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Full text of "Nord und Sued 1895 Bd075"

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TXotb  unb  Süb. 

(Eine  ö  ^  u  t  f  cfy  e  ZtTonatsfdjrift. 


herausgegeben 
von 

Paul  Cinbait 


mit  >en  Portrait:  von: 

jacfl  £I)Iooum<j  von  £>o!ien[ol)e.Sd)ilUttgsfflrji,   tPolfgutiij   Klrd)b(id),   prinj  fimil 

ju  Sd)ocnai<i|>CaioIati). 


2&r  eglau 

£d}lefif<f;e  8ud)brucf etei,  Kunft'  unb  Derlags-^nftalt 
v.  S.  Sdjottlaenbcr. 


3nfyalt  bes  75.  &anbes. 

<®ttofter.  —  .OoUcniücr.  —  ©efemfier. 

(895. 


 -HO  

Seile 

Ktcfjarö  Betf  in  groiefau  i.  5. 

IlTont  Saint  mid)el.   <£tn  Hetfebitb    :*<) 

K.  <ß.  Bocfenr/eimer  in  ZTfaity. 

Das  8riefg.el}eimm§  n>8l[reti&  ber  fran3Öftfdjen  Ueootution   85 

^ranyois  <£opp6e  in  Paris. 

Hipalinnen.    ZXoveüe   93 

JJufcoIf  pon  (ßottfdjall  in  £etp5ig. 

Die  3üngftbentf<l)en  bes  ad^eljnten  Jaljrtfiinberts   U« 

Sfans  fjermann  in  Breslau. 

ITTobeblumen   25  \ 

£u6t»ig  ^acobowsti  in  Berlin. 

©ebidjte   (76 

3°feP*?  3©cften  in  Köln. 

21ns  Duffelborfs  tfMansepodje.  Ungebrucfte  Briefe  »on  <Jelij  IKenbeIs< 
fotin'Bartljolbv   308 

Berlf/a  Katfdjer  in  Ba&en  (Hie6erȣ)efterreicr/). 

#reibenferin  unb  <Et(eofopb,in   33  < 

2?idjar&  tfoer/lid)  in  Breslau. 

(Ein  ftirftlidpr  Dieter.   (ptin3  <2mil  ju  Sd)oenaia><IaroIatlj.). . . .  :88 

ZTTite  Kremnitj  in  Bufareft. 

Sein  Brief.   ZToceHe    3?o 

<£.  2TTafcf/fe  in  Breslau. 

Hnfjlanb  in  £entralafien   200.  3(6 

ZTCartin  2TTenöelfor/n  in  Berlin. 

Kranfenpflege  unb  fpeciflfdje  ttljerapie   56 


  3nb,alt  bes  75.  Banbes.   

£ntf 


Utfteb  Xufyemann  in  2?om. 

Die  Soge  rom  (Eroigen  Rubelt  in  3*al'en   67 

<£mil  Scfy>enaicfj=CaroIat&,  in  Pal5gaar6=3ue'sm'n^*-'  bei  Dorfens 

(Dänemarf). 

ptfilemon  unb  Bancis    277 

(ßeotg  Steinhaufen  in  3ena. 

„Das  gelehrte  jfraue^immer."    «Ein  €ffai  über  bas  grauen* 
ftubium  in  Deutfdjlanb  5m  Hococo«  unb  gopfseit   *6 

illfreö  Stoegel  in  Dresöen. 

IDolfgang  Kirdjbad;   160 

2Tt.  Stona  auf  Sdjlog  Strsebou>i£  (©eftenvSdjIeften). 

Hut  3n>ei  Deildjen.   ZTooeKe   \hs 

Konrai»  Celmann  in  2?om. 

3n  ber  fjodjjeitsnadft.   ttooeUe   I 

JHefanöer  Cille  in  (ßlasgom. 

(Ebomas  ^nrley     222 

^rieöridj  IDegmüller  in  ZHündjen. 

Der  IDifo.   «Eine  Sfttjetifdfe  Stubie   358 

2fuguft  IPfinfdje  in  Dresden. 

Der  beutfrfje  OTidjel  mit  feinem  myttiologifcben  Qintergrnnbe    349 

©ebfyarö  <3ernin  in  Darmftaot. 

(Jürft  CCt)(obn>ig  con  £jol;enlob,e=Scblilltngsfürft,  Kanzler  bes  Deutfdjen 
Hetdjes.   CEine  £ebens>  unb  €l)orafterffi33e   30 


Sibliograpfyte   26\.  ^02 

8iMtograpb,tfd)e  Ho^en  13*.  269.  $07 


Ulit  btn  portraits  oon: 
<$ürft  CLbJobroig   con  fjob,enlot(e=5d)iIIingsf firft,   rabirt  con  3°^"" 
finbner  in  Itlündjen;  IDoIfgang  Kirdjbadj,  rabirt  con  3»fta«t«  ünbner 
in  OTündjen;  Ptinä  CEmil  3U  Sdjoenaia}-(£aroIatb,,  rabirt  con  tfran3  Horid} 

in  Dürnberg. 


I 


<£ine  b  e  u  t  f  <ff  e  2Ttonatsfcf?rift. 


herausgegeben 

»Ort 

Paul  Ctnbati. 

LXXV.  Sanb.  —  ©ctober  J895.  —  tyft  223. 

(Dlit  einem  Portrait  in  HaMrung:  Stx\t  £t)IoOtt>i«  von  fj o I7  e ttlol) e ■  Sdji II ing sf  ü r 


25r  e£Iau 

S^lefifdje  Bndj&nirferei,  Knnji«  nno  De rlags>2In(la!t 
».  S.  Sdjottlaenber. 


(Dctobev  1895» 


3nlfalt 


Seilt 

Konrab  Celmann  in  Horn. 

3n  ber  ßodj3eitsnad}t.   ZTooetle   { 

(Bebfyarb  $etnin  in  Darmftabt. 

jntfi  <£f}lobmig  von  Ejotjcnlotje. Sdjiüingsf firfi,  Kalter  bes  Deiitfdjen 
Seines.   «Eine  £ebens>  nnb  öiarafterftijje   30 

(Beorg  Steinhaufen  in  3ena- 

„Das  gelehrte  frauensimmer."    (Ein  <Effai  fiber  bas  Kranen- 
flubium  in  Deutfetyanb  änr  Sococo«  unb  §©pf3eit   ^6 

ZtTarttn  ZTlenbelfofyn  in  Berlin. 

Kranfenpflege  unb  fpeciftfdje  Itjerapie   56 

2Ufreb  Hufyemann  in  Horn. 

Die  Sage  vom  (Ewigen  Juben  in  3t«lien   67 

2C.  <B.  Bocfentjeüner  in  2Hain3. 

Das  8riefgeb,eimnij$  »ätirenb  ber  fran3öflfd;en  Heoolution   85 

5ran<?ois  <£opp6e  in  Paris. 

Hioalmnen.  HooeBe.   93 

Bibliographie   \3\ 

Scutfdtlanbs  tolonien.   (Dlit  Jünftrotionfn.) 

SiWiograpb,if(b,e  rtot^en   J3^ 


Qierjn  ein  Portrait:  ^ürfi  £b,Iobn>ig  von  fjotienloljesSajillingsf firjl. 
Habirnng  oon  3ot)ann  f  inbner  in  münden. 

.Ctorti  unb  Sab*  erfdjrint  am  llrttaitg  jebes  OTonais  in  fjeften  mit  jt  einer  Knnßbellag*. 

  prrl»  pro  Quartal  (3  QcfM)  6  OTart.   

Äd(  Bnd>banb[anacn  nnb  poftanftalttn  nel)mm  jcbtrjrit  BtfttOungm  an. 


Tille  auf  6en  re&adtonellen  Onfyalt  oon  „Jßotb  unb  «50b"  be 
5ügltd?en  Senkungen  ftnö  ofrne  Angabe  eines  Personennamens  $u 
richten  an  oie 

Hebaction  oon  „j&otb  unb  &fibM  Breslau. 

Siebentyufenerftr.  \\,  \3,  \5, 


3n  5er  fjodföettsnacfjt. 

iTooelle. 
Don 

üfonrab  Jeimann. 

  —   Horn.  — 

l^&^^gie  fagen  im  fteftaurant  be$  ülugftellungSparfs,  »ont  an  bett 
K^^y  offenen  ®la3s<3dnebefenftern,  wo  man  ben  Slttf  frei  l)atte  übet 
E»i  ba3  mogenbe  SJleer  t>on  Äöpfen  brunten  unb  bie  bunte  ÜWeuge,  bie 
fidj'in  iinabläffigem  SBedjfel  an  bem  2Jlufifpat>i(lon  Dorüberfdjob.  9lud)  bie 
eleftrifirenben  SBetfen  ber  öfterreidjifdjen  (Sapelle  brüben  »ernafim  man  biet 
beutlid)  trofc  be§  nidt)t  rufienben  StimmengefdjroirrS  unb  be*  2)feffer«  unb 
©abelgeflapperä  an  ben  faft  fämmtlidj  befefeten  Etfdjen  be$  großen  Saales. 
S5ie  33eiben  fyatten  ibre  Slbenbmafyljeit  beenbet,  bie  t)at&  geleerte  JHfjeinwein« 
flafdje  ftanb  t>or  tf)nen,  unb  fte  flauten  23eibe  in  ben  Sßarf  tjinau«,  oljne 
»iel  ju  fpredjen.  (53  mar  feltfam:  fte  fyatten  fidj  auf  biefen  9lbenb  fo 
ganj  befonberä  gefreut,  unb  nun  wollte  eine  etgentttd&e  gröbjtdjfeit  jroifdien 
itinen  nidjt  auffommen.  Sie  redjte  (Stimmung  blieb  aus.  Herbert  gürft 
ftrieb  fi<f>  mit  ber  langen,  wei&en,  woljlgepflegten  £anb,  bie  nur  burd) 
einige  braune  Sommerfjtetfe  entfteüt  würbe,  immer  wieber  burd)  ben  ftatt= 
lidjen,  rotf)blonbcn  3Mbart,  ber  ba$  feine,  fdjmale  ©efidjt  über  ©cbütjr 
ju  »erlängern  fd)ien,  unb  raudite  fdjroetgenb  feine  ßigarre,  für  bie  er  Öerbaä 
©rlaubnifj  erft  eingeholt  Ijatte. 

<5r  fonnte  fid)  bieS  Se&te  nod)  immer  nidbt  abgewöhnen,  obgleidj  fie,  bie 
am  liebften  lidj  gleid&fallS  i^rc  Gigarette  angejünbet  Ijätte  unb  es  nur  aus 
5Rü<füdjt  auf  if)n  unterlieft,  iljn  jebeSmal  besroegen  auslaste.  Gr  blieb  nun 
einmal  ber  alljeit  Ijöffidje,  bie  <yormen  ber  guten  @efeHfdjaft  angftlid)  umbrenbe 
9Wann,  audj  feitbem  au8  bem  3tegierungS;9Jefcrenbar  ein  freier  ©d)rif> 


2 


  Konrab  Celmanu  in  Korn.   


ftetCer,  aus  bent  ©pröfjltng  bet  reichen,  banfeatifcljen  Sßatricierfamilie  ber 
33räutigam  ber  ©chaufpielerin  ©erba  Sinbbeim  geworben  war.  Unb  tro|* 
bem  er  fid)  einbitbete,  fid)  6troaS  borauf  su  ©ute  ttjat,  »on  allem  <Son« 
oentionetlen,  welchen  tarnen  es  aud)  fügten  mottete,  fid)  loSgelöft  ju  t»abem, 
er,  ber  bieS  in  9tnfef)ung  fetner  Stbftammung,  erjiefmng  unb  2lnlage  un* 
fägtid)  t>iet  fernerer  gehabt,  als  irgenb  ein  3luberer,  unb  alfo  aud)  oiet 
ftoljer  barauf  fein  fonnte. 

„Gorrect!"  $>as  war  bas  2Bort,  mit  bem  fie  ihn  am  fdjroerften 
oerrounben  fonnte,  was  itm  am  ^eftigften  aufbraßte.  S)a3  warf  alle 
feine  ©rrungenfd)aften,  alle  feine  (Sinbilbungen  über  ben  Raufen;  eS  mar 
nid)t  »iel  anberS,  als  ein  @d)tag  in'S  ©efid)t  für  ifm.  @r  wollte  triebt 
correct  fein,  —  alles  3lnbere,  nur  nid)t  bas.  ®aS  roar  für  ifm  ber  3n« 
begriff  alle«  gaben,  ©ebanfenlofen  unb  ßäd)erlid)en,  was  er  nad)  langen, 
inneren  unb  äufjeren  kämpfen  mit  feiner  fonftigen  ÜDietamorphofe  jugteid) 
abgeftreift  ju  hohen  glaubte.  S)aS  rootlt'  er  benen  laffen,  aus  beren  SReifjett 
er  ausgetreten  war,  baS  l)atte  für  einen  unabhängigen,  mobem  benfenben 
unb  empfmbenben  Äünftler  unbebingt  etwa«  ÄomifdjeS,  etwas  ©ntwürbigenbes. 

9iur  bafe  er  über  feine  9iatur  nicht  hinauSfonnte.  ©erba  wenigftenS 
behauptete  baS.  ©ie  tjänfelte  il)n  gern  etwas,  ftichette  gern  über  biefen 
5ßunft.  ©etbftoerftänbliä)  nur,  weil  fie  tljn  nod)  weiter  treiben  wollte,  als 
er  fd)on  roar,  roeil  er  iljr  immer  nod)  ntd)t  „frei"  genug  bad)te.  9iun,  fie 
hatte  gut  reben.  ©ine  @d>aufpielertod)ter  —  felbft  eine  @d)aufpielerin  — 
ba  fonnte  freilief)  »on  6orrectf)eit  unb  ßonoention  nicht  otel  bie  9tebe  fein. 
Unb  fd)lie&lid)  hatte  *hn  ja  gerabe  mit  ju  it)r  hingejogen:  biefe  lodere 
Ungebunbentjett,  bieS  freie  @id)gehentaffen,  in  bem  fooiet  ©rajie,  fooiel 
©elbftrtd)ert)eit  unb  fomel  Xact  —  natürlicher  £act  tag.  $a,  gerabe  ba* 
roar  baS  33ewunbemSwertl)e,  ba«,  was  ihn  immer  neu  entjücfte  unb  be- 
raufd)te.  ©erba  roar  ja  aud)  fd)ön,  —  eigenthümliä)  fd)ön,  —  fie  hatte 
eine  ganje  9let^e  oon  beftriefenben  ©tgenfdjaften  an  fid),  unb  fie  roar  eine 
Äünftlerin  oon  Stuf  unb  2lnfet)en.  2lber  ba«  2ltleS  wog  für  ihn  bod)  bie* 
©ine  nid»t  auf:  ifire  reijootte  Uncorrectt)ett,  bei  ber  man  bod)  immer  baS 
beftimmte  ©efühl  ^atte,  aud)  als  2)titglieb  ber  guten  ©efeHfd)aft  fönne  man 
fid)  »oUfommen  ruhig  unb  gefahrlos  in  ihrer  JJähe  bewegen. 

Dafj  fie  ihm  5U  ©efallen  3Rand)eS  ablegte  unb  unterbräche,  was  fte 
ihrer  SRatur  nad)  gern  gethan  hätte,  ahnte  er  ebenfowenig,  wie  bofe  iljr  bas 
hin  unb  roieber  als  ein  taftiger,  faum  mehr  erträglicher  $roang  erfefnen,  bafj 
fie  ju  3eiten  fogar  über  einem  ©eroaltmittel  brütete,  um  ftch  biefer  Slotb* 
roenbigfeit  ju  entjtehen.  ®S  juefte  unb  priefette  ihr  bann  in  att'  ihren 
fleinen,  weif3en,  neroöfen  Ringern,  enbtid)  einmal  ßtroas  ju  fagen,  (StwaS, 
was  ihn  mit  einem  <Sd)tage  über  ihr  uncorrecteS  ©elbft  im  ganjen  Umfange, 
in  ber  ganjen  Tragweite  aufflären  mujjte,  fetbft  auf  bie  ©efahr  hin,  bafj  ihm 
bas  einen  gewaltigen  ©tofs  gab  unb  ihn  »otlftänbig  an  ihr  irre  mad)te. 
33iSf)er  mar  it)m  nie  ein  anberer  ©ebanfe  gefommen,  als  bafe  fie  es  roab> 


3n  &er  Fjodjjeitsnadjt. 


3 


^aftig  leidet  gehabt  ^atte,  ftd)  »om  „ßorrecten"  fern  ju  Ratten;  ihr  ein 
SBerbienft  barauS  ju  machen,  ba§  fie  niemals  ajitfjbraud)  mit  ihrer  Freiheit 
getrieben,  baran  backte  er  gar  md)t.  <Sr  hatte  fid)  bie  SJlöglic^feit  eines 
folgen  ÜWifjbraudjS  nod)  garniert  überlegt.  ©r,  Herbert  gürft,  blatte  fieb  mit 
©erba  ßinbb,eim  werlobt;  baS  i)ie§  eigentlich  beinahe  fooiel,  als  bafj  er  iljr 
»or  aller  SBelt  baS  glänjenbfte  ßeumunbäeugnij?  auäfteUte  unb  it>r  Vorleben 
als  mafellos  erflärte,  eS  geroiffermafjen  abelte. 

Safe  fie  ^eute  tjier  allein  roaren,  blatte  einen  Keinen,  ganj  f leinen 
Äampf  gefoftet.  @S  mar  baS  erfte  9Kat.  Herbert  fanb  es  in  ber  Xfyat 
nicht  ganj  paffenb,  baß  fte  als  ^Brautpaar  ohne  jebe  Begleitung  StbenbS  in 
ben  SluSftetlungSparf  gingen.  5Wan  fonnte  boc^  garnicht  roiffen,  roaS  anbere 
Seute  baju  fagen  mürben.  @S  faf)  immerhin  ein  bischen  pror-ocant  aus. 
tDiefer  ober  ftener  hätte  ©ott  roeij?  roaS?  unter  biefem  harmlofen  Rammen« 
fein  ä  deux  »ermuthen  tonnen,  jumal  2lbenbS  im  2luSftellungSparf  bod) 
notorifd)  allerlei  jroeifelbafte  roeibliche  ©riftenjen  V)t  SBefen  trieben,  $urj: 
Herbert  ^atte  allerlei  fleine  23ebenfen  gehabt.  33or  3lllem  fah  er  gar  feinen 
regten  ©runb  für  biefe  Neuerung  ein.  9)?an  mar  mit  ©erbaS  Sante  — 
einer  biefer  fef»r  entfernten  Tanten,  ju  ber  baS  »erroanbtfchafttiche  Sßertjälts 
niß  burd)au3  nicht  mehr  ganj  flargeftellt  roerben  fonnte,  bie  aber  feit 
fahren  mit  ihrer  „Richte"  jufammenlebte  —  immer  ganj  ungenirt  geroefen, 
unb  es  ha*tc.  f00^  anftänbiger  auSgefehen.  Slber  ©erba  fefete  nun  einmal 
ihren  Äopf  barauf.  Unb  er  roollte  ja  nicht  correct  fein.  S)aS  gab  ben 
2luSfd)lag.  ©djliefsKch  fanb  er  eS  felbft  ganj  amüfant,  einmal  mit  ihr 
allein  im  äuSftellungSsSteftaurant  ju  foupiren,  unb  fte  hatten  fidt)  S3eibe 
mie  bie  ßinber  barauf  gefreut. 

9iun  roar'S  boch  nicht  ganj  fo  geworben,  mie  fie  gebadet.  SBoran  baS 
lag  —  roer  mußte  eS  ?  £atte  Herbert  nachträglich  nun  bod)  roieber  @crupel 
fcefommen?  ©enirten  ihn  bie  SBlicfe  unb  SWienen  irgcnbroeld)er  SBefannten 
ober  Unbefannten,  bie  ju  ihnen  hinüberfdjielten?  fürchtete  er,  ihrer  Leiber 
Serhältniß  roerbe  nicht  ganj  flar  »or  aller  Sffielt  erfdjeinen?  ®enn  baS  mar 
ihm  jeittebenS  baS  @chrecflid)fte  geroefen:  unflare  ßSerhaltniffe,  —  alles 
SSerroorrene,  Unbeutliche,  nicht  ganj  3n>«ifet^freie.  Ober  roaS  ^atte  er  fonft? 
4?atte  überhaupt  er  angefangen  mit  biefem  freubtofen  Stillefein,  ober  roar 
©erba  es  felbft  geroefen?  3?adf)benflich  erfdjien  fie  heute  {ebenfalls,  fo  nach« 
benflich,  roie  er  fie  garnicht  fannte.  2lud)  baS  mochte  ihn  »erbrieften,  eine 
anfteefenbe  SBtrfung  ausüben,  benn  er  roollte  fie  immer  heiter,  ftrahlenb, 
—  ihr  ganjer  $auber  beruhte  barin;  lieber  mochte  fie  auSgelaffen  unb 
iibermüthig  fein,  als  fo,  —  nur  nicht  fo  roie  heute,  baS  ftanb  ihr  garnicht. 

„2)u  bift  heute  fo  merfroürbig  ftiU,"  fagte  er  enblich  3rotfdt)ert  jtuei 
£>ampfroölfchen  feiner  ©igarre,  „haft  $>u  'roaS?" 

(£s  flang  übellaunig  unb  ein  bisdjen  berrtfd),  roeniger  als  theilnehmenbe 
grage,  roie  oielmehr  als  bie  bringlid)e  3lufforberung,  Vichts  „ju  h«f>en" 
unb  nid)t  mehr  ftille  ju  fein,   ©erba  begriff  baS  »oQfommen.   (Sie  er* 


^    Kourab  Celmann  in  Horn.   

wiberte  aber  nur:  „3u  btft  aud)  friß,  fd)eint  mit.  3Ran  muß  bod)  aud) 
nid^t  immer  fd)wafcen." 

„3dl!"  @r  madjte  mit  feiner  frönen  £anb  eine  33emeguttg,  al«  ob  er 
fagen  wollte:  ,,3d)  fann  mir  ba«  eben  teiften.  $d)  bin  id)."  Saut  aber 
fügte  er  tjittju:  „3a,  ba«  ift  woljl  waljr.        f)abe  tyeut  »iel  gearbeitet, 

—  ein  fdjwterige«,  pft)d)ologifd)e«  Problem,  rocifet  2)u.  Unferetn«  lebt 
ba«  immer  gleidj  fo  mit.  Unb  e«  ift  garnid)t  leidjt,  immer  bie  correcte 
Söfung  — "  <£r  ftodte,  würbe  etwa«  rotf)  unb  warf  einen  faft  ängftltd)en 
39ti<f  ju  it)r  hinüber,  ©a  mar  e«  iljm  nun  bod)  einmal  wieber  entfahren, 
bie«  2Bort,  ba«  er  jefet  cjafäte  unb  mieb,  ba«  ibn  in  ©erba«  9tugen  gerabeju 
compromittirte,  —  unb  bei  foldier  ©etegenljeit!  „Gorrecte  Söflingen"  wollte 
er  ja  in  SBafjrfjeit  garniert  bei  feinen  ©efdjidjten  ftnben,  —  wa«  ©erba 

—  unb  neuerbing«  er  mit  t^r  —  benn  fo  „correct"  nannte.  Qm  ©egen- 
tfjetl.  ©in  alberner  Sapfu«!  Unb  er  mar  feft  entfd)(offen,  mitjuladjen, 
wenn  ©erba  itjn  jefet  au«lad)en  mürbe. 

$)a«  ttjat  fte  aber  nid)t.  3JJerfroürbigerroeife  liefs  fie  fidt)  bie  ©elegen* 
tjeit  baju  bie«mal  entgegen  unb  fagte  nur  jerftreut:  „$a,  ja,  id)  tarn  mir*« 
benfen.  @«  ift  fefjr  fd)mierig.  3m  Seben  ja  aud)."  Unb  bann,  nadjbem 
fie  ba«  grüne  ©la§  oor  ifjr  an  bie  Sippen  geführt,  mit  einem  oertorenen 
93ttdE  in  bie  grünen  SßarfrotpfeE  tjtnau«:  „Sollen  mir  nid)t  ein  bt«d)en 
binau«get)en?  $d)  benfe  mir'«  jefct  ^übfdt)  braufjen.  Unb  wenn  $tr'«  red)t 
ift,  abfeit«  »on  ber  9Kufif  unb  »on  ben  9Renfd)en.  9ttan  befommt'«  auf 
bie  SDaucr  fatt.   GS  betäubt,  aber  e«  befriebigt  nid)t." 

„2Bie  S)u  roillft/'  fagte  er  pt)legmatifd),  etma«  nachgiebig  geftimmt, 
weil  fie  lief)  bie  ©elegenfieit,  if)n  au«äulad)en,  blatte  entgegen  (äffen.  „3Bir 
roerben  bann  audj  mof)l  balb  ben  £eimweg  antreten  müffen."  £abei  fd)lug 
er  bi«crct  mit  bem  SDeffertmeffer  an  fein  öla«,  um  ben  Kellner  ju  rufen. 

,,9iad)  £aufe?"  fragte  fie.  ,,©d)on?  2Barum  benn?"  ©ie  fab,  auf 
bie  Uf)r. 

(Sr  tjattc  eigentlich  ermtbern  wollen:  „2Beit  e«  unfd)id(id)  ift,  wenn 
mir  Selbe  allein  ju  fo  fpäter  ©tunbe  — "  316er  er  begriff,  baf?  fie  ja  ba« 
»orau«fefete,  bafe  fie  barauf  gerabeju  wartete.  Unb  be«t)alb  fagte  er*« 
nid)t,  fonbern  ftattbeffen:  „25ie  legten  ^ßferbebalmen  finb  immer  fo  überfüllt, 
auf  bie  barf  man'«  ntd)t  anfommen  (äffen." 

ein  ftid)f)altiger  ©runb  war  aud)  ba«  nid)t.  £>enn  e«  blieb  Unten  bann 
immer  nod)  bie  ©tabtbalm,  unb  er  war  burebau«  in  ben  SBerfjältntffen,  audj 
eine  91ad)tbrofd)fe  neljmen  ju  fönnen,  fie  roar  für  feine  33erbä(tniffe  fogar 
ba«  natürtid)fte  93eförberung«mtttel;  aber  ©erba  fagte  9iid)t«  mehr.  @t 
jablte,  ohne  nadjjuredmen  ober  ein  2ßort  einjuwenben,  legte  ein  reid)lid)eS 
Srinfgetb  neben  feine  fauber  jufammengelegte  ©eroiette  unb  ftanb  auf.  25amt 
half  er  ihr  in  ihr  ^aquet,  lief?  fid)  uom  JMner  feinen  lid)tgrauen  &aDeto<f 
umhängen  unb  nahm  feinen  Grjlinber.    Sie  gingen,   ßr  fall  fel)r  groft 


  3n  *er  t$od)3«itsnad}t.   


unb  ftattli<Jt)  aus,  als  er  fic  am  2lrm  führte,  alle  Seute  fat)en  ficfj  nach 
ben  "Setben  um. 

"Sraufeen  Ratten  fie  3Rtye,  fidf)  burdh  bie  2)Jenfdhettmaffen  ju  minben, 
bie  immer  noch  auf  bem  breiten  SBege  oor  ber  SJJufiffapeUe  ficfj  hin*  unb 
herfdhoben.  ©te  gingen  gegen  baS  ^ergamon^anorama  ju,  immer  noch 
olme  su  fpre<f>en. 

3Cdmäfj[tcr)  oerflang  baS  ©treichconcert  hinter  üjnen,  —  nodf»  ein 
Straufj'fcher  SBaljer,  mit  bem  es  für  heute  fdt>Iofe.  ©anj  leife  unb  gebämpft 
haßten  bie  £öne  herüber,  untermifdht  mit  2Wenfchenftimmen,  t)in  unb  luiebcr 
burchfcfjrillt  oon  bem  Sßfiff  einer  ßocomotioe,  übertäubt  vom  bröhnenben 
©eraffel  eines  jagenben  ©tabtbalmjugeS.  ©ann  gelangten  bie  Reiben  in 
ftißere,  einfame  ©eitenwege.  2Bie  wunberooll  btefe  Quninadht  eigentlich  mar, 
fpürten  fie  erft  b,ier,  wo  ber  fternenübergtujerte  SRadjthimmel  ju  ihren 
.Raupten  lag  unb  nur  bie  geheimnifwollen  Stimmen  bes  grühfommerbuufels 
um  fie  lier  laut  würben,  für  bie  fie  boppelt  empfänglich  geworben  nach,  bem 
lärntenben  ©erooge,  baS  fie  burch  ©tunben  unb  ©tunben  umbrauft.  &ie 
unb  ba  gleißten  bie  33üfd»e,  roie  oerfilbert  oom  eteftrifdjen  Sidbt  ber  ©lüf|= 
lampen  in  ben  föauptwegen,  fic  atmeten  eine  fül)le  grifdhe,  einen  ßaudh 
oon  Unberührtheit  aus.  ^tgenbroo  in  einem  taufdjtgen  Sßinfel,  aus  bem 
ber  ©uft  ber  ©olbregentrauben  herüberwehte,  fdlilug  in  Keinen  3n>ifdhen= 
räumen  eine  StacbttgaU  an,  leife  unb  fdjücfitern,  als  magte  fie  fleh  nicht 
re<jf)t  heroor. 

Herbert  fcf)ien  in  eine  weiche  ©ttmmung  ju  oerfallen.  <£r  mar  fehr 
empfänglich  foldhen  9?aturreijen  gegenüber,  unb  wenn  er  bann  allein  mit 
©erba  mar  unb  SRtemanb  feine  9Kienen  in  Dbacht  nehmen  fonnte,  —  benn 
in  fotetjetn  %aü  hätte  er  fidf)  genirt,  —  rourbe  er  fentimental,  er  fing  an 
ju  fchroärmen.  2lucfj  jefct  begann  er  bamit.  @S  waren  überfchwänglidfje, 
glüheube  Söorte,  bie  oon  feinen  Sippen  brachen,  coHer  Verliebtheit,  33egierbe 
unb  irrer,  ftammetnber  £runfenf)ett.  ©erba  erwiberte  fein  SBort.  9Jur 
manchmal  surfte  ihr  2lrm  ganj  leife  in  bem  feinen.  Unb  bann  gingen  fie 
weiter  unb  weiter,  ganj  langfam,  ganj  wie  in  einer  fremben  SÖelt. 

$)a  plöfclicf),  als  fie  oon  einer  ©ebüfchlücfe  am  Sßege  aus  bie  große 
Fontaine  fahen,  bie  brüben  wie  ein  mächtiger  ©ilberftrahl  in  ben  SEetdj 
nieberwaHte,  faßte  ©erba  leife,  bumpf:  „^a,  baS  tft  2WeS  ein  fdjöner 
Staum,  Herbert,  baS  9llleS  hätte  werben  fönnen.  Slber  2>u  bift  ju  fpät 
gefommen.  Verseih'  mir!  Verseif)'  mir!  $ch  fonnte  fttr'S  nicht  eher 
fagen." 

©r  ftarrte  fie,  mitten  aus  feinem  oerjüdften  ©dhwärmen  auffafirenb, 
mit  erblaffenbem  ©eficht  an.  „SßaS  ift  baS?  SBaS  fotl  baS  heißen? 
©erba!" 

©ie  niefte  leife  oor  fidf)  hin.  Dann  jog  fie  ihn  mit  fanfter  ©ewalt 
weiter  in  baS  ©unfet  beS  SaubgangS  hinein,  als  ob  ihre  Stugen  baS  ©tücf 
.§etle  ba  brüben  nicht  oertrügen,  unb  nun,  fid)  an  ihn  flammemb,  raunte 


6 


  Kourab  Celmaiiu  in  Korn. 


fie  an  ü)m  empor:  „GS  fott  fieifjen,  rote  td)'3  fagte.  GS  fott  fyetjjen,  bafj 
©eine  Siebe  ju  mir  auf  bie  fjärtefte  ^ßrobe  geftettt  roirb,  bie  es  geben 
fann,  Herbert;  oerbamme  mid),  bafj  id)  biä  fjeute  gefd)roiegen  b,abe!  ^d) 
bin  ia  oerbammenSroertf)  um  beSroitlen.   3lber  $)u  mufjt  aud)  begreifen 

—  3d)  ^abe  &id)  fo  lieb,  Herbert,  unb  <£>u  jetgteft  mir  ein  fo  Iro^eS 
©lücf,  —  unb  ba  fottte  td)  nun  mit  einem  äBorte,  mit  einem  @d)tage  — 
nein!  id)  fonnt'ä  nid)t.  Seidjt  ift  eä  für  ein  ÜRäbdjen  ofjnetjin  nid)t,  fo 
Gtroa«  au$jufpred)en,  —  fo  GtroaS  einem  UJlanne  einjugeftefien,  aud)  nur 
anäubeuten  —  Uitb  roenn  man  ben  9Wann  nun  gar  liebt  —  Unb  toenn 
man  fid)  nun  burd)  ba§  ©eftänbnifc  gar  bie  Pforte  jum  ©lüd  oerrammelt 
für  immer,  —  Herbert,  Sit  mufet  begreifen,  bafj  id)'§  nid)t  über  und) 
brachte,  bafe  id)  fdjroieg,  —  ©id)  betrog.   2Bir  roaren  aud)  fo  feiten  allein, 

—  e3  mar  nie  eine  ©etegenfiett,  —  id)  rooHt'S  ja  fo  oft;  —  taufenb,  taufenb 
ftad)elnbe  Vorwürfe  mad)t'  id)  mir  jeben  Sag,  —  jeben  Sag  ton  jenem 
erften,  gtüctfeligen  an  nabjn  id)  mir  oor:  b^eute  —  fjeute  ganj  geroifj  — 
Unb  bann  gefd)ab'3  bod)  loieber  nid)t,  bann  roar  bod)  roieber  bie  2tngft 
p  grofe  unb  fdntürtc  mir  bie  Äefile  5U,  —  bie  3lngft,  Sid)  ju  oertteren, 
Herbert!  3lber  id)  blatte  burd)  mein  «Sdjrocigen  —  burd)  bies  eroige 
£inau§fd)ieben  feine  roaf)rl)aft  glüd*lid)e  ©tunbe.  Unb  be^ljalb  —  bto£ 
be^alb  fönnteft  Su  mir  »ergeben  — " 

G$  quoll  SlfleS  oon  ib,ren  Sippen  tonlo«,  ftd)  überftürjenb,  ein  Mein 
roenig  fd)anfpielerifd).  3lber  baS  merfte  er  nid)t.  Gr  merfte  überhaupt 
nid)t  auf  bie  2lrt,  rote  fie  fprad).  Gr  griff  fid)  nur  ein  paarmal  an  bie 
©tirn,  roeil  er  immer  nod)  glaubte,  er  träume.  Gr  atmete  fd)roer,  rote 
ein  Grftidenber.  Gr  blieb  fteben,  er  griff  jid)  oorn  in  ben  &al3fragen,  um 
Um  ju  todern,  er  nabm  ben  $ut  ab.  Gr  roufjte  gamidit  mebr,  roaä  er 
tfjat,  er  roufite  überhaupt  9lid)t3  meljr  oon  fid).  2lHe3  in  Unit  roirbelte  unb 
quirlte  burdjeinanbcr.  Gr  batte  bie  Gmpfinbung  oon  lauter  ©türjenbem 
unb  2ked)enbem  um  ftd)  b,er.  Grft  ganj  aflmcu)lid)  begriff  er,  bafj  er  es 
fid)  fd)ulbig  fei,  &err  ber  Situation  5U  bleiben,  bafj  er  fid)  eine  unbeitbare 
33löfje  gab,  roenn  bieS  nid)t  gefd)al).  Gr  rid)tete  fid)  geroaltfam  auf,  aber 
er  fd)üttelte  fie  oon  fid)  ab,  er  lehnte  fid)  gegen  einen  SBaum  am  Sßegc 
unb  roarf  tr)r  einen  93ticf  ju  ooller  9lnflage,  Sfrmmer  unb  Gntfefcen.  Gr 
wußte  felbft  nid)t,  toaS  baoon  eigentlid)  in  tf»m  oorl;errfd)te;  —  am  elften 
roofil  baS  Gntfefeen  über  baS,  roaS  er  tjier  erfuhr,  —  plöfcttd),  unoorbereitet, 
mitten  in  feine  oerliebte  Gfftafe  l)inein.  9Bie  ein  23ltfefd)lag  fam  baS  2We3, 
betäubenb,  oermirrenb,  unb  bicfe  jät)c  #eHc  blenbete  ifin.  „3)Jetn  ©ort," 
fagte  er  nur  ftöljnenb,  „wie  ift  baS  Stiles  möglid)?  SEBaS  fott  baS  Stiles 
Reißen?" 

«Sie  surfte  troftloS  bie  <Sd)ultern.  „3m  ©ruube,"  fagte  fie  tetfe,  mit 
gefenftem  ©efid)t,  „Ijätteft  Su  Sir'S  faft  benfen  fönnen.  SBenn  £>u  mein 
Seben,  meine  Grjietmng  in  23etrad)t  jietjft  —  2)Ut  fieben  Sauren  bin  id) 
jum  erften  3M  aufgetreten,   ©eitbem  immer  in  biefer  Sttmofpbarc  oon 


  3n  bet  ^od}3eitsnad)t.  


7 


£eid)tfinn,  Verführung  unb  Ungebunbenheit  —  3ft  es  ba  ein  SBunber? 
J3ft  eS  ba  ein  Verbrechen?  Wlan  fönnte  fid)  eigentlich  nur  wunbern,  ba& 
eS  fo  fpät  gefd)ah  —  unb  nur  einmal  —  3a)  bin  ja  nie  belaufet  geroefen. 
2ln  mid)  barf  man  ben  3Jiafeftab  aus  ©einen  Greifen  bodj  roa^r|oftig  nicht 
anlegen,  gut  ein  ©chaufpielerfinb  mar  id)  tugenbhaft  genug.  ©arüber  (äff' 
id)  mir  feine  grauen  £aare  machfen.  9tur  bafj  tdj  ©id)  in  ber  £äufd)ting 
tiefe  —  bis  £)eute,  —  baS  mar  unrecht,  ^efct,  reo  tcb/S  enblid)  uom  £erjen 
^abe,  roirb  mir  leidjt.  $e|t  merb'  id)  wemgftenS  ©erotfefievt  haben,  ob  ©u 
mid;  wirtlich  fo  liebft,  wie  ©u  mir'S  oft  —  eben  noch  —  gefagt  tjaft,  unb 
ob  ©eine  Siebe  su  mir  ftärfer  tft,  als  alles  —  alles  Stnbere." 

3bt  £on  hatte  fid)  tangfam  um  etroaS  geroanbett,  er  mar  weniger 
uerjroeifelt,  ruhiger,  fixerer  geworben,  es  lag  fogar  etwas  3JtafmenbeS  unb 
gorbernbeS  barin.  2lber  auch  biefe  Veränberung  entging  Herbert.  ©r  war 
immer  nod)  faffnngSloS.  ©ieS  2tQ[eS  fam  ju  unoorbereitet,  mar  ju  nieber= 
fdjmetternb.  gür  folgen  %aü  hatte  er  bie  nötbige  Haltung  nicht  bereit, 
er  war  fid)  nidjt  Mar  über  baS,  was  er  jefct  ju  tfyun  unb  5U  fagen  hatte, 
unb  baS  »erwirrte  tljn,  brad)te  Um  in  ©onfüct  mit  fid)  felber.  Vlöfctidj 
fiel  ü)m  ©twaS  ein,  eine  Stelle  aus  Hebbels  „ÜDiaria  SOtagbalena",  unb  bie 
fprad)  er  jefct  in  feiner  Verlegenheit  über  ein  eigenes  SBort,  baS  er  hätte 
fagen  f ollen  unb  baS  er  nidjt  fanb,  t>or  fid)  hin:  „darüber  fann  fein  3JJann 
roeg"  —  Unb  bann  bebedte  er  feine  9iugen  mit  ben  §änben  unb  fd)lud)3te. 
■Jtun  hatte  er  »löfetid)  bie  Stoße  gefunben,  bie  er  in  bem  gegebenen  $aUe 
ju  fptelen  hotte,   ©S  erleichterte  ihn  orbentlid). 

©ine  3«tlang  fagte  ©erba  9iid)tS.  @S  war  fo  ftiH  }wifd)en  ihnen, 
bafj  man  baS  »lätfd)ernbe  9lieberfalten  beS  SBafferS  brüben  unb  teife 
5J?enfä)eutritte  auf  ben  anberen  Varfwegen  beutlid)  »emeljmen  fonnte.  ©ann 
flang  ihre  Stimme  saghaft  ju  il)m  hinüber:  „2A>enn  baS  ©ein  lefeteS  — 
einiges  2Bort  ift,  bann  ift'S  ja  wohl  am  beften,  wir  gehen  gleich,  jefet 
unb  hier  auSeinanber  —  für  alle  £eit.  2Bosu  foHte  bann  ein  weiteres 
£erumjerren  nod)  fein,  —  swedlofe  Vorwürfe  unb  Etagen,  ba  ja  nun  bod) 
einmal  9tidjts  mehr  gutjumad)en  ift?  2Rit  bem  (Sefchehenen  müffen  wir 
unS  eben  abfinben.  Unb  wenn  ©u  entfdjtoffen  bift  —  3d)  habe  bann  9ttdjtS 
mehr  ju  fagen,  als:  „Verseil)'!  unb  Seb'  wohl!" 

9lun  fam  Seben  in  ihn.  ©r  ftredte  bie  £änbe  nad)  ihr  aus.  „9ietn, 
nein,  nidjt  fo  —  ich  —  id)  habe  ja  noch  nietjt  —  id)  weif?  ja  noch  gar* 
nidjt,  —  id)  bin  nod)  immer  fo  oerwirrt,  fo  rathloS,  —  baS  Stiles  erfd)eint 
mir  immer  nod)  fo  unglaublich,  —  fo  unmöglich  — " 

„2Bir  müffen  aber  bod)  nun  sn  ©nbe  fommeu,"  fagte  fie  teife,  herb, 
ungebutbig.  „©0  ober  fo.  ©iefe  gräf?lid)e  Ungeroifjheit  hat  lange  genug 
angebauert,  mir  Dualen  genug  gemacht,  ^efet  trag'  ich  fie  nicht  mehr. 
3d)  habe  ©id)  fo  unfäglidj  lieb,  Herbert,  bafj  ich  iebe  ©tunbe  befinnungS= 
toS  für  ©ich  fterben  fönnte.  3°)  möchte  wiffen,  ob  es  bei  ©ir  ebenfo 
ift,  ob  ©eine  Siebe  5U  mir  gröfjer  unb  ftärfer  ift,  als  9llleS  fonft  in  ber 


8 


  Konrab  Celmann  in  Horn.   


SBelt,  —  ob  Sit  burd)  fie  —  mit  ib,r  3llle3  überroinben  fannft,  —  aud) 
bieg  3Xeufecrftc;  —  ob  id)  Sir,  rote  id)  ba  bin,  mefir  roertlj  bin,  als 
bie  fcbmeid)terifd)e  giction,  —  bcr  (Srfte  ju  fein,  bic  jeben  3Wann  fo  ftotj 
mad)t!" 

Herbert  ftöfynte  nod)  einmal  auf,  bann  roanbte  et  ü)r  fein  ©ejtdjt  ju, 
baä  jefet  füt)l  unb  ruljig  erfdjien.  sJiur  feine  3Runbroinfel  surften  leife. 
„©ömte  mir  3eit,"  faßte  er  mit  Reiferen,  raupen  Sönen.  „3d)  fomt  mid) 
jefet  nid)t  au3fpred)en.  Su  mußt  ba3  bod)  begreifen.  3Rorgen  —  über« 
morgen  —  Safe  mid)  nur  erft  einmal  ju  mir  felbft  fommen!  Su  fannft 
bod)  md)t  verlangen,  bafe  id)  jefct  unb  bier  über  fo  ßtroaä  —  über  eine 
fo  mistige,  einfdjneibenbe  SebenSfrage  —  Sa«  ift  bod)  unmöglid).  Sag 
roäre  ja  gerabe,  aU  roemt  Su  mir  fo  ea  passant  »orfd)lügeft  — "  er 
roufete  offenbar  nid)t  gletd),  roaä  er  fagen  follte,  ober  unterbräche  ba$  roieber, 
roaä  er  Ijatte  oorbringen  wollen,  um  nad)  einer  Meinen  Sßaufe  murmelnb 
beijufügen:  —  „üorfdjlügeft,  oon  jefet  an  ntd)t  mein-  ju  fd)riftftettern  ober  mid) 
t>on  ber  (Sonne  abäufperren  ober  bergleid)en.  SaS  ift  bod)  roie  eine  furdjt« 
bare  SReootution  bieS,  —  unb  nun  fo  unoermutfjet,  unb  jefct  unb  Ijier, 
roäbrenb  — "  @r  troefnete  fid)  roieberljott  bie  Stirn  mit  einem  tid)tbtauen, 
feibenen  Safd)entud)e.  „Drbentlid)  ber  falte  Slngftfdjroeife  ift  mir  auäge= 
brodjen,"  fagte  er  mit  einer  geroiffen  fud)enben  &ilftofigfeit,  aber  ofjne  ©erba 
anjufeb,en,  benn  baoor  fd)ien  er  fid)  ju  fürd)ten,  —  „aber  fo  Gtroaä  aucf>! 
$n  meinem  gansen  Seben  b^abe  id)  eine  äljnltd)  peinooHe  (Situation  —  Su 
tjaft  Str  roirflid)  eine  Stunbe  auSgefudjt  ju  bem  2tHen!  Safe  un8  nur 
jefct  gellen,  —  rooinögltd)  fönnt'  uns  nod)  roer  33efannte3  begegnen,  —  ba§ 
fefjtte  gerabe!  Unb  man  roeife  aud)  garnid)t,  roer  @inen  b,ier  Stiles  Ijören 
fann  hinter  ben  S3üfd)en.  9Jiein  ©Ott,  mein  ©ott,  roag  finb  baä  für  ©ad)en! 
2Bemt  id)  mir  fo  'roaS  je  fjätte  träumen  laffen!" 

®r  attnnete  mübjatn,  fteefte  fein  Sud)  ein  unb  oerfudjte,  fid)  roieber 
eine  Gattung  ju  geben.  Gr  batte  fie  »ölltg  »erloren  gehabt.  Sabet  fonnte 
er  aber  nid)t  umf)in,  feine  Stugen  eine  SBeile  mit  fd)euer  3lngft  runblaufen 
ju  laffen.  ©erba  betrachtete  ü)n  roäbjenb  attebem  mit  einer  geroiffen  fübten 
Neugier.  Sann,  als  er  ib,r  feinen  3lrm  bot,  fagte  fie:  „Dl),  sroinge  Sid) 
nid)t  bap!  ^d)  fann  ja  allein  gefien  —  Cber  nein,"  fefete  fie  fjinju,  unb 
e3  judte  ©troaS  sroifdjeu  Oberlippe  unb  SRafenflügeln,  roäbrenb  fie  ibren 
3lrm  leid)t  in  ben  feinen  fd)ob,  —  „gerabe  baä  fönnte  auffallen,  roenn  man 
unä  fäl>e.  Unb  e3  ift  ja  gartrid)t  nötfytg,  bafe  man  üor  ber  3eit  erfährt, 
roas  nad)b,er  immer  nod)  friu)  genug  unter  bie  Seute  fommt." 

lag  6troa3  roie  ein  fd)mer}lid)er  (Spott  in  iliren  SBorten  unb  mad)te 
ilm  neroös.  6r  äuefte  orbentlid)  jufammen,  als  er  fie  jefet  an  feinem  9lrm 
gegen  ben  @tabtbal)tit)of  ya  führte.  Unb  bann  fagte  er:  „Tu  tbuft  ja, 
als  roäre  es  fd)on  entfd)ieben,  bafe  roir  —  bafe  id)  —  ©o  roeit  Tmb  roir 
ja  bod)  nid)t.  3d)  bin  feljr  confternirt  —  begretflidjerroeife  —  unb  id)  fann 
in  meiner  33erroirrung,  in  biefer  heftigen,  allgemeinen  ©emütfjSbepreffion 


  3n  ber  ^ocfoeitsna^t.   


9 


burd)au$  leine«  6ntfd)luf3  faffen,  mir  garniert  einmal  flar  werben  über  baS, 
was  id)  ju  tlnm  Ijabe,  —  ober  bie  9Jiöglid)fett  liegt  ja  bod)  »or  —  68 
ift  etroaS  $furd)tbareS,  ©erba.  ;3d)  wollte,  bieS  märe  mir  erfpart  geblieben. 
3Kan  fönnte  barüber  roatinfinnig  roerben." 

9?ad)  biefem  testen  2luSbrud)  fagte  fie  9lid^t*  mefir,  unb  er  führte 
fie  weiter.  «Sie  frieden  jefet  fortroäljrenb  auf  9Jlenfd)eit,  bie  gleich  ifjnen 
bem  Ausgange  jubrängten;  fie  fernliegen  SBeibe.  6rft  als  fie  bie  Stoppen 
5iun  Safinljof  f)inaufgeftiegen  roaren  unb  in  ber  weiten  £aHe  broben  bie 
ÜJienfd)en  fid)  wieber  »erteilten,  fo  bafj  fie  allein  unb  ungeftört  abfeits 
bleiben  fonnten,  fagte  er  mitten  in  baS  bonnembe  ©etöfe  hinein,  mit 
bem  ein  einfabrenber  3»9>  i»cr  ntd)t  ber  iljre  mar,  ben  gewaltigen  9?aum 
burd)fd)ütterte:  „}Jad)bem  $Du  mir  baS  furchtbare  33efeimtnif?  einmal  gemalt 
fiaft,  ©erba,  mufjt  &u  mir  nun  aud)  Sftffc*  fagen.  £>aS  fnlft  9iic^t8.  $d) 
mufj  nun,  ba  $>u  mir  bie  93inbe  von  ben  2lugen  geriffen  tiaft,  bod)  aud) 
gleid)  »öllig  flar  fetjen,  um  geredet  urteilen  5U  fönnen.  Sd)  mujj  alles 
Ginjelne  rotffen,  —  wie  unb  manu  es  gefdjal)  unb  — " 

„9iein,  nein."  <5ie  fd)üttette  rubjg  ben  Äopf.  „&aS  nic^t.  £)aS 
erlafj  mir!  63  ift  fo  roiberroärttg,  ba«  nod)  einmal  aufwübten  ju  fotten, 
fo  f)äj?ttd),  —  unb  cor  2lHem  fo  sroecfloS.  SBoju  follt'  e§  benn  etwa  bienen? 
60  mad)t  9ttd)t8  beffer  unb  StidjtS  fd)limmer.  $d)  füble  mid)  nid)t  oer« 
pflichtet  baju,  unb  icr)  »erroetgere  es  2>ir.  Söerjeitj' !  3lber  ®u  mufjt  ja 
felbft  begreifen  —  Xie  £b,atfad)e  mufe  $)ir  genügen,  bie  f>ab'  id)  jugegeben. 
ÜJUt  ber  mufjt  ©u  ®id)  abfinben,  —  fo  ober  fo.  9JJeI»r  bin  td^  35ir  nid)t 
fd)utbig,  —  baS  märe  unbelicat.  SBenn  roir  erft  »erljeirattiet  ftnb  —  id) 
meine:  falls  ©u  ®td)  tro|  2lllem  bennod)  bereit  finben  follteft,  —  bann, 
barnt  natürlid)  —  bann  märe  eS  etwas  2lnbre3,  wenn  SDu  bann  nod) 
barauf  beftef)en  follteft,  —  aber  jefet:  nein.  S3itte,  reben  roir  nid)t  mebr 
baoon!   63  ift  gerabe  genug  unb  übergenug!" 

Herbert  roar  fct)r  rotl)  geroorben,  er  murmelte  6troa3  jroifd)en  ben 
3äf)nen,  roaS  fie  nid)t  oerftanb.  %fov  3»8  fufyr  jefct  ein,  unb  fie  mufjten 
fid)  eilen,  einjufteigen.  Sßäfirenb  fie  e3  traten,  fagte  fie:  „&err  ©Ott,  roir 
wollten  ja  mit  ber  ^ferbebalm  fahren!   2Bie  bumm!" 

6r  begriff  md)t,  bafj  fie  je&t  unb  fo  oon  biefer  <Sad)e  reben  fonnte. 
63  fd)wott  6troa3  in  ifnn  empor  oon  Sitterfeit,  6mpörung  unb  £aj3.  3)ie3 
9JJäbd)en,  feine  Srautf,  bie  il)m  eben  geftanben  blatte,  —  merf würbig 
fpät  geftanben  blatte,  —  bafj  fie  nid)t  bie  roar,  bie  er  in  tt)r  ju  finben 
geglaubt,  baß  fie  nid)t  meb,r  rein  roar,  —  bieg  9M>d)en  amüfirte  fid) 
jefct  barüber,  baft  fie  nun  bod)  mit  ber  ©tabtbalin  unb  nid)t,  roie  er  ge= 
rooUt,  mit  ber  5ßferbebal)n  nad)  §aufe  fuhren,  barüber  alfo,  bafj  er  bieä 
bei  ad'  bem  auf  ü)n  einftürmenben  @d)re(flid)en  nergeffen  blatte!  6S  roar 
ungtaublid),  einfad)  unglaublid).  6ine  Äomöbiantin  —  baS  war's!  ®arin 
lag'S!  ©ie  jinb  alle  nid)t  üiet  anberS.  2>aS  ©eroerbe,  baS  fie  treiben, 
mad)t  fie  fo.    3m  ©runbe  fann  man  fid)  nie  bei  ibnen  barauf  oerlaffen, 


\0    Kontob  Celmann  in  8cm.   

bafe  fie  in  ber  einen  ©tunbe  noch  fo  finb,  rote  in  ber  anbten;  baS  ift  eben 
baS  traurige,  bem  »erbanfte  er  biefe  33efdjeerungen  von  heute  2lbenb. 
©rojjer  ©ort,  roenn  er  baS  fo  redjt  bebaute:  —  feine  33raut!  Unb  fdron 
in  eines  2tnbren  &änbeu  geroefen!  Sßfut,  cS  mar  abfdjeulidj,  es  mar  faum 
auSjubenfen. 

Unb  fie  fjätte  e$  Unn  fogen  muffen,  benor  fic  ihm  ihr  ^aroort  gab, 
ib,n  um  fie  roerben  tiefe,  —  bamals  bodj  jum  SJttnbefteu.  «Statt  beffen 
—  aber  natürlich:  eine  Äomöbiantin!  SBarum  war  er  auf  ben  »errücften 
Gmfall  gefommen,  eine  ftomöbiantin  ^eirat^en  ju  motten?  Die  nehmen 
baS  alle  nid)t  gar  fo  genau,  bic  fiaben  bie  „fptefebürgerlidjen"  ©runte 
fäfee  ber  foliben,  bürgerlichen  ©efettfdjaft  md>t  unb  bilben  fic^i  nodj 
fogar  GtroaS  barauf  ein,  wenn  mdjt  2tttes  bei  ihnen  fo  flappt,  roie  bort. 
9Jun  blatte  er'S!  9tun  mit  guter  Spanier  toSfommen,  baS  mar  eine  eigene 
©adje.  ©erebe  gab'S  natürlich,  —  unb  roaS  fär'n  ©erebe!  Das  mar 
peinlia).  2lber  fdhliefjlidj:  wenn  man  jum  ©egenftanb  ber  attgemeinen 
Sfofmerffamfeit  rourbe,  —  $u  ojradjten  mar  baS  aud)  mdjt,  eS  fonnte 
immerhin  für  einen  ©djriftftetter,  ber  nodj  at«  Anfänger  gelten  mufne  unb 
ben  Ghrgetj  l)atte,  fdjnett  ju  einem  tarnen  ju  fommen,  oon  93ortbeil  fein. 
3)tan  mürbe  fragen:  „Die  Sinbfieim  im  ©ttdje  gelaffen  »on  ihrem 
»räutigam?  2Ber  ift  benn  ber?  2ldj,  ber  ©chriftfteffer  ftürft!  2BaS  bat 
er  bodj  gleidj  gefdjrieben?"  Unb  bann  fo  meiter.  GS  fonnte  gerabeju  ju 
einer  neuen  Auflage  feiner  „^ßfttdjt"  führen.  Die  2Mt  mar  nun  einmal 
fo,  unb  man  mufjte  fie  nehmen,  roie  fie  mar. 

9lur  —  eä  roar  bodj  eigentlich  fdjabe.  Gr  fiatte  ©erba  lieb.  Unb  ber 
■Blamt  einer  befannten  ©djaufpielerin,  —  felber  ein  Dieter  —  GS  machte 
fid)  bod)  ganj  gut.  GS  mar  fo  geroiffermafjen  baS  Siegel  barauf,  baf?  er 
fid)  »on  fetner  hodjrooblauftänbigen  ©efippfdjaft  emaneipirt  hatte  unb  feine 
eignen  SBege  roanbelte  als  ein  freier  unb  unabhängiger  ftünftler.  9Jitt  biefer 
SSeroeggrunb  batte  ihn  getrieben,  —  ganj  geroife.  Weben  feiner  Seibenfdjaft 
ein  geroiffer  %xo§,  ein  tytbtt  Gigenroitte,  eine  beftimmte,  berouf3te  Stbfic^t. 
Söenn  er  freilidj  geroufjt  hätte,  —  bann  natürlich  nicht;  nicht  im  Sraum 
roär'S  i^m  bann  eingefallen.  9lber  nun  roürb'  eS  roie  ein  Sflücfjug  aus* 
feljn,  gerabe  roie  roenn  er  bodj  bereute,  fid)  »on  feinen  ©ippen  getrennt  51t 
fiaben,  unb  einfähe,  eS  fei  mit  Seuten  anbren  ©d)lageS  fein  erotger  33unb 
ju  flechten.  Unb  baS  roofft'  er  nun  bodj  nid;t,  baS  burft'  er  ihnen  um 
feiner  felbft  mitten  nid)t  gönnen,   ©ine  fatale  Sage  alfo  — 

Das  Goup6,  in  baS  fie  geftiegen  roaren,  roar  fo  coli,  unb  ber  3ug 
raffelte  mit  fo  betäubenbem  Särm  bahin,  bafj  eine  Unterhaltung  jroifdjen 
bem  Brautpaar,  baS  fidj  gegenüberfafj,  nid)t  roohl  möglidj  geroefen  märe, 
am  roenigften  über  baS  Gine,  roaS  Herbert  nun  unabläffig  in  feiner  ©eele 
b,ins  unb  herroäljte  GS  roar  ihm  audj  gerabe  recht  fo.  9lur  ruhten  ©erbas 
2tugen  unuerroanbt  auf  ihm,  unb  baS  genirte  ihn,  baS  mad)tc  ihn  neroöS. 
SBaS  roottte  fie  eigentlidj  mit  biefem  eroigen  ^erüberblicfen?  GS  roar  ja  gerabe, 


  3«t  ber  ^odj3ejtsnad|t.   


u 


als  rooHtc  fie  aus  feinen  ÜWienen  feine  wedjfelnben  ©ebanfen  ablefen.  9iun,  baS 
fotlte  tfjr  bodj  woljl  fdjwer  werben.  ©twaS  fo  SDringenbeS,  fo  5BerlangenbeS 
tag  in  Unten  Slugen.  Herbert  rücfte  unruhig  auf  feinem  ©ife  l)tn  unb  f)er. 
©ie  liebte  if)n  bodj  fcb>,  biefe  ©erba.  ©ine  furdjtbare  2lngft  mufjte  je&t 
in  itjr  wühlen,  ilm  ju  »erHeren.  «Sie  wollte  mit  ijjren  2lugen  ilm  jroingen, 
ilm  bannen,  it)rt  feftfjalten.  $>aS  war'S!  Sieber  Gimmel,  ja,  es  märe  audj 
2WeS  fo  gut  unb  fdjön  gewefen,  nur  —  @S  ging  itim  eben  bodj  gegen 
bie  innerfte  9iatur.  ©r,  Herbert  gürft,  unb  ntdjt  ber  ©rfte  bei  bem  SBeibe, 
baS  er  liebte,  baS  er  l)eiratl)en  toollte!  %n  feinen  eignen  Slugen  ent= 
würbigte  es  ib>.  @r  mar  garnidjt  mebr  er,  wenn  er  baS  ttjat,  wenn  es 
roirflidj  bafjiu  fam.   9Zein,  nein,  eS  ging  nidtjt,  eS  ging  nidjt. 

®ie  raffelnben  9iäber  beS  3ufleS  toiebertjoltert  es  unabläffig,  waS  aus 
all'  feinen  ©ebanfen  heraus  tönte  unb  fdjrie:  ,,©S  gef)t  ntdjt,  —  eS  gefjt 
ntdjt,  —  eS  getjt  nid^t  — " 

Salmbof  griebri#ra6e!  ©ie  fliegen  aus,  gingen  bie  treppe  Ijinab, 
taudjten  unter  in  baS  immer  nodj  flutljenbe  ©ewübX  Sßieber  tiatte  er  il|t 
feinen  3lrm  geboten,  wieber  blatte  fie  Um  genommen,  ©djroeigenb  fdjritten 
fie  nebeneinanber  t)er,  burd»  all'  baS  laute,  aufgeregte  ©ommernadjtleben 
ber  ©rofjftabt.  ©ie  überquerten  bie  Sinben.  ©erba  warf  einen  Slicf  5um 
6af6  Sauer  hinüber,  burdj  beffen  offene  Spüren  unb  genfter  man  auf  bie 
lidjtüberf)ellte,  bunte  SDienfdjenmaffe  faf),  bie  ftdj  an  all'  ben  Keinen  £ifd)en 
}ufainmenbrängte,  —  es  mar  ein  fefjnfüdjtiger  SBlicf,  bem  ein  Heiner 
©eufjer  folgte.  „33in  idj  burftig,  §erbert!"  unb  ttjr  3lrm  machte  in  bem 
feinen  eine  jucfenbe  ^Bewegung  nadj  bem  6af6  f)in.  3;cfet  einen  ©isfaffee 
bort  —  es  mü&te  föftlidj  fein.  Unb  mitten  in  bie  bunte,  internationale, 
ein  Mein  bissen  „gemifdjte"  ©efellfdjaft  hinein,  nad)  bem  fteifen,  lang» 
weiligen  SluSfteliungS^eftaurant  —  %n  allen  3^nfpifeen  pricfelte  eS  fie 
banadj.  9Bojit  benn  audj  jefet  fdjon  ju  33ett  get)rt?  ©S  mar  woljl  nodj 
garnidjt  einmal  9JJitternadjt,  —  bodj  t»ar)rrjafttg  nodj  feine  ©djlafenSjeü. 

9tber  Herbert  mar  entfefct  über  bie  &Io§e  Slnbeutung  UjreS  SBunfcfieS. 
3e|t  in'S  ©af6  SBauer,  —  fie  33eibe  allein,  —  unb  nad)  bem,  was  eben 
oorgefallen  mar,  nad)  biefen  ©röffnungen,  bie  von  fo  lebeneinfdjneibenber 
Sebeutung  waren  — ?  £>a  muf3te  man  ndj  benn  bodj  wirflidj  fragen, 
ob  man  redjt  gehört  blatte;  baS  mar  in  jebem  galle  ein  &ä(S)eti  vm 
grioolität,  —  »on  nidjts  Slnbrem.  SBenn  ©erba  baju  im  ©tanbe 
mar,  —  nun,  bann  erleichterte  fie  tfjtn  feinen  ©ntfdjluf3  roenigftenS,  ber 
ja  roo\)l  obneb,in  Ijötte  feiner  ©igenroürbe  falber  oon  ib,m  gefaßt  werben 
muffen! 

©eljr  »erbroffen  fdjlugen  fie  33eibe  ben  3Beg  in  bie  ftüfe  (S^arlotten* 
ftraße  ein  unb  ftanben  nadj  wenigen  SRinuten  »or  ©erbaS  ^aufe.  ©ie 
{»atten  fein  SBort  me^r  gemedjfelt.  311s  fie  fid»  jum  Stbfdjiebe  bie  £anb 
reidjten,  fübl,  ob^ne  fräftigen  £)rucf,  ftanb  er  mit  bem  abge3ogenen  Gnlinber 
in  ber  Sinfen  oor  iljr,  fjodj,  ftetf,  gemeffen,  wie  ein  frember  9J?ann.  Unb 


\2    Konrob  (Eelmann  in  Hern.   

ba  fagte  fie,  —  nod)  unter  bet  äitternben  Sfacfjnrirfimg  iljre«  2lerger«  unb 
ber  Gnttäufdjung  oon  »orb,in,  —  geroollt  fiatte  fie  e«  nidjt,  unb  faum  bafe 
fie  e«  au«gefprodjen,  bereute  fie  e«  aud)  ftfron  roieber:  —  „3$  werbe  ©eine 
Gntfdjeibung  bann  ja  roolil  erfahren,  wenn  ©u  e«  an  ber  3eit  f>ältft.  2Wff 
fie  fo,  wie  ©u  fie  correct  ftnbeft!   ©ute  9tad)t!" 

•Jlocf)  nie  batte  ifire  ©timme  fo  Ijart  geflungen.  Unb  e(>c  er  nodj  ein 
SBort  fjätte  erroibern  fönnen,  mar  fie  im  £aufe  »erfdjrounben.  9htr  bafj 
er  glüfirotb,  im  ©efid)t  geroorben  mar,  f)atte  fie  nodj  gefefm.  23etnabe  t^at 
er  if»r  leib.  Stber  »or  allen  ©ingen  roar  e«  fefir  unoorfidjttg  oon  ibr 
geroefen,  ba«  SBort  ju  gebrauchen,  —  be«roegen,  roeil  e«  il;n  beeinfluffen,  ibn 
beftimtnen  fonnte.  ©ie  roufete  ja,  bafc  er,  roie  ber  ©dmtetterltng  unter  ber 
9labe(,  beim  2lnf)ören  biefe«  SBorte«  juefte  unb  jappette.  Unb  er  batte 
fic^»  bodj  frei  entleiben  follen,  abfolut  frei,  bamit  —  3Son  folgen  ßteinig* 
feiten,  oon  foldj'  einem  einjelnen  SBort  f)ing  mandjmat  ein  2eben«fdjicffat 
ab.  Unb  bann  roar'«  fein  SBunber,  roemt  bie  SReue  barauf  folgte.  9ietn, 
lieber  als  auf  folgern  ©runbe  ba«  ©lüd  feine«  ©afein?  aufbauen  — 
SBemt  e«  überhaupt  ein  ©lücf  roar,  je  roerben  fonnte  

SBäbrenb  ©erba  mit  folgen  ©ebanfen  bie  treppen  ju  tbrer  SBobnuug 
fjtnaufftieg,  fegte  Herbert  gürft  feinen  §eimroeg  fort.  Gr  mufcte  bie  Sinben 
hinunter,  jum  S3ranbenburger  £f)or  fiinau«.  Gr  ging  in  ber  SKitte  be« 
SBege«,  jtoifc^crt  ben  »erftaubten  Säumen,  unter  ben  eleftrifdjen  ©lüfylampen 
b,in.  SHodt)  immer  glübte  fein  ©efid&t.  SBie  ein  ^eitfdjenfdjlag  fiatte  ba« 
SBort  ibn  getroffen:  —  „rote  ©u  fie  correct  finbeft!"  Teufel  audj!  Gr  wollte 
ja  niefit  correct  fein,  barin  fjotte  er  ein  föaar  gefunben,  unb  ©erba  mußte 
ba«.  Gorrect!  2llle«  Slnbere  efjer,  al«  ba«.  SBie  ein  freibenfenber,  mobern 
empftnbenber  SDienfdfj  roollte,  muf3te  er  entfcfjeiben.  SRatürlid),  ba«  roar  er 
fid)  unb  feiner  neu  errungenen  Stellung  fdjulbig.  2lber  fdjtieftlidj:  ba«  roar 
eine  grage  —  nidjt  ber  Floxal  —  jum  teufet  mit  ber  SOioral!  —  fonbern 
ber  ©elbfteinfdjä|ung.  SBenn  man  ficf>  bodj  nun  einmal  für  ju  gut  fyielt, 
um  ber  „9lad)folger"  ju  fein,  roo  man  ber  Grfte  unb  Ginjige  fein  rooHtc, 
—  ba«  roar  ber  fpringenbe  5$unft,  ganj  allein  ba«.  Unb  bann:  baf?  fie 
tfjn  getäufdit,  belogen  rjatte  bi«  fieute  3lbenb!  9luf  fo  Gine,  bie  ba«  fertig 
braute,  roar  feinerlei  Skrtafj,  jefct  ntcfjt  unb  nie,  auf  fo  Gine  braudjte  man 
feine  jarte  9tüditd)t  ju  nefmten. 

Studi  eine  anbere  2lngft  roar  nod)  in  Herbert  lebenbig.  ©iefer  Gine, 
ber  ©erba  einmal  befeffen  blatte,  lebte  bod)  roabrfdjeinltcb,  nodj,  roar  oielleidjt 
fogar  fiter  in  33erlin.  SBenn  ber  nun  eine«  Sage«  in  einer  luftigen  ©e= 
fedfdjaft,  am  SMertifd)  —  roo  e«  audj  roar  —  tnit  ber  gauft  auf  ben 
£tfd)  fd)lug,  al«  bie  Siebe  auf  bie  fcfjöne  grau  ©erba  $ürft  gefommen 
roar,  unb  ladjenb  —  mit  jenem  Sacben,  ba«  Herbert  »on  äbnlid)en  Grteb= 
niffen  f»er  nur  allju  gut  fannte,  au«rief:  „Äinber,  idj  roeif3  —  im  93er= 
trauen  gefagt:  id)  l)ab'  fie  aueb  'mal  gehabt,  idj  —  unb  idj  roar  ber  Grftc  — 
famt'«  befebroören!"   Uumögticb,,  unmöglid)! 


  3™  öer  l}od)3eitsnad}t.   


\5 


Herbert  fyatte  im  2Bciterf(^rcitcn  bie  gäufte  geballt.  $>aS  t^ut  fein 
G&renmann,  natürlid)  nid)t.  SBtoS  baf?  mandjmal  Gtnen  eine  roeinfettge 
SRenommiftenftimmung  boju  I)inreif3t.  Unb  bamt:  roar  er  benn  ein  Gf)rcn= 
mann,  ber  SBetreffenbe?  2Ber  bürgte  Herbert  bafür?  Unb  roenn  erft  ein* 
mal  einer  fid)  gerühmt  f>at,  glaubt  natürlid)  alle  28ett,  es  mären  ü)rer 
•Dieljrere  geroefen  unb  ber  jefeige  ©bemann  nur  gerabe  ber  ßefete,  ber  baS 
Sufeenb  coli  mad)t.  $fut  Teufel!  216er  bem  trete  einmal  Giner  entgegen! 
SBomit  benn?  2Bte  beim  fold)'  einem  efelb>ften,  nieberträd)tigen  ©erüd)t 
baS  SebenSlidjt  auSblafen?  ®urd)  eine  $erauSforberung?  £a  fonnte 
man  fein  IjalbeS  Seben  mit  Quellen  »erbringen.  Unb  bafj  fo  ein  ©uetl  mit 
feinem  3ufaK*au^9a«0  überhaupt  garnidjts  beroieS,  fooiel  roufjte  er  bod) 
nun  aud)  fd)on;  auf  bem  ©tanbpunft  befanb  er  fid)  feit  Sängern.  2llfo  — 

9tun,  sunt  genfer,  man  burfte  es  eben  nid)t  barauf  anfommen  laffen. 
GS  gab  ba  feinen  2luSroeg.  Herbert  $ürft  burfte  feine  bemafelte  grau 
b>ben,  —  um  feiner  felbft  mitten  nid)t  unb  um  ber  2(nberen  mitten  nid)t, 
benen  er  feinen  Sßorroanb  für  ib>  geifernbes  ©ejüngel  bieten  burfte.  SDabei 
blieb  er  fteb>n,  barüber  fam  er  nid)t  liinroeg,  —  mit  all'  feinem  ©inniren, 
mit  all'  feinem  ©etüftel  niebt.  2Rit  einem  großen,  mänulid)en  ©ntfd)luf? 
fid)  freimad)en,  —  weiter  blieb  9iid)tS.  $>aS  mar  er  fid)  felber  fd)ulbig. 
Unb  roer  eS  gut  mit  ibm  meinte,  mufcte  if»m  SJcifaU  sollen.  9iur  bafs 
er  über  bie  ©rünbe  biefeS  SluSetnanbergefntS  nie  mürbe  fpred)en  bürfen. 
Unb  baf?  bie,  roeld)e  ilmt  SöcifaU  sollten,  eS  t)ermutf)lid)  tb>n  mürben, 
roeil  fie  überhaupt  —  in  Unfemttnifi  ber  ©ad)lage  —  annahmen,  er 
fei  fid)  über  bie  Unmöglid)feit  einer  Skrbinbung  mit  einer  Äomöbiantin 
Ilar  geroorben,  bemt  fold)e  3?erbinbung  fei  nun  einmal  ein  Sing  ber  Uns 
mögltd)feit  für  einen  correcten  2Benfd)en.  Sßul)!  Summ!  $DaS  roollte  er 
md)t,  gerabe  baS  nid)t. 

Gr  blatte  injroifd)en  feine  2Bof»nung  braufsen  in  ber  Slöniggräfeer* 
ftrafje  erreidjt,  in  einem  großen,  »oraeljmen  £aufe,  eine  Xreppe  f)od),  — 
ein  paar  3ü"roer  m}t  «Hern  mobernen  Gomfort,  üppig,  von  petnttdjer 
©auberfeit  ber  Ginridnung,  faft  ein  bisdjen  roeibifd>lururiös.  ©erba  blatte 
baS  roenigftenS  gefunben,  als  fie  liier  geroefen,  —  jum  erften  unb  legten 
9Ral  unb  natürlid)  in  Segleitung  ber  £ante.  GS  rod)  fogar  etroaS  nad) 
Skild)enparfüm  in  ben  3immer"/  gerabe  rote  fein  £afd)entud)  unb  bie 
<Seibenauffd)läge  feines  UeberrodS.  Herbert  fleibete  fid)  auS  unb  legte  fid) 
ju  33ett.  GS  mar  ein  roeidjes,  breites  Sett  mit  fd)roellenben  geberfiffen, 
unb  er  fd)lief  fonft  immer  fefir  gut  barin,  —  faft  mit  bem  ©locfenfd)lage, 
von  3Witternad)t  bis  fieben  Uf»r  3RorgenS  ofme  jebe  Unterbredmng.  9tur 
feltene  3luSnal)men  fernen  babei  »or.  $eute  fonute  er  burdjauS  nid)t  ein« 
fd)lafen.  2ltteS  ftörle  Um.  $aS  öeflingel  ber  ^ferbebafm  braufjen  roollte 
gar  fein  Gnbe  nehmen,  —  unb  biefe  eroigen  SBagen,  bie  ba  »orbeirottten 
—  unb  im  3immer  über  üjm  rourbe  Glaoier  gefpielt.  Unb  51t  attebem, 
nod)  irgenbroo  ein  betteuber  £unb.   Grmürgen  l;ätt'  er  iEjn  mögen.  §unbe 


H    Konrai»  Selmann  in  Som.   

tonnte  er  überhaupt  nid)t  ausfielen;  es  mar  einer  fetner  ©treitpunfte  mit 
©erba,  bie  für  igunbe  fd)wärmte  unb  burcbauS  »on  Umt  »erlangte,  er  foHtc 
fid)  eine  größte  Ulmer  ®ogge  anfdjaffen.  3)aS  fjätt'  ibm  gefehlt!  @in  grofjer 
£unb  in  einer  georbneten  ^Berliner  ©tabtwohmmg,  wo  er  2ftteS  umftiefe, 
oerunreinigte,  Derbarb,  bie  beften  greunbe  mit  wütfienbem  ©eftäff  anfuhr, 
—  alle  paar  £age  ein  ©dmtersenSgelb  an  einen  gebiffenen  Settter,  ein 
ewiges  ©ejage  hinter  ibm  bretn,  ©djerereien  mit  ber  ^olijei,  mit  ben 
9Jacbbarn  —  9tber  ©erba  fiatte  gefagt:  „©onft  fieirath'  td)  $)id)  ntd)t!" 
2Bie  bumm!  2BeSf)alb  ü)m  baS  jefet  wohl  2ttteS  fam?  @S  mar  ja  fonriefo 
ju  @nbe  —  mußte  5U  ®nbe  fein  — 

9iuf)eloS  wäljte  fidt)  Herbert  in  feinen  Äiffen  f>in  nnb  her.  @r  er* 
bitterte  fid)  immer  mehr  gegen  ©erba,  je  weiter  bie  9tod)t  »orrücfte.  ©af? 
fie  ihm  biefe  ©cbmad)  angetban  blatte!  35af?  trjn  biefer  5ieulenfd)lag  bleute 
batte  treffen  müffen!  Sftöglid),  baf?  fie  entfcbulbbar,  —  in  höherem  ©inne 
fogar  uufdjulbig  war,  er  wollt'  es  ja  gern  glauben;  aber  baf}  Tie  feine 
SBerbung  angenommen,  ohne  ihm  ihren  moralifcben  Sefect  eutjugefteben, 
baf?  fie  ihn  bis  beute  »erfdjwiegen  batte,  —  baS  mar  unoeräeibUd),  bafür  gab 
e§  feinen  ©chatten  einer  ^Rechtfertigung,  ©ie  blatte  ihn  bodt)  wohl  erft  fieser 
machen  motten,  —  offenbar  nidjts  2lnbere3;  fie  blatte  ibn  erft  fo  feft  an  fid) 
fetten  motten,  baf?  er  nicht  mehr  jurüeffonnte,  bafe  er  einen  2i)eil  feine* 
SebenS  babei  einbüfste,  wenn  er  es  tbat.  ©cbmäbtidje  Seredbnung  mar  es 
gewefen.  ©ingefangen  follt'  er  erft  fein  unb  bann  nicht  mehr  jurüdföttnen. 
©erabe  baS  empörte  ibn  am  attermeiften.  ©o  banbelte  eine  raffinirte 
Äofette,  eine  fdjlaue,  überfchlaue  Äomöbiantin.  ©in  paar  SBodjen  oor  ber 
.§od)seit!  $>enn  jeben  Sag  fonnten  ja  nun  bod)  biefe  bummen,  fo  fä)roer 
ju  befdbaffenben  Rapiere  aus  ihrem  böbmtfdjen  föeimatSort  enblid)  eintreffen, 
unb  bamt  fonnte  baS  Aufgebot  fofort  beftettt  werben,  $ätte  beftettt  werben 
fönnen.  Unb  beSfialb  war'S  ihr  enblid)  an  ber  3«t  erfdbtenen,  ben  3Runb 
aufptbun.  9?ur  weit  eS  fonft  5U  fpät  mürbe,  weil  es  fonft  einen  böfen 
Äracb  hätte  geben  müffen,  wenn  er  felbft  erft  —  ben  Teufel  auch!  2Ber 
ein  2Häbcben  fieiratbet,  nimmt  fie  boeb  in  bem  felfenfeften  ©lauben  Inn, 
wirtlich  ein  9Jiäbd)en  ju  befommen,  unb  nicht  — 

9lun,  fie  fottte  fid)  in  ibren  feinen  ^Berechnungen  benn  bod)  getäufebt 
haben.  35ie  ©d)lingen,  in  benen  fie  Um  hielt,  waren  nod)  feineSroegS  fo 
feft  gefnüpft,  baß  es  fein  Gntrimten  mehr  baraus  gegeben  hätte.  Dbo, 
nein!  Unb  wenn  felbft  ein  5ttjeit  feines  beften  ©eins  babei  ju  ©runbe 
ging,  wäbrenb  er  fid)  freimad)te  —  Keffer,  ein  ©tüd  SebenSgtüd,  Hoffnung 
unb  ^ttufion  aufopfern,  als  feine  (Sljre.  SHe  @bre  muf?te  gewahrt  werben 
um  jeben  ^Breis,  aud)  um  ben  f)öd)ften  unb  äufierften. 

Diefcr  ©cbtuf?gebanfe  gab  Herbert  eine  gewiffe  9tube  jurüd.  ©eine 
3WanneSef)re  verlangte  bie  Trennung  oon  biefer  $rau,  bie  nid)t  me^r  rein 
war  unb  bie  ifjn  Untergängen  hatte.  ®amit  fertig;  barüber  IjinauS  gab 
eS  Vichts  inebr  ju  flügeln.  Um  feiner  (Sb,re  willen  mufjte  er  entfagen  unb 


  3n  bet  £;od;3citsnad;t.   


leiben;  baä  roar  2)ienid)enloo3,  unb  e3  war  eines  SDiamteS  roürbtg,  fo  ju 
tjanbeln.  3Jiit  biefem  93eroußtfein  »erfaßte  er  geftärft  einsufd)lafen,  nad)bem 
e§  enblid)  ganj  ftitt  braußen  unb  im  &aufe  geworben  mar,  uttb  eS  gelang 
ifmt  nad)  einiger  3eü  aud)  roirflid).  — 

2lm  anberen  -JJiorgen  füllte  er  fid)  imax  weniger  frifd),  als  fonft,  aber 
im  Uebrigen  war  er  ganj  rutjtg.  Sie  Trennung  mußte  »or  fid)  gefyen, 
baran  mar  fein  3roeifet  mef)r.  ©r  f)ätte  ©erba  gletd)  jefct  ben  2lbfd)ieb3» 
brief  fd)reiben  fönnen,  aber  e£  foUte  nid)t  ben  2lnfd)ein  tjaben,  als  ob  er 
fid)  übereilte,  borgen  war  ja  aud)  nod)  3*'*  genug,  ßr  fleibete  fid)  mit 
ber  gewolmten,  umftänblid)en  $einltd)feit  an,  frübjüdte,  tag  bie  3eitungen, 
—  2llIeS  genau,  wie  fonft,  2llleS  ganj  nad)  bem  S<$uürd)en.  Unb  bann 
wollte  er  arbeiten.  „3n  biefen  Stunben  pflege  id)  ju  bieten,"  blatte  ©erba 
in  ifjrem  übermütigen  «Spott  »on  feinen  SBormittagen  gefagt.  9iun, 
fd)ließlid)  mußt'  es  bodj  audf»  in  biefen  Singen  eine  gemiffe  9tegelmäßigfeit 
geben,  ©ctjriftfteKcr  fein  fließ  bod)  nod)  lange  nid)t  gauteitjer  fein,  ftm 
©egentfjeil.  Sie  Ungebunbenljeit  mußte  bod)  aud)  itjrc  ©renken  fjaben,  eS 
roar  bod)  immer  nod)  ein  gewaltiger  Unterfdjieb  jwifdjen  einem  geregelten 
SebenSroanbel  unb  einer  fteif leinenen,  pebanttfdjen  Gorrectljeit,  roie  fic  in 
ber  @pt)äre  Ijeimifd)  roar,  aus  ber  er  fjeroorgegangen  — 

ßorrectfjeit!  Sa  roar  baS  roiberroärtige  Sßort  fd)on  roieber,  mit  bem 
©erba  ifm  geftern  9lbenb  entlaffen  blatte  unb  baS  immer  roie  ein  Sßeitfdjen* 
fd)lag  auf  ifm  roirfte.  ßorrect!  ßorrect  roollt  er  garnid)t  fjanbeln.  $efct 
nid)t  unb  nie.   2tber  fdjließlid):  roenn  eS  bie  @E)re  gebot  — 

©r  fefete  fid)  an  feinen  ©djreibtifd).  2tUeS  lag  unb  ftanb  fner,  roie 
er  eS  brauchte.  (Sine  oortrefflidje  geber,  lein  £>ärd)en  in  ber  £inte  — 
®r  überlas  bie  legten  9)?anufcrtptfeiten.  „3erriffene  Ueffeln,"  follte  ber 
SRoman  Reißen.  Unb  t)icr  ftanb:  „2Benn  er  baS  tfjat,  roaS  in  feinen 
Streifen  »eroefmtt  unb  unmöglid)  geroefen  roäre,  fo  mußte  er  jebcSmat  ganj 
genau,  baß  bieS  in  feiner  jefcigen  Sage  unb  roenn  er  fid)  roirflid)  —  aud) 
innerlid)  —  freimachen  roollte,  gerabe  baS  9üd)tige  unb  baS  einjig  ©ebotene 
roar,  baS,  rooju  fein  £erj  feine  3uftimmung  gab."  —  SaS  blatte  er  geftern 
gefd)rieben,  beoor  ©erba  ifjm  —  Seltfam!  Unb  ba  follte  er  nun  ijcute 
roieber  anfnüpfen.  9fein,  bas  founte  er  nid)t.  3rotfd)en  geftern  unb  fjeute 
lag  für  ifm  ein  Slbgrunb.  <Sd)lteßltdj  roar  ber  ©djriftfteHer  bod)  aud)  nur 
ein  3JIenfd).  ©r  ftrid)  ben  <Safc  aus,  mehrmals  fjintereinanber,  mit  biefen 
g-eberftridjen.  Slber  bie  ganje  ©efd)id)te  roar  fdjließlid)  auf  biefe  ©entenj 
angelegt,  bie  ganje  ®efd)id)te  follte  im  ©ranbe  9ttdjtS  weiter  befagen. 
©in  £l)eit  feiner  eigenen  SebenSgefd)id)te,  —  jured)t  geftu^t,  »erbrämt,  auf 
anbere  ^ertjättniffe,  in  eine  anbere  SBeltgegenb  übertragen,  —  roie  man  ba§ 
benn  fo  mad)t.  Unb  nmt  —  es  roar  bumm.  @r  roujüte  burd)au§  nid)t 
roeiter.  Sd)led)terbing«  mußte  man  bod)  2lu3nat)men  »on  jener  Siegel 
conftatiren;  in  fold)er  3lttgemeinf)eit,  mit  fold)em  2lnfpmd)  auf  ©iltigfeit 
war  fie  abfurb.   2Bo  bie  61)«  in'S  Spiel  fam  —  Sa3  ©anje  roar  über= 

»ort  unb  ©üb.  LXXV.  223.  2 


\6   Konrab  Celmann  in  Horn.   

Ijaupt  9Ud)t«,  al«  eine  feb,r  natürltd)e  SJeacrton,  bie  nun  natürlid)  aud) 
roieber  über'«  3iel  frinau«fd»oß  unb  in'«  ©rtrem  verfiel.  3n  bet  9Witte  log, 
wie  immer,  bie  2Baljrf>eit. 

6r  wollte  roeiterfd)retben.  9lein,  ba«  ging  aud)  roieber  nid)t,  ba«  mit 
ber  golbenen  Witte.  ©«  roar  gar  ju  abgebrofd)en,  unb  gerabe  gegen  bie 
gebanfenlofen  ®urc&jdmitt«anfd)auungen  ber  „SDJitte"  follte  fid)  ba«  SBud) 
ja  in  erfter  Sinie  rid)ten.  Gr  fd)ob  bie  Stätter  fort,  er  ftanb  auf.  ©anj 
tieiß  mar  er  geworben,  bie  £aare  liebten  if)tn  an  ben  ©djläfen.  S>iefe 
erbärmtid)e  ©efd)id)te!  ©aß  bie  nun  aud)  in  feine  Arbeit  eingriff,  über; 
ftieg  bod)  äße  begriffe.  Herbert  mar  rofitfienb.  9iun  fonnte  er  ben  ganjen 
tyad  23lätter  ba  nur  5erreißen,  nun  roar  ba«  2ffte«  umfonft  gefa)rieben 
roorben.  Denn  in'«  ©efidjt  fd)tagen  fonnt'  er  fid)  bod)  nid)t  gerabeju;  wie 
man  fämeb,  fo  mußte  man  bod)  aud»  leben,  im  Seben  tianbeln.  Unb  nad) 
feinen  papiernen  SCenbenjen  ba  f)ätte  er  alfo  jefct  ©erba  ^eiratljen  müffen, 
gerabe  weil  in  feinen  Streifen  ^ebermann  ofme  Unterfd)ieb  ba«  für  unmöglid) 
erflärt  Ijaben  mürbe,  gerabe  beSfiatb.   2Beit  es  nid)t  correct  roar! 

Gr  ging  mit  großen  ©djritten  im  3ünmer  l)in  unb  tier.  2llle«  in  tlmt 
roar  in  2lufrul)r.  SBenn  er  fid)  nur  irgenbroo  f>ätte  OTattj  einholen  fönnen! 
Slber  roie  ging  ba«  benn  an?  2Ber  fann  beim  uon  fo  Gtroa«  aud)  nur 
anbeutung«roeife  mit  einem  3lnbern  reben?  Uebrigen«:  roa«  blatte  man 
itim  aud)  ratzen  foffen?  @otd)e  ®inge  muß  ^eber  mit  fid)  felbft  im  füllen 
Jtämmerlein  abmad)en  unb  nad)  feiner  eigenften  9iatur  entfd)eiben,  $eber 
Wirb  ju  einem  anberen  SWefuItat  babei  fommen.  ©einer  9iatur  —  barüber 
roar  er  garnid)t  mefir  im  Sweifel  —  roiberftrebte  e«,  ©erba  fefct  noch,  5U 
feinem  SBeibe  su  mad)en.  6«  fragte  fid)  eben  nur,  ob  er  feine  SNatur 
ntd)t  befämpfen,  nidbt  mebersroingen  mußte  roegen  —  nun,  roie  follte 
man  e«  gleid)  nennen?  —  roegen  höherer  ^ntereffen,  —  um  jtd)  at« 
roabrbaft  freier  SJlenfd)  ju  jetgen,  —  um  ju  beroeifen,  baß  bie  früheren 
geffeln  feiner  2lnfd)auungen,  Gmpfutbungen,  S8orurtr)cile  roirflid)  unb  enbs 
giltig  jerriffen  roaren.  ®a«  roar'« :  ein  Stampf,  eine  Feuerprobe.  Gr  mußte 
ba  burd),  um  fid)  al«  ber  neue  SKenfd)  p  legitimiren,  ber  er  \a  fein 
roollte.  Unb  roenn  ba«  ein  ©tücf  r-on  feinem  innerften  ©elbft  foftete,  — 
unb  ba«  roürbe  e«  ja,  —  roenn  er  unter  biefen  Stampfen  unb  Dualen  fo 
fd)roer  ju  (etben  hatte,  baß  er  fd)ier  5ufammenjubred)en  brobte:  e«  r)a[f 
9iid)t«,  e«  mußte  fein.  Gr  hatte  bann  befhtitiu  berotefeu,  baß  er  roirflid) 
fein  correct  er  9JJcnfd)  roar.  Tie«  hier  roar  eine  Seben«frage,  eine  Seben« = 
entfebeibung! 

Herbert  bulbcte  e«  nid)t  mehr  im  ßimtner.  G«  roar  ihm  ju  eng  hier. 
Gr  mußte  weite  ^orijonte  um  fid)  haben,  ber  Särm  be«  branbenben  Beben« 
mußte  ihn  umfallen.  Gr  batte  bie  Gmpfinbung,  al«  ob  c«  ibm  am 
rooblften  fein  roürbe,  wenn  er  jefet  feine  Gßenbogen  gebrauchen  unb  mit 
fräfttgen  3trmcn  eine  fid)  gegen  ihn  anbrängenbe  SDJenge  geroaltfam  jertbeilen 
fönme.   Gr  feinte  fid)  nad)  Stampf,  nad)  einer  SBethätigung  feiner  9)ht«fel= 


  3«  b er  ijodjjeitsnadjt.    \~ 

frfiftc.  2ltle«  in  ifnn  mar  in  Seroegung,  e«  ftürmte  in  feiner  Seele.  2Bie 
ein  ©rfticfenber  füllte  et  fid)  ftettenroeife.  Gin  tyetfjer  ©roll  gegen  ©erba 
brannte  in  ifim.  SBenn  er  fie  jefct  l)ter  »or  fid)  gefefin  Ijätte,  er  märe  mit 
geballten  gäuften  melleid)t  auf  fic  loggegangen,  er  l»ätte  ü|r  SBorte  suge* 
fd)rieen  in  feiner  allmäljlid)  fidfj  fteigemben  ©rlnfcung,  bie  roilb  unb  brutal 
geroefen  fein  mürben,  ©r  faßte  fid)  in  biefer  ©tunbe,  bafj  er  fie  {»äffe. 
2Be«f)alb  jroang  fte  itjn  in  bie«  2flle«  binein,  —  in  biefen  Äampf,  biefe 
©elbftquälerei,  bieg  t)ä&tid)e  Stxrolfylen  unb  3ermartern  feine«  Qtmern? 
©r  mochte  ba«  nid)t,  il>m  mar  att'  ba«  nod)  taufenbntal  rotbriger  unb  pein* 
»oller,  als  jebem  3lnberen.  @«  pafcte  fo  garniert  ju  i\)tn,  braute  Um  mit 
fiel»  felber  in  fd)retenben  ©egenfa(j.  ©r  mar  ein  SDiann  ber  9?ufie,  ber 
Drbnung,  ber  füllen  3lrbeit.  3töm  tt)at  man  <Sd)roerere«  an,  al«  irgenb 
©inem  fonft,  mit  allebem.  2Benn  er  ba  nur  erft  roieber  fjerau«,  bamit 
nur  erft  fertig  geroefen  roäre! 

©r  blatte  feinen  &ut  aufgeftttlpt  unb  roar  in'«  greie  gelaufen,  ©r 
mußte  md)t,  roof)in  er  fotlte.  £)er  £ag  roar  ftrafilenb  fd)ön,  er  ftanb  in 
fo  fdjroffem  ©egenfafc  5U  Herbert'«  33erftörtl)eit,  bafe  tfjm  biefe  leudjtenbe 
©ommerljerrlidjfeit  förmlid)  einen  förperlid)en  <5d)mer$  »erurfadjte.  ©« 
tjätte  lieber  ftärmen  unb  regnen  follen.  2Ba«  fing  er  mit  biefem  £age 
jefct  an?  ©ine  Secunbe  lang  burd)fd)ofj  tfm  ber  Webanfe,  5U  ©erba  51t 
gelien  unb  fie  su  einer  gafirt  nad)  SBannfee  abjuljolen.  3)amt  fd)ämte  er 
fid)  feiner  Ütegung.  2Bie  er  bod)  fd)on  an  fie  geroötjnt  roar!  ©«  roürbe 
3Jtül)e  foften,  fid)  »on  ib.r  to«sureij3en,  —  e«  b,ätte  3)iü^e  gefoftet!  Sßenn 
er  freilid)  nun  entfd)ieben  roar,  eingefefyen  blatte,  baß  er  bod)  nid)t  anber« 
fomtte,  al«  fie  Ijeiratljen  —  '.Hein,  aud)  bann  nid)t.  3aPPcln  lajfen  roollt' 
et  fte  bod)  in  jebem  ^alle  eine  3«t  lang.  SBie  fie  fid)  jefct  roof)(  Wärmen, 
bangen  unb  ängftigen  roürbe!  9Jiit  roeld)er  (Sorge  fie  feiner  ©ntfd)eibung 
entgegenfeb^n  mod)te!  $>enn  fie  roar  ja  roirtlid)  fetjr  »erliebt  in  ü)n,  unb 
bie  brobenbe  2Jtöglid)feit,  tfm  in  leftter  ©tunbe  nun  bod)  nod)  ju  »erlieren, 
mußte  it)r  furd)tbar  fein.  2Bafn"id)einlid)  batte  fie  ja  bod)  aud)  be«roegen 
allein  tf»r  uerfyängnifroolle«  Slefeuntniü  immer  roeiter  unb  weiter  f)inau«= 
gefd)oben;  fie  fyatte  Um  trid)t  »erlieren  roollen.  sJlun,  Herbert  gürft« 
©attin  ju  roerben,  —  e«  begriff  fid),  ba«  roar  nid)t«  kleine«.  Slber  büfjen 
muffte  fte  ilire  Unaufrtd)tigfeit  bod).  tftidjt  bleute  unb  niefit  morgen  roürbe 
er  ü)r  33otfd>aft  fenben,  ba«  ftanb  bei  if)tn  feft.  "Bi«  an  ben  9?anb 
bet  ißerjroeiflung  roollt'  er  fie  erft  gelangen  taffen,  biefe  ©enugtljuung 
roenigften«  burft'  er  fid)  gönnen.  SBenn  er  alle  biefe  inneren  Dualen  ju 
burd)leiben  ^atte  unb  fo  gan;  au«  bem  ©leicbgeroidjt  gefd)leubert  rourbe, 
roe«Ijalb  follte  fie  frei  au«geb,en,  fie,  bie  bod)  an  aH'  biefem  3lbfd)eulid)en 
bie  ©d)ulb  trug? 

Herbert  roar  am  9ianb  be«  £f»iergarten«  ^ingefdfjtenbert  unb  fab,  fid) 
jefct  mitten  im  roirten  ©etriebe  be«  fieipjiger  Sßlatse«.  311«  er  bei  ftoft» 
oorüber  roollte,  rief  man  ib,n  an.   Äuno  SSarrentjols,  —  roa^rliaftig.  ®a 

2* 


\8    Konrafc  (Lelmann  in  Horn.   

faft  er  an  einem  ber  £ifd)e  im  Vorgarten,  üier,  fünf  3*üungen  um  fid), 
bie  33eine  lang  auSgeftretft,  ein  batb  leere«  ©las  SHabetra  unb  ein  paar 
spaftetdjen  »or  fid),  an  bie  er  fid)  gerabe  mad)te.  Herbert  ging  hinein 
unb  fefete  fid)  ju  ifnn.  „2Ba3  treiben  ©ie  betm  f)ier?  3cihmgett 
tefen?  Vormittag«?  3ft  ba$  aud)  eine  33efd)äftigung,  eine«  ©d)riftfteller* 
ttmrbig?" 

$uno  Sarren^olä  breite  feinen  fdjroaräen  ©pifcbart  unb  jnrinferte 
burd)  feinen  Äneifer.  „©rofeftabtftubien  mad)en,"  brummte  er.  „gamofer 
Dbferoationäpoften  f>ier.  9ta  unb  ©ie — 9trbeitstrjtcr?  SBofitn  be«  SBeges? 
©tettbid)ein  mit  geinäUebdjen?" 

Herbert  mürbe  etmaä  »erlegen.  „Dffen  geftanben,  —  id)  bin  fo 
auf's  ©eratl)en)ot)t  in  bie  SBett  gelaufen.  @3  mollte  mit  ber  Strbett  beut 
nid)t  fo  red)t  fleden." 

„Slenne  id),"  meinte  ber  2lnbere,  beljaglid)  fauenb.  „gfedt  bei  mir 
faft  nie.   «Profit !" 

„©in  fd)mterigeS  Problem,  miffen  ©ie.  3>a  mufi  man  fid)  3«t  laffen, 
innerltd)  ruhiger  unb  reifer  merbeit.   ©onft  ift'3  ja  bod)  nur  $pfufd)erei." 

&m,"  mad)te  ber  ©d)roarje.  „©ans  mein  gaH.  Uebrigen«  — " 
@r  fd)lürfte  fein  ©las  langfam  teer,  „^ntereffanter  Stoff?  2Ba3?  @r* 
jagten  ©ie  bod)  'mal!"  31(1  Herbert  zögerte,  fügte  er  üeräd)tltd)  bei: 
„9Ja,  ©ie  glauben  roal>rfd)emlid),  id)  fönnt'  ^Ijneu  bie  ©efdbtd)te  megfapern? 
9tid)t?  9Ja,  baben  ©ie  man  blos  feene  Slngft!  ^d)  b>be  meljr  ©toffe 
oorrättjig,  als  föaare  aufm  ßopf.  3d)  fönnt'  ^Irnen  im  ©egentljetl  »ieHeid)t 
bod)  'n  guten  9Jatb  geben,  3m  21uefpred)en  roirb  man  fid)  oft  erft  Kar 
über  baa,  roas  man  roitt  unb  fott." 

Herbert  lädjette  f)alb  »erlegen.  ©t  roufjte  feljr  gut,  bafj  Äuno  5Bar= 
renliotj  bafür  berühmt  mar,  bie  „(Sollegen"  nad)  if>ren  neuen  Stoffen  au»« 
juliordjen,  unb  biefe  bann,  menn  fie  „ifmt  lagen",  in  ©d)nettarbett  »orroeg 
ju  »ermertlien.  Siein  SJlenfd)  mollte  ifmt  beö^atb  mein-  ßtroas  ersähen,  unb 
feitbem  fd)rieb  er  faft  9iid)t3  mefjr.  ©ein  #auptaugcnmerf  rid)tete  er  auf 
9teutinge  im  %ad).  Sßlöfelid)  fiel  Herbert  ©troas  ein.  @r  erjäljlte  Shmo 
SBarrerifiolj  nid)t  feinen  Vornan,  ben  er  in  Slrbeit  f)atte,  fonbern  feinen 
eigenen  gaH,  wie  menn  es  fid)  ba  um  einen  Dlomanftoff  banbelte,  — 
natürltd)  nur  in  ganj  allgemeinen  Umriffen,  r.nter  »eränberten  SSerbältniffen 
unb  nur  im  föinblicf  auf  bie  eine,  ausfdjfaggebenbe  grage:  Tarf  ein 
9Jtann  unter  foldjen  Umftänben  feine  33raut  nod)  su  feiner  grau  madjen? 
Gs  mar  bod)  immerhin  f)öd)ft  intereffant,  mie  ein  moberner  jRomancter 
—  benn  ba«  mar  Kuno  SBarrenfjolj  unb  gar  fein  unbebeutenber,  im  ©egen* 
tfyetl:  ein  fef)r  fd)arfer,  logifd)  analnfirenber,  burd)  unb  burd)  »on  moberner 
©mpfinbungsroeife  burd)tränfter  —  über  bie  ©ad)e  r«on  feinem  ©taub* 
punft  au«  urteilte.   G»  mußte  ifrni  einen  fefir  beutlid)en  gingerjeig  geben. 

Slnfangs  börte  ber  ©d)ti)aräe  fid)tlid)  mit  gefpamtter  3lufmerffamfeü 
üu.   9?ad)  einiger  3«t  aber  jeigte  fid)  ein  geringfd)äfeigeä  ßäd)eln  auf  feinen 


  3n  ber  £jodf3eitsnad}t.   


\9 


Sippen.  Unb  fcbitefelidj  unterbrad)  er  Herbert  mit  einer  abroinfenbeu 
£anbberoegung.  „3t6er  lieber  £err,  baS  ift  bod)  fein  moberneä  Problem, 
©eien  Sie  gut!" 

Herbert  mar  fetjr  »erblüfft.  „ertauben  ©ie  'mal!  ©ine  fo  ernfte 
©adje  — " 

„Sief),  gefjen  ©ie  bodj!  ©oldje  abgeflapperte  ©efdbi($te!  lieber  fo 
'roa'S  jerbridjt  man  ftd)  bie  Äöpfe  fieutjutage  nid»t  meljr.  sJie,  ne,  ba$  ift 
abgetan;  ba$  ift  überhaupt  fein  moberneS  Problem.  £>amit  locfen  Sie 
feinen  föunb  »om  Dfen.  2lntiquirte  ©adje." 

