei
mir reidflid; lTlin3e, Hüben unb Salbei,
(Sleid^eirig fd?aff' ben ITtifd)frug aus bem Keller,
(Erag' fänftlid; ib,n, bann rjält ber Wein fid} fjeller,
Unb t)oI' mir etib(id), wenn Du fertig bift,
Dom Dodj bies Haudjfleifd!, bas iaj längft »ermißt.
280
— €mil Sd)»enaid)«<£arolatb, in palsgaarb-^uelsminbe.
PÜitemon:
£afj, Bands, mir ben Ejerb nur nidjt erfaltenl
%auri$ :
§ier ftetii ber Cifdj, bodf acb,, gor fpeifenleer.
Wer Iflanbercr:
3tfr lieben, guten, milbgefinnlen 2flten,
OTidf 311 bewirken fällt nur Reihen fd)mer.
Derädjtfid) oft wies id) vom £ebenstifcb,e
Des Seidftlmms fette, golbgefdmppte ^ifdje,
Denn Selbftfudjt mar bes pruttfgelages Kern.
Dod; 3Ijr ben>irtb,et fonber 2lrg unb gern,
Drum bred)' icb, berb von (Euerm Kleienbrote,
Unb es bebagt mir €uer IDetn, ber rottje.
SßauctfJ:
tt>ie treulid; etjrt er unf're rantje Koftl
Ejor' an, ptjilemonl Unler'm £jeerbesroft
Briet tjeut ioj Hepfel; wollt' Did; überrafdjen.
© (Sute, nimm fte Imrttg ans ben Jlfajen
Unb wiffe benn: im Bienenjiod* vermai)rt
Siegt {jonig tiodf, ben idj Dir anfgefpart.
Bring' 21Ues tjer, ben fremben mirb's erfreuen.
©er JE>anbem:
3b.r (Suten gebt; es foü (End? nidjt gereuen.
<Sern mag idj raften, wotybettfdjt unb marm,'
Dodj flammt ob Unbill, untermegs erlitten
3m fjlrtenborf, ju £jaupt mir jälier fjarm.
Jlud; jenem ©rt, ben quer mein Stab burdffdjnitten.
Dies Oolf ift fdjledjt.
ßljtlemon:
£jart auf «Erwerb verfeffen,
Dod? fdjledft? © nein.
©er MDanberer:
ijrennb, Sdmlben 3U bemeffen,
3ft Hidjteramt unb 3iemt nur mir allein.
2(1* Bettler fam idj, weil aus Bettlermunben
(Ein b.eil'ger Strom ßur lTTenfd)b,eit nieberquittt,
Bis bafj ber (Sotttjeit tiebesburft gefüllt.
2ln jenem Strom, ber fndjenb tjeimroärts gei)t,
Jjarrt, IDeltenfdjicffal roägenb, ber propb,et
ITlid) tjefeten fie mit magergelben £junben,
Die £id;el fdjor ben golbnen (Serßentjag,
mir warb, flatt Speife, fjotmwort, Knüttelfdflag.
pt)t(emon unb Bands.
3n jebem £jans, bem id; mein Ejeil befatjl,
Stielt bie <5enujjfud;t breit ifjr Bacdjanaf,
Dort lagen fte, bie graffe Selbftfncr/t fäugenb,
Jim ^utiertrog, eergleiäjbar fdjwarjen Stieren,
Die, wieberfäuenb, trag, im tlartrnngsgieren
Sem grofjen Sdjladjttag fttimpf entgegen Sagen.
Der dag fcmmt balb.
asaucij :
<2s bricht (Semitterglan3
Vom 23(icf bes Jremben. Hielt}* idj (einen HJiflen!
Jßgftemon:
Ztocb. fmngrig blieb er worjL 2?ancis, im Stillen
«Erwog mein Sinn: wir opfern itun bie (Sans.
aßaucifl:
Das treue Ctiier? U?er|, wenn fein galm fte nagte,
Sie warb uns jrennb, bie Fluge, b,ocr/betagte.
pgflemon:
2Id), (Safipfticb,t malmt, mir muffen ftanbtjaft fein;
Das ItTejfer fdjätfc fad>t am Keffelfieiit,
3<b, will alsbalb mit unfres Heftes Broefen
ans irjrem Stall bie ijansgenoffin loden.
Daun, ahnungslos, roenn fie bas ITta^l geniest,
(Trifft fte ber lob, ber jebes (Slüc? befdjiiefji.
3d> habe OTuib,! Dod), Bauns, immer3U
IPaY es mir lieber, fdjladjteteft fie Du.
•»aurt0 :
3<f)? Ztimmermetir, rie^lofes Ungeljeuerl
Dod) ... Du f>aft Hedjt. Das fiiiftre IPerf gefdjet)'.
So fdjlaajte fte, bocb, ttm bem Cf)ier niajt wer;.
©et DDanbertr:
IDetcb, ijeil'ger Duft umflort itjr fjütteitfeuer.
Jln biefes Jjerbs cerglommner JEiebesfpur
(Erftarft mein IDunfcb, naaj (Slücf auf (Erbenflur.
Ejalt einl ZTad) Speife liifiet's midf nidjt metjr,
tTadj (£nren £jer3en bodj Irag' idf Begetjr.
IDir wollen traulid) um ben (Eifdf ans reiften,
Unb. rebefror), ber Haft ein Stänblein weisen.
Spred>t. (Eures £ebens langgemeff'ne §eit
Sdmf €udj oiel S duneres?
pjjileman:
fjerr, nur Danfbarfeit.
asaurlj:
Der (Sute bjer trieb uns vom Jjaus bie plagen,
mit foldjem (Satten lieg fidf Mlles wagen.
I
282 €mil Sdjoenaiij'CaroIatb, in palsgaarb>3uelsminbe. —
ßBflemon:
Dod; oljtte Baucis tfätt* ic^'s nidjt ertragen.
»aucf0:
Craut nidjt bem IDort — bie £iebe fprad; barein.
©er TOaubeter:
Jreunb, (Euer (Slücf beraufcf)t gleid} jungem HJeirt.
Deg f|erber Duft i)at meinen ITtnnb beflügelt,
Hirn traut (End) IDünfdie, satjlreid;, nngejüaelt.
Den iüirtljen 3oHt ber (Saftfrennb ein (Sefdjenf,
Des guten Braudjs, bes alten, feib geben? . . .
ßDUeman:
• 3a, bamals gingen <S3tter nodf auf «Erben
©er Zauberet:
Hidft traumhaft taOt bie gute golbne geit
Mus IHardjenmunb, — fie lebt, jte propljejeit.
3ljr priefter natjt, es reißt fein lttantelfd|oog,
Unb blenbenb flafft cor frommen tjflttenbeerben
Der tDunfdjerfüllung (Solbfdjag fönigsgrog —
l^fjileman und »aurig:
<D lag ncdj einmal, einmal jung uns »erben!
©er »anbetet:
tt>ie fteigt fo »üb mir Sdjöpferfraft 3a £jaupt,
(Ein Sonnenftrom, ber jebes Bett uerloren,
Der ungebänbigt, fpottenb jeber furt,
«Ein jebes t}er3, bas toertb, ber Iteugeburt,
^eimraufd;enb trägt 311 »eigen Siegestboren.
<Se»äf|rnng foll €ud) fein, »eil 3^ geglaubt,
pbjlemon, gel), unb tafte Did) am Stocfe
gum beigen (Särtlefn, aus ber Bienengtorfe
Brid) Dir ben legten fügen fjonigfeim.
Dann auf bem Bänflein rulje, »unfdjr-etgeffen,
Denn nur ein Sdflaf im Schatten von Cypreffen,
Der Furje Sdjlaf bringt 3ugenb wieber b,eim.
Xlun neige fanft Dein fjaupt bem füllen £aube . . .
2ßaur<#:
Sein <fug »arb fd)»ad), er glitte leidjt im Staube,
fjerr, er ift alt, icff (äff' iljn nidjt allein.
©et »anbetet:
Mnf, mir 3U tfügen flattre, fromme (Laube,
(eilt pbilrmon)
3d) unb mein lüerf, »ir muffen einfam fein.
ttnr, wer fitb, tief ber (Einfamfeit befab.1,
£}5rt raufdjenb natjn bes Singfdjwans (Solbgefteber,
Unb jubelnb fteigt aus füger Sd)öpferqnal
Sein tüerf tjeroor, fein Kinb, fein £ieb ber Sieber.
— pijilemon unb öaucis. 283
iTodj sweifelt er, burdjfd|üttert, fturmoerftört . . .
Bridj benn l)erab jum morfd(en myrtenftamme,
Du grüner £en3 — b.ier warb ein <Slücf erhört,
Den <85tter £jeü, nnb pfyrygiens Sonne flamme.
(PernnrnMuitj.)
2ßauci£ :
tüie warb mir? UJonne faßt midj. Uferlos
Derfinft bie iTadjt, es fdfwimmt burdf £rüb,lingsweite
Ittein £jer3fd[lag tjtn, fo reich,, fo jitbelgrofj.
Wie bin id; feiig, feiig idj Befreite.
Zinn feb,re tjeim, mein erfter £iebesrnf,
§n befpn Bruft, ber neu bas (Sliicf mir fcbuf,
Der 3ugenb, 3ugenb mir 3urücf gegeben.
©er ©anbetet:
Vitl I;öf)er nod} foQ Did? mein 2lrm ergeben.
So juble benn, Du metner tträume Kinb,
Beraufdje Dirf; am jungen £en3, erwad;e,
mit t}erb gebäumte it rotten tippen ladje
Dein £iebesn>ort bem frifdjen £ebenswinb.
Du bift ermäljtt, bifi (Söttern angenehm,
JJuf Deiner Stirn, im Setdjen jungen Hümmes
Crag frot) bie Krone bes f?ellenentb,umes,
Der ew'gen Sd}3nb.ett 5trai)lenbiabem.
Den SdjSpfer bannt ein tiefer fjofjeitsglaube
üor fein (ßefdjöpf, bafj er bewutibernb fteb,e . . .
OBaucig:
<D gieb, bafj nie von meinem Ijaar jum Staube
. gnrücf Dein Kran3, Dein blüttjenrottjer, tueb,e.
©et ©anbetet:
<£r3tttre nidjt. §u meinen ^üfjen 3iei)t
Der Sonnenbad, unb tjinter ITtyrtenbäumen
Bleibt er, gluttjftarrenb, tjaften am genitt),
Um ewig über unferm <SIüd 3U tränmen.
<2rt)öre midj, bann wirb bies IPunber Dein,
Unb meine Kraft »erbürgt Dir £jerrf djereljren ;
Uuftcrblid; foüft, mir an»ermät[lt, Du fein.
Dein liebesfufj foll uns beit Hut)m befdjeeren
2lls (£rft(tngsfob,n; ber fdjütte f raf tgefdj wellt
Sein gleigenb ^ülltjorn auf bie fd?warje U7e(t.
Doch, ©pfer nur, bie corbebingungslos
Grifft Dom ©lymp ber tjeil'ge Bliöesftofj,
So fdfmelj' idj Dir bie fpröben Pan3erfiüllen,
So raff' id) jubelnb Deinen jungen £eib
3m BliittjenfJnrm tjinweg, mein UJerf, mein Weib.
£mil Sdjoenaidj'fcarolatb, in palsgaatb'3uelsminbe.
IDeb, mir, lag ab . . . Hein tt>unfd) birgt fein (Erfüllen.
Pernid)tenb, unermeßlich mar ber IDatjn
Unb tief bet Sdfmerj, ben Du mir angctttanl
©er JE>anbcrrr:
E3t|tnt §agen Did;? tt>illjt Du bem (Slücf entrinnen?
Konnjt Du bie (Sinti), bie Dir nm's fjanpt idf flodjt.
Dergleichen mit bes tjüttleins £ampenbo<b,t?
Bift Du fo fiein? Bands! Kamft Du »on Sinnen?
28aurig :
<D b,abe Danf, bag Du midj redjt benannt
Unb mir ben €rbenb,eimruf 3ugefant>r,
Wo bleibt prfilemon?
©er Umänderet:
Du bem Staub (Setreue,
Die Du 3um großen Sonnenfinge träg,
Sdjon fjängt an Deinem £ippenfanme fdjräg
Unb fd)wer bes (Släcfes (Segenlafi, bie Heue.
Zldj, baß Dein £}er3 fo fdjwer ficb, löfen fann
Vom «Ebejoct/, bem plumpen gweigefpann.
Dein (Satte nab,e, bann mit Sdjmerj unb (Stauen
Jfirft Du bas gerrbilb Deiner fdjöntjeit fdjanen.
gum erften OTaf bat Baucis mein oergejfen,
Dod), forglid} wob,l, fcljafft fie bem ^remben Danf.
21ud} mir geroig bringt fie 3ur (Sartenbanf
ZTebft bem ge«jot)n(en milben Sdjlummertranf
(Ein Brölflein 2lbt)ub, ber ba blieb com (Effen.
afautip:
Derfudjer! §icf)c Deines lüegs allein,
Dir warb bie Welt; bies weife tjatipt bleibt mein.
©er JDanbt rer :
So roillft Du, taub bem 2iuferftetmngsruf,
§nm Staub $ntüd, ber 2Irmnti) nur Dir fttjaf ?
Du, bie beftimmt 3n groger Siegesreife,
Cntroidjeft mir, Dieb, pdjtenb ju bem (greife,
3n feiner faft mfitjfclig Ijeimjutragen
riedjttium unb Sänbe, <Eob unb Bettlerplagen,
Die Stirn gefurdft, wenn (Erbenfonnen ftedjen?
tiein, Ciebesrofen, oolle, follft Du brechen.
2Jn meine Bruft, auffet-auernbe (Seftalt,
3d; bin bie Kraft, bin £eben, bin (Bewalt,
€mpor 3U mirl 3" 3ÜgeUofen flammen,
3n ew'ger 3ugenb ftiirmen wir 3ufammen,
ptlitemon nnb Bancis.
285
Dajj ber Olymp fid? nnferm «Slücf »ermäf|tel
Hott fdjläft ber (Sreis — fjier ftef;t Dein (Sott: Ztun tpät;le.
Sief} bies (Sefdjöpf, oon aiterslaji gebrätft . .
28autig :
Heiß mir com fjaar ben Krait3, ber mtd; berütft
(Ein Sicgestjelb in Deinem Ejimmel bleibe,
Hütin auf «Erben lag ben mann beim tPeibe.
©er K> Anbeter:
ITlein Wext miglang. © groger Eiebcspfeil,
Den feb,nenb id;, oon Beutcbrang geblenbet,
3n ȟber Kraft ber menfdjljeit jugefenbet,
Du fetn-ft 3urücf, flug3itternb, offne £jeil.
Dn ffatterft f;eim, oon fc}er3blut tief gerötfjet,
Dod; mein Blut ift's, nnb midj fjaft Du getöbtet.
»autltf :
tDadj auf, pt)ifemon. Sief;, fjier weilt ein mann,
Der barbenb fam, ber uns als (Saft gehörte,
Der 3anbetfunbig, burdj BefduoSrungsbatm
Dein ItJeib oerlotfte, meinen Sinn betörte.
Umgarnen!) warf bes perlenftfdjers Ejanb
mir über's Ejanpt ber Sd;önt)eit Hetjgewanb,
Derftricfenb mid> im golbnen ItTafdjenregen,
Unb um ein Haarbreit wäY id; unterlegen.
So (ofmt ber <$rembling ©bbad), labettanf.
©er BDanberer:
tlun fott, ptjilemon, einmal nod; in Braufen
Der 3»9e«o Sübwinbftog Didj äberfanfen.
H>f)iIeinon:
Den roft'gen 3a9°fPc« fäll* id;, Dir 3nm Danfl
Dnrd; biefen Stat;!, ber tDolfsblut oft gelecft
Mn meiner Sdjwelle feift Du fiingefUerft,
Hod; wef;rt mein JJrm lid;tfd;euem Haubgelidjter.
®et JPanbrrer:
Untjolbes paar, be§ Blicf ber Jrrtfjum be<ft,
Vox «End; ftet;t geus, ber große Fjersensridjter.
<£rtjebet «Eud;, unb wiffet: milb gebudjt
lt»arb «Eure Sdjulb; «Sott felbft b,at «End; oerfud;t.
€rncuter 3ngenb blitjenb Stirngef;enf
«Es war 3u grofj, ju f;errlid) bies (Sefdjenf.
(Serfittelt feib, im Sturm oon fjajj nnb Sieben
3fjr fdjulMos nidjt, bod; menfdjlid; wab,r geblieben;
3d; bin «Eud; fjolb, ntib et; ber 31benbfd;atten
üon biefer Stätte meine IDegfpur werft,
tt>ill id; ertjören «Euer Zladjtgebet
Unb einen tDunfd;, ben legten, «End; oerftatlen.
286 «Emil 5d}oenaicf)-€atoIatli in Palsgaarb«3nelsminbe.
IMjitemon unb Q5auti£:
Zlimm uns com fjaupt bie (Sinti; ber ero'gen £en3e,
Sag uns, nid?t af^neitb nnfres £ebens (Srenje,
2In einem dag, in einem Hüffe fterben.
©et iBanberrr:
(Es fei, bock, 3ugenb follt 3fa bennoeb, erben.
2Iuf «Erben fajoit wirb «Eurer £iebe Strom
llnfterblidj fTattjeti. wirb in Didjtcrfagen
gurfitf ßur tüelt, ber götterlofett, tragen
Des (Sriedjenlorbeers tjerbes Duftarom.
Zinn, tjetjre 3<i9enb, bie mein Sann befebmor,
Ker/r jubeinb (jeim jum rott)en Kofenpor,
5u jrüttlingsfonnen, bie ftdj niemals weitben.
£a§ biefes paar erfüllen unb coUenben
3tjr £oos, bas tragifdj bunfle, JTtenfcb, 3U fein.
Kerjrt tjeim unb rntjt im «Erbenfonnenfcb.ein.
PDiIrmon:
tt>ar 3IUes Craum?
3Paurt$:
<D «Blücf bes 2Iu f ermaßen» !
J&gilemon:
Ztid)t ift's benn warjr, bag wilb idj fdjroang ben Spiefj.
08atici$ :
Unb (Eäufd;ung bleibt es, bafj mein £jerj Dia) lieg.
PÖilrmon:
Dein fc)er3? mid?? — Komm, mein ITTunb quillt frotjen faajens.
l£>ir rooQen plaubern, auf bem SSnflein rutft
3m Sonnengolb es firb, fo gut, fo gut.
OBaunjS :
€in Kranicbpaar im Ztctljer fet) idj freifen,
«Es ftrebt im £jeima>et( neuem <frür(ling nacb,.
pgtleman:
Utein Stief er(ofd), mein Haa' warb trüb unb fd)wad?.
Der (SStter fjulb befdjirm' ib,r £jeimwärtsreifen,
in8g' itmen balb auf frommer £jütten Darb,
«Ein neues Heft, ein ftnrmesfid;res, werben.
Wir aber freun' nod? friebfam uns ber «Erben.
2Öauri0:
groei Kinber finb wir, bie bunb/s €rntelanb
tTacb, langem feft ({eimroanbern fjanb in Qanb.
J&ljtltmon :
Unb beren Sippen, eb,' fie müb' fidj fajloffen
21m tPegesfaum, im festen Sonnenbranb,
^ür 2JUes banfen, bas fie reieb, genoffen.
pbjtemon unb Baucts.
287
©et ltf anbetet:
Jlus fo piel (jeif gern Sterbefrieben raufdjt
5Jud) mir 3U fjaupt ein großes 2Ibfctjiei>satjncrt,
<£s äicf]t t)erau auf (Dffenbarungsbatmen
(Ein neuer £en3, ber (5ottb,ettsfränje taufdjt.
Mus ferner £uft IjöY icfj, proptjetifdf, Hingen
(Ein großes füttern pon (Etlöferfdjtuingen,
(Ein Demntb,sgott tpirb n>anbeln bureb, bie §eit,
lim ftiü", im blut'gen Ueberminberfleib,
3m frütirotf}lid)t ben Stein com <8rab 3U lieben,
ZTnr biefer (Sott, nur er, wirb ewig (eben.
Dann britb, 3ufatnmen, (SrieAentjerrlidjfcit!
Unb bennodj f ctjlugft ans trümmerfdjiperen tüogen,
Du jum Olymp ber Dichtung Stratflenbogen,
Unb bennoeb, wirft Du, Poll getpalt'ger pradjt,
So weit bie Sonne ffammenb nieberlarfjt,
Soweit ber Stnrm brauft, biefer tt)e(t polt (Iraner
fjeimipälicn Deiner rd}8nr|eit Sefinfud)tsfd;aner,
Dies, fjellas, aar Dein <S(an3, bleibt Deine tTTadjt.
Die Seiben bort im blütjenöen 3asminc
Küfj fanft Pom feben, f reunbiu proferptne,
Dod; itjrer tje^en Ijeilig langen (Eraum
Sefdjatte ftilf, pon cw'ger fiebe raufrfjenb,
3m Spiel bes Slattipctfs Koferoorte taufdjeub,
(Ein fraftgefdjjpellter ^watyr Lorbeerbaum.
3d? aber roill, gelernt am pilgerftab,
Didf fegnen, Stätte, bie mir (Dbbadj gab.
Den wüten U7unfd), ber mir 3U ijaupt gefdjoffen,
(Erng tcb, 3U (Srab anf golbnen Sonnenroffen,
§erbtod;en ftarrt ber Scbnfudft flammenfpeer.
Muf unerfüllten großen Sajöpferpfaben
Sinft im (Setömmel jauebjenber Hajaben
Der (Sott 3urütf in's frürjlingsgrüne Uteer.
(Ein fürftlicfar 2)td>ter.
(Pritt3 €mü 311 5d?ocnatd?'<CaroIatt|.)
Don
flid&fltb Öoe&Urfj.
Breslau.
trfticf) greifte 3Mdjter finb ofwefiin fpärtid» gefäet, jumflt in jenen
fiofjen Dieotioncn, wo ein auf baä reale Seben genieteter ©In*«
I getj, uerbunben mit forgtofem CebenSgenufj, bie fünftterifdje 3frt
ber 2Mtbctrad)tung, uor Stllem bie Steflerion, jurüdbrängt. 3« Reiben
grofjen unb tjodjftcrjenbcn Poeten, bie unfer 3af)rf)unbert trofcbem rjeruorbradjte,
51t ötjron unb klaren, tritt, »on SBenigen erft, »on biefen aber intenftr»
geroürbigt, ein britter, 'jeitgenöffifdjer: $rinj ©mit ju @d)önaidj*6aroIatt(.
2Bir wollen 51t biefer an fid) rein äufterlidjen 3"föwwenftellung »on vorn-
f»erein bemerfen, bajj ber ÜReuromantifer mit bem ©rafen Opiaten, beffen
TDctttittcrarifc^e 33ebeutung cor 3lllem in feinen 3?crbienften um bic £?orms
retnrjeit unb erft in jweiter Sieifje auf feiner — »orroiegenb ariftoprjantfdjen
— Begabung fcerufit, wenig ober 9?id)t§ gemein t>at; befto merjr mit bem
Griten, wie fid) fdjon aus einem flüdjtigen Sttid auf bie fauftifdjen Probleme
unb baS erotifdie 5>iilieu ber beiben Äünftler ergiebt. Gine in'S Tetait
geljenbe Skrgleidmng motten roir uns für ben @d)luf$ auffparen. —
Garolatfj ift am 8. 9lpril 1852 in Breslau geboren, roo . er unter bem
Ginflufi feiner 2Hutter, einer fiodjbegabten $rau, bie audj als Ueberfefcerin
ernfter wiffenfdjaftltdjer 2Berte ttjättg mar, eine »ielfeitige unb grunbltdje
5Ulbung erhielt, ©eine DffijterSlaufbafm, bie er in Colmar im GIfa§
abfoloirte, mar rootjt audj aus biefent ©runbe nur »on furjer Sauer;
benn baS wenig anregenbe ©armfonlebcn fonnte ber reidjen $nbt»ibuaiität
bes Jünglings n{^\ genügen, ©anj allgemein ift bie Verfolgung
geiftiger ^ntereffen, »erbunben mit einer IcibenfdjaftSlofen, unbefangenen
SMtbetradrtung, bie gelcgentlid) aud) bie ©renjen ber übtidjen ©taube?»
£in f ürflliAcr ZUdjter.
289
intereffcn nid)t aditet, trabitioneU im ©efd)(ed)te ber Sdjoenaidj'Garolatb,.
Sffiir erwähnen Ijier beiläufig ben ^ßrinjen £einrid), ben StetdjStagS*
abgeorbneten für ©üben. Sitteraturfenner werben fid) aud) eines $errn
»on Sd)önaid) erinnern, ber aU ©ottfdjebianer freitid) über ben 3°Pf
ber oorteffing'fdjen Gpodje nid)t f)inau§gefommen ift. — ^ßrinj Gmil
machte e3 wie ber ungtüdlidj liebenbe Herfen am ©d^tuß non ,,^Etiau=
roaffer": er ging auf Sieifen, „oon benen man meift nidjt wieberfebrt".
©r fafj am Sagerfeuer ber Siour, er ritt im «Samum ber (Samara, er
jagte bie 9iaubtl)iere be$ Oriente — unb nod) Ijeute erjagen bem ©afte
auf Sd)tofj $at$gaarb fo manage £ropf)äen »on ben ©efaljren, benen fid)
if»r SBefifcer entgegengeftefft f)at. 9Jad) jwei Sauren fefjrte er jurficf, unb
wa3 er fyeimbradjte, mar aufier ben reidjljaltigen Sammtungen »or 3ltlem
bie Äenntnifj frembcr Sänber, it)rer SSötfer unb Spraken, auf beren 33aft3
baS vornehm fd)öne, ey otifctjc SRilieu ber reifften ©arotatb/fdjen ©idjtungen
beruht. Unb nun begann in bem ftitten, wätberumraufdrten s3kl3gaarb am
grofjen 33elt, auf bänifdiem SBoben, ein fingen unb ©Raffen, bem bie
Ärone fünftferifdter SBoOenbung befdiieben warb, aU ber gro&e ©tdjter in
glüdiicfjer ©be mit einer S)ame aus altem battifdjen 2tbet aud) fein
9JJenfd)englü<f fanb. ©S mar, bei ber Qugenb unb milbgäl)renben ®emütf)35
frimmung be§ Sßrinjen, nafyeju fefbftoerftänbtid), ba§ er für feine erfte
bid)tcrtfd)e 33etb,ätigung bie fubjectiofte Äunftform, bie Stjrif, wäbjte. So
entftanben bie „Sieber an eine SSerlorene". ©£ ift fein SÜBunber, baf? I)ter
ber Sßoet nur £öne ber 9ieitgnation ober beS wüben SdirctS nad) Setbffc
»ernid)tung (SnduS „SBeftrcärtS", ber »on greiftgratf)« auSgewanbertem
<Did)ter ftarf beeinflußt ift) ftnbet, baf? man »on ber ertöfenben unb bcfreienben
2Birfung, bie ber ©oettje'i'djen — unb »on ben Beuern audj ber ©reif fdien —
Snrif ju eigen ift, 9Jid)tS »erfpürt. ^ebe ftarfe Begabung ift pofiti»; be^afb
fonnte aud) Garotatb, bei bem rein negatben 9tefultat ber „Sieber" nidjt
ftefien bleiben, bie aud;, tednrifd) betradjtet, feiner eminenten SdntberungS*
Jraft nidit ben genügenden Spielraum boten. S8or 2tHem aber tief? fid) baä
fauftifdje, grübterifdje Clement nid)t in ben engen 9fat»men beS StebeS
jwingen.
©in ®ufcenbta(ent fiätte feinen Sdimerj in sabjfofen Varianten aus«
gefungen unb märe bann »erftummt; Garotatb »eraDgemeinert fein fubjectioeS
©mpftnben unb beffen Urfadje unb getangt fo jur SWenfä^eitäbtdnung. Gr
fiebj fid) um unb ftnbet auf ber weiten Grbe fein gtcddjen, baä frei wäre
t>on SCtiränen, bie um eine grau gemeint. Unb er wirft in ber gigantU
fd)en „Spfiinr" baS Problem auf: warum ift bie grau urfalfd) unb treu*
lo3? ®ie Spb,inr, baS 355eib, fetbft weife bie 2lntwort nidit', aber ber
weife Bube, ben ber »erjroeifelte ©ui) fragt, löft ba§ 9iäti)fct in bem
wunberbaren ©Ceidmiß »om Sd^öpfer unb bem Sebuinen, auf ba§ id) fpäter
gurüdfommen werbe. Sie öanbiung bei genialen ©ebidjteS felbft bringt
feine Söfung, benn ©un, ber SUaitn, geb^t an Santa, bem SBeibe, ju
290
Sidjatö Koeljlicfy in Breslau. - —
©runbe, inbem er fid) auf bcm Saget her fdffönften grau, fatt oor Gfef,
felbft ben £ob giebt; fo ift t-orfier umgefefjrt bie engefeine „Angelina" an
ber Süfternfjett beS ÜDlanneS ju ©runbe gegangen, ücr ringenbe Äünftler«
geniuS fudite nad) einer Ijarmomfdjen Söfung biefeS ÄampfeS äwifdfjen
3Jlann unb SBeib; er fanb iljn in ber erhabenen !Kenfdjb>itSbtdjtung „£on
3uanS 2:ob". GS ift ebenfo djarafteriftifd) wie rüfmtlidj für ben ^oetcn,
baß er, feine eigenen Sßfabe wanbetnb, ju bemfetben ©djluffe gefangt rote
ber reife ©oetb> im lyauft : „wer immer ftrebenb ftcfj bemüht, ben fönnen
mir erlöfen" unb „baS ewig 2Bei6It<^c jiefit uns fjtnan." ©0 roirb aud)
£on 3uan, ber fünbige ©enußmenfcfj, erlöft burdj bie opferfreubtge Siebe
eines reinen SSeibeS, mit ber er, jum erften SDMe im Seben freiwillig
auf ben brutalen SiebeSgcnufe t)er5id,tcnb, in füfmenben flammen eingebt
5ur ewigen föeimat. £aS 33crf)ältniß ber 6efd)led)ter, baS bisber in
btd)terifd)er 50erflärung im SDttttelpunft »on Garolatf)S ©Raffen ftanb, fjat
nun feine enbgtttige Söfung gefuuben unb bamit mgletd) ben SReij $u
weiterer Bcftanblung »erloren. SSaS er fdjon in feinem GtftliugSwerfe
afmungSootl rjcrfiiubete, baß nad) Ueberwinbung bcS eignen Keinen SeibeS
fein £erj ber weiten SBelt, ber 3JJenfd)Ijeit angehören fotte; was er in ber
„<Spf)inr" flar auSfprad), baß »oh ber grau ber ftbcenflug empor jur
greibeit füljre — baS wirb jur Erfüllung in ber büfteren SRooefle „Bürgers
lidler £ob", in ber er mit ebter ipcrsenSmärme für bie Unglücfltdjen, bte
unfere focialen 3"ftänbe in Gtcnb unb £ob treiben, eintritt. ®ie parallete
Gr^äfilung „3lbtiger £ob", in ber er fid) gegen bie rjielfadj begegnenbe
©leidjgiltigfeit unb ©enußfudit beS Stbetö roenbet, fjat bem Sßrinjen natür=
tief) oiete ©egner erworben, wie wir (eiber aud) in fonft fef)r guten frirU
fd)en iRubrifeu fahren, unb aud) bie obenerwähnte 9Io»ctte f»at man uictfacfi
als eine S'enben5fd)rift beäeidjitet, unb SBornirtjjcit unb böfeS ©eroiffen
fjaben iljr wol)t gar einen aufrei3enben Gljarafter jugefdjrieben. ©ine
Senbenj fjot fie allerbingS, aber bie benfbar ebelfte: bie 3Jücffet)r junt
Goangclium ber Siebe, bie nad) bcS £td)tcrS SKnfdmunng allein unfere
furd)tbarcn fotialen 'üKißftänbe b>ifen fann. SBenn freilid) ber pafü»e &clb,
ber ©djreiber SBtttljof, unter ber gansen «Summe ftaatlid)er unb prioater
Sieblofigfeit unb Brutalität jnfammenbridit, fo wirb mand)er trietleidjt biefe
Gumulation conftruirt nennen, unb bod) mad;t fie — leiber — einen nur
allju wabrfdjeinftdjen Giubrucf. GS ift ber ©eift bcS fdnilblofen GfenbS,
baS ucrl)öf)nt, mt|',banbett, burd) bie Sanbe fcfireitct, eS ift ©eift »om
SBebergeifte. Gavotatt) läft feineit unfcligen gelben auSbrüdtid) bie ©e=
meinfdjaft ber ©ociatbemofratie metben, bte ifrn roab^fdjeinlidj gerettet fjätte,
unb als äußerfte Gonfcqucnj $ül)t er nidjt, wie Hauptmann es t^at unb
unb tf)im mufte, bie 3tenolte, fonbern bic aBettf(ud)t, ben Selbftmorb.
traurig genug, baf? jwei l)eruorrügenbe 2>id,ter ju fo furd;tbaren ©d)lüffen
unabweislid) gelangen mußten, ßarolatf) felbft nannte unS gegenüber ba«
Bud) „fein 2Berf ber Äunft, ein Söcrf beS £cr5enS nur"; er möd)te eS
€in fürftlidjer Didjtcr.
2$\
alfo wob,l nic^t als einen 33eftanbtf)ett, fonbern eine parallele feines rein
runftlerifcfien SdjaffenS betrautet, unb ba3 jeugt oon nötiger ©infiäjt;
benn feine 3Jhtfe ift bo ju §aufe, wo fie in ©otb unb ^urpur fajreitet,
ein frembartigeä, wunberfcfiöneä 2Beib, nidjt reo fie aU graue grau «Sorge
burä) Stacht unb Stenb wanbetn mufj. —
3JKt ber obigen Sä)ilberung beä @ntwicf(ung3gange3, in feinen Raupte
Rationen, glauben mir, gewiffermafsen ba§ Sfetet ■ gegeben ju ^aben, an
baä fiä) bie ®ctail3 ber folgenben 3tnatt)fe jroanglo* angliebern mögen-
lieber ba§ ©rftttngäroerf beä fünfunbjwansigjäfjrigen SMdfjterä, bie
„Sieber an eine SBerlorene", täf>t fidt» wenig meljr fagen, aU baf3 fie
ein sietoerfprecfienbeiS latent befunben. 33ei bem SncluS „SBeftwärtS",
ber einen erf»;b(icf)en £f)eil be3 33uä)e3 einnimmt, f)at offenbar greitigratljS
au§gewanbert;r ©idjtjr ju ^ßatljen geftanben; bie eine Plummer ift ftarf
oon SenauS Slliaäoerbiäjtiingen beeinflußt. 3Son ber äauberifdf)en färben»
prad)t unb ber Sä)itberung3fraft, bie bem reifen ßarolatf) eigen ift wie
wenigen Sebenben, ift nur erft ber Äeim oortianben, unb fjäufig rintjt ber
^ßoet mit ber Spröbtgfeit beS 2tu3brucf3. ©asmifcfien aber treffen wir auf
frappante Sitoer unb immer auf eä)t bicf)tirifä)e ©mpfinbung. SHe gleite
(Signatur trägt ber rein Imufäje £f);il; boä) feien liier als perlen ermähnt
ba» Sieb „grauer SSoget über ber &atbe" unb bie Sdjtufiftropfje (oor einem
SHditerbenfmat): „er ift fo grofj geworben unb f)at es fo weit gebracht,
weil i^n ein ganj fleineS 9Jtäbdjen einft enblos elenb gemalt." —
Soä) fd^on in ben „Siebern" jeigt ber 3lutor einmal bie Söwenflaue,
in „Sulamitf)", bie auf ber £öl)e feiner reifen Schöpfungen ftefjt. @r
füljrt Satan ein, nid)t aU ba§ böfe ^ßrtneip, foubent als ben gefallenen
Sid}tengcl, ber mit ©ort fyabert, weil er bie Schöpfung für ein Stümpers
werf b,ält, weit er bie 3Henfd)cn unwertf) erachtet ber göttlichen Siebe, bie
fie mit 2Beif)rauc?j umfcfiwctten, im &erjen aber freä) burdj Rott) fcfiletften
— afä roüfte £ra»eftie. Unb fcfjeinbar fori Satan 9ieä)t behalten. %m
©taube frümmt fid) »erfdimacfjtenb ein Bettler; — ba naljt mit flattemben
gähnen unb bem ^Batlabium eine 5ßilgerfcf)aar, unter güfirung j>er ^riefter,
jum Eiligen ©rabe. lieber ben Glenben weg fdjreitet ad)tlo3 ibjr gufj,
Hingt ber Stuf ber Sßriefter: auf nad) ^erufalem! unb liunbertftimmig
fdt)aüt bie Dfterfiqmne: 6|rift ift erftanben! <B<xta\\ triumpf)irt: ©u roeifct
■Jitdite mefir con Siebe, ©u fd)öne SBett; nun bift ©u mein, ganj mein.
£a 5ieb,t beSfetbigen 2Bege3 ein SWaronitenweib mit ifirem JRinbe, unb aU
fie ben £erftfimad)tcnben fietjt, legt fie ben Säugling jur ©rbe unb bettet
ba§ müfte ©reifenb,aupt an ilnre feufäje fanftgefd)roeUte SBruft. ®ann t>cr=
b,üHt fie ib,r roeinenbeä ©efid;t unb weift bem 5ieubetebten ben SBeg.
,Unb ©atan bliefte rcpngSloS il)r nadi
SJtt bot entfl'5ttciten, öctlor'nen 2luflcn."
i)a3 ©ebi4t ift in bem für feinen paefenben 3nf)alt jutreffenbften
aSerämaf3, bem ^lantoerl, gefdfjrteben; unb wir fclbft Ratten cor einigen
9toit> unk Sab. LXXV. KB. 20
292 — Kidjarb VotttUd) in Breslau. —
Satiren in einem litterartfcfjen Greife ©elegenfieit, bie tiefe bramatifdje
SBirfung ju erfahren, bie es beim Vortrage burcij einen befannten Mecitator
ausübte.
Wt ber Anette „Sfiaurooffer" betrat ©arotatt) junt erften SJtale
bas ©ebiet ber ^Jrofa. 3n ©eutf<f>lanb ift baS intereffante unb fein:
finnige 33udj nab>ju t>erf Rollen; bagegen t)at es neuerbingS jenfetts beS
©anal« unter bem SCitet „Melting snow" bie gebühjrenbe Sßürbtgung
feiten* beS publicum* unb ber treffe gefunben. ®ie Benennung erfdfjetnt
auf ben erften 2lugenbtt<f m<f)t redjt »erftänbltcf). 2^auroaffer — baS finb
bie SBaffer ber Sdjneefdmtetie, bie baS erfte, baS fcfjönfte ©rün beS
$rüt)lingS begraben, teett es feine &e\t nidjt abwarten foimte; fo geb>n aud>
bie t)eiligften, innigften ©efü^tc junger aMenfdbenb^erjen in ber plumpen,
eiligen äßelt ju ©runbe. 2Bot)l mar biefeS erfte junge ©rün baS befte,
baS föftlidfifte, was ber grüt)ting bot; aber es mujjte fterben, benn es fjat
gefehlt gegen baS ©efefc ber mäblicfien ©ntroidfetung. So ift es aud) ein
■Jiaturgefefe, baB mir an unfern tjeiügften ©mpfinbungen ju ©runbe geljen
muffen. So etwa äujjert fidj ber unglürflict) tiebenbe ©idjter SSerfen,
hinter beffen 9)iaSfe ©arolatt) fet6ft unfcb>er ju erfennen ift. 3ß>er SSerfen*
©arotatfiS 2lnfd)auung ift bod) nid)t ganj ridjtig; nicf)t baS Slaturgefefc
trennt ©iadnta unb Sent; baS tt)un bie focialen SBertyältniffe. @S ift
nic§t eigentltd) baS uralte aJJorit) oon ben RönigSfinbem unb oon Stomeo
unb ftulia, fonbern ein oiet brutaleres: baS ©elb. Söenn ntcfjt ber junge
Stubent fein matf)emattfd)eS Staatsexamen madjen mfifcte, um ben 33ater,
einen ortfyoboren lutlierifdfjen ^ßaftor unb bie jaljlreidje ©efcbmifterfcfjaar ju
erbitten, roenn ni<^t bie reijenbe unb geniale Sängerin juft bei ü)rem
©ebüt burdE) it)r ^ruftletben ber SluSfidjt auf $Hut)m unb ©olb entfagen
müjjte, für}, wenn nidjt ber brutale SDlammon märe, fo formten fie ber
t)ämifd)en, tücfif<f>en 2Belt läd)elnb ben Jtücfen fet)ren unb glüeflid) werben.
3n furjer feiiger Stunbe t)aben fie einanber angehört; „über fie t)tn gingen
bie Sdjaurcaffer". ©iacinta t)eiratt)et ben £ofratt), it)ren »äterti<f>en ©önner,
unb wirb eine fcf)öne fülle ^rau, bie eines £ageS, t)ielleid)t nad) langen
3at)ren, erfennen roirb, bafj fie innerlich längft geftorben ift ©er einft fo
troefene 9Jtatt)ematifer, toeldier oon spoefie fo oerädjtltd) badete, toirb im
t)eiligen Sdfmterse felbft junt ©td)ter, bem eine £anbooll fiieber an ©ia-
cinta faft ben 3>iuf)m gebracht t)ätte, bann oerftummt aud) er. Unb SBerfen
get)t auf Reifen, oon benen man meift nicf)t n>ieberfet)rt. ©igentlic^ finb
fie 2DIc untergegangen in ben Xlioutoaffem, fc^lief3t ber ©icb/ter; uns roiU
bebünfen, als fei am 5Raturgefe| unb an feinen t)eitigften ©mpfinbungen
nur Herfen untergegangen. —
©aS 33ua; ift in eblem, clafftfd; fcfiönem Stile gefdbrieben, — eine
Seltenheit in unferer Seit, bie ju 9itcijts 3eit t)at, aua) nic^t jur geile;
— es ift reidj an pfi)d)ologifa; feinen 3fi9cn aucl) in foldfiem ©enre, baS
eigentltd) au&erlialb ber Sphäre biefeS ©icftferS liegt, unb eS ift befonber»
€in fürftlidjer Dieter.
293
bebeutfam burd) bic liolje 2luffaffung von bem SBefen echter ftuttft. 3)ie
Jtunft ift ein 9leffulgenwnb, ba! feinen Präger oerbrennt; man fann fie
ntd)t ablegen rote ein Äleib, man mufj fid) if»r »erfd)roören mit Seib unb
©eete — fo äu&ert fid) uor ber Unbineauffülirung Sloffcßüljleborn ju ber
fofetten $)arfteäerin ber Sertatba. Unb 33ent, ber bie $oe[ie all nufclofe
©pielerei bejeidntet, erhält »on ber ©eliebten bie emfte Entgegnung : ein
fröf|tid)e! $jr$ fanb niemall ein große! Sieb . . . man fott bie ^ßoefie
aditen, roenn man fdjon bal Ungtüd fjat, fie niefit ju (ieben. Unb 33ent
geb,t in feine Rammer unb roäf)(t fid) sroei ©djemata: Sürgerl Senore unb
jQoraj' integer vitae, um aud) einmal p bid)ten; benn — fagt er fic6 —
bie £auptfad)e ift bie %oxm, ba! ©nftem, ba! Uebrige nrirb fd)on oon
felbft fommen. (Sl fommt aber üßtdtfl, unb ber junge ©tubent gelangt
nad)benflidi ju ber @tnfid)t, baß jur ^ßoefte bod) nod) etwa« meljr gehöre
all 9tl)t)tbmul unb SReime. — £umor ift fonft bie fdwmd)fte «Saite bei
großen $>id)terl; mit biefer erquicfenben ©pifobe aber f»at er ein Keine«
Gabinetftücf geliefert.
3)a! näd)fte $ud) waren bie 1883 erfdjienenen „$)id)tungcn". 3)a
fie iebod) in ber 2. ber 1893 er 3luflage an Qnfyalt unb SBertb, berart er*
roeitert finb, bafe fie fid) all ein neuel SBerf präfenttren, unb ba fie bal
3tHeroor}äglid)fte enthalten, mal ber $>td)ter überhaupt fdjrieb, fo motten
wir fte, im ©inne bei crescendo, an ben ©d)luf? fefcen unb tfjnen jugtetd)
ben atterroeiteften SRaum gemäßen. 1884 erfdnen bal sroeite $rofan>erf,
bie ,,©efd)id)ten aul SJlotl". $>ie ©pecification biefe! Sitell enthält
ber Xfyeil bei SDfotto: la storia d'infelici amori, la triste melodia.
£)ie jelm Keinen ©rjäfilungen, 93?ärd)en unb SNooeletten finb faft burdj«
geljenb auf biefe! SDfotto geftimmt — mit 9lu!naf)me bei fociaten 9lad)t«
ftücf! „2lm ©trome", beffen umjeftaltetel unb erroeiterte! SJiotto fpäter in
ber ©ingang! ermähnten 9io»jtte „Bürgerlicher £ob" roicbcrfetjrt, unb bei
„9lad)tfalter", in bim ber Boet an bem ©leidjniß einer »erbrennenben
^3fjaläitc ben Äampf bei ibeal oeranlagten Äünftlergeifte! gegen bie
bumpfe, behäbige ©leidjgittigfeit ber ^Wittelmäßigen betianbelt. $n ben
ad)t übrigen Bieccn erftingt immer nueber ba! Seitmotiö ber „Ttiaus
maffer", ba! 2Jioti» 00m 9iaturgefefc, bal unl gerabe an ben fyeiligften
©mpfinbungen ju ©runbe gelten läßt. Qn ben ©efd)id)ten au! 9JioH n>ie
in »ielen ber reifften ©ebidite, bie jutn £l)eit eine Igrifdje ©regefe ber
^5rofafd)öpfungen bilben, am frappanteften in ber „©plnnr" — überall
fefirt ber ©ebanfe roieber, baß über bie furj?n, einmal genoffenen Slugen»
blicfe Ijödjfter irbtfdjcr ©eligfett bie £f)auroaffer braufen. Unb roemt
bodj einmal, roie in „&on 3«an! £ob", bie Bereinigung erfolgt, bann
gefdjielit el gerabe auf Soften biefe! irbifd)en ©lücfl; bemt 3;uanj unb
3)iaoa feiern in felbftgeroä^ltem $lammcntobe eine rein feelifd^e S8er«
mäbjung. $Diefe äuffaffung, bie für Garotatb, ropifa) ift, bedft fid) jugleid)
mit berjenigen bei beutfd^en Bolflliebel, in bem bal 9Jlotir> von ©d)eiben
20*
29^ Kidjarb KoeljMtb, in Breslau.
unb Reiben eine mettfjerrfdjenbe 9Me fpielt. Unb in ber Sfwt ift
©arotatl; ein burd) unb burdj beutfdjer ^Did^tcr, ber im ladjenben ©omten*
fdjein, unter bem blauen Gimmel, ben hinten unb bem Sorbeer beS
©übenS immer »on beutfdjen grauen, »on beutfdjen S'annen, »on norbifdjen
©türmen unb ©dmee träumt. 33ejeidjnenb ift hierfür bie munberoolle
©d)luf?ftropb,e beS ©ebidjteS „Sefcter £anj", in bem ber fyermfefyrenbe Sßoet
bie $ugenbgeliebte als eben getraute (Sattin eines SKnbern fiefjt:
,3d) wollte, nur irrten im norbtfdjen fionb,
Ston Seinem geliebt, Don Semem gerannt,
3m ©dnteefturm über bie ©aibe ;
Unb bafe SDu rubteft unbemuät
3n meinem SDlantel, on metner »ruft,
Unb bafe tulr ftürbett Seibc."
3lucf) fonft f»at ber $i<f»ter in „®eutfd)tanb", „©rufe an 3)eutfa)tanb"
gerabe feiner £eimatSltebe ein rühmliches Senfmal gefegt. ©S ift eben
nur ber fdjimlie'.tSfmnfene Künftlergetft, ber beutfcb/S ©mpfmben gern in
ein frcmbfdiöncS, erotifdjeS 3)?ilieu Reibet, ber ben Gbelftein in bie
fdnllernbe gaffung ju fügen liebt, ©o ferjrt aud) — um auf bie „©es
ftfiidjten auS 3Slöi" jurüdjufommen — gletd) in ber erften ©fijäe ber
Stüter jur Heimat mieber, um auf ben Krümmern feines »erratfjenen
^ugenbgtücfS $u fterben — ober, wie fid) bie 2lblerparabet auSbrüdt, er
breitete feine ©Urningen unb flog in bie 9kd)t I)inan3, in bie fdjöne,
fternenteere 5Rad)t, aus ber es fein ©rroadjen giebt. 2ln ber ©djwelle beS
£obeS bietet fid) tt)m ein reines, liebenbeS £erj, aber er weift es juriitf,
benn es ift mit einer grof3en Siebe wie mit ber Slbenbfonne; eb,e fie unter-
geht, ift fie fd)öner unb b,errtid»er benn je. Unb ebenfo fjanbelt ber „König,
ber fid) t)btgelad)t fjat", weil er nad) feiner betrogenen Sugenbliebe nid>t
mefjr glauben fann. $n ,,©ct)ön?Send)en" wirb ber geliebte, aber »er*
fd>mäf)!e $unfer jum 2tSfeten, ber bie 23eid)te jener grau ungefannt r)ört;
er enttäfet Tie mit ben Sorten: „3^' Helene, 2>tr ift oergeben." ^aS
tieffinnige 2Jiard)en „£>ie Königin »on £t)ule" brüeft bie Sluffaffung »on
bem 3auber gerabe ber »erratenen Siebe fef)r treffenb aus. 5Die SJu^le
beS ©oetfye'fdien ©ebidjteS muf? treulos gewefen fein, meint ©untrer
Stormetf, benn nur eine grau, bie uns uerratlien bat, bie unS unenblicf»
wetie gettyan, lieben mir bis jum Sobe. 3n i>er ßTjäijlung „Entlang ben
&etfen" entfagt baS liebenbe 3Käbd)en freiwillig, um burd) einen tiefen
©djmers ben ©eliebten pr ßöfje ber flfinftlerfdwft su führen — gang im
©inne ber obigen ©teile aus „^aumaffer" : ein fröl>lid)eS $erj fanb
niemals ein grofseS Sieb. Unb berfelbe ©ebanfe fefjrt, jur t)öd)ften Jragif
»erfdjärft, als Charlotte ©tieglife 9Wotit> wteber in „Sia". Slber Sias frei=
williger £ob ift nid)t nufeloS, wie baS Opfer ber ©ricglife; benn ©iulio
wirb ein edjter Mnftler, wenn er aud) ein einfamer 2Jiann bleibt, ber fein
SibenSglücf begrub.
(gilt fürftli^er Didjter.
295
®aä bebeutenbfte ©tüd ber «Sammlung aber ift unftrettig bie
bramatifd) berocgte @rjäbtmtg „Sie 9iad)e ift mein", ©raf Sarinsfi t)«t
feiner geliebten Stcüffa entfagt, um einer fiodtberjigen Regung mitten; er
ergebt eine fd»einbei(ige 33erroorfene 3U feiner ©attin, um fie auS üjrer
fd)ted)ten Umgebung ju retten, roie er meint. Spat gelangt er ?u ber
roafiren ©infic^t, bei einem 3ufammentreffen mit Slaiffa, bie auä oerfdimätiter
Siebe tnsroifd)en feinen 2fctter Xrefuroff gebetratbet i>at, entbeeft er fid^
ber ^ugenbgetiebten, unb bie Seibcnfc^aft 33eiber flammt in einer fdjroadjen
©tunbe unbeifooff auf. ®ann trennen fie fid); SBarinSfi siebt aU ©eneral
in einen fdjroeren JRrieg. Sei feiner Gruppe ftctjt aud) ein junger Dfftjier,
SCrefuroff; er ift bie grud)t jencä leibenfdE)aft(id)en gufammentreffen« im
$arf. ©ein 9Bof)l legt bie SDfutter in einem SBriefe bem ©eliebten bringenb
an' 3 Qexy, roenn er aus bem fdjredlidjen Kriege roieberfebre, motte fie an
©otteä 33crjeif)ung glauben, bann motten aud) fie, entfübnt, fidj roieberfeben.
®iefer Srief in feiner fd)ltd)ten, cinfad)en ©röße gehört jum Seften, roa§
Garolatb, gefd)ricben; er ftefyt auf gleidjer $öf)e mit bem beräumten Briefe
am ©djtuffe von „grau göbnä" beä ®änen Safobfen, be3 großen Siebter;?
oon „9Kogen#" unb „9Ztet3 Si^ne". 33arin3ft) roill ben jungen 3Wann, ber
natürtid) ot;ne eine 2lbm«tg uon feiner roirfüdien &erfunft lebt, jutn ©tabe
Jommanbiren, um üjn ben ©efafiren ber ©djladjt ju entsieben; er läßt i|n
am 23orabenb in fein gelt fommen unb roeiß bort fein SBertrauen ju
roeden, fobaß" ilmt Srefuroff aud) feine gebeime Siebe entbedt GS ift
biefelbe sBerroorfene, bie einft ben ©rafen in tfjre -Wetje 50g. Uns will
bie§ nad) einer $eit uon etroa jroanjig ^abren etroaä unroabrfdjeinlid) be=
bünfen, mir meinen, baf? für eine moberne ©rjäblung ber Siebter mit bem
2llter feiner ^erfonen etioaS gar ju — fagen mir — l)omerifd) oerfabren
fei; aber fd)liej3lid) fann man fid) mit ber Sbatfadje berubigen, baö e3
ja roirflid) grauen gab, roie bie berübmte 9iinon, bie il)re jteije bte in'3
|obe 3fttcr beroabrten. iSreturoff, eine ungebänbigte £igernatur, bet)arrt
bei feinem 33orfafce, jene grau I)eiin5ufü^ren, unb roenn er über bie 33abre
ber 9Kutter fd)reiten mü&te, unb als fie ber ©eneral eine ©brlofe nennt,
}iebt er gegen biefen in l)öd)fter SButb feinen Segen — gerabe in bem
2lugenbli(fe, aU bie Dfftjierc be3 $riegeratb§ in'3 3ett treten. Sem
JtriegSgefefc fann ber .§öd)ftcommanbirenbe fein Opfer entjieben; aber er
roitt roentgftenS Sfaiffa fdjüfcen — oor ibrem unb feinem ©obn. 9Jod) einmal
gießen »or feinem 2luge uerb(übte3 ©lü(I unb lefete Hoffnungen »orüber,
bie er mit eigener &anb in'3 ©rab fto^en mujj; bann erbibt er fein vor«
nebme§ tobtblaffeS 2lntth$ unb commanbirt mit f efter ©timme: „9ltd)t 5um
©tabe! 3um crftcn Sataitton ber erften Singriff öftaffel!" —
2BaS Garolatf) in ben bilt)er geroürbigten SBerfen niebergelegt b,at,
roürbe genügen, feinen -Warnen mit größerem 9ied)te aU mandien jebnmat
aufgelegten 3Kobebid)ter unter ben SBeften ber jeitgenöffifd)en National:
Sitteratur tiufsufftliren; ein monumentum aere perennius aber, bie 2ln«
296
Hidjart» Koebjtd; in Breslau.
roartfctiaft auf einen 5ßlafc in ber SBeltlitteratur l>at et fid) erft burd» bie
„SMdnungen" gefdjaffen, in benen er als Smifer nrie als ©Töpfer ber
3Wenfd>l)eitäbid)rungen „Singelina" unb befonberä ,,©pl>inr" unb „£on
ftuanä £ob" eine uberragenbe ©röße befunbet. 2Pa8 uns ben Snrifer .
©arolatf) oor 2tHem fo feffetnb erfdjetnen läßt, ift bie tiefe Snnigfeit edjter
©mpftnbung, ber bie ©pieleret mit anempfunbenen ©efüf»len fern liegt. 33ei
biefem £)id)ter ift jebe $eile erlebt, — fretlid) nidjt in bem ©inne jene*
fmbigen ©taatäanroaltä, ber anlä£tid) be8 befannten „3Härdjen"*<SfanbaI$
äußerte, jebem Sunftmerfe müffe notb>enbtg ein concreteS ©retgniß $u
©runbe liegen, £ann 'gäbe e8 aflerbingS nur nod; eine naturaliftifdje
Äunft, unb jebeS nodj fo Heine erotifd»e ©ebidit j. 33. müßte ein pb,Dufcb>3
©ubftrat jur 33orauSfefcung f)aben.
$m fmtftlerifdjen ©inne ift bieS Sßoftulat ber plumpen SHaterie
äußerft gleid^gtCttg ;. eä genügt — unb bieg roirb aud) mit wenigen Su§=
natjmen bie Siegel fein — roenn bie bicfjterifd? erfaßte Situation feetifdte*
©gentium be3 ©djöpferS mar. SDJit biefer für jeben großen Snrifer um
erläßlidjen ©igenfdjaft »erbinbet Garolatf) eine roeidje 9J?eIobif, eine füljne,
bitberreidje Sprache unb, niefit jufetst, eine oornel)me, ebte SBeftanfdjauung,
bie in SSerbinbung mit feinem frembortig fdjönen unb bod) fo b>iimfd)
traulidjen ÜJUlieu eine Qnbitribualität ergeben, rceldje fo ftarf unb eigen«
artig ift, baß ber Äeitner bie Sieber biefeä Sßoeten unter S'aufenben
fyerausfinbet, roie ber 'junge, als firitifer rote at8 ®id)ter gleidj ty-vom-
ragenbe Rarl 33uffe in einer feiner jat)lreidjen, trefflichen Garolatbjrubien
mit 9ted)t behauptet f)at. 3fn formaler Sejie^ung f)ätt itd) ber £id,ter ron
allen Mnfteleien fern. §aft ausnahmslos ucrroenbet er, in werfdnebenen
3lf)pt^men, bie gereimte, merjeilige ©tropb>, unb t>on ftrengern, fdmriertgern
gormen gebraust er nur baS ©onett, beffen Duartette er btSroeilen nad)
bem SReimfdjema ber ©icitiane belianbelt. Origineller, bafür aber weniger
glücftid), ift feine Steuerung, bie beiben Srctjeiler an ben 3lnfang unb bie
Duartette an ben ©djtuß ju fteHen.
Garolatf) t)at ganj 9ted»t; benn ber ungefünfielten (Jmpfinbung ent«
fpridit aud) am beften ber ungefudjte 2luSbrucf. — SBie meid) unb eins
fdnneidietnb Hingt gleid) bie crfte ©tropfe ber „öollunberflütfiett":
@8 ift (in »örtltaa im ©üben,
Gin Zag gar füg ju berträumen,
$ie SSIütften, bie toel&en, müben,
©leiten ftiH bon ben Säumen.
2118 33eroeis für bie füfme 33ilblid)feit feine« 2IuSbru<feS biene eine
©teile aus „£on Quan« £ob"; bort t>ergleid)t er $Dia»a8 oerfdjleterten
2lugenftra1jl mit Sampen, bie burd} 3llabafter brennen; unb anber^roo
fagt er oon ber ©eliebten, bie ifirt »erriet^, baS bunte Seben braufe
über fie baliin, roie bie fd)immemben SBogen über bie »erfunfenen
Stäbte ^itlin unb ©tavoren. — £>urdj fein gefammte« ©tAaffen
<Ein furjUidter Diätes.
297
get)t ein 3UÖ e°kr nn^> wrne^imer ©efmnung (5. 33. im (Snctuä
„gatttjume"):
Stuf SKkmberfcbaft bon trüber STrt
3toatifl aud) td) burdj'S Seben
(Sin bü&enb fterj, befT SD3ar)Ifptuct> toaib
©eben unb «ergeben.
Sriefe ©cfinnurtg läfjt if)n audj frembeä ©lud, baä ir)m geraubt
warb, neibtoä betrauten:
3dj aber »iH mit leergebtiebner §anb
S)td) fegnen, ®Iü<f, ba« einem 2lnbern reifte,
Unb »ia bie ©tirn, bie finftre, blujgeftretfte,
Slufridjten fttH jum eto'gen (Srntelanb.
$ie lefcte Seite ift djarafteriftifä) für ben reifen Garotatlj. 2fa jofjts
reiben Stetten fet)rt bie ©efmfud)t, ber ©taube an eine eroige Heimat unb
einen erotgen Senj roieber; ber p^ilofop^ifö^c 3roeif(er roenbet ftd) oon
SSottaire unb <Sct)openf|auer, unter beren Sann feine ^ugenb ftanb, ab
unb wirb jum pofttio ©täubigen, eine SJJetamorpIjofe, bie burdj bie Seilte
unb 33u{?e „Stbenbgebet" ir)ren Slbfdjtufi ftnbet.
3dj bin mir tootjt beroufjt, bie tnrifdje Eigenart be8 ^rinjen feb^r
unjureiriienb jutn SBerftänbnife gebraut ju fyaben; aber einmat erroetft fid)
feine ^Soefieform gegenüber ber 3tnatt)fe fo fpröbe roie gerabe bie mufif«
oerroanbte Snrif, unb bann fott ja aud) bie ©tubie md;t ein Surrogat
fein für bie eigene Seetüre ber 33ücf>er, roie e3 in unferer 3eit ber
tttterarfnftorifd&en SÜBerfe teiber übtidj ift, fie faß im ©egenttjeit baju nur
anregen, barum mufi td> bem perlenreidjen Irjrifdfjen Steile ber „©itfjtungen"
aSatet fagen unb mid) begnügen, eine $erte roenigftenä bem Sefer »or«
jufefcen („2lucb. ®u"):
31 un baft ciurf) 35u gelafien 2>ie fi* im Ucbtrborbcn
S3on ©roll unb ebtem Streit; ©inft au8 bem SDleer getoiegt
$u fanbeft gotbne ©äffen Unb nun, gum S^itt) geworben,
£er äBeltjufrieben^eit. 2tefblau im SBalbe liegt.
SRid) mabnt SDeirt ö<rj, ba8 belle, ffiobl bedft mit ©lüt^enfCocTert
9lun frei oon SJcmtüf unb 2Beb, 3Jlittfommer8 fie bo8 SHobr,
2tn eine SUefentoefle, SBofjl tönt'8 toie ferne ©Iocfen
SDie mübe toorb ber ©ee ; 2Iu8 iljrem ©runb fjertior,
SSBobl niefen grüne Girten
darüber fdifammerfäjrocr; —
$>ocb bat fie feine Derlen
Unb feine ©türme mefjr.
3roifd)en ber Snrif unb ben bret grofjen ©tdjtungen fle^t als 9Ktttet*
gruppe eine 2lnsar)t ftetnerer, beren tjeroorragenbfte bie granbiofe ©ebanfen»
btdjtung „(Sin Sttb" ift. «Sie ift ein ©tfjönbeitäflBmttuS »on fo rounber»
barer, reifer ^Srad)t unb £iefe, bafc bie ©efammttitteratur ü)r rooljt wenige
298
??id;aro Koebjtd; in Breslau.
jur «Seite fteHen fann. 9tn reifet ftünftterfäjaft übertrifft fie felbft ©aftonä
nmnberoofle @<f)örib,ettäapoftropI)e in „Singelina" unb wirb nur von „$>on
3uan§ Xo\>" unb ben abgeflärteften ©pifoben ber „<Spf)inr" erreicht.
„2lnge(ina" ift ba<3 Sieb von bem uralten gludie ber @d)önbeit:
Sßefj' ibm, bem Stab, baä auäjefenbet nwtb
Sin reiche« ftleiiiob tuuuberfcltncr 2Irt
Durd) einen Üßalb, einfatn bei Sftadjt jn tragen.
2Bof>[ atebt c8 au3, ftngenb im Slbenbrotb;
®i tcfjrt nicht beim, am SRorgcn liegt eS tobt,
Grroürgt, beraubt im fröftelnben (Sefjege.
fagt ©afton. ®ie «Sdjönljeit ift eine reine, l)of)e ©ötttn; mir aber, ber
Sßerbammten blaffe ©äjaar, fdjlingen naa) ifjr ben ^obtentanj:
Unb nid)t umfonft; Du toirfft Dtdj oom SKtar
3u unfre ÜJraie, Äinb mit Monbem ©aar,
(Scbön wie einft (Süa. (Sattin Ijalb, &atb Dirne
SWgft Du baS §auöt, in ©ebnfucht gtut&bebecft;
SBir aber mit ben ßipben ftaubbefteeft
Stätten bie C8ottb,cit fort Dir bon ber ©ttrne.
3n ben angeführten Herfen ift baS Seitmoti» ber ®id)tung Kar au^
gebrüit. ÜJJeifter^aft t>erftel)t e3 ber Siebter, fd)on für bie Stbroefenbe
unfer ^ntereffe roadjjurufen, inbem er fie sunt SDiittelpunft be$ ©efpräd)3
einer ßünftterfrfiaar in einer römifcb,en Dfterta madbt. ©iner ber ©äfte
fdiroingt fidj fogar 5U einer ^'npfoifation auf:
O ipreebt, fetb 3&r bie SBalbeSfee,
(Sgeria Sßfjtlomele?
Dwr feib Sljr ba8 Qrräulein, baS Jräulein bom gee
2Hit ber »eriorenen ©eeie?
@eib 3()r ein Sngel, ber Icuijtenb {am
3n'8 febmerjenbe, laftenbe fieben,
Um einer 2Mt boQ SBeb. unb ©ram
Die Siebe jutüd ju geben?
Unb er antwortet fidj fetbft:
34 trage ber ©djönljeit Jhonengefted)t,
S3bt ßilitb. Wie SMufina,
Unb nur ein entgottcrteS SRenf<fjengefä)leä)t
Sftennt mld) Singeiina.
Unb aU ba3 fyerrlidje, unfdjutbtge 33lumenmäbd)en felbft eintritt, um
ifyre Sßaaren ansubieten, läßt ber S>id)ter auf iljrem ©Heitel einen urtfid^t-
baren £eitigenfd)ein ritten:
Den fonnte nur ein tobte« SWütterlefn
3n Stngft unb ©cfimerj barum gebetet Ijabcn.
©elbft ber geniale ©afton, ber weife 3Wenfcfjenfenner, ber bem
■Dfcibäjen fieimtidj auf feinen nät^tti<^ert SBegen folgt, muß mit s$cfd)ätmmg
«Ein fiitftlic^et Didjter.
299
feljen, roie fie tröftcnb unb fpenbenb am bürftigen Säger eine« armen
fremben ÄinbeS fniet. ©0 fdjtie&t ber erfte £fieit fdfjeinbar in fonnigfter
Sßcrfpectioe. Um fo büfterer unb nicbcrbrücfenber be'rt fid) bafür ber
jroeite ab, in roeldjem Garolatf) jeigt, baß er, roo e£ ber 3roe<f gebieterifd)
forbert, aud) ein 9)ieifter naturattftifdjer ©arfteliung fein famt. Angelina
ift bod) gefallen, unb ber Äünftlerfdmmrm, ber von einem gefte t»eimfef)rt,
um fid) in t>;rrufenen Käufern ju oertiercn, pod»t aud) an üjrer 21)är.
(Sine 5D?artf»a ©djroerbttein, aber in oiel meb,r gcfutifener 2lu3fül)rung, tb,ut
auf unb rocift fiöljmfd) bie fpäten ©äfte an eine gegenübertiegenbe Pforte.
2>iefe roirb aufgefprengt, unb mit Gntfefeen fieljt fidj bie trunfene ©diaar
in ein;r SUrdje, vov beren £oa)altar ein ©arg ftef)t. $m 9k ift bie
roüfte 9iotte jcrftoben, unb ber Sinter allein fteljt bem verlorenen Äinbe
gegenüber. £a ift es if)tn, aH blicfte fetbft ba3 SBitb ber ©djmerjenäs
retten gnabenoott auf bie £obte h>rab, unb er finbet Söne echter 9J?enfd>
lic^feit:
@d)Iaf toof)I, »erblühte» ftinb.
®8 raiiffeu JBtumeit fein
3m ©cbartadjfdjmucf ber ©djönljelt aufjufiantmen
9tm ©tra&enranbe. S)ir wirb @ott berjetfm; —
Uns Slnbre boef), mög' er un8 nicfjt berbamtnett.
2>a nafien Enaben, bie mit neuen 93tumen ben 2Utar fdjmücfen; ber
3Borgen bricht an, ber Dftennorgen, unb rnndttooll oerfünben bie ©toden:
©jriftuä ift auferftanben.
3n „Ingettna" ging ba§ Sßeib am ©anaergefdjenf ibjer ©djönt)eit
unb am Spanne ju ©runbe; bie nädjfte grofje 5Md»tung „©pljinr" bringt
geroiffermafeen bie ©üf)ue be? 3)iatme$, ber »oll Gfet an ber genoffeuen
©djönfieit be3 2Setbe3 p ©runbe getjt. Sie „©pbjnr" ftef)t an £iefe unb
©rofje ber ©ebanfen, an padenber SarftellungSfraft, an berüdenber ©iction,
bie un» wie im gtebertaumel fortreißen, ben reifften äBerfen SBvjronS
ebenbärtig jur ©ette; ber Inrifdie ©djmets if)re-3 erften 'tytiU roirb von
bem Gngtcinber rool)l nur in bem Anfange »on „^arifina" erreicht. 9)iel)r
noeb als in „Angelina" t)errfct)t eine roilbgenialc 3erriffenbeit, bie an blü>
burd)flammte ©turmnad)te gemannt. 2lud) auf bie „@pb,inr" paffen bie
SBorte ber erften grofjen ©idjtung: fie ift roie ein ©ebet, ba<l glücfltdj anfjob
unb geenbet warb in einem 3luffcf)rei . . . aud) ifjr fe^It nieijt ba§ „^rage*
jeidjen am ©tfjtufj eine§ geroaltigen ©ebid)t3."
9JJit einem liebttdien ^bnO, ba$ ben tragifdjen Slern ber ®id)tung um
fo ftfjärfer beroortreten läfet, fefct bie granbiofe ©djöpfung ein. ©leid) bie
©infüfirung be§ jungen, frönen örafenfinbe« ©anta jeigt ben reifen aMfter.
Sie lief im roeißen Slleibe,
6in frö^licft Sliitb, forgfo« burij S)ufcft unb (SraS,
f?rei flofl i^r $aar, unb au« bem &ntH& blafj
JBliötcn fo feiig iljre Slugen beibe.
300 Ht^arb Koefjltd) in Breslau.
Sic roiH 2t6fd^teb nehmen t>on U)rem ©ur), bcr in bat föxmpf f)tnau3»
jiet)t unb bem fie baä 33erfpred)en eroiger £reue giebt:
Spraef) fie flanj ernft, unb tuuuberfeltfam {Tätig
2lu3 iljrem Stinbermunbe biefe» — (Smtg.
Mod) einmal b>It bei Sag, ber glücfburdrfonnte
aJcrjägetnb 8taft unb flraljlte traten Stieben
Sluf jene ffinber, beren ©lüef ljienieben
SJerfanf am buntlen Seben8b>rijonte.
Sdjarf unb büfter fjebt fid) bie fotgenbe Gpifobe ab. GS ift $erbf>
nadjt, im 3?einb£tanb, am Sagerfeuer ber ©ragoner. 2Bie }ufäUtg [iejt
einer ber Offnere einen Brief nor, beS Mi fiöf» baS fd^öne ©rafen«
finb Santa auf Antrieb beS SßapfteS mit bem atten, aber reidjen unb bocfc
gefteüten Äammerljerrn Baflri »ermaßt tjat; gerabe jefet ift bie $od)}ett$*
nadjt. 35on ber Grbe fpringt ein ©djläfer auf; eS ift ©u«; er fammelt
fein 9ieiterfäfmlein nnb ftürjt in bie 9iaä)t f)inau3, bem geinbe entgegen,
um ben Xob ju fuctjen. 2Bie burd) ein SBunber bleibt er unt-erfebjrt unb
fommt nun ju bem roeifen Quben Sftabbi 3e^an)a, ber auSgeroiefen »or
bem £f)ore ber ©tobt Ijauft. ©em großen 2ltd)rmuften erjagt er fcblidjt
feine 3fugenbgefd)id;te (in ben Herfen: reidj, oornefmt, jung trat idj bin*
au§ in'S Seben u. f. nx, auf bie idj auSbrütf(td) brnroeife, weif fie GarolatfjS
eigene ^ugenbentioictetung beseidmen) unb t)eifd)t ©enefung. Gr legt ifjm
bie fragen »or: warum ift bie grau urfatfd» unb treulos? 2BaS fenbet
©ort ein fttnb, baS burftig ift, in einen roeiten ©arten, barin bie Srumten
ring« vergiftet finb V — ©ie 9Xnttuort, bie ber gürftenfofm ertjäft, ift an
Äüf)nf>eit unb ©röfje beS gemähten SBitbeS faft otmegteidjen:
SBcnn fein ledjjenb Kofi
mit SSBaffer tiänft ber Fluge iöebuine,
Xfnit in'e ©efafj er eine $anb »od @anb,
SDa8 91afe ju trüben. — gieße, atfo tljat
Der weife ©djöpfet: in ben Harften Cuctt
Der SeöenStcüfte tljat er emfig ©djlatnm
SWit »öden ^änben, in ben fö&ncn ßeifr,
Den lüfjen, finnbetfiörenben, be» SBeibeS
©o& et ©emeinljeif. — 3a, ber ©djöpfer ift
Sin finget $itte; attsu tiefet Stroit
Schabet bem Spiere.
2lber ©uw entgegnet: bie lecbjenbe Greatur roirb aud) Trübung unb
©cfjtamm tobadjt(o£ fdjlingen; aud) er roiß trinfen mit bem GmpörungS*
fdjrei: mtd) bürftet! bürftet! Gr miß es fefm, baS bofie Sitb r-on <BaiS,
^n feinem 2lrm entblöf t gieid) einer SaiS. Gr will ben fcfmlbigen <Sd>öpfer
im ©efdjöpf burd) ©taub fdtteifen unb rad»efatt ju ©runbe ladjenb gefjn.
<So ftürjt er baoon. — ©te nädjfte Scene jeigt ©anta im prunfooDen
(Ein futfHid)er Didjter. — 30\
©d)tafgemad% 3tud^ fie ift nidjt gtütftt«^; fie benft mit 28ef)mutf) an bett
3ugenbgeliebten unb bie g(ü<fltd)en forgfofen ßinbertage.
2Retn £erj wirb alt,
@te ft>rad) c8 ieife, »nnt* idj fd)lafen, fterben,
2Hit jenem Xraum, mit 2Mr, o ®unl
2)a fpringt roeit auf bie 2^ür, unb ber £obtgegtaubte ftefjt »or il)r.
«Santa fudjt Stuöftüd^te fütji^ren £reuebruä); aber ©un bonnert il)r »er«
ädbtliä) entgegen:
2>aS ®rafenfütb mit ier SWabonnenftirne
Pt ®otb »etfouft! SJerlauftl 3ltm, melfdje Stfrne,
SEBie ttjeuer bift ®u?
9iodj einmat bäumt fidj ©antaS ©rafenblut gegen bie unerhörte
33efd)impfung auf; fie giebt t>or, ben Qüngling nie ernft geliebt, jenen
©djnrnr nur tänbetnb gegeben ju fiaben. Slber ©u» lafjt fid) nidjt beirren.
$u liebteft mid) unb liebft midj nod) — fag: 3a! . . .
3a, fprad) fie tonlo«, ia.
SBarum fie it>n oerratfien fjat — fie „roeife eä nidjt". ©un. glaubt
ib>, aber er ift nid)t ber 3Rarni, ju t)erjid)ten; ganj im Sinne jener
SBorte in ber 3iabbifcene roiH er nun ben Sdjöpfer im ©efdjöpf burd)
©taub fdjleifen, ben Schöpfer, ber um ba§ ©öttlidje im SBeibe als £üffe
ein falteS 3Warmorfteib fd)lug.
3d) aber bin au« toilbem SJlut entflammt.
3)ie8 Slm&ellidjt, baB matt unb rofig flammt
3n fernes SeibeS marmortofifjfm üöau,
34 toiE'8 bcfiften, ttunberfdjöne grau;
Äüffenb eiftiden, iubtlnb löfd)en au«
5£a8 rotbe Siebt, enttoeüjn baB ©otteSfjauB,
2luf bie jetriffnen fdjweren SHltarbecfen'
3u langem ©djlafe uwnfcbloS bann mid) reden
Unb fterbenb, al8 ein fatter Mädjer fagen:
3m fdjBnften SBeiß, befj 2luge ie geblaut,
SReib&oUer ©Ott, bab' id) bie ©pljinr, etfdjaut
Unb bab* 35etn 2BerI, 3Md) felbft in ü)r, jerfdjtagen.
£em SBfib, baB in, beraufdjt tom ßiebeSfüHe,
3m arm i&m Jjing, bat bebenb ir geriffen]
Som neigen Seib bie ftarre 2ltla8f|ülle
Unb cB gefcbleubcrt fai bcB $ranfbett8 Riffen.
(Sin Saut, ein JMagicort, girrenb, tounberfad)t . . .
3n einer $lutb, faljtMonber Sorfenbaare
SSerfanfen fte, ringS Jjenfdjte nmnberbare
3a8minburd)baud)te, purputfinftre Stodjt.
@£ bürfte nidjt ciel ^octen geben, bie eine iotd)e Situation berart
bemetfierten, wie e§ tricr ßarolntf) getlian f)at. 3Wen 9tealiften, 9?aturaliften
302 Hidjarb Koetjl«^ «n Breslau.
unb fonftigen „tften", bte ifrre Unfät)igfeit I»intct bem .fftngenben tarnen
eines ©oftemg oerfie<fen, wäre überhaupt 5U ratzen, bafj fte bei bcm
©Töpfer ber „©ptn'nr" in bie ©djule gingen, um ju lernen, bafj ber
©djaffenbe fd)ted)troeg ein ©tdjter fei» foff. —
Der SDJorgen graut über bem fdilummernben $aare. ©arrta träumt
oon einem ©lfi<f ointe ©nbe:
So$ feine »ruft ging fä)ti>er, tS bradj ein ©djre»
Saraus Ijeroor, ber Hang: ßebtoobjt — »orüber,
$u ©djlofe mit bcm fteinernen SBappentbor
Unb ben bunften ©ben baraber!
Qtjr roellenbctt Seen, roinbroogenber Sann,
ßebt ttoftl, i&r ©odjfaiibBbaiben!
(SS fegnet im legten ©djeiben
@udj ein rertorencr Wann.
2Iu3 biefem £raum fdjredt ©un auf jutn SBeroufetfein ber SBirttidtfeit.
Unb nun tritt mit einem ©d)tage bie Peripetie ein, bie fid) .in ben SBorten
äufsert: ©iefj ooff mid) an, gieb mir bie 3fugenb roieber! ©einer ©eete
©Urningen lärjmt ©fei, eä brid)t fein &erj oor fdjalem 2lbfd>eu; nun, ba
Stillung tjätte ber roilbe SBunfd), uertor er feinen ©djmerj, ba§ ©iabem.
©r greift jum ®o(d)e, ba bannt irm eine feltfame SBifion. ©r meint ju
fetten, roie ©anta fid) »om ^urpurpfütjl ergebt, roie ifrre 3"9e
frembe, füllte Sädjeln ber ©pr)injc annehmen; er füljtt, roie bie ©eele
ber ©djläferin, tf>r felbft unbenm&t, tf)m bas 3lätt)fel be§ SBeibeö ent*
fd)(eiem roiff.
SBaS ®u gefudjr, fo fcbnfiitf)t?üoO, fo bange,'
SieS tiefe etwas ift ein ©trabt rnn fiidjt,
Den ©ott ibr gab, baß man iljn Ijeifj »erlange
Unb boeb auf (geben finbe niäjr.
3n jeber grau liegt ber ticfi'üfje 3«C»
Ser unbefitreiblidie, ein eto'gee ©ebnen
3n uns erroerfen, ba& mir aufwärts be&nen
3u ©ott empor beS 2eben8 Probeflug.
2Iutf) ber £etb ber fefeten -Kenfcr^eitSbidjtung (®on QuanS £ob) fudjt
in feinem 2Bolluftbrange biefen „©trarjl t>on 8id)t"; barum jfttjlt aud; er
— tote mir fpäter fefjjtt rojrben — ju' ben ©rofjen, ibarum ift aud) ;er
ertöfungäfätjig.
316er bie SBoffuft ift oergänglict), unb nur ber ©dnuerj ber ©ntfagung
fütjrt ju einfamen £öf)'n; ba3 roar ber Sinn in ben SBorten be3 9tobbi:
SBer je baS SQSeib brrfämbft, »erfdimerjt, Oerrounben,
©tebt einfam ba, niebt mebr an ©Ott getmnben,
Senn öort ber grau fuljrt b:r 3brenftug
(Smpor jur fjreibeit.
(Ein färftltdjer Dieter.
303
©o Iieifjt eä auct) t)ier in ber ©pljinroiiton:
Stur S&enigen fdrfagt Siebe tiefe SBunben,
Soij Ibt SBuiibe roitb ein 8lttterfd)lag.
©eil betn, bei ©tiicf beim SSkibe nie erfunben
Unb aus bei Siefe bafüi fegtten maj.
Sa8 e.oig SBeibltdie ift Sdjmetj obu' Sitbe;
SBer alfo gros, bafs obne ©rol unb Spott
6r fcfjroeigenb fit öoit (Jrbenfonnen toenbe,
Steht fteiltd) einfait ba, bod) eine mit (Sott.
Sa8 Sehen ift ein ftatfer SBanberflitg
3u ©ott gerichtet, unb auf allen Siegen
Xrägt uns beS SdraierjcS gro&er Sltbemäug
Sei $eimat ju, bem ew'gen Seit j entjege i.
2ludj ©un mar auf biefem 2Bege, erje er feinen ©dfimerj roegroarf,
baS £>tabem. @r ift aber boci) ju groß, um fid) nun nad) 2lrt ber großen
■äJJaffe an bem frönen Soßroerf: Seib be£ ©ptyinrrättjfete genügen }u
taffen, unb barum muß er fterben. 3lBer nodj ein »erfölmenber £id)tbli<f
faßt in fein ©Reiben. ©anta*©pt)tnr fünbet ifim, bafj nadj 2lttem, roenn
bie ©efd)ted)ter ber 3Renfd)en »on ber ©rbe »erroetjt ftnb, roenn ber lefete
SBoCuftf^rei »erhallt ift, and) ba§ 3tatb,fei be8 2Beibe3 ftd) löfen roirbr
atö Siebe:
Sann toirb bie Sphuij «löft, gcbenebcit,
©leid] SDJetmionSftcüten, bie tiefbebenb dingen,
Sa« belieb »eifBbnter ewigfeit,
®üt grojjcS SiebeShalleTuiab fingen.
©o Reifet e3 aud) ätjnltd; in ber fjerrlidjen ©ebanfenbidtfung „©in 33ilb" :
2L'aS Schönheit biet uou Schmer} unb Slhichieb fprad),
Sas Hingt — tote balb — gleich, fernen golbnen Stimmen,
Sic rufenb über bieitem Strome fdjioimmeu,
3n bei Unenbtichfeit als Siebe nad). —
©ann rjerfduoinbet bie erhabene aSifion. Um ben 3)hmb ber ©djläferm
fpiett roieber wie corbem „ein ftumpfeä Säbeln fatter ©eiigfeit". $ab>
grau bricht ber SKorgen herein; ber lefcte ©tern fitift in bie ©ee, unb
mit it)m entftierjt aud) ©ut)3 Seben.
3ui Seite warf er SantaS $aat, baS Monbe,
Unb führte taftenb, ohne Saut nod) ©ort,
Sen Sold) in'S $cw; fo fenft ftd) eine Sonbe
Sangfam unb ftiU in einen Itcten Ort.
2i5tr tjaben bem $)id)ter felbft, fo oft e§ anging, ba§ SBort gegeben
unb fönnen trofebem baä 33ebaueru nidrjt unterbrüäen, bafj roir nidjt ba*
ganje SBerf fetbft an ©tefle jeber coramentirenben 3eiie abfdjreibeu burften,
vor bem roir nadj einer flehten 2tu£ftettung, gegen bie tr)eüroeife ermübenbe
SBreite ber SRabbifcene, bie frtttfdje geber in £emutr) au3 ber £anb legen.
30^ Hidjarb Koel)lia> in Breslau.
©in geistreiches SBort fagt, bafc e3 Sdjeaterftüde gebe, vor benen nur bag
publicum burdjfaHett fann. Die „©plnnr" ift fdjon in ber erften Stuflage
ber Dichtungen (1883) enthalten; baä SBolf ber Dichter unb Denier tyst
es atfo fertig befommen, »or biefer Ditanenfchöpfung ein ganjeS Decenmum
lang burc^jufatten — unb baä ift taufenbmal unBersei^li^er, als bie 2Ö>=
lehnung einer ^heaterpremiöre, bie mit unjäf)tigen ftactoren beS 3"^*
ju t(jun \<A, burd) welche, feI6ft beut beften ©tüde gegenüber, aud) ber
reife Äunftoerftanb einmal beirrt werben famt. —
„Angelina" nrie „©phinr" faffen bie Siebe, bie 23ereimgung ber ©e*
fdjtechter, als einen ftampf auf, in bem ein £Ijeit ju ©runbe get)t; eS
tag nab>, im rünftlerifdjen ©tnne einen 2lu$gteich h^erbeijufüb^ren, bie
Diffonanjen, in benen bie beiben mächtigen ©d)öpfungen jäh abbredjen, in
einen 3lccorb, wenn aud) in SJtolt, aufjulöfen. Diefe Söfung bringt „"Bon
3uan« £ob". ©arolatt) mar beim Stufbau biefer Dichtung auf bie
bubbhiftifch*fdjopenhauerfd)e 2Bettanfd)auung ober auf ben d>rifttidjen HRnftU
ctemuä angeroiefen; ein ©ritte« ift faum benlbar. Unb hierin, in ber reinen
2Ö>ftraction, liegt bie Älippe jeber ©ebanfenbidjtung, benn, roie 2lntäo$,
fdjöpft auch ber 93oet feine Äraft au« ber ©rbe. <£$ ift fein 3ufaH/ baß
inferno ber bebeutenbfte Xheit ber Divina commedia ift, bafc ©oethe mit
feiner magna peccatrix unb mit bem ganjen mnfiifdjsfijmbotiftifdjen
©djluffe mcf)t »iel anzufangen nmfjte. Unb bod) mar Garotatl) gerabe auf
baä ©rethchensSDJotto hingebrängt. 3lber ©reichen einerfettö ift fcb>n eine
©efaHene, gauft anbererfeitö nicht ber reine ©enujjmenfch, fonbem oor
Stflem ber gro&e Genfer mit einem Don 3uan=3uge. Die ©egenfäfee
maren noch nicht genügenb Derfdjärft, toemt bie ftatharfis mit »otter
fdjtagenber Äraft jur SBirfung fommen follte. De§h<d& (ift «uch Diaua,
bie jungfräuliche Königin vom StaulafuS, ba$ mabomtenhafte, nie gefallene
SBeib; be^^alb fteht ihr unb bem ftrengen Prälaten ber abfolute ©emifr
menfch, ber fünbenbefledte Spanier gegenüber, mit beffen unerbittlich con*
fequenter Durchführung jugteich bie irbtfcfje ©ubftanj, ber ©rbgerud) ber
Dichtung, gerettet wirb. Don ftuan famt feine anbere Siebe, als bie beä
©enuffeS; auf ©rben erfennt er nur ein giel: baS 3Beib, am SBeibe nur
ein ©öttlid)e3: ben Seib; nicht ein SBeib miß ,er, fonbem ade SBeiber;
armfel'ge 23eute mär' ihm eine %vau, unb 9üdjt3 perabfdjeut er fo in ben
£ob, als föochjeitSgefafet unb Sßhitofophtren. Unb bod) jählt aud) er, nrie
es ausbrüdlid» heifn, su ben ©rofjen. Der SEBiberfpruch ift nur fcheinbar.
3$ erinnere btoä an ©rabbeS nritbgenialeS Drama, an bie SBorte beS
Teufel«, bafj gauft unb Don Quan auf jroei Sßegen farren — ju bem*
felben QkU. Garolattj b>t bie $ßerroanbtfchaft ber beiben heterogenen
€haraftere in fonnenhette Beleuchtung gerüdt. 2lu§ ber erjmungenen
3?erbinbung ber 93enu$ mit bem enrigen SBanberer 3lf»aSt>er, au* ber
aSerfchmetjung ber irbifdjen SBoIluft mit ber nebelhaften 9lbftraction läfst er
jmei ©proffen h'-roorgeh;n:
(Ein fürftlidfer Dieter.
305
£a8 Sßrieftert&um ber Suft, beS Banqi, ber Eimen
©djuf $on Suan; fein 3roifltofl8bniber Qpauft
3113 Surft toettferner fcodMjebanfen b>uft
3« beutfäen §erjen, beutföen 2)i<f)terftirnen.
®er freterfunbene sJJ?t)tf|u§ biefet feltfamen $ugenbticfä5$8ermäf)lung
gehört in fetner genialen Qbee, rote in beren ctaffifrf) fdjöner 2luSfütjrung
ju ben fjerrlidfiften ©manationen einer großen, freien Äünftlernatur. Unb
mit richtigem Stiele t»ot ber 5ßoet fein ©emälbe niefit auf ben grauen hinter«
grunb bubbln'ftifdter ©ntfagungöte^re, fonbern auf ben concretern, färben*
reiferen beä G§riftentb>m8, mit feiner bem Seben »erroanbten Senfeitä*
tfjeorie, gejaubert. 2Btr mußten bei biefen 2lu3füljrungen länger oerroeilen,
roeil es galt, <Sch>iertgf"eiten ber (Sonceptton aufjubeäen, an benen mancher
anbere große Säcfjter t)ielletd)t gefdjettert märe.
£)ie gabel felbft ift einfad) unb Mar. — %n bangen träumen fdjon
fjat ®iat)a ben nadjtgeroeif)ten ©ünber erblicft, wie er nad) tljr, bem lidb>
umftob'nen Äinbe, Kettling Ijetfdjenb, bie £änbe ftrecft. £>a tfjeilt fid) ber
SSorfjang, unb ®on 3uan felbft ftef)t oor ber ©rufenfürftin. Qn tollem
Stnfiurm Ijat er, ber einjelne Sföattn, bie Sßadjen überramrt unb ift in bie
ßömgSburg gebrungen. 2>a3 nad)brängenbe SBoDf, bie &eerfüt»rer, ber Prälat,
forbern einftimmig ben Xob beä 3*et)ler3. S5iat)a, bie fd>on feit tfiren
bangen träumen unter bem Sanne be3 finfteren „©eelenbräutigamS" ftefjt,
will Um retten, inbem fie üjn jum ©entarte ergebt. ®er grembe aber,
bem bie grauen 9iid)t3 finb al3 „©ntagSgliicfgeftalten", roill »om SBetbe
nur ©innengenuß, alle geffeln finb if>m gleidjbebeutenb mit 9tid»tfein, %ob.
£ob, biefeä lefete SBort greift — ein äußerft fetner 3ug — 00§ nmtfjenbe
IBolf auf; nacf) furjem, tollen Kampfe tutrb ®on ^uan gebunben, unb nun
famt Um SRtdjt« meljr retten, felbft nid)t bie ftürfpradjc ber jungen Königin;
ber Prälat läßt fein Dpfer nidjt mefjr loä. 9lm ©in§ erreicht fie, baß ber
©efangene jur ftitlen ©infefjr in bie <Sd»toßcapetle geführt werbe, bevor ber
nädifte -Dforgen Um auf bem ©cfjaffot nefjt. 9tad) einem bebeutenben, ed)t
bramatifdien groiegefprädj mit bem Prälaten bleibt er allein mit ber gürftin,
bie feine Ueffeln 3eW fjat. £>ier crjä^tt er baS ©efjetmniß feiner £erfunft.
IDteifterljaft fdjilbert nun ber SDtdjter bie erroadjenbe £obe3angft beS trotzigen
3Ranne§, ber fein Sdjaff ot jimmern rjört unb ber feinen £roft fdjöpfen
famt au§ einem ßeben Boll Sünbe. Unb bod) rotll er, pm legten SDlale
ftdj felber treu, felbft bie £obeSnad)t als £od)3ett3nadjt feiern, ©od) immer
mef)r füfjlt er cor $iat)a3 Stugenftrafjl ben roilben SBunfd) 5errimten, ber
tlmt bisher im Slute getobt l»at cor jebem SBeib, ba£ er nodj nidjt befeffen.
Unb al* fte if»n angftooll forfdjenb fragt:
S8ener>rft ®u mi4, fott Sit mein fieib geftören?
3«6t tBäge teotjU Beib ober «Seele? ©prict)!
Ta (tnfen bie legten Sdjtacfen.
306
Ridjarb Koeftlid; in Breslau.
Die Seele, lief er, benn iä) liebe Diij
Unb ffiill Dir folgen buri) bie ©etigfeiten. —
Sin feine 2?ruft jog bit oeriorene ©oim
liaoa fadjt, bann ljob er ben geneigten
Seid) etb'aen £id;tc8 fd):oeigenb Dom 3fon.
Gr fdjleubert ba3 geuer in'ä £etltfltf)um; burd) bie Stammenpradjt
flingen nod) einmal, rcie ftegenbes Dfterläuteu, SMaoaS Grtöferroorte:
Unb barrte Deiner an ber $intmel8|)fort
U.it Deiner ©ünben ber Dämonen @dxtar,
Unb nenn Didj taufeub 2J}utterpi)e banden,
3urütf fdjmd.t' id) fte mit cr&ob'ncn §änben.
öS wirb erfüllt, maS £ebe:i8traum mir mar.
Sonn begraben bie glammen ben entfüfmten, bämonifdjen 3J?aim unb
feine reine £obeS&raut.
68 fant bie SBurg, burdj'S £anb bie ©Iocfen Hangen,
Unb als bie Stammen $aüclujab fangen,
3ft mit bem finftern ©eclenbräutigam
(Srlcft Diana btmmdtuärtS gegangen. —
Skn StebeSmadjt in feurigem ÖMäljrt
Stuf $(ammcnfbeid)en rettet Dom ©emeinen,
Dem trerben ©onnen ber SSergebung fdieinen
3m $eimatlanb, befs 3rüf)Iing e»ig toäbrt.
80 flingt oline bal „gragejeidben am <Sd)luf? eines gercaltigen ©ebidjt*"
(2lngeltna) bie erhabene Schöpfung rein unb r>erfölmenb au£, auf bie unfer
beutfdjeS <£tr)riftt^um mcHeidjt nod) ftolj fein wirb, roenn mand)c
„©röfje" längft ber oerbientin ^Bergeffenljeit »erfüllen ift. Sie oicr
©djluftäetfen ber Sichtung entfalten allein eine 95klt von ©d>önf)eit unb
©röfje. Qn reifer Mnftlcrfcfaft ift e3 mit ber Ijcrrlidjen Öebanfenbidjtung
„©in 33ttb" baS ^ö<f»ftc, roaä Garolatf) gefefaffen fat, beSgleidjen an 33olU
enbung ber Sedmif; roäljrenb „Singelina" fauftg, bie „©pljtnr" in ber
Slabbtfcene, tobte fünfte aufroeift, fefaeitet „Son ^uatö £ob" in raftlofer
entroidelung ebem unb gefdjloffen wie ein Srama bafitn. 9ln genialen
Gpifoben roirb e3 melleidjt »on ber „©pbjnj" nod) ü6ertroffen; aber bie
f)öd)ftc ^ßatme erringt aHejeit ba§ ©enie, gebänbigt burd) Slunftwrftanb . . .
fonft wäre ©rabbe unfer größter Sidjt^r, nid»t ©oetfa. —
Morituri te salutant — ^ßrinj 2d)önaid)--Garolatf).
2LUr bitten am ©ingange bie SBerroanbtfcfaft be3 ^rinjen mit Sorb
33nron angebeutet, unb mir glauben unfere Stubie nid)t beffer alä mit einer
furjen »ergletdjenben Stnalnfe fdjliefjen ju fönnen. — 33eibe finb oon fafar
©eburt, bie ifaen ebenfo einen weiten unb tiefen 33ltcf in baä menfd)lid>e Seben
geftattet, als fie ifaen bie £inberniffe, bie fid) fonft bem ginge be3 ©eniuS
entgegenü)ürmen, aus bem 2£ege räumte; Reiben mar e3 Dergönnt, iljre
©ubjectioität augreifen 5U laffen, |ofae fie einer roirtf)fd;a'ttid)en Spreffunt
ober ben Saunen eine* »ielföpfigen SpubticumS umerorbnen ju muffen.
€in füijJItdjer Dieter.
307
©trief» fjterbei fri jebod» ein roeittragenber Unterfdiieb fjeroorgeljoben. Garolatlj
roudjS in einer glüdltcfjen £äu3ltd)feit fjeran unb fjat fte roteberum im reifen
ÜDtanneSalter fid) felbft gefdiaffen; Söriron mufjte fie als Äinb wie als UWann
entbehren, unb für biefen fanget tjat itm roeber fein ©enie nod) fein
9teid)tf)um unb 9tang entfdjäbigt; er ift fein 3Serf)ängnifs geroorben. 2lber
ber parallelen finb nod) genug. SBeibe mürben oon innerer Unraft in bie
gerne getrieben, aus ber fie jene roeitumfaffenbe Stenntnifi frentber Sauber
unb SBötfer fjeimbradjten, bie ben Snfjalt ifjrer SHdnungen in ein frembeS,
erotifd)eS ÜDiitieu ju bannen liebt. S3eibe fud)en mit Vorliebe gauft* unb 2>on
Suanartige Probleme auf, unb eS ift fein 3ufall, baf3 ßarolatf) fid) ju ber
Harmonie burdjrang, bie bem Schöpfer r>on „3)knfreb" unb „£)on $uan"
»erjagt blieb. 33eibe mttersieljen fid) ben aufreibenbften ©trapa&en: Snron
bur<$fcfyroimmt trofc feines Älumpfu&eS ben £elleSpont, Garotatfj trofct ben
ftimatifdien ©inflüffen unb ben Aufregungen gefäf)rlid)er ^agben. Unb
— last not least — 23eibe befdjliefjen, fo roett man bei bem ^rinjen
fdjon »on einem 2lbfd)luf? fpredjen fann, ifjre bicbtcrifdje 2l)ätigfeit in rein
menfd)tid)er SBeife: ber 33rite im prafttfdjsnattonalen ©inne burd) bie
Eingabe an ein untcrbrüdteS, für feine ftaatlidje greitictt ringenbeS SSolf,
ber ©eutfcfje im tfjeorettfdjnnternationaten ©innc burd) bie Eingabe an
bie Unterbrüdtcn unb nad) menfdjlidier greifet 9ffingenben überhaupt.
3lber ben Kämpfer »on SDHffolungln' umftratjlt eine eroige ©toriole: roie
ber früfjgefcbtebene ©änger beS £eU ging er im 3enitfj feines ©eniuS
»on ber 6rbe unb erregt adiilleuSgleid) eine ewige <Set)nfiict)t. S5?aS
©arolatb, aber nad) „Qon 3uan3 £ob" auf reformatortfdjen ©ebiete u. f. ro.
gefdirieben l)at, ift im fünftlerifdien ©inne als ein grofier 9?üdfd)ritt ju
bejeidinen, unb eS bleibt nur &u roünfd)en, bafj er in bie »ertaffenen SBafuien
roieber einlenfen möge; benn bort, auf bem ©ebiete beS Sieinmenfdjlidjen,
nid)t in ber ©d»ilbentng trauriger focialer 93crf)ältmffe, fo fetjr fte aud) ben
eblen 3Henfd)cn efjrt, liegt bie ©tärfe feiner gewaltigen Begabung, bie
fdjon auS rein tedmifd&en 9tüdfidten ein ©ebiet meiben follte, auf bem fie
all bie SBunberfarben ifirer Palette nid)t ju »erroenben »ermag. Unb roie
biefe färben leudjten, als fjätte fie SDiafartS ^ßinfet gejaubert! @S roäre
fd^ttcfelid) tf)örid)t, wollte man jefct fd»on bie bic&tcrifdje 3ufunft eines
Sebenben, jumal wenn biefer erft 43 3al»re jäblt, antteipiren. Unb übrigens
— roaS biefe 3u^unft au$ bringen mag, fann fie bodj 9fid)tS änbem an
ber $erfpccti»e : ®cr ©djöpfer ber ,,©pf)inr" unb oon „Ton $mn$ %ob"
gehört ber Sßettlitteratur.
Siotb unb ©ift. LXXV. 255.
21
2lus Düffelöorfs (Blan^pocfo.
Unge&rucfte Sriefe t>on ßeiijc 2Ttcnö«Isfo^n>Barl^oI6y*).
Don
3ofepÖ Soeften.
— K5ln. -
lobt wenige beutfdie ©täbte f»aben in iliren SJfauern ein fo »iel*
feittg angeregtes geifttgeS Seben in einem »er^ältmfjmäfeig ftirjcn
3nnfd)enraum jur ©ntfaltung unb SBlütlje fommen feilen, tote
SDüffetborf.
©ie mreergteidjlidje ©artenftabt ^atte fidE» fdjon burdb, bie SSBirffamfeit
bes alten 33urgmüller, beS SaterS beä attjufrül) bat)ingefd)tebenen S-om«
poniften Norbert SBurgmüller, einen root)foerbienten Sftuf auf mufifalifcbetn
©ebtete erroorbeu, ber bort in ben toeiteften Greifen ben ©runb einer
geregelten mufifalifcfien öilbung ju legen unb ben Gifer für bie STonfunft
nadi Gräften ju beleben beftrebt war. Qn Äarl Qmmermann Iiatte bie
beutfdje ©idjtfunft unb Säbine iliren großen 2tpoftel rotebergefunben, ber
gerabe frier mit glüdttd^er £anb feine reformatorifdie ifcljätigfett entfaltete.
©eit bem ^ab,re 1826, in roeldjem SBilljelm »on ©djabom mit fetner
jungen Jtunftterfdjaar in ©üffetborf einjog, fdnen Ijier eine neue ^lütfje
ber Äunft aufzugellen. 2lu§ biefer ©dmte gingen ein Sefftng, ©otm,
33enbemann, föfibner, ©djröbter unb ©firmer fiertior, beren ß^arafter
roefentlid) ber romanttfd&en ©idjtung entfpract). 2tudfj ber jugenbUdie gerbi»
nanb Xljeobor £ilbebranbt, ber nachmalige Selirer unb ^ßrofeffor an ber
©uffelborfer ßunftafabemie (geb. 2. ^uli 1804 5U Stettin, geft. 29. ©ep--
tember 1874 5U ©üffetborf), fam mit ©djaboro nadj ©fiffelborf.
*) »fll. »tiefe au» ben 3aftren 1830 bis 1847 Bon fjelts 3nenbel8fobn.93artf>olb&.
ßetpjifl 1865. 2 SBänbe. herausgegeben »on Dr. SuItuS 8Hefc unb gelt; SNenbelSfobn.
SSartboIbt). Briefe unb Erinnerungen oon fjerbtnanb filier, flöln 1878. SSerlag bou
ffiu 2Ront«@djauber0.
Uns Dflffel&orfs (Slattsepodje.
309
3n biefen EretS trat im ^aljre 1832 sunt crften 9M, auf einer Steife
nad) gJariS jum 5Befud)e ber rlieimfdjen Äunftftabt, ber jugenblidje geltr
SWenbelSfoljnsSartfjotbi). 9lafy %afyc unb £ag jog 9JJenbelSfobn fd)on als
SJtufifbirector in ^üffelborf ein. @r fanb sunäd)ft fdjroierigere SBerljältniffe
r>or, als er erroortet b>tte unb in bem ^rioatfreife feines elterlichen
Kaufes geroolnrt mar. ©d)on bie erften ©oncerte matten il)m Biet Arbeit.
@rft als ßtjor unb Drdjefter greube an ber ©ad)e unb 2td)tung cor bem
unermüblidjen gleite il)rc3 SeiterS empfanben, fam aud) ein rediter 3U8
in bie ©ad)e. 3U Wefen anftrengenben ©efdjaften blatte ÜJlenbelSfofm mit
ber 3^it aud) bie Seitung ber Dper bei bem neuen ^eaterunternelmter
ßarl Zimmermann übernommen unb mar f)ierburdj mit einem ©djlage als
„©reiunbjroanjigiäfiriger" ber Siebting ber ganjen ©tabt geroorben.
2tber aud) in feinen perföntidien 33ejiel)ungen entroidelte er nad) bem
Urtf»etCe ber 3eügenoffen eine ungeroöljnlidje SiebenSroürbtgfeit, SRunterfeit
unb 33eroegltd)feit. 3tnregenb unb belebenb, roie fein fünftlerifd)er ©eift
mar, gab er überall melir, als er narmt. ©0 war eS benn fein SBunber,
bafe um biefen Siebling ber ©ötter fid) eine ©djaar von greunben, 2tn*
betern unb ©önnern fammelte. SftenbelSfolin fat) fid) jebod) nad) geraumer
3cit t>eranlaf?t, »on ber ©irection ber $>üffelborfer Dper jurücfjutreten.
SBolfgang 3JJüffer oon ÄontgSrointer b>t baS SBerbienft, in feinem
befamtten SBerfe: „©rjctylungen eines rb>imfd)en ßljromften, ßarl Ummers
mann unb fein JtreiS", 33anb 1, ©.48 (Seipjig, SrodfyauS) bie ©rünbe,
roeld)e für 9BenbetSfob> hierbei entfdjeibenb waren, in baS red)te Stdjt
gefegt ju Ijaben. „®aS 2Bab>e an ber ©adje ift" — fo läfst er
■IWettbelSfofyt felbft fagen — „bafj mir bie 2lrbeit über ben Äopf roäd)ft.
^ebermann weiß, roieoiel id) mit ben Goncerten ju tfiun fyabe. 2lllerbtng3
nmrbe id) in einem fd)road»en 2tugenblide ju bem 23erfpred)en liingeriffen,
bie l)auptfäd)tid)ften Dpcrn ju leiten, roeil meine $reunbe midj baju
brängten. 9tun bin td) aber ju ber ©nficf)t gelangt, baß id) melir »er*
fprod)en babe, als id) leiften famt. 3d) »erliere mtd) unb meine Sompofü
Honen über all' bem ©d)affen unb 2Birfen in ber Stu&enroelt. Ta nun
aud) mein $reunb QuliuS 9Jiefc, ben mir für bie £>irectton ber Dper im
Mgemeinen von Berlin berufen fiaben, fid) überaus roaefer unb tüditig
erroeift, roie id) es nidjt anberS erroartete, unb ba id) alfo burdjauS über«
flüfftg geroorben bin, fo l)iett idj es an ber 3«*/ m^ jurüdfjujieb^en, um
an meinem Dratorium Paulus ju arbeiten, ©n Mnftter, ber (StroaS vor
fid? bringen roill, barf fid} aber nierjt ju fef)r jerftreuen. liabe bis
jefct nod) ju roenig [geteiftet. 9JJit meinen Siebern unb ßlanierftücfen ift
erft ber 3Bcg su einzelnen ^erjen gebahnt. 3)?it meinem neuen SBerfe Ijoffe
id? mir baS SBotf ju gerotnnen, fo ©ort roill!"
üfienbelsfoljn, ber fid) in feinem Vertrage nur auf .'jroei ^ab^re ners
pftid&tet blatte (»ergt. SampabiuS, „$dix 9JJenbelSfo^n^artb^otbn", Seipjig
1848, ©. 43), ging 1835 nad) Seipjig, um bie ©irection ber ©eroanbbauS*
21*
3\0 3»fepl? 3oejien in K5ln.
©oncerte ju übernehmen. 9tod) in bemfelben grühiahr tjattc et baS SDiufif«
fcft ju Mtt unb am 2. Quli 1835 feilt tefcteS ßoncert in Eüffetborf
birigtrt. 2tu<^ bic ©Item roaren oon SBertin herbeigeeilt, um ben Triumphen
il)re§ Sohnes 6eijuroohnen. 33on ben ßeitgenoffen wirb uns berietet, bafj
felbft biejentgen, bie 9RenbetSfohn als einen fremben ©inbringling angefehen
unb ihm mannen ©erbruft bereitet Ratten, burd) fein Glamercapriccio in
H-nioll ocrfö^nt geroefen, jeber SJtunb beS Rubels uoll uub sugleidj ber
Trauer fein @nbe geroefen fei.
3n Scipjig »offenbete er feinen ^ßauluS. 2lm 22. ÜDiai 1836, einem
Sßfingftfonntage, rourbe btefeS Oratorium jum erften 3Rale in $üffetborf
(im Secfer'f^en Saale) aufgeführt, Seit Sohl"" Sebaftian ©ad), §änbel
unb Qofeph §apbn hatten bie Reiften biefe gorm oertaffen. 9)?o;tart
roibmete lid) nornehmlid) ber Oper unb ©eetljoöen ber Sinfonie. 9lun
fd^tug am 3thein mit einem Schlage ein junger fechSunbjroanjigjähriger
Componift burd). 3Wan überreichte Bei biefer ©cCcgcnfjett bem gelben beS
£ageS ein ^rachteremptar beS Paulus, mit trefflichen £anbjeichnungen oon
ßitbebranbt, 9lbolf Sd)röbter, ^futiu« £übner, ßbuarb Steinbrütf unb
Heinrich 3Hüde illuftrirt.
©aS erfte SBerf, roeldjeS 3flenbelSfof)n nach feiner 3lbreife x>on Düffel*
borf Bomahm, roar, bajj er in $ranffurt am Sfltnn bie groben beS oon
feinem erfranften ftrcunbe Scfjclble geleiteten 6äcitiem)eretnS fortführte.
£ier lernte ber „Solm ber ^immttfdhen ©äcitia" auch feine fpätere ©atttn,
ßäcitia ^eanrenaub, tennen.
2luS biefer fonnigen Qät beS jugenblichen Schaffens unb Strebend
ftammt ein ©riefroedjfel*) aus bem 9Jad»laffe beS treuen greunbeS beS
grofjen £onbid)terS, beS ^ßrofefforö gerbinanb Stieobor £ttbebranbt, ju
©üffclborf. 21'ahre greunbfdfjaft »erbanb bie beiben Äünftlematuren bis
an ihr SebenSenbe. ©ing baS Sebcn beS ©inen in lieg runb unb ferrig
abgefdjloffen bahin, fo roaren bem 3lnberen im Saufe ber $ahre, bie er
ben greunb überlebte, mannigfache Prüfungen unb Sd)idfalsfd)läge nicht
erfpart geblieben.
®iefe Briefe finb geeignet, ben Äünftler unb SKenfcfjen ihre« Schreiber*
in einem Haren unb ruhigen Sichte erfcheinen ju laffen unb über manche
Vorgänge uub ^erfönlidifetten aus ber bamaligen £üffelborfer unb Seipjiger
3eit Sluffdjlujj ju geben. ^n biefer £tnfid)t bürften fte auch *>aS ©ilb
ber ^erfönlichfeit beS grofjen Cannes, roie es aus ben ©rieffammlungen
non Julius 9fte|3 unb gerbinanb filier uns entgegentritt, einigermaßen
ergänjen.
Sie ©riefe aus Seipjig unb granffurt Dom %at)xt 1835 unb 1836
ftammen aus beS 2JJeiftcrS ^fiißetibgeit,, bie ©riefe oom Qahre 1847 finb
*) $iefe SBrtcfe fmb mir »on befreunDettr (Seite jur Verfügung geflellt toorben.
aus Dfiffelöerfs <Bfan3epodje. - — 3U
roenige SBodjen vor bem am 4. 9fooember 1847 erfolgten £obe 3JJenbefö=
fob,n£ getrieben.
3$ glaube barjer ben »tefen greunben ber beiben Äünftler unb
greunbe einige biefer Briefe von allgemeinerem ^ntercffe befannt geben
p follen:
-ßeiusig, ben 31. October 1835
(wäljrenb bie ©loden fctjön »um 3tefortnationBfefte
läuten),
ßieber §i(bebranb!
§abe bielen Sant für Seinen lieben, lieben ©rief, für ben Idj Sir fdjon tänflft
ftätte banfen unb barauf antworten follen (wäre e8 aucf) bloS au8 Sigemrnfc geroefen,
um balb Wieber einen gu befonraien) ober id) mar bie 3eit Der febr gelje&t unb anßeftrengt
unb finbe erft jefct, ba id) wegen einer Keinen Unpä&Iicfjfeit baS 3immer büten mu&,
bie redjte 2Jlu{»e, um Seine freunblidjen Seilen fo red)t con amore ermibem gu fönnen.
SBobl trar e8 eine gute 3eit, wo Su täfllid) an'S JJenfter fommen unb in mein grub,«
ftütf Ijineinguden fonnteft, wo Su meinen Sagen baburd) gtetdj einen bergnügten Slnfang
gabft, unb baran babe id) toobl oft fdjon gebadtt, wenn id) leiber gang ungeftört früb>
früden fonnte, überbaust mu& id) Semen unb ©djirmer'S Brief nidjt gerabe burdjlefen,
Wenn id) (Sud) meinen neuen 2lufentt)alt gang unb gar loben foH; benn für bie bieten
f rofjen Stunben, bie wir gufammen bitten, finbe id) t)ier worjl leinen (Srfatj unb 9ttd)tB,
was baran erinnern tonnte. Safür aber geftebe id) Sir, bafe id) erft b,ier redjt empfinbe,
wie fer)r biet mir in mufifaltfdjer ©tnficrjt bort abging, tt>ie biele unb gang unnüfce
Quälerei id) mit mandjen Singen blatte, bie nun einmal eben burd) ben guten SffiiHen
ber ©ingelnen nidjt gu fdjaffen finb, uno wie id) mid) alfo in Söegietjung auf mein
öffentliches SEBirlen bier gufrleben füllen mu&. Sa8 3nftitut ber ©oncerte, bei benen
id) bin, befteljt feit mebr als fünfgig 3abren, SlffeS ift im guten georbneten (Sange,
manche alte hergebrachte ©ewobn&etten, bie mid) gutoeilen rubren tonnen, weil fte auf
eine oergangene 3«t nod) binbeuten, wie mid) benn audj ein 3»Pf ober eine Sßerüie
«ineB alten $ernt erfreuen fann — babei ift ba8 Orcbefter tneiftentbetlB jung unb lebenbig,
ungemein fid)er eingefpielt, fogar einige berühmte SJtufifer barunter, id) habe einige
meiner Oubertüren mit meljr (Snfemble unb (Senauigfeit gebort, alB jemals fonft, unb
Ijabe babei ba8 Vergnügen, ba& fte felbft SlbenbS jeben augenblicttidjen ©nfaff unb
äßinl be8 StaftftocfeS berfteijen unb ausführen. SBenn Su baS mit managen Proben
unb Auffüllungen, bie Wir gufammen erlebten, »ergleidjft, fo taitnft Su Sir benten,
bafe mir e8 hier in mufifalifdjer £>infid)t wobler ift — aber wenn fo ein @tücf 3Raler»
SIfabemie nad) Ceipgig mitten unter bie Serchen gießen wollte, fo wäre cS bod) ein
luftiges lieben. Sa8 getjt nun freilief) nid)t, unb fo fudje id) mid) gurüdgugieben unb
fteifiig gu arbeiten. SBenn mir eS gelingt, fo bente id) mid) gegen ben grübling auf*
gutnadien unb ein paar Monate gu gufj gu geben; ba& id) bann jebenfaHS über Süffel«
borf tomme unb wofjt mal eines SWorgen« bineingude, Wie ber #err 2Mer frübftüden
tbun — ba8 ftebt feft. Sagwifd)en liegt nod) biet Sdmee unb $agel unb 16 Abonnements»
<5oncerte, (benn fünf finb erft borbei) unb Ijoffentlid) ntandjeB ffirieflein Bon Sir, unb
überhaupt eben ein paar lange SWonate — aber id) freue mid) bod) fdjon Jefct barauf,
fobalb id) lebhaft baran benfe. — SDBie fchlfmm fte&t e8 aber mit ber ebeln SJcalerfunft
gu ßelpgig! SBer tarn in ber SDJeffe ber, unb Wirb nod) {efet immer bom Stbreifen
gurüdgcbalten burd) SSeftellungen bon SßortraitS? äßen bält Seipgig für ein gefdjidteS
Shrldjen? Sliemanb anberS als Sßrofeffor ®rünler*). 6r malt meljreTe bide S3ud)>
*) (Sbregott ©tünfer, Sßrofeffor unb Hofmaler in 3<ulenroba, malte anfangs
b;iftorifd)e Silber, raarf fid) fpäter aud) auf bie SarftcHung bon Spieren (Sdjafen), bie
ilpn beffrr gdangen, als jene.
3{2 2o\tfk 3oejten in Köln.
hänbler mit i^ren grauen, unb alte rühmen, ba& man faft gar nidjt gu fifcen brause
nnb bod) feien alle Sötlber gleich „gum örfennen". 3<h fud&te mehrere mal fehr gering«
fdjäfeig Bon ihm gu leben, aber ohne Grfotg. Neulich [teilte itjn mir fogar einer öor,
aber id) mar ber Süffelborfer Slfabemie eingeben!, gu ber id) halb unb b>lb gehöre
nnb id) betrug mid) ferjr grob unb furg, wegen ber SBafferflüffe S9abülonS, unb anberen
Unfugs, ben id) Bon ifem gefehen Ijabe. Sludj ©enelti*) ift %\tt, fdjirapft auf gang
ßeipgig, unb bie gange SBelt, unb malt nidjtB. Sfculidj toaren einige gwangig Silber
auBgtfiellr, bte Born SreSbener ffunftberein Betlooft werben; baS befte batunter roar
offenbar unb nad) allgemeinem Uitljeile ber §an8 ©adjS Bon Oer**); mid) freute
eS nod) apart, tote id)'S fo fertig unb fdjän gefirnifjt fah, unb mid} ber Stli erinnerte,
too e8 fialb unbemalt baftanb, unb id) Sir gum Portrait fafj, unb Su Oer Statbfdjläge
mit ber fjingtrfpiadje gabft, unb id) bie Nürnberger Sljütme als Sanbfdjafter tabelte —
eS madjt nun bod) einen redjt angenehmen Sinbrucf, unb gefällt tote gejagt allgemein.
Slufierbem roaren ein paar nette ©egenftänbe ba, nament(id) eines bon SBurfel***), t»a£
mir mbeffen ferjr obenhin gemalt fdjien, im (Sangen fduen mir nur weniges SBerttj gu
haben — ein SBerliner SBilb mit Sßferben unb 9tettfnedjten mar gräfjlid) langweilig —
ber eine Steithtedjt mufj als 2Bürje eine SBäfdjeriit umarmen — eS bleibt bod) [0119*
toeilig. Sagegen habe id) ein flubferwerf gefehen, baS mid) fet>r amüftrt fyxt: eS ftnb
SßineUi'St) Silber gum ©ebidjt SDteo $atacca. Sennft Su baS? ®S erinnert gar gu
fefjr an 3tom, mit allem $raditBoden unb Predigen burdjefatanber. Noch mu& id) Sir
Bon einer Sängerin (ber ©djtoefter bcS 3KaIerS ©raoau)tt) ergät)Ien, bte hi« ift, tmb
bie SDu einmal feinen foateft, Wenn fte »ecthoBen'fdje Sieber fingt. ©0 etwas SSoO«
lommenes ift mir feiten bei einer beutfdjen Sängerin Borgetommen, unb bie Süffel«
borfer äRufenföhne würben fdjtoärmen, wenn fte btefen glocfenrehten Jöortrag hören tonnten.
SEBenn fie ein biStfjen hübfd) Wäre, unb iünger, fo mü&te id) mid) auf ber ©teile Per«
lieben unb thäte ben gangen Sag nidjts, als Sieber componiren, währenb id) jefct an
ber iBoKenbung beS SßauluS fteifjig arbeite. Sfber Bergeü), bafj id) Sir fo Biel Bon mir
unb meinen Umgebungen ergäble, ttaB Stdj BieKeid)t gar ntdjt tntereffiren mag. 3<h
thue es aber mit Slbfidit, Weil Su audj gar gu wenig, ober gar nichts oon ber Seimgat
fdjrcibft; bitte, lieber $iHenbart, hole baS halb nach, unb fage, was Seine gfantttie
macht, ob bie bringen nod) leben ober fdjon gemorbet ffatb, toaB Su für SSitber im ffiopf
haft, ergähle mir Bon ©c&aboro's unb Bon Sud) allen, audj bom Sheater unb 3mmer«
mann, ba eS mid) intteffirt, Bom ©tngberetn unb bem Statt) ber Stilen, unb bor allen
Singen fdjreib mir halb mal wieber. SDlit ^erjlidjen ©rügen an Seine grau unb
SDtariedjen bin id)
Sein
fjfelij 'JKenbelSfohn^aSartholbB,.
*) SBonaBentura ©enetll, 3eid)ner unb SOlalcr, geb. 27. (September 1800 gu »erlin,
geft. 13. Siobember 1868 gu äBeünar, lief? fid) nad) feiner fflücffehr bon 3talien, 1832 in
Seipgig nieber, um bort für ben Soctor $äitel einen ©aal in beffen ©artenhaufe
mit SrcBfen gu fcfemücfen.
**) Sthcobalb Bon Oer, ber aus SBeftfalen ftammt unb fpäter als SJtaler in
SreSben wohnte.
***) iöeinrid) Eürtcl, ©enre« unb £anbfd;aftSmaler.
t) SBartholomeo Sfitnetli, SMer, geb. 1781 gu »om, geft. bafelbft 1. Hpril 1835.
(SDleo Sßatacce, Sialect).
HO Ser SanbfdaftS« unb Sthicrmalcr Gferiftian ©rabau, geb. 1809 gu ©remen,
ber mit Vorliebe «tafferfälle barfteüte unb ftd) inSbefonbere burd) feine Shterftmte
auSgeichnete.
Jlns Düffelberfs <5lanjepo<f;e.
3\3
Srantfurt aßJl ben 26. 3«ni 1836.
Siebet fcilbebranb!
Riebet erfolgt ein 83rtef ber girma äkeiilopf & fcärtet mit bem c8 fo gufammen«
bängr. Sie fcbteiben an mid) unb baten icb mödjte Sid) bitten, Su mBdjteft erlauben,
bafj fle für Ujre muflfalifcfie Rettung Sein Portrait bon mir in fletnem ftormat ftecben
(ober litbograpbtren) liegen. 3&re Slbficht fchien gu fein, Sein 23ilb in ßeipjtg cophen
gu Iaffen, unb ba id) bor ber Seipgtger $ortrattma(erei unb =ftecfjeret ljöttifdien Stefpect
babe, fo fdirieb id) tljnen gurüi, fie mürben beffer tbun, bie Sache Sir mttjutbeiten unb
antjeim gu (teilen; treit Xu bieüeidjt ht Süffelborf felbft ober in Göln fotch einen ©rieb
beforgen unb beffer machen Iaffen tannft, als fie in ßeipjtg. @ie fragen nun alfo bei
Sir an, ob Su biefe ©efälligteit toben tr oflteft? Sa benn bod) baS Portrait in jebetn
Sfa&e berauBiommen faßte, fo märe mir*» natürlid) lieber, toenn'S gut mürbe, unb bagu
fattnft Su geaifj am heften berbelfen. Stimm bie Seläftigung nid)t übet, bie Sir baburdj
entftebt, unb tbue mtr unb Härtel'«, toenn Su eS tamtft, ben (gefallen, Sid) beB SingeS
anguuebmen, bamit id) mit einem bernünftigen (Sefidjt in bie ÜBelt tbmtne.
SBenn e8 möglid) ift, fo anttroite ibnen recht balb auf tbre SBitte, ut>b fielen bann
gugleid) ein paar 8*ü™ an mid) mit ab, fo märe baS freilief) befto prächtiger ; toenn
aud) meiter nichts brtn ftänbe, als toaB Su unb bie Seinigen machen, unb wie eS ©djaboio
mit feiner ©efunbbtit gebt.
3d) lebe fjitx fetjr angenehm unb mit bieten licbenSmürbigen Beuten; bod) braudje
id) nod) 3cit mid) bon ben Süffeiborfer Arbeiten ju erboten, beren Stnftrenaungen id)
erft tjier gu fiiblen anfing. Sftoffini'8 Slntoefenbeit fjier bat alle Diufifec in Sllarm ber«
fefct, unb mir Diele ftreube gemadtf, n eil er ber geifireiebfte, amüfantefte ©efeflfebafter
ift, ben man tn ber 2Mt finben fann. Sind) 2J!ufif baben mir manches SDcal mit ein«
anber gemacht, unb id) tverbe Sir luftige Slnefboten oon tbm gu ergäblen baben; ©chabe
bafi Su fie ntd;t gleid) felbft ergäblen fannft ; eS märe ettraS für Xid). ©r ift ein toller
SJhing. Slud) Pon ber biefigen StuSftellung merbe id) mancherlei gu ergäben baben; ein
ebarmanteS fflilb bon ©chelfbout*) toar mieber ba, unb überhaupt mebrere bübfebe
©achen. Sie 2J?abomta bon Seger**) unb bie Sanbftfjaft von Sßofe ftbienen alle
Srantfurter Jhtnftfenner fetjr gu entgücfen, unb eS mürbe brüber Biel gefannegiefsert bin unb
ber. ©eftern erbielt id) einen furgen Sörief con SBortngen, 11 orin er mir mieber alles
möglidje Unangenebme über baS Süffelborfer SRufiffeft unb Sföufifaefcn naditräfilich aug«
gutrinfen giebt; cB totrb n>ot)i nidjt fo fehlimnt fein, tote er eS anrieht, in feinem Salle
aber fptid) ihm babon.
3d) habe aber leine ©chrctblaune, toeil id) in S— 4 Sffiodjen nieber in Süffrlborf
gu fein bente unb bann 2lD.cS beffer münblid) fagen lann, einen Slbenb müffen mir bann
aieber bei Sir mit Schirmet allein gubringen, unb toenn nod) Pflaumen ta fmb, fo bitte
id) Sehte grau, fie bis babin aufjubeben. Sffen toül id) fie bann fcfjon.
ßebe nun toobl, fcilbebart! ©rüfje mir ©chirmer unb SSenbemnnn bielmal unb
lebe toobi.
Sein
3-eltr, 3)cenbel8foljn«JSartbolbt).
ffranffurt aßR, ben 10 ©ept. 1847.
SJiein lieber §llbebranb! §abe bielen Sanf für Seinen frcunblidjen SBrief, ben id)
fo eben bei meiner Slnfunft biet empfing. Unb fage aud) Seinen (Sollegen Pom SJiufif«
*) HnbrcaS ©d)dfbout, ßanbfchaftBmaler, geb. 1787 im fcaag, geft. baf. 1870.
**) (Srnft Seger, £tftorienmaler, ber mit ben SBrübern SlnbreaB unb ffarl SWülIer
aus Sarmftabt unb Ofrang Sttenbadj au8 StonigBmintcr bie greSfen in ber älpoDinariS«
fird)e gu Remagen am JRfjein unb fpäter bie greSfcn in ber ©chlo&capeHe ber Burg
©tolgenfels gemalt bat.
3°f«plt 3oeften in Köln.
Comite meinen Sant für baS SBertrauen baS ftc mir burd) i&re Slnfrafle bewetfen. Sa%
tnidj bie ©adie, Bon btr e8 ftc^ banbelt, lebhaft intereffirt unb bafe idj baber gern bot
beften 9tat& geben möchte, ber ftd) nur erfinnen lägt, baS brauche id) Xtr WobJ nidjt erft
)u Derfidjefn. Slber eS wirb mir fdjwer werben; nenn feit id) bon Sfctefc' Abgang borte,
babe id) oft gebaut, tuem id) wot)I biefe ©teile wänfcrjte unb ^abe niemaub berauSfinben
IBnnen, ber unbebinat pa&te unb für ben fie unbebingt pa&te. @be idj midj baber näber
auSfpredje, möd)te id) Sieb bitten mir gu fagen (es seiftest ft* unter bem Skrfprecben
meiner Säerfcbiuiegentjeit) ner ftcf) bei (Sudj gemelbet bat. SBlelleidjt ift tiner barunter,
ber beffer pafst, als einer Don benen an bie id) gebadjt l>atte; unb ift baS nidjt ber fjall
fo will id) meine SBorfdjtäge madjen fo gut id) tann.
©oHte fid) feiner finben, ber uon allen, bem Sfcrein unb bem ©omite gteid) bei
Nennung feines StamenS per Acelamation angenommen mürbe, rooütet 3br bann nidjt
bteHeidjt bem SBeifpiele beä biefigen <5aeciIten«2JereinS unb ber SDiainger Vereine folgen
unb für ieben Bewerber einen Slbenb (ober me&rere) beftimmen, wo fie bor fämmtticben
iDtifgliebern eine Sßtobe ibreS SirigirenS unb SinftubierenB, tr>re8 ElabierfpielS unb irjrer
gangen SIrt ablegten, roonad) bann bie SSabt fict) rid)ten IBnnte? Sold) ein Skrfa^ren
bat mandjeS 2abeln8aiertbe, aber e8 ift nid)t gu Iäugnen, ba& beibe Vereine, ber fciefige
tote ber SKainger, fcfjon mcijreremal fet)r gut babei toeggefontmen finb. SDtan ga&Ite ben
SJeroerbern Mos bie SWeifefoften bin unb ber, lief} fie nadi belieben ein SBerf gum Sin«
ftubiren auswären weldjeS fie tonnten ober worauf fie fid) vorbereitet Ratten, nabm aud)
(wenn id) ntd)t ine) irgenb ein ibnen unbelannteS unb bitbete fid) fo fem Uttöeil. Sie
Herren ©djott in 2Jtaing unb irgenb einer Seiner biefigen SBetatmten mürben 3Hr
geroijj alle Setails barüber beffer angeben tonnen, wenn Su fie Hüffen woHteft.
ÜJünftbcft Su nun meine Slntoort batb, lieber fiilbebranb, fo fdjreibe mir balb
nad) Smpfang biefer 3c«fen bieber, 8lbr. hötel d'Angleterre. 3d) bleibe nod) 5—6 Sage
frier; naefeber ift meine Slbreffe mieber Seipjig. äUte gern id) Sir auf aüe Seine fragen
mit meiner beft n 2lu«funft gu Sienften bin, braudje id) nidjt erft gu fagen.
gür bie 3bte mit ber Sßartitur meines (SliaS unb ben Unterfd)riften barin für
3tteö banfe id) Sir unb allen febr berglid); e8 bat mir febr grofje 8-reube gemadjt. Unb
bafj Su atfeS bumme 3<u<I bdjättft, was mir beim 2Infdjaucn Seiner fdjönen ©über
burd) ben Sfopf fat)rt unb toag id) folg(id) Sir aud) gleid) fage, ba8 bat mid) faft be«
fdjämt. SIber Su weißt ja, wie e8 gemeint, unb wie fid) niemanb me&r barüber freut
als id), trofc ber bieten curiofen Lebensarten, bie babei gu boren finb. §offentIid) febe
id) Seinen OtbeDo recht balb; bie Se8bemona fte&t mir woljl immer »or äugen, feit id)
Sein 58ilb tenne, unb fo muf} e8 jebem geben.
9hm grü&e mir grau unb flinber redjt frergtid) unb fei bon ben meinigen ge>
grü&t. 3mmer
Seht
Seltj SKtnbet8fobn«58artbolbr».
ßeibgig, ben 1. October 1847.
SWein lieber ftilbebranb!
Unter ben neun Bewerbern, bie Su mir in Seinem testen Briefe nennft ftebt
©tHer fo entfd)ieben obenan, bafj nad) meiner SMnung fein 3'<>eifet barüber fein tarnt.
<5r ift t>urd) fein Satent, feinen Stuf unb feine Uebung ben anbern bon Sir (Benannten,
ja id) glaube Sitten überlegen, bie ftd) irgenb in Seutfcblanb für eine foldje ©teile finben
liegen. 3n biefer Uebertegenb^eit liegt baS eingige Siebenten, baS id) babei gu nennen
roüfjte: id) geftebe Sir offen, bafs mir bie ©teile nidjt bebeutenb, nicht umfaffenb genug
für fiiaer fdjetnr, unb bafj td) batjer ntdit glaube, bafj fte für ibn pafjt (natürlid) fage
id) Sir bie? unter uns, benn e8 mürbe mand)en Sortigen beriefen, wenn er eS erführe).
3d) fürchte, bafj $tUer auf bie Sänge mit ber bortigen SBJirtfamteit nidjt aufrieben fem
tann, unb gwar aus mufifalifchen unb nod) mebr aus perfönlidjen @rünben — tnbef}
er mufj ba8 am Snbe beffer beurtb eilen Bnnen, als ein Slnbercr unb toaB feine flemtt«
21ns Düffelborfs (Blansepodje.
3\5
niffe unb ßriftungen, mit einem SBort feine fünftlerifcbe Befähigung ju biefet ©teile an»
langt, barüber fann, tote gefagt, nicht bei minbefte 3t»etfel obmalten.
S3on ben Uebiigen ift eigentlich nur Jeimann ©cbornflein, ben ich aus früheren
3etien al8 einen guten SWuftfer fenne; bie Slnberen fmb mir fo gut tote gang unbefannt.
steinen SBorfdjlag mit ber (Soncurrenj muß ich iticfjt reebt beutltcb gemaebt haben; benn
oon öffentlichen ßoncerteit, bie als SBrobe birigiit toutben, ift babei bie Siebe nidjt,
fonoern nur bon ben regelmäßigen, teBdjentlicben Uebungen beS betreffettben SJereinS.
3nbefj braucht baran natürlich nicht toeiter gebacht ju werben, nenn eS fich bon Seilten
anertannten Stufe unb betoäfjrtcr Xücbttgteit hanbelt. labei bleibe ich aber, bajj bei
mehreren ehtauber jiemlich gleichen Bewerbern eS taum ein beffere» Wittel geben bürfte,
bie tJrage ju entfeheiben.
£en Sluftrag Wegen ber 3enn« ßinb fann ich niefit unbebingt übernehmen. 34
habe fie gu lange nicht gefehen, um ctiraS bon ihren Sßlänen gu miffen, unb e8 fehlt
mir augenbltdlicb an (Gelegenheit, bie Gorrefponbenj mit ihr wieber anjutnüpfen. Stet'
leicht fomme ich mit ihr Bieber im Saufe be8 fcerbfteB gufammen, bann tonnte ich fie
barüber fragen; aber auch baS tann td) bem Somite nicht besprechen.
®rft geftern 2lbenb bin ich bon 83«rltn wiebergefommen, unb
£ier bridjt ber SBrief ab. 2tn btefer Stelle ift rjermerft:
N. B. Die anbere ftälfte biefe» Briefe» habe ich an bie ffronprinjeffin bon ®ng»
lanb abgegeben. §ilbebranbt.
35tefe anbere Hälfte muf? rooljt einen befonberen SBertr) burd) ir)ren
^nb^att gehabt Ijaben, abgefefjen bar>on, baf? e3 einer ber legten SBriefe
beä grof?en £onbid)ter3 »or feinem am 4. 9io»ember 1847 erfolgten £obe ift
■Jlact) ber Dr. giiefc'fdjen Sammlung fdjrieb SDlenbeldfolm nod) einen 33rtcf
an feinen S3ruber Sßaut, an ben ©eneral oon SBebern in Berlin con
Qnterlafcn au§ unb am 25. Dctober 1847 feinen legten 33rief r>on Seipjig
au§ an feinen Sruber $aul.
2$u£lan& in <£entralaften.
Don
€. Maiäße.
— Breslau. —
ie ©rpebttton von 1879 gegen bie 2lcha[=2efe roar alfo boH*
j ftänbig mtjßglücft. @in Unterfcbäfcen bei getnbel, in golge beffen
! ba! ungenügenbe 9tecogno!ciren ber fernblieben ^eftung, ber
ÜDianget an 33elagcrungl'3)iaterial unb eine ganj unjuretcbenbe Vorbereitung
bei ©türme! jelbft roaren bie Urfacben für ben ÜWifjcrfolg ber rufjifcben
2Baffen.
■pDafe SRufelanb bemnad) für ba! näcbfte Qabr eine smeitc Unternehmung
gegen bte 2lcbal«£efe in 2tuSfict)t nahm, roar wohl fclbftoerftänblicb. 9hir
burcb einen oottftcmbigen (frfotg fonnten bte gefährlichen 6onfequensen ber
oerunglücftcn @rpebition roteber aulgcgltcben werben. ®a! 9lnfeben
Stufelanbl in 3Jitttelanen roar jcbenfall! gefäbrbet, e! mufete unter allen
Utnftänben aufrecht erhalten, eoentueH roteber bergeftetlt roerben.
3m grübiabr 1880 begann man mit ben Vorbereitungen baju. ©eueral
©fobelero, ein tbatfräftiger, in ben ccntralaftatifcben gelbjügen erprobter,
erfahrener Dfftjier rourbe jum Oberbefehlshaber ernannt. 6r oerftanb bann,
bte 1879 begangenen fehler ju oermeiben, aus ben barau! hetoorgegangenen
Sehren aber 9Jufeen ju sieben. Sehr roefentlicb für ba! ©elingen bei
Unternehmen! roar bie Veranlagung ber Dperationlbafil. 9Jtcht blo! t>on
SCfchififcblar au!, fonbern auch oon bem 5D<ichaelbufen bei Rafpifcben HKeerel
foifte gegen bte £efe=Dafe oorgegangen roerben. £al beinahe gleich weit
»on biefen beiben 2lu!gaitg!punftcn gelegene Vami roar all ^auptetappen'
ort aulerfeben. Surcb feine Sage in ber £efe*Dafe jenfeit! bei Stopefc'Stogb
forote burcb feine Umgebung roar e! »orjüglicb geeignet ju einem Sentral*
ftüfcpunfte- Schon am 10. $um rourbe e! oon einer f leinen 3lbtheilung
Xufjlanl» in <£entralaf ien.
3*7
ber ©tappentruppen unter perfönttcBer Seitung beS ©enerals ©fobelew ge«
nommen, befeftigt unb entfpredjenb befefet. ©ine fed)Smonatige SSerpflegung
für 8000 2Jfamt, ferner 10000 2trtiacrie=©cfrf>offe unb 2 SöHUionen
Patronen follten auf benbeiben ©tappenfrraßen borthin gefdjafft werben.
@S mar baher bie grimbtiche ^nftanbfeftung ber SBege vom 2)?ichaeibuien unb
von Tfcbififchlar fier nothroenbig. ©urcf) bie 9lntage einer ©ifenbahn com
2Ridjaetbufen über 2Mtafara, 2libin, 2lcbtfchafuima in bcr SRirfitung auf
Sh)fnU2lm>at würbe ber Transport von Gruppen unb SKatertal noch wefent«
lidj erleichtert. ®er S3au mar freilieft, ein fd)wierigcr, einmal ber Terrain»
üerhältniffe wegen unb bann in gotge beS weiten Transports aller baju
nothwenbtgen ÜJkterialien. 2lm 1. Dctober 1880 waren 22 Kilometer,
am 25. Januar 1881 aber 106 Kilometer fertig gefteflt, währenb bie ganje
©treefe btö Kt)fnls2lrwat im (September 1881 BOÜenbet mürbe. Sßährenb
ber Operationen gegen bie Tefe^Dafe fanb ber SBerfehr auf ber tranSs
fafpifchen 33abn aber nur bis 2libin — 84 Kilometer weit — mit
fiocomottoen flatt, oon bort ab biä Slcfttfcbafuima — 106 Kilometer weit
— benutzte man fie als Sßferbebafnt. SZBo ber SBahntranSport aufborte,
forme »on Tfchififcbtar ab unb längs beS 2ltref unb ©fumbar mürben SBagen
ober Sameele »ermenbet. £>ie Sefcbaffung »on 20000 biefer erforberttchen
fiaftt^tcre mar allerbingS mit großen ©djwierigfeiten Derfnüpft. Stfefelben
mußten felbft bis von Drenburg l»erbeigefcb,afft werben. 35ie SJerpffegungS»
mittel famen $um größten ^etle aus SRußtanb, aber aud) in Werften würbe
©etreibe aufgefauft. £)te ©tappenftraßen Heerte man bureb 2lnlage oon
aSefefttgungen. Sie ©tappentruppen f»attcrt für ben ©chu| ber Transporte
ju forgen, bie nom ÜM bis jum ©ecember 1880 febr häufig bureb 3lns
griffe feitenS ber Turfmenen gefäfirbet waren. 3Jacb allen bieten oorbereitenben
9Raßnaf)men begann erft im 9iot>ember ber Transport ber eigentlichen
©jpebitionStruppen oom ÄaufafuS her.
©eneral ©fobelew blatte aber bereits im ©ommer bie geinbfeltgfeiten
eröffnet, foroeit bieS bie notbwenbige ©rreidnmg uon beftimmten sJie6en=
5mecfen erforbertid) machte. 3Bäb,renb 1879 »om ©eneral Somafin doH*
ftänbig außer SKcbt gelaffen morben war, fieb bureb, jweefmaßige 3?ecognoS=
drungen Äemttntß über Stellung unb ©tärfe bes ©egnerS ju oerfchaffen,
legte ©eneral ©fobelew gerabe barauf ein großes ©eroiebt. bereits am
1. Quli ging er mit einer fleinen 3tbtl)eilung aus 93ami auf ©eoftepe vor.
3lm 5. erreichte er nad» einigen fleinen (Scbarmüfceln Segani unb 93atprfuL
Unter bem ©chufce norgefchobener Trupps mürben, trofebem teuere fiel) einer
bebeutenben 3)taffe feinblicBer Leiter gegenüber fallen, am 6. bie 33e*
fefrigungS werte von ©eoftepe recognoScirt unb Terrainaufnahmen 'ausgeführt.
2lm 10. %nl\ traf ©fobelew wieber in 33ami ein. ©eoftepe foßte von 10000,
naef) anberen Nachrichten von 40000 Tefe*Turfmenen [befefet fein. %m
■Jtooember begann ©eneral ©fobelew, fich twrwärts 33ami ©tüfepunfte $u
fchaffen. ©o würben am 27. ÄanjS unb Ketat, 30 Kilometer von ©eoftepe,
■i
s
3\8
<£. OTafdjfe in Breslau.
ben fid) liartnädig »ertbeibigenben £urfmenen entriffen, am 30. SHooember
3egman=8att)rful, 11 Kilometer »or ber feinblidjen geftung. Sefcterer Crt
mürbe bann als ,,©amur*fiid)e Vefeftigung" 511m 2lu3gangäpunfte für bie
Operationen gegen ©eoftepe fetbft beftimmt unb »on t)ier au« bie Gtappen«
ftrafje nad) Samt organifirt. 9lud) legte man in btefer neuen Sefeftigung
bebeutenbe ©epots oon Verpflegung, Munition unb SRaterial an. 4000
ßameele unb 100 »ierfpännige ÜSJagen »ermittelten ben SBerfeljr smifdien
t)ier unb iöami. 63 trafen je|t aud) bie für bie eigentlidie ©rpebttion hf-
ftimmten Gruppen ein. ©3 waren bieS 9 Bataillone, 8 ßompagnieen unb
2 ÄomtnanboS Infanterie, 10 ©djroabronen SReiteret, meiftenä Äafafen,
1 Vs ©ompagnien ©appeurä unb cnblid) 75 ©efdjüfce. $ie ©efammtfiärfe
be§ am 15. ©ecember in ©amuräfoje concentrirten Gorpä betrug 8000
Streitbare.
3ur VerooHftänbigung ber am 6. Quli aufgeführten 9tecogno§cirung
mürbe eine roettere fold)e am 4. Seccmber jur genauen Grforfdjung
ber SBeftfront »on ©eoftepe unternommen unb fyatte ein jiemlid) heftiges
©efedbt jur golge. ®a ferner 9iad)rid)ten bei ben Muffen eingingen, bafe
in ber feinbltdjen geftung eine grofje S3erocgung ftattfänbe, mürben am
11. unb 12. ©ecember bie Slufflärungen mieber^olt 2ln legerem Zaa/t
fallen fid) bie Muffen in ein befttgeä ©efedjt. »errotdelt; if)re SSerbinbung
mit ©amuräfoje mürbe fogar eine 3«ü tan9 bmä) bie £efe3 unterbrochen,
unb erft ein auf bem Sager au£rüdenbe£ ©etadjement mufjte biefelbe
roieber^erfteHen. sJlad) ben SRefultaten ber legten MecognoScirungen mar alfo
nid)t anjune^men, bafj bie ^urfmenen it)rc Stellung fner olme energifdien
SBiberftanb aufgeben mürben. 2lnbererfeit§ mar ledere ju ftart, um fid)
ifirer mittelft eine« forcirten Angriffes bcmäditigen ju fönnen. 2tbgefeben
»on ben Sietterfdjaaren, bie ©eoftepe außerhalb »ertt)eibigten unb t»oI|l an
7000 $ferbe jäljlten, roaren im Innern ber £auptbefeftigung, in ben
Äibitfen, nod) gegen 40000 ^ßerfonen untergebradit, bie mcbr ober minber
als 58ertbeibiger in 33etradit fnmen. $ie 2lu£emterfe roaren ferner mit
»ortreffliojen ©djüfcen befefct. ©er im Morboften »on ©eoftepe gelegene,
befeftigte unb mit einer £aubifce armirte &ügel beberrfdjte aber bie ganje
Stellung.
©eneral ©fobelero entfdjlofi fid) bemnadj ju bem langroicrigeren, aber
bafür aud) fidleren SBege ber förmlidjen Belagerung. Sie ©üb« unb Cffc
front ber geftung fdjienen fidj am meiften für ben Angriff ju eignen. Um
aber junädrft einen ©tütspunft im ©üben 5U fyaben, bemädjtigte fid) ©fobelero
am 20. ©ecember ^angifalaS Wx> 1800 3JJeter »on ber ©üb*
front ber geftung entfernt, fein Sruppentager auf. ©djon an bemfelben
2lbenbe mußte »on bemfelben ein 2lngriff ber SefeS jurüdgcnüefen merben.
9tod)bem bann bie Muffen aud) auf ber öftfront burd) ©innaljme ber Äala
bort fid) feftgefefet Ratten, rourbe am 23. Secember mit £age3anbrud) bie
erfte parallele gegen bie ©üboftede ber geftung auf 600 ÜJleter 3Ibftanb
Kajjlanb in «tenttalaf ien.
319
eröffnet. Sie 33elagerung8arbeiten nahmen jefct tljren regelrechten Verlauf.
Sie nötigen Gommunicationen rourben augelegt, unb in ber 9iad)t jum
28. 2>ecember roarb mit bem Sau ber jroeiten parallele »orgegangen.
33iä bal)in Ratten bie £urfmenen bie Arbeiten be8 9lngretfer8 faft gar nidjt
geftört. 2113 aber am 28. mit ©inbrud) ber ©unfetfiett bie ruffifdjen
£rand)6en--2lrbeiter roieber angeftetlt rourben, madjte plöfelid) bie ganje SBe«
fafcung oon ©eoftepe einen 2lu3fatt. SDerfelbe richtete fid^ namentlich gegen
ben redeten glügel unb ben Jtücfen ber 23elagerung8arbeiten. ü)Jit ber
Manien SBaffe in ber $anb ftürjten fid) bie Sefe8 nrie SJafenbe gegen bie
rufnfdf>en Sinien, [prangen auf bte 33ruftroehren ber Saufgräben unb Rieben
ron bort au3 auf bie Jhiffen ein. Sie würben bann aHerbingö prüefs
geworfen, aber eine gähne unb ein ©efebüfc blieben in tyren föänben. 9tad>
bem bie 3tuffen bte 9lrbeü roieber aufgenommen fjatten, erfolgte in ber
■Jiadfit nod) ein jroeiter 9lu8fall, ber jebod) burd) ba8 Sbrapnelfeuer ber
2trttHerie surüefgerotefen roarb. 3J?tt welcher §eftigfeit unb ©rbitterung
»orb,er in ben Laufgräben gefämpft roorben, beroetft namentlich ba3 eigen»
thümlicbe iBerhältnifj bei ben tuffifdjen Sßerlitften jroifd)en lobten unb
SBerrounbeten. SBährenb t>on Sefcteren bie Muffen nur 1 Dfftjier unb
30 2Jtann ju »erjeiefmen hatten, waren 5 Dffijiere, 95 3)Jann tobt auf bem
Spta&e geblieben.
3lm 29. SDecember würbe eine öruppe oon feinblidjeu SefefttgungS*
anlagen, etwa 100 m t>or ber füböftlid)en ©de »on ©eoftepe, burd) bie
Stuffen genommen, gegen bie ^eftung in SßertheibigungSjuftanb gefegt unb
mit ben 23elagernng8arbetten oerbunben. $n ber sJJad)t pm 31. ©ecember
tnad)te ber geinb abermals einen grofjen 2lu3faH, ber ben 9iuffen roieber
erbebliche SSerlufte brachte. ®ie SEurfmenen behielten au<b roieber ein
ruffifdjeS ©efd)üfc in £änben. Qn berfelben 5fad)t nmrbe aber bie brüte
parallele eröffnet, unb ba3 ruffifd)e Sager bi8 bid)t an bie erfte parallele
herangefdboben. 9lm 5. .^onuar fanb cnblid) nod) ein britter 2lu8fall ber
iefeS ftatt, ber aber nid)t mebr bie ©nergie ber früheren jeigte unb leid)t
abgetöteten roarb. 5DMt bem 9. Januar roaren bann bie projectirten 33es
lagerung<8arbeiten »ollenbet, bis auf einen 5D?inengang, ber gegen bie SlJauer
auf ber Süboftfeite ber geftung oorgetrieben rourbe.
®a8 ruffifä)e 3lrtiHeriefeuer hotte injroifcben grofse 33erf)eerungen in
ber geftung angerichtet, tro|bem ging aber ber geinb auf bie mit Unit ans
gefnüpften 5ßerf)anblungen nid)t ein. 9iad)bcm bafjer bis jum 11. S^nnar
aud) bie SJJine jum «Sprengen bereit geftellt unb oon ber 2trtitlerie eine
33refd)e in ber Sübfront ber geftungSmaucr »orbereitet war, rourbe für
ben 12. ber Sturm angeorbnet. 68 waren für biefen 23 ©ompagnieen be*
ftimmt, währenb 25 bie allgemeine Steferoe bilbeten. 2>er Sturm erfolgte
in brei ©olonnen, gegen bie auf ber SBeftfront gelegene 2)iüf)lenfala, gegen
bie 33refd)e auf ber Sübfeite unb bie burd) bie 2Jiine tjergeftellte Deffnung
auf ber Süboftfeite. 9iad) hartem, fd)roerem Äampfe unb heftigem £anb*
320
<£. ITUfdjfe in Breslau.
gemenge gelang es bett Stoffen, fidj in ben Vefifc ber 3Jtauer ber §aupk
befeftigung 5U fefeen unb in baS innere einzubringen. &ier fam es bann
ju einem fürchterlichen ©emefeel, bem lieh bie £efe3 fchliefctidf) burd) bie
gludbt ju entstehen fugten, ©enerat ©fobelem liefe aber jefct bie bereit
gehaltene Steiterei burä) bie fteftung htnburdh jur Verfolgung ber in nörb*
lidtjer Stiftung nach ber ©teppe ju g-liehenben oorgeb>n. ©egen 8000 £efeS
beiberlei ©efch[eä)tS mürben bei biefer ©elegenheit oon ben Dragonern unb
Äofafen noch niebergema^t. 3m $imexn ber g'efrung fanb man 6500 tobte
£urfmenen oor, gegen 4000 SBeiber unb Äinber waren in ©efaugenfdjaft
geraten, ©er ©ieg ber Stuften war alfo ein »oUftanbiger. ©ie Ratten
ilm mit einem Verlufte oon 32 Dffaieren unb 366 SWaitn an Verrounbeten
unb lobten erfauft. £>ie Belagerung oon ©eoftepe blatte 19 £age ge*
roätjrt. £rofc ber helbemnüthigen Vertheibigung feitenS ber £efe*£urfmenen,
troi ber ungeheuren ÜJiühfeligfetten unb (Entbehrungen, welche bie 9tujfen ju
ertragen gehabt, l)atte bennocij ber SDJuth, bie Stapferfeit unb bie aufeets
orbentlidbe StuSbauer ber Sefcteren obgefiegt. Von ben 40 000 £urfmenen,
weldfje in ©eoftepe sufammengebrängt gemefen, mar wohl bie Hälfte ju
©runbe gegangen, ©urdf» biefen erfolgreichen ©djlag mar bie Äraft unb
bie 2>}acf)t ber 2ldhal:2:efeS, ber bis bat)in am meinen gefürchtet geroefenen
■Jiomaben GentralafienS, enbgiltig gebrochen toorben.
®ie SBaffenthat oon ©eoftepe erhöhte aber auch baS 2mfet)en Jhtfslanbs
in ben 2lugen fämmtlid)er Slftaten. $n Verfien mar aufeerbem baS ©efübl
ber ©anfbarfeit bafür, bafi bie 9tuffen bie 9ia<f)bargebtete oon bem
räuberifdgen ©teppenoolfe befreit Ratten, ©eit ^a^rliunberten ben lieber*
fällen ber Xurfmenen auSgefe|t, roaren bie friebfertigen unb fleißigen Se;
rootmer ftranS bisljer ftets oergeblidfj bemüht geroefen, bei ihrem Äönige unb
ihrer Regierung £ilfe unb ©djufc gegen biefelben ju finben. Riefet rourbe
9tufjlanb als ber Vefreter unb ©rretter beS öftlichen VerftenS gepriefen.
2He gan3en Sänberftrecten entlang burct) Ehorafan, oom ©äjarub angefangen
nach 3J?efcf)heb unb ©aradbS, unb namentlich in ben Stachbarbejirfen beS
neuerbingS oon SJufjlanb unterroorfenen ©ebieteS, oornehmliä) in Äabufdhan,
Vubfchmurb, ©eregög, roar bie Veoölferung befliffen, ihre ©ompathien für
ben norbifdben Eroberer funbjuthun. @iner ber £>auptoortheile aber, bie
9tu{jlanb auS ber Unterwerfung beS 3lchal»2:efe*2:urfmenenlanbeS errouchfen,
roar bie fefte ftrategifcbe unb auch für bie &anbetSoerbinbungen fehr wichtige
Vofition, bie eS an ben 3lbhängen beS 5topets©ebtrge3 gewonnen hatte. ©aS
öftliche Mftengebiet beS ftafpifchen 9JJeereS ift, aufjer an ben 2luSmünbungen
ber glüffe bis ftufotSlrroat hin unfruchtbares Sanb, oollftänbtge SBüfte.
Sei lefctgenanntem Drte erft beginnt bie Vobencultur mit £ilfe ber Ve=
roäffenutg oom ©ebirge her. $e weiter man aber oftmärts oorbringt, um
fo reicher roirb baS betebenbe ©lement in ben VeroäfferungScanälen, um fo
fruchtbarer bemnach ber Voben, unb um fo mannigfaltiger unb üppiger
werben feine Vrobucte. Qm 2llterthum führte befanntltd) bie grofie ^anbete»
Hnjjlanb in Centralafien.
32 \
frrafje aus bcm Innern SlftenS nad) bem Sßefien übet bie füblidjen Slbljänge
beS Äopets@ebirgeS nad) bcm Äafpifdjen ÜJieere, unb trofc ber SBerwüftungen
burd) bie einfalle ber SDtongolen erfreuten fid) ßaljta, SWehne unb 2lbit»erb
bis junt ©nbe beS 17. SabjfiunbertS f)in eines bebeutenben 9tufeS. es
war baljer rooljl anjunefimen, bafj SJufjlanb, im Sefifce biefeS reidjen SanbeS,
feine gauje Sraft barouf richten mürbe, bie ehemalige Sulfurperiobe roieber
ju erneuern. $>iefer Sanbftrid» mar »iel leichter ju beoötfern unb ju colotrU
ftren, als bie Groberungen in £urfeftan. Stujjlanb mufjte fid> »eranlafjt
fehlen, feine 2lnfieblung Uev p befd)leunigen, um in bem ©ebiete öfttic^ beS
Äafpifdjen -DieereS feften gufe p faffen unb fid) bie große SBerbinbungSlinie
lierjuftetlen, bie aus bem Qtmern Stußlanbs über baS @d)roarje 3Jieer, burdjj
ben ftaufafuS unb über baS ßafpifdje 3Jleer bis an ben Stufeenranb beS
^inbufufd» fid) erftreden fotlte. 3n ber oollen erfenntirifs ber SfiMcbtigfeit
biefer Aufgabe blatte man ben ftaufafuS »on Saturn bis 33afu mit einer
©tfenbafm überbrüdt. SBäb^renb jur Unterwerfung ber £urfmenen gefd»ritten
würbe, mar gleidjjettig audj) ber 93au ber ttanSfafpifdjen 33afin in Angriff
genommen worben. Stadlern aber bie Eroberung beS StorfmenentanbeS
»ollbradfjt mar, trug SRußtanb junäd)ft bafür ©orge, baSfetbe ju parificiren.
es gelang bieS unter bem üftadifolger ©fobeleroS, bem ©eneral Stöfirberg,
im »ottften SJJaße. 3>ie glüd)tigen rourben jurüdgerufen, unb bie mieber
b>imfeljrenben ä<^ts£efe*£urfmenen boten jefet baS geeignetfte SJlaterial
für bie Äernbilbung einer 2Büftenbe»öIferuug »on friebfertigen Untertanen
SRußlanbS. ©o oermögen beim felbft bie 3Biberfad)er Slufjtanbs nid)t ah
juleugnen, baß infolge ber ^Jaciftcation beS £urfmenenlanbeS fd)on nacfj
wenigen Saljren Sobencultur, bie ^nbuftrie unb ber föanbel bort einen
großen 2luffdb>ung genommen Ratten.
©er (Sentralpunft ber rufftfdjen SBerroaltung in bem neueroberten Sanbe
mürbe 2l)d)fabab. ©aSfelbe bilbete aucf) ben ©ammelort für bie ^anbels*
leute, weldje bem ruffifd»en 3n»aftonScorpS auf bem guße gefolgt waren,
©iefe Äaufleute festen fid) jumeift aus Äaufafiern, 2Jlol)ammebanern unb
d)riftlidf»en Armeniern jufammen. Sie befaßen bie gäfngfeit, fid? mit ben
SCurfmenen ju »erfiänbigen unb rourben baburdj, baß fie unbeläftigt bis in
bie fernften Steile beS 2ldjak@ebieteS oorjubringen »ermodjten, bie beften
9Serteb>S»ermittler jroifdfjen ben eingeborenen unb ben eroberem. 2lfd(jfabab,
ber ÜJKttelpunft ber neuen §anbelS; unb eulturberoegung lodte aber nidjt
nur bie fdfjon ber ruffifdjen £errfd(jaft unterworfenen £urfmenen an, fonbern
Balb audj einjelne ©lieber ber nod) unabhängigen ©tämme biefeS SßoÖeS,
rote bie £efe aus 9Werro, ber £etfcb>nb=Dafe unb »on (ben ©alors unb
©arif^Jölferu. Jhifelanb rid^tete jebodg im richtigen SSerftänbniß fetner
3fntereffen feine Sufmerffamfeit 5unä# auf 3Werw, baS Hauptquartier ber
nod§ unabhängigen SCefe^urrmenen. ®emt wenn bie 3ld&aÖ=5Te!e auf
150 000 ©eelen oeranfdhlagt würben, fo fcfiäfete man bie 'USletro-'Xett auf
250000. 3Jierro war im 9lltertl)um, unb jwar in ber »ormongoUfdfjen
322
€. aiafdjfe in Breslau.
spcriobe, ein grofjeä £anbel3centrum gemefen unb eine bebeutenbe ©tabt,
bie an ben Ufern be£ gluffeS 9Kurgf)ab gelegen, ben geeignetsten Staftpunft
bot für bie ftarawanen jrotfd^en 8od)ara unb Werften. Ta§ £eer be$
Tfd)engt3 ßfian blatte bann bie ©tabt in einen Trümmerhaufen uerwanbelt,
auä bem ftd; biefelbe nur alä elenber Drt nrieber erfjob.
Stafefanb bahnte jefct alfo &anbefe»erbinbungen mit SKerw an; im
gebruar 1882 brad) bie erfte Äarawane oon 2lfd)tabab borten auf. 2U*I
gübrer fungirte 2lttd)anoff 2tuarSfi, aus einem ©tamme in Tfjagijtan.
Terfelbe gehörte ju jener ftlaffe oon Dffijieren aftatifdjer ^erfunft, bie, ofme
ifirer Religion untreu geworben ju fein, burd) üjren gewonnenen Silbungö«
grab unb burd) ben SBerfefir mit ben moSfowittfdjen Äameraben fid) ooOU
ftänbig ruffifteirt b>ben. ^nbem fte ^rem tarnen ein „off" anhängen,
nehmen fte aud) offideß bie rufiifdje Nationalität an. ©old)e ruffifirirte
Tataren, bie fid) bem ruffifd)en Staate fd)on oft als feb> nüfcltd)e Tiener
ermiefen fjaben, waren aud) SBelifljanoff, ber berühmte 9teifenbe in Äafdbgar,
ferner ÜHajiroff, Tad)troff, SDJuratoff unb ber ruffifd)e Malmücfe Tanbufoff*
Sorfafoff. ©er SßfeubosÄaufmamt 2llid)anoff mar nur merjeljn Tage in
■Dterw, trofcbem t)ermod)te er aber fd)on mit ber Ueberjeugung juriiefjus
teuren, bafj e3 nur nod) einiger 3^t unb ©ebulb beburfte, um boJfelbe
ooDftänbig für Sfufjlanb ju geroinnen. ©r blatte fogar uon bem Turfmenetu
Häuptling 9Had)bum5iMi-.6f)an baS 33erfpred)en ju erlangen gemußt, ber
Krönung Äaifer 2lleranbev3 III. beijuwoljnen. ©er 33efud) be§ ©fjanS in
3Jfoäfau erfolgte bann aud) tfyatfäd)lid). SBäljrcnb aber biefeS ©reigmfc cor
fid) ging, ftreefte ©eneral Cornaron), ber 9tod)folger SJöfjrbergä, einen güljler
nad) bem Süboften be§ TurfmenenlanbeS au3, inbem er ben Dberft HJhtra*
toff »on 3lfcbfabab 200 km weit nad) ber Tetfd)enb=Dafe entfanbte, um
»on bort au« ben ÜDfarfd) um bie norböftlid)e ©renje ^ßerfienS »orgubereiten.
©3 foflte 140 km »on 3Werro entfernt ein SBorpoften gegrünbet werben für
ben gaff, bof? bie freunbfd)aftltd)en ä>erb>nblungen nid)t jum 3iele führten
unb bie ©roberung »on 3)?erw burd) SBaffengewatt erfolgen müßte. Tiefe
33orfid)t8maf?regel erwies fid) als eine überaus fluge. 3tnfang beS Qafyvti
1884 ging 3llid)anoff im 3luftrage JtomaroroS nad) 9J?erw unb oerlaS bort
in öffentlidjer SBerfammlung bie 3lufforberung, fid) ber rufjifd)en £errfd)aft
ju unterwerfen. Ta bie 5M>nung ben nötigen 9Jad)bru<f erhielt burd)
ben §inmei3 auf bie 2lnwefenf)eit ber ruffifdben Äafafen in ber Tetfcfjenb*
Dafe, fo erflärten fid) bie SBorneljmften beä Tefe=3Solfe§ fofort jur Unter*
roerfung bereit. Tie antiruffifdje gartet unter Slabfd)ar5©l)an fe^te bann
jwar nod) einigen bewaffeten ä&berftanb entgegen, würbe aber oon ben
Stuffen niebcrgefd)lagen unb jerfprengt. 23on SKitte 9Rärj an befefete ein
Tb>il ber ruffifd)en Truppen £atei=6f»urfd)ib=Gf)an, unb fpäter würbe in
biefer ©egenb ba§ gort 9iifolajew«f erbaut, ©o war 3Rerw in bie £änbe
ber SRuffen gefallen, unb 9)?ad)bum Äuli=6l»an würbe ^ur S3elo^nung
Häuptling ber Tetfd)enb=Dafe. Turd) bie 2lnnerion oon 9Werw unb bie
Hutjlanb in tentralafien. —
323
Unterwerfung bei £efe=33otfeä ^atte fid) Shifetanb aber aud) foft bie ganje
turfomanifche Nation untertban gemacht. Sttfle 33efürd)tungen bejügtid) weiterer
getnbfeltgJeiteu Ratten ein ©nbe gefunben. ©em Setfpiete ber £efe3 »on
2J?ern> folgte fd)on nad) furjer 3«t bvc turfmeniid)e Stamm ber Sarnjfe,
unb balb mar aud) bie 2ltetDafe unterworfen, meldte fid) »on ©iaurS bis
Sarad)i auSbelmt unb bie 33ertängerung ber 2ld)al=Dafe bilbet.
©ie Sage »on 3Rerm auf bem halben SBege jroifdjen ^ßerfien unb
Sodjara mad)t baSfelbe ferner jum beften SßerbinbungSgliebe jwtfd)en ber
tran»fafptfd)en ©ifenbafm., ber &anbeBftra&e »on 3^affd)an unb bem öfts
ticken $ßerfien. £>ie natürtid)e ^olge biefer centralen Sßofitton mar bann
bie Fortführung ber genannten 23af)n über ÜRerw, 2tmu=£>arja unb 33od)ara
big Samarfanb. Seit unbenflid)en ßeiten beftanb eine £eerftrafte 5wtfd)en
ben ©banaten SturfeftanS unb gJerfien. 2lud) Dfrifjlanb fd)ien 2lnfang§
biefem SBege nad) ■ÜJittelafien folgen ju motten. ®ie 9fid)tmtg »on
Drenburg über ben DpS bis junt SßaropamtfuS bot aber jebenfads für
eine 2trmee aus bem Innern 9tuf?lanbs ju »iel Sd)mterigfetten unb £tnber=
ntffe. 2lud) mar ber Sßeriud) ber Anlage einer ©ifenbabn oon Drenburg
nadb, £afd)fent »on t>om herein. gefd)eitert, trofe ber Bemühungen be£ fo
unternebmenben »on SeffepS, ber fid) befanntlid) mit bem fübnen Sßrojecte
getragen Ijatte, eine Sd)ieuen»erbinbung berswftetten, meld)e in neun Tagen
«on Calais nad) ©alcutta führen fottte.
SRufelanb hatte alfo fd)on lange geplant, feinen 2Beg nad) ^nner*
afien »om Sdjwarjen SJieere burd) ben ÄaufafuS, über bas ßafpifd)e 9J?ecr
unb entlang ber nörblid)en ©renje »on Sßerfien p nehmen. SDtc Eroberung
ber brei Granate »on Turfeftan fonnte in biefer Beziehung ba^er immer
nur bie 33ebeutung haben, burd) ihren SBeftfc fid) eine fefte tßofition im
SRücfen ju fid)ern. $)ie 2luSbauer, Ätugbeit unb baS ©efd)icf, mit roeldjen
3iu§lanb biefe eigentliche ÜJ?arfd)route nad) -Diittelafien in Angriff genommen
unb »erfolgt hat, bürften aber faum ihresgleichen in ber ©efd)id)te ber
©roberungen finben. ®urd) naheju jwei Sabrbunberte roar eigentlich ber
'^pian mit 33ebarrlid)fett »erfolgt worben. SBährenb baS übrige (Suropa nod)
in gänzlicher Unrotffenheit über Sanb unb Seute in bem ©ebiete öftlid) beS
5fafpifd)en -DleereS »erblieben mar, hatte SRufjlanb fid) eine jiemlid) genaue
Stenntnifc ju »erfd)affen gemufft »on ber geograpl)ifd)en Situation unb ber
Topographie bes SanbeS, forote »on ben Begebungen feiner turtomanifd)en
©mwobner untereinanber. 9iad) ber Unterwerfung ber brei Granate unb ber
gomuben »ermod)te bann aber Sftufelanb fein 3*^ m^ »"ßet Sicherheit ju
»erfolgen unb p erreichen.
2)urd) bie 33efi|nahme »on SDlen» hatte 9hiBlanb pnädjft wohl aud)
bie tefcten turfmenifd)en 3?äuberbanben nieberroerfen motten. So lange biefe
nid)t gebänbigt rotren, fonnte aud) »on 9hu)e unb Drbnung in TranSfafpten
nicht bie Siebe fein. SBte alle anberen großen Staaten ©uropaS mufi aud)
5Rufelanb burd) feine afiati)d)e ^ßolitif beämecfen, neue 9lbfafcgebiete für feine
Kort unb Sfib. LXXV. 225. 22
321
— <E. OTafcfjFe in Breslau.
nationale Qnbuftrtc ju finbeit. ftaju brauet e£ bei feinem unermejjlidjen ]
33cfi^c in bet alten SBelt atterbtngS feine überfeeifdjen ßolonieen. SBottte
aber Stufjlanb aus feinem centratafiatifajen ©ebtete enblid^ aud> einigen
•Jiufcen sieben, fo mar eS unumgänglid) nottjroenbig, burdj bie Unterwerfung
ber turrmenifdien Sßölfer ©id&erljeit ju gewinnen unb feine ©renjen bis in
bie 5läb,e cioilifirter Staaten »orjufdjieben, roeldje im (Stanbe finb, bie
9tw)e in Ujrem Sftnern aufredet au ermatten. Rft. biefer 3t»e<i einmal er=
reid)t, oerfef»rt auf bem DruS eine glottille, roirb £afdjfent mit ber ftbiri*
fdjen ©fenbafm, (Sarahs burdj ©d)ienenroeg einerfeits mit ber tranäfafpi-
fdjen Sinie, anbererfeits mit 3)?erro »erbunben, bann beginnt für Central*
afien eine neue 2lera ber 33ejiel)ungen, mit 6f)ina burdj flafdjgar unb mit
Werften burdj bie reidfie ^pro»inj ©fiorafan. ®ie 9iomabenftämme Eentrat«
afienS bis jum SßaropamifuS unb &"tbufufdj tun müffen bafier not^roenbig
bie DberlefienSliobeit 9tufelanbS anerfennen, anftatt bie 2lfgb>niftanS, meldte*
nidjt bie 9Jiadjt r)at, biefelben im 3ö8^ galten. 3tudj roirb 2tfgt>airiftan
felbft auf bie eine ober bie anbere Sßeife ber rufjifdjen ^ntereffenfpb^äre
anheimfallen.
£)en Sdjlfiffel ju 2lfgl»aniftan »on SRorbroeften Ijer bilbet aber baS am
SBeftenbe beS &tnbufufdjgebirgeS gelegene Sanb $erat. @S roar balter ein
fef)r richtiger ftrategifdjer 3"9/ bafa Shifjlanb r>on 2Rerro Seftfc nab^n, um
jtdj 2tfgr)aniftan gegenüber eine ^ßofition ju fidjern. <So blatte audj
Slteranber ber ©rofte fid; juerft aHerroS, beS alten SDtargtiiana, »erneuert,
el)e er baS feurige 3lfgtianiftan betrat, unb baS £eer $fd>engis GljanS erft
9Jierro eingenommen, elje es föerat befefete. ©enfelben SBeg fdjlugen SHmur,
ber Ujbete ©djeibant Gljan unb ber ©diab 9?abir ein. SWerro liegt mit
feiner nafieju »oüftänbigen 2Baffer»erbinbung 365 Äiloraeter »on föerat enfc
fernt. ®ie ©roberung 9fierroS burdj bie 9tuffen bebeutete bemnadj eh»a$
ganj 3lnbereS nod», als bie 2ltmerion einer Dafe in einer Sanbroüfte. (Sie
ftetlte junäcbjt bie gefdtfoffene 33erbmbung$fette ber ruffvfdjen SDHlitärmadjt I
I)er »om StaufafuS bis £urfeftan. SDlit ber 2lmterion »on Sldjal ift jugleidi
bie @in»erleibung »on lOOOOO 3Hann ber »orjüglidjften irregulären
Steiteret »ou>gen roorben, unb jroar concentrirt auf eine Gntfernung »on
nur fieben £agemärfdjen »on &erat. £>ie (Eroberung »on SHerro bebeutete
ferner ba8 erfte 3»fa»"mentreffen »on Äafafen unb 9lfgbanen, ben gänjtid)en
Stnfäjlufi »on ß^iroa in baS rufftfdje ©ebiet unb bie ^erabbrütfung
23ocfjaraS »on ber unabhängigen (Stellung eine« ©renjlanbeS ju ber %B>-
Ijängigfeit einer einnerleibten ^Jrooin}. Wlxt ber »oüftänbigen Untermerfung J
ber STurfmenenfteppen ift ein ©ebiet »on 502800 Quabratfilometer a6-
gefd)loffen unb Jtufjlanb in Gentralafien um einen Sänbercompler »on ber
SluSbe^nung granfreidjö »ergröfeert roorben.
9)!it 3)Jerro t)at SRufelanb, roie bie Setradjtung ber cffcograpljifdjen Sage
btefeä Drte« ergiebt, einen ^ßunft befeftt, in roeld)em bie gäben eines rocit=
»crjroeigten 3ntereffen=9iefee3 äufowmenlaufen. SBerfen mir einen ©Iii auf
Knfjtanb in (tentralaften.
325
baS füblidj baoon gelegene ßanb, £erat, baS bereits als 6ingangStt)or
nadj 3lfgl)amftan f)ier @rwäf)nung gefunben t»at, fo fetjen mir baSfelbe am
3ianbe beS öiuburUfd) berartig gelagert, baß biefeö ©ebirge im Dftett ben
SSerfe^r jwifdjen Slfgbaniftan unb Gentralafien rjmbert. 33on ben weftlidjen
SluSläufern beS ßtnbufufcfj fließen bie £>auptftröme beS SanbeS Ijerab. £>er
eine baoon ift bet ÜDlurgbab, ber am 9lorbab§ange beS ©afebfofcSebirgeS
entfpringt, baS oon ben föejaren bewofntte 33ergtanb burdjfdmeibet, nörblid»
HJenbfd^bet) mit bem gluffe ®f)ufd)f fic& oereinigt unb jenfeitS 3JJarutfd)af3
fid) in bie ebene ergießt, bie baS £urfmenenlanb begrenjt. 3roifdjen bem
©afebfob, (^ßaropamifus) im Horben unb bem ©iatyfofy im ©üben l)at aber
ber Berirab in weftlidjer SHidjtüng feinen Sauf, wenbet fid> bei Äub^fan
gegen Horben unb fließt bann längs ber ©renje ^JerfienS an (Sarahs oor»
bei, nad) ber £etfd)enb=Dafe. ®aS Sanb gioifc^cit biefen beiben glüffen
ift überaus frud)t6ar. $)en widjtigften Sentralpunft ber ©egenb bilbet aber
b'e am mittleren Berirab gelegene ©tabt &erat, über weldje bie &aupt*
ftraße nad» $nbien füb>t. Qm fübltdjen Steile beS £anbftricf)eS, jwtfcfjen
ben beiben genannten ^Wffen, finben mir baS 33ord)ut«©ebtrge, eine gort«
iefcung beS ©afebfof). BaSfelbe nimmt gegen bie perfifdje ©renje f)in an
Joöt)e ju unb ftellt lief) als einer ber ßauptswetge bar, burdj reelle ber
^ßaropamifttS mit bem (SlburS Bereinigt ift. SBeiter nörblidj ftoßen mir auf
bie weniger Ijobe Äette beS @lbirms$ir, eine Steide oon Sergen, bie fieb,
bis ^ßu[=i=6t)atun bin erftreeft. 3Wan l)ielt früher bie SluSläufer beS
^JaripamifuS für eine unüberfteiglidie ©d)ranfe, tjat bann aber erfattnt,
baß ber t)ödt)fte ber ©ebirgSpäffe tjtcr fieb. nicf)t über 900 3?uß ergebt unb
baß man oon ©arad)S nad) föerat felbft mit oterfpämrigem gmjrwerf feljr
gut gelangen fann. 1)ie SBege forool)t über ben Sordmt, wie über ben
(*lb>r<n=.ftir finb jabtreid) unb bieten feine erfyebltdfjen ©dmnerigfetten.
TaS Vorbringen ber SWuffen gegen bie ©renje oon £erat, wobei fic
fid) gteidjiam n.ie ein Keil jwifdjen Werften unb 2tfgf)aniftan t)ineinfcf)oben
unb fid» ©aradjS bereits bemächtigt batten, fonnte unmöglid) ofme SBiber«
fprud) fe'tenS fönglanbs bleiben, baS befanntlid) felbft bie Dberauffid)t über
Slfgbaniftan beaniprudjte. (SS fanben baf)er eifrige SSerfianblungen jwifdjen
Sonbon unb Petersburg ftatt. SHe beiben Gabinette famen fdjließtidj barin
überein, burd) ß^mmifiionen an Drt unb Stelle bie ©renjen jwifdjen
9lfgbaniftan unb Stußlanb oon ©arad)S nad» Gfiobfdja ©aleb am Dru$
feftfefeen ju laffen. 2US aber bie englifdie (Eommiffion im sJiooember 1884
am ^erirub eintraf, fanb fie sroar bie erwarteten ruffifdjen EoHegen nidjt
»or, woljt aber ^BulUGbatun, 62 Kilometer füblidj oon <Sarad)S, oon einem
piquet ifafafen befe^t. ®od) nid)t nur am föerirub war 9Jußlanb weiter
nad) ©üben oorgebrungen, foubem aud) in jener ©egenb beS ^CuffeS
2Rurgb,ab, bie nod) im ©efißc ber 2tfgl)anen fid) befanb, fudjte eS Terrain
ju gewinnen. @S wollte in ber frudjtbaren Stegion ber Umgegenb be*
^ßaropamifuS feften guß faffen, nad;bem |eS oon ÜKerw aus bie SBüfte
22*
326
<£. ITlaf djfc in Breslau.
nad) ^enbfc^bc^ burdjjogen fjatte. ©djon 1884 gebaute 2Jtajor SUtdjmtoff
ben Drt Sßenbfdjbef) jn befefcen, fanb aber bort eine ftarfe ofgl»anif(^c 33e^
fafeung oor unb gab bafyer baS Ünternetmten »orläufig auf. ©päter mürbe
bann ober eine 2lbtf>eilung am SBJurgljab gegen ©üben oorgefdjoben. Sie
Sßerljanblungen bejügltdj ber ©renjregutirung waten inänrifdjen fortgeführt
morben. Um ein SRefultat berfelben ju fidjern, blatte man baS 2lbfommen
getroffen, bafj Stoffen, roie 2lfgfjanen ityre jeweiligen Stellungen in bem
ftreitigen Sanbe »ortäuftg behalten follten. Slufjlanb mar bamit einoerftanben
gewefen, oorauSgefe&t, bafe feine unoorfjergefeljenen ßmifdjenfäHe einträten.
Qm 2Jtätj 1885 fam es aber ju (Streitigfeiten pnfdjen ben Stfgfjanen unb
3iuffen. ©eneral Cornaron) oerlangte be8f>alb bie Släumung be3 Rnfen
ßfjufdjMlferä, waS jebod) com (Segner oerweigert mürbe. 2lm 25. SRärs fam
e3 in $olge *>tf\en jum Kampfe, ©ie 3lfgf)anen mürben bei ©fjufäjf ge*
fdjlagen unb jogen fid) nadj ©erat prücf. ©ie 9ruffen nafjmen Sßenbfdjbefi in
SSermaltung. 33ejügtid) ber Stellung am ©erirub mürbe aber mit ©nglanb
oereinbart, bafj iJiufitanb auf ben 3ulftfar^af3 »erntete unb bie ©renje fid)
nörbtid) baoon rjirtäiecjett follte. SMefelbe begann alfo am ©erirub, 3 Kilo«
meter nörblid) 3u^r, fc^nitt ben 2J?urgfyab jwtfdjen $Penbfd)befj unb 'äJJarut*
fdjaf unb erreichte bei Gfiobfdja ©alelj ben 2fauu&arja. 3)aS ganje ©ebiet
oon ^ßcnbfdjbet) oerblieb bei Stufjlanb. SefetereS fjatte mit ber ifjm juge^
ftanbenen ©renjlime sroar ttiebt bie ©tabt ©erat, aber bodj alle ©UfSqueHen
gemonnen, meiere baä auSgebefjnte fruchtbare ©ebiet nur irgenb geroäfjrt, unb
biefe mußten ifmt oon nod) größerem Sßertfje fein, als bie ©tabt unb geftung
felbft. $>er an SRußtanb gefallene weite Sanbftricf) mar jum S^eit fdjon
cultiotrt, bie bis baf)in nod) unbebaut gewefenen glädjen fonnten aber binnen
Kurjcm ertragäfäfjig gemalt roerben. ÜJiit ber neuen ©renje gegen ©erat
fjatte Stafilanb jebod) »or 3ldem einen guten Xfjeil jener oon ifmt begehrten
ftrategifdjen Sßofttion erhalten unb oermodite fid) erforberlid)en $att$ binnen
14 £agen in ben 23eftfc beä nod) fefjlenben 2lbfdmttts berfelben ju fetjen.
©urdj bie transfafpifd^e @tfenbab> ift Siufelanb in ber Sage, feine ©trete
fräfte an ber Sinte 3utftfar — Sßenbfdjbef) oom KaufafuS fjer mit je einer
®imfion per 2Bod>e oerftärfen ju fönnen. $>cn 2lfgf)aneu ift äwar im
SBordjttt unb im ^aropamtfuä fjier unb bort nodj ein 5ßaf? in ©änben ge*
blieben, boefj befjerrfdjen bie 9tuffen fämmtltdje bortfjin füfjrenbe ©tragen.
5Diefe ©ebirg§päjfe finb jaljlreid), bie meiften audj leidjt ju forciren ober
auf -JJebenpfaben 3U umgeljen. SSon ©aradjä burdj baS S^al beS ^erirub
ift bi§ ,§erat eine Entfernung ton 320 Kilometern jurücfjutegen, »on
3ulfifar au§ auf bemfelben SBege 220, oon Äut)fan au* 99 Kilometer
2Beg. 5ßenbfd)befj ift oon ©arad)3 160 Kilometer entfernt, oon 3"tfi&r 144,
oon ©erat 224. ftie ßntfemung oon ©erat nadj Slfrobat beträgt 128,
nad) Söala SRurg^ab 224 Kilometer. TOmmt man bafjer baS fefjr be=
fdjeibene ©urdifd^nittsmaft oon 20 Kilometer für ben S'agemarfdj an, fo
fann eine ruffifdbe ©ioifion ©erat oon ^ßertbfdjbefj au« in 11 £agen, oon
Hujjlanb in £ enirolof ien.
327
gulfifar in gleicher 3eü unb »on 2lfrobat aus in 7 Sagen erteilen,
^ebenfalls lagt fidj behaupten, bafs »on ben nädjftett fünften ber ©tettje
aus mittetft ©ilmärfeben $erat in 8 Sagen genommen roerben famt, bie
<Sa»alIerie unb bie Kafafen=Batterte aber biefen SBeg bereits in 4 Sagen
jurücfäulegen »ermögen. @S ift n>or)t ansunebmen, bafj Stufelanb nicht für
immer in Benbfd)beb unb in BulüSliahm flehen bleiben roirb, fonbern baf?
es btefe beiben fünfte lebtglicb 'als lefcte ©tappen für ein gelegentliches
weiteres Borgeben nach bem ©üben betrachtet. 9tufjlanb tjat gegenwärtig
in SranSfafpien 2 ©cbüfcenbrtgaben mit jufammen 8 Bataillonen, foroie
2 9iefer»e*BatailIone, ferner eine Xeref Kafafen*Brtgabe ju 2 9iegimentem
mit je 6 ©otnien unb 2 (SScabronS Surfmenen, enblid) noch. 3 Batterieen,
2 ©ifenbabnbataiHone u. f. n>. fielen. 35a bie beiben 9lefer»e*Bataittone
im Kriegsfälle fieb auf 10 foldjer erroeitern, fo bürfte bann bie ©efedjts*
ftärfe ber regulären Gruppen liier etroa 22000 -Kamt betragen. $>et
mtfeerbem »orbanbenen bebeutenben HRaffe »on irregulärer Surfmenen*
SRetterei ift bereits ©rroäbnung gefc^erjeti.
3>n 3Rilttär*Bejirf Surfeftan befinben fieb ferner 4 turfeftanifebe
Sinten'Brigaben mit jufammen 20 Bataillonen, eine turfeftanifebe ©cbüfcen*
brigabe »on 4 Bataillonen, eine 2lrtillerie*Brigabe »on 1 rettenben unb
7 ©ebtrgSbatterieen, 1 Bataillon $eftungS=2lrtilIerie u. f. ro. ©ie Kriegs*
ftärfe biefer Gruppen roirb 25000 Streitbare jäbten.
<5ine bebeutenbe Sruppenmacbt ftebt aber im KaufafuS jur Berfügung.
55Mefelbe fefet fid) jufammen aus 5 3nfanterie*£>i»ifionen, 1 ©cbüfcenbrigabe,
3!/2 6a»atterie=®i»i|ionen unb 5 2lrtiHerie=Brigaben, bie auf bem Kriegs*
fufje eine ©efammtgefecbtsftärfe »on etroa 110000 3Jiaim repräfentiren
würben. 3tuf3erbem ftefjen im KaufafuS aber noeb 24 9Jef ernenn fanterie*
Bataillone, meldte im 3JcobilmacbungSfade ju 94 folgen erroeitert roerben.
Bon Se|teren finb bann 64, in 16 ^Regimentern formirt, baju beftimmt,
bie $elb*2lrmee unmittelbar bureb 4 3nfanterie*£)i»ifionen ju »erftärfen.
<£s roürbe alfo fcbltej?ticb im KaufafuS eine im gelbe }u »erroenbenbe 9Racbt
»on minbeftenS 177000 (Streitbaren jur Betfügung ftefjen.
@S barf aueb nicht überfeben roerben, bafe es Slufjlanb mit ber 3eit
gelungen ift, in ßentratafien fieb bebeutenbe ftrategifebe Bordelle »or
©nglanb »orauS ju fiebern. $aju gehört »or 3lHem bie ununterbrochene
BerbinbungSlinie, bie es fieb aus bem 2Rutterlanbe bis an baS £bor »on
Stfgbaniftan gefchaffen bot- gür bie 896 Kilometer ©fenbabn »on Batum
nach Bafu braucht ein 2Rilttär*£ranSportsug ju 100 bis 110 3lren (mit
1 Bataillon, best». 1 GScabron, ober 1 Batterie) etroa 44 ©tunben, unb
»on lefcterem Bunfte aus burchqueren bie Dampfer baS Kafpifche SWeer
bis Ufun 3lba jur tranSfafpifcben Bahn in 24 ©tunben. $ie Babnftretfe
»on 648 Kilometer bis $>uf<haf legt ber SranSportjug in 32 ©tunben, bie
»on 822 Kilometer bis SRerro aber in 41 ©tunben jurücf. Bon ©amarfanb
bis SRerro finb es 611 Kilometer unb bemnacb etroa 30 ©tunben Bahn*
528
<E. llTafdjfe in Breslau.
fat)rt. $)te ©ntfernung äwfdjen $)ufd)af unb @arad)S betrögt 75 Kilometer.
2Bie bereits bemerft, t)aben bie 9iuffen oon legerem fünfte bis &erat
noä) 320 Kilometer, roäfjrenb für bie ©nglänber oon SßaSbaoar aus, vom
©nbpunfte ber inbtfä)en 33alm an ber ©renje oon Slfgtjaniftan, noä) immer
über 750 Kilometer Sanbroeg jurüdäulegen finb. Sie «Stretfe, roeldje
Siufelanb »ort &erat tremtt, bitbet ferner ein ebenes, äufjerft frud)tbareS,
reid)lid) mit SBajfer oerfet)eneS ©etänbe, wätirenb ber met)r als boppelt fo
wette 2Beg, wetdjen bie (Sngtänber oon it)rer ©renje bis ju genanntem
Sßunfte fiaben, mebrfaä) burd) waffertofe, unnrirtbjidie ©egenben fübrt, beren
33e»ölEerung autjerbem anf freunb[iä)e ©efinnung unb Unterftüfcung nidit
fonberlid) rennen läfjt. SBie oon genauen Äennern ber a?erbä[rniffe in
Slfien behauptet wirb, follen bie ©ngtänber bort überhaupt weniger beliebt
fein als bie Muffen. SßaS ben englifd)en ©inftufe in 9lfgt)anifian anbelangt,
fo t)atten alterbingS bie ©reigniffe oon 1878 unb ber folgenben 3at)re be*
roiefen, toie roenig weit bie ©umpacken bort für fie getjen, roäbrenb bie
ruffifä)en 9lbgefanbten oon ber 33eoölferung ftets gut aufgenommen mürben,
©a gegenwärtig b^uptfää)lid) nur noä) 2ifgljaniftan bie britifä)en 33eft|ungen
oon ben ruffifd)en trennt, fo ift es toofit erKärliä), bat} beibe Regierungen
2lffes aufbieten, um itjren ©influtj bort geltenb ju mad)en. Srofebem mar
feit ftafyTen fdtjon biefe grage in ein ruhigeres ©tabium getreten, inbem
fte nid)t met)r als eine empftnbtid)e @l)renfad)e beljanbett, fonbern in bie
einfache praftifd)e Angelegenheit ber ©rensbeftimmung umgewanbelt mürbe.
Stufslanb mufi freilief) bie 9iott)wenbtgfeit feft im 3luge behalten, feinen 33e*
fitjungen in Gentralaften enbltä) eine fixere füblidje ©rense ju geben unb
bie ftrategifd)e 33aftS, bie eS fett 1884 gewonnen tjat, ju oeroollftänbigen.
SefctereS fann aber nur burd) ©Raffung einer entfpredjenben ^ßofition in
Stfgijamftan gefdjeljen. SJiag JhtjHanb noä) immer in SluSfüfrrung ber
fogenannten £eftamentsbeftimmungen Meters beS ©rofjen ben 2Beg naä)
$nbten fid) bat)nen motten, ober mag es nur bie 2ibftd)t b,aben, oon feinem
centralaftatifdjen ©ebiete aus über bie SßamtrS in baS 3fmtere oon Steina
oorjubringen, fei es commer}iett, fei eS mititärspolttifd), fo toirb eS boä)
unter feinen Umftänben beS bet)errfä)enben ©tnfluffeS tu 3lfgt)aniftan ent*
bet)ren unb auf benfelben oerjidjten tonnen. 9tad) bem unpartetifdjen
llrttjeiT @aä)oerftänbiger rote 5. 33. beS centralaftatifdjen Sieifenben, bes
<Sd)roetserS Reinritt) 3Rofer, ift auä) ber rufftfdje ©injluti im Sentratgebieie
beS alten ©rbtfieils bereits fo groft geworben, baft er feine Süoalität mebr
ju färbten t»at. (Sin unbeftreitbarer SBeroeiS biefeS überroiegenben ©influffeS
lag roofjl fd)on in ber frieblidjen S9efit)nat)me oon 3Rerro. ®ie ftrategifdje
Sßofition, roetd;e 9?u§Ianb gegenroärtig an ber ©renje 3lfganiftanS itme t)at,
ift ben Gnglänbern gegenüber eine gfinftige ju nennen. 3fuf?[anb oermag
jefet in oerfiättnifjmäftig furjer %e\t unb ot)ne befonbere ©djroierigfeiten
eine ftarfe 3lrmee nad) ßentralaften p werfen.
©ie engtifd)5tnbifd)e 3lrmee b,at gegenroärtig roofjt einen ©ffectiobeftanb
Haßlanb in Centratafien.
329
üott 223289 2)?ann, ift aber über ein Sänbergebiet oertbeitt, ftebenmal fo
groß, roie granfreid». Dtefelbe 5ät»lt außerbem nur 72000 engltfdje ©olbaten;
bie ÜJ?et)r5Q{)t ber Gruppen befielt aus ©ingeborenen. 3n ber spromnj
Bengalen, bie für Stfgtjaniftan junädjft in 23etradjt fäme, befinben fidfj 135814
9Rann 33efafcung, roorunter 45000 ©nglänber. Die genannte Sßräfibent«
fdjaft madbt aber für fidfj allein fd)on ben größten S^eit oon ^nbien aus
unb umfaßt ein Slreat von 2 -DJiHionen Ckabratfttometern. es ftet)t baber
febr in ^rage, ob im gaffe eines Krieges an ber ©renje t>on 2lfgbantftan
e§ möglich fein mürbe, 100000, ober felbft nur 75000 SJlann »on ber
utbifdjen 9lrmee borten ju entfenben. Unb roeldjeS Vertrauen fönnte roobl
©nglanb barm 5U feinen inbifdjen Sötbnern b"ben, aus benen bie betreffende
Dperation«ä3lrmee jutn Steile bodj roenigftenS beftefien müßte. SMdfien
einfluß mürbe ferner wobt bie sJfaxdvrid)t oon einer immerbin bod) als
tnöglidj in erroägung ju siebenben Jiieberlage ber Gngtänber auf eine 33e*
»ölferung »on 250 SDJillioncn eingeborenen üben, bie jum 2$etle bod) feinb«
fetig gefinnt finb unb nur ton 72000 2Rann englifdjer Gruppen bemalt
werben, 9}adj ben 33erid>tett ber SJeifenben in Gentralafien barf 9tußtanb
anbererfeits mit 33eftimmtbeit annehmen, baß bie eingeborenen in jenen
©ebieten Urm eoentuett eine in'S ©erotdrt fadenbe Untcrftüfcung gemäßen
mürben. $n ben gitjjettett ber Jlomaben fod man »ietmebr nod) als in
ben ruffifcfien Solonieen »on ber 9Kög[id)feit eines großartigen 3ltaman, eines
ÄriegSjugeS nadj bem Venbfd;ab fpredjen. Die £urfmenen »on ®f)tma unb
von ©urgan, bie ßirgtfen unb 9tfgt)anen mürben bann nur beSfelben ÄriegS«
pfabeS sieben, melden bereits i^re SSorfabren einft eingefdjlagen Ratten.
Der ©cbroerpunft beS ruffifdien ffietcbeS liegt unbebingt in 3tfien.
Dtefe ©runbanfdjauung ift fc^on ju Reiten Meters beS ©rof5en als 3lriom
ber ruffifdjen Sßotitif betrautet roorben. freilief) Ijaben ebrgeijige ruffifdje
Diplomaten, bie auf europtüfd)em ©ebiete leidfiter unb fdmetter eroberungen
machen ju fönnen glaubten, bie betreffenbe 2lnfd)auung fpäter oft aus ben
Slugen gefaffen. SEBie bie ©efdjidite uns letjrt, bat Stußlanb bann ungebeure
Dpfer an 33lut unb ©elb, unb jroar »ergeblidj gebraut, um auf ber 58alfan«
£albinfel ben maßgebenben ©injluß su geroinnen. Das Vorbringen in Slften
ift babei aHerbingS aud» triebt uerabfäumt roorben, unb im ßentralgebiete
biefeS erbtbeils ift eS 9?ußtanb fogar gelungen, fidfj eine »ortbeill)afte Vofition
ju fdbaffen.
©ans anberS »erbält fidj aber bie ©adie in Dftafien. £ter fjat Shifjlanb
feit »ieten Sabrsebnten fdjon »erabfäutnt, feine 9)iad)t in Sibirien, ber
SBidjtigfeit biefeS ungebeueren VeüfceS entfpredfjenb, ju confolibiren. Stußlanb
bat biefe Sänbergebiete roeber roirtbfdiaftlid) fid) entfalten [äffen, nod» biefelben
bem SBeltoerfebr eröffnet unb bie mäcfjtigen 3)iontanmertbe nufebar 51t mad)en
gefud)t, roeldje fie bergen. SRidjt einmal eine ftrategifdie 93afis bat fid) baS
geroaltige 9ieid) für Sibirien ju fdjaffen gemußt. SBenn man bebenft,
roeld»e großen, umfangreidben ÄriegS=Sauten unb Anlagen in ben legten 3abts
330
<E. IHofd}fe in Sreslan.
jehnten in ber ©renäprooinj ©arfchau ^crgcfteltt roorben finb, unb in Sibirien
Ijat man bie Stnlage einer burchgehenben ©ifenbahn, biefer fo äußerjr noth*
menbigen &anptoerfehrSaber, erft 1890 in 2lngriff genommen. 68 mar ferner
ein großer gehler Stußtanbs, baß eS nach feinem legten orientalifchen Kriege
ben größten £heü feiner 2Behrma<ht an ben SBeftgrenjen gegen ©eutfchlanb
unb Defterreidj bauernb oerfammclte. Sßeber ber eine, noch ber anbere
biefer Staaten blatte begehrenSroerthe ©roberungen auf ruftifdjem ©ebtete
$u machen, baS 3<rcenreid) tonnte alfo auch nicht im ©ntfernteften eines
StngriffS oon biefer Seite b^er gewärtigen bürfen. 3(18 ein gteidjbebeutenber
SJcißgriff ift aber biefe SSerfammlung beS £eereS an ber ruffifdjen 2Bejt*
grenje su bejeidmen, wenn 9tußlanb etwa urirfTidj geglaubt fyabtn follte,
baß feine 3uf"fft3frage ätotfcf>cn ber SBeidjfel unb bem SW^ein ihre ©ni*
fcheibung finben müjfe, unb baß eS baS Uebergenricht auf ber Salfanhalb*
infet auf beutfd^em ober öfterreidbifcfiem Stoben gemimten fönne. Selbft im
SBunbe mit granfretcf) mürbe eS Slußtanb niemals gelungen fein, einen
nachhaltigen ©rfolg über SDeutfchlanb unb Defterreidb $u erringen.
Stußlanb ftef)t alfo gegenwärtig mit faft ber gefammten Kriegsmacht
an feinen europäischen SBeftgrenjen beinahe ifolirt ba, roährenb fein Sdm»er=
punft in 2lfien liegt, So ift es benn auch, gefommen, baß baS &areme\d)
burcb, bie ©retgniffe im Dften beS alten ©rbtheils eigentlich, oottftänbig übers
rafcbt roorben. GS broljen bort tief einfdmetbenbe politifcbe ©reigniffe fia) ju
ooHsieljen, ohne baß SWußlanb augenblicklich in ber Sage ift, entfdjeibenb ein=
greifen ju fönnen. ©aSfelbe h«t smar jur 3rit in ben oftafiatifchen ©etoäffern
ein ©efchroaber oon 6 Kratern erften unb 4 folgen jmeiten langes, ferner
oon 10 £odjfeefanonenbooten, 2 SDHnenfreujem, foroie 14 3Rmenträgem
unb -DJinenbooten, im ©ansen alfo »on 32 gahrjeugen oerfammelt; ber in
Korea, an ber ruffifctjen ©renje ftehenben japanifchen Streitmacht b,at eS
vorläufig aber jebenfattö nur unjureichenbe Kräfte entgegen }u ftellen.
■Jtach ben neueften ftatiftifajen 2lngaben oermag 3apan eine gelbsStrmee,
rinfchtießlidj ber ^erritoriak (Sanbroehr) Gruppen, oon 269748 Köpfen
aufjuftetlen. 3)ie £erritorial«9iegtmenter fommen babei infofern toobj in
33etract)t, weil fie unbebingt bodb für bie 33efefcung bejio. Behauptung ber
eroberten unb occupirten Sanbftriche geeignet finb. 3n Qapan fetbft oer=
bleiben bann noch bie SJiiltj oon STafchina, beftehenb aus einem Infanterien
Corps unb einer 3lrtttlerie=2lbtbeilung; 4 gefmngSjSrtinerie^egimenter unb
baS ©ensbarmeriesßorps. £)ie 9JJarine jäf>lt 58 gahrjeuge, barunter
1 ^?an3erfcf)iff, 7 Kreujer erfter Klaffe, 5 ©oroetten, 6 Kanonenboote,
26 STorpebofahrjeuge. ©urdj bie Kriegsbeute in bem gelbjuge gegen ©hina
wirb aber bie japanifcfye flotte jebenfaHS noch einen 3utoachS oon 1 Sßa^er,
4 Sreujern unb einer Slnjafil oon Kanonen« unb £orpebobooten erholten haben.
S'tußlanb hat nach feinen neueften ©iSlocationSliften im 2Wititär*Bestrf
2lmur 5ur Verfügung 10 oftfibirifche Stmen'SBatatllone, 2 oftiibirifcfte ©chüfcen*
brigaben $u je 5 Bataillonen, 2 guß^afafen^Sataillone, 1 Slmurs^uß'
Hujjlanb in <£eniralaf ien. 53\
Äafafen^albbatatHon ju 3 Sotnien, 1 tranSbaifa!ifdb>S Kafafen Deiters
^Regiment, 1 Slmut^afafen^cgiment, eine Uffurisftafafen«2lbtf)etlung, eine
oftfibirtfdje 2lrttHerie=33rigabe ju 6 Batterien u. f. n>. ©S ergeben biefe
Struppen auf bem Kriegsfuße eine ©efectjtsftärfe »on etwa 30000 SKamt;
man }ieh> aber ben $läd(jenraum beS SöfilitärbejirfeS 2lmur babei in 33etradf)t,
ber beinahe fedjSmal fo groß ift als ganj granfreid). ÜJtan roirb bann ein
93er[iänbttiß bafür gewinnen, roaS eS ju bebeuten f)at, roenn bie öffent*
licf>en 33ertd(jterftatter baoon fpredjen, baß bie an ber äußerften Dftgrenje
fteiienben rufftfdjen Gruppen fortroäljrenb aSerftärtungen erhalten foÜctt.
3n bem SDUKlärbejirf ^rfutsf ftnben mir bann nodf) 8 roefmbirifefie
Simenbataiffone unb 7 9ieferoebatai(Ione. Sefetere erroeitern jtdj im UKobil«
madjungSfalle 5U 25 Sataidonen, fo baß bie 3Jlttitärmadf)t beS SejtrfeS
fcfilteßlicf) 33 23ataiflone mit inSgefammt 32000 Streitbaren betragen mürbe.
3m SJHtitärbejirf DmSf enbtidfj befinben fid) nodf) 3 fibtrifd&e Rahden?
^Regimenter, 1 SemirjetfdienSf 6a»atteries5Wegiment, 1 roeftftbirifcfje Strtttterie*
Srigabe }u 5 Batterien u. f. vo., im ©anjen etroa 12000 Streitbare.
<Die gefammte KriegSmadfjt Sibiriens mürbe atfo 74000 Streitbare betragen,
baS Sänbergebiet umfaßt aber einen glädbenraum oon beinahe 12 % SKittionen
Duabratfilometern, faft 24 Wied fo groß, roie grattfreid). SBenn nun nodf)
menigftenS bie ftbirifdfje Gifenbafm bereits fertiggeftedt märe!
$)er 2tuSgangSpunft biefer 93af)n ift Samara an ber Sßolga, meiner
JDrt nadj 2Beften f)in in ununterbrochener SBerbinbung mit 2J?oSfau unb
Petersburg fte^t. ©egen Dften reidf)t »on tjter bie Strecfe ber europäifdjen
33ab> über Ufa bis Slatouft am SBeftabljange beS Ural. 33on teuerem
fünfte ab beginnt bie neue 33al)n mit ber furjen Uralftredte bis UfUjaS?,
worauf biefetbe über EfdfjelabtnSf, SjufalinSf, DmSf, KcrinSf, SomSf,
SWorünSf, KraSnojarSf nad) TOfdmüUbinSf an ber Uba geführt wirb, im
Allgemeinen ber befannten großen Straße folgenb. GS b,at biefe Strede
eine Sänge dou 2912 Kilometern, in 9?ußlanb an bie fruchtbare Legion
beS £fd)ernofam (Sdjroarjerbe) anfdfilteßenb unb buref» ben bewlfertften
S^eit Sibiriens fidf) fnnjtefjenb. 9lifdf)irUUbtnSf ift ber 3Jttttefpunft ber
ganjen Salin. $ie 2ßeiterfub,rung »on fjter nad) bem KriegSb/tfen Sßtabimoftof
am 3(apanifd^en 9Keer foH aber in folgenber Sinie gefdb>b>n. 3unäcP 9e^
bie SBajm na<f) ^rfutsf, »on bort nadf) bem 9)}ioenfoi»Sfis$afen am Süb;
ufer beS SaifalfeeS, bann norböftlicf) über £fd)tta unb 9iertfdf;inSf nad)
StrjetenSf an ber Sdfjitfa, bem großen Duetlfluß beS 2tmur. %m £ljal
ber Schilfa unb beS 2lmnr läuft bann ber Sdfnenenroeg abroärtS bis
6f)abaron)fa, an ber Uffuri-aWünbung, roeiter in füblid)er SWcfitung ben Uffuri
aufwärts unb nac^ SBtabirooftof. tiefer jroeite große 2lbfd?nitt ber 93al)n
von Mfc^ni'UbinSt bis SZBlabirooftof roirb 765 Kilometer lang, bie ©efammt*
länge beS SdpienenmegeS »on SUHjaSf ab bemnad^ 10568 Kilometer be*
tragen. ®ie ju bem Sau erforberlidje war auf 10 bis 12 Qaljre
Deranfd)lagt. ©egenroärtig finb bie Slrbeiten erft an ben beiben Gnbftreden
332
<E. Iltaf^fe in Breslau.
im Dfteit unb im SBeften fo weit uorgefdiritten, bafe fd)on auf größere
©ntfernungen bet betrieb eröffnet werben fonnte. $m Sluguft 1894 war
junäd)ft bie £b>ilftre<fe oon £fd)elabinSf bis sunt littfeit Ufer beS 3rtif(^,
gegenüber ber <Stabt Dmef, bem SSerfefir übergeben worben. 3lm 25. 2lugttjt
traf ein Sonberjug aus Petersburg nad) 3urü<ffegung einer ©efammtftretfe
oon 3542 Kilometer am ^rtifd) ein. $m fernen Dften oon (Sibirien fanb
fobann am 1. Dftober 189i bie 23ctrtebSeröffnung auf ber SüteUfjuri«
Salin, ton SSBIabirooftoC bis Uffuri, in einer 2tuSbefmung »on 349 Kilo«
metern ftatt. 9iad) ber 3eit«nt^eilung unb bem gortfdjritte, ben bie Arbeiten
bis bafjm gemacht Ratten, erwartete man, bafe am 1. Januar 1895 auf
ber meftfibirifd)en 33abn 960 Kilometer, auf ber mittelfibtrtfd)en Strecfe 550,
auf ber ©üb^Uffuri^a^n 349 unb auf ber SRorb»Uffurü33at)n 43 Kilo«
meter, sufammen alfo 1902 Kilometer fertig geftellt fein mürben, äugen*
bltcflid) foll auf ber ganjen Sinie mit ber äufjerften 3lnftrengung gearbeitet
werben, bod) bürfte bieS für baS laufenbe unb wob,l aud) nod) für baS
nädjfte 3ab> roo^t nod) fein bebeutenbeS Stcfultat ergeben in 2lnbetrad)t ber
gewaltigen Sänge oon 8666 Kilometern, bie SlnfangS 1895 nod) tierjus
ftellen roaren.
9?ad)bem ber Krieg jwifdjen 3apan unb 6l)ina eine ernftere ©eftalt
angenommen blatte unb als fdjliefjlid) mit einem (Siege ber 3flPQner W
rennet werben mufete, tuurbe oon ber öffentlid)en SJieinung StufelanbS ein*
mütliig erflärt, bafj Qapan baS Sanb Korea in fein &b§ängigfcitSoerl)ättmf$
oerfefeen, auf bem afiatifäjen Gontinente fein ©ebiet annectiren unb gormofa
fid) nid)t aneignen bürfte. $)ie ruffifd)e Regierung mar jebenfalls aud) oon
oorntierein entfd)loffett geioefen, bie Abtretung d)inefifd)en geftlanbgebteteS
an ^apan nid)t sujulaffen, menigftenS nid)t in ber 9Ml)e ber rtbirifd)en
©renäe. 2Beld)e militärifcfien Sftajjnafimen aber Stufelanb roäfirenb beS
Krieges in Dftafien getroffen f)at, um feinem SBillen erforberltdjen galls
aud) ben nötigen 5Rad)bruö geben ju fönnen, läßt fid) iefet nod) nid)t über»
fefjen. SBefanntlid) bringen fid)ere, suoerläffige 9iad)rid)ten über rufftfdje
SBerbältniffe unb SBorgänge, namenttid) mititärifd)er 3lrt, nur febr fdjroer
unb oercinjelt in bie Ceffenttid)feit, fo bafj erft feljr aUmcu)Kd) burd) 3*
fammenfaffen biefer ftüdwetfen 9tod)rid)ten ber 3uf°mn,eitf)<m9 ber 9Jfaj5=
nafmten erlannt unb über beren 33ebeutung unb Sragwette ein Urtfjeil ge*
bilbet werben fann. SBie in ben oorfteb^enben 2lusfüljrwtgen aber bargelegt
worben, bürfte SHufjlanb oorläufig nod) nid)t in ber Sage fein, ber japantfd)en
KriegSmad)t an ber fibirifdjen ©renje mit entfd)eibenbem Erfolge entgegen«
treten 5U fönnen. Dfine 3">ttfcl würbe baS mäd)tige 3<irenreid) fdjliefjlid)
ja bod) feines Keinen japanifdjen ©egnerS £err werben, bis bafiin möd)te
aber immerhin nod) einige Seit oergeb^en, unb eS fönnten injwifdjen neue
Gomplicationen eingetreten fein. ©leid)wie bem ruffifdien 9ieid)e ein geft*
fetsen Japans auf ber d)inefifä)en Küfte nid)t nur einen neuen Stioalen in
bem Streben nad) Sanberwerb auf Koften GfnnaS entfielen taffen, fonbern
Hujjlanb in £entta(afien.
333
audj für baä trufftfd^c oftafiatifdje Äüftengebiet eine übermäßige Grftarfung
Japans birect t>cbrof)li<^ werben mufs, fo wirb audb, ©nglanb burd» eine
roefentlidje Steigerung ber 3Jtod)tftelIung 3<*P<m3 unbebingt in feinen
£anbel§intereffen auf baä ©ntpfinbli^fte gefd)äbigt werben. Trofcbem fegeint
ftd) ba§ britifd)e Steid) jefct auf bie ©eite %a panS ftetten ju wollen, fei es
in ber Hoffnung, in biefer SBeife einige 3Sort^ci(e in 6l)ina erlangen ju fönnen,
fei e§ in ber (Srroartung, ben ntffif^en Stiualen in 3lfien burd) einen ernften
ßonfttet mit %apan gefc^mä^t unb auf längere ftät befdjäftigt ju feigen.
6§ bürften nämlid) audj in ßentratafien bie 58ert|ältniffe auf eine enb=
Itdje 2lu3einanberfefcung snrifdjen ©nglanb unb 9iufelanb unb jmar junädjft
besüglidj 2lfgf)aniftan3 fnnbrängen.
®ie ftrategifdje Sage SRuftlanbS in Qnnerafien an ben ©renjen 9lfgb,a=
niftanS unb ^nbienö fyat fid) burdj ben in jüngfter 3eit mit ©nglanb ab«
gefd)loffenen ^Jamiroertrag fetir roefenttid» geänbert. &a§ aus bem Keinen
©ariful-.@ee (ÜBoobSs, aud) $Bictoria5©ee) abfKe&enbe, fälfc^tict) Dru$ be*
nannte ©eroäffer fod bie ©übgrenje beä ruffifdjen ©ebieteä bilben. Deftlidj
oom ©artful=@ee nrirb bie ©renje burd) eine Sinie nadj Tafdj bis jum
djinefifdjen ©ebiete »erlängert, unb meftroärts fott ber Sßanbfdjflufi ba$
rufitfdbe Territorium uon Slfgljaniftan fd;eiben. 9lufjlanb b,at fomit faft ben
ganjen Spamir mit ©tnfdjlufj ber bisher uon Slfgliamftan beanfprudjt ge«
mefenen Staaten ©diugnan unb 9ioff»an mit ben ©unb« unb ©djad)«baras
£l)älern erhalten; e3 »erjidjtete bagegen auf bie am tinfen Ufer be3
Sßanbfdj ftromabmärtS »on Mai SBamar, ber £auptftabt uon Dfoflan, ge=
Iegenen ©ebtete bes ju Sodjara gehörigen SDarroa^Staateä. Slfg&aniftan
tourbe an ber bejetdmeten ©renje burd) einen fdmtalen, sunt SBadjanfiaate
gehörigen ©ebtrgSabt)ang abgefunben. ßfjina, beffen Slufmerffamfeit burd)
ben Ärieg tnit Qapan in 2lnfprud) genommen mar, ging ganj leer aus.
Stfe ^Pamirs, von ben ßirgifen „©ad; ber 2BeIt" genannt, ftnb trofe
itjrer Debe in ganj ßentratafien berühmt, ©eit ben älteften $eiten gingen
£anbel3ftrafeen über fie binroeg. Täe ruffifdje ©rpebition unter ©enerat
©fobelen» uon 1875/76, roeldje jur ^üdjtigung ber Äirgifen auf bem Slloi*
Sßlateau ftattget)abt, blatte ©etegenfieit gegeben, bie ©egenb genauer femten
ju lernen. 33on einem Sßaffe be3 2llais©ebirge3 in Gliofanb auSgeljenb,
fönnen ruffifdje Truppen in febj furjer 3«t über ba3 ^Jamir^lateau nadj
?)affin unb ©ilgit in ©arbiftan, alfo in bie unmittelbare 9Jät»e be§ QitbuS*
t^aleä gelangen. Sie Muffen fiaben bemnad) in bem neuen ^amiroertrage
eigenttid» faft 9Udjt3 aufgegeben, bagegen fo gut wie Sitte« geroonnen.
3lnbererfeit§ baben bie ©nglänber fürjlia; im Tfdjitralgebtete einen
fdjroeren ©djlag für ttjre Slutorität in 3«bien unb Stfgljaniftan erlitten.
®a§ Tfdjitralgebiet, ein an ber norbioeftlidjen ©renje $nbien3 am ©üb=
abfange beö &inbufufdj gelegenes 33erglanb, gehört par nidjt ju ben un«
mittelbaren inbosbritifdjen Senkungen, roobl aber ju ber englifdjen ^ntve-
effen« unb 9lctionSfpb,äre.
33$ €. OTaf^fe in Breslau.
®ie inbtfdjje Regierung fyatte infolge beffen bort einen befonberen
2lgenten mit einer geringen, Sefcterem als ©dmti* unb ©fjrenmadje bienenben
£ruppenabtlieilung ftationirt unb auä) n>ieberl)olentlicfj auf bie enblicfie Gr'
lebigung ber bort lanbeSübftcfien blutigen S^ronftreitigfeiten einen ent«
fdjeibenben ©inftufe ausgeübt. 2Jor einiger 3^t ifi inbeffen ber ben Gng*
länbern genehm geroefene Sktierrfdjer »on £fdjitral burdj einen feiner
SBerroanbten, ©djir Slfjul entthront unb ermorbet rcorben. Se&terer batte
ftd» bann mit Unterftüfcung UmraS, be§ Gb>n3 »on Sanbol, meldte btefer
trofe beä bejüglidjen Verbotes feitenS ©nglanbs geleiftet, jum ßerrfdjer auf=
gefd)roungen unb ben englifdjen ©eneral 9iobertfon mit feinen wenigen
fjunbert SWatm in bem gort »on £fdjitral eingefdjloffen. £>te inbifdje
Regierung orbnete fogletdj bie SluSrüftung einer ftärferen ©rpebitton unter
bem 33efef»t beS ©enerals 9tobert Sora an, um in bem Meinen ©renj«
lanbe iHufje unb Crbnung mieber^erjufteßen. 33or bem ©intreffen btefer
Gruppen mar es inbeffen bereits ©nbe 2Mr$ b. 3. junfdjen ben im £fd)itrafc
gebiete serftreuten Keinen inbifdjen Soften unb ben ©ingeborenen ju
blutigen kämpfen gefommen. ©ine 2lbt^eilung beS 14. ©iff)s9JegimeitieS
umer Sieutenant Slofe mar »om geinbe überfallen unb »otlftänbtg aufgerieben
roorben. $>ajj biefe $ataftropb> aber eintreten tonnte, lag unsroeifeÜjaft
toteber an ber ben ©ngtänbern im gelbe fdwn fo oft »erfiängnifjooH ge«
morbenen unb bodj, roie e$ fdjciitt, un»erbefferlidb>n ©erooljnljeU, mit fou*
»eräner Sßeradjtung auf ben ©egner lierabjubltcfen unb fidj bab,er über bie
einfadjften Siegeln ber tactifdjen ©tdjerung fjimoegpfefeen. ©0 wirb audj
Sieutenant 9iof? fein ©diidffal felbft »erfdjulbet Ijaben. Ter brittfcfien
Regierung blieb aber nadj biefem traurigen ©reignife feine 2Bal)l meb>.
SBoHte fie nicf)t atteS Slnfefien in ben inbtfdjen ©renjgebieten, ja »iefleidfjt
im ganjen Sanbe »erlieren, fo mußte fie bie Serguölfer am £inbuhifdf>
grünblid) jüdjtigen.
£iä)itral unb Qanbol finb SeibeS Sänber alpinen GfytrafterS. ©d&nee»
unb gletfcfjerbebedfte Serge ragen bis ein«* co" 7000 SKetern
empor, ©er 93erfel)r bewegt fid) auf ©aumpfaben. Tie Drtfdjaften be*
ftnben fi<f> metftenS auf fdnoer jugänglidien Reifen. S)ie ©tobt unb 33erg*
oefte Sfdjitrat liegt tjörjer als baS £ofpij beS ©t. ©otttjarbt.
Tie englifdje Operation gegen £fdjitral mar berartig »eranlagt, bafi
jroei 53rigaben auS bem ^Senbfdjab burdj bie Serglanbfd&aften Sroat unb
Sßanbfdfifora »orbrangen, toetfirenb eine Golomte unter Dberft KeHn »on Dften
b^er, oon ©ilgit auf £fcf)itral marfdjirte.
Tie beiben unbotmafjigen dürften @djir--3lfjul unb Umra 6^an fotlten
jroar über 80000 93emaffnete ju gebieten b^aben, bemtod? fonnte aber ber
2Iu3gang bes gelbäugeS t)on oontlierein nidjt sroeifel^aft fein. ®en 15000
SPJann europäifd) gefdjulter Gruppen gegenüber, bie mit ben beften SHitteln
ber mobernen SBaffentedjnif auägerüftet waren, »ermodjten bie nrilben
S3ergben>of)ner nidjt ©tanb ju galten. ©0 mürbe benn aud) fd)on Anfang
Ruglattb in Centralafien.
335
9lpril burd) jroei englifä>inbifd)e Angaben ber SDiatafanb^aß erftürmt.
SDerfelbe war »on 3000 3J?ann, f)auptfäd)lid) 3Jhittap unb ©ift)3 nebft bercn
©cfolge, hartnädig ocrtf»cibigt roorben. $>ie auf bem 9Worab^ unb bem
©djafot^affe angefammelten 9JJannfd)aften hatten feine 3ett gehabt, fid^
ju Bereinigen. 2)ie Jööben nmrben fd)ließlid) mit bem Bajonett genommen,
nad)bem bie englifcbe Slrtillerie unb bie 9JJarim=£anonen mit großem ®r*
folge in ben $ampf eingegriffen fiatten. ©er geinb »erlor weit über 500
SKann. ©ie erfte SBrtgabe be£ ©eneratä Robert £ot» überfdjritt barauf
ben ©roatfluß unter bem geuer beä ©egnerS. ®ine Schaar »on 5000
SanbeSberoolmern, meldte ba3 Vorbringen liier ju »erhinbern fuditen, mürbe
jurfidgefäjlagen. %§ama, baS gort Umra Gf)an3, roarb erobert. Sährenb
biefer Äämpfe im ©roatgebtet rüdte Dberft ÄeHn »on ©ilgit auf ber äußerft
fdjnrierigen ©traße gegen £fd)itral »or unb langte nad» mehreren fyeifjen
©efed)ten am 9. 9lpril in SWaftubfd) unb am 12. in ©amogfjar an. ©ie
geinbe Ratten fid) in ihren ©angarä feb> feft »erfdjanit unb mußten aus
ihren in ber tiefen ©djtudjt 9JfuHah mit großer Umfidjt errid)teten 93ers
theibigungSroerfen erft mit ftürmenber £anb herausgetrieben werben. Sie
Hauptarbeit fiel ben »on ftetln. befehligten ßafdmitrsQnfanteriften unb
©appeurä ju. -Had» h<trtnädigem Kampfe, an bem fid) namentttd) audj
bie »on ben ©nglänbern mitgeführten beiben ©efdmfee mit ©rfolg beteiligten,
gelang e3, ben Gegner burdj eine glanfenberoegung aus feinen Stellungen
ju oertreiben. 2lu3 aHen biefen blutigen ©djarmüfeeln mar roohj ju er=
fehen, baß bie 33erg»ölfer SlafiriftanS feinbltdj gefinnt unb nid)t SEBiHenS
maren, bie britiffen Gruppen burd) iljr ©ebtet burd»sulaffen. Umra Gfian
fdjien jebod) in golge ber 9Jieberlagen feiner greunbe unb Anhänger ben
9Jlutf) »erloren ju Ijaben, ben fiegreid) »orfdjreitenben brittifdjen 33rigaben
fid) nodj einmal entgegen ju werfen. -DUtte 9lprit bat er um ^rieben unb
flol) bamt nad) Slfmar. 2Bährenb bie englifd)=inbifd)en Gruppen beS ©enerals
Sora unb Dberft JteHn alfo burd) baS ^anbfdjoragebiet unb »on Dften her,
unter ben größten ©djnnerigfeiten äroar, aber bod) ftetig, »orbrangcn, fyatte
©eneral SHobertfon mit feiner Keinen ©d;aar feit 4. Stpril eine fdjroere
SBetagerung in ber £fd)itralfefte aushalten unb eine 9ieib> erbitterter
kämpfe burdijufedjten. ©ie ©nglänber hatten in golge ber färglidjen unb
mangelhaften Nahrung fdjroer 5U leiben, erlitten aud) burd) baS feinbtid)e
geuer bebeutenbe SBerlufte unb befaßen feine genügenben $itf3- unb 2tr5nei=
mittel für bie Vernmnbeten unb Sranfen. 2lm 17. 3lpril madite bie
©arnifon nod; einen legten uerjweifelten 9luöfatl unb »erlor babei mieber
21 9Kann. 35ie SSebrängung burd) ben Belagerer rourbe immer fd)n>erer,
ba bie »orgetriebcnen unterirbifdjen ©äuge beäfelbcn bereits biä unmittelbar an
baä gort heranreiften, ©o märe benn bie Sßcfie n)ahrfd)einlid) aud) gefallen,
roetm nid)t enblid) am 19. 3lpril bie ßolonne beä Cberft Rtüt) fie entfefet
hätte. ©d)irs2lfeul mar entflohen, ©er 3lufftanb in £i<f>itral unb ^««bol
ift bamit »orläufig niebergefdilagen.
336
<E. OTafdife in Breslau.
^ebenfalls werben bie ©ngtänber aber für geboten erad)ten, in JEfdjitrat
bouernb feften ftufj 51t faffen. 93eim 2lu3brud) eine« emfteren Gonfltcts
sroifdjen SRufjlanb unb ©ngtanb fönnte in ber 23»at bie unter gewötmlidjen
3Ser^ölrniffen ntinber bebeutfame spofttion »on £fd)itral für bie 33ertl)eibigung
be£ nörblidjen ^nbien^ eine gonj befonbere 33ebeutung gewinnen. 33ei ber
burd) ben jüngft abgefd)loffenen Sßamiroertrag gefd)affenen ©obläge wirb
©ngtanb wol)t für notfiroenbig polten, baä Xfcf)itralgebtet fo bolb als möglich
^inreid)enb ftarf ju befe&cn, um bann bie nad) ben SßamtrS füf>renben
£inbufufd)päffe in feine ©ewalt ju bringen unb bamit bie inbifd)e 3iorb=
weftgrense gegen Shtfttanb ju fd)lief?en. $enn e3 bfirfte ju erwarten fein,
bafj 9hijkanb unb ©ngtanb binnen furjer 3«t ftd^ Iner »on 2lngefid>t ju
9tngefid)t gegenüber ftetien werben. SefetereS wirb fid) bann, umgeben oon
ben feinbttd) gefilmten 33erg»ölfern ÄaftriftanS, fetneäwegä in einer gfinftigen
Sage befinben.
2lud) an ber ^orbgrenje £eratä fömten bie SBerb^ältniffe faunt aU
ftabile ju betrauten fein. 2Benn ©nglanb liier md)t juoorfömmt, werben
bie Siuffen unoermeiblidj nad) £erat, bann nad) 33el<§ unb weiter nad)
Äabul »orgefjen. Slber felbft bler werben fie nid)t fteben bleiben. @3 Dürfte
bemnad) »telleidjt ber ßeitpunft ntd)t tnefir ferne fein, wo bie ©renje ber
rufiifd)en Stafafen in 2lfgb>niftan mit ber ber @e»ot)3 in ^nbien jufammen«
flößen wirb.
$zeibenhv\n unb {EfKofopfjin.
Don
— Saoen (£Tteber»<Dejlei:retcf[). —
eit mehreren $af)ren ift in bet treffe ber ganjen ßulturroett fef»r
oft bie 3lcbc von 3Jtr3. SSfonie SBefant, weil bercn Uebertritt
Dom rabicatften greibenfertlntm jut oerroorrenften £f)eofopf(te
Biet ©taub aufwirbelt. SHefe ©ame, eine bct merfroürbtgften grauen«
geftalten aller S^ten, war fccjon ftürjcr aucf) aufierljalb ©nglanbs befannt,
namentticfj burd) eine iljrer nieten trefftidjen Schriften: „®a3 33e»ötferung§s
gefelj, feine golge unb fein Ginflufj" (in fieben ©prägen in roeit über
% ÜMion (Sremplaren abgefefet); jcfet aber ift fie burd) ttjre 33efebjrung
ju bem unfinnigen — um nic^t ju fagen: fdfjrotnbelt)aften — ©eifterfpuf
ber uor einigen 3af»ren »erftorbenen Helene SBtaroatjfi teiber jum ©efpött
bes ganjen gebitbeten 2lbenblanbe£ geworben, ©ie fjat bie SRadjfolge biefer
Stbenteurerin atä Seiterin ber „£f)eofopf)ifcf)en ©efeUfdiaft" angetreten unb
fefet fid) in SBort unb ©djrtft mit bemfetben ©ifer, ben fie fo lange für
bie gretbenferei an ben £ag gelegt b^at, für ifire neue ©djroärmerei ein.
2Bir Ijaben e3 ba mit einer ber feltfamften Sßanblungen ju tlnm,
reelle bie an fettfamen SBanblungen fo reiä)e ©eifte§gefd)id)te ber
SFienfcffteit aufouroeifen tjat. Sit melier SBeife, burcf) roeldie getjeimnifc
rollen ©enfproceffe, mittels roetdjer nmnberbaren (Sinflüffe fid) ber
aufcerorbenttidje Uebergang in biefem auf?erorbenttid)en Äopfe »oHjog,
ift nod) gfhtjltdj unaufgeklärt, ba grau 33efant jeben 2luffd)lufs barüber
»erroeigert. ©afj eä if)r um ©d)roinbel ju tt)itn fein fönnte, bafj fte bie
©acfje nidjt roirftid) emft nimmt, baf? fte eine gemeine Betrügerin ift, mufj
bei ifirem perfönlidjen ßljrarafter als »ollfommen au3gefd)loffen betrachtet
338 J3erttja Katfdje* in JSaben (Zlteber.QJejierreidf). <
werben. ©3 bleibt »orläufig nur übrig, bie ganje ©efcbidjte für unbegreif-
lich ju Ratten unb SßettercS abproarten.
Dagegen bat fic bie, ebenfalls febr merfroürbige ©efdjidjte
einfügen 23efebrung junt gretbenfertbum unb bie »übergegangenen ©ei: -
unb ßersenSfärnpfe in tljrem anjiebenben Sludbe „Autobiography of Annie
Besam" (Sonbon 1893) auSfübrlid) gefdbilbert. £>te betreffenben SSor*
gänge finb für bie ©genart ber 3J?rS. 33efant fo bejeidmenb unb an unb
für fid) »on fo bobem pft)d)ologtfdben roie biograpbifdjen ^tttereffe, bafj
nähere SWittbeilungen fid^erttd^ nrifllommen fein werben barüber, roas bie
fromme junge ^JaftorSfrau einft »eranlafjte, mit allen biblifdjen unb reli*
giöfen Ueberlieferungen ju bredjen, fid) mit ibrer gamitie ju entjroeien,
&auS unb $erb ju certaffen, fid) oon 3Kann unb Äinbern 5U trennen, furj:
ber ganzen SBelt ben geljbebanbfdjub binjuroerfen, um für baS, was Tie
nad) febroeren inneren Kämpfen als reebt unb roaln: erfatmt, mit offenem
aSifir ju ftreiten.
2lmtie 33efant bat am 1. Dctober 1847 ben erften 2Ui<f in biefeS
Sammertbal, baS mir SBelt nennen, getban. %n tfcen 9lbern fltefet balb
englifdjeS, balb irifd^eö MüL 3bre SDiutter foll eine ber ebelften,
tapferften, opferfreubtgften, nuttfjtgften, felbftlofeften grauen geroefen fein,
bie baS „grüne ©rin" jemals erjeugt fjat. £rofe aller Sßanblungen, bie
mit unb in ibrem Siebling Slnnie »orgegangen finb, btett üe treu unb feft
ju ibr. 33on ibrem SBater roeifj uns ÜRrS. 33efant roeniger p erjäblen,
benn er ftarb, als fic faum fünf 3«f)re alt mar. 9JJr. SBoob, ber SÜebicin
ftubirt batte, bängte feinen Doctorbut an ben 3lagel unb roibmete fid),
als it)m oon einem Staroanbten in Sonbon ein guter Soften angeboten
rourbe, ber faufmännifeben Saufbabn. $>od) »ermoebte er nidbt ganj r>on
feinem alten Stauf 51t laffen unb befudjte, fo oft eS feine freie $ext er*
laubte, mit befreundeten 3lerjten ben ©ecirfaal, roo er ibnen b^freidie
$anb bot. 33ei einer foldjen ©elcgenbeit »erlefete er fid) einen ginger an
bem Sruftfnodien eines 9KamteS, ber an galoppirenber ©dmrinbfucbt ge*
ftorben mar. Sängere 3eit nadjber überrafdjte ibn ein tjeftiger Stegen; er
fam burd»tä&t beim unb trug eine ©rfältung banon. ©iner ber Ijeroor«
ragenbften aber aud) berbften Sonboner ^rofejforen rourbe confultirt, um
ben ungebulbigen Patienten ju beruhigen.
„25?ann roirb er ausgeben bürfen?" fragte bie abnungSlofe ©atttn
ben iprofeffor, als er fid) jum SBeggeben anfebidte.
,,©ar niebt mebr. <Sie müffen fid) mit biefer Sfyttfadje oertraut
madjen; benn $for ©atte leibet an ber gatoppirenben @<broinbfud»t unb
fann cS bödjftenS nodj fed)S SSodjen auSbalten." Stte grau taumelte ju*
rücf unb fiel obnmäd»tig ju 33oben. 3b« Siebe unb ©elbftbeb.errfd)ung
mar jebod) fo grofe, baft fie fd)on nad) einer falben ©tunbe mit beiterem
3lntli^ bem Äranfcn bie 3eit ju Berfürsen tradbtete unb fidb ü)r fd)roierigeS
^flegeramt oon 9Jiemanbem nefnnen tiefe. 5WrS. SBoob b«tte ib.ren
$ reibenf erin nnb (Etjeof opfyin.
339
©atten unenblid) geliebt. S^re SBerjweiflung über feinen SBerluft machte
ihr rabenfchwarjeS £aar in ber 9?ad)t, ba er fie für immer oerließ, er?
grauen.
2>a 3Jlr. Sßoob eine gebiegene flaffifdje 33ilbung unb bebeutenbe philo*
fophifd)e Äenntniffe befeffen, fünf frembe ©prägen gefprocljen, über
Sieligionen im Mtgemeinen unb über bie d&riftlidje im Sefonbern fc^r
ffepttfche 2lnf<f»auungen gelobt {»atte unb oon feinem Sterbelager ben
Sßriefter, ber ihm baS lefcte ©acrament reiben wollte, wegjagte, fo werben
mir uns nicht barüber oeriounbern, baß feine £od)ter 2lnnie, bie fehr reli*
giöS erjogen worben, traft ihres 00m SSater ererbten fcljarfen SSerftanbeS
unb ber ungeheuren SBahrheitSliebe — ein ©rbtfjeil ber trefflichen Butter
— über bie 2Biberfprüd)e, bie ihr in ber 93ibel aufftießen, ftufcig würbe,
grübelte unb fann, tbeologifche ©tubien machte unb fchließlid) aud) burä)
äußere Umftänbe baju getrieben mürbe, an ber Unfet»lbarfeit ber 33ibel,
an ber ©öttlicfjfeit beS ©efreujigten unb enblich aud) an ber ©rtftenj
©otteS ?u jweifeln. ®och mir motten nicht oorgreifen.
9JJrS. SBoob blieb in ben benfbar traurigften SSerhältniffen jurücf, unb
boeb, rootlte Tie ben testen SBunfd) ihres fterbenben ©atten, ber feine gamilie
pecuniär gut oerforgt glaubte, erfüllen unb ihren ©ohn ftubiren laffen.
3n ©ngtanb ift baS eine febr foftfpielige ©adje. ®ie refotute grau übers
fiebelte nach Narrow unb erroirfte fiefj oon bem ©trector ber bortigen be=
rühmten Änabenmittelfd)ule bie erlaubniß, Söfllm9c ™ ^enfion }u
nehmen, ©ie einnähme heraus fefete fie in ben ©tanb, ben eigenen
@of)n ftubiren ju laffen. ®er Umgang mit ben Änaben unb Settern
ermeefte and) bei Smnie frühzeitig bie Suft jum Semen. grünbliche
unb »ortrefflid)e 2luSbübuug oerbanfte fie jebod) 2Riß SJJarrtjat, ber 2ieblingS=
fd)roefier beS berühmten SiomancierS ©apitän SJiarroat, bie über ein großes
Vermögen unb ein noch größeres päbagogifdjeS Talent oerfügte. es
machte bem alleinftehenben ältlichen gräutein Vergnügen, eine Slnjabt oon
Änaben unb 9JJäbd)en, beren eitern nid)t in ber Sage waren, ihre JUttber
auSbilben yi laffen, nad) ihrer eigenen 2Jietf)obe ju unterrichten. Unb
was unS -Ufrs. Sefant oon biefer 9Wethobe berichtet, ift wabrtidj beherjigenS=
roerth:
,,©ie felbft weihte uns' in alle gächer ein, nur für ÜJiufiE hatten
wir einen anbern 3Mfter. -BÜß 3>?arrt)at haßte bie Oberflächlichkeit, wir
mußten SltteS grünblich erlernen. ®ie gibel, biefe Tortur aller Anfänger,
blieb unS gänjtich erfpart. 35>ir mußten 2lfleS, was mir auf unferen
©pastergängen gefehen unb erlebt, erjählen unb fpäter nieberfchreibeu, fo
gut ober fo fd)led)t eS ging. £>iefe finbifd)en ergüffe las fie forgfältig
mit uns burch, befferte alle grammatifalifchen unb orthograpf)ifchen gehler
aus unb fpomte uns auf biefe SBeife an, mit offenen 3lugen in bie SBett
ju fehen unb bie Statur ju beobachten. SBorte finb oiel ju nichtsfagenb,
um auSjubrücten, waS ich ber hochherjigen grau 2ltteS oerbanfe! ©ie
9Jort unb Siib. LXXV. 225. 23
3^0 53ertt(a Katfdfer in Babeit (ttieber-©efterreid;).
war es auch, bic bcn SBtffenSburft in mir grofjgejogen hat/ unb biefer ift
mir big jum feurigen ©age geblieben."
SDttfj -Utarrnat, eine ftrettggläubige Sßroteftanttn, geftattetc ihren 3Ö9S
[tagen an Sonntagen feine anbere Seetüre als bie ber SBibeL SBafjrenb
ber ©pajiergänge burften fie nur ßronnen fingen, aufjerbem mußten fte in ber
©onntagSfdjule arme ßinber unterrichten — „beim was nü|en <5udj Sure
Äenntniffe, wenn 3for nid)t Derfudjt, fie auf biejeitigen ju übertragen, bie
fonft 9Uemanben Ratten, ber fie Untermiete?" 23at einer ü)rer spfCcgtinge,
einem 2lrmen Reifen ju bürfen, fo mar ftets ihre ^rage: „SBetcheS Cpfer
toittft ©u ©ir auferlegen? SBenn ©u j. 93. ©einen -Norgenthee eine
3eit lang ohne 3wfer trtafft, fo fannft ©u ©ir 6 $ence bie SBodje er*
fparen; biefe barfft ©u oerfdjenfen." Äann eis eine wetfere 2lrt geben,
©elbftoerleugnung jum &mti ber 9tädjftenliebe ju lehren?! 2lnnie, in
beren 9totur es lag, ÜRidjtS b>lb ju tfmn, mar ein überaus frommes Stinb,
unb bie ©tunben, in benen fie fich ungeftört ber Seetüre ber 23ibel unb
anberer ©rbauungSbücher Eingeben tonnte, waren ib> unftreitig bie liebften.
2ttS ganj junges UJtäbchen begleitete fie 3Jiif? ÜJiarroat tn'S 2lu3lanb unö
jwar juerft naef) ©üffelborf unb Sonn unb von f)ter nach SßartS, reo üe
mehrere -Dionate J»alb bem Vergnügen, b>lb bem ernften ©rubium lebten,
©ie -äWittmoche unb ©amStage würben benüfct, um bie SDteifierwerfe in
ben ©alerten beS Souure unb ade febenSwerthen Ätrdjen ber franjonfehen
SRetropole fennen ju lernen. -Jiächft ben b^errlidjen ©pajiergängen, bie fte
in bie Umgebung oon $aris unternahmen, um Sanb unb Seute ju
ftubiren, gewährte bem aufgewehten, lebhaften 9Häbd£)en 9Hd)tS fo grofjeS
Vergnügen als ber Vefudj ber ßirdjen. ©ie fühle, weihrauchfehwangere
Suft, baS 3wictidjt, bie Drgelflänge unb baS SDteffelefen übten einen mr-
wiberftehlichen Steij auf fie aus; fie tonnte ftunbenlang uor einent ©briftuS=
bilb in ftummer 2lnbacf)t tnien; itjre ganje ©eele fäjwang fid) ju bem
©otteSfohne auf. Seitliche Vergnügungen oerabfeheute fie bamal*. ©heater
betrachtete fie als „gaQftridfe, bie ber ©atan ben 9Kenfd)en gelegt, um
i^re ©eelen ju jerftören," auch hflttc fie ft<^ »orgenommen, feine Salle ;u
befugen, benn fie war feft entfdjloffen, „ber 2Belt, bem gleifdje unb bem
©eufet ju entfagen unb ein gottgefälliges Sehen ju führen." ©iefes
14jährige 9JJäbchen war uon ber Unfeblbarfett ber 33ibet fo fehr burcb>
brungen unb glaubte fo feft an bie @öttlidf)feit ^efu, bafc fie in ihrer
■Jtataetät unb Unerfahrenheit es als bie hö#e Aufgabe bes SSetbeS be*
trachtete, im ©tauben aufjugehen. ©en Sommer 1862 verbrachte fie
noch mit ÜDtff? -Karrrjat in ©ibmoutb, wo biefe fie nach unb nach baratt
gewöhnte, ihre ©tubien auf eigene $auft ju betreiben. 3llS Stnnie 'ftcb
einmal barüber beflagte, baf? „©anteben" fich jefet fo wenig um fie be=
fümmere unb fie fo feiten unterrichte, entgegnete bie weife ©ante:
„<*t, mein $tab, ©u bift jefct alt genug, um allein weiter ju
lernen, ich fann ©ir nicht ©ein Seben lang als ßrücfe bienen. 3«9e/
^reibenfertn un& Cljeof opljtn. 3^1
baß bie Sefiren, bie 2>u empfangen, nid)t auf unfruchtbaren SBoben ge«
fallen finb."
Unb bas waren Tie totrftid^ nid)t, benn als 2tmtte enblid) ju iljrer
2Mter nad) &arroro Ijeimfefirte, ftubirte ftc fleißiger beim je. @te »er«
»ollfommnete fid^ in ber beutfd)en unb ber franjöfifd)en ©pradje, trieb
fleißig HJiufif unb nafd)te »on allen 5Biffenfd)aften. Sjjre SiebltngSlectüre
blieben jebod) tbeologtfdje 33üd)er. ©te las mit Feuereifer bie SBerfe be*
rüi)mter engltfd)er ©eifttiä)er beS 17. unb 18. SabjfiunbertS. ©urä)
3ufall befam fie aud) bie SBerfe ber $ird)enȊter in bie &anb; biefelben
nahmen ttjre ©inbilbungSfraft berart gefangen, baß fie ju faften begann
— gegen ben SBillen SERrS. SBoobS, ber bie ©efunbljeit ibjeS ÄinbeS roeit
näf)er ging als äße ßaarfpaitereien ber gefammten Äird)en»äter — bas
ßreuj fd)lug unb jebe 2Bod)e jum 2lbenbmal)l ging. Sie befd)äfrigte fid)
lebhaft mit bem ©ebanfen, fid) ju bem ©lauben iljreS 33aterS ju befebjeu,
ber ber fatI)olifd)en &ird)e angehört blatte. 3" jener 3eit er|'d)ten ifjr bie
£eiligfeit Sefu nod) unantaftbar. Sie fjätte fid) für bie größte ©ünberin
ber SBelt gehalten, roemt tl>r ber ©ebanfe aufgetaud)t märe, baß »tele
©teilen ber ^eiligen ©djrtft fälfd)tid) »erebjten tarnen jugefd)rieben nmrben
junt 3'ocde frommer £äufd)ungen. Sie glaubte felfenfeft an 2lHeS, roaS
bie „^eiligen SSäter" erjagten, unb »ertiefte fid) mit großem Eifer in beren
©tubium. 2Ran glaube ja nid)t, baß fie beSljatb ©tubenbocferin geroorben.
2Bie alle englifd)en 9)Mbd)en, bewegte fie fid) tuet im freien, mad)te größere
Sfosflüge 5U guß unb ju ^ferbe, fpielte mit ben ©tubenten unb Seljrent
fleißig iBallfpiele, befud)te ©artenfefte, furj: fie genoß trofc ü)rer ernften
©tubien if>r junges ßeben.
„9tiematS fann ein 9Jfabd)en eine fröl»lid)ere ftugenb »erlebt
baben . als id)/' fd)reibt fie. „SSormittagS unb einen Srjcit be«
9tad)mittagS befd)äftigtc id) mid) mit ernften tf)eologifd)en ober roiffeu'
fd)aftlid)en ©tubien, 9lbenbS befud)te id) anregenbe ©efettfcbaften, ober id)
muficirte bafjeim; aud) tjattc id) mid) entfd)loffen, »on meinem $orfafc,
niemals einen 33atlfaat ju betreten, absuroeidjen, unb mar eine red)t flotte
£mtäerin geworben. ÜReine geliebte 3Jlutter »erroöbnte mid) fef)r, feine
©orge burfte meine ©eele trüben, id) follte genießen, roäbrenb fie alle
Saften beS Sebent trug; jefet weiß id), roaS id) bamals nicfjt alntfe: baß
itir jeber Sag neue Seiben unb ßümmemiffe brad)te, bie fie uns Stinbern
uerljeimlid)te. ®aS ©odegeleben meines SBruberS foftete »iel ©elb, unb
biefe ©orge »erurfadjte ifir fd)laflofe 5Räd)te. (Sin 2lb»ocat, bem fie »ott«
ftänbig »ertraute unb beffen ert^af ttg Ceit tbr jroetfetloS bünfte, betrog
fie fdjmäljlid), inbem er alle ©elbfenbungen, bie fie ibm jur (Erfüllung
tljrer 33erbinblid)feiten jufanbte, für eigene $mde »enoanbte unb ibr ba«
burd) qual»olle SBertegenfjetten bereitete. SSon biefen Singen erfuhr id)
jebod) erft »iel fpäter. 33efud)te id) einen 33all, fo brauchte id) mid)
niemals um meine Toilette ju befümmern; biefe lag, roenn bie 3e^ äutn
23*
3^2 Berttja Katfdjer in Saben (tliebet>©eftetreidj).
Slnfletben fam, fit unb fettig auf meinem 3*n,met. Seine anbete §anb
als bie meinet 3Jhtttet butfte mein langes &aar otbnen ober mein SUeib
jufdmüren, — mar eS bod) tt>t einjigeS sBetgnügen, tf)ten Liebling" IjetauS«
jupufeen! -Dieine Äinbfieit unb SDiäbdjensett mar fo fonnig unb glüdlid),
baf? td), fo lange id) untet ben fdjüfcenben ft-lügetn meiner 9Rutter ftanb,
nid)t einmal atinte, meldte ©orgen unb dualen baS Seben mit fid^ bringen
famt. 21H bie ftreuben jener glü(flid)en, fonmgen 3at>re nafym iä) mit
frofjer Unberoufjttieit als etwas ©elbftoerftänblidjeS fcin . . . . 3d) liebte
meine 9Jlutter mit letbenfd)aftltd)er Eingebung; was fie für mid) get^an,
würbe mir erft Hat, als td) unfer trautet £eim oerlaffen mußte, um bem
•Kanne meiner 9Q3ai)t ju folgen. 3ft eine fotd^e @rjtefmng weife? $d)
weif? es nid)t. ©ie SBunben, bie (Sinem baS Seben fd)lägt, memt man
fo unvorbereitet in ben Äampf tritt, ftnb fo fdmterälid) unb nad)f»altig,
baf? id) t>orfd)tagen mürbe, bie Sugenb bei %ei\m barauf »orjubereiten
unb ju ftäf)len. Unb bod) ift es eine fd)öne ©ad)e, wenn man auf
ein glü<flid)eS $inber= unb 3Mbd)enparabieS prüdMcfen fann, baS
Ginem bet Ijärtefte Äampf um'S ©afein nid)t aus bet ©riimerung ju löfdjen
uermag!"
3Jftt Siebesträumen gab fid) 2lnme niemals ab, maf>rfd)etnltd) weil
fie nie Romane las unb it)te ganje ©ebanfenwelt fid) auSfd)liejjlid) um bie
SUeligion breite. $f)r emsiges Söeftreben mar, 3tefuS, ben fie mit ber
ganjen Sribenfd)aftlid)feü if)teS -Naturells liebte unb »erefjrte, ju Ijulbigeit,
unb fte tljat bicS aud) im auSgebetmteften 9Jiaf?e. ®ie liebeglübenben,
farbenreidien ©ebete, bie fte an „ifiren ©rlöfer, ijjren b,immlifd)en
33räutigam, ber fd)öner unb begeljrenSroertfier als bie ©öfine ber 3Nenfd)en/'
rid)tete, beweifen ba« jur ©enüge.
9Jfit 18 Satiren regte fid) bet erfte Sroeifel an ber Unfeljlbarfeit ber
2lpojtel in U»t. 3fn ber 6f)arwod)e 1866 fain ib,r bie Sfoee, bie SeibenS;
gefd)td)te Gbriftt an ber &anb ber oier ©oangelien niebetjufd)reiben, um
fo ben ©puren „ber geheiligten güfce ©djritt füt ©d)ritt 51t folgen, bis
fie jum SBobte ber 9Menfd)t)eit an'S ftreuj gefd)lagen mürben." 9J?it bem
3Jhttt)e, ber bet Unwiffenjjett entfptang, ftellte fie bie 2lu3fagen bet »ier
(Soangeltften nebeneinanbet unb mußte ju intern ©djred erfahren, baß
biefe nidjt ganj übereinftimmten. ©ie unterbrucfte tfjre auffteigenben
Zweifel unb fudjte fid) ju überteben, baß ber ©atan fie in 93erfud)ung
führen wolle, ©te faftete unb betete unb nabm fid) feft »or, in 3uiunft
fold)e oergleid)enbe ©tubien ju untetlaffen.
3(m ©ecembet 1867 oetb,eiratb,ete fie fid) mit bem Spaftot grauf
33efant. %l)xe tb,atfräftige 9Jatut febnte fid) nad) einet i^r jufagenben
fdjäftigung, unb fie befajlofe, bet Äitd)e unb ben 2trmen uon SJufcen ju
fein unb gegen bie ©ünbe unb baS ßlenb anjuJämpfen. SBon ber eigent«
lid)en SBebeutung ber (Sb^e mußte fie 9iid)tS. „®ie oollftänbige Unfdjulb
mag rooljl im ^Srindp feb,r fd)ön fein, aber id) Ijabe es leibet an mir er*
f retbeitferin nitb Ctjeof opf]tn. 3^3
fahren, roie gcfät»rti<^ fte ift. @t>a müßte roiffen, roeldje $Pfttd)ten unb
Saften tt)r beoorftel)en, fobalb fie aus bein ^ßarabieS ber mütterltdjen
Cblntt unb Siebe auSroanbert, um baS ü)r unbefatmte Sanb ber ©£je ju
betreten, wo bie jarte £reibb,auSblume unoorbereitet rautie ©türme treffen,
bie fie leidet oermdjten ober sunt SBelfen bringen fönnen." SSon ib,rer
@£)e fpridjt 2RrS. 23efaitt in it>rer ©elbftbtograpbje gar nid)t; bod) läßt
fie jroiidjen ben Reiten burd)blicfen, baß fie feine befonberS glü<flid)e ge*
roefen. ©er 33cruf üjreS ©arten brachte CS mit fid), baß er feine grau
oiel allein laffen mußte, unb biefe füllte fid) feb,r einfam unb oertaffen. 3)aS
atbeme ©efdjroäfe ibrer jab,treid)en 33efud)erinnen langweilte fie, unb bte
grau Sßaftor würbe für j)öd)ft „fonberbar" erflärt, weil fie fid) lieber mit
ben rotdjtigen fragen, bie bieSBett beroegten, befd)äftigte, „als fid) barum
ju befümmew, rote ber ©etiebte ber ©ienftmagb ausfege unb ob man sunt
Tübbing beffer ©djmalj ober SButter uerroenbe." !$n iljrer 33erlaffent)eit
roarf fte fid) roteber mit Seibenfd)aft auf's ©tubtum unb »erfud)te aud),
fleine üfiooeflen ju fd)reiben, bie im „gamilt) §eralb" 2lufnaf)me fanben. %fove
greube, als fte baS erfte felbftoerbiente ©elb in ben £änben fjielt, mar
grenzenlos ; fie fanf auf bie Knie unb „banfte ©Ott," baß er es tfjr in
feiner ©nabe »erliefen, ©in rounberbareS ©efüfyt ber Unabljängtgfett übers
fam fie. Sie glaubte, nad) belieben über „u)r ©elb" oerfügen ju fönnen,
unb af>nte nid)t, ba& nad) bamaligem englifd)en ©efefe eine »er^eirattiete
grau fein $erfügungSred)t befaß; SltteS, roaS fie »erbiente, gehörte bem
©arten, roie fie felbft! ®iefe ©nttäufdjung roar jroar fet>r grofä, aber fte
fcfjrteb trofebem tapfer roeiter, benn baS gabuliren mad)te tf»r Sßergnügen
unb lenfte fie »on mand)en ©orgen ab. 2lud) mit ernfteren Arbeiten be*
fd)äftigte fie fid), unb ju biefen gehörte nad) ibjem bamaligen dafürhalten
eine umfangreid)e 33rofd)üre über „®ie ^ßftid)t jebeS gläubigen ©firiften, fjäufig
ju faften"; „leiber" bat fid) für biefeS £f)ema niemals ein Verleger gefunben.
3m Qfanuar 1869 fd)enfte fte einem fräftigen ßnaben baS Seben,
im 3luguft 1870 einem garten 9JJägbeletn; i^re oljnebieS fd)road)e (£on*
fiitution rourbe baburd) febr erfd)üttert, unb es beburfte langer 3ett, efie fte
ftd) roieber erbolte. %fote 2Rutterpflid)ten naljm fie ungeheuer ernft, unb
bie betben Keinen 3Wenfä)enfinber madjten fte eine 3cit lang ber Sitteratur
abtrünnig, benn fie befd)äftigten fie nottauf, ba u)re pecuniäre Sage itjr
nid)t geftattete, SBärterinnen ju galten. $m grübjabj 1871 erfranften
beibe Äinber am $eud)f)uften; &er ältere unb ftärfere Knabe überroanb iljn
leid)t, aber bie fd)roäd)ltd)e, roenige -Bionate alte 3Kabel litt fürd)terltd).
Sföre Sungen rourben angegriffen, unb fte fd)roebte rood)enlang in £obe3*
gefafir. 2)aS roar eine entfefclid)e 3«it für bie ÜDJutter, bie baS Äinb
£ag unb sJiad)t auf ibjen 2trmen roiegte. Um einen ©rfticfungSanfau' ju
linbern, brüefte ber Slrjt, ber bereits jebe Hoffnung aufgegeben Ijatte, ein
mit einem tropfen ßfitoroform beträufeltes £afd)entud) auf baS fdjmerj'
oerjerrte ©ertd)td)en beS Ätnbes:
3$4> Bertha Katfdjet in Sahen (nieber-©e(iettei^).
„3e|t fttttn es iljm trid)t mefir fd)aben, uttb es fcf)roäd)t ben heftigen
Sfofall ob," meinte er, unb toirflid) begann eS fofort ruhiger 511 atfjmen.