Herbert  roufjte  nidjt  met)r,  roaS  er  fagen  fottte,  er  mar  fefyr  fleinlaut. 
,,©o  'was  fommt  aber  bodj  »or,"  fagte  er  »erfd)üd)tcrt.  „föeute  aucb  nod)." 

„3Ja!"  ®er  2lnbre  (adjte.  „®aä  perfteljt  ficr).  @rft  redjt.  »Iber 
tia  nun  längft  feftfteljt,  roie  ein  mobem  benfenber  SDienfdj  fo  'roaS  auf» 
nimmt,  ift  baä  eben  fein  Problem  mefjr,  fonbern  'n  ganj  mtlgärer  $urd)* 
fdntittgfaa." 

,,©o!"  Herbert  warf  bem  ©predjer  einen  fdjrägen  33licf  ju.  „9iun, 
tdj  roetfj  bod)  nidit  recfjt  —  ÜKein  £etb  befinbet  ftd)  gerabe  im  fjödjften 
gioevfetsftabtum.  2lber  er  'wirb  mo\)l  fdjltefjlid)  bod)  alle  Sebenfen  über» 
nrinben  unb  trofe  aHebem  unb  allebem  — " 

„Watürlid)  wirb  er."  ßuno  33arrenf)olj  brannte  fid)  eine  ßigarrette 
an.  „Sßenn  er  'n  moberner  SWenfdj  ift,  roolifoerftanben.  3)emt  fie  fönnten 
ja  audj  'n  2Bafd)lappen  unb  gebanfenlofen  Qammerling  fdjilbern  motten, 
©onft  aber  roirb  er  fagen,  bafj  foldj'  2Jtäbel  mit  'm  fogenannten  fittlidjen 
©efect  fftr  einen  benfenben  2Jtenfdjen  ganj  genau  baSfelbe  ift,  roie  'ne 
2Bitlroe  ober  'ne  gefdjiebene  grau.  £at  er  gegen  fo  ©ine  feinen  ©6gout, 
fann  er  aud)  f)ier  feine  morattfdjen  Sebenfen  nur  getroft  su  £aufe  laffen. 
Ober  fteljen  ©ie  etwa  auf  bem  ©tanbpunft  »on  ©tanbeSamt  unb 
fttrcb>?  S)a3  ift  ja  freilidj  ganj  correct  nadf)  'm  alten  ©tiefet,  aber  für"n 
flarföpfigen  UJtenfdjen  roirb  fo  'roas  mit  ober  otme  ftaatlicfje  ©anction  nidjt 
beffer  unb  md)t  fdjledjter.  $m  ©egettt^eit:  fo'  roaS  au«  Siebe  51t  tljun 
olme  ftanbeäamtlid&e  9tegiftratur  ift  {ebenfalls  »iel  moralifdjer,  als  ojme 
Siebe,  mit  b>f)er,  obrigfetttidjer  ©rlaubnif?.  SBorauä  ju  folgern  ift  — 
Donnerwetter!  ©ie  finb  ja  ganj  rott»  geworben,  ßollege.  3$  fag'  ffinm 
ba  bod)  Iwffeirtlidj  nid)t3  9ieue3?" 

„Stein,  nein,"  madjte  Herbert  gebefjnt  unb  »erfudjte,  überlegen  ju 
lädjeln.  ,,9tarürtid)  nidrt.  3Uter  ftram.  ©tanbeSamt  unb  &ird)e  fönncn 
feine  ßb,e  fittlid)  machen,  bie  ,§auptfadje  muf?  ba  nod»  erft  fiinsufommen. 
Unb  anbererfeits  fann  audj  olme  @f)e  —  3a,  e3  fommt  immer  auf  ben 
<5tajelfall  an.  2lber  natürtid):  ein  Problem  liegt  ba  nidjt  »or,  —  »on 
einem  mobernen  Problem  fann  gar  feine  9tebe  fein.  Qd)  banf  Sfmen, 
lieber  SSarrenbolä.  SBiffen  ©ie,  roenn  man  feinen  $opf  fo  mitten  in  bie 
ftrbeit  fjineinftecft  unb  löffelt  unb  löffelt  immerfort  baran  Ijerum,  »ertiert 
man  fd)lie|tid;  ganj  ben  freien  33li<f  über  ben  eigentlichen  Äernpunft  ber 


20 


  Kourab  Celmann  in  Rom.   


©ad)e.  Unb  meiftenä  ift  ber  fo  einfad),  —  fo  fpotteinfad).  68  ift  bie 
©efd)td)te  oon  bcm  2Balbe,  ben  man  t>or  lauter  Säumen  nid)t  fieftf." 

„3a,  wenn  ©ie  roeiter  5tid)t8  oor^aben  — "  93arrenf>ot}  Blies  Keine, 
blau*graue  9Ungeld)en  in  bie  Suft.  „£>en  SRoman  roürb'  icfj  ungefdjrieben 
laffen.  ©er  fommt  um  ein  »iertel  ©acutum  ju  fpät  Slber  fonjl  oieffeid)t 
'roa8  auf  Sager?  £m?" 

„Seiber  nein,  ©arnid)t8."  Herbert  ftanb  auf.  ,,3d)  banf  Qlmen 
nodmtate.   $d)  Ijätt'  ba  leid)t  einen  faux  pas  machen  fönnen.  2lbieu." 

„©ie  motten  fd)on  fort?" 

„6ine  SSerabrebung,  ja.   «Sie  miffen  ja:  ein  oerlobter  ÜHamt,  — 
SBetberbienft  get)t  ba  oor  £errenbienft." 
„3a,  richtig.   Unb  fietratfjen  balb?" 

„3n  atterffirjefter  Seit.  Sluf  2Bieberfel)n!"  @r  roinfte  läd)elnb  mit 
ber  föanb  unb  ging. 

9118  er  auf'8  ©cratfjeroolil  bie  Sßot§bamer  ©trafce  fyinunterfdjlenberte, 
—  roofnn  er  nun  fottte,  raufet'  er  garniert,  nur  affein  b,art'  er  fein  motten, 
— •  jagte  er  tonlos  jroeimat  »or  fid^  Inn:  —  „roie  'ne  ÜBittroe  ober  'ne 
gefd)iebene  grau  — "  2Wit  einem  3Wa(  Ijatte  er  ba8  erlöfenbe  SBort. 
SDiefer  SSarrenb^ols  mar  im  ©runbe  ein  au8gefprod)ener  Sump,  aber  Herbert 
flätte  ü)m  oon  9Red)t8roegen  um  ben  &al8  fallen  jotten. 

*  * 

* 

dreimal  »ierunbjroanjig  ©tunben  roaren  nun  oergangen  feit  bem  Slbenb 
im  3lu8ftettung8parf,  unb  Serba  Sinbljetm  tiatte  nod)  immer  feine  9tod)rid)t 
oon  Herbert  erhalten,  ©ie  fottte  eben  „jappeln".  Herbert  überlegte  gar 
nidjt,  bafj  fie  au8  biefer  langen,  über  bie  Sßerabrebung  au8gebebnten  Sebent 
jeit  nur  einen  ©d)lufi  auf  feine  balttofe  Unentfd£)loffent)eit  sieben  fotmte,  ber 
feine8roeg8  günftig  auf  il)r  ©efammturtf)eil  über  feinen  CSljarafter  roirfen 
mufjte.  6r  wollte  fie  um  feinen  ^reia  merfen  laffen,  bafj  er  längft  ent= 
fd)ieben  mar,  nod)  roeniger  natürlid),  mer  unb  mag  eigentlich  ben  2CuSfd^tag. 
gegeben  batte.  ©ie  fottte  nidjt  benfen,  ba{j  er  bie  @ad)e  leidjt  naljm  unb 
rafd)  bamit  fertig  mar.  3n  2Baf)rf)eü  mar  bie8  aud)  gar  nid)t  ber  %cSL.  ©r 
Ijatte  im  ©egentbeil  unabläffig  roeiter  baran  ju  fd)lucfen  unb  ju  roürgen.  £ro& 
3tttem  unb  2111cm  mottle  e8  ifun  gar  nidjt  eingeben,  baf?  feine  33raut  

2Ba8  nüfeten  ü)m  ba  alle  anberen  ©d)tagroorte  unb  brüchigen  ©opbifte« 
reien?  SRatürlid),  ja,  man  mufjte  ftd)  nidjt  b'ran  feb^ren,  man  mufcte  als 
mobemer  SDlenfd)  bie  ©adje  »om  mobernen  ©tanbpmtft  aus  betrachten,  unb 
er  »or  2lttem  —  gerabe  er  —  burfte  nid)t  „correct",  „nad)'m  alten  ©tiefei" 
fid)  refoloiren.  2ltte8  gut  unb  fd)ön.  Unb  e8  lebte  aud)  roirflid)  fein 
3roeifel  mein-  in  ü)m.  9lber  eine  abfd)eulid)e  ©ad)e  blieb  e8  be8b,alb  bod). 
(Srft  ba8  factum  felbft  unb  bann  iljre  5ßerbeimlid)ung  —  Sßfui,  nein,  ba* 
»erroanb  fid)  nid)t  fo  leid)t.  ftnnertid)  geroife  nidjt,  roenn  man  aud)  äufters 
tid)  tbun  muftte,  al8  liätte  ba3  2ltte8  nid)t  »iel  ju  fagen.  2Ber  foimte  gegen 


  3n  öer  f?od}3»itsnad)t.   


21 


feine  Jtatur?  $>er  (Ütitnnt  unb  ©roll  übet  baä  ©efdjefyene  blieb  befielen, 
ber  lief?  ftdj  nidjt  ausrotten,  ber  frafs  innerlidj  immer  roeiter.  Serbergen 
fonnte  man  Um,  aber  beilegen,  uerfdjeudjen,  —  nein,  unmögltdj.  £a3 
mar  nun  einmal,  rote  e3  roar. 

9Jttt  ber  3«t  begann  Herbert  ftdj  auf  feine  ©elbftfibermmbung  immer 
meb,r  einjubilben.  ®r  fonnte  fid^  förmlidj  barin.  68  roar  bodj  roirflidj 
etwa«  ©rojjeS,  roas  er  tfjat,  fjier  flagloä  unb  »orrourfsloil  ju  oerjeujen. 
9ttdjt  3eber  b,ätte  e3  tfjm  nadjgemadjt.  2lu3  feinen  Greifen  —  ben  urfprüng« 
lidjen  Streifen  —  nun  fidjerlidj  fc^on  Sltemanb.  Qa,  «  war  eben  ein 
freier  9Jtenfdj,  er  f>atte  fidj  to3gemadjt  r<on  allem  Gonoenttonellen,  er  geroif3, 
—  fo  fdjroer  baä  gerabe  ilmt  geroorben  roar.'  63  roar  nidjt  abgegangen 
ofme  tuet  SBeb,  unb  £erjeleib.  3lber  nun  liatte  er  audj  roirflidj  ©runb,  mit 
fidj  juftieben,  auf  fidj  ftolj  }U  fein,  6iner  »on  jenen  mobernen  ÜDfärtijrern 
roar  er,  bie  bie  3cit  gebar  unb  bie  an  ber  Sßenbe  eine«  neuen  3^ito IterS 
ftanben,  um  für  bie  fommenben,  freieren  9J?enfdjen  mit  ju  leiben  unb  ju 
entbehren. 

3lm  9lbenb  be3  britten  £age3  fdirieb  Herbert  folgenben  Srtef  an 
©erba: 

„©eltebte! 

$dj  Ijabe  entfdjteben.  $)u  roirft  mein  SEBeib  roerben  trofc  2ulem.  ?öon 
ber  ©tunbe  unfereS  2Bieberfef)en3  an  roirb  nidjt  mef)r  »on  bem  ©efdjefieueu 
Sioifdjen  unä  bie  Siebe  fein,  nidjt  roafjr?  9iein,  mit  feiner  Slnbeutung. 
darauf  beftefje  idj,  baä  ift  gerabeju  meine  SBebingung.  63  fotl  9Ule3  fein, 
ofö  roäre  jene«  SBort  nie  gefprodjen,  jene  fdjroere  6ntfdjetbung  nie  an  midj 
herangetreten.  Sßtr  rooHen  es  auälöfdjen  unb  »ergeffen.  63  ift  abgetfjan. 
9iur  barfft  ®u  um  beSroiHen  nidjt  glauben,  baf?  e3  mir  leidjt  geroorben 
roäre.  Sei  ©Ott,  nein,  ©erba.  Qdj  bringe  ®ir  ein  Dpfer  meiner  innerften 
Ueberjeugungen.  $u  t)aft  nidjt  redjt  an  mir  gefjanbelt.  3lber  banfe  mir 
nidjt  bafür,  —  roenüjftenS  nidjt  mit  Söorten.  .tomm'  gar  nidjt  mefjr  auf 
bie?  traurige  unb  Seinlidje  jurüd!  Saufe  mir  Ijödjftenä  burdj  ©ein  Ser* 
galten,  £eute  finb  ©eine  Sapiere  enblidj  bei  mir  eingetroffen,  borgen 
früb,  getje  idj  jum  @tanbe3amt,  um  ben  9lu3ljang  ju  »eranlaffen,  unb  bann 
fomme  idj  ju  3Mr.  SBtä  baljiu  fdjlicfee  idj  ®idj  mit  erafter  6rgriffenf)eit 
in  meine  9lrme.  2JHr  ift,  als  £>ätte  idj  Stdj  neu  errungen  unb  gewonnen. 

Dein  Herbert." 

2lm  nädjften  £age,  um  bie  für  feine  früheren  Sefudje  üblidj  geroefenc 
9todjmittag3ftunbe,  ging  Herbert  5U  ©erba.  6r  fab,  blafj  unb  angegriffen 
au«.  9Jadjt3  ^atte  er  uor  3«^"1d)mer5en,  an  benen  er  mandjmal  litt,  bie 
er  aber  nie  eingeftanb,  roeil  er  ba»  für  ein  manneSunroürbtgeS  Seiben  l)ielt, 
toenig  gefdjlafen.  2ludj  ber  ©ang  uorljer  jum  ©tanbeSamt  mit  feinem  3"= 
befjör  »on  läftigem  SBarten  unb  £erumfteljen  blatte  Üjn  ermübet.  ®tefe 
2eiben«miene  fleibete  itjrt  aber  gut,  mai  er  felbft  fel»r  genau  rouf3te,  unb 
fie  roar  Ujm  gerabe  je^t  redjt.   ®r  roar  fefjr  geljalten  in  feinem  9Befen, 


22 


  Konrab  (Eelmann  in  Som.   


eine  gewiffe  gebämpfte  ©cbroermutb  lag  übet  ihm  ausgegoffen.  gn  Mem, 
uom  jeroetltgen  3»den  feiner  SDtunbwinfel  biä  ju  betn  [eifert,  etwas  fingenben 
STon,  in  betn  er  fprad),  bie  ©ttrn  leidet  gefenft,  bas  2luge  bobjcenb  auf 
immer  ben  gleiten  ©egenfknb  gerietet,  prägte  fidb's  aus,  bafc  tjier  ein 
gro&er  ©dmterä  männlid)  ju  ©nbe  gerungen  fei.  ©r  t)atte  ©erbas  beibe 
.§änbe  eine  Heine  SBeile  mit  fräftigem  ©rucf  umfd)loffen  gehalten  unb  bann 
wortlos  ihre  ©tim  gefüfjt.  ©predben  fonnte  er  eine  3eit  lang  gar  nicht; 
als  er*^  tbat,  fprad)  er  von  gtetcbgilttgen  fingen. 

©erba  threrfeits  mar  »oder  $ubel.  9Ran  fat)  ihr  freilich  9}id)ts  bauon 
an,  bafj  fic  gelitten  l)abe  ober  aud)  nur  in  fcbroerer  ©orge  gewefen  fei, 
in  ihren  ftrat)lenben  2Jiienen  fprad)  fid)  üHichts  t>on  irgenb  weld)em  Sangen 
unb  Sangen  au«;  aber  gerabe  bas  ÜeberroaHenbe  in  ihrem  ©lücfsgefttbl 
jefct  fcbien  »on  ben  früheren  3roeifeln  ju  reben.  ©s  mar  fogar  t)in  unb 
wieber  etwas  Uebermütbiges  in  ihrem  Soeben,  wenn  fie  aud)  in  fid)  nur 
hinein  lacbte,  um  bei  Serbert  feinen  Sfaftotj  ju  erregen.  3Jfan  tonnte  bei= 
nabe  argwöhnen,  bafj  ihr  irgenb  ©twas  im  ©runbe  fefjr  fomifd)  bei  biefem 
2lHen  erfcbien,  —  ob  feine  etwas  gemachte  ©cbmerjensbaltung  ober  fonft 
©twas,  blieb  unaufgeflärt.  ^ebenfalls  hielt  fie  bas  33erfpred)en,  mit 
feinetn  3Bort  auf  bas  jurttcfjuJommen,  was  jroifcben  Urnen  geftanben  fyattt, 
unb  es  mar,  als  fei  2tffeS  beim  3llteu.  2lrm  in  2lrm  gingen  fie  jufammen 
fpajieren,  —  obne  Begleitung  ber  £ante;  bas  erfcbien  jefct  felbftoerftanbltd), 
»on  ber  mar  überhaupt  nicbt  mehr  bie  9lebe. 

^ad)  ber  fcbweren  ßrife  fcbien  bas  Sßerbältnifj  swifdhen  ben  Seiben 
gefefteter  ju  fein,  als  »orber.  Serbert  »erbarrte  freilid)  bei  ber  etwas 
fd)wermütbig*gemeffetten  Haltung,  bie  er  feiner  33raut  gegenüber  eingenommen, 
aber  er  mar  »ou  jarterer  9tücffid)t  gegen  fie,  als  früber,  unb  »ermteb  ben 
fcbulmetfternben  Xon  von  fonft  faft  »ödig.  ©r  fd)ien  jeber  ÜRöglidjfctt  eine* 
neuen  Gonfücts  ängftlid)  au«  bem  SBege  jn  geben.  @s  mad)te  fo  etwa 
ben  ©inbrud,  als  ob  er  ©erba  unb  fid)  als  jmei  »om  ©cbicfial  gezeichnete 
Seibgenoffen  betrachtete,  bie  feft  pfammenbalten  unb  ftd)  bas  Sehen  nid)t 
felbft  nod)  febmerer  mad)en  mußten,  als  es  obnebin  fd)on  für  fie  war. 
©erba  felbft  mar  banfbar,  gefügiger,  als  fonft,  unb  immer  »oll  beiterer  3";  - 
friebenbeit.  $>ie  ©enugtbuung  über  etwas  Sßohlgelungenes  leud)tete  ans 
ibrem  SÜBefen. 

Herbert  fam  fid)  eigentlich  mit  jebem  Sage  braoer  vor.  ©s  »erging 
feiner,  an  bem  er  nicht  bas,  was  er  getban,  »or  fid)  hätte  aufleben 
laffen,  um  fid)  barin  ju  fpiegeln.  ©r  betrachtete  fein  Silb,  wie  es  aus 
feiner  Sanblungsweife  beroortrat,  mit  waebfenbem  SBoblgefaßen.  $a,  er 
war  eigentlich  ein  ganjer  ßerl.  SBenn  bas  ein  3lnberer  über  fid)  »ermod)t 
unb  fertig  gebracht  hätte,  ©iner,  ber  aus  anberen  Äreifen  herootgegangen, 
in  anberen  3lnfd)auungen  groti  geworben  war,  moebte  es  ja  nid)t  »iel  be- 
beuten.  Seichtfinn,  ©ebanfenlofigfeit,  9Serftänbnif3lofigfeit  unb  was  ättes  nod) 
fonnte  ber  ©runb  bafür  fein.  9)ian  fonnte  ja  aud)  einfad)  ©erba,  bie  ja 


  3n  ber  £^odj3eitsnadjt.   


23 


ein  reijenbeS  ©efdjöpf  mar,  nicht  haben  »ertieren  motten.  Dber  man  hatte 
nid)t  ben  fdfjarf  ausgeprägten,  mäimlidjen  ©htbegriff,  ber  tt)m  in  ber  93ruft 
tuohnte,  unb  baS  natürlidje  Setbftbenmfetfein,  ben  natürlichen  SBunfdf),  bet 
@rfte  unb  Ginjige  ju  fein.  33ei  ^unbert  3lnberen  hätte  baS  Stiles  alfo  nicht 

oiel  ju  fagen  gehabt.   33ei  ifnn  aber  

täglich  blatte  er  noä)  neu  ju  fämpfen,  täglich  ftiejj  ü)m  baS  Unge* 
cjeuerltdje  neu  roieber  auf.  $>er  reiche,  fchöne  SJtann,  ber  ©otm  eines 
jener  „fürftttdfjen"  Äaufleute,  er,  ber  iebe  grau  hätte  fein  nennen  tonnen, 

—  unb  begnügte  fidj  nun  mit  ber,  bie  ihm  nicht  mehr  baS  eitrige  ©ut 
einmal  entgegenbrachte,  über  baS  bo<h  bie  Slrmfeligfte  ihrer  ©chroeftern 
oerfügt,  unb  baS  ber  armfeligfte  -DJann  als  etroaS  ©elbftoetftänblirfjeö,  Un= 
erfefcbareS  beanfprucfjt!  ®aS  mar  etroaS  ©rofieS,  es  roar  eine  £f)at. 
Sterin  tonnte  er  immer  mit  9teä)t  roüfilen,  baS  burfte  tfm  mabjlidj  ftolj 
machen. 

Unb  nur  um  fo  mehr,  roeil  er  fidt)  äufjerlia)  gegen  TOemanben  beffen 
rühmen  tonnte,  nie  audE»  nur  anbeutungSroetfe  bawon  überhaupt  fpredhen 
burfte.   ©erba  gegenüber  roäre  ihm  baS  tactloS  unb  unjart  »orgefommen, 

—  Tic  follte  ja  auch  9<*r  ntccjt  roiffen,  nrie  fdfiroer  ihm  baS  ©efdhebene 
geworben,  unb  follte  bie  ganje  £ragroeite,  bie  ganje  SBebeutung  feines 
<5ntfct)luffeS  nicht  ermeffen.  Sei  3lnberen  »erbot  eS  ftch  ohnehin  oon  felbft. 
2BaS  SBunber  aber,  bafc  er  nun  um  fo  fetbftgefättiger  fein  eigenes  33tlb 
betrachtete,  fict)  an  biefem  Silbe  geroiffermafjen  beraufdfjte?  2Beldt)e  ©elbfl* 
bejroingung,  roelcfj'  greiheitSempfinben,  meldte  SetbenSentfdfjloffenhett  bodt)  in 
bem  Sitten!  3a,  er  mar  ein  ungewöhnlicher  9Jienfc^.  Unb  baf?  er  bieS 
33erouf?tfein  f»atte,  haben  burfte,  baS  allein  lief?  Um  fiä)  in  baS  Unabänber= 
lidje  fo  ohne  Älage  unb  ohne  SBorrourf  fmben,  baS  gab  ilmt  ©eltung,  Äraft 
unb  3lub,e.  (SS  ftimmte  Hm.  fogar  milbe  gegen  ©erba,  benn  er  fagte  fieb, 
ohne  fie  unb  ohne  ihren  gehltritt  mürbe  er  nie  ©elegenheit  gehabt  ttaben, 
fict)  t>or  ihr  unb  »or  fich  felber  in  feiner  ganjen  ©röf?e  unb  in  feinem 
ganjen  Heroismus  ju  seigen. 

@o  »ergingen  bie  Sßodfjen  bis  jum  föoehjettstage  ben  33eiben  in  fo 
ungetrübter  Harmonie,  roie  es  fonft  »ermuthlich  nidjt  ber  gall  geroefen  fein 
mürbe,  ©emt  auet)  ©erba  blieb  meid)  geftimmt;  für  fte  lag  etroaS  9tührenbeS 
in  biefem  gelaffenen,  fdjmerjDerbeifjenben  SBefen  Herberts.  „®r  ift  bodj 
mirflidh  ein  guter  fterl,"  backte  fie  immer  roieber,  „roaS  bebeutet  baneben 
baS  bisdjen  33er f c^robettejeit ?"  @S  tarn  ju  gar  feinem  SBortroed^fel,  ju  gar 
fetner  SSerftimmung  meb^r  jroifd)en  ib^nen. 

©ie  ,§odhjeit  follte  ganj  in  ber  ©tille  gefeiert  merben.  Herbert  roar 
mit  feinen  SSerroanbten,  obgleict)  fie  gar  nidjt  ahnten,  roaS  für  Gine  er  in 
2Bal)rf)eit  ju  feiner  grau  machen  roollte,  fcljort  längft  roegen  feiner  SBerufS* 
roa^l  unb  roegen  feiner  £eiratl)  üerfaUen.  Gr  galt  als  „aus  ber  9lrt  ge« 
fct)lagen",  man  adjfeljucfte  über  ib^n.  9taf»eftefienbe  greunbe  blatte  er  faum, 
unb  ©erbaS  9lnbang  reijte  ibn  nid)t.   ©S  entfpradE»  übrigens  au$  ihren 


2\ 


  Konrab  Celmaun  in  Som.  


SBünfchen  burchauS,  olme  t>iet  ©epränge  feine  grau  ju  werben.  Sie  firch* 
liehe  Trauung,  bie  tf)tn  Anfangs  als  etwas  UnoermeibticheS  erfduenen  roax, 
hatte  fie  Ujm  glücflidt)  auSgerebet;  er  fat)  fchliefjlicf)  felbft  ein,  baß  fie  in 
üjrem  gaffe  eine  jener  jabllofen  „correcten  Sögen"  gewefen  wäre,  »cm 
benen  eS  im  Seben  ber  „gut  bürgerlichen"  ©efefffdjaft  wimmelte.  9tur 
bejüglich  ber  $o<hjeitSreife  fam  es  ju  ^einungSoerfchtebenheiten  jwifdjen 
ihnen,  ©onberbarer  SBeife  beftanb  ©erba  barauf,  obgleich  Herbert  gerabe 
bie«  für  ©chablonenthum  ohne  jeben  tieferen  ©inn  unb  Qrotd  erflärte. 
©erba  wollte  nun  einmal  fort.  gür  adt)t,  für  uierjelm  Sage,  unb  gar  nidjt 
weit  weg,  aber  in  feinem  gaff  in  SBerlin  bleiben,  enbltch  gab  er  nach, 
er  fagte  fi<h,  bafe  eS  einem,  ber  baS  über  fidt>  gebraut,  was  er,  nicht 
fcfjwer  faffen  femne,  einer  fleinen  ©rille  ju  weichen,  ©ine  fleine  ©rh^olung 
mürbe  übrigens  auch  il)m  gut  thun;  er  tjatte  in  ber  legten  3eit  itemlich 
angeftrengt  gearbeitet,  unb  bie  feelifdjen  Erregungen,  bic  er  burdjgemadjt, 
5etjrten  fidjtlich  an  Umt.  es  fam  tjinju,  bafj  fein  Vornan  immer  mehr 
3le^nlic^feit  mit  feinen  eigenen  ©chicffalen  unb  ©rlebniffen  gewann.  3>aS 
war  ü)m  jugleiclj  eine  Sefriebigung  —  eS  jwang  ifm  gerabeSroegS  baju  — 
unb  ein  bauernbeS  Sohren  unb  SBüljten  in  feinen  eigenen  SBunben.  e$ 
jetjrte  an  feiner  SebenSfraft.  3lber  irgenbwie  l)atte  er  fi<h  boct)  äufeera 
müffen.  Unb  nun  brauste  er  wirflidt)  eine  erfiolung,  er  mar  neroöS  ge* 
worben. 

SKan  befdjlojj,  am  ©ochjeitStage  nach  Hamburg  ju  fahren,  »on  bort 
anberen  SageS  nach  £elgolanb.  35a«  ^odjjeitäbiner  in  einem  öffentlichen 
Socal,  unter  2lffiftenj  »on  allerlei  3Jtenfcf)en,  benen  man  bie  ©live  hatte 
anthun  müffen,  ohne  ib>en  irgenbwie  nahe  ju  flehen,  »erlief  jtemliä)  fteif. 
es  waren  ba  fetjr  heterogene  ©erneute  jufammengefommen,  unb  man  fanb 
net)  nicht  red)t  jufammen.  erft  gegen  ben  ©djlufe  Ijin  würbe  eS  animirt; 
ber  »orjügliche  ehampagner  tb>t  ba  feine  SBirfung.  9lun  brohte  bie 
Stimmung  aber  auch  gleich  in'*  2lfljub>itere  umjufdilagen.  Unter  ben 
33fil)nen5@lementen  waren  einige,  bie  anfingen,  fi<h  in  burfdjifofen  3ln» 
fpielungen  ju  ergehen  unb  Sieben  ju  tmpro»ifiren,  bie  fchon  nicht  mehr 
jweibeutig  waren,  es  lief  natürlich  2lffeS  auf  ben  einen  $unft  heraus : 
„9JUt  bem  ©ürtel,  mit  bem  ©djleier"  —  Herbert  b>lt  eS  fchliefjlich  nicht 
mehr  auS.  2BaS  wufrten  biefe  luftigen  Printer  freilich  baoon,  in  was  für 
nie  »erb>rfchenben  SBimben  baS  MeS  bohrte  unb  wühlte!  er  brach  auf, 
ohne  2l6fd)ieb  ging  er  mit  ©erba  bat)on.  eine  ©tnnbe  fpäter  waren  fie 
auf  bem  Sehrter  Sahnhof,  unb  halb  barnach  raffelten  fie  in  einem  Soup6 
erfter  Klaffe  allein  im  ©chneHjuge  nach  Hamburg. 

©erba  legte  fich  fofott  mit  bem  Kopf  in  bie  Kiffen  unb  fdt)lo&  bie 
9lugen.  ©ie  war  fehr  inübe,  eine  wohlige  2lbgefpanntf)eit  löfte  ihre  ©lieber. 
Sabei  lächelte  fie,  mit  jenem  ftiffen,  ftegbewufjten  Säcbeln,  baS  er  aus  ber 
legten  3eit  an  ihr  fannte  unb  baS  ihm  immer  fagen  ju  wollen  fchien: 
„Siehft  Su  wohl,  baf?  2>u  o^ne  mich  nicht  fein  fannft?   Unb  wemt  ich 


  3n  ber  ^od? jeitsnadjt.   


25 


nod)  taufenbmat  ©d)ltmmere$  besangen  Ijätte,  als  baS,  —  £>u  bltebft  mir 
bod)  »erfaßen!  (Sä  f)atte  it>n  fd)on  früher  mand)mal  aufgeregt,  ifyn  sum 
2Bü>erfprud)  gcrcijt,  bieS  Säbeln.  Unb  jefct  —  @r  war  otnteljin  fefir  neroös 
burd)  baS  &od)äeit»biner  geworben,  an  bem  ifjm  eigenttid)  3lDed  mißfallen 
blatte,  baS  ifnt  in  bauernber  Unruhe  gebalten  blatte.  ßr  begriff  gar  nid)t, 
rote  ©erba  fd»lafen  tonnte  —  ober  roenigftenS  fo  tf)un,  als  ob  fie  fd)ltefe. 
Unb  baju  bieS  Säbeln!  SBenn  fie  roenigftenS  ftumm  feine  £anb  in  ber 
ifiren  gehalten  blatte!  2lljnte  fie  benn  gar  9ttd)tS  »on  bem,  roaS  jefet,  gerabe 
jefet  roieber  »or  tljm  fieraufftieg,  in  tf»m  gäfyrte  unb  tlm  folterte?  SBäre 
es  nid)t  natürlid»  geroefen,  wenn  fie  tb,m  jefct  SBorte  beS  ®anfeS,  ber  %n- 
erfemtung,  ber  33erounberung  gefagt  blatte?  Segriff  fie  benn  md)t,  baß 
er  feit  jener  Ärife  itmerlidj  ein  2lnberer  geroorben  roar,  baß  ein  ganjeS 
Seben  fid)  barnad)  umgeftaltet  l)atte,  unb  bätte  fie  ifwn  ntdjt  au3fpred»en 
müffen,  baß  aud)  fie  ftotj  auf  ibn  roar,  roie  er  auf  ftd)  felber? 

(Srft,  als  ber  raftloS  jagenbc  3ug  auf  bem  ^Berliner  99ab,nbof  in  Hamburg 
Ijielt,  fd)lug  ©erba  bie  3tugen  auf.  Herbert  roar  feljr  uerfttmmt.  @S 
fodjte  (StroaS  in  if»m.  „©inb  roir  fdjon  ba?"  fragte  (Serba  erftaunt.  ©r 
bejahte  für}  unb  fierb.  (Sein  ©elbftberoußtfein  bäumte  ftd)  auf,  er  füllte 
ftd)  febr  gefränft.  „@S  fdbeint  2>ir  nid)t  gerabe  eilig  ju  fein,"  murmelte 
er  bitter.  ©ie  lachte  Ijell  auf.  „Sieber  fterl!"  Sie  ftrid)  ibm  über  bie 
SBange  t)in.  ©S  roar  etroaS  fo  berablaffenb  ©utmütfyigeS  in  £on  unb  3^e- 
roegung,  baß  es  ifnt  ctjer  nod)  mebr  aufftadjelte,  als  baß  es  ifnt  befänftigte. 
©ie  fd)ten  ifmt  fagen  ju  motten:  „Sld),  fo  einem  guten  jungen,  roie  &ir, 
fatm  man  ja  bod)  Stiles  bieten,  —  »erftebt  ftd)."  ÜWit  biefer  ©mpfinbung 
»erliefe  er  baS  6oup6  unb  f>alf  tb,r  ausftetgen. 

Sie  fuhren  in  ben  „Hamburger  &of".  Unterwegs  ^atte  ©erba  nur 
ÜBorte  ber  Serounberung  für  bie  fternflare  SDHlbe  beS  ©ommerabenbs  „t|ter 
oben  im  SRorben",  für  ben  Sinbenblütfienbuft,  ber  überall  bie  br'eiten 
Sfoenüen  burdjroogte,  für  bie  fid)  brängenben  SDienfdbemnaffen  auf  ben 
©traßen  unb  enblidj  für  baS  präd)tige  ©tabtbilb  am  9(lfterbafftn.  ©ie 
roar  in  ber  ftrablenbften  Saune,  fie  fanb  SllleS  fdjöner  unb  großartiger,  als 
in  33erlin.  %m  „Hamburger  £of"  fjatte  Herbert  bie  3immer  »orauSbefteflt. 
"3?om  Salfon  irjrcS  lururiöS  eingeridjteten  ©alonä  im  erften  ©toct  Ijatten 
üe  bie  Sluäfidjt  frei  über  bie  StlftersDuaiS.  ©erba  fonnte  fidj  »on  bem 
Slnblid  garnidjt  losreißen.  2113  Herbert  fie  fragte,  roaS  fie  am  liebften 
nodj  nehmen  roolle,  be»or  Tie  jur  SJube  gingen,  fd)lug  fie  »or,  nod)  auSju* 
ge^en,  ju  bummeln,  brüben  im  9llfterpa»ilIon  nad)b,er  eine  ©rfrifdjung  ju 
nehmen,  „eine  föftlid^e  ^bee,  nidit?"  ©ie  flatfd)te  in  bie  &änbe  »or 
lauter  2lu«gelaffenb,eit. 

Herbert  roußte  ntdjt  redjt,  ob  fie  fdjerjte  ober  im  @rn|t  fpradj.  ^e|t 
nod)  ausgeben,  roäb^renb  er  —  %a,  roar  fic  benn  »on  ©tein  unb  GifenV 
Ober  wollte  fie  bie  ©tunbe  nur  abfid)tlid)  l)inauSfd)ieben,  roo  er  nod)  ein* 
mal  roieber  pein»ofl  mitten  in  allen  SBonneempfinbungen  baran  erinnert 


26 


Kontaft  (telmann  in  Horn.   


werben  mußte,  bafj  —  er  nicht  ber  ©rfte  war?  Dbet  war  baS  9ttte§  ©cham, 
2lngft,  fofetteS  (Spiel?  @r  würbe  nicht  flug  baraus.  (Sr  fieberte  bereits, 
es  jammerte  ihm  in  ben  ©dfjläfen,  baS  33lut  brängte  fich  ihm  in  ben  &opf, 
mährenb  ihm  falte  Stauer  ü6er  Staden  unb  Stücfen  herabriefetten.  ©eine 
•Heroen  waren  wirflicfj  in  einer  unleiblichen  SBerfaffung.  2tber  (Serba  that 
benn  aud»  wahrlich  baS  ^lirige  baju,  ihn  wilb  ju  machen.  @S  mufjte  nun 
einmal  ein  ©nbe  ^a6en. 

„Stein,  mir  geben  nicht  mehr  aus,"  fagte  er  mit  einer  eigentümlich 
Reiferen  ©timme,  „heute  2lbenb  nicht  mehv.  ©ntfd&eibe  ©ich,  was  $>u  noch 
nehmen  nridft.  Slber  balb,  bitte,  balb!" 

©eine  £anb  fratlte  fi<h  foft  in  ü)ren  2trm  ein,  feine  SBorte  prefeten 
fich  jwifchen  ben  3äDnen  b^eroor,  in  feinen  2tugen  glühte  eS  irr  auf.  (Serba 
würbe  unruhig,  ^r  Sachen  Hang  etwa*  unnatürlich,  ihre  ftm8cr  jueften, 
wäfjrenb  auf  ihrem  ©efidfjt  bie  3tötr)e  in  ©ecunbenhaft  fam  unb  ging. 

„SJtein  ©ott,  2)u  tfiuft  mir  weh,  Herbert.  SJteinetwegen!  bleiben 
mir!  $>u  fannft  mir  baS  ja  in  anberem  £one  fagen.  SefteH'  nur,  was 
®u  TDittft !  9JHr  ift  MeS  gleich»,  junger  t»ab'  tdr)  noch  9^  ni<^t  wieber. 
Unb  mübe  bin  id^  auch  nicht,  9ar  wicht  — "  ©ie  lachte  ihm,  wähtenb  ein 
paar  echte  Xhränen  an  ihren  2Bimpern  perlten,  fchon  mieber  fpifebübifdj 
in'S  ©efi<f)t. 

„®u  hoft  ia  auch  im  6oup6  bie  ganje  3eit  gefchlafen,"  fagte  er  in 
empfinbttchem  Xon,  währenb  er  bem  Äeßner  fcheDte. 

Samt  afjen  unb  tranfen  fie  noch  ©ttoaS.  giber  es  gefdjah  ohne  alle 
Suft,  unb  fie  warfen  Reh  über  ben  £ifdj  weg  hin  unb  wieber  fdfjeue  23licfe 
ju.  ®ie  fleine  9WaI»Ijcit  wollte  fein  rechtes  ©nbe  nehmen.  2llS  ber 
Kellner  jum  2lbräumen  fam,  fnupperte  ©erba  immer  noch  in  ihren  fruchten 
umher.  5Dann  wollte  fie  wieber  auf  ben  $atcon  hinaus.  Stun  würbe 
Herbert  aber  ärgerlich  unb  fchloß  flirrenb  bie  £hur- 

„3u  33ett!   Sefet  geht'S  ju  33ett!" 

©raupen  war  baS  Nachtleben  fchon  faft  »erftummt. 

„©ute  Stacht  alfo!" 

©ie  ftanb  oor  ihm,  jroinferte  ihn  mit  halb  gefdjloffenen  3lugen  an, 
reichte  ihm  mit  einer  matten  Bewegung  bie  &anb  unb  fchien  fWfj  ihm  in 
ber  nächften  ©ecunbe  an  bie  93ruft  legen  5U  wollen. 

6r  «erftanb  baS  MeS  aber  nicht  recht,  ©ollte  baS  ©pott  fein? 
Sßar'S  wieber  nur  ein  Spiel,  um  ihn  ju  reisen?  @S  berührte  ihn  unbe* 
haglich. 

,,0eh'  nur  woraus,"  murmelte  er,  „ich  fomme  gleich  nach." 

Unb  babei  breite  er  fich  um.  2BaS  -mm  teufet  war  benn  baS?  Gr 
würbe  ja  ganj  rort).  2Bar  er  bemt  ein  fttnb?  ©ein  benehmen  mar  in 
jebem  gall  baS  eines  Änaben,  —  unerhört  albern. 

SWS  er  fich  wieber  umwanbte,  fo  ärgerlich  über  fich  felbft,  bafe  er  mit 
bem  gu&e  hätte  aufftampfen  mögen,  war  ©erba  fchon  hinaus,  ©ie 


/ 


—    3«  &et  £?od}jettsnadft.    27 

^ortiöre,  bie  baS  ©dtfafaimmer  vom  Salon  trennte,  beroegte  fidj  nod)  teifc. 
(£r  roarf  fidj  in  einen  ©orametfeffel.  2Bie  fein  $erj  flopfte!  Unb  bie§ 
Tiefen  unb  jammern  in  ben  «Stirnabern!  ©er  Sltfjem  rourbe  ibm  orbentlid) 
fnapp.  SEBenn  nur  bie  SDHnuten  etiuaä  rafd&er  Ratten  Eingeben  motten! 
konnte  er  jefet  fdmn  — ?  SBie  weit  modjte  fie  —  ?  ®r  l)orcf)te.  ®r 
fpannte  alle  feine  ©Urne  an,  um  ©troaä  ju  »ernebmen,  baS  leifefte  ©eräufd), 
ein  ßniftern  unb  Änittern  »cm  fallenben  Eleibungäftücfen  —  9?ein,  er  borte 
sJUd)t3.  ©a§  SBCut  faufte  unb  fang  ü)m  »iel  ju  laut  in  ben  Dtyren,  fein 
£er§  fd)lug  »iel  5U  ftünnifdj.  ©r  mu&te  —  %a,  nun  muftte,  wollte  er  ju 
iljr  hinein,  gleidjoiel,  roie  roett  fie  —  2lf>! 

2U3  er  fid)  eben  ber  ^ßortiöre  näherte,  mit  rafd)  attjmenber  SBruft,  mit 
langen,  fdjleidjenben  ©dritten,  bie  £änbe  etroaS  »orgeftredt,  feilte  fie  fid) 
auSeinanber,  unb  ©erba  erfd)ien  im  Salon,  ©ie  ^atte  ibr  Dberfleib  ab» 
geworfen,  Ijatte  nadte  Sinne,  mar  aber  fonft  nodj  ganj  befleibet.  sJiur  i^r 
$aar  b,atte  fie  fid»  gelöft,  e3  fjing  iljr  in  langer,  breiter  SBeHe  in  ben 
Hadert  biuab.  ftljr  ©efidjt  mar  ^eife  gerottet,  aber  ein  Säbeln  tag  auf 
ibren  Sippen,  —  roteber  bieä  überlegene,  trtumpfiirenbe  Sädjeln.  Unb  in 
ifjren  Slugenroinfetn  judte  unb  gitterte  e&  @ä  mar  etroaS  Verhaltenes  in 
all'  ifjren  SStienen. 

„2Ba8  —  roaS  roittft  ©u  nod),  ©erba?"  ftammelte  er,  fjalb  erfreut, 
balb  oerlegen  äurüdroeidjenb.    „§aft  ©u  nod)  (Stroaä  tjier  »ergeffen? 
$d>  — "  ßr  benahm  fidj  roirflid)  roieber  wie  ein  buntmer  Sunge. 
roufete  gar  nidjt,  roaä  er  tb,un  foHte.  2Barum  ging  er  nun  jefet  nidbt  roemgftenS 
auf  fie  ju,  ftatt  mit  itir  ju  fdjroafeen,  rife  fie  in  feine  Sinne  —  unb  — 

,,©u,"  fagte  ©erba,  unb  es  flang  iljm  aui  itjren  SBorten,  roie  ein 
mübfam  »erbiffeneS,  fd)abenfrofie3  SUdiern  an'3  Dfjr,  „id>  muf?  ©ir  erft 
nodj  'mal  'roaä  fagen,  Herbert." 

Unb  eb,'  er  fid/§  »erfafi,  faft  fie  auf  feinem  ©djoofj,  iljre  beiben  3lrme 
umflammerten  feinen  £alio,  unb  er  atfmtcte  bie  3Mb,e  ibjeS  meinen,  an  ifm 
gefdnniegten  SeibeS  ein. 

„©erba,"  murmelte  er,  „roaS  —  mag  bemt?"  9totl)e  glede  tagten 
»or  feinen  Slugen  f)in  unb  fjer. 

©a  brad)  'fie  plöfclid)  au3:  „@3  ift  ja  Stiles  Unfinn,  ®u,  —  oerfte^ft 
©u?  3fd)  babe  Dir  baS  ja  bloS  »orgerebet  bamals,  um  Dieb,  auf  bie 
$robe  ju  fteUen.  3d>  bin  gar  feine  ©efaUcne,  ©ort  beroaljre!  ©u  roirft 
ber  Grfte  fein.  ©3  mar  Sug  unb  Trug.  93toö  miffen  rooflt'  id)  ja,  ob  ®u 
mid)  roor)t  mirflid)  fo  liebteft,  um  ba3  ju  überroinben  —  fo,  roie  id)'^ 
brauste,  mie  id)  3Md)  roollte,  tjerftetjft  ®u  —  Unb  ob  S>u  mob,l  mirflid) 
ba^  „ßorrecte"  grünblid)  abgetb,an  Ijätteft,  benn  fonft  —  roeifjt  ©u  —  %i) 
mär'  ja  geftorben  »or  langer  SBetle  an  ©einer  Seite,  rabical  &u  ©runbe 
gegangen  —  ©o'n  correcten  9Kann  —  na,  begreif  mal,  ba§  mar  bod) 
9iidjt§  für  midb,.  3la,  unb  bann  t)aft  ©u  bie  Sßrobe  ja  glänjenb  be- 
ftanben,  mein  2tttercf>en,  —  glänjenb,  —  obgleidj  e«  ein  bisdien  fange  ge= 


28 


  Konrad  (Lelmann  in  Horn.   


bauert  f»at  unb  $)u  £>ir  baS  wahrfd)einltd)  ein  bisd)en  fd)wer  abgerungen 
haft.  $aft  es  natürlid)  wiebcr  »iel  ju  tragifd)  genommen,  alter  ^ebant! 
■Jla,  bie  £auptfad)e  bleibt  aber  —  Unb  nun  wirft  3)u  ja  aud)  be* 
lotjnt  — " 

$DaS  2llleS  ftrömte  jmifdjen  immer  fid)  erneuernbem,  übermüthigem 
©eläd)ter  »on  ihren  Sippen.  3Wand)mal  warf  fie  fid)  wor  2luSgelaffenhett 
fogar  hintenüber,  fo  mcffyxft,  fo  ungebunben,  bafi  er  benfen  muffte,  fie 
glitte  ihm  »on  ben  Änieen.  3111'  bie  fonft  »or  ihm  äurücfgebämmte, 
triumphirenbe  Suftigfeit  über  biefen  wohlgelungenen  ©treid),  an  ber  fie 
juroeilen  beinahe  erfticft  wäre,  mad)te  fid)  nun  gewaltfam  Suft.  @ie  fonnte 
fid)  gar  nid)t  faffen.  Sie  ladbte,  lad)te,  lad)te.  <So  GtroaS  »on  Sad)en 
blatte  Herbert  nod)  nie  erlebt.  Unb  eS  flang  fd)tief3lid)  gar  nid)t  mehr 
fd)ön,  fonbern  fdjritt  unb  getfenb,  es  war  beinah*  fd)on  wie  ein  Ärampf. 
Unb  er  felbft  blatte  immer  nod)  fein  Sßort  gefagt,  gefdjweige  beim  in  ihr 
Sachen  eiitgeftimmt.  Gr  rührte  unb  regte  fid)  gar  nid)t,  er  ftreefte  nicht 
bie  &anb  aus,  um  fie  ju  galten,  wenn  fie  fallen  wollte.  2Bte  erftarrt, 
wie  »erfteinert  fafe  er  ba  angefidjts  biefeS  Ungeheuerltd)en. 

Unb  er  felbft  füllte  ganj  beutlid),  baf3  GtroaS  in  ihm  erftarb,  unter 
ihrem  Sad)en  t)infd)roanb  unb  erlofd)  unb  in  feiner  33ruft  beftattet  würbe. 
Gr  wufjte  nid)t,  was  es  war,  er  mad)te  es  fid)  nid)t  flar,  aber  aufleben 
fonnte  eS  fid)erlid)  niemals  wieber.  kalt,  mcrfroürbig  falt  pulfirte  baS 
33lut  in  ihm.  „Sug  unb  £rug!"  flang  es  in  ihm  wieber.  (Sie  felbft 
^atte  ja  fo  gefagt.  2llIeS  baS  Süge,  —  Süge  —  2SaS  ib,n  ben  fd)werften 
Äampf  feines  Sehens  gefoftet  hatte,  was  umgeftaltenb  auf  fein  Sßefen  unb 
©enfen  gewirrt  hatte,  maS  ihn  innerlid)  loSgeriffen  hatte  »on  9lUem,  was 
ihm  bisher  als  heilig  unb  unumftöfjlid)  gegolten!  Süge  —  Äomöbie! 
2llleS  um  3lid)tS,  für  einen  ©pajj,  ben  fie  fid)  mit  iljm  erlaubt,  —  für 
eine  ^urjweil,  um  ihr  Stoff  jutn  Sad)en  ju  geben  —  SSetl  es  fonft  bod) 
gar  ju  langweilig  war,  baS  Seben  mit  ihm  unb  für  ihn!  Äomöbie! 

SBie  ein  ungeheurer  2lbgrunb  gähnte  es  ihn  plöfelid)  an.  Unb  ba 
brühen,  jenfeits  beS  SKbgrunbeS  ftanb  fie,  bieS  hcrJl°fe,  lad)burftige  SBeib, 
baS  eine  fold)e  garce  mit  bem  &eiligften  gewagt,  fie  über  fid)  t>ermod)t 
hatte!  Unb  eS  führte  feine  33rücfe  bort  hinüber.  Äomöbie,  baS  war's! 
3ltteS  ftomöbie:  ihre  Siebe  fogar,  —  bie  oor  3Wem,  —  9lid)tS,  als  Äomöbie. 
3Kit  einer  Äomöbiantin  hatt'  er  fid)  eingeladen  gehabt!  Unb  nun  —  2lUe 
jammeruoll  ftanb  er  »or  fid)  felber  ba,  er,  ber  fo  ftolj  auf  fid),  auf  feine 
unter  Dualen  errungene  SBerjeihung  für  fie  unb  ihren  gehltritt  gewefen, 
—  wie  erbärmlid),  wie  lächerlich!  3«'»  ^opanj  war  er  geworben,  —  eine 
»eräd)tlid)e,  fomifd)c  gigur,  —  ÜNidbtS  weiter  — 

Gin  heißer,  wilber  3orn,  eine  unbejroingbare  SButh  quott  in  ihtn  auf. 
SBenn  er  biefer  Äomöbiantenbime  aud)  2llleS  hätte  oerjeihen  fönnen,  baS 
nid)t,  —  baS  wahrhaftig  nid)t!  Grbroffeln  f)ätt'  er  fie  fönnen  um  biefeS 
Giuen  willen.   Unb  fie  lachte  immer  nod),  lachte,  wie  über  ben  tollften 


—    3n  ber  £jed[3eitsnadjt.   


29 


©paf?,  ben  e$  nur  geben  fonnte.  ©ie  fonnte  ja  aud)  lachen,  ^efct  h«tte 
fte  ihn  fidher.  SBohlroetSltdb,  ^atte  fie  geroartet,  bis  fie  ib,n  fidler  hatte, 
«he  fie  if»m  eingeftanb  —  Unb  jefct  buhlte  fte  »or  ilmt  mit  ihren  nacften 
2lrmen,  tfjrcnt  lofen  £aar,  ihrem  oerführerifdjen,  fdjmiegfamen  Setbe  — 
©in  ungeheurer  ©fei  fafete  itjn  an.  5Hein!  SRein!  9Jetn!  ©ie  foUte 
nid)t  jum  $id  fominen.  &atte  fie  if)n  benn  roirflicf»  fcfion  fo  fidler?  ©ab 
«3  feine  Rettung  mef)r?  Reine  »or  ber  ©elbfterniebrigung,  —  »or  ber 
platten  Sädjertidifeit?  2Bar  er  biefer  abgefeimten  Romöbiantin  »erfatten  mit 
4jaut  unb  &aar? 

9lod)  md)t  —  ©ein  ganjeä  $<f)  fträubte  fid)  grimmig  bagegen,  bäumte 
fid)  jäh  auf.   sJlocfj  nidjt! 

Unb  ptöfclicf)  blatte  er  (Serba  »on  feinen  Rnieen  fjerabgteiten  laffen, 
itjre  3lrme  »on  feinem  £aife  getöft.  Unb  nun  ftanb  er  »or  ihr,  ftarr, 
»tafe,  b^oc^mütfiig,  ohne  jeben  leifeften  2lu3bru<f  »on  Seibenfdjaft  ober  33e= 
<jehrltd)feit,  —  aud)  nur  »on  sJtachfidjt  —  unb  fagte,  fie  mit  fiujler  58er« 
«drtung  meffenb:  „2tlfo  Romöbie  roar  ba§  Me«?  9tun,  bann  erlaubft  ®u 
roof)t,  baft  id)  meinerfeitä  biefer  Äomöbie  nun  für  immer  ein  ®nbe  mad)e. 
3J2icf)  gelüftet  nicfjt  nach  SSteberfyohmgen.  SBir  SBeibe  paffen  nidjt  5U  ein» 
anber.  2Bie  mit  einem  33lifeftraf)[  ift  mir  ba3  jefct  erteilt  roorben.  Unb 
beä^alb  —  Sache  $idf)  ungeftört  weiter  aus,  meine  Siebe!  3dj  gebe  — 
Unb  tct)  gehe  für  immer.  Sebe  rooht!" 

<£r  fud^te  nach  feinem  Ueberjieher,  roarf  it)n  um  bie  ©djuttern  unb 
griff  nad)  feinem  igut.  ©erba  ftanb  faffungSloä  ba,  baS  Sachen  erftarb 
ifjr  auf  ben  Sippen,  fie  ftierte  Um  offenen  9Jiunbe3  an,  roie  einen  2Balm= 

finnigen.    „2)u  gefjft,  —  roillft  35idj  »on  mir  trennen,  weil  id.)  

weil  td)  noch  rein  bin?  ®u  bift  atfo  —  roahnfinmg?!"  ©ie  freifd)te  ba§ 
lefcte  SBort  IjerauS  mit  roilb  »erjerrten,  fchrecfenSbteichen  Lienen,  ©ie 
brad)  faft  jufammen  unter  ber  2Budjt  biefeä  Ungeheuerlichen,  ber  Gontraft 
jermalmte  fie. 

<£r  aber  c)atte  feinen  Snlmber  aufgejroängt  unb  oerbeugte  fid)  ganj 
fm%  bie  Sippen  jitternb  »on  äff  bem  »erhaltenen  ©rimm  unb  ©roll. 
„3Rein  Stnroalt  wirb  adeS  2Beitere  jroifd)en  uns  orbnen.  2Bir  finb  ge= 
fdfnebene  Seute.  &alte  mich,  roofür  ®u  roiKft!  Grtaube  mir  aber  auch  ®tr 
gegenüber  ba«  ©leiche.   ©ute  9iad)t." 

Unb  bie  £f)ür  be$  3ünmer3  fiel  hinter  ihm  ju,  ©erbaS  Stuffcljrei 
mit  ihrem  fnarrenben  ©eräufdfj  übertäubenb. 


Jürft  <£f}lo£mng  von  J3ofanIofje=S<f}illtngsfürft, 
Kaller  bes  Dcutfdjcn  Hetdjes. 

<£ttie  Cebens»  unb  Cljarafterff  133c. 
Don 

aSefi&arb  Sernfn. 

—   Darmjlaot.  — 

[{blobroig  gürft  »on  &oljenlob><Sd)iffing3fürft  entftainmt  einem 
alten  »ornefimen  ©efdjtecfyt.  GS  giebt  toentge  dürften,  nament= 
lidf)  fotd^e,  bie  feine  Ärone  tragen,  meldte  »on  älterer  3l6Iunft 
wären  als  ber  gegenroärtige  beutfdje  9teidb>fanäter.  ©in  furjer  Stöcf&licf 
auf  feine  33orfaf)ren  roirb  bie«  bartfiun. 

2)a£  £>au§  &ob,enlot)e  leitet  feinen  Urfprung  ab  »on  ©isbertus, 
&erjog  »on  Dftfranfen,  ber  ein  @ol>n  be3  .ftersogS  Gfjtobioig  »on  granfen 
mar  unb  im  3al»re  688  ben  cfjriftlidjen  ©lauben  annahm,  ©iäbertuä' 
<Sobn  —  Kunibert  —  rourbe  erfter  ©raf  »on  9iotb>n&urg  (t  710). 
Tiefe  S^atfad^e  erhielt  für  ben  jefttgen  dürften  öoljenlolje  baburd)  eine 
befonbere  33ebeutung,  bafj  bie  9iotf)enburgf<fien  33eftfcungen  fpäter  als 
Grbfdjaft  unvermutet  an  feine  gamilie  tarnen,  ©er  eigentliche  (Stamm* 
»ater  ber  gärften  »on  &ofienlof)e  mar  jeboef)  „^ermann  ber  $urdb> 
laudjtige",  toeldjer  fid)  mit  ber  SBittroe  be3  £er5ogS  ^einrieb,  »on  granfen, 
Ülbelb^eib,  ber  SDcutter  be3  Äaiferä  Stonrab  II.,  in  jroeiter  Gb>.  »ermäljlte. 
Leiber  ©otnt,  Gb erwarb  (etroa  1042),  änberte  ben  tarnen  9iott)enburg 
naä)  ber  Teilung  mit  feinen  33rübern  unb  nannte  fidj  nacl)  bem  über* 
nommenen  <S<f)loffe  £oljenlobe.  ©iegfrieb,  ein  ©ojjn  Gberliarbs,  be= 
gleitete  ben  Äatfer  §einridj  IV.  auf  ber  Sieife  nad)  Italien  (1077),  als 
biefer  nad)  Ganoffa  ging.  Gr  mar,  mag  gefdjidjtlid)  beglaubigt  ift,  einer 
ber  entfdjtebenften  ©egner  beS  ^apfte«  ©regor  VII.  @o  ift  alfo  ber 
Äampf  mit  ben  fyierardjifdien  Uebergriffen  ber  9Jömif^en  Gurie,  toeld)en 
gürft  Gli lobt» ig  fo  ;entfd)toffen  burdE»gcfüt»rt  f)at,  ein  faft  taufenbjäfirigeä 
Grbtljeil  feiner  §amilie.  Ter  genannte  Gberfiarb  »on  &oI)enlof)e  tourbe 


  ,fütjl  €l)I*^n,i9  "0"  ^oljenlotifSdjillingsfärji.  3{ 

von  &einrid)  IV.  mit  »ieten  ttalientfd)en  £errfd)aften  betest  unb  nannte 
fid)  nad)  benfelben  Comes  de  Altaflamma  et  Romaniolae.  Gr  ging  aber 
nidjt  mit  nad)  Ganoffa,  fonbern  fefirte  nad)  ®eutfd)[anb  jurüä,  wo  fpäter 
(1230)  bie  Srüber  ©ottfrieb  unb  Äonrab  alle  Senkungen  feilten  unb  bie 
beiben  Sinien  „föofjenlofies&oljentof)"  unb  „£ot)entoI)e=23rauned"'  grünbeten. 
<3d)on  1390  erfofd)  bie  lefctere,  aud)  bie  erftere  jäfjfte  im  Saljre  1407 
nur  nod)  einen  ©proffen,  2Ubred)t,  ber  fid)  bem  geiftlid)en  ©tanbe  geroibmet 
ftatte.  Um  ba§  ©efd)(ed)t  nidjt  anwerben  p  laffen,  t>ermäl>(te  er  fid)  nad) 
päpftlidjem  ©iSpenä  unb  brad)te  at§  ein  fefir  nertrauter  SRat^  beä  ÄaiferS 
<SiegiSmuttb  bie  &obentof)efd)e  gamtiie  jn  f)of)em  2lnfef)en.  SBä^renb  ber 
Regierung  biefeä  ÄaiferS  fjat  er  beifpteteroeife  auä  feinen  SBefifcungen  nid)t 
roeniger  ai8  255  33afaHen  belehnt.  $m  3at)r  1553  mürben  burd)  ©runb= 
Leitung  be3  ©efammtbefi|eö  bie  beiben  nod)  jefet  blüfienben  £aupttinien 
—  bie  ?leuenffeinfd)e  (proteftanrifdje)  unb  bie  2Batbenburgfd)e  (fatl)o* 
Ufd)e)  —  begrünbet;  ber  lederen  gehört  unfer  gürft  Gbjobmig  an. 

Gldobmtg  Starl  Victor,  giirft  ju  öo^enIo^e-(S(^iIIingöfürft,  «prinj  ju 
SRatifior  unb  Goroei),  nurbe  am  31.  9J?ärs  1819  ju  9totf)enburg  an  ber 
gulba  aU  ber  jroeite  <Sof»i  be3  dürften  ^ranj  Sofepf»  unb  ber  gürftin 
Gonftanäe,  geborenen  ^oljentolje  -  Sangenburg,  geboren.  Unter  fieben 
©efd)n>iftern  blatte  er  nod)  »ier  33rüber:  ben  Grbprinjen  SBictor  ÜRortts  Äarl, 
bie  jüngeren  Srüber  Sßrinä  $l)üipp  Grnft,  Sßrinä  ©ufta»  SIbolf,  ben 
fpäteren  fefir  befannten  Garbinal  unb  ben  ^rinjen  Gonftantin,  fpäter 
f.  f.  ©enerat  ber  ßaoallerie  unb  Dberbofmeifter  be§  JtaiferS  {jranj  3ofepl) 
von  Cefterreid).  £a  bie  SFermögenSBer^ältniffe  ber  gamilie  fid)  »er« 
änbert  batten,  aud)  feine  <Secunbo=©enitur  ju  »ergeben  mar,  fo  muf?te  in 
bem  gürftenfofni  fid)  balb  ber  ©ebanfe  regen,  fid)  auf  eigene  güfie  ju 
ftellen,  eine  tüdjtige  33ilbung  fid)  anjueignen  unb  bem  2lbet  feines  Jlamenä 
baburd)  ©Iait5  5U  »erteilen,  baf?  er  fid)  burd)  $[eifj  unb  Stubium  511 
beroorragenben  Seiftungen  befähigte. 

Gr  befud)te  juuädift  bie  ©nmnafien  in  3In3bad)  unb  Grfurt  unb  bejog 
bann,  mit  Äenntniffen  rootylauSgerüfict,  bie  £od)fd)ule.  %n  föeibelberg, 
©öttingen  unb  33onn  ftubirte  er  bie  9Jed)t§5  unb  ©taatSnriffenfdjafteu  unb 
rourbe  im  Sabje  1841  —  a(fo  im  9ttter  »on  22  %a$ren  —  als  2Iu3cuU 
tator  bei  bem  ©eridjt  in  Gfyrenbreitftein,  fobann  alz  JWeferenbar  bei  ber 
^Regierung  in  Sßotebam  befdjäftigt.  $n  biefen  2et)r=  unb  SBanbcrjafjren 
mar  er  eifrig  beftiffen,  fid)  tüdjtige  ^adjfenntniffe  ju  erwerben  unb  feine 
Prüfungen  gut  ju  befteben.  Seibeö  gelang  ibm  vortrefflid),  obrcofjt  bie 
gelehrten  bürgerlichen  Graminatoren  ü)m  ba§  ^ortfommen  nid)t  gerabe  er« 
teid)terten,  fonbern  im  ©egentfyeü  ben  t)od)ariftofratifd)en  Ganbibaten  ber 
3led)t3funbe  feijr  fireng  prüften. 

2Bäf»renb  fein  älterer  SBruber  als  gürft,  ja  felbft  ^öersog  in  ber  gro&en 
2Bett  erfdjien,  trat  aud)  für  if)n  ein  mistiger  SBenbepunft  in  feinem 
Scben  ein.   XaS  §au§  §ob,en[ob,e=©d)it(ing§fürft  blatte  burd)  £eftamcnt 

«ort  nnb  Sftb.  LXXV.  2?3.  3 


32    (Sebtjarb  gernin  in  Darmfiabt.   

be$  finberlo*  oerftorbenen  Sanbgrafen  oon  ^effero^heinfelä^othenburg  eine 
bebeutenbe  ©rbfdjaft  gemalt  unb  ba6ei  aud)  bie  grofeen  £errfchaften, 
Statibor  unb  Goroe»  erlangt.  ®er  Grbprinj  Victor  SDtorife  Äarl  oon 
Hohenlohe  trat  bie  lefetere  an  unb  rourbe  oon König  griebridj  SBilhetm  IV. 
gleid)äeitig  jutn  ^»ersog  erhoben,  roäbrenb  ^ßrinj  Ghlobrotg  baö  sroette 
ihm  oom  Sanbgrafen  oon  Reffen  oermad)te  $ibekommif?  antrat  unb  ben  £itel 
eine?  Sßrinjen  oom  SRotibor  unb  Goroeo  erhielt.  ®er  fürftftche  33efifc  in 
Sanern  ging  an  ben  britten  SSruber  Philipp  ©mit  ü6er. 

2113  aber  biefer  im  Sahre  1845  plöfeltdj  unb  jroar  ohne  Gr&en  ftart», 
fielen  bie  in  Sägern  gelegenen  $amiliengüter  an  Gtilobroig  jurücf,  ein 
Greigml,  roelcheä  für  feine  ,8ufunft  ^ödjft  bebeutungSooU  rourbe,  benn  er 
faf)  fidE>  nun  genötigt,  feine  Seamtenlaufbahn  aufjugeben  unb  bie  ©tanbeSs 
l)errfd)aft  @d)iÜmgSfürft  in  SJtittelfranfen  ju  übernehmen.  3lm  12.  gebrnar 
1846  —  alfo  27  Qahre  alt  —  mar  er  ba£  fürftlid)e  &aupt  einer  ber  oor= 
nehmften  ftanbe3f»errlid)en  gamitien  Stenerns  geworben  unb  rourbe  als 
erbliches  SJiitglteb  in  bie  Äammer  ber  banrifd)en  9leidjSräthe  eingeführt. 
SDamit  begann  feine  öffentliche  SBirffamfeit  in  einer  Stellung,  bie  foroo^l 
feiner  &er  fünft,  als  aud)  ben  erroorbenen  ftemttniffen  unb  Grfabrunqen 
entfprad),  unb  bie  üm  oon  ©rfolg  ju  Grfolg  führen  fottte. 

9lun  roar  es  ihm  befdneben,  bie  in  langen  entfagungSretd)en  3at)rc" 
gereiften  $rüd)te  p  genießen,  bas  Grlentte  unb  ©urdjgearbeitete  ;ur  praftt« 
fd)en  Slnroenbung  ju  bringen  unb  im  ^ntereffe  feine«  ihm  ftets  am  £erjen 
gelegenen  &etmatlanbeS  ju  oerroerthen.  Sicher  roar  er  ein  tüdjtiger,  aber 
nid)t  immer  einflußreicher  Beamter  geroefen;  nun  trat  bas  3tnfehen  feine* 
fürftUcben  ©tanbeS  ju  ben  perfönlicben  Sßorjügcn:  er  rourbe  eine  Sßerfönlid)5 
fett  oon  ftcts  road)fenber  93ebeutung. 

9Jad)bcm  bie  äußeren  i*erhältniffe  beS  ^ßrinjen  ©l)lo broig  fid)  io 
gläitjenb  geftaltet  hotten,  badjte  er  aud)  an  bie  33egrünbung  einer  gamilie. 
3lm  16.  gebruar  1847  oermählte  er  fid),  nicht  ganj  28  Qahre  alt,  mit 
ber  ^Srinjeffin  9Karie  oon  ©at)n=3Bittgenftein  aus  bem  £aufe  SBerle; 
bürg,  einer  ebenfo  geiftoollen  roie  UebenSroürbigen  £>ame.  ©iefer  ©eelenbunb 
roar  eine  golge  ber  reinften  gegenfeitigen  Neigung  unb  beglüefte  baljer 
beibe  ST^eitc  auf  baS  ^itnigfte.  Tk  ^rinjeffin  roar  eine  grofj  angelegte 
•Jlatur,  bie  Äopf  unb  J§erj  auf  bem  richtigen  gteefe  hotte.  3ln  ben  otel* 
fettigen  Seftrebungcn  ifjree  ©emahlS  nahm  fie  ben  regften  3lnthetl  unb 
oerftanb  eS,  feine  aSertraute  roerben  unb  jroar  in  fo  hohem  ®rabe,  wie 
baS  ein  grojicS  unb  tiefe?  grauengemüth  immer  ju  erreichen  oerfteht,  toenn 
bie  betberfeitigen  ©eelen  glctd)geftitnmt  fiitb.  Sic  tft  ihm  auf  feinem  ganjen 
SebenSroege  eine  treue  öefährtin  unb  bie  befte  greunbin  geblieben. 

©er  junge  9leid)*rath  follte  aber  aud)  fd)on  frühjeitig  ntamtigfad)e 
Kämpfe  auSjufedjten  befommeit,  ©treitigfeiten  ber  oerfdnebenften  3lrt,  oft 
mehr  ober  weniger  hortnäefiger  9Jutur.  3unächft  roar  e§  bie  öfterrcichifcb/ 
tiltraniontane  ^ol'tif  ber  beibeii  aJJtmfterien  ©chrenef  unb  oon  ber 


  ifärft  <£tilot>i»ig  ton  ^ottenlotiesSdftlliit^sfflrft.    33 

spfotbten,  gegen  roeldje  bet  mit  einem  roeiten  ftaatSmännifdjen  SBttcf 
auSgerüftete  ^rinj  entfdjloffen  auftrat.  ®aim  waren  es  3JHfebräudje  unb 
uerattete  Gtnricbtungen  überhaupt,  welche  if(n  »eranla§ten,  gront  gegen 
fte  ju  mad)en  unb  einem  »ernünfttgen  gortfdjrittc  möglichst  bie  Sßege  ju 
bahnen.  Sjierburd)  madite  er  fid^  freiließ  juerft  bei  feinen  ©tanbeSgenoffen 
nid)t  beliebt,  er  mürbe  felbft  mit  bem  smeifel^aften  Xitel  eines  „33olfS* 
freunbeS"  belegt,  bod)  al«  baS  Qafjr  1848  mit  feiner  freieren  SBeroegung 
Ijerbeigefoinmen  mar,  gercann  er  fef»r  balb  atigemeine  SInerfennung  bafür, 
bafj  er  baS,  roaS  als  richtig  in  ben  gorberungen  ber  3«t  jugegeben 
merben  mu&te,  »orauSgefeljen  unb  empfohlen  fjatte. 

So  fam  es  benn  audj,  bafj  ber  junge  5Reid)Sratf)  an  ben  33eratf)ungen 
über  baS  SlblöfungSgefefc  in  ber  Stammer  tätigen  3tntf»eil  nal»m,  roeldjeS 
ben  Uebergang  33anernS  vom  ehemaligen  geubalftaate  jum  jeitgemäfien 
5Red)tSftaate  befiegelte.  @S  gelang  bamats,  objte  SSerlefeung  berechtigter 
2tnfprüdje  unb  in  burd)auS  gefefemäftfger  SBeife  jene  nridttige  Umgeftaltung 
»orjunefymen,  bie  fo  gut  gelang,  ba|  felbft  in  ber  fpäteren  9teacttonS5 
Sßeriobe  niebt  einmal  ber  SSerfud)  itjrcr  3lnfed)tung  gemacht  mürbe.  Unb 
baS  mar  b,auptfäd)lid)  baS  SBerbienft  bes  Sßrinjen  Gbjobnng  von  £ol»en= 
lotie.  ©iefer  gab  audj  burd)  fein  perfönlid)eS  SSerfyalten  ein  burd)auS 
uneigemtüfcigeS  93eifpiel,  inbem  er,  als  einer  ber  erften  bagerifd)en  ©tanbeS- 
b^erren,  in  ber  9lb(öfungSfrage  unaufgeforbert  Dpfer  brachte  unb  f)ierburd) 
feine  ©enoffen  jur  9Jad)al)mung  ueranlafjte.  <So  fam  es  benn,  bajj,  roenngleid) 
im  ^ab,re  1848  mit  mand)en  »errotteten  ,3uftänben  in  33anern  aufgeräumt 
rourbe,  man  bod)  ftets  baS  9JJafe  ju  galten  »erftanb,  fo  baft  biefer  (Staat  ber 
einjige  blieb,  in  meinem  eine  Dctromrung  in  ber  fonft  nirgenbs  ausgebliebenen 
9teactionS=$Periobe  fid)  als  burdjauS  nid)t  notf>n>enbtg  IjerauSftellte. 

(Sin  fdjarfer  SBeobadjter  ber  politifd)en  3ufönoc  Jauerns  aus  ber 
3eit  ber  beutfd)en  93efreiungSfriege  bis  jum  3af)re  1870  entwirft  oon  ben« 
felben  fotgenbeS  Silb:  „2)ie  9Jletamorpf)ofe,  roeldje  bie  GabinetSs^olitif 
unb  bie  9iegterungS=9J?arimen  SkijernS  »on.1816  bis  jum  <Sd)tuf  beS 
^aflteS  1872  erlitten,  ift  fef)r  tateiboffopifd)  unb  beroegt.  SSier  beutlid)e 
Sßbafen  jeiebnen  fie  aus  unb  geben  ber  $eit  it»r  ©epräge.  33on  1817  bis 
1837  ift  bie  Gpodje  bes  flauen  ©d)ein^6onftitutionaliSmuS.  5ßon  1837, 
mit  bem  ^Regiment  21  bei  beginnenb,  unb  Gnbe  1848  mit  ben»  Gabinet 
S3raüs9iingelmann  fdjliefeenb,  tritt  bie  innere  ßrifis  SanernS  ein. 
1849  begann  mit  ber  SReactionSsGpodie  unter  oon  ber  ^forbten,  um 
mit  Jauerns  äußerer  unb  fdjroerfter  5?ataftropf)c  1866  ju  ettben.  £>te 
le|te  ?pj»afe  begann  baS  Gabinet  $obenlol)e  unb  fdjlofj  mit  bem  beutfeben 
Äaifcrtbum,  ber  5Reid)Seinb,eit  unb  bem  Anfange  beS  flerifal-politifcben 
ÄampfeS  ber  ^efetjeit*)."   ©iefer  ©cbjufjfafe  beutet  bereits  ben  rotd)tigen 


*)  SDJon  beraleidie  „'Sit  2Jlänner  ber  neuen  beutfäjen  3«it,  öon 
81.  6.  SBtadioogel,"  3.  SBanb,  @.  170.  liefern  Sakrte,  bo8  nad)  offenbat  fefit  fluten 

3* 


3<* 


  (Sebfyarb  gernin  in  Darmftabt.   


äöenbepunft  an,  meiner  in  ber  SebenSftettung  be§  jungen  9tetd)3ratf)$  ein; 
treten  fottte,  unb  auf  melden  wir  bemnädift  netter  etnjugefien  fjaben. 

3roet  $ar)re  fyinburd)  ^atte  ^tinj  Gfytobrotg  feine  roarnenbe  Stimme 
erhoben,  bod)  mar  fie  ungeljört  «erhallt,  man  fjatte  lfm  »erfannt  unb  fogar 
beargwöhnt,  ©a  fam  ba3  %dfyc  1848:  Stönig  Subroig  I.  trat  freinriüig 
t>on  ber  ^Regierung  jurücf,  unb  in  ganj  £)eutfd)lanb  brauen  Unrufjen  aus. 
SDte  bamate .  gefdjaffene  beutfd}e  Gentratgeroalt  in  $ranffurt  a./9Dt.,  t»eld)e 
bie  emften  Seftrebungen  beä  ^rinjen  Gt)lobroig  roofyl  erfannt  blatte,  roanbte 
iljre  Slufmerf  famfett  auf  ü)n:  er  rourbe  su  it>rem  ©efanbten  in  2ltf)en,  ^lorenj 
unb  3tom  ernannt,  ©ern  folgte  er  einem  fo  eljreirooHen  Stufe  unb  begrüßte 
in  2ltfjen  bie  bortigen  £)eutfdjen  mit  einer  fo  beutfdj=nationalen  Siebe,  bafj 
biefe  roegen  ü)re§  lange  md)t  oemommenen  2one§  in  ganj  Guropa  roiber^ 
ballte.  ©a§  9Wd)3miniftertum  gab  ifmt  ben  Auftrag,  »on  ©riedjenlanb 
nad)  ©aeta  ju  ger)en,  roofnn  papft  piuS  IX.  geflogen  mar.  lieberall  tfjat 
ber  tljatfräfttge  ^rtnj  feine  ©djulbigfeit  im  ^ntereffe  feines  beutfdjen  S8ater= 
lanbeS;  bod)  lehnte  er  ba3  Portefeuille  im  SUünifterium  ab,  ba3  ünn  gürft 
SBittgenftein  im  grübjal>r  1849  antrug,  um  feine  Straft  nid)t  ju  jerfplittern. 

3n  ben  nädjftfotgenben  ^abren,  nadjbem  bie  öfterreid)ifd)e  Sßoltttf 
gefiegt  unb  ben  grofjcn  Grfolg  »on  Dlmüfe  erreicht  rjatte,  nadjbem  feteft 
ber  SknbeStag  roteber  »on  ben  lobten  erftanben  war,  fab,  ^ßrinj  Gelobt»  ig 
feine  SCljätigfeit,  bie  er  ftets  in  nationalem  ©inne  ju  entroicfeln  fid)  geroölmt 
ttatte,  lahmgelegt.  Gr  uerfudjtc  jruar  nod),  in  ber  banerifdjen  Kammer  ber 
9teid)Srätl)e  mit  feinen  ©efumung?genoffcn  bie  ^olitif  be3  -DJimfterS  »on 
ber  ^forbten  ju  befämpfen,  allein  er  begriff  feb^r  balb,  bafi  in  einem 
fold)en  Streite  »orläufxg  fein  «Sieg  su  erringen,  baf?  ber  Stampf  felbft  für 
bie  SBotjlfafnl  33a»ern3  fd)äblid)  fei.  <Bo  gab  er  einftroeilcn  jeben  SBiberjtanb 
auf  unb  jog  fid)  auf  feine  ©üter  prücf,  »on  benen  aus  er  bie  Gntroicfelung 
ber  Glinge  aufmerffam  »erfolgte. 

©iefe  3ctt  ber  länblid)en  9tub,e  —  fie  bauerte  etroa  ein  ftaftrselmt  — 
roar  für  tt)n  feine  »erlorene.  Seit  bem  ^aljre  1850  aßen  Aufregungen 
ber  politifdjen  Streife  ber  9tefiben3  entrüeft,  fafj  er  auf  feinem  ©tammfife 
<Sd)iningöfürft  in  sMttetfranfen  unb  (ernte  bie  ruhige  SBefiagltcfifeit  eines 
SanbebelmanneS  in  ber  $ßro»in5  fennen.  9iunmcl)r  fonme  er  fid)  be§ 
Umgange»  mit  feiner  ifmt  geiftig  ebenbürtigen  ©emaljlin,  bie  ifjm  im  3abre 
1847  eine  £od)ter,  bie  ^ßrinseffin  Glif ab ett) ,  gefd)enft  fyaite,  erfreuen 
unb  gleichzeitig  bie  mannigfaltigen  $rüd)te  be3  Sanblebcnä  genießen.  Slber 
in  ftrenger  <5d)ulung  feinet  ©eiftes  ftets  gcroöfjnt  5U  arbeiten  unb  erft  ju 
facti,  be»or  er  an  bie  ©inb^eimfung  ber  Gntte  bad)te,  fud;te  er  aud)  rjicrbci 
eine  grunblcgenbe  SfiätigfeU  5U  entfalten.  Sic  Serooljner  unb  bie  9iad)bam 
be§  glecfenä  <Sd)itlingfürft  oon  9iotf)cn6nrg  biä  2ln^bad)  erinnern  fid)  nod) 

QucDcn  bearbeitet  tooeben  ift,  tjaben  toii  »etfdjiebeue  tt)atfö(r)Ii(t)e  Stngaben  für  unfere 
biograbbifdje  ©tiüje  entnommen. 


  ^ürft  <Ll[lol>n>tg  oon  E}oljeTtlol}e>5d}illtngsf  iirft.    35 

tjeute  mit  greuben  jener  lOjctyrtgen  Speriobe  länbltdier  3urö<Ifieä09cnf»eit 
beS  grinsen  ©f)lobrotg,  in  roeldjer  er  fein  angeftammteS  ©ebiet  fo  grünb* 
ltd>eu  SBerbefferungen  unterwarf,  ba£  es  förmtid)  ganj  neu  aufblühte.  ©in 
2luSflufj  biefer  guten  SReinung  war  j.  33.,  ba§  gürft  Subroig  oon 
<3aon*2Bittgenftein,  ber  ©dbnriegeroater  ©lilobroigS,  fid)  bewogen 
fanb,  bem  lefcteren  feine  eigenen  grojjen,  in  Sittfiauen  belegenen  ©fiter  jur 
Seroirtljfdiaftung  anjuoertrauen.    ^rinj  Glilobroig  entfpradj  gern  einer 
foldjen  Slufforberung  unb  ging  perföntidi  nad)  Sittljauen,  bann  madjte  er  audj 
anbere  gröf3ere  Sieifen,  fo  nad)  gwmfreid),  Italien,  ©nglanb,  um  neue  Sfo« 
fd>auungen  ju  gewinnen  unb  mistige  Vereiterungen  feiner  Äetmtniffe  über 
bie  nationalen,  politifdjen,  fociaten  3uftänbe  beS  2luSlanbeS  baoonjutragen. 
Run  fam  ber  öfterreid)ifd)e  Svteg  mit  Italien  unb  granfreid»  oon  1859, 
unb  sprins  Gf»tobroig,  ber  roäfjrenb  feines  ©tilllebenS  in  ©djillingSffirft  audj 
feinen  gfamilienfreis  fid)  blatte  erweitern  fefjcn  —  ^Jrinjeffin  Stephanie 
mar  it)tn  am  6.  ^uli  1851  unb  ©rbprinj  sp^ttipp  ©ruft  am  5.  Sutti 
1853  bort  geboren  worben  —  mürbe  wieber  in  ben  SSorbergrunb  ber 
potitifd)en  33ül>ne  geftedt.   £)ie  ©reigniffe  in  ber  großen  SBelt  ber  legten 
Safyxt  Ratten  fein  &erj  mit  froren,  neuen  ©Wartungen  gefdjwefft;  nadjbem 
ifm  SßreufjenS  ®emütf)igung  bei  Dlmüfc  1850  ftarf  niebergebeugt,  mar  er 
burdj  ben  Regierungsantritt  beS  $ßrins=Regenten  oon  ^ßreufeen  7  ftaljre 
fpäter  erhoben  roorben  unb  trat  nun  roieber  freiroillig  auf  ben  ©djauplafc  ber 
politifdjen  kämpfe,  weldjer,  roie  er  wob,l  füllte,  ib,m  ©rfolge  gewähren  mufjte. 
Rod)  mar  fein  alter  ©egner,  ber  -Diinifter  ©djrend",  als  2fcrfed)ter  ber 
öfterreid)ifd)5flerifalen  ^Poltti!,  am  Ruber,  aber  Defterreidj  blatte  in  Italien 
eine  fdjroere  Rieberlage  erlitten,  unb  bamit  mar  aud)  bie  «Stellung  ©direncf  S 
in  3Jiünd)en  einigermaßen  erfdjüttert  roorben.   Run  galt  es,  in  offener 
3?el)be  bem  immer  nod»  mädbtigen  9Jlann  unb  allgemein  gefürdjteten  Seiter 
ber  politischen  Angelegenheiten  33at»ernS  fidj  roieber  gegenüberstellen. 

Sßrinj  ©tjtobroig  trat  if>m  1859  furchtlos  unter  bie  Stugen.  ßier* 
mit  nab^m  er  jebod»  einen  Äampf  auf  fid),  ber  fernerer  roar,  als  es 
äujjerlid)  fdjien.  ©r  roar  felbft  ein  guter,  aufridjtiger  Sktfiolif  unb  rjatte 
itoei  33rüber,  oon  benen  einer,  ©uftao  3lbolf,  roie  roir  oben  gefefien, 
ber  fpätere  ©arbinal  in  Rom,  ber  anbere,  ©onftantin,  erfter  Dber^of= 
meifter  beS  SaiferS  granj  ^ofepb,  roar.  SDIufjte  es  nun  tridjt  für  ©trtob* 
roig  einen  ernften  ©ntfdrjlufs  bebeuten,  roenn  er  bei  feinem  SEBiebereintritt 
in  bie  batjerifdje  Reid)SratljSfammer  ftdj  oornaljm,  eine  antiflerifale,  antü 
öfterreidjifdie  unb  preuf3en=  roie  beutfdfcfreunblidie  Sßolitif  ju  treiben  unb 
feine  beiben  93rüber  hierbnrdj  ebenfo  ju  «erleben  roie  ju  fdjäbtgen?  Mein  baS 
^ntereffe  unb  bie  ©bjc  SaoernS  unb  beS  beutfdjen  33atertanbeS  gingen  it)m 
über  2lHeS  unb  überwogen  etroaige  Siebenten,  roenn  fid)  biefelben  einfallen 
wollten.  @S  galt  ifjm  barum,  Sauern  aus  feiner  gefährlichen  politifdben 
Sage  ju  befreien  unb  feinen  2lnfd)luf3  an  ben  preufjifdjen  ©taat  oorju= 
bereiten,  —  ben  einjigen,  roetd^en  er  als  gefunb  unb  lebensfähig  erfannte. 


36 


  iSebf)arb  §erntn  in  DarmfJabt.   


9tid)t  etroa  roeil  ifmt  beffen  Sßolitif  bei  bem  öfter  roedjfelnben  3Kimftetium 
gefiel,  n>ot>l  aber  be*l»alb,  tuetl  ifjm  ba3  geiftige,  fittlid)e  unb  tt)atfäd)[id)e 
SJiatertal  sufagte,  aus  roeldjem  man  allein  einen  rüstigen,  fraftoollen  unb 
leiftung$fäf)igen  ©taat  fo  jU  bitben  im  ©tanbe  roar,  roie  er  ben  %xi- 
forberungen  ber  3«t  genügen  fomtte. 

$)iefe8  Material  batte  Gf)lobrotg  roofjt  f ernten  unb  roürbigen  gelernt. 
©3  beftanb  nad)  feiner  feften  Ueberjeugung  junädfjft  in  bem  preu§ifd)en 
SBolfSlieere,  ju  bcffen  ©ntroicfelung  ein  ©djarnljorft  in  ben  Satiren  ber 
©rniebrigung  be3  Staate«  ben  ©runb  gelegt  Ijatte,  unb  burd)  roeld)eä 
Dorneljmliä)  ber  franjöfifdje  ©olbatenfaifer  in  ben  Safjren  ber  33efreiung8« 
friege  niebergefämpft  roorben  mar;  fobann  in  bem  ernften  preufnfdjen 
aSolfefinne,  ben  ber  fürftlid)e  ©tubent  auf  ber  Uninerfität  unter  feinen 
(Sommilitonen,  als  3ficf>ter  unb  $errcaltung3=33eamter  in  jroei  ^Jroninjen, 
ber  ÜJlarf  unb  ©djtefien,  als  befonbereS  Äennsetd)en  aufgefunben  ^atte. 
Sei  feinem  anberen  ©taatöroefen  waren  U)m  äljnlid)  gute  SWaterialien  als 
©runblagen  ber  Drbnung  unb  be£  ©emeinberoefenS  befannt  geworben,  unb  fo 
erflärt  fic^>  ganj  etnfad)  feine  Neigung  ju  bem  größten  reinbeutfd)en  ©taate 
beS  Horbens,  bie  ttjn  frühzeitig  angeflogen  unb  fpäter  nie  roieber  »ertaffen 
fjat.  Jlirgenbroo  fonft  fanb  er,  ber  bie  SBelt  genau  fannte  unb,  wie  wir 
gcfef»en,  granfreid),  ©nglaub,  Italien,  ©rted)enlanb  ic  bereift  blatte, 
nationalere  unb  fittlid)  gelegenere  (Sigenfd)aften  als  bei  ben  Greußen,  unb 
bieS  erflärt  wotyl  aucf)  jur  ©enüge  feine  ganje  Sßolitif. 

©d)on  im  3iaf)re  1860,  furje  $eit  nad)  bem  SBieberauftreten  beö 
^ßrinjen  6b, lob n> ig  im  banerifdjen  9teid)Sratf) ,  erfannte  man  allgemein, 
weldje  33ebeutung  baSfelbe  in  fid)  fd)lief$en  müffe.  9toa)  flarer  würbe  es, 
als  er  im  folgenben  Qafjre  bem  banertfd)en  3Jtimfterium  feine  ernften  unb 
einbringlid)en  SBarnungen  jurief  unb  unter  3lnberem  baSfelbe  erfudjte:  jene 
unglücflid)e  ^Solitif  bod)  ju  oerlaffen,  bie,  auf  Defterreid)  geftüfet,  ^jkeufienS 
©tellung  in  $)eutfd)lanb  ju  negiren,  ja  fdf>Cic^ticf>  felbjl  gewaltfam  ju  vtx- 
nieten  beftrebt  fei.  ©päter  fd)eute  fid)  baSfelbe  furdjtlofe  9teid)Sratf)Smitglieb 
nid)t,  bem  SRintfter  »on  ber  ^ßforbten  jujurufen,  bafj  bie  oon  bem 
Se&tercn  gern  gehegte  „S'riaS'Qbee"  Tawern  niemals  ©lücf  bringen  fönne. 

3m  $al)re  1864  ftarb  ßönig  SKarimiltan  II.  oon  SBanern,  unb  fein 
©otntßubwig  II.  nmrbe  mit  18 V2  2ebenSjal)ren  fein  9?ad)fola.er  auf  bem 
£f)ron.  2lbermalS  rourbe  nad)  ber  ßnttaffung  beS  gretberrn  oon  ©djrencf  ber 
5  ^ofjre  uorlier  uon  bemfelben  ^Soften  abbentfene  frühere  oon  ber  ^forbten 
banertfd)er  SJiinifterpräfibent,  unb  jroar  ju  berfelben  3eit,  als  ^ßreufeen  mit 
Defterretcij  gemetnfd)aftlic&,  in  @d)leSwtg=<£>olftein  auftrat,  ©eine  ^Jläne 
eines  ©reifönigSbunbeS  afe  britte  ©taatSgruppe  in  £)eutfd»lanb  lounte 
unb  wollte  er  nid)t  aufgeben,  bod)  jerfcfiellten  fie  balb  in  fläglid)er  SEBetfc 

$m  ©ommer  1866  brad)  ber  Ärieg  jroifcfjen  Greußen  unb  Defterreid) 
am,  ber  fd)on  längft  eine  gefd)id)tltd)e  3?otb,roenbigfeit  geworben  unb  butd() 
ben  Vertrag  »on  ©aftein  nur  fünftlid)  um  ein  $af)r  5urüdgef)alten  roorben 


  <$ürft  <£ljloi>tt>'9  von  t?oljenlolies£d}fningsfnrji.    —  37 

mar.  Dbtoojjl  bamals  nod)  in  lefcter  ©tunbe  Prinj  oon  £ofjenlol)e  in 
bet  baperifdjen  $Retd)3ratf)3fifeung  bie  bringenbe  SDtafmung  an  bic  ÜDKnifter 
unb  baä  £au3  richtete,  befonnen  ju  fyanbeln,  ba  nur  ein  freunbfd)aftlid)es 
^crr)ättnife  33anern3  mit  Greußen  attein  nod)  ben  Strieg,  bamit  aber  „9iotf), 
(Slenb  unb  £>emütf|tgung"  oon  33anern  abioenben  fömte,  fo  brang  greifen: 
oon  ber  Pforbten  bod)  mit  feinen  Anträgen  burd).  £>ie  SBürfel  beä 
Krieges  würben  batb  barauf  getoorfen  unb  ber  gfelbjug  felbft  fcljr  fefmed 
entfebieben:  am  14.  Sunt  war  in  granffurt  a.  3JI.  bie  Wobilmadnmg  bc* 
beutfd)en  SBunbeäljeereä  gegen  preufsen  befdjtoffen  roorben,  unb  am  2.  Sfoguft 
rücfte  bie  9Wain=2lnnee  fiegreief)  in  SBütsburg  ein.  Uhtn  mar  e3  toieber 
Gfltobioig,  toeldjer  am  23.  Sfaguft  in  ber  Äammer  e£  auSfprad),  „bajj 
bie  Ratification  beS  ^riebenä  ber  lefcte  politifd)e  3(ct  bc3  3Rinifterium$ 
oon  ber  Pforbten  fein  muffe  unb  nur  bei  fofortigem  SiüdHritt  biefeä 
3JJintfterium§  baS  Sanb  oon  feiner  ferneren  Prüfung  ftd)  erfjolen  fönne". 

allgemein  mürbe  nunmehr  erfannt,  bajj  gürft  $of)enlo§e  ber 
Wann  ber  3uhmft  für  33anern  fei.  S)cr  jugenblid)e  Äönig  Subtoig  II. 
forberte  ifm  auf,  iljm  ein  Programm  ber  ©runbfäfce  einäureid)en,  roie  er 
fie  als  Seiter  beS  banerifd)en  ©taatSioefenS  für  bie  geänberten  33erf)ältniffe 
für  geeignet  fjotte.  GrjCobtotg  folgte  biefem  33cfel)l,  unb  ber  1.  Januar 
1867  brachte  feine  SBeftauung  als  pforbten«  S»ad)folger:  als  SHinifter 
beS  fömglid)en  £aufeS  unb  beS  SluStoärtigen.  Seinem  Programm  gemäß, 
roeld)eS  offenen  unb  ef>rlid)en  9tnfd)luf?  an  Sßreufjen  unb  Stellung  ber  füb= 
beutfd)en  ßonttngents  unter  preujnfdje  güijrung  im  ßrnftfaHe  »erlangte, 
fjanbelte  ber  neue  ÜDtmifter  unb  fdjlof?  fofort  ein  Scfmfc5  unb  S'ru^bünbnife 
mit  Preufjen  ab.  Samit  mar  ber  2Benbepunft  in  ber  bat)erifd)en  Politif 
eingetreten  unb  eine  neue  fegenSretd)e  2lera  begonnen. 

2>ret  ootte  $al)re  b>t  gürft  £ot)entofje  feinem  &eimat(anbe  bie  er» 
fpriefelid)ften  ©ienfte  als  Seiter  beS  Auswärtigen  geletftet.  ©iner  ber 
wefentlidjften  mar  es,  bafe  er  bie  3"tteinigung  ber  fübbeutfdjen  Staaten 
mit  preufjen  burd)fefcte,  obwofjl  bie  bat»erifd)en  ßlerifalen  unb  bie  fpeci* 
ftfdjen  fogenannten  Patrioten  ifnn  hierbei  ben  häftigften  SBiberftanb  leifteten. 
Selbft  jum  3tbgeorbneten  beS  30U*Par(amentS  w  bem  Greife  $ord)l)etm  ge= 
gewählt,  ging  gürft  &of)enlol)e  nadj  Berlin  unb  mar  3  Sefftonen  b^in= 
burd)  ber  erfte  SSices^räfibent  biefeS  Parlaments,  —  ber  erften  beutfdjen 
gefefcmäjngen  Bereinigung,  beS  Vorgängers  beS  beutfd)en  3ietd)StagS. 

ßrreid)te  ber  Iprft  hierbei  feinen  3roc^/  f°  mx  btä  in  feinem  2tuf= 
treten  unb  35orget)en  gegen  bie  ultramontanen  ^arteten  in  Saoern  unb 
befonberS  bie  ^efuiten  nid)t  ber  gall.  Qbnt  lag  fefjt  ber  Berfud)  am 
.'öerjen,  5nnäd)ft  bie  fatl)olifd)en  Staaten  ®eutfd)lanbs,  fobann  aber  aud) 
alle  fatbotifd)en  9Jfäd)te  (SuropaS  ju  einer  gemeinfamen  Slbroel^r  be>3  oon 
bem  33atifanifd)en  ßoncilium  brofienben  9lngrip  ju  gewinnen.  3H  biefem 
3roerfe  erliefe  er  unter  bem  9.  9lpril  1869  eine  6ircular=$>epefd)e,  roeldjc 
bem  burd)  bie  Unfef)lbarfeit  brofienben  Scfiiema  ber  fatljolifdjen  Gfiriften* 


38 


  (Sebtjarb  gerntn  in  Darmftabt.   


fyeit  »orjubeugen  fucljtc,  nadjbent  ^apft  ^Jiu$  IX.  für  ben  ©ecember  1869 
ein  allgemeines  (Soncilium  in  SRom  auSgefdjrieben  f)atte.  <&<fyon  »or  bem 
3ufammentritt  biefe«  (Sonette  fanben  in  Sianern  9feui»ahten  jur  Äatnmer 
ftatt,  unb  als  btefetben  im  Uiooember  1869  eine  SDlajorität  bcr  Uttra= 
montanen  ergeben  tjatten,  gab  ba«  aJHnifterium  be£  gürften  £obenlo§e 
feine  (Sntlaffung.  giirft  ^otienlobe  unb  ber  ÄriegSminifter  »on^ßranefrj 
ließen  ftcfj  jroar  »om  Äönig  Subroig  II.  beftimmen,  ihr  ©efudf)  surücf= 
junelimen;  allein  baä  teibenfdhaftltdfje  entgegentreten  ber  Äammer  mußte 
©rfteren  »eranlaffcn,  am  15.  gebruar  nochmals  feine  ©nttaffung  ju  erbitten, 
worauf  berfelbe  am  7.  9Mrj,  mit  ben  l)ödfjften  Drben  feine«  IMonarchen 
gefchmücft,  feinen  SÜicftritt  ausführte,  ©r  ging,  weil  fein  bleiben,  roie  er 
toohl  einfaf),  ber  nationalen  ©ache  nichts  mebr  nüfeen  fonnte;  er  mar 
roieber  ^rioatmann  geroorben  unb  sog  fidj  in  bie  befannte  ©rille  von 
©chloß  ©dhiOutgSfürft  juriier. 

3Ket)rere  SWonate  »ergingen:  fie  bilbeten  bie  unheimliche  9im)e  »or 
bem  ©turnt,  welchen  gürft  Hohenlohes  93orauSficht  in  bem  beutfdj- 
franjofifchen  Äriege  längft  tjatte  fommen  fe|en.  3n  ben  ^ulitagen  beS 
entfeheibenbeu  QaljreS  1870  trieb  es  ©b^lobroig  roieber  nadh  SRündhen. 
Gr  roottte,  roemt  nötljig,  auch  feinen  einfluß  baju  »erroenben,  baß  Sapern 
in  bem  ju  erroartenben  SBeltfampfe  fidb,  fofort  auf  bie  ©eite  beS  &aupt* 
ftreiters  fteUcn  möchte,  ©ein  2Bunf<f)  ging  in  Erfüllung,  unb  mit  be= 
rechtigtem  Stolje  fah  er  bie  SBapern  an  ben  9tbein  unb  über  tt)n  hinaus 
eilen,  um  unter  ber  ritterlichen  Oberleitung  beS  preußifdf>en  ßömgSfoljneS 
für  £)eutfdh(anbs  Unabhängigfeit  ju  fechten.  $ie  erften  ©d)läge  »on 
Sßeißenburg  unb  333örtt»  brachten  bie  Feuertaufe,  unb  baS  gemeinfam 
»ergoffene  33lut  bilbete  ben  Ättt  ber  ftolsen  unb  frönen  Bereinigung 
ber  beutfegen  ©tämmc,  meiere  am  18.  Januar  1871  in  bem  alten  fran= 
jöfifcfien  siöTtigäfcf»loffe  »on  23erfaiHeS  bie  SBiebererrichtung  beS  SReidfjeS 
befiegette.  gürft  Hohenlohe,  ber  fchon  am  30.  ©ecember  1870  für 
ben  Eintritt  SBatjernS  in  baS  ©eutfdge  Stfeicf)  geftimmt  hatte,  füllte  fidb,  fwdh 
erhoben  »on  ber  erfüttung  feiner  langgehegten  SBünfche  unb  fal)  eine  reiche 
3ufunft  feinem  engeren  unb  weiteren  itoterlanbe  erroaebfen,  in  ber  auch 
ihm,  roaS  er  bamats  in  feiner  ©elbftlofigfeit  nicht  im  entfernteren  ahnte, 
eine  einflußreiche  unb  »ielfeitige  SBirffamfeit  befchieben  fein  follte. 

9Jadhbem  Stönig  2Bilb>tm  alz  erfter  SDeutfcfier  ftaifer  beS  neu  errief 
teten  9teicf)S  in  bie  £eimat  jurüefgefehrt  roar,  trat  ber  ®eutfdje  Steicfjstag 
in  Berlin  jufammen.  gürft  Hohenlohe  roar  als  3lbgeorbneter  feine« 
Greife«  Dorchheim  beffen  SWitglieb  unb  fcfjloß  fich  ber  liberalen  SWeichSpartct 
an.  $)as  allgemeine  Vertrauen  berief  ihn  fchon  am  23.  SWärj  1871  als 
erften  SSice^räfibenten  in  bie  Seitung,  roetche  ©tellung  er  auch  roährenb 
ber  Segi«latur--1ßeriobe  »on  1874 — 1877  befleibete.  ©eine  politifche 
5Cl)ätigfeit  fah  er  nunmehr  mit  bcn  größten  (Srfolgen  gefrönt;  jefet  follte  ihm 
auch  befchieben  fein,  auf  bem  ©ebietc  ber  Diplomatie  bem  neugeeinten 


  ^firfl  £l(lobnng  »on  tjotfenlotie-rd;  iüingsf ncfi.    39 

Steide  SMenfte  }u  Cciftcn,  beten  Sebeutfamfeit  fid^  in  ftets  fteigernbem  ©rabe 
5u  äufiern  Ijatte. 

@S  war  im  3)?ai  beS  3af)reS  1874,  als  gürft  £ob>nlof)e  jur  33c= 
fefcung  beS  Xeutfcfien  SBotfdiafterpoftenS  in  5ßariS,  reeller  burä)  bie  31b' 
Berufung  beS  ©rafen  uon  3lrnim  frei  geroorben  toar,  auSerfefien  rourbe. 
Um  feine  SßillcnSmeinung  befragt,  jögerte  ber  gürft  feinen  Slugenblicf  mit 
ber  Slnnafyme  ber  ebenfo  »erantroorrungSretcfien  wie  efirenuotlen  ©teile. 
2Me  11  Satire  —  »om  3M  1874  bis  sunt  3uli  1885  —  ift  $ürft 
Gfjlobroig  als  beutfäjer  33otfdjafter  in  ^ßariS  trjätig  geroefen  unb  l»at 
roäfirenb  biefer  langen  burdj  fein  ccE»t  patriotifcfies  unb  entfdf)loffeneS, 
wie  taftuolles  unb  umfidjtigeS  Stuftreten  feinem  roofilerroorbenen  Stufe  im 
3n*  unb  2luStanbe  Grjre  gemadjt.  Unter  ben  »erfcfiiebenften  SRegierungS» 
leitern  granfreid)3  unb  bei  beffen  fo  oft  roecrjfelnben  3Winifterien  b>t  es  ber 
gürft  ftets  »erftanben,  fein  fcf»öneS  grofjeS  SSaterianb  roürbig  in  $aris  ju 
uertreten,  mannen  roä^renb  biefer  3«t  eingetretenen  Sterftimmungen  jebe 
©djärfe  ju  nehmen  unb  feine  2mgelegenf»eiten  fo  ju  führen,  bafe  er  bie 
allgemeinfte  §od)ad>tung  genofi  unb  faft  überall  3lnerfennung  fanb. 