SWrS. 33efant n)ieberb>lte biefeS $erfal)ren unb glaubt nur biefer Strjnei
baS Seben iljreS ©dmterjenSfinbeS ju uerbanfen, baS nod) jahrelang an
ben folgen ber Äranfbeit ju leiben blatte. $>od) aud) an bet 5TOuttet
gingen bie quafoollen SHocfjen, bie fie in ber Äranfenftube »erbrad)te, nidjt
fpurloS worüber. 3n i^rem ©etfte blatte ftd), faft oljne baj? fie es merfte,
eine SBanblung oottjogen. ^mmer rcieber brängte ftd) tf)r bie grage auf:
„3ft ©ort roirflid) gut?" unb mef|r als einmal war fie in bie 5tnie ge--
funfen unb flehte: „fierr im Gimmel, liab' ©rbarmen unb erlöfe meinen
Siebling! 2Bie fatmft ©u ein unfdfjulbtgeS Äinb fo martern? 2BaS b^at
eS t>erbrod)en, baf? ©u ilnn fold)' fürdjterlidje Dualen aufertegft? 2Bemt
es biefeS Qammertfyal oerlaffen mufe, meS^alb töbteft ®u es nid)t fofort?"
,,2lllmäf)ttd) fdjlid) fid) eine ©rbitterung gegen ©ort in meine «Seele,
unb id) begann an feiner ©üte ju smeifetn," fdireibt fie. „3111 mein per=
föntid)er ©taube an ib> unb feine 3Jlad)t, bie SHnge ju teufen, an feine 3111*
gegenmart unb an bie Äraft meiner ©ebete geriet!) in'S SBanfen. gür
midj mar ©ott feine abftracte 3;bee, fonbem ein nrirfltd)eS 2Befen, unb mein
mütterlidjeS ©efüljl empörte fid) gegen biefeS, weil id) nid)t begreifen
fonnte, roeSljatb er mein armes 23abp rood)enlang in S'obeSqualen
fdjroeben lieft."
@in bodjberjig benfenber ©eiftlid)er, ben £err 33efant ju feiner grau
gebradjt, als 9Jkbet in gröfjter ©efaf)r gefdjroebt, erfannte fofort ben
«Seelenjuftanb SlnnieS unb bemühte fid), fie ju tröften unb ifyren erfd)üts
terten ©lauben roieber ju befeftigen, inbem er ber geiftooHen grau ein«
fd)lägige 33üd)er tiel). ©od) wenn man ju jnieifeln angefangen, b>t man
ju glauben aufgehört.
©er ©ebanfe an bie &öHe quälte fie am meiften. %n ben enblofen
9läd)ten, bie fie am Äranfenlager ü)reS fttnbes unb an benjenigen Slnberer
oerbradjt — fie blatte fid) in if»rem ©prengel einen großen 9luf als
Äranlenpflegerin erroorben — glaubte Tie eine Slfinung oon ben dualen
unb <Sd)merjen berfetben befommen su baben, unb üjr ^erj lehnte fid)
gegen bie ©raufamfeit beS erfd)affenben unb oernidrtenben ©otteS auf.
„3(ebermann, ber geglaubt unb bann gejroevfelt l»at, roeifj, bafj bem erften
3n>eifet immer neue folgen, olnte baf? man fid) tf»rer erroebjen fattn. ©ine
fiebere nad) ber anberen fteigt (Sinem in neuer bäfterer 33eleud)rung auf,
unb in biefer fiebt fie ganj anberS aus, als fie uns burd) ben fanften
Siebet beS ©laubenS erfd)ienen ift. ®aS 58orf)anbenfein ber Seiben unb
@d)merjen in ber SBelt, bie ein »guter ©ott' erfdiaffen, bie Groigfeiten
überbauernben Dualen ber 4?öHe trieben mid) jur SSerjnieiflung, unb bod>
glaubte id) nod) an ©Ott 3Mn nädjfter <Sd)ritt jum g-retbeufer*
tb^um mar, baf} id) mid) gegen bie fiebere oon ber ©ülnte auflehnte; id) be=
munberte unb betete 6l)riftuS an, fiafete aber ©ott, ber beffen XobeSopfer
reibenftrin unb (Efjeof opfjin.
3<*5
angenommen. -ättonatelaug bewerte biefer Äampf, ber meine ©efunbfieit
aufrieb. ^rniner oerfudjte id) eS »on Beuern, mid) in bem {förmigen
•Dleer meiner Seifet auf eine plante beS geftranbeten SdiiffeS meines
©laubenS retten. SBergebenS. 9J?c. Seob ßampbell'S Sßerf über bie
©uljne, Maurices ,2BaS ift Sluferftelmng?' unb nod) ein $m|enb anberer
33ücf)er uermodjten meine S^eifel nid)t ju bannen; im ©egentfjeil, je meb^r
id» barüber las, befto gered)tfertiger erfd)tenen mir biefetbeit. 316er wenn
fid) biefe eine SDoctrin als falfd) erroieS, waren eS alle übrigen md)t
aud)? ÜDtufete id) nid)!, um ©erotfcfiett ju erlangen, alle anberen ebenfalls
genau prüfen? Unb wenn fie fid) roirfltd) als falfd) errotefen? ©iefer
©ebanfe bradjte mid) bem SBafmftnn naf>e; mein ©efnm oerfagte Dollftänbig
ben 2>ienft, unb id) tag rood)enlang in ben fürd)terlid)ften ßopffd)merien,
ofine im Sd)laf ©rlöfung ju finben. 211S ade SKebicamente 9licf>tS nüfeten,
fat» mein Strjt ein, bafj er, roenn er mid) am Seben erfjalten wolle,
meinen ©eift in anbere Sahnen lenfen müffe, unb fo bradjte er mir ein
tntereffanteS 33ud) über 2lnatomie. 2Bcr eS nid)t fetbft empfunben l)at,
Sann unmögtid) bie Seelenqualen fennen, bie auf ein roirftiä) religiöfeS
©emüu) einftürmen, roenn fid) bie erften Steifet einfteHen. @S giebt
feinen Sd)mers auf Srben, ber fd)re<flid)er roäre, unb id) fjabe tyn bis auf
bie Steige burdjfoftet."
@S roürbe uns ju roeit führen, an ber £anb ber 2tutortn all bie
Stabten tt)rer 3«>eifct burd)jumad)en. 2Sir roollen nur feftftellen, baf? fie
fämmtlidje Dogmen ber d)riftlid)en Religion ber Ettet^e nad) burdjnalmt,
um fie auf ü)re 2Bab>t)eU unb 9tid)tigfeit 5U prüfen. ®aS 3tefultat roar
für fie ein troftlofeS.
Dura) bie Vermittlung feiner ©attin gelang eS £erm Sefant, eine
Staatspfarre ju befommen, — in bem ©örfdjen Sibfe», — mit einem
SatjreSgefjatt oon <£ 410. Somit waren fie iljrer JJaljrungSforgen ent»
enthoben, unb ba grau Slnnie aud) feine gefellfd)afttid)en ^5flid)ten blatte,
benn bie jum Sprengel gefiörenben Seute roaren jumeift Arbeiter unb ein=
fad)e Sanbroirtfje, fonnte fie fid) mel ib>en ©rfibeteien Eingeben.
„2Bie fann ©Ott feine ©efd)öpfe roegen ifirer Sünben 5U eroiger
Strafe »erbammen, ba er weift, baß fie biefe Sünben olme if»ren eigenen
SBiHen ererbt? $a er bie 9Belt nad) feiner Saune erfdjaffen, roeSfiatb
fjat er bie Sünbe überhaupt in bie SBelt gefegt? Jlann ein ©ott gut
fein, ber feine ©efd)öpfe 5U eroiger SBerbammnift uerurtbeilt? Söenn ©ott
allmäd)tig ift, fo fann er bas 33öfe unb bie Sünbe aud) Berbinbern, unb
tfjut er eS nid)t unb ftef)t ruliig ober gleidjgiltig bie kämpfe auf ©rben
mit an, bann ift er eben md)t gut, unb roünfd)t er roteber, fie aus ber
SBelt 5U fd)affen, unb famt ntd)t, nun, bann ift er eben nid)t aHmädjtig!
3n biefem Girfet breiten fid) ttjrc ©ebanfen fortroätirenb, ofnte bafj fie
einen 2luSroeg finben fonnten trofe ber Bielen 93üd)er, bie fie über biefe
£l»emata gelefen. 2ln ber ©riftenj ©otteS ju jroeifeln, fiel ft)r bamats
3^6 Bertha Katfc^er in Babrn (£lieber«<Dejierreid)).
nodj nidjt ein. <Sie correfponbirte mit oerfdjtebenen @eifttid)en, an bic
Tie fid) in ifjrer Stob, um 2lufflärung wanbte, aber fie würbe ftetä auf
neue 23üd)er oerioiefen ober mit blumenreichen trafen abgefpeift. S'abei
blatte fie als spaftorggatttn oft genug ©elegenljeit, ba§ Gtenb biefer
SBett in ben oerfd)iebenften ©eftalten rennen ju lernen, aud) ju linbem.
©ie fd)ien oon ber Statur jur Äranfenpflegertn beftimmt unb entjog ftdj
niemals, wo e3 Srtott) ü>at, biefem Slmte. ©ar manche -Kutter in ©ibfep
t)atte ttjrer forgfamen Pflege unb $ad)twad)e ba3 Seben if)re« ÄinbeS ju
banfen. %xo§ all iljrer 3roeifel befugte fie nad) wie oor fletfetg bie Äird)e
unb fprad) mit Wemanbem über i^rc ©rübeleten, um nidjt aud) ben ©tauben
Slnberer p erfd)üttern.
3 m Sommer 1872 lernte fie in Sonbon, wo fie längere 3*it in ber
93et)anblun'g eine« 2lrjte3 ftanb, 6b,arle3 23oo,fen. fennen, unb biefer frei«
finnige 93rebiger mar e§ aucf», ber t^r einen 2Beg au§ bem (Sf)ao3 tyrer
©ebanfen bahnte. @r tjatte wie fie gefämpft, elje er aU bie „barbarifd)en
©ogmen ber d)riftltd)en ßird)e über 33orb geworfen", unb fid) nur ben
©tauben an ©ort beioaljrt. Stuf feine SSerantaffung taä fte 5Ct)eobore
5ßarfer3, Francis SJeromanä unb SInberer fieroorragenbe beiftifd>e SBerfc, unb
aud) fie oerbannte balb alle ©ogmen, um fte nie wteberauferftefjen $u laffen,
aber mit itmen aud; ben ©tauben an ba3 ©jjriftenttmm felbft. 2lm fdmterj*
liebsten empfanb jie c$, (StiriftuS feiner ©öttlidifett entfleiben ju muffen.
2>a if>r jebod) bie a®ar)rr)cit t)öb>r ftanb als üjre perfönttdje SRulje, forfdjte
fie tapfer weiter, inbem fie fid) fagte: „3ft SefuS oon 9?ajaretf) ein@ott,
bann wirb meine gorfd)ung if>n feiner ©Ortzeit nid)t berauben; ift er aber
ein SDtenfd), bann ift e§ 33ta3pl>emie, ifm anjubeten." ©ie oertiefte fid)
in 9lenan3 „Seben 3efu," SibbonS „Vorträge" unb baä ©oangelinm,
fonnte jebod) $u feinem enbgittigen ©rgebnift gelangen; fie neigte fid) immer
meljr ber 9lnüd)t ju unb nmrbe burd) bie oier ©oangeliften in ber=
fetben nur beftärft, baft GljriftuS ein teibenber, fänbigenber, ringenber
SWenfd) geroefen, ber gerne bie SBett oerbeffert tjätte, bercn ÜWängel er
erfanitt, aber fein ©ott. Unb als aud) ber berühmte Drf orber
^ßrofeffor 93ufeq, ber güljrcr ber Drtfjoboren^artet, ben fie auffudjtc, i^r
feine näheren 3tuff(äruugen geben fonnte ober wollte, fonbern it)r nur mit
ber ewigen 33erbammnif3 broljte, wenn fte fotd) fefcerifd)en 2tnfd)auungen
fmlbige, ba war fie für's Gtjriftentfjum oerloren unb feft entfd)toffen, mit
ber 93crgangenbeit p brechen.
„Sie t)aben fein 5Red)t, ©ott Sebingungen 5U ftellen über bae, was
©ie glauben unb nidjt glauben wollen. Qd) oerbiete Sfonen, öftren Uw=
glauben $u befennen," rief ber fromme Doctor ^ßufei» erregt aus. 8lber
bie refolute, wafirtieitsliebcnbe grau tief? fid) eben 9tid)tS oerbieten, wa$
u)r ©eroiffen§facf)e war. ^eimgefe^rt, tbeitte fie bem ©atten iliren ©tanb*
punft offen mit. ®a fie nod) immer ^)eiftin mar, weigerte fte fid) nidit,
bem gewöt)ntid)en ©otteöbienft beijuwob,nen, nur bem „©otteSfotnte" wollte
^reiftenfertn uni (Efjeof opt(in.
3<*7
fie feine &ulbigung mehr barbringen, unb fo würbe bemt befdjloffen, baß
fie fich an bem Abenbmabl nicht beteiligen werbe, ©ine $eit lang ging
Alles gut. Aber als fie fich baS erfte Wlal mäbrenb bicfer heiligen
Function aus ber ftircbe entfernte unb ben frommen 33etfchroeftern, bie
in ber Meinung, fie fei plöfelicb unwohl geworben, fie befugten, um fich
nach ihrem 23efinben ju erfunbigen, bie SBabrbeit mitteilte — benn
fie »ermocbte nicht ju lügen — ba tonnten fid^ bie braoen grauen »or
©ntfefcen faum faffen. £>ie (Sattin eines 93aftor3, bie nid^t an ©briftuS
glaubte, — hatte man fd)on fo ©troaS gehört?! Auch einige SDtitglieber
ber gamilie 23efant ftecften in beUem ©ntfeken bie Äöpfe äufammen, unb
es würbe fo lange gebebt, bis man bie mutige grau oor bie Alternative
flellte, entweber bem Abenbmahl beijuwohnen ober ihr £elm 31t »erlaffen
— alfo entroeber Heuchelei ober 23erbannung — unb fie wählte bie lejtere,
nicht abnenb, roie graufam bie SBelt fie oerurtbeilen roürbe. ©ine allein^
ftebenbe junge grau ift immer ber 33erleumbung auSgefefet, roie erft,
roenn fie unter folgen Uinftänben ÜDlamt unb Sinber unb £eim »erläßt!
©S rourbe i^r unenbticb fcbroer, fich oon ihrem Stnaben — baS SHäbcben
rourbe ihr gefefelicb juerfannt — ju trennen, bem fie 2Hutter, Pflegerin
unb Spielgefährtin geroefen, aber fie »ermoebte felbjt um beS fttnbeS
roillen fein Seben doH Süge unb Heuchelei auf fich ju nehmen, unb fo trat
fie benn im 33efifc ifirer fleinen Tochter unb eines ihr jugefproebenen ©in'
fommenS, ba§ fie fnapp vor bem Verhungern febütste, ein neues Seben an.
Anfänglich mußte fie hart um'S tägliche 33rot fämpfen, fie »erfuebte eS
juerft mit £anbarbeiten, boä) würben biefelben fo fcblecbt bejaht, baß fie
biefen ©rroerb batb aufgab unb Sedionen fucf)te. Aber Sliemanb wollte
einer Jtefeerin feine unfchulbigen Sämmcben anoertrauen. $n bicfer febroeren
3eit ftanb ihr baS ©bepaar Scott, baS fie bureb SBonfen fennen gelernt
hatte, tbatfräfttg jur Seite. 2Jfr. Scott, ein alter £err, ber ein febr be*
roegteS Seben hinter fich hatte, führte ein offenes &auS, in welchem »iele
greibenfer uerf ehrten unb folche, bie fich auf bem Sßege 511m greibenfers
thum befanben. 2lucr) gab er eine ßeitfebrift heraus, bie er gratis in
bie SBett Derfcbicfte; feine ÜDJitarbeiter, ob ber gemäßigteren ober ber ganj
rabicalen Achtung angehörenb, brauchten fein 33latt oor ben 2)Iunb ju
nehmen, aber bie Art unb 2Beife, in welcher fie ihre Anflehten ausfprachen,
mußte oornebm fein. 9Rr. Scott hielt mel auf einen guten Stil unb ein
reines ©ngltfcb. ©r »eranlaßte 9JJrS. SBefant, fid) mit philofophifchen
Sßerfen ber ÜReujeit befannt ju machen; unter feiner gübrung erroeiterte
fich ihr ©efidjtSfreiS immer mehr, unb halb gehörte fie 51t feinen fleißigften
Mitarbeitern. 2>urcb angeftrengte titterarifche Arbeit war es ihr bemt auch
gelungen, fich in einem 23ororte SonbonS ein befdfjeibeneS £eim 5U grünben,
baS fie mit ihrer leibenben SJiutter theiten wollte. ©aS ©cfjiicffat machte ihr
einen argen Strich bwtcb bie Rechnung; ber jarte DrganiSmuS ber alten
3)ame war burch bie jahrelangen Sorgen unb ^Slageu »ollftänbig aufge*
3^8 Settlja Kotf<^er in Sailen (HW&er'Oefterreidj).
rieben, unb fic »erfdiieb nadj langem ftranfenlager in ben 3lrmen ifjrer ge=
Uebten £od)ter, bie fie järtlidj gepflegt blatte. 2lud) biefen garten ©djlag
überroanb bie tapfere grau; um fidj ifjren quätenben ©ebanfen ju entriegelt,
ftubirte fie mit Feuereifer pf)ilofopf)ifd)e SBerfe, bie fie ©d>ritt für ©djritt
baju brockten, ifiren ©otteSglauben objuftreifen. 3Roncure 35. Gonmat),
beffen 93orträge fie ffeifeig befudjte, madjte fie auf ben güljrer ber englifdjen
greibenfer, Charles 33rablaugb, aufmerffam. ©ie la3 juerft feine
©dirlften: „@iebt e8 einen ©ott?" unb „(Sin SBort ju ©unften bei
2ltf)ei3mu§." Tiiefe matten tiefen ©inbrucf auf fie, benn fte brüdten ht
geiftooller SBeife au«, roa« fie längft fdion gebacfjt unb empfunben blatte.
3lm 2. Stuguft 1874 fefete fie 511m erften 2Ral Upen gufi in „Hall of
Science", roo bie ©efellfdjaft ber greibenfer ib^re 33erfammtungen abhielt,
um aus ber £anb $rablaugt)ä tyxe 3JJitgliebäfarte ju erhalten unb feinem
SBortrag über „bie SBorfafiren unb bie ©eburt Sljrifti" beijutwfyien.
©djon nadj wenigen Sagen bot Srablaugb, tf)r eine fefte Slnftellung
al« ÜJHtrebacteurtn feine« „National Reformer" an — eine Stellung,
bie fie bis ®nbe 1890 beibehielt. Nebenbei entfaltete fie aU ©dnHftfteHerm
unb Slgttatorin eine arbeit£»oHe STfjätigfeit. 3Wr«. Stefant mürbe roäfprenb
biefer 3ett oiel bewunbert unb oiel »erleumbet — 93etbe§, roeil fie jeigte,
wie ftdf) ein ftarfer ©eift trofc ber frömmften ©rjie^ung über alle 3?or*
urteile erbebt unb alle ©djranfen burdjbridjt, roenn er ©troaS al« 2Bab,r«
Ijeit unb SRedjt erfennt. 3n ber 9D?ännerroelt giebt eä oiele berartige Sei«
fpiele, aber unter ben grauen fyaben bisher nur wenige ben 3JhUb, ge«
funben, gletdj Wlxi. 33cfant ju ringen, &u fämpfen, ben sBerleumbungen
unb SCorurttjeilen ber 3Mt offen bie ©tirne ju bieten! SSie grofj tljr Sln-
fe^en in unbefangenen Greifen mar, ge^t u. 21. au§ ber Styatfadje tjenwr,
baß ber berühmte engltfdje $>id>ter ©eralb Waffen, ber ein frommer Gfirift
ift, tro| biefer feiner ©igenfdjaft unfere greibenterin oor 6 — 8 Satiren
in einer begeifterten Dbe gefeiert f)at.
Unb biefe grau, bie logifd) fdjärffte gretbenferin, bie e3 geben fann,
mufjte fid) in bie b,irnoerbrannte ÜJhjftif ber £f)eofopbie »erbobren! ift
jammerfdjabe um fie. SBirb bie jefeige &ol)eprieftertn ber SHaroafcft'fdjen
©ecte je mieber tf)re Ueffeln abftreifen? SBirb fte »ietteidjt nod> anbere
SBanblungen burdmtadien? Chi lo sä? . . . .
Der fceutfcfye ZTCidjel mit feinem mytfjologifcfjen
f)mtergrunöe.
Don
SCu0iift lEünfrfje.
— Dresben. —
er auägejeidmeten gorfdjergabe imb bem licbcoöH fid) »erfentenben
Siefbliif eines ftafob ©rimm ift e§ gelungen, ben ÜRadnoeig
5U führen, toie bic beutfdje 9Jh)tt)ologie auf benfelben ©runb«
attfdjaiwngen toie bic norbifdje beruht. @3 gebührt ü)nen baS SGerbienft,
bic Sanbenge, reelle bie norbifdje von ber beutfdjen ©ötterioett trennte,
burd)ftodfjen unb bie beiben ©agenftutljen als etwa« 3ufammengel|örige3
roieber Bereinigt ju fjaben. 2Ba3 3<üob ©rimm begonnen, fiaben 3lnbere
toie Äarl ©imroct, SBillj. 3J?annf)arbt, 2tb. £olfcmamt, ©. Stodjolä, ^ofept)
3ingerle u. 3t. immer mefir jur SMenbung geführt. ®er flare Üeberblid,
ben mir burdj ben ftleifc ber gorfdmng btefer -Kämter gewonnen, jeigt
unä, toie naefj allen ©eiten felbft unfer heutiges beutfdjeS Seben in ©pradje,
©Ute unb ©ebraudj reid» ift an mntljologifdfien 2lnflängen. ©ie ©öfter
unferer tieibntfdfjen Sßorfab^ren leben nodf» in unfern 2)iärd)en unb ©agen
fort, unb fic fd^atten unb malten barin fo tebenbig, bafj unfere tinber mit
©ntjüden ber rounberbaren ÜJiär laufdien unb fidfj ben Stopf serbredfjen
über ben 3Renfdjenfreffer im Däumling unb über baä £infelbeindjen in
ben fieben Stoben. SBiffen mir nid)t Me, bafe hinter bem Stnedjt 9Jupred)t,
bem wermummten SDtann mit bem großen Sorte, Dbin, bie työdjfte norbifdijc
©otttjeit, fid) oerbirgt? 9lucf) ber Äönig ©roffelbart bes beutfdjen SDlärdjenS,
ferner ber roilbe SDtann mit bem entnmrjelten Tannenbaum in ber £anb,
ber auf Dielen alten SBirtfiSfiauSfdjilberu nod) ju fehlen ift, ift 9itemanb
anberS als Dbin. ©ein ©peer ©ungir, baS »on $n»albis ©ölnten, ben
brei Sorgen, »erfertigte tounberbare Äunftftücf, ift ber Änüppel aus bem
350
tfngujl IDünfcfje in Dtesben.
©acf im 2Härd;en: £ifd)d)en, be<f bid^, ©fei, ftred" bidj. hinter bem
9Jtenfd)enfreffer im ©äumling fteht [ber 9liefe &nmir, unb Rteinbäumchen
ift %t>ox, ber mächtige Donnerer, ber fid» im Däumling beS 9tiefenhanb*
fdwheS ju Herbergen fud)t 2Ber rennt nidjt baö Kardien |uom ftarfen
£anS, ber ftd) bie ©locfe als ©djlafmüfce über bcn Ropf fiülpt? ®a3 iji
^b,or, rote er bett mädttgen Reffet beS £nmir, in bem breijelm ©dmtiebe
Lämmern, ohne einanber ju ^ören, auf feinem Raupte fortträgt. Slucb,
bie beiben grauen in £mntrS föalle finben fid) in ben 9Rärd)en roieber.
©ie alte neunhunbertföpfige grau erfdjeint als beS Teufels ©rofjmutter,
bte jüngere, allgolbene, roeiftbrauige ift bie grau beS 2Wenfd)enfrefferS, bie
fd)ü&enb unb rettenb eingreift. Unb nrie ftebt'S mit unferm lieben, roofyU
befonnten Domröschen? ©S ift bie im 2Btnterfd)laf rub^enbe ©rbe, bie
DbinS ©onnenblicf wachrufet, beren Dberffädje er mit feinem ©olbfdjroerte
ri|t, bafe fie Reime unb ©proffen aus ihrem ©d^oo&c hemortreibt. Unb
ift nicht 33arbaroffa im Rgffbäufer aud) leine ©rinnerung an Dbin? $>ie
alte beutfdje ©age erjät)lt: Dbin fifit im ^o^len Serge, ber bie Unterroelt
bebeutet, fein 33art ift fdjon jiuei -Kai um ben £ifd) geroadjfen, feine
Stäben fliegen umt)er, unb neben ihm fd)lafen feine gelben bem £ag ber
©ntfdjeibung entgegen, beffen 2lnbrud) ber ©dbaH feinet £ornS »erfünben
toirb. Qn ber norbifd)en ©age lebt er nidjt im tytyen 33erge, fonbent
in StSgarb ober Sßallbatt, alfo in einem überirbifdien &tmmcl, ben er mit
feinen gelben thetlt. 2lud) f)ler finben nrir baS Sjom bei ihm, baS ben
Slnbrud) beS jüngften £ageS »ertunbigen toirb. ®aS SBädrterhorn DbinS
lebt noch heut in bem £ora beS 9(achtroäd)terS fort. Dbin« SStttribute, bic
Stäben, finb aud) 23arbaroffaS Begleiter, fie tuüffen auefliegen, um ben
©taub ber ©inge in ber SEBelt ju erforfd)en, ob er aus feinem ©d)laf er*
roadjen barf. SBenn er aufftctjt, bann ift bic 9J?ad)t ber ginftermfe über*
rounben, unb ber teudjtenbe ©omtenmagcn roßt roieber über bie ©rbe bahnt,
©o finben ftd) allenthalben geiftige ^Beziehungen mit einer %t\t, bte wir
längft als ausgelebt ju bctradbten uns gcroöbnt haben.
©S ift eine |t)en>orragenbe ©eite beS |beutfd)en SßolfSdjarafterS, alte
Slnfdjauuttgctt fortjupflansen, fie in baS ©croanb ber neuen ©ulturentroidfelung
umjufleiben unb babei bod) 'ben Rem ju wahren. $>ie ©innigfeit unb
Snnigfeir, mit ber ber ©eutfchc and) bie gäben ber SSorjeit in baS ©eroebe
ber neuen 2lnfdjauungen aufnimmt, mag ir)m root)! in ben 9lugen anberer
Sßölfer, bie leidster mit bem 2llten abfdjtieften unb etroaS SleueS beginnen,
ben Stuf eines sroar ^odjgebitbeten, aber pljlegmattfdjen 23olfeS eingebradjt
^aben. SluSlänbifdje Leitungen, bantnter befonberS ^Jarifer, gefielen fidj
früher barin, uns fpottroeife |ben beutfdjen 5Dfid)el ju fnennen, unb felbft
im beutfdien SSolfe ift bie Lebensart eine feb> gebräuchliche, mie jahlreidbe
©teilen aus ber Sitteratur beraeifen.
©o lautet ein ©prtdjroort bei ©ebaftian granf (15. ^tth^-)' 3n
nöbigen Sadjen aber fönben fie (bie SBetber) weniger benn ber teutfdi
Der beutfdje ITtiajel mit feinem inyttiofogiftben fjinterornnoe. —
3JHd)el". SeSgletdjen fagt Sßljilanber Bon ©ittewalb: „£eud>elftu nidjt
mit, fonbertt wirft als ein reblidjer, beutfdjer SWidiet frei burdjgeben unb
aus gutem ^erjen aEeS meinen, reben unb tf)un wollen." Slabener be=
merft in einer feiner Satiren: „Der öefte beutfdje ^oet ift in ben Sfagen
ber lateintfdjen SBett weiter 9lid)tS als ein bcutfd^cr SDtidjel, ober IjödiftenS
ein leiblidier SBerSmadjer." @oetf)e fdjtlbert in feinem ©ebidjte: „5fhtfen
unb ©rajien in ber 3Warl" ben beutfdjen 9Wid)et mit ben SBorten:
„Saß ben SB'tfclina uns befttdteln,
©lüefltdt, wenn ein brutidjer 2)tann
©einem g?reunbe, SBetter 3JHd)eln,
ffluten Slbenb bieten fann.
2Bie ift bet ©ebanfe labenb,
©old) ein ©Wer bleibt im« naf)',
3mmer faat man: (Heftern Slbenb
SEBar bod) Setter SJHrtel t>a!"
3ln einer anberen ©teile äuöert er fid): „93et weiden ©elagen uns
benn freiltä) mannen 2l6enb 93etter 9Jctdje[ in feiner wob^lbefannten ®eutfd)--
Ijeit ju befudjen nid)t »erfeljlte." 3n gleicher SBeife fingt ©imrod:
$er gute beutfrte SHirtel 36m lieft fo oft jur 21ber
S?efdiäftiflt iefet aar triel 3of)n 23ull unb aucn 9Rnn&eer,
Stefefeber, ©tift, ©rabftidjel, £er war ber frtHmmfte »aber,
£aju ben ©önicfiel. SRitf ftetS: jusqu'ä la mer!
SDlan fief)t ben Unßcfüaen 9Jlit Slberlaifen, ©rtröefen
D&nmätfitifl baraefteOt, <$rfd)Böften fie iljn (Jana,
Sil« läfl' in legten 3üfl«" 2t1" önbe wirb ibn Kufen
Der nmnberftarfe §elb. 9iort gar fein 9tod)bar JJranj.*
Sei Sßlaten in einem ©ebidrte: „2tn £ied" lefen wir:
„Ulan waflt'8, ben (Salberon £ir au8juporten,
35a8 lief} com beutfdien SWtrtet ftrt erwarten."
Börne fpridjt einmal oom „tnerfdjröttgen beutfdjen SJttdjel".
$n bem SBorte „Widjel" fjaben wir jebenfalls eine Sßerfdmteljung
beS in allen germanifdten Spraken wrfommenben 2tbjecttöS „micfiel" in
ber 93ebeutung oon grofi, mädjtig, ftarf mit bem fjebräifdjen ©igennamen
beS (SrjengelS SJttdjael. 2BaS nun ben erften £beit ber 33erfdbmel}ung,
baS 3lbiectio „mid)el" anlangt, fo begegnet es uns f)äufig in mittelalter*
Iidjen Sitteraturmcrfen. <So läüt 2Baltf)er »on ber 58ogclweibe (t um
1230) in feinem ©ebicfite: „£>ie 2xaumbeuterin" ben non bem ©efd)rei
einer Äräl)e aus feinem füfjen £raum aufgefdjredten ©djtäfer fagen:
„©ie nam mir midiel wiinne;
t>on ifjr fdirien td) crfdjrac."
fauler (1508) fagt in einer feiner ^Prebigten: „Unb feine jünger
fetnb mit ifmt gangen, bosu eine oöHige, midjele, merflidje ©d>ar." ßtterlin
(1507) f treibt: „Dieweil fie »on großen ©efdjledjten war, aud) iro ein
midieltetl war." 33ei ©dmppiuS (im 16. $cifyc\).) lefen wir: „$rauf
lädjett ber gute öerr 3Jfetan^tl)on, benu er blatte beS Banfes üon fetnigen
2Jugufi n?nnfd|e in Bresben.
etn mi<^elteit befommett." $n einem alten 33olf3ttebe bei Ufrfanb enblidj
finbet ftd) bie ©tcUe:
„Die 3ubm tarnen pfammen,
£er mar ein midid ©cöar."
Sludj Sönber« unb Ortsnamen finb mit bem Sßorte „miöjel" gebitbet
roorben, j. 58. 2Jledlenburg, 3Jttd)elbad), 3Widjelfkbt. 3n $eutf$lot&ringen
fagt man nodj beute „mietet" in ber 33ebeutung oon groß, im ©egenfafe
ju „lüfcel" im ©imte oon Kein, rote 5. 33. Säßelburg (Suremburg), Sü|elj
roiebelsbad), Süfcelrimbad). Qn DftfrieSlanb beißt eS „lüttie", tote bie
Drtänamen Süttjenbaftet, Süttjennnftebt*) beroeifen. ®er fd>roäbif<$e SSolte-
munb fagt: „fürn 9Jlid)erte bitten", wenn ^emanb gebänfelt roirb. 2tud)
Sufammenfe&ungen mit bem SBorte „mtcrjel" fommen oor, nrie SQuatfd»--
midiel, ein alberner ©d»ro%r, Ätoßmidiel (befonberS in ber ©egenb oon
■Jtörbltngen gebräudjttd), roo ber lefcte, ber in bie ©dmle fommt, fo be=
jeidmet wirb), £ulmidjel, ein roeinerücber SJienfc^. SBenben mir uns jum
anbern XtyU ber SPcrfcbmeläung, jum ©igennamen bei ©rjengete SWidbjaeL
$>iefer ift befanntlidj einer ber brei großen ©ngelfürflen. @r gilt alä
3lnfübrer ber bintmlifdjen $eerfdjaaren, n>ie aU gübrer ber abgeriebenen
Seelen unb als Sdjufepatron ber ftrettenben Äird)e. DJad; ©aoib Strauß
bat ©ort bie 33orfebung für fid) bebalten, bie Seitung aber ber einseinen
ingelegenbeiten ben (Srjengeln übertragen, unb jroar ftanb ©abriel an ber
Spifce beä ßriegSroefenS, 9topbael an ber Spt&e bei IDtebicinalroefenS unb
•Ditdjael an ber Spi^e bei SuttuS. SBäbrenb ©abriel unb Stapbael im
cbrtftltd)en GultuS jurütfgetreten finb, fpielt -Diicbael nod) immer eine große
Motte. ®r wirb Sdwfcpatron beä beutfdjen SBotfeS (protector Germaniae)
unb fommt alä foldjer auf bie beutfd}e SReidjäfabne. $aß SBölfer ibre
Sdmfeengel b«ben, jeigt uns fdjon baä 23ud) Daniel. ®er ©dbufcengel
eines 93olfe3 ift gennffermaßen fein SfJufterbilb, ebenfo wie ber gute ©eniuS
baS SDtufterbilb beS Ginjelnen ift. 2118 9Jepräfentant be£ beutfdjen SSoHeS
ift SDHdiael ein Gollectiübegriff geroorben. SBenn man nun 00m beutfdjen
5DMdjel rebet unb bamit einen plumpen, berben, flofeigen S5eutfdien mehrt,
fo gebt "bie Gollectiobebeutung be£ SBorteS in bie 3Ippettatiobebeutung über.
$)aß ein ©injelbegriff in einen ©ottectiobegriff übergebt, fommt oft oor.
«Sagt man bodb „3obn 23utt" unb meint bamit baS ganje englifdje 2Mf**),
33ruber ^oiwtbon unb meint bamit baS gefammte 23olf ber norbamerifa;
nifdjen greiftaaten ***), 3lbam, ber erfte ÜJlenfdj, wirb Seseidmung für bie
*) SJergl. (Srnft tJörftemnann, bie beutfefien Ortsnamen, Storbljaufen 1863.
**) Sotin S3uH, eiflentti* $anS ©Her ober §an8 Odjfe, würbe üuerft Don bem
©attritcr ©toift (1667—1745) in (Sang gebracfit. Die Snalänber felbft bejtumten
bamit einen reblidjen, berben, gutmütftiflen Hjarafter; SluSlänber bagegen meinen bamit
bie SWatlonaleiflenbciten unb Sorurt^eile be» enafifdjen »olfeS, befonberS bie Unfä^iflfeit
beSfelben, fid) in bie ®e»o^nb!eiten anberer Sänber gu fügen.
***) SBafbington fagte, als er im ftreiljeitsfrlege 1776 über bie Stnfdjaffung bon
Bert^tibigunflSniitteln in Seriegenbieit toar, in einer SBeratbung mit feinen Offtgtertn:
Der benlfdje JTtidfet mit feinem urftb,oIogtfd}en Ijintergtunbe.
gefallene ÜHenfdjfieit, uitb SbjiftuS ift bei £ertuu*ian bie recapitulatio
bumani generis, ftettt otfo bie ganje 2Renfc£)l)eit. bor, wie fie nad) ©otteS
(Sbenbilb fein fott. 2ludj in bcr ^icrtoelt fyabm mir ein analoges 93ct=
fpiel, infofern 9?einefe §ud)S ber ^Repräsentant aller güdrfe ift.
Setreffs ber grage: mann unb roo bie Sejeidmung „®eutfdber
SRidjel" aufgefonttnen ift, giebt es jroei 2lnfidjten. -Jiaä) ber einen rüf)rt
fie non ben granjofen her, nad) ber anberen ift fie aus bem föerjen beS
germanifcben 33olfeS felbft herauSgeroadifen. SÜBattenbadj madjt im Slnjeiger
beS germanifdjen SD?ufeum 1869 auf bie merfroürbige ©rfcbetnung ber
„SJUdjetSbrüber" aufmerffam. 3n ber SRormanbie, am 93ufen r>on @t. -Dlidjel
liegt ein 33erg 2Ront ©t. Sßidjel, ju bem 3)eutfdje, namenttid) beutfdje
Stnaben, ehebem SBattfalirten unternahmen. 2J?an oerfpottete biefe S33off=
fairer unb nannte fie, roie aus ber Sßerorbnung eines SettetoogteS ju
Saben 1528 heroorgeljt, SJHdjelSbrüber. ©aS franjöfifdje SBort miquelot
(Setteljunge, frömmelnber 4}eud)ler) ftebj jebenfaHs hiermit im ßufammen*
ijange. grifd» bagegen, ber um'S ftofyt 1730 lebte, behauptet, „ber
beutfdje üWidjet" fei bereits im 16. 3<rf)r{junbert gebräudjltdj geroefen unb
weife entfdbjeben auf eine ©injelperfönlidbfeit ^in. ©r fefct fomit ben ;3u*
fammenb,ang ber SftebenSart mit ben 2)tid)elsbrübem in grage. 3Bfr
neigen ber SKnfidbt ju, baf3 ber 9came „beutfd>er SRid^el" entfdjieben
beutfdjen UrfprungS ift, unb ftimmen mit grifd) überein, bafj er auf eine
©njelperfon fjinbeutet, unb jroar auf feine anbere als bie beS ©rjengels
3Jttd)ael. Saft biefe ^eilige ^igur aber in geroiffer Sejiefiung in eine
Spottfigur übergeben fonme, bafür giebt uns bie beutfdje 9Jtytl)ologie t)in=
reidjenb 2luffd)lufi.
@S ftebj feft, bajj man bei Sefebrung unferer alten ^eibnifdjen SBor«
fahren non Seiten ber Äirdje ab(td)tlidi fef)r »orfid)tig »erfuhr. 9Jian tiefe
ihnen ihre ©öfcentempet, entfernte aber bie |©öfcen unb legte Reliquien bafür
hinein. !$xt gefte, ©djmaufereten unb 3ed)gelage änberte man nur
infofern, als man ihnen einen d)riftlid)en <Sinn unterfdjob. SemerfenSroerth
ift in biefer Sejieljung ein 33rief beS SßapfteS ©regor I. an ben ,316t
SMittuS (596). „Sagt bem 2luguftinuS," fdjreibt er, „bafe man bie
©öfeenfireben bei jenem SBolfe (ben 2lngelfad)fen) ja nidjt jerftören, fonbern
nur bie ©öfcenbitber bartn »erniditen, baS ©ebäube mit SBeibmaffer be*
fprengen, 2lttäre bauen unb Reliquien hineinlegen foll. 35enn finb jene
Äirdjen gut gebaut, fo mufj man fie uom ©öfeenbienft 51a wahren ©otteS=
»erebrung umfebaffen, bamit baS Sßolf, roenn eS feine fttreben nicht jerftören
fiebt, non ^erjen feinen S"9fowoen ablege, unb um fo lieber an ben
©tätten, bie es geroöfmt ift, fieb oerfammle. ^l)re ©ü^, bei ©ö|enopfcrn
„SBir muffen äöruber Sonaten froflen," tnomit er feinen Sfreunb 3onat6an SiumbuII,
@oubemeur von Connecticut, meinte. Später mutbe SBaf^incjtonS 2lu8fptud) jum
totjelnben ©pridjtoort.
Jluguft HJnitfdje in Dresbeit.
Odrfen ju fdjladjten, mu§ ihnen ju irgenb einer djriftlidjen 3feterlicb>
feit umgetoanbelt roerben. 2tm ©ebädjtnifjtage ber heiligen 3Wärtt>rer foüett
fic Kütten oon 33aum}n>eigen um ihre ©öfeenfirdjen madjen, triebt mehr
bem SCeufel £ljtere opfern, fonbern fte jum Sobe ©otteS für ftcfj jur ©peife
unb Sättigung fdjtachten, bantit fte, inbem ilnten einige äufjerltdje greuben
bleiben, um fo geneigter ben innerlichen fittb." — ©o laffen fidj nun audj
beftimmte ©puren nadjroeifen, bafi ©t. 3Jii<^aeC an bie ©teile be$ mächtigen
©otteS SBuotan getreten tft. Unb betradjten mir bie SBuotanäfigur, nrie fte
uns in ben beutfdien ©agen unb Kardien entgegentritt, fo unterliegt es
feinem 3n>eifel, baf? fidj biefetbe mit ber b;3 3Widf>aet in trielen SJejieljungen
beett. ^n SBuotan, bem Skter ber norbii<^*beutfcf)en ©ötter, gipfelte ber
ßidjtcuftuS ber alten $>eutfä)en; benn mit ber arifdten 9iace feilten bie
alten SDeutfdjen bie 2lnfd)auung, bafi im Sichte bie höcbfte göttliche Straft
für fie jur ßrfdjeinung fomme. ©o badeten fic fid^, baft am ßnbe beS
SBinterS SBuotan im feurigen ©onnenroagen, im golbenen ^ßanjer unb mit
golbenem ©dEiroerte gegürtet baljinfatjre. 3In ben brennenden SRäbern
feines SBagenS^entjünbet fid& baS Sid)t ber ©rbe, unb biefelbe fdmtficft fiel)
bräutlich mit ^Blättern, SMütlien unb StnoSpen, um ihn, ben teudjtenben,
glänzenden ©ort beS CeibltdEjcn unb geiftigen Sebent, ju empfangen. Sa
in bem 23en>ufttfein ber ©ermanen Statur unb ©eift untrennbar roaren, fo
lebte SBuotan für fie nidjt nur in jebem Suftljaucf) bis pra nmtbenbfien
©türm, fonbern aud) in jeber ©emüthsberoegung, in ber Stegeifterung wie
in ber 3?aferei, in ber Stimmung beä SDidjterS unb ber Siebenben, mie
in ber Serferferroutf) unb in bem StampfeSmuth ber Ärieger. $>ie Suft
mar fein SFJeidf», unb bie ©eelen, als Cbem unb $auch gebaut, gehörten
mit ju bemfelben. Sie ©eelen berjenigen Sßerftorbenen, bie auf bem
Äranfenbett geenbet fiatten, famen nidht ju ihm nadj SBathalla, fonbern
nur bie ber gefallenen Krieger. 2113 ©djladjtengott lenfte er baS ©dhladjten*
glüd unb fdjürte bie Stricgsflamme. 2Bie aber in ben 3JJi)then aller
SSölfer in einer göttlichen gigur fich entgegengefe|te ©eiten berühren, fo
bajj ber fommerlid) lidjte ©Ott sugleid) ber nmtterltdj bunfle, ber fiarfe
jugleidj ber fdEiroadfie unb ohnmächtige ift, fo glaubte man aud), bafe bie
lichte Kraft beS fommerlidjen SBuotan im SBinter fraftloS unb bunfel
werbe, daher erfcheint neben ber SBorftclIung beS fommerlichen SBuotan, ber
mit ©olbbetm, Skfinne Cßanser) unb ©peer burdj baS Suftreid) reitet,
überall Seben erroedenb, ©egen unb ©ebenen fpenbenb, aud) bie beS
nnnterltd)en SBuotan im niebergebrüeften, tief in'S ©efidjt geb>nben $ur,
mit gefenftem £aupt, eingenridfelt in einen alten, fdjäbigen, blau unb
fd^TOars gefledten SRantel, blinb, bumm unb plump. Qu Mefer S?orfteHung
ift nun nach unferem dafürhalten bie Söfung unferer ftrage ju fudjen.
da ber Zeitige 3Hicr)nel nad) ber Stefetirung ber alten beutfe^en Reiben
an SBuotanS ©teile trat, fo mufjten naturgemäß aud) bie beiben ©eiten
beS SBuotan, bie fommerlidje lidjte, mädjtige, fiarfe, wie bie nnnterlid)
De» bentfdje Hlidjel mit feinem mvttjologifdjen ^intergrnnbe.
355
ob>mädjtige, fraftlofe, berbe, plumpe, in Um übergeben. 2ludj SDUdjael
rourbe als Sidjtgeftalt oerefjrt, roe3l)atb feine Äiräjen meift auf Sergen
ober erbeten päfcen ftanben. krümmer von 3Ridjaett3ftrdfjen ftnben fidj
nodj ju ©obeSberg unb Stegburg, gerner liegt ein 3JKdjaetiäberg bei
URunftereifet. Sßie äßuotan, fo nmrben aitdj 3Ridjael ju @f)ren geuer
angejünbet unb brennenbe SRäber an feinem gefte bie Serge l)inabgerotlt.
SMe brennenben SRäber finb £inbeutungen auf ben teudjtenben Sonnen«
roagen. 2lud) fiel ba3 SDtidjaeliSfeft urfprunglid» auf ben 23. 3Jiai, alfo
ju berfelben 3eit, wo man bem SEBuotan p ©b>en ein grül)ling3feft feierte.
3RU biefem gefte roaren bie 9Mleb>n oerbunben. ©3 roaren baS S8olf3«
b^od)5eiten, bei benen tagelang gefdjmauft unb gejedit rourbe. $)tefe
£ocbjeü3feierlt<$feiten foHten an bie 2?ermäf)lung SBuotanä mit ber braut«
Itdjen ©rbe erinnern. Später »erlegte man baS 3Kid;aeli8feft in ben
£erbft, roeil man nad) eingebradjter ©rnte mebjr 3«t jum Sdjmaufen unb
3ed}en blatte, als im grüljlmg, roo ba§ Saub befteüt werben muffte.
SEBie fdjon oben angebeutet, war SBuotan aber audj Ärieg3gottb>it.
@r fonnte feine getnbe taub unb blinb matfjen unb fie fo in Sdjreden
»erfefcen, bafj tljre SBaffen nidjt mefir oerrounbeten als 9iutb>n; aber
feine -Kannen brangen oor otnte ^ßanjer, roaren roütljenb rote &unbe
unb SBölfe unb ftärfer als 33ären, Stiere. Stelntlidje SJorfteffungen »erbanb
man fpäter audf) mit bem fettigen aKidjaeL 3Kit gefdjroungenem Sdjroerte
badjte man ifm ftdj an ber Spifee beä beutfd>en &eere3 ftef>enb. SEBemt
bie aßen 2)eutfdjen in ben ftrieg sogen, fo riefen fie Um um &ilfe
an, roie eine lateinifdie $mmte bejeugt. SHefelbe lautet in ber lieber«
fefcung:
§«808 SRicfjaef,
Pfr* £u bo8 beutfc&e $eer in'« gelb,
Öergog SWtcfiaet,
D ftefi uns gur «Seite,
O tiilf uns im Streite,
§er}Ofl W'äiadl
3)u unfer £ergoa in bem Streit,
SBefdjtrmeft ftorf bie (Sljriftenljeit u. f. to.
33«8 Rimmels ©eifter 3<U)t
aSermebren deiner Streiter 3<>&l u. f. ».
®urd) alte 2Bdt, gu SReer unb Sanb
Sinb Sehte @d)tad)ten moljlbcfcmnt u. f. tt>.
Stnberroeittge ©puren, roie in 3Kia)ael bie ÄrtegSnatur SBuotanS über«
gegangen, fiaben rolr nocfi in ben gedjterfpielen, bie bis ©nbe beä vorigen
Sabjrljunberts, namentlidi in ber ©egenb öon £rier, mit bem SWidjaeliS«
fefte oerbunben roaren. $n »ielcn Rirdjen unb auf Säutencapitäten
finben roir 3JUdjael bab^er afä fräftigen Jüngling in friegeTifdier Lüftung
bargefteUt, aber ob^ne §elm.
gerner galt SBuotan alä gü^rer ber abgefdjtebenen Seelen unb als
©eelenroäger. «Die Seelen ber ©efaHenen mürben t>on ben SBalfären nadj
«ort Uni 6«b. LXXV. 225. 24
356
2lugu(i IDünfdfe in Bresben.
2Batt)aK geleitet, wo ibnen SBuotan entgegenfam, fic an eine too^Ibefefete
£afel führte, iljnen SRetb, bic gülle reifte unb fic tägttd) jum 3eitt>ertreibe
festen unb fämpfen tiefe. 2lud) 9JUd)aet ift ©eetenfüt)rer unb Seelen*
beroaljrer. Säöt bod) fd)on bie 23i6el im ©riefe beS 3iuba ben Erjenget
9Jlid;ael fid) mit bem Xeufel um ben ßeidjnam SJlofiS ftreiten.
3fn gletdjer 2Beife ift in mittelalterlichen SHdjtungen »on einem
«Streite ber Engel unb Teufel um bie ausfal)renbe ©eele bie Siebe, Bon
benen $eber bie ©eele für fidt) Ijaben will. 9tn ber ©pifce ber Enget fteljt
gewöfinlict) ÜRidjael. Qu einer Urfunbe beS 13. 3af>rt)unDertS nrirb
2fiid(aet ber 2Bäd>ter beS ^JarabiefeS unb gurft ber ©eelen genannt (prae-
positus paradisi et prineeps animarum). SRad) einer atten ©age ift bie
©eele in ber erften 9ladt>t bei ber ^eiligen ©ertrub, in ber jweiten bei
©t. 2Jtid)aet, unb erft in ber brüten gelangt (ie baliin, woljin fic nadtj
ibjcm 35<rbienfte gehört. £>ie3 jeigt flar, wie bie 'öciCigc ©ertrub an
£ulbaS unb üJKdjael an SBuotanS ©teile getreten finb. SBie nadj ber
gried)ifd)en ©age Qtuä bie ©efdncfe ber 9Jlenfd)en in ©djaten abwog, fo
oerfätjrt nad) ber d}riftlict)en Segenbe aud) 9JKcf)ael. Er mögt bie guten
unb böfen Saaten beS ©terbenben ab, unb je nad) 39efunb wirb baS
©d)i(ffat ber ©ee(e entfdjieben. ©aber erfd)eint SDtüjjael in oerfdjiebenen
Capellen auf griebt)öfen mit einer Sßaage, in bereu ©djaalen je eine ober
mehrere naefte ©eelen fifeen.
2tm innigften aber berühren fid) SBuotan unb 3Rid)aet enbtictj als
®rad)enfämpfer. 35a auf ©runb bibtiid)er 3tnfct)auung bie 2eb>e Bom
ber ginfternifs, non ber atten ©djlange, bie SIbam jur ©ünbe oerfülfrte,
im d)riftltd)en Dogma eine große 33ebeutung geroamt, fo mußte oor OTem
mit itjr bei ber Sefebrung ber Reiben eine 3lnrnüpfung gefudjt werben.
SBuotan bot biefen SlnfnüpfungSpunft. Er töbtet im gruljling ben ©rächen
beS SBtnterbunfelS, inbem er ben gfenriSroolf, aud) SBanaganbr, b. I).
$>rad)e, ©d)tange, beilegt; baljer aud) fein Setname ©igi, ber bann in
©iegfrieb beS üfttbelungenliebeS, in roeldjem er Rd) .oerjüngte, wieberfelrrt.
Slud) Md)ael ift £>rad)entöbter. SRad) ber Offenbarung beS ^olj. 12, 7- 9
ftrettet er unb feine Enget im Gimmel gegen ben Sftadjen, unb ber S>radje
ftreitet aud) mit feinen Engeln, unb ber Sefetere wirb ausgeworfen auf bie
Erbe, ber alte SDradje, bie alte ©djlange, ber Teufel, ber bie SBelt »er=
fütjrt, unb feine Engel werben aud) bafjin geworfen. SBie tief bie 33or=
ftettung Born 3JHd)ael als ®racbentöbter im germanifdjen ©emütbe ein*
gewurjett war, bewetft baS uns Stilen woljlbefannte ©prüdjtein, womit ein
©eiftlidjer beS Mittelalters feine $rebtgt angefangen f)aben foH:
SMe ©BUe iummt,
$er Icufet brummt
Unb iiocfelt mit bem ©diroanje,
©t. VHctael,
Söei meiner @ecl,
Srftirbt it)n mit bei Banje.
Oer bentfdfe JTItd?el mit feinem mytljologtfdjett Ejintergrntt&e. 357
Sßie bie SSorftettung oon Sfiidjael als ©radjentöbter fclfefl nodj in ber
©egenroart filnfttcrifc^ au3genü|t roorben ift, jeigt baS in JtarlSrulie ben in
ber babtfä)en Sfteoolution 1848 gefallenen preufjtfdjen ftriegern erriäjtete
3>enfmat. ©aSfetbe fteUt bcn {»eiligen -äJUcljael bar, fteljenb 'auf einem
©radjen, ben er im SBegriff ift, mit ber Sanje ju tobten.
2Benn nur nun an baS atte ©ermanien benfen, nrie es fieben SDtonate
lang unter ©cfmee unb Sis begraben tag, baäu an unfere alten f)eibnifä)en
SSorfabren, bie mit ber Slatur auf's ftmtigfte »erroadjfen toaren, fo barf eS
triebt SBunber nehmen, wenn fte ifyren attbelierrfcfjenben SBuotan im
SBinter fid) fdjtäfrig, oljnmädjtig unb plump, tm gfrülilinge aber als ben
atte nribrigen Staturgeroalten nieberroerfenben gelben fid^ »orftefften. 2ttS
fpäter bei tlirer ©^riftianijirung bie SBuotanSfigur fidj in ben! ©rjengel
■äRidjael umroanbette, fo gingen felbftrebenb audj niete feiner 3ufle tn iljn
über, unb fo ift es gefommen, baf? er, als ber 9tepräfentant beS beutfdjen
SBolfeS, gerabe mit ber Iräftigen, berben, plumpen (Seite feines SßefenS
un« ben «Spottnamen „beutfdjer 3)tid;el" jngejogen Ijat.
24*
2>er VOty.
€ine äfttjetifdje Stubie.
Don
jfriebtirifj fl&egmüUet.
— mündjen. —
nter bett »erf^tebencn 2frten ber SorfletlungSöerbinbungen, burdj
bie wir tljeilS im Cogifd^en ober biird^ eine Sucdbejie^ung ge«
regelten ©ebanfengange ©lieb an ©lieb reiben, bis fidj auä
gegebenen 3Sorberfäfcen baS gefudbte ©dblufjglieb ergiebt, flbeils, burdj bie
lautlidljen 2luSbrudSmtttel unterftüfct, ben gewörmlid&eren Sebürfniffen beS
©ebanfenauötaufdfieS unb gegenfeitigen SterfeljrS geredet werben, nimmt ber
SBifc eine befonbere Stellung ein. 2Bie feine Sßirfung eine »on ber aller
anberen Siebeformen »erfdfitebene ift, wie feine anbere ben beftimmten pfod&o«
logifdben Keffer fjeroorjubringen oermag, ber ben SBife cfjarafterifirt, fo fmb
audj feine 9Jatur unb bie 93ebingungen feines 3uftanb*fommens, Quellen,
aus beuen er entfpringt, wefentlid) uerfcf)ieben ton ber normalen geiftigen
Sbätigfeit, als beren SBirtung mir bie erwähnten fonftigen formen ber
^beenuerbinbnngen betrauten, ©dbon baS fprangfiafte, bli|arttg über«
rafdienbe, baS bem SBüje notfjwenbtg innewormt, beweift ja, bafj l)ier ein
oon ben gewöfmlidfien uerfdnebener geiftiger Vorgang ooÜjogen worben fein
mufe; unb bafj biefeS SBerfwItnif? audb allgemein anerfannt ift, beweift ber
Umftanb, bafj mir im Allgemeinen geneigt finb, bie $ä&igfeit jum 25H&
überhaupt als SRafeftab für bie geiftige £öb> unb inSbefonbere für bie
natürliche S3eanlagung eines SDlenfcIjen anzufeilen; aHerbingS, wie mir weiter
unten fct)cn werben, md&t mit unbebingtem SRcdrjt.
®aS Sfiort „SBife" würbe früher befanntlid» in oiel weiterem «Sinne
gebraust als bleute, ungefähr in bem, ben baS engttfdbe „wit", fein ge*
naueS Analogon, nodj Ijeute 6efi|t: Ijöljere geiftige gäfjtgfeit ober Setböttgung
Der Wij$.
359
überhaupt, in welcher 33ebeutung baSfelbe übrigens auch bei uns noch nicht
»öttig untergegangen ift. <So fielen beim früher namentlich ßunft unb
Äunftgefchmacf unter ben Segriff beS SßifeeS; ju ©ottfchebs $eit unb unter
feinen 2lufpicien erfchien eine 3^itfd^rift „SBetuftigungen beS SSerftanbeS unb
SBifceS" unb eine ehemalige SftouatSbeitage ber 33oftifd)en 3eitung, bereu
erfter Seiter Sefjing unb. beren ftroed hauptfädfjlich bie fchöngeifhge Rritif
war, nannte fich „baS 3leuefte aus bem Sieiche beS SBifteS". SHefer alt
gemeinen Sebeutung ging inbeffen baS SBort siemlich halb ju ©unften ber
heutigen prägnanteren oerlufttg.
©er 2Btfe beruht, logifa) betrachtet, auf einer SßorfteffungSoerbinbung,
SBie baä Urteil, roie ber SSergleidf) — bie beibe „roüjtg" fein fönnen unb
fo beroeifen, bafj er nicht für fid» eine logifdjje ©attung, fonbem »ielmefir
eine logifcfje Dualität ift, bie »ergebenen ©attungen jufommen fann —
fommt er baburdj ju ©tanbe, bafj ju einer Sßorftettung a eine SBorftellung b
in 33ejtet)ung gefeftt nrirb.
äber bie 3lrt biefer SSejiehung ift eine befonbere. SBä^renb bei ben
ermähnten logifcljen ©attungen bie folgenbe 33orftellung an bie »orhergehenbe
in einer burch bie objectioe Siealität ber ®inge bebingten Sßeife an«
flefd§toffen, alfo fojufagen f<f>rittroeife oon ber erften sur jroeiten unb allen
folgenden oorgegangen nrirb, gehört es gerabe jur ©genthümlichfeü beS
SBtfceS, bafj bie beiben burch ihn unter einen einheitlichen ©eftchtSpunft ge«
trachten Sßorftellungen entroeber überhaupt tnöjjlichft roeit auSetnanber liegen,
ober bocfj nur burch ein Abgehen »om gewöhnlichen SBecje ber affociattoen
SJerbinbung ju Kremigen finb; je biSparater bie 5ßorfteHungen, je mehr
logifdhe 3"»f<henglieber ber SBife ü6erfprungen hat, um fo gröfjer ift feine
SBirfung. 6r überrafcht bie £örer, inbem er sroei fcheinbar frembe 33or»
ftellungen ju einanber in Sejiehung bringt, unb er löft jugleich bie beroirfte
Spannung, inbem er roie mit einem blifcarttgen ©djlag(tcht bie an fich
bunfle ©ejiehung in'« rechte Sicht fefct. ©arauf beruht feine fomifdhe
ÜBirfung, barauS erflärt eS fid» aber auch, bafe jeber SBtfe, ber burch ©djulb
beS äfotorS ober beS £örerS nicht fogteich richtig oerftanben roirb, ber einer
©rflärung burch SJilbung feiner logifchen 3n>ifthenglieber bebarf, rotrfungSloS
»erpufft. (Sin 2Bi| roirft fpontan unb unmittelbar, ober baS 33efte feiner
SBirfung ift oerloren.
ÜJian hat 6efannttich baS ftomtfche, »on bem auch ber Sßtfc eine
©attung ift, baS „umgefehrte @rh<*fone" genannt. Dbrooljl roir hier leinen
Slnlafj h^en, auf bie eigentliche ÜMnung biefer uneigentlichen SBegriffS*
beftimmung beS Näheren einjugehen, fo beroeift fie uns boch, baf5 auch ber
2Bi| eine ber formen ber äftfjetifchen SBtrfung ift, unb bafj man ju feinem
SSerftänbnifj roie nodfj mehr ju feiner ^eroorbringung ein geroiffeS SDlafj
jener objecttoen SetrachtungSart bebarf, bie roir uns feit Schopenhauer ge«
roöhnt haben als Äennjeichen unb Sebingung beS äftbetifäen ©enuffeS ju
betrachten. ©aS ift eS »or 2Wem, rooburdh ber 9Bi| nicht nur geifttg,
360
ifrtebrid) IDegmälUr in Hlündjen.
fonbern id) mödjte gerabeju fagen aud) moralifd) über bic gett>öb,nttd)eren
«Rebeformen fid) erbebt. Seilte, bie „feinen ©paft" »erflehen, galten wir
mit 9ied)t nidjt nur für geiftig befcfiränft, fonbern aud) für moralifd)
ftemlid) unb enfl^erjig, baS ertragen eines guten 2Bt&eS, aud) wenn er
auf bie eigene ^ßerfon fid) begießt, gilt bagegen als baS 3eid)en einer freien
9latur.
„Cid) tobe mir bat Reitern SWann
Sünt mciftcn unter meinen ©äflen;
üi-er ftd) nidjt feibft jum Seftcn b,aben fomi,
©«fjort Qctoiö nicfit ju ben SBtften." (@oeib>.)
2Bät>renb mir uns, um im ©d)openb,auer'fd)en ©pradjgebraudi ju
bleiben, bei ber 2)?ef)r}abt ber übrigen SorfteflungSr-erbinbungen »ottenb oer*
fjalten, b. £. uns berfelben jum 3n>ede ber ©rreidjung perfönlidjer ober
fdd)ltd)er Qntereffcn bebienen, »ermatten mir uns im Slugenbltd ber £en>or*
bringung ober 2tuffaffung eines SßtfceS rein erfennenb. 33ebingung beS*
fel6en ift -barum ein geiftiger 3«ftam\ ber nid)t uöllig in ben Sejieljungen
beS SBtllenS ju ben bebanbeltcn Dbjecten aufgebt, fonbern ber oermöge
einer glücfliä)en 33eanlaguug unb augenbltdlidjen $)iSpofttton nod) objecti»
genug bleibt, um mitten im ©piet ber 33ejiel)ungen jnrifdjen ^ntereffe unb
Dbjecten bod) nod) foldje bigparate SBesielnmgen ber Dbjecte unter einanber
ju ftnben, bereu Bereinigung bie beraubte SBirfung beS ßomifdjen ljeroor=
bringt. Stuf biefer Bebingung ber geiftigen Seberrfdjung ber Sage beruht
ber SluSbrud vom „fouweränen SBifee"; unb es ift flar, bafj ber SBertb beS
SßifceS um fo ljöb,er ift, je roidrttger, je infjaltSnoller, je mef>r ©etft unb
SBillen auf's £öd)fte anfpannenb bie äufeeren Umftänbe finb, unter benen
er entfteb,t. $>urd) SFlicrjtö beroieS j. 3?. 23iSmard feine oöHige $eb>rrfdjung
aud) ber fdjnnerigften unb beifelflen Situationen mefir als baburd), baf? er
in tb^ten trofc b,öcbfier geiftiger Stnfpanmmg immer nod) ©elegenb>eit ju
feinen berühmten beijjenben ©arfasmen fanb. ©o ift ber 3Bifc ein fteineS
Äunftroerf unb tb>ilt mit jebem äflb,ettfd)en Sßrobuct baS SJorredjt, jroedloS
ju fein; feine SBirfung gebt uerloren, fobalb man bie 3lbfid)t babei merft.
©r »erhält fid) barum, bilblid) ju fpred)en, jur geroötmtidjen Jieberoeife wie
ber ©efang jur ©pradje, nrie baS ©piet jur ernften SügeSarbeitj; er ijt
ein ,geu d'esprit", ein „fpielenbeS Urteil". SRidn" einmal auf ben SBifc
feibft barf bie 2lbft<f)t gerietet fein, fonbern im ©egentljeit wirb er fiets
um fo beffer roirfen, je meb,r er »öllig ungefucgt unb ungefünftelt auftritt
— roaS unfere ©pradje nadj jeber 9ftdjtung treffenb djarafteriftrt, wenn
fie in biefem galle »on einem „guten ©tnfaH", im anbern aber »on einem
„gequälten SBtfce" fpridjt.
©ine früher oiel gebrauchte ©rflärung beS SBifceS, ber, metm nrir
nidjt irren, aud) nod) ^ean Sßaul juftimmte, lautet, ber SBife beruhe auf
einem ©ontraft. SBill man biefe ©rflärung bab,in »erfteben, ba& unter
biefem „©ontrafte" eben jene 3n*33ejieb)ung*©e6ung meit auSeinanber
Der ttHfc.
Iiegenber 33orftetfungen, oon ber roir fprad)en, gemeint fei, fo laffen roir
uns biefelbe um fo lieber gefallen, als fte ju einer fefir brauchbaren @in*
Teilung ber SSifee fül)rt. ©ie oermittelnbe 23esiet)ung, bie roir als baS
(Sfiarafteriftifum beS 2Bi|eS betrauten, fann nämlid) entroeber burd) eine
blofie ^fmlid)teit ber bie betreffenben Segriffe bejeidinienben SBorte, ober
fic famt burd) eine in ben betreffenben SSorfteffungen felbft liegenbe 2tefm*
feit t)erbeigefüf>rt werben. %m erfteren gaffe Ijaben mir ben 2ßort* ober
Älangrotfc, im jroeiten ben eigentlichen unb ed)ten 2Bifc, ben man oon
feinem unebenbürtigen Sruber roof)l aud) als ,,©ad)roi6" unterfd)eibeit
fömtte.
$>er SBortroij} ift unftreitig bie nieberfte aller SBtkgattungen, wie au«
feiner ©ntfteljung aus btofjer Sautäljnlidjfeit unmittelbar f)eroorgel)t urtb
roeSljatb er f)äuftg unfreiroiHig. ben Äinbern beffer gelingt als ben meljr
auf fad)lid)e 23e$iet)ungen feb,enben ©rroadjfenen. Gfmrafteriftii'd) genug ift
es aud), bafj faft jebe <5prad)e trjre eigene befpectirlidje 2<e*eid)mmg für
ifm i>at — Galembourg, Äalauer — , unb baf? feine ßäufigfeit metjr im
umgefelirten als im geraben 3Serr)ättni§ ju feinem äftt)jtifd)en 2Bertt»e ju
fteb>n fdjeint. Gr ift baS, roaS ber berliner fo red)t treffenb einen „faulen"
SBife nennt — obroof)l boshafte ^roöinjler gerabe ben ^Berlinern eine ge«
roiffe SSorliebe für biefelben nadijufagen pflegen.
®ieS ift ein allgemeiner Gbarafterjug beS heutigen ©roffitäbterS, über
beffen pfod)otogifd)e Urfadje roir roeiter umen 3lnlaf3 haben werben, uns
nod) beS 9?äb,eren ju oerbreiten
„Söifce" biefer 2lrt finb unfern Sefern ju oiete befamtt, als ba§ roir
fie mit einer Stufjäljlung einiger berfelben ermüben bürften; fei uns nur
geftattet, einen ber affer„btutigften" £»ier als SnpttS ber ©attung ju
bringen, ber fid) roie fo otele anbere auf politifcfe ©reigniffe jüngfter
3eit bejie^t unb „natürlich" aud) 33erlin jur ©eburtsftabt f)at: SUSmarcf
fd)eiterte am Gap 9liot, unb Gaprioi oerbrannte an ber £ol)enlol)e!
UebrigenS fann ber Ätangrott?, namentlid) in feiner Häufung, p einet
rebnerifd) ferjr roirfungSooffen gigur roerben, roie j. 33. in musterhafter
SBeife bie befannte, bem Abraham a Santa Elara nad)gebilbete Äapujiners
prebigt in „SBaffenfteinS Sager" jeigt:
„Unb bat rimifcfc SReitn — ba& ©Ott erbarm!
©oflte b>t&fn ein römifd) 2Trm.
Da SRIjeinftrom ift qeroorben }U einem Sßeinftrom,
$ie ftlöfter finb auSflenommtne SReflet,
£te SiStbümer finb üertoanbelt in SBüfttb, unter',
Die SIbteien unb bie Stifter
©inb nur Waubtbeien unb 3>ieb8flüfter,
Unb alle bie aeffflwten beutfcnen Sänber.
@inb bernxmbelt morben in Stenber u. f. f.
®a ber SBortroifc ftd) an red)t eigentlich natoe ©eelen roenbet, fo be*
tuljt ein gutes Zfytil beliebter Äinberräthfelfcherje auf itim. 9BaS für
362 ■ friebridf UJegmfiHet in OTündjen.
(Stiten trlitfen SBier? ble ©tiuventen. SEBaS für Dringe Fmb nidjt ruitb?
bic geringe. SßeldjeS ©emaä) liebt bet 2Renfdj am meirigflen? baS
Unsgemaä) u. f. f. — ©djerje, bereu ©ebraud) allerbingS unfere „reifere
Sugenb" doh ijeute fdjon mit bebenfltdjem Slafenrümpfen begleiten mag.
9Jttt bem SBorrroüje oerroanbt, aber bod) nidjt o&ne SBeiiereS mit ifmt
ju ibentiftciren ift baS SBortfpiel, baS tooljl in feinen fdjledjteren SSertretern
nodj Ijierlier gehört, in ber Sieget aber bod) fd»on ber jroeiten ©ruppe,
bem „©admnfc", äujutf)eilen ift; ber ©leidjflang tami liier bic Pointe
oortljeifljaft »erftärfen, aber er bringt jie ttid^t eigentlid) b>n>or. SBäljrenb
ber SBortnrifc barauf beruht, bafj jtoei »erfdjiebene Segriffe burd) SBorte
gleiten ober äfytlidjen ÄlangS auSgebrüdt werben, werben Ijier unter
einem ©ompler »on SBorten jroei ganj oerfd)iebene Sßorfteßungen jufammen*
gefaxt unb fo bie fomifdje SBirfung erjielt. £>a$ SBortfpiel, namentttdjj
wo eS fid) in rafdjer Siebe unb ©egenrebe fdjlagfertig einftetit, ift fo
red)t bie Ijödjfte gorm beS SBifceS, ber eigentliche ^rüffiein ber bem
roifcigen Äopfe jugefdjriebenen Pieren 33egabung. -Dieifter berfetben finb j. 33.
alle ©fiafefpeare'fdien ©eftalten, bie ib> ©d)öpfer entroeber mit pb^ilofop^ifcb^
betradjtenber ober mit intrtgatttsoerfdjlagener ßfytraneranlage ausgefluttet
$at. „UnS 3ltten iffs gemein ju fterben, lieber ©o§n," fagt Hamlets
eb^roergeffene 3Jhitter, bie tyn mit biefer nidjtsfagenben Sanalität baS Stuten
Aber beS SaterS rätfifettjafUrafdjeS &infd>eiben unb ti)re ^anblungSmeife
oergeffen madjen toiE. „3a, fjolje grau, es ifi gemein," lautet bie botdj*
fd)arfe Slntroort. &ier finb bem äufjern 2tnfd)eine nad) betbe ©predjenben
ganj einig, inbem fie fid) jwm 2luSbru<f tyrer ©ebanfen genau' beäfelben
SBortcomptereS bebienen; möb^renb aber bie SRutter bie SBorte im eigenfe
lidjen ©tnne gebraust, Ijat Hamlet burd) leiste Seränberung in 2tuSbru<I
unb ©eberbe aus benfelben SBorten eine fernere Slnflage gegen feine
3Rutter, il)r nermut^eteS ©noerftänbnifj mit bem Sföörber unb bie ©djänb=
lidjfeit, biefen fo rafdj nad) bem ßinfdjeiben ü)reS erften ©atten gu
l)eiratb>n, erhoben. „Tou '11 soon find me a grave man," fagt ber mit
bem Segen fd)lagfertige 9Kercutio, als feine greunbe, bem leidet aufs
flammenben ßifcfopf im Innern jürnenb, Um fdjroeroernjunbet com flampf*
plafee wegtragen. £)a3 fönnte b^eifjen: werbet balb — viz. @urem
SButtfdje entfpredjenb — einen burd) foldje Erfahrungen gefegten SDiaim in
mir finben; ber roirflidje ©imt ift aber rooljl ber: werbet balb finben,
ba§ id) ein 2flann beS ©rabeS geroorben bin — roeldje ®eutung ja be-
lamttlid; ber Ausgang beftätigt. <3o fann man bemt allgemein baS SBort*
fpiet mit feinen »erfdjiebenen in einanber überge^enben Slntioorten, bem
©oppelfinn, ber Sroeibeutigfeit u. f. f. als jene SBifegattung beieidmen,
meldte burd) 3ufammenfaffung »erfdiiebener — ridjtiger: red;t weit oon
einanber abfte^enber — 33orfteffungen unter baSfelbe 3Bort ober benfelben
2Bortcompler entftebj. 33ei einiger aufmerffamfeit ift biefer 3ufammen«
b^ang aud; bei fdjeinbar »ermidelter Sage leia)t ju erlernten. SBemt j. 9.
Der tDift.
363
23iSmarcf auf bic entfette, nebenbei einen erbebtictjen Srrtbum in fidj ent«
baltenbe Sfotwort, mit bet 3!ule3 ??a»re bie SDlitt^eilung von ber &öfje ber
beutfdjerfeitS geforberten JWegSentfdjäbiguug empfing: fo groß fei ja nidfjt
einmal bie ©umme, bie ficö aus bem befannten Stedjenbeifpiet »on bem
©rtrage beS feit ©briftt ©eburt auf 3inS unb 3wfeSjtnS gelegten Pfennig
ergebe, mit 2lnfpielung auf bie ©onfefüon feine« finanziellen 23eratberS bie
äfotroort gab: „®rum b^ab ic$ mir ja einen mitgenommen, ber f<|on »or
GbriftuS angefangen I»at ju 5äb>n" — fo liegt £»icr baS gleiche %kx*
bältnifj cor. SÖlit ber »on §a»re aufgenommenen SBenbung „jäblen feit,
beim, »or ©fnifti ©eburt" f)at 23iSmar<f einen burdjauS »om urfpriing*
liefen »erfd&tebenen ©inn »erbunben unb fo ein SBortfpiel »on febjr
fomtfdjer SBirfung b>n>orgebradjt, berounberungSroürbig »or 3Wem wegen
ber mistigen unb einen gewöhnlichen SnteHect »öllig abforbirenben Um-
ftänbe, unter benen eS ju ©tanbe fam. Sei biefer ©ruppe brauet
übrigens ber mit »erfdjiebener 23ebeutung gebrauchte 2Bortcomple? feines«
wegS immer auSgefprodjen p werben. 2Betm }. 23. jener SBiener feinem
neuen Sefannten fagt: „2Bie, ©ie geben gern allein? ©anj mein gfatl;
ba fömten mir ja jufammengeben" — fo liegt ber 28i| ffiev in ber 9tn«
wenbung beS unauSgefprodfjenen ©runbfafeeS: „Seute mit gleichen Steigungen
eignen fldf» ju gemeinfamen ©pajiergängern" gerabe auf ben gaH, auf ben
ber 9ktur biefeS gfalleS wegen feine 3lnroenbung nidjt fiattfittben fomüe.
2ttfo auc^ ^icr jeigt iteb, bafj baS ©igentbümlicbe beS SBifeeS in ber über»
rafebenben Bereinigung unpfammengeljöriger SSorfteHungen benu)t. ©elbfc
»erftänbticb gehört bierber audj jenes ©enre »on SEBifccn, bei bem nadj
bem befannten SBort 33ottaireS 3JJandien audj baS fctjalfte nodj als wifctg
erfebeint, fofern fyex niebt ber $)oppel|inn »on »ornberein jur ©nbeutig*
feit wirb.
3)a ber „©aebwifc" tebigtieb in ber $erfteHung »on 23ejiebungen ber
bargelegten 2lrt jwifeben 33or|Mungen beflebt, fo folgt, bafe berfelbe unter
Umftänben ber fpradjlidjen 33erftänbigungSmtttel entbebren fann, fofern bie*
fetben nämlicb auf anberem — j. 23. mimifeben SBege — eben fo gut jur
2tnfäjauung gebraut werben fömten. ©o bejeiefmen wir eS ebenfalls als
2Bifc — ty.ee freilid) als unfreiwilligen — toenn jwei 9fa<btroäcbter einen
jingenben ©tubenten in ber 9tacbt mit fidb; auf bie 2Ba<$tftube fcbleppten
benfelben bort jum ©fat einluben, bann aber, als jener ttjnen ju „mogeln"
fdjien, ibn entrflftet bmauSroarfen — jur großen greube beS fo entronnenen
Häftlings. 35er allgemeine ©runbfafe: „2Ber mogelt, wirb bmauSgemorfen,"
ifl fytx in fomifeber 2Beife fttflfcbweigenb unb tbätlicb eben auf ben gall
angewanbt worben, ber feiner 9tatur nacb bie Sforoenbung beSfelben tridjt
geflattert fann. ©in febr guter, mit 2lbfidjt gemaebter 2Bife berfelben 3lrt
ift es, wenn jener Sßapft beS 3JUttelalterS einem SJirtuofen, bejfen Äunft
barin beftanb, mit Sinfen unfeblbar genau burdj ein SRabelöbr ju werfen
unb ber ftdj eine große ©umme als 23elobnung für feine toft erroartet
364
^riebrid) tDegmflller in Ittün^en.
botte, ftott beffctt eine — grofje ©Rüffel Äinfen überreifen tiefe, Umt ba«
mit ad oculos bemonftrirenb, wie §0$ er ben SBertf) feiner Runft fdjöfce.
©er fomifdje „©ontraft" beftebt l)ter in ben fo entfernten SSorjMungen ber
erwarteten unb ber nrirflidj erhaltenen ©abe. 2lud) bie treuen SBeiber von
SBeinäberg matten einen ©djerj ber gleiten 2trt, als fie auf ben
33efdjeib be8 &aifer§, fie mödjten au§ ber jum ©türme beftimmten ©tabt
ba8 mit ftd^ b^erauänefimen, roaS tfmen am Iiebften fei, ber Segenbe nadj
jebe mit ibrem -Kanne auf bem SRüden aus ber guten ©tabt SBeinsberg
jogen; betm gerabe ber gall mar ber SJleinung be3 faiferltdjen ©prud&eS
nadj auSgefdjloffen. UebrigenS gilt, mai b,ier von „unfreimifligen 2Bttjen*
gefagt ift, für fämmtlidje btät)cr ertoäbnten ©artungen beSfetben; benn im
^inbliö auf bie fomifdje SBirfung madjt e3 offenbar fetjr wenig aus, ob
biefelbe mit ober obne Slbfidjt fjerbeigefübrt nmrbe. 9tur pflegt babet, ba
ber unfreiwillige SBife in ber 9?eget aus einem SRangel an SBtffen ober an
©dtfagfertigfeit benrtrgebt, bie £etterfeit fidf) geroöfmlidj ttidjt aud» auf bie
©eite ju erftreden, bie fie erjeugt bat.
Unter ben Segriff be3 mtmtfdjen SBUjeS fallt natürltdj audj bie pan«
tomimtfdje ©arftettung unb fomifdje Uebertreibung ber ©eberben unb ©predj«
roeife beftimmter ^erföntidtfeiten, bie fd}aufpielerifd}e ©aricatur, bejro. itire
grapbifdje ©arftedung.
$>ie Bereinigung bisparater 33orfMungen, bie mir als ba$ ©barafte*
rifticum be§ SBifees fennen gelernt baben, fann fidj unter llmfiänben audj
auf eine blo&e 93ergleidjung 6efdjränfen. 3)ieS ift namentlid) in ber SBeife
bäufig ber gaH — unb ber foml|"djen Sßirfung ftd>er — , ba| fidj bie SSer*
gteidjung an beftimmte ©igentbümlidjfeiten einer 5perfon ober ©adje beftet unb
biefelbe burdj eine braftifdje SBergleidjung läd)ertid) madjt. ©o entfielt ber
djarafterifirenbe SBife. 2ludj für tt)n Tmb bie ©eftalten ©bafefpeareS eine
unerfd)öpflidje fjunbgrube, vox ^Wem ber biebere ©ir 3obn, ber bei aller
eigenen fittlidjen ©efunfeitfiett bod) ein fdiarfe« 3luge für bie ©djroädjen
feiner 9lebenmenfd)en unb eine unerfd)öpfltd)e ^Bt)antafie in ber £erbeisiebung
ber fomifdjften Sergleidje befifet. SDJan böre nur bie fdner unenblidje Steide
ber roifetgften Silber, mit benert er feinen greunb unb feinen 3e#n»ber,
ben faben tpf)Uiftcr griebenäridrter ©balloro unb ben eroig burjtenben, rotb*
nafigen Sarbotpb peififlirt! „tiefer fdjmädjtige ^riebenäridjter bat mir
in ©inem fort oon ber SKHlbbett feiner Qugenb oorgefdmwfet, unb um'S
brüte SBort eine Süge, bem 3ub8rer rtdrtiger auäbejabtt als ber Tribut
bem ©rofjtürfen. 3fdj erinnere mtdj feiner in ©temenSbof, ba mar er wie
ein SWäimdjen, nadj bem ©ffen auä Ääferinbe perfertigt; wenn er nadt
mar, fab er natürtid) aus roie ein gefpaltener SWetttg, an bem man mit bem
9Wejfer ein läd)erlid)e3 ©eftdEit auSgefdjnüjt bat; er mar febr fdmtädjtig,
ba§ ein ftumpfeS ©efid)t gar feine ©reite unb ©idte an ibm unterfcbeiben
fonnte." Dber gar erft Sarbolpb'. „Seffere T>u ®ein ©etld^t, fo nnll id)
mein Seben beffern. ©u bift unfer 3lbmiralfd)iff, ©u trägft bie Saterne
Der rOifc.
365
am ©teueroerbecf, aber fie ftetft ©ir in ber SRafe, ©u bift bcr SRilter von
ber brettnenben Sampe." ,,3d) feb> ©ein ©efid)t niemals, ohne an ba3
$ötlifd)e 3*uer $u benfen unb an ben reiben 2Wann, ber in Sßurpurfleibern
lebte, benn ba fifct er in feiner Xxafyt unb brennt unb brennt. SBärft
®u einigermaßen ber £ugenb ergeben, fo wollte id) bei ©einem ©eftd^te
fd)roören, mein ©djmur foflte fein: bei biefem flammenben 6berubfd)werte!
2lber ©u liegft ganj im Slrgen, unb wenn e3 nicht ba3 Std^t in ©einem
©eftdjt tf)äte, fo roärft ©u gänjlid) ein Jttnb ber ginfterntfj. D ©u bift
ein beftänbiger g-acfeljug, ein unau§löfd)ltche3 greubenfeuer! ©u b^afi mir
an bie taufenb 'SJfarf für Äerjen unb gacfeln erfpart, wenn id) mit ©ir
9tad)t3 »on ©djenfe ju @d)enfe wanberte: aber für ben ©ect, ben ©u
mir babei getrunfen ^aft, blatte id) bei bem tfjeuerften £tä)ter}iet)er »on
(Suropa ebenfo wohlfeil 8id)ter b^aben tonnen, ©ett jroeiunbbreifeig fahren
nunmebr b^abe id) biefett ©einen ©alamanber mit geuer unterhalten, ber
Gimmel lotme e3 mir!"
SBeld) unerfd)öpflid)er ©turjbad) »ön 3Retapl)ern, jebe ein bei&enbeä
©pigramm! Qn ber £b>t ift biefe klaffe beä 2Bifee§ red)t eigentlich bod)
bie epigrammatifdje; unb es ift bejeicfntenb, bafj einer unferer beften
(Spigrammattter, ber lange nid)t nad) ©ebühr gefd)ä|te £aug, ber Qugenb*
freunb ©chillerä, einen älmltdjen SJorrourf sunt 3$ema einer großen SReitjc
rosiger ©pigramme gemacht §at. 2Bir meinen feine „Epigramme auf
£errn SBaljte ungeheure Jlafe". SltlerbingS ift bei ihm felbftftänbigeS
bid)terifd)e§ ©rjeugnijj, waS bei ©^afefpcare fo ganj beiläufig unb neben»
her a6fällt.
Unter ben 33egriff beä 2Bi|e3 im weiteren ©inne fällt aud) bie unä
SUIen geläufige ©prediweife ber $ronie. ©ie wirb gewöhnlich balnn ers
läutert, ein fjall ber Ironie fei bann gegeben, wenn bie äußere gorm beS
£obe§ gewählt werbe, um bamit befto nad)brüdflid)er unb wirffamer einen
£abet auäjufpredjen; wie man fieht, liegt babei ber fomifdje Sontrafi in bem
©egenfafe jwifdjen bem wörtlich auSgebrüdten unb bem in SEahrheit b'eab»
ftd)tigten ©inne. ©iefc ©rflärung ift inbefe ohne Bweifel 5" eng; mir
fpredhen nid)t minber bort oon ftro nie, wo ber SBortlaut tabelt, ber be*
abfichtigte ©inn aber als Sob 5U oerftehen ift. @8 ift fronte, roenn id)
einen 93etrüger einen ©entleman, einen unreifen ©tdjterling einen jungen
©oethe nenne, unb unjählige SBenbungen unb 9teben§arten bes täglichen
SebenS gehören ju bieier Kategorie @3 ift aber ebenfo gut Ironie, roenn
3Jlarc 9lnton an ber 93ab,re be3 ermorbeten ßäfar fcheinbar bie ©tünbe ber
3Körber anertennt unb ben Gäfar einen $etnb beS SBolfeS, einen geinb ber
Freiheit nennt, um in biefer 2Ka3fe feine wahre 9J?einung befio einbringlicher
ju oerfünbigen. 2l(Ierbing3 wirb — unb bas gab ohne Sw«fef h*« btn
©runb ju jener ermähnten einfeitigen ©efinition — bie erfte 2lrt ungleich
häufiger gebraucht als bie jroeite; benn ber 3Wenfd) liebt mehr ju tabeln
alg ju loben. 3^onie ift e§ aber aud), roenn man eine auSgefprocfiene
366 ^riebridf rDegmflller in ntfindjen.
SBefyouptung baburdfj ju entkräften fudfit, baß man ifir fcfjeinbar jujrimmt,
bann aber baburdfj, ba& man bie ßonfequenjen berfetben in läcijerlid&er
SBeife übertreibt, if>re Siicfjtigfeit bartljut. @o wirb Dnfel Sräng,
wie fo oft, ironifcf), wenn er bem jungen 4?errn »on Slambow, ber
feine frifdfj gelernte 33üdfierwei«fieit fofort nadfj Antritt feine« ©ute« in bie
grätig übertragen will, bie ^ttufionen ju jerftören fud^t mit bem SBemerfen,
ja roor)I, fo macfjen mir1!*, unb auf jene« $elb oort pflanjen mir Sterinen,
unb bie siofinen freffen bann bie ©cljioeine; ba« gebe bann einen guten
©cfjroetnebraten!
Dber richtiger, er würbe farfaftifd). Denn ber @arfa«mu«, in allem
SBefentlicfjen wefen«ein« mit ber ^onie unb begrtffttdj in feiner SBeife
»on i^r ju trennen, unterfd)eibet ficfj »on ber Ironie burcfj bie unmittelbare,
aggreffioe 33ejiefmng auf eine beftimmte Sßerfon; er ifi bie Ironie, bie „bifng"
unb „ftadjettg" geworben ift <5r miß nicf)t tiarmlo« fd)erjen ober mit ber
Sßeitfcfie fotogen, fonbern »errounben. Darum ift ber ©arfaSmu« naments
tidfj bort am ^ßlatse, wo, wie j. 33. im polttifcfjen Seben, Ijöljere Seiben*
fc&aften unb ^ntcreffen audj bie 2lnmenbung , fcfjärferer getftiger SEBoffen
red&tfertigen. ©o bieten bie „^fliegenben 33lätter" fiarmlofe Sronieen, ge»
milbert burcf) &umor, unfere polttifcfjen SBifeblätter beißenben ©arfaSmu«.
6lne wunberbare ^ßrobe farfaftifc^er Sleberoeife bietet un« audfj b,ier roiebet
©Ijafefpeare in ber berühmten Seicfjenrebe be« 3Ratc 9lnton auf ©äfar, bie mir
foeben erft erroäfmt; unb beren SBirfung ber ©ang ber ©efdf»icf)te bejeugt:
„Unb S3rutu8 ift ein efjrentoertfjer SWonn —
©o ftnb fte Mt, mit e^reiaoert^e SHömtfr."
©o — wie 33rutu« nämücf).
2öirb bie ben ©arfa«mu« bitbenbe 2tntl)iiefe auf ein paar fnappe
Sßorte jufammengebrängt, roomögtlcfj nur auf jwei, fo entfielt ba« »on ben
Sitten fogenannte Drnmoron. „@tn bunfler ©fjrenmann", „eine biebm
©algenoogelptiofiogttomie", ferner 9?eben«arten wie „eine gro&e S^nft
hinter ficlj f>aben", ba« „Smmer weiter nadfj granfreicfj fnnemgejtegt werben",
womit man fo treffenb bie anfänglichen franjöfifd§en ©iege«beridfjte »on
1870 perfifltrte, unb »iele« met)r gehört b,ieb,er. SBirb enblicb, ein ganjeS
fünftlerifcfje« SBerf fo angelegt, baß e« biefen Sebingungen genügt, bient ber
ganje SBortlaut eine« 23udje« nur baju, bie baliinter ftecfenbe wabere SHeimmg
be« 23erfaffer« umfo beutltcfier fyeroortreten ju taffen, fo fjaben wir eine
ganj auf bie logifdf>e Function ber Ironie gegrünbete tunftlerifcfie ©attung
»or un« — bie fatmfd)e Dicfjtung. ein SRabelai«, ein SKriftoptiane«, em
©roift, ein ^cine, ein ßeroante«, — ade biefe 3Jieifter ber ©attre ftnb
jugleid) in unferm ©inne Qronifer im työcfjften unb beften ©tnne be« SBorte«.
Da« gewaltige SBerl be« ©eroante« unb bie Ironie be« täglichen Seben«
mögen ndj nod^ fe^r unterf Reiben bjnficfjtlicf) ber geiftigen ^ätigfett, bie
in Urnen jum 3lu«brucf fommt — b^infic§tlic§ ib,rer logifcb,en Staffifxcirung
ftnb fie »ötlig gleid^.
Der n?ifc.
367
2Bir |aben oben bereits in Äutjem bie getftige ©iSpofitton unterfudjt,
bie eine Sebtngung bet ©ntfteljung beS SBifeeS tft, unb gefunben, baf? fte
in einet befonberen gäljtgfeit ber objectinen Settadjtung beftefie, rote fte j. 33.
aud) baS fünftlerifcbe ©Raffen ober ©eniefjen verlangt. 3)arauS erf löten
ftdj mandje ©igent^ümlid^fetten, bie jebem roifeig »eranlagten ftopf nur attju
befannt ftnb. 3unädjft ^0[^ ^aü^, baf? eine geroiffe fettere obet bodj
fotglofe ©emütf»Sftimmung »orfianben fein mujj, roenn roifeige 33emerfungen
fprubetn follen; fobamt aber, baf? bet letdfitefte ©Ratten einet SBetfrintmung,
einer 23eftemmung bet ©efellfcfjaft biefelben »erfdjeudjen fann. 2Bte oft
ifi eS nidjt fdwn audj bem roifeigften Stopfe »orgefommen, bat? feine eben
nodj, unter bem Seifall ber ©efellfdiaft, beroiefene galligfeit plöfelid) oer*
fagte; ber eintritt einer unftmtpatbifdjen $etfönliä)feit, baS 33erüf)ren eines
tniBliebigen ©efprädfjSftoffeS, eine ftörenbe 9kdnidjt, ein 3n>tfd)enfall, baS
33erouf«fein gefellfdfiaftlidfjer Ungleichheit unb bie baraus entfpringenbe 9totlj*
roenbigfeit ftteng ju beobadjtenber ©tifette — baS 2flIeS genügt feb^t ftfuftg,
um bem getftreidjen Stopfe nie mit einem ©djtage geroölmltdie MtagS*
roorte ftatt ber erroarteten Pointen unb roifenoflen treffet einjugeben, oft
genug getabe im entfd)eibenben SÄugenblicf. 3k &«ufe, ja fdfjon auf bet
Stoppe, bei ruhiger unb unbefangener Betrachtung, ftnbet er bie beften
Sßointen offenbar ju £age liegen, faum faffenb, baf? fte gerabe im frittfdjen
SRoment feinem ©d§arffinn entgangen. 3)te Utiglücffeligert, bei benen bies
9Jhfjgefdf)icf ftönbige ©rfdjetnung, bat ^einrieb, oon Äleift nidjt übel ge*
jeidmet:
„fcreffenb, burdjflängtfl, ein SBIife, öott 2ikfitfitit ftnb feine @ebanfen;
SBo? Sin bet Xafel? Sergiebl ffienn er*a ju fcaufe beben«.*
SfabrerfeitS erftärt es ftdt) aber audj barauS, roie ber SBife geroiffe
«Stänbe unb 33erl)ältniffe mit SBorliebe als Dbjecte ober als ÜWilieu feinet
6ntftef)ung roätilen fann. @t roirb ftd) ftets mit SBorliebe an foldje ©tänbe
fjeften, benen böfe 3"n9cn einen ©egenfafe ärotfdjen (Sdietn unb SBefen,
jtt>ifä)en aufgebaufdjter Stoßen* unb holjfer Qnnen fette nad)fagen; et roitb
aber am Uebften bort entfteben, roo (Stanb unb 33efdjäftigung baw an*
getrau ftnb, forglofe Stimmung unb »or 2lffem baS — berechtigte obet
unberechtigte — ©efüfil ber Ueberlegenfieit über bie Umgebung auf»
fommen ju taffen. @o ift es erftärlid), roenn ber Unteroffijier feine
SRefruten, ber ©rolftäbter ben ßleinftäbter, ber Jtünftler ben Sßbjlifter jur
3ielfd(jeibe feines SBifeeS mad)t; oot Mem abet ercjeüt batauS, roie fef)t
alle gactoten beS afabemifdjen SebenS, bieS 33erouf?tfein übetlegenet 23ilbung,
bie afabemifdje greifieit, bie jugenblicfie ©orglofigfeit, ber jroanglofe 93er*
lefyc mit ©ommilitionen unb ®ocenten aller 2lrt, bie mannigfaltigen SPedbfel*
fäHe, bie ftd) aus bem 3Hif3t)erf)ältniffe jtDifctjen ftöf)lid)et 33urfdjenftimmung
unb leeret 33örfe ergeben, geeignet fei muffen, aus ben jugenbttdjen 3Jiufen*
föbnen bie eigenttid)ften „SBifenögel", bie herüber aller erbenflid)en „Ulfe"
in SBort unb 5Cr}at ju mad;en.
368 jjriebrid) tfegmüllet in fflünctien.
■Natürlich werben ftd) bann bie betroffenen in ihrer SBeife ju räd)en
fuchen; unb fo ift benn SWtchtS nabeliegenber, als ba§ ber ©injährige feinem
Unteroffijter ben fid) jum X^eil gerabe in feinen SBifcen auSfprechenben
■äJlangel an Stlbung, ber Äleinftäbter bem ©ro&ftäbter feinen angeblichen
$ang jum SBortroife oorroirft; bie toirftid^ guten Einfälle pflegen eben bie
gefränften ©eeten auf beiben ©eiten als quantit6 n^gligeable anjufeb^en.
Sie finb unS ja von unfern SBifcblättern ber aufs 33efte befannt, bie
©tänbeunb ©ruppen, an benen fid) ber SBtfc fojufagen ber SUlgemeinljeü
ofme Unter fdjieb erbaut: ber überfdjneibige Sieutenant, ber unwiffenbe, tad*
lofe Gmporfömmling, ber ©omüagSjäger, ber »erhinberte ^Dichter, ber
gröfjenmahnfinnige ©d)aufpieler u. f. f,
SBenn wir oben beS 2Beiteren bemerften, bafj bie ©abe beS SBifceS
im Allgemeinen mit SRedjt als läJiafjftab ber natürlichen SBeanlagung eines
ÜRenfdjen angefeljen werbe, fo bebarf biefe 33emerfung übrigen« einer fleinen
Berichtigung. 3lderbingS ift ber angeborene „3Rutt<ir.oifc" fo werthDott unb
bie burd) il)it begrünbete Uebertjgenbeit fo grof?, bafe fie buref) feine fünjt*
tid}e 33ilbung, gefdjweige benn ©elebrtamfiit wirflid) erfe$t werben tarnt.
@S giebt ja eine geroiffe ©orte Don Suchgelchrfainfeit ohne angeborenen
ÜWutteranfc; hier weiß aber Qeber, wie fefjr biefelbe ber natürlichen Segabung
auf ©djrttt unb £ritt Ret) unebenbürtig erroeift, ja wie fehr gerabe burd)
ben aufgefpeid)erten SBiffenSbattaft biefer ßontraft nod) mehr gesteigert wirb.
3n Bürgers „Staifer unb 3lbt" roirb ein folcbeS SBsrbältnif? mit gutem
&umor entroicfelt; ber ungelebrte ©d)äfer, $anS benbir beifjt ber 33iebere,
ftid)t bureb feinen natürlichen aJcutterroife niebt nur ben 3lbt »on ©t. ©allen
auS, ber bas ^Buloer niebt erfunben bot, triebt nur bie irier $od)febulen
mit ib^ren ©octoren, fonbern auch nod) ben fich mit Siecht roifcig bünfenben
„furrtgen" ftatfer obenbrein.
„2Ba8 3hr Such, (Mehrte, für ©rtb nicht ertottbt,
SDai bab' ich. »on meiner Swu 2Nutter peerbL*
2)enn, roie baS alte ©pridjroort fagt, „ein Quentchen eigener SJhitterroifc ifi
mehr werth als 5cf(n ^Bfunb T>on anberer Seilte ihrem", ^rofcbem aber
fmb bie $äHe nicht feiten, roo ein attju grof?er ©ebrauch biefer gäbigfeit
baS geiftige Sltoeau eines 3K-nfchen fehr unoortbeitbaft »eränbern, ja bereits
ein ©pmptom geiftigen SRiebergangS fein fatm. ®er 2Bi| ifi ein
©piel beS ©eifteS, eine Bereinigung »on SSorfteHungen , bie burd) ben
orbnungSmäfjigen 3lblauf ber ©ebanfen nicht p einanber in bejiebung
gefe&t werben. 2>arum oerfteeft fich hinter bem Slnfcheine blenbenben SBifceS
unb überfprubelnben ©eifleS nicht fetten bie Unfähigfeit jum logifd)en, burch
bie Realität ber ©inge gegebenen ©ebanfengang, bie Unfähigfeit jur eigent«
liehen geiftigen Arbeit, ©inb uns boch aus ber politifchen wie aus ber
litterarifchen ©efchichte felbft ans relati» junger 3^* Beifpiele genug
befannt, roie ftd) mit fcheinbar geiftuoDem SEBifee nicht nur ftäglicbe ^wtlt*
lofigfeit beS SBoHenS, fonbern felbft bie Anfänge geiftiger 3errüttung fehr
Der IDife.
369
t»ol)[ »ertragen fötmen. 2)at)er audj ba3 äftfjetifdje Unbehagen, ba3 ein
allju häufiger ©ebraudj beä 2Btfee8, fei es im Seben ober im Äunftroerf,
in unä beroorruft; nrir baben babci ftets baS peinttdje ©efü^t mangelnber
©acfjltd&feit ober mangelnben fünftlerifcijen (SrnfteS. £>er SBife ift ein Hors
d'oeuvre, feine näbrenbe «Speife; aHjuoiet genoffen »erbirbt er beit 9JJagen.
Die £üterargefdjidE)te bietet unä Setfptctc genug, rote nidfit nur leinjelne
Sutoren unb SBerfe, fonbern felbft- ganje Sttteraturepocfien — j. 33. bie
eptfdjen Vorgänger unb bramatifdjen sJtaijfolger ©tyafefpeareS — burdfj Gin=
ffifjrung gefpretjten SßifceS um jeben sprete bem gebilbeten ©efdbmad un*
genießbar gemalt rourben.
J
Sein 3rtef,
XXoveüe.
Von
Mitt Öremnits.
— Bnforej}. —
ürbe fie nod) anfomtnen?
(Sie fat» nad) bct Ut)t — nod) jroölf ©tunben, unb tljr
.Hopf brannte fo furä)tbar, fie fottnte ilm nid)t meb,r liodjijalteit,
unb wenn fie bie 2tugen öffnete, flimmerte 2lße8 t»or Unten, unb fie fab,
rote in rotlje SBolfen, bie unauffjörlid) ibre ©eftalt metzelten unb in ein»
anber jerfloffen, um fiä) Qltiä) wieber von einanber ju Iöfen.
23?enn ibr nun aber ba§ Senmfjtfetn fdjroänbe, roaS füllte aus ibr
werben? — ®er 3"9 6toujle burd) bie 9tod)t babjn; bort brüben ber
tiefte «Streif, beutete er fdbon ben SJiorgen an? Iber fie mar bod) erft eben
eingeftiegen! Dber foffte fie gefdjlafen Ijaben? 9Jein, rote tiätte fte mit
ben furchtbaren ©dmterjen fd)lafen fönnen! — SBielleidjt, bafc fie fd)on
»orübergeb,enb baS aSenwfjtfein »erloren blatte? D ©ort, ber
menf<f)Ud)e 2Biße oermag ja 2flle3, fie mußte nod) bis naä) $aufe fommen!
£ort roollte fie bann gern fterben, aber nur nidjt unterroegS liegen bleiben,
nur nietjt bie ©d)anbe, bafj man i^r nad)forfd)te unb fie b^er entbeefte,
ben SBegen nadtfpürte, bie fte gegangen war! — 2Ba3 mürbe tt)r SDfamt
fagen? &ier mürbe er fte nie fudjen! Unb bie ©elmfudjt nad) ber
Kleinen — foffte fie ba3 füfje Äinb nie mieberfefien?
Sie fd)lud)ste laut auf. — 2Bie tiel mar bie Uljr? 3mmer
nodb, jelm ©tmtben! Unb eben blatte fie bie lebenbige SBorfteHung gebebt,
nidjt auf ber Stalin, fonbern auf bem ©d)iff oon Jßoper nad) ©utt ju fein
— fie tonnte alfo nrirftid) nicöt mebjr ftar benfen! ©rojjer ©ort, roaä
foffte au« ibr werben? . . . $>ie <2ä)anbe, bie furchtbare ©d)anbe, bie fie
auf i^ren SRann gelaben batte! .... SWein, nein, bi« nad) &aufe mufjte
Sein 33rief.
fic fommen! .... 216er meint e3 nun ein !Keroenf«6er roar? Scfjon feit
mefir aU a<S)t £agen mar ü)r ju SJhttfie, alä märe fie front; fie Ijatte ba8
auf feetifcfjeS Setb gefdjoben, altein, roenn fte nun bo<^ erfranfte, roenn
man fie aus bem 3U9C ^ob, roenn man na$ ©rfennungääeicfjen bei tb,r
fu^te unb ifjren ÜRamen buref) bie SBett tetegrap^irte! 2lber SRicfjtS
an i^r trug ja tfjren Flamen, if»r SReifefacf nicfjt unb aud) nid)t i^re SBäfdje,
fie fjatte bie größte 3Sorfid)t beobadjtet, unb Initialen fagen ja 9lid»tg
D, aber ber 33rief »cm tf>m, ben fie bei fiefj trug, ber mufte »erntetet
werben, fcfmell, f^tteff fein lefcter, lieber ©rief! .... Sie burfte
ja ib,n »or Sitten nicfjt btofefteHe«. — Sieber namenlos begraben werben —
£>er griebfiof ber 9iamenlofen, — fie mar fcfjon roieber an ber See!
2lber ber 33rief, fein SBrief! 28a3 blatte fie bo<$ eben ge*
roottt? 2tcf) ja, ifm jerretfjen! «Sie trug iljn ja auf ber 93ruft
^afcf), bie %adt auffnöpfeu! — D, roenn fie aber nicfjt einmal baS meljr
fonnte, roenn man bann feinen ©rief fanb! . . . . ©3 roar gerotfj ein
9len>enfteber! $>ie tefcten £age roaren ju furchtbar geroefen, fie Ijatte fidj
übermenfcfilicij äufammennefmten muffen, unb bie SBocfien »orfjer
9iatnrlid), 9lffe§ fann ber SRenfcfj nicfjt überroinben.
2Bie laut bie 2Betlen an'S Ufer fdjlugen — bie gutf) ftieg — fie
fann mcfjt oorroärtS — o, fie roar nicfjt ju retten! .... Sie fcfjrie laut
auf unb fat) fid^ bann oerrounbert um 3ld), es roar ja nur ein
2*aum, fie blatte geträumt — 3lber ber 33rief? §atte fie ifm roirflicfj
noefj nicfjt fjerauägefrolt unb jerriffen? ....
2Bie fie 5itterte! — Unb bie grofjen knöpfe roollten ifjren Ringern
nidfjt geljorcfjen — 33abu fjatte oor ber 2lbreife mit biefen knöpfen
gefpielt
©ie lief} bie $anb jxnfen. — SBieber fcfjaufetten bie SBellen fie, ba3
©raufen roar faft unerträglicfj. . . . D, fte mußte fiefj retten! ....
$aftig ftanb fie auf, fiel aber gegen ba3 genfter, Kirrenb jer*
braefj. . . . 3)ie Csrfcfjütterung tf»at tfjrem Kopfe fo roof)t! .... 28ie gut
' roar bie SWacfjtluft; fie fjatte ja längft baS genfter aufmachen motten, um ben
33rief fjinau^juroerfen SBofjin er roofit fliegen mürbe? . . . ©ie
Srone barauf, bie mufjte oor 2lllem jerriffen roerben Slber ba3
roar ja gar nicfjt ber 35rief, ba3 roar bie .fjotelredmung au3 ber ^atetot«
tafele, bie fie äerfefet uub fortgeroorfen blatte! . . . Db bie Sßetlen ba
brauf?en, bie fo fdjirarj gegen fte anftürmten, bie Scfjriftjüge aud> ganj
abroafdjen würben? So, baß fein menfcfjlicfjeS 2luge feine SiebeSiuorte
meb,r entjiffern fonnte? D, ba§ Rapier roollte fieb, nicfjt jerreifsen
laffen! Sie riß, bajg if»r ber Scfjroeif3 auf bie Stirn trat
2Kein ©ort, fie roar roofjl fetjon irrfinnig, baä roar ja ber 5Borf)ang, an
beffen graben fie jerrte, unb fein. SBrief rufjte immer noef) auf ifjrcr
Sruft! .... SSarum roar fie aucf> fo tfjöric|t geroefen, ifm bortf)in }u
fteefen! ....
Horb unb ©Ob. LXXV. 225. 25
372 IlTite Kremnifc in Buforep.
2Ba3 roar baä? . . . ^emanb bufdjte an i^r »orbei — ein (Seift
2Bar e3 ber ©eift ber Siebe, ber nidfjt butben trollte, bajj fie feine SBorte
profanirte? . . .
©te flüd^tcte ftdj in bie äufjerfte @cfe be8 Goup6$; 'ifyc mar immer,
als bränge eine fdirecfticbe ©eftalt burdö ba3 jerfcblagene g^nfter hinein. . . .
2Bie merfnmrbig, bafj fie beim ©mfieigen nicfjt bemerft, bajj e3 jerbrodjen
mar! . . . . 2Bo mar fie bettn eigentlich in biefen 3"9 gefttegen? ....
llnb mar fie auf ber £inreife ober auf ber SHtdreife? 2Bie gut, bajj
fie in ■äWündfien feinen SBefamtten auf bem Salmbofe getroffen! Sie blatte
bo(f) ©lücf gehabt, grojjeS ©lud, unb nun mar fie ja gleic& ju &aufe. . .
2Bie »iel ©tunben nodf)? ....
(Sie Ijob ben 2lrm, um auf bie ttf)r ju flauen, bie fie an ber Äette
um ba& &anbgelenf trug. D, toie fie fror. — ©ie fror furchtbar — tln-
Rletb unb üjre Sacfe roaren ja aud) offen 2W), unb in ber $anb fjielt
fie immer nocfj feinen SBrief! ©ie nab^n ityn sanften bie 3äfme
— fte mufjte ibn jerreifeen! . . . 3lber roas mar benn baä? ....
©ie fcfjrie furchtbar auf unb ftürjte an ba« jerbrodfjene genfter. ©ie
fdjrie, al3 fottte fie baä ©etöfc beS braufenben &uQe% überf<§reien —
J&tttfc! . . . gfllfe! • • •
9JJan wollte fie ermorben — jraei SRänner, grofje, fcbroarje, maäfirte
Scanner ftanben »or ifir! . . . . ©ie fudfjte bie 2^ür ju öffnen, um ilinen
ju entfliegen. — GS gelang ibj: audj, bie ßlinfe ju erfaffen unb bie 2^ür
aufjuftofeen, aber e-S f)iett fie @tn>a3 feft, wie eine ©fenflammer blatte e3
ftd) um itire Taille gelegt
* *
*
211$ ©octor Söraun um neun Uf»r SDforgenS feine gritfnüfite im Rranfen=
fjaufe ju Kempten machte, berichtete il»m bie SBarmberjige ©cbroefter, baß
cor einigen ©tunben oon ber 33abnr<erroaltung eine Twne eingeliefert
warben fei, bie im 9tacf)tjuge einen 2lnfatt »on STobfudjt gehabt fyxbt
unb jefet noct) ganj berou&ttog fei; fie bobe boljeS gieber, baS S^ermometer
jeige 40°, unb nur mit3Mbe fei fie im 33ett ju leiten, ©letdj bei iJjrem
Ginfteigen in 9Jtündjen fyabe ber ©djaffner bemerft, ba& fie füb mit ben
£>änben ben Äopf gehalten unb »or fid) bi«9cfprocben t)abc; roäljrenb ber
ftafyxt, fo oft er burdj'ä genfter geblicft, l)abe fie unaufhörlich, ihren Sßtafc
geroecfifelt, fei aufgefprungen unb b<*be [ihre fttetbung aufs unb jugefnöpft;
fcbließticb, al« fie bie Scheibe jerbrodjen, habe er bem gugfübrer 3Mbung
gemacht. 33iHet I. Älaffe habe 3)iünd)en— Sinbau gelautet, bie Steife
tafele tjicr fei it)r einiges ©epäcf; ibrem 2lu3feben nacb gehöre fie ben
beften ©täuben an. . . .
„SDie £>ame fct)eint ©ie ja auäneljmenb ju intereffiren, ©ebroefter
Slnua," unterbrach ber SXrjt fie läc^elnb, „bafj ©ie alle ®etait§ fo gut
bebatten baben. SBir wollen fie uns erft einmal anfeben . . ."
Sein Brief. —
373
„316er &err 3>octor, e3 fdfmett uns bod) nicfit jeben Sag eine fdböne
Sßamenlofe fo in ber 2)?orgenfrübe auf bie Station!" .entgegnete fie fcfjerjenb.
©octor 33raun war ber auSgefprodbene Siebting ber 93armf)erjigen
©ibroeftern; fie berounberten fein jomale«, runbeS ©eficbt als ben böcbften
SluSbrucf mämtlidjer SBeiSbeit unb ©ütc, obgteidb er fautn breifeig Satire
jaulte, unb bie ©djroeftern felbft biefeä Sitter Jämmttidj f<bon überfcbritten-
Ratten.
„Stlfo fc|ön ift fie aucb, bie ÜRamentofe?" fragte ber Slrjt unb trat
in baS fogenannte ©rtrajimmer, roobin bie Äranfe gekaut roorben mar.
£ell fiel baS £age3ltcbt auf baä fcbmate 23ett, in bem bie 9teu*
angefommene mit gefcbloffenen Slugen rubte. %fyx auffallenb langes, bunfle«
&aar lag in einer bieten gleite ibr im 2lrm, i^r 2lntlifc mar fiebergerötbet,
unb bie troefnen Sippen ibreä 2Jiunbe§ geöffnet, fo ba& bie fleinen, biebt*
gereiften Styne fidjtbar roaren; ibre feinen fdbroarjen Slugenbrauen batten
fiefi wie im ©cfjmerj jufammengejogen, unb 5u<fenb befd&atteten bie langen
bunflen 2Bimpern ibre SBangen.
„(Sie ift oerbeiratbet," flüfterte bie ©djroefter unb rotes auf bie rechte
£anb, bie auf ber carrirten SßoHbecfe tag unb neben einem Sriffantring
ben breiten ©bering jeigte; bie ginger waren ftnblidj fdbmat unb fdnenen
faft burebfidbttg. „SBieltetcbt ftebt ber Stame ibre3 3Jlanne3 im SWinge, unb
mir ftnben fo am fdbnellften bie (Spur . . ."
„3a, aber bie £auptfacf)e ift, bafj mir fie am Seben erbatten," atte
roortete ber Slrjt. „Qn ber erften £upbu3roodbe, benn bie erfte mufj e§ fein,
fold^e S:emperaturböbe!"
2)ie Äranfe richtete fieb plöfetieb auf unb fab ben fremben Wann mit
ftarren, entfetten 2tugen an. „£ütfe!" febrie fie, „$ütfe!" unb »erfudfite
au§ bem SBette ju fpringen. ©r legte fie mit fanfter Söeftimmtbeit in bie
ßiffen äurücf. „<Sie müffen ganj rubig liegen bleiben," fagte er laut unb
faf) fie feft an — roie ©djroefter Stnna backte, „mit feinem magnetifeben
»tief."
„916er idj mufj nadfj $aufe!" ftöbnte fie unb ftiefj roirre 2Borte aus:
»on ben SBellen, »on bem furchtbaren SRaufdben — bann würben ibre Saute
un»erftänblidb.
$octor 93raun fab fie eine SBeite naebbenftieb an; e3 roar fo febroer ju
entfebeiben, ob bier eine ©ebirneittjünbung, ober, roie bie ©ebroefter meinte,
2typbu3 »ortag. Unb bann bie nädbfte grage: 935er roar fie? 2Bie fam
biefe fdjöne, uorncbme grau baju, fo obne Begleitung, obne Dienerfcbaft
ju reifen? 2Bie fonnte man fcbnelt, ebe es 3U fpät roar, ibre ^bentität
feftftetlen unb bie übrigen benachrichtigen?
©r traf berroeit feine mebicinifeben Sflerorbnungen: ©i§ unb ein Sab,
ebe er bie übrigen Traufen feiner Station befudbte, unb als er fieb bann
auf feine ^ßriöatprariö begab, febärfte er noöo eimnat ber ©djroefter
9lnna, auf bereu Seo&acbtungägabe er fidf) »ertaffen fonnte, ein, bafi e§
25*
37<k mite Ktemnifc in Sufarefh
»on größter 2ßid)tigfeit fei, fobalb als möglid) tarnen unb SBoljnort ber
gremben feftpftetten; fie möge beSlialb bie 9teifetafd)e auf 3 ©enauefte
unterfudjen unb aud) auf ber ^nnenfeite bei Trauringes nadjjfeben, wenn
fie ifnt olnte SBeunrubJgung ber ftranfen abjiefyen fönnte.
@rft nad) Verlauf mehrerer Stunben fefirte Dr. 33raun in'« ^ofpital
jurucf. (St war unterbefj beim Gfjef beä S3al)n^ofeS gewefen, um ftd)
perfönlid) nad) ber Unbefamtten ju erfunbtgen, unb blatte auf eigene Soften
bie 5ßolijiei6eb,örben in ÜKündben unb Sinbau telegraptyfd) oon bem Sßorfaß
benad)rid)tigt. Daß eine SluSfunft fel6ft im günftigften gaHe nid)t fd)neH
ju erhoffen ftanb, wufjte er.
©djroefter 3lnna beridbtete ifjm, bafj iie feinen Hinweis auf 9iamen
unb Heimat ber ©rfranften gefunben fiatte; im JHnge, ben fie tbr teid)t
abgeftretft, ftanb nur „SBalter" eingrauirt, unb baS jierlidbe ©Ifenbein*
»ortemomtaie entbielt lebiglid) (Mb, 16 SRapoteonS, fo»iel rote bmeinging,
rocu)renb ftd) in ber 9ieifetafd)e außer einem eleganten Portefeuille mit
mehreren &unbertgulbenfd)einen unb außer einer Keinen ftal)lmafd)tgen Sförfe
mit öfterreid)ifd)em unb beutfdfjem (Silbergelbe nur etwas Setbenwäfdje
befanb, oon berfelben 9lrt, wie bie Dleifenbe fie trug, 2t(leS uon jarter
ftarbe, mit edjjten Spifcen befefet unb mit einem großen, »erfd)lungenen 6
gejeid)net; bie 9ieifetafd)e war ju ^aris im Souore gefauft.
„®S ift jum SSeräroeifetn!" fcufjte Sd)roefter 2lnna. „SBemt man ftd)
»orftelit, bafj bie näd)ften 2lnt>erroanbten in 2»be3ängftcn Marren unb
»ielleicbt eine Sßelt in $eroegung fefcen tnödjten, um bie Verlorene ju ftnben!*1
@ie fcblug bem 2lrjte t>or, bie Rranfe in tbren ^ieberpb^xntaiien ein*
mal nad) ifjrem 9iamen ju fragen; fie felbft tiabe e£ objte (Srfolg getljan,
aber ibm, beffen Stimme fo »iel über Patienten »ermöge, werbe e«
gerotß gelingen.
Doctor ©raun trat in baS fat)(e 3mtmer, an baS 33ett ber fdjönen Un*
belanmen, beren 3U9* fe't *>er grübe nod) fetner unb »erflärter geworben
ju fein fd)ienen; rubjg tief? er ftd) neben ityrem Sager nteber unb beofc
adjtcte fie. Die Slranfe fd)tud)jte in ib. ren Delirien fjerjjerreißenb auf, unb
als ber 2lr$t ibre fd)male &anb ergriff unb ftreid)efte, wanbte fie ftd) ibm
ju unb flüfterte: „«Wein ftung?"
„SBie Reifet Du?" fragte er.
„3a, rote f»eif%t Du?" roieberfjolte fie faft fd)etmifd). „SBie Reifet Du
eigentlid), mein Sieb? greb ober griebfreb ober grifc? — Du Reifet «JJiein
ftung . . ." Dabei Iäd)elte fie füß unb fcbien beruhigter."
Doctor Söraun fat) ein, bafj es ein ^etiler geroefen mar, fie mit Du
anjureben, benn einem greunbe, ber ©inen bufet, braud)t man ja feinen
•Kamen nid)t ju fagen; aber and) fonft mod)te biefe grau ttsoljl faum in
bie Sage gefommen fein, fel6ft ib^ren 9iamen ju nennen. — Um il>r beü
jufommen, mußte er ftd) erft tiefer in ibje SJertyältniffe »erfcfe«n fömten,
unb für ben Slugenblid nab,m er 9lbftanb, weiter in fie ju bringen. %ieU
Sein Brief.
375
leidjt träumte fic gerabe »on ihrem Äinbe; Sdjroefter 2lnna t)attc ja be«
rietet, baß fie ängftlid» nadj „SBabo" gerufen t»abe. — „3$ glaube, fie
ift feine SDeutfdje," mar ber lefetc Schluß ber beobachtenben Sdnoefter
geroefen, unb bamit ftimmte bie eigene SHutfimaßung beS 2lrjte3 überein,
benn bie Äronfe friert if|m in ihrer 2lu8fprad)e etroaS gremblänbtfdieä p
haben, fo geläufig ihr augenfdjeinlich ba§ ©eutfdje aud) mar. Seflätigte
ftdj ober biefe SDiuthmaßung, bann warb eä erft recht hoffnungslos, fdjnett
ihre 3tngeb^örigen aufjuftnben. — 2Bte furchtbar tragifd), wenn biefeS
rounberfchöne junge Sffiefen fyet fterben unb begraben roerben mußte, ehe
bie Siebften unb -Jtächften »on ihrer ©efahr aud) nur unterrichtet werben
fonnten! 3lber rcaS roar p thun? Selbft mit ben größten -Mitteln —
unb bie befaß er mäjt unb blatte fie audj faum auf eine grembe »errcenben
Dürfen — tief; fidj hier ferner (SiroaS erreichen! £>ie Sdnoeftern Ratten
oorfiin gemeint, baß bie (Steine, roeldie an ben Keinen Dfjren ber ßranfen
blifcten, »iete £aufenbe roerth feien, ©efefct, baß er biefe Steine nahm
unb fogleid) buref) feinen 3lffiftenten, ben er nach 2Jfündjen fenbete, »er*
faufen ließ, fonnte er bann nicht mit bem @rlö§ Gimmel unb £ötte, b. h-
bie geheime Sßolijei in SBeroegung fefcen, um bie Spuren ber ßranfen }u
»erfolgen? 2Bäre ba§ nidjt roerfthätige 3J?enf dienliebe? Seine Sßflidit war
e8 mdjt, aber nun e§ ihm eingefallen, roar e§ beinahe fdjon Sßflidjt, es
aufführen! ©a§ roar etroaS 3tomanhafte3; bisher aber l)atte er noch
nichts SSfoßergeroöhnticheS erlebt, erft burdj biefe Stranfe roarb eS in fein
Seben hineingetragen! — SKußerbem, in »ierunbjroanjig Stunben, roenn
er nicht fofort hanbelte, fonnte es ju fpät fein.
£)ie 2lntroortbepefd)e aus Sinbau h«tte gelautet, baß fdjeinbar SRiemanb
bort eine ©ante ertoartet ober »ermißt habe. — @r badete noch einmal
baran, if)r bie großen brillanten fadjte auS bem Dfytl&wfym ju löfen, allein
er roar nidjt baju im Stanbe, ihn fdjauberte, eS trieb ihm baS SBort ßeidjen«
raub in'S ©ebäd»tntß. — $>odj baS roar falfdje Sentimentalität! 2Mrbe
fie felbft nidrt, roenn bei 23eroußtfetn, 9ÜIe8 hingegeben fyabtn, um fidj
£ülfe unb ©rlöfung aus biefem gefängnißähnlidjen £ofpitat ju »erfdjaffen?
Unb es mußte fdmell (StroaS gefdjehen, beim baS gieber flieg, unb
in ihrem ©ehirn war abfolute SHadrt. £>aS Sab roar ohne @influß auf
bie Körpertemperatur geblieben, ben ©isbeutet fHeß fte oft »on ihrem
ßopfe fort, hotte alfo feine Sinberung ba»on. 2lber gefcheb>" mußte
StroaS!
@r faß nun fdjon eine SBiertetftunbe ba, ohne ben 33lid »on ihr ju
roenben, obgleich es ihm roie eine ftnbiScretion »orfam, fie anjufdiauen,
unb er aus Zartgefühl bie $hur ium üßebenjimmer, nio jroei ber Sdjroeftem
fafjen, offen gelaffen hatte.
SWit feinen lautlofen fleinen Sd)ritten trat er an ba« Thermometer
— jroölf ©rab 3?c«aumur, alfo bie ridjtige 3intmerroärme; aud) bie S3entita*
tion roar gut. — SBie fonnte nur biefe SreibhauSpflanäe »on $rau fo
376 OTtte Kremntg in Sufarefi.
allein burd) bie 2Mt reifen! SBeldje Sebensumftänbe motten fie bap ge»
trieben f)aben?
<5r ging ju ben ©djmeftern unb bradjte feinen SSorfd^rag mit bcn
Sridonten an. Sdiroefier 2tnna rentonflrirte energifd): „$f)un Sie bas
nid)t, £err £octor, eS fönnte Offnen Unannef)mlid)feiten oerurfadjen" —
fic faf) bie ganje 2Belt nur unter bem (MtdjtSpunfte ber ^nnefmilidifeitctt
ober Unannefmitidifetten für ifycen ©octor an — ; „td> ratbe 3$nen
bringenb, 2Itte§, was bie Äranfe an unb bei fid) blatte, unoerfeb^rt aufju;
beroabren! £öd)ften8 fönnten mir ib,r etroaä 25?äfd)e faufen, beren fie
morgen bebürfen wirb; bie 9tedmnng bleibt unä bann al« Seleg . .
„Cb fie morgen überhaupt nod) ßtmaS bebarf?" marf er ein.
Sdnoefter 2lmta f>atte eine Siegung oon ©iferfudjt.
„SBenn fie aud) fdjön unb fremb ift, fo motten mir bod) nid>t gletdj
baS Slu&ergeroöfinüdie annehmen . . ."
„3[di fomme fofort nad) bem ©ffen roieber," fagte ©octor Sraun unb
brad) baä ©efpräd) ab. ©od) ber ©cgenftanb beäfelben fjörte nid)t auf,
ir)rt ju befdjäfttgen; in feiner ^rioatmotinung fefcte er ein lange« Telegramm
an bie „SHündjener Allgemeine" auf, roorin alle 3eihmflcn bringenb erfudit
mürben, ben rätljfefi)aften Vorfall möglid)ft ju »erbreiten.
„@s ift nid)t angenehm, roie ein oertoreneä ©tücf Sief) auägefdjrien
ju merben, aber nur burd) bie gröfjte Deffentlidjfeit famt id) auf 6rfo(g
rennen. Unb bie SBerantroortung ift mir fdjrectlid}!" backte er bei fid),
als er in bie „(Mbene Traube" ju feinem 2Rittag3tifdje ging.
2Bie immer, warb er mit i^ubel empfangen; jmar gab man itmt
einige Spieen roegen feine« 3tu8bteibenS beim grübfdioppen ju I)ören,
allein bem „^fiffifuS" rourbe felbfi biefeS bettet »erstellen. — S5er SDHttagS*
tifd) beftanb au2 jef)n Herren, faft jur Hälfte 9lorbbeutfd)en. 68 pflegte
Ijödjft ftbel tiermge^en in bem Keinen Greife, beffen -Dtittelpunft unbeftritten
Äurt Sraun bilbete; bie SBifce waren nid)t immer ganj neu, unb e3 mar
fjauptfädjltdj bie grau 2Birtf)in, bie immer mieber b,er|atten mutte, aber
ber Sdiabernad, ber mit ib,r getrieben mürbe, war ftets fo gutmütig unb
b,armlo«, bajj iljr felbft roaS gefehlt f)aben mürbe, menn Soctor Sraun de
einmal nid)t fjätte rufen laffen, um fid; über irgenb eine neue »orgefdjtujte
Unbill ju beflagen.
Toctor ©raun mar erft feit jmei Qafjren in Kempten; tro|bem
fonnte fid) jefct feiner feiner Sefannten meljr »orftelten, baf3 ba$ Seben
bort früher roaS Stedjte« geroefen fei, fo beliebt blatte feine um»ermüftlid)e
gute Saune üjn gemadjt.
9lud) fyeute mar er uttoeränbert gefprädjig unb gut aufgelegt
©n Sliaraftetpg oon U)m, ben freilid) nur SBenige rannten, mar, ba§
er f)öd)ft bilcret, ja, mefir als baS, oerfteeft unb r<erfd)loffen mar; bie
meiften fetner Sefannten blatten im ©egentfjeil barauf gefd)rooren, bafj
ßurt Sflraun fein ßerj auf ben Sippen trüge, berni feine jomale 9trt, fein
Sein Brief.
377
fietä bereiter $umor oerleiteten ju ber 2lnftd)t, bafj er Obermann in fein
Vertrauen }og. Qn 2Birflid)fett aber roar er ein 3JJeifter ber Äunft, bic
eigene Meinung ju oertjefylen unb jeber fremben ein getmffes 9)iaf3 Seifatt
Jollen, fobaf3 am Sdjlufj ber ©ebatte über irgenb eine (Streitfrage 9tte*
tnanb f)ätte ange6en fönnen, roeldjer 2lnfid)t eigenttid) $)octor 33raun ge«
roefen fei.
2lud) bleute merfte feiner feiner SHfdjgenoffen ifmt an, roa<3 fein
QunereS bewegte, unb in tote großer (Spannung feine ganje 3?atur fid)
befanb.
2113 er gegen brei Ul)r roieber in fein ÄranfenfjauS tarn, empfing ifyn
<Sd)roefter 3lnna mit ernfter SJMene: ,,3;d) glaube, e§ geijt nnrcTid) ju
©nbe , . . ."
„Um ©otteämtllen!" murmelte er, unb ifmt roarb plöfclid) ganj übet.
@r füllte, bafj er mit bem ©ebanfen eines fd)limmen 2lu2gange8 bisher
bod) nur gefpiett, unb bafj feine Seele bie Hoffnung, bie Unbefannte
roerbe ber $ranH»eit roiberfieljen, fjartnädig feftgefjalten blatte. SBarum
eigentlid) blatte er bett ftäbtifdjen ©efjörben nod) feine 3lnjeige gemad)t,
roarum ftd) barauf »erlaffen, baj) bie SBafjnoerroattung e3 getf)an? 2ld),
all biefer gormelfram, n>a3 fümmerte ifjn ber, wenn fie roirflid) fterben
foCte! ....
„2Btr muffen fogleid) nod) ein 93ab geben," beftimmte er. $)tcamat
affiftirte er bem 33abe, roetl bie Äranfe SBiberftanb [eiftete, unb er bie
©cfnoeftem unterftütjen mufjte — bie jarte, mäbd)enf)afte ©eftatt rjatte un«
geahnte Gräfte!
©ott fei ®anf, eine Stunbe fpäter mar bie Temperatur um einige
©ecima[ftrid)e tiefer, aU vor bem 33abe, e3 fd)ien alfo genügt 5U f»aben.
* *
*
SJoctor 23raun »erlief? baä 3immer ber Unbefannten nur, um feine
9tunbe burd) bie Äranfenfäle ju mad)en. Sobalb er bann oon Beuern feinen
spiafe am SBette ber rätfjfelfiaften Patientin einnahm, flüfterten bie Scfnoeftern
einanber ju: „@r glaubt aud), ba§ es bleute nod) ju ®nbe gefjt; fonft
mürbe er nid)t fd)on roieber ba fein!" ■
3fl)n fjatte ein merfroürbigeä 9Witleib gefangen genommen; nid)t bie
<Sd)önf)eit unb bie 23erlaffenf)eit ber jungen.grau, fonbcrn etwa« ganj Un*
erflärlid)eä mar e§, roaS ifm ju ifjr jog. ^inmer blatte er ba§ ©efübX
ate fömte er, nur er, ifjr Reifen, unb bod) fragte er fid) umfonft, roie
unb rooburd)? — ©dion »or fed)ö 1% fd)ienen fid) alle 33efürd)tungen 51t
betätigen, ba3 $ieber ftieg roieberum, ibj Slntltfc mar nid)t mef>r gerötfjct,
fonbern »on franffiaftem ©etb entftcllt, unb in furdjtbaren 3lengften richtete
fie fid) auf, »erfudjte aus bem Sette 31t fprtngen unb forberte „ben Jtrief".
S)er 2lrjt laufd)te ifjren ^fjantafien: immer «lieber taudjte in tfmen ber
378
Utile Kremnife in Sufatefl.
Srief auf. Seife erf)ob Stoctor SBraun fidj, faltete im SHebenjimmer ein
©tüd Rapier jufammen, unb als fie wieber, ftd) anpadenb, aU fudjte ite
Um an ftd), „ber Srief!" rief, ba briicfte er t^r ba$ Sßapier in bie £anb.
©ie ergriff el frampfliaft, jerrijj es, warf bie Stüde neben bem 23ette
nieber unb fanf bann, übcrroattigt von ber 2lnftrengung, auf ba3 Äiffen
jurüd. Allein nadj einer SBeite erfdnen abermals ber Srief in Ujren um
jufammenfiängenben Sieben — ber Srief, baä genfter, bie ©ifenbalm.
SDoctor 33raun taufdjte. 2öar tfir ein Srief au» bem Goup6fenfter
entflogen? £atte fie barum bie ©djetbe jerbrod)en? Unb ftanben in jenem
SBriefe 2tuff(ärungen über fie? — 2lugenfd)einlid) b>tte fie felbft fd)tm
wäfirenb ber galnt empfunben, bafj itir 23ewufjtfein fd)wanb, unb mit ber
auäbredjenben ÄranHjeit gerungen, ^m {inen eä plöfclidj eine ©enrijjb>it,
ba§ fie in ber 3lngft, f>ü(fio$ unterwegs liegen ju bleiben, einen SJrief mit
ib>em 3lamen unb ifjrer 2lbreffe gefdjrieben, unb bafj ber 3ugfül)rer, als
er bie »ermeinttidje 2lbfidjt ber Rranfen, fid) au§ bem SBagen s« ftürjen,
»ereitelte, fie tebiglid) »erfiinbert blatte, ben wegffatternben ©rief wieber su
erf)afd)en.
Se&t madjte ber 2lnbrud) ber ©unJetfieit bie SSerfolgung biefer Qbee,
biefer faum wahrnehmbaren ©pur unmöglich, aber am näd)ften -Diorgen
wollte SDoctor 33raun fein 3Köglid)fte§ tfiun, um ba$ 9täthfel ju löfen!
3hm war ein $tan gefommen, ptöfclich wie eine ©rteucjjtung. £»en
33rief mujjte unb wollte er wieberfd)affen! gortwäljrenb fah er jene ©cene
»or fid): 35ie franfe arme grau, bie angeblich ^rre, im Äampf mit ben
unwiffenben, wenn aud) wohlmeinenben Söaljnbeamten, welche bie SSer=
jweiflung beS unterltegenben jarten SBeibeS für £obfud)t nahmen! . . . .
3Son feiner tiefgefienben ©rregung war ü)m äußerlich aber ;Kid)t3 an*
jumerfen.
„©djroefter Sünna," fagte er beim fortgehen au8 bem $ofpital,
„machen ©ie mir f»eute 2lbenb ein ©las öftres ^errlid;en SljeeS — fo
wie öftrer fdmtedt lein anberer. 3d) werbe gegen elf Uf>r nüeberfommen
unb bie Siad)t hierbleiben unb wad)en, bamit ©ie e§ nid)t thun. Äeinen
SBiberfprudf) ! Ünä Seiben ift bas arme SBefen nun bodj mal an'ä §erj
gewachsen, unb wir möditen bodj nidjt morgen früh mit ber 3laä)rid)t
aufgewedt werben, baf? 3lHeS oorbei? 3d) aber bin oon unä ber
Äräf tigere \"
„Stollen wir fie nerfeb^en laffen?" fragte iljn bie ©d)wefter.
bädjte eigentlid» nid)t, aber wie ©ie meinen . . . ." ant=
wortete er unb ging; bie ®ntf Reibung biefer grage überlieft er lieber ben
©tfjweflern.
©l>e er fid) jum 3lbenbimbife in bie „Traube" begab, burdrflog er in
feiner SBo^nung nod) rafd) bie 3«t"n9; m jwar ^öd)ft unwab^=
fdjeinlid), ba§ er barin einen gingerjeig entbeden würbe, aber feine
Sßfyantafte war nun einmal wad), unb er ftubirte bie 9hi6rif „SocaleS",
Sein Brief.
379
ja, felbjt bie „öofnad&ridfjten" aus 3Ründ)en mit ber grö&ten ©enautgfett —
freilid) oljne (StroaS ju fmben. 9Ked)antfd) roanberten bann feine 2lugen
nod) über bie näd)fte ©palte: $od)äettSfeier einer erj^erjogin in SBten
mit irgenb einem Sßrinjen aus regierenbem £aufe. $>octor 33raun gehörte
nid)t ju ben £efern beS @otl)atfd)en ÄalenberS; fo intereftirten üm aud)
nidjt bie 2luSeinanberfetmngen beS Sötener Gorrefponbenten über ©enealogte
unb $ent)anbtfd;aftSterb/ä[rmffe beS fürftlid)en Bräutigams, ber burd) ben
£ob jroeier Steffen — 2)ipf)tf)eritiS — plöfelid) jum präfumti»en Stroit«
erben geroorben unb bamit in bie Slotfiroenbigfeit »erfe|t mar, fid) nad)
einer ©emafrtm umjufel)2n.
3n rafd)erem £empo roeiterlefenb, fanb SDoctor 33raun bie üblichen
biograpf)ifd)en JJotijen über baS tjorje Brautpaar: ^rinj $riebrid) ftanb im
33egitm ber SBierjiger, tjatte bisher für einen SBeiberfetnb gegolten unb
nur feiner 2Biffenfd)aft gelebt; mit einem <Sd)lage mar er batm oon fjeifjer
Siebe erfajjt ju ber jugenbtid) liebreisenben @rjb,erjogin, bie gleichfalls eine
warme £erjenSneigung für ben geiftreid)en 3Jfann empfanb, ber alle, ib^re
fünftterifdjen Snterejfen feilte. — ©rofje ©nmpatljie beS SßublicumS mit
biefem 6f>ebunbe — 2lnetooten über beS Sßrinjen ©elebrtenleben in SßariS
— fein nom de plume „Friedfred", fein Rufname im engften gamilien«
freife „ftreb" u. f. n>.
„2llfo roiffenfd)aftlid)e ^rinjen giebt'S aud)!" läd)elte ©octor 33raun
»or fic§ f)in. „£at über SBürmer unb gefd)rieben — ein gelehrtes
£au8! .... 2Birb aber 2llIeS fo roafir fein wie baS SDteifte, roaS über
tyofie #errfd)aften gebrucft roirb ©onnerroetter! 2Bo f)ab' id) aber
biefen bummen 9iamen $rieb=3=reb fürjlid) gelefen? . . . ."
®r entfann fid) beffen nid)t; eilig burd)mufterte er nod) ben 23erid)t
über eine polijeilid) gefd)loffene ©ociattften SBerfammlung foroie „neue
Variante ber leiten Äanjterfrtfe", legte bann in fetner peinttd) orbentlid)en
SBeife baS Slatt jufammen unb ftanb auf, um ju 33ier ju geb^en.
„£errjeli!" entfuhr es tfmt auf ber treppe. „3$ bin n>of)I rein
toll? 2(ber bie Äranfe fprad) fa oon gftieb^reb! — ©elefen f»abe id) es
nid)t, fie fprad) ja »on tl>m, toatjrriaftig ! 2BaS fann baS fein,
ein 3«^? $am fie etwa aus Sßien? ^efet Reifet es aber 23or*
fid)t! — ©od) nein, fie trägt ja einen ©gering, es roirb ein jufättiger
©letd)ftang fein. $d) tiabe ben &opf t>off »on iljr unb bejicfje Stiles auf
fie! . . ."
*
SHe 9ieuigfeit oon ber im 9kd)tjuge irrfumig geroorbenen $ame, bie
im ftranfetdjeuS liegen follte, b,atte in t)ielfad)en Storianten bie ©tabt burd>
flogen, unb als ®octor SBraun jum 3lbenbeffen baS ©aftjimmer ber „©olbenen
Traube" betrat, faßte il»n fogleid} bie SBirtcjirt ab unb beftürmte ib,n mit
fragen, ©r aber blatte »on feiner Qrrfinnigen GtroaS geferjsn ober gehört.
380
Utile Kremnitj in J3ufarejh
2tud) am Stammtifdie fprad) matt nur über bie $ame, bi« „^ßfifftfus"
fid) baju fcfete unb fagte: „Äinber, id) bitte mir ein anber ©efpräd^ an«,
©ntroeber (aßt 3$* bie Älatfdierei, ober tdj Derjidite auf 6ure angenetime
©efellfdiaft — mir roäd)ft bie Sad)e jum ^alfe lierau«! . . ."
211« er feinen Ueberjiefier an ba« £irfd)geroeil) gelängt fyatte, mar it)m
©troa« eingefallen: Stuf ber ^mtenfeite be« Stodfragen« ftanb fa 9km:
unb Sflbreffe feine« SRündjener Sdjneiber« — folite nidjt aud) an einem btr
ftleibung«ftüde ber Same etwa« 2tet)nttd)e« ju ftnben fein? . . . SBirfttd),
er mufcie fid) einen SBorroanb erfmnen, um gleid) — ad) nein, bie Sßoft
mar bod) fdjon -gefdiloffen, ba« blatte alfo 3«^ bis elf, unb uor ber an*
gefügten Stunbe roollte er ntd)t roieber ju ber lieblichen grau . . .
9iie mar ifnn ber Sfat — benn biefe« norbbeutfdje Spiel Ijatte er
fofort liier eingebürgert — fo öbe erfdiienen; nie maren tf»m bie Stunben
in ber „©olbenen Traube" fo langfam »erftridjen! 5ßunft elf Ut>r trat
er in ba« Äranfenfiau«; er mar fel)r fdmell gegangen, benn if)tn fdjnürte
bie 3lngft, bajj etroa« Um>orl)ergefel)ene« uorgefaHen fein möd)te, bie Äeb,te
ju. Sdjroefter 2lnna melbcte jebod), bajs 3llle« unoeränbert fei; bie Sranfe
merfe nid)t, roer in ilirem 3immer au«; unb eingebe, fpred)e oft halblaut
abgeriffene Säfee ofme Sinn unb merfe fid) unrubjg lierum.
„Sdjroefter 9lnna, mir müffen feilen, ob nid)t an $a<fe ober Äteib ber
£ame bie Slbreffe ifire« Sdmeiber« tft!"
Äu?"
„fta« roerbe id) ^nen gleid) fagcn."
$)ie Sdjroefter fanb in ber £f)at auf bem £aiUenbanbe be« Steibe«
eine 2Biener gfirma angegeben, mit Straße unb -Kummer.
„@ut," rief ber 9lrjt befriebigt au«. „ftefet trennen Sie Iner unten
ba« $utter ab, fo" — er jog felbft fein Safdjemneffer — „9cur red)t
»orfid)tig, bamit mir Mdjt« »erberben! — £ad)te id)'« mir bod), e« ift
ein breiter 6infd)lag; nun eine Sdieere, unb mir fiaben ein fdjöne«, große«
Stüd 3eug al« 9Jhifter!"
„Sie ftnb ein ©eme!" fagte Sdiroefter 3fona berounbemb.
„9iid)t roafjr?" fufir er läd)elnb fort, „^efct näb,eu Sie e« gleid;
roieber $u — paffenbe Seibe finben Sie fdion in 3*>rem berühmten 3°Pf
— unb id) fd)reibe unterbefj an bie girma — nein, e« ift beffer, Sie
tfnm e« — red)t t)öflid) — mir erbitten umgefienb 9tadrrid)t, ob au« ben
©efd)äft«büd)ern nadijurcetfen, mer in biefer Saifon — benn au« biefer
Saifon ftammt ba« .«leib bod)?"
2lmra judte bic 9ld)feln.
„2llfo, roer in biefer Saifon eine SReifetoilette au« inliegenbem Seiben=
ftoffe fid) bei ber gefaxten girma f)abe anfertigen laffen? %üQen Sic
tlinju, bafs e« fid) um Seben ober Sob fianbelt! . . . So, unb nun ^fyetn
ganjen 9?amen, nid)t nur Sd)roefter 9Inna, aud) bie 3?aronin S3irfenfetb —
ba« 3ie^t in SSien; jefet ben Stempel be« ^ofpitat«, unb recommanbirt
Sein Brief.
— fo! . . . Selber gefjt ber SJrtef erft morgen ab. -Wim, roir motten Ijoffen,
bajj er uns bie geroünfd)te 2lu8funft bringt, unb — baß wir ben Planten
für bie Sebenbe, ntd)t für ba3 ©rabfreuj gebrauten roerben."
2>er qualnoffe Buftanb oer fdjroerfranfen jungen grau bauerte unge*
tinbert an; fie fprad) oft teife oor fid) f|in, [oerfudjte unruhig fid) aufju=
rieten, fiarrte in falbem SBenmjjtfem um fid) unb »erfanf bann auf einige
ÜDiinuten in ©djlaf, um plöfelid) auffdjreienb unb laut ftöfinenb in bie £öf>e
gu fahren. 3un,eilen ^m au3> ocr 2Mcf nrieber in it)ren ^ßfjantafien oor
unb bradjte ben 2lrjt auf feinen sptan jurücf, bie ©trecfe barnad) abjufud)en.
„Sange b,äft biefe jarte Gonftitution ba3 nidjt auä," bad)te er beforgt; aber
immer mar tfmt, als ob eine innere Stimme i\)m fagte, bafe fie md)t fo
beroufjttoS fterben fönnte unb bürfte, bafe fie berufen fein mürbe, if)m nod)
einen SBenbepunft im Seben ju bebeuten. Unb bod), roie oft blatte eine
fotd)e innere ©timme üm nid)t fd)on getäufd)t! — $>er SJfenfd) f)offt eben
bis über bie ©renjen ber 9J?ögtid)feit! —
2lm näd}ften ÜJiorgen fyatte bie Temperatur ber ßranfen fid) etroa$
gebeffert, man blatte if)r aud) ein roenig 9iaf)rung einflößen fönnen, attein
ba3 Seroufjtfein blatte fid) nod) nid)t roteber eingeftettt. Dr. SBraun neigte
fid) mefir als je ber 3lnfid)t ju, bafj eine ©efiirnaffection norliege. 9iber
nod) lebte fie, unb nod) Ijoffte er! —
9iad)mtttag3 mad)te er fid) an bie 2lu3füf)rung feines planes, in ben
er ÜRiemanben eingeroeiljt fyatte; nur beiläufig erfunbigte er fid) auf bem Salm*
fiofe, afe er eine $al|rfarte 1. Ätaffe nad) Sefeigau löfte, ob biefetben
2Baggon§, bie in ber norgeftrigen 5Wad)t bie ©trecfe gemad)t, bleute roieber
jurücff ehrten; genauen 93efd)eib ertjiett er nid)t, nur, baft eä roab,rfd)einlid)
fei, ba bie Sßagen bisher nod) nid)t jurüdgetaufen feien.
®er b^bftlid) leere ^ßerfonenjug führte bloS ein einjigeS 6oup6
1. Ätaffe; ©djaffner unb $ugfüljrer roaren, roie ©octor 33raun burd) 33e»
fragen conftatirte, leiber nid)t biefelben, roetdje bie t)ermeintlid)e ^rre ein=
geliefert Ratten. Trofebem roar er nidjt entmutigt, benn er falj gleid) beim
©infieigen, baß bie ©arbine be$ 6oup6fenfter3 an »erfd)iebenen ©teilen
ein», unb bie granjen abgeriffen roaren; baä beftärfte in ifmt bie SInnafjme,
baß er fid) roirflia) in bem gefügten Goup6 befinbe. ©ofort nad) ber
2lbfaf)rt begann er feine 3Jad)forfd)ungen; er rechnete babei auf bie nad)*
läfiige SBeife, in ber meift bie SBaggonS gereinigt roerben, unb fyolte ein
Äiffen nod) bem anberen heraus, grub feine £anb tief in bie SßolfterungS«
einfd)nitte: SRidjtä! — bann legte er fid) auf ben SBoben: aud) 3<iid)t3! —
®od) — bort, f)inter ben &ei5ung3röljren, roaljrfiaftig, ein äufammengefnitterteä
Rapier! . . . 3tym roar ju 9JJutt)e, als fei eä unmöglid), bafj er fotdjeä
©lüct f)ätte! 3lber roarum nid)t, roar e§ bod) nur eine 2Baf)rfd)einlid)feit3s
red)nung, roetd)e ftimmte!
9Wit einiger ÜJ?ür)c fjolte er ba3 Sßapter au§ bem SBinfet Ijeroor,
rooljin eä beim Peinigen ad)tlo$ mit bem söefen gefdjoben fein mod)te. @r
382
JJTite Kremniö in Suforeji.
fe|te fid) Ijin, et)e er es glättete. ©S roar ein ©oucert ofme 2lbreffe, aus
leichtem engtifdjen Rapier; gefcf)loffen mar eS nie geroefen, fjatte alfo rooljl
urfprüngltdj in einet jroeiten Umhüllung geftecft. Sangfam jog Äurt Sraun
aus bem ©ouuert einen Keinen Briefbogen, ber gleid) jenem eine Ätone
trug unb mit einer jterlid»en, beutlidjen ßanbfcfirift befdirieben mar, o^ne
Datum unb Unterfdjrift; er lautete:
,,©S ift rooljf ein 5U großem, ju unmenfcjjtidjes Dpfer, roaS id) Dir
}umutf)e? Du fetbft wirft entf Reiben, unb mag Du audj tljuft, eS foll
mir red)t fein! SCag unb 9lad)t »erfolgt mid) bie quälenbe ©elmfud)t,
Dir nodj einmal in'S 9luge ju flauen, ©eine roeid)e fleine £anb nod)
einmal ju faffen. Umfonft fage id) mir, bafj eS ein ^rcfinn ift, Dir bie
3Wül)fal einer fo langen unb befdjroertidien galjrt aufjuerlegen, ba mir
roeber jufammen fterben nod) leben bürfen. Die ©efmfudit roädjft unb
concentrirt fid) auf bieS ©ine, baS lefete 3JlaU
„2Benn Du allein, unter frembem JJamen — nenne Didfi Xfjun nad)
bem See, ber uns einmal gefd)aufelt ()at — am nädjfieri Donnerstag }u
Sßien im Grand Hotel abftiegeft, fo fömrte tdj Dtd) jwifdjen brei unb
fünf Uh> JiadjmittagS auffudjen. Die -Jiummer Deines 3in"nerS müjjteft
Du mir in einem ©ou»ert burd) bie Sßoft gleich nad) Deiner 3lnfunft ju=
fenben, bamit id) im £6tel nidjt su fragen brauste. Dort femtt mid)
Sliemanb, unb au<$ Du wirft »erfdiroinben in bem grofsen belebten £6teL
3d) jäf)le bie ©tunben bis ju jenem SBieberfefien — roaS nadjljer folgt,
ift fdjroarje 9iad)t. greittd) feine fo fdjroarje, bafj mir nid)t bie ©r«
innerung an bie grau, bie mid) jur ©rfenntnifj beS SebenS unb meiner
Sßfftdjten gebracht b,at, fternen^ell barin leudjten wirb! ©inS bleibt mir
immer: unauSlöfdjlid&e Danfbarfeit gegen Didf)!"
£urt 33raun las es jroeimat, unb ib^rn roarb eisfatt. Die Sfimung
einer anberen ©efü^lSroelt als jener, in melier er bisher gelebt blatte,
brad)te if)m eine unheimliche ©mpfinbung unb lähmte il)m bie Ueberlegung.
©rft «13 ber 3U3 «nb er auSftieg, um mit bem nädjften 3u9e nadj
Kempten surudjufaliren, nmrbe tytn flar, roie wenig er erreicht blatte von
bem, n>aS er erhofft. 6t legte fid) bie befrembenben ^atfac^en juredjt:
Diefe grau mar l)eimli<f) eine roeite ©trede gereift, um 'einen 2JJann ju
fetyen, mit bem fie „roeber leben nod) fterben" burfte, alfo augenfdjetnlid)
nidbt itiren legitimen ©arten! <Sie blatte fid) oorgefeb^en, bafj fie nidjt
erfdnnt roürbe; 9iid)tS beutete auf ityren @tanb unb SRamen f)in; fie blatte
roalirfd&einlidj auc? feine birecte Jioute, fonbern ber ©tcfjcrrjeit roegen einen
Umroeg gerodelt. 3weifelloS fjarte fie furchtbare geiftige unb feelifdje &c-
regungen burd)gemacht unb eine Stranffieit mit fid) gefd)lepnt, an ber fie
5ufammengebrod>en roar. — 2luf ber Qin- ober Sriictreife? DaS war
leid)t su entf (Reiben — Stucfreife! ...
SBaS aber follte, roas fonnte er nun für fie tlmn? Zfyc fetbft roäre
rool;l am beften, fie ftürbe! ©inen Slugenbtid roar ib^m fogar, als müffe er
Sein Brief.
383
nriinfd&en, bafj fte ftürbe. £)odfj nein, nur im Vornan löft fx<^ ber ßonflict
burcfj %ob jur redjtett Seit, ©ie aSBirfCid^fcit ober jroingt ben 3Jlm\ä)en,
mündig felbfi feine SBerrotcflungen su töfen, unb läßt ifin crft bann fterben,
roemt tljm 2tlle3 gerabe boran Regt, weiter ju leben!
SßaS fonnte er für fie tfmn? . . . @r ging eine 2Beile auf bem
Sßerron auf unb ab. ©r fagte ficlj, bafj er rate ein Detecti» ficb, in bie
©efieimniffe einer gremben eingefdfilicfjen batte, unb roar eä aucf) aus reinfter
2)?enf(^nfreunblidE)feit gcfdEietien, fo befferte ba§ bie Sage mcf)t. liefen
33rief, ben er jefet in ber 33rufltafdfje' trug, burfte er nidit gelefen Ijaben,
ber burfte nifyt mefjr eriftiren; aber ein 9tedjt, t^n ju t>ernidjten, traute
er ficfj aucfj nicfjt ju. SBer weife, oielleid^t fonnte ber 33rief i^r nod) einmal
jur SRedfjtfertigung bienen? — 6r felbft mufjte t^r gegenüber ftetS tbun,
als fämtte er ilm ni<$t, unb burfte ib,n if>r audj nur im $alle ber ©efaljr
roiebcrgeben! 2ld(j ©ott, baä 2lUe3 mar fo un^eitoott oerfnotet unb »er=
f jungen, baf? ber Gimmel am ®nbe ein 6infeb,en fiaben unb fie abrufen
roürbe! <Sie ftürbe gerotfj aucfj gern, nacfj bem furchtbaren ©dfjmerj ber
Trennung oon bem 2Ranne, ben fie über 9UIeä geliebt — ober mar e3
»ieffeicf)t bocb, fein -Kann? konnte e§ niefit aucb, eine grau fein, eine
überfdfjroänglicfj geliebte greunbin? ....
Kurt 35raun sog ben Brief nodfj einmal liernor — 9Iein, roofil roar
e3 ntc^t mit bürren SBorten gefagt, aber e3 roar ein Wlaxm, es mufjte
einer fein!
$f)m rourbe bie Stunbe beS SBartenS nidjt lang, bis ber nädfifte 3«g
nad) Kempten in SBefeigau einlief; ber Kopf roirbelte ü)m »or angftootlem,
frudf>tlofem Ueberlegen.
2JJÜ fettfam peränberten ©efüljlen trat er roieber an baS Sager ber
Ktanfen. ©r mu|te fie immer roieber barauffjin anfeilen, ob fte roof)t fei,
roaä bie £ugenbtjaften eine ©ünberin nennen. 9lid)t, baff eS für tljn, ben
Slrjt, in iljrem jefcigen 3ufan^e ben geringften Unterfdf>ieb gemacht tiätte,
aber il)m fdfjien bie grage bocb, aufproerfen ju fein, ob bie ©eeletroerfaffung
beS SJlenfcb.en bei über 39° Körpertemperatur fidt) nodjj entfdfjetben taffe?
(Sigentlid) roar bocf) 2ltte3, roa* er an feiner Patientin beobachtete, nur
feine eigene $l)antafie; fie lag ba roie jebeS fcfjrocrfraufe SBefen au£ gleifcfj
unb SBlut, nur anfprucljslofer als bie meiften Kranfen; bodfj ba£ fomtte
aucf) an ber 3trt itjrer Kranffieit liegen. — ®aft ber 2J?ann, von bem ber
bünne Briefbogen mit ber Krone barauf ftammte, jener ^kinj greb fein
mußte, über beffen Sßermäfilung bie „5Mndt)encr allgemeine'' beridjtet blatte,
feinen bem Slrjte flar ju fein. 3lber biet/ wo e3 fidf) um Seben ober 3^ob
unb um bie oerroidfeltftcn menfdb,lid)en ©eelenbejiefiungen, um einen roirflid^en
©cfi,merj banbefte, b,ier Ratten ©tanb unb bob,e Stellung aufgehört, für ibn
33ebeutung ju b,aben, obgleid) fie e§ roalirfdpeinitch geroefen roaren, bie jroei
liebenbe 9Kcnfd^en getrennt Ratten. — 9iur eine ^bee uerfdgeuc^te Kurt
35raun mit Unbebagen: bafj biefe »orneb,mc feböne $ra\i eine £änserin ober
38<t
ZTIite Kremntfo in Bufarefl
©ct)aufpielerm fei. (Sine foldje SSorfteltung wollte er nid(jt auffommen
taffeit, nein, etjer alles 2lnbere! Unb bodt», Iwlen Sßrinjen fidj tljre Qbole
nicljt meift aus jenen Streifen? «Sollte ber ©fjering ber Äranfen etroa ein
falfcfjer ©djmucf fein, wie »ielleidjt audt) bie uon ben ©c&roeftern fo an;
geftaunten brillanten in ifjrem Dljre? ....
* *
*
$)ret bange £age »ergingen. Sturt SBraun tjatte feinen Srieffunb in
baS ©etyeimfacc) feines ©ecretärs uerfdjtoffen unb att fein $>enfen, all fein
©orgen ber Äranfljeit beS unbefannten jungen SßetbeS geroibmet, bie iljren
tm>tfcf>en SBerlauf naljm. 68 roar immer nodf) mcfjt ju fagen, ob ifyre
Gonftitutton unterliegen ober roiberftef)en mürbe; bie ©tabt blatte fiel) über
bie ©adfje Iängft auSgefprodjen, fie mar tt)r ju tangroierig.
5ßon ben ©ebroeftern treulich unterftüfct, leiftete 25octor 33raun Unglaube
Ud)e3, um ber 2Butf) ber Qttfection entgegen ju treten, unb aufjerfjalb beS
©rtrajimmerS abbitte man 9tict)tS oon feiner Eingabe unb Slufopferung.
©eine fräftige 3latur tiefe feine 33eränberung merfen; feine frtfdt>crt rotten
SBangen, bie ibm ein fo appetitliches 2tuSfet)en gaben, behielten trofc ber
9lact)tmadt)en if»tc garbe unb 9tunbung.
Gnbttctj fam bie 2lntroort beS SBiener ©efajäftstjaufeS; fie rourbe bem
2lrjte roätjrenb fetner SSifite im ftranfenbaufe einget)änbigt. Gr marf einen
furjen 33ttcf auf bie girma, bie bem Gom^rt aufgebrudft roar, unb fteefte
ben 2Mef in bie £afd)e. Grft nadjbem er alle Äranfen abfofotrt jjatte,
ging er in fein 3imiuer, um tfm ju öffnen. Gr tljat eS otjne $aft, rote
otjne Hoffnungen.
*3Me gtrma tljeitte ifjm mit, bafj fie aus bem beigelegten ©toffe »or
»ier Sßodjen eine 9?eifetoitette für iljre langjährige Äunbin, bie ®emaf>lin
beS bänifdjen 2egationSratf)eS 33aron Äjerfunb, in SßartS angefertigt unb
iljr nact) abtntn, 33iHa Serefa, überfanbt b«be.
3ltfo enblicf»! . . . $f)m roarb eigentfiümticc) pUWutbe: $>a war nun
bie 3tuefunft; er rouftfe nun, roofrtn er fief) roenben follte, aber er Ijatte fub.
irt biefen Sagen auet) übertegt, bafj er bie grau, wenn fie oerfietrattjet roar,
tjoffmmgSloS compromittiren roürbe, falls er if»rem 9)?amte ibren gegen*
roärtigen 2lufentf)attSort unb bamit ifire Steife nadt) SZBten »errietbe. —
3a, roenn fie bei SBefinnung roäre, bann blatte er mit if)r eine gäbet er»
fintten tonnen, unb roenn Tie geftorben roäre, roürbe bie fd^roarje Stacht
2lHeS begraben fiaben, fctbft in ben 9lugen tbreS (Satten. Slber nietteidjt
follte fie roeiterteben; fie blatte Äinber — roettlidfje 9tocfftct)ten mußten alfo
eine 9toHe in feinen Gntfcbliefjungen fpieten, unb er wollte nur troffen, baß
feine erften übereilten 3eitungSaufrufe m(^t fct)on 9lUe3 »erborben bitten!
Stein einziges 2)?al fragte er fidb, roetcf)' ungeroölintidbeS 3'öereffe i§n
fo fdjarf finnig gemacht babe; audf) ntdfit, roober er eine fo ftarfe äntipat^ie
Sein Brief.
385
gegen ben unbefannten ftjerfunb liegte. 3umtäjft warb er oon ber Aufgabe
in 2lnfprucf) genommen, ju conftatiren, ob nid)t etwa bie Saromn Äjcrfunb
mnnter unb gefunb in ber 2Ma Serefa am S^unerfee lebte. fietdr)t war
biefe 2lufgabe nicrjt für ihn. ©r muffte eä berweil üermeiben, ben üftamen
ßjerfunb b^ter befamit ju machen, beätjatB burfte er nicht telegraphtren.
■Hein, er roufjte nur ben einen 2tu3roeg: felbft nach Sfym ju fahren unb
Umfrage ju Ratten! . . . ©r fanb rafdfj einen SBorroanb, um fich einen
£ag Urlaub ju nehmen: ©in franfer greunb roar auf ber ©urdfjreife in
3üridh unb wollte ihn confultiren. — 2lu3 bem ©urSbudf) erfuhr er, bafj
er bie £in* unb 9iü<ffaf>rt in einem £age unb jroet SRäcbten mürbe machen
fönnen.
SRadhbem er fidfj 3lffeS zurechtgelegt, 6efdE)lofj er, auch ©djroefter 2lnna
3iict)tä ju fagen; er blatte e§ ftets für ba§ SBeifefte befunben, 2lnberen fo roenig
n»ie möglich mitäutb,eilen, ba$ erfparte fo oiete Unannehmlichkeiten, gubem
mar ihm roof>l bewußt, baf? ©chroefter 2lnna ihn eiferfüd^tig übermalte unb
e3 für if)r fpecielleS SWcc^t hielt, in feinem Sßertrauen ju fein; hoffentlich
hatte fie nidht fcljon erfahren, bafj er einen 33rief aus SBien befommen hatte?
3lm 2tbenb roar alles SRötfjige uorbereitet, unb er fuhr mit bem 9iacb>
juge nach Sinbau; »on ba über ben ©ee nach 3üricr) unb weiter nach
£f)un, roo er am nächfien Nachmittage anfain. ©8 mar büftereS 9lebet=
unb Stegenroetter ; man fornite fich in'ä gladjlanb werfest roäb,nen, fo btd&t
Derfdjletert roaren bie Serge. Äurt 33raun fragte auf bem ^Bahnhofe nadb.
ber 3SiHa £erefa unb roarb nach einem fletnen eleganten ©ebäube bidjt
am ©ee geroiefen. 31uf fein klingeln trat ein ©ärtnerburfche fyxauä,
ber lange 3cü brauchte, ehe er bie grage beS ^remben, ob Baronin
Äjerfunb hier molme, baf)in beantwortete, bafj bie £errfd(jaften tt>ot)I fo
geheißen haben möchten; fie mären aber fct)on längft fort.
Kurt 93raun forfcbje weiter, ob auch ein £err, unb ob Äinber ba=
geroefen feien; ber Surfdje Jonnte ieboch nichts 91nbere§ berichten, als bafj
bie 33illa fdfjon feit ein paar SBodfjen leer ftehe. — ©nttäufcbt wanbte ber
3lrjt fidb, in baä nädhfte $ötet. 9lud&, tyex, wie auf ber Sßoft, brachte er
9Ud(jt3 oon Sebeutung in (Erfahrung, nur, bafj in ber £bat jene 93iUa
roährenb beS ©ommerS »on einem Saron Äjerfunb unb feiner gtanilie
bewohnt gewefen fei. ©injelheiten wußte JHemanb anjugeben.
©octor SBraun mufjte fich fagen, bafj feine £f)uner Steife ein 9Wifj=
erfolg roar. SBer bürgte ihm bafür, bafj feine Sranfe unb biefe SBaronin
Äjerfunb »on ber SMa J'erefa, an welche bie 2Bicner girma eine Toilette
gefdb^idtt hatte, eine unb biefelbe ^ßerfon waren? ©ewifj gab e§ üiele
©amen, bie in biefer ©aifon au3 einem r>on ber 9)iobe gerabe begünstigten
©toffe fich SReifefleiber hotten anfertigen [äffen! — ©er etnjige 3lnhalt§5
punft, ben er behielt, war, bafj jener SBrief Pom %\)UMtfee fprach, unb
abjuweifen war bie 9ttögticf)fcit nicht, bafj feine Äranfe, ehe fie bie SReife
nach SBien antrat, bie Sßtlla Jerefa bereite feit geraumer 3«* oerlaffen hatte.
386
ITttte Kremnifc in Snfarejt
■Dltjjmutljig lehrte fturt 33raun nad) bent 8af)ttf)of jurütf; er mufjte
fid) beeilen, roenn er ben 2lbenbjug nodj erreichen unb am näajften $im
mittag redjtjeitig in ftempten eintreffen rootlte. 2Bäf)renb bet langen,
einfamen gaJjrt flof) ifm bet ©d)laf. @r mar unsufrieben mit ftd& felojt
unb fd)alt ftd) einen Marren. — 2Ba« in aller Sßelt fyatte er fid) für
frembe Seute ben Äopf ju jerbred)en unb 3«t unb (Selb roegjuroerfen! —
©ollte feine Patientin roirflid) mit bem Seben bawm lommen, fo mürbe
fie itmt fdjon ba« üHötfiigfte felbft fagen; fotlte fie aber fterben, — nun, fo
mürbe e« fie aud) nid)t retten, roenn er iljren SWann unb ifyre gamilie
ifir jur ©teile fajaffte! —
* *
*
©leid) nad) feiner 2lnfunft in Äempten galt fein erfter ©ang bet
Äranfen. (Sin einsiger 23lid überzeugte ifm, baf? bie Äranfb^eit auf if>rem
^öbepunft angelangt fei, unb ba| fie, bie einft fo liebltdje junge grau,
jefet traurig entftellt burd) bie SButf) be« Seiben«, roafjrfdiemlid) im Saufe
biefer 2Bod)e fterben mürbe.
3n ber bebenben 2lngft, bie biefe brofjenbe 2lu«fid)t in tfjm erroecfte,
la« er jenen SBrief nodj einmal unb fdjrieb bann in aller £afl an bie
®itection be« ©ranb Rötels in Sien, ©ein 93orfafe »on ber »ergangenen
9tadjt, 9Jid)t« melir jur Söfung be« 3?ätb,felS ju tfmn unb ben Singen
ibren Sauf ju laffen, mar »ottftänbig »ergeffen; er rounberte fid) nur, baf}
er nidjt fd)on oon Anfang an biefe ©pur »erfolgt liatte. 2lud) an bie
SBiener ^olijei fafjtc er ein Schreiben ab, bod) ba« fd)roere SBebenfen, in
roetdie Sage er baburcf) bie junge grau möglicher SBeife bringen mürbe, fjtelt
itm baoon jurücf, biefe« ©d)retben abjufenben. Sßenn iie nun meiterleben
foDfte ? ®anj au«gefdjloffen mar ba« ja md)t! — gall« ber Wlarm, ber
fie am 9tadjmittage be« 23. ©eptember« im £6tel aufgefuajt blatte,
roirllid) jener ^rinj greb geroefen roar, bann befaß bie geheime Ißolijei
natürlich .Qenntnifi baoon unb tjatte fid)er aud) ber ®ame nadjgeforfdjt ®ie
Sßolijei roar alfo nur in biefem gatle im ©tanbe, ifmt 2lu«funft ;u geben,
aber jugleid) compromittirte er bann bie grau l)offnung«lo« in ben 2lugen
if»re« Pfanne«! D, bat? er bod) nur einige Jage in bie Su&wft bilden
fömtte, um ju roiffen, ob fie bem £obe gemeint fei! ... ®r mufjte bod)
root)t abroarten, bi« er 3lntroort au« bem &ötel erhielte. . . . 3lber bi«
baf)in, roie otele bange ©tunben! 3a, mürbe benn ba« £ötel ib,m über»
fjaupt antroorten? ©id>er roar ba« fetne«roeg«, unb besfialb mufte er
bod) feinen SJrief an bie $oltjei abfeuben! . . .
9iadj langer, harter Üebcrlegung führte er biefen (5ntfd(lu& au«.
©ine Hiertelftunbe fpäter roarb er eilig in'« £ofpital gerufen; ein
Settel non ber £>anb ber ©df>roefter 3tnna enthielt bie SBortc: „Um ©orte«
SBitten, fommen ©ie fogleidj!" —
Sein Brief.
387
2BaS foUte er bort? Sffienn ber £ob fdfjon eintrat, fonnte audf) er
nicfit fjetfen! . . . ©eltfam genug war eS, baf? bei biefer Traufen fogar
bie fonft fo gefegte, überlegte ©djroefter 2ltma ib,r ©leidjmafe »crlor. ©ab
es roirflid) SDJenfdfjen, um bie berum &bex aus feiner eigenen 9?atur
IjerauS in bas Slufjergeroöfmltdje getrieben rourbe?
Äurt fetbft roar fiä) fe^r roof)l beroufjt, ba§ audj er aus feinem ©teidj=
tnafj gefommen war, bocf> baS fonnte aucb, pbjfifdie ©rfinbe (jaben, er rjatte
ja feit mef>r als a<J)t Sagen feine 9?aä)t ruljig gefdblafen. Unb bann bie
ganje erbrüdenbe Saft biefer SSerantroortung! —
©r mar am $ranfenf)aufe angelangt unb eilte mit feinen Meinen
fjämmernben (Schritten bie Steppe Ijtnauf unb tn'S ©rtrajimmer. — 3?or
bem 33ette ber Äranfen, fein £aupt auf ifirer ©cde, tag ein Ijocfigeroacljfener
SWamt . . .
fturt 33raun blieb wie angerourjelt an ber Zfyür fteb^en. Sdjroefter
Slnna fläfterte il»m ju: „@r ift faffungStoS, mir fiaben Unt eben erft aus
ber Dfmmadjt erroedt — idf) baä)te, er gäbe ben ©ctft auf! . .
3efet fprang ber grembe auf, ging bem Slrjt entgegen, ergriff beffen
beibe &änbe unb ftammette einige SBorte, roäfirenb bie Sfyränen ilmt über*S
©eftcfit rannen, iturt 33raun roarf rafd) einen SUtd auf bie Stranfe —
blatte fie fd)on ju atfimen aufgehört? 9?ein, es mar 2tlIeS beim 3llten,
aber wer mar biefer SWann? 3f)r ©arte fonnte es bocr) nicfit fein — war
es ber ^rinj? . . .
„3ft feine Hoffnung?" ftiejj ber grembc müfifelig b.eroor. ßurt trat
an'S Söett, judte bie 9ld)feln unb fagte leife, als er bem angftooUen 35licf
beS ib,n um .Haupteslänge überragenben ftarfen ÜDJanneS begegnete: „Hoffnung
ift immer, fo lange nocf) 2ltf)em ift, unb fie ift jung . . ."
„©tebenunbsroanjtg 3af>re," ffüfterte ber Slnbere. „Seibet fie?"
Äurt jucfte roieber bie 2lcf)fctn. SBaS für eine $rage, man fall ja,
roie fie litt! — „<5ie ift beroufjttoS," antwortete er auSroeidjenb.
£er $rembe fniete von Steuern »or bem 33ette nieber unb natym bie
£anb ber Äranfen facfitc jroifäjen feine beiben £änbc; er faf) aus, als
fjabe er »ergeffen, baf? nocf> 3lnbere im Limmer roarcn. <Sidj über fie
neigenb, rebete er leife in fie hinein unb ftöfjnte fdjmerjltdj auf, als feine
Sßorte Tie gar nid)t ju berühren fcfjienen.
3f)r ©atte foitnte es nidjt fein, entfdjieb Äurt 33raun; ber toürbe bod)
befrembct fein, roie fie Ijergefommen, unb fid) erfunbigen, feit mann fie
im 5tranfenf)aufe läge, unb roie man fie aufgefunben blatte; nur ber Sieb»
b,aber, ber ba raufte, roie 2llleS jufammenfling, fonnte bie Sage fo fetbft*
nerftänblid) Ijinnelmien! — Slber rocid/ ein fdjöner SWann! ©eine atfjtetifcfie
©eftalt, bie Äräufetung feines braunen £auptf>aareS erinnerten an antife
©tatuen, ebenfo roie ber ©djnitt ber faft ju großen 3lugen. ®ie gerabe
SRafe roar fo ebel roie bie Sinie, bie oom Df)r jum Kinn lierablief unb
burd) ben gepflegten Vollbart b^nburd; erfennbar roar. Äurt blieb einen
»ort unb «Ob. LXXV. 225. 26
388
Utile Kremnijj in Bnfarejl.
2lugenbtt<f in bie 33erounberung biefer Wanne«fd)önb>it »erfunfen. Stbt
Seroegung be« Körper«, jeber 2lu«brud ber SDJienen biefeS 3Renfä)en atljmete
fd)lid)te ^atürlidjfett.
<3d)roefter 2lnna l»ottc bem 2lrjte Stifyen gemalt; ba er )le nid^t
beamtete, jupfte fic ilm am 2lertncl unb nrinfte üjm, in'« Sicbcnjimmet p
treten. £ier erjagte fie iljm, bafj ber grembe burd) bie 3«t"n93nad)rid)t
fiergefüfirt war, b. t|. baß beim Sefen jener Slotij ilm eine unbejnringlidje ängft
befallen fjattc, jumal ba er auf eine ®epefd)e an feine grau nad) 3"ridi
feit mehreren Sagen otyne SSfatroort geblieben mar; al« er bann auf feint
Anfrage pon ber Kammerfrau — ober Sonne — benadjrtd)tigt würbe,
baß itjre Herrin pon einem 2lu«fluge nad) Sern md)t jurüdgefefyrt mar,
eilte er fofort au« Kopenhagen b>rbei. — ©r oermutl)ete, baß feine g-ran
in golge geiftiger Störung eine falfdje 3rid)tung pon 3ütid) <»u8 ein*
gefdjtagen t)ätte.
Kurt Sraun ftufete. Sollte e« roirflid) ifyc ©arte fein? Dber gab
fid) ber Sfabere fjicr für ben ©arten aus, um bie geliebte Kranfe feb>n
ju fönnen?
@t)e ber 3trjt fid) bafür entfdneben blatte, roa« ba« Sffiab>fä)einiid>ere
märe, trat ber grembe ein. Riefet, roo bie franfe grau nid)t meljr in feiner
■JJätye roar, fd)ien er feine Selbftbef>errfd)ung roieberjugeroinnen. Gr begann:
,,3d) b>be Qtfmen für fo Siele« ju banfen, baß id) e« nid)t in SSorte
faffen fann . . ."
Kurt Sraun lehnte ben Sani ab. @r l»abe nur feine Sdjulbtgfeit
gettian, roie bei jebetn Kranren. Ungefragt fefcte er bann bie Sage au&
einanber: SDer Sertauf ber Kranffieit fei ferjr unregelmäßig geroefen; in
ben erften Sagen f)abe er überbaupt faum Hoffnung gehabt; ba aber bie
Patientin bisher am Seben geblieben, fei e« triebt au«gefd)toffen, baß ifyct
Kräfte aud) nod) btefe 2Bod)e Überbauern fönnten — galt« ba« gefd)äb>,
wäre alle 2lu«fid)t auf &erftellung . . .
„Sa« Reifet alfo, etgentlid)" — $>er grembe tonnte ben ©a| nid)t
Bollenben. Gr faßte fid) aber geroattfam unb fragte bann nad) äußeren
©etail«: Db er feiner grau ein anbere« 33ctt unb eine bequemere ^nftatta-
tion nerfdjaffen bürfc; ob e« fonft irgenb eine @rleid)terung gebe? (SS
ftünben unbegrenjte Wittel jur Verfügung, unb ob . . .
Kurt Sraun füllte, roa« fommen würbe, unb fd)tug felbft bot, aus
9ttünd)en är$tlid)e kutoritäten für ^nfeetton«« unb innere Kranfljeiteu ju
berufen.
Uebcr 2llle«, roa« er oon ber Sorgefd)td)te ber Kranftjeit, »on ber
(Sinlieferung ber Patientin in ba« föofpttal rougte, »ertor ber bi«crete Slrjt
fein SBort, unb ber ©arte — benn ber fdjien e« roirflid) ju fein — fragte
aud) nid)t einmal inbirect banad).
<Sd)roefter 9Imta fprad) gegen ©octor Sraun iljre greube au«, baß
nun bie Serantroortung uon iljnen Seiben genommen fei, unb er enblidj
Sein Brief.
389
roicber ruhig werbe fd)fafen fönnen. Kurt 33raun thetlte biefe freubige
©mpftnbung nid)t. 33i?her hatte auch er gemeint, bafe eine Saft ihm vom
£erjen fallen würbe, fobalb ba? ©eheimmfj, ba§ über feiner Äranfen lag,
jich aufgetlärt r)ättc. £>a? mar ein ^rrtfium geroefen. ©erabe jefet, wo fic
in ba? Normale be? gewöhnlichen Seben? surücfgegtitten war, befd)äftigte
fic ilm mehr als je: $)iefe grau mar im ©tanbe geroefen, einen folgen
3Ramt, einen ©arten, ber mit größter Siebe an ihr lung, ju hintergehen!
gaft hätte ßurt 33raun ⁡ unb Verachtung für fie oerfpürt, aber fic
fdiroebte in fcfjroerfter £obe?gefabr! . . . SBie mar e? nur möglich! @r
fannte jroar nid)t bie geiftigen unb feelifdjen gäljigfeiten biefe? fdjönen
•Kanne?, bod) ftanben unoerfennbar ©üte unb ©belmuth ihm auf bem
©efid)t gefd)riebeit. — Unb raa? rouftte Äurt 33raun fd)lie&lid) von ihr,
bie unter ber fd)aurigen ßranfhett ror feinen 3tugen hingeioelft roar? ®od)
nur, roa? er in fie hineingeträumt hatte! (£r bad)te über biefe eigenthüm*
lid)e Xraumfähigfeit be? 9)Jenfd)en nad). 2Bar fie ihm junt ßeile ober
pr gtein mitgegeben? — 2113 er an jenem UJtorgen biefe bleiche 9JJenfd)en«
fcfume juerft gefehen, mar ihm geroefen, als hätte er fie längft erroartet
unb gefannt; fie mar bie lebenbe &etbüt all' ber SRomane, bie er in ber
Sugenb gelefen — jefet l>atte er fd)on lange feinen nur £anb genommen.
Äetn einjige? 2öort hatte fie ju ihm gefprochen, unb bod) roar ihm, al?
hätte fie ihm fid) ganj enthüllt . . ,
Vielleicht war fie aber nid)t? at? eine frioote SBeltbame? SRein,
einen 93rief roie jenen, ben er im SBaggon gefunben, fchreibt Sftiemanb einer
%xa\x, bie nicht jeber SB.'reljrung roerth! Sie mufite bie Stomanfrau fein,
ber nur ba? Außergewöhnliche im Dafein gefchieht! <3ie roürbe auch nid)t
fterben — ber ßranfheit, roeld)e jeben Slnberen getöbtet hätte, roürbe fie
toiberftehen!
* *
*
9Zad) einigen £agen liefen bie 3lntroorten auf $urt? tefcte ©rfunbigungen
ein: fie hatten jinar jefct, roo er roufjte, baft feine ßranfe roirflich bie
Saronin Äjerfunb roar, feine roirfltche Sebeutung mehr, flöfjten ihm aber
bennoch ein eigenthümlicbe? ^Mereffe ein.
£>ie 35trection be? ©ranb £ötel fd)rieb, baf? eine $rau v. Xtyin am
23. September 3ftorgen? ein »on 3«"<h <w? telegraphifdj beftellte? Slparte«
ment (Salon unb (Schlafzimmer in ber erften Gtage) bejogen t)abt, aber
fchon am 2tbenb roieber abgereift fei; nach 2lu?fage be? 3tmmermäbd)en?
habe bie 3>ame im Saufe be? Nachmittag? einen Vefudj empfangen, an«
fdjeinenb einen öerrn, bemt ein foldjer, ber aber nid)t im öötet gewohnt
habe, fei t>om Sortier beim kommen unb ©eh?n bemerft worben. ©?gen
3lbenb fyabt bie Same bem 3immerma^che't geflingelt|, bamit biefe?
ihr beim Vacfen ber Steifctafcbe behülflid) fei, unb bemfetben ein ©olb=
ftücf bafür gefd)enft. 3lu? biefem ©runbe \)ave ba? 9Jtäbd)en fid)
26*
390 mite Kremntfc in Snfarefl.
ber ©ad»e fo gut erinnert, bafj fic nod) anjugeben wiffe, bie Tarne f>abe
tierroetnt auSgefetyen unb über ftarfe Äopffdmterjen geflagt. TaS Ttner,
weldjeS fie ftd) auf tt)rem 311™™* f)abe fertnren taffett, fei unberührt
wieber abgetragen warben. S3on ü)rer Sfafunft bis ju ifjrer 3tbreife fjabe
bie Tarne baS £ötel ntdbt oerfaffen.
Tie ßotelteitung f»atte atfo bie gragen bei StrjteS genau beantwortet";
bie Sßolijei bagegen oeruietgerte jebe 2luSfunft, b. f). fie leugnete, bajj fie
t»on ber 2tnn>efenbeit einer grau v. Tf»un in 2Bien Äemttntfc gehabt
f)abe. @S mar Ijöftid), baf? fie überhaupt geantwortet Ijatte; Äurt
83raun brauste ir)re 2tuSfunft aud) nid)t tneljr, feine 9Me als Tetcctb
mar überhaupt auSgefpiett.
@r fdjtof? bie Sriefe aus SBien ju jenem im SBaggon gefunbenen unb
naljm fid) oor, fid) tiinfort fo wenig als mögtid) mit ber ©ad)e ju befaffen;
am liebften tiätte er, um auf anbere ©ebanfen ju fommen, einen fur&ttt
Urtaub genommen, aber baS r)ättc ben 2tnfd)etn erwedft, als füllte er )u|
beleibigt, ba{i man jwei fogenamtte 2(utoritäten berufen Ijatte; beteibigt
aber war er nid)t unb Ijatte aud) feinen ©runb baju, ba bie Herren er«
Märten, baf? bie Skbanblung uidjt beffer l)ätte fein fömten unb bie Äranfe
fid; in ben beften &änben t»efänbe. Gr wollte alfo abwarten, bis bie
ÄrifiS überftanben, unb er bie <5id)erf)eit it)rer Rettung l)ätte; alsbamt
gebaute er fid) einen Söefud) im Glternfjaufe ju gönnen.
Sharon Äjerfunb batte bereits mit ben fremben Slerjten barüber ner*
Ijanbctt, wann es mögtid) fein werbe, bie Äranfe ju tranSportiren; er r)atte
ben ^Slan, fie bis ju ifprer oöiligen ©enefung in 5?i,;ja, in ber SBiOa eines
greunbeS, unterjubringen. — Äurt SBraun fagte fid), ba| er bann bie
rätbfelbafte grau nie wieberfetyen, unb baf? fie nie erfahren würbe, wie
tief er in baS ©eljcttmtif? iljreS $erjcnS eingebrungen war! —
Ter tefete Tag ber britten Äranff)ettSwod)e war angebroeben; feit fetner
2lnfunft rjatte ber ©atte jebe 9Jad;t bei feiner grau gewad)t unb nur am
Sage, wäftrenb bie Äammerfrau, bie er fyatte fommen taffen, fid) mit
ben Sditueftern in bie Pflege feilte, fid) ein paar ©tunben ber 9?ul»c über«
laffen. Gr mufte eine 9iatur oon fettener SBiberftanbSfraft befi&en; cS
war, als ob bie furdjtbare (Spannung ibjt aufredit erhielte. Dbne ein
SBort ju fagen, ja, obne aud) nur eine einjige grage ju ttjun, befolgte
er bie ärjtlidjen 2?orfd)riften auf baS $ünftlid)fte; er trug bie Keine,
jarte ©eftatt in'S 33ab unb legte fie im 5Bette um, immer in ber Hoffnung,
fie würbe il)it enbtidj erf ernten, ein 2Bort für ifm tyaben. 9?ur einmal
f>atte er ben Toctor bcfdbworcn, baf? er bie Äranfe, falls es hoffnungslos
fei, nid)t unnötbig quälen, fonbem % baS Sterben erleidjtern möge. Äurt
"Braun f>atte aber erroibert, fein gaH bürfe bem 2trit burd)auS boffnungS*
loS fein.
Tie franfe grau fpradj ntd)t meb,r irre — fie fprad» überfiaupt nidt
me^r; am »origen 9lbnb rjatte Äurt SBraun conftatiren fönnen, bafj baS
Sein Srief.
gieber etroas gefunfen roar. 211« er bamt ,0m borgen mit ben beften
Hoffnungen ju feiner grüfroiftte fam, blieb er einen Slugenbticf erftorrt
fielen . . . SBarum I)atte man tl)n nid)t gerufen? ...
Sieben bem Sette fniete ber ©atte; baS ftenfter war weit geöffnet —
bie Keine jarte grau mar oerf Rieben!
Sturt Sraun roax% als breb> fidj baS 3»"«"«, als träume er. —
©S fonnte nid)t roaf)r fein, burfte nidjt roaln" fein! — ©r t>ermod)te es
nid)t ju faffen. ©id) gegen bie SBanb lelmenb, fud)te er feine ©elbft*
bel)errfd)wtg — Umfonft, er begriff fidj felbft nid)t, begriff bie Sage md)t.
2Bie roar eS möglid)? ®a3 Unroieberbringlid)e roar alfo bodj eingetreten!
9Bie blatte er fict» felbft fo täufcfjen, fo befugen fönnen! D, feine innere
(Stimme, fie t)atte if)n abermals betrogen! . . .
2lbcr roar eS benn ftdfjer? 2Bar bieS Seben roirflid) »erlöfdjt? —
SBie gejagt eilte er plöfetid) an baS 33ett, befühlte bie £anb, fud)te ben
Keinen roftgen ftufj unter ber teilten $)ecfe. . .
Äjerfunb blidfte auf. ©r war fo bleid) roie bie £obte.
,,©d)on »or einer falben ©tunbe," fagte er tonlos ; „eS war alfo
SlUeS umfonft, aber Sie finb roie ein ©ruber gegen uns geroefen, gegen
meine Keine ©tlen unb mid) . . . Qd) fann fie ntdjt überleben," fefcte er
tiinju, „eS ift über 9Jtenfd>enfraft. ©ie roiffen nid)t, roie fie roar, Steiner
mußte es aufjer mir! — ®aS Seben ift ein ^rrfinn, roemi eS foldje 2Befen
Dernidbtet! — 33or adjt £agen glaubte id) nod) an eine 9lrt »on 2Mt»
orbnung, aber nein, nein, es ift SllleS btöber 3ufal^' • • • ®^en/ wie
fomtteft Du mid) allein laffen? . . . D, meine Keine ©Hen, bie fo gern
lebte, unb beren Seben eben erft begonnen t)atte! . . ."
„®enfen ©ie an %fyc Slinb!" roarf 5turt mit Reiferer ©timme ein.
©r blatte nie gefragt, ob eS ein Stnabe ober ein 9JJäbd)en, er tjatte über*
$aupt nid)t meljr an baS JUnb gebadjt, aber er fudjte nad) einem ©trob/
Ijalm, um tljn bem SDtanne jusuroerfen.
„D, baS ift ein neues Seben . . . ©ie roirb ntelleid)t einmal einem
2lnbern fein, roaS ©llen mir geroefen — Qd) fann ntd)t — SBenn es Sin*
fteefung giebt, fo Ijabe id) aud) ben £t»pf)uS; idb t)abe Stiles getljan, roaS
man tlmn fann, um ftd) anjufteefen.' — $d) fann nidjt otme fie leben! —
SBiffen ©ie benn nid)t, roaS es tyeifrt, ©troaS nidrt fönnen?"
Shirt fdjroteg. SBaS foUte er bem überreiäten -Dtanne entgegenhalten?
„Stann id; ^t)nen irgenbroie beluilftid) fein? §aben ©ie Sßerroanbte,
benen id) Steige madien folt?"
Äjerfunb griff fidj an ben Stopf. „HRetn armer ©d)roiegen)ater, roie
mirb er feine ©onntagSbriefe »ermißt fiaben! . . . ®er arme SRann —
©den roar bie Qüngfte — fieben 33rüber unb bann fie; roie im SWärdfjen,
Ijief? eS immer — ja, roie im ÜDZärdjen, bie ÜJtutter ftarb bei tt)rer ©eburt
SWun ift fie felbft aud) tobt — fo ift'S im roirKid)en Seben!"
„SBie ift bie äbreffe ftljreS ©d)roiegeroaterS?"
392
XTTite Ktemniö «n Bufareß.
,,2ld), es bat ja feine eile, e§ fommt immer nod) ju früf>. 3d) mödtfe
fie einbalfamtren taffcn . . . 9Jein, baju müßten frembe &änbe fte berühren?
Siein, nein, bie Meine 33lume foll Sßiemanb anfaffen als ©ie unb idj . . .
•Jttcbt voafyc, Sie Reifen mit?"
Äurt niefte. 9Bie waren bie aWenfdjen bod) alle einanber gteid), in
©dmterj unb SRotb: grember Nation unb frembet Äafte gehörte Qener an,
unb bod) füllte $urt für ibn, niie für einen 35ruber.
„SBolIen ©ie fte bter beftatten?"
„D nein, id) nebme fie mit — ber SSater wirb fte nod) fe^en wollen."
Sturt badjte plöfclid) an ben 2tnberen . . • 2Bie war es bod) SUIeS
feltfam, unb wie unbegreiflid) bie $>oppelnatur ber tobten grau!
„£aben ©ie nid)t greunbe, bie in 9lngfi unb ©orge auf SRadjridjt
roarten?" fragte er ben oerjweifelten 9Wann.
,,3ld) b^abe nur 'einen na^en greunb," antwortete er jögemb, „unb
ber ift in ben glitterwod)en unb atynt non unferem Ungtüd 3Hd)tö."
SBieber warf er ftd), in neu angefachter SJerjwetflung, über ba3 33ett
unb ftrid) ber iljrer £>afein8form tangfam ©ntrüdenben über baS roeidje,
bunfte $aar.
fturt roanbte ftd) ab; er fonnte bie tränen nidn" met)r jurüdljalten
unb ging fort.
* *
*
Äaum tjatte er in feinem 3'mmer ftd) in einen ©tubl geworfen,
ofe eä flopfte, unb bie Jtantmerfrau ber SBerftorbenen eintrat, ©ie war
eine .fd)lid)t gefteibete, fülle ^erfon, grofj unb ftarffnodng, bie wobt b<xö,
in ben Sßierjigem fteben modjte; fie fab mebjr wie eine ehrbare 33ürger&
frau als wie bie Äammerjofe einer eleganten unb »ornebmen Spante aus.
3lad; einer @ntfd)utbigung, bafi fie ben £errn £octor fißre, fagte fte, bafe
fie ibm ßtwaS übergeben;möd;te. ©ie b<*be au* &Mä) StwaS mitgebradt,
waS fie ber grau 3?aronin rjötte jurüdftellen f ollen; ju behalten wage fte
es nid;t, unb aud) bem £errn ober bem alten ©rafen fönne fie es nidjt
abliefern-; oemid)ten aber bürfe fte es nid)t, fo wolle fie eS bem $emt
©octor geben. SBei ibm fei es ftd)er, baS fyabe fie nom erften 2lugenblii
an gemuft, wo fie ibn am Äranfenbette gefeben. Gr möge entfd)eiben, ob
e3 »ernid;tet ober einem Inberen übergeben werben follte. — ädj, fte
babe fd)on lemgft geahnt, baß eS fo enben müfte, fie fyabt es aud) ber
SBaronin oft »orauS gefagt — „216er es fann ja nie Einer bem 2lnberen
Reifen, 3eber muß 2lttcö felbft ausfoften!" fefete fie f)inju.|
jturt 33raun bat fte, Sßlafe ju nebmen; fte tbat e$ aber nid)t, Da fte
oiet ju tief in ibren ©ebanfen war, um barauf ju ad)ten.
,,3fd) bin nur eine ungebitbete 5ßerfon, £err ©octor, id) fann weber
lefen nod) fdjreiben, aber wenn bie SBaronin auf mid» gehört bätte, war«
fte jefet nod) am Sebcn. — greilid), ba wir Sitte einmal fierben muffen, fommt
Sein Brief.
393
eä tneUeidjt nicht fo fefir barauf an. — 3lur ba3 füfje Äinb . . ."
•Sie trocfnete ihre Spänen, unb bcr Wext roufjte nicht, ob fte doh bet
lobten ober von bem jurücfgebliebenen ftinbe fprach. Sie hatte in
ihrem SBefen eine fo ruhige SBürbe, bafj er iie md)t auszufragen roagte;
er ftanb auf unb nahm aus ihrer $anb eine grofie rotbraune Sammet«
tafele entgegen, bie mit ©olbfticferei oerjiert roar unb Rapiere ober 33üd)er
5U enthalten f<f)ien.
„QR)t fic abreifte," fub> bie Kammerfrau fort, „braute fie mir bieä,
wie febeSmat, wenn fie einen Heineren ober größeren 2lu3flug machte. —
,Sie tröffen fchon, (Sfiriftine, £e6en3« ober SterbenSrotllen, bei 3ftnen ift
e3 fidjer/ — Sie fpiette ja auch »or mir Äomöbie," fefcte fie bitter tiinju,
„unb rebete mir uor, ihr 93ruber führe mit feiner gamilie buref) 33ern,
unb bie Schwägerin würbe e3 übelnehmen, roenn fie ihr nicht bei ber
Durchreife ©Uten %a% fagte. — 21(3 ob ich & nicht gemerft hätte, feit*
bem ber 33rief angefommen roar, bafe fie ganj roo anberS tyn wollte! 211$
06 ich fic nicht beffer gefamtt t»ätte, aU fie fidj felbft! — 3$ roufjte
2tHe3, SHIcä; fie fomite mir auch nie mehr gerabe tn'8 ©eficbj fehen! —
3$ bat fie noch, nur um meiner Sache fidjer ju fein, mich mitjunehmen,
aber fie fagte: SBoju? ®a3 roäre rein lächerlich, al§ ob fie nid)t 'mal ihr
SiUet felbft löfen unb ohne mich fahren fönnte! — 2tcf), man foll SRiemanb
33öfe8 roünfchen, aber erroürgen roürbe ich ben 2lnberen, roo ich it>tt auch
träfe, er ift ja nur fotdt) fchmädjtiger, jarter £err, ich tönnf & teid^t ! —
£ätt' ich'3 nur gethan, b hört' ich nur bie Courage gehabt! 2Ba§ t^äfa,
roemt ich ün Sufyfyatö fä&e, roenn fie nur lebte!"
Kurt fchroieg noch immer; er hatte fchon oft erprobt, ba| Mchtä bie
Seute fo berebt mache, roie biefe feine ©djroeigfamfeit unb feine eigen«
thümliche 2lrt, bie Sprechenben beim Schöten anjufeben.
316er in wela) eine ©efettfehaft leibenfehaftlicher SDienfchen roar er ge=
rathen! — „35er £err roirb ihr balb nachfterben, ber Xob liegt fchon in
feinen 2tugen, ich fyabe ben ungtücflicfjen 33licf bafür, unb es roäre mir
fchon ganj recht, roenn er brüben ein bischen auf fie pafcte, obgleich fie ia
bort ihre 3ftutter hat. — Doch gerecht ift unfer Herrgott nicht — fyex in
biefem armfeligen Ärantenhauä mufjte fie ben ©eift aufgeben, unb er, ber
Slnbere 216er bie (Strafe roirb fchon fommen! SBarum fotlte fie
allein geftraft roerben, ba fie e3 boch au« purer ^erjenSgüte unb SDJitleib
gethan hat! (Sie braudjte ihn, weift ©ort, nicht, fie hatte einen »iet
fd)öneren unb ftattttcheren -Kann; unb fomtte fie bafür, bajj $eber ben
Kopf um fie uerlor, 3ung unb 2tlt, 2lrm unb Steide)? — Sie, £err
®octor, mürben ber JJächfte geroefen fein, roenn ber £ob nicht bajroifchen
getreten roäre! Sie roar eben anberä als alle 2tnberen. SWicht weil fie fo
fchön roar, hingen fie ihr an, fonbern roeil fie im ©etjen für Qeben StwaS
übrig hatte! 2Bie oft hab' tch'3 ihr früher gefagt: ,©omtejjchen, mäfngen
Sie ftet), bie Seute jmb'S garnicht roerth, bafj Sie fte 2tHe fo lieb haben!"
39^ Otite Ktemniß in Bnfareft.
SSon Äinbticit an war fie fo; mit wem Stiemanb fertig werben foimte, au3
wem sJUemanb was ©uteä IjerauSfriegte, fie warb bamit fertig, unb ganj
von felbft ©ie meinte eben, Tie fei für 2We auf ber SBeit, unb tljre ätt
roar aud) fo, baf? »on ben 5Berfd)tebenften ein Seber meinte, fie märe für
ib,n gerabe wie gefd)affen."
Äurt l)ätte gern nad) i$m gefragt, roie fie ilm fennen gelernt; aber
er beforgte, fie mürbe bann »erftummcn. 3U fpreä)en, mar i^r offenbar
etwas Unnatürliches; baS SRofir mufjte erft geplagt fein, bamit $erau3s
fprubelte, was ein ganjes Seben lang prüctgebrangt geroefen roar. (Sie
burfte nid)t jur 33efinnung fommen, ober fie oerfittete ben 9ttf?.
3lber roie begreiflid), baf} fie gerabe auf tyn, ben gremben, ad ba£
ergofj; ein Stnberer fyätte if)rer 2tuffaffung mit feinem befferen SBtffen ent*
gegentreten fönnen — oor ifim jebod) matte fie bie tobte Herrin fo, urie
fie in tljr lebte. — „Slatürlid), er roar anberS als bie 2tnberen, in feinet
befd)eibenen ftillen 3lrt, unb nidjt nur, roeil er ein Sßrinj roar . . . . 6S
mu&te fie reisen, baf} er bie oielen ©tunben immer über feinem 3JJifroffop
fafj, bafs er es nie merfte, roemt fie fid) fd)ön gemacht Ijatte! Unb £>urd>
lauert, feine ©djwefter, blatte fte bod) befd)woren, ifm roieber jum Seben
jurücfjubringen! .... 2Bemt fie fpajieren gingen über bie gelber —
bettn fie fallen fid) perft beim alten ©rafen — , bann blieb er bei jebem
SBurm unb jeber Sßftanje fteljen. — $d) fab, iljnen oft nad), roeil mir
bie ©ad)e oon Slnfang an nid)t gefiel. 3ln fo einem &erm ift baS
©tubiren fonft bod) nur eine Sßofe, aber er fab, eä, weif} ©ort, roirllid)
niefit, bafj fie rounberfd)öne 3lugen Ijatte, roenn fte ifyn fo berounbernb an*
fdjaute! Unb roie fie nun plöfclid) anfing, ilmt bie ©ad)en abjujetdjnen
unb ju malen, bie er ba in feinem SDUfroffop blatte — beim fie »erftanb
2llIeS, bie füj?e fleine £ere, fpielen unb fingen unb malen, fo gut roie
tanjen unb reiten! — ©abhätte man meinen follen, fie roäre roie geboren
baju, nur fold)e ernften £>inge ;u treiben. ©o glücfttd) Ijabe id) Tie nie
oorljer gefefien, unb ber £err 33aron roar fo ftolj auf fie. — 3Kein ©Ott,
ein btSdjen ©itelfeit roar aud) babei, baf} ber Sßrinj fie fo üerefirte, unb
um eiferfüdjtig ju fein, roar er felbft »iet ju nobel von ©efimtung —
@iferfüd)tig auf biefen jarten, fd)wäd)lid)en ©eleljrten? 9tein, baS roäre
iljm nie in ben (Sinn gefommen! — @S roar aud) waf)rf)aftig fein ©runb
baju, lange, lange 3«t "id)t — nur, mir wollte bie ©ad)e nid)t gefallen,
benn id) fann nun einmal nid)t brau glauben, baf} man fid) für fold)
ftumme Greatur wie gifd)e unb SBürmer aufrichtig begeifiert!"
„Unb glauben ©ie nid)t, grau Gljriftine, baf} ©ie Syrern $errn jefct
Reifen würben, feinen ©d)merü ju überwinben, wenn ©ie if>m fagtett,
baf} er ©runb gehabt fiätte, eiferfüd)tig }u fein?"
„@r würbe mid) nieberfd)tagen, wenn id) bie geringfte Slnbeuüutg
mad)te! Gr würbe nie an iljr jweifeln! 3ia, legten ©ie ilmt fel6ft bie
fd)rifttid)en Seroeife in bie ^änbe, er würbe fie ungelefen »erbreunen!"
Sein Srief.
395
„SBarum geben ©ie beim ntd)t ü)m bie braune Safdje?"
„S)aS faitn id) nid)t, nein, ba8 famt td) rotrflid) nid)t .... SßaS
fie mir anvertraute, bamit eS nid)t in feine &änbe fiele? D nein! —
Unb eä fönnte ifim aud) triebt Reifen, benn er mürbe es auf feine 2lrt
beuten. — £>a brüben, ba foH fie üm fo roieberfinben, roie fie Um I)ier
gerannt Ijat; id) Ijätte nid)t einmal im ©rabe Stulie, roenn id) bie £afd)e
of)ne @rlaubnif? oerbrännte ober bei meinem Slbleben in unfid)ere £änbe
fallen tiefte! .... Unb ber 2lnbere ift \a jefct ber Sbronerbe — grau
Skronin fagte mir, ba3 märe etroaä ^eiliges — ba« SBoljl oon Millionen
fjinge von iljm ab! 63 rcäre . . . 9Ja, geglaubt l)abe id) e3 nid)t; unfer
Herrgott I)at bie 9Henfd)en alle gteid) gefcljaffen, b. I). nur ©(£391® Unter*
fd)iebe ifynen aufgebrüeft, unb ba flehen mein £err unb meine ©omtef}
meilenweit über allen Sljronerben! 9hm mödfjte id) $f)nen aber
aud) nod) banfen, &err SJoctor; id) bin feine ®ame unb fyab' oieQeicfjtt
ttic^t 'mal ba§ 9^edr)t baju, $fynm ju banfen; aber ©inä weife td): ber
Herrgott in ©einer ©nabe unb gürforge raufte iool)l, warum <5r meine
arme Gomtejj gerabe 3U Qb,nen führte! — @ie fyaben geroife 2ltte3 geahnt
unb fid) jured)tgeflügelt, baä tnerfte id) in ber erften ©tunbe! Unb Sie
f>aben fie gefd)ü$t, foroeit ©ie fonnten! . . . ."
*
Äurt Sraun mar allein mit ber golbgeftieften ©ammettafd)e. @r
toufete nid)t, ob er fie öffnen ober fo, roie fie mar, oerbrennen, ober 06 er
fie bem 3lnberen auf irgenb eine SBeife aufteilen follte?
6r oerfd)ob bie ©ntfd)etbung barüber. 3"etft mar ja feine tägliche
Slrbeit ju abfotoiren, aud) muf5te er bem t)ülflofen ©arten beiftefjen, all bie
entfefetidjen Formalitäten ju erfüllen. $>er oeräroetfelte 9Jfann fomtte ja
fein oerloreneS Äleinob nid)t, roie er gewollt blatte, auf feinen 2lrmen nad)
Sütlanb tragen; ba galt es, einer SWenge fanitörer unb fonfliger SBor*
fcfjriften ju genügen.
©er %aS. blatte natürtid) 2luffef)en gemadjt unb befd)äftigte nid)t nur
bie Socalblätter; fo erroartete Äurt 35raun immer, irgenb eine 9tad)frage,
irgenb ein £ebenäjeid)en oon feuern ju erhalten, ben bie Sobte über Sittel
geliebt liaben mufete; aber 9iid)t$ traf ein. Sßenn er aud) nid)t, roie bie
Kammerfrau, iljn für ben £ob ber liebretjenben grau oerantroorttid) mad)te,
fo fd)ien iljm biefeS ©d)roeigen bod) graufam unb unmenfd)lid).
33aron Äjerfunb reifte, als 2tIIeS georbnet roar, oon Äempten ab.
3mei Sage oergingen, ba erfd)ien ein grember im Äranfenb,aufe unb
fdjtdfte bem birigirenben 9trjte feine ftarte herein. Äurt Sraun las einen
tb,m unbefannten tarnen barauf: 31. oon 2Jler3, unb liefe ben &errn
bitten, einjutreten.
©er grembe gab an, im 2luftrage eines greunbeä ju fommen, um
©rfunbigungen über bie legten Sage ber Saronin Äjerfunb einjujiefjen;
396
mite Kremnitj in Bnfare(t.
allein Äurt 33raun warb fehr balb inne, bajj ber 23efucher itm auSjufiolen
jtrebte: Db man nicht gleidt) aus bcn papieren ober Sriefen, roetdje bie
Äranfe etroa bei fidt) geführt, ihren Flamen unb ©tanb erfaimt hätte? —
Äurt antroortete f>ödj>ft einfilbig unb erleichterte betn biplomatifchen gremben
in feiner SBeife feine SJHffion, er DerroieS ihn fursroeg an ben Saron.
©dEjon nad& ben erften SBorten war er uberjeugt geroefen, bafj btefer SKaira
hergefanbt roorben war, um ju erforfdEjen, ob aot ober nadt) bem £obe feiner
Patientin ber Jiame beS ^ßrinjen genannt, ob irgenb etroaS itm ©ompro:
mittirenbeS bei ber Sßerftorbenen gefunben fei? —
Äurt mar empört. ©iefe felbftfudfjtige Unruhe mar alfo baS ©injige,
maS ber einft fo t)ei& Siebenbe bei ber £obeSnadt/ridf)t empfunben ^atte!
Sßelttiche SRücf ficht allein mar in ihm ju SBorte gefommen! . . .
©er ^ßrinj motzte rut»ig fein: Äurt fjütete eiferfüc^tig ihr, ber lieb*
lidfjen grau, ©ehetmnif?, unb t>on biefem 2lugenbli(f an füllte er, bafj cS
fein 9led)t mar, ben Inhalt jencr ^afdfje ju ergrünben. ©r b^ifete ben
SDiann, ben fie geliebt, unb ber fie in ben £ob gerrieben blatte! —
2US ber 2tbenb fam, reo Äurt am roenigften einer ©törung aus*
gefegt mar, öffnete er bie altertümlich geftiefte 3Rappe: ber Hauptinhalt
waren Briefe auf bem binnen englifc^en Rapier, mit ber Ärone barauf unb
in ber feinen jierlichen &anbfd)rift, meldte Äurt aus feinem gunbe im SBaggon
bereite fannte. ©te roaren gröBtcntt)ciS fachlicher 9ktur, nur b^n unb
roieber eigentliche SiebeSbriefe, unb auch bann nicht befonberer 3trt; aber
ihrem 2luge mochte rootjC jeber ©trict) erroaS ganj 23efonbereS bebeutet
b^aben.
Äurt las ihrer nur wenige, bann nahm er baS 33ünbel, ging oor ben
Dfen, in bem baS geuer brannte, unb roarf einen nach &em anberen
hinein — julefet auch ben im SBaggon gefunbenen.
2>ie SWappe enthielt aber noch mehr: ein Tagebuch oon ihr. Sluf
bem ©edel beS SBänbdfjenS ftanb in fühnen Strichen ihr SJorname ge=
malt: eilen.
©inen Slugenblicf äögerte er, ehe er es öffnete, aber bie Ueberlegung
fagte ihm, ba§ er fidt) eine unnöthige Dual auferlegen roürbe, roenn er
fidt» iroänge, baS £agebu<h ungetefen 5U »erbrennen. ©ie hotte e* äugen*
fcheinltdfj erft ju fdfjreiben angefangen, als fie mit ber überfommenen ©üte
gebrochen hotte, als in ifir eine 2Bett von ©efühlen erroacht roar, bie fie
mit ihrer geroohnten Umgebung nidt)t theilen fonnte. 3n ungleichen 3tb*
fäfeen, ju Derfcfjiebenen &t\tm, aber ohne ©atum unb ohne Drtsbeftimmung
roar es niebergefchrieben, balb mit £inte, halb mit 33leiftift — immer in
berfelben langgejogenen, gleichmäßigen fdt)önen grauemSdhrift, unb immer
in beutfdher ©pradhe. —
„SWir ift, feit ich 2tt<h liebe, als roanble ich <"if SBolfen, h<*h
ber SBett, bie Stimmen ber Uebrigen bringen mir roie aus ber gerne
ju mir.
Sein Brief.
397
„SBalter fagte Ijeute, idj fä^e fo »erflärt aus, roie er midj nodj nie
gefeben, unb SSater fanb fogar meine ©timme oeränbert, fle erinnerte Um
an bie ber 2Rutter. — 2Bie foll idj nidjt eine 2lnbere geworben fein, feit ber
©uft deines 2ltf)emS midj geftreift, feit idj »or ©ir fttieenb bem (Sdrtage
S)eine§ &erjenS gelaufdjt! .... ©aS nennt man ©djulb? D, nein!
Sßäre eS ©djulb, fo mürbe idj leiben. 3$ bin ja fein Ungeheuer —
wäre es ©djulb, idj mürbe bodj jittern, »or SBatter ober bem SBater, unb
mürbe midj fdjämen »or meiner Meinen! 2lber nie Ijabe idj bie ^Keinen
fo lieb gehabt roie bleute; idj h>6e ifmen ja 9HdjtS geraubt, bie 3latur b>t
einen neuen <Sä)aä)t in mir gegraben, beffen 9teidjtf)ümer alle Slnberen
nodj mit beglüden! — ©u ftef»ft aufserfjalb ber SBelt, mein Sieb, unb unfere
Siebe ift fo einjtg roie ©ein ganjeS ©ein! —
„Unb ©u baft fo lange gegen fie gefämpft? D, fdjabe um jeben
©ag, ber uns »erloren ging! 28ie fonnte idj es je erhoffen, bafj ©ein
33licf fidj mit ©ef allen auf midj meberlaffen fönnte? — ©u warft mir
ein ®ott, unb idj nidjt roertl), ju ©einen güfjen su fvfcen! ....
«3fr» 3i"»ne* meiner Kammerfrau Ijängt eine Photographie jenes
©emälbeS »on, idj meif? nidjt meinem, beutfdjen aWaler: ©retfydjen auf
ilirem ©ang jum ©algen. £eute b^abe idj mid) jum erften 9Wal mit @nt»
fefeen in baS 33ilb »ertieft, grüner btidte idj immer nur fort unb fagte
oft ju 6f>riftine, baf? idj in tt>rer ©teile foldj 23itb nidjt »or meinen Slugen
bulben mürbe.
,Do£6 — SUte», 1008 midj baju trieb,
©Ott, toor fo flittl ad), tnar fo lieb!"
bieS fd)öne SBort fiel mir fieute ein. b>6e bisher nie gebadjt, bafj
©u unb idj mit anberen SBefen ©troaS gemeinfam b>ben fönnten, aber
gerabe biefeS 2Bort: eS mar fo gut unb mar fo lieb, roaS uns baju trieb,
bas muf? idj audj »on unferer Siebe fagen! — $ft nidjt bie Siebe fo
mäcljtig roie bie glut^, bie 2UIeS jerftört unb einebnet unb, roo fie einbricht,
SUfer unb ©arten, SBiefe unb ©anb gteidj madjt? — 2ß>er bie fdjredltdje
Seljre, bie ©oetlje uns giebt? . . . ÜWufs baS, roaS „gut" unb „lieb" mar,
jum ©algen fübren? 2J?ein ©ort, mir ift ganj Slngft geroorben! SBenn
idj ©idj nur erft roteberfefie! ©odj nein, ©ir barf idj 9KdjtS ba»on fagen,
©u fpridjft ja fdjon »on ©einer ©djulb unb madjft ©ir SBorroürfe, ba idj
allein bodj bie ganje SSerantroortung trage!
„©u bift frei, idj bin eS nidjt. 3lber baS finb gefellfdjaftlidje Segriffe,
unb bie Siebe ftammt aus anberen Sanben, roo man bie ©praäje ber ©efetfc
fdjaft nie gehört! — 2Beiftt ©u, roie fdmlbloS ©u bift? D, nur idj, idj
trage alle ©djulb! 2llS ©u juerft, ganj unberoufjt, meine &anb crgriffft
unb länger fjietteft, als bie ©itte eS erlieifdjt, ba fing mein $erj fdjon
ju flopfen an, unb als ©ein $nie »erfef>enttidj einmal baS meine berübjrte,
ba mar mir, als .'roäreft ©u mein 5ttnb, unb idj müßte ©idj ftreidjeln.
Unb roie aus SBerfeben fam audj ber erfte Äufj! Sßeifjt ©u, roie mir
398 Utite Kremnig in Sufareft.
uns uertegen anbauten, als es gefd)eb>n mar, als unfere Sippen ftd) ge*
funben Ratten? ©u fogtcft munter: „@inen£u| in (Slpen barf 9ttemanb
roefiren!" aber bie 3lött>e mar uns Seiben bis in bie Stirn geftiegen, unb
id) locife nid)t mal, 06 er „in ©tiren" war; id) mußte ja ©einem tiotben
Stntltfe immer roieber nalje fommen, id) mußte ©ir fo bemütljtg tn'S äuge
f dornen, bis ©u mid) füffen unb immer roieber tüffert mußtefl! 3d) roar'S,
mein Sieb, id) roar'S, bie anfing — rote ber Äeffct im „&etmd)en auf bem
Serbe"!
„Qd) Ijabe immer roieber an baS ©reihten benfen muffen. — ©igentlid)
roar eS bod) nid)t bie Siebe, an ber fic ju ©runbe ging: nur, roeil fie ib^re
Siebe unb it»r äußeres Safein nid)t oon einanber getrennt ju galten uer=
mochte! — Sie Siebe foff aber fein roie bie Suft, bie man nur atljmet —
0 roel), bie Suft burd)bringt ja aud), jerfefet ja aud) 9lHeS! — ©er SDienfd)
fann ftd) nid)t löfen aus feinen tnelfältigen 23ejieljungert!"
„2lber baß id) ©id) liebe, ift baS nid)t ebenfo mein <Sd)icffal, roie
meine pljofifdje ßrfd)einung? 2Hein freier SBille roar es nid)t, berat id)
rannte bod) nid)t bie Sßomten ©einer Siebe! Ijätte id) meiner Ueberlegung
folgen bürfen, id) blatte mir fid)er ein anber S00S geroä^t! — Sßer roill
benn gern vom l)ergebrad)ten SBege abroetdjen? SBer jieljt nid)t 3tuf)e ber
dual, @id)erl>eit ber Stngft »or? — Unb bod) ift bie Siebe ein ©naben*
gefd)enf ber 9latur! £at bie 9iatur mid) baju geheiligt, itjrer Ijöcbften
©abe tf)etfi)aftig ju werben, fo barf id) nid)t mit tt)r red)ten über ein
Bufpät ober 3"^% fo barf id) ntd)t flagen, fefbft roerni bie SBelt mid)
jum föenferStobe füfirt. Siebe ift fd)on ber £ob; in ijjr erftirbt bie Sßerfön»
lid)feit! SBenn id) »or ®ir fniee, fo fd)roinben mir bie ©ebanfen, id) füfile
nur ©id), id) empftnbe mid) felbft nid)t meljr, nur ©u, ©u bift Elles \"
,,3ld) bin, roaS baS bürre ©efefe eine @b>bred)ertn Reifet — mir tlmt
baS SBort fo roel», obroofil id) weiß, roie mitbe ber föeitanb ber @f)ebred)erin
begegnete. Sebermamt mürbe mid) oerurtfieilen. SBemt id) aber graufam
genug märe, meinem SDJanne bas £erj ju bred)en, meinem Steter ben 9?ejt
feines SebenS ju verbittern unb meinem fiinbe bie Brunft ju rauben —
roenn id) mid) fd)eiben ließe, um bem Slnberen meine &anb ju reid)en,
bann billigt mid) baS ©efefc unb bie SBelt, unb id) fte^e ba als eine
correcte grau! . . . 3a, dber nur cor ber SBelt, nid)t »or meinem ©e*
rotffen! SBaS uerfteljen bie 9Jienfd)en, roetd)e bie ©efefce mad)en, »om
©eroiffen? ©er £err l)at es t>erfd)ieben in feine oerfd)iebenen ©efd)öpfe
gelegt! ©er $eilanb allein fab, in bie ganje ©iefe ber 3Jlenfd)enfeele,
aber fein ©efefcgeber folgt if)m nad)! . . ."
„bringe id) nid)t Opfer, bamit fein Slnberer geopfert roerbe? SRödjte
id) nid)t aud) lieber mit ber SBelt als gegen fie leben? — 9lie barf id)
mid) im gellen ©onnenfdjein an ben 9lrm beS ©etiebten Rängen unb mein
©lücf boppelt genießen, inbem id) es offen genieße! . . . ©ein Seben, baS
bie 9fatur mir gefdjenft b>t, bie ©efellfd)aft enthält es mir oor, unb
— Sein Srief.
399
id) füge mid) barein, um Jtiemanbem Seib jujufügen: SBur Ijeimlid) foften
barf iü) von bent reichen Sd»afce, bcr bod) ganj unb gar mein, beim id)
Ijab' iljn gehoben ! — "
„So beruhige id) mid) immer roieber, um nid)t burcb, ßtehttidfifeit ben
großen Skufd) ber 9?atur ju ftören; aber baS Seib (bleibt nid^t aus, id)
jeige e§ ©tr nur nie! 3d) trage ir)n allein, ben Sßiberfprud) ju mir fetbft,
in ben id) midf) gefefct fiabe — SBenn SSalter anbetenb ju mir aufbltcft,
fo möchte id) il»m fagen: „9$ bin nid)t flecfentoS — bemütfjige midi) md)t
burdE) ©eine Siebe!" . . . 3lber baä roäre ju bequem; beffer ift'S, burdj
unenblidie ©fite an 3lnberen gut ju machen ba3 2Jief)r, womit ber Gimmel
mtdj auägejeidmet f)at! — 5B>aS fönnte id) nur ttnm, um mein ©tuet ju
oerbienen? Dft benfe id), id) müfte baran fterben — ad), unb rote gern
ttiäte id)'3, rjättc id) nur feine Sßflidjten! . . . SBoju finb mir auf @rben?
Um bie bödjfte Stufe ber SSerebtung ju erfttmmen? — ©ann roäre id)
nod) tauge nid)t jum ©obe reif! 3ft e3 aber, um bie tiödfjfte UKögtidtfeit
beS ©lücfä ju foften, fo f)ätte id) ben Sinn be3 ©afeind erfd)öpft. 9iur
©ein 2hrtti| ju erb tiefen, in © einer 9täf)e 5U atfmten, ift ©lüdffetigfeit;
immer nod) fdmnnben alle meine ©ebanfen unb Sorgen, roenn id) ©id?
umflammert f)atte; id) begreife garmdjt, baß e§ etroaS 2lnbere3 als Harmonie
im Sßeltenraume gtebt; unmerftid) roirb ©eine Stnfdwuung bie meine,
©eine Seele gef)t ganj über in bie meine."
„Gflriftine fpät)t mir nad), ifire fiellen grauen 2mgen fef)en mid)
t)orrourf§r>oll an; 0, roie fdEjabe, bafj fie eä nie begreifen unb f äffen roürbe,
roa§ mir gefdjeljen ift! Sie fief)t bie SBett unter bem einjigen @efid)t3s
punft meinet SBobJeS an unb fyafct gteid) Meä, roaS mir in ben Sebent
roeg tritt, unb xoaä fie nid)t billigt. — ©id) fonnte fie oon 3tnfang an
nid)t teiben; id) füllte baS, unb fo fiaben roir nie von ©ir gefprodjen . ."
* *
*
,,©r ift fort! SSier SBodfien lang roerbe id) feine Stimme nid)t fiören
— 0, roaä für ein Seib ift Trennung! — SBäre id) feine grau, fo
brauchten roir un3 nie ju trennen — aber id) barf nid)t baran benfen . . ."
„9Hir fet)tt bie SebenSfraft, roenn t<f> if)tt ntdfjt fefie; td(j bin pbnftfdfj
franf bauon geworben, fo fef)r iä) midj jufammennatjm! D, mein armer
3Batter f)at fo barunter getitten, unb id) bat ibjt taufenbfad) um 3?erjeit)ung,
bafj id) if)m Sorge gemacht f)abe. — SRodj ad)t £age! — "
„$ann idj bafür, bafi id) nid)t ju teben »ermag ofine it)n? Db ba3
je anber« werben roirb? $at Siebe eine befiimmte ©auer? SRein, fie ift
roie bie ©roigfeit, otine 3lnfang unb ot)ne Gnbe! Steulid) fagte 2Batter«
liebe ©ante, bie bei uns jum 33efud) war: ,,©ie grauen rühmen fid) fo
oft, ber Siebe, roenn fie oljne Xugenb itmen nabte, roiberftanben ju tiaben.
3$ aber behaupte, roenn fie ifjr roiberftanben, roar e§ eben nid»t bie
'$00 nttte Kremnig in Bufareji.
Siebe, benn ber roiberftetit Stiemanb!" — Unb 2Balter gab ifir Siedet unb
fab, mid) mit feinen ftraljlenben Slugen an; id) a6et rourbe fo tobeStraurig,
bafe id) feinen 93li<f nid)t erroibern fonnte. ©r metfte eS uid)tf unb id)
füfjte feine &anb unb bat — ja, idj bat ben Mmädjtigen um meinen
£ob! — "
* *
*
— „O, mein ©ott, wie fonnte id) flagen, als id) tljn überhaupt nod)
fall, als unfer Seben, fem übet bet 2KMgUä)feit, nod) ein gemeinfame«
mar, als id) ad' feine ©ebanfen tfieitte, feine gälte feine« &erjen£ mir
»erborgen mar! @S gab feinen Sag feines Sebent, ben id) nid)t nad)träg=
lid) mit U)m burdjlebt; nie fiat ein &aud) ber ©iferfudrt in if)m ober m
mir sptafc greifen fömten — .aber jefet! 9iein, id) fann es nid&t überleben.
— 9hm ift 2£ffe§ oorbei! S)ieS elenbe SDafein mit feinen f leinen menfdj*
lid)en Qnftttutionen faß Me ©eroalt Ijaben, baS ©ötterfinb, bie Siebe, ?u
»ernid)ten? — „@S bleibt ja SlHeS, rote eS mar, jroifdjen uns!" fagte er;
id) fab, ifnt nur fti£C an. 2Bte fonnte er ftd) fold)e ©normität aud) nur
oorftellen? @S mar ja aud) feine grage melrc, bie er mir »orlegte, es
mar für mid) fd)on entfdjieben in bem Slugenblicf, roo iljm überhaupt bie
3JJöglid)feit feiner SBermäljlung burd) ben Äopf gegangen mar. — „33ift S)u
nidjt aud) oerljeiratfiet?" fagte er. Unb id) fd)roieg roieber, roetl id; bie
2tntroort barauf nid)t fanb, fonbern nur baS ©efttf»!, es fei etroaS SlnbereS,
etroaS ganj 2lnbereS! — "
,,3d) bin rootjl bod) eine (Sgoiftin geroefen, mein ganjeS Seben lang,
trofe meiner gerühmten ©üte, bafj id) baS ntdjt »ertrage? 3$ ftefle mir
»or, baf5 fein Seben — er fagt, baS Seben, ju bem id) Ujn erroecft b.abe
— ein reid)ereS fein werbe als bisher, unb eS überriefelt mid) falt. 3d)
benfe baran, bajj er einen 33eruf b,aben nrirb, ber if)m eine unenblid)
größere SBirffamfeit giebt, als feine 2Biffenfd)aft eS bisher getljan. —
316er id) fdjreie »or ©dmtera, bafe er mir entriffen werben mirb. Smmer
fefie id) bie Slnbere neben il)m, bie im ©onnenfdjein beS £ageS an feinem
3lrme Rängen barf, bie fein Seben tfjeilt, bie neben iljm fifct in ber 2tbenb=
bämmerung unter ben {»olien $ud)en beS Dorfes, bie an feiner ©ette ein*
tritt in ben ftrafjlenben geftfaal, bie bas Saasen über feine geliebten 3üge
gleiten Tieb,t unb if»m bie Stirn glätten barf, roenn Unmutb, unb ©orge
fie fräufeln, bie if»n pflegen barf, roenn er franf ift, unb bie — o, ©ott,
tyab' erbarmen! — bie ifim Slinber fd)enfen barf, roeld)e feine eblen 3üge
tragen! — "
„Unb wirb er nid)t SBergängltdjeS leiften bann, roie jefct? ©iebt eS
eine gorm ber 3lrbeit, roeldje fiöljer ift als bie anbere, auf biefer jer«
ftäubenben 2Belt? — 2öie »iele 3teid)e finb jerfauen, roie »iele SJpnaftien
auSgeftorben, unb bie SBett ift barum nid)t fd)led)ter ober beffer geroorben.
— 3lber — o ja, id) weift alle 3lber! £abe id) felbft es ibm nid)t ge*
Sein Brief.
fagt — beim in feinet SRäbe bel)erridjen mief) feine ©ebanfen, — bajj
man feine Sßfftdjtcn gegen bie SJHtmenfdjen erfüllen muß, baß man feine
<Mid)t3punfte befdiränfen foll, um überhaupt ©twa« ju leiften! . . . D,
wie weife Ijabe id) gerebet, immer mit bem lauernben 33lid auf iljn,
immer mit ber erfterbenben Hoffnung, er würbe antworten: „2ÜIc§, waä
mid) ©tr entfrembet, ift wertlos!" — ^a, id) fiabe eö erhofft, aber £>u,
$reb, $>u ^aft es md)t gemerft, ©u tiaft nur gehört, wa§ ber -Btunb
fptad), SDu nannteft mid) ,einjig' unb ,ebet' unb tfrofeartig' unb falieft
nidjt, was id; litt! . . . ©eine üWatur ift bie langfamere t>on uns Seiben
— nrirb baäfelbe Seib aud) über ©id) fommen, wenn $ur SBirflidjfeit
geworben, was SDu als $lan mir mittfieilteft? 3Stelleid)t — idj glaube
es, aber idj wünfdie eS nid)t. £)u fönnteft es nielleidit nidfit ertragen,
id» ertrage eS ja — id) wanble nodj immer l)od) über ber SBelt —
medjattifd) ladje unb weine idj, aber bie SBolfen, bie mtdj tragen, finb
nidjt meb,r uon ber ©otme »ergotbet, eS finb fdmxträe 9Jegenwotfen, unb
bie Grbe jiefit Tie an — o, wie fefir!" —
* *
*
Kurt 33raun nmrbe burd) Klopfen an ber £t)ür aufgefc^redt. ©3
war nur (Sdjwefter 2lnna, weldje fragte, ob baS 3immcr/ m welkem bie
SBaronin Äjerfunb geftorben, neu betest werben bürfte? @S fei ja grünb=
lidj beSmftcirt worben, unb man Ijabe eben einen vom ©ad; gefallenen
Arbeiter eingebracht — fein -DJenfd) roiffe, was er fo fpät nodj auf bem
Sau gewollt — unb fonft fei nirgenbs $lafc . . .
Kurt gab feine ©inroilligung unb ftanb auf, um baS SBud» in'« geuer
ju werfen.
©djwefter 2tnna fab, ib,n fdjarf an: ,,©S ift ^nen wob,l fdjwer,
wieber in baS Limmer ju gefien? 9lber wir müffen b,alt Stile weiterleben,
was audj immer gefdjelje!" —
3IIuftrirte 23tf>ltograpf}te.
©tlticrotloS jur «Sefcfticfttc Der ttrutfdfjcn 9?fltionaUittevatur. eine (FTpängung
gu ieber beutichen ßitteraturpefchicbte. Stach bm CUiellrn bearbeitet bon Dr. ©uftoD
Wönnecfe. 3,peite öetbffferte unb oerme&rte Staffage^ SNarburg, 91.©. (Slmert'f che
SSerlagSbudjbanblung.
Hie ©ertngfdiääung, mit bet man früfjer auf ifluftrirte SBerfe toiffenfdjaftlic&en
©ljaralterB nidit obne fflrunb bliefte, ift in bem 9J?a6e gewieften, als aud) bie anfangs
boitolegenb eiitrr müßigen Slugenweibe bienenbe 31Iuftration mefir unb mr&r ftiftfinatifd),
narf) »iffenfdiaftltdien ©runbiäSen unb 3iel«n au*qcfibt touebe unb bte frirtfcb=&tfiortfcfce
2J!etbobe auch bei ihr, toie bei iebei biftortidVn Qu- Henarbeft, gut Anwerbung gelangte.
S)te überrafdienben gtortfcfcritte ber mobemen WrWobucrionStrdjnif famrn biefetn Streben
gu §tlfe, inbem fte bte unbebinat treue, umnanierirte 2i>tebtrgabe alter Vorlagen, Bon
fianbfehriften, £tucfen, Jfunferft'chen 11. f. ro. rrmöulid trn. fceutgutage bürfte es füum
eine toiffenfdiafttidie TiSciblin aeben, welrte ber ©ilfe b»B ergängenben SHlbeB gang ent*
bebren möchte; einzelne tonnen fic nicht entbehren. —
(Sin Seuflntfs tür bie fieiaenbe 2L<ertf)id)ä6una ber im SÜenfte ber SBiffenfdiaft
ftefienben unb auf wiffcnfchaftlfdier ©ranblage ru&enben £UIuftration bon ©eiten ber
aajfleli Ijrten wie beS gebilbeten publicum« legt j. & bie 2lufnab,me ab, weldte bie im
abre 1886 erfdiienene erfte Sluflnflf beS iHlberatlaB gnr ©efdjichte btr beutfdien National«
Iitteratur gefunben bat. £>ie Sfrttit hat bamalS bie monumentale öcbeutung biefcB
2Berfe8, ba« eine erfreuliebe SScrbrettnng m ben ffreifen bei ©ebilbeten flefunben bat,
anerfannt, ber gewiffrnbaften ©rünblfdifeit, ben ffcnntmffen unb bem ©eidjmctf be»
£>erau«geber8 toie bem SSerbienft beB SSerlegerB berartige ÜbürMgung hriberfabren laffen,
bafj ftet) eine eingefjenbe fritijche Beleuchtung beB SUnfeB fffet erübrigt. ®8 genügt,
baranf btoguweifen, bafj bie »weite Siuflorie eire rermebrte unb m me&tfacber £>infid)t
berbefferte ift. @o ift bie 3a&l ber SUuftrationcn ton l(i75 auf 2200 erhobt moroen,
toogu nodi 14 Beilagen fommen. Unter ben bingugetommenen Silbern befinben Heb
manche tntereffante aus ffioet&eB unb Schillers 3'<t; auch ift ber S3ilber»8ltla« bis gur
©egenmart fortgeführt Worten, inbrm beroorragenbe Vertreter ber neueftrn fiitteratur»
Beriobe (wie Hauptmann, ©ubermann) Sßla^ gefunben fcaben. fjreilicb bat bei §erau8>
geber in biefer Sbegiefiurg nid)t ade Uiünfcbe erfü'len fönnen, u. 2t. bermtffen mir
bas Portrait Subroig ftulbaS. @me Söercidierung unb bamit eine (Srböijung feines
miffenfdmftltcbfn SBertbeB bat ber MaB babureb erfahren, bafj bon allen $anbfcbriften
3tlnj"tTirte Biblloijraptiie. <K>3
unb $anbf4riften*®rud)ftäctert beS toiditigften ßitteraturbcnfmala beS 3JHtteIatter8, beS
SRibelunß'-nliebrS, Proben aufgenommen worben ftnb. Sil« iöerbefferimaen ftnb angu=
fügten, lafj einige Säbbilbungen fortgelaffen unb eine gro{te 2lnjaf)l foldier, für bie entroebtr
6effere Oueffenbtlbet gefunben mürben, ober bie bitren bie injttjtfdieii ief>r ueruottfommiteteit
Steorobuctionämetfioben fdiöiter unb ßarer nneberaeaeben »erben tonnten, buren quellen-
mäfjigere ober tlarere Slbbilbungen erfefct »oorben ftito; ferner baft bie erßärenben Teste
Slotfc unb Sflb. LXXV. 3-25. 27
<*(H Zto»b unb Sflö.
einer genauen 3)urcbüdjt unterzogen unb auf ®runb ber fett bem ßrfdjeincn Der 1. 8nf-
tage ju Xage geförderten [forfdMngSrefultate beriditigt toorben finb.
Set »ilberatlas gerfäflt in jroet Slbtljeilungen, Sie erfte bringt bie »übntffe ber
bebeutenbften »erftorbenen beutfdjen ©btacbforfcbfr unb ßitterarfjiftorifer (mir Derurfffen
unter bieten §ettner); bie jtoelte, bie £auötabtbeilung, bringt bie eigentliche Sammlung
Don Äbbilbungen »ur ©efd)i<bte ber beutfeben Sitteratur. ÖDiefe Slbbttbungert erläutern
bie gefammte beut|dje Sitteraturgefcfjitrjte Bon bem älteften Auftreten ber Jtacbricrjten über
bentfdjen ©ang bis auf unfere £age.
(Sbriftiane unb Sluguft Bon Woetbe. Wqnattn bon $«inr. SHtqer.
«nS : Dr. (Muftatt Süttncct«: „»ilberatta» Jttt Ot«fd>i<^te btt beut(<bett SiatioiiaUittcrarur.*
aiatbutj, 31. ©. gtwtrt'fdje «trlofl« bucbbanbluno.
2Iu8 bem üRittelalter hjerben Sfladjbilbungen ber §anbfd)riften unb Srucft ber bt*
beutenbftm ßitteraturbenfmäler gebracht; Hiniaturen au8 brn ^anbfebriften, leite mit
wortgetreuer Uebeitragung. 3n ber UebergatigSDeriobe Dom aßittdalter jur neueren Seit
wirb bie bebeutfame ®ntroicfelut;g beB SBurtbrucfS Dom rohen SStotfbrucf lehrreich oeran'
fdiaulitft. SBom 8lii8flange be« XV. 3abrhunbert8 treten bie »ilbntffe ber ©idjttr unb
©Artftftetler in ben SJorbergrmtb; baiteben werben itrtereffante SBüdiertitel, einjelne
Seiten au8 toidjtiflen Erliefen, littcrarbiftorifdje Rltertljümer unb Denfmäler, inSbtfonbere
(Stabmäler unb i>idjtcrftätten »iebergegebeti.
3 1 f « ft r i r t e 23ibIio£jrapt|te.
$06 Horb unb Snb.
Slucf) bie »üdjeriffuftratton ift betart bcrüdffütiflt, ba& ficö (&rc ©ntroitfeltmB in
3)eutfdjlanb Bon ben SKimaturen be8 XII. bi« gum Anfange unfere» Sotjrbtmbtrr*
»erfolgen lägt. Satyrtid) fttib bie 9to<f)bilbungen bon fcanbfdiriften ber ©diriftftellex,
mSbefonbere 9lomen«üiigen. ©er ältefte ftcfete ift bie Unterfcfcrift flöntg ßonrabtr»
tttttet einer $ifoer Urfunbe bom 3a&re 1258. —
SJiefe Slngaben laffen ertennen, roelcb* ein ungemein reiße« SHateriot in biefnn
»tlberatfa» jufammengebradit ift, rote febr berfelbe geeignet ift, eine ©tüfee unb ©r«
Ottilie »ou spoaroifä. (»ottbe» 6c$ioieflMloa)ttr, HujuR» grau,
tfrclbfjeidmuna. be» (Mtimam- ßitbograpbtn ßclntid) SKüttet (um 1820).
2tit* : Dr. (Muttao ff Snnccf e: .Silberatta» jur ©tf4l4ti bti beuttoai MatlonaHitttratur.*
Marburg. 5t. ffl. (Sllotrffa>e iBtrl ag»bti AtianMung-
flänjung beS lttterart>iftorifd)en Unterrid)tS ju bieten, benfelben burdj 8ln[d)auung in be-
[eben unb ju oertiefen. —
Sie SlitSftattung be8 2Ber!e8 ift in jeber »ejieljung »ortreffödi; für treue unb
fünftteriitfje SBieberaabe ber SBUberborfagen Ijabm natntntlidj bie fiunftanfialten uon
?lngerer & Gtöfebt in üUien, ÜWeifenba*, SÄiffartfj & (So. in iHündien unb fflerltn. Öfter-
rlett) in JJranffurt a. 9JI. unb SBerner & SBinter ebenbafelbft geiorgt. SJon le&tgenarmter
iyirma ritbren tjer bie wcrtbbollcn farbigen SBeifagen: (Sine Seite aus bem Codex
argenteus; bie beiben SWiniaturen nuS ber gro&en §eibelberger ßteberbanbfdjrift: Slrib*
Stbliograprjif dje Ztottgen.
<*07
bart oon Sieuentbal inmitten feiner frSblidien Bauern; Sffialtber bon bei Sogetroeibe;
bie SfcadjbilDuna eines coloritten §olgfdjnitteS aus Dem 3abre 1530: „$>er SJJafentang"
mm fianS (SSütDenmunb in Dürnberg; Bon 2luguft Ofterrietl) bie farbige SCafel:
ftlanbriidjer Xcppii) beS XIV.— XV. 3abrbunbert8 mit ©cenen au8 äMbetm öon
Orlens (Original im güiftl. iWufeum gu ©igmaringen); öon 3Wttfenbad), Miffartb, & 60.
bie auSgegf idjneten großen Sßfjotogratouren : ©oetfje, nad} bem Oelbilb »on 3. Ä. ©tieler
(1828) mtb fieffing, na* bem Oelgemälbe bon 3- Xifrtbfin b. 31. 0760), mefdje
liebft ber guten 9teprobuctu>n be« »on 3o&ann (Sottharb äJiüUer nad) bem ©emälbe «on
3lnton ©raff geftodjenen SßortraitS gfricbrid) ©ebillerS bem silierte gum bejonbcren ©djmucf
aereicben. —
2)er BilberatlaS umfaßt 11 Lieferungen oon je 40—48 ©eiten größten gormats.
Xer $reiS con 2,00 X für bie Lieferung ift in Slnbetracbt te-3 überaus reidjen 3)1(10118,
ber gebiegeneu Slu«ftattung unb bcS inneren SBertbeS ein überaus mäßiger gu nennen.
IFtöge baS in feiner 2lrt einjig baftebenbe 2lierf bie roeitefte Süctbreitung finben.
23ibliograpfjifdK Zloti$en.
l'cqvbiid) Der Allgemeinen iMlJdJolonic.
SBou Ur. 3obaune4 8t e t> m f e , 0. ö.
SBrofeffor ber 5ßbj(oiophie 3U ©reifsmalb.
timburg unb fieipjtg, Berlag oon
eopolb ob.
SDaS neue äßerf beä SSerfafferS mehrerer
Schriften über ben SBcfiimiSmuS unb über
»ie (oon ibm ibealifttfdj beantwortete')
ftrage nad) ber Slutsemoelt fiellt an bie
ftacfegenoifen eine Steifte bebeutenber Sin»
jprücbe auf grünblidie iiluScinauberiefcung,
gumal ba es aud) abgeieben oon Slnficfttä*
uerfdiiebcnbeiten geeignet ift, gum äiJtber»
fprucfj {lerauSguforbern — unb %\vax bon
feinen aUgcmeincn Slnfängcn an (^Definition
ber Süiffenidiatt, ber SHarbelt u. f. u>.;
pfudiologifcfje Aufgabe berSßbnfiologie, J.'ogtt,
Ütcfttjttit unb (Sthjf, ©. 349) bis binein
in feine Öinjelfteiten (3. B. ba* 3el)lcn
DcS Begriffs „äS<ah,t" beim Slnfaffen ber
iüiHenaftage unb bie Beidiränfung ber
JreibeiUftage auf bie eine „®eter=
miuismuS— QnbetermintSmu-S" ; ferner ber
uötltge iVtanget an Stillegung beS inneren
üSabrnebmetiS, befonberS § 24). 2luf biefe
feine @igeufd)aft fömicn mir Ijier nidjt
näher eingebn, müffen auf Tie i boi) bin«
mclfen, ba ber Sitcl ben (Siubrucf ermeefr,
es Rubele fid) um ein von gadjftrcüig»
feiten abfebeubcS Seljrbud), baS ben ficheien
ober UjenigftcnS ficr.er ju madienbeu Ibcil
einer 2Biffenfdiaft, fei eS ber Ocffcntlidjfeit,
iei eS bem Slnfänger ocrmittcln foll. Sicfe
©igenfajaft binmiber befi&t ba« SLBert nun
einmal gar nicht unb beniübt fieb aud)
nid)t nad) ifjr, fo ftreng unb anerfennetts»
»ertfj unb erfolgreich, aud) ber Berfaffer
nad) einer „allgemeinen" JBindjoIogie gc=
ftrebt bot. MerbingS ift ber bergeittge
Stanb ber Sßfuchologie für fiebrbücher nidjt
günftig; aber felbft bie Annäherungen
baran, Die eS giebf (ben „Brentano", ben
tleincn unb großen „3<>mcS", felbft ben
„Holtmann") mitb mau für ein Sefjrbucb
immer nod) uorjitben Dürfen.
Sie ülufgnbe ber $fnd)olonie fei: „bie
©cieömäfjigfiit ber SJeränberungen, lueldje
man Das Seelenleben nennt, flar gu be*
greifen." Sf)r „pbtlofopbild;er" Xbcil läfet
ben rid)tigen, fraglos tlareu SJegriff bon
„Seele* übetftaupt erft gcroinnen; iftr „fad)=
miffcnfdjaftlicber" 2beil Ijat „baB ©celen«
gegebene in ber Sütannigfaltigfeit ber !öe=
muBtfeinSbeftimmtbeif, nie fie baS abftracte
3ubtoibuum „Seele" bietet, unb in bem
geldlichen 3i'">nimenbang , iielctcn baS
concrete Snbiuibuum .Seele' aufioeift, flar
ju begreifen." 3mmcr banbelt eS fid) ba«
bei um „reine" llMndjologie, b. b. abgefeften
oon ben ^cjicftuiigen bcS JöemufjtfeiuS gum
„(SJcgeuftanD". — jür (Sinjelfragen ift baS
Werf umjo weniger gu bcnüBcn, als ibte
Beantwortung bier gu febr bon ber &c
fammtleiftung abhängig fein bürfte.
H. Schm.
Sic äufmtft Dcv ^ftildfiiötc. aintritts»
oorlcjung ton Ur. Start 3oeI, Sßriüat»
bocent ber S|5fjttoioptjie an ber Unioerfität
Bajel. 2)afel, Benno ©djtoabe.
9iefereut bat oerfudjt, bem 33üd)tein an
einer beionberen ©teile geredjt gu »erben,
unb barf bieS bier rootjl babin gufammen»
faifen, bafs er So^'l« erften afabemifeben
©rtff mit freute ob feiner »armen 3bealiS=
men begrüftt, troö einer ettoaB toeitgeften«
408
Horb nnb Sfib.
ben SBereinfadjung bei angemeldeten SSegriffe.
©egenüber ben Dielen Sobtfagungen bei
$büofopbte eines iljtei nodj Biel gab>
reiifieren ßebenBgeidjen. H. Schm.
Wilofopftie »er Befreiung »urdj >afi
reine Wittel. Beiträge gui $äbagogif
be» 2Renfd)engefdjledjtS oon Dr. SBruno
SßWe. »erlin, S. giftet.
Sie »ebeutung biefeS SSud»S berubt
auf feinem Kaien unb felbftftänbigen Sin«
greifen in bie fragen bei gegenwärtigen
unb nädjften ©efeüfdiaftSentwicflung. S3ei
biefem feinen „praftifd)en" Sßertlj bean«
fprudjt e8 einerseits eine gelingen faa>
wiffenfdjaftlidie, anbererfeitS aber eine um
fo größere allgemeine Slufmerffamfeit unb
jtoar wenigfrenS oon Seiten Serer. bie
mit feinen ©egenftänben raaBgebeno gu
Ujun fjaben. ©mnbgebanfe: „Stein ift ein
SKittel nur bann, Denn eS burd) feine
SRebenwirfungen feinen. 3we<f gar nidit
ober öerbaltniferaciBig wenig beeinträchtigt.
Sa nun mein &id, mein tjBcfjfter (SnbjtoedC
,ber freie ä3emunftmenfd)' ift, fo oerfte^e idj
unter . . . ,bem reinen SDiittel- lebiglid)
folctje SßaBnabmen, meldie . . . uns ben
freien SSeinunfttnenfdjen tt)atfäcr)lic6 näljer
bringen, ntd)t aber gegen gfretyett unb S3er»
nunft fo etfjeblicb tterftoßen, bafj fte in
biefer wichtigen aKer SJegiebungen meljr
fdjaben als nü&en." — Statt einer ein»
ge&enben ffrittt feien bier als SBeifpitle
bermerft: bie wiHfüttiche (Sinengung bei
äikrtbbegriffs auf baS Slngenebme unb ber
3Jitf3öttff, baß bei ben „3nbibibuetlen
3JHtieIroertbungen" ber ©egenfafc „normal"
unb abnorm" ober „anomal" (wie eS ftatt
bes fe^lerbaften äßorteS „anormal" beißen
muß) mit bem ©egenfaö beS alten unb
Steuen fowie mit bem beS Allgemeinen unb
3nbiöibueHen bertoedjfelt ift.
H. Schm.
3ettfdjrtft für WilofaMic unb pWo>
faMHdjc StvUti. . . 104. S3b. 1. §eft.
Seipgig, SPerlag bou G. ©. 3H. Sßf ef f er.
(Sin Stücf Sfortfctjung ber in unferm
februarijeft 1894 genauer befprodjenen
ubiläumSbänbe. §eroorjuljebeit wären
bieSmal Ueberfiditen über SRu&lanb, <5ng»
lanb, Sfmerila unb bie feinfinnige Scbäöuna,
bie Sbeobalb 3ießler Heineren Schriften
oon fjfrang SSrentano angebenden läßt. —
2üär' eS ntd)t biefer .Seitfdjrift Würbig,
Wenn fie aud> bie äußeren, inSbefonberS
bie Sebrberhältniffe ber Spijilofopbie in
ifjren regelmäßigen SBeactjtunaStreiB ein»
begög«? H. Schm.
«ntwitfelun«S«ei*idjte »er 9Utor.
SJon SBilbelra Jüölfdje. 2 SPänbe nnb
gegen 1000 Stbbilbungen im Xfjt mit
16 Safein in Scbwarg» unb garbenbrurf .
©eb. $reiS 15 SDcarf, aucb in 40 ßtefe«
rungen & 30 fßl — SReubamm, Skrlag
oon 3. Steumann. —
Ser Stoff gu bem oorliegenben größeren
ffierfe bat gmar bereits trüber berufene
^Bearbeiter gefunben, gegenwärtig fefjlte e*
aber an einem berartigen SSucb, baS bem
Saien baS reidjbaltiae 27caterial, unter
3ugrunbetegung gerabe auä) ber neueften
(Srrungenfdjaften auf naturwiffenfcbaftUdjem
©ebiet, überfidjllidj unb in burdjauS aü*
gemein oerftänblfcfjer Seife barbietet.
Siefe Aufgabe gu löfen unb ein berartiges
äBert gu fchaffen, ift bem Skrfaffer oor=
trefflidj gelungen. Serfelbe, ber aüdj bnrcb
feine SSemü&ungen, bic JÜefiljcttt auf eine
naturwifjcnfdjaftlidje ©runblage gu Reuen,
fid) befannt gemacht bat, enreift fidj in
bem oorliegenben Sffierfe als ein grünb»
lieber flenner ber Oerfd)iebenen 3^'ge ber
9iaturwiffenfdjaften bis in tbre jünaften
(Sntwictclungen. Sei glänjenbet ©tiliftit
»erftebt er baS Sntere ffe beS SeferS ju ge»
Winnen unb baSfelbe Bon Sauitel ju (Sapitel
gu fteigern. Sie ganje 33ebanblung beS
mädjtigeu Stoffes gebt Uon großen ©endjt*»
punften aus, niigenbS uerleßenb, babei ift
ber SJerfaffer Weit entfernt, etwaige Süden
unterer (Srtcnntnii gu berbeefeu, »ielmebr
beitritt er, wie er bieS in ber (Einleitung
beroorbebt, bie SJnfidjt Sllejanber oon
^umbolbtS, „baß jenes einjeitige Sidj=
ftetfen auf bie fefeten 9tälbf elfragen, uon
beten geitlidjer UnlöSbarteit man hi gewiffen
Streifen immer wieber nur }u gern ben
(Sufturwertb ber Scaturfotfdjung abbängig
madjen wöd)te, wefentlid) in foldjen SBpfen
entftebt, bie gar feine Slbnung bergen oon
ber wirtlichen ©röte, bem 9teid)tbum unb
ber Sdiönbeit bev bereits gu boüer Slarbeit
erforid)ten ©ebiete ber Äaturariffcnfdjaften.
— äßer oon einer redjten Siebe gum
Slaturftubium unb oon ber erbabenen
äiiürbe beefelben befeelt ift, fann burd>
9üd)t8 entmutigt werben, was an eine
tünftige SSerOoUtommnung beS menfdjlidjen
ätiffenS erinnert." Unter biefer SBoiauS»
feöung, fdjretbt ber SSerfaffer, fei unfer
2Beg begonnen. —
Saa umfangreidje 2Bert beftebt aus
2 SBänben, jeber Söanb gegliebert in Drei
Unterabtbeilungen (ȟdjer). Ser erfte
Bibliograph
SBonb befdjäftigt fid) mit btr <Sntoi<Mung8>
öefdjidjte bei menfdjlidjen Sfenntnife btr
tilatux, ferner mit ber ffintwidelungS*
«efdjidite ber au&erirbifdjen SEBelt, Dom
fflibtlfUd bis gum Planeten, unb fdjlie&lid)
mit bem Urguftanb ber drbe unb ben
Duleanifdjen ©rfdjemungen ber ©egenwart.
$>ie SutroidelungSgefdiidjte ber au&er«
hbifdjen SBelt fann als ein BoUflänbigeB
populäres „Sompenbium ber Slftronomie"
begeidjnet Werben. £>er gweite 89anb um»
fagt in fernen einseinen SBüdjem bie ©rbe
m ber älteften (Spodje ihrer (Sntwidelung,
aföbatm bie £ria8«, 3ura» unb Sreibegett
unb fdjIieMtd) ben 3«traum "pn S3eginn
ber Xertiärgeit bis m ©egenmart. 3n
feljr intereffanter SBeife behanbelt iu biefem
löanb ber SBerfaffer bie Sarwin'fcfce Sehre,
bie er aus ben ^fjatfacben heraus, ftufen«
weife enimicMt unb bem Sefer oorführt.
3« einer Steide Bon Slbbilbungen, bie ftd)
bem SCcjte genau anfdiliefeen, lntrb baS
intereff ante ©ebiet ber Slnpaffung, SDMmifrn,
bem Sefer beranfdiaulid)t. SEBeiterhin er=
läutert ber Serfaffer in fehr ausführlicher
SBeifc bie gcfdjkhtliche ©nlwidelung ber
Organismen Bon ben älteften Urformen bis
herauf gum SWenfeben. Sem Sefcteren ift
baS ©djlu&capitel gewibmet, in welchem,
bei SJermeibung ejtremer ©cblüffe, ben
Sftefultaten einer BorurtbeilSfreien gorfdjung
SKedjnung getragen ift. Sin ausführliches
Stegtfter ift bem gweiten SBanb am ©djlufs
beigefügt. —
3af)lreidie 3Huftrationen, theils nad)
Original« Spijotograpbien, IhcilS nad) 3et*s
nungen, erläutern ben Stejt; baS recht gut
auSgeftattete äüerf fann mctrm empfohlen
»erben. K.
$orjpiele auf bem Ibcatci-. ®tama=
turgifdje ©figjen uou ißaul S in bau.
Bresben unb üBten, Scrlag bcS Uni=
Berfum. (älfreb $aufd)ilb.)
Sin bramaturgifcben SBerfeit, bie fid)
mit ben ©efeöen, nad) benen ber brama«
tifdje Dichter fd)affen fott, refp. nad) benen
bie anerkannten SÜietfter beS ®rama8 ge-
fdjaffen haben, befaffen, fehlt eS nidjt; ba=
gegen f er)It eS an einer p r a f t i f dj e u ® rama=
turgie, an einem äöerfe, weldjeB uns bie
Sßhafen Born fertig Borliegenben SBJerf beS
bramatifd)en DidjterS bis gu feiner SJer»
fBrperung auf ben Wrltbebeutenben üörettern
beleudjtet, baS bie Xtjntigfeit beS SidjterS
nad) SMenbuug feines SBerfeS, fein
»erhältnife gum StegiUeur, bie Sbättgfeit
beS Seiteren forote beS ©djaufpielerS auf
fdje nötigen. ^09
ben groben wie bei ber Slufführung fdjilbert.
Diefe Surfe füllt baS Borliegenbe SSud)
SPaul SinbauS in banfenStoerther SBeife
aus. Sie reidjen Erfahrungen, bte $aul
Sinbau als 23ülmenbid)ter , Dramaturg
unb Sfjeaterftttifer gefammelt, unb bie er
jefct in cinftufjreidier Stellung mujbar gu
machen ©elegenhett hat, bie i&inblide, bie
er burd) feine perfönlidjen SBegiehungcn gu
belannten SBühnenleitern unö berühmten
©djaufpielern in baS geben unb Xreiben
hinter ben Gouliffen foirohl an beutfdjen
mie an fremben, Bornehmlidj frangöfifdien
X&eatern hat ttjun tonnen, fefceu ujn in
bie Sage, biefen ©egenftanb mit Bottfter
©adifentitnie gu befjanbeln; ba& bicSaufeer*
bem in gefäUigfter gönn, in feffelnbftcr,
burd) gahlretdie, charafteriflifdje unb amü»
fante Slnefboten unb eigene grlebniffe
SinbauS gewürgter ®arftellung gefd)ie^t,
braudjt nid)t erft Berfidjert gu werben.
SDa« S3ud) fe^t fid) aus brei Slbtjanblungen
guiammen: »SRegie unb Snfcentrung",
»3>id)ter unb *übne in Seutfdilanb unb
gtanlreidj" unb »lieber bie Sunft beS
©djauipiclerS". 3n bem erften äluffa^e
wirb bie toidjtige £f)ätigfeit beS SWegiffeu»,
bou beren äüejeu unb SÖebeutung baS grofje
publicum leine SBorfteHung hat, fowo|l
in SSegug auf bie „SntjaltSregie", wie auf
bie »gormregie" (3nfcenirung) — wie
Sinbau es begännet — eingiljenb gewürbigt
unb ein anfcbaulidjeS Jöilb oon bem 3Jer«
laufe ber ßeftptoben, SBühnenproben u. f. w.
gegeben. Sllteingemurgelte iDiifeftänbe an
beutidjen äDübnen werben in lehrreidjtr
SSSeife bloßgelegt unb mandier beb/rgigen£«
wertfte SBitit gegeben, beffeu Sefolgung
Stegiffeuren unb ©djaufpielern Bon ÜRuöcn
fein bürfte. Der gweite 2luffa& getgt
bie öerfdjiebene Stellung, weldje ber
beutfdje unb ber frangöfifdie 3)ramatifer
ihren Bühnen gegenüber einnehmen —
eine parallele, weide niebt gu ©unften ber
beutfdjen Xheateroerbältniffe ausfättt. Der
britte (Sffap befdiäfligt fid), anfnüpfenb
an SluSlaffungcn beS betaitnteu frangöfi»
fdjen SchaufpielerS (SoquclinS, mit ber
flunft beS ©djaufpielerS unb erörtert be»
fonberS bie Srage, ob ber wahre Sdjau«
(pielfünfiler mehr imS?anne ber 3nfpiration,
ober ber fünftlerifdjen Uebcrlegung ftehe,
ob er in ber SHolle ober über ber 3iolle
ftehen müffe, um bie gröfete unb reinfte
2BirIung gu ergielen. —
£aS SSud) ift gunäcfjft 2lHen, bie mit
ber Sühne in engerer Söegiehung ftehen,
Bontehmlid) alfo Theaterleitern, ätegiffeuren
unb ©djaufpielern, fenter aber aud) Sitten,
HO
ZTorb un& 5üb.
bie für bas Theater unb bie bratnaiifrfje
ftunft 3ntert{fe haben — unb wer gabelte
nicht gu biefen, — aiigelegentlid) gu em«
pfehlen. 0. W.
ftaralog tri- Vereinigung ber Äunft»
freuntc für amtliche ißublicationen btr
Srönigl. 9£attonal=@alcric. Söerlin.
ßänflft überwunben ift jene farbenfeinb«
lietje Sßeriobe einer bem wirflichen Sehen
aflgu fefir entfrembet'tt ßunft; btr 6tanb=
punft, ben einft Tiberot in feinem essai
sur la peinture eimia&m, in beut er bie
ftarbe als ben „göttlichen §aucb, ber 2lttc8
belebt," pricS, ift wieber gu allgemeiner
©eltung gelangt; nicht nur in ber ßunft
felbft fommt biefer neu belebte, gefteigerte
unb gugteid) berfetnerte ffarbenfinn gur
©eltung, auch bie berbielfaltigenbe Sfunft
flicht ihm mehr unb mehr Dledinung »u
tragen. Tie Schroierigfetfen, mit benen fie
Ijier gu fämpfen hatte, um ben fünftterifetj
gebilbeten ©efdimacf gu befriebigen, finb att>
mählid) überwunben werben; unb neben
ber ^Photographie unb ber Stabirung, beren
*coorgugung in neuerer 3««t fdjon ben
neubclebteit Sinn für malerifdie Mrfuttg
bocumeutirt, fommt mehr unb mehr bie
farbige 3B:cbergabe heroorragenber ©eniäloe
tu Stuf nähme. (Sin neues Verfahren: ber
yarbenlichtbrucf bon 3lb. D. Trot&icb er»
möglidit e«, bie üfuiiftioerte mit ber bollften
Irene bc§ pbotograpbifdien WachbilbcS unb
mit ber — nur genta« ber beräuberten
©röfje rebuetrten — tJarbettmirfung beS
Originale wieberaugeben. Ter (Sitibrncf,
ben bie nach bieiem 3>erfal)reti eTgeugten
.siunftblätter machen, fommt bem ber llr*
bilber fo nahe, bafi fie einen wirtlich an«
nehmbaren unb wi(Ifommencu (Srfafc für
biefclben hüben unb man faft uergtüt. bafj
ihnen ein median iidjeS Verfahren gu ©runbe
liegt. (Sine fotdie Treue, vereint mit füuftlcri»
fcher Reinheit ber coloriftiidicn Wadibilbung
ift bieher tto.1i bttrdi fein Söcroiclfältigimg«»
berfahren errcidit werben. Tie Tircctton
ber fg(. 9fotioinI=(yaIcric lerbient baher
lebhafte üluerteuuung, bnf? fie einen Theil
ihrer Wunftid age mit fttlfe biefcs Verfahrens
bem fuuftfitiiiigeii publicum gttgängltd)
madien will unb bieten 3«tcf bureb bie oon
ihr begiiinbete ^Bereinigung berflunftfreume
gu erretden fudit, bereit ©cfdiät'tSleitung
tn bic Sjätibe bon 21b. O. Troifejcb gelegt
ift Tie SBercinigung liefert ihren ÜJiit*
gliebcrit für einen ^abre&beitraa bon 20 9Kf.
SßereinSbiltcr und) freier äi;al)l in gleichem
SBerthe (citt 9!ormaIbilb, bfgm. gtra $alb«
blätter ober 4 2i<appenbilbcr). Ter Sratalog
für 1895—1896 Weift ©emälbe auf t»n
b. (Sana!, @b. Sifdjer, Sari ©raeb, <ö.
fiilbebranbt, o. ©chenniS (Sanbfdwftlidit*
unb SlrdiiteftonifdieS), Srnft £>Ubebranb
(Königin ßttife auf ber gludjt na* 3KemeI),
fjerbinaub Setter (älpotbeofe Jfaifer
ätfilbelm'S be8 ©iegreitfen); Stbolf ättenjel
(Trotfenptafc), Sari Sßütter CäJlaborma),
Starl Salfcmann (flaifer 2BilBclm II. an
Söorb beS „Tuncan ©rerj" auf ber SBal*
3agb), Stnton ». SBerner (Om ötawwf
quartier Bor 3kri8), bie fämmtlid) burrh
fletne, aber gute, Hare SPhotohtoien mieber«
gegeben fmb, fo bafj man auch ohne bie bei«
gefügte genaue iöefchreibung eine« ieben
Sötlbe« eine genügenbe S?orfteUung bon jebem
ffunftblatte befommt, um nach ben Sota«
logen eine 2Bat)l treffen gu fönnen. SBir
münfehtn bem Unternehmen gebeihlichen
Fortgang unter ber £t)eilnabmt De8 fünft»
ftnnigen $ublifum8. — 1—
$d6 föerr tium 9Kenje». Sine
^eftgabe gum 80. Öeburt*tage be8
HunftlerS. (iin Söanb ©roftquart mit
31 StolMberit unb 106 £ejt=3Uufiw
tiotten.
«Jföiij oon yenbaths 3rttaenör1tf4c
Siloniffe. 40 Portrait« m t'boto«
graoüre. ©rofefolioformat. Sfieue golge.
Withovo «Sagner. Söon ^oufton
Stewart (Sbamberlatn. 3Rit bieten,
meift unberöffentlidtten a?ortrait8, »ig=
netten unb gahlrcidjen anberen SUuftra«
tionen, ffacfimile» u. f. w. SJcrlag««
anftatt f iir Sunft unb äl'iffenf dj af t
in München, lormatö grtebrich
Söruefmann.
Tie burdt ihre heroorragenbenßeiftungen
auf bem ©ebiete ber fünftlerifdjen Wepro»
buetion befannte unb baourch um bie SJunft
felbft berbiente ÜWüucheuer fthma bringt
gu gleicher S^it brei 8Beife Don heröor«
rageuöem ftunftiuertbe auf ben iDiarft, mit
benen brei ber bebeutenbften 3?amen unfercr
3ett berfnüpft finb.
SJon aciueflem Sutereffe ift befonberS
ba8 ctfte ber brei 2ßerf;-, welches unfertn
genialen SDiengcl, bem Bahnbrecher einer
tiencn Munft gewibmet ift, ber bemnäcbft,
am 8. Tccember, feinen 80. ©eburtetaj
feiern wirb. TaS ift ein 3«i'b»wft, ber tS
gur $flid)t macht, bie gewaltige SebenS«
arbeit biefcS SKeifter«, ber noch als ©reis
bie Srifchc unb €<haffcttSfraft eines Süng«
IingS offenbart, auch weiteren ffireifen ein«
gehenb bertraut gu madjen. TaS Fon ber
3 lluftrtrtc Bibliograph«-
ÄerlagSanftalt im Sabre 1885 fjerauSge»
flcbene grofse SNengelrocrf ift, ba e8 nur in
einer Sluftoae von 350 (Jjemplaren berge
fteüt mar, natürlich auf einen fetjr engen
ffrei« befebränft geblieben. Xie vorliegenbe
Sfu«gabe, bie in electantem SSanbe 40 Ulf.
foftet, wirb bem SKangel abhelfen, ©te
fchilbert bie gange fünftlcrifcbe Sbätipfett
SWengelS in ©ort unb SÖilb. Xer Xejt
rührt bon SDtar, 3orban 6er, her, nadibem
er fitrg bie eflten fünftlerifchen Sfeufjerungen
be8 früfjreifcii ©nahen befprodien, ausfuhr»
lief) jene cpocbemacbtnbenßeiftungenSDfengete
würbigt, burdi bie er ba8 3«*alter ftrieb.
rid)8 bei ©roßen gu neuem Sehen erwrefte,
bureh bie er ba8 SSerftänbni& für ben arofjen
ftönig unb feine 3«t fo ungemein geförbert
Ijat, fo ba& jene äBerfe nicht nur im rein
fünftlerifdjen ©inne reformirenb getoirft
gaben.
3u ebeufo flarer, cinfadjer, anjiebeuber
Xarftellnng, mie Sorban biefe l'eriobe
fchilbert. tu ber ber ©eniuS beS JrünftlerS,
anfangs bon einer unentioicfelten 3u*uftra=
rionStcdmif beengt, bann aud) beren SBer«
öoBfommnung mit förbernb, maditboH gum
Xurchbrudi tarn, führt er uns aud) bie
weitere (Sutivicftung vor, in ber ftd) ber
SDieifter ber funftlerifdien SEBiebergabe ber
gegenwärtigen äBirfltd)fett gmuaiiDte —
Xa8 3Bert ift rcid) unb glängenb au8>
geftattet, mit 31 auSgejeidmeten gangfeitigen
Sicbtbrucfbilbem unb 106 XeEttUuftrationeit
geftbmüctt. —
Xie 9?eue golfle &er „3eitgenöffi*
fdjen Söilbnift'e" Don Srang von
Senbad) — beren erftrr SJanb uor nahe
10 Sohren erfdiieuen — bietet nach einer,
vom ftüitftler feloft getroffenen SluSrabl
eine SluSlcfe bcB SBibeutenbftcn, ma8 itai«
ba* im lefcten Sabrjebnt geiebaffen: 40
IßortraitS gumeift von berühmten SJierföu*
ltdjfeiteu; baruntcr: Sönig Sllbert von
©achieu, ber ilkingregeut ron Söaijcrn,
Papft fico XIII., giirft Serbinanb von
iöuigarien, Sürft söiBmarcf (2 3JiaI), Surft
Hohenlohe, ©raf SDIcitfe, §. v. »üloio,
iKietjarb SBagner, 3<>b- Strauß, ©corg
iSberS, 9lidjarb itoft, §erm. Singg, ©dnoe*
ninger, £. v. §.lmf)o(6, Steint). S?cgaS,
Üenbad) mit SHnb; SWarceHa ©embrtd),
ßUTian ©anberfon. XaS iöiloiiifj ber
Stfeteren bea>cift, wie ba8 ber ©räfin ©örft
unb ber SDiabame <£., ba& ber S( imitier,
obmof)I er fid) nidit bc8 9tufc8 cinc8
ipecieUen XamenmalerS erfreut, bem weidjen
loeiblldjcn ©chönbeltSreig cbenfo grredjt gu
werben bermag, tt>ie mämilieber SüiUenS«
ftärfe unb Sntcüigenj. Xen SBefdjIufj
maebt ein relgenbeS SSilbnife beB XodjterdjenS
beS flünftlerS: 2Jlation Senbad). lieber
Seiibachs ßbarafterifirungsfunft, bie uns
mit fo überieugenber flraft ben 2Defen8ge«
balt jeber Sßerfönlicbfeit in i&rem Slntlt'ö gum
SluSbrucf gu bringen bermag, braueben wir
uns bier beS ©eiteren nidit auSgulaffen.
Xieie geitgenöffifeben SBilbniffe, weldje un8
bier in brädittgen ißrjotogratiüren in ©ro&«
foüoformat angeboten werben, fja&en in ber
Sbat neben ihrer bofjen funftlerifdien Be«
beutung ben SBertt) bon Xocumenten jur
3eitaefd)idite.
Dtur einen furjen $tuiret8 tonnen wir
hier bem SBeite über Sticftarb ©aguer
von Sbamberlain, tvibmtn, bon bem
uns jur 3ett nur bie erfte Hälfte vorliegt,
unb auf baS wir nod) eingehenber jurücf«
fommen werben. S)a8 bon einem grünblicben
äBagnertcnner unb begeifterten 2üagneruer=
ehrer herrährenbe vornehm ausgestattete unb
mit gahlreicben 3Quftrationen gefdjmücfte
3Bcrf bringt viel bisher UnbefannteS, baS ber
Herausgeber jum grofsen Ibeil bot bon
grau ©ofima jur Verfügung geftetlten
©chä$en aus JßiUa fflahnfrieb verbantt.
S)itx fott auch jum erften 3MaIe ein voll«
ftänbigeS ^ergetebnii) ber ÜBerfe ©agner8
geboten tterbeu. 2)dS ÜÜerf wirb 24 3Kt.,
gebunben 30 üWf. foftcu. — 1—
© (i voller; Or. dl oman von S- S t e « 6 « r r
von Sinftage (öans SRagel von
üttramc). XrcSoen unb Seipjig, Gart
SHei&ner.
©ie fetjort ber Xitel errathen lafjt, ift
bie §clbin beS SiomanS eine junge, fetjöne
S3aronefj, Doctov medicinae unb erfüllt
biefen S3eruf, ju bem fie fid) burchgerungen,
nad)Dem ihre §fr}cu§ancielegeuheiten burd)
eine Söeifettuug inif3ltd)er Umftänbe ©djiff«
bruch gelitten, int fegeneretchften unb
cbtlften ©iune. Xer Sktfaffer bocumentirt
)id) in feinem 2L*erfe als ein SSorfämbfer
ber ftraiienbeiDegung unb Sinwalt berjenigen,
bie für bie 3»l<iffu',8 b«r jyrauen gu ben
gelehrten Sötrufeu plaibiren; es gtfdjicht
bicS in burehauS nid:t lehrhafter SBeife,
er berfueht nur am £ciibicl gu übergeugen,
unb wenn er feiner §clcmt Worte in ben
SDJunb legt, meld« feine Parteinahme für
biete viel umftrttteue %xaw betbätigen, fo
fügt fid) Siebe unb ©egenrebe ohne 2luf*
bringliditeit in ben Stahmeu ber (^rgählung.
9!ur bie 2?afii, auf »ocldier bie 33er=
tvicflung fid) aufbaut, bie baS £>ergen8>
bünbnif? ber S)arone6 in einer Sfataftrobbe
enben läfjt, erfdieint uns giemlich funftlid)
<k\2
ZXotb unb Sab.
conftruirt, fjier toirfen .gufäaiafeiten mit,
bie aufgcdätt toerben raupten, unb baf; fie
nidjt aufgetlart (Derben, ift unglaub&aft
unb unnatürlicb. —
Die ©egeifterung be8 SerfafferS für
bat $rinjtn griebrid) ftarl, melier er in
{einem Stoma« ben lebhaften SluSbrucf ber«
leibt, tarnt ber Sefer willig in ben ftauf
nefjmen, wenn aud) bie ©eftalt b(8 SJJrinjen
in red)t tofem äufommenbang mit beut
©ang ber §anblung fte&t unb roof)I nur
aus befonberer Smnpatbie be8 StutorB mit
hinein Derffod)ten roorben ift. raz.
Tla passionia. SebenSlieber uon Termine
Don 5ßreuf4en. Serlag bon ©arl
31 e it n e r, Dreflben unb Seipjig.
„Via passionis" jeigt, tt>ie bie unter
bem DiteI,,Regina vitae" früher erfdjie nenen
©ebidjte biefer bod)begabten Sdjrif tftellertn,
baS flleidjfam impulfiue gortflirtgen be8«
felben njebmütbiaen ©ranbgebanfenS, ber
Se&nfudjt na* ©lücf, be8 fdjmerjltdien ©e«
füblS feelifdier Skreinfamuna al8 Seitmotiü.
9Hct>t bie SBlume begtüdenber Siebe — bie
Kofe — fonbtrn Die roilbtoudiembe SBlutbe
ber Seibenfdiaft, ber rot&e SKoftn Ift ba8
Sinnbilb biefeS fdinett fdilagenbert, ßlütjetu
ben 3rauenbergen8 : „Unb toteber flammt
Bor meinem trüben Sölicf — Der rotbe
SDiobln! — Der rotfje SDlobn - Unb fpottet
meines 2eib8 — Unb maimt an jeben un*
gefügten Stuf) — Unb matjnt an all bie
ungelofebte ©lutb — Unb maimt an meiner
Seele tieffte Qual — Der rot&e Wotyxl"
2)ei ber lüettadjtung einer Dom Dröbler
getauften fdiabbaften, altert&ümlid)en Ubr,
n>eld)e na* itjrer Sleftaurirung täglid) eine
Stunbe borgebt, ruft fte au8: ,34 aber
tarnt ibr totteS Dbun begreifen, — 3ft fte
bod) »ie ein trautes, mübeS $erj — Dan
nod) ein ©iüct genabt ht aroBlfter Staube
— Unb ba« barum nun SUIeS, toaS ef je
— &erfäumt ht jahrelanger Debe, mödjte
— SDlit »Uber $ul|e nngeftümen Sdjläflen
— Einbringen k."
(SS ift baber begreiflieb, bafj in ben
Dorltegenben ©ebidjteu ntdjt bie Säinbfrifle
ber 3»friebenb>it, Jonbern ber Sturm beS
Verlangens unb teS SBüttrfprudjS t»or=
berrfdjt, 9htbm unb Siebe jinb gutretlen
ber Did)term nur Süaljn unb Xranm,
SBeKenfcbaum unb 3J!rere8lcud)ten. Sie
bält alles ©lüdt für ein $&antom, ^ m
itjrer Seele ift ob ber armen, menfcrlidxn
©efüble, ob beS gagbaften, Reinen StingenS
ein Soeben rote jenes Sadjen ber geftürtfen
ftrtgel, bie all ber meiten Sd)öpfung ©etit
begreifen unb bod) fld) bäumen roiber ibren
fterrn ; aber fte tommt aud) toteber ju einer
oerföbnlicben SebenSauffaffung uno fd)lie§t
baS ®ebtd)t „Slufrutjr" mit ben Söorten:
„Dein ift bie Siebe unb ü)r SBunberglauben.
— SiJer Diel geliebt, bem teirb aud) Diel
oergeben — Sad) Deines SdmmrS, beS
tbörid)t'febnfud)t8tauben, — Saß feinen
Dag beS ©lüetS Dir ferner rauben — HuS
biefem armen, turjen SKenfcbenleben.* —
Sie erinnert fid) baran, baß fie noch
tJlüael Ijat, bie fte emportragen 06 allen
SiSuft unb alle Dualen beS MtagS ht bie
reinen Säfte, barin allein ibjr ©enius toirtt
unb lebt. Dag aber ber Dtajtertn aud)
fanftere, Ijarmonifdje Däne }u ©ebote
fteben, faeteeifen bie tiefempfunbenen Sieber,
in benen fie itjre Siebe unb if)re ÜHurterliebe
aueflingen Iä6t. uiz.
Eingegangene Bücher. Besprechung nach Auswahl der Redaction vorbehalten.
Allen, C V/„ Unser Bismarck. Lieferung 12. 13
(Schlnss.) Stuttgart, Union DcutecIie.Verlags-
Gesellschalt.
Ambrosius, J_ Ciedichte.Hera\i9gegcben vou Karl
Selirattentlial. Dreizehnte Atinage. Mit Por-
trait und Ablilldung des Wohnhauses der
Dichterin. Königsberg i. Pr., Ferd. Beyer.
Aogrusti, Brigitte, In gutem delelt Ein Deuk-
und Merktitlehlein für alle Tage des Jahres
zusammengestellt u. ihren jungen Freundinnen
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ärztlich''!! Standes und der medleinlsehen
Wissenschaften. Mit zwei Abbildungen. Berlin,
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Königsberg, Haitung'sehe Verlagsdnickcrei.
Borger, J., Unter deu modernen Landsknechten.
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Blanok, Carl, Gedichte. Zürich und Leipzig.
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Bibliographie.
3(3
Oaar, E., Kbnlgsleid. Drama Iii fünf Acten.
Dresden und Leipzig, Heinrich Minden.
Cyon, E. de, La guerre ou la palx? Lausanne,
B. Betida.
— Hlstolre de L'Eutente Franco-Russe 1886-1894.
Documenta et Souvenir«. Avec nn Portrait
de Katkof. Deuxleme edltion. Lausanne, B.
Benda.
Dahn, F., Chlodovech. Historischer Roman aus
der Völkerwanderuiig. Vierte Auflage. Leip-
zig, Breitkopf und Härtel.
Dante Alighieri, La Divina Commedla. Riveduta
nel testo commentata da O. A. Scartazzlnl.
Milano, ülrlco Hoepli.
Deutschland* Buhmestage 1870—71. Iu
Schilderungen von Mitstreitern. Lieferung
8—5. Rathenow, Max Babenzlen.
Dttntser, Heinrich. Goethe. Kail August und
Ottokar Lorenz. Ein Denkmal. Dresden,
Dresdener Verlagsanstalt (V. W. Esche).
Dulmchen, Th., Aus altem Hause. Roman.
Leipzig, Robert Friese (Arth. Cavael).
Ertl, E., Opfer der Zelt Zwei Novellen aus dem
Wiener Leben. Jena, Hermann Costenoble.
Kachricht, En Unter dunklen Menschen. Roman.
Berlin, F. Fontane & Co.
Evera. F., Deutsche Lieder. Berlin, G. Grote.
Falke, 0-, Landen und Stranden. Zwei Baude.
Berlin W., Verein für Freies Schriftthum.
Felsin«, Otto. 8trelfztlge durch die Theaterwelt.
Dresden. Dresdener Verlagsanstalt (V.
W. Esche).
Flodatto, Durch Dabome. Eni9te und heitere
Erlebnisse, Reise- und Jagdabeiiteuer. Mit
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zig, F. Hirt & Sohn.
Fontane, Tb., Effi Briest. Roman. Berlin, F.
Fontane & Co.
Franke-ScMevelbein , Gertrud, Kunst und
Gunst. Roman. Berlin, F. Fontane & Co.
Frapan, I- Flügel auf! Novellen. Berlin, Ge-
brüder Paetel.
— I., Querköpfe. Hamburger Novellen.
Berlin. Gebrüder Paetel.
Frieberger, G., Der letzte Flittertag. Dresden,
Leipzig und Wien, E. Pierson.
Olesebrecht, W. von, Geschichte der deutschen
Kalserzelt. VI. (Sehluss-) Band. Die letzten
Zeiten Kaiser Friedrichs des Bothbarts. Her-
ausgegeben und fortgesetzt von B.von Simson.
Leipzig, Duncker & Hnmblot
Oxttnbera;, V., Drei Novellen. BrUnn, Karafiat
& Sohn.
Hillern, W. v., Und sie kommt doch ! Erzählung
aus einem Alpenkloster des 13. Jahrhunderts.
4. Auflage. Berlin, Gebrüder Paetel.
Hincbfeld, Georg, Der Bergsee. Dresden,
Verlag von Georg Bondi.
Hocker, Oskar. Im Zeichen des Bären. Cultur-
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gangenheit Deutschlands Jugend gewidmet.
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Leipzig, F. Hirt & Sobn.
Hofmann, Else, Mflller-Lletel. Eine Erzählung
für erwachsene Mädchen. Mit einer Heliogra-
vüre. Leipzig, F. Hirt & Sohn.
Hosaus, W., Gedichte. Dessau, C. DUimhaupt.
Ignotu», Die Kreuzzeituugs-Politik und die Aera
Humniersteln-Stöcker. Berlin, Rosenbaum &
Hart.
Ingram. J. K., Geschichte der Sklaverei und der
Hörigkeit. Rechtmässige deutseheBearbeitnng
von Leopold Kutscher. Dresden und Leipzig,
Carl Relssner.
Jaoobowski, L, Aus Tag und Tiaum. Neue
Gedichte. Berlin. S. Culvarv & Co.
Klitscher. G., Von Weibes Herztn. Zwei Novellen.
Berlin, Deutsche Sclirift<tellei -Genossenschaft.
Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens.
Herausg. von Karl Schnaidt TL Jahrgang.
No. 53—57. Berlin, W. Hugo Storm.
Kruse, H., Nero. Trauerspiel in fünf Aufzügen.
Leipzig, & Hlrzel.
Leliwa, Graf, Russisch-polnische Beziehungen.
Ein Abrlss. Autorislrte Uebersetzong von
Arthur C. Arnold. Leipzig, E. L. Kasprowicz.
Le Monde Moderne. Revue Mensueile Illus-
tre«. 1895. Nov. Paria, A. Quantin.
Lena, 0., Wanderungeu in Afrika. Studien und
Erlebnisse. Wien, Verlag der Litterarischen
Gesellschaft.
Lindau, R., Aus China und Japan. Reise-Er-
innerungen. Berlin, F. Fontane & Co.
Lindenberg:, P, Kaiser Friedrich als Student.
Mit unveröffentlichtem Material aus dein Nach-
lasse Kaiser Friedrich'?, einem Titelbild und
16 Abbildungen, autographlschen Blättern etc.
Berlin, Ferd. Dümmler.
Malcolm, Laura, Wir Frauen und unsere
Dichter. Wien und Leipzig Verlag der
„Wiener Mode".
— Zwei Frauenerlebnisse. Novellen. Paris,
Leipzig, München, Albert Langen.
Meinecke, G., Kreolische und märkische Ge-
schichten. Berlin, Deutscher Kolonlal-Verlag.
(G. Meinecke.)
Meinhardt. A., Mimen. Moderne Zwiegespräche.
Berlin, Gebrüder Paetel.
Meissner, Dr. L, F., Weihnachtsspiele. Bilder
aus der deutschen Geschichte zu festlichen
Aufführungen für Jung und Alt. 1. Heft
Aus der Zelt der Babenberger. Wien, Verlag
der litterarischen Gesellschaft
Meyer'» Heisebücher. Rom und die Campagna.
Von Dr. Th. Gsell Fels. Vierte Auflage. Mit
5 Karten, 47 Plänen und Grundrissen, «3 An-
sichten. Leipzig und Wien, Bibliographi-
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Müller, V., Der Bau des Reichs-Gerichts zu Leip-
zig. Eine Schilderung des Baues und seiner
Einzelheiten, zugleich ein Führer durch seine
Räume. Mit 5 Illustrationen, 2 Plänen und
dem Bildnlss des Erbauers. Berlin, Georg
Siemens.
Nassen, J., Heinrich Helne's Familienleben nebst
einer Helne-Lltteratur. Fulda, Fuldaer Actien-
druckerel.
Neumayr, Prof. Dr. Melchior, Erdgeschichte
Zweite Auflage, neu bearbeitet von Prof. Dr.
Victor Uhllg. Zweiter Band. Beschreibende
Geologie. Mit 495 Abbildungen im Text,
10 Farbendruck- und 6 HolTschnltttafeln, so-
wie 8 Kalten, von Th. Alphocs, F. Dotzaner,
F. Etzold, E. Heyn, H. Kaufmann, 0. Peters,
K. Poschinger, E. von Ransonnet 0. Schulz,
A. Swoboda n. a. Leipzig und Wien, Biblio-
graphisches Institut
Nemmersdorf, F. v. Aus gärender Zeit. Eine
Studie aus dem Leben. Stuttgart, Dr. Foerstev
6 Cle.
Niemann, A., Der Agitator. Roman. 8 Bünde.
Dresden. Leipzig & Wien, E. Pierson.
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Nietzki, Dr. M., Heinrieh Heine als Dichter
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Padberg, A. v., Haussprüche und Inschriften
in Deutschland, in Oesterreich und In der
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Pasearg-e, R., Gedichte. Königsberg, Hartuug'sche
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PetrL J. Rothe Erde. Ans seinem Nachlass heraus-
gegeben von Erich Schmidt Berlin, Gebrüder
Paetel.
— «otb
Pfluffk-Harttunff, Dr. J. v, Krieg und Sieg
1870—71. Hit vielen Abbildungen. Berlin,
Schall u. Grand.
Pfungst, A., Dr., Wer soll der „Deutschen
Oeselischart ftlr ethische Cultur" beitreten?
Vortrag. Berlin, Ferd. DUmmler.
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Hit Blldniss. (Geisteshelden, herausgegeben
von Anton Bettelheim. 19. Band). Berlin,
Emst Hof mann & Co.
Pröll, K., Am Seelentelephon. Neue Kurzge-
schichten. Berlin, Hugo Storni.
Bansoni,E., DasSchSneund die bildenden Künste.
Wien, Pest, Leipzig, A. Hartleben.
Raphaels. J., Künstlerische Photographie. Düssel-
dorf, Ed. Liesegang.
Reform, Ostdeutsche, Blätter zur Förderung
der Humanität IV. Jahrgang N. 19-20.
Königsberg 1. P., Braun und Weber.
Kogge, D. B., Bei der Garde. Erlebnisse und Ein-
drucke aus den Kriegsiahren 1870/71. Hit
vier Karten. Hannover, Carl Meyer. (Gustav
Prior.)
Friedrich Bückerts Werke in sechs Bänden.
Herausgegeben von Ludwig Lateiner. Erste
Lieferung. Stuttgart, J. G. Cotta'acbe Buch-
handlung.
achillers Werke. Herausgegeben von Ludwig
Bellermann. Kritisch durchgesehene und er-
läuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und
Wien, Bibliographisches Institut.
Schmitt, Ch., Alsalieder. Zweite vermehrte
Auflage. Zabern 1. E., A. Fuchs.
Sohnackenburg, J., Lose Blätter. Mit farbigem
Titelblatt von M. Höpffner. Leipzig, Alfred
Janssen.
Schnitze, Dr. S., Der Zeitgeist der modernen
Litterntur Europas. Einige Capital zur ver-
gleichenden Litteraturgescbicbte. Halle a. S.,
C. A. Kümmerer & Co.
Sohuster, R., Der Menschenfreund. Trauerspiel
In vier Acten. Wolfenbttttol, Juliu« Zwissler.
Schwelger-L<>rchenfeld, A. v., Die Donau als
Vaikerweg. Schiff fahrtsstrasse und Reiseroute.
Mit iiOO Abbildungen u. Karten. Lieferung
16—20. Wien. A. Hartleben.
Sienkiewiez, II. Das l'rthcil des Zeus nnd
andere Novellen. Autorin, l'ebersetzung von
Helena Majdanska. Berlin, Rosenbaum und
Hart.
Spandow, Ph., Von Ihr und mir. Berlin, E.
Kantornwiez.
Stökl. Helene. Feierstunden der Seele. Diclitcr-
klänge zur Erquickung und Erhebung von
Herz und Geist. Mit Titelbild. Leipzig, F.
Hirt & Solln.
StösseL Allred. Brandung. Novelle. Leipzig,
Verlag von Robert Friese Sep.-Cto.
— Freunde. Roman. Leipzig, Robert Friese
Sep.-Conlo.
Strasburger, E., Streifzllge an der Rlvlera.
Berlin. Gebrüder Paciel.
Stubenrauch, E., Pflug und Laute Dichtungen.
Grossenhain und Leipzig, Baumert & Ronge.
Suttner, A. O. v.t Nichts Ernsthaltes Kleine
Geschichten. Dresden, Leipzig & Wien, E.
Pierson.
Teiohert, A., Für Israel! Mahn-, Weck- und
Trostrufe. München, Carl Rupprc:ht.
nb 5ü&.
Thiel, P. J., Naturische Briefe gegen die moderne
Dichtung. Neue verm. Auflage. Elberfeld,
Selbstverlag.
Tovote. H„ Hclsses Blut. Novellen. Berlin
F. Fontane & Co.
Trandt, V., Auf einsamem Pfad. Gedichte.
Zweite verm. Auflage. Zabern 1. E. A. Fuchs.
Valles, J., Vlngtras junge Leiden. Nach dem
Französischen frei bearbeitet von Karl
ScbneldL Berlin, Verein ftlr freies Schrtfcthmn.
Verxeichniss des Antiquarischen Böcher-
lagera von A. Bielefeld's Hofbuchhandluag
Nr. 178 (Llttcraturgefchlchte. Biographien.)
Karlsruhe, A. Bielefeld's Hofbuchb.
Villa marin, Titellos. Novellen. Berlin, Gebr.
PaeteL
Volbehr, Dr. Th, Goethe und die bildende Kunst.
Leipzig, E. A. Seemann.
Voss, Georg Dr., Die Frauen in der Kunst
Berlin, Riebard Taendler.
Vrchlicky, J. v, Gedichte, Ausgewählt und über-
setzt von Friedrich Adler. Mit dem Blldniss
d's Dichters. Leipzig, Philipp Reclam jus.
Die Waffen nieder! Monatschr. zur Förderung
der Friedensbewegung. Herausgegeben von
B. Suttner, 10. Jahrgang, N. 8-9. Dresden.
E. Pierson.
Die Wahrheit Halbmonatschrift zur Ver-
tiefung In die Fragen und Aufgaben des
Menschenlebens. Herausg. von Ch. Schrempf.
V. Band N. 1. Stuttgart, Fr. Fromm ann
(E. Hauff).
Weichelt H. Dr. phll., Hannoversche Geschichten
und Sagen. Erster Band. Norden, DIedr.
Soltau.
Weia-eL, A., Antiquariats-Katalog Nr. 20— Sl.
Quellen- und Sammelwerke. Volkstümliche
Litteratur, Cultur- und Sittengeschichte.
Leipzig, A. Welgel.
Werthelmer, E., Pensees et Maxime*. Tradno-
tlon de Marcellln. B°" Grlvot de Grandcourt
Lettre-Pri'face de Franeols Coppee de l'Aca-
demle Francalse. Paris. Paul Ollendorff.
Wiehert, E- Anderer Leute Kinder. Zwei No-
vellen. Dresden und Leipzig. Carl Reissner.
Wolters, Wilhelm, Ach, wenn Du wirst mein
eigen. . . Erzählung. Dresden, Dresdener
Verlagsanstalt (V. W. Esche).
WychgTam, Dr. J., Schiller dem deutschen
Volke dargestellt Ein neues Standwerk Uber
den Lieblingsdichter des deuL-ichen Volkes
fttr das deutsche Volk. Mit Lichtdrucken,
zahlreichen authentischen Beilagen und Text-
abbildungen, darunter vielen noch nicht ver-
öffentlichten Interessanten Portralts und Auto-
graphen. Lieferung 13—16. Bielefeld und
Leipzig. Velhagen & Klaslng.
Zapp, A., Ein Lieutenant a. D. Roman. Dresden
Leipzig & Wien, E. Pierson.
Deutsche Zeitschrift für Ausländisches
Unterrichtswesen. Herausgegeben von
Dr. J. Wycbgram. Erster Jahrgang. Heft I.
Leipzig, R. Voigtländer.
Zeitschrift fttr Philosophie und philo-
sophische Kritik. 107. Band, 1. Heft
Leipzig, C. E. M. Pfeffer.
***, Die geschichtliche Stellung und Aufgabe des
deutschen Altkatholiclsmus. Leipzig, Friedr.
Jansa.
HrMqtrt unter Dnantvortlidifrit bes $rraasgrbtrs.
£d}lrfif<fee Sucfctirucfrm, KanU« nnb Drrlags>21n0a[t p. 5. Sdjottloen&et, Brtslaa.
Unbftrcttiatrt riüd)6ruif au» ttm 3nba" Mefer g»tt(d|rift unterfaßt. UrbtrfrUangMtdtf DOrbrbalm.
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1 Äirb unb £üb. §
1 S
1895.
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I 5d)Ie(lfdie »u^turfcrei, l(unil= unb Ctrlags-Jlnltnlt
« tf. 5. fdgottlamber.
$erl*0 «Ott Uermutttt «efenin« in $«Ue.
tfeö.egenfte ifeftgaüc für den l£ritji.fldjtgt.frij.
Mim unit fletten ibntfdin »idifang. »KCÄ^I^Äi-^V'^^SaS
in BoUWniii nad) CrtotualKiajmnigtn »on Bitkino«» gttft unb 3. SS. Sutltaal. 3n Staojrtanb ariuubti Sil. ie.-.
Jon aba «uttologuV bb Bit Innen, bat bitte bal nwilh «H gtmai&t unb ni AI mit ttnt<4l." (»int 14 t »unbt4a«->
Mto im «u&ttn, ffl '< trafl.M» etbnlt. «jotgiom gtMttt, »titinlgt ti btt WJitfh« eiätt» bn btutHto «artl ■»« •■»}■
unb «Vtttlti bii int «3tgtamatt in tinet «utumtl, BtUbt »tot nnt out bat fetfrlti» «VWnfibtfuabtBi, lonbt tu o«* am) bal ftr
itbra «ttttt bttoubtrt iWlttriniHt »tb«4t nimmt. (3ol,«n«ittf»Bo4e«Haiu
Die t>. tVinbuvg'täen Uebertragungen ber Werfe ber
prci graten nw&iMen Sinter
jfoiös legner, |. §fW(f%r unD 1 |. Jlnöerfen
{in» »te »avjQgliajftett, ftie ienwW in betttföcr Sjiraiftt ertoienen fta*:
Ueberfefct pon «ottfrieb »on Ceinburg. St.
triajefiat bem König (Dsrar IL von Sdiroebtn unb
tfonorgen jugretgnet. Cinjige, fomoljl bnrd)
bil golbene ZTI r b a i 1 1 r ber Sdjweblfdien
Jlfabemie, als bnrd) bie grofee golbene Ulf
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■ \*\ llflttr (mit «rlauterungen). preis Inf.
, IV« ^mumaji gebunben.
Sit Britbjcfl-eagt ifl langt, langt Stil bU Sittli*altu4
• unHtrt atnifttn Sugtnb gtmtftn, nnb Bai bie 3ugtnb l itbt,
tBtr i»t aus) ftrnrrbin bitl Iilttatt
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Et. oon Danemarf jngeVtgnrt (. teil: Beige '
2. teil: ^rfa. 3. Ceil : tjroar. 3 teile in l San* geh ■'
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littli4t 2l4iuag. «ttt tie t B gtotatttgtt. »ea
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; gutem, fatinirtem papier nnb billiger preis bflrfen als OorjBge biefer ausgaben l)erpargeboben njetben.
5 ilüßige (BetfanAen eines jftügigea. Don Strome It. 3<tome. Sentfd) nadj ber 132. ftllflflg« ;
• bes engtifdjen Originals pon 3ulius Kaulen, finjige autorifrrle Jlnsgabe. Sieg, gebunben mf. '
• .OibttHttt nnb Sttltgtt babtn fl* untrtaitbat ein Sttbinlt babntaj etnwttra. bot Bt bitM tlbrrf Briten« (he*
, lugänglidj moftten. Kau »irb gtfttbtu nfifltn, baft man (tlttu eint folaje i^iUt gtinitk&tt unb origfntlltt vtbanttn in ba ;
; mobttnm Siutnuut Mtflnbtt, bit lugltia) in tin )o gtfäaigci «tannb bumoriRita»oliriHR f)uubnti ttOrtbtt Unb."
; (•Iferltlbtr 3tit<«»J -
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Selbstunterrichtsbriefe
zur Erlernung- moderner Sprachen
unter Mitwirkung von deutschen und ausländischen Fachmännern nach eigener
Methode bearbeitet
von
Professor E. Haeusser.
ENGLISCH.
Vcrfasst von Professor F.. Haeusser und Oberlehrer Dr. R. Krön unter Mitwirkung von
Christopher Darling, H.A. fLond.)
Vollständig in 27 Briefen. Preis in Mappe: 20 Mark.
FRANZÖSISCH.
Verfasat von Professor £. Haeusser und Oberlehrer Dr. K. Krön
unter Mitwirkung von mehreren gebildeten Franzosen.
Vollständig in 32 Briefen und zwei Supplementen. Preis in Mappe: 35 Mark.
Hieraus apart: Guide epistolaire. Anleitung zum Brief schreiben.
Verfasst vom Oberlehrer Dr. K. Krön. Preis 1 Mark.
Französisches Fachsupplement für Heer und Marine
bearbeitet unter Mitwirkung von Offizieren. 2 Briefe je 1 Mark.
ITALIENISCH.
Verfasst von Professor E. Hausier unter Mitwirkung von Professor C. V. G iusti in Florenz.
Vollständig in 24 Briefen. Preis in Mappe: z8 Mark.
RUSSISCH.
Verfasst von Professor E. Häusser und Dr. J. Kaikin aus Cherson.
Vollständig in 32 Briefen und 3 Supplementen. Preis in Mappe: 26 Mark.
Rassisches Fachsupplement für Heer und Marine
bearbeitet unter Mitwirkung von Offizieren. 2 Briefe je 1 Mark.
SPANISCH.
Verfasst von Professor E. Haeusser unter Mitwirkung von Eduarde. Kirchner,
Professor am Lyceum in Harcelona.
Vollständig in 25 Briefen. Preis in Mappe: 19 Mark Einzeln bezogen:
1. (Probe-) Brief 50 Pf., 2. Brief und folgende je 1 Mark.
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Pariser Französisch.
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tbra mut &wtmbf ntttinnin.
j Vertat? von Brelta-oi»f d Harte! In Lelpil«.
Soeben erschien:
"FVIi-x Dnlin
Kleine Romane aus der Völkerwanderung
Bd. VIII.
Cblodoveob (a. 481-511).
Preis Mark 6.—, gebunden Mark 7.—
In dleeer Krzählung wollte der Verfaeser ein wahr-
heitgetreuea Spiegelbild der Vorzüge und der Fehler
dal damaligen Frankentbuma darstellen, wie hie nach
der geeehlchtlicben Ceberliaferung In Jenem Konig
gipfeln. Zugleich wurde die aeeleuforecherische Er-
klärung dieler oit befremdenden Gestalt versucht. Der
Gegensatz und die Mischung Ton Christentum», und
Heidenthum bildet deu Huitrrvrund, wie der ganzen Zelt,
so jenes bösartigen aber genialen Hei lenund Hemehera.
(fiefes Mtes
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Huf bat Stufen
Sunt Cbrett»
iCJiftorifd:er Soman
von Tregor Snmmotu,
(Cicac stcuinfl.)
2 »ärtlW. <*2 ÖOijen 80
©eb. mt. (0.— ; qebtm. HU. I
Sit tt>ii<l am $o[« bei tifttn ffönigl
Bon 9tcu1mit, tbtilfi am Ciofe SDiiljdm'a
III. Don tjnolanb fpirtt nbc Äoinan ift
in liiurr gfW&tfJten üOerbinbinig ddi
btftotiHjer Söaljtiytt mit freier £ta>
tun« ein b
bei SB.Tf,
fortlDätjrtnbe
»fetten äug«
bcb bietet. . , .
©am a to ro'iÄoman btn Weift
bei 3rit, in bet bit itotWütt
ftd) juttägt, rtifixr, unb bie
•EÄtibfiuna bet biftoriWun
SrrfÖRtitljIettrii roie and) brr
Ctaffaae ift tnu unb Itbcnbtg.
ins bfm Utrlagf brr Sifjlff. ^mrjbrnibrrei, 0nmft- unb
gerlop^nftot v. S. J^ottlarnbfr,
Tralau.
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M %n: unb Hu*lati»e*.
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für <J5EÖüimc jtben j?tanbep.
Oit locbru abgt[(blo|[nu I. *?rrie lion 12 ViSnbtu cntb/äU bisher in ijuibform noA
nitbl trfdiitntuc fintnigr brr hcrborr.igtnb[ttn StUttriftihrr nnb jboar:
tloyjjcl.^llfclti, JFr., „Cln fugt Jmij," Xmbau, ]T>., fint gaitfafcrt raifc
ilortotgtn. Celntann, W., öagnr. fcanfiem, <£>., Ptutönjl. Jitcinb&erg, 3.,
Orr luifttr auf Ennä. 3(oli.li, JB., PajjnttB. itorjllEttc, Strttbi unb piftbi.
■iidftttci n, -iE., Ana Srmpronia. fftclliuillll, |tlärtbrn aus brm runnabtitm
wbrbuuiitti. fricbncli irücft IPrcbc, in »fitbjtl §it «Rafft. 94. 3ofiai, JB.,
pit grlbr t'iotc. l'J.tnflOIl, Ö., 'liulörrbanu. jlaibtfpnk.
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12 gärte
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jlrris pro fluni! 71 jlf. firolrfiirl, in rfrnnnf. (Origiiuif=tP inGaiuf 1 JHR.
Ütit 8ud}banbumijrn N-s 3" tln^ Huslflnbfs, rbrnfo ^ic IVrlagsburtMuni; nrt?men
^ll'iMini'ituMi! 3 nuf „llntrnuras uitf1 Habrim* an uub fenbrn auf IDunfrf? 13anb I. jur 2Irtftd?i
I 1 1 1 1 1 1 I 1 1 I 1 1 I 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 II 1 1 1 II 1 1 II II I II II I II I II IIIIII I MIM II III III! II II III
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 II 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
2 iiinniH miiiniiiri i im iiinti Hin nun ihm iiinmii nii mniii i n mihi
v. 3$. ÄrfioHlaeniisr, ©rEstnu.
1840- 1870 Me
Profcffor Dr. Karl Biebermann,
j Vierte (tfolkö=) Äiwgabe.
Dicfes weit »erbrettere populäre <Sefct;id;tst»etF [bes befannten =
:.; ^iftorifecs erfdfeint anlä§lid) ber 25jäf)rigcn ^eiet ber JSegrünbung bes
r beutftben Heid; es als
1 lubilätnns-^iTsaabc
_ — & in 12 cSieferungen h 50 Pfennige,
■T" "i^1-; ' ^T"*" "T* ~^T* ^T^ "T** *T* ^t-* ^p* '""T1* "T* "T™ "F*
Das „Ceipjigcr Sägeblatt" Dom 19. Itopeinber Ii. 3. fdjreibt:
Seifen roirb bem Kritifer bie Aufgabe, ein Budj 3U befpredjen, 311 empfehlen, fo Ieidil
nnb angenehm; feilen fortnten mir mit gleidj gutem (Feroiffen tum Kaufe eines
IDerfes aufforbern, umfomefjr, als ber preis ber Tolfsausgabe ein bebeutenb ermäßigter
ift. fX>ir galten es fflr unfere pffictjt, barauf rfinjuii>eifcn, bafj tocilere "Kreife bes
beutfdren Dolfes einen tplrflidjen fiausfdjatj in biefem Budfe gewinnen werben; alle
bie Dorjüge, bie mir bereits als £igenfrf;aften bes förderen „teitfabens ber beutferten
©efdjidjte" furjlieli erwärmten, fanben wir tjier in wenn möglich, noefi böserem IKafje
prreint. Cs ift ein Uolfsbuch unb böd> ftreng Ijiflorifcfj; es i|i objrctio unb juglcict)
amegenb gefdirieben ; es fdiilbert eine geit, bie ber tüerfaffer wie IDtnige fennt; es
befianbelt biefes Irjema in ber elnjig richtigen Ifeife, mit befonberer Betonung bes
culrnrt|ifforifd)en Momentes. Sine roitfjtige (Ergansnng — Heberfid)! ber erften 25 Jahre
bes neuen beutfcfien Keidjes — triirb als Jlnf)ang biefer neuen Ausgabe beigefugt. Sur
rediten Seit, 26 3aljre nad; bfn großen lagen von 1870/71, n>irb bies tt>rrf bem
beutfcfien publicum geboten ; möge es baraus lernen ! «Eine Seit ber beutfdjen ©efajidjte,
bie nidjt fo glucrlidi war, lernen wir oerfteben, wenn wir Bicbmnann's tDorten folgen;
nnb toir lernen burd? fle urrfletjeii bie fpätcren rulimerfäUten Jaljre unb jene, bie ben
Siegen folgten. Dr. nippotb.
(Tomplet in 2 §*n*tn öel|eftet 6 HUrlt,
fein rjiclun^cn 8 |ttnrh.
S.i liii nun in ii n i riTiTn i n fn 1 1 1 1 in i in i iiiiiIhhiim in im 1 1 nun n ninninii in in
-As A^A^A^,.^. _;^A^A^--AaA^A^-^-AaA^^A^A^A^^^A^
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rr, Srtiu-iijrtu' «udjöicuu'cm, ftnnft= ttKt) «Berfagd'Wttftatt ^
| * ». <Z. Sdjottlocnbcv in «rcöla«. o--
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Briefe ^
eines Daters an feinen Sofyn
Don
©eheftft l«b. l.-, gtbtttt**» pb. 3.-.
„Die 3eit naht fieran, ba bie Jünglinge, meldte bie afabemiiebe üaufbabn einiufcblagen
gebeutet!, (ich »um Stieben b(t llitiperiitcit rniteu. 6ht neues Sieben beginnt für fic. auf
ba* eigene 34 angelaufen unb auf ivtcifjcit be* Wollen* unb .vanbeüi» geftellt. 2Bopt ift
ei gerechtfertigt, tienu ba imiurfie Mtern nicht ohne »eforgniB ben Sohn icr/eiben feben;
loenn eine lelfe Sorge ilir ÖtIJ befallt, ob er in btm freien afabemiicbeu Sehen fieb auch
gelftig nnb fittlicö berooljren Werbe. Sin flittcn iRatbicblagen fehlt es ba rootjl nicht, aber
iuic leidtt iit tWefagtes Pcrgeffen, roie oft febroemmeu bic ÜBogcn bei Seben* bie bellen
iSorföee weg! Da fommt ein SSudi, beffen '-üerraifer fieb nicht ttermt, v.i gelegener Seit:
„Briefe eines Satcrs an fei nett Sohn nach beffen ätbgaug auf bie UnioerfitSt,"
bas Pon Sötern wie Söfiuen feiner Stiebhing unb feinem gamen Inhalte nach loarm ju
begrünen ift. Suerft fpicgclt fidj In biefen »riefen, bie ben fflnbruef machen, bafj I« au*
beut Sehen hcrausgcmadiicu finb, ein SterbhltniH iwifdten Sater ititb tsobn roiber. roie es
inniger, febbuer nnb freier tticlit gebatlit lucrben fann. 'Der Sater tritt im* in ben »riefen
als älterer, erfahrener o-reiinb entgegen, ber in benielben nad) unb nach eine fittlicb ernfte,
aber nicht (leimidi beengte, eine getftig freie, aber in ber Freiheit ÜJias haltenbe Sebent
auffaffung cntmicfelt, ber bei feinem Sobne baraur hiniulpirfen fuebt, Selbftbeberrfdjung
unb Siiichterfüllitug rief) SU eigen \u machen, eine ibealere Jtiditung be* Denten* nnb be*
»anbellt* in pflegen unb in üben. Sie Briefe, fiebjebn an ber 3abl. bejieben neb auf bie
Unseren Seiten bes ftubentiteben Sehens, bie ÜVrufsluabl, ben Stitbiengang, allgemeine
geiitige Jtttereffen it. f. lu. äiias ber Serfaffer ba über Sefanntfdiaiteu unb (Joaegien*
beliiib. nber ben Sann bei i^ambrtmi*, über Duell, '.Itcrbinbungsipefeu, Somilienhertebr
lt. f. lu. fagt, mitb ben nteiften Settern aus ber Seele gefprodicn fein; es beruht eben auf
ber mit einem greiften Ibeile bes SerbtnbungSPJefenS nicht oereinbareu Stnficbt, bas man
[leb nidit nur Stitbireus halber auf ber Un&erfitat aufhalten, fonbern roirflid) ftubiren,
Ipirfltdj arbeiten foH. Da& es audi üerbinbuiigiitiibeuteit aller Sürt gegeben bat unb ntxb
giebt. bie (ehr fteifjig unb erfotgreleb arbeiten, Soll bamit burchau* nicht geleugnet tpetben.
trbenfo Perrathen b!e JtuSfübritugen über SeffitnismuS, über iJlieefcbe'« 3}hilofo>>bie unb
bas ftafdien nach «rfect, ubev Sinnliches unb Ueberfinnlidie* n. f. rt>. bie SJJelterfabrung
eines JJiaunei, ber burdi bas Sieben mit offenen '.'lugen unb empfängliebem Sjerjen je«
gangen iit. unb her aus beifeti Stürmen fidi ein freie* unb eble* 2BoUen gerettet bat. Set
bas' trefflidie Such ben SStetn loie ben Jünglingen heften* empfohlen. (Sine iBefoIgung
bes Wefagten loirb biete bor mancher (»nttäitfdiung unb bor :)icue beroabren."
StraBburger Soft.
liriirlini iwrili ,illr Btiihnnblimgfn brs In= nnb Jlusil.utbf».
4t
\ty \W \-/
iW'is?'
38
8
Sevilla Her §d>ic?. Butft&nufcrei, ftunft» tttiH Scrlagd'ftnftalt
lt. S. Stftattliicttfter in Breslau.
<3SS
Mit
~j~~>- fü* alt« »*t^ jung« K*i«£«*.
\H Bog. 8°. €leg. geheftet IHf. 2.— ; fein gebuno. ZTtf. 3.—.
JUIe, bie bes Königs Kor? getragen [jaben unb nod) tragen, insbefonbere
aber bie ehemaligen IDaffeitgef dljrtett bes Perfaffers, brs Weiteren alle ble
Kreife, in benen ein lebenbtger Patriotismus rferrfdjt, roerben bie Ausgabe
ooit Kutfdifc's Ciebern geroifj fretibig roiUfommen iieigen.
diu Sommermflrdjeii t>on Artl)iir Stein.
\Oxlz Bogen. (Seiftet ZXlt. \.50; gebunöen ZTtf. 2.50.
Der (Eitel ber Didjtung. toeldic (Eagesereigniffe fatirifd? beleucritrt, roeifi brutlid;
genug baranf bin, baf; ber Drrfaffer ftdj lieines „UMnterm ardjen* jnm Corbilö
genommen l)at. Ulan roirb itfni bas geugmjj ausstellen, bafj er ben £jeinCfdjen Con
mit d31ürf copirt bat. Dag Stein's Satire ptm bem Zynismus bes „unnetogenen Cirblings
ber ©rajien" fieb. frei bält, roirb feinem tPcrfe geroig nidjt jum Sdjabtn gereidjen.
Die flotten Derfe, tjinter beren feinem Spott unb grajiöfem IPift unoerfennbar flttlidfcr
firntr unb roarnte Begeiferung fn1> oerbergen unb an cinjelnen Stellen, ben fiumor
burdi ein fdjroungoolles pattjos uerbrungenb, offen brroorbredjen, bilben eine überaus
untcrrjaltcnbe unb anregenbe Seetüre, bie audj benen einen ©enufj bereiten roirb, roeldtc
bie polltifcr/en unb focialcn Jlnfrbauungen bes üerfaffrrs nicht in allen fünften tfjeilen.
Don iRuöoUif) Sotfjar.
22 Bogen 8°. (Seiftet 2TIF. 5.— ; gebun&en 2Tlf. 6.—.
IRiiboIpll Votfiar, als pliantaficuoller unb gebanrentiefer poet, insbefonbere
als Dramatifer ldngl't brCannt, tritt uns in bem ooriicgeiiben Bucrie als ein ebenfo
feinfühliger roie geroiffenbafter Kritifrr entgegen. Seine nad; Jntjal't unb ,^orm gleid)
Ijeroorragenbeu Stubien geiiören }u bem Befielt roas übet ben mobernen Kommt unb
bas moberne Drama Jranrrridjs unb Dcuifdilaitbs orröffentlid)t roorben ifr.
71/2 Bogen 8<>.
@et>tdjte von 3e<*« 'lianr.
(Seiftet lUt. 2.—; gebunöen 2.TTF. 3.—.
(Es ift ein tDerbenber, ber mit biefer ©ebidjifammlung jum eritett mal oor bie
©tffentlidifeit Iritt, aber ein lüerbenber, beffen Bingen uns mit größerem Jrttercffe
erfüllt, als bie glatten nidjtigfciten mittelmäßiger Keife. <£s finb nidit bie alten, ab-
gebrofcfjenen Ulitngc, bie roir t/ier oemel)mcn. nid7t bie lanbldnffge, einen banalen
3nba[t unter einer gelerflen $orm uerhüflenbc Dilcttantenpocfie orme pbTftognomic ;
mau merft, bnfj ber Perfaffer eine eigene Spradic rebet unb in feinen Kr/Ttl)nten ein
lebenbigcr pu[sfd)Iag. bas podjen eines beißen Ijerjens pibrirt.
Ja bfjifljen burilj alle gudjljnnbliiitgfit ksfit» utili JlnsloiiDrö.
«nftaU ». g. CftottUortet in BretU«.
HIS Botjiigltdje afeftgefctertte empfehle:
4»l)Mth, ©.. JJiargatete. eine «rjSbtung fitt
eroadjfene junge SPiaixben. (Sebbtt. ut 4.—.
£Hi«nrran, H. Ii., (Selten 61» in ben Zob.
Deel @Tjäi)Utnaen a. b. glorrticben Sagen bei
bentfcb=ftanjbf. ffciegeS 1370 fll. (Btbbn. M. 4.—.
91 uc fellg. Ärjabluna lug bemßeben B. n. t>. C.
©ebbn. ,K 1.—.
4<rmtni, C, 3>te (Bette ber Oatmbetjla-
teit. JJiit Wtbern nad) SKotie Bon 6d)»inb.
IStegnnt cott. *. 1.50
Barme*. Hufo Klein (3nf/. JuL ferti). 3n bejieb. bnta) oUe »udj^anblung. b.3n>n. HioianM*
(Bin Jlcrfincr auf (öcfnoland
3f rtebr td^
«etjeftet »t 8.-;
5«rn6utg.
«ebunoen Wr. 6.-
EEL1I O l Iii i 1 1 u i ■ « I 1 1 I i 1 1 i ml 1 1 1 i ij itj i •
■ IUI 11 M l IUI
£i^ii5Hr'ii^^'^iiir*%i-cN^^^
pämmern.
Sfi33cn
pon
SWarie toon «tafer.
gmeite aufläge
(Ein Sattö. 22 Sogen 8».
Sc». SWf. 3.-; geb. Vit. 4.-
ITlarie von ©lafer's €ritIingsroerf
,3lttergras", pon rofldjem ebenfalls in für.
jtt Seit jroei Auflagen rrfdjienen, rourbe
oon Oer Kritlf fcifi burdjgangig als bie
©abe eines perbeifjungsp >llen. eigenartig
gen Talents bcgrflfft. Hiefes Talent jrigt
ftd> nun erffarrt unb portieft. in feine!
(Eigenart nodj ausgeprägter in bem
oorliegenben Sucfjc.
3) (18
ä denen.
<nrrcnn
Koman
Don Wannt* ^otai.
2lusfd>lirfjlid) ermdd;tigtt
Uebertraqung oon
tutm.i« ^tterl,8ltr.
(Ein Banb. ;5 Bogen 8«.
«ef|. Wt. 3.-; fltp. Mt 4.-
„©irbt es bafjlidje mabefjen?"
Diefe jrage, beren (Erörterung
getoifj auf bas 3nterrffe ber
ftfcflnen Cefcrin rechnen barf,
rpirft b*r gefeierte ungarifdje
Didjter in Dorlirgenbem Romnn auf,
unb er beantwortet fle baljin: *£s
giebt feine Wfjli*cn mabajen, es fann
aud7 feine geben.
flammen im i?«üV5CH.
Xoman von $erutamt.
(Ein Sani. 26 Bogen 8°.
Seftcfiel SRf. 5.-; gebititoen Vit. 6.-
g). Qrrmann, als ein edjt fünfllcrifdje tDirrungrn erftrebenber
£rjat|ler pon eigenartigem Taltnt befannl, bat in feinem neueften
Boman ein IDerf gefdjaffen, bas hüben portifdSen IDertt) mit
etbifrfiem C3el)alt pereint unb ebenfo bura> einen ibealen gng ben
£efet erbebt, roie bur* oatfenbe £ebtnsn>aljrl)eit in ber Seidjnung
ber Tbaraftere unb ber Sdjilberung ber Dorgdnge Bberrafdjt
cnb fefielt. j
<
im Jto $niff.
Homan von
(Ein Banb. Bogen 8».
«en. »f. 8.-; geü. S»t 4.-
«in febr geroagtes Ttjema ijl
in biefem Homant mit ebenfo piel
fnnftl»rifd)er meifterfdjaft wie fitt. ^
liebem ^eingefubl betjanbelt roorben. *
SebrufrnUe
Irnfulfti.
9«ttnttfUi»ra,
jtknun (ntrnfn
nnb
intim
pon
•«hefte« XL 5.-;
grimnben Sit 6.—.
2las bem eigenen
£eben bat bie be»
fanntc Derfafextej
b«n Stoff jn bem oom
liegenben 8ndp oft*
itolt: Rficffd^aii avf
bie oextTofJene &&\
l}aItenb.l}atjUbi«3«»
n&dtfk ifyt in's 2Uar .„
faflenben beBfbnt-
ftdjtfnnfte «jw»,
Seins feftaeftatte«?
bie Begegnung
mit bntd; mtfl ■ .
<£baroftet bettwo
ragenbenperftaa^»
feiten. Diefe p«e«
ttaits finb mit toi*'
Oerzen anfge»
nommen unb bal)et
n>ot)Igetroffen.
LULLIJ ■ Ii IJ II l II IUI ii M l iß'i II l I II i Ii II | | I | | ( Ii | l ni l I III i | i lij i | |l I II t »i I ■ I . I t-I^Tf^.t:
10
»erlag Sdftlef. »udjjirud'erei, »unft« uiib »erto88'»nfcalt
n. 8. 8rt)dttlaen>er in ©realati.
EDerfe r>on Paul Cmfcau*
Die (Seljilftn. Berliner Soman in örei Büchern.
03eljeftet OTf. 6.—; gebunden Utf. 8.—.
Ijängenöes ZHoos. 2?oman. (3. Caufenö.)
(Elegant brofdjirt X «.— ; fein gebunden X 7.—.
Der ZTCöröer 6er ^rau ZTlarte .gietrjen. Siethen oöer
HMHjelm? Z?aa>n>ort oon Dr. ZHar Heuöa. 2Tlit
einem Sifuationsplan 6er <£lberfelöer 2>ertlicf)Feiten
unö einem (ßrunörtf öes 3\ett)en'fäen fjaufes.
(Elegant brofdjirt X 2.50; fein gebunben X 3.S0.
£jerr unö #rau Betoer. Xloveüe. 9. 2fufl. ZTTtt einem
Briefe »on <£mil 2tugter an öen Perfaffer.
«Elegant brofdjirt X 2.50; fein gebnnben X 3.50.
IXlayo. (E^äfylung. 5. Zluflage.
(Elegant brofdjirt X 4.50; fein gebnnben X 5.50.
3m lieber. (Erjtärjlung. 3. Auflage.
(Elegant brofdjirt X ; fein gebnnben X 5.—.
Poggenburg unö anöere (ßefdjidjten.
(Elegant brofdjirt X 3. — ; fein gebnnben X n.—.
IDunöerlicfye £eute. Kleine (Erzählungen.
(Elegant btofdjirt X 4.50; fein gebnnben X 3.50.
Pater 2törian unö anöere (Sefcfjtdjten.
(Ein 8anb. (Seljeftet 4. — ; fein gebnnben X 5.—.
llus öem £)rient. ^liidjtige ilufseidjnungen.
(Elegant brofdjirt >ft t.50; fein gebunben «M. 5.50.
Sd?au- unö Cuftfpiele.
(Elegant brofd)ict X 4.50; fein gebnnben ^.6.—.
3ntereffante ^äüe. (Eriminalproceffe aus neuefter §ett.
(Elegant brofdjirt X 4.50; fein gebnnben X 5.50.
Ueberflüfftge Briefe an eine ^reunoin. ©efammelte
Feuilletons. 3. lluflage.
(Elegant brofdjirt X $.— ; fein gebnnben X 5.—.
Jjarmlofe Briefe eines öeutfcf/en Kleinftäöters. ^u>eite
vermehrte Auflage. 2 Bänöe.
(Elegant brofajirt X 6.—; fein gebnnben X 8.—.
Dramaturgifcr/e Blätter. Heue ^olge. \ 875— \ 878. 2 Bänöe.
(Elegant btofdjirt X 10.—; fein gebnnben X 12.—.
tlfidjtemc Briefe aus Bayreuth,. \0. Auflage.
(Elegant brofajirt X — .75: fein gebunben X
Bayreutljer Briefe oom reinen (Choren. „Parftfal"
pon Xid?arö JDagner. 5. Auflage.
(Elegant brofdjirt X y.—; fein gebnnben X 2.—.
Uus öem litterartfcfjen ^ranfreidj. 2. Uujlage.
(Elegant brofdjirt X 5.—; fein gebnnben X «.— .
§n bejietjen burdj aOe 8nd>h,anblnn<ien bes nnb Jlnslanbe«.
11
ü ii i ii auii ii ii 111 mri imtii 'luimiiiniiiniiiiiiiiiiiiiiiif iiimiiiiiiiiiim-' iiiniiiii 1 1 1 1 :
«kriita »er ®*Ieflf«en eu^tindmi, ftnuft« un» Öfrl«g».«Btt«U
». g. S4«ttlaen»cr in ©reSlau.
tomanc unb Hot)effen.
gtaUtfrem, tfttfettiit», fhrSfto
(itan con ZIMersfelb), &at9fräölf in.
Koman. Dritte Auflage.
(Ein Banb. (ße Reffet X ; gebunden
JL 5,—
Biefer Koman (fi n»l)I bas befte IDecT ber bf
liebten £rj<5hlerln, beten fdjdnes Calent (idj nod)
nirgenb» reicher unb ausgiebiger entfaltet tjat. alt in
bicfem Boman, rpfldjer insbefonbere ber Bamenipelt
von Heuern eine ariUfommene ©abe fein wirb.
$0tf-t&b, f fta, ettim. nooeOen.
<Sef)eftet X %— ; gebunben X 5,—
3n biefen btei Hopellen offenbort Jba 8oT.(2b
eine £ogif unb einen pfy*ologtfd>en Sd>arfbliff, roie
er ipenigen ihrer Sd>ipeftern in Jlpoll, man fann fagen
überhaupt wenigen SdjriftftcUern brr cBegenuxirt
eigen ift.
«lafrr, Pari« »«tt, sutergro«.
£Fi3jrn nnb ZTopeüetten. 2. Auflage.
(Ein Banb. (Behaftet X 4,—; fein ge-
bunben JL 5,—
Siefes CErjilingstoerf einer begabten Sd)rift»ellcrin
fjat einen fo lebhaften Unflang gefunben, bafj bie
erde Jlaflaje in furjer geil Dergriffen mar. Bie
Krilif rühm' ^en liebensreflrblgen planbrrlon, über
ben bie Derfafferin pcrfagt, ihre Sabigfeif, mit
rornigen Strichen eine Charaftrriftif ju enttoerfen,
eine Situation anjubeaten. Sie Meinen 03efd>id;ten
flnb jumelfl Nriilofraten-nopellen, aber and) n>ie bas
Pdf btnfi nnb fub,It, tiat bie Derfafferin mit Der-
ftdnbnifj erlaofdjl unb Ȇbergegeben.
|ttfHw»«, ©öhrtr, «in tfvoletavicv
tinü. fiumoriftifdjer Koman aus bem
Berliner Seben.
2 Bänbe. «Seiftet JL 7,50; fein ge=
bunben JL 9,50
gahllcfen Ccfrrn tjat (Dsfar 3uftinns burtb,
feine launigen, tjumorpollen Feuilletons pergnugte
OTomente bereitet; jum etilen, leiber aber and; jum
letzten Blal tritt ihnen ber beliebte piauberer als
Bomanfdjrtfrtleller entgegen, ber aud) als foldjer bas
Cebcn pom Stanbpunttc bes ladjenben philofophen
betrachtet. So rcid) unfere Cittcratnr an Heineren
humoriftifrben tDerfrn ift, fo arm ift fie an fcldjen
großen Umfanges, an humoriPifdjen Hörnernen, bie
ein ganjes umfaffenbes geitbilb, unter bem ©eftdjts'
rpinfel bes tjumoriflen gefehen, bieten. Deshalb rpirb
biefer grofje bumoriltifdie Boman mit um fo größerer
jteube begrüßt »erben.
g)0lptt, $tbtoi& öle frone« *w
»en. - Berte, >ie tm »ift. ZtovtOn.
<Setjeftet JL 3, — ; gebnnbrn JL 4—
Diefe rtooellen ibertreffen bnrd; fuirftlmidx Cti.
enbang. bnrd) 3bertigeho.ll nnb tDeite bes ßorfeocT»
ux>bl illles, a>ai fonfl auf bicfem CBtbirle gefdjaffrm wc.
Zerf«. Die IITaus. — OTaria im Sdjn«
tloreUen.
(Ein 8anb. (Seiftet JL n,— ; fehl «r
bunben JL 5,—
Das £nrig'IDeibIid>e hat auf Sadjer-mai.-4
Don jeher grofje Jlnjiehnngf fraft grabt ; mit hfm.
beere Dorliebe nnb tneifhrfd>aft fdfilbrrt er Jrw
gehalten Poll Cemperamrnt, Caunen, soll Stolj u-v
£errfd)fud>t. 2tud> in ben btei «Irjähirmgen biet»
2Jud)e» finb sie fielbinnen jranen, bie n>eiMid>e Jte-
muth mit einem gnge mannlidjrr Cmtnte vnriun.
Hern anfmertfamen Cefer enthallt fldj in bieten «nter
haltenben <Befd>id>ten mairdj« emfte tDabrbeil, bte brr
Perfaffer in Beutg auf bie jraaenfraae, anf bie
Stellung »ontnann unb jrau ju einanbrr in atmUuu»
ber jorm einer fanfilerifd) abgrrunbttra Crjahlng
jum 2Iusbrud bringt.
$atttarw, #r«0«r, *m Vfgnnl.
Koman.
2 BSnbe. (Seljeftet JL gelmnber;
JL U-
fSregor Samarom perfirht es merfterbaft, ami
in biefem neuen Romane bas Jnterrffe feiner tr'et
in forttpährenber Spannung ju erhalten. C* ifl em
jum ttheil neue IPelt, bi* n>ir hier in ben Sdnttf
rangen rufPfdger gnfldnbe fennen lernen. Sie ipnir
ift mie bei allen Samaroa>fd>en IDerfen doU Sdpnni
unb babei bod> mafjpoU ; einjelne Semen oon gerabrjk
ergreifenber tPirfung.
neral. tTooeüe.
<Sel(eftet JL 2,—; fein gebnnben X 5,-
T>a% jranj Don Sdgonrhan, ber bem grofje* poH;<
cum Domrhmlid) als ein UnMngrr ber heirerrn Dbrii
btfannt ift, aud> fitr bie emfien CorrRirte bes £ebnn
Perftdnbnifj unb b(d)terifd) grflaltenbe Begabung tf
flSt, hat er in bem Sd>aufpiel .Das golbene Budi".
Aberjeugenber jtbod) in biefer Crjdlglung bra>icfrn.
lH*f«, 9tM 3l»eier(ei 8ie»e. Boman.
€in Banb. (Setjeftet JL 4,—; gebanbett
JL 5,-
Ser Boman ift padVnb aefd>rieben unb bie
Sd>i!bernng ber feelifdien Porgänae im firiben frbr
anfdjanlidi unb feffelnb. Das tDerf, bas in feinrn
Chemo ganj fin da tiiclo ift, barf anf einen grofim
Ceferfreis red>nen
3a bffitljttt Utk dt MfaMnwn bre |n« nnb ^ultiitf.
1 hui 111 11 11 11 1111111111111 11 111 im 111 111111111 im
Hill
12
iiiiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiip
um
KARLSBADER
Natürliche Mineralwässer
^ 1895er. Frische Füllung. 1895er. &
yiMiMnuuniii iMM!HM[;jiii|[[ii,iniMii|iTiiT?Til
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Quellen
und
deren Wärmegrade.
Sprudel . . 5830 &
Mühlbrnnn . 40 »
SchloMbrnna 418 ,
Tliereiienbninii471 »
Heobnma. . 47s *
■arktbrnna . 345 >
MienqodU. 47 *
KaiserSarts-Qo '
Itijerbnini. 3J1 •
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KARLSBADER
Sprudel-Salz
pulverförmlg
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KARLSBADER
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Die Karlsbader Mineralwässer und Quellenproducte
sind zu beziehen durch die
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alle Mineralwasser-Handlungen, Apotheken und Droguisten.
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20 ,,
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35 «
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30 „
*/> Krug
26
3 -n
23 ,.
Käuflich bei allen Apothekern und Mineralwasser-Händlern.
THE APOLLINARIS COMPANY,
LIMITED.
Aord und Süd.
Eine deutsche Monatsschrift.
Herausgegeben
l>0N
Paul tindau.
Fünfundsiebzigster Vand.
M!< den por!rai>5 von-
Fürst Cl,l«di»ig »on l>ll>,c„!/vl>e'5chill!N9zfürst, w»lf<;>>„g «irchbach, pri»; Lmll
Vre A I au
5chle<ische Vuchdruckerei, Kunst» und verlag3>Anstalt
v, 2. Lchottlaendel.
I nhalt des 75. Bandes.
Gctaver. — Oovember. — December.
"895. <»
Seile
Richard Veck in Zwickau i. ö.
Mont 5aint Michel. Lin Rcisebild 25y
R. G. Vockenheinier in Mainz.
Das Vriefgeheimniß währen!» der französischen Revolution 85
Francis <üopp6e in f)aris.
Rivalinnen. Novelle Y5
Rudolf von Gottschall in Leipzig.
Die lüngstdeutschen des achtzehnten lahlhundertz I?«
Hans Hermann in Vreslau.
Modeblumen 25"
tudwig lacobowski in Verlin.
Gedichte l?e
Joseph loesten in Aöln.
Aus Düsseldorfs Glanzepoche. Ungedruckte Vriefe von Felix Mendels»
sohn-Vartholdy 508
Vertha Aatscher in Vaden <!liedcr°Oesterreich>.
Freidenker!» und Cheosophin 527
Richard Aoehlich in Vreslau.
«Lin fürstlicher Dichter. (Prinz Lmil zu Lchoenaich-Carolath.),., . 288
Alite Aremnitz in Bukarest.
sein Vrief. Novelle 5?n
G. Maschke in Vreslau.
Rußland in Lentralasien 2<>c>, 5"6
INarlin Nlendelsohn in Verlin.
Krankenpflege und specifische Therapie 52
I nhalt »es 75. Vandes,
So,!?
Alfred Ruhemann in Rom.
Die 3age vom Ewigen J uden in Italien 6?
Lmil 5choenaich-Tarolath in Palsgaard-Iuelsminde bei horsens
(Dänemark).
Ohilemon und Vaucis 27?
Georg Steinhaufen in Jena.
„Das gelehrte Frauenzimmer." Ein Essai über das Frauen»
Studium in Deutschland zur Rococo» und Zopfzeit "6
Alfred 5loeßel in Dresden.
Wolfgang Kirchbach ;»i0
!N. ötona auf 2chloß 5trzebowitz (Vesterr.-öchlesien).
Nur zwei Veilchen. Novelle "59
Aonrad Telmann in Rom.
In der Hochzeitsnacht. Novelle "
Alexander Tille in Glasgow.
Thomas Hnxley 222
Friedrich wegmüller in München.
Der Witz Eine ästhetische Studie 25»
August wünsche in Dresden.
Der deutsche Michel mit seinem mythologischen Hintergründe ,,. 2Hq
Gebhard Zernin in Darnistadt.
Fürst Chlodwig von Hohenl«he-3chillingsfürst, Kanzler des Deutschen
Reiches. Eine lebens» und Eharakterskizze 2U
Vibliographie ".224, "02
Vibliographische Notizen <2H. 2K<». "07
Mit d«m f)ortiaits von:
Fürst Ehlodwig von k)ohenlohe-5chillingsfürst, radirt von Johann
lindner in München; Wolfgang Kirchbach, radirt von J ohann lindner
in München; Prinz Emil zu5ch«enaich°Earolath, radirt von Franz Nor ich
in Nürnberg.
October <8Y5.
Inhalt.
Se«,
Aonrad Telmann in Rom.
In der Hochzeitsnacht. Novelle ~
Gebhard Zernin in Darmstadt.
Fürst Chlodwig von Hohenlohe>3chillingsfürst, Kanzler des veutschen
Reiches. Line lebens» und Charakterslizze 20
Georg öteinhausen in )ena.
„vas gelehrte Frauenzimmer," <Lin Lssai über das Frauen»
Studium in Deutschland zur Rococo- und Zopfzeit H6
Martin Mendelsohn in Verlin.
Krankenpflege und specifische Therapie 56
Alfred Ruhemann in Rom.
vie 3age vom Ewigen J uden in Italien 6?
R. G. Vockenheimer in Mainz.
Da« Vriefgeheimniß während der französischen Revolution 85
Francis Coppee in f)ari5.
Rivalinnen. Novelle 92
Bibliographie ~ 31,
Veutschland« Kolonie», (Mi! I llnstra! i° ne„ >
Vibliographische Notizen I, 3H
hierzu ein Portrait: Fürst Chlodwig von H«henlohe-5chilling5fürst.
Radirnng von Johann lindner in München.
»Nord und 2üd' erscheint am Anfang ~et>« M»na!« In l)ef!en mit je einer Runstbellage.
p«>» pi» <l!»»i<»| 12 Heft») 6 Mail.
All» Vochhanolnnaen nn« poftanftalt«» n«l>m»n i«l>«iz»it V,st«ll»ng»n «n.
Alle auf öen redactionellen Inhalt von„Mord und Süd" be«
züglichen Sendungen sind ohne Angabe eines Personennamens zu
richten an die
Redaction von „Mord und Süd" Vreslau.
2iebenhufeners.tr. ~, ~3, 1.5.
In der Hochzeitsnacht.
Lovelle,
von
Aonriid Lelmann.
— R«m. —
»le saßen im Restaurant des Ausstellnngsparks, vorn an den
offenen Glas-Schiebefenstern, wo man den Vlick frei hatte über
das wogende Meer von Köpfen drunten und die bunte Menge, die
sich in unablässigem Wechsel an dem Musikpavillon uorüberschob. Auch die
elektrisirenden Weisen der österreichischen Eapelle drüben vernahm man hier
deutlich trotz des nicht ruhenden Ctimmengeschwirrs und des Messer» und
Gabelgeklappers an den fast sämiutlich besetzten Tischen des großen Saales.
Die Neiden hatten ihre Abendmahlzeit beendet, die halb geleerte Rheinwein-
flasche stand vor ihnen, und sie schauten Beide iu den Park hinaus, ohne
viel zu sprechen. Es war seltsam: sie hatten sich auf diefen Abend so
ganz besonders gefreut, uud nun wollte eine eigentliche Fröhlichkeit zwischen
ihnen nicht aufkommen. Die rechte Stimmung blieb aus. Herbert Fürst
strich sich mit der laugen, weißen, wohlgepflegten Hand, die nur durch
einige braune Sonnnerflecke entstellt wnrde, immer wieder durch den statt-
lichen, rothblonden Vollbart, der das feine, schmale Gesicht über Gebühr
zu verlängern schien, und ranchte schweigend seine Eignrre, für die er Gerdas
Erlaubniß erst eingeholt batte.
Er konnte sich dies Letzte noch imm'r nicht abgewöhnen, obgleich sie, die
am liebsten sich gleichfalls ihre Eigarette angezündet hätte uud es nur aus
Rücksicht auf ihn unterließ, ihn jedesmal deswegen auslachte. Er blieb nun
einmal der allzeit höfliche, die Formen der guten Gesellschaft ängstlich wahrende
Mann, auch feitdem aus dem Negiernngs-Referendar ein freier Tchrift-
2 lloniad Telmann in Rom.
steller, Nils dein Sprößling der reichen, hanseatischen Plltricierfamilie der
Bräutigam der Schauspielerin Gerda Lindheim geworden war. Und trotz-
dem er sich einbildete, sich Etwas darauf zu Gute that, von allem Con-
ventionellen, welchen Namen es auch führen mochte, sich losgelöst zu haben,
er, der dies in Ansehung seiner Abstammung, Erziehung und Anlage un-
säglich viel schwerer gehabt, als irgend ein Anderer, und also auch viel
stolzer darauf fein konnte.
„Correct!" Das war das Wort, mit den: sie ihn am schwersten
verwunden konnte, was ihn am heftigsten aufbrachte. Das warf alle
feine Errungenfchaften, alle feine Einbildungen über den Haufen; es war
nicht viel anders, als ein Schlag in's Gesicht für ihn. Er wollte nicht
correct sein, — alles Andere, nur nicht das. Das war für ihn der In-
begriff alles Faden, Gedankenlosen und Lächerlichen, was er nach langen,
inneren und äußeren Kämpfen mit feiner sonstigen Metamorphose zugleich
abgestreift zu haben glaubte. Das wollt' er denen lassen, aus deren Reihen
er ausgetreten war, das hatte für einen unabhängigen, modern denkenden
und empfindenden Künstler unbedingt etwas Komisches, etwas Entwürdigendes.
Nur daß er über seine Natur nicht hinauskounte. Gerda wenigstens
behauptete das. Sie hänselte ihn gern etwas, stichelte gern über diesen
Punkt. Selbstverständlich nur, weil sie ihn noch weiter treiben wollte, als
er schon war, weil er ihr immer noch nicht „frei" genug dachte. Nun, sie
hatte gut reden. Eine Schauspielertochter — selbst eine Schauspielerin —
da konnte freilich von Correctheit und Convention nicht viel die Rede sein.
Und schließlich hatte ihn das ja gerade mit zu ihr hingezogen: diese lockere
Ungebundenheit, dies freie Sichgehenlassen, in dem soviel Grazie, soviel
Selbstsicherheit und soviel Tact — natürlicher Tact lag. Ja, gerade das
war das Bewundernswerthe, das, was ihn immer neu entzückte und be-
rauschte. Gerda war ja auch schön, — eigenthümlich schön, — sie hatte
eine ganze Reihe von bestrickenden Eigenschaften an sich, und sie war eine
Künstlerin von Ruf und Ansehen. Aber das Alles wog für ihn doch dies
Eine nicht auf: ibre reizvolle Uncorrectheit, bei der man doch immer das
bestimmte Gefühl hatte, auch als Mitglied der guten Gesellschaft könne man
sich vollkommen ruhig und gefahrlos in ihrer Nähe bewegen.
Daß sie ihn: zu Gefallen Manches ablegte und unterdrückte, was sie
ihrer Natur nach gern gelhan hätte, ahnte er ebensowenig, wie daß ihr das
hin und wieder als ein lästiger, kaum mehr erträglicher Zwang erschien, daß
sie zu Zeiten sogar über einem Gewaltmittel brütete, um sich dieser Not-
wendigkeit zu entziehen. Es zuckte und prickelte ihr dann in all' ihren
kleinen, weißen, nervösen Fingern, endlich einmal Etwas zu sagen. Etwas,
was ihn mit einem Schlage über ihr uncorrectes Selbst im ganzen Umfange,
in der ganzen Tragweite aufklären muhte, felbst auf die Gefahr hin, daß ihm
das einen gewaltigen Stoß gab und ihn vollständig an ihr irre machte.
Visher war ihm nie ein anderer Gedanke gekommen, als daß sie es wahr-
)n der tzochzeitsnacht. 3
hastig leicht gehabt hatte, sich vom „Correcten" fern zu halten; ihr ein
Verdienst daraus zu machen, daß sie niemals Mißbrauch mit ihrer Freiheit
getrieben, daran dachte er gar nicht. Er hatte sich die Möglichkeit eines
solchen Mißbrauchs noch garnicht überlegt. Er, Herbert Fürst, hatte sich mit
Gerda Lindheim verlobt; das hieß eigentlich beinahe soviel, als daß er ihr
vor aller Welt das glänzendste Leumundzeugniß ausstellte und ihr Vorleben
als makellos erklärte, es gewissermaßen adelte.
Daß sie heute hier allein waren, hatte einen kleinen, ganz kleinen
Kampf gekostet. Es war das erste Mal. Herbert fand es in der That
nicht ganz passend, daß sie als Brautpaar ohne jede Begleitung Abends in
den Ausstellungspark gingen. Man konnte doch garnicht wissen, was andere
Leute dazu sagen würden. Es sah immerhin ein bischen prouocant aus.
Dieser oder Jener hätte Gott weiß was? unter diesem harmlosen Zusammen-
sein » äeux vermuthen können, zumal Abends im Ausstellungspark doch
notorisch allerlei zweifelhafte weibliche Eristenzen ihr Wesen trieben. Kurz:
Herbert hatte allerlei kleine Bedenken gehabt. Vor Allem sah er gar keinen
rechten Grund für diese Neuerung ein. Man war mit Gerdas Dante —
einer dieser sehr entfernten Tanten, zu der das verwandtschaftliche Verhält-
nis durchaus nicht mehr ganz klargestellt werden konnte, die aber seit
J ahren mit ihrer „Nichte" zusammenlebte — immer ganz ungenirt gewesen,
und es hatte soviel anständiger ausgesehen. Aber Gerda setzte nun einmal
ihren Kopf darauf. Und er wollte ja nicht correct sein. Das gab den
Ausschlag. Schließlich fand er es selbst ganz amüsant, einmal mit ihr
allein im Ausstellungs-Restaurant zu soupiren, und sie hatten sich Neide
wie die Kinder darauf gefreut.
Nun war's doch nicht ganz so geworden, wie sie gedacht. Woran das
lag — wer wußte es? Hatte Herbert nachträglich nun doch wieder Scrupel
bekommen? Genirten ihn die Blicke und Mienen irgendwelcher Bekannten
oder Unbekannten, die zu ihnen hinüberschielten? Fürchtete er, ihrer Beider
Verhältniß werde nicht ganz klar vor aller Welt erscheinen? Denn das war
ihm zeitlebens das Schrecklichste gewesen: unklare ^Verhältnisse, — alles
Verworrene, Undeutliche, nicht ganz Zweifelsfreie. Oder was hatte er sonst?
Hatte überhaupt er angefangen mit diesem freudlosen Stillesein, oder war
Gerda es selbst gewesen? Nachdenklich erschien sie heute jedenfalls, fo nach-
denklich, wie er sie garnicht kannte. Auch das mochte ihn verdrießen, eine
ansteckende Wirkung ausüben, denn er wollte sie immer heiter, strahlend,
— ihr ganzer Zauber beruhte darin; lieber mochte sie ausgelassen und
übermüthig sein, als so, — nur nicht so wie heute, das stand ihr garnicht.
„Du bist heute so merkwürdig still," sagte er endlich zwischen zwei
Dampfwölkchen feiner Cigarre, „hast Du 'was?"
Es klang übellaunig und ein bischen herrisch, weniger als theilnehmende
Frage, wie vielmehr als die dringliche Aufforderung, Nichts „zu haben"
und nicht mehr stille zu sein. Gerda begriff das vollkommen. Sie er-
H llonrad Telmann in Rom.
widerte aber nur: „Tu bist auch still, scheint nur. Mm, muß doch auch
nicht immer schwatzen."
„Ich!" Er machte mit seiner schönen Hand eine Bewegung, als ob er
sagen wollte: „Ich kann mir das eben leisten. Ich bin ich." Laut aber
fügte er hinzu: „Ja, das ist wohl wahr. Ich habe heut viel gearbeitet,
— ein schwieriges, psychologisches Problem, weißt Du. Unsereins lebt
das immer gleich so mit. lind es ist gnrnicht leicht, immer die correcte
Lösung — " Er stockte, wurde etwas roth und warf einen fast ängstlichen
Blick zu ihr hinüber. Da war es ihm nun doch einmal wieder entfahren,
dies Wort, das er jetzt haßte und mied, das ihn in Gerdas Augen geradezu
compromittirte, — und bei folcher Gelegenheit! „Correcte Lösungen" wollte
er ja in Wahrheit garnicht bei seinen Geschichten finden, — was Gerda
— und neuerdings er mit ihr — denn so „correct" nannte. Im Gegen-
theil. Ein alberner Lapsus! Und er war fest entschlossen, mitzulachen,
wenn Gerda ihn jetzt auslachen würde.
Das that sie aber nicht. Merkwürdigerweise ließ sie sich die Gelegen-
heit dazu diesmal entgehen und sagte nur zerstreut: „Ja, ja, ich kann mir's
denken. Es ist sehr schwierig. Im Leben ja auch." Und dann, nachdem
sie das grüne Glas vor ihr an die Lippen geführt, mit einem verlorenen
Blick in die grünen Parkwipfel hinaus: „Wollen wir nicht ein bischen
hinausgehen? Ich denke mir's jetzt hübsch draußen. Und wenn Dir's recht
ist, abseits von der Mnsik und von den Menschen. Man bekommt's auf
die Dauer satt. Es betäubt, aber es befriedigt nicht."
„Wie Du willst," sagte er phlegmatisch, etwas nachgiebig gestimmt,
weil sie sich die Gelegenheit, ihn auszulachen, hatte entgehen lassen. „Wir
werden dann auch wohl bald den Heimweg antreten müssen." Dabei schlug
er discrct mit dem Dessertmesser an sein l^las, um den Kellner zu rufen.
„Nach Hause?" fragte sie. „Schon? Warum denn?" Sie sah auf
die Uhr.
Er hatte eigentlich erwidern wollen: „Weil es unfchicklich ist, wenn
wir Beide allein zu so später Stunde — " Aber er begriff, daß sie ja das
voraussetzte, daß sie darauf geradezu wartete. Und deshalb fagte er's
nicht, sondern stattdessen: „Die letzten Pferdebahnen sind immer so überfüllt,
auf die darf man's nicht ankommen lassen."
Ein stichhaltiger Grund war auch das nicht. Denn es blieb ihnen dann
immer noch die Stadtbahn, und er war durchaus in den Verhältnissen, anch
eine Nachtdroschke nehmen zu können, sie war für feine Verhältnisse sogar
das natürlichste Beförderungsmittel; aber Gerda fagte Nichts mehr. Er
zahlte, ohne nachzurechnen oder ein Wort einzuwenden, legte ein reichliches
Trinkgeld neben seine sauber zusammengelegte Serviette und stand auf. Dann
half er ihr in ihr laquet, ließ sich vom Kellner seinen lichtgrauen Havelock
umhängen und nahm seinen Eylinder. Sie gingen. Er sah sehr groß
In der HochzeitZnacht, >">
und stattlich aus, als er sie am Arm führte, alle Leute sahen sich nach
den Beiden um.
Draußen hatten sie Mühe, sich durch die Menschenmassen zu winden,
die immer noch auf dem breiten Wege vor der Musikkapelle sich hin- und
herschoben. Sie gingen gegen das Pergamon-Panormua zu, immer noch
ohne zu sprechen.
Allmählich verklang das Streichconcert hinter ihnen, — noch ein
Strauß'scher Walzer, mit dem es für heute schloß. Ganz leise und gedämpft
hallten die Töne herüber, untermischt mit Menschenstimmen, hin und wieder
durchschnitt von dem Pfiff einer Locomotive, übertäubt vom dröhnenden
Gerassel eines jagenden Stadtbahnzuges. Dann gelangten die Beiden in
stillere, einsame Seitenwege. Wie wundervoll diese luninacht eigentlich war,
spürten sie erst hier, wo der sternenüberglitzerte Nachthimmel zu ihren
Häupten lag und nur die geheimnißvollen Stimmen des Frühsommerdnnkels
um sie her laut wurden, für die sie doppelt empfänglich geworden nach dem
lärmenden Gewoge, das sie durch Stunden und Stunden umbraust. Hie
und da gleißten die Büsche, wie versilbert vom elektrischen Licht der Glüh-
lampen in den Hauptwegen, sie ctthmeten eine kühle Frische, einen Hauch
von Unberührtheit aus. Irgendwo in einem lauschigen Winkel, aus deni
der Duft der Goldregentrauben herüberwehte, schlug in kleinen Zwischen-
räumen eine Nachtigall an, leise nnd schüchtern, als wagte sie ssch nicht
recht hervor.
Herbert schien in eine weiche Stimmung zu verfallen. Er war sehr
empfänglich solchen Naturreinen gegenüber, und wenn er dann allein mit
Gerda war und Niemand seine Mienen in Obacht nehmen konnte, ~ denn
in solchem Fall hätte er sich genirt, — wurde er sentimental, er fing au
zu schwärmen. Auch jetzt begann er damit. Es waren überschwängliche,
glühende Worte, die von seineu Lippen brachen, voller Verliebtheit, Begierde
nnd irrer, stammelnder Trunkenheit. Gerda erwiderte kein Wort. Nur
manchmal zuckte ihr Arm ganz leise in dem seinen. Und dann gingen sie
weiter und weiter, ganz langsam, ganz wie in einer fremden Welt.
Da plötzlich, als sie von einer Gebüschlücke am Wege aus die große
Fontaine sahen, die drüben wie ein mächtiger Silberstrahl in den Teich
niederwallte, sagte Gerda leise, dumpf: „Ja, das ist Alles ein schöner
Traum, Herbert, das Alles hätte werden können. Aber Du bist zu spät
gekommen. Verzeih' mir! Verzeih' mir! Ich konnte Dir's nicht eher
sagen."
Er starrte sie, mitten aus seinein verzückten Schwärmen auffahrend,
mit erblassendem Gesicht an. „Was ist das? Was soll das beißen?
Gerda!"
Sie nickte leise vor sich hin. Dann zog sie ihn mit sanfter Gewalt
weiter in das Dunkel des Laubgangs hinein, als ob ihre Augen das Stück
Helle da drüben nicht vertrügen, und nun, sich an ihn klammernd, raunte
6 Konrad Telmaini in Rom.
sie an ihm empor: „Es soll heißen, wie ich's sagte. Es soll heißen, daß
Deine Liebe zu mir auf die härteste Probe gestellt wird, die es geben
kann, Herbett; verdamme mich, daß ich bis heute geschwiegen habe! Ich
bin ja verdammensweith um deswillen. Aber Du muht auch begreifen
— Ich habe Dich so lieb, Herbett, und Du zeigtest mir ein so hohes
Glück, — und da sollte ich nun mit einein Worte, mit einem Schlage —
nein! ich tonnt's nicht. Leicht ist es für ein Mädchen ohnehin nicht, so
Etwas auszusprechen, — so Etwas einem Manne einzugestehen, auch nur
anzudeuten — Und wenn man den Mann nun gar liebt — Und wenn
man sich nun durch das Geständniß gar die Pforte zuni Glück verrammelt
für immer, — Herbett, Tu mußt begreifen, daß ich's nicht über mich
brachte, daß ich schwieg, — Dich betrog. Wir waren auch so selten allein,
— es war nie eine Gelegenheit, — ich wollt's ja so oft; — taufend, taufend
stachelnde Vorwürfe macht' ich mir jeden Tag, — jeden Tag von jenem
ersten, glückseligen an nahm ich mir vor: heute — heute ganz gewiß —
Und dann geschah's doch wieder nicht, dann war doch wieder die Angst
zu groß und schnürte mir die Kehle zu, — die Angst, Dich zu verlieren,
Herbert! Aber ich hatte durch mein Schweige» — durch dies einige
Hinausschieben keine wahrhaft glückliche Stunde. Und deshalb — blos
deshalb könntest Du mir vergeben — "
Es quoll Alles von ihren Lippen tonloo, sich überstürzend, ein klein
wenig schauspielerisch. Aber das merkte er nicht. Er merkte überhaupt
nicht auf die Art, wie sie sprach. Er griff sich nur ein paarmal an die
Stirn, weil er immer noch glaubte, er träume. Er athmete schwer, wie
ein Erstickender. Er blieb stehen, er griff sich vorn in den Halskragen, um
ihn zu lockern, er nahm den Hut ab. Er wußte garnicht mehr, was er
that, er wußte überhaupt Nichts mehr von sich. Alles in ihm wirbelte und
quirlte durcheinander. Er hatte die Empfindung von lauter Stürzendem
und Brechendem um sich her. Erst ganz allmählich begriff er, daß er es
sich schuldig sei, Herr der Situation zu bleiben, daß er sich eine unheilbare
Vlöße gab, wenn dies nicht geschah. Er richtete sich gewaltsam auf, aber
er schüttelte sie von sich ab, er lehnte sich gegen einen Baum am Wege
und warf ihr einen Blick zu voller Anklage, Jammer und Entsetzen. Er
wußte selbst nicht, was davon eigentlich in ihm vorherrschte; ~- am ehesten
wohl das Entsetzen über das, was er hier erfuhr, — plötzlich, unvorbereitet,
mitten in feine verliebte Ekstase hinein. Wie ein Blitzschlag kam das Alles,
betäubend, verwirrend, und diese jähe Helle blendete ihn. „Mein Gott,"
sagte er nur stöhnend, „wie ist das Alles möglich? Was soll das Alles
heißen?"
Sie zuckte trostlos die Schulten«. „Im Grunde," sagte sie leise, mit
gesenktem Gesicht, „hättest Du Dir's fast denken können. Wenn Du mein
Leben, meine Erziehung in Betracht ziehst — Mit sieben Jahren bin ich
zum ersten Mal aufgetreten. Seitdem immer in dieser Atmosphäre von
In der Hochzeitsnacht,?
Leichtsinn, Verführung und Ungebundenheit — Ist eö da ein Wunder?
Ist es da ein Verbrechen? Man könnte sich eigentlich nur wundern, daß
es sc» spät geschah — und nur einmal — Ich bin ja nie beschützt gewesen.
An mich darf man den Maßstab aus Deinen Kreisen doch wahrhaftig nicht
anlegen. Für ein Schauspielerkind mar ich tugendhaft genug. Darüber lass'
ich mir keine grauen Haare wachsen. Nur daß ich Dich in der Täuschung
ließ — bis heute, — das war unrecht. Jetzt, wo ich's endlich vom Herzen
habe, wird mir leicht. Jetzt werd' ich wenigstens Gewißheit haben, ob Du
mich wirklich so liebst, wie Du mir's oft — eben noch — gesagt hast, und
ob Deine Liebe zu nur stärker ist, als alles — alles Andere."
Ihr Ton hatte sich langsam um etwas gewandelt, er war weniger
verzweifelt, ruhiger, sicherer geworden, es lag sogar etwas Mahnendes und
Forderndes darin. Aber auch diese Veränderung entging Herbert. Er war
immer noch fassungslos. Dies Alles kam zu unvorbereitet, war zu nieder-
fchmetterud. Für solchen Fall hatte er die nöthige Haltung nicht bereit,
er war sich nicht klar über das, was er jetzt zu thun und zu sagen hatte,
und das verwirrte ihn, brachte ihn in Conflict mit sich selber. Plötzlich
fiel ihm Etwas ein, eine Stelle aus Hebbels „Maria Magdalena", und die
sprach er jetzt in seiner Verlegenheit über ein eigenes Wort, das er hätte
sagen sollen und das er nicht fand, vor sich hin: „Darüber kann kein Mann
weg" — Und dann bedeckte er seine Augen mit den Händen und schluchzte.
Nun hatte er plötzlich die Rolle gefunden, die er in dem gegebenen Falle
zu spielen hatte. Es erleichterte ihn ordentlich.
Eine Zeitlang sagte Gerda Nichts. Es war so still zwischen ihnen,
daß man das plätschernde Niederfallen des Wassers drüben und leise
Menschentritte auf den anderen Parkwegen deutlich vernehmen konnte. Dann
klang ihre Stimme zaghaft zu ihm hinüber: „Wenn das Dein letztes —
einziges Wort ist, dann ist's ja wohl am besten, wir gehen gleich jetzt
und hier auseinander — für alle Zeit. Wozu follte dann ein weiteres
Herumzerren noch sein, — zwecklose Vorwürfe und Klagen, da ja nun doch
einmal Nichts mehr gutzumachen ist? Mit dem Geschehenen müssen wir
uns eben abfinden, lind wenn Du entschlossen bist — Ich habe dann Nichts
mehr zu sagen, als: „Verzeih'! und Leb' wohl!"
Nun kam Leben in ihn. Er streckte die Hände nach ihr ans. „Nein,
nein, nicht so — ich — ich habe ja noch nicht — ich weiß ja noch gar-
nicht, — ich bin noch immer so verwirrt, so rathlos, — das Alles erscheint
mir immer noch so unglaublich, — so unmöglich — "
„Wir müssen aber doch nun zu Ende kommen," sagte sie leise, herb,
ungeduldig. „So oder so. Diese gräßliche Ungewißheit hat lange genug
angedauert, mir Qualen genug gemacht. Jetzt trag' ich sie nicht mehr.
Ich habe Dich so unsäglich lieb, Herbert, daß ich jede Stunde besinnungs-
los für Dich sterben könnte. Ich möchte wissen, ob es bei Dir ebenso
ist, ob Deine Liebe zu mir größer und stärker ist, als Wes sonst in der
8 Koniad Telman» in Rom.
Welt, — ob Tu durch sie — mit ihr Alles überwinden kannst, — auch
dies Aeuherste; — ob ich Dir, wie ich da biu, mehr werth bin, als
die schmeichlerische Fiction, — der Erste zu sein, die jeden Mann so stolz
macht!"
Herbert stöhnte noch einmal auf, dann wandte er ihr sein Gesicht zu,
das jetzt kühl und ruhig erschien. Nur seine Mundwinkel zuckten leise.
„Gönne mir Zeit," sagte er mit heiseren, rauhen Tönen. „Ich kann mich
jetzt nicht aussprechen. Du mußt das doch begreifen. Morgen — über-
morgen — Laß mich nur erst einmal zu mir selbst kommen! Du kannst
doch nicht verlangen, daß ich jetzt und hier über so Etwas — über eine
so wichtige, einschneidende Lebensfrage — Das ist doch unmöglich. Tas
wäre ja gerade, als wenn Du mir so sn plannt vorschlügest — " er
wußte offenbar nicht gleich, was er sagen sollte, oder unterdrückte das wieder,
was er hatte vorbringen wollen, um nach einer kleinen Pause murmelnd
beizufügen: — „vorschlügest, von jetzt an nicht mehr zu Schriftstellern oder mich
von der Sonne abzusperren oder dergleichen. Das ist doch wie eine furcht-
bare Revolution dies, — und nun so unvermuthet, und jetzt nnd hier,
während — " Er trocknete sich wiederholt die Stirn mit einem lichtblauen,
seidenen Taschentuche. „Ordentlich der kalte Angstschweiß ist nur alisge-
brochen," sagte er mit einer gewissen suchenden Hilflosigkeit, aber ohne Gerda
anzusehen, denn davor schien er sich zu fürchten, — „aber so Etwas auch!
In meinen: ganzen Leben habe ich eine ähnlich peinvolle Situation — Du
hast Dir wirklich eine Stunde ausgesucht zu dem Allen! Laß uns nur
jetzt gehen, — womöglich könnt' uns noch wer Bekanntes begegnen, — das
fehlte gerade! Und man weiß auch garnicht, wer Einen hier Alles hören
kann hinter den Büschen. Mein Gott, mein Gott, was sind das für Sachen!
Wenn ich mir so 'was je hätte träumen lassen!"
Er athmete mühsam, steckte sein Tuch ein und versuchte, sich wieder
eine Haltung zu geben. Er hatte sie völlig verloren gehabt. Dabei konnte
er aber nicht umhin, seine Augen eine Weile mit scheuer Angst rundlaufen
zu lassen. Gerda betrachtete ihn während alledem mit einer gewissen kühlen
Neugier. Dann, als er ihr seinen Arm bot, sagte sie: „Oh, zwinge Dich
nicht dazn! Ich kann ja allein gehen — Oder nein," setzte sie hinzu, und
es zuckte Etwas zwischen Oberlippe und Nasenflügeln, während sie ihren
Ann leicht in den feinen schob, — „gerade das könnte anffallen, wenn man
uns sähe. Und es ist ja garnicht nöthig, daß man vor der Zeit erfährt,
was nachher immer noch früh genug unter die Leute kommt."
Es lag Etwas wie ein fchmerzlicher Spott in ihren Worten und machte
ihn nervös. Er zuckte ordentlich zusammen, als er sie jetzt an seinem Ann
gegen den Stadtbahnhof zu führte. Und dann fagte er: „Du thust ja,
als wäre es schon entschieden, daß wir — daß ich — So weit sind wir
ja doch nicht. Ich bin sehr consternirt — begreiflicherweise — und ich kann
in meiner Verwirrung, in diefer heftigen, allgemeinen Gemüthsdepression
In der Hochzeitsnacht, 9
durchaus keineu Entschluß fassen, mir garnicht einmal klarwerden über das,
was ich zu thun habe, — aber die Möglichkeit liegt ja doch vor — Es
ist etwas Furchtbares, Gerda. Ich wollte, dies wäre mir erspart geblieben.
Man konnte darüber wahnsinnig werden."
Nach diesem letzten Ausbruch sagte sie Nichts mehr, und er führte
sie weiter. Sie stießen jetzt fortwährend auf Menschen, die gleich ihnen
dem Ausgange zudrängten: sie schwiegen Neide. Erst als sie die Treppen
zum Bahnhof hinaufgestiegen waren und in der weiten Halle droben die
Menschen sich wieder vertheilten, so daß sie allein und ungestört abseits
bleiben konnten, sagte er mitten in das donnernde Getöse hinein, mit
dem ein einfahrender Zug, der nicht der ihre war, den gewaltigen Raun«
durchschüttelte: „Nachdem Du mir das furchtbare Bekenntnis! einmal gemacht
hast, Gerda, mußt Du nur nun auch Alles sagen. Das hilft Nichts, Ich
muß nun, da Du mir die Binde von den Augen gerissen hast, doch auch
gleich völlig klarsehen, um gerecht urtheilen zu können. Ich muß alles
Einzelne wissen, — wie und wann es geschah und — "
„Nein, nein." Sie schüttelte ruhig den Kopf. „Das nicht. Das
erlaß mir! Es ist fo widerwärtig, das noch einmal aufwühlen zu sollen,
so häßlich, — und vor Allem so zwecklos. Wozu sollt' es denn etwa dienen?
Es macht Nichts besser und Nichts schlimmer. Ich fühle mich nicht ver-
pflichtet dazu, und ich verweigere es Dir. Verzeih'! Aber Du mußt ja
selbst begreifen — Die Thatsache muß Dir genügen, die Hab' ich zugegeben.
Mit der mußt Du Dich abfinden, — so oder so. Mehr bin ich Dir nicht
schuldig, — das wäre undelicat. Wenn wir erst verheirathet sind — ich
ineine: falls Du Dich trotz Allem dennoch bereit finden solltest, — dann,
dann natürlich — dann wäre es etwas Andres, wem: Du dann noch
darauf bestehen solltest, — aber jetzt: nein. Bitte, reden wir nicht mehr
davon! Es ist gerade genug und übergenug!"
Herbert war sehr roth geworden, er murmelte Etwas zwischen den
Zähnen, was sie nicht verstand. I hr Zug fuhr jetzt ein, und sie muhten
sich eilen, einzusteigen. Während sie es thaten, sagte sie: „Herr Gott, wir
wollten ja mit der Pferdebahn fahren! Wie dumm!"
Er begriff nicht, daß sie jetzt und so von dieser Sache reden konnte.
Es schwoll Etwas in ihm empor von Bitterkeit, Empörung und Haß. Dies
Mädchen, seine Braut>, die ihm eben gestanden hatte, — merkwürdig
spät gestanden hatte, — daß sie nicht die war, die er in ihr zu finden
geglaubt, daß sie nicht mehr rein war, — dies Mädchen amüsirte sich
jetzt darüber, daß sie nun doch mit der Stadtbahn und nicht, wie er ge-
wollt, mit der Pferdebahn nach Hause fuhren, darüber also, daß er dies
bei all' dein auf ihn einstürmenden Schrecklichen vergessen hatte! Es war
unglaublich, einfach unglaublich. Eine Komödiantin — das war's! Darin
lag's! Sie sind alle nicht viel anders. Das Gewerbe, das sie treiben,
macht sie so. Im Grunde kann man sich nie bei ihnen darauf verlassen.
~0 Koniad Telmllnn in Rom.
daß sie in der einen Stunde noch so sind, wie in der andren; das ist eben
das Traurige, dem verdankte er diese Bescheerungen von heute Abend.
Großer Gott, wenn er das so recht bedachte: — seine Braut! Und schon
in eines Andren Händen gewesen! Pfui, es war abscheulich, es war kaum
auszudenken.
Und sie hätte es ihm sagen müssen, bevor sie ihm ihr J awort gab,
ihn um sie werben ließ, — damals doch zum Mindesten. Statt dessen
— aber natürlich: eine Komödiantin! Warum war er auf den verrückten
Einfall gekommen, eine Komödiantin heirathen zu wollen? Die nehmen
das alle nicht gar so genau, die haben die „spießbürgerlichen" Grund-
sätze der soliden, bürgerlichen Gesellschaft nicht und bilden sich noch
sogar Etwas darauf ein, wenn nicht Alles bei ihnen so klappt, wie dort.
Nun hatte er's! Nun mit guter Manier loskommen, das war eine eigene
Sache. Gerede gab's natürlich, — und was für'n Gerede! Das war
peinlich. Aber schließlich: wenn man zum Gegenstand der allgemeinen
Aufmerksamkeit wurde, — zu verachte» war das auch nicht, es konnte
immerhin für einen Schriftsteller, der noch als Anfänger gelten mußte und
den Ehrgeiz hatte, schnell zn einein Namen zu kommen, von Vortheil sein.
Man würde fragen: „Die Lindheim im Stiche gelassen von ihren:
Bräutigam? Wer ist denn der? Ach, der Schriftsteller Fürst! Was hat
er doch gleich geschrieben?" Und dann so weiter. Es konnte geradezu zu
einer neuen Auflage feiner „Pflicht" führen. Die Welt war nun einmal
so, und man mußte sie nehmen, wie sie war.
Nur — es war doch eigentlich schade. Er hatte Gerda lieb. Und der
Mann einer bekannten Schauspielerin, — selber ein Dichter — Es machte
sich doch ganz gut. Es war so gewissermaßen das Siegel darauf, daß er
sich von seiner hochwohlcmständigen Gesippschaft emancivirt hatte und seine
eignen Wege wandelte als ein freier und unabhängiger Künstler. Mit dieser
Beweggrund hatte ihn getrieben, — ganz gewiß. Neben seiner Leidenschaft
ein gewisser Trotz, ein herber Eigenwille, eine bestimmte, bewußte Absicht.
Wenn er freilich gewußt hätte, — dann natürlich nicht; nicht im Traum
wär's ihm dann eingefallen. Aber nun würd' es wie ein Rückzug aus-
sehn, gerade wie wenn er doch bereute, sich von seinen Sippen getremtt zu
haben, und einsähe, es sei mit Leuten andren Schlages kein ewiger Bund
zu flechten. Und das wollt' er nun doch nicht, das dürft' er ihnen um
seiner selbst willen nicht gönnen. Eine fatale Lage also —
Das Eoups, in das sie gestiegen waren, war so voll, und der Zug
rasselte mit so betäubendem Lärm dahin, daß eine Unterhaltung zwischen
dem Brautpaar, das sich gegenübersaß, nicht wohl möglich gewesen wäre,
am wenigsten über das Eine, was Herbert nun unablässig in seiner Seele
hin- und herwälzte Es war ihm auch gerade recht so. Nur ruhten Gerdas
Augen unverwandt auf ihm, und das genirte ihn, das machte ihn nervös.
Was wollte sie eigentlich mit diesem ewigen Herüberblicken? Es war ja gerade.
In der Hochzeitsnacht. ~
als wollte sie aus seinen Mienen seine wechselnden Gedanken ablesen. Nun, das
sollte ihr doch wohl schwer werden. Etwas so Dringendes, so Verlangendes
lag in ihren Augen. Herbert rückte unruhig auf seinen, Sitz hin und her.
Sie liebte ihn doch sehr, diese Gerda. Eine furchtbare Angst mußte jetzt
in ihr wühlen, ihn zu verlieren. Sie wollte mit ihren Augen ihn zwingen,
ihn bannen, ihn festhalten. Das war's! Lieber Himmel, ja, es wäre auch
Alles so gut und schön gewesen, nur — Es ging ihm eben doch gegen
die innerste Natur. Er, Herbert Fürst, und nicht der Erste bei dem Weibe,
das er liebte, das er heirathen wollte! In seinen eignen Augen ent-
würdigte es ihn. Er war garnicht mehr er, wenn er das that, wenn es
wirklich dahin kam. Nein, nein, es ging nicht, es ging nicht.
Die rasselnden Mder des Zuges wiederholten es unablässig, was aus
all' seinen Gedanken heraus tönte und schrie: „Es geht nicht, — es geht
nicht, — es geht nicht — "
Bahnhof Friedrichstraße! Sie stiegen aus, gingen die Treppe hinab,
tauchten unter in das immer noch fluthende Gewühl. Wieder hatte er ihr
seinen Arm geboten, wieder hatte sie ihn genommen. Schweigend schritten
sie nebeneinander her, durch all' das laute, aufgeregte Sommernachtleben
der Großstadt. Sie überquerten die Linden. Gerda warf einen Blick zum
Eafe Vauer hinüber, durch dessen offene Thüren und Fenster man auf die
lichtüberhellte, bunte Menschenmasse sah, die sich an all' den kleinen Tischen
zusammendrängte, — es war ein sehnsüchtiger Nlick, dem ein kleiner
Seufzerfolgte. „Bin ich durstig, Herbert!" und ihr Arm machte in dem
feinen eine zuckende Bewegung nach dem Caf6 hin. Jetzt einen Eiskaffee
dort — es müßte kostlich sein. Und mitten in die bunte, internationale,
ein klein bischen „gemischte" Gesellschaft hinein, nach dem steifen, lang-
weiligen Ausstellungs-Restaurnnt — In allen Zehenspitzen prickelte es sie
danach. Wozu denn auch jetzt schon zu Bett gehn? Es mar wohl noch
garnicht einmal Mitternacht, — doch wahrhaftig noch keine Schlafenszeit.
Aber Herbert war entsetzt über die bloße Andeutung ihres Wunsches.
Jetzt in's Cafü Bauer, — sie Beide allein, — und nach dem, was eben
vorgefallen war, nach diesen Eröffnungen, die von fo lebeneinschneidender
Bedeutung waren — ? Da mußte man sich denn doch wirklich fragen,
ob man recht gehört hatte; das war in jedein Falle ein Zeichen von
Frivolität, — von nichts Andrem. Wenn Gerda dazu im Stande
war, — nun, dann erleichterte sie ihm seinen Entschluß wenigstens, der
ja wohl ohnehin hätte seiner Eigenwürde halber von ihm gefaßt werden
müssen!
Sehr verdrossen schlugen sie Beide den Weg in die stille Charlotten-
straße ein und standen nach wenigen Mnuten vor Gerdas Hause. Sie
hatten kein Wort mehr gewechselt. Als sie sich zum Abschiede die Hand
reichten, kühl, ohne kräftigen Druck, stand er mit dem abgezogenen Cylinder
in der Linken vor ihr, hoch, steif, gemessen, wie ein fremder Mann. Und
~2 Koniad ll^elmann in Rom.
da sagte sie, — noch unter der zitternden Nachwirkung ihres Aergers und
der Enttäuschung von vorhin, — gewollt hatte sie es nicht, und kaum daß
sie es ausgesprochen, bereute sie es auch schon wieder: — „Ich werde Deine
Entscheidung dann ja wohl erfahren, wenn Du es an der Zeit hältst. Triff
sie so, wie Du sie correct findest! Gute Nacht!"
Noch nie hatte ihre Stimme so hart geklungen. Und ehe er noch ein
Wort hätte erwidern können, war sie im Hause verschwunden. Nur daß
er glühroth im Gesicht geworden war, hatte sie noch gesehn. Beinahe that
er ihr leid. Aber vor allen Dingen war es sehr unvorsichtig von ihr
gewesen, das Wort zu gebrauchen, — deswegen, weil es ihn beeinflussen, ihn
bestimmen konnte. Sie wußte ja, daß er, wie der Schmetterling unter der
Nadel, beim Anhören dieses Wortes zuckte und zappelte. Und er hatte
sich doch frei entscheiden sollen, absolut frei, damit — Von solchen Kleinig-
keiten, von solch' einem einzelnen Wort hing manchmal ein Lebensschicksal
ab. Und dann war's kein Wunder, wenn die Reue darauf folgte. Nein,
lieber als auf solchem Grunde das Glück seines Daseins aufbauen —
Wenn es überhaupt ein Glück war, je werden konnte
Während Gerda mit solchen Gedanken die Treppen zu ihrer Wohnung
hinaufstieg, setzte Herbert Fürst seinen Heimweg fort. Er mußte die Linden
hinunter, zum Brandenburger Thor hinaus. Er ging in der Mitte des
Weges, zwischen den verstaubten Bäumen, unter den elektrischen Glühlampen
hin. Noch immer glühte sein Gesicht. Wie ein Peitschenschlag hatte das
Wort ihn getroffen: — „wie Du sie correct findest!" Teufel auch! Er wollte
ja nicht correct sein, darin hatte er ein Haar gefunden, und Gerda wußte
das. Correct! Alles Andere eher, als das. Wie ein freidenkender, modern
empfindender Mensch wollte, mußte er entscheiden. Natürlich, das war er
sich und seiner neu errungenen Stellung schuldig. Aber schließlich: das war
eine Frage — nicht der Moral — zum Teufel mit der Moral! — sondern
der Selbsteinschätzung. Wenn man sich doch nun einmal für zu gut hielt,
um der „Nachfolger" zu sein, wo man der Erste und Einzige sein wollte,
— das war der springende Punkt, ganz allein das. Und dann: daß sie
ihn getäuscht, belogen hatte bis heute Abend! Auf so Eine, die das fertig
brachte, war keinerlei Verlaß, jetzt nicht nnd nie, auf so Eine brauchte man
keine zarte Rücksicht zu nehmen.
Auch eine andere Angst war noch in Herbert lebendig. Dieser Eine,
der Gerda einmal besessen hatte, lebte doch wahrscheinlich noch, war vielleicht
sogar hier in Berlin. Wenn der nun eines Tages in einer lustigen Ge-
sellschaft, am Biertisch — wo es auch war — mit der Faust auf den
Tisch schlug, als die Rede auf die schöne Frau Gerda Fürst gekommen
war, und lachend — mit jenein Lachen, das Herbert von ähnlichen Erleb-
nissen her nur allzu gut kannte, ausrief: „Kinder, ich weiß — im Ver-
trauen gesagt: ich Hab' sie auch 'mal gehabt, ich — und ich war der Erste —
kann's beschwören!" Unmöglich, unmöglich!
In der Hochzeitsiiacht. ~3
Herbert hatte im Weiterschreiten die Fäuste geballt. Das thut kein
Ehrenmann, natürlich nicht. Nlos baß manchmal Einen eine weinselige
Renommistenstimmung dazu hinreißt. Und dann: war er denn ein Ehren-
mann, der Betreffende? Wer bürgte Herbert dafür? Und wenn erst ein-
mal Einer sich gerühmt hat, glaubt natürlich alle Welt, es wären ihrer
Mehrere gewesen und der jetzige Ehemann nur gerade der Letzte, der das
Dutzend voll macht. Pfui Teufel! Aber dem trete einmal Einer entgegen!
Womit denn? Wie denn solch' einem ekelhaften, niederträchtigen Gerücht
das Lebenslicht ausblasen? Durch eine Herausforderung? Da konnte
man sein halbes Leben mit Duellen verbringen. Und daß so ein Duell mit
seinem Zufallsausgaug überhaupt garnichts bewies, soviel wußte er doch
nun mich schon; auf dem Standpunkt befand er sich seit Langem. Also —
Nun, zum Henker, man durfte es ebeu nicht darauf ankommen lassen.
Es gab da keinen Ausweg. Herbert Fürst durfte keine bemakelte Frau
haben, — um seiner selbst willen nicht und um der Anderen willen nicht,
denen er keinen Vorwand für ihr geiferndes Gezüngel bieten durfte. Dabei
blieb er stehen, darüber kam er nicht hinweg, — mit all' feinem Sinniren,
mit all' seinen, Getüftel nicht. Mit einem großen, männlichen Entschluß
sich freimachen, — weiter blieb Nichts. Das war er sich selber schuldig.
Und wer es gut mit ihm meinte, mußte ihm Veifall zollen. Nur daß
er über die Gründe dieses Auseinandergehns nie würde sprechen dürfen.
Und daß die, welche ihm Veifall zollten, es vermuthlich thun würden,
weil sie überhaupt — in Unkeimtniß der Sachlage — annahmen, er
sei sich über die Unmöglichkeit einer Verbindung mit einer Komödiantin
klar geworden, denn solche Verbindung sei nun einmal ein Ding der Un-
möglichkeit für einen correcten Menschen. Puh! Dumm! Das wollte er
nicht, gerade das nicht.
Er hatte inzwischen seine Wohnung draußen in der Koniggrätzer-
straße erreicht, in einem großen, vornehmen Hause, eine Treppe hoch, —
ein paar Zimmer mit allein moderneu Lomfort, üppig, von peinlicher
Sauberkeit der Einrichtung, fast ein bischen weibisch-lururiös. Gerda hatte
das wenigstens gefunden, als sie hier gewesen, — zum ersten und letzten
Mal uud natürlich i» Begleitung der Tante. Es roch sogar etwas nach
Veilchenparfüm in den Zimmern, gerade wie sein Taschentuch und die
Seidenaufschläge seines Ueberrocks. Herbert kleidete sich aus und legte sich
zu Bett. Es war ein weiches, breites Nett mit schwellenden Federkissen,
und er schlief sonst immer sehr gut darin, — fast mit dem Glockenschlage,
von Mitternacht bis sieben Uhr Morgens ohne jede Unterbrechung. Nur
seltene Ausnahmen kamen dabei vor. Heute konnte er durchaus nicht ein-
schlafen. Alles störte ihn. Das Geklingel der Pferdebahn draußen wollte
gar kein Ende nehmen, — und diese ewigen Wagen, die da vorbeirollten
— und im Zimmer über ihm wurde Clauier gespielt. Und zu alledem,
noch irgendwo ein bellender Hund. Erwürgen hält' er ihn mögen. Hunde
IH Aonrad Telmann in Rom.
konnte er überhaupt nicht ausstehen; es war einer seiner Streitpunkte mit
Gerda, die für Hunde schwärmte und durchaus von ihm verlangte, er sollte
sich eine große Ulmer Dogge anschaffen. Das hätf ihm gefehlt! Ein großer
Hund in einer geordneten Berliner Stadtwohnuug, wo er Alles umstieß,
verunreinigte, verdarb, die besten Freunde mit wüthendem Gekläff anfuhr,
— alle paar Tage ein Schmerzensgeld an einen gebissenen Bettler, ein
ewiges Gejage hinter ihm drein, Scherereien mit der Polizei, mit den
Nachbarn — Aber Gerda hatte gesagt: „Sonst heirath' ich Dich nicht!"
Wie dumm! Weshalb ihm das jetzt wohl Alles kam? Es war ja sowieso
zu Ende — mußte zu Ende sein —
Ruhelos wälzte sich Herbert in seinen Kissen hin und her. Er er-
bitterte sich immer mehr gegen Gerda, je weiter die Nacht vorrückte. Daß
sie ihm diese Schmach angethan hatte! Daß ihn dieser Keulenschlag heute
hatte treffen müssen! Möglich, daß sie entschuldbar, — in höherem Sinne
sogar unschuldig war, er wollt' es ja gern glauben; aber daß sie seine
Werbung angenommen, ohne ihm ihren moralischen Defect einzugestehen,
daß sie ihn bis heute verschwiegen hatte, — das war unverzeihlich, dafür gab
es keinen Schatten einer Rechtfertigung. Sie hatte ihn doch wohl erst sicher
machen wollen, — offenbar nichts Anderes; sie hatte ihn erst so fest an sich
ketten wollen, daß er nicht mehr zurückkonnte, daß er einen Theil seines
Lebens dabei einbüßte, wenn er es that. Schmähliche Berechnung war es
gewesen. Eingefangen sollt' er erst sein und dann nicht mehr zurückkönnen.
Gerade das empörte ihn am allermeisten. So handelte eine raffinirte
Kokette, eine fchlaue, überschlaue Komödiautin. Ein paar Wochen vor der
Hochzeit! Denn jeden Tag konnten ja nun doch diese dummen, so schwer
zu beschaffenden Papiere aus ihrem böhmischen Heimatsort endlich eintreffen,
und dann konnte das Aufgebot sofort bestellt werdeu. Hätte bestellt werden
können. Und deshalb war's ihr endlich an der Zeit erschienen, den Mund
aufzuthun. Nur weil es sonst zu spät wurde, weil es sonst einen bösen
Krach hätte geben müssen, wenn er selbst erst — den Teufel auch! Wer
ein Mädchen heirathet, nimmt sie doch in dem felsenfesten Glauben hin,
wirklich ein Mädchen zu bekommen, und nicht —
Nun, sie sollte sich in ihren feinen Berechnungen denn doch getäuscht
haben. Die Schlingen, in denen sie ihn hielt, waren noch keineswegs sc»
fest geknüpft, daß es kein Entrinnen mehr daraus gegeben hätte. Oho,
nein! Und wenn selbst ein Theil seines besten Seins dabei zu Grunde
ging, während er sich freimachte — Besser, ein Stück Lebensglück, Hoffnung
und Illusion aufopfern, als seine Ehre. Die Ehre muhte gewahrt werben
um jeden Preis, auch um den höchsten und äußersten.
Dieser Schlußgedanke gab Herbert eine gewisse Ruhe zurück. Seine
Mannesehre verlangte die Trennung von dieser Frau, die nicht mehr rein
war und die ihn hintergangen hatte. Damit fertig; darüber hinaus gab
es 'Nichts mehr zu klügeln. Uni feiner Ehre willen muhte er entsagen und
In der Hochzeitsnachl. ~5
leiden; das war Menschenloos, und es war eines Mannes würdig, so zu
handeln. Mit diesen» Bewußtsein versuchte er gestärkt einzuschlafen, nachdem
es endlich ganz still drallsten und im Hanse gewordeil war, und es gelang
ihm nach einiger Zeit auch wirklich. —
Am anderen Morgen fühlte er sich zwar weniger frisch, als sonst, aber
im Uebrigen war er ganz ruhig. Die Trennung mußte vor sich gehen,
daran war kein Zweifel mehr. Er hätte Gerda gleich jetzt den Abschieds-
brief schreiben köunen, aber es sollte nicht den Anschein haben, als ob er
sich übereilte. Morgen war ja auch noch Zeit genug. Er kleidete sich mit
der gewohnten, umständlichen Peinlichkeit an, frühstückte, las die Zeitungen,
— Alles genau, wie fönst. Alles ganz nach dem Schnürchen, Und dann
wollte er arbeiten. „In diesen Stunden pflege ich zu dichten," hatte Gerda
in ihrem übermüthigen Spott von feinen Vormittagen gefügt. Nun,
fchliesilich muht' es doch auch in diesen Dingen eine gewisse Regelmäßigkeit
geben, Schriftsteller fein hieß doch noch lauge nicht Faulenzer fein. Im
Gegentheil. Die Ungebundenheit mußte doch auch ihre Grenzen haben, es
war doch immer noch ein gewaltiger Unterschied zwischen einem geregelten
Lebenswandel und einer steifleinenen, pedantischen Correctheit, wie sie in
der Sphäre heinlisch war, aus der er hervorgegangen —
Eorrectheit! Da war das widerwärlige Wort schon wieder, mit dem
Gerda ihn gesteril Abend entlassen hatte und das immer wie ein Peitschen-
schlag auf ihn wirkte. Eorrect! Eorrect wollt er garnicht handeln. Jetzt
nicht und nie. Aber schließlich: wenn es die Ehre gebot —
Er setzte sich au seinen Schreibtisch. Alles lag und stand hier, wie
er es brauchte. Eine vortreffliche Feder, kein Härchen in der Tinte —
Er überlas die letzten Manuscriptseiten. „Zerrissene Fesseln," sollte der
Roman heißeil. Und hier stand: „Wenn er das that, was in seinen
Kreisen vernehmt und unmöglich gewesen wäre, so wußte er jedesmal ganz
genau, daß dies in seiner jetzigen Lage und wenn er sich wirklich — auch
innerlich — freimachen wollte, gerade das Richtige und das einzig Gebotene
war, das, wozu sein Herz seine Zustimmung gab." — Das hatte er gestern
geschrieben, bevor Gerda ihm — Seltsam! Und da sollte er nun heute
wieder anknüpfen. Rein, das konnte er nicht, Iwifchen gestern und heute
lag für ihn ein Abgrund. Schließlich war der Schriftsteller doch auch nur
ein Mensch. Er strich den Satz aus, mehrmals hintereinander, mit dicken
Federstrichen. Aber die ganze Geschichte war schließlich ans diese Sentenz
angelegt, die ganze Geschichte sollte im Grunde Richts weiter besagen.
Ein Theil seiner eigenen Lebensgeschichte, — zurecht gestutzt, verbrämt, ans
andere Verhältnisse, in eine andere Weltgegend übertragen, — wie man das
denn so macht. Und nuu — es war dumm. Er wußte durchaus nicht
weiter. Schlechterdings mußte man doch Ausnahmen von jener Regel
constatiren; in solcher Mgemeinheit, mit solchem Anspruch auf Willigkeit
war sie absurd. Wo die Ehre in's Spiel kam — Das Ganze war über-
Nold >,nl> 2iid, I.XXV. 223. 2
~6 Ronrad Telmann in Rom.
Haupt Nichts, als eine sehr natürliche Neactiou, die nun natürlich auch
wieder über's Ziel hinausschoß und in's Ertrem verfiel. In der Mitte lag,
wie immer, die Wahrheit.
Er wollte weiterschreiben. Nein, das ging auch wieder nicht, das mit
der goldenen Mitte, Es 'war gar zu abgedroschen, und gerade gegen die
gedankenlosen Dnrchschniltsanschauuugen der „Mitte" sollte sich das Buch
ja in erster Linie lichten. Er schob die Blätter fort, er stand ans. Ganz
heiß war er geworden, die Haare klebten ihm an den Schläfen. Diese
erbärmliche Geschichte! Daß die nnn auch in seine Arbeit eingriff, über-
stieg doch alle Begriffe. Herbert war müthend. Nun konnte er den ganzen
Pack Blätter da nur zerreißen, nun war das Alles umsonst geschrieben
worden. Denn in's Gesicht schlagen tonnt' er sich doch nicht geradezu; wie
man schrieb, so mußte man doch auch leben, im Leben handeln. Und nach
seinen papiernen Tendenzen da hätte er also jetzt Gerda heirathen müssen,
gerade weil in seinen Kreisen Jedermann ohne Unterschied das für unmöglich
erklärt haben würde, gerade deshalb. Weil es nicht correct war!
Er ging mit großen Schritten im Zinnner hin lind her. Alles in ihm
war in Aufruhr. Wenn er sich nur irgendwo hätte Nath einholen können!
Aber wie ging das denn an? Wer kann denn von so Etwas auch nur
andeutungsweise mit einem Andern reden? Uebrigens: was hätte man
ihm auch rathen sollen? Solche Dinge muß Jeder mit sich selbst im stillen
Kämmerlein abmachen und nach seiner eigensten Natur entscheiden, Jeder
wird zu einem anderen Resultat dabei kommen. Seiner Natur — darüber
war er garnicht mehr im Zweifel — widerstrebte es, Gerda jetzt noch zu
seinem Weibe zu machen. Es fragte sich eben nur, ob er seine Natur
nicht bekämpfen, nicht niederzwingen mußte wegen — nun, wie sollte
man es gleich nennen? — wegen höherer Interessen, — um sich als
wahrhaft freier Menfch zu zeigen, — um zu beweisen, daß die früheren
Fesseln seiner Anschauungen, Empfindungen, Vorurtheile wirklich und end-
giltig zemssen waren. Das war's: ein Kampf, eine Feuerprobe. Er mußte
da durch, um sich als der neue Mensch zu legitimireu, der er ja sein
wollte. Und wenn das ein Stück von seinen» innersten Selbst kostete, —
und das würde es ja, — wenn er unter diesen Kämpfen und Qualen so
schwer zu leiden hatte, daß er schier zusammenzubrechen drohte: es half
Nichts, es mußte fein. Er batte dann definitiv bewiesen, daß er wirklich
kein correcter Mensch war. ?ies Incr war eine Lebensfrage, eine Lebens-
entscheid«»«/.
Herbert duldete es nicht mehr im Zimmer. Es war ihm zu eug hier.
Er mußte weite Horizonte um sich haben, der Lärm des brandenden Lebens
mußte ihn iimballen. Er hatte die Empfindung, als ob es ihm am
wohlsten sein würde, wenn er jetzt seine Ellenbogen gebrauchen uud mit
kräftigen Armen eine sich gegen ihn andrängende Menge gewaltsam zertheilen
könnte. Er sehnte sich nach Kampf, nach einer Betätigung feiner Muskel-
)>i der Hochzeitsnacht. ~?
kräfte. Alles in ihin war in Bewegung, es stürmte in seiner Seele. Wie
ein Erstickender fühlte er sich stellenweise. Ein Heiher Groll gegen Gerda
brannte in ihm. Wenn er sie jetzt hier vor sich gesehn hätte, er wäre mit
geballten Fäusten vielleicht auf sie losgegangen, er hätte ihr Worte zuge-
schrieeu in seiner allmählich sich steigernden Erhitzung, die wild und brutal
gewesen sein würden. Er sagte sich in dieser Stunde, daß er sie hasse.
Weshalb zwang sie ihn in dies Alles hinein, ~ in diesen Kampf, diese
Selbstguälerei, dies häßliche Zerwühlen und Zermartern seines Innern?
Er mochte das nicht, ihm war all' das noch tausendmal widriger und pein-
voller, als jedeni Anderen. Es paßte so garnicht zu ihm, brachte ihn mit
sich selber in schreienden Gegensatz. Er war ein Mann der Ruhe, der
Ordnung, der stillen Arbeit. Ihm that man Schwereres an, als irgend
Einem sonst, mit alledem. Wenn er da nur erst wieder heraus, damit
nur erst fertig gewesen wäre!
Er hatte seinen Hut aufgestülpt und war in's Freie gelaufen. Er
wußte nicht, wohin er follte. Der Tag war strahlend schön, er stand in
so schroffem Gegensatz zu Herbert's Verstörtheit, daß ihm diese leuchtende
Sommerherrlichkeit förmlich einen körperlichen Schmerz verursachte. Es
hätte lieber stürmen uud regnen sollen. Was sing er mit diesen« Tage
jetzt an? Eine Secunde lang durchschoß ihn der Gedanke, zu Gerda zu
gehe» und sie zu einer Fahrt nach Wannsee abzuholen. Dann schämte er
sich seiner Regung. Wie er doch schon an sie gewöhnt war! Es würde
Mühe kosten, sich von ihr loszureißen, — es hätte Mühe gekostet! Wenn
er freilich nun entschieden war, eingesehen hatte, daß er doch nicht anders
konnte, als sie heirathen — Nein, auch dann nicht. Zappeln lassen wollt'
er sie doch in jedem Falle eine Zeit lang. Wie sie sich jetzt wohl härmen,
bangen und ängstigen würde! Mit welcher Sorge sie seiner Entscheidung
entgegensehn mochte! Denn sie war ja wirklich sehr verliebt in ihn, und
die drohende Möglichkeit, ihn in letzter Stunde nun doch noch zu verlieren,
mußte ihr furchtbar sein. Wahrscheinlich hatte sie ja doch auch deswegen
allein ihr verhängnißvolles Bekenntnis; immer weiter und weiter hinaus-
geschoben; sie hatte ihn nicht verlieren wolle». Nun, Herbert Fürsts
Gattin zu werden, — es begriff sich, das war nichts Kleines. Aber büßen
mußte sie ihre Unaufrichtigkeit doch. Nicht heute und nicht morgen würde
er ihr Botschaft senden, das stand bei ihm fest. Bis an den Rand
der Verzweiflung wollt' er sie erst gelangen lassen, diese Genugthuung
wenigstens dürft' er sich gönnen. Wenn er alle diese inneren Qualen zu
durchleiden hatte und so ganz aus dem Gleichgewicht geschleudert wurde,
weshalb follte sie frei ausgehen, fie, die doch an all' diesem Abscheulichen
die Schuld trug?
Herbert war am Raud des Thiergartens hingeschlendert und sah sich
jetzt mitten im wirren Getriebe des Leipziger Platzes, Als er bei lostn
vorüber wollte, rief man ihn an. Kuno Barrenholz, — wahrhaftig. Da
2*
~8 Aonrad Telmann in Rom.
saß er an eine!» der Tische im Vorgarten, vier, fünf Zeitungen um sich,
die Beine lang ausgestreckt, ein halb leeres Glas Madeira und ein paar
Pastetchen vor sich, an die er sich gerade machte. Herbert ging hinein
und setzte sich zu ihm. „Was treiben Sie denn hier? Zeitungen
lesen? Vormittags? Ist das auch eine Beschäftigung, eines Schriftstellers
würdig?"
Kuno Varrenholz drehte seinen schwarzen Spitzbart und zwinkerte
durch seinen Kneifer. „Großstadtstudien machen," brummte er. „Famoser
Obseroationsposten hier. Na und Sie— Arbeitsthier? Wohin des Weges?
Stelldichein mit Feinsliebchen?"
Herbert wurde etwas verlegen, „~ffen gestanden, — ich bin sc»
auf's Gerathewohl in die Welt gelaufen. Es wollte mit der Arbeit heut
nicht so recht flecken."
„Kenne ich," meinte der Andere, behaglich kauend. „Fleckt bei mir
fast nie. Prosit!"
„Ein schwieriges Probten», wissen Sie. Ta muß man sich Zeit lassen,
innerlich ruhiger und reifer werden. Sonst ist's ja doch nur Pfuscherei."
Hm," machte der Schwarze. „Ganz mein Fall. Uebrigens — "
Er schlürfte sein Glas langsam leer. „Interessanter Stoff? Was? Er-
zählen Sie doch 'mal!" Als Herbert zögerte, fügte er verächtlich bei:
„Na, Sie glauben wahrscheinlich, ich könnt' Ihnen die Geschichte wegkapern?
Nicht? Na, haben Sie man blos keene Angst! Ich habe mehr Stoffe
vorräthig, als Haare aufm Kopf. Ich könnt' Ihnen im Gegentheil vielleicht
doch 'n guten Nath geben. In: Aussprechen wird man sich oft erst klar
über das, was man will und soll."
Herbert lächelte halb verlegen. Er wußte sehr gut, daß Kuno Var-
renholz dafür berühmt war, die „Collegen" nach ihren neuen Stoffen auf-
zuhorchen, und diese dann, wenn sie „ihm lagen", in Schnellarbeit vorweg
zu Verwertheu. Kein Mensch wollte ihm deshalb mehr Etwas erzählen, und
seitdem schrieb er fast Nichts mehr. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf
Neulinge im Fach. Plötzlich siel Herbert Etwas ein. Er erzählte Kmw
Varrenholz nicht seinen Roman, den er in Arbeit hatte, sondern seinen
eigenen Fall, wie wenn es sich da um einen Romanstoff handelte, —
natürlich nur in ganz allgemeinen Umrissen, unter veränderten Verhältnissen
und nur im Hinblick auf die eine, ausschlaggebende Frage: Tarf ein
Mann unter solchen Umständen seine Braut noch zu seiner Frau machen?
Es war doch immerhin höchst interessant, wie ein moderner Romancier
— denn das war Kuno Varrenholz und gar kein uubedeutender, im Gegen-
theil: einsehr scharfer, logisch analpsirender, durch und durch von moderner
Empfindungsweise durchträukter — über die Sache von seinem Stand-
punkt aus urtheilte. Es mußte ihn, einen sehr deutlichen Fingerzeig geben.
Anfangs hörte der Schwarze sichtlich mit gespannter Aufmel-ksamteit
zu. Nach einiger Zeit aber zeigte sich ein geringschätziges Lächeln auf seinen
In der Hochzeitsnacht. ~9
Lippen. Und schließlich unterbrach er Herbert mit einer abwinkenden
Handbewegung. „Aber lieber Herr, das ist doch kein modernes Problem.
Seien Sie gut!"
Herbett war sehr verblüfft, „Erlauben Sie 'mal! Line so ernste
Sache -"
„Ach, gehen Sie doch! Solche abgeklapperte Geschichte! Ueber so
'was zerbricht man sich die Köpfe heutzutage nicht mehr. Ne, ne, das ist
abgethan; das ist überhaupt kein modernes Problem. Damit locken Tic
keinen Hund vom Ofen. Antiguirte Sache."
Herbert wußte nicht mehr, was er sagen sollte, er war sehr kleinlaut.
„So 'was kommt aber doch vor," sagte er verschüchtert. „Heute auch noch."
„Na!" Der Andre lachte. „Das versteht sich. Erst recht. Aber
da nun längst feststeht, wie ein modern denkender Mensch so 'was auf-
nimmt, ist das eben kein Problem mehr, sondern 'n ganz vulgärer Durch-
schnittsfall."
„So!" Herbert warf dem Sprecher einen schrägen Blick zu. „Nun,
ich weiß doch nicht recht — Mein Held befindet sich gerade im höchsten
Zweifelsstadium. Aber er wird wohl schließlich doch alle Bedenken über-
winden nnd trotz alledem und alledem — "
„Natürlich wird er." Kuno Varrenholz brannte sich eine Cigarrette
an. „Wenn er 'n moderner Mensch ist, wohlverstanden. Denn sie könnten
ja auch 'n Waschlappen und gedankenlosen Jämmerling schildern wollen.
Sonst aber wird er sagen, daß solch' Mädel mit 'm sogenannten sittlichen
Defect für einen denkenden Menschen ganz genau dasselbe ist, wie 'ne
Witlwe oder 'ne geschiedene Frau. Hat er gegen so Eine keinen D^gout,
kann er auch hier seine moralischen Bedenken nur getrost zu Hause lassen.
Oder stehen Sie etwa auf dein Standpunkt von Standesamt und
Kirche? Das ist ja freilich ganz correct nach 'm alten Stiefel, aber für'n
tlartopfigen Menschen wird so 'was niit oder ohne staatliche Sanction nicht
besser und nicht schlechter. Im Gegentheil: so' was ans Liebe zu thun
ohne standesamtliche Registratur ist jedenfalls viel moralischer, als ohne
Liebe, mit hoher, obrigkeitlicher Erlaubniß. Woraus zn folgern ist —
Donnerwetter! Sie sind ja ganz roth geworden, College. Ich sag' Ihnen
da doch hoffentlich nichts Neues?"
„Nein, nein," machte Herbert gedehnt und versuchte, überlegen zu
lächeln. „Natürlich nicht. Alter Kram. Standesamt und Kirche können
keine Ehe sittlich machen, die Hauptsache muß da noch erst hinzukommen.
Und andererseits kann auch ohne Ehe — Ja, es kommt immer auf den
Einzelfall an. Aber natürlich: ein Problein liegt da nicht vor, — von
einem modernen Problem kann gar keine Rede sein. Ich dank' Ihnen,
lieber Varrenbolz. Wissen Sie, wenn man seinen Kopf so mitten in die
Arbeit hineinsteckt und löffelt und löffelt immerfort daran herum, verliert
man schließlich ganz den freien Blick über den eigentlichen Kernpunkt der
20 iloniad Telmann in Rom.
Sache, Und meistens ist der so einfach, — so spotteinfach. Es ist die
Geschichte von dem Walde, den man vor lauter Bäumen nicht sieht."
„Ja, wenn Sie weiter Nichts vorhaben — " Varrenholz blies kleine,
blau-graue Ringelchen in die Luft. „Den Roman würd' ich ungeschrieben
lassen. Der kommt um ein viertel Säculum zu spät. Aber sonst vielleicht
'was auf Lager? Hm?"
„Leider nein. Garnichts." Herbert stand auf. „Ich dank Ihnen
nochmals. Ich hält' da leicht einen taux p»3 machen tonnen. Adieu."
„Sie wollen schon fort?"
„Eine Verabredung, ja. Sie wissen ja: ein Verlobter Mann, —
Weiberdienst geht da vor Herrendienst."
„Ja, richtig. Und heirathen bald?"
„In allerkürzester Zeit. Auf Wiedersehn!" Er winkte lächelnd mit
der Hand uud ging.
Als er auf's Gemthewohl die Potsdamer Straße hinunterschlenderte,
— wohin er nnn sollte, wüßt' er garnicht, nur allein hatt' er sein wollen,
— sagte er tonlos zweimal vor sich hin: — „wie 'ne Wittwe oder 'ne
geschiedene Frau — " Mit einem Mal hatte er das erlösende Wort.
Dieser Varrenholz war im Grunde ein ausgesprochener Lump, aber Herbert
hätte ihm von Rechtswegen um den Hals fallen follen.
Dreimal vierundzwanzig Stunden waren nun vergangen feit dem Abend
im Ausstellungspark, und Gerda Lindheim hatte noch immer keine Nachricht
von Herbert erhalten. Sie sollte eben „zappeln". Herbert überlegte gar
nicht, daß sie ans dieser langen, über die Verabredung ausgedehnten Bedenk-
zeit nur einen Schluß auf seine haltlose Unentschlossenheit ziehen konnte, der
keineswegs günstig auf ihr Gesammturtheil über seinen Charakter wirken
mußte. Er wollte sie um keinen Preis merken lassen, daß er längst ent-
schieden war, noch weniger natürlich, wer und was eigentlich den Ausschlag
gegeben hatte. Sie sollte nicht denken, daß er die Sache leicht nahm und
rasch damit fertig war. In Wahrheit war dies auch gar nicht der Fall. Er
hatte im Gegentheil unabläfsig weiter daran zu schlucken und zu würgen. Trotz
Allem und Allem wollte es ihm gar nicht eingehen, daß seine Braut
Was nützten ihm da alle anderen Schlagworte und brüchigen Sophiste-
reien? Natürlich, ja, man mußte sich nicht d'ran kehren, man mußte als
moderner Mensch die Sache vom modernen Standpunkt aus betrachten, und
er vor Allem — gerade er — durfte nicht „correct", „nach'm alten Stiefel"
sich resoluiren. Alles gut und schön. Und es lebte auch wirklich kein
Zweifel mehr in ihm. Aber eine abscheuliche Sache blieb es deshalb doch.
Erst das Factum selbst und dann ihre Verheimlichung — Pfui, nein, das
verwand sich nicht so leicht. Innerlich gewiß nicht, wenn man auch äußer-
lich thun mußte, als hätte das Alles nicht viel zu sagen. Wer konnte gegen
I» der H«chzei!«nacht. 2~
seine )latur? Der Grimin und Groll über das Geschehene blieb bestehen,
der lies; sich nicht ausrotten, der fraß innerlich immer weiter. Verbergen
konnte man ihn, aber besiegen, verscheuchen, — nein, unmöglich. Das
war nun einmal, wie es war.
Mit der Zeit begann Herbert sich auf seine Selbstüberwindung immer
mehr einzubilden. Er sonnte sich förmlich darin. Es war doch wirklich
etwas Großes, was er that, hier klaglos und vorwurfslos zu verzeihen.
Nicht Jeder hätte es ihm nachgemacht. Aus seinen Kreisen — den ursprüng-
lichen Kreisen — nun sicherlich schon Niemand. Ja, er war eben ein
freier Mensch, er hatte sich losgemacht von allem Eonventionellen, er gewiß,
— so schwer das gerade ihn« geworden war/ Es war nicht abgegangen
ohne viel Weh und Herzeleid. Aber nun hatte er auch wirklich Grund, mit
sich zufrieden, ans sich stolz zu sein. Einer von jenen modernen Märtyrern
war er, die die Zeit gebar und die an der Wende eines neuen Zeitalters
standen, um für die kommenden, freieren Menschen mit zu leiden und zu
entbehren.
Am Abend des dritten Tages schrieb Herbert folgenden Brief an
Gerda!
„Geliebte!
Ich habe entschieden. Du wirst mein Weib werden trotz Allem. Von
der Stunde unseres Wiedersehens an wird nicht mehr von dem Geschehene»
zwischen uns die Rede sein, nicht wahr? Nein, mit keiner Andeutung.
Darauf bestehe ich, das ist geradezu meine Bedingung. Es soll Alles sein,
als wäre jenes Wort nie gesprochen, jene schwere Entscheidung nie an mich
herangetreten. Wir wollen es auslöschen uud vergessen. Es ist abgethnn.
Nur darfst Du um deswillen nicht glauben, daß es mir leicht geworden
wäre. Bei Gott, nein, Gerda. Ich bringe Dir ein Opfer meiner innersten
Ueberzeugungen. Du hast nicht recht an mir gehandelt. Aber danke mir
nicht dafür, — wenigstens nicht mit Worten. Komm' gar nicht mehr auf
dies Traurige und Peinliche zurück! Danke mir höchstens durch Dein Ver-
halten. Heute sind Deine Papiere endlich bei nur eingetroffen. Morgen
früh gehe ich zum Standesamt, um den Aushang zu veranlassen, und dann
komme ich zu Dir. Vis dahin schließe ich Dich mit ernster Ergriffenheit
in meine A>me. Mir ist, als hätte ich Dich neu errungen und gewonnen.
Dein Herbert."
Am nächsten Tage, um die für seine früheren Besuche üblich gewesene
Nachmittagsstunde, ging Herbert zu Gerda. Ersah blaß und angegriffen
ans. Nachts hatte er vor Zahnschmerzen, an denen er manchmal litt, die
er aber nie eingestand, weil er das für ein mannesunwürdiges Leiden hielt,
wenig geschlafen. Auch der Gang vorher zun, Standesamt mit smiem Zu-
behör von lästigein Warten und Herumstehen hatte ihn ermüdet. Diese
Leidensmiene kleidete ihn aber gut, was er selbst sehr genau wußte, uud
sie war ihm gerade jetzt recht. Er war sehr gehalten in seinem Wesen,
22 Uonrao lüelmann in Rom,
eme gewisse gedainpfte Schwermut!) lag über ihm ausgegossen. In Allein,
vom jeweiligen Zücken seiner Mundwinkel bis zu dem leisen, etwas singenden
Ton, in den, er sprach, die Stirn leicht gesenkt, das Auge bohrend auf
immer den gleichen Gegenstand gerichtet, prägte sich's aus, daß hier ein
großer Schmerz männlich zu Ende gerungen sei. Er hatte Gerdas beide
Hände ein,: kleine Weile mit kräftigem Druck umschlossen gehalten und dann
wortlos ihre Stirn geküßt. Sprechen konnte er eine Zeit lang gar nicht;
als er's that, sprach er von gleichgiltigen Dingen.
Gerda ihrerseits war voller Jubel. Man sah ihr freilich Nichts davon
an, daß sie gelitten habe od:r auch nur in schwerer Sorge gewesen sei,
in ihren strahlenden Mienen sprach sich Nichts von irgend welchem Hangen
und Bangen ans; aber gerade das Ueberwallende in ihrem Glücksgefühl
jetzt schien von den früheren Zweifeln zu reden. Es war sogar hin und
wieder etwas Uebermüthiges in ihrem Lachen, wenn sie auch in sich nur
hinein lachte, um bei Herbert keinen Anstoß zu erregen. Man konnte bei-
nahe argwöhnen, daß ihr irgend Etwas im Grunde sehr komisch bei diesem
Allen erschien, — ob seine etwas gemachte Schmerzenshaltung oder sonst
Etwas, blieb unaufgeklärt. Jedenfalls hielt sie das Versprechen, mit
keinem Wort auf das zurückzukommen, was zwifchen ihnen gestanden hatte,
und es war, als sei Alles beim Alten. Arn, in Arm gingen sie zusammen
spazieren, — ohne Begleitung der Tante; das erschien jetzt selbstverständlich,
von der war überhaupt nicht mehr die Rede.
Nach der schweren Krise schien das Verhältniß zwischen den Beiden
gefesteter zu fein, als vorher. Herbert verharrte freilich bei der etwas
schwermüthig-gemessenen Haltung, die er seiner Braut gegenüber eingenommen,
aber er war von zarlerer Rücksicht gegen sie, als früher, und vermied den
schulmeisternden Ton von sonst fast völlig. Er schien jeder Möglichkeit eines
neuen Conflicts ängstlich aus dem Wege zu gehen. Es machte so etwa
den Eindruck, als ob er Gerda und sich als zwei vom Schicksal gezeichnete
Leidgenossen betrachtete, die fest zusammenhalten und sich das Leben nicht
selbst noch schwerer machen mußten, als es olmehin schon für sie war.
Gerda selbst war dankbar, gefügiger, als sonst, und immer voll heiterer Zu-
friedenheit. Die Genugthuung über etwas Wohlgelungenes leuchtete aus
ihrem Wesen.
Herbert kam sich eigentlich mit jedem Tage braver vor. Es verging
keiner, an dem er nicht das, was er gethan, vor sich hätte aufleben
lassen, um sich darin zu spiegeln. Er betrachtete sein Bild, wie es aus
seiner Handlungsweise hervortrat, mit wachsendem Wohlgefallen. Ja, er
war eigentlich ein ganzer Kerl. Wenn das ein Anderer über sich vermocht
und fertig gebracht hätte. Einer, der aus anderen Kreifen hervorgegangen,
in anderen Anschauungen groß geworden war, mochte es ja nicht viel be-
deuten. Leichtsinn, Gedankenlosigkeit, Verständnißlosigkeit und was Alles noch
konnte der Grund dafür fein. Man konnte ja auch einfach Gerda, die ja
In der Hochzeitsnacht. 23
ein reizendes Geschöpf war, nicht haben verlieren wollen. Oder man hatte
nicht den scharf ausgeprägten, männlichen Ehrbegriff, der ihm in der Brust
wohnte, und das natürliche Selbstbewußtsein, den natürlichen Wunsch, der
Erste und Einzige zu sein. Bei hundert Anderen hätte das Alles also nicht
viel zu sagen gehabt. Bei ihm aber
Täglich hatte er noch neu zu kämpfen, täglich stieß ihm das Unge-
heuerliche neu wieder auf. Der reiche, schöne Mann, der Sohn eines
jener „fürstlichen" Kaufleute, er, der jede Frau hatte sein nennen können,
— und begnügte sich nun mit der, die ihm nicht mehr das einzige Gut
einmal entgegenbrachte, über das doch die Armseligste ihrer Schwestern
verfügt, und das der armseligste Mann als etwas Selbstverständliches, Un-
ersetzbares beansprucht! Das war etwas Großes, es war eine That.
Darin konnte er immer mit Recht wühlen, das durfte ihn wahrlich stolz
machen.
Und nur um so mehr, weil er sich äußerlich gegen Niemanden dessen
rühmen konnte, nie auch nur andeutungsweise davon überhaupt sprechen
durfte. Gerda gegenüber wäre ihm das tactlos und unzart vorgekommen,
— sie sollte ja auch gar nicht wissen, wie schwer ihm das Geschehene
geworden, und sollte die ganze Tragweite, die ganze Bedeutung seines
Entschlusses nicht ermessen. Bei Anderen verbot es sich ohnehin von selbst.
Was Wunder aber, daß er nun um so selbstgefälliger sein eigenes Bild
betrachtete, sich an diesem Bilde gewissermaßen berauschte? Welche Selbst-
bezwingung, welch' Freiheitsempfinden, welche Leidensentschlossenheit doch in
dem Allen! Ja, er war ein ungewöhnlicher Mensch. Und daß er dies
Bewußtsein hatte, haben durfte, das allein ließ ihn sich in das Unabänder-
liche so ohne Klage nnd ohne Vorwurf finden, das gab ihm Geltung, Kraft
und Ruhe. Es stimmte ihn sogar milde gegen Gerda, denn er sagte sich,
ohne sie und ohne ihren Fehltritt würde er nie Gelegenheit gehabt haben,
sich vor ihr und vor sich selber in seiner ganzen Größe und in seinem
ganzen Heroismus zu zeigen.
So vergingen die Wochen bis zum Hochzeitstage den Neiden in so
ungetrübter Harmonie, wie es sonst vermuthlich nicht der Fall gewesen sein
würde. Denn auch Gerda blieb weich gestimmt; für sie lag etwas Rührendes
in diesem gelassenen, schmerzverbeißenden Wesen Herberts. „Er ist doch
wirklich ein guter Kerl," dachte sie immer wieder, „was bedeutet daneben
das bischen Verschrobenheit?" Es kam zu gar keinem Wortwechsel, zu gar
keiner Verstimmung mehr zwischen ihnen.
Die Hochzeit sollte ganz in der Stille gefeiert werde». Herbert war
mit seinen Verwandten, obgleich sie gar nicht ahnten, was für Eine er in
Wahrheit zu seiner Fran machen wollte, schon längst wegen seiner Berufs-
wahl und wegen seiner Heirath zerfallen. Er galt als „aus der Art ge-
schlagen", man achselzuckte über ihn. Nahestehende Freunde hatte er kaum,
und Gerdas Anhang reizte ihn nicht. Es entsprach übrigens auch ihren
2H llonrad Telmaon in A«m.
Wünschen durchaus, ohne viel Gepränge seine Frau zu werden. Die kirch-
liche Trauung, die ihm Anfangs als etwas Unvermeidliches erschienen war,
hatte sie ihm glücklich ausgeredet; er sah schließlich selbst ein, daß sie in
ihrem Falle eine jener zahllosen „correcten Lügen" gewesen wäre, von
denen es im Leben der „gut bürgerlichen" Gesellschaft wimmelte. Nur
bezüglich der Hochzeitsreise kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen
ihnen. Sonderbarer Weise bestand Gerda darauf, obgleich Herbert gerade
dies für Schablonenthum ohne jeden tieferen Sinn und Zweck erklärte.
Gerda wollte nun einmal fort. Für acht, für vierzehn Tage, und gar nicht
weit weg, aber in keinem Fall in Berlin bleiben. Endlich gab er nach.
Er sagte sich, daß es Eineni, der das über sich gebracht, was er, nicht
schwer fallen könne, einer kleinen Grille zu weichen. Eine kleine Erholung
würde übrigens auch ihm gut thun; er hatte in der letzten Zeit ziemlich
angestrengt gearbeitet, und die seelischen Erregungen, die er durchgemacht,
zehrten sichtlich an ihm. Es kam hinzu, daß sein Roman immer mehr
Ähnlichkeit mit seinen eigenen Schicksalen und Erlebnissen gewann. Das
war ihm zugleich eine Befriedigung ~ es zwang ihn geradeswegs dazu —
und ein dauerndes Bohren und Wühlen in seinen eigenen Wunden. Es
zehrte an seiner Lebenskraft. Aber irgendwie hatte er sich doch äußern
müssen. Und nun brauchte er wirklich eine Erholung, er war nervös ge-
worden.
Man beschloß, am Hochzeitstage nach Hamburg zu fahren, von dort
anderen Tages nach Helgoland. Das Hochzeitsdiner in einem öffentlichen
Local, unter Assistenz von allerlei Menschen, denen man die Ehre hatte
anthun müssen, ohne ihnen irgendwie nahe zn stehen, verlief ziemlich steif.
Es waren da sehr heterogene Elemente zusammengekommen, und man fand
sich nicht recht zusammen. Erst gegen den Schluß hin wurde es animirt;
der vorzügliche Champagner that da seine Wirkung. Nun drohte die
Stimmung aber auch gleich iu's Allzuheitere umzuschlagen. Unter den
Bühnen-Elementen waren Einige, die anfingen, sich in burschikosen An-
spielungen zu ergehen nnd Reden zu imvrovisiren, die schon nicht mehr
zweideutig waren. Es lief natürlich Alles auf den einen Punkt heraus:
„Mit dem Gürtel, mit dem Schleier" — Herbett hielt es schließlich nicht
inehr aus. Was wußten diese lustigen Trinker freilich davon, in was für
nie verharschenden Wunden das Alles bohrte und wühlte! Er brach auf,
ohne Abschied ging er mit Gerda davon. Eine Stunde später waren sie
auf dem Lehrter Bahnhof, und bald darnach rasselten sie in einem Coupö
erster Klasse allein im Schnellzuge nach Hamburg.
Gerda legte sich sofort mit dem Kopf in die Kissen und schloß die
Augen, Sie war sehr müde, eine wohlige Abgespanntheit löste ihre Glieder.
Dabei lächelte sie, mit jenem stillen, siegbemußten Lächeln, das er ans der
letzten Zeit an ihr kannte und das ihm immer sagen zu wollen schien:
„Siehst Du wohl, daß Du ohne mich nicht sein kannst? Und wenn ich
In der Hochzeitsnacht. 25
noch tausendmal Schlimmeres begangen hätte, als das, — Tu bliebst mir
doch verfallen! Es hatte ihn schon früher manchmal aufgeregt, ihn zum
Widerspruch gereizt, dies Lächeln. Und jetzt — Er war ohnehin fehr nervös
durch das Hochzeitsdiner geworden, an dem ihm eigentlich Alles mißfallen
hatte, das ihn in dauernder Uuruhe gehalten hatte. Er begriff gar nicht,
wie Gerda schlafen konnte — oder wenigstens so thun, als ob sie schliefe.
Und dazu dies Lächeln! Wenn sie wenigstens stumm feine Hand in der
ihren gehalten hätte! Ahnte sie denn gar Nichts von dem, was jetzt, gerade
jetzt wieder vor ihn: heraufstieg, in ihm gährte und ihn folterte? Wäre
es nicht natürlich gewesen, wenn sie ihm jetzt Worte des Dankes, der An-
erkennung, der Bewunderung gesagt hätte? Begriff sie denn nicht, daß
er seit jener Krise innerlich ein Anderer geworden war, daß ein ganzes
Leben sich darnach umgestaltet hatte, und hätte sie ihm nicht aussprechen
müssen, daß auch sie stolz auf ihn war, wie er auf sich selber?
Erst, als der rastlos jagende Zug auf dem Berliner Bahnhof in Hamburg
hielt, schlug Gerda die Augen auf. Herbert war fehr verstimmt. Es
kochte Etwas in ihm. „Sind wir schon da?" fragte Gerda erstaunt. Er
bejahte kurz und herb. Sem Selbstbewußtsein bäumte sich auf, er fühlte
sich fehr gekränkt. „Es scheint Dir nicht gerade eilig zu sein," murmelte
er bitter. Sie lachte hell auf. „Lieber Kerl!" Sie strich ihm über die
Wange hin. Es war etwas so herablassend Gutmüthiges in Ton und Be-
wegung, daß es ihn eher noch mehr aufstachelte, als daß es ihn besänftigte.
Sie schien ihm sagen zu wollen: „Ach, so einem guten Jungen, wie Dir,
kann man ja doch Alles bieten, — versteht sich." Mit dieser Empfindung
verließ er das Coup»'! und half ihr aussteigen.
Sie fuhren iu den „Hamburger Hof". Unterwegs hatte Gerda nur
Worte der Bewunderung für die sternklare Milde des Sommerabends „hier
oben im Norden", für den Lindenblütheuduft, der überall die breiten
Avenüen durchwogte, für die sich drängenden Menschenmassen auf den
Straßen nnd endlich für das prächtige Stadtbild am Alsterbassin. Sie
war in der strahlendsten Laune, sie fand Alles fchöner und großartiger, als
in Berlin. Im „Hamburger Hof" hatte Herbert die Zimmer uorausbestellt.
Vom Balkon ihres lururiös eingerichteten Salons im ersten Stock hatten
sie die Aussicht frei über die Alster-Quais. Gerda konnte sich von dem
Anblick garnicht losreißen. Als Herbert sie fragte, was sie am liebsten
noch nehmen wolle, bevor sie zur Ruhe gingen, schlug sie vor, noch auszu-
gehen, zu bummeln, drüben im Alsterpavillon nachher eine Erfrischung zu
nehmen. „Eine köstliche Idee, nicht?" Sie klatfchte in die Hände vor
lauter Ausgelassenheit.
Herbert wußte uicht recht, ob sie fcherzte oder im Ernst sprach. Jetzt
noch ausgehen, während er — Ja, war sie denn von Stein und Eisen?
Oder wollte sie die Stunde nur absichtlich hinausschieben, wo er noch ein-
mal wieder peinvoll mitten in allen Wonneempsindungen daran erinnert
26 Roniao Celmann in Rom.
werden mußte, das; — er nicht der Erste war? Oder war das Alles Schani,
Angst, kokettes Spiel? Er wurde nicht klug daraus. Er fieberte bereits,
es hämmerte ihm in den Schläfen, das Vlut drängte sich ihm in den Kopf,
während ihm kalte Schauer über Nacken und Nucken herabrieselten. Seine
Nerven waren wirklich in einer unleidlichen Verfassung. Aber Gerda that
denn auch wahrlich das Ihrige dazu, ihn wild zu machen. Es mußte nun
einmal ein Ende haben.
„Nein, wir gehen nicht mehr aus," sagte er mit einer eigenthümlich
heiseren Stimme, „heute Abend nicht mehr. Entscheide Dich, was Du noch
nehmen willst. Aber bald, bitte, bald!"
Seine Hand krallte sich fast in ihren Arm ein, seine Worte preßten
sich zwischen den Zähnen hervor, in seinen Augen glühte es irr auf. Gerda
wurde unruhig. Ihr Lachen klang etwas unnatürlich, ihre Finger zuckten,
mährend auf ihrem Gesicht die Nöthe in Secundenhast kam und ging.
„Mein Gott, Du thust mir weh, Herbert. Meinetwegen! Bleiben
wir! Du kannst mir das ja in anderein Tone sagen. Bestell' nur, was
Du willst! Mir ist Alles gleich. Hunger Hab' ich noch gar nicht wieder.
Und müde bin ich auch nicht, gar nicht — " Sie lachte ihm, während ein
paar echte Thränen an ihren Wimpern perlten, schon wieder spitzbübisch
in's Gesicht.
„Dn hast ja auch im Eouv6 die ganze Zeit geschlafen," sagte er in
empfindlichem Ton, während er dem Kellner schellte.
Dann aßen und tranken sie noch Etwas. Aber es geschah ohne alle
Lust, und sie warfen sich über den Tisch weg hin und wieder scheue Blicke
zu. Die kleine Mahlzeit wollte kein rechtes Ende nehmen. Als der
Kellner zum Abräumen kam, knupperte Gerda immer noch an ihren Früchten
umher. Dann wollte sie wieder auf den Balcon hinaus. Nun wurde
Herbert aber ärgerlich und schloß klirrend die Thür.
„Zu Bett! Jetzt geht's zu Nett!"
Draußen war das Nachtleben schon fast verstummt.
„Gute Nacht also!"
Sie stand vor ihm, zwinkerte ihn mit halb geschlossenen Augen an,
reichte ihm mit einer matten Bewegung die Hand und schien sich ihm in
der nächsten Secunde an die Brust legen zu wollen.
Er verstand das Alles aber nicht recht. Sollte das Spott sein?
War's wieder nur ein Spiel, um ihn zu reizen? Es berührte ihn unbe-
haglich.
„Geh' nur voraus," murmelte er, „ich komme gleich nach."
Und dabei drehte er sich um. Was zum Teufel war denn das? Er
wurde ja ganz roth. War er denn ein Kind? Sein Benehmen war in
jedem Fall das eines Knaben, — unerhört albern.
Als er sich wieder umwandte, so ärgerlich über sich selbst, daß er mit
dem Fuße hätte aufstampfen mögen, war Gerda schon hinaus. Die
— In der kiochzeit3nacht, 2?
Portiere, die das Schlafzimmer von, Salon trennte, bewegte sich noch leise.
Er warf sich in einen Sammetsessel. Wie sein Herz klopfte! Und dies
Ticken und Hämmern in den Stirnadern! Der Athem wurde ihm ordentlich
knapp. Wenn nur die Minuten etwas rascher hätten hingehen wollen!
Konnte er jetzt schon — ? Wie weit mochte sie — ? Er horchte. Er
spannte alle seine Sinne an, um Etwas zu vernehmen, das leiseste Geräusch,
ein Knistern und Knittern von fallenden Kleidungsstücken — Nein, er hörte
Nichts. Das Blut sauste und sang ihm viel zu laut in den Ohren, sein
Herz schlug viel zu stürmisch. Er muhte — Ja, nun mußte, wollte er zu
ihr hinein, gleichviel, wie weit sie — Ah!
Als er sich eben der Portiore näherte, mit rasch athmender Nrust, mit
langen, schleichenden Schritten, die Hände etwas vorgestreckt, theilte sie sich
auseinander, und Gerda erschien im Salon. Sie hatte ihr Oberkleid ab-
geworfen, hatte nackte Arme, war aber sonst noch ganz bekleidet. Nur ihr
Haar hatte sie sich gelöst, es hing ihr in langer, breiter Welle in den
Nacken hinab. Ihr Gesicht war heiß geröthet, aber ein Lächeln lag auf
ihren Lippen, — wieder dies überlegene, triumphirende Lächeln. Und in
ihren Augenwinkeln zuckte und zitterte es. Es war etwas Verhaltenes in
all' ihren Mienen.
„Was — was willst Du noch, Gerda?" stammelte er, halb erfreut,
halb verlegen zurückweichend. „Hast Du noch Etwas hier vergessen?
Ich — " Er benahm sich wirklich wieder wie ein dummer J unge. Er
wußte gar nicht, was er thun sollte. Warum ging er nun jetzt nicht wenigstens
auf sie zu, statt niit ihr zu schwatzen, riß sie in seine Arme — und —
„Du," sagte Gerda, und es klang ihm ans ihren Worten, wie ein
mühsam verbissenes, schadenfrohes Kickern an's Ohr, „ich muß Dir erst
noch 'mal 'was sagen, Herbert."
Und eh' er sich's versah, saß sie auf seinen, Schooß, ihre beiden Anne
umklammerten seinen Hals, nnd er athmete die Nähe ihres weichen, an ihn
geschmiegten Leibes ein.
„Gerda," murmelte er, „was — was denn?" Rothe Flecke tanzten
vor seinen Augen hin und her.
Da brach'sie plötzlich ans: „Es ist ja Alles Unsinn, Du, — verstehst
Du? Ich habe Dir das ja blos vorgeredet damals, um Dich auf die
Probe zu stellen. Ich bin gar keine Gefallene, Gott bewahre! Du wirst
der Erste sein. Es war Lug und Trug. Vlos wissen wollt' ich ja, ob Dil
mich wohl wirklich so liebtest, um das zu überwinden — so, wie ich's
brauchte, wie ich Dich wollte, verstehst Du — Und ob Du wohl wirklich
das „Eorrecte" gründlich abgethan hättest, denn sonst — weißt Du ~ Ich
war' ja gestorben vor langer Weile an Deiner Seite, radical zu Grunde
gegangen — So'n correcten Mann — na, begreif mal, das war doch
Nichts für mich. Na, und dann hast Dn die Probe ja glänzend be-
standen, mein Alterchen, — glänzend, — obgleich es ein bischen lange ge-
26 llonral» lelmann in Rom.
dauert hat und Du Dir das wahrscheinlich ein bischen schwer abgerungen
hast. Hast es natürlich wieder viel zu tragisch genommen, alter Pedant!
Na, die Hauptsache bleibt aber — Und nun wirst Du ja auch be«
lohnt -"
Das Alles strömte zwischen immer sich erneuerndem, übermüthigem
Gelächter von ihren Lippen. Manchmal warf sie sich vor Ausgelassenheit
sogar hintenüber, so ruckhaft, so ungebunden, daß er denken mußte, sie
glitte ihm von den Knieen. All' die sonst vor ihn: zurückgekämmte,
triumphirende Lustigkeit über diesen wohlgelungenen Streich, an der sie
zuweilen beinahe erstickt wäre, machte sich nun gewaltsam Luft. Sie konnte
sich gar nicht fassen. Sie lachte, lachte, lachte. So Etwas von Lachen
hatte Herbert noch nie erlebt. Und es klang schließlich gar nicht mehr
schön, sondern schrill und gellend, es war beinah' schon wie ein Krampf.
Und er selbst hatte immer noch kein Wort gesagt, geschweige denn in ihr
Lachen eingestimmt. Er rührte und regte sich gar nicht, er streckte nicht
die Hand aus, um sie zu halten, wenn sie fallen wollte. Wie erstarrt,
wie versteinert saß er da angesichts dieses Ungeheuerlichen.
Und er selbst fühlte ganz deutlich, daß Etwas in ihm erstarb, unter
ihrem Lachen hinschwand und erlosch nnd in seiner Vrust bestattet wurde.
Er wußte nicht, was es war, er machte es sich nicht klar, aber aufleben
konnte es sicherlich niemals wieder. Kalt, merkwürdig kalt pulsirte das
Vlut in ihm. „Lug und Trug!" klang es in ihm wieder. Sie selbst
hatte ja so gesagt. Alles das Lüge, — Lüge — Was ihn den schwersten
Kampf seines Lebens gekostet hatte, was umgestaltend auf sein Wesen und
Denken gewirkt hatte, was ihn innerlich losgerissen hatte von Allem, was
ihm bisher als heilig nnd unumstößlich gegolten! Lüge — Komödie!
Alles um Nichts, für einen Spaß, den sie sich mit ihm erlaubt, — für
eine Kurzweil, um ihr Stoff zum Lachen zu geben — Weil es fönst doch
gar zu langweilig war, das Leben mit ihm und für ihn! Komödie!
Wie ein ungeheurer Abgrund gähnte es ihn plötzlich an. Und da
drüben, jenseits des Abgrundes stand sie, dies herzlose, lachdurstige Weib,
das eine solche Farce mit dem Heiligsten gewagt, sie über sich vermocht
hatte! Und es führte keine Brücke dort Innüber. Komödie, das war's!
Alles Komödie i ihre Liebe sogar, — die vor Allem, — Nichts, als Komödie.
Mit einer Komödiantin halt' er sich eingelassen gehabt! lind nun — Wie
jammervoll stand er vor sich selber da, er, der so stolz auf sich, auf seine
unter Qualen errungene Verzeihung für sie und ihren Fehltritt gewesen,
— wie erbärmlich, wie lächerlich! Zum Popanz war er geworden, —eine
verächtliche, komische Figur, — Nichts weiter —
Ein heißer, wilder Zorn, eine unbezwingbare Wuth quoll in ihm auf.
Wenn er dieser Komüdiantendirne auch Alles hätte verzeihen können, das
nicht, — do.5 wahrhaftig nicht! Erdrosseln halt' er sie können um dieses
Einen willen. Und sie Inclite immer noch, lachte, wie über den tollsten
In der Nochzeltsnacht.' 29
Spaß, den es nur geben konnte. Sie konnte ja auch lachen. Jetzt hatte
sie ihn sicher. Wohlweislich hatte sie gewartet, bis sie ihn sicher hatte,
«he sie ihm eingestand — Und jetzt buhlte sie vor ihn« mit ihren nackten
Annen, ihrem losen Haar, ihrem verführerischen, schmiegsamen Leibe —
Ein ungeheurer Ekel faßte ihn an. Nein! Nein! Nein! Sie sollte
nicht zum Ziel kommen. Hatte sie ihn denn wirklich schon so sicher? Gab
es keine Rettung mehr? Keine vor der Selbsterniedrigung, — vor der
platten Lächerlichkeit? War er dieser abgefeimten Komödiantin verfallen mit
Haut und Haar?
Noch nicht — Sein ganzes Ich sträubte sich grimmig dagegen, bäumte
sich jäh auf. Noch nicht!
Und plötzlich hatte er Gerda von seinen Knieen herabgleiten lassen,
ihre Arme von seinem Halse gelöst. Und nun stand er vor ihr, starr,
blaß, hochmüthig, ohne jeden leisesten Ausdruck von Leidenschaft oder Be-
gehrlichkeit, ~- auch nur von Nachsicht — und sagte, sie mit kühler Ver-
achtung messend: „Also Komödie war das Alles? Nun, dann erlaubst Dn
wohl, daß ich meinerseits dieser Komödie nun für immer ei» Ende mache.
Mich gelüstet nicht nach Wiederholungen. Wir Beide passen nicht zu ein-
ander. Wie mit einem Blitzstrahl ist mir das jetzt erhellt worden. Und
deshalb — Lache Dich ungestört weiter aus, meine Liebe! Ich gehe —
Und ich gehe für immer. Lebe wohl!"
Er suchte nach seine»» Ueberzieher, warf ihn um die Schultern und
griff nach feinem Hnt. Gerda stand fassungslos da, das Lachen erstarb
ihr auf den Lippen, sie stierte ihn offenen Mundes an, wie einen Wahn-
sinnigen, „Dn gehst, — willst Dich von mir trennen, weil ich
weil ich noch rein bin? Du bist also -~ wahnsinnig?!" Sie kreischte das
letzte Wort heraus mit mild verzerrten, schreckensbleichen Mienen. Sie
brach fast zusammen unter der Wucht dieses Ungeheuerlichen, der Lontmst
zermalmte sie.
Er aber hatte seinen Cylinder aufgezwängt und verbeugte sich ganz
kühl, die Lippen zitternd von all' dem verhaltenen Grimm und Groll.
„Mein Anwalt wird alles Weitere zwischen uns ordnen. Wir sind ge-
schiedene Leute. Halte mich, wofür Du willst! Erlaube mir aber auch Dir
gegenüber das Gleiche. Gute Nacht."
Und die Thür des Zimmers fiel hinter ihm zu, Gerdas Aufschrei
mit ihrem knarrenden Geräusch übertäubend.
Fürst Chlodwig von Hohenlohe-5chillingsfürst,
Ranzier des Deutschen Reiches.
Line Gebens- und ~haraktersrizze.
von
Geuhard Ternin.
— Varmstaob. —
^hlodwig Fürst uon Hohenlohe-Schillingsfürst entstanunt einein
alten vornehmen Geschlecht. Es giebt wenige Fürsten, nament-
lich solche, die keine Krone tragen, welche von älterer Abkunft
wären als der gegenwärtige deutsche Reichskanzler. Ein kurzer Mckblick
ans seine Vorfahren wird dies darthun.
Das Haus Hohenlohe leitet seinen Ursprung ab uon Gisbertus,
Herzog von ^stfranken, der ein Sohn des Herzogs Chlodwig uon Franken
war und im Jahre 688 den christlichen Glauben annahm. Gisbertus'
Sohn — Kunibert — wurde erster Graf uon Rothenburg (-f- 710).
Diese Thatsache erhielt für den jetzigen Fürsten Hohenlohe dadurch eine
besondere Bedeutung, daß die Nothenburgschen Besitzungen später als
Erbschaft unvermuthet an seine Familie kamen. Der eigentliche Stamm-
vater der Fürsten von Hohenlohe mar jedoch „Hermann der Durch-
lauchtige", welcher sich mit der Wittwe des Herzogs Heinrich von Franken,
Adelheid, der Mutter des Kaisers Konrad IL, in zweiter Ehe vermählte.
Neider Sohn, Eberhard (etwa 1042), änderte den Namen Rothenburg
nach der Dheilung mit seinen Brüdern und nannte sich nach dem über-
nommenen Schlosse Hohenlohe. Siegfried, ein Sohn Eberhards, be-
gleitete den Kaiser Heinrich IV. auf der Reise nach Italien (1077), als
dieser nach Eanossa ging. Er war, was geschichtlich beglaubigt ist, einer
der entschiedensten Gegner des Papstes Gregor VII. So ist also der
Kampf mit den hierarchischen Uebergriffen der Römischen Eurie, welchen
Fürst Ehlodwig so ^entschlossen durchgeführt hat, ein fast tausendjähriges
Erbtheil seiner Familie. Der genannte Eberhard von Hohenlohe wurde
Fürst Chlodwig vo» liohenlohe>2chilling3fürst. 3~
von Heinrich IV. mit vielen italienischen Herrschaften belehnt und nannte
sich nach denselben 0c>wL8 c>6 Hltstlumm«, et liomauiol^ß. Er ging aber
nicht mit nach Canossa, sondern kehrte nach Deutschland zurück, wo später
(~!230) die Brüder Gottfried und Konrad alle Besitzungen theilten und die
beiden Linien „Hohenlohe-Hohenloh" und „Hohenlohe-Brauneck" gründeten.
Schon 1390 erlosch die letztere, auch die erstere zählte im Jahre 1407
nur noch einen Sprossen, Albrecht, der sich den« geistlichen Stande gewidmet
hatte. Um das Geschlecht nicht aussterben zu lassen, vermählte er sich nach
päpstlichem Dispens und brachte als ein sehr vertrauter Ruth des Kaisers
Siegismund die Hohenlohesche Familie zu hohem Ansehen. Während der
Negierung dieses Kaisers hat er beispielsweise ans seinen Besitzungen nicht
weniger als 255 Vasallen belehnt. Im Jahr 1553 wurden durch Grund-
theilung des Gesammtbesitzes die beiden noch jetzt blühenden Hauptlinien
— die Reuensteinsche (protestantische) und die Waldenburgsche (katho-
lische) — begründet; der letzteren gehört unser Fürst Chlodwig an.
Chlodwig Karl Victor, Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Prinz zu
Ratibor und Coruev, wurde am 31. März 1819 zu Rothenburg an der
Fulda als der zweite Sohn des Fürsten Franz Joseph und der Fürstin
Constanze, geborenen Hohenlohe - Langenburg, geboren. Unter sieben
Geschwistern hatte er noch vier Brüder: den Erbprinzen Victor Moritz Karl,
die jüngeren Brüder Prinz Philipp Ernst, Prinz Gustav Adolf, den
späteren sehr bekannten Cardinal nnd den Prinzen Const antin, später
k. k. General der Cauallerie und Oberhofmeister des Kaisers Franz Joseph
von Oesterreich. Da die Vermögensverhältnisse der Familie sich ver-
ändert hatten, auch keine Secundo-Genitur zu vergeben war, so mußte in
dem Fürstensohn sich bald der Gedanke regen, sich auf eigene Füße zu
stellen, eine tüchtige Bildung sich anzueignen und dein Adel seines Namens
dadurch Glanz zu verleihen, daß er sich durch Fleiß und Studium zu
beruorragenden Leistungen befähigte.
Er besuchte zunächst die Gymnasien in Ansbach und Erfurt und bezog
dann, mit Kenntnissen wohlcmsgerüstet, die Hochschule. In Heidelberg,
Göttingen und Bonn studirte er die Rechts- nnd Staatswissenschasten nnd
wurde im J ahre 1841 — also im Alter von 22 J ahren — als Auscnl-
tator bei dem Gericht in Chrenbreitstein, sodann als Referendar bei der
Regierung in Potsdam beschäftigt. In diesen Lehr- und Wo.ndcrio.hren
war er eifrig beflissen, sich tüchtige Fachkenntnisse zn erwerben nnd seine
Prüfungen gut zu bestehen. Beides gelang ihm vortrefflich, obwohl die
gelehrten bürgerlichen Eraminatoren ihm das Fortkommen nicht gerade er-
leichterten, fondern im Gegentbeil den hocharistokratischen Candidaten der
Rechtsknnde sehr streng prüften.
Während fein älterer Bruder als Fürst, ja felbst Herzog in der großen
Welt erschien, trat auch für ihn ein wichtiger Wendepunkt in feinem
Leben ein. Das Haus Hohenlohe-Schillingsfürst hatte durch Testament
Nor» >mb 2,',K. I.XXV. 2?3. 3
32 Gebhard Zernin in Daimsladt,
des kinderlos verstorbenen Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Nothenburg eine
bedeutende Erbschaft gemacht und dabei auch die großen Herrschaften,
Natibor und Corvey erlangt. Der Erbprinz Victor Moritz Karl von
Hoheulohe trat die letztere an und wurde von König Friedrich Wilhelm IV.
gleichzeitig zum Herzog erhoben, während Prinz Chlodwig das zweite
ihm vom Landgrafen von Hessen vermachte Fideikommiß antrat und den Titel
eines Prinzen- vom Natibor und Corvey erhielt. Der fürstliche Besitz in
Bayern ging an den dritten Vruder Philipp Ernst über.
Als aber dieser im Jahre 1845 plötzlich und zwar ohne Erben starb,
sielen die in Bayern gelegenen Familiengüter an Chlodwig zurück, ein
Ereigniß, welches für seine Zukunft höchst bedeutungsvoll wurde, denn er
sah sich nun genöthigt, seine Beamtenlaufbahn aufzugeben und die Standes-
herrschaft Schillingsfürst in Mittelfranken zu übernehmen. Am 12, Februar
1846 — alfo 27 J ahre alt — war er das fürstliche Haupt einer der vor-
nehmsten standesherrlichen Familien Bayerns geworden und wurde als
erbliches Mitglied in die Kammer der bayrischen Neichsräthe eingeführt.
Damit begann seine öffentliche Wirksamkeit in einer Stellung, die sowohl
seiner Herkunft, als auch den erworbenen Kenntnissen und Erfahrunaen
entsprach, und die ihn von Erfolg zu Erfolg führen sollte.
Nun war es ihn» beschieden, die in langeil entsagungsreichen Jahren
gereiften Früchte zu genießen, das Erlernte und Durchgearbeitete zur prakti-
schen Anwendung zu bringen und im Interesse seines ihn: stets am Herzen
gelegenen Heimatlandes zu verwerthen. Bisher war er ein tüchtiger, aber
nicht immer einflußreicher Beamter gewesen; nun trat das Ansehen seines
fürstlichen Standes zu den persönlichen Vorzügen: er wurde eine Persönlich-
keit von stets wachsender Bedeutung.
Nachdem die äußeren Verhältnisse des Prinzen Chlodwig sich so
glänzend gestaltet hatten, dachte er auch an die Begründung einer Fannlie.
Am 16. Februar 1847 vermählte er sich, nicht ganz 28 Jahre alt, mit
der Prinzessin Marie von Sayn-Wittgenstein aus dem Hause Berle-
burg, einer ebenso geistvollen wie liebenswürdigen Dame. Dieser Seelenbund
war eine Folge der reinsten gegenseitigen Neigung und beglückte daher
beide Theile auf das Innigste. Die Prinzessin war eine groß angelegte
Natur, die Kopf und Herz auf dem nchtigeu Flecke hatte. An den viel-
seitigen Bestrebungen ihres Gemahls nahm sie den regsten Antheil und
verstand es, seine Vertraute zu werden und zwar in so hohem Grade, wie
das ein großes und tiefes Fraueugemüth immer zu erreichen versteht, wenn
die beiderseitigen Seelen gleichgestimmt sind. Sic ist ihm auf seinem ganzen
Lebenswege eine treue Gefähriin und die beste Freundin geblieben.
Der junge Neich-nath sollte aber auch schon frühzeitig mannigfache
Kämpfe auszufechten bekommen, Streitigkeiten der verschiedensten Art, oft
mehr oder weniger hartnäckiger Natur. Zunächst war es die östeneichisch-
nltmuwntane Politik der l'eiden Ministerien Echrenck und von der
Fürst Chlodwig von Hohenlohe-3chilling5fnrst. 33
Pfordten, gegen welche der mit einem weiten staatsmannifchen Blick
ausgerüstete Prinz entschlossen auftrat. Dann waren es Mißbrauche und
veraltete Einrichtungen überhaupt, welche ihn veranlassten, Front gegen
sie zu machen und einem vernünftigen Fortschritte möglichst die Wege zu
bahnen. Hierdurch machte er sich freilich zuerst bei seiuen Standesgenossen
nicht beliebt, er wurde selbst mit dem zweifelhaften Titel eines „Volks-
freundes" belegt, doch als das Jahr 1848 mit feiner freieren Bewegung
herbeigekommen war, gewann er fehr bald allgemeine Anerkennung dafür,
daß er das, was als richtig in den Forderungen der Zeit zugegeben
werden mußte, vorausgesehen und empfohlen hatte.
So kam es denn auch, daß der junge Reichsrath an den Berathungen
über das Ablöfungsgesetz in der Kammer thätigen Antheil nahm, welches
den Uebergang Bayerns vom ehemaligen Feudalstaate zum zeitgemäßen
Rechtsstaate besiegelte. Es gelang damals, ohne Verletzung berechtigter
Ansprüche und in durchaus gesetzmäßiger Weise jene wichtige Unigestaltung
vorzunehmen, die so gut gelang, daß selbst in der späteren Renctions-
Periode nicht einmal der Versuch ihrer Anfechtung gemacht wurde. Und
das war hauptsächlich das Verdienst des Prinzen Ehlodwig von Hohen-
lohe. Dieser gab auch durch sein persönliches Verhalten ein durchaus
uneigennütziges Beispiel, indem er, als einer der ersten bayerischen Standes-
herren, in der Ablüsungsfrage unaufgefordert Opfer brachte und hierdurch
feine Genossen zur Nachahmung vercmlaßte. So kam es denn, daß, wenngleich
im Jahre 1848 mit manchen verrotteten Zuständen in Bayern aufgeräumt
wurde, mau doch stets das Maß zu halteu verstand, so daß dieser Staat der
einzige blieb, in welchem eine Octroyirung in der sonst nirgends ausgebliebenen
Reactions-Periode sich als durchaus nicht nothwendig herausstellte.
Ein scharfer Beobachter der politischen Zustände Bayerns aus der
Zeit der deutschen Befreiungskriege bis zum Jahre 1870 entwirft von den-
selben folgendes Bild: „Die Metamorphose, welche die Cabinets-Politik
und die Regierungs-Marimen Bayerns von 1816 bis zum Schluß des
Jahres 1872 erlitten, ist sehr kaleidoskopisch uud bewegt. Vier deutliche
Phasen zeichnen sie aus und geben der Zeit ihr Gepräge. Von 1817 bis
1837 ist die Epoche des stauen Schein-Constitution alismus. Von 1837,
mit dem Regiment Abel beginnend, und Ende 1848 mit dem Labinet
Bray-Ringelmann schließend, tritt die innere Krisis Bayerns ein.
1849 begann mit der Reactions-Epoche unter von der Pfordten, um
mit Bayerns äußerer und schwerster Katastrophe 1866 zu enden. Die
letzte Phase begann das Cabinet Hohenlohe und schloß mit dem deutschen
Kaiserthum, der Reichseinheit und dem Anfange des klerikal-politischen
Kampfes der Jetztzeit^)." Dieser Schlußsatz deutet bereits den wichtigen
*) Man vergleiche „Tic Männer der neuen deutschen Zeit, von
N. E. Billchvoacl," 3. Band, S. 170. Diesem Werke, das nach offenbar sehr nuten
3«°
3H Gebhllld Sernin in varmstadt.
Wendepunkt an, welcher in der Lebensstellung des jungen Neichsraths ein-
treten sollte, und auf welchen mir demnächst näher einzugehen haben.
Zwei Jahre hindurch hatte Prinz Chlodwig seine warnende Stimme
erhoben, doch war sie ungehört verhallt, man hatte ihn verkannt und sogar
beargwöhnt. Da kam das Jahr 1848: König Ludwig I. trat freiwillig
von der Regierung zurück, und in ganz Deutschland brachen Unruhen aus.
Die damals, geschaffene deutfche Centraigewalt in Frankfurt n.M., welche
die ernsten Bestrebungen des Prinzen Chlodwig wohl erkannt hatte, wandte
ihre Aufmerksamkeit auf ihn: er wurde zu ihrem Gesandten in Athen, Florenz
und Rom ernannt. Gern folgte er einem fo ehrenvollen Rufe und begrüßte
in Athen die dortigen Deutschen mit einer so deutsch-nationalen Nede, das;
diese wegen ihres lange nicht vernommenen Tones in ganz Europa wider-
hallte. Das Reichsministerium gab ihm den Auftrag, von Griechenland
nach Gaüta zu gehen, wohin Papst Pius IX. geflohen war. Ueberall that
der thalkräftige Prinz seine Schuldigkeit im Interesse seines deutschen Vater-
landes; doch lehnte er das Portefeuille im Ministerium ab, das ihm Fürst
Wittgenstein im Frühjahr 1849 antrug, um seine Kraft nicht zu zersplittern.
In den nächstfolgenden J ahren, nachdem die österreichische Politik
gesiegt und den großen Erfolg von Olmütz erreicht hatte, nachdem selbst
der Bundestag wieder von den Tobten erstanden war, sah Prinz Chlodwig
seine Thätigkeit, die er stets in nationalem Sinne zu entwickeln sich gewöhnt
hatte, lahmgelegt. Er versuchte zwar noch, in der bayerischen Kammer der
Reichsräthe mit seinen Gesinnungsgenossen die Politik des Ministers von
der Pfordten zu bekämpfen, allein er begriff fehr bald, daß in einem
folchen Streite vorläufig kein Sieg zu erringen, daß der Kampf felbst für
die Wohlfahrt Bayerns fchädlich sei. So gab er einstweilen jeden Widersland
auf und zog sich auf feine Güter zurück, von denen aus er die Entwickelung
der Dinge aufmerkfam verfolgte.
Diese Zeit der ländlichen Ruhe — sie dauerte etwa ein Jahrzehnt —
war für ihn keine verlorene. Seit dem J ahre 1850 allen Aufregungen
der politischen Kreise der Residenz entrückt, saß er auf seinem Stammsitz
Schillingsfürst in Mittelfranken und lenite die ruhige Behaglichkeit eines
Landedelmannes in der Provinz kennen. Nunmehr konnte er sich des
Umganges mit seiner ihm geistig ebenbürtigen Gemahlin, die ihm im Jahre
184? eine Tochter, die Prinzessin Elisabeth, geschenkt hatte, erfreuen
und gleichzeitig die mannigfaltigen Früchte des Landlebens genießen. Aber
in strenger Schulung seines Geistes stets gewöhnt zu arbeiten und erst zu
säen, bevor er an die Einheimsung der Ernte dachte, suchte er auch hierbei
eine grundlegende Thätigkeit zu entfalten. Die Bewohner und die Nachbarn
des Fleckens Schillingfürst von Rothenburg bis Ansbach erinnern sich nock
Quellt» bellibeitet worden ist, haben wir veischiedene thatsächliche Angaben für unsere
bi?aiaphische Slizze entnommen.
Fürst Chlodwig von H«b.enlohe'3chill!ng5fürsl. 25
heute mit Freuden jener 10 jährigen Periode ländlicher Zurückgezogenheit
des Prinzen Chlodwig, in welcher er sein angestammtes Gebiet so gründ-
lichen Verbesserungen unterwarf, daß es förmlich ganz neu aufblühte. Ein
Ausfluß dieser guten Meinung war z. B., daß Fürst Ludwig von
Sciyn-Wittgenstein, der Schmiegervater Chlodwigs, sich bewogen
fand, dem letzteren seine eigenen großen, in Litthauen belegenen Güter zur
Vemirthschaftung anzuvertrauen. Prinz Chlodwig entsprach gern einer
solchen Ausforderung und ging persönlich nach Litthauen, dann machte er auch
andere größere Reisen, so nach Frankreich, Italien, England, um neue An-
schauungen zu gewinnen und wichtige Bereicherungen seiner Kenntnisse über
die nationalen, politischen, socialen Zustände des Auslandes davonzutragen.
Nun kam der österreichische Krieg mit Italien und Frankreich von 1859,
und Prinz Chlodwig, der während seines Stilllebens in Schillingsfürst auch
seinen Familienkreis sich hatte erweitern sehen — Prinzessin Stephanie
war ihm am 6. Juli 1851 und Erbprinz Philipp Emst am 5. Juni
1853 dort geboren worden — wurde wieder in den Vordergrund der
politischen Bühne gestellt. Die Ereignisse in der großen Welt der letzten
Jahre hatten sein Herz mit frohen, neuen Erwartungen geschwellt; nachdem
ihn Preußens Demüthigung bei Olmütz 1850 stark niedergebeugt, war er
durch den Regierungs-Antritt des Prinz-Regenten von Preußen 7 Jahre
spater erhoben worden und trat nun wieder freiwillig auf den Schauplatz der
politischen Kämpfe, welcher, wie er wohl fühlte, ihm Erfolge gewähren mußte.
Noch war sein alter Gegner, der Minister Schrenck, als Verfechter der
österreichisch-klerikalen Politik, am Nuder, aber Österreich hatte in Italien
eine schwere Niederlage erlitten, und damit war auch die Stellung Schrencks
in München einigermaßen erschüttert worden. Nun galt es, in offener
Fehde dem immer noch mächtigen Mann und allgemein gefürchteten Leiter
der politischen Angelegenheiten Bayerns sich wieder gegenüberzustellen.
Prinz Chlodwig trat ihm 1859 furchtlos unter die Augen. Hier-
mit nahm er jedoch einen Kampf auf sich, der schwerer war, als es
äußerlich schien. Er mar selbst ein guter, aufrichtiger Katholik und hatte
zwei Brüder, von denen einer, Gustav Adolf, wie wir oben gesehen,
der spätere Cardinal in Rom, der andere, Constantin, erster Oberhof-
meister des Kaisers Franz Joseph war. Mußte es nun nicht für Chlod-
wig einen ernsten Entschluß bedeuten, wenn er bei seinem Wiedereintritt
in die bayerische Neichsrathskammer sich vornahm, eine antiklerikale, anti-
österreichische und preußen- wie deutsch-freundliche Politik zu treiben und
seine beiden Brüder hierdurch ebenso zu verletzen wie zu schädigen? Allein das
Interesse und die Ehre Bayerns und des deutschen Vaterlandes gingen ihm
über Alles und überwöge« etwaige Bedenken, wenn sich dieselben einstellen
wollten. Es galt ihm darum, Bayern aus seiner gefährlichen politischen
Lage zu befreien und seinen Anschluß an den preußischen Staat vorzu-
bereiten, — den einzigen, welchen er als gesund und lebensfähig erkannte.
36 Gebhaid Zerilin i» varmsiadt.
Nicht etwa weil ihm dessen Politik bei dein öfter wechselnden Ministerium
gefiel, wohl aber deshalb, weil ihm das geistige, sittliche und thatsächliche
Material zusagte, aus welchem man allein einen tüchtigen, kraftvollen und
leistungsfähigen Staat so zu bilden im Stande war, wie er den An-
forderungen der Zeit genügen konnte.
Dieses Material hatte Chlodwig wohl keimen und würdigen gelernt.
Es bestand nach seiner festen Ueberzeugung zunächst in dem preußischen
Volksheere, zu dessen Entwickelung ein Scharnhorst in den Jahren der
Erniedrigung des Staates den Gruncl gelegt hatte, und durch welches
vornehmlich der französische Soldatenkaiser in den Jahren der Befreiungs-
kriege niedergekämpft worden war; sodann in dem ernsten preußischen
Volkssinne, den der fürstliche Student auf der Universität unter seinen
Commilitonen, als Nichter und Verwaltungs-Neamter in zwei Provinzen,
der Mark und Schlesien, als besonderes Kennzeichen aufgefunden hatte.
Bei keinem anderen Staatswesen waren ihm ähnlich gute Materialien als
Grundlagen der Ordnung und des Gemeindewesens bekannt geworden, und so
erklärt sich ganz einfach feine Neigung zu dem größten reindentschen Staate
des Nordens, die ihn frühzeitig angeflogen und später nie wieder verlassen
hat. Nirgendwo sonst fand er, der die Welt genau kannte und, wie wir
gefehen, Frankreich, England, Italien, Griechenland :c. bereist hatte,
nationalere und sittlich gediegenere Eigenschaften als bei den Preußen, und
dies erklärt wohl auch zur Genüge seine ganze Politik.
Schon im Jahre 1860, kurze Zeit nach dem Wiederauftreten des
Prinzen Chlodwig im bayerischen Neichsrath, erkannte man allgemein,
welche Bedeutung dasselbe in sich schließen müsse. Noch klarer wurde es,
als er im folgenden J ahre dem bayerischen Ministerium seine ernsten und
eindringlichen Warnungen zurief und unter Anderen« dasselbe ersuchte: jene
unglückliche Politik doch zu verlassen, die, auf Oesterreich gestützt, Preußens
Stellung in Deutschland zu negiren, ja schließlich selbst gewaltsam zu ver-
nichten bestrebt sei. Später scheute sich dasselbe furchtlose Neichsrathsmitglied
nicht, dem Minister von der Pfordten znzunifen, daß die von dem
Letzteren gern gehegte „Trias-Idee" Bayern niemals Glück bringen könne.
Im Jahre 1864 starb König Marimilian II. von Bayern, und sein
Sohn Ludwig II. wurde mit I8V2 Lebensjahren sein Nachfolger auf dem
Thron. Abermals wurde nach der Entlassung des Freiherrn von Sckrenck der
5 Jahre vorher von demselben Posten abberufene frühere von der Pfordten
bayerischer Ministerpräsident, und zwar zu derselben Zeit, als Preußen mit
Oesterreich gemeinschaftlich in Schleswig-Holstein auftrat. Seine Pläne
eines Dreikünigsbundes als dritte Staatsgruppe in Deutschland konnte
und wollte er nicht aufgeben, doch zerschellten sie bald in kläglicher Weise.
Im Sommer 1866 brach der Krieg zwischen Preußen und Oesterreich
aus, der schon längst eine geschichtliche Notwendigkeit geworden und durch
den Vertrag von Gastein nur künstlich um ein Jahr zurückgehalten worden
Fiilst Chlodwig l>«!i rol>enlohe-3chilllng3fürst. — 3?
war. Obwohl damals noch in letzter Stunde Prinz von Hohen lohe in
der bayerischen Reichsrathssitzung die dringende Mahnung an die Minister
und das Haus richtete, besonnen zu handeln, da nur ein freundschaftliches
Verhältnis Bayerns mit Preußen allein noch den Krieg, damit aber „Roth,
Elend und Demüthigung" von Vayern abwenden könne, so drang Freiherr
von der Pfordten doch mit seinen Anträgen durch. Die Würfel des
Krieges wurden bald darauf geworfen und der Feldzug selbst sehr schnell
entschieden: am 14. Juni war in Frankfurt a. M. die Mobilmachung des
deutschen Bundesheeres gegen Preußen beschlossen worden, und am 2. August
rückte die Main-Armee siegreich in Würzburg ein. Nun war es wieder
Chlodwig, welcher am 23. August in der Kammer es aussprach, „daß
die Ratification des Friedens der letzte politische Act des Ministeriums
von der Pfordten sein müsse und nur bei sofortigem Rücktritt dieses
Ministeriums das Land von seiner schweren Prüfung sich erholen könne".
Allgemein wurde nunmehr erkannt, daß Fürst Hohenlohe der
Mann der Zukunft für Bayern fei. Der jugendliche König Ludwig 1 1 .
forderte ihn auf, ihm ein Programm der Grundsätze einzureichen, wie er
sie als Leiter des bayerischen Staatswesens für die geänderten Verhältnisse
für geeignet halte. Chlodwig folgte diefem Befehl, und der 1. Januar
186? brachte feine Bestallung als Pfordtens Nachfolger: als Minister
des königlichen Hauses und des Auswärtigen. Seinem Programm gemäß,
welches offenen und ehrlichen Anschluß an Preußen und Stellung der süd-
deutschen Contingents unter preußische Führung im Ernstfalle verlangte,
bandelte der neue Minister und schloß sofort ein Schutz- und Drntzbündniß
mit Preußen ab. Damit war der Wendepunkt in der bayerischen Politik
eingetreten und eine neue segensreiche Aem begonnen.
Drei volle J ahre hat Fürst Hohenlohe seinem Heimatlande die er-
sprießlichsten Dienste als Leiter des Auswärtigen geleistet, Ciner der
wesentlichsten war es, daß er die Zolleinigung der süddeutschen Staaten
mit Preußen durchsetzte, obwohl die bayerischen Klerikalen und die speci-
fischen sogenannten Patrioten ihm hierbei den kräftigsten Widerstand leisteten.
Selbst zum Abgeordneten des Zollparlaments in dem Kreise Forchheim ge-
gewählt, ging Fürst Hohenlohe nach Verlin und war 3 Sessionen hin-
durch der erste Vice-Präsident dieses Parlaments, — der ersten deutschen
gesetzmäßigen Vereinigung, des Vorgängers des deutschen Reichstags.
Erreichte der Fürst hierbei seinen Zweck, so mar dies in seinem Auf-
treten und Vorgehen gegen die nltramontanen Parteien in Bayern und
besonders die Jesuiten nicht der Fall. Ihm lag sehr der Versuch am
Herzen, zunächst die katholischen Staaten Deutschlands, sodanu aber auch
alle katholischen Mächte Europas zu einer gemeinsamen Abwehr des von
dem Vatikanischen Concilium drohenden Angriffs zu gewinnen. Zu diesem
Zwecke erließ er uuter dem 9. April 18<>9 eine Circular-Depesche, welche
dein durch die Unfehlbarkeit drohenden Schisma der katholischen Christen-
38 Gebhard Zernin in Darmstadt.
heit vorzubeugen suchte, nachdem Papst Pius IX. für den December 186!)
ein allgemeines Concilium in Rom ausgeschrieben hatte. Schon vor dem
Zusammentritt dieses Eoncils fanden in Bayern Neuwahlen zur Kammer
statt, und als dieselben im November 1869 eine Majorität der Ultra-
montanen ergeben hatten, gab das Ministerium des Fürsten Hohenlohe
seine Entlassung. Fürst Hohenlohe und der Kriegsminister vonPranckh
ließen sich zwar vom König Ludwig II. bestimmen, ihr Gesuch zurück-
zunehmen; allein das leidenschaftliche Entgegentreten der Kammer mußte
Ersteren veranlassen, am 15. Februar nochmals seine Entlassung zu erbitten,
worauf derselbe am 7. März, mit den höchsten Orden seines Monarchen
geschmückt, seinen Rücktritt ausführte. Er ging, weil sein Bleiben, wie er
wohl einsah, der nationalen Sache nichts mehr nützen konnte; er war
wieder Privatmann geworden und zog sich in die bekannte Stille von
Schloß Schillingsfürst zurück.
Mehrere Monate vergingen: sie bildeten die unheimliche Ruhe vor
dem Sturm, welchen Fürst Hohenlohes Voraussicht in dem deutsch-
französischen Kriege längst hatte kommen sehen. In den I ulitagen des
entscheidenden Jahres 1870 trieb es Chlodwig wieder nach München.
Er wollte, wenn nöthig, auch seinen Einfluß dazu verwenden, daß Bayern
in dein zu erwartenden Weltkampfe sich sofort auf die Seite des Haupt-
streiters stellen möchte. Sein Wunsch ging in Erfüllung, und mit be-
rechtigtem Stolze sah er die Bayern an den Rhein und über ihn hinaus
eilen, um unter der ritterlichen Oberleitung des preußischen Königssohnes
für Deutschlands Unabhängigkeit zu fechten. Die ersten Schläge von
Weißenburg und Wörth brachten die Feuertaufe, und das gemeinsam
«ergossene Blut bildete den Kitt der stolzen und schönen Bereinigung
der deutschen Stämme, welche am 18. Januar 1871 in dem alten fran-
zösischen Königsschlosse von Versailles die Wiedererrichtung des Reiches
besiegelte. Fürst Hohenlohe, der schon am 30. December 1870 für
den Eintritt Bayerns in das Deutsche Reich gesummt hatte, fühlte sich hoch
erhoben von der Erfüllung seiner langgehegten Wünsche und sah eine reiche
Zukunft seinem engeren und weiteren Baterlande erwachsen, in der auch
ihm, was er damals in seiner Selbstlosigkeit nicht im Entferntesten ahnte,
eine einflußreiche und vielseitige Wirksamkeit beschieden sein sollte.
Nachdem König Wilhelm als erster Deutscher Kaiser des neu errich-
teten Reichs in die Heimat zurückgekehrt war, trat der Deutsche Reichstag
in Berlin zusammen. Fürst Hohenlohe war als Abgeordneter seines
Kreises Forchheim dessen Mitglied und schloß sich der liberalen Reichspartei
an. Das allgemeine Vertrauen berief ihn schon am 23. März 1871 als
ersten Vice-Präsidenten in die Leitung, welche Stellung er auch während
der Legislatur-Periode von 1874—187? bekleidete. Seine politische
Thätigteit sah er nunmehr mit den grüßten Erfolgen gekrönt; jetzt sollte ihn,
auch beschieden sein, auf dem Gebiete der Diplomatie dem neugeeinten
Fürst Chlodwig von Hol,enlohe>3chilling5fiirft, 2Z
Reiche Dienste zu leisten, deren Bedeutsamkeit sich in stets steigerndem Grade
zu äußern hatte.
Es war im Mai des J ahres 1874, als Fürst Hohenlohe zur Be-
setzung des Deutscheu Botschaftervostens in Paris, welcher durch die Ab-
berufung des Grase» von Arnim frei geworden war, ausersehen wurde.
Um seine Willensmeinung befragt, zögerte der Fürst keinen Augenblick mit
der Annahme der ebenso verantwortungsreichen wie ehrenvollen Stelle.
Volle 11 Jahre — vom Mai 1874 bis zum Juli 1885 — ist Fürst
Chlodwig als deutscher Botschafter in Paris thätig gewesen und hat
während dieser langen Zeit durch sein echt patriotisches und entschlossenes,
wie taktvolles und umsichtiges Auftreten seinem wohlerworbenen Rufe im
In- und Auslande Ehre gemacht. Unter den verschiedensten Regierungs-
leitern Frankreichs und bei desseu so oft wechselnden Ministerien hat es der
Fürst stets verstanden, sein schönes großes Vaterland würdig in Paris zu
vertreten, manchen während dieser Zeit eingetretenen Verstimmungen jede
Schärfe zu uehmeu und seine Angelegenheiten so zu führen, daß er die
allgemeinste Hochachtung genoß und fast überall Anerkennung fand.
Wir dürfen hier einige hervorragende Gelegenheiten anführen, bei denen
sich der Fürst vornehmlich als Beherrscher des Augenblicks bewährte. Bei
dem Berliner Congreß des Jahres 1878 wirkte er als zweiter Bevoll-
mächtigter des Deutschen Reichs neben Fürst Bismarck und Staatsminister
von Nülow*); seine Wirksamkeit soll besonders „hinter den Eoulissen" eine
ebenso bedeutsame wie vielseitige gewesen sein. Es war dies dasselbe J ahr,
in dem der Fürst eine deutsche Kunstausstellung in Paris eröffnet hatte,
durch welche den Franzosen eine hervorragende Zahl von Gemälden und
Bildhauerwerlen vorgeführt worden war. (Eine Bctheilignng an der Welt-
ausstellung von 1878 war von der Neichsregierung aus industriellen und
politischen Gründen abgelehnt worden.) Im März des Jahres 1880 über-
nahm der Fürst provisorisch die Leitung der Geschäfte eines Staatssecretärs
der cmswärtigen Angelegenheiten und trat zunächst mannhaft für Annahme
der Samoa-Vorlage der Negierung ein (im April), dann präsidirte er der
Berliner Eonferenz zur Schließung der Grenzstreitigkeiten zwischen der
Türkei und Griechenland (16. Juni bis 1. Juli) und kehrte im November
auf seinen Botschafter- Posten nach Paris zurück, auf welchem er dann noch
ein Lustrum hindurch seine ersprießliche Thätigkeit fortsetzen sollte.
Am 17. Juni 1885 starb unerwartet der Statthalter von Elsaß-
Lothringen, General-Feldmarschall Freiherr von Manteuffel, an Lungen-
entzündung. Diese wichtige Stelle erforderte eine baldige Neubesetzung,
doch machte eine solche im Hinblick auf die bewährten Eigenschaften des
Fürsten Hohenlohe als Staatsmann und Verwaltungsbeamter keine
*) Das bekannte Vild aller Vcuollmächtigten des Professors Anton von Werner
zeigt den Fürsten Hohenlohe in einer besonders gelungenen Auffassung seiner äußeren
Erscheinung.
Hl) Gebhaid Zeinin in varmftadt, — ~
Schwierigkeit. Auf den Antrag des Fürsten Bismarck, welcher am besten
in der Lage gewesen war, die Fähigkeiten und Leistungen des bisherigen
Botschafters in Paris zu würdigen, wurde die freigewordeüe Stelle eines
Statthalters der Gleichstände mit ausgedehnten landesherrlichen Befugnissen
unter dem 28. September 1885 dem Fürsten Hohen lohe übertragen. Schon
am 8. Tctober überreichte der Fürst dem Präsidenten der französischen
Republik, Herrn Grevy, sein Abberufungsschreiben, welches niit dem Aus-
druck höchsten Bedauerns entgegengenommen wurde, nnd traf am 5. November
zur Ueberimhme seiner neuen Würde in Straßburg ein.
Ueberans herzlich war der Empfang, der dort dem neuernannten Statt-
halter bereitet wurde. Schon bei feinem ersten Austritt aus den« Bahnhofe
wurde Fürst Hohenlohe mit donnernden sich oft erneuernden Hochrufen will-
kommen geheißen, die Krieger-, Schützen-, Turner- und Gefangvereine veran-
stalteten ihni zu Ehren am ersten Abend einen Fackelzug, brachten ihm ein
Ständchen, und am folgenden Tage schloß sich eine glänzende Auffahrt der
Studentenschaft mit Eommers an. Bei dieser Gelegenheit hielt der neue
Statthalter eine Ansprache an die akademische J ugend, welche von zündender
Wirkung war. Selbst in Metz, wohin der Fürst sich am 16. November be-
gab, wurde derselbe in übei'rafchend festlicher und überaus herzlicher Weife be-
willkommt; Neflaggung der Häuser und Fackelzug bildeten die äußeren Kenn-
zeichen. Sehr bemerkt wurde die bei dein Galadiner am 17. November von
dem Statthalter gehaltene Rede. Er knüpfte au eine Aeußerung feines Vor-
gängers an, welcher gesagt hatte, daß er wohl begreife, wie man in Elfasi-
Lothringen noch nicht die Zusammengehörigkeit mit Frankreich vergessen habe,
und fuhr dann fort wie folgt: „Ich gehe aber weiter und sage: ich begreife,
daß die Bewohner des Landes, als sie vor 2 Jahrhunderten von Deutsch-
land getrennt, mit Frankreich vereinigt wurden, die Aenderung nicht zu sehr
empfanden. Deutschland war damals ein zerrissenes Land, das weder seine
Angehörigen schützen, noch ihre Wohlfahrt fördern konnte, während Frank-
reich nahezu auf der Höhe feiner geistigen und materiellen Entwickelung
stand. Da konnte die Trennung von Deutschland leicht verschmerzt werden.
Wenn ich aber so einer historischen Tbat gerecht werde, darf ich nun auch
auf die Gegenwart verweisen. Aus einem machtlosen zerrissenen Deutsch-
land ist ein mächtiges Reich geworden. Wie die Einigung znr Wieder-
gewinnung verlorener Landestheile geführt, fo hat sie uns auch die Macht
gegeben, das Wiedergewonnene festzuhalten, die Angehörigen zu fchützen und
ihnen die Bedingungen des geistigen und materiellen Gedeihens zu bieten.
Damit schwindet das Motiv, das die Bewohner des Landes auf Frankreich
blicken läßt. So gebe ich mich der Erwartung hin, Elsaß-Lothringen werde
niehr nnd mehr erkennen, die Trennung von Frankreich sei kein Unglück, die
Wiedervereinigung mit Deutschland sei eine Gewähr einer glücklichen Zukunft."
Schon bei den am 12. Juli 188<i erfolgten Gemeindemthswahlen in
den Neichslanden zeigte sich ein Fortschreiten des Deutschthnms. Der
Fürst Chlodwig von Hohen!ohe>2chillingsfilist, Hl,
Fürst- Statthalter, welcher als außerordentlicher Bevollmächtigter des Kaisers
Wilhelm I. noch im December 1885 nach Madrid geeilt war, um an der
Leichenfeier des Königs Alfons XII. theilzunehmen, hatte ein solches nach
besten Kräften anzubahnen gesucht. Bei der Eröffnung des Lcmdesausschusses
im Januar 1886 hielt er wieder eine bemerkenswerthe Rede und sagte
darin, daß er kein politisches Programm vortragen wolle. Dann fuhr er
fort: „Selbst der Staatsmann, welcher die Macht hat, seine Versprechungen
zu erfüllen, wird wohl daran thnn, damit sparsam zu sein, da er nicht
weiß, ob die Verhältnisse ihn: erlauben werden, sein Programm durchzu-
führen. Wer aber wie ich mit Factoren zu rechnen hat, die über nnd
außerhalb der Sphäre seiner Einwirkung stehen, der muß doppelt vorsichtig
sein. Das beste Programm ist eine gute Verwaltung. Darin erblicke ich
zunächst meine Aufgabe. Ich werde sie zu erfüllen suchen mit Gewissen-
haftigkeit und Pflichttreue und in dein Gefühl aufrichtigen Dankes für das
Vertrauen, mit dem man mir in diesem Lande entgegengekommen ist."
Die hier betonte „Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue" war es denn
auch, welche der Fürst in dein Neichslande ebenfo zur Anwendung brachte,
wie dies seinerzeit auf dem Botschafterposten in Paris geschehen war, und
die auch im Lande selbst wachsende Anerkennung fand. Es mußte daher
Ueberrcischung erregen, als bei den Reichstagswahlen am 21. Februar 188?
in sämmtlichen 15 Wahlbezirken von Elsaß-Lothringen Protestler durchgebracht
wurden, doch ließ sich die Thatsache wohl dadurch erklären, daß weit
weniger eine Aenderung der Gesinnung, als die Befürchtung einer Rache
Frankreichs bei einem doch immer möglichen Reuanchekriege zu Grunde lag.
Fürst Hohen lohe zögerte aber nicht, strengere Maßregeln zn ergreifen; fo
beantwortete er bereits am 22. Februar das Wahlergebnis mit einen»
Rundschreiben an die Bezirks-Präsidenten, worin er eine strengere Beauf-
sichtigung des gesammten Nereinslebens anordnete und die beiden Centrai-
verbände der Elsässischen Gesang- nnd Turnvereine auflöste. Im März
desselben J ahres begab sich der Fürst nach Berlin, uni Bericht über den
Stand der Dinge zu erstatten nnd an den Verhandlungen über die Neu-
gestaltung der staatlichen Verhältnisse der Neichslande theilzunehmen. Er
vertrat die Ansicht, daß Elsaß-Lothringen in staatsrechtlicher Beziehung den
übrigen deutschen Staaten dann gleichgestellt werden sollte, wenn es den
bestehenden Nechtszustand rückhaltlos anerkennen und das Protestiren ent-
schieden aufgeben würde. Es bestanden damals politische Meinungs-
verschiedenheiten einflußreicher Personen in Berlin über die Gestaltung der
staatsrechtlichen Verhältnisse der Neichslande, von denen Einzelne die Auf-
hebung des Statthalterpostens wünschten, doch weder Fürst Bismarck, noch
ilaiser Wilhelm I. trat solchem Verlangen bei. Wohl wurden einige zeit-
gemäße Modificationen in den inneren Einrichtungen des Verwaltungs-
Mechanismus vorgenommen, doch blieb der Statthalterposten bestehen, und
Fürst Hohenlohe kehrte mit den Beweisen vollständigen Vertrauens auf
H2 Gebhard Zernin in vaimstadt.
denselben zurück. Die neue Gestaltung der Dinge sicherte ihm ein strafferes
Auftreten, er ließ sich durch Einreden von deutsch-freundlichen Stimmen nicht
beirren und erreichte sehr bald, daß die Achtung vor dem neuen Regiments
stieg. Auch das Ergebnis; der Bezirkswahlen des Jahres 1888 war ein
erfreuliches.
Nach dem Tode des hochseligen Kaisers Wilhelm 1. wandte auch dessen
zweiter jugendlicher Nachfolger Wilhelm II. dein Fürsten Hohenlohe
große Huld und völliges Vertrauen zu. Die Dinge gingen in den Neichs-
landeu ihren ungestörten Gang, so daß der Statthalter bei seiner Eröffnungs-
rede der 17. Tagung des Landesausschusses am 29. Januar 1889 recht
befriedigt sich aussprechen konnte. Im Frühling des folgenden J ahres er-
öffnete er die Ausstellung der deutschen Landwirthschaftsgesellschaft in Straß-
burg, welche großes Interesse erregte, und brachte der gleich darauf er-
folgten Gründung eines elsaß-lothringischen Sängerbundes wahre und wanne
Sympathie entgegen. In der Folgezeit gelang es dem Fürsten Hohen-
lohe, den einige Jahre vorher eingeführten Paßzwang für Reisende theil-
weise aufzuheben (er wurde nur noch für ausländische Militärpersonen und
für Ausgewanderte unter 45 Jahren beibehalten) und dadurch im Lande
große Freude zu verbreiten. Als er am 19. October des genannten Jahres
von einem Sommerurlaube nach Straßburg zurückkehrte, wurde er am
Bahnhofe von einer großen Versammlung herzlich begrüßt und durch eine
Ansprache als „edelmüthiger Freund der Bevölkerung, verständnißvoller und
wohlmeinender Förderer aller Interessen der Neichslande" gefeiert, worauf
der Statthalter der Wahrheit gemäß erwidern konnte, daß Elaß-Lothringen
keinen aufrichtigeren und treueren Freund habe als ihn. Das allgemeine
Vertrauen, welches ihm fchon längere Zeit hindurch von den Bewohnern
der fchönen Reichslande entgegengebracht worden war, hatte hierdurch eine
wesentliche Stärkung erfahren und follte niemals mehr getrübt werden.
Schon bei den Neichstagswahlen am 20. Februar 1890 hatte sich
herausgestellt, daß die Zahl der Stimmen der Protestler von 247000 auf
100000 zurückgegangen war, so daß vier deutschfreundliche Vertreter nach
Verlin entsandt werden konnten, welche Zahl drei Jahre später noch um
eine vermehrt wurde, indem der eigene Sohn des Fürsten, Prinz Alexander
von Hohenlohe, am 15. Juni 1893 als gewähltes Neichstagsmitglied
hinzutrat. Eine noch gesteigerte günstige Stimmung der Stadt- und Land-
bewohner sollte zum Ausdruck gelangen, als Kaiser Wilhelm II. im Sommer
dieses Jahres persönlich die Reichslande durch einen Besuch auszeichnete.
Ani 3. September 1883 war es, genau 65 Jahre nach dem Einzüge
des Königs Karl X. von Frankreich, als unter dem Geläute aller Glocken
Kaiser Wilhelm II. seinen feierlichen Einzug in die Hauptstadt Lothringens,
das alt-ehrwürdige Metz, hielt. Noch an demselben Mittage begab er sich
in Begleitung des Statthalters nach Knrzel und von dort zu Wagen nach
seinem neu erworbenen Schlosse Urville, zum ersten Male als lothringischer
Fiirft Chlodwig von Hohenlohe'5chilling5fürs«, H3
Gutsbesitzer. Bei der Paradetafel, welche am folgenden Tage in Metz
stattfand, war es eine hohe Befriedigung, welche den Kaiser die schönen
Worte sprechen ließ: „Ich sehe, ... daß Lothringen sich wohl im Reiche
fühlt ... Mit Genugthuung fehe ich, daß Lothringen das Verständniß für
des Reiches Größe und für seine Stellung im Reiche gewonnen hat,"
Und das Verdienst, hierzu ein mefentliches Stück beigetragen, nnt allen
Kräften dabei mitgewirkt zu haben, mußte dem Statthalter Fürsten Chlodwig
von Hohenlohe zugeschrieben werden, welcher hieran beinahe ein volles
J ahrzehnt die Arbeit seiner reifsten Mcmnesjahre gefetzt hatte.
Es erregte daher allgemeines Bedauern, als im Herbst 1 894, nachdem
der General von Eavrivi als Reichskanzler zurückgetreten war, Fürst
Hohenlohe aus den Neichslandeu abberufen wurde. Mit der Würde des
einflußreichen Statthalteramts bekleidet, mag es dem Fürsten wohl nicht
leicht geworden sein, sich zur Amiahme der neuen Bürde zu entschließen,
allein sein nationales Pflichtgefühl ließ ihm keine andere Wahl: er folgte
entschlossen dem Rufe seines kaiserlichen Herrn, Seit dem 26. October
1894 steht Fürst Chlodwig an der Spitze der Leitung des deutschen
Staatsschiffes, und da der seitdem verflossene kurze Zeitraum zu einer vollen
Würdigung seiner Wirksamkeit noch nicht ausreichen dürfte, so schließen wir
hier seine eigentliche Lebensskizze.
Es dürfte wohl angezeigt sein, nachdem hier versucht worden, ein
kurzes Lebens- und Charakterbild des Fürsten Chlodwig von Hohen-
lohe zn entwerfen, nunmehr auch eine Schilderung des Eindrucks zu
unternehmen, welchen die Persönlichkeit des bedeutenden Mannes macht, und
letztere überhaupt zu stizzireu. Wir wollen der Lösung dieser Aufgabe uns
nicht entziehen.
Der Reichskanzler Fürst Hohenlohe hat im März 1895 das 76. Lebens-
jahr vollendet, sieht aber jünger aus. Cr besitzt eine vorzügliche Gesundheit
und hat von Jugend auf dem Geiste die äußere Hülle dienstbar gemacht,
so daß er auch gegenwärtig, nachdem die erste Hälfte des 8. Jahrzehnts über-
schritten worden, keineswegs etwas Greisenhaftes an sich trägt. Seine
fünf Sinne sind gut entwickelt und selbst theilweise noch geschärft worden;
nur besitzt seine Stimme, ähnlich wie dies bei seinem großen Amtsvorgänger,
dem Fürsten Vismarck, auch der Fall ist, einen etwas schwachen Klang, doch
pflegt sie auch niemals überangestrengt zu werden.
Man begegnet im Leben öfters männlichen Physiognomien, aus welchen
sich sehr schwer oder überhaupt kaum mit einiger Sicherheit Schlüsse auf
deu Charakter ableiten lassen. Ein derartiges Gesicht zeigt Fürst Chlodwig
nicht. Das seinige macht vielmehr den offensten Eindruck und giebt mit
großer Klarheit und Treue wieder, was dieser Maun ist uud uicht ist.
Aber etwas ungewöhnlich erscheint es doch: die Form seines Hauptes, wohl-
H4 <3cbhard Zeiilin in Darmstadt.
gebildet und regelnmßig, die Linien des Profils und das kräftig entwickelte
Kinn lassen erkennen, daß man hier einen feinen Kopf vor sich hat. Das
Auge drückt zugleich Klugheit und Herzensgüte aus; es pflegt in ruhiger
Prüfung und mit natürlichen: Wohlwollen jeden ihn, zum ersten Mal Be-
gegnenden zu messen; es zeigt eine Ueberlegenheit an Geist und Herz, von
der man sofort überzeugt ist, daß sie nur dem Dienste der guten Sache
sich widmen werde. Eine vornehme Ruhe und Würde ist über der ganzen
Persönlichkeit ausgegossen, die allerdings nicht erkennen läßt, daß dieser
hervorragende Mann noch heute in demselben lugendfeuer erglühen kann,
welches einst den bäuerischen Reichstagsredner besonders kennzeichnete. Dann
erscheint das dunkle Auge, welches sonst in stiller Wachsamkeit um sich zu
blicken pflegt, in leuchtendem Glänze, es vergrößert sich und äußert eine
durchdringende, selbst durchbohrende Kraft. Man fühlt es alsdann ganz
deutlich: dieser Mann ist zum Befehlen geboren, er weiß, was er will,
und will stets nur, was er soll und muß. Jeder Zoll an ihm ist deutsch.
Die Stirnmuskel tritt oberhalb der Nasenmuskel etwas hervor, sie
küudet uns die Folgen der Denkarbeit, welche sich schon manches J ahrzehnt
hindurch in dem Sitze der menschlichen Hauvtthätigkeit vollzogen hat. Die
Stirn selbst ist hoch, aber nicht sehr breit, über sie legt sich das in früheren
Jahren leicht geträufelte schwarze Kopfhaar, welches heute ergraut ist.
Auch der volle Schnurrbart, welcher die feinen Lippen bedeckt und das
heimliche unwillkürliche Spiel derselben verdeckt, ohne es zu verbergen, hat
die Farbe des Alters angenommen. Einen anderen Bart soll der Fürst
niemals getragen haben, so daß er, zumal da er wenig gealtert ist, von
Bekannten sofort wieder erkannt worden ist, die ihn Jahrzehnte lang nicht
gesehen haben. Die Figur ist zierlich schlank, nicht zu hoch und keineswegs
untersetzt, sie entspricht der ruhigen, vornehmen Haltung eines Weltmanns,
welcher von Kindheit auf sich unter den Großen dieser Erde bewegt hat.
Daß Fürst Hohen lohe einen sehr einfachen, anspruchslosen Charakter
besitzt, kann man schon an der außerordentlich bescheidenen Einrichtung seines
Arbeitszimmers in dem Reichskanzler-Palais zu Berlin wahrnehmen. Die
Fenster dieses Ranmes gehen auf deu Park hinaus, an einem derselben,
der Eingangsthür gerade gegenüber, steht sein Schreibtisch. Auf dem
letzteren erblicken wir eine ganz gewöhnliche Schreib-Unterlage, ein Tinten-
und Sandfaß aus weißem Porzellan, einen Löscher, eine Scheere, also Alles,
was auf einen Schreibtisch gehört, und von derselben einfachen Beschaffen-
heit, wie man sie in fast jedem öffentlichen Bureau fiudet. Drei Feder-
halter — „Stück für Stück einen Silbergroschen" — liegen auf den»
Tintenfaß. Das Petschaft, ein großes Leseglas, Leuchter, Zündholzständer,
Eigarrenhalter — alles dieses ist von der großen Einfachheit, wie sie dem
Fürsten seit seiner Neferendarzeit lieb und zur Gewohnheit geworden ist. Ein
Papiermesser aus Brouze von etwa 30 Centimeter Länge, dessen schwerer
Griff von Bronzestreifen spiralenförmig umschlungen wird, dient dem Reichs-
Fürst Chlodwig von Hohenlohe-Tchillingsfüist. 45
lanzler als Waffe gegen dickfelliges Kanzleipapier. Von einem etwa
V2 Meter hohen Obelisken aus Marmor, dessen Sockel ein mit silberhellem
Glockchen ausgerüstetes Uhrwerk birgt, liest der Fürst die Zeit ab, welcher
durch Läutemerke den Diener herbeirufen kann, während er noch einen
Klingelzug nebst Quaste über seinem Haupte zur Verfügung hat.
Vor dem Schreibtisch steht ein lederbezogener Rohrstuhl; außerdem be-
findet sich vor dem Pfeilerspiegel ein größerer Sorgenstuhl mit kleinem
Lesetisch. Neben deni von Säuleu umgebenen grünen Kamin aus Majolica
stehen Sessel rings um einen ovalen Tisch, auf welchen ein lebensgroßes
Oelgemälde des Herzogs von Ratibor herabblickt. An der gegenüberliegen-
den Wand hängt das wohlgetroffene Oelbild des Kaisers Wilhelm I.,
unter welchem sich ein fünf Mal getheiltes Bücher-Negal mit Acten, Schriften,
Druckwerken hinzieht, — zum Beweise, daß es dem Reichskanzler an
arbeitsreichem Stoff nicht fehlt. Die langen Gesimse sind von Photo-
graphien aus der Familie des Fürsten Hohen lohe bedeckt, auch reihen sich
hieran lagdtrophäen, Humpen, Kannen, Gläser ?c. Daß der Fürst
Raucher ist, erkennt man aus den verschiedenen Utensilien: auf jedem Tisch
steht Feuerzeug mit Eigarrenständer, jedoch auch alles dies iu einfachster
Ausstattung; der Reichskanzler raucht am liebsten Cigaretten und zwar russi-
schen Herkommens. Der ganze Raum dieses Arbeitszimmers hat viel An-
heimelndes und das Gemüth Ansprechendes.
Das Temperament des Fürsten ist maßvoll und wird durch lang-
jährige Herrschaft des Geistes über den Körper bedingt, was bei der
Lebhaftigkeit des Denkens und dem außerordentlich schnellen Auffassungs-
vermögen seines Geistes gewiß nicht leicht zn erreichen gewesen ist. Weder
Sanguiniker, noch Choleriker ist Fürst Hohen! ohe, aber auch keineswegs
ein Phlegmatiker, wohl aber hat er sich eine ihm sehr wohl anstehende ge-
wisse Zurückhaltung angeeignet, die ihn oft ruhiger erscheinen läßt, als er
tatsächlich ist. Ihm ist es gelungen, das zn erreichen, was Vater Horaz
jedem Manne anempfiehlt, wenn er sein Hsquam mLmsnto rsdu8 in
aräuis gsivaro inc-ntsin anstimmt.
Hanpteigenschnften nnd Fähigkeiten des Fürsten, die er während seines
langen und vielseitigen Berufslebens stets zu bethätigen gesucht hat, sind:
Klarheit des Geistes, richtiges Erfassen, Erkennen und Durchdringen felbst
verwickelter Dinge, Gewandtheit der Feder in schriftlichem Ausdrucke, uner-
schütterliche Ruhe und Leidenschaftslosigkeit in Veurtheilung der That-
sachen, strenges Festhalten an deni für Recht Erkannten, völlige Uneigen-
nühigkeit, treue Hingabe an alles Große, Schöne und Hohe, dann eine edle
Milde des Herzens und der Wille, jedem Mitmenschen gerecht zu werden
und lieber zu versöhnen als zu kränken. Man wird gestehen müssen, daß
diese Eigenschaften ein Ganzes bilden, dessen Besitz Jedem zu wünschen ist.
Und das ist der Mann, in dessen Hände die Leitung des schweren Amts
eines deutschen Reichskanzlers gelegt ist. Möge sie ihm stets wohlgelingen!
„Das gelehrte Frauenzimmer."
Ein Essai über das Frauenstudium in Deutschland zur Rococo und
Zopfzeit.
von
Georg Steinhaufen.
— J ena.
bitte meine Leser und namentlich ineine Leserinnen, in dem
gewählten Titel keine irgendwie malitiüse Färbung sehen zu
wollen. Der Ausdruck: „das gelehrte Frauenzimmer" ist ein
allgemein üblicher Ausdruck der Zeit, van der ich handeln will, und
besitzt jene Färbung durchaus nicht. So nennt beispielsweise ein damaliger
Vertheidiger der gelehrten Frauen, C. F. Paullini, ein von ihm verfaßtes
Vuch „Hoch- und Wohl- gelahrtes deutsches Frauen Zimmer"; und in
ähnlichen Schriften z. V. von Engeicken, Eberti, Finauer kehrt die Be-
zeichnung überall wieder. Mehr könnte die Erscheinung selbst, über die ich
hier Einiges beibringen will, auffallen, daß man nämlich schon damals
überhaupt von einem Frauenstudium reden kann. Natürlich nicht
von einem organisirten, obgleich, wie wir sehen werden, anch dazu ein An-
lauf genommen wurde: aber doch von einer auffälligen Neigung des
weiblichen Geschlechts zu gelehrten Studien. Heute, im Zeitalter der
schriftstellernden Damen, ist zwar die allgemeine Nildung der Frauen un-
endlich viel größer geworden als damals. Aber von gelehrten Frauen kann
doch nur in erheblich geringerem Umfange gesprochen werden, nnd eine
neuere Schriftstellerin hat Recht, wenn sie meint, „daß es während jener
Periode wenigstens zwanzig gelehrte Weiber gebe gegen eine Zeitgenossin,
die unsere gegenwärtigen Gelehrten für ebenbürtig anerkennen möchten."
Gelehrte Frauen hat es ja fast zu allen Zeiten gegeben. Schon
Enripides ineint: Ich hasse ein gelehrtes Weib, und keine soll mir in's
Haus kommen, die mehr weiß, als dem Weibe nütze ist. Als auffällige
Erscheinung aber tritt — in Deutschland uenigftens — die Gelehrsamkeit
x
„Das gelehrte Frauenzimmer," H?
der Frauen erst in der bezeichneten Periode hervor. — Es scheint das im
Widerspruch zu stehen mit dem allgemeinen Vildungszustand der Frauen
und Mädchen jener Zeit. Im Mittelalter war dieser weit höher gewesen
als der der Männer; das Minnezeitalter hatte dann die Frau mit einem
strahlenden gesellschaftlichen Nimbus umgeben. Neides war anders geworden:
in geistiger wie in gesellschaftlicher Beziehung trat die Frau zurück; sie
wurde auf das Haus beschränkt, und in häuslicher Abgeschlossenheit wuchs
das weibliche Geschlecht heran: seine Erziehung und Bildung wurden ver-
nachlässigt. Die italienische Renaissance, die so viele hochgebildete Fraueu
hervorbrachte, erweckte nur schwache Nachklänge ans deutschem Boden. Gegen-
über diesen wenigen Ausnahmen, wie der Charitas Pirkheimer und anderen,
tritt die grosse Masse völlig zurück. Der Durchschnitt der Frauen war ohne
jedes höhere geistige Interesse. In meinem Aufsatz: „Die deutscheu
Frauen im siebzehnten Jahrhundert" (abgedruckt in den Eulturstudien) habe ich
das näher ausgeführt und belegt, freilich dabei stark betont, wie sehr diese
Abgeschlossenheit ein Glück für die Frauen war. Sie retteten Gemüth und
Natürlichkeit durch eine ganz verbildete Zeit hindurch: dem vielen Neuen
und Abstoßenden gegenüber blieben sie — namentlich die Frauen des Mittel-
standes — treue Hüterinnen des alten Familiengeistes und frischer Naivctät.
In diesen Zuständen trat nun gegen Ausgang des siebzehnten Jahr-
hunderts — in einzelnen Erscheinungen auch schon früher — eine gewisse
Aenderung durch das Aufkommen jener gelehrten Species ein, deren
Eremvlare immer zahlreicher wurden. Freilich, die große Masse der Frauen
wurde auch jetzt davon wenig berührt.
Immerhin wurde die gelehrte Frau zu einem geiuifsen Typus
und ist insofern culturhistorisch bemerkenswert!). Man scheint das
heute vielfach vergessen zu haben. So sieht Ludwig Geiger in seinem
tüchtigen Buch: „Berlin 1688—1840" die gelehrten Interessen der Königin
Sophie Charlotte anscheinend als eine besondere Ausnahme an. Das ist
nickt der Fall. Ich bemerke es ausdrücklich, daß ich hier nicht von schön-
geistigen Bestrebungen handle, obgleich auch auf dem Gebiet der Litteratur,
wie auf dem des Kirchenliedes, eine ganze Reihe Frauennamen (z. N.
Sibylle Schwarz) zu nennen wären, fondern von gelehrten Studien.
An die Renaissance knüpft diese Erscheinung mir in gewissem Sinne
an, so namentlich insofern, als die theoretifchen Erörterungen über
die Unterschiede der beiden Geschlechter und über die Frage,
ob die Frauen sich mit gelehrten Dingen beschäftigen dürften, bereits
ein beliebtes Thema italienischer Humanisten waren. Jakob Burkhard!
und lanitschek haben darüber eingehender gehandelt. Während aber
diese theoretische Frage in dem Italien der Renaissance, in dem die
Bildung der Frau der des Mannes völlig ebenbürtig war, praktisch bereits
zu Gunsten der Frau gelöst war, wandte sich das Interesse der deutschen
Humanisten zwar gelegentlich auch der Frage zu — so pries Eonrad
Nord und Lud. I.VXV. 221. 4
HN Georg 3teinhausen in I <na.
Celles die Hroswitha — aber sie konnten doch nur auf wenige deutsche
Frauen zu ihrer Zeit hinweisen, die der klassischen Bildung theilhaftig
waren. Auch Erasmus hat diese Frauenfrage erörtert. Ein besonderer
Verfechter der Frauen wurde Agrippa von Nettesheim, der ihnen sogar
eine Superiorität vor den Männern beilegte. Seine Schrift ist betitelt: De
iwdi Üt»tE st vraooellsnti» losminini 86XU8 eiuLäsmyus 8upra virilsiu
eiuiueuti».. Gegen Ende des sechzehnten J ahrhunderts traten dann eine
ganze Reihe deutscher Pertheidiger der Frauen auf, so 1595 der Doctor
Simon Gedicke, der in allem Ernst das weibliche Geschlecht gegen eine
Behauptung, die damals aufgestellt und in vielen Nachdrucken verbreitet
war, daß nämlich die Weiber keine Menfchen feien, vertheidigte, fo 1596
Andreas Schoppius und 1597 Valthafar Wandel, die aus demselben Grunde
für die Frauen auftraten.
Ganz unverhältnismäßig stärker tritt dann diese Litteratur erst in der
zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts auf und zwar, weil
damals, wie gesagt, das gelehrte Frauenzimmer eine Erscheinung war, die
auffallen mußte.
Woher kam diese Erscheinung. In erster Linie, meine ich, ist sie
in dem Charakter der ganzen Zeit begründet. Mit Recht hat man
dieses Zeitalter als das polnhistorische, als das gelehrte K»t' exoctie,,
bezeichnet. Es ist ja im Grunde eine höchst widerwärtige Periode; in mora-
lischer nnd geistiger Beziehung zeigt sich seit Ausgang des 16. Jahrhunderts
eine starke Depression, und so ist denn dieses Attribut der Gelehrtheit nicht
fchlechthin als Vorzug aufzufassen. Zweifellos ist in dieser Zeit gerade
auf gelehrtem Gebiet viel geleistet worden: aber ebenfo unzweifelhaft wiegt
der Charakter des Epigonenhaften, nicht der frifcher und fröhlicher Pro-
dnction vor. Und noch schlimmer ist der banausische Zug, der sich zeigt,
und weiter die Sucht, sich einen Anstrich, ein Air zu geben. Nicht gelehrt,
sondern wenn wir das Wort, das heute eine bezeichnende Färbung erhalten
hat, anwenden wollen: gelahrt erscheint uns die Zeit. Curiositäten und
Alfanzereien werden besonders werth gehalten: oft schreitet der helle Blöd-
sinn in gelehrt aufgeputztem Gewände einher. Das Einfachste wird durch
gelehrtes Brimborium verdunkelt: noch heute haben viele Gelehrte es nicht
fertig bringen können, sich von der öden Manier der Unverständlichkeit freizu-
machen, als ob sie damit der Wahrheit dienten — mit einem Wort: Die
Gelehrtheit wurde damals Mode.
Vereinzelt tritt nns das „gelehrte Frauenzimmer" schon zu Anfang
des siebzehnten Jahrhunderts entgegen. Waren vorher einzelne Frauen
schon auf dem Gebiet der Erbauungslitteratur — man vergleiche darüber
den Aufsatz von Talvj: „Deutschlands Schriftstellerinnen" im Historischen
Taschenbuch — thätig gewesen, so kamen jetzt weibliche „Wunder" der
reinen Gelehrsamkeit zum Vorschein. Um jene Zeit stand bekanntlich die ge-
lehrte Thätigkeit vor Allem in den Niederlanden in Blüthe. Namen
„vas gelehrte Frauenzimmer." HH
wie Lipsius, Scaliger, Heinsius sind ja Allen geläufig. So ist es erklär-
lich, daß gerade in den Niederlanden die gelehrten Frauen — als Bei-
spiel wird öfter Cornelia Vossius angeführt — zuerst häufiger werden. Die
Niederlande nannten auch jene Anna Maria von Schurmann,
die niederländische Minerva., mit Stolz die ihrige.. Von Geburt eine
Deutsche — sie ist 1607 in Köln geboren — hat sie den größten Theil
ihres Lebens in Utrecht zugebracht. Man findet über sie in zahlreichen
Büchern Näheres: hier genüge anzuführen, daß sie vierzehn Sprachen ver-
stand, mit zahlreichen Gelehrten in Briefwechsel stand und selbst schrift-
stellerte. Interessant ist aber namentlich, wie diesem „gelehrten Frauen-
zimmer" die gesammte gelehrte Welt huldigte. Die zehnte Muse, das
Wunder des J ahrhunderts, diese und ähnliche Bezeichnungen wurden zahl-
reich auf sie angewandt. Sie imponirte dieser polyhistorischen Zeit, und
daß sie ein Weib war, machte sie dieser curiositätenlüsternen Epoche nur
noch interessanter. Ter Sucht jener Zeit nach dem „Wunderbarlichen und
Unerhörten" schreibe ich dieses Interesse nicht zum kleinsten Theil zu.
Anna Maria von Schurmann, die übrigens ihrerseits Schriften pro
ckomo d. h. für die gelehrten Frauen (z. N. 6« i n F S » i i iu u iisbi- i8 aä clootri-
n»ni et ui6ll<ilS8 litoi'ü8 llptituäius) schrieb, fand nun in Teutschland
selbst bald zahlreiche Nachfolgerinnen. Aus anderen Ländern, wo man
dieselbe Erscheinung beobachten kann, will ich hier im Vorbeigehen nur an
Engländerin Weston und die berühmte Christine von Schweden erinnern.
Die bekannten und unbekannten „gelehrten Frauenzimmer" Deutsch-
lands hier einzeln aufzuzählen, hat wenig Zweck. Die Hauptsache ist, fest-
zustellen, daß sie gegen 17t)() hin gerade in Deutschland eine
Modeerscheinung werden. So spricht ein damaliger Autor, Johann
Gerhard Menschen, der Verfasser eine „Oourisuson Schau-Bühne Durch-
lauchtigst-Gelehrter vllmeg" von Deutschland als „einem Lande, so sich
vor allen andern viel gruncl-gelahrter Vams8 zu rühmen hat". Von
einzelnen Erscheinungen aus der ersten Hälfte des J ahrhunderts will ich
hier Anna Maria Cramer nennen, die im Alter von 14 Jahren, wahrschein-
lich in Folge der Ueberladung mit gelehrten Dingen, starb. Ter Vater,
der Magdeburger Pastor Andreas Cramer, rühmt von ihr in einem
lateinischen Epitaphium, daß sie KiZtoriae 6t pootioa« 8tu6w8i83iw»,
liußuig latinÄ 6t bsdrnie» sl6A»ntl88im« excult» 6t 8aorai'urn littorarum
8wäil8 unics äeäitn gewesen sei. Auf sein „Wunderkind" war der
Vater zweifellos sehr stolz gewesen, und ähnlich dachten viele Gelehrten
und suchten aus ihren Töchtern gelehrte Monstra zu machen.
Aber nicht nur die Töchter der Gelehrten, fondern namentlich auch
Fürstentöchter, an deren Erziehung mehr herumerperimentirt wurde, als
an der geringerer Frauen, bieten Beispiele, wie Luise Amöne von Anhalt,
die Hebräisch verstand, die fertige Lateinerin Katharina Ursula von Baden,
Antonio, von Württemberg „mit ihrer ungemeinen Wissenschafft in der
4»
50 Georg Zteinhausen in Jena.
Griechischen, vornehmlich in der Hebräischen Sprache", die Töchter des
Winterkünigs, Elisabeth, Aebtissin von Herford, die gelehrte Freundin
Descartes', und Sophie von Vraunschweig. Von der Letzteren rühmt der
obenerwähnte Meuschen, daß die „Strahlen Ihrer durchdringenden Weiß-
heit, schärften Verstandes und inettadlsr Wissenschaft in der ^lisOlo^ie,
6eoßr»pdis, 2i8toril_ und vielerlei) Sprachen so hellgläntzend sennd, daß sie das
Licht seiner blöden Augen verdunkeln und machen, daß er sie mehr in stiller
Verwunderimg verehre als zu entwerffen sich überwinde." Ihre Tochter
war die bekannte Sophie Charlotte, die Freundin Leibnizens.
Neben diesen fürstlichen gelehrten Frauen — die Beispiele ließen sich
leicht vemehren — wären gar viele aus bürgerlichen und adligen Kreisen zu
nennen, von denen einzelne, wie Maria Barbara Lehmann, Maria Kunitz,
Helene Sibylle Wagenseil, weit und breit bekannt waren. Doch will ich
hier nicht mit Notizen ermüden. Zahlreiche Beispiele „gelehrter Frauen-
zimmer" findet man in dem erwähnten Aufsatz der Talvj und in der
gleich zu nennenden Litteraturgattung des 17. und 18. Jahrhunderts.
Hervorzuheben ist nämlich, daß man damals von solchen Frauen und
Jungfrauen — nicht blos jener, sondern auch früherer Zeit — befonders
gern hörte und las. Sehr zahlreich werden die Schriften, die ~ oft
in trockener Aufzählung — von gelehrten Frauen berichten. So sind zu
nennen: loh. Franenlob, die lobwürdige Gesellschaft der gelehrten Weiber,
Paschii ss.vnaeceum äocwiu, C. F. Panllini, Hoch« nnd Wohl-gelahrtes
Teutsches Frauen-Zimmer, loh. Casp. Eberti eröffnetes Cabinet des ge-
lehrten Frauenzimmers und sehr viele andere. Diese Litteratur muß also
sehr beliebt gewesen sein und zahlreiche Leser gefunden haben. Diese Galerien
sollten „zum angenehmen Zeitvertreib" dienen, man sollte, wie es bei
Pau Mini heißt, daraus ersehen, „wie unser geliebtes Teutschland weder den
hochtrabenden Spaniern noch den ehrgeitzigen Welschen oder aufgeblasenen
Frantzosen dißfalls im geringsten nachzugeben habe, sintemahl hierinn
solche Pierinnen gezeigt werden, die viele Ausländerinnen in den Winkel
jagen." Und dann heißt es stolz: „Denn wie weit glückseliger und zier-
licher ist unser jetziges Teutschland, als zu Taciti Zeiten, da weder Mann
noch Frau was künstliches kont- oder wüsten."
Diese Litteratur zeugt weiter davon, daß man in vielen Kreisen,
namentlich natürlich den gelehrten, die gelehrten Frauenzimmer besonders
hochachtete. Wenn schon zu Anfang des J ahrhunderts die lenaischo
theologische Facultät ein gelehrtes Buch der Regina von Grünad:
„Der geistliche Wagen" — das Buch selbst konnte ich nicht erlangen,
auf der Jenaer Bibliothek ist es nicht — mit einer empfehlenden Vorrede
einleitete, so zeigt das die wachsende Achtung. Mit besonderer Vorliebe
wandte man sich auf's Neue der Frage zu, ob den Frauen das ge-
lehrte Studium dienlich fei. Auch diese Litteratur ist sehr zahlreich:
es würde zu weit führen, hier Nachweise zu geben. Es ist ja auch er-
„Das gelehrte Frauenzimmer." 5~
tlärlich, daß die Menge der gelehrten Frauen die Frage und das Interesse
daran besonders in Fluß bringen mußte. Namentlich um 1700 läßt sich
das bemerken. In dem großen encnklopä'dischen Werke des von Hohberg:
,,6eorFiea eurio8», oder Adeliges Landleben" findet sich in der Ausgabe
von 1682 die Frage nicht berührt, in der von 1701 ist dann aber ein
neues Capitel enthalten: „Ob einen« Weibsbild das Studium wohl anstehe?"
Die meisten Autoren nun nehmen in der Frage einen ziemlich ver-
nünftigen Standpunkt ein, wenngleich sie den allgemeinen Nespect vor den
gelehrten Frauen meistens theilen. Ein besonderer Verehrer derselben
ist Pau Mini. Er sagt von der oben erwähnten Euripidesstelle: „Es ist ja
wohl eine Ochsenstimme, wenn Eurivides also herausplumpet." Er schilt, daß
die Frauen selbst, d. h. die Masse derselben, diese gelehrten Zierden wenig
achten, und läßt eine also sprechen: „Ja so gar sind wir zur Barbarei und Un-
wissenheit verdammt, daß nicht allein die Mannspersonen, sondern auch die
meisten von unserem Geschlecht selber, weil sie in der Eitelkeit und Unwissen-
heit verwildert sind, uns verachten und verlachen, wenn eine oder die andere
auf löbliche Wissenschaft sich befleißt, und nichts auf gelehrte Weibspersonen
halten." Ein anderer wanner Vertheidiger ist Paullinis Freund, Herr
Johannes Sauerbrei, der zwei Disputationen äs teiuinaruiii sruäitiuns hielt.
Ein wenig anders urtheilt der erwähnte Herr von Hohberg-, er be-
wundert „die yxosllsutsu InAyni»" unter den Frauen, aber für allgemeine
gelehrte Nildung ist er nicht. „Wann ich hierinnen," sagt er, „meine
Mennung unmaßgeblich beifügen sollte, geb ich zwar gerne zu, daß mehr
Schad als Nutzen daraus entspringen sollte, wenn sich die Weiber ins-
gemein auf's Studium begeben wollen; das kann man aber dennoch nicht
laugnen, daß sie so mol GOttes Ebenbild sind als die Männer, und wo
sich sxtraoräinni'ie hohe InFSnia, scharfsinnige .luäicin, und fürtreffliche
Einfälle unter ihnen befinden, und sie solche zu GOttes Lob und Dienst
des Nächsten bescheidentlich anwenden, es nicht allein untadelich, sondern
auch löblich und rühmlich sey; wie ich dann von dergleichen fürtrefflichen
weissen Frauenzimmer viel Erempel anziehen könnte u. s. w. Weil aber
dieses absonderliche und heroische Erempel sind, wäre es verwegen, wann
man ihnen insgemein nachahmen sollte, sonderlich, wann man dabe« die
weibliche Pflicht, Gebühr- und Neruffs-Arbeit beyseits setzen, versäumen
und vernachlässigen wolle." In ähnlicher Weise spricht sich ein etwas
später erschienenes Werk: „Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-
Lexikon" aus. In der Vorrede desselben wird auf den neuerdings heftig
entbrannten Streit über die gelehrten Frauen hingewiesen: der Verfasser
will deshalb „einige unvorgreiffliche Gedanken: Ob und wie weit ein Frauen-
zimmer sich in die gelehrte Wissenschaften einzulassen Ursache habe", aus-
führen. Er ist durchaus für wissenschaftliche Nildung, aber in einem be-
schränkten Sinn. „Mit solchen Weibes-Personen aber," fährt er fort, „die
sich in der Äat!>erü»tic, l'dilozopliia 8oiontiiica, Staats-Kunst, Oriti«,
52 Georg steinhausen in Jena.
I'b.iloloßie, ?n?8is> Sprachen, der höheren ^iisoloßis, luriZpruäeu? unl>
Neäioill allzu sehr vertiefst haben, wird wohl niemanden viel gedienet seyn.