SBir  bürfen  liier  einige  beroorragenbe  ©elegenb^eiten  anführen,  bei  benen 
fidj  ber  gürft  uornelimlidj  als  Sefierrfdier  beS  SlugenbticfS  beroäfjrte.  Sei 
bem  ^Berliner  ©ongrefj  beS  QatireS  1878  roirfte  er  als  smeiter  33euoU= 
mäditigter  beS  ®eutfdf)en  9iet<f)S  neben  ^ürft  SiSmarcf  unb  ©taatSminifter 
»on  23ütoro*);  feine  SBirffamfeit  foQ  befonberS  „hinter  ben  Gouliffen"  eine 
ebenfo  bebeutfame  wie  uielfeitige  geroefen  fein.  @S  roar  bicS  baSfelbc  3al)r, 
in  bem  ber  gürft  eine  beutfd^e  HunftauSftellung  in  ^ßariS  eröffnet  blatte, 
burd»  roeldie  ben  granjofen  eine  Ijerrjorragenbe  3al)l  »on  ©emälben  unb 
S3ilb|auenoerfen  uorgefütjrt  roorben  mar.  (6ine  Setljeiligung  an  ber  2Bett= 
auSfteHung  »on  1878  war  »on  ber  SieidjSregierung  aus  inbuftriellen  unb 
polittidfjen  ©rünben  abgelehnt  roorben.)  3m  3Wärj  beS  ftafires  1880  über* 
naljm  ber  gürft  prooifortfdj  bie  Seitung  ber  ©efcfjäfte  eines  ©taatSfecretärS 
ber  auswärtigen  Slngelegenlietten  unb  trat  junädbjt  mannhaft  für  Slnnafime 
ber  ©amoa=Sßorlage  ber  SRegierung  ein  (im  Slpril),  bann  präfibtrte  er  ber 
berliner  Gonferens  jur  ©cfjtiefung  ber  ©renjftreitigfeiten  sroifdien  ber 
SEürfei  unb  ©riedgenlanb  (16.  Quni  bis  1.  ^utt)  unb  fetjrte  im  November 
auf  feinen  23otfcf)after=$often  itad)  $ßaris  jurücf,  auf  meinem  er  bann  nodj 
ein  Suftrum  l»inburclj  feine  erfprtefjlidie  £f)ätigfeit  fortfefcen  foDte. 

2tm  17.  3uni  1885  ftarb  unerroartet  ber  ©tattb>lter  uon  @tfaf> 
Sotb^ringen,  ©eneral'jyelbmarfcfiall  greifjerr  »on  SDtanteuffel,  an  Sungen* 
entjünbung.  ©iefe  mistige  ©teile  erforberte  eine  balbige  3ßeubefefeung, 
bocf)  madjte  eine  foldb>  im  ^inblicf  auf  bie  beroäb^rten  ©igenfc^aften  bes 
^ürpen  &of)enlot)e  als  ©taatsmamt  unb  aSerroaltungSbeamter  Jeine 

*)  Da8  btlannte  S3itb  oder  SBcDoflmäc&tiflten  bc8  $roftffor8  Slnton  bon  SBerner 
3<iflt  ben  Surften  §of)entoI)e  in  einer  befonber»  fleluugenen  Sluffüffung  fetner  äußeren 
©rf  Meinung. 


  (Sebtjarb  gernin  in  Da r m ftab t.  — — 


©dmncrigJeit.  Stuf  ben  Antrag  be«  güriten  33i«mar<f,  roeldjer  am  beften 
in  ber  Sage  geroefen  mar,  bie  gäljigfeiten  unb  Seiftungen  be«  bisherigen 
39otfd)after«  in  ^5ari«  ju  roürbigen,  rourbe  bie  freigeroorbere  ©teile  eine« 
Statthalter«  ber  9teidj«tanbe  mit  au«gebehnten  lanbe«herrlid)en  23efugmjfen 
unter  bem  28.  September  1885  bem  dürften  Hohenlohe  übertragen,  Sdjon 
am  8.  Dctober  überreizte  ber  gürft  bem  ^räfibenten  ber  franjöfifdjen 
9tepublif,  $errn  ©reoo,  fein  AbberufungSfchreiben,  reelles  mit  bem  Aus* 
brucf  höchsten  33ebauems  entgegengenommen  rourbe,  unb  traf  am  5. 9looember 
jur  Uebernafime  feiner  neuen  Stürbe  in  Strafiburg  ein. 

Ueberau«  Ijerjlicf)  roar  ber  ©mpfang,  ber  bort  bem  neuernannten  Statt' 
kalter  bereitet  rourbe.  Sdjon  bei  feinem  erfien  Austritt  au«  bem  33afmhofe 
rourbe  Jürft  Hohenlohe  mit  bomtemben  itd»  oft  emeuernben  Hochrufen  miß« 
fommen  geheißen,  bie  S*rieger=,  Sd>üfcen=,  Turner»  unb  ©efangoereine  oeran= 
ftalteten  ilmt  ju  ©hten  am  erften  Abenb  einen  gacfetsug,  brauten  ihm  ein 
Stänbdjen,  unb  am  folgenben  £age  fdjlofj  fiä)  eine  glanjenbe  Auffahrt  ber 
Stubentenfdjaft  mit  Gommer«  an.  Sei  biefer  ©elegenhett  b^ielt  ber  neue 
Statthalter  eine  Anfpradje  an  bie  afabemifd)e  Sugenb,  roeld»e  oon  jünbenber 
SSirfung  roar.  Selbft  in  SRefc,  roofjin  ber  gürft  ftd£)  am  16.  Stooember  be* 
gab,  rourbe  berfetbe  in  überrafdjenb  feftlidjer  unb  überaus  herjlicher  SBeife  bc- 
roülfommt;'  33eflaggung  ber  Käufer  unb  Jyade^ug  bilbeten  bie  äußeren  Äemt= 
jetcfien.  Sehr  bemertt  rourbe  bie  bei  bem  ©alabiner  am  17.  9tooember  oon 
bem  Statthalter  gehaltene  Siebe.  @r  tnüpfte  an  eine  Aeufjerung  feine«  SSor» 
ganger«  an,  roeldjer  gefagt  blatte,  baß  er  rooht  begreife,  roie  man  in  ©Ifafc 
Sothrmgen  nod)  nid)t  bie  3ufammenget)örigfeit  mit  granfreid)  Dcrgejfen  ^abe, 
unb  fuhr  bann  fort  roie  folgt:  „$d)  gehe  aber  roeiter  unb  fage:  id)  begreife, 
bafj  bie  SJerooljner  be«  Sanbe«,  als  fie  oor  2  ^aljrbunberten  oon  2)eutfd>= 
lanb  getrennt,  mit  Jyranfreid)  oereinigt  rourben,  bie  Aenberung  nidjt  5u  fetir 
empfanben.  2)eutfd)lanb  roar  bamal«  ein  serriffene«  Sanb,  ba«  roebcr  feine 
Angehörigen  fdjüfeen,  nod)  ihre  3Bo^tfal»rt  förbern  fonnte,  roährenb  Jrcmfc 
reid)  naf)eju  auf  ber  $öf)e  feiner  geiftigen  unb  matericlleu  ©ntrotcfelung 
ftanb.  $>a  fonntc  bie  Trennung  oon  $)eutfd)lanb  leidjt  oerfthmerjt  roerben. 
SBenn  id)  aber  fo  einer  hiftorifdjen  Itfyat  geredjt  roerbe,  barf  id)  nun  aud) 
auf  bie  ©egenroart  oerroeifen.  Au«  einem  madjtlofen  jerriffenen  ®eutfdj* 
lanb  ift  ein  mächtiges  Stetd)  geroorben.  2Bie  bie  Einigung  5ur  SBieber« 
geroimtung  oerloreuer  Sanbe«tb,eite  geführt,  fo  b^at  fie  un«  aud)  bie  9Ra<ht 
gegeben,  ba«  SBiebergeroonnene  feftsuhalten,  bie  Angehörigen  ju  fdjüfcen  unb 
ifjnen  bie  33ebingungen  bc«  geiftigen  unb  materiellen  ©ebeifjen«  ju  bieten, 
©amit  fdjroinbet  ba«  9Jiotio,  ba«  bie  33eroohner  bc«  Sanbe«  auf  granfretd) 
blicfen  läßt.  So  gebe  tdj  mid)  ber  Grroartung  Irin,  Glfafj-Sothringen  roerbe 
meht  unb  mehr  erfennen,  bie  Trennung  oon  granfreid)  fei  fein  Unglücf,  bie 
SSieberocreinigung  mit  $>eutfd)lanb  fei  eine  ©eroähr  einer  glücflidjen  3ufunft." 

©djon  bei  ben  am  12.  $uli  1886  erfolgten  ©cmeinberath«roah(en  in 
ben  3ieich«lanben  jeigte  fid)  ein  ^ortfchreiten  be«  Teutfdjthum«.  £er 


  iffirji  tljlobmig  von  t^oljenlotie'SditUingsf  njft.    <^ 

gürfti <StattI»a ttcr,  weld)er  als  aufjerorbentlidjer  SBe»olImäd)tigter  beS  SiaiferS 
3Stlf>elm  I.  ttod^  im  Secember  1885  nad)  SRabrib  geeilt  mar,  um  an  ber 
8eid)enfeter  beS  ftönigS  2ttfonö  XII.  tfieitjuneljmen,  hatte  ein  fold)eS  nad) 
beften  Gräften  ansubatynen  gefugt.  Sei  ber  ©röffnung  beS  SanbeSauSfdjuffeS 
im  3<"tuar  1886  bjelt  er  mieber  eine  bemerfenSwertlje  Siebe  unb  fagte 
barin,  bajj  er  fein  polittfdjeS  Programm  »ortragen  wolle.  Sann  futjr  er 
fort:  „<Selbft  ber  Staatsmann,  weldjer  bie  9Jtad)t  {>at,  feine  33erfpredmngen 
311  erfüllen,  wirb  wol)l  baran  ttiun,  bamit  fparfam  ju  fein,  ba  er  md)t 
weife,  ob  bie  33erf)ältniffe  ifun  erlauben  werben,  fein  Programm  burd)ju= 
führen.  SBer  aber  wie  id)  mit  gactoren  ju  redjnen  l)at,  bie  über  unb 
außerhalb  ber  (Sphäre  feiner  ©inwirfung  ftefjen,  ber  mu&  boppett  oorfidjtig 
fein.  ®a3  beftc  Programm  ift  eine  gute  SBerroaltuug.  Sarin  erblidfe  id) 
3unäd)ft  meine  2lufgabe.  Qd)  werbe  fie  ju  erfüllen  fud)en  mit  ©ewiffen* 
fiaftigfeit  unb  pflichttreue  unb  in  bcm  ©efübt  aufrichtigen  ®anfe3  für  ba§ 
Vertrauen,  mit  bem  man  mir  in  biefem  Sanbe  entgegengefommen  ift." 

Sie  liier  betonte  „©ewiffenhaftigfeit  unb  pflichttreue"  war  es  benn 
aud),  welche  ber  gürft  in  bem  SReidbSlanbe  ebenfo  jur  2tnwenbung  brad)te, 
wie  bie«  feinerjeit  auf  bem  93otfd»afterpoften  in  Paris  gefd)el)en  war,  unb 
bic  aud)  im  Sanbe  felbft  wadjfenbe  2lnerfennung  fanb.  ©S  mufjte  baber 
Ueberrafd)ung  erregen,  als  bei  ben  9teid)StagSroaf)(en  am  21.  gebruar  1887 
in  fämmtttd)en  15  SBablbejirfen  r>on  ©IfafrSotfiringen  SßrotcftCer  burd>gebrad)t 
würben,  bod)  tieft  fid)  bie  Stf)atfad)e  wol)[  baburd)  erflären,  bajs  weit 
weniger  eine  2lenberung  ber  ©efinmmg,  als  bie  SBefürcbtung  einer  Staate 
granfretdjs  bei  einem  bod)  immer  möglichen  9Jeoand)efriege  ju  ©runbe  lag. 
gürft  Hohenlohe  äögerte  aber  nid)t,  ftrengere  ÜDlaferegeln  ju  ergreifen;  fo 
beantwortete  er  bereits  am  22.  gebruar  baS  SBalilergebntf?  mit  einem 
3tunbfd)reiben  an  bie  SBejirtS^räfibenten,  worin  er  eine  ftrengere  S8eauf= 
fid)tigung  beS  gefammten  33eretnSlebenS  anorbnete  unb  bie  beiben  GentraU 
»erbänbe  ber  ©lfäjftfd)en  ©efangs  unb  £urnoereine  auflöfte.  %m  3fiär5 
beSfelben  $afireS  begab  fid)  ber  $ürft  nad>  SBertin,  um  SBeridjt  über  ben 
Stanb  ber  Singe  ju  erftatten  unb  an  ben  Sßer^anbtungen  über  bie  9ieu* 
geftaltung  ber  ftaatlid)en  23erf)ä[tmffe  ber  9teid)Slanbe  tljeilsunebmen.  ©r 
oertrat  bie  3lnfid)t,  baf5  ©IfafcSotbringen  in  ftaatSred)tlid)er  33esief)ung  ben 
übrigen  beutfeben  Staaten  bann  gleicbgeftellt  werben  fotlte,  wenn  es  ben 
beftelienben  9iecbtSäuftanb  rücfrjattloS  anerfennen  unb  baS  Proteftiren  ent= 
trieben  aufgeben  würbe.  ©S  beftanben  bamals  polirifdje  3KeinungSs 
uerfcr)iebenc)eitcn  einflußreicher  ^Serfotien  in  Berlin  über  bie  ©eftaltung  ber 
ftaatSredbtlidjen  33ert)ältniffe  ber  9?eid)Slanbe,  oon  benen  ©injelne  bie  Stuf* 
Hebung  beS  «StatthatterpoftenS  wünfd)ten,  bod)  weber  gürft  Cismar  et,  nod) 
Staifer  SBtlhetm  I.  trat  fold)em  Verlangen  bei.  SBoljl  würben  einige  seit 
gemäfse  2Robificationen  in  ben  inneren  ©inricfjtungen  beS  SBerwaltungS* 
SJiechamSmuS  oorgenommen,  bod;  blieb  ber  ©tattfjalterpoften  befielen,  unb 
gürft  §of)enlof)e  fefirte  mit  ben  33eweifen  »ollftänbigen  Vertrauens  auf 


\2    (Sebtjajb  §etnin  in  Datmfiabt.   

benfelben  äurücf.  $)ie  neue  ©eftaltung  ber  2)inge  fieberte  ihm  ein  ftroffercS 
Auftreten,  et  liefe  fiä)  burdj  ©inreben  oon  beutfd^freunbltdjen  Stimmen  ntd^t 
beirren  unb  erreidjte  fc^r  balb,  baß  bie  2W)tung  »or  bem  neuen  ^egimente 
ftieg.  2lud)  baS  ©rgebniß  ber  SBejirfSwahten  beS  Jahres  1888  war  ein 
erfreuliches. 

iftadj  bem  £obe  beS  b^oeb!  fetigen  ÄaifcrS  SBittjetm  1.  wanbte  audtj  beffen 
j  weiter  jugenblidjer  SRadjf olger  Sßithetm  II.  bem  dürften  Hohenlohe 
große  &ulb  unb  oöttigeS  Vertrauen  }U.  ©te  ©inge  gingen  in  ben  SRetd)^ 
lanben  ü)ren  ungeftörten  ©ang,  fo  baß  ber  Statthafter  bei  feiner  ©röffnungS* 
rebe  ber  17.  Tagung  beS  SanbeSauSfdmffeS  am  29.  Januar  1889  redit 
befriebigt  ftd)  auSfpred)en  fonnte.  3m  $riU)(ing  beS  folgenben  Sab^eS  er- 
öffnete er  bie  2tuSftcffung  ber  beutfdjen  StonbwirthfdjaftSgefettfdiaft  in  Straß= 
bürg,  welche  großes  Qntereffe  erregte,  unb  brachte  ber  gleich  barauf  er« 
folgten  ©rünbung  eines  elfaß=tothringifchen  SängerbunbeS  wahre  unb  warme 
Snmpatrjie  entgegen.  3ft  bex  golgejett  gelang  es  bem  dürften  £ohen» 
lohe,  ben  einige  Safere  twrber  eingeführten  Sßaßjwang  für  SReifenbe  tbetls 
weife  auf jubeben  (er  nmrbe  nur  nod)  für  auSlänbtfdie  9Jctlttärperfonen  unb 
für  SluSgewanberte  unter  45  fahren  beibehalten)  unb  baburdj  im  Sanbe 
große  greube  p  oerbreiten.  2tlS  er  am  10.  Dcto&er  beS  genannten  Saferes 
oon  einem  Sommerurlaube  nad»  Strasburg  jurüeffeferte,  würbe  er  am 
Sahnhofe  oon  einer  großen  Serfammtung  hcrjlia)  begrüßt  unb  bureb  eine 
2lnfprache  als  „ebelmütfeiger  greunb  ber  93eoölferung,  »erfiänbnißooller  unb 
roohlmeinenber  görberer  aller  Qntereffen  ber  9teidjslanbe"  gefeiert,  worauf 
ber  Statthalter  ber  aBabrfeeit  gemäß  erwibern  tonnte,  baß  ©laßsSotbringen 
feinen  aufrichtigeren  unb  treueren  greunb  habe  als  ihn.  2>aS  allgemeine 
Vertrauen,  welches  ihm  febon  längere  3ett  fnnbureb  vs>n  ben  33ewobnern 
ber  fcfeönen  Stetdjslanbe  entgegengebracht  worben  mar,  ^atte  feierburd)  eine 
wefentlidje  Stärfimg  erfahren  unb  follte  niemals  mehr  getrübt  werben. 

Scbon  bei  ben  SHeidjStagSwafelen  am  20.  gebruar  1890  hatte  ftd» 
feerauSgeftellt,  baß  bie  3«hl  ber  Stimmen  ber  Sßrotcfttcr  »on  247000  auf 
100000  jurücf gegangen  mar,  fo  baß  oier  beutfdjfreunblidbe  SBertreter  nadj 
SBertin  entfanbt  werben  tonnten,  welche  3ahl  °rei  3ftfete  fpäter  noch  um 
eine  oermehrt  würbe,  inbem  ber  eigene  Sohn  beS  dürften,  ^ßrinj  ülleranber 
»on  Hohenlohe,  am  15.  3uni  1893  als  gewähltes  SfteicbStagSmttglieb 
feinjutrat.  @ine  noch  gefteigerte  günftige  Stimmung  ber  Stabt*  unb  £anb= 
bemobner  follte  jum  3luSbrud  gelangen,  als  SJatfer  SSitbelm  II.  im  Sommer 
biefeS  Jahres  persönlich  bie  SietcbSlanbe  burch  einen  33efuch  auSjetchnete. 

3lm  3.  September  1883  war  es,  genau  65  Safere  nach  bem  ©injuge 
beS  ÄöntgS  Äarl  X.  oon  granfreidj,  als  unter  bem  ©eläute  aller  ©locfen 
Äaifer  Sßilfeelm  IL  feinen  feierlichen  ©injug  in  bie  &auptftabt  SothringenS, 
baS  alt*ehrwürbige  2Wefe,  hielt.  9todj  an  bemfelben  SWittage  begab  er  fich 
in  ^Begleitung  beS  Statthalters  nach  fturjel  unb  »on  bort  su  SBagen  nach 
feinem  neu  erworbenen  Sdjloffe  UroiHe,  511m  erften  Scale  als  lothringifdjer 


  iJütfi  <£l(lobn>ig  »Ott  Ejotienlofje'SdfUlingsfürjt.    ^3 

©utsbefi|er.    Sei  ber  ^arabetafel,  welche  am  folgenben  Sage  in  9Kefc 

ftattfanb,  mar  es  eine  ijofie  Sefriebigung,  wetdje  bcn  Kaifer  bie  frönen 

SBorte  fprecben  tiefe:  „3$  fct>c,  .  .  .  bafe  SotlnHngen  fidb  wof)l  im  9?eidje 

fübjt  .  .  .  -Kit  ©enugtf)uung  fefye  id),  bafe  Sotliringen  baS  SBerftänbnife  für 

beS  JieidjeS  ©röfee  unb  für  feine  «Stellung  im  9teidfje  gewonnen  I»at." 

Unb  baS  SBerbienft,  ftfersu  ein  wefentltcbeS  ©tüdf  beigetragen,  mit  aßen 

Kräften  babet  mügewirft  ju  haben,  mufete  bem  ©tattljalter  dürften  ©bjobroig 

»on  &of)enlof)e  äugefdjjrieben  werben,  welker  t)ieran  beinahe  ein  »oHeS 

3af)rjel)nt  bie  Slrbeit  feiner  reifften  ÜDianneSjobre  gefegt  hatte. 

©S  erregte  baljer  allgemeines  33ebauern,  als  im  $erbft  1894,  nadjjbem 

ber  ©enerat  »on  ßap  rioi  als  S'ieichSfansfer  äurücfgetreten  mar,  gürft 

Hohenlohe  aus  ben  9feid)Slanben  abberufen  mürbe.  9Rit  ber  Sßürbe  beS 

einflußreichen  ©tattljatteramts  befleibet,  mag  es  bem  dürften  wohl  nicht 

leidet  geworben  fein,  fleh  jur  Sfonahme  ber  neuen  Söürbe  ju  entfdfjliefeen, 

allein  fein  nationales  Pflichtgefühl  liefe  ihm  feine  anbere  SBabl:  er  folgte 

entfdbtoffen  bem  3?ufe  feines  faiferlidjen  ßerrn.    Seit  bem  26.  Dctober 

1894  fteljt  gürft  ©rjlobroig  an  ber  ©pifce  ber  Seitung  beS  beutfdben 

©taatSfdfjiffeS,  unb  ba  ber  feitbem  oerftoffene  furje  3cifraum  su  einer  Döllen 

SBürbigung  feiner  SBirffamfeit  noch  nicht  ausreichen  bürfte,  fo  fdjtiefeen  mir 

hier  feine  eigentliche  SebenSffisse. 

*  * 
* 

GS  bürfte  wohl  angezeigt  fein,  nad&bem  tyex  »erfucht  worben,  ein 
furjeS  Sebents  unb  Gfyarafterbilb  beS  dürften  ßbjobwig  »on  £of»en- 
tofie  ju  entwerfen,  nunmehr  aud)  eine  ©df»ilberung  beS  ©tnbruefs  ju 
unternehmen,  welchen  bie  ^erfönlicbfeit  beS  bebeutenben  -KanncS  macht,  unb 
lefetere  überhaupt  ju  frieren.  SBir  wollen  ber  Söfung  biefer  2lufgabe  unS 
nidbt  entjieben. 

35er  Stetdjefanäler  gürft  Sofienlohe  hat  im  9J?ärs  1895  baS  76. SebenS* 
jaf)r  »oflenbet,  liebst  aber  jünger  aus.  6r  benfet  eine  »otjüglidic  ©efunbheit 
unb  l)at  »on  Qugcnb  auf  bem  ©eifte  bie  äufere  &ütle  bienftbar  gemalt, 
fo  bafe  er  audfj  gegenwärtig,  nadbbem  bie  erfte  Hälfte  beS  8.  ^ahrsebuts  über« 
fd»ritten  worben,  fcineSwegS  etwas  ©retfert^aftcS  an  fiel)  trägt,  ©eine 
fünf  ©inne  finb  gut  entwicfelt  unb  felbft  theilweifc  noch  gefdjärft  worben; 
nur  ben|t  feine  ©timme,  ähnlich  wie  bieS  bei  feinem  grofecn  2lmtS»orgänger, 
bem  dürften  SBiSmarcf,  auch  ber  $all  ift,  einen  etwas  fcfjwadjen  Klang,  bodb 
pflegt  fie  audf)  niemals  überangeftrengt  ju  werben. 

9JJan  begegnet  im  Seben  öfters  männlichen  ^piiufiognomien,  aus  welchen 
fid)  fefyr  febwer  ober  überhaupt  faum  mit  einiger  Sicherheit  ©cblüffe  auf 
bcn  Gbarafter  ableiten  laffen.  @tn  berartigeS  ©efiebt  jeigt  gürft  6t)lobwig 
nidit.  ©aS  feinige  madbt  »ielmeb.r  ben  offenften  ©inbruef  unb  giebt  mit 
grofeer  Ätarljeit  unb  5Ereue  wieber,  was  biefer  ÜRann  ift  unb  nidjt  ift. 
3lber  etwas  ungewöhnlich  erfdbeint  es  boeb:  bie  gönn  feines  £aupteS,  wof)l= 


44    (Sobljotb  §frn<«  «"  Darmftabt.   

gebilbet  unb  regelmäßig,  bie  Sittien  beS  Profils  unb  baS  fräfttg  entmicfelte 
Äinn  taffen  erlernten,  baß  man  biet  einen  feinen  Äopf  oor  fid)  t)at.  ®aS 
Stuge  brücft  jugleid)  Klugheit  unb  &erjenSgüte  auS;  es  pflegt  in  rubiger 
Prüfung  unb  mit  natürlichem  Sßoblrootlen  jeben  if>m  jutn  erften  3Jlal  $e= 
gegnenben  ju  meffen;  es  jeigt  eine  Uebertegenb>it  an  ©eift  unb  $erj,  von 
ber  man  fofort  überjeugt  ift,  baß  fie  nur  bem  ©ienfte  bet  guten  ©ad)e 
fid)  wibmen  werbe,  ©ine  »ornebme  9tub,e  unb  Sßfirbe  ift  über  ber  ganjen 
Sßerfönlid)feU  auSgegoffen,  bie  allerbingS  nid)t  erfennen  läßt,  baß  biefer 
beroorragenbe  ÜDJann  nod)  |eute  in  bemfelben  Qugenbfeuer  erglühen  fann, 
weldjeS  einft  ben  bagerifdjen  9Jeid)StagSrebner  befonberS  fennjeidmete.  Samt 
erfd)eint  baS  bunfle  Stuge,  welches  fonft  in  ftiller  2Bad)famfeit  um  fid)  ju 
blicfen  pflegt,  in  leud)tenbem  ©lanje,  es  »ergtößert  fid)  unb  äußert  eine 
burd)bringenbe,  felbft  burd)bobjenbe  Kraft.  3JJan  fülilt  es  atsbaim  ganj 
beutlid):  biefer  2Rann  ift  jum  33efef)len  geboren,  er  weiß,  was  er  will, 
unb  min  ftets  nur,  was  er  fott  unb  muß.   ^eber  $oll  a"  ^m  ift  beutfd). 

SMe  ©tirnmuSfel  tritt  oberhalb  ber  SlafemnuSfel  etwas  ^eroor,  fie 
fünbet  uns  bie  folgen  ber  ©enfarbeit,  weld)e  fid)  fd)on  mand)eS  ^a^rjetint 
Ijinburdj  in  bem  ©ifee  ber  menfdjltdien  £aupttf)ättgfeit  »olljogen  t>at  Sie 
©tirn  felbft  ift  bod),  aber  nid)t  felir  breit,  über  fie  legt  fid)  baS  in  früheren 
ftatycen  teid)t  gefräufelte  fd)marje  Äopfljaar,  wetd)eS  lieute  ergraut  ift. 
3iud)  ber  ootte  ©d)nurrbart,  wetdjer  bie  feinen  Sippen  bebecft  unb  baS 
b,eimlid)e  unmittfürlidje  ©piel  berfelben  oerbedt,  ofme  es  ju  oerbergen,  Ijat 
bie  garbe  beS  2llterS  angenommen,  ©neu  anberen  Skrt  foH  ber  gürft 
niemals  getragen  f)aben,  fo  bafj  er,  jumal  ba  er  wenig  gealtert  ift,  »on 
33efannten  fofort  roieber  erfannt  worben  ift,  bie  ifm  Qa^rje^nte  lang  nid>t 
gefeben  fiaben.  $>te  gigur  ift  iierlid)  fd)lanf,  nid)t  ju  l)od)  unb  feineSwegS 
unterfe|t,  fie  entfpridjt  ber  rubigen,  »ometiinen  Haltung  eines  SßeltmannS, 
weldjer  r»on  .fUnbfjeit  auf  fid)  unter  ben  ©roßen  biefer  ®rbe  bewegt  Ijat. 

®aß  gürft  §obenlobe  einen  fef)r  einfad)en,  anfprud)Slofen  ßfiarafter 
befitst,  fatm  man  fd)on  an  ber  außerorbentlid)  befd)eibenen  Einrichtung  feines 
2trbeitSsimtnerS  in  bem  ^eidjsfanäter^alais  ju  SBerlin  maljmetimen.  S)ie 
genfter  biefeS  StaumeS  geben  auf  ben  Sßarf  ^inauS,  an  einem  berfelben, 
ber  ©ingangStbür  gcrabc  gegenüber,  ftebt  fein  ©dbreibtifd).  3luf  bem 
lefeteren  erblicfen  wir  eine  ganj  gewö^ntidie  ©d)reib5tlnterlage,  ein  hinten* 
unb  ©anbfafe  au§  weißem  ^Sorjellan,  einen  Söfd)er,  eine  ©d)eere,  alfo  MeS, 
was  auf  einen  ©djreibtifd)  gehört,  unb  »on  berfelben  einfachen  3?efd)affen: 
^cit,  wie  man  fie  in  faft  jebem  öffentlichen  SBureau  finbet.  ®rei  geber= 
balter  —  „©tücf  für  ©tuet  einen  ©ilbergrofd)en"  —  liegen  auf  bem 
SHntenfafe.  S!aS  %>etfd)aft,  ein  großes  SefeglaS,  8eud)ter,  3ön^fl0^ft5ni,cr, 
©garrenfialter  —  alles  biefeS  ift  »on  ber  großen  ©nfad)f)eit,  wie  fie  bem 
dürften  feit  feiner  Sleferenbarjeit  lieb  unb  jur  ©emobnbeit  geworben  ift.  ©in 
^apiermeffer  aus  33ronje  uon  etwa  30  Zentimeter  Sänge,  beffen  fd)ioerer 
©riff  »on  53ronjeftreifcn  fpiratenförmig  umfcblungen  nürb,  bient  bem  SReicbS^ 


  ijürji  <£tjlobn>tg  von  ^o!jenIolie=Sd(iHingsf flrfi.    $5 

fattjler  als  2Baffe  gegen  btdfelltgeS  Äanjleipapier.  SBott  einem  etwa 
%  Sälttex  flogen  DbeliSfen  aus  3Rarmor,  beffen  «Södel  ein  mit  fitberf)eHein 
©lö<fd)en  ausgelüftetes  Ubrroerf  birgt,  lieft  ber  gürft  bie  3^tt  ab,  meiner 
burd)  Säuteroerfe  ben  Liener  herbeirufen  fann,  mä^renb  er  nod)  einen 
Älingeljug  nebft  Duafte  über  feinem  Raupte  pr  SBerfügung  f)at. 

3Sor  bem  <Sd)reibtifd)  fteb,t  ein  leberbejogener  Siofirftuljl;  aufjerbem  bes 
finbet  fid)  »or  bem  ^feilerfpiegel  ein  größerer  «Sorgenfrei  mit  fleinem 
Sefetifd).  hieben  bem  non  «Säulen  umgebenen  grünen  Äamin  aus  SKajotica 
fielen  «Seffel  rings  um  einen  onaten  £ifd),  auf  roeld)en  ein  lebensgroßes 
Delgemälbe  beS  £erjogS  »on  9?attbor  f)erabbli<ft.  9ln  ber  gegenüberliegen' 
ben  SBanb  f)ängt  baS  moblgetr  offene  Delbilb  beS  ÄatferS  SBilljelm  I., 
unter  n>eld)em  fid)  ein  fünf  3M  geseiltes  $üd)er=3tegal  mit  3tcten,  ©d)riften, 
©rucfroerfen  tjinjiebt,  —  jum  Seroeife,  baß  es  bem  9teid)Sfanjler  an 
arbettsröd)em  «Stoff  nid)t  fef)lt.  ©ie  langen  ©efimfe  finb  oon  ^Sbotos 
grapsten  aus  ber  gamilie  beS  dürften  &ol)enlof)e  bebedt,  aud)  reiben  fid) 
b^eran  Qßöbrrop'E»^"/  pumpen,  Äannen,  ©läfer  :c.  SDafe  ber  gürft 
9iaud)er  ift,  erfennt  man  aus  ben  »erfd)iebenen  Utenfilien:  auf  jebem  £tfd) 
fteb,t  geuerjeug  mit  Gtgarrenftänber,  iebod)  aud)  alles  bieS  in  etnfadjfter 
2luSftattung;  ber  9teid)Sfanöler  raud)t  am  liebften  Gtgaretten  unb  jroar  rufti-- 
fd)en  föerfommenS.  Ser  ganje  3Jaum  biefeS  2lrbeitSjtmmerS  b,at  tuet  2tn= 
IjeimelnbeS  unb  baS  ©emütb,  2lnfpred)enbeS. 

SDaS  Temperament  beS  dürften  ift  mafrooH  unb  roitb  burd)  lang* 
jährige  £errfd)aft  beS  ©eiftes  über  ben  Äörper  bebingt,  roaS  bei  ber 
Sebljaftigfeit  beS  $>enfeu3  unb  bem  aufjerorbentltd)  fdmellen  atuffaffungS' 
»ermögen  feines  ©eiftes  genrif,  nid)t  leid)t  $u  erreid)eu  geroefen  ift.  SBeber 
«Sanguimfer,  nod)  Sfiolertfer  ift  gürft  &ot)entof)e,  aber  aud)  fetneSroegS 
ein  ^blegmatifer,  rool)l  aber  f)at  er  fid)  eine  ifmi  fefir  n>ob,l  anftetjenbe  ge« 
nriffe  3urücfljaltung  angeeignet,  bie  ifjn  oft  ruhiger  erfd)cinen  läßt,  als  er 
tt)atfäd)lid)  ift.  %fym  ift  es  gelungen,  baS  511  erreichen,  roaS  SSater  iooraj 
jebem  aRamte  anempfiehlt,  n>emt  er  fein  Aequam  memento  rebus  in 
arduis  servare  mentem  anftimmt. 

|>anpteigenfd)aften  unb  gctfiigfetten  beS  dürften,  bie  er  roäfirenb  feines 
langen  unb  »ielfeittgen  ^Berufslebens  ftets  p  betätigen  gefud)t  Ijat,  finb: 
Ätarfjeit  beS  ©eifteS,  rid)tigeS  ©rfaffen,  ©rfennen  unb  ©urdjbringen  felbft 
üernridelter  35inge,  ©eroanbtbeit  ber  geber  in  fd)rtftlid)em  StuSbrude,  uner^ 
fd)ütterlid)e  9iub,e  unb  8eibenfd)aftSlofigfeit  in  33enrtl)eilung  ber  "XfyaU 
fad)en,  ftrengeS  geftbalten  an  bem  für  9ied)t  Grfannten,  oöllige  Uneigen' 
nüfcigfeit,  treue  Eingabe  an  alles  ©rofee,  «Sd)öne  unb  ^olie,  bann  eine  eble 
SKilbe  beS  ^ergenS  unb  ber  SBißc,  jebem  ■äJtttmenfdjen  gered)t  ju  werben 
unb  lieber  ju  Derföbnen  als  ju  fränfen.  Man  wirb  gefteb,en  muffen,  baft 
biefe  @igenfd)aften  ein  ©anjeS  bilben,  beffen  33efi^  Gebern  ju  n>ünfd)en  ift. 

Unb  baS  ift  ber  aWann,  in  beffen  $änbe  bie  Seitung  beS  ferneren  9lmts 
eines  beutfdjen  9Jeid)Sfan}lerS  gelegt  ift.  9Jlöge  fie  tb,nt  ftets  roo^tgeliu^cn ! 


„Das  geluvte  $vaum$immcv." 

£tn  €ffaf  über  bas  ^rauonftuöium  in  Deutfdjlanb  sut  2?ococo*  unb 

^opf3ctf. 


!cfj  bitte  meine  Sefer  unb  namentlidj  meine  Seierinnen,  in  bem 


gctoätjften  Xitel  feine  irgenbroie  matitiöfe  gärbung  feigen  ju 


SaiLsäsf  wollen.  £er  3lu8brud:  „ba§  gelehrte  grauenjimmer"  ift  ein 
allgemein  üblicher  SluSbrud  ber  3^t,  »on  ber  id)  b>nbeln  null,  unb 
be(t|t  jene  gärbung  burcfjauä  nidjt.  60  nennt  betfpietSroeife  ein  bamoliger 
SSerttieibiger  ber  gelehrten  grauen,  6.  g.  Spouüini,  ein  von  ü)m  »erfafteS 
23udj  „&oa>  unb  2Bob>  gelafjrteä  beutfcfieä  grauen  3imroer";  unb  in 
äf)nliä)en  ©Triften  5.  33.  von  ©ngelcfen,  (Sberti,  ginauer  feljrt  bie  S8e= 
jeidmung  überall  nrieber.  Wltfyx  fönnte  bie  (Srfdieinung  felbft,  über  bie  idj 
f)ier  ©inigeä  beibringen  nriff,  auffallen,  bafj  man  nämlicf)  fd»on  bamals 
überhaupt  »on  einem  grauenftubtum  rebcn  fattn.  9Zatürlidj  nidjt 
»on  einem  organifirten,  obgleicb,  nrie  mir  feiert  werben,  aucf)  baju  ein  9ln= 
lauf  genommen  tourbe:  aber  bodj  von  einer  auffälligen  Neigung  be3 
roeibttdjen  ©efcbledjts  ju  geteerten  Stubien.  £eute,  im  3eitatter  °w 
fdjriftftetlernben  Tanten,  ift  jtoar  bie  allgemeine  Silbung  ber  grauen  un* 
enblicfj  »iel  größer  geworben  als  bamalS.  216er  »on  gelehrten  grauen  fann 
bocfj  nur  in  erljcblicfj  geringerem  Umfange  gefprodien  werben,  unb  eine 
neuere  ©djriftftellerin  Ijat  9Je<f>t,  wenn  fie  meint,  „bajj  e§  wäfjrenb  jener 
^eriobe  wenigftenä  äiwnjig  gelehrte  SBeiber  gebe  gegen  eine  3«itfl6"oftm, 
bie  unfere  gegenwärtigen  ©eleljrten  für  ebenbürtig  anerfennen  motten. " 

©clef)rte  grauen  b>t  e3  ja  faft  51t  allen  Reiten  gegeben.  ©djon 
(SuripibeS  meint:  3<f)  fmffe  ein  gelebrte3  SBeib,  unb  feine  foll  mir  in'8 
£au3  fommen,  bie  mct)r  weife,  als  bem  9Beibe  nüfee  ift.  211«  auffällige 
(Srfcfieinung  aber  tritt  —  in  2)eutfd)lanb  nenigftens  —  bie  ©elcbrfomfeit 


Von 


d5eot0  ^telnfjaufEn. 


—   3eno.  — 


  „Das  gelehrte  ^ tanensimmer."   


ber  grauen  wft  in  ber  bejeidineten  s$eriobe  fjeroor.  —  ßs  fcfjeint  bas  im 
SBiberfprucfj  ju  fteben  mit  bem  allgemeinen  3HfbungS3uftanb  ber  grauen 
unb  Mäbdien  jener  3ett.  3m  Mittelalter  roar  biefer  weit  Ijöljer  geroefen 
afS  ber  ber  Männer;  baS  Mimtejeitalter  f)atte  bann  bie  grau  mit  einem 
ftrafifenben  gefettfdjaftlicfjen  DttmbuS  umgeben.  33eibeS  mar  anberS  geworben : 
in  getfttger  nrie  in  gefellfd)aftltcf)er  Sesie^ung  trat  bie  grau  5urücf;  ftc 
mürbe  auf  baS  $auS  befdjränft,  unb  in  t)äuSlid)er  2t6gefc^toffen^ctt  roud)S 
baS  weibtidje  ©efd)led)t  fyetan:  feine  ©rjieljung  unb  33ttbung  würben  »er* 
nadjläffigt.  2>ie  itatienifdie  SRenaiffance,  bie  fo  niete  f)od)gebilbcte  grauen 
fyeroorbradite,  erroedte  nur  fd)road)e  sJiad)flängc  auf  beutfcf)em  33oben.  ©egen* 
über  biefen  wenigen  StuSnaljmen,  wie  ber  ©fjaritaS  ^irfiieimer  unb  anberen, 
tritt  bie  große  Waffe  »öfftg  prüd.  ©er  ©urdrfdmitt  ber  grauen  mar  oijne 
jebes  tiöliere  geiftige  .^ntereffe.  meinem  äuffafc:  „<£>ie  beutfcfjen 
grauen  im  fiebjefmten  $ab>I)unbert"  (abgebruett  in  ben  Gulturftubien)  b>be  id) 
baS  näfjer  ausgeführt  unb  befegt,  freilief)  babei  flarf  betont,  roie  fefir  biefe 
2lbgefd)loffent)eit  ein  ©tüd  für  bie  grauen  mar.  (Sie  retteten  ©emütf)  unb 
9totürlid)fett  burd)  eine  ganj  »erbilbete  3ett  tyinburdj:  bem  »iefen  9teuen 
unb  2fbfto§enben  gegenüber  blieben  ftc  —  namentlicf)  bie  grauen  beS  Mittet 
ftanbeS  —  treue  Hüterinnen  beS  alten  gamitiengeiftcS  unb  frifdjer  ÜRatoetät. 

$n  biefen  3uftönben  trat  nun  gegen  2luSgang  beS  fiebjebnten  3ab> 
fmnberts  —  in  einjelncn  Grfdieinungen  aud)  fcfjon  früfjer  —  eine  geroiffe 
2tenberung  burd)  baS  2tuffommen  jener  gelehrten  ©pecieS  ein,  beren 
Gremptare  immer  jablreidjer  rourben.  greitid),  bie  große  Maffe  ber  grauen 
rourbe  aud)  jefct  baoon  wenig  berührt. 

3mmerl)in  rourbe  bie  gelehrte  grau  ju  einem  geroiffen  £npuS 
unb  ift  infofem  culturf)iftorifd)  bemerfenSroertt).  Man  fcfjeint  baS 
f»eute  nielfadj  »ergeffen  ju  baben.  ©o  fiel)t  Subroig  ©eiger  in  feinem 
tüdjtigen  93ucf):  „SBerlin  1688—1840"  bie  gelehrten  ^ntereffen  ber  Königin 
©opfyte  (S&arlotte  anfdjeinenb  all  eine  befonbere  3lusnal>me  an.  £aS  ift 
nid)t  ber  gaff.  3d)  bewerfe  eS  auSbrfidfid),  bafc  id)  f)ier  nidjt  non  fd)ön« 
geiftigen  Seftrebungcn  fjanble,  obgleid)  aud)  auf  bem  ©ebiet  bcr  Sitteratur, 
wie  auf  bem  beS  SirdjenliebeS,  eine  ganje  SWeirjc  grauennamen  (5. 
©ibntle  ©djwarj)  ju  nennen  wären,  fonbern  oon  gelehrten  ©tubten. 

2ln  bie  Stenaiffance  fnüpft  biefe  ©rfdieinung  nur  in  gewiffem  ©inne 
an,  fo  namentfid)  infofern,  als  bie  tljeoretifdjen  Erörterungen  über 
bie  Unterfdjtebe  ber  beiben  ®efd)led)ter  unb  über  bie  grage, 
ob  bie  grauen  ftd)  mit  gelehrten  ©ingen  befd)äftia.en  bürften,  bereits 
ein  beliebtes  Xfyma  ttalienifcfjer  ßumaniften  waren.  %atoh  93urff)arbt 
unb  3faitüfd>ef  ty&en  barüber  eingefienber  gefjanbelt  2Bäf)renb  aber 
biefe  tljeoretifdje  grage  in  bem  Italien  ber  Sienaiffance,  in  bem  bie 
Silbung  ber  grau  ber  beS  Mannes  völlig  ebenbürtig  war,  praftifefj  bereits 
5U  ©unften  ber  grau  gelöft  war,  wanbte  fidfj  baS  ^ntereffe  ber  beutfd^en 
4?umantften  jroar  gelegentlid)  aud)  ber  grage  $u  —  fo  pries  Gonrab 

Korb  unb  «üb.  LXXT.   223.  4 


48    (Seoig  Steinhaufen  in  3eno-   

Gelte«  bie  £ro3mitba  —  ober  fie  tonnten  bod>  nur  auf  loenige  beutfdje 
grauen  ju  tbjer  3«t  fumoeifen,  bie  ber  flaffifdjen  33ilbung  t^eit^aftig 
roaren.  Sfad)  ©raSmuS  l>at  biefe  grauenfrage  erörtert,  ©n  befonberer 
93erfed)ter  ber  grauen  mürbe  Slgrippa  oon  9tetteSl)etm,  ber  ü)nen  fogar 
eine  ©uperiorttät  oor  ben  -Könnern  beilegte,  ©eine  ©djrift  tft  betitelt:  De 
nobilitate  et  praecellentia  foeminini  sexus  eiusdemque  supra  virilem 
eminentia..  ©egen  @nbe  beä  fecbjef)Jtten  3al)rb,unbert8  traten  bann  eine 
ganje  Steide  beutfdjer  Sterttieibiger  ber  grauen  auf,  fo  1595  ber  ©octor 
©imon  ©ebicfe,  ber  in  allem  ©mft  ba3  meiblidje  ©efd)led)t  gegen  eine 
2}et»auptung,  bie  bamalä  aufgeftellt  unb  in  oielen  SRadjbruden  oerbreitet 
mar,  bafj  nämlid)  bie  SBetber  feine  9ftenfd)en  feien,  oertbeibigte,  fo  1596 
2lnbrea8  ©djoppiu«  unb  1597  Saltyafar  SBanbel,  bie  aus  bemfelben  ©runbe 
für  bie  grauen  auftraten. 

©anj  unoerb^ltnifjmäfjig  ftärfer  tritt  bann  biefe  Sitteratur  erft  in  ber 
jtoeiten  fiätfte  be8  fiebjeljnten  Qafir^unbertä  auf  unb  jroar,  weil 
bamal«,  mie  gefagt,  ba$  gelehrte  grauenjimmer  eine  ©rfdjeinung  mar,  bie 
auffatten  mußte. 

SBober  fam  biefe  @rfd)einung.  Qn  erfter  Slnie,  meine  id),  ift  fie 
in  bem  Gtiarafter  ber  ganjen  3^tt  begrünbet.  9JKt  9led)t  t)at  man 
biefe«  3cWaftw  «13  baS  polt)bJftortfd)e,  als  ba8  gelehrte  kat'  exochen 
bejeidmet.  ©3  ift  ja  im  ©runbe  eine  b,öd)ft  nnbenoärtige  Verlobe;  in  mora- 
lifd)er  unb  geiftiger  33ejieb,ung  jeigt  fid)  feit  2lu8gang  beS  16.  QfabjrtjunbettS 
eine  ftarfe  SDepreffion,  unb  fo  ift  benn  biefe«  Attribut  ber  ©etefirtljeit  nidjt 
fdrtedjttjin  al«  33orjug  aufjufaffen.  3roeifettoS  ift  in  biefer  3ett  gerabe 
auf  gelehrtem  ©ebiet  Diel  getriftet  roorben:  aber  ebenfo  unjmeifelb>ft  wiegt 
ber  ©tyarafter  be3  ©pigonenfjaften,  nid)t  ber  frifd)er  unb  fröblidjer  Sßro= 
buctioit  oor.  Unb  nodj  fdjlimmer  ift  ber  banauftfd)e  3"9/  ber  ftä)  jeigt, 
unb  roeiter  bie  ©ud)t,  ftd)  einen  3(nftrid),  ein  2lir  ju  geben.  9Jid»t  gelehrt, 
fonbern  wenn  mir  baä  SBort,  ba«  beute  eine  bejeidjnenbe  gärbung  erhalten 
Ijat,  amoenben  motten:  geldljrt  erfdjeint  uns  bie  3e^  ©urlofttÄten  unb 
älfanjereten  merben  befonberS  roertf)  gehalten:  oft  fdjreitet  ber  beeile  33löb: 
finn  in  geteert  aufgepufctem  ©eroanbe  einher.  ©aS  ©tnfadbfte  roirb  burd) 
gelefirteS  Srimborium  oerbunlett:  nod)  ^eute  ^aben  otele  ©elebrte  es  nid)t 
fertig  bringen  fönnen,  fid)  oon  ber  oben  Lanier  ber  Unoerftänbltdjfeit  freiju; 
madjen,  als  ob  üe  bamit  ber  SBaljrfjeit  bienten  —  mit  einem  SBort:  $te 
©cle^rtfieit  rourbe  bamaU  3Jlobe. 

SBereinjelt  tritt  uns  baS  „gelehrte  grauenjimmer"  fd)on  juSlnfang 
beS  f tebjefjnten  3abrf)unbert8  entgegen.  SBaren  oortyer  einjelne  grauen 
fdjoit  auf  bem  ©ebiet  ber  ©rbauungSlitteratur  —  man  oergleldje  barüber 
ben  9faffa|  oon  Ealoj:  „$>eutfd)lanbs  ©d;riftftellerinnen"  im  $tftortfd)en 
£afdjenbud;  —  tljätig  geroefen,  fo  famen  jefet  roeiblid)e  „SBunber"  ber 
reinen  ©eteljrfamfeit  pm  $Oorfcb.eiu.  Um  jene  3«t  ftanb  befanntlid)  bie  ge^ 
teerte  ^ätigfeit  oor  Mem  in  ben  9Jieberlanben  in  »lüt^e.  tarnen 


  „Das  gelehrte  frauenjimmer."   


rote  ßipfiu«,  Sealiget,  ^einflu«  finb  ja  3tHen  geläufig.  ©o  ift  e«  erflär-- 
Kd),  bajj  gerabe  in  ben  9Jieberlanben  bie  gelehrten  grauen  —  al§  33eü 
fpiel  wirb  öfter  (Sornelia  SBoffiu«  angeführt  —  suerft  häufiger  roerben.  Sie 
■JUeberlanbe  nannten  auch  jene  9tnna  SWaria  Bon  ©d)urmann, 
bie  meberlänbifche  3Jttnen>a„  mit  ©tolj  bie  irrige..  SSon  GJeburt  eine 
$>eutfche  —  fie  ift  1607  in  Köln  geboren  —  hat  fie  ben  größten  S^eil 
i^rc«  Sebent  in  Utrecht  sugebrad)t.  ÜDlan  ftnbet  über  fie  in  jaljlreichen 
Suchern  Nähere«:  t>ier  genüge  anjuführen,  bafe  fie  »ierjetnt  «Spraken  Ber* 
ftanb,  mit  sahlreid)en  (Seiehrten  in  Sriefroechfel  ftanb  unb  felbft  fc^rift= 
ftellerte.  ^ntereffant  ift  aber  namentlich,  «nie  biefem  „gelehrten  grauen* 
jimmer"  bie  gefammte  gelehrte  SBelt  t)ulbißte.  $>ie  jehnte  SJtufe,  ba« 
SBunber  be«  ^atirb^unbertg,  biefe  unb  ähnliche  Sejeidjnungen  mürben  jab> 
reic§  auf  Tie  angeroanbt.  ©ie  imponirte  biefer  polnb^iftorifdjen  3eü,  unb 
bafe  fie  ein  SBeib  mar,  machte  fie  biefer  curiofitätenlüfternen  ©poche  nur 
noch  intereffanter.  $)er  ©udjjt  jener  3eit  nach  bem  „SBunberbarlidien  unb 
Unerhörten"  fchreibe  ich  biefe«  ftwXtxefte  nicht  jum  fleinften  £beil  ju. 

%ma  SJJaria  oon  @d)urmann,  bie  übrigen«  ihrerfett«  Schriften  pro 
domo  b.  h-  für  bie  gelehrten  grauen  (j.  23.  de  ingenii  muliebris  ad  doctri- 
nam  et  meliores  literas  aptitudine)  fdjrieb,  fanb  nun  in  $eutfd)lanb 
felbft  balb  jablreidfie  Nachfolgerinnen.  2lu«  anberen  Sänbem,  roo  man 
biefelbe  erfdjeinung  beobachten  fann,  miß  id)  r)icr  im  Vorbeigehen  nur  an  bie 
©nglänberin  SBefton  unb  bie  berühmte  Gf»riftine  oon  ©chtoeben  erinnern. 

©ie  betannten  unb  unbefannten  „gelehrten  grauenjimmer"  ®eutfd)= 
lanb«  \)iex  einjeln  aufzählen,  hat  wenig  3n)ecf.  ©ie  $auptfacb>  ift,  feft* 
aufteilen,  baß  fie  gegen  1700  h"'  gerabe  in  $>eutfd)lanb  eine 
3Robeerfd)einung  roerben.  ©o  fpridjt  ein  bamaliger  Slutor,  Johann 
©erharb  SHeufcljen,  ber  SBerfaffer  eine  „Courieusen  ©d)au=8ühne  3)urcb> 
läud)tigfts©elehrter  Dames"  Bon  ©eutfdjlanb  als  „einem  Sanbe,  fo  fid) 
bot  allen  anbern  Diel  grunbsgetahrter  Dames  ju  rühmen  hat"-  33"n 
einjelnen  ©rfcheinungen  au«  ber  erften  Hälfte  be«  3"hrhunbert«  roiü  id) 
hier  2lnna  5Diaria  Gramer  nennen,  bie  im  Sllter  Bon  14  fahren,  mahrfdiein' 
ttd)  in  golge  ber  Ueberlabung  mit  gelehrten  Singen,  ftarb.  ©er  SSater, 
ber  SWagbeburger  Sßaftor  2tnbreo«  Gramer,  rühmt  Bon  ihr  in  einem 
lateimfdjen  Gpitaphium,  baf)  fie  historiae  et  poeticae  studiosissima, 
Unguis  latina  et  hebraica  elegantissime  exculta  et  sacrarum  litterarum 
studüs  unice  dedita  geroefen  fei  3luf  fein  „SBunberfinb"  mar  ber 
SSater  jroeifello«  fehr  ftolj  geroefen,  unb  ähnlich  bachten  Biete  ©eleljrten 
unb  fud)ten  au«  ihren  £öd)tern  gelehrte  SWionftra  ju  machen. 

216er  nid)t  nur  bie  £öd)ter  ber  ©elehrten,  fonberw  namentlich  auch 
gürftentödjter,  an  beren  ©rjiehung  mehr  hcrumerperimentirt  mürbe,  al« 
an  ber  geringerer  grauen,  bieten  S3eifpiete,  wie  Suife  2lmöne  Bon  9lnl)alt, 
bie  ^ebräifd)  »erftanb,  bie  fertige  Sateinerin  Katharina  Urfula  bou  Stoben, 
Stntonia  oon  SBürttemberg  „mit  ihrer  ungemeinen  Sßiffenfchafft  in  ber 

i* 


50 


  (Seorg  Steinhaufen  in  3*na. 


©rtedjifdben,  tromebmttd)  in  ber  &ebräif<ben  ©pradbe",  bie  Dödjter  bes 
SBinterfönigS,  @ltfa6et^,  ätebtiffin  von  föerforb,  bie  gelebrte  greunbin 
De3carte$',  unb  ©opbie  »on  33raunfd)roeig.  33on  ber  Sefeteren  rübmt  ber 
obenerroäbnte  9Jleufd)en,  bafj  bie  „©trollen  Jbrer  burdbbringenben  SBetfc 
bett,  fc^arffcn  5Berftanbe3  unb  ineffabler  SBiffenfdjaft  in  bet  Theologie, 
Geographie,  Historie  unb  »ielerlen ©prägen  fo  bettglänfcetib  femtb,  bafj  fie  baS 
Sidbt  feinet  blöben  Säugen  »erbunfein  unb  madben,  bafj  er  fie  meljr  in  ftiHer 
SBerrounberung  »erebre  als  ju  entroerffen  ftd)  uberroinbe."  Jfyre  Tochter 
i»ar  bie  befannte  ©opbie  (Sbarlotte,  bie  greunbin  SeibnijenS. 

Sieben  biefen  furftlicben  geteerten  grauen  —  bie  SBeifptete  liefen  fid) 
leidet  oemebren  —  mären  gar  oiete  aus  bürgerlidjen  unb  obtigen  Greifen  ju 
nennen,  von  benen  ehtjetne,  n»ie  URarta  Barbara  Sebmann,  ÜJlaria  Runifc, 
Helene  ©ibtjUe  SSagenfeil,  weit  unb  breit  befannt  waren.  Dodf)  roill  id) 
bier  nidbt  mit  Siotijen  ennübeit.  3ablreid&e  Seifpiete  „gelehrter  grauen* 
jimmer"  ftnbet  man  in  bem  erroäbnten  2tuffa|$  ber  %alv'\  unb  in  bcr 
gleicb  ju  nemtenben  Sitteraturgattung  beS  17.  unb  18.  JaljrbunbertS. 

^eroorjuljeben  ift  nämlidj,  baf3  man  bamals  »on  folgen  grauen  unb 
Jungfrauen  —  nidjt  bloS  jener,  fonbern  aud)  früherer  Seit  —  befonbetS 
gern  börte  unb  las.  ©eljr  jaf)lreid)  roerben  bie  ©cbrtften,  bie  —  oft 
in  trodener  2luf$äl)lung  —  »on  gelehrten  grauen  berieten,  ©o  finb  ju 
nennen:  Job.  grauenlob,  bie  tobroürbige  ©efellfdbaft  ber  gelebrten  Sßeiber, 
Sßafdbii  gynaeceum  doctum,  ©.  g.  Sßauttini,  &od>  nnb  SBobkgetabrteS 
DeutfcbeS  grauen'S'mmer,  Job.  ©afp.  (Sberti  eröffnetes  (Sabinet  beS  ge* 
lebrten  grauenjimmerS  unb  febr  »iete  anbere.  Dtefe  Sitteratur  mufj  alfo 
febr  beliebt  geroefen  fein  unb  jablreicbe  Sefer  gefunben  baben.  Diefe  ©alerien 
fottten  „jum  angenehmen  3eit»ertreib"  bienen,  man  fottte,  wie  eS  bei 
Sßauüuri  beißt,  barauS  erfeben,  „wie  unfer  geliebtes  Deutfdjlanb  roeber  ben 
bodfjtrabenben  ©paniern  nod)  ben  ehrgeizigen  3Belfd)en  ober  aufgeblafenen 
granfeofen  bifcfatts  im  geringften  nadbjugeben  babe,  ftntemabl  bierimt 
foldje  Sßierinnen  gejeigt  roerben,  bie  »iele  2luSlänberinnen  in  ben  SBinfel 
jagen."  Unb  bann  Reifet  es  ftolj:  „Denn  roie  roeit  glüdffeltger  unb  jier» 
lieber  ift  unfer  jefeigeS  Deutfdblanb,  als  ju  SCaciti  3eiten,  ba  roeber  SKaim 
nod)  grau  roaS  fünftlidjes  tont*  ober  rouften." 

Diefe  Sitteratur  jeugt  weiter  ba»on,  bafj  man  in  Bieten  Äreifen, 
namentltd)  natürlidb  ben  gelehrten,  bie  gelebrten  grauenjimmer  befonberS 
bodbacfitete.  SBenn  fcbon  ju  2lnfang  beS  Jabrbwtbertö  bie  Jenaifdfje 
tbeologifcöe  gacultät  ein  gelehrtes  ^udb  ber  Siegina  »on  (Srflnab : 
„Der  geiftlidbe  SBagen"  —  ba8  33ud)  felbft  tonnte  idj  iridjt  erlangen, 
auf  ber  Jenaer  93ibliotbef  ift  es  niiftt  —  mit  einer  empfeblenben  3?orrebe 
einleitete,  fo  jelgt  ba8  bie  roadbfenbe  3ld)tung.  9Wit  befonberer  SSorliebe 
roanbte  man  fid)  auf«  9teue  ber  grage  p,  ob  ben  grauen  baS  ge« 
lefirte  ©tubium  bienlid)  fei.  3lud)  biefe  Sitteratur  ift  fe^r  jablreid): 
ei  roflrbe  3U  roeit  fübren,  biet  9?ad)roeife  ju  geben.   @«  Ift  ja  aud)  er« 


  „Das  gelehrte  ^ranenjimmer."   


5{ 


flärlid),  bafs  bic  SJtenge  ber  geteerten  grauen  bic  grage  unb  bas  $ntereffe 
boran  befonberS  in  glufü  bringen  muftfe.  5Jamentlid}  um  1700  läßt  fidr 
bas  bemerfen.  3n  bem  großen  enajflopäblfdien  Sßerfe  beS  von  ßoljberg: 
„Georgica  curiosa  ober  2lbetigeS  Sanbleben"  ftnbct  ftd)  in  ber  2luSgabe 
von  1682  bie  grage  niä)t  berührt,  in  ber  Don  1701  ift  bann  ober  ein 
neue?  ©apttel  enthalten:  „Ob  einem  SBeibSbtlb  bas  ©tubium  roof)l  anftelje?" 

©ie  meiften  Tutoren  nun  nebmen  in  ber  grage  einen  jiemlid)  vet- 
nünftigen  ©tanbpunft  ein,  roenngletd)  fie  ben  altgemeinen  SWefpect  oor  ben 
gelehrten  grauen  meiftenS  t^eiten.  ©in  befonberer  33erel}rer  berfetben 
ift  Sßauutni.  ©r  fagt  »on  ber  oben  ermähnten  ©uripibesftelle:  „@S  ift  ja 
roobj  eine  Ddjfenftimme,  wenn  ©uriptbes  alfo  IjerauSptumpet."  ©r  fd)t(t,  bafj 
bie  grauen  felbft,  b.  I).  bie  2)laffe  berfetben,  biefe  geteerten  3ictben  wenig 
adjten,  unb  läßt  eine  alfo  fpredjen:  „%a  fo  gar  finb  mir  jur  Barbarei  unb  Un« 
nriffenfyett  üerbammt,  baf3  nidjt  allein  bie  -DtamtSperfonen,  fonbern  aud)  bie 
meiften  »on  unferem  ©efd)ted)t  [elfter,  roeil  fie  in  ber  ©itetfelt  unb  Unroiffem 
b>tt  »ertoitbert  finb,  uns  »eradjten  unb  »erladjen,  roenn  eine  ober  bie  anbere 
auf  löbliche  2Biffenfd)aft  fid)  befteifet,  unb  nidjts  auf  gelebrte  SBeibSperfonen 
fcatten."  ©in  anberer  roarmer  SBert^eibiger  ift  ^auttinte  greunb,  £err 
SiotjamteS  ©auerbret,  ber  jroei  Disputationen  de  feminarum  eruditione  tjtelt. 

©in  roenig  anberS  urteilt  ber  ermähnte  $err  von  £obj6erg;  er  be= 
rounbert  „bie  excellenten  Ingenia"  unter  ben  grauen,  aber  für  allgemeine 
gelehrte  33ilbung  ift  er  nid)t.  „SBann  id)  gerinnen,"  fagt  er,  „meine 
ÜJtetmung  unmaf?ge6lid)  benfügen  follte,  geb  idj  jroar  gerne  ju,  baf3  mel)r 
©djab  ats  SRufeen  barauS  entfprütgen  follte,  roenn  fid)  bie  SBeiber  ins* 
gemein  auf  3  ©tubium  begeben  roolten;  baS  fann  man  aber  bennod)  nid)t 
laugnen,  bafj  fie  fo  rool  ©DtteS  ©benbilb  finb  als  bie  9Mnner,  unb  roo 
ftd)  extraordinarie  Ijotje  Ingenia,  fdjarffimtige  Judicia  unb  fürtrefflidje 
©infäHe  unter  ib^nen  befinben,  unb  fte  fotd)e  ju  ©DtteS  Sob  unb  SDienft 
beS  ÜJlädjften  befd)eibentlid)  anroenben,  eS  md)t  allein  untabelid},  fonbern 
aud)  löbltd)  unb  rulimlid)  fen;  rote  id)  bann  »on  bergtetd)en  fürtrefflid)en 
roeiffen  grauenjimmer  oiel  ©rempel  anjie^en  fönnte  u.  f.  ro.  SBetl  aber 
biefeS  abfonberlidbe  unb  b,eroifd)e  ©rempel  finb,  roäre  es  »erroegen,  mann 
man  i&nen  inSgemetn  nadjabmen  follte,  fonberlid),  roann  man  babew  bie 
roeiblicbe  $flid)t,  ©ebül)r=  unb  23eruffSs2lrbett  begfetts  fefcen,  oerfaumen 
unb  »ernad)täfftgen  roolte."  Qn  äbjtlid)er  SBeife  fprtdjt  fid)  ein  etroaS 
fpäter  erfd)ienene3  2Berf :  „JiufebareS,  galantes  unb  curtöfeS  grauenjimmer« 
Serifon"  au«.  %n  ber  SBorrebe  beSfelben  roirb  auf  ben  neuerbings  {»eftig 
entbrannten  «Streit  über  bie  gelehrten  grauen  (jingetoiefen :  ber  SBerfaffer 
roill  beSbalb  „einige  un»orgretff(id)e  ©ebanfen:  Db  unb  roie  roeit  ein  grauen* 
jimmer  ftd)  in  bie  gelehrte  S55iffenfd)aften  einjulaffeu  Urfad)e  b,abe",  auS= 
führen,  ©r  ift  burd)auS  für  roiffenfd)aftlid)e  SBilbung,  aber  in  einem  be5 
fdjränften  ©inn.  „3Wit  folgen  SBeibeS=5ßerfoneit  aber,"  fäbrt  er  fort,  „bie 
ftd)  in  ber  Mathematic,  Philosophia  scientifica,  ©taatö^Slunft,  Critic, 


52 


  (Beorg  Steinhaufen  in  3*"a-   


Philologie,  Poesie,  ©prägen,  ber  J)öj)eren  Theologie,  Jurisprudenz  imb 
Medicin  attju  )t\)x  »crtiefft  Ijaben,  wirb  rool)l  niemanben  triet  gebienet  feijn. 
ßommt  ein  bergleid)eu  ©eroäd)fe  in  bcn  geteerten  ©efilben  sunt  SSorfdjetn, 
fo  muß  man  eS  roie  eine  rare  auSlänbifdje  Sflan|e  berounbetn, 
feineSroegS  aber  jur  9Jad)ab,mung  norjeigen." 

®iefer  ©tanbpunft  roirb  attmälitid)  immer  (läufiger  vertreten.  Steine 
gelehrten  SBunber,  aber  größere  Silbung  beS  roeiblid)en  ©efdjtedjte«. 
$>etm  tnan  muß  nid)t  oergeffen,  worauf  id)  fdjon  ju  Anfang  biefer  »Sfijje 
bjngerotefen  fjabe,  baß,  roenn  auf  ber  einen  (Seite  ba«  „geteerte  §rauen= 
jhnmer"  nid)t  feiten  mar,  auf  ber  anberen  bod)  ganj  auffattenbe  UnbUbung 
unb  Unwiffenb>it  fierrfdjte.  SDarauf  weift  j.  33.  Seit  Subnrig  von  «Seden* 
borff  in  feinem  „6h>iftens<Stat"  feb>  nad)brüctlid)  bin.  „3ft  alfo,"  fagt 
er,  „eine  groffe  unb  uuoerautroortltdie  9iad)läfftgfeit,  baß  fo  wenig  Sorge 
für  bie  Unterweifung  unb  gute  ©rjielntng  beS  weibltd)en  @efd)led)ts  getragen 
wirb,  ©in  fet»r  weniges  gefdjteljet  in  ben  9Jlägblein=6d)ulen  unb  bleibet 
gemeinigltd)  unb  bei  bem  atterunterften  ©rab  ber  Catechisation."  Un= 
bebingt  für  „gelehrte  SBeiber"  ift  er  aud)  nid)t,  aber  es  ift  „aud)  eine 
SJHttekStraße  ju  treffen".  So  bebauert  er,  baß  aus  bem  Staue  beS  Äur= 
fürften  3luguft  uon  <Sad)fen  1555,  „bren  fo  genante  3ungfrau5©d)ulen, 
iebe  »or  40  Serfoneit,  im  Sanbe  ju  ftiften,"  9itd)t8  geworben  ift;  „nrie 
anberä  ©uteS  meljr,  ift  aud)  biefeS  o|ne  effect  geblieben,  fo  bod)  ein  jjerrlid) 
(Srempel  gegeben  bätte,  bem  l)in  unb  mteber  nachzufolgen  gewefen  märe". 

9luf  biefe  widitige  unb  intereffante  Bewegung  jur  Hebung  beS  weiblidjen 
©efd)led)teS  will  id;  b,ier  nidjt  näb,er  eingeben:  man  weiß,  rote  namentlid)  bie 
moraltfd)en  9Bod)enfd)riften  feb>  barauf  btnroirften.  TaS  „grauemSolf '  fottte, 
roie  e«  in  ben  „©tScurfen  ber  2JJal)ter"  Reifet,  „wifcig  unb  angenehm,  aber  nid)t 
gelehrt  unb  pebantifd;"  roerben.  3ln  ©ellert  ift  ebenfalls  ju  erinnern:  bie 
Sremer  Seiträge  roanbten  ftd)  namentlid)  an  baS  „gebttbete  grauenjimmet". 
Son  biefer  focialen  Seroegung  roerbe  id)  in  größerem  3"1<""menb^ang  über 
furj  ober  lang  ju  b/mbeln  »erfud)en. 

feiet  befd)ränfe  id)micb  barauf,  bie  gelehrte  SpecieS  weiter  ju  beobad)ten. 
3n  biefer  Seäiebung  ftoßen  wir  im  3tnfang  beS  18.  QabrhunbertS  auf  Se* 
ftrebungen,  bie  trofc  ber  Angriffe  auf  bie  „gelehrten  SBeiber"  unb  trofc  ber 
oben  angeführten  SBarnungen  oor  Uebertreibungen  ben  grauen  höhere  ©e* 
lebrfamtett  nachbrüdlicber  ju  fidlem  fud)en. 

®er  ©ebanfe  einer  äfabemie  tritt  auf  unb  wirb  nielfad)  erörtert. 
Namentlid)  in  3«tfd)riften.  So  roirb  in  ben  „auSerlefenen  Slnmerfungen 
über  aHerbanb  roid)tige  9Jiaterten  unb  Sd)riften"  1707  eine  „Jungfer« 
Slfabemie"  uorgefebtagen.  $)er  9lutor  roill  aßerbingS  roefentlid)  „eine  ©eletirts 
r)eit  in  realibus",  feine  „geteerten  £borheiten,  roeldje  man  bisber  eine 
©rubition  genennet",  ©a  nun  bie  Unioerfitäten  „jur  3e^  m 
©tanbe"  roären,  „baß  man  Jungfern  unb  SBeibern  ratben  bürfte,  mit  ben 
Herren  «Stubenten  im  Gollegio  eine  bunte  Slettie  5U  mad)en",  fo  muffe  man 


  „Das  gelehrte  ^raueit3tmmer."   


53 


eben  für  fic  „eigene  Schulen  unb  Untperfitäten"  aufrichten.  (5r  fdjlägt  beim 
eiue  üoltftänbige  Drganifation  oor,  roid  j.  95.  aud)  Promotionen,  alfo 
meibtid)e  ©octoren,  unb  »erfprid)t  oon  einer  folgen  SCnftatt  bem  Sanbe  auch 
materiellen  33ortr)ctt.  „dergleichen  SungfersSlfabemie  mürbe  über  ben  9iufeen, 
fo  oon  ber  S83cibergeteb,rt|eit  ber  SRepublif  jugetjt,  auch  ber  ©tobt  unb  bem 
Sanbe  ein  ©rofeeS  eintragen".  $5aS  gleite  Tfytma  fptelt  in  ben  moraltfchen 
©od)enid)riften  eine  er£>ef»ttd»c  SRottc.  &in  unb  roieber  mirb  eS  bort  freilich 
ctroaS  fatirifd)  behanbett.  „®er  Patriot",  bie  Hamburger  SBodjenfchrift, 
fommt  fd^on  im  britten  (StödE  beS  erften  ^afireä  barauf  5U  fpredjen.  „2Bir 
meinen,  bie  SBtffenfchaften  ftnb  bem  graunjtmmer  Siic^tä  nüfee;  es  werbe 
berfetben  nad)  feiner  natürlichen  ©cbroaä)heit  mif?braud)en,  unb  taffen  beäroegeu 
mit  gletf}  unfere  £öd)ter  in  ber  bideften  Unmtffenheit  aufmachten."  „©tefeä 
Setragen"  mirb  „unoerantroorttid)"  gefunben,  unb  aud)  Ijier  eine  2lfabemie 
»orgefd)lagen,  bie  aber  roefentlich  auch  eine  gebtlbete  unb  gute  £nu§frau 
ergehen  folt.  (Sie  foU  „in  allen  SBiffenfchaften  afabemifche  ghten«©tellen" 
uertb,eilen  fönnen,  unb  uornetmilich  fott  fie,  mirb  mobl  etroaä  fd)alff)aft 
hinjugefügt,  „in  ber  ^jauäljaltung&ftunft  fie  ju  aJJagifterinnen,  Sicentta* 
tinnen  unb  ioctorinnen  machen".  £>ie  Seipjiger  äBochenfdjrift  „©er 
Siebermann"  beljanbelt  bie  ©adjc  aud)  anfangs  nid)t  ernft,  inbem  e§  einen 
täd)erlid;en  23orfä)lag,  nämlich  ba8  männliche  ©efd)teä)t  oom  Äatbeber  ab« 
suroeifcn  unb  an  beffen  ©teile  lauter  galante«  unb  gelehrtes  3?rauen}immer 
ate  Sßrofefforinnen  unb  ©octorimien  ber  ftubtrenben  3(ugenb  »orjufefcen", 
erörtern  unb  abroeifen  läfjt.  £>ann  aber  mirb  ein  35rief  oeröffenttid)t,  in 
bem  fotgenbe  Steden  oorfommen:  ,,3d)  jmeifte  feineäroegS,  bafj  nid)t  bie 
in  33orfdjtag  gebrachte  grauenjimmer»2lfabemie  in'3  SBerf  ju  richten, 
möglich  fein  follte,  unb  jroar  auf  fotgenbe  9lrt:  gänben  bie  5Rütter  bei) 
ihren  annod)  jarten  £öd)tern,  bafe  fie  ©aben  pm  Stubiren  bef äffen,  fo 
börfteu  fte  biefelben  nur  mit  einem  unb  bem  anberen  ©etehrten  ^rioatj 
©tunben  galten  taffen,  bis  fie  bie  SBoHfommenljeit  erreichet  hätten,  bafj  fie 
weiter  feinen  Unterricht  brauchten.  Söoju  iljre  Sietgung  eine  jebe  triebe, 
baju  müfete  man  fie  anführen  taffen,  fo  bafs  man  unter  tt)nen  ©eiftlidje, 
9lecht35®etehrte,  9trfeenet)s33erftänbige  unb  2Bett=2Beife,  \a  überhaupt  alle 
3lrten  ber  (Mehrten  anträfe,  bergeftatt  mürbe  in  roentg  fahren  fo  oiet  ge* 
fd)icfte3  grauenjimmer  als  -JJJannSperfonen  ju  ftnben  femt.  Syrern  SEBert^e 
unb  SBiffenfd)aft  nad)  müffte  man  eben  aus  ilmen  ©octoreS  unb  ^rofejforeä 
mad)en,  bamit  ihre  Bemühungen  gleichfalls  einige  Belohnung  uon  @hren« 
Stellen  ju  gemartert  Ratten".  %m  ©anjen  roiH  ber  ©djreiber  bemeifen, 
„bafe  bie  jjraueniimmer=2tfabemien  ber  gelehrten  SBett  mehr  9tufcen  als 
Stäben  ftiften  mürben,  itn  galt  fie  foDten  aufgerichtet  roerben".  Sie 
mürben  nid)t  aufgerichtet,  aud)  ein  ^tan  im  ^abre  1748,  ben  50?olin  in 
.öamburg  aufführen  roollte,  mürbe  nid)t  »ermirflidjt. 

2tber  bie  Seflrebungen  seigen  bod),  bafe  baä  „gelehrte  grauenjimmer" 
nod)  immer  fid)  ernfthafte  ©ettung  »erfd)affte.  9Tm  hmgebenbften  mirb  e3  in 


  (Beorg  Steinhaufen  in  Jena.   


ber  crften  Hälfte  be«  18.  Qa^unbertä  in  ber  ffiod)enfd)rtft:  „Sic  oers 
nünfttgen  Sablertnnen"  »ertljeibigt  —  leidjt  erflärltd),  benn  e«  ift  ba« 
Drgan  ©ottfc^eb^.  ©in  Slrrtfel  in  berfetben  »on  „Gallifte",  b.  ij.  von 
©ottfd)eb  felber,  fommt  barauf  au«fül)rlid)  ju  fpred)en.  „$d)  tnufe  mid) 
oftmals  nmnbern,"  beginnt  er,  „bafe  ber  -^jaf?  gegen  bie  ©elefjrfamfeit 
be«  toetbltd^cn  ©efd)led)t«  Ben  »ieten  Seuten  fo  gat  grojj  ift.  2Ran  fann 
bei)  ben  meiften  Seuten  ein  grauenjimmer  ntd)t  läd)ertid)er,  itid^t  abfd)eu* 
tid)er  abbilben,  al«  roenn  man  tfmi  ben  £itet  eine«  geleftrten  grauenjimmer« 
beileget."  Stuf  feine  S3ertb,eibigung  und  id)  fjier  nid)t  eingeben,  ba«  £l)ema 
wirb  in  ber  3eitfd)rift  nod)  njicbcrtjolt  bebanbelt.  ©o  wirb  einmal  in  einem 
©tütf  mit  bem  HKotto  „3ft  irgenbroo  ein  2Rann,  ber  einer  ©djurmaitnin 
fid)  gleid)  erroeifen  fann?"  (9tad)et)  auSfübjlid)  bie  oben  ermähnte  <Sd)rift 
ber  @d)urmatm  au«gejogen  unb  bamit  bie  9totf)roenbigfeit  be«  grauem 
ftubium«  bargelegt,  ©in  anbere«  ÜDtol  toirb  ba«  Sob  ber  gelehrten  grau 
alfo  gefungen:  „3d)  ergebe  mid),  fo  oft  id)  baran  gebenfe,  nrie  ber  be- 
rühmte ©acier  mit  feiner  gelehrten  grauen  gelebet  b>6en  müffe.  3$ 
ftette  mir  jum  ©rempel  »or,  wie  becbe  ©Ijegattinnen  bepfammen  fifeen,  unb 
bie  weifen  ©prüdje  be«  großen  Äaifer«  Slntomnu«  au«  bem  @ried)ifd)en  in'« 
granäöfifd)e  überfein.  SBeld)  ein  angenehmer  «Streit  ift  biefe«,  ba  ber 
aWann  e«  ber  grauen,  bie  grau  aber  bem  SDiamte  in  ber  ©elebrfamfeit 
juüor  tf)un  Toiff ;  enblid)  aber  fid)  mit  einanber  oergleidjen  unb  julebt  ein 
33ud)  unter  benber  ÜJlamen  an'«  Sidjt  ftellen." 

.  Unroitifürlid)  füljlt  man  fid)  an  ©ottfd)eb  unb  feine  grau  erinnert. 
%n  grau  ©ottfdjeb,  ber  früheren  „Jungfer  ßulmu«",  Iwben  nur  nod) 
eine  d)arafteriftifd)e  aSertreterin  ber  gelehrten  grauen  cor  un«.  <Sie  oerftanb 
mehrere  ©pradjen,  aud)  Sateinifd)  unb  ©rtednfd),  unb  ü)re  Qntereffen  maren 
fef»r  weite,  greilid)  fonnte  fie  gleichzeitig  auf  ben  Slamen  einer  gebilbeten 
grau  Slnfprud)  mad)en.  £)aoon  jeugen  ibre  33riefe;  in  meiner  „®efd)td)te 
be«  beutfcben  33riefe«"  habe  id)  too^l  mit  Stecht  auf  fie  befonber«  bingeroiefen. 
33or  ben  gebilbeten  grauen  mufften  aber  bann  bie  „gelehrten"  weichen. 
3n  ber  jroetten  Hälfte  be«  ftahrbunbcrt«  fterben  fie  au«,  trofc  SBor* 
fämpferinnen,  rote  ber  Dichterin  ©ibonia  &ebrolg  3äunemaitn>  °ie  & 
bitter  rügt,  baf?  ben  grauen  bie  Sebrfäle  »erfchloffen  feien,  unb  bie  3Wänner« 
roelt  anflogt  roegen  ihrer  Serhöbnung:  „©in  2Mb,  ba«  bid)tet  unb  fd)reibt, 
beifjt  fie  (bebeuft  e«  nur)  ein  fd)öne«  Ungeheuer  unb  Slenbroerf  ber  Siatur." 

Sie  Säunciwun  f»at  aber  bod)  nid)t  ganj  5Red)t.  2)ie  geteb^e  SBelt 
liielt  nod)  in  ber  SWitte  be«  3flf>^wwberts  an  mand)en  Drten  bie  gelelirte 
grau  ^od)  unb  »erfd)lof?  tfjr  mitunter  fogar  nid)t  bie  ßeb^rfäle. 

^afiir  will  id)  nod)  ein  bisher  roofjl  unbefannte«  Seifpiel  am 
fäb,ren,  ein  gelehrte«  grauenjimmer  au«  Bommern,  ba«  un«  jugleid)  al« 
le^te  Sßertreterin  be«  au«fterbenben  ^t»pu«  bienen  mag.  ©8  ift 
21mm  Gbriftine  ©^renfrieb  oon  SBaltbafar,  ber  SBSeltiüciSrjeit  33accalaurea  in 
©reif«roa[b.   9lm  14.  Quli  1750  9Jad)mittag«  ^ielt  fie  jur  ©röffmmg  ber 


  „Das  gelehrte  ^raueit3tmmer."   


55 


afabemifä)en  33ibttotr)ef  eine  9tebe,  bie  nad)get)enb£  gebrueft  ift :  „ßrroete, 
baf?  SBibliot^efen  bie  ftefjerften  SBofmftätten  einer  wahren  unb  ödsten  greunb* 
fd^aft  finb."   $er  Anfang  ift  d)arafteriftifdj,  unb  id)  tljeite  ir)n  ^ier  mit: 

„©ie  ertaubten  es  mir,  £o<ijgefd)äfete  ©lieber  ber  Äöngl.  Afabemte, 
bet;  ben  erften  get)erlid)feiten  in  bem  neuen  Tempel  ber  SDlufen  bie  ©efinttung 
ber  greube  unb  ber  2lnbad)t  ju  fdrilbern.  ©ie  erlaubten  eS  nid)t  nur;  ©ie 
benriefen  aud)  auf  eine,  für  mid)  unb  mein  ©efd>led>t  fo  uorttjeilljafte  Art, 
nrie  weit  ifrr  rübmlid)er  Srteb  für  bie  Ausbreitung  ber  SBiffenfdjaften  gebiet 
unb  nrie  bereitroillig  ©ie  finb,  bie  sJieigung  ju  benfelben  aud)  an  betten 
p  lieben  unb  5U  belohnen,  roelctjen  bie  &errfd)aft  ber  ©erootiufiett  fonft 
ben  3«tritt  ju  Sefyriälen  unb  Ratgebern  betjnat)e  »erfdjloffen  tjatte." 

3iod)  intereffanter  ift  eine  ©drrift,  bie  an  fie,  „bie  ©reifSroalbtfdje 
ÜJhtfe,"  gerietet  ift  unb  jroar  aus  Königsberg:  „An  bie  &ocr)rootjlgebor)rne 
gräulein,  gräulein  Anna  ßfrriftine  ©tjrenfrteb  oon  33altt)afar,  ber  2MtrueiSr)eit 
33accalaurea,  ber  ftöntgl.  ©efettfdjaft  ber  frönen  2Btffenfd)aften  ju  ©reifs* 
roalb  unb  ber  ÄönigL  beutfdfjen  ©efettfetjaft  &u  Königsberg  ©fjrettmitglieb, 
ber)  ber  Afabemtfdjen  ^ubelferjcr  51t  ©reifSroalbe  gerietet,  £en  18.  beS 
SBeinmonatS  1756."   2)artn  tjetfrt  es  unter  Anberem: 

„3efct  erratt)en  ©ie  fci)on  gnäbige  gräulein,  roarum  uttfere  ©efellfdjaft 
biefe  üölätter  an  ©ie  gerietet  tjat.  ©ie  finb  bie  3terbe  ber  ©reifSroalbtfcfien 
■äRufen.  SHefe  r)ot)e  ©dfjule  järjlt  es  unter  bie  gröffeften  ©lücfSgüter 
ber;  ifirem  ^ubelfeft,  in  it)ren  dauern  eine  gelehrte  &ame  auf= 
jeigen  ju  fönnen.  3fjre  einfielt  in  baS  9teid)  ber  ©eletjrfamfeit,  ber 
fdjönen  2Biffenfd)aften  ift  ber  gelehrten  SBelt  befannt.  gftre  @inrt>eir)ung3= 
rebe  beS  ©reifStt>albifd)ett  ÜJiufentempelS,  bie  ©ie  in  lateinifd)er  ©pradje 
gehalten,  bie  AntrittSrebe  in  bie  Stöniglidje  ©eutfdje  ©efellfdjaft,  unb  bie 
SRebe  bei)  ©röffnung  ber  afabemifd)en  SKbliotcjcf  finb  eroige  SDenfmäler  icjrer 
feinen  unb  nritiigen  33erebfamfeit,  bie  bie  9iad)ruelt  als  einen  feltenen  ©djafc 
aufberrjar)ren  wirb." 

Unb  weiter:  „granfretd)  mag  fict)  immerhin  einer  ©acier  unb  6t)atelet 
unb  Italien  einer  33afsi,  Seipjig  einer  ©ottfdjebtn  unb  ©djroeben  fefbft  einer 
gelehrten  ©räfin  »on  ©deblab  rürmten;  nrir  fjaben  eine  getetjrte,  eine  roißige 
unb  eine  tugenbrjafte  »on  33attr)afar  aufzeigen  unb  fönnen  mit  Sftectjt  auf 
unfere  6r)re  ftolj  fein.  %e  feltener  eS  ift,  ein  grauenjimmer  001t  ©tanbe 
ju  femt  unb  fid>  jugleid)  über  baS  ©enie  biefeS  $al)rf)unberts,  nur  betmt 
5Wad)tifd)  unb  Somberfpiel  jtt  benfen  unb  in  frauenjimmerlicben  Äleinigfeiten 
grof?  ju  werben,  ju  ergeben  unb  ben  fd)önen  ©eift  ber  öeler)rfamfeit  p 
roibmen;  je  met)r  Adjtfamfeit  unb  SSerrounberung  bejeugt  bie  oernünftige 
SBett,  roenn  fie  »on  fct)önen  Sippen  bie  Seljren  ber  3BeiSr)eit  ftiefeen  t)öret. 
2)ie  ©ratien  umfd)roärmen  läd}etnb  it)r  ^aupt  unb  jebeS  SBort  ftöfjet  ©nt* 
üücfung  in  bie  ©eele  beS  3ur)örerS." 

©tärferen  2tu3brucf  fann  ber  EultttS  ber  gelehrten  grau  nidt)t  gut  ftnben. 


üranfenpffege  unö  fpecififcfje  (Efjerapfe. 

Don 

JJSartüi  Änbelfofjn. 

—  Berlin.  — 

egenüber  einer  tiefgeljenben  2lnfd)auung  ber  Golfer,  tueidjc  äffen 
Crtcn  unb  äffen  getteu  eigentljumticb,  anjugefyören  fdjeiut,  f»at 
bie  tnebicinifc^e  2öiffenfd)aft,  irjenigftenä  roaä  ibje  Slmocnbung 
im  Seben  unb  if)re  tf)atfäd)lid)en  Seiftungen  anbetrifft,  if>re  SBertfifdjäkung 
mit  3)?üf)»  aufredet  ju  ermatten  unb  su  »ertljetbigcn:  ber  2(n}d)auung  gegen* 
über,  äffe  tfranffyiten  müßten  geseilt  werben  fönnen,  bie  9)?enfd)f>eit  fjabe 
gerabeju  einen  9tnfprud)  barauf,  rjon  ber  5DJebictn  eine  fotdje,  nie  »erfagenbe 
ßeiftungefä^igfeit  51t  »erlangen.  Unb  bodj  ift  fold)  ein  9lnfprud)  nidjfcS 
SlnbereS,  als  rooffte  man  etwa  001t  bem  2tftronomen  »erlangen,  er  foHc  nidjt 
nur  eine  beftimmte  ßonfteffotion  bc$  9)conbc$  jur  Grbe  »orauäfagen  unb 
beredjuen,  fonbern  audj  eine  fjierburd)  »iefleidt  cintntenbe  Sturmflut!}  »er* 
l)inbern  unb  abrcenben.  Tcnn  ben  gleiten,  ewigen,  cremen,  großen  ©efefcen, 
wie  bie  Äörper  be$  SBeltatl^  in  ifjrcn  gewaltigen  ^Bewegungen,  gefyordjen  and) 
mir,  aud)  nad)  ifmen  muffen  mir  unfereä  £afein3  Äreife  »offenben,  unb 
ba$,  was  mir  Slranffjeit  51t  nennen  gewöhnt  finb,  ift  nid)t$  3(nbereS,  aU 
ber  SBiberljaff  ber  gefammten  (Sinffüffc  unb  ©inwirfungen  ber  un§  um* 
gebenben  9iatur  auf  ben  jeber  S3cciufluffung  jugänglid^en  menfcfilidwn 
Crgaui*mu$,  ber  2Biberl)aff  »01t  (Sinwirfungen,  bie  mir  nie  unb  nimmer 
aus  ber  2Mt  31t  fdjaffen  »ermögen,  benn  fie  umfaffen  eben  bie  gefammte 
Üliatur;  unb  wie  unfer  ganje3  Seben  nidt*  anbere«  ift,  alä  ein  „Sidjab* 
finben"  unfere«  3d>S  mit  feiner  Umgebung,  fo  finb  bie  Gpodjcn  ber  Äranfljeit 
nur  jene  ^erioben  im  Sieben,  wo  bie«  beut  CrganiSmuS  nur  fdjwer  unb 


  Kranfenpflege  itu&  fpectfifdje  (Eljerapie.    57 

nur  mit  9)iüljc  gelingt.  Unb  borum  ift  eS  eine  ttatoe  unb  hinter  bet  heutigen 
2Beltanfd)auung  weit  jurürffeteibettbc  Stuffaffung  beS  SegriffeS  ber  Sranfljeit, 
roenn  man  fidj  oorftettt,  baß  in  ber  9iatur,  roie  für  iebeS  ©ift  ein  ©egen* 
gift,  roiber  jebc  "Rranfljeit  ein  Äraut  gerotteten  fei,  bat?  eS  gegen  jebe 
„ftranffiett"  ein  „Littel"  geben  müffe.  9?ur  ber  SBunfd)  roar  hier  ber 
Sater  beS  ©ebanfenS;  unb  ber  SBunfd)  nad)  fo  hohem,  fo  unerreichbarem 
3iet  f»at  bie  beften  ©eifter,  roeterje  bie  mebicinifd)e  SBiffenfdjaft  aufjuroeifen 
b^at,  immer  roieber  oerfudjt,  nad)  Mitteln  gegen  bie  Äranffjeiten  ju  forfdben, 
fpecififd)en  Mitteln,  roetdje  bie  Jlranfheiten  t)ernid)teten.  916er  niemals  ift 
©ncr  mit  biefem  heißen  SBemütm  weiter  von  roafjrer  £eitfunft  entfernt, 
als  roenn  er  fo  mit  gier'ger  .$anb  nad)  Sdwfeen  gräbt  unb  frof(  ift,  roenn 
er  SMcgenroürmer  finbet. 

Um  GtroaS  befämpfen  unb  befiegen  ju  fönnen,  muß  es  ein  ©reifbares, 
ein  Jtörperlid)eS  fein,  ein  reales  SHng,  gegen  baS  man  fid)  roenben  fann. 
Unb  fo  hat  bie  2tnfd)auung  einer  birecten  Sefämpfung  einer  Äranftyeit  burd» 
ein  fpecififdjeS  5D?ittel  eine  gar  bebenflid)e  Hinneigung  ju  jener  mnftifdjen, 
einer  oergangenen  $eit  angehörenben  2luffaffung  »on  ben  ftranfheiten  als 
förpcrtid)er  SBefen,  bie  ben  3Renfdjen  befallen,  als  ftrafenber  2lbgefancter 
ber  ©ötter,  bie  man  burd)  Opfer  unb  ©ebet  nerföfmen  fann.  ®enn  nur 
ber  ^n^att  beS  förpertid)en,  roefenhaften  ÄranfheitSbegriffeS  roürbe  fid)  bann 
im  Saufe  ber  Qahrbunberte  geänbert  haben ;  ber  begriff  ber  Äranffjcit  fclber 
roäre  nad)  roie  wr  ein  greifbares,  materielles  GtroaS,  baS  außerhalb  beS 
menfdjlidtcn  Organismus  ftänbe,  ob  eS  nun  ein  3lbgefanbter  einer  höheren 
9J?ad)t  ober  eine  in  ber  Suft  umher  fliegenbe  23acterie  ift,  bie  fid)  Stöbe 
bann  ganj  nad)  ihrem  belieben  im  menfd)lid)en  Organismus  niebertaffen 
unb  narürlid)  aud)  burd)  entfpred)enbe  3Jiittet  barauS  roieber  nertrieben 
werben  fönnten.  Slber  fetbft  bei  ben  ^nfectionsfranfheiten,  bereu  9?amen 
fd)on  auf  fold)  ein  (Einbringen  einer  fremben  Sd)äbltd)feit  funroeift,  ift  biefe 
bod)  nur  ein  einjigeS  ©lieb  in  einer  großen  Äette  oon  ÜHeijen  unb  dieac- 
tionen,  bie  an  einem  beftimmten  3lnbimbuum  sufammenroirfen  müffen,  um 
$u  einer  Stranfhett  ju  roerben,  unb  3ftd)tS  roäre  unroiffenfehaftticher,  als 
oon  biefem  äußeren  9lgenS  allein  ben  ganjen  Äranfb>itSbegriff  ableiten  ju 
motten  unb  etroa  mit  einem  bequemen  Schema  ju  fagen:  ubi  Bacillus 
ibi  Cholera. 

Äranfheiteu  an  fid)  giebt  es  überhaupt  nidjt,  es  giebt  nur  fraufe 
■äKenfd^en;  unb  aud)  fyex  ift  ber  Segriff  $ranfb>it  etroaS  burdjauS  9MartoeS, 
baS  allein  nad)  ber  ^nbioibualität  ber  einjelnen  ^ßerfon  ju  beurtheiten 
ift.  3Bie  es  feine  abfolute  ©efunbf)eit  giebt,  fo  giebt  eS  aud)  feine  abfolute 
Ämnffieit.  ®er  lebenbe  unb  hanbelnbe  Organismus  beS  ÜWenfdjen  ift  in 
eine  SBelt  oon  Sdjäblidifciten  hincingefe&r,  burd)  bie  er  hinburdh  muß  unb 
mit  benen  er  fid)  abjufinben  hat;  3ltteS,  aber  aud)  9WeS,  bie  Suft,  bie  er 
athmet,  ber  £runf,  ben  er  genießt,  baS  3Kaß  ber  Bewegung,  bie  er  vott-- 
führt,  unb  bie  9htb>,  bte  ihm  roirb,  9ltteS,  9ltteS  roirft  auf  baS  feinftorganifirte 


58    Martin  OTenbelfoltn  in  Berlin.   

unb  complirirtefte  öebitbc  ber  9Zatur  bauemb  unb  bodf)  in  ewigem  Sßechfel 
ein,  2llleS  hinterläßt  an  if»m  feinen  Ginbrucf,  SllleS  beeinftufit  ben  2lblauf 
feines  SebenSproceffeS:  auf  SllleS  reagirt  er.  2Bir  haben  uns  gewöhnt,  ben 
$uftanb,  in  welchem  biefer  ßebenSproceß  fich  leiblich  abfpielt,  in  bem  bie 
Organe  orbentliä)  funetioniren,  wo  mir  uns  fo  eben  behaglich  fühlen  unb 
unfere  Seiftungsfähigfeit  ben  Umfang  fwt,  welchen  wir  nun  einmal  ber 
einzelnen  ^erfönlidjfeit  je  nach  ihrer  .gnbioibualität  als  ben  normalen  311; 
rechnen,  als  ©efunbf»eit  ju  bejeidmen;  aber  an  feinem  £age  erreichen  biefe 
Functionen  ben  gleichen  ®rab  wie  an  einem  anbern,  unb  bie  »erwirrenöe 
Vielheit  ber  äußeren  Ginftüffe  läfjt  auch  bie  Seiftungen,  bie  Xhätigfeit,  baS 
funetioniren  beS  menfchlichen  Organismus  täglid)  anberS  fid)  geftalten.  ©0 
unfägtich  fein  ift  bie  ©inwirfung  biefer  äußeren  Ginftüffe,  baß  fie  nicht 
einmal  materieller  SNatur  ju  fein  brauchen,  um  beutliche  golgeroirfungen 
auSjulöfen,  bafj  ©cmütf)Sbewegungen,  Stimmungen,  pfpchtfdje  Ginbrüde  nicht 
nur  eine  Grl)öhung  ober  &crabtmnberung  ber  SeiftungSfähigteit,  fonbern 
auch  birecte  förperliche  25eränberungen  unb  felbft  ÄranffjevtSjuftänbe  im 
(befolge  haben  fönnen.  $n  biefem  ewigen  Spiel  unb  ©egenfpiel  ber  Gräfte, 
welche  auf  ben  üDlcnfcfjen  in  ber  9iatur  einwirfen,  unb  auf  bie  er  wieberum 
reagirt,  läßt  fich  oon  einer  abfoluten  ©efunbheit  nicht  fprechen;  wir  finb 
ficherlich  3eten  übergefunb,  fühlen  uns  wohter,  finb  leiftungSfähiger  als 
bem  uns  jufommenben  burchfdjnittlichen  SDttttel  entfpricht,  unb  ebenfo  finft 
ber  Slblauf  unferer  Functionen  oft  auch  unter  biefeS  Nüttel,  ohne  gleich 
eine  tieffte  Stelle  ju  erreichen,  wo  wir  bann  uns  als  „unwohl"  erachten, 
nicht  jeboä)  oon  einer  £ranff)eit  befallen  glauben.  2>ie  Guroe  unfereS 
JßebenS,  beren  höchfte  Spifce  bie  ooflftc  ©efunbheit,  beren  tiefftcr  gall  bie 
fchwere  $ranff)eit  ift,  fchwanft  eben  in  ftetem  äöccfjfel  auf  unb  nieber. 

9lun  bringen  eS  bie  ®tnge  ber  SBelt  mit  fich,  bafj  man  folche 
minberen  Störungen  geringachtet';  nur  bie  gan&  ferneren  SBeeinträdjtigungen 
in  ber  normalen  Arbeitsteilung  beS  Organismus  finb  ju  „Sranfheiten" 
geworben.  Gine  2lnjat)l  oon  Grfcheinungen,  welche  gleichartig  an  r>er= 
fehiebenen  Qnbioibuen  bei  erheblicheren  Störungen  in  ben  SSorbergrunb  ber 
3tufmerffamfett  traten,  finb  $u  biefem  Siehufe  ju  EranfheitSlulbern  ju= 
fammengefaßt  worben,  ein  Swftematifiren  unb  Gtnorbnen,  welches  für  eine 
fpätere  Grtenntntß  jmeifeUoS  ber  erfte  Schritt  fein  muß.  3lbcr  man  barf 
babei  niemals  oergeffen,  baß  in  biefen  ÄranfhJttSbilbern,  oon  benen  jebeS 
eine  beftimmte  Summe  flinifcher  Smnptome  enthält,  ein  3ufa'nnienfaffen 
von  Grfdjeinungen  »orgenommen  worben  ift,  welche  uns  jmar  auffällig  unb 
außergewöhnlich  genug  erfdjeinen,  um  regiftrirt  ju  werben,  bie  jebod)  babura), 
bafj  fie  in  bem  Äranfheitsbilbe  gerabe  für  unfere  Sinne  befonbers  b>n>or- 
treten,  noch  burchauS  nicht  eben  baS  SBefentliche  in  bem  außergewöhnlichen 
Vorgang,  welcher  fich  ba  abfpielt,  511  fein  brauchen.  ®enn  bie  Eranfheit 
ift  nichts  3lnbercS  als  ber  3lnpaffungSoorgang  beS  iDienfchengefchlechtS  an 
bie  Scfjäblicbfeiten  ber  Umgebung  im  Kampfe  um'S  Safein,  unb  gerabe  in 


  Kranfenpf lege  unb  fpecififdje  (Therapie.    59 

if»r  tritt  baS  große  ©efc^  SarroinS  an  bem  f)ö<$ftorgamfirten  lebenben 
2Befen  am  greifbarsten  in  bic  @rfd)einung.  SBaS  für  einjelne,  unfcrcn 
9Citgcn  beutlidj  oerfolgbare  33erhältntffe  ber  Vorgang  bcr  3lcclimatifation 
ift,  baS  ift  für  baS  ganje  3)Jenfd)engefd)techt  bic  ©efammtheit  ber  Äranf« 
Reiten,  in  melden  bie  etnjelnen  Snbitn'buen  entroeber  ben  Sdjäbtidjfeiten, 
roeld)e  fie  umgeben,  fid)  anpaffen  ober  in  bem  ohnmächtigen  93erfu<Jje  b^ierju 
erliegen.  Unb  biefer  2lnpaffungSoorgang  geht  mit  einem  fo  erbeten 
unb  fo  angefpannten  <yunctioniren  beftimmter  ©nippen  unb  Snftcme  beS 
menfd)ltd)en  Organismus  einher,  bafj  bie  augenfälligen,  bie  unferen  ©innen 
wahrnehmbaren  unter  biefen  ©rfdjetnungen  uns  als  bie  Swmptome  ber 
5?ranff)eiten  imponiren  unb  jum  eigentlichen  ßranfheitSbtlbe  werben.  2lbcr 
ebenforoenig,  roie  biefe  gerabe  ju  Jage  tretenben  (Srfdjeinungen  nun  aud) 
bie  gefammten,  b,ier  überhaupt  fid)  abfpiclenben  2lbroeidmngen  »on  bem 
normalen  Saufe  ber  Singe  finb,  ebenforoenig  bürfen  fie  gerabe  als  bie 
eigentlichen  franffiaften  Spmptome  angefehen  roerben,  mit  beren  23cfeitigung 
etroa  aud)  eine  23efeitigung  ber  Störung  erjtelt  roürbe.  SllleS  baS,  roaS 
als  Smnptom  in  bem  ÄranfheitSbilbe  in  ben  Storbergrunb  tritt,  ift  nur  ein 
£f)eit,  nur  bcr  unferen  Sinnen  erfennbare  üb,  eil  bcr  »eränberten  2lrbeitS= 
leiftung  beS  Organismus,  nur  eine  Steigerung  ober  eine  £erabfefeung  feine« 
natürlichen  gunctionirenS  in  bem  33eftreben,  fid)  ber  Sd)äblid)fett  anjupaffen ; 
unb  fo  ift  ber  Segriff  ber  Äranffjeit  burdjauS  ein  rein  functioneller,  nicht 
nur  ber  eines  Sebent  unter  neränberten  23ebingungen,  fonbern  bcr  eines 
23eftrebenS,  fid)  ben  oeränberten  53ebingungen  anjupaffen.  9tie  unb  nimmer 
fann  allein  bie  eine  ober  bie  anberc  äußere  Sd)äblid)feit  ben  93cgriff  ber 
Äranfheit  ganj  für  fid)  ausmachen,  unb  ebenforoenig  finb  eS  etroa  bie 
anatomischen  23eränberungen,  roetdjc  hinterher  als  S'Jefibuen  beS  ,Qranff)eitS= 
proceffeS  auf  bem  Seidjentifd»  gefunben  roerben,  aus  benen  fid)  baS  SBcfen 
ber  Äranftieit  allein  sufammenfefct.  Sie  $ranff)eit  ift  trielmehr  in  febem 
einjelnen  $alle  baS  erhöhte,  oeränberte,  abgetenfte  gunetioniren  beS  OrgamS* 
muS  in  feinem  23eftreben  einer  3lnpaffung  an  bie  äußeren  5Retse,  gleid)* 
gütig,  ob  merfbare  anatomifd)e  SBeränberungen  nebenhergehen  ober  nid)t, 
fie  hängt  ihrem  üBefen  unb  ihrer  Sd)roere  nach  immer  nur  »on  ber  3ln= 
paffungSfähigfeit  beS  einselnen  Organismus  ab,  non  bem  Umfange,  in 
welchem  biefer  feine  SebenSoorgänge  ber  Sd)äblid)fett  entfprcd)cnb  ju 
regultren  üermag,  mit  Ginem  9Borte  lebiglid)  oon  ßigenfd)aften,  welche  in 
bem  erfranften  Organismus  fclbcr  liegen,  rocld)e  ihm  eigentümlich,  non 
ihm  unjertrennlidj  finb. 