Kommt ein dergleichen Gewächse in den gelehrten Gefilden zum Vorschein,
so muh man es wie eine rare ausländische Pflantze bewundern,
keineswegs aber zur Nachahmung vorzeigen."
Dieser Standpunkt wird allmählich immer häufiger vertreten. Keine
gelehrten Wunder, aber größere Nildung des weiblichen Geschlechtes.
Denn man muß nicht vergessen, worauf ich schon zu Anfang dieser Skizze
hingewiesen habe, daß, wenn auf der einen Seite das „gelehrte Frauen-
zimmer" nicht selten war, auf der anderen doch ganz auffallende Unbildung
und Umvissenheit herrschte. Darauf weist z. V. Veit Ludwig von Secken-
dorf in seinen: „Christen-Stat" sehr nachdrücklich hin. „Ist also," sagt
er, „eine grosse und unverantwortliche Nachlässigkeit, daß so wenig Sorge
für die Unterweisung und gute Erziehung des weiblichen Geschlechts getragen
wird. Ein sehr weniges geschiehet in den Mägdlein-Schulen und bleibet
gemeiniglich und bei dem alleruntersten Grad der (ÜÄtkcb.i8ation." Un-
bedingt für „gelehrte Weiber" ist er auch nicht, aber es ist „auch eine
Mittel-Straße zu treffen". So bedauert er, daß aus dem Plane des Kur-
fürsten August von Sachsen 1555, „drey so genante I ungfran-Schulen,
iede vor 40 Personen, im Lande zu stiften," Nichts geworden ist; „wie
anders Gutes mehr, ist auch dieses ohne s3sc>t geblieben, so doch ein herrlich
Erempel gegeben hätte, dem hin und wieder nachzufolgen gewesen wäre".
Auf diese wichtige und interessante Bewegung zur Hebung des weiblichen
Geschlechtes will ich hier nicht näher eingehen: man weiß, wie namentlich die
moralischen Wochenschriften sehr darauf hinwirkten. Das „Frauen-Volk" follte,
wie es in den „Discursen der Mahler" heißt, „witzig und angenehm, aber nicht
gelehrt und pedantisch" werden. An Geliert ist ebenfalls zu erinnern: die
Vremer Beiträge wandten sich namentlich an das „gebildete Frauenzimmer".
Von dieser socialen Bewegung werde ich in größerem Zusammenhang über
kurz oder lang zu handeln versuchen.
Hier beschränke ich mich darauf, die gelehrteTpecies weiter zu beobachten.
In diefer Beziehung stoßen wir im Anfang des 18. Jahrhunderts auf Be-
strebungen, die trotz der Angriffe auf die „gelehrten Weiber" und trotz der
oben angeführten Warnungen vor Uebertreibungen den Frauen höhere Ge-
lehrsamkeit nachdrücklicher zu sichern suchen.
Der Gedanke einer Akademie tritt auf und wird vielfach erörtert.
Namentlich in Zeitschriften. So wird in den „auserlesenen Anmerkungen
über allerhand wichtige Materien und Schriften" 170? eine „Jungfer-
Akademie" vorgeschlagen. Der Autor will allerdings wesentlich „eine Gelehrt-
heit in IßalibuL", keine „gelehrten Dhorheiten. welche man bisher eine
Erudition genennet". Da nun die Universitäten „zur Zeit noch nicht im
Stande" mären, „daß man Jungfern und Weibern rathen dürfte, mit den
Herren Studenten im Collegio eine bunte Reihe zu machen", fo müsse man
„Das gelehrte Frauenzimmer." 53
eben für sie „eigene Schulen und Universitäten" aufrichten. Er schlägt denn
eine vollständige Organisation vor, will z. B. auch Promotionen, also
weibliche Doctoren, und verspricht von einer solchen Anstalt dem Lande auch
materiellen Vortheil. „Dergleichen Jungfer-Akademie würde über den Nutzen,
so von der Wcibergelehrtheit der Republik zugeht, auch der Stadt und den:
Lande ein Großes eintragen". Das gleiche Thema fpielt in den moralischen
Wochenschriften eine erhebliche Rolle. Hin und wieder wird es dort freilich
etwas fatirifch behandelt. „Der Patriot", die Hamburger Wochenschrift,
kommt schon im dritten Stück des ersten Jahres darauf zu fprechen. „Wir
meinen, die Wissenschaften sind dem Fraunzimmer Nichts nütze; es werde
derselben nach seiner natürlichen Schwachheit mißbrauchen, und lassen deswegen
mit Fleiß unsere Töchter in der dickesten Unwissenheit aufwachsen." „Dieses
Betragen" wird „unverantwortlich" gefunden, und auch hier eine Akademie
vorgeschlagen, die aber wesentlich auch eine gebildete und gute Hausfrau
erziehen soll. Sie soll „in allen Wissenschaften akademische Ehren-Stellen"
vertheilen können, und vornehmlich soll sie, wird wohl etwas schalkhaft
hinzugefügt, „in der Haushaltungs-Kunst sie zu Magisterinnen, Licentia-
tinnen und Doctorinnen machen". Die Leipziger Wochenschrift „Der
Biedermann" behandelt die Sache auch anfangs nicht ernst, indeni es einen
lächerlichen Vorschlag, nämlich das männliche Geschlecht vom Katheder ab-
zuweisen und au dessen Stelle lauter galantes und gelehrtes Frauenzimmer
als Professorinnen und Doctorinnen der studirenden Jugend vorzusetzen",
erörtern und abweisen läßt. Dann aber wird ein Brief veröffentlicht, in
dem folgende Stellen vorkommen: „Ich zweifle keineswegs, daß nicht die
in Vorschlag gebrachte Frauenzimmer-Akademie in's Werk zu richten,
möglich sein sollte, uud zwar auf folgende Art: Fänden die Mütter bey
ihren annoch zarten Töchtern, daß sie Gaben zum Studiren befassen, so
dürften sie dieselben nur mit einein und dem anderen Gelehrten Privat-
Stunden halten lassen, bis sie die Vollkommenheit erreichet hätten, daß sie
weiter keinen Unterricht brauchten. Wozu ihre Neigung eine jede triebe,
dazu müßte man sie anführen lassen, so daß man nnter ihnen Geistliche,
Rechts-Gelehrte, Artzenen-Verständige und Welt-Weise, ja überhaupt alle
Arten der Gelehrten anträfe, dergestalt würde in wenig Jahren fo viel ge-
schicktes Frauenzimmer als Mannspersonen zu finden seyn. Ihrem Werthe
und Wissenschaft nach müsste man eben aus ihnen Doctores und Professores
machen, damit ihre Bemühungen gleichfalls einige Belohnung von Ehren-
Stellen zu gewarten hätten". Im Ganzen will der Schreiber beweisen,
„daß die Frauenzimmer-Akademien der gelehrten Welt mehr Nutzen als
Schaden stiften würden, im Fall sie sollten aufgerichtet werden". Sie
wurden nicht aufgerichtet, auch ein Plan im Jahre 1748, den Moliu in
Hamburg ausführen wollte, wurde nicht verwirklicht.
Aber die Bestrebungen zeigen doch, daß das „gelehrte Frauenzimmer"
noch immer sich ernsthafte Geltung verschaffte. Am hingehendsten wird es in
5H Georg 3t«inhausen in Jena.
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Wochenschrift: „Die ver-
nünftigen Tadlerinnen" vertheidigt — leicht erklärlich, denn es ist das
Organ Gottscheds. Ein Artikel in derselben von „Ealliste", d. h. von
Gottsched selber, kommt darauf ausführlich zu sprechen. „Ich muß mich
oftmals wundern," beginnt er, „daß der Haß gegen die Gelehrsamkeit
des weiblichen Geschlechts ben vielen Leuten so gar groß ist. Man kann
bey den ineisten Leuten ein Frauenzimmer nicht lächerlicher, nicht abscheu-
licher abbilden, als wenn man ihm den Titel eines gelehrten Frauenzimmers
beyleget." Auf seine Verthcidigung will ich hier nicht eingehen, das Thema
wird in der Zeitschrift noch wiederholt behandelt. So wird einmal in einein
Stück mit dem Motto „Ist irgendwo ein Mann, der einer Schurmannin
sich gleich erweisen kann?" (Rachel) ausführlich die oben erwähnte Schrift
der Schurmann ausgezogen und damit die Nothwendigkeit des Frauen-
studiums dargelegt. Ein anderes Mal wird das Lob der gelehrten Frau
also gesungen: „Ich ergehe mich, so oft ich daran gedenke, wie der be-
rühmte Dacier mit seiner gelehrten Frauen gelebet haben müsse. Ich
stelle mir zum Eremvel vor, wie bende Ehegattinnen beysammen sitzen, und
die weisen Sprüche des großen Kaisers Antoninus aus dem Griechischen in's
Französische übersetzen. Welch ein angenehmer Streit ist dieses, da der
Mann es der Frauen, die Frau aber dem Manne in der Gelehrsamkeit
zuvor thun will; endlich aber sich mit einander vergleichen und zuletzt ein
Buch unter bender Namen an's Licht stellen."
Unwillkürlich fühlt man sich an Gottsched und seine Frau erinnert.
In Frau Gottsched, der früheren „Jungfer Kulmus", haben wir noch
eine charakteristische Vertreterin der gelehrten Frauen vor uns. Sie verstand
mehrere Sprachen, auch Lateinisch und Griechisch, und ihre Interessen waren
sehr weite. Freilich konnte sie gleichzeitig auf den Namen einer gebildeten
Frau Anspruch machen. Davon zeugen ihre Briefe; in meiner „Geschichte
des deutschen Briefes" habe ich wohl mit Recht auf sie besonders hingewiesen.
Vor den gebildeten Frauen mußten aber dann die „gelehrten" weichen.
In der zweiten Hälfte des J ahrhunderts sterben sie aus, trotz Vor-
kämpferinnen, wie der Dichterin Sidonia Hedwig Zäunemann, die es
bitter rügt, daß den Frauen die Lehrsäle verschlossen seien, und die Männer-
welt anklagt wegen ihrer Verhöhnung: „Ein Weib, das dichtet und schreibt,
heißt sie (bedenkt es nur) ein schönes Ungeheuer und Blendwerk der Natur."
Die Zäunemann hat aber doch nicht ganz Recht. Die gelehrte Welt
hielt noch in der Mitte des J ahrhunderts an manchen Orten die gelehrte
Frau hoch und verschloß ihr mitunter sogar nicht die Lehrsäle.
Dafür will ich noch ein bisher wohl unbekanntes Beispiel an-
führen, ein gelehrtes Frauenzimmer aus Pommern, das uns zugleich als
letzte Vertreterin des aussterbenden Typus dienen mag. Es ist
Anna Christine Ehrenfried von Balthasar, der Weltweisheit Naccalaurea in
Greifswald. Am 14. Juli 1750 Nachmittags hielt sie zur Eröffnung der
„Das gelehrte Ftaueiizimnier." 55
akademischen Bibliothek eine Rede, die nachgehende gedruckt ist: „Erweis,
daß Bibliotheken die sichersten Wohnstätten einer wahren und ächten Freund-
schaft sind." Der Anfang ist charakteristisch, und ich theile ihn hier mit:
„Sie erlaubten es mir. Hochgeschätzte Glieder der Köngl. Akademie,
ben den ersten Feierlichkeiten in den: neuen Tempel der Musen die Gesinnung
der Freude und der Andacht zu schildern. Sie erlaubten es nicht nur; Sie
bewiesen auch auf eine, für mich und mein Geschlecht so vortheilhafte Art,
wie weit ihr rühmlicher Trieb für die Ausbreitung der Wissenschaften gehet
und wie bereitwillig Sie sind, die Neigung zu denselben auch an denen
zu lieben und zu belohnen, welchen die Herrschaft der Gewohnheit sonst
den Zutritt zu Lehrsälen und Kathedern beynahe verschlossen hatte."
Noch interessanter ist eine Schrift, die an sie, „die Greifswaldische
Muse," gerichtet ist und zwar aus Königsberg: „An die Hochwohlgebohrne
Fräulein, Fränlein Anna Christine Ehrenfrieb von Balthasar, der Weltweisheit
Baccalaurea, der Königl. Gesellschaft der schönen Wissenschaften zu Greifs-
wald und der Königl. deutschen Gesellschaft zu Königsberg Ehrenmitglied,
ber, der Akademischen lubelfener zu Greifswalde gerichtet. Den 18. des
Weinmonats 1756." Darin heißt es unter Anderem:
„Jetzt errathen Sie fchon gnädige Fräulein, warum unsere Gesellschaft
diese Blätter an Sie gerichtet hat. Sie sind die Zierde der Greifswaldischen
Musen. Diese hohe Schule zählt es unter die grossesten Glücksgüter
bei) ihrem Jubelfest, in ihren Mauern eine gelehrte Dame auf-
zeigen zu können. Ihre Einsicht in das Reich der Gelehrsamkeit, der
schönen Wissenschaften ist der gelehrten Welt bekannt. Ihre Einweihungs-
rede des Greifswaldischen Musentempels, die Sie in lateinischer Sprache
gehalten, die Antrittsrede in die Königliche Deutsche Gesellschaft, und die
Rede bey Eröffnung der akademischen Bibliothek sind ewige Denkmäler ihrer
feinen und witzigen Beredsamkeit, die die Nachwelt als einen seltenen Schatz
aufbewahren wird."
Und weiter: „Frankreich mag sich immerhin einer Dacier und Ehatelet
und Italien einer Baßi, Leipzig einer Gottschedin und Schweden selbst einer
gelehrten Gräfin von Eckeblad rühmen; wir haben eine gelehrte, eine witzige
und eine tugendhafte von Balthasar aufzuzeigen und können mit Recht auf
unsere Ehre stolz sein. Je seltener es ist, ein Frauenzimmer von Stande
zu seyn und sich zugleich über das Genie dieses J ahrhunderts, nur beym
Nachtisch und Lomberspiel zu denken und in frauenzimmerlichen Kleinigkeiten
groß zu werden, zu erheben und den schönen Geist der Gelehrsamkeit zu
widmen; je mehr Achtsamkeit und Verwunderung bezeugt die vernünftige
Welt, wenn sie von schönen Lippen die Lehren der Weisheit fließen höret.
Die Gratien umschwärmen lächelnd ihr Haupt und jedes Wort flößet Ent-
zückung in die Seele des Zuhörers."
Stärkeren Ausdruck kann der Cultus der gelehrten Frau nicht gut finden.
Krankenpflege und specisische Therapie,
von
Martin Mendelsohn.
- Vellin.
gegenüber einer tiefgehenden Anschauung der Völker, ivelche allen
~rten und allen Zeiten eigenthümlich anzugehören sck)eint, hat
die medicinische Wissenschaft, wenigstens was ihre Anwendung
im Leben und ihre tatsächlichen Leistungen anbetrifft, ihre Wertschätzung
mit Müh? aufrecht zu erhalten und zu vertheidigen: der Anschauung gegen-
über, alle Krankheiten wüßten geheilt werden können, die Menschheit habe
geradezu einen Anspruch darauf, uon der Mediciu eine solche, nie versagende
Leistungsfähigkeit zu «erlangen. Und doch ist solch ein Anspruch nichts
Anderes, als wollte wem etwa uon dem Astronomen verlangen, er solle nicht
nur eine bestimmte Eonsiellotion des Mondes zur Erde voraussagen und
berechnen, sondern auch eine hierdurch vielleicht eintretende ^turmfluth ver-
hindern und abwenden. Denn den gleichen, ewigen, ehernen, großen Gesehen,
wie die Körper des Weltalls in ihren gewaltigen Bewegungen, gehorchen auch
wir, auch nach ihnen müssen wir unseres Daseins Kreise vollenden, und
das, was wir Krankheit zu nennen gewöhnt sind, ist nichts Anderes, als
der Widerhall der gescunmten Einflüsse und Einwirkungen der uns um-
gebenden Natur auf den jeder Beeinflussung zugänglichen menschlichen
Organismus, der Widerhall von Einwirkungen, die wir nie und nimmer
aus der Welt zu schaffen vermögen, denn sie umfassen eben die gesummte
Natur; und wie unser ganzes Leben niclt-5 anderes ist, als ein „Sichab-
finden" nnseres Ichs mit seiner Umgebung, so sind die Epochen der Krankheit
nur jene Perioden im Leben, wo dies dem Organismus uur schwer uud
■>
Krankenpflege und specifische Cheiapie. 5?
nur mit Mühe gelingt. Und darum ist es eine naive nnd hinter der heutigen
Weltanschauung weit zurückbleibende Auffassung des Begriffes der Krankheit,
wenn man sich vorstellt, daß in der Natur, wie für jedes Gift ein Gegen-
gift, wider jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, daß es gegen jede
„Krankheit" ein „Mitte!" geben müsse. Nur der Wunsch war hier der
Vater des Gedankens; und der Wunsch nach so hohem, so unerreichbarem
Ziel hat die besten Geister, welche die medicinische Wissenschaft aufzuweisen
hat, immer wieder versucht, nach Mitteln gegen die Krankheiten zu forsche«,
specifischen Mitteln, welche die Krankheiten vernichteten. Aber niemals ist
Einer mit diesem heißen Bemühu weiter von wahrer Heilkunst entfernt,
als wenn er so mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn
er Negenwürmer findet.
Uni Etwas bekämpfen und besiegen zu können, muß es ein Greifbares,
ein Körperliches fein, ein reales Ding, gegen das man sich wenden kann.
Und so hat die Anschauung einer directen Bekämpfung einer Krankheit durch
ein specifisches Mittel eine gar bedenkliche Hinneigung zu jeuer mystischen,
einer vergangenen Zeit angehörenden Auffassung von den Krankheiten als
körperlicher Wesen, die den Menschen befallen, als strafender Abgesandter
der Götter, die man durch Opfer und Gebet versöhnen kann. Denn nur
der Inhalt des körperlichen, wesenhaften Krankheitsbegriffes würde sich dann
im Laufe der J ahrhunderte geändert haben; der Begriff der Krankheit selber
wäre nach wie vor ein greifbares, materielles Etwas, das außerhalb des
menschlichen Organismus stände, ob es nun ein Abgesandter einer höheren
Macht oder eine in der Luft umher fliegende Batterie ist, die sich Beide
dann ganz nach ihrem Belieben im menschlichen Organismus niederlassen
und natürlich auch durch entsprechende Mittel daraus wieder vertrieben
werden könnten. Aber selbst bei den Infectionskrankheiten, deren Namen
schon auf solch ein Eindringen einer fremden Schädlichkeit hinweist, ist diese
doch nur ein einziges Glied in einer großen Kette von Reizen und Neac-
tionen, die an einem bestimmten Individuum zusammenwirken müssen, um
z» einer Krankheit zu werden, und Nichts märe unwissenschaftlicher, als
von diesem äußeren Agens allein den ganzen Krankheitsbegriff ableiten zu
wollen und etwa mit einem bequemen Schema zu fagen: ndi Lao!llu8
idi Oliolsrn.
Krankheiten an sich giebt es überhaupt nicht, es giebt nur kranke
Menschen; und auch hier ist der Begriff Krankheit etwas durchaus Relatives,
das allein nach der Individualität der einzelnen Person zu beurtheilen
ist. Wie es keine absolute Gesundheit giebt, so giebt es auch keine absolute
Krankheit. Der lebende und handelnde Organismus des Menschen ist in
eine Welt von Schädlichkeiten hineingesetzt, durch die er hindurch muh und
mit denen er sich abzufinden hat; Alles, aber auch Alles, die Luft, die er
nthmet, der Trunk, den er genießt, das Maß der Bewegung, die er voll-
führt, und die Nuhe, die ihm wird. Alles, Alles wirkt auf das feinstorganisirte
58 Martin Mendelsohn in Verlin.
und complicirteste Gebilde der Natur dauernd und doch in ewigem Wechsel
ein. Alles hinterläßt an ihm seinen Eindruck, Alles beeinflußt den Ablauf
seines Lebensprocesses: auf Alles reagirt er. Wir haben uns gewöhnt, den
Zustand, in weichein dieser Lebensproceß sich leidlich abspielt, in dem die
Organe ordentlich functioniren, wo wir uns so eben behaglich fühlen und
unsere Leistungsfähigkeit den Umfang hat, welchen wir nun einmal der
einzelnen Persönlichkeit je nach ihrer Individualität als den normalen zu-
rechnen, als Gesundheit zu bezeichnen; aber an keinem Tage erreichen diese
Functionen den gleichen Grad wie an einem andern, und die verwirrende
Vielheit der äußeren Einflüsse läßt auch die Leistungen, die Thätigkeit, das
Functioniren des menschlichen Organismus täglich anders sich gestalten. So
unsäglich fein ist die Einwirkung dieser äußeren Einflüsse, daß sie nicht
einmal materieller Natur zu sein brauchen, um deutliche Folgewirkungen
auszulösen, daß Gemüthsbewegungen, Stimmungen, psychische Eindrücke nicht
nur eine Erhöhung oder Herabminderung der Leistungsfähigkeit, sondern
auch directe körperliche Veränderungen und selbst Krankheitszustände im
Gefolge haben können. In diesem ewigen Spiel und Gegenspiel der Kräfte,
welche auf den Menschen in der Natur einwirken, und auf die er wiederum
reagirt, läßt sich von einer absoluten Gesundheit nicht sprechen; wir sind
sicherlich zu Zeiten übergesund, suhlen uus wohler, sind leistungsfähiger als
dein uns zukommenden durchschnittlichen Mittel entspricht, und ebenso sinkt
der Ablauf unferer Functionen oft auch unter dieses Mittel, ohne gleich
eine tiefste Stelle zu erreichen, wo wir dann uns als „unwohl" erachten,
nicht jedoch von einer Krankheit befallen glauben. Die Eurve uuseres
Lebens, deren höchste Spitze die vollste Gesundheit, deren tiefster Fall die
schwere Krankheit ist, schwankt eben in stetem Wechsel auf und nieder.
Nun bringen es die Dinge der Welt mit sich, daß man solclie
minderen Störungen geringachtet; nur die ganz schweren Beeinträchtigungen
in der normalen Arbeitsleistung des Organismus sind zu „Krankheiten"
geworden. Eine Anzahl von Erscheinungen, welche gleichartig an ver-
schiedenen Individuen bei erheblicheren Störungen in den Vordergrund der
Aufmerksamkeit träte», sind zu diesem Nehufe zu Kranthoitsbildern zu-
sammengefaßt worden, ein Systematisiren und Einordnen, welches für eine
spätere Erkenntniß zweifellos der erste Schritt sein muß. Aber man darf
dabei niemals vergessen, daß in diesen KranklMsbildern, von denen jedes
eine bestimmte Summe klinischer Symptome enthält, ein Zusammenfassen
von Erscheinungen vorgenommen worden ist, welche uns zwar auffällig und
außergewöhnlich genug erscheinen, um registrirt zu werden, die jedoch dadnrek,
daß sie in dein Krankheit-Knlde gerade für unsere Sinne besonders hervor-
treten, noch durchaus nicht eben das Wesentliche in dem außergewöhnlichen
Vorgang, welcher sich da abspielt, zu sein brauchen. Denn die Krankheit
ist nichts Anderes als der Anpassungsvorgang des Menschengeschlechts an
die Schädlichkeiten der Umgebung im Kampfe uin's Dasein, und gerade in
Krankenpflege und specifische Therapie. 5)
ihr tritt das große Gesetz Darwins an dein höchstorganisirten lebenden
Wesen am greifbarsten in die Erscheinung. Was für einzelne, unseren
Augen deutlich verfolgbare Verhältnisse der Vorgang der Acclimatisation
ist, das ist für das ganze Menschengeschlecht die Gesammtheit der Krank-
heiten, in welchen die einzelnen Individuen entweder den Schädlichkeiten,
welche sie umgeben, sich anpassen oder in dem ohnmächtigen Versuche hierzu
erliegen. Und dieser Anpassuugsvorgang geht mit einein so erhöhten
und so angespannten Functioniren bestimmter Gruppen und Systeme des
menschlichen Organismus einher, daß die augenfälligen, die unseren Sinnen
wahrnehmbaren unter diesen Erscheinungen uns als die Symptome der
Krankheiten imponiren und zum eigentlichen Krankheitsbilde werden. Aber
ebensowenig, wie diese gerade zu Tage tretenden Erscheinungen nun auch
die gesummten, hier überhaupt sich abspielenden Abweichungen von dem
normalen Laufe der Dinge sind, ebensowenig dürfen sie gerade als die
eigentlichen krankhaften Symptome augefehen werden, mit deren Beseitigung
etwa auch eine Beseitigung der Störung erzielt würde. Alles das, was
als Symptom in dem Krankheitsbilde in den Vordergrund tritt, ist nur ein
Theil, nur der nnseren Sinnen erkennbare Theil der veränderten Arbeits-
leistung des Organismus, nur eine Steigerung oder eine Herabsetzung seines
natürlichen Functionirens iu dem Bestreben, sich der Schädlichkeit anzupassen;
nnd so ist der Vegrisf der Krankheit durchaus ein rein funktioneller, nicht
nur der eines Lebens unter veränderten Bedingungen, fondern der eines
Bestrebens, sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Nie und nimmer
kann allein die eine oder die andere äußere Schädlichkeit den Begriff der
Krankheit ganz für sich ausmachen, und ebensowenig sind es etwa die
anatomischen Veränderungen, welche hinterher als Residuen des Krcmkheits-
processes auf dem Leichentifch gefunden werden, aus denen sich das Wesen
der Krankheit allein zusammensetzt. Die Krankheit ist vielmehr in jedem
einzelnen Falle das erhöhte, veränderte, abgelenkte Functioniren des Organis-
mus in seinem Bestreben einer Anpassung an die äußeren Reize, gleich-
giltig, ob merkbare anatomische Veränderungen nebenhergehen oder nicht,
sie hängt ihrem Wesen und ihrer Schwere nach immer nur von der An-
passungsfähigkeit des einzelnen Organismus ab, von dem Umfange, in
welchem dieser seine Lebensvorgänge der Schädlichkeit entsprechend zu
reguliren vermag, mit Einem Worte lediglich von Eigenschaften, welche in
dem erkrankten Organismus selber liegen, welche ihm eigenthümlich, von
ihm unzertrennlich sind.
Und in dieses verwickelte Spiel der Kräfte wirksam und nach ihrem
Willen eingreifen zu können, verspricht sich jene specifische Therapie, die alle
die vielfachen Einflüsse und Reize, die dem Kranken aus seinem Milieu er-
wachsen, alle die verschiedenartigen Reactions- und Anpassungsmöglichkeiten,
die ein jedes Individuum in anderein Maße besitzt, geringachten und ver-
nachlässigen zu können glaubt und uur gegen einen, allerdings den letzten
60 Martin Mendelsohn in Verlin,
und augenfälligsten der einwirkenden Einflüsse meint ankämpfen zu müssen,
lüulltr» viin morlig non luscüollmku in uorti»; ein bestimmtes „Mittel"
gegen eine bestimmte „Krankheit" giebt es nicht und kann es nicht geben.
Wo eine Therapie nicht an den natürlichen Kräften des Organismus ansetzt,
wo sie nicht stets vor Augen hat, daß das, was wir als Krankheit vor uns
sehen, nicht in erster Linie von der Stärke der eindringenden Schädlichkeit,
sondern von der Schwäche des Überfallenen Körpers abhängt, da muß
sie mit unabänderlicher Nothwendigkeit Schiffbruch leiden. Denn der Grad
der Erkrankung hängt von dem Grade der in jedem Fale vorhandenen
Schwächung der natürlichen Schutzkräfte des Körpers ab; nnd es ist
der gleiche Vorgang, ob eine tüdtliche Dosis Arsenik, das eine Mal an
einem gewohnheitsmäßigen Arsenitesser, dessen Organismus der Schädlichkeit
bereits ganz angepaßt ist, völlig symptomlos abprallt, das andere Mal eine
Person sofort zum Tode bringt, oder ob bei dem epidemischen Auftreten
einer Seuche, wo alle Menschen den Giftkeim gleichzeitig in sich aufnehmen,
die einen, weil sie eben gerade über die entsprechenden Schutzkräfte ver-
fügen, ihn ohne Weiteres eliminiren, die anderen dies nur unter der höchsten
Arbeitsleistung derjenigen Functionen thun können, welche im gegebenen
Falle einen Ausgleich herbeizuführen vermögen, eine Steigerung der Funk-
tionen, die eben als Erkrankung sich uns darthut, und die dritten, nicht
zu einer genügenden und ausreichenden Neaction fähigen, der Schädlichkeit
erliegen. Immer ist der letzte und anscheinend einzige Neiz nur dasjenige
Moment, welches den Krankheitsuorgaug auslöst, das die Kräfte des Orga-
nismus anstößt, das Spiel der Abwehr und der Anpassung in dem Maße
und dem Umfang zu beginnen, dessen sie ihrer individuellen Natur nach
sähig sind; und dieses Maß hängt, da nur Alle das Product aus unserem
überkommenen Erbtheil und den sämmtlichen uns treffenden Einflüssen
unserer Hingebung sind, von diesen gesammten Einflüssen, nicht nur von
dem letzten, den Vorgang unmittelbar auslösenden ab. Diese Verhältnisse
lassen sich vielleicht zweckmäßig mit denjenigen vergleichen, welche bei dem
allgemein gekannten Vorgange des Wachsthums in Betracht kommen: in
jedem thierischen Organismus, der noch in der Entwickelung begriffen ist,
besitzen die einzelnen Nestandtheile, aus denen er sich zusammensetzt, die
Fähigkeit, aus der eingeführten Nährsubstanz Stoffe festzuhalten und zu
ihrem Aufbau zu verwenden, uud zwar besitzen sie die Fähigkeit in sehr
verschiedenem, aber bestimmtem Maße, verschieden nicht nur bei Gattung
und Art, bei Beginn und Abschluß der Entwickelung, sondern auch ganz
individuell, je nachdem Erbtheil oder ungünstige äußere Einwirkungen diese
Fähigkeit der Wachsthumsaufnnhme mehr oder weniger gestöl't haben.
Wollte man hier bei einem Versuche zu einer günstigeren Wendung nur
das eine Moment, welche» bei dem Vorgang das äußerliche ist: die ein-
geführte Nahrung, im Auge behalten, so würde eine günstigere Gestaltung
dieses, also vielleicht eine reichlichere oder geeignetere Nahrung, nur zu einem
Krankenpflege und specifische Cherapie. 6~
ganz geringen Theile eine Besserung herbeiführen; denn nicht darauf kommt es
zunächst an, daß das Nahrungsmaterial in überreichlicher Menge vorhanden
ist, sondern daß die nicht völlig leistungsfähige Zelle geneigt und befähigt
wird, es zu afsimiliren. Und ebenso kommt es, und zwar in gewissem
Sinne gerade umgekehrt, bei dem Vorgang der Krankheit nicht sowohl darauf
an, das eine äußerliche Agens lahm zu legen, als vielmehr den Organismus
zu befähigen, der Schädlichkeit, die ihm die eigentlichen Lebensbedingungen
streitig macht, Herr zu werden. Eine specisische Therapie, die in den»
Falle der Wachsthumsstürung nichts weiter könnte, als mehr und besser zu
essen geben, würde auch im günstigsten Falle nicht mehr leisten, als den
einen schädlichen Reiz zu vernichten, ohne jedoch damit diejenigen Vorgänge
veränderten Functionirens im Organismus in's Gleiche bringen zu können,
zu deren Auslösung und Abwickelung dieser den Anstoß gegeben hat.
Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß dort, wo ein folcher Reiz fort-
dauernd und immer wieder von Neuem wirksam ist, bei den Infections«
krankheitm alfo, wo er von belebten und schnell sich vermehrenden Organis-
men auszugehen scheint, seine Beseitigung immerhin sehr viel werth sein
muß. Aber wenn auch eines Taqes einer von den ganz Großen käme, die
auf dein Wege nach Indien Amerika finden, und uns Mittel an die Hand
gäbe, welche auch innerhalb des menschlichen Körvers organisirte Krankheits-
keime zu vernichten im Stande sind, damit allein würde die Medicin
niemals über eine ausreichende Therapie in jedem Krankheitsfalle verfügen.
Und wie geringe sind die Aussichten solcher inneren Antisepsis überhaupt!
Die menschliche Gewebszelle ist im VerlMtniß zu der primitiven Zelle der
Batterie ein so fein organisirtes und fubtiles Gebilde, daß » priori ein
jedes Agens, welches auf diefe schädigend einwirkt, in noch viel höherem
Maße und erheblich früher sie selber vernichten muß, auch wenn es ein-
mal gelingen sollte, die Schwierigkeiten der großen Verdünnung in der
reichlichen Flüssigteitsmasse des Körpers, der schnellen Elimination der ein-
geführten Substanz, der schweren Zugänglichkeit der Infettionskeime zu
umgehen.
Nein, wo es hundertfache Wege giebt, die Gesundheit zu verlieren,
muß auch mehr als einer beschritten werden können, sie wieder zu erlangen.
Wie die Erkrankung ein Ankämpfen des menschlichen Organismus ist gegen
die auf ihn einstürmenden Schädlichkeiten, so müssen wir, wo sich diese
Gegner nun einmal nicht aus der Welt schaffen lassen, wo die Abwehr der
hundertfältigen äußern Reize nicht in unserer Hand liegt, den menschlichen
Organismus in diesem Kampfe fo unterstützen, daß er in die besten Be-
dingungen gebracht wird, ihn aufzunehmen und selber durchzuführen, daß
wir sein Bestreben einer Anpassung an die Schädlichkeiten in möglichst
weitem Maße erleichtern und fördern. Zwar die größten, die gewichtigsten
unt~r diesen Einflüssen: den Mangel und den Hunger, die Uebernrbeitung
und die leichte Möglichkeit, zu verunglücken, ist unsere Zeit, in der das tägliche
62 Maitin Mendelsohn in Verlin,
Gebet der Annen nun lautet: „unser Vrod für morgen gieb uns heute",
mehr und mehr zu verhüten und zu beseitigen bestrebt. Aber all die kleinen
Nadelstiche des Lebens und seine Misören, denen Keiner entgeht, die Sorge
und der Kummer, die aufreibende Arbeit, die Ausschweifung und die Er-
schöpfung, die Erregungen des Ehrgeizes und der Liebe, der Arbeit und des
Lasters, die Entbehrungen und alle, all die vielen Dornen und Disteln,
die das Menschengeschlecht auf deni Uebergange zur Ewigkeit auf feinem
Wege findet, wo hart im Räume stoßen sich die Zachen, sie alle hinter-
lassen ihre Eindrücke an jeder Persönlichkeit, sie alle bestimmen seine Wider-
standsfähigkeit — seine Disposition, wie wir jetzt sagen — den Ablauf
feiner Functionen und feine Anpassungsfähigkeit an die Schädlichkeiten, nnd
sie alle sind in ihren Folgewirkungen auf den Organismus da und fprechen
mit, wenn dieser einmal von einer besonderen, letzten, augenfälligen Schädlich-
keit so arg ans dem Gleichgewicht gebracht wird, das; wir das Krankheit
nennen. Und alle diese Schädlichkeiten werden sein, so lange das Menschen-
geschlecht sein wird und so lange ein Kranker von der Medicin Hilfe lieischt.
Gegen die Krankheit ihm ein Mittel zu geben, vermag sie nicht; aber einem
einzelnen Kranken die Anpassung an seine veränderten Lebensbedingungen
zu erleichtern und zu ermöglichen, das kann sie wohl. Und wenn Jemand
einen Herzfehler hat oder eine chronische Nierenentzündung, so kommt es
nicht sowohl darauf an, die Herzklappen wieder ganz zu machen, oder die Ver-
änderungen im Nierengewebe zu beseitigen, sondern darauf, den gefammten
Organismus des Kranken fo zu beeinflussen, daß trotz seiner nicht intacten
Klappen und trotz seiner Nierenläsion die Functionen in ihm sich in der
größtmöglichen Annäherung an die Norm abspielen. Das schöne und vor
Allem das einer jeden Anforderung an die medicinische Wissenschaft durch-
aus Genüge leistende Nesultat solchen 3'estrebens wird dann sein, daß der
«ranke den gleichen Lebensgenuß und die gleiche Lebensfähigkeit, wenn
möglich bis zum natürlichen Abschluß des Daseins beibehält, wie wenn
seine Organe normal fnnctionirten. Es wäre ja auch geradezu abfurd, von
einer specifischen Heilung der Herzklappenfehler oder der Nierenentzündungen
zu sprechen; und die Insertionen bilden doch nur einen kleinen Theil aller
Krankheiten.
Hier erwächst der Medicin die große und umfassende Aufgabe der
Krankenpflege. Und weil sie eben keine Krankheiten kennt, sondern nur
Kranke, hat sie, in jedem Falle immer wieder auf's Neue und immer wieder
als ein neues Problem, zunächst die Arbeitsleistung und die Functions-
fähigkeit des betreffenden Organismus und seiner einzelnen Dheile festzu-
stellen und kennen zu lernen, um einen klaren Einblick gerade in die ab-
weichenden Leistungen uud die außergewöhnliche DIMgkeit dieses kranken
Körpers zu gewinnen. Denn jeder Mensch, mag er gesund sein oder krank,
ist ja in seinen Functionen nur das Product der sämmtlichen auf ihn ein-
wirkenden Einflüsse seiner Umgebung, und krank ist er eben nur dann.
Krankenpflege und specifische Therapie. 63
wen» die ungünstigen Einflüsse in ihm präponderiren. Ter Krankenpflege
erwächst daher als nächste Aufgabe die Pflicht, den Kranken aus seinem
bisherigen Milieu herauszunehmen, dessen einzelne, einseitige Factors« sie
nicht kennt, und ihn dafür unter Bedingungen zu bringen, welche bis in
die kleinsten Details der gesammteu Lebensweise bekannt und in ihrer Ein-
wirkung auf ihn verfolgbar sind. Dann läßt sich ein klarer Einblick ge-
winnen, welche Functionen in zu angestrengtem, welche in zu lässigem
Maße arbeiten, und die Krankenpflege hat die Möglichkeit, hier einzusetzen,
die allzugroße Inanspruchnahme zu mildern, die herabgesetzten Leistungen
wieder anzuregen; und zu diesem Zwecke ist ein jedes Mittel recht, welches
überhaupt eine Einwirkung auf den menschlichen Organismus auszuüben
vermag. Wenn irgend wer, so kann die Krankenpflege sagen ,»jo preuäZ
ruon diyü uu,js I« trouvß". Alle Momente der Regelung von Körper-
bewegung und Ruhe, von Essen und Trinken, von Schlafen und Wachen,
von psychischer Erregung und Fernhalten geistiger Anstrengung, alle die
unzähligen directen Einwirkungen auf den Organismus und feiue einzelnen
Theile, wie sie als Massage und Elektrotherapie bekannt sind, wie sie auf
dem Wechsel des Klimas und dem Gebrauch von Bädern beruhen, alle die
methodischen Uebungen des Körpers und seiner Organe, die quantitativen
und qualitativen Aenderungen der Ernährung, alle die unzähligen Hand-
haben, die Natur und Welt und Wissenschaft und Kunst uns darbieten, sie
alle sind in jedem Falle so nach dem einen, einzigen Ziele hin anzuwenden,
daß die in ihrem Gleichgewicht gestörten Functionen des Kranken wieder
in Harmonie zu einander kommen, wieder die größtmögliche Anpassung an
die Schädigung erlangen. Das nennt man Individunlisiren, und es ist
etwas gar so Neues nicht; und nur die uuselige Sucht, Mittel zu finden
gegen die Krankheiten, hat es wieder mehr in den Hintergrund treten
lassen. Die individualisirende Krankenpflege ist es, auf der das Heil der
Kranken beruht, die Erkenntnis;, daß nicht eine vereinzelte Maßnahme,
ein Medicament, ein Recept einen Kranken wieder herzustellen vermag,
sondern nnr die sorgfältige, andauernd durchgeführte Regelung aller seiner
einzelnen Functionen. Es giebt eben keine Wunder, wenigstens in der
Medicin nicht; hier ist Alles lange, mühsame, geduldige, künstlerische Arbeit.
Hier ist Alles uur Functionsstörung und Regelung dieser Functionsstörung,
und an jedem Kranken, an jeder Persönlichkeit ist diese eine andere. Und
darum ist hier Nichts so schädlich und so wirkungslos wie ein Schema,
ein von vornherein feststehender Heilplan, wie er in den sogenannten Euren
seinen Ausdruck findet, die auch nur wieder gegen die Krankheit sich richten,
gegen diejenigen auffälligen Erscheinungen, welche einer ganzen Gruppe von
Kranken das Gemeinsame, aber nicht das Wesentliche sind.
Bon solch symptomatischer Behandlung ist die wissenschaftliche Kranken-
pflege fern; die Symptome sind ja garnicht die Krankheit. Wohl aber strebt
sie eine Erleichterung und Beseitigung der mit einhergehenden quälenden Er-
Nord und Siib, I. XXV. 2?l. 3
6H Martin Mendelsohn in Verlin.
scheinungen an, und damit erfüllt sie nicht nur eine humanitäre Ver-
pflichtung!, sondern sie trägt auch dadurch wiederum zum Ausgleich des
krankhaften Zustcmdes bei. Gerade weil der überaus fein orgcmisirte
menschliche Organismus auf einen jeden Reiz, der ihn trifft, in seiner Weise
reagirt, wird jeder quälende Eindruck am Körper wiederum zu einem neuen
Reize und zur Quelle neuer Functlonsänderungen. „8aluti «t zolatic»
asßrutorum" lautet die Inschrift am Wiener Allgemeinen Krankenhause;
nicht nur zum Heilen der Kranken, auch zu ihrer Erleichterung ist die
Medicin da, und gerade daß sie den Kranken ein größtmögliches Maß von
Wohlbefinden, von Lomfort zu schaffen vermag, ist eine der schönsten Auf-
gaben der Krankenpflege.
Aus der gemaltigen Vielfältigkeit ihrer Ziele und dem enormen Um-
fange ihrer Mittel ergiebt sich die Größe des wissenschaftlichen Funda-
ments, auf dem sich die Krankenpflege aufbaut. Denn der naturwissen-
schaftlich denkende Arzt darf für sein Handeln die naturwissenschaftliche
Begründung nicht vermissen. Gerade weil sie mit allen Factoren des
Lebens einzuwirken vermag und einzuwirken suchen soll, muß die Kranken-
pflege die Wirkung eines jeden einzelnen dieser Factoren auf den mensch-
lichen Organismus auf das Genaueste zu kennen bestrebt sein. Das ist
in eracter, wissenschaftlicher Weise bisher allerdings nur für den kleinsten
Theil der Fall. Aber darum ist das heutige Können der Krankenpflege
nicht gering zu achten. Gewiß sind viele unserer bisherigen Handhaben
aus der Empirie hervorgegangen, aus der Erfahrung, welche die Mutter
der Therapie ist; aber sie werden alle sicherlich bei einem weiteren Fort-
schreiten der Wissenschaft in ihren« thatsächlichen Wirken erkannt werden.
Das ist ja bei aller produktiver Geistesthätigkeit der Menschen von An-
beginn an so gewesen, daß alles das, was die Wissenschaft nicht in klaren,
eracten Formeln wiederzugeben vermochte, die Kunst mehr intuitiv und fast
unbewußt zum Ausdruck brachte: und mit jedem Schritt, den die Wissen-
schaft in der Erkenntnis; weiter vorschreitet, nimmt sie der Kunst die be-
treffenden Objecte fort und reiht sie ihrem Gebiete ein. So ist es auch mit der
Krankenpflege. Das Recht der Persönlichkeit, das der Kranke für sich mit
Fug voll in Anspruch nimmt, kommt hier sogar in der Person desjenigen
zum Ausdruck, der die Heilanordnungen trifft, des Arztes, dessen Persön-
lichkeit oft eine besondere Einwirkung auf den Kranken und den Ablauf des
Krankheitsvrocesses ausübt. Und diese und die vielen anderen Impondera-
bilien der Krankenpflege, die wissenschaftlicher Analyse bisher noch nicht
zugänglich' waren, wiegen gar gewichtig, und auch die Zeit wird kommen,
wo sie alle in ihrem inneren Wesen durch die Wissenschaft eine Erklärung
finden werden. Für heute sind sie noch ungetannte Dinge hinsichtlich ihrer
Wirkung, Namen nennen sie nicht; sie zu erkennen, ist eben das Object
künftiger wissenschaftlicher Forschung. Aber sich ihrer zu bedienen, sie alle
klar und zielbewußt zum Ausgleich der gestörten Functionen zu verwenden.
Urankenpflege und specifische Therapie. 65
hat durchaus die volle wissenschaftliche Berechtigung, und über sie abzu«
urtheilen, ohne sie zu kennen, wäre ein schwerer Fehler. Denn jedes Urtheil
über Unbekanntes ist ein Vorurtheil.
Und ebenso leichtfertig wäre die Meinung, das sorgfältige Eingehen
in's Detail, die Regelung der kleinsten und unwesentlichsten Dinge, n«lche
den Kranken betreffen, für überflüssig und kleinlich zu erachten. Hliniiu»
nou curat playtor, gewiß; in der Krankenpflege jedoch soll sich der Prätor
um Alles kümmern. Ist die Krankheit nun einmal ein Kampf, so soll der
Rüther und Helfer in ihm sich auch die bewährten Gepflogenheiten der
Strategie thatfächlich zu Nutze machen. Was das deutsche Heer unüber-
windlich macht, ist nicht allein der Genius seiner Führer, sondern die un-
ablässige Sorgfalt und peinliche Genauigkeit, mit welcher diese auch das
Geringste und scheinbar Gleichgültigste in dem großen Betriebe selber an-
ordnen und bestimmen. Da ist kein Gamaschenknopf, kein Kochgeschirr, das
nicht von der höchsten Commandostelle aus geprüft und angeordnet wäre;
denn diese weiß sehr wohl, welch' einen gewaltigen Einfluß ein Versagen
irgend eines Moments an einer anscheinend unbedeutenden Stelle auf das
Functioniren des Gesammtapparates hat. Um wieviel gewaltiger ist die
Rückwirkung einer jeden, selbst der geringfügigsten Maßnahme in dem sub-
tilen, lebenden Organismus, wie wirkt hier der kleinste Reiz durch die
Summation seiner Effecte bis zu erheblichen Aeußerungen fort, wie muß
an einem so überaus reaktionsfähigen Wesen Alles, ausnahmslos Alles, was
an ihm eine Einwirkung auslosen kann, in Berechnung gezogen und geleitet
und geregelt werden. Da ist das Kleinste eben noch groß genug, um beachtet
zu werden.
So ist denn die Krankenpflege nur anscheinend eine rein praktische
Disciplin; thatfächlich ruht sie durchaus auf wissenschaftlichem Boden. Die
Aufgabe der Wissenschaft ist es, nach der berühmten Definition, die Vor-
gänge in der Natur zu beschreiben. Nun denn, lehren wir die jungen
Mediciner, die Vorgänge am menschlichen Körper, welche infolge seiner
täglichen Anpassung an die Umgebung in ihm sich abspielen, kennen und
erfassen zu lernen, machen wir sie vertraut mit den Wechselwirkungen
zwischen dem menschlichen Organismus und seinem materiellen und geistigen
Milieu, lehren wir sie klarsehen in den tausendfältigen Bedingungen des
Lebens, dann werden sie auch dermaleinst ini Stande sein, wenn sie für
Kranke Rathgeber und Helfer sein sollen, mit allen Mitteln, welche Natur
und Kunst uns an die Hand geben, den kranken Organismus in die besten
für ihn möglichen Bedingungen zu bringen. Sie werden dann die hohe
Befriedigung in ihrem Berufe davontragen, den Kampf um's, Dasein in
dieser Welt, wo Alles Allem feindlich wird, für den Menschen gemildert,
zu seiner Absindung mit ihm das Mögliche beigetragen zu haben. Sie
werden dann auch, wenn sie so ihre Aufgabe und ihren Lebenszweck er-
fassen, fernbleiben von öden«, unwissenschaftlichem Schematismus, fern von
5*
<»<>
Mattin Mendelsohn in Verlin.
dem Haschen nach specifischcn Mitteln gegen die Krankheiten. Aber auch
die Gesammtheit, die es doch «in nächsten angeht, wird sich dann der natür-
lichen Grenzen der medicinischen Wissenschaft bewust werden, sie wird nichts
Unmögliches, nichts Unnatürliches mehr von ihr beanspruchen und nicht
mehr von, der geheimnisvollen Formel des Recepts in todter Sprache,
noch von der gleichermaßen geheimnißvoll erzeugten Substanz specifischer
Heilmittel alles Heil und alle Gesundheit erwarten. Tenn nur auf der
tiefsten Culturstufe glaubt man an die Medicinmänner.
Die Sage vom Ewigen J uden in Italien,
von
Alfred Nuhemann.
— Rom. —
> ist keine allzukühne, vielleicht auch nicht einmal allznneue Be-
hauptung, daß man in Italien über alles Andere besser unter-
richtet ist, als über das eigene Volk, seine Empfindungen, Ge-
bräuche und geistigen Schätze. Der gebildete Italiener hat die klassische
Vergangenheit seines Landes ziemlich gut am Schnürchen; er kennt die
lateinischen Dichter uud die vaterländische Litteratur bis in die neuste Zeit
hinein. Er spricht fast täglich von Titius und Eajus und wirft gern mit
klassischen Eitaten um sich, was sich stets sehr großartig anIM — die
Sagen und Sitten der Leute seiner eigenen Heimat aber kennt er nicht,
und er giebt sich auch keine Mühe, sowohl sie~, wie die Provinzen des
Landes überhaupt kennen zu lernen, nicht einmal diejenigen, die an zden
großen Verbindungsstraßen, liegen. Ich könnte ein gutes Dutzend von
römischen Bekannten: höheren Beamten, Aerzten, also gebildeten Leuten an-
führen, die sich nicht einmal soweit aus ihrer angeborenen Trägheit auf-
zuraffen vernlögen, um — mit einer Eisenbahnfahrt von nur 5 1/2 Stunden —
Neapel kennen zu lernen! Ich kenne in Neapel noch gebildetere Leute,
Professoren der Universität und Gelehrte, welchen die Abhänge und der
Vulcan des Vesuvs noch eine „wrra inco^nittl" sind!
Als am 20. September 1870 die Kugeln der italienischen Truppen
Bresche in die Porta Pia in Nom legten, zog ein unverkennbarer Hauch
der Aufklärung und des Fortschrittes mit ihnen in die ewige Stadt und
in die Gefilde des ehemaligen Kirchenstaates ein. Die mit blutigen Opfern
erkämpfte Einigkeit war endlich gesichert worden, und es hätte die Krönung
dieses Opfers sein müssen — so wenigstens hatte man es erwarten dürfen —
68 Alfred Ruhemann in Rom.
daß die seit J ahrhunderten getrennten Provinzen Italiens sich um so inniger
an den so heiß ersehnten Stamm, an Rom also, schließen würden. Anstatt
dessen spukt das Gespenst des Regionalismus heute toller als zuvor im
politischen und wirthschaftlichen Leben dieser unglücklichen Nation, und diese
Interessenwirthschaft, von deren Vorhandensein der italienische Parlamentaris-
mus den schlagendsten Beweis liefert, hält natürlich auch das geistige und»
wissenschaftliche Leben nieder und im Bann.
Unter solchen Umständen konnte der grundlegendste Zweig der neuzeitigen
Geschichtsforschung, die Volkskunde, in Italien bisher nur kümmerlich ge-
deihen. Feudalismus und Priesterthum, welche jede selbstständige Regung
des Volkscharakters erstickten und die allgemeine Unwissenheit stärkten, haben
nicht nur die sichtbaren Merkmale der größten Culturevoche der Welt zer-
trümmert, sondern auch — was noch schlimmer — mit dem Schlamme
der künstlichen Verdummung die fruchtbaren Gefilde der Überlieferungen
und Sagen des Volkes zugedeckt. Die letzten dreißig und einige Jahre
haben wohl hier und da diesen Schlamm ein wenig gelüftet. Ein knappes
Dutzend beherzter Männer und Frauen, das den hohen Werth des „Folklore"
erkannte, hat sich wohl daran gemacht, zu retten, was noch zu retten war:
bisher aber waren ihnen nur Wenige auf diesem Wege gefolgt. Es ist
auf diese Weise ein ungeheures und unersetzliches Material für die Erforfchung
der Geschichte der italienischen Völkerstämme aus seinen Sagen und aus
deren Vergleichung mit den Sagen und Liedern anderer Rassen und Völker
verloren gegangen. Die in das Grab gesunkenen Geschlechter haben die
Märchen und Gesänge, welche ihr Mund in jenen schlichteren Zeiten gewif?
noch in großer Fülle zu erzählen wußte, mit in die Vergessenheit hinüber-
genommen, denn es ist keine Feder vorhanden gewesen, welche sie aufgezeichnet
hätte. Bei der gegenwärtigen Verflachung der Sitten und Gewohnheiten des
Lebens aber, nun sich schon der Bauer selbst seiner altehrwürdigen Sonderheiten
und Sondersprüchlein zu schämen beginnt, drohte die ernste Gefahr, daß die
letzten Reste der von den Ahnen ererbten Märchen und Gesänge des italieni-
schen Volkes kaum noch vor dem Untergange und dem Vergessenwerden zu
retten waren.
Italien! In keinem anderen Lande haben sich durch zwei Jahrtausende
die Rassen der drei alten Erdtheile so gemischt wie hier. Wo sonst, wenn
nicht in Italien, konnte ein Volk aus dem endlosen Gewühl heidnischer
Gottheiten und christlicher Märtyrer, sagenhafter und geschichtlicher Helden
bis zu Napoleon dem Ersten, Victor Emanuel und Garibaldi hinauf die
kühnsten Märchengebilde spinnen? Es bezweifelt Niemand, daß es das
gethan hat. Aber erst der wackere Giuseppe Pitrö machte den Gedanken
in den siebziger Jahren zurThat, als er zusammenzuraffen begann, was
das Volk auf Sicilien an geistigen Schätzen und Vermächtnissen noch besaß.
Nach ihm sind DÄncona, De Gubernatis, Graf, Maria Savi-Lopez und
noch Dieser oder Jener gekommen; an einer planmäßigen, wissenschaftlichen
Die 3age vom Ewigen J uden in Italien.
")
Ausbeutung des italienischen „Folklore" aber hat es bis vor Jahr und Tag
gefehlt.
In letzter Stunde aber ist zum Glück noch ein Hoffnungsstern auf-
gegangen: seit November 1893 besitzt Italien, dank der unermüdlichen Hin-
gabe des Professors Angelo de Gubernatis an diesen Gedanken, eine Gesellschaft
zur Sammlung aller im Volk umlaufenden Überlieferungen. An ihre Spitze
hat sich Königin Margherita in Person gestellt, und zwar als Mitarbeiterin,
indem sie selbst Volkssagen in den Alpenthälern der Berge Piemonts und
Savonens zu sammeln gedachte. Als die Gesellschaft gegen Ende November
ihre Thätigkeit eröffnete, zählte sie bereits an achthundert Mitglieder in allen
Theilen Italiens, denen sich solche in Deutschland, England, Amerika und
anderen Ländern sofort angeschlossen haben. Der Minister hat ebenfalls das
seinige gethan, indem er die Lehrer in den Provinzen ganz besonders anhielt,
ihre Aufmerksamkeit auf die Sagen und Lieder des Volkes zu richten. Es ist
nunmehr also die erfreuliche Aussicht vorhanden, daß die letzten Reste der
Volks Überlieferungen in Italien festgehalten werden, ehe sie völlig ver-
schwinden, und daß aus ihnen heraus manche noch dunkle Punkte der Ge-
schichte dieses Landes eine willkommene Aufklärung erhalten.*)
Man wird aus Vorstehendem sehr leicht begreifen, wie es kam, daß noch
im Jahre 188ft, nnd zwar in der „Lne)'Llop6^i6 äes 8cienc68 lieliFieuge»"
ein fo bedeutender Romanist wie Gaston Paris seine damalige Abhandlung
mit den Worten schließen konnte: „Die Volkstümlichkeit des „Ewigen
Juden" ist auf gewisse Striche des nordwestlichen Europas, so auf Deutsch-
land, Skandinavien, die Niederlande und Frankreich beschränkt", und: „Wir
wiederholen am Schluß dieser Abhandlung über die Sage vom Ahasver,
die sich in einem deutschen und protestantischen Milieu gebildet hat, daß
sie in Spanien, Italien und dem östlichen Europa völlig ungekannt zu
sein scheint." Inzwischen hat auch die böse Wissenschaft die so viel durch-
forschte und so rührend umdichtete Sage vom Ewigen Juden jeder Poesie
zu entkleiden versucht. Der kürzlich verstorbene große Charcot in Gemein-
schaft mit seinem Assistent Meige haben nachgewiesen, daß den semitischen
Rassen besonders eine eigene Art von Hysterie und Nervosität anhaftet,
welche sie zu einem rastlosen Umherwandern zwingt. Diese Krankheit befällt
ganz befonders diejenigen J uden, welche im östlichen Europa unter der
russischen Knute im tiefsten Elend fchmachten. Sie suchen ihr Unglück
hinter sich zu lassen, indem sie sich in verkehrsreichere Mittelpunkte begeben.
Aber auch hier verbessert sich ihr Loos nicht. Und dieses düstere Verhängnis?,
welches ihnen anhaftet, treibt sie ruhelos von Ort zu Ort, selbst aus den
Heilstätten, an deren Pforten sie halb verhungert, halb entkleidet zusammen-
*) Und wie «cht hatte ich, als ich obige Vinleitungs.norte schrieb! Nach laum cmdeit-
halbiähriaem Leben ist auck diese Gesellschaft hinüber, gescheitert an der Gleichgültigkeit
und Freibeuterei, welche in Italien regelmäßig der eisten Begeisterung und Opferfrcudigteit
zu folgen pflegt! Der Verfasser.
?0 Alfred Ruhemann in Rom.
brechen. So gewaltig tragisch auch diese Auslegung der Entstehung der
Ahasverussage ist, so soll sie uns doch nicht die uns lieb und vertraut
gewordenen poetischen Gebilde eines Hamerling, Hauff, eines Sue und
Quinet zertrümmern. Die medicinische Wissenschaft soll Recht behalten, aber
auch diejenige, welche die wirren Gänge aufzuklären sucht, die dieses wunder-
barste, dunkelste, ergreifendste aller Märchen im Laufe der J ahrtausende
durchlaufen ist. Ich glaube deshalb, daß nur trotz Charcot und Meige in
Deutschland, dem Patronatslande der Sage vom Zlhasver, Niemand gram
sein wird, wenn ich viele, bei uns noch unbekannte Dinge über den Ewigen
Juden aus Italien berichte, und wie sich im Kopfe des italienischen Volkes
seine düstere Gestalt gemalt hat und noch malt.
Ein Land, welches die ersten christlichen Märtyrer in seinem Schöße
barg, das mit dem Blute derselben noch fester als durch die römischen
Waffen mit dem Orient und den Leidensstätten des Heilands sich verband,
konnte in seinem Erwachen aus deni Heidenthume, wie man doch wohl
annehmen muß, kein einziges der Begebnisse aus dem Leben und Wirken
des Jesus von Nazareth missen, am wenigsten eines, welches die letzten
Stunden des edlen Märtyrers verbitterte. Das mit einer außerordentlichen
Einbildungskraft ausgestattete Volk Italiens stellte sich in seinem ebenso
schnell empfänglichen, wie leicht verwirrbaren Geiste bald die Schandthat
des Kriegsknechtes Malchus oder Marcus vor, der, anstatt der empfangenen
Wohlthaten eingedenk zu sein, die ihm der Erlöser damit erwies, daß er ihm
das im Garten von Gethsemane abgehauene Ohr wieder anheilte, den Heiland
auf seinem letzten Wege verspottete. Man blieb auch nicht bei der Ver-
spottung stehen, sondern glaubte vielmehr der Schilderung, daß Marcus —
dieser Name wurde landläufiger als Malchus — dem Verurteilten mit der
eisenbeschuhten Linken in das Gesicht geschlagen habe. Es ist kaum dara« zu
zweifeln, daß durch die Evangelisten diese Malchussage nach Italien gebracht
wurde und daß sie deshalb als die älteste der uns bekannten betrachtet werden
darf. Sie ist schnell genug volksthümlich geworden, wozu viel gedruckte
Berichte, wie die des Carlo Ranzo, Edlen von Venedig, und des Priesters
Francesco Alcarotti, letztere von Pitrö und D'Ancona in einem Nachdrucke
des Jahres 1849 entdeckt, wesentlich beigetragen haben. In einem palatini-
schen Loder des 17. Jahrhunderts und in einem Manuscripte, welches sich
— nach Mittheilung von N. Nenier im „Journal für die Geschichte der
italienischen Litteratur" — unter sechzig anderen „Florentinischen Novellen
und sonstigen sich besonders auf die Stadt Florenz beziehenden Erzählungen"
in der königl. Akademie der Wissenschaften in Turin befindet, lautet der Titel
dieser Sage gleichmäßig in deutscher Übertragung: „Erzählung eines sicht-
lichen und leiblichen Augenzeugen, welcher als gewiß behauptet und sagt,
gesehen und mit seinen Händen berührt zu haben jenen Soldaten, der neben
Anna dem Jesus Nazarenus eine Ohrfeige gab, mit ganz besonderer
Schilderung, in welcher Weise er so glücklich gewesen ist, eine so großartig
Die 2age vom «Lwigen J uden in Italien. ?~
wunderbare Sache zu erblicken, wie sie noch niemals gesehen worden ist."
Pitrö theilt das Vorhandensein eines weiteren Belegs für die Malchussage
mit, der sich, nach Erkundigungen unseres verdienstvollen Forschers Di-. Neu-
bllur in Elbing, in der Universitätsbibliothek zu Bologna befindet. Hier
lautet der Titel in der Übertragung: „Erzählung jenes Dieners, der unserm
Heilande Jesu Christo einen Nackenstreich gab, und welche Strafe er duldet.
Und eine andere Erzählung, die ein umherirrender J ude that, der sich bei
dem Leidensgange und den« Tode des Erlösers zugegen fand. Turin,
bei Carlo Grosso, Buchhändler im Bezirk des Gallo. Mit Erlcmbniß."
Ter Titel des schon erwähnten Neudrucks des Jahres 1849 heißt: „Er-
zählung ~ des Zustandes, in welchem sich befindet! der verfluchte und undank-
barste ~ Malchus ~ der die Kühnheit hatte zu geben ~ eine Ohrfeige ~ Christo
unsrem Herrn j wie man von einem ernsten (ssrave) Verfasser hört. ~ Neapel ~
bei Avallone 1849". Schließlich fand DÄncona, wie er in der „Nuoua
Antologia" mitgetheilt hat, einen noch anderen Druck bei den Verlegern
M ig Mo und Crotti in Novam. An diesen Bericht desselben Venetianers
Ranzo ist ebenfalls die gleiche „Erzählung des umherirrenden Juden" an-
gehängt, welche Pitrtz in der Turiner Allsgabe fand. Dieser letztere Bericht
ist aber leider keine italienische Originalerzählung vom Ewigen Juden, sondern
lediglich eine Uebersetzung der bekannten, deutschen, grundlegenden Sage
vom Ewigen Juden, die Paul von Eitzen geschrieben hat. Man hat aller-
dings Eitzen in Erizen verwandelt und spricht von „Ahasverus, der sich
jetzt Putadeus nennt." Zum Schlüsse ist auch eine Art wissenschaftlicher
Erklärung der Erscheinung vom rastlos wandernden Juden angefügt, welche
die Behauptung verwirft, daß der Jude ein böses Gespenst sei, vielmehr
ein natürlicher Mensch. Leben doch, nach den Makrobiern, die Menschen unter
dem Aequator siebenhundert Jahre, und gab es doch zur Zeit Karls des
Großen Einen, der dreihundert J ahre alt wurde.
Jene genannten Drucke und Neudrucke der Sage vom Kriegsknechte
Malchus weichen in vielen Zügen von einander ab, wenn auch der Grund-
tenor des Märchens stets derselbe bleibt: ein Beweis, daß diese Litteratur
schon seit vielen Jahrhunderten bestand und zwar in einer außerordentlichen
Fülle, vielfach ausgehend von demselben Berichte des Ranzo, vielfach aber
auch schon vor demselben. Ja, es ist eigentlich merkwürdig, daß nur so
wenige und fast gleichlautende Drucke auf uns überkommen sind; ist doch
der Zug der Pilger nach dem Morgenlande bis in das 16. Jahrhundert
hinein ein außerordentlicher geblieben, und kaum geringer die mündliche
oder schriftliche Berichterstattung ihrer Erlebnisse. Während nämlich im
Turiner, von Renier angeführten Coder Carlo Nanzo beim Edelmanne
Morosini in Venedig das Vegebniß erzählt, ist der Gewährsmann des
Ranzo im Nachdrucke von Novara der vicentinische Edelmann Penaglio
Lorenzo. Der schon ermähnte Francesco Alcarotti, Pfarrer an der Kathe-
drale der Stadt Navara — augenscheinlich Novara — welcher die gleiche
72 Alfred Ruhemann in Rom.
Erzählung des Ranzo als eigene wiedergiebt, führt als die Zeugen „seiner"
Geschichte den Cardinal Delsino, Patriarch von Aquila (Aquileia), den
Generalvrocurator von S. Marco Giacomo Soranzo und den zum Not-
schafter in Konstantinopel an Stelle des Antonio Trupola — soll heißen
Tiepolo? — bestimmten Giovanni Coronario — Cornaro? — an, schließlich
den Herrn Giovanni Enea Raporto — Da Porto? — aus Vicenza.
Und des Weiteren muß die Erzählung des Ranzo in der einen oder
anderen Form dem Verfasser der von Heibig und Neubaur angezogenen
deutschen „Relation" bekannt gewesen sein, die aus dem 17. Jahrhundert
stammt. Der deutsche Autor aber glaubt zu wissen, daß der venetianische
Patrizier, welcher das merkwürdige Abenteuer in Jerusalem erlebte, aus
dem Geschlechte der Bianchi gewesen sei. Ranzo, Bianchi, Alcarotti oder
wie immer der nach Jerusalem Gepilgerte geheißen haben möge, hatte das
Glück, in der heiligen Stadt einem Türken zu begegnen, der einstmals von
des Pilgers Geschlecht zum Gefangenen gemacht, von seinen« Herrn aber gut
behandelt worden war. Der ehemalige Sklave ladet den Fremdling zum
Abendessen ein, und um keine Absage zu hören, verspricht er ihm eine
außerordentliche Sehenswürdigkeit. Nach genossenem Imbiß entnahm der
Türke einer Truhe einen Schlüsselbund, eine Laterne und eine halbe Kerze.
Alles dieses versteckte er unter seinem Kaftan. Er ließ sodann den christ-
lichen Edelmann schwören, vor Ablauf von zehn Jahren keiner menschlichen
Seele zu verrathen, was er ihm zeigen würde, weil ihm selbst sonst ein
großes Leid zustieße. Die Beiden wanderten nun eine gute Viertelmeile,
bis sie an einen schönen Palast gelangten. Ter Türke schloß nacheinander
drei eiserne Thüren auf, worauf sie ein unterirdisches Gemach betraten,
dessen Wände und Fliesen aus Mosaik gemacht waren. Dieses Gemach
war aber keineswegs unbewohnt, ein ganz in Eisen gehüllter Mann mit dem
Schwerte an der Hüfte spazierte darin unermüdlich von einer Wand zur
andern mit der wie zum Schlage erhobenen Rechten. Carlo Ranzo merkte sich
jede Einzelheit dieser merkwürdigen Erscheinung. Cr sah, daß der Gewappnete
von mittlerer, hagerer Statur und stark gebräunter Gesichtsfarbe war, hohl-
liegende Augen und einen leichten Vartanflug hatte. Der Türke hob von
Neuem an: „Seht einmal, Herr Carlo, ob es Euch gelingt, ihn zum Still-
stehen zu bringen." Herr Carlo versuchte es muthig, aber trotzdem er selbst
stark und kräftig war, gelang es ihm nicht, den Marsch des Kriegers zu
unterbrechen. Der Türke erklärte nunmehr dem Venetianer, dieses sei der
Soldat, welcher an dieser Stätte dem Jesus Nazarenus eine Ohrfeige ge-
geben habe. Er sei deshalb bis zun: Tage des jüngsten Gerichts an diesen
Ort gebannt worden. Der Soldat esse nicht, trinke und schlafe nicht, spreche
nicht, sondern gehe rastlos auf und ab. Herr Carlo Ranzo hat fein Wort
gehalten. Erst zwölf Jahre später hat er bei einen« Bankett beim Edel-
mann Morosini in Venedig sein Erlebniß verrathen und hinzugesetzt: „Ich
ging eines Tages an einem herrlichen, mit einen« Säulengange geschmückten
Vie 5age vom Ewigen J uden in Italien. ?2
Palaste vorüber und Hütte daselbst einen mächtigen Lärm von Ketten und
Geißelhölzern. Es befand sich aber keine andere Seele in der Nähe als
eine hochbetagte >Frau. Zu ihr ging ich, um sie zu fragen, was wohl
dieser Lärm zu bedeuten hätte. Herr', sagte sie, , schon seit vierzig Jahren
stehe ich hier, und sowohl am Tage wie in der Nacht habe ich diesen Lärm
vernommen. Man sagt, dieses sei der Palast des Pilatus gewesen, wo
Jesus Nazarenus an die Säule gebunden war und gegeißelt wurde/ Ich,
I hr Herren, bin Euch ein wahrhaftiger Vürge für Alles das, was ich Euch
erzählt habe, denn ich felbst habe jenen Soldaten gesehen und ihn mit der
Hand berührt; die Geißel aber habe ich mit diesen meinen eigenen Ohren
vernommen."
Während der Bericht des Ranzo, wie anzunehmen ist, zu Beginn des
sechzehnten Jahrhunderts im Druck erschien, hat die Verschmelzung der Ge-
stalt des Kriegsknechtes Malchus mit dem Apostel Johannes oder mit dem
Pförtner Johannes, woraus die Figur des Ewigen Juden zweifellos ent-
standen sein dürfte, selbst in Italien schon viel eher stattgefunden. Vor-
herrschend in der Vorstellung der Italiener aber blieb trotzdem die Auffassung,
daß es Malchus gewesen ist, der den Herrn schlug, und der für diefe
Frevelthat wandern muß, bis ihm der Herr felbst gebieten wird, zur ewigen
Ruhe einzugehen. Professor D'Ancona verdanken wir die Mittheilung, daß
der von 1482 bis 1528 in Siena lebende Chronist Sigismondo Tizio
bei Besprechung der Gemälde von Andrea di Vanni unter dem Jahre 14A1
von Johannes Nuttadeus spricht, weil der Künstler, der von 1369 bis 1413
lebte, diesen Peiniger des Erlösers in der Ecke eines Gemäldes abgebildet hatte.
Tizio erzählt des Weiteren, daß auch er von der Erscheinung des Johannes
Buttadeus in Siena selbst des Längeren gehört, diese jedoch für fabelhaft erklärt
hatte. Es fchien ihm, als stützte man sich lediglich auf die Behauptung des
Astrologen Guido Bonatti aus Forli, dessen Dante im 20. Gesang der
„Hölle" gedenkt. Bonatti erzählt, daß er in Ravenna einem gewissen
Richard begegnet wäre, der sich rühmt, bereits am Hofe Karls des Großen,
also um vierhundert J ahre früher gelebt zu haben. Es fei auch damals,
fo fährt Bonatti fort, ein großes Gerede von einem Johannes Buttadeus
gewesen, der zur Zeit Christi gelebt habe, als der Erlöser zum Kreuze ge-
führt wurde, und zu diefem selbst habe Christus gesagt: ,,~u sxpeot»di8
ms, ckum vonsro." Johannes Buttadeus sei auf einer Wallfahrt zum
heiligen lacobus in: Jahre 1267 durch Forli gekommen. Bonattis Bericht ist,
wie Neubaur beweist, auch in einen: der ältesten deutschen Drucke der Sage
enthalten.
Nimmt man hier noch einen Bericht des Ser Mariano aus Siena
über seine Reise in das gelobte Land hinzu, welcher ebenfalls von der
Schandthat eines gewissen Johannes Buttadeus spricht, aber ehrlich genug
ist, zu gesteheu, daß er nur von diesem gehört, ihn nicht selbst erblickt hatte,
so wären dieses wohl die Anfänge zur Volkssage von. Ewigen J uden in
?H — Alfred Ruhemann in Rom.
Italien. Man darf sich eben nicht an die Benennung stoßen, die Gestalt
bleibt immer dieselbe. Von Malchus oder Marcus spricht die italienische
Überlieferung, von Johannes die viel ältere englische, und den Spitznamen
Vuttadeo hat nach der Etymologie des Wortes und nach Ansicht aller
Forscher ohne Zweifel Italien dem räthselhaften Wesen des ruhelosen, jüdischen
Kriegsknechtes oder Pförtners des Pontius Pilatus gegeben. Lutwrs^stoßen,
schlagen; äsu — der Gott: sau bsll's Irirto! Die Sage ist eben, von
Kreuzrittern zuerst nach Europa überführt, von Land zu Land und wieder
zurückgewandert und hat daher dieses kosmopolitische Aussehen erhalten.
Jede Provinz Italiens hat sie sich dann nach eigenem Gefallen zurechtgestutzt.
Haben nun die wenigen ältesten italienischen Dichter, die sich mit der Ge-
stalt des die Rückkehr des Erlösers erwartenden „Vuttadeo" — nicht des
umherirrenden — beschäftigen, aus diesem Kosmopolitismus geschöpft oder
bereits aus den Vorstellungen des eigenen Volkes? Eecco Angiolieri in
Siena, zum Beispiel, bediente sich bereits vor Ser Mariano und vor Dizio
dieses Namens in einem der haßerfüllten Sonette gegen seinen Vater, in
welchem er sagt:
II p«»3imo ß 'I eiuäole oclio od'i porto
II lurn vivar z>iü elis Lowdso:
2 äi eiü, buon 6i m«>, us 8«nc> aeLoiw-,
Mein grausamer, aber gerechter Haß gegen meinen Vater wird ihn
noch so lange leben lassen, wie Nuttadeus. Im selben Sinne äußert sich,
nach Mittheilung des Florentiner Gelehrten Morpurgo, Nicolö de Nossi aus
Treviso. Es scheint sich also zu ergeben, daß die Sage vom „wartenden"
Sünder ursprünglich in Italien allein verbreitet war, und daß ihre Er-
weiterung zum „ruhelosen" Juden erst durch fremdländische Einflüsse erfolgte.
Es scheint ferner festzustehen, daß der Ursprung sowohl der einen wie der
anderen Auslegung im Norden Italiens wurzelt, denn bisher erwähnte ich
thatsächlich nur Personen und Städte des nördlichen Italiens. In Siena
namentlich ist der Glaube an das leibliche Vorhandensein des Ewigen Juden
noch heute sehr lebendig. Die Sage tritt dort in zweierlei Gestalten auf.
Nach der einen hat sich die Erde unter Ahasver aufgethan, und er ist in
ein tiefes Loch gefallen. Er bemüht sich nun, dieses Loch weiter auszugraben;
wenn er mit dieser Arbeit fertig ist, fällt er geradenwegs in die Hölle. Wo
Buttadeus von der Erde verschlungen wurde, hört man den unaufhörlichen
Lärm, den sein Grabewerk verursacht. Letztere Annahme wäre also die Fott-
pflanzung der Erzählung des Venetianers Ranzo von dem Lärm der Geißelung
im Paläste des Pilatus zu Jerusalem. Nach der anderen, in Siena um-
laufenden Auslegung, die Alessandro D'Ancona von Marzocchi in Siena
mitgetheilt wurde, wäre Vuttadeo, gleich dem Malchus, ebenfalls in ein
unterirdisches Gemach eingeschlossen. Er tobt in diese,» Gemache umher
und verabreicht sich selbst unermüdlich die Ohrfeige, die er einst Christo zu
x
— ~— Die sage vom Ewigen J uden in Italien. ?5
Theil werden ließ. Mit der Zeit ist unter seinen Füßen eine Art Grube
entstandeil, in der er jetzt schon bis zur Nase steckt. Wenn die Höhlung
ihln erst über den Kopf reichen wird, wird die Welt untergehen. In der
Provinz Siena unterscheidet man demnach die Gestalt des Malchus aus-
drücklich von dein Ewigen Juden. Ich möchte daher behaupten, daß durch
die von außen nach Italien überführten, abweichenden Auslegungen der
Sage vom Ewigen Juden sich nach und nach Malchus von Ahasver getrennt
hat, und daß Beide dann als zwei besondere Wesen bis heutigen Tages
ill der Phantasie des Volkes weiterlebten. Auffallend ist, daß< nach Pinoli,
man in einer Gegend Piemonts dem J uden den Namen „dlüarin ä'
?»äon»" beigelegt hat. Eine venetianische Auslegung hat mit der letzt-
genannten aus Siena eine große Aehnlichkeit. In Venetien läßt man den
Juden um eine auf einem Berge stehende Säule kreisen und ihr die Ohr-
feige geben, die er ehedem nicht Jesus selbst, wohl aber Maria, dessen
Mutter, verabreichte. Diese Beleidigung konnte Jesus nicht vergeben! Auch
dort hat er schon einen Graben unter sich durchgetreten, in welchem er
bereits bis au den Hals steckt. Auch dort wird sein Versinken bis über
den Kopf den Untergang der Welt mit sich bringen. Der Venetianer aber
überläßt Gott die Entscheidung über das Schicksal, welches den Ewigen
J uden nach Untergang der Welt treffen soll. Leider hat der Letztere wenig
Aussicht, so bald voll seinem Leiden erlöst zu werden. Kommt Jemand des
Weges über jenen Verg, auf welchem Ahasver die Säule ohrfeigt, fo fragt
der Letztere, geradeso wie wir fragen: Entschuldigen Sie, wie spät ist es am
Tage, ob die Weiber noch immer geschlagen werden. Bejaht der Gefragte,
wie selbstverständlich, so seufzt Buttadeo tief auf und sagt: „So ist es
noch immer nicht Zeit, denn ehe die Welt untergehen kann, dürfen die
Weiber sieben Jahre keine Prügel bekommen!" Das ist echt italienische Auf-
fassung!
Ein herzhafter Sprung über die Meerenge von Mefsina nach Sicilien,
und die landläufige Sage erhält sofort ein anderes, wärmeres Gesicht.
Hier sind „Maren" und „Buttadeo" dein Volke in Fleisch und Blut über-
gegangen: sie sind sprüchwörtlich geworden. Von einer Person, häßlich von
Aussehen und Eharakter, sagt der Sicilianer: „lluvi 'na fneoia 6i In
jliclku Hlarou." Der Kerl hat ein Gesicht wie der J ude Marcus. Von
einem Menschen, der nicht einen Augenblick zur Ruhe kommen kann, meint
der Insulaner: ~ un Luttn^eu; ü eoms Lutt»cl«u; nun zta mni
tsrma com« Lntw^LU, curri 8emnrs cuins Lutta6eu", und so fort.
Pitrö, der verdienstvollste „Folklorist" Italiens, berichtet auch von der
äußeren Erscheinung desselben. Erträgt einen unsauberen Hut (onovelaccio)
mit breiten Krampen, überaus laugeu Bart und Haare, beide weiß wie
Schnee: sein Antlitz drückt starkes Leiden ans; sein Körper ist bedeckt mit
einem langen und weiten Ueberrock von tiefrother Farbe; seine Stiefel sind
arg zerrisseil. In diesem Aufzuge wird er wohl auch nach der Meinung
?6 Alfred Ruhemann in Rom.
der Leute in Ealaparuta dein Vauer Antonino Cascio und seiner jüngsten
Tochter erschienen sein, als Beide zur Winterszeit außerhalb des genannten
Ortes in einer Hütte weilten, um sich am Feuer zu wärmen. Die Tochter
des Bauern erzählt, daß Hut und Schuhe der fremdartigen Erscheinung
gelb, roth und schwarz gestreift waren. Antonino hatte eine mächtige Furcht
vor dem Fremdling. Letzterer aber beruhigte ihn, indem er sagte: „Fürchte
Dich nicht, ich heiße Buttadeus." Sofort erinnerte sich Cascio der Sage;
er lud den Ewigen J uden ein, sich neben ihn an das Feuer zu setzen, und
ihm die merkwürdige Geschichte seiner Wanderungen zu erzählen. Buttadeo
willfahrt dem Wunsche des Cascio, da er aber nicht sitzen darf, so wandert
er während der Erzählung im Zimmer aufgeregt und rastlos umher. Ehe
Buttadeo den Bauern und seine Tochter verließ, lehrte er sie noch „fünf
Gebete an die himmlische Hand, außerdem noch eines an die linke Hand Jesu".
Ein zweiter Forscher sicilianischer Legenden, Salomone-Marino, theilt
zwei weitere Auslegungen der Sage mit, wie sie in Vorgetto von Mund
zu Mund gehen. Wie Salomone sich überzeugte, ist diese Ueberlieferung auch
in Palermo, Partinico und anderen Orten lebendig geblieben. Wie der
Bauer Pietro Randezzo in Vorgetto dem genannten Herrn erzählte, habe
der frevelhafte ,,»drsu" vor der Thür seines Hauses auf der Bank gesessen,
und als J esus, der mit dem Kreuz auf der Schulter an ihm vorüberkam.
Jenen bat, sich ausruhen zu dürfen, ihn mit Schimpfworten fortgewiesen.
V mkQou tu da »' rriMZari nni In, to' vita, camiu»nuu 8ßmpri 86mpri,
antwortete ihm der Erlöser. „Und Du sollst Dein Lebelang Nichts zum
Ausruhen haben, Dil wandre immer und ewig." Und so ist es geschehen.
„Jetzt ist er alt," fuhr der Bauer Nandezzo fort zu erzählen, „ja überalt,
aber er stirbt nie, dieser Hebräer, der den Namen Buttadeo erhielt, weil
er Jesus Christus zurückgestoßen (»i-riduttnu) hat. Und mancher hat ihn
schon durch Norgetto kommen sehen, während es um Mittemacht stark
regnete, blitzte und donnerte-, Niemand aber sah ihn stehen bleiben oder auch
nur ein Stückchen Nrod annehmen, weil, wie er selbst sagt, es ihn, ver-
boten ist, so zu thun, bis das letzte Gericht gesprochen ist." Hier hat also
die Sage keine Aehnlichkeit mit der des Malchus, ebensowenig in der fast
gleichlautenden Erzählung des Bauern Giuseppe Morici aus demselben
Orte. Der Letztere nennt den J uden aber nicht Buttadeo, sondern
Arributta-Diu", den „Gottstoßer", wörtlich übersetzt. „Wer ihn erblickt,"
meint dieser letztere Gewährsmann, „dem erzählt er gen: die Leiden Jesu,
die Schmerzen und Foltern, die dieser erlitt, und dabei weint der ,Gottstoher~
blutige Thränen. Er trägt einen Turban, einen Nock, der wie ein Hemde
aussieht, aber von blutrother, ein wenig dunkler Farbe; auch führt er
einen hölzernen Stecken in Händen." Vom wahren Malchus dagegen
handelt das Gedicht vom „Nnron cUnpsrntu", dem „verzweifelten Markus",
welchem auch eine gleichlautende in Sicilien umlaufende Erzählung in
Prosa entspricht:
Die Lage vom «Lwigen J uden in Italien,??
I~n' ~uäsu 2l»l<:u 'II i>«äi »i gpineiu
On 'n» 'nssUHnta Iii kenn den 2im»tu
H, ( ! ii »tu (1,'tti uu 8ebmllu loltimenti,
l)i 'mm»««:» »äilliuto Ii »u~ri äenti.
Der J ude Marcus giebt hier also Christo einen so heftigen Schlag
mit dein eisernen Handschuh, daß ihm „alle Zähne im Munde springen".
Die Phantasie des Volkes veranschaulicht an der Hand täglicher Ereignisse
sich solche Situation sehr deutlich, wie man sieht. Eine zweite Lyrik von
Marcus, wie er auf Sicilien durchaus heißt, findet sich im dritten Theile
der „Passionen Jesu Christi" vor, wo gesagt wird:
D ou 'na voßßui» tlünull si »l^ncian
lAn ~u«i» 2l»reu » lu LiAnuli Diu;
Di rabdill 'n» ssUÄnoült» «ei tiran
<~» 'u terra msnüll l»eei eoi zuinniu
D 8»n ketni ^inoulu 'un FUÄiänn,
~»z~di» 'n ornoui» 2 66u e»ni .luäiui
(i«3Ü (!n3tu äi 'n tsll» III pi^ui«»,
l~nn 'ei» ll> liritll 1» Mnoiu.
Das wäre also die Geschichte aus dein Garten von Gethsemane, zu-
sammengewürfelt mit dem Vorfalle auf dem letzten Gange des Heilands.
Die siciliamsche Auffassung von der Vertreibung Christi von dem Hause
des J uden, vor welchen« er ausruhen wollte, entspräche den Worten in dem
alten französischen Liede vom „Ewigen Juden":
Ote-toi, «limine!,
De <iev«ut m» m»isou
Avance et maiene 6ono
<ü«l tu me iÄg »ffiont.
kleben Pitrö will auch D'Ancona sich von der Einwirkung der
französischen Dichtungen über denselben Gegenstand auf die italienische
Volkslitteratur überzeugt haben. Er fand bei einem der fliegenden
Händler in Tivoli, die allerlei Canzonen und ähnliche geistige Volksspeisen
verkaufen, als da sind Traumbücher, Berichte von grausigen Mordthaten in
Poesie und Prosa und so fort, eine in Poesie gekleidete Legende vom
Ewigen J uden, die sich aber bei näherer Besichtigung als eine fast wort-
getreue Übertragung der französischen „Complainte" erwies. Auch der
Name des J uden lautet sowohl in der französischen wie italienischen
Dichtung gleichmäßig, Isaac Laquedem:
|»»3« l~«jue>!»m
l'nur >wme me tut Nonne
>'n i> Jerusalem,
und der italienische Dichter Giovanni Nomani:
l«»2<! I^uecleiume e il nnmn mio,
~eru3»iewme min »oi ul>ti>i ....
?8 Alfred Ruhemann in Rom.
Ein ungleich poetischeres Gewand hat die Sage vom Ewigen Juden
in den italienischen Alpen angenommen, besonders im Aosta-Thale. So
erzählen Maria Savi-Lopez in ihren vortrefflichen „Alpensagen" (Stuttgart
Ad. Bonz und Co.) und Corona in ,,H,ri» äi Hlonw." Nach ihnen: „es
dou^rs äs Nout Osrviu non e'sr»." An der Stelle, wo sich jetzt die
riesige Pyramide des Monte Cervino erhebt, gab es einst eine blühende
Stadt, in welcher der Ewige J ude eine freundschaftliche Aufnahme fand,
so daß er in einer kurzen Rast seine müden Glieder ruhen konnte. Als
er aber nach tausend J ahren wiederkehrte, fand er an Stelle der gast-
freundlichen Stadt den unheimlichen Gebirgsriesen. Tief betrübt über das
Schicksal derselben, weinte er lange, und aus seinen Thränen ist der
schwarze See unweit von Zermatt entstanden. Die Savi-Lopez und auch
Tschudi haben gefunden, daß im ganzen Zuge der Alpenkette der Glaube
umgeht, das Erscheinen des Ewigen Juden ziehe Unglück nach sich. Der-
selbe Aberglaube ist in Frankreich eingewurzelt. Bevor Navaillac Heinrich IV.
ermordete, war Ahasver in Beauvais, Ncmon und anderen Städten
Frankreichs gefehen worden. In der Schweiz gilt, der Ewige Jude auch
als Prophet. Auf den: Passe von Zermatt nach Breil ruhte ebenfalls
der Fluch, den Ahasver durch das Ueberschreiten desselben darauf zurück-
gelassen hatte. Der heilige Theodulus brach denselben, indem er
zuerst nach ihm den Paß überschritt und die dort sich aufhaltenden giftigen
Schlangen beschwor. Der Hügel ist daher nach dem Heiligen benannt
worden.
Die Vermuthung, daß auch iu Italien der Glaube an die Eristenz
und das zeitweilige Erscheinen des Ewigen Juden vorhanden und weit
älter sein müßte, als die bisher bekannte Litteratur ergab, ist glänzend
gerechtfertigt worden durch eine neuere Entdeckung, die aber leider auch
Deutschland den Nuhm zu nehmen scheint, die älteste Geschichte vom
Ewigen J uden zu besitzen. Zweihundert J ahre vor dem Auftreten Ahas-
vers in Deutschland ist er in Toscana wiederholt erschienen, und daß hier
keine Phantastereien, sondern thatsächliche Begebnisse erzählt werden, beweisen
auf das Schlagendste die außerordentlich interessanten Documente, welche
S. Morpurgo, der verdienstvolle Bibliothekar an der „Niccardiana" in
Florenz, gefunden und geprüft hat. In der schlichten, gemeißelten Weise
des 15. Jahrhunderts erzählt uns ein gewisser Antonio di Francesco
d'Andrea, der mit seinen Brüdern Andrea und Bartolomeo in Borgo a San
Lorenzo und in Florenz selbst ansässig war, von ihrem wiederholten
Zusammentreffen mit „Giovanni Votaddio, auch genannt Giovanni, Gottes-
diener" während der Jahre 1410 bis 1420; ferner von den Ereignissen,
die sich auf Grund der Erscheimmg des Ewigen J uden in Florenz ab-
gespielt haben.
„Zu Ehren und zum Ruhm des allmächtigen Gottes, in seiner Drei-
heiligkeit Vater, Sohn und heiliger Geist, und seiner immer jungfräulichen
vie 3age vom Ewigen Jude» in Italien. <H
Maria, und des gesammten himmlischen Hofes von» Paradiese," so hebt
der genannte Antonio seinen merkwürdigen Bericht an, „werde ich, arm-
seliger Sünder oder besser gesagt, großer gewohnheitsmäßiger und häufiger
Sünder, in diesem Hefte eines der wunderbarsten Dinge in Erinnerung
bringen, wie sie vielleicht der größte Theil der heute Lebenden niemals
wird vernommen haben. Und mit großem Zagen habe ich die Feder in
die Hand genommen, um diese so wunderbaren Dinge zu erinnern und
niederzuschreiben, weil man mir darin nicht glauben möchte. Deshalb gehe
ich mit Furcht an das Werk. Ich will mir aber Muth zusprechen und
rufe Gott und die andern Bewohner des Himmels als meine Zeugen
an, auch Jene, die noch am Leben sind und zum Theil jene Dinge mit
ansahen, die ich im Folgenden erzählen will. Deren Namen werde ich
nach Maß und Bedarf kundgeben, sobald im Verlaufe der Arbeit es Zeit
sein wird, sie zu nennen."
Nach dieser vertrauenerweckenden Einleitung theilt uns Antonio di
Francesco d'Andre« mit, daß ihm die Erscheinung des Gottesdieners
Johannes vom Hörensagen bereits bekannt war, ehe er dessen persönliche Be-
kanntschaft machte. „Botaddio" oder Nuttadeo — ich will b«i dem ge-
läufigeren Namen bleiben — sei fast in allen Theilen der Provinzen Italiens
gesehen worden. Alte Leute versicherten Antonio, daß sie selbst den Juden
gesehen und gesprochen hätten. Ein ganz besonders glaubwürdiger Ge-
währsmann hierfür sei ihm der greise Bartolo di lachopo aus Faena im
Gebiete von Firenzuola, ein Mann, der stets fromm und achtbar gelebt
habe. Dieser habe Antonio versichert, daß Johannes in seinem Hause in
Borgo a San Lorenzo di Mngello sich ausgeruht uud ihm von vielen
Dingen gesprochen habe, die nur Gott allein hätte wissen können. Seitdem habe
sich Vuttadeo in Italien nicht mehr sehen lassen, weil er ja auch die übrigen
Theile der Welt besuchen müsse. Antonio will gefunden haben, daß es un-
gefähr an hundert J ahre dauert, ehe der J ude wieder demselben Lande einen
Besuch abstatte. Demnach wäre also schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts
die Sage und die Erscheinung des Ewigen in Italien, wenigstens im nörd-
lichen Theile der Halbinsel, bekannt gewesen! Genug, in dem December des
Jahres 1411 — nach den Untersuchungen Morpurgos muß es aber das
Jahr 1416 gewesen sein — gegen Weihnachten kehrte ein gewisser Giano
di Duccio aus Bologna nach letzterer Stadt zurück, aus welcher er sich nach
Toscana und zwar nach Borgo a San Lorenzo geflüchtet hatte, weil die
Verbannten Bolognas, namentlich die Ghuidotti ihm gedroht, sie würden ihn
so lange hungern lassen, bis er die eigenen Kinder äße. Giano di Duccio
war nämlich ein Freund von Luigi da Prato, dem Regenten Bolognas. Da
die Guidotti keine Aussicht zu einer Nückkehr nach Bologna hatten, so hielt
es Giano für richtig, selbst nach Bologna zurückzureisen-. „Sie brachen
also von Borgo auf mit einem Pferde, das zwei Körbe trug. In einem
saßen Duccio, zwölf Jahre alt, im anderen Giovanni im Alter von acht
Noib und Ziid. I.XXV. 223, 6
80 Alfred Ruhemann in Rom.
Jahren — beide die Söhne des genannten Giano." Andrea, der Bruder
des Chronisten Antonio, führte das Pferd, während hinter ihnen Giano
felbst auf einem starken Gaule dahertrabte. Im Gebirge nun übersiel sie
ein so fürchterliches Schneetreiben, daß die Pferde fortwährend ausglitten,
sielen und die Kinder somit in großer Gefahr schwebten. Mit Mühe und
Roth erreichten sie Rifredi, an der alten Straße nach Bologna.
„Während sie sich ein wenig ruhten, erreichte sie der genannte Giovanni
Votaddio, der kräftig bergab marschirte. Der bewußte Andrea rief ihn
deshalb an und sagte: „0 Bruder, wenn es Dir beliebt, leiste uns aus
Liebe zu Gott ein wenig Gesellschaft, damit diese Kinder nicht zu Schaden
kommen." Jener war nämlich im Gewände des „nin^oeusro" vom
dritten Orden des heiligen Franziscus, aber ohne Mantel und mit nur
einem Schuhe verseheu. Er antwortete: „Gut, Gott zu Liebe." So ging
er mit ihnen, die Hände an die Körbe gelegt. Und Andrea führte das
Pferd, mährend Giano auf seinem Pferde ritt. Während sie so reisten —
und die Gefahr war groß — wandte sich der bewußte J ohannes Gottes-
diener an Giano und fragte: „Willst Du, daß ich diese Knaben rette?"
Antwortete Giano: „Ja, bei Gott." Sagte Johannes: „Wo wollen wir
übernachten?" In Scharichalasino," antwortete Giano. „Auf denn, im
Namen Gottes," sagte Johannes. Und niit diesen WoMn setzte er sich auf
jede Schulter einen der Knaben und sagte: „Haltet Euch fest an meinen
Haaren." Er hatte die Kapuze heruntergenommen, und so geschah es.
Und da ihm der Schuh unbequem war, warf er ihn fort. Er ging davon,
und in wenigen Augenblicken war er ihren Augen entschwunden, so daß
sie ihn nicht mehr erblickten. Er langte bei der Herberge eines Wirthes.
Namens Lhavechio an. Er setzte die Kinder daselbst an das Feuer, tröstete sie,
ließ ein Paar guter Kapaunen abschlachten und über das Feuer hängen, und
sie schmorten schon im Topfe, als Giano eintraf, der sicher glaubte, seine
Söhne verloren zu haben, jetzt aber in großer Freude war."
In der Herberge nach dem Nachtmahle legt Nuttadeo die erste Probe
seiner unheimlichen Allwissenheit ab. Während man> behaglich am Feuer
sitzt, fragt Giano den Wirth, wie die Geschäfte gehen. Der Wirth jammert
ob der schlechten Geschäfte, die ihm nicht einmal erlauben, seine Töchter zu
verheirathen. Darauf lacht Vuttadeo und erklärt den Reisegefährten, es
gäbe auf der ganzen Strecke von Bologna nach Florenz kein stärker besuchtes
Gasthaus wie dieses. Auch habe der Wirth Geld genug, um seine Töchter
zu verheirathen, denn er halte 240 Goldgulden in einem Loche, keine zwei
Armlängen von Gianos Bette entfernt, versteckt. Der Wirth leugnet und
man zankt sich ein wenig. „Ich glaube, ich habe Gaukler (oi»rl»l»ni) im
Hause," meint der erboste Wirth. Am nächsten Morgen aber zieht er doch
Buttadeo bei Seite und fragt ihn um Rath. „Berheirathe Deine Töchter,"
antwortet ihm der Allwissende, „cmorenfalls verkünde ich Dir, daß sie schlecht
gerathen werden." Der Herbergsvater that, was ihm der Jude rieth, und
Die Zage vom Ewigen J uden in Italien. - 8~
er hatte es nicht zu bereuen. Es muh übrigens bemerkt werden, daß
Antonio ausdrücklich erwähnt, der Gottesdiener habe sich nicht des Nettes
als Lagerstätte bedient. Trotzdem Ahasver hier uns als ein ganz anderes
Wesen erscheint, ist der ursprüngliche Charakterzug des Ruhelosen durchaus
nicht verwischt worden. „Und das jetzt habe ich erzählt, damit Ihr ver-
stehet, wie ihm alle verborgenen Dinge offenbar sind," schließt Antonio diesen
Theil seiner Aufzeichnungen, „jetzt wollen wir von größeren Thaten sprechen."
Buttadeo beweist in Wahrheit, daß er nicht ein Charlatan ist, der
nur geschickt errathen, wohin der Wirth seine Goldgulden zu stecken pflegt.
Während er mit Giano, Andrea und den beiden Knaben weiter des Weges
nach Bologna zieht, erklärt Giano ihm die Veranlassung zur beschwerlichen
Reise in starrer Winterszeit. Nicht wenig verblüfft mag Letzterer gewesen
sein, als ihn, Johannes mit aller Seelenruhe verrieth, daß innerhalb zehn
Tagen die Ghuidotti sich wieder im Besitze von Bologna befinden würden!
Giano will sofort umkehren, der Jude aber sagt, er hätte Nichts zu fürchten,
wenn er seinen: Nathe folgen wollte, im Gegentheil, er würde alsbald der
beste Freund der ihm bisher feindlichen Sippe fein. Und somit verblieb
Ahasver vom Sonnabend Abend bis Montag früh im Hause Gianos zu
Bologna. Während dieser Frist berieth sich nicht nur Buttadeo mit Giano,
sondern stellte ihm auch ein „di-isvs", ein Breve also aus, welches ihn vor
jeder Hausdurchsuchung oder ähnlichen Belästigungen schützen würde. Dann
verließ Buttadeo seinen Gastfreund. Andrea begleitete den Ruhelosen bis
zum Thore und wollte ihm unterwegs ein Paar neue Stiefel kaufen. Der
Jude aber schlug sie aus, versprach dagegen Andrea durch Handschlag, ihn
in seinen Häusern in Norgo und in Florenz zu besuchen. Wie es Ahasver
vorausgesagt, so geschah es. Giano wurde der gute Freund der Ghuidotti.
Die Erhebung der Nolognesen zu Gunsten der Letzteren fand am 5. Januar
1416 statt. Es ist daher leicht nachzuweisen, daß, wie schon oben bemerkt,
Antonio, der Chronist, sich im Datum irrte, wenn er 1411 schrieb.
Der ewige J ude durchstreifte darauf die ganze Lombardei, die Marken
von Treuiso und Ancona. In Vicenza wollte ihn der „odapitnno", der
Statthalter, aufknüpfen lassen. Als man aber den Strick anziehen wollte,
war der Buttadeo nicht von der Erde freizubekommen, trotzdem der Statt-
halter felbst anfaßte. Ein neuer Strick riß in drei Stücke. „0 wahrer
und allmächtiger Gott," ruft an diefer Stelle der Chronist mit der ganzen
Naivetät seiner Zeit und seines Glaubens aus, „wie groß ist doch Deine
Liebe zu Deinen Freunden, daß ein solcher Hanfstrick, der einen Thurm
hätte heben können, in mehr Stücke zerfiel, als sie selbst die Fäulniß
hätte schaffen mögen!" Und so gelangte endlich der Jude auch nach Borgo
« San Lorenz», während Antonio di Ser Tommaso Redditi daselbst als
PodM waltete (23. April bis 23. October 1416). Seine Anwesenheit
wurde schnell bekannt, und die ganze Stadt lief auf dem Platze zusammen,
um Buttadeo mit den tölpelhaftesten Fragen zu belästigen, „thierisch und
6»
82 Alfred Ruhemann in Rom.
wenig ehrerbietig", wie der Chronist in gerechtem Unmuth sich ausdrückt. Sie
fragten ihn: „Wie lange werde ich noch zu leben haben?" „Wird mir das
Glück beschieden sein?" „Werde ich Kinder haben?" Und Aehnliches. Der
Jude selbst ist es, der den Leuten von Borgo den Ernst des Lebens in
die Erinnerung ruft. Zum Podestü gewendet, sagt er: „Wenn Ihr wüßtet,
was ich weiß, so würdet Ihr sehr betrübt sein, und Mancher würde heiße
Thränen weinen. Ehe Ihr noch aus dem Amte treten werdet, soll Einer,
der sich in diesem Kreise befindet, an eben dieser Stelle gehängt werden."
Und so geschah es, denn daselbst wurde auf Befehl desselben Podest»
Erchole, den man für den besten aller jungen Männer hielt, an den Galgen
geknüpft. Von Norgo siedelte der Ewige nach Florenz über in das Haus
des „demüthigen" Antonio, woselbst ihn auch Messer Lionardo d'Arezzo, der
Kanzler der Republik, aufsuchte, und über drei Stunden mit ihm im ge-
heimen Gespräche blieb. Messer Lionardo, von vielen Bürgern befragt, was
er von dem Gottesdiener halte, gab zur Antwort: „Entweder ist er ein
Engel Gottes, oder er ist der Teufel. Er hat alle Wissenschaften der Welt
inne, er kennt alle Sprachen, alle Vocabeln von allen auserlesenen Provinzen."
Mehr verrieth Messer Lionardo nicht. Es muß bemerkt werden, daß Lio-
nardo Bruni, genannt d'Arezzo, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit
war. Glaubte er wirtlich an das Märchen, welches ihm Buttadeo auftischte?
I m folgenden J ahre kehrte der J ude abermals in das an der Ecke
von Alberti da San Romeo gelegene Haus der Brüder von Francesco
d'Andrea zurück. Der Chronist nennt alle die Patricier, die Buttadeo be-
suchten, so die Peruzzi, Nicasoli, Vusini, Morelli, Alberti und Andere von
nah und fern. „Ich hatte Furcht, daß die Dielen meines alten und kleinen
Hauses brechen würden, und so sagte ich Allen: Er wird gewiß heute Abend
in einer Herberge übernachten. Und Alles wartete geduldig vor der Thür,
bis die ganze Straße überfüllt war. Es fanden sich in den ersten Abend-
stunden viele Würdenträger der Republik ein, mit diesen, dem Bruder
Vartolomeo und den» Schreiber selbst schritten wir mit Fackeln durch die
gestaute Menge, um den Ewigen zum Hause des Ser Pagolo di Ser
Lando Forum, des damaligen Kanzlers, zu führen, und doch wurden wir
nicht gesehen. 0 wahrer Gott, wie bewunderungswürdig sind doch Deine
Werke!" Am nächsten Morgen führte man den Juden in den Palazzo der
Signoria felbst, und Letztere erhielt von ihm sehr wichtige politische Auf-
schlüsse. Der damalige J ohannes oder Buttadeo scheint demnach seine
Augen hübsch offen gehalten zu haben. Er ist jedenfalls ein äußerst ge-
schickter, seiner Zeit weit überlegener Mensch gewesen, unter Umständen viel-
leicht auch ein politischer Agent! Die vornehmen Herren hatten an« Abend
bis Mittenmcht auf das Erscheinen Buttadeos gewartet und verabreichten
dafür Antonio eine derbe Kopfwäsche. Erst auf das Zeugniß des Kanzlers
hin Ivurde geglaubt, daß der J ohannes in der That trotz der Fackeln un-
gesehen durch die Menge geschritten sei. Unter Jenen, die trotzdem nicht
Die Zage vom Ewigen J uden in Italien. — ~ 83
an die Kräfte des Gottesdieners glauben wollten, befand sich auch der
Geschichtsschreiber Giovanni Morelli. Er wünschte sich ein Amt, um er-
proben zu können, ob der wunderbare Fremdling auch die Fähigkeit besitze,
durch die Luft zu verschwinden. Diese Gelegenheit ließ nicht auf sich warten.
Morelli wurde im Jahre 1413 zum Vicar von Mugello ernannt. Buttadeo
besuchte in demselben Jahre den Ort und ruhte, von vielem Volke be-
gleitet, in der Kirche San Donnino, nördlich von der Stadt selbst aus.
Hierher schickte der Vicar seine Sendboten, schließlich die ganze berittene
Leibwache aus, um den Ewigen zu sich zu entbieten und ihn unter Um-
ständen mit Gewalt und gefesselt vor sich führen zu lassen. Wahrend das
Volk in Buttadeo drang, der Obrigkeit nicht Widerstand zu leisten, lachte
er und meinte, nicht einmal der Vicar könne ihn zu Etwas zwingen, was
ihm nicht gefiele. Um aber schließlich dem Oberbefehlshaber der „t»iui-
ßliari", der Leibwächter, keine Ungelegenheiten zu bereiten, rief er dem sich
schon erfolglos Entfernenden nach, er werde schon vor ihm beim Vicar sein.
Der J ude schlug darauf einen anderen Weg ein und war richtig viel früher
beim Vicar. Dieser ließ ihn zwischen sich und seiner Gemahlin Platz
nehmen, und es wurde Vieles geklatscht. Auch beklagte sich Giovanni
Morelli beim Buttadeo, daß ihm seine junge Frau keinen Nachwuchs be-
schweren wollte. Buttadeo verhieß ihm einen Sohn, noch ehe er vom Amte
scheiden würde. Diese Prophezeiung ist nach Allem, was bekannt, nicht
eingetroffen, wohl aber ist es erwiesen, daß die junge Frau dem Vicar noch
während seiner Amtsführung durchbrannte. Kurz, Morelli hatte seines Un-
glaubens nicht vergessen. Als sich Johannes nach dem Nachtmahle verab-
schieden wollte, complimentirte ihn der Vicar in ein „ehrenwerthes" Ge-
fängniß, das heißt in eine sichere Kammer, die unter dem Fundament des
Thurmes in den Felsen eingelassen war. In dieser Kammer „befand sich
auch ein ehrbares Bett, trotzdem Johannes nicht in einem solchen zu
schlafen pflegte. Der Raum enthielt zwei kleine Fenster, die mit starkem
Eisen so dicht bekleidet waren, daß nicht eine Maus hätte hindurchschlüpfen
können; ferner eine Bohlenthür mit einer niedrigen engen Oeffnung, eben-
falls mit starkem Eisen ausgeschlagen und einem mächtigen Schlosse ver-
sehen." Hier hinein wurde Johannes gesperrt. Als der Vicar am nächsten
Morgen das Verließ öffnen lieh, war natürlich kein Johannes mehr darin
zu entdecken.
Die von Antonio erzählte Geschichte berichtet des Weiteren, daß Butta-
deo auch in den Jahren 1414, 1415 und 1416 in seinem Hause weilte,
und von anderen sich an diese Besuche knüpfenden Begebnissen. Während
des zweiten Nefuches wohnte Buttadeo in der Herberge und gab hier den
Brüdern ein großes Essen. Zum Schlüsse brannte Antonio, dem Chronisten,
eine Frage auf der Zunge. Er verlangte zu wissen, ob der J ude wirklich
der Giovanni Votaddio sei. Dieser belehrte ihn darauf, daß man seinen
Namen verstümmelt habe. Er nenne sich „Giovanni Batt6dio", das heißt
8H Alfred Ruhemann in Rom.
Johannes, der „Gottprügler". Und nun wiederholte er dem Neugierigen
die sattsam bekannte Erzählung vom letzten Gange des Heilands. Als
Antonio schließlich aber nochmals fragte, ob er auch thatsächlich derselbe
„Gottprügler" sei, antwortete Vuttadeo: „Versuche nicht Weiteres zu er-
forschen, Antonio." Und damit schlug er die Augen nieder, aus denen eine
Thräne herniederrollte. Der Schlich der Chronik des Antonio ist rührend.
Als der J ude zum letzten Male bei ihm einkehrte, rang seine Frau mit
dem Tode. Nuttadeo heilte sie, indem er abermals ein Vreve ausfertigte
und es der Kranken um den Hals hing. „Mit diesem Breve habe ich noch
viele und verschiedene Krankheiten heilen können," schreibt Antonio. „End-
lich lieh ich es Einem, der es mir nicht wiedergab: Gott verzeihe ihm! Als
Johannes mich verließ, umarmte er mich, was er vorher nie gethan. Ich
staunte darob und fragte: „Werde ich Euch nie wiedersehen?" Er ant-
worte: „Nie mehr mit den körperlichen Augen." Und so ging er. Er
begab sich in das Kloster vom Paradiese, wo ihn die Mönche gefangen
nahmen, um ihn der Obrigkeit auszuliefern. Während der Nacht aber ver-
schwand er, und die Mönche standen verdutzt da. Seitden, kam er nicht
mehr in diese Gegenden. Und so trabt er durch die Welt, bis Gott die
Lebendigen und die Todten richten wird in seiner Majestät und im Thale
von losavhllt. Möge er für uns beten, damit Gott uns unsere Sünden
vergebe, und er uns zum Himmel eingehen lasse. Amen!"
Der treffliche Morpurgo hat außer obiger Chronik, die sich unter den
Strazzi'schen Dokumenten vorfindet, auch ein Tagebuch des Salvestro di Gio-
vanni Mannini entdeckt, der im Jahre 1416 Podest» von Agliana war, den
Besuch Buttadeos und dessen politische Orakel empfing. Was sagen unsere
Gelehrten zu so merkwürdigen Beiträgen zur Geschichte der Sage vom
„Ewigen J uden"?
Das Briefgeheimniß wahrend der französischen
Revolution.
von
A. G. Vllckenheimer.
— Mainz. —
Inter den Mißständen, deren Beseitigung die Wähler zn den
Ntilt8 ^sueranx Frankreichs im Jahre 1789 fast einstimmig ver-
langten, erscheint in den s. g. Eahiers die von der Regierung
bis dahin geduldete, vielfach sogar verlangte Verletzung des Briefgeheim-
nisses. Die Unverletzlichkeit des letzteren stellten die Wähler auf gleiche
Stufe mit der Freiheit der Person, des Eigenthums und mit dem Rechte
der freien Meinungsäußerung. Solche Gleichstellung war durchaus zu-
treffend, insofern jedes Eindringen in die in Briefen niedergelegten Ge-
heimnisse Anderer als eine Beeinträchtigung der aus den» Begriffe der
Persönlichkeit hervorgehenden und mit der letzteren verknüpften Rechte, als
eine Verletzung des Anspruchs auf Treue sich darstellt. In dem Maße,
in welchem eine Regierung die Persönlichkeit würdigt und schützt, in dem-
selben Maße würdigt und schützt sie das Geheimmß des Briefverkehrs.
Dafür bietet die Geschichte Frankreichs im 18. Jahrhunderte und zu Anfang
dieses J ahrhunderts den besten Beleg. Wie die Negierung Ludwigs XIV.
in Frankreich in Mißachtung der persönlichen Freiheit das Aeußerste leistete,
so schwer versündigte sie sich an dem Briefgeheimnisse, nicht etwa blos
unter dem heuchlerischen Verwände der Fürsorge für das Staatswohl,
sondern auch zur Befriedigung der Neugierde des Königs, der über den
Pariser Klatsch auf dem Laufenden sich halten wollte. Auch die Nachfolger
Ludwigs XIV. trieben neben dem Mißbrauche mit den lsttrs8 äs eaenst
den hergebrachten Unfug mit der Eröffnung der Briefe, wie dies aus den
Beschwerden der Wähler der Ltat8 ßensraux erhellt.
86 II. <3. Vockenheimer in Mainz,
Mit dem Zusammentreten der letzteren durfte man die Beendigung
des schwer empfundenen Mißbrauches erwarten. In der That verkündigte
die Volksvertretung bereits im Juli 1789 den Grundsatz der Unverletzlichkeit
des Briefgeheimnisses. Sie that dies noch, bevor sie mit der Aufstellung
der Menschenrechte, mit der Gewährleistung der vollen Entfaltung der
persönlichen Freiheit, sich beschäftigte. Nachdem die gesetzgebende Gewalt
wiederholt veranlaßt worden, für den Briefschutz einzutreten, ging sie später
dazu über, den zugesagten Schutz durch ernste Strafbestimmungen zu erhöhen.
Allein wie in anderen Dingen, so erwies sich auch hier im Fortgange der
Revolution die Gesetzgebung als wirkungslos gegenüber dem Auftreten der
jeweiligen Machthaber in Paris und in den Provinzen, welche in Ver-
Übung von Willkürlichkeiten und Gewaltthätigkeiten die alten Behörden weit
in Schatten stellten. Wo immer mit der hereinbrechenden Anarchie neben
den gesetzmäßigen Gemalten die Herrschaft des Pöbels oder der Clubs sich
geltend machte, und wo immer die eingesetzten Behörden in den Dienst der
Parteien und deren Leidenschaften sich stellten, da gab es, den Erklärungen
und Strafandrohungen der gefetzgebenden Gewalt zum Trotz, weder einen
Schutz der Persönlichkeit, der freien Meinungsäußerung, noch einen Schutz
des Briefgeheimnisses. Als gar die republikanische Gesetzgebung in einem
Augenblicke des heftigsten Kampfes zwischen den um die Oberherrschaft
streitenden Parteien für einen ganz bestimmten Fall die Durchforschung der
Briefe gestattete, da machten die damals allgewaltigen Gemeindeverwaltungen
die Ausnahme zur Regel. Ihr Beispiel blieb maßgebend für die sie ab-
lösenden republikanischen Behörden, namentlich zur Zeit des Directoriums.
Während aber die letzteren zur Rechtfertigung ihres Verhaltens der Post
gegenüber zu einer allerdings willkürlichen Auslegung des Gesetzes ihre
Zuflucht nahmen, glaubten die Polizeiminister des Kaiserreichs über alle
Bedenken sich wegsetzen zu dürfen und beeinträchtigten den Nriefverkehr in
einer Weise, die das Verhalten der Behörden bei Beginn der Revolution
noch harmlos erscheinen ließ.
Den Anlaß zu der oben erwähnten ersten Aeußerung der Volksvertretung
vom 25. J uli 1789 gab ein in jeder Hinsicht merkwürdiger Vorfall. Un-
mittelbar nach Erstürmung der Pariser Bastille (14. Juli 1789) waren an
den verschiedensten Orten Frankreichs ernste Unruhen ausgebrochen, die
bereits am 16. Juli einen Theil des Adels, darunter auch den Grafen
Artois, den Bruder des Königs Ludwig XVI., zur Flucht in's Ausland
veranlaßten. Der rasch sich vollziehende Verfall der königlichen Gewalt
ermuthigte die Rädelsführer der Bewegungen in Paris und in den
Provinzen, auf eigene Faust neue Behörden einzusetzen. So entstand in
Paris ein republikanischer Gemeinderath, der den Astronomen Bailly zum
Maire bestellte und es als seine erste Aufgabe erachtete, den verrätherischen
Absichten der Königspartei nachzuspüren. In Verfolg dieses Bestrebens
sing die neue Behörde eine Sendung des Barons Castelnau, des Veilreters
Das Vriefgeheimniß während der französischen Revolution. 8?
Frankreichs in Genf, ab, um sich in den Besitz von Briefen, die an den
Grafen Artois bestimmt waren, eigenmächtig zu fetzen. Bailln sandte die
also erlangten Briefe an den Präsidenten der Nationalversammlung in
Versailles, der sich weigerte, die Schriftstücke, die nicht etwa in Verlauf
einer Untersuchung zu Folge richterlicher Beschlagnahme angehalten worden
waren, zu öffnen und der Versammlung kundzugeben. An diese in öffent-
licher Sitzung vom 25. Juli 1789 erfolgte Weigerung des Vorsitzenden
knüpfte sich sofort eine lebhafte Besprechung, indem mehrere Mitglieder der
Volksvertretung, unzufrieden mit der Haltung ihres Vorsitzenden, auf Mit-
theilung der Briefe bestanden, unter dem Vorbringen, daß hier die Rücksicht
auf das Staatswohl allein in Betracht komme. Einer der entschiedensten
Vertreter dieser Ansicht war der redegewandte, zu den Constitutionellen
zählende Marquis Gouy-d'Arcis, der davon ausging, daß man in Kriegs-
zeiten Briefe erbrechen dürfe, dem Kriege aber die Zeit der Unruhen und
geheimen Treibereien völlig gleichstehe. Einer lebhaften Unterstützung hatte
der Marquis von Seiten Robespierres sich zu erfreuen. „Ohne Zweifel,"
fo bemerkt diefer, „ist das Briefgeheimniß unverletzlich; aber, wenn eine
ganze Nation in Gefahr ist, wenn Anschläge gegen ihre Freiheit geplant
werden, dann wird das, was zu anderer Zeit als Verbrechen erscheint, zu
löblichem Handeln. Nachsicht gegen Verschwörer ist Verrath gegen das
Volk." In der Widerlegung dieser Ansicht begegneten sich die Wortführer
der verschiedensten Parteirichtungen innerhalb der Versammlung. Der
charakterfeste Armand Gaston Camus, einer der Vertreter der Stadt Paris,
verwies auf die in den Eahiers zu Tag getretene Willensäußerung aller
Wahlkreise und auf das eigentliche Wesen des Brief Verkehrs. Ein geschlossener
Brief, fo meinte der Redner, ist gemeinschaftliches Eigenthum Desjenigen,
der ihn abgesendet hat, und Desjenigen, der ihn empfangen foll oder em-
pfangen hat; ohne sich gegen die ersten Rechtsgrundsätze aufzulehnen, darf
man dämm kein Briefsiegel eröffnen. Den Rechtsstandpunkt streifte auch
der Bischof von Langres. Er hielt es zwar für erlaubt, Briefe eines dem
Vaterlande verdächtigen Menschen zu erbrechen; allein der Verdacht muß
begründet sein und darf sich nicht lediglich auf irgend eine Anzeige stützen.
Ganz entschieden trat der Demokrat Duo ort gegen die Eröffnung der
Briefe ein. „Es ist," so rief er, „einer Nation, welche die Gerechtigkeit
liebt, die sich auf Ehrlichkeit und Offenheit Etwas zu gut thun will, durch-
aus unwürdig, eine derartige Schnüffelei zu begehen." Den stärksten Stoß
versetzte dem Antrage auf Mittheilung der Briefe einer der Väter der
Revolution, Graf Mirabeau. Wo immer damals eine Beeinträchtigung
der Freiheit in Frage stand, hatte kein Mitglied der Versammlung so
zündende Worte wie er; dabei verstand kein Anderer gleich ihn, die jeweils
auftauchenden Fragen an der Hand der Erfahrungen des Lebens zu prüfen
und zu behandeln. Für ihn war hier nicht blos eine Rechtsfrage im Spiele,
für ihn drehte es sich noch um den Nachweis, daß der Vertrauensbruch
88 «. G, Vockenheimer in Mainz.
Völlig nutzlos sei. „Was erfährt man," so fragte er, „aus Briefen? Glaubt
man im Ernste, daß die Anschläge zu gefährlichen Unternehmungen durch
die Post befördert werden? Selbst politische Nachrichten erfährt man nicht
auf diesem Wege. Welche große Gesandtschaft, welcher Träger eines be-
sonders wichtigen Auftrags umgeht nicht die Gefahr der Nachspürung auf
der Post?" Die zu erwartende Ausbeute steht nach seiner Ansicht in keinem
Verhältnisse zur Versündigung an Treue und Glauben unter den Menschen.
Am Schlüsse seiner Abstimmung schildert Mirabeau den von der begehrten
Maßregel zu besorgenden Eindruck wie folgt: „In Frankreich beraubt man
unter dem Vorwcmde der öffentlichen Sicherheit die Bürger des Eigenthums
an ihren Briefen, welche die Eingebungen des Herzens, den Schah des
Vertrauens verwahren. Diese letzte Zuflucht der Freiheit haben Diejenigen
verletzt, welche von der Nation zum Schutz ihrer Rechte berufen wurden;
sie haben durch ihren Beschluß es ermöglicht, daß die geheimsten Regungen
des Herzens, die kühnsten Eingebungen des Geistes, die Ergüsse eines
oft unbegründeten Zornes, die vielfach schon im nächsten Augenblicke
wieder zurückgenommenen irrigen Unterstellungen zu Beweismitteln gegen
dritte Personen sich gestalten, daß, ohne es zu wissen, Bürger gegen
Bürger, Freunde gegen Freunde, Söhne uud Väter gegeneinander zu
Richtern werden, daß sie einander verberben, denn die Versammlung hat
es ausgesprochen, daß sie zu Grundlagen ihrer Urtheile zweideutige Mit-
theilungen machen werde, die sie sich nur durch ein Verbrechen beschaffen
konnte."
Nach diesen Auseinandersetzungen unterblieb die Erbrechung der Briefe.
Eine gesetzliche Regelung der angeregten Frage erfolgte weder in der
Sitzung vom 25. J uli 1789 noch in jener vom 27. J uli darauf, als die
Frage von Neuem besprochen wurde.
Die Aeußerungen der Nationalversammlung hinderten nicht die Fort-
setzung des einmal eingerissenen Mißbrauches. Nach Jahresfrist kam die
Frage nochmals an die Volksvertretung. Es hatte nämlich die Munici-
palität von Saint-Aubin eine an den Generalintendanten der Post,
d'Ogny, gerichtete Postsendung angehalten und eine Reihe von Briefen
erbrochen, welche für den Minister der auswärtigen Angelegenheiten in
Paris und für die Minister Spaniens bestimmt waren. Diesmal bekannte
die Versammlung Farbe, indem sie durch Decret vom 10.— 14. August 1790
das Briefgeheimnis; für unverletzlich erklärte und Privaten wie Behörden
die Befugniß, Briefe zu eröffnen, absprach. Noch einmal verkündigte die
Versammlung in demselben Monat August 1790 den Grundsatz der Unver-
letzlichkeit des Briefgeheimnisses, als sie durch Decret von« 26.-29. August
den von den Postcommissären zu leistenden Eid regelte. Diese mußten
eidlich geloben, das Briefgeheimnis; treu zu wahren und den Gerichten jede
Zuwiderhandlung gegen den Briefschutz, sobald sie davon Kenntniß erhielten,
unverzüglich anzuzeigen.
Das Vriefgeheimniß während der fianzösischen Revolution. 89
Auf diejenigen, welchen an der Aufrechterhaltung der Ordnung Nichts
gelegen war, machten die vorgenannten Decrete, welche der Strafandrohungen
für den Fall der Verletzungen des Briefgeheimnisses entbehrten, keinen
sonderlichen Eindruck. Wo immer Unruhen entstanden, da waren auch die
Briefe in Gefahr. So wurde die Jagd nach Briefen in Paris in groß-
artigem Maße betrieben im Juni 1791 aus Anlaß der Flucht der könig-
lichen Familie und in Verfolg eines Decretes der Nationalversammlung
vom 21. Juni, das die Bürger von Paris zur Aufrechterhaltung der
Ordnung und zur Verteidigung des Vaterlandes aufforderte. Eine der
ersten Schutzmaßregeln war die Einhaltung aller eingelaufenen Briefe, wo-
gegen die Nationalversammlung noch am nämlichen 21. Juni einschritt.
Trotzdem ging die Fahndung nach Briefen ruhig weiter, wie dies ein
Decret der Nationalversammlung vom 10.— 20. Juli 1791 belegt. Darnach
hatten einzelne Verwaltungen und Gemeindevorstände zum Schutze des
Staates die Uebermachung des Postverkehrs in die Hand genommen, Post-
fuhren angehalten, die Führer derselben gezwungen, Packete an anderen
Orten als in den Posträumen niederzulegen, die Diensträume der Post«
directoren untersucht und die Austheilung der Briefe verzögert. Da nach
Ansicht der Nationalversammlung ungesetzliche Mittel der bezeichneten Art
höchstens im Augenblicke drohender Gefahr oder allgemeiner Unruhen ge-
duldet werden dürften, nicht aber zu Zeiten, wo alle zur Aufrechterhaltung
der Ordnung erforderlichen Maßregeln bereits getroffen wären, so schärfte
die Nationalversammlung noch einmal die zum Schutze des Postverkehrs
erlassenen gesetzlichen Bestimmungen zur Nachachtung ein. In der Begründung
ihres Beschlusses hatte die Nationalversammlung angedeutet, daß es Fälle
gäbe, in welchen der Grundsatz der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses
nicht in Betracht käme. Solche Fälle sich zurechtzulegen, war keine besonders
schwierige Aufgabe für diejenigen, welche Unruhen anzuzetteln im Begriffe
waren, oder welche durch Verdächtigung ihrer Gegner sich diese vom Halse
schaffen wollten.
Die in dem zuletzt erwähnten Decrete unterlaufene Abschwächung des
Grundsatzes der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses sollte durch Straf-
bestimmungen ausgeglichen werden. In dieser Absicht bedrohte der 0«6s
ptzualy vom 25. September bis 6. October 1791 (im 2. Theil I. Titel,
3. Abth. Art. 23) die vorsätzliche, absichtliche Unterdrückung eines der Post
anvertrauten Briefes sowie die Verletzung oder Erbrechung von Brieffiegeln
mit der Strafe der äössraäation oiviqus. Wurde das vorbezeichnete Ver-
brechen auf Grund eines Befehls der vollziehenden Gewalt oder durch einen
Postbeamten begangen, so traf den Minister, welcher den Befehl ertheilt oder
den Befehl mit feiner Gegenschrift gezeichnet, ferner Jeden, der den Befehl in
Vollzug gesetzt, den Postagenten, der ohne Befehl gehandelt, eine Strafe von
zwei Jahren Gefängniß. Wenige Wochen nach Verkündigung des Gesetzes
übersandte ein Pariser Bürger der gesetzgebenden Versammlung einen Brief,
HO U. <L. Vockenheimei in Mainz.
der zur Verlesung gebracht werden sollte. Kaum bemerkte die Versamm-
lung, daß der Brief durch unbefugte Hand eröffnet worden war, als sie
sofort die Verbrennung des Briefes verordnete (10. December 1791).
Außerhalb des Sitzungssaales der gesetzgebenden Versammlung legte
man sich keineswegs Beschränkungen auf, um das Briefgeheimniß zu schonen.
Die Männer, welche die Greuelthaten des 1. September 1792 veran-
stalteten, hatten ihren Werkzeugen die Weisung ertheilt, bei Durchsuchung
der Wohnungen der Bürger vor allen Dingen nach Briefen zu forschen.
Briefe, einerlei wie der Besitz derselben erworben worden, waren, als ein-
mal das Revolutionsgericht seine Thätigkeit' eröffnete, die besten Beweis-
mittel, um politische Gegner an's Messer zu bringen, so lange das
Revolutionsgericht überhaupt noch auf die Beobachtung der Formen eines
Verfahrens Werth legte.
Eine Sorte von Briefen wurde zur Zeit, als der große Entscheidungs-
kampf zwischen Girondisten und lacobinern bereits begonnen hatte, durch
Decret des Nationalconventes vom 9.— 11. Mai 1793 von dem Postschutze
förmlich ausgeschlossen und vogelfrei erklärt, nämlich der Briefwechsel der
auf die Liste der Emigranten gesetzten Personen. Nach Art. 3 des ge-
dachten Decretes sollten die Briefe dieser Personen in Gegenwart des
Generalrathes der Gemeinden eröffnet, die vorgefundenen Werthgegenstände
beschlagnahmt werden.
Um diesem Gesetze nachzukommen, durchforschten die Gemeinden täglich
die Briefsendungen. Ueber die Art und Weise, wie dieses Geschäft be-
trieben wurde, belehren uns die Protokolle der Straßburger Munici-
palität, die im Drucke vorlagen. In Straßbnrg beschloß am 15. Frimaire II
der Ausschuß der Wachsamkeit und allgemeinen Sicherheit, „daß dem
Director der Briefpost eingeschärft werden soll, die ankommenden Briefe
nicht anders zu öffnen, als in Gegenwart der Mitglieder der Propaganda,
welchen die Bürger Jung und Wilvot beigegeben werden sollen." Zur
besseren Würdigung dieses Beschlusses sei nur darauf hingewiesen, daß die
Propaganda eine Privatgesellschaft, und der Bürger Jung feines Zeichens
Schuster war. Wenige Tage später, am 24. Frimaire, wurde der Bürger
Stamm mit der Durchsuchung der Briefe betraut, auf dessen Bericht hin
die weiteren Weisungen an'den Postdirector, Brülbaut, ergehen sollten.
Bezeichnend für das Treiben dieser Straßburger ist die Thatsache, daß sie
eines Tages eine an einen Kaufmann in Kopenhagen gerichtete Sendung
eröffneten und darin einen Brief des Ministeriums des Aeußeren in Paris
antrafen, der zum Theil chisfrirt mar. Nach vollendeter Durchlesung, so
weit dieselbe möglich war, ging der Brief an den Ort feiner Bestimmung
ab. Einmal entnahm man einer Postsendung einen Naarbetrag von
309 Livres, um ihn gegen Assignaten in gleichem Betrage umzuwechseln.
Was man sich in Straßburg herausnahm, das erlaubte man sich «Her-
wärts in Frankreich während der Zeit der Schreckensherrschaft und der
Vas Vriefgeheimniß während der französischen Revolution. Yl,
Allgewalt des lacobinerclubs. Mein auch nach dem Sturze Robespierres
und nach Einführung der Directorialregierung glaubten die obersten Behörden
von dem Grundsätze der unbedingten Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses
zur Sicherheit des Staatswohles Abstand nehmen zu dürfen.
Zunächst erhielt der obenerwähnte Artikel des Strafgesetzbuches in dem
neuen l^ocis 6ß8 äÄitz st 6s8 psinsn vom 3. Brumaire IV einen Zusatz
dahin: „Durch den gegenwärtigen Artikel wird Nichts geändert an dem der
Regierung zustehenden Rechte der Überwachung der Briefe, welche aus
fremden Ländern kommen und nach folchen Ländern bestimmt sind." Im
Einklänge mit diesem, den Werth des gesetzlich verkündigten Schutzes des
Nriefverkehrs bedenklich herabmindernden Zusätze zum Gesetze erscheint
sodann ein Ausschreiben Carnots vom 11. Florsal IV, welches den
Commissär der vollziehenden Gewalt bei den Municipalitäten — jene von
Paris ausgenommen — anwies, die aus Spanien und Italien kommenden
oder dorthin bestimmten Briefe zu öffnen und jene Briefe zurückzubehalten,
welche an deportirte Priester oder Emigranten gerichtet waren, oder welche
Aufklärung über Angriffe gegen die Sicherheit des Staates enthielten.
Die zurückbehaltenen Briefe sollten sofort ~dem Polizeiminister vorgelegt
werden.
Auf Grund dieser Anordnungen entwickelte sich ein regelmäßiger
Svionirdienst auf der Post, der einen solchen Umfang Annahm, daß ein
Mitglied des Ruches der Fünfhundert sich veranlaßt fah, den eingerissenen
Unfug öffentlich zur Sprache zu bringen. Allerdings wirft es ein ungünstiges
Licht auf die Gesinnung, aus welcher die Anregung des Abgeordneten
Imbert Colomös hervorging, wenn noch im Laufe der durch ihn ver-
anlagen Verhandlungen die Entdeckung gemacht wurde, daß Colomös in
geheimer Verbindung mit dem Prinzen Conds stand. In den Sitzungen
vom 26. Messidor nnd 8. Frnctidor V wurde für und gegen die Unver-
letzlichkeit des Briefgeheimnisses weitläufig verhandelt. Für die Berechtigung
der Regierung zur Ueberwachung des Briefwechsels trat mit aller Ent-
schiedenheit ein Mann ein, der schon einmal der von der seiner Partei so hoch
gehaltenen freien Bewegung der Bürger einen empfindlichen Stoß versetzt
hatte, Jean Debry, der Vater des Fremdengesetzes, das, angeblich zum
Zwecke der Ueberwachung der Fremden erlassen, die Gesinnung der Bürger
einer für Viele verhängnißvollen Beobachtung und Erforschung unterwarf.
Es ist ein merkwürdiges Verhängniß gewesen, daß der Schutz fremder
Papiere so wenig Gnade fand in den Augen eines Mannes, der um ge-
heimer Papiere halber beinahe sein Leben hätte lassen müssen. Nur durch
einen unbegreiflichen Glücksfall entging Debry dem Schicksale, das am
28. April 1799 vor Rastatt die übrigen Mitglieder der französischen Ge-
sandtschaft ereilte, als hie Papiere der letzteren geraubt werden sollten.
Im Rathe der Fünfhundert stand Debry so ziemlich allein; dagegen ging
seine Ansicht im Rath der Alten durch, die der Meinung waren, die Regierung
92 II. G. Vockenheimer in Mainz.
des Direktoriums könne ohne die bisher beliebte Behandlung der Briefe
nicht auskommen, womit allerdings der gesetzgebende Körper der damaligen
Zeit der Staatsgewalt kein rühmliches Zeugniß ausstellte.
Nach wie vor wurde unter der von der Achtung der Zeitgenossen
wohl nicht getragenen Directorialherrschaft nach dem Briefwechsel verdächtiger
Personen gefahndet. Verdächtig war aber unter dem Direktorium gerade
so wie zur Zeit der Schreckensherrschaft ein J eder, der dem jeweiligen
Machthaber nicht gefiel.
Hielt schon das Direktorium sich befugt, über einen im Jahre 1789
so feierlich verkündigten Grundsatz sich hinwegsetzen zu dürfen, so erwies
sich die von einem außergewöhnlichen Selbstbewußtsein geleitete Regierung
des Consulats und des Kaiserreichs in dieser Beziehung noch viel weniger
ängstlich. Weder Napoleon noch Fouch6 schreckten vor dem Erbrechen
von Briefen zurück, wenn sie hinter Geheimnisse Anderer kommen wollten.
Sie fanden hierbei eine allzeit bereite Beihilfe bei dem obersten Leiter
des Postwesens, Lavalette, der, wie Schlosser berichtet, die „polizei-
liche Verletzung des Geheinmisses der Privatcorrespondenzen und das Er-
brechen der Briefe im Großen betreiben" ließ. Den Höhepunkt der Miß-
achtung der Persönlichkeit und der freien Meinungsäußerung erreichte die
kaiserliche Negierung nach den Niederlagen in Rußland. Um das Geheim-
niß der letzteren so lange wie möglich vor den Franzosen zu bewahren, gab
der Kaiser den Befehl, die vom Auslande kommenden und dahin abgehen-
den Briefe anzuhalten. Zu dem für solche Zwecke bereits in Paris er-
richteten Cabinet gesellten sich von da an die geheimen Cabinete in Ostende,
Brüssel, Hamburg, Berlin, Mailand und Florenz. Ein Wink der oberen
Behörde genügte, um Briefe anzuhalten, deren Inhalt der Kaiser oder
dessen Minister kennen wollten. Das stand in vollem Einklänge mit den
übrigen Willkürlichkeiten, die sich die Polizei in Frankreich gegen Ende des
Kaiserreichs erlauben durfte, nach Maßgabe des kaiserlichen Decrets vom
3. März 1810, wonach die Negierung befugt war, mit Umgehung aller
zum Schutze der persönlichen Freiheit erlassenen Gesetze auf Grund ein-
gezogener Berichte ohne Weiteres und auf unbestimmte Zeit Personen zu
verhafteu, die man den Gerichten nicht überliefern wollte.
Von Anwendung der großen Grundsätze des Jahres 1789 war, wie
hier an einen« Beispiel gezeigt worden, schon bald nach deren Verkündigung
keine Rede mehr gewesen, weil die Franzosen keine Republikaner waren
wie die Nordamerikaner, die noch vor den Franzosen die Freiheit sich er-
rungen hatten und sie zu bewahren verstanden.
Rivalinnen/^
Novelle
Francis Popper.
— paii«. —
r Ausblick auf das H6tel und die Esplanade der I nvaliden ge-
währt eine der großartigsten Ansichten von Paris. Es giebt
kaum etwas Vornehmeres, Stattlicheres zu schauen als diesen
gewaltigen Platz mit seinen alten Bäumen und — ganz im Hintergrunde,
jenseits der Schutzgräben und der erbeuteten Kanonen — die goldene Kuppel
von Mansard, unter welcher der legendarische Sarg ruht, den man von
Sanct-Helena hierher überführt hat. Selbst der nüchternste Fremde, welchen,
im carrirten Anzug, den Vädecker in der Hand, das Neisebureau von Look
nach Paris bringt, kann sich dein feierlichen Eindruck nicht entziehen. Er
denkt an den großen König und an den großen Kaiser, er bleibt bewundernd
und manchmal auch beneidend stehen. An jenes Alt-Frankreich, das solch'
dauerhafte und solch' imposante Zeugen seines Ruhmes besitzt, mochte wohl
auch Bismarck denken, als ihn in Ferriöres der Advocat Jules Favre
Namens der Republik um Frieden bat und ihn fragte: „Gegen wen wollen
Sie denn eigentlich noch Krieg führen?" ~ „Gegen Ludwig den Vier-
zehnten," foll da der eiserne Kanzler geantwortet haben.
Indessen, in den Augen des Parisers, der ja schon seit Langen: au
den glänzenden Anblick gewöhnt ist, hat die Esplanade der Invaliden wohl
auch ihre melancholischen Seiten. Ganz in der Nähe befindet sich ein arm-
seliges Stadtviertel, der „Große Kieselstein" genannt, und wenn das
Wetter mild oder auch nnr erträglich ist, so sendet dasselbe in die pracht-
vollen Anlagen seine betrübten Müßiggänger, seine in Lumpen gehüllten
*) Einzig autonsnte Uebcrsetzung von Lothai Schmidt.
9~ Fran?o>5 Coppse in Paris.
Spaziergänger hinaus. Ein seltsamer Philemon, ein braver Alter, dessen
Brust mit Medaillen besät ist und der an seiner Soldatenmütze eine
Cocarde trägt, humpelt auf hölzernen Stelzfüßen neben einer scheußlichen
Baucis in schmutzigem Camisol dahin. Ein uraltes Mütterchen mit ge-
beugtem Rücken treibt vor sich oder zieht am Rocke hinter sich zwei oder
drei ungesunde Kinder her. Ausgestreckt auf einer Bank und den schäbigen
Filzhut in die Augen gedrückt, schläft ein Landstreicher und träumt vielleicht
von einem Verbrechen, das er im Sinne hat.
Der Gegensatz zwischen dem schmutzigen Elend und dem königlichen Luxus
ist mir immer schmerzlich gewesen.
In Venedig verleiden mir die Weiber mit langem Kopftuch, die mit
den Pantoffeln klappern und sich in Einem fort in ihrer rothen Mähne mit
den Fingern Herumfratzen, San Marco und den Dogenpalast, und im
Hnde-Park zu London machen mir die zerlumpten Gestalten mit nackten
Füßen, welche sich allenthalben auf dem Nasen Herumsielen, das Gewimmel
der Equipagen und das Reiten der blonden Amazonen geradezu verhaßt.
Andererseits hat aber die Volksmenge für mich wiederum einen
großen Reiz. Ich mische mich gern unter sie. Deshalb führe ich oft
meine Gedanken nach der Esplanade und nach dem „Großen Kieselstein"
spazieren.
Als ich so eines Tages unter den großen Bäumen der Esplanade der
Invaliden einherging, bemerkte ich zwei alte Frauen.
Der Monat Februar neigte sich seinem Ende zu, und die bereits
wanne Nachmittagssonne ließ an den Zweigen die bronzefarbenen Knospen
erglänzen. Die beiden Alten, welche, wahrscheinlich wegen der Feuchtigkeit,
noch nicht im Freien zu sitzen wagten, wandelten langsam dahin, wobei die
Bejahrtere sich zitternd und schwerfällig auf den Arm der Genossin stützte,
die, obschon eine hagere, elende Gestalt, sich dennoch kerzengerade trug und
voller Energie schien. Alle Beide waren ärmlich, aber sauber gekleidet.
Ihre schwarzen Halstücher waren sorgfältig aufgesteckt, ihre weißen Hauben
glänzten vor Reinlichkeit. Damit die Kranke bei der geringsten Ermüdung
ausruhen konnte, trug die Rüstigere einen Klappstuhl unter'm Anne. Sie
richtete geduldig ihre Schritte nach denen der Freundin und schaute sie alle
Augenblicke zärtlich und liebevoll an. Sie mochte etwa zehn Jahre jünger
sein als die Andere, welche, eine Ruine in Menschengestalt, mindestens
sechzig zählte. Sie allein besaß von Beiden noch ein wenig Kraft, ein wenig
Gesundheit. Das mußte für Jene mit genügen. Wenn man ihnen be-
gegnete, so dachte man unwillkürlich an jene ländlichen Gespanne, wo ein
Pferd einäugig und das andere völlig blind ist und die trotzdem den
Karren ziehen.
Die beiden Frauen interessirten mich sofort. Ich beobachtete sie.
Die Greisin mußte sicher einstmals schön gewesen sein. Die Haube
vermochte kaum das reichliche schneeweiße Haar zusammenzuhalten. Eben«
Rivalinnen, 9~
mäßig waren die Züge ihres unbeweglichen, gelben, gichtbrüchigen Gesichtes,
und unter den noch schwarzen Brauen schimmerten die tief eingesunkenen
Augen in einen« fieberhaften Glänze.
Die Andere, rothhaarig, einstmals mit weicher Haut und weißen, Teint
— mochte Vielleicht ebenfalls hübsch gewesen sein. Doch grausam verfährt
die Zeit mit den Reizen der Jugend! Nur Runzeln und Flecken läßt sie
zurück. Und trotzdem erregte dieses elende, welke Gesicht noch Gefallen durch
seinen nnlden Blick und sein gütiges Lächeln.
Schwestern waren sie nicht; sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit
mit einander.
Der Anblick jener beiden armen Geschöpfe, die aufeinander gestützt,
ihre schwachen Kräfte vereinten, hatte mich wahrhaft gerührt. — Das
schone Wetter hielt einige Tage an, und so traf ich die beiden Alten öfters
wieder.
An gewissen Einzelheiten, an ihren Händen, über welche sie immer
Handschuhe von grauer Baumwolle gezogen hatten, an einein unerklärlichen
Etwas in ihrer ganzen Erscheinung, merkte ich, daß sie nicht immer eine
so gewöhnliche Kleidung getragen hatten und daß sie einstmals, wie das
Volk sagt, bessere Tage gesehen hatten. Ihr Verlangen, des geringsten
Sonnenstrahles zu genießen, trotz ihres Alters und ihrer Hinfälligkeit aus-
zugehen, ließ mich vermuthen, daß sie während des langen Winters in
irgend einer traurigen Mansarde des „Großen Kieselsteins" eine Art
Gefangenen-Dafein führten. Ich stellte sie mir vor im Geiste, wie sie
da hockten, die Füße auf der Wärmflasche, und von ihren Erinnerungen
zehrten.
Sie erregten immer mehr mein Mitleid und — daß ich es nur ge-
stehe — auch meine Neugierde.
Nun kannten auch sie mich vom Sehen. Eines Tages, als die ganz
ungewöhnlich laue Luft ihnen gestattete, sich auf einer Bank niederzulassen,
setzte ich mich neben sie, und alsbald knüpften wir ein Gespräch an. Der
weibliche Instinct, der weit sicherer und zarter als der des anderen Ge-
schlechtes ist, ließ sie Vertrauen zu mir fassen. Und kurz und gut, nach
einer Stunde kannte ich ihre Lebensgeschichte.
Dieselbe ist rührend, ich will sie erzählen.
II.
Eristirt noch ein Vesucher des Vaudevilletheaters, der sich an Nelly
Robin erinnert?
Vielleicht nein. Aber im Winter des Jahres 185!) war sie eine der
schönsten Huris des muselmännischen Paradieses, das damals die Truppe
dieses Theaters aufführte. Freilich zwischen dieser Darstellung und dem
Himmel des Propheten herrschte der Unterschied, daß all' diese reizenden
Nord und S»d, I.XXV, 22». 7
9<i Francis Loppee in Paris.
Schauspielerinnen nur sehr zweifelhalte Ansprüche auf den Titel „Fräulein"
hatten, einen Titel, welcher, wenn anders man dem Koran glauben will,
den Huris ewig und unverbrüchlich zukommt.
Sie war brünett, hatte einen marmorblassen Teint und weiches,
wolliges Lockenhaar. Groß und schlank, von wunderbarem Wüchse, besaß
sie ein Paar dunkle Augen, die immer in sinniges Träumen verloren
schienen.
Ihre göttergleiche Schönheit, in der sich Würde und Anmuth paarten,
hätte die florentinischen Meister der Renaissance entzückt. Und doch hatte
Nellp nur einen armen Hutmachergehilfen zun, Vater, den die Sorge um
seine zahlreiche Familie fast zu Boden drückte, .stein Wunder, daß das
Mädchen, um welches man sich wenig kümmern konnte, in allen Gassen
der Stadt sich herumtrieb. Ein Nachbar, der Maschinist am Nelleville-
Theater war, verführte sie und nahm sie zu sich. Jetzt mußte sie arbeiten,
daß ihre Hände rauh und roth wurden, muhte sie für den Trunkenbold, der
sie mit Schlägen tractirte, kochen und ihm seine schmutzige Bude auskehren.
Sie war bereits fast zweiundzwanzig Jahre alt, als Lamorliöre, der erste
Heldendarsteller des Theaters, welcher trotz seiner Bärentatzen, seines ge-
färbten Schnurrbartes und seiner fünfzig Jahre noch immer Pascha hinter
den Coulissen geblieben war, sie zu bemerken und ihr zum Zeichen seiner
Gunst das Taschentuch hinzuwerfen geruhte. Tic Vorstadtbewohnerin be-
kam einen riesigen Respect am ersten Zlbend, wo sie das bescheidene Logis
des Schauspielers betrat, der seine eigenen Möbeln besaß und die Zimmer-,
wände mit alten Theaterzetteln und goldenen Papierkronen decorirt hatte,
den glorreichen Zeugen seiner ehemaligen Erfolge im Süden, in Ngen,
Auch und Montauban.
Der Schauspieler war zweifellos gegen die Verehrung vou Seiten
der holden Weiblichkeit bereits abgestumpft. Ehemals hatte er bei seinen
Gastrollen in der Provinz den häuslichen Frieden von mehr als einer
Familie gestört. Die Frau eines Steuereinnehmers im Departement
Tarn-et-Garonne war ihm nachgelaufen, und in Gers hatte er die Gattin
eines Unter- Präfecten stark comvromittirt. Dennoch aber schmeichelte die
naive Bewunderung des armen Mädchens den, Herzen des alten Schmet-
terlings, der es bereits müde war, rastlos von Blume zu Vlunie zu
flattern. Sie sollte am nächsten Morgen wieder heimkehren; so war es
abgemacht. Indessen nach acht Tagen wusch und plättete sie ihn, be-
reits seine Wäsche.
Sie knüpften also ein Verhältnis! mit einander an. stell,) lebte an
der Seite des ersten Helden in einer beständigen Aufregung. Sie nannte
ihn „Herr Lamorliöre", wenn sie mit den Nachbarn von ihn, sprach, sie
diente ihn, wie eine verliebte Sklavin. Sie sorgte auf's Peinlichste für
ihn, wurde in seine Toilettengeheimuisse eingeweiht und leimte ihn, das
Haar färben, welches sie mit Hilfe von Wassern und Salben ans Grau-
>,
Rivalinnen. 9"
Grün-Roth in's schönste Schwarz sich verwandeln sah, ohne daß sie darum
auch nur im Geringsten aufgehört hätte, Lamorliore als den Jüngsten lind
Schönsten unter den Sterblichen zu betrachten.
Er war im Grunde genommen ein guter Kerl. Er war gerührt, daß
sie ihn so sehr bewunderte und so gut bediente. Er interessirte sich für
Nelly, erkannte, daß dieselbe trotz ihrer Unwissenheit durchaus nicht dumm
war, gab ihr ein wenig declamatorischen Unterricht und sorgte dafür, daß
sie in kleinen Rollen debütiren durfte. Nach einem halben Jahre gab sie
schon ganz leidlich die Namen.
Lamorliore, der bereits seit mehreren Jahren nur uoch in kleinen
Orten gastirte, bekam durch einen glücklichen Zufall ein Engagement an
dem „Großen Theater" zu Lille, wo fein in der Provinz erworbener Ruhm
zun, letzten Male hell aufstrahlte. Diejenigen, welche ihn damals nicht in
den „Piraten der Savanne" die große Wahnsinnsscene spielen gesehen
haben, in der er, wild anflachend, an vergiftetem lava-Lioueur stirbt,
können sich keinen Begriff von dem alten pathetischen Spiel machen, das
heute gänzlich aus der Mode gekommen ist. Da er just um diese Zeit eine
kleine Erbschaft machte, so konnte Nelly in präsentablen Costümen neben
ihm debütiren. Sie war und konnte auch nur immer eine mittelmäßige
Schauspielerin sein. Doch bei ihrer außerordentlichen Schönheit hatte sie
trotzdem glänzende Erfolge. Alle reichen Lebemänner singen Feuer. Doch
sie schwärmten vergebens. Nelly, die voller Bewunderung und Dankbarkeit
für Lamorliore war, blieb ihm unerschütterlich treu, und drei Jahre lang
sahen die Bewohner von Lille mit Staunen, wie dieses wunderbare Ge-
schöpf in einem Schmuck aus Talmi Komödie spielte und ehrlich sittsam
am Arme des alten Schauspielers allabendlich aus dem Theater kam.
Als Lamorliore am Abende seines Benefizes, wo er sich in der Rolle
des Fischers Gasparde sehr erhitzt hatte, heimkehrte, erkältete er sich unter-
wegs derartig, daß er bald darauf an einer.Lungenentzündung starb. Der
Schmerz Nellys war ein aufrichtiger; indessen sie ließ sich bald — wie
das nicht anders zu erwarten stand — von einem reichen Müßiggänger,
einem vier- oder fünffachen Millionär trösten, der seit drei J ahren nur dann
seinen Krimstecher hervorholte und in's Theater ging, wenn das herrliche
Mädchen auf die Bühne kam. Dieser geschmackvolle Mensch begriff, daß
zu solch' mattem Teint und solch' dunklen Haaren nur echte Diamanten
paßten. Er miethete ihr eine prachtvolle Wohnung und ließ sie auf Gummi-
rädern fahren.
Das ehemalige Gassenmädchen aus Charonne, welches früher sich oft
für zwei Sous Backwerk in einer Tüte zum Frühstück gekauft hatte, nahm
diesen Lurus als etwas ganz Selbstverständliches hin, ohne deshalb inter-
essirt oder habsüchtig zu werden. Im Grunde genommen, langn»eilte sie
ihre neue Lebensweise sogar. In der Gesellschaft ihres Geliebten, eines
hübschen, kaum vierzigjährigen Provinzialen, der sich sehr viel auf seinen
7*
9b Fian>,ois Coppöe in Paris.
blonden Backenbart zu gute that, worin noch kein einziges Silberhaar erglänzte
und dessen Freigebigkeit Nelly Nobin Kutscher, Köchin und Kammerfrau
verdankte, sehnte sie sich fast nach der Zeit zurück, wo sie ihren Lamorliöre
mittelst einer Pomade verjüngte oder ihm nach der Heimkehr von der
Probe eigenhändig das Mittagessen bereitete.
Larmorliöre hatte immer seine ihm ergebene Freundin mit Nachsicht
nnd Schonung behandelt, wenn er auch ihr gegenüber den überlegenen Ton
des ersten Heldendarstellers und die Protectormiene eines vom Publicum
verhätschelten Schauspielers niemals verleugnete. Ertrug es ihr nicht nach,
daß sie aus dem niederen Volke stammte lind daß sie gewisse, den Mädchen
aus den Vorstädten eigene Manieren beibehielt, so -. B. ihr lautes Lachen
oder verschiedene Redensarten oder ihre Lieder, welche sie mit leiernder
Stimme hersang, wenn sie ihre bescheidene Garderobe ausbesserte. Sie
hatte für den alten Schauspieler ein aufrichtiges Gefühl der Dankbarkeit
und Freundschaft empfunden, während Mallet-Deshaumes — so hieß ihr
jetziger Verehrer — in vieler Beziehung ihr einen lästigen Zwang auf-
erlegte.
Er war ein bischen conventioneil, der schöne Herr aus Lille, und
wollte sich mit seiner Maitresse Ehre einlegen, wollte, daß sie Benehmen
zeigte. Er hatte eine unangenehme Art und Weise, alle Augenblicke zu
wiederholen: „Aber meine Liebe, so was sagt man nicht, so was thut man
nicht," und dabei strich er sich mit einem Schildpattkämmchen, das er
stets bei sich tnig, den goldenen Bart. Indem so der correcte Gentleman
vier Jahre lang an ihr herumschulmeisterte, langweilte sich Nelly Robin
zwar gehörig, erhielt aber Erziehung und wurde eine Dame, ohne indessen
ihre natürliche Heiterkeit einzubüßen.
Nun kam eines Tages der Director des Vaudeville-Theaters nach
Lille, um sich einen Komiker anzusehen, welcher daselbst mit großen» Erfolge
auftrat, weil feine Nase zwei Centimeter länger war als die des berühmten
Hanswursts Hnacinth. Bei dieser Gelegenheit bekam er Nelly Robin zu
Gesicht und war svon ihrem Anblick wie geblendet. Sie war 28 Jahre
alt und hatte den Höhepuukt ihrer Schönheit erreicht. Gerade um diese
Zeit suchte er die schönsten Weiber zu engagiren, denn er wollte die
„Dirnen" spielen, eines jener satirischen Lustspiele gegen den Lurus dir
Halbwelt, die damals in der Mode waren und worin die hübschesten
Mädchen, mit Diamanten bedeckt, auf der Bühne erscheinen mußten, um
die zornigen Tiraden des Sittenrichters einigermaßen zu rechtfertigen. Mit
einem Contracte in der Hand kam der Director in Nellns Garderobe. —
„Schnell, Feder und Tinte!" Sie unterzeichnete alsbald den gestempelten
Bogen auf dem Toilettentifche zwischen Schminken und Pomaden. Denn
sie hatte die Provinz und die Lebemänner von Lille herzlich satt, die beim
Souper vom Steigen der Baumwolle sprachen. Sie hatte genug von
Mallet-Deshaumes und seinem decorativen Barte. Noch an demselben
Rivalinnen. 99
Abend brach sie mit ihm, und sechs Wochen später debütirte sie im Vaude-
ville in den „Dirnen".
Die Rolle war klein. Sie trat erst im dritten Acte auf nnd hatte
nur 25 Zeilen zu sagen. Aber bei der Premiöre herrschte in den Couloirs
«ine Aufregung: „Nein, was das für ein hübsches Mädchen ist!" Die
Pariser verloren die Köpfe. Im Foyer ließ sich eine Unmenge von Herren
im schwarzen Fraä und weißer Craoatte Nelly Nobin, die man umringte,
vorstellen. Ihr Director hüpfte vergnügt in der Schaar der Bewunderer
herum. — „Liebe Freundin, ich stelle Ihnen Herrn Cohn vor." Nnd der
jüdische Bankier präsentirte seinen nnt Breloques behängten dicken Vauch.
— „Obrist Sags von den Gardereitern." Der Offizier knickte mit einer
steifen Verbeugung zusammen wie ein Federmesser. Doch auf einmal
machte Alles respectvoll einem etwa sechsjährigen Herrn mit I melken Lippen
und hohlen Augen Platz. Der Director stürzte auf ihn zu: „Ercellenz!. ."
— Es war Graf N . . ., der Nath des Kaifers. Er nahm die Schau-
spielerin bei Seite und sprach lange leise mit ihr. Sie hörte mit zu Boden
gesenkten Augen zu.
Endlich tonnte sie in die Garderobe zurückkehren und sich umkleiden;
aber alle Augenblicke klopfte es: „tock, tock!" — Es war die Garderobiere,
die mit einer Visitenkarte und mit Blumen kam. Alle Blumenläden der
Nachbarschaft wurden an jenem Abend geplündert.
Sie wurde eine jener galanten Gebieterinnen, eine verschwenderifche,
lururiöse Courtifane. Sie bewohnte ein eigenes Hotel, besaß die theuersten
Toiletten und fuhr die Avenue du Vois in einem kostbaren Wagen entlang,
den ein Paar Pferde im Preise von fünfzehnhundert Louisdor zogen. Alle
Photographen stellten in den Schaufenstern ihr Bild aus. Die Damen der
Halbwelt platzten vor Neid, und die Damen der guten Gesellschaft ahmten
ihre Hüte nach. Ein geschickter Schwankdichter schrieb sihr zwei oder drei
leichte Rollen auf den Leib, in denen sie fast Talent zeigte und womit das
Theater kolossale Einnahmen erzielte. Ihretwegen ruinirte sich Cohn an
der Börse und floh nach Belgien, und die alte Herzogin von Esmont mußte
ihre Güter verkaufen und ihren Sohn, der sich in wahnsinnige Schulden
gestürzt hatte, unter Curatel stelle» lassen. Gerade durch die abweisende
Kälte, mit der sie die zahlreichen Anbeter behandelte, erzielte sie die größten
Triumphe. Launisch, aus purem Trotz, sagte sie Nein und immer wieder
Nein zu einer nordischen Hoheit, einem bildhübschen Fürsten, der ertra
ihretwegen in Paris blieb und sie allabendlich von seiner Loge aus
anschmachtete. „Der kann warten, bis er schwarz wird!" pflegte sie lächelnd
zu sagen. Doch sie hatte nicht mit Unrecht solch' große Erfolge. Sie war
gutmüthig, klug und ungeziert; sie besaß den für ein Weib ihrer Art un-
schätzbaren Vorzug, daß sie allezeit lustig und guter Dinge sein konnte, sie
entzückte und nahm für sich ein durch den Gegensatz zwischen ihrer vornehmen
Schönheit und ihrer heiteren Lebensfreude. Sie bezauberte ihre Liebhaber
~00 Fian?ois toppse in Paris.
geradezu. Man behauptete allen Ernstes, daß Sag6, der Oberst von den
Gardereitern, für den der Kaiser hundertlausend Franken Schulden bezahlte,
die jener ihretwegen gemacht hatte, bei Solserino den Tod gesucht habe,
weil sie Nichts mehr von ihm wissen wollte.
Gefiel diese Lebensweise Nelly? War sie dabei glücklich? Mein
Gott, ja! Sie sehnte sich durchaus nicht mehr nach jener Zeit zurück, nm
sie Lamorliüre die Wirtschaft geführt hatte. Wie sollte auch ein armes
Mädchen, das ohne alle moralische Erziehung aufgewachsen war und in der
frühesten J ugend bereits das Laster kennen gelernt hatte, nicht durch ein
solches „Glück" geblendet werden?
I n zwei J ahren hatte sie vier oder fünf Liebhaber, denen sie will-
fährig, ja, zu denen sie sogar liebenswürdig war; aber sie brachte sie alle,
ohne es selbst zu wollen, an den Bettelstab. Es war ihre Schwäche und
auch ihr Vorzug, daß das Gold in ihrer Hand verdampfte wie Wassertropfen
ans glühendem Metall. Sie verschwendete ungeheure. Summen mit unglaub-
lichem Leichtsinn. Die Männer, die sich ihretwegen ruinirten, sie beklagte
sie nicht einmal. Und sie hatte Recht. Keiner von ihnen hatte sie wirklich
geliebt. Nicht aus Leidenschaft, sondern aus Genußsucht und Eitelkeit
hatten dieselben nach ihrem Besitze gestrebt. In dem festlichen Trubel des
eleganten Paris zur Zeit des Kaiserreichs lebte das schöne Mädchen, berauscht
von den Triumphen, die es feierte, dahin, ohne zu ahnen, daß es ein
Herz besah.
III.
An einem Novembernachmittage kehrte Nelly Robin von einer langen
Probe ermüdet Heini. Sie hatte sich eben in ihrem Schlafzimmer auf der
Chaiselongue ausgestreckt und rauchte eine russische Cigarette, als ihr die
Kammerfrau, indem sie verächtlich ein schiefes Maul zog, eine ziemlich be-
schmutzte Visitenkarte überreichte, worauf die Schauspielerin folgenden
Namen las:
Saint-Firmin,
zweiter Regisseur am kaiferlichen Odeon-Theater.
„Wie! lebt der arme gute Teufel wirklich noch? ... Er soll gleich
hereinkommen," rief Nelly mit ihrem munteren Lächeln.
Tas erinnerte sie an ihre J ugendzeit. Diefer Saint-Firmin war ein
Komiker, der einstmals in Velleuille mit ihr und Lamorliöre zusammen ge-
spielt hatte.
Er erschien auf der Thürschwelle, machte eine Verbeugung, die demüthig
und anspruchsvoll zugleich war, und obschcm Nelly ihn bereits seit mehreren
Jahren nicht gesehen hatte, so erkannte sie doch sofort den kleinen Mann
mit dem Gesicht, das braun war wie die Farbe einer gekochten Kartoffel,
und mit dem schwarzen Haar, das wie eine Perrücke am Schädel Nebte.
Rivalinnen. 10»
Er war ziemlich reducirt gekleidet und trug einen falschen Diamanten für
vierzig Sous in der Eraoatte aus rothem Satin.
Sie konnte nicht einmal sagen, daß er gealtert hatte. Saint-Firmin
hatte jene schwer auf ihr Alter zu tarnenden Gesichtszüge der Schauspieler,
welche schnell welk werden, welche sich aber dennoch verhältnismäßig lange
gegen den Zahn der Zeit vertheidigen.
„Guten Tag, Saint-Firmin!" sagte Nelly herzlich und reichte ihm ihre
schöne, warme Hand. — „Wie geht's Dir? Was ist inzwischen aus Dir
geworden? . . . Das ist aber 'mal ein gescheidter Gedanke von Dir, daß
Du Deiue alte Collegin besuchst."
Das trübselige Gesicht des Komödianten hellte sich auf. Ter feiudliche
Blick der Kammerfrau und die kostbaren Tapisserien des Vorzimmers hatten
ihn einen ganz anderen Empfang befürchten lassen.
Er reckte sich und reichte Nelly mit theatralischer Geberde die Hand.
„Na! ich sehe, daß Du ein gutes Mädel geblieben bist wie früher zu
Lamorliüres Zeit."
Und indem er seine wirkliche Bewegung noch übertrieb und in seinen
aufgerissenen Augen die Thräne, welche den Leuten vom Theater immer
zur Verfügung steht, erblinke» lieh, fuhr er fort:
„Man hat gut über sie reden ... es geht dennoch nichts über die
Künstler."
Sie hieß ihn neben sich niederzusitzen auf einem bequemen Lehnsessel.
„Nun, Süint-Firmin, womit kann ich Dir helfen? . . . Auf Deiner
Karte Hab' ich gesehen, daß Du jetzt am Odeon, an einem kaiserlichen
Theater bist .. . Entschuldigen Sie, daß ich ... . Aber als Regisseur ....
Du spielst also nicht mehr Komödie? . . ."
— „Nein," erwiderte er, „ich habe vorläufig auf die Bühne ver-
zichtet .... ich bin nur noch bei der Leitung beschäftigt."
In Wahrheit war seine Hauptbeschäftigung am Odeon, die Rufe und die
Coulissengeräusche zu machen und auf Treppen und Gängen mit einer
Klingel herumzulaufen. Er war der rollende Tonner, der plätschernde
Negen, der heulende Wind. Er war die rasselnde Postschaise, welche davon
fährt, der Papagei der alten Dame, welche schreit: „Hast Du gefrühstückt,
Lora?" Der Stoß Teller, welcher klirrend zu Boden fällt, die Uhr, welche
beini Eintreten des Verräthers die Mitternachtsstunde mit zwölf schaurigen
Schlägen verkündet, der Pistolenschuß des Verzweifelten, der sich an der
Straßenecke eine Kugel durch deu Kopf jagt. Doch dank der Illusions-
fähigkeit der Komödianten, dank ihrer Gabe, Alles in ein glänzenderes
Licht zu stellen, sprach er jenes Wort „Leitung" aus, als wenn er Bank-
director oder Präsident irgend einer Eisenbahngesellschaft gewesen wäre.
„Ich kann mir denken," . . . sagte Nelln mit freundlichen: Lächeln.
„Hundertfünfundzwanzig Franken monatlich, nicht wahr? . . . Solltest Dn
~02 Francis C»ppöe in Paris.
Dich in momentaner Geldverlegenheit befinden, so genire Dich nicht . . .
Du weißt ja ..."
Doch der alte Mime war, obwohl sehr arm, ein rechtschaffener Mensch,
der Etwas auf Anstand und Würde gab. Er machte die klassische Geste
der Ablehnung, die Geste des Hipvokrates vor den Geschenken des
Artarerres und sagte, ohne sich verletzt zu fühlen, sondern im Gegentheil
von Nellns edlem Anerbieten gerührt:
Ich danke, Nobin, ich brauche Nichts. Man ist nicht reich, aber man
schlägt sich so durch . . . Nein, ich komme. Dich um etwas viel Wichtigeres
zu bitten ... Ich protegire einen jungen Dichter uud Hab' mir in den
Kopf gesetzt, seinem ersten Stücke zu einer Aufführung zu verhelfen."
Angesichts der trübseligen Miene des Niedermannes versuchte Nelly
vergebens ein mitleidiges Lächeln zu unterdrücken. Sie kannte das Theater
uud wußte, daß der Einfluß eines zweiten Regisseurs im günstigsten Falle
gerade ausreiche, um der Tochter eines Portiers, welche ihre Abende frei
hat, eine Statistenrolle zu verschaffen.
„Höre und staune!" sagte Saint-Firmin. „Es handelt sich um leine
Rolle für Dich, noch überhaupt um ein Stück sür's Vaudeuilletheater ....
Das Werk, von dem ich rede, ich möchte, daß die Schauspieler des Kaisers
es im TIMtre Francis zur Aufführung brächten. Und das wäre auch
uicht mehr als billig ... Du hast nun glänzende Beziehungen — ja ja,
m^in schönes Fräulein, wir wissen das — Beziehungen, welche bis in's
Ministerium, ja sogar bis in die Tuilerien reichen, uud wenn Du Dich
für meinen jungen Mann interessiren willst, so kannst Du viel für ihn
thuu ... Du siehst, liebe Nobin, was ich von Dir erwarte, ist eine
Gefälligkeit, an der ich persönlich gar nicht interessirt bin . . . Es handelt
sich nicht um ein umfangreiches Werk", fügte er hinzu, indem er aus der
Tasche seines Ueberziehers ein kleines Heft hervorzog . . . „nur um einen
Einacter in Versen . . . Aber es ist etwas Köstliches, es sei denn, daß
ich Nichts von der Sache verstände. Und ich verstehe mich darauf . . .
Du weißt doch noch in Nelleuille? . . . Man nannte mich da immer den
Dramaturgen .... Alfo darf ich auf Dich rechnen, Robin?"
Nelly fühlte sich sehr geschmeichelt. Bisher hatte sie alle Welt, ihr
Director, ihre Eollegen, selbst ihre Liebehaber nur als schönes Weib
betrachtet, und das war Alles gewesen. Der alte Saint-Firmin, der zu
ihr schlechthin als Künstlerin sprach, kitzelte die Eitelkeit des schönen
Mädchens. Sie versprach ihre Unterstützung und wollte wissen, wie der
Prot6g6 des alten Regisseurs hieß.
„Nun, erzähl' mal, Alterchen," sagte sie heiter: „Wie hast Du ihn
kennen gelernt? ... Wo hast Du ihn getroffen?"
— „In der Garküche! sehr einfach," antwortete der gute Mann.
„Meiner Treue, Du kannst Dir denken, Nobin, daß ich nicht im -Englischen
Ellst~ zu Mittag esse und daß ich nicht gleich beim ersten Glase eine andere
Rivalinnen. 1.03
Flasche Champagner für 2I> Franken geben lasse unter den, Vormunde,
daß die erste nach dem Korken schinecke. Ich nehme meine Mahlzeiten bei
einem Weinkaufmann in der Nne Vaugirard ein, an welche eine Kutscher-
stube anstößt. Daselbst habe ich mein Dichterlein bemerkt, der, wie Du
mir glauben kannst, sich kein Neefsteak mit Bratkartoffeln und keinen
Schoppen Rothwein leisten darf. Der arme Tropf! Dazu reichen seine
Mittel nicht aus. Er begnügt sich gewöhnlich mit einem Menü für fünfzig
Centimes, welches aus Brot, Suppe und ausgekochtem Rindfleisch besteht,
und dazu trinkt er eine Flasche „Pumpenheimer". Der gute Junge gefiel
mir auf den ersten Blick. Aermlich, aber sauber. Seine blonden Haare
glänzen goldig im Sonnenschein, er tragt einen kleinen, am Kinn getheilten
Bart, hat braune schüchterne Augen, die sich zu Boden senken, wenn man
ihn anblickt, mit einen, Worte, er schaut sanft und traurig drein, wie ein
25 jähriger Christus. Ich mochte ihm noch so oft Oel und Mostrich hin-
übereichen, es war nicht möglich, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. Als
ich ihm aber endlich beigebracht hatte, daß ich ein alter Künstler wäre,
der seit 30 Jahren Komödie spielte und am Odeon engagirt sei, da hatte
er keine Furcht vor mir und wurde aufgeknüpfter . , . Wir sind mit-
sammen im Park von Luxemburg spazieren gegangen, und dort hat er mir,
während wir um den Springbrunnen herumwandelten, sein allerliebstes
kleines Stück auswendig vorgetragen. Bei der zwanzigsten Runde sagte er
den letzten Vers. Ich war ganz weg! Vor dem Schwänehause habe ich
ihn umarmt. Cr hat mir sein Mcmuscript anvertraut. Ich hab's noch-
mals gelesen. Famos! Allein, Du begreifst, was konnte ich für ihn thnn.
Sollte ich von den» Stücke mit dem Director des Odeons sprechen? Ich,
der zweite Regisseur? Er würde zu mir gesagt haben: „Schön, schön,"
würde darauf das Diug in eine Schublade geworfen und mir den Auftrag
gegeben haben, in der Garderobe einen Zettel anzuschlagen, der besagte,
daß die dumme Gaus, die Deborah, zwanzig Franken Strafe zu zahleu
habe, weil sie nur dann pünktlich zur Probe käme, wenn ihr kleiner Unter-
Lieutenant Arrest hätte . . . Und dann sagte ich mir auch: „Dil brauchst
ja nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Wer kann Dir
hierbei behilflich fein?" fragte ich mich. Und da dachte ich gleich an Dich,
mein schönes Kind. Ich wußte, daß Du Dein Glück gemacht hattest, ich
hatte mir erzählen lassen, daß Du den General-Intendanten persönlich
kennst nnd außerdem noch eine Unmenge anderer großer Thiere . . . Und
ich Hab' vielleicht ganz gut daran gethan. Dich zu besuchen, denn Du bist
immer noch das gute Mädel, das Du früher warst . . . Ach, wie würde
ich mich freuen, wenn's Dir gelingen möchte . . . denn, ohne Scherz: ich
tmb' den Jungen fehr lieb gewonnen. Cr ist gerade so alt, wie meiner jetzt
sein könnte, wenn ich geheirathet hätte oder wenn ich eine Geliebte gehabt
hatte. Doch Du weißt ja, wie das ist. Alles ist immer nur für die ersten
Rollen da. Unsereins, beim komischen Fach ist nur in: besten Falle im
~0H Franc,«!« Loppse in f)ar>5.
Stande, eine flüchtige Neigung zu erwecken. Ich bin allein alt geworden
wie eine Coulissenratte ... Na, Du hast nun das Manuscript nebst Namen
und Wohnung. Thu, was Du kannst, und sobald Du Näheres weißt, so
schreib' mir, ich will Dir dann meinen jungen Dichter herschicken. Denn
ich Hab' ihm Nichts von diesem Schritte erzählt, für den Fall, daß es miß-
glückte."
„Und wie heißt denn Dein Günstling, Saint-Firmin?" fragte Nelly
Robin, welche während der malerischen Erzählung des Komödianten träumerisch
und sinnend an jenen armen, unbekannten und hübschen Dichter denken
mußte.
„Jean Delly . . . und dieser Name wird dereinst berühmt werden,
dafür stehe ich Dir."
„Ich will mich gleich morgen für Deinen jungen Mau» verwenden,"
versetzte Nelly. „Es trifft sich gerade gut, daß ich morgen mit einigen ein-
flußreichen Persönlichkeiten soupiren muß . . Ich hoffe, Alterchen, Du wirst
bald gute Nachrichten von mir erhalten. Jetzt aber muß ich Toilette machen.
Ich speise heut außerhalb."
Sie streckte den» alten Regisseur ihre Hand hin, die dieser artig nach
den strengsten Vorschriften des Theaterstils küßte. Dann eutfernte er sich,
guter Hoffnung voll.
IV.
Frau Delly, die Wittwe eines Infanterieoffiziers, welcher in der
Krim der Cholera erlegen war, hatte durch Protection in Beauvais die
Leitung eines Tabakladens erhalten. Diefer war ihre alleinige Einnahme-
quelle. Ihr einziger Sohn, der auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt
eine Freistelle erhielt, machte daselbst gute Fortschritte, obwohl er eiue
schwächliche Gesundheit besaß und oft träumerisch und zerstreut war. Mit
neun Jahren verlor er seine Mutter, und nachdem die Begräbnißkosten be-
zahlt waren, hatte er keine hundert Franken in der Tasche. Mit dem
problematischen Zeugnisse eines Baccalaureus versehen und dem Hirn voller
vager Pläne und schöner Träume kam er nach Paris und fristete dort ein
kümmerliches Dasein. Der bedauernswerthe junge Mann, in deni eine
Flamme reinster Begeisterung glühte, mußte Schreiberdienste verrichten und
verkaufte außerdem an die Schüler höherer Lehranstalten ein wenig von
seiner klassischen Bildung. Der Dichter mit der feiuen, zarten Empfindung
trug gebrauchte Stiefeln, welche er bei dem Schuhflicker billig erstand, und
aß in übelriechenden Kneipen die breite Bettelsuppe der Tagelöhner. Er
hatte keine Angehörigen. Sein Vater hatte lange vor seinem Tode die
wenigen Verwandten, die er besaß, aus den« Gesichte verloren. Seine
Mutter war ein natürliches Kind gewesen, und als der Offizier sie aus
Liebe heirathete, muhte er das Militärreglement, das, wie man weiß, eine
gewisse Mitgift vorschreibt, heimlich umgehen. Wohl hatte Delly während
Rivalinnen. 1.05
seiner Schulzeit einige Freundschaften geschlossen, und die ineisten seiner
ehemaligen Mitschüler wohnten in Paris. Doch diese gehörten wohlhabenden
Familien an, und der Dichter in seinem Stolze suchte keinen von ihnen auf,
ja er mied sie sogar geflissentlich.
So lebte er drei J ahre lang in schrecklicher Vereinsamung. Er be-
wohnte in einem alten Hause am Quai Saint-Michel eine elende Mansarde,
in der man im Sommer vor Hitze umkam, während Einem im Winter das
Waschwasser im Kruge gefror. Die Kammer war gar zu traurig. Delly
hielt sich darin nur auf, um den fchönen Schlaf der Jugend zu schlafen.
Er langweilte sich furchtbar. Ach, die langen Stunden, die er mit niederen:
Gesindel, mit betrunkenen Eovisten zusammen im Schreibbureau verbringen
mußte, bis tief in die Nacht hinein, um lumpige drei Franken zu ver-
dienen. Dann konnte er endlich, nachdem er Seite an Seite gefügt, mit
Schmerzen im Kreuz und mit dem Krampf in der Hand heimkehren. An
einigen Tagen der Woche gab er in kleinbürgerlichen Häusern Unterricht,
die Stunde für vierzig Sous. Und auch dies war eine wenig erfreuliche
Beschäftigung, wenn er so neben seinen unsauberen Buben sitzen mußte,
die sich mit den Fingern in der Nase herumstöberten und sich die Federn
in den Haaren abwischten.
Dabei konnte er noch von Glück reden, wenn er Abschriften zu machen
oder Nachhilfestunden zu geben hatte. Seine leider allzu zahlreichen Muße-
stunden verbrachte er mit Lesen auf der Bibliothek Sainte-Geneviöoe, oder
er füllte sie mit ziel- und endlosen Spaziergängen aus, bei denen er,
langsam schlendernd, seinen Träumereien nachhing.
Bei einer solch' erbärmlichen Lebensweise hätte der arme Dichter
schließlich geistig verkommen müssen. Er schrieb Nichts mehr und fügte der
Sammlung seiner zarten sinnigen Gedichte, die er trotz alledem in weniger
schlimmen Stunden verfaßt hatte, keine Zeile hinzu.
Jean Delly war bereits der Verzweiflung nahe, da rettete ihn die
Liebe.
Es war an einem lunisonntnge. Die Luft war, nachdem es soeben
aufgehört hatte zu regnen, lau und feucht. Jean Delly wandelte im I ardin
des Plantes einher. Dem aufgeweichten Erdboden entströmte ein Geruch
von frischem nassen Grün. Aus der Menagerie herüber ertönte in Einem
fort seltsames Vogelgeschrei. Jean bewunderte die rothen Trauben an den
Bäumen aus Palästina, welche Nuffon hierher verpflanzt hatte. Da be-
gegnete ihm die, welche feine Freundin werden follte.
Ihre Handschuhe waren gerade nicht mehr gut, ihre Schuhe nicht
mehr neu zu nennen. Im Monat Juni trug sie ein schwarzes Kleid! Sie
hatte einen garstigen Strohhut auf, welcher mit drei Kornblumen garnirt
war. Doch welch' ein Glanz, was für eine jugende Frische strahlte aus
diesem gesunden, zwanzigjährigen Gesichte, das von dichtem rothen Gold-
haar umrahmt war!
~06 Fran<?ois <~opp«e in Paris.
Ein Kenner würde vielleicht auch die schönen Körperformen des
Mädchens mit Wohlgefallen betrachtet haben, doch Jean Delly fah nur die
dunkelbraunen Augen, die ihn sanft anblickten.
Sie mar offenbar arm wie er und machte ebenfalls ihren Sonntags-
nachmittagsspaziergang. Instinctiv folgte er ihr einige Schritte. Sie ging
in die Menagerie und blieb vor den Zebras stehen. Er machte ebenfalls
nicht weit von ihr Halt, und zum zweiten Male begegneten sich die Blicke
Beider. Das schlichte Volk liebt nicht die langen Idylle, und so standen
sie denn bald darauf dicht nebeneinander über die Brüstung des Bären-
zwingers gelehnt. Und wiederum eine Weile später, als sie bei den Anti-
lopen vorbeikamen, hatte Jean Delly, dessen Lippen trocken und dessen
Ohren glühend roth waren, den Muth zu sagen: „Ach die hübschen Thiere,
nicht, Fräulein?" So kam, wenn auch Anfangs nur stockend, ein Gespräch
in Gang. Vor dem Affenhause tauschten sie ihre Namen aus, und als die
Wandelgänge des Gartens sie zum zehnten Male zum Elephanten führten,
da gaben sie sich den Arm und waren in eine so interessante Unterhaltung
vertieft, daß sie jetzt garnicht mehr daran dachten, dem Dickhäuter Roggen-
brot anzubieten, obwohl dieser seinen Rüssel mit einer Geduld, die einer
besseren Sache werth war, nach ihnen ausstreckte.
Sie, gnädige Frau, die sie dreimal am Tage sich an- und ausziehen,
ärgern sich jetzt vielleicht, wenn Sie mich lesen. Erstens nämlich würden
Sie niemals zu bemerken geruhen, daß ein junger Mann hübsche Augen
hat, wenn er nicht Ihrer Gesellschaftssphäre angehört und wenn er Ihnen
nicht in aller Form vorgestellt wäre. Und sodann würden Sie mich, bevor
Sie ihn Ihre Schwäche ahnen ließen, ihm alle nur möglichen Geduld-
proben auferlegen. Er hätte sie erst bei unzähligen Diners, Thees und
Vorstellungen in der Comödie-Franyaise und der Oper treffen müssen. Er
wäre gezwungen gewesen, sich fünf- oder sechsmal im Hintergrunde Ihrer
Loge die „Favoritin" anzuhören, ehe Ihr Blick gelegentlich des große«
Duetts: „Oh, komm', komm'. Dir will ich mich ergeben" ermuthigend den
seinigen getroffen hätte und wahrscheinlich erst nach drei Bällen und einem
Dutzend Walzern hätte Ihre Hand die seinige bedeutsam gedrückt —
Nicht als ob Sie, schöne Frau, ein Ausbund von Tugend wären, aber
Sie verlangen eine bestimmte Werbezeit von Ihrem Verehrer. Werden Sie
es dem armen Kinde, das Jean Delly im I ardin des Plantes traf, verzeihen,
daß es fo wenig Umschweife machte? Vielleicht halten Sie gar das Mädchen
für schamlos. Doch es war eben nur freimüthig und naiv. Während
jenes Spazierganges durch die Menagerie am Arme des Dichters niit der
sanften Stimme und den traurigen Augen hatte Marie im Herzen ein ge-
heimnißvolles Maßliebchen entblättert: „er liebt Dich .. . von Herzen. ..
mit Schmerzen" u. s. w., und auf den letzten Stiel war das Wort: „kann's
garnicht lassen" gekommen. Alsbald hatte Jean Marie erzählt, daß er
allein und unglücklich wäre, und Marie äußerte sofort darauf den hoch-
Rivalinnen. ~0?
herzigen Wunsch, seine Genossin zu werden und ihm ein wenig Glück zu
bringen. Doch, glauben Sie wir, gnädige Frau: allzu schnell gab Marie
dennoch nicht dem Ungestüm seiner zärtlichen Liebe nach. Sie war ein
Weib, wie Sie es sind, und wie Sie besaß sie Schanigefühl und sogar
auch ein bischen Koketterie. Acht Tage waren erforderlich und drei Rendez-
vous zur Abendzeit in der friedlichen Rue Cuvier, bevor sie sich entschloß,
zu Jean in die Mansarde am Quai Saint-Michel hinaufzukommen. Aber
in jener Frühlingsnacht wurde da oben im Mondenfcheine, der die Dachstube
erleuchtete, ein Fest von Thrcinen und Küssen gefeiert, wie ich Ihnen,
gnädige Fmu, nur eines wünschen mochte, nachdem Sie für gut befunden,
daß I hnen I hr Verehrer genügend den Hof gemacht hat und I hrer Gegen-
liebe würdig ist.
Marie, bereits mit zehn Jahren Waise, war von einem Onkel, einem
Eisenbahnbeamten, aufgezogen worden. Dieser war ein rechtschaffner und
nicht mehr junger Mann, ein kinderloser Wittwer. Aus Gutmütigkeit und
auch, weil er es bequem fand, beim Heimkommen den Tisch gedeckt und
das Vett gemacht zu sehen, hatte er die Nichte zu sich genommen. Später
war dieselbe Lehrmädchen und späterhin Gehilfin bei Frau Indiana, einer
sehr beschäftigten Modistin, geworden. Sie bekam aber daselbst nur einen
geringen Gehalt, denn sie war nicht sehr geschickt. Man verwandte sie
deshalb hauptsächlich dazu, geschäftliche Gänge zu besorgen. Ihr alter
Onkel überwachte sie so gut wie gar nicht. Als sie Jean Delln kennen
lernte, war sie nicht mehr unschuldig. Pflegen doch die Unterhaltungen der
Mädchen in derartigen Ateliers mitunter sehr indecent zu sein. Nachdem
sie im Alter von sechzehn Jahren von einem Ladenschwengel verführt und
bald darauf verlassen worden war, hatte sie einen gewissen Abscheu vor den
Mannen: bekommen und war vorsichtig genug, sich mit keinem Anderen mehr
einzulassen. Indessen, die Liebkosungen eines Dichters, der in Allem, was
er sprach und that, das Weib in ihr respectirte, berauschten und verführten
sie. Die beiden jungen Leute, welche Nichts hatten als ihre Küsse, beteten
einander an. Marie mußte in Einem fort an ihren Freund denken, sei es
nun, daß sie im Atelier saß und nähte oder durch die Straßen von Paris
lief. Ja selbst, wenn sie des Abends zu Nette ging und sogar noch im
Traume verfolgte sie sein Vild. Und Jean lebte nur uoch der Minute,
wo Marie zwischen einer Besorgung und der andern zu ihm heraufkam,
ihre Hutschachteln unter'm Arm, das Paradies im Auge und im Herzen.
So kam neue Lebenslust über den Dichter, er fing wieder an zu arbeiten,
und in einigen Stunden reiner, begeisterter Freude schrieb er in Dialogform
jenes entzückende Idyll „Die Sternennacht" nieder, das später nach der
AuMhrung im TIMtre Francis von Seiten des Publicums ihm die Be-
zeichnung „Theokrit von Paris" eintrug.
Jean las zuweilen Marie seine Verse vor. Sie hörte ihm begeistert
und vielleicht mit mehr Gefühl als mit Verständnis? zu. Ihn beseligte es.
~08 ,Franfo>5 ~»ppse in j)aris.
bewundert zu werden, und seine Zärtlichkeit für Marie wuchs infolgedessen
noch. Allerdings, er liebte sie nicht mit gleicher Innigkeit wie sie ihn.
Bei einer derartigen Musik giebt es nicht einen vollkommenen Accord.
Jean war gut, aber er besaß ein beträchtliches Theil Egoismus wie alle
wahrhaften Künstler. Trotzdem vermochte er nicht ohne Wärme und ohne
innerliche Zufriedenheit an diese schlichte Freundin zu denken, die sich ihn»
mit Leib und Seele hingegeben und die sich besinnungslos in seine Anne
geworfen hatte, wie man sich in einen Abgrund stürzt. Er vermochte sich
sein Leben nicht mehr vorzustellen ohne sie; und da er, im Grunde genommen,
billig und gerecht dachte, so träumte er nicht von Glück und Erfolg, ohne
daß er in seiner Phantasie die mit einbegriff, welche ihm in seinem gegen-
wärtigen Elend eine Trösterin war.
So liebten sich Jean und Marie bereits seit mehreren Jahren mit
einer Liebe, deren eben nur die armen Leute, welche keinen anderen Genuß
und keine andere Zerstreuung kennen, fähig sind. Schüchtern von Natur
und aller Initiative bar, lebte der junge Menfch dahin, arbeitete wohl hin
und wieder, suchte aber keine Gelegenheit auf, die ihn zur Geltung bringen
könnte. Da führte ihn der Zufall in dem Wirthshnus, wo er zu fpeifen
pflegte, mit dem alten Samt-Firmin zusammen. Jean Delln hatte keines-
wegs an's Theater gedacht, als er seine „Sternennacht" schrieb, und der
Enthusiasmus des Komödianten nahm ihn daher Wunder. Mit nicht viel
Hoffnung vertraute er ihn, sein Manuskript an. Was hätte auch ein
armer Unter- Regisseur am Odeontheater ausrichten können? Um so größer
war deshalb das Erstaunen des Dichters, als er vierzehn Tage später
einen äußerst liebenswürdigen Brief erhielt, worin ihn der Leiter der
Comödie Franyaise eigenhändig zu seinem Werk beglückwünschte und ihn
einlud, ihn baldigst zu besuchen.
Noch an demselben Abend, wo Saint-Firmin ihr das Manuscrivt
übergeben, hatte Nelly Robin es im Nette gelesen. Das hübsche Mädchen
verstand nicht viel von Litteratur. Wie viele Schauspielerinnen lernte sie
ihre Rolle auswendig, ohne das Stück zu kennen, und schließlich machte sie
ihre Sache ganz leidlich, nachdem Verfasser und Regisseur sie in den Proben
gehörig gedrillt hatten. Doch für Verse, für gereimte Phrasen, die von
Liebe sprachen, hatte sie jenes instinctive Gefühl, das die Mädchen der
Vorstädte bereits als Schulkinder bekunden, indem sie auf den Schreibheften
für 10 Centimes eifrig den Tert der Romanze zu entziffern fuchen, welche
der Leiermann, seinen Kasten drehend, mit näselnder Stimme hersingt. Die
Musik in Jean Dellns Gedicht war köstlich. Dieselbe rührte Nelln und
schien ihr noch weit schöner als die Couplets, die sie als kleines Gassen-
mädchen auf den Straßen gesummt hatte. Sie schlief endlich ein und
Rivalinnen. "NH
träumte von dem jungen Dichter, der mit den Kutschern zusammen essen
mußte und dessen Verse ihr so zu Herzen gegangen waren.
Der Geliebte Nellys war damals der Herzog von Eylau, der natür-
liche Sohn des heldenhaften Marschalls, des ehemaligen Tambours, welcher
auf der Brücke von Arcole neben Napoleon zun, Angriffe getrommelt hatte.
Er war ein hübscher, ein wenig blasirter Mann, von eleganten Manieren,
doch von weniger als mittelmäßiger Intelligenz. Das zweite Kaiserreich
hatte aus ihm nicht mehr als einen Kammerherrn machen können. Beim
Souper, welches der Herzog am folgenden Tage in einem vornehmen
Restaurant einigen Freunden aus den Tuilerien gab, erschien Nelly mit dem
Manuscript Jean Dellns. Es war nicht gerade eine für Liebespoesien
empfängliche Gesellschaft da versammelt. Lauter Leute mit grauen Köpfen
und steifen Hälsen. Aber zur Rechten der Schauspielerin saß Herr Eaduc,
der Privatsecretär und intimste Freund des Kaisers. Er war ein wohl-
wollender, litterarisch hochgebildeter Mensch, von ungeheurem Einfluß auf
das Theater, Dieser mußte ihr das Versprechen geben, die „Sternennacht"
zu lesen. Acht Tage darauf erhielt Nelly von Caduc eine Karte folgenden
Inhalts: „Ein kleines Meisterwerk. Ich begebe mich sofort nach der
Com^die FrawMse."
Nellv schrieb hocherfreut über den Erfolg ihrer Empfehlung an Saint-
Firmin, Doch der arme alte Mime bekam den Brief nicht zu lesen. Drei
Tage lang lag er bereits im Hospital todtkrank darnieder. Und da er
dem Dichter von seinen: Besuch bei der Schauspielerin Nichts gesagt hatte,
so erhielt diese keine Antwort und war beleidigt wegen des Schweigens, in
das sich Saint-Firmin und sein Günstling hüllten. Bald hatte sie im
Strudel der Vergnügungen Beide vergessen.
Indessen das mitunter recht launenhafte Glück entschädigte plötzlich Jean
Delly für seine unberühmte Vergangenheit.
Noch waren nicht vierzehn Tage verstrichen, seitdem er Saint-Firnim
das Manuscript übergeben Hütte, als er eines Morgens ein Nillet vom
Director der Com^die Frcm^aise erhielt. Marie konnte ihn an diesem Tage
nicht besuchen, und der Umstand, daß er die gute Kunde seiner lieben
Freundin nicht alsbald mittheilen konnte, erfüllte den Dichter trotz feiner
ausgelassenen Freude mit einen« Gefühl von Traurigkeit. Heut war auch
nicht einmal im Hospital Besuchszeit, sodaß er selbst uicht deni alten
Saint-Firmin seinen heißen innigen Dank aussprechen durfte.
Mit klopfendem Herzen und schier beängstigt von seinem Geheimniß,
nmchte Jean Delli,, nachdem er den räthselhaften Brief mindestens zehn
Mal durchgelesen, sorgfältig Toilette, um sich nach dein TIMtre Franyais
zu begeben. Zum Glück hatte er einen passablen Gesellschaftsrock und eine
nette Cravatte, ein Geschenk Maries. Er verlieh das Haus. Die schmutzigen
Straßeil machten auf den Glücklichen einen festlichen Eindruck, der wolken-
schwangere, traurige Novemberhimmel fchien zn lachen, und die Leute, die
^0 Fianvois Coppse in Paris.
er unterwegs traf, kamen ihm vor, als wären sie die verkörperte Güte und
Freundlichkeit. Jean hatte noch mehrere Stunden Zeit bis zu seinem Be-
such. Er ging nach der Rue Monsieur-Ie-Prince, um einem seiner Schüler
Unterricht zu geben. In seiner Erregtheit übersah er diesem den schrecklichen
Barbarismus „ltonianidu8" im lateinischen Exercitium. Die Folge davon
war, daß der arme Schlucker von Gymnasiast bis an's Ende des Schul-
jahres für diesen entsetzlichen Schnitzer die ärgsten Sticheleien von Seiten
seines Ordinarius zu ertragen hatte. Darauf wanderte Jean nach der
Garküche. Und während er nun in Gesellschaft von Droschkenkutschern
speiste, glaubte er mit den Göttern des Olymps bei Tische zu sitzen und
Nektar und Ambrosia zu genießen, obwohl man in Wirklichkeit ihm nur einen
in ranzigem Oel gebackenen Kalbskopf und einen Schoppen höchst ver-
dächtigen Weines vorgesetzt hatte. Nach dem Mittagsessen machte er sich
festen Schrittes und erhobenen Hauptes auf den Weg.
Doch kaum war er vor dem berühmten „Molitzre-Hause" angelangt,
als seine ganze Begeisterung schwand. Es überkam ihn auf einmal eine
unbefchreibliche Schüchternheit. Auf der Wendeltreppe schienen ihn die
prachtvollen Portraits und die stolzen Büsten der berühmten Schauspieler
der Vergangenheit anzublicken, als wollten sie sagen: „Was will denn dieser
armselige Gesell bei uns?" Und der Portier, dem er seinen Namen nannte,
musterte ihn mit einer so verächtlichen Miene, daß er sich fragte, ob er nicht
geträumt habe, oder ob er wirklich nach dieser Stätte des Hochmuths berufen
worden sei.
Der Dichter fand indessen in Gegenwart des General-Intendanten,
der ihn auf's Schmeichelhafteste empfing, seinen Gleichmuth wieder. Sein
Stück würde binnen Kurzem, in zwei oder spätestens drei Monaten, von
dem Lesecomit6 geprüft und gleich darauf angenommen und gespielt werden.
Herr Cadue hätte den kaiserlichen Schauspielern einen außerordentlichen
Dienst geleistet, indem er dieses kleine Meisterwerk zu ihrer Kenntniß ge-
bracht habe. Nun begriff der junge Mann mit Staunen, daß er vom Hofe
protegirt wurde. Und als er verwirrt Dankesworte stammelte, da ant-
wortete ihm der Intendant:
„Danken Sie Herrn Eaduc. Besuchen Sie ihn nur.
Er ist ein Mann von feinem litterarischen Geschmack und wohnt hier
ganz in der Nähe, Nue de Nivoli . . ."
Jean begab sich alsbald dahin und wurde in ein schönes, hell-
erleuchtetes Nibliothekszimmer geführt, dessen beide Fenster nach dem Garten
der Tuilerien hinausgingen. Der liebenswürdige Greis ließ nicht lange
auf sich warten und begrüßte ihn mit der gewandten Eleganz eines Hof-
mannes:
„Sie sind mir zu keinerlei Danke verpflichtet. Im Gegentheil, ich
bin stolz darauf, dem Publicum mit Ihrer Dichtung dieselbe Freude zu
bereiten, welche ich bei der Leetüre dieser reizenden Verse empfunden
Riralinne». ~~
habe . . . Uebrigens habe ich das Wölkchen selbst erst von anderer Seite
empfangen und zwar aus den Händen der Schönheit. Nelly Robin vom
Vaudeville-Theater hat mir Ihr Manuscript übergeben. Sie sagte, daß
sie es von einem Ihnen bekannten Schauspieler bekommen habe . . ."
Und als der junge Mensch in immer größeres Erstaunen gerieth, fügte
Cadue hinzu:
„Wußten Sie es denn nicht? ... Ja, ja, das Pariser Leben, von
dem man viel zu viel Schlechtes spricht und iu dem trotz alledem ein
Mensch von Verdienst nicht lange unverborgen bleibt, bringt mitunter
wunderbare Zufälle mit sich . . . Legen Sie also Fräulein Robin Ihren
Dank zu Füßen. Sie spielt heut Abend; Sie werde» sie in ihrem
Garderobenzimmer finden . .. Und ich bin überzeugt," so schloß der freund-
liche Greis mit einem Lächeln, das ein ganz klein wenig verschmitzt aussah,
„der Dichter wird ihr ebenso gut gefallen wie die Dichtung."
Nelly Robin! . . . Jean Delly wiederholte diesen Namen in Einem
fort, indem er durch die Straßen von Paris dahineilte. Er hatte diesen
Namen bisweilen in der Zeitung gelesen, und mit demselben verband sich
ihm die Idee der Freude, des Reichthums und der Ueppigkeit. Er hatte
bei den Photographen das Bild der blendend schönen Schauspielerin gesehen.
Also Nelly Robin verdankte er diesen Dienst! Erfühlte sich feltsam be-
wegt bei dem Gedanken, daß dieses schöne Wesen, das, man mochte ihr
nachreden, was man wollte, doch immerhin eine Künstlerin war, ihn aus
dem Elend und ans dem Dunkel emporziehen würde.
„Wenn ich morgen Marie mein Abenteuer erzählen werde, wird sie
diese Nelly Robin anbeten," dachte er.
Doch alsbald stieg ihm ein Zweifel in dieser Hinsicht auf.
„Wer weiß? Marie wird es vielleicht verdrießen, daß dieses Glück
von einem anderen Weibe kommt . . . Pah, ich werde ihr die Sache schon
auseinandersetzen."
Und nun ging es über die Ehmnps-Elys6es, wohin der Zufall seine
Schritte gelenkt hatte. Das Vild seiner kleinen Freundin begann ein
wenig in seiner Erinnerung zu verblassen bei dem Gedanken an die schöne
Wohlthäterin. Ach, wie viele Stunden mußten noch vergehen, bevor er sie
sehen konnte. Sie würde ihn in ihrer Garderobe empfangen. Er sollte in
die Geheimnisse des Theaters eindringen, hinter jene mysteriösen Coulissen
gehen, hinter denen seine naive Phantasie eine Märchenwelt verborgen
glaubte. Er fühlte sich so unsicher, daß er fürchtete, er würde sich linkisch
und ungeschickt benehmen. Wie sollte er das passende Wort und den
richtigen Ton finden, ihr zu danken? lind dann u ürde sie lächeln und ihm
die Hand reichen . . .
Der empfindsame Dichter schrieb die Unruhe seines Herzens dem
Dankbarkeitsgefühle zu, das ihn beherrschte.
Nord unb Ziid. I.XXV. ?23. 8
~2 Franfois «Loppee in pari?,
An jenem Abende war Nelln bei schlechter Laune, als sie in's Theater
kam. Erstens hatte sie nämlich mit dem vierundfünfzigjährigen Herzog von
Eylau eine schrecklich langweilige Partie V6zigue von vier bis um sechs
Uhr spielen müssen, und sodann hatte sie der Kammerherr es auch entgelten
lassen, das; der neu erschienene Gotha'fche Hofkalender einen genealogischen
Irrthum enthielt. Wie der Stunnwind war Nelln in ihr Ankleidezimmer
geeilt und hatte dabei eine Garderobenfrau fast über den Haufen gerannt.
Indessen unfähig, lange böse zu sein, hatte sie sich im Pudermantel an den
Toilettentisch gesetzt und begann sich zu frisiren, als der Theaterdiener ihr
melden tan«, daß ein gewisser Herr Jean Delln beim Portier sei und sie
einen Augenblick zu sprechen wünsche.
„Jean Dellu?" ... Wer ist das, Jean Delln? ... Ah, ja, der
juuge Dichter, der Freund Scn'nt-Firmins ... Na, der hat sich aber 'mal
Zeit genommen, mir seinen Dank zu sagen.... Er soll hereinkommen."
Sie nahm sich vor, trotz alledem liebenswürdig zu sein und dem genialen
jungen Manne einen freundlichen Empfang zu bereiten.
Und alo er nun auf der Thürschwelle erschien, kreideweis! in« Gesicht
vor Aufregung, da erhob sie sich, und, ohne den Pudermantel, der über
dem kostbaren Mieder geöffnet war, zu schließen, ging sie auf ihn zu und
streckte ihm beide Hände entgegen.
„Kommen Sie nur näher, damit man Sie beglückwünscht, mein Herr
. .. Ihr kleines Stück ist allerliebst, und ich hoffe, es wird bald aufgeführt
werden . . . Kommen Sie nur weiter, lassen Sie sich doch 'mal ansckcmen
... ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen."
Sie zog ihn in's Zimmer herein und hieß ihn neben ihr auf einem
schmalen Divan niedersitzen. Und während nun Jean, in Folge des herz-
lichen Empfanges, des Parfüms ihrer Kleidung, des warmen Druckes ihrer
Hände und überhaupt der Berührung mit dem fchönen Weibe verwirrt
uud entzückt, Worte des Dankes stammelte, betrachtete sie ihn mit Auf-
merksamkeit.
Nelly zählte bereits dreißig Jahre und hatte eine ziemlich schwelgerische
Vergangenheit hinter sich. Dennoch überkam sie plötzlich ein ganz eigenartiges
Gefühl, wie sie es nie zuvor gekannt hatte. Dieser schöne junge Mann,
dieser talentvolle Dichter, der mit großen seelenvollen Augen schüchtern zu
ihr aufschaute, wie kam es nur, daß er einen so seltsamen Eindruck auf
sie machte?
War das etwa Liebe, was sie heut zum ersten Mal in ihre«! Leben
empfand?
Instinctiu und unwiderstehlich fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie
war wieder das schlichte Mädchen aus den, Volke geworden und erinnerte
sich ihrer heißblütigen lugendgefährtinnen von den Straßen der Vorstadt,
zu denen der brutale Geliebte nur zu sage» braucht: „Komm!" und welche
diesem dann gesenkten Hauptes folgen.
Rivalinnen. ~3
Was sie einander sagten? Banale Phrasen. Sie machte ihn, irgend
einige Complimente, wobei sie mehrmals dieselben Worte gebrauchte. Dann
auch befragte sie ihn, wenn auch in wohlwollender, so doch in ziemlich un-
geschickter Weise, über sein bisheriges Leben. Er antwortete kam«. Trotz
seiner Unerfahrenheit Frauen gegenüber, fiel ihm doch an der Schauspielerin
eine gewisse Unruhe auf, deren Ursache er sich freilich nicht zu deuten
wußte. Die warme, parfümgeschwängerte Luft im Garderobenzimmer nahm
ihm den Kopf ein, und da er Nichts mehr zu sagen hatte und durch längeres
Verbleiben zu stören fürchtete, stand er auf, um sich zu verabschieden.
„Sie werden mich bald wieder besuchen, nicht wahr?" . .. sagte Nelln
leise, fast bittend.
„Mit Freuden," antwortete er. „Wann darf ich . . .?"
„Um dieselbe Zeit in meinem Ankleidezimmer ... bin ich stets
allein."
Er verbeugte sich; sie reichte ibm ihre Hand. Und als nun J ean in
die lühle Abendluft hinaustrat, da schien e-5 ihm, als ob Nellys Hand
vorhin in der seinigen gezittert habe.
„Wie schon sie ist!" dachte er, während er seiner entfernten Wohnung
zuschritt . . . „Meiner Treu! ich will doch lieber Marie sagen, daß Saint-
Firmin mein Manuskript direct Caduc übergeben hat. Wenn Marie er-
führe, daß diese herrliche Person mich vroiegirt, so würde sie am Ende
vielleicht eifersüchtig werden und sich betrüben . . . Nesser, die Kleine er-
fährt Nichts."
VI.
Der Dichter brachte seine Lüge vor, und Maries Freude war groß,
als sie hörte, daß die „Sternennacht" bald aufgeführt werden würde. Aber
es dauerte nicht lange, da verdrängten Kummer und Sorgen die Festes-
stimmung in ihr. Es schien ihr, als ob mit einen» Male der Geliebte
kühler gegen sie geworden wäre. Vor Kurzen» noch, wenn sie zu ihn» kam.
so stand Jean schon ungeduldig und erwartete sie auf der Thürschwelle,
noch bevor sie die letzte Treppe erstiegen hatte. Und dann das glückselige
Lächeln, die Umarmung, der Kuß, womit er sie empfing! Doch jetzt war
er nicht mehr derselbe. Immer noch sanft und gut zu ihr, ja, aber weniger
zärtlich. Dabei zerstreut. Sie suchte ihn zu entschuldigen. Ohne Zweifel
ging ihm gegenwärtig Vieles im Kopfe herum. Pläne und Hoffnungen
bezüglich der Gestaltung seines ferneren Schicksals beschäftigten ihn. Dennoch
beunruhigte es sie, daß er so war, sogar in ihren Armen, in» Augenblick der
innigsten Hingebung. Aengstlich fragte sie ihn:
„Woran denkst Du eigentlich?"
Die Antwort, die er gab, konnte sie beruhigen.
„Nun, an mein Stück! Woran denn sonst ... In vierzehn Tagen
ist Leseprobe, Du weißt es ja."
8"
Fran^ois toppse in Paris
Er sagte die Unwahrheit, und während Marie sich dicht an ihn
schmiegte und sein Gesicht mit unzähligen Küssen bedeckte, dachte er cm
Nelly, an jene üppige Blume, deren Duft er eine Weile lang geathmet
hatte und deren sinneuerwirrendes Parfüm ihn überall hin verfolgte.
Warum war er seit zehn Tagen immer noch nicht wieder im Vaude-
ville-Theater gewesen? Nun einfach: Marien» wegen. Es war doch nicht
hübsch von ihm, ihr gegenüber ein Geheimniß zu haben. Er tadelte sich
selbst wegen seiner Treulosigkeit. Sie liebte ihn doch so sehr! Und er
liebte sie doch auch! Was auch kommen würde, sie sollte immer seine Ge-
fährtin, seine Freundin bleiben, immer im Innersten seines Herzens die erste
Stelle einnehmen. Und nun lehnte er liebestrunken sein Haupt an ihre
Schulter und betrachtete dieses naive Kindergesicht, das lange, aufgelöste und
in goldigen Strähnen über ihren Nucken hinabfallende röthliche Haar, das
weiche, rundliche Kinn und die dunkelbraunen, großen Augen, die von Zeit
zu Zeit ihm vertrauensvoll entgegenglänzten.
„Nein! es wäre unrecht von mir!" sagte er sich. „Ich werde diese
Nelly Nobin nicht mehr besuchen."
Aber er sollte ihr bald wieder begegnen, ohne daß er es beabsichtigte.
Es geschah dies auf dem Kirchhofe Mre-Lnchaise an einem offenen Grabe,
in das man soeben den Sarg des im Hospitale verstorbenen Saint-Firmin
hinabgelassen hatte. Schmerzlich bewegt durch den Verlust des ihm auf-
richtig und treu ergebenen Freundes, hörte Jean Delly, dessen Stück am
Tage zuvor mit großem Beifall in der Comödie Franyaise aufgenommen
worden war, die Worte des De prufunäiF an. Ein feiner, kalter Regen
fiel vom Himmel hernieder, und nur eine kleine Anzahl College« des alten
Regisseurs hatte diesem bis nach dem Kirchhof das Geleit gegeben. Nur
drei oder vier junge Schauspieler vom Odeon und etwa ein Dntzend alter
Minien mit glattrasirten, welken Gesichtern, die einstens zusammen mit
Saint-Firmin gespielt hatten, waren anwesend.
Als man das Weihwasser sprengte, erschien plötzlich, in einen prächtigen
Pelz gehüllt und einen kostbaren Kranz am Arme tragend, ein Weib. Jean
erkannte alsbald Nelly Nobin. Das gute Mädchen kam, dem Zeugen ihrer
traurigen Vergangenheit den letzten Liebesdienst zu erweisen.
Nasch näherte sie sich dem Grabe, senkte das Hanpt, schlug ein Kreuz,
murmelte leise ein kurzes Gebet und übergab dem Todtengräber den Kranz.
Nun bemerkte sie Jean, der sie begrüßte.
Unter dem schwarzen Schleier hervor warf sie ihm einen zärtlichen und
zugleich betrübten Blick zu. Seit vierzehn Tagen hatte sie immerwährend
an den jungen Dichter deuten müssen. Jeden Abend hatte sie ihn in ihrem
Ankleidezimmer erwartet, aber vergebens. Wie ein Vorwurf lag's in ihren
Augen, und er deutete sich das zu seinen Gunsten,
Sie standen auf dem schmutzigen Kirchhofe in der Nähe der Leichenhalle,
und über ihnen breitete sich, düster und wolkenschwer, der Decemberhimmel aus.
Rivalinnen. ~ I. 5
Die Liebe ist stärker als der Tod.
Die Schauspielerin wandte sich an Jean.
„Deranne Saint-Firmin!... Wir hatten ihn nlleVeide gern, nicht wahr?"
In Wahrheit aber dachten sie kaum noch an ihn, den armen Saint-
Firmin. Nachsichtig lächelnd, sah sein Schatten gewiß schon auf sie herab
aus dem Paradiese der Schauspieler, wo diese alle immer eine dankbare
Hauptrolle zu spielen haben und wo sie ihren Namen immer fett gedruckt
auf dem Anschlagzettel erblicken.
Jean und Nelly entfernten sich von den: Grabe und schritten die mit
traurigen, entlaubten Bäumen bestandene Allee entlang.
„Warum habeu Sie mich denn nicht besucht?" fragte sie leise.
Er antwortete in demselben Tone:
„Ich wagte es nicht . . ."
Nun gingen sie schweigend neben einander her. Am Ausgange des
Kirchhofes wartete das Eoup6 Nelly Robins.
„Sie fahren doch mit mir nach Paris zurück? Nicht wahr, Herr Dellv?"
.Kaum saß Jean neben ihr in dem engen Wagen, dicht an sie gedrängt
und von ihrem Parfüm und von dem weichen Pelze sanft umschmeichelt, da
verlor er deu Kopf. Nellv, die gar wohl das Leuchten feiner Augen bemerkte,
schmiegte sich noch dichter an ihn und lehnte den Kopf auf feine Schulter.
„Ich lieb' Dich ja, weißt Du's deuu nicht?" hauchte sie.
Sie hatten Küsse ohne Zahl gewechselt, als das Coupü vor der
Wohnung der Schauspielerin hielt. Nelly sprang zuerst aus dem Wagen,
Jean hinterdrein. Er wollte sich verabschieden, doch sie zog ihn mit sich
in's Haus hinein.
Im Vorzimmer kam ihnen die Kammerfran entgegen.
„Der Hen- Herzog ist seit zwanzig Minuten da," sagte sie. „Er- er-
wartet Madame in: Boudoir."
Der Herzog! Sie hatte ganz vergessen! Das war die Zeit, um welche
er mit ihr seine endlose Partie B6zigue zu spielen pflegte.
Mit einer Handbewegung entließ sie die Kammerfrau; und, indem sie
Uli, den Hals Jeans, dessen Gesicht plötzlich einen stolzen, finsteren Ausdruck
angenommen hatte, ihre Arme schlang, bat sie:
„Ach, sei nicht bös! Verzeih mir. Morgen, wenn Du willst, wirst
Du der Herr hier im Hause sein . . . Und Dil mußt mir auch ver-
sprechen, heut Abend in's Vaudeuille zu kommen . . ."
Also ihr~ Geliebter! Einer von Vielen! ... 0 nein; er besaß
Ehrgefühl und Eigenliebe, der Dichter. Er machte sich von ihr los, grüßte
und verließ ohne Antwort das Zimmer.
Draußen auf der Straße eilte er erregt mit großen Schritten dahin,
„Nein!" dachte er, „ich werde heut Abend bestimmt nicht in's Vaudeville
gehen! . . . Schön ist sie wie der Tag, und wie Feuer brennen ihre
Küsse auf den Lippen. Zlber ich bin nicht eiller von denen, die mit
~6 Fia»f«is Coppee in Paris.
Anderen die Liebe theilen und die, wenn einer von diesen Anderen plötzlich
erscheint, sich im Kleiderschrank verstecken ... Der Herr! hat sie gesagt ...
morgen, wem ich will! Der Herr in all' dem Lurus, den sie einem
Anderen . . . mehreren Anderen verdankt! Und ich habe nicht Geld genug
in der Tasche, um ihr einen Rosenstrauß zu kaufen! . . . Wofür hält sie
mich denn eigentlich? . . . Und dennoch ... ich bin thöricht und un-
dankbar ... Aber Marie? . . ."
Er suchte sich durch den Gedanken an Marie zu erheben. Hatte er
wirklich ernstlich daran gedacht, sie zu verlassen? Niemals! Ein bischen
Untreue, das war das ganze Verbrechen, das er hatte begehen wollen. Das
war am Ende verzeihlich, und er hatte darum noch lange nicht aufgehört, seine
kleine Freundin zu lieben . . . Jedoch? . . . Jean wunderte sich selbst
darüber, mit welcher Gemüthsruhe er soeben es fertig gebracht hatte, sie,
wenn auch nur in Gedanken, zu betrügen. Unwillkürlich verglich er die
beiden Frauen mit einander, und alsbald bemächtigte sich ein plötzlicher
Rausch seiner Sinne. Noch fühlte er auf feinen Lippen die glühenden
Küsse der heißblütigen Sünderin! Ach was! er war auch gar zu
fcrupulös . . . Das schöne Geschöpf hatte für ihn eben einen kleinen
Faible. Warum sollte er sich das nicht gefallen lassen? Freilich, vor
allen Dingen Offenheit. Sie sollte es erfahren, daß er nicht frei war;
er würde das ihr selbst sagen, heute Abend noch.
Um acht Uhr war er im Ankleideraum bei Nellu. Sie bestürmte ihn
mit Liebkosungen. Sie kniete vor ihm nieder, küßte ihm die Hände.
„Du brauchst nur ein Wort zu sagen," wiederholte sie ein Mal über
das andere, „und ich weise dein Herzog die Thür, und ich gehöre Dir,
Dir ganz allein."
Der Dichter faßte sich ein Herz und beichtete.
Vebend schnellte sie empor:
„Wie, Du hast eine Geliebte?"
Jean suchte einzulenken, zu erklären. Ja, ein Mädchen, das gut und
lieb in seinem Unglück und in seiner Einsamkeit zu ihm gewesen wäre.
Aus Dankbarkeit hatte er sie anfangs wieder geliebt, jetzt fühlte er nur
noch Freundschaft für sie. — Und er sprach die Wahrheit. —
Nelln konnte sich nicht darüber wundern. War es ihr doch dereinst
ebenso gegangen!
„Ich werde dein Herzog mein Haus verbieten!" rief die Schau«
Spielerin . . . „Brich Du mit dem Mädchen,"
Eine so grausame Logik erschreckte J ean Delly förmlich. In seiner
Harmlosigkeit machte er den thörichten und unnützen Versuch, ein Weib
seiner Rivalin gegenüber zu vertheidigen. Nie würde er es über's Herz
bringen, Marie so schnöde zu verlassen. Sie würde ja ganz verzweifelt
sein. Er muhte Zeit haben, sie auf die Trennung vorzubereiten, sonst
wäre sie zu Allem fähig. Sie liebte ihn ja so grenzenlos.
Rivalinnen- ~7
In den Augen einer Kokette würde Jean sich durch eine derartige
Ungeschicklichkeit unmöglich gemacht haben. Da aber Nelly wirklich in ihn
verliebt war und ein gutes Herz besaß, so senkte sie den Kopf und
flüsterte:
„'s ist wahr. Die Kleine hat Dich gewiß sehr lieb . . ."
Nun machte sich der Dichter die eigne Naivetät zum Vorwurf. Er
umarmte Nelly, sprach zu ihr zärtlich, leidenschaftlich:
„Was schert uns Dein Herzog? Was schert uns Marie? Können
wir uns nicht trotzdem gut sein?"
Aber sie wandte den Kopf bei Seite.
„Nelly, was ist Dir?" rief er besorgt.
Und wie er nun einen Kuß auf ihren Mund drücken wollte, sah er,
daß das fchüne Mädchen die Augen voller Thränen hatte.
Er glaubte sie verletzt zu haben und bat sie reumüthig um Verzeihung.
Da ergriff sie von Neuem seine Hände, bedeckte sie mit Küssen, netzte sie
mit der wannen Fluth ihrer Thränen und fagte ihm, wie innig lieb er
ihr fei. Nein, böse war sie ihm nicht. Im Gegentheil, sie hatte ihn um
Entschuldigung zu bitten dafür, daß sie ihn zu gewinnen gehofft. Sie
hatte, wie ihresgleichen alle es wenigstens einmal in ihrem Leben thun,
sich der trügerischen Hoffnung hingegeben, ihre Schuld durch Liebe zu
fühnen. Das war eine Thorheit, sie sah es ein. Ueberdies sei er ja
auch nicht mehr frei.
„Entweder Du täuschst mich absichtlich, oder Du belügst Dich selbst,"
rief sie schluchzend, „wenn Du behauptest, daß Du Deine Marie nicht
mehr liebst. Sie ist Deine erste und einzige Freundin gewesen, sie hat
Dir Trost gebracht in den Tagen des Unglücks. Ich beneide sie, aber ich
kann sie nickt hassen. . . . Hören Sie, theurer Freund," fuhr sie nach
einer Pause scheinbar ruhig fort, „glauben Sie, es ist das Beste, wir
gehen von einander jetzt und sehen uns nie wieder, — das wird Ihnen
und mir gut sein. Versuchen wir, einander zu vergessen."
Außer sich vor Schmerz, stürzte der Dichter Nelly zu Füßen, bat nnd
flehte, fchwur, daß er sie aufrichtig liebte, und glaubte an. seine Schwüre.
Doch sie blieb standhaft und besaß sogar die Kraft, ihm „nur noch einen
einzigen Kuh" zu versagen. Zu allen seinen Vetheuerungen schüttelte sie
blos den Kopf. Und als er endlich, mehr gezwungen, als freiwillig, sie
verließ, da konnte sie hoffen — oder auch fürchten — daß er nicht mehr
zurückkehren würde.
VII.
Er kam schon am nächsten Tage wieder, er kam alle Abende wieder,
und sie empfing ihn, war gut und zärtlich zu ihm, ohne ihm indes; nach-
zugeben, noch ihm Hoffnung zu lassen, daß sie ihm jemals nachgeben
~8 Fianfois Loppee in Paris.
könnte. Und, wie es so oft bei Liebesabenteuern vorkommt: sie waren Alle
unglücklich.
Alle; zunächst Nelly. Sie batte jetzt volle Gewißheit, daß der Dichter
rasend in sie verliebt und völlig bereit war, seine Marie zu verlassen. Auch
sie dachte jetzt daran, ihre Kette zu brechen, und man würde alsdann, so
gut es anging, als ein rechtes Liebespaar, von Liebe und Luft leben. Aber
sie besaß einen Fonds von Edelmuth. Es widerstrebte ihr, daß ihr Glück
das Unglück einer Anderen herbeiführen, das Ergebnis! einer grausamen
Handlungsweise sein sollte. Aus alle Fälle wollte sie dies nicht veranlassen.
Niemals hätte sie zn Jean gesagt: „Brich mit Deiner Marie," und
wiederum, wäre er gekommen, ihr zu sagen: „Ich habe mit ihr gebrochen,"
sie wäre ihm an den Hals geflogen. Indessen, er sagte es nicht, und sie
fragte sich dann mit gar bittereni Zweifel, ob er denn für sie nur sinnliche
Begier, nur eine vorübergehende "Neigung hege.
Marie war nicht minder zu beklagen. Jeden Tag wurde Jean Dell«
gleichgiltiger, verdrießlicher. Beklagte sie sich darüber, so entschuldigte er
den Wechsel seiner Laune mit seiner Zelstreutheit: denn er ging jetzt alle
Nachmittage in's TIMtre Fran^ais, der Einstudirung feines Stückes beizu-
wohnen. Aber das einfache Mädchen, gewarnt durch den fehr sicheren
Instinct des vernachlässigten Weibes, täuschte sich hierin nicht, und jeden
Augenblick durch ein rauhes Wort, durch eine ungeduldige Geste ihres Ge-
liebten erschreckt, lebte die arme kleine in beständigem Aufruhr des Herzens
und ahnte eine Katastrophe.
Jean litt ebenfalls. War er bei Nelly Nobin, fo lebte er, unaufhör-
lich allen Tantalusqualen preisgegeben, in einer Aufregung der Sinne, und
fobald er zu Marie zurückkehrte, empfand er ein schreckliches Gefühl von
Müdigkeit und Mitleid. Denn, ohne sich bis jetzt dazu entschließen zu
können, dachte er doch bereits daran, sie zu verlassen, und dabei empfand
er im Voraus Abfcheu vor feiner Feigheit und feiner Undankbarkeit.
Sie waren eben Alle unglücklich. Ja! Alle, bis zu dem unglückseligen
Herzog von Eylau, der jetzt mehr denn je die Gabe besah, die nervöse
Nelln Nobin im höchsten Grade zu reizen, und der die barschen Abweisungen
seiuer Maitresse ebenso wenig wie die zahllosen Fehler begriff, die er feit
einiger Zeit beging, wenn er Bözigue spielte.
Er war das erste Opfer der Situation, der arme Herzog: Wegen eines
Nichts, des Ausspielens einer Karte ~ ruudweg verabschiedet. Er war
gleichwohl nicht anspruchsvoll gewesen, wenn er nur seine obligate Partie
von 4 bis 6 hatte. Ei' entfenite sich discret, und mit ihm verschwanden
die Päckchen Tausendfrankscheine. Bah! Neil» kümmerte sich viel um Geld!
Sie liebte.
Ohne irgendwie ihre Ausgaben, ihr Hauswesen zn verringern, verkaufte
sie einen Schmuck nach clem andern und lebte in den Tag Innen, mit der
Sorglosigkeit der Maitressen.
Rivalinnen. ~9
Endlich wurde die „Sternennacht" im TtMtre Fran?ais gespielt.
Man erinnert sich noch des Triumphes! Das Premiörenvublicum, alle
die alten, abgelebten Nouös weinten dabei vor Rührung. Das erfrischte
sie, das that ihnen wohl.
Den Tag nach der Aufführung machte der Name Jean Dellu, hoch
gepriese», die Runde durch die Zeitungen, d. h. durch Frankreich, durch
Europa, Der Dichter, dessen Gesicht noch ganz pudrig war vom Vruder-
kuß seiner Interpreten, wurde hinter einer Coulisse von den: dicken Verleger
Beer erwischt, der ihm schnurstracks das Mauuscript seines Stückes abkaufte
und ihm 5000 Franken in die Hand drückte. Nei den ersten Aufführungen
saß Nelln in der Loge des Herrn Caduc, weinte Frendenthränen uud
applaudirte so stürmisch, daß sie ihren Fächer zerbrach, während ganz im
Hintergründe der einzigen Loge, die man dem Dichter bewilligt hatte,
Marie in den Annen der Freundin aus dein Atelier, die sie begleitet hatte,
vor Aufregung verging.
Mißtrauen wir dem Glück. Es macht die Guten besser, aber für den
Egoisten ist es gefährlich, und der Mann, der Erfolg gehabt, glaubt, ihm
fei Alles erlaubt.
Nei seinem späten Erwachen am nächsten Morgen in der Mansarde des
Quai St. Michel erhielt Jean Dellv von Nellv Nobin einen überschwäng-
lichen Brief und ein Packet Journale, die wann seinen Ruhm verkündeten.
Er war berühmt, er war geliebt. Auf einmal. Nein! Er besaß ja Nelly
nicht. Ein einziges Hindernis; — und das war Marie. Da fiel sein
Blick auf die Banknoten, die ihm Beer am Abend gegeben, und die er bei
der Heimkehr auf den Tifch geworfen hatte. Geld! Losten sich nicht mit
Geld am häufigsten die I ugendliebschaften, die Liebeleien des Quartier
Latin? 5000 Franken, das war für eiue Handwerkerin schon Etwas, womit
sie sich etabliren konnte, eine Art Aussteuer, der Anfang eines Glücks
vielleicht. Und für ihn konnten sie das Lösegeld, seine Freiheit bedeuten.
Und schließlich hatte er ja keine J ungfrau verführt. Marie hatte ihm nur,
und zwar aus eigenstem freien Antriebe, zwei Jahre ibres Lebens geschenkt.
5000 Franken! Das hieß bezahlt! ...
Und Jean Delly war kein Bösewicht! Noch am Abend, im Hochgefühl
des Triumphes, hatte er feine kleine Freundin, die ihn ganz schüchtern auf
der Straße, am Eingang für die Schauspieler, erwartete, freudig nmarmt
. . . Aber ein ungestillter, rasender Wnnsch verblendete ihn.
O Gefühllosigkeit, o Härte des Menschenherzens! O über die Niedrig-
keiten, die in einer Minute erdacht, beschlossen, ausgeführt sind!
Marie würde ihn ohne Zweifel so bald als möglich besuchen, vielleicht
diesen Morgen schon.
Er kleidete sich hastig an uud schrieb in einem Zuge den Abschieds-
brief. Er beschwor Marie, ihm zu verzeihen. Aber er liebte sie nun ein-
mal nicht mehr. Sie könnten sich hinfort gegenseitig doch nur noch zur
~20 Fran?o>5 Loppee in Oaiis.
Qual leben. Und, das Geld anzubieten, fand er, der Mann der Feder,
eine geistvolle, fast zärtliche Wendung.
Er legte die Hülle, die den Brief und die Banknoten enthielt, recht
augenfällig auf den Tisch, fagte im Fortgehen dem Portier, daß, wem
Fräulein Marie käme, oben Etwas für sie läge, stieg in eine Droschke und
ließ sich zu Nelln fahren.
Seit einigen Tagen spielte sie nicht mehr im Vaudeoille, wo ihr
Engagement soeben zu Ende gegangen war. Einige Monate zuvor hatte
sie, angesichts sehr vorteilhafter Anerbietungen nach Rußland, abgelehnt, es
zu erneuern. Dann war Jean erschienen, sie hatte sich nicht mehr von ihm
entfernen wollen, und noch am Abend zuvor hatte sie den Theateragenten
abgeschüttelt, der in sie drang und sich nicht erklären konnte, warum ein
hübsches Weib eine Reise in das Land der Rubel abschlug.
„Es ist geschehen. Ich habe mit ihr gebrochen!" rief Jean in den
Annen der Schauspielerin.
Und er erzählte ihr, mit häßlicher, egoistischer Freude, die schlechte
Handlung, die er soeben begangen. Nelln, eine Maitresse trotz alledem,
bewunderte ihn und war stolz und gerührt, daß er, ohne zu zögern, um
ganz ihr anzugehören, das erste Gold geopfert hatte, das ihm das Glück
zuwarf.
„Und ich, ich bin auch frei!" sagte sie zu ihm, auf seine Schulter
gelehnt, „ich bin Dein und gehöre Dir für immer! ... Dieser Luxus, der
mich umgiebt, erregt Dir Zlbschen ... Du bist stolz. Du hast Recht . . .
Nun, beruhige Dich nur ... Ich habe bis jetzt, ohne zu rechnen, gelebt,
und seit vierzehn Tagen habe ich den Herzog fortgeschickt, der meine
Schulden bezahlen wollte . . . Wohlan, Möbel, Toiletten, Schmuck, Alles
lasse ich meinen Gläubigem ... Du wirst eine Kameradin haben, die eben
so arm ist wie Dn . . Sprechen Sie, mein Herr, werden Sie dann auch
noch Ihre Freundin im Grisettenkleide lieb haben? Nah! Es ist gar nicht
so lange her, daß ich höchst eigenhändig meine Wäsche ausbesserte und
meiue Suppe kochte .. . Ich werde das Theater verlassen, willst Du? . ..
Du würdest doch zu eifersüchtig sein, nicht wahr? wenn ich dort bliebe,
und ich, ich könnte nicht genug bei Dir sein . . . Nein, ich will Deine
Wirthschafterin werden, und Du sollst sehen, wie ich Dich pflegen werde,
während Dil allerhand schöne Sachen schreiben wirst . . . Zunächst wirst
Dn jetzt Deinen Lebensunterhalt verdienen; Du wirst nicht reich sein, bei
Gott! . . . Dichter haben kein Glück. Aber ich werde so vernünftig sein
... Ja! wir werden sogar noch große Sprünge machen können. Und Du
wirst mir bald mein erstes Schinuckstück kaufen . . . Ohrringe in Doublt,
zehn Franken das Paar, wie jene beim J uwelier in der Nue Mönilmontant,
die so sehr meinen Neid erregten, da ich mich noch als Kind auf der
Straße umhertrieb ... 0 meiu Jean, wie liebe ich Dich!" . . .
Rivalinnen. 1.21.
Und wie er sie feurig an sich preßte, fügte sie, sich losmachend, hinzu:
„Nein, noch nicht, noch nicht und nicht hier . . . Hier erinnert mich
Alles an meine Vergangenheit, widert mich Alles an ... 0 vergieb mir!
Ich war ja Dir noch nicht begegnet, ich wußte ja nicht, was es heißt, zu
liebe» . . . Nein, ich will noch heut Abend zu Dir kommen, in die ümi-
liche Wohnung, wo Dil so unglücklich gewefen bist. Ich werde dorthin
kommen, um nicht mehr fortzugehen, und Nichts will ich mitbringen als
die Kleider, die ich am Leibe trage . . . Sprich, bist Du einverstanden?
. . . Jetzt gehe an Deine Geschäfte ... Du mußt Dich im Theater
zeigen. Du mußt allen Deinen Bekannten danken. Deinen Interpreten,
jenen Journalisten, die Dich soeben als großen Dichter ausposaunt haben
und die man subtil behandeln muß ... Ich kenne das . . . Währenddem
werde ich hier Alles regeln, und das wird nicht lange dauern, ich versichere
Dich. Ich werde nicht einmal die wenigen Lonis in meinem Portemonnaie
behalten ... Es giebt ja genug Sammelbüchsen für die Armen . . .
Erwarte mich heut Abend, um fechs Uhr, und laß uns unfer gemeinsames
Leben damit beginnen, daß wir in Deiner Kneipe speisen, mit jenen
Kutschen, zusammen, weißt Du? dort, wo Du den armen St. Firmin
kennen gelernt hast ... Es liegt mir daran, daß auch ich ein wenig
Dein großes Elend getheilt habe!" . . .
Jean ging, berauscht von Stolz, eine solche Leidenschaft eingeflößt,
solche Opfer veranlaßt zu haben.
Allein und von dem Wunsche beseelt, sobald als möglich die Spuren
ihres galanten Lebens zu vernichten, nahm Nelly zuerst aus einem Schub-
fache einige Packete Briefe und warf sie in's Feuer.
Sie sah sie brennen und wollte gerade ihrer Kammerfrau klingeln, um
ihr den soeben gefaßten Entschluß anzukündigen, als diese erschien nnd sagte:
„Kann Madame das Mädchen Ihrer Modistin empfangen? ... Sie
ist unten mit dem bewußten Hut, den Madame vor acht Tagen bestellt hat."
„Laß sie heraufkommen," erwiderte Nelly Nobin mechanisch.
Und während die Kammerfrau gehorchte, dachte die Schauspielerin
und konnte nicht umhin zu lächeln:
„Ein Hut für fünf Louis! Ich werde ohne Zweifel auf lange hinaus
keinen solchen mehr tragen, und dieser soll nach der Erecution durch die
Gerichtsdiener bezahlt werden wie das Uebrige. . . Bah! ich will ihn heut
Abend auffetzen, wenn ich mich bei Jean einlogiren werde."
Denn welche Macht der Erde vermöchte eine Frau, selbst wenn sie
närrisch vor Liebe, selbst wenn sie in einer Krise der Leidenschaft ist, zu
hindern, daß sie einen hübschen Hnt probirt?
Das Mädchen trat ein und öffnete seinen Earton.
„Lassen Sie sehen," sagte Nelly.
Sie stellte sich vor ihren Spiegel, rückte den koketten Chiffon auf ihrem
Kopfe zurecht uud bemerkte erst jetzt im Spiegel das Gesicht der jungen Modistin.
~22 Francis «^oppee in Paris.
Was hatte sie nur, die arme Kleine mit den goldrothen Haaren?
Warum waren jene hübschen kaffeebraunen Augen mit Thronen gefüllt?
Und warum stützte sie sich wie ohnmächig auf die Lehne eines Fauteuils?
Es war Alane, die den Hut gebracht hatte.
Oh! wie war sie heut Morgen so fröhlich aus dein Atelier weg-
gegangen, ihren Earton unter'm Arm!
Schnell, erst zu Jean! Er mußte lange geschlafen haben, nach all'
den Aufregungen feines Triumphes. Sie würde ihn beim Aufstehen finden,
ihren Vielgeliebten, ihren Dichter, wie er endlich glücklich war. Aber nein,
fchon ausgegangen! „Sie können sofort hinaufgehen, Fräulein," hatte ihr
der Portier gesagt, „es ist oben Etwas für Sie."
Was das oben war? großer Gott! es war der fchreckliche Brief und
jene Banknoten, die sie sogleich wieder fortgeworfen hatte, die ihr in den
Fingern gebrannt hatten. So, das war zu Ende. Jean liebte sie nicht
mehr und verabschiedete sie, bezahlte sie wie eine Dirne. Roth, als hätte
sie einen Backenstreich erhalten, todt das Herz, das Blut im Gehirn, war
sie geflohen und weinte auf der Straße, ohne sich zu schämen.
Wenn Sie einen großen Kummer haben, wenn Ihr Liebhaber Sie
verläßt, schöne Dame mit den drei Toiletten täglich, so verriegeln Sie
Ihre Thür, Sie schließen sich in Ihr Boudoir ein mit einem Flacon
englischen Niechsalzes, und Sie können dann wenigstens in der Einsamkeit
schluchzen. Ich beklage Sie, gewiß! denn das Leiden ist dasselbe für das
Herz einer verlassenen Frau, ob es mm unter Seide oder unter grobem
Zwillich schlägt. Aber haben Sie gütigst Mitleid mit dem kleinen Lauf-
burschen von Modistin, die vor allen Passanten, die Trotwirs entlang, um
ihr verlorenes Glück weint, und die, trotz ihres Schmerzes, — der ebenso
grausam ist wie der Ihrige, schöne Dame, — dennoch ihre triviale Be-
sorgung nicht vergessen darf und einen Hut zur Kundin tragen muß.
Marie hatte Nelly Nobin niemals gesehen, hatte ihren Namen erst
heut Morgen erfahren, wußte Nichts von ihr. Ohne daß die Eine oder die
Andere es ahnte, standen sich die beiden Mvalinnen gegenüber.
Vor dem Gesicht der Unbekannten, das durch den Schmerz verstört
war, wurde Nelly von Mitleid erfüllt. Von Natur sehr gutmüthig, war
sie es um so mehr an diesem für sie so glücklichen Tage.
„Was fehlt Ihnen denn, meine liebe Kleine?"
Aber Marie fank unter der Wucht ihres allzu schweren Kummers auf
einen Diuan und barg den Kopf in ihren Händen. Nelly fetzte sich lieb-
reich neben sie und war mit mütterlicher Zärtlichkeit um sie bemüht.
„Ein schwerer Kummer wohl? . . . Kommen Sie, mein liebes Kind,
weinen Sie nicht so . . . Sie kennen mich zwar nicht, aber Sie tonnen
Vertrauen zu mir haben! ... Ich würde so zufrieden sein, wenn ich Ihnen
helfen könnte . . . Und, auf alle Fälle, fage» Sie mir getrost, was Sie
so betrübt."
Rivalinnen, ~23
Sich anvertrauen ist ein so natürliches Bedürfniß, und diese schöne
Dame schien so gütig! Seit zwei Stunden irrte Marie in Paris umher,
sterbensmatt vor Verzweiflung: Sie offenbarte das Geheimnis! derselben in
einem Weheruf.
„Jean! . . . Mein Jean hat mich verlassen! . . ."
Ihr Jean? . . . Nelln war das Herz wie zugeschnürt infolge einer
Vorahnung. Mehrmals hatte sie mit eifersüchtiger Neugier den Dichter
über seine kleine Freundin befragt: „Hübsch, nicht wahr? Wie sieht
sie denn aus? Und jetzt, just während sie dieses jugendliche, vou Thränen
überströmte Gesicht betrachtete, das dem ihren so nahe war, und unter
dem in Unordnung gerathenen rothen Haar diese Stirn, auf die sie, einer
Regung der Sympathie folgend, beinahe ihre Lippen gedrückt hatte, er-
innerte sich die Schauspielerin der verlegenen Antwort Jean Dellvs: „Ein
Nothkopf mit braunen Augen."
„Ein Liebeskummer also. Ich dachte mir's," sagte Nelln mit ver-
änderter Stimme. „Lassen Sie hören, Liebchen, erzählen Sie mir das , .
Und vor Allem: wie heißt denn das herzige Kind, das so großen Kummer hat?"
Und das junge Mädchen warf Nelln unter Thränen einen Vlick der
Dankbarkeit zu und antwortete mit Anstrengung:
„Wie gütig Sie sind, Madame! ... Ich heiße Marie."
Da wurde die Hand, welche die ihrige drückte, eisig kalt, der Ann,
der um ihre Taille lag, sank herab. Aber Marie achtete nicht darauf.
Eine Stimme von Mitgefühl hatte sie gebeten, ihr Herz zu erleichtern. Es
schüttete sich aus, es ergoß sich in Klagen und Schluchzen.
„Mein Jean! ... Ich liebte ihn so sehr! . . . Wenn Sie wüßten!"
Und Marie ließ sich zu Nellns Füßen gleiten, behielt die Hand der
Dame, die soviel Mitleid zeigte, in der ihrigen, küßte sie wiederholt
schmeichelnd wie ein krankes Kind uud erzählte vou den zwei Jahren ihres
Glücks und ihrer Liebe, wo alle Minuten ihres Lebens Jean gehört hatten,
wo jeder Stich ihrer Nadel von einem Gedanken der Anbetung für ihren
Vielgeliebten begleitet gewesen war. Sie hatte geglaubt, daß er sie liebte.
Aber sie war weder thöricht noch eitel gewesen. Sie sagte sich wohl
manchmal mit Seufzen, daß ein unwissendes Mädchen wie sie nicht die
einzige Liebe eines Dichters sein könnte. Zweifellos wird er von anderen
Frauen verführt werden, die ihn liebten — er war ja so entzückend! —
und würde ihr untreu werden. Alles vergeht. Alles hat ein Ende, sie
wußte es wohl. Sie durfte nur hoffen, daß er ihr einen kleinen Raum
in seiner Freundschaft wahren werde, daß er stets ein wenig Zärtlichkeit
für diejenige haben werde, die ihm während seiner traurigen J ugend Glück
gespendet hätte. Hundert Mal hatte er es ihr geschworen. Wenn sie ihn
doch weuigstens sehen, mit ihm zusammenkomme» könnte — und gar nicht
einmal oft, wenn er es so gefordert hätte — ihn zu pflegen, sobald er
trank wäre, sie hätte sich mit einer kargen Zärtlichkeit begnügt, solch einer.
~2H Fran^ois toppee in Paris.
wie man sie wohl beiläufig den« Hunde des Quartiers zu Theil werden läßt.
Aber nein. Er trieb sie in hartherziger, in brutaler Weise von sich. Oh!
über den Schlechten und Undankbaren! Und er warf ihr wie einen Schimpf
dieses elende Geld hin! Geld! Sie brauchte Nichts mehr. Ihr Jean hatte
ihr das Herz gebrochen. Sie würde daran sterben, ja wohl! sie würde
daran sterben! Und wenn der Tod auf sich warten ließe, je nun, es gab
Wasser unter den Brücken und Kohlen bei dem Kohlenhändler! . . .
Heftig legte ihr Nelly die Hand auf den Mund.
„Was sagen Sie da, kleine Unglückliche? . . ."
Vor ihrer Rivalin hingesunken, den Kopf auf deren Knieen, schwieg
Marie, und jetzt weinte sie, weinte und weinte.
Und während Nellv noch das trostlose Mädchen betrachtete, fühlte sie
sich von namenlosem Mitleid ergriffen. Denn: das Unglück, das sie hier
vor Augen hatte, es war ihr eigenes Werk, Wahrhaftig, das erste
Mal, wo sie ernstlich liebte, hatte sie kein Glück. Sie konnte nur glücklich
sein, indem sie Böses stiftete. Und während sie diese arme kleine Marie
betrachtete, die Jean ihr opferte, empfand sie ein unbestimmtes Gefühl des
Neides. Sie selbst hatte diese echte und aufrichtige Leidenschaft, diesen
schönen Schmerz, nie kennen gelernt. Das Neste, was ihr noch das Leben,
dessen goldene Schande sie jetzt verabscheute, geboten hatte, das waren —
welcher Hohn! — die bei Lamorlisre verlebten J ahre, ihre Ergebenheit als
dienende Maitresse eines alten und lächerlichen Komödianten. Marie konnte
doch nach alledem wenigstens sterben, Sie hatte gelebt, hatte geliebt; sie
hatte eine kurze, aber entzückende J ugend genossen. Oh! Wie beneidete
Nelln sie um ihren schönen Traum, selbst um den Preis eines so rauhen
Erwachens! . . . Aber wie sie so von Neuem ihr Opfer betrachtete, das
völlig niedergeschmettert war, dem beständig große Thränen unter den ge-
schlossenen Augenlidern hervorquollen, und das den rührenden Eindruck eines
verwundeten Vögleins machte, da regte sich das gute Herz Nellys, und sie
wurde zugleich von einer unbestimmten Verachtung, einer Art von Abscheu
gegen diesen Jean erfaßt, diefen Egoisten und verführerischen Dichter, dem
sie sich so unklug hingegeben hatte, dem sie, sie konnte es sich nicht verhehlen,
jene schlechte Handlungsweise inspirirt hatte, und der sie ohne Zweifel bald
ihrerseits würde Qualen erleiden lassen, da sie ihn ja auch liebte.
„Und sagen Sie mir, Liebchen," fragte sie das junge Mädchen, das
sich ein wenig beruhigte, „wissen Sie, um wessen willen Sie verlassen sind?"
„Ach! nein," antwortete Marie. „Seit einiger Zeit hatte ich wohl be»
merkt, daß Jean mir gegenüber nicht mehr derselbe war. Aber ich hatte
so viel Vertrauen zu ihm! Ich wies meinen Argwohn weit von nur,
tadelte mich sogar deswegen . . . Aber die Lebensweise Jeans ist eine
andere geworden; er geht jetzt hinter die Coulissen. Dort wird er vermuthlich
irgend eine schöne Schauspielerin gefunden haben, die viel liebenswürdiger
ist als ich, Toiletten hat und Lurus treibt, von Huldigungen umgeben ist,
Rivalinnen, 1.25
und die es versteht, die Kokette zu spielen und einen Mann eifersüchtig zu
machen... Oh! so ist es, gewiß, und ich war von Anfang an verloren ...
Denn ich verstand ja nur, ihn unsinnig zu lieben, meinen Jean, und hatte
ihm Nichts weiter zu geben, als mein armes Herz! . . ."
Und während Marie mit keuchenden Worten ihrem Schmerze noch
freien Lauf läßt, siehe, da ist im Geiste Nellu Robins soeben ein Wunsch
entstanden, ach! ein Wunsch, der ihr viel Schmerz bereitet, der aber
gebieterisch, unwiderstehlich ist, nämlich: sie will auf Jean verzichten und
ihn dieser armen Kleinen zurückgeben. Sie kennt das Leben, sie weiß, was
sie aufgiebt. Mit dreißig J ahren liebte sie zum ersten Male, und es war
köstlich. Ach! es ist sehr hart, diese späte Liebesblüthe sich aus dem Herzen
zu reißen. Dieselbe wird nicht wiederkehren, deß ist sie sicher. Und nicht
allein Jean vermißt sie, sondern auch die Empfindung, die sie für ihn hegte.
Ja, es ist hart! Aber das schöne Mädchen hat alle Verderbniß gekostet,
ohne ihren Fonds von Edelmuth, ohne ihr angeborenes Gerechtigkeitsgefühl,
ihren plebejischen Sinn für Gleichheit zu verlieren. Daß ihr die fchönen,
aber duftlosen Camelien widerwärtig geworden sind, ist das ein Grund,
jenem Kinde, das da vorübergeht, sein armseliges Veilchensträußehen zu
nehmen, das nur zwei Sous werth ist, aber gut duftet? . . .
Schöne Dame, mit den drei Toiletten täglich, Sie würden ebenso
handeln, davon bin ich überzeugt. Sie tragen in Herzensangelegen-
heiten keine Eitelkeit und keine Selbstliebe hinein; und sollte der Eavalier
Ihrer besten Freundin versuchen, Ihnen den Hof zu machen, so ist Ihnen
das, ich zweifle nicht daran, im höchsten Grade unangenehm. Geben Sie
mir nur das Eine zu: daß diese Nelly Nobin, trotz all' ihrer Flecken, das
Herz ganz ebenso auf dem rechten Fleck hatte, da sie, selbst in voller
Leidenschaft, in vollem Begehren, einem I nstinete der Gerechtigkeit und des
Erbarmens gehorchte.
Nellv. hatte Marie aufgehoben, hatte sie neben sich niedersitzen lassen.
„Wollen Sie, mein Kind," sagte sie mit herzlicher Stimme, „daß ich
Ihnen jetzt einen guten Nath gebe?"
„Gewiß, Madame, aber zuvor lassen Sie mich Ihnen sagen, wie sehr
ich verwirrt bin ... Ich habe Ihnen soeben tausend Thorheiten erzählt,
und ich bitte Sie dafür recht sehr um Vergebung."
„Lassen nur das. Sie sollen mir später danken ... Die Brutalität,
womit Ihr Geliebter Sie verlassen hat, ist meines Erachtens ein Beweis
dafür, daß er in einer Augenblickslaune, in der Heftigkeit gehandelt hat
. . . Und dies ist nicht das Gewöhnliche bei ihm, nicht wahr? . . ."
„Oh! gewiß nicht ... Er ist immer so nett gegen mich gewesen!"
„Nun wohl, Sie müssen ihn wiedersehen. Ja! ich kenne die Menschen.
Zu dieser Stunde, ich möchte darauf schwören, bereut er schou, so schlecht
gewesen zu sein; denn er muß inzwischen nach Hause zurückgekehrt sein und
~26 Fianyois <~«ppee in Pari«.
dort jenes Geld wiedergefunden haben ... Sie müssen ihn so bald als
möglich wiedersehen . . . Können Sie es schon heute?"
„Ich kann zu ihn: gehen, wie ich es oft that, nach 6 Uhr, wenn ich
aus dem Geschäft komme."
„Versäumen Sie das nicht. Wollen Sie es mir versprechen? . . .
Entweder hat dieser Jean kein Herz, oder er wird erröthen über seine
Handlungsweise vor diesen schönen, ganz verweinten Augen . . ."
„Ach, Madame, hoffen Sie das? ... Oh! ich bin nicht so stolz, ich
würde schon mehr als zufrieden sein, wenn er mich nur noch ein bischen
lieben wollte, nur aus Mitleid . . . Aber ich wage selbst daran uicht zu
glauben."
„Aber ich, »nein Liebling, ich bin beinahe gewiß, das; er Ihnen emen
Empfang bereiten wird, über den Sie erstaunt sein werden . . . Also ab-
gemacht. Sie werden heut Abend zu ihni gehen . . . Versuchen Sie nur,
bis dahin nicht mehr zu weinen . . . Und jetzt umarmen Sie mich, denn
ich werde Ihnen zu beweisen wissen, wie sehr ich Ihre Freundin bin."
Und Nelly küßte sie auf die Stirn »ud verabschiedete das junge
Mädchen, das noch sehr in Unruhe war, ein wenig getröstet jedoch und von
einer leichten Hoffnung beseelt.
Bei der Rückkehr in seine Wohnnng hatte Jean auf seinem Tische die
Banknoten vorgefunden, die Marie hatte liegen lassen.
„Nah! ich werde schon machen, daß sie das Geld nimmt," hatte er
zu sich gesagt, wobei er indessen ein wenig üble Laune und einige Scham
empfand.
Aber er hatte auch nicht umhin gekonnt, zn denken:
„Diese herzige Kleine! Sie liebte mich trotzdem."
Dann hatte er aber diese unbequeme Eriunerung wieder von sich ge-
wiesen, hatte ein wenig Ordnung in sein Zimmer gebracht und schritt nun,
in nervöser Aufregung, mit klopfendem Herzen, wie ein gefangener Löwe in«
Käfig auf uud ab; er fehnte ja so heiß die Stunde herbei, den Augenblick
des Triumphes und der Liebe, da Neil» zu ihm kommen würde.
Aber um 5i>/« Uhr erschien der Portier mit einem Briefe, den ein
Dienstmann soeben gebracht hatte, ohne auf Antwort zu warten, und Jean las,
das Herz von einem Schüttelfrost durchbebt, folgende abscheuliche Zeilen:
„Erwarten Sie mich heut Abend nicht, mein lieber Poet, Weder
hent Abend, noch jemals. Behandeln Sie mich als Kokette, als eine Elende.
Verachten Sie mich, hassen Sie mich. Aber es geht nun einmal nicht anders.
Heute Morgen, nach Ihren« Weggänge, ist mir plötzlich klargeworden,
daß wir alle Beide im Begriff standen, eine große Thorheit zu begehen.
Und zwar hat mich, ich gebe es zu, eine unbedeutende Kleinigkeit ans
meinem Traume gerissen. Meine Modistin hat mir einen neueu Hut für
fünf Louis gebracht, und ich habe mich hierbei erinnert, daß folche Blumen
nicht am Fenster einer Mansarde wachsen. Nach acht Tagen schon hätte
Rivalinnen. ~2?
ich die hübschen Hüte und das Uebrige vermißt. Sie haben sich getäuscht,
ich bin nur eine Maitresse, aber eine gutes Mädchen, das Ihnen trotz alle-
dem eine große Enttäuschung erspart. Versuchen Sie nicht, mich wieder-
zusehen. Ich habe soeben ein Engagement nach St. Petersburg abgeschlossen,
wo der Großherzog, der mich vorigen Winter in einer Loge des Vaudeville
bewunderte, mich durchaus, und zwar nicht so sehr aus der Entfernung,
wiedersehen will. Aber bevor ich mich nach den Eisfeldern des Nordens
aufmache, will ich ein Sonnenbad nehmen und reise daher noch heut Abend
nach Nizza ab, wohin mich der Herzog von Evlau, ein Freund, gegen den
ich sehr ungerecht war, begleiten wird. Leben Sie wohl und viel Glück.
Ich hoffe, daß Sie in einigen Tagen, nach ruhiger Ueberlegung, nicht allzu
sehr einen« Weibe zürnen werden, die so glücklich gewesen ist, mein lieber
Poet, Ihr erstes Debüt am Theater zu erleichtern, uud die nicht aufhören
wird, sich >für die nenen Erfolge zu interessiren, die Ihnen sicherlich noch
beschieden sind.
Ihre Freundin trotz alledem Nelln Nobin."
Tiefen Brief, den Nelly im Fieber ihrer guten Negung, aber doch
mit recht schwerem Herzen und mit so mühsamer Anstrengung geschrieben
hatte, las Jean Delli, zun» zehnten Male wieder, allen Qualen der unge-
stillten Sehnsucht und tödtlich verletzten Eigenliebe preisgegeben, als Marie
ankam. .»
Obwohl der Schlüssel in der Thür steckte, hatte das junge Mädchen
doch zuerst schüchtern geklopft, ach! wie bei einem Fremden. Aber Jean,
ganz außer Fassung, hatte Nichts gehört. Sie erschien daher plötzlich, ganz
eingeschüchtert vor ihm nnd richtete zu ihrem undankbaren Freunde einen
furchtsamen und treuen Blick empor wie ein geschlagener Hnnd.
Tie ante ~elly hatte sich nicht getäuscht. In einem Gedankenblitze
verglich der phantasiereiche Mann die beiden Frauen, ihre beiderseitige
Liebe zu ihm. Wie hatte er doch diesem herzigen Kinde entsagen können
um eines eitlen und verdorbenen Frauenzimmers willen? Ihn schauderte.
Und dann kam Marie auch gelegen: sie war die Tröstung.
Jean eilte auf sie zu und preßte sie leidenschaftlich an sich.
„Vergieb mir!" sagte er zu ihr mit zitternder Stimme. „Vergieb mir,
meine, innig geliebte Marie! .'. . Du bist die Treuherzigkeit, die Offenheit,
Dil bist das schlichte Glück und die wahrhafte Liebe! Und ich stand im
Begriff, Dich zu verlassen, um einer Lügnerin, einer Elenden willen! . . .
Aber das ist ganz aus, ich schwüre es Dir! . . . Und da ich hinfort kein
Geheimnisi mehr vor Dir haben will, nimm, lies" — fügte er hinzu, indem
er ihr den Brief reichte — „und sieh, um welcher Person willen ick im
Begriff war. Dir soviel Leiden zu bereiten und eine Infamie und eine
Feigheit zu begehen!"
Marie, berauscht und wie betäubt von Glück, schwankte und ließ sich
auf einen Stuhl nieder, und während der Dichter vor ihr ans die Kniee
«°rb und SN». I.XXV. 223. 9
~23 Fian^ois Loppse in Paris, —
sank und seine vor Scham rothe Stirn in den Schooß seiner Geliebten
barg, las sie den verhängnisvollen Brief und den Namen, mit dem er
unterzeichnet war: „Nelly Robin!"