Unb  in  biefes  »erroidette  Spiel  ber  Äräfte  roirffam  unb  nach  ihrem 
SSillen  eingreifen  ju  fönnen,  nerfpridjt  fich  jene  fpeeipfche  Therapie,  bie  alle 
bie  melfadien  (Sinffüffe  unb  9Jeije,  bie  bem  Traufen  aus  feinem  SUitteu  er= 
roadjfen,  alle  bie  wrfchiebenartigen  9teactionS=  unb  9lnpaffungSmöglid)fetten, 
bie  ein  jebeS  3nbimbuum  in  anberem  9J?afje  befifct,  geringachten  unb  »er* 
nachläffigen  ju  fönnen  glaubt  unb  nur  gegen  einen,  allerbings  ben  legten 


60 


  DTattin  OTenbetfotitt  in  Berlin.  


unb  augenfätligften  ber  einroirfenbcn  ©inflüffe  meint  anfämpfen  ju  muffen. 
Contra  vim  mortis  non  medicamen  in  hortis;  ein  beftimmte*  „bittet" 
gegen  eine  beftimmte  „Äranfljeit"  giebt  e*  ntdjt  unb  fann  es  nidjt  geben. 
3Bo  eine  Xtyerapie  nidjt  an  ben  natürlidjen  Gräften  be*  Drgani*mu*  anfefct, 
roo  fie  nid)t  ftet*  oor  2lugen  b>t,  bajj  ba*,  n>a*  mir  al*  Stranfiieit  »or  un* 
fetjen,  nidjt  in  erfter  Sinie  von  ber  Störte  ber  einbringenben  Sdjäbltdbfett, 
fonbern  oon  ber  Sdmracbe  be*  Überfallenen  Körpers  abfängt,  ba  mufj 
fte  mit  unabänberttdjer  9totfm>enbigfeit  Sdjiffbrud)  leiben.  £>enn  ber  ©rab 
ber  ©rfranfung  t)ängt  oon  bem  ©rabe  ber  in  jebem  %ak  norljanbenen 
©<$nHtdjung  ber  natürlidjen  Sdjufefräfte  be*  ftörper*  ab;  unb  e*  ift 
ber  gleidje  Vorgang,  ob  eine  töbttidbe  ®ofi*  3lrfeitiC,  ba«  eine  9)iat  an 
einem  geroofynljeitsmäjitgcn  2lrfenifeffer,  beffen  Drgani*mu*  ber  Scfiäblidbfeit 
bereit*  gans  angepajjt  ift,  oöllig  fmnptomlo*  abprallt,  ba*  anbere  2M  eine 
fßerfon  fofort  jum  £obe  bringt,  ober  ob  bei  bem  eptbemifdjen  Auftreten 
einer  Seuche,  voo  alle  SWenfdjen  ben  ©iftfetm  gleid)jeitig  in  ftd»  aufnehmen, 
bie  einen,  weil  fie  eben  gerabe  über  bie  entfpredjenben  Sdmfcfräfte  »er* 
fügen,  ttjn  ofine  Söeitere*  elimtniren,  bie  anberen  bie*  nur  unter  ber  (»ödjften 
2lrbeit*leiftung  berjenigen  Functionen  tb^un  fönnen,  roeldje  im  gegebenen 
galle  einen  9lu*gleidj  l»erbei5ufüf)ren  »ermögen,  eine  Steigerung  ber  %ant-- 
tionen,  bie  eben  alä  ©rfranfung  fid)  un*  bartfjut,  unb  bie  Dritten,  nid)t 
p  einer  genügenben  unb  auereidjenben  ÜKeaction  fähigen,  ber  Sdjäblidjfeit 
erliegen,  ^rnrner  ift  ber  lefcte  unb  anfd)einenb  etnjige  9ieij  nur  ba*jenige 
SJioment,  n>etd)e*  ben  &ranff)eitsoorgang  au*löft,  ba*  bie  Gräfte  be*  Drga= 
ni*mu*  anftöjjt,  ba«  Spiel  ber  9lbroel)r  unb  ber  Slnpaffung  in  bem  3Waf3c 
unb  bem  Umfang  ju  beginnen,  beffen  fie  iljrer  inbimbuellen  9iatur  nad) 
fälug  finb;  unb  biefe*  9J?af?  l)ängt,  ba  mir  2llle  ba*  drohtet  au*  unferem 
übertommenen  (Srbtfyeil  unb  ben  fämmtlicben  un*  treffenben  (Sinflüffen 
unferer  Umgebung  finb,  »on  biefen  gefammten  ©nftüffen,  nid)t  nur  »on 
bem  legten,  ben  Vorgang  unmittelbar  auölöfenben  ab.  SMefe  SBerfyiltniffe 
laffen  fid;  »telleidtf  jttjecfmäjtfg  mit  benjenigen  »ergtetdjen,  roeldie  bei  bem 
allgemein  gefannten  Vorgänge  be*  2Bad)*tl)um*  in  Stetradjt  tommen:  in 
jebem  tf)terifd)en  Drgani*mu*,  ber  nod)  in  ber  Gntroidelung  begriffen  ift, 
beftfcen  bie  einjelnen  Seftnnbtfjeile,  au*  benen  er  fid)  jufammenfefet,  bie 
$äl)igfctt,  au*  ber  eingeführten  3iät)rfubftanj  Stoffe  feftjub,alten  unb  p 
u)rem  3lufbau  ju  »erroenben,  unb  jroar  befi|en  fie  bie  ftälngfeit  in  fel»r 
»erfd>iebenem,  aber  beftimmtem  2)Jaf?e,  oerfd;ieben  uid)t  nur  bei  ©attung 
unb  3trt,  bei  beginn  unb  2lbfd)luf3  ber  Gntroicfelung,  fonbern  aud)  ganj 
inbtoibucU,  je  nadjbem  @rbtf)eil  ober  ungünftige  äujjere  Ginnrirfungen  biefe 
3töf)igfeit  ber  2Badj*tf)um*aufnaf)me  mein-  ober  weniger  geftört  b,abcn. 
SBoUte  man  tjier  bei  einem  SBerfudje  ju  einer  günftigeren  SSenbung  nur 
ba*  eine  -Moment,  meldte*  bei  bem  Vorgang  ba*  äufjertidje  ift:  bie  ein= 
geführte  'JJaljrung,  im  3luge  behalten,  fo  mürbe  eine  günftigere  Oeftaltnng 
biefe*,  alfo  oielleidjt  eine  rcidjlidjere  ober  geeignetere  9Jalirung,  nur  ju  einem 


 Kraitfenpflege  unb  f pecif if <^e  (Etjetapie.   


6\ 


ganj  geringen  Steile  eine  33efferung  herbeiführen;  benn  nidjt  barouf  fotnntt  e* 
Sunöd»ft  an,  bafi  bas  SiabrungSmateriat  in  überreidrfidier  SDfenge  »orfianben 
ift,  fonbem  bafj  bie  ntd>t  »ölßg  leiftungsfäljige  >$k  geneigt  unb  befähigt 
wirb,  e§  ju  affimitiren.  Unb  ebenfo  fomtnt  es,  unb  jroar  in  geroiffem 
©imte  geraie  umgefefirt,  bei  bem  Vorgang  ber  Äranffyeit  nid)t  fotoo^t  barauf 
an,  bas  eine  äuftertidje  Slgens  labm  ju  legen,  als"  »ielmebr  ben  Organismus 
$u  befähigen,  ber  ©djäblidtfeit,  bie  ifim  bie  eigentlidjen  Sebensbebingungen 
ftreitig  mad)t,  föerr  ju  werben,  6me  fpectfifdfie  STierapie,  bie  in  bem 
galle  ber  SßadjStljumSftörung  nid>ts  weiter  fönnte,  als  meljr  unb  beffer  ju 
effen  geben,  mürbe  aud)  im  günftigften  %a\k  nidjt  mef)r  leiften,  als  ben 
einen  fdjäbttcfien  Stets  ju  »ernidjten,  ofjne  jebodj  bamit  biejenigen  Vorgänge 
»erimberten  gunctionirenS  im  Organismus  in'S  ©teidjc  bringen  ju  fönnen, 
ju  beren  SluSlöfung  unb  Slbroidelung  biefer  ben  2lnfto&  gegeben  b,at. 

9hm  unterliegt  es  feinem  Sroeif^/  ^aÖ  bort,  roo  ein  fotetjer  9?eij  fort* 
bauemb  unb  immer  roieber  »on  Beuern  roirffam  ift,  bei  ben  QttfectionS* 
franftjeiten  alfo,  roo  er  »on  belebten  unb  fdmell  ftdj  oermetjrenben  DrganiS« 
tnen  auSjugeften  fdjetnt,  feine  33efeitigung  immerbin  fetyr  »iel  roertf)  fein 
nwfj.  2lber  roenn  aud)  eine«  £ageS  einer  »on  ben  ganj  ©roj?en  fäme,  bie 
auf  bem  28ege  nadj  Qnbien  2tmerifa  finben,  unb  uns  äUittet  an  bie  &anb 
gäbe,  roeldje  aud)  innerhalb  beS  menfd)ltdjen  ÄörperS  organifirte  Äranft)eitS= 
feime  $u  »ernidjten  im  ©tanbe  finb,  bamit  allein  roürbe  bie  9Kebicin 
niemals  über  eine  auSreidjenbe  £f)erapte  in  jebem  Äranftyeitsfalle  »erfügen. 
Unb  roie  geringe  finb  bie  2tu3fid)ten  foteber  inneren  9lntifepfiS  überhaupt! 
<Die  menfdrfidte  ©eroebSjelle  ift  im  33erl)äItniB  ju  ber  primiti»en  3eUe  ber 
Sacterie  ein  fo  fein  organtfirteS  unb  fubtileS  ©ebitoe,  bafj  a  priori  ein 
jebeS  2lgenS,  roeldjeS  auf  biefe  fdjäbigenb  einroirft,  in  nodj  »iet  Oberem 
2Jtaj3c  unb  erfycblid)  früher  fie  fel&er  »ernteten  mujj,  aud;  wenn  es  ein= 
mal  gelingen  follte,  bie  Sdjroierigfeiten  ber  gro&en  SSerbünnung  in  ber 
reidtftdten  glüfftgfeitSmaffe  beS  SlörperS,  ber  fdmellen  Elimination  ber  ein« 
geführten  Subftans,  ber  fdjroeren  3ugängtid)feit  ber  ftnfectionSfetme  ju 
umgeben. 

SWein,  roo  es  hunbertfadje  äöegc  giebt,  bie  ©efunbljeit  ju  »ertieren, 
mup  aud;  tnef)r  als  einer  befdjritten  roerben  fönnen,  fie  roieber  ju  erlangen. 
2Bie  bie  ©rfranfung  ein  3lnfämpfen  be«  menfdjltdjen  Organismus  ift  gegen 
bie  auf  tlm  einftürmenben  @d)äblidjfeiten,  fo  muffen  roir,  roo  fid)  biefe 
©egner  nun  einmal  ntdjt  aus  ber  2Belt  fdjaffen  laffen,  roo  bie  Slbroeljr  ber 
f)unbertfältigen  äufeern  3ictge  nid)t  in  unferer  4?anb  liegt,  ben  menfd)tid)en 
Organismus  in  biefem  Kampfe  fo  unterftü^en,  bafi  er  in  bie  beften  SBc- 
bingungen  gebraut  roirb,  ib,n  aufsunehmen  unb  felber  burtbjuführen,  bafe 
mir  fein  Seftreben  einer  3lnpaffung  an  bie  @d)äblid)feiten  in  möglid}ft 
roeitem  SWaße  erteidjtern  unb  förbern.  groar  bie  größten,  bie  geroid)tigften 
unter  biefen  (Sinflüffen:  ben  SD?angel  unb  ben  junger,  bie  Ueberarbeitung 
unb  bie  leidrte  5Wögfid)feit,  51t  »erungfücfen,  ift  unfere       in  ber  baS  tägliche 


62 


  tnartin  Illenbelfoljn  in  Berlin.   


@ebet  ber  2lrmen  nun  tautet:  „unfcr  sürob  für  morgen  gieb  unS  Ijeute", 
mef)r  unb  mefir  ju  »erfiüten  unb  ju  befeitigen  beftrebt.  2lber  all  bie  Reinen 
9tabelftid)e  beä  Sebent  unb  feine  SDJifören,  benen  deiner  entgeht,  bie  ©orge 
unb  ber  Kummer,  bie  aufreibenbe  Arbeit,  bie  2fosfd)roeifung  unb  bie  <$x- 
fd)öpfung,  bie  Erregungen  be$  GtjrgeijeS  unb  ber  Siebe,  ber  3trbett  unb  be3 
Softer^,  bie  <£ntbcl)rungeu  unb  alle,  all  bie  rieten  dornen  unb  SDifteln, 
bie  ba£  !IDJenfcb^ngefd)ted)t  auf  bem  Uebergange  jur  ßroigfeit  auf  feinem 
SBege  fänbet,  rco  t)art  im  3?aumc  ftofjen  fid)  bie  Saasen,  fic  alle  hinter; 
faffen  itjre  ©inbrüefe  an  jeber  ^erfönlidjfeit,  fie  alle  beftimmen  feine  2Biber= 
ftanbäfäfjigfeit  —  feine  3MSpofttion,  rote  mir  jetrt  fagen  —  ben  Slblauf 
feiner  Functionen  unb  feine  änpaffungSfäWgfeit  an  bie  ocbäblidjfeiten,  unb 
fie  alle  fiub  in  tfiren  gotgemirfungen  auf  ben  Organismus  ba  unb  fpredjen 
mit,  roenn  biefer  einmal  »on  einer  befonberen,  testen,  augenfälligen  Sdjäblicfjj 
feit  fo  arg  aus"  bem  ©leid)geroid)t  gebraut  wirb,  bafj  mir  bas"  Äranfljeit 
nennen.  Unb  alle  biefe  ©d)äblid)feiten  roerben  fein,  fo  lange  bas  aflenfdfjem 
gefd)led)t  fein  roirb  unb  fo  lange  ein  Äranfer  oon  ber  9Webicin  £ttfe  fieifdrt. 
(Segen  bie  Äranftjeit  itjm  ein  SJHttet  ju  geben,  oermag  ftentd)t;  aber  einem 
einjetnen  Äranfen  bie  2lnpaffung  an  feine  oeränberten  Sebenöbebingungen 
$u  erteiltem  unb  ju  ermöglichen,  baä  fann  fie  root)t.  Unb  roemi  Semanb 
einen  ^erjfeb^ter  b,at  ober  eine  d)ronifd)e  9iterenentjünbung,  fo  fommt  e£ 
nic^t  forootjl  barauf  an,  bie  ."oerjflappen  roieber  ganj  ju  madjen,  ober  bie  33er« 
änberungen  im  ;Jiierengeroebe  su  befeitigen,  fonbern  barauf,  ben  gefammten 
Organismus"  beä  $ranfen  fo  ju  beeinfluffen,  bafj  trofe  feiner  nid)t  intacten 
Etappen  unb  trofc  feiner  9Jierenläfion  bie  Functionen  in  itmt  fid)  in  ber 
größtmöglichen  2lnnäf)erung  an  bie  9Jorm  abfpieten.  ^>ai  fd)öne  unb  oor 
3tHem  ba3  einer  jeben  Stnforberung  an  bie  mebtrinifdje  2Bijfenfd)aft  burd)= 
aus  ©enüge  teiftenbe  Siefuttat  fötalen  2?eftrebenS  roirb  bann  fein,  baft  ber 
ftranfe  ben  gtetdjen  Sebenägenufs  unb  bie  gtetd)e  Sebensfäliigfeit,  menn 
mögtid)  bi§  jutn  natürlichen  9lbfd)tuf$  beS  3>afeins  beibehält,  mie  menn 
feine  Organe  normal  funetionirten.  (£3  märe  ja  aud)  gerabeju  abfurb,  oon 
einer  fpeciftfd)en  Leitung  ber  &eräftappenfef)ter  ober  ber  9itercncntjünbungen 
ju  fpredjen;  unb  bie  ^nM^n  bitben  bod)  nur  einen  Keinen  Xfjeil  aller 
Äranfljeiten. 

§ter  ern)äd)ft  ber  9)Jebicin  bie  große  unb  umfaffenbe  Stufgabe  ber 
Äranfenpflege.  Unb  roeit  fie  eben  feine  Äranffieiten  fennt,  fonbem  nur 
Äranfe,  t)<»t  fie,  in  jebem  gälte  immer  mieber  auf's  3leue  unb  immer  mieber 
als  ein  neues  Problem,  junäd)ft  bie  SlrbeitSteiftung  unb  bie  Functi°tt,!s 
fäfögfeit  beS  betreffenben  Organismus  unb  feiner  einjelnen  Steile  feftju* 
ftellen  unb  fennen  ju  lernen,  um  einen  ftaren  ßinblicf  gerabe  in  bie  ab; 
roetdjenben  Seiftungen  unb  bie  aufjergeroöfmtidje  Sljätigfett  biefe«  franfen 
Körper«  ju  geroinnen,  ^enn  jeber  ÜDfenfd),  mag  er  gefunb  fein  ober  franf, 
ift  ja  in  feinen  Functionen  nur  bas  Sßrobuct  ber  fämmtlid)en  auf  itm  ein« 
roirfenben  (Sinftüffe  feiner  Umgebung,  unb  franf  ift  er  eben  nur  baim, 


  Kranf enpflege  nni  fpecififdje  Cfyerapie.   63 

wenn  bie  ungünftigen  ßtnflüffe  in  if>m  präponberiren.  3>er  Äranfenpflege 
crroäd»ft  ba^er  als  nädjfte  Aufgabe  bie  5pflid)t,  ben  Äranfen  auä  feinem 
bisherigen  9Jitlieu  fierauSjunebmen,  beffen  einsehe,  etnfeittge  Factoren  fie 
tiid)t  fennt,  unb  ibn  bafttr  unter  SBebingungen  ju  bringen,  roeld)e  big  in 
bie  fleinjten  2>etail3  ber  gefammten  SebenSroeife  befannt  unb  in  ibrer  ©in« 
nurfung  auf  ib>  oerfotgbar  finb.  Dann  labt  fid)  ein  ftarer  Gtnbttcf  ge= 
roinnen,  roeldje  Functionen  in  p  angeftrengtem,  roeldje  in  ju  täffigem 
SBlafje  arbeiten,  unb  bie  Äranfenpflege  f)at  bie  -ffiöglicbfeit,  fuer  einjufefcen, 
bie  aHäugroße  ^nanfprudjnaljme  ju  tnilbern,  bie  fjerabgefetrten  Seiftungen 
wteber  anjuregen;  unb  ju  biefem  3w>ccEc  ift  ein  jebeS  SJHttel  redjt,  roetdjeS 
überhaupt  eine  ©nroirfimg  auf  ben  menfdjlidjen  Organismus  ausüben 
wnnag.  Sßetm  irgenb  roer,  fo  fann  bie  Äranfenpflege  fagen  ,je  prends 
mon  bien  oü  je  le  trouve".  3We  3Jiomente  ber  Regelung  t)on  $örper= 
beroegung  unb  3tub>,  oon  ©ffen  unb  Printen,  oon  ©djlafen  unb  3ßad)en, 
oon  pfodjifdjer  ©rregung  unb  gernb^atten  geiftiger  Sfaftrengung,  alle  bie 
unseligen  birecten  ©nroirfungen  auf  ben  Organismus  unb  feine  einseinen 
£fjeite,  wie  fie  als  ÜRaffage  unb  ©teftrotfjerapte  befannt  finb,  wie  fie  auf 
bem  SBedjfel  beS  SUimaS  unb  bem  ©ebraudj  oon  SBäbern  berufen,  alle  bie 
ntetliobifdjen  Uebungen  beS  ÄörperS  unb  feiner  Organe,  bie  quantitatioen 
unb  qualitatioen  2lenberungen  ber  Grnäfjrung,  alle  bie  unjäfiligen  #anb* 
b>ben,  bie  SRatur  unb  SBelt  unb  SBiffenfdjaft  unb  Äunft  uns  barbieten,  fte 
alle  finb  in  jebem  galle  fo  nad)  bem  einen,  einigen  QitU  bin  anjurcenben, 
bajj  bie  in  ifirem  ®teid)gen)id)t  geftörten  Functionen  beS  Äranfen  lieber 
in  Harmonie  s"  einanber  fommen,  roieber  bie  gröfjtmögltdjc  Slnpaffung  an 
bie  ©djäbigung  erlangen.  ®aS  nennt  man  ^nbtoibuattfiren,  unb  es  ift 
etroaS  gar  fo  9ieueS  nid)t;  unb  nur  bie  unfelige  <Sud)t,  -Wittel  ju  finben 
gegen  bie  Äranffjeiten,  f)at  es  roieber  meb^r  in  ben  föintergrunb  treten 
laffen.  ®ie  inbiotbualiftrenbe  Äranfenpflege  ift  eS,  auf  ber  baS  £eil  ber 
Äranfen  beruht,  bie  ©rfemttnifi,  bafj  nid)t  eine  »ereinjelte  ÜDfafmalnne, 
ein  2Jiebicament,  ein  Stecept  einen  Äranfen  roieber  b>rjufiellen  oermag, 
fonbern  nur  bie  forgfälttge,  anbauernb  burd)gefüb>te  Regelung  aller  feiner 
einjelnen  Functionen.  @S  giebt  eben  feine  SBunber,  roenigftenS  in  ber 
aWebicin  nid)t;  b>r  ift  2llle3  lange,  mübfame,  gebutbige,  fünftlerifdje  3lrbeit. 
•gier  ift  9UleS  nur  FunctionSftörung  unb  Siegelung  biefer  FunctionSftörung, 
unb  an  jebem  Äranfen,  an  jeber  ^crfönlitfjfeit  ift  biefe  eine  anbere.  Unb 
barum  ift  f)ier  Sftdits  fo  fdjäbfid)  unb  fo  rotrfungSloS  roie  ein  <Sd)ema, 
ein  oon  oornf»erem  feftjteb/nber  Zeitplan,  roie  er  in  ben  fogenannten  (Suren 
feinen  2luSbru<J  finbet,  bie  aud)  nur  roieber  gegen  bie  Äranfb>tt  fid)  rid)ten, 
gegen  biejenigen  auffälligen  (Srfdjeinungen,  roeldje  einer  ganjen  ©ruppe  oon 
Äranfen  baS  ©emeinfame,  aber  ntd;t  bag  SBefentlidje  finb. 

9ion  fold)  fnmptomatifd)er  23ef>anblung  ift  bie  roiffenfd)afttid)e  Äranfen= 
pflege  fern;  bie  ©mnptome  finb  ja  gamid)t  bie  Äranfb^eit.  9Sob,t  aber  ftrebt 
fie  eine  ®rteid)terung  unb  33efeitigung  ber  mit  ein^ergebenben  quälenben  &- 

Slot»  unb  6iib.  LXXV.   223.  5 


6^    OTartin  ITteiibelfoljn  in  Berlin.   

fdbeimmgen  an,  unb  batnit  erfüllt  fic  ntd)t  nur  eine  humanitäre  23er* 
pftid)iungi  fonbem  Tie  trägt  aud)  baburd)  roteberum  jum  3(uSgleid)  beS 
franfhaften  ,3uftanbeS  ©erabe  weil  ber  überaus  fein  organifirte 
menfd)lid)e  Organismus  auf  einen  jeben  SWeij,  ber  Um  trifft,  in  feiner  SBeife 
reagirt,  roirb  jeber  quätenbe  ©inbrud  am  Körper  roieberum  ju  einem  neuen 
3teije  unb  jur  Quelle  neuer  gunctlonSänberungen.  „Saluti  et  solatio 
aegrotorum"  lautet  bie  Qlnfc^rift  am  SBiener  Allgemeinen  ÄranJenfiaufe; 
ni(f»t  nur  jum  feilen  ber  Äranfen,  aud)  ju  ihrer  ©rletd)terung  ift  bie 
SWebicin  ba,  unb  gerabe  ba&  fie  ben  Äranfen  ein  gröjjtmöglid)es  9fla&  von 
Sßoljlbefutben,  »on  ©omfort  ju  fd)affen  »ermag,  ift  eine  ber  fdjönften  9tufc 
gaben  ber  Rranfenpflege. 

9tuS  ber  gewaltigen  Sßielfättigfeit  ihrer  3fele  «nb  bem  enormen  Um« 
fange  ihrer  SKtttel  ergiebt  fid)  bie  ©röf,e  beS  wiffenfd)aftlid)en  ftunbas 
ments,  auf  bem  fid)  bie  Äranfenpflege  aufbaut,  &emt  ber  naturmiffen* 
fd)afttid)  benfenbe  3lrjt  barf  für  fein  £anbeln  bie  naturwiffenfd)aftltd)e 
33egrünbung  md)t  nermiffen.  ©erabe  weil  fie  mit  allen  jactoren  beS 
SebenS  einjumirfen  »ermag  unb  einjuwitfen  fud)en  foll,  mufj  bie  Äranfen= 
pflege  bie  2BirIung  eine*  jeben  einjelnen  biefer  gactoren  auf  ben  menfdb> 
tidjen  Organismus  auf  baS  ©enauefte  ju  fennen  beftrebt  fein.  ©aS  ift 
in  eracter,  wijfenfd)aftttd)er  SBeife  bistier  allerbingS  nur  für  ben  fteinften 
XtyU  ber  fiati.  216er  barum  ift  baS  feurige  SÜStmen  ber  Stranfenpflege 
nid)t  gering  ju  adjten.  ©emifj  finb  »tele  unferer  bisherigen  &anbhaben 
aus  ber  ©mpirte  fjeroorgegangen,  aus  ber  Erfahrung,  metd)e  bie  SWutter 
ber  £b>rapte  ift;  aber  fie  werben  alle  fidjertid)  bei  einem  weiteren  gort; 
fdjreiten  ber  SBiffenfdjaft  in  ihrem  thatfäd)lid)en  SBirfen  erfannt  roerben. 
©aS  ift  ja  bei  aller  probuctiüer  ©etfteSthätigfett  ber  9Wenfd)en  »on  9tns 
beginn  an  fo  geroefen,  baß  alles  baS,  was  bie  SBiffenfdjaft  nid)t  in  Raren, 
eracten  gormein  wieberjugeben  Bermodjte,  bie  Äunft  mehr  intniti»  unb  faft 
unberoufjt  jum  2luSbrucf  brad)te:  unb  mit  jebem  Stritt,  ben  bie  3Btffen= 
fd)aft  in  ber  GrfenntntB  weiter  »orfd)rettet,  nimmt  fie  ber  Eunft  bie  be= 
treffenben  Dbjecte  fort  unb  reiht  fie  ihrem  ©ebiete  ein.  <Bo  ift  eS  aud)  mit  ber 
Äranfenpflege.  2)aS  9ted)t  ber  $Perfönltd)feit,  baS  ber  Äranfe  für  fid)  mit 
gug  ooll  in  Slnfprud)  nimmt,  fommt  hier  fogar  in  ber  $erfon  beSjenigen 
jum  3luSbru<f,  ber  bie  $eitanorbnungen  trifft,  beS  2trjteS,  beffen  fßerfön* 
lidjfeit  oft  eine  befonbere  ©innrirfung  auf  ben  Äranfen  unb  ben  Slblauf  beS 
ÄranfhetteproceffeS  ausübt.  Unb  biefe  unb  bie  Bielen  anberen  Qmponbera* 
bitten  ber  Äranfenpflege,  bie  wiffenfehaftttdjer  3tnalpfe  bisher  nod)  nidjt 
jugänglid)'  roaren,  wiegen  gar  gewidjtig,  unb  aud)  bie  &\t  roirb  fommen, 
roo  fie  alle  in  ihrem  inneren  Sßejen  burd)  bie  3Biffenfd)aft  eine  ©röärung 
finben  werben,  gür  b>ute  finb  fie  nod>  ungefannte  ®inge  hinfid)tlid)  ihrer 
SBirfung,  9iamen  nennen  fie  nid)t;  fie  ju  etfemten,  ift  eben  baS  Cbject 
fünftiger  roiffenfd)aftlid)er  $orfd)ung.  3lber  fid)  ihrer  ju  bebienen,  fie  alle 
flar  unb  jielberou&t  jum  SuSgteid)  ber  geftörten  gtonettonen  ju  Berwenben, 


  Kranf enpflege  unb  fpecififcfye  (Efytrapie.    65 

l»at  burdiauS  bie  »olle  wiffenfdjaftltdie  Seredjtigung,  unb  über  fie  abju* 
urteilen,  oljne  fie  ju  fennen,  märe  ein  fernerer  geiler.  Senn  jebes  Urtfiett 
übet  UnbefanntcS  ift  ein  SSorurt^eil. 

Unb  ebenfo  teidbtfertig  wäre  bie  9J?emung,  baS  forgfättige  @ingef>en 
in'S  ©etail,  bie  Siegelung  ber  ftemften  unb  unwefentlidiften  ®inge,  toeCd^e 
ben  ftranfen  betreffen,  für  überftüffig  unb  fleinlid»  ju  eradjten.  Minima 
non  curat  praetor,  gewifj;  in  ber  Äranfenpftege  jcbodt)  fott  fid)  ber  Sßrdtor 
um  2UleS  fümmern.  Qft  bie  ÄranKjeit  nun  einmal  ein  iiampf,  fo  foll  ber 
SRatfjer  unb  Reifer  in  ibjn  itdj  aud)  bie  bewährten  ©epflogentieiten  ber 
(Strategie  tbjrtfädjlid)  ju  9iufee  mad)en.  SBaS  baS  beutfdje  £eer  unüber* 
nrinblid)  mad)t,  ift  md»t  allein  ber  ©eniuS  feiner  5u&rerr  fonbem  bie  un« 
abläfftge  Sorgfalt  unb  peinliche  ©enauigfett,  mit  welcher  biefe  aud)  baS 
©eringfte  unb  fdjeinbar  ©teidjgültigfte  in  bem  grofjen  betriebe  felber  an* 
orbnen  unb  beftimmen.  iDa  ift  fein  ©amafdjenfnopf,  fein  Stodjgefdjirr,  ba8 
rtidt)t  uon  ber  t)öcf)ften  GommanbofteUe  aus  geprüft  unb  angeorbnet  märe; 
benn  biefe  roeif}  fef>r  xoo%  weld)'  einen  gewaltigen  ©influfj  ein  SBerfagen 
trgenb  eine*  5D?omentS  an  einer  anfdjeinenb  unbebeutenben  Stelle  auf  bau 
gunctioniren  beS  ©efammtapparateS  f)at.  Um  wieoiel  gewaltiger  ift  bie 
9Hltfnjirfung  einer  jeben,  felbft  ber  geringfügigften  9J?afmalime  in  bem  fub* 
tilen,  lebenben  Organismus,  wie  wirft  liier  ber  fleinfte  3tcij  burdj  bie 
Summation  feiner  ©ffecte  bis  ju  erfjebtidjen  Steuerungen  fort,  wie  mufj 
an  einem  fo  überaus  reacttonSfäfiigen  SBefen  Stiles,  ausnahmslos  SUleS,  was 
an  if»m  eine  (Sinwirfung  auSlöfen  fann,  in  33ered)nung  gebogen  unb  geleitet 
unb  geregelt  werben.  ®a  ift  baS  Äteinfte  eben  nodj  grofc  genug,  um  beamtet 
ju  roerben. 

So  ift  benn  bie  Sranfenpflege  nur  anfdjeinenb  eine  rein  praftifdje 
SHSriplin;  ttiatfädjlid)  ruf)t  fie  burdjauS  auf  wiffenfdjaftlidjem  Soben.  3)te 
3lufgabe  ber  2Biffenfd)aft  ift  eS,  nad)  ber  berühmten  Definition,  bie  3Sor« 
gdnge  in  ber  JJatur  ;u  befcbreiben.  9?un  benn,  teuren  wir  bie  iungen 
SJiebiriner,  m  bie  Vorgänge  am  menfdjlidjen  Eörper,  weldje  infolge  feinet 
iägUd&en  Slnpaffung  an  bie  Umgebung  in  ifym  fid)  abfpielen,  fennen  unb 
erfaffen  ;u  lernen,  madjen  mir  fie  »ertraut  mit  ben  SBedjfelwirfungen 
jwtfcljen  bem  menfdjltdjen  Organismus  unb  feinem  materiellen  unb  geiftigen 
UJHlieu,  lehren  mir  fie  ftar  feljen  in  ben  taufenbfältigen  Sebingungen  beS 
SebenS,  bann  werben  fie  aud)  bermaleinft  im  Stanbe  fein,  wenn  fie  für 
Äranfe  Statfigeber  unb  Reifer  fein  follen,  mit  allen  Mitteln,  weldje  JJatur 
unb  Äunft  uns  an  bie  &anb  geben,  ben  franfen  Organismus  in  bie  beften 
für  ifm  möglidjen  33ebingungen  ju  bringen.  Sie  werben  bann  bie  liofie 
33efriebigung  in  tfjrem  ^Berufe  bauontragen,  ben  Eampf  um'^  £>afein  in 
biefer  Söelt,  wo  SUleS  Sfllem  feinblid)  wirb,  für  ben  üftenfdjen  gemitbert, 
ju  feiner  Stbfinbung  mit  ifjm  baS  SEWöglidje  beigetragen  ju  Ijaben.  Sie 
werben  bann  aud),  wenn  fie  fo  iljre  Slufgabe  unb  if>ren  SebenSjwed  er« 
faffen,  fernbleiben  »on  öbem,  unwiffenfdfjaftltdjem  Schematismus,  fern  uon 

5* 


66 


  Itlatttn  nien&elfofin  in  Serltn.   


beut  £a)djen  nad»  fpecififdjen  ÜDUtteln  gegen  bie  Äranffjeiten.  2lf>er  audj 
bie  (Sefammtfyeit,  bie  e§  bod)  am  nädjften  angebt,  wirb  fid)  bann  bet  natör^ 
tidfien  ©renjen  ber  mebicinifdien  2Biffenfd)aft  benmft  roerben,  fie  wirb  nidjtä 
UnmöglidjeS,  nidjtä  UnnatürltdjeS  mei)t  t>on  %  beanfprud)en  unb  xäfy 
mef)r  oon,  ber  gel)eimnt&ooUen  gormel  ^  SReccptS  in  tobtet  ©pradje, 
nod)  »on  ber  gleichermaßen  ge^eimnifeooll  erjeugten  ©ubftanj  fpeciftfd^er 
Heilmittel  alles  &ett  unb  alle  ©efunbfyeit  erwarten,  $enn  nur  auf  ber 
tiefften  Gulturftufe  glaubt  man  an  bic  üJtebicinmätmer. 


Die  Sage  vom  (Ewigen  3"öen  in  3taliem 

Don 

Stlfccb  ßufjemann. 

—  Horn.  — 

rj^MjS  ift  feine  attjurüfme,  üietleid^t  aud)  md)t  einmal  attjuneue  33e= 
l'iZOfl  Ijauptung,  bafi  man  in  Statten  über  alles  2lnbere  beffer  unter- 
ErSifiSwfli  ridjtet  ift,  als  Aber  baS  eigene  Jßolf,  feine  ©mpfinbungen,  ©e= 
Bräune  unb  geiftigen  ©djäfee.  ®er  gebitbete  Stattener  l»at  bie  flafüfdje 
SBergangenfieit  feines  SanbeS  stemltd)  gut  am  Sdjnürdjen;  er  fennt  bic 
Cateimfdjen  £)td)ter  unb  bie  »aterlanbifd)e  Sitteratur  bis  in  bie  neufte  3cit 
hinein.  ®r  fpridjt  faft  täglid)  von  SttiuS  unb  GaiuS  unb  wirft  gern  mit 
flafftfd)en  Gitaten  um  fid),  roaS  fid)  ftetS  feljr  großartig  anhört  —  bie 
©agen  unb  «Sitten  ber  fieute  feiner  eigenen  Heimat  aber  fennt  er  nid)t, 
unb  er  giebt  fid)  aud)  feine  aMje,  forooljl  ftej,  nrie  bie  ^Jromnsen  beS 
ßanbeS  überhaupt  fennen  ju  lernen,  nid)t  einmal  biejenigen,  bie  an  jben 
großen  SerbtnbungSftraSen,  liegen.  3d)  fönnte  ein  gutes  ©ufeenb  von 
römifd)en  33efaimten:  beeren  Beamten,  3lerjten,  alfo  gebilbeten  Seuten  an= 
führen,  bie  fid)  nid)t  einmal  foroeit  aus  if)rer  angeborenen  ^rägtjeit  auf» 
juraffen  oermögen,  um  —  mit  einer  ©ifenbalmfafyrt  oon  nur  5l/-i  ©tunben  — 
SReapel  fennen  ju  lernen!  Qd)  fenne  in  Neapel  nod)  gebilbetere  Seute, 
Sßrofefforen  ber  Utrtoerfität  unb  ©elefirte,  roetd)en  bie  2lbf)änge  unb  ber 
SMcan  beS  SßefuoS  nod)  eine  „terra  incoguita"  ftnb! 

311s  am  20.  September  1870  bie  Äugeln  ber  itattemfdjen  Gruppen 
93refd)e  in  bie  Sßorta  pa  in  9iom  legten,  jog  ein  unoerfemtbarer  &aud) 
ber  3lufflärung  unb  beS  3fortfd)rttteS  mit  if»nen  in  bie  eroige  Stabt  unb 
in  bie  ©efilbe  beS  ehemaligen  Äird)enftaateS  ein.  $>te  mit  blutigen  Dpfern 
erfämpfte  ©nigfeit  mar  enblid)  gefidjert  roorben,  unb  eS  b,ätte  bie  flrönung 
biefeS  DpferS  fein  müffen  —  fo  roenigftenS  fjatte  man  es  erroarten  bürfen  — 


68 


  2Uf*eb  Huljemann  in  Horn.   


bafj  bie  feit  Qatyrfiunberten  getrennten  ^Jromnjen  Statten*  fid)  um  fo  tttmger 
an  ben  fo  tjeifj  erfelmten  ©tamm,  an  9tom  alfo,  fdjltefcen  mürben.  Stnfiatt 
beffen  fpuft  ba3  ©efpenfi  beS  StegionaliSmuä  b>ute  toller  als  juoor  int 
politifdjen  unb  nnrtb^d)aftlid)en  Seben  biefer  unglücflidjen  Station,  unb  biefe 
Qntereffennnrt^aft,  oon  beren  SBorfianbenfein  ber  italienifcfje  SparlamentariSs 
mus  ben  fdjlagenbften  33en>ei§  liefert,,  tjält  natfirlidj  aud)  baS  getflige  unb> 
rotffenfd>aftlid)e  ßeben  nieber  unb  im  33amt. 

Unter  folgen  Umftanben  fomrte  ber  grunblegenbfte  $n>eig  ber  neujeitigen 
©efcifjidjtgforfcfmng,  bie  33olfSfunbe,  in  Statten  bisset  nur  fümmerlid)  ge- 
betf>en.  geubaltSmuS  unb  Sßrieftertljum,  reelle  jebe  felbftftänbige  Siegung 
beä  33olf8d)arafter3  erfücften  unb  bie  allgemeine  Unroiffenfyett  jtärften,  fabelt 
nid)t  nur  bie  ftdjtbaren  SJterfmate  ber  gröfjten  <Sulturepod)e  ber  SBelt  jer* 
trfimmert,  fonbern  aud)  —  roaS  nod)  fdjltmmer  —  mit  bem  ©dfllamme 
ber  fünftlid)en  SBerbummung  bie  frudjtbaren  ©efitbe  ber  Ueberlieferungerc 
unb  ©agen  be«  SBolfeS  jugebedt.  2)te  legten  breifeig  unb  einige  Satire 
$aben  wollt  t»ier  unb  ba  biefen  ©d)tamm  ein  roenig  gelüftet,  ©in  fnappe$ 
$ufeenb  betjerjter  SJtänner  unb  grauen,  ba§  ben  flogen  SBertf)  be«  „golflore" 
erfannte,  Ijat  fid)  roofit  baran  gemadjt,  ju  retten,  roaS  nod)  5U  retten  mar: 
bisher  aber  waren  ifinen  nur  SBemge  auf  biefem  SBege  gefolgt.  @8  ift 
auf  biefe  SBeife  ein  ungeheures  unb  unerfe&ttd)e3  3Wateriat  für  bie  ©rforfdjung 
ber  ®efd)id)te  ber  italienifd)en  SSölferftämme  aus  feinen  ©agen  unb  aus 
beren  SBergleidjung  mit  ben  ©agen  unb  Siebern  anberer  Staffen  unb  SBötter 
oerloren  gegangen.  ®ie  in  ba«  ©rab  gefunfenen  @efd)led)ter  b>ben  bie 
SJlärdjen  unb  ©efänge,  roeldje  itjr  3Kunb  in  jenen  fd)lid)teren  3ci*«n  genrifj 
nod)  in  großer  gülle  ju  erjäljlen  mußte,  mit  in  bie  58ergeffem)eit  hinüber« 
genommen,  bemt  e§  ift  feine  gfeber  üorfyanben  getoefen,  roeldbe  fte  aufgejetdmet 
blatte.  33ei  ber  gegenwärtigen  aSerflod)ung  ber  ©itten  unb  ©eroofmb^etten  be£ 
Sebent  aber,  nun  fid)  fdjon  ber  Sauer  felbft  feiner  attebjrnmrbtgen  ©onberfjeiten 
unb  ©onberfprüd)lein  ju  fd)ämen  beginnt,  brofjte  bie  ernfte  ©efafjr,  bafj  bie 
legten  Stefte  ber  non  ben  Sinnen  ererbten  ÜJlftrdjen  unb  ©ejänge  be3  italieni* 
fdjen  SBolfeS  faum  nod)  t>or  bem  Untergange  unb  bem  Sergejfemoerben  ja 
retten  waren. 

Italien!  $n  feinem  anberen  Sanbe  b>ben  fid)  burd)  jwei  ftafirtaufenbe 
bie  Staffen  ber  brei  alten  ©rbtbeile  fo  gemifdjt  wie  fjier.  2Bo  fonji,  wenn 
nid)t  in  Italien,  fonnte  ein  Sßolf  aus  bem  enblofen  ©ctcüfjl  b>ibnifd)er 
©ottfjeiten  unb  d)riftlid)er  SRärtprer,  fagenb>fter  unb  gefd)id)tlid)er  gelben 
bi«  ju  Stapoleon  bem  (Srjten,  SSictor  ©manuet  unb  ©aribalbi  hinauf  bie 
füfmften  ÜJlärd)engebilbe  fptnnen?  63  bezweifelt  Stiemanb,  bafj  e3  ba» 
getfjan  fjat.  306er  erft  ber  madere  ©iufeppe  Sßitrd  mad)te  ben  ©ebanfen 
in  ben  fiebjiger  ^atjren  jur  Jb^at,  als  er  sufammenjuraffen  begann,  roa* 
ba«  23olf  auf  ©teilten  an  geiftigen  ©cfjäfeen  unb  S3ermäd)tnijfen  nod)  befafj. 
9tad)  ib^m  fmb  ®'3lncona,  $>e  ©ubernatis,  ©raf,  ÜKaria  ©aoUSopej  unb- 
nod»  tiefer  ober  3ener  gefommen;  an  einer  plarnnäjsigen,  n»iffenf(ibaftlid)ett 


  Die  Sage  com  C2toigen  3uben  in  Italien.    69 

Ausbeutung  be£  ttaltemfdjen  „gottlore"  aber  Ijat  e3  bis  oor  3af>r  wirb  £<*9 
gefehlt. 

Qn  (e|ter  Stunbe  aber  ift  jum  ©lud  nod)  ein  £offnung3ftem  auf* 
gegangen:  feit  3iouembcr  1893  beutst  Italien,  banf  ber  unermubltd)en  &tn= 
gäbe  be§  ^kofefforS  2lngelo  be  ©ubernatiä  an  btefen  ©ebanfen,  eine  ©efellfd)aft 
jur  Sammlung  aller  im  SöoCf  umlaufenben  llebertieferungen.  2tn  i^re  Spifee 
t»at  fid»  Königin  3Rargb,erita  in  ^ßerfon  geftettt,  unb  jroar  als  ÜJittarbeiterin, 
inbem  fie  felbft  SBolfefagen  in  ben  2llpentftälem  ber  Serge  ^ßtemonts  unb 
SaoonenS  ju  fammeln  gebaute.  91U  bte  ©efetlfdwft  gegen  6nbe  SRouembet 
tljre  S^ätigfeit  eröffnete,  3äf)tte  fie  bereite  an  adjtfiunbert  SWitgtieber  in  atten 
feilen  3t<*Iien§,  benen  fid)  fötale  in  ®eutfd)lanb,  ©ngtanb,  3lmerifa  unb 
anberen  Sänbern  fofort  angefd)loffen  fiabcn.  ®er  3Winifter  fiat  ebenfalls  bas 
feinige  getfjan,  inbem  er  bte  Sebjer  in  ben  Sßrotmtjen  ganj  befonberS  anfielt, 
ifjre  äfofmerffamfeit  auf  bte  Sagen  unb  Sieber  be3  93olfe3  5U  rieten.  GS  ift 
nunmehr  alfo  bte  erfreuliche  2luSfidjt  oorb/mben,  baf?  bie  legten  SRcfte  ber 
3SolfSüberlieferungen  in  Stalten  feftgefialten  roerben,  e§e  fie  t>öttig  »er= 
fdjroinben,  unb  baf}  aus  tfinen  f>erau3  mandje  nod)  bunRe  fünfte  ber  ©es 
fcf)iä}te  bicfeö  SanbeS  eine  roilttommene  3lufftärung  erhalten.*) 

9Ran  wirb  aus  93orftefienbem  fcrjr  leid)t  begreifen,  roie  eS  tarn,  bafj  nod) 
im  3aljre  1880,  unb  jroar  in  ber  „Encyclopedie  des  Sciences  Religieuses" 
ein  fo  bebeutenber  Stomanift  nrie  ©afton  sparte  feine  bamalige  Stbfianblung 
mit  ben  Sßorten  fdjliefjen  fomrte:  „$>te  5BolfStf)ümlid)fett  beS  „©roigen 
3uben"  ift  auf  geroiffe  Striche  beS  norbroeftlidjen  ©uropaS,  fo  auf  2)eutfd)« 
lanb,  Sfanbinamen,  bie  9tieberlanbe  unb  granfretcb/befcb^änft",  unb:  „2öir 
nrieberfjolen  am  Sdjluf?  biefer  2lbl>anbtung  über  bie  «Sage  »om  2lf)aS»er, 
bie  fid)  in  einem  beutfdjen  unb  proteftantifdjen  SWilieu  gebilbet  l)at,  bafe 
fie  in  Spanien,  Italien  unb  bem  öftlidien  Europa  uötlig  ungefannt  ju 
fein  fdjeint."  ^njnnfdjen  rjat  aud)  bie  böfe  SBiffenfdjaft  bie  fo  triel  burdjs 
forfdjte  unb  fo  riW»renb  umbtd)tete  Sage  vom  ©roigen  3"ben  jeber  ^oefie 
ju  entfleiben  »erfudjt.  $er  fürjlid)  oerftorbene  grofje  ©fiarcot  in  ©emetn= 
fdiaft  mit  feinem  3lffiftent  9)teige  I)aben  nadjgeroiefen,  bafj  ben  femittfd)en 
Staffen  befonberS  eine  eigene  3trt  oon  $i)fterie  unb  9Jer»ofttät  anhaftet, 
metdje  fte  ju  einem  raftlofen  Umb^erroanbern  jimngt.  SHefe  ßrantfjeit  befällt 
ganj  befonberS  biejenigen  Suben,  roeldje  im  öftlidien  ©uropa  unter  ber 
rufftfdjen  Äratte  im  ttefften  ©lenb  fd)mad)ten.  Sie  fudjen  ib,r  Unglüc! 
himer  fid)  p  lajfen,  inbem  fie  fid)  in  oerfe^räreid)ere  9)(ittelpunfte  begeben. 
3lber  aud)  l)ier  oerbeffert  fid)  i^r  £ooä  nid)t.  Unb  biefe^  bäftere  SBertiängnif}, 
roeld)e*  tb^nen  anhaftet,  treibt  fie  rufyeloS  »on  Drt  ju  Drt,  felbft  au§  ben 
^eilftätten,  an  bereu  Pforten  fie  b,atb  oerliungert,  lialb  entfteibet  jufammen« 

*)  Unb  nie  t«f)t  §aüt  id),  als  ie^  obige  SinleitinigSxoite  fd^ricbl  9tad)  taum  anbtrt= 
balbiä^riflnn  £eben  ift  au*  bicfe  ©cffDfcfiaft  hinüber,  gevettert  an  ixt  ®le!*flültiflftit 
unb  grcibtuteret,  treld)e  in  3talien  rrgelmägig  ber  erßen  SSegeifttrunfl  unb  Opferfreubigfeit 
ju  folgen  pflegt!  2>er  «erfaffer. 


70  —    2llfte>  Kutjemann  in  Horn.   

bred)en.  ©o  gewaltig  tragifd)  aud)  biefe  2lu«legung  ber  Gntfte^ung  bcr 
2ll)a«»eru«fage  ift,  fo  foH  fte  un«  bod)  mcfjt  bic  uns  lieb  unb  oertraut 
geworbenen  poetifdjen  ©ebilbe  eine«  &amerling,  &auff,  eine«  ©ue  unb 
Duinet  jertrümmern.  $)te  mebicimfd)e  SBtffcnfd^aft  foH  9ted>t  behalten,  aber 
aud)  btejenige,  welche  bie  wirren  (Sänge  aufjuttären  fud)t,  bie  biefe«  wunber* 
barfte,  bunfelfte,  ergreifenbfte  aller  3JJärd)en  im  Saufe  ber  Saljrtaufenbe 
burd)laufen  ift.  glaube  be«l>alb,  bafj  mir  tro|  Gfyaxcot  unb  SBieige  in 
®eutfd)lanb,  bem  SßatronatSlanbe  ber  Sage  nom  2lf)a«t)er,  9Wemanb  gram 
fein  wirb,  wenn  id)  »iele,  bei  un«  nod)  unbefannte  SHnge  über  ben  ©wtgen 
3uben  au«  Italien  berichte,  unb  wie  fid)  im  Äopfe  be«  ttalienifd)en  33olfe« 
feine  büftere  ©eftatt  gemalt  f>at  unb  nod)  malt. 

©in  Sanb,  meiere«  bie  erften  d)riftlid)en  SDlärrorer  in  feinem  ©djofee 
barg,  ba«  mit  bem  93lute  berfelben  nod)  f efter  al«  burd)  bie  römifdjen 
Söaffen  mit  bem  Orient  unb  ben  Seiben«ftätten  be«  £eitanb«  fid)  oerbanb, 
fonnte  in  feinem  ©rwad)en  au«  bem  £etbentl)ume,  wie  man  bod)  woI)l 
annehmen  muß,  fein  einjige«  ber  33egebniffe  au«  bem  Seben  unb  2Birfen 
be«  Sefu«  uon  üWajaretlj  miffen,  am  wentgften  eine«,  weldje«  bie  lefeten 
©tunben  be«  eblen  äRärtnrer«  »erbitterte.  $)a«  mit  einer  aufjerorbentlidjen 
©inbilbungStraft  au«geftattete  S3olt  galten«  ftellte  fid)  in  feinem  ebenfo 
fdmett  empfänglichen,  roie  letd)t  »erwirrbaren  ©eifte  balb  bie  ©djanbrtiat 
be«  Slrieg«fned)tc«  2Wald)u«  ober  9Warcu«  vor,  ber,  anftatt  ber  empfangenen 
SBofyltljaten  eingeben!  ju  fein,  bie  U)m  ber  ©rlöfer  bamit  erroie«,  bafe  er  il»m 
ba«  im  ©arten  oon  ©ethfemane  abgehauene  Db,r  roieber  anheilte,  ben  föeilanb 
auf  feinem  leiten  SBege  oerfpottete.  3Wan  blieb  aud)  md)t  bei  ber  3Jer* 
fpottung  fielen,  fonbern  glaubte  melmefir  ber  @d)ilberung,  bafj  SWarcu«  — 
biefer  9lame  rourbe  lanb  läufiger  al«  SDZaldju«  —  bem  SSerurtfieitten  mit  ber 
etfenbefd)uhten  Sinfen  in  ba«  ©eftd)t  gefd)lagen  b,abe.  ©«  ift  faum  baran  ju 
jweifeln,  bafj  burd)  bie  ©nangeliften  biefe  2Wald)u«fage  nad)  Italien  gebracht 
würbe  unb  bafc  fie  be«l»alb  al«  bie  ältefte  ber  un«  befamtten  betrachtet  werben 
barf.  ©ie  ift  fcfmeH  genug  »olf«tf)ümlid)  geworben,  woju  »iel  gebruette 
33erid)te,  wie  bie  be«  ßarlo  SRanjo,  ©blen  tron  SSenebtg,  unb  be«  ^ßriefter« 
grance«co  3llcarotti,  lefetere  »on  ^ßitrö  unb  £>'2lncona  in  einem  9iad)brucfe 
be«  3<rf)re«  1849  entbeeft,  wefentlid)  beigetragen  haben.  $n  einem  palatiitü 
fd)en  Gober  be«  17.  ^af)rb,unbert«  unb  in  einem  SWanufcripte,  weld)e«  fid) 
—  nad)  SDfittheilung  uon  3t.  3tenier  im  „Journal  für  bie  ©efd)id)te  ber 
italienifd)en  ßitteratur"  —  unter  fedjjig  anberen  „glorentinifd)en  5Ro»eHen 
unb  fonftigen  fid)  befonber«  auf  bie  ©tabt  gtorenj  bejieb,enben  Grjäljlungen" 
in  ber  fönigl.  2tfabemie  ber  3Biffenfd)aften  in  £urin  beftnbet,  lautet  ber  £itel 
biefer  ©age  gleid)mäfeig  in  beutfd)er  Uebertragung:  „©rjabtung  eine«  fic6> 
lid)en  unb  leiblichen  älugenjeugen,  weld)er  al«  gewifj  behauptet  unb  fagt, 
gefe^en  unb  mit  feinen  §änben  berührt  ju  haben  jenen  ©olbaten,  ber  neben 
2tima  bem  Qefu«  9?ajarenu«  eine  D^rfeige  gab,  mit  gan?  befonberer 
©d)ilberung,  in  weld)er  3Beife  er  fo  glüdlid)  gewefen  ift,  eine  fo  großartig 


  Die  Sage  com  (Ewigen  3uben  in  3ta(ien.    7\ 

wunberbare  @ad)e  ju  erblicfen,  wie  fic  no<$  niemals  gefehlt  morben  ift." 
^ßitrö  t^eitt  baS  SBorljanbenfein  eines  weiteren  SelegS  für  bie  9)iatd)uSfage 
mit,  ber  nd),  nad)  ©rfunbigungen  unfereS  oerbienftooHen  gorfd)erS  Dr.  9leu= 
6aur  in  ©Ibing,  in  ber  Untoerfitatsbtbtiotljef  ju  Bologna  befinbet.  &ier 
lautet  ber  £itel  in  ber  Uebertragung:  „©rjctylung  jene«  Lieners,  ber  unferm 
&eilanbe  Qefu  ©^rifto  einen  SBacfenftreid)  gab,  unb  meldte  ©träfe  er  bulbet. 
Unb  eine  onbere  ©rjäljlung,  bie  ein  unu)erirrenber  3ube  tljat,  ber  fid)  bei 
bem  SeibenSgange  unb  bem  £obe  beS  ©rlöferS  jugegen  fanb.  £urtn, 
bei  ©arlo  ©roffo,  a3ud)f)änbler  im  SBejirf  beS  ©aBto.  9Jlit  ©rlaubttifc." 
5E)er  £itel  beS  fd)on  erwähnten  9Jeubru<fS  beS  3af)reS  1849  §eijjt:  ,,©r« 
jäfjlung  |  beS  3uftaiwe3,  meldjem  fid)  befinbet  |  ber  t>erflud)te  unb  unbanfc 
barfte  1 3Md)uS  |  ber  bie  Äübntjeit  blatte  ju  geben  |  eine  Dbrfeige  |  ©Inifto 
unfrem  $errn  |  roie  man  t>on  einem  ernften  (grave)  SBerfaffer  fiört.  |  Neapel  | 
bei  2tt>aUone  1849".  @d)tiefslidj  fanb  $>'2lncona,  rote  er  in  ber  „SHuooa 
Sfototogia"  mitgeteilt  b,at,  einen  nod)  anberen  ®rucf  bei  ben  Verlegern 
SRtglto  unb  ©rottt  in  ÜRooara.  3ln  biefen  5Bertd)t  beSfelben  SSenetianerS 
SRanjo  ift  ebenfalls  bie  gleid)e  „©rjäbjung  beS  umb^erirrenben  Quben"  an» 
gelängt,  roeldje  spitrö  in  ber  Muriner  luSgabe  fanb.  ©iefer  [elftere  33erid)t 
ift  aber  leiber  feine  itafienifd)e  Driginalerjctfilung  vom  ©roigen  ^uben,  fonbem 
lebiglid)  eine  Ueberfefcung  ber  befannten,  beutfd)en,  grunblegenben  (Sage 
vom  ©roigen  Suben,  bie  ^Saul  t>on  ©ifcen  getrieben  fyat.  SDtfan  I;at  aller« 
bingS  ©ifeen  in  ©rijen  üerroanbelt  unb  fpridjt  »on  „2fljaSueruS,  ber  fid) 
je|t  ^SutabeuS  nennt."  ftum  ©dtfuffe  ift  aud)  eine  Strt  roiffenfd)aftlid)er 
©rflärung  ber  ©rfd)einung  vom  rafttoS  roanbernben  3uben  angefügt,  roeld)e 
bie  Seliauptung  »erroirft,  baf?  ber  Qube  ein  böfeS  ©efpenft  fei,  »ielmeln- 
ein  natürlicher  3Kenfcb.  Seben  bod),  nad)  ben  50?a£robiern,  bie  2JJenfd)en  unter 
bem  2lequator  fiebenbunbert  Satire,  unb  gab  es  bod)  jur  3ett  ßarls  beS 
©rof?en  ©inen,  ber  breüjunbert  ^ab^re  alt  würbe. 

.Qene  genannten  SDrucfe  unb  9Zeubrucfe  ber  Sage  Dom  £riegSfned)te 
2WaldmS  roeid)en  in  »ielen  3u9en  von  eiuanber  ab,  roenn  aud)  ber  ©runb» 
tenor  beS  9Mrd)enS  ftets  berfelbe  bleibt:  ein  Seroeis,  baf?  biefe  Sitteratur 
fdjon  feit  Bielen  Qabrtiuttberten  beftanb  unb  sroar  in  einer  aufjerorbentlidjen 
gülle,  »ielfad)  auSgelienb  »on  bemfelben  33erid)te  beS  9tanjo,  uielfad)  aber 
aud)  fd)on  Dor  bemfelben.  %a,  es  ift  eigentlid)  mertroürbig,  bafe  nur  fo 
wenige  unb  faft  gleid)lautenbe  ©ruefe  auf  uns  überfommen  finb;  ift  bod) 
ber  3^9  ber  ^ilger  nad)  bem  ÜKorgenlanbe  bis  in  baS  16.  3al|rf)unbert 
b^inein  ein  aufjerorbentlidfjer  geblieben,  unb  faum  geringer  bie  münblidje 
ober  f(6riftlid;e  33erid)terftattung  ib^rer  ©rlebniffe.  SBäb^renb  nämlid;  im 
Muriner,  uon  Stenier  angeführten  ©ober  ©arlo  9?an50  beim  ©belmamte 
SDiorofini  in  Sßenebig  baS  Segebnife  erjä^lt,  ift  ber  ©ewctyrSmamt  beS 
Sianso  im  3ladE)brucfe  »on  5Ro»ara  ber  »icentinifd)e  ©belmamt  ^Senaglio 
Sorenjo.  ®er  fd)on  ermähnte  5^nceSco  Mcarotti,  Pfarrer  an  ber  Äatfye» 
brale  ber  Stabt  5Ra»ara  —  augenfd)etnlid)  5Rooara  —  roeldjer  bie  gleid)e 


72 


  21lfreb  Hnljemann  in  Rom.   


©Tjäfjlung  beS  iRanjo  als  eigene  miebergtebt,  fü^rt  als  bie  3eugen  „feiner" 
©efä)iä)te  ben  Carbtnal  Delftno,  ^Jatriardj  r>on  Slquila  (Slquileta),  ben 
©eneralprocurator  oon  ©.  SRarco  ©tacomo  ©oranjo  unb  ben  jum  33ot« 
fdjafter  in  ftonftantinopel  an  ©teile  beS  Antonio  Drupota  —  foQ  Ijeifeen 
Diepolo?  —  beftimmten  ©tonauni  ©oronario  —  ©ornaro?  —  an,  fdjliefjlicb, 
ben  £errn  ©iooanni  6nea  Staporto  —  Da  Sßorto?  —  au«  SKcenja. 
Unb  beS  Weiteren  muf?  bie  ©rjäljlung  beS  9tonjo  in  ber  einen  ober 
anberen  ftorm  bem  SSerfaffer  ber  non  4?elbig  unb  9leubaur  angesogenen 
beutfctjen  „3tetation"  befannt  geroefen  fein,  bie  au«  bem  17.  Qa^r^unbert 
flammt.  Der  beutfdje  2lutor  aber  glaubt  ju  roiffen,  bafe  ber  oenetianifd)e 
$Patrijier,  weld&er  baS  merfroürbige  Abenteuer  in  ^erufatem  erlebte,  au8 
bem  ©efdjteäjte  ber  33iand)i  gewefen  fei.  9tanjo,  Siandji,  9Ucarotti  ober 
wie  immer  ber  nacfj  :$erufatem  ©epttgerte  geheißen  Ijaben  möge,  blatte  baS 
©lud,  in  ber  ^eiligen  ©tabt  einem  dürfen  jn  begegnen,  ber  einflmals  von 
beS  Pilgers  ©efdjlecfjt  jum  ©efangenen  gemalt,  oon  feinem  £errn  aber  gut 
befianbelt  worben  mar.  ©er  ehemalige  ©flaoe  labet  ben  ^rembling  pm 
3tbenbeffen  ein,  unb  um  feine  Stbfage  ju  fyören,  »erfpridjt  er  ü)m  eine 
aufierorbentltcfje  ©etienSwürbigfeit.  SHadj  genoffenem  Smbifj  entnahm  ber 
Dürfe  einer  Drufie  einen  ©(filüffelbunb,  eine  Satente  unb  eine  b>tbe  Äerje. 
2llleS  biefeS  »erftedfte  er  unter  feinem  Äaftau.  @r  liefe  fobann  ben  djrift« 
lidjen  ©belmamt  fdjwören,  »or  3tblauf  oon  jelm  Satiren  feiner  menfcfjtidjen 
©eele  ju  oerratljen,  was  er  u)m  jeigen  würbe,  weil  ifnn  felbft  fonft  ein 
grofeeS  £eib  jufttefje.  Die  33eiben  wanberten  nun  eine  gute  Sßiertelmeile, 
bis  fie  an  einen  fdjönen  Sßataft  gelangten.  Der  Dürfe  fdjlofj  nadjeincmber 
brei  eiferne  Df)üren  auf,  worauf  fie  ein  unterirbifcfieS  ©emadj  betraten, 
beffen  Söänbe  unb  gliefen  aus  SRofaif  gemalt  waren.  DiefeS  ©emadj 
war  aber  feineSwegS  unbewohnt,  ein  ganj  in  ®ifen  gefüllter  UJtann  mit  bem 
©abwerte  an  ber  &fifte  fpajicrtc  barin  unermübltet)  »on  einer  SBanb  jur 
anbern  mit  ber  wie  jum  ©daläge  erhobenen  9Jed)ten.  Carlo  -Wanjo  merfte  Rdj 
jebe  ©injelljett  biefer  merfwürbigen  Grfdjeinung.  @r  faf),  bafj  ber  ©ewappnete 
uon  mittlerer,  fwgerer  ©tatur  unb  ftarf  gebräunter  ©eficfjtsfarbe  war,  1)tif)U 
liegenbe  2lugen  unb  einen  leisten  Sartanflug  fjatte.  Der  Dürfe  t»ob"  »on 
Beuern  an:  „©eljt  einmal,  &err  Carlo,  ob  e§  ßudfj  gelingt,  ifm  jum  ©tili* 
fteben  ju  bringen."  £err  Carlo  oerfud)te  es  mutljig,  aber  tro|bem  er  felbft 
ftarf  unb  fräftig  mar,  gelang  eS  tljm  nicf)t,  ben  SRarfdj  beS  ÄriegerS  ju 
unterbrechen.  Der  Dürfe  erflärte  nunmehr  bem  aSenettaner,  biefeS  fei  ber 
©olbat,  weiter  an  biefer  ©tätte  bem  ^efuS  JlajavenuS  eine  D^rfeige  ge« 
geben  Ijabe.  @r  fei  beStialb  bis  jum  Dage  beS  jüngften  ©erid^ts  an  biefen 
Drt  gebannt  worben.  Der  ©olbat  effe  nidjt,  trltife  unb  fcf;lafe  nicfjt,  fprecfje 
nid;t,  fonbern  geb^e  raftlo«  auf  unb  ab.  &err  Carlo  SRanjo  tjat  fein  SBort 
gehalten,  ©rft  äwötf  ^ab^re  fpäter  b^at  er  bei  einem  ©anfett  beim  Gbel= 
mann  9Rorofmi  in  Sßenebig  fein  Grlebnij?  üerratf^en  unb  b^injugefefct:  „3d> 
ging  eines  DageS  an  einem  fjerrlicfien,  mit  einem  ©äulengange  gefijmücften 


  Die  Sage  vom  (Hungen  3n&en  in  Italien.    73 

Sßatafte  üorüber  unb  ^örtc  bafetbft  einen  wältigen  £ärm  von  Letten  unb 
©etjjelböläern.  @S  befanb  fid^  aber  feine  anbere  ©eele  in  ber  9fäh>  als 
eine  Ijod^betagte  (grau.  3"  Hjr  9^9  «&/  um  ftc  8U  fase«/  was  n>ol)t 
btefer  Sarm  ju  bebeuten  fiätte.  ^ert',  fagte  fie,  ,fd)on  feit  trierjig  gafyxtn 
ftebe  td)  b>r,  unb  forooljl  am  £age  roie  in  ber  9lad)t  b«be  id)  biefeit  Särm 
»emommett.  3Han  fagt,  bicfcS  fei  ber  SJMaft  beS  ^Hiatus  geroefen,  wo 
QefuS  üftajaremtä  an  bie  ©äule  gebuitben  war  unb  gegetfjelt  mürbe.'  3$, 
3br  Vetren,  bin  @ud)  ein  toaI>rt)aftigcr  SBürge  für  SlHeS  bas,  was  td}  ©ud) 
erjagt  bttbe,  betm  id)  felbft  babe  jenen  ©otbaten  gefetyen  unb  it)n  mit  ber 
£anb  berührt;  bie  ©eifjet  aber  Ijabe  td)  mit  biefen  meinen  eigenen  Dbren 
Dernommen." 

SBäbrenb  ber  33erid)t  beS  SRanjo,  rote  anjunebmen  ift,  ju  93egimt  beS 
fecbjelmten  SabrbunbertS  im  SDrucf  erfdnen,  \)at  bie  $erfd)met5ung  ber  &e- 
ftalt  beS  ÄrtegSfnedjteS  3Md)uS  mit  bem  Stpoftet  3of)anne§  ober  mit  bern 
Pförtner  ^o^anneS,  roorauS  bie  gigur  beS  ©roigen  $uben  jroeifelloS  enfc 
ftanben  fein  bürfte,  felbft  in  Italien  fd)on  Diel  eber  ftattgefunben.  SSor» 
berrfdjenb  in  ber  SBorftettung  ber  Italiener  aber  blieb  trofcbem  bie  2luffaffmtg, 
baf3  es  2Md)uS  geroefen  ift,  ber  ben  £errn  fdjlug,  unb  ber  für  biefe 
3fre»eltbat  manbern  muft,  bis  it)m  ber  £err  felbft  gebieten  wirb,  jur  eroigen 
9tub>  ein5ugeb>n.  ^ßrofeffor  $)'2tncona  »erbanfen  mir  bie  2Rttt|eilung,  bafj 
ber  von  1482  bis  1528  in  ©iena  lebenbe  ©jtonift  ©igismonbo  £ijto 
bei  33efpredmng  ber  ©emälbe  von  2lnbrea  bi  SSantri  unter  bem  ^abre  1400 
dou  #obaimeS  SuttabeuS  fpridjt,  weit  ber  Mnftter,  ber  von  1369  bis  1413 
lebte,  biefen  Reiniger  beS  ©rlöferS  in  ber  @cte  eines  ©imälbes  abgebilbet  rjatte. 
%i%io  erjäljlt  beS  SBeiteren,  ba§  aud)  er  von  ber  @rfcb>inung  beS  $obamteS 
©uttabeuS  in  ©iena  felbft  beS  Sängeren  gehört,  biefe  jebod)  für  fabelhaft  erflärt 
bätte.  @S  fdjien  i^m,  als  ftüfcte  man  ftdj  lebigtid)  auf  bie  Setiauptung  beS 
Slftrologen  ©uibo  SBonatrt  aus  gorli,  beffen  ©ante  im  20.  ©efang  ber 
„&öHe"  gebenft.  23onatti  erjäljtt,  baB  er  in  Staoetma  einem  genriffen 
9rid)arb  begegnet  wäre,  ber  ftd)  rülimt,  bereits  am  £ofe  ÄarlS  beS  ©rofjen, 
alfo  um  oierbunbert  Sabre  früber  gelebt  ju  bflben.  @S  fei  audb  bamafö, 
fo  fäljrt  Sonatti  fort,  ein  grofjeS  ©erebe  »on  einem  3of)amte3  33uttabeuS 
geroefen,  ber  jur  &tit  ©^rifii  gelebt  b«be,  als  ber  ©rlöfer  jum  Äreuje  ge* 
fübrt  tourbe,  unb  ju  biefem  felbft  b>be  ©b^ftuS  gefagt:  „Tu  expectabis 
me,  dum  venero."  3[obanneS  SuttabeuS  fei  auf  einer  a23allfat)rt  jum 
^eiligen  QlacobuS  im  ^abre  1267  burd)  gorli  gefommen.  33onattiS  33ericf)t  ift, 
roie  sJieubaur  beroeift,  aud)  in  einem  ber  älteften  beutfdjen  ©niete  ber  Sage 
entbalten. 

9iiinmt  man  liier  nod)  einen  S8erid)t  beS  ©er  SWariano  aus  ©iena 
über  feine  Steife  in  baS  getobte  ftmb  bwju>  roeld)er  ebenfalls  t>on  ber 
©d)anbtbat  eines  genriffen  Cannes  33uttabeuS  fprid^t,  aber  ebrlid)  genug 
ift,  ju  gefteben,  bafj  er  nur  von  biefem  gebort,  Um  nid)t  felbft  erblicft  fyatte, 
fo  roären  biefeS  roobl  bie  Anfänge  jur  3SolfSfage  uom  ©roigen  3"ben  in 


- —   2llfre>  Sutjemann  in  Horn.   


Italien.  3)ian  barf  fidj  eben  nidjt  an  bie  Benennung  ftoßen,  bie  ©eftatt 
treibt  immer  biefelbe.  $on  3Md)u«  ober  SDlarcu«  fpridjt  bie  itatiemfcöe 
Ueberlieferung,  »ort  ^oljanne«  bie  uiel  ältere  englifd>e,  unb  ben  ©pitmamen 
33uttabeo  t)at  nad»  ber  ©trmtologie  be«  Sßorte«  unb  nadj  2tnftd)t  aller 
gorfdier  oljne  3roeifel  Italien  bem  rätl)fefi)aften  2Befen  be«  ruljetofen,  iübtfdjen 
£rieg«fned)te«  ober  Pförtner«  be«  Sßontiu«  $ilatu«  gegeben.  Buttare=ftoßen, 
fdjlagen;  deo  =  ber  ©ort:  euo  bell'e  fritto!  £>ie  «Sage  ift  eben,  »on 
kreusrittem  juerft  nad)  Guropa  überführt,  t>on  Sanb  ju  Sanb  unb  nrteber 
jurüdgeroanbert  unb  fjat  bab>r  btefe«  fo«mopotiti)d)e  2lu«fel)en  erhalten. 
$ebe  ^Jrotnnj  Italien«  E»at  fic  fid)  bann  nad)  eigenem  ©efaHen  sured)tgeftu|t. 
£aben  mm  bie  wenigen  ätteften  italienifdjen  S)id)ter,  bie  ftdj  mit  ber  ©es 
ftalt  be«  bie  9tMfel)r  be«  ©rlöfer«  erroartenben  „33uttabeo"  —  nidbt  be« 
umb>rirrenben  —  befdjäftigen,  au«  biefem  Äo«mopoliti«mu«  gefdjöpft  ober 
bereit«  au«  ben  SBorfteHungen  be«  eigenen  SBolfe«?  (Eecco  2lngiolieri  in 
©iena,  jum  SBeifpiel,  bebiente  fid)  bereit«  oor  ©er  ÜJfartano  unb  »or  £ijio 
biefe«  9lamen«  in  einem  ber  haßerfüllten  ©onette  gegen  feinen  Stoter,  in 
meinem  er  fagt: 

II  pessimo  e  '1  crudele  odio  cli'i  porto 

A  diritta  ragione  al  padre  meo 

II  farä  vivar  piü  che  Botadeo: 

E  di  ciö,  buon  di  mc,  ne  Sono  aecorto; 

50lein  graufamer,  aber  geredeter  &aß  gegen  meinen  SBater  wirb  iljtt 
nod)  fo  lange  leben  laffen,  nne  Suttabeu«.  %m  felben  «Sinne  äußert  fid), 
nad»  2Rittb>ilung  be«  Florentiner  ©elefirten  2Korpurgo,  SRicolö  be  Stoffi  au« 
Xreoifo.  @«  fdieint  ftd)  alfo  ju  ergeben,  baß  bie  ©age  uom  „roartenben" 
©unber  urfprünglid)  in  Italien  allein  »erbrettet  mar,  unb  baß  itire  <5r* 
Weiterung  jum  „ruljelofen"  Quben  erft  burdj  fremblänbifd)e  ©inftüffe  erfolgte. 
©8  fdieint  ferner  feftjuftcrjen,  baß  ber  llrfprung  foroolil  ber  einen  mie  ber 
anberen  3lu«legung  im  Horben  Italien«  rourjelt,  beim  bisher  erroälmte  idj 
t^atfäd;lid)  nur  ^Serfonen  unb  ©täbte  be«  nörblid^en  Italien«.  3n  ©iena 
namentlid»  ift  ber  ©taube  an  ba«  teiblid)e  SBorfjanbenfein  be«  ©roigen  Suben 
nod)  beute  feljr  lebenbig.  2)ie  ©age  tritt  bort  in  sroeierlei  ©eftalten  auf. 
■Jlad)  ber  einen  t)at  fid)  bie  ©rbe  umer  2llia§oer  aufgetf)an,  unb  er  ift  in 
ein  tiefe«  Sod)  gefallen,  ©r  bemüht  ftdj  nun,  biefe«  Sod)  weiter  au«jugraben; 
roemt  er  mit  biefer  Slrbeit  fertig  ift,  fällt  er  gerabemoeg«  in  bie  $ötte.  2Bo 
33uttabeu«  oon  ber  ©rbe  »erfd)lungen  nmrbe,  l)ört  man  ben  unaufl)örltd)ett 
Särm,  ben  fein  ©rabewerf  »erurfadjt.  Sefetere  2lmtabme  märe  alfo  bie  gort* 
pftanjung  ber  ©rjäljlung  be«  SOenetianer«  Stonjo  uon  bem  Särm  ber  ©eißetung 
im  Sßalafte  be«  gMtatu«  ju  ^erufalem.  5lad)  ber  anberen,  in  ©iena  um« 
laufenben  Stillegung,  bie  3lleffanbro  SD'ülncona  »on  2Warjocä)i  in  ©iena 
mttgetl)eilt  mürbe,  märe  SButtabeo,  gleid)  bem  3Raldm«,  ebcnfaH«  in  ein 
unterirbifd)e«  ©emad)  eingefd^loffen.  Gr  tobt  in  biefem  ©emadje  umb^er 
unb  »erabreid^t  fidj  felbft  unermübtid)  bie  D^rfeige,  bie  er  einft  ©Eirifto  ju 


Die  Sage  com  «Ewigen  3»>«n  «n  Jtalien.   


75 


£beil  werben  tiefe.  9Kit  ber  &e\t  ift  unter  feinen  gfüfjen  eine  3lrt  ©rube 
entftanben,  in  ber  er  jefet  fdjon  5is  jur  SRafe  fteeft.  SBenn  bie  $öbtung 
iljm  erft  über  ben  ftopf  retdjen  wirb,  wirb  bie  SBelt  untergeben.  Rn  ber 
^romnj  Siena  untertreibet  man  bemnad)  bie  ©eftalt  beS  3Md)uS  aus« 
brüdltd)  oon  bem  ©roigen  Ruhen.  Qd)  möd)te  baljer  behaupten,  bafe  burd) 
bie  oon  aufjen  nad)  Italien  überführten,  abweidjenben  Auslegungen  ber 
(Sage  oom  ©roigen  Raben  fid)  nad)  unb  nad)  SRaldmS  »on  StbaSoer  getrennt 
^at,  unb  baß  Selbe  bann  als  jroei  befonbere  SBefen  bis  heutigen  £ageS 
in  ber  Sßbatttafte  beS  SolfeS  weiterlebten.  3luffaßenb  ift,  baß,  nad)  Sßittoli, 
man  in  einer  ©egenb  Sßiemonts  bem  $uben  ben  -Kamen  „balarin  d' 
Padona"  beigelegt  bat.  ©ine  oenetianifdje  Auslegung  bat  mit  ber  lefcts 
genannten  au*  Siena  eine  große  2lelmlid)feit.  Rn  SSenetien  läßt  man  ben 
$uben  um  eine  auf  einem  Serge  ftejjenbe  Säule  freifen  unb  ibr  bie  <D\)v- 
feige  geben,  bie  er  ebebem  ntdjt  SefuS  felbft,  wobt  aber  2J?aria,  beffen 
95iutter,  »erabretd)te.  2>iefe  33eteibtgung  fonnte  $efuS  ntdjt  »ergeben!  2lud) 
bort  bat  er  fdjon  einen  ©raben  unter  fid)  burd)getreten,  in  wetdjem  er 
bereits  bis  an  ben  $als  fteeft.  2lud)  bort  nrirb  fein  33erfin!en  bis  über 
ben  Äopf  ben  Untergang  ber  SBelt  mit  fid)  bringen.  $>er  SSenetianer  aber 
überlädt  ©Ott  bie  ©ntfdjeibung  über  baS  <5d)idiat,  roetdjeS  ben  ©roigen 
Rüben  nad)  Untergang  ber  SBelt  treffen  foll.  Seiber  bat  ber  Severe  wenig 
SluSfidjt,  fo  balb  »on  feinem  Seiben  erlöft  5U  werben.  Äommt  3emanb  beS 
SBegeS  über  jenen  23erg,  auf  weldjem  2lbaS»er  bie  «Säule  obrfeigt,  fo  fragt 
ber  Severe,  gerabefo  wie  wir  fragen:  ©ntfdntlbigen  Sie,  wie  fpät  ift  es  am 
£age,  ob  bie  SBeiber  nod)  immer  gefd)lagen  werben.  S3ejabt  ber  ©efragte, 
wie  felbftoerftänblidj,  fo  feufjt  33uttabeo  tief  auf  unb  fagt:  „So  ift  es 
nod)  immer  nid)t  3ett,  benn  ebe  bie  SBelt  untergeben  fann,  bürfen  bie 
SBeiber  lieben  Qabre  feine  Sßrügel  befommen!"  ©aS  ift  ed)t  italienifdje  3tuf= 
faffung! 

©in  bcrjbafter  Sprung  über  bie  3J?eerenge  oon  üDtfefftna  nad)  Sicilien, 
unb  bie  tanbläufige  Sage  erbätt  fofort  ein  anbereS,  wärmeres  ©efid)t. 
$ier  finb  „s)Jtorcu"  unb  „23uttabeo"  bem  93olfe  in  ftteifd)  unb  S3lut  über« 
gegangen:  fie  finb  fprüd)wörtlid)  geworben.  33on  einer  93erfon,  bäßlid)  »on 
3luSfeben  unb  ©barafter,  fagt  ber  Sicilianer:  „Havi  'na  faccia  di  lu 
judeu  Maren."  ®er  Äerl  bat  ein  ©efid)t  wie  ber  Rabe  SJiarcuS.  SSon 
einem  2Jlenfd)en,  ber  nidjt  einen  Slugenblicf  5ur  SRube  fommen  famt,  meint 
ber  ^nfulaner:  ß  un  Buttadeu;  ö  come  Buttadeu;  nun  sta  mai 
ferma  come  Buttadeu,  curri  sempre  come  Buttadeu",  unb  fo  fort. 
Sßttrö,  ber  »erbienftoottfte  „ftolflorift"  Italiens,  beridjtet  aud)  oon  ber 
äußeren  ©rfd)einung  beSfelben.  ©r  trägt  einen  unfauberen  £ut  (cappelaccio) 
mit  breiten  Ärämpen,  überaus  langen  S3art  unb  £aare,  beibe  weif?  wie 
Sdmee;  fein  2lnttifc  briieft  ftarfeS  Seiben  auS;  fein  Äörper  ift  bebedt  mit 
einem  langen  unb  weiten  Ueberrod  »on  tiefrotber  garbe;  feine  Stiefel  ffnb 
arg  jerriffen.   Rn  biefem  Stufäuge  wirb  er  wobt  aud)  nad)  ber  SWeinung 


76 


  2IIf r eb  Kut)emann  in  Horn.   


ber  Seute  in  ©ataparuta  bem  Sauer  Slntonino  Gafcto  unb  feiner  jüngften 
£od)ter  erfdjienen  fein,  als  Selbe  jur  SBinterSäeit  aufeerbatb  beS  genannten 
DrteS  in  einer  £ütte  weilten,  um  ftd)  am  geuer  ju  wärmen.  3)ie  £od)ter 
beS  Sauern  erjä^It,  bafj  &ut  unb  ©d)ub>  ber  frembartigen  ©rfd)einung 
gelb,  rotl)  unb  fd)warj  geftreift  waren.  2lntoitino  Ijatte  eine  mädfjtige  gurdjt 
vor  bem  gfrembltng.  Sefeterer  aber  beruhigte  ilnt,  inbem  er  fagte:  „3Srd)te 
©td)  nid)t,  id)  Reifte  SuttabeuS."  ©ofort  erinnerte  fid)  Gafcio  ber  ©age; 
er  lub  ben  ©wigen  3uben  ein,  ftd)  neben  i(in  an  baS  geuer  ju  fefeen,  unb 
iljm  bie  merfroürbtge  ©efd)id)te  feiner  SBanberungen  ju  erjäbjten.  Suttabeo 
TOiflfab^rt  bem  2Bunfd)e  beS  ßafcio,  ba  er  aber  md)t  fiftert  barf,  fo  roanbert 
er  roäljrenb  ber  ©rjätylung  im  3""roer  aufgeregt  unb  raftloS  unu)er.  @t)e 
Suttabeo  ben  Säuern  unb  feine  £od)ter  »erliefe,  teerte  er  fte  nod)  „fünf 
©ebete  an  bie  l)immlifd)e  &anb,  aufeerbem  nod)  eines  an  bie  linfe  £anb  Sefu". 

®in  jroeiter  gorfdjer  ftriltatrifd)er  Segenben,  @aIomone»3Warino,  tljeilt 
jroei  weitere  Auslegungen  ber  ©age  mit,  nrie  He  in  Sorgetto  oon  3Kunb 
ju  SWunb  ge^en.  SBte  ©atomone  jtd)  überzeugte,  ift  biefe  tteberlieferung  aud) 
in  Palermo,  Sßartinico  unb  anberen  Drten  lebenbig  geblieben.  SBie  ber 
Sauer  ^ßietro  SRanbesjo  in  Sorgetto  bem  genannten  $errn  erjagte,  ^abe 
ber  fret)etr)afte  „abreu"  vor  ber  £T)ür  feines  Kaufes  auf  ber  Sani  gefeffen, 
unb  als  SefuS,  ber  mit  bem  Äreuj  auf  ber  ©dmlter  an  itim  »orüberfam, 
3fenen  bat,  fic^  ausrufen  ju  bürfen,  iljn  mit  ©d)tmpfraorten  fortgeroiefen. 
E  maneu  tu  ha  a'  rripusari  nni  la  to'  vita,  caminannu  sempri  sempri, 
antwortete  tl»m  ber  ©rlöfer.  „Unb  $)u  follft  ©ein  Sebelang  9ttd)tS  jum 
Ausrufen  ^aben,  $u  roanbre  immer  unb  eroig."  Unb  fo  ift  es  gefdjeliett. 
„Qefet  ift  er  alt,"  fubjc  ber  Sauer  Sianbejso  fort  ju  erjagten,  „ja  überalt, 
aber  er  ftirbt  nie,  biefer  Hebräer,  ber  ben  SWamen  Suttabeo  erhielt,  roeil 
er  $efu8  6f)riftu8  jurücfgefto&en  (arributtau)  Fiat.  Unb  mandber  rjat  ilm 
fd)on  burd)  Sorgetto  fommen  fetyen,  roäbrenb  es  um  3Jiitternad)t  ftarf 
regnete,  blifete  unb  bonnerte;  9tiemanb  aber  fab,  ilnt  fteljen  bleiben  ober  aud) 
nur  ein  ©tücfdjen  SBrob  annehmen,  roeil,  roie  er  felbft  fagt,  es  u)m  t»er= 
boten  ift,  fo  ju  tfjun,  bis  baS  lefcte  ©eridjt  gefprodjen  ift"  £ier  bat  alfo 
bie  ©age  leine  2lelmliä)feü  mit  ber  bes  9Md)uS,  ebenforoenig  in  ber  faft 
gletd)lautenben  ©rjäljtung  beS  Sauern  ©iufeppe  SRorici  aus  bemfelben 
Drte.  $er  Sefctere  nennt  ben  Quben  aber  nid)t  Suttabeo,  fonbern 
2trributta*2)tu",  ben  „©ottfto&er",  roörtlid)  überfefet.  „2Ber  ilin  erblicft," 
meint  biefer  le|tere  ©eroäb^rSmann,  „bem  erjitylt  er  gern  bie  Seiben  Qefu, 
bie  ©d)merjen  unb  Jolte^t/  bie  biefer  erlitt,  unb  babei  roeint  ber  ,©ottftofeerl 
blutige  3^ränen.  6r  trägt  einen  Durban,  einen  9to<f,  ber  roie  ein  $embe 
ausfielt,  aber  uon  blutroter,  ein  wenig  bunfler  garbe;  aud)  für)rt  er 
einen  fiöljernen  ©teefen  in  §änben."  Som  wahren  3Jlald)uS  bagegen 
fymbelt  baS  ©ebid)t  Dom  „Marcu  disperatu",  bem  „oerjroeifelten  SWarfuS", 
roeld)em  aud)  eine  gleidjlautenbe  in  ©icilien  umlaufenbe  ©rjäb^lung  in 
Srofa  entfprid)t: 


  Die  Sagt  oom  £»tgen  3»&"i  ««  Italien.   


77 


Lu'  Judeu  Marcu  'n  pedi  si  spinciu 
Ca  'na  'nguanta  di  ferru  ben  armatu 
A  Cristu  dotti  un  schiaffu  fortimenti, 
Di  'mmacca  sdillintö  Ii  aagri  denti. 

©er  %ube  3Warcuä  gtebt  fiter  alfo  ©Ijrifto  einen  fo  heftigen  ©djlag 
mit  bem  «fernen  $anbfdjuf),  bafe  ifjm  „alle  3öf)ttc  im  3Jtunbe  fpringen". 
®ie  ^antafie  be$  Stoffes  »eranfdjautidjt  an  ber  &anb  tägliä&er  ©reigniffe 
ficf»  foldje  Situation  fefjr  beuttiö?,  wie  man  fiefjt.  ©ine  jweite  Snrif  »on 
SRarcua,  roie  er  auf  ©icilien  burd>au§  tjeifjt,  finbet  fid)  im  britten  Steile 
ber  „Sßafftonen  ftefu  ©fjrlfti"  »or,  roo  gefagt  wirb: 

E  cu  'na  vogghia  tränna  si  slancian 
Lu  Juda  Marcu  a  lu  Signuri  Diu; 
Di  rabbia  'na  guanciata  cci  tiran 
Ca  'n  terra  menza  facci  cci  scinniu 
E  San  Petru  piriculu  'un  guardan, 
Tagghia  'n  orrichia  a  ddu  cani  Judiu: 
Uesü  Cristu  di  'n  terra  la  pigghian, 
Unn  'era  la  flrita  la  junciu. 

©a$  roäre  alfo  bie  ©efd)id)te  aus  bem  ©arten  oon  ©etfjfemane,  §u* 
farnmengemürfeü  mit  bem  Vorfalle  auf  bem  testen  ©ange  be$  &eitanb3. 
©ie  ftctttamfdie  Sfeffaffung  von  ber  Vertreibung  Gfjrifti  rjon  bem  ßaufe 
beS  Quben,  bot  roeldjem  er  ausrufen  rooHte,  entfprä^e  ben  SBorten  in  bem 
alten  franäöfifdjen  Siebe  com  „©nrigen  ftuben": 

Ote-toi,  criminel, 
De  devant  ma  maison 
Avance  et  marche  donc 
Car  tu  me  fais  affront. 

Weben  Spittrö  miH  aud)  ®'3tncona  fi<fj  oon  ber  ©innrirfuwg  ber 
franjöfifdjen  3Md)tungen  über  benfelben  ©egenftanb  auf  bie  italieirifd&e 
SoI&Ktteratur  überjeugt  traben,  ©r  fanb  bei  einem  ber  fliegenben 
£änbler  in  Sfooti,  bie  allerlei  ©anjonen  unb  äfmlidje  geiftige  33ofltefpeifen 
oertdufen,  als  ba  finb  £raumbüdjer,  33erid)te  oon  grauftgen  2Horbrl>aten  in 
Sßoefie  unb  gJrofa  unb  fo  fort,  eine  in  SJSoefie  gefteibete  Segenbe  vom 
©roigen  Suben,  bie  fid)  aber  bei  näherer  33efid)tigung  ate  eine  faft  nwrt; 
getreue  Uebertragung  ber  franjöfifd)en  „©omptainte"  eroie?.  Sud)  ber 
9tome  be£  .Quben  tautet  foumfjl  in  ber  franjöfifd)en  nrie  italienifdjen 
Sttdltunfl  gleidjmäfjtg,  Qfaac  Saquebem: 

Isaac  Iiaquedem 

Pour  nome  rne  fut  donne 

Mb  a  Jerusalem. 

unb  ber  ttatiemfdje  SDidjter  ©iooatmi  3tomani: 

Isaac  Laquedenime  e  il  nome  mio, 
Jerusalemme  mio  sol  natiö  .... 


78 


  21lfre&  Hnljemann  in  Horn.   


©in  ungteid)  poetifd)ere3  ©eroanb  ^at  bie  ©age  oom  ©roigen  Quben 
in  ben  ttalienifd)en  Alpen  angenommen,  befonbera  im  Aofta*$T)ale.  ©o 
erjagten  ÜWaria  ©at>U£opes  in  iliren  »ortrefflidjen  „Alpenfagen"  (Stuttgart 
3lb.  Sonj  unb  60.)  unb  ©orona  in  „Aria  di  Monte."  9tod)  ifjnen:  „ce 
bougre  de  Mont  Cervio  non  c'era."  An  ber  ©teile,  roo  fid)  jefct  bie 
riefige  ^ßnramibe  be$  3Jtonte  ©eroino  ergebt,  gab  es  einft  eine  btttyenbe 
©tabt,  in  roeldjer  ber  ©roige  ^ube  eine  freunbfd)aftlid)e  Aufnahme  fanb, 
fo  ba§  er  in  einer  furjen  5Jaft  feine  müben  ©lieber  rubren  fomite.  Als 
er  aber  nad)  taufenb  ^afiren  roteberfelirte,  fanb  er  an  ©teile  ber  gaffe 
freunblidjen  ©tabt  ben  unb>imlid)en  ©ebirgSriefen.  £tef  betrübt  über  ba« 
©djtcffal  berfetben,  meinte  er  lange,  unb  au$  feinen  JTiränen  ift  ber 
fd)marje  ©ee  unroeit  »on  gexmait  entftanben.  $)ie  ©aoisßopej  unb  aud) 
£fd)ubi  b^aben  gefunben,  baß  im  ganjen  3uge  ber  Alpenfette  ber  ©laube 
umgebt,  ba§  ©rfdjetnen  be3  ©roigen  Quben  jiefie  Ungtüd  nad;  fid).  £>er= 
felbe  Aberglaube  ift  in  Jranfreid)  eingerourjett.  33e»or  9tooaiHac  ^einrid)  IV. 
ermorbete,  mar  Afyaäoer  in  23eau»ai3,  itöoi)on  unb  anberen  ©täbten 
granfreid»^  gefeb>n  morben.  $n  ber  ©djroetj  gilt,  ber  ©roige  Qube  aud) 
als  Sßropfiet.  Stuf  bem  ^ßaffe  »on  3ermatt  nad)  SBreil  rw)te  ebenfalls 
ber  §lud),  ben  Af>a3»er  burd)  ba3  Ueberfdrc-eiten  beSfelben  barauf  $avü& 
gelaffen  blatte.  ®er  tieilige  S^eobuluS  brad)  benfelben,  inbem  er 
juerft  nad)  ifmt  ben  ^afi  überfduitt  unb  bie  bort  fid)  auflialtenben  giftigen 
©d)langen  befdjroor.  $er  $ügel  ift  bab^er  nad)  bem  ^eiligen  benannt 
morben. 

2>ie  SSermutfmng,  baß  aud)  in  Italien  ber  ©laube  an  bie  ©riftenj 
unb  baS  jeitroeilige  ©rfd)etnen  be«  ©roigen  $uben  »orfyanben  unb  meit 
älter  fein  müßte,  aU  bie  bisher  befamtte  Sitteratur  ergab,  ift  glfinjenb 
gered)tfertigt  roorben  burd)  eine  neuere  ©ntbedung,  bie  aber  [eiber  aud) 
©eutfdjlanb  ben  9htbm  ju  nehmen  fd)eint,  bie  ältefte  ©efdndne  vom 
©roigen  Suben  ju  befifcen.  Smfyvafoext  $cfyxe  vot  bem  Auftreten  2fl)a3s 
»erä  in  ©eutfdjlanb  ift  er  in  £o3cana  roieberfiolt  erfdjienen,  unb  baß  liier 
feine  $ßf)antaftereien,  fonbem  tf>atfäd)tid)e  Segebmffe  erjagt  werben,  bemeifen 
auf  ba§  ©d)lagenbfte  bie  außerorbentlidj  intereffanten  ®ocumente,  roetd)e 
©.  SRorpurgo,  ber  »erbienftoolle  23ibliotljefar  an  ber  „3fäccarbiana"  in 
glorenj,  gefunben  unb  geprüft  b>t.  Qn  ber  fdilidjten,  gemeißelten  Sßeife 
be$  15.  3«b^rl)unbert§  erjä^lt  uns  ein  gerotffer  Antonio  bi  g-ranceSco 
b'Anbrea,  ber  mit  feinen  33rfibern  Anbrea  unb  SBartotomeo  in  Siorgo  a  ©an 
Sorenjo  unb  in  glorenj  felbft  anfäffig  mar,  »on  ifirem  nrieberl)otten 
3ufammentreffen  mit  „©to»amri  33otabbio,  aud)  genannt  ©iooannt,  ®otte«= 
biener"  roäljrenb  ber  Qab^re  1410  bis  1420;  femer  »on  ben  ©reigniffen, 
bie  fid)  auf  ©runb  ber  ©rfdjeimmg  beS  ©roigen  3"ben  in  gtorenj  ab= 
gefpielt  Ijaben. 

„3u  ©firen  unb  jum  9tulim  beS  allmädjtigen  ©otte«,  in  feiner  ®ret* 
b>ittgfeit  3?ater,  ©ob^n  unb  {»eiliger  ©eift,  unb  feiner  immer  jungfräulidjen 


  Die  Soge  com  €n>igen  3«ben  in  3talien.    "9 

■ättaria,  unb  beS  gefammten  l)tmmlifd)en  £ofeS  oom  ^ßarabiefe,"  fo  Riefet 
ber  genannte  Slntonio  feinen  merrroürbtgen  Seridit  an,  „werbe  id;,  arm= 
feiiger  ©ünber  ober  beffer  gefagt,  großer  geroolntfyeitSmäßiger  unb  häufiger 
©ünber,  in  biefem  £efte  eines  ber  nmnberbarften  2)inge  in  Erinnerung 
bringen,  roie  fie  oieUetd)t  ber  größte  2t»ei[  ber  bleute  Sebenben  niemals 
wirb  oernommen  t»aben.  Unb  mit  großem  3agen  ^be  id)  bie  geber  in 
bie  ^anb  genommen,  um  biefe  fo  nmnberbaren  £>inge  ju  erinnern  unb 
nieberjufdjreiben,  roeil  man  mir  barin  nid)t  glauben  möd)te.  ®eSb,alb  gefje 
id)  mit  $urd)t  an  baS  SBerf.  Qd)  will  mir  aber  SDtutb,  jufpred)en  unb 
rufe  @ott  unb  bie  anbent  Seroolmer  beS  Rimmels  als  meine  3*ugen 
an,  aud)  Qfene,  bie  nod)  am  Seben  finb  unb  jum  £l)eil  jene  ©inge  mit 
anfallen,  bie  id)  im  golgenben  erjäf)len  null.  $>eren  Flamen  roerbe  id) 
nad)  !äJiaß  unb  93ebarf  funbgeben,  fobalb  im  Verläufe  ber  ärbeit  es  3eit 
fein  wirb,  fie  ju  nennen." 

■Jiad)  biefer  oertrauenerioedenben  ©inteitung  tt>cilt  uns  2lntonio  bi 
granceSco  b'2lnbrea  mit,  baß  it>m  bie  ©rfd)einung  beS  ©otteSbienerS 
$ot)anneS  oom  ^örenfagen  bereits  befaimt  mar,  el)e  er  beffen  oerfönlidje  33e* 
fanntfdjaft  madjte.  „2>otabbto"  ober  Suttabeo  —  id)  mitt  b«.  bem  ge* 
läufigeren  tarnen  bleiben  —  fei  faft  in  allen  feilen  ber  ^rooinjen  ^ta£ien8 
gefe^en  roorben.  SUte  Seute  oerfid)erten  2lntonio,  baß  fie  fetbft  ben  ftubtn 
gefetien  unb  gefprod)en  Ratten,  ©in  ganj  befonberS  glaubroürbiger  ©e= 
mäljrSmaim  hierfür  fei  ilmt  ber  greife  Sartoto  bi  Qadjooo  aus  gaena  im 
©ebtete  oon  3=iren}uola,  ein  3Jiamt,  ber  ftets  fromm  unb  ad)tbar  gelebt 
fiabe.  tiefer  b>be  Antonio  oerfid)ert,  baß  Spannes  in  feinem  &aufe  in 
S3orgo  a  ©an  Sorenjo  bi  SKugetto  fid)  ausgeruht  unb  tym  oon  oielen 
fingen  gefprod)en  fiabe,  bie  nur  ©ott  allein  Ijätte  nriffeu  fönnen.  ©eitbem  Ijabe 
fid)  Suttabeo  in  Italien  nid)t  meljr  fetyen  taffen,  toeil  er  ja  aud)  bie  übrigen 
Steile  ber  SBelt  befugen  muffe.  Antonio  roiH  gefunben  t)aben,  baß  eS  un= 
gefä^r  an  Ijunbert  Saljre  bauert,  etye  ber  $ube  roteber  bemfelben  Sanbe  einen 
33efud)  abftatte.  ©emnad)  märe  alfo  fd)on  ju  Seginn  beS  14.  QabjlnmbertS 
bie  Sage  unb  bie  ®rfd)einung  beS  ©roigen  in  Italien,  menigfienS  im  nörb« 
tid)en  Steile  ber  ipatbinfet,  befamtt  gemefen!  ©enug,  in  bem  ®ecember  beS 
^alireS  1411  —  nad)  ben  Unterfud)ungen  SDlorpurgoS  muß  eS  aber  boJ 
:$at)r  1416  getoefen  fein  —  gegen  SBetlntaditen  !eb,rte  ein  geroiffer  ©iano 
bi  ®ucdo  aus  33ologna  nad)  lefcterer  ©tabt  jurüd,  auS  roeldjer  er  fid)  nad) 
£oScana  unb  jroar  nad)  33orgo  a  ©an  Sorenjo  geflüchtet  batte,  weil  bie 
SSerbatmten  S3olognaS,  namentlid)  bie  ©Ijuibottt  ifjm  gebro^t,  fie  mürben  tlm 
fo  lange  Jüngern  laffen,  bis  er  bie  eigenen  Äinber  äße.  ©iano  bi  SDuccio 
mar  nämtid)  ein  ^reunb  »on  Suigi  ba  fjßrato,  bem  Regenten  Bolognas.  $>a 
bie  ©uibotti  feine  3tu8fid)t  ju  einer  ^cRe^r  nad)  Bologna  Ratten,  fo  liielt 
es  ©iano  für  rid)tig,  felbft  nad)  Sologna  jurüdjureifen-.  ,,©ie  brad)en 
alfo  oon  Sorgo  auf  mit  einem  ^iferbe,  baS  jtoei  Äörbe  trug.  3m  einem 
faßen  3)uccio,  jroölf  3tu)re  alt,  im  anberen  ©iooanni  im  älter  oon  ad)t 

Sort  unb  SOb.  LXXV.  223.  6 


80 


  Zllfteb  8ut(emann  in  Horn. 


fahren  —  beibe  bie  ©ötme  be§  genannten  ©iano."  2lnbrea,  bet  33ruber 
beS  ©poniften  Antonio,  führte  baS  ^Jferb,  mährenb  hinter  ifoten  ©iano 
felbft  auf  einem  ftarlen  ©aule  bahertrabte.  %m  ©ebirge  nun  überfiel  fie 
ein  fo  fürchterliches  Schneetreiben,  baß  bie  Sßferbe  fortmährenb  ausglitten, 
fielen  unb  bie  Äinber  fontit  in  großer  ©efaljr  fchwebten.  3JKt  9Jlühe  unb 
9toth  erreichten  fte  SRifrebi,  an  ber  alten  ©traße  naa)  Bologna. 