So, also um Nelly Robin hatte sie Jean verlassen wollen! Nelly
Nobin, dieselbe, der sie heut Morgen ihr Unglück anvertraut hatte! . . .
Und nun begriff Marie die großmüthige Lüge und das hochherzige Opfer
ihrer Rivalin und war gerührt bis in's innerste Herz.
VIII.
Dreißig Jahre sind nun seit damals vergangen, und die beiden alten
Freundinnen, die mir an einem lauen Nachmittage des Vorft-ühlings auf
einer Bank der Esplanade der Invaliden ihre Geschichte erzählt haben,
sind Niemand anders als Marie und Nelly.
Alle Beide aus dem Volke und aus dem Elende hervorgegangen, sind
sie auf ihr alten Tage, gedrängt durch widriges Geschick, dorthin zurück-
gekehrt.
Jean Delly erschien am Dichterhimmel wie ein Meteor: er glänzte
plötzlich hellleuchtend auf, um alsbald wieder zu verschwinden. Kurze Zeit
nach dem Erfolge seiner „Sternennacht" und des Bandes Gedichte, welcher
ihr folgte und der der litterarischen Welt die Hoffnung gab, das; ein
großer Dichter geboren sei, — wurde er krank, siechte dahin und arbeitete
nicht mehr. Kaum 25 Jahr alt, starb er, von der Schwindsucht dahin-
gerafft, in den Armen seiner treuen Marie, der er, ein Egoist bis zum
Ende, nicht einmal seinen Namen vermachte. Mit der bescheidenen Baar-
schaft, die er ihr hinterließ, miethete das arme Mädchen einen kleinen
Laden und versuchte, von ihrem Geschäft zu leben. Aber sie war weder
eine gewandte Vertauferi« noch eine sehr geschickte Arbeiterin; ihr Unter-
nehmen prosperirte nicht, und sie war überglücklich, daß sie, dank einer
geringen Summe Geld, die ihr noch blieb, eine alte Leihbibliothek im „Großen
Kieselstein" kaufen konnte, wo sie ihr Dasein fristete, indem sie gleicherweise
Schreibmaterialien wie Zeitungen verkaufte. Ihre Sinne waren ab-
gestorben am Krankenbett J eans, in den langen Nachtwachen, und ihr Herz
hatte sich bei dem letzten Seufzer des Dichters für immer geschlossen.
Uebrigens, ihr weiblicher Reiz, ganz Anmuth und Frische, verging schnell.
Nach und nach, in Folge nagender Arbeit des Kummers, der Annuth, der
Einsamkeit, ließ sie sich gehen und wurde ziemlich rasch eine alte Frau,
die in einem Umschlagetuch und einer Haube einherging.
Nelly hingegen, die bis in die Vierziger schön geblieben, setzte ihr
tolles Leben in St. Petersburg fort, als sie plötzlich vou einer Glieder-
lähmung getroffen wurde. Ihr Verfall vollzog sich rasch uud war schrecklich.
Nach Paris fast lahm zurückgekehrt, lebte sie daselbst eine Zeit lang von
den Trümmern ihres Schiffbruchs und von dem Ertrag einer ihr be-
Rivalin ne». I,2H
willigten Benefizuorstellung. Aber da sie in keiner Weise auf die Zukunft
bedacht war, so lernte sie rasch das Elend kennen. Die alten Bewunderer
waren todt oder in alle Winde zerstreut. Sie mußte bei einigen
Colleginnen von ehemals, die glücklicher oder verständiger als sie gewesen
waren, die demüthigende Rolle einer heruntergekommenen Freundin spielen,
der man hie und da einen Louis oder ein altes Kleid giebt. Bald, ach!
versagten ihr auch diese schmachvollen Almosen. Ihre allzu bittere Noth,
ihre Gebrechlichkeit wirkten abstoßend. Da, mitten in ihrer Verzweiflung
schöpfte die unglückliche Frau wieder ein wenig Muth. Sie erinnerte sich,
daß sie ja als junges Mäocheu im Eamisol gegangen und oft zum Frühstück
eine ganz gewöhnliche Wurst gegessen, die sie im Schlächterladen schmarotzt
hatte. Als ehemalige Schauspielerin konnte sie auf Unterstützung, sehr
minimale zwar, aber regelmäßige, von Seilen der Theater- Verwaltung
und einiger Wohlthätigkeitsgesellschaften rechnen. Sie verkaufte ihre letzten
galanten Lumpen, miethete in einem entlegenen Viertel nahe am Mars-
felde eine Mansarde und beschied sich damit, dort wie eine Bettelftau,
aber ohne Schande, zu leben.
So trat Nelly Nobin, der Prinzen von Geblüt zu Füßen gelegen
hatten, die aber jetzt ungefähr wie eine alte Wollkämmerin ausfah, eines
Tages, um ihr „Kleines J ournal" zu kaufen, in den Laden Maries, der
„Mutter Marie", wie man sie in der Vorstadt zu nennen pflegte.
Sie hatten sich nur einmal in ihrem Leben gesehen, aber in welcher
unvergeßlichen Stunde! Sie betrachteten einander lange, und trotz ihrer
so grausam verwüstete!! Züge erkannten sie einander schließlich am Blick,
der sich nicht verändert.
„Wer ... Sie sind die Geliebte Jean Dellus? ..."
„Sie sind Nelly Nobin!"
Und, die Kehle wie zugeschnürt, erstickend vor Aufregung, näherten sich
die beiden Frauen, faßten sich an den Händen und umarmten sich unter
Thränen.
Sie sahen sich alle Tage, um von der Vergangenheit zn plaudern.
Marie sagte jetzt Nelly, wie dankbar sie ihr stets dafür gewesen sei, daß
Jene ihr einst Schonung bewiesen; und Nelly konnte Marie gestehen, daß
jene Liebe, die sie angesichts des Unglücks ihrer Nebenbuhlerin geopfert
hatte, die einzige wahrhafte ihres zügellosen, im Grunde so traurigen Lebens
gewesen war.
Es that ihnen allen Beiden unendlich wohl, von dem theureu Ver-
storbenen zu sprechen. Sie liebten einander im Andenken an ihn. Bald
entschlossen sie sich, beisammen zu wohnen, und die gutmüthige Marie
pflegte die Gebrechliche nach besten Kräften und brachte es durch die Macht
des Beispiels nach und nach dahin, daß die einstige Eonrtisane ihre Ge-
wohnheiten der Ordnung und der Decenz annahm. Ihr beiderseitiges Un-
glück wurde vereint erträglich. Welch' sauberen und anständigen Eindruck
9»
^30 Franyois Hoppes in Paris.
machten die beiden armen Freundinnen an dem Tage, wo sie Inir ihre
Mittheilungen anvertrauten! Man hätte sie für zwei recht würdige Matronen
gehalten, ich versichere es. Nie rührend war es, wenn Marie in ihren
Händen die fast leblose Hand der Gelähmten wieder zu erwärmen versuchte!
lind wie glänzten die noch immer wundervollen Augen Nellns, die einst
ganze Säle von Zuschauern entzückt hatten, von Dankbarkeit, wenn sie aus
ihrer Freundin ruhten!
„Sie können sich keinen Begriff machen, mein Herr, von ihrer Er-
gebenheit für mich," sagte clie alte Nelly am Schlüsse ihres Berichts zu
mir. „Aber sie ist ein wahrer Schatz für mich, diese Marie . . . Und so
erfinderisch, so sparsam! Wenn wir unsere vier Sous zusammenlegen, so
leiden wir wahrhaftig an Nichts Mangel . . . Niemals eine Klage, eine
Ungeduld, obgleich ich immer krank und recht beschwerlich bin ... die
zärtlichste Tochter könnte nicht mehr für ihre Mutter thun . . . Und warum
ist sie so? — frage ich Sie. Weil ich sie einmal, das ist schon sehr lange
her, unglücklich gesehen und ein gutes Herz gehabt habe . . . Sollte man
nicht meinen, sie fühlt sich, um ein so Geringes, meine Schuldnerin?" . .
Aber die andere Greisin unterbrach sie mit einem Blick, und ich werde
niemals den tiefen, den leidenschaftlichen Klang ihrer Worte vergessen:
„Nun ja, ich bin Deine Schuldnerin, Deine Schuldnerin auf ewig!
... Du hast mir einst das gelassen, was Du mir nehmen konntest und
was Du selbst ach! niemals besessen hast, meine liebe Nelly ... Ich werde
das niemals vergessen, und ich werde niemals genug für Dich thun .~ .
Denn, sehen Sie," fügte sie hinzu und wandte mir ihr verwelktes Gesicht zu,
dem ihr Lächeln gleichwohl einen flüchtigen Reiz verlieh — „sehen Sie, ein
wenig Liebesglück in der Jugend, das ist Alles, was wir Gutes im Leben
haben, nur armen Frauen."
Illustrirte Bibliographie.
Entwickelung und Hilfsquellen. Von
v"lin. ~rlc? des' Vereinst
Der Verfasser des vorliegenden
Wertes ist hinreichend bekannt. Sein
früherer Ehef, Major von Wiss manu,
nennt ihn in einem einleitenden Worte
einen der im Afrikadienste erfahrensten
Offiziere und weist darauf hin, dah,
wenn er auch bislang nicht Zeit und Ge-
legenheit gefunden habe, die Arbeit durch-
zulesen und in Folge dessen über das
Wert selbst sttitit nickt üben könne, der
langiährige Aufenthalt des Verfassers
in Ost-Afrika, seine Stellung während
des Aufstandes, und endlich seine Thätig»
leit als Offizier der kaiserlichen Schutz-
truvvc ein werthvollcs Urtheil gewähr-
leisten: er ist überzeugt, daß dieses
Buch wie kaum ein anderes beitragen
wird zur Aufklärung der Verhältnisse
in uuseren überseeischen Besitzungen, und
daß es das Interesse an denselben stärken
nnb mehren wiro.
Das Buch behandelt im eisten
Vande Ost-Afrika und im zweiten Bande
West-Afrika und die Südsee. Ter Ver-
fasser, der aus eigener Anschauung nur
über Oft-Afrika schreiben kann, ist weit
davon entfernt, seine bort gewonnenen
Vug>>°r.ie am Tarn0». Erfahrungen zu verallgemeinern und auf
yvi. andere Eolomen zu übertragen. Er hat
vielmehr bezuglich der Sud,ce und West-Afrikas die vorhandenen Quellen gesittet und
benutzt und auch von den Mittheilungen und Beitragen seiner in den Colonicn wohl-
erfahrenen Freunde und Bekannten reichlichen Gebrauch gemacht. So stammen z B die
"32
Noid und 5ül>.
Kix-Ülcgei,
Ztallo» F»»!>«n!.
Ilu«: Nochu« Schmidt: „Deutschland» üolonien". Vciew der Vilchelfieunbe, Schall und Olund.
I llustrirle Vibliographie.
"23
Abschnitte über die Kolonien in der Südsee sämmtlich ans dei Feder des dort wohl-
bewanderten DI, Neubaur.
Im eisten Bande folgt auf eine kurze „Einführung", in der die Colonialbewcgung
in Deutschland als Ausfluß einer handelspolitischen, für die nächsten Jahrhunderte maß-
gebenden Strömung hingestellt wird, eine Geschichte der colonialcn Unternehmung Branden-
burg>Pieußens an der
WestküsteAfiitas,ein
Abschnitt, der seinen
Platz besser im zwei-
ten Bande gefunden
hatte, während das
5. und «, Kapitel des
zweiten Bandes, die
sich mit dem deutschen
Schutzgebiete in der
Südsee und auf den
S am oa-lnseln be-
schäftigen, vielmehr in
den ersten Band hin-
eingezogen werden
mußten. Den Nest
dieses Bandes füllt
dann die Schilderung
Oft- Afrillls, so weit
es den Deutschen ge-
hört. Schmidt geht
von der Erwerbung
der Colonie durch Dr.
Carl Peters aus,
legt bann ihre wei-
tere Entwickclung bis
zum Eingreifen der
Reichslegierung dar,
schildert ferner die
Niederwerfung des
Aufstandes durch
Major von Wiss-
mllnn und giebt end-
lich ein Bild von der
Colonie nach dem
deutsch>englischen Ver>
trage, wobei auch der
Abtretung der deut-
schen Schutzhcrischaft
über Witu an Eng-
land Erwähnung ge-
schieht. In sieben wei-
teren Kapiteln werden
die naturwissenschaft-
lichen, militärischen
und wirthschllftlicheu
Verhältnisse Deutsch-
Ost-Afrllas eingehend berücksichtigt und Antisclaverei, Mission und Eelonialueiwaltung
in meist angemessener Weise besprochen.
Dm grüßten Thcil des zweiten Bandes nimmt die Darstellung Tentsch-West«
Afrilas ein, wozu im weiteren Sinne auch Kamerun nnd das Togoland gerechnet werden.
Den deutscheu Missionen in diesen Colonien ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Den
Schluß bildet dann eine Darstellung der Entwickclung und Bedeutung von Kaiser
Wilhclms-Land, des Bismarck-Archipels, der Salomoris-, Marschall- und Samoa-Inseln.
Aus: Äochus Ichmidt:
„Deutschland« Eolomen".
Schall und Grund.
Verein bei Bücherfreunde,
<34
Nord und 2üd.
Beiden Bänden sin» zusammen über 200 Bilder und 8 Karten in Schwaizdruck bei
gegeben: die ersten zeichnen sich nicht immer durch Deutlichkeit aus.
Der Verfasser sieht in Bezug auf unseren auswärtigen Besitz mit ruhigem, aber
vertrauensvollem Blick in die Zukunft. Bezeichnend hierfür ist z. N. seine Ansicht über
Deutsch'West-Afrila. Diese erste deutsche Kolonie hat eine schwere Zeit im eisten lahrzeh >t
ihres Bestehens durchgemacht, aber sie hat nunmehr die größten Schwierigkeiten übeiwu»den:
die Zeit der friedlichen Arbeit, der eigentlichen Aussaat ist jetzt gekommen, und gerade
hier ist eine gute Ernte zu erhoffen, da diese Colon« in einem Punkt alle anderen über-
trifft. Sie bietet dem deutscheu Ansiedler Gelegenheit, wenn auch nur durch Ernst und
Arbeit, sich und seinen Nachkommen dauernd eine deutsche Heimat über dem Oecan an
der Grenze der Tropen zu schaffen, wo er nicht vergessen ist, sondern unter dem Schutze
einer örtlichen deutschen Regierung sein deutsches Wesen, seine deutsche Art und Sitte
sich und seinem Vatcrlande erhalte» kann, —
Wir stimmen, im Ganzen genommen, dem Urtheile Wissmanns über den inneren
Werth des Buches bei, wünschen aber bei ferneren Aufligen den sprachlichen und snntac«
tischen Ausdruck, der an manchen Stellen viel zu wünschen übrig läßt, einer gründ»
liehen Verbesserung unterzogen. U. ~.
Bibliographische Notizen.
Ovnnorifz der Psychologie auf expen»
mcntcU« Grundlage. Dargestellt von
OswaldKülzc, Prioatdocenten an der
Universität Leipzig. Mit 1« Figuren
im Texte. Leipzig, Verlag von Wil-
helm Engelmann.
Külze, gegenwärtig Professor der Philo-
sophie an der Universität Würzburg, ist
ein Schüler Wunbts. Ihni ist, und mit
Recht, die Psychologie leine philosophische,
sondern eine Erfahrungswissenschafr. Wohl
huldigen allen neueren Psychologen diesem
Grundsatz!, noch nie ist aber die Seelen»
lehre so conseanent von aller metaphysischen
Spccullltion befreit und ausschließlich als
eine Physische Wissenschaft behandelt worden,
wie von Külze. So läßt er die Frage,
was die Seele ist, ganz aus dem Spiele;
ein tiansccndentlllcs Bewußtsein, eine
substantielle Seele, ein immaterieller Geist
und Aehnliches sind ihm nicht Vorwürfe
wissenschaftlicher Erörterung, weiden daher
ganz außer Acht gelassen und in das Gebiet
der Metaphysik verwiesen. Bezeichnungen,
wie die erwähnten, sind ihm nichts Anderes
als Ausdrücke, welche dassemae an den Er-
lebnissen andeuten sollen, was von erlebenden
Individuen abhängig ist. Die subjeetwen
oder subjectioirten Vorgänge, Bewußtsein«'
thatsachen, psychischen oder geistigen Zu-
stände haben für ihn nur diesen Sinn, und
das Bewußtsein, die Seele oder der GM
stellen uns die Summe aller solcher Er»
scheinungen in unserem Eprackgcbrauche
dar. So ist dem Verfasser die Psychologie
eine vollständige Beschreibung der von er-
lebenden Individuen abhängigen Eigen-
schaften der Erlebnisse. Dazu gehören nicht
nur solche, die leinen objecliven Zusammen-
hang darstellen, also lediglich individuelle
Zustände sind, wie Affccte, Triebe und
dergleichen, sondern auch Thatsachen, die
zugleich ein vom Indimduum unabhängiges
Verhalten aufweisen und somit auch einer
naturwissenschaftlichen Untersuchung anheim-
fallen, wie die Vorstellung so bjecte mit ihren
raum-zeitlichen Beziehungen. Von diesem
Standpunkte aus behandelt Külze zunächst
die Elemente des Bewußtseins, wobei er
sich ganz besonders der experimentellen
psycho-physischen Methode befleißigt. Als
Elemente des Bewußtseins betrachtet er die
Empfindungen, als welche er diejenigen
einfachen Bewußtseinsuorgänae, deren Ab-
hängigkeitsbeziehunge» zu bestimmten ner-
vösen Organen in Peripherie un) Eentium
des Gehirns stehen, ansieht, und die Ge-
fühle, die sich als Lust und Unlust charalte»
risiren. So haben die Gefühle leine oojective
Bedeutung neben ihrer psychologischen, sie
sind etwas rein Subjcctiucs, während die
Empfindungen auch eine dem Subjcct
unabhängige Seite aufweisen. Bei den
Empfindungen sind Qualität und Intensität
zu unterscheiden. Der eigentliche Rcichthum
unseres Seelenlebens deruht hierauf. So
kann man etwa 13 NUN unterscheidbaie
Qualiläten der Empfindungen unterscheiden,
deren Zahl noch durch die mannigfaltigen
Eombinationen dieser Elemente und durch
die unterscheidvaren Zustände, in denen
iede Qualität nach ihren Eigenschaften ge»
Vibliogiaphische Notizen.
535
geben sein kann, wesentlich «höht wird.
Ganz außerordentlich arm erscheint gegen-
über der Empfindung der qualitative Be-
stand der Gefühle, die sich nur in die beiden
Gruppen der Lust- undUnlustgefühle scheiden
lassen. — In einem zweiten Theile wird
dann von den Verbindungen der Bewußt-
seinselementc gehandelt, die uns als Ver-
schmelzung und als Verknüpfung entgegen-
treten. Jene ist dadurch charalterisirt,
daß die Analyse der in ihr enthaltenen
Elemente durch die Verbindung erschwert,
diese dagegen dadurch, daß die Analyse der
von ihr enthaltenen Elemente durch die
Verbindung erleichtert ist. Vei dm Ver-
knüpfungen werden taun räumliche und
zeitliche unterschieden und deren Eigenschaften
und Beziehungen erörtert. Ein dritter
Theil des Werkes beschäftigt sich endlich
mit dem Zustande des Bewußtseins, wobei
noch die Frage des Willens und des Selbst-
bewußtseins, sowie Schlaf, Traum und
Hypnose zur Sprache gebracht werden.
II. 0.
Grundzüge der pliysiowgischc« Psycho-
logie. Von Wilhelm Wunbt, Pro«
fessor an der Universität Leipzig. Vierte
umgearbeitete Auslage. Zwei Bände.
Erster Band mit 143 Holzschnitten.
Zweiter Band mit 94 Holzschnitten.
Leipzig, Verlag von Wilhelm Engel-
MIINN.
Zwei J ahrzehnte sindnunmehr verflossen,
seitdem Wilhelm Wundt mit seiner physio-
logischen Psychologie vor die Oeffentlichteit
trat. Es war im Jahre 1874, als das
Werl zum ersten Male erschien; seitdem
hat es vier Aussagen erlebt und einen Welt-
ruf erlangt, ist es doch ein »timäai-cl wnrlc,
wie wir auf diesem Gebiete lein zweites
besitzen. Die experimentelle Methode, die von
Ernst Heinrich Weber in genialer Weise in
die psychologische Forschung eingefühlt und
von Fechner systematisch ausgebildet worden
ist zu ü, Zwecke der Ergründung der Wechsel-
beziehungen zwischen den physischen und
psychischen Vorgängen de« Lebens, sie ist
von Wundt in einer Weise entwickelt und
vervollkommnet worden, daß die »Leipziger
psychologische Schule" heute die Hegemonie
ausübt. Wenn auch Manches von der Lehre
Wundts noch problematisch ist, Manches
Widerspruch herausfordert, so hat er doch in
seinen „Grundzügen der physiologischen
Psychologie" ein Werk von eminenter Be-
deutung, von klassischem Werthe geschaffen,
ein Wert, das wohl fundirt und fest ge-
fügt ist, dessen Grundpfeiler sicher stehen,
wenn auch der innere Ausbau noch manche
Veränderungen nothig machen wiro. Dies-
seits wie jenseits des Oceans, in der alten
wie in der neuen Welt, hat Wundt begeisterte
Anhängergefunden, noch nie ist ei» Psycholog
bei aller Gelehrsamkeit, wir mochten sagen,
so populär gewesen, als Wundt, allerdings
nicht von einer Popularität, wie sie Bulwer
meint, wenn er sagt: »Wir werden populär,
indem wir affectiren, ärmer an Geist zu
sein, als wir wirklich sind," sondern von
einer Popularität, wie sie auf biologischem
Gebiete Darwin, oder auf allgemein natur-
wissenschaftlichem Alexander von Humboldt
errungen haben, einePopularitätdieFührer-
schuft bedeutet. Wenn nun auch die An-
schauungen Wundts in den betreffenden
K«ise,i sattsam bekannt sind und auch in
einem Essay in diesen Blättern bereits der-
selben eingehender gedacht worden ist, so
hat es eine besondere Äewandtniß, wenn
wir der neuen Aussage seiner „Grundzüge
der physiologischen Psychologie" hier Erwäh-
nung thun, indem das Werk nicht nur iu
allen Theilcn eine gründliche Umarbeitung
erfahren hat, sondern indem ihm auch
in einem speciellcn Punltc eine wesentliche
Ergänzung und Erweiterung zu Theil ge-
worden ist, durch die es namentlich für den
Forscher werthvoller geworden ist und an
Brauchbarkeit für denselben außerordentlich
gewonnen hat. Iu den zwei Jahrzehnten
von Wundts Thütigleit auf psycho»
physiologischem Gebiete hat sich für die
betreffenden Untersuchungen eine eigenartige
Methodik herausgebildet, wie sie in Wundts
Laboratorium geübt wird. Dieser ver-
änderten Lage ist nun dn Verfasser in der
neuen Aussage des Werkes durch eingehen-
dere Ecürtemng der principicllen methodo-
logischen Probleme und durch eine genauere
Beschreibung der wichtigsten technischen Hilfs-
mittel gerecht geworden, wodurch er gewiß
Vielen, namentlich denen, die sich mit psycho-
physiologischen Forschungsarbeiten beschäfti-
gen, einen großen Dienst erwiesen hat.
Nicht unerwähnt wollen wir hierbei lassen,
daß auch die Verlagshandlung, die seit
ihrem Bestehen eine besondere Ehre darin
gesucht hat, nicht nur bedeutende wissen-
schaftliche Werke herauszugeben, sondern
sie auch in möglichster Vollendung erscheinen
zu lassen, daß die Verlagshandlung, sagen
wir, die Erreichung des genannten Zweckes
durch reichere Ausstattung des Werkes mit
gut ausgeführten Holzschnitten in dankens»
wcrthester Weise gefördert hat.
11.0.
536
Nord und Süd.
Asten und Europa. Nach altägnvtischen
Denkmälern von W. Max Müller. Mit
einem Vorworte von Georg Ebers.
Mit zahlreichen Abbildungen inZinlotvpie
und einer Karte. Leipzig, Verlag von
Wilhelm Gngelmann,
Wir haben hier das Werl eines jüngeren
Aegyptologen vor uns, der sich bereits
manche Sporen auf dem Gebiete gelehrter
Forschung verdient hat. Waren seine bis-
herigen Arbeiten ausschließlich seiner Fack-
disciplin gewidmet und schwersten Kalibers,
so wendet er sich in dem vorliegenden
Buche an einen weiteren Leserkreis. Der
Geschichtsforscher, der Geograph und Ethno-
graph, wie der Kunsthistoriker und Archäo-
loge, finden nicht nur außerordentliche
Anregung in dem Werke, sondern auch Be-
friedigung. Ein reiches und wcrthvolles
Material ist hier kritisch gesichtet mit grülter
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zusammen-
getragen worden, worauf dann der Ver-
fasser das Gebäude der eigenen Schluß-
folgerungen errichtet, die nicht seilen von
den althergebrachten und breitgetretenen
Wegen abweichen, so bah auch dem Weile
eine außergewöhnlich originelle und neue
Ausblicke eröffnende Seite eigen ist, wob,i
der Verfasser zwar kühn und mit viel
selbstbewußter Energie zu Werke geht, ohne
sich jedoch auf gewagte, in der Luft
schwebende Svecullltionen einzulassen. Von
ganz besonderem Interesse sind die Ergeb-
nisse des Verfassers für Länder- und Völker-
kunde; in dieser Beziehung ist noch kein
Werl vorhanden, das dem von Müller
ebenbürtig an die Seite gestellt werden
könnte. Einzelsorschungen giebt es wohl
nach dieser Seite hin mehrfach, allerdings
oft sehr verborgen und namentlich für
weitere Kreise, worunter wir nicht Laien
in der Wissenschaft verstehen, aber nickt
Aegyptologen, sckwer zugänglich. Ter Stoff
hat aber nicht allein für letztere Bedeutung
und würde nur zum kleineren Theil vcr-
wcrthct sein, gelangte er nur in die Hände
dieser. Das Wert ist aber nicht nur da-
durch von Wichtigkeit, daß es das sehr zer-
streute und vielfach vergrabene Material
zu einem G.»nzcn vereint, sondern auch durch
dessen Deutung. Zwardürftees hier manchem
Widerspruche begegnen, zumal es sehr
selbststandig und ohne viel Rücksicht auf
Anderer Meinungen zu nehmen, vorgebt.
Dies wäre nun, wenn die entgegengesetzte
Ansicht wohl begründet wird, sehr löblick,
vorausgesetzt, baß dabei auch die gehörige
Form und der schicklich« Ton gewahrt
bleiben. Nun ist Müller allerdings außer-
ordentlich vorsichtig, nicht leicht wird er sich
eine Blöße geben, von geistreichen, aber leicht-
fertigen Conjecturen hält er sich fern, und
wenn einmal eine Schlußfolgerung auf nicht
allzu festen Füßen steht, so ist davon wohl
Niemand mehr überzeugt, als er selbst, den
bann freilich auch die Schuld nicht trifft,
sondern die Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit
der lleberlieferungcn. Er ist sich aber auch
dieser seiner Vorzüge bewußt und macht von
diesem Bewußtsein ausgiebigen Gebrauch.
Wir bedauern, auf Einzelheiten des ebenso
gehaltvollen, wie gedankenreichen Werkes
hier nicht näher eingehen zu können, es ist
eine überaus verdienstvolle Arbeit, sowohl
durch die mit peinlicher Sorgfalt erzielte
Vollständigkeit im weitesten Rahmen, wie
durch die wissenschaftliche Verwerthung des
Materials, die immer einen gewaltigen
Reiz ausübt, auch wenn man der Ansicht
des Verfassers nickt beistimmen kann, und
zur Polemik herausfordernd wirkt, wodurch
die anregende Wirkung des Buches außer-
ordentlich gesteigert wird. Nur beipflichten
können wir Müller, wenn er am Schlüsse
seines Vorwortes bemerkt: „Mein verehrter
Lehrer Georg Ebers hat diese mühevolle
Arbeit mit so Ihätigem Interesse verfolgt
und gefördert, daß es mir doppelt eine
Pflicht der Dankbarkeit schien, seinen Name»
auf das Widmungsblatt zu setzen. Tank
schulde ich auch der Verlagsbuchhandlung,
welche die großen Koste» der Veröffentlichung
llusschlies>lich getragen hat und den anstelligen
ketzern ter Tiuaulin'schen Druckerei in
Leipzig." Es ist nur recht und billig, daß
hier auch der Verlagsbuchhandlung und
Druckerei rühmend Eiaähnung gethan wird,
beide haben sich um die Ausführung des
schwierigen und Oofer erhaschenden Werkes
nicht geringe Verdienste erworben.
II. 0.
Anti. — ßrsccolo's 2ynan«»e. — Ter
bM'!Nlic»;igc Vruder. — Von Hein-
rich «t c i n e n (H, Z> o r k). Dresden, Leip-
zig und Wien, E. Pierson.
Die im Geiste religiöser Toleranz ver-
faßten Novellen sind inhaltlich sehr an-
sprechend geschrieben, ebenso ist an ihnen
zu rühmen, daß jedes lästige Vorbringen
einer Tendenz vermieden ist, — nur die
Form, in welcher sie uns geboten weiden,
laßt Manches zu wünschen übrig, stilistische
Nachlässigkeiten und sprachliche Unschön»
heilen sind uns wiederholt aufgefallen.
Vibliogrllphische Notizen.
53?
Voran die Liebe. Von S. Flitz. Kleine
Geschichten. Dresden und Leipzig, Carl
Reißnei.
Die kleinen feuillctonistischen Plaude»
reien sind ebenso unterhaltend, wie stilistisch
elegant geschrieben und erscheinen uns muster«
giltig für das Genre, dem sie angehören.
MI.
Zwischen zwei Nächten. Neue Gedichte
von Gustav Falle. Stuttgart, Co tra-
sche Buchhandlung.
Schon der Umstand, daß der alt-
rcnommirte Verlag von ssotta das neue Büch-
lein des Hamburger Dichters in Verlag
genommen hat, beweist, daß wir es hier
mit einem ganzen Mann zu thun haben,
einer Persönlichkeit, welche sich erbebt über
das Gros der Lyriker. Und in der That,
Falte rcpiäsenlirt eine Eigenart, ebenso weit
entfernt von den Gefühlsausbrücten der
lyrischen Dichter älterer, Wieron den himmcl-
stürmenden, phrasenvollen, Welt- und form»
verachtenden Gaben neuerer Richtung. Es
ist ein gewaltiger Fortschritt, den er seit
seinem ersten Buche »Tanz und Andacht"
gemacht hat. Verrieth sich auch dort schon
der begabte Poet, so war doch Manches
noch unabaeNäit, manche Vorwürfe der
dichterischen Behandlung nicht ganz würdig
und wiedcrManches in den mystischen Schleier
gehüllt, den jetzt die moderne Poesie und
die moderne Malerei so sehr lieben. Bis
auf wenige Ausnahmen hält sich „Zwischen
zwei Nächten" von mystischen Gcdm.ken
frei. Eine volle, eigenartige Persönlichkeit
tritt uns hier entgegen, eine wunderbare
Zartheit der Naturauffassung und bei allem
Pessimismus, der des Dichters Seele er-
griffen hat, doch eine versöhnliche Weltweis»
yeit, welche jede einzelne poetische Gabe
abgeklärt erscheinen lassen.
So kommt auch der Humor in dem
Vuche zu seinem Rechte, („Deutschland über
Alles", „DieConcurrcnten", „Am Himmels»
thron"), wenn er auch nur mit einem Auge
lacht und im anderen die Manncsthräne
zeigt.
Daß die Form tadellos ist, versteht sich
bei Falle ron selbst; und der Dichter besitzt
auch die seltene Kunst, mit kurzen Strichen
unendlich viel zu sagen. Es sei gestattet zur
Chi Ii lllterisiru ng des Dichters, — (der den
Lesern dieser Zeitschrift durch die im J uli-
Hefte veröffentlichten Dichtungen bereits
auf's Vortheilhllfteste bekannt geworben ist.
D. Red.) — eine kurze Probe zu geben:
Zwiegespräch.
<5!n müde« Auge, ein« liihlc Hand,
Ein güt'gei Mund mit einem leisen Zug
Von Schemel«!, <5r war«, der vor mir stand,
Den Ich von je alz Freund in» Herzen trug.
Ich lomm' zu mahnen, sprach sein sanfte« Wort.
Sei guten Muthe«, «en» wir Lehn, Du weiht,
E» ist nach einem stillen Frieden«»«,
Und dat! »>an, die d » It wohnen, selig pnist.
Zuvor tisch' ich «in müde» Flackerliclt,
Nüsse »»» einer tranken Stirn den Schmerz,
Vin Kind Vin Held, tliu «lautlich Angesicht.
Ein Iraiserhermelin, sin Mörderherz.
„Gewaltiger, letzt siehit 3» schrecklich »»«!'
Wie auch mein Thun Dich ängstigt, ich bin gut.
Zerstreute Kinler Hot' ich euch räch Hau«,
Daß wieder ihr im Schoh der Mutter ruht.
<5>n verlorenes Leben. Lyrisches Epos.
Vontzugo Kegel. Dresden, E.Pierson.
Es sind kleine Gedichte verschiedensten
Genres, welche zusammen die Schilderung
eines verfehlten Daseins geben: darunter
echte PerltU deutscher Lyrik, welche an die
früheren Schöpfungen desDichters in seinem,
bereits in vierter Auflage erschienenen Buche:
„Gegen den Strom" erinnern. I«.
LinßeMnLene Li!c!,er. LLZprecItUu^ »Itcli HuH»lt!il «sei- Ke,l«eUon vulbeliuiteu.
vlu, 2«ilin»Ui>«ll in lätt«i»t<ur, Hn»i5
>VII!t,
2>«~v«l«l, Orl, >v<.>tte,ku<:liHII, l>wKtt»«>«:
Ki-tllüone ?»8«. »it 24 ,~»,!>>lc!u,!ß<:n. vrexlen,
D«il«l>«lil»,itcl» lt~li!n««i«,«f« llj?0 — 71. In
Nord und 2üt>.
D»» usus "u««»»«iu» XIIIIIII«!"»«» IN
Xllln»», l>[°<5li°li, 8„ lliüißo L,»„l«, !,u«l!lpiol,
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November l,8Y5.
Inhalt.
!N. ötona auf schloß ötrzebowitz (<vesterr.>5>chlesien).
Nur zwei Veilchen. Novelle !, 3H
Alfred ötoeßel in Dresden.
wolfzang «irchbach - "0
tudwig lacobowski in Verlin.
Gedichte "76
Rudolf von Gottschall in leipzig.
Die lüngstdeutschen des achtzehnten Jahrhunderts "78
<L. Maschke in Breslau.
Rußland in Centtalasien 2IX)
Alexander Tille in Glasgow.
Thomas Huxley 222
Hans Hermann in Breslau.
Modeblnmen 25 "
Richard Beck in Zwickau i. 5.
Mont Saint Michel, <Lin Reisebild 259
Bibliographie 26"
leremi« Voühelf, Auigewilhüe werte. (Mi! I llusti» ! I « nen)
Vibliographische Notizen 2Ü9
hierzu ein Portrait: Wolfgang tlirchbach.
Radin»ng von Johann lindner in München.
,ll»l> n»l> sld ' nlcheln! «m Anfang jede, Man»»» !n heften IN« i« einer «»nflbellag».
— " pie!» p« <D»«I«»I (« Y»N»> » M»»l. """
Uli, snchhandlnngen »nd postanstaüen nehmen i«d«l»it Vestellnngen an.
Alle auf den redactionellen Inhalt von "Mord und Süd" be,
züglichen Sendungen sind ohne Angabe eines Personennamens zu
richten an die
Redaction von „Oord und Süd" Breslau.
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Aord und Süd.
Cine deutsche Monatsschrift.
Herausgegeben
ron
Paul tindau.
I.XXV. Vand. - November "895. - Heft 224.
(Mit einem poriloi, in «odilung- wolfgang Rilchbach,)
Breslau
5chles<sche Vuchlüuckelei. «nnst. und ve rlags.Aüstalt
v. 2. 3chottlaender.
EMPTY
MM
H,yv<'2
2~lur zwei Veilchen.
Novelle,
von
M. Stonll.
:chloß -tizebswih (Vesteir.-chlesien).
^losepha war eine süße, liebe kleine Frau, nicht gerade glücklich,
aber auch nicht unglücklich. Ihr Leben floß in der Ungewissen
Dämmerung dahin, die dein Morgen oder der Nacht vorangeht,
Ihr Gatte, Gerhard Hiller, war zu Zeiten so übelgelaunt und ver-
drießlich, daß sie es manchmal bereute, ihn geheirathet zu haben. Doch
konnte sie Niemand einen Vorwurf macheu, denn sie hatte sich ihr Schicksal
selbst gewählt. Ihr Vater und ihre Geschwister — die Mutter war schon
lange gestorben — warnten sie vor der Ehe mit dem um zwanzig labre
älteren Manne', sie aber hörte auf Keinen. Gerhard schwnr, daß er sie
auf den Händen tragen wolle, uud sie glaubte es ihm.
Das junge Paar nahm seinen Wohnsitz auf Hillers Landgut Altdorf
in einer österreichischen Provinz.
Schon die Flitterwochen bereiteten Joseph« manche Enttäuschnng. Der
Hagestolz, der sich spät entschließt, eine Ehe einzugehen, bringt seiner Fran
als Morgengabe ein ganzes System verknöcherter Gewohnheiten und Eigen-
heiten mit, für das er eiue liebevolle Rücksicht als etwas Selbstverständ-
liches verlangt. Um losepha das Studium seiner Launen zn erleichtern,
beeilte sich Gerhard, sie sogleich mit ihnen bekannt z» machen.
Sie fand bald, daß er eine zum Mindesten eigenthümliche Art habe,
sie auf den Händen zn tragen. Hatte sie irgend ein Nersäumuiß verschuldet,
war eine Schleife ihres Kleides ungeknüpft, stand das Mittagessen um füuf
Minuten zu spät auf dein Tisch: so konnte er außer sich gerathen uud
schmähen, als ob sie ein Verbrechen begangen bätte. Anfänglich wollte sie
10*
~0 N. Ltona in Strzebowitz (Vefterr.-Schlesien).
verzweifeln. Doch als sie sah, daß er wegen jeder Kleinigkeit in die gleiche
Aufregung gerieth, stumpfte ihre Reue sich ab, und sie nahm die Ausbrüche
seines Zorns gleichgiltig hin.
Gerhard gehörte zu jeuen Männern, die klng genug sind, ihrer Übeln
Lauue nur vor ihrer Frau die Zügel schießen zu lassen, in Gesellschaft aber
stets heiter, gesprächig und unterhaltend erscheinen. Wenn sie besonders
gut aufgelegt sind, werden sie sogar witzig. Solche Männer bleiben ihrer
Frau gegenüber stets im Vortheil; denn wenn diese unter dem Druck der
kleinlichen Quälereien, die sie zu Hause erduldet, einmal es wagt, ihrem
Gebieter vor Zeugen ein heftiges Wort zn sagen, so läßt er es mit der
Miene eines Märtyrers über sich hinbrausen, wohl wissend, daß Alle, die
es gehört, auf feiner Seite stehen werden. „Welche unbefonnene Frau!
Der arme Mann mag bittere Stunden erleben!"
Joseph« hatte ihrem Gatten — vielleicht noch mehr sich felbst — ein
Düchterchen geschenkt, und das kleine Wesen füllte ihr ganzes Herz aus.
Ihm erzählte sie ihr Leid nnd ihre Freuden, als es noch wie eine ge-
schlossene Blume in seinem Vettchen lag, und wie es später die Aermchen
um ihren Hals schlang, da war es ihr, als ob ihr in dem Kinde eine
zärtliche Freundin heranwachse.
Indessen follte ihr bald vom Schicksal eine zweite Freundin zugeführt
werden, die an Jahren, Erfahrung und weltlicher Klugheit J oseph« weit
überlegen war.
Sie hieß Helene von Wallheim. Ihr Mann, ein reicher Fabrikant,
war das genaue Gegentheil von losephas Gatten: still und verschlossen in
großer Gesellschaft, doch von liebenswürdiger Gesprächigkeit in vertrautem
Kreise, dabei jung, kraftvoll und gütig, mit einem für einen Mann fast zu
weichen Gemüth. Cr betete Helene an; sie erfchien ihm als das Muster
jeder Vollendung. Und Helene war es zufrieden.
Sie liebte Heinrich auf ihre Art. Nicht blind nnd abgöltifch, nicht
heiß nnd leidenschaftlich, fondern mit ruhiger Zärtlichkeit. Sie war sich
über feine Fehler und Vorzüge ganz klar nnd wog die einen gegen die
anderen mit Ueberlegnng ab.
Nnd weil feine Vorzüge zu jenen gehörten, die ihr sympathisch waren
— es gab auch solche, die sie nicht leiden konnte, z. N. eiserner Fleiß und
(Konsequenz — seine Fehler aber, die «llzngroße Nachgiebigkeit und der Hang
zur Verschwendung, sehr leicht sich ertragen ließen, war sie mit Heinrich
vollkommen zufrieden. Erfchmückte ihr Leben mit Kostbarkeiten, sie
schmückte das seine mit ihrer frühlichen Laune.
Sie war viel zu klug, sich ihm je mürrisch oder verdrießlich zu zeigen,
vielleicht auch zu eitel dazu; denn sie liebte ihre Schönheit weit mehr als
ihren Galten. Ihre Schönheit war von jener eigenen Art, die wie ein
Zauber in einem Gesichtchen aufzuleuchten vermag, das uns fönst blaß und
mwedenteno erscheint. Der Geist ist es, der all die anmuthigen Linien
Nur zwei Veilchen,
weckt und das Antlitz gleichsam von innen heraus erblühen läßt. Helene
wußte in solchen Augenblicken genau, wie sie aussah, wußte, daß sie un-
widerstehlich war.
In den Maitagen des Jahres 1892 bereitete ihr Gatte ihr eine
freudige Ueberraschung. Er kaufte ihr eine Villa auf dem Lande. Sie
fiel ihm dafür um den Hals und nannte ihn ihren lieben, einzigen Heinrich.
Nachdem Helene mit Gatten und Dienerschaft — Kinder hatten sie
nicht — in das neue Sommerheim übersiedelt war, hielt sie Umschau in
der lieben Nachbarschaft.
Es kam die große Frage, mit wem man verkehren sollte. Frauen,
unbedeutende, geschmacklose Landfrauen, reizten Helene gar nicht. Eine
«der die andere wollte sie ertragen, wenn es des Mannes wegen sich lohnte
— mehr absolut nicht.
Sie war der Ansicht, daß ein dummer Manu noch immer mit seinem
Verstände für eine Plauderei ausreicht, während die beschränkte Frau zu
einem lebenden Bleigewicht wird, das Einen unbarmherzig in die Tiefen
oer Langenweile zieht.
Es traf sich vortrefflich, daß Wallheims gleich bei der ersten Orientirungs-
reife in die nächste Stadt einem alten Studiengenossen Heinrichs begegneten,
der mit seiner jungen Frau nur eine Stunde von der Villa entfernt lebte.
Es war Gerhard Hiller. Gerhard war in vorzüglichster Stimmnng, und
seine Einfälle entzückten Helene. Man beschloß, gute Nachbarschaft zu
halten. Helene besorgte heimlich nur Eines: daß Hillcrs Frau eine gnr
zu langweilige Provinzlerin sein werde.
Zwei Tage später wurde der Besuch iu Altdorf gemacht.
„Gott, wie geschmacklos!" sagte Helene sich, als sie losepha erblickte.
„Himmel, wie elegant!" dachte losepha.
Man ließ sich um einen runden Familientisch nieder. Gerhard war
in seinem Element. Sein Geist phosphorescirte förmlich. Er unterhielt
feine Gäste, indem er kleine Anekdoten von seiner Fran zum Pesten gab.
losepha war an diese Erzählungen gewöhnt, die dem Gespräche auf ihre
.Kosten einen pikanten Reiz gaben, dennoch verletzte sie heute diefer Tou.
Sie besorgte nicht, lächerlich zu erscheinen; allein sie fürchtete, die Oede
ihrer Ehe könnte errathen werden. Auch schien es ihr nicht die richtige
Art, Frau von Nauheims Interesse zu erregen, au dem ihr so viel lag.
Für ihr Leben gern hätte sie mit der schönen, weltgewandten Dame ver-
kehrt, Sie kam sich unscheinbar neben ihr vor, die Worte fielen ihr
so blöde von den Lippen, und bewundernd blickte sie auf .Helene, die fo
anmuthig plauderte, so graziös sich zurücklehnte und es sich gar nicht
merken ließ, daß sie ein neues Kleid trug, — ein Ereigniß, das man allen
Nachbarinnen aus der Provinz nnf den ersten Blick ansah.
Auch Helene fühlte sich zu losepha hingezogen — um der Vewuuderung
willen, die unverhohlen aus den Augen der kleinen Fran sprach. Sie bätte
~2 M. 5tona in Ltizebowitz (Vestetr.«2chlesien).
gern init ihr allein geplaudert, denn daß losepha in Gegenwart ihres
Gatten befangen war, hatte sie auf den ersten Blick gemerkt. Eine Frage
nach dem Garten brachte den erwünschten Erfolg: Gerhard schlug einen
Spaziergang vor.
Die beiden Frauen gingen mit einander, und Joseph« schien nun
aufzuathmen. Alles, was sie sagte, trug den Zauber einer ungesuchten
Originalität,
„Haben Sie uiel Verkehr in der Umgebung?" fragte Helene.
„Leider nicht, und das ist so schade, denn ich habe das Glück, daß
mir so viele Menschen gefallen!"
Sie weiß gar nicht, wie herzig sie ist, dachte Helene.
Fast zu lange dauerte die erste Visite, und beim Abschied versprach
man, einander oft zu besuchen.
„Aus dieser Joseph« ließe sich viel machen," sagte Helene bei der
Rückfahrt. „Ich glaube, es wäre nicht schwer, ihr die Provinzlerin ein
wenig abzuschleifen."
„Wenn sie nur hübscher wäre," meinte Heinrich.
„Hübsch? Si~ könnte es dazu bringen, reizend zu sein. Es liegt so
uiel in ihr, aber es müßte erst geweckt werden. I hr Männer ahnt ja gar
nicht, daß sogenannte Schönheit oft nur eine geschickte Vereinigung zahlloser
Künste und einiger bescheidener Gaben der Natur ist. Eine Frau muß ihre
Vorzüge und ihre Schwächen kennen und jene zu heben, diese zu verbergen
verstehen. Die arme Joseph« aber ist sich weder der einen noch der andern
bewußt. Sie lebt hin, wie eine geschmacklose Schneiderin sie verzeichnet,
und frisirt sich, als ob sie. ihre eigene Köchin wäre. Trotzdem gefällt sie
mir viel besser als ihr Gatte."
„Wie? Gerhard ist doch ein famoser Mensch!"
„Wie man's nimmt. Ein Mann, der es wagt, in Gesellschaft die kleinen
Schwächen seiner Frau zu geißeln, ist der geborene Haustyrann unter vier
Augen. Wie froh bin ich, daß Dn nicht so bist, Heinrich!" lachte sie und
wandte ihm ihr rosiges Gesicht zu.
„Aber Gerhard ist so witzig, und das bin ich leider nicht," sagte er.
„Dafür bist Du gut, und das ist mir tausendmal lieber."
II.
Zwischen Altdorf nnd der Villa entspann sich ein lebhafter Verkehr.
Da Helene fühlte, daß losepha noch immer eine kleine Scheu vor ihr habe,
trug sie ihr das Du an. losepha war selig, und in ihre Beziehungen zu
Helene trat nun eine innige Vertraulichkeit. Wie unter Freunden der eine
Dheil immer der Dominirende ist, so war es auch hier, losepha unter-
warf sich vollkommen den, überlegenen Nrlheil Helenens, ließ sich von ihr
Alles sagen und nahm sogar ihre Rügen mit dankbarem Lächeln hin.
Nur zwei Veilchen. I .H3
Einmal traf Joseph« Helene vor dem Toilettetisch, ihr blonde? Haar
ordnend.
„Nein, wie geschmackvoll Du Dich frisirst," rief sie „und — und
hast doch —
„Viel weniger Haar als Du, willst Du sagen?" vollendete Helene
lachend. „Ja, siehst Du, Kind, nicht die Fülle, der Geschmack ist ent-
scheidend. Setze Dich einmal nieder, ich will Dir zeigen, wie man es
macht." Und in wenigen Almuten veränderte sie losephas Aussehen auf
das Vorcheilhafteste, indem sie ihr Haar in einen prächtigen Knoten schürzte
und an der Stirn, wo es früher straff augespannt gewesen, in leichten
Wellen empor hob.
„Du verstehst aber auch Alles!" rief Joseph«.
Nun hüllte Helene sie in ein Morgenkleid ans weicher rosa Seide
und führte sie vor den Spiegel. Joseph« erruthete vor Vergnügen, als sie
sich erblickte.
„Siehst Du, wie entzückend Dir helle Farben stehen! Du kleidest
Dich wie eine Matrone. Unter uns gesagt: Du vernachlässigst Dich sogar.
Wenn ich an Deinen grauen Schlafrock denke, in dem ich Dich letzthin
überraschte — brr! Wie kannst Du hissen. Deinem Mann zu gefallen,
wenn er Dich mit abgerissenen Nandschleifen und fehlenden Knöpfen sieht?"
„Cr sieht mich ja gar nicht an!"
„Das begreif ich. Glaub' mir, Joseph«, wir Frauen sollen stets auf
unser Aeußeres achten. Die Männer sind eitler auf uns, als wir es
ahnen, und wenn wir aufhören, uns zu schmücken, fangen wir an, sie zu
langweilen. Es ist viel besser, man sieht wie die Tochter seines Gatten
aus, als wie seine Mutter."
„Ach, Helene," seufzte Joseph«, „wenn Du Gerhards Launen kennen
würdest, verginge Dir vielleicht auch die Lust, an Dich zu denken!"
„Ich würde vor Allem trachten, mit Gerhard gut auszukommen."
„Wie denn?"
„Das will ich Dir sagen. Dein ehrlicher Charakter wird sich vielleicht
dagegen sträuben, doch nicht alle Wege sind gerade, und die krummen führen
uns oft «m schnellsten an's Ziel, weil wir sie durchlaufen können, während
wir auf den geraden breiten Straßen fein schicklich und gemessen dahin-
schreiten müssen. Ich würde vor Allem die Schwächen Gerhards studiren,
denn beherrschen wir die Schwächen eines Mannes, dann beherrschen wir
ihn selbst."
„So klug bin ich nicht. Ich habe längst alle Macht über Gerhard
verloren."
„So gewinne sie wieder!"
„Dazu ist es zu spät."
„Cs ist nie zu spät," entgegnete Helene. „Hör' meinen Rath.
Wenn Du im Unrecht bist — und glaube mir. Du bist es oft — schweig'
m. Ztona in Ztrzebon'itz (Vesterr,-3chlesien).
und ertrage seine Launen. Warte, bis Du im Recht sein wirst. Hast
Du einen eklatanten Fall, dann tritt ruhig und bestimmt gegen Gerhard
auf. Tobt er, so laß ihn toben, beharre aber mit fester Entschlossenheit
auf Deinen, Standpunkt. Sobald sein Zorn verraucht, wird er sein Un-
recht einsehen, und das ist Dein erster Sieg."
„Ich will es versuchen," sagte Joseph« und umarmte die verständige
Freundin.
Eines Tages ruhte Helene auf einer indischen Chaiselongue in ihrem
Schreibzimmer. Weiche, seidene Kissen in allen Regenbogenfarben umgaben
sie, eine kostbare Decke, die sie einst ans Egnpten gebracht, breitete sich
über ihre schmaleu Füße.
Frau von Wallheim war nicht etwa krank; im Gegentheil, die süße
Ruhe, der sie sich hingab, war das Zeichen eines besonderen Wohl-
befindens.
Wie eine Rose auf den Wellen des Meeres, wiegte sie sich in ihren
Träumen. Mit immer gleichem Vergnügen ließ sie die Augen über all
die Kostbarkeiten uud bunten Gedächtnißzeichen gleiten, die sie von ihren
Reisen mitgebracht und mit tändelndem Geschmack auf Tischchen nnd
Eonsolen verstreut hatte. Ihr Zimmer war ein kleines Museum, dessen
Werth seine Besitzerin auf eine capriciöse Weise bestimmte. Manche Band-
schleife, manche welke Blume galt ihr mehr als der ,«rug aus Pompeji
oder die kunstvolle Elfenbeinschnitzerei, welche die Verwandlung der Daphne
darstellte. Nur Helene verständlich, erzählte jedes Ding seine Geschichte
und zauberte entschwundene Bilder vor die Seele der Herrin.
In Nizza war's, während der unvergeßlichen Earueoalstage, da hatte
sie jene Drahtmaske, die dort in der Ecke hing, über ihren Kopf gestülpt,
jenes Hirtentäschchen mit „Nmit'etti" umgethan und mit der kleinen Schaufel
auf biegsamem Rohr kampflustig die weißen Geschosse nach rechts und links
geschleudert, während ein tolles Maskentreiben sie umtobte.... Und dann
war plötzlich eine Menschenwoge gekommen, die sie von ihrem Gatten
trennte. Nur der deutsche Varon blieb an ihrer Seite, der so lange auf
die Gelegenheit gewartet, ihr seine Liebe zu gestehen. Jetzt bot sich die
Gelegenheit, und er — er fand nicht die Worte. Wie blöde er war!
Oder achtete er sie so hoch, daß er fürchtete, sie durch sein Geständnis;
zu beleidigen?
Sie hätte ihm so gern zugehört — solche Geständnisse waren eine
berauschende Musik für ihre kleineu Ohreu — »lud sie hätte ihn dann
herzlich ausgelacht, so herzlich, daß er in ihr Lachen eingestimmt haben
würde, wie es die Meisten thaten, die dankbar die weiße Hand küßten,
welche sie aus Freundschaft ihnen bot. Manche freilich murrten und zogen
sich grollend zurück — was that's! Andere schlössen die Reihen.
Nun ruhteu ihre Augen eine Secunde lang auf einein Blatt Papier,
das lässig an einen Palmenfächer gesteckt war und die Worte trug: l'out
Nur zwei Veilchen. !>H5
dnniiour, Hue ia mal» n'atwiut p»8, u'«8t c^u'un rsvs. Ein Unglück-
licher hatte ihr einst diesen Spruch geschickt, und sie bewahrte ihn in der
dämmernden Ahnung, daß auch ihr das echte Glück ewig fern bleiben
würde.
Während sie jetzt sinnend vor sich hinsah, klopfte es an die Thür, nnd
Joseph« stürmte in's Zimmer.
„Verzeih', daß ich Dich überfalle... . Die Sehnsucht, Dich zu sehen,
war zu groß!"
Helene erhob sich freudig und begrüßte die Freundin. Sie plauderte»
ein Weilchen von gleichgiltigen Dingen, dann bat Joseph«: „Laß' uns in
den Wald gehen! Die Luft im Zimmer ist so schwül."
Ann in Arm verließen sie die Villa. Helene betrachtete lächelnd die
junge Frau. „Ich sehe mit Freude, daß meine Nachschlage Dir schon Er-
folge brachten," sagte sie. „Du bist selbstständiger, ruhiger, sicherer ge-
worden — und hundertmal hübscher . . . weiht Du das?"
„Ich weiß nur, daß ich Dir dankbar bin. Ohne Dich wäre ich ver-
sauert, verbauert, versumpft und verstumpft!"
„Und nun wird am Ende gar eine kleine Weltdame aus Dir! Es
thut Nichts, wenn Du nur glücklich bist .... und das bist Du doch,
nicht?"
„Ja, siehst Du, mit dem Glück ist das eine eigene Sache. Ich war
ja früher auch nicht glücklich, aber mir ist, als ob ich erst jetzt erkenne,
wie arm mein Leben ist, das Leben meines Herzens. . . . Sag' mir,
Helene, hast Du nie die Sehnsucht gehabt, zu lieben, glühend zu lieben?"
„Nein." Frau von Wallheim kannte in der That nur die Sehnsucht,
geliebt zu werden.
„Siehst Du, ich möchte Etwas erleben, das groß, herrlich, göttlich
wäre und mit einem Male diese entsetzliche Leere ausfüllen würde, die mir
da drinnen entgegen gähnt. Mir ist manchmal, als ob mein Herz eine
finstere Höhle wäre. Früher Hab' ich gedacht, daß es so sein müsse, daß
gewiß viele Frauen mit mir das gleiche Schicksal theilen, aber jetzt scheint
es mir oft, als ob ich's nicht länger ertragen könnte! Lieber tausend
Qualen leiden und wissen, daß man gelebt hat, als dieses gleichgiltige
Dasein weiter führen!"
„Aber das ist ja offene Empörung!" neckte Helene.
„Es ist Sehnsucht, heiße, übermächtige Sehnsucht nach etwas Un-
erreichbarem, nach Etwas, das meine Wege nie durchkreuzen soll. Und
vielleicht ist diese Sehnsucht darum, weil sie sich ihrer Hosfunngslosigkeit
bewußt ist, so verzehrend."
Sie waren zu einer alten Eiche gekommen. Ihre mächtigen Aeste zun«
Himmel erhebend, schien sie stolz aus dem Voden emporzustreben, ein Ur-
bild der. Ilraft und Zähigkeit. Eine Nasenbank zog sich um sie hin. Hier
~6 M. 5to,ia in Ltlzebowih ^Vesterr.'-chlesien). — ~
warf sich losepha nieder und blickte mit ihren sonst so träumerischen, jetzt
brennenden Augen auf Helene, die ruhig sagte:
„Ich weiß nicht, was das Leben Dir noch bringen wird, ob es Deine
Wünsche erfüllen kann oder nicht. Sieh diefe mächtige Eiche. Sie wollte
auch einmal in den Himmel wachsen, und als sie sah, das; es nicht ging,
da begnügte sie sich damit, ihre Wurzeln um so tiefer in den heimatlichen
Boden zu senken. Von dieser Eiche können wir viel lernen."
„Du bist so ruhig, so besonnen. Sag' mir, hast Du schon geliebt?"
„Ich glaube ja," erwiderte Helene gedankenvoll; „als ich ein ganz
kleines, kaum elf Jahre altes Mädchen war. Damals hatte ick ein so
leidenschaftliches Herz wie Du, und ich liebte einen jungen Mann von
zwanzig Jahren, der gewiß keine Ahnung hatte, wie viel er dem Kinde
war. Alles, was ein Weib an heimlicher Liebe empfinden kann, von dem
süßen Erwachen des Gefühls und der leidenschaftlichen Zärtlichkeit bis zum
glühenden Drennungsschmerz, Alles ist damals durch die Seele des Kindes
gezogen, unbeachtet von Allen und ungekcmnt. Mein Herz war eine kleine
Gluthenwelt, iu der die wunderfamsten Dinge vor sich gingen. Aber wie
es das Schicksal der Welten ist, sich immer mehr und mehr abzukühlen, so
war es auch mein Schicksal, immer kälter zu werden, und ich glaube, daß
ich der vollständigen Vereisung uicht mehr fern stehe."
„Du bist zu früh gereift, ich bin zu lange Kind geblieben" — sagte
losepha. „Man führte mich nicht in die Welt, ich lernte Niemand kennen
... ich war ja das Stiefkind der Familie, klein und häßlich. Keiner
beachtete mich. Und als dann endlich ein Manu kam, der um so vieles
älter und vernünftiger war als ich, dem ich gefiel, der es mir sa^te, da
war ich so stolz, so überglücklich! Ich sah mich mit einem Male gefeiert,
von meinen Geschwistern beneidet, und zögerte keinen Augenblick, diesem
Mann in seine Heimat zu folgen. Und dort erkannte ich, welch' ein kalter
Egoist er ist, der mich nur dann beachtet, wenn er etwas an mir zu tadeln
findet, und der in der Ueberzeugung lebt, daß ich Gott dafür danken kann,
daß er, Gerhard Hiller, mich zu seiner Frau erhoben hat. Es ist wahr,
mich hungert und dürstet nicht; doch nach dem Hunger nud dem Durst der
Seele fragt Niemand! Das ist mein Leben: eine freudlose J ugend, eine
glucklose Eh.', eingeschlossen rings von Tugenden und Pflichten. Und wenn
ich endlich dahin gekommen sein werde, dieses jauchzende, pochende Herz,
das nach Liebe verlaugt, stückweise zu Dode gemartert zu nabeu, dann wird
man mich zur Belohnung für all' diese Bravheit in der Familiengruft bei-
sehen."
„Du bist eine kleiue eraltirte Person," fagte Helene und legte ihre
Hand auf losephas Schulter. „Ich sage Dir voraus, daß Du noch sehr
viel sündigen wirst, aber blos in Deinen Gedanken. Du gehörst zu den
Fraueu, welche die schrecklichsten Dinge ausführen — in ihrer Phantasie,
die aber in Wahrheit nie ein Haar breit vom Wege der Tugend abweichen,
Nui zwei Veilchen. !>H?
denn ihr Pflichtgefühl ist größer als ihre Sehnsucht. Zu ihrem Glücke;
denn so genießen sie in ihren Träumen alle Wonnen, ohne je von einem
erdrückenden Schuldgefühl zermalmt zu werden. Zum Sündigen nach den
gewöhnlichen Begriffen der Welt gehören entweder sehr leichtsinnige, gedanken-
lose Frauen, die nicht wissen, was sie thun, oder starke Naturen, die mit
Ueberlegung fallen. Du gehörst weder zu den einen noch zu den andern."
„Und Tu?"
„Ich gehöre zu den kalten Frauen, und die gehören auf ein anderes Blatt."
Hl.
Wenige Tage später sollte die ländliche Stille der Villa durch einen
Bestich unterbrochen werden. Heinrich erhielt den Brief eines Freundes
aus Wien, in welchem dieser um die Erlaubnis; bat, für einige Tage Wall-
heims Gastfreundschaft in Anspruch nehmen zu dürfen.
Helene hatte Walter von Erlach vor zwei Jahren im Salon einer
Bekannten kennen gelernt. Er war ihr durch sein wundervolles Elavierspiel
aufgefallen, und sie entdeckte später eine überraschende Vielseitigkeit der
Talente an ihm. Genial als Musiker wie als Maler, mit einer Seele,
die sür die Kunst glühte, und einem Körper, der die Strapazen jedes Sports
bedurfte, um den Ueberschuß an Kraft auszugeben, glich er dem Über-
menschen der Modernen oder den Halbgöttern der Antike.
Helene wußte nach der ersten Stunde, die sie mit ihm verplauderte,
daß ihr hier ein Mann entgegentrat, der dem Zauber ihrer Persönlichkeit
nicht erliegen würde.
Sie sprachen damals viel mit einander, unter Anderem auch von der
Liebe. Helene sagte, daß sie die Neigung über die Liebe stelle, denn die
Liebe sei veränderlich, sie verspräche einen Himmel und gäbe manchmal
Nichts; die Neigung aber, ihre gütige Schwester, ist treu uud unwandelbar.
Herr von Erlach blickte sie forschend an, als wollte er auf dem Grund
ihrer Seele lesen, und sagte dann: „Wie modern! So spricht nur, der
keiner Liebe mehr fähig ist . . ." Sein Nrtheil über Frau von Wallheim
faßte Walter am nächsten Tage in die Worte zusammen: „Eine der inter-
essantesten Frauen, die ich kenne. Sie ist wie ein Pastellbild mit den rothen
warmen Lippen und den großen kalten Augen, die den schönen Mund Lügen
strafen."
Helene fühlte instinctiv, daß sie seinen Geist interessire, ohne sein Herz
zu berühren, und sie war viel zu klug, um sich nur einen Augenblick den
Schein zu geben, als suche sie mit ihm zu kokettiren. Das rettete ihr seine
Sympathie. Er suchte ihre Gesellschaft nnd wurde im Laufe der Zeit ein
gern gesehener Gast ihres Salons. Aufrichtige Zuneigung brachte Walter
Helenens Gatten entgegen, mit dem er auf sportlichen, Gebiete viele An-
knüpfungspunkte fand nnd dessen ruhige Güte ihm wohl that.
"8 M. Ltona in 3trzeb«witz (Veste,r.'2chlesie,l).
Nun war der interessante Gast in der Villa eingetroffen.
„Sie werden sich bei uns furchtbar langweilen," sagte ihm Helene
bald nach seiner Ankunft. „Sie dürfen nicht hoffen, hier einen geistvollen
Salon zn finden, wo Sie das Gold Ihrer Einfälle ausstreuen können.
Wir sind nur auf Kupfer eingerichtet. Höchstens daß manchmal durstig
etwas Talmi aufblitzt."
„Um so besser, gnädige Frau. Alles, wonach ich mich sehne, ist Rübe,
göttliche Ruhe. So im grünen Walde liegen, wo Gräser dnften und Vögel
singen, die Zeit vorüber gleiten lassen und Nichts fühlen, weder Hoffnung
noch Leid, weder Sehnsucht noch Liebe, das schwebte mir als das Höchste
vor, wenn ich an den Besuch bei Ihnen dachte."
„Sehr schmeichelhaft. Diefe bescheidenen Wünsche können Ihnen vollauf
erfüllt werden. Sie dürfen mit Unterbrechung der Mahlzeiten täglich zwölf
Stunden im Walde träumen und Nichts empfinden, wenn Sie das zu
Wege bringen. Vevor Sie aber dieses Klosierleben im Grünen beginnen,
wollen Sie mit uns bei einem Gutsbesitzer in der Nachbarschaft einen
Besuch machen, ja?"
„Wo bleibt die ländliche Stille, die Abgeschiedenheit!" klagte Walter.
„Ich sehe schon, eine schöne Frau besuchen, und wenn es im entlegensten
Winkel der Welt wäre, heißt immer, sich in den Strudel der Geselligkeit
stürzen."
„Sie fabeln. Von einem Strudel der Geselligkeit ist keine Rede. Ter
Gutsbesitzer hat eine einzige Tochter, die noch nicht zählt, und eine Frau,
die ganz einzig ist."
„Und natürlich erwartet, daß man ihr den Hof macht."
„Wenn sie das erwarten würde, wäre sie nicht einzig. Uebrigens will
ich Nichts mehr von ihr sagen. Sie sollen sie morgen selbst kennen lernen."
losepha war durch einige Zeilen von Helene auf den neuen Gast vor-
bereitet worden. Sie schien sehr befangen zu seiu. Herr von Erlacl,
imponirte ihr offenbar, und sie verlor ganz die natürliche Sicherheit ihres
Wesens. In der Kunst, Conversation zu machen, hatte sie es noch gar nicht
weit gebracht, wie Helene mit Schrecken bemerkte. Sie nahm sich vor, ihr
bei nächster Gelegenheit eine kleine Anleitung über das Gespräch mit
Fremden zn geben. Joseph« kümmerte sich nicht im Geringsten darum, was
die Gäste interessiren konnte; sie erschöpfte ein Thema bis zur Ermattung
und brach das nächste in dem Augenblick ab, als man sich dafür zu er-
wärmen begann. Auch fprach sie zuviel von sich und ihrer Familie,
Auf Walters Frage, ob sie viel beschäftigt sei, erwiderte sie: „Ach
nein. Man braucht mich nicht. Mein Mann hat seinen Beruf, mein Kind
die Wärterin, die Köchin die Wirtschaft — nur ich habe Niemand. Es
kommt mir manchmal vor, als ob ich die UebeiMssigste in meinem Hause wäre."
Um dem planlosen Umherirren des Gesprächs ein Ende zu machen,
forderte Helene Walter ans. Etwas vorzuspielen."
Nur zwei Veilchen. >,H9
„Ah, Sie sind musikalisch!" rief losepha und klatschte in die Hände.
„Das ist herrlich! Ich liebe die Musik so sehr."
Walter trug ein schwermüthiges Lied vor und bat dann losepha,
seinem Beispiele zu folgen.
„Ich singe blos," entgegnete sie.
Auch das noch! dachte Helene mit Schrecken, losepha, die eine
schöne, klangvolle Stimme hatte, pflegte nämlich häusig in reizender Ver-
wirrung mitten in einem Liede Melodie und Text zu vergessen. Auch heute
verlor sie gleich nach den ersten Tacten den Faden und unterbrach sich.
Walters musikalisches Feingefühl schien jedoch gar nicht darunter zu
leiden. Er ruhte nicht eher, als bis das Lied zu tadellosem Vortrag ge-
bracht war.
Gerhard und Heinrich staunten über diesen unerwarteten Fortschritt.
Frau vou Wallheim war sehr gespannt, ans dem Rückweg Walters Urtheil
über Joseph« zu hören. Er konnte nicht genug Worte des Entzückens
finden. Welche Natürlichkeit! welche Frische! Wahrlich, diese junge Frau
war von einem Zauber, wie er ihn nie gekannt. Sie glich jenen« dunklen
Vergißmeinnicht, das in schattigen Waldesgründen vergessen blüht, und
nur darum jenes tiefe, herrliche Vlau behalten hat, weil die Sonne ibm
noch nie gluthuersengend in's Herz geblickt.
Helene sah ihn überrascht an. Merkwürdiger Mensch! dachte sie.
Es giebt für ihn kein Frauenräthsel. —
Die nächsten Wochen vergingen für losepha in einem Taumel von
Vergnügungen. So glücklich wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt. Eine
fast ausgelassene Fröhlichkeit beherrschte sie; sie glich einem übermüthigen
Kinde; oft ersann sie tolle Spiele, mit denen sie Helene zur Verzweiflung
brachte und Walter entzückte. Er konnte sich nicht satt sehen an ihren an-
muthigen Bewegungen, nicht satt hören an ihrem hellen klingenden Lachen.
Sie erschien ihm wie eine sonnige Fee. Er fühlte, daß er einem jungen
Herzen gegenüberstehe, welches einer leidenschaftlichen Liebe fähig fei, und
über das er mit jedem Tage an Macht gewann. Der Gedanke, dieses
glühende Empfinden zu wecken, reizte ihn.
losepha war so ganz anders als die verwöhnten Frauen, die er bisher
gekannt; als die kalten, berechnenden Koketten, denen er ausgewichen, oder
die allzuweichen, empfindsamen Seelen, die seiner Leidenschaft sich hingegeben
hatten. Hier umsing ihn zun: ersten Mal der ganze Zauber einer eckten,
zarten Weiblichkeit. Er fühlte sich wohl wie nie; er vergaß jedes tändelnde
Spiel. Viel früher als losepha selbst wußte er, daß sie ihn liebte. Die
Situation schien ihm neu; sie machte ihn nachdenklich, und was ihm lange
nickt passirt war — er ward natürlick.
losepha hingegen kam gar nicht zum Denken, Sie lebte einzig der
wonnigen Gegenwart und sorgte nicht einen Augenblick um das Morgen.
Der blaue Himmel lachte ihr in's Herz.
~50 M. 2t«na in Ltlzebowih (Vesterr.-Tchlesien).
Helene beobachtete sie und Walter mit wachsender Unruhe.
Das war kein kokettes, graziöses Spiel, wie sie es liebte; es drohte
ein himmelstürmender Ernst zn werden, und sie mußte Alles daran setzen,
um den lieben Landfrieden zu bewahren.
Schon wünschte sie sehnlichst Walters Abreise herbei, allein der junge
Mann schien gesonnen, das Ende seiner Tage in der Villa abzuwarten.
Eines Nachmittags erschien Joseph« allein bei Helene. „Gerhard hat
ein neues Pferd bekommen, das er jetzt versucht," erzählte sie. „Er will
später herüberreiten."
„Was beginnen wir h.mte?" fragte Walter. „Befehlen Sie Ätunt
oder In'vn tennii,, oder sind Sie gegen Ihre sonstige Gewohnheit für das
Stillsitzen eingenommen?"
„Ich bin zu gar Nichts aufgelegt," entgegnete Joseph«.
„Was fehlt Ihnen?" fragte Walter besorgt.
„Eigentlich Nichts. Aber ich bin so unruhig, beinahe sorgenvoll. Ich
glaube, ich war in der letzten Zeit zu lustig, nein — nicht lustig, zu
fröhlich."
„Was so'.l denn das für ein Unterschied sein?" fragte Helene.
„Ich kann Dir das nicht erkläre»'. Die Lustigkeit kann Einem für
einige Stunden von außen anfliegen, die Fröhlichkeit kommt immer aus
der Tiefe des Gemüths."
Das war einer jener Aussprüche, die Walter an der kleinen Frau
so sehr liebte; sie enthüllten blitzartig den grübelnden Sinn, der ihr bei
aller Kindlichkeit eigen blieb.
„Gehen wir spazieren," schlug Helene vor.
losevha erhob sich. Es mar ein trüber Nachmittag mit warmer,
schwüler, gesättigter Lust. Schon sanken die ersten gelben Blätter von den
Bäumen. „Sehnsüchtige Schwärmer, die den Tod nicht erwarten können,"
wie Helene sie nannte.
Man näherte sich dem Walde. Alte Eichen mit mächtigen, knorrigen
Stämmen umsäumten den Weg.
Xein rechtes Gespräch wollte sich entspinnen. Da kam ein Diener
ihnen nachgeeilt und bat die Gnädige, für einige Augenblicke nach Hause
zu kommen. Nur ungern verliest Helene das Paar und versprach, so bald
als möglich zurückzukehren.
Walter und losepha ließen sick auf einer Bank nieder, um zu warten.
Ihretwegen hätte Helene sich nicht zn beeilen brauchen; sie waren gar nickt
ungeduldig. Walter sah die junge Frau von der Seite an. Sie. trug ein
weißes Kleid, das in zarten Wellenlinien sie umstoh. Er konnte den Blick
nicht von ihr losreißen. Sie fühlte es und erröthete über uud über.
Verwirrt neigte sie den Oberkörper leicht vor, 'als wollte sie Helene nach-
spähen. Er mußte mi sich halten, um der Versuchung zn widerstehen, sich
vor ihr niederzuwerfen und ibre Hände, ihre Lippen, ihre ganze wonnige
Nur zwei Veilchen. I >5I
Gestalt mit heißen süssen zu bedecken. Wußte er doch, sie würde ihn
erschreckt und zornig zurückweisen, wie sehr sie ihn auch liebte, denn es
träumte ihre Reinheit von einer schuldlosen Liebe. Da kam ihm der
Gedanke, wie bald er von ihr scheiden müsse, vielleicht ohne sie ein einziges
Mal an sein Herz gezogen zu haben, uud seiue Leidenschaft wuchs.
„Nur noch wenige Tage, und ich sehe Sie vielleicht nie wieder!"
sagt er plötzlich mit bebender Stimme.
Sie erschrickt. Das Entsetzliche, die Oede ihres verlassenen Lebens
taucht vor ihr auf. Sie sieht starr vor sich hin, dann, als ob sie reden
wollte, wendet sie den Kopf, ihre Angen heften sich mit einem wacksenden
Blick auf ihn, doch sie sagt Nichts.
„Sie werden mich nicht vergessen, nicht wahr?" fragt er.
Sie ist fehr bleich geworden, sieht wieder vor sich hin, schüttelt den
Kopf und sagt: „Nie." Dann athmet sie tief und will aufspringen.
Doch sie vermag es nicht. Sehnige Arme halten sie umschlungen, und
jugendfrische, brennende Lippen pressen sich auf die ihren. Eine Secunde
giebt sie der Wonne nach, die über sie hereinfluthet . . . Dann erfaßt fie
plötzlich eine wilde Angst, sie reift sich los und flieht wie besinnungslos
dem Walde zu. Er ihr nach. Mit wenigen Sätzen hat er sie erreicht.
„Joseph«!" jubelt er.
Da dringt der Schall von Pferdehufen an ihr Ohr, und im nächsten
Augenblick sprengt Gerhard in rasendem Galopp ihnen entgegen. Joseph«
hat nur noch Zeit, aus dem Wege zn springen. Die plötzliche, blitzartige
Bewegung des weißen Kleides erschreckt das durchgegangene Pferd; es
wirft sich zur Seite und schleudert den Neiter aus dem Sattel. Mit dem
Kopfe gegen einen Baumstamm anprallend, stürzt er zu Boden, indeß
das schnaubende Noß davonjagt.
Das Alles war in wenigen Secunden geschehen. Joseph«, noch
zitternd von den Küssen des Geliebten, kniet, ihrer Sinne kaum mächtig,
vor dem leblosen Gatten nnd sucht das Blnt, das einer tiefen Kopfwunde
entquillt, mit ihrem Tafchentuch zn stillen.
„Er ist todt!" jammert sie.
Walter erwidert kein Wort, er hebt mit feiner Niefenkraft den Ver-
wundeten empor nnd trägt ihn wie ein Kind der Villa zu.
Helene verlor keinen Augenblick die Geistesgegenwart, als Walter ihr
mit der schrecklichen Bürde entgegen kam. Sie traf fofort alle nöthigen
Vorkehrungen, lieh den «ranken in ihr Zimmer betten uud schickte in die
nächste Stadt nach dem Arzt, während Heinrich telegraphifch ans Wien die
schleunige Ankunft eines Professors erbat.
~52 M. 2t«na in Ztizebowitz (Vesterr,»3chlesien).
Joseph« saß zu einer Bildsäule erstarrt an dem Lager des Kranken.
Tausend wirre Gedanken flogen ihr durch den Kopf; abgerissene Reime von
Liedern, die sie als Kind gehört, und die in keinem Zusammenhang mit
dem Äugenblick standen. Nein, Gerhard durfte nicht sterben; so groß konnte
ihre Schuld nicht fein! Er mußte ihr erhalte» bleiben, ihr und ihrem
Kinde; er mußte gesund werden! Ihr ganzes übriges Leben sollte eine
schweigende Abbitte sein^
Der herbeigeholte Arzt erklärte die klaffende Kopfwunde als unge-
fährlich; ein Tropfen Blut jedoch, der aus dem linken Ohr gedrungen war,
hieß ihn die Befürchtung aussprechen, daß die Schädeldecke durch den scharfen
Anprall einen Sprung bekommen habe. An eine Uebersührung des Kranken
nach Altdorf konnte nicht gedacht werden.
Nach sechs Stunden traf der Professor aus Wien ein. Er schloß sich
der Diagnose seines College« an und bezeichnete die Stelle, wo der muth-
maßliche Sprung sich befand. Sein Ausspruch lautete ernst, aber nicht
hoffnungslos. Wohl schwebte der Patient augenblicklich in Lebensgefahr,
aber er konnte genesen; freilich war die Möglichkeit nicht ansgeschlossen,
daß eine Gehirnerschütterung die übelsten Folgen nach sich ziehen konnte.
Alles hing von dem Verlauf der nächsten Tage ab.
Nachdem er mit dem ordinirenden Arzte eine genaue Behandlungs-
weife vereinbart hatte, reiste der Professor nach Wien zurück. Herr von
Erlach schloß sich ihm an, ohne Joseph« wiedergesehen zu haben. ~
Die Villa war in tiefes Schweigen getaucht; man flüsterte nur, man
ging auf den Fußspitzen; eine ängstliche Spannung lag auf allen Gesichtern.
Heinrich und Helene bewiesen in diesen Tagen Joseph» eine hingebungs-
volle Freundschaft.
Endlich war der gefürchtete Termin abgelaufen: Gerhards Zustand
besserte sich, uud Josepha athmete auf. Neue Hoffnung erfüllte sie, und mit
der Hoffnung kam langsam und zögernd — die Erinnerung. Wie weit
fortgescheuchte Vögel kehrten die Gedanken an Walter wieder. Vergeblich
suchte sie sein Bild zurückzudrängen . . . Aus irgend einer Falte ihres
Herzeus tauchte es vor ihr auf. Sie preßte die Hände an die Schläfen
und konnte es doch nicht hindeni, daß eine fuße, selige Erinnerung sie
durchglühte.
Wie eine stille, namenlose Freude lag es oft über ihr Antlitz hin-
gegossen. Oeffnete Gerhard in folchen Momenten die Augen, da fah er sie
überrascht an. So war sie ihm noch nie erschienen, so weich, so träumerisch,
so glücklich. Es rührte ihn tief.
„Sie weiß, daß ich gerettet bin," dachte er. „Wie gut sie ist!"
Joseph« pflegte ihn mit liebeuoller Sorgfalt. Sein Bewußtsein kelnte
immer anhaltender zurück. Zwar versank er noch dann und wann in eine
Art Betäubung oder sprach mit weit geöffneten Augen verworrene Dinge,
doch besserte sich sein Zustand mit jedem Tage.
Nur zwei Veilchen. ~53
Bald machte er sich schwere Vorwürfe darüber, daß er in das friedliche
Leben der Villa eine solche Störung gebracht, und begehrte, nach Altdorf
überführt zu werden. Als man feiuen Wünschen nicht nachgeben wollte,
steigerte sich sein Verlangen zu maßloser Heftigkeit.
Ter Arzt hielt es für das Zweckmäßigste, ihm den Willen zu thun,
da keinerlei Gefahr mehr damit verbunden war.
So fuhr denn eines Morgens Joseph« mit ihrem Gatten, vom Doctor
geleitet, nach Altdorf.
Sie hatte alle Ursache, zufrieden zu sein. Die Befürchtungen der
Aerzte waren grundlos geblieben; als einzige Folge von Gerhards Krank-
heit blieb eine nervöse Reizbarkeit zurück, die sich sonderbarer Weise nie
gegen seine Frau richtete. Mit ihr war er gütig wie nie zuvor. Aus seinem
ganzen Wesen sprach Dankbarkeit. Wenn sie sich anklagte, dnrch ihren
übereilten Sprung Schuld an seinem Sturz zu sein, widersprach er lebhast.
Er allein hatte das Unglück herbeigeführt, weil er das durchgegangene
Pferd nicht zu zügeln gewußt . . . Seine frühere Rücksichtslosigkeit und
Strenge wich einer milden Zärtlichkeit.
Er wunderte sich jetzt, wie leicht mit Joseph« auszukommen war.
Ein wenig Nachsicht, ein freundlicher Vlick, und er erreichte mehr als ehe-
mals mit einer Fluth von zornigen Worten. —
Inzwischen war der Herbst gekommen, das große Maskenfest der Natur.
Helene fand die bunte Scenerie in Wald und Feld reizend; sie ließ aber
doch die Koffer packen, denn vom Landleben hatte sie gerade genug. Sie
erklärte Heinrich, daß sie dringend einer Erholungsreise bedürfe, und be-
stimmte ihn, nach einen: mehrwöchentlichen Aufenthalt in Wien mit ihr
über Paris an die Niviera zu gehen.
Auch für Gerhard war eine Luftveränderung geboten; der Arzt empfahl
ihm Arco.
So wurden denn Schloß und Villa zu gleicher Zeit von ihren Be-
wohnern verlassen. Nur losephas Tochterchen, die kleine Else, blieb mit
ihrer Kinderfrau in Altdorf zurück, dn ihre Lebhaftigkeit Gerhard zu sehr
aufregte.
V.
Die ersten Tage in Arco erschienen Joseph« recht einsam. Die fremden
Menschen ließen sie gleichgiltig; sie sehnte sich gar nicht danach, Nekanut-
schaften zu machen.
Häufig schrieb sie an Helene. „Aber wie umständlich ist doch dieses
Schreiben," klagte sie einmal. „Vom Herzen in den Kopf, in die Hand,
in die Feder, aufs Papier und noch immer nicht bei Dir!"
Ein Fest war es für sie, wenn Helencns Antwort eintraf. Frau
von Wallheim war eine routinirte Nrieffchreiberin; sie wußte sich stet? dem
Geiste desjenigen anznpassen, den« sie schrieb — sie konnte auch brieflich
Noib IM» l,",d. I.XXV. ?24. 11
~54 M. 2t«na in Ltrzebowitz (Vesterr.<3chlesien).
kokettiren, wenn es der Mühe lohnte. Vtit Joseph« plauderte sie heiter lind
witzig nnd erzählte von Land und Leuten, die sie sah. Von ihren Erleb-
nissen erzählte sie Nichts. Nur eine Bemerkung lies; auf sie schließen.
„Wenn Frauen das Bewußtsein haben, zu gefallen, dann sagen sie,
daß sie sich vortrefflich unterhalten. Also: ich unterhalte mich königlich!"
Eines Tages sollte losepha eine unerwartete Neberraschung erleben.
Als sie von einem Spaziergange nach Hause zurückkehrte, rief ihr Gerhard
entgegen: „Nathe, wer in Arco angekommen ist!"
„Helene!" rief losepha, von plötzlicher Freude erfüllt.
.„Fehlgeschossen! Ein Herr ist es, ein interessanter junger Mann. Nun
— rächst Dn's noch nicht?"
„Nein, das kann ich unmöglich errathen," stammelte losepha. Den
Namen, der sich ihr auf die Lippen drängte, vermochte sie nicht auszusprechen.
Mit um so größerer Leichtigkeit that es Gerhard. „Herr von Erlach ist
gestern angekommen. Ich bin ihm soeben begegnet und habe ihm gesagt, daß
wir heute auf der Promenade fein werden. Aber Du scheinst ja gar nicht
erfreut ..."
„Das ist wirklich eine Neberraschung. Bleibt er lange hier?"
„Er weiß es nicht. Es hängt von Nachrichten ab, die er erwartet.
Mach' Dich nur rasch bereit. Du siehst etwas blaß aus ... es fehlt Dir
doch Nichts?"
„Nicht das Geringste. Im Gegentheil, ich fühle mich fo wohl."
„Gott fei Dank!"
losepha wandte sich ab, um ihre Bewegung zu verbergen, und ging
in ihr Zimmer.
Sie sollte ihn wiedersehen! >lein Zweifel, nur um ihretwillen war
er gekommen.
Widerstreitende Empfindungen stürmten auf sie ein. I n den J ubel,
der sie erfüllte, mischte sich Angst, Furcht vor der Zukunft. Es war ja
jetzt Alles, Alles anders geworden! Früher, als Gerhard kalt und rücksichts-
los mit ihr war, überließ sie sich ohne Bennnen ihren Gefühlen; sie wußte
ja, daß er nicht nach dem Besitze ihres Herzens fragte, wenn sie ihm nur
treu blieb. Jetzt aber bewies er ihr mit jedem Tage, wie theuer sie ihm
sei. Er liebte sie, und seine Liebe legte ihr Verpflichtungen auf. Wie
sollte sie Walter begegnen? Sie vergrub den Kopf in den Händen.
„Bist Du bald fertig?" fragte Gerhard aus dem Nebenzimmer.
„Gleich, mein Freund," erwiderte sie.
Einige Minuten später trat sie mit ihrem Gatten aus dem Hanse.
Herr von Erlach kam ihnen entgegen.
Sie begrüßten sich herzlich wie gute Bekannte; nur die Hände bebten,
die sie einander reichten.
Man sprach von gleichgültigen Dingen, von Arco, von Wien. Gerbard blieb
plaudernd mit einem Bekannten zurück, und das junge Paar schritt allein weiter.
Nur zwei Veilchen, ~55
Jetzt erst wagte Walter, Joseph« voll in's Antlitz zu blicken. In seinen
Augen spiegelte sich die ganze Freude, sie wiederzusehen. Dann glitt ein
Schatten über seine Züge. „Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht,"
sagte er in tiefer Bewegung.
„Ja, es war furchtbar. Eine jener Zeiten, die ganze Wandlungen
in dem Menschen heroorbringen."
Er sah sie forschend an. „Es scheint wirklich, daß Sie ernster ge-
worden sind?"
„Finden Sie? 0, ich kann noch gerade so herzlich lacken, wie
früher."
„Und ich wollte, ich könnte Sie hören ... wie früher. Es war
fo schön!"
Joseph« erschrak. Nur um Gotteswillen an keine gemeinsamen Er-
innerungen rühren. „Wirklich? Ich habe ein schlechtes Gedächtnis;. Ich
habe Alles vergessen."
„Alleo?" fragte er mit weicher Stimme.
Sie lachte; in ihrem Lachen war ein gezwungener Ton, der ihn
verletzte.
„Dafür haben Sie etwas Neues gelernt," fagte er.
„Was denn?"
„Ein grausames Lacken!"
Seine Angen streiften sie mit einem bitteren Vorwurf, ~ie fühlte,
daß er litt, und hatte nur den einen Wunsch, ihn zu versöhnen. Mit
der alten Herzlichkeit rief sie aus: „Sind Sie böse? Verzeihen
Sie mir!"
„Man ist nur zu leicht geneigt, Ihnen zu verzeihen!" sagte er glücklich.
In diesem Augenblicke hatte Gerhard sie erreicht. —
Mehrere Tage vergingen. Walter wußte uicht, was er von lofepha
halten sollte. Sie vermied es, mit ihm allein zu sein; Allem, was er
fagte, suchte sie mit einer gezwungenen Heiterkeit zu begegnen, die oft in
eine:» grellen Widerspruch zu seinen Worten stand. Ihre bezaubernde
Natürlichkeit war verschwunden, und, was er nie an ihr beobachtet: es
erwachte eine fast neruöse Sncht in ihr, sich in den Strudel der Geselligkeit
zu stürzen. Sie wurde bald der Mittelpunkt eines Kreises, der sie
bewunderte.
Gerhard war nicht im Geringsten eifersüchtig; er freute sich über
losephas kleine Triumphe und brachte ihr ein blinde? Vertrauen
entgegen.
Walter dagegen fühlte alle Qualen der Eifersucht. Verführerifcher,
begehrenswerther denn je erfchien ihm losepba, und die Sehnsucht, sie in
seine Arme zu schließen, beherrschte seine Sinne mit übermäcktiger Gewalt.
Nnd dock gab es Augenblicke, wo sein Glaube an sie erscküttert war, »nd
11*
<56 M, 2t«na in ötrzebowitz ( Veftelr. >2chlesien) .
er sie für kalt und herzlos hielt. Wiederholt wollte er abreisen ohne ein
Wort de? Abschieds, aber er vermochte es nicht. Liebte Sie ihn? Hatte
sie aufgehört, ihn zn lieben? Den feinen Frauenkenner verlies; das sichere
Urtheil, das er in jeden« andern Falle gefüllt haben würde. Seine Leiden-
schaft verwirrte sein Denken.
Eines Abends fand eine Tauzuuterhaltung statt, losepha hatte ihr
Erscheinen zugesagt; an Gerhards Ann betrat sie den Saal. Sie war
bleich, und ihre Lippen umspielte eiu nervöses Lächeln.
Vei ihrem Anblick krumpfte sich Walters Herz zusammen. Seine
Hand pretzte die ihre. Die junge Frau erschrak und wandte sich von ihm
ab einem Herrn zu, der sie um die erste Tour bat.
Walters Micke folgten ihr mit lodernder Qual. Nur eiumal trafen
sie die ihren, und ein wilde»? Weh ergriff Joseph«, als sie seine schmerz-
erfüllten Züge sah. Sie hätte sich an seine Brust werfen, willenlos all
dem Vlampf entsagen und das Leben hingeben mögen für eine Stunde des
Glücks. ... Da begegneten ihre Augen Gerhard, der freundlich lächelnd
ihr zunickte, und sie gewann ihre Fassung wieder. Nicht um sie allein
handelte es sich, es galt Gerhards Frieden, es galt ihr Kind.
Als wollte sie sich betäuben, gab sie sich an diesem Abend immer
leidenschaftlicher dem Tanze hin, und ausgelassener denn je schien ihre
Laune. Niemand hätte ahnen können, daß hinter der glänzenden Maske
die Verzweiflung sich barg. -
Walter hörte keinen Augeublick auf, sie zu beobachten. Er konnte
nicht daran zweifeln, daß sie sich vortrefflich unterhielt. Von den Thränen,
die durch ihr Lachen zitterten, merkte er Nichts. Es erfaßte ihn plötzlich
der brennende Wunsch, mit ihr zu sprechen.
Während einer Pause trat er auf sie zu. Sie fühlte, daß seine
Augen die ihren suchten, und ihr Vlick wich ihm ans. Das machte ihn
rasend. Er neigte sich zu ihr nieder und flüsterte mit bebender
Stimme: „Ich habe einst geglaubt, das; Sie ein Herz haben, aber Alles
beweist mir, wie sehr ich mich täuschte. Sie spielen nur mit Herzen,
und Ihre Koketterie ist darum raffinirter als jede andere, weil sie schwerer
zu durchblicken ist. Ich aber habe sie durchblickt, gnädige Frau . . . seien
Sie dessen sicher — und . . . leben Sie wohl für immer!"
Und ehe sie «och die >irast fand, ein Wort zu erwidern, verbeugte er
sich und verlies; sie.
Am nächsten Morgen war er abgereist. Niemand wußte wohin.
VI .
Nach einem sechswöchmtlichen Aufenthalt in Arco kehrten Gerhard und
losepba in ihre Heimat zurück. Gerhard, völlig wieder hergestellt, war in
ftöhlichster Stimmung. Die kleine Else erguickte seine Mußestunden durch
Nur zwei Veilchen, ~5?
ihr rosige? Geplauder, und Joseph«, die sorgsame, pünktliche losepha gab
ihm nie wieder Ursache, unmnthig zu, werden. Seine Augen ruhteu oft
mit inuigem Wohlgefallen auf ihrer zierlichen Gestalt. Wie himmelweit
verschieden ist die losepha von einst und die losepha von heute! sagte er
sich oft. Daß auch er ein Änderer geworden, daran dachte er nicht. Er
wäre vollkommen zufrieden gewesen, wenn nicht Eines ihn befremdet hätte:
die trübe Stimmung, der losepha sich von Zeit zu Zeit hingab. Sie
konnte ohne jeden änßern Grund einsilbig, ja traurig werden. Still blickte
sie dann vor sich hin, und wenn er sie ansprach, da schien es, als müsse
sie ihre Gedanken erst aus weiter Feme herbeiholen, um ihn« antworten zu
können.
Was ihr wohl fehlen mochte? Vergebens zerbrach er sich den Kopf
darüber. Die Einsamkeit, sagte er sich endlich, der harte Winter verderben
ihre Laune. Mit dem Frühling und mit Helene wird ihre Fröhlichkeit
wiederkehren. Damit tröstete er sich.
Doch die kalte J ahreszeit war es nicht, die losepha bedrückte. Sie
krankte an einem andern Leid. Mit einem schrillen Mißton war der Traum
ihres Herzens zersprungen; sie fühlte sich verkannt, der Lüge angeklagt von
dem Manne, um desseu willen sie so viel gelitten, und dieses Bewußtsein
verbitterte ihr das Lebeu. Sie war ja zufrieden mit dem ruhigen Dasein
an Gerhards Seite; das leidenschaftliche Sehnen, da? sie einst erfüllt,
war erloschen; nur deu einen glühenden Wunsch konnte sie nicht aus
ihrer Seele bannen: daß Walter ihr Gedächtnis; hochhalte, wie sie es
verdiente.
Anfangs April kehrten Heinrich und Helene in ihre Villa zurück.
Helene beschleunigte ihre Ankunft losepha zu Liebe, deren Briefe
sie riefen.
J ubelnd schlössen sich die Freundinnen in die Anne.
„Eigentlich sollte ich Dir zürnen!" rief Helene, als die beiden Frauen
sich zurückgezogen hatten, und znpfte losepha lachend am Ohr. „Du hast
mir einen meiner getreuesten Anbeter geraubt — "
„Ich -Dir?"
„Natürlich! Deine» Gatten. Glanbst Du, ich habe es nicht gleich
gemerkt, daß er jetzt nur Augen für Dich hat?"
losepha lächelte. „Ach ja — er ist sehr lieb und gut mit mir — "
„Warum siehst Tu aber dauu bekümmert aus? J a, glaube gar, wir
haben Sorgen!"
„Ach, Helene wenn Du wüßtest . . ."
„So beichte Dir das Leid vou der Seele! Wozu bin iä> denn da,
wenn nicht, um Dir zu rächen, zu helfen?"
Und losepha begann ihre Geschichte. Sie schilderte Walters Ankunft
in Arco, jedes Wort, jeden Blick bis zu dem letzten bitteren Lebewohl.
„Jetzt weißt Du, warum ich so traurig bin," schloß sie. „Weil ich eine
~58 M Ztona in -trzebowiy (Vefteir. 'Schlesien),
ehrliche Frau bleiben wollte, halt er mich für eine herzlose Motette, und
dieses Bewußtsein ist nur unerträglich!"
„Dein Benehmen war eben danach, ihn an Dir irre werden zu lassen.
Du hättest ihm ehrlich die Wahrheit sagen sollen."
„Dazu fand ich nicht den Muth."
„0 über Euch tugendhafte Frauen, die Ihr so stolz seid auf Eure
Stärke und doch so elend in Eurer Schwäche! Und was nun?"
„Das frag' ich Dich! Kannst Du ihm nicht fagen, wie Alles ge-
kommen ist? Und daß es so kommen muhte?"
„Nein, mein Kind, das mußt Du selbst thun."
„)ch — aber wie?"
„Wie?" wiederholte grübelnd Helene. Dann sagte sie einfach:
„Schreib' es ihm. Nicht iu Form eines Briefes. Erzähl' ihm ein Märchen.
Es war einmal ein einsames Frauenherz, das sehnte sich nach Liebe . ."
„Ja, das will ich thun!" rief losepha, von dem bedanken hingerissen,
mit leuchtenden Augen. „Ich will ihm schreiben, und er wird mich ver-
stehen. — "
Schon am nächsten Tage brachte sie Helene den Brief. „Ich bitte
Dich, lies ... Ist es gut so?"
Helene überflog das Blatt und fah die Freundin überrascht an. So
viel Zartheit, so viel Vollendung hatte sie ihr nicht zugetraut. Joseph«
erzählte ein Märchen von der jungen Frau eines nicht mehr jungen Fischers,
die sich in einen fremden Burschen verliebt hatte. Ohne etwas Arges zu
deuten, gab sie sich dem beseligenden Gefühl der Jugend hin, die sich au
Jugend schließt. Da schlug im Sturm der Nachen des Fischers um,
Kameraden ntteten den Erlrinkenden und brachten ihn erstarrt an's Ufer.
Bei seinem Anblick erschrak die Frau bis in die Seele vor dem Gedanken
au eiueu anderen Sturm, der plötzlich hereinbrechen und vom Vater ihres
>iiudes sie für immer trennen konnte. So groß ihre Angst, so groß war
ihr Jubel, als der Gatte die Augen aufschlug. Sie gelobte sich 'in jener
stunde, ihr Glück hinfort nur an feiner Seite zu suchen. — Wochen ver-
gingen; da sah sie den Burschen wieder. Sie floh ihn, er aber rief ihr
grausame Worte zu, die ihre Erinnerung an den schuldlosen Wah», der so
schön und so süß war, vergifteten, weil sie sich von demjenigen verkannt sah,
dessen Achtung sie vor jeder Anderen verdiente. Joseph« schloß mit den
Worten: „Es wachsen wohl am Donaustrand viel blaue Veilchen. Nur
zwei von ihnen in das beigeschlossene Eouuert gelegt, würdeu einem Frauen-
herzen sagen, daß es verstanden ist, einem Herzen, das viel gekämpft hat,
bis es zu jeuer Entsagung sich emporgenmgen, die in sich selbst das reinste
Glück einschließt."
Das Eouvert, welches sie dem Briefe beilegte, trug Hcleuens Adresse.
Eine Woche später fnhr Heinrich in die Stadt. Helene hatte abgelehnt,
ihn zu begleiten. Sie lag in ihrer Chaiselongue und dachte an Joseph«.
Nur zwei Veilchen. !>5Z
Da klopfte es an die Thür; der hereintretende Diener brachte die ein-
getroffenen Briefe.
Helene ließ sie flüchtig durch die Finger gleiten. Plötzlich stutzte sie.
Was war das? Ein Couvert, fo leicht, als ob es leer wäre. Sie hielt
es gegen das Licht. In, das waren sie, die Veilchen!
Sie klingelte und befahl, foglelch einspannen zu lassen. Eine halbe
Stunde später war sie auf dein Wege nach Altdorf.
Sie traf Joseph« .allein vor den« Hause. „Ich bringe Dir Botschaft!"
flüsterte sie und gab ihr den Brief.
„Helene!" rief lofepha mit einem Auffchrei und drückte ihn an sich.
Dann zog sie die Freundin in stürmischer Aufregung mit sich fort in ihr
Zimmer. Hier riß sie das Couvert auf. Zwei Veilchen, an ein Epheublatt
geknüpft, fielen ihr entgegen. Jauchzend drückte sie die Blumen an ihre
Lippen und bedeckte sie mit Küssen; ihr ganzes Wesen offenbarte eine
namenlose Seligkeit. Lachend und weinend zugleich sank sie neben einem
Stuhl zu Boden.
„Sieh mich nicht an!" bat sie. „Laß mich, bis dieser Sturm vorüber-
geht. Er hat mich verstanden! 0 (Hott, wie glücklich bin ich!"
Helene stand indessen an die Thür gclehut und blickte mit großen,
iveitgeoffneten Augen auf die Freundin. Das hatte sie nie empfunden!
Wie arm kam sie sich vor. Se gedachte all der unwürdigen Koketterien,
all der bunten Abenteuer, hinter denen nicht ein warmes Gefühl sich ge-
borgen, und schaudernd erkannte sie mit einem Male die ganze Oede und
~eere ihres Gebens. Was lag ihr au den Leidenschaften, die sie erweckt.
Nur Liebe giebt der ~iebe Werth. Sie hatte so lange mit Herzen gespielt,
bis die Liebe verspielt war.
„Du bist so stumm," sagte losepha und blickte auf. „ )ch komme Dir
recht kindisch vor, nicht wahr?
Helene schüttelte ernst den Kopf. Dann fagte sie leise: ,,~ch be-
neide ?ich."
Wolfgang Kirchbach,
von
Alfred Stoeszel.
— Dresden,
literarische Nubrikeneifer unserer Tage — übrigens keine
speeifisch moderne Krankheit — pflegt in der Regel mit zwei
Kategorien sich zu behelfen. Er theilt, was da kreucht und fleucht
in der Welt der Litteratur, in die beiden großen Gruppen der „Alten" und
„Jungen" oder der lieben Abwechselung halber auch in die der „Idealisten"
und „Realisten" uud begeht damit zu den tausend Fehlern, deren er damit
sich schuldig macht, anch den tausenduudersten: indem er eine ganze, große
Gruppe von Leuten einfach ignorirt, die weder alt sind noch jung, weder
ausschließlich Idealisleu, noch unbedingte Realisten, die aber in dem litterari-
schen Eoncerte doch so gewichtige Parte spielen, daß man sie nicht über-
sehen kann, ohne damit das Litteraturbild der Zeit geradezu zu fälschen.
I hre J ugendjahre fallen in eine Periode, wo diejenigen, die als die
„Alten" nachmals so viel verlästert und begeifert wurden, im lenithe ihrer
Geltuug standen, und wo der deutsche Leser keine Götter kannte außer
ihnen; in den Anfang der siebziger Jahre, der Jahre nach dem Kriege,
die zugleich die Jahre einer große», breit dahinflutheuden liberalen Strömung
und jenes uolkswirthschaftlichen Aufschwunges waren, der in dem Krach
von 187A nachmals sein freilich nicht gerade überraschend schnelles Ende
fand. Ter Hegelianismus, wenn anch im Grunde längst überwunden, warf
doch noch feine letzten, matt aufleuchtenden Wellen, der Materialismus-
streit war noch nicht verstummt, und mächtig wurden vor Allem die Geister
durch Pessimismus und Darwinismus aufgerührt, die ihrem Höhepunkt zu-
strebten.
Wolfgang Riichbach, — 1,6"
Seme lugendeindrücke wird man so leicht nicht los. Und als der
Naturalismus aufkam und alsbald üppig in die Halme schoß, da hatte
ein Theil aus jener Gruppe sich überdies seine ersten litterarischen Sporen
bereits verdient. Sie warfen sich der vorwärts stürmenden und allzu oft
über's Ziel hinaus schießenden Bewegung nicht blindlings in die Arme; sie
standen ihr vielmehr schon kritisch gegenüber; aber ganz freilich vermochten
sie es auch nicht, sich ihrer Einwirkung zu entziehen. Dazu waren sie noch
nicht genug in sich gefestigt, noch zu unfertig, zu viel noch in der Ent-
wicklung begriffen. So entstand eine eigenartige Mischung in ihnen — und
sicher nicht die schlechteste — , die jene Gruppe scharf sonderte von den an
der bisherigen Kunstübung starr festhaltenden „Alten" und sie nicht minder
stark auch schied von den im alleinselig machenden Naturalismus befangenen
und alles Uebrige verdammenden „Jungen", die, Kinder einer anderen,
weniger historischen, weniger philosophischen und fast mochte ich sagen,
weniger gebildeten Zeit leichten Herzens Götter stürzten, an die jene Andern
sicher nie zu rühren gewagt hätten, eine ehrfurchtsvolle Scheu vor ihnen,
das Erbtheil ihrer J ugendjahre, allzutief noch im Herzen.
Zu jener litterarischen Gruppe, die zwischen zwei Welten so recht in
der Mitte steht, gehört auch Wolfgang Kirchbach. Er ist 1857 in
London geboren. Sein Vater, ein Maler und begabter Schüler Schnorrs, von
dessen künstlerischen Fähigkeiten unter Anderem auch die Deckengemälde in
dem Rubenssaale der Dresdner Galerie Zeugnis? geben, stammte aus
Dresden, war aber 1852 nach London ausgewandert, wo er eine junge,
geistvolle Rheinländerin heirathete, eine intime Freundin der Frau Monte-
fiores, des bekannten Philanthropen, der in seinem eigenen Hause sogar
dem jungen Paare die Hochzeit rüstete. Was in London damals an inter-
essanten Deutschen sich aufhielt, stand auch mit Kirchbachs Eltern in regem
Verkehr; so insbesondere das Ehepaar Kinkel lind Ferdinand Freiligrath;
Karl Vlind war ihr Hausnachbar, und dessen durch sein Vismarckattentat
1866 zu so trauriger Berühmtheit gelangter Sohn Ferdinand war des
kleinen Wolfgang eifrigster Spielkamerad, bis Kirchbachs Eltern schon 186(1
wieder nach Dresden übersiedelten. Hier ließen sie dem Knaben seinen
ersten Unterricht angedeihen, wie er hier im Wesentlichen seine ganze wissen-
schaftliche Ausbildung überhaupt erhielt, zuerst iu dein auch über Dresden
hinaus eines guten Rufes sich erstellenden Krause'schen Institute, wo Albert
Moser, der sicher nicht nach Gebühr gekannte und gewürdigte Lyriker, sein
Hauptlehrer war, und dann nach dem Tode der Mntter und nachdem der
Vater eine Stelle als Director der Kunstakademie in Chile angenommen
hatte, die ihn sieben Jahre lang von der Heimat und seinen Kindern ferne
hielt, im Reustädter Gymnasium daselbst.
Dem greisen Hennann Grimm ist jüngst das Selbstbekenntnis; entschlüpft,
daß, was hinter dem Beginn dieses J ahrhunderts liege, ihn nicht mehr fest-
zuhalten vermöge. Als zwängen die völlig veränderten Lebensbedingungen
1.02 Alfred 5toeßel in Kiesden.
auch zu völlig neuer Gedankenarbeit, so concentrire sich all' seine geistige
Thätigkeit uur noch auf die Gegenwart. Aber für eine jüngere Generation,
als die, der Grimm angehört, in diese Grenze zu fern noch gerückt, und
über den Krieg von 1879 hinaus vermag noch kaum Etwas das Interesse
unseres litterarischen Neuwuchses zu erregen. Üirchbach jedoch hatte von seinen
Eltern nicht nur die Erinnerung an jenen großen Freiheitssiurm, der über
ganz Europa dahin gebraust war, als Erbtheil überkommen, auch von der
geistigen Atmosphäre der Zeit war ihm ein gut Stück haften geblieben, in
der ja auch noch ein großer Theil derjenigen athmete, die seine Lehrer waren.
Ter Bruch mit dem Idealismus, mit der speculativen Philosophie hatte
sich, wenigstens in den Aelteren von ihnen, noch nicht vollzogen, und was
in ihnen noch lebendig war, theilte sich naturgemäß auch ihre» Schülern
mit. Aber daneben fanden doch auch schon die nen die Zeit bewegenden
Lehren eines Darwin uud Schopenhauer, eines Strauß und Feuerbach
ihren Eingang in die Schule, und bezeichnend für den Zeitgeist jener
Periode ist es, daß an dem Gymnasium, auf dessen Bänken Kirchbach saß,
ein naturwissenschaftlicher Wcmderuerein von den Schülern begründet wurde,
dem sich bald auch eine Elite aus anderen Gymnasien anschloß. Neben
naturwissenschaftlichen Ercursiouen in Dresdens herrliche Umgebung liefen
regelmäßig dann auch Vorträge der Mitglieder, in denen man, von den
Naturwissenschaften ausgehend, dem Urgrund aller Dinge in seiner Weise
nachzuspüre» sich bemühte. „>iraft und Stosf", die „Welt als Wille und
Vorstellung", Darwin, ,väckel und Hartmann, Nichts war diesen jungen
Leuten fremd, uud mit Wehmuth blickt mau jenem naturwissenfchaftlichen
Wanderuerein wissensdurstiger J ünglinge gegenüber auf uufere heutige
Gymnasialjugend, die zum großen Theile von allen diesen Dingen Nichts
oder herzlich wenig nur weiß, dafür aber im Neservelieutenant und Corps-
studenteu als Ideal gar vielfach einem Gigerl- und Sireberthum nacheifert,
von dem die Jugend vou ehedem Nichts wußte.
Zugleich aber zeitigte die nachhaltige uud keineswegs nur sportsmäßig
betriebene Beschäftigung mit so ernsten Dingen bei vielen von jenen jungen
Leuten eine geistige Frühreife, die in mancherlei selbstständigen Versuchen
nach dieser oder jener Richtung hin sich manifestirte. In Kirchbach drängte
sie nach der Seite des poetischen Schaffens, nud neben zahllosen dichterischen
Schülerarbeiten, die den Stempel von solchen unverkennbar auf der Stirn
tragen, findet sich doch schon auch Manches, was weit über die kindlichen
Geh- und Stehversuche des dichtenden Gymnasiasten hinausragt. So
stammt die in seinen „Ausgewählten Gedichten"*) enthaltene Ballade
„Strandräuber" aus jener Zeit, so da? Trauerspiel: „Eginhard und
Emma", das der Autor jedoch erst demuächst, in völlig neuer Bearbeitung
freilich, erscheinen lassen wird; so war vor Allein auch das erste Nuck, mit
», Leipzig, Wilhelm Friedlich, 1883.
Ivolfgang «itchbach, ~63
de»: Kirchbach als Schriftsteller vor der Oeffentlichteit debutirte, seine schon,
1878 erschienenen „Märchen"*), von Anfang bis zu Ende auf dem
Gymnasium geschrieben.
Ein starkes Talent spricht aus diesen seinen poetischen Erstlingen, eine
üppig wuchernde Dichterphantasie, ein philosophischer Tiefsinn, der das
Zaubergewand der Märchenform nur lose oft sich um die Schultern hängt,
und eine seltene Fähigkeit, selbst solche Erscheinungen unseres modernen
Lebens, die man gewöhnlich sonst als aller Poesie feindlich hinzustellen
pflegt, für seine Dichtung sich nutzbar zu macheu; herauszuholen, was an
poetischem zierne auch i» ihnen enthalten ist, und damit einen Wirklichkeits-
zug, einen Hauch modernen Lebens in jene Dichtungsart zu bringen, die
aus dem Reiche der Phantasie allein zumeist soust doch nur ihre Wurzeln
nährt; Alles nur nicht die helle Stimme des Schülers, der aus einem un-
reifen Knabengesicht damals noch in die Welt blickte, als er seine „Märchen"
schrieb.
Dafür ist es der naturwifsenfchaftliche Wanderverein, dessen Spuren
deutlich erkennbar, nicht nur durch dieses Buch allein, sondern fast durch
Kirchbachs gesammte dichterische Production hindurch sich verfolge» lassen.
Min äußerlich betrachtet fchon, fpielt der Naturforscher, der Sammler, der
den Erdbau nach irgend einer naturwissenschaftlichen Merkwürdigkeit durch-
stöbernde Gelehrte in Kirchbachs Werken eine große Rolle; innerlich ist es
die ans seinen, auch später fortgefetzten naturwissenschaftlichen Studien ge-
wonnene Weltanschauung, der philosophische Untergrund sozusagen, und oft
anch die Methode der Naturwissenschaft, deren Wellenschlag fast aus jeder
seiner Arbeiten mehr oder minder deutlich an unser Ohr schlägt. Was
naturalistifch an Kirchbachs küustlerischem Schaffen genannt werden kann,
rührt aus dieser Quelle. Aber es ist darin nur enthalten, wie ein starker
Einschlag in ein im Nebrigen ganz anders geartetes Gewebe, dessen Strnctur
die gute Schule unserer klassischen Dichterperiode nur zu deutlich ver«
räth. Dieser Einschlag wird größer in der Zeit, nachdem Kirckbach das
Gymnasium verlasse» »nd aus der immerhin durch die Schule im Wesent-
lichen bestimmten Geisteswelt hinausgetreten war in eine andere, in der
es mächtig eben zn gähren anfing, lind wo allzuschrille Trompetenstöße der
ersten litterarischen Revolutionäre gerade zum Ansturm riefen gegen die in
ausgefahrenen Gleifen einer immer grüßer werdenden Verflachnng entgegen-
gehende sogenannte idealistische Dichtung. Denn er war jung, wie die
Heerrufer alle der neuen, wildaufschäumenden Bewegung, und ihr Einflnß
»»achte sich umso stärker auf ihn geltend, je mehr er in persönliche Be-
rührung mit ihnen trat. So war, als Conrad seine „Gesellschaft" in
München begründete, auch Kirchback mit bei dem „lebhaften Plänklergefecht
gegen gewisse verhockte Zustände der deutschen Litteratur", das aus dieser
») Leipzig, Nicitlopf K Härtel
~ 6H Alfred -toeßel in Vresden,
Zeitschrift her eröffnet wurde. Freilich nur so lange es ein Plänklergefecht
blieb. Als aber in langen und erbitterten Kämpfen dann ein rüder Ton
auf Seite der vorwärts stürmenden Jugend einzureißen begann, da war
Kirchbach nicht mehr unter jenen „Stümpern", die „den edlen, alten Homer
selbst als grasgrünen Anfänger zu bezeichnen" sich erdreisteten. Die
Scheidung ward reinlich zwischen ihn, und ihnen vollzogen. Kirchbach hatte
genug an allen den „Pariser Schreiern" und mehr noch an ihren
„deutschen Nachrednern". Mit scharfer Klinge zieht er jetzt gegen diejenigen
felbst zu Felde, in deren Lager er vor Kurzem noch geweilt hatte, und ihre
Irrthümer und opfert wieder den alten Göttern, die gänzlich freilich nie-
mals aus seinem Herzen verdrängt waren, selbst zu jener Zeit nicht, da er
anscheinend der neuen Lehre eifrigster Adept gewesen.
Nun will ihn« auch die einseitige Auffassung der Wissenschaft als
Naturwissenschaft nicht ganz mehr behagen, er liest wieder fleißig Hegel
uud bekennt sich als einen Verehrer seiner Philosophie. Aber er verfällt
doch auch wieder nicht in das andere Extrem, in thörichtem Uebereifer das
Kind mit dein Bade zu verschütten. Er ist nicht blind dafür, daß die
deutsche ^itteratur allmählich zu einer Frauenlitteratur herabgesunken war,
in welcher der nach bewährten Necepten immer von Neuem wieder ange-
fertigte Familienblattroman eine fast unumschränkte, aber Alles, nur keine
segenbringende Herrschaft übte, und er beklagt es, daß es so geworden.
„Leider weiß ich," sagte er, „daß in Deutschland gegenwärtig gar viele
Männer von ihren Frauen die poetische Nahrung sich vorschreiben lassen:
ja, sie betrachten die Wirkung eines Kunstwerkes auf ihre Frauen womöglich
als das ästhetische Kriterium der Sache. Das ist eine Thatsache, und
mit dieser Thatsache ade Historienmalerei in Kunst und Dichtung! Ade
Shakespeare, ade Goethe und alle Kunst, die al 1'rsZco malt!" Und bei
einer anderen Gelegenheit, wo er eintritt für das Necht des Künstlers, sich
seine Stoffe zu holen, woher es ihm beliebe, ein Necht, das er durch
Cliquen- und Schulenweisheit sich nicht schmälern lassen will, sagt eri
„Die Mißachtung des geschichtlichen Nomanes, welche man neuerdings mit
einer gewissen thee-ästhetischen Vornehmthuerei betreibt, ist gerade so viel
werth, wie im andern Lager die geflissentliche Hochmüthigkeit, mit der man
die Modernen und Modernsten für keinen Schuß Pulver werth erklärt."
Cr hingegen weiß recht wohl, was an den Modernen und Modernsten auch
Gutes ist, zu schätzen, uud mehr als einmal greift er deshalb nach dem
Schiffchen, das modernen und modernsten Lebens kräftige Fäden genug
dann in seine Dichtung mit verwebt.
Die Darstellung der künstlerischen Entwicklung Kirchbachs ist hier der
Schilderung seines Lebensganges vormigeeilt. Noch während Kirchbach auf
dem Gymnasium saß, war sein Vater aus Chile heimgekehrt. Erfand
seine beiden Söhne — der Vruder des Dichters ist der bekannte Münchener
Maler gleichen Namens — herangewachsen und zu den schönsten Hoffnungen
Wolfgang Riichbach. <.Ü5
berechtigend. Allein es war ihm nicht lange vergönnt, sich ihrer zu erstellen,
und nur kurze Zeit schon, nachdem er den Boden des Heimatlandes be-
treten, wurde er den Seinigen wiederum entrissen. Es war nicht viel,
was nach seinem Tode zurückgeblieben, lind die Brüder waren in der
Hauptsache nun auf sich selbst angewiesen, auf ihre eigenen Kräfte und
Fähigkeiten. Unser Dichter bezog, nachdem er seine Gymnasialstudien be-
endigt, die Universität Leipzig und hörte hier ein paar Semester lang
historische und philosophische Vorlesungen, wenn auch ohne rechte innerliche
Befriedigung. Auf der einen Seite waren es allerlei dichterische Pläne
und Arbeiten, welche ihn zu sehr beschäftigten und erfüllten, um für viel
Anderes daneben Raum zu lassen; mehr aber war es noch eine Reihe
äußerer Momente, welche den Wunsch in ihm zeitigen mußten, rascher zu
einer selbstständigen Stellung zu gelangen, als dies auf den Schnecken-
wegen einer auf eiu langwieriges Universitätsstudium sich gründenden
Carritzre möglich gewesen wäre. Es waren dies seine beschränkten finan-
ziellen Mittel und ein Verlöbniß, das er schon als Primaner eingegangen
war, und das ihn übermächtig nun nach einer Vereinigung mit der ge-
liebten Braut drängte. So ward eine quälende Unruhe und Ungeduld in
ihm erzeugt, die ihn immer stärker von seinen Uniuersitätsstudien abzog
und immer mehr der Litteratur zuführte. Denn er sah darin, daß er ganz
sich ihr widmete, die einzige Möglichkeit, rasch sich auf eigene Füße zn
stellen, und mancherlei Erfolge, die er, so mit seinem Roman „Saluator
Rosa", schon errungen, ermuthigten ihn zu dem Schritte, das Brotstudium
ganz an den Nagel zu hängen. Trotzdem waren es schwere innere Kämpfe,
die er durchlebte, ehe er zn dem entscheidenden Schritte sich entschloß.
Arge Zweifel plagten ihn, ob fein Talent auch stark genug sich erweisen
würde, um über die bösen Tage, die durch die J agd nach einer Eristenz
ihm unzweifelhaft noch bevorstanden, ihn: hinwegzuhelfen, bis er kurz ent-
schlossen endlich die Schiffe hinter sich verbrannte, Leipzig und der Uni-
versität den Rücken kehrte, nach München übersiedelte und sich dort, noch
nicht zweiundzwanzig Jahre alt, verheirathete.
Neun Jahre lang blieb er, mit einer einzigen größeren Unterbrechung
von fast einem Jahre, das er in Italien zubrachte, in München, und fast
mit allen dort lebenden Schriftstellern, so mit Hei,se, Lingg, Greif, Grosse,
Fulda, Stieler, Eonrad, Weltrich u, A. trat er nach und nach in persönlichen
Verkehr.
Die Münchner J ahre waren für Xirchbach mehr die J ahre einer
innerlichen Entwicklung, mehr die eines geistigen Ausreifens, als die J ahre
einer reichen und bedeutsamen dichterischen Production. Was in der Zeit
gährte, mußte auch in ihm sich erst noch klären. Nach seinen ersten
schöpferischen Anläufen stand ihm jeder Weg offen. Er konnte nach rechts
eben fo gut gehen, wie nach links. Aber er war doch ein viel zu philo-
sophischer Kopf, um sich bei der Richtung, die er zu nehmen hatte, vom
I.t>6 Alfred 3toeß«l >» Dresden.
Zufall allein nur bestimmen zu lassen. Er mußte den neuen Theorien erst
auf den Grund sehen, sich mit ihnen auseinandersetzen, und auch den alten
Wahrheiten nochmals in's Gesicht leuchte», ob sie sich auch als echt noch
erwiesen, ehe er sich entschied.
In einer Reihe von Aufsätzen, die gesammelt und mit einigem Anderen
vereint unter dem Titel „Ein Lebensbuch"*) erschienen sind, hat er dies
auch gethan. Sie zeugen alle von einer großen Belesenheit und von ein-
gehendsten Kenntnissen ans mannigfachen Gebieten seitens ihres Verfassers,
dessen geistiges Rüstzeug allerdings ein ganz anderes ist, als das so mancher
jüngerer Autoren, die mit erstaunlich leichtem Gepäck in dieser Hinsicht oft
ihres Weges wandeln. Aber sie zeigen zuweilen auch einen svintisirenden
Geist, wie er so vielen seiner sächsischen Landsleute eigen ist, einen bohrenden
Tiefsinn, der sich in Tackgassen verrennen kann, ohne eigensinnigerweise
einen Ausweg daraus auch nur finden zu wollen.
Als eine solche Tackgasse wollen uns z. V. Kirchbachs Theorien über
den Vers erscheinen, de» er als die wahre realistische Form der Dichtung
im Gegensätze zur Prosa preist, die „rein als äußerliche Form eine durchaus
undichterische, unpoetische Form" sein soll, niemals im Stande, eine poetische
Forin werden zu können. Alle Prosaschriftsteller und selbst Autoren, wie
Dickens, Keller und Zola, sind ihn, demnach im gewissen Sinn keine wirk-
lichen Dichter, und nur die „Halbbrüder" der eigentlichen Poeten.
Es ist erstaunlich, welchen Scharfsinn Kirchbach aufwendet, um eine
solche Theorie zu stützeu, für die er immer wieder neue Gründe in's Treuen
zu führen weih. Zuerst ist ihm der Vers schon deshalb die wahre realistische
Form der Dichtung, weil die Natur selbst in dieser realistischen Form rhythmisch
arbeitet und ihre Kraftleistungen bewältigt. Dann aber erscheint ihm die
Redensart, kein Mensch rede in Versen, kein Einwand. „Denn es redet
erst recht kein Mensch von Natur in Prosa. Das, was wir Prosa nennen,
ist eine sehr mühsam errungene Denkform, welche wir Alle erst haben erlernen
müssen ... Die Prosa ist deshalb keine realistische Form, sondern eine
abstracte."
Aber wenn die ganze Natur auch ausschließlich nur in Rhythmen
spräche, was sie, nebenbei gesagt, aber keineswegs thut, und ich erinnere
in dieser Hinsicht nur an den Wind, der in den unregelmäßigsten und un-
rhythmischsten Ttöhen zuweilen doch sich austobt — die Prosa bliebe doch
die realistischere Forin der Dichtung, so lange die Menschen nicht in Verse»
reden; wofern man unter einer mehr oder minder realistischen Dichtung nur
eine solche versteht, die in mehr oder minder getreuer Weise dno Vild des
wirklichen Lebens in der Dichtung künstlerisch widerspiegelt. Und es redet
kein Mensch in Versen. Selbst wenn man die Kirckbach'sche Ansicht gelten
lassen will, daß die Prosa, weil sie sich der sogenannte« Smtar in ihrer
*) 3. MelMII,!», Dresden.
Wolfgang Rirchbach. ~tt?
ausgebildeten Form bedient, eine abstracte Denkform sei, die wir erst mühsam
alle haben erlernen müssen, dann ist diese mühsam erlernte, abstracte Denk-
form doch die realistischere Forin, weil die Menschen ihrer sich bedienen
und nicht der ursprünglichen Form des Verses. Aber wäre dann nicht die
nllerursprünglichste Form zugleich die realistischste, und war diese aller-
ursprünglichste Forni wirklich der Vers? Und dann: Sprechen die Fischer
an der Nordsee oder die Holzknechte in den bayerischen Bergen etwa in
kunstvoll gebauten Perioden, oder mit einem größeren syntaktischen Apparate,
als auch der Vers ihn nicht entbehren kann? Aber sprechen sie deshalb
in Versen? Und scheucht der Vers wirklich, wie Kirchbach an einer
anderen Stelle wieder meint, die Erinnerung an jene banale Wirtlichkeit
hinweg, die in einem Stücke wie seinem „Gordon Pascha" z. B. störend
sonst es uns zum Bewußtsein brächte, daß Gordon und der Mahdi ja
nicht deutsch, sondern englisch resp. arabisch gesprochen haben? lind thäte
er es, wäre er dann wieder' realistischer, als die Prosa, da doch der
realistische Effect, daß man nämlich jene sogenannten „philologischen Neben-
gedanken" über den Vers vergessen soll, nur durch deu Verzicht auf die Vor-
stellung erzielt würde, als wäre es ein Stück wirklichen Lebens, was sich
da vor unseren Augen abspielt?
Aber wie es Prosa genug giebt, die unrealistisch ist im höchsten Grade,
so haben wir auch Verse in Fülle, die realistischer wirken als manche
Prosa, nnd es wird Alles nur darauf ankommen, wie Prosa und Vers ge-
handhabt werden. Den fanatischen Prosaverkündern, denen jeder Vers wie
ein Verbrechen gegen die wahre Poesie erscheint, ist Kirchbach mit Necht
entgegengetreten, mit Unrecht aber ist er umgekehrt wieder selbst zum fanati-
schen Versverkünder geworden, der keine Götter gelten lassen will, außer
dein Rhythmus, dem er meines Vedünkens sogar eines seiner Werke, das
Trauerspiel „Der Ingenieur"*) zum Opfer gebracht hat. In seiner ur-
sprünglichen Prosafassung hat das Stück in München reichen Beifall sich
errungen; in seiner Umarbeitung in Versen will es mir fast als die
fchwächste von Kirchbachs Arbeiten erscheinen, und ganz deutlich kann
man an mehr als einer Stelle es ersehen, daß oit nichts Anderes die
Wirkung der Dichtung beeinträchtigt, als der Vers allein. Mag man eben
hundert Mal auch dem Vers die Berechtigung zugestehen, für jeden be-
liebigen Stoff angewandt zu werden; es wird immer doch Themata geben,
die mehr für eine Prosabehandluug sich eignen, als für eine solche in
Versen, Themata, bei denen die vollendetste Meisterschaft des Ver-
dichters die gleiche Wirkung zn erzielen im Stande ist, die dem auch weit
weniger begabten Prosaschriftsteller zn erreichen ganz mühelos gelingt. Ein
solches Thema ist der Vorwurf des Ingenieurs zweifellos, und der Vers
sitzt ihm daher anch nur wie ein geliehenes Gewand, das ihn drückt nnd
*) Dresden, L. Ehleimann.
t,s,8 Alfred 5toeßel in vresden.
beengt an allen Ecken und Enden und ihn an jeder freien Bewegung
hindert.
Mit dem „Ingenieur" schließt gleichzeitig die erste Periode von
Kirchbachs künstlerischem Schaffen, in der außer den bereits angeführten
Werken noch die zweibändige Novellensammlung „Kinder des Reichs", ein
Band „Ausgewählte Gedichte", sowie das Drama „Der Menschenkenner,"*)
entstanden sind. Es war dies, wie bereits erwähnt, mehr die Periode
einer innerlichen Entwicklung eines geistigen Sichausreifens, Wachsens
und Werdens, als die einer reichen und bedeutsamen dichterischen Pro-
duction, und so findet sich naturgemäß viel nngegohrener Most noch in
dein damals Geschaffenen; daneben aber freilich auch gar Manches, das
man mit zu dem Besten zähle» muß, was Kirchbach überhaupt hervor-
gebracht.
Mit dem im letzten Jahre seines Münchner Aufenthaltes geschriebenen
Roman „Der Weltfahrer**") beginnt dann eine neue Periode seines
dichterischen Schaffens. Der Most hat ausgegohren. Es ist kein Tastender,
Suchender mehr, der uus aus den in rafchem Aufeinander sich nun
folgenden Werken entgegentritt; fondern eine fertige, gereifte Dichter-
plmsiognomie. Sein „Weltfahrer" aber bildet nicht nur äußerlich den Ab-
schluß seiner Münchner J ahre, er zieht auch gleichsam die Summe aus
allen den Eindrücken, die der Dichter in einer so langen Zeitperiode
empfangen, und er gestaltet sich zu einer gründlichen Abrechnung mit dem
Münchner Naturalismus und dessen hauptsächlichsten Vertretern, von denen
einzelne, mehr oder minder deutlich porträtirt, in dem Werke selbst er-
scheinen. Allein er ist deswegen noch lange nicht etwa eine Huldigung für
eine >vnnstübung, die, wie Kirchbach sehr wohl wußte, in Eonventionen all-
mählich erstarrt war. Im Gegentheil; er ist vielmehr ein Protest gegen
die herkömmliche Anschauung von dem, was poetisch sein soll, und was
nicht. „Es ist doch eine herrliche Zeit, in der wir leben," ruft Konrad
Hermann, ein junger naturalistifcher Lyriker und eine der am besten ge-
zeichneten Figuren aus dein „Weltfahrer" aus, „nicht das Zeitalter Homers,
ja, nicht das Zeitalter Goethes möchte ich um die lebendige, gesteigerte
Poesie geben, welche uns gerade der technische Fortschritt gebracht hat. . . .
Siehst Du, die Mühle, das Mühlenrad, das erscheint Jedermann poetisch. . . .
So wird eine Zeit kommen, wo man auch das Eisenbahnrad als die trau-
lichste Poesie besingt, ja, wir stehen schon zur Hälfte mitten in dieser Zeit.
Denn auch die Mühle und das Mühlenrad ist ja nur eine uralte Maschine;
sollten da nicht unsre unendlich vervollkommneten Dampfmaschinen,
elektrischen Maschinen auch unendlich dichterischer sein? Es ist nur Ge-
wöhnung. Schön und poetisch wird die Welt erst zu der Zeit werden, da
') Sämmllich erschienen bei L. Ghlermann, Dresden.
**) Ticsden, E. Pierson.
Wolfgang Kirchbach. ~6<)
man Alles in Maschinen und Mechanismen aufgelöst hat. . . . Das ist
unsre neue Poesie! Die wollen wir «erkunden; die will ich Euch bringen!"
Die Wege dieser neuen Poesie war Kirchbach freilich schon in seinein
Erstlingswerke, in den „Märchen" gewandelt; aber jetzt vermochte er sie
doch mit einer ganz anderen, gereifteren Beherrschung der künstlerischen
Mittel zu gehen, wie ehedem. Wer den episodisch in den „Weltfahrer"
eingessochtenen „Mitrobenroman" gelesen, der wird sich auch dem Ein-
drucke nicht zu entziehen vermögen, daß er hier einem Eabinetstückchen
gegenüberstehe, welches allein schon das Werk über das Durchschnitts« !venu
gewöhnlicher Unterhaltungslectüre hinaus zu heben vermöchte. Aber das
ist der Noman aus) sonst in keiner Weise. Dazu ist er zu sehr gesättigt
mit dem geistigen Inhalte der Zeit. Es ist, als hätte Kirchbach in dem
Weltfahrer sein Lebenswerk zu schreiben beabsichtigt. Alles, was ihn be-
wegte, was er erlebt, gesehen und gelernt in seinein bis dahin verhältnis-
mäßig noch so kurzen und doch so inhaltsreichen Leben, die Erinnerungen
seiner Gmmmsiastenzeit mit ihren Liebhabereien und dem naturwissenschaft-
lichen Wanderverein, dessen Andenken das Buch auch gewidmet ist, seine
späteren inneren Kämpfe, die Weltreisen seines Vaters, alle seine mannig-
fachen philosophischen, naturwissenschaftlichen nnd historischen Studien, sein
Ringen nach geistiger Freiheit, nach Unabhängigkeit von jeglicher Schul-
meinung, das gan-e Bild der Zeit mit ihren hundertfach sich durchkreuzenden
Strömungen und Unterströmungen, das Alles, Alles suchte er iu das eine
Gemälde zusammenzufassen. Und doch ist es nicht überladen, nnd seine
frischen Farben erfreuen, gleichgiltig ob sie aus dem naturalistischen Farben-
topfe geholt sind, wie in dem Schlnßcapitel mit seinem fast zolamäßigen
Ausklingen oder in dem grausig packenden Nachtstücke, wo die freiwillig von
ihrem Manne geschiedene Frau Streicher, die nur deshalb deu Gatten
freigab, damit dieser seinen in's Wanken gerathenen finanziellen Verhält-
nissen mit einer freilich stark verbrauchten, aber wohlsituirten Tänzerin auf-
helfe, dem wieder vermählten Manne, dem sie in krankhafter Sentimentalität
selbst das Vrautbett gerichtet, und dann auch sich selbst in der Hochzeitsnacht
die Gnrgel abschneidet — oder ob jene Farben den» Malkasten der idealisti-
schen Richtung entstammen, wie in der reizenden Idylle des zweiten Eapitels.
Aber so wenig haushälterisch der Dichter in seinen: „Weltfahrer" mit
seinen Mitteln auch umgegaogen ist, er hat doch bei Weitem nicht sich aus-
zugeben vermocht, und was fast wie der Schlußstein seines ganzen Dichter-
lebens sich ausnahm, war doch erst der Grundstein zu eiuem Vau, bei dem
der Künstler emsig noch am Werke ist. Das Neste ist ihm vielleicht noch
vorbehalten: das Beste, was ihm bisher aber gelungen ist, hat er gleich
in seinem nächsten Werke, dem Bühnenmärchen „Die letzten Menschen"*)
gegeben, einen, Vorläufer jener ungezählten Märchen, welche die Theater ein
*) E. Pierson, Dresden.
Nu«, und l»l>, I.XXV. 224. ~
1?0 Alfred -toeßel in Dresden.
paar Jahre später als Rückschlag der großen naturalistischen Hochfluth nun
uns allzufreigebig fast credenzen.
Ein Stück für die große Masse sind die „Letzten Menschen" jedoch in
noch weit geringerem Grade, als der „Zeitfahrer" etwa ein Roman für
die Menge derjenigen ist, die mit ihrer Leetüre nur dem plattesten Unter-
haltungsbedürfnisse zu Hülfe kommen können oder wollen; viel mehr find
sie ein Stück für litterarische Feinschmecker, und wie sie selbst höhere An-
sprüche an den Zuschauer stellen, so werden sie in der Hauptsache auch solche
besonders interessiren, die ihrerseits ein größeres Maß von Ansprüchen in
litterarischen Dingen zu stellen gewohnt sind. Aber das soll nicht etwa ein
Tadel sein. Die „Letzten Menschen" sind kein Buchdrama. Ein starker
dramatischer Zug lebt in ihnen trotz des tieferen philosophischen Sinnes,
der durch die reichbewegte Handlung hindurchschimmert, ohne ihn doch mehr
zu belasten, als etwa der Blüthenstaub, der die Flügel des Falters über-
deckt, und eine Fluth von Phantasie und Stimmung ist über das Ganze
gegossen, die auch denjenigen in ihre Zauberkreise zwingen, denen jener
tiefere Sinn des Stückes immer ein ungelöstes Mthsel bleiben mus!.
Es ist der Welten Ende, das uns in den „Letzten Menschen" vorgefühlt
wird; aber nicht, wie es in den uralten Mythen gemalt sich findet, sondern
wie die Naturwissenschaft als unausbleiblich es uns vorherfagt. Die Sonne
will verlöschen, und der Erdball vereist.
.Doch eh' der eis'ae Tod die starre Welt umschliehet,
Noch einmal Leben aus der bangen Nacht entsprießet.
Noch einmal trifft der Sonne letzter Strahl
Erwärmend in das tühle Erdcnthal . .
Da blüht die Erde auf im sanften Licht . . .
Ein Paradies erwächst im Sllberlranze
Der Elsaebiiac
durch das ein Menschenpaar, das letzte, hindurchwandelt. Und rings
um dieses herum tummeln sich zu neuem Leben erweckte Fabelwesen, Faune
und Sirenen, Kentauren und Tritonen, Saturn und Rumphen, Proteus
und der alte, große Pcm selbst, mit einem göttlichen Behagen, das von
den quälenden Zweifeln, von all den Leiden, die auch des letzten Menschen-
paares Brust durchwühlen, Nichts kennt und weiß. Es ist oft fast wie ein
Stück gedichteten Böcklins, aus dessen Bildern in der Schack'schen Galerie
zu München Kirchbach ja auch mannigfache AnMylng empfangen haben mag;
aber es weht auch ein großer tragischer Zug durch das Stück hindurch, der
aus der Gegenüberstellimg jener mit glühenden Farben gemalten, faunisch
den Augenblick genießenden n»d um die Zukunft unbekümmerten Fabelwelt
und dem unsäglichen Jammer erfließt, der die letzten Menschen ihrem eigenen
und der Erde sicher nahem Ende gegenüber erfaßt.
Der rechte Mann war hier an den rechten Stoff gekommen. Das
Reich der Phantasie ist so eigentlich >lirchbachs Domäne nnd daneben die
philosophische Tpeculation, nnd in beiden Richtungen konnte er hier- nach
Wolfgang «irchbach, ~?l
Herzenslust sich ausleben, ohne doch befürchten zu müssen, durch ein Zuviel
nach dieser oder jener Seite hin, wie es in anderen seiner Werke ab und
zu doch sich geltend macht, entweder als allzu phantastisch oder allzn tief-
sinnig zu erscheinen.
So wurden seine Schwächen selbst zu Vorzügen an diesem Stoffe, an
dem der Autor einen ebenso glücklichen Griff gethan, wie an dem Stoffe
zu seinen» nächstfolgenden und bisher wohl verbreiterten Werke, dem „Leben
auf der Walze"*), So grundverschieden die beiden Vorwürfe aber auch
sind, es leitet doch eine Brücke von dem einen zum andern, die nach einem
rein aus dein Boden der Phantasie entsprossenen Werke, wie die „Letzten
Menschen" es sind, die Wahl eines Themas verständlich erscheinen läßt, in
dem das erbärmliche Leben des Handwerksburschen und Pennbruders behandelt
ist. Und diese Brücke ist nicht nur in dem Contrast zu suchen, nicht nur
darin, daß das Pendel, nachdem es nach der einen Seite sich aus-
geschwungen, nun auch zurück und nach der entgegengesetzten Seite schlagen
inuß. Kirchbach ist kein Gesellschaftsmenfch, kein Man« des glatten Salons;
er fühlt sich am wohlsten in Wald und Flur, auf weiten Fußwanderungen
oder in der Stille seiner Studirstube, vertieft in seine Bücher nnd
Studien, und er kennt demnach die ihm gleichgültige Welt, die die Salons
bevölkert, weit weniger, als jene Welt, der er das größte Interesse, eine
warmherzige, tiefe Liebe entgegenbringt, die Welt der Dichter nnd
Denker, wie das Leben nnd Weben draußen in der Natur, Davon hat
er zwei Seiten bisher uns nur geschildert, im „Weltfahrer" das stille, ge-
heimnißvolle Leben der Pflanzenwelt, in den „Letzten Menschen" das
Dreiben aller der Fabelwesen, mit denen seine Phantasie ihm die Natur
bevölkert; nun wendet er sich auch dem zu, was an Menschenkindern im
Dunkel des Waldes oder auf der zwischen endlosen Felden« sich dahin-
ziehenden Landstraße umherkrabbelt, jener tagscheuen Brüderschaft, die kein
anderes Heim hat, als Mutter Grün und die Penne. Und er schildert
sie trotz dem waschechtesten Naturalisten. Er kennt ihre Sprache, jenes selt-
same Nothwelsch, in dem sie mit einander verkehren, und ihre Gewohn-
heiten, alle die Nüanceu der Species, ihre guten und bösen Seiten, und
er weiß sie plastisch und anschaulich genug uns zu schildern. Daß der
Noman überdies in eine Zeit siel, wo eine ganze Richtung in der sinnst
mit Borliebe das Leben der Enterbten und Elenden zum Gegenstande ihrer
Darstellung machte und bei dem eben herrschenden großen Interesse für
alle sogenannten socialen Fragen auch den lebhaftesten Widerhall erweckte,
in eine Zeit, wo durch des Theologen Paul Göhre interessante Studie:
„Drei Monate Fabrikarbeiter" die Theilnahme für die in Kirchbachs
Werke geschilderte Mensckentlasse gerade eine besonders starke war, ver-
mochte de» Wertli der Arbeit freilich nicht zu erhöhen; aber es verhalf
*) Berlin, Verein der Bücherfreunde.
12*
~72 Alfred 3t«eßel in Dresden.
dem Buche doch mit zu einer größeren Popularität, als frühere Arbeiten
des Autors ihrer mehr oder minder starken Erclusivität wegen sich je ver-
muthlich errungen hätten, so daß Kirchbach seit dem „Leben auf der Walze"
wohl mit zu den« verhältnißmäßig sehr kleinen Kreise von Autoren zu
zählen ist, deren Namen auch weiteren Kreisen geläufig sind.
Aber, als wäre es ihm darum zu thun gewesen, nach diesen: seinem
erfolgreichsten Werke nicht ein für alle Mal zum Naturalisten gestempelt zu
werden, so finden wir den Dichter fchon in seiner nächsten größeren Arbeit,
die er ans eine Sammlung von Novellen unter dem Titel „Miniaturen"*)
hat erscheinen lassen, in „Des Sonnenreiches Untergang"**) auf ganz
anderen Pfaden. Es ist der Weg der historischen Tragödie, den er dies-
mal schreitet, der Weg Shakespeares und Schillers, auf dem er, ob er
gleich nie ihn bisher noch gewandelt, merkwürdig gut sich zurecht findet.
Ganz anders, wie in den Bühnenwerken seiner ersten Schaffensperiode,
wie im „Ingenieur" und im „Menschenkenner", ist er jetzt Herr des
technischen Handwerkszeugs, kennt er die Forderungen des Theaters, weiß
er seine Handlung zu gruppiren und dramatisch wirksam aufzubauen. Der
Fortfehritt ist ganz unverkennbar. Die Flügel sind ihm gewachsen, und sie
erlahmen nicht mehr nach kurzem Fluge, sondern tragen ihn sicher empor
nach dem hohen Ziele, das er sich gesteckt.
Es ist ein dankbares Thema, die Eroberung Perus durch die Spanier,
das der Dichter sich wieder zum Vorwurf für seine Tragödie erkoren, reich
an tragischen Momenten und wirksamen Kontrasten, die nach einer Tra-
matisirung förmlich zu drängen fcheinen, und die es uns vergessen lassen,
wie fernab jene Ereignisse alle uns im Grunde liegen. Was in dem
Stoffe lag, hat Kirchbach auch geschickt herauszuholen verstanden. Aber
ebenso geschickt hat er zugleich mit seinen künstlerischen Mitteln hauszuhalten
gewußt, und ob das Drama auch seinen Höhepunkt am Ende des zweiten
Actes schon erreicht: es weiß doch bis zum Schluß noch uns zu fesseln.
Der Versuchung in diesem „Eultuxdrama" der Schilderung jenes hochent-
wickelten Eulturzustandes, wie er uns in dem auf communistifcher Grund-
lage aufgebauten peruanischen Staatswesen iu drastischem Gegensatze zu der
empörenden Barbarei und Grausamkeit jenes bigotten, rohen und allen
Lastern ergebenen spanischen Pöbelhaufens entgegentritt, dessen Führer
Pizarro nicht einmal des Lesens und Schreibens kundig war, auf Kosten
der Gesammtwirkung einen allzubreiten Raum zu gönnen, ist Kirchbach da-
bei klug aus dem Wege gegangen, und was er an kulturhistorischen
Neminiscenzen geboten, hat er discret und ohne alle Aufdringlichkeit gethan.
Schade, daß gerade die Hauptfigur des Dramas, der letzte Inka
Atahuallpa, einige Ungleichheiten in der Charakterzeichnung aufweist. Im
*) Stuttgart 1892. I. st«. Cottll.
**) Dresden 1894. G. Piersons Verlan.
Wolfgang Kiichbach, l,?2
ersten Acte, in dem Zwiste mit seinem Bruder Huaokar, den Atahuallpa
vom Throne verdrängte, um sich selber darauf zu setzen, sind die Sympathien
des Zuschauers im Grunde alle auf Huaskars Seite. Und mit Reci,c.
D enn wenn Atahuallpa alle seine Verwandten, die zu dem Bruder gestanden,
Männer und Frauen, nach glücklich errungenem Siege, auf das; sie ihm
nicht weiter gefährlich werden können, in den Felsenahgrund stürzen läßt
und ihnen, denen in wenigen Augenblicken die „heiligen Häupter" zerschlagen
werden sollen, auf ihrem traurigen Wege zur Richtstätte, als wollte er sie
noch höhnen, zuruft:
„Wie glücklich seid Ihr Alle! Ihr „cht hin.
Wo Euch unsterblich Leben blühen wird.
Indessen wir in dieser Welt der Arbeit
Noch länger uns're Mühsal tillgen müssen!"
so kann man nicht anders, als mit Huaskar sich über eine so grobe
Heuchelei in tiefster Seele zu entrüsten. Es wird Einem schwer, demselben
Manne dann in den Tagen seines Unglücks jenes Maß von Mitleid ent-
gegenzubringen, das der Dichter in lins offenbar erwecken will, und das
wir sicher sonst auch für ihn empfunden hätten. Und mit Mühe nur ver-
mag man deshalb in der sonst hochdramatischen Scene, wo Atahuailpa in
der Ahnengruft die Mumien der todten Inkas befragt, ehe er, sich zu
retten, den Bruder heimlich um's Leben bringen läßt, den Gedanken zu
unterdrücken, ob dieser große Komödiant, als der er ini ersten Acte sich
erwiesen, nicht auch hier abermals nur ~in Theaterstückchen aufführt, während
sein Entschluß, den Bruder zu opfern, längst schon gefaßt war, und das;
ein Schurke, Atahuallpa, fomit hier nur an einen noch weit größeren
Schurken, Pizarro, gerathen.
Um so besser ist Kirchbach dafür die Eharakteristik der Spanier ge-
lungen, und für einige Schwächen des Stücks bietet er reichlichen Ersatz in
einer Reihe unleugbarer Borzüge, so in einer brillanten Farbengebung,
die die Bilder längstvergangener Zeiten lebensfrisch uns vor das Auge stellt,
und in einigen fein abgetönten lyrischen Momenten, die, als Ruhepunkte
gleichsam, die dramatisch stark bewegte Action stimmungsvoll unterbrechen.
Immerhin war es, so dankbar, wie erwähnt, das Thema einerseits auch
ist, auf der anderen Seite doch ein nicht zu unterschätzendes Wagniß, in
der Zeit Ibsens und des socialen Trauerspiels für eine historische Tragödie
in fünffüßigen Jamben noch Interesse erwecken zu wollen; aber der Erfolg
der ersten Aufführung am Dresdner Hoftheater, der weitere Aufführungen
auf einer ganzen Reihe erster Bühnen folgen follen, hat es allein schon
bewiesen, daß das Wagniß geglückt ist.
Einen ungleich größeren Wagemnth hat Kirchbach aber doch noch mit
seiner nächsten Tragödie „Gordon Pascha" bewiesen. Wir haben die Er-
eignisse alle miterlebt, die dem Stücke zn Grunde liegen. Mit ängstlicher
Spannung haben wir s. Z. monatelang das Vorwärtsdringen des Entsatz-
I.?H Alfred 5toeßel in vreiden.
Heeres unter Wolseley verfolgt, in banger Erregung, ob es noch gelingen
würde, Gordon und seine Getreuen zu erretten, nm endlich die Kunde von
dem verhängnißuollen „Zu spät" zu vernehmen. Und nun soll uns das
Alles auf den« Theater vorgeführt werden, und nicht etwa in einem Aus-
stattungsstücke oder in einer jener Sensationskomödien, die mit Vorliebe
ja des Allerneuesten und Actuellsten sich bemächtigen, sondern in einem
ernstgemeinten Drama, das mit der vollen Prätension einer wirtlichen
litterarischen Leistung auf den Plan tritt. Das Experiment in neu,
wenigstens für unsere Tage. Aber warum, meint Kirchbach, soll das, was
vor mehr als zweitausend Jahren dem Aeschylus mit seinen Persern er-
laubt war, ohne daß ein hypochondrischer ästhetischer Coder es ihm ver-
wehrte, nicht auch dein modernen Dichter gestattet sein?
Die Zeiten haben sich gewandelt, die Menschen am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts sind dieselben nicht mehr, wie die in Aeschylus' oder
Shakespeares Tagen. Sie sind weit weniger naiv, als jene, zu sehr
darauf erpicht, die Dichtung darauf hin anzusehen, ob sie auch nur der
Wahrheit, der Wirklichkeit entspräche, zu wenig daran gewöhnt, die Ein-
richtungen und Errungenschaften unseres modernen Lebens auch als poetische
Elemente anzusehen, deren eine höhere Ansprüche erhebende Dichtung sehr
wohl sich bedienen darf. Und deshalb ist das Unternehmen, den Zeit-
genossen ein Drama, das sie selber miterlebt haben, im Spiegel der
Dichtung vorzuführen, heutzutage ein ganz anders gewagtes, als es ebedem
gewesen, nnd anch deswegen, weil die Gefahr allzuuahe liegt, in das Genre
eben jener Sensationskomüdien hineinzngerathen, von denen wir eben ge-
sprochen. Indem Kirchbach seinen „Gordon" in Verse goß, hat er diese
letzte Klippe wenigstens mit Geschick zu umgehen gewußt. Von vornherein
hat er damit sein Drama in ein höheres Niveau gerückt und den Zuschauer
zu einem ganz anderen Maßstab für die Neurtheilung gezwungen, so sehr
befremdlich es für den ersten Augenblick auch wirkt, Gordon Pascha oder
den Berichterstatter der Times mit dem sehr wenig poetisch klingenden
Namen Power in Versen reden zu hören.
Wie in des „Sonnenreiches Untergang", so sind es auch hier zwei Welten,
die einander gegenüberstehen. Aber diesmal sind nicht wie dort die Wilden
die besseren Menschen, sondern die durch den edlen und hochherzigen Gordon
rcpräsentirten Europäer, deneu im Mahdi und dessen lawinenartig sich
mehrenden Anhängern eine nach außen zwar glanzvolle Gruppe entgegen-
gesetzt wird, glanzvoll, weil im Vesitze einer ungeheuren Machtfülle, aber
morsch und faul im Innern bis auf die Knochen, weil auf Lüge und Velrug
aufgebaut. Und wie in dem Inkadrama, so erliegt auch hier das Gute
im Kampfe mit der brutalen Uebermacht. Das Vöse triumphirt. Aber
es ist nun einmal so der Gang der Ereignisse gewesen, an denen, gerade,
weil sie uns so verzweifelt nahe liegen, freilich nicht viel sich ändern ließ, und
Kirchbach glaubte von der historischen Wahrheit schon deswegen umsoweniger
Wolfgang Riichbach. 1.75
abweichen zu dürfen, als eben diese Wirklichkeit im vorliegenden Falle ihm
„das beste ethische und sittliche Motiv der ganzen Dichtung" zn sein schien.
Nnd doch wäre eine kleine Retouche der Wirtlichkeit dem Gefammtbilde
vielleicht uon Vortheil gewesen, in dein die einzelnen Figuren immerhin plastisch
und scharf uon dem stimmungsvoll gezeichneten Hintergrund sich abheben.
Unter ihnen gebührt dem Mahdi und seiner Gruppe, die freilich das
lebendige Eolorit des Orients und mit dem malenscheren Eostüm weit mehr
Theatralisches überhaupt schon uon Hause aus vor den in dem Drama
auftretenden Europäer» voraus hat, unbedingt der Vorzug, und nur das
weibliche Element scheint uns in der Charakteristik ein klein wenig zu kurz
gekommen zn sein. Aber das ist eine Schwäche des Dichters überhaupt',
und mit Ausnahme der Frau Streicher in seinem „Weltfahrer", in der
Kirchbach freilich einen Eharakterkopf von blendender Wirkung geschaffen,
sind fast alle seine Frauengestalten, wenigstens insofern sie den besseren
Ständen angehören, mehr ausgedacht, als geschaut. Er kennt die Frauen
zu wenig; aber der Tadel, der in diesen Worten für den Dichter liegt,
schließt zugleich doch wieder das höchste Lob für den Menschen Kirchbach
ein, der seit seiner, wie erwähnt, in so jungen Jahren eingegangenen Ehe
in Herzenssachen vermuthlich Nichts weiter mehr erlebt hat.
Vor wenigen Wochen vollendete Kirchbach sein 38. Lebensjahr; er steht
somit in einem Alter, in welchem andere Talente sich oft erst zu ent-
wickeln pflegen; aber wenn man die Fülle dessen überblickt, was er bereits
geschaffen — und zu den schon erwähnten Werken sind noch seine letzten
Arbeiten, ein Roman „Der Wein", das bereits citirte Drama „Eginhard
und Emma", sowie ein Operntert „Der Spiegel" < Musik von Franz Eurti)
zn ergänzen, auf die hier nur aus dem Grunde nicht näher eingegangen
werden konnte, weil sie, im Erscheinen begriffen, noch nicht vorlagen —
dann nimmi die stattliche Anzahl von Bänden sich aus, wie das End-
ergebnis; eines langen und arbeitsamen Dichterlebens, dessen auch eiu doppelt
so Älter wie Kirchbach keinesfalls sich zu schämen brauchte. Uud sicher hat
.Nirchbach auch den Gipfel feines Könnens noch lange nicht erreicht. Denn
ob das Beste, was er uns bisher gegeben, seine „Letzten Menschen", gleich
in den Anfang feiner zweiten Schaffensperiode fällt, so ist doch ein Fort-
schreiten, wie es von seiner ersten zn seiner zweiten Periode constatirt wurde,
auch innerhalb eben dieses zweiten Abschnittes in vieler Hinsicht nicht zu
verkennen, ein Wachsen und Entfalten seiner Kräfte, das offenbar immer
noch im Steigen begriffen ist. Seine besten Karten hat Kirchbach also ver-
muthlich noch nicht ausgespielt; aber er hat doch genug davon gezeigt, um
die Ehrung gerechtfertigt erscheinen zu lassen, die ihm dadurch widerfahren,
daß der in Dresden tagende Eongreß der ,,/v,«8oc:!gtion littörlui-s ot
Il!'ti8ticil>6 intsriintiunalß" ihn zu seinem Vorsitzenden erkoren, eine
Ehrung, die allerlei zufällige und äußerliche Gründe allein wohl knnm
herbeigeführt hätten.
Gedichte,
von
Ludwig NacouowM.
— Verlin. —
Dorfidyll.
Des Küsters blondes Töchterlein
sitzt mit dem Lehrer ganz allein.
Im Flieder singt die Nachtigall
Und singt von liebe mit süßem schall,
sie sieht zur Seite, er spricht kein Wort,
Das vöglein singt noch immerfort.
Das klingt so hell von tust und Freud',
Da rückt er still an ihre Zeil'
Und küßt das Vlondhaar immerzu,
sie schließt die beiden Augen zu . . .
Im Vrombeerbusch am Gartenzaun,
Da ist ein junger Vursch zu schaun.
Der Hansel ist's, der Ackerknecht,
Dem war die sache gar nicht recht,
In Erlenblä'ltern der Nachtwind rauscht,
<3r steht am Zaun und steht und lauscht.
Dann schleicht er fort durch's Rübenfeld.
Li pfeift jetzt auf die ganze Welt,
Im wirthshaus ist heut' Rauferei,
Da schlägt er Tisch und Vank entzwei!
Die Nacht.
lind wenn mich Deine süße stimme Ich will nicht frevelnd nach den steinen
riefe, greifen,
so süß, wie keine Nachtigall gelacht, Doch nach den Vlumcn, die in meiner
Ich müßte thun, als wenn ich tief schon Macht,
schliefe, — Denn um in's Ungemeßne zu entfchweifen,
Ich habe Furcht, denn draußen steht die Ich habe Furcht, denn draußen steht die
Nacht. Nacht.
Halt' aus, mein lierz, wenn auch mit
Schwertesschärfen
Lin großes weh Dich Nberelend macht.
Denn um mein kleines leben hinzu-
werfen, —
Ich habe Furcht, denn draußen steht die
Nacht . . .
Gedichte,
57?
Rothe ~osen.
Ein Körbchen Rosen sandt' ich vir in's
Haus.
Du suchtest Vir die beiden schönsten aus.
Heut Abend prangt das dunkelrothe paar
Als einz'ger 5chmuck in Deinem schwarzen
Haar,
Mich siehst Du nicht! Ich aber schau Dich an.
Es ahnt kein Mensch, was ich vir an-
gethan,
Kein Mensch im Saal, daß mit dem
Rosenpaar
Mein Segen ruht auf Deinem lockenhaar.
3er Wundervogel.
Dorm Fenster steht ein Ahornbaum,
Da singt ein vöglein seltne lieber,
Das kommt ans fremdem Himmelsraum
In jeder Sommernacht hernieder.
Doch wenn die letzten Vlüthen blühn
Und weif; und roth zur Erde wehen.
Dann muft es in die Fremde zieh«,
wo andre Nliithen auferstehen.
Tiefdunkel war die Sommernacht,
Da hob das vöglein seine Schwingen.
Ich hörte halb im Craume sacht
Sein letztes Klagelied verklingen.
Ich bin so sterbensmiide jetzt
Und möchte schlafen wie die Andern,
was fang das vöglein doch Zuletzt? —
„5ei still, auch Du wirst balde wandern
Die lüngstdeutschen des achtzehnten Jahrhunderts,
von
Nlltwlf von Gilttschall.
— telpzia. —
7 ist etwas Mißliches mit den geschichtlichen und litterargeschicht-
lichen Parallelen: Der Satz „omns gimils olausUcnt" findet
auch auf diefe feine Anwendung. Gleichwohl sind sie immerhin
lehrreich, da sie doch das Gleichartige hervorheben, was verschiedenen durch
die Zeit getrennten Epochen eigen ist, und wenn eine neue litterarische
Richtung sich lärmend als eine Revolution ankündigt, welche alles bisher
Dagewesene über den Haufen wirft und enrmin«, nun prisuz auctit»
cmf dem litterarischen Markte anstimmt, so mag man sie doch mit der
Weisheit des Nen Akiba zur Ordnung rufen und ihr nachweifen, daß schon
vor einem J ahrhundert in dasselbe Honi gestoßen wurde und Vieles von
dem, was sie als eine unerhörte Neuerung ausposaunt, nur eine Wieder-
holung, ein Abklatsch früherer dichterifcher Bestrebungen und Leistungen ist,
welche die Literaturgeschichte aus dem Lethe, in dem sie sonst vergraben
sind, bisweilen hervorholt.
Es würde die Grenzen eines Essays überschreiten, wollte ich die Parallele
zwischen den lüngstdeutschen des neunzehnten und denen des achtzehnten
J ahrhunderts im Einzelnen durchführen; es kommt hier nur darauf an,
einige Hcmvtgesichtsvnnkte hervorzuheben, um zu zeigen, wie sich das
Neueste, das sich so stürmisch geberdet, mit dem Alten, das längst verschollen
ist, berührt.
Wie in jener Zeit, besonders in dem Jahrzehnt von 1770 ab, wimmelt
es auch gegenwärtig von Genies auf dein Parnaß, und die Revolution der
vie lüngftdeutschen des achtzehnten Jahrhundert». I?9
Litteratur wirft Alles über Bord, was die frühere» J ahrzehnte dieses J ahr-
hunderts geschaffen. Sieht man diese Genies aber näher an, so paßt ans
sie Vieles von dein, was die damaligen älteren Litteraturgriißen über die
jüngeren Stürmer und Dränger äußerten; eine kleine Vlüthenlese solcher
Meinungsäußerungen mag dies bestätigen. Gegen die Selbstberäucherung
dieser Genialitäten wandte sich Lavater: „Genie! tausendmal und niemals
mehr als in unserer Aftergeniezeit hergeworfenes Wort — aber der Same
bleibt nicht, jeder Hauch des Windes weht ihn weg — jedes kleine Talent-
mückchen nennt noch ein kleineres Genie, damit dies wieder zu Kleineren
Isinabrufe: seht an die Höhi hinan! Aber Flieger, Rufer und Stürmer,
die sich einander hinauf und hinabräucherteu und vor — genierten,
die Sonne geht auf, und weun sie aufgegangen, was seid ihr?" Achnlich
schrieb Nicolai 1776': „In nur fünf J ahren wird das wilde Wehen ver-
rauscht sein, und dann wird man ein paar Tropfen bieist im Helm und im
Tigel ein großes caput inorwuin treffen." „Das Publicum", sagt Jean
Paul, „las und labte sich an dem ästhetischen Schnepfendrecke dieser cpnischen
Dichter, da es für echten Bombast vielleicht mehr Geschmack besitzt als ganz
Paris, denn wenn der ungekünstelte einfältige, natürlich rohe Geschmack
nicht nnr der richtigste ist, sondern auch der ist, der brennende dicke Farben,
Quodlibetbilder und mäßige Uebertreibung zu geuießen weiß, so muß er
doch wahrhaftig bei einen» Lesepnblicum zu finden sein, das größtentheils
aus jungen Leuten, Studenten, Kaufmannsdienern und ungebildeten Geschäfts-
leuten besteht. Jetzt ist der Parnaß ein ausgebrannter Bulcau, und wo
haben wohl jene Männer, die aus Goethes Esse funkelnd stoben, ihren
Glanz und ihre Wärme gelassen?" Viel schärfer noch ging den Satiriker
Lichtenberg diesen Litteraturrevolutionären und sich gegenseitig vergötternden
Genieaposteln zu Leibe. „Das deutsche Publicum," sagte er in seinem
„Parakletor oder Trostgründe für die Unglücklichen, die keine Originalgenies
sind," „verlangte Originalgenies und Originalwerke. Es war eine Lust
anzufehen, dreißig ~)orike ritten auf ihren Steckenpferden in Spiralen um
ein Ziel hernm, das sie den Tag zuvor mit einem Schritt erreicht hätten,
uud der, der sonst beim Anblick des Meeres und des gestirnten Himmels
Nichts denken kounte, schrieb Andachten über eine Schnupftabaksdose.
Shakespeare standen zu Dutzenden auf, wo nicht allemal in einem Trauer-
spiel, da in einer Necension; da wnrden Ideen in Freundschaft gebracht,
die sich außer in Bedlmn nie gesehen hatten, Naum und Zeit in einen
Kirschkern geklappt und in die Ewigkeit verschossen; es hieß: eins, zwei,
drei; da geschahen tiefe Blicke in das menfchliche Herz; man fagte feine
Heimlichkeiten, und fo ward Menschenkenntnis;." Gegen die Sprache und
den Styl der >traftgeiiies richtet er feine witzigen Ausfälle in der „Bittschrift
des Wahnsinnigen"; er copirte die beliebten Elisionen. „l'Hebs'n, woll's n't
sonst'n. Sieh's Genie, wie's n'Wolken webt? Ob d's Genie siehst? Wenn
d's mt siehst, Host die Nasen nit 's Genie z'riechen." Ost angesührt ist die
I>80 Rudolf Goltschall in leipzig.
Aeußerung Lichtenbergs, er müsse täglich sehen, daß seilte zu»! Namen Genie
kämen, wie die Kellerasseln zum Flamen Tausendfuß, nicht weil sie souielo
Füße haben, sondern weil die Meisten nicht bis auf vierzehn zählen wollen.
Auch Wieland, der von den Jüngeren viel gelesen, aber auch heftig angegriffen
wurde, ärgerte sich über die „lausichten Gelbschnäbel, die sich »ir geben, als
ob sie mit Shakespeare Blindekuh zu spielen gewohnt wären." Der durch
seine geistvollen Reisebriefe bekannte Schriftsteller Sturz ermahnte die jüngeren
Geniemänner zur Bescheidenheit und veröffentlichte einen sehr heftigen Ergus;
seines Unwillens über die jüngste Litteratur unter der Maske eines Freundes,
der ein derartiges Sendschreiben an ihn gerichtet; er spricht darin von der
sinnlosen, zerhackten, holprigen Prosa oder den stachen Kuittelreimen, die «ns
jetzt nach zehn Jahren geboten würden, nachdem wir Lessing, Mendelssohn,
Zimmermann, den Agathon und Snlzcr gelesen, uns an >Uopstocks himmlischen
Gedichten, an Wielands irdischen ergötzt hätten; er weist hin auf die Pöbeleien
im Drama uud der Tatire, auf die Einfälle, sich niederzulassen in der
leeren sumpfigen Gegend der Natur, dort allein Moor- und Haideblumen
zu sammeln: durch solche Würfe seien die Griechen wahrlich nicht unsterblich
geworden. Von ihrem Genie, das in der vollkommensten Euphemie tiefen
!>jehalt in reizenden Ausdruck gekleidet, hat Aristoteles seine Regeln em-
pfangen und nicht Gesetze dem Genie gegeben, die man jetzt so gern ver-
achten möchte, weil man sie nicht mehr ausüben könne.
Einer der Hauptführer der Sturm- uud Drangperiode und ihr Tanf-
pathe. Klinger, gehörte doch zu denen, die fchon iin nächsten Jahrzehnt zur
Besinnung kamen, wenngleich seine dichterische Schöpferkraft mit jenem
jugendlichen Ungestüm mehr oder weniger verlöscht zu sein schien. In der
Ausgabe seines Theaters 1785 spricht er sich über seine früheren dramati-
schen Arbeiten nnd diejemgen seiner Genossen aus; er nennt sie individuelle
Gemälde einer jugendlichen Phantasie, eines nach Thätigkeit und Bestimmung
strebenden Geistes, die in das Reich der Träume gehören, mit denen sie nabe
verwandt zu sein scheinen. „Wer aber gar kein Licht in diesen Erplosionen
des jugendlichen Geistes und Unmuthes sucht, ist nie in dem Fall gewesen.
Etwas davon in sich selbst zu fühlen. Ich kauu heute so gut darüber lacken,
als Einer, aber soviel ist wahr, daß jeder junge Mann die Welt mehr oder
weniger als Dichter oder Träumer ansieht, Erfahrung, Uebung, Umgang,
Kampf und Anstoße heilen uns von diesen überspannten Idealen und Ge-
sinnungen. Eben dieses lehren die Dichter und Künstler, daß Einfachheit,
Ordnung und Wahrheit die Zauberruthen seien, womit man an das Herz
des Menschen schlagen müsse, wenn es ertönen soll. Die Klagen sind un-
endlich, die man über die wilden Produkte führt, die zu Zeiten in der
deutschen Welt und besonders für's Theater erscheinen. Soviel ist indeß gewiß,
daß wir Deutschen durch diese Verzerrungen gehen müssen, bis wir sagen
mögen, so und nicht anders behagt's dem deutscheu Sinn. Nichts reift
ohne Gährung." Und viele Jahre später, als der Dichter Klinger längst
Vie lungstdeutschen des achtzehnten Jahrhundert«. ^8^
zum Weltmann geworden und das Kind aus der Proletarierwiege eine hohe
Lebensstellung erreicht hatte, schrieb er in den 1803 Heransgegebenen ,,Be»
trachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt nnd
Litteratur": „Warum kann ein welterfahrener Mann nichts Ercentrifches
uer-tragen? Weil er gesehen hat, daß es zu Nichts führt, zu Nichts taugt.
Nichts befördert, selbst das Lachen nicht. Alles, was es wirkt, besteht darin,
daß es dein ein Zeichen anklebt, der sich damit schleppt oder der von
diesem Wesen besessen ist. In der Welt ist ihm keine Stelle angewiesen,
und in der Litteratur ist es gegen den Menschenverstand. Aber warum
treten so viele unserer jungen Leute mit dem Zeichen als Schriftsteller auf?
Eben darum, weil sie junge Leute sind und es ihnen noch an alledem
fehlt, was sie zum Auftreten berechtigen könnte."
Den Kennern der jüngstdeutschen Türba wird es nicht entgehen, daß
sowohl diese letzte Aeußerung, als auch sehr viele audere Bemerkungen
damaliger namhafter Schriftsteller gegen die Stürmer und Dränger, die
wir hier angeführt, muwtiz nnttaucli», auch auf die I üngstdeiitschen passen,
die wie jene eine Revolution der Litterawr mit vollen Backen ausposaunen,
die bisherigen Litteraturgötter zu entthronen und sich an ihre Stelle zu
setzen suchen. Sie haben Recht, wie ihre damaligen Vorgänger, wenn es
sich um Modegötzen handelt, nnd es ist damals sowie jetzt sehr viel ge-
brechliches Nippzeug zur Anbetung nnd Verehrung auf den Doilettenaltären
aufgestellt worden; wenn dies von den Ellenbogen einer jüngeren Generation
heruntergestoßen wird, daß es im Staub znsammenklirrt, so ist hierin nur
eiu Fortschritt zu sehen. Und wie in jener Zeit des Sturms und Drangs,
so weht auch in der jüngsten, sich überstürzenden litterarischen Bewegung
ein frischer Hauch, und ein durch offene Fenster hereinkommender Luftzug
verscheucht die Miasmen, die sich allmählich in der Stickluft des Götzendienstes
mit gefeierten Nichtigkeiten erzengt haben; aber der Sturm ist zunächst mehr
Programm, und es zu verwirklichen, bemüht sich meistens vergebens die
künstlerische Ohnmacht.
Neu ist aber auch das Princip nicht, das jetzt auf die Fahne ge-
schrieben wird, das Princip des Naturalismus; wir finden es wieder in
dem Programme der Stürmer und Dränger des vorigen Jahrhunderts.
Damals aber hatte es den Eronegk, Brnhe, Gleim, den Gottschediaueru
gegenüber mehr Berechtigung als jetzt, wo wir eine klafsische Litteratu repoche
biiiter uns haben, nnd wo Goethe Meisterwerke eines geläntei'ten Realis-
mus geschaffen hat. Damals suchte man die falschen Götzen mit Hilfe
Shakespeares zu stürzen; jetzt ist Shakespeare uns in's Blut übergegangen,
und einen Schiller und Goethe zu den falsche» trotzen zu rechnen, das ge-
trauen sich doch unsere verwegensten Bilderstürmer nicht; nur die Epigonen
jener Klassiker werden meuchlings aus dem Wege geräumt. Im Ganzen
aber ist der neue Nawmlismus ein Rückfall in das unklare Treibe» der
alten Stürmer und Dränger und in die ästhetische Anarchie, welche jene
1,82 Rudolf Gottschall in leipzig,
gepredigt haben. Da begegnen wir auffallenden Aehnlichkeiten in Theorie
und Praxis, und wie in einein Verirspiegel mögen manche der Jüngste,!
ihr groteskes Gebahren in den Verzerrungen jener Zeit wiederfinden.
Nicht blos die Stürmer und Dränger predigten damals den Naturalis-
mus; auch der nach Volkstümlichkeit strebende Vürger, der verlangte, dan
die deutsche Muse nicht auf Reisen gehen, sondeni ihren Naturkatechismus
zu Hause auswendig lerne. Ebenso erklärt Schlosser in seinem Sendschreibeil
an Lenz, „die Versemacher hätten alle nur an der Hülle gehangen und den
Geist nicht gekannt, der sie belebte; es gebe tausend Formen, und es sei
nur eiu Geist, der sie belebe, eine Regel, und die sei: fühle, was Du
fühlen machen willst. Und die Regel lehre keine Aesthetik." Emancipation
von den Regeln — das war die Losung; was Stolberg fang: fuße,
heilige Natur, last mich gehu auf deiner Spur -~ das war die alleinige
Regel auch für das dichterische Schaffen. Natürlich galt der Protest vor-
zugsweise der Weisheit des Aristoteles; namentlich das Drama sollte sich
von dessen Weisheit freimachen. Hatte Lenz fchon die ftanzüsische falfche
Auslegung der aristotelischen Regeln wiederlegt, so gingen die Stürmer und
Dränger noch weiter und machten mit dem ganzen Aristoteles reinen Tisch.
Vor Allem that dies Jacob Michel Neiuhold Leuz, einer der begabtesten,
aber auch verwildertsten Jünger jener Dichterepoche, in seineu „Anmei'kungen
über's Theater", die er in Straßburg noch vor dem Erscheinen von Goethes
„Götz von Nerlichingeu" geschrieben hatte. Daß dies Evangelium der
Stürmer und Dränger auch das Evangelium der lüngstdeutschen ist,
daran kann man um so weniger zweifeln, als es iu merkwürdiger Weife
von einem jüngeren Schriftsteller wiederholt wird, der indeß himmelweit
davon entfernt ist, von einem folchen Vorgänger Etwas wissen zu wollen,
sondern etwas Funkelnagelneues zu bieten glaubt und die ganze Aesthetik
früheren Datums aus ihreu Angeln hebt, wir meinen Henri Gertelmann,
der 1892 eine „Dramatik, Kritik des mythologischen Systems und Be-
gründung eines neuen" hcrausgegebeu hat. Schon der Titel beweist, das;
sich der Verfasser für einen Reformator hält, der novum s>uiä «tc^ie inm,-
clitmn verkündigt; jedenfalls aber ist feine Theorie im Einklang mit der
jüngstdentschen Prnris. Er wendet sich, ganz wie Lenz, gegen den Sak
des Aristoteles, daß die Zusammensetzung der Begebenheiten, die Fabel für
den dramatischen Künstler das wichtigste, daß die Handlung der letzte End-
zweck des Dramas sei. „Diese Vorschrift," sagt Lenz, „müsse für die
neueren Dichter geradezu umgekehrt werden; nicht die Fabel fei das Prä-
cipium und gleichfam die Seele unserer Tragödie, sondern die Eharaktere.
l?Ädula 68t unn, 8i ciwn nimm 8it. Das leugnet Aristoteles. „Bei
den alten Griechen," sagt Lenz, „war's die Handlung, die sich das Volt
zu sehen versammelte; bei uns ist's die Reihe von Handlungen, die wie
Die lüngstdeutschen des achtzehnten Jahrhunderts. 1.82
Donnerschläge aufeinanderfolgen, eine die andere stützen und Heden, in ein
großes Ganze zusammenfließen müssen, das hernach nichts mehr und nichts
minder ausmacht, als die Hauptperson, wie sie in der ganzen Gruppe ihrer
Mithändler hervorsticht." Lenz behauptet, die Mannigfaltigkeit der Charaktere
und der Pflichologieen sei die Fuudgrube der Natur; hier allein schlage die
Wünschelruthe des Genies, und sie allein bestimme die unendliche Mannig-
faltigkeit der Handlung nnd Begebenheiten in der Welt. Und an einer
anderen stelle sagt er, die heutigen Aristoteliker malten Leidenschaften ohne
Charaktere. „Wo aber bleibt da der Dichter? wo die Folie, wo die indivi-
duelle Kenntnis; der menschlichen Seele, wo die unekle, immer gleich
glänzende, rückfpiegelnde, sie mag in Todtengräbcrbnsen forfchen oder unter
dem Neifrock der Königin? Nach meiner Cmpfindung schätz' ich den
charakteristischen, selbst die Caricatnrenmaler zehnmal hoher als den ideali-
schen — hyperbolisch gesprochen, denn es gehört zehnmal mehr dazu, eine
Figur mit eben der Genauigkeit nnd Wahrheit darzustellen, als das Genie
sie erkannt, als zehn ,~ahre an einem Ideal der Schönheit zu cirkeln,
das endlich doch nur in dem Gehirn des Künstlers, der es hervorgebracht,
ein solches ist." Man sieht, Lenz schreckt nicht vor der Conseanenz zurück,
daß selbst ein Dramatiker, der Cnrimturen schafft, mebr auf dem rechten
Wege sei, als ein idealer Fnbulist, der eine einheitliche Handlung zu
schaffeu sucht. Was ein Henri l>iertelmanu mit dem Anspruch, ein »eues
ästhetisches Spstem zu gründen, in seiner Schrift proclamirt, das deckt sich
in so auffallender Weife mit den Grundfätze» von Lenz, daß es dem
Kundigen als eiue uackte Wiederholung erscheint. Die Charaktere, sagt er,
bilden den eigentlichen Gegenstand des Dramas. Aufgabe der Dichtung
ist es, Vergnügen zu bereiten durch Darstellung von Charakteren. Die
Handlung im Drama ist in erster Linie zn bcurtheilen in Absicht ans die
Charaktere; als (Ganzes kommt sie erst in zweiter Linie in Betracht, und
ihre sogenannte Ciubeit ist kein dramatisches Gesetz. Cr fügt hinzn, daß
die Sprache des Dramas die der Wirklichkeit nachahmen nnd die Personen
charakterisiren müßte. Das neue Spstem erweist sich also als etwas sehr
Altes, und die Uebereiustimmnng der durch mehr als eiu J ahrhundert ge-
kannten Dramatnrgen beweist nur die geistige Verwandtschaft in den litterari-
schen Bestrebungen der beiden Cpochen.
Giebt man die Cinheit der Handlung preis, so kommt man leicht
bei den lola'schen Innideaux eis I» vis dumains auch im Drama an.
Und das ist den Stürmern und Drängern ebenso oft begegnet, wie den
I üngstdentschen, obschou der dramatische I nstinet bei vielen lebendig genug
war, um die Folgeu einer falschen Theorie abzuu'ehren; doch die von Lenz
verlangte Mannigfaltigkeit der Begebenheiten zeigte sich oft genug in eine»«
verwirrenden Nebeneinander von Handlungen, das im Drama ganz uuzu-
läfsig ist, weil es auch die Teilnahme zersplittert. Die Compositions-
losigkeit ist der Hauptfehler diefer ganzen Dramatik des achtzehnten und auch
I,8H Rudolf G«ttschall in leipzig.
des neunzehnten Jahrhunderts. Lenz selbst giebt dafür Beispiele genug; der
genial veranlagte Dichter, der aus einein Wirrsal des Lebens in's andere
gerieth und dein Irrsinn verfiel, hat Stücke geschrieben, wie „Der Hofmeister",
von denen man nicht begreift, wie sie auf die Bühne kommen konnten; aller-
dings geschah das nur in einer Schrüder'fchen Bearbeitung am Hamburger
Stadttheater. Die Handlung fpringt in diesem Drama, in welchem mehr
als zwanzig Personen mitspielen, hin und her; sie verwandelt sich oft in
ein Sittengemälde, das selbstgenugsam im Berhältniß zu den sonstigen
dramatischen Lakonismen einen breiten Platz einnimmt. Dies hängt mit der
Theorie des Dichters zusammen, nach welcher die Charaktere sich im
Drama ausleben müssen; die einzelnen Gruppen entfalten sich fan ganz
selbstständig, die Verknüpfung ist überaus locker. Der Geliebte des in dem
Hofmeister entführten Gustchens, Fritz, und sein Freund haben in Leipzig
die mannigfachsten Abenteuer, die mit jener den Codex der Handlung
bildenden Geschichte gar Nichts gemein haben. Und überdies geht Alles
durcheinander, die Handlung springt hin uud her. Erich Schmidt sagt in
seiner Schrift über „Lenz und Klinger" in Bezug auf den „Hofmeister":
„Bei diesem raschen Wechsel der Bilder ist es mir immer, als hörte ich
das lustige , Schau sie, guck sie' und sähe Leute zwischen den getrennt
stehmden Personen oder Gruppen behend hin nnd her springen. Auf einer
Seite dreimaliger Scenenwechsel! Kaum hält er bei Einem still, so füllt
ihm ein, was wohl gerade der Andere macht. Der Zusckauer soll Alles
sehen, so will es die mißverstandene englische Technik." Noch ärger geht's
im „Neuen Menoza" her, dessen Held mit der Diogeneslaterne Menschen
sucht — der Dichter hat keinen Begriff von dramatischem Zusammenhalt,
von künstlerischer Oekonomie. In den Dramen Klingers ist Beides trotz aller
Nebertriebenheit der Empfindung und der Erfindung besser gewahrt, noch
mehr in Heinrich Leopold Wagners „Kindesmörderin". Auch unsere jüngste
Dichtung huldigt der Anschauung, daß ein Drama nur aus zusammen-
gerückten Lebensbildern bestehen so!>. Die Einheit der Handlung gilt für
Aberglauben. Wir brauchen blos auf Gerhart Hauptmanns „Weber" zu
verweisen, die nur aus einer Neihe von Dabieaus und Genrebildern be-
steben. Die Personen kommen und verschwinden; jeder Act, ja fast jede
Scene hat einen nenen Helden. Der dramatische Aufbau ist höchst pri-
mitiver Art und mit der Holzart gezimmert; das Ganze sind Guckkasten-
bilder, nnd das Theater nähert sich dem „Naritätenkasten", der in mancher
Hinsicht das Ideal der Stürmer und Dränger war.
Wir haben gesehen, wie Lenz selbst den Carimturenmaler für einen
größeren Künstler hält als den akademisch cirkelnden Dichter, welcher auf
die Fabel den Hauptnachdruck legt. Er sah sich wohl selbst dabei im
Spiegel, denn seine Charaktere sind ihm nur zu oft als Caricaturen ge-
rathen, ja, wo die Fratze ihr gutes Recht hat, wie in der Posse, da leistet
er bisweilen Anerkennenswerthes. Anch in seiner ernsten Dramatik schafft
Die lüügsldelitschen des achtzehnten Jahrhundert«. ~85
bei ihm die Ueberladung mit charakteristischen Zügen, die zu scharf aus-
geprägt sind bis in's Barocke und Bizarre, die Caricatur. Graf Camäleon
und Donna Diana im „Neuen Menoza" sind solche bis zur Ungeniehbarteit
chargirte dramatische Fignren. In Klingers „Sturm und Drang" ist der
alte Kartenhauserbauer Berklev eine ungewollte Caricatur, und es ist nicht
leicht, den logischen Sinn aus seinem blödsinnigen Gestammel herauszu-
hören; beabsichtigte Caricaturen aber sind die Freunde des Helden Wild,
der blasirte Blasius, der mit seiner Langenweile auch seine geliebte
Luise ansteckt, und der überschwängliche La Feu mit seinen Pastoralen
Schwärmereien und seiner Liebe zu der reifen Schönheit Katharine; doch
die blos im Uebertriebenen bestehende Possenhaftigkeit ermüdet. Auch die
tragischen Charaktere wie die beiden Gnelfos in den „Zwillingen" sind so
chargirt, daß sie dicht an der Grenze der Cnrieatnr stehen. Sagt doch
Bürger uon dem jüngeren Guelfo, eine Bestie wie diesen müsse man tötten
wie einen tollen Hund, und das Stichwort „ein Lüwenblutsäufer" kam auf
die Tagesordnung. Doch auch wo das Charakteristische sich innerhalb
ästhetischer Grenzen hält, kann sein Ucbergewickt die Handlung lähmen.
Das sind Einseitigkeiten einer falschen Theorie, die sich wie Bleigewichte
an die dramatischen Gestalten in vielen Dramen jener Epoche hängen.
Charaktere, die sich Selbstzweck sind, gehören in das Wert des Theophrast,
aber nicht auf die Bühne. Wie das dramatische Interesse und die Lebens-
fähigkeit der Stücke darunter leidet, das beweist ;. B. der „College Crampton"
Gerhart Hauptmanns, dessen Held ein bedauerlicher, dem Trunk ergebener
Künstler ist — ein Charakter, aus dem nur einige dürftige Fäden der
Handlung herausgesponnen sind. Achnlich ist es in vielen anderen jüngst-
deutschen Stücken. Noch heute gilt, was Herder in der „Adrastea" sagt:
„Die Charakterkomödien wie die aufgeputzten Lharaktertrauerspiele sind
hinkende Stücke. Will ich Charaktere beschrieben seben, so nehme ich Theo-
phrast, la Bruyöre, Aristoteles' Rhetorik, ~hne das; sie in eine Fabel
greifen nnd mit ihr innig verwebt sind, hindern sie das Lustspiel. Isolirt
steht sodann der breit angemeldete Charakter vor mir, geschildert, nicht
handelnd. Angeputzt wird er und angezogen, rings um ihn werden Spiegel
gestellt, das; man ihn ja uon allen Seiten erblicke und wahrnehme. Dann
wird er entkleidet, man zeigt seine Höcker, wohl gar wird er lebendigen
Leibes opcrirt, secirt — eine peinliche Kunst!" Namentlich was die Höcker
betrifft, darin leisten die Stürmer und Dränger, die lüngstdeutscheu und vor
Allem ihr Meister ~bseu mehr, als Herder in ahnendem Gemüthe vorgeschaut.
„Die trefflichsten Stücke," sagt Herder, „sind nie ohne Fabel, und je besser
es der Dichter verstand, desto sorgsamer ließ er den Charakter dem Ge-
webe der Fabel nur dienen." Die absonderlichen bizarren Charaktere, deren
Handlungsweise etwas Unberechenbares hat, sind in neuester Zeit wieder
Mode geworden, und besonders der Blasius Klingers findet manchen Ab-
klatsch unter den jüngstdeutschen Helden.
Äoid und Zii!,. I.XXV. 524. 13
~86 Rudolf von Gottschall in leipzig,
Alle Trauten der „Stürmer und Tränger" sind in Prosa geschrieben;
es lag darin gegenüber der etwas phrasenhaften Dramatik der Cronegt,
Brahe, Schlegel, Weiß ein Protest, die Wendung zur Natur- und Lebens-
wahrheit; Gerstenbergs „Ugolino", der auch dieser Richtung angehörte,
und der maßuoüere „Julius von Tarent" von Leisewitz sind ebenfalls in
Prosa geschrieben. Doch diese Prosa erscheint nicht in alltäglicher Ge-
wandung; sie zeigt den Gegenschlag gegen die getragene Versdichtung zunächst
in der Derbheit und Rohheit des Ausdrucks, welche dem steifbeinigen
tragischen Pathos herausfordernd auf die Hühneraugen trat. Darin sind
sich alle diese Dichter gleich; der Cynismus als crasser Vertreter der
Naturwahrheit hat das große Wort. In einer der originellsten Scenen des
„Hofmeisters" von Lenz, als der alte Major seine entehrte Dochter aus dein
Teiche zieht, in den sie sich gestürzt hat, schwankt derselbe zwischen seiner
Freude über die Rettung des Kiudes und seiner inneren Empörung über
ihre Schande und giebt diesen widerspruchsvollen Gefühlen in sehr kräftigen
Wendungen Ausdruck: „Gustel, was fehlt Dir? Hast Wasser eiugeschluckt?
Vist weg, mein Gustel? -~ Gottlose Canaille! Hättest Du mir nur ein
Wort vorher davon gesagt, ich hätte dem Lauscjuugen einen Ädelsbrief ge-
kauft, da bätt^t Ihr können , zusammenkriechen"" Weiterhin fagt er: „Ich
verzeih' Dir, verzeih' Dil nur mir! Ja aber nun ist's nicht mehr zu ändern;
ich habe dem Hundsfott eine Kugel durch den Kopf geknallt;" und dann
wieder: „3) Du mein einzig theuerster Schatz! Daß ich Dich in meinen
Armen tragen kann, gottlose Canaille." Eine ähnliche Kraftsprache findet
sich in Wagners „Kindesmürderin"; da sagt der alte Humprecht, ein Vor-
gänger des Musikus Müller iu „Kabale und Liebe": „Das Lumpeugezeug!
Der verdammt,' Nickel! Den Augenblick soll sie mir aus dem Hause!
Keinen Pissen kann ich in Ruhe fressen, solange die Hure noch unter einem
Dache mit mir ist!" und als er den Sündenfall seiner Tochter erfährt,
sagt er zur mitschuldigen Mutter: „Bestie, vermaledeite Bestie, hast Du
meine Tochter zur Hure gemacht!" In Klingers „Sturm und Drang"
sagt Ln Feu gleich beim Beginne des Stückes: „Ist keine alte Here da,
mit der ich charmiren konnte? Ihre Runzeln sollen mir zu Wellenlinien
der Schönheit werden, ihre herausstellenden schwarzen Zähne zu marmornen
Säulen an Timms Tempel, ihre herabhängenden ledernen Zitzen Helenas
Busen übertreffen." Ter Held des Schauspiels, Wild, sagt ein anderes
Mal: „Nimm Temen Tegen so, nimm Deinen Tegen, oder ich würge
Dich in diesem Fieber und freß Dir's Herz aus dem Leibe." Aucb
bei Maler Müllerfinden sich' genng derartige, schon von Friedrich
Schlegel gerügte >Uaftl,hrasen. „Ter Faulkerl", „lümmelt", „Mittgesicht",
„Passionsflegel", „ich schmeiß' Dir Deine Gnmasse". In seinen Idpllen,
sowohl in seinen antiken wie in seinen deutschen, läßt Müller im Gegensätze
zur Sentimentalität Geßners und seinen empfindsam ausgemalten Arkadien
die Derbheit der rohen Natur und einer oft zügellosen Sinnlichkeit walten.
vi« lüngstdeutschen de« achtzehnten J ahrhunderts. ~3?
Müllers „Satyr Mopsus" verspricht der Nyinphe als höchsten Glücks-
genuß: „er wolle sie im Grünen jagen, ihr die Kleider vom Leibe reißen,
sie hchen und kitzeln nach Herzenslust, sie ans dem Bauch herumwerfen
und ihre Schenkel solange platschen, daß sie ihr funkeln sollen wie
eine zeitige Granate; sie füttern und mästen wolle er, daß sie feist
würde und dickleibig uud einen Kragen von Speck bekäme wie ein fettes
Ferkel."
Abgesehen von diesen rohen Derbheiten schwankt der Stil der Stürmer
und Drängerzwischen dem überschwänglich Schwülstigen und dem trivial
Nüchternen: eine Mischung, die stets wiederkehrt bei den kraftgenialen
Dramatikern bis auf die jüngsten deutschen Ausläufer. Das kühnere Nild,
das der Ode geläufig ist, die Hyperbel ist in die dichterische Gewandung
als Hauptschmuck hineingewirkt. Bei Maler Müller, besonders in den
dramatischen Fragmenten, reicht eine Hyperbel der anderen die Hand. „0
mein Herz hüpft mir vor Freuden, wenn ich an sie denke! Ist es nicht,
als wenn Erd uud Himmel sich erschöpft hätten, nm Vollkommenheit zu
bilden." „Lies es laut, daß jede Wand sich entsetze und der unempfindsame
Sinn vor Scham erröthe." Auch Wagners „Kindesmörderin" ist reich an
Hyperbeln: „Die mögen meinetwegen auch ein Gewissen haben, das größer
ist als die Metzgerau draußen;" „Soll mich der Teufel lebendig zerreißen,
eh' ich ein Wort hinzusetze." „Wenn er heute Satisfaction von mir ver-
langt, fo soll er sie haben, und wenn tausend Tchaffotte und tausend Galgen
daneben stünden." „Die Nippen im Leibe tret' ich ihr entzwei!" „Mit
wahrer Herzenswonne will ich mich in seinem Blut herumwälzen." Die
schwunghafteste, aber auch schwülstigste Kraftsprache findet sich bei Klinger,
fortwährende Anasrropheu und Epistrophen, emphatische Wiederholungen, ge-
wagte, oft geschmacklose Bilder: „Der Tod hat sich längst um ineine Ge-
beine gehängt, losreißen werd' ich ihn diesmal nicht. 0 Eamilla kann Einen
aus Dode-öschlaf wecken, kann Einen umwerfen mit einem Blick." „Ich
möchte diefe Feuerwolken zusammenpacken, Sturm und Wetter anregen und
mich zerschmettert in den Abgrund stürzen." „Tchan nicht, Eamilla! Vetter
Guelfo heult, und wenn er heult, heult Lieb' aus ihm." Heulen und Brüllen
sind Lieblingswendungen des Dichters. Eine fieberische Bewegtheit charakteri-
sirt seinen ganzen Dialog.
Es ist keine Frage, daß Schillers lugenddichtungen den Geist der
Stürmer und Dränger athmen; sie waren ein Nachspiel dieser Epoche, und
das Verbindungsglied bildete der gefangene Dichter Schubart oben anf dem
Hohenüsperg, ebenfalls ein Kraft- und Feuergeist. An Hyperbeln sind
die „Räuber", „Fiesco" und „Kabale und Liebe" noch reicher als die
Dramen Klingers und seiner Genossen; doch dem schärfer Blickenden kann
es nicht entgehen, daß in den Schiller'fchen Hyperbeln eine große dramatifche
Kraft liegt, während in denen Klingers und der Anderen nur die geschwollene
.Kraftphrnse, höchstens ein stüriinsches Naturell sich ausprägt, dem seine
13*
1.88 Rudolf von Gottschall in leipzig.
Lebensäußeruuge» Selbstzweck sind, auch wo sie die dramatische Wirkung
verpfuschen, statt ihr zu dienen.
Hand in Hand mit diesen überschwänglichen Ergüsse» gehen aber bei
den Kraftdramütikern die Naturlaute der Empfindnug; oft löst sich der
Dialog in Interjectionen auf. Die haha, hoho, hu und besonders bei
Klinger überall zu finde» und ersetzen oft das Pathos des Dramatikers,
~ms sich nach Hegels Ansicht stets „erpliciren" soll. Namentlich der .Held
in „Sturm und Drang", Wild, ist unerschöpflich in solchen Ausrufungen,
und auch der Held der „Zwillinge", Guelfo, wird stets seine „Hu" aus-
stoßen, wenn etwas Grausiges in der Lust liegt. Eine ergötzliche Probe
dieser Poesie der Ausrufungen findet sich in dem Fragment, das Seufferr
in seinem Werke über den Maler Müller, aus dessen „Heinrich V." mit-
theilt i „Weg — weg, weg! Perflucht sei aller Trost — o! Ich will die
Zunge zertreten, die mir von Geduld spricht — oh! oh! oh! oh! ach! So
mit mir umzugehu — so! — so! — so mit mir umzugehen! Mein armes
graues Haupt zu verstoßen — Wind und Wetter, allen Elementen preis!
Oh, oh! oh!" Das klingt wie eine Parodie auf König Lear.
Daß auch unsere jüngstdeutsche Dramatik zwischen dem Ueberschwäng-
lichen und Wortkargen hin und her irrlichterirt, ist unbestreitbar. Ibsens
Vorbild hat den skandinavischen Lakonismus bei uns eingebürgei't, und
einige der J üngsten geberden sich, als hätten sie in der Einsamkeit der
nordischen Fjords das Sprechen verlernt. Es ist wahr, daß sich bei
Gerhart Hauptmann, dessen Feder nur gelegentlich einige Cnnismen aus-
spritzt, wohl hin und wieder jene in Epigramme und Empfindungslaute sich
zuspibeude Wortkargheit siudet, daß er sich aber von dem Schwülstigen und
Aufgebauschten freihält, und daß Sudermann, welcher den Jüngsten ja von
diesen selbst nicht zugezählt wird, auch nur selten eine Krastphrase verpufft
und mehr französischen Esprit funkeln läßt: doch wir haben eine große Zahl
von Dramen aus dein Atelier der jüngstdeutschen Muse geleseu, in denen,
trotz der dazwischen liegenden geläuterten classischen Epoche, die Unarten
der Stürmer und Dränger, ihre Geschmacklosigkeiten, Alles, was Platen die
„gestotterte Phrase der Unkunst" nennt, sich in auffallender Weise wiederholen.
Gemeinsam ist dieser jüngsten Epoche mit der alten Genieepoche die
Vorliebe für die «oniü^iß l»rmov»ntk, das Mhrschauspiel mit guten
Ausgängen oder auch mit traurigen, nur daß dies Traurige sich nicht ent-
fernt mit dein Tragischen deckt.
>tein Geringerer als Herder in der „Adrastea" hat eine Lanze für das
bürgerliche Trauerspiel, sür die c^omeclis larmo^nnt« gebrochen. „Je ge-
ordneter," meint er, „die Menschen uud die Staaten werden, desto mehr
mindere sich der Funder zur tragischen Flamme; eine gewisse Rauhheit der
Seele in Herrschsucht, Mche, Stolz, Grausamkeit scheine unter der Hand
Vie lüngstdeutschen des achtzehnten Jahrhunderts, ~8)
der Zeit abgeschliffen, wenigsten? geglättet zu sein, daß sie so scharf nicht
ätze oder schneide; wir fordern jetzt einen fröhlichen, wenigstens einen ge-
mäßigten Ausgang." Die Herabstimmung der hohen Tragödie zu dein
sogenannten bürgerlichen Trauerspiel ist also keine Erniedrigung, keine Ent-
weihung, Der Ungeheuer auf Thronen sind wir satt; nur wollen in den
uns näheren Ständen und Verhältnissen Menschen sehen, die mit eigenerer
Kraft als vielleicht jene die Schickung abwenden oder gegen sie kämpfen.
„Hat das rettende Stück einen fröhlichen Ausgang, so schmerzt uns der Spott-
name einer weinerlichen Komödie (eomöäiß lariuoxaQts) nicht; wir haben
unter diesen» Namen rührende Stücke der leidenden und geretteten Mensch-
heit. Ueberhaupt ist's ein gutes Zeichen, daß wir den Geschmack am
Flitterstaat der altftanzosischen sowie an der gothischen Pracht der englischen
Tragödie verloren haben; auch die Theilnahme am Geklirr und Gelärm des
alten gedankenlosen Ritterwesens ist fast vorüber". Und diesen Absagebrief
an die Tragödie schrieb Herder zu einer Zeit, als, um einen volkstüm-
lichen Ausdruck zu gebrauchen, kaum einen Hundeklaff vou ihm entfernt,
Schiller in demselben Weimar seine Tranerspiele: „Wallenstein", „Maria
Stuart", „Die Jungfrau von Orleans" geschrieben hatte und diese Stücke dort
am Hoftheater gegeben wurden. Gerade über die Kotzebues und Isflands
trug Schiller mit diesen Stücken einen Sieg davon, der von Jahrzehnt zn
Jahrzehnt sich immer glorreicher bewährte. Doch auch die vorausgehenden
Stürmer und Dränger hatten zugleich mit dem Natürlichkeitsprincip die
«omöäis lariuo.vante gepflegt, und man kann auch an ihren Stücken
nachweisen, wie in dieser Mischgattung sich leicht das Tragische entweder
blos zum Traurigen abstumpft oder Beides leer ausgeht und ein darauf
angelegtes Stück plötzlich ein gutes Ende nimmt. In dem „Hofmeister"
von Lenz verführt der Held ein junges adliges Mädchen, seine Schülerin,
deren Bräutigam auf der Universität sich herumtreibt und sie zu vergessen
droht. Das Mädchen null sich in's Wasser stürzen, der eigene Vater rettet
sie. Der junge Student aber heirathet sie, ohne das dsnLÜoiam inventarii
geltend zu macheu. Darübersetzt man sich leicht hinweg. Ein versöhnlicher
Schluß erhält das Publicum bei guter Laune. Der Hofmeister felbst aber
abälardisirt sich; aber auch dieser tragischen Greuelthat wird die Spitze ab-
gebrochen, denn er heirathet trotzdem ein naives, in ihn verliebtes Schul-
meistertöchterlein. Eine merkwürdige Ehe! Doch mag's biegen oder
brechen — es muß sich einmal Alles zum Guten wenden. In Klingers
„Sturm und Drang" herrscht eine grimme Todfeindschaft zwischen Lord
Bussy und Lord Nerklep. Die Sühne von Beiden, die in die Lande
Versprengt sind, finden sich in Amerika wieder, der Eine, der junge Berklen,
«in verwilderter Seecapitän seines Zeichens, hat den alten Bussy auf
seinem Schiff entdeckt und ihu bei stürmischer See in einem Boote aus-
gesetzt und dem sicheren Tode geweiht. Darüber ergrimmt der Held des
Stückes, Wild, und es soll zum Zweikampf kommen. Da erzählt ein
^0 Rudolf von Goltschall in leipzig,
Mohrentnabe, ein Liebling des Kapitäns, daß er damals diesen getäuscht
nnd den Vussy in einen» Versteck des Schiffes in Sicherheit gebracht habe.
Das führt nun eine allseitige Versöhnung herbei — das Stück, eine
Tarantella des wahnwitzigen Hasses, endet mit einen« fröhlichen Walzer.
In anderen Stücken ist der Abschluß ein trauriger, ohne jede tragische
Bedeutung. So endet in den „Soldaten" von Lenz der Constict damit,
daß der Vater seine Tochter, die von einem Offizier verführt worden, als
Straßendirne wiederfindet. Mit dieser schmerzlichen Entdeckung bricht das
Stück ab — dahin führen die Liebschaften der Soldaten, der Offiziere — das
ist dieselbe Warnung und Mahnung wie diejenige, mit welcher der Honneister
schlieft. Dort heißt es: „Hütet Euch vor den Söhnen des Mars!" hier:
„Hütet Euch vor der Privaterziehung der Töchter!" Das Alles ist nicht
Tragödie, sondern oom6äi6 Inrmovants. Leopold Wagners „Kindes-
mörderin" war anfangs als Tragödie gedacht und niedergeschrieben. Doch
drei, Jahre darauf hat sie der Dichter felbst in eine cuin6öis larmovnntft
verwandelt, durch eine Umdichtung, welche sie nicht nur in unseren „delicaten,
tugendlallendeu Zeiten" bühnenmüglich machen sollte, sondern auch den: Ding
am Ende eine andere Wendung gab, „um allen seinen Zuhörern eine
schlaflose Nackt zu ersparen." In diesen, ironisch angeführten Motiv liegt
ja der Hauptgrund für den Vorzug, welchen damals wie jetzt die Bühnen
dem Nührstück vor der Tragödie gaben.
In heutiger Zeit ist die comöäie larmovanw von Frankreich herüber-
gekommen und beherrscht die Bühne. Viele Dramen der eigentlichen
Repertoiredichter gehören diesem Genre an, auch die meisten Stücke der
lüngstdeutschen. An traurigen Ausgängen fehlt es in denselben nicht; aber
das Traurige ist nicht das Tragische. Fast alle Ibseniaden geKören in
diesen Bereich, auch die erfolgreichsten Stücke der letzten Zeit, Sudermanns
„Ehre" und „Heimat". Der Abschluß des ersten Dramas ist ein versöhn-
licher, doch das Tragische der socialen Gegensätze: das Vorder- nnd Hinter-
haus stellt noch viele Tragödien der Zukunft in Aussicht. In der „Heimat"
ist der Schluß ebenfalls von jener abgestumpften Tragik, die dem Nühr-
stück eigen ist. Der alte Soldat stirbt gleichsam an der Wiederbegegnnng
mit seiner Tochter; Magda aber seht nach diesem psychologischen Mord
wahrscheinlich ihren Siegeslauf als Künstlerin fort. In „Sodonis Ende"
geht der Held zwar zu Grunde, aber der Untergang dieses innerlich
verwüsteten und gemüthsroheu Menschen ist nur, wie das Verlöschen
einer herabgebrannten Xerze. Wenn in Halbes „Engend" die Heldin nach
ihrem Fehltritt durch die Kugel eines Blödsinnigen fällt, so ist dies ein
dnrch einen Zufall hervorgerufener Knalleffect, der mit der inneren Schuld
und öühne nicht das Geringste gemein hat. Nnd nenn in Gerhart Haupt-
manns „Einsame Menschen" der Held, der junge Vockerath, ein geistreicher
Priuatgelebrter und Darwinist, sich in'o Wasser stürzt, weil die Züricher
Studentin sein Hans verlassen bat, die seinen Geist und anch sein Herz zu
Die lüiigndeutschen des achtzehnten Jahrhunderts. ^H^
fesseln verstand, so stel.t sich der Held des Stück«- mit diesem Selbstnwrd
nur ei» geistiges Armuthszeugniß aus, und man sieht in diesem Abschluß n»r
einen bedauerlichen Vorgang. Auch Verthold Litzmann, einer der einigsten
Vorkämpfer Hauptmanns, bekennt, daß er diese Schlußkatastrophe nicht als
organisch empfindet. Die eomöckie lnrmo)'aut6 ist also bei de» Stürmern
und Dräugern so beliebt, wie bei unseren lüngstdeutschen; nur find die
letzteren nie über dieselbe hinausgekommen, betrachten sie als die allein-
berechtigte Form moderner Dramatik, während von jenen Vorgängern nur
Neinhold Lenz ausschließlich bei ihr stehen blieb. Der machtvolle Mnger
aber hat nickt nur von Hause aus auch echte Trauerspiele, wie die „Zwillinge"
gedichtet, sondern auch Geschichtsdramen, eine Komödie und Dramen aus dein
Alterthum, wie Aristodemus, Damokles und die Stücke, deren Heldin die
Medea isl, in denen er sich als Vorläufer Grillparzers zeigt.
Die Lyrik der Stürmer und Dränger ist nicht fruchtbar gewesen. Da
ist die jüugstdeutsche Lyrik ergiebiger. Will man jene in ihrem ganzen Um-
fange würdigen, fo muh man Talente mitheranziehen, die nicht in den
engeren >lreis der Parnaßstürmer gehören, aber doch das Gepräge der
Richtung mehr oder weniger- zur Schau tragen: den Tyrannenhasser
Schubert, die grandios sich geberdenden Brüder Stolberg, und selbst den
vulksthümlichsten von Allen, Vürger, der in seiner ungenirten Stoffwahl
und in seinen cynischen Derbheiten, in Allem, was Schiller an ihm so scharf
tadelte, der Richtung fehr nahe stand. Die Brüder Stolberg zählte Goethe
zu dem herkulischen Centaurengeschlecht, das mit Vermögen und Vtrast nicht
wußte wo aus und ein. Gerade in ihrer Lyrik gehörten sie ganz zu dem
Geniesturm. Ihre Oden haben einen überschwänglichen Ton, oft aber geniale
Kühnheit — und das Ueberschwängliche, wenn auch einem ganz anderen
Zeitgeist Imldigend, findet sich in unseren jüngstdeutschen Oden von Bleib-
treu, Linke, besonders Conradi, der feingestimmte Ton oft durch gelegent-
liche Derbheiten unterbrochen, wie es bei den Stürmern und Drängen: und
ihren nächsten J üngern auch der Fall war.
Von den eigentlichen Führern der Bewegung war Minger kein Lyriker.
Er Hot bisweilen „nüthige Verse" gemacht, wie er selbst in der „Neuen
Ärria" sie vorlesen läßt, Verse ohne Metrum und Harmonie, — die Regel-
losigkeit moderner ästhetischer Starkgeister hat auch „nüthige Verse" genug
an's Licht gefördert. Das reizende Gedicht „Sophiens Liebe" ist ein aus-
nahmsweise glücklicher Wurf der ttlinger'schen Muse. Maler Müller hat
als lyrischer Dichter kaum eine bestimmte Physiognomie. Üde und Idylle
lösen sich bei ihm ab; er ist meist zügellos in der Form; am besten gelingen
ihm die reimlosen freirhythmischen Verssysteme, der Ton der Hymne, auch
für das Liebesgedicht; das Lüsterne überwiegt bei ihm das Ueppige. Der
wirklich begabte Lyriker jener Zeit ist Reinhold Lenz; seine ersten Liebes-
1.9^ Rudolf von Gotischall in leiozig.
gedichte lasse» sich kaum von den Goethe'schen unterscheiden; sie haben den-
selben Duft, dieselbe Anmuth. äiienn Otto Gruppe in seiner Schrift „Rein-
hold Le»z, Leben und Werke" nach einer Zergliederung seiner Liebesgedicht.,'
sagt: „Mochten die so durch die Lebensumstände beleuchteten Gedichte den
Eindruck erwecken, daß wir e? hier mit einem der größten Lyriker nicht
nur Deutschland«, sondern aller Zeiten zu thun haben," so hat er ,oohl den
Bogen de? Lobes etwa? zu straff gespannt. Doch zweifellos nimmt ~cnz al?
Lyriker einen hohen Rang ein. Wenn Gervinus sagt, das; seine Leistungen
unter die traurigsten Beispiele der unsinnigen Nerirrmlgen gehören, die den
Deutscheu eigeuthümlich sind, da sie da? Gepräge seine? wirren Wesens
an sich tragen, wenn Menzel ihn wegen seiner rastlosen Fieberhitze und
Zuchtlosigkeit nusschilt und von seinen Gedichten uur sein schablonenhaftes
Landplagenpoem erwähnt, so würde ei» Vlick auf diese Liebeslieder aller-
dings die gestrengen Richter milder gestimmt haben. W^cnn er der Ge-
liebten zürnst-
„Du allein giebst Trost und Freude:
Wärst Tu nicht in dies« Welt.
Stracks fiel alle Lust zusammen,
Wie ein Ftuerwerl zersägt.
Wenn die schöne Flamm' erlischet,
Tic da« all gezaubert hat.
Bleiben Rauch und Brande stehen
Von der löniglichen Stadt."
so ist das lyrische Fracwrschrift in den kräftigsten Zügen, und ganz im
Goethe'schen Don erklingen die Verse:
„Und unter Locken, welche stiegen
Ilm ihrer Schultern Elfenbein,
Verräth ein Seltenblick beim Siege»
Ten schönen Wunsch, besiezt zu sein!"
Stürmische Leidenschaft athmet das frei rhythmische Gedicht: „Der ver-
lorene Augenblick". Dn? möchte noch am meisten an einzelne (N'güsse der
neuesten Stürmer und Dränger erinnern, während jene Goethc'sche Grazie
ihnen unerreichbar geblieben ist.
Was indetz der neuesten litterarischen Bewegung dn? erkennbarste Ge-
präge aufdrückt, das ist die rücksichtslose Kühnheit in geschlechtlichen
Dingen, womit sie das Lügengewebe heuchlerischer Conventionen zu zer-
reisten suche» und al? Apostel nackter Lebenswahrheit die große Revolution
der Litterawr durchgeführt zu haben glauben. Und doch bewegen sie sich
gerade hier in de» alten Geleise», welche die tiN'äe-8nx:lo-Litteratur des
vorigen Jahrhundert? ausgefahren hat, und es zeugt vou einer großen Un-
kenntnis; derselbe», wenn man hier etwa? Neues nud Niedagewesenes zu
vie lüngstdeutschen des achtzehnten Jahrhunderts, ~>Z
bieten glaubt; ja eine Anthologie dieser geschlechtlichen Kühnheiten braucht
sich nicht auf die Stürmer und Dränger zu beschränken, sondern sie kann
die ganze damalige Unterhaltungslitteratur mit in ihre Kreise Siehe». Ein
Blick darauf ist nncb nach einer anderen Seite sehr lehrreich. Die ^itteratur
befand sich dem Staate gegenüber damals in einem Zustande der Unschuld;
die Zumuthung, daß die Vertreter der Justiz sich mit ihren Erfindungen
beschäftigen und sie vor Gericht stellen würden, hätte sie mehr befremdet
als erschreckt. Damals gab es kein Reichsstrafgesehbuch mit Unznchts-
paragraphen; damals gab es keine lex Heinze und keine Umsturzvorlage,
und ein heutiger Staatsanwalt würde einen Augiasstall ausräumen müssen,
wenn er alle diese Dramen und Romane vor das Forum des Strafrichters
ziehen wollte. Die Ernte der Missethat stand damals in vollen Halmen
und erforderte etilen „Schnitter sonder Gleichen".
Bleiben wir zunächst bei den Stürmern und Drängern der stricte»
Observanz. Reinhold Lenz vor Allem pflegte das „sexuelle Problem", um
diesen tsi-iniiniz reebnie^ zu gebrauchen, mit dem so viel Unfug getrieben
wird. Sein „Hofmeister" verführt das Edelfräuleiu, das feiner Erziehung
anvertraut ist; sie wird schwanger. Wie hat man sich bekreuzigt vor Hebbel«?
Maria Magdalena! — In den Romanen und Dramen jener früheren Zeit
sind schwangere Mädclien so oft die Heldinnen, daß man sie zn den „stehen-
den Figuren", besonders der Dramatik rechnen kann. Das schwangere
Fräulein aber will sich in's Wasser stürzen, wird aber schließlich von ihrem
früheren Bräutigam Fritz geheirathet, der über das kleine Versehen hinweg-
sieht. „Darüber kann kein Mann hinweg" — damals stand man nicht
auf dem Standpunkte des Hebbel'schen Secretärs. Die Episoden haben den
gleichen Charakter wie die Haupthandlnng. Das Universitätsleben in
Leipzig bringt Fritz mit einem Genossen zusammen, welcher die Dochter
des Muntus Rehaar verführt hat uud heirathet, als er das große
Loos gewonnen. Die Mädchenuerführungen stehen in diesem Stücke in
Blüthe. Im „Neuen Menoza" wird die Blutschande dramatisirt — wenigstens
heirathon sich der Prinz und seine Geliebte, in welcher er am Tage
nach der Hochzeit seine Schwester erkennt. Doch die Rolle des Oedipus
wird ihm erspart — sie ist nicht seine Schwester, sondern in ihrer fugend
vertauscht worden. Gleichwohl steckt das Problein der Geschwisterehe un-
heimlich in der Luft. In dem Stücke „Die Freunde machen den Philo-
sophen," handelt es sich um eine Scheinehe, ähnlich etwa wie in Hebbels
„Julia". Stephau, ein junger, liebenswürdiger Philosoph, liebt Seraphine,
die Braut des Prado, und am Schluß ist Prado so gefällig, sie zu heirathen,
doch nnr, um ihr seinen Namen zu geben; alle ehelichen Rechte tritt er an
den Philosophen ab. In den „Soldaten" wird Marie, die Tochter des
Kaufmanns Wefener, von einem Offizier verführt und mich entfühtt. Wir
finden sie wieder im Dienste der Benus Vnlgivaga. Mau sieht, die Lenz'sche
Dramatik ist eiu Wespennest der prickelndsten und anstößigsten Berbältnisse
Ä9Ä Rudolf von Gottschall i» leipzig,
und wäre ein rechtes Fressen für einen modernen Staatsanwalt, wenn die
beabsichtigten Gesetze durchgegangen wären.
Vir haben schon gesehen, welchen zügellosen Verkehr die Faune und
Nymphen in Maler Müllers antiken Idyllen mit einander treiben, und auch
in den pfälzischen Idyllen, der „Schafschur" und besonders den „Nußkernen",
fehlt es nicht an cynischen Bemerkungen und Klatschereien. Die Studenten-
scene in seinem „Faust" ist übertrieben roh; sie vorzugsweise bestimmte
Friedrich Schlegel zu dem Ausspruch, Müllers „Faust" sei Handwerksburschen-
poesie. Der erste Act von Wagnero „Kindesmörderin" spielt im gelben
Kreuz, einem Bordell; die Verfuhrungsscene wird hier des Breiteren ver-
breitet. Wie der Lenclter vom Tisch fällt und das Licht ausgeht —
Evchen hebt den Lenchter auf, der Hauptmann greift darnach, aber er grent
„dran vorbei", was Evchen zu dem Ausruf: Pfui! ueranlast; das sind
Scenen, die an Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" erinnern.
Das Gespräch des Lieutenants mit der knpplerischen und verlielten Mutter
Evchens oder gar seine Unterhaltung mit der Dienslmagd, deren Bekanntschaft
er früher in einem traulichen Enf5 gemacht; das ist Naturalismus de pur
8llr>ß und müßte jüngstdeutsche Bewundernng erregen. Was Klinger be-
trifft, so hat auch er zur Zeit, als er in den Erbwlgelrieg zog, vom
wüsten Soldateuleben mit fortgerissen, mehrere recht lascive Nomane ge-
schrieben. Von Klinger sagt Erich Schmidt, er bringe unbedenklich das
Sinnlichste auf die Bühne, nicht obne einen kühnen Wurf iu Simsone.
Der „Simsone Grisaldo" war es, der dem Dichter den Spottnamen des
„Äwenblutsaufers" eiltrug. Iu seiuem Lustspiel „Der Schwur wider die
Ehe", in welchem er, der Borrede zufolge, deutsche Sitten schildern will,
läßt der Graf Blumin, ein Weiberhasser, seiueu Soh» schwören, das, er
nie ein Weib heirathen, aber fo viele Weiber als möglich verführen solle.
Er vergist diesen Schwur, als er eine junge Wittwe kennen lernt, die
auch ihrerseits geschworen hat, alle Männer zu verführen und keinen Mann
zu heirathen. Der Bater interuenirt und bickt selbst der Wittum seine
Hand. Sie schlägt ein, weist aber zuletzt Vater und Sohn zurück.
Auch Heinse wird oft den Stürmern und Drängern beigezählt, obschon
er wesentlich unter Wielands Einflüssen stand, von denen jene Nichts
wissen wollen; in die siebenziger J ahre fällt noch sein schlüpfriges (Gedicht
„Die Kirschen" nnd sein „Laidion", welches die Geschicke der Lais behandelt.
Die Buhlerin wird von einem Dodtengerickt, dem sie ihre Lebensgeschichte
erzählt, von jeder Schuld freigesprochen und für würdig erklärt, die clysischen
Wonnen zu genießen, besonders, weil sie die Waage der Gerecktigteit unter
dem Hemde getragen, Jugend und Alter gleichmäßig beglückt und ihren
Gewinn mit den Armen getheilt. An diese Lais erinnert die Thcroigne
von M^rieourt in dem jüngstdentschen Epos der Eugenie belle Grazie „Robes-
pierre"; denn auch diese Thoroigne rühmt sich, ihre Gunst den Häßlichen
geschenkt uud diesen so für fehlende Lebensfreude Entschädigung geboten zu
Die liingftdentschen des achtzehnten Jahrhunderts. ~5
haben. „Laidion" ist eine Apotheose der Prostitution. Heinses Hauptwerk
„Ardinghello" enthält neben den Kunstbetrachtungen, in denen manches
Schone und Veachtenswerthe gesagt ist, eine Reihe von Liebesabenteuern,
in deneu zum Theil höchst emcmcipirte Frauencharaktere die Hauptrolle spielen.
Seine erste Liebe ist eine Eäcilia; sie wird Mutter durch ihn, er ersticht
ihren Bräutigam am Hochzeitstage. Dann gilt seine Leidenschaft einer
Lucinde, die er zu verführen sticht. Eine Freundin derselben, Fnlvia,
schleicht sich zu ihm unter dem Namen Lucindens und beglückt ihn. Sie
will ihm dafür diese in die Arme spielen; doch sie hat schon einen Bräutigam,
der bei den Saracenen gefangen ist. Wenn Ardinghello diesen befreie,
so wolle sie ihm zuerst angehören. Darüber stellt sie ihm eine Ver-
schreibung aus. Weiter kann man die Freigeisterei der Leidenschaft nicht
treiben. Ardinghello stellt ihr nach der Befreiung des Bräutigams diese
Verschreibung zurück, und sie wird wahnsinnig. Dann liebt Ardinghello
eine höchst freidenkende Römerin, die sich Jedem hingiebt, der ihr gefällt.
Nach manchen Liebesabenteuern Ardinghellos heirathct sie diefen, ist aber
damit einverstanden, das; sich Ardinghello mit seinen Freunden, allen seinen
früheren Geliebten und deren Kindern auf einer griechifchen Insel ansiedelt.
Dieser Noman, der überdies viele Nuditnten enthält, würde wohl gegenwärtig
das Loos von Zolas „Nana" getheilt haben.
Noch wollen wir aber einen Blick auf die tin-äo.8itzcly- Litteratiir
werfen, die mit den principiellen Vertretern der Genieepoche wenig gemein hat,
aber doch unter ihren Einflüssen steht: auf die Unterhaltungslitteratur in
Roman und Dramatik — und auch dieser 3 lick wird uns zeigen, daß die
Muse der I üngstdeutschen, insofern sie geschlechtlich keck und zügellos auftritt,
schon im vorigen Jahrhundert sogar in einer großen Massenproduktion gleich-
artige Wendungen und gleichartigen Stil wiederfinden kann. Die Lieblings-
schriftsteller waren damals Cramer, Spieß und Lafontaine. Cramers
„Deutscher Alcibiades" ist ein Pendant zu Heinses Ardinghello; er lielt
immer mehrere Mädchen und Frauen zugleich. Er wird Fürst, und zwei
derselben, seine Gemahlin Risn und seine Geliebte J ulie, theilen sich ihn.
Eine eifersüchtige Gräsin schießt auf ihn, wird aber von einen: feiner
ftäqer mit einem Hirschfänger getödtet. In dem Roman der „Glücks-
pilz" hat Fritz, ein junger Gehilfe eines alten Verwalters, ein ehebreche-
risches Verhältnis; mit dessen Frau Dorchen. Der Alte entdeckt dasselbe,
schlägt aber weiter nicht Lärm, sondern schickt Fritz fort. Derselbe liebt und
heirathet ein anderes Mädchen, Lieschen. Dorchen hat indeß mit seine,»
Nachfolgerdas gleiche Spiel begonnen. Im „Freiherrn von Rubin" tödtet
der Held den Bruder feiner Geliebten, doch diese selbst, als seine Frau,
buhlt mit einem Baron, den er ebenfalls niederschießt. In allen diesen
Romanen herrscht der gemeinste Don. Cramers „Rasereien der Liebe" sind
Erzählungen höchst schlüpfriger Art. Von den Romanen von Spieß wollen
wir nur zwei erwähnen: „Läcilie oder die gottlose Dochter" und „Aurelie
/vHt> Rudolf von <3ottsch»ll in leipzig.
Waldenboru". Eäcilie ist ein achtzehnjähriges juuges Weib, allen Lasten!
hingegeben, rninirt ihren Gatten, ihre Eltern, flieht nach Amerika, wo sie
in die Hände uon Kannibalen gercith, welche ihren Freunden die Brüste ab-
schneiden und fressen, sie selbst ist nur dadurch von diesem Schicksal errettet
worden, weil die Kannibalen, als sie das nackte Weib mit Keulen nieder-
schlagen wollen, Spuren von einer niedrigen Krankheit entdecken; ihr Fleisch
ist zu unrein, um verzehrt zu werden.
Aurelie von Waldenboru wird Maitresse eines Fürsten, auf Geheiß
eines geheimen Tugendbundes, der durch ihren Einfluß bewirken will, daß
er das Land gut regiere und beglücke.
Ter rührselige Lafontaine bewegt sich zwar meistens auf dem Gebiete
bürgerlicher Tugend, doch er hat auch Anwandlungen, bei denen seine
Sentimentalität bedenklich in's Frivole hinüberschielt. So hat er mehrere
Romane geschrieben, wie z. B. „Engelmanns Tagebuch" und „Hermann
Lange", in denen Mädchen in aller Unschuld schwanger werden. In
Knigges Romanen, besonders in der „Geschichte Peter Elausens" und
den „Verirrungen des Philosophen" kommen viele gemeine Tcenen vor.
Julius von Voß schildert in seinen Romanen das wüste preußische Offiziers-
leben, das er zum Theil mit cynifckieu Schmutzfarben ausmalt. Vieles er-
innert an den „Simplicifsimus". Eins seiner Hauptwerke sind die „Aben-
teuer einer Marketenderin", die aus Weimar stammt, in einem dortigen
Vordell geboren und erzogen ist und sich dort einen gewissen Nildungssirniß
augeeignet hat. Dem Tchusterlehrling Samuel bringt sie diese Bildung
bei, und zwar finden diese platonischen Gespräche auf zwei neben einander
befindlichen Abtritten statt, wo auch Romeo zuerst seine Julie gefunden. Die
späteren Abenteuer der Heldin bringen manches tragikomische Intermezzo,
wie den Schuß, der sie dort verwundet, wo die neapolitanische Venns ihren
unsterblichen Ruhm gefunden. Die kleinen Erzählungen von Voß sind ein
rl>Aoüt'5n für die Frivolität; sie erinnern an die „Vraunen Märchen" von
Sternberg. Die Erzählungen uon Gustav Schilling bewegen sich in sächsi-
schen Offizierskreisen. Der .Held seines großen Romans „Guido von
Sohnsdom" ist ein Don Juan, der Liebesabenteuer mit vielen Damen hat,
sowohl vor der Ehe, als auch später während der Ehe. Und alle diese
Damen sprachen eine sehr eindeutige Sprache. Die fünfzig Bände der
Schilling'schen Erzählungen liefern auch nach dieser Seite hin eine reiche
Ausbeute.
Neben diesen leichtfertigen Romanen gingen andere einher, welche sich
weniger nach französischem als nach englischem Muster gebildet hatten und
moralisirende Tendenzen verfolgten. Wenn man diese indeß mit unseren
heutigen Familienblattromanen vergleicht, so zeigt sich doch auch eiu merk-
licher Unterschied; denn ans den« Wege zur Tugend und ihrem Schlußaccord
berühren fie doch das Laster und seine Dissonanzen oft genug in einer
Weise, welche den Rothstift unserer Redacteure herausfordern würde. In
Die lüngstdeutschen des achtzehnten )ahrhundert3. ^9^
du!» vielbändigen Roman des Superintendenten Hermes, „Tophie»s Reise
von Memel nach Sachsen", einem der tugendreichsten, erlebt die Heldin
mancherlei Abenteuer, sie kommt sogar niit einem Herrn Lesse in einem
Bett zusammen; doch wie es in Shakespeares „Othello" heißt: 8U6 nisans
not an? Imrw. „Das Fräulein von Sternheini" der Frau Laroche ist eine
brutale Verführungsgeschichte: doch die Tugend bleibt siegreich, wenn sie
auch zu Gru»de geht. In dem Romane „lulchen Gruenthal" wendet sich
Helene Unger gegen die damaligen französischen Sitten, besonders in den
Pensionsanstalten: die Heldin, Julie, die Tochter eines Anwalts, geräth in
diese Verderbnis) und endet als gemeine Buhlen». In dem Roman „Die
Pupille" uo» Johann Jakob Dusch besteht die Katastrophe dari», da«
Walter seine (beliebte in der Trunkenheit auf einen, Maskenball entehrt,
sich aber einbildet, es sei eine Andere gewesen. In Schnmmels „Empfind-
samen Reisen" entschließt sich der Held, ei» Mädchen zu heirathen, welches
schwanger ist. Die Romane von Wezel, von denen „Tobias Knaut"
eine Zeit lang selbst einem Herder und Wieland zugeschoben wurde
und in welchem auch Gcrviuus einen tieferen Zug erkennt, haben mit
den Producten der eigentlichen Genieepoche Nichts gemein, und doch sind
sie keineswegs frei von den Krankheiten derselbe». Die Abenteuer des
zwerghaften buckligen >innut wären für unsere heutigen Familienblätter
unmöglich. Einmal, als er im Teiä, badet, stiehlt ihni eine Zigeunerin
seine Kleider; zwei junge Fräulems, darunter besonders Adelheid, nehmen
sich seiner n» und erbarmen sich seiner Nacktheit. Am Schlüsse des Romans
besucht Knaut ei» Vordell, wo er seine frühere Wohlthäteri» wiederfindet
und ohne Weiteres, heirathet. In „Velphegor", einem der Voltaire'schen
Komödie nachgebildeten Roman, gehen noch merkwürdigere, aber auch meistens
sehr anstößige Dinge vor siel'. Die schöne Akante weist ihren Verehrer aus
dem Hause uud ertheilt ihm solche Fußtritte, daß er das Hüftbein bricht,
Fronal tritt an seine Stelle. Velphegor zieht in die neite Welt. Der
Freund und die Freuudin gesellen sich wieder zu ihni. Akante erzählt, wie
sie die Maitresse des Papstes Alexanders III., und dann diejenige eines
Markgrafen gewesen sei, auf dessen Befehl, als er ei» Recht zu habe»
glaubte, eifersüchtig zu sein, sie der Rase und der rechten Hand beraubt
und im ganze» Gesicht geschunden ward. Später gerathe» sie in einen
Amazonenstaat, wo die Weiber so lange Brüste haben, daß sie im kokette»
Spiel dieselben bald über die Achsel» werfe», bald fallen lassen; auch habeu
sie zu Gesellschaftern Affeu, deren Schwauz ein natürlicher Spiegel ist,
worin sie sich beschauen. Alante wird später todtgeschlagen, als sie emen
Ehemann verführen will. Aehnlich siud die Romane: „Die wilde Betty",
„Wilhelminc Arend", in welchem eine Opernscmgeri» die Hauptrolle spielt,
durch welche ein Hamburger Kaufmann fei»er Gattin untreu wird. Diese,
die sich nicht scheide» lasse» will, lebt da»» i» Bigamie mit einem Geliebte»
Webster.
~H8 Rudolf von Gottschall in leipzig.
Wie der Roman, so bot auch die damalige Schaubühne Vieles, was sich
heutigentags das Publicum nicht gefallen lassen würde. Wezel selbst hat einige
derartige Lustspiele geschrieben wie z. B. „Der blinde Lärm", in welchem ein
Edelmann seiner verwittweten Nichte nur unter der Bedingung zu Heiratben
gestattet, daß sie in der Ehe drei Kinder bekomme. Ihr Geliebter wird
von einer Nebenbuhlerin verleumdet, er habe an sich so gehandelt, wie
der Hofmeister von Lenz; doch das wird durch die That widerlegt; eine
Pariser Opernsängerin ist von ihm guter Hoffnung, und der Edelmann
giebt ihm nun vertrauensvoll die Hand seiner Nichte. Von Kohevues
Schauspielen hat „Menschenhaß und Neue" wohl mit Unrecht den heftigsten
Tadel der sittenstrengen Literarhistoriker erfahren als eine Beschönigung
des Ehebruchs. Doch dann müßte die christliche Lehre von Buße und
Neue und Sündenvergebung ebenfalls beanstandet werden. Es ist ein Ebe-
bruchsdrmua, wie die neufranMschen; Eulalie geht mit einem Offizier
durch; doch im Stücke erscheint sie als Magdalena, und der Gatte verzeiht
ihr. Da ist doch nichts Anstößiges, wohl aber in der von Kotzebue
gedichteten Fortsetzung, wo Mainnu die reuige Eulalia beruhigen will, indem
er sich der gleichen Süude zeiht und ein vo» einem Banemburschen ge-
schwängertes Mädchen besticht, daß sie aussagt, er sei der Schuldige.
Noch heute bekannt sind die „beiden Klingsberge" und der von Lortziug zu
einer Oper benutzte „Nehbock". Die „Sonnenjungfrau", Nocva, die gilter
Hoffnung ist von einen» Spanier und geopfert werden soll, bis der ))nta
von Peru selbst da« thörichte Gesetz aufhebt, gerade zur rechten Zeit, sodaß
jetzt alle Sonnenjungfrauen nach Herzenslust lieben können, und die naive
Gurli in den „Indianen, in England", welche von europäischen Sitten
keinen Begriff bat und in aller Unschuld die anstößigsten Dinge sagt,
waren damals so beliebte Bühnenrollen wie die „Grille" und die „Lorle"
der Frau Birch in der zweiten Hälfte unseres J ahrhunderts. Der .Held
des Lustspiels „Bruder Moritz" will durchaus ein gefallenes Mädclien
heirathen, das selbst seinen Sündenfall eingesteht. Auf gleichen Don ge-
stimmt waren die damals so beliebten Lustspiele von Nretzner und Jünger.
Wir erwähnen nur Brehners „Liebe nach der Mode", ein Lustspiel, in dessen
Mittelpunkt ein Heirathsbureau ist mit verschiedeilen sehr lockeren Ehebund-
werbern, aber noch schlimmere „Ehemänner", denn da findet sich der Hofratb,
der seine Frau gege« ein kostbares Bild einem Hauptmann abtritt. In der
„verstorbenen Ehefrau" spielt eine erwachte Echeintodte die Hauptrolle und
ordnet einige mißliche Liebesverhältnisse, die sich nach ihrem Tode an-
gesponnen. In Jüngers Lustspielen: „Verstand und Leichtsinn", „Die un«
uermuthete Wendung" wird das frivole Wiener Leben geschildett.
Ueber diese ganze Production sagt der Litteraturanzeiger von 1799:
„Die verfluchtesten Schriften kommen seit den letzten 35 Jahren zum Vor-
schein und über 7W0 Nomnne und Liebeshistörchen, die als Giftpflanzen
den braven Charakter der deutschen Weiber und Töchter schon auch ver-
Die liingstdeutschen des achtzehnten Jahrhunderts. ~HH
dorben haben," Aus dieser Versumpfung hat sich die Litteratur selbst empor-
gerafft und geläutert, nachdem die Clafsiker immer mehr Anerkennung ge-
funden; es hat dazu nicht der Gesetze, nicht der Eingriffe des Staates
bedurft. Die Litterntur ist wie der Speer der Minerva, sie heilt selbst
die Wunden, die sie schlägt.
Uns kam es darauf an, hier den thatsächlichen Nachweis zu führen,
daß das Neue, was die lüngstdeutschen in Theorie und Praxis zu Tage
fördern und dessen sie sich rühmen als unerhörte Großthaten und
revolutionärer Umwälzungen der Sitte, zum großen Theil dem alten
Sturm und Drang des vorigen Jahrhunderts angehört. Wir wollen hier
keineswegs zu Gericht sitzen weder über die Stürmer oder Dränger, noch
über die jüngsten Epigonen derselben. Wir sind keine Anhänger eines ge-
schlechtlichen Purismus, der einer geistvollen Entwicklung der Litteratur
ebenso hinderlich ist, wie die Maß- und Zügellosigkeit. Möglich, daß aus
dein neuen Sturm und Dräng auch eine neue Classicität hervorgeht wie
Goethe uud Schiller aus dem Kreise der Stürmer und Dränger, denen
ihre lugenderzeugnisse angehörten uud daß Sudermann der Schiller und
Hauptmann der Goethe des neunzehnten Jahrhunderts wird!
Doch wer kann dies wissen? Es ruht im Schoß der Götter!
M
Rußland in Centraiasien,
von
— Viezla». —
ie politischen Folgen der neuesten kriegerischen Ereignisse in Ost-
asien zwischen Japan und China werden voraussichtlich die alte
Rivalität Englands und Rußlands in diesem Erdtheile von Neuem
und in verschärften: Grade hervortreten lassen, es dürfte demnach die öffent-
liche Aufmerksamkeit auch auf das allmähliche, aber unaufhaltfame Vor-
dringen der Rusfeu im asiatischen Eentralgebiete wieder in erhöhtem Maße
hingelenkt werden. Wenn England sein Znndelimonopol in China möglichst
aufrecht zu erhalten nnd daher bei Gelegenheit des Friedensvertrages zwischen
Ehina und Japan im Einverständnis) mit letzterer Macht selbstsüchtig be-
sondere commerzielle Vortheile für sich zu -gewinnen sucht, Rußland aber
durch die Errungenschaften Japans in China sich in seinen ostasiatischen
Interessen bedroht sehen muß, so spitzt sich durch diese Verhältnisse der
Gegensatz zwischen den beiden genannten europäische,: Großmächten in be-
drohlicher Weise zu, und es wird dann zwischen dieser Collision der russischen
und englischen Interessen in Ostasien und den äußerst empfindlichen Be-
rührungspunkten beider Staaten im Centraigebiete des Erdtheils sehr bald
eine gewisse Wechselwirkung eintreten müssen.
Wenn hier von Centraiasien die Rede ist, so soll damit nicht blos des
Erdtheils eigentliches Mittelgebiet gemeint sein, dessen engeren Begriff Freiherr
von Richthofen in seinen: großen Werke „China" lediglich auf die Länder
zwischen dem Altai-Gebirge in: Norden, den Pamirs in: Westen, de»: Hoch-
land von Tibet in: Süden und der Wasserscheide der Hauptströme von
China — lantsekiang und Hoangho ~ sowie den: Lhangangebirge im
lösten beschränkt sehen will. Dieser Kern von Innerasien ist bis jetzt noch
Rußland in tentralasien. 20^
nicht zum Gegenstande politischer Streitigkeiten geworden, und China gilt
hier noch immer als unbestrittener Machthaber. Für die vorliegende Studie
kommen vielmehr nur die der westlichen Peripherie des eigentlichen Centrai-
gebietes vorliegenden Länder von Turan und Iran in Betracht, die
Alerander von Humboldt ebenfalls zu seinem Centraiasien rechnete, und
von diesen hier namentlich die Kirgisengebiete, Weslturkistan mit den Chanaten
Bochara und Chiwa, die Turkmenensteppe nnd Afghanistan.
Hohe gewaltige Gebirgsmassen schließen Mittelasien im Allgemeinen
von den nach den Meeren zu geöffneten Ländern des Erdtheils ab und
trennen es andererseits im Innern in verschiedene Theile.
Im Norden und Osten wird die Grenze durch den Altai mit seinen
ostwärts sich erstreckenden Verzweigungen gebildet, dann durch den Inschan,
Aläschan und das hohe Gebirge des Kokonor. Im Süden zieht sich als
Wasserscheide der Karakomm — Mustagh oderThangla — hin, westwärts
in dem Hindukusch sich fortsetzend. Der Hauptkamm dieses Gebirges, an
welches sich im Westen mittelst niedrigerer Höhenzüge der den Südrand des
Kaspischen Meeres begrenzende Elburs anschließt, stellt sich als der Nord-
rand des Hochlandes von Iran dar, während seine Verzweigungen in
Afghanistan und die von Norden nach Süden streichende Solimankctte das
Grenzgebirge Irans gegen Indien bilden. Als westlichen Grenzwall von
Mittelasien endlich sehen wir den KaukaM.
Mit dem Altaisystem im Zusammenhange und von ihm mir durch eine
etwa 21 Kiu. breite Einsenkung 'getrennt, zieht sich das Thmnschangebirge
hin, und zwar in zwei Hauptrichtnngen, von Südwest nach Nordost und
von Nordwest gegen Südost. Im östlichen Thianschan trennt eine riesen-
haft aufragende Gebirgsmasse den chinesischen Kreis Kur-kara-usu in der
westlichen Mongolei vom Lande der Dschulduz in Ostturkestan und setzt sich
östlich in weniger hohen Parallelketten fort b>5 zur chinesischen Provinz
Kansu. Die von Nord nach Süd sireichende >vette des Thianschan scheidet
Ost- und Westturkestau iu die zwei großen Längenthäler des Amn-Tarja
und des Tarim nnd ist von den nordwestlichen Fortsetzungen des Himalaya
nicht, wie im Norden vom Altai, durch eine Senkung geschieden, sondern
beide Gebirgssusteme gehen hier durch zahlreiche kurze sich absendernde und
einander durchschneidende Ketten das eine zum anderen über. Zwischen den
Ouellflüssen des Amu-Tnrja und Tarini liegen die wüstenähnlichen Hoch-
flächen der Pamirs auf der Grenze von Ost- und Westturteslan. Mit dein
Himalaya stehen noch in Beziehung der Karatonn», welcher, ihm nördlich
vorgelagert, sich von Westen nach Osten hinzieht, ferner der Küenlün uud,
diesem im Westen sich auschlieüend, die von Südost gegen Nordwest streichen-
den, noch immer 6(XX> m Höhe übersteigenden Gebirgszüge, welche unter
dem Namen Nelur-Tagh zusammengefaßt werden. Ter am Terek-Paß be-
ginnende, von Nordost nach Südwest sich erstreckende mächtige Gebirgswall
führt aber den Namen Alm. Derselbe bildet die Wasserscheide zwischen
ülord und VÜd. I.XXV. 224, 14
202 e. Maschke in Vleslau,
dem Sir- und Amu-Darja. Centraiasien stellt sich übrigens keineswegs als
ein einziges, ununterbrochenes Hochplateau dar. Tnrkestan, mit dem Strom-
gebiete des Amu-Darja im Westen und des Darin, (larkand) im Osten,
bildet eine große, in der Mitte gehobene Einsenkung, die östlich im Gebiete
der Mongolei endet. Ebenso sehen wir in, Plateau vou Iran eine be-
deutende Depression in Seistan. Die ausgedehnteste Niederung befindet
sich aber in den nach dem Kaspischen Meere zu sich abdachenden Steppen.
Die unabsehbaren Einöden Centraiasiens sind mit fliegendem Sand, mit
Salzlachen und weithin sich erstreckenden Morästen bedeckt und gestalten sich
uur hin und wieder zu Steppen mit einer an Arten verhältnißmäßig reichen
Flora. Einen ungeheuren Ländercompler umfaßt die aralo-kaspische
Niederung; östlich davon liegen die Wüsten Kisilkum und Natkattum, und
südlich von diesen erstreckt sich die meist wasserarme Turkmenensteppe. In
Chorasan schließt das fruchtbare Land die völlig weglose Wüste Lut ein.
Im Süden des Hindukusch nehmen die unfruchtbaren Gegenden große
Flächen ein. Oestlich des Thianschan erstreckt sich im Norden die Wüste
Gobi mit ihrem schmutziggelben, sandiglehmigem Steppenboden, auf welchem
aber auch Hügel und Verge über 2509 ru hoch emporragen, in einem
Naume, der Frankreich viermal an Größe übertrifft. Leblose Stille soll
hier herrschen. Es fehlt zwar nicht an Oasen, aber erst am Nordabhange
der Mongolei, nach Sibirien und dem Baikalsee zu zeigen sich Anfänge
von Flüssen und ein verhältnißmäßig reicher entfaltetes Leben. Charakte-
ristisch für das Gebiet von Centraiasien ist andererseits die große Zahl von
bedeutenden Seen, welche mit keinem der großen Oceane in Verbindung
stehen und die Sammelbecken für zahlreiche Flüsse bilden, soweit letztere
nicht in den Wüsten sich verlieren. Auch die Hochgebirge sind reich an
Alpenseen, und eine Menge Flüsse entspringen ihnen.
Die gebietende, oder wenigstens die gefürchtete und von den Nomaden
als Herrin der Welt betrachtete Macht in Centraiasien ist unbestreitbar
Ruhland. Die Länder unmittelbar an der Peripherie des oben bezeichneten
engeren Centraigebietes, also die von Turau, befinden sich fast sämmtlich
unter russischer Herrschaft, während den Besitz des iranischen Hochlandes
Rußland und England fortgesetzt sich streitig machen.
Das Vorgehen Nußlands in Centraiasien wird aber immer verschieden
beurtheilt werden, je nachdem dies von dem einen oder von dem anderen
politischen Standpunkte aus geschieht.
Die Anhänger Englands werden natürlich urtheilen, wie der Ungar
VanMni in seiner Schrift „Centraiasien und die englifch-russische Grenz»
frage". Mau wird unter ihnen behaupten, daß die Engländer eifrig be-
flissen wären, den armen und unterdrückten Orientalen das Veste und höchü
Erreichbare zu bieten, daß dagegen durch den russischen Civilisirungsproceß
die asiatischen Nationen, welche ihm seit vier Jahrhunderten schon unter-
morsen seien. Nichts gewonnen, sondern sowohl moralisch wie materiell nur
Rußland in Centraiasien. 203
Verloren hätten, und daß diese Völker heute noch unserem westlichen Cultur-
begriffe ebenso fern ständen wie ihre unter der Herrschaft des fanatischen
Mohammedanismus noch lebenden Stammesbrüder. Es wird allerdings zu-
gestanden, daß die russische Civilisation trotz aller Mängel und Lasten, die
ihr anhafteten, doch noch immer jener überlegen wäre, die dem Mohamme-
danismus entspränge, der, wie fruchtbar er auch in der Vergangenheit ge-
wesen sein möge, jetzt doch nur mehr einem gänzlichen Aufgeben aller
Willens- und Thatkmft und einem Zurückversinken in frühere primitivere
Entwickelungsphasen zum Vorwande diene. Man will auch durchaus nicht
leugnen, daß Nußland, indem es eine gewisse gesetzliche Ordnung in einigen
barbarischen Staaten Asiens einführte, in denen Genmltthätigkeiten und Blut-
vergießen schon weite Länderstrecken verödet hatten, auch vielen im Elende
schmachtenden Menschen Wohlthaten erwiesen habe. Doch sei es trotzdem
fraglich, ob man jene neuen Zustände und Verhältnisse, die in diesen Land-
strichen ans russischen Einfluß zurückzuführen wären, auch wirklich Civilisation
nennen könnte, und ob man sagen dürfte, daß Rußland damit auch nur
einen Strahl des glorreichen Lichtes der modernen Eultur des christlichen
Wesens nach jenen Regionen gelenkt habe. Die halbe Million Kasan-
Tartaren, die einen geistig begabten Bruchtheil der türkischen Nation bildeten
und in alten Zeiten um ihrer moslemitischen Eultur willen berühmt ge-
wesen seien, zeigten, außer in einigen höchst oberflächlichen Zügen, in ihrem
socialen und politischen Leben auch keine Spur vom Geiste unseres Jahr-
hunderts. Das Volk werde in seiner moralischen Apathie belassen und
danke seine geringe Geistesbildung einzig der Schule, die es felbst gegründet
habe und aus eigenen Mitteln erhalte. Allerdings befänden sich in Kasan
von der Regierung errichtete Schulen, doch wäre der Geist und die Tendenz
des Unterrichts echt russisch, nur darauf ausgehend, die Tataren zu Christen
und Moskowitern umzuwandeln, damit sie dem russischen Reiche um so
leichter einzuverleiben seien. Aehnlich solle es bezüglich der Baschkiren sich
verhalten, eines gleichfalls zahlreichen Theiles der turko-tatnrischen Nasse,
welcher seit undenklichen Zeiten seinen Sitz im Uralgebirge hat. Die
Baschkiren wären, obwohl schon seit zwei Jahrhunderten unter russischer
Herrschaft stehend, vom moralischen wie vom materiellen Gesichtspunkte aus
betrachtet, schlimmer noch daran als die Stammesbrüder an der Wolga.
Arm und bedrückt, von den fanatischen orthodoren Nüssen vernachlässigt und
verachtet, wären sie nahezu auf die Hälfte ihrer ehemaligen Zahl zusammen-
geschmolzen. Dasselbe Beobachtungsresultat will man nordöstlich hinauf bis
Tobolsk und im Süden abwärts bis zum Altaigebirge festgestellt haben.
Ueberau trete die Thatsache entgegen, daß mit dem Erscheinen der russischen
Civilisatoren sich die Eingeborenen rasch verminderten und daß die Negierung
anstatt sich der grausam unterdrückten Uutcrthanen anzunehmen, weit eher
noch das Zerstöruugswerk der russischen Kosaken, Popen und Kanfleute unter-
stützte. Um die gänzliche Wirkungslosigkeit der nissischen Civilisations-
14*
204 <L. Maschke in Vreslau.
Bestrebungen zu erkennen, brauche man nur solche Völkerschaften zu betrachten^
die, lange schon unter russischer Herrschaft stehend und zum Christentum
übergetreten, sogar der griechisch-katholischen Kirche angehörend, somit als»
von allen Seiten den Einflüssen uon Kirche und Staat zugänglich, dennoch
keine Resultate derselben aufzuweifen hätten. Als Beispiel werden zunächst
die Tschuwaschen aufgeführt, am rechten Ufer der Wolga und am linken
des Stromes in südöstlicher Richtung bis Orenburg, die seit 1528 Unter-
thanen des Zaren sind. Diese türkische, auf nahezu 600 000 Seelen sich
beziffernde Völkerschaft sei 1748 zum Ehristenthum übergetreten. Sie habe
seit ihrer Unterwerfung sich ausschließlich unter der eisernen Hand der
russischen Verwaltung befunden und, obwohl vorzugsweise aus friedlichen
Ackerbauern bestehend, dennoch dnrch die civilisntorische Herrschaft keinen
Segen erfahren. Der Tschuwasche von heute wäre noch so unwissend und
abergläubisch, wie seine Vorfahren einst gewesen, er sei nur nominell ein
Christ und bete insgeheim immer noch seine alten heidnischen Götter an.
Die ugrische Bevölkerung, wie die Tschermissen, Wotjaken und Wogulen
sollten aber noch übler dran sein. Weder ihr Alltagsleben noch ihre Denk-
weise oder ihre socialen Beziehungen wiesen auch nur den geringsten Einfluß
ivestlicher Eivilisation auf. Es hätte sich wenig oder Nichts bei ihnen ge»
ändert, seit sie den väterlichen Schutz des Zaren genossen, dessen Regierung
sich damit begnüge, friedliche »nd willfährige Steuerzahler heranzuziehen, und
nicht daran denke, die Eristenzbedingnngcn der ihrer Sorge anvertrauten
Völkerschaften zn verbessern. So feien denn die Jakuten im fernen Osten
an den Ufern der Lena beinahe auf die Hälfte ihrer früheren Zahl zu-
sammengeschmolzen, und die Wogulen befänden sich nahezu fchon auf dem
Aussterbeetat. Die Krim-Tataren, eine berühmte Eroberer- Rasse, die zu
Beginn des vorigen Jahrhunderts eine halbe Million Seelen gezählt, be-
zifferten sich jetzt nur noch auf 80 000. Dieselbe erschreckende Abnahme
wiesen die nogaischen Tataren auf, und die wegeu ihres Kampfesmutnes
und Unabhängigkeitssinnes berühmten Vewohner des westlichen Kaukasus
seien beinahe gänzlich vom Schauplatz ihrer Thaten verschwunden. — Wahre
Loblieder stimmt aber Vambcry ans die Engländer in Indien an. Auch
erklärt er die in Europa vorherrschende Meinung, daß Großbritannien sein
Indien der Verarmung zuführe und sich an ihm nur bereichere, für eine
durchweg lächerliche.
Die Freunde Nußlands dagegen entschuldigen die ungenügenden Resultate
der mostowitischen Civilisatoren, indem sie behaupten, daß die Mißeil'olge
der letzteren nicht der ungenügenden Befähigung derselben zuzuschreiben,
sondern auf den halsstarrigen Widerstand zurückzuführen seien, welchen die
Mohammedaner beinahe überall den Ciuilifationsuersuchen europäischer Er-
oberer entgegensetzten. Alan spricht die Ueberzengung aus, daß Rußland,
dessen Bevölkerung grüßtentbeils aus Asien stamme, und das in seinem socialen
Aufbau noch gar manchen asiatischen Charakterzng aufweise, jedenfalls geeigneter
Rußland in Centralas,en. 20,'»
sei, in den noch halbbaibarischen Landen! dieser alten Welt westliche Eultur
zu verbreiten und einer gesetzlichen Ordnung zur Herrschaft zu verhelfen,
als das strenge, kalte, unbeugsame England. Eine weite Kluft trenne den
vom potenzirt europäischen Geist erfüllte« Engländer von dem von einer
Jahrtausende alten Eultur imprägnirten Asiaten, Ein minder verfeinerter
Einfluß, eine inmitten der beiden Eulturstufeu stehende Macht müßte eine
ungleich wirksamere Vermittelung bildeu, und Rußland, das auf der Grenze
dieser beiden so verschiedenartigen socialen Gestaltungen sich befinde, ver-
möge daher die westliche Eiuilisation unbedingt erfolgreicher im Orient zu
verbreiten, als dies für England möglich wäre. General Skobelew, ein
genauer Kenner der asiatischen Verhältnisse, sprach aber seine Ansicht be-
züglich Englands dahin aus, daß dieses die ihm unterworfenen Völker schwer
bedrücke und in einen Zustand der Sklaverei zurückzwinge, einzig zu Gunsten
des englischen Handels und damit die Briten reich würden.
Die Wahrheit nnd das Nichtige dürfte wohl, wie meistens bei den
Anschauungsverschiedenh.'iten im Leben, auch hier iu der Mitte aller dieser
Veurtheilungen liegen. Andererseits vermag man eine auch nur annähernd
richtige Vorstellung von der Lage Rußlands in Eentralasien und seinem
Verhalten dort nnr zn gewinnen, wenn man sich vorher mit der historischen
Entwickelung dieses Ländererwerbs vertraut gemacht hat. Ist letzteres aber
geschehen, so wird der von einem unparteiischen Standpunkte aus Ur-
teilende dein zielbewußten, klugen und beharrlichen Vorgehen Nußlands,
sowie den Leistungen seiner Offiziere und Soldaten die Anerkennung nnd
eine gewisse Dheilnahme wohl nicht versagen können. —
Die Rivalität zwischen Rußland und England mußte von jenem Zeit-
punkte an in's Leben treten, wo Spanien, Portugal, Holland und Frankreich
von dem Eroberungsgebiete in Asien sich zurückzogen nnd dos alte Mutter-
land den» Ehrgeize nnd dem Eigennutze der beiden erstgenannten Rationen
überließen. England hat seine Eroberungsbahn langsam, aber sutig von
Süden aufwärts verfolgt, bis sich aus der kleinen Handelsgefellschaft ein
gewaltiges Reich aufgebaut. Das Hauptmotiv war jedenfalls das Geld-
verdienen! Unser germanischer Vetter jenseits des Eauals ist frei von
jeder unpraktischen Empsindfamkeit. Was Nußlaud aber anbelangt, fo sind
die Ursachen seiner Eroberungen und ist auch der Verlauf derselben
wesentlich anderer Art. Der ganze Aufbau des russifchen Reiches basirt
ausschließlich auf Eroberungen und Annerionen. Die Russen bildeten ur-
sprünglich eine kleine Körperschaft von Slaven, aufgepfropft anf ugrifche,
rurko-tatarische und sinnische Elemente. Allmählich dehnten sie sich dann
aber ans, nnd sie würden sicherlich schon im Mittelalter eine hervorragende
Rolle in den geschichtlichen Ereignissen gespielt haben, wenn nicht zeit-
weilige Umwälzungen und durch asiatische Eroberer hervorgerufene Kriege
die Entwickelung der russischen Ration zurückgehalten hätte». Die beiden
bedeutendsten Hemmnisse in ihrem Entwickelungsgange bildeten der Einbruch
20t» t, Maschke in Vreslau.
der Mongolen uuter Dfchengis Chan und der große zirieg gegen Timur.
Gerade durch diese geschichtlichen Ereignisse wurde die im Werden begriffene
moskomitifche Macht gewaltsam gelähmt. Vom Geiste christlicher Eioilifation
getragen, vermochte das russische Volk schließlich doch über die barbarischen
Repräsentanten Asien» zu triumphiren. Die Goldene Horde wurde aus-
einander gejagt, das Reich Timurs siel in Trümmer, uud das siegreiche
Rußland, das sich eine eroberte Länderslrecke nach der andern einverleibte,
trat die Erbschaft seiner asiatischen Vorgänger an. Nachdem es sich den
Landstrich an der unteren Wolga unterworfen hatte, theilte es dann seine
Aufmerksamkeit zwischen dem Westen und dem Osten, und nach beiden
Richtungen hin errang es unerwartete Erfolge. Im Osten erschien es jetzt
als der Repräsentant Europas, wie dieses vor 309 bis 290 J ahren war;
mit besseren Waffen ausgerüstet, als der barbarische Gegner, vermochte
Runland mit verhältnismäßig kleinen Kriegerfchaaren große Völkerschaften
sich zu unterwerfen. Sibirien wurde im 16, Jahrhundert erobert, und
zwar hauptfächlich mit Hilfe der rufsifchen Kosaken. In demfelben Jahr-
hundert foll Rußland anch bereits mit Centraiasien in Handelsverkehr ge-
treten sein, die ersten geschichtlich nachweisbaren Beziehungen finden wir
aber erst zur Zeit Peters des Großen. Die Absicht, einen Weg nach Indien
ausfindig zu machen, ueranlahte im Jahre 1717 den Zar, eine kleine
Truppenmacht unter dein Fürsten Vekewitfch Tfckerkafsi nach dem im Süden
des Aralsees und der iiirgisensteppe gelegenen Chnnate Ehiwa zu entsenden,
um hier mit den, asiatischen Souuerain Verbindungen anzuknüpfen, wo-
möglich bis Indien vorzudringen. Vekewitfch hatte indessen zu großes Ver-
trauen iu feine militärische Stärke geseht, ließ sich auch von den trügerischen
Versprechungen des schlauen asiatische» Fürsten täuschen und ging in Folge
dessen sammt seinen Truppen durch Verrat!) zu Grunde. Das Ende des
Unternehmens war also ein sehr klägliches gewesen. Zur Zeit des Todes
Peters des Großen, 1725, hatte Rußland in Mittelasien noch keine Vesitzungen.
Nachdem jedoch die Russen die Grenze des Don und des Ural, den
alten durch die Kasakenlinien gebildeten Wall, einmal überschritten hatten,
konnte Nichts mehr ihr weiteres Vorgehen aufhalten. Um feine neuen Unter-
thanen zu schützen, sah sich Ruhland in die unvermeidliche Nothwendigkeit
versetzt, auch deu angrenzenden Völkerschaften, die nur von Raub und
Plünderung lebten, sein Joch gewaltsam aufzuerlegen. Waren aber
die einen diefer feindlichen Völkerstämme einmal unterjocht, so mußten
immer wieder noch neue unterworfen werden, weil sie Beunruhigungen
verursachten. Und so kam es allmählich, daß wir heute die Russen an der
Grenze von Afghanistan stehen sehen. Die Lage Rußlands in Eentralasien
war also von Anfang an dieselbe, wie die aller civilisirten Völker, welche
mit halbwilden Nomadenstämmen in Berührung kommen. Nur indem man
sie zun, Gehorsam zwang und an ein friedlicheres Leben zu gewöhnen
suchte, vermochte man ihren kriegerifchen Einfällen und Raubzügen Einhalt
Rußland in Centialasien. 20?
zu thun. Die Folge war dann aber in der Negel, daß die Unterworfenen
nun ihrerseits wieder den feindlichen Belästigungen der eigenen unruhigen
Nachbarn mehr ausgesetzt waren. Daraus entstanden für die Russen
periodische und weit ausgreifende kriegerische Unternehmungen gegen einen
Feind, der in Folge seiner lockeren Organisation eigentlich unfaßbar war.
Beschränkte man sich darauf, ihn zu züchtigen, fo konnte man mit Sicherheit
darauf rechnen, daß binnem Kurzem er seine Feindseligkeiten erneuerte, denn
in seinen Augen war jeder Rückzug des Gegners ein Zeichen von dessen
Schwäche. Um diesen fortwährenden Unruhen also ein Ende zu machen,
blieb Nußland schließlich Nichts übrig, als bei seinem Borrücken in den
feindlich gesinnten Ländern in diesen auch festen Fuß zu fassen und sich
durch Anlage uon Befestigungen Stützpunkte zu verschaffen. Bei diesem
Bordringen hat allerdings der kriegerische Geist der russischen Truppenführer
wohl mitunter den Gang der Ereignisse gegen die Pläne der Negierung
und zum Verdrusse der Diplomaten beschleunigt. Im Allgemeinen lehrt
nns aber die Geschichte, daß das Schicksal aller Böller unter solchen Ber-
Hältnissen doch stets das gleiche gewesen. Ehina mußte in der Mongolei
erst ungeheuere Eteppenflächen erobern, um seine natürlichen Grenzen ge-
winnen zil tonnen. Ebenso wurden die Bereinigten Staaten in Amerika,
Frankreich in Algerien, England in Indien nicht blos durch Egoismus und
Habsucht, sondern auch durch die Notwendigkeit, sich festzusetzen und zu
sichern, unvermeidlich auf den Weg der Bergrößerung und Ausdehnung ge-
drängt. Auch Nußland hat demnach nicht blos aus Eroberungssucht die so
ungeheueren materiellen Opfer und Lasten in Centralasicn sich auferlegt. —
In der zwölfjährigen Verwaltungsperiode uon 1868 bis 1879 ergaben
z. B. die Einnahmen gegenüber den Ausgaben ein Deficit uon 66815949
Rubeln. —
Bis in die erste Hülste des achtzehnten Jahrhunderts hinein halte
also Nußland noch keinen Landerwerb in Centralasicn aufzuweiseu. Erst
im Jahre 1734 unterwarf sich die Kleine Horde der Kirgisenkasaken in dem
westlichen Theile der Steppe, und zwar anscheinend freiwillig. Die Freude
über dieses Ereignis; sollte jedoch nicht lauge währen, denn bald sahen sich
die Russen genüthigt, der Naubzüge der neuen Unterthanen des Neiches
in das russische Eulturland hinein sich zu erwehren, und, um diesen feind-
seligen Beunruhigungen schließlich ein Ende zu machen, zur planmäßigen
Unterjochung der Kirgisensteppen zu schreiten. Es fiel damit Nußland eine
überaus schwierige Aufgabe zu. Abgesehen von den hartnäckigen Mmpsen,
welche es mit den Eingeborenen durchzufechten hatte, stellte ihm auch die
Natur gewaltige Hindernisse in den Weg. Endlose, wüste Flächen mit ab-
wechselnden» harten Lehmboden oder Wtiefem Sand und ausgedehnte wasser-
lose Landstrecken waren zu überwinden.
Die Steppe wurde vou zwei Seiten, von Osten und vou Westen her,
in Angriff genommen. Für das ersten Vorgehen bildete Sibirien die Basis.
208 <L. Maschke in Vieslau,
An der ivestlichen (Grenze Chinas glitten die russischen basalen vom Altai
herab zmn Issikul-See, ebenso geräuschlos, wie es den russischen Vorposten
am westlichen Rande des Kirgisenlandes von der Kleinen Horde gelang,
sich an den Aralsee und an den Sir-Darja heranzuziehen.
Dieses langsame, aber stetige siegreiche Vordringen, das Werk zweier
Jahrhunderte, charakterisirt die Hartnäckigkeit, Ausdauer und Klugheit der
Nüssen. Wenn nur aber mit Erstaunen und Vewuuderung die Erfolge be-
trachten, die Nußland mit verhältnismäßig sehr geringen Kräften an seinen
ursprünglichen Ost- und Südgrenzen und weit darüber hinaus errungen hat,
so dürfen wir namentlich einen Factor nicht übersehen, der ivesentlich dabei
mitgewirkt. Es sind dies die russischen Kasakenvölker. Sie waren stets für
Nußland von nnschähbarem Werthe und sind dies auch heute noch, indem
mit ihrer Hilfe hauptsächlich die weiten Steppengebiete mltivirt wurden
und werden. Die russischen Kasaken bildeu gewissermaßen den Uebergang
von den civilisirten Nüsse« zu deu halbwilden nomadisirenden Steppen-
Völkern und das Bindeglied zwischen ihnen. Solange die Kasaken Süd-
rußlands noch ihre Unabhängigkeit hatten und oft mit den Feinden des
moskowitischen Reiches gemeinsame Sache machten, waren der Mssen Fort-
schritte in der Steppe nicht bedeutend. Erst nachdem Nußland diese Xasaken
unterworfen nnd sich zu treuen Dienern gemacht hatte, war es ihm möglich,
allmählich der Steppengebiete Herr zu werden und seine Grenzen immer
mehr zu erweitern. Von de» Grenz-Kasakenlinien aus wurde ein beständiger
Vertheidigungs- und Angriffskrieg gegen die Steppen unterhalten, nnd je
nachdem man in der letzteren Gebiete weiter vordrang, wurden die alten
Kafakenlinien verlassen nnd neue vorgeschoben. Die Kasaken bekämpften
dabei die wilden Völkerschaften der Steppe nicht immer blos mit den
Waffen, sie knüpften auch friedliche Verbindungen mit denselben an nnd
wirkten durch List und Ueberrednng. Sie assimilirten sich ihnen sogar,
wurden am Kuban und Derek halbe Tscherkessen, am Ural halbe Kirgisen
uud boteu so, da sie stets eine feste Treue dem Zaren bewahrten, das beste
Mittel, die wilden Völkerschaften zu bäudigen und zu zügeln. In dem
eigen! hümlichen Wefen und Charakter der Kafaken, die geborene Krieger, schlane
Handelsleute und Ackerbauer mit den Sitten und Gewohnheiten der
Nomaden, Alles zn gleicher Zeit sind, findet das Näthsel der Unterwerfung
und des Zusammenhalts so uugeheurer Steppengebiete, wie sie im
russischen Reiche vereinigt sind, hauptsächlich seine Crklärung und
Auflösung.
Die Kirgisen, welche das weite Gebiet in Vorderasien bewohnen, das
im Norden vom Quellgebiete des Uralflufses, der Festungslinie längs des
Tobol und von hier östlich bis Omsk am Irtisck, im Nordosten und Osten
vom Irtisch, vom westlichen Gebiete der Seen Saian und Alaknl begrenzt
wird, im Süden aber vom Alatau, dann von den Flüssen Dschu nnd Sir-
Do. rja, dem Aralsee und dem Ust-Urt, im Westen endlich vom Kaspis-
Rußland in Centraiasien. 20Y
See und Uralfluß, repräseutireu den Typus der türkischen Nomaden. Von
Anfang an setzten sie den Eindringlingen jene fpecielle Widerstandsfonn
entgegen, die ebensowohl bei den Nomaden Amerikas, wie bei jenen Asiens
zu beobachten ist. Zuerst ließen sich einige einflußreiche Häuptlinge durch
Geschenke und Auszeichnungen gewinnen. Mit der eingegangenen Lehns-
verpflichtung wurde es dann aber nicht ernst genommen, und sobald der
russische Unterhändler dcni Schauplatz den Nucken gekehrt hatte, vergaß der
Kirgisenhauptling sowohl die Geschenke, wie den Eid, den er geleistet.
Nußland mußte demnach zu anderen Mitteln greifen. Es legte an ver-
schiedenen Punkten kleine Forts an, um den Handelsleuten auf ihren Zügen
Obdach und Schutz zu gewähren. Den Kirgisen wurden aber Schulen und
Gebethäufer erbaut, um sie durch Erziehung und Neligion zu civilisiren.
Bei diesen letzteren Maßregeln geschahen große Mißgriffe seitens der russischen
Verwaltung. Man pflegte officiell die tatarische Sprache, während diese
doch gar nicht die Muttersprache der Steppenbewohner war, und legte
Moscheen an, während der Volksglaube uoch ein schamanischer war. Durch
diese fehlerhaften Einrichtungen wurde nur den Erbfeinden christlicher
Regierungen, den tatarisch-mohammedanischen Priestern Vorschub geleistet,
die jetzt in großer Zahl aus Innerasien herbeieilten, um sich in der Steppe
niederzulassen. Die russische Negierung entschloß sich daher im Jahre 1820,
die Kirgisen vollständig zn russischen Unterthanen zu machen. In der Steppe
wurden an Punkten, die sich für die Umgegend zu Vcrkehrs-Ceutren eigneten,
Befestigungen erbaut und in denselben russische Kasaken angesiedelt. Dieses
System fand zunächst am Irtisch Anwendung und dann 1835 in der
Orenburger Steppe. So entstand eine Befestigungsliuie iu der Mittleren,
und die ilezkische in der Kleinen Horde der Kirgisen. Aber auch diese
Maßnahmen vermochten den Zweck, Nuhe im Kirgisenlande herzustellen,
noch nicht ganz zn erfüllen, so lange die räuberischen Schnaren noch Ge-
legenheit fanden, durch Entweichen in die unabhängigen Ehanate im Süden
der Steppe, nämlich nach Chokand, Vochara nnd Chima, sich eventuell der
Strafe zu entziehen. Namentlich wurde ihnen Unterstützung geboten durch
den Ehan von Ehiwa. Nachdem daher russtscherseits der Posten Nomo-
Alerandrowsk an der Kaidabucht des Kaspischen Meeres, der Emba-Posten,
400 Kilometer südlich von Orenburg, und Aklmlak, etwa 160 Kilometer
weiter südlich nach dem Ust-Urt-Plateau zu, angelegt wordeu waren, wurde
1839 von Orenburg aus ein Erpeditionscorps unter General Perowski
gegen Ehiwa entsendet. Dasselbe hatte eine Stärke von 20000 Mann
nnd einen Train von 10000 Kameelen. Heftige Kälte und Maugel an
Lebensmitteln, sowie furchtbare Schneegestöber nothigten aber Ende Januar
1840 den russischen General nach den: Verluste der Hälfte seiner Mannschaft
schon auf dem halben Wege zur Umkehr. Eine große Anzahl wegen Er-
schöpfung auf den Märschen Zurückgebliebener war in feindliche Gefangen-
schaft gerathen. Die Erpedition war also vollständig gescheitert. Auch nabm
2~0 <L Mllschke in Vreslau.
die russische Regierung jetzt Abstand davon, einen neuen Kriegszug durch
die Steppen am Aralsee zu versuchen, entschloß sich vielmehr, in anderer
Weise einen entscheidenden Schlag vorzubereiten, für welchen die Sir-Darja
(larartes-)Linie als Operationsbasis dienen sollte. Zu letzterem Zwecke
mußte man sich aber zunächst des Chanates von Ehokand bemächtigen, das
1840 der Emir von Vochara seinem Gebiete einverleibt hatte.
Nach einen» 1846 ausgebrochenen, von den Russen aber mit Erfolg
niedergeworfenen Aufstande der Kirgisen erhielten Embinst und Atbulat
feste Garnisonen, und in der Steppe entstanden außerdem die Posten
Uralskoje und Orenburgskoje. In demselben Jahre hatten auch die Kirgisen
der Großen Horde zwischen dem Balkasch-See und dein Thianschan-Gebirge
die russische Oberherrschaft anerkannt. Südöstlich des genannten Sees wurde
von den Russen der Stützpunkt Kopal angelegt. Um dieselbe Zeit entstand
Raimskoje an der Mündung des Sir-Darja. In Orenburg sammelte man
Kriegsuorräthe aller Art an. Im Jahre 1847 begann dann General
Perowski, langsam aber sicher vorzurücken, indem er in gewissen Ent-
fernungen eine Reihe von Forts errichtete, welche die ersten Glieder der
Kette bildeten, die später den Sir-Darja mit Rußland verbinden sollte.
Auf dem Aralsee wurde eine kleine Flottille errichtet. Die Necognoscirung
des Landes dehnte man bis zu dem feindlichen Fort Ak-Mesdschet im Ge-
biete von Chokand aus. Die russische Grenze zog zu dieser Zeit von Ost
nach West über den Iiifluß zum Alataurücken und längs des Tschu zum
Sir-Darja. In den folgenden J ahren gelang es dem General Perowski,
den Marsch durch die Wüste Kara-kum, im Nordosten vom Aralsee, zn be-
werkstelligen und nach harten Kämpfen sich Ak-Mesdschets zu bemächtigen.
Es wurde hier das Fort Perowski angelegt. Der Krimkrieg und die
polnische Revolution nahmen dann zwar eine Zeit lang die Thätigkeit der
Russen nach anderen Seiten hin in Anspruch, nichtsdestoweniger wurde aber
auch in Eentralasien fortgefahren, wichtige Punkte von Sibirien aus zu
besetzen. Im Jahre 1854 wurde die Festung Wernoje am Rordabhauge
des transiliensischen Alatau gegründet. Die Linie des Sir-Darja war
bereits durch das Fort Rr. 1 Kazalinsk, das Fort Rr. 2 Karmakschi und
das von Perowski, letzteres etwa 350 Kilonieter östlich vom Aralsee ge-
legen, gut gesichert.
Es begannen um diese Zeit blutige innere Fehden in dem Chanate
von Chokand, hervorgerufen durch Thronstreitigkeiten zwischen den herrschenden
Familien. Auch das Chanat Nochara wurde in Mitleidenschaft gezogen, und
schließlich führten diese kriegerischen Verwickelungen zu Feindseligkeiten
zwischen den beiden genannten Staaten und Ruhland. Die Truppen des
Zaren unterwarfen 1861 die Karakirgisen, nahmen das Fort Dfchulek an
der Sir-Linie und eroberten im Juni 1864 Aulieata, sowie die Stadt
Turkeftan (Hazret). Gleichzeitig schoben sich andere russische Mtheilungen
vom Siebenstromland hervor, indem aus dem Nezirk Senüretschensk eine
Rußland in Centialasien. 2~
Erpedition heranrückte, um im Lüden ihre Verbindung mit der Colonne
vom SWTarja zu bewirken.
An der Spitze des Detachements von Wernoje, welches nur eine Stärke
von 2000 Mann hatte und 12 alte Kanonen führte, war Geueral Tschernajew
aufgezogen, um für Rußland eine weit ausgedehnte Provinz zu erobern.
Vor den Mauern von Tschimtent schlug er dann die 40000 Mann starke
Armee des Chan von Chokant uud trat hierauf den Marfch gegen Taschkent
an. Die Geschichte dieses Zuges ist damals in Centraiasien geradezu zu
einer Epopöe geworden. Die schlecht genährten und mangelhaft ausgerüsteten
russischen Soldaten drangen in dem unbekannten Lande vor, wie zur Er-
oberung einer neuen Welt. Als General Tschernajew schließlich vor Taschkent
stand uud eben im Begriff war, sich in den Besitz dieses Schlüssels von
Turkestan zu setzen, erhielt er vom Vtriegsministerium den Befehl, umzu-
kehren. Doch der russische General steckte die Depesche stillschweigend in
die Tasche und nahm die feindliche Hauptstadt. Am Tage nach der Ent-
scheidungsschlacht bei Taschkent ging Tschernajew ganz allein, ohne jede Be-
deckung in die äußerst feindlich gesinnte Stadt hinein, um dort ein Bad
zu nehmen. Er kannte wohl seine Orientalen. Dieser Zug tollkühnen
Mulhes war gleichzeitig ein Act berechnender Politik, denn er erwarb dem
General mit einem Schlage die Bewunderung der Asiaten, die das Außer-
ordentliche lieben und auf deren Einbildungskraft vor Allem eingewirkt
werden muß, wenn ihnen imponirt werden foll. Von dieser Zeit her schrieb
sich der weit verbreitete große Ruf, dessen Tfchernajew dann als Militär-
gouverneur und Ehan von Taschkent genoß.
Die Einnahme von Taschkent wirkte in England äußerst überraschend.
Wenige Wochen vorher, ehe dieses Ereigniß in Europa bekannt wurde, soll
Lord Palmerston sich noch dahin geäußert haben, daß gar manche Generation
noch kommen und gehen müsse, ehe es Rußland gelingen werde, die
tatarische Schranke niederzureißen und sich dem ~nnde zwischen Bochara
und Indien zu nähern.
Fürst Gortschnkoff veröffentlichte dann aber in einer Eirkularnote von
1864 die Gründe, welche Rußland dazu bestimmt hatten, sich Taschkents
zu bemächtigen. Es wurde zdarin auf die unabweisbare Nothwendigteit
hingedeutet, die beiden Nefestignngslinien der russischen Grenze, deren eine
sich von China zum Issitul-See hin, die andere von: Aralsee den Sir-
Darja entlang zog, durch feste Punkte in solcher Art zu verbinden, daß
sämmtliche russische Posten in die Lage kamen, wenn nüthig, einander
unterstützen zu können, und daß kein Zwischenraum offen gelassen wurde,
der den nomadischen Stämmen gestattete, ihre Plünderungseinfälle fortzu-
setzen. Ferner wurde als von der größten Wichtigkeit bezeichnet, diese
Nefestigungslinie derartig vorzuschieben, daß sie sich in einem Landstriche be-
fand, der nicht nur fruchtbar genug war für die Verproviantirung der Be-
satzung, sondern auch geeignet für eine Colonifation, die allein nur er-
2~2 «, Maschke in Vreslau.
mögliche»: konnte, dem occupirten Lande für die Zukunft geordnete Ver-
hältnisse und Wohlstand zu sichern, indem sie die benachbarten Völkerschaften
der Zivilisation zuführen sollte. Schließlich wurde für dringend nothwendig
erklärt, die Befestigungslinie in endgiltiger Weise zu firiren, um dm ge-
fährlichen und beinahe unvermeidlichen Veranlassungen zu entgehen, durch
die fortwährenden Beunruhigungen seitens der Grenznachbarn zur Wiederver-
geltung gedrängt zu werden, die schließlich zu eiuer endlosen Ausdehnung
führen konnte. Mit diesen: Ziele vor Augen wollte Nußland zu dessen
Verwirklichung ein System finden, das nicht allein auf Vernunftgründen
beruhte, die immerhin elastisch waren, sondern auch auf geographischen und
politischen Bedingungen, die von bestimmter und bleibender Art fein mußten.
Das neuerworbene Land wurde mit der Sir-Darja-Linie und den
am Issikul-See gemachten Eroberungen, wo man vom Fort Wernoje bis
an den Narije vorgedrungen war, zu dein Grenzgebiete Turkestau vereinigt.
Die russischen Erfolge in Chokant veranlaßten jetzt den Emir von
Nochara, in den Kampf einzutreten. Es erging von ihm an den General
Tschernajew die kategorische Forderung, die Eroberungen herauszugeben,
anderenfalls würbe „der heilige Krieg" proclamirt werden. Auf russischer
Seite war inzwischen ein Wechsel im Kommando eingetreten. Des abbe-
rufenen General Tschernajew Stellvertreter, der General Romanowskp, ging
aber auf die Herausforderung Vocharas kühn und verwegen mit seineu
3600 Mann den überlegenen Massen des Emirs Mozaffer entgegen. Im
Mai 1866 kam es in der Ebene bei Irdschar, zwischen Taschkent und
Samarkand, zum Zusammenstoß mit den 40000 Mann starken Schaaren
Bocharas. Die blutige Schlacht nahm einen unglücklichen Ausgang für
den Emir Mozaffer, der sein Heil in der Flucht suchen muste. Von da
an gehörte das ganze Sir-Thnl den Russen, deren Siegesmarsch die
Nocharen tief entmuthigte. Ende Mai wurde die Stadt Chodschent erstürmt.
Anfangs October siel Dschisnk und Mitte desselben Monats Nra Tjube,
Beides strategisch wichtige Punkte an Pässen nach Kaschgar (iDst-Tmkestan>.
Im Jahre 186? wurde das bis dahin dem Generalgouvernement Orenburq
unterstellt gewesene mittelasiatische Gebiet als selbstständiges General-
Gouvernement Turkestan organisirt. General von Kaufmann trat an die
Spitze desselben.
In dem Ehanate Bochara drängten inzwischen die Ulemas energisch
auf die Fortsetzung des Kampfes bis zum Aeußersten gegen die ungläubigen
„Nrussen". Der Emir betrieb mit fieberhafter Eile die Befestigung von
Samarkand und concentrirte dann selue Streitkräfte am Unken Ufer des
Serafschnn. General Kaufmann stand im Mai 1868 mit seinen 3500
Mann bei Tasch-Kuprink auf der Straße nach Samarkand. Die bedrohlichen
Maßnahmen des Feindes veranlaßten ihn, die Initiative zu ergreifen und
gegeu das bocharifche Heer vorzugehen. Angesichts des Gegners durch-
wateten die Russen den Fluß Serafschnn, ohne sich durch das Feuer der
Rußland in ~entralasien. 2^3
auf den gegenüber legende» Hohen aufgestellten zahlreiche» feindlichen
Artillerie aufhalten zu lassen. Mit Ungestüm warfen sich dann die russischen
Truppen auf die Bocharen und jagten sie in die Flucht. Am folgenden
Tage zog der Sieger in Samarkand ein und besetzte die (Zitadelle, vier
lief; General von Hausmann sein Kriegsmaterial und die Feldspitäler unter
dein Schulze einer Besatzung von ?()() Manu zurück, während er selbst
die Verfolgung des Feindes wieder aufnahm. Die Einwohner von
Samarkand hielten aber die Abwesenheit der russischen Hauptmacht für eine
günstige Gelegenheit, um die Stadt vom Feinde zu befreien. Sie öffneten
den aus Schachrifebs herabgestiegenen kriegerischen Bergbewohnern die Thore
und machten sich an die Belagerung der Citadelle, deren schwache Besatzung
sich plötzlich von etwa 10000 Mann angegriffen sah. Mit rühmlicher
Tapferkeit führten aber die Russen vom 14. bis 20. Juni die Vertheidigung
durch. Alles, was nur noch ein Gewehr zu heben vermochte, selbst die
Kranken und verwundeten hielten die über einen Kilometer langen Wälle
mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit besetzt. Nach einem erbitterten und
schweren Kampfe von sechs Tagen und sechs Rächten wurde endlich die
brave Besatzung, von der bereits mehr als ein Drittel getödtet war, durch
das Wiedereintreffen des Generals Kaufmann aus ihrer äußersten Be-
drängnis; befreit. Das russische Corps hätte sich den ernstesten Gefahren
ausgesetzt gesehen, wenn der Platz in die Hände der Sarten gefallen
wäre. Damit würden die Russen ihres ganzen Materials beraubt und von
der Rückzugslinie abgeschnitten worden sein. Zur Strafe für den Berrath
wurde Samarkand drei Tage lang der Plünderung preisgegeben. Der
Cmir von Bochara erkaufte jetzt renmüthig den Frieden. Rußland erklärte
sich bereit, die Selbstständigkeit des Lhanats zu erhalten, annectirte jedoch
den mittleren Lauf des Serafschan mit Samarkand und Katta->vornm.
Waren somit Chokand und Bochara zu Bnsallenstaaten R»s,lands ge-
worden, so blieb jetzt noch Chiwa zu unterwerfen. Das Unternehmen gegen
dieses Channt wurde aber auf das Sorgsamste uud von langer Hand vor-
bereitet. Zunächst setzten sich die Russen am östlichen Ufer des Kaspischen
Meeres fest. General Stoljetow gründete 1869 an der Stelle eines
kaukasischen Fischerdorfes die Militärstation von Krasnowodsk. Im Früh-
jahr 1870 besetzte man das in dem transkaspischen Großen Baikau ge-
legene Tasch-Arwnt mit den beiden Ctnppcnposten Michael und Mulla-
>iari. Im Herbst desselben Jahres führte eine Crpedition schon 200 Km
weiter nach Osten. Fernere Recognoscirungen in der Richtung auf den
See San)-Kann>fch fanden 1871 statt. An der Mündung des Atrek wurde
das Fort Tschitischlar angelegt, ~m März 1873 trat Rußland dann in
den Krieg gegen Chiwa ein.
Die Gesammtstärke der für das Unternehmen bestimmten russischen
Truppe» betrug 11300 Mann. Dem General-Gouverneur vou Turtestan,
General v. Kausinann in Taschkent, wurde der Oberbefehl übertragen. Das
2~ <k. Maschke in Vreslau,
Erpeditions-Eorps war in sechs Eolouneu fonnirt, die von Norden, Osten
und Westen auf weit auseinander liegenden Wegen nach der im Centriim
befindlichen Eulturoafe vorrücken sohlten. Die Allsgangspunkte der ver-
schiedenen Abtheilungen waren: Taschkent, Fort Perowski, 500 Km nord-
östlich von ersterem gelegen. Fort Kazalinst, weitere 300 Km entfenrt,
Embiuskoje, 400 Kni nordwestlich von Kazalinsk, Alerandrowst, über
700 Km südwestlich von Embinst, und Krasnowodst, mehr als 500 Km
südlich von Alerandrowst, und zwar Luftlinie gerechnet. Zieht man ferner
noch in Betracht, daß es nicht selbstständige Armeen waren, die hier
40 bis 100 deutsche Meilen von einander entfernt, nach dein gleichen
Operationsziele hinstreben sollten, sondern kleine Detachements von
2000 bis 4000 Mann, so müssen die ungeheueren Schwierigkeiten, mit
denen das ganze Unternehmen zu kämpfen halte, erst recht klar werden,
namentlich da die obwaltenden Umstände erforderten, daß die einzelnen
kleinen Colonnen noch endlose Trains mit sich führen mußten. Ter Plan
für die Erpedition war aber mit großer Sachkenntnis; und äußerst geschickt
entworfen worden. Tie verschiedenen Abtheilungen trafen trotz aller
Hindernisse, die überwunden werden mnßten, bis auf nur eine von ihnen,
gleichzeitig vor der Hauptstadt Chiwa ein. Einzig und allein die von
Krasnowodsk vorgegangene Colonne hatte nicht durchzudringen vermocht,
dabei aber doch ihren Hauptzweck erfüllt, uämlich das ganze Unternehmen
gegen die Beunruhigungen durch die Tete-Turkmenen zu sichern.
Die Abteilungen des Eorps von Turkestcm setzten sich zunächst am
13. März in Marsch. Das Gros davon, etwa 2650 Mann mit
6700 Kameelen stand unter dem Befehl des Generals Golowatscheff und
fchlug von Taschkent aus die südliche Richtung ein. Dasselbe gelangte am
16. März an den Sir-Daja nnd nach dem Zuge durch die Hungerwüste,
wo die Wasserbeschaffung bereits schwierig war, am 22. nach Dscknsat.
Bon hier wurde dann in westlicher Richtung längs der Nordabhänge der
Nergausläufer des Nuratau weitermarschirt. Die Truppe hatte dabei nichl
blos mit Entbehrungen aller Art, sondern auch mit den jähen Tempcrntur-
wechseln und mit elementaren Gewalten zu kämpfen. In der Nacht zum
29. März wüthete z. B. ein Steppensturm und riß die Zelte des Lagers
nieder, während bei 6° Maunmr Kälte ein Meter hoch Schnee fiel.
Ungleich größere Strapazen noch brachte dann aber die Durchfchreituna der
Hisilkum-Wüste. Bei drückender Hitze und erstickendem Staube, der nur
zeitweilig durch Regenschauer niedergehalten ward, ging der Marsch nahe
der bocharischen Grenze dnrch die Snndwüstc. Die Truppen erreichten trotz-
dem in bester Gesundheit Aristau bei Kaduk, dann Ehalaata, wo als Stütz-
punkt die St. Georgs- Befeftigung angelegt wurde. Auf den« uerbältniß-
mäßig kurzen Wege von letzterem Orte nach dein Anw brachte jedock der
völlige Wassermangel das ganze Eorps dem Nerfchmachten nahe. Nur
das Auffinde» einiger Brunnen schaffte noch Rettung. Am 15< Mai wurde
Rußland in Lentralasien. 21,5
der Uebergcmg über den Amu-Darja (Orus) bei Scheicharik gewaltsam er-
zwungen, nachdem das turkestanische Corps in diesen nnwirthlichen Gegenden
856 Kiometer in 67 Tagen zurückgelegt hatte.
Eine Abtheilung des Corps, 2500 Mann stark, mit 2800 Kameelen,
war in zwei Colonnen von Kazalinsk und Fort Perowski aus vorgerückt,
hatte sich dann bei Irbitkai an, lani Darja unter Oberst Golow in sich
vereinigt und war bei Chalaata zur Colonne Golowatscheff gestoßen. Bei
Irbitkai wurde das kleine Fort Nlagawetschenskoje erbaut.
Das Corps von Embinskoje unter General Werewtin trat seinen
Marsch am 7. April an, und zwar mit 2100 Mann und 2700 Kameelen.
Ohne besondere Hindernisse erreichte es auf dein, 183!) dem General
Perowski durch den Steppenwinter so gefährlich gewordenen, 670 Km
langen Wege am 17. Mai die Urgaspitze des Aralsees, durchschritt die
ausgetrocknete Aibugirbucht und befand sich jetzt im Culturlande.
Cine kaukasische Abtheilung von 2400 Mann, welche unter Oberst
Lomatin bei Alerandrowst auf der Halbinsel Mangischlat versammelt
worden war, hatte einen 900 Km weiten Weg bis zuni Aralsee zurückzu-
legen und vereinigte sich dann am 26. Mai hinter Kungrad mit der Colonne
Werewtin. Das felsenzerklüftete Plateau des Ust-Urt, das bis dahin für
unpassirbar gegolten, hatte nirgends unüberwindliche Schwierigkeiten ge-
boten. Die vereinigten Colonnen Lomatin und Werewkin mußten dann
aber im Culturlande zahlreiche feindliche Angriffe zurückweifen uud Schritt
für Schritt sich deu Weg vorwärts erkämpfen. An: 27. Mai wurde die
Stadt Chodscheili besetzt, wo 6000 chiwasischc Krieger gestanden hatten, und
am 30. Mangit gewaltsam genommen.
Eine zweite kaukasische Abtheilung war unter Oberst Markosow von
Krasnowodsk aus vorgegangen, um in dem sogenannten alten Bett des
Orus gegen Chiwa vorzudringen. Von Jgdl an stieß sie aber schon auf
endlose Flugsandhügel, fand keine Brunnen und fah sich demnach zur Um-
kehr genöthigt. Indessen hatte Markosow mit seinen 2400 Mann hinter
Igdi einen Angriff der Turkmenen so energisch zurückgewiesen, daß dieser
mächtige Wüstenstamm infolge dessen davon Abstand nahm, dem Chan von
Chiwa zn Hilfe zu eilen.
Das Unternehmen gegen Chiwa sollte durch eine bei Kazalinsk aus-
gerüstete russische Flottille von 2 Dampfen: und 3 anderen Fahrzeugen,
mit insgefammt IN Geschützen, unterstützt werden. Dieselbe vermochte jedoch
nicht zur Action zu gelangen, da sie bereits oberhalb Klingrad in: Talditarn
Halt inachen mußte.
Das gesummte Corps des Generals von Kaufmann vereinigte sich am
10. J uni unter den Mauern von Chiwa in der Stärke voll 12 000 Mann.
Nach einem kurzen Gefechte in den Vorgärten und nachdem durch das
Artilleriefeuer eine Bresche in die Stadtmauer gelegt worden, bot Chiwa,
wo bereits eine Insurrection miogebrochen war, die unbedingte Unter-
2~6 E, Maschke in VreLlan.
werfung an. Ter Chan sollte die Verwaltung des Landes behalten, jedoch
unter russischer Oberaufsicht. Ter wichtigste Erfolg für die Russen war
aber die mittelst Urkunde und Proclamation erklärte vollständige Aufhebung
der Sklaverei in diesen liegenden. Durch diese Maßregel wurde das
Freundschaftsband zwischen China und den Mubern der Steppe, den
Turkmenen zerrissen.
Ehe es jedoch zun: thatsächlichen Friedensschlüsse kam, mußte von den
Russen noch ein Feldzug in das Land zwischen Ehazawat und Alt-Urgendsch,
westlich der i!)rte Anwar und Taschauz, gegen die lomuden-Turkmenen unter-
nommen werden. Dieser wilde Wüsten stamm bildete die größte Plage der
beuachbarten Landstriche. Er brandschatzte die friedliche Landbewohnerschaft
von Ehiwa und spielte sich trotzdem den Russen gegenüber als Befreier der
Ehiwesen auf. General von Kaufmann dictirte demnach den lomuden, um
sie die russische Ueberlegenheit fühlen zu lassen, eine Eontribntionsstrase zu
und entsandte behufs deren Beitreibung den General Golowatschesf mit
8 Eomvagnien, 8 Sotnien Reiterei, 10 Geschützen und 1 Naketenbatterie
in die Niederlassungen der Turkmenen. Schon am 91. J uli kam die
russische Abtheilung in Content mit dem Feinde, zu einem großen und
blutigen Gefechte führte aber ein Angriff, den die lomuden am 25. bei
Tschandir mit starken Reiterschaaren gegen die Russen unternahmen. Trotz
des gegen sie gerichteten mörderischen kartätschen- und Schühenfeuers stürzten
sich die wilden Stepvenreiter wiederholt in die Reihen der Russen hinein,
während es einem Theile von ihnen durch Umgehung der Stellung des Gegners
gelang, sich der beim Rachtrab befindliche» nissischen .^amecle zu bemächtigen.
Schließlich nöthigte aber das ruhige und sichere Feuer der Russen die lomuden
doch zur Flucht, und auch die erbeuteten >tcm,eele wurden ihnen wieder
abgenommen, Sie versuchten daun zwar uoch einen zweiten Angriff, wurden
jedoch abermals zurückgejagt und von den basalen bis in die Nacht hinein
verfolgt. Trotz dieser Niederlage wagten die Turkmenen schon znei Tage
später, die Russen in ihrem Lager von llaly und Kysul-Tschakata anzu-
greifen. Vor Tagesanbruch des 27. ~»li warfen sich etwa 1<> (»(»<>
lomuden mit einer bei den centralasiatischen Moslems bis dahin noch nicht
gekannten Energie nnd Tapferkeit auf das kleine Corps Golowcitschefs. Die
Steppenreiter hatten auf den Kruppen der Pferde je einen zweiten Mann
hinter sich sitzen: diese Leute waren barfuß und mir mit einem Hemde be-
tleidet, dessen Aermel heraufgestreift waren; sie bildeten eine besondere
Kategorie von Kriegern, es waren Fanatiker, die sich ausschließlich dem
Tode geweiht hatten. Wenige Schritte vor der russischen Linie sprang der
auf der Pferdekruuve sitzende Mann ab und stürzte sich, nur mit blanker
Waffe in der Hand, gegen die russischen Bajonette. Mann gegen Mann,
Brust an Brust wurde gekämpft. Die Feuerwaffe» wurden für die Russen
fast unllnweudbar, nur die blanke Waffe allein konnte gebraucht werden.
Es entstand ein fürchterliches Handgemenge nnd blutiges Gemetzel. Nach-
Rußland in tentralasien. 21.7
dem der Kampf in dieser Weise den ganzen Morgen über fortgewüthet
hatte, gelang es endlich der russischen Kaltblütigkeit und Disciplin, die
überhand über die mehrfache Ueberlegenheit des wilden Gegners zu ge-
winnen. General Golowatscheff befand sich aber mit seiner kleinen Schaar
in dem Gebiete der lomuden in einer so bedenklichen Lage, daß General
von Kaufmann sich veranlaßt sah, am 27. Juli mit dem Nest seines Corps
nachzurücken. Golowatscheff zerstörte dann noch am 29. drei Wagenburgen
des Feindes, wodurch dieser an 3000 Fuhrwerke und 9000 Kameele verlor.
Tie lomuden waren jetzt gedemüthigt und versprachen zu bezahlen. Man
nahm ihnen Geiseln ab, doch wurden nach dem Abzüge der russischen
Truppen die Turkmenen freilich wieder ebenso unbotmäßig, als sie vorher
gewesen waren,
Ter Kampf mit Chiwa hatte aber sein Eiche erreicht. Am 24. August
wurden die Friedensbedingnngen unterzeichnet. Alle Besitzungen der
Chiwesen am rechten Ufer des Amn-Darja und das Telta dieses Flusses
bis zum Amu-Taldik wurden dein russischen Gebiete einverleibt. Im
Uebrigen ward Chiwa ein Vasallenstaat Rußlands. Gegenüber von Chanka
und dem Uebergangspunkte über den Amu errichteten die Russen in der
überaus fruchtbaren Gegend die Festung Nowo-Alerandrowsk, wo fortan
der Sitz der militärisch orgcmisirten Verwaltung des neuen Gebiets sich
befand. Ter Nest des Corps Kaufmann trat vom 24. bis 28. August den
Rückmarsch in der Richtung auf Mangischlak, Orenburg und Taschkent an.
Tie ersten beiden Orte wurden in 30 Tagen, der letztere nach 42tägigem
Marsche erreicht. Die Russen hatten die Zeit ihrer Anwesenheit in Chiwa
zu vielseitigen wissenschaftlichen Crpeditionen benutzt, die dann auch weiter
fortgesetzt wurden und deren Erfahrungen später die endgiltige Bewältigung
der Turkmenen sebr erleichtern sollten.
Im Jahre 1876 kam es dann nochmals zu einem Kriege Nußlands
mit Chokand. Tiefes Chanat wurde jetzt vollständig unterworfen und als
Provinz Ferghana dem General-Gouvernement Tnrkestan einverleibt.
Rußland breitete sich demnach bereits über den größten Theil von Lentral-
asien aus, vom Kaspischen Meere im Westen bis zum Issikul-See im
Osten, von Sibirien im Norden bis zu den Turkmenen-Sandsteppen im
Süden.
Aber auch hier mußte russischerseitö schließlich mit Energie vorgegangen
werden, wenn das Ansehen des Zarenreiches bei den mittelasiatischen
Völkerschaften auch ferner gewahrt bleiben sollte. Hatten schon 1873 die
Turkmeuen eine Hauptrolle als Stütze des Chans von Chiwa und als
Gegner der Russen gespielt, so setzten sie auch später noch das Näuber-
wesen fort und dehnten ihre Züge nicht selten bis in die Nähe der russischen
Befestigungen des transkaspischen Militärbezirks aus. Obwohl die von den
Russen seit 1874 wiederholt unternommenen Erpeditionen von Krasnowodsk
aus eigentlich glücklich verlanfen waren, indem 1876 Kysul-Arwat erobert,
«»rd und Süd, I.XXV. i24, "5
2"8 L, Maschke in Vreslau.
1878 Tschad besetzt worden, so hatte der Hauptzweck, die Turkmenen zur
Botmäßigkeit zu zwingen, doch nicht erreicht werden können. Man war
russischerseits immer wieder in den Bereich des eigenen Territoriums zurück-
gegangen, und die Steppenbewohner hatten dies als ein Zeichen der Schwäche
angesehen. Die Nüssen beschlossen demnach eine letzte Erpedition, um die
Turkmenen endgiltig zur Nuhe zu briugeu. Mit Anfang des J ahres 1879
begannen die nöthigen Vorbereitungen. Wie bei den Unternehmungen in
Mittelasien in der Regel, schien es sich auch hier wieder mehr um einen
Kampf mit den geographischen und topographischen Verhältnissen des Landes
handeln zu sollen. Waren die von diesen gebotenen Schwierigkeiten über-
wunden, so glaubte man auch den Widerstand der Bewohner leicht bewältigen
zu tonnen. Zum Ausgangspunkte der Erpedition wählte man Tschitischlar
au der Atrekmündung. Von hier aus war nur eine Wüstenstrecke von etwa
50 Kilometern bis zur Tete-Oase zu durchschreiten. Das für das Unter-
nehmen bestimmte Corps wurde aus 16 Bataillonen, 2 Escadrons und
18 Sotnien Reiterei, 26 Geschützen, 1 Raketenbatterie und 1 Savpeur-
compaguie kaukasischer Truppen unter General Lazarew gebildet. Diesem
Befehlshaber war General Lomakin als Adlatus beigegeben. Der Transport
der Truppen nach Tschitischlar begann Anfangs April, war aber in 5olge
der großen Landungsschwierigkeiten erst Ende Juni beendet. Auch die Be-
schaffung des erforderlichen großen Trains machte viel Schwierigkeiten.
Namentlich kostete es nicht wenig Mühe, die nöthigen Tausende von
Kameelen aufzubringen. Dazu kamen noch 1500 Karren mit 1700 Pferden.
Auch die Ausrüstung und die Verpflegung der Truppen verlangten besondere
Maßnahmen. 'Nach Abrechnung der Etappeutruppe blieben dann 7 Bataillone,
2 Escadrons Dragoner, 7 Sotnien Kasaten mit 13 Geschützen und 1 Sapveur-
compagnie zum Vormarsche verfügbar.
Am 6, Juni ging eine Avantgarde unter Oberst Fürst Dolgorucki in
der Richtung auf Tschad voraus. Ihre Hauptaufgabe war, für die nach-
folgenden Truppen den Weg möglichst gangbar zu machen. Dem Atret
und von Tschad aus dein Ssumbar folgend, erreichte Dolgorucki am 17. Juni
Dusolum an letzterem Flusse. Die Entfernung von 208 Kilometern war
in 12 Tagen zurückgelegt worden. Zur Sicherung der rückwärtigen Ver-
bindungen mit Tschitischlar hatte man Etnppeuposteu längs des Atrek und
Ssumbar etablirt. In Tschad wurden Magazine, ein Artilleriepark und
ein Hospital des Nöthen Kreuzes angelegt. Nachdem die Avantgarde ihre
Aufgabe, den Weg zu bahnen, gelöst hatte, marschirte sie in der Richtung
auf die Tete-Oase weiter. Entgegentretende Turtmenen-Schaaren wurden
verjagt. Dolgorucki erreichte am 6. August Pendessen und ging mit der
Eavallerie nach Vami vor. Zur Verfolgung der in nördlicher Richtung
zurückgegangenen Tete-Turkmenen wurden zwei kleine Abtheilungen entsandt,
welche den Feind beim Brunnen Kara Singer bezw. beim Aul Rias
wieder erreichten und ihm 1200 .«iiameele und 6000 Hammel abnahmen.
Rußland in «^entralasien. 2~H
Das Gros des russischen Erpeditionscorps hatte inzwischen noch gual-
volle Wochen im Lager von Tschikischlar ausharren müssen, bei schlechtem,
ungesundem Wasser und einer Hitze, die 44 Grad Maumur erreichte. Erst
am 39, und 31. Juli vermochte dasselbe der Avantgarde zu folgen-
General Lazarew hatte krankheitshalber zurückbleiben müssen. Am 5>. August
hatte das Gros Tschad und am 9. Disolum erreicht. Die Märsche waren
in Folge der Hitze von oft 46 Grad und des meist salzhaltigen Wassers
überaus beschwerlich. Am IN. August wurde Chodschakala erreicht. Bei
Choroluin beginnt ein hügeliges Terrain, das nach und nach in Kalkberge
übergeht, die sich in dem Kopet-Dagh bis 3100 Fuß Hohe erstrecken. Das
Ersteigen des Gebirgsstockes auf schmalen Saumpfaden längs tiefer Abgründe
nnd schroffer Felswände war mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Die
Gefchühe mußten durch Mannschaften fortgefchafft werden. General Lazarew
war seinen Truppen bis Tschad nachgefolgt, hier aber feinen Leiden erlegen.
General Lomakin übernahm vorläufig den Oberbefehl nnd beschloß, von
Chodschakala, das zun: Etappenort gemacht wurde, den Einmarsch in die Teke-
Oafe sofort fortzusetzen. Am 22. und 23. August trat man die Bewegung
an. Die Avantgarde des Fürst Tolgorncki bestand aus drei Bataillonen, der
Sappeur-Eompagnie, 4 Schwadronen, 5 Geschützen und der Naketenbatterie,
General Graf Borch führte die zweite Colonne von 3 Bataillonen, 3 Sotnien
und 3 Geschützen. Ter in dem gebirgigen Gelände änßerst mühselige Marsch
ging über Bann, Neurma, Artschman, Tamm nach larodscha. Man stieß
nabei nur auf vereinzelte Abtheilnngen von Tekes. Alle Auls waren ver-
lassen. Nach den eingegangenen Nachrichten füllten sich die Turkmenen
nach Geottepe zurückgezogen haben und hier erst Widerstand leisten wollen.
Am 27. wurde von den Nuffeu larodfcha erreicht, und am 28. war das
Marschziel Geoktepe. Einige Kilometer vor letzterem Punkte zeigten sich
in beiden Flanken der russischen Colonne berittene Tekes. An« Fuße des
Kopet-Dagh bei dem Aul legman Batpr waren größere Massen des Feindes
versammelt, die dann die Colonne Borch angriffen, jedoch zurückgeworfen
wurden. Auch die gegen die Avantgarde vorgehenden Turkmenen vermochten
der russischen Neiterci nicht Stand zu halten nnd den Bormarsch nicht zu ver-
hindern. Geoktepe bildet einen der wichtigsten Punkte der Teke-Oase und
war mit Dengiltepe zn einer Festung vereinigt. Eine Thonmauer von 5
bis 7 Meter Höhe nnd etwa 2 Meter Breite, fowie ein davor liegender
11/2 Meter tiefer nnd 5 Meter breiter Graben schlössen einen großen Naum
ein, in welchem etwa 9000 Kibitken (Zelte) für die geflüchtete Einwolmer-
schaft der Achal-Oase aufgestellt waren. Rings um die Festung lagen noch
kleinere Forts, Kala genannt. Sie waren quadratisch angelegt, mit einer
Seitenlänge von 100 Metern; ihre Mauern hatten ebenfalls eine Hübe
bis zu 7 Metern und einen Graben vor sich. Die nördlichste der beiden
auf der Westfeite gelegenen Kalas war nnt der Hauptbefestigung dnrck,
einen Wall verbunden. Südlich davon lag eine befestigte Mühle. N n mittel -
15*
220 «. Maschke in Vreslau,
bar an dem ilt dieser Gegend gänzlich unzugänglichen Kopet-Dagh liegt der
Aul langitala, in welchem die Bewohner der anderen verlassenen Auls
versammelt waren.
Gegen Mittag traf die russische Avantgarde vor der Festung ein und
lies; durch ihre Artillerie die nördliche und die Mühlenkala unter Feuer
nehmen. Die Turkmenen erlitten bedeutende Verluste, ergänzten sich aber
immer wieder durch neuen Zuzug aus der Festung. Die nördlich der
letzteren auftretenden Tekes wurdeu durch die russische Cavallerie und
Artillerie trotz verzweifelter Gegenwehr und trotz eines Ausfalls feindlichen
Fußvolks zurückgetrieben. Auch eine Kala östlich von Geottepe wurde ge-
nominen, so daß man die rückwärtigen Verbindungen bereits beherrschte.
Auf der Westseite war es aber inzwischen der nissischen Infanterie gelungen,
sich der vorgeschobenen Befestigung zu bemächtigen. Vordem Angrisse gegen
den Hauptwall sollte indessen das Eintreffen der zweiten Eolonne erst ab-
gewartet werden. Diese war um 3 Uhr Nachmittags zur Stelle, doch be-
fanden sich die Mannschaften in Folge der Hitze von 40 Grad in äußerst
erschöpftem Zustande. Die Abtheilnng Borch wurde nach der Nordseite
der Festung dirigirt, ihre Geschütze verstärkten das Feuer der Avantgarden-
Artillerie. (5s war somit die ganze West- und Nordfront und theilweise
auch die Ostfront von Geokteve umfaßt. Gegenüber der Nordwestecke waren
1 Bataillon und 2 Sotnien als Reserve zurückgehalten. Dahinter standen
die Drains mit ihrer Bedeckung versammelt. Nach den bei den früheren
Expeditionen gemachten Erfahrungen glaubte General Lomakin auf einen
weiteren ernsten Widerstand der Turkmenen nicht rechnen zu brauchen, und
so beschloß er denn, noch an demselben Tage die Entscheidung herbeizuführen,
zumal feine Truppen in Nendessem nur auf 14 Tage verproviantirt waren.
Um 5 Uhr Nachmittags wurden die russischen Truvven zum Sturm vor-
geführt. Der Hauptwall der Nordfront war bald in ihren Händen, der
Bertheidiger wurde hier mit dem Bajonett vertrieben. Ein weiteres Vor-
dringen gegen die von den Tekes auf das Hartnäckigste uertheidigten
.Mitten war aber nicht möglich. Auf das Aeußerste erschöpft und be-
deutend in der Minderzahl, unterlagen die Russen trotz aller Tapferkeit den,
besonders im Nahkampfe fehr gefährlichen Feinde. Der russische Angriff
wurde sowohl hier, wie auf der Westfeite, wo nur unter den größten
Schwierigkeiten der Hauptwall hatte erstiegen werden können, vollständig
abgeschlagen. Große Massen des Vertheidigers warfen sich jetzt auf die
zurückflüthenden Russen, und nur das Eingreifen der Reserven rettete die-
selben vor völliger Vernichtung. Die Verluste bei den russischen Truppen
waren uerhältnißmäftig bedeutend. Die im Gefecht gewesenen 134 Offiziere
nnd 2890 Mann zählteil an Todten und Verwundeten 27 Offiziere und
411 Mann. Die Tekes sollen allerdings Tausende verloren haben.
Am 28. August Abends hatte General Lomakin noch in der Nähe der
Fenung das Biuouac bezogen, doch schon bei Tagesanbruch ging er bis nach
Rußland in «^entralasie»,
Narakans, 10 Kiloineter weit, zurück. An eine Wiederholung des Angriffes
konnte vorläufig wohl nicht gedacht werden. Andererseits erlaubten die
unzureichenden Verpflegungs-Vorräthe nicht, von den militärischen Stütz-
punkten länger entfernt zu bleibe», da es auch au der Möglichkeit fehlte,
Verpflegungsmittel von dort heranzuziehen. Es blieb alfo nur übrig, sich
auf die Operationsbasis zurückzuziehen. Am 30. August wurde der Rück-
marsch angetreten. Der Transport der Verwundeten, sür welche nur ganz
ungenügende Fortschaffungsmittel vorhanden waren, zwang zu kleinen
Märschen, so daß die Ankunft in Tschikischlar sich sehr verzögerte. Erst
Ende Deceuiber trafen aber die Truppen im kaukasischen Militärbezirk
wieder ein. «Zchiuü wigt.»
Thomas Hurley.
von
Alexander Lille.
— Glasgow. —
Hie in der Vülkergefchichte sich ein Stau»» leise, fast uumerklich,
emporarbeitet und ausbreitet, bis er dann mit einem Schlage
als Macht, vielleicht sogar als Weltmacht, auf den Schauplatz
der Staaten tritt, die miteinander im Wettbewerb um die Erdherrsckaft
stehen, so ist es auch auf dem (Gebiete der Weltanschanuugsgeschichte. Während
hier eine Reihe Gewalten, oft auch mir eine einrisse, dem äusieren Anschein
nach nnbestritten das ganze Feld beherrschen, bildet sich mitten unter ihnen
eine neue Macht empor, die kaum Jemand bemerkt, und die, wo sie be-
merkt wird, höchstens 3pott einheimst, bis sie plötzlich bei einem äusieren
Anlas; als Weltauschauuugsmacht in deu Vordergrund tritt uud die anderen
Mächte siegreich zurückwirst. Als am Ende des 15. Inhrbuuderts Christoph
Eolon Amerika entdeckte und bald darauf die Kugelgestalt der Erde positiv
durch die erste Erdumsegelung nachgewiesen wurde, war die Erde in den
lüpfen weniger Begabter zu einer im Räume srei schwebenden >tugcl ge-
worden, die den Mittelpunkt des Weltalls bildete, ans der aber doch für
geographische Begriffe wie Hülle, Paradies, Ende der Welt nicht mebr
so recht Raum war. Als dau» >toperuik»s im folgeudeu Jahrhundert
der Erde diese stolze Mittelstellung nahm uud sie als einen der Planeten
in einem kreise um die Souue laufen liest, und unmittelbar darauf Kepler
die Gesetze der Plaueteubewegung entdeckte, durch die aus jenem preise
eine Ellipse ward, da nahm bei wenigen großen Geistern die Vorstellung
ein Ende, als ob die Erde der Mittelpunkt des Weltalls sei und als solcher
unter der ganz besonderen Obhut des Weltgottes stünde. Als dann Newton
die Gesetze des Falles ergründete und die Mondbahnen auf sie zurückfülnte.
Thomas Huzley. — 223
da zog in diesen AnschauuugM'eis die Vorstellung der Gesehmäßigkeit ein,
wie sie noch niemals darin gehen'scht hatte. Galileis astronomische Ent-
deckungen und physikalische Forschungen, die Mechanik von Stevinus und
die Magnetenlehre Gilberts trugen diese Idee einer unbegrenzten Gesetz-
mäßigkeit durch das Gesammtgebiet der unorganischen Natur, während trotz
der anatomischen Forschuugen in Frankreich und Italien das Gelnet der
Physiologie davon so gut wie unberührt blieb, bis Harvey (1619) die Ent-
decknng des Blutkreislaufes machte. Es kauu die Frage sein, ob die fast
gleichzeitige Entdeckung der Logarithmen durch Napier (1614) oder die
Entdeckung Harueys schließlich die weitertragende ist. Aber das Eine ist
sicher, daß erst Harueys Entdeckung in den engsten Fachkreisen der Mediciner
der Vorstellung ein Ende bereitete, das; der menschliche Körper der Tummel-
platz immaterieller Tämonen sei, die auf ihm ihre kämpfe ausführten und
ihre Feste feierten, was sich daun als Bauchgrimmen, Zahnschmerz oder
Lachinst nnd Behaglichkeit zum Ausdruck brächte. Eist am Ende des nächsten
Jahrhunderts kam durch die Kant-Lnplace'sche Weltentwicklnngshypothese
ein ueues Element in diese Vorstellnngskreise der Gelehrten. Nachdem
man zunächst im Universum Ordnung geschaffen hatte, begann man sich
jetzt mit feiner möglichen Gefchichte zu beschäftigen.
Tiefe wissenschaftlichen Entdeckungen haben mit der Geschickte der volks-
tümlichen Weltanschauung von 1500 bis 1800 kaum (5twas zu thuu.
Tieselbe ist vielmehr wesentlich von den Resten altgermanischer Welt-
anschauung (namentlich in ethischer Hinsicht) nnd de,» Ehristenthum beherrscht,
das den germanischen Stämmen dereinst als fertiges Lehrgebäude entgegen-
gebracht worden war. Seit dem 17. Jahrhundert wirkt dann die Bor-
stellungswelt und Ausfassungsweise des griechisch-römischen Alterthums ein
wenig ein, indem sie aus den gebildeten Kreisen heruutersickert. Im Kerne
aber bedeutet das 16., 17. nnd 18. J ahrhundert für die breiten Schichten
des Volkes noch immer eine Znrückdrängnng der conservatiuen germanischen
Weltanschauungselemente und ein Bordrängen namentlich a-cktisch-düsterer
Vorstellungen nnd der christlichen Lehre von der Gleichheit der Menschen
untereinander, die schließlich zn den demokratischen Bewegungen des 18.
und 19. Jahrhunderts führte. Ja selbst die Weltanschauungseutwicklung
der höheren Stande ist in keiner Weise abhängig von jenen Fortschritten
in der Naturwissenschaft. Sie wird im Gegentheil von denselben Gewalten
geschaffen, von denen diese geschaffen werden, steht also neben ihnen. Ter
Teismus mit seinem l~ux imtuias ist ganz und gar kein Erzeuguist natur-
wissenschaftlicher Entdeckungen, und ebenso wenig ist es der Offenbarungs-
unglaube des Lessingalters. Zwischen der Entwicklung der Philosophie nnd
der Weltanschauung der Gebildeten bestehen dagegen in jenen Tagen enge
Beziehungen, weit engere als heute, und fast jede Phase jener findet im
Laufe eiues lahrzwanzigst in diefer einen Nachhall. Seitdem das Ehristen-
thum in den Gebildeten zurückgeht — iu Teutschland fast gena» seit dein
22H Alexander Tille in Glasgow.
Ende des 3l)jährigen Krieges, in England seit etwa einem Menschenalter
eher — hält sich die Masse der Gebildeten an die nicht weniger dogmati-
schen Offenbarungen der abstracten Dichtung aus Ideen, die sie Philosophie
nennt, und glaubt dabei, sich einzig uon der gottgegebenen Vernunft leiten
zu lassen. Als Goethe sich eingehend mit allerlei naturwissenschaftlicher Fack-
litteratur beschäftigt und hie und da sogar versucht, seinen Gedanken darüber
poetischen Ausdruck zu gebcu, wie in der Metamorphose der Pflanzen und
der Thiere, da verstehen ihn seine Zeitgenossen einfach nicht, während sie
Schiller zujauchzen, wie er im „Verschleierten Bild zu Sais" die mittel-
alterliche Vorstellung von der Gottgefälligkeit des Nichtforscheus, des Sick-
befcheidens mit seiner Unwissenheit, verherrlicht; denn selbst die Natur-
schwärmerei der Mitte des 18. Jahrhunderts hat die rein litterarisä«
Bildung nicht zu überwinden und der Naturforschung die Herzen der Ge-
bildeten nicht zu erschließen vermocht.
Eist als im 19. Jahrhundert die Entdeckungen sich mit ungeahnter
Schnelle folgten, als die Moleeularhnpothese breit'ren Boden gewann und
das Gesetz von der Erhaltung der Kraft ganz neues Licht auf den Kraftbegriff
warf und d~s Acauivalent von Wärme und Arbeit entdeckt ward, als Herbart
den Begriff der Lebenskraft zerstörte und die Seele zum Vorgang machte,
als Lyells Theorie der Eontinuität geologischer Veränderungen Annahme
fand und Lamarck der Vererbung erworbener Eigenschaften Anhänger ge-
wann, da begann sich in der Naturwisseuschaft eine gewaltige Spannung
vorzubereiten, die zu einer machtvollen Erplosion in das Gebiet der all-
gemeinen Weltanschauung hineinführen mußte. Aber uoch fehlte der zündende
Funke. Er erschien endlich 185!) mit Darwins „Ursprung der Arten".
Er vereinigte im Nu die verschiedenartigen vereinzelten Entdeckungen, die
sich in dem großen Kellcrgewölbe der Naturforschung unter dem Tempel
der mittelalterlichen Weltanschauung aufgehäuft hatten, zu einer Spreng-
masse uon Niesenkraft. Langsam hob sich der Tempel unter dumpfem
Tröhnen, und seitdem sieht das Abendland eine Säule nach der anderen
niedersinken und einen Bogen nach dem anderen einstürzen; und was das
Schlimmste ist: der Grundbau ist von der tiefsten Tiefe aus zerstört und
zerborsten, und nur das Tnch hält sich noch nothdürftig im Gleicligewicht,
weil geschäftige Zimmerleute es immer gleich dn abtragen, wo der Unter-
bau zusammengestürzt ist. Aber schou fragen die Kinder: „Wann dürfen nur
alle Tempelstücke zum Spielen nehmen?" Und die Autwort lautet: „Wenn
die großen Leute damit nichts Ernstes mehr werden anfangen können; nnd
das wird bald fein."
Bis zum Jahre 1830 kann man noch nicht uou einer naturwissen-
schaftlichen Weltanschauung reden. Soviel auch Bausteine zugehauen sind:
der Meister fehlt noch, der sie zum Tempel baut, und wenn man gleicl,
heute bauen woüte, man müßte morgen wieder einreißen; denn das Ge-
bäude beleidigte das Auge, es hätte keinen Ttil. Solange man noch mit
Thomas Huzley, 225
der Schöpfung der einzelnen Arten der Thier- nnd Pflanzenwelt zu rechnen
halt.', solange diese für unabänderliche Typen galten, von einander durch
Klüfte getrennt, die eine übernatürliche Hand befestigt hatt^:, — sc» lange
konnte man ebenso gut von demselben Gott, der all das vollbracht hatte,
jeden Regenschauer senden, jeden Magneten Eisen anziehen und jeden»
Menschenwesen eine Seele einhauchen lassen. Erst die Idee der Ent-
wickelung hat dem Tempel der Naturwissenschaft seinen Stil gegeben, uud
darum giebt es eine naturwissenschaftliche Weltanschauung erst seitdem diese
Idee Boden faßt, ja eigentlich erst, seit sie in Tagesklarheit vor aller Welt
Augen liegt. Diese Weltanschauung ist heute noch nichts weniger als ab-
geschlossen; aber die Weltanschauungsgeschichte kennt keinen zweiten Fall,
in dem soviel ans dem Felde des Ausbaues einer neuen Weltanschauung
in einem einzigen Menschenalter geleistet worden wäre, wie seit 1853. Karl
Darwin gebührt der Ruhm, den Stil des Flügels der organischen Welt
nilein entworfen zu haben, aber er hat für die Umbildung der Welt-
anschauung seiner Zeit selbst wenig geleistet. Dazu fehlte ihm vor Allem
der künstlerische Sin», der die Vorbedingung jeder literarischen Wirkung
auf die weit'« Kreise des Voltes ist, nnd die weite Umfasseudheit des
geistigen Gestclttreises. Er ist Zeit seines Lebens der Fachmann ge-
blieben, der den „Ursprung der Arten" geschrieben hatte, und hat den Streit-
fragen der eigenen Zeit immer fast hilflos gegenübergestanden. Aber was
er seinem Vaterlande und der Eulturmenschheit nicht zu geben vermochte,
das hat ihnen ein Freund uud Landsmann gegeben, Thomas Henry Hurley.
Er ist trotz Herbert Spencer, des Philosophen des Lamarckismus, der erste
darwiuistische Philosoph Englands und zugleich dessen größter Welt-
auschauungskämpfer im 19. Jahrhundert. Er ist mehr als der Populari-
snlor des Darwinismus, er ist ein selbstständiger Deuter und felbstftändiger
Forscher, und durch seine Klarheit uud Vornehmheit des Denkens zugleich
echt uolksthümlich. Er führt nirgends eine Sprache, wie sie Karl Vogt in
seinem gegen Rudolf Wagner gerichteten Buche „Köhlerglaube und Wissen-
schaft" (1855) oder gar iu seinen späteren unzähligen Feuilletons anschlägt.
Auch wo ihu der Gegner reizt, steigt er niemals auf ciu niedriges Niveau
herab. Auch er kann fpotten, aber fein Spott verletzt nicht wie der Vogts,
und an Klarheit und unerbittlicher Logik ist er seinem feurig-romantischen
deutschen Mitkämpfer überlegen. Für die moderne englische Theologie mit
ihrem Gezänk zwischen den einzelnen Secten bedeutet Hnrley ein reinigendes
Gewitter. Wie ein solches alle Staultheilchen aus der Luft wegwäscht,
mögen sie nun von den Straßen, den Feldern oder aus deu Rauchfäugen
nufsteigen, so hat er ihre Streitfrage» niedergeschlagen, um sie allesnmmt
auf das Studium der wissenschaftlichen deutschen Bibelkritik hinzuweisen.
Hurley nimmt in mehr als einer Hinsicht in dem Eugland des
19. Jahrhunderts die Stelle ein wie Lessing in dem Deutschland des 18.
Er ist derselbe streitbare Recke wie Jener, derselbe überzeugungstreue Ehren-
226 Alexander Tille in Glasgow.
mann, derselbe scharfsinnige >topf und derselbe mitleidlose Spötter über
ausgeblasene Dummheit. Wie der Pastor Goetze in Lessings „Ariomata" und
>Uotz in den „Briefen antiquarischen Inhalts" fortlebt, so wird wahrscheinlich
eine Zeit kommen, wo man Henry Georges „Fortschritt und Armuth" nur
noch aus dem Strafgericht kennt, das Hnrley in den beiden Essays
über „Natürliche und politische Rechte" und über „Capital, die Mutier der
Arbeit" über den amerikanischen Maulhelden hat ergehen lassen. Die Art
und Weise, wie Hnrley das Theorem der Nodenverstaatlichnng in dem
einen und die Enpitaltheorie Georges in dem anderen Essay in kleine Stücke
schlägt, ist echt lessingisch. Wer diese Vernichtung eines Littcraten mit an-
gehört oder durchgelesen hat, der ließe sich sicherlich nicht so gern mit dem
Autor von ?rc>ßl688 arnl kuvßrt^, das nach Hurleys Worte mehr Armuth
enthält als Fortschritt, auf der Straße sehen. Georges Voraussehungen
sind falsch, seine Beispiele sind falsch, seine Schlüsse sind falfch, feine Beweis-
führung ist coufus, er widerspricht sich unausgesetzt, nnd an hundert Stellen
schwafelt er einfach baren Unsinn, sein ganzer Bücherkram ist keinen «eller
werth; das ist das Ergebnis! diefer Kritiken, wenn anders man diefe Blitze
und Donnerschläge Kritiken nennen kann. Aus dieser zermalmenden Schärfe,
die die scharfgeschliffenen Spitzen des Witzes noch tödtlicher machen, spricht
der heilige Zorn der Entrüstung über alles Halbwissen und Falschwissen,
alles demagogische Phraseliren und allen nichtigen rhetorischen Putz über
halbuerstandcne, unbewiesene, unbeweisbare, widersinnige, unsinnige Specula-
tionen. „Ein ökonomisches Problem vom physiologischen Standpunkte aus
beiracktet" nennt sich „Eavital, die Mutter der Arbeit"; aber aus diesen
Blättern spricht nicht blos der Physiologe, obgleich auch dieser sein Wissen
herleiht, sondern der Mann von weitem Weltverständniß und riesigem
Wissen, von leuchtender Verstandesschärfe und sieghafter Klarheit. Dieselben
Züge, die den Publicisten, Bibliothekar und Dichter Lessing dereinst in
Allem, was er schrieb, so hoch über seine Zeitgenossen hinaus hoben, heben
den Naturforscher und Philosophen Hnrley darüber hinaus.
Allerdings hat Hnrley znr Biologie nnd Paläologie hochbedeutsame
Beiträge geliefert, und auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie und
der Physiologie die Ergebnisse der modernen Forschung in mnstergiltiger
Weise znsammcngefast; allerdings dankt ihm der höhere naturwissenschaftliche
Unterricht Großbritanniens feine Organisation und der niedere fast fein Da-
sein; allerdings lebt feine Lehrthätigkeit in taufenden von Achten, Natur-
wissenschaftlern nnd Lehrern dauernd fort; aber fein eigentlicher Ruhmestitel
gründet sich doch auf die neun >tleinottaubände in rothbraunem Leinwand-
band, die den bcfcheidenen Titel tragen Lollects«.! N«8»V8 dv I'. II. Huxlev.
Sie sind derjenige Theil seines Lebenswertes, durch den Hurley in lebendige
Fühlung mit seiner Zeit und seinem Volke getreten ist, sie enthalten feine
Beiträge zur Fortentwickelung der allgemeinen Weltanfchanuug. In ihnen
fpricht der Mann, der da erklärt hat, die Wissenschaft sei nur erzogener
Thomas Huiley. 22?
und orgauistrter gesunder Meuschenuerstand, der sich uon dein einfachen
Menschenverstände nur unterscheide, wie der Veteran vom Retruten, in
Scherz und Ernst, mit sprudelnden! Mutterwitz und würdiger Weisheit,
aus dein Schatze eines reichen Wissens und eines reichen Lebens zu seinen
Zeitgenossen, die niemals Untersuchungen über ozeanische ,o»drozoen gewacht
und nicwals vergleichende Anatomie studirt haben. Sie stehen iu taufenden
von englischen Familien auf dem Bücherbrett, und sie sind das bedeut-
samste uolksthümlich-philosophische Werk, das das England uon heute besitzt.
Aus ihnen spricht vurley, der Philosoph, der seiner Zeit vordenkt, ihrem
denken seine Bahnen weist, und ibr Führer ist in der Fortentwicklung ihrer
Weltanschauung. I n einem J ahrhundert wird es Zeit seiu, zu bestimmen,
mieuiel uon dein, was diese Bände umfassen, iu die allgemeine Anschaunng
der Eulturmenschheit übergegaugeu ist. Alles was wir heute zu thun ver-
mögen, ist, nns zu vergegenwärtigen, aus welchem Vorne diese Ströme
entsprungen siud und gegen welche anderen Fluthen sie angebraust sind, um
sie entweder mit sich fortzureiten oder in ihnen spurlos zu verschwinden.
In Hinsicht auf diese Leistungen ist Hnrley von Freunden nnd Feinden,
die außer Stande waren, sich eine Weltanschauung vorzustellen, die nicht
blind uon einer dogmatischen Religion abhängig war, „ein Theolog anti-
Ib.'ologischer Htichtung" genannt worden, d. h. in etwas genaueres Deutsch
überseht, ein Weltnnschannngstampfer, der austerhalb der dogmatischen
Voraussetzungen der Kirchenfrommen stand. Er ist einer der größten Lehrer
seines Volkes uud einer der grösten geistigen Führer seiner Zeit gewesen
und bot sein Denken vorsätzlich den schwersten, grösten und letzten Welt-
anfchanungsfragen, dem Woher? und Wohin? des Menschen, den socialen
Kernfragen, den (Grenzen der menschlichen Erkenntnis, und der Geltung des
Sittengesetzes gewidmet. So nmfaßte fein Interesse ungefähr dasselbe
Gebiet, über das die „herrschende" Religion noch immer die Alleinherrschaft
zu haben behauptet, nnd insofern war er ein „Theolog". Aber von
dogmatischem Geiste war kaum eine Spur in ihm. Einzig hinsichtlich der
Anwendung der Entwickelungslehre auf die Ethik ist er an den eigenen
Vorurtheilen gescheitert. Ans allen anderen Feldern, auf denen er einer
entschiedenen eigenen Meinung Ausdruck verliehen hatte, ist er der weiteren
Entwicklung der Forschung mit gespanntem Auge gefolgt uud hat neue Er-
gebnisse nur allzu gern angenommen, wie die zahlreichen späteren An-
merkungen zu seinen früheren Essays beweisen. (5r hatte das Glück, auf
einem großen, umfassenden Gebiete, gerade demjenigen Gebiete, das am
bestimmendsten auf die geistige und sociale Welt des 19. Jahrhunderts ein-
gewirkt hat, die gründlichsten Fachkenntnisse zn besitzen, uud seiu Leben fiel
in die Zeit, in der dessen größte Entdeckung, die Erklärnng der Aufwärts-
entwickclung des organischen Lebens, gemacht wurde. Als der „Ursprung
der Arteu" erschien, war Hurle» 31 Jahre alt, hatte in London bereits eine
wichtige ^ehrstellnng inne uud sich als selbständiger Arbeiter auf dem Ge-
226 Alexander Tille in Glasgow,
biete der vergleichenden Anatomie bereits einen geachteten Namen erworben.
So war ihm die Möglichkeit gegeben, vom ersten Tage an, wo ihm die
Erkenntnis; der Niesenbedeutnng der Entdeckung aufgedämmert war, nach-
drücklich für sie einzutreten und sie durch eigene Leistungen fortzubilden.
Thomas ,tzenry Hurley war geboren am 4. Mai 1825 zu Ealing,
damals einem kleinen stillen Landstädtchen anderthalb Stunden von London,
heute einem Vorort Londons mit über 30 OUI) Einwohnern. Sein Vater war
Lehrer au einer dortigen Schule, die in hohem Ansehen stand. Seiner
eigenen Aussage nach hat er von seinem Vater kaum irgend welchen Zug
ererbt außer einein heißen Temperament, „jenem Maße von Zähigkeit in der
Verfolgung eines Zieles, das unfreundlich: Beobachter manchmal Eigensinn
nennen," und einem bedeutenden Zeichentalent, das er zwar niemals
künstlerisch ausgebildet hat, durch das aber der Anschauungsreichthum seiner
wissenschaftlichen Vorlesungen bedeutend gefördert worden ist. Seine Schüler
erzählen voll Bewunderung, wie er seine Vorlesung mit einem abenteuer-
lichen Orakel an die Wandtafel begann, der Allen unverständlich war, wie
er dann während des Sprechens im Laufe einer halben Stunde oder Stunde
Strich für Strich eintrug, bis schließlich das deutlichste, schärfst umrisfene
biologische Bild vor den Augen seiner Zuhörer lag, das mit seiner Hervor-
hebung alles Typischen unauslöschlich in ihrem Gedächtnis; haftete. Mehr
hat ihm zu seiner Eigenart seine Mutter gegeben: „Physisch und geistig,"
erzählt er, „bin ich vollständig meiner Mutter Sohn, bis herab zu be-
sonderen Handbewegungen, die bei mir hervortraten, als ich das Alter er-
reicht hatte, das sie gehabt hatte, als ich sie an ihr bemerkte . . . Meine
Mutter war eine schlanke Brünette von erregter und thatkräftiger Gemüths-
art und halte die durchdringendsten schwarzen Allgen, die ich jemals in
einem Frauenkopfe gesehen habe. Bei nicht tieferer Nildung, als sie die
Frauen der Mittelklasse in ihren Tagen hatten, besaß sie eine ausgezeichnete
Begabung. Ihr bezeichnendster Kennzug war jedoch die Blitzesschnelle ihres
Denkens. Wenn Jemand die Bemerkung inachte, sie habe nicht eben viel
Zeit darauf verwendet, um zu einem Schlüsse zu gelangen, so sagte sie:
.Ich kann mir nicht helfen, mir blitzt's nur so auf/ Tiefe Eigentüm-
lichkeit ist in ihrer vollen Stärke auf mich übergegangen; sie ist mir oft
nützlich gewesen, sie hat mir oft schlimme Streiche gespielt, und sie ist immer
eine Gefahr für mich gewesen. Und doch, hätte ich meine Tage noch einmal
zu durchleben, ich würde mich von Nichts unlieber scheiden, als von meinem
Erbe an Mutterwitz."
Als Knabe predigte er Tonntags den Dienstmädchen in der Küäie, und
lächelnd fügt er dem Bericht dieses Zuges bei: „Das ist das früheste mir
erinnerliche Zeichen von jenen starten, kirchlichen Neigungen, die mir mein
Freund Herbert Spencer stets zugeschrieben hat, wenn ich auch selbst der
Meinung bin, daß sie zum größten Theile latent geblieben sind." Seine
Neigung ging darauf, Ingenieur z» werden, aber das Geschick wollte es
Thomas huiley. 22Y
anders. Noch sehr Mg, begann er unter einen« Schwager, der Medianer
war, Medicin zu studiren; aber die Medicin als Heilkunst kümmerte ihn
nicht sonderlich. Physiologie ~ die Ingenieurkunst der lebendigen Maschinen
— war das Einzige, was seine Theilnahme dauernd zu fesseln vermochte,
und das ist sein ganzes Leben so geblieben. Ter Philosoph in ihm konnte
sich nun und nimmer mit den bloßen Einzelheiten bescheiden, und er war
sich dessen nur allzugut bewußt i „Obgleich die Naturwissenschaft mein eigent-
licher Lebensberuf geworden ist, so wohnt doch schrecklich wenig uom echten
Naturforscher in mir. Ich habe niemals Etwas gesammelt, und die Einzel-
forschung ist stets eine Last für mich gewesen. Wirklich am Herzen gelegen
hat mir dagegen der architektonische und mechanische Theil der Arbeit, das
Herausarbeiten des wunderbar einheitlichen Planes in den taufenden und
abertausenden von lebendigen Eonstructionen und die Modifikationen ähnlicher
Apparate, um sie zu verschiedenen Zwecken geeignet zu machen."
Nach einer Vergiftung, die er sich bei einer Sectio» zugezogen, und
deren Folgen er noch Jahre lang in heftigen inneren Schmerzanfällen zu
tragen hatte, vollendete er sein medicinisches Studium an der (Harmg Oc»88
8cd«c>l c»t' Hleclicine, wo damals Wharton Jones Physiologie lehrte. Er
war der erste und einzige Lehrer, dessen Wissen und Methode ans den sieb-
zehnjährigen Studenten einen nachhaltigen Eindruck machte. Turch eifrige
Arbeit suchte er sich den Beifall des Lehrers zu erwerben, und es gelang
ihm, dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jones ermuthigte ihn zur
Veröffentlichung feines ersten naturwissenschaftlichen Aufsatzes, ja corrigirte
dem nachmaligen Meister des Stiles und dem formvollendetsten naturwissen-
schaftlichen Schriftsteller des folgenden halben Jahrhunderts die kleine Arbeit
stilistisch durch, die endlich in der Hle<li<?al La/.Liw 1845 erschien. Eben
hatte Hnrley — mit 29 fahren ~ sein obligatorisches medicinisches Studium
uolleudct, und !m Anfang ltt4l> bestand er das erste Emmen eines Vacca-
laureus der Medicin an der l^niverzit? ot' l.c>!,clon. ?as Eramen eiueS
Magister der Ehirurgie konnte er noch nicht mitmachen, da er dafür noch
zu jung war. Gleichwohl trct die Nothwcudigkeit an ihn heran, sich fein
Vrot zu verdienen, uud fo begann er seine Laufbahn im selbstständigen
Leben gleich den meisten jungen englischen Aerzten als Schiffsarzt. Er
wandte sich brieflich an den Generalciirector des ärztlichen Dienstes in der
.Kriegsflotte, bestand sein Eramen als Militärarzt und ward zunächst siebeu
Monate Assistenzarzt am Haslar-Hospital und dann Assistenzarzt auf der
Nattlesnake, die ihn durch ferne Meere trug.
„~n jenen Tagen," so berichtet er, „war das Leben auf den Schiffen
der Kriegsflotte fehr verschieden von dein heutigen, und das unsere war
ausnahmsweise hart, da wir oft Monate lang keinen Vrief erhielten und
außer uus felbst keinen ciuilisirten Menschen sahen. Dafür litten wir
freilich das Glück, fo ungefähr die letzten weisenden zu sein, die »och auf
Leute trafen, die Nichts von Feuerwaffen wußten — fo an der Eüdküste
230 Alexander Tille i» Glasgow.
von Neuguinea -~ nnd mit einer bunten Menge interessanter wilder und
halbciuilisirter Stämme Bekanntschaft »lachten. Aber selbst abgesehen von
derartigen Eriahrungen und der Gelegenheit zu wissenschaftlichen Arbeiten,
die sich mir bot, ist wir persönlich diese Seefahrt von außerordentlich hohem
Werthe gewesen. Es war heilsam für nlich, unter strenger Disciplin zu sein,
durch da~ Leben um» Notlnvendigsten mitten in der Wirklichkeit des Daseins
zu stehen, herauszufinden, wie außerordentlich lebenowerth doch das Leben
erscheine, wenn man von seiner Nachtruh: auf einer weichen Planke und
mit dein Himmel als Baldachin nnfwachte und zum frühstück nur Kakao
nnd Biseuits mit Mehlwürmern vor sich sah; nnd ganz besondere für
eigene Ergebnisse arbeiten zu lernen, selbst wenn Alles zum Kuckuck ging
und ich selber mit."
Vier J ahre lang fuhr der junge Assistenzarzt ans der „Klapperschlange"
dnrch die Südmeere, von einer Station zur anderen, und auf dieser Gleise
legte er in sich selbst den Grund zum selbstständigen Naturforscher und auster-
halb deu Grund zu seinem wissenschaftlichen Namen. Beitrag aus Beitrag
ging an die l^innLan Locietv ab, aber keine Antwort kam. 1819 endlich
arbeitete er eine umfänglichere Abhandlung ans und fandte sie an die
Ito^-il 8ocietv. Aber mich über diese hört, > er teiue Silbe. Um so größer
war seine Neberraschung, als er sie bei seiner Rückkehr nach England Ende
1850 nicht mir angenommen sondern sogar gedruckt fand. Ein gewaltiges
Bündel Tonderabzüge lag für ihn bereit.
Die nächsten drei Jahre ward Hurlep in London beschäftigt. Als er
aber dann wieder Befehl erhielt, sich einzuschiffen, gab er den ärzllicdcn
Dienst in der Flotte auf und bemühte sich um mehrere Professuren der
Physiologie und vergleichenden Anatomie, jedoch vergebens. Sein Freund
Tnndall und er bewarben sich nach englischer Sitte um zwei Professuren
an der Universität Toronto, aber zu ihrem Glücke wurden sie nickt gewählt.
Als endlich 1854 Edward Forbes von London nach Edinburgh berufen
wnrde, erhielt Hnrlen dessen Docentur der Paläologie und Naturgeschichte
an der Geologischen Inspection angeboten. Bon der Paläologie fühlte er
fich jedoch fo wenig angezogen, daß er dem Generaldirector der Geologischen
Inspection erklärte, Fossilien seien ihm g leichg iltig , nnd er werde die Docentur
für Naturgeschichte aufgeben, fobald er eine physiologische Professur erhalte!
denuoch hat er sie bi? 188.') bekleidet, und ein großer Dheil seiner Arbeiten
hat sich auf paläologifchem Gebiete bewegt. Selbst feine <Üo!!ecteck'H83»v3
enthalten einen Band: D!z<?auri?o5 Liolc^ioal »ncl Opal^icn!. Damit
trat Hurlep feine akademische Laufbahn in London an, und trotz der zahl-
reichen glänzenden Anerbieten, die ihm von auswärts gemacht wurden, hat
er London niemals verlassen. Das öffentliche Sprechen war ihm anfangs
in hohem Maße nnangenehm, aber nach nnd nach gewöhnte er sich daran
und ward der klare, eindringliche, selbstsichere Lehrer, der Tausenden von eng-
lischen Aerzten nnd Naturwissenschaftlern den Begriff der B.>issenscl,aftlichkeit
Chomaz Hurley, 231
vermittelt bat, der zu feierlichen Gelehrteuversammlungen mit derselben
Meisterschaft sprach wie zu den rußhändigen Arbeitern bei populären Vor-
tragsabenden und der in seiner populären Beherrschung seines Lehrstoffes
selbst in England einzig dastand.
Hnrley verdankt seiner Ausbildung als Medianer mehr, als er vielleicht
gewußt bat. Es ist die Frage, ob er mit einer speciell auf seinen Beruf
zugeschnittenen Vorbildung, selbst wenn es eine solche in den Tagen seiner
Jugend gegeben Hütte, der uiufassende Geist geworden wäre, den die Welt
in ihm bewundert hat. Gerade weil sich nachmale, als er in's selbständige
Leben eintrat, sein Interessenkreis so stark svecialisirte, wurde es für ibn
so bedeutsam, daß er ans mehreren Gebieten anßerbalb desselben Einzel-
kenntnisse besaß, wie sie Darwin sein Leben lang vergeblich crselmt bat.
Heute scheint es unglaublich, daß der Begründer der Entwicklungslehre
auf dem Felde der vergleichenden Anatomie nur die bruchstückbaftesteu
Kenntnisse batte; aber eben deswegen ward es von so unendlicher Bedeutung,
das; sie das Specialgebiet des Mannes war, der zuerst eine unifassende
Classification der Lebewesen auf der Grundlage von Darwins Grundsätzen
versuchte.
Die seltsamen Glastbiere der südlichen Meere hatten seine Aufmerk-
samkeit in dem Maße gefesselt, das; er die Tipbouopbnen zum Gegenstand
einer Einzeldarstellung gemacht batte, der er den Titel „Die oceanischen
Hydrozoen" gab. Damit tbat er von mehr als einem Gesichtspunkte aus
einen außerordentlich glücklichen Griff; denn gerade diese Tbiere sind es
gewesen, was den Einl'lick in die Entwicklung der Hauptgruppen der Lebe-
wesen im Laufe des lebten halben lahrbunderts so riesig gefördert bat.
Nehmen sie doch eine eigentbümlicke Mittelstellung zwischen den zwei anderen
Tlnergruppcn ein, den einschichtigen und den dreischichtigen, und sind des-
halb so wesentlich für die Erkenntnis; des Ttufengcmges des Lebens auf
der Bahn allmMicher Entfaltung. Hatte Linnö dnrch feinen unermüd-
lichen Elassificntionseifer in der organischen Welt ein wenig Ordnung ge-
schaffen und einen Ueberl'lick ermöglicht, so batte Bnffon mindestens die
Grundlage sürden modernen Begriff der Biologie als Wissenschaft gelegt
und Euvierdie vergleichende Anatomie und Paläontologie begründet. Durch
Lamarck war der Begriff der Entwicklung wieder lebendig gemacht und
die Zoologie der wirbellosen Thiere in den Vordergrund geschoben worden.
Hurley verglich in seiner Arbeit bereits ganz richtig die Zweifcbiclitigkeit
des Baues seiner Glastbiere mit der Zweischichtigkeit, durch welche das
höhere Thier von, Wurm bis zum Menschen in seiner cmbryoualeu Ent-
wicklung gebt, ein Vergleich, der erst nachmals, nachdem Hurley selbst, auf
Darwins Entdeckung fußend, der vergleichenden Anatomie eine nenc Grund-
lage gegeben hatte, seine volle Bedeutung erhielt.
Jetzt, nach seiner dauernden Niederlassung in London, standen Hurley
die riesigen Sammlungen der englischen Hauptstadt zu Gebote, und seine
232 Alerander Tille i» Glasgow
Thätigteit an der Bergakademie lies; ihm reichlich Zeit zu wissenschaftlicher
Beschäftigung. Tas ivard für ihn von großer Wichtigkeit; denn einmal bot
es ihm die Möglichkeit, sich in das neue Lehrfach, das er zu vertreten hctte,
gründlich einzuarbeiten, uud sodann gestattete es ihm, eine Reihe Special-
Untersuchungen vorzunehmen, die ihn als Forscher hohen Ranges zeigen.
Sie alle erhielten ihren Kernpunkt erst von der Entwicklilngö lehre, die mit
den J ahren 1858 und 185,9 auf deu Schauplatz trat.
Als Charles Tariviu am 1. J uli 1858 der I ^innean 8o~ietv seine
eigene Arbeit „lieber die Tendenz der Arten, Varietäten zn bilden, und
über die Fortsetzung der Varietäten und Arte» durch das natürliche Mittel
der Auslese" zugleich mit dem Essay von Alfred Rüssel Wallace: „Ueber
die Tendenz der Varietäten, unendlich von der Urform abzuweichen," vor-
legte, war Hurler, nicht zugegen. Aber die neue Lehre gewann schnell
Boden, und Hurlep selbst hatte sie sich schou zu eigen gemacht, als an,
24. November 1859 die erste Auflage des Werkes „Ueber den Ursprung
der Arten durch natürliche Zucktwahl oder die Erhaltung der begünstigten
Rassen im Kampf um'sTaseiu" erschien.
Mit dem ihm eigenen Humor berichtet er uus uou jenem Tage, an
dem „Ter Ursprung der Arten" geboren ward. „Wer sich von seinem
(Gedächtnis! so weit zurücktragen lassen kann, der wird sich darauf besinnen,
das; das neugeborene Kind austerordentlick lebhaft war, nnd das; eine grW
Anzahl ausgezeichnete Leute die Kundgebungen seiner kräftigen Eigenart
als blof;e Unart auffasten. Um feine Wiege gab es ziemliche Unruhe.
Meine Erinnerungen an diefe Zeit find besonders lebhaft, denn ich hatte
eine zarte Zuneigung zu dem Kinde gefaft, das mir cumerordeutlich viel
zu versprechen schien, und so war ich eiuige Zeit in der Eigenschaft als
Unteramme bei ihm thätig nnd erhielt so mein Theil von den Stürmen,
die das Leben des jungen Geschöpfes bedrohten. Tas war für einige
Inhre fraglos heiße Arbeit. Wenn man jedoch in Betracht zieht, wie
außerordentlich unangenehm das Auftauchen des Neulings allen denen
gewesen sein muß, die sich nickt auf den ersten Blick in ihn verlielten,
so kann man es unserer Zeit zu ihren bumsten anrechnen, das; der Kampf
nicht heftiger war und der bittere nnd gewissenlofe Widerstand so rasch
abgestorben ist, wie er ist."
Wenn wir uns heute kaum mehr vorzustellen vermögen, wie gegen den
„Ursprung der Arten" in den sechziger J ahren ein derartiges Wuthgeheu!
losbrechen konnte, wie ein Tarimn sich scheuen konnte, seine „Abstammung des
Menschen" zu sckreibeu, und ein Mann wie Hurleu für feine „Zeugnisse für die
Stellung des Menschen in der Rotur" von allen Ehristenmcnschen mit einer Art
Vau» belegt zu werdeu uermockte, so ist das gerade der gewaltigste Beweis
sür die riesige Wirkung dieser Bücker und dieser Männer. Was anders
hat den UmsckMiug geschaffen, kraft dessen Leute Jemand, der mit seinem
Tenken noch nickt auf dem Bodeu der Entwicklungslehre steht, kaum mehr
Thomas Hurley, 233
für einen Gebildeten gelten kann? Der jüngeren Generation ist die Idee
der Entwicklung zur selbstverständlichen Voraussetzung des Denkens ge-
worden, und sie zuckt über Jeden die Achseln, der von dem alten Standpunkt
einer Stillstandsweltanschannng aus die Welt der Thatsachen nnd Ideen
betrachtet. Nnd gerade die allgemeine Weltanschauung in England dankt
diesen Wandel weit mehr Hurley als Darwin. Keinen Band des „Nineteenth
Century," der „Eontemporary Review" oder der „Fortnightly Review" kann
man in die Hand nehmen, ohne irgendwie das Wehen von Hurleys Geist zu
verspüren, der dem Schifte der geistigen Zeitkämpfe die Segel bläht. Und
wer da weiß, welchen Factor diese Monatsschriften in dem geistigen Leben
Großbritanniens bedeuten und wie dort alle die großen Fragen des Dages
in der Monats- nnd Vierteljahrspresse ansgefochten werden, der wird darauf
doppeltes Gewicht legen. Ueberdies waren diese Zeitschristen nicht Hurleys
einziger Kampfplan. ,An seiner engeren VerufetlMigkeit, in seinen Werken,
in volksthümlichen Vorlesungscnrsen, als Reformator des Unterrichtswesens
und als Mitglied einer großen Anzahl öffentlicher Körper von dem Directorimn
des Britischen Museums bis zur Uniuersitätsreformcommission nnd dem
Londoner Tchulausschuß ist er im gleichen Sinne unaufhörlich thätig gewesen.
In der ersten Auflage des „Ursprungs der Arten" hatte Darwin ge-
schrieben: „In ferner Zukunft sehe ich freies Feld für weit wichtigere
Forschuuge«. Die Psychologie wird ans eiue neue Grundlage gestellt werden,
auf diejenige der notwendigen Erwerbung jeder geistigen Kraft nnd Fähig-
keit Schritt für Schritt. Auf clen Ursprung des Menschen nnd seine Ge-
schichte wird dann Licht fallen." Das ist eine gelegentliche nebensächliche
Bemerkung, die sich auf ferne Zukunft bezieht, und wenn sie die Abstammung
des Menschen von dem affenartigen Proanthropos einschließen soll, dann
schließen auch Puffous Sätze, wie- „Die Natur ist nach meiner Behauptung
in einem Zustand beharrlichen Flusses nnd beharrlicher Bewegung" den
Satz von der Veränderlichkeit der Arten ein. Hurle» hindert wohl nur seine
Bescheidenheit daran, in dieser Bemerkung Nichts weiter zn sehen als ein
hingeworfenes Wort. Denn ihm selbst gebührt das Verdienst, zuerst und
mit voller Klarheit diese wichtigste aller Folgerungen aus der Entwicklungs-
lehre gezogen zu haben, und zwar bereits 1869. In diesem ~ahre hielt
Hurley sechs Vorlesungen für Arbeiter über die „Beziehungen de? Menschen
>zn den nächstniederen Thieren" und 1862 zwei weitere vor dein Philosophischen
Institut in Edinburgh. So konnte er bereit? 186A, als er sein kleines Buch
„Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur" veröffentlichte, sagen,
seine Anschauungen möchten richtig oder falsch sein, sicherlich hätte er sie
sich nicht übereilt gebildet. Darwin ahnte 1859 kaum, welche Bedeutung
sein Buch für die Geschichte der allgemeinen Weltanschauung bekommen
werde. Hurley hatte jedoch mit seinem philosophischeren Geiste diesen Punkt
sofort erkannt. So schrieb er damals: „Die Frage der Fragen für die
Menschheit, das Problem, da? allen anderen zu Grunde liegt, ist die Ve-
?!°id »nd Fiid, I.XXV. 2?4, 16
23H Alezander Tille in Glazgow.
stimmilng des Platzes, den der Mensch in der Natur einnimmt, nnd seiner
Beziehungen zum All. Woher unsere Rasse gekommen ist, was die Grenzen
unserer Macht über die Natur und der Macht der Natur über uns sind,
welche!» Ziele wir zustreben — das sind die Probleme, die sich von Neuem
nnd mit unverminderter Theilnahme jedem Menschen aufdringen, der zur
Welt geboren wird." Der tiefgebildete Zoolog Hurley, dessen Lieblings-
fach vergleichende Anatomie war, war auf diesem Felde Darwin entschieden
überlegen.
In seinen „Zeugnissen für die Stellung des Menfchen in der Natur" zeigte
Huxley durch genaue anatomifche Vcrgleichung, dah der Unterschied zwischen dem
Menschen und den höheren Affen viel kleiner sei als der zwischen den höheren
und den nächstniedrigeren Affen, und die Abbildung, welche das Skelett
des Gibbon, Orang, Ehimpanfe, Gorilla und Menschen neben einander zeigt,
verfehlte nicht, Entsetzen zu erregen. In dem zweiten Eapitel, „Die Be-
ziehung des Menschen zu den nächstniederen Dhieren" stellte er zum ersten
Mal jenen Stammbaum der Lebewesen auf, wie ihn dmm Karl Vogt in seinen
„Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und
in der Geschichte der Erde" (1863) übernahm und Haeckel in seiner
„Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1869) und in seiner „Anthrovogenie"
grundlegend ausbaute. Und in dem dritten Enpitel beschäftigte er sich mit
den fossilen Menschenresten, deren populärste deutsche Darstellung nachmals
Ludwig Büchner in dem ersten Theile seines Buches: „Der Mensch und
seine Stellung in Natur und Gesellschaft" (1869) gegeben hat, uud die von
höchster Bedeutung sind, weil sie die Lücke zwischen dem heutigen Menschen
und den Affenarten der grauen Vorzeit ausfüllen. Mit diesem Buche zog
Hurley die wichtigste Folgerung aus der Entwicklungslehre und begründete
die Affentheorie oder Affenabstammung des Menschen in einer Weise, das;
sie seitdem von der vergleichenden Anatomie nicht wieder in Zweifel ge-
zogen worden ist, und sich ihm Darwin mit feiner „Abstammung des
Menschen" (1871 > vollständig anschließen konnte.
Diesem Werke folgten eine große Fülle anderer Arbeiten, die sich sau
auf das gesammte Tbicrreich erstrecken, die Wirbelthiere jedoch bevorzugen,
bald grüßer, bald kleiner, bald Einzelheiten feststellend, bald Ergebnisse ver-
schiedener Felder zusammenfassend und dabei niemals den großen Gesichts-
punkt der generellen Entwickelung ans dem Ange verlierend, nnd darai«»
schloffen sich eine Reibe zusammenfassender Arbeiten, die in erster Linie zu
Handbüchern für den akademischen Unterricht bestimmt waren.
Er begann mit seinen „Vorlesungen über vergleichende Anatomie" 1864
und ließ diesen weitere Lehrbücher folgen. Sein „Handbnch der Anatomie
der Wirbelthiere" <1871> und fein „Handbuch der Anatomie der Wirbel-
losen Tbiere(1877> sind die Grundlage des akademischen Unterrichtes der ver-
gleichenden Anatomie in ganz Großbritannien geworden. Zcine Plnniogravbic
(1877) ist eine Einleitung in das Studium der Natur, wie Deutschland
Thomas Huxley, 235
keine besitzt, und all die kleinen Arbeiten wie „Ter Krebs oder das Ttudium
der Zoologie" (1861) sind als gemeinverständliche Einführungen in ein
schwieriges Gebiet wahrscheinlich unübertroffen. Von dem, was Jeder weiß,
führt Hurlen seine Zuhörer zu dem Wissen, das man wohl von einem
Durchschnittsarzt erwarten kann, von da aus zu den Grundzügen aller
Zoologie und schließlich zu ihren letzten Problemen und weittragendsten Ver-
allgemeinerungen. „Ein Stück Kreide" (1868), „Hefe" (1871), „Die
Kohlenbildung" (1870) sind nahezu gleiche Meisterstückchen. Der englische
Gebildete, der heute über die allgemeinen Ergebnisse der Lhallengererpedition
oder über den Unischwung in der geologischen Forschung sich zuverlässig be-
lehren will, ohne selbst eine ganze Fachliteratur zu studiren, wendet sich an
Hurleys „Biologische und Geologische Diseurse".
Wie Hurlen als vergleichender Anatom Karl Gegenbaur nicht erreicht,
so steht er als systematischer Violog auch Darwins größtem Jünger,
Ernst Häckel, nach. Mit dessen „Genereller Morphologie", „Anthropogenie",
oder selbst dessen populärer „Natürlicher Tchöpfungsgeschickte" kann sich
keines seiner Werke messen, wie die Leistungen dieses Baumeisters des
Systems der gesammten Lebewelt überhaupt in der Gegenwart nnübertroffrn
dastehen, aber darum steht Hurlen doch unter den Bahnbrechern des Darwi-
nismus in der ersten Reihe, wenn auch der Schwerpunkt seiner Leistungen
in seiner Arbeit für die Weltanschauungsentwicklung seiner Zeit liegt.
Als Hurlen sein akademisches Lehramt in London antrat, war es um
die naturwissenschaftliche Nildung Großbritanniens fchlimm bestellt. Die
englischen Universitäten hatten noch nickt einmal selbständige naturwissen-
schaftliche Professuren, außer fo weit es das medieinische Studium unbe-
dingt forderte. Auf den großen Gymnasien Englands in Eton, Hnrrow,
Winchester gab es überhaupt noch keinen naturwissenschaftlichen Unterricht;
die technische Nildung war noch in den Kinderschuhen und machte eben ihre
ersten schüchternen Laufuersuche. Staatliche Volksschulen gab es noch nickt.
Das gesammte Schulwesen war dem Priuatunternehmen überlassen und
stand auf der niedrigsten Ttufe. Ueber Elementarunterricht nnd Bibclstunde
kam man nur in den größeren Ttädten hinaus, und wo Sprachunterricht
ertheilt wurde, da bezog er sich einzig auf Latein und Griechisch.
1854 sprack Kurien in der St. Martins Hall in London zum ersten
Male über naturwissensckaftliche Bildung. „Ueber den erzieherischen Wertb
der naturgeschichtlichen Wissenschaften" lautet der Titel ein wenig steif:
und seitdem hat er dieses Feld nicht mehr aus den Augen verloren. Ob er
1868 in der Arbeiter-Akademie in Südb.mdon über liberal.' Bildung und
ihre Quellen sprach, ob er 1889 mit seiner Rede „Naturwissenschaft und
Geistesbildung" das N«5on (.'ullsßß in Birmingham eröffnete, ob er 1884
als Lord Nector der Universität Aberdeen über Universitäten in Wirklichkeit
und das Ideal von Universitäten sprach, oder 1^76 die ^ohn Hopkins
Universität in Baltimore mit seiner Rede über „Universitätsbildung" er-
16*
236 Alexander Tille in Glasgow.
öffnete, ob er über das Studium der Biologie, deu Elementarunterricht in
der Physiologie, über das medicinische Studium, über die Stellung des
Staates zum Aerzteberuf, über die Beziehung der biologischen Wissen-
schaften zur Medicin oder über technische Ausbildung sprach i allüberall war
sein Streben darauf gerichtet, deu Naturwissenschaften zu der Stellung in
der modernen allgemeinen uud gelehrten Bildung zu verhelfen, die ihrer
Bedeutung für die Begründung einer eigenen Weltanschauung, für die
Ausbildung des Geistes und die Schärfung und Uebung der Sinne ent-
spricht. Um zu diesem Ziele zu gelangen, hat er keine Mühe und keine
Anstrengung gescheut und ist über vierzig J ahre lang der Führer der
mächtigen Bewegung zur Modernisirung der Bildung in Großbritannien
gewesen. Im Londoner Schulausschuß hat er den Kampf gegen den
Religionsunterricht mit seinen mythologischen Tendenzen gefochten, und
als es 1870 darüber zum Wahlkampfe kam, seine Sacke in zäher Arbeit
zum Siege geführt, deinem einzelnen Manne verdankt England so viel
hinsichtlich der Ausbreitung der naturwissensckastlicken Bildung im letzten
Mensckenalter. Er hat seinem Volke die Lehrer ausgebildet, das Schul-
gesetz reformiren helfen, die Untemchtspläne umgestaltet und in der
höheren Bildung der Bückerweisheit mauckeu kräftigen Stoß versetzt. Wenn
Latein und Griechisch in dieser Zeit ein gutes Theil von ihrem Monopol
eingebüst habeu, so gehört das auch auf Zulleys Rechnung.
Ebenso gut wie Latein und Griechisch könnte man ja Paläontologie
zum Kern der höheren Schulbildung machen! „Und es ist wunderbar, eine
wie genaue Parallele zu der klasstscheu Bildung sich mit der Paläontologie
ziehen ließe. Erstlich könnte ich ein so trockenes, in seiner Terminologie
pedantisches uud dem jugendlichen Geiste so widriges osteologifches Lehr-
buch aufbauen, daß ich die neueren berühmten .vcrvorbringungen von
Tchuldirectoren in all diesen Vorzügen damit aus dein Felde schlüge. Dann
konnte ich meine lungens auf leichte Fossilien eindrillen und all ihre Ge°
dächtnißkraft und ihren Verstand durch die Anwendung meiner osteo-
grammatischen Regeln auf die Auslegung oder Eonstruction dieser Bruch-
stücke an's Licht bringen. Denen, die in den höheren Klassen säßen, könnte
ich dann einzelne Knochen geben, um aus ihnen Thiere zu bauen, und dem,
der es in der Erzeugung von Ungeheuern in der genausten Ueberein-
stimmung mit den Regeln am weitesten brächte, könnte ich gute Eensuren
und Prämien geben. Das entspräche dein Bersemachen und Aufsähe-
sckreiben in den todten Sprachen. Wenn ein großer vergleichender Anatom
diese Leistungen sähe, so möchte er allerdings seinen Kopf Mitteln oder
lacken. Aber wie? Würde eine derartige Katastrophe vielleicht die Parallele
zerstören? Was würde wohl Cicero oder Horaz über die Erzeugung der
besten derartigen Schulleistungen sagen? Uud würde sich Tereuz nickt die
~hreu zuhalten und hinauslaufen, wenn er bei der englischen Aufführung
seiner eigenen Stücke zugegen sein könnte?"
EMPTY
228 — Alezandei Tille in «Llosgow.
ersten Agnostikers Sokrates, der es nicht bis zu eigentlichen Schülern gebracht
hat, und eine Generation nach den« bereits jenes wildes Spiel der Ein-
bildungskraft einseht, das Plato kennzeichnet. „Die Platonische Philosophie
ist wahrscheinlich das riesigste Beispiel des unwissenschaftlichen Gebrauches
der Phantasie, das es giebt, und die Menge Schaden, die seine Ideenlehre
auf der einen Seite und seine unselige Theorie von der Gemeinheit der
Materie auf der anderen unmittelbar oder mittelbar dein klaren Denken
gethan haben, ist schwerlich abzuschätzen." Ihm steht der moderne Geist
gegenüber. Er ist nicht „ein Geist, der stets verneint und seine Lust
einzig am Niederreißen findet. Ebensowenig freilich einer, der lieber Luft-
schlösser baut als ganz auf das Bauen verzichtet. Es ist der Geist, der
da arbeitet und arbeiten wird „ohne Hast und ohne Rast", eine Wahrheit
nach der anderen- einerntet in seine Scheuern und den Irrthum mit un-
auslöschlichem Feuer vertilgt."
„In der Reform der Philosophie seit Descartes," meint Hurley,
„sind wohl die grüßten und fruchtbarsten Ergebnisse der Thätigteit des
modernen Geistes — vielleicht seine einzigen großen und dauernden Ergeb-
nisse — diejenigen, welche Berklen und Hume zuerst in ihren Werken ge-
boten haben. Der eine hat den Grundsatz von Descartes, daß absolute
Gewißheit nur der Kenntnis; der Thatsachen des Bewußtseins eignet, bis
zu seine»! logischen Ergebnis; durchgeführt; der Andere hat die Kritik des
Cartesius auf das ganze Reich der gewöhnlich als Wahrheiten hingenommenen
Sähe ausgedehnt und nachgewiesen, daß wir in der Mehrzahl der wichtigen
Fälle von dem Besitze klarer Erkenntnis; soweit entfernt sind, daß wir sagen
können, wir besäßen überhaupt keine; daß es deswegen unsere Pflicht ist,
stillzuschweigen, oder mindestens uns zum Aufschicben des Urthcils zu be-
kennen."
In Hinsicht auf die vielen Fragen, auf welche wir empirisch noch
keine Antwort zu geben vermögen, nennt sich Hurley einen Agnostiker, seine
Denkweise Agnosticismus. Das Wort ist natürlich dein direkten Gegensatz
zu den gnostischen Secten der frulM christlichen Kirche entsprungen; und
der Begriff rechtfertigt sich damit, daß es besser sei, uns unser Unvermögen,
die letzten Weltanschaunngssragen zn beantworten, einzugestehen, als uns
durch eine dogmatische scheinbare Antwort über unsere Unwissenheit hinweg-
zutäuschen. Und nicht nur dies: über viele rein geschichtliche Fragen misten
wir absolut Nichts. So wird uns wahrscheinlich die geschichtliche Gestalt
des Rabbi von Nazara für immer in Dunkel gehüllt bleiben. Auch hier
ist es besser, wir machen uns nicht mit Hypothesen bloßen Wind vor,
sondern bescheiden uns mit unserem Nichtwissen.
Dieses ehrliche Eingeständnis; der Unzulänglichkeit der eigenen Erkennt-
nis;, der wahre Agnosticismus, ist aber nur der Vater des Wunsches nach
mehr Wissen, nicht sein Dämpfer, und es wäre Torheit, mit der Theologie
gewisse Erscheinungsgebiete als der menschlichen Erkenntnis; überhaupt »n-
Thomas Huzley. 339
zugänglich zu verschreien. Im Gegentheil, iu manchen Punkten wissen wir
weit mehr, als die Kirche zugestehen will, und dies gilt vor Allem von
der natürlichen Grundlage des Lebens.
Am 8. November 18<i8 hielt Hurlen in Edinburgh einen Sonntags-
Vortrag über Protoplasma. Das war damals ein starkes Stück und um
so mehr, als sich der Vortrag in seinem Kern gegen das Gespenst einer
„Lebenskraft" wandte, das in Deutschland damals schon geraume Zeit
durch Herbart seinen Todesstoß erhalten hatte, ~ene stickstoffhaltige Kohlen-
stoffverbindung ist „lebendig", sie ist der alleinige Träger des Lebens,
Leben ist ihre Eigenschaft, ihr Merkmal, und obgleich wir noch nickt im
Stande sind, anf chemischem Wege lebendiges Protoplasma zu erzeugen,
so ist doch die Hoffnung gerechtfertigt, daß das dereinst noch gelingen werde.
Als Hurley 1870 zum Präsidenten der Lriiizli ~88oei»ticm erwählt
wurde, gab er in seiner Präsidentenansprache über „LioFenszüs ancl
^,dioß6N68i8" deu geschichtlichen Hintergrund der ~rage, indem er die Ent-
wicklung der Keimtheorie von Francisco Nedi bis in die Gegenwart verfolgte.
Allerdings giebt es auch in Teutschland eine Züchtung, die, sich
hinter nicht wegzuleugnende erkenntnißtheoretische Thatsachen verschanzend,
von einer unüberbrückbaren >Uust zwischen Geist uud Materie redet und
die von dem Gesichtspunkte aus, daß uns das Weseu alles stoff-
lichen abfolut unerkennbar bleibt, mag man die Materie nuu in „Kraft-
puukte" oder iu materielle Atome auflofen, sich felbst Idealismus nennt —
aber hier ist das alte Wort in einem neuen Sinne gebraucht; es ist nicht
mehr der Gegensatz zwischen Stoff und Geist, oder Welt und Gott, wie
ihn die Theologie des achtzehnten Jahrhunderts ausgebildet hat, nachdem
sie deu Gegensatz zwischen Gott nnd Teufel uou der fortschreitenden Bildung
anfzugeben gezwungen worden war. Tie Zunahme erkcuntuißtheoretischer
Erfahrung hat diese Klnft vielmehr überbrückt, uud diese Ueberbrückung
kommt zum Ausdruck iu einem Worte, das Büchner und Wundt, Häckel
und Tn Prel in gleicher Weise brauchen und das von Goethe poetisch ver«
klärt worden ist: in dein Worte Monismus. Eine „Weltanschauung auf
monistifcher Grundlage", mag sie sich nun als naturwissenschaftliche oder als
übersinnliche bezeichnen, hat sich bereits zum Stichwort herausgebildet.
„Monistisch" ist das Kampfwort gegen den dogmatifchen Tualismus ge-
worden, den die Juden einst den Persern entlehnten und der seit drittehalb
Jahrtausenden sich unaufhaltsam ausgebreitet hat. A'och liegt er iu aller-
hand Sprachkrnstallen festgefroren vor uns, uud sobald sind wohl seine
Spuren nicht aus dem Texten Europas wegzuwischen. Aber die Wissen-
schaft weiß bereits, daß Seele und Leib, Geist nnd Materie, Kraft und
Stoff nur Abstractionen sind, die nicht als objective Thatsachen gelten
können, weil sie unserem Erkeuntnißstandpunlte nicht mehr entsprechen.
Kennen wir doch keinen unbewegten Stoff, keinen materielosen Geist und
keine Seele ohne Leib. Erst mit dem selbstständigen Zellenleben entsteht
2H0 Alexander Tille in Glasgow.
was wir in seinen höheren Entwicklungen als Seele bezeichnen. Mn den
einzelnen Dogmen der überlieferten Religion rechtet die deutsche Wissenschaft
nicht mehr, Ihr letztes Princip ist es, was sie noch zu bekämpfen bat.
England dagegen ist von dem Worte Monismus als >iampfwort kaum nock
berührt. Das nachgelassene kleine Buch von George John Nomanes „Aiiul
auä Uotion »nck Ao»i8m" hat in England ein Unverständnis; gefunden
wie kaum je ein anderes philosophisches Buch. Romanes war der Welt-
anschauung seiner Epoche zu weit voraus, um bei seinem Volke Anklang
zu finden. Und dennoch ist auf die Dauer dieser Anschauung der Sieg
sicher. Wie Albert Lange einst sagte: „Immer wieder wird die Menschheit
den Mann freudig begrüßen, der es versteht, in genialer Weise alle Biloungs-
momente seiner Zeit benutzend, jene Einheit der Welt und des Geistcs-
lebeus zu schaffe«, welche unserer Erkenntnis; versagt ist," so kann mich nie
eine Weltanschauung, die wesentlich in einem großen Fragezeichen besiebt,
die Weltanschauung der Massen, der Völker, der ganzen Lulturmenschheit
werden; sondern diese kann immer nur in einer positiven Ueberzeugung
bestehen. Der Agnosticismus mag eiue noch so wichtige Phase im englischen
Geistesleben von gestern und heute bedeuten, die neue Weltanschauung ist
er noch nicht. Soweit er nicht eine bloße Ermüdungserscheinung des Denkens
darstellt, die es dem Gegner in die Schuhe schiebt, deu Beweis für die
Richtigkeit seiner Anschauung anzutreten, ist er bewußter Skepticismus, wie
er in Zeiten heftiger Weltanschauungskämpfe häufig auftritt, wie er aber
noch niemals eine mehr als vorübergehende Rolle in der Weltanschauungs-
entivicklnng gespielt hat.
Aber damit soll dem Agnosticismus, der in Großbntannien zwei
Millionen Anhänger zählen soll, sein geschichtliches Verdienst durchaus nick:
abgesprochen werden. In Zeiten hochgespannten Wunderglaubens kann der
Skeptizismus ebenso am Platze sein wie in Zeiten der Aufschließung großer
unbekannter Raturgebiete die kühue Hypothese, das Hiuausgehen über die
bereits ganz sicher gestellten Ergebnisse und die Hingabe an ein großes
Princip. Thatsächlich hat ja auf diesem Wege die ungeheure Erweiterung
der wissenschaftlichen Kenntnis, stattgefunden. Bevor die Idee nickt vorhanden
ist, läßt sich schlecht planmäßig erperimentiren. Der Agnosticismus ist ein
wichtiges Glied namentlich in der religiösen Entwicklung des englischen
Volkes, und wer den stamm passiven Widerstand kennt, den dieses Volt zu
leisten vermag, der wird seine Bedeutung zu schätze» wissen.
Die Stellung der breiten Schichten der englischen Bevölkerung zu den
Einzelheiten der religiösen Ueberlieferung vor anderthnlbem Mcnschenalt?r
war eine ganz eigenartige nnd ist es znm Theil noch jetzt. In Folge der
Bibelstunden der confessionellen Schulen, deren Schwerpunkt in der Ei»-
Prägung des genauen Inhalts des alten nnd neuen Testamentes lag, war
der Durchschuittsbrite uud vielleicht nock mehr die Durchschnittsbritin mit den
heiligen Schriften ibrer Religion in einem Maße vertraut, wie man es
Thomas Huxley, 2H~
selbst in dentscheu protestantischen Pfarrhäusern wahrscheinlich selten finden
würde. Liegt doch der Schwerpunkt de-? deutschen protestantischen Neligious-
uuterrichtes auf ganz anderem Gebiete, nämlich in der Eiupräguug des
Lutherischen Katechismus, in der Erlernung einer großen Anzahl uon Bibel-
sprüchen, d. h. kurzen Eitaten meist sehr aügenieineu Inhalts, und in der
Kenntuift der „biblischen beschichte", d. h. einzelner, besonders anziehender
Erzählungen, die in besonderen Lehrbüchern vereinigt sind nnd nur eine
Ausiuahl darstellen. Diese Vertrautheit der englischen Gebildeten mit den
heiligen Schriften selbst mußte nothgedrungen dazu führen, daß, wo immer
eine Kritik der heiligen Überlieferung auftauchte, sie sich gegen die Eiuzel-
lieiten der biblischen Erzählungen wandte. Während in Deutschland der
kritische Vorstoß, ganz der abstrakteren Begabung des Deutschen entsprechend,
durch Feuerbach und Strauß principiell, theoretisch, auf den Kernpunkt der
religiösen Tradition gerichtet ward, löste sich in England der Angriff in eine
ondlofe Menge Einzelgepläukel über jeden besonderen Punkt auf. Da jedoch
die Angreifer in Folge dessen fast immer theilweise auf demselben Boden
standen wie die Angegriffenen, so verlor sich fast jeder solche Streit in die
Erörterung uon Nebenpunkteu, was langsam zu der Betrachtung der Frage
führte, ob wir über Gott uud göttliche Dinge überhaupt Etwas wissen
können. Hier war nun Kants Eiufluß etwa seit der Mitte der vierziger
Jahre unseres J ahrhunderts entscheidend. Wenn unserer Erkenntnis; einmal
Grenzen gesetzt sind, und wir Nichts zu deuten vermögen, was über Raum
und Zeit hiuausliegt, dauu ist alles Göttliche mindestens unserem directeu
Ei'keuutnißuermögeu unzugänglich. Gelingt es, den Nachweis zu führen,
daß die Dinge, über die die Theologen Etwas zu wissen vorgeben, wie
persönliche Unsterblichkeit, Dreieinigkeit der Gottheit, Beziehungen des
Meuscheu zu einer übernatürlichen Welt, ja deren Borhauoenseiu überhaupt,
jenseits der Greuzen unseres heutigen Ei'keuutnißueriuögcns liegen — dauu,
ja dann ist der gesammten „positiven" Theologie der Bodeu unter den
Füßen weggezogen. Dann ist sie auf ihrem eigensten Felde geschlagen, mit
Waffen, die sie selbst oft gebraucht und deren Berechtigung sie damit an-
erkannt hat.
Diesen >lampf iu Großbritannien aufgeuommeu zu habeu, ist das
Werk des Aguostieismus, dessen Bedeutung für das Inselrcich in Deutsch-
land bisher tnnm verstanden worden ist. Ist Agnostiker gleichbedeutend mit
„verschämter Atheist?" hat man gefragt. Praktischer Atheist ist der Agnostiker
allerdings, d. h, er lehnt jede Folgerung aus dem für ihn nicht bewieseneu Bor-
liaudensein eines Gottes für das praktische Lebeu ab; aber uoir dem dogmati-
schen Atheismus eines (iharles Bradlaugh ist er weit entfernt. Ter Aguostieis-
mus, der, ohne sich zu einem iFnurlldilnus zu versteigen, sich achselzuckend
lunter das Ißum-nmu« verschanzt, hat in mancher Hinsicht Wunder gethan.
obgleich er in theologischen Kreisen dem Atheismus gleich gebaßt wird, ist
er doch weit mehr Methode als Dogma nnd hat dadurck, das; er den
-H- Aleiandei Tille in Glasgow.
Streitpunkt uon dein (schalt der Dogmen und deni Wortlaut der Bibel
in die historische Kritik verlegte, den religiösen Kämpfen Großbritanniens
viel uon ihrer Scharfe genommen. Um in diesen kritischen Fragen mit-
reden zu tonnen, muß man schon ein ganzes Theil positiver Kenntnisse haben,
und in der Zeit, wo man sich dieselben erwirbt, kühlt sich der Fanatismus
für einen bestimmten Glaubenspunkt gewöhnlich ziemlich stark ab, und sicher
nicht zum Nachtheile der Lernenden. Wenn wir gar nicht hinreichende
Mittel haben, um das original des „Wortes Gottes" festzustellen, wie
können wir uns da über seinen Inhalt streiten?
Niemand kann ernstlich diesem Umschwung die Augen verschließen.
Hurle» selbst sagte einmal kurz vor seinem Tode: „Vor dreißig Jahren
galt eine Kritik über „Moses" bei den meisten achtbaren Leuten für eine
Todsünde. leKt ist sie zum Nange eines bloßen Peccadillo hinabgesunken,
mindestens wenn sie vor der Geschichte Abrahams Halt macht." Die Tagen
des neuen Testamentes gelten bei der großen Masse der Gebildeten da-
gegen immer noch für über alle Kritik erhaben, und ihre Voraussetzungen
sind noch immer zum großen Theile zugleich die der volkstümlichen Welt-
anschauung uon heute. Gegen sie wendet sich Hurlei) in dein Bande „Natur-
wissenschaft und christliche Ueberlieferung" mit voller Schärfe. Was ihm vor
Allein als wünfehenswerth erfcheint, ist die Klarlegung der Thatfache, „daß
die Dämonologie des Urchristenthums jeder Grundlage bar ist". „Und hier ist
es vielleicht angebracht, zu wiederholen, was ich anderotts immer wieder und
wieder betont habe, daß apriorische Vorstellungen über die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit des Verhandenseins einer Geisterwelt, wie sie das echte Christen-
thum voraussetzt, keinen Einfluß auf mein Denken haben. Für mich ist die
Sache nur eine Frage des Veweismaterials: genügt das Veweismaterial,
uni die Theorie zu tragen oder nicht? Nach meinem Uttheil ist es aber
nicht nur ungenügend, sondern ganz ungereimt bedeutungslos. Und aus
diesem Grunde müßte ich die Theorie verwerfen, felbst wenn es keine
positiven Gründe für die Annahme einer vollständig anderen Weltanschauung
gäbe." Und er ist der Überzeugung, daß die geschichtliche Entwicklung
der Menschheit zum großen Theil in einer Veseitigung des Uebernatürlichen
ans seiner ehemals beherrschenden Stellung besteht. Die Frage, wie weil
dieser Vorgang sich fortzusetzen hat, ist nach feiner Anschauung die große
Streitfrage unserer Zeit. „Die Phraseologie des Suvranaturalismus mag
den Leuten noch auf den Lippen schweben: in Wirklichkeit aber bekennen
sie sich zur Naturwissenschaft. Der Richter, der am Sonntag mit andächtiger
Aufmerksamkeit dem Satze lauscht: „Eine Here sollst Du nicht leben lassen,"
weist am Montag eine Anklage einer alten Frau wegen Veherung einer
Kuh als albernes Zeug ab. Der Director eines Krankenhauses, der den
Erorcismus für die vernünftigen Vehandlungsweifen einführte, würde nicht
lange in feiner Stellung bleiben. Selbst Kirchenbuchführer bezweifeln den
Nutzen des Gebetes um Regen, fo lange der Wind von Osten kommt.
Thomas Huzley. 2H3
und der Ausbruch einer Seuche läßt die Menschen nicht mehr in die Kirche,
sondern nach — den Abzugsrohren gehen. Trotz der Gebete für den Er-
folg unserer Waffen und die Tedeums für den Sieg glauben wir in
Wirklichkeit an starke Bataillone und trockenes Pulver, an die Kenntniß der
iiriegswissenschaft, an Thatkrnft, Muth und Disciplin. In diesen wie in
allen anderen praktischen Dingen handeln wir nach dein Spruche l^doi-ars
68t ornre, geben zu, daß von dein Denken beherrschte Arbeit die einzig an-
nehmbare Andacht ist und daß wir es einzig mit der Natur zu thun haben,
mag es eine übernatürliche Welt geben oder nicht."
Tritt Hurlep auch nicht planmäßig für die monistische Weltanschauung
ein, so weist er doch überzeugend nach, daß der Glaube an einen Dualis-
mus in der Erfahrung nicht die mindeste Grundlage habe, und thut so auch
sein Theil für die Ausbreitung des Monismus. Gauz unabsichtlich aber
hat er Etwas geleistet, uns ihm die englische Theologie herzlich danken
sollte. Durch seinen Hinweis auf die deutsche Bibelkritik mit ihren be-
wundernswerthcn Ergebnissen hat er sie aus dein Sectengezänk erlöst und
in die Vahn der geschichtlichen Forschung gewiesen. Das hat das Uni-
versitätsstudium der Theologie wieder belebt und in dein Lande, das eben
daran geht, seine drittletzte nnd vorletzte Kirche zn entstaatlichen, den Sinn
für die Einheit der christlichen Kirchen neugeweckt und der Theologie wieder
bedeutendere Geister zugeführt, so daß eine Reform der Dogmatil von innen
heraus wieder zur Möglichkeit geworden ist. Die staatlich unterstützten
Gemeindeschiilen Großbritanniens haben keinen obligatorischen Religions-
unterricht, und das trägt in ziemlichem Maße dazu bei, die aufwachfende
Generation den Dogmen der einzelnen Bekenntnisse zu entfremden, so daß
eine religiöse Bewegung, welche die dogmatischen Formen verflüchtigt, sich
in Großbritannien bereits heute vorbereitet.
Hatte Hurle» anfangs die Polemik verabscheut nnd gemieden, so ward
ihm das Kämpfen und Streiten nach und nach zn einer lieben Gewohnheit.
Und 1889 konnte er sageni „Zum Schaden meiner Behaglichkeit bin ich
die letzten As> Jahre viel in Streitigkeiten verwickelt gewesen, und die einzige
Vergütung für den Zeitverlust uud die Geduldproben, die das mit sich ge-
bracht hat, ist, daß ich die Polemik nach und nach als einen Zweig der
schönen Künste habe betrachten lernen und ein unparteiisches nnd künstlerisches
Interesse an ihrer Führung nehme." In seinen Auslassungen war Hurle«
scharf und oftmals sarkastisch, aber niemals grob. Seine Kritik hotte immer
eine scharfe Spitze. In dem Essai, „Gladstone und die Genesis" schrieb
er: „Sokrates soll von den Werken Heraklits gesagt haben, wer sie zu ver-
stehen versuche, solle ein delischer Schwimmer sein, aber was er seinerseits
verstehen könnte, fei so ausgezeichnet, daß er geneigt fei, auch au die Treff-
lichkeit dessen zu glauben, was er unverständlich fände. Bei dem Bersuche,
des Sinnes in diesen Seiten Glndstones Herr zu werden, hat mich oftmals
ein Gefühl überschlichen wie Sokrates, und dennoch nicht ganz dasselbe.
2HH Alexander Tille in Glasgow.
Was ich tatsächlich verstehe, ist mir so sehr als das Gegentheil des Guten
erschienen, daß ich mir manchmal einen Zweifel an der Trefflichkeit dessen
gestattet habe, was ich nicht verstehe." Zum Wohle Englands werden die
großen Streitfragen der Eocialpolitik wie der äußeren Politik von Sach-
kundigen in den großen Monatsschriften ansgefochten, und wohl auf keinem
Gebiete zeigt sich die britische Kampflust deutlicher, obwohl diese» Arbeiten
die Bitterkeit ähnlicher Auseinandersetzungen in Deutschland gänzlich fehlt.
Trotz seiner Tapferkeit im Kampfe hat fich Hurlep von den politischen
Kämpfen seines Landes völlig fern gehalten, bis die Horns liuls Liil auf dem
Plane erschien. Aber da hielt es ihn beinahe nicht länger: „Ich Imbc mich,"
schrieb er, „mein ganzes Leben lang forgsnm außerhalb des politischen Ge-
bietes gehalten, und jetzt ist es zu spät, daran zu denken, mich jetzt noch
dahin zu begeben. Aber wäre ich ein Politiker, ich würde diese Vill be-
kämpfen, solange ich Leben in mir spürte . . . Negierung vennittelst der
durchschnittlichen Meinung ist nur eiu Umweg, auf dem ein Volk zum
Teufel geht."
Gerade so wie sich die Theologie zur Naturforschung verhält, verhalten
fich die socialen Theorien, die heute gang und gäbe sind, zu einer wirk-
lichen Socinlwissenschnst. Wenn es ein Gebiet giebt, auf da? man die
Entwicklungslehre mit überwältigendem Erfolge nnwenden kann, fo ist es
dasjenige des Socialen. Ueber Fragen ans diesem Gebiete hat Hurlep ein
paar Essays geschrieben, die zu dein Bestell gehören, was alle Zeiten hier
geleistet haben, und die zugleich Zeugniß für die Kraft und Schärfe feines
Denkens ablegen. In einer Arbeit „Ueber die natürliche Ungleichheit der
Menschen" fordert er die Gleichheitsmanie Rousseaus nnd der modernen
Demokratie wie des Eocialismus vor den Nichterstuhl der Naturwissen-
schaften und zeigt, daß die Menschen an Alter, Geschlecht, Gesundheit, Kraft,
Begabung, Fleiß, Thatkraft, Leistungsfähigkeit nicht gleich sind und niemals
gleich gewesen sein können, daß es also uoütommen sinnlos ist, einem voll-
träftigen Mann und einen: Säugling gleiche Rechte zuzuerkennen, und daß
insonderheit das „allgemeine Menschenrecht auf den Grund und Boden"
Nichts ist als eine leere Phrase. In einer zweiten Arbeit „Natürliche und
politische Rechte" zeigt er ferner, daß in der Nat,ir alles Recht gleich Macht
ist, daß es nur ein ethisirender Ausdruck ist, wenn der Mensch beim Thiere
von einem „Recht auf Nahrung" spricht. Die Tigerin hat das Recht,
Alles zu fressen, was sie erjagen und tödten kann, und der Mensch hat das
Recht, die Tigerin mit dem dreitalibrigen Dicklänfer zu erschieße«, wenn
er sie nämlich trifft und nicht zuvor von ihr gefressen worden ist. Politische
Rechte hingegen sind das Aeguiualent für gewisse politische Pflichten, und
es ist völlig ungereimt, beide verschiedenartigen Gruppen „Rechte" in einen
Topf zu werfen nnd denselben fleißig umzurühren. Mit diesen Aufsätzen
hat Hurley ein epochemachendes großes Reinemachen im Haushalt der land-
läufigen Tociologie abgehalten, nach dem sich der Schmutz nicht so leicht
Chomas Hnxley. 2~5
wieder festsetzen wird, und unter den Ueberwindern des Nousseauismus und
der Demokratie wird ihm immerdar eine Chrenstelle sicher sein. Aber er
ist auch noch ein gutes Stück weitergegangen.
Allerdings hat dieser streitbare Kämpfer gegen alles apriorische Philo-
sophiren sich auf dem Gebiete der Sociologie noch nicht ganz von derlei
apriorischen Voraussetzungen frei gemacht. Daß jeder Mensch nur insoweit
frei fein soll, als er nicht die gleiche Freiheit Anderer stört, sollte doch erst
bewiesen werden. Daß die Gesellschaft ein sittliches Ziel habe, in dessen
Erreichung sich die Sittlichkeit verkörpert, daß das Ziel der Regierung das
Wohl der Menschheit sei, das alles sind Neste jener Denkweise, die er be-
kämpft, aber sie betreffen fast alle den Staatsbegriff, über den er mit
Spencers einseitigen Theorien abzurechnen hatte, und berühren kaum
ernstlich die Gesellschaftsordnung, deren Kernzüge Hurlei) scharf erfaßt hat.
Mag er hier auch noch nickt das letzte Wort gesprochen haben- ans dem
Wege von der speeulatiuen Sociologie, die das Heraufführen eines be-
stimmten, aus ethischen (und zwar fklavenmoralischen) Betrachtungen ab-
geleiteten socialen Zustandes in eine Gemeinschaft als ihr letztes und
einziges Ziel betrachtet, zur Volksstandswirthschaft, deren letztes Ziel das
Sichbehaupten und Wachsen der stärksten Gemeinschaften ist, ist Hurley
zweifelsohne. In dem Essay über den „Kampf uni's Dafein in der mensch-
lichen Gesellschaft" spricht er sich darüber ausführlich aus. Wenn England
künftig noch Brot haben will, „dann ist die augenfällige Vorbedingung, daß
unsere Producte besser als die anderer Länder sein müssen. Nur aus einem
einzigen Grunde zieht man unsere Waaren denen unserer Niualen vor:
unsere Kuuden müssen sie zu deni gleichen Preise besser finden als andere.
Das heißt, wir müssen mehr Kenntniß, Geschick und Fleiß ans ihre Er-
zeugung wenden, ohne daß damit die Prodnctionskosten entsprechend wüchsen.
Und da der Arbeitslohn einen bedeutenden Bestandtheil dieser Kosten bildet,
so muß der Lohnsatz innerhalb bestimmter Grenzen bleiben. Allerdings sind
billige Production und billige Arbeit keineswegs gleichbedeutend; aber ebenso
wenig können die Löhne über ein bestimmtes Maß hinauswachsen, ohne die
Billigkeit der Waaren zu vernichten. Und die Billigkeit nnd als eine ihrer
ersten Voraussetzungen ein mäßiger Arbeitslohn ist somit wesentlich zu
unserem Siege im Wettbewerb auf den Märkten der Welt." Erzieht die
Arbeiter zu enormen Leistungen, und Ihr werdet ihnen auch enorme Löhne
zahlen können; und sie werden trotz derselben ihre Mitbewerber in der Welt-
concurrenz ausstechen; das ist die unmittelbare Folge daraus. In der ge-
sammtcn Natur kommt der Fortschritt nach dem heutigen Stande der
Wissenschaft einzig durch die natürliche Auslese der Tüchtigeren zu
Stande. Wenn man die Arbeitsleistung eines ganzen Volkes auf eine
höhere Stufe heben will, so muß man naturgemäß zu allererst an das
gleiche Mittel denken, an die sociale Auslese, kraft deren die tüchtigsten
Arbeiter überleben und reichliche Nachkommenschaft erzeugen, während die
2Ht> Alexander Tille in Glasgow.
untüchtigsten womöglich schon vor dein Heirathsalter zu Grunde gehen. Einen
zweiten Punkt, uon secundärer Bedeutung allerdings, bietet dann die technische
Schulung nnd Ausbildung möglichst aller vorhandenen Arbeiter.
Obgleich Hurlen an mehr als einer Stelle einer Reihe Thatsachen
gedenkt, deren Durchführung naturgemäß die in's Stocken gerathene sociale
Auslese neu beleben mnß, so sieht er doch hier in der Hauptbetrachtung
ganz davon ab. Trotz aller scharfen Worte, die er gegen die natürliche
Gleichheit der Menschen richtet, wurzelt in ihm die Ueberzeugung von der
natürlichen Ungleichheit der Arbeiter und ihrer Leistungen nicht so tief,
daß er sie zur Grundlage socialaristokratischer Neformvorschläge machen
könnte, mittels deren sich zugleich jene sociale Stabilität erreichen ließe, die
ihm so wünschenswert!) scheint. Was ihn im .~enie an der Umbildung der
Sociologie zur Volksstandswirthschaft hindert, das ist sein Glaube an die
Möglichkeit einer Ueberuölkerung, den er nicht zu überwinden vermocht hat.
Vor einem Jahrhundert hat Thomas Robert Malthns dieses Gespenst des
Alterthums wieder aus dem Grabe geweckt, und seitdem ist es wieder um-
gegangen, bis in Deutschland Radenhausen dagegen zu Felde gezogen ist.
Darwin hat die Erkenntnis, von der unendlichen Verunehrung alles Lebendigen
einen bedeutsamen Dienst geleistet, indem sie ihn auf die Bedeutung des
Daseinskampfes hinwies und ihm so die Idee der Auslese der Tüchtigsten
brachte. Aber eiu Ueberschießen der Bevölkerung über den Nahrungsspiel-
raum ist nur eiue Fiction, die in der Wirklichkeit gar nicht vorkommen
kann, weil mehr Menschen, als Nahrung finden, ja nicht leben können; und
es ist ganz sinnlos, diese Fiction in socialwissenschaftlichen Erörterungen als
Thatsache zu betrachten.
Mit Recht weist dagegen Hurlen den Anspruch des Einzelnen auf den
vollen Ertrag seiner Arbeit ab, wenigstens in so weit sich derselbe in
apriorischer Weise begründet.
„Ich glaube nicht, daß es zu viel gesagt ist, daß von allen in dieser
seltsamen Welt landläufigen socialen Täuschungen die dümmsten diejenigen
sind, welche annehmen, Arbeit und Capital ständen sich nothwendigerweise
feindlich gegenüber; alles Capital werde durch Arbeit erzeugt und fei des-
halb uon natürlichen Rechts wegen das Eigenthum des Arbeiters; der
Besitzer des Capitals sei ein Räuber, der den Arbeiter beraubt und sich
selbst das aneignet, an dessen Hervorbringung er keinen Äntheil hat.
„Im Gegentbeil, Capital und Arbeit sind nothwendigerweise enge
Verbündete. Capital ist niemals einzig ein Erzeugnis; menschlicher Arbeit.
Cs besteht getrennt von menschlicher Arbeit und ist deren nothwendige Voraus-
setzung. Es giebt das Material, auf das die Arbeit verwendet wird. Die
einzige unentbehrliche Form des Capitals, dasjenige Capital, was zur Er»
nühruug dient, läßt sich nicht durch Menschenarbeiterzeugen. Der Mensch
vermag einzig seine Bildung durch die wirklichen Erzeuger zu fördern.
Es giebt keine wirkliche Beziehung zwischen dem Betrag Arbeit, der auf
Thomas Huzley. 2H?
einen Gegenstand verwandt worden ist, und seinem Tauschwert!). Der An-
spruch der Arbeit ans das Gesammtergebniß von Verrichtungen, die erst
durch das Capital möglich werden, ist einfach eine apriorische Ungerechtigkeit."
Das sind die Ergebnisse, zu denen Hurley durch die Neubetrachtung der
Fragen geführt wird, die Henry George mit blödem Gefasel durcheinander
rührt, und sie zeigen am deutlichsten, worin die Bedeutung dieser Essays
liegt. In seiner Hand ist eine Kritik Henry Georges nicht mehr eine Kritik
Henry Georges, sondern sie wird zur Kritik der socialen Gesammtbestrebungen
seiner Zeit. Das unglückliche Object, das er gerade beim Schöpfe erwischt
und gründlich abschüttelt, zittert nicht allein unter diesen Armbewegnngen,
sondern in ihn, zittern alle diejenigen mit, die durch starke oder dünne
Fädchen mit ihm verbunden sind, der Boden, auf dem es steht, und der
Bauin, an dem es sich in seiner Verzweiflung anklammert. Es ist Wenigen
gegeben, so das, was eine ganze Zeit aufrührt, aus den, zufälligen äußeren
Gewände herauszulöseu und es rein und ungetrübt durch persönliche Neigung
oder Abneigung vor den Nichterstuhl des Denkens zu zerren.
Der Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, alle modernen
Denkgebiete mit den, Geiste der modernen Naturwissenschaft und insonderheit
der Entwicklungslehre zu durchdringen, konnte unmöglich bei der theoretischen
Weltanschauung stehen bleiben. Das Gesamnitgebiet des Aesthetischen hat
er allerdings nicht in den Kreis seiner Forschung gezogen, wohl aber den
Zweig davon, der für den Menschen die größte praktische Vedeutnng hat,
das Ethische. An, 18. Mai 18W trat er als liomanß« l.ectnrer im
Sheldonian Theater in 3)rford mit einer bedeutsamen Arbeit über „Ethik
und Entwicklung" vor eine gelehrte Zuhörerschaft, und der Sturm, den
er damit hervorrief, hat ihn fast bis an sein Lebensende umbranst, mindestens
bis zur Ausgabe des letzten Ineunten) Bandes seiner Gesammelten Essays
1894. „Ethik und Entwicklung und andere Essays" nennt sich der Band,
und in ihm antwortet der streitbare Greis auf die zahlreichen Angriffe aus
allen Lagern. Er, der mit kühnen kritischen Xeulenschlägen die speculativen
Voraussetzungen der populären Socialtheorien zermalmt hat, er steht hier
vor der Frage: welche unmittelbaren Folgen muß die bedingungslose An-
nahme der Entwicklungslehre für das Gebiet der Ethik haben? und er sucht
sie in seiner Weise zu beantworten.
In seiner „Abstammung des Menschen" hat Charles Darwin sich auch
mit der Bedeutung der humanen Sittlichkeit für den Aufstieg des Menschen
beschäftigt, wenn auch nur flüchtig. Cr, der große Verkünder der natürlichen
Auslese als des gewaltigsten, fast alleinigen Fortschrittshebels — gerade
dieser Punkt schied Darwin ja von Lamarck, der gleich Sir Francis Galton
und William Bateson heute allen Nachdruck auf die Vererbung erworbener
Cigenschafteu legte — sab sich Iner vor dem Problem: Welche Nolle spielt
die natürliche Auslese in dem Stück Menschheitsentwicklung, das wir in
engerem Sinne Geschichte nennen? Welche Nolle spielt sie im modernen
2~8 Alexander Tille in Glasgow.
Völkerdasein, und in welchem Verhältnis; steht sie zu unseren sittlichen An-
schauungen? Den großen Biologen haben seine demokratisch humanen
Ideale daran verhindert, die unmittelbare Folgerung für die moderne Ethik
aus seinem Gesetz der Auslese zu ziehen, und obwohl seine Aussprüche
über diesen Punkt ein sichtliches Schwanken des Standpunktes verrathen.
so ist es ihm doch nicht gelungen, hier endgiltige Klarheit zn schaffen.
„Socialer Fortschritt bedeutet Auszerkraftsetzen des Waltens der Natur-
mächte und das Dafüreinsetzen von etwas Anderem, das man das Walten
der ethischen Mächte nennen kann." Aber dieses Auherkraftsetzen des
Waltens der Nntunnächte bedeutet eiuen Kampf. Das Hnmcmsittliche
„kann sich darauf verlassen, das; es mit einem zähen, machtvollen Gegner
zu rechnen haben wird, so lange die Welt steht". Darum ist die Annäherung
der Menschheit an das humane Ideal nicht von dem Nachahmen des Natur-
waltens zu erwarten, wie Spencer meint, und auch nicht von der Flucht
vor diesem Walten, wie sein Schüler Fiske denkt, sondern von dein Kampfe
gegen dieses Walten. Naturwalten und humane Sittlichkeit sind unversöhn-
liche Gegner, Jedes bedeutet einen Mißton für die Gefühlswelt, in der das
Andere hennisch ist, ,
Diese scharf zugespitzte Fragestellung allein erklärt den Sturm, der
auf diefe Darlegungen hin in der englischen periodischen Litteratur gegen
Hurley von beiden Seiten her losbrach. Die gesammte humane Ethik
feines Heimatlandes, ja die kirchliche Ethik hatte sich bereits daran gewöhnt,
die Thatsacheu der natürlichen Entwicklung zur Stützung der eigenen
ethischen Wünsche zu verwenden. Wie der Socialismus eines Bebel mit
seinen ultrademokratischen Grundsätze,: sich ans das aristokratische Princip
der organischen Entwicklung durch natürliche Auslese beruft, fo hatte man
sich auf tbeologifcher Seite bereits entschlossen, zur Verfriedlichnng der
künftigen Menschheit sich in Zukunft nicht nur religiöser Mittel, sondern
auch der physiologischen Aufhäufung altruistischer Züge zu bedienen. Andrer-
seits erschien es selbstständigen Denkern gar nicht so ausgemacht, das; sich
das allgewaltige Walten der Naturmächte vor deu ethischen Wünschen der
heutigen Enlturmenschen zu beugen habe. Wie, wenn sich diese humanen
Wünsche vielmehr vor dem Walten der Natnrmächte zu beugen hätten?
Wenn die Mitleidsmoral der beiden letzten Jahrtausende mit ihren:
Gefolge von vermehrter Krankheit, vermehrtem Leiden, mit ihrer Tendenz
zur Eistiruug der natürlichen Auslese nur eine trübe unheilvolle Episode
in der Geschichte der menschlichen Aufwärtsentwicklung gewesen wäre, nur
ein Mißgriff, das humane Ideal ein falsches Ideal, das nothwendig zum
Niedergang der Gattung führen müßte?
Wie feine theoretische Ueberzeugung, der Agnosticismus, fo führt auch
seine ethische Ueberzeugung, der.vumanitätsutilitarismns, zn einem großen
Fragezeichen. Sie, sind beide nicht als die endgiltigen Lösungen jener
Riesenfragen zu betrachten, aber dennoch haben sie eine gewaltige Bedeutung.
Thomas Huxley. 2HH
Denn ihre Fragezeichen sind die Fragezeichen der Zeit, die Fragezeichen
der modernen Weltanschauungskämpfe. Und wie der Agnosticismus, die
Religion der Bescheidenen, durch den deutschen Monismus überwunden
worden ist, so der Humanitätsutilitarismus durch den deutschen Gattungs-
utilitarismus, der nicht mehr in der friedlich-demüthig-milden, sondern in
der frohen, starten, gesunden, leistungsfähigen Menschheit sein Zu kunfts ideal
sieht. In ihm und seinem neuen Ideal ist die Entwicklungslehre wirklich
auf die Sittlichkeit angewandt, denn in ihm ist das Friedensidenl der
Humanität durch das Kampfideal der schönen Stärke ersetzt.
Die Pflanze lämpfl. Sie will die aanze Erbe
Erobernd überziehn mit ihren Kindern:
Und jede will's, und jede hilft verhindern,
Nah alles Land zur öden Haide werde.
Der Hirsch beweist in tödtlichem Gefecht,
Daß er der Stärlfte sei; dann darf er werben.'
Des Schwächlings Vilduna soll s^ich nicht vererben,
Und schöne Starte nur ist Daseinsrecht.
In dem Schwingen seines Schwertes in den Weltanschauungskämpfen
der Gegenwart liegt Hurleys Bedeutung, und er selber hat das 'gesuhlt,
gewußt und gewollt. Nur wer sich darüber klar .ist, daß dies das Höchste
ist, was der Einzelne seiner Zeit leisten kann, kann schreiben!, was
Hurley an den Schluß seiner Selbstbiographie setzte:
„Am allerwenigsten würde es sich für mich schicken, von meinem
Lebenswerk zu spreche» oder jetzt nm Abeud zu sagen, ob ich nach meiner
Meiuuug meinen Lohn erhalten habe oder snicht. Die Menschen sollen
parteiische Richter über sich selbst sein. Vielleicht ist das bei jungen
Männern richtig, bei alten schwerlich. Beim Rückblick erscheint das Leben
schrecklich verkürzt, nnd der Berg, den man sich in der Jugend zu er-
klimmen vornimmt, erweist sich, wenn man dann athewlos seinen Gipfel
erreicht, nur als der Ausläufereines unendlich höheren Gebirgszuges.
Wenn ich aber von den Zielen sprechen darf, die ich mehr oder weniger
bestimmt im Auge gehabt habe, seit ich mein Hügelchen zu ersteigen begann,
so sind sie knrz die folgenden gewesen: Die Förderung nnd Vermehrung der
Naturerkenntniß und die Anwendung wisfenfehaftlicher Forschungsmethoden
auf alle Gebiete des Lebens, soweit es eben in meinen Kräften steht.
Denn in mir und mit mir ist die Neberzengung groß geworden und mit
meiner eigenen Kraft gewachsen, daß die einzige Linderung, die es für
die Leiden der Menschheit giebt, ist, im Denken nnd Handeln Wahrhaftig-
keit zu üben und der Welt entschlossen in's Gesicht zu schauen, wie sie sich
zeigt, wenn man die Hülle des Glaubenstruges abgestreift bat, unter der
fromme Hände ihre häßlichen Züge versteckt haben.
In dieser Absicht habe ich den verständigen oder unverständigen
Ehrgeiz nach wissenschaftlichein Ruhme, den ich mir vielleicht verstattet habe
Nord imd Iii!,, I.XXV, 2~4, 17
250
Alelander Tille in Glasgow,
zu anderen Zwecken zu hegen, der Veruolksthümlichuug der Naturwissen-
schaft; der Entwicklung und Organisirung des naturwissenschaftlichen Unter-
richtes; der endlosen Reih? Schlachten und Scharmützel über die Ent-
wicklungslehre nnd der unermüdlichen Bekämpfung des kirchlichen Geistes,
des Kirchenthums untergeordnet, das in England wie fönst allermärts, es
fei welches Bekenntnisses es wolle, der Todfeind der Wissenschaft ist.
Im Streben nach diefen Zielen bin ich nur Einer von Vielen ge-
wesen, nnd ich würde überzufrieden fein, wenn man meiner als eines diefer
Kämpfer gedenkt oder auch suicht gedeukt. Umstände, nnter die ich mit
Stolz die ergebene Liebe zahlreicher Freunde rechne, haben dazu geführt,
daß ich zu verschiedenen hervorragenden Stellungen gelangt bin, unter
denen die eines Präsidenten der Royal Societn die höchste ist. Es
wäre falsche Bescheidenheit meinerseits, wenn ich angesichts dieser und
anderer ^wissenschaftlicher Ehren, die mir zu Theil geworden sind, thun
wollte, als wäre ich auf der einmal eingefchlagenen Bahn nicht vorwärts
gekommen, weil ich sie nicht ganz aus eigner Wahl betreten habe, aber ich
würde schwerlich diese Dinge als Zeichen für irgendwelche Leistungen be-
trachten, wenn ich nicht hoffen dürfte, jenen Weltanschauungsumschwung
einigermaßen gefördert zu Imben, den man die Neue Reformation ge-
nannt hat."
Modeblumen,
von
Dans Hermann.
— Vresl«. —
n fideler Ort, das muh man sagen."
„Und ein anständiger! Nicht gegen gemeine Fettansätze oder
ekelhafte Tuberkeln, blos gerade gegen so'n feudalen, reinlichen
Rheumatismus oder dito Knochenbruch >— "
„Und gegen noch ein feudales, reinliches Leiden: die Langeweile — "
„Nicht zu vergessen! — Na, was ist denn da los?"
Die Frage mar nicht unberechtigt. Arm in Arm waren sie die auf
den Kurvlatz mündende Hauptstraße des rheinischen Weltbades hinnnter-
geschlendert, die beiden Caualiere, die einander von Verlin her kannten nnd
sich, übermüdet und doch Ruhe fliehend, hier wiedergefunden hatten. Nnn
hemmte ihre Schritte der Anblick einer Gruppe von Reitpferden, die vor dem
Portale des ersten Hotels des Kurortes vo» Grooms zum Abritt bereit ge-
halten wurden. Das elektrische Licht, welches zu dieser Abendstunde taghell
den weiten, mit seinen Mumenanlagen, Fontaine« und Colonnaden einem
märchenhaften Lustgarten gleichenden Platz überfluthete und ebenso aus dem
Palastartigen Hause herausdrang, ließ jede Schnalle an Sattelzeng und
Livree aufblitzen.
„Was tausend, ein Damensattel? Sollte am Ende gar sie
Ich hatte doch ihre Erlaubniß, Sie ihr heute Abend beim Fest vorstellen
zu dürfen! Aber es ist ihr ja Mes zuzutrauen!"
- Wie zur Beantwortung dieser Rede erschien im selben'Augenblick eine
Dame, begleitet von mehreren Herren, im Portale, Alle zum Ausritt gerüstet.
„Wahrhaftig! Was heißt das nun ivieder — ?" das halb miß-
billigend, balb belustigt klingende Murmeln erstarb aber im Nu, und eine
17*
252 Hans Hermann in Vrcslau.
ostentative Begrüßung tönte auo demselben Munde! „Aber was sehe ich,
gnädige Frau wollen noch zu so später Stunde zu Pferde, anstatt, wie ver-
sprochen, mit Ihrer Gegenwart die italienische Nacht zu verherrlichen?"
wurde jener hinzugefügt.
Die Dame lächelte kalt und spöttisch. „Italienische Nackt hin,
italienische Nacht Her! Ich ward inne, daß zufällig auch ein Mond am
Himmel steht und will lieber den genießen. Ein Mondscheinritt — denken
Sie mir! Meine Verehrer — hm — ließen sich. auch wirklich dazu auf-
bieten! Wollen Die mitsein? Aber nein, bleiben Sie nur! Sind ja
n, c; u» i'ti'6 6pmAe8 für die italienische Nacht. ~ yrwtre öpiü~le~ und,
cumino touMllg, auf der Höhe — bis auf die neue Blume im
Knopfloch!"'
„Gnädigste laden ein und heben Ihre Einladung auf in einem Athem!
Was bleibt Einem da übrig, als zu bleiben,?!"
„Nichts weiter. — Ehe Sie mit Ihrem Adjustemeut soweit wären,
verständen sich die Gäule."
„Aus schönem Munde hat der Cavalier alle Vorwände gelten zu
lassen!"
„Und mnstn-t hinter Höflichkeit — Schwächen!"
„0 — oh — aber — "
„Gefchwind, geschwind!"
„Aber — "
„Einige? Gigerlthum können Sie sich beim besten Willen nicht ab-
leugnen!" - Nicht?"
„0 — oh—: aber, es wäre ja allerdings sdas erste Mal, meine
Gnädigste, daß ich die! El)« hätte, mit Ihnen zusammenzutreffen, ohne das;
Ihr Arsenal um eine Waffe reicher wäre! Glaube, haben nun nneder blos
aus der harmlose» Vlume eine gegen mich geschmiedet. Was soll man
denn mit so einen« bislang noch ordeuslosen Knopfloche anfangen?"
„Ob man sich jemals felbst erkennt?"
„Und nun belieben gnädigste Frau gar noch, in aller Schlennigkeit
philosophiren zu wollen! Oh — ah!"
„Versehen, seines Versehen — wirklich. Uebrigens: schmiede meuie
Waffen aus eonsistenterem Material — wird einem ja genug dazu geliefert."
„Mau weiß factifch nicht mehr, was man fagen soll."
„So? Sehenl Sie mal an! Aber ich bin gut: um Sic aus der
Verlegenheit zu reißen, um doch mal Ihr Licht lenchten zu fchen, eine ganz
schulmädchenhafte Frage: „Wo stammen denn eigentlich die Dinger her?"
Die güldene Krücke des Neitstöckchens tippte gegen das wunderbar getönte,
große Clinisauthemnm in des Hern: Knopfloch.
„Um Gotteswillen, gnädige Frau, werden Sie nicht gründlich! Da so
immer wärtser."
„Wieder eine Niete!"
Modeblumen, 253
„Die Blume? Ja, sie duftet nicht,"
„Ah, sehr gut — wieder!"
„Aber sehe» Sie nur, wie tadellos schön in'Farbe und Fori»."
„Ja, ja: tadellos!" — Uebrigens wenn ich >nicht irre: größtemlieils
Kulturproduct das!"
Er stand vor ihr in devoter Haltung, die Blume in der Hand.
„Sie wollen sie mir wohl gar Unehren — aus Ihrem Knopfloch
heraus? Zu liebenswürdig!" Sie nahm die Blume und~ steckte sie —
dem Pferde in's Kopfgestell.
„Danke gehorsamst," klang es vikirt.
Sie lächelte noch kälter, noch spöttischer und saß anf. —
Ihre Begleiter waren wie auf Eommando im Sattel, mit klingendem
Hufschlag trabte die Cavalcade über den Platz weg, die Straße hinunter.
Der ganze Wortwechsel hatte bei der sprudelnden Redeweise der Dame
kaum Minuten gedauert.
Der Herr faßte den Freund, der mit der gequälten Miene eines
wohlgesitteten Menschen, der gern vorgestellt sein möchte, dabei gestanden
hatte, für den aber keine Secunde abgefallen war, wieder unter den Arm.
„Ein pikantes Weib."
„Wo stammt das Ding eigentlich her?"
„Um Gotteswillen, werden Sie nicht gründlich. Da so , immer
wärtser."
.So, so."
„Na, so schlimm ist es nicht. Gattin hes bekannten sportsfreudigen
Nabob Oppenstedt — "
„Ach was!"
„Natürlich unglückliche Ehe — unbefriedigte Seele, so was. Nicht
gerade Schönheit, aber — "
„Pikant."
„Ganz recht."
„Kulturproduct größtentlMs, auch das, mein Lieber."
„Stimmt! Doch was thnt's."
„Man amüsirt sich — "
„Jawohl."
„Läßt sich gelegentlich auch etwas am Nlirrenseil führen — "
„Oder thut doch so!"
„Wieder um sich zu amüsiren."
,,0'o8t ya!"
,,0'S8I, y»!" -
Die Herren betraten das Kurhans. Ein salntirender Portier —'eine
hohe, ernste, weiße, Isäulengetragene Marmorhalle, galonirte Diener darin
Spalier bildend — ein Snal, schimmernd^uon^Gold, Glühlicht und Wand-
gemälden — nnd dann —
25H Ha»5 izeimann in Vieslau,
Wenn ein Blunienbeet im Sonnenlichte wogt -~ gewiß ein hübscher
Anblick! Dieser hier war dem vergleichbar, und manches Auge hätte ihn
jenem vorgezogen. So that das, mit welchem ihn die beiden Cavaliere in
sich aufnahmen; obgleich er fern davon war, sie etwa in Begeisterung zu
versetzen! Und das war er:
Eine Menschenmenge. Aber nicht so ein Armvoll, zusammengeflrichen
auf plumpe Niesenweise von der Erdoberfläche herunter in einen wunder-
baren Sack, aufs Gerathewohl: nein, eine mit spitzen, Finger auserlesene,
behutsam in diesen Zaubersack versetzte, behutsam uach dem Rhythmus
rauschender Töne darin auf- und abgeschwungene Menschenmenge. — Das
war leine Riesenfaust, das war eine Feenhand, die das that! Und daß die
das fchöne Geschlecht überwiegend gewählt hatte, das wai's, was die Ähn-
lichkeit mit dem Blumenbeete hervorrief. Zuweilen blitzte ein Leuchtkäfer
darin auf, eine Uniform — was von dunklen, farblosen Lebewesen sich
darin bewegte, wirkte zur Folie dienende»: Schatten gleich. Aber das Licht,
das sich über Alles ergoß! Das einer bengalischen Flamme war's, in
rothe Gluth tauchend Gebüsche wie Bäume, Wasserspiegel wie Wasserstrahl,
Gewänder wie Angesichter. Zauberhaft.
Die Beiden steuerten unentwegt mitten hindurch.
„Hier harrt manches Blümlein des Gepflücktwerdens. Könnte mir
stehenden Fußes einigermaher voluminösen Ersatz verschaffen."
„Haben aber nicht die Absicht."
„Noch nicht! Und dann, der Genre Aber nichtsdestoweniger —
kommen Sie doch mal — "
„Ich bitte Sie — junge Mädchen!"
„Ja, ja. Sehe ~aber, ist aber auch der einzige Tisch, wo noch Platz." —
Die Präsidentin rückte sich, ganz unmerklich natürlich, in Positur und
warf dann, ebenso unmerklich natürlich, einen prüfenden Blick auf das
Treigestirn ihrer Töchter; sie hatte aus einer Schwenkung der Herren, indem
sie anscheinend gleichgültig die langgestielte Lorgnette sinken liest, bereits
errathen, was bevorstand.
Hier wurde kein vorstellungsbedürftiges männliches Individuum über«
sehen; hier erfolgte demnääist eine Einladung ohne jeden Widerruf zu dem
Thee, welchen die Damen nippten; hier bestellte die Mutter „noch zwei
Tassen", schenkte die älteste Tochter ein, reichte die zweite die Sahne, die
dritte den Zucker. Hier kam alsbald eine Unterhaltung in Fluß, angeregt,
doch vernünftig; die Mutter war liebenswürdig, die Töchter wußten —
ohne je zu frage«! — über Alles zu reden/ über Alles! — verfehlten
jedoch dabei nicht, zuweilen in kleine nette Kindlichkeiten zu verfallen, und
waren zu alledem ausnahmslos bildhübfch und so chic wie möglich —
Raketen und Schwärmer knatterten dazwischen, ein Feuerwerk, als
wolle es Himmel und Erde in Brand stecken, spielte sich ab um die im
Modeblumen. 255
Gewoge liegende Insel dieses Tisches. Fiel kein zündender Funke ab
für sie?
„Allerliebst," sagte der eine der Herren zum anderen, als gerade
wieder bewundernde Ausrufe der Damen ertönten. Tann empfahlen sich
Beide. —
„Wirklich allerliebst."
„War aber Zeit — "
„Daß wir gingen."
„Allerdings!"
„Ja, ja — allerliebst, aber — "
„Auf den Mann dressirt wie der wüthendste Hoshund."
„Offenbar!!"
„Und werden kaum reüssiren."
„Kulturproducte größtentheils — wie die Pikante — "
„Und der Mißerfolg kommt schließlich über die wohlgezogene Aller-
liebslheit wie das Alter über die degngirte Pikanterie — "
„Bleibt - Oede."
„H. <~ni la sauts?r
„H. <zui la taute?!"
Sie schlenderten noch eine Weile durch die Menge, wogten mit. ? Auch
sie so ein paar Gestalten, mit spitzen Fingern auserlesen.
„Tie Lawn Tennis-Heldin."
„Freie Amerikanerin!"
„Ter 's aber doch hollisch zu >iopfe gestiegen — "
„Taß sie in Homburg mit der Großherzogin uon Ncmtenburg gespielt
hat - haha!"
„Und die Mssiu — "
„Trau' nicht recht: Nihilistin."
„Aber zähmbare scheinbar — haha!"
„Mit der Mutter -"
„Parire, eine augeuoumiene."
„Schnöde!"
„Freut euch des Lämpchens uud wenu's pedigreelos glüht!"
„Arm in Arm, die Neiden!"
„Was man aus Liebe thut! Jede wartet auf den Apfel. Das
Prinzchen ist das Bindeglied."
„Benimmt sich aber mit mehr Geschick als weiland Prin; Paris,
Hoheit."
„Na hören Sie — auch uiel leichter bei denen! Aebmen's nicht
so ernst wie die olympischen Tnmen."
„Sehr praktisch — "
„Zum Flirten!"
„Zum Flirten!" —
256 Hans Hermann in Vrezlau.
Und sie bemühten sich vergebens, den dichten Kreis zu durchbrechen,
der zwei Damen von eigenartiger, in Bezug auf Alter untarirbarer
Schönheit escortirte:
„Wollen uns doch 'ranpürschen — "
„Natürlich — "
Es gelaug ihnen nicht. —
„Pech."'
„Pech." -
Ein Nollstuhl, eine Wolke von lichter Seide und Spitzen darin, schob
sich ihnen entgegen.
„Drücken wir uns um die Buhlen."
„Das war nun ein Stern — der J unge dachte, er läuterte eiusach
in den Himmel — "
„Und hat sich ein Bündel Nerven aufgeladen."
Aber selbst das „Bündel Nerven" machte sich noch anmuthig genug,
um nicht die Harmonie der prachtigen Scene zu stören. —
„Na, haben wohl genug von dem Zauber."
„Lon, gehen wir ins Eaf»?."
Dieses fashionable ~ocal lag nn der Hauptstraße. Sie gingen über
den taghellen Kurplatz nud bogen um die Ecke. Die Musik drang deutlich
bis hier herüber, in Walzertacteu — der Tanz begann jetzt.
Plötzlich schoß etwas Großes, Dunkles vor ibren Augen durch die
Luft, abwärts. Nu dumpfes Aufschlagen, und es lag zu ihreu Füßen!
Es war eine menschliche, eine weibliche Destalt, was schwarz, un-
förmlich und regungslos von dem glatteu, lichteu Trottoir sich abhob; die
Kleider verriethen es. Kaum daß die Beiden^das erkannt hatten, so wurden
Simmen laut im Hause, vor dem sie standen, Leute kamen herausgestürzt,
ein Menschenaussauf sammelte sich von der Straße her im Nu um die
Stelle. Die Person hatte man aufgehoben, aus wirrem Durcheiuanderrufen,
aus hastiger Frage uud Autwort konnten sich Uneingeweihte ungefähr zusammen-
reimen, wer sie war. Die junge Aerztin nämlich, die den hochherrschaftlichen
zweiten Stock innehatte, und deren Schild >so groß und reclamehaft unten
an sder Hausthüre praugte. Ob das 'etwas genützt hatte? Man hätte
es meiueu sollen, wenigstens sah man sie alle Tage in Eguipage „in die
Prans" fahren — eine nicht unschöne, fehr elegante Erscheinung, den
beiden Eavalieren war sie schon angenehm aufgefallen.
Doch uun hatte sie sich aus dem Fenster herausgesturzt.
Sie war uicht todt, regte sich, schlug große, uuluiniliche Augen auf.
Ein unartikuliertes Stammeln — dann mochten <ses Schmerzempfindungen
fein, die sie aufstöhnend wieder in Ohnmacht sinken ließen. Als man sie
schon im Hauseingange hatte, wurde ein älterer, Herr Doctor angeredeter
Herr an ihre Seite geschoben. „In die Klinik," befahl der nach wenigen
Secunden. „Holt dock ihre Schwester — Clavierlebrerin, Notbegasse 4
Mo bebt» inen, 25?
wohnhaft," schrie eine Stimme aus der Portierloge. Jemand mußte die
Genannte aber schon benachrichtigt haben- sie war es wohl, die jetzt die
lebendige Mailer um die Unglücksstätte durchbrach. Eine schmächtige Ge-
stalt in schlotternden! Regenmantel, ein spitzes Gesicht hinter zerschlißnem
Schleier — aber Neides von stoische»» Gleichmntli in Hallung und Ausdruck
der Katastrophe gegenüber! Bemerteuswerth.
Und sie sprach ein paar ruhige Wort' mit dem Ärzte, diese Schwester.
Träger sollten mit einem Krankenkorbe kommen, die Verunglückte zu
boten — n»d schickte sich dann ebenso ruhig an, in einem Winkel des
eleganten Hausflurs einstweilen eine Art ~ager für dieselbe herzustellen.
Die beiden Caualiere hatten natürlich ritterlich Hand angelegt nnd
Ihaten es auch jetzt. Sie stände» überhaupt ganz zn des Fräuleins
Diensten, versicherten sie mit so vollendeter Höflichkeit der verkümmerten
fadenfcheinigen Elavierlehreri», wie sie es einer Dame der großen Welt
ciethan haben würden. Tadellos.
Jene dankte kurz. Ter eine bemerkte dann noch flüsternd, daß der
Sturz Gott sei Dank uerbältnisimäßig gut abgelaufen zu sein scheine; es
sollte ein discreter Trost sein.
„Sehr gut," nickte das Mädchen da — sie maß plötzlich die ganze
Erscheinung des Sprechers mit einem scharfen Blick — „sehr gut. Denn
erstens kann sie immer noch sterben. Zweitens, wenn sie nicht geistes-
gestört ist und kein Krüppel bleibt, wird sie nun vielleicht eine Berühmt-
heit. Und endlich wenn Beides oder Eines von Beidem der Fall ist, nun,
so geht's auch nur in einem Elend bin."
Sie hatte hart und langsam und beinahe, als sage sie eine Lection
her, die sie schon lange auswendig wisse und unwillkürlich auch einmal an-
brächte, gesprochen; nun kamen die Träger; sie wandte sich ihnen zu. —
Nach wenigen Minuten war der elegante Hausflur leer. Aus deni
Knaul, der sich dein düster» kleinen Zuge nachschob, lösten sich die beiden
Herren und setzten ihren alten Weg fort. Diesmal hatten sie Nichts zu
bemerken, ~m Eaf6 tränten sie Sect — deutschen; seit der französische an
maßgebender Stelle aus dem Sattel gehoben, war jener zeitgemäß.
Er schäumte — und bat seinen Bodensatz, so selteu die Trinker auch
Etwas davon gewahr werden. Wenn ilmen das aber ja einmal geschieht,
so empfinden sie es natürlich »nangenelnn — ungefähr fo wie die beiden
Zecher an den zierlichen blnmengeschmückten Tifchlein deck Dich des Eaf6
.^mpörial den Eindrnck der Scene empfunden hatten, die sie eben mit-
erlebt.
Sie waren übrigens schon über denselben hinweg, steckten ans einmal
die Köpfe dichter zusammen. Der Eine erzählt dem Andern eine ganz kleine
Hofgeschichte — dabei ist es mitunter klug, die Köpfe dichter zusammen-
zustecken — welche eine jugendliche Künstlerin, deren Talent in Frage stand,
die aber mit boben Aufträgen beehrt wnrde, zur Heldiu hatte . . .
528 Hans Hermann in Vieslau.
Zwischen Schau», und Bodensatz aber kreist und perlt der klare kraft-
volle Wein. Und das ist gut.
Außerhalb der Stadt hatte die Cavalcade vorhin ein noch schärferes
Temvo angelegt; die in das Kopfgestell des Damenpferdes gesteckte Blume
lag bald am Wegrand.
Durch die Luft schwirrte ein Geistchen. Eben halte es auf dein
Krnstallrande eines Champagnerkelchs im Caf6 Imuörial gehockt, bald
goldig schillernd und schön, bald aschgrau und häßlich, immer die Backen
aufgeblafen wie ein Posaunenengel. „Zeitgemäß, zeitgemäß," hatte es
also genickt und sich in die Brust geworfen. „0 Zeitgeist, ungefchlachtetei
Geselle, nicht anders zu packen denn wie die Pyramide des Cheops von den
Händen eines Säuglings, verliere Dich, verliere Dich — vor mir, dem
Geistlein des Zeitgemäßen, Zeitgemäßen — dessen Domäne sind Schaum
und Bodensatz, Schaum nnd Bodensatz — denn die sind charakteristisch,
modern, — charakteristisch, modern modern — "
Und dabei hatte es die Backen noch einmal tüchtig aufgeblasen, und
uach dein klaren, perlenden Weine hatte es geschielt mit scheelen Blicke».
Hier in der freien Natur war es viel weniger aufgeblasen. Plötzlich
aber stürzte es sich auf die Blume Herabi „Du wirst auch mit in den
Bodensatz gestampft wie alle die anderen lieben, duftlofen, charakteristische!!,
modernen — "
„Annen," lächelte der Mond mitleidig, uud sie in ihres Daseins
letztem Augenblicke noch verklärend, küßte er sie mit seinem reinen
Himmelslicht — weil sie doch trotz alledem eine Blume blieb.
Aber das war in den Angen des Geistleins, das die Arme prah-
lerisch hinter sein Ohr gesteckt hatte, ebenso uncharakteristisch und unmodern
wie der klare, kraftvolle Wein zwischeu Schaum und Bodensatz.
Mont Saint Michel.
«Lin ^veisebild.
0°!l
Richard Vecll.
— Zwickau i. 3. —
~ weiter Bucht des blauen Meeres erhebt sich unweit der Küste Frankreichs, süd«
westlich vo» der Hafenstadt Ginnville, dort, wo die Marie» der Bretagne und
der Rormandic einander berühren, weithin über die unendliche Ebene sichtbar der historisch
denkwürdige, in Sage und Tichtung uielbesuns.ene Mont St. Michel. Kirche und
Palast, Burg und Gefängniß, Kloster und Dünlein sind auf dem Grauitlcgel mitten in
der See auf» und übereinander gelhürmH die scharfen gothiscken Pfeiler und Streben,
ehedem in einen spitzen Thurmhelm endend, gestalten die Silhouette pyramidal und vei»
leihen dem 'ganzen Gebilde das wunderbare Mussehen einer romantischen Felscnbura,
eines versteinerten Schlosses, eines „Wunders" unter den Bauwerken von Menschenhand.
In Frankreich als Wallfahrtsort seit mehi^denn 1< 00 Jahren hoch gefeiert und längst
ein Zugstück ersten Ranges für die reiselustigen Bewohner der beiden Canalländer, hat
der Merg ,ctwa seit einem Jahrzehnt auch in Deutschland seine Verehrer gefunden, ab
und zu schaut man sein Bild in einer unserer größeren illuiirirten Zeitschriften, hie und
da lieü, man einen mehr oder weniger phantastisch geschriebenen Fcuillelonartilel über
.das Wunder des Canals".
Für den Schreiber diestr Zeilen, der die Oslerzcit in Paris verlebte, stand es
von vornherein fest, die lang ersehnte Statte zu besuchen, die olficielle Mittheilung, ruh
vom 8. »April ab Rundreiscbillets mit ßtägiger Billigkeit zwischen Paris und Mont
St. Michel ausgegeben würden, gab die beste Gewahr für eine möglichst bequeme Ver-
wirklichung des Planes, wenngleich sie die Illusion, etwa eine selige Oede menschenleeren
Daseins zu betreten, unbaimhcrz'g zerstörte. Aber schön und großartiger Reize voll ge-
staltete sich trotzdem die unternommene Fahrt, und begünstigt vom herrlichsten in azurner
Blaue über die Fluren und die Meerfluth sich wölbenden Osterhimmel, hat sie dem
Reisenden einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.
Man benutzt zu dem Ausflüge, der sich in drei Tagen bequem machen läßt, den
Schnellzug, der in Paris auf der ssare )lonti>»ruÄ38« früh 8 Uhr 30 Min. abgeht.
Die Bahu durchläuft zunächst die Banlieue ron Paris und mit ihr die einzig land»
schaftlich reizvolle Strecke. Hat man den Eiffelthurm aus dem Gesicht verloren, zur
Rechten den letzten Blick auf den Königspalast von Versailles und die Apollo»
260 Richard Veck in Zwickau i, 2.
fontlline im Pail geworfen, so führt der Zug durch das ewige Einerlei der Normandie:
nur die lieblich gelegene Stadt Dreux mit der weithin sichtbare!« Grabcapelle der
Orleans, die die irdischen Ueberreste des letzten Honigs aus dem Hause Philipps Egalii«.
Ludwig Philipps birgt, bringt eine willkommene Abwechselung in die ebene Lano-
schalt, die wohl fruchtbar und obstreich, Güter und Gehöfte in Menge zeigt, aber im
höchsten Grade eintönig und ermüdend auf den Reisenden wlrlt. In Argentan hält
der Zug zu lurzcr Mittagsrast, dann geht's in rasendem Tempo weiter durch gleich ein»
förmige Triften bis Follignn. Hier zweigt eiie Seitenlinie ab, die den Reisenden
seinem Ziele zuführt: er erreicht zunächst Aoranches und lommt damit in die Näh«
des Meeres, schon setzt der Seewind ein und lündct durch sein Brausen, baß die Küste
nicht mehr fern ist. Es lohnt sich für den Wanderer, in Avmnches auszusteigen, der
Ort ist voll von historischen Erinnerungen. Bis 1488 war er in englischem Besitz, im
Aufstand der Veudöer während der großen Revolution eroberten die Rebellen 1798 nach
schweren Opfern das Städtchen, in der Kathedrale, die sich auf dem Gipfel eines Hügel«
erhebt, beugte der König von England, der stolze Heinrich II. seine Knie vor dem Ab-
gesandten °es Papstes und bezeugte demüthige Buhe und Reue für den an dem Erz»
biichof von Cauterbury, Thomas Becket, verübten Mord. Für den Geschichtsforscher
birgt die Bibliothek de« tzutel de Villc reiche handschriftliche Schütze, 15 000 Bände, die
ehedem auf dem Mont St. Michel ruhten. Steigt man auf den Hügel, der die Kathe-
drale trägt, so hat man weite Umficht über die Bai von Granville, vor dem Auge des
Beschauers erhebt sich in der Ferne der Mont St. Michel und macht wohl den Wunsch
rege, schon jetzt nach dem ersehnten Eiland zu gelangen, aber die Partie ist von dieser
Seite her wegen der Fluthverhältnlsse gefährlich uno schwierig zu unternehmen, wir
kehren um, besteigen den Zug wieder und verlasse» ihn erst in Pontorson, wo ein
Wagen unser wartet, uns nach unserem Ziele zu bringen.
Es ist wahr, der ersehnte Kunst- und Naturgenuh muh theuer erlauft werde«: wir
sind mit unserem Handgepäck dank der verhältnißmäßig grohen Anzahl Ostergaste aus
ein Minimum von Platz im Wagen beschränkt, der Weg, der mit Gespann zurückgelegt
werden muß, ist etwa 11/2 Stunde weit, oie Fahrt geht durch eine wirkliche Wüstenei,
in der selbst da« dicht am Strande gelegene Torf Moidren leine Oase abgeben kann; dazu
streicht über die kalkige durchgebrannte Landstraße eine frische Südbrise und überschüttet
Wagen und Insassen mit Lasten weißen Standes und schweren Schmutzes. Nach Ver-
lauf einer Viertelstunde lüften wir ein wenig die schweren Vorhänge aus Segeltuch, da
liegt vor uns in der Ferne im Meer der ersehnte Mont. Schon sehen wir die gothischcn
Streben: wie eine Pyramide im Sonnenlicht funlclnd und glitzernd ragt 'er in der
weiten Fluth, immer Heller und größer tritt der Michelsberg zu Tage. Kurz vor dem
Meeiesstrande gewinnt die Illusion volles Leben, so mag die Zmiberburg Montsalwatscb,
so der Brünhild Burg auf Iseustein in der Phantasie der höfischen Tichter ausgesehen
haben, wie jetzt die breitbasige, mit Häusern, Mauern, Thürmen und Zinnen dicht be-
setzte Masse! — Einst lag das Eiland, auf dessen einer Seite gar ein Stückchen Wald
Gemäuer und Gestrebe durchwächst, rings vom Meere umgeben, der bequemere Reise-
comfort hat Fels und Land mit einer festen Digne, einem Teich, verbunden, auf dem
der Reisende sonder Fährnih im Wagen hinübergelangen kann. Nur um zur Torsgasse
am Fuße des Felsens zu kommen, muh der Wogen von der Digue link« abbiegen und
durch den Meeressand, der jetzt trocken ist, — erst gegen Abend kommt die Fluth —
seinen Eingang zum Torfe suchen. Abwechselnd wöchentlich herrscht hier große« und
kleines Meer, zweimal täglich kommt die Fluth, jedesmal 8 Stunden anhaltend, dann
liegt das Eiland von den Wogen umtost. Noch lag der Zugang ziemlich trocken zu Tage,
als wir einfuhren und an einem alten großen Lteinthor, der wavpengezierten Port« an
rui, deren Bogen die Dorfgasse überspannt. Halt machten. Jetzt überschauten wir auch
Torf St. Michel, das unter dem sicheren Schutze mächtiger Steinwiille, gekrönt von der
kleinen Pfarrkirche, am Fuße des Berges sich schlangengleich hinwindet.
Mont Saint Michel. 261.
Seit langen Jahren befindet sich der eiste Gasthof im Dörfchen in den Händen
dei Familie Poulard, d. h. Poulard ainö, denn es giebt auch noch eine ganze An»
zahl anderer Gasthäuser unter derselben Firma, die aber des originellen Anstriche« und
der Vorzüglichkeit entbehren, die jener Herberge eigen sind. Der erste Eintritt in das
wohnliche Haus, der mächtige, granitene Kami», in dem ein Paar kräftige Hammel»
gigots am Spieße schmorten, rief alte, liebe Erinnerungen a» Ccwli wack>, und als
Madame Poulard uns patriarchalisch und auch wieder tout mollerus, empfing, bewill»
kommnete und die Zimmer anwies, da war man sofort wie zu Hause. Lieber Leser,
kennst Du auf Capri die bekannte Kneipe zum Kater Hiüigeigei an der Piazza des
Nestchens? Kennst Du da den Signor Padrone und Signora Paorona? Ueberjeye
Dir Neide in's Französische, und Du hast Monsieur und Madame Poulard vor Dir.
So bedeutend ist der Confluz von Fremden auf dem felsigen Eiland, daß unser Hotel
zwei Dependcnzen, das „rote" und das „weiße" Haus, hat; wir erhielten unsere Wohnung
in elfterem, etwa 50 Stufen zum Theil von sehr zweifelhafter Qualität führten uns
herauf; so erhielten wir einen Vorgeschmack der morgenden Kletterpartie. Der Wind war
io heftig, daß wir beständig Gefahr liefen, unserer Kopfbedeckungen beraubt zu weiden.
Oben angekommen, wies uns Marie, der emsige dienstbare Geist des Hauses, immer im
schwarzen Kleio, den Kopf mit dem blendend weißen normannischen Häubchen bedeckt,
unser Zimmer an, das außen ein Ballon umlief, der eine wonnige Aussicht auf das
Meer und entzück»«« Einsicht in das Gewirr alter Häuser gestaltete, das am Fuße des
Berges sich ausbreitete. Ein unentbehrliches Requisit der Einrichtung unseres Zimmers
bildete eine Papierlaterne, den Weg über die felsigen, ausgetretenen Stufen hinab nach
dem Speisesaal zu beleuchten. Nachdem wir uns von den fest hastenden Staubmassen
gesäubert hatten, stiege« wir unsere Felstreppen hinab, bei dem wchmden Winde
wahrlich kein leichtes Stück Arbeit, und machten einen Ausflug iu die Dorfgasse. Welch'
ein interessantes Gewintel! Schwalbennestern gleich scheinen die Hänser in die mächtigen
Festungsmauern eiugcNemmt, die gepflasterte Dorfgasse vertieft sich in der Mitte, um
dem Wasser und dem Unnith Abfluß zu geben. Das ganze Dorf ist ein großes Hütel
und ein großer Bazar, in dem man Andenken an den Mont St. Michel in jeder
Qualität taufen soll, Post und Telegraph, die sicheren Kennzeichen moderner Cultur,
fehlen nicht >unb stehen in seltsamem Conlrast zu dem Stück echten Mittelalters, das
unserem Blicke sich darbietet. Uns zu weit von Madame Poulards gastlichen Räumen
zu entfernen, verbot die hereinbrechende Dunkelheit und der nahe bevorstehende Beginn
des Diners, das wir uns heute redlich verdient hatten. Bei der Rückkehr zur poi-w
<lu roi gewahrten wir auch schon die Fluth, wdche jetzt die Insel mit Ausnahme der
Digue umbrandele. Bei Tische machte die Frau Wirthin die Honneurs, während Li«
beiden Töchter des Hauses, die in Toilette und Frisur die Pariser Pension, die sie be«
sucht hatten, nicht verleugnen konnten, die Speisen herumreichten. Nach Tische vereinte
der Kaffee um den Ricsenkamin eine wesentlich anglo»französische Gesellschaft, Deutsche
kommen nur selten hierher. Nach 10 Uhr ward die Laterne ergriffen und der luftige
Weg über die Treppen nach der Wohnung angetreten? die Osternacht war sternenhell und
mondbestrahlt, sie ließ ein herrliches Wetter zur Besichtigung der Festung und des
Heiligthums von St. Michel erwarten.
Von 9 Uhr Vormittag ab weiden den Fremden die Baulichkeiten gezeigt, es hatte
sich eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft zusammengefunden, und die Kletterpartie sollte
jetzt beginnen, zuvor aber ward eiu Spaziergang um die Wälle unternomm,», die eine
Reihe herrlicher Aussichtspunkte über Meer und Küste bieten. Die denkwürdige Geschichte
unseres Eilandes beginnt mit dem J ahre 709, da Bischof Aubertus von Auranches
die glotze Abtei gegründet haben soll, 763 erhielten sie die Benedittincr, deren Aebte
sie zu jenem merkwürdigen Wundenveite ausbauten, das heute den Felsen bedeckt:
romanische Massen ~mlt gothischen im bunten, wirren Wechselspiel, spitzbogige Galerieen
und Giebel, Netzwelle von Fialen und Wimpergen kleben am Gipfel und an den Seiten
262 Richard Veck in Zwickau i 3.
des Berges. Die historischen Erinnerungen sind natürlich außerordentlich «ich und
mannigfaltig, sie drängen sich dem Beschauer bei jedem Schritte auf. Im glotzen
100 jährigen Kriege zwischen Frankreich und England nard das Heiligthum zur Festung,
die von den Engländern oft vergebens bestürmt und durch ein auf der Ncinen Nachbar«
insel Tombellline angelegtes Fort ohne Erfolg bedroht ward, die Beste ist immer
jungfräulich geblieben, nie vom Feind überwunden worden. 1469 ward ans der Insel
von König Ludwig XI. der Orden des heiligen Michael gestiftet. Lange Zeit, noch
bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, galt die Abtei auch als Staatsgefängnitz,
aus dem ein Entweichen nicht möglich war: hier schmachtete im eiserneu Käfig auf Be-
fehl Ludwig« XV. Victor de la Castllgue. Bis 'zum Jahre 1886 war der Bei«
Wallfahrtsort, seitdem sind alle Hauten daselbst der Berwaliung des Ministeriums der
schönen Künste unterstellt, die Wallfahrten haben aber deshalb nicht aufgehört, sondern
finden nach der mit den uralten Processionsfahnen reich ausgeschmückten Torftirche der
Insel statt, die als höchstes Hciligthu >n die massi» silberne Statue des drachentödtenden
Erzengel« birgt, die einst die Abtei zierte.
Hie Unbilden der Witterung, denen die Banlichteiien des Berges jederzeit aus-
gesetzt sind, erfordern fortwährende Reparaturen und machen das Wunder von St. Michel
zu einem sehr theuren Besitze des französischen Staates. Große Baugerüste fehlen hi«
nie, sie gehören zum Gesammtbilie der Localität. Sämmtliche Berichterstatter überbieten
sich in der Schilderung der Anstrengung, welche die Besichtigung verursachte, vor allen
Dingen der vielen hohen und schlechten Treppenstufen, die man dabei hinauf- und hinab-
zutlcttcrn hat. Gewiß ist dem so, aber es liegt in dieser Art Besteigung gerade ein
gewisser Reiz, zudem wird mai durch eine Anzahl der schönsten Ausblicke für das müh'
selige Auf» und Niedersteigen wenigstens etwas entschädigt. Leider ist es augenblick-
lich ganz unmöglich, die berüchtigte Plattform, die einstmals wohl den hohen Thurm, der
da« Ganze Irönte, trug, und die bekannte „Spitzentreppe" l?««»>i«r <l« äenteüe), so
genannt wegen des reichen gothlschen Maßwertes, das sie zierlich wie Spinnwebe schmückt,
zwischen dem Gewirr der Strebebögen und Fialen des Chores zu ersteigen, denn auch
hier finden weitläufige Reparaturbouten statt, die das Hinaufsteigen verbieten. So-
mit ist auch die Gefährlichkeit der Besteigung, die zu schildern die Reisebeschreibungen
nicht müde werden, in das Reich der Fabel verlegt. Was man aber sieht, ist wahrlich
interessant genug, um die Bezeichnung ,M«r?sills" für einen Theil des Riesenbaues zu
rechtfertigen. Wir gelangen zunächst in die Kirche, die im 11. Jahrhundert vom Abt
Hildebert II, begonnen, 1138 vollendet wurde, natürlich im romanischen Stil, den
einzelne Thcile des Gebäudes noch heute zeigen. ^Feuersbrnnste lund Einstürze er-
forderten einen gothlschen Neubau des hohen Chores. Alte Sculvturcn zieren noch die
Wände der Kirche, wir gewahren eine sehr bezeichnende Darstellung des Sündcnfalles
und in Relicfdarstellung das Schiff der Kirche auf den Wellen schaukelnd, ein Seiten-
stück zu Giottos Nllvicella. An die Kirche schließen sich verschiedene Säle an, sämmtlich
nur durch Massen von Treppen nnd Stufen erreichbar, und der berühmte zierliche Kreuz-
gang, dessen Hängedreiecke über den gekampferten Säulencapitälen mit wundervollen Band-
mustern, jedes anders, geschmückt sind. !Die Innenseite des Krenzganges deckt leider
ein modernes Ziegeldach in schreienden bunten Farben, .das zwar das zerstörte! Dach
genau nachahmen soll, aber durch den Glanz seiner Neuheit unangenehm mit dem ehr»
würdigen alten Gemäuer contrastlrt. Die ganze Kirche scheint am Felsen zu Neben, vor
Zusammenbruch schirmen sie, insbesondere den hohen Chor, durch die Pracht seiner Details
den Hauptzierat des ganzen Beiges, kolossale Unterbauten von einer Größe und Starte,
wie dergleichen nur noch in Assi» i, in der Gruftkirche des heiligen Franz, gefunden werden.
Die Last der Kirche tragen jbie ,.ssw8 kiüerz". die dicken 18 Fuß im Durchmesser
haltenden Pfeiler, zu denen Mn durch eine lange Treppenflucht gelangt. Die meisten
Gewölblammern dieser Substructionen find nun zu NutzräumenAerwenbet, die wichtigsten
derselben sind: das Promcnoir der Mönche, ein kühles Gemach, von mächtigen Sülilen
Moni 5aint Michel, 263
gestützt, auf denen weitausladende Kreuzgewölbe ruhen, ferner die Krypta des Aquilon;
endlich befinden sich hier auch die fchauberhaften Räume der Gefängnisse für Staats-
verbrecher, in die ebensoaenig, wie in die entsetzlichen Gefängnisse im Togenpalaste von
Venedig, ein Lichtstrahl sich verirren lann. Weitere Stufenfolgen führen zu dem Refec«
t oriuin, dem ehemaligen Speisesaale der Mönche, welches zwei Niesentamine zieren; zur
8211« äeg nüws, dem Raum, der zum Empfang der Gäste bestimmt war, den leichtere,
verhältnlhmätzig zierlich ausladende, von dünnen Pfeilern gestützte Kreuzgewölbe tragen.
Eine abermalige Treppenflucht geleitet in den Rittersaal (I» 82110 äc>8 «l»sv»lier»),
eine herrliche «ethische Halle, die elf kolossale Pfeiler in vier Schiffe thcilen, vollendet
unter dem kunstsinnigen Abte Thomas des Chambres (1218—1225). In diesem
Saale stiftete 1469 König Ludwig XI. den Orden des heiligen Erzengels Michael;
wenn auch der Sitz des Ordens schon 1557 nach Vincennes verlegt wurde, so erhielt
doch der Saal von der Stiftungsfeierlichleit seinen Namen. Unter dem Rittersaal wölben
sich die weiten Kellerräume, bestimmt, Proviant und Getränke in großen Massen aufzu»
nehmen, um langen Belagerungen Trotz zu bieten, wie sie der Mont St. Michel im
hundertjährigen Kriege der beiden Canalmächte so oft auszuhalten hatte.
Nach anderthalbstüncligem, mühseligem Herauf» und Hinabtlettern Tausender von
Stufen gelangten wir wieder in's Freie mit dem Bewußtsein, ein Stück Mittelalter
gesehen zu haben, wie es so ausgezeichnet «halten nicht häufig in Europa vorkommt.
Nach einem treffliche» Dejeuner, bei dem die historische Omelette nicht fehlte, lehrte der
größte Tbeil der Anwesenden dem gastlichen Hause Madame Poularbs wieder icn Rücken,
um neuen Osteigästen Platz zu machen. Nur zu bald hatten wir die phantastische
Pyramide deö unvergleichlich malerischen Beiges wieder hinter uns und fuhren nach
Granville an den Meeresstrand, um von bort aus am nächsten Tage den Schnellzug
wieder zu besteigen, der uns in jäher Eile wieder nach der französischen Hauptstadt
führen sollte.
Die Einic
lllustrirte Bibliographie.
leremias Gotthelf, «usgcwählle Werte. Eiste illustrirte Prachtausgabe. Nact,
dem Originaltezte herausgegeben von Prof. Otto Suteemeistcr. Voiwort von
DI. K. Schenk, Mitglied des Schweiz. Bundesrathcs. Mit 200 Illustrationen von
A, Anler, H. Bachmann, W. Vigicr. Eh aux-de° Fonds, Verlag von F. Zahn.
Ein angesehener Litterarhistoriker und Dichter weist in seinem in diesem Hefte ver-
öffentlichten Essay gegenüber den Ansprüchen moderner litterarischer Revolutionäre, als die
Vertreter einer neuen, auf wesentlich anderen Grundlagen ruhenden Dichtung betrachtet
zu weiden, darauf hin, das; die Weisheit Ben Atibas auch auf dem lilteraiischen Markte
Geltung babe. Ter Fortschritt, der in der wodeinen Bewegung liegt, soll damit gewiß
nicht in Abrede gestellt werden, und ihre Auswüchse dürfen uns nicl t blind machen gegen
die Verdienste ihrer Träger. Daß aber diejenigen von ihnen, welche glaubten etwas im
Principe ganz Neues, noch nickt Dagewesenes zu verkünden, in schwerer Selbsttäuschung be-
fangen waren resp. sind, dafür liefert Goltschall in seiner Paiallele zwischen den „Modernen"
und den Stürmer» und Drängein des vorigen Jahrhunderts sehr lehrreiche Beispiele.
Auch der Dichter, mit dem wir uns anläßlich einer Neuausgabe seiner Werke wieder
zu beschäftige« angeregt werben, tonnte als Beispiel dienen. Als der als der Vater und
das Haupt des extremen Realismus gefeierte Emile Zola geboren wurde, im Jahre
1840, waren bereits mehrere Bande ton einem Schweizer Dichter erschiene», der bald uls
ein Meister realistischer Darstellung und als ein episches Talent ersten Ranges gepriesen
wurde. Ja, der Rcaliswus leiemias Gotthelfs oder Albert Bitzius' ist mitunter sogar
so kräftig, so iwgcniit, daß der wärmste Verehrer Zolas davon befriedigt sein tonnte-
die bekannte Schilderung des Kampfes der beiden misttriefenden Mägde in „Uli ter
Knecht" könnte von dem französischen Meister geschrieben sein: und in der übermäßigen
Berücksichtigung des descriptioen Elements fleht ihm leremias Gotthelf nicht nach.
Freilich, im Allgemeinen hält sick der Realismus Gotthelfs von den Maßlosigkeiten
Zolas frei; er ist nicht einseitig auf die Nachtseiten und die pathologischen Erscheinungen
des menschlichen Lebens beschränkt: der Schweizer Pfarrer, der in engster Berührung
mit dem Bauern gelebt, schildert das ländliche Leben ganz anders und sicher nicht
weniger wahr und treu, als Zola es i« seiuem von Gräueln erfüllten Roman „t~ leir« -
gethan; andererseits ist seine raive, realistische Widerspiegelung der bäuerlichen Welt von
der sentimentalen Auffassung des durch die Brille des Spinozismus blickenden Berlhold
Auerbach, dessen Erfolge auf dem Geviele der Dorfgeschichte» in dieselbe Zeit fallen,
wesentlich vcrsliiedc».
Illustiiite Bibliographie.
265
Nor!Ä» und 2>id, I.XXV, 224,
18
266
Nord und Lud,
H
In Icremias Gotthelss Schiiftm ist zum Schaden ihrer künstlerischen Wirkung
neben dem Dichter sehr häufig der Parteimann und der Prediger lebendig: lang aus-
gesponnene Betrachtungen, Pastorale Ergüsse, breite, trocken-lehrhafte Beschreibungen unter-
brechen die Handlung und ermüden den Leser: und die Beziehungen auf Personen und
Zustande aus der näheren Umgebung des Dichters, die auch nur dieser vertraut und
interessant waren, haben dem Dichter in der Werthschätzung und bei Kauernden Gunst
bei dem nichtschweizerischen deutschen Publicum starken Abbruch gethan. Diese Mängel
haben es auch verschuldet, daß Gotthclf, kaum vierzig Jahre nach seinein Tode, außer-
halb der Grenzen seiner engeren Heimat mehr jene mumienhafte Unsterblichkeit in den
Litteraturgeschichten, als jene lebendige Unsterblichkeit, die in der fortdauernden, unmittel-
baren Wirkung der Werke auf empfängliche Gemütycr besteht, genießt. Und das ist zu
bedauern, denn Gotthclf ist mit allen leinen Schwächen ein hervorragender epischer
Dichter und ein Volksschriststeller eisten Ranges, der als solcher erziehend und erhebend
Made» »1? FillU schulmlist».
Au«! ~eiemill« c^oühelf: „Auögcwiihlte Wellt", lllusteiite Piochwuzgobe.
Heiouigegebe» 00,1 Prof, I), SutelM elfter. Verlag von F, Zahn, (!h<mi>l>e»F«ndl,
auch heute noch zu wirken vermag, wenn man ihn in reiner Gestalt, in dem wahren
Gehalt seiner Natur dem Volke nahe bringt. Und dies geschieht durch eine neue
Ausgabe seiner besten Werke durch Professor Otto Sutermeister. Der Herausgeber, der
sich über die angedeuteten Mängel in den Weilen Gotthelfs wohl klar war, hat es
unternommen, dieselben zu beseitigen, nicht, indem er eine sogenannte „Bearbeitung'
lieferte — davon hielt ihn die richtige Pietät für das Wort des Dichters ab — sondern
indem er einfach jene störenden epifodifchcn Partiecn entfernte. Dies konnte hier
ohne Gefahr geschehen, da bei Gotthclf die Tendenz nicht das Kunstwerk durchdringt,
sondern gemeinhin nur äußerlich angehängt und eingefügt ist. Ter Herausgeber konnte
also diese wilden Ranken entfernen, ohne in den Organismus des Werkes schädigend
einzugreifen. Außerdem bietet 0. Sutcrmeisters Ausgabe noch nach einer anderen Seite
bin eine Bereinigung, indem sie die erste ursprüngliche Lesart, den ulwerfälschten
Originaltext im Gegensatz zu den späteren für Deutschland specicll berechneten Ausgaben
und zu den vielfachen Nachdrucken gicbt.
Vibliographie.
26?
«KM
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"/»I»/
Pilliih«!!» von Lilyllflu",
Au«: leiemio« <~«tlhelf: „Ausgewählte Weile," INuftiirtc lplochtau»»a!>e,
Hei»u3gegehen von Pros, 0. Zutermeist er, Verlag von F, Zahn, Chaur-oe-Fonbi,
Tic Verlagshandlung F. Zahn in Chauz-de-Fonds hat das verdienstliche Unter-
nehmen des Herausgebers in freigebiger Weise unterstützt, indem sie die Ausgabe von
Gotthelfs ausgewählten Werken zu einer vornehmen Prachtausgabe gestaltete, vor Allem
durch die Heranziehung dreier hervorragender Schweizer Künstlei: A. Änler, H. Nachmonn
und W. Vigier, welche 200 vortreffliche Illustrationen geliefert haben. Die Ausgabe
wird enthalten: Leiden und Freuren eines Schulmeisters; Uli der Knecht;
Uli der Pächter; Der Bauernspiegel: Der Sonntag des Großvaters;
Elfi die seltsame Magd; Anne Bäbi lowägei und erscheint in 20—22 monat»
liehen Lieferungen zum Subscriptionsvreise von je 1,20 Mk. — Die schöne Ausgabe sei
hiermit bestens empfohlen. 0, >V.
Erinnerungen von Felix Dahn.
Viertes Buch, 2. Abtheilun« (1871—1888). Leipzig. Druck und Verlag vonBreittop
und Hallel.
Nach den packenden Schilderungen der eisten Abtheiluug dieses Buches, das uns
das J ahr 1870, insbesondere die Schlacht bei Sebcm, meisterhaft zur Anschauung
brachte, hätte man eine Erlahmung des Interesses für den vorliegenden Band befürchten
lonncn. Ter Dichter hat diese Befürchtung — wenn sie vorhanden war — auf's
Glänzendste zu nicht« gemacht; sa, icb kann nicht leugnen, daß dieser letzte Band —
wenigstens für meinen Geschmack — seine Vorgänger an Fülle des Interessanten, an
Reichthum des Charakteristischen noch übertrifft. Ei ist der Lebensabschnitt, in welchem
der Dichter den Höhepunkt seines dichterischen und wissenschaftlichen Könnens und
Wirkens erreicht, den Höhepunkt zugleich seines Liebes» und Lebensglückes. In Königs»
berg, wohin er am 19. Juni 1872 berufen worden ist, sind fast alle die giotzen
historischen, philosophischen und jmistischen Arbeiten, dazu die bedeutendsten poetischen
Weile, die zum Thcil schon in Würzburg, ja in München geplant und begonnen waren,
nusgesührt und vollendet norden. Ueberschaut man die nach Zahl und Umfang, nach
wissenschaftlicher und poetischer Gediegenheit auheroroentlicke Menge von Weilen, so fragt
man sich staunend: wie ist es möglich, dah die Kraft eines Menschen, der dazu ein
18»
268 Nord und 2nd.
schweres, verantwortungsreiches und zeitraubendes Amt verwaltet, ausreichen tonnte, das
Alles hervorzubringen? Die Antwort lautet: nur, wer wie Dahn lewe Stunde de»
Tages, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, ungenutzt vorüberläfzt, wer die
Stunden der Muße, der Erholung auf's Acußerste beschränkt und seine Zeit so eintheilt,
daß jedem Tage gewissermaßen ein genau innegehaltenes Programm zu Grunde liegt,
nur der wird im Stande sein, bei gleicher Begabung gleich Grobes zu schaffen.
Nachdem Dahn die näheren Umstände seiner Uebersiedelung nach Königsberg be»
lichtet, entwirft er von Land und Leuten in Preußen und insbesondere von der Hauvt»
Stadt und ihren Vewohnern eine höchst anschauliche, mit köstlichem Humor durchsetzte
Schilderung, die trotz mancher satirischen Randglossen von wärmstem Wohlwollen und
aufrichtigster Anerkennung getragen ist. Kommt er doch am Schlüsse derselben zu dem
Resultat: ,ln Königsberg liegt doch wohl der Schwerpunkt meines Lebens, und meine
dankbarsten Erinnerungen gelten — neben denen an die glückliche Knabenzeit im Eltern»
garten zu München — der lieben alten Pregelstadt: ganz besonders auch um der
Erinnerungen willen, die sich an meine Thätigleit als Lehrer, an das herzerquickende
Verhältnis; zu meinen preußischen Schülern knüpften."
hier in Königsberg war es auch, wo er nach jahrelangem Kampfe mit widrigen
Verhältnissen den Bund füi's Leben mit Theresen schließen durfte, die ihm seine Häuslich-
keit zur Stätte echtesten, unvergänglichen Glückes machte. Die Schilderungen dieses
trauten Zusammenlebens und Zusammenaibeitens sind von ganz besonderer Wärme und
Anmuth durchdrungen, Erfreulich ist dabei auch, wahrzunehmen, wie von J ahr zu J ahr
die Anerkennung und der Ruhm des Dichters wächst und mit ihm zugleich die materiellen
Verhältnisse sich fortdauernd günstiger gestalten. Der große Kreis von Freunden und
guten Bekannten, die sich allmählich um ihn schaaren, beweisen außerdem, daß nicht
nur der Dichter und Gelehrte die wohlverdiente Ancilinnung gefunden, sondern daß man
vor Allem auch den Menschen oder vielmehr das Ehepaar Dahn von Herzen lieb«
gewonnen hatte.
I n die Schilderung aller dieser Verhältnisse, die von des Dichters Stellung in der
Gesellschaft, in der Universität, im öffentlichen Leben und in der Politik Kunde geben,
sind eine Masse reizender kleiner Anekdoten eingcflochtcn, die Dahn so meisterlich zu
erzählen versteht. Wer Gelegenheit gehabt hat, ihn mündlich solche Auelbötchen vortrage:!
zu hören, der wird ihn bei der Leetüre dieses Buches gewiß an vielm Stellen leibhaftig
vor sich sehen, wie er, den Kovf ein wenig zur Seite geneigt, mit eihovenem Zeige-
finger und dem ernstesten Gesicht von der Welt die schelmischsten Dinge zum Besten
giebt, die allemal das herzlichste Lachen der Zuhörer wachrufen. Hinbei sei auch eines
liebenswürdigen Charatterzuges Dahn's erwähnt, den er mit manchem anderen deulschen
Dichter theilt: seine Liebe zur Thierwelt, insbesondere zur gefiederten. Werdächte
hierbei nicht an die rührenden Klagen, die Friedrich Hebbel seinem Tagebuche anvertraute
beim Tobe seines Hündchen« und seines Eichhörnchen« ?i
Alljährlich in den großen Univcisitätsfciicn unternimmt Dahn mit seiner Frau
Reisen nach dem Süden oder an die Nordsee, von denen er mancherlei interessante
Einzelheiten zu berichten weiß. Zu diesen gehört vornehmlich eine mehrstündige Unter»
rebung mit iiönig Ludwig II. von Bayer,!, der den Dichter von Paitcnlirchen aus nach
seinem Neigschloß Scheichen abholen ließ. Dieses Zwiegespräch, in dem der König mit
emer geradezu verblüffenden Offenheit über Staatsoerhältnisse und Persönlichkeiten sich
aMieß und der Dichter ebenso offen und unerschrocken antwortete, gehört zu dem
Packendsten, das ich je gelesen. Schade, daß der Dichter durch nothwendige Rücksicht»
nähme gehmbert war, ein anderes Zwiegesvräch — mit dem Fürsten Bismarck — ras
er nur andeutungsweise wiedergiebt, ausführlich zu berichten: da» wäre vielleicht nock
interessanter gewesen, als jenes mit dem unglücklichen König,
,/\, I" Königsberg nimmt Dahn auch zuerst Fühlung mit dem Theater, auf dem er
schone, in glänzende Erfolge davontragen sollte. Daß sie trotzdem nicht von Dauer
blieben, erfüllt den Dichter mit gerechtem Unmuth. Es ist in der That nicht recht be-
greiflich, weshalb seine Stücke, die abgesehen von ihrem poetischen Gehalt, doch durchweg
einen starken theatralischen Zug haben und ihre Wirkung bei einigermaßen guter Dar-
stellung nie versagen, so ganz von der deutschen Bühne verschwinden konnten. Aber
» '? >- »beim Theater kommt immer Alle« anders", wie der alte Laube ,u saaen
Pflegte, besonders in Deutschland, es bietet Räthsel. die lein Verständiger zu lösen
Vibliogravhisch« Notizen.
269
Es ließe sich noch viel Schönes und Gutes üb« das vorliegende Vuch, das trotz
der Versicherung des Dichters hoffentlich nicht da« letzte seiner Erinnerungen sein wird,
sagen; hier muh es genügen, darauf aufmerksam gemacht zu haben: geht hin und leset selbst!
Geschmückt ist das Buch durch ein Bildnis, des sechsjährigen Felix Dahn, ein
allerliebstes Kinderportrait, auf dem uns dieselben Augen entgegenleuchten, die heute noch
des Mannes Antlitz beleben: Dichteraugen altern eben nicht. Ferner bietet das Buch
ein wohlgetroffenes Bild Theresens uno eine Darstellung des gemeinschaftlichen Arbeits,
zimmers im Hinter-Tragheim zu Königsberg.
Fllht man das Endergebnih der fünf starten Bünde zusammen, in denen der
Dichter von seinem Leben berichtet, so muh man sagen: es ist eines der glücklichsten,
das man sich denlen lann, voll Mühe und Arbeit, voll redlichsten, edelsten Streben«,
«ich an Segen und Erfolgen der schönsten Art. Hoffen wir, daß noch viele Jahre ihm
das alte Glück treu bleibt. — «.
Bibliographische Notizen.
Vliese »es Grafen Neithardt von
(Yucisenau an vr. Johann Vlasius
Ticglmg, Professor de» Mathematik
inVrfurt. Von Dr. A. Pick. Erfurt,
Verlag von Karl Biliarer.
Nah die classische Biographie Gneise-
«aus von Pertz und Delbrück hier nur
noch ergänzt und erweitert werden lann,
ersieht man aus dem vorliegenden kleinen
Schriftchen, Ter Mensch Gneisenau be-
sonders tritt hier in eine helle Beleuchtung.
Der sorgende und teilnehmende Freund,
der liebende und aufopferungsfähige Gatte,
der wohlwollende Gönner, der wohlthätige
Menschenfreund, sie Alle enthalten Eigen-
schaften, die unserem genialen Feldherrn
durchaus eigenthümlich sind. Es ist geradezu
ein Genuh, die Briefe zu durchmustern,
die er an seinen alten J ugendfreund Siegling
geschrieben hat. Daß auch eine liebens-
würdige Bonhommie, hier und da ein
Fünlchen Ironie dem Feiomarschall nicht
fremd ist, zeigt sich an vielen Stellen der
Nriefsllmmlung. „Wenn so ein paar Ge-
lehrte reisen, da wird gewöhnlich etwas
vergessen oder gestohlen." Aber der hier
so leise spöttelt, hatte selbst eine tüchtige
Ader von einem deutschen Gelehrten und
Professor in sich; aus ihr erklärt sich nicht
zum Mindesten, daß Gneisenau nach langem
Warten so schnell vorwärts gelommm ist.
>Vä.
Erzherzog Karl von Defterreich. Ein
Lebensbild. Von H. N. von leihberg.
I. Bd. 1. und 2 Hälfic. Wien uno
Leipzig W. Äraumüller.
Es ist mehr als ein Lebensbild, das
hier geboten wird, es ist schließlich im
zweiten Theil des 1. Bandes eine Geschichte
Oesterreichs in der nachtheresianischen Zeit,
in der dieses Land sich zu einem modernen
Staate entwickelte. So verfolgen wir den
Erzherzog durch die Kinder- und lugeiw-
jähre, durch das Elternhaus bis auf die
belgischen Schlachtfelder, wo die französische
Revolution sich in kriegerischen Eruptionen
Luft machte und dem Prinzen Gelegenheit
gab, sich im Kriegshandwerk so auszu-
bilden, daß er wohl befähigt war, spater
als Neoiganislltor des österreichischen Heer-
wesens aufzutreten.
Man darf mit Spannung den nächsten
Bänden des Werkes entgegensehen; müssen
sie uns doch zeigen, wie der „Sieger von
Aspein" die Arbeit seiner Mannesjahre
erfaßt und durchgeführt habe.
Welch umfassender Fleiß »uf dieses
Wert verwandt ist, und welches ungeheure
Material ihm zu Grunde liegt, geht unter
Anderem aus den mehr als 20U0 An-
merkungen umfassenden Quellennachweisen
hervor, die am Schlüsse jedes Bandes au>
gefügt sind. >Vc>,
Fürst Vismarck und seine Zeit. Von
H, Blum. 3. und 4. Bd. München,
E. H. Beck'sche Verlagsbuchhand-
lung.
Ter Verfasser hat sich mit großer
Liebe in den gewaltigen Stoff versenkt, den
es zu bewältigen giebt, wenn es gilt, einen
Bismarck und die von ihm beherrschte Zeit
in's rechte Licht zu rücken. Um so
schwieriger ist diese Aufgabe, als Snbel's
klassisches Wert vorliegt. Aber Blum
wendet sich offenbar an ein größeres
Publicum, als Snbel's von diplomatischem
Geiste getragene Daistellung beanspruchen
kann. Ich glaube in der That, daß durch
270
Nord und 5iio.
Vlums interessante Schilderungen die
Kenntnis; von dem Leben und Willen des
gewaltigen Staatsmannes ein geistiges
Gemeingut des gebildeten deutschen Volles
werden lann. Druck und Ausstattung
lassen Nichts zu wünschen übrig. Mögen
sich die folgenden Bände dm vorherge»
gangenen würdig anschliehen! ~6,
Politische Zchrlften von 1848-1868.
Von Ludwig Namberger. Berlin,
Rosenbaum und Hart.
Die hier gebotenen Leitartikel aus dem
Jahre 48, die politischen Vss<U)2 und Streit-
schriften, welche schon früher gedruckt worden
sind, tonnten mit Recht von Bamberg« zu
einem Vande vereinigt weiden. Sind sie doch
alle Zeit» und Spiegelbilder einer giihrenden
Epoche, in der sich der Constitutionalismus
endgiltig zum Leben hindurchiang und
Preußen, das viclgehaßte Preuße», immer
mehr in die Führelstellung Teutschlands
hineinwuchs.
Darin liegt der Reiz dieser Aufsätze,
dasz sie die Zeitstimmung wiedersviegeln,
der viele denkende Köpfe tamals huldigte».
Die Darstellung ist immer packend und
geistreich, mag Bamberger von dem Revolu-
tiönchcn in der Pfalz von 1849 ergötzliche
Bilder entwerfen, mag er sogar in französi-
scher Sprache den Galliern beibringen, daß
sie den Herrn von Nismarck durchaus falsch
beurtheilen; Bamberg« ist als Parlamen-
tarier durch seine sachlichen, scharfsinnigen
und häufig von philosophischem Geiste durch»
drungenen Reben bekannter geworden denn
als Schriftsteller, Daß er aber zu einem
solchen große Fähigleiten besitzt, beweisen
auch diese kleinen Schriften aus einer un-
gestüm vorwärts drängenden Zeit.
>Vc>.
Mfzland unter «aiser Alexander III.
sowie Pslitil und Aufgabe» stilo-
l»IS II. Von F. Neubürger. Berlin,
M. Driesner.
Ter Titel entspricht nicht ganz dem I n-
halt; wir erfahren mehr von Alexander II.
als von seinem Sohne. Und das mit vollem
Rechte. Denn die nennenswerthen Neue-
rungen, dazu bestimmt, das große Slaven»
reich den westlichen Staaten Europas naher
zu bringen, sie sind von Alexander II. aus-
gegangen. Doch das nur nebenbei. Was
da erzählt wird von dem russischen Druckerei»
und Zeitungswesen, von den Chiconen der
Behörden gegen Untergebene, von Kirche,
Verfassung und Staat, von dem leicht-
sinnigen, mehr und mehr verarmenden Adel,
von dem alloholisirten, halb verthielten
Bauern, das Alles sind wunderbare Dinge,
die den anderen Europäern laum bekannt
sein dürften. Es liest sich wie eine Tra»
gödie, jene Schilderung von der Bauern-
Emancipation Alexanders IL, von seinem
redlichen Stieben, seinen Untcithanen alle
Errungenschaften der modernen Cultur in
Verfassung, Kunst und Wissenschaft zugäng-
lich zu machen. Und die Antwort darauf?
Die Tynamitbombe der Nihilisten!
Acutes Interesse dürfen die Partien de»
Buche» beanspruchen, wo die Möglichkeiten
eines Krieges zwischen Rußland und Deutsch-
land und seine Folgen erwogen weiden.
Gewiß, der russisch« Soldat wäre unwider-
stehlich ohne den — Schnaps: der russische
Bauer ist intelligent, aibeitslustig und fähig
ohne den — Schnaps. Rußland hat un-
ermeßliche Schätze, aber sie sind nicht ge-
hoben und können also gegen Niemand
ausgespielt werden. Aber hü denn Rußland
ein Interesse daran, einen Wafieiigang mir
Teutschland zu wagen? Der Verf. veineini
das und fügt hinzu, daß beide Mächte
dabei nur verlieren und Nichts gewinnen
tonnten.
Die Ausführungen des Verf. tragen
den Stempel sorgsamer Studien an der
Stirn, weshalb man ihnen gerne Glauben
schenken mag, um so mehr, als ein zwanzig-
jähriger Aufenthalt im Lande und der
Verkehr mit allen Bevölleiungsllassen nur
dazu beitragen tonnte, den Schilderungen
des Verf. sicheren Untergrund und ein
bestimmtes Colorlt zu verleihe». Möchten
die Pcophezeiungen des Verf. auch be-
züglich der Regierungsgrundsätzc de» jungen
regierenden Zaren sich bewahrheiten! Dann
wäre von der wilden Ehe zwischen Galliern
und Slaven für Teutschland wenig zu
fürchten. Wä,
Geschichte Siciliens. Von E. A.
Freeman. Deutsche Ausgabe von
B. Lupus. 1. Bd. Mit dem Bildnisse
de« Verfassers und fünf Karten. Leipzia,
N. G. Teubner.
Ter Uebersetzer und Herausgeber Hot
sich ein Verdienst um die Wissenschaft damit
erworben, daß er des berühmten englischen
Forschers Werk auch einem größeren deut-
schen Publicum zugänglich gemacht hat.
Zwar ist es nur ein Torso, der bei dem
vorzeitigen Tod« Freemcms geboten werden
kann; aber auch so erhalten wir eine»
deutlichen Begriff von der Kraft und poeti»
Vibliographische Notizen.
2?«,
sehen Lebendigkeit der Darstellung des
Verfassers, der durch seinen langen und
wiederholten Aufenthalt auf dem heillichen
Sicilim in die Lage gesetzt war, so zu
schildein, wie er es mit eigenen Augen er-
schaut hatte. Zwar haben wir es in diesem
Bande mit der ältesten Geschichte der Mittel»
meerinsel, mit ihren Urbewohnern und der
Besiedelung durch Phönilicr und Griechen
zu thun, aber die topographischen
Schilderungen haben auch für die Jetztzeit
noch ihre Bedeutung, und wer jemals auf
den Höhen der Achredina bei Syrakus oder
auf der trümmerbesiiten Umgebung von
Alrogas, dem heutigen Girgenti, gestanden
hat, der wird der scharfen Beobachtung und
der deutlichen, noch heute geltenden
Charakteristik von Stadtebildern, wie sie
Freeman bietet, seine Bewunderung nicht
versagen können.
Stellten stand einst im griechischen
und römischen Zeitalter im Mittelpunkte
des damaligen Welthandels. Heule, seitdem
die Insel jahrhundertelanger Vergessenheit
anheimgefallen war, zieht der moderne
Weltverkehr nach Ostindien, an ihren Ge-
staden dahin, heute bildet sie jahraus jahr-
ein das Wanberziel ungezählter Taufende
von Gebildeten! T lesen sei besonders
Freemans Werl warm an's Herz gelegt.
VV<I.
Die Nothweudigleit einer europäi»
scheu Abrüstung nnd Steuere»»'
laftung. Von Dr. K. Walcker, Doc,
d. Staatsw. an der Universität Leipzig,
Sondeishausen, Fr. Aug. Eupcl.
Der Inhalt der Schrift entspricht
wenig dem Titel. Richtiger wäre es ge-
wesen, wie es der Verfasser ursprünglich
vorhatte, als Titel zu wähle»: „Die
Fiicdensgefcllschllften, Kritik und Reformvor-
ichläge." Was nun die Kritik der Friedens-
gesell schuften anbetrifft, so scheint dem
Verfasser die Grundidee, von der dieselben
ausgehen, nicht voll zum Bewußtsein ge-
kommen zu sein, uno so kämpft er häufig
gegen Windmühlen. Das, was er über die
Schiedsgerichte sagt, halten wir für größten»
thtils völlig verfehlt. Und wenn er hier
von Utopien spricht, so verdienen unserer
Meinung nach seine eigenen Vorschläge
dielen Namen weit mehr. Jedenfalls würden
diefelben eine Verwirklichung erst erfahren
können nach langer Vorarbeit durch die
Friedensvereine. Uebrigcns verkennt der
Verfasser die hohe Bedeutung der Friedens-
bewegung durchaus nicht. ~r>.
weschichte der Nationalökonomie und
des Sociulismns. Von llr. K.
Walcker, Doc. d. Staatsw. a. d. Uni-
versität Leipzig. 3. völlig umgearb.
Aufl. — 5 Ad. d. Handbuch der Natio-
nalökonomie. Leipzig, Roßberg'sche
tzofbuchhanblung.
Nach der Vorrede soll die Arbeit „eine
Art Grundriß zu Vorlesungen und Studien
über die Geschichte der Nationalökonomie
und des Eocilllismus sein". Dafür mag
sie brauchbar sein; als Grundlage für das
Selbststudium allerdings wohl nur durch
die reichlichen Litteraturnnchweise.
In dem zweiten der beiden angefügten
»Ezcuise" ereifert sich der Verfasser gegen
da« allgemeine gleiche Wahlrecht und für
ei» Socllllistengcsetz. Wir können nicht be-
haupten, daß »ns dieser Exkurs sonderlich
imponirt hätte. ~Vp.
Tic Frauenfrage nnd der «esnnde
Menschenverstand Von F. W.
Higginson. Au« dem Englischen über-
setzt von Eugeuie lacobi. Neuwied
und Leipzig, Aug. Schupp.
Physiologie, Temperament, Heim, Ge-
sellschaft, Erziehung, Beschäftigung, Stimm-
recht, werden jedes in einer Reihe kurzer,
lose zusammenhangender, fast selbstständigcr
Eopitel besprochen, die sich aber gut lesen
und anregend wirken, ob wir ihnen zu-
stimmen können ooer zum Widerspruch ge»
reizt weiden. >Vp.
Vahn frei! Ein Wort für unsere Frauen.
Von 0>. pbil. Moritz Popper. Prag,
I.G. Calve.
Das Schliftchen würde noch besser für
seinen Zweck wirken, als es in der That
schon thut, wenn der Verfasser sich von
einzelnen Ucberlieibungen in Inhalt und
Ausdruck freigehalten hätte.
Die Donau als Völlcrwea, Schifffahrts-
ftrafze und Reiseroute. Von A. u.
Schweigei-Lerchenfeld. Mit 300
Abbildungen, darunter zahlreichen Voll,
bildem und 50 «arten, letztere zum
Thcil in Farbendruck. In 30 Lieferungen
z» 50 Pf. A. Hartlebens Verlag,
Wien.
Der durch zahlreiche Schriften, nament-
lich auf geographischem Gebiete, bekannte
und beliebt gewordene Verfasser hat hier
ein besonders gelungene«, umfangreiches
Werk geliefert. Er entrollt in demselben
gleichsam die Lebensgeschichte des größten
272
Nord und 2üo.
Sttomes Mittel-Europas, von den roman«
tischen Thälcrn des Schwarzwaldes bis an
das Schwarze Meer — fast vor die Tbore
Consantinovels. — Der Verfasser thcilt
das Werl in 4 tzanvttheile — in einen
hybiriraphisch.nllwiwisscnschaftlichen, einen
histoi sehen, einen nautisch-technischen und
einen schildernden Theil. Jeder dieser
Thei~ zerfällt in eine Anzahl Abschnitte.
In den bis jetzt hier vorliegenden fünfzehn
Lieferungen sind die Theile 1 und 2 be>
endet und ist mit dem nautisch-lechnischen
Theil begonnen. In belehrender und zu-
gleich unterhaltender Weise sind im ersten
Theile, nach einem geologischen lieber-
blick, mit großer Sachlenntniß die Wasser-
standsuerhältnisse, die Bodcnplaslil und das
organische Leben in und an der Tonau
geschildert, während der zweite Theil in
seiner geschichtlichen Abhandlung, von den
Spuren der Argonauten angefangen, die
Wandlungen verfolgt, welche das Römer-
thum im Donaugebietc sowie die Völker-
wanderung zur Folge hatte. Daran
schließt sich die Staatcnbildung, die Tüllen-
Iriege und die geschichtlichen Ereignisse bis
in die Neuzeit, Besonders ausführlich und
viel Neues bringend ist der prähistorische
Abschnitt gehalten, wie überhaupt das
Ganze eine große Auffassung uon der
historische» Bedeutung der Donauländer
durchzieht. — Na« Werl ist durch »zahl-
reiche Abbildungen und Karlen in tadel-
loser Ausführung vorzüglich ausgestattet
un) kann somit warm empfohlen werden.
X.
H«S Gold des ««rdenS. Ein Rückblick
auf die Geschichte des Bernsteins. Von
Paul Moldenhauer. Danzig, Carl
hinstorff.
Die recht lesenswerthe Schrift giebt eine
inlcressante Darstellung des Wissenswerthesten
über Natur und Geschichte des Bernsteins.
Nicht befreunden lönnen wir uns mit den
Anschauungen de« Verfassers über die Ent-
stehung der Eiszeit. Die Zahlangaben auf
r>»6. 28 über die Höhe der Diluuialfluthcn
lönnen leicht mißverstanden werben.
3aS Leben des Meeres. Von l)r. Com.
Keller. Leipzig. Heft 2-12, T. 0.
Weigel Nachf. (Chr. Tauchnitz.)
Die vorliegenden hefte des schon früher
von uns angelündigten Lieferunasweiles
behandeln in einer Anzahl von Capiteln
eine Reiht interessanter allgemeiner bio-
logischer Fragen wie Genossenschaftslcben,
Schmarotzertum, Farben der Meeresthiere,
Meeresleuchten, Wanderungen der Meeres-
thicre, Strandfauna, hochscefauna, Thier»
leben der Tiefs« «., um bann zurfpe»
ciellen Zoologie überzugehen. Es sind bis
jetzt systematisch behandelt die Säugcthiere,
Kugel. Reptilien. Fische, Molluscen. Würmer.
Ncsselthiere und ein Thetl der Urthiere.
Zahlreiche gute Holzschnitte und eine Reihe
von wunderbaren Farbentafeln erläutern
den Text. ~z>.
Wetterbüchlein. Praktische Anleitung zur
Beobachtung und Voraussage des Wetters
uon Carl Burgwedel. Mit 24 Ab-
bildungen. Dresden, Meinyol» und
Sühne.
Im Vorwort motivirt der Verfasser
die Veranlassung zu seiner Schrift durch
die Erwägung »daß es an einer kurzen
und leichtfaßlichen Anleitung zur Be»
obachtung und Voraussage des Wetters
immer noch fehle." Nun sind aber inner-
halb der letzten lt) Jahre gerade eine Menge
derartiger Heiner Schriften erschienen, die
dasselbe Ziel verfolgen, das der Verfasser
sich gesteckt hat. Von diesen Schriften fcheint
der Verfasser leine Kenntniß zu besitzen, oder
er ist der Ansicht, daß sie da« oorgcteckte
Ziel nicht erreicht haben. Der Verfasser
bespricht zunächst die Luftströmungen,
Wolle» un» Niederschläge und wendet sich
dann den synoptischen Wetterkarten zu,
denen der weitaus größte Inhalt des Büch-
leins gewidmet ist. Es ist daher auch er»
llärlich, wenn der Verfasser am Schluß
betont, „daß nur mit Kenntniß der Wetter-
lage eines großen Gebietes eine Voraus»
sage des Wetters möglich ist'. Fast möchte
es nach den Auslassungen des Verfasser»
scheinen, als wären mit Hilfe der synoptischen
Karlen 100»/« Treffer in der Wettervoraus-
sage zu erzielen, was jedoch in WirN icklcit
nicht der Fall ist. Viel zu wenig Werth
legt der Verfasser auf die jpccifisch localen
Verhältnisse, die aber von hervorragender
Wichtigkeit sind. Alle diejenigen Wetter-
beobaäiter, denen die tclegraphischen Be»
lichte über die Wetterlage in Europa hin-
sichtlich der barometrischen Mazima und
Minima nicht rechtzeitig ober überhaupt
nicht zugänglich sind, bleiben auf die reine
Localvrognosc angewiesen. Einzelnes, wie zum
Beispiel das Hygrometer, auch da» Gewitter
ist nur oberflächlich behandelt, und doch sind
gerade die cleltrischen Erscheinungen bei der
Wcttervorherbeftimmung im Frühjahr und
Sommer von größter Bedeutung. Ganz
anerlcnncnswerth ist dagegen die Besprechung
Vibliographische Notizen.
272
der allgemeinen meteorologischen Verhält»
nisse, sowie im Speciellen die Erläuterung
über die Theilbepresstonen und die Aus-
wahl von Beispielen über einige wichtige
Wetterlagen. Am Schluß bespricht der Ver-
fasser noch „Falbs kritische Tage". Dem
hierüber Gesagten lann man nur zustimmen.
Der kleine Samariter. Aerztlichcr Ruth»
gebcr bei plötzlichen Erkrankungen und
Unglücksfällen von Dr. Schulz. Dresden
und Leipzig, Lehmann.
In den Zeitungen liest man fast täglich
Nachrichten über in Wohnungen, in öffent-
lichen Lokalen oder auf der Straße vor-
gekommene, oft gefahrdrohende Erkrankungen,
bei denen zumeist schleunige Hilfe ein
dringendes Vrforderniß ist. Ein Arzt ist
aber gewöhnlich nicht gleich zur Stelle, und
es kommt daher darauf an, bis zu seinem
Eintreffen die gefährlichen und die Umgebung
oft beängstigenden Erscheinungen schnell und
sicher zu beseitigen. Hierüber den Laien zu
belehren und ihm die erforderliche Auf-
klärung zu geben, damit er sofort that-
Iräftig eingreifen kann, hat sich der Verfasser
mit dem Motto: „Schnelle Hilfe, beste
Hilfe!" zur Aufgabe gestellt, deren Lösung
ihm durchaus gelungen ist. Im eiste» Ab-
schnitt behandelt er die plötzlichen Erkran-
kungen und im zweiten Abschnitt die Unfälle
und Verletzungen uni> die Art der Desinfi-
cirung. Ein ausführliches Register am
Schluß erleichtert die Ucbersickt. Das gut
ausgestattete Buch kann bestens empfohlen
werden. X.
Hie körperliche Orziehung der Jugend.
Von Angelo Mosso, Professor der
Physiologie zu Turin. Uebersetzt von
J ohanna Glinzer. Hamburg und
Leipzig, Verlag von Leop. Voß.
Von Neuem ist in den letzten J ahren
der schon für entschieden gehaltene Kampf
,'iber die Frage entbrannt, ob wir mit dem
„Turnen' auf dem richtigen Wege zu einer
geeigneten Körperpflege uns befinden, immer
neue Stimmen lassen sich hören, die zum
Mindesten der Alleinherrschaft der Turner«
gegenüber eine größere Beachtung des Be»
»egungsspieles fordern; immer mehr Leute
beginnen ketzerische Meinung über den
Weich der Turnerci zu äußern.
Mit dem vorliegenden Werke tritt auch
der Verfasser, einer der berühmtesten italieni-
schen Physiologen in den erwähnten Kampf
ein, und wir sind gewiß, daß da» Werl ein
nicht gewöhnliches Aufsehen erregen wird.
Der Verfasser stellt sich auf den bis-
her allzuoft außer Acht gelassenen Stand-
punkt, daß die Streitfrage, welche die
Körpererziehung behandelt, von Militär-
Personen, Schulmännern oder Turnlehrern
allein nicht zum Austrug gebracht weiden
kann, daß es vielmehr die Aufgabe der
Physiologie ist, sich mit dem Turnen zu
beschäftigen und ein entscheidendes Wort
mitzusprechen.
Und schwere Anklagen sind es, welche
der Verfasser gegen das Turnen vom
Standpunkte seiner Wissenschaft erheben
muß; eben so viele und überwiegende
Gründe füreine nlltürlicheNew egungs-
gymnastil holt er aus dem Arsenale dieser
Wissenschaft hervor. Diesen Ausführungen
gegenüber ist ein Totschweigen des Buches
oder ein Versumpfenlassen des Kampfs nicht
möglich. Der Kampf muh durchgefochten
weiden, und wir glauben, daß er mit einer
Niederlage des heutigen Turnens enden
wird.
Aber nicht allein für den Turnlehrer
und für alle die, welche sich mit der körper-
lichen Erziehung der Jugend berufsmäßig
oder aus Liebhaberei befassen, ist das
Werl unentbehrlich, auch für militärische
Kreise ist es von hoher Bedeutung, denn
auch der körperlichen Ausbildung der
Soldaten, ihrer Erziehung zum Ertragen
von Strapazen widmet der Verfasser auf
Grund semer Eigenschaft als Physiologe
und Militärarzt einen großen Thcil des-
selben.
Um einen Ueberblick über den reich-
haltigen Inhalt zu geben, lassen wir die
Ueberschriften der einzelnen Abschnitte
folgen: 1) Die körperliche Erziehung in
Italien im Zeitalter der Renaissance.
2) Die moderne englische Erziehung. 3) Die
körperliche Erziehung auf den Univer-
sitäten. 4) Die Eolleges und die Stunden-
pläne in den Schulen Englands und des
Continents. 5) Die Entwicklung des Tur-
nens. 6)Beurtheilungde«deutschenTurnens.
7) Da« athletische Turnen. 8) Die mili-
tärische Ausbildung und die „b^willon»
»oolllir««". 9) Das Schießen nach dem Ziel.
10) Der Tornister. 11) Die Märsche.
Die Uebertragung in das Deutsche ist
meisterhaft, Papier und Druck gut. —
Kurz ein »ach jeder Richtung hin ein»
pfehlenswerthes Buch, das in der Bibliothek
keines Mannes, der sich mit körperlicher
Erziehung beschäftigt, fehlen sollte.
2?H
Nord und Süd.
«anatshefte »er ««meni„S-«e,e«»
schaft.
«omcnius-Vlätter für Vollserziehung
Leipzig. R, Voigtländer.
Wir neuen uns, constatiren zu können,
daß die Comenius-Gesellschaft ihre früher
von uns dargelegten Ziele unermüdlich
weiter verfolgt, daß sie immer neue Wege
sucht, um die Aufgaben, die sie sich stellt,
zu lösen. Tic „Monatshefte" bringen nach
wie vor gediegene wissenschaftliche Arbeiten
zur Comeniusforschung, die „Comenius-
Blätter", welche an die Stelle der früheren
„Mittheilungen" getreten sind, stellen sich
vorwiegend auf den Boden der allgemeinen
Vollsbüdung und Vollseiziehung, dieses
wichtigen Factors auf dem Gebiete der
socialen Frage. Sie erstreben Unterstützung
und Zusammenfassung aller Bestrebungen
auf diesem Gebiet, Errichtung von Volts-
hochschulen: Erhebung der «ittenlehre
zu selbstständigem Lehrgegenstand, die all-
gemeine Volksschule unter Wahrung der
Freiheit des Privatunterricht«, Selbst-
verwaltung auf dem Gebiet berSctule,
Erweiterung der Frauenrechte, Pflege
des Genossenschaftswesens ?c.
Wir rufen der C-G. zu ihren Be-
strebungen ein herzliches Glückauf zu.
Vriefe eines Vaters «» seinen 3« hu.
Nach dessen Abgang an die Universität.
Von '**. Breslau, Schleiische Ver-
lags-Anstalt v. S. Schottlaender.
Ter unbekannte Verfasser theilt in Brief-
form eine Summe von Lebensregeln mit,
die wir Allen, für die sie bestimmt, b. h.
denjenigen, die berufen sind, der herange-
wachsenen männlichen J ugend Lebrm zu
eühcilen, und diejer selbst, sofern sie die
löbliche Abfielt hegt, sich auf die »echten
Wege leiten zu lassen, als sehr beachten«-
werth rühmen können. Ein Sohn ist auf
die Universität gezogen, und der Vater
schreibt ihm in dem warmen Tone eines
älteren Freundes in einzelnen Briefen,
was in jenen Lebensjahren, in denen die
Studiensemester sich vollziehen, als an«
strcbenswerth, als nützlich oder schädlich für
die Lebensentwickelung des Einzelnen zu
erachten ist. Der Verfasser geht von der,
leider, unleugbaren Thatsache aus, daß in
ein immer größere« Mißverhältniß die
Neigung zu leichtem, mühelosem Lebens-
genuß mit einer ideellen Richtung des
Denkens und Handelns tritt: daß immer
verschobener werden die Grenzen von Gut
und von Böse, und über die Pflege der
körperlichen und materiell geistigen Kräfte
immer mehr die Cultur jener Regungen
in den Hintergrund tritt, für die man,
svillchgebriinchlich, das Gemüth als Organ
bezeichnet. Diese Tendenz, in der jene
Briefe geschrieben, tonnen wir gar nicht
laut genug als richtig anerkennen, tonn»
nicht lebhaft genug den Wunsch aussprechen,
daß ihr Inhalt in allerweitesten Kreisen,
die Richtung angebend, in der gerathen und
gestrebt werden sollte, bekannt werden
möchte! Aber auch viele Einzelheiten finden
unseren vollen Beifall und flößen un«
große Wertschätzung für das tlare Deuten,
die reifen Anschauungen ihres Autors ein.
Nur ein Punkt hätte vielleicht eine ein-
gehendere Berücksichtigung finden tonnen:
In dem Briefe, der als Thema hat .Der
falsche Freund als Versucher" werben auch
jene mannigfachen Versuchungen, für die
ein junger Mann am leichtesten und häufig-
sten zugänglich ist, die weitreichendste Ge-
fahr de« Jünglingsalter«, berührt. Der
Vater hofft, daß sein Sohn ästhetische?
Geiühl genug besäße, um der gröbsten Art
der Verlockung, und Rechtssinn genug, u»
jenen verführerischen Gelegenheiten, an die
sich Verpflichtungen knüpfen tonnten, zu
widerstehen. — Hier läßt der trcfflicbe
Vater weniger seinen wagenden Verstau?,
da» Resultat seiner Erfahrungen, als viel-
mehr den Wunsch nur zum Ausdruck ge-
lange». H,. ~V.
Majestät. Roman von Louis Eouperus.
Dresden, Heinrich Minden.
In einem Phantasiestaat, der nirgends
auf der Landkarte zu finden ist, herrscht
eine Dynastie, deren Stammbaum wir
vergeblich im Gotha« Almanach suchen
würden, und doch begegnen wir in der
Heiischeifamilie selbst, sowie in dem sie
umgebenden Hofadel manchem veitrauleii
Zug, der uns an Erscheinungen erinnert,
welche im europäischen Staatenleben der
Neuzeit eine Rolle gespielt haben; — der
Roman ist als eine parodistiiche Studie über
höfisches Leben im Allgemeinen und 5lron-
prinzenschicksal im Besonderen aufzufassen,
und der Verfasser hat seine Aufgabe mit
psychologischer Gründlichkeit bearbeitet, in-
dem er versucht, da« Seelenleben dieser am
schwindelnder Höhe stehenden Persönlich-
leiten zu erforschen und zu motiviren. Ter
Roman ist aber viel zu gekünstelt, um cm
wärmeres Interesse ciwecken zu tonnen, wb
die Ausdauer des Lesers wirb auf ciie
recht harte Probe gestellt, um dem Ver-
fasser auf den weiten Irrgänger», den seine
Vibliographisch« Notizen.
275
Phantasie einschlagt, folgen zu können, zumal
Zweck und Ziel desselben auch am Schlüsse
ziemlich im Unklaren bleiben. n>l.
3er Roman einer Träumerin Von
Maiia Solina. Dresden, E. Pierson.
Ter Roman umfaszt das Schicksal
einer Frau, die aus einem zahlreichen
Schtvesterntreis als unreifes Mädchen in
eine Versorgungsehe gedrängt wird, in welcher
sie die schönsten Jahre ihres Lebens ge-
dankenlos verträumt, bis sie in einem
Alter, in welchem Andere die Herzenstämpfe
längst hinter sich habe», zum Bewußtsein
ihrer Rechte an das Glück erwacht. Nie
Ehe wird nun gelöst, und da sie dm Mann
ihrer Liebe nicht besitzen kann, so ist sie
gezwungen, sich in Abhängigkeit zu begeben,
um auf diese Weise, frei von unwürdigen
Fesseln, sich selbst leben zu können. Die seh:
dürftige Handlung ist in diesem kurzen
Auszug wiedergegeben, alles Neblige ist
ein Spielen mit Gefühlen, die alle mehr
oder minder unnalürlich sind; überhaupt
sind die Handelnben Personen leine Menschen
von Fleisch und Blut, sondern künstlich con>
struirte Marionetten, mit denen die Ver-
fasserin nach Belieben manövrirt: — der-
artige Belletristik wirkt auf unreife Gemüther
nur verwirrend, gereifte Leser dürften
schwerlich Geschmack an derselben finden.
MX.
3er Weg zum Friede«. Von 0.
Heller. Berlin, Verlag des Biblio-
graphischen Bureaus,
Der in einer spannend entwickelten
Exposition das Interesse des Lesers er-
weckende Roman hält in seinem Fortgange
nicht das, was er im Beginne verspricht:
dazu ist der Held der Erzählung eine zu
abenteuerliche, romanhafte Persönlichkeit,
und seine Schicksale, sowie seine endliche
Weltflucht liegen zu weit ab von oem Ge-
biet des Glaubhaften, um nicht das an-
fängliche Interesse erlahmen zu lassen.
0. Heller verfügt über ein gewandtes Er-
zählertalent: es ist zu bedauern, wenn das-
selbe auf Abwege geräth und auch den
Mangel an Naturwahiheit unbefriedigt
laßt, mx.
Lieder eines Menschen. Von Ludwig
Scharf. München, Or Albert und
Comp., Sepailltconto.
Entschiedene Begabung, aber auch
unangenehm berührendes Kraftmeieithum
spricht aus den .Liedern eines Menschen".
Faust'sches und Heine'schcs finden sich
in dem Buche, Himmelslürmendes und
Weltverachtung. Ein souveränes Hinweg-
setzen über Gedanlenlogit und Form läht
kaum ein einziges Gedicht zur vollen Wir-
kung kommen. Die Eigenart eines Dichters
vermag wohl Interesse zu erwecken; wenn
er aber nicht versteht «der sich dazu nicht
verstehen will, dieselbe auch in wirkliche
Kunstschöpfungen umzusetzen, so eilahmt
dasselbe. Wenige Lieder, wie Stunnes-
wehen (S. 14.), Gebet eines Menschen (61),
können mit ungetrübter Empfindung ge-
lesen weiden.
>5.
LmLeMULeuL Llwnei'. Le«precd«»L »»ei! H u 8 ^ » I i I der MeMcUon vurvenlliten.
NsnÄlsi N., Der Line, lium»n !n ««ei Musen.
L« '! in, ?, r»ut»ne und Q>.
2«Ulu»~-H>«>, V., NiMn, Hit« uns ~un~e.
ltom»n. Ilr« »den, (.', II« I » » ner.
»«Hell H«, Vl»i»t«i» N«»«le!i, II. Mnd.
Her»»»«, v<m U, Xizemer. H»ll« »,/8~
0. U«nd«l.
LonulUlu, ü., Xene 8bll!ie«p<»le'l!ntllU»unLen
Uelt I . I .eip« I ss, I!. Lulwonn.
Alis5«i', H~ Huzeenilulte Uedlente. Nio!>>!enn»iu
und l^lpxlz, L»um«rt H »on-ie.
2u«Kv»l«!. N. und 1. v,, VII!» iwii! und menr.
Lveiw Hulwze. l.e!p«IF, It. liiere.
Wu»»«. 0., Keu«r« De»««!!« I^vrlll. N»!ie ».D,.
0. Ueud«l.
Ni»»«. t?. 2~ VI« NilIPnnlozIe, eine »erdende
VIzzenseluM. H>re üutvlekeluuz und Ibr
8!«,nd. Line orleullrende, !lrlt!»eb« vlrlezune.
Illlnouen, H. 8ebUler, ,H. Hell«rm»un«
»«dl!«.'.
Vtlllnol«oli«, l.~ Der linierlm 8treite. Vr2>,i»
In drei Helen, ?rie»t, r. II. »enlmnll.
0»r>cle<, >., Nie kleine üircbe. I?ln Hue-liNman.
Hutorlzirte veder«et«unss?. Wnll^lmg Hlexan-
derÄever, 8tlltt"»rt, lleutücne V<!li»g8»nZt»,lt,
v»/vot, H., Klpulenu I. I» Lud und ^Vnrt, Über-
ti»8«u von 0. !l»r«<:t!»ll v. Lieber.xtem,
rieirz, 4-S. ripllss, U. 8eumldt H 0.
ÜUntuer.
viil«lll»-l«, 1~ rrnr. v,, IU«,nl! >'»ge! v. Lr»«e>
L»rnue«8 DI. Ilunuln. Dresden, 0. Üei88ner.
Dulxx», 5., henkelt« vom VirKllclieu. Line Ftudie
»U8 der (!ez«i!»!»lt. Dresden, U. Henkle,-.
ü»cli«l,, II. v., Inmitten der Leve^unz. 8»ei»!er
li«m»n. 2 Müde. vr«8d«n, 0. Ile!»«uer.
?rie»lu», IV,, Nie v?»üen nieder! 3eu»ll8n!e! In
lünl Hnlüllzeu. 2nm Lb. OedenHzure de»
ssro~~eu Xrleee». I^lpllss Huz«r, ü. I. ludner.
<3c>ld»clmi!<lt, 11^ Keue Nlnuzedlente. ! ? r« , n 1 1 -
lurt ».M.-l«!pllF, Xe8»«!r!n8'»c!ie Uolbuon-
u » u d I unL.
276
— Nord und 2Ld.
<5roU»i, 8~ 2»nu (letwulonten. vr«»Ä«n, I!.
N«I80U.
^«Ultiluulil, 1." Illeulrä V«»ei'» I»nill!lu8«r-
I^5l8eurlft lum Neäenirt»«« äer «r8t«u >ul-
lüurunz »m 19. Oetuber 1845 w vre»>ie,>.
Dreien, II. LerUln«.
2 Httl« i, ~~ Her 8n!rlU8MU8 uns <iie mocierne
Vi8»en80n»lt. >n Läll»lä von U»rtm»!M.
U»mburz, V«>l2ß«»N8tl»>t uns vruoilerei ~.0.
<vorm»>5 ~. ~. ülobter.!
H»,rN»i»8/, V~ Im Neigen, Heue l^leser. (!wru8,
L. V«i«l.
^«»»«u, Unzeit» äer Hlpen. Kovellen,
vreliäen, C, Üei88iier,
X«U«r, (?,. !>»« lieben ses Ueerez. I^lefü. 14— IN,
XI lli<:!lov»tl«li». ä. v~ Vlebe. 2»ei lÄnse.
Vre8<l«n u»s i,e!P?,U. 0. ile>88ner.
Xlo», I, ü»x Xreller, Line 8tn«Ue iur
neu«ren l,itter»tur. Ilr«8<!en, L. Neroon.
Xn»o!ttu», U~ VUrer. Ult 12? "bblliiunssen
von NemillHen, Uollsennltten uns Honäleieun.
LlelelelH unÄ relpliß, V«ln»«en ~ Ll»«!llz,
X«l»!c». ~ Hin vnziUeii. 8»el»!e8 8eb»u8plei
»U8 ser > iezen v»rtl In 2v«i Xullllgeu. Vu88«l-
soll, Llettu«« K c!o.
Xref,«!«r, lu~, ÜIII vnberunmtei un<! Iwier« Ue-
»ouiedten. vr«8!i»n, L, ri«r8on.
DI« XrllT, "ue!i«n8!:n»ll 6«8 LllenUienen lieben».
H«r»u«g. vo» L»r! 8eune!ät, II. ^»nr^nz,
Nu. 52, Lerün, U. 8tur».
vi» Xun»t»>»ll«, 2elt8°nr!tt lllr <U« bl!<!en(ien
Ü!ln8t« un<l <!»» Xun8t8«« erbe, ~»nrl_iwß I,
Ho, I. Lerlw, Mo8enb»um ~ N»rt.
Di« «»tsrrsiciilscb,« l^ncl v«l«. II ine liritizcn«
8tu>!le von einem eu«m»l!gei! i>8lerr«lc!!>l8c!ieu
Olliile,-, LI»un8ob««i8, ü»uert ~ üoeeo
N « ! U I ! « .
I«U, ?^ tl»s»me Lui v»»nt!i«Ne, lloman, Ltutt-
Mi-t, Ve»t8<:l!0 Ver!»z8-H!!8l»l I.
IIIMin^, iL. Hin llomlln vom er8len 0un8ul.
Gibliutuei uer ««»»mmUltter. No. 886-888».
«alle »./8., 0. Ueno«!.
— Die k°i»u Nonvernenr!» von ?»rl». Lilier vom
ri»n?.n8i«cu«n Xzlzerdole 18N7, Hopennzzen.
~. ?. Il»8t " Sonn.
H«i«t, enez e!uM<il8e!!e» V8N«ibueb ser «n?-
I I8e! >en unä Heol8eneu 8 n i »<:!!« , l^elerunl I?.
NeNIII. r»NL«n8o!!el,l!,'8en« VelUIßKbllelmHI .
lf»olU7i« l..»t« n »u» Ä«IU 2>illl>l»>,li<!»l uikl <!«ll
v»iv~»l»Ät«l» <3«»oli~tl«ivei~ei» Ie8t-
nummer. l«loll8, U«l»envei«w <ier veutzolien
Luobulndlei-.
»«v»ia, ~~ rrle<!l!eu Lcuiüzl. Lr!,>nei-un8«n
»n «wen »Iteu Viener. Lm Uec>«nKbl3tt üur
«iritteu Vleäerllebr «eine» ?<x!e«t»L~' ~isn.
Im 8e!l>,<tvel!»z« cie» Vellll88«l8,
Xo»»!~. H~ Heber sie beÄlmmencie Hr»»cd« 6« 8
?!!lio8upbllen8. Vel8uode einer pr»!iti8el>e>i
Xritilc uerl>«nre 8plnul»8. sluttMi't, Ueut""n«
Veri»38»N8l»lt.
I>i«t«!llll»l, ü, "ul sem Aege»«««» von Lerlw
uzen ?»il8. ?ot8"2m, ü, U»edfel<i.
?r6«l»r, Ii,, v»8 keü^umücicuen uns «user«
Kovelien. Leriin, I. !>ont»ne un<l c«.
?re»»r, 0" v»8 Xrmln8lie<l. Ur»«8enl»ln uu!
l>!pü!L, Luumerl, uixl MonLe,
?l»~i»«li«il, N, VI» l'«88wnl«. l<eb«n«ll«Her.
Vre8<!eu, (All Ne!88ner.
lt«ioriil, t»s!">?ut«<ne. LMIter nur Inrseruuz
6«! UumunitÄt. I V, "ul,r3. riel. 17-18. 8dnlß8-
lieiT; i. ?r" Ur»i«, u»<! Vrber.
I U « ^ « I i i , N. u n < I 2 » 1 1 « , 0,. I,eu«8 Iwlieuiscb-
H«ut8«de8 uuH Äeutzeu i u > 1 1 « u I « c ! ! « « "'ort«r-
bucn. 4. I "leierung, Lelpllz, L. ?»uc!n:!li.
"iotor. !>., I.e Leepti,,!!« lo.vlll. ?»rl», Llbilo-
tbixjue Hrlllslique el Imitier»! r«.
Koilerloli, H., XunzUerlalul«!!. UnM«re«!ie».
II ! » »tri rt von Q 8e!!ner. 8tutt«2rt, v«nl«cue
Verl8z8'Hn«t»lt.
Lelmeial, X" Die XrMli. V<«u«n«ib»n äe«
üüeutllcuen l«oen8, II. "»nrzlmg. Üelerunss
18-51. L«l!in, V. H. 8I«IM.
Lobult», "u»«t8«»ebiente. Uelerunl 5.
Lerlln, N. Urote'üene Vell»«8bnon>>äl.
l3«liuli«>8ollnu<!t, L" "»miciu». — II Lliec«»-
eelio. 2«"«l Novellen, vrexien, 0. »el >H»«r.
Lelivsj"sr l.«rc!i«l»t«l<l, H. v., Die Oou«u
»18 VoUlerve?, 8cblM»!!rt«8tl»88e ui«l lleiZe-
ruut«. Illt 3«<> XdbUÄunien uns "»nen.
Uelrg. 11-15. Vieu, H. UlMieben.
8e««5»»t, rrut. Dr. U., "'uuer-«unln? Nu«
lre!m»urerl»on« Letnledtunz. LerUn, I!. ««!<!-
»eduiiÄt.
8»i«li, H., X"nete. vr»m» w srei ."cten.
ve>i!«cb von Inereze XrUger un<! Ott« Lilci
UIINieben. Lerlln, 0eut5cl>e 8cnriN8teUel-
l>eno,«ü?u8od»lt.
8l»iN«l«r, 0., I!»ll»<!en. 2»r!e!i, 4. UlUler.
8t«»«li>»2lu, 11" v«8 Uor»Uu8 8c!>ün8l« l,l»<ier,
L»8ei, L, 3eu»»be.
8ti"«!", Dr. r" Nie !M«8ten 2«lt«u öe» Lb«»!«r,
»u 8ti»l8lln<i 1UN7-1834. lün «eltr»g lur
Ne8enlente <le8 «lentzclien Iue»ter8. 8li»l«!i!,!,
Verwß 6er X»nl8l!eben ll««leiuuz»'Lncb-
«Iruckurei.
LtruoK, llr. V.. 0»« LUnänl«« Vilnelm« von
>Ve!m»r mit (!u»t»v "Holl. Nn Lellr» ß inr
Ue8cl>iot!te <ios >!le!8l>izKIINgen lirieze? .
8tr»!«ui«i, Veri»8 <ier XonlgÜebe» lieLiernngz-
Luoudrueiierel.
suttner, H. N. v" l!lu vimnn, Lom»» »u« <ier
Uegeuwt. I»l«8ä«n, 15. l-.erzon.
Vlotori». Ulu8tr. 2eil«ellr!N lur vuter!»n,l>8cd.
8purt unÄ Ili!e388enxi«8e3 I i H ä I » b re i i . Hell I.
Lerlln, Huelce iml Nrulm»>.'!«l.
VllloenU. C. >> Lrlebt«» uns !?»!,ullrte«. vre»-
Hen, D, ?!er»un.