„SBährenb  fie  ftdj  ein  wenig  ruhten,  erreichte  fie  ber  genannte  ©ionatmi 
SSotabbio,  ber  fräftig  bergab  marfdhirte.  ©er  bemußte  Stnbrea  rief  ib^n 
besbalb  an  unb  fagte:  „D  Sruber,  wenn  es  ©ir  beliebt,  leifte  uns  au* 
Siebe  ju  ©ott  ein  wenig  ©efettfcfjaft,  bamit  biefe  ßinber  nicht  ju  ©<Ijaben 
fommen."  ^ener  mar  nämlich  im  ©ewanbe  beS  „pinzochero"  vom 
britten  Drben  beS  heiligen  3-ranjiScuS,  aber  ofme  SJlantel  unb  mit  nur 
einem  ©4mhe  oerfeben.  ©r  antwortete:  ,,©ut,  ©ott  p  Siebe."  ©o  ging 
er  mit  Urnen,  bie  &änbe  an  bie  Äörbe  gelegt.  Unb  Slnbrea  führte  bas 
Sßferb,  währenb  ©iano  auf  feinem  Sßferbe  ritt.  SBährenb  fie  fo  reiften  — 
unb  bie  ©efahr  mar  groß  —  roanbte  ficf>  ber  bewußte  ^«"neS  ©ottes« 
biener  an  ©iano  unb  fragte:  „2BiHft  ©u,  baß  ich  biefe  Änabeu  rette?" 
Antwortete  ©iano:  „3a,  bei  ©ott."  ©agte  Johannes :  „2Bo  motten  mir 
übernachten?"  $n  ©chartchalafino,"  antwortete  ©iano.  „2luf  benn,  im 
SRamen  ©ottes,"  fagte  3"f>anne3.  Unb  mit  biefen  SBortfen  fefete  er  ftd)  auf 
jebe  ©d)ulter  einen  ber  Änaben  unb  fagte:  „galtet  (Such  feft  an  meinen 
paaren."  Gr  blatte  bie  ßapuje  heruntergenommen,  unb  fo  gefdjah  es. 
Unb  ba  ifim  ber  ©dmh  unbequem  mar,  warf  er  tf»n  fort.  Gr  ging  bacon, 
unb  in  wenigen  2lugenblicfen  mar  er  ihren  3lugen  entfehmunben,  fo  baß 
fie  ttm  nicht  mehr  erblidten.  Gr  langte  bei  ber  Verberge  eines  aBirt^e«, 
•JlamenS  6t)apec^io  an.  Gr  fefete  bie  Äinber  bafelbft  an  bas  g^uer,  tröftete  fie, 
ließ  ein  ^Jaar  guter  Kapaunen  abfdjlachten  unb  über  baS  geuer  Rängen,  unb 
fie  fdmtorten  fcfion  im  £opfe,  als  ©iano  eintraf,  ber  fict)er  glaubte,  feine 
©öfme  oerloren  ju  haben,  jefet  aber  in  großer  greube  mar." 

$n  ber  Verberge  nach  bem  9tad)tmaf)te  legt  33uttabeo  bie  erfte  Sßrobe 
feiner  unheimlichen  3tttnriffenheit  ab.  2BäIjrenb  man|  behaglich  am  geuer 
ftftt,  fragt  ©iano  ben  SBirrtj,  nrie  bie  ©efdjäfte  gehen,  ©er  2Birtb,  jammert 
ob  ber  fchledjten  ©efdfiäfte,  bie  ihm  nicht  einmal  erlauben,  feine  ©ödtrter  ju 
oerheirathen.  darauf  lacht  SButtabeo  unb  erflärt  ben  9teifegefäb>ten,  es 
gäbe  auf  ber  ganjen  ©trecfe  »on  Bologna  nach  ^lorenj  fein  ftärfer  befudhteS 
©aftfjauS  wie  btefes.  2luct)  tyibe  ber  2öirth  ©elb  genug,  um  feine  ©öchter 
ju  oerheirathen,  benn  er  halte  240  ©olbgulben  in  einem  Soctje,  feine  jwei 
2trmlängen  oon  ©iano«  33ette  entfernt,  »erftecft.  ©er  Sffiirth  leugnet  unb 
man  janft  fich  ein  roenig.  „3ct)  glotme,  ich  h^e  ©aufler  (ciarlatani)  im 
föaufe,"  meim  ber  erbofte  SBirth-  2(m  nächften  SWorgen  aber  jiefit  er  boch 
Suttabeo  bei  ©eite  unb  fragt  ihn  um  Start),  „^erheirathe  ©eine  Töchter," 
antwortet  ihm  ber  aHrotffenbe,  „anbrenfalls  oerfünbe  ich  ©»*/  ^oß  fte  fchled/t 
gerathen  werben."  ©er  ^erbergSoater  that,  wa§  ihm  ber  Qube  rieth,  unb 


  Die  Sage  com  (Etpigen  3U&*"  ««  3tal«en.    8[ 

er  Ijatte  es  mä)t  ju  bereuen.  ®S  muß  übrigens  bemerft  werben,  baß 
Antonio  auSbrücflicf)  ermähnt,  ber  ©otteSbtener  habe  fiefj  nicht  beS  33etteS 
als  Sagerftätte  bebient.  £rofcbem  SlhaSoer  hier  uns  als  ein  ganj  anbereS 
SBefen  erfdjeint,  ift  ber  urfprüngltche  ©{«rrafterjug  beS  3tuf)etofen  burcbauS 
nicht  »erwifdjt  worbeit.  „Unb  baS  jefet  h«be  td)  etjcujlt,  batnit  $fot  vtx* 
flehet,  rote  ihm  alle  verborgenen  ©inge  offenbar  (tnb,"  fcljließt  Slntonio  biefen 
©heil  feiner  Slufoeicfmungen,  „jefet  wollen  roir  von  größeren  Saaten  fprechen." 

S3uttabeo  beroeift  in  SBalir^eit,  baß  er  nicht  ein  Gfiarlatan  ift,  ber 
nur  gefchieft  erraten,  wohin  ber  SBtrth  feine  ©olbgulben  ju  fteefen  pflegt. 
SBäfirenb  er  mit  ©iano,  Stnbrea  unb  ben  beiben  Änaben  roeiter  beS  2BegeS 
nach  ^Bologna  siebt,  erflärt  ©iano  tf)m  bie  SSerantaffung  jur  befdfiwerlichen 
SReife  in  ftorrer  SBinterSjeit.  üliicht  roenig  »erblufft  mag  Sefcterer  geroefen 
fein,  als  ü)m  Johannes  mit  aller  (Seelenruhe  »errieth,  baß  innerhalb  jelnt 
©agen  bie  ©fmibotti  fid)  roieber  im  Sei'ifce  uon  Bologna  befinben  mürben! 
©iano  roill  fofort  umfehren,  ber  3ube  aber  fagt,  er  hätte  $u  fürchten, 
menn  er  feinem  9iattje  folgen  wollte,  im  ©egentheit,  er  roürbe  alsbalb  ber 
befte  $reunb  ber  if»m  bisher  feinbttchen  ©tppe  fein.  Unb  fomit  nerblieb 
2lhaS»er  »om  ©omtabenb  3lbenb  bis  ÜDJontag  früh  im  &aufe  ©wnoS  ju 
Bologna.  SBährenb  biefer  grift  bertetf)  fieb.  nicht  nur  Smttabeo  mit  ©iano, 
fonbern  ftellte  ihm  auch  ein  „brieve",  ein  23re»e  atfo  au«,  welches  ifjn  »or 
jeber  £auSburcbfuchung  ober  ähnlichen  Seläftigungen  fcf)ü|en  roürbe.  ©attn 
oertiefe  SButtabeo  feinen  ©aftfreunb.  9lnbrea  begleitete  ben  5Rut>elofen  bis 
$um  ©höre  unb  wollte  ihm  unterwegs  ein  Sßaar  neue  ©tiefei  taufen,  ©er 
3ube  aber  fct)tug  fie  aus,  oerfpradb  bagegen  2lnbrea  bureb,  §anbfd)tag,  if)n 
in  feinen  Käufern  in  Sorgo  unb  in  Dörens  ju  befudben.  2Bte  es  SlhaSoer 
twrauSgefagt,  fo  gefebab.  es.  ©iano  würbe  ber  gute  greunb  ber  ©huibotti. 
©ie  Grabung  ber  SBolognefen  ju  ©unften  ber  Seftteren  fanb  am  5.  Januar 
1416  ftatt.  @S  ift  bafier  leicht  nac^juweifen,  bat?,  wie  febon  oben  bemerft, 
Slntonio,  ber  ©rjronift,  fiel)  im  ©atum  irrte,  wenn  er  1411  febrieb. 

©er  ewige  ^ube  burebftreifte  barauf  bie  ganje  Sombarbei,  bie  50?arfen 
oon  £reoifo  unb  3lncona.  %,n  SSicenja  wollte  ihn  ber  „chapitano",  ber 
Statthalter,  auffnüpfen  laffen.  211?  man  aber  ben  ©trief  anjietien  wollte, 
war  ber  93uttabeo  nicht  oon  ber  ©rbe  freijubefommen,  trofcbem  ber  ©tatt* 
Rätter  felbft  anfaßte,  ©in  neuer  ©trief  riß  in  brei  ©tücfe.  „D  wahrer 
unb  flttmädfjtiger  ©ort,"  ruft  an  biefer  ©teile  ber  6l>romft  mit  ber  ganjen 
9taioetät  feiner  3eit  unb  feines  ©laubenä  aus,  „wie  groß  ift  bodfj  ©eine 
Siebe  ju  ©einen  ^reunben,  baß  ein  fotdljer  .^anfftrief,  ber  einen  ^urm 
hätte  heben  fönnen,  in  mehr  ©tücfe  jerfiel,  atö  Re  felbft  bie  gäulnif} 
hätte  fchaffen  mögen!"  Unb  fo  gelangte  enblidj  ber  Qiube  auch  "tch  Sorgo 
a  ©an  Sorenjo,  währenb  Antonio  bi  ©er  SEommafo  Siebbiti  bafelbft  als 
«ßobefiä  waltete  (23.  Slpril  bis  23.  Dctober  1416).  ©eine  Slnwefenheit 
würbe  fdmett  befatmt,  unb  bie  ganse  ©tabt  lief  auf  bem  ^ßlafce  jufammen, 
um  33uttabeo  mit  ben  tölpelljafteften  %vaQ«n  ju  beläftigen,  „thierifcfi  unb 

6* 


82 


  Ulfreii  Huljemann  in  Som.   


wenig  ehrerbietig",  rote  ber  Gtyronift  in  geregtem  Unmutl)  fid)  auäbrütft.  ©ie 
fragten  Ü)n:  „2Bie  lange  werbe  id)  nod)  ju  leben  l>aben?"  „SBirb  mir  baS 
©lüd*  belieben  fein?"  „SBerbe  id)  ßinber  b,aben?"  Unb  3le$nßd)eS.  ©er 
Qube  felbft  ift  es,  ber  ben  Seuten  »on  SBorgo  ben  @mjt  beS  Sebent  in 
bie  eriraterung  ruft.  3>»m  Sßobeftä  geroenbet,  fagt  er:  „Senn  $tyc  wfifjtet, 
was  td)  weife,  fo  würbet  %fyc  fe^r  betrübt  fein,  unb  3)Jand)er  würbe  fieifje 
£f)ränen  weinen.  ®E»e  $fot  nod)  aus  bem  Slmte  treten  werbet,  fott  einer, 
ber  fid)  in  biefem  Äreife  befinbet,  an  eben  biefer  ©teile  gelängt  werben." 
Unb  fo  gefdjab,  eS,  benn  bafelbji  würbe  auf  Sefefyt  beSfelben  Sßobeftä 
©ra^ole,  ben  man  für  ben  beften  aller  jungen  3Mmter  b,ielt,  an  ben  ©algen 
gefnüpft.  SSon  33orgo  fiebelte  ber  @wige  nad)  ^lorenj  über  in  baS  $aus 
beS  „bemfitl>igen"  Antonio,  wofelbfi  üm  aud)  SJteffer  Sionarbo  b*3lre}jo,  ber 
Äanjler  ber  9tepubttf,  auffudjte,  unb  über  brei  ©tunben  mit  itnn  im  ge* 
Reimen  ©efpräd)e  blieb.  SWeffer  Sionarbo,  »on  oielen  bürgern  befragt,  was 
er  »on  bem  ©otteSbtener  tjalte,  gab  jur  2lntwort:  „@ntweber  ijt  er  ein 
@ngel  ©otteS,  ober  er  ijt  ber  Teufel.  @r  l>at  alle  2Biffenfdjaften  ber  SBelt 
imie,  er  fennt  alle  ©pradjen,  alle  SSocabeln  »on  aßen  auSerlefenen  Sßro»tnjen." 
SReb^r  oerrietb,  -Keffer  Sionarbo  ntdjt.  @3  mujj  bemerft  werben,  bajj  Sio* 
narbo  33runi,  genannt  b'äreäjo,  einer  ber  gelebrteften  3Jfämter  feiner  S«t 
war.  ©täubte  er  wtrflid)  an  baS  3J?ärd)en,  weldjeS  Ü)m  SButtabeo  aufttfdjte? 

Qm  folgenben  Safjre  lehrte  ber  Qube  abermals  in  baS  an  ber  ®de 
»on  Sllberti  ba  ©an  SRomeo  gelegene  £auS  ber  Srüber  »on  grauceSco 
b'2lnbrea  jurüd.  ©er  Gtyronift  nennt  alle  bie  ^atricier,  bie  S3uttabeo  be* 
fud)ten,  fo  bie  Sßerujji,  SRtcafoti,  Sufmi,  SRorelli,  2llberti  unb  Slnbere  »on 
nab^  unb  fern.  „Sdj  blatte  3furd)t,  bafj  bie  ^Meiert  meine«  alten  unb  Keinen 
föaufeS  bred)en  würben,  unb  fo  fagte  id)  ülflen:  @r  wirb  geroi§  lieute  Slbenb 
in  einer  Verberge  übernadjten.  Unb  Meä  wartete  gebulbig  cor  ber  £l)ür, 
bis  bie  ganje  ©trafee  überfüllt  war.  68  fanben  fid)  in  ben  erften  Slbenb« 
ftunben  Diele  SBürbenträger  ber  SRepublif  ein,  mit  biefen,  bem  ©ruber 
Sartolomeo  unb  bem  ©d)reiber  felbft  fd)ritten  wir  mit  gadeln  burd)  bie 
geftaute  9Wenge,  um  ben  ©wigen  jum  ßaufe  beS  ©er  Sßagolo  bi  ©er 
Sanbo  gortini,  beS  bamaligen  ftanjterS,  ju  führen,  unb  bod)  würben  wir 
nid)t  gefefien.  D  wahrer  ©ort,  wie  bewunberungSwürbig  finb  bod)  ©eine 
SBerfe!"  3lm  nädjften  SKorgen  führte  man  ben  $uben  in  ben  tpalajjo  ber 
©ignoria  felbft,  unb  filtere  erhielt  »on  ü)m  fel»r  wid)tige  politifd)e  SHuf* 
fd)(üffe.  ©er  bamalige  3f^anneä  ooer  33uttabeo  fd)eint  bemnad)  feine 
äugen  b^übfd)  offen  gehalten  ju  ^aben.  &  ift  jebenfalls  ein  äufterft  ge= 
fd)i(fter,  feiner  3ett  weit  überlegener  SRenfd)  gewefen,  unter  Umftänben  niel« 
leid)t  aud)  ein  polttifdjer  9lgent!  ©ie  »orneb^men  Herren  Ratten  am  3lbenb 
bis  3Wittemad)t  auf  baS  erfd)einen  S3uttabeoS  gewartet  unb  oerabreidjten 
bafür  Slntonio  eine  berbe  Sopfwäfdje.  ©rft  auf  baS  3ß"9"i§  b&  ÄanjlerS 
l)in  würbe  geglaubt,  bafc  ber  ^o^anneS  in  ber  2^at  trofe  ber  gadeln  un» 
gefeb^en  burd)  bie  Wenge  gefdjritten  fei.   Unter  Qenen,  bie  trofcbem  nidjt 


  Die  Sagr  oom  €n>igen  3ut>en  in  Italien.  — -  85 


an  bie  Gräfte  beS  ©otteSbtenerä  glauben  roottten,  bcfonb  fid)  aud)  ber 
<^f<$id)t3fd)retber  ©tooanni  aWoretti.  @r  roünfdjte  fid)  ein  2lmt,  um  er» 
proben  ju  fötmen,  06  ber  rounberbare  grembling  aud)  bie  gäf)igfeit  befifce, 
burd)  bie  Suft  ju  »erfdjroinben.  2)iefe  ©elegenfjeit  liefe  nicfjt  auf  ftd}  warten. 
3KoreHi  rourbe  im  $af)re  1413  jum  SBicar  von  3HugclIo  ernannt.  Suttabeo 
befudjte  in  bemfelben  Safyre  ben  Drt  unb  rw)te,  »on  »ielem  SBolfe  be« 
gleitet,  in  ber  Ätrdje  ©an  SDonnino,  nörblid)  »on  ber  ©tobt  felbft  aus. 
&ierb>r  fd)i(fte  ber  SBicar  feine  ©enbboten,  fd)tiefelid)  bie  ganse  berittene 
2etbroad)e  aus,  um  ben  ©roigen  ju  fid)  ju  entbieten  unb  tlm  unter  Um« 
ftänben  mit  ©eroalt  unb  gefeffelt  »or  fid)  führen  ju  taffen.  2Bäf)renb  ba8 
SSolf  in  33uttabeo  brang,  ber  Dbrigfett  nidit  SBiberftanb  ju  teiften,  lad)te 
er  unb  meinte,  nid)t  einmal  ber  93icar  fönne  if)n  ju  ©troaä  sroingen,  was 
ifmt  nid)t  gefiele.  Um  aber  fdiliefetid)  bem  Dberbefel|l3l)aber  ber  „fami- 
gliari",  ber  2eibroäd)ter,  feine  Ungetegenljeüen  ju  bereiten,  rief  er  bem  fid) 
fd)on  erfolglos  ©ntfernenben  nad),  er  werbe  fd)on  »or  ib,m  beim  SSicar  fein. 
5Der  3ube  fd)lug  barauf  einen  anberen  2Beg  ein  unb  mar  ridjtig  »iet  früher 
beim  Sßicar.  ©iefer  liefe  Um  jroifd)en  fid)  unb  feiner  ©emalilm  Sßlafe 
nehmen,  unb  eS  rourbe  SSieleS  geflatfd)t.  2lud)  beflagte  ftd)  ©iooatmi 
SWoreut  beim  Suttabeo,  bafe  tfmt  feine  junge  ftrau  feinen  9lad)roud)8  be* 
fd)eeren  rooHte.  33uttabeo  »erliefe  tfmt  einen  ©of)n,  nod)  cf»e.  er  t>om  3lmte 
fdjeiben  mürbe.  SDiefe  $ropt)ejeiung  ift  nad)  3uTem,  roaS  befanm,  nid)t 
eingetroffen,  rooljl  aber  ift  e§  erroiefen,  bafe  bie  junge  grau  bem  SMcar  nod) 
roäbrenb  feiner  Amtsführung  burd)bratmte.  Äurj,  SRoretti  blatte  feines  Uns 
glaubend  nid)t  »ergeffen.  2lls  ftd)  3o()anneS  nad)  bem  5Rad)tmaf)le  »erab= 
fd)ieben  wollte,  complimentirte  ü)n  ber  SHcar  in  ein  „ehrenwertes"  ®e* 
fängnife,  bas  Reifet  in  eine  fixere  Äammer,  bie  unter  bem  gunbament  beS 
Sturmes  in  ben  Reifen  eingelaffen  roar.  $n  blefer  Cammer  „befanb  ftd) 
aud)  ein  eljrbareS  33ett,  trofcbem  Cannes  nid)t  in  einem  folgen  ju 
fd)lafen  pflegte.  35er  9taum  enthielt  jroei  Keine  genfter,  bie  mit  ftarfem 
©ifen  fo  bid)t  befleibet  roaren,  bafe  nid«  eine  3JJauS  f|ätte  ^inburd)fd)lüpfen 
föraten;  ferner  eine  S3obJentt)ür  mit  einer  niebrigen  engen  Deffnung,  eben« 
falls  mit  ftarfem  ©ifen  auSgefd)lagen  unb  einem  mächtigen  ©djloffe  t>er= 
fefjen."  &ter  hinein  rourbe  Cannes  gefperrt.  2ltS  ber  33icar  am  näd)ften 
SJtorgen  baS  Verliefe  öffnen  liefe,  roar  natürlid)  fein  3ob>mteS  meb>  barin 
ju  entbecfen. 

S)ie  oon  Antonio  erjitt)lte  ®efd)td)te  berid)tet  beS  SBeiteren,  bafe  Sutta* 
beo  aud)  in  ben  3af)ren  1414,  1415  unb  1416  in  feinem  £aufe  weilte, 
unb  von  anberen  ftd)  an  biefe  33efud)e  fnüpfenben  Segebniffen.  SBä^renb 
beS  jroeiten  33efud)eS  roo^nte  Suttabeo  in  ber  Verberge  unb  gab  fjier  ben 
Srubern  ein  grofeeS  ©ffen.  3um  ©d)luffe  brannte  3lntonio,  bem  Gbjoniften, 
eine  grage  auf  ber  $unge.  @r  »erlangte  ju  roiffen,  ob  ber  3"be  roirflid) 
ber  ©iooanni  Sßotabbio  fei.  $Diefer  belehrte  itm  barauf,  bafe  man  feinen 
■Warnen  oerftümmelt  f>abe.  6t  nenne  ftd)  „©iooanni  23att6bio",  baS  Reifet 


8$    Zllfteb  Rntjemann  in  Horn.   

Spanne«,  bcr  „©ottprügler".  Unb  nun  roieber&olte  er  bem  -Neugierigen 
bie  fattfam  befonnte  (Srjäljlung  »om  lefeten  ©ange  beä  $eUanb8.  Sita 
Antonio  fd)liefetid)  aber  nodjmalä  fragte,  ob  er  aud)  tb/rtfäd)ttd)  berfel&e 
„©ottprügler"  fei,  antwortete  Suttabeo:  „5Berfud)e  nic^t  aBeitereS  }u  er« 
forfdjen,  Antonio."  Unb  bamit  fd)lug  er  bie  2tugen  nieber,  au«  benen  eine 
Sliräne  ^ernieberrottte.  $>er  ©djlufj  ber  ©lironil  beä  Antonio  ifl  rüljrenb. 
2U8  ber  Qlube  jum  legten  9Me  bei  i^m  einteerte,  rang  feine  grau  mit 
bem  $obe.  33uttabeo  feilte  fie,  inbem  er  abermals  ein  93re»e  ausfertigte 
unb  e8  ber  Äranfen  um  ben  £al§  Ijtng.  „9JHt  biefem  33rene  Ijabe  id)  nodj 
triele  unb  »erfd^iebene  Äranltieiten  Reiten  fönnen,"  fdjretbt  Antonio.  „@nb< 
lid)  lieb,  td)  e8  einem,  ber  e8  mir  nid)t  roiebergab:  ©ort  oerjei^e  iljm!  2tl8 
3o^anne8  mid)  »erliefe,  umarmte  er  mid),  xoaä  er  »or&er  nie  getrau.  3$ 
ftaunte  barob  unb  fragte:  „2Berbe  id)  @ud)  nie  nrieberfeljen?"  ®r  ant* 
roorte:  „9lie  metir  mit  ben  förperltdjen  2lugen."  Unb  fo  ging  er.  @r 
begab  ftd)  m  baä  ßlofter  oom  Sßarabiefe,  wo  Ujn  bie  3Jlönd)e  gefangen 
nahmen,  um  ü)n  ber  Dbrigfeit  auSjultefern.  2Bät)renb  ber  5Rad)t  aber  oer* 
fd)roanb  er,  unb  bie  3Jlönd)e  ftanben  oerbufet  ba.  ©eitbem  fam  er  nid)t 
mebj  in  biefe  ©egenben.  Unb  fo  trabt  er  burd)  bie  SBelt,  big  ©ort  bie 
Sebenbigen  unb  bie  lobten  rid)ten  ttrirb  in  fetner  2Rajeftät  unb  im  S^ale 
uon  Qofapliat  SKöge  er  für  uns  beten,  bamit  ©ort  uns  unfere  ©ünben 
»erge6e,  unb  er  uns  jum  Gimmel  eingeben  taffe.  9lmen!" 

®er  trefflidje  SRorpurgo  Ijat  außer  obiger  ©b,romf,  bie  fid)  unter  ben 
©trajji'fdjen  SDotUmenten  »orjtnbet,  aud)  ein  £agebud)  be3  ©afoejtro  bi  ©fo* 
ratmi  SRannini  entbedt,  ber  im  $df)tt  1416  ^ßobeftä  »on  SKgtiana  war,  ben 
Sefud)  33uttabeo§  unb  beffen  politifd)e  Drafel  empfing.  2Ba3  fagen  unfere 
©eletnten  ju  fo  merfroürbigen  Seiträgen  jur  ©efd)td)te  ber  ©age  uom 
„Groigen  Quben"? 


Das  3rtefgefKimni§  tDäfyrenö  bev  frati3öfifcfien 

Hepolutton. 

Von 

Jt.  <&  25orftenfjetaier. 

—   ITtairi3.  — 

|  nter  ben  aWifjftänben,  beren  Sefeitigung  bie  2Bcif)ler  ju  ben 
Etats  generaux  $rcmfreicf)!3  im  3^f)rc  1789  faft  einftimmtg  Der» 
langten,  erfdjeint  in  ben  f.  g.  Galjierä  bie  oon  ber  Regierung 
bi«  botiin  gebulbete,  trielfadf)  fogat  r-erlangte  SSerleftung  be§  33riefgeljeims 
niffeS.  $ie  Unmlefclidjfeit  be§  lederen  ftefften  bie  SBäljler  auf  gteidje 
©rufe  mit  ber  greiljeit  ber  Sßerfon,  beä  ©igentf)um3  unb  mit  bem  Siedjte 
ber  freien  aJietnunggäufcerung.  ©olcbe  ©teidjftetlung  mar  burdfiauS  ju= 
treffenb,  infofern  jebcS  einbringen  in  bie  in  Briefen  niebergelegten  ©e* 
Iieimniffe  Sfoberer  alä  eine  33eeinträdfjtigung  ber  aus  bem  Segriffe  ber 
^Jerfönlidfifett  Ijeroorgeljenbett  unb  mit  ber  teueren  Derfnfipften  SWcd^te,  ate 
eine  S8erle|ung  be8  2tnfprudj3  auf  £reue  ftdj  barftettt.  $n  bem  SWafje, 
in  meinem  eine  Regierung  bie  ^erfönttdjteit  roürbigt  unb  fdjüfct,  in  bem* 
felben  SDfa&e  umrbigt  unb  fdjüfet  fie  ba«  ©eljebnmfj  be§  25rtefoerfef)r3. 
®afür  bietet  bie  ©efdndjte  granfreicfjä  im  18.  ^alnfymberte  unb  ju  Slnfang 
biefeS  Qialirljunbertö  btn  heften  SBeleg.  SBie  bie  Regierung  SubnngS  XIV. 
in  grotfreicf)  in  3Jcif3acfjtung  ber  perfönlicfjen  greifieit  ba8  Steufeerfte  tetftete, 
fo  fdjroer  oerfünbigte  fie  fidt)  an  bem  SBriefgefyeimniffe,  nidjt  etwa  bloä 
unter  bem  Ijeudderifcfjen  33ora>anbe  ber  ftürforge  für  baS  ©taatäroofil, 
fonbern  autfi  jur  Sefriebigung  ber  9ieugierbe  bes  ftönigS,  ber  über  ben 
Sßarifer  Rlatfö  auf  bem  Saufenben  ficfj  galten  rooKte.  2lu<$  bie  -Jtacfjfolger 
SubroigS  XIV.  trieben  neben  bem  üJKfjbraudie  mit  ben  lettres  de  cachet 
ben  fyergebradjten  Unfug  mit  ber  ©röffnung  ber  ©riefe,  nrie  bieg  aus  ben 
Sefc^roerben  ber  2BöI)ler  ber  Etats  genöraux  erhellt. 


86    K.  <S.  8otf  entjeimer  in  ITla«n3.   

2)Ut  bem  Sufarcnwirttttai  ber  festeren  burftc  man  bie  SBeenbigung 
beS  fdjroer  empfunbencn  9J?if?braucfjeS  erwarten.  Qn  ber  2^ot  verfünbigte 
bic  SBolfSDertretung  bereits  im  3uli  1789  ben  ©runbfafe  ber  Uiroerle&Udjfeü 
beS  »riefgetyeimniffeS.  ©ie  t^at  bieS  nodj,  beoor  fie  mit  ber  Slufftetlung 
ber  9Henfdjenred)te,  mit  ber  ©eroäfirleiftung  ber  »ollen  ©ntfalrung  ber 
perfönlid)en  ^reilieit,  fid)  befd)äftigte.  ■Jtadjbem  bie  gefefegebenbe  ©eroalt 
roiebertjolt  Deranlafjt  roorben,  für  ben  33rieffd)ufc  einjutreten,  ging  fie  fpäter 
boju  über,  ben  jugefagten  ©d)u|  burd)  ernfte  ©trafbefttmmungen  ju  erbten. 
Allein  rote  in  onberen  Singen,  fo  erwies  fid)  aud)  tiier  im  Fortgänge  ber 
9?e»otution  bie  ©efefcgebung  als  rotrfungSloS  gegenüber  bem  2luftreten  ber 
jeroetttgen  2Rad)tljaber  in  SßariS  unb  in  ben  Sßrooinjen,  roeldjie  in  S3er= 
Übung  »on  8BiiDEürlid)feiten  unb  ©eroalttljätigfeiten  bie  alten  33et)örben  roeit 
in  ©d)atten  fteHten.  2Bo  immer  mit  ber  bereinbred)enben  2lnard)ie  neben 
ben  gefefemäfcigen  ©eroatten  bie  &errfd)aft  beS  Röbels  ober  ber  ßtubs  fid) 
geltenb  madjte,  unb  reo  immer  bie  eingelegten  93e$örben  in  ben  Srtenft  ber 
Parteien  unb  beren  £etbenfd)aften  fid)  ftettten,  ba  gab  eS,  ben  ©rflärungen 
unb  ©trafanbrolmngen  ber  gefefcgebenben  ©eroalt  jum  irofc,  roeber  einen 
©d)ufc  ber  $erföntid)fett,  ber  freien  9Keinung§äufeerung,  nod)  einen  <Sd)ufc 
beS  SriefgefietmnijfeS.  2ttS  gar  bie  repubtifanifd)e  ©efefegebung  in  einem 
Slugenblicfe  beS  b^eftigften  Kampfes  jroifd)en  ben  um  bie  Dberl|errfd)aft 
jtreitenben  Parteien  für  einen  ganj  bestimmten  gall  bie  ®urd)forfd)ung  ber 
Sriefe  geftattete,  ba  matten  bie  bamats  allgeroaltigen  ©emeinbeoerroaltungen 
bie  StuSnatnne  jur  9feget.  $fox  33eifpiel  blieb  mafjgebenb  für  bie  fie  ab» 
löfenben  republifanifcfjen  33eljörben,  namentlid)  jur  3«*  te*  SrtrectoriumS. 
SBäb^renb  aber  bie  teueren  Sur  ^Rechtfertigung  tb>eS  33erb>ltenS  ber  Sßoft 
gegenüber  ju  einer  atterbingS  roifflürlidjen  Auslegung  beS  ©efefceS  if»re 
3uflud)t  nahmen,  glaubten  bie  Sßolijeiminifter  beS  Staiferreid)S  über  alle 
Sebenfen  fid)  roegfefeen  ju  bürfen  unb  beeinträd)tigten  ben  Sriefoerfeh^r  in 
einer  ÜBeife,  bie  baS  SBerljatten  ber  33ef)örben  bei  SSegimt  ber  3too[ution 
nod)  formlos  erfd)einen  tiefe. 

2>en  Stntafe  ju  ber  oben  erwähnten  erften  Steuerung  ber  SSolfSoertretung 
»om  25.  Quti  1789  gab  ein  in  jeber  #inftd)t  merfroürbiger  SJorfau*.  Um 
mittelbar  nad)  (Srftürmung  ber  ^arifer  23aftiHe  (14.  %ulx  1789)  waren  an 
ben  oerfd)iebenften  Drten  granfreid)S  ernfte  Unruhen  ausgebrochen,  bie 
bereits  am  16.  3fuli  einen  2^eil  beS  SlbetS,  barunter  aud)  ben  ©rafen 
SlrtoiS,  ben  »ruber  beS  ÄönigS  Subroig  XVI.,  jur  glud)t  in'S  StuSlanb 
oerantafeten.  2)er  rafd)  fid)  ooUjieb^enbe  Verfall  ber  löniglid)en  ©eroalt 
ermutigte  bie  Siäbetsfüljrer  ber  ^Bewegungen  in  SßariS  unb  in  ben 
^ProDinjen,  auf  eigene  gauft  neue  33eljörben  etnjufefcen.  So  entftanb  in 
$PariS  ein  republifanifdjer  ©emeinberatl),  ber  ben  äftronomen  Saittn  jum 
aWaire  beftellte  unb  es  als  feine  erfte  Stufgabe  erad)tete,  ben  »errätb^erifdjen 
3tbfid)ten  ber  StönigSpartei  nad)jufpüren.  Qn  Verfolg  biefes  SJeflrebenS 
fing  bie  neue  S3e$örbe  eine  ©enbung  beS  SBaronS  (Saftelnau,  beS  SBertreterS 


  Das  8riefg»lieimni§  »äliwnb  ber  fran33jtfd(en  Secotntion.    87 

tjfranfreichs  in  ©enf,  ab,  um  fid^  in  ben  Veftfe  oon  Vriefen,  bie  an  ben 
©rafen  ärtois  beftimtnt  waren,  eigenmächtig  ju  fefeen.  Vattln  fanbte  bie 
alfo  erlangten  Vriefe  an  ben  Vräfibenten  bet  SRationaloerfammlung  in 
VerfatHeS,  ber  fidE»  weigerte,  bie  ©chrtftftücfe,  bie  nic^t  ettoa  in  Verlauf 
einer  Unterfudjung  ju  golge  ritterlicher  Vefdjlagnahme  angehalten  toorben 
waren,  ju  öffnen  unb  ber  Verfammlung  funbjugeben.  Sfa  biefe  in  öffent« 
liä)er  @i|ung  oom  25.  Quli  1789  erfolgte  SEBeigerung  beS  Vorjifcenben 
fnüpfte  fidj  fofort  eine  lebhafte  Vefpredjung,  inbem  mehrere  SDtitgtteber  ber 
VolfSoertretung,  unjufrteben  mit  ber  Haltung  if)teS  Vorfifcenben,  auf  9Jlit= 
Teilung  ber  Vriefe  beftanben,  unter  bem  Vorbringen,  bafj  hier  bie  SRiicfficfjt 
auf  baS  ©taatStooljl  allein  in  Vetradjt  fomme.  ©iner  ber  entfd)iebenften 
Vertreter  biefer  ainfidjt  mar  ber  rebegetoanbte,  ju  ben  ßonftitutionetlen 
jäljlenbe  ÜJlarquiS  ©oug*b'2lrciS,  ber  baoon  ausging,  baß  man  in  &riegS= 
jeiten  Vriefe  erbrechen  bürfe,  bem  Striege  aber  bie  3eit  ber  Unruhen  unb 
geheimen  Treibereien  oöllig  gleidjftehe.  einer  lebhaften  Unterftüfcung  rjatte 
ber  SRarquiS  oon  «Seiten  SRobeSpierreS  ftch  5U  erfreuen.  „Db,ne  3roeifel," 
fo  bemerft  biefer,  „ift  baS  Vriefgeheimml  unoerle&ttch;  aber,  roenn  eine 
ganje  Nation  in  ©efaljr  ift,  toemt  Slnfchtäge  gegen  tr)rc  gfreifjeit  geplant 
werben,  bamt  wirb  baS,  was  ju  anberer  3^tt  als  Verbrechen  erfc^eint,  ju 
löblichem  £anbetn.  92ad)fid^t  gegen  Verfdjmörer  ift  Venrath  gegen  baS 
Volf."  Qn  ber  2Bibertegung  biefer  Slnftcht  begegneten  fid)  bie  SBortfüfjrer 
ber  oerfdjiebenften  Vartetrichtungen  innerhalb  ber  Verfammlung.  der 
cfiarafterfefte  Slrmanb  ©afton  6amuS,  einer  ber  Vertreter  ber  ©tabt  Vorig, 
oerrotes  auf  bie  in  ben  GahierS  ju  dag  getretene  SßillenSäufjerung  aller 
SBaljlfreife  unb  auf  baS  eigentliche  SBefen  beS  VriefoerfehrS.  ©in  gefdjloffener 
Vrief,  fo  meinte  ber  3iebner,  ift  gemeinfdiaftlidjeS  ©gentium  desjenigen, 
ber  ihn  abgefenbet  hat,  unb  desjenigen,  ber  ihn  empfangen  foH  ober  em» 
pfangen  h<rt;  ohne  fid)  gegen  bie  erften  SlechtSgrunbfäfee  aufzuleimen,  barf 
man  barum  fein  Vriefitegel  eröffnen,  den  SftedjtSftanbpunft  ftreifte  auch 
ber  Vifdjof  oon  SangreS.  Gr  hielt  es  jwar  für  erlaubt,  ©riefe  eines  bem 
Vaterlanbe  oerbädjrigen  9Renf(hen  su  erbrechen;  allein  ber  Verbacht  mufe 
Begrünbet  fein  unb  barf  fid)  nicht  lebigtich  auf  irgenb  eine  Sfojeige  ftü|en. 
©anj  entfehieben  trat  ber  demohat  duport  gegen  bie  Gröffnung  ber 
Vriefe  ein.  „GS  ift,"  fo  rief  er,  „einer  Station,  welche  bie  ©eredjtigfeit 
liebt,  bie  fich  auf  @r>rltdt)fctt  unb  Offenheit  GtwaS  ju  gut  thun  will,  burdfc 
aus  unwürbtg,  eine  berartige  Schnüffelei  ju  begehen."  den  ftärfften  ©tofj 
»erfefete  bem  Stntrage  auf  SDJittheilung  ber  Vriefe  einer  ber  Väter  ber 
Resolution,  ©raf  SJiirabeau.  9Bo  immer  bamats  eine  Veetnträdjtigung 
ber  greiheit  in  grage  ftanb,  hotte  fein  3Jlitglieb  ber  Verfammlung  fo 
jfinbenbe  SBorte  wie  er;  babei  oerftanb  fein  Slnberer  gleich  ihm  bie  jeweils 
auftauchenben  fragen  an  ber  £anb  ber  Grfahrungen  beS  SebenS  ju  prüfen 
unb  ju  behanbetn.  gür  ihn  mar  hier  nicht  bloS  eine  Rechtsfrage  im  Spiele, 
für  ihn  brehte  eS  ftch  noch  um  ben  SJadjweiS,  baß  ber  Vertrauensbruch 


88 


  K.  <S.  Botf  enljeimer  in  ntatns.   


oöllig  nufelo«  fei  „2Ba8  erfährt  man/'  fo  fragte  er,  „auä  Briefe«?  ©laubt 
man  im  ©rnjle,  bafj  bie  2tafd)läge  su  gefäf»rtiä)en  Unternehmungen  burd) 
bie  Sßoft  beförbert  werben?  ©elbft  politifdje  9lad)rid)ten  erfährt  man  ntdjt 
auf  biefem  SBege.  2Beld)e  große  ©efanbtfd)aft,  welcher  £rfiger  eine«  bt> 
fonber«  mistigen  Auftrag«  umgebt  nid)t  bie  ©efafjr  ber  ÜNadjfpürung  auf 
ber  Sßoft?"  die  ju  erwartenbe  2lu«beute  fteht  nad)  fetner  2lnftd)t  in  feinem 
33erf)älrmffe  jur  33erffinbigung  an  £reue  unb  ©tauben  unter  ben  9)lenfd)en. 
3tm  Sd)luffe  feiner  Stbfttmmung  fdjtlbert  ÜDtirabeau  ben  oon  ber  begehrten 
aBaferegel  ju  beforgenben  ©inbrucf  wie  folgt:  „%n  granfretd)  beraubt  man 
unter  bem  SBormanbe  ber  öffentlichen  (Sicherheit  bie  SSörger  beS  ©genthum« 
an  ihren  Briefen,  weld)e  bie  Gingebungen  be$  ^erjen«,  ben  6d)at}  beS 
SBertrauenS  verwahren,  diefe  lefcte  ,3ufM)t  oer  Sr^eit  h«ben  diejenigen 
»erlebt,  welche  oon  ber  Nation  sunt  ®d)ufc  irjrcr  SRedjte  berufen  mürben; 
fie  haben  burd)  ü)ren  SBefdjtufj  ei  ermögttd)t,  bafj  bie  geheimften  Regungen 
be«  &erjen3,  bie  fünften  ©ingebungen  be«  ©eiftes,  bie  ©rgüffe  eine« 
oft  unbegrünbeten  3onK3/  °k  oielfad)  fd)on  im  nädjften  2lugenblufe 
roieber  jurücfgenommenen  irrigen  Uitterfteüungen  ju  Beweismitteln  gegen 
brüte  Sßerfonen  ftd)  geftalten,  bafj,  ohne  es  ju  niiffen,  Bürger  gegen 
33ürger,  greunbe  gegen  greunbe,  Söhne  unb  Sßäter  gegeneinanber  ju 
9Kd)tern  werben,  bafj  fte  einanber  oerberben,  benn  bie  SBerfammCung  hat 
e3  auSgefprodjen,  baß  fte  5U  ©runblagen  ihrer  Urtheile  jwetbeuttge  SJRt* 
theilungen  machen  werbe,  bie  fte  ftd)  nur  burd)  ein  Verbrechen  befd)affen 
fomtte." 

9lad)  biefen  SluSeinanberfefeungen  unterblieb  bie  @rbred)ung  ber  Briefe. 
(Sine  gefe$lid)e  Siegelung  ber  angeregten  grage  erfolgte  weber  in  ber 
©ifeung  00m  25.  Quli  1789  nod)  in  jener  00m  27.  Quli  barauf,  als  bie 
grage  oon  Beuern  befprod)en  würbe. 

die  2teufjerungen  ber  -Jtotionaloerfammlung  hmberten  nid)t  bie  gort* 
fefcung  be«  einmal  eingeriffenen  3föfjbrauche3.  3iad)  SaljreSfrift  fam  bie 
grage  nochmals  an  bie  aSolfSoertretung.  @S  fyatte  nämlich  bie  SJhtniä« 
patttät  oon  @aints3tubin  eine  an  ben  ©eneralintenbanten  ber  $oft, 
b'Dgno,  gerichtete  Sßoftfenbung  angehalten  unb  eine  SRcirje  oon  Briefen 
erbrod)en,  welche  für  ben  -äJUnifter  ber  auswärtigen  3lngelegenh«ten  in 
SPariS  unb  für  bie  SKinifter  Spanien«  befrimmt  waren,  diesmal  belatmte 
bie  SBerfammlung  garbe,  inbem  fie  burd)  decret  00m  10. — 14.  Sluguft  1790 
baä  Srtefgeheimmfj  für  unoerlefclid)  erftärte  unb  Sßrioaten  wie  SBehörben 
bie  S3efugnifj,  ©riefe  ju  eröffnen,  abfprad).  3lod)  einmal  oerfünbigte  bie 
SBerfammlung  in  bemfelben  2Konat  Sluguft  1790  ben  ©runbfafc  ber  Unoers 
lefelichfett  beS  SSriefgeheimniffeS,  als  fte  burd)  decret  00m  26.-29.  Sfoguft 
ben  oon  ben  5ßoftcommiffären  ju  leiftenben  @ib  regelte,  diefe  mußten 
eiblid)  geloben,  baä  Sriefgeheimntfj  treu  ju  wahren  unb  ben  ©eridjten  jebe 
3uwiberhonblung  gegen  ben  33rieffd)u$,  fobalb  Re  baoon  Äenntnife  erhielten, 
unoerjfiglid)  anjujeigen. 


  Das  BriefgeJjeimnig  Ȋljtenb  btx  fransSfifdjen  Heoolntion.    89 

Stuf  biejenigen,  welken  an  ber  2lufred)tertiattung  ber  Drbmmg  !JUd)tS 
gelegen  mar,  matten  bie  oorgenannten  ®ecrete,  wetd)e  ber  Strafanbroljungen 
für  ben  galt  ber  SBerlefeungen  beS  ©rtefgeiieimniffeS  entbehrten,  feinen 
fonbertid)en  ©inbrucf.  3Bo  immer  Unruhen  entftanben,  bo  waren  auä)  bie 
©riefe  in  ©efaljr.  So  nmrbe  bie  Qagb  nad)  ©riefen  in  sparte  in  groß* 
artigem  SOiafee  betrieben  im  %vmi  1791  aus  2lnlafj  ber  gtud)t  ber  f ihrig* 
liefen  Familie  unb  in  ©erfolg  eines  ©ecretes  ber  9totionaloerfammtung 
com  21.  Qunt,  baS  bie  Bürger  oon  ©aris  jur  21ufred)terljaltung  ber 
Drbmmg  unb  pr  ©ertljeibigung  beS  ©atertanbeS  aufforberte.  ©ine  ber 
erften  Sd)ufema§regeln  war  bie  @inb>ltung  aller  eingelaufenen  ©riefe,  wo* 
gegen  bie  9iationaloerfammlung  nod)  am  nämlichen  21.  Qunl  eintritt. 
£rofebem  ging  bie  gfafmbung  nad)  ©riefen  ruljig  weiter,  wie  bieS  ein 
®ecret  ber  SRatwnafoerfammlung  oom  10.-20.  3uli  1791  belegt,  ©arnadj 
Ratten  einjelne  ©erwattungen  unb  ©emeinbeoorftänbe  junt  Sdjufee  beS 
Staate«  bie  Ueberwadjung  beS  ©oftoerfet)rS  in  bie  $anb  genommen,  ©oft* 
fuhren  angehalten,  bie  3füf»rer  ber  fetten  gesroungen,  ©aefete  an  anberen 
Orten  als  in  ben  ©ofträumen  nieberjulegen,  bie  SDienfträume  ber  ^oft= 
birectoren  unterfudjt  unb  bie  SluStfieUung  ber  ©riefe  Derjögert.  ©a  nad) 
2tnftd)t  ber  ^ationafoerfammlung  ungefefclidje  SClittel  ber  bejeidfjneten  2lrt 
hödjflenS  im  Slugenblicfe  bro^enber  ©efahr  ober  allgemeiner  Unruhen  ge* 
bulbet  werben  bürften,  nid)t  aber  ju  3«*««'  wo  alle  jur  2tufred)terfialtung 
ber  Drbnung  erforberlidjen  SJiajjregeln  bereits  getroffen  mären,  fo  fdjürfte 
bie  JlationalDerfammlung  nod)  einmal  bie  jum  Sdjufee  beS  ©oftoerfefirS 
erlajfenen  gefefelidjen  ©eftimmungen  jur  9iad)ad)tung  ein.  %n  ber  ©egrünbung 
itrreS  ©efd)tuffeä  hatte  bie  SHationafoerfammlung  angebeutet,  baß  eS  gälte 
gäbe,  in  wetzen  ber  ©runbfafc  ber  Unoertefetidjfeit  beS  ©riefgeheimniffeS 
nid)t  in  ©etradjt  fäme.  Soldje  gälte  fid)  jured)tjutegen,  mar  feine  befonberS 
fdhwierige  Stufgabe  für  biejenigen,  wetdje  Unruhen  anjujetteln  im  ©egriffe 
waren,  ober  roeld)e  burd)  ©erbäd)tigung  ihrer  ©egner  fid)  biefe  »om  föatfe 
fd)affen  wollten. 

SMe  in  bem  äulefct  erwähnten  ©ecrete  unterlaufene  2lbfd)wäd)ung  beS 
©runbfafceS  ber  Unoerlefctid)feit  beS  ©riefgeheimniffeS  fottte  burd)  ©traf* 
beftimmungen  auSgegttdjen  werben.  %n  biefer  2tbfid)t  bebroljte  ber  Code 
pönale  oom  25.  September  MS  6.  Dctober  1791  (im  2.  Stjeil  I.  £itet, 
3.  2tbtf>.  2lrt.  23)  bie  »orfä&tid)e,  abfid)ttid)e  Unterbrüdfung  eines  ber  ©oft 
anoertrauten  ©riefeS  fowie  bie  ©ertefeung  ober  ®rbred)ung  oon  ©rieffiegetn 
mit  ber  Strafe  ber  degradation  civique.  SBurbe  baS  »orbejeidmete  ©er* 
bredjen  auf  ©runb  eines  ©efehls  ber  »oltjtehenben  ©ewalt  ober  burd)  einen 
©oftbeamten  begangen,  fo  traf  ben  SWinifter,  weld)er  ben  ©efeb,l  erteilt  ober 
ben  ©efeht  mit  feiner  ©egenfdjrift  gejeid)net,  ferner  ^eben,  ber  ben  ©efef)t  in 
©ottjug  gefefct,  ben  ©ofkgenten,  ber  ohne  ©efeljt  gehanbelt,  eine  Strafe  »on 
jwei  ^ren  ©efängnifj.  SBentge  2Bod)en  nad»  ©erfünbigung  beS  ©efefeeS 
überfanbte  ein  ©arifer  ©ürger  ber  gefeftgebenben  ©erfammtung  einen  ©rief, 


90    K.  <S.  Socfentteimer  in  IItain3.   

bcr  jur  SSerlefung  gebraut  werben  foffte.  ftaum  bemerfte  bie  SSetjamm» 
lung,  bafc  ber  SBrief  burd)  unbefugte  £anb  eröffnet  worben  mar,  als  fie 
fofort  bie  Verbrennung  beS  Briefes  uerorbnete  (10.  ©ecember  1791). 

Slufjerljalb  beS  ©ifcungSfaaleS  ber  gefefcgebenben  Berfammlung  legte 
man  ftd)  feineSwegS  Befdjränfungen  auf,  um  baS  Briefgeheimnis  ju  fronen. 
®ie  3Köuner,  meldte  bie  ©reuett^aten  beS  1.  September  1792  ueran» 
ftalteten,  Ratten  Upen  SBerfseugen  bie  SBeifung  erteilt,  bei  ®urchfud)ung 
ber  2Bof)ttungett  ber  Bürger  vor  allen  fingen  nach  Briefen  ju  forfdjen. 
©riefe,  einerlei  wie  ber  Befifc  berfelben  erworben  worben,  waren,  als  etn* 
mal  baS  9to>olutionSgericht  feine  £f)ätigreit'  eröffnete,  bie  beften  Beweis* 
mittel,  um  polittfd)e  ©egner  an'S  SDleffer  }u  bringen,  fo  lange  baS 
9teüolutiott3gerid)t  überhaupt  nod)  auf  bie  Beobachtung  ber  3formen  eines 
Verfahrens  9Berth  legte. 

©ine  ©orte  »on  Briefen  würbe  jur  3«t/  als  ber  grofje  6ntfd)eibungSs 
fampf  jnjifdjen  ©ironbiften  unb  ^acobinern  bereit*  begonnen  blatte,  burd) 
beeret  beS  9?ationalcon»enteS  »om  9. — 11.  3Kai  1793  »on  bem  Voftfdjufce 
förmlid)  auSgefdjtoffen  unb  oogelfrei  erflärt,  nämlid)  ber  Briefroedjfel  ber 
auf  bie  Sifte  ber  Emigranten  gefefcten  Verfonen.  9lad)  2lrt.  3  beS  ge* 
baegten  ©ecreteS  foHten  bie  Briefe  biefer  Verfonen  in  ©egenwart  beS 
©eneralratheS  ber  ©emeinben  eröffnet,  bie  »orgefunbenen  SBerthgegenftänbe 
befd)lapatimt  werben. 

Um  bieferit  ©efefce  nad)jufommen,  burd)forfd)ten  bie  ©emeinben  täglid) 
bie  Brieffenbungen.  Ueber  bie  9lrt  unb  SBeife,  wie  bicfeS  ©efd)äft  be* 
trieben  würbe,  belehren  uns  bie  SßrotofbUe  ber  ©trafjburger  aRunicU 
palität,  bie  im  ©ruefe  oorlagen.  3ft  Strasburg  befdjlofj  am  15.  grimaire  II 
ber  2luSfd)u§  ber  2Bad)famfeit  unb  allgemeinen  Sicherheit,  „bafj  bem 
$)tredor  ber  Briefpoft  eingefd)ärft  werben  foff,  bie  anfommenben  Briefe 
nicht  anberS  ju  öffnen,  als  in  ©egenwart  ber  SHitglieber  ber  Vropaganba, 
welchen  bie  Bürger  Qung  unb  SBiloot  beigegeben  werben  foHen."  $m 
befferen  SBürbigung  biefeS  Befd)tuffeS  fei  nur  barauf  bjngewtefen,  bafj  bie 
Vropaganba  eine  Vriuatgefellfd)aft,  unb  ber  Bürger  ^ung  feines  3*id)en3 
©djufter  war.  SBenige  £age  fpäter,  am  24.  gtouaire,  würbe  ber  Bürger 
©tamm  mit  ber  SDurchfucfning  ber  Briefe  betraut,  auf  beffen  Bericht  b,in 
bie  weiteren  SBeifungen  an'ben  Voftbirector,  Brütbaut,  ergeben  foHten. 
Bejetdmenb  für  baS  treiben  biefer  ©trafjburger  ift  bie  £hatfad)e,  baß  fie 
eines  £ageS  eine  an  einen  Kaufmann  in  Kopenhagen  gerichtete  ©enbung 
eröffneten  unb  barin  einen  Brief  beS  HJKnifteriumS  beS  Sleufteren  in  VariS 
antrafen,  ber  jum  SEheil  d)iffrirt  war.  Stach  »ottenbeter  ©urdjlefung,  fo 
weit  biefelbe  möglich  war,  ging  ber  Brief  an  ben  Ort  feiner  Befrimmung 
ab.  Einmal  entnahm  man  einer  Voftfenbung  einen  Saarbetrag  »on 
300  Stores,  um  iljn  gegen  Slffignaten  in  gleichem  Betrage  umjuwed)feln. 

2BaS  man  ftd)  in  ©trafjburg  herausnahm,  baS  erlaubte  man  fidj  allere 
wärts  in  ftrantreid)  währenb  ber  &it  ber  ©d)redVn3herrfd)aft  unb  ber 


  Das  Sriefgelieimmtt  »Sljrenb  ber  fraii3öjtfd)en  Heoolution.    9  \ 

ättgeroalt  beS  QacobinetclubS.  3lttein  aud)  nad)  bem  Stutje  JtobeSpietreS 
unb  ttadj  ®infüf>rung  bet  ©ttectorialregietung  glaubten  bie  oberflen  SJebörbeu 
von  bem  ©tunbfafee  bet  unbebingten  Utroetteftlidjfeit  beS  SriefgebeitffiriffeS 
jut  Sidjetbett  beS  StaatSroobleS  Slbftattb  nehmen  ju  bürfett. 

3unäd)fl  erhielt  bet  obenerwähnte  2lrtifet  be§  Strafgefe&budjeS  in  bem 
neuen  Code  des  dölits  et  des  peines  com  3.  Srumatre  IV"  einen  3ufa6 
babtn:  „®urdj  ben  gegenwärtigen  3Cttifet  roirb  9>Ud)t8  geänbett  an  bein  bet 
9?egietung  juftebenben  Stechte  bet  Uebetroadjung  bet  ©riefe,  roeldje  aus 
ftemben  Sänbetn  fommen  unb  nad)  folgen  Sänbetn  befümmt  finb."  %m 
©inflange  mit  biefem,  ben  SBertb,  beS  gefefelid)  oetfünbigten  SdjufeeS  beS 
StiefoerfebrS  bebenflid)  fietabminbetnben  Sufafee  ium  ©efefce  erfdjeint 
fobattn  ein  2luSfdjreiben  ©arnots  oom  11.  gloreal  IV,  meldjeS  ben 
ßommipt  bet  »ollätebenben  ©eroalt  bei  ben  3)hmicipatitäten  —  jene  oon 
^SariS  ausgenommen  —  anroteS,  bie  aus  (Spanien  unb  Italien  fommenben 
obet  bottbin  befttmmten  ©tiefe  ju  öffnen  unb  jene  ©riefe  surü<f}ubebalten, 
roeldje  an  bepottitte  ^tieftet  obet  Emigranten  gerichtet  roaten,  obet  roeldje 
9luff£ätung  übet  Angriffe  gegen  bie  Sidjetbett  beS  Staates  enthielten. 

Site  suriidbetyalteneit  ©riefe  fottten  fofott  >em  ^oltjetminifter  trorgelegt 
roetben. 

2luf  ©runb  btefer  3lnotbnungen  entroidette  fid)  ein  regelmäßiger 
Spionitbienfi  auf  bet  Sßoft,  bet  einen  foldjen  Umfang  'annahm,  bafe  ein 
•Nitgtieb  beS  9latbeS  bet  günfijunbert  fid}  »etanlafet  fab,  ben  eingeriffenen 
Unfug  öffentlidj  jut  Spradje  }U  btingen.  MetbingS  roitft  es  ein  ungünftigeS 
Sidjt  auf  bie  ©efinnung,  aus  roeldjer  bie  Anregung  beS  3lbgeotbneten 
Smbert  ßotomes  ^etootging,  roenn  noch  im  Saufe  bet  butd)  ü)n  »et* 
anlasten  ©erijanbtungen  bie  ©ntbectung  gemad)t  mürbe,  baf?  (SolontöS  in 
geheimer  ©erbtnbung  mit  bem  Sßtinjen  6onb6  fknb.  %n  ben  Sifeungen 
Dom  26.  SJleffibot  unb  8.  gntctibot  V  routbe  für  unb  gegen  bie  Unoer? 
le|Iid)feit  beS  ©riefgebeimniffeS  roeittäufig  »erbanbelt.  %üx  bie  ©eredjtigung 
bet  Regierung  jut  Uebetroadjung  beS  ©tiefroedjfels  ttat  mit  aßet  ®nt« 
fdjiebenbett  ein  SRann  ein,  bet  fdjon  einmal  bet  ron  bet  feinet  hattet  fo  bod) 
gehaltenen  freien  ©eroegung  bet  ©ürget  einen  empfinbtidjen  Stof?  retfefet 
^atte,  Qean  Sebtn,  bet  ©atet  beS  gtembengefefceS,  baS,  angeblid)  jum 
3roe<fe  bet  Uebetroadjung  bet  ftemben  etlaffen,  bie  ©efinnung  bet  ©ürget 
einet  füt  ©iele  »erfjängnifroollen  Beobachtung  unb  ©rfotfdjung  untetroatf. 
es  ift  ein  metfroütbiges  ©erfjängttifj  geroefen,  bafj  bet  Sdjufe  ftembet 
Rapiere  fo  wenig  ©nabe  fanb  in  ben  Slugen  eines  90tanneS,  bet  um  ge« 
beimet  ©apiete  batbet  beinahe  fein  Seben  hätte  laffen  müffen.  9tut  butd) 
einen  unbegteifli^en  ©lüdsfall  entging  $>ebtt)  bem  Sd)ic!fale,  baS  am 
28.  Stptil  1799  oot  9iaftatt  bie  übrigen  3Ritglieber  bet  ftanjöfifdjen  ©e- 
fanbtfd)aft  ereilte,  als  jbie  Sßapiete  bet  testeten  getaubt  roetben  foHten. 
3m  9?athe  ber  günfhunbert  ftanb  ©ebn;  fo  jiemlid)  allein;  bagegen  ging 
feine  3lnfid)t  im  Math     3^<e«  ^urd)/  We  bet  SKeinung  roaten,  bie  Regierung 


92    K.  <8.  8od entjeimer  in  OTaiti3.   

beS  ®irectortum8  fönne  oljne  bie  bisher  beliebte  8ef)anblung  ber  Briefe 
nic^t  auSfommen,  womit  allerbingS  ber  gefefegebenbe  Körper  ber  bamaligen 
3ett  "ber  Staatsgewalt  fein  rülmtltcffe«  3cupi&  auSflettte. 

9lafy  wie  cor  würbe  unter  ber  oon  ber  äcfjtung  ber  3«tgenojfen 
tüof)t  nic^t  getrogenen  ®trectorialljerrfdjaft  nadE»  bent  33riefwedf)fel  oerbä^tiger 
^ßerfonen  gefafjnbet.  aSerbädjttg  war  aber  unter  bem  ©irectorium  gerabe 
fo  wie  jur  3"*  btx  <Sd(jrecfenä§errfdE)aft  ein  Seber,  ber  bem  jeweiligen 
aRadjtljaber  nidfjt  gefiel. 

£ielt  fcfjon  bo8  SDirectorium  fiefj  befugt,  über  einen  im  Qafire  1789 
fo  feierltcfj  »erfünbigten  ©ranbfafe  ftc^  tiinroegfefeen  ju  bürfen,  fo  erwies 
fiefj  bie  »on  einem  aufjergewöljnticfien  ©elbftbenmfetfein  geleitete  Siegierung 
be3  Gonfutat«  unb  be3  $aiferro<f)§  in  biefer  Sejieljung  nodfj  »iel  weniger 
ängftlidfj.  SEBeber  Napoleon  nodf)  goudf)6  fcfjrecften  oor  bem  ©rbredfjen 
»on  Sriefen  surücf,  mm  fie  hinter  ©eJjeimtriffe  3lnberer  fommen  wollten. 
<Sie  fanben  hierbei  eine  aHjett  bereite  Seiljilfe  bei  bem  oberften  Seiter 
beä  SßoftwefenS,  Sooalette,  ber,  nrie  6cf)loffer  berietet,  bie  „polijeU 
lidfje  SSerlefeung  beS  ©el»einmiffe8  ber  sprtoatcorrefponbenjen  unb  ba«  Gr« 
brechen  ber  Sriefe  im  ©rofjen  betreiben"  liefe.  $>en  fööbepunft  ber  SRiS« 
acfjtung  ber  Sßerfönlicfjfett  unb  ber  freien  aJleinungSäufeerung  erreichte  bie 
Botfcrlidbc  Regierung  naefj  ben  Süeberlagen  in  Stufelanb.  Um  baS  ©eljeim» 
nifj  ber  lederen  fo  lange  wie  möglicf)  »or  ben  granjofen  ju  bewahren,  gab 
ber  Jtaifer  ben  Sefeljl,  bie  vom  2lu3lanbe  fommenben  unb  bafyht  abgefien- 
ben  33riefe  anjuljaiten.  3"  &em  für  foteä^e  3we<fe  bereit«  in  tyavis  er« 
richteten  ©abinet  gefeilten  fiefj  von  ba  an  bie  geheimen  Gabtnete  in  Dftenbe, 
Trüffel,  Hamburg,  Sertin,  3Wailanb  unb  glorenj.  ©in  SBinf  ber  oberen 
33ef)örbe  genügte,  um  SBriefe  anjuljalten,  beren  ^nbatt  ber  Äaifer  ober 
beffen  3JHnifter  fennen  wollten.  &>tö  ftanb  in  twllem  Ginflange  mit  ben 
übrigen  SffiiflfürlicWeiten,  bie  fiefj  bie  ^Solijei  in  granfreidj  gegen  Gnbe  be3 
ÄatferreidjS  erlauben  burfte,  nadfj  SDfaßgabe  be8  faiferlidfjen  beeret«  oom 
3.  9Kärj  1810,  wonadd  bie  Regierung  befugt  war,  mit  Umgebung  aller 
jum  ©djufce  ber  perfönlidbeit  %teü)dt  erlaffenen  ©efefce  auf  ©runb  ein« 
gesogener  33ericfjte  oljne  Sßettereä  unb  auf  unbeftimmte  3^i*  Sßerfonen  ju 
aerljaften,  bie  man  ben  ©endeten  niefit  überliefern  wollte. 

33on  2mwenbung  ber  großen  ©runbfäfee  beä  $al)rea  1789  war,  wie 
bjer  an  einem  33eifpiel  gejeigt  worben,  fcfion  balb  nadfj  beren  SBerfünbigung 
feine  Siebe  mel)r  gemefen,  weil  bie  granjofen  feine  Siepublifaner  waren 
wie  bie  9Jorbamerifaner,  bie  nodt)  oor  ben  granjofen  bie  gret^eit  ficf>  er« 
rangen  Ratten  unb  fie  ju  bewahren  uerftanben. 


Hfoaltnnen.*) 


Xloveüe 
von 

fran^ofs  Coppee. 

—  paris.  — 

er  2luäblid  auf  baä  $ötcl  uitb  bie  (£$planabe  ber  ^noattben  ge« 
roäljrt  eine  ber  grofjarttgften  3tnfi<^tcn  oon  tyatiz.  @3  giebt 
fautn  etroaS  SBontelntiereS,  ©tattttd^erc^  ju  flauen  al«  biefen 
gewaltigen  Sßtafc  mit  feinen  alten  Säumen  uitb  —  ganj  im  &intergrunbe, 
jenfett«  ber  ©dmfegtäben  unb  ber  erbeuteten  Kanonen  —  bie  gotbene  Äuppel 
pon  -äWanfarb,  unter  toeldjer  ber  legenbarifdje  ©arg  rufit,  ben  man  »on 
©anct^elena  fjicrrjer  überfährt  f>at.  ©elbft  ber  nüdjternfte  grembe,  roeldjen, 
im  carrirten  2lnjug,  ben  33äbeder  in  ber  £anb,  ba3  Dietfebureau  oon  6oof 
nad)  $ari8  bringt,  famt  fidj  bem  feterlidjen  ©inbrud  nidjt  entjteljen.  Gr 
benft  an  ben  grofjen  Äönig  unb  an  ben  großen  Äaifer,  er  bleibt  benmnbernb 
unb  mandjmal  audj  beneibenb  fteben.  3ln  jene«  3llt;granfreid),  baS  fold»' 
bauerbafte  unb  foldj'  impofante  3eugen  feine«  9tubmeS  befifet,  modjte  roofjl 
audj  Stemard  benfen,  als  ilin  in  gferriöreS  ber  2lbpocat  $ute8  gaure 
•JtamenS  ber  9iepubltf  um  ^rieben  bat  unb  üjn  fragte:  „©egen  toen  motten 
©ie  benn  eigentltd)  nodj  Ärieg  fähren?"  —  „®egen  Subtotg  ben  SSier« 
jelmten,"  fotl  ba  ber  eiferne  Äanjler  geantwortet  Ijaben. 

^nbeffen,  in  ben  2lugen  be«  SpariferS,  ber  ja  fdjon  feit  Sängern  an 
ben  glänjenben  Sfablid  gctoöfjnt  ift,  f>at  bie  ©äplanabe  ber  ^npaliben  n>of)l 
audj  ib,re  melandmlifdjen  Seiten,  ©anj  in  ber  9iäbe  befinbet  ficb,  ein  arm* 
feltgeS  ©tabtotertet,  ber  „©rofec  Uiefelftein"  genannt,  unb  roenn  baä 
SBetter  milb  ober  audj  nur  erträgltd»  ift,  fo  fenbet  baäfelbe  in  bie  pradb> 
»ollen  Anlagen  feine  betrübten  Müßiggänger,  feine  in  Sumpen  gefüllten 


*)  (Knjij  autotiftrte  Uefcrfefeung  oon  ßotljar  @#mibt 


  jran<;ois  Coppee  in  Paris.   


Spaziergänger  f)inau3.  ein  fettfamer  $l)ilemon,  ein  brauet  älter,  beffen 
©ruft  mit  ÜWebaillen  befät  ift  unb  ber  an  feiner  ©olbatenmüfee  eine 
ßocarbe  trägt,  Rumpelt  auf  Ijölsernen  ©tetjfüfjen  neben  einer  f^eufeli^en 
SauciS  in  fdjmufeigem  ßamifol  baljin.  ©in  uraltes  3Wütterdfjen  mit  ge^ 
beugtem  fH&den  treibt  »or  fidfj  ober  jtef)t  am  3todEe  hinter  ftdj  jroei  ober 
brei  ungefunbe  Äinber  Ijer.  2lu§geftrecft  auf  einer  33anf  unb  ben  fdjäbigen 
gitäjjut  in  bie  2lugen  gebrttdft,  fdtjCäft  ein  Sanbftreidjer  unb  träumt  »telleid&t 
oon  einem  a3erbredjen,  ba3  er  im  ©Urne  l)at. 

©et  ©egenfafe  jroifdpen  bem  fdfjmufetgen  eienb  unb  bem  fömgltcfien  Suru£ 
ift  mir  immer  fcfmtetilidb,  geroefen. 

$ti  SSenebig  verleiben  mir  bie  SBeiber  mit  langem  Äopftucf»,  bie  mit 
ben  Pantoffeln  flappern  unb  ftdj  in  einem  fort  in  itirer  rotten  3M)ne  mit 
ben  Ringern  l)erumfrafeen,  ©an  ÜJlarco  unb  ben  ©ogenpalaft,  unb  im 
&t|bes$Parf  ju  Sonbon  machen  mir  bie  jerlumpten  ©eftalten  mit  nacften 
gfi§en,  meiere  ficf>  attentb/ttben  auf  bem  SRafen  Ijerumfielen,  baS  ©eroimmel 
ber  equipagen  unb  baS  leiten  ber  blonben  3tmajonen  gerabeju  «erljafjt. 

2lnbererfeit§  liat  aber  bie  SBolfSmenge  für  mtd)  nrieberum  einen 
großen  SReij.  3$  mifdje  mW)  gern  unter  fie.  ©e§I)atb  füb,re  idj  oft 
meine  ©ebanfen  nad»  ber  esptanabe  unb  nadfj  bem  „©roßen  Äiefelftetn" 
fpasieren. 

2113  idj  fo  eine«  SEageS  unter  ben  großen  Säumen  ber  esplanabe  ber 
3noaliben  einfierging,  bemerfte  id&  jroei  alte  grauen- 

©er  SJionat  gebruar  neigte  fict)  feinem  enbe  ju,  unb  bie  bereits 
roarme  9ladjmittag3fotme  liefe  an  ben  &mä$en  bie  bronjefarbenen  Änoäpen 
erglänjen.  ©ie  beiben  2llten,  roeldje,  roa^rfdjjeinlidj  wegen  ber  gfcudfjtigfeit, 
nodj  itic^t  im  freien  ju  fifcen  wagten,  wandelten  langfam  ba^in,  roobet  bie 
33ejab,rtere  ftdfj  jitternb  unb  fdjroerfäffig  auf  ben  3lrm  ber  ©enofjin  ftüfete, 
bie,  obfcf»on  eine  Magere,  elenbe  ©eftalt,  ftdb,  bennod)  ferjengerabe  trug  unb 
voller  energte  festen.  Stffc  Seibe  roaren  ärmlldö,  aber  fauber  gefleibet. 
$b,re  fdjroarjen  föalstütfjer  roaren  forgfältig  aufgefteeft,  Ujre  roeißen  Rauben 
glänjten  »or  Sieinltdjfeit.  ©amtt  bie  Äranfe  bei  ber  geringften  ermübung 
ausrufen  fonnte,  trug  bie  9föftigere  einen  Älappftul)l  unter'm  3lnne.  Sie 
richtete  gebulbig  i^re  ©dritte  nad;  benen  ber  greunbin  unb  flaute  fie  alle 
äugenbtiefe  järtlic^  unb  liebevoll  an.  ©ie  mod&te  etwa  jelm  3al)re  jünger 
fein  ate  bie  Slnbere,  meldte,  eine  Steine  in  3Jtenfdjengeftalt,  minbeftewJ 
fedf^ig  jätilte.  ©ie  aHein  befaß  oon  Seiben  nodj  ein  roenig  Äraft,  ein  wenig 
©efunbjjeit.  ©a§  mußte  für  ^[ene  mit  genügen.  Sffienn  man  irrten  be= 
gegnete,  fo  backte  man  unrotflturlidfj  an  jene  länbtidjen  ©efpattne,  roo  ein 
Sßferb  einäugig  unb  baä  anbere  »öfltg  blinb  ift  unb  bie  trofebem  ben 
Marren  jielien. 

©te  beiben  grauen  intereffirten  mtdfj  fofort.  3dj  beobachtete  fie. 
©ie  ©reifin  mußte  ficfjer  einftmafö  fc^öti  geroefen  fein,  ©ie  föaube 
oermodfjte  faum  baS  retdjlidfje  fdnteeroeifie  £aat  jufammenjuljalten.  eben* 


Hisalinnen.   


95 


mäfeig  waren  bie  3"ge  i^reS  unberoegltdjen,  gelbe«,  gid)tbrüd)igen  ®efid)te3, 
unb  unter  ben  nod)  fdjroarjen  brauen  flimmerten  bie  tief  eingefunfenen 
Stugen  in  einem  fieberhaften  ©lanje. 

£>ie  2tnbere,  rotl)f)aartg,  einftmals  mit  n>eid)er  .§aut  unb  roeifjem  steint 
—  mod)te  trietleid)t  ebenfalls  fnibfd)  geroefen  fein.  £)od)  graufam  »erfährt 
bie  3eit  mit  Den  SReijen  ber  ^ugenb!  SRur  SRunjetn  unb  Rieden  läßt  fte' 
jurüd.  Unb  trofcbem  erregte  biefeS  elenbe,  roelfe  ©eftdjt  nod)  ©efalfen  burd) 
feinen  mitben  Slid  unb  fein  gütiges  £äd)eln. 

<Sd)roeftern  waren  fte  nid)t;  fie  Ratten  nidjt  bie  geringfte  3Cet»ntt<^fcit 
mit  einanber. 

®er  Slnbtid  jener  beiben  armen  ©efdjöpfe,  bie  aufeinanber  geftüfet, 
if»re  fd)road)en  fträfte  »ereinten,  blatte  mid)  roa^r^aft  geriu)rt.  —  ®a3 
fdjöne  SBetter  t)ielt  einige  £age  an,  unb  fo  traf  id)  bie  beiben  Sitten  öfters 
roieber. 

3ln  gerotffen  @in$ell)eitett,  an  th>en  £änben,  über  nieldje  fie  immer 
&anbfd)ub>  oon  grauer  Saumrootte  gejogen  Ratten,  an  einem  unerflärlidjen 
etroaS  in  iljrer  ganjen  @rfd)eimmg,  merfte  id),  bajj  fte  nid)t  immer  eine 
fo  geroötnutdje  Äletbung  getragen  Ratten  unb  bafj  fie  einftmalS,  roie  baS 
33ol(  fagt,  beffere  £age  gefeljen  Ratten.  $f)*  Verlangen,  beS  geringften 
@onnenftral)le3  31t  geniefjen,  trofe  ib^reS  2l(terS  unb  iljrer  $infäHigfeit  aus* 
3ugerjen,  lief3  mid)  oermutfien,  ba§  fie  roätirenb  beS  fangen  äBinterS  in 
irgenb  einer  traurigen  SJJanfarbe  beS  „©rofjen  ÄiefelftetnS"  eine  2lrt 
©efangenen=$)afein  führten.  Qd)  ftettte  fie  mir  »or  im  ©eifte,  roie  fie 
ba  f)odten,  bie  güf?e  auf  ber  Sßärmflafdje,  unb  t>on  i()ren  ©rinnerungen 
jetjrten. 

Sie  erregten  immer  metjr  mein  ÜDfitleib  unb  —  bafj  id)  es  nur  ge» 
fteb>  —  aud)  meine  9Jeugierbe. 

}iun  rannten  aud)  fie  mid)  »om  ©ef^en.  föineS  £age3,  als  bie  ganj 
ungeroöb^ntid)  laue  Suft  Urnen  geftattete,  fid)  auf  einer  23anf  nieberjulaffen, 
fe&te  id)  mid)  neben  fie,  unb  alsbalb  fnüpften  mir  ein  ©efpräd)  an.  33er 
roeiblid)e  Snftinct,  ber  roeit  fid)erer  unb  jarter  als  ber  beS  anberen  ©e= 
fd)led)teS  ift,  tiefe  fie  Vertrauen  ju  mir  faffen.  Unb  furj  unb  gut,  nad) 
einer  «Stunbe  fannte  id)  tfjre  SebenSgefd)id)te. 

Siefelbe  ift  rüf)renb,  id)  roitt  fie  erjäljlen. 

II. 

(sjiftirt  nod)  ein  S3efud)er  beS  ^aubemHetfieaterS,  ber  fid)  an  5Mb 
SJobin  erinnert? 

8Sielleid)t  nein.  3lber  im  SBinter  beS  $af)reS  1859  roar  fie  eine  ber 
fd)önften  £uri$  beS  mufelmännifd)en  SßarabiefeS,  baS  bamals  bie  Gruppe 
biefeS  Sweaters  aufführte,  greitid)  jroifd)en  biefer  £)arftetlung  unb  bem 
Gimmel  beS  Sßroptieten  b>rrfd)te  ber  Unterfd)ieb,  bafj  aU'  biefe  reijenben 

JJotb  unb  ©ift.  LXXV.  223.  7 


96 


 ^ranvois  Coppee  in  parts.   


©ä)aufpielerinnen  nur  fehr  jweifelhalte  2lnfprüehe  auf  ben  £itel  „gräulein" 
Ratten,  einen  £itel,  toelc^er,  wenn  anber«  man  bem  Äoran  glauben  will, 
ben  ißurt«  ewig  unb  unwrbrucf)lich  jufommt. 

Sie  war  brünett,  blatte  einen  marmorblaffen  Teint  unb  weiche«, 
wollige«  Soäenhaar.  ©rofj  unb  fä)lanf,  »on  wunberbarem  2Bu<hfe,  befafj 
fie  ein  Sßaar  bunfle  2lugen,  bie  immer  in  finnige«  träumen  »erloren 
fdjtenen. 

3hte  göttergleiä)e  ©chönheii,  in  ber  fid»  SBürbe  unb  SKnmuth  paarten, 
hätte  bie  fiorenHnifchen  2Reifter  ber  Slenaiffance  entjüdt.  Unb  bod)  blatte 
keüt)  nur  einen  armen  £utniad)ergeljilfen  jum  SSater,  ben  bie  ©orge  um 
feine  sahlreid)e  gamilie  faft  ju  33oben  brfidfte.  Stein  SBunber,  bafc  ba« 
SDtäbdjen,  um  weld)e«  man  fidt)  wenig  fümmem  fonnte,  in  allen  ©äffen 
ber  ©tabt  fid)  herumtrieb.  @in  SWachbar,  ber  SDkfchütift  am  SMemife 
Sweater  war,  »erführe  fie  unb  nahm  fie  ju  fi<^.  i^efet  mufjte  fic  arbeiten, 
baft  ihre  £änbe  rauh  unb  rott)  würben,  mufjte  fie  für  ben  Trunfenbolb,  ber 
fie  mit  @d)lägen  tractirte,  fod)en  unb  ihm  feine  fdjmufeige  33ube  ausfeilen, 
©ie  war  bereit«  faft  jweiunbjwanjig  ftafyn  alt,  at«  Samorltöre,  ber  erfte 
£elbenbarfteUer  be«  ^eater«,  welker  trofc  feiner  Särentafcen,  feine«  ge* 
färbten  ©djmtrrbarte«  unb  feiner  fünfzig  Qaljre  nod)  immer  $afd}a  hinter 
ben  Coultffen  geblieben  war,  fie  ju  bemerfen  unb  ü)r  jum  3*<*>*n  \tmex 
©mtft  ba«  Tafdjentud)  b,inäuroerfen  geruhte.  ®ie  33orftabtbewoImerin  be* 
fam  einen  riefigen  9tefpect  am  erften  9lbenb,  wo  fie  ba«  befdjetbene  Sogi« 
be«  ©djaufpieler«  betrat,  ber  feine  eigenen  3Höbeln  befafj  unb  bie  3hnroer= 
wänbe  mit  alten  ^eaterjetteln  unb  golbenen  Sßaplerfronen  becorirt  blatte, 
ben  glorreidjen  3eu9en  faner  ehemaligen  Grfolge  im  ©üben,  in  Slgen, 
9fod)  unb  SJlontauban. 

©er  ©d)aufpieler  war  }meifello«  gegen  bie  SSerehrung  »on  ©eiten 
ber  bolben  2Beiblid)fett  bereit«  abgeftumpft.  ©hemal«  blatte  er  bei  feinen 
©aftroüen  in  ber  gJrooinj  ben  häu«lid)en  ^rieben  von  mehr  al«  einer 
Familie  geftört.  <bie  §rau  eine«  Steuereinnehmer«  im  Departement 
iam=ets©aronne  war  ihm  nachgelaufen,  unb  in  ©er«  hatte  er  bie  ©attin 
eine«  Unter=$ßräfecten  ftarf  compromittirt.  ©emtod)  aber  fd)meid)elte  bie 
naioe  Sewunberung  be«  armen  2Räbd)en«  bem  ^erjen  be«  alten  ©d)met= 
terling«,  ber  e«  bereit«  mübe  war,  raftto«  Don  33lume  &u  Slume  su 
flattern,  ©ie  follte  am  nädjften  ÜDJorgen  wieber  t)eimfeb,ren;  fo  war  e« 
abgemad)t.  Qnbeffen  nad)  acE)t  Tagen  wufd)  unb  plättete  fie  ifmt  be^ 
reit«  feine  äöäfd)e. 

Sic  fnüpften  alfo  ein  SBerhältnif.  mit  einanber  an.  Uielln  lebte  an 
ber  ©eite  bc«  erften  gelben  in  einer  beftänbigen  Slufreguttg.  ©ie  nannte 
ihn  „&err  fiamorliöre",  wenn  Tie  mit  ben  9iad)barn  von  ihm  fprad),  ftc 
biente  ibm  wie  eine  »ertiebte  ©Katrin,  ©ie  forgte  auf«  $ßeinlid)fte  für 
i^n,  würbe  in  feine  Totlettengeheimmffe  eingeweiht  unb  lernte  ihm  ba$ 
#aar  färben,  welche«  fie  mit  &ilfe  von  Söaffern  unb  ©alben  au«  ©rau* 


  Rioalinnett.   


9? 


©rün'Siotb,  in'*  fdtfnfte  ©djwarj  fid}  oerwanbeln  fat»,  obne  baf?  fie  barum 
aud)  nur  im  ©eringften  aufgehört  Ijätte,  Samorltdre  al«  beti  Stüngften  imb 
©d)önften  unter  ben  ©terblidjen  ju  betrauten. 

@r  war  im  ©runbe  genommen  ein  guter  ßerl.  @r  mar  gerührt,  bafj 
fie  iljn  fo  feljr  berounberte  unb  fo  gut  bebiente.  @r  intereffirte  fid)  für 
3Mo,  erfannte,  baf?  biefelbe  trofe  ibjer  Unwtffenliett  burdjau«  nid)t  bumm 
war,  gab  ibj  ein  wenig  beclamatorifcfien  llnterridjt  unb  forgte  bafür,  baf? 
fie  in  Keinen  9Men  bebätiren  burfte.  SRadj  einem  falben  3(u)re  gab  fie 
fdjon  ganj  leiblid)  bie  Naiven. 

Samorliöre,  ber  bereit«  feit  mehreren  Sauren  nur  nod)  in  fleinen 
Drten  gafttrte,  befam  burd)  einen  glü<flid)en  3ufatf  Engagement  an 
bem  ,,©rof?en  Sweater"  ju  Sitte,  wo  fein  in  ber  5ßro»inj  erworbener  9hu)m 
jum  festen  SRale  fiell  aufftral)lte.  diejenigen,  wetdje  iljn  bamal«  nid)t  in 
ben  „Giraten  ber  ©aoatme"  bie  grofje  SBa^nfinnöfcene  fptelen  gefeljen 
Ijaben,  in  ber  er,  wilb  anftadjenb,  an  »ergiftetem  3aoa4Hqueur  ftirbt, 
fömten  fid)  feinen  Segriff  »on  bem  alten  patljetifrftcn  Spiel  madjen,  ba« 
bleute  gänjlid)  au«  ber  SJJobe  gefommen  ift.  da  er  juft  um  biefe  Seit  eine 
Meine  ®r6f(3t)aft  machte,  fo  formte  3?effn  in  präfentablen  Goftümen  neben 
iljm  bebütiren.  @ie  war  unb  fonnte  aud)  nur  immer  eine  mittetmäfjige 
©d)aufptelerin  fein.  dod)  bei  iljrer  auj?erorbenttid)en  ©djönfieU  fjatte  fie 
trofcbem  glänsenbe  ©rfolge.  2tffe  reiben  Sebemänner  fingen  $euer.  dod) 
fie  fdjroärmten  »ergeben«,  stellt),  bie  r-oller  33ewunberung  unb  danfbarfeit 
für  Samorliere  war,  blieb  tlmt  unerfd)ütterlid)  treu,  unb  brei  ftcfyve  lang 
fallen  bie  SSerooljner  »on  Sitte  mit  Staunen,  wie  biefe«  wunberbare  ©es 
fdjöpf  in  einem  ©djmucf  au«  £almi  Äomöbie  fpiette  unb  erlief»  ftttfam 
am  3lrme  be«  alten  ©d)aufpieler«  allabenbltd)  au«  bem  Sweater  fam. 

911«  Samortiöre  am  Slbenbe  feine«  SJenefije«,  wo  er  fid)  in  ber  Stotte 
be«  gtfdjer«  ©a«parbe  feljr  erf|i|t  blatte,  (jeimfefnte,  erfältete  er  fidr)  unter* 
weg«  berartig,  baf?  er  balb  barauf  an  einer  .ßungenentjünbung  ftarb.  der 
©d)merj  9Mn«  war  ein  aufrichtiger;  inbeffen  fte  ließ  fid)  balb  —  wie 
ba«  nid)t  anber«  $u  erwarten  ftanb  —  »on  einem  reiben  3Wüfnggänger, 
einem  oier=  ober  fünffachen  üfiittionär  tröften,  ber  feit  brei  ^aljren  nur  bamt 
feinen  Ärimfted)er  tjeroor^oltc  unb  in'«  Sweater  ging,  wenn  ba«  l>errlid)e 
3Räbd)en  auf  bie  SMifine  fam.  diefer  gefdjmacEootfe  9Jienfd)  begriff,  bafe 
ju  fold)'  mattem  Steint  unb  fold)'  bunflen  paaren  nur  ed)te  diamanten 
pafsten.  @r  mietete  ibj  eine  pradjtoolle  SBofjnung  unb  lief?  fie  auf  ®ummi= 
räbern  fahren. 

35a«  ehemalige  ©affenmäbdjen  au«  Sb^aronne,  welche«  früher  fid)  oft 
für  jroei  ©011«  Skcfroerf  in  einer  düte  jum  $vrül)ftücf  gefauft  fwtte,  naljm 
biefen  Sunt«  al«  etwa«  ganj  ©elbftoerftänblidje«  Inn,  olme  be«f)alb  inter* 
effirt  ober  l)abfüd)tig  p  werben.  Qm  ©runbe  genommen,  langweilte  fie 
tbjre  neue  Seben«weife  fogar.  $n  ber  ©efettfajaft  ibre«  ©eliebten,  eine« 
bjtbfd^en,  faum  merjigjälnigen  5|Srooinjialen,  ber  fieft  febr  tnet  auf  feinen 

7* 


98   Jratt';ots  <£oppee  in  Paris.   

blonben  ÜtadEenbart  $u  gute  tfiot,  worin  nodj  fein  einjige3  Silberpaar  erglöitjte 
unb  beffen  greigebigfeit  9telln  'Stobra  Äutfdjer,  Äödjtn  unb  Äammerfrau 
uerbanfte,  feinte  fie  fidj  faft  nadj  ber  3cit  äurücf,  wo  fie  ihren  Samorli&re 
mitteljt  einer  Sßomabe  oerjüngte  ober  ihm  nach  ber  &eimfehr  oon  ber 
Sßrobe  eigenpänbig  ba£  ÜDItttageffen  bereitete. 

Sarmorli&re  tiatte  immer  feine  u)m  ergebene  Stownbi'1  mit  9tod)fidjt 
unb  ©djonung  behanbelt,  wenn  er  aud)  if)r  gegenüber  ben  überlegenen  fton 
beS  erften  &etbenbarftetter3  unb  bie  ^ßrotectormiene  eines  uom  publicum 
oerhätfdielten  ©djaufpielerS  niemals  »erleugnete.  §r  trug  es  ihr  md)t  nadi, 
bafe  fie  auä  bem  nieberen  Sßolfe  flammte  unb  baf3  fie  gewiffe,  ben  2)Jäbd;ett 
aus  ben  SBorfläbten  eigene  SWanteren  beibehielt,  fo  j.  S.  ihr  tautet  Soweit 
ober  oerfdjiebene  9iebenSarten  ober  ihre  Siebfr,  weld)e  fie  mit  leiernber 
(Stimme  Verfang,  wenn  fie  ihre  befdjeibene  ©arberobe  ausbefferte.  ©ie 
blatte  für  ben  alten  ©dwnfpieler  ein  aufridjtigeS  ©efühl  ber  Tanfbarfeit 
unb  greunbfdjaft  empfunben,  mährenb  2Rattet;®eSh<*umeS  —  fo  htef?  ihr 
jefetger  aSereljrer  —  in  Dieter  Ziehung  ihr  einen  läftigen  3wang  «uf* 
erlegte. 

@r  war  ein  bischen  conoentionett,  ber  fd)öne  J&err  au«  Sitte,  unb 
wollte  fid)  mit  feiner  9Jlaitreffe  ©hre  einlegen,  wollte,  bafj  fie  benehmen 
jeigte.  ©r  blatte  eine  unangenehme  9lrt  unb  SBetfe,  alle  äfogenblicfe  ju 
wieberholen:  „2lber  meine  Siebe,  fo  was  fagt  man  nidjt,  fo  was  thut  man 
nicht,"  unb  babei  ftridj  er  fid>  mit  einem  ©djilbpattfämmd)ett,  baS  er 
ftets  bei  fid)  trug,  ben  golbenen  Sart.  Qnbem  fo  ber  correcte  ©entleman 
oier  Safere  lang  an  it)r  herumfdmlmeifterte,  langweilte  fidj  SJellu  9tobm 
5roar  gehörig,  erhielt  aber  ©rjiehung  unb  mürbe  eine  Tarne,  ohne  inbeffen 
ttjre  natürlidje  £eiterfeit  einsubüßen. 

9hm  fam  eines  £ageS  ber  3>trector  beS  a?aube»ille*^b,eater8  nadj 
Sitte,  um  ftd>  einen  ilomifer  anjufehett,  welcher  bafelbft  mit  grof3em  Crrfolge 
auftrat,  weil  feine  9?afe  jwei  Zentimeter  länger  war  als  bie  beS  berühmten 
£anSwurftS  £uacinth.  SBet  biefer  ©elegenhett  befam  er  9lettn  Stobiu  ju 
©efidjt  unb  mar  [oon  ihrem  2lnblicf  wie  geblenbet.  Sie  mar  28  %afyct 
alt  unb  hatte  ben  £öljepunft  ihrer  Schönheit  erretdjt.  ©erabe  um  biefe 
3eit  fucfite  er  bie  fdjönften  SBeiber  ju  engagiren,  benn  er  wollte  bie 
„Srtrnen"  fpielen,  eines  jener  fatirifdjen  Suftfpiele  gegen  ben  SuruS  ber 
Halbwelt,  bie  bamals  in  ber  2Jiobe  waren  unb  worin  bie  hübfeheften 
•Mbdjen,  mit  diamanten  bebeeft,  auf  ber  SBüIjne  erfdjetnen  muften,  um 
bie  jornigen  £iraben  beS  ©ÜtenridjterS  einigermaßen  ju  redftfertigen.  ÜDttt 
einem  ßontracte  in  ber  £anb  fam  ber  SMrector  in  9iettnS  ©arberobe.  — 
„©djnett,  5cber  unb  Fintel"  ©ie  unterjeidjnete  alsbalb  ben  geftempelten 
Sogen  auf  bem  Xoilettentifdie  jwif<hen  ©djminfen  unb  ?Pomaben.  S)etm 
ftc  hatte  bie  ^roolnj  unb  bie  Sebemänner  oon  Sitte  he*ili<h  f«tt,  bie  beim 
©ouper  00m  Steigen  ber  99aumwoffe  fpradjen.  ©ie  ^atte  genug  oon 
SDJatlct^TeShaumeS  unb  feinem  becoratioen  Sarte.   sJlodj  an  bemfelben 


  Hioalinnen. 


99 


Sftenb  brad)  fic  mit  tijm,  unb  fed)S  2Bod)en  fpäter  bebütirte  fie  im  Sßaube» 
utile  in  bcn  „Dirnen". 

Die  Slotte  mar  Mein.  Sie  trat  erft  im  britten  2tctc  auf  unb  blatte 
nur  25  Reiten  ju  fagen.  2lber  bei  ber  ^ßremiöre  Ijerrfcbte  in  ben  ßouloirS 
«ine  Aufregung:  „Stein,  roaS  baS  für  ein  l)übfd)eS  2Jtäbd)en  tft!"  Die 
Sßarifer  oerloren  bie  Äöpfe.  %m  gotjer  lieg  ftd)  eine  Unmenge  von  Herren 
im  fdjroarjen  graef  unb  meiner  ©raoatte  Stellt)  SJobin,  bie  man  umringte, 
»orftetten.  Qb^r  Director  Ijüpfte  oergnügt  in  ber  @d)aar  ber  33erounberer 
fcerum.  —  „Siebe  greunbin,  id)  ftcHe  Sfönen  &errn  (Solm  Dor."  Unb  ber 
jübifd)e  Sanfter  präfentirte  feinen  mit  SBreloqueS  behängten  bieten  33aud). 

—  „Obrift  ©ag6  von  ben  ©arbereitern."  Der  Dffijier  fniefte  mit  einer 
fteifen  SSerbeugung  jufammen  rote  ein  gebermeffer.  Dod)  auf  einmal 
mad)te  2ltteS  refpeetnott  einem  etroa  fed)jigjäl)rigen  &errn  mit  |roetfen  Sippen 
unb  h>l)len  2lugen         Der  Director  ftürjte  auf  it)n  ju:  „ßrcellenj! .  ." 

—  ©S  mar  ©raf  33  .  .  .,  ber  9tatti  bes  ÄaiferS.  ©r  nai)m  bie  ©d)au« 
fpielerin  bei  (Seite  unb  fprad)  lange  teife  mit  ibr.  Sie  f»örte  mit  ju  33oben 
gefenften  SHugen  ju. 

©nblid)  fonnte  fic  in  bie  ©arberobe  jurüdffefiren  unb  fid)  umf  leiben; 
aber  alle  2lugenbli<fe  flopfte  eS:  „toct,  toi!"  —  ©S  mar  bie  ©arberobiöre, 
bie  mit  einer  23Lfitenfarte  unb  mit  Stumen  fam.  Sitte  23lumentäben  ber 
9tad)barfd)aft  rourben  an  jenem  9tbenb  geplünbert. 

©ie  rourbe  eine  jener  galanten  ©ebieterinnen,  eine  t)erf$roenberifd)e, 
lururiöfe  ©ourtifane.  ©ie  beroob,nte  ein  eigenes  $ötel,  befaß  bie  tfieuerften 
Toiletten  unb  fufjr  bie  Sfoenue  bu  23otS  in  einem  foftbaren  SBagen  entlang, 
ben  ein  $aar  Sßferbc  im  greife  oon  fünf jelmljunbert  SouiSbor  jogen.  2ltte 
$pi)otograpf)en  fteflten  in  ben  ©djaufenftern  tfir  SBilb  aus.  Die  Damen  ber 
ßalbroelt  platten  »or  3Zeib,  unb  bie  Damen  ber  guten  ©efettfdjaft  ahmten 
ifjre  $üte  nad).  ©in  gefd)i<fter  @d)roanfbid)ter  fdbrieb  |tl)r  jroei  ober  brei 
leid)te  Stollen  auf  ben  Seib,  in  benen  fie  faft  Talent  jeigte  unb  womit  baS 
Dbeater  fotoffate  ©imtafimen  erjielte.  ^retroegen  ruinirte  ftd)  Sobn  an 
foer  23örfe  unb  flof)  nad)  SBelgien,  unb  bie  alte  ^erjogin  ooit  ©Smont  mußte 
ifire  ©üter  »erlaufen  unb  ib,ren  ©oljn,  ber  fid)  in  roafmfinnige  ©djulben 
geftürjt  blatte,  unter  ©uratet  ftetten  taffen.  ©erabe  burd)  bie  abroeifenbe 
Äälte,  mit  ber  fie  bie  jab,lreid)en  3tnbeter  bebanbelte,  erjielte  Tie  bie  größten 
Dnumplje.  Saunifd),  aus  purem  £rofc,  fagte  fic  Stein  unb  immer  roieber 
Stein  ju  einer  norbifd)en  £oljeit,  einem  bilbf)übfd)en  dürften,  ber  ertra 
tfiretroegen  in  $artS  blieb  unb  fie  allabenbtid)  »on  feiner  Soge  aus 
anfdwnad)tete.  „Der  fann  roarten,  bis  er  fd)roarj  roirb!"  pflegte  fie  lädjelnb 
,ju  fagen.  Dod)  fie  tjattc  nidjt  mit  Unred)t  fold)'  große  (Srfotge.  ©ie  mar 
gutmütig,  flug  unb  ungejiert;  fie  befaß  ben  für  ein  SBeib  ib^rer  3lrt  um 
fd)öfcbaren  SJorjug,  baß  Re  attejeit  luftig  unb  guter  Dinge  fein  fonnte,  fie 
flttjücfte  unb  nabm  für  ftd)  ein  burd)  ben  ©egenfafe  sroifd^en  il»rer  oorne^men 
©djön^eit  unb  ibrer  ^eiteren  SebenSfreube.   ©ie  bejauberte  i^re  Steb^aber 


\00    ;Jran<;ois  <£oppee  in  Paris.   

gerabeju.  ÜRan  behauptete  allen  ©rnfteS,  bafi  ©ag6,  ber  Dberft  oon  bat 
©arbereitern,  für  ben  ber  Äaifer  bunberttaufenb  granfen  ©Bulben  bejahte, 
bie  jener  ibretroegen  gemadjt  fjattc,  bei  ©olferino  ben  £ob  gefugt  fyabe, 
roeü  fic  9ttd)t3  mebr  oon  ibjn  roiffen  wollte. 

©ejtel  biefe  Sebenäroeife  Stellt)?  2Bar  fie  babei  glücttid)?  9Mn 
©ott,  ja!  (Sie  feljnte  fidj  burdbauS  ntd)t  mebr  nad)  jener  3^  n>a 
fie  Samorltere  bie  2Birtf)fd)aft  geführt  blatte.  SGBic  follte  auä)  ein  armeä 
3Wäbd)en,  baS  obne  äffe  moratifd)e  @rjiel)ung  aufgeroad)fen  roar  unb  in  ber 
frubeften  3"9eno  bereits  baS  Safter  fennen  gelernt  blatte,  nid)t  burd)  ein 
fold)e8  „©lücf"  geblenbet  werben? 

3n  jroei  ^abren  f>atte  fie  r-ier  ober  fünf  Siebbaber,  benen  fie  roiH- 
fäbrig,  ja,  ju  benen  fie  fogar  liebenSroürbig  roar;  aber  fie  bradfjte  fte  äffe, 
ofine  e§  felbft  ju  rooffen,  an  ben  Settelftab.  ©8  roar  ibjre  ©djroäcbe  unb 
aud)  ibr  SBorjug,  bafj  baS  ©olb  in  tbrer  £cmb  «erbampfte  roie  SBaffertropfen 
auf  glübenbem  3KetalI.  ©ie  t>erfd)roenbete  ungel)eure.©ummen  mit  unglaub* 
lid)em  Seid)tfum.  3>ie  -Könner,  bie  fid)  ibretroegen  ruinirten,  fie  beflagte 
fie  ntdjt  einmal.  Unb  fie  bitte  9ied)t.  deiner  oon  ibnen  b<*tte  fic  roirflid) 
geliebt.  9Jid)t  au«  £eibenfd)aft,  fonbern  aus  ©enufjfudjt  unb  (Sitelfett 
batten  biefelben  nad)  intern  23ent$e  geftrebt.  3fn  bem  feftlidjen  Trubel  be« 
eleganten  Sßaris  jur  $eit  beä  $atferreid)§  lebte  ba§  fd)öne  2Jtäbd)en,  beraufdjt 
oon  ben  £riumpben,  bie  e§  feierte,  babin,  obne  5U  abnen,  bafj  e§  ein 
&erj  befafe. 

m. 

2ln  einem  9iooembernad}mittage  febrte  SReHt)  SRobin  »on  einer  langen 
$Probe  ermübet  beim,  ©ie  batte  fid)  eben  in  ibrem  ©d)[afjimmer  auf  ber 
©baifelongue  auägeftrecft  unb  raudjte  eine  ruffifdje  ©igarette,  at«  ibr  bie 
Äammerfrau,  inbem  fie  üerädjtlid)  ein  fdjtefeä  9Maut  jog,  eine  iiemlid)  be« 
fdjmufete  Sßifitenfarte  überreid)te,  roorauf  bie  ©d)aufpielerin  folgenben 
tarnen  la§: 

©aintsgirmin, 
jroeiter  Siegiffeur  am  faiferlidjen  Dbeon*23)eater. 

„2öie!  lebt  ber  arme  gute  Teufel  roirflid)  nod)?  ...  @r  foff  gleiä) 
bereinfomtnen,"  rief  9tettt)  mit  ibrem  munteren  Sädjeln. 

erinnerte  fie  an  irjre  Qugenbjeit.  tiefer  ©ainfeftirmtn  roar  ein 
ßotmfer,  ber  einftmati  in  33elle»iffe  mit  ibr  unb  Samorttöre  jufammen  ge* 
fpielt  tjattc. 

®r  erfd)ien  auf  ber  £bürfä)roeffe,  mad)te  eine  Verbeugung,  bie  bentütljtg 
unb  anfprud)3üoH  sugteid)  roar,  unb  obfd)on  iReffn  ibn  bereit*  feit  mebreren 
3fabren  nid)t  gefeben  bitte,  fo  erfannte  fte  bod)  fofort  ben  Meinen  5Hamt 
mit  bem  ©efidbt,  ba«  braun  roar  roie  bie  ftarbe  einer  gefoäjten  Äartoffel, 
unb  mit  bem  fd)roarjen  £aar,  baS  roie  eine  ^errüdfe  am  ©d)äbel  Hebte. 


  Rivalinnen.   


©r  roar  jtemtich  tebucirt  gefleibet  unb  trug  einen  falfdjen  diamanten  für 
riesig  ©ouS  in  ber  ©raoatte  aus  rothem  ©atin. 

©ie  fonnte  nicht  einmal  Jagen,  bafe  er  gealtert  hatte,  ©atnkgirmtn 
hatte  jene  ferner  auf  ihr  2llter  ju  taruenben  ©efidjtSsüge  ber  ©chaufpieler, 
roelcfje  fchnell  roelf  werben,  roelche  fich  aber  bennodj  ©errjälttttfentäfeig  lange 
gegen  ben  3af)n  ber  $eit  oertheibtgen. 

„(Suten  ©ag,  ©aintsgirmin!"  fagte  SieUp  hwjUcfj  unb  reichte  ihm  it>re 
fdböne,  warme  $anb.  —  „2Bie  getjt'g  ©ir?  2ßaS  ift  injroifchen  auS  ©ir 
geroorben?  .  .  .  ©aS  ift  aber  'mal  ein  gefdjeibter  ©ebanfe  von  ©ir,  baß 
Du  ©eine  alte  ©oßegin  befuchft." 

©aS  trübfelige  ©eficht  beS  Äomöbianten  {»eilte  fich  auf.  ©er  fetnblidje 
93ltcf  ber  Kammerfrau  unb  bie  foftbaren  ©apifferien  beS  SBorjiiumcrS  Ratten 
ifm  einen  ganj  anberen  ©mpfang  befürchten  laffen. 

©r  redte  fid)  unb  reifte  3feHp  mit  theatralifcher  ©eberbe  bie  £anb. 

„9ia!  ic^  fef>e,  ba§  ©u  ein  gutes  SERäbet  geblieben  bift  rote  früher  su 
SamorliöreS  3^t-" 

Unb  inbem  er  feine  roirfltcfje  33eroegung  noch  übertrieb  unb  in  feinen 
aufgeriffenen  2lugen  bie  SWiräne,  welche  ben  Seuten  t>om  Sfjeater  immer 
}itr  Verfügung  ftel)t,  erblinfen  tiefe,  fuhr  er  fort: 

„3Kan  ^at  gut  über  fie  reben  .  .  .  es  gef»t  bennodj  nichts  über  bie 
Äünftler." 

©ie  hiefj  ihn  neben  fich  nieberjufifeen  auf  einem  bequemen  Sefmfeffel. 

„9iun,  ©aint=§irmin,  roomit  famt  ich  ®ür  helfen?  .  .  .  2luf  ©einer 
Äarte  hob'  ich  gefehlt,  bajj  ©u  jeßt  am  Dbeon,  an  einem  faiferlidjen 
2T»eater  bift . . .  ©ntfdmlbigen  ©ie,  baf3  ich  ■  •  •  •  31b"  er  als  Stegiffeur  .... 
©u  fpielft  alfo  nicht  mehr  Jtomöbie?  .  .  ." 

—  „Siein,"  erroiberte  er,  „ich  l)abz  »orläuftg  auf  bie  Sühne  t)er= 
jichtet  ....  ich  bin  nur  noch  bei  ber  Seitung  beschäftigt." 

$n  SBahrheit  roar  feine  £auptbefct)äftigung  am  Dbeon,  bie  9hife  unb  bie 
ßouliffengeräufche  5U  machen  unb  auf  treppen  unb  ©fingen  mit  einer 
Älingel  h^ropkwftti-  ©r  roar  ber  roHenbe  ©onner,  ber  plätfehernbe 
JJegen,  ber  heulenbe  SBinb.  ©r  roar  bie  raffelnbe  Sßoftfdjaife,  roelche  banon 
fährt,  ber  Papagei  ber  alten  ©ame,  welche  fdjreit:  „£aft  ©u  gefrühftücft, 
Sora?"  ©er  ©tofj  ©eller,  roelcher  flirrenb  ju  S9oben  fällt,  bie  Uhr,  welche 
beim  ©intreten  bei  SBerrätherS  bie  SDiitternadjtSftunbe  mit  jwölf  fdjaurigen 
©djtägen  »erfünbet,  ber  ^SiftolenfcTjuf}  beS  Serjroetfelten,  ber  fich  «i  ber 
©trafieneefe  eine  ßugel  burch  ben  Äopf  jagt,  ©och  oa^  hex  Qlluftonä' 
fä^igfett  ber  Äomöbianten,  banf  ihrer  ©abe,  Sittel  in  ein  glänjenbereS 
Sicht  5U  ftellen,  fprad»  er  jenes  SBort  „Seitung"  aus,  als  wenn  er  2*  auf* 
birector  ober  ^räfibent  irgenb  einer  ©ifenbahngefettfdjaft  gewefen  wäre. 

„3$  fann  mir  benfen,"  .  .  .  fagte  Stellt)  mit  freunblichem  Sädjeln. 
„^unbertfünfunbsroansig  Raufen  monatlich,  nicht  roahr?  .  .  .  ©oßteft  ©u 


{02    ^ran?ois  <£oppee  in  paris.   

©id)  in  momentaner  ©etbnetlegen^eit  befmben,  fo  genire  ©id)  nidrt  .  .  . 
©u  weißt  ja  .  .  ." 

©od)  ber  alte  SWime  mar,  obwohl  fefyr  arm,  ein  redjtfdjaffener  9Henfd), 
ber  etwas  auf  Stnftanb  unb  Sßürbe  gab.  <Sr  mad)te  bie  ftafnfd)e  ©efte 
ber  Slblelmung,  bie  ©efte  beS  ßtppofrateS  cor  ben  ©efdjenfen  beS 
StrtarerreS  unb  fagte,  otjne  fid^  »ertefet  ju  fügten,  fonbem  im  ©egeittf>eil 
üon  -JtellnS  eblem  2tnerbieten  gerührt: 

3d)  banfe,  Siobin,  ic^  brause  9UdjtS.  SDian  ift  nidjt  reid),  aber  man 
fdjlägt  fid)  fo  burd»  .  .  .  9Mn,  id)  tomme,  ©td)  um  etwas  oiel  2Btd)tigereS 
ju  bitten  .  .  .  3$  protegire  einen  jungen  ©id)ter  unb  tyab'  mir  in  ben 
ßopf  gefefet,  feinem  erften  (Stüde  su  einer  2tupf)rung  ju  oerljelfen." 

SCngefidjtS  ber  trübfeligen  -DHene  beS  23iebermanneS  »erfudjte  9tefli) 
vergebens  ein  mitteibtgeS  Säbeln  ju  unterbrücfen.  ©ie  fannte  baS  Sweater 
unb  wußte,  baß  ber  ©influß  eines  jroeiten  StegtffeurS  im  günftigften  galle 
gerabe  ausreiße,  um  ber  ©odjter  eines  SßortterS,  meldte  iljre  3lbenbe  frei 
Ijat,  eine  ©tatiftenrofle  ju  oerfdjaffen. 

„fööre  unb  ftaune!"  fagte  ©aint=gtrmin.  „@S  Iianbelt  fid)  um  feine 
Siolle  für  ©id),  nod)  überhaupt  um  ein  ©tüd"  für'S  ^aubemttetbeater  .... 
©as  2Berf,  »on  bem  td)  rebc,  id)  möd)te,  baß  bie  @d)aufpieler  beS  ÄatferS 
eS  im  ©lj6ätre  gra^ais  pr  9tuffüf)rung  brächten.  Unb  baS  wäre  audj 
nidjt  mefyr  als  billig  .  .  .  ©u  Ijaft  nun  glänjenbe  Sejielmngen  —  ja  ja, 
«um  fdjöneS  gräulein,  mir  wtffen  baS  —  S9ejiel)ungen,  weldje  bis  in'S 
■Dtinifterium,  ja  fogar  bis  in  bie  ©uilerien  reiben,  unb  wenn  ©u  ©td) 
für  meinen  jungen  2Wann  intereffiren  toittft,  fo  famtft  ©u  triel  für  iljn 
ttiun  .  .  .  ©u  ftef)ft,  Hebe  3tobin,  was  id)  »on  ©ir  erwarte,  ift  eine 
©efäHigfeit,  an  ber  id)  perfönttdj  gar  nidjt  intereffirt  bin  .  .  .  @S  ^anbelt 
fid)  nid»t  um  ein  umfangreiches  2Berf",  fügte  er  bjnju,  inbem  er  aus  ber 
©afdje  feines  UeberjiefjerS  ein  fleineS  ipeft  b^eroorjog  .  .  .  „nur  um  einen 
©inacter  in  SBerfen  .  .  .  Sfber  eS  ift  etwas  ßöftlidjeS,  eS  fei  benn,  baß 
id)  SRtdjtS  »on  ber  ©adje  »erftänbe.  Unb  idj  «erftefje  und)  barauf  .  .  . 
©u  weißt  bod)  nod)  in  33eHe»ilIe?  .  .  .  -Dian  nannte  midj  ba  immer  ben 
Dramaturgen  ....  2tlfo  barf  id)  auf  ©id)  rennen,  Siobin?" 

Stellt)  füllte  fid)  feljr  gefdjmeidjelt.  33isb,er  Ijatte  fie  äffe  SBelt,  itir 
©irector,  if»re  Gollegen,  felbft  iljre  £iebeb,aber  nur  als  fd)önes  Sßeib 
betradjtet,  unb  baS  mar  SlDeS  gewefen.  ©er  alte  ©ainfcgtrmin,  ber  5U 
tf)r  fdjled}tl)in  als  Äünftlerin  fprad),  fabelte  bie  (Sitetfeit  beS  fd)önen 
3)täbd;enS.  Sie  oerfprad)  ttjre  Unterftüfeung  unb  wollte  miffen,  wie  ber 
^ßrotögö  beS  alten  9IegiffeurS  b,iefe. 

„9lun,  erjät)!'  mal,  2llterd)en,"  fagte  fie  Reiter:  „2Bte  b,aft  ©u  il)n 
fennen  gelernt?  .  .  .  2Bo  b^aft  ©u  ib,n  getroffen?" 

—  „3n  ber  ©arfüd)«!  feb^r  einfad),"  antwortete  ber  gute  9)Jann. 
„aJteiner  ©reue,  ©u  farnift  ©ir  beuten,  Jiobin,  ba|  id)  nid)t  im  ,@nglifdjen 
6af6l  ju  3JJittag  effe  unb  baß  id)  nid)t  gleidj  beim  erften  ©tafe  eine  anbere 


Xtcaltnnen.   


S$flafd)e  Gfjampagner  für  20  granfen  geben  taffe  unter  bem  SBorroanbe, 
ba§  bie  erfte  nad)  bem  Dorfen  fd)me<fe.   3$  nehme  meine  aJJa^Ijeiten  bei 
einem  SBeinfaufmamt  in  ber  9lue  33augirarb  ein,  an  roetdje  eine  Äutfdjers 
ftube  anftöfjt.   ©afelbft  ^abe  id)  mein  ©idjterlein  bemerft,  ber,  wie  ©u 
mir  glauben  fannft,  fid^  fein  Steeffteaf  mit  33rattartoffeln  unb  feinen 
©djoppen  9tothroein  leiften  barf.   ©er  arme  £ropf!   ©aju  reidjen  feine 
SHittel  nid)t  au«.  Gr  begnügt  fid)  geroölmlid)  tnit  einem  9Kenu  für  fünf jig 
Gentime«,  roe(d)e«  au«  35rot,  ©uppe  unb  au«gefod)tem  9linbfleifd)  befielt, 
unb  baju  trinft  er  eine  glafd)e  „Pumpenheimer",   ©er  gute  $unge  gefiel 
mir  auf  ben  erften  SBticE.   2lermltd),  aber  fauber.    ©eine  btonben  &aare 
gläujen  golbig  im  ©omtenfdjein,  er  trägt  einen  Keinen,  am  Äinn  geseilten 
33art,  hot  braune  fd)üd)terne  2lugen,  bie  fid)  ju  Soben  fenfen,  wenn  man 
Um  anblidft,  mit  einem  SBorte,  er  fd)aut  fanft  unb  traurig  brein,  roie  ein 
25  jähriger  Gljriftu«.   3d)  mod)te  if)tn  nod)  fo  oft  Det  unb  SWoftrtd)  rjin= 
übereilen,  e«  mar  nid)t  möglid),  mit  ihm  ein  ©efpräd)  anjufnüpfen.  211« 
id)  ilim  aber  enblid)  betgebrad)t  blatte,  bafj  id)  ein  alter  Äünftler  märe, 
ber  feit  30  Satiren  ßomöbie  fpielte  unb  am  Dbeon  engagirt  fei,  ba  blatte 
er  feine  $urd)t  vor  mir  unb  rourbe  aufgefnöpfter  .  .  .  SBir  finb  mit= 
fammen  im  parf  t>on  Suremburg  fpajieren  gegangen,  unb  bort  |at  er  mir, 
mährenb  mir  um  ben  Springbrunnen  fierumroanbelten,  fein  atterliebfte« 
fleine«  ©tücf  au«roenbig  »orgetragen.  33ei  ber  jroanjigften  9Junbe  fagte  er 
ben  legten  33crö.   3d)  mar  ganj  roeg!   9Sor  bem  ©djroänehaufe  fiabe  td) 
ib>  umarmt.   Gr  hat  mir  fein  SKanufcript  anvertraut,   ^d)  hab'«  nod)* 
mal«  gelefen.  $amo«!   Mein,  ©u  begreifft,  roa«  fonnte  id)  für  ilm  thun. 
©odte  id)  oon  bem  ©tücfe  mit  bem  ©irector  be«  Dbeon«  fpredjen? 
ber  äroeite  SWegiffeur?   Gr  mürbe  ju  mir  gefagt  hoben:  ,,©d)ön,  fd)ön," 
mürbe  barauf  ba«  ©ing  in  eine  ©djublabe  geworfen  unb  mir  ben  Auftrag 
gegeben  fiaben,  in  ber  ©arberobe  einen  Sottet  anjufdjlagen,  ber  befagte, 
bafj  bie  bumme  ©an«,  bie  ©eborah,  sroanjig  ftranfen  ©träfe  ju  jahlen 
habe,  roeil  ftc  nur  bamt  pünftlid)  jur  Probe  fäme,  wenn  itjr  fleiner  Unter* 
Sieutenant  Slrreft  hätte  .  .  .  Unb  bann  fagte  id)  mir  aud):  „©u  braud)ft 
ja  nid)t  gleid)  mit  bem  Slopf  burd)  bie  2Banb  ju  rennen.  Sßer  fann  ©ir 
hierbei  behilfltd)  fein?"  fragte  id)  mid).  Unb  ba  bad)te  id)  gleid)  an  ©id), 
mein  fd)öne«  Äinb.   ^d;  roufete,  bafj  ©u  ©ein  ©lücf  gemad)t  hatteft,  id) 
blatte  mir  erjählen  laffen,  bafj  ©u  ben  ©eneral=3ntenbanten  perfönlid) 
fennft  unb  aufserbem  nod)  eine  Unmenge  anberer  großer  Spiere  .  .  .  Unb 
id)  fyaV  »ieUeid)t  ganj  gut  baran  getrau,  ©id)  $u  befudjen,  benn  ©u  bift 
immer  nod)  ba«  gute  9M>el,  ba«  ©u  früher  roarft  .  .  .  2ld),  roie  mürbe 
id)  mid)  freuen,  menn'«  ©ir  gelingen  möd)te  •  •  •  benn,  ohne  ©d)erj:  id) 
bab'  ben  Qungen  fcfjr  lieb  gewonnen,  Gr  ift  gerabe  fo  alt,  mie  metner  jefct 
fein  fönnte,  menn  id)  geheirathet  hätte  ober  menn  id)  eine  ©eliebte  gehabt 
hätte,  ©od)  ©u  roeißt  ja,  roie  ba«  ift  2We«  ift  immer  nur  für  bie  erften 
3Men  ba.  Unferein«,  beim  fomifd)en  gad)  ift  nur  im  beften  gatte  im 


\0<^    franvois  <£oppee  in  pari?.   

©tanbe,  eine  ftüd^tige  Neigung  ju  erweden.  $d)  bin  allein  alt  geworben 
wie  eine  ©oulifjenratte  .  .  .  3la,  ©u  b>ft  nun  baS  SRanufctipt  nebjt  9ktnen 
unb  SBo^nung.  3^u,  was  ©u  fannft,  unb  fobalb  ©u  üRätiereS  weißt,  fo 
fd)reib'  mir,  id)  will  ©ir  bann  meinen  jungen  ©id)ter  b>rfd)icfen.  ©emt 
td^  b>b'  ilmt  9tid)tS  oon  biefem  ©abritte  erjäfilt,  für  ben  §aD,  baß  es  mtfc 
glüefte." 

„Unb  wie  Reifet  benn  ©ein  ©finftling,  ©atnfcgirmin?"  fragte  Uiettg 
Siobin,  wetd)e  wäljrenb  ber  malerifdjen  @rjäl)lung  bei  Äomöbianten  träumerifd) 
unb  fimtenb  an  jenen  armen,  unbefamtten  unb  Ijübfd)en  ©tdjter  benfen 
mußte. 

„3eau  ©eUn  ...  unb  biefer  9kme  wirb  bereinft  berühmt  werben, 
bafür  fte^e  id)  ©ir." 

,,3d)  miß  mid)  gleid)  morgen  für  ©einen  jungen  -Kamt  uermenben," 
»erfefcte  9Jettt).  „@S  trifft  fid)  gerabe  gut,  baß  id)  morgen  mit  einigen  ein* 
flußreidjen  $erfönlid)feiten  foupiren  muß  .  .  3d)  Ijoffe,  2ttterd)en,  ©u  wirft 
balb  gute  9tad)rid)ten  »on  mir  erhalten.  $e|t  aber  muß  id)  Toilette  mad)en. 
$d)  fpeife  b>ut  außerhalb." 

©ie  ftreefte  bem  alten  SRegiffeur  tljre  föanb  Ijin,  bie  biefer  artig  nadj 
ben  ftrengften  aSorfdjrtften  bei  £b>aterftils  füßte.  ©ann  entfernte  er  vidi, 
guter  Hoffnung  t>oH. 

IV. 

$rau  ©eilt),  bie  äBittwe  eines  SnfanterieofftjierS,  welcher  in  ber 
Strim  ber  (Spolera  erlegen  war,  blatte  burd)  protection  in  83eau»aiS  bie 
Seitung  eine!  £abaflabenS  erhalten,  ©iefer  war  itire  alleinige  ©innalmtes 
quelle.  %fyc  einjiger  ©ob>,  ber  auf  bem  ©nmnafium  feiner  SBaterftabt 
eine  greifielle  .erhielt,  madjte  bafelbft  gute  gortfdjritte,  obwohl  er  eine 
fd)wäd)lid)e  ©efunbljeit  befaß  unb  oft  träumerifd)  unb  jerftreut  war.  9Jtit 
neun  Satiren  oerlor  er  feine  UWutter,  unb  nad)bem  bie  23egräbnißfoften  be* 
jaljlt  waren,  blatte  er  feine  b>nbert  granfen  in  ber  Tafdje.  ÜDiit  bem 
problematifdjen  3eugniffe  eines  SaccalaureuS  »erfetien  unb  bem  &trn  »oller 
oager  Sßläne  unb  fd)öner  träume  tarn  er  nadj  SßariS  unb  friftete  bort  ein 
fümmerlidjeS  ©afein,  ©er  bebauewSmertlie  junge  Wann,  in  bem  eine 
flamme  reinfter  Segeifterung  glühte,  mußte  ©djreiberbienfte  oerrid)ten  unb 
oerfaufte  außerbem  an  bie  ©d)üler  b^öljerer  Sefyranftalten  ein  wenig  oon 
feiner  claffifdjen  33ilbung.  ©er  ©id)ter  mit  ber  feinen,  jarten  ©mpfinbung 
trug  gebraudjte  ©tiefein,  weld)e  er  bei  bem  @d)ul)fticfer  billig  erftanb,  unb 
aß  in  übelriedjenben  Äneipen  bie  breite  Settelfuppe  ber  ©agelöfiner.  ©r 
blatte  feine  2tnget)örigen.  ©ein  3Sater  blatte  lange  oor  feinem  üCobe  bie 
wenigen  SSerwattbten,  bie  er  befaß,  aus  bem  ©efidjte  »etloren.  ©eine 
■äJtuttcr  war  ein  natürliches  Äinb  gewefen,  unb  als  ber  Dffijier  fte  aus 
Siebe  Ijeiratfiete,  mußte  er  baS  SWtlitärreglement,  baS,  wie  man  weiß,  eine 
gewiffe  SDJätgift  »orfdjretbt,  b>imliä)  umgeben.   2Bof)l  blatte  ©ellu  wäljrenb 


  Rivalinnen.   


[05 


feinet  ©djuljett  einige  greunbfcfiaften  gefchloffen,  unb  bie  meiften  feiner 
ehemaligen  3Jtitfchüler  wohnten  in  ^SariS.  ®och  biefe  gehörten  roohlhabenben 
gamilten  an,  unb  bet  dichter  in  feinem  ©tolje  fuctjte  feinen  oon  Urnen  auf, 
ja  er  mieb  fie  fogar  gefttffentlid}. 

©o  lebte  er  brei  3al)re  lang  in  fdjrecfltcher  SBereinfamung.  @r  be= 
wohnte  in  einem  alten  &aufe  am  Duai  ©amt=3Jttchel  eine  elenbe  SHanfarbe, 
in  ber  man  im  ©ommer  oor  $tfce  umfam,  roäfirenb  ©tnern  im  SBtnter  baS 
Sßafchroaffer  im  ftruge  gefror.  Sie  Äammer  mar  gar  ju  traurig.  S)ettn 
hielt  ftch  barin  nur  auf,  um  ben  fdjönen  ©djlaf  ber  $u$enb  $u  fcfilafen. 
@r  langweilte  fich  furchtbar.  2ldj,  bie  langen  ©tunben,  bie  er  mit  nieberem 
©efinbcl,  mit  betrunfenen  Sopiften  jufammen  im  ©chröbbureau  »erbringen 
mußte,  bis  tief  in  bie  9lacht  hinein,  um  lumpige  brei  granfen  ju  »er; 
bienen.  Sann  tonnte  er  enbttch,  nadjbem  er  ©eite  an  ©eite  gefugt,  mit 
©djmerjen  im  Ärcitj  unb  mit  bem  Ärampf  in  ber  &anb  heimfehten.  3ln 
einigen  Tagen  ber  Sßodje  gab  er  in  fleinbürgerlichen  Käufern  Unterricht, 
bie  ©tunbe  für  »ierjig  ©ouS.  Unb  auch  &ie8  n">r  eine  wenig  erfreuliche 
Sefchäftigung,  roenn  er  fo  neben  feinen  unfauberen  33uben  fifeen  mufjte, 
bie  fich  mit  ben  Ringern  in  ber  ^tafe  herumftöberten  unb  fich  bie  gfebern 
in  ben  paaren  abroifdjten. 

Sabei  fonnte  er  noch  »on  ©lücf  reben,  roenn  er  äbfdnHften  ju  machen 
ober  Jlachhilfeftunben  ju  geben  hatte,  ©eine  leiber  attju  jahlreichen  SWujse» 
ftunben  oerbrachte  er  mit  Sefen  auf  ber  SHbliothef  ©aittte»©ene»iö»e,  ober 
er  füHtc  fie  mit  jiel«  unb  enblofen  ©pajiergängen  aus,  bei  benen  er, 
langfam  fchlenbernb,  feinen  Träumereien  nachhing. 

33ei  einer  folch'  erbärmlichen  SebenSroeife  hätte  ber  arme  Sichter 
fchliefjlich  geiftig  »erfommen  müffen.  @r  fchrieb  9ltd&tS  mehr  unb  fügte  ber 
©ammtung  feiner  jarten  finnigen  ©ebichte,  bie  er  trofe  aDebem  in  weniger 
fchlimmen  ©tunben  »erfaßt  hatte,  feine  3eile  hmJu> 

$ean  SeHn  roar  bereits  ber  aSerjroeiflung  nahe,  ba  rettete  ihn  bie 
Siebe. 

@S  roar  an  einem  ^unifonntage.  Sie  fiuft  roar,  nachbem  es  foeben 
aufgehört  hotte  ju  regnen,  lau  unb  feucht.  3ean  Seil»,  roanbelte  im  Harbin 
beS  sptanteS  einher.  Sem  aufgeweichten  ©rbboben  entftrömte  ein  ©eruch 
»on  frifchem  naffen  ©rün.  9luS  ber  Menagerie  herüber  ertönte  in  ©inem 
fort  fettfameS  SBogelgefdjrei.  $ean  bewunberte  bie  rothen  Trauben  an  ben 
Säumen  aus  'ißaläftina,  welche  Suffon  tyexfyex  uerpflanjt  hotte.  35a  be* 
gegnete  ihm  bie,  welche  feine  ^reunbin  werben  follte. 

fflxe  ^anbfchuhe  waren  gerabe  nicht  mehr  gut,  ihre  ©dmhe  nicht 
mehr  neu  ju  nennen.  3m  SHcmat  gjuni  trug  fie  ein  fchroarjeS  Äleib !  ©ie 
■hatte  einen  garftigen  Strohhut  auf,  welcher  mit  brei  Kornblumen  gamirt 
roar.  ©och  welch'  ein  ©lanj,  roaS  für  eine  jugenbe  grifdje  ftrahlte  aus 
biefem  gefunben,  jroanjigiährigen  ©efichte,  baS  »on  bichtem  rothen  ©olbs 
haar  umrahmt  roar! 


\06    ^ranpois  tHoppee  in  paris.   

©in  ßenner  mürbe  »ieHetdjt  aud)  bie  frönen  Äörperformen  beS 
•äRäbdjenä  mit  Sßohlgefauen  betrautet  tyobett,  bodj  Sean  ©ellti  fah  nur  bic 
bunfelbraunen  Stugen,  bie  ihn  fanft  anblidten. 

©ie  mar  offenbar  arm  wie  er  unb  madjte  ebenfalls  ihren  ©omttag^ 
nadjmittagSfpajiergang.  Qnftinctio  folgte  er  ihr  einige  ©dritte,  ©ie  ging 
in  bie  3Renagerie  unb  blieb  oor  ben  3ebra§  fteben.  @r  machte  ebenfalte 
nicht  weit  oon  ihr  Qalt,  unb  jum  jroeiten  ÜBtale  begegneten  fidj  bie  33li<fe 
SSeiber.  2>a§  fcbltdjte  SSotf  liebt  nicht  bie  langen  Rbifit,  unb  fo  ftanben 
fie  bentt  balb  barauf  bid^t  nebeneinanber  über  bie  93rüftung  be3  Sären* 
jroingerg  gelernt.  Unb  roieberum  eine  SBeile  fpäter,  al$  fie  bei  ben  Sinti« 
lopen  oorbeifamen,  liatte  3ean  SDettn,  beffen  Sippen  trocfen  unb  beffen 
Dhren  glühenb  rotjj  roaren,  ben3Jluth  p  fagen:  „21$  bie  hübfdjen  Spiere, 
nicht,  gräutein?"  ©o  fam,  wenn  audj  Slnfangf  nur  ftocfenb,  ein  ©efprädj 
in  ©ang.  Sßor  bem  Slffenhaufe  taufdjten  fie  ihre  SRamen  aus,  unb  al§  bie 
SBanbelgänge  beä  ©artenS  fie  jum  sehnten  2Me  jutn  ©lepljanten  führten, 
ba  gaben  fie  fidj  ben  Slrm  unb  niaren  in  eine  fo  intereffante  Unterhaltung 
vertieft,  baß  fie  jefet  garniert  tnefyr  baran  bauten,  bem  $)icfhäuter  Joggen; 
brot  anzubieten,  obroobl  biefer  feinen  9iüffel  mit  einer  ©ebutb,  bie  einer 
befferen  ©adje  roerth  mar,  nadj  Urnen  auSftrecfte. 

©ie,  gnäbige  grau,  bie  fie  breimal  am  Sage  ftdj  an=  unb  ausstehen, 
ärgern  fid)  jefet  oiefleicht,  roenn  ©ie  mid)  lefen.  ©rftenä  nämlid)  mürben 
©ie  niemals  ju  bemerfen  geruhen,  baß  ein  junger  9Jiann  ^übfdje  Slugen 
^at,  roenn  er  nidtf  Qb^rer  ©efellfdiaftsfphäre  angehört  unb  roenn  er  3bnen 
nidjt  in  aller  gorm  »orgeftellt  märe.  Unb  fobamt  mürben  ©ie  aud),  beoor 
©ie  ihn  ^t)rc  ©dfiroäche  almen  liegen,  il)m  alle  nur  möglichen  ©ebulb= 
proben  auferlegen.  @r  bätte  Tie  erft  bei  unzähligen  SrtnerS,  £hee$  unb 
SorfteUungen  in  ber  Gom6bie*3fran<?aife  unb  ber  Dper  treffen  müffen.  ßr 
märe  gejroungen  geroefen,  fich  fünf'  ober  fechSmal  im  igintergrunbe  !$xev 
Soge  bie  „ftanoritin"  anju^ören,  ef»e  3br  33licf  gelegentlich  beS  großen 
Duetts :  „Dh,  tomm',  fomm',  2>ir  mill  icb,  mid)  ergeben"  crmutfiigenb  ben 
feinigen  getroffen  hätte  unb  mahrfdjeinlid)  erft  nad)  brei  ©allen  unb  einem 
©ufcenb  SSJaljern  hätte  ^t)rc  £anb  bie  feinige  bebeutfam  gebrüeft  — 

9lid)t  als  ob  ©ie,  fd)öne  grau,  ein  SluSbunb  »on  £ugenb  mären,  aber 
©ie  oerlangen  eine  beftimmte  Sßerbejeit  oon  3hrem  Verehrer.  SBerben  ©ie 
es  bem  armen  Äinbe,  baS  $ean  ©elln  im  Harbin  beS  ^lanteä  traf,  oerjeiben, 
baß  es  fo  menig  Umfd)roeife  inadjte?  SBieDeidjt  hotten  ©ie  gar  baS  2J?äbd)en 
für  fdjamloS.  Sod)  eS  mar  eben  nur  freimüthig  unb  nai».  ÜBäbrenb 
jene«  Spazierganges  burd)  bie  SBcenagerie  am  2lrme  be§  S)id)ter*  mit  ber 
fanften  ©timmc  unb  ben  traurigen  2lugen  f>atte  -Karie  im  $erjen  ein  ge; 
heimnifjtolle«  9)Ja§liebd)en  entblättert:  „er  liebt  ©ich  •  •  •  »on  fersen . . . 
mit  ©d)merjen"  u.  f.  m.,  unb  auf  ben  lefeten  ©tiel  mar  ba8  SBort:  „fami'3 
garnid)t  tafTen"  gefommen.  Sltebalb  hatte  Qean  9Marie  erjählt,  bafe  er 
allein  unb  unglüeflid)  märe,  unb  3)iarie  äußerte  fofort  barauf  ben  h»$s 


  Hioalinnen. 


{07 


beräigen  SBunfch,  feine  ©enoffin  $u  werben  unb  iljm  ein  wenig  ©lücf  ju 
bringen,  ©od),  glauben  Sie  mit,  gnöbige  grau:  allju  fchneU  gab  ÜRarie 
bennod)  nicht  bem  Ungeftäm  fetner  äärtltä)en  Siebe  nach.  Sie  mar  ein 
28eib,  wie  Sie  es  finb,  unb  wie  Sie  befafj  fie  (Schamgefühl  unb  fogar 
auöf)  ein  bischen  Äofetterie.  2td^t  Sage  waren  erforberlidj  unb  brei  9tenbej= 
»ouS  jur  Slbenbjeit  in  ber  frieblidjen  9tue  £u»ier,  be»or  fie  fid)  entfchlofj, 
ju  %ean  in  bie  3JJanfarbe  am  Dual  SainkSDiichel  hinaufkommen.  2lber 
in  jener  grühtingSnatfit  würbe  ba  oben  im  2Jlonbenfdb>tne,  ber  bie  £>ad)ftube 
erleuchtete,  ein  geft  »on  S^ränen  unb  Äüffen  gefeiert,  wie  ich  %fonm, 
gnäbige  grau,  nur  eines  wünfdjen  möchte,  naä)bem  Sie  für  gut  befunben, 
bafj  ^Jtincn  3hr  Verehrer  genügenb  ben  £of  gemalt  f)at  unb  öftrer  ©egen« 
liebe  mürbig  ift. 

9Warie,  bereits  mit  jelm  fahren  Söaife,  war  »on  einem  Dnfet,  einem 
©ifenbahnbeamten,  aufgesogen  worben.  tiefer  war  ein  redjtfchaffner  unb 
nicht  mehr  junger  SDtonn,  ein  finberlofer  Sßittwer.  SluS  ©utmütljigfeit  unb 
aucg,  weit  er  es  bequem  fanb,  beim  ^eimfommen  ben  £tfä)  gebecft  unb 
baS  33ett  gemacht  ju  fehen,  t»atte  er  bie  9ftä)te  ju  fich  genommen,  Später 
war  btefelbe  Sehrmäbdjen  unb  fpätertnn  ©ehitfin  bei  grau  Bibiana,  einer 
fehr  befd)äftigten  ÜJfobiftin,  geworben.  Sie  befam  aber  bafelbft  nur  einen 
geringen  ©ehalt,  benn  fie  war  nicht  fehr  getieft.  2Wan  »erwanbte  fie 
beähalb  h^uptföchlich  baju,  gefchäftlidje  ©änge  ju  beforgen.  $t)x  alter 
Dnfet  überwachte  fie  fo  gut  wie  gar  nicht.  2113  fie  ftean  $)eHt)  fennen 
lernte,  war  fie  nicht  mehr  unfd)ulbig.  Pflegen  boä)  bie  Unterhaltungen  ber 
SWäbchen  in  berartigen  SttetierS  mitunter  fel)r  inbecent  5U  fein.  9lacf)bem 
fie  im  Slltcr  »on  fechäefm  Sauren  »on  einem  Sabenfdhwengel  »erführt  unb 
halb  barauf  »erlaffen  worben  war,  hotte  fie  einen  gewiffen  Slbfccjeu  cor  ben 
Scannern  befommen  unb  mar  oorfidhtig  genug,  fich  nrit  feinem  Slnberen  mehr 
einjulaffen.  .^ftbeffen,  bie  Siebfofungen  eines  Richters,  ber  in  SlUem,  was 
er  fprad)  unb  that,  baS  Sßeib  in  ihr  rejpectirte,  beraufcfjten  unb  »erfüf)rten 
fie.  Sie  beiben  jungen  Seute,  welche  Vichts  bitten  als  ihre  Mffe,  beteten 
einanber  an.  üflarie  mußte  in  ©inem  fort  an  ihren  greunb  benfen,  fei  es 
nun,  bafe  fie  im  Sltetier  faß  unb  nähte  ober  burd)  bie  Straften  »on  sparis 
lief.  $a  felbft,  wenn  fie  beS  3tbenbs  ^u  Sette  ging  unb  fogar  noch  im 
Traume  »erfolgte  fie  fein  33ilb.  Unb  ^ean  lebte  nur  noch  ber  9Winute, 
wo  SDiarte  5wifd)en  einer  33eforgung  unb  ber  anbern  ju  ihm  herau^am/ 
ihre  &utfd)ad}teln  unter'm  2trm,  baS  ^ßarabieS  im  Sluge  unb  im  ßerjen. 
So  tarn  neue  SebenSluft  über  ben  dichter,  er  fing  mieber  an  ju  arbeiten, 
unb  in  einigen  Stunben  reiner,  begeifterter  greube  febrieb  er  in  Siatogform 
jenes  entjüdenbe  „Sie  Sternennacht"  nieber,  baS  fpäter  nad)  ber 
Sluffühnmg  im  Spätre  gran9ais  »on  Seiten  beS  SßublicumS  ihm  bie  33e= 
5eid)nung  „£f)eofrit  »on  tyam"  eintrug. 

Qean  las  5uweilen  2)Jarie  feine  Serfe  »ot.  Sie  hörte  ihm  begeiftert 
unb  »ietteidjt  mit  mehr  ©efüf)l  als  mit  SBerftänbmf?  5U.  3h"  befeligte  es, 


{08    .^rancots  Coppee  in  Paris.   

berounbert  werben,  unb  feine  3ärtüd&Jeit  f0*  9Rarie  nmdjä  infolgebeffen 
noä).  SÜTerbingS,  er  liebte  jte  niärf  mit  gleidjer  ,3ftnigfeit  tote  fte  ü»t. 
33ei  einer  berartigen  SOtufif  giebt  e8  triebt  einen  üoHfommenen  Slccorb. 
3ean  mar  gut,  aber  er  befaß  ein  beträdjtltdje«  £f>eil  @goi8muS  roie  alle 
ttjab>fjaften  Äünftter.  £rofebem  t>ermod)te  er  nidjt  oljne  SBärme  unb  olme 
innerltdje  3"friebenl)eit  an  biefe  fdjlidjte  gfreunbin  ju  benfen,  bie  ftdb  üjm 
mit  Seib  unb  Seele  btogegeben  "nb  bie  fiöf)  befttmungSloä  in  feine  2lrme 
geroorfen  botte,  roie  man  fxd&  in  einen  2Ibgrunb  ftürjt.  @r  »ermodjte  ftd) 
fein  Seben  niä)t  mebr  »orjuftellen  olme  fie;  unb  ba  er,  im  ©runbe  genommen, 
billig  unb  geredjt  badjte,  fo  träumte  er  mdf)t  von  ©lücf  unb  ©rfolg,  ob,ne 
baf3  er  in  feiner  ?P^antafte  bie  mit  einbegriff,  roelefje  Umt  in  feinem  gegen* 
roartigen  Slenb  eine  Sröfterin  roar. 

©o  liebten  ftä)  Sean  unb  3Warie  bereits  feit  meieren  Qabren  mit 
einer  Siebe,  beren  eben  nur  bie  armen  Seute,  roeld)e  feinen  emberen  ©enufj 
unb  feine  anbere  3crftreuun0  famen,  fäb,ig  finb.  ©djücfjtern  uon  Statur 
unb  aller  Qmttattoe  &ar/  jungC  gjtenfdj  ba^in,  arbeitete  roobl  bin 

unb  roieber,  fud)te  aber  feine  ©elegenbett  auf,  bie  u)n  jur  ©eltung  bringen 
fömtte.  S)a  führte  ü»n  ber  3«faß  ta  ben»  2Birtb>bnu§>  roo  er  ju  fpeifen 
pflegte,  mit  bem  alten  ©aintsgirmtn  ^ufammen.  Qean  $>eltp  fyattt  feinet 
weg«  an'«  Sweater  gebadjt,  als  er  feine  „©tememtadjt"  fcfjrieb,  unb  ber 
@ntf)ufia8mu8  beä  ftomöbianten  nabm  Um  ba^er  Sßhtnber.  5Wit  triebt  »iel 
Hoffnung  Bertraute  er  ibm  fein  ajfanufcript  an.  2BaS  bötte  audj  ein 
armer  Unter=9tegiffeur  am  Dbeontljeater  ausrichten  fömten?  Um  fo  gröfjer 
roar  besbalb  baS  ©rftaunen  bes  ®idjters,  all  er  trierjebn  £age  fpäter 
einen  Sufcerft  liebenSroürbigen  33rief  erbielt,  worin  ibn  ber  Seiter  ber 
©omöbie  gran^aife  cigenbänbig  p  feinem  SBerf  beglücfroünfdjte  unb  itm 
einlub,  ibn  balbigft  ju  befudjen. 

V. 

s)lo6)  an  bemfelben  2lbenb,  roo  ©ainfcgirmtn  ü»r  ba*  SDtanufcript 
übergeben,  ^attc  Stellt)  9iobin  es  im  33ette  gelefen.  ®a8  bu&föe  3JJäbä)en 
Berftanb  triebt  »iel  oon  Sttteratur.  2Bie  uiele  ©ä)aufpteleritmen  lernte  fte 
ihje  SRoHe  auSroenbtg,  obne  baS  ©tfief  ju  fennen,  unb  fdjliefcliä)  madjte  fie 
ifire  ©adbe  ganj  leiblidj,  na<$bem  SBerfaffer  unb  5tegiffeur  fie  in  ben  groben 
gebörig  gebrillt  b«tten.  SDodj  für  SBerfe,  für  gereimte  trafen,  bie  x»on 
Siebe  fpracfien,  fyatte  fte  jene*  inftinetiue  ©efübl/  ^  bie  3Jiäbä)en  ber 
aSorftäbte  bereit*  als  ©cbulfinber  befunben,  inbem  fie  auf  ben  ©djreibbeften 
für  10  ©etttimeS  eifrig  ben  2:ert  ber  Stomanje  ju  entjiffern  fu^en,  roelcöe 
ber  Seiermann,  feinen  haften  brebenb,  mit  näfelnber  ©timme  betfingt.  ®ie 
SWufif  in  ^ean  ®eHn*  ©ebidbt  roar  föftlid).  ©iefelbe  rübrte  S^edr)  unb 
fd)ien  i^r  nodj  roeit  fdjöner  al*  bie  Couplet»,  bie  fte  als  Keine«  ©äffen* 
mäbdjen  auf  ben  ©trafen  gefummt  botte.    ©ie  fd)lief  enblid)  ein  unb 


  Ricalinnen.   


träumte  oon  betn  jungen  2>id)ter,  ber  mit  ben  ftutfdjern  sufammen  effen 
mußte  unb  beffen  SBerfe  tf)r  fo  ju  &erjen  gegongen  waren. 

£)er  ©eltebte  9tettnS  mar  bamals  ber  $erjog  oon  ©olau,  ber  natür* 
lid)e  Solm  beS  h^etben^aften  ■ötarfdjalls,  be§  ehemaligen  Tambours,  melier 
auf  ber  Srücfe  oon  2lrcole  neben  Napoleon  jum  Singriffe  getrommelt  hatte. 
@r  mar  ein  hübfdjer,  ein  wenig  blafirter  SDlann,  oon  eleganten  3J?anieren, 
bod£>  oon  weniger  als  mittelmäßiger  3ftteHigenä.  S>aS  jweite  Äatferreid) 
tiatte  aus  ihm  nid)t  mehr  als  einen  Äammer^errn  mad)en  tonnen.  33eim 
Souper,  welches  ber  föerjog  am  folgenben  Sage  in  einem  oornehmen 
Sleftaurant  einigen  gfreunben  aus  ben  Sutlerien  gab,  erfdiien  3teüx)  mit  bem 
■äJlanufcrtpt  3fean  ©ellnS.  @S  mar  nid)t  gerabe  eine  für  SiebeSpoefien 
empfänglidje  ©efettfdjaft  ba  oerfammelt.  Sauter  Seute  mit  grauen  ftöpfen 
unb  fteifen  hälfen.  3(6er  jur  9ied)ten  ber  Sdjaufpielerin  faß  ßerr  ßabuc, 
ber  Sßrioatfecretär  unb  inHmfte  greunb  beS  SlaiferS.  ®r  mar  ein  wob> 
wotlenber,  titterartfd)  ^od^gebilbeter  SDienfdj,  oon  ungeheurem  Einfluß  auf 
baS  -^eater.  $>iefer  mußte  ihr  baS  33erfpred)en  geben,  bie  „Sternennacht" 
ju  lefen.  2ld)t  Sage  barauf  erhielt  3?ellt)  oon  ßabuc  eine  Äarte  folgenben 
Inhalts:  „(Sin  Keines  Sftetftertoerf.  3fct)  begebe  mid»  fofort  nad)  bet 
(SomGbte  gra^atfe." 

SteHi)  fchrieb  hocherfreut  über  ben  ©rfolg  ihrer  Empfehlung  an  Saint* 
Pirmin.  ®od)  ber  arme  alte  3Jiime  befam  ben  33rtef  nicht  ju  lefen.  $rei 
Sage  lang  lag  er  bereits  im  ßofpitat  tobtfranf  barnieber,  Unb  ba  er 
bem  ®iä)ter  oon  feinem  33efud)  bei  ber  Sd)aufptelerin  SRidjtS  gefagt  hatte, 
fo  erhielt  biefe  feine  Slntwort  unb  mar  beleibigt  wegen  beS  Sd)wetgenS,  in 
baS  fidj  Saint-.fttrmin  unb  fein  ©ünftling  hüllten.  S9alb  hatte  (xe  im 
©trübet  ber  Vergnügungen  Veibe  oergeffen. 

.^nbeffen  baS  mitunter  recht  launenhafte  ©lud  entfd)äbigte  plö^ltd)  %tan 
®etto  für  feine  unberühmte  Vergangenheit. 

JJod)  waren  nid)t  oierjelm  Sage  oerftrid)cn,  feitbem  er  SainHyirnim 
baS  ÜWanufcript  übergeben  hatte,  als  er  eines  3HorgenS  ein  Sittel  oom 
SHrector  ber  6om6bie  gran<?aife  erhielt.  SDiarie  fonnte  ihn  an  biefem  Sage 
nid)t  befuchen,  unb  ber  Umftanb,  baß  er  bie  gute  ftunbe  feiner  lieben 
greunbin  nicht  alsbalb  mittheilen  fonnte,  erfüllte  ben  S)td)ter  trofe  feiner 
auSgelaffenen  greube  mit  einem  ©efühl  oon  Sraurigfeit.  £eut  war  aud) 
nid)t  einmal  im  föoSpital  33efud)S5eit,  fobaß  er  felbft  nicht  bem  alten 
Saint*$irmin  feinen  heißen  innigen  S>anf  auSfpred)en  burfte. 

9Rit  flopfenbem  £erjen  unb  fester  beängftigt  oon  feinem  ©eheimniß, 
machte  %ean  S>eHt),  nadjbem  er  ben  räthfelljaften  33rief  minbeftenS  jelm 
3Wal  burdjgelefen,  forgfältig  Toilette,  um  fid)  nad)  bem  Sb&Üre  5ran<?ais 
ju  begeben.  Qum  ©lücf  hatte  er  einen  paffablen  ©efettfd)aftSrocf  unb  eine 
nette  Graoatte,  ein  ©efdjenf  2JiarieS.  6r  oerließ  baS  £auS.  $>ie  fdjmufeigen 
Straßen  machten  auf  ben  ©lücflidben  einen  feftlidjen  ©nbrud,  ber  wolfen« 
fdjwangere,  traurige  3?ooemberhimmel  fd)ien  su  lad)en,  nnb  bie  Seute,  bie 


\{0    .frattvois  £oppee  in  paris.   

et  unterroeg*  traf,  famen  ihm  oot,  al*  roären  fte  bie  »erförperte  ©üte  unb 
greunblichfeit.  3ean  ^atte  nod)  mehrere  ©tunben  3^it  bis  ju  feinem  33e= 
fud).  ©r  ging  nadfj  ber  9lue  9Wonfteur*le=$|Srince,  um  einem  feinet  ©dfnller 
Unterridht  ju  geben.  $n  feinet  (Erregtheit  überfah  et  biefem  ben  fefireefttchen 
23arbari*mu*  „Romanibus"  im  lateinifdfjen  (^rercitium.  ®ie  $otge  baoon 
mar,  bafi  bet  atme  ©djludet  oon  ©mnnafiaft  bi*  an'*  @nbe  be*  ©dmk 
jähre*  fät  btefen  entfefelidfien  ©dEmifeer  bie  ätgften  ©tidfjeteien  oon  Seiten 
feine*  Dtbinariu*  ju  etttagen  blatte.  ©arauf  wanbette  Start  nadjj  bet 
©arfüdhe.  Unb  roäbjenb  er  nun  in  ©efeUfdjaft  oon  ®rofchferrfutfcb>rn 
fpeifte,  glaubte  er  mit  ben  ©öttem  be*  Dlomp*  bei  £ifd)e  5U  fifcen  unb 
Steftar  «nb  2tmbrofia  ju  genießen,  obn>of)l  man  in  2öirftitf)feit  ihm  nut  einen 
in  tauigem  Del  gebadenen  ßatb*fopf  unb  einen  ©djoppen  fyödOft  »et« 
bädjtigen  SBeine*  oorgefefet  blatte.  9tad)  bem  3)iittag*ejTen  machte  et  fid> 
feften  ©chritte*  unb  erhobenen  Raupte*  auf  ben  2Beg. 

®odj  faum  mar  er  oot  bem  berühmten  „3Miöre=£aufe"  angelangt, 
al*  feine  ganje  33egeifterung  fdmianb.  @*  überfam  ihn  auf  einmal  eine 
unbefdjreiblidie  ©dnid»ternheit.  3luf  bet  Sßenbeltreppe  fdbienen  itm  bie 
prachtvollen  Portrait*  unb  bie  ftoljen  SBüften  ber  berühmten  ©djaufpteler 
ber  Vergangenheit  anjublicfen,  als  tooUten  fte  fagen:  „2Ba*  null  bemt  biefer 
annfelige  ©efetl  bei  un*?"  Unb  ber  Sortier,  bem  er  feinen  9Jamen  nannte, 
mufterte  i^n  mit  einer  fo  t-erädjtUdjen  SKiene,  baft  et  ftdj  ftagte,  ob  er  nic^t 
geträumt  habe,  ober  ob  er  mirflid»  nach  biefer  «Stätte  be*  £od)tnuth*  berufen 
rootben  fei. 

©er  Sinter  fanb  inbeffen  in  ©egenroart  be*  ©enetaU^ntenbanten, 
ber  ilm  auf*  (Sdr)metcf>elt)aftefte  empfing,  feinen  ©leidbmutfj  mieber.  ©ein 
©tüct  roärbe  binnen  Sturjem,  in  jroei  ober  fpäteften*  brei  SKonaten,  »on 
bem  fiefecomitö  geprüft  unb  gleidj  barauf  angenommen  unb  gefpielt  werben. 
&err  6abuc  blatte  ben  faiferlidjen  ©djaufpi eiern  einen  aufeerorbentlidjen 
©ienft  geleiftet,  inbem  et  biefe*  fleine  SDieifterroerf  5U  ihter  Äemttnifj  ge= 
bracht  b^abe.  9iun  begriff  bet  junge  -Kann  mit  Staunen,  bafü  er  vom  §ofe 
ptotegitt  nmtbe.  Unb  al*  et  nerniirrt  ©anfe*n>orte  ftammelte,  ba  ant« 
roortete  u)m  bet  ftntenbant: 

„©anfen  ©ie  £etrn  6abuc.   SBefudjen  ©ie  ilm  nut. 

@t  ift  ein  SRann  oon  feinem  littetarifdfjen  ©efdjmad  unb  mob^nt  hier 
ganj  in  bet  sJJähe,  9tue  be  Sftooli  .  .  ." 

Qean  begab  fidj  al*balb  bahin  unb  mürbe  in  ein  fdjöne*,  heH= 
erleuchtete*  33ibliothef*}tmmer  geführt,  beffen  beibe  genfter  nadjj  bem  ©arten 
ber  Suilerien  hinabgingen,  ©er  lieben*nmrbtge  ©rei*  tieft  nidt)t  lange 
auf  fich  warten  unb  begtüfite  ihn  mit  bet  geroanbten  ©leganj  eine*  &of» 
manne*: 

,,©ie  finb  mit  ya  feinetlei  ©anfe  verpflichtet.  3m  ©egenthetl,  idh 
bin  ftols  barauf,  bem  publicum  mit  $b>er  ©idjtung  biefelbe  greube  ju 
bereiten,  roeldfie  id?  bei  ber  Seetüre  biefer  reijenben  SJerfe  empfunben 


  Hipalinnen.   


babe  .  .  .  UebrtgenS  l»abe  tdj  baS  28erfdjen  felbft  erft  von  anberer  Seite 
empfangen  unb  5war  aus  ben  £änben  ber  <Sd)önf)eit.  Utettn  9iobin  »om 
'öaubemffe^eater  ^at  mir  3br  SJfanufcript  übergeben,  <Ste  fagte,  baß 
fie  es  von  einem  ftfinen  befannten  ©djaufpieler  befommen  fiabe  .  .  ." 

Unb  als  ber  junge  9J?enfd»  in  immer  größeres  ©rftaunen  geriet!),  fügte 
(Sabuc  fyinju: 

„aBufetcn  Sie  es  benn  ntdjt?  .  .  .  ^>a,  ja,  baS  ^arifer  Seben,  oon 
bem  man  uiet  ju  iriet  @d)lcd>teS  fprid^t  unb  in  bem  trog  adebem  ein 
ÜWenfdj  »on  SBerbienft  nidjt  lange  unoerborgen  bleibt,  bringt  mitunter 
wunberbare  3«fäffc  mit  fidj  .  .  .  Segen  Sie  atfo  gräutein  9tobin  ftfiren 
$>anf  ä"  f^äfeen.  ©ie  fptett  f)eut  2lbenb;  Sie  werben  fie  in  ifirem 
©arberobenjtmmer  finben  . . .  Unb  id)  bin  überzeugt/'  fo  fdjtoß  ber  freunb= 
lidje  ©reis  mit  einem  Säbeln,  baS  ein  ganj  Hein  wenig  »erfdEjmifct  auSfaf), 
„ber  2)idjter  wirb  il)X  ebenfo  gut  gefallen  wie  bie  S)id)tung." 

■Kettn  Siobin!  .  .  .  Qean  2)eHn.  wteberfiolte  biefen  3?anten  in  Einern 
fort,  inbem  er  burd)  bie  «Straßen  oon  SßariS  barjtnctlte.  ®r  blatte  biefen 
'Jkmen  bisweilen  in  ber  3eito"9  9«^fen,  unb  mit  bemfelben  oerbanb  fid) 
ibm  bie  ^bee  ber  greube,  beS  3ieid)tt)umS  unb  ber  Ueppigfeit.  @r  fiatte 
bei  ben  $lwtograpl)en  baS  33ilb  ber  bfenbenb  frönen  ©djaufpielerin  gefefien. 
2ltfo  Mt)  Stfobin  oerbanfte  er  biefen  $>ienft!  @r  fünfte  fid)  feltfam  bc 
roegt  bei  bem  ©ebanfen,  baß  biefeS  fdjöne  SBefen,  baS,  man  mod)te  if)t 
nad»reben,  was  man  wollte,  bod)  immerhin  eine  fiünftlerin  mar,  ifyn  aus 
bem  Glenb  unb  aus  bem  ©unfel  empordienen  mürbe. 

„SBenn  id)  morgen  2Rarie  mein  Abenteuer  erjäblen  werbe,  wirb  fie 
biefe  3RcUt>  9?obin  anbeten,"  backte  er. 

£od)  alsbatb  ftieg  ityn  ein  B10«^  t«  biefer  ^infidjt  auf. 

„33er  weiß?  3Warie  wirb  eS  oicCfcid^t  oerbrießen,  baß  biefeS  ©lücf 
von  einem  anberen  Sßeibc  fommt  . . .  5ßab,  id)  werbe  if)r  bie  ©adje  fdjon 
auSeinanberfefcen." 

Unb  nun  ging  eS  über  bie  Sf)ampS*@li)f6eS,  wol)in  ber  3ufaH  feine 
(Stritte  gelenft  fjatte.  TaS  33ilb  feiner  flehten  ^rcuitbin  begann  ein 
wenig  in  feiner  Erinnerung  ju  oerblaffen  bei  bem  ©ebanfen  an  bie  fdjöne 
SQSorjlt^äterin.  3tcf>,  wie  Biete  ©tunben  mußten  noefj  »ergeben,  beoor  er  fie 
fefien  tonnte.  Sie  würbe  tf»n  in  ibjer  ©arberobe  empfangen.  @r  fottte  in 
i  bie  ©ef»eimniffe  beS  Sweaters  einbringen,  rjirttcr  jene  mnfteriöfen  Gouliffen 
gef)en,  rjinter  benen  feine  nai»e  ^ßfjantafie  eine  2Jiärd)enmelt  »erborgen 
glaubte,  ©r  füllte  fid»  fo  unfidjer,  baß  er  fürdjtete,  er  würbe  fid)  Itnfifdj 
unb  ungefdndt  benehmen.  2Bie  fottte  er  baS  paffenbe  2Bort  unb  ben 
richtigen  £on  finben,  ifir  ju  banfen?  Unb  bann  nürbe  fie  läct)ctn  unb  ifmt 
bie  .^anb  reiben  .  .  . 

£)er  empfinbfame  ®id)ter  fd)rieb  bie  Unruhe  feines  $er$enS  bem 
®anftarfeitSgefüt)[e  %n,  baS  ifm  be^ierrfdjte. 

«ort  unb  ©üb.  LXXV.  ?23.  8 


\\2    ,$ran<;ois  <£oppee  in  paris.   

9ln  jenem  2t6cnbc  war  -Jtelli)  bei  fd)led>ter  Saune,  als  fie  in*«  Sweater 
tarn,  ©rftenS  ^atte  fte  nämlid)  mit  bem  merunbfünfjigjäbrigen  £erjog  t»on 
©ntau  eine  fd)recftid)  langweilige  Partie  S6jtgue  ton  trfer  bis  um  fcd^S 
Uhr  fpielen  muffen,  unb  fobann  t»attc  fie  ber  Äammerherr  es  aud)  entgelten 
laffen,  baß  ber  neu  erfdjtenene  ©otha'fd)e  ßoffalenber  einen  genealogifdjen 
Qrrtbum  enthielt.  2Bie  ber  ©turmwinb  war  Mn  in  ihr  änfleibejimmer 
geeilt  unb  trotte  babei  eine  ©arberobenfrau  faft  über  ben  Raufen  gerannt, 
i^nbeffen  unfähig,  lange  böfe  ju  fein,  tjattc  fie  fid)  im  Sßubermantel  an  ben 
£oilettentifd)  gefe|t  unb  begann  fid)  ju  frifiren,  als  ber  2^eaterbiener  ihr 
melben  fam,  baß  ein  gemiffer  jQcrr  3ean  £)eflu  beim  Sortier  fei  unb  fie 
einen  3lugenblid  ju  fpredjen  wünfdje. 

„Scan  2>eKt)?"  .  .  .  2Ber  ift  baS,  3ean  ©etto?  .  .  .  20»,  ja,  ber 
junge  $id)ter,  ber  greunb  ©aint^rminS  . . .  9ia,  ber  bat  fid)  aber  'mal 
3eit  genommen,  mir  feinen  Sanf  ju  fagen ....   6r  foll  hereinfommen." 

©ie  nahm  fid)  »or,  trofe  allebem  liebenSwürbtg  su  fein  unb  bem  genialen 
jungen  3Kamte  einen  freunblid)en  empfang  ju  bereiten. 

Unb  aU  er  nun  auf  ber  £bMd)wetle  erfd)ien,  freibewetß  im  @efid)t 
cor  3lufregung,  ba  erhob  fie  fid),  unb,  ohne  ben  spubermantel,  ber  über 
bem  foftbaren  SKieber  geöffnet  mar,  ju  fdjtteßen,  ging  Tie  auf  ihn  ju  unb 
ftrecfte  ihm  beibe  $änbe  entgegen. 

„kommen  ©ie  nur  näher,  bamit  man  ©ie  beglü(froünfd)t,  mein  £>err 
. . .  fleine«  ©tficf  ift  aHertiebft,  unb  id)  ^offe,  es  wirb  balb  aufgeführt 
werben  .  .  .  Äommen  ©ie  nur  weiter,  laffen  ©ie  fid)  bod)  'mal  anfdjanen 
.  .  .  id)  bin  erfreut,  ^foxe  Sefatmtfdjaft  ju  machen." 

©ie  30g  ihn  in'S  3imnter  herein  unb  b<eß  tlm  neben  if»r  auf  einem 
fd)malen  Titian  nieberfujen.  Unb  roäbrenb  nun  3ean,  in  golge  beS  \pqf 
Iid)en  ©mpfangeS,  beS  ^arfümS  ihrer  jtleibung,  beS  mannen  ©rutfeS  ihrer 
,§änbe  unb  überhaupt  ber  33erüfjrung  mit  bem  fd)önen  SBetbe  uerwirrt 
unb  entjüdt,  SBorte  be§  ©anfeS  ftammelte,  betrad)tete  fie  ilm  mit  9Iuf= 
merffamfeit. 

9ZeHi)  jäljlte  bereite  breiftig  Safjre  unb  hatte  eine  jiemlich  fd)welgerif<he 
Vergangenheit  hinter  fid).  ^ennod)  überfam  fie  plöfclid)  ein  ganj  eigenartiges 
©efühl,  wie  fie  eS  nie  juoor  gerannt  ^atte.  SHefer  fd)öne  junge  SRattn, 
biefer  talentnoHe  $rtd)ter,  ber  mit  großen  feelenooHen  äugen  fd)üd)tern  $u 
ihr  auffd)aute,  wie  fam  es  nur,  baß  er  einen  fo  feltfamen  ©inbrurf  auf 
fie  machte? 

2Bar  ba?  etwa  Siebe,  was  fie  heut  jum  erften  ÜM  in  ihrem  Seben 
empfanb? 

Qnftinctir»  unb  unnriberftehlid)  fühlte  fie  fid)  ju  ihm  hingejogen.  Sie 
mar  wieber  bas  fd)ltd)te  2Wäbd)en  aus  bem  SBolfe  geworben  unb  erinnerte 
ftä)  ihrer  heißblütigen  Sugenbgefährtimten  oon  ben  ©traßen  ber  Sßorftabt, 
ju  benen  ber  brutale  ©eliebte  nur  ju  fagen  braucht:  „Stomm!"  unb  welche 
biefem  bann  gefenftcn  £aupteS  folgen. 


  Ricalinnen.  


2BaS  fie  einanber  Tagten  ?  ©anale  Sßln-afen.  Sie  mad)te  ü)m  trgenb 
einige  ©omplimente,  wobei  fie  mehrmals  biefetben  SBorte  gebrannte.  SDamt 
aud>  befragte  fie  ihn,  wenn  aud)  in  wohlroottatber,  fo  bod)  in  siemlid)  un= 
gefd)icfter  SBeife,  über  fein  bisheriges  Seben.  ©r  antwortete  faum.  Srofc 
feiner  Unerfaljrenheit  grauen  gegenüber,  fiel  if»m  bod)  an  ber  <Sd)aufpielertn 
eine  geroiffe  Unruhe  auf,  beren  Urfad)e  er  fid)  freilich  nid)t  ju  beuten 
wujjte.  $>ie  warme,  parfümgefd)roängerte  Suft  im  ©arberobenjimmer  natjm 
ihm  ben  topf  ein,  unb  ba  er  9iid)tS  mehr  p  fagen  trotte  unb  burd)  längeres 
SBerbleiben  ju  ftören  fürchtete,  ftanb  er  auf,  um  fid)  $u  oerabfd)ieben. 

„Sie  werben  mid)  batb  wieber  befudjen,  nid)t  wahr?"  . . .  fagte  iReffn 
teife,  faft  bittenb. 

„9Wit  ftreuben,"  antroortete  er.   „SBamt  barf  id)  .  .  .?" 

„Um  biefelbe  3«t  in  meinem  2tnfleibe5tmmer  .  .  .  bin  id)  ftets 
allein." 

@r  oerbeugte  fid);  fie  reid)te  ibm  il)re  £anb.  Unb  als  nun  $ean  in 
bie  fühle  2lbenbtuft  hinaustrat,  ba  fd)ieu  e-J  tlmt,  als  ob  SteHnS  £anb 
»orb,in  in  ber  feimgen  gejittert  habe. 

„2Bie  fd)öu  fie  ift!"  bad)te  er,  roäfjrenb  er  feiner  entfernten  2Botinung 
5ufd)ritt  .  .  .  „deiner  Sreu!  id)  roill  bod)  lieber  SJJarie  fagen,  baß  «Saint« 
grirmin  mein  9Itonufcript  birect  ©abuc  übergeben  b,at.  3Benn  ÜJlarie  er» 
führe,  bafs  biefe  herrliche  <ßerfon  mid)  protegirt,  fo  roürbe  fie  am  ©nbe 
trielleid)t  eiferfüd)tig  werben  unb  fid)  betrüben  .  .  .  Seffer,  bie  kleine  er= 
fä^rt  9tid)tS." 

VI. 

2>er  $)id)ter  brad)te  feine  £üge  oor,  unb  9JtarieS  greube  mar  grofj, 
als  fie  hörte,  ba§  bie  „Sternennadjt"  balb  aufgeführt  roerben  roürbe.  9lber 
es  bauerte  nid)t  lange,  ba  oerbrängten  Kummer  unb  (Sorgen  bie  gefteS« 
ftimmung  in  ihr.  ®S  fd)ien  ihr,  als  ob  mit  einem  9Kate  ber  ©eltebte 
fühler  gegen  fie  geworben  wäre.  Sßor  Äurjem  nod),  wenn  fie  ju  ihm  fam, 
fo  ftanb  :gean  fd)on  ungebulbig  unb  erwartete  fie  auf  ber  2$ürfd)roelle, 
nod)  beoor  fie  bie  lefete  Stoppe  erftiegen  hotte.  Unb  bann  baS  gtücffeltge 
Säd)eln,  bie  Umarmung,  ber  Äuf?,  womit  er  fie  empfing!  ®od)  iefct  war 
er  nid)t  mehr  berfelbe.  ftmnKx  nod)  fanft  unb  gut  ju  ihr,  ja,  aber  weniger 
järtlid).  33abei  jerftreut.  Sie  fud)te  ihn  ju  entfdjutbigen.  Ohne  Broeifel 
ging  ihm  gegenwärtig  Mieles  im  Äopfe  herum.  Sßläne  unb  Hoffnungen 
Bejüglid)  ber  ©eftattung  feines  ferneren  <Sd)i<ffalS  befdjäftigten  ihn.  £>emtod) 
Beunruhigte  es  fie,  baß  er  fo  war,  fogar  in  ihren  2trmen,  im  älugenblicf  ber 
tmtigften  Eingebung.   Slengfttid)  fragte  fie  ihn: 

„2Boran  benfft  ®u  eigentlich?" 

®ie  Antwort,  bie  er  gab,  tonnte  fie  beruhigen. 

„9lun,  an  mein  StüdM  2Boran  benn  fonft  .  .  .  3n  merjelm  Sagen 
ift  Sefeprobe,  $>u  roeifjt  es  ja." 

8* 


  ifran<?ois  <£oppee  in  paris.   

@r  fagte  bie  Unroaljrfjeit,  unb  wäljrenb  SRarie  fid)  bid)t  an  tljn 
fdjmiegte  unb  fein  ©eftdjt  mit  unseligen  Hüffen  bebecfte,  bad)te  er  an 
3ltü.x),  an  jene  üppige  Slume,  beren  $)uft  er  eine  Seile  lang  geatmet 
fiatte  unb  beren  fumeuerwtrrenbeS  Sßarfüm  ü)n  überaß  Inn  »erfolgte. 

SBarum  war  er  feit  jetm  Sagen  immer  nod)  niefit  wieber  im  3?aube= 
»ille=Sl)eater  gewefen?  3lm  einfad):  2)?ariensS  wegen.  @S  war  bod)  tridfjt 
fjübfd)  »on  iljm,  if)r  gegenüber  ein  ©efieimmfi  ju  tiaben.  (£r  tabette  ftd) 
felbft  wegen  feiner  Sreulofigfeit.  ©ie  liebte  Um  bod)  fo  feb^r!  Unb  er 
liebte  fic  bodj  aud)!  2Baö  aud)  fommen  mürbe,  fie  fottte  immer  feine  ©e= 
fäljrtin,  feine  greunbin  bleiben,  immer  im  ^mterften  feinet  &erjen3  bie  crfte 
©teile  einnehmen.  Unb  nun  lehnte  er  ltebe§trunfen  fein  £aupt  an  iljre 
©dmlter  unb  betrachtete  biefes  naiue  Äinbergeftd)t,  baS  lange,  aufgetöfte  unb 
in  golbigen  ©träfinen  über  itjren  9?ücfen  fjinabfaflenbe  rötl)lid)e  £aar,  ba3 
weid)e,  runblid)e  Slinn  unb  bie  bunfelbraunen,  großen  Slugen,  bie  oon  3«t 
5U  3«*       »ertrauenluotl  entgegenglänsten. 

„Stein!  e3  märe  unred)t  »on  mir!"  fagte  er  fid).  „^d)  werbe  biefe 
5ReHn  SRobin  nidjt  mefjr  befudjen." 

3lber  er  foUte  if>r  balb  wieber  begegnen,  otjne  bafj  er  e£  beabftdjtigte. 
©3  gefd)af)  bieS  auf  bem  Stirdjfiofe  5ßöres£ad)aife  an  einem  offenen  ©rabe, 
in  ba$  man  foeben  ben  ©arg  be3  im  &ofpitale  »crftorbenen  ©aintsgirmin 
binabgelaffen  fiatte.  ©d)merälid)  bewegt  burd)  ben  SSerluft  bes  if)m  aufs 
rid)tig  unb  treu  ergebenen  ftreunbeä,  fjörte  $ean  $>eflu,  beffen  ©tücf  am 
Sage  juoor  mit  großem  33eifaH  in  ber  6om6bie  gran<?aife  aufgenommen 
roorben  war,  bie  SBorte  be§  De  profundis  an.  ©in  fetner,  falter  Siegen 
fiel  »om  Gimmel  fjermeber,  unb  nur  eine  Keine  Slnjafil  ©»Hegen  beä  alten 
SRegiffeurS  fjatte  biefem  bis  nad)  bem  Äird)f)of  ba3  ©eleit  gegeben.  9lur 
brei  ober  uier  junge  ©d)aufpieler  uom  Dbeon  unb  etwa  ein  Sntfcenb  alter 
ÜDMmen  mit  glattrafirten,  weifen  ©efid)tern,  bie  einftenS  jufamntett  mit 
©ainfcgirmin  gefptelt  tjatten,  waren  anroefenb. 

2113  man  baä  28eib>affer  fprengte,  erfd)ien  plöfclid),  in  einen  prächtigen 
Sßelä  gefüllt  unb  einen  foftbaren  Äranj  am  Slrme  tragenb,  ein  SBeib.  %ean 
erfannte  alsbalb  Stellt»  JHobin.  £>a3  gute  3Jiäbd)en  fam,  bem  beugen  ih>er 
traurigen  Sßergangentjeit  ben  legten  Siebeebienft  ju  erroeifen. 

9tafd)  näherte  fie  fid)  bem  ©rabe,  fenfte  ba3  &aupt,  fd)lug  ein  Äreuj, 
murmelte  leife  ein  furjeS  ©ebet  unb  übergab  bem  Sobtengräber  ben  Äranj. 
SRun  bemerfte  fie  $ean,  ber  fie  begrüßte. 

Unter  bem  fdjwarjen  ©cbteier  fjeroor  warf  fie  ifmt  einen  5ärtlid)en  unb 
jugleid)  betrübten  33ltcf  ju.  ©eit  vieren  Sagen  fjatte  fie  immerwäbrenb 
an  ben  jungen  £>id)ter  benfen  müffen.  3[ebcn  9tbcnb  blatte  fie  ifjn  in  if)rem 
Slnfleibejimmer  erroartet,  aber  »ergeben«.  9Bie  ein  Vorwurf  lag'?  in  il)ren 
Slugen,  unb  er  beutete  fid)  baS  ju  feinen  ©unften. 

©ie  ftanben  auf  bem  fdmtufeigen  Äird)l)ofe  in  ber  Stäfie  bev  Seid)enf)atte, 
unb  über  ifjnen  breitete  fid),  büfter  unb  wolfenfd)wer,  ber  S*ecemberl)immel  au§. 


  Xtoalinnen.    \\5 

Die  Siede  ift  ftärfer  alä  ber  xob. 

©ie  <Sd)aufpielerin  manbte  ftd^  an  $ean. 

„®er  anne  (Saintsgirmin ! . . .  2Bir  Ratten  ü)n  ade  SBeibe  gern,  nidjt  wal)r?" 

3n  SBatjrfyeit  aber  badeten  fie  faum  nod)  an  Hm,  ben  armen  Saint* 
ginmn.  9Jadt)ftdr>tig  lädjelnb,  fal;  fein  «Schatten  gewife  fdwn  auf  fie  fierab 
aus  bem  Sßarabiefe  ber  @d)aufpieler,  wo  biefe  alle  immer  eine  banfbare 
Hauptrolle  51t  fpielen  fiaben  unb  wo  fie  ifjren  Hainen  immer  fett  gebrucft 
auf  bem  2lnfd)lag3äettel  erbliden. 

$ean  unb  9ieHt)  entfernten  fi<$>  »on  bem  ©rabe  unb  fdjritten  bie  mit 
traurigen,  entlaubten  Säumen  beftanbene  2lHee  entlang. 

„3Barum  h>ben  Sie  mid)  bemt  rtidt)t  befudjt?"  fragte  fie  leife. 

©r  antwortete  in  bemfelben  £one: 

„3$  wagte  es  nid)t  .  .  ." 

9iun  gingen  fie  fd)weigenb  neben  einanber  l)er.  9tm  Ausgange  be3 
£ird)f)ofeö  wartete  baä  Soup6  5ietti;  9?obin3. 

„Sie  fahren  bodE»  mit  mir  nad)  ^SariS  jurücf  ?  9ttd)t  waf)r,  Herr  2>eHn  ?" 

tfaum  fafe  %tan  neben  if»r  in  bem  engen  SBagen,  btdt)t  an  fie  gebrängt 
unb  t)on  ifirem  Parfüm  unb  »on  bem  roeidjen  $elje  fanft  umfd)meid)ett,  ba 
»erlor  er  ben  .ftopf.  SReHi),  bie  gar  wof)l  ba3  £eud)ten  feiner  3lugen  bemerfte, 
fd)miegte  fid)  nod)  bidfjter  an  Hm  unb  leimte  ben  ßopf  auf  feine  ©dmtter. 

„Sdf)  lieb*  lid)  ja,  weifet  2>u'3  benn  nid)t?"  Ijaudjte  fie. 

(Sie  Ratten  Stüffe  ofine  gaty  gewechselt,  als  baS  ßoupö  »or  ber 
2Bof>nung  ber  Sd)aufpielerin  f)telt.  9?elh)  fprang  suerft  au3  bem  2Bagen, 
^ean  b^interbrein.  Gr  wollte  fid)  »erabfd)teben,  bod)  fie  50g  Hm  mit  fid) 
in'«  Hauä  hinein. 

3m  SBorjimmer  fam  ifmen  bie  Äammerfrau  entgegen. 

„Der  Herr  Herjog  ift  feit  äwansig  Minuten  ba,"  fagte  fie.    „Gr  er* 
wartet  9Jiabame  im  SBouboir." 

©er  Herzog !  <3ie  blatte  ganj  »ergeffen!  ®a3  war  bie  3«t,  um  wetd)e 
er  mit  H>r  feine  enblofe  Partie  3365tgue  3U  fpielen  pflegte. 

9JIU  einer  Hanbbewegung  entliefe  fie  bie  ftammerfrau;  unb,  inbem  fie 
um  ben  $at§  3ean3,  beffen  ©eftd)t  plöfcttd)  einen  ftotjcit,  pnfteren  SluSbrucf 
angenommen  blatte,  ib>e  3lrme  fcblang,  bat  fie: 

,,9t(i»,  fei  nid)t  böä!  S?cräetr)  mir.  SRorgen,  wenn  ®u  wiHft,  wirft 
®u  ber  Herr  tjicr  im  Haufe  fein  .  .  .  Unb  ®u  mufet  mir  aud)  »er» 
fpred)en,  beut  9fbenb  in'S  3Saube»iIIe  ju  fommen  .  .  ." 

3llfo  it»rj  ©eliebter!  Giner  »on  SSielen!  ...  D  nein;  er  befaß 
@E»rgefül)l  unb  Gigenliebe,  ber  5Did)ter.  Gr  mad)te  fid)  »on  it)r  lo§,  grüfete 
unb  »erliefe  ot)ite  Antwort  baä  3imnicr' 

©raufeen  auf  ber  ©trafee  eilte  er  erregt  mit  grofeen  ©d)rttteu  bafiin, 
„Stein!"  badjte  er,  „id>  werbe  b>ut  3lbenb  beftimmt  nid)t  in'S  SBaubeuille 
geljen!  .  .  .  <Sd)ön  ift  fie  wie  ber  £ag,  unb  wie  geuer  brennen  u)re 
Äüffe  auf  ben  Sippen.   2lber  id)  bin  nid)t  einer  »on  benen,  bie  mit 


\\6    jrattfois  (Loppee  in  paris.   

2tnbeten  bie  Siebe  Reiten  unb  bie,  meint  einer  »on  biefen  2lnberen  plöfcttd) 
erfd)eint,  ftd)  im  Äteiberfdjranf  »erfteden  . . .  ©et  £ert!  b,at  fte  gefagt . . . 
morgen,  meint  id)  miß!  ©er  &err  in  aß'  bem  Suruä,  ben  Tic  einem 
9lnberen  .  .  .  mehreren  2lnberen  »erbanft!  Unb  id)  ^abe  nid)t@elb  genug 
in  ber  ©afdje,  um  ü)r  einen  Mofenftraufc  ju  taufen!  .  .  .  SEBofür  f|ält  fte 
mief)  bemt  eigentltd)?  .  .  .  Unb  bennodf)  .  .  .  id)  bin  tf)örid)t  unb  un* 
banfbar  .  .  .   2lber  SWarie?  .  .  ." 

@r  fudjte  ftd)  burd)  ben  ©ebanfen  on  SDiarie  ju  ergeben.  $atte  er 
roirflid)  entfttid^  baran  gebaut,  fte  ju  »e'rtaffen?  MemalS!  ©in  bi§d)en 
Untreue,  baS  mar  ba3  ganje  SBerbrec^en,  ba§  er  fiatte  begeben  rooHen.  ©a£ 
war  am  ©übe  »erjeiljlid),  unb  er  fiatte  barum  nod)  lange  nidjt  aufgehört,  feine 
f leine  greunbin  p  lieben  .  .  .  Qebod)?  ,  .  .  geatt  tounberte  ftd)  felbft 
barüber,  mit  roeldjer  ©emütb^rulje  er  foeben  e8  fertig  gebraut  blatte,  fte, 
wenn  aud)  nur  in  ©ebanfen,  }u  betrügen.  Unroiflffirlid)  oergltd)  er  bie 
beiben  grauen  mit  einanber,  unb  alsbalb  bemäd)tigte  ftd)  ein  plöfelidjer 
9taufd)  feiner  «Sinne.  9lod)  füllte  er  auf  feinen  Sippen  bie  glfifjenben 
pfiffe  ber  fjeijjblütigen  Sünbertn!  2ld)  roaS!  er  war  aud)  gar  ju 
fctupulöS  .  .  .  ©a3  fdjöne  ©efd)öpf  blatte  für  ü)n  eben  einen  Keinen 
gatbte.  SJarum  fottte  et  ftd)  baS  nid)t  gefallen  laffen?  greüid),  oor 
allen  ©tngen  Offenheit,  (Sie  foHte  e3  erfaßten,  bafj  er  ntdjt  frei  mar; 
er  roürbe  baä  ü)r  felbft  fagen,  bleute  äbenb  nod). 

Um  ad)t  Uljr  mar  er  im  3lnKeiberaum  bei  3telln.  Sie  befiürmte  ifnt 
mit  Siebfofungen.   Sie  fniete  oor  ilmt  nieber,  füfjte  ifmt  bie  £änbe. 

,,©u  braud)ft  nut  ein  SBort  ju  fagen,"  mieberljotte  fie  ein  3M  über 
baS  anbere,  „unb  ic^  weife  bem  £erjog  bie  ©fjür,  unb  id)  geböte  ©ir, 
©ir  ganj  allein." 

©er  ©tdjter  fafete  ftd)  ein  £erj  unb  beid^tete. 

33ebenb  fctjnefftc  fie  empor: 

„2Bte,  ©u  cjaft  eine  ©eliebte?" 

Qiean  fuefite  einjulenfen,  ju  erflären.  3a,  ein  ÜNäbdjen,  baS  gut  unb 
lieb  in  feinem  Unglücf  unb  in  feinet  ©infamfeit  ju  u)m  geroefen  märe. 
2lu$  ©anf barfeit  Barte  er  fte  anfangt  roteber  geliebt,  jefct  füllte  er  nur 
nod)  greunbfdjaft  für  fte.  —  Unb  et  fprad)  bie  SBabrbcit.  — 

Stellt)  fonnte  fict)  nid)t  barüber  nwnbern.  SBat  e3  i6r  bod)  beteinft 
ebenfo  gegangen! 

,,3d)  roerbe  bem  £erjog  mein  £auS  nerbieten!"  rief  bie  ©d)au* 
fpielerin  .  .  .   ,,33rid)  ©u  mit  bem  2Räbdjen." 

©ine  fo  gtaufame  Sogif  erfd)recfte  ^ean  ©ettn  förmlid).  $n  feiner 
iQarmtofigfeit  mad)te  er  ben  tl)örid)ten  unb  unnfifeen  SSerfud),  ein  SBetb 
feiner  SRtoalin  gegenüber  ju  »errtjeibigen.  9tle  mürbe  et  e8  übefs  $erj 
bringen,  3)?arie  fo  fd)nöbe  ju  »etlaffen.  ©te  mürbe  ja  ganj  nerjmeifett 
fein,  ©r  mufcte  3«t  ^aben,  fie  auf  bie  ©tennung  »orjuberetten,  fcmfl 
märe  fte  jn  3lttem  fär>ig.    Sie  liebte  if»n  ja  fo  grenjenlo^. 


  Kicalinnen-   


3n  ben  Slugen  einer  Äofette  würbe  Qean  fid)  burd)  eine  berartige 
Ungefd)t<fli<bfeit  unmöglid)  gemalt  baben.  Da  aber  9Mn  roirflid)  in  ibn 
oertiebt  mar  unb  ein  gutes  .^erj  befaß,  fo  fenfte  fie  ben  Äopf  nnb 
flüfterte: 

„'S  ift  roabr.   Die  Äleine  bat  Dia)  gewiß  fcrjr  lieb  .  .  ." 

Nun  mad)te  fid)  ber  Didjter  bie  eigne  SRaioetät  jum  SBorrourf.  @r 
umarmte  9ielty,  fprad)  ju  it>r  särtlid),  teibenfd)aftltd): 

„2BaS  fd)ert  uns  Dein  &erjog?  2BaS  fdjert  uns  ÜWarie?  Äönnen 
mir  unä  nidjt  trofebem  gut  fein?" 

9(ber  fie  roanbte  ben  Äopf  bei  (Seite. 

„Wellt),  roaS  ift  Dir?"  rief  er  beforgt. 

Unb  roie  er  nun  einen  ftuß  auf  ifiren  9JJunb  brüden  wollte,  fall  er, 
baß  baS  fd)öne  9)läbd)en  bie  2lugen  »oller  ^bränen  blatte. 

<§r  glaubte  fie  oerlefet  su  baben  unb  bat  fie  reumütig  um  SSerjeibung. 
Da  ergriff  fie  von  Steuern  feine  £änbe,  bebetfte  fie  mit  Äüffen,  ne|te  fie 
mit  ber  warmen  gftitb  tbjer  Dbränen  unb  fagte  ibm,  roie  innig  lieb  er 
ibr  fei.  9Jetn,  böfe  roar  fie  ibm  nidbt.  %m  ©egentbeil,  fie  ^atte  ibn  um 
@ntfd)ulbigung  $u  bitten  bafür,  baß  fie  U)n  ju  geroinnen  gebofft.  @ie 
batte,  roie  ibreSgleicben  alle  es  rocnigftenS  einmal  in  ibrem  Seben  tbun, 
fid)  ber  trügerifdjen  Hoffnung  hingegeben,  tfjre  ©d)ulb  burd)  Siebe  51t 
fübncn.  Das  roar  eine  Sorbett,  fie  far)  es  ein.  UeberbieS  fei  er  ja 
aud)  nid)t  mebr  frei. 

„(Sntroeber  Du  täufd)ft  mid)  abfid)tlid),  ober  Du  belügft  Did)  felbft," 
rief  fie  fd)lud)jenb,  „roenn  Du  bebaupteft,  baß  Du  Deine  SWarie  nid)t 
mebr  liebft.  ©ie  ift  Deine  erfte  unb  einjige  gfreunbin  geroefen,  fie  bat 
Dir  £roft  gebracht  in  ben  Sagen  beS  UnglüifS.  3d>  beneibe  fie,  aber  id) 
fann  fie  nicbt  rjaffen.  .  .  .  £ören  ©te,  tbeurer  greunb,"  futjr  fie  nad) 
einer  ^Saufe  f<f»einbar  rubig  fort,  „glauben  ©ie,  es  ift  baS  23efte,  roir 
geben  »on  einanber  jefet  unb.  feben  uns  nie  roieber,  —  baS  wirb  Qbnen 
unb  mir  gut  fein.   3Serfud)en  roir,  einanber  5U  oergeffen." 

2lußer  fid)  uor  ©djmerj,  ftürjte  ber  Dieter  9Mtj  5U  güßen,  bat  unb 
flebte,  fd)rour,  baß  er  fie  aufrid)tig  liebte,  unb  glaubte  an.  feine  ©djroüre. 
Dod)  fte  blieb  ftanbbaft  unb  befaß  fogar  bie  Äraft,  ibm  „nur  nod)  einen 
einjigen  Äuß"  ju  »erfagen.  $u  a^  innen  33etbeuerungen  fd)üttelte  fie 
blos  ben  Äopf.  Unb  als  er  enblid),  mebr  gejwungen,  als  freiroillig,  fie 
»erließ,  ba  tonnte  fie  (»offen  —  ober  aud)  fürcbten  —  baß  er  md)t  mebr 
jurücffebren  roürbe. 

VII. 

6t  tarn  fd)on  am  näd)fteit  Sage  roieber,  er  fam  alle  9lbenbe  roieber, 
unb  fie  empfing  ibn,  roar  gut  unb  järtlidj  5U  ibm,  obne  ibm  inbeß  nad)* 
jugeben,  nod)  ibm  Hoffnung  311  laffen,  baß  fie  ibm  jemals  nad)gebcn 


{\8    jftaittj'ois  £oppee  in  Paris.   

föntttc.  Unb,  rote  es  fo  oft  bei  SiebeSabenteuern  »orfommt :  fie  roaren  2l£Ic 
unglücftid). 

2üle;  junädift  9teHu.  Sie  Ijatte  jefet  wolle  (»croi^eit,  bafj  ber  2)id)tcr 
rafenb  in  fie  uerliebt  unb  völlig  bereit  mar,  feine  3)tarie  ju  tjerlaffen.  9ludj 
fie  badete  jefet  baran,  itjrc  Äette  ju  Breden,  unb  man  mürbe  alsbatm,  fo 
gut  es  anging,  als  ein  rechtes  SiebcSpaar,  oon  Siebe  unb  Suft  leben.  2lber 
fie  befaß  einen  gonbs  von  Gbelmuth.  GS  roiberftrebte  ihr,  baß  ihr  ©lud 
baS  Unglücf  einer  Slnberen  herbeiführen,  baS  ©rgebnife  einer  graufamen 
SanblungSroeife  fein  follte.  2luf  alle  ftälle  toottte  fie  bieS  nicht  oeranlaffen. 
Niemals  ^ätte  fie  ju  $ean  gefagt:  ,,S3ridf»  mit  ©einer  ÜHarie,"  unb 
roieberum,  märe  er  gekommen,  il;r  su  fagen:  habe  mit  iljr  gebrochen," 
fie  märe  ihm  an  ben  £>als  geflogen.  Snbeffen,  er  fagte  es  nicht,  unb  fie 
fragte  fid)  bann  mit  gar  bitterem  Btoeifel,  °&  cr  benu  für  fie  mir  finnliche 
33egier,  nur  eine  »orübergehenbe  'Neigung  tjege. 

9Karie  war  nicht  minber  ju  befragen,  ^eben  Sag  rourbe  %ean  Seilt) 
gleichgiltiger,  »erbriefjlidier.  SJeflagte  fie  fid)  barüber,  fo  entfchulbigte  er 
ben  SBechfel  feiner  Saune  mit  feiner  S^ffteutheit:  benn  er  ging  jefct  alle 
Nachmittage  in'S  Th&itre  gransaia,  ber  Gmftubirung  feine«  Stüdes  beim; 
wohnen.  3lber  baS  einfache  -Weibchen,  gewarnt  burch  ben  fehr  ficheren 
^nftinet  beS  t>eruadjtäffigten  SBeibeS,  täufchte  fid)  Sterin  nicht,  unb  jeben 
Slugenblid  burch  ein  rauhes  2Bort,  burd)  eine  ttngebulbtge  Öefte  ihres  &t- 
liebten  erfdjredt,  lebte  bie  arme  Ä  leine  in  beftänbigem  Sttttfrubr  beS  &er$enS 
unb  ahnte  eine  Äataftrophe. 

ftean  litt  ebenfalls.  SBar  er  bei  Stellt)  9tobin,  fo  lebte  er,  unaufhör- 
lich °Äen  Tantalusqualen  preisgegeben,  in  einer  Aufregung  ber  ©iitne,  unb 
fobalb  er  ju  SJtarie  äitrücffehrtc,  empfanb  er  ein  fchrecfücheS  ©efüfjl  »on 
SDtübigfett  unb  SJtitletb.  £>etm,  ohne  fid)  bis  jcjjt  baju  entfchliefeen  511 
fönnen,  bad)te  cr  bod»  bereits  baran,  fie  ju  üerlaffen,  unb  babei  empfanb 
er  im  Boraus  2l(ifdjeu  »or  feiner  Feigheit  unb  feiner  Uubanfbarfeit. 

Sie  roaren  eben  3(He  unglücf  lid).  %a\  2llle,  bis  511  bem  unglücf  feügen 
&erjog  »on  Gt)lau,  ber  jefct  mehr  benn  je  bie  ©abe  befaß,  bie  nerwöfc 
Stellt)  Jtobin  im  höd)ften  GJrabe  5U  reijen,  unb  ber  bie  barfdjen  9lbt»eifungen 
feiner  SJtaitreffe  ebenfo  roem'g  wie  bie  jahttofen  gehler  begriff,  bie  er  fett 
einiger  $t\t  beging,  meint  er  itejigue  fpiette. 

Gr  mar  baS  erfte  Opfer  ber  Situation,  ber  arme  &erjog:  SSegen  eines 
9iid)t3,  beS  SluSfpielcnS  einer  ßarte  —  runbroeg  »erabfd)iebet.  Gr  mar 
gteichroohl  nicht  anfprud)S»oH  gemefen,  roemt  er  nur  feine  obligate  Partie 
»on  4  bis  6  hatte.  Gr  entfernte  fid)  biScret,  unb  mit  ihm  »erfd)roanben 
bie  Rädchen  Saufenbfranffcbetne.  33atj!  Stellt)  fümmerte  fid)  »tel  um  ®elb! 
Sie  liebte. 

Dl)ne  irgenbroie  ihre  2luSgabcn,  ihr  .ftauSroefen  51t  »errtngern,  »erfauftc 
fie  einen  Sdmtucf  nad)  bem  anbent  unb  lebte  in  ben  Sag  hinein  mit  ber 
Sorglofigfeit  ber  SRaitreffen. 


  Hicaünnen.   

©nbltd^  mürbe  bie  „(Sternemtaäjt"  im  Spätre  gran^at*  gefpielt. 
2>?an  erinnert  fief)  noefj  be£  SriumpfjeS!  Sa£  SPremiärenpublicum,  alle 
bie  alten,  abgelebten  9tou6S  meinten  babei  uor  9?ül)rung.  SaS  erfrifdrte 
fie,  baS  tf)at  ifmen  moljl. 

Sen  Sag  naef)  ber  2lupl)rung  machte  ber  9Jame  ftean  Seil«,  Ijodj 
gepriefen,  bie  9hinbe  biirdt)  bie  3eitungen,  b.  f).  buref»  granfreict),  burd) 
©uropa.  ©er  Sidjter,  beffen  ©efidit  nod»  ganj  pubrig  mar  vom  Araber: 
fu{?  feiner  Interpreten,  mürbe  hinter  einer  ©ouliffe  von  bem  biefen  Verleger 
23eer  ermifd)t,  ber  ifim  fdjnurftracte  baS  SRanufcript  feinet  Stüdes  abfaufte 
unb  itjm  5000  granfen  in  bie  £anb  brütfte.  33ei  ben  erften  3tupb,rungen 
fafj  9Mi)  in  ber  Soge  beS  £errn  Gabuc,  meinte  greubentfjränen  unb 
applaubirte  fo  fiürmifd),  bafj  fie  ifjren  gäcfier  serbrad),  roäfirenb  ganj  im 
■Öintergrunbe  ber  emsigen  Soge,  bie  man  bem  Sidjter  beroilltgt  {jatte, 
•JJiarie  in  ben  2(rmen  ber  $reunbin  auS  bem  9ltetier,  bie  fie  begleitet  blatte, 
uor  Aufregung  »erging. 

Sllifjtrauen  mir  bem  ©lücf.  ©S  mad)t  bie  ©uten  beffer,  aber  für  ben 
©goiften  ift  es  gefäljrlicf),  unb  ber  SDJamt,  ber  ©rfolg  gehabt,  glaubt,  if)m 
fei  2llIeS  erlaubt. 

Sei  feinem  fpäten  ©rroadjen  am  nädiften  SDiorgen  in  ber  SRanfarbe  beS 
Duai  @t.  3Jlidt)et  erhielt  &an  Seilt)  uon  sJiefln  9?obin  einen  übcrfdmiäng= 
tiefen  23rief  unb  ein  $adet  Journale,  bie  marm  feinen  9?ut)m  nerfünbeten. 
©r  mar  berühmt,  er  mar  geliebt.  Sluf  einmal.  sJfein !  ©r  befafe  ja  9Mi) 
nid)t.  ©in  einiges  £inberatfj  —  unb  baS  mar  SRarie.  Sa  fiel  fein 
ffllicf  auf  bie  SBanfnoten,  bie  if)tn  2Jeer  am  2lbenb  gegeben,  unb  bie  er  bei 
ber  ^eimfebj:  auf  ben  xifdj  gemorfen  blatte,  ©elb!  Soften  fid)  mdjt  mit 
©elb  am  fyäufigften  bie  Qugenbliebfdjaften,  bie  Siebcleien  beS  Duartier 
Satin  ?  5000  granten,  baS  mar  für  eine  $anbroerferin  fdjon  ©troaS,  momit 
fie  fidj  etabliren  fonnte,  eine  3lrt  2luSftcuer,  ber  3lnfang  eines  ©lüds 
trieUetdjt.  Unb  für  ifm  fonnten  fie  baS  Söfegelb,  feine  f^reiEieit  bebeuten. 
llnb  fdjttefjlid)  fiattc  er  ja  feine  Jungfrau  »erfüfirt.  2)?arie  blatte  iljm  nur, 
unb  smar  aus  eigenftem  freien  2Intrtebe,  juiei  Qafjre  ibjeS  SebenS  gefdjenft. 
5000  granfen!   SaS  t)iefc  bejaht!  ... 

Unb  3ean  Seilt)  mar  fein  SBöfemidjt!  9Jod)  am  3lbenb,  im  ßodjgefüljt 
beS  SriumpfieS,  blatte  er  feine  fleine  greunbin,  bie  ifjn  ganj  fdnldjtern  auf 
ber  ©trafje,  am  ©ingang  für  bie  Sdjaufpteter,  erroartete,  freubig  umarmt 
.  .  .  Slber  ein  ungeftillter,  rafenber  SBunfdj  »erblenbete  Um. 

D  ©efüfjtlofigfeit,  o  &ärte  beS  2Wenfdjenl)ersenS!  D  über  bie  fiebrig« 
feiten,  bie  in  einer  SDiinute  erbaut,  befa)loffen,  ausgeführt  finb! 

SDiarie  mürbe  tf>n  ol»ne  S'^'M  fo  a^  möglidj  befudjen,  üielleicpt 
biefen  3JJorgen  fdjon. 

©r  fleibete  fieb,  Ijaftig  an  unb  fdjrieb  in  einem  &üQt  ben  SabfdfnebS* 
brief.  ©r  befd?mor  SDJarie,  il;m  ju  tjerjeifien.  Slber  er  liebte  fte  nun  ein= 
mal  nidfit  meljr.    Sie  fonnten  fid)  liinfort  gegenfeitig  bodj  nur  nod»  3ur 


\20    ;ftan<jois  Coppee  in  patis.   

öuat  leben.  Unb,  ba$  ©etb  aitäubieteit,  fanb  er,  ber  SDtamt  ber  %eoex, 
eine  getftooHe,  faft  särttidje  SBenbung. 

@r  legte  bie  £Me,  bie  ben  SBrief  unb  bie  33anfnoten  enthielt,  red)t 
augenfällig  auf  ben  ©tfd),  fagte  im  gortgefyen  bem  Sortier,  bafj,  wetm 
gfräulein  SJtarie  täme,  oben  @twa§  für  fie  tage,  ftieg  in  eine  ©rofdjfe  unb 
liefj  fid)  ju  Stellt)  fahren. 

Seit  einigen  Sagen  fpielte  fte  nid)t  mein-  im  Siaubeuifle,  wo  iljr 
©ngagement  foeben  ju  ©nbe  gegangen  war.  Einige  SJtonate  sur>or  blatte 
fie,  angeftd)t3  fef»r  ttortrjeil^aftcr  Slnerbietungen  nad)  Stufclanb,  abgelehnt,  eä 
ju  erneuern.  ©amt  mar  3ean  erfd)tenen,  fie  fjatte  fid)  md)t  meb^r  von  tljm 
entfernen  motten,  unb  nod)  am  3lbenb  juuor  l)atte  fie  ben  STjeateragenten 
abgefdjüttelt,  ber  in  fie  brang  unb  fid)  nid)t  erflären  fonnte,  warum  ein 
f)übfd)e3  SSeib  eine  Steife  in  bas  Sanb  ber  Stubel  abfdjlug. 

„@§  ift  gefdjeljen.  f>abe  mit  ix)v  gebrod)en!"  rief  ^ean  in  ben 
2lrmen  ber  <Sd)aufpielerin. 

Unb  er  erjäljlte  iljr,  mit  {»äfjtid&er,  egoiftifdjer  greube,  bie  fd)led)te 
ißanblung,  bie  er  foeben  begangen.  Stellt),  eine  SJtattreffe  trofe  allebem, 
bewunberte  itin  unb  war  ftolj  unb  gerüljrt,  bafj  er,  oljne  ;u  äögern,  um 
ganj  iljr  anjugeljören,  ba§  erfte  ©olb  geopfert  blatte,  ba§  if)tn  ba§  ©lüd 
juwarf. 

„Unb  id),  id)  bin  aud)  frei!"  fagte  fie  ju  ifmt,  auf  feine  <Sd)ulter 
gelernt,  ,,id)  bin  ©ein  unb  gehöre  ©tr  für  immer!  . . .  tiefer  £upu8,  ber 
mid)  umgiebt,  erregt  ©ir  2lbfd)eu  .  .  .  ©u  bift  ftolj,  ©u  Ijaft  9ted)t  .  .  . 
Stun,  beruhige  ©id)  nur  .  .  .  $d)  Ijabe  bis  jefct,  oljne  ju  redmen,  gelebt, 
unb  feit  meräefyn  Sagen  b/tbe  id)  ben  ßerjog  fortgefdjicft,  ber  meine 
©djulben  bejahen  wollte  .  .  .  2Bol)lan,  SJiöbel,  SToiletten,  <Sd)mu<f,  Slffed 
laffe  id)  meinen  ©laubigem  . . .  ©u  wirft  eine  Äamerabin  baben,  bie  eben 
fo  arm  ift  wie  ©n  .  .  «Spredjen  <Sie,  mein  §err,  werben  (Sie  bann  audj 
nod)  $t)ve  greunbin  im  ©rtfettenfleibe  lieb  b>ben?  33af|!  @S  ift  gar  nidjt 
fo  lange  fyer,  bafj  id)  f)öd)ft  eigenf)änbig  meine  2Bäfd)e  ausbefferte  unb 
meine  Suppe  fod)te  . . .  $d)  werbe  baä  Stjeater  oerlaffen,  wiHft  ©u?  . . . 
©u  würbeft  bod)  5U  eiferfüd)tig  fein,  nid)t  wal)r?  wenn  id)  bort  bliebe, 
unb  id),  id)  fönnte  nidjt  genug  bei  ©ir  fein  .  .  .  Stein,  id)  will  ©eine 
3Birt^fd)afterin  werben,  unb  ©u  follft  fefjen,  wie  id)  ©id)  pflegen  werbe, 
wäfjrenb  ©u  aHerljanb  fd)öne  ©ad)en  fd)reiben  wirft  .  .  .  3uuäd)ft  wirft 
©u  je|t  ©einen  £cben3unterf»alt  »erbtenen;  ©u  wirft  nidjt  reid)  fein,  bei 
©ott!  .  .  .  ©id)ter  f>aben  fein  ©lüd.  Slber  id)  werbe  fo  oentünftig  fein 
...  3a!  wir  werben  fogar  nod)  große  Sprünge  madjen  fönnen.  Unb  ©u 
wirft  mir  balb  mein  erfteö  Sd)mudftü<f  taufen  .  .  .  Ohrringe  in  ©oubl6, 
5e^n  granfen  ba§  ^ßam,  wie  jene  beim  Juwelier  in  ber  9iue  9Jt6mlmontant, 
bie  fo  felir  meinen  Steib  erregten,  ba  id)  mid)  nod)  als  Äinb  auf  ber 
©trafje  um^ertrieb  .  .  .  D  mein  ^ean,  wie  liebe  id)  ©id)!"  .  .  . 