Vi«l", u. c:,. vi-KunÄen uns «elü« llnr «üntner-
k»r8«uun6. 8tr!e8»u, >. Noumlmn.
Nedigii! »!,!« vnan!w»«l ichsei! !»» y«»u»g»b«».
3chl»fi!che Vnch!>inl5»n!» K»nst« un!> v«!a«»>Anftoll o. S. 5ch»«l»»nl>n, VI»!«».
Ui,be»!h!!»«»i Nochdiuck »n» d»m Inhalt ü!»s« l«<»lchr!ft »nlers««!. U»l>»il»«,nng»«ch» »«b»h»ln!yv
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~ 1895sr. 1'riLCtlO k'ÜlWNF. 1895«. ~
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MmM.,!l!!.!!l!l!l!ü! NN NN »!»>!ll!l.jl!!!»!!!!!!!»!!ll»IIMlljM,MI
«
Ustle^soisono llopnts in «len 8>'ü88t«n 8tä<lton »lies W«lttli«il»,
"tüi'licK "ndlcrßauicS Mineral ~33cr.
Im Hin~elnvcrl<2us wird 623 odi^e XVa^ßer, ~et?t wie
ful~t dcrecknet: —
I ncluzive
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6e« ~V238el8.
ci23 leere (~etAzz.
25 ?s.
1/1 l"!25cKe
30 i's
5 ?s.
20 ..
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Vi r,x
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5 ..
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1/2 Kru"
26 .
3 ,.
23 ..
X«,u2ied dei »Heu H,potdeKeru uuä ülliuerHIvs.zZei-Hänälsi'n.
INc "?0I.IMäKI5 cO«!?^.
A.ĻA
.AAAīAAAĻAZ
December 18Y5.
Inhalt.
Sei«
Lmil 5choenaich~arolath in Palsgaard-Iuelsminde bei tzorsens
(Dänemark).
Philemon und Vaucis 27?
Richard Roehlich in Vreslau.
Lin fürstlicher Dichter. (Plinz Emil zu Schoenaich-Earolath.) 288
J oseph loesten in Röln.
Aus Düsseldorfs Glanzepoche. Ungedruckte Vriefe von Feliz Mendels»
sohn-Vartholdy) 308
<L. Maschke in Breslau.
Rußland in Lentralasien. (Schluß.) 31,6
Vertha Katscher in Baden (Nieder»Vesterreich).
Freidenkerin und Theosovhin 337
August wünsche in Dresden.
Der deutsche Michel mit seinem mythologischen Hintergründe 3^9
Friedrich Wegmüller in München.
Der Witz. «Line ästhetische Studie 358
Mite Kremnitz in Vukarest.
5ein Vrief. Novelle 370
Bibliographie 402
Vibliographische Notizen > >'
Hierzu ein Portrait: Prinz «Lmil zu Sc~o: ai. ..,/\. .-
Radirung von Franz Roiich in i i — ' . t " . >.7
»Nord und Sld' «scheint »m Anfang jede» Monats in ?>,— ,. ! ~: «,n ,yv
~— ~— p«i» p« «llnanal <« Heft«) i ~ .. . ~.
All» »nchbandlnnaen und ponansalten »ehmen jederzeit Vestellnngen an.
Alle auf den redactionellen Inhalt von „Mord und .Süd" be,
züglichen Sendungen sind ohne Angabe eines Personennamens zu
richten an die
Redaction von »Mord und Süd" Breslau.
Ziebenhufenerstr. <<, <3, <5.
Beilagen zu diesem Hefte
Uno», ssre». OiN a» «loh» In Kopenhagen, sMallina, Die Flau <?ouuerneurin uan pari»,)
«. 0. «ehmann in Dresden N, «Schulz, vcr kleine Samariter.)
yv<. Neumann in Neuda,»,», IVölsche, tntmickelungzgelchich!» der Natur.)
Ci,r. Herrn. Tauchnih in leipzia. <k,!!pfehlen,weitt,e <8eschenlu»rle,)
ÄOoll lihe in te,p,!g, («mpfedlenlwerche Veichenswers»)
«chleMche !»uch»»a<l«»»l, «»«»» u. » < » I« « » 0 « Nft« U ». «. «ch, »«««»»« in Vreslau
<weil,nach!ss»!alag.)
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bis December 1.895), wie auch zu den früheren Vänden I — I .XXI V
stets zur Verfügung. — Ver Preis ist nur ~ Mark 50 Pf. pro Decke.
Zu Vestellungen wolle man sich des umstehenden Zettels bedienen
und denselben, mit Unterschrift versehen, an die Buchhandlung oder
sonstige Vezugsquelle einsenden, durch welche die Fortsetzungshefte
bezogen werden. Auch ist die unterzeichnete Verlagshandlung gern
bereit, gegen Linsendung des Vetrages (nebst 50 Pf. für Francatur)
das Gewünschte zu expeoiren.
Vreslau.
3chlesische Vuchdruckerei, Runst- und verlags»Anstalt
v. 5. 5chottlaender.
(Vestellzettel umstehend.)
UesteNzettel'.
Vei der Vuchhandlung von
bestelle ich hierdurch
„Nord und Süd"
herausgegeben von j?aul tinda«.
Schleiche Vuchdrucfeiei, Kunst» », veilagzanstal! I>. 5, öchoüluender in Urrzlou.
«zpl. Vand I. II,, III,. IV.. V,, VI.. VII.. vm., IX.. X..
XI., XII., xm.. XIV.. XV„ XVI,, XVII.. XVIII.. X1X„ XX„
XXI,. XXII,, XXIII,. XXIV.. XXV., XXVI., XXVII., XXVIII..
XXIX., XXX.. XXXI.. XXXII.. XXXIII., XXXIV.. XXXV..
XXXVI,, XXXVII.. XXXVIII.. XXXIX., XI... XI. I., Xl.ll, XI. III.,
XI. IV., XI. V.. XI .VI.. XI .VII,. XI. vm, XI. IX.. I... I.I., LH., I.III.,
UV.. I.V.. I.VI.. I.VII.. I.VIII., MX.. I.X.. I.XI.. I.XII., I.XIII.,
I .XIV.. I.XV. QXVI..I.XVII., I. XVIII. .1. XIX., I.XX..I.XXI.. I.XXII.,
I. XXI II., I .XXIV
elegant broschirt zum streife von «~i 6.—
pro Vand (- 3 Hefte)
fein gebunden zum streife von cyv 8.— pro Vand.
«Lxpl. Heft I. 2, 3, 4, 5. 6, 7, 8, 9, IN, „, 12, 12, l„ ,5,
,6, I?, »8, ,9, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 2«. 27, 28, 29, 30, 31, 22, 22,
2<5, 25, 26, 27, 28, 29, 5», Hl, 42, 42, 44, 45, HS, 47, 48, 49, 50, 51,
52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, KU, 61, 62, 62, 64. 65, 66, 67, 68, 69,
70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 7», 79, 80, 81, 82, 82, 84, 85, 86, 87,
88, 89, 90, 91, 92, 32, 95, 95. 9«, 9?, 9». 93, ~oo, IUI, 102. ,02,
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202, 202, 204, 2>>5, 206, 207, 208, 2«9, 2,0, 2„, 2,2, 2,3, 2,4, 2,5.
2,6, 2,7, 2,8, 2,9, 220, 22„ 222, 223, 224
zum streife von ~ 2.— pro Heft.
Einbanddecke zu Vd.rxxiV. Iluli bi> September 5895,
<kxv>. d«. zu Vand l„ II., III., IV., V., VI, VII., VIII.,
IX.. X. XI., XII.. XIII.. XIV., XV., XVI., XVII., XVIII.. XIX.,
XX, XXI., XXII,. XXIII., XXIV., XXV. XXVI., XXVII..
XXVIII., XXIX., XXX.. XXXI,, XXXII., XXXIII, XXXIV.
XXXV., XXXVI.. XXXVII.. XXXVIII.. XXXIX.. XI... XI. I'
Xl.ll.. XI. III.. XI. IV., XQV XI .VI., XI .VI I . . Xl.vm., XI. IX.. I..,
i.i., i.h., ni.. i.iv.. i.V., i.vi., i.vii., i.viii.. ux, i.x., i.xi.,
I.XII., I.XIII., I .XIV., I.XV., QXVI..1.XVII., I. XVIII., I .XIX., I.XX .
I.XXI., I.XXII., I .XXII I ., I .XXIV
zum streife von ~ ~,50 pro Vecke.
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Aord und SAlÄd.
Gine deutsche Monatsschrift.
Herausgegeben
von
Paul tindau.
I.XXV. Vand. ä€" Deceniber A895. ä€" Heft 225.
Vrezll au
Lchleslsche Vuchdruckerei, Kunst' und verlagS 'Anstalt
v. 5. 2chottlĻendei.
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Ohilemon und Baucis.
von
Emil Schaenaich-^arolnth.
— j)alsgaard'l uelsminde bei Wolfens (Dänemark),
VauciZ:
Philemon! sihilemon!
vie 3onne sticht, schwarz ragt der torbeerhain,
van fernen Höh'n naht eine Wetterwolke,
Virgt, veilchenfarben, ferner Vlitze schein.
Die Ziagen blöken ruhelos am Rain,
Und er, der Gute, ging zum Schnittervolke.
Mich bangt um ihn . . kein 3ichelton durchschwirrt
Die schwüle tust mit frohgeheimem laute,
Dies schweigen lähmt.
Wilemun:
Gruß vir, Du sorglich Traute
Den Rlippensanm Hab' mühvoll ich durchirrt,
Die Vöcklein abwärts scheuchend zu den wiesen,
Sie naschen gern am jungen Lchotenkeim
Der goldgebrämten giftigen Cythisen.
Gleich bracht' ich Futter für die Thiere heim.
Jetzt möcht' ich, müd' vom ungewohnten steigen,
Dankbar die stirn dem Hüttenschatten neigen.
Baucis:
Dem -chatten nicht, komm in den Sonnenschein,
Die Holzbank trag' ich in den Glanz hinein,
<Ls ruht sich gut an eigner Hllttenschwelle.
19'
2?8 «Lmil Zchoenaich-Carolath in Palsgaard'luelsminde.
Milrnwn:
Ach, theure Gattin, wo Dein lächeln weilt,
Herrscht Gabenfülle, süße Vaseinshelle.
Ja, wir sind glücklich, doch — die Zeit enteilt.
<vft spricht mein Herz in ruhelosem 3chlage:
Ein Ende droht dem allerschönsten Cage,
längst wurden schräg an unsrem Z?fad die -chatten.
Ach, altersgrauer, treuer Weggefährte,
Daß doch die Jugend ewig, ewig währte!
Wllcmon:
vergiß nicht, liebste, wie so gut wir's hatten,
was Götterhuld uns sterblichen erlaubt,
Du streutest es als sanften Rosenregen
Mildherzig, freundlich auf mein altes Haupt,
Dein Thun war Glück, Dein Tageswerk war Zegen,
Und täglich noch nimmt Deine Güte zu.
N2uci§:
Der 5tärkstc, Veste, schönste warst stets Du.
Milrmon:
Dem Tage preis, der Dich mir angetraut.
Wir liebten uns, doch zwischen fahlen Myrten
schlich Hungersroth, die «Lumenidenbraut.
Poseidon doch hat unfern Gram erschaut:
Im wilden 3üdsturm brandeten die 3yithcn
Gla», gischtbekränzt zun, Alippenstrande her . .
Vaucis:
Da rissest Du, zu retle» uns von Mangel,
An hochgeschwungener, dreigezackter Angel
Den silberfetten Thunfisch aus dem Meer.
Ich aber floh schnellfüßig von den Klippen
Und küßte Dich, dcß Arm noch straff vom Fang,
3alziibeischäumt, den Nacken mir umschlang,
Helljubelnd auf die üriumphatorlippen.
Mllemon:
wie warst Du schön! wir schritten durch die Nacht,
Auf fremden Vergen hielten Hirtenfeuer
Hochrolh und einsam stille Höhenwacht,
Im 3üden stand, goldäugig, erdenfein,
Des liebesglückes großer Funkelstern.
Aus palmenübcrdunkeltem Gemäuer
Hob sich das Moosdach, unser «krdenheim;
philemon und Vaucis. 2? H I
Du trankest scheu vom selbstgebrauten Seim,
Dann, schluchzend, bang, im heißen Rosenhage —
Bauriß:
G schweig, « schweig . .
Mllemon:
Starb uns in Seligkeit
Her jungen Sehnsucht herbe, letzte Plage,
«aucis:
Sie ging dahin, die nie verschmerzte Zeit.
Wilemon:
(!) kehrt zurück, ihr honigschweren Tage.
Nlluiiß:
wie ward er alt. Ihm senken sich die lider,
<Lr nickt, er schläft. Ach. kam' die Jugend wieder!
Wer Wanderer:
Ihr Friedlichen! «Luch fiel ein seltnes loos.
Ach, daß sie schlügen, treuer liebe Flammen
Um jedes Herz, auf jedem Herd zusammen,
Dann tagten lenze, herrlich, zukunftsgroß.
Dann könnten Götter diese Welt erwählen
Um, ungestraft, sich Menschen zu vermählen,
weich' mir vom Haupte, großer Sonnentraum.
Reut Eure Hülte dein verirrten Raum?
Vaucis:
Ein Gast, ein Gast! Seit sich zum Dorfe fenkt
Der Händler Pfad, ward uns kein Gast geschenkt.
Dem Tage Heil, der Dich uns zugeführt —
philemon, stink, jetzt wird der Topf gerührt.
Mllemon:
«Li» Gast? vernehm ich recht? Freund, nimm vorlieb.
Gleich stammt das Reisig, Ruhe Dich im Sessel,
Und, Vaucis, was Du Gutes hast, das gieb.
Vaucis:
Zum Feuer hebe mir noch rasch den Ressel,
Dann tummle Dich, vom Gältlein bring herbei
Mir reichlich Minze, Rüben und Salbei,
Gleichzeitig schaff den Mischkrug aus dem Keller,
Trag' sänftlich ihn, dann hält der wein sich Heller,
Und hol' mir endlich, wenn Du fertig bist,
vom Doch dies Ranchfieisch, das ich längst vermißt.
281) «Lmil 3ch«ena!ch>Earolath in valsgaard^luelsminde.
Milemnn:
laß. Vancis, mir den Herd nur nicht erkalten!
Nüuciß:
Hier steht der Cisch, doch ach, g»r speisenleer.
Vei Wanderer:
Ihr lieben, guten, mildgesinnten Alten,
Mich zu bewirthen fällt nur Reichen schwer,
verächtlich oft wies ich vom tebenstische
Des Reichthums fette, goldgeschuppte Fische,
Denn Selbstsucht war des Prunkgelages Rem,
Doch Ihr bewirthet sonder Arg und gern,
Drum brech' ich derb von Euerm Aleienbrote,
Und es behagt mir Luer wein, der rothe.
Nsucls:
wie treulich ehrt er nns're rauhe Host!
Hör' an, f>hilemonl Unler'm Heerdesrost
Vriet heut ich Aepfel; wollt' Dich überraschen.
Milemon:
V Gute, nimm sie hurtig aus den Aschen
Und wisse denn: im Vienenstock verwahrt
liegt Honig noch, den ich Dir aufgespart.
Vring' Alles her, den Fremden wird's erfreuen.
Ver Wanderer:
Ihr Guten gebt; es soll «Luch nicht gereuen.
Gern mag ich rasten, wohlbetischt und warm,'
Doch stammt ob Unbill, unterwegs erlitten
Im Hirtendorf, zu Haupt mir jäher Harm.
Fluch jenem Vrt, den quer mein Stab durchschnitten,
Dies Volk ist schlecht.
Milemon:
Hart auf Erwerb versessen.
Doch schlecht? V nein.
Vcr Wanderer:
Freund, Schulden zu bemessen^
Ist Richteramt nnd ziemt nur mir allein.
Als Nettlei kam ich, weil aus Vettlerwunden
Ein heil'ger Strom zur Menschheit niederquillt.
Vis daß der Gottheit liebesdurst gestillt.
An jenem Strom, der suchend heimwärts geht,
Harrt, Weltenschicksal wägend, der vrophet.
Mich hetzten sie mit magergelben Hunden,
Die Sichel schor den goldne» Gerstenhag,
Mir ward, statt Speise, Hohnwort, Knüttelschlag.
Philemon und Vaucis. 28~
In jedem Haus, dem ich mein Heil befahl,
Hielt die Genußsucht breit ihr Vacchanal,
Dort lagen sie, die grasse 3elbstsncht säugend.
Am Futtertrog, vergleichbar schwarzen 3tieren,
Die, wiederkäuend, trag, im Nahrungsgicren
Dem großen Zchlachttag stumpf entgegen äugen.
Der Tag kommt bald.
B2uc>§:
«LZ bricht Gewitterglanz
vom Vlick des Fremden. Rieth' ich seinen willen!
Mllcmon:
Noch hungrig blieb er wohl. Vaucis, im 5tillen
Erwog mein 3inn: wir opfern ihm die Gans.
VauciK:
Das treue Thier? weh, wenn sein Zahn sie nagte,
5ie ward uns Freund, die kluge, hochbetagte.
l?hllemon:
Ach, Haftpflicht mahnt, wir müssen standhaft sein;
Das Messer schärfe sacht am Kesselstein,
Ich will alsbald mit unsres Festes Vrocken
Aus ihrem 3tall die Hansgenossin locken.
Dann, ahnungslos, wenn sie das Mahl genießt,
Trifft sie der Tod, der jedes Glück beschließt.
Ich habe Muth! Voch, Aaucis, immerzu
War' es mir lieber, schlachtetest sie Du.
Vaucis:
Ich? Nimmermehr, herzloses Ungeheuer!
Voch ... Du Haft Recht. Das finstre Werk geschieh'.
3« schlachte sie, doch thu dem Thier nicht weh.
Ver Wanderer:
welch heil'ger Duft umflort ihr Hüttenfeuer.
An dieses Herds verglommner liebesspur
Erstarkt mein Wunsch »ach Glück auf Erdenstur.
Halt ein! Nach 3peise lüslet's mich nicht mehr.
Nach Euren Herzen doch !rag' ich Vegehr.
wir wollen tranlich um den Tisch uns reihen,
Und, redefroh, der Rast ein Ltündlein weihen,
sprecht. Eures lebens langgemess'ne Zeit
3chuf Euch viel schweres?
Wilcman:
Herr, nur Dankbarkeit,
NauciZ:
Der Gute hier trieb uns vom Haus die Plagen,
Mit solchem Gatten ließ sich Alles wagen.
232 Emil schoenaich-Earolath in sialsgaard'l uelsminde.
IMIenwn:
Doch ohne Vaucis hält' ich's nicht ertragen,
Nauriß:
Craut nicht dem wort — die liebe sprach darein.
Vcr Wanderer:
Freund, Euer Glück berauscht gleich jungem wein
Deß herber Duft hat meinen Mund beflügelt,
Nun traut «Luch Wünsche, zahlreich, ungezügelt.
Den wirthen zollt der Gastfreund ein Geschenk,
Des guten Vrauchs, des alten, seid gedenk. . .
Milemon:
, Ja, damals gingen Götter noch auf Erden
Ver Wanderer:
Nicht traumhaft lallt die gute goldne Zeit
Aus Märchenmund, — sie lebt, sie prophezeit,
Ihr Priester naht, es reißt sein Mantelschooß,
Und blendend klafft vor frommen Hültenheerden
Der wunscherfllllung Goldschatz königsgroß —
Milenwn im» Vaucis:
V laß noch einmal, einmal jung uns werden!
Wer Wanderer:
wie steigt so wild mir Schöpferkraft zu Haupt,
Ein sonnenstrom, der jedes Vett verloren,
Der »»gebändigt, spottend jeder Furt,
<Lin jedes Herz, das werth der Neugeburt,
Heimrauschend trägt zu weißen siegesthoren.
Gewährung soll Euch sein, weil Ihr geglaubt,
sihilemon, geh, und taste Dich am Ztocke
Zum heißen Gältlein, aus der Vienenglocke
Vrich Dir den letzten süßen Honigseim,
Dann auf dem Vänklein ruhe, wunschvergessen,
Denn nur ein schlaf im schatten von Eypressen,
Der kurze schlaf bringt Jugend wieder heim.
Nun neige sanft Dein Haupt dem kühlen taube ...
Vauriß:
sein Fuß ward schwach, er glitte leicht im staube.
Herr, er ist alt, ich lass' ihn nicht allein.
Der Wanderer:
Auf, mir zu Füßen fiattre, fromme Caube,
(exlt plvll'nio,,
Ich und mein Werk, wir müssen einsam sein.
Nur, wer sich tief der Einsamkeit befahl.
Hört rauschend nahn des singschwans Goldgefieder,
Und jubelnd steigt aus süßer schöpferqual
sein Werk hervor, sein Rind, sein lied der lieber.
— Phil einen und Vaucis. 283
Noch zweifelt ei, durchschüttelt, sturmverstört . . .
Vrich denn herab zum Marschen Myrlenstamme,
Du grüner lenz — hier ward ein Glück erhört,
ven Götter Heil, und phrygiens 5onne stamme.
Nauiis:
Nile ward mir? Wonne faßt mich. Uferlos
versintt die Nacht, es schwimmt durch Frühliugsweite
Mein Herzschlag hin, so reich, so jübelgroß.
wie bin ich selig, selig ich Befreite.
Nun kehre heim, mein erster liebesruf,
Zu dessin Vrust, der neu das Glück mir schuf,
Der J ugend, J ugend mir zurück gegeben.
Ver Wanderer:
viel höher noch soll Dich mein Arm erheben.
2o juble denn, Du meiner Träume Kind,
Veransche Dich am jungen lenz, erwache,
Mit herb gebä'umteu rothen tippen lache
Dein licbeswort dem frischen lebenswind.
Du bist erwählt, bist Göttern angenehm,
Auf Deiner 5tirn, im Zeichen jungen Ruhmes
Trag froh die Krone des Hellenenthumes,
Der ew'gen Schönheit Ltrahlcnoiadem.
Den 5chöpfer bannt ein tiefer Hoheitsglaube
vor sein Geschöpf, daß er bewundernd stehe. . .
Naliciß:
V gieb, daß nie von meinem Haar zum staube
Zurück Dein Kranz. Dein bliitheniother, wehe.
Vcr Wanderer:
Erzittre nicht. Zu meinen Füßen zieht
Der 3onnenball, und hinter Myctenbäumen
Vlcibt er, gluthstarrend, haften am Senith,
Um ewig über unserm Glück zu träumen.
Erhöre mich, dann wird dies Wunder Dein,
Und meine Kraft verbürgt Dir Herrscherehren;
Unsterblich sollst, mir anvermählt, Du sein.
Dein liebeskuß soll uns den Ruhm bescheeren
Als Cistlingsfohn; der schütte kraftgeschwellt
3ein gleißend Füllhorn auf die schwarze Welt.
Doch Vpfer nur, die vorbedingungslos
Trifft vom Vlymp der heil'ge Vlitzesstoß,
5o schmelz' ich Dir die spröden Panzerhüllen,
3o raff ich jubelnd Deinen jungen leib
Im Vlüthensturm hinweg, mein Werk, mein Weib.
28H Emil 5ch«enaich»Earolath in Paligaard'l uelsminde. -
Bllucis:
weh mir, laß ab . . . Dein Wunsch birgt kein Erfüllen,
vernichtend, unermeßlich war der Wahn
Und tief der schmerz, den Vu mir angcthan!
Ver Wanderer:
lähmt Sagen Dich? willst Du dem Glück entrinnen?
Kannst Du die Glnth, die vir nm's Haupt ich stecht,
vergleichen mit des Hüttlein- lampendocht?
Vist Du so klein? Vaucis! Kamst Vu von sinnen?
NlluciZ:
V habe Dank, daß Du mich recht benannt
Und mir den Erdenheimruf zugesandt,
wo bleibt philemon?
Vei Wanderer:
Du dem staub Getreue,
Die vu zum großen sonnenstnge trag,
schon hängt an Deinem lippensanme schräg
Und schwer des Glückes Gegeiilast, die Reue.
Ach, daß Dein Heiz so schwer sich lösen kann
vom Ehejoch, dem plumpen Zweigespann.
Dein Gatte nahe, dann mit schmerz und Grauen
wirst Du das Zerrbild Deiner Schönheit schauen.
Mllcmon:
Zum ersten Mal hat Vaucis mein vergessen.
Doch, sorglich wohl, schafft sie dem Fremden Dank.
Auch mir gewiß bringt sie zur Gartenbank
Nebst dem gewohnten milden schlummertrank
Ein Vröcklein Abhub, der da blieb vom Essen.
Vaucis:
Versucher! Ziehe Deines Wegs allein,
vir ward die Welt; dies welke Haupt bleibt mein.
Vcr wandern:
so willst Du, taub dem Auferstehungsruf,
Zum 5taul> Zurück, der Armulh nur vir schuf?
vu, die bestimmt zu großer Ziegesreise,
Entwichest mir, Dich flüchtend zu dem Greise,
In seiner last mühselig heimzutragen
5iechthum und sünde, Tod und Vettlerplagen,
Vie stirn gefurcht, wenn Erdensonnen stechen?
Nein, liebesrosen, volle, sollst Vu brechen.
An meine Vrust, aufscheuernde Gestalt,
Ich bin die Kraft, bin lebe», bin Gewalt,
Empor zu mir! In zügellosen Flammen,
I n ew'ger J ugend stürmen wir zusammen,
philemon und Aancis. 285
Daß der Vlymp sich unseim Glück vermähle!
Dort schläft der Greiz — hier steht Dein Gott: Nun wähle.
2ieh dies Geschöpf, von Alter-Iast gedrückt . .
Nlluciß:
Reiß mir vom Haar den Kranz, der mich berückt
Ein 5iegesheld in Deinem Himmel bleibe,
Allein auf Erden laß den Mann beim Weibe.
Ver Wanderer:
Mein Werk mißlang V großer liebespfeil,
Den sehnend ich, von Veutcdrang geblendet,
In wilder Kraft der Menschheit zugesendet.
Du lehrst zurück, fiugzitternd, ohne Zeil.
Du stillte rst Heini, von Herzblut tief geröthet,
Doch mein Vlut ist's, und mich hast Du getödtet.
!V«l>ciß:
wach auf, f?hilemon, Lieh, hier weilt ein Mann,
Der darbend kam, der uns als Gast gehörte,
Der zauberkundig, durch Veschwörungsbann
Dein Weib verlockte, meinen 3inn bethörte.
Umgarnend warf des Perlenfischers Hand
Mir über's Haupt der Schönheit Netzgewand,
verstrickend mich im goldnen Maschenregen,
Und um ein Haarbreit war' ich unterlegen.
3o lohnt der Fremdling Vbdach, labetrank.
Ver Wanderer:
Nun soll, philemon, einmal noch in Vrausen
Der Jugend 2üdwindstoß Dich übersausen,
Mllemon:
Den rost'gen lagdspcer fäll' ich. Dir zum Dank!
Durch diesen 5tahl, der wolfsblut oft geleckt
An meiner schwelle seist vn hingestreckt,
Noch wehrt mein Arm lichtscheuem Raubgelichter.
Ver Wanderer:
Unholdes Paar, deß Vlick der Irrthum deckt,
vor «Luch steht Zeus, der große Heizensrichter,
Erhebet Euch, und wisset: mild gebucht
ward Eure Schuld; Gott selbst hat Euch versucht.
Erneuter J ugend blitzend 3lirngehenk
Es war zu groß, zu herrlich dies Geschenk.
Gerüttelt seid, im 5 türm von Haß und lieben
Ihr schuldlos nicht, doch menschlich wahr geblieben;
Ich bin Euch hold, und eh der Al-endschatlen
von dieser 3tätte meine Wegspur weht,
will ich erhören Euer Nachtgebet
Und einen Wunsch, den letzten, Euch verstatlen.
286 Lmil 2choenaich°Carolath in Palsgaard>luelsminde.
Mllenwn und Bauriß:
Nimm uns vom Haupt die Gluth der ew'gen lenze,
laß uns, nicht ahnend unsres lebens Grenze,
An einem Tag, in einem Russe sterben.
Vcr Wandeier:
<Ls sei, doch J ugend sollt I hr dennoch erben.
Auf Erden schon wird «kurer liebe 3trom
Unsterblich stnthe», wird in vichtersagen
Zurück zur Welt, der götterlose», tragen
Des Griechenlorbeers herbes Duftarom,
Nun, hehre Jugend, die mein Vann beschwor,
Kehr jubelnd heim zum rothen Rosenflor,
Zu Frühlingssonnen, die sich niemals wenden,
laß dieses f>aar erfüllen und vollenden
Ihr loos, das tragisch dunkle, Mensch zu sein.
Kehrt heim und ruht im Erdensonnenschein.
Wileman:
war Alle? Traum?
Bauriß:
(!) Glück des Auferwacheni!
Milemun:
Nicht ist's denn wahr, daß wild ich schwang den Spieß,
Bauriß:
Und CÄuschung bleibt es, daß mein Herz Dich ließ.
Milemon:
Dein Herz? mich? — Komm, mein Mund quillt frohen lachens
wir wollen plaudern, auf dem Vänklein ruht
Im 2onnengold es sich so gut, so gut.
Bauriß:
Ein Kranichpaar im Aether seh ich kreisen,
Es strebt im Heimweh neuem Frühling nach,
pljilemon:
Mein Vlick erlosch, mein Aug' ward trüb und schwach.
Der Göiter Huld beschirm' ihr Heimwärtsreisen,
M3g' ihnen bald auf frommer Hütten Dach
Ein neues Nest, ein sturmessichres, werde»,
wir aber freun' noch friedsam uns der Erden.
Bauriß:
Zwei Kinder sind wir, die durchs Ernteland
Nach langem Fest heimwandern Hand in Hand.
Mileman:
Und deren lippen, eh' sie müd' sich schlössen
Am Wegessaum, im letzten Sonnenbrand,
Für Alles danke», dos sie reich genossen.
sihilemon und Vaucis.
28?
Vcr wiliiderer:
Aus so viel heil'gem 3terbcfrieden rauscht
Auch mir zu Haupt ein großes Abschiebsahnen,
«3« zieht Hera» auf Vffenbarungsbahnen
<3in neuer lenz, der Gottheitskränze tauscht.
Aus ferner luft hör' ich, prophetisch, klingen
Ein großes Flattern von Ellö'serschwingen,
Lin vemnthsgott wird wandeln durch die Zeit,
Um still, im blut'gen Ueberwinderkleid,
Im Fillhrothlicht den Stein vom Grab zu heben,
Nur dieser Go!t, nur er, wird ewig leben.
Kann brich zusammen, Griechenherrlichkeit!
Und dennoch schlugst aus tiümmeischweren wogen,
Du zum Vlvmp der Dichtung Strahlenbogen,
Und dennoch wirst Du, voll gewalt'ger Fracht,
So weit die Sonne stammend niederlacht,
Soweit der 3turm braust, dieser Welt voll Traner
Heimwälzen Deiner Schönheit Sehnsnchtsschauer,
Dies, Hellas, war Dein Glanz, bleibt Deine Macht.
Die Veiden dort im blühenden J asmine
Küß sanft vom leben, Freundin j)roserpine,
Doch ihrer Herzen heilig langen Traum
Veschatte still, von cw'ger liebe rauschend,
Im Spiel des Vlattwelks Roseworte tauschend,
Ein kraftgeschwrllier schwarzer lorbeerbaum.
Ich aber will, gelehnt am Pilgerstab,
Dich segnen, statte, die mir Gbdach gab.
Den wilden Wunsch, der mir zu Haupt geschossen,
Trug ich zu Grab auf goldnen Sonnenrossen,
Zerbrochen starrt der Sehnsucht Flammenspeer.
Auf unerfüllten großen ^cho'pferpfaden
Sinkt im Getümmel jauchzender Najaden
Der Gott zurück in's frühlingsgrüne Meer.
-?»
Ein fürstlicher Dichter.
(f>rinz Emil zu 5choenaich«<~arolath.)
von
Nichard Unehlich.
Vreslau.
irklich große Dichter sind ohnebin spärlich gesäet, zumal in jenen
hohen Regionen, wo ein auf das reale Leben gerichteter Ehr-
W geiz, verbunden mit sorglosen! Lebensgenuß, die künstlerische Art
der Weltbetrachtung, vor Allem die Neflerion, zurückdrängt. Zu den beiden
großen uud hochstellenden Poeten, die nnser J ahrhundert trotzdem hervorbrachte,
zu Vnron und Platen, tritt, von Wenigen erst, von diesen aber intensiv
gewürdigt, ein dritter, zeitgenossischer: Prinz Emil zu Schönaich'Earolath.
Wir wollen zu dieser an sich rein äußerlichen Zusammenstellung von vorn-
herein bemerken, daß der Neuromantiker mit dem Grafen Platen, dessen
weltliterarische Bedeutung vor Allen» in seinen Verdiensten um die Form-
reiuheit und erst in zweiter Reihe auf seiuer ~ vorwiegend aristophanischen
— Begabung beruht, wenig oder Nichts gemein hat; desto mehr mit dem
Briten, wie sich schon aus einem flüchtigen Blick auf die faustischen Probleme
und das erotische Milieu der beiden Künstler ergiebt. Eine in's Detail
gehende Vergleichung wollen wir uns für den Schluß aufsparen. —
Earolath ist am 8. April 1852 in Breslau geboren, wo, er unter dem
Einfluß feiner Mutter, einer hochbegabten Frau, die auch als Uebersetzerin
ernster wissenschaftlicher Werke thätig war, eine vielseitige und gründliche
Bildung erhielt. Seine Offizierslaufbahn, die er in Lolmar im Elsaß
nbsolvirte, war wohl auch aus diesem Grunde nur von kurzer Dauer:
deun das wenig anregende Garnisonleben konnte der reichen Individualität
des J ünglings nicht genügen. Ganz allgemein ist die Verfolgung
geistiger Interessen, verbunden mit einer leidenschaftslosen, unbefangenen
Weltbetracktung, die gelegentlich auch die Grenzen der üblichen Standes-
Lin fürstlicher Dichter. 28Y
interessen nicht achtet, traditionell im Geschlechts der Schoenaich-Earolath,
Wir erwähnen hier beiläufig den Prinzen Heinrich, den Reichstags-
abgeordneten für Guben. Litteraturkenner werden sich auch eines Herrn
von Schönaich erinnern, der als Gottschedianer freilich über den Zopf
. der vorlessing'schen Epoche nicht hinausgekommen ist. — Prinz Emil
machte es wie der unglücklich liebende Versen am Schluß von „Thau-
wasser": er ging auf Reisen, „von denen man meist nicht wiederkehrt".
Er saß am Lagerfeuer der Siour, er ritt im Samum der Sahara, er
jagte die Naubthiere des Orients — und noch heute erzählen dem Gaste
auf Schloß Palsgnard so manche Trophäen von den Gefahren, denen sich
ihr Besitzer entgegengestellt hat. Nach zwei Jahren kehrte er zurück, und
was er heimbrachte, war anßer den reichhaltigen Sammlungen vor Allem
die Kenntnih fremder Länder, ihrer Völker und Sprachen, auf deren Basis
das vornehm schöne, erotische Milieu der reifsten Earolath'schen Dichtungen
beruht. Und nun begann in dem stillen, wälderumrauschten Palsganrd am
großen Veit, auf däuischem Boden, ein Ringen und Schaffen, dem die
Krone künstlerischer Vollendung beschieden ward, nlo der große Dichter in
glücklicher Ehe mit einer Dame ans altem baltischen Adel auch sein
Menschenglück fand. Es war, bei der Jugend und wildgährenden Gemüths-
stimmung des Prinzen, nahezu selbstverständlich, daß er für feine erste
dichterische Bethätignng die subjektivste Kunstform, die Lyrik, wählte. So
entstanden die „Lieder an eine Verlorene". Es ist kein Wunder, daß hier
der Poet nur Töne der Resignation oder des wilden Schreis nach Selbst-
vernichtung (Eyclus „Westwärts", der von Freiligraths ausgewandertem
Dichter stark beeinflußt ist) findet, daß man von der erlösenden und befreienden
Wirkung, die der Goethe', chen — und von den Neuem auch der Greifschen —
Lyrik zu eigen ist. Nichts verspürt. Jede starke Begabung ist positiv; deshalb
konnte auch Earolath bei dem rein negativen Resultat der „Lieder" nicht
stehen bleiben, die auch, technisch betrachtet, seiner eminenten Schilderungs-
kraft nicht den genügenden Spielraum boten. Vor Allem aber ließ sich das
faustische, grüblerische Element nicht in den engen Rahmen des Liedes
zwingen.
Ein Dutzendtalent hätte seinen Schmerz in zahllosen Varianten ans-
gesungen und wäre dann verstummt; Earolath verallgemeinert sein subjectives
Empfinden und dessen Ursache nnd gelangt so zur Menschheitsdichtung. Er
sieht sich um und findet auf der weiten Erde kein Fleckchen, das frei wäre
von Thränen, die um eine Frau geweint. Und er wirft in der giganti-
schen „Sphinr" das Problem auf: warum ist die Frau urfalsch uud treu-
los? Die Sphiur, das Weib, selbst weiß die Antwort nicht', aber der
weise J ude, den der verzweifelte Guy fragt, löst das Näthsel in dem
wunderbaren Gleichnis; vom Schöpfer nnd dem Beduinen, nnf das ich später
zurückkomme« werde. Die Handlung des genialen Gedichtes selbst bringt
keine Lösung, denn Guy, der Mann, geht an Santa, dem Weibe, zu
290 Richard «oehlich in Vreslau.
Grunde, indem er sich auf dem Lager der schönsten Frau, satt vor Ekel,
selbst den Tod (siebt; so ist vorher umgekehrt die engelreine „Angelina" an
der Lüsternheit des Manuel zu Grunde gegangen. Ter ringende Künstler-
genius suchte nach einer harmonischen Lösung dieses Kampfes zwischen
Mann und Weib; er fand ihu in der erhabenen Menschheitsdichtung „Ton
Juans Tod". Es ist ebenso charakteristisch wie rühmlich für den Poeten,
das; er, seine eigenen Pfade wandelnd, zu demselben Schlüsse gelangt wie
der reife Goethe im Faust: „wer inimer strebend sich bemüht, den können
wir erlösen" und „das ewig Weibliche zieht uns hinan." So wird auch
Ton Juan, der sündige Genußmensch, erlöst durch die opferfreudige Liebe
eines reinen Weibes, mit der er, zum ersten Male im Leben freiwillig
auf den brutalen Liebesgenns; verzichtend, in sühnenden Flammen eingeht
zur ewigen Heimat, Tas Verhältnis; der Geschlechter, das bisher in
dichterischer Verklärung im Mittelpunkt von Earolaths Schaffen stand, hat
nun seine endgiltige Lösung gefunden und damit zugleich den Reiz zu
weiterer Behandlung verloreu. Was er schon in seinem Erstlingswerke
ahnungsvoll verkündete, daß nach Ueberwindung des eignen kleinen Leides
sein Herz der weiten Welt, der Menschheit angehören solle; was er in der
„Sphiur" klar aussprach, das; von der Frau der Ideenflug empor zur
Freiheit führe — das wird zur Erfüllung in der düsteren Novelle „Bürger-
licher Tod", in der er mit edler Herzenswärme für die Unglücklichen, die
unsere socialen Zustände in Elend uud Tod treiben, eintritt. Die parallele
Erzählung „Adliger Tod", in der er sich gegen die vielfach begegnende
Gleichgiltigteit und Geuunsucl,t de« Adels wendet, hat dem Prinzen natür-
lich viele Gegner erworben, wie wir leider auch in sonst sehr guten kriti-
schen Rubriken sahen, und auch die obenerwähnte Novelle hat mau vielfach
als eine Tendenzschrist bezeichnet, und Voruirtheit und böses Gewissen
haben ihr wohl gar einen ausreizcudeu Charakter zugeschrieben. Eine
Tendenz hat sie allerdings, aber die denkbar edelste: die Rückkehr zum
Evangelium der Liebe, die nach des Tichters Anschauung allein unsere
furchtbaren socialen Minstände heilen kann. Wenn freilich der passive Held,
der Schreiber Witthof, unter der ganzen Summe staatlicher und privater
Lieblosigkeit uud Brutalität zusammenbricht, so wird mancher vielleicht diese
Eumulation construirt nennen, nnd doch macht sie — leider — einen nur
allzu wahrscheinlichen Eindruck. Es ist der Geist des schuldlosen Elends,
das verhöhnt, mischandelt, durch die Lande schreitet, es ist Geist vom
Webergeiste. Earolath last seinen unseligen Helden ausdrücklich die Ge-
meinschaft der Socialdemokrntie meiden, die ihn wahrscheinlich gerettet hätte,
uud als äußerste Eonsegueuz zieht er »icht, wie Hauptmanu es that und
und thun muste, die Revolte, sondern die Weltflncht, den Selbstmord.
Traurig genug, das; zwei hervorragende Tichter zu so furchtbaren Schlüssen
unabweislich gelangen mußten. Earolath selbst nannte uns gegenüber das
Buch „kein Werk der Kunst, eiu Werk des Herzens nur"; er möchte es
«in fürstlicher Dichter. 2yl.
also wohl nicht als einen Vestandtheil, sondern eine Parallele seines rein
künstlerischen Schaffens betrachtet, und das zeugt von richtiger Einsicht;
denn seine Muse ist da zu Hause, wo sie in Gold und Purpur schreitet,
ein fremdartiges, wunderschönes Weib, nicht wo sie als graue Frau Sorge
durch Nacht und Elend wandeln muß. —
Mit der obigen Schilderung des Entwicklungsganges, in seinen Haupt-
stationen, glauben wir, gewissermaßen das Skelet gegeben zu haben, an
das sich die Details der folgenden Analyse zwanglos angliedern mögen.
Ueber das Erstlingswerk des fünfundzwanzigjährigen Dichters, die
„Lieder an eine Verlorene", läßt sich wenig mehr sagen, als daß sie
ein vielversprechendes Talent bekunden. Bei dem Cyclus „Westwärts",
der einen erheblichen Theil des Buches einnimmt, hat offenbar Freiligraths
ausgewanderter Dichter zu Pathen gestanden; die eine Nummer ist stark
von Lenaus Ahasverdichtnngen beeinflußt. Von der zauberischen Farben-
pracht und der Schilderungskraft, die dem reifen Earolath eigen ist wie
wenigen Lebenden, ist nur erst der Keim vorhanden, und häufig ringt der
Poet mit der Sprödigkeit des Ausdrucks. Dazwischen aber treffen wir auf
frappante Viloer und immer auf echt dichterische Empfindung. Die gleiche
Signatur trägt der rein lyrische Theil; doch seien hier als Perlen erwähnt
das Lied „grauer Vogel über der Haide" und die Schlußstrophe (vor einem
Dichterdenkmlll): „er ist so groß geworden und hat es so weit gebracht,
weil ihn ein ganz kleines Mädchen einst endlos elend gemacht." —
Doch schon in den „Liedern" zeigt der Autor einmal die Löwenklaue,
in „Sulamith", die auf der Höhe seiner reifen Schöpfungen steht. Cr
führt Satan ein, nicht als das böse Princip, sondern als den gefallenen
Lichtengel, der mit Gott hadert, weil er die Schöpfung für ein Stümper-
werk hält, weil er die Menschen unwerth erachtet der göttlichen Liebe, die
sie mit Weihranch umschwelten, in: Herzen aber frech durch Koth schleiften
— als wüste Travestie. Und scheinbar soll Satan Necht behalten. Im
Staube krümmt sich verschmachtend ein Vettler; — da naht mit flatternden
Fahnen nnd dem Palladium eine Pilgerschaar, unter Führung der Priester,
zum heiligen Grabe. Ueber den Elenden weg schreitet achtlos ihr Fuß,
klingt der Ruf der Priester: auf nach Jerusalem! und hundert stimm ig
schallt die Osterhmnne: Ehrist ist erstanden! Satan triumphirt: Du weift
Nichts mehr von Liebe, Du schöne Welt; nun bist Du mein, ganz mein.
Da zieht desselbigen Weges ein Maronitenweib mit ihrem Kinde, und als
sie den Verschmachtenden sieht, legt sie den Säugling zur Erde und bettet
das wüste Greisenhaupt an ihre keusche sanftgeschwellte Vrust. Dann ver-
hüllt ne ihr weinendes Gesicht uud weist den: Neubelebten den Weg.
.Und Satan blickte icaunaslos ihr nach
Mit den entgütciten, veiloi'nen Augen."
Das Gedickt ist in dein für seinen packenden Inhalt zutreffendsten
Versmaß, dem Blankvers, geschrieben; und wir selbst hatten vor einigen
Nord und Süd, I. XXV, 2:5. Zs>
2"2 — Richard Roehlich in Vreslau. ~—
Jahren in einem litterarischen Kreise Gelegenheit, die tiefe dramatische
Wirkung zu erfahren, die es beim Vortrage durch einen bekannten Recitator
ausübte.
Mit der Novelle „Thauwasser" betrat Earolath zum ersten Male
das Gebiet der Prosa. In Deutschland ist das interessante und fein-
finnige Bnch nahezu verschollen; dagegen hat es neuerdings jenseits des
Canals unter dem Titel „illsltinß 8n«/vv" die gebührende Würdigung
seitens des Publicums und der Presse gefunden. Die Benennung erscheint
auf den ersten Augenblick nicht recht verständlich. Thauwasser — das sind
die Wasser der Schneeschmelze, die das erste, das schönste Grün des
Frühlings begraben, weil es seine Zeit nicht abwarten konnte; so gehen auch
die heiligsten, innigsten Gefühle junger Menschenherzen in der plumpen,
eisigen Welt zu Grunde. Wohl war dieses erste junge Grün das beste,
das köstlichste, was der Frühling bot; aber es mußte sterben, denn es hat
gefehlt gegen das Gesetz der mählichen Entwicklung. So ist es auch ein
Naturgesetz, daß wir an unfern heiligsten Empfindungen zu Grunde gehen
müssen. So etwa äußert sich der unglücklich liebende Dichter Versen,
hinter dessen Maske Carolath felbst unschwer zu erkennen ist. Aber Versen-
Carolaths Anschauung ist doch nicht ganz richtig; nicht das Naturgesetz
trennt Gincinta und Vent; das thun die socialen Verhältnisse. Es ist
nicht eigentlich das uralte Motiv von den Königskindern und von Romeo
und J ulia, sondern ein viel brutaleres: das Geld. Wenn nicht der junge
Student sein mathematisches Staatsexamen machen müßte, um den Vater,
einen orthodoren lutherischen Pastor und die zahlreiche Geschwisterschaar zu
erhalten, wenn nicht die reizende und geniale Sängerin just bei ihrem
Debüt durch ihr Brustleiden der Aussicht auf Ruhm und Gold entsagen
müßte, kurz, wenn nicht der brutale Mammon wäre, so könnten sie der
hämischen, tückischen Welt lächelnd den Nucken kehren und glücklich werden.
In kurzer seliger Stunde haben sie einander angehört; „über sie hin gingen
die Thauwasser". Gincinta heirathet den Hofrath, ihren väterlichen Gönner,
und wird eine schöne fülle Frau, die eines Tages, vielleicht nach langen
Jahren, erkennen wird, daß sie innerlich längst gestorben ist. Der einst so
trockene Mathematiker, welcher von Poesie so verächtlich dachte, wird ini
heiligen Schmerze selbst zum Dichter, dein eine Handvoll Lieder an Gin-
cinta fast den Nuhm gebracht hätte, dann verstummt auch er. Und Versen
geht auf Reifen, von denen man ineist nicht wiederkehrt. Eigentlich sind
sie Alle untergegangen in den Thauwassern, schließt der Dichter; uns will
bedünken, als fei am Naturgesetz und an seinen heiligsten Empfindungen
nur Versen untergegangen. —
Das Buch ist in edlem, classisch schönem Stile geschrieben, — eine
Seltenheit in unserer Zeit, die zu Nichts Zeit hat, auch nicht zur Feile;
— es ist reich an psychologisch feinen Zügen auch in solchen« Genre, das
eigentlich außerhalb der Sphäre dieses Dichters liegt, und es ist besonders
Gin füistlichei vichter, 2<)3
bedeutsam durch die hohe Auffassung von den: Wesen echter Kunst. Die
Kunst ist ein Nessusgewand, das seinen Träger verbrennt; man kann sie
nicht ablegen wie ein Kleid, man muß sich ihr verschwören mit Leib und
Seele — so äußert sich vor der Undineaufführung Rossi-Kühleborn zu der
koketten Darstellerin der Bertaida. Und Nent, der die Poesie als nutzlose
Spielerei bezeichnet, erhält von der Geliebten die ernste Entgegnung: ein
fröhliches Herz fand niemals ein großes Lied . . . man soll die Poesie
achten, wenn man schon das Unglück hat, sie nicht zu lieben. Und Bent
geht in seine Kammer und wählt sich zwei Schemata: Bürgers Lenore und
Horaz' into^sr vitas, um auch einmal zu dichten; denn — sagt er sich —
die Hauptsache ist die Form, das System, das Uebrige wird schon von
selbst kommen. Es kommt aber Nichts, und der junge Student gelangt
nachdenklich zu der Einsicht, daß zur Poesie doch noch etwas mehr gehöre
als Rhythmus und Reime. — Humor ist sonst die schwächste Saite des
großen Dichters; mit dieser erquickenden Episode aber hat er ein kleines
Cabinet stück geliefert.
Das nächste Buch waren die 1883 erschienenen „Dichtungen". Da
sie jedoch in der 2. der 1893 er Austage an Inhalt und Werth derart er-
weitert sind, daß sie sich als ein neues Werk vräsentiren, nnd da sie das
Alleruorzüglichste enthalten, was der Dichter überhaupt schrieb, so wollen
wir sie, im Sinne des cr68esnäo, an den Schluß sehen und ihnen zugleich
den allerweitesten Raum gewähren. 1884 erschien das zweite Prosawerk,
die „Geschichten aus Moll". Die Specification dieses Titels enthält
der Theil des Motto: I», storm ä'intelioi amori, 111 trizts msluäia.
Die zehn kleinen Erzählungen, Märchen nnd Noveletten sind fast durch-
gehend auf dieses Motto gestimmt — mit Ausnahme des socialen Nacht-
stücks „Am Strome", dessen umgestaltetes und erweitertes Motiv später in
der Eingangs erwähnten Novelle „Bürgerlicher Tod" miederkehrt, und des
„Nachtfalter", in dem der Poet an dem Gleichniß einer verbrennenden
Phaläne den Kampf des ideal veranlagten Künstlergeistes gegen die
dumpfe, behäbige Gleichmütigkeit der Mittelmäßigen behandelt. In den
acht übrigen Pi^cen erklingt immer wieder das Leitmotiv der „Thau-
wasser", das Motiv vom Naturgesetz, das uns gerade an den heiligsten
Empfindungen zu Grunde gehen läßt. In den Geschichten aus Moll wie
in vielen der reifsten Gedichte, die zum Theil eine lyrische Eregese der
Prosaschöpfungen bilden, am frappantesten in der „Sphinr" — überall
kehrt der Gedanke wieder, daß über die kurzen, einmal genossenen Augen-
blicke höchster irdischer Seligkeit die Thauwasser brausen. Und wenn
doch einmal, wie in „Don J uans Tod", die Vereinigung erfolgt, dann
geschieht es gerade auf Kosten dieses irdischen Glücks; dem: Juan! und
Diava feiern in selbstgewähltem Flammentode eine rein seelische Ver-
mählung. Diese Auffassung, die für Earolath typisch ist, deckt sich zugleich
mit derjenigen des deutschen Volksliedes, in dem das Motiv von Scheiden
20»
29~ Richard «oehlich in Vreslüu.
und Meiden eine iveitherrscheude Rolle spielt. Und in der That ist
Carolath ein durch und durch deutscher Dichter, der im lachenden Sonnen-
schein, unter dem blauen Himmel, den Pinien und den» Lorbeer des
Südens immer von deutscheu Frauen, von deutschen Tannen, von nordischen
Stürmen und Schnee träumt. Bezeichnend ist hierfür die wundervolle
Schlußstrophe des Gedichtes „Letzter Tanz", in dem der heimkehrende Poet
die lugendgeliebte als eben getraute Gattin eines Andern sieht:
»Ich wollte, wir inten im nordischen Land,
Bon Keinem geliebt, von Keinem gekannt,
Im Schneesturm über die Haide;
Und dah Du rubt.st unbewußt
In meinem Mantel, an meiner Brust,
Und dah wir stüib: n Beide."
Auch sonst hat der Dichter in „Deutschland", „Gruß an Deutschland"
gerade seiner Heimatsliebe ein rühmliches Denkmal gesetzt. Es ist eben
nur der schönhe',tstrunkene Künstlergeist, der deutsches Empfinden gen: in
ein fremdschönes, erotisches Milieu kleidet, der den Edelstein in die
schillernde Fassung zu fügen liebt. So kehrt auch — um auf die „Ge-
schichten aus Moll" zurückzukommen — gleich in der ersten Skizze der
Ritter zur Heimat wieder, um auf den Trümmern seines verrathenen
lugendglücks zu sterben — oder, wie sich die Adlerparabel ausdrückt, er
breitete seine Schwingen und flog in die Nacht hinaus, in die schone,
Sternenleere Nacht, aus der es kein Erwachen giebt. An der Schwelle des
Todes bietet sich ihm ein reines, liebendes Herz, aber er iveist es zurück,
denn es ist mit einer großen Liebe wie mit der Abendsonne; ehe sie unter-
geht, ist sie schöner und herrlicher denn je. Und ebenso handelt der „König,
der sich t idtgelacht hat", weil er nach seiner betrogenen Jugendliebe nicht
mehr glauben kann. In „Echün-Lenchen" wird der geliebte, aber ver-
schmähe J unker zum Asketen, der die Beichte jener Frau ungekannt hört;
er entläßt sie mit den Worten: „Zieh' hin, Helene, Dir ist vergeben." Das
tiefsinnige Märchen „Die Konigin von Thüle" drückt die Auffassung von
dem Zauber gerade der verrathenen Liebe sehr treffend aus. Die Buhle
des Goethe'schen Gedichtes muß treulos gewesen sein, meint Günther
Stormeck, denn nur eine Frau, die uns uerrathen hat, die uns unendlich
wehe gethan, lieben wir bis zum Tode. In der Erzählung „Entlang den
Hecken" entsagt das liebende Mädchen freiwillig, um durch einen tiefen
Schmerz den Geliebten zur Höhe der Künstlerschaft zu führen — ganz im
Sinne der obigen Stelle aus „Thauwasser": ein fröhliches Herz fand
niemals ein großes Lied. Und derselbe Gedanke kehrt, zur höchsten Tragik
verschärft, als Eharlotte Stieglitz Motiv wieder in „Lia". Aber Lias frei-
williger Tod ist nicht nutzlos, wie das Opfer der Stieglitz; denn Giulio
wird ein echter Künstler, wenn er auch ein einsamer Mann bleibt, der sein
Lebensglück begrub.
Ein fürstlicher Dichter. 213
Das bedeutendste Stück der Sammlung aber ist unstreitig die
dramatisch bewegte Erzählung „Die Rache ist mein". Graf Barinski hat
seiner geliebten Naifsa entsagt, um einer hochherzigen Regung willen; er
erhebt eine scheinheilige Verworfene zu seiner Gattin, um sie aus ihrer
schlechten Umgebung zu retten, wie er meint. Spat gelangt er zu der
wahren Einsicht, bei einem Zusammentreffen mit Nai'ssa, die aus verschmähter
Liebe inzwischen seinen Vetter Trekuroff geheirathet hat, entdeckt er sich
der I ugendgeliebten, uud die Leidenschaft Neider flammt in einer schwachen
Stunde unheilvoll auf. Dann trennen sie sich; Barinski zieht als General
in einen schweren Krieg. Bei seiner Truppe steht auch ein junger Offizier,
Trekuroff: er ist die Frucht jenes leidenschaftlichen Zusammentreffens im
Park. Sein Wohl legt die Mutter in einem Briefe dem Geliebten dringend
cm's Herz; wenn er aus dem fchrecklichen Kriege wiederkehre, wolle sie an
Gottes Verzeihung glauben, dann wollen auch sie, entsühnt, sich wiedersehen.
Dieser Brief in seiner schlichten, einfachen Größe gehört zum Besten, was
Carolath geschrieben; er steht auf gleicher Höhe mit dem berühmten Briefe
am Schlüsse von „Frau Föhns" des Dänen lakobfen, des großen Dichters
von „Mogens" nnd „Niels Luhne". Barinsky will den jungen Mann, der
natürlich ohne eine Ahnung von feiner wirklichen Herkunft lebt, zum Stabe
kommandiren, um ihn den Gefahren der Schlacht zu entziehen; er läßt ihn
am Vorabend in fein Zelt kommen und weiß dort fein Vertrauen zu
weckeu, fodaß ihm Trekuroff auch feine geheime Liebe entdeckt. Es ist
dieselbe Verworfene, die einst den Grafen in ihre Netze zog. Uns will
dies nach einer Zeit von etwa zwanzig Jahren etwas unwahrscheinlich be-
dünken, wir ineinen, daß für eine moderne Erzählung der Dichter mit dem
Alter seiner Personen etwas gar zu — sagen wir — homerisch verfahren
sei; aber schließlich kann man sich mit der Thatsache beruhigen, daß es
ja wirklich Frauen gab, wie die berühmte Ninon, die ihre Neize bis in's
hohe Alter bewahrten. zTrekuroff, eine ungebändigte Tigernatur, beharrt
bei seinem Vorsätze, jene Fran heimzuführen, und wenn er über die Bahre
der Mutter schreiten müßte, und als sie der General eine Ehrlose nennt,
zieht er gegen diesen in höchster Wuth seinen Degen — gerade in dein
Augenblicke, als die Offiziere des Kriegsraths in's Zelt treten. Dem
Kriegsgesetz kann der Hüchstcommandirende sein Opfer entziehen; aber er
will wenigstens Raisso. schützen — vor ihrem nnd seinem Sohn. Noch einmal
ziehen vor seinem Auge verblühtes Glück und letzte Hoffnungen vorüber,
die er mit eigener Hand in's Grab stoßen muß; dann erhebt er sein vor-
nehmes todtblllsses Antlitz und commandirt mit fester Stimme: „Nicht zum
Stabe! Zum ersten Bataillon der ersten Angriffsstaffel!" —
Was Carolath in den bisher gewürdigten Werken niedergelegt hat,
würde genügen, seinen Namen mit größeren. Rechte als manchen zehnmal
aufgelegten Modedichter unter den Besten der zeitgenössischen National-
Litteratur aufzuführen; ein ruonumßntuin aei-6 psrsnuili8 aber, die An-
2Z6 Richard «oehlich in Vreslan.
wartschaft auf einen Platz in der Weltlitteratnr hat er sich erst durch die
„Dichtungen" geschaffen, in denen er als Lyriker wie als Schöpfer der
Menschheitsdichtungen „Angelina" und besonders „Sphinx" und „Ton
Juans Tod" eine überragende Größe bekundet. Was uns den Lyriker
Carolath vor Allein so fesselnd erscheinen läßt, ist die tiefe Innigkeit echter
Empfindung, der die Spielerei mit anempfundenen Gefühlen fern liegt. Bei
diesem Dichter ist jede Zeile erlebt, — freilich m'cht in dem Sinne jenes
findigen Staatsanwalts, der anläßlich des bekannten „Märchen"-Skandals
äußerte, jedem Kunstwerke müsse nolhwcndig ein concretes Ereigniß zu
Grunde liegen. Dann 'gäbe es allerdings nur noch eine naturalistische
Kunst, und jedes noch so kleine erotische Gedicht z. B. müßte ein physisches
Substrat zur Voraussetzung haben.
Im künstlerischen Sinne ist dies Postulat der plumpen Materie
äußerst gleichgültig; es genügt — und dies wird auch mit wenigen Aus-
nahmen die Regel sein — wenn die dichterisch erfaßte Situation seelisckes
Eigenlhum des Schöpfers war. Mit dieser für jeden großen Lyriker un-
erläßlichen Eigenschaft verbindet Carolath eine weiche Melodik, eine kühne,
bilderreiche Sprache und, nicht zuletzt, eine vornehme, edle Weltanschauung,
die in Verbindung mit seinem fremdartig fchönen und doch fo heimisch
traulichen Milieu eine Individualität ergeben, welche so stark und eigen-
artig ist, daß der Kenner die Lieder dieses Poeten unter Tausenden
herausfindet, wie der 'junge, als Kritiker wie als Dichter gleich hervor-
ragende Karl Busse in einer seiner zahlreichen, trefflichen Earolathstudien
mit Recht behauptet hat. In formaler Beziehung hält sich der Dichter von
allen Künsteleien fern. Fast ausnahmslos verwendet er, in verschiedenen
Rhythmen, die gereimte, vierzeilige Strophe, und von strengern, schwierigem
Formen gebraucht er nur das Sonett, dessen Quartette er bisweilen nach
dem Reimschema der Siciliane behandelt, origineller, dafür aber weniger
glücklich, ist seine Neuerung, die beiden Dreizeiler an den Anfang und die
Quartette an den Schluß zu stellen.
Carolath hat ganz Recht; denn der ungekünstelten Empfindung ent-
spricht auch am besten der ungesuchte Ausdruck. — Wie weich und ein-
schmeichelnd klingt gleich die erste Strophe der „Hollnnderrlüthen":
Es ist ein Npilltog im Süden,
Ein Tag gar süß zu verträumen,
Die Vlüthen, die weißen, müden.
Gleiten still von den Bäumen.
Als Beweis für die kühne Bildlichkeit seines Ausdruckes diene eine
Stelle aus „Don Juans Tod"; dort vergleicht er Dianas verschleierten
Augenstrahl mit Lampen, die durch Alabaster brennen; und anderswo
sagt er von der Geliebten, die ihn verrieth, das bunte Leben brause
über sie dahin, wie die schimmernden Wogen über die versunkenen
Städte lulin und Stavoren. — Durch sein gesummtes Schaffen
«Lin fürstlicher Vichter. 29?
geht ein Zug edler und vornehmer Gesinnung (z. B. im Cyclus
„Fatthume"):
Auf Wanderschaft von tiübei Art
Zwang auch ich duich's Leben
Ein büßend Herz, dess' Wahlspruch ward
Geben und «ergeben.
Diese Gesinnung läßt ihn auch fremdes Glück, das ihm geraubt
ward, neidlos betrachten:
Ich aber will mit leergebliebner Hand
Dich segnen, Glück, das einem Andern reiste.
Und will die Stirn, die finstre, blitzgestreiftc,
Auflichten still zum ew'gen Grnteland.
Die letzte Zeile ist charakteristisch für den reifen Carolath. An zahl-
reichen Stellen kehrt die Sehnsucht, der Glaube an eine ewige Heimat und
einen ewigen Lenz wieder; der philosophische Zweifler wendet sich von
Voltaire und Schopenhauer, unter deren Nanu seine Jugend stand, ab
und wird zum positiv Gläubigen, eine Metamorphose, die durch die Beichte
und Buße „Abendgebet" ihren Abschluß findet.
Ich hin mir wohl bewußt, die lyrische Eigenart des Prinzen sehr
unzureichend zum Verständniß gebracht zu haben; aber einmal erweist sich
keine Poesieform gegenüber der Analyse so spröde wie gerade die musik-
verwandte Lyrik, und dann soll ja auch die Studie nicht ein Surrogat
sein für die eigene Leetüre der Bücher, wie es in unserer Zeit der
litterarhistorischen Werke leider üblich ist, sie soll im Gegentheil dazu nur
anregen, darum muß ich dem perlenreichen lyrischen Theile der „Dichtungen"
Valet sagen und mich begnügen, eine Perle wenigstens dem Leser vor-
zusetzen („Auch Du"):
Nun hast auch Du gelassen Die sich im Ucbcrbordcn
Von Groll und edlem Streit; Einst aus dem Meer gewiegt
Du fandest goldne Gassen Und nun, zum Teich geworden,
Ter Weltzufriedenheit. Tiefblau im Walde liegt.
Mich mahnt Dein Herz, das helle, Wohl deckt mit Vluthenflocken
Nun frei von Kampf und Weh, Mittsommers sie da» Rohr,
An eine Riesenwelle, Wohl tönt's wie ferne Glocken
Die müde ward der See; Aus ihrem Grund hervor,
Wohl nicken grüne Erlen
Darüber schlummerschwer: —
Doch hat sie keine Peilen
Und leine Stürme mehr.
Zwischen der Lyrik und den drei großen Dichtungen steht als Mittel-
gruppe eine Anzahl kleinerer, deren hervorragendste die grandiose Gedanken-
dichtung „Ein Bild" ist. Sie ist ein Schönheitshymnus von so wunder-
barer, reifer Pracht und Tiefe, daß die Gesammtlitteratur ihr wohl wenige
2Z8 Richard «oehlich in Vreslau.
zur Seile stelleil kann. All reifer Künstlerschaft übertrifft sie selbst Gastons
wundervolle Schönheitsavostrophe in „Angelina" und wird nur von „Don
Juans Tod" und den abgeklärtesten Episoden der „Sphinr" erreicht.
„Angelina" ist das Lied von dem uralten Fluche der Schönheit:
Weh' ihm, dem Kind, das ausgesendet ward
Ei» reiches Kleinod wundeiseltner Art
Durch einen Wald, einsam bei Nacht zu trag,».
Wohl zieht es au3, sinnend im Abendioth;
Es lehrt nicht heim, am Moroni liegt es todt.
Erwürgt, beraubt im fröstelnden Gehege.
sagt Gaston. Die Schönheit ist eine reine, hohe Göttin-, wir aber, der
Verdammten blasse Schnar, schlingen nach ihr den Todtentanz:
Und nicht umsonst: Du wirfst Dick, vom Altar
In uns« Arme, Kind mit blondem Haar,
Schon wie einst Eva. Gottin halb, halb Dirne
Neigst Du das Hauvt, in Sehnsucht gluthbcdcckt;
Wir aber mit den Lippe« staubbesleckt
Küssen die Gottheit fort Dir von der Stirne.
In den angeführten Versen ist das Leitmotiv der Dichtung klar aus-
gedrückt. Meisterhaft versteht es der Dichter, schon für die Abwesende
unser Interesse wachzurufen, indem er sie zum Mittelpunkt des Gesprächs
einer Künstlerschaar in einer römischen Osteria macht. Einer der Gäste
schwingt sich sogar zu einer Improvisation auf:
0 sprecht, seid Ihr die Waldesfee,
Egeria Philomele?
Oder seid Ihr das Fräulein, das Fräulein vom 3«
Mit der verlorenen Seele?
Seid Ihr ein Engel, der leuchtend tarn
In's schmerzende, lastende Leben,
Um einer Welt voll Weh und Gram
Die Liebe zurück zu geben?
Und er antwortet stA) selbst:
Ich trage der Schönheit Kronengeflecht,
Bin Lilith wie Melusin«,
Und nur ein entgötteites Menschengeschlecht
Nennt mich Angelina.
Und als das herrliche, unschuldige Blumenmädchen selbst eintritt, um
ihre Waaren anzubieten, läßt der Dichter auf ihrem Scheitel einen unsicht-
bnreu Heiligenschein ruhen:
Ten lonnte nur ein tobte« Mütterlein
In Angst und Schmerz darum gebetet haben.
Selbst der geniale Gaston, der weise Menschenkenner, der dem
Mädchen heimlich auf seinen nächtlichen Wegen folgt, muß mit Beschämung
<ki,i fürstlicher Dichter. 2H9
sehen, wie sie tröstend und spendend am dürftigen Lager eines armen
fremden Kindes kniet. So schließt der erste Theil scheinbar in sonnigster
Perspective. Uni so düsterer und niederdrückender be~t sich dafür der
zweite ab, in welchem Carolath zeigt, daß er, wo es der Zweck gebieterisch
fordert, auch ein Meister naturalistischer Darstellung sein kann. Angelina
ist doch gefallen, und der Künstlerschwarm, der von einem Feste heimkehrt,
um sich in verrufenen Häusern zu verliere», pocht auch an ihrer Thür.
Eine Martha Schwerdtlein, aber in viel mehr gesunkener Ausführung, thut
auf und weist höhnisch die späten Gäste an eine gegenüberliegende Pforte.
Diese wird aufgesprengt, und mit Entsetzen sieht sich die trunkene Schaar
in einer Kirche, vor deren Hochaltar ein Sarg steht. Im Nu ist die
wüste Rotte zerstoben, und der Dichter allein steht dem verlorenen Kinde
gegenüber. Da ist es ihm, als blickte selbst das Bild der Schmerzeus-
reichen gnadenvoll auf die Todte herab, und er findet Tone echter Mensch-
lichkeit:
Schlaf wohl, verblühtes Kind.
NZ müssen Blumen sein
Im Scharlachschmuck der Schönheit aufzuflammen
Am Sirahenranbe. Dir wird Gott verzeih»: —
Uns Andre doch, mög' er uns nicht verdammen.
Da nahen Knaben, die mit neuen Nlumen den Altar schmücken; der
Morgen bricht an, der Ostermorgen, und machtvoll verkünden die Glocken:
Christus ist auferstanden.
In „Angelina" ging das Weib am Danaergeschenk ihrer Schönheit
und am Manne zu Grmide; die nächste große Dichtung „Sphinr" bringt
gewissermaßen die Sühne des Mannes, der voll Ekel an der genossenen
Schönheit des Weibes zu Grunde geht. Die „Sphinr" steht an Tiefe und
Größe der Gedankeu, au packender Darstelluugskrnft, an berückender Diction,
die uns wie im Fiebertmmiel fortreißen, den reifsten Werken Byrons
ebenbürtig zur Seite; der lyrische Schmelz ihres ersten Theils wird von
dem Engländer wohl nur in dein Anfange u?n „Parisina" erreicht. Mehr
noch als in „Angelina" herrscht eine wildgeniale Zerrissenheit, die an blih-
durchflammte Stnrmnächte gemahnt. Anch auf die „Sphinr" passen die
Worte der ersten großen Dichtung: sie ist wie ein Gebet, das glücklich anhob
und geendet ward in einem Aufschrei .. . auch ihr fehlt nicht das „Frage-
zeichen am Schluß eines gewaltigen Gedichts."
Mit einem lieblichen Idyll, das den tragischen Kern der Dichtung uni
so schärfer hervortreten läßt, setzt die grandiose Schöpfung ein. Gleich die
Einführung des jungen, schönen Grafenkindes Santa zeigt den reifen Meister.
Sie lief im weinen Kleide,
Gin fröhlich iti„d, sorglos durch Busch u„o Gras,
Frei flog ihr Haar, und ans dem Antlitz blas;
Blitzten so selig ihre Augen beide.
200 Richard «oehlich in Vreslau.
Sie will Abschied nehmen von ihrem Guy, der in den Kampf hinaus-
zieht und dem sie das Versprechen ewiger Treue giebt:
Twig,
Sprach sie ganz einst, und wunderseltsam klang
Aus ihrem Kindermunde diese« — Ewig.
Noch einmal hielt der Tan, der alückdurchsonnte
Verzögernd Rast und strahlte letzten Frieden
Auf jene Kinder, deren Glück hienieden
Verfaul am dunklen Lebenshorizonte.
Scharf und düster hebt sich die folgende Episode ab. Es ist Herbst-
nacht, im Feindsland, am Lagerfeuer der Dragoner. Wie zufällig liest
einer der Offiziere einen Brief vor, des Inhalts, daß sich das schöne Grafen-
kind Santa auf Antrieb des Papstes mit dem alten, aber reichen und hoch-
gestellten Kümmerherrn Valbi vermählt hat; gerade jetzt ist die Hochzeits-
nacht. Von der Erde springt ein Schläfer auf; es ist Guy; er fammelt
sein Neiterfähnlein nnd stürzt in die Nacht hinaus, dem Feinde entgegen,
um den Tod zu suchen. Wie durch ein Wunder bleibt er unversehrt und
kommt nun zu dem weisen Juden Rabbi Zevhcmja, der ausgewiesen vor
dem Thore der Stadt haust. Dem großen Nlchymisten erzählt er schlicht
seine lugendgeschichte (in den Versen: reich, vornehm, jung trat ich hin-
aus in's Leben u. s. w,, auf die ich ausdrücklich hinweife, weil sie Carolctths
eigene lugendentwickelung bezeichnen) und heischt Genesung. Er legt ihm
die Fragen vor: warum ist die Frau urfalfch und treulos? Was sendet
Gott ein Kind, das durstig ist, in einen weiten Garten, darin die Brunnen
rings vergiftet sind? — Die Antwort, die der Fürstensohn erhält, ist an
Kühnheit und Größe des gewählten Bildes fast ohnegleichen:
Wenn sein lechzend Roh
Mit Wasser tliinlt der kluge Beduine.
Thut in'2 Gefäß er eine Hand voll Sand,
Das Nah zu trübe». — Siehe, also thllt
Der weise Schöpfer: in den klarsten Quell
Der Lebenswüste that er emsig Schlamm
Mit «ollen Händen, in den schönen Leib,
Den süßen, sinnbelhörenden, des Weibe«
Goh er Gemeinheit. — Ja, der Schöpfer ist
Ein kluger Hirte; allzu tiefer Trunk
Schadet dem Thiere.
Aber Guy entgegnet: die lechzende Ereatur wird auch Trübung und
Schlamm todachtlos schlingen; auch er will trinken mit dem Empörungs-
schrei: mich dürstet! dürstet! Cr will es sehn, das hohe Bild von Sais,
In seinem Arm entblüst gleich einer Lais. Er will den schuldigen Schöpfer
im Geschöpf durch Staub schleifen und rachesatt zu Grunde lachend gehn.
So stürzt er davon. — Die nächste Scene zeigt Santa ini prunkvollen
«Lin fürstlicher Dichter. 301,
Schlafgemach. Auch sie ist nicht glücklich; sie denkt mit Wehmuth an den
lugendgeliebten und die glücklichen sorglosen Kindertage.
Mein Heiz wirb alt,
Sic sprach es leise, sinnt' ich schlafen, sterben.
Mit jenem Traum, mit Dir, o Guy!
Da springt weit auf die Thür, und der Todtgeglaubte steht vor ihr.
Santa sucht Ausflüchte fürAhren Treuebruch; aber Guy donnert ihr ver-
ächtlich entgegen:
Da» Grafenlind mit der Mabonnenstirne
Für Gold verlauft! Verlauft! Nun, welsche Dirne,
Wie thcuer bist Du?
Noch einmal bäumt sich SantaZ Grafenblut gegen die unerhörte
Beschimpfung auf; sie giebt vor, den Jüngling nie ernst geliebt, jenen
Schwur nur tändelnd gegeben zu haben. Aber Guy läßt sich nicht beirren.
Du liebtest mich und liebst mich noch — sag: Ja! . . .
J a, sprach sie tonlos, ja.
Warum sie ihn verrathen hat — sie „weis; es nicht". Guy glaubt
ihr, aber er ist nicht der Mann, zu verzichten; ganz im Sinne jener
Worte in der Nabbiscene will er nun den Schöpfer im Geschöpf durch
Staub schleifen, den Schöpfer, der um das Göttliche in« Weibe als Hülle
ein kaltes Marmorkleid schlug.
Ich aber bin aus wildem Blut entstammt.
Dies Ampellicht, das matt und rosig flammt
In Deines Leibes marmorweißem Bau,
Ich will's besitzen, wunderschöne Frau;
Küssend ersticken, jubelnd löschen aus
Das rothe Licht, cutweihn das Gotteshaus,
Auf die zeirissncn schweren Warbecken'
Zu langem Schlafe wunschlos dann mich recken
Und sterbend, als ein satter Rächer sagen:
Im schönsten Weib, defz Auge ie geblaut,
Neibvoller Gott, Hab' ich die Sphinx, erschaut
Und Hab' Dein Werl, Dich selbst in ihr, zerschlagen.
Dem Weib, das irr, berauscht von Liebessülle,
Im Arm ihm hing, hat bebend Ir gerissen)
Vom weißen Leib die starre Ntlashüllc
Und es geschleudert in des Prunlbetls Kissen.
Ein Laut, ein Klagwort, girrend, wunbersacht . . .
In einer Fluth fahlblondcr Lockenhaare
Vcrsanlen sie, ring« herrschte wunderbare
lasmindurchhauchte, purpurfinstre Nacht.
Es dürfte nicht viel Porten geben, die eine solche Situation derart
bemeisterten, wie es hier Carol^th gethan hat. Allen Realisten, Naturalisten
302 Richard «oehlich in Vrezlan,
und sonstigen „isten", die ihre Unfähigkeit hinter den» .klingenden Namen
eines Systems verstecken, wäre überhaupt zu rathen, daß sie bei dem
Schöpfer der „Sphinr" in die Schule gingen, um zu lernen, das; der
Schaffende schlechtweg ein Dichter sein- soll. —
Der Morgen graut über dem schlummernden Paare. Santa träumt
von einem Glück ohne Ende:
Doch seine Brust ginn schwer, es brach ein Schrei
Taraus hervor, der Nana: Lebwohl — vorüber.
Tu Schloß mit dem steinernen Wavpcnthor
Und den dunklen Eiben darüber!
Ihr wellenden See», windivogender Tann.
Lebt wohl, ihr Hochlandshaiden!
Es segnet im letzten Scheiben
Euch ein reilorencr Mann.
Aus diesem Traum schreckt Guy auf zum Bewußtsein der Wirklichkeit.
Und nun tritt mit einem Schlage die Peripetie ein, die sich .in den Worten
äußert: Sieh voll mich an, gieb mir die Jugend wieder! Seiner Seele
Schwingen lähmt Ekel, es bricht sein Herz vor schalem Abscheu; nun, da
Stillung hätte der wilde Wunsch, verlor er seinen Schmerz, das Diadem.
Er greift zum Dolche, da bannt ihn eine seltsame Vision. Er meint zu
sehen, wie Santa sich vom Purpurpfühl erhebt, wie ihre Züge das
fremde, kühle Lächeln der Sphinr annehmen; er fühlt, wie die Seele
der Schläferin, ihr felbst unbewußt, ihm das Näthsel des Weibes ent-
schleiern will.
Was Du gesucht, so sehnsuchtsvoll, so bange,'
Tics tiefe Etwas ist ein Strahl v m Licht,
Den Gott ihr gab, bah man ihn heiß verlange
Und doch auf Erden finde nicht.
In jeder Frau liegt der tiefsüße Znsi,
Der unbeschreibliche, ein cw'ges Sehne»
In uns erwecken, dah wir aufwärts dehnen
Zu Gott empor des Lebens Probeflug.
Auch der Held der letzten MenschlMsdichtung (Don Juans Tod) sucht
in seinem Wallustdrange diesen „Strahl von Licht"; darum zählt auch er
— wie wir später seh:n werden — zu' den Großen, ^darum ist auch er
erlösungsfähig.
Aber die Wollust ist vergänglich, und nur der Schmerz der Entsagung
führt zu einsamen Höh'n; das war der Sinn in den Worten des Rabbi:
Wer je das Weib verkämvft, verschmerzt, verwunde»,
Steht einsam da. nicht mehr an Golt gebunden,
Denn von der Frau führt d.'r Ideenflug
Empor zur Freiheit.
«Lin fürstlicher Dichter. 303
So heißt es auch hier in der Svhinroision:
Nur Wenigen schlägt Liebe tiefe Wunden,
Doch j.de Wunde wird ein Ritterschlag.
Heil dem, der Glück beim Weibe nie erfunden
Und aus der Tiefe dafür segnen mag.
Das Eoig Weidliche ist Schmerz oh»' Ende;
Wer also groß, daß ohne Groll und Spott
Er schweigend sich von Erdensonncu wende.
Steht freilich einsan da, doch eins mit Gott.
Das Leben ist ein starrer Wanderung
Zu Gott gelichtet, und auf allen Wegen
Tragt uns des Schmerzes grober Athemzug
Der Heimat zu, dem ew'gen Lenz entgege i.
Auch Guy war auf diesem Wege, ehe er seinen Schmerz wegwarf,
das Diadem. Er ist aber doch zu groß, um sich nun nach Art der großen
Masse an dem schonen Vollwerk: Leib des Sphinrräthsels genügen zu
lassen, und darum muß er sterben. Aber noch ein versöhnender Lichtblick
fällt in sein Scheiden. Santa-Sphinr kündet ihm, daß nach Allem, wenn
die Geschlechter der Menschen von der Erde verweht sind, wenn der letzte
Wollustschrei verhallt ist, auch das Rä'thsel des Weibes sich lösen wird:
als Liebe:
Tann wird die Sphinx erlöst, gcbenedcit.
Gleich MemnllnLsteiiicn, die tiefbebend llmgcn,
Das Hohelied versöhnter Ewigkeit,
Ein großes Liebeshalle'ujah singen.
So heißt es auch ähnlich in der herrlichen Gedankendichtung „Ein Bild":
Was Schönheit hier uo» Schmerz und Abschied sprach,
Das klingt — wie bald — gleich feinen goldncn Stimmen,
Tic rufend über breitem Strome schwimmen,
In der Unendlichkeit als Liebe nach. —
Dann verschwindet die erhabene Vision. Um den Mund der Schläferin
spielt wieder wie vordem „ein stumpfes Lächeln satter Seligkeit". Fahl-
grau bricht der Morgen herein; der letzte Stern sinkt in die See, nnd
mit ihm entflieht auch Guys Leben,
Zur Seite warf er Santas Haar, das blonde,
Und führte tastend, ohne Laut noch Wort,
Ten Tolch in's Herz; so senkt sich eine Sonde
Langsam und still in eine» Heren Ort.
Wir haben dem Dichter selbst, so oft es anging, das Wort gegeben
und können trotzdem das Bedauern nicht unterdrücken, daß wir nicht das
ganze Werk selbst an Stelle jeder commentirendeu Zeile abschreiben durften,
vor dem wir nach einer kleinen Ausstellung, gegen die theilweise ermüdende
Breite der Nabbiscene, die kritische Feder in Demuth aus der Hand legen.
30H Richard «oehlich in Vre?lau.
Ein geistreiches Wort sagt, daß es Theaterstücke gebe, vor denen nur das
Publicum durchfallen kann. Die „Sphinr" ist schon in der ersten Auflage
der Dichtungen (1883) enthalten; das Volk der Dichter und Denker hat
es also fertig bekommen, vor dieser Titanenschöpfung ein ganzes Decennium
lang durchzufallen — und das ist tausendmal unverzeihlicher, als die Ab-
lehnung einer Theaterpremiöre, die mit unzähligen Factoren des Zufalls
zu thun hat, durch welche, selbst dein besten Stücke gegenüber, auch der
reife Kunstverstand einmal beirrt werden kann. —
„Angelina" wie „Sphinx" fassen die Liebe, die Vereinigung der Ge-
schlechter, als einen Kampf auf, in dem ein Theil zu Grunde geht; es
lag nahe, im künstlerischen Sinne einen Ausgleich herbeizuführen, die
Dissonanzen, in denen die beiden mächtigen Schöpfungen jäh abbrechen, in
einen Accord, wenn auch in Moll, aufzulösen. Diese Lösung bringt „Don
J uans Tod". Earolath war beim Aufbau dieser Dichtung auf die
buddhistisch-schopenhauersche Weltanschauung oder auf den christlichen Mnsti-
cismus angewiesen; ein Drittes ist kaum denkbar. Und hierin, in der reinen
Abstraktion, liegt die Klippe jeder Gedankendichtung, denn, wie Antäos,
schöpft auch der Poet seine Kraft aus der Erde. Es ist kein Zufall, daß
intsruo der bedeutendste Theil der vivina eommscii» ist, daß Goethe mit
seiner inn^na psocatrix uud mit dem ganzen mystisch-symbolistischen
Schlüsse nicht viel anzufangen wußte. Und doch war Earolath gerade auf
das Grethchen-Motiu hingedrängt. Aber Grethchen einerseits ist schon eine
Gefallene, Faust andererseits nicht der reine Genußmensch, sondern vor
Allem der große Denker mit einem Don J uan-Zuge. Die Gegensätze
waren noch nicht genügend verschärft, wenn die Katharsis mit voller
schlagender Kraft zur Wirkung kommen sollte. Deshalb list auch Diana,
die jungfräuliche Königin vom Kaukasus, das madonnenhafte, nie gefallene
Weib; deshalb steht ihr und dem strengen Prälaten der absolute Genuß-
mensch, der sündenbefleckte Spanier gegenüber, mit dessen unerbittlich con«
sequenter Durchführung zugleich die irdische Substanz, der Erdgeruch der
Dichtung, gerettet wird. Don Juan kennt keine andere Liebe, als die des
Genusses; auf Erden erkennt er nur ein Ziel: das Weib, am Weibe nur
ein Göttliches: den Leib; nicht ein Weib will, er, sondern alle Weiber;
armsel'ge Beute war' ihm eine Frau, und Nichts verabscheut er so in den
Tod, als Hochzeitsgefasel uud Philosophireu. Und doch zählt auch er, wie
es ausdrücklich hoißt, zu den Großen. Der Widerspruch ist nur scheinbar.
Ich erinnere blos an Grabbes wildgeniales Drama, an die Worte des
Teufels, daß Faust und Don J uan auf zwei Wegen karren — zu dem-
selben Ziele. Earolath hat die Verwandtschaft der beiden heterogenen
Charaktere in sonnenhelle Beleuchtung gerückt. Aus der erzwungenen
Verbindung der Venus mit dem ewigen Wanderer Ahasver, aus der
Verschmelzung der irdischen Wollust mit der nebelhaften Abstraction läßt er
zwei Sprossen hervorgehen:
<Lin fürstlicher Dichter. 305
Das Priesterthum dn Lust, de« Sang», der Dirnen
Schuf Don J uan; sein Zwillingsbruder Faust
Als Fürst weltferner Hochgedanten haust
In deutschen Herzen, deutschen Dichterstirnen.
Der freierfundene Mythus dieser seltsamen Augenblicks-Vermählung
gehört in seiner genialen Idee, wie in deren classisch schöner Ausführung
zu den herrlichsten Emanationen einer großen, freien Künstlernatur. Und
mit richtigem Blicke hat der Poet sein Gemälde nicht auf den grauen Hinter-
grund buddhistischer Entsagungslehre, sondern auf den concretern, farben-
reicheren des Christenthums, mit seiner dem Leben verwandten lenseits-
theorie, gezaubert. Wir mußten bei diesen Ausführungen länger verweilen,
weil es galt, Schwierigkeiten der Conception aufzudecken, an denen mancher
andere große Dichter vielleicht gescheitert wäre.
Die Fabel selbst ist einfach und klar. — In bangen Träumen schon
hat Diava den nachtgeweihten Sünder erblickt, wie er nach ihr, dem licht«
umstob'nen Kinde, Rettimg heischend, die Hände streckt. Da theilt sich der
Vorhang, und Don Juan selbst steht vor der Grusenfürstin. In tollen:
Ansturm hat er, der einzelne Mann, die Wachen überrannt und ist in die
Königsburg gedrungen. Das nachdrängende Volk, die Heerführer, der Prälat,
fordern einstimmig den Tod des Frevlers. Diava, die fchon seit ihren
bangen Träumen unter dem Banne des finsteren „Seelenbräutigams" steht,
will ihn retten, indem sie ihn zun, Geinahle erhebt. Der Fremde aber,
dem die Frauen Nichts sind als „Eintagsglückgestalten", will vom Weibe
nur Sinnengenuß, alle Fesseln sind ihm gleichbedeutend mit Nichtsein, Tod.
Tod, dieses letzte Wort greift — ein äußerst feiner Zug — das milchende
Volk auf; nach kurzem, tollen Kampfe wird Don J uan gebunden, und nun
kann ihn Nichts mehr retten, selbst nicht die Fürsprache der jungen Königin;
der Prälat läßt sein Opfer nicht mehr los. Nur Eins erreicht sie, daß der
Gefangene zur füllen Einkehr in die Schloßcapelle geführt werde, bevor der
nächste Morgen ihn ans dem Schaffot sieht. Nach einem bedeutenden, echt
dramatifchen Zwiegespräch mit den» Prälaten bleibt er allein mit der Fürstin,
die seine Fesseln gelöst hat. Hier erzählt er das Geheimniß seiner Herkunft.
Meisterhaft schildert nun der Dichter die erwachende Todesangst des trotzigen
Mannes, der sein Schaffot zimmern hört nnd der keinen Trost schöpfen
kann aus einem Leben voll Sünde. Und doch will er, zum letzten Male
sich selber treu, selbst die Todesnacht als Hochzeitsnacht feiern. Doch immer
mehr fühlt er vor Dianas Augenstrahl den wilden Wunsch zerrinnen, der
ihm bisher im Blute getobt hat vor jedem Weib, das er noch nicht besessen.
Und als sie ihn angstvoll forschend fragt:
Begehrst Tu mich, soll Dir mein Leib gehören?
Jetzt wäge wohl! Leib oder Seele? Sprich!
Da sinken die letzten Scklacken.
3)6 Richard Roehlich in Vreslau.
Tic Teele, lief er, denn ich liebe Dich
Und will Dir folgen durch die Seligkeiten. —
An seine Brust zog d>r verlorene Eo~n
Tiavll sacht, dann hob er den geweihten
Kelch en,'gcn Lichtes schweigend vom Hon.
Er schleudert das Feuer in's Heiligthum; durch die Flammenpracht
klingen noch einmal, wie siegendes Osterläuten, Dianas Erlüserworte:
U»d darrte Deiner an der Himmelspfort
Um Deiner Sünden der Däninnen Sckaar,
Und ncn^i Dich tausend Multcrflüche banxn,
Zurück scheuät' ich sie mit erhob'««! Händen.
Es wird erfüllt, was Lebeüstraum mir war.
Tann begraben die Flammen den entsühnten, dämonischen Mann und
seine reine Todesbraut.
Es sanl die Vurg, durch's Land die Glocken klangen.
Und als die Flammen ^aülcluiah sangen,
Ist mit dem finster» Seclenbräutigam
Erlöst Diana himmilväits gegangen. —
Wen Liebesmacht in feurigem «Abfährt
Auf Flllmmcnspeichen rettet vom Gemeinen,
Dem neiden Sonnen der Vergebung scheinen
Im Heimatland, des; Frühling ewig währt.
So klingt ohne das „Fragezeichen am Schluß eines gewaltigen Gedichts"
(Angelina) die erhabene Schöpfung rein und versöhnend aus, auf die unser
deutsches Cchriftthum vielleicht noch stolz sein wird, wenn manche
„Größe" längst der verdienten Vergessenheit verfallen ist. Die vier
Echlußzeilen der Dichtung enthalten allein eine Welt von Schönheit und
Größe. In reifer Künstlerschast ist es mit der herrlichen Gedankendichtung
„Ein Bild" das Höchste, was Earolath geschaffen hat, desgleichen an Voll-
endung der Technik; während „Angelina" häusig, die „Sphinr" in der
Nabbiscene, todte Punkte aufweist, schreitet „Don Juans Tod" in rastloser
Entwickelung ehern und geschlossen wie ein Drama dahin. An genialen
Episoden wird es vielleicht von der „Sphinx" noch übertroffen; aber die
höchste Palme erringt allezeit das Genie, gebändigt durch Kunstverstand . . .
sonst wäre Grabbe unser größter Dichter, nicht Goethe. —
Nariluri tu Lnlutant — Prinz Schönaich-Earolath.
Wir hatten am Eingange die Verwandtschaft des Prinzen mit Lord
Byron angedeutet, und wir glauben unsere Studie nicht besser als mit einer
kurzen vergleichenden Analyse schließen zu können. — Beide sind von hoher
Geburt, die ihnen ebenso einen weiten und tiefen Blick in das menschliche Leben
gestattet, als sie ihnen die Hindernisse, die sich sonst dem Fluge des Genius
entgegenthürmen, aus dem Wege räumte; Beiden war es vergönnt, ihre
Sub,ectimtät ausreifen zu lassen, >ohne sie einer wirthscha'tlichen Pression
oder den Launen eines vielköpfigen Publicmiiö unterordnen zu müssen.
Ein fürstlicher Dichter.
30?
Gleich hierbei sei jedoch ein weittragender Unterschied hervorgehoben. Earolath
wuchs in einer glücklichen Häuslichkeit heran und hat sie wiederum im reifen
Mannesalter sich selbst geschaffen; Byron mußte sie als Kind wie als Mann
entbehren, und für diesen Mangel hat ihn weder sein Genie noch sein
Reichthum und Rang entschädigt; er ist sein Verhängnis; geworden. Aber
der Parallelen sind noch genug. Beide wurden von innerer Unrast in die
Ferne getrieben, aus der sie jene weitumfassende Kenntniß fremder Länder
und Völker heimbrachten, die den Inhalt ihrer Dichtungen in ein fremdes,
erotisches Milieu zu bannen liebt. Beide suchen mit Vorliebe Faust- und Don
luanartige Probleme auf, und es ist kein Zufall, daß Carolath sich zu der
Harmonie durchrang, die dem Schöpfer von „Manfred" und „Don Juan"
versagt blieb. Beide unterziehen sich deu aufreibendsten Strapazen: Byron
durchschwimmt trotz seines Klumpfußes den Hellespont, Carolath trotzt den
klimatischen Einflüssen und den Aufregungen gefährlicher J agden. Und
— ll»3t nor lsa8t — Neide beschließen, so weit man bei dein Prinzen
schon von einein Abschluß sprechen kann, ihre dichterische T Heiligkeit in rein
menschlicher Weise: der Brite im praktisch-nationalen Sinne durch die
Hingabe an ein unterdrücktes, für seine staatliche Freiheit ringendes Volk,
der Deutsche im theoretisch-internationalen Sinne durch die Hingabe an
die Unterdrückten und nach menschlicher Freiheit Ringenden überhaupt.
Aber den Kämpfer von Missolunghi umstrahlt eiue ewige Kloriole: wie
der frühgeschiedene Sänger des Dell ging er im Zenith feines Genius
von der Erde und erregt achilleusgleich eine ewige Sehnsucht. Was
Carolath aber nach „Don J uans Tod" auf reformntorischeu Gebiete u. s. w.
geschrieben hat, ist im künstlerischen Sinne als ein großer Rückschritt zu
bezeichnen, und es bleibt mir zu wünschen, daß er in die verlassenen Bahnen
wieder einlenken möge; denu dort, auf dem Gebiete des Reinmenschlichen,
nicht in der Schilderung trauriger socialer Verhältnisse, so sehr sie auch den
edlen Menschen ehrt, liegt die Stärke seiner gewalligen Begabung, die
schon aus rein technischen Rücksichten ein Gebiet meiden sollte, auf dem sie
all die Wunderfarben ihrer Palette nicht zu verwenden vermag. Und wie
diese Farben leuchten, als hätte sie Maknrts Pinsel gezaubert! Es wäre
schließlich thöricht, wollte man jetzt schon die dichterische Zukunft eines
Lebenden, zumal wenn dieser erst 43 Jahre zählt, anticipiren. Und übrigens
— was diese Zukunft auch bringen mag, kann sie doch Nichts ändern an
der Perspective: Der Schöpfer der „Sphinr" und von „Don Juans Tod"
gehört der Weltliteratur.
Nord und Niid, I.XXV.
21
Aus Düsseldorfs Glanzepoche.
Ungedruckte Vriefe von Felix Menoelssohn-Vartholdy *).
von
Mseph Karsten.
— «Sin.
ob wenige deutsche Städte haben in ihren Mauern ein so viel-
seitig angeregtes geistiges Leben in einem verhältnißmäßig kurzen
Zwischenraum zur Entfaltung und Nlüthe kommen sehen, wie
Düsseldorf.
Die unvergleichliche Gartenstadt hatte sich schon durch die Wirksamkeit
des alten Nurgmüller, des Vaters des allzufrüh dahingeschiedenen Com-
vonisten Norbert Nurgmüller, einen wohlverdienten Ruf auf musikalischem
Gebiete erworben, der dort in den weitesten Kreisen den Grund zu einer
geregelten musikalischen Bildung zu legen und den Eifer für die Tonkunst
nach Kräften zu beleben bestrebt war. In Karl Immermann hatte die
deutsche Dichtkunst und Vühne ihren großen Apostel wiedergefunden, der
gerade hier mit glücklicher Hand feine reformatorifche Thätigkeit entfaltete.
Seit dem Jahre 1826, in welchem Wilhelm von Schadow mit feiner
jungen Künstlerschaar in Düsseldorf einzog, fchien hier eine neue Vlüthe
der Kunst aufzugehen. Aus dieser Schule gingen ein Lessing, Sohn,
Vendemann, Hübner, Schrödter und Schirmer hervor, deren Charakter
wesentlich der romantischen Dichtung entsprach. Auch der jugendliche Ferdi-
nand Theodor Hildebrandt, der nachmalige Lehrer und Professor an der
Düsseldorfer Kunstakademie (geb. 2. Juli 1804 zu Stettin, gest. 29. Sep-
tember 1874 zu Düsseldorf), kam mit Schadow nach Düsseldorf.
*) Vgl. Briefe aus den Jahren 1830 bis 1847 von Felix Mendelssohn. Bartholvy.
Leipzig 1865. 2 Bände. Herausgegeben von Dr. Julius Rieh und Felix Mendelssohn»
Nartholdy. Briefe und Erinnerungen von Ferdinand Hill«. Köln 1878. Verlag von
Du Mont-Schlluverg.
Aus Düsseldorfs Glanzepoche. 30H
In diesen Kreis trat im Jahre 1832 zun: ersten Mal, auf einer Reise
nach Paris zum Besuche der rheinischen Kunststadt, der jugendliche Felir
Mendelssohn-Bartholdy. Nach Jahr und Tag zog Mendelssohn schon als
Musikdirector in Düsseldorf ein. Erfand zunächst schwierigere Verhältnisse
vor, als er erwartet hatte und in dem Privatkreise seines elterlichen
Hauses gewohnt war. Schon die ersten Concerte machten ihm viel Arbeit.
Erst als Chor und Orchester Freude an der Sache und Achtung vor dem
unermüdlichen Fleiße ihres Leiters empfanden, kam auch ein rechter Zug
in die Sache. Zu diesen anstrengenden Geschäften hatte Mendelssohn mit
der Zeit auch die Leitung der Oper bei dem neuen Theaterunternehmer
Karl Immermann übernommen uud war hierdurch mit einem Schlage als
„Dreiundzwanzigjähriger" der Liebling der ganzen Stadt geworden.
Aber auch in seinen persönlichen Beziehungen entwickelte er nach dem
Urtheile der Zeitgenossen eine ungewöhnliche Liebenswürdigkeit, Munterkeit
und Beweglichkeit. Anregend und belebend, wie sein künstlerischer Geist
war, gab er überall mehr, als er nahm. So war es denn kein Wunder,
daß um diesen Liebling der Götter sich eine Schaar von Freunden, An-
betern und Gönnern sammelte. Mendelssohn sah sich jedoch nach geraumer
Zeit veranlaßt, von der Direction der Düsseldorfer Oper zurückzutreten.
Wolfgang Müller von Künigswinter hat das Verdienst, in seinem
bekannten Werke: „Erzählungen eines rheinischen Chronisten, Karl Immer-
mann und sein Kreis", Band 1, S. 48 (Leipzig, Brockhaus) die Gründe,
welche für Mendelssohn hierbei entscheidend waren, in das rechte Licht
gesetzt zu haben. „Das Wahre an der Sache ist" — so läßt er
Mendelssohn selbst sagen — „daß mir die Arbeit über den Kopf wächst.
Jedermann weiß, wieviel ich mit den Concerten zu thun habe. Allerdings
wurde Lch in einem schwachen Augenblicke zu dem Versprechen hingerissen,
die hauptsächlichsten Opern zu leiten, weil meine Freunde mich dazu
drängten. Nun bin ich aber zu der Einsicht gelangt, daß ich mehr ver-
sprochen habe, als ich leisten kann. Ich verliere mich uud meine Composi-
tionen über all' dem Schaffen und Wirken in der Außenwelt. Da nun
auch mein Freund J ulius Nietz, den wir für die Direction der Oper im
Allgemeinen von Berlin berufen haben, sich überaus wacker und tüchtig
erweist, wie ich es nicht anders erwartete, und da ich also durchaus über-
flüssig geworden bin, so hielt ich es an der Zeit, mich zurückzuziehen, um
an meinen: Oratorium Paulus zu arbeiten. Ein Künstler, der Etwas vor
sich bringen will, darf sich aber nicht zu sehr zerstreuen. Ich habe bis
jetzt noch zu wenig 'geleistet. Mit meinen Liedern und Ciavierstücken ist
erst der Weg zu einzelnen Herzen gebahnt. Mit meinem neuen Werke hoffe
ich mir das Volk zu gewinnen, so Gott will!"
Mendelssohn, der sich in seinem Vertrage nur auflzwei J ahre ver-
pflichtet hatte (vergl. Lampadius, „Felir MendelssolmVnrtholdn", Leipzig
1848, S. 43), ging 1835 nach Leipzig, um die Direction der Gewandhaus-
2^oii
3(0 Joseph loesten in Köln.
Concerte zu übernehnten. Noch in demselben Frühjahr hatte er das Musik-
fest zu Köln und am 2. Juli 1835 sein letztes Concert in Düsseldorf
dirigirt. Auch die Eltern waren von Berlin herbeigeeilt, um den Triumphen
ihres Sohnes beizuwohnen. Von den Zeitgenossen wird uns berichtet, daß
selbst diejenigen, die Mendelssohn als einen fremden Eindringling angesehen
und ihm manchen Verdruß bereitet hatten, durch sein Ciaviercapriccio in
2-mull versöhnt gewesen, jeder Mund des J ubels voll uud zugleich der
Trauer kein Ende gewesen sei.
In Leipzig vollendete er seinen Paulus. Am 22. Mai 1836, einem
Psingstsonntage, wurde dieses Oratorium zum ersten Male in Düsseldorf
(im Vecker'schen Saale) aufgeführt. Seit Johann Sebastian Bach, Händel
und Joseph Handn hatten die Meisten diese Form vorlassen, Mozart
widmete sich vornehmlich der Oper und Beethoven der Sinfonie. Nun
schlug am Rhein mit einem Schlage ein junger sechsundzwanzigjähriger
Componist durch. Man überreichte bei dieser Gelegenheit dem Helden des
Tages ein Prachteremvlar des Paulus, mit trefflichen Handzeichnungen von
Hildebrandt, Adolf Schrüdter, Julius Hübner, Eduard Steinbrück und
Heinrich Mücke illustrirt.
Das erste Werk, welches Mendelssohn nach seiner Abreise von Düssel-
dorf vornahm, war, daß er in Frankfurt am Main die Proben des von
seineni erkrankten Freunde Schelble geleiteten Cäcilienvereins fortführte.
Hier lernte der „Sohn der himmlischen Eäcilia" auch seine spätere Gattin,
Eäeilia leanrenaud, kennen.
Aus dieser sonnigen Zeit des jugendlichen Schaffens und Strebens
stammt ein Briefwechsel*) aus dem Nachlasse des treuen Freundes des
großen Tondichters, des Professors Ferdinand Theodor Hildebrandt, zu
Düsseldorf. Wahre Freundschaft verband die beiden Künstlernaturen bis
an ihr Lebensende. Ging das Leben des Einen in sich rnnd und fertig
abgeschlossen dahin, so waren dem Anderen im Laufe der Jahre, die er
deu Freund überlebte, mannigfache Prüfungen und Schicksalsschläge nickt
erspart geblieben.
Diese Briefe sind geeignet, den Künstler und Menschen ihres Schreibers
in einem klaren und ruhigen Lichte erscheinen zu lasse» uud über manche
Vorgänge und Persönlichkeiten ans der damaligen Düsseldorfer und Leipziger
Zeit Aufschluß zu geben. In dieser Hinsicht dürften sie auch das Bild
der Persönlichkeit des großen Mannes, wie es aus den Briefsammlungen
von Julius Rietz uud Ferdinand Hiller uns entgegentritt, einigermaßen
ergänzen.
Die Briefe aus Leipzig und Frankfurt vom Jahre 1835 und 1836
stammen aus des Meisters Jugendzeit, die Briefe vom Jahre 1847 sind
*) Diese Viicfc sind mir Uon befreundeter Seite zur Verfügung gestellt worden.
Aus Düsseldorfs Glanzepoche. — 31.1.
wenige Wochen vor dem am 4. November 1847 erfolgten Tode Mendels-
sohns geschrieben.
Ich glaube daher den vielen Freunden der beiden Künstler und
Freunde einige dieser Briefe von allgemeinerem Interesse bekannt geben
zu sollen:
Leipzig, den 31. Octobei 1835
(während die Glocken schön zum Reformationsfeste
läuten).
Lieber Hildebrand!
Habe vielen Tank für Deinen lieben, lieben Brief, für den ich Dir schon längst
hätte danken und darauf antworten sollen (wäre es auch blas aus Eigennutz gewesen,
um bald wieder einen zu bekommen) ober ich war die Zeit her sehr gehetzt und angestrengt
und finde erst jetzt, da ich wegen einer kleinen Unpäßlichkeit das Zimmer hüten muß,
die rechte Muhe, um Deine freundlichen Zeilen fo recht ouu »mar« erwidern zu können.
Wohl war es eine gute Zeit, wo Du täglich an's Fenster kommen und in mein Früh»
stück hineingucken konntest, wo Du meinen Tagen dadurch gleich einen vergnügten Anfang
gabst, und daran habe ich wohl oft schon gedacht, wenn ich leider ganz ungestört früh»
stücken konnte, überhaupt muß ich Deinen und Schirmei's Brief nicht gerade durchlesen,
wenn ich Much meinen neuen Aufenthalt ganz und gar loben soll; denn für die vielen
frohen Stunden, die wir zusammen hatten, finde ich hier wohl keinen Ersatz und Nichts,
was daran erinnern tonnte. Dafür avcr gestehe ich Dir, daß ich erst hier recht empfinde,
wie sehr viel mir in musitalischer Hinsicht dort abging, wie viele und ganz unnütze
Quälerei ich mit manchen Dingen hatte, die nun einmal eben durch den guten Willen
der Einzelnen nicht zu schaffen find, und wie ich mich also in Beziehung auf mein
öffentliches Wirken hier zufrieden fühlen muß. Das Institut der Conccrte, bei denen
ich bin, besteht seit mehr als fünfzig Jahren, Alles ist im guten geordneten Gange,
manche alte hergebrachte Gewohnheiten, die mich zuweilen rühren können, weil sie aus
«ine vergangene Zeit noch hindeuten, wie mich dmn auch ein Zopf oder eine Perücke
eines alten Herrn erfreuen kann — dabei ist das Orchester meistentheils jung und lebendig,
ungemein sicher eingespielt, sogar einige berühmte Musiker barunter, ich habe einige
meiner Ouvertüren mit mehr Ensemble und Genauigkeit gehört, als jemals sonst, und
habe dabei das Vergnügen, daß sie selbst Abends jeden augenblicklichen Einfall und
Wink des Taktstockes verstehen und auifühien. Wenn Tu das mit manchen Proben
und Aufführungen, die wir zusammen erlebten, vergleichst, so kannst Du Dir denken,
daß mir es hier in musikalischer Hinsicht wohler ist — aber wenn so ein Stück Maler»
Akademie nach Leipzig mitten unter die Lerchen ziehen wollte, so wäre es doch ein
lustiges Leben. Das geht nun freilich nicht, und fo suche ich mich zurückzuziehen und
fleißig zu arbeiten. Wenn mir es gelingt, so denke ich mich gegen den Frühling auf»
zumachen und ein paar Monate zu Fuß zu gehen; daß ich dann jedenfalls über Düffel»
dorf komme und wohl mal eines Morgens hineinguckc, wie der Herr Mal« frühstücken
thun — das steht fest. Dazwischen liegt noch viel Schnee und Hagel und 15 Abonnements»
Eoncerte, (denn fünf sind erst vorbei) und hoffentlich manches Brieflein von Dir, und
überhaupt eben ein paar lange Monate — aber ich freue mich doch schon jetzt darauf,
sobald ich lebhaft daran denke. — Wie schlimm steht es aber mit der edeln Malerkunst
zu Leipzig! Wer kam in der Messe her, und wird noch jetzt immer vom Abreisen
zurückgehalten durch Bestellungen von Portraits? Wen hält Leipzig für ein geschicktes
Kerlchen? Niemand anders als Professor Grünler*). Er malt mehrere dicke Buch»
*)Ebregott Grünler, Professor und Hofmaler in Zeulenroda, malte anfangs
historische Bilder, warf sich fpätei auch auf die Darstellung von Thierm (Schafen), die
ihm besser gelangen, als jene.
2~2 Joseph Poesien in Köln.
Händler mit ihrm Frauen, und alle rühmen, daß man fast gar nicht zu sitzen brauche
und doch seien alle Bilder gleich »zum Erkennen". Ich suchte mehrere mal sehr gering«
schätzig von ihm zu reden, aber ohne Erfolg. Neulich stellte ihn mir sogar einer vor,
aber ich war der Tüsseldorfei Akademie eingeben!, zu der ich halb und halb gehöre
und ich betrug mich sehr grob und lurz, wegen der Wasserflüsse Babylons, und anderen
Unfugs, den ich von ihm gesehen habe. Auch Genelli*) ist hier, schimpft auf gcmz
Leipzig, und die ganze Welt, und malt nichts. Neulich waren einige zwanzig Bilder
ausgt stellt, die vom Dresdener Kunstvercin verloost werden; das beste darunter wccr
offenbar und nach allgemeinem Uitheile der Hans Sachs von Oer**); mich freute
es noch apart, wie ich'L so fertig und schon gefirnißt sah, und mich der Zeit erinnerte,
wo es halb unbemalt dastand, und ich Dir zum Portrait sah, und Du Oer Ratschläge
mit der Fingersprache gabst, und ich die Nürnberger Thürmc als Landschafter tadelte —
es macht nun doch einen recht angenehmen Eindruck, und gefällt wie gesagt allgemein.
Auherdem waren ein paar nette Gegenstände da, namentlich eines von Bürlel"*), was
mir indessen sehr obenhin gemalt schien, im Ganzen schien mir nur weniges Werth zu
haben — ein Berliner Bild mit Pferden und Reiltnechten war gräßlich langwellig —
der eine Reitlnecht muß als Würze eine Wäscherin umarmen — es bleibt doch lang»
weilig. Dagegen habe ich ein Kuvferwerk gesehen, das mich lehr amüfirt hat: es sind
Pinelli'sl-) Bilder zum Gedicht Meo Patacca. Kennst Du das? Es erinnert gar zu
sehr an Rom, mit allem Prachtvollen und Dreckigen durcheinander. Noch muß ich Dir
von einer Sängerin (der Schwester des Malers Grabau) f-s-) erzählen, die hier ist, und
die Du einmal hören solltest, wenn sie Becthoven'sche Lieder singt. So etwas Voll«
lommenes ist mir selten bei einer deutschen Sängerin vorgekommen, und die Düffel»
dorfer Musensöhne würben schwärmen, wenn sie diesen glockenreinen Vortrag hören könnten.
Wenn sie ein bischen hübsch wäre, und jünger, so müßte ich mich auf der Stelle der»
lieben und thäte den ganzen Tag nichts, als Lieder componircn, während ich jetzt an
der Vollendung des Paulus fleißig arbeite. Aber verzeih, daß ich Dir so viel von mir
und meinen Umgebungen erzähle, was Dich vielleicht gar nicht intcressiren mag. Ich
thue es aber mit Absicht, weil Du auch gar zu wenig, oder gar nichts von der Deinige»
schreibst! bitte, lieber Hillenbart, hole das bald nach, und sage, was Deine Familie
macht, ob die Prinzen noch leben oder schon gemordet sind, was Tu für Bilder im Kopf
hast, erzähle mir von Schabow's und von Euch allen, auch vom Theater und Immer«
mann, da es mich intressirt, vom Singverein und dem Nath der Alten, und vor allen
Dingen schreib mir bald mal wieder. Mit herzlichen Grüße» an Deine Frau und
Mariechen bin ich
Dein
Felix Mendelssohn-Bartholby.
*) Bonaventura Genelli, Zeichner und Maler, geb. 27. September 1800 zu Berlin,
gest. 13. November 1868 zu Weimar, ließ sich nach seiner Rückkehr von Italien, 1832 in
Leipzig nieder, um dort für den Toctor tz. Häitel einen Saal in dessen Gartenhause
mit Fresken zu schmücken.
**) Theobald von Oer, der aus Westfalen stammt und spät« als Maler in
Dresden wohnte.
***) Heinrich Bürlel, Genre« unb Landschaftsmaler.
s) Bartholomeo Pinelli, Maler, geb. 1781 zu Rom, gest. daselbst 1. April 1335.
(Meo Pataccc', Dialect).
-j-s) Der Landsäafts« und Thicrmaler Christian Grabau, geb. 1809 zu Bremen,
der mit Vorliebe Wasserfälle darstellte und sich insbesondere durch seine Thierftücke
auszeichnete.
Aus Düsseldorfs Glanzepoche. 31.3
Frankfurt a/M Ken 26. Juni 1836.
Lieber Hildebranb!
Hiebci erfolgt ein Brief der Firma Breitlopf K Härtel mit dem es so zusammen»
hangt. Sie schreiben an mich und baten ick möchte Dich bitten, Du möchtest erlauben,
daß sie für ihre musikalische Zeitung Dein Portrait von mir in kleinem Format stechen
(oder lithographiren) liehen. Ihre Absicht schien zu sein, Tel» Bild in Leipzig copiren
zu lassen, und da ich vor der Leipziger Portraitmalerei und -stecherei höllischen Respect
habe, so schrieb ich ihnen zurück, sie würden besser thun, die Sache Dir mitzutheilcn und
llnheim zu stellen; weil Tu vielleicht in Düsseldorf selbst oder in Cöln solch einen Stich
besorgen und besser machen lassen kannst, als sie in Leipzig. Sie fragen nun also bei
Dir cm, ob Du diese Gefälligkeit haben wolltest? Da denn doch das Portrait in jedem
Falle herauskommen sollte, so wäre mir's natürlich lieber, wenn's gut würde, und dazu
kannst Du gen/iß am besten verhelfen. Nimm die Belästigung nicht übel, die Dir dadurch
entsteht, und thue mir und tzärtel's, wenn Tu es kannst, den Gefallen, Dich des Tinges
anzunehmen, damit ich mit einem vernünftigen Gesicht in die Welt komme.
Wenn es möglich ist, so antworte ihnen recht bald auf ihre Bitte, ui'd sielen dann
zugleich ein paar Zeilen an mich mit ab, so wäre das freilich desto prächtiger; wenn
auch weiter nichts drin stände, als was Du und die Deinigen machen, und wie es Schadow
mit seiner Gesundheit geht.
Ich lebe hier sehr angenehm und mit vielen liebenswürdigen Leuten; doch brauche
ich noch Zeit mich von den Düsseldorfer Arbeiten zu erholen, deren Anstrenaungcn ich
eist hier zu fühlen anfing. Rossini'« Anwesenheit hier hat alle Musiker in Alarm ver»
setzt, und mir viele Freude gemacht, »eil er der geistreichste, amüsanteste Gesellschafter
ist, den man in d.-r Welt finden kann. Auch Musik haben wir manches Mal mit ein»
ander gemacht, und ich werde Dir lustige Anekdoten von ihm zu erzählen haben; Schade
daß Du sie nicht gleich selbst erzählen kannst; es wäre etwas fürTich, Er ist ein toll«
Prinz. Auch von der hiesigen Ausstellung werde ich mancherlei zu erzählen haben; ein
charmantes Bild von Schclfhoul* ) war wieder da, und überhaupt mehrere hübsche
Sachen. Die Madonna von Tegcr**) und die Landschaft von Pose schienen alle
Frankfurter Kunstkenner sehr zu entzücken, und es wurde drülier viel gclanneaieheit hin und
her. Gestern erhielt ich einen kurzen Brief von Worivgen, norm er mir wieder alles
mögliche Unangenehme über das Düsseldorfer Musilfest und Musik»esen nachträolich aus»
zutrinken gilbt; es wird wohl nicht so schlimm sei», wie er es ansieht, in keinem Falle
aber sprich ihm davon.
Ich habe aber leine Schicivlaune, weil ich in 3—4 Wochen wieder in Düsseldorf
zu sein denke und dann Alles besser mündlich sagen lann, einen Abend müssen wir bann
wieder bei Dir mit Schirmer allein zubringen, und wenn »och Pflaumen ta sind, so bitte
ich Deine Frau, sie bis dahin aufzuheben. Essen will ich sie dann schon.
Lebe nun wohl, Hildebart! Grüße mir Schirme! und Bcndcmann vielmal und
lebe wohl.
Dein
Felix Mendclssohn-Bartholdy.
ssranksult a/M, den 10 Sept. 1847.
Mein lieber Hildebrand! Habe vielen Tank für Deinen freundlichen Brief, den ich
so eben bei meiner Ankunft hier empfing. Und sage auch Deinen Eollegen vom Musik»
*) Andreas Schelfhout, Landschaftsmaler, geb. 1787 im Haag, gcst, das. 1870.
**) Ernst Deger, Historienmaler, der mit den Brüdern Andrea» und Karl Müller
aus Tllinistlldt und Franz Ittenbach aus Königswinter die Freske» in der Avollinaris»
tirche zu Remagen am Rhein und später die Fresken in der Schloßcapelle der Burg
Stolzenfels gemalt hat.
3~ Joseph l°es»en in Köln.
Eomit« meinen Dan! für das Vertrauen das sie mir durch ihre Anfrage beweisen. Tay
mich die Sache, von der es sich handelt, lebhaft interessirt und daß ich daher gern den
besten Rath geben möchte, der sich nur ersinnen Iaht, das brauche ich Tir wohl nicht erst
zu versichern. Aber es wird mir schwer werden; denn seit ich von Rieh' Abgang hörte,
habe ich oft gedacht, wem ich wohl diese Stelle wünschte und habe niemand herausfinden
tonnen, der unbedingt paßte und für den sie unbedingt paßte. Ehe ich mich daher näher
ausspreche, möchte ich Dich bitten mir zu sagen (es versteht sich unter dem Versprechen
meiner Verschwiegenheit) wer sich bei Euch gemeldet hat. Vielleicht ist einer darunter,
der besser pafzt, als einer von denen an die ich gedacht hatte; und ist das nicht der Fall
so will ich meine Vorschlage wachen so gut ich lann.
Sollte sich keiner finden, der von allen, dem Verein und dem Comile gleich bei
Nennung seines Namens per H«l»iu2tiou angenommen würde, wolltet Ihr dann nicht
vielleicht dem Beispiele de; hiesigen Eaecilieii0 Veieins und der Mainzer Vereine folgen
und für sebe» Bewerber einen Abend (oder mehrere) bestimmen, wo sie vor sämmtlichen
Mitgliedern eine Probe ihres Dirigirens und Einstudierens, ihres Ciavierspiels und ihrer
ganzen Art ablegten, wonach bann die Wahl sich lichten tonnte? Solch ein Verfahren
hat manches Tadelnsiucrthe, aber es ist nicht zu läugnen, daß beide Vereine, der hiesige
wie der Mainzer, schon mehreremal sehr gut dabei weggekommen sind. Man zahlte den
Bewerbern blos die Reisekosten hin und her, ließ sie nach Belieben ein Wert zum Gin«
studiren auswählen »reiches sie konnten oder worauf sie sich vorbereitet hatten, nahm auch
(wenn ich nicht irre) irgend ein ihnen unbekanntes und bildete sich so sein Urtheil. Die
Herren Schölt in Mainz und irgend einer Deiner hiesigen Bekannten würden Dir
gewiß alle Details darüber besser angebe» toni«n, wenn Du sie wissen wolltest.
Wünschest Du nun meine Antwort bald, lieber Hildebrand, so schreibe mir bald
nach Empfang dieser Zeilen hich.'l, Adr. twwl ä'H,r>FI«t«rre. Ich bleibe noch 5—6 Tage
hier; nachher ist meine Adresse wieder Leipzig. Wie gern ich Dir auf alle Deine Fragen
mit meiner best n Auskunft zu Diensten bin, brauche ich nicht erst zu sagen.
Für die Idee mit der Partitur meines Elias und den Unterschriften darin für
Rietz danke ich Tir und allen sehr herzlich; es hat mir sehr große Freude gemacht. Und
daß Du alles dumme Zeug behältst, was mir beim Anschauen Deiner schönen Bilder
durch den Kopf fährt und was ich folglich Dir auch gleich sage, das hat mich fast be»
schämt. Aber Du weißt ja, wie es gemeint, und wie sich niemand mehr darüber freut
als ich, trotz der vielen curiosen Redensarten, die dabei zu hören sind. Hoffentlich seh«
ich Deinen Othello recht bald; die Tesdemona steht mir wohl immer vor Augen, seit ich
Dein Bild kenne, und so muß es jedem gehen.
Nun grüße mir Frau und Kinder recht herzlich und sei von den meinigen ge-
grüßt. Immer
Dein
Felix Mendelssohn-Bartholdr».
Leipzig, den 1. October 1847.
Mein lieber Hildebrand!
Unter den neun Bewerbern, die Du mir in Deinem letzten Briefe nennst, steht
Hiller so entschieden obenan, daß nach meiner Meinung lein Z veifel darüber sein kann.
Er ist durch sein Talent, seinen Ruf und seine Ucbung den andern von Dir Genannten,
ja ich glaube Allen überlegen, die sich irgend in Deutschland für eine solche Stelle finden
ließen. In dieser lleberlegenheit liegt das einzige Bedenken, das ich dabei zu nennen
wüßte: ich gestehe Dir offen, daß mir die Stelle nicht bedeutend, nicht umfassend genug
für Hiller scheint, und bah ich daher nicht glaube, daß sie für ihn paßt (natürlich fage
ich Tir dies unter uns, denn es würde manchen Dortigen verletzen, wenn er es erführe).
Ich fürchte, daß Hiller auf die Länge mit der dortigen Wirksamkeit nicht zufrieden sein
kann, und zwar aus musikalischen und noch mehr aus persönlichen Gründen — indeß
er muß das am Ende besser beurtheilen können, als ein Anderer und was seine Kennt«
Aus Düsseldorfs Glanzepoche.
31,5
nisse und Leistungen, mit einem Wort seine künstlerische Befähigung zu dieser Stelle an»
langt, darüber lann, wie gesagt, nicht der mindeste Zweifel obwalten.
Von den Uebrigen ist eigentlich nur Hermann Schornstein, den ich aus früheren
Zeiten als einen guten Musiker kenne; die Anderen sind mir so gut wie ganz unbekannt.
Meinen Vorschlag mit der Concurrenz musz ich nicht recht deutlich gemacht haben; denn
von öffentlichen Concerten, die als Probe dirigirt wurden, ist dabei die Rebe nicht,
sondern nur von den regelmäßigen, wöchentlichen Ucbungcn des betreffenden Vereins.
Indeß braucht daran natürlich nicht weiter gedacht zu werden, wenn es sich von Leuten
anerkannten Rufs und bewährter Tüchtigkeit handelt. Tabei bleibe ich aber, daß bei
mehreren einander ziemlich gleichen Bewerbern es kaum ein besseres Mittel geben dürfte,
die Frage zu entscheiden.
Ten Auftrag wegen der Jenny Lind kann ich nicht unbedingt übernehmen. Ich
habe sie zu lange nicht gesehen, um etwas von ihren Plänen zu wissen, und es fehlt
mir augenblicklich an Gelegenheit, die Correspondenz mit ihr wieder anzuknüpfen. Viel-
leicht komme ich mit ihr wieder im Laufe des Herbstes zusammen, dann tonnte ich sie
darüberfragen; aber auch das kann ich dem Comitö nicht versprechen.
Erst gestern Abend bin ich von Verlin wiedergekommen, und
Hier bricht der Nrief ab. An dieser Stelle ist vermerkt:
N. L. Die andere Hälfle dieses Briefes habe ich an die Kronprinzessin von Eng»
lllnd abgegeben. Hildebrandt.
Diese andere Hälfte muß wohl einen besonderen Werth durch ihren
Inhalt gehabt haben, abgesehen davon, daß es einer der letzten Briefe
des großen Tondichters vor seinem am 4. November 1847 erfolgten Tode ist.
Nach der Dr. Nietz'schen Sammlung schrieb Mendelssohn noch einen Nrief
an seinen Vruder Paul, an den General von Webern in Berlin von
Interlaken aus und am 25. October 1847 seinen letzten Brief von Leipzig
ans an seinen Bruder Paul.
0«"
Rußland in Centraiasien,
von
E. MaschKe.
— Vreslau. —
,3chl!,ß„
i! Erpedition von 1879 gegen die Achal-Teke war also voll-
ständig mißgluckt. Ein Unterschätzen des Feindes, in Folge dessen
das ungenügende Necognosciren der feindlichen Festung, der
Mangel an Nelagerungs-Material und eine ganz unzureichende Vorbereitung
des Sturmes selbst waren die Ursachen für den Mißerfolg der russischen
Waffen.
Daß Rußland demnach für das nächste J ahr eine zweite Unternehmung
gegen die Achal-Teke in Aussicht nahm, war wohl selbstverständlich. Nur
durch einen vollständigen Erfolg konnten die gefährlichen Eonseguenzen der
verunglückten Erpedition wieder ausgeglichen werden. Das Ansehen
Rußlands in Mittelasien war jedenfalls gefährdet, es muhte unter allen
Umständen aufrecht erhalten, eventuell wieder hergestellt werden.
Im Frühjahr 1880 begann man mit den Vorbereitungen dazu. General
Skobelew, ein thatträftiger, in den centralasiatischen Feldzügen erprobter,
erfahrener Offizier wurde zum Oberbefehlshaber ernannt. Er verstand dann,
die 1879 begangenen Fehler zu venneiden, aus den daraus hervorgegangenen
Lehren aber Nutzen zu ziehen. Sehr wesentlich für das Gelingen des
Unternehmens war die Veranlagung der Operationsbasis. Nicht blos von
Tfchikischlar aus, sondern auch von dem Michaelbusen des Kaspischen Meeres
sollte gegen die Teke-Oase vorgegangen werden. Das beinahe gleich weit
von diesen beiden Ausgangspunkten gelegene Vnmi war als Hauptetappen-
ort ausersehen. Durch seine Lage in der Teke-Oase jenseits des Kovet-Dagh
sowie durch seine Umgebung war es vorzüglich geeignet zu einem Centrai-
stützpunkte. Schon an, 10. Juni wurde es von einer kleinen Abtheilung
Rußland in Lentralasien. 3I>?
der Etappentruppen unter persönlicher Leitung des Generals Skobelew ge-
nommen, befestigt und entsprechend besetzt. Eine sechsmonatige Verpflegung
für 8000 Mann, ferner 10000 Artillerie-Geschosse und 2 Millionen
Patronen sollten auf den beiden Etappenstraßen dorthin geschafft werden.
Es mar daher die gründliche Instandsetzung der Wege vom Michaelbusen und
von Tschikischlar her nothwendig. Durch die Anlage einer Eisenbahn von:
Michaelbusen über Muliakara, Aidin, Achtschakuima in der Richtung auf
Kysnl-Arwat wurde der Transport von Truppen und Material noch wesent-
lich erleichtert. Der Bau war freilich ein schwieriger, einmal der Terrain-
verhältnisse wegen und dann in Folge des weiten Transports aller dazu
notwendigen Materialien. Am I. October 1880 waren 22 Kilometer,
am 25. Januar 1881 aber 106 Kilometer fertig gestellt, während die ganze
Strecke bis Kysyl-Arwat im September 1881 vollendet wurde. Während
der Operationen gegen die Tete-Oase fand der Verkehr auf der trans-
kaspischen Vahn aber nur bis Aidin -~ 84 Kilometer weit — mit
Locomotiven statt, von dort ab bis Achtschakuima — 106 Kilometer weit
— benutzte man sie als Pferdebahn. Wo der Bahntransport aufhörte,
fowie von Tschikischlar ab und längs des Atrek und Ssumbar wurden Wagen
oder Kameele verwendet. Die Beschaffung von 20000 dieser erforderlichen
Lllstthiere war allerdings mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Dieselben
mußten selbst bis von Orenburg herbeigeschafft werden. Die Verpflegungs-
mittel kamen zum größten Theile aus Rußland, aber auch in Persien wurde
Getreide aufgekauft. Die Etappenstraßen sicherte man durch Anlage von
Befestigungen. Die Etappentruppen hatten für den Schutz der Transporte
zu forgen, die vom Mai bis zun: December 1880 sehr häufig durch An-
griffe seitens der Turkmenen gefährdet waren. Nach allen diesen vorbereitenden
Maßnahmen begann erst im November der Transport der eigentlichen
Expeditionstruppen vom Kaukasus her.
General Skobelew hatte aber bereits im Sommer die Feindseligkeiten
eröffnet, soweit dies die notwendige Erreichung von bestimmten Neben-
zwecken erforderlich machte. Während 1879 von: General Lomakin voll-
ständig außer Acht gelassen worden war, sich dnrch zweckmäßige Necngnos-
cirungen Kenntnis; über Stellung und Stärke des Gegners zu verschaffen,
legte General Skobelew gerade darauf ein großes Gewicht. Bereits am
1. J uli ging er mit einer kleinen Abtheilung aus Nanu auf Geottepe vor.
Am 5. erreichte er nach einigen kleinen Scharmützeln legani und Batyrkul.
Unter dem Schutze vorgeschobener Trupps wurden, trotzdem letztere sich einer
bedeutenden Masse feindlicher Reiter gegenüber sahen, an: 6. die Ve-
festigungswerke von Geoktepe recognoscirt und Terrainaufnahmen ausgeführt.
Am 10. Juli traf Skobelew wieder in Bann ein. Geoktepe sollte von 10000,
nach anderen Nachrichten von 40000 Teke-Tnrkmenen gesetzt sein. Im
November begann General Skobelew, sich vorwärts Bann Stützpunkte zu
schaffen. So wurden am 27. Karns und Kelat, 30 Kilometer von Geoktepe,
3~8 «, Maschke in Viesla».
den sich hartnäckig verlheidigenden Durtinenen entrissen, am 80. November
legnian-Batyrkul, 11 .Kilometer vor der feindlichen Festung. Letzterer Ort
wurde dann als „Samurskiiche Befestigung" zum Ausgangspunkte für die
Operationen gegen Geoktepe selbst bestimmt und von hier aus die Etappen-
straße nach Bami organisirt. Auch legte man in dieser neuen Befestigung
bedeutende Depots von Verpflegung, Munition und Material an. 499»
Kameele und 199 vierspännige Wagen vermittelten den Verkehr zwischen
hier und Nami. Es trafen jetzt auch die für die eigentliche Erpedition be-
stimmten Truppen ein. Es waren dies 9 Bataillone, 8 Compagnieen und
2 Kommandos Infanterie, 19 Schwadronen Reiterei, meistens Kasaken,
1 V, Eompagnien Sappeurs und endlich 75 Geschütze. Die Gesammtstärke
des am 15. December in Samurskoje concentrirten Eorps betrug 8999
Streitbare.
Zur Vervollständigung der am 6. Juli ausgeführten Necognoscirung
wurde eine weitere solche am 4. December zur genauen Erforschung
der Westfront von Geoktepe unternommen und hatte ein ziemlich heftiges
Gefecht zur Folge. Da fenier Nachrichten bei den Russen eingingen, das;
in der feindlichen Festung eine große Bewegung stattfände, wurden am
II. und 12. December die Aufklärungen wiederholt. An letzterem Tage
sahen sich die Russen in ein heftiges Gefecht «erwickelt; ihre Verbindung
mit Samurskoje wurde sogar eine Zeit lang durch die Tekes unterbrochen,
und erst ein aus dem Lager ausrückendes Detachement mußte dieselbe
wiederherstellen. Nach den Resultaten der letzten Necognoscirungen war also
nicht anzuuehmen, daß die Tm-kmenen ihre Stellung hier ohne energischen
Widerstand aufgeben würden. Andererseits war letztere zu stark, um sich
ihrer mittelst eines forcirten Angriffes bemächtigen zu können. Abgesehen
von den Reiterschaaren, die Geoktepe außerhalb vertheidigten und wohl an
7999 Pferde zählten, waren im Innern der Hauptbefestigung, in den
.Mitken, noch gegen 49999 Personen untergebracht, die mehr oder minder
als Vertheidiger in Betracht kamen. Die Außennerke waren ferner mit
vortrefflichen Schützen befetzt. Der im Nordosten von Geoktepe gelegene,
befestigte und mit einer Haubitze armirte Hügel beherrschte aber die ganze
Stellung.
General Skobelew entschloß sich demnach zu dem langwierigeren, aber
dafür auch sicheren Wege der förmlichen Belagerung. Die Süd« und Ost-
front der Festung schienen sich am meisten für den Angriff zu eignen. Um
aber zunächst einen Stützpunkt im Süden zu haben, bemächtigte sich Skobelew
am 29. December langikalas und schlug hier, 1899 Meter von der Süd-
front der Festung entfernt, sein Druvpenlager auf. Schon an demselben
Abende mußte von demselben ein Angriff der Dekes zurückgewiesen werden.
Nachdem dann die Russen auch auf der Ostfront durch Einnahme der Kala
dort sich festgesetzt hatten, wurde am 23. December mit Tagesanbruch die
erste Parallele gegen die Südostecke der Festung auf 690 Meter Abstand
Rußland in Centraiasien. 31.9
eröffnet. Die Belagerungsarbeiten nahmen jetzt ihren regelrechten Verlauf.
Die nöthigen Eommunicationen wurden angelegt, und in der Nacht zum
28. December ward mit dem Bau der zweiten Parallele vorgegangen.
Bis dahin hatten die Turkmenen die Arbeiten des Angreifers fast gar nicht
gestört. Als aber am 28. mit Einbruch der Dunkelheit die russischen
Tranch^en-Arbeiter wieder angestellt wurden, machte plötzlich die ganze Be-
sahung von Geokteve einen Ausfall. Derselbe richtete sich namentlich gegen
den rechten Flügel und den Nucken der Velagerungsarbeiten. Mit der
blanken Waffe in der Hand stürzten sich die Tekes wie Rasende gegen die
russischen Linien, sprangen auf die Brustwehren der Laufgräben und hieben
von dort aus auf die Nüssen ein. Sie wurden dann allerdings zurück-
geworfen, aber eine Fahne und ein Geschütz blieben in ihren Händen. Nach-
dem die Nüssen die Arbeit wieder aufgenommen hatten, erfolgte in der
Nacht noch ein zweiter Ausfall, der jedoch durch das Sbrapnelfeuer der
Artillerie zurückgewiesen ward. Mit welcher Heftigkeit und Erbitterung
vorher in den Laufgräben gekämpft worden, beweist namentlich das eigen-
tümliche Verhältnis) bei den russischen Verlusten zwischen Todten und
Vermundeten. Während von Letzteren die Nüssen nur 1 Offizier und
30 Mann zn verzeichnen hatten, waren 5 Offiziere, 95 Mann todt auf den:
Platze geblieben.
Am 29. December wurde eine Gruppe von feindlichen Befestigungs-
anlagen, etwa IM m vor der füdöstlichen Ecke von Geoktepe, durch die
Russen genommen, gegen die Festung in Vertheidigungszustand gesetzt und
,nit den Velagerungsarbeiten verbunden. In der Nacht zum 31. December
inachte der Feind abermals einen großen Ausfall, der den Nüsse» wieder
erhebliche Verluste brachte. Die Turkmenen behielten auch wieder ein
russisches Geschütz in Händen. In derselben Nacht wurde aber die dritte
Parallele eröffnet, und das russische Lager bis dicht an die erste Parallele
herangeschoben. Am 5. Januar fand endlich noch ein dritter Ausfall der
Tekes statt, der aber nicht mehr die Energie der früheren zeigte nnd leicht
abgewiesen ward. Mit dem 9. Januar waren dann die projectirten Ve-
lagerungsarbeiten vollendet, bis auf einen Minengaug, der geoeu die Mauer
auf der Südostseite der Festung vorgetrieben wurde.
Das russische Artilleriefeuer hatte inzwischen große Verheerungen in
der Festung angerichtet, trotzdem ging aber der Feind auf die mit ihm an-
geknüpften Verhandlungen nicht ein. Nachdem daher bis zum 11. Januar
auch die Miue zum Sprengen bereit gestellt und von der Artillerie eine
Bresche in der Südfront der Festungsmauer vorbereitet war, wurde für
den 12. der Sturm angeordnet. Es waren für diesen 23 Compaguieen be-
stimmt, während 25 die allgemeine Neserue bildeten. Der Sturm erfolgte
in drei Colonnen, gegen die auf der Westfront gelegene Mühlenkala, gegen
die Bresche auf der Südseite nnd die durch die Mine hergestellte iüeffnung
auf der Südostseite. Nach hartem, schwerem Kampfe und heftigem Hand-
320 «. Maschle in Vreslau,
gemenge gelang es den Russen, sich in den Besitz der Mauer der Haupt:
Befestigung zu setzen und in das Innere einzudringen. Hier kam es dann
zu einein fürchterlichen Gemetzel, dem sich die Tekes schließlich durch die
Flucht zu entziehen suchten. General Skobelew ließ aber jetzt die bereit
gehaltene Reiterei durch die Festung hindurch zur Verfolgung der in nörd-
licher Richtung nach der Steppe zu Fliehenden vorgehen. Gegen 8000 Tekes
beiderlei Geschlechts wurden bei dieser Gelegenheit von den Dragonern und
Kosaken noch niedergemacht. Im Innern der Festung fand man 6500 todte
Turkmenen vor, gegen 4000 Weiber und Kinder waren in Gefangenschaft
gerathen. Der Sieg der Russen war also ein vollständiger. Sie hatten
ihn mit einem Verluste von 32 Offizieren und 366 Mann an Verwundeten
und Todten erkauft. Die Belagerung von Geoktepe hatte 19 Tage ge-
währt. Trotz der heldenmüthigen Vertheidigung seitens der Teke-Turtmenen,
trotz der ungeheuren Mühseligkeiten und Entbehrungen, welche die Russen zu
ertragen gehabt, hatte dennoch der Muth, die Tapferkeit und die außer-
ordentliche Ausdauer der Letzteren obgesiegt. Von den 40 000 Turkmenen,
welche in Geoktepe zusammengedrängt gewesen, war wohl die Hälfte zu
Grunde gegangen. Durch diesen erfolgreichen Schlag war die Kraft und
die Macht der Achal-Tekes, der bis dahin am meisten gefürchtet gewesenen
Nomaden Centraiasiens, endgiltig gebrochen worden.
Die Waffenthat von Geoktepe erhöhte aber auch das Ansehen Rußlands
in den Augen sämmtlicher Asiaten. In Persien war außerdem das Gefühl
der Dankbarkeit dafür, daß die Russen die Nachbargebiete von dem
räuberischen Steppenvolke befreit hatten. Seit J ahrhunderten den Ueber-
fällen der Turkmenen ausgefetzt, waren die friedfertigen und fleißigen Be-
wohner Irans bisher stets vergeblich bemüht gewesen, bei ihrem Könige und
ihrer Negierung Hilfe und Schutz gegen dieselben zu finden. Jetzt wurde
Nußland als der Befreier und Erretter des östlichen Persiens gepriesen.
Die ganzen Länderstrecken entlang durch Chorasan, vom Scharud angefangen
nach Mefchhed und Sarachs, und namentlich in den Nachbarbezirken des
neuerdings von Nußland unterworfenen Gebietes, vornehmlich in Kabuschan,
Vudschmurd, Deregög, war die Bevölkerung beflissen, ihre Sympathien für
den nordischen Eroberer kundzuthun. Einer der Hauvtvortheile aber, die
Nußland aus der Unterwerfung des Achal-Teke-Turkmenenlandes erwuchsen,
war die feste strategische und auch für die Handelsverbindungen sehr wichtige
Position, die es an den Abhängen des Kopet-Gebirges gewonnen hatte. Das
östliche Küstengebiet des Kaspischen Meeres ist, außer an den Ausmündungen
der Flüsse bis Kysyl-Arwat hin unfruchtbares Land, vollständige Wüste.
Bei letztgenanntem Orte erst beginnt die Nodencultur mit Hilfe der Be-
wässerung vom Gebirge her. Je weiter man aber ostwärts vordringt, um
so reicher wird das belebende Element in den Bewässerungscanälen, um so
fruchtbarer demnach der Boden, und um so mannigfaltiger und üppiger
werden seine Producte. Im Alterthum führte bekanntlich die große Handels»
Rußland in Centialasien. 321.
Straße aus dem Innern Asiens nach dem Westen über die südlichen Abhänge
des Kopet-Gebirges nach dem Kaspischen Meere, und trotz der Verwüstungen
durch die Einfälle der Mongolen erfreuten sich Kahka, Mehne und Zlbiverd
bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hin eines bedeutenden Rufes. Es
war daher wohl anzunehmen, daß Rußland, im Besitze dieses reichen Landes,
seine ganze Kraft darauf richten würde, die ehemalige Eulturperiode wieder
zu erneuem. Dieser Landstrich war viel leichter zu bevölkern und zu coloni-
siren, als die Eroberungen in Turkestan. Nußland mußte sich veranlaßt
sehen, seine Ansiedlung hier zu beschleunigen, um in dem Gebiete östlich des
Kaspischen Meeres festen Fuß zu fassen und sich die große Verbindungslinie
herzustellen, die aus dem Innern Rußlands über das Schwarze Meer, durch
den Kaukasus und über das Kasvische Meer bis an den Außenrand des
Hindukusch sich erstrecken sollte. In der vollen Erkenntnis, der Wichtigkeit
dieser Aufgabe hatte man den Kaukasus von Vatum bis Baku mit einer
Eisenbahn überbrückt. Während zur Unterwerfung der Turkmenen geschritten
wurde, war gleichzeitig auch der Bau der transkaspischen Vahn in Angriff
genommen worden. Nachdem aber die Eroberung des Turkmenenlandes
vollbracht war, trug Nußland zunächst dafür Sorge, dasselbe zu pacificiren.
Es gelang dies unter dem Nachfolger Skobelews, dem General Nöhrberg,
im vollsten Maße. Die Flüchtigen wurden zurückgerufen, und die wieder
heimkehrenden Achal-Teke-Turkmenen boten jetzt das geeignetste Material
für die Kernbildung einer Wüstenbevölkerung von friedfertigen Unterthanen
Rußlands. So vermögen dem: selbst die Widersacher Nußlands nicht ab-
zuleugnen, daß infolge der Pacisication des Turkmenenlandes schon nach
wenigen Jahren die Bodencultur, die Industrie und der Handel dort einen
großen Aufschwung genommen hatten.
Der Eentralpunkt der russischen Verwaltung in dem neueroberten Lande
wurde Aschkabad. Dasselbe bildete auch den Sammelort für die Handels-
leute, welche dem russischen Invasionscorps auf dem Fuße gefolgt waren.
Diese Kaufleute setzten sich zumeist aus Kaukasiern, Mohammedanern und
christlichen Armeniern zusammen. Sie besaßen die Fähigkeit, sich mit den
Turkmenen zu verständigen und wurden dadurch, daß sie unbelästigt bis in
die fernsten Theile des Achal-Gebietes vorzudringen vermochten, die besten
Verkehrsvermittler zwischen den Eingeborenen und den Eroberem. Aschkabad,
der Mittelpunkt der neuen Handels- und Culturbewegung lockte aber nicht
nur die schon der russischen Herrschaft unterworfenen Turkmenen an, sondern
bald auch einzelne Glieder der noch unabhängigen Stämme dieses Volkes,
wie die Tele aus Merw, der Tetschend-Oase und von jden Salor- und
Sarik-Völkern. Rußland richtete jedoch im richtigen Verständnis, seiner
Interessen seine Aufmerksamkeit zunächst auf Merw, das Hauptquartier der
noch unabhängigen Teke-Turkmenen. Demi wenn die Achal'-Teke auf
150 ()(>() Seelen veranschlagt wurden, so schätzte man die Merw-Tete auf
250 000. Merw war im Älterthum, und zwar in der vormongolischen
322 <L. Maschke in VreZIau.
Periode, ein großes Handelscentrum gewesen und eine bedeutende Stadt,
die an den Ufern des Flusses Murghab gelegen, den geeignetsten Rastpunkt
bot für die Karawanen zwischen Vochara und Persien. Das Heer des
Dschengis Chan hatte dann die Stadt in einen Trümmerhaufen verwandelt,
aus dem sich dieselbe nur als elender Ort wieder erhob.
Nußland bahnte jetzt also Handelsverbindungen mit Merw an; im
Februar 1882 brach die erste Karawane von Aschkabad dorthin auf. Als
Führer fungirte Alichanoff Avarski, aus einem Stamme in Dhagistan.
Derselbe gehörte zu jener Klasse von Offizieren asiatischer Herkunft, die, ohne
ihrer Religion untreu geworden zu sein, durch ihren gewonnenen Bildungs-
grad und durch den Verkehr mit den moskowitischen Kameraden sich voll-
ständig russificirt haben. Indem sie ihrem Namen ein „off" anhängen,
nehmen sie auch officiell die nissische Nationalität an. Solche russificirte
Tataren, die sich dem russischen Staate schon oft als sehr nützliche Diener
erwiesen haben, waren auch Velikhanoff, der berühmte Reifende in Kafchgar,
fenier Naziross, Tachiroff, Muratoff und der russische Kalmücke Dandutoff-
Korfakoff. Der Pseudo-Kaufmann Alichanoff war nur vierzehn Tage in
Merw, trotzdem vermochte er aber fchon mit der Ueberzeugung zurückzu-
kehren, daß es nur noch einiger Zeit und Geduld bedurfte, um dasselbe
vollständig für Nußland zu gewinnen. Er hatte fogar von dem Turkmenen-
Häuptling Mllchdum- >Uili'.CHan das Versprechen zu erlangen gewußt, der
Krönung Kaiser Aleranders III. beizuwohnen. Ter Vesuch des Chans in
Moskau erfolgte dann auch thatsächlich. Während aber dieses Ereigniß vor
sich ging, streckte General iiomarow, der Nachfolger Röhrbergs, einen Fühler
nach dem Südosten des Turkmenenlandes aus, indem er den Oberst Mura-
toff von Aschkabad 200 Km weit nach der Tetfchend-Oafe entsandte, um
von dort aus den Marsch um die nordöstliche Grenze Persiens vorzubereiten.
Es sollte 140 Km von Merw entfernt ein Vorposten gegründet werden für
den Fall, daß die freundschaftlichen Verhandlungen nicht zun» Ziele führten
und die Eroberung von Merw durch Waffengewalt erfolgen müßte. Diese
Vorsichtsmaßregel erwies sich als eine überaus kluge. Anfang des Jahres
1884 ging Alichanoff im Auftrage Komarows nach Merw und verlas dort
in öffentlicher Versammlung die Aufforderung, sich der russischen Herrschaft
zu unterwerfen. Da die Mahnung den nöthigen Nachdruck erhielt durch
den Hinweis auf die Anwesenheit der russischen Kasaken in der Tetschend-
Ollse, so erklärten sich die Vornehmsten des Teke-Volkes sofort zur Unter-
werfung bereit. Die antirufsische Partei unter Kadschar-Chan sehte dcmn
zwar noch einigen bewaffeten Widerstand entgegen, wurde aber von den
Russen niedergeschlagen und zersprengt. Von Mitte März an besetzte ein
Theil der russischen Truppen Kalei-Ehurschid-Ehan, und später wurde in
dieser Gegend das Fort Nikolajewsk erbaut. So war Merw in die Hände
der Russen gefallen, und Machdum Kuli-Chan wurde zur Belohnung
Häuptling der Tetschend-Oase. Durch die Annexion von Merw und die
Rußland in Lenlralasien. 323
Unterwerfung des Teke-Volkes hatte sich Rußland aber auch fast die ganze
turtomanische Nation unterthan gemacht. Alle Befürchtungen bezüglich weiterer
Feindseligkeiten hatten ein Ende gefunden. Dem Beispiele der Tekes von
Merw folgte schon nach kurzer Zeit der turkmenische Stamm der Saruks,
und bald war auch die Atek Oase unterworfen, welche sich von Giaurs bis
Sarachi ausdehnt und die Verlängerung der Nchal-Oase bildet.
Die Lage von Merw auf dem halben Wege zwischen Persien und
Buchara macht dasselbe ferner zum besten Verbindungsgliede zwischen der
transkaspischen Eisenbahn, der Handelsstraße von Zerafschan und dem öst-
lichen Persien. Die natürliche Folge dieser centralen Position war dann
die Fortführung der genannten Bahn über Merw, Amu-Darja und Buchara
bis Samarkand. Seit undenklichen Zeiten bestand eine Heerstraße zwischen
den Ehanaten Turkestans und Persien. Auch Rußland schien Anfangs
diesem Wege nach Mittelasien folgen zu wollen. Die Richtung von
Orenburg über den Orus bis zum Paropamisus bot aber jedenfalls für
eine Armee aus dem Innern Rußlands zu viel Schwierigkeiten und Hinder-
nisse. Auch war der Versuch der Anlage einer Eisenbahn von Orenburg
nach Taschkent von vorn herein gescheitert, trotz der Bemühungen des so
unternehmenden von Lesseps, der sich bekanntlich mit dem kühnen Projecte
getragen hatte, eine Schienenverbindung herzustellen, welche in neun Tagen
von Calais nach Calcutta führen follte.
Rußland hatte also schon lange geplant, seinen Weg nach Inner-
asien vom Schwarzen Meere durch den Kaukasus, über das Knspische Meer
und entlang der nördlichen Grenze von Persien zu nehmen. Die Eroberung
der drei Ehanate von Turkestan konnte in dieser Beziehung daher immer
nur die Bedeutung haben, durch ihren Besitz sich eine feste Position im
Rücken zu sichern. Die Ausdauer, Klugheit und das Geschick, mit welchen
Rußland diese eigentliche Marschroute nach Mittelasien in Angriff genommen
und verfolgt hat, dürften aber kaum ihresgleichen in der Gefchichte der
Eroberungen finden. Durch nahezu zwei Jahrhunderte war eigentlich der
Plan mit Beharrlichkeit verfolgt worden. Während das übrige Europa noch
in gänzlicher Unwissenheit über Land und Leute in dem Gebiete östlich des
Kaspischen Meeres verblieben war, hatte Rußland sich eine ziemlich genaue
Kenntnis; zu verschaffen gemußt von der geographischen Situation und der
Topographie des Landes, sowie von den Beziehungen seiner turkomnmschen
Einwohner nntereincmder. Nach der Unterwerfung der drei Chanate und der
lomuden vermochte dann aber Nußland sein Ziel mit voller Sicherheit zu
verfolgen und zu erreichen.
Durch die Besitznahme von Merw hatte Nußland zunächst wohl auch
die letzten turkmenischen Räuberbanden niederwerfen wollen. So lange diese
nicht gebändigt wÄren, konnte auch von Nuhe und Ordnung in Transkaspien
nicht die Nede sein. Wie alle anderen großen Staaten Europas muß auch
Rußland durch seine asiatische Politik bezwecken, neue Absatzgebiete für seine
Nord und Süd. I. XXV. 225. 22
224 - <L. Mllschle in Vreslan.
nationale Industrie zu finden. Dazu braucht es bei seinein unermeßlichen
Besitze in der alten Welt allerdings keine überseeischen Colonieen. Wollte
aber Rußland aus seinem centralasiatischen Gebiete endlich auch einigen
Nutzen ziehen, so war es unumgänglich nothwendig, durch die Unterwerfung
der turkmenischen Völker Sicherheit zu gewinnen und seine Grenzen bis in
die Nähe civilisirter Staaten vorzuschieben, welche im Stande sind, die
Ruhe in ihrem Innern aufrecht zu erhalten. Ist dieser Zweck einmal er-
reicht, verkehrt auf dem Orus eine Flottille, wird Taschkent mit der sibiri-
schen Eisenbahn, Sarachs durch Schienenweg einerseits mit der transkaspi-
schen Linie, andererseits mit Merw verbunden, dann beginnt für Centrai-
asien eine neue Aera der Beziehungen, mit China durch Kaschgar und mit
Persien durch die reiche Provinz Chorasan. Die Nomadenstämme Centrai-
asiens bis zum Parovamisus und Hindukusch hin müssen daher nothwendig
die Oberlehenshoheit Rußlands anerkennen, anstatt die Afghanistans, welches
nicht die Macht hat, dieselben im Zügel zu halten. Auch wird Afghanistan
selbst auf die eine oder die andere Weise der russischen Interessensphäre
anheimfallen.
Den Schlüssel zu Afghanistan von Nordwesten her bildet aber das am
Westende des Hindukuschgebirges gelegene Land Herat. Es war daher ein
sehr richtiger strategischer Zug, daß Rußland von Merw Besitz nahm, um
sich Afghanistan gegenüber eine Position zu sichern. So hatte auch
Alercmder der Große sich zuerst Merms, des alten Marghiana, versichert,
ehe er das heutige Afghanistan betrat, und das Heer Dfchengis Chans erst
Merw eingenommen, ehe es Herat besetzte. Denselben Weg schlugen Timm,
der Uzbeke Scheibani Chan und der Schah Nadir ein. Merw liegt mit
seiner nahezu vollständigen Wasserverbindung 365 Kilometer von Herat ent-
fernt. Die Eroberung Merws durch die Russen bedeutete demnach etwas
ganz Anderes noch, als die Annerion einer Oase in einer Sandwüste. Sie
stellte zunächst die geschlossene Verbindungskette der russischen Militärmacht
her vom Kaukasus bis Turkestan. Mit der Annerion von Achal ist zugleich
die Einverleibung von 100090 Mann der vorzüglichsten irregulären
Reiterei vollzogen worden, und zwar concentrirt auf eine Entfernung von
nur sieben Tagemärschen von Herat. Die Eroberung von Merw bedeutete
ferner das erste Zusammentreffen von.«asaken und Afghanen, den gänzlichen
Einschluß von Chiwa in das russische Gebiet und die Herabdrückung
Bucharas von der unabhängigen Stellung eines Grenzlandes zu der Ab'
hängigkeit einer einverleibten Provinz. Mit der vollständigen Unterwerfung
der Turkmenensteppeu ist ein Gebiet von 502800 Quadratkilometer ab-
geschlossen uud Nußland in Centraiasien um einen Ländercompler von der
Ausdehnung Frankreichs vergrößert worden.
Mit Merw hat Rußland, wie die Betrachtung der geographischen Lage
dieses Ortes ergiebt, einen Punkt besetzt, in welchem die Fäden eines weit-
verzweigten Interessen- Netzes zusammenlaufen. Werfen wir einen Blick am
Rußland in »^entralasien. 325
das südlich davon gelegene Land, Herat, das bereits als Eingangsthor
nach Afghanistan hier Erwähnung gefunden hat, so sehen wir dasselbe am
Rande des Hindukusch derartig gelagert, daß dieses Gebirge im Osten den
Verkehr zwischen Afghanistan und Eentralasien hindert. Von den westlichen
Ausläufern des Hiudukusch fließen die Hauptströme des Landes herab. Der
eine davon ist der Murghab, der am Nordabhange des Safedtoh-Gebirges
entspringt, das von den Hezaren bewohnte Verglcmd durchschneidet, nördlich
Pendschcleh mit dem Flusse Chuschk sich vereinigt und jenseits Marutschats
sich in die Ebene ergießt, die das Turkmenenland begrenzt. Zwischen dem
Safedkoh (Paropamifus) im Norden und dem Siahkoh im Süden hat aber
der Herirud in westlicher Richtung seinen Lauf, wendet sich bei Kuhsan
gegen Norden und stießt dann längs der Grenze Persiens an Sarachs vor-
bei, nach der Tetschend-Oase. Das Land zwischen diesen beiden Flüssen
ist überails fruchtbar. Den wichtigsten Eentralpunkt der Gegend bildet aber
d'e am mittleren Herirud gelegene Stadt Herat, über welche die Haupt-
straße nach Indien führt. Im südlichen Theile des Landstriches, zwischen
den beiden genannten Flüssen, finden wir das Borchut-Gebirge, eine Fort-
setzung des Safedkoh. Dasselbe nimmt gegen die persische Grenze hin an
Höhe zu und stellt sich als einer der Hauptzweige dar, durch welche der
Parovamisus mit deni Elburs vereinigt ist. Weiter nördlich stoßen wir auf
die weniger hohe Kette des Elbirin-Kir, eine Reihe von Bergen, die sich
bis Pul-i-Chlltun hin erstreckt. Man hielt früher die Ausläufer des
Par^pomisus für eine unübersteigliche Schranke, hat dann aber erkannt,
daß dt>r höchste der Gebirgspässe hier sich nicht über 900 Fuß erhebt und
daß man von Sarachs nach Herat felbst mit vierspännigem Fuhrwerk sehr
gut gelangen kann. Die Wege sowohl über den Vorchut, wie über den
Elb'r'N-Kir sind zahlreich und bieten keine erheblichen Schwierigkeiten.
Das Vordringen der Russen gegen die Grenze von Herat, wobei sie
sich gleichsam wie ein Keil zwischen Persien und Afghanistan hineinschoben
und sich Sarnchs bereits bemächtigt hatten, konnte unmöglich ohne Wider-
spruch se'tens Englands bleiben, das bekanntlich selbst die Oberaufsicht über
Afghanistan beanspruchte. Es fanden daher eifrige Verhandlungen zwischen
London und Petersburg statt. Die beiden Cabinette kamen schließlich darin
unrein, durch Emimisswnen an Ort und Stelle die Grenzen zwischen
Afghanistan und Rußland von Sarachs nach Chodscha Saleh am Orus
feftfetzen zu lassen. Als aber die englifche Commission im November 1884
am Herirud eintraf, fand sie zwar die erwarteten russischen Collegen nicht
vor, wohl aber Pul'-Chatun, 62 Kilometer südlich von Sarachs, von einem
Piquet Kasaken besetzt. Doch nicht nur am Herirud war Nußland weiter
nach Süden vorgedrungen, sondern auch in jener Gegend des Flusses
Murghab, die noch im Besitze der Afghanen sich befand, suchte es Terrain
zu gewinnen. Es wollte in der fruchtbaren Region der Umgegend des
Paropamisus festen Fuß fassen, nachdem es von Merw aus die Wüste
22»
326 «. Maschk« in Vieslau,
nach Pendschdeh durchzogen hatte. Schon 1884 gedachte Major Alichanoff
den Ort Pendschdeh zn besetzen, fand aber dort eine starke afghanische Be-
satzung vor und gab daher das Unternehmen vorläufig auf. Später wurde
dann aber eine Abtheilung am Murghab gegen Süden vorgeschoben. Die
Verhandlungen bezüglich der Grenzregulirung waren inzwischen fortgeführt
worden. Um ein Resultat derselben zu sichern, hatte man das Abkommen
getroffen, daß Russen, wie Afghanen ihre jeweiligen Stellungen in dem
streitigen Lande vorläufig behalten sollten. Rußland war damit einverstanden
gewesen, vorausgesetzt, daß keine unvorhergesehenen Zwischenfälle einträten.
Im März 1885 kam es aber zu Streitigkeiten zwischen den Afghanen und
Russen. General Komarow verlangte deshalb die Räumung des linken
Chuschk-Ufers, was jedoch vom Gegner verweigert wurde. Am 25. März kam
es in Folge dessen zun: Kampfe. Die Afghanen wurden bei Chuschk ge-
schlagen und zogen sich nach Herat zurück. Die Russen nahmen Pendschdeh in
Verwaltung. Bezüglich der Stellung am Herirud wurde aber mit England
vereinbart, daß Rußland auf den Zulsikar-Paß verzichtete und die Grenze sich
nördlich davon hinziehen sollte. Dieselbe begann also am Herirud, 3 Kilo-
meter nördlich Zulftkar, schnitt den Murghab zwischen Pendschdeh und Marut-
schak und erreichte bei Ehodscha Saleh den Amu-Darja. Das ganze Gebiet
von Pendschdeh verblieb bei Rußland. Letzteres hatte mit der ihm zuge-
standenen Grenzlinie zwar nicht die Stadt Herat, aber doch alle Hilfsquellen
gewonnen, welche das ausgedehnte fruchtbare Gebiet nur irgend gewährt, und
diese mußten ihm von noch größerem Werthe sein, als die Stadt und Festung
selbst. Der an Rußland gefallene weite Landstrich war zum Theil schon
cultivirt, die bis dahin noch unbebaut gewesenen Flächen konnten aber binnen
Kurzem ertragsfähig gemacht werden. Mit der neuen Grenze gegen Herat
hatte Rußland jedoch vor Allen» einen guten Theil jener von ihm begehrten
strategischen Position erhalten und vermochte sich erforderlichen Falls binnen
14 Tagen in den Besitz des noch fehlenden Abschnitts derselben zu sehen.
Durch die transkaspische Eisenbahn ist Rußland in der Lage, seine Streit-
kräfte an der Linie Zulfikar— Pendschdeh vom Kaukasus her mit je einer
Division per Woche verstärken zu tonnen. Den Afghanen ist zwar im
Vorchut und in« Paropamisus hier und dort noch ein Paß in Händen ge-
blieben, doch beherrschen die Russen sämmtliche dorthin führende Straßen.
Diese Gebirgspässe sind zahlreich, die meisten auch leicht zu forciren oder
auf Nebenpfaden zu umgehen. Von Sarachs durch das Thal des Herirud
ist bis Herat eine Entfernung von 320 Kilometern zurückzulegen, von
Zulfikar aus auf demselben Wege 229, von Kuhsan aus 99 Kilometer
Weg. Pendschdeh ist von Earachs 169 Kilometer entfernt, von Zulfikar 144,
von Herat 224. Die Entfernung von Herat nach Akrobat beträgt 128,
nach Bala Murghab 224 Kilometer. Nimmt man daher das sehr be-
scheidene Durchschnittsuiaß von 29 Kilonieter für den Tagemarsch an, so
kann eine russische Division Herat von Pendschdeh aus in 11 Tagen, von
Rußland in Centraiasien. 32?
Zulsikar in gleicher Zeit und von Akrobat aus in 7 Tagen erreichen.
Jedenfalls laßt sich behaupten, daß von den nächsten Punkten der Grenze
aus mittelst Eilmärschen Herat in 8 Tagen genommen werden kann, die
Cavallerie und die Kasaken-Vatterie aber diesen Weg bereits in 4 Tagen
zurückzulegen vermögen. Es ist wohl anzunehmen, daß Rußland nicht für
immer in Pendschdeh und in Puli-Ehatun steheu bleiben wird, sondern daß
es diese beiden Punkte lediglich als letzte Etappen für ein gelegentliches
weiteres Vorgehen nach den: Süden betrachtet. Nußland hat gegenwärtig
in Transkaspien 2 Schützenbrigaden mit zusammen 8 Bataillonen, sowie
2 Reserve-Bataillone, femer eine Terek Kasaken-Vrigade zu 2 Regimentern
mit je 6 Sotnien und 2 Escadrons Turkmenen, endlich noch 3 Vatterieen,
2 Eisenbahnbataillone u. s. w. stehen. Da die beiden Reserve-Bataillone
im Kriegsfalle sich auf 10 solcher erweitern, so dürfte dann die Gefechts-
stärke der regulären Truppen hier etwa 22 000 Mann betragen. Der
außerdem vorhandenen bedeutenden Masse von irregulärer Turkmenen«
Reiterei ist bereits Erwähnung geschehen.
Im Militär-Bezirk Turkestan befinden sich ferner 4 turkestanische
Linien-Brigaden mit zusammen 20 Bataillonen, eine turkestanische Schützen-
brigade von 4 Bataillonen, eine Artillerie-Brigade von 1 reitenden und
7 Gebirgsbatterieen, 1 Bataillon Festungs-Nrtillerie u. s. w. Die Kriegs-
stärke dieser Truppen wird 25000 Streitbare zählen.
Eine bedeutende Truppenmacht steht aber im Kaukasus zur Verfügung.
Dieselbe setzt sich zusammen aus 5 Infanterie-Divisionen, 1 Schützenbrigade,
ZV? Cavallerie-Divisionen und 5 Artillerie-Brigaden, die auf dem Kriegs-
füße eine Gesmumtgefechtsstärke von etwa 110000 Mann repräsentiren
würden. Außerdem stehen im Kaukasus aber noch 24 Reserve- Infanterie-
Bataillone, welche im Mobilmachungsfalle zu 1)4 solchen erweitert werden.
Von Letzteren sind dann 64, in 16 Regimentern furmirt, dazu bestimmt,
die Feld-Armee unmittelbar durch 4 Infanterie-Divisionen zu verstärken.
Es würde also schließlich im Kaukasus eine im Felde zu verwendende Macht
von mindestens 177000 Streitbaren zur Verfügung stehen.
Es darf auch nicht übersehen werden, daß es Rußland mit der Zeit
gelungen ist, in Centraiasien sich bedeutende strategische Vortheile vor
England voraus zu sichern. Dazu gehört vor Allem die ununterbrochene
Verbindungslinie, die es sich aus dem Mutterlande bis an das Thor von
Afghanistan geschaffen hat. Für die 896 Kilometer Eisenbahn von Natum
nach Baku braucht ein Militär-Transportzug zu 100 bis 110 Aren (mit
1 Bataillon, bezw. 1 Escadron, oder 1 Batterie) etwa 44 Stunden, und
von letzterem Punkte aus durchqueren die Dampfer das Kaspische Meer
bis Usun Ada zur transkaspischen Bahn in 24 Stunden. Die Bahnstrecke
von 648 Kilometer bis Duschak legt der Transportzug in 32 Stunden, die
von 822 Kilometer bis Merw aber in 41 Stunden zurück. Von Samcnkand
bis Merw sind es 611 Kilometer und demnach etwa 30 Stunden Bahn-
228 <L. Maschle in Vrejau.
fahrt. Die Entfernung zwischen Duschak und Sarachs beträgt 75 Kilometer.
Wie bereits bemerkt, haben die Nüssen von letzterem Punkte bis Herat
noch 320 Kilometer, während für die Engländer von Paslmvar aus, vom
Endpunkte der indischen Bahn an der Grenze von Afghanistan, noch immer
über 750 Kilonieter Landweg zurückzulegen sind. Die Strecke, welche
Ruhland von Oerat trennt, bildet ferner ein ebenes, äußerst fruchtbares,
reichlich mit Wasser versehenes Gelände, während der mehr als doppelt so
weite Weg, welchen die Engländer von ihrer Grenze bis zu genanntem
Punkte haben, mehrfach durch wasserlofe, unwirthliche Gegenden führt, deren
Bevölkerung außerdem auf freundliche Gesinnung und Unterstützung nicht
sonderlich rechnen läßt. Wie von genauen Kennern der Verhältnisse in
Asien behauptet wird, sollen die Engländer dort überhaupt weniger beliebt
sein als die Russen. Was den englischen Einfluß in Afghanistan anbelangt,
so hatten allerdings die Ereignisse von 1878 und der folgenden Jahre be»
wiesen, wie wenig weit die Snmpathieen dort für sie gehen, während die
russischen Abgesandten von der Bevölkerung stets gut aufgenommen wurden.
Da gegenwärtig hauptsächlich nur noch Afghanistan die britischen Besitzungen
von den russischen trennt, so ist es wobt erklärlich, daß beide Regierungen
Alles aufbieten, um ihren Einfluß dort geltend zu machen. Trotzdem war
seit Jahren schon diese Frage in ein ruhigeres Stadium getreten, indem
sie nicht mehr als eine empfindliche Ehrensache behandelt, sondern in die
einfache praktische Angelegenheit der Grenzbestimmung umgewandelt wurde.
Rußland muß freilich die Notwendigkeit fest im Auge behalten, seinen Be-
sitzungen in Eentrnlasien endlich eine sichere südliche Grenze zu geben und
die strategische Basis, die es seit 1884 gewonnen hat, zu vervollständigen.
Letzteres kann aber nur durch Schaffung einer entsprechenden Position in
Afghanistan geschehen. Mag Mßlnnd noch immer in Ausführung der
sogenannten Testamentsbestimmungen Peters des Großen den Weg nach
Indien sich bahnen wollen, oder mag es nur die Absicht haben, von seinem
centralllsiatischen Gebiete aus über die Pamirs in das Innere von Ehina
vorzudringen, sei es commerziell, sei es militär-politisch, so wird es doch
unter keinen Umständen des beherrschenden Einflusses iu Afghanistan ent-
behren und auf denselben verzichten können. Nach dem unparteiischen
Urtheil Sachverständiger wie z. N. des centralasintischen Reisenden, des
Schweizers Heinrich Moser, ist auch der nissische Einfluß im Centraigebiete
des alten Erdtheils bereits so groß geworden, daß er keine Rivalität mehr
zu fürchten hat. Ein unbestreitbarer Beweis dieses überwiegenden Einflusses
lag wohl schon in der friedlichen Besitznahme von Merw. Die strategische
Position, welche Nußland gegenwärtig an der Grenze Afganistans inne hat,
ist den Engländern gegenüber eine günstige zu nennen. Rußland vermag
jetzt in verhältmßmcisiig kurzer Zeit und ohne besondere Schwierigkeiten
eine starke Armee nach Centraiasien zu werfen.
Die englisch-indische Armee hat gegenwärtig wohl einen Effectivbestand
Rußland in Centraiasien. 32H
von 223289 Mann, ist aber über ein Ländergebiet vertheilt, siebenmal so
groß, wie Frankreich. Dieselbe zahlt außerdem nur 72000 englische Soldaten;
die Mehrzahl der Truppen besteht aus Eingeborenen. In der Provinz
Bengalen, die für Afghanistan zunächst in Betracht käme, befinden sich 135814
Mann Besatzung, worunter 45000 Engländer. Die genannte Präsident-
schaft macht aber für sich allein schon den größten Theil von Indien aus
und umfaßt eiu Areal von 2 Millionen Quadratkilometern. Es steht daher
sehr in Frage, ob im Falle eines Krieges an der Grenze von Afghanistan
es möglich sein würde, 100000, oder selbst nur 75000 Mann von der
indischen Armee dorthin zu entsenden. Und welches Vertrauen könnte wohl
England dann zu seinen indischen Söldnern haben, aus denen die betreffende
Operations-Armee zum Theile doch wenigstens bestehen müßte. Welchen
Einfluß würde ferner wohl die Nachricht von einer immerhin doch als
möglüh in Erwägung zu ziehenden Niederlage der Engländer auf eine Be-
völkerung von 250 Millionen Eingeborenen üben, die zum Theile doch feind-
selig gesinnt sind und nur von 72000 Mann englischer Truppen bewacht
werden. Nach den Berichten der Reisenden in Centraiasien darf Rußland
andererseits mit Bestimmtheit annehmen, daß die Eingeborenen in jenen
Gebieten ihm eventuell eine in's Gewicht fallende Unterstützung gewähren
würden. In den Filzzelten der Nomaden soll man vielmehr noch als in
den russischen Colonieen von der Möglichkeit eines großartigen Alaman, eines
Kriegszuges nach dem Pendschab sprechen. Die Turkmenen von Chiwa und
von Gurgan, die Kirgisen und Afghanen würden dann nur desselben Kriegs-
pfades ziehen, welchen bereits ihre Vorfahren einst eingeschlagen hatten.
Der Schwerpunkt des russischen Reiches liegt unbedingt in Asien.
Diese Grundanschauung ist schon zu Zeiten Peters des Großen als Ariom
der russischen Politik betrachtet worden. Freilich haben ehrgeizige russische
Diplomaten, die auf europäischem Gebiete leichter und schneller Eroberungen
machen zu können glaubten, die betreffende Anschauung später oft aus den
Aligen gelassen. Wie die Geschichte uns lehrt, hat Nußland dann ungeheure
Opfer an Blut und Geld, und zwar vergeblich gebracht, um auf der Balkan-
Halbinsel den maßgebenden Einfluß zu gewinnen. Das Vordringen in Asien
ist dabei allerdings auch nicht verabsäumt worden, und im Centraigebiete
dieses Erdtheils ist es Nußland sogar gelungen, sich eine vortheilhaste Position
zu schaffen.
Ganz anders verhält sich aber die Sache in Ostasien. Hier hat Rußland
seit vielen Jahrzehnten schon verabsäumt, seine Macht in Sibirien, der
Wichtigkeit dieses ungeheueren Besitzes entsprechend, zu consolidiren. Nußland
hat diese Ländergebiete weder wirtschaftlich sich entfalten lassen, noch dieselben
dem Weltverkehr eröffnet und die mächtigen Montcmwerthe nutzbar zu machen
gesucht, welche sie bergen. Nicht einmal eine strategische Bn'is hat sich das
gewaltige Neich für Sibirien zu fchaffen gewußt. Wenn man bedenkt,
welche großen, umfangreichen Kriegs-Vauten und Anlagen in den letzten Jahr-
230 <k. Maschke in Vreslau.
zehnten in der Grenzprovinz Warschau hergestellt worden sind, und in Sibirien
hat man die Anlage einer durchgehenden Eisenbahn, dieser so äußerst not-
wendigen Hanvtverkehrsader, erst 1899 in Angriff genommen. Es war ferner
ein großer Fehler Nußlands, daß es nach seinem letzten orientalischen Kriege
den größten Theil seiner Wehrmacht an den Westgrenzen gegen Deutschland
und Oesterreich dauernd versammelte. Weder der eine, noch der andere
dieser Staaten hatte begehrensmerthe Eroberungen auf russischem Gebiete
zu machen, das Zarenreich konnte also auch nicht im Entferntesten eines
Angriffs von dieser Seite her gewärtigen dürfen. Als ein gleichbedeutender
Mißgriff ist aber diese Versammlung des Heeres an der russischen West-
grenze zu bezeichnen, wenn Msiland etwa wirklich geglaubt haben sollte,
daß seine Zukunftsfrage zwischen der Weichsel und dem Rhein ihre Ent-
scheidung finden müsse, und daß es das Uebergewicht auf der Valkanhalb-
insel auf deutschem oder österreichischen! Boden gewinnen könne. Selbst im
Bunde mit Frankreich würde es Nußland niemals gelungen fein, einen
nachhaltigen Erfolg über Deutschland und Oesterreich zu erringen.
Nußland steht also gegenwärtig mit fast der gefammten Kriegsmacht
an seinen europäischen Westgrenzen beinahe isolirt da, während sein Schwer-
punkt in Asien liegt. So ist es denn auch gekommen, daß das Zarenreich
dnrch die Ereignisse im Osten des alten Erdtheils eigentlich vollständig über-
rascht worden. Es drohen dort tief einschneidende politische Ereignisse sich zu
Vollziehen, ohne daß Nußland augenblicklich in der Lage ist, entscheidend ein-
greifen zu können. Dasselbe hat zwar zur Zeit in den ostasiatischen Gewässern
ein Geschwader von 6 Kreuzern ersten und 4 solchen zweiten Ranges, ferner
von 10 Zochseeümonenbooten, 2 Minenkreuzern, sowie 14 Minenträgern
und Mmenbooten, im Ganzen also von 32 Fahrzeugen versammelt; der in
Korea, an der russischen Grenze stehenden japanischen Streitmacht hat es
vorläufig aber jedenfalls nur unzureichende Kräfte entgegen zu stellen.
Nach den neuesten statistischen Angaben vermag Japan eine Feld-Ärmee,
einschließlich der Territorial- (Landwehr) Truppen, von 26!) 748 Köpfen
aufzustellen. Die Territorial-Negimenler kommen dabei insofern wohl in
Betracht, weil sie unbedingt doch für die Besetzung bezw. Behauptung der
eroberten und occupirten Landstriche geeignet sind. In Japan selbst ver-
bleiben dann noch die Miliz von Taschina, bestehend aus einein Infanterie-
Corps und einer Artillerie-Abtheilung; 4 Festungs-Artillerie-Negimenter und
das Gensdarmerie-Eorps. Die Marine zählt 58 Fahrzeuge, darunter
1 Panzerschiff, 7 Kreuzer erster Klasse, 5 Coruetten, 6 Kanonenboote,
26 Torpedofahrzeuge. Durch die Kriegsbeute in dem Feldzuge gegen China
wird aber die japanifche Flotte jedenfalls noch einen Zuwachs von 1 Panzer,
4 Kreuzeru und einer Anzahl von Kanonen- und Torpedobooten erhalten haben.
Ruhland hat nach feinen neuesten Dislocationslisten im Militär-Bezirk
Amur zur Verfügung 10 ostsibirifche Linien-Bataillone, 2 ostsibirische Schützen-
brigaden zu je 5 Bataillonen, 2 Fuß-Kasaken-Bataillone, 1 Amur-Fuß-
Rußland in Lentralasien. 33~
Kasaken-Halbbataillon zu 3 Sotnien, 1 transbaitalisches Kasaken-Reiter-
Negilnent, 1 Amur-Kasaken-Negiment, eine Ussuri-Kasakeu-Abtheilung, eine
ostsibirische Artillerie-Brigade zu 6 Batterien u. s. w. Es ergeben diese
Truppen auf den, Kriegsfuße eine Gefechtsstärke von etwa 30000 Mann;
man ziehe aber den Flächenraum des Militärbezirkes Amur dabei in Betracht,
der beinahe sechsmal so groß ist als ganz Frankreich. Man wird dann ein
Verständniß dafür gewinnen, was es zu bedeuten hat, wenn die öffent-
lichen Berichterstatter davon sprechen, daß die an der äußersten Ostgrenze
stehenden russischen Truppen fortwährend Verstärkungen erhalten sollen.
In dem Militärbezirk Irtutsk finden wir dann noch 8 westsibirifche
Linienbataillone und 7 Neservebataillone. Letztere erweitern sich in, Mobil-
machungsfalle zu 25 Bataillonen, so daß die Militärmacht des Bezirkes
fchließlich 33 Bataillone mit insgesammt 82000 Streitbaren betragen würde.
Im Militärbezirk Omsk endlich befinden sich noch 3 sibirische Kasaken-
Regimenter, 1 Semirjetschensk Eauallerie-Negiment, 1 westsibirische Artillerie-
Brigade zu 5 Batterien u. s. w., im Ganzen etwa 12000 Streitbare.
Die gesmnmte Kriegsmacht Sibiriens wurde also 74000 Streitbare betragen,
das Ländergebiet umfaßt aber einen Flüchenraum umi beinahe 12 V2 Millionen
Quadratkilometern, fast 24 Mal so groß, wie Frankreich. Wenn nun noch
wenigstens die sibirische Eisenbahn bereits fertiggestellt wäre!
Der Ausgangspunkt dieser Bahn ist Samara an der Wolga, welcher
Ort nach Westen hin in ununterbrochener Verbindung mit Moskau und
Petersburg steht. Gegen Osten reicht von hier die Strecke der europäischen
Bahn über Ufa bis Slatoust am Westabhange des Ural. Von letzterem
Punkte ab beginnt die neue Bahn mit der kurzen Uralstrecke bis Mijask,
worauf dieselbe über Tschelabinsk, Tjukalinsk, Omsk, Kainsk, Tomsk,
Moriinsk, Krasnojarsk nach Nischni-Udinsk an der Uda geführt wird, im
Allgemeinen der bekannten großen Straße folgend. Es hat diefe Strecke
eine Länge von 2912 Kilometern, in Nußland an die fruchtbare Region
des Tschernosam (Schwarzerde) anschließend und durch den bevölkertsten
Theil Sibiriens sich hinziehend. Nischni-Udinsk ist der Mittelpunkt der
ganzen Bahn. Die Weiterführung von hier nach dein Kriegshafen Wladiwostok
am Japanischen Meer soll aber in folgender Linie geschehen. Zunächst geht
die Bahn nach Irkutsk, von dort nach dem Mwensowski-Hafen am Süd-
ufer des Baikalsees, dann nordöstlich überTschita und Nertschinsk nach
Strjetensk an der Schiita, dem großen Quellfluß des Amur. In: Thal
der Schill« und des Amur läuft dann der Schienenweg abwärts bis
Ehabarowka, an der Ussuri-Mündung, weiter in südlicher Richtung den Ussuri
aufwärts und nach Wladiwostok. Dieser zweite große Abschnitt der Bahn
von Nischni-Udinsk bis Wladiwostok wird 765 Kilometer lang, die Gesammt-
länge des Schienenweges von Mijask nb demnach 10568 Kilometer be-
tragen. Die zu dem Vau erforderliche Zeit war auf 10 bis 12 Jahre
veranschlagt. Gegenwärtig sind die Arbeiten erst an den beiden Endstrecken
332 <L Mafchle in Vieslau.
im Osten und im Westen so weit vorgeschritten, daß schon auf größere
Entfernungen der Betrieb eröffnet werden konnte. Im August 1894 war
zunächst die Theilstrecke von Tschelabinsk bis zum linken Ufer des Irtisch,
gegenüber der Stadt Omsk, dem Verkehr übergeben worden. Am 25. August
traf ein Sonderzug aus Petersburg nach Zurücklegung einer Gefammtstrecke
von 3542 Kilometer am Irtifch ein. Im fernen Osten von Sibirien fand
fodann am 1. Oktober 189 t die Vetriebseröffnung auf der Süd-Ussuri-
Vllhn, von Wladiwostok bis Ussuri, in einer Allsdehnung von 349 Kilo-
metern statt. Nach der leiteintheilung und dem Fortschritte, den die Arbeiten
bis dahin gemacht hatten, erwartete man, daß am 1. Januar 1895 auf
der westsibirifchen Bahn 969 Kilometer, auf der mittelsibiriscken Strecke 550,
auf der Süd-Ussuri-Bahn 349 und auf der Nord-Ussuri-Vahu 43 Kilo-
meter, zusammen also 1992 Kilonieter fertig gestellt fein würden. Augen-
blicklich soll auf der ganzen Linie mit der äußersten Anstrengung gearbeitet
werden, doch dürfte dies für das laufende und wohl auch noch für das
nächste Jahr wohl noch kein bedeutendes Resultat ergeben in Anbetracht der
gewaltigen Länge von 8666 Kilometern, die Anfangs 1895 noch herzu-
stellen waren.
Nachdem der Krieg zwischen Japan und China eine ernstere Gestalt
angenommen hatte und als schließlich mit einem Siege der Japaner ge-
rechnet weiden mußte, wurde von der öffentlichen Meinung Rußlands ein-
müthig erklärt, daß Japan das Land Korea in kein Abhängigkeitsverhältnis;
versetzen, auf dem asiatischen Continente kein Gebiet annectiren und Fonnosa
sich nicht aneignen dürfte. Die russische Negierung war jedenfalls auch von
vornherein entschlossen gewesen, die Abtretung chinesischen Festlandgebietes
an Japan nicht zuzulassen, wenigstens nicht in der Nähe der sibirischen
Grenze. Welche militärischen Maßnahmen aber Mßland während des
Krieges in Ostasien getroffen hat, um seinem Willen erforderlichen Falls
auch den nöthigen Nachdruck geben zu können, läßt sich jetzt noch nicht über-
sehen. Bekanntlich dringen sichere, zuverlässige Nachrichten über russische
Verhältnisse und Vorgänge, namentlich militärischer Art, nur sehr schwer
und vereinzelt in die Oeffentlichkeit, so daß erst sehr allmählich durch Zu-
sammenfassen dieser Stückmeisen Nachrichten der Zusammenhang der Maß-
nahmen erkannt und über deren Bedeutung und Tragweite ein Urtheil ge-
bildet werden kann. Wie in den vorstehenden Ausführungen aber dargelegt
worden, dürfte Rußland vorläufig noch nicht in der Lage fein, der japanischen
Kriegsmacht an der sibirischen Grenze mit entscheidendem Erfolge entgegen-
treten zu können. Ohne Zweifel würde das mächtige Zarenreich schließlich
ja doch seines kleinen japanischen Gegners Herr werden, bis dahin möchte
aber immerhin noch einige Zeit vergehen, und es könnten inzwischen neue
Complicationen eingetreten sein. Gleichwie dem russischen Reiche ein Fest-
setzen Japans auf der chinesischen Küste nicht nur einen neuen Rivalen in
dein Streben nach Landerwerb auf Kosten Chinas entstehen lassen, sondern
Rußland in Centialasien. 332
auch für das russische ostasiatische Küstengebiet eine übermäßige Erstarrung
Japans direct bedrohlich werden muß, so wird auch England durch eine
wesentliche Steigerung der Machtstellung Japans unbedingt in seinen
Handelsinteressen auf das Empfindlichste geschädigt werden. Trotzdem scheint
sich das britische Reich jetzt auf die Seite Japans stellen zu wollen, sei es
in der Hoffnung, in dieser Weise einige Vortheile in China erlangen zu können,
sei es in der Erwartung, den russischen Rivalen in Asien durch einen ernsten
Conflict mit Japan geschwächt und auf längere Zeit beschäftigt zu fehen.
Es dürften nämlich auch in Centraiasien die Verhältnisse auf eine end-
liche Auseinandersetzung zwischen England uud Rußland und zwar zunächst
bezüglich Afghanistans hindrängen.
Die strategische Lage Nußlands in Innemsien an den Grenzen Afgha-
nistans und Indiens hat sich durch den in jüngster Zeit mit England ab-
geschlossenen Pamirvertrag sehr wesentlich geändert. Das aus dem kleinen
Saritul-See (Woods-, auch Victoria-See) abfließende, fälschlich Orus be-
nannte Gewässer soll die Südgrenze des russischen Gebietes bilden. Oestlich
vom Sarikul-See wird die Grenze durch eine Linie nach Tasch bis zum
chinesischen Gebiete verlängert, und westwärts soll der Pandschfluß das
russische Territorium von Afghanistan fcheiden. Rußland hat somit fast den
ganzen Pamir nnt Einschluß der bisher von Afghanistan beansprucht ge-
wesenen Staaten Schugnan und Roshan mit den Gund- und Schach-dam-
Thälern erhalten; es verzichtete dagegen auf die am linken Ufer des
Pandsch stromabwärts von Kalai Wamar, der Hauptstadt von Roshan, ge-
legenen Gebiete des zu Buchara gehörigen Darwas-Staates. Afghanistan
wurde an der bezeichneten Grenze durch einen schmalen, zun« Wachanstaate
gehörigen Gebirgsabhang abgefunden. China, dessen Aufmerksamkeit durch
deu Krieg mit Japan in Anspruch genommen mar, ging ganz leer aus.
Die Pamirs, von den Kirgisen „Dach der Welt" genannt, sind trotz
ihrer Oede in ganz Centraiasien berühmt. Seit den ältesten Zeiten gingen
Handelsstraßen über sie hinweg. Die russische Erpedition unter General
Skobelew von 1875/76, welche zur Züchtigung der Kirgisen auf dem Alai-
Plateau stattgehabt, hatte Gelegenheit gegeben, die Gegend genauer kennen
zu lernen. Von einein Passe des Alai-Gebirges in Chokand ausgehend,
können nissische Truppen in sehr kurzer Zeit über das Pamir-Plateau nach
Allssin und Gilgit in Dardistan, also in die unmittelbare Nähe des Indus-
thales gelangen. Die Russen haben demnach in dem neuen Pamirvertrage
eigentlich fast Nichts aufgegeben, dagegen so gut wie Alles gewonnen.
Andererseits haben die Engländer kürzlich in: Tschitraigebiete einen
schweren Schlag für ihre Autorität in Indien und Afghanistan erlitten.
Das Tschitraigebiet, ein an der nordwestlichen Grenze Indiens am Süd-
abhange des Hindukusch gelegenes Bergland, gehört zwar nicht zu den un-
mittelbaren indo-britischen Besitzungen, wohl aber zu der englischen Inter-
essen- und Actionssphäre.
334 «, Maschfe in Vieslau. —
Die indische Regierung hatte infolge dessen dort einen besonderen
Agenten mit einer geringen. Letzterem als Schutz- und Ehrenwache dienenden
Truppenabtheilung stationirt und auch wiederholentlich auf die endliche Er-
ledigung der dort landesüblichen blutigen Thronstreitigkeiten einen ent-
scheidenden Einfluß ausgeübt. Vor einiger Zeit ist indessen der den Eng-
ländern genehm gewesene Beherrscher von Tfchitral durch einen seiner
Verwandten, Schir Afzul entthront und ermordet worden. Letzterer hatte
sich dann mit Unterstützung Umras, des Chans von landol, welche dieser
trotz des bezüglichen Verbotes seitens Englands geleistet, zum Herrscher auf-
geschwungen und den englischen General Robertson mit seinen wenigen
hundert Mann in den. Fort von Tschitral eingeschlossen. Die indische
Regierung ordnete sogleich die Ausrüstung einer stärkeren Erpedition unter
dem Vefebl des Generals Robert Low an, um in dem kleinen Grenz-
lande Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Vor dem Eintreffen dieser
Truppen war es indessen bereits Ende März d. I. zwischen den im Tschitrai-
gebiete zerstreuten kleinen indischen Posten und den Eingeborenen zu
blutigen Kämpfen gekommen. Eine Nbtheilung des 14. Sikh-Regimentes
unter Lieutenant Roß war vom Feinde überfallen und vollständig aufgerieben
worden. Daß diese Katastrophe aber eintreten konnte, lag unzweifelhaft
wieder an der den Engländern im Felde schon so oft verhängnißvoll ge-
wordenen und doch, wie es scheint, unverbesserlichen Gewohnheit, mit sou-
veräner Verachtung auf den Gegner herabzublicken und sich daher über die
einfachsten Regeln der tactischen Sicherung hinwegzusetzen. So wird auch
Lieutenant Roß sein Schicksal selbst verschuldet haben. Der britischen
Regierung blieb aber nach diesen: traurigen Ereignis; keine Wahl mehr.
Wollte sie nicht alles Ansehen in den indischen Grenzgebieten, ja vielleicht
im ganzen Lande verlieren, so mußte sie die Bergvölker am Hindukufch
gründlich züchtigen.
Tschitral und landol sind Neides Länder alpinen Charakters. Schnee-
und gletscherbedcckte Berge ragen bis zu einer Höhe von 7009 Metern
empor. Der Verkehr bewegt sich auf Saumpfaden. Die Ortschaften be-
finden sich meistens auf schwer zugänglichen Felsen. Die Stadt und Nerg-
veste Tschitral liegt höher als das Hospiz des St. Gotthardt.
Die englische Operation gegen Tschitral war derartig veranlagt, daß
zwei Brigaden aus dem Pendschab durch die Berglandschaften Swat und
Pandschkora vordrangen, während eine Eolonne unter Oberst Kelly von Osten
her, von Gilgit auf Tschitral marschirte.
Die beiden unbotmäßigen Fürsten Schir-Afzul und Umra Chan sollten
zwar über 80 (XX) Bewaffnete zu gebieten haben, dennoch konnte aber der
Ausgang des Feldzuges von vornherein nicht zweifelhaft fein. Den 15(XX)
Mann europäisch geschulter Truppen gegenüber, die mit den besten Mitteln
der modeiiien Waffentechnik ausgerüstet waren, vermochten die wilden
Bergbewohner nicht Stand zu halten. So wurde denn auch fchon Anfang
Rußland in Centlaiasien. 335
April durch zwei englisch-indische Brigaden der Malakand-Paß erstürmt.
Derselbe war von 8000 Mann, hauptsächlich Mullahs und Sikhs nebst deren
Gefolge, hartnäckig vertheidigt worden. Die auf dem Momh- und dem
Schakot-Pllsse angesammelten Mannschaften hatten keine Zeit gehabt, sich
zu vereinigen. Die Höhen wurden schließlich mit dem Bajonett genommen,
nachdem die englische Artillerie und die Marim-Kanonen mit großem Er-
folge in den Kampf eingegriffen hatten. Der Feind verlor weit über 500
Mann. Die erste Brigade des Generals Robert Low überschritt darauf
den Swatfluß unter dem Feuer des Gegners. Eine Schaar von 5000
Landesbewohnern, welche das Vordringen hier zu verhindern suchten, wurde
zurückgeschlagen. Thanna, das Fort Unna Chans, ward erobert. Während
dieser Kämpfe im Swatgebiet rückte Oberst Kelly von Gilgit auf der äußerst
schwierigen Straße gegen Tschitral vor und langte nach mehreren heißen
Gefechten am 9. April in Mastudsch und am 12. in Samoghar an. Die
Feinde hatten sich in ihren Scmgars sehr fest verschanzt und mußten aus
ihren in der tiefen Schlucht Mullah nnt großer Umsicht errichteten Ver-
theidigungsmerten erst mit stürmender Hand herausgetrieben werden. Die
Hauptarbeit fiel den von Kelly befehligten Kaschmir-Infanteristen und
Sappeurs zu. Nach hartnäckigem Kampfe, an dem sich namentlich auch
die von den Engländern mitgeführten beiden Geschütze mit Erfolg betheiligten,
gelang es, den Gegner durch eine Flankenbewegung aus seinen Stellungen
zu vertreiben. Aus allen diesen blutigen Scharmützeln war wohl zu er-
sehen, daß die Bergvölker Kapristans feindlich gesinnt und nicht Willens
waren, die britischen Truppen durch ihr Gebiet durchzulassen. Umra Ehan
schien jedoch in Folge der Niederlagen seiner Freunde und Anhänger den
Mnth verloren ;n haben, den siegreich vorschreitenden brittischen Brigaden
sich noch einmal entgegen zu werfen. Mitte April bat er um Frieden und
floh dann nach Asmar. Während die englisch-indischen Truppen des Generals
Low und Oberst Kelly also durch das Pandschoragebiet und von Osten her,
unter den größten Schmierigkeiten zwar, aber doch stetig, vordrangen, hatte
General Robertson mit seiner kleinen Schaar seit 4. April eine schwere
Belagerung in der Tschitralfeste auszuhalten und eine Neihe erbitterter
Kämpfe durchzufechten. Die Engländer hatten in Folge der kärglichen und
mangelhaften Nahrung schwer zu leiden, erlitten auch durch das feindliche
Feuer bedeutende Verluste und besaßen keine genügenden Hilfst und Arznei-
mittel für die Verwundeten und Kranken. Am 17. April machte die
Garnison noch einen letzten verzweifelten Ausfall und verlor dabei wieder
21 Mann. Die Bedrängung durch den Belagerer wurde immer schmerer,
da die vorgetriebenen unterirdische,! Gänge desselben bereits bis unmittelbar an
das Fort heranreichten. So wäre denn die Beste wahrscheinlich auch gefallen,
wenn nicht endlich am 19. April die Colonne des Oberst Kelly sie entsetzt
hätte. Schir-Afzul war entflohen. Der Ausstand in Tschitral und landol
ist damit vorläufig niedergeschlagen.
336
<L. Maschle in Vreslau,
Jedenfalls werden die Engländer aber für geboten erachten, in Tschitral
dauernd festen Fuß zu fassen. Neil» Ausbruch eines ernsteren Eonflicts
zwischen Rußland und England könnte in der That die unter gewöhnlichen
Verhältnissen minder bedeutsame Position von Tschitral für die Vertheidigung
des nördlichen Indiens eine ganz besondere Bedeutung gewinnen. Bei der
durch den jüngst abgeschlossenen Pamiruertrag geschaffenen Sachlage wird
England wohl für nothwendig halten, das Tschitraigebiet so bald als möglich
hinreichend stark zu besetzen, um dann die nach den Pamirs führenden
Hindutuschuasse in seine Gewalt zu bringen und damit die indische Nord-
westgrenze gegen Rußland zu schließe». Denn es dürfte zu erwarten sein,
daß Rußland und England binnen kurzer Zeit sich hier von Angesicht zu
Angesicht gegenüber stehen werden. Letzteres wird sich dann, umgeben von
den feindlich gesinnten Bergvölkern Kapristans, keineswegs in einer günstigen
Lage befinden.
Auch an der Nordgrenze Herats können die Verhältnisse kaum als
stabile zu betrachten sein. Wenn England hier nicht zuvorkömmt, werden
die Russen unvermeidlich nach Herat, dann nach Belch und weiter nach
Kabul vorgehen. Aber selbst hier werden sie nicht stehen bleiben. Es dürfte
demnach vielleicht der Zeitpunkt nicht mehr ferne sein, wo die Grenze der
russischen Kasaken in Afghanistan mit der der Sevons in Indien zusammen-
stoßen wird.
IA A A A
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"9H
Freidenkerin und Theosophin.
Vertha Aatscher.
— Vaden ( Nieder- Vesterreich). —
~eit mehreren Jahren ist in der Presse der ganzen Culturwelt sehr
oft die Rede von Mrs. Annie Besant, weil deren Uebertritt
vom radicalsten Freidenkerthum zur verworrensten Theosophie
viel Staub aufwirbelt. Diese Dame, eine der merkwürdigsten Frauen-
gestalten aller Zeiten, war schon früher auch außerhalb Englands bekannt,
namentlich durch eine ihrer vielen trefflichen Schriften: „Das Bevölkerungs-
gesetz, seine Folge und sein Einfluß" (in sieben Sprachen in weit über
V, Million Exemplaren abgesetzt); jetzt aber ist sie durch ihre Bekehrung
zu den« unsinnigen — um nicht zu sagen: schwindelhaften — Geisterfpuk
der vor einigen Jahren verstorbenen Helene Vlawatzki leider zum Gespött
des ganzen gebildeten Abendlandes geworden. Sie hat die Nachfolge dieser
Abenteurerin als Leiterin der „Theosophischen Gesellschaft" angetreten und
setzt sich in Wort und Schrift mit demselben Eifer, den sie so lange für
die Freidenkerei an den Tag gelegt hat, für ihre neue Schwärmerei ein.
Wir haben es da mit einer der seltsamsten Wandlungen zu thun,
welche die an seltsamen Wandlungen so reiche Geistesgeschichte der
Menschheit aufzuweisen hat. In welcher Weise, durch welche geheimniß-
vollen Denkprocesse, mittels welcher wunderbaren Einflüsse sich der
außerordentliche Uebergang in diesem außerordentlichen Kopfe vollzog,
ist noch gänzlich unaufgeklärt, da Frau Vefant jeden Aufschluß darüber
verweigert. Daß es ihr um Schwindel zn thun kein könnte, daß sie die
Sache nicht wirklich ernst nimmt, daß sie eine gemeine Betrügerin ist, muß
bei ihrem persönlichen Ehrarakter als vollkommen ausgeschlossen betrachtet
338 Vertl,2 Uatfcher in Laden (Nieder. Vesteireich).
werden. Es bleibt vorläufig nur übrig, die ganze Geschichte für unbegreis'
lieh zu halten und Weiteres abzuwarten.
Dagegen hat sie die, ebenfalls febr merkwürdige Geschichte
einstigen Bekehrung zum Freidenkerthum und die vorhergegangenen Gei~ -
und Herzenskämpfe in ihrem anziehenden Buche „H,uwbi<~i-2pb)' ul Hnni«
L?8l»nt~ (London 1893) ausführlich geschildert. Die betreffenden Vor-
gänge sind für die Eigenart der Mrs. Besant so bezeichnend und an und
für sich von so hohem psychologischen wie biographischen Interesse, daß
nähere Mitteilungen sicherlich willkommen seiu werden darüber, was die
fromme junge Pastorsfrau einst veranlaßte, mit allen biblischen und reli-
giösen Ueberlieferungen zu brechen, sich mit ihrer Familie zu entzweien,
Haus und Herd zn verlassen, sich von Mann uud Kindern zu tremien, kurz:
der ganzen Welt den Fehdehandschuh hinzuwerfeu, um für das, was sie
nach schweren inneren Kämpfen als recht und wahr erkannt, mit offenem
Visir zu streiten.
Annie Besant hat am 1. October 1847 den ersten Blick in dieses
lammerthal, das wir Welt nennen, gethan. In ihren Adern fließt halb
englisches, halb irisches Blut. Ihre Mutter soll eine der edelsten,
tapfersten, opferfreudigsten, muthigsten, selbstlosesten Frauen gewesen sein,
die das „grüne Erin" jemals erzeugt hat. Trotz aller Wandlungen, die
mit uud in ihrem Liebling Annie vorgegangen sind, hielt sie treu und fest
zu ihr. Von ihrem Vater weiß uns Mrs. Besant weniger zu erzählen,
denn er starb, als sie kaum fünf J ahre alt war. Mr. Wood, der Medicin
studirt hatte, hängte seinen Doctorhut an den Nagel und widmete sich,
als ihm von einem Verwandten in London ein guter Posten angeboten
wurde, der kaufmännischen Laufbahn. Doch vermochte er nicht ganz von
feinem alten Beruf zu lassen und besuchte, so oft es seine freie Zeit er-
laubte, mit befreundeten Aerzten den Secirsaal, wo er ihnen hilfreiche
Hand bot. Bei einer folchen Gelegenheit verletzte er sich einen Finger an
dem Brustknochen eines Mannes, der an galoppirender Schwindsucht ge-
storben war. Längere Zeit nachher überraschte ihn ein heftiger Regen; er
kam durchnäht heim und trug eine Erkältung davon. Einer der hervor-
ragendsten aber auch derbsten Londoner Professoren wurde consultirt, um
den ungeduldigen Patienten zu beruhigen.
„Wann wird er ausgehen dürfen?" fragte die ahnungslose Gattin
den Professor, als er sich zum Weggehen anschickte.
„Gar nicht mehr. Sie müssen sich mit dieser Thatsache vertraut
machen; denn Ihr Gatte leidet an der galoppirenden Schwindsucht und
kann es höchstens noch sechs Wochen aushalten." Die Frau taumelte zu-
rück und fiel ohnmächtig zu Boden. Ihre Liebe und Selbstbeherrschung
war jedoch so groß, daß sie schon nach einer halben Stunde mit heiteren»
Antlitz dem Kranken die Zeit zu verkürzen trachtete und sich ihr schwieriges
Pflegeramt von Niemandem nehmen ließ. Mrs. Wood hatte ihren
Freideiikerin und Theosophiil. 3Z9
Gatten unendlich geliebt. Ihre Verzweiflung über seinen Verlust machte
ihr rabenschwarzes Haar in der Nacht, da er sie für immer verließ, er-
grauen.
Da Mr. Wood eine gediegene klassische Bildung und bedeutende philo-
sophische Kenntnisse besessen, fünf fremde Sprachen gesprochen, über
Religionen im Allgemeinen und über die christliche in« Besonder» sehr
skeptische Anschauungen gehabt hatte und von seinem Sterbelager den
Priester, der ihm das letzte Sacrament reichen wollte, wegjagte, so werden
wir uns nicht darüber verwundern, daß seine Tochter Annie, die sehr reli-
giös erzogen worden, kraft ihres vom Vater ererbten scharfen Verstandes
und der ungeheuren Wahrheitsliebe — ein Erbtheil der trefflichen Mutter
— über die Widersprüche, die ihr in der Bibel aufstießen, stutzig wurde,
grübelte und sann, theologische Studien machte und schließlich auch durch
äußere Umstände dazu getrieben wurde, an der Unfehlbarkeit der Bibel,
an der Göttlichkeit des Gekreuzigten und endlich auch an der Existenz
Gottes zu zweifeln. Doch wir wollen nicht vorgreifen.
Mrs. Wood blieb in den denkbar traurigsten Verhältnissen zurück, und
doch wollte sie den letzten Wunsch ihres sterbenden Gatten, der seine Familie
pecuniär gut versorgt glaubte, erfüllen und ihren Sohn studiren lassen.
In England ist das eine sehr kostspielige Sache. Die resolute Frau über-
siedelte nach Harrow und erwirkte sich von dem Director der dortigen be-
rühmten Knabenmittelschule die Erlaubnis!, Zöglinge in Pension zu
nehmen. Die Einnahme hieraus setzte sie in den Stand, den eigenen
Sohn studiren zu lassen. Der Umgang mit den Knaben und Lehrern
erweckte auch bei Annie frühzeitig die Lust zum Lernen. Ihre gründliche
und vortreffliche Ausbildung verdankte sie jedoch Miß Marrnat, der Lieblings-
schwester des berühmten Romanciers Capitän Marrnat, die über ein großes
Vermögen und ein noch größeres pädagogisches Talent verfügte. Es
machte den» alleinstehenden ältlichen Fräulein Vergnügen, eine Anzahl von
Knaben und Mädchen, deren Eltern nicht in der Lage waren, ihre Kinder
ausbilden zu lassen, nach ihrer eigenen Methode zu unterrichten. Und
was uns Mrs. Nesant von dieser Methode berichtet, ist wahrlich beherzigens-
werth:
„Sie selbst weihte uns' in alle Fächer ein, nur für Musik hatten
wir einen andern Meister. Miß Marrnat haßte die Oberflächlichkeit, wir
mußten Alles gründlich erlernen. Die Fibel, diese Tortur aller Anfänger,
blieb uns gänzlich erspart. Wir mußten Alles, was wir auf unseren
Spaziergängen gesehen und erlebt, erzählen und später niederschreiben, so
gut oder so schlecht es ging. Diese kindischen Ergüsse las sie sorgfältig
mit uns durch, besserte alle grammatikalischen und orthographischen Fehler
aus und spornte uns auf diese Weise an, mit offenen Augen in die Welt
zu sehen und die Natur zu beobachten. Worte sind viel zu nichtssagend,
um auszudrücken, was ich der hochherzigen Fran Alles verdanke! Sie
Noid und Süd, I.XXV. 22», 23
2H0 Veitha «atscher in Vaden (Niedel>Vesterre>ch).
war es auch, die den Wissensdurst in mir großgezogen hat, und dieser ist
mir bis zum heutigen Tage geblieben."
Miß Marryat, eine strenggläubige Protestantin, gestattete ihren Zög-
lingen an Sonntagen keine andere Leetüre als die der Bibel. Während
der Spaziergänge durften sie nur Hymnen singen, außerdem mußten sie in der
Sonntagsschule arme Kinder unterrichten — „denn was nützen Euch Eure
Kenntnisse, wenn Ihr nicht versucht, sie auf diejenigen zu übertragen, die
sonst Niemanden hätten, der sie unterwiese?" Bat einer ihrer Pfleglinge,
einem Armen helfen zu dürfen, so war stets ihre Frage: „Welches Opfer
willst Du Dir auferlegen? Wenn Du z. V. Deinen Morgenthee eine
Zeit lang ohne Zucker trinkst, so kannst Du Dir 6 Pence die Woche er-
sparen; diese darfst Du verschenken." Kann es eine weisere Art geben,
Selbstverleugnung zum Zweck der Nächstenliebe zu lehren?! Annie, in
deren Natur es lag, Nichts halb zu thun, war ein überaus frommes Kind,
und die Stunden, in denen sie sich ungestört der Leetüre der Bibel und
anderer Erbauungsbücher hingeben konnte, waren ihr unstreitig die liebsten.
Als ganz junges Mädchen begleitete sie Miß Marryat in's Ausland und
zwar zuerst nach Düsseldorf und Bonn und von hier nach Paris, wo sie
mehrere Monate halb dem Vergnügen, halb dem ernsten Studium lebten.
Die Mittwoche und Samstage wurden benützt, um die Meisterwerke in
den Galerien des Louvre und alle sehenswerthen Kirchen der franzosischen
Metropole kennen zu lernen. Nächst den herrlichen Spaziergängen, die sie
in die Umgebung von Paris unternahmen, um Land und Leute zu
studiren, gewährte dem aufgeweckten, lebhaften Mädchen Nichts so großes
Vergnügen als der Besuch der Kirchen. Die kühle, weihrauchschmangere
Luft, das Zwielicht, die Orgelklänge und das Messelesen übten einen un-
widerstehlichen Reiz auf sie aus; sie konnte stundenlang vor einen, Christus-
bild in stummer Andacht knien; ihre ganze Seele schwang sich zu dem
Gottessöhne auf. Weltliche Vergnügungen verabscheute sie damals. Theater
betrachtete sie als „Fallstricke, die der Satan den Menschen gelegt, um
ihre Seelen zu zerstören," auch hatte sie sich vorgenommen, keine Bälle zu
besuchen, denn sie war fest entschlossen, „der Welt, dem Fleische und dein
Teufel zu entsagen und ein gottgefälliges Leben zu führen." Dieses
14jährige Mädchen war von der Unfehlbarkeit der Bibel so sehr durch-
drungen und glaubte so fest an die Göttlichkeit Jesu, daß sie in ihrer
Naivetät und Unerfahrenheit es als die höchste Aufgabe des Weibes be-
trachtete, ini Glauben aufzugehen. Den Sommer 1862 verbrachte sie
noch mit Miß Marryat in Sidmouth, wo diese sie nach und nach daran
gewöhnte, ihre Studien auf eigene Faust zu betreiben. Als Annie 'sich
einmal darüber beklagte, daß „Tantchen" sich jetzt so wenig um sie be-
kümmere und sie so selteu unterrichte, entgegnete die weise Dame:
„Ei, mein Kind, Du bist jetzt alt genug, um allein weiter zu
lernen, ich kann Dir nicht Dein Leben lang als Krücke dienen. Zeige,
Fieidenkeiin und Cheosophin. 3~
daß die Lehren, die Du empfangen, nicht auf unfruchtbaren Boden ge-
fallen sind."
Und das waren sie wirklich nicht, denn als Annie endlich zu ihrer
Mutter nach Harrow heimkehrte, ftudirte sie fleißiger denn je. Sie ver-
vollkommnete sich in der deutschen und der französischen Sprache, trieb
fleißig Musik und naschte von allen Wissenschaften. Ihre Lieblingslectüre
blieben jedoch theologische Bücher. Sie las mit Feuereifer die Werke be-
rühmter englischer Geistlicher des 17. und 18. Jahrhunderts. Durch
Zufall bekam sie auch die Werke der Kirchenvater in die Hand; dieselben
nahmen ihre Einbildungskraft derart gefangen, daß sie zu fasten begann
— gegen den Willen Mrs. Woods, der die Gesundheit ihres Kindes weit
näher ging als alle Haarspaltereien der gesammten Kirchenväter — das
Kreuz schlug und jede Woche zum Abendmahl ging. Sie beschäftigte sich
lebhaft mit dem Gedanken, sich zu dem Glauben ihres Vaters zu bekehren,
der der katholischen Kirche angehört hatte. Zu jener Zeit erschien ihr die
Heiligkeit J esu noch unantastbar. Sie hätte sich für die größte Sünderin
der Welt gehalten, wenn ihr der Gedanke anfgetaucht wäre, daß viele
Stellen der heiligen Schrift fälschlich verehrten Namen zugeschrieben wurden
zum Zwecke frommer Täuschungen. Sie glaubte felsenfest an Alles, was
die „heiligen Väter" erzählten, und vertiefte sich mit großem Eifer in deren
Studium. Man glaube ja nicht, daß sie deshalb Stubenhockerin geworden.
Wie alle englischen Mädchen, bewegte sie sich viel im Freien, machte größere
Ausflüge zu Fuß und zu Pferde, spielte mit den Studenten und Lehrern
fleißig Ballspiele, besuchte Gartenfeste, kurz: sie genoß trotz ihrer ernsten
Studien ihr junges Leben.
„Niemals kann ein Mädchen eine fröhlichere J ugend verlebt
habeu als ich," schreibt sie. „Vormittags und einen Theil des
Nachmittags beschäftigte ich mich mit ernsten theologischen oder wissen-
schaftlichen Studien, Abends besuchte ich anregende Gesellschaften, oder ich
musicirte daheim; auch hatte ich mich entschlossen, von meinem Vorsatz,
niemals einen Vallsaal zu betreten, abzuweichen, und war eine recht flotte
Tänzerin geworden. Meine geliebte Mutter verwöhnte mich sehr, keine
Sorge durfte meine Seele trüben, ich sollte genießen, während sie alle
Lasten des Lebens trug; jetzt weiß ich, was ich damals nicht ahnte: daß
ihr jeder Tag neue Leiden und Kümmernisse brachte, die sie uns Kindern
verheimlichte. Das Eollegeleben meines Bruders kostete viel Geld, und
diese Sorge verursachte ihr schlaflose Nächte. Ein Advocat, dem sie voll-
ständig vertraute und dessen Ehrenhaftigkeit ihr zweifellos dünkte, betrog
sie schmählich, indem er alle Geldsendungen, die sie ihm zur Erfüllung
ihrer Verbindlichkeiten zusandte, für eigene Zwecke verwandte und ihr da-
durch qualvolle Verlegenheiten bereitete. Von diesen Dingen erfuhr ich
jedoch erst viel später. Besuchte ich einen Ball, so brauchte ich mich
niemals um meine Toilette zu bekümmern; diese lag, wenn die Zeit zum
23*
2H2 Aeithll «atscher in Vade» ( Nieder. Vestei reich),
Ankleiden kani, sir und fertig auf »«einem Zimmer. Keine andere Hand
als die meiner Mutter durfte mein langes Haar ordnen oder mein Kleid
zuschnüren, — war es doch ihr einziges Vergnügen, ihren ,Mebling" heraus-
zuputzen! Meine Kindheit und Mädchenzeit war fo fonnig und glücklich,
daß ich, fo lange ich unter den fchützenden Flügeln meiner Mutter stand,
nicht einmal ahnte, welche Sorgen und Qualen das Leben mit fich bringen
kann. All die Freuden jener glücklichen, fonnigen Jahre nahm ich mit
froher Unbewußcheit als etwas Selbstverständliches hin . ... Ich liebte
meine Mutter mit leidenschaftlicher Hingebung: was sie für mich gethan,
wurde mir erst klar, als ich unser trautes Heim verlassen mußte, um dem
Manne meiner Wahl zu folgen. Ist eine solche Erziehung weise? Ich
weiß es nicht. Die Wunden, die Einen: das Leben schlägt, wenn man
so unvorbereitet in den Kampf tritt, sind so schmerzlich und nachhaltig,
daß ich vorschlagen würde, die Jugend bei Zeiten darauf vorzubereiten
und zu stählen. Und doch ist es eine schone Sache, wenn man auf
ein glückliches Kinder- und Mädchenparadies zurückblicken kann, das
Einem der härteste Kampf um's Dafeiu nicht aus der Erinnerung zu löschen
vermag!"
Mit Liebesträunxn gab sich Annie niemals ab, wahrscheinlich weil
sie nie Romane las und ihre ganze Gedankenwelt sich ausschließlich um die
Religion drehte. Ihr einziges Bestreben war, Jesus, den sie mit der
ganzen Leidenschaftlichkeit ihres Naturells liebte und verehrte, zu huldigen,
und sie that dies auch im ausgedehntesten Maße. Die liebeglühenden,
farbenreichen Gebete, die sie an „ihren Erlöser, ihren himmlischen
Bräutigam, der schöner und begehrenswerther als die Söhne der Menschen,"
richtete, beweisen das zur Genüge.
Mit 18 Jahren regte sich der erste Zweifel an der Unfehlbarkeit der
Apostel in ihr. In der Charwoche 1866 kam ihr die Idee, die Leidens-
geschichte Christi an der Hand der vier Evangelien niederzuschreiben, um
so den Spuren „der geheiligten Füße Schritt für Schritt zu folgen, bis
sie zum Wohle der Menschheit an's Kreuz geschlagen wurden." Mit dem
Muthe, der der Unwissenheit entsprang, stellte sie die Aussagen der vier
Evangelisten nebeneinander und mußte zu ihrem Schreck erfahren, daß
diese nicht ganz übereinstimmten. Sie unterdrückte ihre aussteigenden
Zweifel uud suchte sich zu überreden, daß der Satan sie in Versuchung
führen wolle. Sie fastete und betete und nahm sich fest vor, in Zukunft
solche vergleichende Studien zu unterlassen.
Im December 186? verheirathete sie sich mit dem Pastor Frank
Besant. Ihre Ihatkräflige Natur sehnte sich nach einer ihr zusagenden Be-
schäftigung, und sie beschloß, der Kirche und den Armen von Nutzen zu
sein und gegen die Sünde und das Elend anzukämpfen. Von der eigent-
lichen Bedeutung der Ehe wußte sie Nichts. „Die vollständige Unschuld
mag wohl in» Princip sehr schön sein, aber ich habe es leider an nur er-
Freidenkerin und Theosophin. 2H3
fahren, wie gefährlich sie ist. Eva müßte missen, welche Pflichten und
Lasten ihr bevorstehen, sobald sie ans dem Paradies der mütterlichen
Obhut und Liebe auswandert, um das ihr unbekannte Land der Ehe zu
betreten, wo die zarte Treibhausblume unvorbereitet rauhe Stürme treffen,
die sie leicht vernichten oder zum Welken bringen können." Von ihrer
Ehe spricht Mrs. Vesant in ihrer Selbstbiographie gar nicht; doch läßt
sie zwischen den Zeilen durchblicken, daß sie keine besonders glückliche ge-
wesen. Der Beruf ihres Gatten brachte es mit sich, daß er seine Frau
viel allein lassen mußte, und diese fühlte sich sehr einsam und verlassen. Das
alberne Geschwätz ihrer zahlreichen Besucherinnen langweilte sie, und die
Frau Pastor wurde für höchst „sonderbar" erklärt, weil sie sich lieber mit
den wichtigen Fragen, die die Welt bewegten, beschäftigte, „als sich darum
zu bekümmern, wie der Geliebte der Dienstmagd aussehe und ob man zum
Pudding besser Schmalz oder Nutter verwende." In ihrer Verlassenheit
warf sie sich wieder mit Leidenschaft anf's Studium und versuchte auch,
kleine Novellen zu schreiben, die im „Family Herald" Aufnahme fanden. Ihre
Freude, als sie das erste selbstverdiente Geld in den Händen hielt, war
grenzenlos; sie sank auf die Knie und „dankte Gott," daß er es ihr in
feiner Gnade verliehen. Ein wunderbares Gefühl der Unabhängigkeit über-
kam sie. Sie glaubte, nach Belieben über „ihr Geld" verfügen zu können,
und ahnte nicht, daß nach damaligem englischen Gesetz eine verheirathete
Frau kein Verfügungsrecht besaß; Alles, was sie verdiente, gehörte dem
Gatten, wie sie selbst! Diese Enttäuschung war zwar sehr groß, aber sie
schrieb trotzdem tapfer weiter, deun das Fabuliren machte ihr Vergnügen
und lenkte sie von manchen Sorgen ab. Auch mit ernsteren Arbeiten be-
schäftigte sie sich, und zu diesen gehörte nach ihren: damaligen Dafürhalten
eine umfangreiche Broschüre über „Die Pflicht jedes gläubigen Christen, häusig
zu fasten"; „leider" hat sich für dieses Thema niemals ein Verleger gefunden.
Im Januar 1869 schenkte sie einem kräftigen Knaben das Leben,
im August 1870 einem zarten Mägdelein; ihre ohnedies schwache Con-
stitution wurde dadurch sehr erschüttert, und es bedurfte langer Zeit, ehe sie
sich wieder erholte. Ihre Mutterpstichten nahm sie ungeheuer ernst, und
die beiden kleinen Menschenkinder machten sie eine Zeit lang der Litteratur
abtrünnig, denn sie beschäftigten sie vollauf, da ihre vecuniäre Lage ihr
nicht gestattete, Wärterinnen zu halten. Im Frühjahr 1871 erkrankten
beide Kinder am Keuchhusten; der ältere und stärkere Knabe überwand ihn
leicht, aber die schwächliche, wenige Monate alte Mabel litt fürchterlich.
Ihre Lungen wurden angegriffen, und sie schwebte wochenlang in Todes-
gefahr. Das war eine entsetzliche Zeit für die Mutter, die das Kind
Tag und Nacht auf ihren Armen wiegte. Um einen Erstickungsanfall zu
lindern, drückte der Arzt, der bereits jede Hoffnung aufgegeben hatte, ein
mit einem Tropfen Chloroform beträufeltes Taschentuch auf das schmerz-
verzerrte Gesichtchen des Kindes:
2HH Veitha «»tscher in Vaden (Nieder-Vesteireich).
„Jetzt kann es ihn, nicht mehr schaden, und es schwächt den heftigen
Anfall ab," meinte er, und wirklich begann es sofort ruhiger zu athmen.
Mrs. Besant wiederholte dieses Verfahren und glaubt nur diefer Arznei
das Leben ihres Schmerzenskindes zu verdanken, das noch jahrelang an
den Folgen der Krankheit zu leiden hatte. Doch auch an der Mutter
gingen die qualvollen Wochen, die sie in der Krankenstube verbrachte, nicht
spurlos vorüber. In ihren, Geiste hatte sich, fast ohne daß sie es merkte,
eine Wandlung vollzogen. Immer wieder drängte sich ihr die Frage auf:
„Ist Gott wirklich gut?" und mehr als einmal war sie in die Knie ge-
sunken und flehte: „Herr im Himmel, Hab' Erbarmen und erlöse meinen
Liebling! Wie kannst Du ein unschuldiges Kind so martern? Was hat
es verbrochen, daß Du ihm solch' fürchterliche Qualen auferlegst? Wenn
es dieses lammerthal verlassen muß, weshalb tobtest Du es nicht sofort?"
„Allmählich Wich sich eine Erbitterung gegen Gott in meine Seele,
und ich begann an feiner Güte zu zweifeln," schreibt sie. „All mein per-
sönlicher Glaube an ihn und seine Macht, die Dinge zu lenken, an seine All-
gegenwart und an die Kraft meiner Gebete gerieth in's Wanken. Für
mich mar Gott keine abstracte Idee, sondern ein wirkliches Wesen, und mein
mütterliches Gefühl empörte sich gegen dieses, weil ich nicht begreifen
konnte, weshalb er mein armes Baby wochenlang in Todesqualen
schweben ließ."
Ein hochherzig denkender Geistlicher, den Herr Besant zu seiner Frau
gebracht, als Mabel in größter Gefahr geschwebt, erkannte sofort den
Seelenzustand Annies und bemühte sich, sie zu trösten und ihren erschüt-
terten Glauben wieder zu befestige», indem er der geistvollen Frau ein-
schlägige Bücher lieh. Doch wenn man zu zweifeln angefangen, hat man
zu glauben aufgehört.
Der Gedanke an die Hölle quälte sie am meisten. In den endlosen
Nächten, die sie am Krankenlager ihres Kindes und an denjenigen Anderer
verbracht — sie hatte sich in ihrem Sprengel einen großen Nnf als
Krankenpflegerin erworben — glaubte sie eine Ahnung von den Qualen
und Schmerzen derselben bekommen zu haben, und ihr Herz lehnte sich
gegen die Grausamkeit des erschaffenden und vernichtenden Gottes auf.
„Jedermann, der geglaubt und dann gezweifelt hat, weiß, daß dem ersten
Zweifel immer neue folgen, ohne daß man sich ihrer erwehren kann. Eine
Lehre nach der anderen steigt Einem in neuer düsterer Beleuchtung auf,
und in diefer sieht sie ganz anders aus, als sie uns durch den sanften
Nebel des Glaubens erschienen ist. Das Vorhandensein der Leiden und
Schmerzen in der Welt, die ein , guter Gott~ erschaffen, die Ewigkeiten
überdauernden Qualen der Hölle trieben mich zur Verzweiflung, und dock
glaubte ich noch an Gott Mein nächster Schritt zum Freidenker-
thum mar, daß ich mich gegen die Lehre von der Sühne auflehnte; ich be-
wunderte und betete Christus an, haßte aber Gott, der dessen Todesopfer
Fieidenkeiin und Theos«phin. 3H5
angenommen. Monatelang dauerte dieser Kampf, der meine Gesundheit
aufrieb. Immer versuchte ich es von Neuem, mich in dem stürmischen
Meer meiner Zweifel auf eine Planke des gestrandeten Schiffes meines
Glaubens zu retten. Vergebens. Mc. Leod Camvbell's Werk über die
Sühne, Maurices ,Was ist Auferstehung ?~ und noch ein Dutzend auderer
Bücher vermochten meine Zweifel nicht zu bannen; im Gegentheil, je mehr
ich darüber las, desto gerechtfertiger erschienen mir dieselben. Aber wenn
sich diese eine Doctrin als falsch erwies, waren es alle übrigen nicht
auch? Mußte ich nicht, um Gewißheit zu erlangen, alle anderen ebenfalls
genau prüfen? Und wenn sie sich wirklich als falsch erwiesen? Dieser
Gedanke brachte mich den: Wahnsinn nahe; mein Gehirn versagte vollständig
den Dienst, und ich lag wochenlang in den fürchterlichsten Kopfschmerzen,
ohne im Schlaf Erlösung zu finden. Als alle Medicamente Nichts nützten,
sah mein Arzt ein, daß er, wenn er mich am Leben erhalten wolle,
meinen Geist in andere Bahnen lenken müsse, und so brachte er mir ein
interessantes Buch über Anatomie. Wer es nicht selbst empfunden hat,
kann unmöglich die Seelengualen kennen, die auf ein wirklich religiöses
Gemüth einstürmen, wenn sich die ersten Zweifel einstellen. Es giebt
keinen Schmerz auf Erden, der schrecklicher wäre, und ich habe ihn bis auf
die Neige durchkostet."
Es würde uns zu weit führen, an der Hand der Autorin all die
Stadien ihrer Zweifel durchzumachen. Wir wollen nur feststellen, daß sie
sämmtliche Dogmen der christlichen Religion der Neihe nach durchnahm,
um sie auf ihre Wahrheit und Richtigkeit zu prüfen. Das Resultat war
für sie ein trostloses.
Durch die Vermittlung seiner Gattin gelang es Herrn Besant, eine
Staatspfarre zu bekommen, — in dein Dörfchen Sibsep, — mit einem
lahresgehalt von ~, 410. Somit waren sie ihrer Nahrungssorgen ent-
enthoben, und da Frau Annie auch keine gesellschaftlichen Pflichten hatte,
denn die zum Sprengel gehörenden Leute waren zumeist Arbeiter und ein-
fache Landwirthe, konnte sie sich viel ihren Grübeleien hingeben.
„Wie kann Gott seine Geschöpfe wegen ihrer Sünden zu ewiger
Strafe verdammen, da er weiß, daß sie diese Sünden ohne ihren eigenen
Willen ererbt? Da er die Welt nach seiner Laune erschaffen, weshalb
hat er die Sünde überhaupt in die Welt gesetzt? Kann ein Gott gut
sein, der seine Geschöpfe zu ewiger Verdammnis, verurtheilt? Wenn Gott
allmächtig ist, so kann er das Böse und die Sünde auch verbinden,, und
thut er es uicht und sieht ruhig oder gleichgiltig die Kämpfe auf Erden
mit an, dann ist er eben nicht gut, und wünscht er wieder, sie aus der
Welt zu schaffen, und kann nicht, nun, dann ist er eben nicht allmächtig!
In diefem Cirkel drehten sich ihre Gedanken fortwährend, ohne daß sie
einen Ausweg finden konnten trotz der vielen Bücher, die sie über diese
Themata gelesen. An der Existenz Gottes zu zweifeln, fiel ihr damals
2H6 Vertha Katschei in Vaden (Nieder-Vesterreich),
noch nicht ein. Sie correspondirte mit verschiedenen Geistlichen, an die
sie sich in ihrer Noth um Aufklärung wandte, aber sie wurde stets aus
neue Bücher verwiesen oder mit blumenreichen Phrasen abgespeist. Dabei
hatte sie als Pastorsgattin oft genug Gelegenheit, das Elend dieser
Welt in den verschiedensten Gestalten kennen zu lernen, auch zu lindem.
Sie schien von der Natur zur Krankenpflegerin bestimmt und entzog sich
niemals, wo es Noth that, diesem Amte. Gar manche Mutter in Sibsen
hatte ihrer sorgsamen Pflege und Nachtwache das Leben ihres Kindes zu
danken. Trotz all ihrer Zweifel besuchte sie nach wie vor fleißig die Kirche
und fprach mit Niemanden, über ihre Grübeleien, um nicht auch den Glauben
Anderer zu erschüttern.
Im Sommer 1872 lernte sie in London, wo sie längere Zeit in der
Behandlung eines Arztes stand, Charles Voysey kennen, und dieser frei-
sinnige Prediger war es auch, der ihr einen Weg aus dem Chaos ihrer
Gedanken bahnte. Er hatte wie sie gekämpft, ehe er all die „barbarischen
Dogmen der christlichen Kirche über Nord geworfen", und sich nur den
Glauben an Gott bewahrt. Auf seine Veranlassung las sie Theodore
Parkers, Francis Newmans und Anderer hervorragende deistische Werke, und
auch sie verbannte bald alle Dogmen, um sie nie wiederauferstehen zu lassen,
aber mit ihnen auch den Glauben an das Christenthum selbst. Am schmerz-
lichsten empfand sie es, Christus feiner Göttlichkeit entkleiden zu müssen.
Da ihr jedoch die Wahrheit höher stand als ihre persönliche Ruhe, forschte
sie tapfer weiter, indem sie sich sagte: „Ist Jesus von Nazareth ein Gott,
dann wird meine Forschung ihn seiner Gottheit nicht berauben; ist er aber
ein Mensch, dann ist es Blasphemie, ihn anzubeten." Sie vertiefte sich
in Nenans „Leben Jesu," Liddons „Vorträge" und das Evangelium,
konnte jedoch zu keinem endgiltigen Ergebnis? gelangen; sie neigte sich immer
mehr der Anficht zu und wurde durch die vier Evangelisten in der-
selben nur bestärkt, daß Christus ein leidender, sündigender, ringender
Mensch gewesen, der gerne die Welt verbessert hätte, deren Mängel er
erkannt, aber kein Gott. Und als auch der berühmte Orforder
Professor Pusey, der Führer der Orthodoreu-Partei, den sie aufsuchte, ihr
keine näheren Aufklärungen geben konnte oder wollte, sondern ihr nnr mit
der ewigen Verdammniß drohte, wenn sie solch ketzerischen Anschauungen
huldige, da war sie für's Christenthum verloren und fest entschlossen, mit
der Vergangenheit zu brechen.
„Sie haben kein Recht, Gott Bedingungen zu stellen über das, was
Sie glauben und nicht glauben wollen. Ich verbiete Ihnen, Ihren Un-
glauben zu bekennen," rief der fromme Doctor Pusey erregt aus. Aber
die resolute, wahrheitsliebende Frau lies; sich eben Nichts verbieten, was
ihr Gewissenssache war. Heimgekehrt, tbeilte sie dem Gatten ihren Stand-
punkt offen mit. Da sie noch immer Deistin war, weigerte sie sich nicht,
dem gewöhnlichen Gottesdienst beizuwohnen, nnr dem „Gottessohne" wollte
Fleidenkerin und Theosophin. — 3H?
sie keine Huldigung mehr darbringen, und so wurde denn beschlossen, daß
sie sich an dein Abendmahl nicht betheiligen werde. Eine Zeit lang ging
Alles gut. Aber als sie sich das erste Mal während dieser heiligen
Function aus der Kirche entfernte und den frommen Betschwestern, die
in der Meinung, sie sei plötzlich unwohl geworden, sie besuchten, um sich
nach ihrem Befinden zu erkundigen, die Wahrheit mittheilte — denn
sie vermochte nicht zu lügen — da konnten sich die braven Frauen vor
Entsetzen tauin fassen. Die Gattin eines Pastors, die nicht an Christus
glaubte, — hatte man schon so Etwas gehört?! Auch einige Mitglieder
der Familie Bescmt steckten in Hellem Entsetzen die Köpfe zusammen, und
es wurde so lange gehetzt, bis man die muthige Frau vor die Alternative
stellte, entweder dem Abendmahl beizuwohnen oder ihr Heim zu verlassen
— also entweder Heuchelei oder Verbannung — und sie wählte die letztere,
nicht ahnend, wie grausam die Welt sie verurtheilen würde. Eine allein-
stehende junge Frau ist immer der Verleumdung ausgesetzt, wie erst,
wenn sie unter solchen Umständen Mann und Kinder und Heim verläßt!
Es wurde ihr unendlich schwer, sich von ihrem Knaben — das Mädchen
wurde ihr gesetzlich zuerkannt — zu trennen, dem sie Mutter, Pflegerin
und Spielgefährtin gewesen, aber sie vermochte selbst um des Kindes
willen kein Leben voll Lüge und Heuchelei auf sich zu nehmen, und so trat
sie denn im Besitz ihrer kleinen Tochter und eines ihr zugesprochenen Ein-
kommens, das sie knapp vor dem Verhungern schützte, ein neues Leben an.
Anfänglich mußte sie hart um's tägliche Brot kämpfen, sie versuchte es
zuerst mit Handarbeiten, doch wurden dieselben so schlecht bezahlt, daß sie
diesen Erwerb bald aufgab und Lectionen suchte. Aber Niemand wollte
einer Ketzerin seine unschuldigen Lämmchen anvertrauen. In dieser schweren
Zeit stand ihr das Ehepaar Scott, das sie durch Voysey kennen gelernt
hatte, thatkräftig zur Seite. Mr. Scott, ein alter Herr, der ein sehr be-
wegtes Leben hinter sich hatte, führte ein offenes Haus, in welchem viele
Freidenker verkehrten und solche, die sich auf dem Wege zum Freidenker-
thum befanden. Auch gab er eine Zeitschrift heraus, die er gratis in
die Welt verschickte-, seine Mitarbeiter, ob der gemäßigteren oder der ganz
radicalen Richtung angehörend, brauchten kein Blatt vor den Mund zu
nehmen, aber die Art und Weise, in welcher sie ihre Ansichten aussprachen,
mußte vornehm sein. Mr. Scott hielt viel auf einen guten Stil und ein
reines Englisch. Er veranlaßte Mrs. Vesant, sich mit philosophischen
Werken der Neuzeit bekannt zu machen; unter seiner Führung erweiterte
sich ihr Gesichtskreis immer mehr, und bald gehörte sie zu seinen fleißigsten
Mitarbeiten:, Durch angestrengte literarische Arbeit war es ihr denn auch
gelungen, sich in einem Vororte Londons ein bescheidenes Heim zu gründen,
das sie mit ihrer leidenden Mutter theilen wollte. Das Schicksal machte ihr
einen argen Strich durch die Rechnung; der zarte Organismus der alten
Dame war durch die jahrelangen Sorgen und Plagen vollständig aufge-
3^8 Aeitha Ratschei in Vaden (Niedei-Gesterreich).
rieben, und sie verschied nach langem Krankenlager in den Armen ihrer ge-
liebten Tochter, die sie zärtlich gepflegt hatte. Auch diesen harten Schlag
überwand die tapfere Frau; um sich ihren quälenden Gedanken zu entziehen,
studirte sie mit Feuereifer philosophische Werke, die sie Schritt für Schritt
dazu brachten, ihren Gottesglauben abzustreifen. Moncure D. Conwan,
dessen Vorträge sie fleißig besuchte, machte sie auf den Führer der englischen
Freidenker, Charles Bradlaugh, aufmerksam. Sie las zuerst seine
Schriften: „Giebt es einen Gott?" und „Ein Wort zu Gunsten des
Atheismus." Diese machten tiefen Eindruck auf sie, denn sie drückten in
geistvoller Weise aus, was sie längst schon gedacht und empfunden hatte.
Am 2. August 1874 setzte sie zum ersten Mal ihren Fuß in „HaN ok
Lcisnes", ~ hje Gesellschaft der Freidenker ihre Versammlungen abhielt,
um aus der Hand Nradlaughs ihre Mitgliedskarte zu erhalten und seinem
Vortrag über „die Vorfahren und die Geburt Christi" beizuwohnen.
Schon nach wenigen Tagen bot Bradlaugh ihr eine feste Anstellung
als Mitredacteurin feines „National Nstormsi-" an — eine Stellung,
die sie bis Ende 189U beibehielt. Nebenbei entfaltete sie als Schriftstellerin
und Agitatorin eine arbeitsvolle Thätigkeit. Mrs. Vesant wurde während
dieser Zeit viel bewundert und viel verleumdet — Neides, weil sie zeigte,
wie sich ein starker Geist trotz der frömmsten Erziehung über alle Vor-
urtheile erhebt und alle Schranken durchbricht, wenn er Etwas als Wahr-
heit und Recht erkennt. In der Männerwelt giebt es viele derartige Bei-
spiele, aber unter den Frauen haben bisher nur wenige den Muth ge-
funden, gleich Mrs. Vesant zu ringen, zu kämpfen, den Verleumdungen
und Vururtheilen der Welt offen die Stirne zu bieten! Wie groß ihr An-
sehen in unbefangenen Kreisen war, geht u. A. aus der Thatsache hervor,
daß der berühmte englische Dichter Gerald Massen, der ein frommer Christ
ist, trotz dieser seiner Eigenschaft unsere Freidenkerin vor 6—8 Jahren
in einer begeisterten ~de gefeiert hat.
Und diefe Frau, die logisch schärfste Freidenkerin, die es geben kann,
mußte sich in die hirnverbrannte Mystik der Theosophie verbohren! Es ist
jammerschade um sie. Wird die jetzige Hohepriesterin der Blawatzki'schen
Secte je wieder ihre Fesseln abstreifen? Wird sie vielleicht noch andere
Wandlungen durchmachen? Oln lu «a? ....
?~7
Der deutsche Michel mit seinem mythologischen
Hintergrunde.
von
August Wünsche.
— Dresden. —
?r ausgezeichneten Forschergabe und dem liebevoll sich versenkenden
Tiefblick eines Jakob Grimm ist es gelungen, den Nachweis
zu führen, wie die deutsche Mythologie auf denselben Grund-
anschauungen wie die nordische beruht. Es gebührt ihnen das Verdienst,
die Landenge, welche die nordische von der deutschen Götterwelt trennte,
durchstochen und die beiden Sagenfluthen als etwas Zusammengehöriges
wieder vereinigt zu haben. Was Jakob Grimm begonnen, haben Andere
wie Karl Simrock, Wilh. Mannhardt, Ad. Holtzmann, E. Rocholz, Joseph
Zingerle u. A. immer mehr zur Vollendung geführt. Der klare Ueberblick,
den wir durch den Fleiß der Forschung dieser Männer gewonnen, zeigt
uns, wie nach allen Seiten selbst unser heutiges deutsches Leben in Sprache,
Sitte und Gebrauch reich ist an mythologischen Anklängen. Die Götter
unserer heidnischen Vorfahren leben noch in unser» Märchen und Sagen
fort, und sie schalten und walten darin so lebendig, daß unsere Kinder mit
Entzücken der wunderbaren Mär lauschen und sich den Kopf zerbrechen
über den Menschenfresser im Däumling und über das Hinkelbeinchen in
den sieben Raben. Wissen wir nicht Alle, daß hinter dem Knecht Ruprecht,
dem vermummten Mann mit den, großen Barte, Odin, die höchste nordische
Gottheit, sich verbirgt? Auch der König Drosselbart des deutschen Märchens,
ferner der wilde Mann mit dein entwurzelten Tannenbaum in der Hand,
der auf vielen alten Wirthshausschildern noch zu sehen ist, ist Niemand
anders als Odin. Sein Speer Gungir, das von Invaldis Sühnen, den
drei Zwergen, verfertigte wunderbare Kunststück, ist der Knüppel aus dem
250 August wünsch« in Viesden.
Sack im Märchen: Tischchen, deck' dich, Esel, streck' dich. Hinter dem
Menschenfresser im Däumling steht ~der Niese Hnmir, und Kleindäumchen
ist Thor, der mächtige Donnerer, der sich im Däumling des Niesenhand-
schuhes zu verbergen sucht. Wer kennt nicht das Märchen Ivom starken
Hans, der sich die Glocke als Schlafmühe über den Kopf stülpt? Das ist
Thor, wie er den mäcltigen Kessel des Hnmir, in den, dreizehn Schmiede
hämmern, ohne einander zu hören, auf seinem Haupte fortträgt. Auch
die beiden Frauen in Hymirs Halle finden sich in den Märchen wieder.
Die alte neunhundertköpfige Frau erscheint als des Teufels Großmutter,
die jüngere, allgoldene, weißbrauige ist die Frau des Menschenfressers, die
fchützeud und rettend eingreift. Und wie steht's mit unserm lieben, wohl-
bekannten ^Dornröschen? Es ist die in, Winterschlaf ruhende Erde, die
Odins Sonnenblick wachküßt, deren Oberstäche er mit seinem Goldschwerte
ritzt, daß sie Keime und Sprossen aus ihrem Schooße heruortreibt. Und
ist nicht Barbarossa im Kuffbäuser auch ,'eine Erinnerung an Odin? Die
alte deutsche Sage erzählt: Odin sitzt im hohlen Berge, der die Unterwelt
bedeutet, sein Bart ist schon zwei Mal um den Tisch gewachsen, seine
Naben stiegen umher, und neben ihm schlafen seine Helden dem Tag der
Entscheidung entgegen, dessen Anbruch der Schall seines Horns verkünden
wird. In der nordischen Sage lebt er nicht im hohlen Berge, sondern
in Asgard oder Wallhall, also in einem überirdischen Himmel, den er mit
seinen Helden theilt. Auch hier finden wir das Hörn bei ihm, das den
Anbruch des jüngsten Tages verkündigen wird. Das Wächterhorn Odins
lebt noch heut in den. Hörn des Nachtwächters fort. Odins Attribute, die
Naben, sind auch Barbarossas Begleiter, sie müssen ausstiegen, um den
Stand der Dinge in der Welt zu erforschen, ob er aus feinem Schlaf er-
wachen darf. Wenn er aufsteht, dann ist die Macht der Finsternis? über-
wunden, und der leuchtende Sonnenwagen rollt wieder über die Erde, dahin.
So finden sich allenthalben geistige Beziehungen mit einer Zeit, die wir
längst als ausgelebt zu betrachten uns gewöhnt haben.
Es ist eine Hervorragende S>nte des ^deutschen Volkscharakters, alte
Anschauungen fortzupflanzen, sie in das Gewand der neuen Culturentwickelung
umzukleiden und dabei doch Iden Kern zu wahren. Die Sinnigkeit und
Innigkeit, mit der der Deutsche auch die Fäden der Vorzeit in das Gewebe
der neuen Anschauungen aufnimmt, mag ihn, wohl in den Augen anderer
Völker, die leichter mit dem Alten abschließen und etwas Neues beginnen,
den Nuf eines zwar hochgebildeten, aber phlegmatischen Volkes eingebracht
haben. Ausländische Zeitungen, darunter besonders Pariser, gefielen sich
früher darin, uns spottweise >den deutschen Michel zu 'nennen, und selbst
im deutschen Volke ist die Nedensart eine sehr gebräuchliche, wie zahlreiche
Stellen ans der Litteratur beweisen.
So lautet ein Sprichwort bei Sebastian Frank (15. lahrh.): In
nödigen Sachen aber könden sie (die Weiber) weniger denn der teutsch
ver deutsche Michel mit seinem mythologischen Hintergründe,
Michel". Desgleichen sagt Philander von Sittewald: „Heuchelstu nicht
mit, sondern wirst als ein redlicher, deutscher Michel frei durchgehen und
aus gutem Herzen alles meinen, reden und thun wollen." Nabener be-
merkt in einer seiner Satiren: „Der beste deutsche Poet ist in den Augen
der lateinischen Welt weiter Nichts als ein deutscher Michel, oder höchstens
ein leidlicher Versmacher," Goethe schildert in seinein Gedichte: „Musen
und Grazien in der Mark" den deutschen Michel mit den Worten:
„Las; den Witzling uns beslichcln,
Glücklich, wenn ein deutscher Mann
Seinem Freunde, Vetter Micheln,
Guten Abend bieten kann.
Wie ist der Gedanke labend,
Solch ein Edler bleibt u»Z nah',
Immer sagt man: Gester» Abend
War doch Vetter Michel oa!"
Än einer anderen Stelle äußert er sich: „Bei welchen Gelagen uns
denn freilich manchen Abend Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutsch-
heit zu besuche« nicht verfehlte." In gleicher Weise singt Simrock:
Der nute deutsche Michel Ihm ließ so oft zur Ader
Veschäftigt letzt gar viel John Null und auch Mnnhecr,
Reißfeder, Stift, Grabstichel, Der war der schlimmst« Bader,
Dazu den Gänsekiel. Rief stets: H»8q>>'» I» m«i!
Man ficht den Ungcniacn Mit Aberlaiien, Schrövfen
Ohnmäcktin daraeliellt, Orschövften sie ihn ganz.
Als läa' in letzten Zügen Am linde wird ihn laufen
Der wunderstarle Held. Noch gar sein Nachbar Franz,"
Bei Platen in einem Gedichte: „An Tieck" lesen wir:
.Man nagt's, den Calderon Dir auszuvochen.
Das lieh vom deutläen Michel sich eiwanen."
Börne spricht einmal vom „vierschrötigen deutschen Michel".
In dem Worte „Michel" haben wir jedenfalls eine Verschmelzung
des in allen germanischen Sprachen vorkommenden Adjectivs „michel" in
der Bedeutung von grost, mächtig, stark mit dem hebräischen Eigennamen
des Erzengels Michael. Was nun den ersten Theil der Verschmelzung,
das Adjectiv „mickel" anlangt, so begegnet es uns häufig in mittelalter-
lichen Litteraturwerken, So lä,')t Walther von der Vogelweide (~ um
1230) in seinem Gedickte: „Die Dranmdeuterin" den von dem Geschrei
einer Krähe aus seinem süsien Traum aufgeschreckten Schläfer fagen:
„Sie nom mir michel Winnie;
von ihr schrie» ich erschiac,"
Tauler (1598) sagt in einer seiner Predigten: „Und seine J ünger
seind mit ihm gangen, dorn eine völlige, michele, merkliche Schar." Etterlin
(15N7) schreibt: „Dieweil sie von grofen Gcschlechten war, auch iro ein
michelteil war." Bei SchuvuiuZ (im 16. Inhrh) lesen wir: „Drauf
lächelt der gute Zerr Melanchthou, denn er hatte des Dankes von seinigen
August wünsche in vresden,
em michelteil bekommen." In einem alten Volkslieds bei Uhland endlich
findet sich die Stelle:
„Die J uden kamen zusammen,
Ter war ein michel Schar.'
Auch Länder- und Ortsnamen sind mit dem Worte „michel" gebildet
worden, z. N. Mecklenburg, Michelbach, Michelstadt. In Deutschlothringen
sagt man noch heute „michel" in der Vedeutung von groß, im Gegensatz
zu „lützel" im Sinne von klein, wie z. B. Lützelburg (Luxemburg), Lützel-
wiebelsbach, Lützelrimbach. In Ostfriesland heißt es „lüttje", wie die
Ortsnamen Lüttjenhastet, Lüttjen Wistedt*) beweisen. Der schwäbische Volks-
mund sagt: „fürn Michelle halten", wenn Jemand gehänselt wird. Auck
Zusammensetzungen niit dem Worte „michel" kommen vor, wie Quatsch-
michel, ein alberner Schwätzer, Kloßmichel (besonders in der Gegend von
Nördlingen gebräuchlich, wo der letzte, der in die Schule kommt, so be-
zeichnet wird), Hulmichel, ein weinerlicher Mensch. Wenden wir uns zum
andern Theil der Verschmelzung, zum Eigennamen des Erzengels Michael.
Dieser ist bekanntlich einer der drei großen Engelfürsten. Er gilt als
Anführer der himmlischen Heerschaaren, wie als Führer der abgeschiedenen
Seelen und als Schutzpatron der streitenden Kirche. Nach David Strauß
hat Gott die Vorsehung für sich behalten, die Leitung aber der einzelnen
Angelegenheiten den Erzengeln übertragen, und zwar stand Gabriel an der
Spitze des Kriegswesens, Naphael an der Spitze des Medicinalwesens und
Michael an der Spitze des Eultus. Während Gabriel und Naphael im
christlichen Cultus zurückgetreten sind, spielt Michael noch immereine große
Nolle. Er wird Schutzpatron des deutschen Volkes (protector 6eriuni>i»v)
und kommt als solcher auf die deutsche Neichsfahne. Daß Völker ihre
Schutzengel haben, zeigt uns fchon das Vnch Daniel. Der Schutzengel
eines Volkes ist gewissermaßen sein Musterbild, ebenso wie der gute Genius
das Musterbild des Einzelnen ist. Als Nepräsentant des deutschen Volkes
ist Michael ein Collectiubegriff geworden. Wenn man nun vom deutfchen
Michel redet und damit einen plumpen, derben, klotzigen Deutschen meint,
so geht die Eollectivbedeutung des Wortes in die Appellativbedeutung über.
Daß ein Einzelbegriff in einen Eollectivbegriff übergeht, kommt oft vor.
Sagt man doch „John Bull" und meint damit das ganze englische Volk**),
Vruder J onathan und meint damit das gesnmmte Volk der nordamerika-
nischen Freistaaten yv*), Adam, der erste Mensch, wird Bezeichnung für die
*) Vergl. Ernst Förstcnmann, die deutschen Ortsnamen, Nordhausen 1863.
**) John Bull, eigentlich Hans Stier oder Hans Ochse, wurde zuerst von dem
Satiriker Swift (1667—1745) in Gang gebracht, Die Engländer selbst bezeichnen
damit eine» redlichen, derben, gutmüthigen Charakter; Ausländer dagegen meinen damit
die Nationaleigenhciten und Vorurtheile des englischen Volke«, besonders die Unfähigkeit
desselben, sich in die Gewohnheiten anderer Länder zu fügen.
***) Washington sagte, als er im Freiheitskriege 1775 über die Anschaffung von
Vertheibigungsmitteln in Verlegenheit war, in einer Berathung mit seinen Offizieren:
Der deutsche Michel mit seinem mythologischen Hintergründe,
gefallene Menschheit, und Christus ist bei Tertullian die rsoapiwlatio
dumani ß6N6i-i8, stellt also die ganze Menschheit dar, wie sie nach Gottes
Ebenbild sein soll. Auch in der Thierwelt haben wir ein analoges Bei-
spiel, insofeni Reineke Fuchs der Repräsentant aller Füchse ist.
Betreffs der Frage: wann und wo die Bezeichnung „Deutscher
Michel" aufgekommen ist, giebt es zwei Ansichten. Nach der einen rührt
sie von den Franzosen her, nach der anderen ist sie aus dem Herzen des
germanischen Volkes selbst herausgewachsen. Wattenbach macht im Anzeiger
des germanischen Museum 1869 auf die merkwürdige Erscheinung der
„Michelsbrüder" aufmerksam. In der Normandie, am Busen von St. Michel
liegt ein Berg Mont St. Michel, zu dem Deutsche, namentlich deutsche
Knaben, ehedem Wallfahrten unternahmen. Man verspottete diese Wall-
fahrer und nannte sie, wie aus der Verordnung eines Betteloogtes zu
Baden 1528 hervorgeht, Michelsbrüder. Das französische Wort miquslot
(Betteljunge, frömmelnder Heuchler) steht jedenfalls hiermit im Zusammen-
hange. Frisch dagegen, der um'sjahr 1730 lebte, behauptet, „der
deutsche Michel" sei bereits im 16. J ahrhundert gebräuchlich gewesen und
weise entschieden auf eine Einzelpersönlichkeit hin. Er setzt somit den Zu-
sammenhang der Redensart mit den Michelsbrüdern in Frage. Wir
neigen der Ansicht zu, daß der Name „deutscher Michel" entschieden
deutschen Ursprungs ist, und stimmen mit Frisch überein, daß er auf eine
Einzelperson hindeutet, und zwar auf keine andere als die des Erzengels
Michael. Daß diefe heilige Figur aber in gewisser Beziehung in eine
Spottfigur übergehen konnte, dafür giebt uns die deutsche Mythologie hin-
reichend Aufschluß.
Es steht fest, daß man bei Bekehrung unserer alten heidnischen Vor-
fahren von Seiten der Kirche absichtlich sehr vorsichtig verfuhr. Man ließ
ihnen ihre Götzentempel, entfernte aber die Motzen und legte Reliquien dafür
hinein. Ihre Feste, Schmausereien und Zechgelage änderte man nur
insofern, als man ihnen einen christlichen Sinn unterschob. Vemerkensmerth
ist in dieser Beziehung ein Brief des Papstes Gregor I. an den Abt
Melittus (596). „Sagt dem Augustinus," schreibt er, „daß man die
Götzenkirchen bei jenem Volke (den Angelsachsen) ja nicht zerstören, sondern
nur die Götzenbilder darin vernichten, das Gebäude mit Weihwasser be-
sprengen, Altäre bauen und Reliquien hineinlegen soll. Denn sind jene
Kirchen gut gebaut, so muß man sie vom Götzendienst zur wahren Gottes-
verehrung umschaffen, damit das Volk, wenn es seine Kirchen nicht zerstören
sieht, von Herzen seinen Irrglauben ablege, und um so lieber an den
Stätten, die es gewöhnt ist, sich versammle. Ihre Sitte, bei Gützenopfern
„Wir müssen Bruder J onathan fragen," womit er seinen Freund J onathan Tmmbull,
Gouverneur von Connecticut, meinte. Später wurde Washingtons Ausspruch zum
witzelnden Sprichwort.
August wünsche in Dresden.
. Achsen zu schlachten, muß ihnen zu irgend einer christlichen Feierlich-
keit umgewandelt werden. Am Gedächtnißtnge der heiligen Märtyrer sollen
sie Hütten von Baumzweigen um ihre Götzenkirchen machen, nicht mehr
dem Teufel Thiere opfern, sondern sie zum Lobe Gottes für sich zur Speise
und Sättigung schlachten, damit sie, indem ihnen einige äußerliche Freuden
bleiben, um so geneigter den innerlichen sind." — So lassen sich nun auch
bestimmte Spuren nachweisen, daß St. Michael an die Stelle des mächtigen
Gottes Wuotan getreten ist. Und betrachten wir die Wuotansfigur, wie sie
uns in den deutschen Sagen und Märchen entgegentritt, so unterliegt es
keinem Zweifel, daß sich dieselbe mit der dis Michael in vielen Beziehungen
deckt. In Wuotan, den, Vater der nordisch-deutschen Götter, gipfelte der
Lichtcultus der alten Deutschen; denn mit der arischen Nace theilten die
alten Deutschen die Anschauung, daß im Lichte die höchste göttliche Kraft
für sie zur Erscheinung komme. So dachten sie sich, daß am Ende des
Winters Wuotan im feurigen Sonnenwagen, im goldenen Panzer und mit
goldenem Schwerte gegürtet dcchinfahre. An den brennenden Rädern
feines Wagens^. entzündet sich das Licht der Erde, und dieselbe schmückt sich
bräutlich mit Blättern, Blüthen und Knospen, um ihn, den leuchtenden,
glänzenden Gott des leiblichen und geistigen Lebens, zu empfangen. Da
in dem Bewußtsein der Germanen Natur und Geist untrennbar waren, so
lebte Wuotan für sie nicht nur in jeden, Lufthauch bis zum wüthendsten
Sturm, sondern auch in jeder Gemüthsbewegung, in der Begeisterung wie
in der Naserei, in der Stimmung des Dichters und der Liebenden, wie
in der Berserkerwuth uud in dem Kampfesmuth der Krieger. Die Luft
marsein Neich, und die Seelen, als 5Ddem und Hauch gedacht, gehörten
mit zu demselben. Tie Seelen derjenigen Verstorbenen, die auf dem
Krankenbett geendet hatten, kamen nicht zu ihm nach Walhalla, sondern
nur die der gefallenen Krieger. Als Schlachtengott lenkte er das Schlachten-
glück und schürte die Kriegsflamme. Wie aber in den Mnthen aller
Völker in einer göttlichen Figur sich entgegengesetzte Seiten berühren, so
daß der sommerlich lichte Gott zugleich der winterlich dunkle, der starke
zugleich der schwache uud ohnmächtige ist, so glaubte man auch, daß die
lichte Kraft des sommerlichen Wuotan im Winter kraftlos und dunkel
werde. Daher erscheint neben der Vorstellung des sommerlichen Wuotan, der
mit Goldhelm, Brünne (Panzer) und Speer durch das Luftreich reitet,
überall Leben erweckend, Segen und Gedeihen spendend, auch die des
winterlichen Wuotan im niedergedrückten, tief in's Gesicht gehenden Hut,
mit gesenkten, Haupt, eingewickelt in einen alten, schäbigen, blau und
schwarz gefleckien Mantel, blind, dumm und plump. In dieser Vorstellung
ist nun nach unserem Dafürhalten die Lösung unserer Frage zu suchen.