  Rivalinnen.   


\2\ 


Unb  rote  et  fie  feurig  an  ftd)  preiste,  fügte  fie,  fid^  loSmadjenb,  (jinju: 

„9tein,  nod)  md)t,  nod)  nid)t  unb  ntd)t  hier  .  .  .  &ier  erinnert  mid) 
2lfleS  an  meine  Vergangenheit,  roibert  mid)  2tlles  an  ...  D  oergieb  mir! 
3$  roar  ja  ©ir  nod)  md)t  begegnet,  id)  wußte  ja  tridjt,  was  es  E>eifet,  ju 
lieben  .  .  .  SRein,  td)  will  nod)  tieut  Slbenb  ju  ©ir  fommen,  in  bie  arm* 
licb>  Sßofinung,  roo  ©u  fo  ungtücfltd)  geroefen  bift  3d)  werbe  borten 
fommen,  um  nidjt  mehr  fortjugeb^en,  unb  sJHd)tS  will  id)  mitbringen  als 
bie  SUeiber,  bie  id)  am  Seibe  trage  .  .  .  ©pritf),  bift  ©u  einuerftanben? 
.  .  .  3efct  gehe  an  ©eine  ©efebäfte  .  .  .  ©u  mußt  ©tdj  im  Sweater 
5«gen,  ©u  mußt  allen  ©einen  23efantrten  banfen,  ©einen  Interpreten, 
jenen  $0 urnaliften,  bie  ©id)  foeben  als  großen  ©td)ter  auSpofaunt  Ijaben 
unb  bie  man  fubtit  befianbeln  muß  .  .  .  3d)  fenne  baS  .  .  .  SBährenbbem 
werbe  id)  Ijier  2lUeö  regeln,  unb  baS  roirb  nid)t  lange  bauern,  id)  Derfidjere 
©id).  werbe  nidjt  einmal  bie  wenigen  SouiS  in  meinem  Portemonnaie 
behalten  ...  6^  giebt  ja  genug  <Sammelbüd)fen  für  bie  9lrmen  .  .  . 
Erwarte  mid)  b^eut  3lbenb,  um  fedjs  Uh>,  unb  laß  uns  unfer  gemeinsames 
Sehen  bamit  beginnen,  baß  wir  in  ©einer  Äneipe  fpeifen,  mit  jenen 
$utfd>ern  äufammen,  weißt  ©u?  bort,  wo  ©u  ben  armen  <St.  girmin 
fennen  gelernt-  fiaft  .  .  .  (SS  liegt  mit  baran,  bafe  aud)  id)  ein  wenig 
©ein  großes  @lenb  geseilt  habe!"  .  .  . 

$ean  ging,  beraufd)t  dou  @tol$,  eine  fold)e  Setbenfdjaft  eingeflößt, 
fold)e  Dpfer  oeranlaßt  ju  haben. 

Mein  unb  »on  bem  SBunfdje  befeelt,  fobalb  als  möglid)  bie  ©puren 
ihreö  galanten  SebenS  5U  üernid)ten,  nahm  SWellt)  suerft  aus  einem  ©djub* 
fad)e  einige  ^kefete  Sriefe  unb  warf  fie  in'S  geuer. 

«Sie  fah  fie  brennen  unb  wollte  gerabe  ihrer  Äammcrfrau  flingeln,  um 
ihr  ben  foeben  gefaßten  ©ntfdjluß  anjufünbigen,  als  biefe  erfd)ien  unb  fagte: 

„ftann  3JJabame  baS  3JJäbd)cn  öftrer  SKobifttn  empfangen?  .  .  .  6ie 
ift  unten  mit  bem  bewußten  &ut,  ben  SWabame  oor  ad)t  £agen  befteUt  hat." 

„Saß  fie  herauffommen,"  erroiberte  SMi)  3tobin  med)anifd). 

Unb  währenb  bie  Äammerfrau  gehord)te,  bad)te  bie  ©d)aufpielerin 
unb  fonnte  nid)t  umhin  ju  tädtetn: 

„(Sin  $ut  für  fünfSouiS!  Qdj  werbe  ohne  3roeifet  auf  lange  hinaus 
feinen  folgen  mehr  tragen,  unb  biefer  foff  nad)  ber  ®recution  burd)  bie 
®erid)tsbiener  bejaht  werben  wie  baS  Uebrige . . .  ©ah',  id)  will  ihn  (jeut 
3lbenb  auffefeen,  wenn  id)  mid)  bei  %tan  eintogiren  werbe." 

©enn  welche  2Uad)t  ber  ©rbc  vermöchte  eine  grau,  felbft  wenn  fie 
närrifd)  oor  Siebe,  felbft  wenn  fie  in  einer  Strife  ber  Seibenfdjaft  ift,  ju 
hinbern,  baß  fie  einen  f)übfd)en  £ut  probirt? 

©aS  2Wäbd)en  trat  ein  unb  öffnete  feinen  ßarton. 

„Sajfen  Sie  fehen,"  fagte  Slefft;. 

Sie  ftellte  fid)  oor  ihren  (Spiegel,  rücfte  ben  fofetten  «S^iffon  auf  ihrem 
Äopfe  5itred)t  unb  bemerfte  erft  jefct  im  «Spiegel  baS  ©eftdjt  ber  jungen  ÜWobifrin. 


\22    JratKjots  £oppee  in  parts.   

2Ba«  t;atte  fic  nur,  bic  arme  Stteine  mit  bctt  golbrothen  föaaren? 
aBarum  roaren  jene  hübfdjen  faffeebraunen  2lugen  mit  S^ränen  gefüllt? 

Unb  warum  ftüfete  fic  ftdj  roie  ohnmädng  auf  bie  Seime  eine«  gauteutts  ? 

©«  mar  SÖJarie,  bie  ben  £ut  gebraut  blatte. 

Dh!  roie  roar  fic  heut  2Rorgen  fo  fröhltd;  au«  bem  Stttetier  roeg» 
gegangen,  ihren  ©arton  unter'm  2lrm! 

©dmett,  erft  ju  3ean!  ©r  mußte  lange  gefdjtafen  haben,  nach  all' 
ben  Aufregungen  feinet  Triumphes.  Sie  roürbe  Um  beim  Stufftehen  finben, 
ihren  93ielgeliebten,  ihren  dichter,  roie  er  enbltd;  glüdttd;  roat.  2lber  nein, 
fd»on  ausgegangen!  „(Sie  fönnen  fofort  hinaufgehen,  gräutein,"  blatte  ihr 
ber  Sortier  gefagt,  „es  ift  oben  ©troa«  für  Sie." 

SBas  baS  oben  roar?  großer  (Sott!  e«  roar  ber  fdjredlidje  33rief  unb 
jene  23anfnoten,  bie  fie  fogleid)  roieber  fortgeroorfen  hatte,  bie  ihr  in  ben 
Ringern  gebrannt  bitten.  So,  ba«  roar  ju  ©nbe.  3ean  liebte  fic  md)t 
meb^r  unb  »erabfcfiiebete  fte,  bejahte  fie  roie  eine  SDirne.  9ioth,  al«  hätte 
fie  einen  23acfenftrei<f>  erhalten,  tobt  ba«  &erj,  ba«  33lut  im  (Sehtrn,  roar 
fie  geflohen  unb  weinte  auf  ber  (Straße,  ohne  fid»  ju  fchämen. 

SBenn  Sie  einen  großen  Stummer  hoben,  roemt  3hr  Siebhaber  Sie 
»erläßt,  fdjöne  ®ame  mit  ben  brei  Toiletten  tägltd),  fo  oerriegeln  Sie 
3hte  £hür,  Sie  fdjtießen  fid)  in  ffi  23oubotr  ein  mit  einem  glacon 
engtifdjen  jüechfalje«,,  unb  Sie  fönnen  bann  roemgften«  in  ber  ©tnfamfeit 
fdtjludjjen.  beflage  Sie,  geroiß!  benn  ba«  Seiben  ift  baäfelbe  für  ba« 
&erj  einer  »erlaffenen  grau,  ob  ei  nun  unter  Seibe  ober  unter  grobem 
3roiHidj  fdjtägt.  2fl>er  haben  Sie  gütigft  ÜJlitleib  mit  bem  Keinen  Sauf» 
burfdjen  »on  SDJobiftin,  bie  oor  allen  Sßaffanten,  bie  £rottoir*  entlang,  um 
ihr  oerlorenes  ©lud  roeint,  unb  bie,  trofc  ihre«  Schmerle«,  —  ber  ebenfo 
graufam  ift  rote  ber  übrige,  fdjöne  Same,  —  bennodj  ihre  trioiale  23e« 
forgung  nidjt  »ergeffen  barf  unb  einen  $ut  5ur  Sunbtn  tragen  muß. 

ÜDJarie  hatte  3leä\)  3?obin  niemal«  gefehen,  hotte  ihren  9iamen  erjt 
heut  borgen  erfahren,  roußte  9tidjt8  won  ihr.  Dhne  baß  bie  ©ine  ober  bie 
Slitbere  e«  ahnte,  ftanben  fid;  bie  beiben  Jtitmtinnen  gegenüber. 

23or  bem  ©efidjt  ber  Unbefannten,  ba«  burdj  ben  Schmers  »erftövt 
roar,  rourbe  SReHt)  üon  ÜJHtleib  erfüllt.  33on  SRatur  feljr  gutmüthig,  roar 
fie  e«  um  fo  mehr  an  biefem  für  fie  fo  glüdlidjen  Sage. 

„2Ba3  fehlt  $fmen  benn,  meine  liebe  Steine?" 

2lber  3J?arie  fanf  unter  ber  SBudjt  ihre«  allju  fdiroeren  Äuminers  auf 
einen  ©toan  unb  barg  ben  Äopf  in  ihren  &änben.  sJleHt)  fe|te  ftd;  lieb» 
reidj  neben  fte  unb  roar  mit  mütterlicher  gärttidjfett  um  fie  bemüht. 

„©in  fdjroerer  Stummer  roohl?  .  .  .  kommen  Sie,  mein  liebet  Stinb, 
»einen  Sie  md)t  fo  .  .  .  Sie  fennen  mich  jroar  nidtt,  aber  Sie  fönnen 
SBertrauen  ju  mir  haben!  .  . .  3d;  roürbe  fo  sufrieben  fein,  roenn  tdj  Stuten 
helfen  fönnte  .  .  .  Unb,  auf  alle  gälte,  fagen  Sie  mir  getroft,  roa«  Sie 
fo  betrübt." 


  Rivalinnen. 


\23 


©id)  anvertrauen  ift  ein  fo  natürlidbe«  Öebürfnil,  unb  biefe  fdböne 
©ante  fchten  fo  gütig!  Seit  sroei  ©tunben  irrte  SWarie  in  Sßari«  umher, 
fterben«matt  oor  SJerjroetflung:  ©ie  offenbarte  ba«  ©ebeimnif)  berfelben  in 
einem  SBeberuf. 

„3ean!  .  .  .  3Jtetn  Qean  bat  mtd)  Derlaffen!  .  .  ." 

3br  3lean?  .  .  .  9iettn  mar  ba«  £erj  rote  jugefdjnürt  infolge  einer 
23oralmung.  ÜDJebrmal«  blatte  fie  mit  eiferfücfjtiger  Neugier  ben  35td)ter 
über  feine  fleine  ftreunbin  befragt:  „&übfd),  nicht  roabr?  2Bie  fteht 
fie  benn  au«?  Unb  jefet,  juft  roäbrenb  fie  biefe«  jugenblicbe,  von  Xfycänen 
überftrömte  ©efidht  betrachtete,  ba«  bem  ihren  fo  nahe  roar,  unb  unter 
bem  in  Unorbnung  gerathenen  rotten  £aar  biefe  ©tirn,  auf  bie  fie,  einer 
Regung  ber  ©mnpatbie  fotgenb,  beinahe  ihre  Sippen  gebrücft  blatte,  er= 
innerte  fid)  bie  ©cbaufptelerin  ber  oerlegenen  Slntroort  Scan  ®cttn«:  „(Sin 
5ftotbfopf  mit  braunen  Stugen." 

„®in  Stebe«fummer  alfo.  Qd)  backte  mir*«,"  fagte  SRettn  mit  t>er= 
änberter  Stimme.  „Soffen  Sie  t)ören,  Siebdfjen,  crjät»lcn  ©ie  mir  ba«  .  . 
Unb  vot  2DIem :  wie  beißt  benn  ba«  heilige  Äinb,  ba«  fo  großen  Stummer  bat  ?" 

Unb  ba«  junge  SDJäbdben  roarf  9iettn  unter  SCbränen  einen  33lt<f  ber 
£anfbarfeit  5U  unb  antwortete  mit  3lnftrengung: 

„SBic  gütig  ©ie  finb,  3J?abame!  .  .  .  3<&  ^cifee  SDfarie." 

2>a  nmrbe  bie  £anb,  meiere  bie  irrige  brüdfte,  eifig  falt,  ber  Slrm, 
ber  um  ihje  Statte  lag,  fanf  herab.  Slber  ÜHarie  achtete  nicht  barauf. 
(Sine  ©timme  oon  ÜDiitgefülil  blatte  fie  gebeten,  if)r  ieer-i  5U  erleichtern.  @« 
fchüttete  fid)  au«,  e«  ergoß  fid)  in  Älagen  unb  ©d)Iud)äen. 

„Wein  3ean!  .  .  .  3cb  liebte  ihn  fo  fef)r!  .  .  .  SBenn  ©ie  müßten!" 

Unb  9Jiarie  liefe  fid)  ju  9tethj«  güßen  gleiten,  behielt  bie  ßanb  ber 
©ante,  bie  foüiet  9Jiitletb  jeigte,  in  ber  ihrigen,  fügte  fie  roieberbolt 
fchmeicbelnb  roie  ein  franfe«  Äinb  unb  ersetzte  von  ben  jroei  fahren  ihre« 
©fücf«  unb  ihrer  Siebe,  roo  alle  3JHmtten  tf>re»  Sehen«  $ean  gehört  Ratten, 
wo  jeber  ©tief»  ifirer  9?abel  von  einem  ©ebanfen  ber  Slnbetung  für  ihren 
33ielgeliebte.n  begleitet  geroefen  roar.  ©ie  blatte  geglaubt,  baß  er  fie  liebte. 
Slber  fie  roar  roeber  thöriebt  nod)  eitel  geroefen.  ©ie  fagte  fid)  roobl 
manchmal  mit  ©eufjen,  baß  ein  unroiffenbe«  9Jcabd)en  roie  fie  nid)t  bie 
einjige  Siebe  eine«  ®id)ter«  fein  fönnte.  3wcifetlo§  roirb  er  uon  anberen 
grauen  »erführt  roerben,  bie  Um  liebten  —  er  mar  ja  fo  entjücfenb!  — 
unb  roürbe  ifyr  untreu  roerben.  Sitte«  »ergebt,  Sitte«  l»at  ein  ®nbe,  fte 
wußte  e«  roobl.  ©ie  burfte  nur  f)offen,  baß  er  ihr  einen  Meinen  9iaum 
in  feiner  greunbfebaft  wahren  roerbe,  baß  er  ftet«  ein  wenig  3Ärttid)!eit 
für  biejenige  haben  roerbe,  bie  ihm  roäljrenb  feiner  traurigen  äugenb  ©lücf 
gefpenbet  hätte,  £unbert  3M  hatte  er  es  ihr  gefdbrooren.  SBenn  fie  ihn 
bod)  roenigften«  fehen,  mit  ihm  jufammenfommen  fönnte  —  unb  gar  nid)t 
einmal  oft,  roenn  er  e«  fo  geforbert  hätte  —  ihn  ju  pflegen,  fobalb  er 
franf  roäre,  fte  hätte  iid)  mit  einer  fargen  3ärtlid)feit  begnügt,  fold)  einer, 


  ^raiifois  Ceppec  in  patis.   

wie  man  fte  wollt  beiläufig  bem  föunbe  be«  Quartiers  ju  2$eU  werben  läjjt. 
2lber  nein.  Crr  trieb  fte  in  Ijartyerjiger,  in  brutaler  SBeife  »on  fid).  Dlj! 
über  ben  @d)led)ten  unb  Unbanfbaren!  Unb  er  warf  ib^r  wie  einen  ©d)impf 
biefe«  elenbe  ©elb  l)tn!  ©elb!  ©ie  brauste  9Ud)t«  mebr.  Sftr  3ean  blatte 
\%x  ba«  £erj  gebrod)en.  ©te  würbe  baran  fterben,  ja  wo&l!  fie  würbe 
baran  fterben!  Unb  wenn  ber  £ob  auf  ftd)  warten  liefje,  je  nun,  e«  gab 
2Baffer  unter  ben  33rü<fen  unb  Äoljlen  bei  bem  Äob^enljänbler!  .  .  . 

heftig  legte  i^r  SRellt)  bie  &anb  auf  ben  3Wunb. 

,,2Ba«  fagen  Sie  ba,  Keine  Unglfidflidje?  .  .  ." 

$or  ib^rer  9ü»alin  bjngefunfen,  ben  Äopf  auf  beren  Änteen,  fd)wieg 
2Warie,  unb  je|t  weinte  fie,  weime  unb  weinte. 

Unb  wätjrenb  9teHt)  nod)  ba«  troftlofe  3)?äbd)en  betrachtete,  füblte  fie 
fid)  »on  namenlofem  ÜJJitleib  ergriffen.  33eim:  ba«  Unglücf,  ba«  fie  l)ier 
»or  3lugen  blatte,  e«  war  tfjr  eigene«  SBerf.  2Saf)rt>afttg,  ba«  erfte 
3Rat,  wo  fie  ernftltd)  liebte,  fiatte  fte  fein  ©lü<f.  ©ie  fonnte  nur  glüdlid) 
fein,  inbem  fie  Sööfe«  ftiftete.  Unb  wäljrenb  fie  biefe  arme  Keine  SWarie 
betrad)tete,  bie  3ean  %  opferte,  empfanb  fie  ein  unbeftimmte«  ©effitit  be« 
bleibe«,  ©ie  felbft  l)atte  biefe  ed)te  unb  aufridjtige  8eibenfd)aft,  biefen 
frönen  ©d)merj,  nie  fennen  gelernt.  ®a«  SBefte,  wa«  ifir  nod)  ba«  Seben, 
beffen  golbene  @d)anbe  fie  jeftt  »erabfd)eute,  geboten  blatte,  ba«  waren  — 
weld>er  &olm!  —  bie  bei  Samorli&re  «erlebten  ^aljre,  tt)re  (Srgebenljett  al« 
bienenbe  UMtreffe  eine«  alten  unb  läd)erlid)en  Stomöbianten.  2Rarie  foratte 
bod)  nad)  attebem  wenigften«  fterben.  ©ic  Ijatte  gelebt,  tiatte  geliebt;  fie 
l»atte  eine  furje,  aber  entjüdenbe  Qugenb  genoffen.  DE)!  2Bie  beneibete 
9lell»  fie  um  Ujren  fd)önen  Staum,  felbft  um  ben  Sßrei«  eine«  fo  raupen 
©rwadben«!  .  .  .  2lber  wie  fte  fo  t>on  Beuern  t^r  Opfer  betrad)tete,  ba« 
»öHtg  niebergefd)mettert  war,  bem  beftänbig  grofje  £l)ränen  unter  ben  ge« 
fd)loffenen  9lugenlibern  fierworquotten,  unb  ba«  ben  riujrenben  ©inbruef  eine« 
»erwunbeten  33öglein«  mad)te,  ba  regte  fid)  ba«  gute  £erj  SleHn«,  unb  fie 
würbe  sugleid)  »on  einer  unbeftimmten  3Serad)tung,  einer  3lrt  »on  3tbfd)en 
gegen  biefen  Qean  erfaßt,  biefen  ©goiften  unb  »erfül>rertfd)en  ©tdjter,  bem 
fte  fid)  fo  unKug  fiingegebcn  tjatte,  bem  fie,  fie  fonnte  e«  fid)  nid)t  »erb,eb,len, 
jene  fd)(ed)te  £anblung«weife  infpirirt  blatte,  unb  ber  fie  oline  3wetfel  balb 
ifirerfeit«  würbe  Qualen  erleiben  [äffen,  ba  fie  Um  ja  aud»  liebte. 

„Unb  fagen  ©ie  mir,  Stebdjen,"  fragte  fie  ba«  junge  HJiäbdjen,  ba« 
fid)  ein  wenig  beruhigte,  „wiffen  ©ie,  um  weffen  willen  ©ie  »erlaffen  ftnb?" 

,,2ld)!  nein,"  antwortete  3Jiarie.  ,,©eit  einiger  3ett  rjatte  id)  wobj  be» 
merft,  bafj  Qean  mir  gegenüber  nid)t  mefjr  berfelbe  war.  2lber  id)  ^atte 
fo  »iel  Vertrauen  su  tfmt!  Qd)  wie«  meinen  Slrgrooljn  weit  »on  mir, 
tabelte  mid)  fogar  be« wegen  .  .  .  2lber  bie  £eben«weife  3ean«  ift  eine 
anbere  geworben;  er  gebt  jefct  bunter  bie  ßouliffen.  £)ort  wirb  er  »ermutljtid) 
irgenb  eine  fdjöne  ©d)aufpielerin  gefunben  Ijaben,  bie  »iel  lieben«würbiger 
ift  al«  id),  Toiletten  t»at  unb  Sunt«  treibt,  »on  £>ulbigungen  umgeben  ift, 


Hioalinnen.   


[25 


unb  bie  e«  uerftcljt,  bie  Äofette  fpielen  unb  einen  9JJatm  etferfüdf)tig  jn 
madjen...Db!  fo  ift  e«,  gewiß,  unb  id)  mar  t>on  2lnfang  an  oerloren... 
Stenn  idj  »erftanb  ja  nur,  ü;n  unfinnig  ju  lieben,  meinen  ^ean,  unb  batte 
tijm  9ticf)t«  roetter  ju  geben,  at«  mein  armes  £er}!  .  .  ." 

Unb  mä^renb  SWarie  mit  feudjenben  SBorten  ibrem  ©djmerse  nodj 
freien  Sauf  läßt,  fiebe,  ba  ift  im  ©eifte  9leHi)  ^obin«  foeben  ein  Sßunfdfj 
entftanben,  ad»!  ein  SBunf  db,  ber  ibr  triel  ©cbmer$  bereitet,  ber  aber 
gebietertfdb,  unnriberftebtidb  ift,  nämlicfi:  fie  nriff  auf  %ecm  »ersidjten  unb 
Um  biefer  armen  Äleinen  prüdgeben.  ©ie  fennt  ba«  Seben,  fie  roeiß,  n>a« 
fie  aufgiebt.  2Rit  breifeig  %afyxen  liebte  fie  pm  erften  ÜDtale,  unb  e«  mar 
föftlidb.  9td& !  e«  ift  fet)r  bart,  biefe  fpäte  £iebe«blütbe  fid>  au«  bem  fersen 
p  reißen,  ©tefelbe  wirb  nidjt  wieberfeljren,  beß  ift  fie  fjdjer.  Unb  nidjt 
«Hein  Sean  »ermißt  fie,  fonbern  audb  bie  ©mpftnbung,  bie  fie  für  tfm  biegte. 
3a,  e$  ift  bart!  SK6cr  ba«  fdjöne  ÜWäbdben  fyat  alle  SBerberbniß  gefoftet, 
obne  ibren  gonb«  t>on  ©belmutb,  obne  ibr  angeborene«  ©eredutgfeit«gefiu)l, 
Ujren  plebejifdben  ©inn  für  ©letd&beit  p  »erlieren.  ©aß  tljr  bie  fcbönen, 
aber  buftlofen  Gamelien  roiberroärtig  geworben  finb,  ift  ba«  ein  ©runb, 
jenem  ßtnbe,  ba«  ba  »orttbergeljt,  fein  armfetige«  Beildbenfträußdjen  p 
nelimen,  ba«  nur  p>et  ©ou«  toertl)  ift,  aber  gut  buftet?  .  .  . 

©cböne  ®ame,  mit  ben  brei  Toiletten  täglid),  ©ie  mürben  ebenfo 
banbeln,  ba»on  bin  id)  überjeugt.  ©ie  tragen  in  ^jerjenSangetegen« 
Reiten  feine  ©ttelfeit  unb  feine  ©elbftliebe  ftnein;  unb  fottte  ber  (Sar-alier 
3brer  beften  greunbin  tierfudben,  Zfonen  ben  &of  p  mad)en,  fo  ift  Qbnen 
ba«,  id)  äroeiffe  nidot  baran,  im  fiödbften  ©rabe  unangenebm.  ©eben  ©ie 
mir  nur  ba«  Gine  p:  baß  biefe  SReHt)  SRobin,  trofe  all'  tb^rer  gteden,  ba« 
£erj  ganj  ebenfo  auf  bem  rechten  %kd  fyatte,  ba  fie,  felbft  in  »oller 
Seibenfdjaft,  in  »ollem  93egebren,  einem  Snftincte  ber  ©erecfitigfeit  'unb  be« 
©rbarmen«  gel)ord)te. 

9lettv  i>aüt  9Warie  aufgehoben,  ^atte  fie  neben  fid)  nieberfifeen  laffen. 

„SBoHen  ©ie,  mein  Äinb,"  fagte  fie  mit  ber$lid)er  Stimme,  „baß  icb 
3buat  jefct  einen  guten  9iatb,  gebe?" 

„©eroiß,  SRabame,  aber  poor  laffen  ©ie  mtd>  ffinen  fagen,  roie  febr 
id)  »erroirrt  bin  .  .  .  3$  \)abe  Sfonm  foeben  taufenb  Sorbetten  erjäblt, 
unb  id)  bitte  ©ie  bafür  redbt  febr  um  Vergebung." 

„ßaffen  mir  ba«.  ©ie  foHen  mir  fpäter  banfen  .  .  .  Sie  Brutalität, 
womit  3br  ©eliebter  ©ie  »erlaffen  bat,  ift  meine«  Gradjten«  ein  33en»ei« 
bafür,  baß  er  in  einer  9lugenblid«laune,  in  ber  £eftigfeit  gebanbelt  bat 
.  .  .  Unb  bie«  ift  tridit  ba«  ©emöbnlicbe  bei  ibm,  nid)t  »alir?  .  .  ." 

„Ob!  geroiß  ntd)t  .  .  .  ßr  ift  immer  fo  nett  gegen  midj  geroefen!" 

„3Iun  wobl,  ©ie  muffen  ibn  nneberfebcn.  %a\  id)  fenne  bie  aWenfdien. 
3u  biefer  ©tunbe,  icb  mödjte  barauf  fd)roören,  bereut  er  fc^on,  fo  fcblecgt 
geroefen  ju  fein;  benn  er  muß  mjroifdjen  nadj  J^aufe  jurüdtgefebrt  fein  unb 


[26 


  iJtanQois  Coppee  in  pari«.  - — 


bort  jeneö  (Mb  roiebergefunben  Ijaben  .  .  .  Sie  müffen  il)n  fo  batb  als 
möglid)  roteberfefien  .  .  .  Dörnten  Sie  es  fd)on  b>ute?" 

,,3d)  fann  }u  ifnn  gefeit,  rote  id)  es  oft  tb>t,  nadj  6  Ufjr,  wenn  id) 
auä  bem  ©efd&äft  fomme." 

„9Serfäumen  Sie  ba£  mdjt.  SBoHen  Sic  e>3  mir  oerfpred)en?  .  .  . 
©ntroeber  f>at  biefer  %ean  fein  £erj,  ober  er  roirb  erröten  über  feine 
£anbtung3roeife  oor  biefen  fd)önen,  gan}  üerroetnten  2lugen  .  .  ." 

,,2ld),  SJiabame,  hoffen  Sie  ba3?  .  .  .  Dl»!  id)  bin  nid^t  fo  ftotj,  id) 
würbe  fdjon  met)r  aU  jufrieben  fein,  roeun  er  mid)  nur  nod)  ein  bisdjen 
lieben  roollte,  nur  aus  9)?itteib  .  .  .  3lber  id)  roagc  felbft  baran  nid)t  $u 
glauben." 

„2lber  id),  mein  Stebling,  id)  bin  beinahe  geroifs,  baft  er  hinten  einen 
Empfang  bereiten  roirb,  über  ben  Sie  erftaunt  fein  werben  .  .  .  2llfo  ab- 
gemadjt.  Sie  roerben  fjeut  Slbenb  ju  tf)m  gefjen  .  .  .  SSerfudjen  Sie  nur, 
bis  baf)in  ntd»t  mefir  ju  roeinen  .  .  .  Unb  jefct  umarmen  Sie  mid),  benn 
idj  roerbe  Sfonm  }u  beroeifen  roiffen,  roie  fetjr  id>  Stire  greunbin  bin." 

Unb  Stellt)  füftte  fie  auf  bie  Stirn .  unb  »erabfdjiebete  ba£  junge 
■Btäbdjen,  baä  nod»  feljr  in  Unruhe  roar,  ein  roenig  getröftet  jebod)  unb  »on 
einer  leidsten  Hoffnung  befeelt. 

Sei  ber  9tüdfeljr  in  feine  SBoljnung  fiatte  Qean  auf  feinem  £ifd)e  bie 
SBanfüoten  trorgefunben,  bie  SWarie  blatte  liegen  laffen. 

„Sab,!  id)  roerbe  fd»on  madjen,  ba§  fie  baä  ©elb  nimmt,"  blatte  er 
5U  fid)  gefagt,  roobei  er  tnbejfen  ein  roenig  üble  Saune  unb  einige  Sd»am 
empfanb. 

3lber  er  blatte  audj  nidjt  umb^in  gefomrt,  5U  benfen: 

„®iefe  fierjige  steine!    Sie  liebte  mid)  tro|bem." 

$)amt  blatte  er  aber  biefe  unbequeme  (Erinnerung  roicber  oon  fid)  ge= 
roiefen,  f»atte  ein  roenig  Drbnung  in  fein  3ta"iter  gebracht  unb  fdjritt  nun, 
in  neroöfer  Stufregung,  mit  flopfenbem  $erjen,  roie  ein  gefangener  Söroe  im 
ftäftg  auf  unb  ab;  er  feinte  ja  fo  tjeifj  bie  Stunbe  b>rbei,  ben  2lugenbltd 
beä  Sruimpljes  unb  ber  Siebe,  ba  3?eHn  ;u  tbm  fommen  roürbe. 

9lber  um  51/*  Ut)r  erfdjien  ber  ^Sortier  mit  einem  93riefe,  ben  ein 
©ienftmann  foeben  gebradjt  blatte,  olme  auf  2lntroort  ju  roarten,  unb  Scan  ta$, 
ba3  £erj  non  einem  Sd)üttelfroft  burd)bebt,  fotgenbe  abfdjeulidje  Qältn: 

„Grroarten  Sie  mid)  I)cut  Slbenb  nidit,  mein  lieber  Sßoet.  SBeber 
l»eut  9lbenb,  nod)  jemals.  33eb>nbcln  Sie  mid)  aU  Mette,  als  eine  ©lenbe. 
33erad)ten  Sie  mid),  tjaffen  Sie  mid).  Slber  eS  cjcf)t  nun  einmal  nid)t  anberS. 

£eute  SDtorgen,  nad)  Syrern  Weggänge,  ift  mir  plöfclid)  flar  geroorben, 
baf,  roir  alle  SBeibe  im  begriff  ftanben,  eine  grofje  £l)orl)eit  ju  begeben. 
Unb  jroar  Ijat  mid),  id)  gebe  es  ju,  eine  unbebeutenbe  Äteinigfeit  an« 
meinem  Traume  geriffelt.  3J?einc  SDiobiftin  r)at  mir  einen  neuen  £ut  für 
fünf  Souis  gebrad)t,  unb  id)  b,abe  mid)  hierbei  erinnert,  baft  fold)e  Blumen 
nid)t  am  gcnfter  einer  ÜJJanfarbe  road)fen.   3lad)  ad)t  Tagen  fdwn  b,ätte 


Sicolinnen.   


[27 


icf)  bie  f)übfcf)en  £üte  unb  baä  Uebrige  oermifst.  «Sie  fjabeu  ft<^  getäufd)t, 
td)  bin  nur  eine  9)Jaitreffe,  aber  eine  gute*  2Räbd»en,  ba$  ftfmett  trofc  atle* 
bem  eine  grofje  Enttäufdmng  erfpart.  33erfud)en  <Sie  nid)t,  mtcf)  roieber« 
jufefjen.  3;d)  >f>abe  foeben  ein  Engagement  nad)  <St.  Petersburg  abgefdjtoffen, 
roo  ber  ©ro^erjog,  ber  mid)  »origen  SBinter  in  einer  Soge  be3  SSaubetmle 
berounberte,  mid)  burdjau«,  unb  sroar  nid)t  fo  fel)r  auS  ber  Entfernung, 
roieberfefien  roiH.  316er  beoor  icf)  mid)  nad)  ben  Etefelbern  be£  Horbens 
aufmache,  roill  id)  ein  ©onnenbab  neunten  unb  reife  bafjer  nod)  fjeut  3lbenb 
nad)  sJJt55a  ab,  roofjin  mid)  ber  ^erjog  »on  Eulau,  ein  greunb,  gegen  ben 
icb,  feljr  ungerecht  mar,  begleiten  wirb.  Seben  Sie  roobj  unb  triet  ©lüd. 
Qd)  fjoffe,  bafj  ©ie  in  einigen  £agen,  nad)  rufjiger  Ueberlegung,  nicf»t  üü$a 
fefir  einem  SBeibe  jürnen  werben,  bie  fo  glütflid)  geroefen  ift,  mein  lieber 
poet,  3b,r  erfteS  Sebüt  am  £f)eater  ju  erteiltem,  unb  bie  nid)t  aufboren 
wirb,  fid)  [für  bie  neuen  Erfolge  3U  intereffiren,  bie  ^fmen  fidjerlid)  nod) 
befdneben  finb. 

S(f)re  greunbin  trofe  allebem  9Jelln  SRobin." 

Siefen  33rief,  ben  9Jettn  im  gieber  iljrer  guten  Regung,  aber  bodj 
mit  red)t  fdjroerem  £>er$en  unb  mit  fo  müf)famer  2lnftrengung  gefd)rieben 
batte,  laä  Qean  Settn  5um  jeljnten  3Wate  roieber,  allen  Dualen  ber  unge« 
ftiHten  ©ef>nfud)t  unb  töbtlid)  »erlebten  Eigenliebe  preisgegeben,  als  Sfftarie 
(tnfam.  ,» 

DbroobJ  ber  ©djlüffel  in  ber  £f)ür  ftecfte,  rjattc  baS  junge  ÜWäbcrjen 
bccf;  juerft  fdjüdjtern  gcflopft,  ad»!  roie  bei  einem  grember.  Slber  ftean, 
ganj  aufjer  gaffung,  Ijatte  9Wd)t3  gehört,  ©ie  crfc^ien  bafier  plöfelid),  ganj 
etngefd)üd)tert  r<or  itjtn  unb  richtete  ju  ifjrem  unbanfbaren  greunbe  einen 
furcbtfamen  unb  treuen  $lid  empor  roie  ein  gefd)[agener  &unb. 

Sie  aute  ^elln  v)atte  fid)  tricfjt  getäufcfjt.  3n  einem  ©ebanfenblifee 
oergltdj  ber  pf)antaftereid)e  SWamt  .bie  beiben  grauen,  i^rc  beiberfeitige 
Siebe  ya  ttjm.  2Bie  fjatte  er  bod»  biefem  beigen  Stinbe  entfagen  fönneti 
um 'eine«  eitlen  unb  »erborbenen  grauenjimmerS  roillen?  3f»n  fdjcmberte. 
Unb  bann  fam  SDfarie  aud)  gelegen:  fie  mar  bie  STröftung. 

3ean  eilte  auf  fie  5U  unb  preßte  fie  leibenfcf)aftltd)  an  fid). 

„aSergieb  mir!"  fagte  er  su  ifjr  mit  jitternber  Stimme.  „33ergleb  mir, 
meine  innig  geliebte  3Karie!  .' .  .  Su  bift  bie  Sreufjerjigfeit,  bie  Offenheit, 
Su  bift  baS  fd)tid)te  ©lüd  unb  bie  roaf)rf)afte  Siebe!  Unb  vü)  ftanb  itn 
begriff,  ®td)  511  nerlaffen,  um  einer  Sügnerin,  einer  Elenben  roillen!  .  . . 
aber  ba§  ift  ganj  au«,  id)  fdfjroöre  e«  Sir!  ...  Unb  ba  td)  fjinfort  fein 
©efieimnift  meb,r  uor  Sir  liaben  roiß,  nimm,  lies"  —  fügte  er  f)ittju,  inbem 
er  ibr  ben  Srief  reifte  —  „unb  Tief),  um  roeldjer  ^erfon  willen  id)  im 
Segriff  mar,  Sir  fouiet  Seiben  ju  bereiten  unb  eine  ^ffa"«*  u«b  eine 
geigb,eit  ju  begeben!" 

SWarie,  beraufdjt  unb  rote  betäubt  oon  ©lüd,  fdjroanfte  unb  liefe  fid) 
auf  einen  6tuf)l  nieber,  unb  roäbrenb  ber  Sid)ter  oor  ifir  auf  bie  Äniee 

»ort  nnb  ©to.  LXXV.  223.  9 


^28    franQots  Coppee  in  ports.  — 

fanf  unb  feine  »or  ©djam  rotb,e  ©tirn  in  ben  ©droofj  feiner  ©eltebten 
barg,  las  fic  ben  mljängmfroou'en  33rief  nnb  ben  üftamen,  mit  bem  er 
unterjetd)net  roar:  ,,9leHt)  9tobin!" 

@o,  alfo  um  9ielln  9tobin  fiatte'  fie  ^ean  »erlaffen  wollen!  ülettn 
Stobin,  biefelbe,  ber  fie  f»eut  SDiorgen  i^r  Unglüd1  anoertraut  tyatte!  .  .  . 
Unb  nun  begriff  2Jtarie  bie  grofjmütljige  Süge  unb  baS  ^o^erjige  Opfer 
iljrer  Siioalin  unb  mar  gerührt  bis  in'S  imterfte  .§erj. 

VIII. 

®reifjig  finb  nun  feit  bainals  oergangen,  unb  bie  beiben  alten 
greunbimten,  bie  mir  an  einem  lauen  9tad)mittage  beS  $orfrül)ltngS  auf 
einer  33anf  ber  ©Splanabe  ber  ^»aliben  if»re  ©efdt)ict)te  erjagt  b>ben, 
finb  Siiemanb  anberS  als  ÜWarie  unb  ^eUt). 

3ltle  33eibe  aus  bem  SBolfe  unb  aus  bem  ©lenbe  fyertorgegangen,  ftnb 
fte  auf  ii)X  alten  £age,  gebrängt  burd)  rotbrtgeS  ©efd)id,  borten  juriidf-- 
gefeljrt. 

$ean  ^tüx)  erfd)ten  am  ®id)terf)iinmel  wie  ein  UJieteor:  er  glänjte 
plöfclid)  I)ellleud)tenb  auf,  um  alsbalb  wieber  su  »erfdjroinben.  Äurje  geit 
uad)  bem  erfolge  feiner  „©ternennad)t"  unb  beS  23anbeS  ©ebidjte,  toelö^cr 
t^r  folgte  unb  ber  ber  litterar if^en  2öelt  bie  Hoffnung  gab,  baf?  ein 
großer  £>id)ter  geboren  fei,  —  mürbe  er  franf,  ftedjte  baf»in  unb  arbeitete 
nid)t  mef)r.  Äaum  25  3af|r  alt,  ftarb  er,  twn  ber  ©d)roinbfud)t  bah^in» 
gerafft,  in  ben  2lrmen  feiner  treuen  SRarie,  ber  er,  ein  ©goift  bis  jum 
Gnbe,  nidjt  einmal  feinen  tarnen  »ermadjte.  9JJit  ber  befd)eibenen  Saar* 
fd)aft,  bie  er  il)r  Unterlief?,  mietete  baS  arme  3M>d)en  einen  f leinen 
Saben  unb  »erfud)te,  oon  tfjrem  ©efd)äft  511  leben.  Stbcr  fie  roar  roebcr 
eine  geroanbte  ^erfäufcrtn  nod)  eine  fein-  gefdjitfte  Arbeiterin;  if)r  Untere 
nehmen  profperirte  nid)t,  unb  fie  roar  überglüdltd),  bafj  fie,  banf  einer 
geringen  Summe  ©elb,  bie  if)r  nod)  blieb,  eine  alte  £eiI)bibttott)ef  im  „©rojjen 
Ätefelftetn"  faufen  fonnte,  roo  fie  ib>  Stafein  friftete,  inbem  fte  gtetcfierroeife 
©d)reibmaterialien  roie  3eitungen  uerfaufte.  3^  ©tnne  waren  ab= 
geftorben  am  Slranfenbett  3eanS,  in  ben  langen  9iad)troad)en,  unb  üjr  &erj 
blatte  üd)  bei  bem  legten  ©eufjer  beS  3)id)terS  für  immer  gefdjloffen. 
UebrigenS,  t^r  roeiblid)er  JHetj,  ganj  Stamutl)  unb  3ftfd)e,  »erging  fdnteß. 
3lad)  unb  nad),  in  golge  nagenber  3lrbeit  bcs  ÄummerS,  ber  3lrmutb„  ber 
©infamfeit,  tiefe  fie  fid)  geb,en  unb  mürbe  jiemlid)  rafd)  eine  alte  grau, 
bie  in  einem  Umfdjlagetud)  unb  einer  £aube  einljerging. 

sJJelIt)  hingegen,  bie  bis  in  bie  5ßierjiger  fd)ön  geblieben,  feftte  i^r 
tolles  Seben  in  @t.  Petersburg  fort,  als  fte  plöfelid)  »on  einer  ©lieber* 
lälmtung  getroffen  rourbe.  3för  SßerfaH  uoHjog  fid)  rafd)  unb  roar  fd)recf lid). 
■Kad)  Paris  faft  laljm  jurüdgefeb^rt,  lebte  fie  bafelbft  eine  fo«8  von 
ben  Prummern  ibreS  ©d)iffbrud)s  unb  oon  bem  ©rtrag  einer  tfjr  be* 


  Hipalinnen. 


129 


rotlltgten  Sienefijüorftellung.  9lber  ba  fie  in  feiner  Söeife  auf  bie  Bufunft 
bebaut  mar,  fo  [ernte  fie  raf«^>  baS  @lenb  fennen.  2>te  alten  Serounberer 
waren  tobt  ober  in  alle  SBinbe  jerftreut.  «Sie  mußte  bei  einigen 
(Kolleginnen  »on  ehemals,  bie  glficflidfier  ober  »erftänbiger  als  fie  geroefen 
roaren,  bie  bemütbjgenbe  Stoße  einer  Ijeruntergefommenen  greunbin  fpielen, 
ber  man  fite  unb  ba  einen  SouiS  ober  ein  altes  SMeib  gießt.  Salb,  ad)! 
»erjagten  tb>  aud)  biefe  fdjmadrootlen  2llmofen.  3ftre  aHju  bittere  9iotIj, 
il»re  ©ebred)lid)fett  roirften  abftof3enb.  $>a,  mitten  in  Uirer  SSerjroelflung 
fdjöpfte  bie  unglüdlidje  grau  roieber  ein  wenig  9Jtutl).  Sie  erinnerte  ftdj, 
bafj  fie  ja  als  junges  9)iäbdf)en  im  ßamifol  gegangen  unb  oft  jum  grübjtüd 
eine  ganj  geroötmlid&e  SBurft  gegeffen,  bie  fie  im  Sdjtäd)terlaben  fdmiaro|t 
l>atte.  311s  ehemalige  Sdjaufptelerin  fonnte  fie  auf  Unterftufeung,  febr 
minimale  jroar,  aber  regelmäßige,  »on  Seiten  ber  £ljeatersSSerroaltung 
unb  einiger  S33of)ltf|ätigfeitSgefelIfdbaften  rennen.  Sie  »erfaufte  itjre  legten 
galanten  Sumpen,  mietbete  in  einem  entlegenen  Viertel  nalje  am  SWarSs 
felbe  eine  ÜWanfarbe  unb  befdjicb  fid)  bamit,  bort  roie  eine  Scttelfrau, 
aber  ofme  Sdjanbe,  ju  leben. 

So  trat  vJieUp  Siobtn,  ber  Ißrinäen  »on  (Geblüt  ju  güßen  gelegen 
Ratten,  bie  aber  jetjt  ungefähr  rote  eine  alte  2BoKfämmerin  ausfafi,  eine* 
£ages,  um  ifjr  „StletneS  Journal"  ju  faufen,  in  ben  Saben  2JJarieS,  ber 
„9Jfutter  SDJarte",  rote  man  fie  in  ber  Sorftabt  ju  nennen  pflegte. 

Sie  Ijatten  fid)  nur  einmal  in  ifjrem  Seben  gefefjen,  aber  in  roelcber 
unoergefjltdjen  Stunbe!  Sie  betradjteten  einanber  lange,  unb  trofc  ibrer 
fo  graufam  »erroüfteten  3üge  erfannten  fie  einanber  fcbließlid)  am  SBlicE, 
ber  ftd»  mdjt  »eränbert. 

„2tber  ...  Sie  finb  bie  ©eliebte  3ean  £etl»*?  ..." 

„Sie  finb  9teU»  9tobin!" 

Unb,  bie  Siebte  roie  jugefdmürt,  erftidenb  »or  9lufregung,  näherten  fid» 
bie  beiben  grauen,  faxten  fidt)  an  ben  £änben  unb  umarmten  ftdj  unter 
Ordnen. 

Sie  fafjen  fidt>  alle  £age,  um  »on  ber  SBergangenfjett  ju  plaubern. 
Sötorie  fagte  jefet  3ieHt),  roie  banfbar  fie  iljr  ftets  bafär  geroefen  fei,  baß 
Qene  ibjc  einft  Sdionung  beroiefen;  unb  Stellt)  tonnte  ÜRarie  geftefjen,  baß 
iene  Siebe,  bie  fie  angefidjts  beS  Unglüds  tyrer  Nebenbuhlerin  geopfert 
trotte,  bie  einjige  roafjrliafte  ibjeS  jügetlofen,  im  ©runbe  fo  traurigen  SebenS 
geroefen  roar. 

@S  tfjat  ifmen  allen  Setbeu  unenbltd»  roofjl,  »on  bem  teuren  $er= 
ftorbenen  5U  fpredjen.  Sie  liebten  einanber  im  3lnbenfen  an  itm.  Salb 
entfdjtoffen  fie  ftd),  beifammen  ju  roofmen,  unb  bie  gutmütf)ige  SlJarte 
pflegte  bie  ©ebredjlicbe  nad)  beften  Straften  unb  bradbte  eS  burd)  bie  SWadit 
beS  33eifpiels  nadj  unb  nadb  babm,  baß  bie  einftige  ©ourtifane  ibre  ©e= 
mofinljeiten  ber  Drbnung  unb  ber  ©ecenj  almahm.  Sfor  beiberfettigeS  Un» 
glücf  rourbe  »ereint  erträglidj.   2Beldj'  fauberen  unb  anftänbigen  ©nbrud 

9* 


\30 


^ramjois  £oppee  in  parts.   


matten  bie  betben  armen  greunbinnen  an'  bcnt  Sage,  roo  fie  mir  ibre 
2)?ittf)eilungen  anvertrauten!  2Wan  l)ätte  fie  für  sroet  rcdtjt  roürbtge  SWatronen 
gesotten,  icf)  »erfidEjere  es.  SBic  rüfjrenb  mar  es,  roenn  Sfiaric  in  üjren 
£änben  bie  faft  leblofe  ^aitb  ber  ©elätimten  imeber  ju  erroämen  »erfudjte! 
Unb  roic  glänjten  bie  nodj  immer  rounberoollen  2tugen  9tellnS,  bie  einjt 
ganje  Säle  »on  3ufdf>auern  entjürft  Ratten,  »on  Stonfbarfeit,  roemt  ftc  auf 
iljrer  ftreunbin  ruhten! 

„(Sie  fomten  fidEj  feinen  93egrtff  madjen,  mein  £err,  ocm  tljrer  <S> 
gebenf»eit  für  midj,"  fagte  bie  alte  tJicttp  am  Sdjtuffe  tljreS  33ericfjtS  ju 
mir.  „2lber  fie  ift  ein  roafirer  ©d?a|  für  midj,  biefe  ÜRarie  .  .  .  Unb  fo 
erfinberifclj,  fo  fparfam!  2Benn  mir  nnfere  »ier  SouS  jufammenlegen,  fo 
leiben  mir  njarjrtjaftig  an  9Jtdf)tS  3Kangel  .  .  .  MemalS  eine  ßtage,  eine 
Ungebulb,  obgletdj  idj  immer  frant  unb  redfjt  befdfjroerlid)  bin  .  .  .  bie 
järtlicfifte  £od)ter  fönnte  mcfjt  me^r  für  ujre  9>?utter  tfnm  .  . .  Unb  warum 
ift  fie  fo?  —  frage  id>  Sie.  SBeit  idf>  fie  einmal,  baS  ift  fdfjon  fe^r  lange 
b,er,  unglüdlidEj  gefefien  unb  ein  gutes  &erj  gehabt  ^abe  .  .  .  Sollte  man 
tttcfjt  meinen,  fie  fiit)tt  fidEj,  um  ein  fo  ©eringeS,  meine  Sd)ulbnerin?"  .  . 

Silber  bie  anbere  ©reifin  unterbrach  fte  mit  einem  33ltcf,  unb  id)  roerbe 
niemals  ben  tiefen,  ben  leibenfd&aftlidjen  Älang  ib^rer  Sßorte  »ergeffen: 

„9tun  ja,  icf)  bin  Steine  Sdjulbnerin,  &eine  Scfjulbnerin  auf  ewig! 
.  .  .  2)u  r)aft  mir  einft  baS  gelaffen,  was  ®u  mir  nehmen  fonnteft  unb 
roaS  ®u  felbft  adj!  niemals  befeffen  f»aft,  meine  liebe  3lettn  .  . .  ^d)  werbe 
baS  niemals  oergeffen,  unb  idfj  roerbe  niemals  genug  für  £)t<$  tlmn  .  . 
2>enn,  fefjen  Sie,"  fügte  fie  fjtnju  unb  roanbte  mir  tf>r  »erroelfteS  ©efidt>t  ju, 
beut  itjr  Sädjeln  gteidfjrootil  einen  ffüdjtigen  9iei}  oerlieb,  —  „fefyen  Sie,  ein 
roenig  SiebeSglücf  in  ber  ^ugenb,  baS  ift  2llIeS,  roaS  mir  ©utcS  im  Seben 
baben,  mir  armen  grauen." 


3üuftrtrte  3tf>ltograpf}k. 


$tÄ!™)!!!,^Ä\®e|'1,Itu"i  (Snttoirftlunß  unb  $Uf8quelIen.  SSon 
2Äufbr©iaaÄ?nb!'ni  ftarte"-  ***  "  "«*•  btr 

3>er  Serfaffer  bes  borltegenben 
SBerfeS  tft  fcinreidienb  betonnt,  ©ein 
früherer  G&ef,  SWaior  Bon  SB tff mann, 
nennt  i&n  in  einem  rinleitenben  SBorte 
einen  ber  im  Stfrifabienfte  erfabrenften 
Dfftjiere  unb  meift  barauf  $\n,  bafj, 
toenn  er  audb  bislang  nidjt  3eit  unb  ©e» 
Ieaenljdt  gefunben  babe,  bie  älrbelt  butdj« 
gulefen  unb  in  ffolge  beffen  übet  ba8 
SBerf  felbft  Sfritit  nirfit  üben  tönne,  ber 
Ianaiä&tige  3IuFentf)aIt  beS  23etfafferS 
in  Ofi«2lfrifa,  feine  Stellung  mäbrenb 
be8  SlufftanbeB,  unb  enblicb.  feine  Sfjätig« 
feit  als  Offtjier  ber  fatferfidjen  <Sdm&. 
truböe  ein  toettbbolIcS  Urteil  getoäbt» 
leiften;  er  ift  überzeugt,  bafj  biefeS 
23udj  toie  faum  ein  anbete«  beitragen 
toitb  gut  SlufHärung  ber  Serfjältniffe 
in  uitfeten  überfecifdjen  SBefnjungfn,  unb 
ba&  ei  ba8  3ntereffe  an  benfelben  ftärfen 
unb  meljren  tvicb. 

®aS  SBui)  befjanbelt  im  erften 
SBatibe  Oft=2l frifa  unb  im  gleiten  S3anbe 
2Beft=2lfrifo  unb  bie  Sübfee.  £er  23et« 
faffer,  bet  au8  eigener  3lnfd>auung  nur 
übet  Dft.3lfrita  ftfrciben  fann,  ift  roett 
banon  entfernt,  feine  bort  getoonnenen 
Stfafjtungen  hu  betatfaemeineni  unb  auf 
anbere  6o(onien  gu  übertragen.  ®r  &at 


giUBparlit  auf  Sontra. 


^1  r_  t  t  -       «.    .  , ,        „,  unüeie  \ioiumen  gu  uoenrogen.   ot  nat 

Welmrbr  beguglt4  ber  «Subfee  unb  2Beit.Slfrifa8  bie  tiorljanbenen  Quellen  gefiftet  unb 
benu&t  unb  au*  uon  ben  SKittbeUungen  unb  Beiträgen  feiner  in  ben  Solonien  tuobl= 
erfahrenen  g-reunbe  unb  SBetannten  reidiliafat  ©ebraud)  gemaajt.  @o  ftammen  g.  83  bie 


\Ö2 


  Jlotb  uni  Süb. 


Station  Soabonl. 

HuJ:  SHo^uä  Sdjmibt:  „2>eutfd)fanb»  Solonitn".  Bcreln  ber  SMdjerfteunb»,  Sdjall  unb  Stunk 


  3ünflrirte  Bibliographie.   


\33 


Slbfdjnitte  über  bie  (Kolonien  in  ber  «sübfce  fämtntlid)  aus  bei  Qfeber  bes  bort  toob> 
btttanberten  Dr.  SReubaur. 

3m  erften  SBanbe  folgt  auf  eine  furse  „©infüfjrung",  in  ber  bie  GoIonialbeiBcgutig 
in  $eutfd)[anb  aI8  SluSfluß  einer  rjanbelSpontiidjeu,  für  bie  näd)fteu  3af)rfjuuberte  mafe* 
gebenben  Strömung  fjingeftettt  wirb,  eine  (Sefdjidjte  bet  colonialcn  llnterneljmuiig  söraitbcn  = 
burg-SlSreufsenS  an  ber 
2Bcftfüfte3lfrifa8,  ein 
STbfdmitt,  ber  feinen 
$Iafe  beffer  im  amei* 
ten  S3anbe  gefunbeu 
tjättc,  luälirenb  ba8 
5.  unb  6.  StaBitet  be8 
^Weiten  SöanbeS,  bie 
lief)  mit  bem  bentfetjeu 
<3cf)U|$gebteie  in  ber 
Sübfee  unb  auf  ben 
©amoa  =  3nfe(u  be= 
fdjaftigen,  utelmeljr  in 
ben  elften  SSanb  l)in= 

eingesogen  tterben 
mußten.  Scn  Sicft 
biefc8  23anbe3  füllt 
bann  bie  ©djilberuug 
ßft=2lfrifa3,  fo  tueit 
e8  ben  Seutidjen  ge= 
f/ört.  ©cbmiot  gebt 
Bon  ber  tScircrbung 
ber  Kolonie  burefj  Dr. 
(Sari  Meters  am, 
legt  bann  ifjre  UtU 
lere  (SnttDtcfclung  bi8 
sunt  ©ingreifen  ber 
SteicfiSregierung  bar, 
fc&ilbert  ferner  bie 
SJicbertnerfuug  be3 

2lufftanbe8  burd) 
SDtaior  uon  Skiff« 
mann  unb  giebt  eub= 
lief)  ein  2HlD  Bon  ber 
Colonie  nad)  bcni 
beutfdj'engltfdjen  Skr- 
trage,  roobei  and)  ber 
SÜbtretnng  ber  beut* 
fdien  Sdiuöbcrrfdjaft 
über  Sffiitu  an  ©ng= 
lanb  ©rluäbnuug  gc= 
fd)icb,t.  3n  fieben  >rei- 
terenffapiterniDerbeu 
bie  naturiDiffeufdjaft» 

lidien,   militärifdien  3tu3:  !Hodju«  3i>mibt: 
unb  toirtfjfdjaftlidjeu 
äBertjaltniffe  3)eutfd)= 

Dft=2lfrtfa3  eingeljeub  berücfTufitigt  unb  Slnttictaberei,  Hciffion  unb  GoIouialueriBattung 
in  meift  angemeffener  äBeife  befBrodjeit. 

2)cn  größten  Sfjcil  be8  stoeiten  2?aube8  nimmt  bie  Xarfteiluug  Teutfcfi=2Beft* 
SlfrifaS  ein,  mosu  im  heiteren  Sinne  aud)  Kamerun  unb  ba8  Xogolanb  geredmet  iraben. 
2en  bcutfdjen  ÜHiffioiten  in  biefen  (Kolonien  ift  ein  befonbereS  Stapitct  getuibmet.  Ten 
~")luß  bilbet  bann  eine  Sarftellung  ber  ©utmiefeiung  unb  SSeoeutung  öou  Saifer 
>ilf)elm§=£anb,  be8  S8i8rnarcf=2Xrd)ipelS,  ber  ©atomor^,  Warfdjall*  unb  ©amoa'Qnfeiu. 


ftUtma«Kbiaro. 


„Deutfdjlanbä  Kolonien", 
■Sttjoll  unb  Wtunb. 


Uerein  bet  8iuf)«fceunbe, 


H3t    Horb  nnb  Snb.   

SSriben  33änben  finb  gufammtn  über  200  Söilbtr  uub  8  Starten  in  ©chwarjbrucf  bei 
gegeben;  bie  erften  jeidmen  ficb  ntcht  immer  burd)  Seutlidjfeit  au8. 

35er  äierfaffer  fteht  in  »egug  auf  unteren  auswärtigen  SBeftB  mit  ruhigem,  aber 
oertrauensootlem  SBlicf  tn  ble  3ufanft.  »ejeidmenb  hierfür  ift  j.  SB.  feine  9tnfid)t  über 
S5eutfd)-2Beft=2lfrita.  fciefe  erfte  beutf<fje  Golonte  bat  eine  fchwere  3eit  im  erften  3abrjebit 
iljreS  S3eftehen8  bucchgemadjt,  aber  fie  fjat  nunmehr  bie  größten  ©chwierigfeiten  überamuben; 
bie  3«t  her  frieblidien  Slrbett,  ber  eigentlichen  Suisfaat  ift  jcöt  gtfommen,  unb  gerabe 
hier  ift  eine  gute  ©rnte  ju  erhoffen,  ba  biefe  Solonie  in  einem  $unft  alte  anberen  über» 
trifft,  ©ie  bietet  bem  beutfdicn  Slnfiebler  ©elegenbeit,  wenn  aud)  nur  burd)  Graft  unb 
Sirbett,  ftd)  unb  feinen  Jtachtommen  bauernb  eine  beutfdje  fteimat  über  bem  Ocean  an 
ber  ©renje  ber  Xropen  ju  fdjaffen,  wo  er  nicht  bergeffen  ift,  foniern  unter  bem  ©d)W}e 
einer  örtlichen  beutfdjen  Regierung  fein  beutfdjeS  Seien,  feine  beutfdje  Strt  unb  «Sitte 
ficb  unb  feinem  2$aterlanbe  erhalten  fann.  — 

3Bir  ftimmen,  im  ©anjen  genommen,  bem  llrtbeile  SEBiffmannS  über  ben  inneren 
SEBertb  be8  SBucheS  bei,  münfdjen  aber  bei  ferneren  Sluftagen  ben  fprachltchen  unb  fnntac« 
tifcheii  Stuibrucf,  ber  an  manchen  ©teilen  Diel  gu  wünfchen  übrig  lägt,  einer  grünb« 
lieben  Skrbefferung  unterjogen.  H.  J. 


«vuti&vin  »er  Wtteholoaie  auf  estim« 
tuetitcllcr  (»runJXatte.  Stargeftellt  von 
Oswalb  Jrül  je,  Sßrioatbocenten  an  ber 
Unioerfität  Seipjtg.  «Kit  10  giguren 
im  Xer.ce.  Seipjig,  SBerlaa  von  2SiI« 
heim  (Sngelmann. 
ßülje,  gegenwärtig  $rofef?or  ber  3?biIo- 
fopbie  au  ber  Unioerfität  SZBüijburg,  ift 
ein  ©chüler  2Bunbt8.  3bm  ift,  unb  mit 
Stecht,  bie  Sßinchologie  feine  pbiloiopbifche, 
fonbern  eine  (SrfabrungSwiffenfdjaft.  Sßohl 
huIMgen  allen  neueren  Sßfndwlogen  biefem 
©runbiafc:,  nod)  nie  ift  aber  bie  ©eelen» 
lehre  fo  confequent  oon  aller  metapbtifiicben 
©pcculation  befreit  unb  auSfdjlie&ltdj  aU 
eine  prjtjftfdje  SiSiffenfdjaft  beijanbelt  worben, 
Wie  oon  ffülje.  ©o  läßt  er  bie  gfrage, 
Wae  bie  ©eele  ift,  ganj  au8  bem  ©piele; 
ein  tranfcenbentaleä  SSeroufjtfein ,  eine 
fubftantielle  ©eele,  ein  immaterieller  ©etft 
unb  Slehnlicheä  ftnb  ihm  nicht  Sßorwürfe 
wiffenfchaftlicher  ©rörterung,  werben  raber 
gan i  au&er  2ld)t  gelaffen  unb  in  ba8  ©ebiet 
ber  iDietaphBfif  oerroiefen,  SBejttdjnungen, 
wie  bie  erwähnten,  finb  ihm  nicrjtB  SlnbereS 
ali  2lu«briicfe,  welche  baSienige  an  ben  Gr« 
[ebniffen  aitbeuten  follen,  wa8  oon  erlebenben 
3nbioibuen  abhängig  ift.  Sie  fubjectioen 
ober  fubjectioirten  Vorgänge,  2*ewu6tfein8> 
thatiadjen,  pfndjifchen  ober  geifttgen  3U= 
ftänbe  haben  für  ihn  nur  biefen  ©inu,  unb 
ba8  Söeraufjtfein,  bie  ©eele  ober  bec  ©etft 
fteHen  uns  bie  ©utnme  aller  folcher  <Sr» 
fcheinungen  in  unterem  Sprachgebraucbe 
bar.  ©o  ift  bem  SSetfaffer  bie  Sßindiologie 
eine  ooüftäubige  Söefchreibung  ber  oon  er= 


lebenben  3nbibibuen  abhängigen  ®igen= 
fchaften  ber  fcrlebniffe.  3)aju  gehören  nidjt 
nur  foldje.  bie  feinen  objeclioen  3ufammen= 
bang  barftetten,  alfo  leblgllch  inbioibueHe 
3uftänbe  fmb,  wie  Effecte,  Xriebe  unb 
begleichen,  fonbern  aud)  3;batfad)en,  bie 
gugleich  ein  öom  Snbioibuum  unabbängigeä 
Verhalten  aufroeifen  unb  fomit  aud)  einer 
natunoiff  enf  cbaftlicben  Unterfuchung  anheim» 
fallen,  wie  bie  S?ovftetlung8obiecte  mit  itjren 
raum'geitlichen  23egiebungen.  SJon  biefetn 
©tanbpunfte  au8  bebmtbelt  Sülje  gunädjft 
bie  Elemente  bcS  sBewufjtfeinS,  wobei  er 
ftch  gan*  befonberä  ber  ejoerimenteHen 
pfDd)0»pbt)fi|'d)en  SKethobe  hefteifeigt.  9118 
(demente  bc8  23ewu6t!ein8  betradjtet  er  bie 
<Smpf  inbungen,  al«  Welche  er  biejenigen 
einfadjen  93ewuf3tfein8oorgänge,  beren  Slb= 
bängigfettabejiehunpeii  ju  beftimmten  ner= 
böfen  Organen  in  $eripherie  uni  Gentium 
bc8  ©ehirn8  ftetjen,  anfleht,  unb  bie  ®e= 
fühle,  bie  pd)  alSSuft  unb  llnluft  cbarafte» 
rifiren.  ©o  haben  bie  ©efühle  feine  objectioe 
SBebeutung  neben  ihrer  pfacbologifchen,  fte 
Rnb  etwa«  rein  ©ubjecttoeB,  währenb  bie 
•ämpfinbungen  aud)  eine  bem  ©ubject 
unabhängige  ©eite  aufaxifen.  SBei  ben 
©mpfinbungen  fmb  Qualität  unb  Sntenfität 
gu  unterfcheiben.  3)er  eigentliche  »teicht^um 
unfereS  ©eelenl.bene  beruht  hierauf.  @o 
fann  man  etwa  13000  unterfdjeibbare 
Dualitäten  ber  Smcfinbungen  unterfcheiben, 
beren  3ahl  noch  burd)  bie  mannigfaltigen 
Sombinationen  biefer  Elemente  unb  burd) 
bie  unterfcheibbaren  3uftänbe,  in  benen 
iebe  Qualität  nach  ibren  (ügenfdjaften  ge= 


33tbliograpt;ifd;e  flogen. 


\35 


geben  fein  fann,  toef entließ  erhöbt  toirb. 
®ang  außerorbentlicb  arm  erfdjeint  gegen« 
über  bei  (Smpfinbung  bei  qualitatioe  S8c» 
ftanb  bei  ®efü(jle,  bie  fid)  nui  in  bie  beiben 
©nippen  bei  2uft=  unb  Unluftgef  üble  fdjeiben 
laffen.  —  3n  einem  jweiten  Xijeile  toiib 
barm  oon  ben  Serbmbungen  bei  Bewußt» 
feinSelemente  grf)anbelt,  bie  uns  al«  Söei» 
fchmetgung  unb  0(8  Berfnüpfung  entgegen: 
tiefen.  Sene  ift  baburd)  dioialtctifttt, 
baß  bie  Slnalpfe  bei  in  ifjr  enthaltenen 
(Slemente  burd)  bie  Berbinbung  etfebmert, 
biefe  bagegen  baburd),  baß  bie  Slnalnfe  bei 
oon  ihr  enthaltenen  (Slemente  burd)  bie 
Berbinbun«  erleichtert  ift.  Bei  ben  Ber» 
fnüpfungen  werben  bann  läumlicbe  unb 
geitlidje  untetfebieben  unb  berengigenf  chatten 
unb  Begehungen  erörtert.  Sin  tiittei 
X^til  bc8  ffleifeS  befchäftigt  fid)  enblid) 
mit  bem  3»ftanbe  be8  Sero  ußtf ein?,  wobei 
nod)  bie  grage  be8  SffiiUenS  unb  beS  ©elbft» 
bewußtfeinS,  foroie  Schlaf,  Sraum  unb 
$Bpnofe  sui  Spractje  gebracht  roerben. 

H.  0. 

&runbjüßc  »cv  öttttfiologticbf u  Vfttdjo« 
lagt«.  Bon  SDJtltjelm  SBunbt,  *ro* 
feffor  an  bei  Unioerfität  Jieipjig.  Bierte 
umgearbeitete  Auflage.  3'oei  Bänbe. 
Srfter  Banb  mit  143  öoljfcrjnitten. 
3n>eiter  Banb  mtt  94  Soljfdmittrn. 
ßeipjig,  Berlag  bon  SZBilrjelm  @ngel= 
mann. 

3wei3ahraehnte  fmbnunmehr  Dcrfloffen, 
feitbem  Mlbclm  Sßunbt  mit  feinet  pfffifio* 
logtfdjen  Binchologie  00t  bie  Oeffentliajfeit 
trat.  @8  war  im  3at>re  1874,  al«  ba8 
2ßerf  jum  eilten  2)Ta(e  erfd)ien;  feitbem 
hat  eS  oiei  Auflagen  erlebt  unb  einen  äBelt» 
iuf  erlangt,  ift  e8  boch  ein  Standard  work, 
rote  toii  auf  biefem  ©ebiete  fein  aweiteS 
befüjen.  Sie  ejpenmentelle  3Rett)obe,  bie  bon 
(Stnft  Heinrich  SBeber  in  genialer  SBeife  in 
bie  pfDdjoIogifche  gorfdmng  eingeführt  unb 
bon  geefmer  fhftematifd)  ausgebildet  worben 
ift  juji3roecfe  ber  (Sigrünbutrg  ber  SBedjfel» 
begiebungen  gmifetjen  ben  phpftfehen  unb 
pfpdjifchen  Vorgängen  be8  i.'ebeu8,  fie  ift 
oon  iBunbt  in  einer  äöeife  entwicfelt  unb 
DerDoüfommnet  roorben,  baß  bie  »ßeipgiger 
pftjcbologtfctje  @d)ule"  tjeute  bie  Hegemonie 
ausübt  SBenn  auch  SJtoncbcS  Don  ber  ßehre 
2Bunbt8  noch  piobtematifch  ift,  SDIancfcea 
2Biberfprudj  herauSforbett,  fo  hat  et  bod)  in 
feinen  „®runbjügen  bei  phöfiologifchen 
jpfrKfiologie"  ein  SBerf  Pon  eminenter  Be= 
beutung,  pon  flaffifchem  SEBerthe  gefehaffen, 
fin  SSBerf,  ba8  wor)l  funbirt  unb  feft  ge* 
fügt  ift,  beffen  ®runbpfeiler  riebet  ftehen, 


wenn  aud)  ber  innete  SluSbau  nod)  manche 
Beränberungen  nöthig  madjeu  roito.  Ste8= 
feit«  wie  jenfeitS  be8  OceanS,  in  ber  alten 
wie  in  ber  neuen  2Bclt,  hat  ffiunöt  begeifterte 
Anhänger gefurtben,  nod)  nie  ift  ein  Bl'qdjolog 
bei  aller  ©elehrfatnfeit,  mit  möchten  fagen, 
fo  populär  gewefen,  als  SBJunbt,  atterbing« 
nicht  bon  einei  ^Popularität,  Wie  fie  Bulwet 
meint,  wenn  et  fagt:  „2Bit  werten  populät, 
inbem  wir  affeettten,  ärmer  an  ®eift  ju 
fein,  als  wir  wirfiieh  finb,*  fonbeiu  bon 
einet  Popularität,  wie  fie  auf  biologischem 
©ebtete  £arwin,  ober  auf  allgemein  natut> 
wiffenfc&aftlidjem  SUlejanbcr  Pon  fcumbolbt 
errungen  haben,  eine  Bopularttät,  biegührer« 
fdjaft  bebeutet.  Sßcnn  nun  auch  bie  2ln« 
fchauungen  2Bunbt§  in  ben  betreffenben 
ftreiien  fattfam  betannt  finb  unb  aud)  in 
eiuem  (Sffau  in  biefeit  Blättern  bereits  bei» 
felben  eingehenber  gebadjt  worben  ift,  fo 
hat  e8  eine  befoubere  SöewanbtntB,  wenn 
wir  ber  neuen  Sluftage  feiner  „®runbjüge 
ber  phuftologifchen  Pi'pdjologie"  hier  ®rwäh= 
nung  ttmn,  inbem  ba8  SBerf  nidjt  nur  in 
allen  Zfjtilm  eine  grünbliche  Umarbeitung 
erfahren  hat,  fonbem  inbem  ihm  aud) 
in  einem  fpecietten  SPunfte  eine  wefentlid)e 
©rgängung  unb  ©rweiterung  ju  Xtjeil  ge= 
worben  ift,  burd)  bie  e8  namentlich  für  ben 
gorfdjer  werthboller  geworben  ift  unb  an 
üürauchbarfeit  für  benfelben  aufäcrortentlich 
gewonnen  hat.  3n  ben  gwei  3ahtgehnten 
pon  SSunbtS  SChätigfeit  auf  pfud)0> 
phhftologifchem  ®ebiete  f)<xt  fid)  für  bie 
betreffenben  Untersuchungen  eine  eigenartige 
3Jiethobl(  herauägebilbct,  wie  fie  in  2Bunbt8 
Laboratorium  geübt  wirb,  tiefer  Der= 
änberten  Sage  ift  nun  bei  söerfaffer  in  ber 
neuen  Sluftage  beS2Berfe8  burd)  eingehen^ 
bete  ©rörterung  ber  principiellen  methobo« 
logifchen  Probleme  unb  burd)  eine  genauere 
SBefdjreibung  bcrwidjtigften  t(d)nifd)en  Hilfs- 
mittel gerecht  geworben,  woburch  er  gewiß 
Bielen,  namentlich  benen,  bie  fid)  mit  pfncbo* 
Phnfiologifcheu  5orfd)una8arbeiteii  befd)äfti« 
gen,  einen  großen  Dienft  erwiefen  hat. 
SHidjt  unerwähnt  wollen  wir  hierbei  laffen, 
baß  aud)  bie  SöerlagShanblung,  bie  feit 
ihrem  »eftchen  eine  befonbete  <Sr)te  barin 
gefucht  hat,  nid)t  nur  bebeutenbe  wiffen= 
fdjaftlidie  Jfflerte  hetouäjugeben,  fonbern 
fie  auch  in  möglichfter  SJollenbung  erfdjeinen 
gu  laffen,  baß  bie  BerlagShanblung,  fagen 
wir,  bie  Erreichung  be8  genannten  Qivedei 
burd)  reichere  3lu8ftattung  be8  2l'erte8  mit 
gut  aufgeführten  ^oljfdjnitten  in  banfenS» 
werthefter  Üßeife  geförbert  t>at 

H.  0. 


\36    tlotb  n 

«fielt  unb  eurono.  Wach  altägqptifchen 
SJenfmölern  bon  SB.  SJtas  SJHtllcr.  3Rit 
einem  Vorworte  »on  ®eorg  SberS. 
äRit  ga&lreicben  Stbbilbungen  in3intott)pie 
unb  einer  Ratte,  ßeipgig,  SJerlag  öon 
SBilljelm  (Sngelmann. 
SBir  haben  b,ier  ba8  SBerf  eine«  iüngtten 
Äegtwtologen  bor  un8,  ber  fich  bereits 
manche  Sporen  auf  bem  ©ebiete  gelehrter 
gorfdjung  »erbient  bat.  SBaren  feine  bis» 
herigen  Arbeiten  auSfdjIießticb  feiner  tJaa> 
biSciplin  gewibmet  unb  fchroerften  flaltbert, 
fo  wenbet  er  fich  in  bem  »ortiegenben 
23udje  an  einen  weiteren  SeferfreiS.  Ter 
®efcfjicbt8forfcher,  ber  ®eograpb  unb  ©6110= 
grapjj,  wie  ber  Stunfthiftorifer  unb  Slrchäo« 
löge,  finben  nicht  nur  außerorbentliche 
Anregung  in  bem  Berte,  fonbem  auch  SBe= 
friebigung.  ©in  reiches  unb  wettbbolIeB 
SWaterial  ift  hier  fritifd)  ßefidjtet  mit  gröfjter 
Sorgfalt  unb  ®ewiffenhaftigfeit  gufammen» 
getragen  worben,  worauf  bann  ber  Skr» 
faffer  baB  ©ebäube  bet  eigenen  Schluß» 
fofgerungen  errichtet,  bie  nicht  feiten  »on 
ben  oltbergebrad)ten  unb  breitgetretenen 
Sßcgen  abweichen,  fo  baf}  aud)  bem  SBerfe 
eine  ougerfletnöbnlidt)  originelle  unb  neue 
SluSblicfe  eröffnenbe  Seite  eigen  ift,  wobtt 
ber  SJerfaffer  »mar  fübn  unb  mit  biel 
felbftbewußter  Energie  gu  SBerfe  geht,  ohne 
fidj  iebod)  auf  gemagte,  in  ber  fiuft 
fehwebenbe  Speculationcn  einjulaffen.  SL!on 
ganj  befonberem  3ntereffe  finb  bie  6rgeb» 
niffe  beS  SBerfafferB  für  Sänber«  unb  23ölfer« 
funbe;  in  biefer  S3egief)ung  ift  nod)  fein 
SBerf  öorhanben,  ba8  bem  Don  SWüHer 
ebenbürtig  an  bie  Seite  geftedt  werben 
tonnte.  Singclforfchungen  giebt  c«  tDorjl 
nad)  biefer  Seite  bin  mebrfadi,  allerbingS 
oft  febr  »erborgen  unb  namentlich,  für 
toeitere  Streife,  worunter  wir  nicht  Saien 
in  ber  SBtffenfcfcaft  berfteben,  aber  nicht 
Slegijptologen,  fchwer  gugänglid).  Ter  Stoff 
bat  aber  nicht  allein  für  (e&tcre  2?eteutuug 
unb  Würbe  nur  gum  Heineren  Ibeil  »er« 
Werthet  fein,  gelangte  er  nur  in  bie  ©änbe 
biefer.  Ta8  Sl'erf  ift  aber  nicht  nur  ba= 
burd)  Bon  SBichtigfeit,  baß  c8  ba8  ft hr  ger» 
frreute  unb  biclfach  bergrabene  SKaterial 
ju  einem  ®.ingen  »ercint,  fonbem  aud)  burd) 
beffen  Deutung,  ^warbürfteeS  hin  mandjem 
äBiberfpruche  begegnen,  gumat  e8  fehr 
fclbft|tänbtg  unb  ohne  Diel  9iücfiicr,t  auf 
SSnberer  SDceinungen  gu  nehmen,  »orgebt. 
S)ieB  wäre  nun,  wenn  bie  entgegengefefote 
SlnRcht  wohl  begrünbet  wirb,  fefjr  löblich, 
borausgefe&t,  baß  babei  auch  bie  gehörige 
Oform  unb  ber  fchicfliche  Ton  gewahrt 
bleiben.   «Run  ift  SDlüHer  aUerbingS  außer» 


k  Säb.  — 

orbentnd)  borftebtig,  nicht  (eicht  wirb  er  fid) 
eine  ffllbße  geben,  oon$eifrreicben,  aber  leicht« 
fertigen  Sonjecturen  hält  er  fid)  fern,  unb 
Wenn  einmal  eine  Schlußfolgerung  auf  nicht 
allgu  fiften  Süßen  fleht,  fo  ift  booon  Wohl 
Scicmanb  mdjr  übergeugt,  als  er  felbft,  ben 
bann  freilich  auch  bie  Schulb  nicht  trifft, 
fonbem  bie  SWangclhaftigfcit  unbTürftigfett 
ber  Ueberliefemngen.  (Sr  ift  fid)  aber  auch 
biefer  [einer  SSorgüge  bewußt  unb  macht  »on 
biefem  Siewußtfetn  ausgiebigen  ®ebraud). 
SBir  bebauent,  auf  etogetbeiten  beS  ebenfo 
gebaltooHen,  wie  gebanfenreieben  SBerf d 
hier  nicht  näher  eingeben  ju  föirnen,  eB  ift 
eine  überaus  berbienfieoUe  2lrbeit,  fowohl 
burd)  bit  mit  peinlicher  Sorgfalt  ergielre 
SJollftänbiafeit  im  neitrften  «ahmen,  wie 
burch  bie  wiffenfcfcaftlidje  S?ermertbung  beS 
Materials,  bie  immer  einen  gewaltigen 
Steig  ausübt,  auch,  wenn  man  ber  Slnficht 
be8  SSerfafferS  nidt  beiftimmen  famt,  unb 
gur  $olc mit  berauSforbernD  foirft,  woburch 
Sie  anregmbe  SBirfung  beS  ftutbeä  außer* 
orbenlltd)  gefteigert  wirb.  9mr  beipff ichtm 
föimen  wir  SJlüllcr,  wenn  er  am  Sdjluffe 
feines  S!orworte8  bemerft:  „Ulan  berehrter 
Sehrer  ®eorg  (SbcrS  hat  biefe  müheootte 
Slrbeit  mit  fo  ihätigem  3ntereffe  berfolgt 
unb  gef&rbcrt,  ba§  e8  mir  boppelt  eine 
55flid)t  ber  Tanfbarfeit  fdjien,  feinen  Warnen 
auf  baS  SBibmungSblatt  gu  fegen.  35anf 
fctjulee  id)  auch  ber  S?erlag8bud)hanblung, 
welche  bie  großen  Sfoften  bec  äßcröffentlidjung 
au8fd)ließltch  getragen  bat  unb  brn  anteiligen 
Seßern  ber  ®rugulin'fd;en  2>rucferei  in 
ßeipjig."  <S8  ift  nur  red;t  unb  billig,  baß 
hier  aud)  ber  SjcrlagSbudj^anblung  unb 
irueferei  rühmenb  (SraähuunB  gethan  wirb, 
beibe  haben  fich  um  bie  SluSfübrung  beS 
fchwicrigen  unb  Opfer  erheifdjenben  SBerfeS 
nicht  geringe  Serbienfte  erworben. 

H.  0. 


Hütt.  —  tfvorrölo'ß  SbuaBoac.  —  ttv 
bavmhcv,{igc  ©vuftcr.  —  SJon  ©ein« 
r  i  cf)  S  t  e  i  n  e  n  (§.  2)  0  r  f).  Bresben,  ßeip« 
gig  unb  SBien,  i&.  $ierfon. 

Tie  im  ®eifte  religiöfer  Tolerang  per« 
faßten  Lobelien  ftnb  inhaltlich  fehr  an= 
fprcchenb  gefchrieben,  ebenfo  ift  an  ibnen 
gu  rühmen,  baß  jebcS  läftige  SSorbringen 
einer  Xenbeng  »ermteben  ift,  —  nur  bie 
Sorm,  in  welcher  fie  uns  geboten  werben, 
laßt  iUiandieS  gu  wünichen  übrig,  ftiliftlicbe 
9tad)IäiHflteiten  unb  fprachlicbe  Unfcbön> 
heilen  ftnb  uns  wieberholt  aufgefallen. 

mz. 


  Bibliograph 

«dvan  bie  t»ie&e.  S3on  S.  Sri«.  Stieine 
©efdjidjten.  XicSben  uiib  Seipgig,  6ar( 
»eigner. 
Sie  Keinen  feuillctoniftifdien  5B(aube« 
reien  finb  ebenfo  unterboltenb,  tote  ftiliftifd) 
elegant  aefdjrieben  unberfdjetnen  un8  mufter« 
gütig  füi  baS  ©enre,  bent  fie  angehören. 

mz. 

8toi?d)cn  jtoci  »ädjtcn.  «Reue  ©ebtcbte 
»on  ®nftab  Satte.  Stuttgart,  Sotta» 
f  djc  J8ud)banblung. 

Sdjon  ber  llmftanb,  bafj  ber  alt» 
renommirteSSeilag  öon  (Jotta  ba8  neueSBücb» 
lein  beS  Hamburger  DidjterS  in  SJerlag 
genommen  bar,  betoeift,  ba&  teil  eS  b,iet 
mit  einem  gangen  SWann  gu  tbun  ftaben, 
einer  SPtrfSnlidjfeit,  treldie  fidj  erbebt  über 
baS  ©roS  ber  ßtjrtfer.  Unb  in  ber  Sljat, 
galfe  repräfentirt  eine  ©igenart,  ebenfo  toeit 
entfernt  ron  ben  ©efüfjlSauSbrücfen  ber 
lörlfdjen  ©tdjter  älterer,  toieton  ben  bimmet» 
frürmenben,  pbrafenBotien,  toeit»  unb  form« 
oeradjteitben  ©aben  neuerer  Stiftung.  ©8 
ift  ein  gewaltiger  Bfortfdjritt,  ben  er  feit 
feinem  erftcn  SBudie  „Sang  unb  Slnbadjt" 
gemadjt  bat.  S3errietb  fid)  aud)  bort  fdjon 
ber  begabte  Sßoet,  fo  mar  bod)  SDtanrbeS 
nod)  unabgeflärt,  mandje  SJortoürfe  ber 
biditerifcben  SPebanblung  nidjt  gan?  teürbig 
unb  toieberSRancbeS  in  benmt)ftifdien@d)leier 
gebüQt,  ben  jegt  bie  moberne  Sßoefie  unb 
bie  moberne  3Merci  fo  febr  lieben.  SBiS 
auf  tecnige  3lu8nabmen  Ijält  ftd)  „3toifdjen 
gtoei  Snädjten"  Bon  mnftifdjen  ©cbaiifen 
frei,  ©ine  bofl>,  eigenartige  $erfönttd)feit 
tritt  un8  bier  entgegen,  eine  touubcrbare 
3artbeit  ber  SRaturauffaffung  unb  bei  allem 
$e!ftmi8mu8,  ber  be8  2>id)ter8  Seele  er» 
griffen  bat,  bod)  eine  Bcrfobnttcbe  SMtmeta« 
beit,  toelcbe  jebe  einzelne  poetifdje  ©abe 
abgeflärt  erfdjeinen  faffen. 


ifdje  Zlotisen.    \37 

So  fommt  aud)  ber  $umor  in  bem 
S3ud)e  gu  feinem  Stedjte,  („3>eutfdjfanb  über 
SrHeS",  »SJieSoncurrenten",  „3tm£immel8" 
tljron"),  toenn  er  aud)  nur  mit  einem  Sluae 
ladjt  unb  im  anberen  bie  SDJanncStbräne 
geigt 

®a&  bie  frorm  tabcIJoS  ift,  Berftebt  fidj 
bei  gälte  ton  felbft;  unb  ber  $id)ter  befifet 
aud)  bie  feltene  Shmft,  mit  furgen  Stridjen 
unenblid)  biet  gu  fagen.  ©8  fei  geftattet  gur 
©baraftertfirung  bc8  SMdjterB,  —  (ber  ben 
Sefern  biefer  ätüfdjrift  burd)  bie  im  3uli* 
föefte  Deröffentlidjten  ®id)tungen  bereits 
auj'8  SSortbeilbaf tefte  befannt  gehjorben  ift. 
2).  9teb.)  —  eine  furje  SJkobe  gu  geben: 

3teiegefpräd). 

ein  mittle«  Stuge,  eine  (iifjlc  §anb, 
(Sin  nüt'ger  3Jiunb  mit  einem  teilen  SUS 
Bon  Scbdmerei.   Sr  mar'«,  ber  vor  mir  flank. 
Den  14  Bon  je  als  3rreiuib  im  fcerjen  trug. 

3d>  fomm'  ju  mahnen,  fprad)  fein  fünftes  SBort. 
©ei  guten  SRutbet,  Wenn  wir  fjefi'n.  3)«  roeifet, 
6«  ift  nod)  einem  (litten  SriebenfSort, 
Hub  baf)  van,  btt  bort  »ebnen,  felis  prüft. 

3uoor  iSfcb'  id)  ein  rnflbe*  Jflocterlidt, 
Hüffe  Bon  einer  tränten  Stirn  ben  Ccbmer}. 
Sin  «inb.   «in  $elb.   tfiti  brautlld)  Mngefldjt, 
Sin  Saiferbermetin.  (Sin  9))Brberr)erj. 

»(»eroaltiger,  jeljt  fierjil  Du  fdjrrcttid)  aus!* 
SBie  aud)  mein  £fran  Dieb  Sngfligt,  id)  bin  gut. 
3erilreute  Sinter  bot'  id)  eud)  rad)  $au», 
Dafs  Wieber  ibr  im  Scijof!  ber  »lütter  rnljt. 

ls. 

©in  tKrforcnfä  Cctcii.  ßnrii'dieS  6po8. 
5ßon§ugo  Segel.  Bresben,  S.SPierfon. 
©8  finb  tteine  ©ebidjte  berfebiebenften 
©enreS,  weldje  gnfamtnen  bie  <3d)i(berung 
eines  berfeblten  DafeiitS  geben;  bamnter 
ed)te  $erUn  beutfd)er  Snrif,  melcbe  an  bie 
f ruberen  Schöpfungen  bc8®ld)ter8  in  feinem, 
bereits  in  Bierter  Sluflage  erfdjienenen  SBud;e: 
„®egen  ben  Strom"  erinnern.  ls. 


Eingegangene  Bücher.  Besprechung  nach  Auswahl  der  Redaction  vorbehalten. 


Baglnaky,  Dr.  Adolf,  Die  hygienischen  Grund- 
ztlge  der  mosaischen  Genelrgebung.  Zweite 
Auflage.  BraniiBchweig,  Friedrich  Vieweg  und 
Sohn. 

Bamntwtoh,  Rudolf,  Aus  der  Jugendzeit.  Fflnftee 
Tausend.    Leipzig,  A.  Q.  Liebeskind. 

Das  Berlinertimm  in  Lltteratur,  Knaik 
and  Ennat.  Von  einem  Unbefangenen. 
Wolfenbfluel,  Julius  Zwissler. 

Beyerlein,  Franz  Adam,  DUmon  Othello.  Trauer- 
spiel In  vier  Aufzügen.  Leipzig,  Konstantin 
Wild. 

BoieTwedel,  Carl,  Wetterbdchleln.  Praktische 
Anleitung  zur  Beobachtung  und  Voraussage 
des  Wetters  mit  einem  Anhang:  Falb's 
kritische  Tage.  Mit  24  Abbildungen.  Dresden, 
C.  C.  Meinhold  &  »Ihne. 


Deutschland»  Ruhme« tage  1870—71.  In 

Schilderungen  von  Mitstreitern.  Lieferung  1. 
Rathenow,  Max  Babenzlen. 

Donnelly,  Ignatius,  Atlantis,  die  vor- 
sintfluthliche  Welt.  Deutsch  von  Wolfgang 
Schaumburg.  I^ipzlg,  Siegbert  Schnurpfeil. 

Die  Qrondgreaetze  der  sittlichen  Welt- 
ordnungr  in  ihren  Beziehungen  zur 
BelleTion,  sowie  zum  Staate-  und 
Beehtaleben.  Als  Eingabe  an  das  König- 
lich Preus8lsche  Justizministerium  in  Berlin. 
Herausgegeben  von  T.  H.  Franke  (H.  Wort- 
mann), ZOrlch  und  Sackingen,  H.  Wortmann. 

Hanstein,  Dr.  Adalbert  von,  Gustav  Freytag, 
Gedächtniss-Rede,  gehalten  auf  dem  vierten 
allgemeinen  deutsohen  Schriftsteller-  und 
Jnurnalistentag.    Heidelberg,  J.  HOrning. 


38 


:         Zlotb  unt>  Sü&.   


Harlan.  Walter,  N'eue  Traktätohen.  Mit  einer 
Utnschlagzeichnung  von  Walter  Caspar! 
Leipzig,  Constantln  Wild. 

Hürth,  Georg,  Die  Locallsntfoustheorie,  augewandt 
auf  psychologische  Probleme,  Beispiel:  Warum 
sind  wir  „zerstreut"  ?  Mit  einer  Einleitung 
von  Ludwig  Ed  Inger.  Zweite  vermehrte  Auf- 
lage.   München,  G.  Hirth's  Verlag. 

Jahn,  Dr.  Hermann,  Aus  Deutachlands  grossen 
Tagen.  Erlebnisse  eines  24crs  im  deutsch* 
französischen  Kriege.  Eine  Jubelgabe.  Braun- 
schweig, Albert  IJmbach. 

Kahlenberg,  Hans  von,  Ein  Narr.  Roman. 
Dresden  und  Leipzig,  Karl  Belssner. 

Königsberg,  Werner  von.  Nimm  mich  mit. 
1.  Auflage.  Hirscbberg,  Gelsler  u.  Ike. 

Das  neue  Allgemeine  Krankenhans  zu 
Hamburg-  Eppendorf  Unter  Mitwirkung 
von  Dr.  H.  Curschmann,  Geb.  Med.-Rath,  o. 
O.Professor  der  klinischen  Medicin  in  Leipzig, 
früherem  Director  des  Neuen  Allgemeinen 
Krankenhauses  zu  Hamburg,  bearbeitet  von 
Dr.  Th.  Deneke,  Physlcus  in  Hamburg.  Zweite 
vermehrte  Aullage,  mit  Beitragen  von  Dr. 
H.  Schmillnsky,  mit  einem  Situationsplan 
und  25  In  den  Text  gedruckten  Abbildungen. 
Brau n schweig,  Friedr.  Vieweg  &  Sohn. 

Kraasa,  Friedrich,  S.,  Billige  Braute.  Lustspiel. 
Wien,  Carl  Graeser. 

Die  Kritik,  Wochenschau  des  öffentlichen  Lebens. 
Herausg.  v.  Karl  Schnei  dt.  U.  Jahrgang. 
Nr.  43—45.    Berlin,  Hugo  Storni. 

Kann»  Heiniich.  In  einer  Familie.  Koman. 
Zweite  Auflage.    München,  Carl  Rupprecht. 

Martens,  Kurt,  Wie  ein  Strahl  verglimmt. 
Drama  in  einem  Act  Leipzig,  C.  Wild. 

Ueyert  Julius,  und  Sill-ermenn,  I.,  Die  Frau  im 
Handel  und  Gewerbe.  Berlin,  Richard  Tandler, 

Keyers  Konversations-Lexikon  Ein  Nach- 
schlagewerk des  allgemeinen  Wissens.  Fünfte, 
gänzlich  neu  bearbeitete  Auflage.  Mit  un- 
gefähr 10  000  Abbildungen  Im  Text  und  auf 
1000  Btldertafeln,  Karlen  und  Planen.  Neunter 
Band.  Hubbe-Scbleiden  bis  Kau  Hier.  Leipzig 
und  Wien,  Bibliographisches  Institut. 

Mokraner  Maine ,  Oscar ,  Die  Entstehungs- 
geschiclite  patriotischer  Lieder  verschiedener 
VOlker  und  Zelten.  Leipzig  und  Baden-Baden, 
Constantln  Wild. 

Nordhausen,  Richard,  Urias  Weib.  Eine  Gross- 
stadt-Geschichte.  Berlin ,  Richard  Eckstein 
Nachf. 

Die  Nothwendigkeit  weiträumiger  Be- 
bauung bei  Stadterweiterungen  und 
die  rechtlichen  und  technischen  Mittel 
zu  ihrer  Ausführung.      Mit    u  ein- 

sedruckten  Abbildungen.  Braunschwelg, 
Friedrich  Vieweg  &  Sohn. 

Perfall,  Anton  Freiherr  von,  DleSOnde.  Novelle. 
Berlin,  Richard  Eckstein  Nachfolger. 

Plan  von  Budapest  mit  kurzem  Weg- 
weiser und  Strassenverxeiohniss  in 
ungarischer  und  deutscher  Sprache. 
Vierte  Auflage.  Wien,  Pest  und  Leipzig,  A. 
Hartlebens  Verlag. 

Ostdeutsche  Beform,  Blatter  zur  Förderung 
der  Humanität.  Vierter  Jahrgang,  Nr.  15  u.  10. 
Königsberg  1.  Ft.,  Braun  und  Weber. 

Beiohhold,  Karl,  Kunst  und  Zeichnen  an  den 
Mittelschulen.  II.  Das  Flachormament  des 
Altcrthums.  Mit  46  Tafeln  in  Photo lithographle. 
Berlin,  Georg  Siemens. 


Hein«  W.,  Encyklopadlsches  Handbuch  der  Päda- 
gogik.. Erster  Band,  II.  u.  12.  Lieferung. 
Langensalza,  Hermann  Beyer  <fc  Söhne. 

Bigutlni,  Giuseppe,  und  Bulle,  Oskar,  Neues 
italienisch-deutsches  und  deutsch-italienisches 
Wörterbuch.  Dritte  Lieferung.  Leipzig,  Bern- 
hard Tauchnitz. 

Kogge,  Dr.  Bernhard,  Vom  Kurhut  zur  Kaiser- 
krone. Zweiter  Band:  Das  Buch  von  den 
preussischen  Königen.  Mit  9  Brustbildern. 
Zweite  verbesserte  und  vermehrte  Auflage. 

Rüderer,  Joseph,  Die  Fahnenweihe.  Eine 
Komödie  In  drei  Acten.  München,  Carl 
Rupprechts  Verlag. 

Saubert»  Dr.  B.,  Germanische  Welt-  und  GoUon- 
schauung  in  Miirchen,  Sagen,  Fest  gebrauchen 
und  Liedern,  eine  zum  Verstand niss  der 
Märchen  u.  s.  w.  gebotene  Erläuterung. 
Hannover,  Helwlng'scbe  Verlagsbuchondlung. 

Echweiger-Leroheiifeld,  A.  Unterwegs, 
Schilderungen  und  Natu  ran  sichten  von  den 
beliebtesten  Reisewegen.  Attersee  —  Mond- 
see —  Wolfgangsee.  Mit  9  Tonbildern,  &4  Text- 
Abbildungen,  einer  Planskizze,  einem  Veber- 
slehtskartchen  und  einem  Panorama.  Wien, 
Pest,  Leipzig,  A.  Hartleben. 
—  Die  Donau  als  Völkerweg,  Schiffahns  Strosse 
und  Reiseroute.  Mit  300  Abbildungen  und 
Karten.  10  Lieferung.  Wien,  A.  Hartlebens 
Verlag. 

Sommer feldt,  Dr.  Gustav,  Nationalstaat  oder 
Demokratie  ?  Ueber  das  Woher  und  Wohin 
der  Reichspolitik  am  Ende  des  19.  Jahr- 
hunderts. Königsberg  i.  Pr.t  Bernhard  Teichen. 

Suttnex\  Bertha  von.  Einsam  und  arm«  Erster 
Band.  Dresden,  Leipzig  und  Wien.  E.  Piersons 
Verlag. 

Telmann,  Konrad,  Dunkle  Tiefen.  Geschichten. 
München,  Carl  Rupprechts  Verlag. 

Thiele,  Dr.  phii.  Richard,  Die  Theaterzettel  der 
sogenannten  Hamburgischen  Entreprlse 
(1767—69).  Beitrüge  zur  deutschon  Litteratur- 
und  Theatergeschichte.  Die  Wichtigkeit  der 
Theaterzettel  für  Leasings  Hamburgische 
Dramaturgie.    Erfurt,  Hugo  Güther. 

Tbieme,  Karl  Ludwig,  Richard  Wagner  Im  Dienste 
französischer  Maler.  Eine  kritlscho  Studie. 
Leipzig,  Constantln  Wild. 

VeritatiS  Amious,  Jesus  von  Kozareth  nach 
neutes  tarnen tllchen  Quellen.  Hellbronn,  Max 
Klelmanu. 

—  Was  uns  Jesus  noch  weiter  sagt. 
Zweite  unveränderte  Auflage,  Heilbronn,  Max 
Kielmann. 

Wegen  er,  Dr.  Richard,  Poetischer  Fruchtgarten. 
Cöthen,  Paul  Schettlers  Erben. 

Wehmer,  Dr.  R.,  GrundrissderSchulgesundheita- 
pflege  unter  Zugrundelegung  der  für  Preussen 
gUltigeu  Bestimmungen.  Mit  17  Abbildungen. 
Berlin,  Richard  Schoetz. 

Weingartner,  Felix,  Die  Lehre  von  der  Wieder- 
geburt und  dos  musikalische  Drama  nebst  dem 
Entwurf  eines  Mysteriums.  Die  „Erlösung." 
Klei  und  Leipzig,  Ltpsius  und  Tischer. 

Wienf  lUustrirtcr  Wegweiser  durch  Wien  und 
Umgegend.  Sechste  Auflage.  Mit  76  Illustra- 
tionen, zwei  Plänen  Im  Texte,  einem  Plan 
vou  Wien  und  einer  Karte  des  Pemmerings. 
Wien,  Pest,  Leizpig,  A.  Hartleben. 

Ziel,  Ernst,  Das  Prinzip  des  Moderuen  In  der 
heutigen  deutschen  Dichtung.  Zettgemasse 
Betrachtungen.    München,  Carl  Rupprecht. 


Beoigirt  unter  DnanttDortHdjfeit  bes  Qeraasgebtr». 
5d>leflfd>e  Budj&mcfttfl,  Knnß*  nnb  Oerings*  HnßaW  p.  5.  Scbottlaenb«,  Brrslda. 
Unberechtigter  rtadjornrf  an»  brm  3nba»  biefer  Seitfd>rift  unterfagt.   Utbrrfetpntgmc^t  oorbt  ballen. 


I 


KARLSBADER 

Natürliche  Mineralwässer 

1895«.     Frische  Füllung.  1895er. 


'1 


"inuiiiiiiiiimiiiniiniinmiiHnniUHHiiuinmumim 

i  i  Mi  iiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiHHiiiiiiiiiiiiiiii  Iii  um 


IM 


Löbel  Schottländer,  Karlsbad  •  Böhmen 

sowie  durch 

alle  Mineralwasser-flandlongeD,  Apotheken  und  Drognisten. 

Ueberseefsche  Depöts  in  den  grössten  Städten  aller  Weltthelle 


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Ermässigung  der  Preise  für 

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A pollinaris 

Natürlich  kohlensaures  Mineral  Wasser. 


Im  Einzelnverkauf  wird  das  obige  Wasser,  jetzt  w|$ 
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des  Gefässes. 

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das  leere  Gefass. 

Netto-Pre«  . 
des  Wassers. 

1ji  Flasche 

30  Pf. 

5  Pf. 

25  Pf. 

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23  » 

3  n 

20  ,. 

i/j  Krug 

35  » 

5  n 

30  ., 

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26  n 

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THE  APOLLINARIS  COMPANY; 

LIMITED. 


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£ 


_ 


Hopember  1895 


Settr 

2TI.  Stona  auf  Sdjlofj  Strjeboantj  (CDefterr.-Sd?leften). 


ZTnr  3tt>ei  Detlefen.   TXovtüe   1 39 

2tlfreo  Stotel  in  Dresben. 

tDolfgang  KirAbad)  ■   \60 

Cuburig,  ^acobowsü  in  Berlin. 

(Sebidjte   \76 

Hubolf  oon  (Bottfdjafl  in  Ceipjia,. 

Die  3iingßbentfd}en  bes  ad}t3elinten  3ab.rl)unberts   \~8 

<£.  ZHafdjfe  in  Breslau. 

Kuglanb  in  <£entralafien   200 

2Ueyanber  (CiQe  in  <5lasa,on>. 

(Eftomas  £jnjleY   222 

fjans  fjermann  in  Breslau. 

ITtobeblumen   25  \ 

HidjGrb  Becf  in  5K,^au 

mont  Saint  midjel.   €in  Helfebilb   259 

Bibliographie   26<t 

Jeremias  (Bottljtlf,  2Iusaea>a1|lte  Wtxtt.   (mit  JDuSraHontn.) 

J3tWiograptttfd)e  nottjen     269 


^ierju  ein  Portrait:  IDoIfgang  Kirdjbad). 
Habirung  von  3of)ann  £inbner  in  münden. 


.Horb  unb  54b*  erfa>eliU  am  Anfang  jrtet  DIonalt  in  fteften  mit  je  ein«  KairtfreUage. 
—  preis  pro  (Quartal  (3  ßefte)  «  Dtarf.  — — 
WU  Önii)t)Otiti langen  ani>  poftanMtrn  nehmen  jetajrit  SefteHnitgen  an. 


Zille  auf  öen  re&actionellen  ^nrjalt  oon  „«J&orb  unb  ^übM  be> 
$äglid}en  Senkungen  ftnö  ofrne  Ztngabe  eines  perfonennamens  511 
richten  an  öte 

Hebaction  oon  „J&otb  unb  ^fib"  Breslau. 