Da der heilige Michael nach der Bekehrung der alten deutschen Heiben
an Wnotans Stelle trat, so mußten naturgemäß auch die beiden Seiten
des Wuotan, die sommerliche lichte, mächtige, starke, wie die winterlich
Der deutsche Michel mit seinem mythologischen Hintergründe. 355
ohnmächtige, kraftlose, derbe, plumpe, in ihn übergehen. Auch Michael
wurde als Lichtgeftalt verehrt, weshalb seine Kirchen meist auf Bergen
oder erhöhten Plätzen standen. Trümmer von Michaeliskirchen finden sich
noch zu Godesberg und Siegburg. Ferner liegt ein Michaelisberg bei
Münstereifel. Wie Wuotan, so wurden auch Michael zu Ehren Feuer
angezündet und brennende Räder an seinem Feste die Berge hinabgerollt.
Die brennenden Räder sind Hindeutungen auf den leuchtenden Sonnen-
wagen. Auch siel das Michaelisfest ursprünglich auf den 23. Mai, also
zu derselben Zeit, wo man dem Wuotan zu Ehren ein Frühlingsfest feierte.
Mit diesem Feste waren die Mailehen verbunden. Es waren das Volts-
hochzeiten, bei denen tagelang geschmaust und gezecht wurde. Diese
Hochzeitsfeierlichkeiten follten an die Vermählung Wuotans mit der bräut-
lichen Erde erinnern. Später verlegte man das Michaelisfest in den
Herbst, weil man nach eingebrachter Ernte mehr Zeit zum Schmausen und
Zechen hatte, als im Frühling, wo das Land bestellt werden mußte.
Wie schon oben angedeutet, war Wuotan aber auch Kriegsgottheit.
Er konnte seine Feinde taub und blind machen und sie so in Schrecken
versetzen, daß ihre Waffen nicht mehr verwundeten als Ruthen; aber
seine Mannen drangen vor ohne Panzer, waren wüthend wie Hunde
und Wölfe und stärker als Bären, Stiere. Aehnliche Vorstellungen verband
man später auch mit dem heiligen Michael. Mit geschwungenem Schwerte
dachte man ihn sich an der Spitze des deutschen Heeres stehend. Wenn
die alten Deutschen in den Krieg zogen, so riefen sie ihn um Hilfe
cm, wie eine lateinische Hymne bezeugt. Dieselbe lautet in der Über-
setzung:
Her,»« Michael,
Fühl' Tu das deutsche Heer in'« Feld,
Verzoll Michael,
0 steh uns zur Seite,
0 hilf uns im Streite,
Herzog M'chael!
Du unser Herzog in dem Streit,
Beschirmest stall die Christenheit u. f. v.
Des Himmels Geister Zahl
Vermehren Deiner Streiter Zahl u. s. w.
Durch alle Welt, zu Meer und Land
Sind Deine Schlachten wohlbekannt u. s. w.
Anderweitige Spuren, wie in Michael die Kriegsnatur Wuotans über-
gegangen, haben wir noch in den Fechterspielen, die bis Ende des vorigen
Jahrhunderts, namentlich in der Gegend von Trier, mit dem Michaelis-
feste verbunden waren. In vielen Kirchen und auf Säulencapitälen
finden mir Michael daher als kräftigen Jüngling in kriegerischer Rüstung
dargestellt, aber ohne Helm.
Ferner galt Wuotan als Führer der abgeschiedenen Seelen und als
Seelenwäger. Die Seelen der Gefallenen wurden von den Walküren nach
Noid und Süd. I.XXV. 225. 24
356 August wünsche in Dresden.
Walhall geleitet, wo ihnen Wuotan entgegenkam, sie an eine wohlbesetzte
Tafel führte, ihnen Meth die Fülle reichte und sie täglich zum Zeitvertreibe
fechten und kämpfen ließ. Auch Michael ist Seelenführer und Seelen-
bemahrer. Laut doch schon die Bibel im Briefe des Inda den Erzengel
Michael sich mit dem Teufel um den Leichnam Mosis streiten.
In gleicher Weise ist in mittelalterlichen Dichtungen von einem
Streite der Engel und Teufel um die ausfahrende Seele die Rede, von
denen Jeder die Seele für sich haben will. An der Spitze der Engel steht
gewöhnlich Michael. In einer Urkunde des 13. Jahrhunderts wird
Michael der Wächter des Paradieses und Fürst der Seelen genannt (9120-
po8ltu8 pai-acUsi st princepz imimaruiu.). Nach einer alten Sage ist die
Seele in der ersten Nacht bei der heiligen Gertrud, in der zweiten bei
St. Michael, und erst in der dritten gelangt sie dahin, wohin sie nach
ihrem Verdienste gehört. Dies zeigt klar, wie die heilige Gertrud cm
Huldas und Michael an Wiwtans Stelle getreten sind. Wie nach der
griechischen Sage Zeus die Geschicke der Menschen in Schalen abwog, so
verfährt nach der christlichen Legende auch Michael. Er wägt die guten
und bösen Thaten des Sterbenden ab, und je nach Befund wird das
Schicksal der Seele entschieden. Daher erscheint Michael in verschiedenen
Capellen auf Friedhöfen mit einer Waage, in deren Schallten je eine oder
mehrere nackte Seelen sitzen.
Am innigsten aber berühren sich Wuotan und Michael endlich als
Drachenkämpfer. Da auf Grund biblischer Anschauung die Lehre vom
der Finsternis!, von der alten Schlange, die Adam zur Sünde verführte,
im christlichen Dogma eine große Bedeutung gewann, so mußte vor Mem
mit ihr bei der Bekehrung der Heiden eine Anknüpfung gesucht werden.
Wuotan bot diesen Anknüpfungspunkt. Er tödtet im Frühling den Drachen
des Winterdlinkels, indem er den Fenriswolf, auch Wanagandr, d. h.
Drache, Schlange, besiegt; daher auch sein Beiname Sigi, der dann in
Siegfried des Nibelungenliedes, in welchem er sich verjüngte, wiederkehrt.
Auch Michael ist Drachentödter. Nach der Offenbarung des loh. 12, 7-9
streitet er und seine Engel im Himmel gegen den Drachen, und der Drache
streitet auch mit seinen Engeln, und der Letztere wird ausgeworfen auf die
Erde, der alte Drache, die alte Schlange, der Teufel, der die Welt ver-
führt, und seine Engel weiden auch dahin geworfen. Wie tief die Vor-
stellung vom Michael als Drachentödter im germanischen Gemüthe ein-
gewurzelt war, beweist das uns Allen wohlbekannte Sprüchlein, womit ein
Geistlicher des Mittelalters seine Predigt angefangen haben soll:
Die Hölle summt,
Der Teufel brummt
Und „llckelt mit dem Schwänze,
St. Michael.
Bei meiner Secl,
Ersticht ihn mit der Lanze.
Der deutsche Michel mit seinem mythologischen Hintergründe. 35?
Wie die Vorstellung von Michael als Drachentüdter selbst noch in der
Gegenwart künstlerisch ausgenützt worden ist, zeigt das in Karlsruhe den in
der badischen Revolution 1848 gefallenen preußischen Kriegern errichtete
Denkmal. Dasselbe stellt den heiligen Michael dar, stehend 5auf einem
Drachen, den er im Begriff ist, mit der Lanze zu tödten.
Wenn wir nun an das alte Germanien denken, wie es sieben Monate
lang unter Schnee und Eis begraben lag, dazu an unsere alten heidnischen
Vorfahren, die mit der Natur auf's Innigste verwachsen waren, so darf es
nicht Wunder nehmen, wenn sie ihren allbeherrschenden Wuotan im
Winter sich schläfrig, ohnmächtig und plump, im Frühlinge aber als den
alle widrigen Naturgewalten niederwerfenden Helden sich vorstellten. Als
später bei ihrer Christianistrung die Wuotansfigur sich in den' Erzengel
Michael umwandelte, so gingen selbstredend auch viele seiner Züge in ihn
über, und so ist es gekommen, daß er, als der Repräsentant des deutschen
Volkes, gerade mit der kräftigen, derben, plumpen Seite feines Wesens
uns den Spottnamen „deutscher Michel" zugezogen hat.
24*
~ i iaiiai> ~ i »~ i » > i i ~ /« n ~n a|i i
3er Witz.
«Line ästhetische Studie,
von
Friedrich Wegmüller.
— München. —
Interden verschiedenen Arten der Vorstellungsverbindungen, durch
die wir theils im logische» oder durch eine Zweckbeziehung ge-
regelten Gedankengange Glied an Glied reihen, bis sich aus
gegebenen Vordersätzen das gesuchte Schlußglied ergiebt, theils, durch die
lautlichen Allsdrucksmittel unterstützt, den gewohnlicheren Bedürfnissen des
Gedankenaustausches und gegenseitigeil Verkehrs gerecht werden, nimmt der
Witz eine besondere Stellung ein. Wie seine Wirkung eine von der aller
anderen Redeformen verschiedene ist, wie keine andere den bestimmten psycho-
logischen Nester hervorzubringen vermag, der den Witz charakterisier, so sind
auch seine Natur und die Bedingungen seines Zustandekommens, die Quellen,
aus denen er entspringt, wesentlich verschieden von der normalen geistigen
Thätigkeit, als deren Wirkung wir die erwähnten sonstigen Formen der
Ideenverbindnngen betrachten. Schon das sprunghaste, blitzartig über-
raschende, das dem Witze nothwendig innewohnt, beweist ja, daß hierein
von den gewöhnlichen verschiedener geistiger Vorgang vollzogen worden sein
mußi und daß dieses Verhältnis; auch allgemein anerkannt ist, beweist der
Umstand, daß wir im Allgemeinen geneigt sind, die Fähigkeit zum Witz
überhaupt als Maßstab für die geistige Höhe und insbesondere für die
natürliche Beanlagung eiucs Menschen anzusehen; allerdings, wie wir weiter
unten sehen werden, nicht mit unbedingtem Necht.
Das Wort „Witz" wurde früher bekanntlich in viel weiterem Sinne
gebraucht als heute, ungefähr in dem, den das englische „n>t", sein ge-
naues Analogon, noch heute besitzt: höhere geistige Fähigkeit oder Bethätigung
ver Witz. 359
überhaupt, in welcher Bedeutung dasselbe übrigens auch bei uns noch nicht
völlig untergegangen ist. So fielen denn früher namentlich Kunst und
Kllnstgeschmack unter den Begriff des Witzes; zu Gottscheds Zeit und unter
seinen Auspicien erschien eine Zeitschrift „Belustigungen des Verstandes und
Witzes" und eine ehemalige Monatsbeilage der Vossischen Zeitung, deren
erster Leiter Lesung und deren Zweck hauptsächlich die schöngeistige Kritik
war, nannte sich „das Neueste aus dem Reiche des Witzes". Dieser all-
gemeinen Bedeutung ging indessen das Wort ziemlich bald zn Gunsten der
heutigen prägnanteren verlustig.
Der Witz beruht, logisch betrachtet, auf einer Vorstellungsverbindung,
Wie das Urtheil, wie der Vergleich — die beide „witzig" sein können und
so beweisen, daß er nicht für sich eine logische Gattung, sondern vielmehr
eine logische Qualität ist, die verschiedenen Gattungen zukommen kann —
kommt er dadurch zu Stande, daß zu einer Vorstellung » eine Vorstellung b
in Beziehung gesetzt wird.
Aber die Art dieser Beziehung ist eine besondere. Während bei den
erwähnten logischen Gattungen die folgende Vorstellung an die vorhergehende
in einer durch die objective Realität der Dinge bedingten Weise an-
geschlossen, also sozusagen schrittweise von der ersten zur zweiten und allen
folgenden vorgegangen wird, gehört es gerade zur Eigentümlichkeit des
Witzes, daß die beiden durch ihn unter einen einheitlichen Gesichtspunkt ge-
brachten Vorstellungen entweder überhaupt möglichst weit auseinander liegen,
oder doch nur durch ein Abgehen vom gewöhnlichen Wege der associativen
Verbindung zu vereinigen sind; je disparater die Vorstellungen, je mehr
logische Zwischenglieder der Witz übersprungen hat, um so größer ist seine
Wirkung. Er überrascht die Hörer, indem er zwei scheinbar fremde Vor-
stellungen zu einander in Beziehung bringt, und er löst zugleich die bewirkte
Spannung, indem er wie mit einem blitzartigen Schlaglicht die an sich
dunkle Beziehung in's rechte Licht setzt. Darauf beruht seine komische
Wirkung, daraus erklärt es sich aber auch, das; jeder Witz, der durch Schuld
des Autors oder des Hörers nicht sogleich richtig verstanden wird, der einer
Erklärung durch Bildung seiner logischen Zwischenglieder bedarf, wirkungslos
verpufft. Ein Witz wirkt fpontan und unmittelbar, oder das Beste seiner
Wirkung ist verloren.
Man hat bekanntlich das Komische, von den» auch der Witz eine
Gattung ist, das „umgekehrte Erhabene" genannt. Obwohl wir hier keinen
Anlaß haben, auf die eigentliche Meinung dieser uueigentlichen Begriffs-
bestimmung des Näheren einzugehen, so beweist sie uns doch, daß auch der
Witz eine der Formen der ästhetischen Wirkung ist, und daß man zu seinem
Verständniß wie noch mehr zu seiner Hervorbringung ein gewisses Maß
jener objectiven Vetrachtungsart bedarf, die wir uns seit Schopenhauer ge-
wöhnt haben als Kennzeichen und Bedingung des ästhetischen Genusses zu
betrachten. Das ist es vor Allem, wodurch der Witz nicht nur geistig.
260 Friedrich wegmüller in München.
sondern ich möchte geradezu sagen auch moralisch über die gewöhnlicheren
Redeformen sich erhebt. Leute, die „keinen Spaß" verstehen, halten wir
mit Recht nicht nur für geistig beschränkt, sondern auch für moralisch
kleinlich und engherzig, das Ertragen eines guten Witzes, auch wenn er
auf die eigene Perfon sich bezieht, gilt dagegen als das Zeichen einer freien
Natur.
„Ich lobe mir den heitern Mann
Am meisten unter weinen Gästen;
B.er sich nicht selbst zum Besten haben llllw.
Gehölt acwih nicht zu den Besten.' (Goethe.)
Wahrend wir uns, um im Schopenhauer'schen Sprachgebrauch zu
bleiben, bei der Mehrzahl der übrigen Vorstellungsverbindungen wollend ver-
halten, d. h. uns derselben zum Zwecke der Erreichung persönlicher oder
sachlicher Interessen bedienen, verhalten wir uns im Augenblick der Hervor-
bringung oder Auffassung eines Witzes rein erkennend. Bedingung des-
selben ist darum ein geistiger Zustand, der nicht völlig in den Beziehungen
des Willens zu den behandelten Objecten anfgeht, sondern der vermöge
einer glücklichen Neanlaguug und augenblicklichen Disposition noch objectiv
genug bleibt, um mitten im Spiel der Veziehungen zwischen Interesse und
Objecten doch noch solche disparate Beziehungen der Objecte unter einander
zu finden, deren Vereinigung die bemußte Wirkung des Komischen hervor-
bringt. Auf dieser Bedingung der geistigen Beherrschung der Lage beruht
der Ausdruck vom „souveränen Witze"; und es ist klar, daß der Werth des
Witzes um so höher ist, je wichtiger, je inhaltsvoller, je mehr Geist und
Willen auf's Höchste anspannend die äußeren Umstände sind, unter denen
er entsteht. Durch Nichts bewies z. V. Vismarck seine völlige Beherrschung
auch der schwierigsten und heikelsten Situationen mehr als dadurch, daß er
in ihnen trotz höchster geistiger Anspannung immer noch Gelegenheit zu
seinen berühmten beißenden Sarkasmen fand. So ist der Witz ein kleines
Kunstmerk und theilt mit jeden» ästhetischen Product das Vorrecht, zwecklos
zu sein; seine Wirkung geht verloren, sobald man die Absicht dabei merkt.
Er verhält sich darum, bildlich zu sprechen, zur gewöhnlichen Redeweise wie
der Gesang zur Sprache, wie das Spiel zur ernsten TagesarbeiH er ist
ein ,~eu ä'sLprit^, ein „spielendes Urtheil". Nicht einmal auf den Witz
selbst darf die Absicht gerichtet sein, sondern im Gegentheil wird er stets
um so besser wirken, je mehr er völlig ungesucht und ungekünstelt austritt
— was unsere Sprache nach jeder Richtung treffend charakterisirt, ivenn
sie in diesem Falle von einem „guten Einfall", im andern aber von einem
„gequälten Witze" spricht.
Eine früher viel gebrauchte Erklärung des Witzes, der, wenn wir
nicht irren, auch noch Jean Paul zustimmte, lautet, der Witz beruhe auf
einem Contrast. Will man diese Erklärung dahin verstehen, daß unter
diesen« „Contraste" eben jene In-Beziehung-Setzung weit auseinander
Der Witz. 36«.
liegender Vorstellungen, von der wir sprachen, gemeint sei, so lassen wir
uns dieselbe um so lieber gefallen, als sie zu einer sehr brauchbaren Ein-
teilung der Witze führt. Die vermittelnde Beziehung, die wir als das
Charakteristikum des Witzes betrachten, kann nämlich entweder durch eine
bloße Aehnlichkeit der die betreffenden Begriffe bezeichnenden Worte, oder
sie kann durch eine in den betreffenden Vorstellungen selbst liegende Aehn-
teit herbeigeführt werden. Im ersteren Falle haben wir den Wort« oder
Klangwitz, im zweiten den eigentlichen und echten Witz, den man von
seinem unebenbürtigen Bruder wohl auch als „Sachwitz" unterscheiden
könnte.
Der Wortwitz ist unstreitig die niederste aller Witzgattungen, wie aus
seiner Entstehung aus bloßer Lautähnlichkeit unmittelbar hervorgeht und
weshalb er häufig unfreiwillig den Kindern besser gelingt als den mehr
auf sachliche Beziehungen sehenden Erwachsenen. Charakteristisch genug ist
es auch, daß fast jede Sprache ihre eigene despectirliche Bezeichnung für
ihn hat — Calembourg, Kalauer — , und daß seine Häufigkeit mehr im
umgekehrten als im geraden Verhältnis; zu seinem ästhetischen Werthe zu
stehen scheint. Cr ist das, was der Berliner so recht treffend einen „faulen"
Witz nennt — obwohl boshafte Provinzler gerade den Berlinern eine ge-
wisse Vorliebe für dieselben nachzusagen pflegen.
Dies ist ein allgemeiner Charakterzug des heutigen Großstädters, über
dessen psychologische Ursache wir weiter unten Anlaß haben werden, uns
noch des Näheren zu verbreiten
„Witze" dieser Art sind unfern Lesern zu viele bekannt, als daß wir
sie mit einer Aufzählung einiger derselben ermüden dürften; sei uns nur
gestattet, einen der aller,, blutigsten" hier als Typus der Gattung zu
bringen, der sich wie so viele andere auf politische Ereignisse jüngster
Zeit bezieht und „natürlich" auch Verlin zur Geburtsstadt hat: Bismarck
scheiterte am Cap Rivi, und Caprivi verbrannte an der Hohenlohe!
Uebrigens kann der Klangwitz, namentlich in seiner Häufung, zu einer
rednerisch sehr wirkungsvollen Figur werden, wie z. V. in musterhafter
Weise die bekannte, dem Abraham a Santa Clara nachgebildete Kapuziner-
predigt in „Wallensteins Lager" zeigt:
»Und dos römische Reich — daß Gott erbarm!
Sollte heißen ein römisch Arm.
D>r Rheinstrom ist neworben zu einem Peinstrom,
Die Klöster sind ausaenommene Nester,
Tic Bisthümer sind verwandelt in Wüstthümer',
Die Abteien und die Stifter
Sind nur Raubtbeien >md Diebsklüfter,
Und alle die nesegn^len deutschen Länder.
Sind verwandelt worden in Elender u. s. f.
Da der Wortwitz sich an recht eigentlich naive Seelen wendet, so be-
ruht ein gutes Theil beliebter Kinderräthselscherze auf ihm. Was für
262 Friedrich Wegmüller in München.
Enten trinken Bier? die Stud-enten. Was für Ringe sind nicht rund?
die Heringe. Welches Gemach liebt der Mensch am wenigsten? das
Un-gemach u. s. f. — Scherze, deren Gebrauch allerdings unsere „reifere
Jugend" von heute schon mit bedenklichem Nasenrümpfen begleiten mag.
Mit dem Wortwitze verwandt, aber doch nicht ohne Weiteres mit ihm
zu identificiien ist das Wortspiel, das wohl in seinen schlechteren Vertretern
noch hierher gehört, in der Regel aber doch schon der zweiten Gruppe,
dem „Sachwitz", zuzutheilen ist; der Gleichklang kann hier die Pointe
vorteilhaft verstärken, aber er bringt sie nicht eigentlich hervor. Während
der Wortwitz darauf beruht, daß zwei verschiedene Begriffe durch Worte
gleichen oder ähnlichen Klangs ausgedrückt werden, werden hier unter
einem Compler von Worten zwei ganz verschiedene Borstellungen zusammen-
gefaßt und so die komische Wirkung erzielt. Das Wortspiel, namentlich
wo es sich in rascher Rede und Gegenrede schlagfertig einstellt, ist so
recht die höchste Form des Witzes, der eigentliche Prüfstein der dem
witzigen Kopfe zugeschriebenen höheren Begabung. Meister derselben sind z. B.
alle Shakespeare'schen Gestalten, die ihr Schöpfer entweder mit philosophisch-
betrachtender oder mit intrigant-verschlagener Charakteranlage ausgestattet
hat. „Uns Allen ist's gemein zu sterben, lieber Sohn," sagt Hamlets
ehrvergessene Mutter, die ihn mit dieser nichtssagenden Banalität das Brüten
über des Vaters räthselhaft- rasches Hinscheiden und ihre Handlungsmeise
vergessen machen will. „Ja, hohe Frau, es ist gemein," lautet die dolch-
scharfe Antwort. Hier sind dem äußern Anscheine nach beide Sprechenden
ganz einig, indem sie sich zum Ausdruck ihrer Gedanken genau'desselben
Wortcompleres bedienen; während aber die Mutter die Worte im eigent-
lichen Sinne gebraucht, hat Hamlet durch leichte Veränderung in Ausdruck
und Geberde aus denselben Worten eine schwere Anklage gegen seine
Mutter, ihr vermuthetes Einverständniß mit dem Mörder und die Schänd-
lichkeit, diesen so rasch nach dem Hinscheiden ihres ersten Gatten zu
heirathen, erhoben. ,,~ou 'II soon tinä ins a ssruv« mau," sagt der mit
dem Degen schlagfertige Mercutio, als seine Freunde, dem leicht auf-
stammenden Hitzkopf im Innern zürnend, ihn schweruerwundet vom Kampf-
platze wegtragen. Das könnte heißen: Ihr weidet bald — vi?. Eurem
Wunsche entsprechend — einen durch solche Erfahrungen gesetzten Mann in
mir finden; der wirkliche Sinn ist aber wohl der: Ihr werdet bald finden,
daß ich ein Mann des Grabes geworden bin — welche Deutung ja be-
kanntlich der Ausgang bestätigt. So kann man denn allgemein das Wort-
spiel mit seinen verschiedenen in einander übergehenden Antworten, dem
Doppelsinn, der Zweideutigkeit u. s. f. als jene Witzgattung bezeichnen,
welche durch Zusammenfassung verschiedener — richtiger: recht weit von
einander abstehender — Vorstellungen unter dasselbe Wort oder denselben
Wortcompier entsteht. Bei einiger Aufmerksamkeit ist dieser Zusammen-
hang auch bei scheinbar verwickelter Lage leicht zu erkennen. Wenn z. B.
Der Witz. 263
Nismarck auf die entsetzte, nebenbei einen erheblichen Irrthum in sich ent«
haltende Antwort, mit der J ules Favre die Mittheilung von der Höhe der
deutscherseits geforderten Kriegsentschädigung empfing: so groß sei ja nicht
einmal die Summe, die sich aus dem bekannten Nechenbeispiel von dem
Ertrage des seit Christi Geburt auf Zins und Zinseszins gelegten Pfennig
ergebe, mit Anspielung auf die Confession seines finanziellen Verathers die
Antwort gab: „Drum Hab ich mir ja einen mitgenommen, der schon vor
Christus angefangen hat zu zählen" — so liegt hier das gleiche Ver-
hältnis; vor. Mit der von Favre aufgenommenen Wendung „zählen seit,
bezw. vor Christi Geburt" hat Bismarck einen durchaus vom ursprüng-
lichen verschiedenen Sinn verbunden und so ein Wortspiel von sehr
komischer Wirkung hervorgebracht, bewunderungswürdig vor Allem wegen
der wichtigen und einen gewöhnlichen Intellect völlig absorbirenden Um»
stände, unter denen es zu Stande kam. Bei dieser Gruppe braucht
übrigens der mit verschiedener Bedeutung gebrauchte Wortcompier keines-
wegs immer ausgesprochen zu werden. Wenn z. N. jener Wiener seinem
neuen Bekannten sagt: „Wie, Sie gehen gern allein? Ganz mein Fall;
da können wir ja zusammengehen" — so liegt der Witz hier in der An-
wendung des unausgesprochenen Grundsatzes: „Leute mit gleichen Neigungen
eignen sich zu gemeinsamen Spaziergängern" gerade auf den Fall, auf den
der Natur dieses Falles wegen seine Anwendung nicht stattfinden konnte.
Also auch hier zeigt sich, daß das Eigenthümliche des Witzes in der über-
raschenden Vereinigung unzusammengehöriger Vorstellungen beruht. Selbst-
verständlich gehört hierher auch jenes Genre von Witzen, bei dem nach
dem bekannten Wort Voltaires Manchen auch das schalste noch als witzig
erscheint, sofern hier nicht der Doppelsinn von vornherein zur Eindeutig-
keit wird.
Da der „Sachwitz" lediglich in der Herstellung von Beziehungen der
dargelegten Art zwischen Vorstellungen belteht, so folgt, daß derselbe unter
Umständen der sprachlichen Verständigungsmittel entbehren kann, sofern die-
selben nämlich auf anderem — z. B. mimischen Wege — eben so gut zur
Anschauung gebracht werden können. So bezeichnen wir es ebenfalls als
Witz — hier freilich als unfreiwilligen — wenn zwei Nachtwächter einen
singenden Studenten in der Nacht niit sich auf die Wachtstube schleppten
denselben dort zum Skat einluden, dann aber, als jener ihnen zu „mogeln"
schien, ihn entrüstet hinauswarfen — zur großen Freude des so entronnenen
Häftlings. Der allgemeine Grundsatz: „Wer mogelt, wird hinausgeworfen,"
ist hier in komischer Weise stillschweigend und thätlich eben auf den Fall
angewandt worden, der seiner Natur nach die Anwendung desselben nicht
gestatten kann. Ein sehr guter, mit Absicht gemachter Witz derselben Art
ist es, wenn jener Papst des Mittelalters einen, Virtuosen, dessen Kunst
darin bestand, mit Linsen unfehlbar genau durch ein Nadelöhr zu werfen
und der sich eine große Summe als Belohnung für seine Kunst erwartet
36H Friedrich Wegmüller in München.
hatte, statt dessen eine '— große Schüssel Linsen überreichen ließ, ihm da-
mit »ä oouloZ demonstrirend, wie hoch er den Werth seiner Kunst schätze.
Der komische „Contrast" besteht hier in den so entfernten Vorstellungen der
erwarteten und der wirklich erhaltenen Gabe. Auch die treuen Weiber von
Weinsberg machten einen Scherz der gleichen Art, als sie auf den
Bescheid des Kaifers, sie möchten ans der zum Sturme bestimmten Stadt
das mit sich herausnehmen, was ihnen am liebsten sei, der Legende nach
jede mit ihrem Manne auf dem Rücken aus der guten Stadt Weinsberg
zogen; denn gerade der Fall war der Meinung des kaiserlichen Spruches
nach ausgeschlossen. Uebrigens gilt, was hier von „unfreiwilligen Witzen"
gesagt ist, für sämmtliche bisher ermähnten Gattungen desselben; denn im
Hinblick auf die komische Wirkung macht es offenbar sehr wemg aus, ob
dieselbe mit oder ohne Absicht herbeigeführt wurde. Nur pflegt dabei, da
der unfreiwillige Witz in der Regel aus einem Mangel an Wissen oder an
Schlagfertigteit hervorgeht, die Heiterkeit sich gewöhnlich nicht auch auf die
Seite zu erstrecken, die sie erzeugt hat.
Unter den Begriff des mimischen Witzes fällt natürlich auch die pan-
tomimische Darstellung und komische Übertreibung der Geberden und Sprech-
weise bestimmter Persönlichkeiten, die schauspielerische Caricatur, bezw. ihre
graphische Darstellung,
Die Vereinigung disparater Vorstellungen, die wir als das Charatte-
risticum des Witzes kennen gelernt haben, kann sich unter Umständen auch
auf eine bloße Vergleichung beschränken. Dies ist namentlich in der Weise
häusig der Fall — und der komischen Wirkung sicher — , daß sich die Ver-
gleichung an bestimmte Eigenthümlichkeiten einer Person oder Sache heftet und
dieselbe durch eine drastische Vergleichung lächerlich macht. So entsteht der
charakterisirende Witz. Auch für ihn sind die Gestalten Shakespeares eine
unerschöpfliche Fundgrube, vor Allem der biedere Sir John, der bei aller
eigenen sittlichen Gesunkenheit doch ein scharfes Auge für die Schwächen
feiner Nebenmenschen und eine unerschöpfliche Phantasie in der Herbeiziehung
der komischsten Vergleiche besitzt. Man höre nur die schier unendliche Reihe
der witzigsten Bilder, mit denen er seinen Freund und seinen Zechbruder,
den faden Philister Friedensrichter Shallow und den ewig durstenden, roth»
nasigen Vardolph peisiflirt! „Dieser schmächtige Friedensrichter hat mir
in Einem fort von der Wildheit feiner J ugend vorgeschwatzt, und um's
dritte Wort eine Lüge, dem Zuhörer richtiger ausbezahlt als der Tribut
dem Grohtürken. Ich erinnere mich seiner in Clemenshof, da mar er wie
ein Männchen, nach dem Essen aus Käserinde verfertigt; wenn er nackt
war, fah er natürlich aus wie ein gespaltener Nettig, an dein man mit dem
Messer ein lächerliches Gesicht ausgeschnitzt hat; er war sehr schmächtig,
daß ein stumpfes Gesicht gar keine Breite und Dicke an ihm unterscheiden
konnte." Oder gar erst Bardolph! „Bessere Du Dein Gesicht, so will ich
mein Leben bessern. Du bist unser Admiralschiss, Du trägst die Laterne
Der Witz. 365
am Steuerverdeck, aber sie steckt Dir in der Nase, Du bist der Ritter von
der brennenden Lampe." „Ich sehe Dein Gesicht niemals, ohne an das
höllische Feuer zu denken und an den reichen Mann, der in Purpurkleidern
lebte, denn da sitzt er in seiner Tracht und brennt und brennt. Wärst
Du einigermaßen der Tugend ergeben, so wollte ich bei Deinem Gesichte
schworen, mein Schwur sollte sein: bei diesen: stammenden Cherubschwerte!
Aber Du liegst ganz im Argen, und wenn es nicht das Licht in Deinem
Gesicht thate, so wärst Du gänzlich ein Kind der Finsternis'. 0 Du bist
ein beständiger Fackelzug, ein unauslöschliches Freudenfeuer! Du hast mir
cm die tausend 'Mark für Kerzen und Fackeln erspart, wenn ich mit Dir
Nachts von Schenke zu Schenke wanderte: aber für den Sect, den Du
mir dabei getrunken hast, hätte ich bei dem theuersten Lichterzieher von
Europa ebenso wohlfeil Lichter haben können. Seit zweiunddreißig J ahren
nunmehr habe ich diesen Deinen Salamander mit Feuer unterhalten, der
Himmel lohne es mir!"
Welch unerschöpflicher Sturzbach von Metaphern, jede ein beißendes
Epigramm! In der That ist diese Klasse des Witzes recht eigentlich doch
die epigrammatische; und es ist bezeichnend, daß einer unserer besten
Epigrammatiker, der lange nicht nach Gebühr geschätzte Hang, der Jugend-
freund Schillers, einen ähnlichen Vorwurf zum Thema einer großen Reihe
witziger Epigramme gemacht hat. Wir meinen seine „Epigramme auf
Herrn Wahls ungeheure Nase". Allerdings ist bei ihm selbstständiges
dichterisches Erzeugnis;, was bei Shakespeare so ganz beiläufig und neben-
her abfällt.
Unter den Begriff des Witzes im weiteren Sinne fällt auch die uns
Allen geläufige Sprechweise der Ironie. Sie wird gewöhnlich dahin er-
läutert, ein Fall der Ironie sei dann gegeben, wenn die äußere Form des
Lobes gewählt werde, um damit desto nachdrücklicher und wirksamer einen
Tadel auszusprechen; wie man sieht, liegt dabei der komische Contrast in dem
Gegensatz zwischen dem wörtlich ausgedrückten und dem in Wahrheit beab-
sichtigten Sinne. Diese Erklärung ist indeß ohne Zweifel zu eng; mir
sprechen nicht minder dort von Ironie, wo der Worllant tadelt, der be-
absichtigte Sinn aber als Lob zu verstehen ist. Es ist Ironie, wenn ich
einen Betrüger einen Gentleman, einen unreifen Dichterling einen jungen
Goethe nenne, und unzählige Wendungen und Redensarten des täglichen
Lebens gehören zn dieser Kategorie. Es ist aber ebenso gut Ironie, wenn
Marc Anton an der Bahre des ermordeten Cäsar scheinbar die Gründe der
Mörder anerkennt und den Cäsar einen Feind des Volkes, einen Feind der
Freiheit nennt, um in dieser Maske seine wahre Meinung desto eindringlicher
zu verkündigen. Allerdings wird — und das gab ohne Zweifel hier den
Grund zu jener erwähnten einseitigen Definition — die erste Art ungleich
häusiger gebraucht als die zweite; denn der Mensch liebt mehr zu tadeln
als zu loben. Ironie ist es aber auch, wenn man eine allsgesprochene
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1
Section 2 -
14
Section 3 -
32
Section 4 -
46
Section 5 -
62
Section 6 -
87
Section 7 -
125
Section 8 -
134
Section 9 -
275
Section 10
- 424
Section 11
- 280
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Der Witz. 365
am Steuerverdeck, aber sie steckt Dir in der Nase, Du bist der Ritter von
der brennenden Lampe." „Ich sehe Dein Gesicht niemals, ohne an das
höllische Feuer zu denken und an den reichen Mann, der in Purpurkleidern
lebte, denn da sitzt er in seiner Tracht und brennt und brennt. Wärst
Du einigermaßen der Tugend ergeben, so wollte ich bei Deinem Gesichte
schworen, mein Schwur sollte sein: bei diesen: stammenden Cherubschwerte!
Aber Du liegst ganz im Argen, und wenn es nicht das Licht in Deinem
Gesicht thate, so wärst Du gänzlich ein Kind der Finsternis'. O Du bist
ein beständiger Fackelzug, ein unauslöschliches Freudenfeuer! Du hast mir
cm die tausend 'Mark für Kerzen und Fackeln erspart, wenn ich mit Dir
Nachts von Schenke zu Schenke wanderte: aber für den Sect, den Du
mir dabei getrunken hast, hätte ich bei dem theuersten Lichterzieher von
Europa ebenso wohlfeil Lichter haben können. Seit zweiunddreißig J ahren
nunmehr habe ich diesen Deinen Salamander mit Feuer unterhalten, der
Himmel lohne es mir!"
Welch unerschöpflicher Sturzbach von Metaphern, jede ein beißendes
Epigramm! In der That ist diese Klasse des Witzes recht eigentlich doch
die epigrammatische; und es ist bezeichnend, daß einer unserer besten
Epigrammatiker, der lange nicht nach Gebühr geschätzte Hang, der Jugend-
freund Schillers, einen ähnlichen Vorwurf zum Thema einer großen Reihe
witziger Epigramme gemacht hat. Wir meinen seine „Epigramme auf
Herrn Wahls ungeheure Nase". Allerdings ist bei ihm selbstständiges
dichterisches Erzeugnis;, was bei Shakespeare so ganz beiläufig und neben-
her abfällt.
Unter den Begriff des Witzes im weiteren Sinne fällt auch die uns
Allen geläufige Sprechweise der Ironie. Sie wird gewöhnlich dahin er-
läutert, ein Fall der Ironie sei dann gegeben, wenn die äußere Form des
Lobes gewählt werde, um damit desto nachdrücklicher und wirksamer einen
Tadel auszusprechen; wie man sieht, liegt dabei der komische Contrast in dem
Gegensatz zwischen dem wörtlich ausgedrückten und dem in Wahrheit beab-
sichtigten Sinne. Diese Erklärung ist indeß ohne Zweifel zu eng; mir
sprechen nicht minder dort von Ironie, wo der Worllant tadelt, der be-
absichtigte Sinn aber als Lob zu verstehen ist. Es ist Ironie, wenn ich
einen Betrüger einen Gentleman, einen unreifen Dichterling einen jungen
Goethe nenne, und unzählige Wendungen und Redensarten des täglichen
Lebens gehören zn dieser Kategorie. Es ist aber ebenso gut Ironie, wenn
Marc Anton an der Bahre des ermordeten Cäsar scheinbar die Gründe der
Mörder anerkennt und den Cäsar einen Feind des Volkes, einen Feind der
Freiheit nennt, um in dieser Maske seine wahre Meinung desto eindringlicher
zu verkündigen. Allerdings wird — und das gab ohne Zweifel hier den
Grund zu jener erwähnten einseitigen Definition — die erste Art ungleich
häusiger gebraucht als die zweite; denn der Mensch liebt mehr zu tadeln
als zu loben. Ironie ist es aber auch, wenn man eine allsgesprochene
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266 Friedrich Wegmüller in München
Behauptung dadurch zu entkräften sucht, daß man ihr scheinbar zustimmt,
dann aber dadurch, daß man die Consequenzen derselben in lächerlicher
Weise übertreibt, ihre Nichtigkeit darthut. So wird Onkel Brässg,
wie so oft, ironisch, wenn er dem jungen Herrn von Rambow, der
seine frisch gelernte Bücherweisheit sofort nach Antritt seines Gutes in die
Praris übertragen will, die Illusionen zu zerstören sucht mit dem Bemerken,
ja wohl, so machen wir's, und auf jenes Feld dort pflanzen wir Rosinen,
und die Rosinen fressen dann die Schweine; das gebe dann einen guten
Schweinebraten!
Oder richtiger, er wurde sarkastisch. Denn der Sartasmus, in allem
Wesentlichen wesenseins mit der Ironie und begrifflich in keiner Weise
von ihr zu trennen, unterscheidet sich von der Ironie durch die unmittelbare,
aggressive Beziehung auf eine bestimmte Person; er ist die Ironie, die „bissig"
und „stachelig" geworden ist. Er will nicht harmlos scherzen oder mit der
Peitsche schlagen, sondern verwunden. Darum ist der Sarkasmus nament-
lich dort am Platze, wo, wie z. N. im politischen Leben, höhere Leiden-
schaften und Interessen auch die Anwendung schärferer geistiger Waffen
rechtfertigen. So bieten die „Fliegenden Blätter" harmlose Ironieen, ge-
mildert durch Humor, unsere politischen Witzblätter beißenden Sarkasmus.
Eine wunderbare Probe sarkastischer Redeweise bietet uns auch hier wieder
Shakespeare in der berühmten Leichenrede des Marc Anton auf Cäsar, die wir
soeben erst erwähnt; und deren Wirkung der Gang der Geschichte bezeugt:
„Und Brutu» ist ein ehieuwerthei Mann —
So sind sie Alle, Alle ehienweühe Männer."
So — wie Brutus nämlich.
Wird die den Sarkasmus bildende Anthitese auf ein paar knappe
Worte zusammengedrängt, womöglich nur auf zwei, so entsteht das von den
Alten sogenannte Oxymoron. „Ein dunkler Ehrenmann", „eine biedere
Galgenuogelphysiognomie", ferner Redensarten wie „eine große Zukunft
hinter sich haben", das „Immer weiter nach Frankreich hineingesiegt werden",
womit man so treffend die anfänglichen französischen Siegesberichte von
1879 persistirte, und vieles mehr gehört Hieher. Wird endlich ein ganzes
künstlerisches Werk so angelegt, daß es diesen Bedingungen genügt, dient der
ganze Wortlaut eines Buches nur dazu, die dahinter steckende wahre Meinung
des Verfassers umso deutlicher hervortreten zu lassen, so haben wir eine
ganz auf die logische Function der Ironie gegründete künstlerische Gattung
vor uns — die satirische Dichtung. Ein Rabelais, ein Aristophanes, ein
Swift, ein Heine, ein Cervantes, — alle diese Meister der Satire sind
zugleich in unserm Sinne Ironiker im höchsten und besten Sinne des Wortes.
Das gewaltige Werk des Cervantes und die Ironie des täglichen Lebens
mögen sich noch sehr unterscheiden hinsichtlich der geistigen Thätigkeit, die
in ihnen zum Ausdruck kommt — hinsichtlich ihrer logischen Classisicirung
find sie völlig gleich.
Der Witz. 36?
Wir haben oben bereits in Kurzem die geistige Disposition untersucht,
die eine Bedingung der Entstehung des Witzes ist, und gefunden, daß sie
in einer besonderen Fähigkeit der objectiven Betrachtung bestehe, wie sie z. B.
auch das künstlerische Schaffen oder Genießen verlangt. Daraus erklären
sich manche Eigenthümlichkeiten, die jedem witzig veranlagten Kopf nur allzu
bekannt sind. Zunächst folgt daraus, daß eine gewisse heitere oder doch
sorglofe Gemüthsstimmung vorhanden sein muß, wenn witzige Bemerkungen
sprudeln sollen; sodann aber, daß der leichteste Schatten einer Verstimmung,
einer Beklemmung der Gesellschaft dieselben verscheuchen kann. Wie oft
ist es nicht schon auch dem witzigsten Kopfe vorgekommen, daß feine eben
noch, unter dem Beifall der Gefeilschaft, bewiesene Fähigkeit plötzlich ver-
sagte; der Eintritt einer unsympathischen Persönlichkeit, das Berühren eines
mißliebigen Gesprächsstoffes, eine störende Nachricht, ein Zwischenfall, das
Bewußtfein gesellschaftlicher Ungleichheit und die daraus entspringende Not-
wendigkeit streng zu beobachtender Etikette — das Alles genügt sehr häusig,
um dem geistreichen Kopfe nie mit einem Schlage gewöhnliche Alltags-
morte statt der erwarteten Pointen und witzvollen Treffer einzugeben, oft
genug gerade im entscheidenden Augenblick. Zu Hause, ja schon auf der
Treppe, bei ruhiger und unbefangener Betrachtung, findet er die besten
Pointen offenbar zu Tage liegen, kaum fassend, daß sie gerade im kritischen
Moment seinem Scharfsinn entgangen. Die Unglückseligen, bei denen dies
Mißgeschick ständige Erscheinung, hat Heinrich von Kleist nicht übel ge-
zeichnet:
.Treffend, durch«ängi», cm Blitz, voll Wahiheit sind feine Gedanlen;
Wo? An der Tafel? Ve'llieb! Wenn er's zu Haufe bedenkt."
Andrerseits erklärt es sich aber auch daraus, wie der Witz gewisse
Stände und Verhältnisse mit Vorliebe als Objecte oder als Milieu seiner
Entstehung wählen kann. Er wird sich stets mit Vorliebe an solche Stände
heften, denen böse Zungen einen Gegensatz zwischen Schein und Wesen,
zwischen aufgebauschter Außen- und hohler Innenseite nachsagen; er wird
aber am liebsten dort entstehen, wo Stand und Beschäftigung dam an-
gethan sind, sorglose Stimmung und vor Allem das — berechtigte oder
unberechtigte — Gefühl der Ueberlegenheit über die Umgebung auf-
kommen zu lassen. So ist es erklärlich, wenn der Unteroffizier seine
Rekruten, der Großstädter den Kleinstädter, der Künstler den Philister zur
Zielscheibe seines Witzes macht; vor Allem aber erhellt daraus, wie sehr
alle Factoren des akademischen Lebens, dies Bewußtsein überlegener Bildung,
die akademische Freiheit, die jugendliche Sorglosigkeit, der zwanglose Ver-
kehr mit Commilitionen und Docenten aller Art, die mannigfaltigen Wechsel-
fälle, die sich aus dem Mißverhältnisse zwischen fröhlicher Burfchenstimmung
und leerer Börse ergeben, geeignet sei müssen, aus den jugendlichen Musen-
söhnen die eigentlichsten „Witzvögel", die Verüber aller erdenklichen „Ulke"
in Wort und That zu machen.
2b8 Friedrich Wegmüller in München.
Natürlich werden sich dann die Betroffenen in ihrer Weise zu rächen
suchen; und so ist denn Nichts naheliegender, als daß der Einjährige seinem
Unteroffizier den sich zum Theil gerade in seinen Witzen aussprechenden
Mangel an Bildung, der Kleinstädter dem Großstädter seinen angeblichen
Hang zum Wortwitz vorwirft; die wirklich guten Einfälle pflegen eben die
gekränkten Seelen auf beiden Seiten als qu»ntit6 u^lißsabls anzusehen.
Sie sind uns ja von unser« Witzblättern her auf's Neste bekannt, die
Stände und Gruppen, an denen sich der Witz sozusagen der Allgemeinheit
ohne Unterschied erbaut: der überschneidige Lieutenant, der unwissende, tact-
lose Emporkömmling, der Sonntagsjäger, der verhinderte Dichter, der
größenwahnsinnige Schauspieler u. s. f.
Wenn wir oben des Weiteren bemerkten, daß die Gabe des Witzes
im Allgemeinen mit Recht als Maßstab der natürlichen Neanlagung eines
Menschen angesehen werde, so bedarf diese Bemerkung übrigens einer kleinen
Berichtigung. Allerdings ist der angeborene „Mutterwitz" so werthvoll und
die durch ihn begründete Ueberlegcnheit so groß, daß sie durch keine künst-
liche Bildung, geschweige denn Gelehrsamkeit wirklich ersetzt werden kann.
Es giebt ja eine gewisse Sorte von Buchgelehrsamkeit ohne angeborenen
Mutterwitz; hier weiß aber Jeder, wie sehr dieselbe der natürlichen Begabung
auf Schritt und Tritt sich unebenbürtig erweist, ja wie sehr gerade durch
den aufgespeicherten Wissensballast dieser Contrast noch mehr gesteigert wird.
In Bürgers „Kaiser und Abt" wird ein solches Verhältnis; mit gutem
Humor entwickelt: der ungelehrte Schäfer, Hans Vendir heißt der Biedere,
sticht durch seinen natürlichen Mutterwitz nicht nur den Abt von St. Gallen
aus, der das Pulver nicht erfunden hat, nicht nur die vier Hochschulen
mit ihren Doctoren, sondern auch noch den sich mit Recht witzig dünkenden
„turrigen" Kaiser obendrein.
»Was l!n Euch, Orlslirte, für G^ld nickt eNveibt,
Tai !wb' ich von mein« Fn,u Mutter peeldi."
Denn, wie das alte Sprichwort sagt, „ein Quentchen eigener Mutterwitz ist
mehr werth als zehn Pfund von anderer Leute ihrem". Trotzdem aber
sind die Fälle nicht selten, wo ein allzu großer Gebrauch dieser Fähigkeit
das geistige Niveau eines Manschen sehr unvortheilhaft verändern, ja bereits
ein Symptom geistigen Niedergangs sein kann. Der Witz ist ein
Spiel des Geistes, eine Vereinigung von Vorstellungen, die durch den
ordnungsmäßigen Ablauf der Gedanken nicht zu einander in Bezielmng
gesetzt werden. Darum versteckt sich hinter dem Anscheine blendenden Witzes
und übersprudelnden Geistes nicht selten die Unfähigkeit zum logischen, durch
die Realität der Dinge gegebenen Gedankengang, die Unfähigkeit zur eigent-
lichen geistigen Arbeit. Sind uns doch aus der politischen wie aus der
litterarischen Geschichte selbst aus relativ junger Zeit Beispiele genug
bekannt, wie sich mit scheinbar geistvollem Witze nicht nur klägliche Halt-
losigkeit des Wollens, sondern selbst die Anfänge geistiger Zerrüttung sebr
Der Witz.
369
wohl vertragen können. Daher auch das ästhetische Unbehagen, das ein
allzu häufiger Gebrauch des Witzes, sei es im Leben oder im Kunstwerk,
in uns hervorruft; wir haben dabei stets das peinliche Gefühl mangelnder
Sachlichkeit oder mangelnden künstlerischen Ernstes. Der Witz ist ein Hor8
ck'osuvrs, keine nährende Speise; allzuviel genossen verdirbt er den Magen.
Die Litterargeschichte bietet uns Beispiele genug, wie nicht nur Einzelne
Autoren und Werke, sondern selbst' ganze Litteraturepochen — z. B. die
epischen Vorgänger und dramatischen Nachfolger Shakespeares — durch Ein-
führung gespreizten Witzes um jeden Preis dem gebildeten Geschmack un-
genießbar gemacht wurden.
~ein Brief.
Novelle,
von
Mite Aremnitz.
— Vukarest. —
~ürde sie noch ankommen?
Sie sah nach der Uhr — noch zwölf Stunden, und ihr
Kopf brannte so furchtbar, sie konnte ihn nicht mehr hochhalten,
und wenn sie die Augen öffnete, flimmerte Alles uor ihnen, und sie sah
wie in rothe Wolken, die unaufhörlich ihre Gestalt wechselten und in ein-
ander zerflossen, um sich gleich wieder von einander zu lösen.
Wenn ihr nun aber das Bewußtsein schwände, was sollte aus ihr
werden? — Der Zug brauste durch die Nacht dahin; dort drüben der
lichte Streif, deutete er schon den Morgen an? Aber sie war doch erst eben
eingestiegen! Oder sollte sie geschlafen haben? Nein, wie hätte sie mit
den furchtbaren Schmerzen schlafen können! — Vielleicht, daß sie schon
Vorübergehend das Bewußtsein verloren hatte? 0 Gott, der
menschliche Wille vermag ja Alles, sie mußte noch bis nach Hause kommen!
Tort wollte sie dann gern sterben, aber nur nicht unterwegs liegen bleiben,
nur nicht die Schande, daß man ihr nachforschte und sie hier entdeckte,
den Wegen nachspürte, die sie gegangen war! — Was würde ihr Mann
sagen? Hier würde er sie nie suchen! Und die Sehnsucht nach der
Kleinen — sollte sie das süße Kind nie wiedersehen?
Sie schluchzte laut auf. — Wie viel war die Uhr? Immer
noch zehn Stunden! Und eben hatte sie die lebendige Vorstellung gehabt,
nicht auf der Bahn, sondern auf dem Schiff von Honer nach Sylt zu sein
— sie konnte also wirklich nicht mehr klar denken! Großer Gott, was
sollte aus ibr werden? ... Die Schande, die furchtbare Schande, die sie
auf ihren Mann geladen hatte! .... Nein, nein, bis nach Hause mußte
5ein Vlief. 2?~
sie kommen! .... Aber wenn es nun ein Neruenfieber war? Schon seit
mehr als acht Tagen war ihr zu Muthe, als wäre sie trank; sie hatte das
auf seelisches Leid geschoben, allein, wenn sie nun doch erkrankte, wenn
man sie aus dem Zuge hob, wenn man nach Erkennungszeichen bei ihr
suchte und ihren Namen durch die Welt telegraphirte! Aber Nichts
an ihr trug ja ihren Namen, ihr Neisesack nicht und auch nicht ihre Wäsche,
sie hatte die größte Vorsicht beobachtet, und Initialen sagen ja Nichts
0, aber der Brief von ihm, den sie bei sich trug, der mufte vernichtet
werden, schnell, schnell sein letzter, lieber Brief! .... Sie durfte
ja ihn vor Allen nicht bloßstellen. — Lieber namenlos begraben werden
Der Friedhof der Namenlosen, ~ sie war schon wieder an der See!
Aber der Brief, sein Brief! Was hatte sie doch eben ge-
wollt? Ach ja, ihn zerreißen! Sie trug ihn ja auf der Brust
Rasch, die Jacke aufknöpfen! — 0, wenn sie aber nicht einmal das mehr
konnte, wenn man dann seinen Brief fand! .... Es war gewiß ein
Neruenfieber! Die letzten Tage waren zu furchtbar gewesen, sie hatte sich
übermenschlich zusammennehmen müssen, und die Wochen vorher
'Natürlich, Alles kann der Mensch nicht überwinden.
Wie laut die Wellen an's Ufer schlugen ~ die Futh stieg — sie
kann nicht vorwärts — o, sie war nicht zu retten! .... Sie schrie laut
auf und sah sich dann verwundert um Ach, es war ja nur ein
Traum, sie hatte geträumt — Aber der Brief? Hatte sie ihn wirklich
noch nicht herausgeholt und zerrissen? ....
Wie sie zitterte! — Und die großen .Knüpfe wollten ihren Fingern
nicht gehorchen — Baby hatte vor der Abreise mit diesen Knöpfen
gespielt
Sie ließ die Hand sinken. — Wieder schaukelten die Wellen sie, das
Brausen war fast unerträglich. ... 0, sie mußte sich retten! ....
Hastig stand sie auf, fiel aber gegen das Fenster, das klirrend zer-
brach. ... Die Erschütterung that ihrem Kopfe so wohl! .... Wie gut
war die Nachtluft; sie hatte ja längst das Fenster aufmachen wollen, um den
Brief hinauszuwerfen Wohin er wohl fliegen würde? ... Die
Krone darauf, die mußte vor Allem zerrissen werden Aber das
war ja gar nicht der Brief, das war die Hotelrechnung aus der Paletot-
tasche, die sie zerfetzt uud fortgeworfen hatte! ... Ob die Wellen da
draußen, die so schwarz gegen sie anstürmten, die Schriftzüge auch ganz
abwaschen würden? So, daß kein menschliches Auge seine Liebesworte
mehr entziffern konnte? 0, das Papier wollte sich nicht zerreißen
lassen! Sie riß, daß ihr der Schweiß auf die Stirn trat
Mein Gott, sie war wohl schon irrsinnig, das war ja der Vorhang, an
dessen Franzen sie zerrte, und sein, Brief ruhte immer noch auf ihrer
Brust! .... Warum war sie auch so thöricht gewesen, ihn dorthin zu
stecken! ....
3I°II> und S»K. I.XXV. 225. 25
272 Mite «remnitz in Vukatest.
Was war das? . . . Jemand huschte an ihr vorbei — ein Geist
War es der Geist der Liebe, der nicht dulden wollte, daß sie seine Worte
profanirte? . . .
Sie flüchtete sich in die äußerste Ecke des Coupes; ihr war immer,
als dränge eine schreckliche Gestalt durch das zerschlagene Fenster hinein
Wie merkwürdig, daß sie beim Einsteigen nicht bemerkt, daß es zerbrochen
war! .... Wo war sie denn eigentlich in diesen Zug gestiegen? ....
Und war sie auf der Hinreise oder auf der Rückreise? .... Wie gut, daß
sie in München keinen Bekannten auf dem Bahnhofe getroffen! Sie hatte
doch Glück gehabt, großes Glück, und nun war sie ja gleich zu Hause. . .
Wie viel Stunden noch? ....
Sie hob den Arm, um auf die Uhr zu fchauen, die sie an der Kette
um das. Handgelenk trug. 0, wie sie fror. — Sie fror furchtbar — ihr
Kleid und ihre Jacke waren ja auch offen Ach, und in der Hand hielt
sie immer noch seinen Brief! Sie nahm ihn zwischen die Zähne
— sie mußte ihn zerreißen! . . . Aber was war denn das? ... .
Sie schrie furchtbar auf und stürzte an das zerbrochene Fenster. Sie
schrie, als sollte sie das Getöse des brausenden Zuges überschreien —
Hülfe! . . . Hülfe! . . .
Man wollte sie ermorden — zwei Männer, große, schwarze, maskirte
Männer standen vor ihr! ... . Sie suchte die Thür zu öffnen, um ihnen
zu entfliehen. — Es gelang ihr auch, die Klinke zu erfassen und die Thür
aufzustoßen, aber es hielt sie Etwas fest, wie eine Eisenklammer hatte es
sich um ihre Taille gelegt
Als Doctor Braun um neun Uhr Morgens seine Frühvisite im Kranken-
Hause zu Kempten machte, berichtete ihm die Barmherzige Schwester, daß
vor einigen Stunden von der Vahnverwaltung eine Dame eingeliefert
werden sei, die im Nachtzuge einen Anfall von Tobsucht gehabt habe
nnd jetzt noch ganz bewußtlos sei; sie habe hohes Fieber, das Thermometer
zeige 40", und nur mit Mühe sei sie ini Bett zu halten. Gleich bei ihrem
Einsteigen in München habe der Schaffner bemerkt, daß sie sich mit den
Händen den Kopf gehalten und vor sich hingesprochen habe; während der
Fahrt, so oft er durch's Fenster geblickt, habe sie unaufhörlich ihren Platz
gewechselt, sei aufgesprungen und habe Ühre Kleidung auf- und zugeknöpft;
schließlich, als sie die Scheibe zerbrochen, habe er dem Zugführer Meldung
gemacht. Ihr Villet I. Klasse habe München^Lindau gelautet, die Reise-
tasche hier sei ihr einziges Gepäck; ihrem Aussehen nach gehöre sie den
besten Ständen an. . . .
„Die Dame scheint Sie ja ausnehmend zu interessiren, Schlvener
Anna," unterbrach der Arzt sie lächelnd, „daß Sie alle Details so gut
behalten haben. Wir wollen sie uns erst einmal ansehen . . ."
" Sein Vlief. 273
„Aber Herr Doctor, es schneit uns doch nicht jeden Tag eine schöne
Namenlose so in der Morgenfrühe ans die Station!" entgegnete sie scherzend.
Doctor Braun mar der ausgesprochene Liebling der Nannherzigen
Schwestern; sie bewunderten sein joviales, rundes Gesicht als den höchsten
Ausdruck männlicher Weisheit und Güte, obgleich er kaum dreißig Jahre
zählte, und die Schwestern selbst dieses Alter sämmtlich schon überschritten»
hatten.
„Also schön ist sie auch, die Namenlose?" fragte der Arzt und trat
in das sogenannte Ertrazimmer, wohin die Kranke gebracht worden war.
Hell fiel das Tageslicht auf das schmale Nett, in dem die Neu-
angekommene mit geschlossenen Augen ruhte. Ihr auffallend langes, dunkles
Haar lag in einer dicken Flechte ihr im Arm, ihr Antlitz war fiebergeröthet,
und die trocknen Lippen ihres Mundes geöffnet, fo daß die kleinen, dicht-
gereihten Zähne sichtbar waren; ihre feinen schwarzen Augenbrauen hatten
sich wie im Schmerz zusammengezogen, und zuckend beschatteten die langen
dunklen Wimpern ihre Wangen.
„Sie ist verheirathet," flüsterte die Schwester und wies auf die rechte
Hand, die auf der carrirten Wolldecke lag und neben einem Nrillantring
den breiten Ehering zeigte; die Fingerwaren kindlich schmal und schienen
fast durchsichtig. „Vielleicht steht der Name ihres Mannes im Ringe, und
wir finden so am schnellsten die Spur . . ."
„Ja, aber die Hauptsache ist, daß wir sie am Leben erhalten," ant-
wortete der Arzt. „In der ersten Typhuswoche, denn die erste muß es fein,
solche Temperaturhühe!"
Die Kranke richtete sich plötzlich auf und fah den fremden Mann mit
starren, entsetzten Augen an. „Hülfe!" schrie sie, „Hülfe!" und versuchte
aus dem Nette zu springen. Er legte sie mit sanfter Nestimmtheit in die
Kissen zurück. „Sie müssen ganz ruhig liegen bleiben," sagte er laut und
sah sie fest an — wie Schwester Anna dachte, „mit seinem magnetischen
Nlick."
„Aber ich muß nach Hause!" stöhnte sie und stieß wirre Worte aus:
von den Wellen, von dem furchtbaren Raufchen — dann wurden ihre Laute
unverständlich.
Doctor Nrcmn sah sie eine Weile nachdenklich an; es war so schwer zu
entscheiden, ob hier eine Gehirnentzündung, oder, wie die Schwester meinte,
Typhus vorlag. Und dann die nächste Frage: Wer war sie? Wie kam
diese schöne, vornehme Frau dazu, so ohne Begleitung, ohne Dienerschaft
zu reisen? Wie konnte man schnell, ehe es zu spät war, ihre Identität
feststellen und die Ihrigen benachrichtigen?
Er traf derweil feine medicinischen Verordnungen: Eis und ein Nad,
ehe er die übrigen Kranken seiner Station besuchte, uud als er sich dann
auf seine Priuatpraris begab, schärfte er noch einmal der Schwester
Anna, auf deren Beobachtungsgabe er sich verlassen konnte, ein, daß etz
25«
3?H Mite «remnitz in Vukarest.
von größter Wichtigkeit sei, sobald als möglich Namen und Wohnort der
Fremden festzustellen! sie möge deshalb die Reisetasche auf's Genaueste
untersuchen und auch auf der Innenseite des Trauringes nachsehen, wenn
sie ihn ohne Beunruhigung der Kranken abziehen könnte.
Erst nach Verlauf mehrerer Stunden kehrte Dr. Braun in's Hospital
zurück. Er mar unterdeß beim Chef des Bahnhofes gewesen, um sich
persönlich nach der Unbekannten zu erkundigen, und hatte auf eigene Kosten
die Polizeibehörden in München und Lindau telegraphisch von dem Vorfall
benachrichtigt. Daß eine Auskunft selbst im günstigsten Falle nicht schnell
zu erhoffen stand, wußte er.
Schwester Anna berichtete ihm, daß sie keinen Hinweis auf Namen
und Heimat der Erkrankten gefunden hatte; im Ninge, den sie ihr leicht
abgestreift, stand nur „Walter" eingravirt, und das zierliche Elfenbein-
portemonnaie enthielt lediglich Geld, 16 Napoleons, foviel wie hineinging,
wahrend sich in der Reisetasche außer einem eleganten Portefeuille mir
mehreren Hundertguldenfcheinen und außer einer kleinen stahlmafchigen Börse
mit österreichischem und deutschein Silbergeide nur etwas Seidenwäsche
befand, von derselben Art, wie die Reisende sie trug. Alles von zarter
Farbe, mit echten Spitzen besetzt und mit einen: großen, verschlungenen E
gezeichnet; die Reisetasche war zu Paris im Louvre getauft.
„Es ist zum Verzweifeln!" seufzte Schwester Anna. „Wenn man sick
vorstellt, daß die nächsten Anverwandten in Todesängsten harren und
vielleicht eine Welt in Bewegung setzen möchten, um die Verlorene zu finden!"
Sie schlug dem Arzte vor, die Kranke in ihren Fieberphantasien ein-
mal nach ihrem Namen zu fragen; sie felbst habe es ohne Erfolg gethan,
aber ihm, dessen Stimme fo viel über Patienten vermöge, werde es
gewiß gelingen.
Doctor Braun trat in das kahle Zimmer, an das Bett der schönen Un-
bekannten, deren Züge seit der Frühe noch feiner und verklärter geworden
zu fein schienen; ruhig ließ er sich neben ihrem Lnger nieder und beob-
achtete sie. Die Kranke schluchzte in ihren Delirien herzzerreißend auf, und
als der Ar.~t ihre schmale Hand ergriff und streichelte, wandte sie sich ihm
zu und flüsterte: „Mein Jung?"
„Wie heißt Du?" fragte er.
„Ja, wie heißt Du?" wiederholte sie fast schelmisch. „Wie heißt Dil
eigentlich, mein Lieb? Fred oder Friedfred oder Fritz? — Du heißt Mein
Jung . . ." Dabei lächelte sie süß und schien beruhigter.'
Doctor Braun sah ein, daß es ein Fehler gewesen war, sie mit Du
anzureden, denn einem Freunde, der Einen dutzt, braucht man ja seinen
Namen nicht zu sagen; aber auch sonst mochte diese Frau wohl kaum in
die Lage gekommen sein, selbst ihren Namen zu nennen. — Um ihr bei-
zukommen, muhte er sich erst tiefer in ihre Verhältnisse uerfetzcn können,
und für den Augenblick nahm er Abstand, weiter in sie zu dringen. Viel-
Sein Vrief, 275
leicht träumte sie gerade von ihrem Kinde; Schwester Anna hatte ja be-
richtet, daß sie ängstlich nach „Baby" gerufen habe. — „Ich glaube, sie
ist keine Deutsche," war der letzte Schluß der beobachtenden Schwester
gewesen, und damit stimmte die eigene Muthmaßung des Arztes überein,
denn die Kranke schien ihm in ihrer Aussprache etwas Fremdländisches zu
haben, so geläufig ihr augenscheinlich das Deutsche auch war. Bestätigte
sich aber diese Muthmaßung, dann ward es erst recht hoffnungslos, schnell
ihre Angehörigen aufzufinden. — Wie furchtbar tragisch, wenn dieses
wunderschöne junge Wesen hier sterben und begraben werden mußte, ehe
die Liebsten und Nächsten von ihrer Gefahr auch nur unterrichtet werden
konnten! Aber was war zu thun? Selbst mit den größten Mitteln —
uud die befaß er nicht und hätte sie auch kaum auf eine Fremde verwenden
dürfen — ließ sich hier schwer Etwas erreichen! Die Schwestern hatten
vorhin gemeint, daß die Steine, welche an den kleinen Ohren der Kranken
blitzten, viele Tausende werth seien. Gesetzt, daß er diese Steine nahm
und sogleich durch seinen Assistenten, den er nach München sendete, ver-
kaufen ließ, konnte er dann nicht mit dem Erlös Himmel und Hölle, d. h.
die geheime Polizei in Bewegung fetzen, um die Spuren der Kranken zu
verfolgen? Wäre das nicht werkthätige Menschenliebe? Seine Pflicht war
es nicht, aber nun es ihm eingefallen, war es beinahe schon Pflicht, es
auszuführen! Das war etwas Romanhaftes; bisher aber hatte er noch
nichts Außergewöhnliches erlebt, erst durch diese Kranke ward es in sein
Leben hineingetragen! — Außerdem, in vierundzwanzig Stunden, wenn
er nicht sofort handelte, konnte es zu spät sein.
Die Antwortdepesche aus Lindau hatte gelautet, daß scheinbar Niemand
dort eine Dame erwartet oder vermißt habe. — Er dachte noch einmal
daran, ihr die großen Brillanten sachte aus dem Ohrläppchen zu lösen, allein
er war nicht dazu im Stande, ihn schauderte, es trieb ihm das Wort Leichen«
raub in's Gedächtniß. — Doch das war falsche Sentimentalität! Würde
sie selbst nicht, wenn bei Bewußtsein, Alles hingegeben haben, um sich
Hülfe und Erlösung aus diesem gefängnißähnlichen Hospital zu verschaffen?
Und es mußte schnell Etwas geschehen, denn das Fieber stieg, und
in ihrem Gehirn war absolute Nacht. Das Bad war ohne Einfluß auf
die Körpertemperatur geblieben, den Eisbeutel stieß sie oft von ihrem
Kopfe fort, hatte alfo keine Linderung davon. Aber geschehen muhte
Etwas!
Er saß nun schon eine Viertelstunde da, ohne den Blick von ihr zu
wenden, obgleich es ihm wie eine Indiscretion vorkam, sie anzuschauen,
und er aus Zartgefühl die Thür zum Nebenzimmer, wo zwei der Schwestern
saßen, offen gelassen hatte.
Mit seinen lautlosen kleinen Schritten trat er an das Thermometer
— zwölf Grad Maumur, also die richtige Zimmerwärme; auch die Ventila-
tion war gut. ~ Wie konnte nur diefe Treibhauspflanze von Frau so
376 Mite Aremnitz in Vutaiest.
allein durch die Welt reisen! Welche Lebensumstände mochten sie dazu ge-
trieben haben?
Er ging zu den Schwestern und brachte seinen Vorschlag mit den
Brillanten an. Schwester Anna remonstrirte energisch: „Thun Sie das
nicht, HerrToctor, es könnte Ihnen Unannehmlichkeiten verursachen" —
sie sah die ganze Welt nur unter dem Gesichtspunkte der Annehmlichkeiten
oder Unannehmlichkeiten für ihren Toctor an — ; „ich rathe Ihnen
dringend. Alles, was die Kranke an und bei sich hatte, unversehrt aufzu-
bewahren! Höchstens könnten wir ihr etwas Wäsche kaufen, deren sie
morgen bedürfen wird; die Rechnung bleibt uns dann als Beleg . . ."
„Ob sie morgen überhaupt noch Etwas bedarf?" warf er ein.
Schwester Anna hatte eine Regung von Eifersucht.
„Wenu sie auch schön und fremd ist, so wollen wir doch nicht gleich
das Außergewöhnliche annehmen . . ."
„Ich komme sofort nach dem Essen wieder," sagte Doctor Braun und
brach das Gespräch ab. Doch der Gegenstand desselben hörte nicht auf,
ihn zu beschäftigen; in seiner Privatwohnung setzte er ein langes Telegramm
an die „Münchener Allgemeine" auf, worin alle Zeitungen dringend ersucht
wurden, den räthselhaften Porfall möglichst zu verbreiten.
„Es ist nicht angenehm, wie ein verlorenes Stück Vieh ausgeschrien
zu werden, aber nur durch die größte Oeffenllichkeit kann ich auf Erfolg
rechnen. Und die Verantwortung ist mir schrecklich!" dachte er bei sich,
als er in die „Goldene Traube" zu seinem Mittagstische ging.
Wie immer, ward er mit Jubel empfangen; zwar gab man ihm
einige Spitzen wegen seines Ausbleibens beim Frühschoppen zu hören,
allein dem „Pfiffikus" wurde felbst dieses Delict verziehen. — Der Mittags-
tisch bestand aus zehn Herren, fast zur Hälfte Norddeutschen. Es pflegte
höchst fidel herzugehen in dem kleinen Kreise, dessen Mittelpunkt unbestritten
Kurt Braun bildete; die Witze waren nicht immer ganz neu, und es war
hauptsächlich die Frau Wirchin, die immer wieder herhalten mui'te, aber
der Schabernack, der mit ihr getrieben wurde, war stets so gutmüthig und
harmlos, daß ihr selbst was gefehlt haben würde, wenn Toctor Braun sie
einmal nicht hätte rufen lassen, um sich über irgend eine neue vorgeschützte
Unbill zu beklagen.
Toctor Braun war erst seit zwei Jahren in Kempten; trotzdem
konnte sich jetzt keiner seiner Bekannten mehr vorstellen, daß das Leben
dort früher was Rechtes gewesen sei, so beliebt hatte seine unverwüstliche
gute Laune ihn gemacht.
Auch heute war er unverändert gesprächig und gut aufgelegt.
Ein Charakterzug von ihm, den freilich nur Wenige kannten, war, daß
er höchst discret, ja, mehr als das, versteckt und verschlossen war; die
meisten seiner Bekannten hätten im Gegentheil darauf gefchworen, daß
Kurt Braun fein Herz auf den Lippen trüge, denn feine joviale Art, sein
5ein »rief. 27?
stets bereiter Humor verleiteten zu der Ansicht, daß er Jedermann in sein
Vertrauen zog. In Wirklichkeit aber war er ein Meister der Kunst, die
eigene Meinung zu verhehlen und jeder fremden ein gewisses Maß Beifall
zu zollen, fodaß am Schluß der Debatte über irgend eine Streitfrage Nie-
mand hätte angeben können, welcher Ansicht eigentlich Doctor Braun ge-
wesen sei.
Auch heute merkte keiner seiner Tischgenossen ihm an, was sein
Inneres bewegte, und in wie großer Spannung seine ganze Natur sich
befand.
Als er gegen drei Uhr wieder in fein Krankenhaus kam, empfing ihn
Schwester Anna mit ernster Miene: „Ich glaube, es geht wirklich zu
Ende
„Um Gotteswillen!" murmelte er, und ihm ward plötzlich ganz übel.
Er fühlte, daß er mit dem Gedanken eines schlimmen Ausganges bisher
doch nur gespielt, und daß seine Seele die Hoffnung, die Unbekannte
werde der Krankheit widerstehen, hartnäckig festgehalten hatte. Warum
eigentlich hatte er den städtischen Behörden noch keine Anzeige gemacht,
warum sich darauf verlassen, daß die Bahnverwaltung es gethan? Ach,
all dieser Formelkram, was kümmerte ihn der, wenn sie wirklich sterben
sollte! ....
„Wir müssen sogleich noch ein Bad geben," bestimmte er. Diesmal
assistirte er dem Bade, weil die Kranke Widerstand leistete, nnd er die
Schwestern unterstützen mußte — die zarte, mädchenhafte Gestalt hatte un-
geahnte Kräfte!
Gott sei Dank, eine Stunde später war die Temperatur um einige
Decimalstriche tiefer, als vor dem Bade, es fchien also genützt zu haben.
Doctor Braun verließ das Zimmer der Unbekannten nur, um seine
Runde durch die Krankensäle zu machen. Sobald er dann von Neuem seinen
Platz am Bette der rätselhaften Patientin einnahm, flüsterten die Schwestern
einander zu: „Er glaubt auch, daß es heute noch zu Ende geht; sonst
würde er nicht schon wieder da sein!" 0
Ihn hatte ein merkwürdiges Mitleid gefangen genommen; nicht die
Schönheit uud die Verlassenheit der jungen. Frau, sondern etwas ganz Un-
erklärliches war es, was ihn zu ihr zog. Immer hatte er das Gefühl,
als könne er, nur er, ihr helfen, und doch fragte er sich umsonst, wie
und wodurch? — Schon vor sechs Uhr schienen sich alle Befürchtungen zu
bestätigen, das Fieber stieg wiederum, ihr Antlitz war nicht mehr geröthct,
sondern von krankhaften. Gelb entstellt, und in furchtbaren Aengsten richtete
sie sich ans, versuchte aus dem Bette zu springen und forderte „den Brief".
Der Arzt lauschte ihren Phantasien: immer wieder tauchte in ihnen der
278 Mite Kremnitz in Vukaiest.
Brief auf. Leise erhob Doctor Braun sich, faltete im Nebenzimmer ein
Stück Papier zusammen, und als sie wieder, sich anpackend, als suchte sie
ihn an sich, „der Brief!" rief, da drückte er ihr das Papier in die Hand.
Sie ergriff es krampfhaft, zerriß es, warf die Stücke neben dem Bette
nieder und fank dann, überwältigt von der Anstrengung, auf das Kissen
zurück. Allein nach einer Weile erschien abermals der Brief in ihren un-
zusammenhängenden Reden — der Brief, das Fenster, die Eisenbahn.
Doctor Braun lauschte. War ihr ein Brief aus dem Coupüfenster
entflogen? Hatte sie darum die Scheibe zerbrochen? Und standen in jenem
Briefe Aufklärungen über sie? — Augenscheinlich hatte sie selbst schon
während der Fahrt empfunden, daß ihr Bewußtsein schwand, und mit der
ausbrechenden Krankheit gerungen. Ihni schien es plötzlich eine Gewißheit,
daß sie in der Angst, Hülflos unterwegs liegen zu bleiben, einen Brief mit
ihreni Namen und ihrer Ndresse geschrieben, und daß der Zugführer, als
er die vermeintliche Absicht der Kranken, sich aus dem Wagen zu stürzen,
vereitelte, sie lediglich verhindert hatte, den wegflatternden Brief ivieder zu
erhaschen.
Jetzt machte der Anbruch der Dunkelheit die Verfolgung dieser Idee,
dieser kaum wahrnehmbaren Spur unmöglich, aber am nächsten Morgen
wollte Doctor Braun sein Möglichstes thun, um das Näthsel zu lösen!
Ihm war ein Plan gekommen, plötzlich wie eine Erleuchtung. Den
Brief mußte und wollte er wiederschaffen! Fortwährend sah er jene Scene
vor sich: Die kranke arme Frau, die angeblich Irre, im Kampf mit den
unwissenden, wenn auch wohlmeinenden Nahnbeamten, welche die Ver-
zweiflung des unterliegenden zarten Weibes für Tobsucht nahmen! ....
Von seiner tiefgehenden Erregung war ihn« äußerlich aber Nichts an-
zumerken.
„Schwester Anna," sagte er beim Fortgehen aus dem Hospital,
„«lachen Sie mir heute Abend ein Glas Ihres herrlichen Thees — so
wie I hrer schmeckt kein anderer. Ich werde gegen elf Uhr wiederkommen
und die Nacht hierbleiben und wachen, damit Sie es nicht thun. Keinen
Widerspruch! Uns Beiden ist das arme Wesen nun doch mal an's Herz
gewachsen, und wir möchten doch nicht morgen früh mit der Nachricht
aufgeweckt werden, daß Alles vorbei? Ich aber bin von uns der
Kräfttgere!"
„Wollen wir sie versehen lassen?" fragte ihn die Schwester.
„Ich dächte eigentlich nicht, aber wie Sie meinen . . . ." ant-
wortete er und ging; die Entscheidung dieser Frage überließ er lieber den
Schwestern.
Ehe er sich zum Abendimbiß in die „Traube" begab, durchflog er in
seiner Wohnung noch rasch die Zeitung; es war zwar höchst unwahr-
scheinlich, daß er darin einen Fingerzeig entdecken würde, aber seine
Phantasie war nun einmal wach, und er studirte die Rubrik „Locales",
Sein Vtief. 37Y
ja, selbst die „Hofnachrichten" aus München mit der größten Genauigkeit —
freilich ohne Etwas zu finden. Mechanisch wanderten dann seine Augen
noch über die nächste Spalte: Hochzeitsfeier einer Erzherzogin in Wien
mit irgend einem Prinzen aus regierendem Hause, Doctor Braun gehörte
nicht zu den Lesern des Gothaischen Kalenders; so interessirten ihn auch
nicht die Auseinandersetzungen des Wiener Correspondenten über Genealogie
und Verwandtschaftsverhältnisse des fürstlichen Bräutigams, der durch den
Tod zweier Neffen — Diphtheritis — plötzlich zum präsumtiven Thron-
erben geworden und damit in die Notwendigkeit versetzt war, sich nach
einer Gemahlin umzusehen.
In rascherem Tempo weiterlesend, fand Doctor Braun die üblichen
biographischen Notizen über das hohe Brautpaar: Prinz Friedrich stand im
Beginn der Vierziger, hatte bisher für einen Weiberfeind gegolten und
nur seiner Wissenschaft gelebt-, niit einem Schlage war er dann von heißer
Liebe erfaßt zu der jugendlich liebreizenden Erzherzogin, die gleichfalls eine
warme Herzensneigung für den geistreichen Mann empfand, der alle, ihre
künstlerischen Interessen theilte. — Große Sympathie des Publicums mit
diesem Ehebunde -~ Anekdoten über des Prinzen Gelehrtenleben in Paris
— sein nom äs pluiuL „Irisät'lsä", sein Rufname im engsten Familien-
kreise „Fred" u. s. w.
„Also wissenschaftliche Prinzen giebt's auch!" lächelte Doctor Braun
vor sich hin. „Hat über Würmer und Fische geschrieben — ein gelehrtes
Haus! .... Wird aber Alles so wahr sein wie das Meiste, was über
hohe Herrschasten gedruckt wird Donnerwetter! Wo Hab' ich aber
diesen dummen Namen Fried-Fred kürzlich gelesen? . . . ."
Er entsann sich dessen nicht; eilig durchmusterte er noch den Bericht
über eine polizeilich geschlossene Socialisten - Versammlung sowie „neue
Variante der letzten Kanzlerkrise", legte dann in seiner peinlich ordentlichen
Weise das Blatt zusammen und stand auf, um zu Bier zu gehen.
„Herrjeh!" entfuhr es ihm auf der Treppe. „Ich bin wohl rein
toll? Aber die Kranke sprach ja von Fried-Fred! — Gelesen habe ich es
nicht, sie sprach ja von ihm, wahrhaftig! Was kann das sein,
ein Zufall? Kam sie etwa aus Wien? Jetzt heißt es aber Vor-
sicht! — Doch nein, sie trägt ja einen Ehering, es wird ein zufälliger
Gleichklang fein. Ich habe den Kopf voll von ihr und beziehe Alles auf
sie! ..."
Die Neuigkeit von der im Nachtzuge irrsinnig gewordenen Dame, die
im Krankenheus liegen sollte, hatte in vielfachen Varianten die Stadt durch-
flogen, und als Doctor Braun zum Abendessen das Gastzimmer der „Goldenen
Traube" betrat, faßte ihn sogleich die Wirthin ab und bestürmte ihn mit
Fragen. Er aber hatte von keiner Irrsinnigen Etwas gesehen oder gehört.
380 Mite Uiemnitz in Vukarest. .
Auch am Stammtische sprach man nur über die Dan,«, bis „Pfiffikus"
sich dazu setzte und sagte: „Kinder, ich bitte mir ein ander Gespräch aus.
Entweder laßt Ihr die Klatscherei, oder ich verzichte auf Eure angenehme
Gesellschaft — mir wächst die Sache zum Halse heraus! . . ."
Als er seinen Ueberzieher an das Hirschgeweih gehängt hatte, war ihm
Etwas eingefallen: Auf der Innenseite des Rocktragens stand ja Nam.'
und Adresse seines Münchener Schneiders -~ sollte nicht auch an einem d«.r
Kleidungsstücke der Dame etwas Aehuliches zu finden sein? . . . Wirklick,
er mußte sich einen Vorwand ersinnen, um gleich — ach nein, die Post
war doch schon geschlossen, das hatte also Zeit bis elf, und vor der an-
gesagten Stunde wollte er nicht wieder zu der lieblichen Frau . . .
Nie war ihm der Skat -~ denn dieses norddeutsche Spiel hatte er
sofort hier eingebürgert — fo öde erschienen; nie waren ihm die Stunden
in der „Goldenen Traube" so langsam verstrichen! Punkt elf Uhr trat
er in das Krankenhaus; er war sehr schnell gegangen, denn ihm schnürte
die Angst, das; etwas Unvorhergesehenes vorgefallen fein möchte, die Kehle
zu. Schwester Anna meldete jedoch, daß Alles unverändert sei; die Kranke
inerte nicht, wer in ihrem Zimmer aus- uud eingehe, spreche oft halblaut
abgerissene Sätze ohne Sinn und werfe sich unruhig herum.
„Schwester Anna, wir müssen fehen, ob nicht au J acke oder Kleid der
Dame die Adresse ihres Schneiders ist!"
„Wozu?"
„Das werde ich Ihnen gleich sagen."
Die Schwester fand in der That auf den« Taillenbande des Kleides
eine Wiener Firma angegeben, mit Straße und Nummer.
„Gut," rief der Arzt befriedigt aus. „Jetzt trennen Sie hier unten
das Futter ab, so" — er zog selbst sein Taschenmesser — „Nur recht
vorsichtig, damit wir Nichts verderben! — Dachte ich's mir doch, es ist
ein breiter Einschlag; nun eine Scheere, und wir haben ein schönes, großes
Stück Zeug als Muster!"
„Sie sind ein Genie!" sagte Schwester Anna bewundernd.
„Nicht wahr?" fuhr er lächelnd fort. „Jetzt nähen Sie es gleich
wieder zu — passende Seide finden Sie schon in Ihrem berühmten Zopf
— und ich fchreibe unterdeß an die Firma — nein, es ist besser, Sie
thun es — recht höflich — wir erbitten umgehend Nachricht, ob aus den
Geschäftsbüchern nachzuweisen, wer in dieser Saison — denn aus dieser
Saison stammt das Kleid doch?"
Anna zuckte die Achseln.
„Also, wer in dieser Saison eine Reisetoilette aus inliegendem Seiden-
stoffe sich bei der geschätzten Firma habe anfertigen lassen? Fügen Sic
hinzu, daß es sich um Leben oder Tod handelt! ... So, und nun Ihren
ganzen Namen, nicht nur Schwester Anna, auch die Baronin Birkenfeld —
das zieht in Wien; jetzt den Stempel des Hospitals, und recommandirt
Sein Vrief, 36"
— so! . . . Leider geht der Vrief erst morgen ab. Nun, wir wollen hoffen,
daß er uns die gewünschte Auskunft bringt, und — daß wir den Namen
für die Lebende, nicht für das Grabkreuz gebrauchen werden."
Der qualvolle Zustand der schwerkranken jungen Frau dauerte unge-
lindert an; sie sprach oft leise vor sich hin, "versuchte unruhig sich aufzu-
richten, starrte in halbem Bewußtsein um sich und versank dann auf einige
Minuten in Schlaf, um plötzlich aufschreiend und laut stöhnend in die Höhe
zu fahren. Zuweilen kam auch der Vrief wieder in ihren Phantasien vor
und brachte den Arzt auf seinen Plan zurück, die Strecke darnach abzusuchen.
„Lange hält diese zarte Constitution das nicht aus," dachte er besorgt; aber
immer war ihm, als ob eine innere Stimme ihm sagte, daß sie nicht so
bewußtlos sterben könnte und dürste, daß sie berufen sein würde, ihm noch
einen Wendepunkt im Leben zu bedeuten. Und doch, wie oft hatte eine
solche innere Stimme ihn nicht schon getäuscht! — Der Mensch hofft eben
bis über die Grenzen der Möglichkeit! —
Am nächsten Morgen hatte die Temperatur der Kranken sich etwas
gebessert, man hatte ihr auch ein wenig Nahrung einflößen können, allein
das Bewußtsein hatte sich noch nicht wiedereingestellt. Dr. Vraun neigte
sich mehr als je der Ansicht zu, daß eine Gehirnaffection vorliege. Aber
noch lebte sie, und noch hoffte er! —
Nachmittags machte er sich an die Ausführung seines Planes, in den
er Niemanden eingeweiht hatte; nur beiläufig erkundigte er sich auf dem Bahn-
hofe, als er eine Fahrkarte 1. Klasse nach Vetzigau löste, ob dieselben
Waggons, die in der vorgestrigen Nacht die Strecke gemacht, hente wieder
zurückkehrten; genanen Bescheid erhielt er nicht, nur, daß es wahrscheinlich
sei, da die Wagen bisher noch nicht zurückgelaufen seien.
Der herbstlich leere Personenzug führte blos ein einziges Coupö
1. Klasse; Schaffner und Zugführer waren, wie Doctor Vraun durch Be-
fragen constatirte, leider nicht dieselben, welche die vermeintliche Irre ein-
geliefert hatten. Trotzdem war er nicht entmuthigt, denn er sah gleich beim
Einsteigen, daß die Gardine des Eonpüfensters an verschiedenen Stellen
ein-, und die Franzen abgerissen waren; das bestärkte in ihm die Annahme,
daß er sich wirklich in dem gesuchten Coup5 befinde. Sofort nach der
Abfahrt begann er seine Nachforschungen; er rechnete dabei auf die nach-
lässige Weise, in der meist die Waggons gereinigt werden, und holte ein
Kissen noch dem anderen heraus, grub seine Hand tief in die Polsterungs-
einschnitte: Nichts! — dann legte er sich auf den Boden: auch Nichts! —
Doch — dort, hinter den Heizungsrühren, wahrhaftig, ein zufammengeknittertes
Papier! ... Ihm war zu Muthe, als sei es unmöglich, daß er solches
Glück hätte! Aber warum nicht, war es doch nur eine Wahrscheinlichkeits-
rechnung, welche stimmte!
Mit einiger Mühe holte er das Papier aus dem Winkel hervor,
wohin es beim Neinigen achtlos mit dem Besen geschoben sein mochte. Er
282 Mite Rremnih in Vukarest.
setzte sich hin, ehe er es glättete. Es war ein Eouvert ohne Adresse, aus
leichtem englischen Papier; geschlossen war es nie gewesen, hatte also wohl
ursprünglich in einer zweiten Umhüllung gesteckt. Langsam zog Kurt Braun
aus dem Eouvert einen kleinen Briefbogen, der gleich jenem eine Krone
trug und mit einer zierlichen, deutlichen Handschrift beschrieben war, ohne
Datum und Unterschrift; er lautete:
„Es ist wohl ein zu großes, zu unmenschliches Opfer, was ich Dir
zumuthe? Du selbst wirst entscheiden, und was Du auch thust, es soll
mir recht sein! Tag und Nacht verfolgt mich die quälende Sehnsucht,
Dir noch einmal in's Auge zu schauen. Deine weiche kleine Hand noch
einmal zu fassen. Umsonst sage ich mir, daß es ein Irrsinn ist. Dir die
Vtühsal einer so langen und beschwerlichen Fahrt aufzuerlegen, da wir
weder zusammen sterben noch leben dürfen. Die Sehnsucht wächst und
concentrirt sich auf dies Eine, das letzte Mal!
„Wenn Du allein, unter fremdem Namen — nenne Dich Thun nach
dem See, der uus einmal geschaukelt hat — am nächsten Donnerstag zu
Wien im 6r»nä llotsl abstiegest, so konnte ich Dich zwischen drei und
fünf Uhr Nachmittags aufsuchen. Die Nummer Deines Zimmers nmßtest
Du mir in einem Eouvert durch die Post gleich nach Deiner Ankunft zu-
senden, damit ich im Hotel nicht zu fragen brauchte. Dort kennt mich
Niemand, und auch Du wirst verschwinden in dem großen belebten Hütel.
Ich zähle die Stunden bis zu jenem Wiedersehen — was nachher folgt,
ist schwarze Nacht. Freilich keine so schwarze, daß nur nicht die Er-
innerung an die Frau, die mich zur Erkenntniß des Lebens und meiner
Pflichten gebracht hat, sternenhell darin leuchten wird! Eins bleibt mir
immer: unauslöschliche Dankbarkeit gegen Dich!"
Kurt Braun las es zweimal, und ihn, ward eiskalt. Die Ahnung
einer anderen Gefühlswelt als jener, in welcher er bisher gelebt hatte,
brachte ihm eine unheimliche Empfindung und lähmte ihm die Ueberlegung.
Erst als der Zug hielt, lind er ausstieg, um mit dem nächsten Zuge nach
Kempten zurückzufahren, wurde ihm klar, wie wenig er erreicht hatte von
dem, was er erhofft. Er legte sich die befremdenden Thatsachen zurecht:
Diese Frau war heimlich eine weite Strecke gereist, um 'einen Mann zu
sehen, mit dem sie „weder leben noch sterben" durfte, also augenscheinlich
nicht ihren legitimen Gatten! Sie hatte sich vorgesehen, daß sie nickt
erkannt würde; Nichts deutete auf ihren Stand und Namen hin; sie hatte
wahrscheinlich auch keine directe Route, sondern der Sicherheit wegen einen
Umweg gewählt. Zweifellos hatte sie furchtbare geistige und seelische Er-
regungen durchgemacht und eine Krankheit mit sich geschleppt, an der sie
zusammengebrochen war. — Auf der Hin- oder Rückreise? Das war
leicht zu entscheiden — Mckreise! ...
Was aber sollte, was konnte er nun für sie thun? Ihr selbst wäre
wohl nm besten, sie stürbe! Einen Augenblick war ihm sogar, als müsse er
Sein Vrief. 383
wünschen, daß sie stürbe. Doch nein, nur im Roman löst sich der Conflict
durch Tod zur rechten Zeit. Die Wirklichkeit aber zwingt den Menschen,
mühselig selbst seine Verwicklungen zu lösen, und läßt ihn erst dann sterben,
wenn ihm Alles gerade daran liegt, weiter zu leben!
Was konnte er für sie thun? ... Er ging eine Weile auf dem
Perron auf und ab. Er sagte sich, daß er wie ein Detectiv sich in die
Geheimnisse einer Fremden eingeschlichen hatte, und war es auch aus reinster
Menschenfreundlichkeit geschehen, so besserte das die Lage nicht. Diesen
Vrief, den er jetzt in der Vrusttasche' trug, durfte er nicht gelesen haben,
der durfte nicht mehr eristiren; aber ein Recht, ihn zu vernichten, traute
er sich auch nicht zu. Wer weiß, vielleicht konnte der Vrief ihr noch einmal
zur Rechtfertigung dienen? — Er selbst mußte ihr gegenüber stets thun,
als kannte er ihn nicht, und durste ihn ihr auch nur im Falle der Gefahr
wiedergeben! Ach Gott, das Alles war fo unheilvoll verknotet und ver-
schlungen, daß der Himmel am Ende ein Einsehen haben und sie abrufen
würde! Sie stürbe gewiß auch gern, nach dem furchtbaren Schmerz der
Trennung von dem Manne, den sie über Alles geliebt — oder mar es
vielleicht doch kein Mann? Konnte es nicht auch eine Frau sein, eine
überschwänglich geliebte Freundin? ....
Kurt Vraun zog den Vrief noch einmal hervor — Nein, wohl war
es nicht mit dürren Worten gesagt, aber es war ein Mann, es mußte
einer sein!
Ihm wurde die Stunde des Wartens nicht lang, bis der nächste Zug
nach Kempten in Nehigau einlief; der Kopf wirbelte ihm vor angstvollem,
fruchtlosem Ueberlegen.
Mit seltsam veränderten Gefühlen trat er wieder an das Lager der
Kranken. Er mußte sie immer wieder daraufhin ansehen, ob sie wohl sei,
was die Tugendhaften eine Sünderin nennen. Nicht, daß es für ihn, den
Arzt, in ihrem jetzigen Zustande den geringsten Unterschied gemacht hätte,
aber ihm schien die Frage doch auszuwerfen zu sein, ob die Seelenverfassung
des Menschen bei über 39" Körpertemperatur sick noch entscheiden lasse?
Eigentlich war doch Alles, was er an seiner Patientin beobachtete, nur
seine eigene Phantasie; sie lag da wie jedes schwerkranke Wesen aus Fleisch
und Vlut, nur anspruchsloser als die meisten Kranken; doch das konnte
auch an der Art ihrer Krankheit liegen. — Daß der Mann, von dem der
dünne Vriefbogen mit der Krone darauf stammte, jener Prinz Fred sein
mußte, über dessen Vermählung die „Münchener Allgemeine" berichtet hatte,
schien dein Arzte klar zu sein. Aber hier, wo es sich um Leben oder Tod
und um die verwickellsten menschlichen Seelenbeziehungen, um einen wirklichen
Schmerz handelte, hier hatten Stand und hohe Stellung aufgehört, für ihn
Nedeutung zu haben, obgleich sie es wahrscheinlich gewesen waren, die zwei
liebende Menschen getrennt hatten. — Nur eine Idee verscheuchte Kui-t
Vraun mit Unbehagen: daß diese vornehme schöne Frau eine Tänzerin oder
284 Mite «remnitz in Vukaiest.
Schauspielerin sei. Eine solche Vorstellung wollte er nicht aufkommen
lassen, nein, eher alles Andere! Und doch, holen Prinzen sich ihre Idole
nicht meist aus jenen Kreisen? Sollte der Ehering der Kranken etwa ein
falscher Schmuck sein, wie vielleicht auch die von den Schwestern so an-
gestaunten Brillanten in ihrem Ohre? ....
Drei bange Tage vergingen. Kurt Vraun hatte seinen Brieffund in
das Geheimfach seines Secretärs verschlossen und all sein Denken, all sein
Sorgen der Krankheit des unbekannten jungen Weibes gewidmet, die ihren
typischen Verlauf nahm. Es war immer noch nicht zu sagen, ob ihre
Constitution unterliegen oder widerstehen würde; die Stadt hatte sich über
die Sache längst ausgesprochen, sie war ihr zu langwierig.
Von den Schwestern treulich unterstützt, leistete Doctor Braun Unglaub-
liches, um der Wuth der Infection entgegen zu treten, und außerhalb des
Ertrazimmers ahnte man Nichts von seiner Hingabe und Aufopferung.
Seine kräftige Natur ließ keine Veränderung merken; seine frischen rothen
Wangen, die ihm ein fo appetitliches Aussehen gaben, behielten trotz der
Nachtwachen ihre Farbe und Nundung.
Endlich kam die Antwort des Wiener Geschäftshauses; sie wurde dem
Arzte während seiner Visits im Krankenhause eingehändigt. Er warf einen
kurzen Blick auf die Firma, die dem Couuirt aufgedruckt war, und steckte
den Brief in die Tasche. Erst nachdem er alle Kranken absolvirt hatte,
ging er in sein Zimmer, um ihn zu öffnen. Er that es ohne Hast, wie
ohne Hoffnungen.
Die Firma theilte ihm mit, daß sie aus dein beigelegten Stoffe vor
vier Wochen eine Neisetoilette für ihre langjährige Kundin, die Gemahlin
des dänischen Legationsrathes Baron «jersund, in Paris angefertigt und
ihr nach Thun, Villa Teresa, übersandt habe.
Also endlich! ... Ihm ward eigenthümlich zu Muthe: Da war nun
die Ausümst; er wußte nun, wohin er sich wenden sollte, aber er hatte sich
in diesen Tagen auch überlegt, daß er die Frcm, wenn sie verheirathet war,
hoffnungslos compromittiren würde, falls er ihrem Manne ihren gegen-
wärtigen Aufenthaltsort und damit ihre Neise nach Wien verriethe. —
Ja, wenn sie bei Besinnung wäre, dann hätte er mit ihr eine Fabel er-
sinnen können, und wenn sie gestorben wäre, würde die schwarze Nacht
Alles begraben haben, selbst in den Augen ihres Gatten. Aber vielleicht
sollte sie weiterleben; sie hatte Kinder — weltliche Rücksichten mußten also
eine Rolle in seinen Entschließungen spielen, und er wollte nur hoffen, daß
seine ersten übereilten Zeitungsaufrufe nicht schon Alles verdorben hatten!
Kein einziges Mal fragte er sich, welch' ungewöhnliches Interesse ihn
so scharfsinnig gemacht tmbe; auch nicht, woher er eine so starke Antipathie
Sein Vrief. 385
gegen den unbekannten Kjersund hegte. Zunächst ward er von der Aufgabe
in Anspruch genommen, zu constatiren, ob nicht etwa die Baronin Kjersund
munter und gesund in der Villa Teresa am Thunersee lebte. Leicht war
diese Aufgabe nicht für ihn. Er mußte es derweil vermeiden, den Namen
Kjersund hier bekannt zu machen, deshalb durfte er nicht telegraphiren.
Nein, er wußte nur den einen Ausweg: selbst nach Thun zu fahren und
Umfrage zu halten! ... Erfand rasch einen Vorwand, um sich einen
Tag Urlaub zu nehmen: Ein kranker Freund war auf der Durchreise in
Zürich und wollte ihn consultiren. — Aus dem Cursbuch erfuhr er, daß
er die Hin- und Rückfahrt in einem Tage nnd zwei Nächten würde machen
können.
Nachdem er sich Alles zurechtgelegt, beschloß er, auch Schwester Anna
Nichts zu sagen; er hatte es stets für das Weiseste befunden. Anderen so wenig
wie möglich mitzutheilen, das ersparte so viele Unannehmlichkeiten. Zudem
war ihm wohl bewußt, daß Schwester Anna ihn eifersüchtig überwachte und
es für ihr specielles Recht hielt, in seinem Vertrauen zu sein; hoffentlich
hatte sie nicht schon erfahren, daß er einen Brief aus Wien bekommen hatte?
Am Abend war alles Nöthige vorbereitet, und er fuhr mit dem Nacht-
zuge nach Lindau; von da über den See nach Zürich und weiter nach
Thun, wo er am nächsten Nachmittage ankam. Es mar düsteres Nebel-
und Regenwetter; man konnte sich in's Flachland versetzt wähnen, so dicht
verschleiert waren die Berge. Kurt Braun fragte auf dem Bahnhofe nach
der Villa Teresa und ward nach einein kleinen eleganten Gebäude dicht
am See gewiesen. Auf sein Klingeln trat ein Gärtnerbursche heraus,
der lange Zeit brauchte, ehe er die Frage des Fremden, ob Baronin
Kjersnnd hier wohne, dahin beantwortete, daß die Herrschaften wohl so
geheißen haben möchten; sie wären aber schon längst fort.
Kurt Braun forschte weiter, ob auch ein Herr, und ob Kinder da-
gewesen seien; der Bursche konnte jedoch nichts Anderes berichten, als daß
die Villa schon seit ein paar Wochen leer stehe. — Enttäuscht wandte der
Arzt sich in das nächste Hotel. Auch hier, wie auf der Post, brachte er
Nichts von Bedeutung in Erfahrung, nur, daß in der Tbat jene Villa
während des Sommers von einem Baron Kjersund nnd seiner Familie
bewohnt gewesen sei. Einzelheiten wußte Niemand anzugeben.
Doctor Braun mußte sich sagen, daß seine Thuner Reise ein Miß-
erfolg war. Wer bürgte ihm dafür, daß seine Kranke und diese Baronin
Kjersund von der Villa Teresa, an welche die Wiener Firma eine Toilette
geschickt hatte, eine und dieselbe Person waren? Gewiß gab es viele
. Damen, die in dieser Saison aus einem von der Mode gerade begünstigten
Stoffe sich Reisekleider hatten anfertigen lassen! — Der einzige Anhalts-
punkt, den er behielt, war, daß jener Brief von, Thunersee sprach, und
abzuweisen war die Möglichkeit nicht, daß seine Kranke, ehe sie die Reise
nach Wien antrat, die Villa Teresa bereits seit geraumer Zeit verlassen hatte.
336 Mite «lemnitz in Nukarest.
Mißmuthig kehrte Kurt Braun nach dem Bahnhof zurück; er mußte
sich beeilen, wenn er den Abendzug noch erreichen und am nächsten Vor-
mittag rechtzeitig in Kempten eintreffen wollte. Während der langen,
einsamen Fahrt floh ihn der Schlaf. Er war unzufrieden mit sich selbst
und schalt sich einen Narren. — Was in aller Welt hatte er sich für
fremde Leute den Kopf zu zerbrechen und Zeit und Geld wegzuwerfen! —
Sollte seine Patientin wirklich mit dem Leben davon kommen, so würde
sie ihm schon das Nöthigste selbst sagen; sollte sie aber sterben, — nun, so
würde es sie auch nicht retten, wenn er ihren Mann und ihre Familie
ihr zur Stelle schaffte! —
Gleich nach seiner Ankunft in Kempten galt sein erster Gang der
Kranken. Ein einziger Blick überzeugte ihn, daß die Krankheit auf ihrem
Höhepunkt angelangt fei, und das; sie, die einst so liebliche junge Frau,
jetzt traurig entstellt durch die Wuth des Leidens, wahrscheinlich im Laufe
dieser Woche sterben würde.
In der bebenden Angst, die diese drohende Aussicht in ihn« erweckte,
las er jenen Brief noch einmal und schrieb dann in aller Hast an die
Direktion des Grand Hotels in Wien. Sein Vorsatz von der vergangenen
Nacht, Nichts mehr zur Lösung des Mthsels zu thun und den Dingen
ihren Lauf zu lassen, war vollständig vergessen; er wunderte sich nur, daß
er uicht schon von Anfang an diefe Spur verfolgt hatte. Auch an die
Wiener Polizei faste er ein Schreiben ab, doch das schwere Bedenken, in
welche Lage er dadurch die junge Frau möglicher Weise bringen würde, hielt
ihn davon zurück, dieses Schreiben abzusenden. Wenn sie nun weiterleben
sollte? Ganz ausgeschlossen war das ja nicht! — Falls der Mann, der
sie am Nachmittage des 23. Septembers im Hotel aufgesucht hatte,
wirklich jener Prinz Fred gewesen war, dann besaß die geheime Polizei
natürlich Kenntniß davon und hatte sicher auch der Dame nachgeforscht. Die
Polizei war also nur in diesem Falle im Stande, ihm Auskunft zu geben,
aber zugleich compromittirte er dann die Frau hoffnungslos in den Augen
ihres Mannes! §D, daß er doch nur einige Tage in die Zukunft blicken
könnte, um zu wissen, ob sie dem Tode geweiht sei! ... Er mußte doch
wohl abwarten, bis er Antwort aus dem Hotel erhielte. . . . Aber bis
dahin, wie viele bange Stunden! Ja, würde denn das Hotel ihm über-
haupt antworten? Sicher war das keineswegs, und deshalb mufte er
doch seinen Brief an die Polizei abfenden! . . .
Nach langer, harter Ueberleguug führte er diesen Entschluß aus.
Eine Biertelstunde später ward er eilig in's Hospital gerufen; ein
Zettel von der Hand der Schwester Anna enthielt die Worte: „Um Gottes
Willen, kommen Sie sogleich!" —
Sein »rief. 38?
Was sollte er dort? Wenn der Tod schon eintrat, konnte auch er
nicht helfen! . . . Seltsam genug war es, daß bei dieser Kranken sogar
die sonst so gesetzte, überlegte Schwester Anna ihr Gleichmaß verlor. Gab
es wirklich Menschen, um die herum Jeder aus seiner eigenen Natur
heraus in das Außergewöhnliche getrieben wurde?
Kurt selbst war sich sehr wohl bemußt, daß auch er aus seinem Gleich-
maß gekommen war, doch das konnte auch physische Gründe haben, er hatte
ja seit mehr als acht Tagen keine Nacht ruhig geschlafen. Und dann die
ganze erdrückende Last dieser Verantwortung! —
Er war an: Krankenhause angelangt und eilte mit seinen kleinen
hämmernden Schritten die Treppe hinauf und in's Extrazimmer. — Vor
dem Bette der Kranken, sein Haupt auf ihrer Decke, lag ein hochgewachsener
Mann.
Kurt Braun blieb wie angewurzelt an der Thür stehen. Schwester
Anna flüsterte ihm zu: „Er ist fassungslos, wir haben ihn eben erst aus
der Ohnmacht erweckt — ich dachte, er gäbe den Geist auf! . . ."
Jetzt sprang der Fremde aus, ging dem Arzt entgegen, ergriff dessen
beide Hände und stammelte einige Worte, während die Thronen ihm über's
Gesicht rannen. Kurt Braun warf rasch einen Blick auf die Kranke —
hatte sie schon zu athmen aufgehört? Nein, es war Alles beim Alten,
aber wer war diefer Mann? Ihr Gatte konnte es doch nicht sein — war
es der Prinz? . . .
„Ist keine Hoffnung?" stieß der Fremde mühselig hervor. Kurt trat
an's Bett, zuckte die Achseln und sagte leise, als er dem angstvollen Blick
des ihn um Haupteslänge überragenden starken Mannes begegnete: „Hoffnung
ist immer, fo lange noch Athem ist, und sie ist jung . . ."
„Siebenundzmanzig Jahre," flüsterte der Andere. „Leidet sie?"
Kurt zuckte wieder die Achseln. Was für eine Frage, man sah ja,
wie sie litt! — „Sie ist bewußtlos," antwortete er ausweichend.
Ter Fremde kniete von Nenem vor dem Nette nieder nnd nahm die
Hand der Kranken sachte zwischen seine beiden Hände; er sah aus, als
habe er vergessen, daß noch Andere im Zimmer waren. Sich über sie
neigend, redete er leise in sie hinein und stöhnte schmerzlich auf, als seine
Worte sie gar nicht zn berühren schienen.
Ihr Gatte konnte es nicht sein, entschied Kurt Braun; der würde doch
befremdet sein, wie sie hergekommen, und sich erkundigen, seit wann sie
im Krankenhanse läge, und wie man sie aufgefunden hätte; nur der Lieb-
haber, de? da wufte, wie Alles zusammenhing, konnte die Lage so selbst-
verständlich hinnehmen! — Aber welch' ein schöner Mann! Seine athletische
Gestalt, die Kräuselung seines braunen Haupthaares erinnerten an antike
Statuen, ebenso wie der Schnitt der fast zu großen Augen. Die gerade
Nase war so edel wie die Linie, die vom Ohr zum Kinn herablief und
durch den gepflegten Vollbart hindurch erkennbar war. Kurt blieb einen
N«ld und S«d, l.xxv, 235. 26
388 Mite «remnitz in Vukarest,
Augenblick in die Bewunderung dieser Mannesschönheit versunken. Jede
Bewegung des Körpers, jeder Ausdruck der Mienen dieses Menschen atlnnete
schlichte Natürlichkeit.
Schwester Anna hatte dem Arzte Zeichen gemacht; da er sie nicht
beachtete, zupfte sie ihn am Aermel und winkte ihm, in's Nebenzimmer zu
treten. Hier erzählte sie ihm, daß der Fremde durch die Zeitungsnachricht
hergeführt war, d. h. daß beim Lesen jener Notiz ihn eine unbezwingliche Angst
befallen hatte, zumal da er auf eine Depesche an seine Frau nach Zürich
seit mehreren Tagen ohne Antwort geblieben war; als er dann auf seine
Anfrage von der Kammerfrau — oder Nonne — benachrichtigt wurde,
daß ihre Herrin von einem Ausfluge nach Bern nicht zurückgekehrt mar,
eilte er sofort aus Kopenhagen herbei. — Er vermuthete, daß seine Frau
in Folge geistiger Störung eine falsche Richtung von Zürich aus ein-
geschlagen hätte.
Kurt Braun stutzte. Sollte es wirklich ihr Gatte sein? Oder gab
sich der Andere hier für den Gatten aus, um die geliebte Kranke sehen
zu können?
Ehe der Arzt sich dafür entschieden hatte, was das Wahrscheinlichere
wäre, trat der Fremde ein. Jetzt, wo die kranke Frau nicht mehr in seiner
Nähe war, schien er seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Er begann:
„Ich habe Ihnen für fo Vieles zu danken, daß ich es nicht in Worte
fassen kann . . ."
Kurt Braun lehnte den Dank ab. Er habe nur seine Schuldigkeit
gethan, wie bei jedem Kranken. Ungefragt setzte er dann die Lage aus-
einander: Der Verlauf der Krankheit sei sehr unregelmäßig gewesen; in
den ersten Tagen habe er überhaupt kaum Hoffnung gehabt; da aber die
Patientin bisher am Leben geblieben, sei es nicht ausgeschlossen, daß ihre
Kräfte auch noch diese Woche überdauern könnten — Falls das geschähe,
wäre alle Aussicht auf Herstellung . . .
„Das heißt also, eigentlich" — Der Fremde konnte den Satz nicht
vollenden. Er faßte sich aber gewaltsam und fragte dann nach äußeren
Details: Ob er seiner Frau ein anderes Bett und eine bequemere Installa-
tion verschaffen dürfe; ob es sonst irgend eine Erleichterung gebe? Es
stünden unbegrenzte Mittel zur Verfügung, und ob . . .
Kurt Braun fühlte, was kommen würde, und fchlug selbst vor, aus
München ärztliche Autoritäten für Infections- und innere Krankheiten zu
berufen.
Ueber Alles, was er von der Vorgeschichte der Krankheit, von der
(Anlieferung der Patientin in das Hospital wußte, verlor der discretc Arzt
kein Wort, und der Gatte — denn der schien es wirklich zu sein — fragte
auch nicht einmal indirect danach.
Schwester Anna sprach gegen Doctor Braun ihre Freude aus, daß
nun die Verantwortung von ihnen Beiden genommen sei, und er endlich
Sein »rief. 289
wieder ruhig werde schlafen tonnen. Kurt Braun theilte diese freudige
Empfindung nicht. Bisher hatte auch er gemeint, daß eine Last ihm vom
Herzen fallen würde, sobald das Geheimniß, das über seiner Kranken lag,
sich aufgeklärt hätte. Das war ein Irrthum gewesen. Gerade jetzt, wo sie
in das Normale des gewöhnlichen Lebens zurückgeglitten war, beschäftigte
sie ihn mehr als je: Diese Frau war im Stande gewesen, einen solchen
Mann, einen Gatten, der mit größter Liebe an ihr hing, zu hintergehen!
Fast hätte Kurt Braun Hast und Verachtung für sie verspürt, aber sie
schwebte in schwerster Todesgefahr! . . . Wie war es nur möglich! Er
kannte zwar nicht die geistigen und seelischen Fähigkeiten dieses schönen
Mannes, doch standen unverkennbar Güte und Edelmuth ihm auf dem
Gesicht geschrieben. — Und was wußte Kurt Braun schließlich von ihr,
die unter der schaurigen Krankheit vor seinen Augen hingewelkt war? Doch
nur, was er in sie hineingeträumt Halle! Er dachte über diese eigentüm-
liche Traumfähigkeit des Menschen nach. War sie ihm zum Heile oder
zur Pein mitgegeben? — Als er an jenem Morgen diese bleiche Menschen-
blume zuerst gesehen, war ihm gewesen, als hätte er sie längst erwartet
und gekannt; sie war die lebende Heldin all' der Romane, die er in der
Jugend gelesen — jetzt hatte er schon lange keinen zur Hand genommen.
Kein einziges Wort hatte sie zu ihm gesprochen, und doch war ihm, als
hätte sie ihn» sich ganz enthüllt . . .
Vielleicht war sie aber nichts als eine frivole Weltdame? Nein,
einen Brief wie jenen, den er im Waggon gefunden, schreibt Niemand einer
Frau, die nicht jeder Verehrung werth! Sie mußte die Nomanfrau sein,
der nur das Außergewöhnliche im Dasein geschieht! Sie würde auch nicht
sterben — der Krankheit, welche jeden Anderen getüdtet hätte, würde sie
widerstehen!
Nach einigen Tagen liefen die Antworten auf Kurts letzte Erkundigungen
ein: sie hatten zwar jetzt, wo er wußte, daß seine Kranke wirklich die
Baronin Kjersund war, keine wirkliche Bedeutung mehr, flößten ihm aber
dennoch ein eigenthümliches Interesse ein.
Die Directum des Grand H6tel schrieb, daß eine Frau v. Thun am
23. September Morgens ein von Zürich aus telegraphisch bestelltes Aparte-
ment (Salon und Schlafzimmer in der ersten Etage) bezogen habe, aber
schon am Abend wieder abgereist sei; nach Aussage des Zimmermädchens
habe die Dame im Laufe des Nachmittags einen Besuch empfangen, an«
scheinend einen Herrn, denn ein solcher, der aber nicht im H6tel gewohnt
habe, sei vom Portier beim Kommen und GelM bemerkt worden. G^gen
Abend habe die Dame dem Zimmermädchen geklingelt,, damit dieses
ihr beim Packen der Reisetasche behülflich sei, und demselben ein Gold-
stück dafür geschenkt. Ans diesem Grunde habe das Mädchen sich
26*
29V Mite Uiemnitz in Vnkarest,
der Sache sc» gut erinnert, daß sie noch anzugeben wisse, die Dame habe
verweint ausgesehen und über starke Kopfschmerzen geklagt. Das Diner,
welches sie sich «uf ihrem Zimmer habe serviren lassen, sei unberührt
wieder abgetragen worden. Von ihrer Ankunft bis zu ihrer Abreise habe
die Dame das Hotel nicht verlassen.
Die Hotelleitung hatte also die Fragen des Arztes genau beantwortet-,
die Polizei dagegen verweigerte jede Auskunft, o. h. sie leugnete, daß sie
von der Anwesenheit einer Frau v. Thun in Wien Kenntniß gehabt
habe. Es war Höftich, daß sie überhaupt geantwortet hatte; Kurt
Vraun brauchte ihre Auskunst auch nicht mehr, seine Rolle als Detectiv
war überhaupt ausgespielt.
Er schloß die Briefe aus Wien zu jenem im Waggon gefundenen und
nahm sich vor, sich hinfort so wenig als möglich mit der Sache zu befassen;
am liebsten hätte er, um auf andere Gedanken zu kommen, einen kurzen
Urlaub genommen, aber das hätte den Anschein erweckt, als fühle er sich
beleidigt, daß man zwei sogenannte Autoritäten berufen hatte; beleidigt
aber war er nicht und hatte auch keinen Grund dazu, da die Herren er-
klärten, daß die Behandlung nicht besser hätte sein kmmen und die Kranke
sich in den besten Händen befände. Er wollte also abwarten, bis die
Krisis überstanden, und er die Sicherheit ihrer Rettung Hütte; alsdann
gedachte er sich einen Besuch im Elternhause zu gönnen.
Baron Kjersund hatte bereits mit den fremden Nerzten darüber ver-
handelt, wann es möglich sein werde, die Kranke zu trcmsportiren; er hatte
den Plan, sie bis zu ihrer Völligen Genesung in Ni?za, in der Villa eines
Freundes, unterzubringen. — Kurt Vraun sagte sich, daß er dann die
räthselhafte Frau nie wiedersehen, und daß sie nie erfahren würde, wie
tief er in das Geheimnis; ihres Herzens eingedrungen war! —
Der letzte Tag der dritten Krantheitswoche war angebrochen; seit seiner
Ankunft hatte der Gatte jede Nacht bei seiner Frau gewacht und nur am
Tage, während die Kammerfrau, die er hatte kommen lassen, sich mit
den Schwestern in die Pflege theilte, sich ein paar Stunden der Ruhe über-
lassen, C°r muste eine Natur von seltener Widerstandskraft besitzen; es
war, als ob die furchtbare Spannung ihn aufrecht erhielte. Obne ein
Wort zu fagen, ja, ohne auch nur eine einzige Frage zu thun, befriste
er die ärztlichen Vorschriften auf das Pünktlichste; er trug die kleine,
zarte Gestalt in's Vad und legte sie im Vette um, immer in der Hoffnung,
sie würde ihn endlich erkennen, ein Wort für ihn haben. Nur einmal
hatte er den Doctor beschworen, daß er die Kranke, falls es hoffnungslos
fei, nicht unnütbig quälen, sondern ihr das Sterben erleichtern möge. Kurt
Vraun hatte aber erwiderl, kein Fall dürfe dem Ar-t durchaus hoffnungs-
los sein.
Die kranke Frau sprach nicht mehr irre — sie sprach überhaupt mit
mehr; am vorigen Abnd hatte Kurt Vraun constatiren können, daß das
Sein Vrief. 2ZI.
Fieber etwas gesunken war. Als er dann am Morgen mit den besten
Hoffnungen zu seiner Frühvisite kam, blieb er einen Augenblick erstarrt
stehen . . . Warum hatte man ihn nicht gerufen? . . .
Neben dem Bette kniete der Gatte; das Fenster war weit geöffnet —
die kleine zarte Frau mar verschieden!
Kurt Braun war's, als drehe sich das Zimmer, als träume er. —
Es konnte nicht wahr sein, durfte nicht wahr sein! — Er vermochte es
nicht zu fassen. Sich gegen die Wand lehnend, suchte er seine Selbst-
beherrschung — Umsonst, er begriff sich selbst nicht, begriff die Lage nicht.
Wie war es möglich? Das Unwiederbringliche war also doch eingetreten!
Wie hatte er sich selbst so täuschen, so belügen können! 0, seine innere
Summe, sie hatte ihn abermals betrogen! . . .
Aber war es denn sicher? War dies Leben wirklich verlöscht? —
Wie gejagt eilte er plötzlich an das Bett, befühlte die Hand, suchte den
kleinen rosigen Fuß unter der leichten Decke. . .
Kjersund blickte auf. Er war so bleich wie die Todte.
„Schon vor einer halben Stunde," sagte er tonlos; „es war also
Alles umsonst, aber Sie sind wie ein Bruder gegen uns gewesen, gegen
meine kleine Ellen und mich ... Ich kann sie nicht überleben," setzte er
hinzu, „es ist über Menschenkraft. Sie wissen nicht, wie sie war. Keiner
wußte es außer mir! — Das Leben ist ein Irrsinn, wenn es solche Wesen
vernichtet! — Vor acht Tagen glaubte ich noch an eine Art von Neu-
ordnung, aber nein, nein, es ist Alles blöder Zufall! . . . Ellen, wie
tonntest Du mich allein lassen? ... 0, meine kleine Ellen, die so gern
lebte, und deren Leben eben erst begonnen hatte! ..."
„Denken Sie an Ihr Kind!" warf Kurt mit heiserer Stimme ein.
Er hatte nie gefragt, ob es ein Knabe oder ein Mädchen, er hatte über-
haupt nicht mehr an das Kind gedacht, aber er fuchte uach einem Stroh-
halm, um ihn dem Manne zuzuwerfen.
„0, das ist ein neues Leben ... Sie wird vielleicht einmal einem
Andern sein, was Ellen mir gewesen — Ich kann nicht — Wenn es An-
steckung giebt, so habe ich auch den Typhus; ich habe Alles gethan, was
man thun kann, um sich anzustecken.' — Ich kann nicht ohne sie leben! —
Wissen Sie denn nicht, was es heißt. Etwas nicht können?"
Kurt schwieg. Was sollte er dem überreizten Manne entgegenhalten?
„Kann ich Ihnen irgendwie behülflich fein? Haben Sie Verwandte,
denen ich Anzeige machen soll?"
Kjersund griff sich an den Kopf. „Mein armer Schwiegervater, wie
wird er feine Sonntagsbriefe vermißt haben! . . . Der arme Mann —
Ellen war die Jüngste — sieben Brüder und dann sie; wie im Märchen,
hieß es immer — ja, wie in» Märchen, die Mutter starb bei ihrer Geburt Nun ist sie selbst auch todt — so
ist's im wirklichen Leben!"
„Wie ist die Adresse Ihres Schwiegervaters?"
2H2 Miie «remnitz in Vukaiesi,
„Ach, es hat jll keine Eile, es kommt immer noch zu früh. Ich möchte
sie einbalsamiren lassen , .. Nein, dazu müßten fremde Hände sie berühren?
Nein, nein, die kleine Vlume soll Niemand anfassen als Sie und ich . ..
Nicht wahr, Sie helfen mir?"
Kurt nickte. Wie waren die Menschen doch alle einander gleich, in
Schmerz und Noth: Fremder Nation und fremder Kaste gehörte Jener an,
und doch fühlte Kurt für ihn, wie für einen Vruder.
„Wollen Sie sie hier bestatten?"
„0 nein, ich nehme sie mit — der Vater wird sie noch sehen wollen."
Kurt dachte plötzlich an den Anderen . . . Wie war es doch Alles
seltsam, und wie unbegreiflich die Doppelnatur der todten Frau!
„Haben Sie nicht Freunde, die in Angst und Sorge auf Nachricht
warten?" fragte er den verzweifelten Mann.
„Ich habe nur seinen nahen Freund," antwortete er zögernd, „und
der ist in den Flitterwochen und ahnt von unserem Unglück Nichts."
Wieder warf er sich, in neu angefachter Verzweiflung, über das Bett
und strich der ihrer Daseinsform langsam Entrückenden über das weiche,
dunkle Haar.
Kurt wandte sich ab; er konnte die Thronen nicht mehr zurückhalten
und ging fort.
Kaum hatte er in feinem Zimmer sich in einen Stuhl geworfen,
als es klopfte, und die Kammerfrau der Verstorbenen eintrat. Sie war
eine schlicht gekleidete, stille Person, groß und starkknochig, die wohl hoch
in den Vierzigern stehen mochte; sie sah mehr wie eine ehrbare Bürgers-
frau als wie die Kammerzofe einer eleganten und vornehmen Dame aus.
Nach einer Entschuldigung, daß sie den Herrn Doctor störe, sagte sie, daß
sie ihm Etwas übergeben^ möckte. Sie habe aus Zürich Etwas mitgebrackt,
was sie der Frau Baronin Hütte zurückstellen sollen; zu behalten wage sie
es nickt, und auch dem Herrn oder dem alten Grafen könne sie es nicht
abliefern,'; vernichten aber dürfe sie es nicht, so wolle sie es dem Herrn
Doctor geben. Bei ihm sei es sicher, das habe sie vom ersten Augenblick
an gewust, wo sie ihn am Krankenbette gesehen. Er möge entscheiden, ob
es vernicktet oder einem Anderen übergeben werden sollte. — Ach, sie
habe schon längst geahnt, daß es so enden müste, sie habe es auch der
Baronin oft voraus gesagt — „Aber es kann ja nie Einer dem Anderen
helfen. Jeder mnh Alles selbst auskosten!" setzte sie, hinzu. >
Kurt Braun bat sie. Platz zu nehmen; sie that es aber nicht, da sie
viel zu tief in ihren Gedanken war, um darauf zu achten.
„Ich bin nur eine ungebildete Person, Herr Doctor, ich kann weder
lesen noch schreiben, aber wenn die Baronin auf mich gehört hätte, wäre
sie jetzt noch am Leben. — Freilich, da wir Alle einmal sterben müssen, kommt
Sein Vrief. 2Z3
es vielleicht nicht so sehr darauf an. — Nur das süße Kind . . ."
Sie trocknete ihre Thränen, und der Arzt mußte nicht, ob sie von der
Todten oder von dem zurückgebliebenen Kinde sprach. Sie hatte in
ihrem Wesen eine so ruhige Würde, daß er sie nicht auszufragen wagte;
er stand auf und nahm aus ihrer Hand eine große rothbraune Sammet-
tasche entgegen, die mit Goldstickerei verziert war und Papiere oder Bücher
zu enthalten schien.
„Ehe sie abreiste," fuhr die Kammerfrau fort, „brachte sie mir dies,
wie jedesmal, wenn sie einen kleineren oder größeren Ausflug machte. —
,Sie missen schon, Christine, Lebens- oder Sterbenswillen, bei Ihnen ist
es sicher/ — Sie spielte ja auch vor mir Komödie," setzte sie bitter hinzu,
„und redete mir vor, ihr Bruder führe mit seiner Familie durch Bern,
und die Schwägerin würde es übelnehmen, wenn sie ihr nicht bei der
Durchreise Guten Tag sagte. — Als ob ich es nicht gemerkt hätte, seit-
dem der Brief angekommen war, daß sie ganz wo anders hin wollte! Als
ob ich sie nicht besser gekannt hätte, als sie sich selbst! — Ich wußte
Alles, Alles; sie konnte mir auch nie mehr gerade in's Gesicht sehen!
Ich bat sie noch, nur um meiner Sache sicher zu sein, mich mitzunehmen,
aber sie sagte: Wozu? Das wäre rein lächerlich, als ob sie nicht 'mal ihr
Billet selbst lösen und ohne mich fahren könnte! — Ach, man soll Niemand
Böses wünschen, aber erwürgen würde ich den Anderen, wo ich ihn auch
träfe, er ist ja nur solch schmächtiger, zarter Herr, ich könnt' es leicht! —
Hätt' ich's nur gethan, o hält' ich nur die Courage gehabt! Was thät's,
wenn ich im Zuchthaus säße, wenn sie nur lebte!"
Kurt schwieg noch immer; er hatte schon oft erprobt, daß Nichts die
Leute so beredt mache, wie diese seine Schweigsamkeit und seine eigen-
tümliche Art, die Sprechenden beim Zuhören anzusehen.
Aber in welch eine Gesellschaft leidenschaftlicher Menschen war er ge-
rathen! — „Der Herr wird ihr bald nachsterben, der Tod liegt schon in
seinen Augen, ich habe den unglücklichen Blick dafür, und es wäre mir
schon ganz recht, wenn er drüben ein bischen auf sie paßte, obgleich sie ja
dort ihre Mutter hat. — Doch gerecht ist unser Herrgott nicht — hier in
diesem armseligen Krankenhaus muhte sie den Geist aufgeben, und er, der
Andere Aber die Strafe wird fchon kommen! Warum sollte sie
allein gestraft werden, da sie es doch aus purer Herzensgüte und Mitleid
gethan hat! Sie brauchte ihn, weiß Gott, nicht, sie hatte einen viel
schöneren und stattlicheren Mann; und konnte sie dafür, daß Jeder den
Kopf um sie verlor. Jung und Alt, Arm und Reich? — Sie, Herr
Doctor, würden der Nächste gewesen sein, wenn der Tod nicht dazwischen
getreten wäre! Sie war eben anders als alle Anderen. Nicht weil sie so
schön war, hingen sie ihr an, sondern weil sie im Herzen für Jeden Etwas
übrig hatte! Wie oft Hab' ich's ihr früher gesagt: ,Comteßchen, mäßigen
Sie sich, die Leute sind's garnicht werth, daß Sie sie Alle so lieb haben!"
29~ Mite Aremnitz in Vukaiest,
Von Kindheit an war sie so; mit wem Niemand fertig werden konnte, aus
wem Niemand was Gutes herauskriegte, sie ward damit fertig, und ganz
von selbst. Sie meinte eben, sie sei für Alle auf der Welt, und ihre Art
mar auch so, daß von den Verschiedensten ein Jeder meinte, sie wäre für
ihn gerade wie geschaffen."
Kurt hätte gern nach ihm gefragt, wie sie ihn kennen gelernt; aber
er besorgte, sie würde dann verstummen. Zu sprechen, war ihr offenbar
etwas Unnatürliches; das Rohr mußte erst geplatzt sein, damit heraus-
sprudelte, was ein ganzes Leben lang zurückgedrängt gewesen war. Sie
durfte nicht zur Besinnung kommen, oder sie verkittete den Riß.
Aber wie begreiflich, daß sie gerade auf ihn, den Fremden, all das
ergoß; ein Anderer hätte ihrer Auffassung mit seinem besseren Wissen ent-
gegentreten können — vor ihm jedoch malte sie die todte Herrin so, wie
sie in ihr lebte. — „Natürlich, er war anders als die Anderen, in seiner
bescheidenen stillen Art, und nicht nur, weil er ein Prinz war .... Es
mußte sie reizen, daß er die vielen Stunden immer über seinem Mikroskop
saß, daß er es nie merkte, wenn sie sich schön gemacht hatte! Und Durch-
laucht, seine Schwester, hatte sie doch beschworen, ihn wieder zum Leben
zurückzubringen! .... Wenn sie spazieren gingen über die Felder —
denn sie sahen sich zuerst beim alten Grafen — , dann blieb er bei jedem
Wurm und jeder Pflanze stehen. — Ich sah ihnen oft nach, weil mir
die Sache von Anfang an nicht gefiel. An so einem Herrn ist das
Studiren sonst doch nur eine Pose, aber er sah es, weiß Gott, wirklich
nicht, daß sie wunderschöne Augen hatte, wenn sie ihn so bewundernd an-
schaute! Und wie sie nun plötzlich anfing, ihm die Sachen abzuzeichnen
und zu malen, die er da in seinem Mikroskop hatte — denn sie verstand
Alles, die süße kleine Here, spielen und singen und malen, so gut wie
tanzen und reiten! — Da hätte man meinen sollen, sie wäre wie geboren
dazu, nur solche ernsten Dinge zu treiben. So glücklich habe ich sie nie
vorher gesehen, und der Herr Varon war so stolz auf sie. — Mein Gott,
ein bischen Eitelkeit war anch dabei, daß der Prinz sie so verehrte, und
um eifersüchtig zu sein, war er selbst viel zu nobel von Gesinnung —
Eifersüchtig auf diesen zarten, schwächlichen Gelehrten? Nein, das wäre
ihm nie in den Sinn gekommen! — Es war auch wahrhaftig kein Grund
dazu, lange, lange Zeit nicht — nur, mir wollte die Sache nicht gefallen,
denn ich kann nun einmal nicht dran glauben, daß man sich für solch
stumme Creatur wie Fische und Würmer aufrichtig begeistert!"
„Und glauben Sie nicht, Frau Christine, daß Sie Ihren: Herrn jetzt
helfen würden, seinen Schinerz zu überwinden, wenn Sie ihm sagten,
daß er Grund gehabt hätte, eifersüchtig zu sein?"
„Er würde mich niederschlagen, wenn ich die geringste Andeutung
machte! Er würde nie an ihr zweifeln! Ja, legten Sie ihm selbst die
schriftlichen Veweile in die Hände, er würde sie ungelesen verbrennen!"
Sein Vlief, 395
„Warum geben Sie denn nicht ihm die braune Tasche?"
„Das kann ich nicht, nein, das kann ich wirklich nicht .... Was
sie mir anvertraute, damit es nicht in seine Hände siele? 0 nein! —
Und es könnte ihm auch nicht helfen, denn er würde es auf seine Art
deuten. — Da drüben, da soll sie ihn so wiederfinden, wie sie ihn hier
gekannt hat; ich hatte nicht einmal in: Grabe Ruhe, wenn ich die Tasche
ohne Erlaubnis verbrannte oder bei meinem Ableben in unsichere Hände
fallen ließe! .... Und der Andere ist ja jetzt der Thronerbe — Frau
Varoinn sagte mir, das wäre etwas Heiliges — das Wohl von Millionen
hinge von ihm ab! Es wäre ... Na, geglaubt habe ich es nicht; unser
Herrgott hat die Menschen alle gleich geschaffen, d. h. nur SEINE Unter-
schiede ihnen aufgedrückt, und da stehen mein Herr und meine Comteß
meilenweit über allen Thronerben! Nun möchte ich Ihnen aber
auch noch danken, Herr Doctor; ich bin keine Dame und Hab' vielleicht
nicht 'mal das Recht dazu, Ihnen zu danken; aber Eins weiß ich: der
Herrgott in Seiner Gnade und Fürsorge wußte wohl, warum Er meine
arme Eomteß gerade zu Ihnen führte! — Sie haben gewiß Alles geahnt
und sich zurechtgeklügelt, das merkte ich in der ersten Stunde! Und Sie
haben sie geschützt, soweit Sie konnten! . . . ."
Kurt Braun war allein mit der goldgestickten Sammettasche. Er
wußte nicht, ob er sie öffnen oder so, wie sie war, verbrennen, oder ob er
sie dein Anderen auf irgend eine Weise zustellen sollte?
Er verschob die Entscheidung darüber. Zuerst war ja seine tägliche
Arbeit zu absolviren, auch mußte er dem Hülflosen Gatten beistehen, all die
entsetzlichen Formalitäten zu erfüllen. Der verzweifelte Mann konnte ja
sein verlorenes Kleinod nicht, wie er gewollt hätte, auf seinen Armen nach
lütland tragen; da galt es, einer Menge sanitärer und sonstiger Vor-
schriften zu genügen.
Der Fall hatte natürlich Aufsehen gemacht und beschäftigte nicht nur
die Localblütter; so erwartete Kurt Nrann immer, irgend eine Nachfrage,
irgend ein Lebenszeichen von Jenem zu erhalten, den die Todte über Alles
geliebt haben mußte; aber Nichts traf ein. Wenn er auch nicht, wie die
Kammerfrau, ihn für den Tod der liebreizenden Frau verantwortlich machte,
so schien ihm dieses Schweigen doch grausam und unmenschlich.
Baron Kjersund reiste, als Alles geordnet war, von Kempten ab.
Zwei Tage vergingen, da erschien ein Fremder im Krankenhause und
schickte dem dirigirenden Arzte seine Karte herein. Kurt Braun las einen
ihm unbekannten Namen darauf: A. von Mers, und ließ den Herrn
bitten, einzutreten.
Der Fremde gab an, im Auftrage eines Freundes zu kommen, um
Erkundigungen über die letzten Tage der Baronin Kjersund einzuziehen;
3Z6 Mite Riemnitz in Vukaiest.
allem Kurt Braun ward sehr bald inne, daß der Besucher ihn auszuholen
strebte: Ob man nicht gleich aus den Papieren oder Briefen, welche die
Kranke etwa bei sich geführt, ihren Namen und Stand erkannt hätte? —
Kurt antwortete höchst einsilbig und erleichterte dem diplomatischen Fremden
in keiner Weise seine Mission, er verwies ihn kurzweg an den Baron.
Schon nach den ersten Worten war er überzeugt gewesen, daß dieser Mann
hergesandt morden war, um zu erforschen, ob vor oder nach dem Tode seiner
Patientin der Name des Prinzen genannt, ob irgend etwas ihn Compro-
mittirendes bei der Verstorbenen gefunden fei? —
Kurt war empört. Diese selbstsüchtige Unruhe war also das Einzige,
was der einst so heiß Liebende bei der Todesnachricht empfunden hatte!
Weltliche Rücksicht allein war in ihm zu Worte gekommen! . . .
Der Prinz mochte ruhig fein: Kurt hütete eifersüchtig ihr, der lieb-
lichen Frau, Geheimniß, und von diesem Augenblick an fühlte er, daß es
sein Recht war, den Inhalt jener Tasche zu ergründen. Er haßte den
Mann, den sie geliebt, und der sie in den Tod getrieben hatte! —
Als der Abend kam, wo Kurt am wenigsten einer Störung aus-
gesetzt war, öffnete er die alterthümlich gestickte Mappe: der Hauptinhalt
waren Briefe auf deni dünnen englischen Papier, mit der Krone darauf und
in der feinen zierlichen Handschrift, welche Kurt aus seinem Funde im Waggon
bereits kannte. Sie waren gröhtentheis sachlicher Natur, nnr hin und
wieder eigentliche Liebesbriefe, und auch dann nicht befonderer Art; aber
ihrem Auge mochte wohl jeder Strich etwas ganz Besonderes bedeutet
haben.
Kurt las ihrer uur wenige, dann nahm er das Bündel, ging vor den
Ofen, in dem das Feiler brannte, und warf einen nach dem anderen
hinein — zuletzt auch den im Waggon gefundenen.
Die Mappe enthielt aber noch mehr: ein Tagebuch von ihr. Auf
dem Deckel des Bändchens stand in kühnen Strichen ihr Vorname ge-
malt: Ellen.
Einen Augenblick zögerte er, ehe er es öffnete, aber die Ueberlegung
fagte ihm, daß er sich eine unnöthige Qual auferlegen würde, wenn er
sich zwänge, das Tagebuch ungelesen zu verbrennen. Sie hatte es augen-
scheinlich erst zu schreiben angefangen, als sie mit der überkommenen Sitte
gebrochen hatte, als in ihr eine Welt von Gefühlen erwacht war, die sie
mit ihrer gewohnten Umgebung nicht theilen konnte. In ungleichen Ab-
sätzen, zu verschiedenen Zeiten, aber ohne Datum und ohne Ortsbestimmung
war es niedergeschrieben, bald mit Tinte, bald mit Bleistift — immer in
derselben langgezogenen, gleichmäßigen schönen Frauen-Schrift, und immer
in deutscher Sprache. —
„Mir ist, seit ich Dich liebe, als wandle ich auf Wolken, hoch über
der Welt, die Stimmen der Uebrigen dringen nur wie aus der Ferne
zu nur.
Sein Vrief. 39?
„Waller sagte heute, ich sähe so verklärt aus, wie er mich noch nie
gesehen, und Vater fand sogar meine Stimme verändert, sie erinnerte ihn
an die der Mutter. — Wie soll ich nicht eine Andere geworden sein, seit der
Duft Deines Nthems mich gestreift, seit ich vor Dir tnieend dein Schlage
Deines Herzens gelauscht! .... Das nennt man Schuld? 0, nein!
Wäre es Schuld, so würde ich leiden. Ich bin ja kein Ungeheuer —
wäre es Schuld, ich würde doch zittern, vor Walter oder dem Vater, und
würde mich schämen vor meiner Kleinen! Aber nie habe ich die Meinen
so lieb gehabt wie heute-, ich habe ihnen ja Nichts geraubt, die Natur hat
einen neuen Schacht in mir gegraben, dessen Reichthümer alle Anderen
noch mit beglücken! — Du stehst außerhalb der Welt, mein Lieb, und unsere
Liebe ist so einzig wie Dein ganzes Sein! —
„Und Du hast so lange gegen sie gekämpft? 0, schade um jeden
Dan, der uns verloren ging! Wie konnte ich es je erhoffen, daß Dein
Blick sich mit Gefallen auf mich niederlassen könnte? — Du warst mir
ein Gott, und ich nicht werth, zu Deinen Füßen zu sitzen! ....
„Im Zimmer meiner Kammerfrau hängt eine Photographie jenes
Gemäldes von, ich weiß nicht welchen,, deutschen Maler: Grethchen auf
ihrem Gang zum Galgen. Heute habe ich mich zum ersteu Mal niit Ent-
setzen in das Vild vertieft. Früher blickte ich immer nur fort und sagte
oft zu Christine, daß ich in ihrer Stelle solch Bild nicht vor meinen Augen
dulden würde.
„Doch — Alles, was mich dazu trieb,
Gott, war so gut! ach, war so lieb!"
dies schöne Wort fiel mir heute ein. Ich habe bisher nie gedacht, daß
Du und ich mit anderen Wefen Etwas gemeinsam haben könnten, aber
gerade dieses Wort: es war so gut und war so lieb, was uns dazu trieb,
das muß ich auch von unserer Liebe sagen! — Ist nicht die Liebe so
mächtig wie die Fluth, die Alles zerstört und einebnet und, wo sie einbricht,
Acker und Garten, Wiese und Sand gleich »nacht? — Aber die schreckliche
Lehre, die Goethe uns giebt? . . . Muß das, was „gut" und „lieb" war,
zum Galgen führen? Mein Gott, mir ist ganz Angst geworden! Wenn
ich Dich nur erst wiedersehe! Doch nein. Dir darf ich Nichts davon sagen.
Du sprichst ja schon von Deiner Schuld und machst Dir Vorwürfe, da ich
allein doch die ganze Verantwortung trage!
„Du bist frei, ich bin es nicht. Aber das sind gesellschaftliche Begriffe,
und die Liebe stammt aus anderen Landen, wo man die Sprache der Gesell-
schaft nie gehört! — Weißt Du, wie schuldlos Du bist? 0, nur ich, ich
trage alle Schuld! Als Du zuerst, ganz unbewußt, meine Hand ergriffst
und länger hieltest, als die Sitte es erheischt, da fing mein Herz schon
zu klopfen an, und als Dein Knie versehentlich einmal das meine berührte,
da war mir, als /wärest Du mein Kind, und ich müßte Dich streicheln.
Und wie aus Versehen kam auch der erste Kuß! Weißt Du, wie wir
2Z8 Mite Uremnitz in Vukareft.
uns verlegen anschauten, als es geschehen war, als unsere Lippen sich ge-
funden hatten? Du sagtest munter: „Einen Kuß in Ehren darf Niemand
wehren!" aber die Nüthe war uns Neiden bis in die Stirn gestiegen, und
ich weiß nicht mal, ob er „in Ehren" war; ich mußte ja Deinem holden
Antlitz immer wieder nahe kommen, ich mußte Dir so demüthig in's Auge
schauen, bis Du mich küssen und immer wieder küssen mußtest! Ich war's,
mein Lieb, ich war's, die ansing — wie der Kessel im „Heimchen auf dem
Herde"!
„Ich habe immer wieder an das Grethchen denken müssen. — Eigentlich
war es doch nicht die Liebe, an der sie zu Grunde ging: nur, weil sie ihre
Liebe und ihr äußeres Dasein nicht von einander getrennt zu halten ver-
mochte! — Die Liebe soll aber sein wie die Luft, die man nur athmet —
o weh, die Luft durchdringt ja auch, zersetzt ja auch Alles! — Der Mensch
kann sich nicht lösen aus seinen vielfältigen Beziehungen!"
„Aber daß ich Dich liebe, ist das nicht ebenso mein Schicksal, wie
meine physische Erscheinung? Mein freier Wille war es nicht, denn ich
kannte doch nicht die Wonnen Deiner Liebe! Hätte ich meiner Ueberlegung
folgen dürfen, ich hätte mir sicher ein ander Loos gewählt! — Wer will
denn gern vom hergebrachten Wege abweichen? Wer zieht nicht Nuhe der
Qual, Sicherheit der Angst vor? — Und doch ist die Liebe ein Gnaden-
geschenk der Natur! Hat die Natur mich dazu geheiligt, ihrer höchsten
Gabe theilhaftig zu werden, so darf ich nicht mit ihr rechten über ein
Zuspät oder Zufrüh, so darf ich nicht klagen, selbst wenn die Welt mich
zum Henkerstode führt. Liebe ist schon der Tod; in ihr erstirbt die Person»
lichtest! Wenn ich vor Dir kniee, so schwinden mir die Gedanken, ich fühle
nur Dich, ich empfinde mich selbst nicht mehr, nur Du, Du bist Alles!"
„Ich bin, was das dürre Gesetz eine Ehebrecherin heißt — mirthut
das Wort so weh, obwohl ich weiß, wie milde der Heiland der Ehebrecherin
begegnete. Jedermann würde mich verurtheilen. Wenn ich aber grausam
genug wäre, nieinem Manne das Herz zu brechen, meinem Vater den Rest
seines Lebens zu verbittern und meinem Kinde die Zukunft zu rauben -~
wenn ich mich scheiden ließe, um dem Anderen meine Hand zu reichen,
dann billigt mich das Gesetz und die Welt, und ich stehe da als eine
correcte Frau! ... Ja, aber nur vor der Welt, nicht vor meinem Ge-
wissen! Was verstehen die Menschen, welche die Gesehe machen, vom
Gewissen? Der Herr hat es verschieden in seine verschiedenen Geschöpfe
gelegt! Der Heiland allein fah in die ganze Tiefe der Menschenseele,
aber kein Gesetzgeber folgt ihm nach! ..."
„Bringe ich nicht Opfer, damit kein Anderer geopfert werde? Möchte
ich nicht auch lieber mit der Welt als gegen sie leben? — Nie darf ich
mich im hellen Sonnenschein an den Arm des Geliebten hängen und niein
Glück doppelt genießen, indem ich es offen genieße! . . . Dein Leben, das
die Natur mir geschenkt hat, die Gesellschaft enthält es mir vor, und
5ein Viief. 3Y9
ich füge mich darein, um Niemandem Leid zuzufügen: Nur heimlich kosten
darf ich von dem reichen Schatze, der doch ganz und gar mein, denn ich
Hab' ihn gehoben! — "
„So beruhige ich mich immer wieder, um nicht durch Kleinlichkeit den
großen Rausch der Natur zu stören; aber das Leid jbleibt nicht aus, ich
zeige es Dir nur nie! Ich trage ihn allein, den Widerspruch zu mir selbst,
in den ich mich gesetzt habe — Wenn Walter anbetend zu mir aufblickt,
so möchte ich ihm sagen: „Ich bin nicht steckenlos — demüthige mich nicht
durch Deine Liebe!" . . . Aber das wäre zu bequem; besser ist's, durch
unendliche Güte an Anderen gut zu machen das Mehr, womit der Himmel
mich ausgezeichnet hat! — Wa.s könnte ich nurthun, um mein Glück zu
verdienen? Oft denke ich, ich müste daran sterben — ack, und wie gern
thäte ich's, hätte ich nur keine Pflichten! . . . Wozu sind wir auf Erden?
Um die höchste Stufe der Veredlung zu erklimmen? — Dann wäre ich
noch lange nicht zum Tode reif! Ist es aber, um die höchste Möglichkeit
des Glücks zu kosten, so hätte ich den Sinn des Daseins erschöpft. Nur
Dein Antlitz zu erblicken, in Deiner Nähe zu athmen, ist Glückseligkeit;
immer noch schwinden alle meine Gedanken und Sorgen, wenn ich Dich
umklammert halte; ich begreife garnicht, daß es etwas Anderes als Harmonie
im Weltenraume giebt; unmerklich wird Deine Anschauung die meine.
Deine Seele geht ganz über in die meine."
„Christine späht mir nach, ihre hellen grauen Augen sehen mich
vorwurfsvoll an; o, wie schade, daß sie es nie begreifen und fassen würde,
was mir geschehen ist! Sie sieht die Welt unter dem einzigen Gesichts-
punkt meines Wohles an und haßt gleich Alles, was mir in den Lebens-
weg tritt, und was sie nicht billigt. — Dich konnte sie von Anfang an
nicht leiden; ich fühlte das, und so haben wir nie von Dir gesprochen . ."
„Er ist fort! Vier Wochen lang werde ich seine Stimme nicht hören
— o, was für ein Leid ist Trennung! — Wäre ich seine Frau, so
brauchten wir uns nie zu trennen ~ aber ich darf nicht daran denken . . ."
„Mir fehlt die Lebenskraft, wenn ich ihn nicht sehe; ich bin pbnsisch
krank davon geworden, so sehr ich mich zusammennahm! 0, mein anner
Walter hat so darunter gelitten, und ich bat ihn tausendfach um Verzeihung,
daß ich ihm Sorge gemacht habe. — Noch acht Tage! — "
„Kanu ich dafür, daß ich nicht zu leben vermag ohne ihn? Ob das
je anders werden wird? Hat Liebe eine bestimmte Dauer? Nein, sie ist
wie die Ewigkeit, ohne Anfang und ohne Ende! Neulich sagte Walters
liebe Tante, die bei nns zum Vesuch war: „Die Frauen rühmen sich so
oft, der Liebe, wenn sie olme Tugend ihnen nahte, widerstanden zu haben.
Ich aber behaupte, wenn sie ihr widerstanden, war es eben nicht die
HOO Mite «remnitz in Vulaiest,
Liebe, denn der widersteht Niemand!" — Und Walter gab ihr Recht und
sah mich mit seinen strahlenden Äugen an; ich aber wurde so todestraurig,
daß ich seinen Blick nicht erwidern konnte. Er merkte es nicht, und ich
küßte seine Hand und bat — ja, ich bat den Allmächtigen um meinen
Tod! -"
— „0, mein Gott, wie konnte ich Nagen, als ich ihn überhaupt noch
sah, als unser Leben, fern über der Alltäglichkeit, noch ein gemeinsames
war, als ich all' seine Gedanken theilte, keine Falte seines Herzens mir
verborgen war! Es gab keinen Tag seines Lebens, den ich nicht nachträg-
lich mit ihm durchlebt; nie hat ein Hauch der Eifersucht in ihm oder in
mir Platz greifen können — aber jetzt! Nein, ich kann es nicht überleben
— Nun ist Alles vorbei! Dies elende Dasein mit seinen kleinen mensch-
lichen Institutionen soll die Gewalt haben, das Götterkind, die Liebe, zu
vernichten? — „Es bleibt ja Alles, wie es war, zwischen uns!" sagte er;
ich sah ihn mir still an. Wie konnte er sich solche Enormität auch nur
vorstellen? Es war ja auch keine Frage niehr, die er mir vorlegte, es
war für mich schon entschieden in dem Äugenblick, wo ihm überhaupt die
Möglichkeit seiner Vermählung durch den Kopf gegangen war. — „Bist Du
nicht auch verheirathet?" sagte er. Und ich fchwieg wieder, weil ich die
Antwort darauf nicht fand, sondern nur das Gefühl, es fei etwas Anderes,
etwas ganz Anderes! — "
„Ich bin wohl doch eine Egoistin gewesen, mein ganzes Leben lang,
trotz meiner gerühmten Güte, daß ich das nicht vertrage? Ich stelle mir
vor, daß sein Leben — er sagt, das Leben, zu dem ich ihn erweckt habe
— ein reicheres sein werde als bisher, und es überrieselt mich kalt. Ich
denke daran, daß er einen Beruf haben wird, der ihm eine unendlich
größere Wirksamkeit giebt, als seine Wissenschaft es bisher gethan. —
Aber ich fchreie vor Schmerz, daß er mir entrissen werden wird. Immer
fehe ich die Andere neben ihm, die im Sonnenschein des Tages an seinem
Arme hängen darf, die fein Leben theilt, die neben ihm sitzt in der Abend-
dämmerung unter den hohen Buchen des Parkes, die an seiner Seite ein-
tritt in den strahlenden Festfaal, die das Lachen über feine geliebten Züge
gleiten sieht und ihm die Stirn glätten darf, wenn Unmuth und Sorge
sie kräuseln, die ihn pflegen darf, wenn er krank ist, und die — o, Gott,
Hab' Erbarmen! — die ihm Kinder schenken darf, welche feine edlen Züge
tragen! — "
„Und wird er nicht Vergängliches leisten dann, wie jetzt? Giebt es
eine Form der Arbeit, welche höher ist als die andere, auf dieser zer-
stäubenden Welt? — Wie viele Reiche sind zerfallen, wie viele Dynastien
ausgestorben, und die Welt ist darum nicht schlechter oder besser geworden.
— Aber — o ja, ich weiß alle Aber! Habe ich selbst es ibm nicht ge-
5ein Viief. q>0"
sagt — denn in seiner Nähe beherrschen mich seine Gedanken, — daß
man seine Pflichten gegen die Mitmenschen erfüllen muß, daß man seine
Gesichtspunkte beschränken soll, um überhaupt Etwas zu leisten! ... 0,
wie weise habe ich geredet, immer mit dem lauernden Blick auf ihn,
immer mit der ersterbenden Hoffnung, er würde antworten: „Alles, was
mich Dir entfremdet, ist werthlos!" — Ja, ich habe es erhofft, aber Du,
Fred, Du hast es nicht gemerkt. Du hast nur gehört, was der Mund
sprach. Du nanntest mich , einzig/ und ,edel' und ,großartia/ und sähest
nicht, was ich litt! . . . Deine Natur ist die langsamere von uns Beiden
— wird dasselbe Leid auch über Dich kommen, wenn zur Wirklichkeit
geworden, was Du als Plan mir mittheiltest? Vielleicht — ich glaube
es, aber ich wünsche es nicht. Du könntest es vielleicht nicht ertragen,
ich ertrage es ja — ich wandle noch immer hoch über der Welt —
mechanisch lache und weine ich, aber die Wolken, die mich tragen, sind
nicht mehr von der Sonne vergoldet, es sind schwarze Regenwolken, und
die Erde zieht sie an — o, wie sehr!" —
Kurt Braun wurde durch Klopfen an der Dhür aufgeschreckt. Es
war nur Schwester Anna, welche fragte, ob das Zimmer, in welchem die
Baronin Kjerfund gestorben, neu belegt werden dürfte? Es sei ja gründ-
lich desinficirt worden, und man habe eben einen voni Dach gefallenen
Arbeiter eingebracht — kein Mensch wisse, was er so spät noch auf dem
Bau gewollt — und foust fei nirgends Platz . . .
Kurt gab seine Einwilligung und stand auf, um das Buch in's Feuer
zu werfen.
Schwester Anna fah ihn scharf an: „Es ist Ihnen wohl fchwer,
wieder in das Zimmer zu gehen? Aber mir müssen halt Alle weiterleben,
was auch immer geschehe!" —
~llustrirte Bibliographie.
VildcratlaS zur Geschichte der deutschen Natwnallitterotm. Eine Ergänzung
zu jeder deutschen Liticraturgeschichte. Nach den Quellen bearbeitet von l)r, Gustav
ffönnecke. Zweite verbesserte und vermehrte Aussage. Marburg, N. G. Elwert'scke
Verlagsbuchhandlung.
Die Geringschätzung, mit der man früher aus illustrirte Werke wissenschaftlichen
Charakters nicht ohne Grund blickte, ist in dem Make gewichen, als auch die anfangs
vorwiegend einer müftinen Augenweide dienende Illustration mehr und mehr systematisch,
nach wissenschaftlichen Grundsätzen und Zielen nusqeübt wuide und die kritisch-historische
Methode auch bei ihr. wie bei seder historisch'n Qw llenarbeit, zur Anwendung gelangte.
Die überraschenden Fortschritte der modernen Rsvroductionstechnit kamen diesem Streben
zu Hilfe, indem sie die unbedingt treue, unmanierirte Wied»rgabe alter Vorlagen, von
Handschriften. Drucken, Kuv'erstchen u. s. w. <rmö„liclten. Heutzutage dünte es kaum
eine wissenschaftliche Tiscivlin neben, welche der Hilie d»s ergänzenden Bildes ganz ent-
behren möchte: einzelne lönnen sie nicht entbehren. —
Ein Zeugnis, iür die steinende Wertschätzung der im Dienste der Wissenschaft
stehenden und auf wissen scha'tlicher Grundlage ruhenden Illustration von Seiten der
Fachgel, hrtcn wie des gebildeten Publicum« legt z. B. die Ausnahme ab, welche die im
Jahre 1886 erschienene erste Aussage de« ^ilderatlas zur Geschichte t»r deutschen National»
litttratur gefunden hat. Die Kritik hat damals die monumentale Bedeutung dieses
Werkes, das eine erfreuliche Verbreitung in den Kreisen der Gebildeten gefunden hat,
anerkannt, der gewissenhaften Gründlichkeit, den Kenntnissen und dem Geichmcck des
Herausgebers wie dem Verdienst des Verleger« derartige Hvilrt>igung widerfahren lassen,
das; sich eine eingehende kritische Beleuchtung des Wrkes setzt erübrigt. Es genügt,
darauf hinzuweisen, daß die zweite Anftnne eine rcrmelirte und in mehrfacher Hinsicht
verbesserte ist. So ist die Zahl der Illustrationen von 1075 auf 2200 erhöbt worden,
wozu noch 14 Beilagen kommen. Unter den hinzugekommenen Bildern befinden sich
manche interessante aus Goethes und Schillers l'it; nuch ist der Vilder-Atla« bis zur
Gegenwart fortgeführt worden, indem hervorragende Vertreter der neuesten Litieratlir-
peiiode (wie Hauptmann, Sudermann) Platz gesunden haben. Freilich hat der Heraus-
geber in dieser Beziehung nicht alle wünsche crfiNen tonnen, u, A. vermissen wir
das Portra,t Ludwig Fuldas. Eine Bereicherung und damit eine Erhöhung seines
wissenschaftlichen Wcrthes hat der Atlas dadurch erfahren, daß von allen Handschriften
"Ilustrirte Vibliographie.
"03
und Handichriften-Bluchstücken des wichtigsten Litteraturdeulmals des Mittelalters, de«
Nibelungenliedes, Proben aufgenommen worden sind. Als Verbesserungen sind anzu-
fühlen, taß einige Abbildungen fortgelassen und eine große Anzahl solcher, für die entweder
3 "
-3
bessere Quellenbilder gefunden wurden, oder die durch die inzwischen sehr vervollkommnete,!
RevroductionsmetlwKen schöner und klarer wiedergeaeben werden konnten, dura, guellcn«
mähigere oder klarere Abbildungen ersetzt worden sin); ferner das; die erklärenden Texte
Nord und ZW, liXXV. 225. 27
404
Noid und 2ü«.
einer genauen Durchsicht unterzogen und auf Grund bei seit dem Erscheinen der 1. Auf-
lage zu Tage geförderten Forschungsresultat« berichtigt worden sind.
Der Bilderallas zerfällt in zwei Abtheilungen. Die erste bringt die Bildnisse der
bedeutendsten verstorbenen deutschen Svrachforscher und Literarhistoriker (wir Vennissen
unter diesen Hettner); die zweite, die Hauptabtheilung, bringt die eigentliche Sammlung
von Abbildungen zur Geschichte der deutschen Literatur. Diese Abbildungen erläutern
die gesummte deutsche Literaturgeschichte von dem ältesten Auftreten der Nachrichten über
deutschen Sang bis auf unsere Tage.
Mirislione und A»«us» «on Goethe, Aquarell von Hein». Mener.
A,,»: DI, G»st»v Nönnecke:i„»iloelatto,« ,ur ««schichte der deutschen Nattoualliiteratui,'
Marl,»!,,, A. 0, ßlweit'sche Äeil»<,»b»chh«ndl»NI!.
Aus dem Mittelalter werden Nachbildungen der Handschriften und Drucke der bc>
deutendsten Literaturdenkmäler gebracht; Miniaturen aus den Handschriften, Texte mit
wortgetreuer Uebeitragung. In der Uebergangsveriode vom Mittelalter zur neueren Zeit
wird die bedeutsame Entwickelung des Buchdrucks vom rohen Blockdruck lehrreich venm»
schaulicht. Vom Ausgange des XV. Jahrhunderts treten die Bildnisse der Dichter und
Schriftstellei in den Vordergrund: daneben weiden interessante Bücheititel, einzelne
Seiten aus wichtigen Drucken, littcrarhistorische Alterthümer und Denkmäler, insbesondere
Grabmale! und Dichterstätten wiedergegeben.
"Ilustrirte Nibliographie.
"05
Die llügilche lind die lomische Wule »n («oclne« Viiite,
"eichnnn» d»n Angelilll Kaufmunn für den Von» VIII der Äi>iche»'!chen Äu«a»dc von Gocidei Echristen.
NN«! DI, »ultod «iinnecl«: ,»lldera!!»s ,„l Geschichte der deutschen ü!»ti»n»llilteialul,"
Marburg, N, G, "Iwert'sche Nerlaglbuchhandlung.
~7»
406
Nord und 3üd.
Auch die Bücherillustration ist derart berücksichtigt, daß sich ihre Entwickelung m
Deutschland von den Miniaturen de» XII. bis zum Anfange unseres Jahrhundert«
«erfolgen laut. Zahlreich sind die Nachbildungen von Handschriften der Schriftsteller,
insbesondere Namenszügen. Drr älteste sichere ist die Unterschrift König Koniadin?
unter einer Pisaer Urkunde vom Jahre 1258. —
Diese Angaben lassen erkennen, welch' ein ungemein reiches Material in diesem
Bilderalla« zusammengebracht ist, wie sehr derselbe geeignet ist, eine Stütze und Er»
OttNic l'o» PoMIch, Ooetye» Schwiegertochter, Augus!« Frau.
,'tre>dez«ich,»mg de« Weimar« Lithographen Heinrich Müller (um !82y»,
A„«: Dr. «u,tll° «önnecke: .Gilderatla« zur Geschichte d:r deutschen ütationallitteratur."
Maiburg, N, G. Elwelt'sche Verl aglluchhandlung.
ganzung des litierarhistorischen Unterrichts zu bieten, denselben durch Anschauung zu be-
leben und zu vertiefen. —
Die Ansstattuna des Werkes ist in jeder Beziehung vortrefflich; für treue und
künstlerische Wiedergabe der Nildervorlagen habm namentlich die Kunstanstalten von
Angerer K Göschl in Wien, Meiienbach, Riffarth K Co. in München und Berlin. Oster-
riitl» in Frankfurt a. M. und Werner K Winter ebendaselbst neiorgt. Von letztgenannter
Firma rühren hei die werthvollcn farbissen Beilagen: Eine Seite aus dem Ooäei
üri5«nt«!!8; die beiden Miniaturen aus der groszen Heidelberger Liederhandschrifl: Neid«
Vibliographische Notizen.
405
hait von Nenenthal inmitten seiner fröhlichen Bauern; Walther von der Vogelweide;
die Nachbild«»« eines colorirten Holzschnittes aus dem Jahre 1530: „Der Nafcntanz"
von Hans Güldenmund in Nürnberg; von August Oslerrieth die farbige Tafel:
flandrischer Teppich des Xlv"\— XV. Jahrhunderts mit Scencn aus Wilhelm von
Orlens (Original im Fürstl. Museum zu Sigmaringen): von Meifenbach, Riffarth ~ Co.
die ausgezeichneten großen Photogravüren: Goethe, nach dem Oclbild von I. K. Stiele!
(1828) und Lessina, nach dem Oclgemälde von I. tz. Tischbein d. Ä. (1760), welche
nevst der amen Neprobuction des von Johann Gotthard Müller nach dem Gemälde von
Anton Grafs gestochenen Portrait« Friedrich Schilleis dem Werke zum vewndcreu Schmuck
gereichen. —
Der Bildcratlas umfaßt 11 Lieferungen von je 40—18 Seiten größten Formats.
Ter Preis von 2,00 °«. für die Lieferung ist in Anbetracht res überaus reichen Inhalts,
der gediegenen Anlstattung und des inneren Wcrthes ein überaus mäßiger zu nennen.
Möge das in seiner Art einzig dastehende Werk die weiteste Verbreitung finden.
Bibliographische Notizen.
Lehrbuch der Allgemeine» Psychologie.
Von Ur. Johannes Nehmte, o. o.
Professor der Philosophie zu Gieifswald.
Hamburg und Leipzig, Verlag von
Leopold Votz.
Das neue Werk des Verfassers mehrerer
Hchinten über den Pessimismus und über
Vit (von ihm idealistisch beantwortete'»
Frage nach der Außenwelt stellt an die
Fachgenossen eine Neihe bedeutender An-
sprüche auf gründliche Auseinandersetzung,
zumal da es auch abgesehen von Ansicht-:-
uerschiedenbeiten geeignet ist, znni Wider-
spruch herauszufordern — und zwar von
seinen allgemeinen Anfänge» an (Definition
der Wissenschaft, der «larbeit u. s. w.!
psychologische Ausgabe der Physiologie, Logik,
Acsthetit und IHthil, S. "1 bis hinein
in seine (imMeiten <z. B. das Fehlen
des Bcanffö „Wahl" beim Anfassen der
Willcn«fiagc und die Beslliräiitnng der
Freihcit^siage ans die eine Frage „Deter-
minismus— I ndeterminismus"; ferner der
völlige Mangel an Darlegung des inneren
Wahrnehmens, besonders § 21), Auf diese
seine Eigenschaft können wir hier nicht
naher cingehn, muffen auf sie j doch hin-
weisen, da der Titel den tHinbruck erweckt,
es handele üch um ein rem Fachlticilig-
teiten absehendes Lehrbuch, das den sicheren
oder wenigstens sicher zu machenden Thcil
einer Wissenschaft, sei es der Oeffentlichlcit,
sei es dem Anfänger vermitteln soll. Diese
Eigenschaft hinwider besitzt da« Wert nun
einmal gar nicht und bemüht sich auch
nicht nach ihr, so streng und anerkennens-
werth und erfolgreich auch der Verfasser
nach einer „allgemeinen" Psychologie ge-
strebt hat. Allerdings ist der derzeitige
Ztllnd der Psychologie für Lehrbücher nicht
günstig; aber felbst die Annäherungen
daran, die es giebt (den „Arcnlo.no", den
Meinen und großen „James", felbst den
„Holkinann") wird man für ein Lehrbuch
immer noch uorzühen dürfe».
Die Aufgabe der Psychologie sei: „die
Gesetzmäßigkeit der Veränderungen, welche
man das Seelenleben nennt, klar zu be-
greifen." Ihr „philosophischer" Thcil läßt
den richtige», fraglos klaren Begriff von
„Seele' überhaupt erst gewinnen; ihr „fach-
wisfcufchllftlicher" Thcil hat „das Seelen-
gegebene in der Mannigfaltigkeit der Be-
wnßtseinsbcstimnithctt, wie sie das abstracte
Indwidunm „Seele" bietet, und in dem
gesetzlichen Zilmminenhang, nclcken das
concreie Indimdmim .~cele° aufweist, klar
zu blgiclfc»." Immer handelt es sich da-
bei um „reine" Psychologie, d. h. abgesehen
von den Beziehungen des Bewußtseins zum
„Gegenstand". — Zur Einzelflagen ist das
Werl umso weniger zu benutze», als ihre
Beantwortung hier zu sehr von der Ge-
sammllcisluüg abhängig sein dürfte.
H, «enm,
Tic Julunft Ncr Philosopic. Antritts-
vorlesung ron l!r, Karl Joel, Prwat-
docent der Philosophie an der Universität
Basel. Basel, Benno Schwabe.
Referent hat verflicht, dem Büchlein an
einer besonderen Stelle gerecht zu werden,
und darf dies hier wohl dahin zufammen-
fasfen, daß er IM» ersten alademifchen
Griff mit Freude ob feiuer warmen Idealis-
men begrüßt, trotz einer etwas weitgehen»
408
Nord und 2iio.
den Vereinfachung der angewendeten Begriffe.
Gegenübel den vielen Todtsagungen der
Philosophie eines ihrer noch viel zahl-
reicheren Lebenszeichen. H. 8olun.
Philosophie der Vefrelun« durch das
reine Mittel. Beitrüge zur Pädagogik
des Menschengeschlechts von Dr. Bruno
Wille. Berlin, S. Fischer.
Die Bedeutung dieses Buchs beruht
auf seinem Ilaren und selbstständigcn Ein»
greifen in die Fragen der gegenwärtigen
und nächsten Gesellschaftsentwicklung. Bei
diesem seinen „praktischen" Werth bean-
Ivrucht es einerseits eine geringere fach»
wissenschaftliche, andererseits aber eine um
so größere allgemeine Anfmerlsamleit und
zwar wenigstens von Seiten Derer, die
mit feinen Gegenständen maßgebend zu
thun haben. Grundgedanke: „Rein ist ein
Mittel nur dann, wenn es durch seine
Nebenwirkungen seinen Zweck gar nicht
oder verhältnißmäßig wenig beeinträchtigt.
Da nun mein Ziel, mein höchster Endzweck
,der freie Veinunftmensch ist, so verstehe ich
unter .. . ,dem reinen Mittel' lediglich
solche Maßnahmen, welche ., . uns den
fielen Vernunftmenschen thatsächlich näher
bringen, nicht aber gegen Freiheit und Ver-
nunft so erheblich verstoßen, daß sie in
dieser wichtigsten aller Beziehungen mehr
schaden als nützen." — Statt einer ein-
gehenden Kritik seien hier als Beispiele
vermerkt: die willkürliche Einengung bei
Weichbegriffs auf das Angenehme und der
Mißgriff, daß bei den „Individuellen
Mittelwerthungen" der Gegensatz „normal"
und abnorm" oder „anomal" (wie es statt
des fehlerhaften Wortes „anormal" heißen
muh) mit dem Gegensatz des Alten und
Neuen sowie mit dem des Allgemeinen und
Individuellen verwechselt ist.
N, rirm,
Heitschrift für Philosophie und philo«
sophischc «ritil. . . 104. Bd. 1. Heft.
Leipzig, Verlag von C. E. M. Pfeffer.
Ein Stück Fortsetzung der in unserm
Februlllheft 18!)4 genauer besprochene»
I ubiläumsbände. Hervorzuheben wären
diesmal Uebersichtcn über Rußland, Eng-
land, Amerika und die feinsinnige Schätzung,
die Theobold Ziegler kleineren Schriften
von Franz Brentano angedeihen läßt. —
War' es nicht dieser Zeitschrift würdig,
wenn sie auch die äußeren, insbesonders
die Lehrveihältnisse der Philosophie in
ihren regelmäßigen Beachtungslnis ein-
bezöge? II. 8odn,,
Vntwickelungsgeschichte der Natu».
Von Wilhelm Bölsche. 2 Bände und
gegen 1000 Abbildungen im Text mit
16 Tafeln in Schwarz- und Farbendruck,
Geb. Preis 15 Marl, auch in 40 Liefe-
rungen i 30 Pf. — Neudamm, Verlag
von I. Neumann. —
Der Stoff zu dem vorliegenden größeren
Weile hat zwar bereits früher berufene
Bearbeiter gefunden, gegenwärtig fehlte es
aber an einem derartigen Buch, dos dem
Laien das reichhaltige Material, unter
Zugrundelegung gerade auch der neuesten
Errungenschaften auf naturwissensäafilichem
Gebiet, übersichtlich und in durchaus all-
gemein verständlicher Weise darbietet.
Diese Aufgabe zu lösen und ein derartige«
Werl zu schaffen, ist dem Verfasser vor-
trefflich gelungen. Derselbe, der auch durch
seine Bemühungen, die Aesthctik auf eine
naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen,
sich bekannt gemacht hat, erweist sich in
dem vorliegenden Werte als ein gründ-
licher Kenner der verschiedenen Zweige der
Naturwissenschaften bis in ihre jüngsten
Eniwickclungen, Bei glänzender Stilistik
versteht er das I nteresse des Lesers zu ge-
winnen und dasselbe von Cavilel zu Eapitel
zu steigern. Die ganze Behandlung des
mächtigen Stoffes geht von großen Gesicht«»
Punkten aus, nirgends verletzend, dabei ist
der Verfasser weit entfernt, etwaige Lücken
unserer Ertcnntnih zu verdecken, vielmehr
vertritt er, wie er dies in der Einleitung
hervorhebt, die Ansicht Alexander von
Humboldts, „daß jenes einseitige Sich-
steifen auf die letzten Rälhselfragcn, von
deren zeitlicher Unlosbarkeit man in gewissen
Kreisen immer wieder nur zu gern den
Culturweith der Naturfoischung abhängig
machen möchte, wesentlich in solchen köpfen
entsteht, die gar leine Ahnung besitzen von
der wirklichen Giütt, dem Rcichthum und
der Schönheit der bereits zu voller Klarheit
erforschten Gebiete der Naturwissenschaften,
— Wer von einer rechten Liebe zum
Nllturstudium und von der erhabenen
Würde desselben bestell ist, kann durch
Nichts entmuthigt weiden, was an eine
liinitige Vervollkommnung des menschlichen
Wissens erinnert." Unter dieser Voraus-
setzung, schreibt der Verfasser, sei unser
Weg begonnen. —
Da« umfangreiche Werk besteht aus
2 Bänden, jeder Band gegliedert in drei
Unterabtheilungen (Bücher). Der erste
Vibliographische Notizen.
409
Band beschäftigt sich mit der Entwickelungs»
geschichtc der menschlichen Kenntnih der
Natur, ferner mit der Entwickelungs-
cieschichte der außerirdischen Welt, vom
Nebelfleck bis zum Planeten, und schließlich
mit dem Urzustand der Erde und den
vulcanischcn Erscheinungen der Gegenwart.
Die Entwickelungsgeschichte der außer-
irdischen Welt kann als ein vollständiges
populäres „Compendium der Astronomie"
bezeichnet werden. Der zweite Band um-
faßt in seinen einzelnen Bücher» die Erbe
in der ältesten Epoche ihrer Entwickelung,
alsdann die Trias-, Iura» und Kreidezeit
und schließlich den Zeitraum von Beginn
der Tertiärzeit bis zur Gegenwart. In
sehr interessanter Weise behandelt in diesen!
Band der Verfasser die Darwinsche Lehre,
die er aus den Thatsachen heraus, stufen-
weise entwickelt und dem Leser vorführt.
In einer Reihe von Abbildungen, die sich
dem Texte genau anschließen, wird das
interessante Gebiet der Anpassung, Mimilry.
dem Leser veranschaulicht. Weilerhin er-
läutert der Verfasser in sehr ausführlicher
Weise die geschichtliche Nnlwickelung bei
Organismen von den ältesten Urformen bis
herauf zum Menschen. Dem Letzteren ist
das Schlußcaftitcl gewidmet, in welchen»,
bei Vermeidung extremer Schlüsse, den
Resultaten einer vorurteilsfreien Forschung
Rechnung getragen ist. Ein ausführliches
Register ist dem zweiten Band am Schluß
beigeiügt. —
Zahlreiche Illustrationen, theils nach
Original-Photographien, «Heils nach Zeich-
nungen, erläutern den Text; das recht gut
ausgestattete Werl kann wnrm empfohlen
weiden. Ii,
Vorspiele auf dem Theater. Drama-
turgische Skizzen von Paul Lindau.
Dresden und Mcn, Verlag des Uni-
versum. (Alfred Hauschild.)
An dramaturgischen Werken, die sich
mit den Gesetzen, nach denen der drama-
tische Dichter schaffen soll, resp. nach denen
die anerkannten Meister des Dramas ge-
schaffen haben, befassen, fehlt es nicht; da-
gegen fehltes an eincrpialtischen Drama-
turgie, an einem Werke, welches uns die
Phasen vom fertig vorliegenden Werk des
dramatischen Dichters bis zu seiner Ver-
körperung auf den weltbedeutenben Brettern
beleuchtet, das die Thätigkeit des Dichters
nach Vollendung seines Werkes, sein
Verhältniß zum Regisseur, die Thätigkeit
des Letzteren sowie des Schauspielers auf
den Proben wie bei der Aufführung schildert.
Diese Hücke füllt das vorliegende Buch
Paul Lindau« in bantenswerther Weise
aus. Die reichen Erfahrungen, die Paul
Lindau als Bühnendichter, Dramaturg
und Theaterkritik« gesammelt, und die er
jetzt in einflußreicher Stellung nutzbar zu
machen Gelegenheit hat, die Einblicke, die
er durch seine persönlichen Beziehungen zu
bekannten Bühnenleitern und berühmten
Schauspielern in das Lebe» und Treiben
hinler den Coulissen sowohl an deutschen
wie an fremden, vornehmlich französischen
Theatern hat thun tonnen, setzen ihn in
die Lage, diesen Gegenstand mit vollster
Sachkenntnis; zu behandeln; daß dies außer-
dem in gefälligster Form, in fesselndster,
durch zahlreiche, charakteristische und amü-
sante Anekdoten und eigene Erlebnisse
Linbaus gewürzter Darstellung geschieht,
braucht »icht erst versichert zu werden.
Das Buch setzt sich aus drei Abhandlungen
zusammen: »Regie unb Inscentrung",
»Dichter und Bühne in Teutschland und
Frankreich" unb „Ueber die Kunst des
Schauspielers". In dem eisten Aufsätze
wird die wichtige Thätigkeit de« Regisseurs,
von deren Wesen und Bedeutung das große
Publicum leine Vorstellung hat, sowohl
in Bezug auf die „Inyallsregie", wie auf
die .Formregie" (Inscenirung) — wie
Lindau es bezeichnet — eingi heno gewürdigt
und ei» anschauliches Bild von dem Ver-
laufe der Leseproben, Bühnenproben u. s. w.
gegeben. Altcingewurzelte Mißstände a»
deutschen Bühnen werde» in lehrreicher
Weise bloßgelegt unb mancher beherzigenö-
werthe Wink gegeben, dessen Befolgung
Regisseuren und Schauspieler» von Nutze»
sein dürfte. Der zweite Aufsatz zeigt
die verschiedene Stellung, welche der
deutsche unb der sranzösische Dramatiker
ihren Bühnen gegenüber einnehmen —
eine Parallele, welcle nicht zu Gunsten der
deutschen Theaterverhältnisse auefällt. Ter
dritte Essay beschäftigt sich, anknüpfend
an Auslassungen des bekannten französi-
schen Schauspielers Coquelins, mit der
Kunst des Schauspielers und erörtert be-
sonders die Frage, ob der wahre Schau»
spielkünstler mehr im Banne der Inspiration,
oder der künstlerischen llebcrlegnng stehe,
ob er in der Rolle ober über ber Rolle
stehen müsse, um die größte und reinste
Wirkung zu erzielen. —
Das Buch ist zunächst Allen, die mit
der Bühne in engerer Beziehung stehen,
vornehmlich also Theaterleitern, Regisseuren
unb Schauspielern, femer aber auch Allen,
4!«
Nord und 2üo.
die für das Theater und die dramatische
Kunst Interesse haben — und wer zahlte
nicht zu diesen, — angelegentlich zu em-
pfehlen. 0, N'.
Katalog der Vereinigung der Kunft-
frcnude für amtliche Publikationen der
irönigl. Nalional-Galcrie. Berlin.
Längst überwunden ist jene farbenfeind-
liche Periode einer dem wirtlichen Leben
allzu sehr entfremdet-n Kunst: der Stand-
punkt, de» einst Diderot in seinem e«»ni
3ur I» psint~ r« einnahm, in dem er die
Farbe als den „göttlichen Hauch, der Alles
belebt," pries, ist wieder zu allgemeiner
Geltung gelangt: nicht nur in der Kunst
selbst kommt dieser neu belebte, gesteigerte
und zugleich verfeinerte Farbensinn zur
Geltung, auch die vervielfältigende Kunst
sucht ihm mehr und mehr Rechnung zu
tragen. Die Schwierigkeiten, mit denen sie
hier zu kämpfen hatte, um den künstlerisch
gebildeten »«eschmael zu befriedigen, sind all-
mählich überwunden worden: und ncl-cn
der Photographie und der Radiruna, deren
Bevorzugung in neuerer Zeit schon den
neubclebte,! Zinn für malerische Wirkung
docunie!,tirt, kommt mehr und mehr die
sarblgc Wedergabe hervorrage, der Gemalte
in Aufnahme. Ein neues Verfahren: der
Farbenlichtdruck von Ad. 0, Troitzsch er-
möglicht es, die Kunst. rrrke mit der vollsten
Treue des photographischen Nachbildes und
mit der — nur gemäß der veränderten
Gros« rcdilcittcn — Farbcnwirtnng des
Originals wiederzugeben. Ter Eindruck,
den die nach diesem Verfahren erzeugten
xunstblättei mache», kommt dem der Ur-
bilder so nahe, das; sie einen wirklich an-
nehmbaren und willkommenen Ersatz für
dieselben bilden und man fast vergißt, daß
ihnen ein mechanisches Verfahren zu Grunde
liegt. Eine solche Treu?, vereint mit künstleri-
scher Feinheit der colorisiischen Nachbildung
ist bisher noch dnreh lein Veroielfältigungs-
verfahren erreicht worden. Tic Direktion
der tgl. Nationil Galerie verdient daher
lebhafte Anerkennung, daß sie einen Theil
ihrer >!»nsts>l äye mit Hilfe dieses Verfahrens
dem kuüstsinnigcn Publicum zugänglich
machen will und dielen Zireck durch die von
ihr begnindetc Veremiaung dcrKunstfrcunie
zu erreichen sucht, deren »«cschä'tsleitung
in die Hände von Ad, 0. Troitzsch gelegt
ist Tic Verciniaung liefert ihren Mit-
gliedern für einen Jahresbeitrag von 20 Mk.
Vereii>sbilr>er nach freier Wahl in gleichem
Werthe (ein Normalbild, bezw. zivei Halb-
blättcr oder 4 Wappenbildcr), Ter Katalog
für 1895—1896 weist Gemälde auf von
v. Canal, Ed. Fischer. Carl Graeb, Ed.
Hildebrandt, v. Schennis (Landschaftliches
und Architektonisches), Ernst Hildebrand
(Königin Luise auf der Flucht nach Memel),
Ferdinand Keller (Apotheose Kaiser
Wilhelm'« des Siegreichen,; Adolf Menzel
(Trockenplatz), Karl Müller (Madonna),
Karl Soltzmann (Kaiser Wilhelm II. an
Bord de« .Tuvcan Gren" auf der Wal-
Jagd), Anton v. Werner (Im Mappen»
quartier bor Paris), die sämmtlich durch
kleine, aber gute, klare Phototypien wieder-
geaeben sind, so daß mau auch ohne die bei-
gefügte genaue Beschreibung eines ieoen
Bildes eine genügende Vorstellung von jedem
Kunstblatt« bekommt, um nach den Kata-
logen eine Wahl treffen zu können. Wir
wünschen den, Unternehmen gedeihlichen
Fortgang unter der Theilnahme des kunst-
sinnigen Publikums. — I —
Tas Werl Adolph VlcnlrlS. Eine
Festgabe zum 80. Geburtstage des
Künstlers. Ein Band Großquart mit
Ul Vollbildern und 108 Tezt- Illustra-
tionen.
Franz von VenbachS Zeitgeuössifchc
Plldulffe 40 Portratts in Photo»
grewüre. Großfolioformal. Neue Folge.
Richard Wagner. Von Houston
Stewart Ehnmberlain. Mit vielen,
meist unveröffentlichten Portraits, Vig-
netten und zahlreichen anderen Illustra-
tionen, Facsimilcs u. s. w. Vcrlags-
anstall für Kunst und Wissenschaft
in München, vormals Friedrich
Bruckmanu.
Tie durch ihre heroorragenden Leistungen
auf dem Gebiete der künstlerische:! Rcvro-
duetion bekannte und dadurch um die Kunst
selbst verdiente Münchener Firma bringt
zu gleicher Zeit drei Werke von hervor-
ragendem Kunstlverlhe auf den Markt, mit
denen drei der bedeutendsten Namen unserer
Zeit verknüpft sind.
Von aciucllem Interesse ist besonders
das erste der drei Weil?, welches unserm
genialen Menzel, dem Bahnbrecher einer
neuen «mist gewidmet ist, der demnächst,
am 8, Tcccmbcr, seinen 80. Geburtstag
feiern wird. Das ist ein Zeitpunkt, der es
zur Pflicht macht, die gewaltige Lebens-
arbeit dieses Meisters, der noch als Greis
die Frische und Schaffenskraft eines J üng-
lings offenbart, auch weiteren Kreisen ein-
gehend vertraut zu machen. Tas Don der
I llustrirte Nibliographie.
~U
Verlagsanstalt im Jahre 1885 herausge-
geben« große Menzelweil ist, da es nur in
einer Auflage von 350 Exemplaren herge-
stellt war, natürlich auf einen sehr engen
Kreis beschränkt geblieben. Die vorliegende
Ausgabe, die in eleaantem Bande 40 Mt.
kostet, wird dem Mangel abhelfen. Sie
schildert die ganze künstlerische Thätigleit
Menzel« in Wort >,nd Bild, Der Text
rührt von MI, z Jordan her, der, nachdem
er Inn die eilten künstlerischen Aeußerungen
des frühreifen Knaben besprochen, ausfuhr»
lieh jene epochemachenden Leistungen Menzels
würdigt, durch die er das Zeitalter Fried»
richs de« Großen zu neuem Leben erweckte,
durch die er dos Vcrständniß für den großen
König und seine Zeit so ungemein gefordert
hat, so daß jene Werke nicht nur im rein
künstlerischen Sinne reformirend gewirkt
haben.
In ebenso klarer, einfacher, anziehender
Darstellung, wie Jordan diese Periode
schildert, in der der Genius des Künstlers,
anfangs von einer unentwickelten lllustra-
tionstcchnil beengt, dann auch deren Ver-
vollkommnung mit fördernd, wacdtvoll zum
Duichbruch kam, führt er uns auch die
weitere Entwicklung vor, in der sich der
Meister der lünsllerische» Wiedergabe der
gegenwärtigen Wirklichkeit zuwandte —
Das Werl ist reich und glänzend aus»
gestattet, mit 31 ausgezeichneten ganzseitigen
Lichidruckdilderu »nd 106 Tcxtillustratiouen
geschmückt. —
Die Neue Folge der „Zeitgenössi-
schen Bildnisse" von Franz von
Leubach — deren erster Band vor nahe
10 Jahren erschienen — bietet nach einer,
uom Künstler selnst getroffenen Äusvahl
eine Auslese des Bidcutendstcn, was Leu»
buch im letzten Jahrzehnt gclchiffcn: 40
Portraits zumeist von berühmte» Persön-
lichkeiten; darunter: König Albert von
Sachsen, der Prinzregeiit von Bayern,
Papst Leo XIII., Finst Ferdinand von
Bulgarien, Fürst Bismarck (2 Mal), Fürst
Hohenlohe, «ras Moltle, H. v. Bülow,
Richard Wagner, loh, Strauß, «eorg
(Ibeis. Richard Von, Heim, Lingg, Schwe-
üinger, H. v. Hlmholtz, Rcinh. Begas,
^ienbach mit Kind; Mnrcella Sembrich,
Lillian Sanbcrson. Das Bildniß der
Letzteren beweist, wie das der Gräfin Goltz
und der Madame C., daß der >ti'»mler,
obwohl er sich nicht des Rufe« eine«
speciellen Damcnmalers eifrent, dem weichen
weiblichen Schönheilsreiz ebenso gerecht zu
werden vermag, wie männlicher Willei-s-
starke und Intelligenz. Den Beschluß
macht ein reizendes Bildniß des Töchterchens
des Künstlers: Marion Lentmch. Ucber
Lenbachs Charatieiislrunllskunst, die uns
mit so überzeugender Kraft den Wesensge-
halt jeder Persönlichkeit in ihrem Antlitz zum
Ausdruck zu bringen vermag, brauchen wir
uns hier des Weiteren nicht auszulassen.
Diese zeitgenössischen Bildnisse, welche uns
hier in prächtige» Photogicwürcn in Groß-
foliosormat angeboten werde», haben in der
Tbat neben ihrer hohen künstlerischen Be-
deutung den Werth von Documenten zur
Zeitgeschichte.
Nur einen kurzen Hinweis könne» wir
hier dem Werke über Richard Wagner
vo-i Chambeilllin, widmen, von dem
uns znr Zeit nur die erste Hälfte vorliegt,
und auf das wir noch eingehender zurück-
kommen werden. Das von einem gründliche»
Wagnerkcnnci und begeisterten Wagneiuer-
ehrer herrührende vornehm ausgestattete und
mit zahlreichen Illustrationen geschmückte
Werk bringt viel bisher Unbekanntes, das der
Herausgeber zum großen Theil den von
Frau Cosima zur Verfügung gestellten
Schätzen ans Villa Wahnfried verdankt.
Hier soll auch zum ersten Male ei» voll-
ständiges Verzeichnis! der Werke Wagners
geboten werden. Das Werk wild 24 MI,,
gebunden 30 MI. kosten. — I —
Vavonesl. Nr. Roman von F. Freiherr
von Dintlage (Hans Nagel von
Brawc), Trcsoeu und Leipzig, Carl
Reißner.
Wie schon der Titel errathen läßt, ist
die Heldin des Romans eine junge, schöne
Baroneß, lloctar modieina« und erfüllt
diesen Beruf, zu dem sie sich durchgerungen,
nachdem ihre Herze>isllnc,clegcn!ieiten durch
eine Veikettung mißlicher umstände Schiff-
bruch gelitten, im segensreichsten und
edelsten Sinne. DcrVcifasser doeumentirt
sich in seinem Werke als ei» Vorkämpfer
der Franenuewrgung und Anwalt derjenigen,
die für die Zulassung der Frauen zu den
gelehrte» Berufe» ftlnidiren; es geschieht
tics in duichans nicht lehrhafter Weise,
er versucht nur nm Beispiel zu überzeugen,
und wenn er seiner Hcloin Worte in den
Mund legt, welche seine Parteinahme für
diese viel umstntteiie Frage dethätigen, so
fügt sich Rede und Gegenrede ohne Auf-
dringlichkeit in den Rahmen der Erzählung.
Nur die Basij, auf welcher die Ver-
wicklung sich ausbaut, die das Herzens-
bündnii! der Baroneß in einer Katastrophe
enden laßt, erscheint uns ziemlich künstlich
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Section 1 -
1
Section 2 -
14
Section 3 -
32
Section 4 -
46
Section 5 -
62
Section 6 -
87
Section 7 -
125
Section 8 -
134
Section 9 -
275
Section 10
- 424
Section 11
- 280
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lllustrirte Nibliographie.
Verlagsanstalt im Jahre 1885 herausge-
geben« große Menzelweil ist, da es nur in
einer Auflage von 350 Exemplaren herge-
stellt war, natürlich auf einen sehr engen
Kreis beschränkt geblieben. Die vorliegende
Ausgabe, die in eleaantem Bande 40 Mt.
kostet, wird dem Mangel abhelfen. Sie
schildert die ganze künstlerische Thätigleit
Menzel« in Wort >,nd Bild, Der Text
rührt von MI, z Jordan her, der, nachdem
er Inn die eilten künstlerischen Aeußerungen
des frühreifen Knaben besprochen, ausfuhr»
lieh jene epochemachenden Leistungen Menzels
würdigt, durch die er das Zeitalter Fried»
richs de« Großen zu neuem Leben erweckte,
durch die er dos Vcrständniß für den großen
König und seine Zeit so ungemein gefordert
hat, so daß jene Werke nicht nur im rein
künstlerischen Sinne reformirend gewirkt
haben.
In ebenso klarer, einfacher, anziehender
Darstellung, wie Jordan diese Periode
schildert, in der der Genius des Künstlers,
anfangs von einer unentwickelten lllustra-
tionstcchnil beengt, dann auch deren Ver-
vollkommnung mit fördernd, wacdtvoll zum
Duichbruch kam, führt er uns auch die
weitere Entwicklung vor, in der sich der
Meister der lünsllerische» Wiedergabe der
gegenwärtigen Wirklichkeit zuwandte —
Das Werl ist reich und glänzend aus»
gestattet, mit 31 ausgezeichneten ganzseitigen
Lichidruckdilderu »nd 106 Tcxtillustratiouen
geschmückt. —
Die Neue Folge der „Zeitgenössi-
schen Bildnisse" von Franz von
Leubach — deren erster Band vor nahe
10 Jahren erschienen — bietet nach einer,
uom Künstler selnst getroffenen Äusvahl
eine Auslese des Bidcutendstcn, was Leu»
buch im letzten Jahrzehnt gclchiffcn: 40
Portraits zumeist von berühmte» Persön-
lichkeiten; darunter: König Albert von
Sachsen, der Prinzregeiit von Bayern,
Papst Leo XIII., Finst Ferdinand von
Bulgarien, Fürst Bismarck (2 Mal), Fürst
Hohenlohe, «ras Moltle, H. v. Bülow,
Richard Wagner, loh, Strauß, «eorg
(Ibeis. Richard Von, Heim, Lingg, Schwe-
üinger, H. v. Hlmholtz, Rcinh. Begas,
^ienbach mit Kind; Mnrcella Sembrich,
Lillian Sanbcrson. Das Bildniß der
Letzteren beweist, wie das der Gräfin Goltz
und der Madame C., daß der >ti'»mler,
obwohl er sich nicht des Rufe« eine«
speciellen Damcnmalers eifrent, dem weichen
weiblichen Schönheilsreiz ebenso gerecht zu
werden vermag, wie männlicher Willens-
stärke und Intelligenz. Den Beschluß
macht ein reizendes Bildniß des Töchterchens
des Künstlers: Marion Lentmch. Ucber
Lenbachs Charatieiislrunllskunst, die uns
mit so überzeugender Kraft den Wesensge-
halt jeder Persönlichkeit in ihrem Antlitz zum
Ausdruck zu bringen vermag, brauchen wir
uns hier des Weiteren nicht auszulassen.
Diese zeitgenössischen Bildnisse, welche uns
hier in prächtige» Photogicwürcn in Groß-
foliosormat angeboten werde», haben in der
Tbat neben ihrer hohen künstlerischen Be-
deutung den Werth von Documenten zur
Zeitgeschichte.
Nur einen kurzen Hinweis könne» wir
hier dem Werke über Richard Wagner
vo-i Chambeilllin, widmen, von dem
uns znr Zeit nur die erste Hälfte vorliegt,
und auf das wir noch eingehender zurück-
kommen werden. Das von einem gründliche»
Wagnerkcnnci und begeisterten Wagneiuer-
ehrer herrührende vornehm ausgestattete und
mit zahlreichen Illustrationen geschmückte
Werk bringt viel bisher Unbekanntes, das der
Herausgeber zum großen Theil den von
Frau Cosima zur Verfügung gestellten
Schätzen ans Villa Wahnfried verdankt.
Hier soll auch zum ersten Male ei» voll-
ständiges Verzeichnis! der Werke Wagners
geboten werden. Das Werk wild 24 MI,,
gebunden 30 MI. kosten. — I —
Vavonesl. Nr. Roman von F. Freiherr
von Dintlage (Hans Nagel von
Brawc), Trcsoeu und Leipzig, Carl
Reißner.
Wie schon der Titel crrathen läßt, ist
die Heldin des Romans eine junge, schöne
Baroneß, lloctar modieina« und erfüllt
diesen Beruf, zu dem sie sich durchgerungen,
nachdem ihre Herze>isllnc,clegcn!ieiten durch
eine Veikettung mißlicher umstände Schiff-
bruch gelitten, im segensreichsten und
edelsten Sinne. DcrVcifasser doeumentirt
sich in seinem Werke als ei» Vorkämpfer
der Franenuewrgung und Anwalt derjenigen,
die für die Zulassung der Frauen zu den
gelehrte» Berufe» ftlnidiren; es geschieht
tics in duichans nicht lehrhafter Weise,
er versucht nur nm Beispiel zu überzeugen,
und wenn er seiner Hcloin Worte in den
Mund legt, welche seine Parteinahme für
diese viel umstntteiie Frage dcthätigen, so
fügt sich Rede und Gegenrede ohne Auf-
dringlichkeit in den Rahmen der Erzählung.
Nur die Basij, auf welcher die Ver-
wicklung sich ausbaut, die das Herzens-
bündnii! der Baroneß in einer Katastrophe
enden laßt, erscheint uns ziemlich künstlich
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<tt2
Nord und 5üd.
construirt, hier Wirten Zufälligkeiten mit,
die aufgeklart weiden müßten, und bah st«
nicht aufgellärt weiden, ist unglaubhaft
und unnatürlich, —
Die Begeisterung des Verfasseis für
den Prinzen Friedrich Karl, welcher er in
seinem Roman den lebhaften Ausdruck ver-
leiht, lann der Leser willig in den Kauf
nehmen, wenn auch die Gestalt des Prinzen
in recht losem Zusammenhang mit dem
Gang der Handlung steht und wohl nur
aus besonderer Sympathie des Autors mit
hinein verflochten worden ist. m«.
VI» P»8»l«ml». Lebenslieder von Hermine
von Preuschen. Verlag von Carl
Neisncr, Dresden und Leipzig.
„Vi» pu^innis" zeigt, wie die unter
dem Titel „Ne^in» viws" früher erschienenen
Gedichte dieser hochbegabten Schriftstellerin,
das gleichsam impulsive Forttlinge» des-
selben webmüthigen Gm>u>gedantcns, der
Sehnsucht nach Glück, des schmerzlichen Ge»
sühls seelischer Vereinsamung als Leitmotiv.
Nicht die Blume beglückender Liebe — die
Rose — sondern die wildwuchernde Vlüthe
der Leidenschaft, der rothe Mohn ist das
Sinnbild dieses schnell schlagendem, glühen-
den Frauenherzen«: „Und wieder flammt
vor meinem trüben Blick — Der rothe
Mohn! — Der rothe Mohn — Und spottet
meines Leids — Und mahnt an jeden un-
geluhten Kuh — Und mahnt an all die
ungelöschte Gluth — Und mahnt an meine:
Seele tiefste Qual — Ter rothe Mohn!'
Bei der Betrachtung einer vom Trödle:
getauften schadhaften, alterthümlichen Uhr,
welche nach ihrer Nestaurirung täglich eine
Stunde vorgeht, ruft sie aus: „Ich aber
lann ihr tolles Thun begreifen, — Ist sie
doch wie ein Iranles, müdes herz — Dem
noch ein Glück genaht in zwölfter Stunde
— Und da» darum nun Alles, was c« j«
— Versäumt in jahrelanger Oede, möchte
— Mit wllbei Pulfc ungestümen Söläger:
— Einbringen n."
Es ist daher begreiflich, daß in den
vorliegenden Gedichten nicht die Windstille
der Zufriedenheit, sondern der Sturm des
Verlangens und tes Widerspruchs vor-
herrscht, Ruhm und Liebe sind zuweilm
der Dichterin nur Wahn und Traum,
Wellenschaum und Meeresleuchten. Sie
hält alles Glück für ein Phantom, und in
ihrer Seele ist ob der armen, mensetlicheu
Gefühle, ob des zaghaften, Neinen Ringens
ein Lachen wie jenes Lachen der gestürzten
Ongel, die all der weiten Schöpfung Gein
begreifen und doch sich bäumen wider ihren
Herrn; ab« sie lommt auch wieder zu einer
versöhnlichen Lebensauffassung uno schlicht
da« Gedicht „Aufruhr" mit den Worten:
„Dein ist die Liebe und ihr Wunderglauben.
— Wer viel geliebt, dem wirb auch viel
vergeben — Lach Deines Schwurs, des
thöricht-sehnsuchtstauben, — Latz leinen
Tag des Glücks Dir ferner rauben — Aus
diesem armen, kurzen Menschenleben." —
Sie erinnert sich daran, daß sie noch
Flügel hat, die sie emportragen ob allen
Wust und alle Qualen des Alltags in die
reinen Lüfte, darin allein ihr Genius wirtl
und lebt. Tafz aber der Dichterin auch
fanstere, harmonische Töne zu Gebote
stehen, beweisen die tiefempfundenen Lieder,
in denen sie ihre Liebe und ihre Mutterliebe
ausllingen läht. ml.
Iü,«el»»eene Lllclier. LeHpi-ecliuiU n»c!i H»««»lü <!er NüäzcUou vuideblllle,,.
",11»», 0. VA "Nü«l L!»„l!>,<:>l, rOrm,,: 12,1,"
<8cb!u»8.> Mutiert, l/moi, Deut«<:!!l,V,">l>z!>'
irv»i!<:!!l>lt,
»l'>,s«t!l>„t>,l>l. in?.«!mt« »>!!ly;e. Ait ?„i-
t,A>t Uüä ,"!,!, !Kwi>6 >>ü« "Vlllmlmuüeü Äei-
l>K'!>t«>'w, «üu!«»deiv !, ?>',, ?elll. (Jever.
8>!»!<!„».>t. 1.>/V,?,lss. ?, Uilt " 8nd„.
2«UI». II,, vi« ">«>,!e!,t!!c!»' l3nt»lcK>U!!l; <>e«
»l«!licl,>>» 8>i»„!«ü un<! c!e>' meälein!, «?!,«!,
l'i'iücli,K!> V>„loi,.
»«,1«, 0, vr„ 0-„-, ssl,l„",> «>„!>, "„„ r!„ t!,'-
»«d!e!>t,<!>!IH. 2v,ite .V>,!l»ge, K»>z>!, U»x
Xi,,!r«t>«!-ss, !!<,,'!,»>!;,<elw Vorl »L»6ruc!lelel ,
Ü!!>!er unä «Kl?,,!?» »UÄ >!e»> Luldüteulebrü
«<l,«reiß, "Vlw'it l.!n>b!,s!i,
2l»u>»ieli'» II » I u Ivn It« »n cl»» Äeut«tl^
Volk. 2u«ll!,>mei>ee«t<:!tt uns erliinten
III. «»>>» Llum, üiwuzen, X «I!»" von ?»!m
2l»nob, s,>l>. UeäloKle, XU7!c>! und r«lp?,i<,'.
V«r!»ß von „8ten>,< litte>«n"cd«U! IjxüeNn
der ßeb«,:"",
Nlunl, II, N,„ >U,ül li^umiek ui,H x,'w« X«!,,
1",,»' l«„ß,»pl>il! IUI >!«,-< <!eut«el!0 VoUt. 8,m<l
V-Vl. zm„cl!e„. N. Lee!i!<e!!e VelUiss«-
!mc>,>,»n<l !lmL,
2«!il<lu, I!., Der I !«„"rb»w>!>»s. »nm«!A
f. ?n»tlu>« <i: l">.
»u»«, c. »Nr <!, I!c!i<»>. "tuttMi-t. U.cnN,'«
XlledlulMi-,
- r,l„m«, I. «!>>?, iz, H, <!. l>!>!>««Ui!s.
Vibliogiaphie.
3~3
Ol« « Iv, L, Xonlgzieid. vr»m» !l> lllnl Hüten,
Dresden und N«inx>L, Neinrlrn Minden.
Il^on, ü. d«, Na ssuerre nuia Mix? N»»«»nne,
N. Nend».
— Illztuire d« Nüntente rr»»c»-lln»le 1 88U-1 894.
Nueument» et .«ouveul!?, Hvee un nortrait
d« Ilatlln5. Deuxlome edltinu. Lausanne, N.
Lenda.
~»lu», I?., Onlndoveeli. NI5tor!«<:b«r Human »u»
der V i I » I e r » » n d « r u » ss . Vierte HnHI^e. Nein-
«i«, LreltKops uns Ulutei,
IH»ut» Hiizdieri, N,l llivin» Commedi». Nive«!nta
»ei teztn eom»,eut»t» da (!, H. Keaitlünini.
ziilann, Villen Noepil.
v«ut»elll»ü<!» Aulili!«»t»~« 1870—71. In
8on!lderm>p!en von Mit« tleltern . N!el«iiu,L
L— 5. r?» II !« ! iu vv, !l»x Nabenxien.
Dtll>ti«i, Ueinrled, (inetde. Karl HußtUit »nd
Nttoliar Norenx, Li» Nenlimal. Nresdeu,
Nre«deuer Ver!a3,«un»t»!t !V. W. ü«ede>.
2«lii>cliell. ?!>,, Hu« »Item Hau««, Roman,
Nein«ij?, lindert l^rie«« !Hr!l>. Lavaeü.
Hill, L., Ypler der 2«!t. Lvvel Novellen au» dem
Wiener Neden, ~e,u>, Hermann Oostenodie.
^«oliiiolit, L,, Unter dunklen lllen»e!,en, Itoman.
Neriin, !?. ?ont»u« ö!i <?«.
üve«. ?,, Ileut«elw Nieder, Neriin. N, Nrut»,
?»llle, N., Nnnden uns stranden, 2«ui Nünde,
Nerlu, V,, Vorhin lilr l'reie» sclirilltiium.
?«H»liu?, Otto. 8treli«»8« dureddie Ideaterveit.
Dresden. vre»deuer Ver!»z;«»u«talt <V.
V. ü«cue).
?lc>«l»ttu, Nured Nadum«. l!rn»lo nnd deit« r«
lür!«dnl»»e, ll«l«e- und /v»/v» beulener. ~!>l
««ob» londlideri, von ~odunue» Leiirt«, Nein-
Li«, ?, Nlrt H 8nlm,
?<>l!t«li«, ?!>,, LM Niie't. NnniiM, Lerl!,,, r.
Montane 6c l,o.
I'i»»>lieyv8<!>>l«v«lbeln, tlerlrud, Xnnüt und
Uun«t. Ilnm»n, Neriin, Fontane H Co.
?il>l>»li, I,. kN>MI aul! Koveileu, Neriin, !le>
drUder Nael«!.
— I„ liueriiöiis«. M»mi,urLer Novellen,
Neriin. (!ebidd,>r Naetei.
I°ii«b«i/V«i, U„ Nur ietl!« I^iittertuss, N!e«<!eu.
Neinüiss und Wien, ü, ?!l~nn,
<3l«»«bi«elit, >V. von. Ne«e!,!ont<> der d^ntzenen
X»!««r?.elt, VI, <8rdK,»«-> Lund, Nie ietlie»
leiten HxiLer?riedl!c!>» de« ttotlir,?,,!«. Her-
»n^ßegelie» u„d Inrtzeüetlt von lj,vo„ 8im.«u,,,
l>elpl!!!;, Nummer >~ Xumblnt,
<3iltr!t>«i/v, V„ Ni-e! ünveüen, Nrl!,m, Ll>rl<!i„t
" 8nnn.
NM«ln, >V. v,,l'nd »ie Kommt doci,! l!ri!Ä!!»n«
»uz einem H>nenKW«wr d>,« l~!, Ä/Vl,ii,undrr!8,
4. Hüllte, Lerilu, Uebruder ?üe!e>,
Nil»«l>teäcl, Nenrz, Ner Lerss,«ee, vre^den.
Verlaß von Neur? Londi.
M<loll«l, v«K»r. In> "elclien de» Nur«,,, Ouitnr-
sse«cu!Ollt»en<! l?r>Hn!un!:en »u« Neriin» Ver-
«»nzenneit. v<mt«c!iw,!d» Tugend ß<x,idmet,
Alt vielen äiddidunßeu von H, von lii!««ler,
Neipüiss, ?', Hirt ~ 8o!n>,
Hl>lii>«>llil, Nile, zIMI !erN!eke>, lÄne "rxnbinnß
lür er>v»cn8e,»e Aüdelien, ilit einer llelloßru'
vUre, Nelpül«, r, Hirt " Lob«.
No»lt»», W,, ciedlolite, ve««lu, (?. Nu„n!,»upt,
l'notu», Ni,> xrn?.x,dlu,~~NoNldi nnd die H>rn
Numm^rzlein Ltüclier. Llrlin. üo««!l»um <<:
Uurt.
Il>«->»ll>, ~. K„ <!e«>, !<?!,!« der Slllaver^i und dl'r
lliiri«X<dt, lieo!>lmilx,<ILyv deut'ldieNellrlndtnnz
von Leopold MaKolier. vrezden und »!>,üiss.
<~»r! I?ei»«ner.
~»«>>«>v»lil, N„ Hu» D,n und lr»um. Keue
Nedleute, Nerü», 8. Q>lv»r,v ~ 0«.
l5llt»ob»i'. (% Von VI'eiKeü llerlen, Xwei Xuvelleu,
Lerli,i,vent»cl>yv8el!ristyvtel!e>'s!eno»ten»el>l>lt,
Dis XilUb. Voebenaclulll d«»«llent»elien l~!>«iu,.
Uer«u«g. von X»r! »onneldt. II. ~lllileanli
lAn. 53-57. Leriln, V. UuM 8t«rm.
Xiu»«, U., Hero. ?r»uer»i>l«! in II Ins Hul?.!!«u.
I.«ll»!3, 8. Ulrüel.
l>«Uv«», Ur»i, Nn«»!»c!!'i>u!!N»cl,e LenlebunMu,
l?!n Hbrl««. Hutori»lrte Nener»«tlü>nz von
HitnurQ Hrnoid. NeipLiß, ü. 1^. Ln»Provio?„
I« mono« Hc,Ä«il>«. Ilevue llenzneii« Hin«-
Iree, IW5. Xov, ?nri«, H. (Huantin.
I~n». 0., Vandernn^eu In Hlrili». 8tudien m,d
Lrlednl»8e. Vlen, Verl»« der Nltten>rl3c!,en
t!e8eii»e!,»ft,
liii»!»,»», Ii,, Hu« llnlinl und ,l»p»n. Ne!»el!r'
innerunMN, Lerün, l~. lontüne ~ Co.
I^llx»«llb»i^, ?„ 8»l»«r rriedricl, »I» 8tude>,t.
>ll! i,>,v,>l<ll»>„tli/vt>temzlHter!lli »u» dem rlacn-
>»»8e ll»i««r ?liedrle!i'!>. einem llteiliüd >,»,!
I« Hbbildunßen, uutußranliwelien L!i!N«rn etc.
Neriin, 5erd. Nllmmler.
H»il!«>l!l>, iHur», Wir l>'r»uen und un««re
vlebter, Wien und l^inliß Ver!»U der
"Wiener!! «6e".
— 2v«l ll»uener!ebn!«»e, Knveiien. ?»ri».
Neipliß, «uneneu, Hldert Nlwzen,
H I« In« eil« , <i., llreoii»cb« und Mlli!<l»ede (!e-
»euicliteu, Neriin, Neut«cnerl ioiun! »i'Verl »8.
<N. Il«!neelie,>
H«ll>li»,iclt, H,. Climen, lilodenie 2vio»e»i>rllo!ie.
Neriin, «edrUder Naetel.
He!»ni»«i, Nr. I,,, l'„ v?e!!m»edt8«plele, Nlider
»u« der deutscnen s!e»elilent« ?.u leztiieben
Hullnnruuüeu llir "unz: und Hit, I. Nett.
Hu» der Telt der LadenlierLer, Wien, Verl»«
der litternrIZede,, Leüeii»en»lt.
H«"«!'» ll«l«»blloli«>'. liom und die (!amp»!:n«.
Von Nr. In, 0»ell sei«. Vierte Huüaze, Idit
5 Xurten, <? Niiinen nnd Uruudrizzen, «3 Hn>
«ieuten, »ipliz und Wien, Nidliograiini-
«cne« Inütltnt,
MUUsi, V,. NerNan de« Neicu» Üirieut»/,u l^ei,,-
«1^, NW« 8e!,i!d«rn,>!i de» Naue» und «einer
Linüeineüen, ?,u<i>ei>!, ein llinrer durcli ~»ine
Wume. »it 2 INul>i'»tionen, ü NMnen und
dem Nlldnl»« de« Nrblluer^, Neriin, ticnrss
Kiemen?,
I?»»»eii, Neiniieli Reines lamiiienielien n«l,~!
einer IM'I ne'Nitlerütur. Nuida, Nuldaer Heti~»'
ciruelterel.
H««ll>»~i, Nrol, Nr. ilelenior, Lrdze« idedw
Xveit« Huü»~> »euuearbeüet von Nrol. Nr,
Viewr I iiiiß, X»eiler Nond, Ne«c!>relbend«
«~eoioßie, Alt 4M Hdtdidünken Im lext,
IN rardendrucli- und s Nol/sednitltaiein, >u-
»ie 2 li»Nen. von Ib. Hindun», I. N«tl»»er,
?. Ltioid, N, llevn, !!. Xaulumnu, 0, Neter«,
X, No«enii>!l«r, N, von llan^onnet, 0, gcnull,
H, 8«ot>»da n. ». I~eiu~iss un<l Wien, LiKlio-
8rann!»ene» Institut.
Xe»>li>«i»«>olt, I1, v,. Hu» gärender ~ei!. I!in>'
8tndie»»«de!n l.e!>en, «tultgurt, vr.ruer«t«r
H cie,
I f i« in» ni» . H.. N>r Hssüaw,. llo„n,u. 2 INnde.
Nr^den. N,!n?,i« >1: W!»n, I?. Nler^on,
Iflsln»»»!, ,l„ Nie l'!!!e!,5,,ueiie, Komnn, X»e!
LUnde, Nre>den u. Neif/,!?. <~ur> Kei.^ne,.
»letikl, Nr. »., Ueluliet! «eine n!« Nil'iiw
und Aen~i,, Neitrü^e üu «eimr (^nawilteri-
«lili. N,r>!„, zii»«e!>«r 65 l!»«teii,
?»av«i~, H, v„ «„»««prllsiie un,i ln«c!,r!lten
In ll«ut»~i,!i,n<i. in No«terrei>d, »ud in der
8e!,we!x, N»derl,orn, leniinand 8cnönlnji!,.
?»»°llr»e, H„<!ed!cl,te,Xöniß«berg,llaNunL>ci,e
Veriaü^ilrue!«!!'«!,
?etil. 5,, liotn« 5rd«, Hu« «einem Kaeida«« nerau«-
«e««nen von r'rieli 8cum!dt. Lerün, Nebrdder
Naetei.
<U4
Nord und 6üd.
I >rw»»>"»iNnn». vr. ", V,, !?!>«« uns 81«:
18?« — ? I . Ult vielen äudlidunssen. Lerlln,
8en»ll u. Nrund.
?li>n8«t, Nr" V«r 30» der „DeutHouen
c>«ie!!8<:u»lt lur et! ii»cb« Ouitur" beitreten?
Vurtr»«. Neriin, ?erd. NUnimler.
?i«v«i, V,, N»r!vln. 8ein Irenen und "Virilen,
llit Nll<<n!«», Mewte«Keld«n, ner»u»ße8»ben
von .Volon Letlelnelm. 1!». L»nd). Lerlw,
Ü I ü « t U«IM»NU H Oo,
?i«U, Ii,, "m 8celente!ep>!on. Kell« Kur"ße-
»cnl"!>ten. liüiün, Nossn 8torm,
Au,»«»»!, L,, N"« 8oKn»euiid dlü dil>lend«,i Klinüte.
Vie», ?e»t, l.<'in/r, ". Knrtlcben,
r»i>K»«w, "„ !<lln»> lerl"be riiolozrHplile, VÜL»el-
dork, I5d, l.wzi'Mnz,
Neturnl, l!»t<l»"l«"e, NI3!ter «ur ?örderu!,<l
der ll»!„»nlllit, IV. "«brssllnss K. 19-2«,
llüni"üderss i, ?,, Lrl>u„ und VV>>l>er,
Ho«««, U, L" Lei der s!«rde l>leKm55« und üin-
dru>.!c« »u» den Xsiel_«!»nro» >87>>/71, !llt
vwr Karten, Hannover, ()2rl üever. <lluüt»v
?rwr.!
Icri«<l «oll AUollSIt» "»rb« in »eoll« 2ün<l «n,
UelHUüü«!:"!»',, von !.„(!«!!; riülner. b!r8te
l.les^r!,,,". 8tuN«»rt. ", N, cVNtü'xede LucK-
3elUU«r» "V«i!» Homu"""enen von l.udiriz
IU„t Ite "u»ss»d«, Lr«tor Nand, l.eli»!3 und
Nebuiltt, <?!,„ "I»»II"<W". /">>>t« verui(?l,ite
HuN""e, Xu>«!m I, l!„ ", l'ueli«.
3oln>»oK«nt>ur", !>,>«(,> Lliitter, .Vit s»r!>!<?em
l"iwld!»tt vonld, llopllner. riM«, .Vllrel
Loblllti«, Nr, 8" Der 2«ltMi«t 6«r modernen
l.!tt«rl>t»r l!uroM3. lünIM "»pltel «urvor-
ss>el>!!e>»!!>,i I >!tterntur"e»el>lclit«. N»lle». 8,,
8«lill»t«i, iL, Ner >len»cn"nlr<!nnd, l'r»uer.«piel
w viei"oten >Vo>l«ibU!t<l, "oüu« X«"«!«r,
8ell'v«i!f«!"l/v»«!!l',nf/v<l, V, v,, Die Donnu »I»
VUllierveir, 8oK»lf»nrl,>!»lrn,x'>eund llüi"erou!,:,
Alt.-MO »idiiduu"n u, Kürten, i"ielerunz
I L— 20. Wien, ". Ullrtl>-nell.
Zisuiiisviei, II, N»« !"t!„'il <l"ü X«u» und
»nder« ünveNen. Huloi!« l,'b"r"tlun" von
Nlüt.
8z>»nclov, ?li,, Von Ibl unü mir. Lerlin, L,
5>U»il> Ii, >!,,„>. reier«!»,!,!«» Äe> 8e«le. DielNer-
iclil»!:6 zur ü"ui"Kui« »nä I5r!«>>uiü? vnn
Uei-2 ,i„d s!e«t, Alt ?llelbH>!. reipxiz, r.
Uirt H 8,>l,n.
8tü»»«l. ">!i>!>!, I!r3n,!u„". Hoveil«. I.e!>«!ss,
Vcila".' vi,,! lloKsrt rrie»e 8ep<!!o,
— ?re,m,le. 8 u i n » 1 1 . l"einiiL, [ lodert ?rle«e
8el>.<Vmlo.
8ti»»dur"?r, ü,, 8treil«!ILe nn >l er lllvlei«,
Lei - 1 1 u . (ie!,rll<!er?»«!«!,
8tur>«nr»u«ll, L., ?!iuü un<! iHut« vi"litunßen,
s!w!«Ä«!,!i»i!i unä I >'l >>?.!L, U"umelt il: linnze,
Luttner, H, N. v., Kic"!»« r'N"Umll«« Kiew«
I!e«<!lnrnten, vlr~il~n, I~'li,üi8 c~ >V!en, L,
?i«r«oii,
leiobsrt, yv„ !>'i!r l^meü ziunn-, ~Veclc- uns
l,0!ttn,s(>, llllnclien, l'ur! Nupprc,'!>t.
vlebtiwss. Ken« verm. /vul!»Le. Lloerleld.
8e!bütverin«.
lovot«. U„ He!«««« Hut, Koveüen. Lerlin
?. t'onwne ~ »>,
li».iHt> V„ Hui l>illü«mem pl»<i. lieHiedl«.
2«eite v>>rm, ~»lia»?". /5»neru I. L„ >. r>«ll>.
Vlllle«, V!iUti»3 MNß« relllen. K»?!iÄem
krlm»>»!«enen Irei be»rdei<et vnn ü»i!
Lenneiit. Uerün, Vei«ln lur I r« ! « 8 8cu rilnniiik,
l»S«« von H, Nie!es"IH~ UulduoKninHI II»!:
Xr. 178 ll.lttcixturLe'onleut«, LiozrIMen.,
K~rl5ru!<«, H, Nlelelel,!'« NoMllcnd.
ViU»ln»ii», ~itelio«. XoveUen. U«r!w, Ledr,
lÄütei.
Volbel«, v,'. "In., sloetue nixl <Ue biläeiKie lllü!.!.
I"eip«r, L, >. se"m»»ü.
Vo»», Neori vr~ 0!« I>l»i«u in HerXumt.
Lerün, Kiclmn! ?«eni!!er.
Viebiwlc?, ~, v„ (!e,!ic!ite, .~u§~>>«ÄI>lt un<! übel-
?etüt von IXüdrirli ",!!er. ~!it <io,u LU<>M5«
<!"ü lliciite», lx'lp?,M5, l'liiü'P 1 1« ? I » m M,
DI» ~~llt!«ii ulsclsr! !l«»»t«"nr, «ur I 'ürdernnz
der ?r!eäen»ne,ve!:un!l. ?l«r»i>«MzeK«n von
8, 8i,Nner, ll>, ,l»drz»r,L, X. 3— !>. vre«n«l!.
I!. I>ier««n.
DI» ^^»biv«it. N»!dmun»t5cKrl It nir Ver-
ti«5li»!l in <!!>! I~r»ßen und HnT»bei> cie«
>leu»ci>enlebonyv. Ilesün^ss. von «üb. ^Ilruusil.
V. Nllnd «, I. »lüttMit, Ir. rroinii»m!
"«iolielt. U. Lr, i>!>ll„ Ünni,over5<:>i!> /ve/ve!u?dt>:n
und 8»zen. ür»t«r L»nd. Kurden, l»«dr.
8o!t»u,
ciueüen' und 8»mmel»er!ie, V,,l i^InNwIlonc
I. literstur, ('~ltur- uud 8it!t'i,ge!!cb!cl!ie.
I/Ve!p?.>z, .>, Beitel.
V/V«rttl«lln«r, I?,. IVnz,^« et il»x!me», ?r»dn.>
tl»n ö« zi»r,?eUin. 8»" lirlvot de (?r»»d«>nlt.
Iettre?i<l»c<> du f'ilmi'ol« l>>pr~« de l'~c»-
d,'ni!« ?~»n~»i«e. I'»ri<. ?»n! Nlieudorll,
'Wiehert, L.. Hnd<!n'r l'ont« Binder, 2»el Ko
~ullsr», >Vi!!>,>lm. ~Vcu, v~un Du »3r-t mein
uizün. , , l-'rül!!!l!m<5, Oresdri,, l>rei<wne!
Vl>r!»p>!»n3l»lt <V. V. reue»,
'W?oli?i»iii, Nr. ,!., 8c!i!l!erdem deulzsb^ii
Voll:« d^rßezlellt. Din üeux! 8l»!,dner!l M«r
den I rdliußzdlcliter d«3 deutüübeu Völlig
lllr ir>~ deut»cne Voll:. A!t r iobtdrueicl«.
r»l!lreie!,e„ »utlient^enen slei!»M» und l~il-
»l,dil>l,m~en, daiun^r vielen i,u<:!> niebl ver-
oHenUIcuten Interventen l>onr»il« und Huto-
«r.ipnen. I^ielerun« 13— IN. Lieleleld m><!
I^IMie. VeliiüMn H lil»>i„ss.
2»pp, H,, Lin liieuleuVit ». v. lioin«u>. vre^deii
I « ! p 2 i 8 <i >Vlen, D, sier^ou,
v«ul»ol»« 2«lt«i>rill 1 1 » r H . 1 1 » I ü . n < u » « 1 1 » »
H ut« i rie> it» ve» « n . Ne>ÄU«zezeden von
Nr. 5, Vvoliüillm, lauter "«drMNj;. Hell I.
I>e!p«>3, N. VoigtMuder.
2«it»eb»!tt Nli I >!iil <,»c>i>l iis nnH pbilo
»«l>lil»ell« Xlitlb. 1»?. rud, 1. I!«!.
relviiß, 0, L. «, irller.
, Nie L«8c!,w!,»i</I!e 8t«l!unß und ~uribe d«
deut«ouen yv!t>!»tdo!ic!«mlli<. I^eipüiz, l-'rieär.
HH
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kitterarischer
von
Ollid und SÄ^d.
1895.
Vreslaii.
A>A3
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A
cht
H
Verlag v«n Hermann Gesenin« in Halle.
Gediegenste Festggue für den WrilMchr^isch.
Blüten unll perlen ilentsinel Nxniunff. d,ä/vi??!»i!'»"«0,«l»ch>,«yvyv,>"Qn»yv.F«r°>n!"«!t«>«!n»yv
in Hnizichnil! noch e,i« !n»l> üchn« n« >» »»n Ferdinand Lol, und I, >», Julthnn», In Vrnchtdnnd a,IH°d<»
»!l, I«,-
!>d'n l,«üi d,'»„d<i, «dninl»rist! ich« «,dcc>! »in»»!, !l»»»u'ni!>i'»»««»»l»»«yv
Die v. Vcinburg'schen Uebertrogungen der Werl« der
drei größte» nordischen Dichter
Fck5 Wlt6l, Z. ßl'hlenschlllztl und H. ß. Ktlerskll
sind die vorzüglichsten, die jemals in deutscher Tprache erschienen sind:
3eM.Es«iall.WtFilll,illst-Me.
Ueberseh» oon Gottfried von leinburg. sr,
Majestät dem ~<ünig <l>»rar II. uon Schweden und
Norwegen zugeeignet, Linzige, sowohl durch
Akademie, o!» durch die große goldeneMe«
dallle „litori, et »rtibu«" Sr, Majestät
belohn!« Nachdichtung der zrühjoflsoge,
15. 3»st«le ~-"-"0""-
Z,ü, und willt I» Ine Tin NU ndüch »n d<! «elundung».
Oehlenschliiger, A.. König zeigt
2, leil: l)rsa. 3, Teil: yroar, 3 Teil» in !, Vond gib
5. A>sl>ljt. Peel, Ms. ».« gebunden,
»,!,» der Früh!»!»«»»» ist Oel>!»>!<!»»n» »»»ig <»l~
In ist «ll>« L,id>n>chnü, >~<b,n, V,n»°ui,«, und p>i«>ich steie«
Zndtlsen. ß., C,
l,n der schönsten Märchen, überseht von «Gottfried uo»
leinburg. 4. Vluflag«. preis MI 3.»» gebunden.
! Ile»t!<> »nir
Vin Schatz für jede» Hau» sind diese Bücher, nicht allein, weil sie echt
deutschen Veist atmen, sondern weil sie auch an dichterischer Vröße turmhoch
über den meisten Darbietungen der Neuzeit stehen.
"IMIes
enF (Voz) aufgewühlte Romane,
deutsch von A, scheide.
«<»e «»«««»« «>>»< I Nuftl«tt»ne«.
Hünfzehn Vande
Vand I — >,: H«vid Ü«PV«rs!«ll». Vand 5 und i,"
VliOtl l»!ft. Vand.?-»ui Vl««tl !«««. »and
!<~1» «le P!«wl<ll«r. Va»5 ,2 Harte Heüen.
IH7 Uei Abnahnie !>ln» Ücher >o VHnde ftail!
Ms, 2„- für Ms 22V
Illustrierte «„»«ab«,
3»»l» <I»PP«»I»«I». In 2 Vande gebbn. Ms
Harte gleiten. In < Vand gebunden Ms
eliue» Iwift. In I Vand gebunden Ms
»l««th«u». In 2 Nünde gebunden Ms
Hie V>a»i<l,»». In 2 VHnde «ebnnden Ms
«317
0 _
Ve! Abnahme der sHmtl. « Vande in eleg.
temenband gebunden statt Ms, 3t — sie MI, 12,—
gutem, satinirtem Papier und billiger prei» dürfen »I» Vorzüge dieser Ausgaben hervorgehoben »erden.
IIMgl! OellllNÜsN, ellls« Mü^lgm. von leromc ««. Hcrome. Dcuisch nach der 132. Ilnstllgl
>«!d, ,!>!»>« H»i!»»tu
ZHrMMMM
2iir Vrlyrnnn" modsrusi' spraotisu
uutei öMvilKunss von äeutzcnen unä »uzlänciizclien I "Henmännein n»cn eigener
Ketnocie I>e2lt>eitet
N^IQQI 8C«
Voilzlän^r in 27 Lrielen. ?ieiz in !<2ppe: 20 dÄ2l!c.
Voll«t3n6i" in H2 Lriesen unä ivve! 3upp!emeuten. ?iei« in K»ppe: 2z 2H»llc.
Nieren« » p» It: Qui6« ipi»towil«. "nleituuß inm Llielzcllieiden.
dealdeitel unter KitvirlcunT von Olliiieien, 2 Niiele je I Kailc.
ll"N.ILH8Cli
Vullztiinliiß in 24 Llielen, ?rei« in Xl»ppe: 18 IH»l!c.
«D88I80N
Vollstänäiß in Z2 Lrielen un6 3 Supplementen, ?reiz in Kappe: «8 K« ilc,
deirbeitet uutei Kitvillcunz; von Usfixieien. 2 Lnele je 1 IH21H.
8?yvyvli8c:/\
Vo!!«t3u6i" in 25 Llieien. ?rei« in Kappei 19 IH»r!l Liniein Ke?.n"en:
I. ~?rode-) Lries §0 ?l., 2. Ariel unä lol<;en6e je 1 K2ilc
IQ-T r'V'dZ.'d rN. 27 2. "2.8 2~1.
?2,ri5«r I" rÄNxö8i5c:li.
Nin I "orldil"unßzmitte! Ii>>- (iiejenißen, vvelcne 6ie leden<li"e l7mL2n"z-
»piacne »ul »llen (iedieten 6e« tii"licnen VeiKelir» er!«lnen vollen.
V°ls!»«t von vr. It, Klon.
", M«lele!6'8 Verl»" in X»ll»iuue,
?5 lese UQH ".c'o I
GW
HH«« lorn <>«r Ne!iu»t „ncl !„ ülierxeeiüelien l^tül««,
~~«~» ~l»,>i>„« mit Jen, „>t«n Vnle,!„„l!e >>,„ bt —
AH« », Im In» «xl«? ~u»l»n<i» mit 8«iuf»<f»»«btlN«n
-Myv«yv> Udeitiüutl, «Icl, !>>,,/, nn>! «<>,„«>! von <lem slunsse
<l er ~Ve!ll,<:~eden!ie!ten untei-rleliten vlll —
Da5 "c"lo
Das Zcüo
Hslllun^ lult, tii^liel, ein« Liv»»e po»ti»c!>e
üeltimz «u lezen —
AH»»«» tu» In» «dsr ~n»l»n<i» lld»»!!» »nt <l»»n
~~«~> l.»n<i» vollnt un<l neuen einem Kleinen l~oe»l-
blatte einer erz;iluüen<len Xeituüßiileetüle t>e<lul>,
/«,«/«« *////,»,e» «//<?/' N»/e/e« ~» NAn/'/e ~«m,«e»,
/vV«e//e//e«, "///!/ »»Fe» », «, <e, <»«" cke/' /'ecke/' >e-
ü"/»/// /» </«,- /"»"H M»ckel e/«« t?e«ss»<«/lpnc/ve»-
/<ie»-«<c/vZ cke« ,n/es»»//»»a/en 6eÄ- n, N/vinyve»»,»/'/vie«
/»«I /«/e~«««»/e />»<?«» ,om >!>///n»~t/e,
i'V«/// «» /»<-/»,»/,«»,«<'// /ve</»H/^/e« »»Ä i//»«Z«>/e.«
,,/«ck/,«/,~e//e>, /c/i»", ne^/ie« «ie~ «//e «e»s» »nck
<»/yv/-e««n«/v„ l~»»~e »»ck ~e»e/-«nF«< »»/ cke« l?e-
K/e/e </e~ ?>c/,«it »«ck /«</«, ,r<e 7/«/e~o/,/eZ.
N«H»«U<>ii: ~u?o NerulH. »e»onäet»l«itn>i?: H»x l>«:l!«t«il>,
l~« l> t?««,« Nr«»» >!er Neu!«r!>en Im Xu« !»»>l «, »etruelttet e» ln»-
~\\<~/\{/ »«»»«lere »I, ~ln« ~nl«»!>«, >le,» lieben »n>l Ireld«»
« » mlielt «»lu^euü«». D« vlrd u^der ~eiei
6el Vel!l>~3buen>!!tnslun!i ~. ~. »«»>»?«'5 ~. «. I» 8«l!li! IV,, r«t»-
H»,»e«!l»«»« «?», ~eü. ün/uxede», ,tl>m!t ö!e5e>be t-ele^enneit n»t. ein«
l!e«tellun,l:e„ nenmen ll>>e flue>!N»nä>u,iMN, l^wnütülten u»Ä ~eitunM'
8pe,zit«ni-e in Neu!.«c!!!ün>j xnn, l',vi,~e v»n ~ Milc vieilelZinrlie!» entßeLen;
In äen übrigen l~~intlei'n xu Äeu !!M<le«iN>lie>!<n l>i'e!5en,
« « » » « virert von ,1er Verlli~d„e>,l,lni,Nn,>!f » « » ~ «
unter Krenxn3«>! >,e2»Mn, Kc>»tet ,,/>«' /^/<n" vlei-teij iüirllc ! ! 4 zu», ü<> ?l„
dllU„ill!„llc!! !> >l>l„ "ni'^ilni'? I« ,~lk, Mei V«8(!N,!unii unter 8treil!>!,nÄ
eniulletut e« «ien, mugüelizt ßunxlillin!:,' ~bannement« uulüUMben,
?>» «>N« yvl»s»!»NyvH»<»>»t >> Meißelt einreise!«» ,«>len,
»II '<<>» H,/V<F!III«-Iinr „„,, ,.n»zl)on»" >nn>"»" «er
He»»?»»»« »d Ue«e» l!!»««i,,l»NU >!e» »nlsilüenÄen !!etl»,e» »ul nelled!,
I»„«e X«!t <l!«et vnm Verlor »ser H»re» le<le 8ue!>n»n«l»»» ««lleserl.
Der delcnnnte >Veltse!,<e,»le <?«<? ~. ZHlei'» üedrelbt in uer ?ll~-
lieneu MunllLenau 1~»,', uuf 8eite -I4Z in «einem .VNiKel~ ~~u« 6em tllulteu
V eltteile Hu«tiÄlie,!'lieu«eeian,l" "
„vw Mm v« llwl!«n i» iwilW« !« mi«iltli«!illi«u« M»".
S
3
3
Verla« »«» L, «taackmann in Leipzi«
soeben erschienen:
Peter No segger:
Neue «e«ch!<l,»en au» »er« «n» lü«l.
M,l einem Titelbüde »on A, Mailicl,
Vroichiit ««. 4,—, elegant oebnnben »«~ b —
,,~l« to, i««s noch w«r."
Nene Geschichten on« üer Waidhe inio t.
V«!2« von Nse!!!i»!>l H llilrt«! w l_«lp'l».
Xielne Nunuuie »N8 H«l VijitervlluäeniNL
«>!.VIII.
<?lil«„l»v««l» (». <8I— 5N),
lliül?»
Auf de«« st««fen
z«n« CI»»/o«».
Historischer Homan
von Gregor «amarow.
<e«cal Vle»i»a)
2 V>wl>e, ~2 U»»rn «»
<?el>, M5 !N-~ «ei'!',,. Ms,!
von Pillli,,», !b>i,» »m V°l> Wi>u»>m'«
ans dem geringe der Fehles, snchdruckerei, Kunst» und
Zlerlllgs- Anstll t o. S. Schottinender,
ßreslnn.
^ A A II A A
h<ittnlul,ei!!l«am,l„!,>öitu«i»> ~
<>ü
i-W,
Hu !,«!>»» >» alle» Vu<l!>!»n<»un«tn
Ix» In un» ««»lande».
Schlchschr Viichdrnckerri, Kulisse »nd Verlllüs<- Mnsiall ~
~ u. S. scholilaeiidkr, Vrrslnu. ~, ~>
lllmvG ml! Mm
AAA ein ^estgeschcnn
für Gebildete jrden .Stande«.
>>>e !«llir» nbZe! i> ! I» I se» i I, '»erie bon !2 i'Ändtn ln<hlilt bishn in Duchlünn wüb
niihl irsckicncue Dtililige drr >>ti!iormZinds<IN 8tllltl>s!i>!ii und zwnli
i,llll>pe!.~»fc>d, Fr., „Ntlsütze Frut," A^mbsu, p., eintziachtkhlj !»ch
Nortlltgin, >5cliii>»!!i, n., K'gnl, Vanssnn, <3., Mmbözrl. F,lrlnt!belV, Ä,
~rr tiüslii "»il ",u>ö, lllüi.li, l!8., M^zurw, l>»l>llctle, <Z., "«tki und Plitdi.
"5rllsteln, >I5., Ann Hemplo»,". V>clm.l!l!>, H., M'lchrn 3U« dim ninn»Kntm
'UnKunder,. Frirdrich Fürst I !?rcdc, ~>» Z!l>!h!e>, Die Güusli, Ick. Zollai, H>L,
/
~<V
'<hT
l',> Lände
lu'soudrrrin
Tarion,
12 Nlt.
««^»»»chch
12 3°,it
brsandrrem:
V
j>sri" >,!N flnml 75, j!f. s!sl,>ls!i!^ in !»>W,I. IOrigllml-Gi»KII»<l I MK.:
: v>LL> LI >v LI „'.LI >. LI >. L~
"!!!!!!!!>! >!iti!>t!i!!'tiNitt!f t >!> i ! t i !!>! i t i > t > t !! i t i > i >,!,,> t , I ! i t ! t i ! i t »! >
t i ! 1> t! >~
Schlestsche Vuchdruckrrei Nunsi~ und Vrrlag« ^Mnstnll
v. S. Scholllarndrr, Vreolnn.
B'
1840 1870 ~
Professor Or. Aar! Viedermann.
Vierte (Volks-) Ausgabe,
i? ~'
Kieses weit verbreitete populäre Geschichtswerk ~des bekannte»
~ Ijistorifers erscheint anläßlich der 25jährigen Feier der Vegründnng «es
- deutschen Reiches als
-<U in 12 Lieferungen a 50 Pfennige. Fr-
ist, wir halten « sir unsere Pflicht, darauf hinzuweisen, daß weiter» Kreise d«
uereint, ks ist ein volkbuch und doch streng historisch; e» ist objectio und zugleich
anregend geschrieben; « schildert eine Zeit, die der Verfasser wie wenige tennt; es
culturhistorischen Momente«, Line wichtige Ergänzung — llebersicht der ersten 2« Jahre
die nicht so glücklich war, lernen wir verstehen, wenn wir »jedermann's warten folgen;
und wie lernen durch sie «erstehe» die spiteren ruhmersüüten J ahre und jene, die den
Siegen folgten. Di-. N! ppold,
Eomplet in Ii Künden geheftet 6 Mark,
fein gebunden 8 War».
?, In beziehe« durch n II r Buchhandlungen de» 3n»< uud Nnslnnde«.
"5 > I! tlllM^slülllINTMÜs!!!!! II >!!! >! Ml! 11!! I!!!!! I I! >! > IM >! > I >>!!! I! >!!!!!!!!!!!!! »>:
^ /\ -p " ? ? '?' >f<° ^ ll/,v ^ >S" /'v>" ^ ? ^ '71 "?>' " ^ '>' "<' ">' ^ ^ 1 ^ ^ >/'v </vjl
">>..
~'!c
~ Tchleftsche Nuchdruckerei, «nnst- «nd Verlags. «nstalt ~
~cD v. S. Tchottlaender in NreHlan.
> ~
Vriefe
eines Daters an seinen öohn
»«<, »essen z>>««»z »uf die W»nß!«l.
von
Geheftet WK. I.-. gebunden M«. 2.-.
„Die Zeit naht Hera», da die lüngli,ige, welche die »lademilche Laufbahn einzuschlagen
gedenken, sich zun, Beziehen der llnwersitä! rüsten, Ein neue« Lebe» beginnt für sie. »us
das eigene Ich angewiesen und auf Freiheit de« Wollen« und ,dandeln» gestellt, Wohl ist
ei gcrecht'crtigt, wenn da manche Altern nicht ohne Besorgnifz den Tohn scheiden sehen-,
wenn eine leise Zorge ihr Her, befällt, ob er in dem freien alodemifchen Leben sich auch
geistig und sittlich bewähren werde. An guten Ratschlägen fehlt e« da Wohl nicht, aber
wie leicht ift «elagte« bergest!», wie oft schwemmen die Woge» bei Leben« die besten
Vorsätze weg! Da lommt ein Buch, deffe» Verfasser sich nicht nennt, zu gelegener Zeit:
„Briefe eine» Vater« an seinen Zohn nach denen Abgang »uf die Unioersitit,"
da« von Vätern wie Zolmen feiner Richtung und seinem ganzen Inhalte nach «arm zu
begrünen ist, Zuerst spiegelt sich in diefen Briefen, die den Eindruck machen, daß sie au«
den. Lebe» herauigewochsen sind, ci,t Verhältnis zwischen Vater uud «oh» »ider, wie es
inniger, schöner und freier nicht gedacht weiden kann. Der Vater tritt NN« in den Briefen
alz älterer, erfahrener Freuud entgegen, der iu denfelbcn nach «nd nach eine sittlich ernste,
aber nicht kleinlich beengte, eine geistig ^ freie, aber in der Freiheit Nah Halteode Leben«-
llunasiung entwickelt, der bei feinem «-ohne darauf Innzuwirlen sucht, Jelbstbeheirschung
und Pflichterfüllung sich zu eigen in inachen, eine idealere Richtung de« Denken« «nd de«
wandeln? in pflegen uud zu üben. Die Brieie, siebzehn an der Zahl, beziehen sich »uf die
äunereu Zeiten d« studentischen ÜcbenÜ, die Ber»f«wahl, den Etnbicngang, allgetneine
geistige ^„teresfeu n, I, iu, Üüa« der Veriaifer da über Nelanntschaiten und siollegien-
besuch, über de» Vcmn de« >/va,nbri»u«, über Duell, Verbindungswesen, Familienverlehr
«, s, w, sagt, wird den nieifteu Vätern »u« der Seele gesprochen sein; e« beruht eben »uf
der mit einem grasten Theile de« Verbiudung«wesen« nicht vereinbare» Ansicht, da» »u>n
sich nicht nur Z'tudiren? halber auf der Uuibcrsität aufhalten, sondern wirtlich studiren,
wirtlich arbeiten soll. Das; c« auch Verbindungüstndeuten aller Art gegeben hat und »och
giedt, die lehr steinig uud erfolgreich arbeiten, soll damit durchau« nicht geleugnet werben,
Eben!» verrathe,! die Au«sührungeu iider Pefsimi«mu«, über Nietzsches Philosoph!« und
da« waschen nach Effect, nber Sinnliche« »nd »ebeniunlichc« », s, w, die Welterfahrung
ei»e~> planne«, der durch da« Leben mit offenen Äugen uud empfänglichem Herzen ge-
gangen ist, und der au« desfe» Ztürmen sich ein freie» und edle« Wolle» gerettet Hot, sei
da«' treffliche Buch den Väter» wie den Jünglingen besten« empfohlen, Ein« Befolgung
d« besagte,, wird diese bor mancher Euttäufchnng und «or Reue bewahren,"
Strahburger Post,
Hu lielirilr,! dnr,!, ,illl Huthlmildünml-Ü dr« I» und lu»l>'«de»,
"WMMMMMWUWUMMM"
~ H,AHyvAch,H.yvAAyvHyvH.yvyvOo<5yvyv
i5
Verlag »er Schlcs. Vuchd ruckerei. Kunst- und Vnlags'Anstalt
v. T. Tchottlacnder in Vrcslau.
"5— ~ sii<? alte »»«d F»»««ze ItrieK««?.
" Vog. 8". Lieg, geheftet Mk. 2.-; fein gebund. Mk. 3.-.
von Anlschse's tiedern gewiß freudig willkommen heißen.
De«tschlnnd.
Gin sommermiirchen von Hrlhur Stein.
"0^2 Vogen. Geheftet Mk. ".50; gebunden Alk. 2.50.
lettische stndie«
von «udolph Lothar.
22 Vogen 8". Geheftet Ulk. 5.-; gebunden !Nk. 6.-.
Nxdolph 8»t>»»», o>« plinnlasieuoller unl> gebantenliefei Port, insbesondere
Gedichte van Jean Paar.
?V2 Bogen 8«. Geheftet Alk. 2.-; gebunden Mk. 2.-.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In» und Auslandes.
-M>
2 c h I « « » u c h » » u < I « r « > , «unft» ««» »e»l««»-
«nftal« I». «. «ch»«l«cn»« «« »««!«».
«I« UorzNgliche »eft«esch«nl« empfehle:
H« !,«««,, V., Nargarele, Ein« Erzählung für
erwachsene lung« München. Gebdn, ~ 4,—.
LINencron, A. ».< Gelieu bi» in den T»b,
Drei Erzählungen », b, glorreichen Tagen bei
beutsch-franzüs. zlriegei! «?«/?l, Gebbn. .«, 4,—,
Nur selig, Erzählung »«« dem Leben l>. U. v. 2.
Gebbn. ,«, 4,—.
H»»m»n>< e.. Die Welle der Vaimheizig.
lei». Mit »ilbern noch Moritz von Schwind,
Elegant call. .«, l,bü
Vaim«n. IlufZ» XI« Ii» <lnh. e«rt>). Zu bezieh, durch alle Vuchhanblung, d. In- u. Auslände?,
Ein berliner aufHielnolunä
und andere U«nelle»
ZlriedricH
«che,««« «t. 3,-;
«<bu»d«n Uli. «.-.
SchlestscheVuchdruckrrri, Runst u.Verlaa»-MnNallo.s.Kchlllllaendrr,Vrr»l«u.
Dämmern.
Skizzen
Marie von Glaser.
Zweite Anflog»
Ein Vand, 22 Vagen 8»,
»<h. «n». «.-:»«». MI. <-
Marie von Glaser'« Lrsslingzwerl
,li»ergra«", von welchem ebenfalls in lur.
zel Zeil zwei Aussagen erschienen, wurde
1 1 » n der «rilir last durchgängig als die
Nabe ein« oerheißung«» >!len, eigenarli
gen lolem, begräß! Diele, l»!en! zeig!
sich nun »rslarl! und oenief!, in feiner
Ligen«! noch au^eprägler in dem
Da»
Kffenmüäcken.
Roman
°»n Vlaurus lolai.
Ausschließlich ermächligt»
Lin Vand. 1.5 Vogen 8».
«»!,. «I. 3.-: ««b. Mt. 4.-
,,<?ieb!« häßlich» Mädchen?"
Roman von H. Hermann.
Lin Vand, 2« Vogen 8».
»«!«»<«» «I. b.-; ,«b«n»«n «». «.-
y. y»rmann, al» ein eche lünsllerisch» Wirlungen eistiebendei
Lrzähler von »igennriigem i»l»n! belann!, ha! in le!n»m n»»est«n
Uoman »in w»rl geschaffen, da» hohen p»»!ischen w»r!h mi!
»nd f »ss» 1 1.
ZW Itl Z'tttt.
Roman oon vi« Hanffon.
<ün Land. ~ Vogen 8«.
»«». «1 . 8.-: ,«b. «t. 4-
Lin sehr g»w»gle» ühema ist
linstierischer M»isierschaf» »ie fi!!>
lichem Feingefühl beHandel! worden.
Jetlelltelllle
Pntr»>lllli!ft>,
ji«,l<»',
2? »«««n.
»« »« »«« < «I. z-;
«ebun»«« VII. «.— .
Au5 dem eigenen
leben hat die be»
kannte Verfasserin
den stoffzudem vor»
liegenden Vuch« ge»
holt: Rückschau auf
die verflossene Zeit
haltend, hat sie die zu»
nächst ihr in'z Auge
fallenden hellsten
lichtpunkte ihre«
3eins festgehalten:
die Vegegnnngen
mit durch Geist und
Charakter hervor«
ragendenversönlich»
keilen. Diese Por»
traits sind mit dem
Kerzen aufge-
nommen und daher
wohlgetioffen.
Zu beziehen durch alle Vuchhaudlungen de» Ali? und Muolnude».
10
Verlag der schlcs. Vuchdruckerei, «unft> und VerlagS»«nftalt
v. 3. Echottlaender in Nicola».
Werke von Paul Lindau.
Die Gehilfin. Verliner Roman in drei Vüchern.
Geheftet Mk. 6,—; gebunden Mk. s.— .
Hängendes Moos. Roman. (Z. Tausend.)
Elegant broschirt ~l, «.— ; fein gebunden °K ?.— .
Der Mörder der Frau Marie Ziethen. Ziethen oder
Wilhelm? Nachwort von Dr. Max Neuda. Mit
einem 5ituationsplan der Liberfelder Oertlichkeiten
und einem Grundriß des Ziethen'schen Dauses.
Elegant broschirt «~ 2.50; fein gebunden ~ 2.50.
Herr und Frau Vewer. Novelle. 9- Aufl. Mit einen,
Vriefe von <Lmil Augier an den Verfasser.
Elegant broschirt ~ 2,50; fein gebunden ~ 2.50.
Mayo. Erzählung. 5. Auflage.
Elegant broschirt H. ~.5«; fein gebunden ««. 5.5U.
Ini Fieber. Erzählung. 3. Auflage.
Elegant broschirt ««. 4.—; fein gebunden ~t, 5.—.
Coggenburg und andere Geschichten.
Elegant broschirt 3.—; fein gebunden ~t> 4.—.
wunderliche teute. Aleine Erzählungen.
Elegant broschirt H, ",50; fein gebunden oyvl, 5,50.
Vater Adrian und andere Geschichten.
Ein Vand. Geheftet «Ä. <yv.— ; fein gebunden "I. 5.—.
Aus dem Orient. Flüchtige Aufzeichnungen.
Elegant broschirt °<l H.5«; fein gebunden ««> 5.5U.
schau» und Lustspiele.
Elegant broschirt 0>\ ~.5u; fein gebunden »«. «.— .
Interessante Fälle. Criminalvrocesse aus neuester Zeit.
Elegant broschirt »<l. ~.50; fein gebunden «K 5.50.
Ueberstüssige Vriefe an eine Freundin. Gesammelte
Feuilletons. 3. Auflage.
Elegant broschirt ~l, 4.—; fein gebunden ~ 5.—.
harmlose Vriefe eines deutschen Rleinstädters. Zweite
vermehrte Austage. 2 Vände.
Elegant broschirt «.— ; fein gebunden 8.—.
Dramaturgische Vlätter. Neue Folge. ^875— 1.878. 2Vände.
Elegant broschirt »K ~u.— ; fein gebunden ~l, ~2.— .
Nüchterne Vriefe aus Bayreuth. A0. Austage.
Elegant broschirt —.75: fein gebunden ~l, ~.?5.
Vayreuther Vriefe vom reinen Choren, „parsifal"
von Richard Wagner. 5. Auftage.
Elegant broschirt <.— ; fein gebunden ~ 2.—.
Aus dem litterarischen Frankreich. 2. Austage.
Elegant broschirt 5.—; fein gebunden ~ e.— .
Zu beziehen durch alle Nuckbandinn. 'en des ?n. und An«la«de«,
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Verla« der 2chlcsi,'chen Vuchdruckerei. «»«st» und Verla««»Unftalt
». S. Echottlaender in Vreslau.
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tonmne u?:d Movellen.
Dalleftre«, Gnfemta, Gräfin
<Frau von Adleisfeld), Haidcrislein.
Roman. Vritte Austage.
Lin Vand. Geheftet X gebunden
.«. 5-
von Neuem eine willkommene Vabe sein wird.
Boy Go, Ida, stürm. Novellen.
Geheftet »«. gebunden »K. 5,—
Glaser, Marie von, Zittergras.
Skizzen und Novelletten. 2. Austage.
Lin Vand. Geheftet ~ ; fein ge>
bunden ~i. 5,—
Vritis rühm! den liebenlwürdigen plaudert»», über
den die Verfasserin verfug!, !!,re Fähigkeit, mit
sind zumeist Ariüokralen'Novellen, ober auch wie di>5
volf Kens, und fühlt, hat die Verfasserin mit ver>
Zuftinn«, Oskar, Giu Proletarier»
lind, humoristischer Roman aus dem
Verliner leben.
2 Lande. Geheftet ~ ?,5«; fein
bunden »«.
ge-
9,50
Zahllosen lcs?r» hat «Vikar lustinnz
huniorislischen werfe» ist, so arm ist sie an solchen
Dohm, Hedwig, Wie Frauen
den. — Werde, die Vu bist. Novelle
Geheftet ~l> 2,—: gebunden ~l, 4,-
wohl Alle», wo» sooft »nf diesem Gebiete arfchasi.-n -
Kacher-Wasoch, zeopold n»n,
Herta. Die Mau?. — Maria im 3chn«
Novellen.
«Lin Vand. Geheftet X 4..—; fein oe>
bunden ~ü 5 —
von jeher große Anziehung>fr»s! geübt; IN!» »»es.?
Herrschsucht, Auch in den drei kizHhlunaen lies»
Dem aufmerksamen leser enthüll» sich io diesen »>t»r
Stelluog »onMnoo und Hl»» zu einander in gewinnen
Kamaro», Gregor, «m «bizrnu».
Roman.
2 Vände. Geheftet ~l, 9,—; gebunden.
s\ II
/
»nd dabei doch maßvoll! einzelne Seenen von gern!» ~
«»reisender Wirkung.
Kchönthan, Franz von, Der «c»
»eral. Novelle.
Geheftet ~. 2,—; fein gebunden ~c 3,—
Daß Franz von Schönthan, der dem große« p»!5
cum vornehmlich als »in UnHanger der heileren INiii
bekannt ist, auch für di» ernsten tooflirt» d« leben«
verstöodniß und dichterisch gestaltende Vegobnna d,
sitzt, Hai er in dem Schauspiel ,va, »oldene Voch'
überzeugender jedoch in dieser Lrzahlnng bewie,«!,
Viola, M., Zweierlei Liebe. Roman
Ein Vand. Geheftet ~l, »,— ; gebunden
~l> 2,-
Der lloman ist pailend geschrieben »nd ?ii
Schilderung der seelischen Vorgänge im Helden se! >i
anschaulich und fesselnd, Va« weis, da» in semen,
Ihenia ganz so äo «itc!« ist, darf auf einen «rofni
leserkreis rechnen
ZU beziehen durch gilt suchhllndlunzen des 3«. und Allslund«.
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