Siebenljufenetftr.  \\,  \3,  \5. 


Xtoxb 


WiC 


!/\'lY    iklliV         Hot1?'!',!1  r 


st  W 


~  •  real.: 


Xlotb  unb  Süb. 

<£ine  öeutfd?*  tftortatsf cf? r i f t 


herausgegeben 
von 

paul  Ctnbau. 


LXXV.  3anb.  —  Zlooember  —  fjeft  22^. 

(IHit  einem  Portrait  in  HaMning:  IDoIfgang  Kitcrjbait;.) 


Sdjlefffdfe  Sncfc&rnd erei,  Knnft.  nnb  De  rlags-Hnftalt 
».  5.  Sd^ottloenicr. 


I 


Hur  $voti  Veildtm. 

Xiovelk. 

Von 

M  &tona. 

—   £^Io§  Sivitbowx^  ((Dejhrr.'Sdjleften).  — 
I. 

ofepf)o  war  eine  füfce,  liebe  Heine  grau,  md)t  gerabe  g(üdtid), 
aber  audj  nidit  ungtüdlid».  3f)r  2eben  ffofs  in  ber  ungennffen 
Täinmerung  baljin,  bie  bem  3Jtorgen  ober  ber  9Jad)t  r>orangef)t. 
Sfyr  ©atte,  (Serfyarb  filier,  war  ju  Reiten  fo  übelgelaunt  unb  uer= 
briefjlid),  baft  fic  e3  mand)inat  bereute,  ifjn  gefyeiratfyet  ju  Ijaben.  £od) 
formte  fic  Sttemanb  einen  Vorwurf  tnad)en,  benn  fic  t)atte  fid;  ifjr  ©dndfat 
felbft  gerodelt,  ffix  5ßater  unb  ifire  ©cfd}iniftcr  —  bie  SDiutter  mar  fd>on 
lange  geftorben  —  roarnten  fic  cor  ber  ©f)e  mit  bem  um  sroanjig  3<*bre 
älteren  ü)Janne;  fic  aber  f)örte  auf  Seinen.  ©erf»arb  fdrjrowr,  baf?  er  fic 
auf  ben  $änben  tragen  motte,  unb  fic  glaubte  es  ib,m. 

£>a3  junge  ^aar  nafmi  feinen  SBofmftfe  auf  föittcrä  Sanbgut  9Ittborf 
in  einer  öfterreid;ifd)en  ^rooinj. 

©djon  bie  glitterroodjen  bereiteten  3<>fepf)a  mandje  @nttäufd)un<j.  $er 
^ageftotä,  ber  fid)  fpät  entfdjlicfet,  eine  ©£)e  einjugcfien,  bringt  feiner  grau 
afe  SRorgengabe  ein  ganjeä  Softem  oerfnödjerter  ©erootjnfjeiten  unb  ©igen* 
Reiten  mit,  für  baä  er  eine  ttebeaolle  9?üdficf)t  aU  etroaä  ©etbftoerftänb; 
Iidr)cö  nertangt.  Um  3ofepb,a  baS  Stubium  feiner  Saunen  ju  erfeiditern, 
beeifte  fid;  ©erfiarb,  fic  fogleid)  mit  ifjnen  befannt  ju  madjen. 

(Sie  fanb  bafb,  bafj  er  eine  jum  SKinbcften  eigentlmmliäje  9lrt  Ijabe, 
fic  auf  ben  £änben  ju  tragen,  £atte  fic  irgenb  ein  SSerfäumnif?  uerfdntlbct, 
mar  eine  Sd)teife  ttjireö  bleibe«  ungefnüpft,  ftanb  baä  SDJittagcffen  um  fünf 
SKiituten  51t  fpät  auf  bem  £ifd):  fo  founte  er  aufjer  fid)  geraden  unb 
fdjmäben,  ate  ob  fic  ein  93erbred)en  begangen  f)ättc.  2lnfänglid)  roofftc  fic 

10* 


HO    Ul.  Stona  in  Str3ef>on>tö  (<Dejierr.=S<IfUfien).   

»erätocifeln.  ©od)  als  fic  fatj,  bafe  er  roegen  jeber  Äleinigfeit  in  bie  gleite 
Aufregung  gerietl),  ftumpfte  ifjre  diene  fidj  ab,  unb  ftc  nafmt  bie  9lu^f>rü<^e 
feinet  30n'8  jjteidjgttttg  t)in. 

©erwarb  gehörte  ju  jenen  Scannern,  bie  flug  genug  ftnb,  tljrer  Übeln 
Saune  nur  vor  itirer  grau  bie  3ügel  fd)ief?en  ju  laffen,  in  ©efeüfdjaft  aber 
ftets  tjeiter,  gefprädjig  unb  unterfjattenb  erfdieinen.  SBenn  fie  befonberS 
gut  aufgelegt  finb,  roerben  fie  fogar  roifcig.  Soldje  SJiänner  bleiben  ifjrer 
grau  gegenüber  fteta  im  SJorttjeil;  benn  roemt  biefe  unter  beut  £*u<f  ber 
flemlidjen  Quälereien,  bie  fie  ju  &aufe  erbulbet,  einmal  eä  roagt,  ifirem 
©ebieter  cor  3«u9Cn  ein  heftige«  2Bort  $u  fagen,  fo  läfjt  er  e£  mit  ber 
■Dtiene  eines  'Märturerä  über  fieb  fjinbraufen,  roofjt  roiffenb,  bag  2flle,  bie 
e§  gehört,  auf  feiner  (Seite  ftefien  werben.  „2BeId>e  unbefounene  grau! 
©er  arme  ÜDiamt  mag  bittere  Stunben  erleben!" 

^ofeplja  rjatte  ifirem  ©otten  —  oielleidjt  nod)  mel>r  fiel)  felbft  —  ein 
©ödbtercfien  gefdjenft,  unb  ba$  fleine  SZßefen  füllte  ib>  ganjea  &erj  aus. 
^f)m  erjäfjlte  fie  ifjr  Seib  unb  ifjre  greuben,  al«  e3  nod)  roie  eine  ge* 
fd)loffene  33lume  in  feinem  Stetigen  lag,  unb  roie  e§  fpäter  bie  2lermdjen 
um  ifiren  £als  fcblang,  ba  ronr  e3  ifjr,  als  ob  ifjr  in  bem  .tinbe  eine 
järtticfie  greunbin  fieranroadife. 

Onbeffen  fodte  ifjr  balb  uom  Sdjidfal  eine  jroeite  greunbin  imgefüfjrt 
roerben,  bie  an  3»^u,  ßrfafjrung  unb  roeltlidjer  Stlugljeit  ^ofep^a  roeit 
überlegen  roar. 

Sie  fjie&  Helene  »on  SBattfjeim.  3f>r  9)?ann,  ein  reifer  gabrifant, 
roar  ba$  genaue  ©egentljeil  »on  ^ofepfiag  ©atten;  ftiH  unb  oerfdjloffen  in 
großer  ©efellfdjaft,  bodj  »on  liebenSroürbiger  ©efprädjigfeit  in  »ertrautem 
Äreife,  babei  jung,  fraftooU  unb  gütig,  mit  einem  für  einen  ÜWann  faft  ju 
roeidjen  ©emütl).  .  @r  betete  Helene  an;  fie  erfdjien  ifjm  a(3  baä  9Rufter 
jeber  jßottenbung.   llnb  Helene  roar  eä  jnfrieben. 

Sie  liebte  ^einrieb  auf  ibre  9lrt.  9Jidjt  blinb  unb  abgöttifdj,  ntdE>t 
tjeifi  unb  leibenfdjaftlidj,  fonbern  mit  rufjiger  3<>rtlid)fett.  Sie  war  fidj 
über  feine  gefjler  unb  ä'orjüge  ganj  ftar  unb  roog  bie  einen  gegen  bie 
anberen  mit  Uebertegung  ab. 

Unb  roeil  feine  33orjüge  ju  jenen  gehörten,  bie  itjr  frmtpatljifd)  roaren 
—  eä  gab  aueb  foldie,  bie  fie  nidbt  leiben  fonnte,  j.  33.  eiferuer  gleiß  unb 
6onfequen5  —  feine  gefjler  aber,  bie  alljugroße  9Jadjgielugfeit  unb  ber  &ang 
jur  ilerfdjrocnbung,  fefjr  leid)t  fidj  ertragen  ließen,  roar  fie  mit  £einridj 
uollfommen  jufrieben.  ®r  fdjmüdte  i^r  Seben  mit  ^oftbarfeiten,  fie 
fdjmüdte  ba§  feine  mit  ifjrer  frörjlicfjen  Saune. 

Sie  roar  r>iel  ju  flug,  fidj  iljm  je  mürrifdj  ober  »erbrießlidj  su  jeigen, 
vielleicht  aud;  ju  eitel  baju;  benn  fie  liebte  ibre  Sd)önf(eit  roeit  mefjr  aU 
ifjrert  ©alten.  3i)te  Sd)önl>eit  roar  r>on  jener  eigenen  9lrt,  bie  roie  ein 
Sauber  in  einem  ©efidjtdjen  aufjuleudjten  »ermag,  ba*  un§  fonft  btafe  unb 
uubebeuteub  erfcfjeirtt.   ©er  ©eift  ift  cS,  ber  all  bie  anmutbigen  Sinien 


  ZTur  3u>ei  l?eild;en.   


toecft  unb  baä  9tntli|  gleicbfam  »cm  innen  heraus  erBtütien  läßt.  Helene 
rouftfe  in  folgen  2lugenbliden  genau,  wie  fie  auSfab,  raupte,  batf  fie  im* 
roiberfteblicb  roar. 

$n  ben  3Jiaitagen  beS  SafyxeZ  1892  bereitete  Ü)r  ©arte  it)r  eine 
freubige  Ueberrafdjung.  Gr  taufte  ihr  eine  iUlla  auf  bem  Sanbe.  Sie 
fiel  ihm  bafür  um  ben  &aU  unb  nannte  ihn  iljren  lieben,  einjigen  ^einrieb. 

SWadjbem  Helene  mit  ©atten  unb  £ienerfcbaft  —  Äinber  Ratten  fie 
nicht  —  in  baä  neue  Sommerljeim  überfiebelt  mar,  hielt  fie  llmfdjau  in 
ber  lieben  9cacbbarfcbaft. 

GS  fam  bie  grofse  grage,  mit  wem  man  »erfebren  foHtc.  grauen, 
unbebeutenbe,  gefcbmadlofe  Sanbfrauen,  reijten  Helene  gar  nicht.  Gine 
Aber  bie  anbere  wollte  fte  ertragen,  wenn  e3  beS  2Jfanne3  roegen  jtdj  lohnte 
—  mehr  abfolut  nicht. 

Sie  mar  ber  2lnficbt,  baß  ein  bummer  HWann  noch,  immer  mit  feinem 
jüerftanbe  für  eine  Klauberei  ausreicht,  roäbrenb  bie  befebränfte  grau  511 
einem  lebenben  33leigerotcbt  roirb,  ba§  Ginen  unbarmtierjig  in  bie  liefen 
"ber  Sangenroeile  jiebt. 

GS  traf  fieb  oortrefflid),  baß  2i5attbeim3  gleich  bei  ber  erften  Drientirungä* 
reife  in  bie  näcbfte  Stabt  einem  alten  Stubiengenoffen  £einricb3  begegneten, 
ber  mit  feiner  jungen  grau  nur  eine  Stunbe  oon  ber  SßiUa  entfernt  lebte. 
GS  mar  ©erbarb  filier,  ©erbarb  mar  in  »orjüglidjfter  Stimmung,  unb 
feine  Ginfälle  eittjücften  Helene.  2JJan  befebloß,  gute  Macbbarfcbaft  51t 
hatten.  Helene  beforgte  heimlich  nur  GineS:  baß  £itferä  grau  eine  gar 
ju  langweilige  ^ßromnjterin  fein  werbe. 

$roei  £age  fpäter  nmrbe  ber  ÜBefud)  in  3lltborf  gemacht. 

„©ort,  roie  gefcbmadtoS!"  fagte  Helene  fich,  als  fie  Sofepba  erbtiefte. 

„Gimmel,  roie  elegant!"  baebte  3;ofep^a. 

9Wan  ließ  ftdb  um  einen  runben  gamitientifch  nieber.  ©erbarb  roar 
in  feinem  Glement.  Sein  ©eift  pboSpfyoreScirte  förmlich.  Gr  unterhielt 
feine  ©äfte,  inbem  er  fteine  Slnefboten  oon  feiner  grau  jum  heften  gab. 
Sofepha  roar  an  biete  Grjähtungen  geroöbnt,  bie  bem  ©efpräcbe  auf  ihre 
Soften  einen  pifanten  9*lei$  gaben,  bennodb  »erlebte  fie  heute  biefer  Ion. 
Sie  beforgte  nicht,  tädhertieb  ju  erfcheinen;  allein  fie  fürchtete,  bie  Dcbe 
ihrer  Ghe  fönnte  errathen  roerben.  9luch  fchien  eS  ihr  nid)t  bie  richtige 
Slrt,  grau  »on  2SallbetmS  3ntereffe  ju  erregen,  an  bem  ihr  fo  otel  lag. 
gür  ihr  Sehen  gern  fiätte  fie  mit  ber  febönen,  roeltgeroanbten  ©ame  ner* 
fehrt.  Sie  tarn  fich  unfeheinbar  neben  ihr  cor,  bie  2Borte  fielen  ihr 
fo  blöbe  von  ben  Sippen,  unb  berounbernb  blidte  fie  auf  Helene,  bie  fo 
anmuthig  plauberte,  fo  grajiös  fich  jurüdtehnte  unb  cS  fich  gar  nicht 
merfen  lief3,  bafs  fie  ein  neues  Rleib  trug,  —  ein  Greigmft,  baS  man  allen 
Nachbarinnen  aus  ber  ^Sroöins  auf  ben  erften  33tid  anfah. 

9tuch  Helene  fühlte  fid)  ju  Qofcpha  hingezogen  —  um  ber  SBerounberung 
«ritten,  bie  unverhohlen  au?  ben  2lugen  ber  (leinen  grau  fpradj.  Sie  blatte 


H2    81.  Stona  in  Str3ebon>ifc  (®efterr.«S($leften).   

gern  mit  ifir  allein  geplaubert,  benn  bafe  ^ofeplja  in  ©egenroart  ifireä 
©arten  befangen  mar,  fjatte  fie  auf  ben  erften  SBIidf  gemerft.  eine  grage 
nad»  bem  ©arten  braute  ben  erroünfditen  ©rfotg:  ©erwarb  fd>lug  einen 
Spaziergang  oor. 

£ie  beiben  Brauen  gingen  mit  einanber,  unb  Qofeplja  fdjten  nun 
aufäuatb,men.  9llle3,  roa3  fie  fagte,  trug  ben  $aubev  einer  ungefügen 
Originalität. 

„&aben  Sie  »iel  33erfef)r  in  ber  Umgebung?"  fragte  Helene. 

„Seiber  nidit,  unb  ba3  ift  fo  fcfjabe,  beim  idj  l)abe  ba3  ©lud,  baß 
mir  fo  viele  SWenfdfieit  gefallen!" 

Sie  weiß  gar  nidit,  roie  ^erjig  fie  ift,  badjte  Helene. 

gaft  ju  lange  bauerte  bie  erfte  SBiftte,  unb  bettn  3lbfdf»ieb  oerfprad> 
man,  einanber  oft  ju  befudjen. 

„2lu3  biefer  ^ofeptia  tiefte  fidj  »iel  machen,"  fagte  Helene  bei  ber 
9Wdfaf)rt.  „ftdj  'glaube,  e§  märe  nidjt  fdjroer,  ü)r  bie  ^rooinjterin  ein 
roenig  abjufdileifen." 

„SBenn  fie  nur  f)übfd»er  märe,"  meinte  £einridj. 

,,§übfd)?  Sie  fönnte  es  baju  bringen,  reijenb  ju  fein.  liegt  fo 
mel  in  ifyc,  aber  e§  müjjte  erft  geroedt  merben.  3fyr  -BJämter  afjnt  ja  gar 
nid)t,  bafj  fogenannte  Sdjönfjeit  oft  nur  eine  gefdndte  Bereinigung  jafytfofer 
Äünfte  unb  einiger  befdjeibener  ©aben  ber  9iatur  ift.  Gine  grau  mufe  ü»re 
SSorjüge  unb  Ujre  Sdjroädjen  fennen  unb  jene  ju  Ijeben,  biefe  ju  oerbergen 
Derftefjen.  2>ie  arme  3ofepb,a  aber  ift  fid)  roeber  ber  einen  nod)  ber  anbern 
beroufjt.  Sie  lebt  bin,  roie  eine  gefdjmadlofe  Sdmeiberin  fie  nerjeidmet, 
unb  frifirt  fid;,  als  ob  fie  tyre  eigene  &öd)in  märe.  Srofebem  gefällt  fte 
mir  Diel  beffer  aU  itjr  ©arte." 

„2Bie?  ©erwarb  ift  bod)  ein  famofer  3Jienfd)!" 

„2Bie  man'«  nimmt,  ©in  3Wann,  ber  e3  roagt,  in  ©efellfdjaft  bie  Keinen 
Sdjroädjen  feiner  grau  ju  getfeeln,  ift  ber  geborene  &au3tm*amt  unter  oier 
2lugen.  2Bte  fror)  bin  tdj,  bafj  ©u  nidit  fo  bift,  £einrtd)!"  ladjte  fte  nnb 
roanbte  itnn  irjr  rofigeS  öefidrt  ju. 

„%bex  ©erwarb  ift  fo  roifeig,  unb  ba$  bin  idj  leiber  nidjt,"  fagte  er. 

„£>afür  bift  Su  gut,  unb  baS  ift  mir  taufenbmal  lieber." 

II. 

3roifd)eu  9lltborf  unb  ber  SJttta  entfpamt  fid)  ein  lebhafter  SBerfetyr. 
£a  Helene  füllte,  bafj  Sofcvtyx  nod»  immer  eine  Keine  Sdjeu  oor  tf)r  tyabe, 
trug  fie  iljr  ba$  £u  an.  Qofepfia  roar  feiig,  unb  in  ttjre  33ejieb,ungen  &u 
geleite  trat  nun  eine  innige  $ertraulid)feit.  SBie  unter  greunben  ber  eine 
Styeil  immer  ber  ©omimrenbe  ift,  fo  roar  es  aud)  t)icr.  $ofepf>a  unter* 
roarf  fid)  notlfommen  bem  überlegenen  Urtfjeil  SjelenenS,  liefe  fid)  oon  if(r 
2lQe3  fagen  unb  nafmt  fogar  if)re  9iügen  mit  banfbarem  Säbeln  tun. 


  Zlnt  3»ei  Deildjen.   


(Sinmal  traf  Qofept)a  Helene  vox  beut  £oilettetifd),  U)r  bloitbeS  &aar 
orbnenb. 

„5icin,  roie  gefd)madoofl  Du  Did)  frifirft,"  rief  fie  „unb  —  unb 
f»aft  bod)  — 

„$iel  weniger  £aar  als  Du,  rotHft  Du  fagen?"  oodenbete  Helene 
ladjenb.  „3a,  fiefift  Du,  Äinb,  nid)t  bic  güde,  ber  ©efdmtad  ift  ent» 
fdjeibenb.  ©efce  Did)  einmal  nieber,  td»  roill  Dir  jeigen,  rote  man  es 
madfjt."  Unb  in  wenigen  9Jtinuten  »eränberte  fie  ^ofepbaS  2lu3fel)en  auf 
baS  itortfjeityaftefte,  inbem  fie  if>r  £aar  in  einen  prächtigen  Änoten  fdntrjte 
unb  an  ber  Stirn,  roo  es  früher  ftraff  angefpannt  geroefen,  in  leichten 
bellen  empor  f)oh. 

„Du  oerftefrft  aber  aud)  MeS!"  rief  3ofepf)a. 

3iun  füllte  Helene  fie  in  ein  SDJorgenfleib  aus  meiner  rofa  Seibe 
unb  führte  fie  cor  ben  «Spiegel.  3ofep{»a  errötbete  vox  Vergnügen,  als  fie 
fid)  erblitfte. 

„Siefift  Du,  roie  entjüdenb  Dir  t»elle  J-arben  fielen!  Du  Heibeft 
Did)  rote  eine  ÜJfatrone.  Unter  uns  gefagt:  Du  »ernad)läffigft  Did)  fogar. 
SBenn  id}  an  Deinen  grauen  Sd)lafrod  benfe,  in  bem  id)  Did)  tefettjitt 
überrafdjte  —  brr!  Sffiie  fannft  Du  tjoffen,  Deinem  5)iann  5U  gefallen, 
roenn  er  Did)  mit  a6gerijfenen  SBanbfd)leifeit  unb  fetjlenbeu  ßnöpfen  fiel)t?" 

„@r  fief)t  mtd)  ja  gar  nid)t  an!" 

„Dag  begreif  id).  ©laub'  mir,  Qofeplja,  mir  grauen  follen  ftcts  auf 
unfer  SleufjereS  ad)ten.  Die  SNänner  finb  eitler  auf  uns,  als  roir  eS 
almen,  unb  roenn  roir  aufhören,  uns  ;u  fdjmüden,  fangen  roir  an,  fie  p 
langroeilen.  GS  ift  »iet  beffer,  man  fiefjt  roie  bie  Dod)ter  feines  ©atten 
aus,  als  roie  feine  üDfutter." 

,,9(d),  Helene,"  feufjte  ^ofepb^a,  „roenn  Du  ©erfyarbs  Saunen  fetmen 
roürbeft,  »erginge  Dir  »ielleid)t  aud)  bie  Suft,  an  Did)  $u  benfen!" 

„3$  roürbe  oor  2lllem  trad)ten,  mit  ©erwarb  gut  auSjufommen." 

„2Bie  benn?" 

„DaS  roill  id)  Dir  fagen.  Dein  etjrlicfter  Gfyarafter  roirb  fid)  tnelleicfjt 
bagegeit  fträuben,  bod)  nid)t  alle  SBege  finb  gerabe,  unb  bie  frummen  führen 
uns  oft  am  fdniellften  an'S  3iel,  roeit  roir  fie  burdjlaufen  fönnen,  roä^renb 
roir  auf  ben  geraben  breiten  Strafjen  fein  fd)id(id)  unb  gemeffen  bafjin* 
fdjreiten  müffen.  3$  roürbe  »or  3lllem  bie  Sd)roäd)en  ©erfyarbS  ftubiren, 
benn  bef)errfd)en  'roir  bie  ©djroädjen  eines  SDfanneS,  bann  befjerrfdjen  roir 
ibjt  felbft." 

„So  flug  bin  id)  nidjt.  3d)  l)abe  längft  alle  3Kad)t  ü6er  ©erb>rb 
oerloren." 

„So  geroinne  fie  roieber!" 
„Daju  ift  es  ju  fpät." 

„(SS  ift  nie  ju  fpät,"  entgegnete  gleite.  ,,,§ör'  meinen  9Jatf). 
SBenn  Du  im  Unred)t  bift  —  unb  glaube  mir,  Du  bift  es  oft  —  fd)roeig' 


  m.  Stono  in  Striebotuig  (<Defterr.*S<fflefien).   

unb  ertrage  feine  Saunen.  Sßarte,  bi«  Du  im  9ied)t  fein  wirft.  £aft 
£>u  einen  eflatanten  gatt,  bann  tritt  rubig  unb  beftimmt  gegen  ©erbarb 
auf.  £obt  er,  fo  lafj  ibn  toben,  bebarre  aber  mit  fefter  @Tttfd)loffenbeit 
auf  ©einem  ©tanbpunft.  ©obaib  fein  3<>rn  »erraucbt,  roirb  er  fein  Un- 
redjt  einfefien,  unb  ba«  ift  SDein  erfter  ©teg." 

„3$  min  e«  Derfudfjen,"  fagte  3°fePba  unb  umarmte  bie  »erftänbige 
greuitbin. 

©ne«  £age«  ruf)te  Helene  auf  einer  inbifeben  Gbaifetongue  in  il)rem 
©djreibjimmer.  SBeidbe,  feibene  Äiffen  in  allen  3tegenbogenfarben  umgaben 
fie,  eine  foftbare  ®ede,  bie  fie  einft  au«  ©gnptcn  gebradjt,  breitete  fid) 
über  ibre  fdjmalen  güfse. 

grau  »on  SBaDljeim  war  nid)t  etwa  franf;  im  ©egentbeil,  bie  füfje 
9tube,  ber  fie  fid)  fytiQab,  roar  ba«  Seiten  cittc^  befonberen  Sßobl- 
beftnbeit«. 

SBie  eine  9tofe  auf  ben  2BeIIen  be«  ÜKeere«,  wiegte  fie  fid)  in  ibren 
träumen.  2JKt  immer  gleichem  Vergnügen  tiefe  fie  bie  2lugen  über  aQ 
bie  ftoftbarfeiten  unb  bunten  ©ebäd)tnifejeid)en  gleiten,  bie  fie  »on  ibren 
Reifen  mitgebracht  unb  mit  tänbefabem  @efd)macf  auf  £ifd)d)en  unb 
ßonfolen  oerftreut  Ijatte.  %fyv  3intmer  mar  ein  Heine«  ÜWufeum,  beffen 
SBerHj  feine  Sefifcerm  auf  eine  caprieiöfe  SBeife  beftimmte.  3Rand)e  23anb: 
fdjleife,  manebe  wette  33tume  galt  ibr  mebr  als  ber  Ärug  au«  Pompeji 
ober  bie  funftoolle  G(fenbeinfd)nifcerei,  roeld)e  bie  SBerroanblung  ber  $Dapbne 
barftellte.  9htr  Helene  werftänblid),  erjäblte  jebe«  35ing  feine  ©efdjicbte 
unb  säuberte  entfdjrounbene  Silber  oor  bie  ©eele  ber  Petrin. 

$n  9Jijja  roar'«,  wäbrenb  ber  unoergefelidjen  (SarneoalStage,  ba  batte 
fie  jene  $>rabtma«fe,  bie  bort  in  ber  @cfe  bing,  über  ibren  Äopf  geftülpt, 
jene«  4?irtentäfd)d)en  mit  „Confetti"  umgetban  unb  mit  ber  fleinen  ©d)aufel 
auf  biegfamem  SRorjr  fampfluftig  bie  weilen  ©efdboffe  nad)  reebt«  unb  linf« 
gefdjteubert,  roäbrenb  ein  tolle«  9fla«fentreiben  fie  umtobte. . . .  Unb  bann 
roar  plöfclid)  eine  3Kenfd)enrooge  gefommen,  bie  fie  oon  ibrem  Satten 
trennte.  ÜRur  ber  beutfebe  SJaron  blieb  an  ibrer  «Seite,  ber  fo  lange  auf 
bie  ©elegenbeit  geroartet,  ibr  feine  Siebe  ju  gefteben.  bot  fid)  bie 
©elegenbeit,  unb  er  —  er  fanb  nid)t  bie  Sßorte.   SBie  blöbe  er  roar! 

Dber  aebtete  er  fie  fo  bod),  bafe  er  fürd)tete,  fie  burd)  fein  ©eftänbnif} 
}u  beleibigen? 

©ie  bätte  ttjm  fo  gern  jugebört  —  fold)e  ©eftänbniffe  roaren  eine 
berauf d)enbe  ÜJhifif  für  ibre  fleinen  Dbren  —  unb  fie  fjätte  üjn  bamt 
berjlid)  au«getad)t,  fo  berjlid),  bafj  er  in  ibr  Sad)en  eingeftimmt  f)abcn 
roürbe,  roie  eS  bie  -Keiften  trjaten,  bie  banfbar  bie  roeifee  &anb  füßten, 
roelcbe  fie  au«  greunbfd)aft  ibnen  bot.  9Jland)e  freilid)  murrten  unb  sogen 
fid)  groHenb  surücf  —  roa«  tbat'«!   3lnbere  fd)loffen  bie  Reiben. 

Stun  rubten  ibre  3lugen  eine  ©ecunbe  lang  auf  einem  SBlatt  Rapier, 
ba*  läffig  an  einen  93atmenfäd)er  gefteeft  roar  unb  bie  SBorte  trug:  Tout 


  tlur  3n>ei  Dellien.   


bonheur,  que  la  main  n'atteiut  pas,  n'est  qu'un  reve.  (Sin  Unglück 
lidjer  fjatte  i^>r  einft  bieten  ©prudj  gefd^idft,  unb  fie  bewahrte  Um  in  ber 
bämtnernben  Slfjnung,  baß  aud»  i^r  baS  edjtc  ©tücf  ewig  fern  bleiben 
würbe. 

2Bät)renb  fie  jefet  finnenb  »or  ftdj  l»iitfa^,  flopfte  es  an  bie  £f)ür,  unb 
3ofepf)a  ftünnte  in'S  3immer. 

„93erjeif>',  baß  id)  ©id)  überfalle. ...  ©te  @el)nfud)t,  ©id)  ju  ferjen, 
mar  ju  groß!" 

Helene  erfjob  fid}  freubig  unb  begrüßte  bie  greunbin.  Sie  ptauberten 
ein  2Beildjen  oon  gleidtgiltigen  ©ingen,  bann  bat  3[ofep^a:  „Saß'  uns  in 
ben  SBalb  ge^en!   ©ie  Suft  im  Limmer  ift  fo  fdjwül." 

2lrm  in  9lrm  »erließen  fie  bie  SBiffa.  Helene  betrachtete  lädjetnb  bie 
junge  grau.  ,,$d)  fef»e  mit  greube,  baß  meine  SRatfjfdjläge  ©tr  fdjon  Gr= 
folge  brauten,"  fagte  fie.  ,,©u  bift  felbftftänbiger,  rubiger,  fixerer  ge- 
worben —  unb  fjunbertmal  f)übftf»er  .  .  .  weißt  ©u  baS?" 

„$dj  weiß  nur,  baß  id}  Sir  banfbar  bin.  Dtme  ©id;  märe  id)  t>er= 
fauert,  »erbauert,  »erfumpft  unb  »erftumpft!" 

„Unb  nun  wirb  am  (Snbe  gar  eine  Meine  SBeltbame  aus  ©tr!  GS 
tfjut  !Jlidf)tS,  wenn  ©u  nur  glücfltdj  bift  ....  unb  baS  bift  ©u  bod), 
nid;t?" 

„Qa,  fiefift  ©u,  mit  bem  ©lücf  ift  baS  eine  eigene  ©adje.  $d)  war 
ja  früher  audj  nid)t  glücflidj,  aber  mir  ift,  als  ob  id)  erft  jefet  erfenne, 
wie  arm  mein  Seben  ift,  baS  Seben  meines  ^e^enS.  .  .  .  ©ag'  mir, 
Helene,  tjaft  ©u  nie  bie  ©ef)nfud)t  gehabt,  ju  lieben,  glütjenb  ju  lieben?" 

„9Mn."  grau  oon  Sßallljeim  fannte  in  ber  £f)at  nur  bie  ©efmfudit, 
geliebt  ju  werben. 

„©iebjt  ®u,  id;  mödjte  GtmaS  erleben,  baS  groß,  fyerrlid),  göttlid) 
wäre  unb  mit  einem  ÜDJate  biefe  entfefclidje  Seere  ausfüllen  würbe,  bie  mir 
ba  briunen  entgegen  gäljnt.  3Wir  ift  mandmtal,  als  ob  mein  £erj  eine 
finftere  &öt)le  wäre,  grüner  I)ab'  id)  gebadjt,  baß  eS  fo  fein  müffe,  baß 
gewiß  »iele  grauen  mit  mir  baS  gleidje  ©djicffal  Reiten,  aber  jefet  fdt)eint 
es  mir  oft,  als  ob  tct)'s  nidjt  länger  ertragen  fönnte!  Sieber  taufenb 
Dualen  leiben  unb  wiffen,  baß  man  gelebt  Ijat,  als  biefeS  gteidjgilrige 
©afein  weiter  führen!" 

„2lber  baS  ift  ja  offene  ßmpörung!"  neefte  Helene. 

„<5S  ift  ©efmfudjt,  b>iße,  übermäßige  ©el»nfud)t  nad)  etwas  Uns 
erreichbarem,  nad;  etwas,  baS  meine  SBege  nie  burdifreujen  foH.  Unb 
oieMdjt  ift  biefe  ©ef)nfud)t  barum,  weil  fie  fid»  ib>er  £offnungSloftgfett 
bewußt  ift,  fo  uersefirenb." 

©ie  waren  5U  einer  alten  @id)e  gefommen.  Sfjre  mächtigen  3lefte  3um 
Gimmel  erljebenb,  fdjten  fie  ftolj  aus  bem  33obeu  emporstreben,  ein  Urs 
bilb  ber  Äraft  unb  3öE»igfcit.   ©ine  Jtafenban!  jog  fid;  um  fie  Ijin.  $ier 


H6    IH.  ftona  in  Strjeboroitj  (<De(lert."5djIefien).  — ' 

warf  fid)  3ofepf)a  ni^bet  unb  blidfte  mit  ifyren  fonft  fo  träumerifd)en,  jefct 
brennenben  3(ugen  auf  Helene,  bie  rul)ig  fagte: 

,,3d)  weiß  nidjt,  roaS  baS  Seben  3Mr  nod)  bringen  roirb,  ob  es  ©eine 
2Bünfd)e  erfüllen  fann  ober  ntd)t.  Sief»  biete  mäd&rige  6td)e.  ©ie  roollte 
aud)  einmal  in  ben  Gimmel  warfen,  unb  als  fie  fab,  baj?  es  nid)t  ging, 
ba  begnügte  fie  ftd)  bamit,  ifyre  SBurjeln  um  fo  tiefer  in  ben  fyeimatlidjen 
©oben  ju  fenfen.   33on  biefer  Gid)e  fönnen  wir  oiet  lernen." 

„®u  bift  fo  rub,ig,  fo  befonnen.  Sag'  mir,  Ijaft  £u  fdfjon  geliebt?" 

,,$d)  glaube  ja,"  erroiberte  Helene  gebanfemwll;  „als  id)  ein  ganj 
fleineS,  faunt  elf  ftafyxe  altes  3Käbc^en  mar.  damals  t}atte  id)  ein  fo 
letbeufdjaftlidjeS  &erj  rote  £u,  unb  icb  liebte  einen  jungen  9)?ann  »on 
äioanjig  Sauren,  ber  geroifi  feine  3lf»nung  blatte,  nrie  »iel  er  bem  Äinbe 
mar.  9ltteS,  roaS  ein  SBeib  an  f)eimlid)er  Siebe  empfinben  fann,  »on  bem 
füfjen  ©rroadjen  beS  ©efüf)ls  unb  ber  letbenfdfjaftltdjen  3örtlidifeit  bis  jum 
glüfjcnbcn  XrennungSfdfimerj,  2WeS  ift  bamals  burdj  bie  Seele  beS  SUnbeS 
gesogen,  unbead)tet  »on  3lllen  unb  ungefannt.  3J?ein  &erj  mar  eine  fleine 
(kutfjentoelt,  in  ber  bie  nmnberfamften  2)inge  »or  fid)  gingen.  3lber  roie 
es  baS  ©d)icffal  ber  äBelten  ift,  fid?  immer  mefyc  unb  mefjr  abjufüljlen,  fo 
mar  es  aud)  mein  ©djtdfal,  immer  fälter  ju  werben,  unb  id)  glaube,  baß 
id)  ber  »ollftänbigen  ^Bereifung  nid»t  mef)r  fem  ftefje." 

„3>u  bift  ju  früb,  gereift,  id)  bin  $u  lange  Äinb  geblieben"  —  fagte 
^ofeyfia.  „3Jian  führte  mid»  nid»t  in  bie  SBelt,  id)  lernte  SRiemanb  fennen 
.  .  .  id)  mar  ja  baS  ©tieffinb  ber  Familie,  flein  unb  bäjjlid).  deiner 
beadjtete  mid).  Unb  als  bann  enbltd)  ein  SRann  fam,  ber  um  fo  »ieleS 
älter  unb  »eroünftiger  mar  all  id),  bem  id)  gefiel,  ber  eS  mir  fa&te,  ba 
mar  id)  fo  ftolj,  fo  überglücflidfj!  3d)  faJ»  mid)  mit  einem  5Diate  gefeiert, 
»on  meinen  ©efdinriftera  beneibet,  unb  jögerte  feinen  2lugenbticf,  biefem 
Warnt  in  feine  |>eimat  ju  folgen.  Unb  bort  erfannte  id),  meld)'  ein  falter 
Ggoift  er  ift,  ber  mid)  nur  bamt  bead)tet,  roenn  er  GtroaS  an  mir  ju  tabeln 
finbet,  unb  ber  in  ber  Ueberjeuguitg  lebt,  baf?  id)  ©Ott  bafür  banfen  fann, 
baft  er,  Werbarb  filier,  mid)  ju  feiner  ^xau  erhoben  f)at.  GS  ift  matjr, 
mid)  fiungert  unb  bürftet  nidjt;  bod)  nad)  bem  junger  unb  bem  £urft  ber 
Seele  fragt  SWiemanb!  £aS  ift  mein  Seben:  eine  freubtofe  3"{ienb,  eine 
glücflofe  Gl)j,  eingefd)loffen  rings  »on  Sugenben  unb  ^Jftid)ten.  Unb  meint 
id)  enblid)  bafjin  gefommen  fein  roerbe,  biefeS  jaud)äenbe,  pod»enbe  £erj, 
baS  nad)  Siebe  »erlangt,  ftücftoeife  ju  Xobe  gemartert  ju  ijaben,  bann  roirb 
man  mid)  jur  Setofmimg  für  att'  btefe  33ra»f)eit  in  ber  Familiengruft  bei* 
fetten." 

„£u  bift  eine  fleine  eraltirte  ^erfon,"  fagte  Helene  unb  legte  iljre 
Öanb  auf  3ofepl»aS  Sdjulter.  ,,^d)  fage  2)ir  oorauS,  baft  ©u  nod)  fe^r 
»iel  fünbigen  wirft,  aber  blos  in  deinen  Sebanfen.  35u  gel)5rft  5U  ben 
grauen,  roeld)e  bie  fd)recflid)ften  ©inge  auSfübren  —  in  ib,rer  ^ß^antafie, 
bie  aber  in  2M)rI)eit  nie  ein  Saar  breit  oom  3Sege  ber  S'ugenb  abwetten, 


  Vlut  3icei  Deildjen. 


bcntt  ibr  ^flid&tgefüljl  ift  größer  als  if)te  ©ctjnfud^t.  3u  ifjrcm  ©lüde; 
beim  fo  genießen  fic  in  ityren  träumen  alle  SBomten,  ofnte  je  von  einem 
erbrüdenben  ©dmlbgefübj  jermolmt  ju  werben.  3um  ©ünbtgen  nadj  ben 
geroölmtid)en  Gegriffen  ber  SBett  gehören  entweber  fel)r  letditfinnige,  gebanfem 
lofe  grauen,  bie  nid)t  tröffen,  was  fic  tf)un,  ober  ftarfe  Naturen,  bie  mit 
ilcberlegung  fallen,  ©u  geliörft  weber  m  ben  einen  nod)  ju  ben  anbern." 
„Unb  3u?" 

«3$  gehöre  ju  ben  falten  grauen,  unb  bie  gehören  auf  ein  aubereS  33latt." 

in. 

Söenige  Sage  fpäter  follte  bie  länbtidje  Stille  ber  iUUa  burd)  einen 
Sefucfc.  unterbrochen  werben.  Heinrid)  erhielt  ben  SBrief  eines  greunbeS 
aus  SBien,  in  weltfern  biefer  um  bie  ©rlaubniß  bat,  für  einige  Tage  35?all- 
Ijeimä  ©aftfreunbfd)aft  in  Stnfprud)  nehmen  ju  bürfen. 

Helene  tjatte  Sßalter  t>on  Grlad)  vor  jwei  #ab,ren  im  ©alon  einer 
SBefamtten  femten  gelernt.  @r  war  iljr  burd;  fein  wunbertwUeä  Gtaoierfpiel 
aufgefallen,  unb  fic  entbedte  fpäter  eine  überrafd)cnbe  23ielfeitigfeit  ber 
Talente  an  ifint.  ©enial  als  SDiufifer  wie  als  2Mer,  mit  einer  ©eele, 
bie  für  bie  Runft  güW)te,  unb  einem  Slörper,  ber  bie  ©trapajen  jebeS  Sports 
beburfte,  um  ben  Ueberfdjuß  an  Straft  auszugeben,  glid)  er  bem  lieber* 
menfdjen  ber  3Woberneu  ober  ben  Halbgöttern  ber  Slntife. 

ipelene  wußte  nad)  ber  erften  ©tunbe,  bie  fie  mit  ibm  »erplanberte, 
baß  tf)r  t)ier  ein  3Jfann  entgegentrat,  ber  bem  Raubet  tf»rer  ^Serfönlid)feit 
nid)t  erliegen  würbe. 

Sie  fpracben  bamats  oiel  mit  einanber,  unter  2lnberem  aud)  oon  ber 
Siebe.  Helene  fagte,  baß  fie  bie  ÜWeigung  über  bie  Siebe  ftelle,  benn  bie 
Siebe  fei  oeränberlid),  fie  »erfprädje  einen  Himmel  unb  gäbe  mandmtal 
9lid)tS;  bie  Steigung  aber,  ifire  gütige  ©djwefter,  ift  treu  unb  unwanbelbar. 

Herr  oon  ©rladj  bliefte  fie  forfdjenb  an,  als  wollte  er  auf  bem  ©runb 
if)rer  ©eele  tefen,  unb  fagte  bann:  „2Bte  mobern!  @o  fpridit  nur,  ber 
feiner  Siebe  meljr  fällig  ift  .  .  ."  ©ein  Urteil  über  grau  »on  SBaUfieim 
faßte  SBalter  am  nädjfien  Tage  in  bie  SBorte  jufainmen:  „©ine  ber  inter* 
effanteften  grauen,  bie  id)  fenne.  ©ie  ift  wie  ein  SßafteHbtlb  mit  ben  rotten 
warmen  Sippen  unb  ben  großen  falten  3lugen,  bie  ben  fdjönen  9J?unb  Sügen 
ftrafen." 

Helene  füllte  inftinetto,  baß  fie  feinen  ©eift  intereffire,  olme  fein  Her} 
ju  berühren,  unb  fie  war  oiel  ju  flug,  um  fid)  nur  einen  3lugenblid  ben 
©djein  ju  geben,  als  fudje  fie  mit  if>m  ju  fofettiren.  £a$  rettete  ifjr  feine 
©mnpatljie.  @r  fudjte  itirc  ©cfellfdjaft  unb  würbe  im  Saufe  ber  3eit  ein 
gern  gelegener  ©aft  tljreS  ©alonS.  9lufrid»tige  3iweigung  bradjte  2Balter 
HelenenS  ©arten  entgegen,  mit  bem  er  auf  fportlidbem  ©ebiete  otete  9ln= 
fnüpfungSpunfte  fanb  unb  beffen  ritfjige  ©üte  if)tn  wobi  tfiat. 


H8    ITT.  Stona  in  Strsebowifc  (Q)ejlert..5d(Iefien).   

ÜRun  war  ber  tntereffante  ©aft  in  ber  SBiffa  eingetroffen. 

„Sie  werben  ftd)  bei  uns  furchtbar  langweilen,"  fagte  Umt  Helene 
balb  nach  feiner  2lnfunft.  „Sie  bürfen  nidjt  hoffen,  hier  einen  getfioollen 
«Salon  ju  finben,  wo  Sie  bas  ©otb  öftrer  einfalle  auSftreuen  fönnen. 
2Bir  finb  nur  auf  Äupfer  eingerichtet.  $öchftens  bafj  manchmal  bürftig 
etwas  £almi  aufblifct." 

„Um  fo  beffer,  gnäbige  grau.  2ltteS,  monad)  id)  mid)  febne,  ift  Stühe, 
göttliche  Jtulje.  So  im  grünen  SBalbe  liegen,  too  ©räfer  buften  unb  33ögel 
fingen,  bie  3«ü  »orüber  gleiten  laffen  unb  MchtS  füllen,  roeber  Hoffnung 
nod)  Seib,  roeber  Sefmfud)t  noch  Siebe,  baS  fdjroebte  mir  als  baS  ,§ödjfte 
oor,  wenn  id)  an  ben  33efud)  Sei  ^ftnen  bad)te." 

„Sehr  fchmeichelhaft.  3Hefe  befdjeibenen  SBünfcbe  fönnen  3huen  ooßauf 
erfüllt  roerben.  Sie  bürfen  mit  Unterbrechung  ber  3Wab^t}eiten  täglich  jwölf 
Stunben  im  2Mbe  träumen  unb  Vichts  empfinben,  wenn  Sie  baS 
SEBege  bringen.  33eoor  Sie  aber  biefeS  tlofterleben  im  ©rünen  beginnen, 
motten  Sie  mit  uns  bei  einem  ©utsbeftfeer  in  ber  9tod)barfd)aft  einen 
sBefud)  mad)en,  ja?" 

„2Bo  bleibt  bie  tänblidje  Stille,  bie  äbgefefttebenheit!"  flagte  SBalter. 
„3$  felje  fd)on,  eine  fchöne  grau  befud)en,  unb  roenn  es  im  entlegenfien 
SBinfel  ber  2Belt  märe,  fyeifjt  immer,  fidb  in  ben  Strubel  ber  ©efelligfett 
ftürjen." 

„Sie  fabeln.  S?on  einem  Strubel  ber  ©efelligfeit  ift  feine  9iebe.  $er 
©utsbefifeer  t>at  eine  einsige  Xoä)kx,  bic  nod)  nicht  jählt,  unb  eine  grau, 
bie  ganj  einjig  ift." 

„Unb  natürlid)  erroartet,  bafe  man  ifyc  ben  Jöof  macht." 

„SBenn  fte  bas  erroarten  würbe,  wäre  fie  nicht  einjig.  UebrigenS  roiff 
id)  Wichts  mehr  oon  ib,r  fagen.  Sie  follen  fte  morgen  felbft  fennett  lernen." 

3ofepb>  mar  burd)  einige  geilen  oon  geleite  auf  ben  neuen  ©aft  oor: 
bereitet  roorben.  Sie  fd)ten  fehr  befangen  ju  fein.  £err  »on  ©rlacb 
tmponirte  it»r  offenbar,  unb  fie  oertor  ganj  bie  natürliche  Sicherheit  ihres 
SBefenS.  %n  ber  Sunft,  ßonoerfatton  ju  machen,  hatte  fie  es  noch  gar  niefit 
roeit  gebradjt,  roie  Helene  mit  Schrecfen  bemerfte.  Sie  nahm  fid)  »or,  ibr 
bei  nädjfter  ©elegenheit  eine  fleine  Anleitung  über  bas  ©efpräd)  mit 
gremben  ju  geben,  ^ofepfea  fümmerte  fid)  nicht  im  ©eringften  barum,  mos 
bie  ©äfte  intereffiren  fonnte;  fie  erfdjöpfte  ein  %1)ema  bis  jur  Ermattung 
unb  brach  baä  näcbfte  in  bem  Slugenblicf  ab,  als  man  fi<h  bafür  ju  er* 
wärmen  begann.   2ludj  fprach  fte  juwiel  uon  ftdj  unb  ihrer  gamilie. 

2luf  SBalterS  grage,  ob  fie  tnel  befchäftigt  fei,  erroiberte  fte:  „2ldj 
nein.  3JJan  braucht  mid)  nid)t.  3)?ein  SRamt  hat  feinen  99eruf,  mein  Äinb 
bie  SEBärterin,  bie  £öd)in  bie  2Sirthfd)aft  —  nur  ich  h^,e  9tiemanb.  ©S 
fommt  mir  manchmal  oor,  als  ob  ich     Ueberjtüffigfte  in  meinem  £>aufe  roäre." 

Um  bem  planlofen  Umherirren  bcS  ©efpräd)S  ein  @nbc  511  machen, 
forberte  Helene  2Mter  auf,  @troaS  oorjufpieten." 


  IXnt  jniei  Petldjen.    ^9 

„211),  ©ie  finb  mufifattfd)!"  rief  Sofepfia  unb  flatfdjte  in  bie  Jpänbe. 
„$a$  ift  Ijerrlid)!   3$  liebe  bie  SRufif  fo  fef»r." 

äBalter  trug  ein  fdjroermütfyigeä  Sieb  »or  unb  bat  bann  3ofepf)a, 
Jeinem  Setfpiete  ju  folgen. 

„3$  finge  bloS,"  entgegnete  fie. 

2tud)  baä  nodj!  backte  Helene  mit  ©dpretfen.  ^ofeplia,  bie  eine 
fdjöne,  flangootle  ©timme  fjatte,  pflegte  nämlidj  häufig  in  reijenber  Skr* 
roirrung  mitten  in  einem  Siebe  SDielobie  unb  £ert  ju  oergeffen.  9ludj  l>eute 
cerior  fie  gleid)  nad)  ben  erften  £acten  ben  gaben  unb  unterbrach  fiel). 

2Balters8  mufifalifdjeS  geingefüb,!  fdnen  jebodi  gar  nidjt  barunter  ju 
leiben.  <5r  rul)te  nid)t  eljer,  al#  bi«  ba3  Sieb  ju  tabellofem  Vortrag  ge= 
bracht  war. 

©erwarb  unb  £einrtdj  ftaunten  über  btefen  unerwarteten  gortfdjritt. 
grau  Bon  SBalllieim  mar  fefir  gefpamtt,  auf  bem  Stucfroeg  2Balter3  Urteil 
über  Qofepfia  ju  Ijören.  ©r  tonnte  nidfjt  genug  SSorte  beS  (SntjüdenS 
finbeu.  SBeldje  SRatürlidjfeit!  roeldje  griffe!  Sßaljrlid),  biefe  junge  grau 
mar  v>on  einem  $auber,  roie  er  il»n  nie  gefannt.  ©ie  glidj  jenem  bunflen 
93ergij3tneinnid)t,  ba§  in  fdiattigen  SßalbeSgrünben  oergeffen  blüf)t,  unb 
nur  barum  jenes  tiefe,  fierrlicbc  93lau  behalten  t)at,  weil  bie  ©onne  irjin 
nod;  nie  gtutfjoerfengenb  in'S  $erj  gebtieft. 

Helene  fafj  ifm  überrafdjt  an.  SDJerfroürbtger  ÜDienfcb!  bad)te  fie. 
Gä  giebt  für  i^n  fein  grauenratfifet.  — 

®ie  nädjften  2Bod)en  oergingen  für  Sofeplja  in  einem  Taumel  oon 
Vergnügungen.  ©0  glücflid)  roie  jefet  fjatte  fie  fidj  nod»  nie  gefüllt.  ®ine 
faft  ausgelaffene  gröljlidjfeü  befjerrfdjte  fie;  fie  gtieb,  einem  übermütigen 
Äinbe;  oft  erfann  fie  tolle  ©piele,  mit  benen  fie  Helene  5ur  aSerjroetflung 
bradite  unb  kalter  entjiüdte.  Qt  fonnte  fidj  nidjt  fatt  feljen  an  if»ren  an= 
mutigen  ^Bewegungen,  nidbt  fatt  Ijören  an  iljrem  betten  flingenben  Sachen, 
©ie  erfaßten  iljm  roie  eine  fonnige  gee.  ®r  füllte,  bafj  er  einem  jungen 
Serjen  gegenfiberftefje,  roeldieS  einer  leibenfdjaftlidien  Siebe  fällig  fei,  unb 
über  baS  er  mit  jebem  £age  an  9)?ad)t  geroann.  ©er  ©ebanfe,  biefe* 
gtüljenbe  ©mpfinben  ju  roeefen,  reiste  itjn. 

Sofeplja  mar  fo  ganj  anberS  als  bie  »erroöfmten  grauen,  bie  er  bisher 
gefannt;  als  bie  falten,  beredmenben  Metten,  benen  er  auägewtdjen,  ober 
bie  alljuweidjen,  empfinbfamen  ©eelen,  bie  feiner  Seibenfdjaft  fid)  Angegeben 
fjatten.  £ier  umfing  ilm  }um  erften  9M  ber  ganje  Sauber  einer  editen, 
jarten  Sßeiblidftfeit.  @r  füfilte  fid;  rooljt  roie  nie;  er  »ergaf?  jebeS  tänbelnbe 
©piel.  Viel  früher  als  3ofet>f>«  fclbft  roufjte  er,  baj?  fie  ifin  liebte.  Sie 
Situation  fdjien  itim  neu;  fie  madjte  ilm  nadjbenflid),  unb  roaS  ihm  lange 
mdjt  paffirt  roar  —  er  roarb  natürlid). 

Qofepba  hingegen  fam  gar  nicht  jum  Denfen.  ©ie  lebte  einjig  ber 
roomtigen  ©egenroart  unb  forgte  nidjt  einen  2lugenblid  um  baS  9)forgen. 
©er  blaue  .!0immet  ladjte  iljr  tn'e  öerj. 


\50    Ol  Stona  in  Stt3«bow«ö  ((De(ierr.=Sdflefie n).   

Helene  beobadjtete  fte  unb  SBalter  mit  roadjfenber  Unruhe. 

Da*  roar  fein  fofette*,  grajiöfeä  Spiet,  wie  fte  el  liebte;  e*  bro^te 
ein  l)imme(ftürmenber  Grnft  ju  werben,  unb  fte  mufjte  2ttle*  boran  fefeen, 
um  ben  lieben  Sanbfrieben  ju  beroabren. 

Sd»on  roünfdjte  fie  febnlidjft  SBalter*  3tbreife  ^erbei,  allein  ber  junge 
■Kann  fc^ien  gefonnen,  ba*  ®nbe  feiner  £age  in  ber  33iHa  abjuroarten. 

©ine*  9iatf)mittag*  erfebien  Qofepb^a  allein  bei  Helene,  „©erb^otb  b,at 
ein  neue*  Sßferb  befommen,  ba*  er  jefet  oerfud)t,"  erjagte  fte.  „@r  will 
fpäter  Ijerüberreiten." 

„2Ba*  beginnen  nur  beute?"  fragte  SBalter.  „'öefebten  Sie  3)hmf 
ober  lawn  tennis,  ober  finb  Sie  gegen  $>§tc  fonftige  Weroolntbett  für  ba* 
Stillftfcen  eingenommen  ?" 

„3$  bin  ju  gar  9tid)t«  aufgelegt,"  entgegnete  .^ofepba. 

„SBaö  febtt  Sbnen?"  fragte  ÜMter  beforgt. 

,,@igentlid)  9tid)t*.  Stber  idj  bin  fo  unrubtg,  beinabe  forgentroll.  3d) 
glaube,  idj  roar  in  ber  legten  3tU  $u  luftig,  nein  —  nidjt  luftig,  511 
fröblid)." 

„2Ba*  foll  beim  ba*  für  ein  Unterfcbieb  fein?"  fragte  Helene. 

„3fdj  tonn  Dir  ba*  niebt  erftäreu.  Die  £uftigfeit  fann  Gittern  für 
einige  Stunben  oon  außen  anfliegen,  bie  ^röblidbfeit  fommt  immer  au* 
ber  liefe  be*  ©emütb*." 

Da*  roar  einer  jener  2lu*fprüd)e,  bie  SBalter  an  ber  flehten  $rau 
fo  feEir  liebte;  fie  enthüllten  bltfcartig  ben  grübelnben  Sinn,  ber  ibr  bei 
aller  fttnb(id)feit  eigen  blieb. 

„©eben  mir  fpajieren,"  fdjlug  Helene  oor. 

^ofepba  ertjob  fid).  (5*  roar  ein  trüber  sJiad)inittag  mit  roarmer, 
fdjroüler,  gefättigter  Suft.  Sdjon  fanfen  bie  erften  gelben'  Blätter  oon  ben 
Säumen.  „Sebnfücbtige  Sdjroärmer,  bie  ben  Dob  nid)t  erroarten  fönnen," 
roie  öelene  fie  nannte. 

9J?an  näberte  fid)  beut  Sßatbe.  3llte  ©idjen  mit  mäd)tigcn,  fnorrigen 
Stämmen  umfäumten  ben  2Beg. 

ftein  redjte*  öefpräd)  roollte  fid)  entfpinnen.  Da  fam  ein  Diener 
Urnen  nadjgeeilt  unb  bat  bie  ©näbige,  für  einige  Slugenblicfe  nad)  &aufe 
311  fommen.  9lur  ungern  »erlief?  Helene  ba*  $aar  unb  oerfpradi,  fo  balo 
al*  möglid)  jurüdmfebren. 

SMter  unb  ^ofeptya  Heften  fid)  auf  einer  SBanf  nieber,  um  ju  roarten. 
^ftt^trocgen  bätte  Helene  fid)  md)t  ju  beeilen  braueben;  fie  waren  gar  niebt 
ungebuloig.  Söalter  fab  bie  junge  jfrau  oon  ber  Seite  an.  Sie  tmg  ein 
roeifte*  ftlcib,  ba*  in  jarten  SBcllenlinien  fie  umflof?.  (Sr  fomttc  ben  Slid 
nid;t  oon  il)r  lo*reif?en.  Sie  füllte  eS  unb  errötbete  über  unb  über. 
Sßertuirrt  neigte  fie  ben  Dberförper  leidit  oor,  |al*  roollte  fie  Helene  nad)« 
fpaljen.  (St  mufite  an  fid)  bnftett,  um  ber  'yerfudnmg  ju  roiberfteben,  fid) 
»or  ibv  nieoersuroerfen  unb  il)re  #änbe,  ibre  Sippen,  ibre  ganjc  roonnige 


  Hur  5»ei  Deildjen. 


151 


©eftalt  mit  Reiften  Muffen  ju  bebeden.  Sßuftte  er  bod),  fie  würbe  it)n 
erfdjredt  unb  jornig  jurütfroeifett,  wie  feljr  fie  ib,n  aud)  liebte,  benn  e« 
träumte  ifjre  9ieinf>eit  doii  einer  fctjulblofen  Siebe.  Da  fam  ifjin  ber 
©ebanfe,  roie  balb  er  von  if)r  fdjeiben  müffe,  oielleidjt  of»ne  fie  ein  einsige« 
5tfat  an  fein  ^erj  gebogen  51t  tiaben,  unb  feine  Setbenfdjaft  wud)«. 

„9lur  nocf)  wenige  Tage,  unb  id)  fct)e  Sie  oielleidjt  nie  wieber!" 
lagt  er  plöfclid)  mit  6ebenber  Stimme. 

Sie  erfdnidt.  Da«  ©ntfefelidje,  bie  Debe  ifjre*  »erlaffenen  Seben« 
taudjt  »or  iljr  auf.  Sie  ftel)t  ftarr  oor  fid)  t)in,  bann,  al«  ob  fie  reben 
wollte,  wenbet  fie  ben  Stopf,  iljre  3lngen  heften  fid)  mit  einem  wadifcnben 
»lid  auf  ifjn,  bod)  fie  fagt  ü>iid)t«. 

„Sie  werben  midi  nidjt  oergeffen,  nidit  wa^r?"  fragt  er. 

Sie  ift  fef»r  bleid)  geworben,  fief)t  roieber  oor  fid)  t)in,  fdjüttelt  ben 
Äopf  unb  fagt:  „9lie."  Dann  atfjmet  fie  tief  unb  will  aufbringen. 
Dod)  fie  »ermag  e«  nidjt.  Sehnige  2trme  galten  fie  umfd)lungen,  unb 
jugenbfrifdje,  brennenbe  Sippen  preffen  fid)  auf  bie  iljren.  ©ine  Secunbe 
gtebt  fie  ber  SBomte  nad),  bie  über  fie  b>reinflutf>et  .  .  .  Dann  erfaftt  fie 
plöfclid)  eine  wilbe  Sfagft,  fie  reift  fidj  lo«  unb  ffieljt  wie  befinnung«lo« 
bem  SBalbe  su.  @r  if)r  nad).  9J!it  wenigen  Säfcen  l)at  er  fie  crretdjt. 
„3ofepfia!"  jubelt  er. 

Da  bringt  ber  Sd)all  oon  s}}ferbcf)ufen  an  ib>  Dljr,  unb  im  nädjften 
3üt'genbttd  fprengt  ©erfjarb  in  rafenbem  ©atopp  ifinen  entgegen.  Qofepfia 
b>t  nur  nod)  3eit,  au«  bem  SBege  ju  fpringen.  Die  plöfelidje,  blifcartige 
Bewegung  be«  weiften  bleibe«  erfdjrecft  ba«  burd)gegangene  ^ferb;  e« 
wirft  fid)  jur  Seite  unb  fdileubert  ben  9ietter  au*  bem  Sattel.  SDiit  bem 
ßopfe  gegen  einen  Saumftamm  anprallenb,  ftürjt  er  51t  Üwben,  inbeft 
ba«  fdmaubenbe  9ioft  baoonjagt. 

Da«  2llle«  war  in  wenigen  Secunben  gefdjeb>n.  ^ofeplja,  nodi 
jitternb  »on  ben  ftüffen  be*  ©eliebten,  fntet,  if)rer  Sinne  faum  mäd)tig, 
oor  bem  leblofen  ©atten  unb  fud)t  ba«  SBlut,  ba«  einer  tiefen  Äopfrounbe 
entquillt,  mit  i^rem  Dafdjentud)  *u  ftillen. 

„@r  ift  tobt!"  jammert  fie. 

SBalter  erwibert  fein  SBort,  er  tjebt  mit  feiner  ftiefenfraft  ben  $ßer= 
wunbeten  empor  unb  trägt  ifin  wie  ein  ftinb  ber  SBitla  ju. 

IV. 

Helene  »erlor  feinen  lugenbtid  bie  ©eifte*gegenmart,  al«  9Balter  ifjr 
mit  ber  fdjredlidjen  93ürbe  entgegen  fam.  Sie  traf  fofort  alle  nötigen 
SJorfefn-ungen,  lieft  ben  Äranfcn  in  iljr  3t"«"«  betten  unb  fd)idte  in  bie 
Ttädjfte  Stabt  nad)  bem  ärjt,  wäljrenb  £einrid)  telegrapljifd)  au*  SBieit  bie 
fdjleunige  3tnfunft  eine«  ^ßrofeffor*  erbat. 


\Ö2    BT.  Stona  in  StrjebonMfc  (0ejJert.»5d|Ufien).   

Sofeplja  faf?  ju  einet  33ilbföule  erftorrt  an  bem  Saget  beS  Äranfen. 
£aufenb  nrirre  ©ebanfen  flogen  tfjt  butcf)  ben  Äopf;  abgeriffene  9feime  oon 
Siebern,  bie  fie  als  5Unb  gehört,  unb  bie  in  feinem  3ufammenl)ang  mft 
bem  atugenbtid  ftanben.  Klein,  ©erfyarb  burfte  nicf)t  fierBen;  fo  grof?  fotmte 
it»re  ©dfmlb  nidfjt  fein!  6t  mufjte  if|r  erfjalten  bleiben,  it»r  unb  intern 
Äinbe;  et  mufjte  gefunb  werben!  3b, t  ganjes  übriges  Seben  follte  eine 
fdfjroeigenbe  Abbitte  fein: 

©et  fierbetgeljotte  ärjt  etflärte  bie  flaffenbe  Slopfrounbe  als  unge= 
fäfjrticf);  ein  Stopfen  33lut  jebocfj,  bet  auS  bem  tinfen  Dtyr  gebtungen  mar, 
biefj  ilm  bie  Sefürdfjtung  auSfptedjen,  bafj  bie  ©dfjäbelbecfe  burdj  ben  fdbatfen 
älnptall  einen  ©ptung  befommen  f»abe.  3ln  eine  Uebetfüfjtung  beS  Ätanfen 
nacfj  2tttbotf  fonnte  nidf)t  gebaut  roetben. 

9Jad6  fecfjS  6tunben  ttaf  bet  Sßrofeffor  aus  SBien  ein.  @r  fcfjlojj  ftdj 
bet  ©iagnofe  feines  Gollegen  an  uub  fajeidfjnete  bie  ©teile,  roo  bet  muttjs 
majjlidfje  ©pmng  ficfj  befanb.  ©ein  2lu3fprucfj  lautete  etnft,  abet  triebt 
hoffnungslos.  3Bof)l  fdfnoebte  bet  Patient  augenblicfltdb.  in  8ebenSgefaf>t, 
abet  et  fonnte  genefen;  freilief)  roar  bie  SKöglicfjfeit  nicfjt  auSgefcfjloffen, 
bafü  eine  ©ef)itnetfa)uttetung  bie  übelften  folgen  nadf)  nef»  jiefjen  fonnte. 
9flIeS  fnng  »on  bem  93etlauf  bet  nädjften  £age  ab. 

9Jacf)bem  er  tnit  bem  orbinitenben  2lt3te  eine  genaue  ^efjanbtungS* 
roeife  »eteinbart  blatte,  reifte  bet  ^ßtofeffot  nacfj  2Bien  jutücf.  $ett  »on 
©rlacb,  fcfjlof?  fief)  Ü)m  an,  objte  Qofeplja  roiebergefefjen  $u  b^aben.  — 

Sie  93tHa  roar  in  tiefes  ©döroeigen  getaucht;  man  flüfterte  nur,  man 
ging  auf  ben  gufjfptfcen;  eine  ängftlidfje  ©pamtung  tag  auf  allen  ©efidjtern. 
.^etnrief)  unb  Helene  beroiefen  in  biefen  £agen  3ofepf)a  eine  fjingebungS* 
trolle  greunbfcfjaft. 

©nbtidf)  roar  bet  gefütcfjtete  S'etmin  abgelaufen:  0erf)atb3  3"ftanb 
befferte  fidb,  unb  3ofepf)a  atmete  auf.  9teue  Hoffnung  erfüllte  fie,  unb  mit 
ber  Hoffnung  fam  langfam  unb  jögentb  —  bie  Erinnerung.  SBie  roeit 
fortgefdfjeucfrte  Ifögel  feierten  bie  ©ebanfen  an  SBalter  roiebet.  3>etgeblic^ 
fucfjte  fie  fein  33ttb  jurüifjubrängen  .  .  .  9luS  itgenb  einet  gälte  ifitee 
#etjenS  tauajte  eS  oor  it)t  auf.  ©ie  preßte  bie  £änbe  an  bie  ©cbfäfen 
unb  fonnte  es  boef)  niebt  fjinbent,  bafi  eine  füfce,  feiige  Erinnerung  fie 
burcfjglüljte. 

SBie  eine  ftide,  namenlofe  ftreube  tag  es  oft  über  itjt  Stnttife  fyn-- 
gegoffen.  Deffnete  ©erwarb  in  folgen  Momenten  bie  9lugen,  ba  faf)  er  fie 
übettafajt  an.  ©0  roar  fie  ifmt  noef)  nie  etfcfjienen,  fo  roeief),  fo  ttäumerifdb, 
fo  glüdftidfj.   GS  rührte  ilm  tief. 

„Sie  roeif?,  baf3  id)  gerettet  bin,"  backte  er.    „SBie  gut  fie  ift!" 

3ofepf)a  pflegte  ifjn  mit  liebeooller  ©orgfalt.  ©ein  33eroufrtfein  feierte 
immer  aufyaltenbet  surücf.  3roat  uerfanf  et  noefj  bann  unb  roann  in  eine 
9(rt  33ctäubung  ober  fprad)  mit  roeit  geöffneten  Ülugen  oetrootrene  ©inge, 
bodE)  beffette  fief»  fein  3uf'anD  m^  ieoem  ■Stage- 


  ITut  3»ei  Detlefen.   


\53 


Salb  madjte  et  fid)  fcfiroere  Sorroürfe  barüber,  baß  er  in  baS  friebltdie 
Seben  ber  Wia  eine  foldje  Störung  gebraut,  unb  begehrte,  nadj  Slltborf 
überführt  511  werben.  2ttS  nton  feinen  SBünfdjen  nid)t  nachgeben  wollte, 
fteigerte  fid)  fein  Verlangen  311  maßlofer  .fteftigfeit. 

Ser  2trjt  t»ielt  es  für  baS  3wetfmäßigfte,  il)m  ben  SLUHen  ju  tlnm, 
ba  {einerlei  ©efaljr  meljr  bornit  »erbunben  war. 

So  fuljr  benn  eines  Borgens  Sofeptja  mit  ifjrem  (Satten,  vom  Soctor 
geleitet,  nad)  2lltborf. 

Sie  fyatte  alle  Urfadje,  jufrieben  5U  fein.  Sie  Befürchtungen  ber 
3lerjte  waren  grunbloS  geblieben;  als  einige  golge  oon  ©erljarbs  ilranf- 
fjeit  blieb  eine  neiuöfe  Jteijbarfeit  surücf,  bie  fid)  fonberbarer  2Beife  nie 
gegen  feine  grau  richtete.  3Jfit  it)r  mar  er  gütig  wie  nie  juuor.  9luS  feinem 
ganjeit  SBefen  fprad»  Sanfbarfeit.  SBemt  fie  fid)  anflagte,  burd)  ibren 
übereilten  Sprung  ©dmlb  an  feinem  Sturj  511  fein,  wiberfprad)  er  lebhaft. 
&  allein  f»atte  baS  UngtücE  berbeigefüfnt,  weil  er  baS  bnrd)gegangene 
ipferb  nietjt  ju  jfigeln  gewußt  .  .  .  ©eine  frühere  ^üdftdjtslofigfeit  unb 
Strenge  wid)  einer  milben  3ärttid)feit. 

6r  munberte  fief»  jefet,  wie  leid)t  mit  3ofepf)a  auSäufommen  mar. 
@tn  wenig  9iad)fid)t,  ein  freunbticfyer  ©lief,  unb  er  erreichte  mefir  als  ef)e* 
malS  mit  einer  glutf)  oon  sormgen  2Borten.  — 

Snjmifdjen  mar  ber  föerbft  gefommen,  baS  große  3JcaSfenfeft  ber  9iatur. 
Helene  fanb  bie  bunte  Scenerie  in  SBalb  unb  gelb  reijenb;  fie  liefe  aber 
bod)  bie  Äoffer  paefen,  benn  t»om  Sanbtebeit  rjattc  fie  gerabe  genug.  Sie 
ertlärte  &einrtd),  baß  fie  bringenb  einer  (SrljolungSreife  bebürfe,  unb  be= 
ftimmte  ifm,  nadj  einem  mef)rroöd)entltd)en  2lufentf)alt  in  SBien  mit  tipe 
über  $ariS  an  bie  3lioiera  ju  geljen. 

2ludj  für  ©erljarb  mar  eine  Suftoeränberung  geboten;  ber  SCrjt  empfahl 
iljm  3Trco. 

So  mürben  benn  Sd)loß  unb  SHlla  ju  gleicher  3eit  von  if)ren  33e* 
roofmern  »erlaffen.  9lur  ^ofepfiaS  £öd»terdjen,  bie  Keine  ©Ife,  blieb  mit 
ifjrcr  Äinbcrfrau  in  3lltborf  jurütf,  ba  ifire  Sebfjafttgfeit  ©erwarb  51t  fct»r 
aufregte. 

V. 

■Sie  erften  Sage  in  2lrco  erfcf)ienen  3ofepl)a  redit  einfam.  Sie  fremben 
Ü)?enfd)en  ließen  fie  gleidjgiltig;  fie  feinte  fid»  gar  ntctjt  banadj,  SBefannt* 
fdjaften  ju  madjen. 

häufig  fdjrieb  fie  an  Helene.  „216er  rote  umflänblid)  ift  bod)  biefe* 
Schreiben,"  ftogte  fie  einmal.  „33om  £erjen  in  ben  Äopf,  in  bie  &anb, 
in  bie  geber,  aufs  Rapier  unb  nodj  immer  uidt)t  bei  Sir!" 

©in  geft  war  es  für  fie,  roenn  öetenenS  9lntroort  eintraf,  grau 
oon  3Öallb,eim  roar  eine  routinirte  SRrieff d^reiberitt ;  fie  mußte  fid)  ikU  bem 
©eifte  beSjenigen  an3itpaffen,  bem  fie  fdjrieb  —  fie  fouitte  audj  brieflich 

Kort  unb  ©üb.   LXXV.  ?24.  11 


  Dt.  Stona  in  Strjeboroitj  (<Dejterr.\Sd}lef  ten).   


fofettiren,  wenn  es  ber  3M)e  lohnte.  Dlxt  3ofept)a  ptauberte  fie  heiter  unb 
wifcig  unb  crjätjltc  von  Sanb  unb  Seilten,  bie  fie  fat).  SBon  ihren  @rleb= 
niffen  erjä^tte  fie  9iid)tS.   9iur  eine  33emerfung  tiefe  auf  fie  fd)liefeen. 

„Sßenn  grauen  bas  Sewufetfein  b>&en,  ju  gefallen,  bann  fagen  fie, 
bafe  fie  fid>  üortrefflid)  unterhalten.   3llfo:  id)  unterhatte  mtd)  föirigtid)!" 

SineS  £ageS  follte  ftofepha  eine  unerwartete  Ueberrafdjung  erleben. 
2lls  fie  »on  einem  Spaäiergange  nad)  £aufe  jurücffehrte,  rief  it)r  ©erwarb 
entgegen:  „SRathe,  wer  in  2lrco  angefommen  ift!" 

„«Helene!"  rief  ^ofepha,  »on  plö|ltdjer  greube  erfüllt. 
•  «Sehtaefdjoffen!  ©n  &err  ift  es,  ein  intereffantcr  junger  SKann.  9iun 
—  räthft  $u'S  nod)  nid)t?" 

„9tein,  baS  tarnt  id)  unmöglid)  erraten,"  ftanimelte  Sofepha.  Den 
SRamen,  ber  fid)  ib>  auf  bie  Sippen  brängte,  »ermod)te  fie  nid)t  auSjufpredjen. 

2J?it  um  fo  größerer  Seidjtigfeit  tr)at  eS  ©erwarb.  „$err  uon  ©rlad)  ift 
geftern  angefommen.  %<f)  bin  ihm  foeben  begegnet  unb  habe  ihm  gefagt,  bafe 
mir  heute  auf  ber  ^ßromenabe  fein  werben.  216er  Du  fd)einft  ja  gar  nid)t 
erfreut  .  .  ." 

„Da«  ift  roirflid)  eine  Ueberrafd)ung.   33letbt  er  lange  t)iet?" 

„Gr  weife  es  nicht.  ©S  hängt  x»on  9iad)rid)ten  ab,  bie  er  erroartet. 
ÜDlad)'  Did)  nur  rafd)  bereit,  Du  fiehft  etwas  btafe  aus  .  .  .  eS  fehlt  Dir 
bod)  9Kd)tS?" 

„9lid)t  baS  ©eringfte.   3m  ©egentheil,  id)  fühle  mid)  fo  wohl." 
„(Sott  fei  Danf!" 

3ofepb,a  wanbte  fid)  ab,  um  ihre  Bewegung  ju  »erbergen,  unb  ging 
in  ihr  Bimmer. 

Sie  follte  ihn  mieberfehen!  Äein  Smtfd,  nur  um  ihretnrillen  mar 
er  gefommen. 

SBiberftreitenbe  ©mpfinbungen  ftürmten  auf  fie  ein.  $n  ben  3uf>et, 
ber  fie  erfüllte,  mifd)te  fid)  2lngft,  gurd)t  uor  ber  3ufunft.  ©S  war  ja 
jefct  Stile«,  2llleS  anbers  geworben!  ^früher,  als  ©erharb  falt  unb  rücfücbtSs 
los  mit  ihr  war,  überliefe  fie  fid)  ofjne  Veünnen  ihren  (Gefühlen;  fie  roufete 
ja,  bafe  er  nid)t  nad»  bem  Penise  ihres  £erjenS  fragte,  wenn  fie  ihm  mir 
treu  blieb,  ^efct  aber  bewies  er  it>r  mit  jebem  £age,  wie  theuer  fie  ihm 
fei.  Gr  liebte  fie,  unb  feine  Siebe  legte  ihr  Verpflichtungen  auf.  SBte 
follte  fie  SBalter  begegnen?   Sie  »ergrub  ben  .topf  in  ben  £änben. 

„33ift  Du  batb  fertig?"  fragte  ©erharb  aus  bem  ÜRebenjiimmer. 

„©leid;,  mein  greunb,"  erroiberte  fie. 

Ginigc  Minuten  fpäter  trat  fie  mit  ihrem  ©atten  aus  bem  .{Saufe. 
£>err  »on  (frlad)  fam  ihnen  entgegen. 

Sie  begrüfeten  fid)  her.ilid)  wie  gute  ©efannte;  nur  bie  .§änbe  bebten, 
bie  fie  einanber  reidjten. 

Sftan  fprad)  uon  gteichgittigeu  Dingen,  wm2lrco,  »onSBten.  ©erharb  blieb 
ptaubernb  mit  einem  ^Mannten  surüd,  unb  baS  junge  ißaar  fdnitt  allein  weiter. 


  Xlttx  3»ei  Oeildf en.   


[55 


3efct  erft  wagte  äBalter,  ^ofeplja  coli  in'ä  Slntlüj  51t  bticfen.  $n  feinen 
2lugen  Riegelte  ftcf)  bie  ganse  ftreube,  fie  wiebersufefjen.  Sann  glitt  ein 
©Ratten  über  feine  3üge.  „Sie  f)«ben  eine  fdjwere  ftelt  burdjgemac&t," 
fagte  er  in  tiefer  ^Bewegung. 

„$a,  e§  war  furchtbar.  @ine  jener  3«^«/  bie  ganje  &>anblungen 
in  bem  SHenfdjen  fyeroorbringen." 

6r  falj  fte  forfdjenb  an.  „GS  fdjetnt  mirftidj,  bafe  Sie  eritfter  ge= 
worben  ftnb?" 

„$inberi  Sie?  D,  id)  fann  nodj  gerabe  fo  fyerjlidj  ladben,  wie 
früher." 

„Unb  id)  wollte,  idj  fönnte  Sie  börcn  ...  wie  früher.  @3  war 
fo  fdjön!" 

^ofepfia  erfdjraf.  9tur  um  ©otteäroillen  an  feine  genieinfamen  Gr* 
innerungen  rühren.  „SBirflidf)?  $d)  l)a^  fdjledjte«  ©ebädjtnij?.  3$ 
fjabe  2We3  »ergeffen." 

„3t(teö     fragte  er  mit  wetdber  Stimme. 

Sic  tadjte;  in  ifjrcm  Sadjen  mar  ein  gelungener  £on,  ber  if)n 
»erlebte. 

„Safür  fjaben  Sic  etwas  ÜJieues  gelernt,"  fagte  er. 

„2BaS  benn?" 

„©in  graufameä  &td)en!" 

Seine  9ütgen  ftreiften  fie  mit  einem  bitteren  'Borwurf.  Sie  fünfte, 
bafj  er  litt,  unb  fjatte  nur  ben  einen  SBunfd),  tfjn  511  »erfölmen.  2f?it 
ber  alten  £er$tid)feit  rief  fte  au$:  „Sinb  Sie  böfe?  ^er$eil»en 
Sie  mir!" 

„ÜDian  ift  nur  311  leid)t  geneigt,  ^l)nen  ju  oerjeiljen!"  fagte  er  glücftid). 
$n  biefem  9lugenblicfe  fyatte  ©erwarb  fie  erreidjt.  — 

5ÖJef)rere  £age  »ergingen.  SBalter  wufjte  niebt,  mai  er  von  A)ofepl)a 
galten  follte.  Sie  oermieb  es,  mit  ifim  allein  ju  fein;  9lllem,  10a*  er 
fagte,  fud)te  fie  mit  einer  gesnmngenen  $eiterfeit  511  begegnen,  bie  oft  in 
einem  grellen  äStbcrfprudj  ju  feinen  Sorten  ftanb.  Qfyre  bejauberube 
9Jatärlid)feit  mar  perfd>wunben,  unb,  was  er  nie  an  ib>  beobaditet:  e3 
ernmdjte  eine  faft  neroöfc  Sudjt  in  tfjr,  ftd»  in  ben  Strubel  ber  ©cfelligfeit 
%ü  ftürjen.  Sic  würbe  batb  ber  SJttttelpunft  eine*  Greife*,  ber  fie 
bewunberte. 

©erljarb  war  nidit  im  ©eringften  eiferfüdjttg;  er  freute  fid)  über 
;3ofepf»a§  Heine  Sriumpfje  unb  bradrte  tt»r  ein  blinbes  Vertrauen 
entgegen. 

Sßalter  bagegen  füllte  alle  Dualen  ber  Gnferfudjt.  93erfül)rertfd)er, 
begefjrenswertber  beim  je  erfdjien  tfjrn  ^ofepfta,  unb  bie  Sef>nfud)t,  fie  in 
feine  Sinuc  51t  fdjtiefien,  bef)errfd)te  feine  Sinne  mit  übermächtiger  ©eroalt. 
Unb  bod»  gab  e>3  2lugenblicfe,  wo  fein  ©laube  an  fie  erfdnittert  war,  unb 

11* 


{56    m.  Stona  in  Strstbomit;  (<Dejletr.'Sd)Uften).   

er  üc  für  falt  unb  f)erjlo$  f)iett.  2Bteberl)ott  wollte  er  abreifen  of>ne  ein 
2Bort  be*  2tbfd)ieb$,  aber  er  oermodrte  es  nid)t.  Siebte  Sie  tfm?  Satte 
fie  aufgehört,  ilm  ju  lieben?  ®en  feinen  grauenfenner  »erließ  ba§  fidlere 
Urtfjeil,  ba3  er  in  jebem  attbent  gatfe  gefällt  fyaben  würbe.  Seine  Seiben* 
fdjaft  »erroirrte  fein  2)enfen. 

©ine$  2tbenb$  fanb  eine  iJanjunterfiattung  ftatt.  $ofepl)a  Ijatte  iljr 
©rfd)einen  jugefagt;  an  ©erf»arb3  9trm  betrat  fie  ben  Saal.  Sie  mar 
bleid),  unb  il)re  Sippen  umfpielte  ein  neroöfeä  Sädjeln. 

Sei  if»rem  Slnbtid  frampfte  fid)  2Balter$  .$erj  jufammen.  Seine 
ßanb  prefjte  bie  it)rc.  $>ie  junge  grau  erfdbraf  unb  wanbtc  fid)  »on  Umt 
ab  einem  &errn  ju,  ber  fie  um  bie  erfte  £our  bat. 

2Balter3  33(tde  folgten  iljr  mit  lobernber  dual.  9Jur  einmal  trafen 
fie  bie  itjren,  unb  ein  roübe*  SBef)  ergriff  SofepbA  als  fie  feine  fdmterj« 
erfüllten  3«ge  fat).  Sie  flätte  fid)  an  feine  93ruft  werfen,  willenlos  all 
bem  Äampf  entfagen  unb  ba$  Seben  Eingeben  mögen  für  eine  Stunbe  be£ 
©lüd*.  ...  35a  begegneten  itire  Slugen  ©erwarb,  ber  freunblidj  lädjelnb 
ibr  sunidte,  unb  fie  gewann  iljre  Raffung  wieber.  9iid)t  um  fie  allein 
tyanbelte  cS  fid),  c§  galt  ©erljarbs  ^rieben,  e3  galt  il)r  Äiub. 

9118  wollte  fie  fid)  betäuben,  gab  fie  fid)  an  biefem  Slbenb  immer 
leibenfdjaftttdjer  bem  £anje  bin,  unb  auägclaffener  benn  je  fdjtcn  tb,re 
Saune.  3Jtemanb  Ijätte  atmen  fönnen,  bafs  hinter  ber  glänjenbcn  9Wa*fe 
bie  Herjweiflung  fid)  barg.  • 

SBnlter  börte  feinen  9lugenblid  auf,  fie  ju  beobad)ten.  ©r  tonnte 
nid)t  barau  jweifeln,  bafe  fie  fid)  t-ortrefftid)  unterhielt.  93on  ben  £bränen, 
bie  burd»  itjr  Sadjen  silierten,  merfte  er  9lid)t$.  (?3  erfaßte  ifm  plö|lid) 
ber  brennenbe  2Bunfd),  mit  tr)r  ju  fpredjen. 

2Bäf)renb  einer  Sßaufe  trat  er  auf  fie  ju.  Sie  füllte,  baf?  feine 
9(ugen  bie  ibren  fud)ten,  unb  if»r  Slid  wid)  iljm  aus.  25a3  mad)te  itnt 
rafenb.  Gr  neigte  fid)  ju  ifir  nieber  unb  flüfterte  mit  bebenber 
Stimme:  ,,^d)  fiabe  einft  geglaubt,  baf?  Sie  ein  £erj  haben,  aber  2HIe£ 
be weift  mir,  wie  febr  id)  midj  täufd)te.  Sie  fpielen  nur  mit  föerjen, 
unb  $b,tt  ilofcttcrie  ift  barum  raffinirter  als  jebe  anbere,  weil  fie  fdjroerer 
ju  burcftblicfen  ift.  $dj  «ber  l)abe  fie  burdbbltcft,  gnäbige  grau  . . .  feien 
Sie  beffen  fidjer  —  unb  .  .  .  leben  Sie  wot»t  für  immer!" 

Unb  cf)e  fie  nod)  bie  Sraft  fanb,  ein  ©ort  ju  erroibern,  »erbeugte  er 
fid)  unb  »crlief3  fie. 

2lm  nädjften  9)forgen  war  er  abgereift.   sJliemanb  wufjte  woljin. 

VI. 

9Jad)  einem  fed)3wöd):ntlid)en  2lufentljalt  in  9lrco  feljrten  ©crf»arb  unb 
3ofepl)a  in  if»re  .öeimat  jurüd.  ©erwarb,  oöllig  wieber  b,ergeftellt,  war  in 
fröl)lid)fter  Stimmimg.   Sie  fieine  Glfe  erquidfte  feine  WuBeftunben  burd) 


£lur  jwet  Detldjen.   


ifir  rofige«  ©eplaubcr,  unb  SofepH  bie  forgfame,  püitfttic^c  3ofepf)a  gab 
ityn  nie  roieber  Urfad)e,  umnutljig  ju  werben,  ©eine  Slugen  rubren  oft 
mit  innigem  23ot)tgefallen  auf  Ujrer  jiertidien  ©eftalt.  2ßie  Inmmelweit 
t)erfd)ieben  ift  bie  $ofepf)a  »on  einft  unb  bie  Sofeplja  von  fyeute!  fagte  er 
fid)  oft.  ©afj  aud)  er  ein  2lnberer  geworben,  barem  badite  er  nidjt.  (*r 
märe  uollfommen  aufrieben  gemefen,  roenn  nid)t  ©ine«  itjn  befrembet  Ijätte: 
bie  trübe  (Stimmung,  ber  ^ofeplja  fid)  oon  3^tt  5u  &it  tjingab.  Sie 
fomtte  olme  jeben  äufjern  ©runb  einfitbig,  ja  traurig  werben.  Still  bliefte 
fie  bann  oor  fid)  tjtn,  unb  wenn  er  fie  anfprad»,  ba  fd)ten  e«,  al«  muffe 
fie  ifyre  ©ebanfen  erft  an«  weiter  gerne  f)jrbcif>olen,  um  iljm  antworten  ju 
fönnen. 

2Ba«  it>r  roof)t  fehlen  mod)te?  SBergeben«  jerbradi  er  fid)  ben  ftopf 
barüber.  ©ie  Ginfamfeit,  fagte  er  fid)  enbtidj,  ber  Ijarte  SBinter  »erberben 
iljre  Saune.  2Jiit  beut  grityting  unb  mit  Helene  roirb  ifire  gröt»tid)fett 
mieberfeb^ren.   ©amit  tröftete  er  fid). 

©od)  bie  fatte  Qal»re*jeit  mar  e«  nid)t,  bie  ^ofepfya  bebrüefte.  Sie 
franfte  an  einem  anbem  Seib.  3Jiit  einem  fdjrillen  2JHfeton  war  ber  Sraum 
itjreS  &erjen«  serfprungen;  fie  füllte  fid)  oerfannt,  ber  Süge  angertagt  von 
bem  ÜJlanne,  um  beffen  mitten  fie  fo  »iel  gelitten,  unb  biefe«  SBeroujjtfein 
«erbitterte  ir)r  ba«  Seben.  Sie  roar  ja  jufrieben  mit  bem  ruhigen  ©afein 
an  ©erwarb«  Seite;  ba«  leibenftfgaftlidfje  ©ebenen,  ba«  fie  einft  erfüllt, 
roar  erlofdjen;  nur  ben  einen  glütienben  SBunfd)  fonntc  fie  nid)t  au« 
tfjrer  Seete  bannen:  bafj  SBalter  ibr  ©ebäd)tnifj  r>od^r)olte,  rote  fie  e« 
»erbiente. 

Anfangs  2lprit  ferjrten  $einrid)  unb  Helene  in  ifire  Scilla  jturücf. 
Helene  befd)leunigte  ifjre  9lnfunft  3ofepl>a  31t  Siebe,  beren  Briefe 
fie  riefen. 

i^ubetnb  fd)lojfen  fid)  bie  greunbhmen  in  bie  9lrmc. 

„eigentlich  fottte  id)  ©ir  jürnen!"  rief  Helene,  als  bie  beiben  grauen 
fid)  jurüefgejogen  Ratten,  unb  mpfte  ^ofepfja  ladjenb  am  Ofn\  ,,©u  Ijaft 
mir  einen  tneincr  getreueften  3lnbeter  geraubt  — " 

„m  -  ©ir?" 

,,9iatürlid)!  ©einen  ©atten.  ©laubft  ©u,  id)  ^abe  e«  nid)t  glcid) 
gemerft,  bajj  er  jefet  nur  3lugen  für  ©id)  b«t?" 

Qofepba  lächelte.   ,,2ld)  ja  —  er  ift  febr  lieb  unb  gut  mit  mir  — " 

„SBarum  fiebjt  ©u  aber  bann  befümmert  au«  ?  3*  glaube  gar,  roir 
fiaben  Sorgen!" 

,,3ld),  Helene  roenn  ©u  roüfeteft  .  .  ." 

„So  beid)te  ©ir  ba«  Seib  »on  ber  Seele!  2\>05it  bin  id)  benn  ba, 
wenn  nid)t,  um  ©ir  ju  ratzen,  ju  Reifen?" 

Unb  3ofepf»a  begann  ttjre  ©efd)id)te.  Sic  fd)ilbcrte  Sßalter«  Stnfunft 
in  2lrco,  jebe«  2Bort,  jeben  33lidf  bi«  ju  bem  legten  bitteren  SeberoobX 
„Qefct  roeijjt  ©u,  roarum  id)  fo  traurig  bin,"  fdjfojj  fie.    „2Betl  id)  eine 


\58    Ilt  Stona  in  5tr3ebou>ttj  (©efUtr.-Sdjtefien).   

ebjltdbe  grau  bleiben  wollte,  hält  er  mich  für  eine  herjlofe  Äofette,  unb 
biefeS  ©eumßtfein  ift  mir  unerträglid)!" 

„©ein  ©enebmen  mar  eben  banacb,  ibn  an  $)ir  irre  werben  ju  laffen. 
£>u  hätteft  ihm  e^rlia)  bie  SBabrbett  fagen  foHen." 

„£aju  fanb  ich  nidht  ben  2Jiutb/." 

„D  über  6ud)  tugenbljafte  grauen,  bie  ^br  fo  ftolj  feib  auf  @ure 
Störte  unb  bodj  fo  elenb  in  ©urer  Sifyroäcbe!   Unb  maS  nun?" 

„S)aS  frag'  ich  ©ich!  ftannft  £>u  tfun  nidbt  fagen,  rote  3ÜIeS  ge* 
fommen  ift?  Unb  baß  cö  fo  fomtnen  mußte?" 

„Dhin,  mein  ftinb,  baS  mußt  $u  fctbft  thun." 

„$<S)  —  aber  rote?" 

„3Ste?"  roieberholte  grübetnb  Helene,  ©ann  fagte  fie  einfach,: 
„Sdjreib'  cS  ihm.  9lid)\  in  gorm  eine*  ©riefe*.  Grjäbl'  ibm  ein  SJcärcben. 
©S  mar  einmal  ein  cinfameS  grauenberj,  baS  febnte  rieh  nach  Siebe  '.  ." 

„3a,  baS  will  id)  tbun!"  rief  ^ofepbo,  oon  bem  ©ebanfen  bingeriffen, 
mit  (eudbtenben  9lugen.  roitt  ihm  fchreibett,  unb  er  rotrb  midj  »er« 

ftehen.  — " 

Sdbon  am  näc&ften  £age  braute  fie  Helene  ben  ©rief.   „.Qdj  bitte 
©ich,  lies  .  .  .  3ft  es  gut  fo?" 

$eteue  überflog  baS  ©latt  nnb  fab  bie  greunbtn  überrafcbt  an.  So 
Biel  ^artbeit,  f°        ©ollenbung  batte  fie  ttjr  nicht  sugetraut.  .Qofepba 
erjähtte  ein  2Mrcben  oon  ber  jungen  grau  eines  nicbt  mehr  jungen  gifcberS, 
bie  fid)  in  einen  fremben  ©urfdben  ocrliebt  hatte.   Dbne  etwa*  DlrgeS  ju 
beuten,  gab  fie  fid)  bem  befctigenben  Öefübl  ber  ^ugcnb  bin,  bie  fid>  an 
3ugenb  fdjlicßt.   ©a  fcblug  im  Sturm  ber  dachen  beS  gifdberS  um, 
.slameraben  retteten  ben  ©rtrinfenbcn  unb  bradjten  ihn  erftarrt  an'*  Ufer, 
©ei  feinem  2tnblict  erfebraf  bie  grau  bie  in  bie  Seele  oor  bem  ©ebanten 
au  einen  anberen  Sturm,  ber  plöfeltcb  hereinbrechen  unb  oom  ©ater  it/rcS 
jUnbcS  fie  für  immer  trennen  tonnte.   So  groß  ihre  Slngft,  fo  groß  mar 
ihr  ^ubel,  als  ber  öatte  bie  3lugen  auffdhtuc.   Sie  getobte  fteb/in  jener 
Stunbe,  U>r  fölüd  hinfort  nur  an  feiner  Seite  ju  fuchen.  —  SBocben  »er* 
gingen;  ba  fab  fie  ben  ©urfchen  roieber.   Sie  flob  ihn,  er  aber  rief  ihr 
graufame  2Borte  ju,  bie  itjre  ©rinnerung  an  ben  fchulblofen  2Babn,  ber  fo 
fchön  unb  fo  füß  mar,  oergifteten,  toeil  fie  fid)  oon  bemjenigen  oerfannt  fab, 
beffen  Sichtung  fie  oor  jeber  Sfoberen  oerbiente.   ^ofepba  fdbloß  mit  ben 
Korten:  „®3  roaebfen  roobt  am  ©onaujtranb  oiel  blaue  ©eitdien.  9htr 
jroei  oon  ihnen  in  baS  betgefdbloffene  ©ouoert  gelegt,  mürben  einem  grauen* 
herjeu  fagen,  baB  es  oerftanben  ift,  einem  .^erjen,  ba«  oiel  gefämpft  bat, 
bis  eS  51t  jener  Gntfagung  fid)  emporgerungen,  bie  in  fid)  felbft  baS  reinfte 
©tüd  einfcblief5t." 

©as  ßouoert,  roeldjeS  fie  bem  ©riefe  beilegte,  trug  Helenen«  9tbrcffe. 
(Snne  2Bod)e  fpäter  fuhr  .^einrieb  in  bie  Stabt  Helene  batte  abgelebnt, 
ihn  ju  begleiten.   Sie  lag  in  ihrer  Ghaifelongue  unb  baebte  an  3ofeP&«« 


  Hur  3n>ei  Deitdjeit.    J59 

$>a  Köpfte  es  an  bic  £bür;  ber  bereintretenbe  dienet  brachte  bie  ein* 
getroffenen  SBrtefe. 

Helene  liefe  fie  flüchtig  burd)  bie  ginger  gleiten,  ^löfelid)  ftufete  fie. 
2Sa3  mar  bas?  ©in  @ou»ert,  fo  leidet,  als  06  e3  leer  wäre.  Sie  t)ielt 
e3  gegen  baa  Sicht.   ^$a,  bas  waren  fie,  bie  33ettcben! 

Sie  flingette  nnb  befaßt,  foglelcb  einfpannen  5U  laffen.  ©ine  halbe 
Stunbe  fpäter  mar  fie  auf  bem  SBege  nach  9lttborf. 

Sie  traf  ^ofep^a  #aUein  oor  bem  .£aufe.  „3cb  bringe  $)tr  Sotfdbaft!" 
flüfterte  fie  unb  gab  ihr  ben  ©rief. 

„.Öelene!"  rief  Sofepha  ntit  einem  2luffd)rei  unb  brüefte  ihn  an  fid). 
Tann  30g  fie  bie  greunbin  in  ftürmifdber  Aufregung  mit  fid)  fort  in  ihr 
3immer.  &ier  riß  fie  bas  Gouuert  auf.  Qmei  Steildien,  an  ein  ©pbeubtatt 
gefnüpft,  fielen  ihr  entgegen.  .^aucbjenb  brüefte  fie  bie  Blumen  an  ihre 
Sippen  unb  bebetfte  fie  mit  Hüffen;  ihr  ganjeS  SBefen  offenbarte  eine 
namenlofe  Seligfeit.  Sacbenb  unb  roeinenb  jugleid)  fanf  fie  neben  einem 
Stuhl  jit  »oben. 

„Sieb  mich  nidjt  an!"  bat  fie.  „Saf?  midi,  bis  biefer  (Sturm  uorüber* 
geljt.   (Sx  bat  mich  verftanben!   D  Wott,  uüe  glüdlicb  bin  ich!" 

Helene  ftanb  inbeffen  au  bie  Xbür  gelehnt  unb  dürfte  mit  grofjett, 
nieitgeöffneten  Slugen  auf  bie  greunbin.  £>as  tjattc  fie  nie  empfunben! 
2Sie  arm  fam  fie  fid)  »or.  Sie  gebadete  all  ber  untoürbigen  Äofetterien, 
all  ber  bunten  9lbenteuer,  hinter  benett  nicht  ein  warmes  ©efübl  fid)  ge= 
borgen,  unb  fd)aubentb  erfannte  fie  mit  einem  SWale  bie  ganje  Debe  unb 
Secre  ihres  Sebent.  2Bas  lag  ihr  an  ben  Seibenfchaften,  bie  fie  erroerft. 
DJur  Siebe  giebt  ber  Siebe  Siterth.  Sie  hatte  fo  lange  mit  ^erjen  gefpielt, 
bis  bie  Siebe  »erfpielt  war. 

„Xu  Mft  io  ftumm,"  fagte  Mepba  unb  blirfte  auf.  „^d)  fomme  ®ir 
red)t  fittbifd)  »or,  nid)t  wabrV" 

geleite  fcbiittelte  ernft  ben  Äopf.  ;E>atm  fagte  fie  leife:  ,,3d)  be* 
neibe  Tty." 


IDolfgang  £trcf}&acfj. 

Port 

Sltlfceb  &toef3ri. 

—   Bresben.  — 


er  titterarifdtje  SRubrifeneifer  unferer  £age  —  übrigen*  feine 
fpectfifd)  ittoberne  Äranfbeit  —  pflegt  tu  ber  Sieget  mit  jroei 
Kategorien  fid»  ju  bereifen,  ©r  tbeilt,  roaS  ba  freuet  unb  fteudfjt 
in  ber  SBelt  ber  Sitteratur,  in  bie  beiben  grofien  ©ruppen  ber  „2tlten"  unb 
„jungen"  ober  ber  lieben  2lbroed>felung  falber  audj  in  bie  ber  „Obealiften" 
unb  „SRealiften"  unb  begebt  bamit  ju  ben  taufenb  gebfern,  beren  er  bannt 
fidj  fd>ulbtg  madjt,  aueb  ben  taufenbunberften:  tnbem  er  eine  ganje,  grofee 
©ruppe  uon  Seuten  einfadj  ignorirt,  bie  roeber  alt  ftnb  nodj  jung,  roeber 
auäfdrttefjlid)  ^bealiften,  nod)  unbebingte  SRealtften,  bie  aber  in  bem  litterarU 
fdt)ett  ßoncerte  bodt)  fo  geroicfjtige  ^ßarte  fpielen,  bafj  man  fie  triebt  über* 
jeljen  fann,  obne  bamit  baS  Sitteraturbilb  ber  3cit  gerabeju  ju  fälfdjen. 

Zfoxt  ^ugenbjabre  fa^n  in  eine  ^eriobe,  wo  biejenigen,  bie  all  bie 
„2llten"  nochmals  fo  »iel  x>crläftert  unb  begeifert  mürben,  im  3«ritf)e  tt»rer 
©eltung  ftanben,  unb  roo  ber  beutfdje  Sefer  feine  ©ötter  fannte  aufter 
Unten;  in  ben  3lnfang  ber  fiebriger  Safyxe,  ber  %otftt  nad)  bem  Kriege, 
bie  jugteidj  bie  ^orjre  einer  großen,  breit  bafiinflutljenben  liberalen  Strömung 
unb  jenes  »olf$roirtbfd)aftlid)en  2Iuffcfjrounge3  waren,  ber  in  bem  Ärad) 
von  1878  nadnnals  fein  freilid»  nidbt  gerabe  überrafdjenb  fdbneffeS  Gnbe 
fanb.  Der  &egeliam$mu§,  wenn  audj  im  ©runbe  längft  flberrounben,  roarf 
bod)  nod)  feine  legten,  matt  aufleud)tenben  SBetlen,  ber  2Jlaterialt$mu3: 
ftreit  war  nod)  nidjt  »erfhtmmt,  unb  mäditig  mürben  r>or  Mein  bie  ©eifter 
burd)  ^efftmiSmuS  unb  Darwinismus  aufgerübrt,  bie  ibrem  §öl)epunft  jus 
ftrebten. 


 iDolfgang  Kirdfbadj.  - — 


\6\ 


Seine  3"9enbeinbrücfe  wirb  man  fo  leidjt  nid)t  lo3.  Unb  als  ber 
9taturaltömuS  auffam  unb  alsbalb  üppig  in  bie  £alme  fdjofe,  ba  fjattc 
ein  £l)eil  aus  jener  ©ruppe  fid)  überbieS  feine  erften  litterarifd)en  ©poren 
bereite  »erbient.  ©ie  warfen  fid)  ber  norwärts  ftürmenben  unb  attju  oft 
über**  3iet  f)inau3  fdjiefjenben  Bewegung  nidjt  bltnbling«  in  bie  2lrme;  fie 
fknben  i&r  »ielmeljr  fcf>on  fritifd)  gegenüber;  aber  ganj  frcitit^  »ermodjten 
fie  es  aud)  nidjt,  fidj  ibrer  ©inwirfung  ju  entjieljen.  ©aju  waren  fie  nodj 
nidjt  genug  in  fid)  gefeftigt,  nod)  5U  unfertig,  ju  Diel  nod)  in  ber  ©ut* 
wicflung  begriffen.  ©o  entftanb  eine  eigenartige  2Hifd)ung  in  iljnen  —  Unb 
ftdjer  nidjt  bie  fdjledjtefte  — ,  bie  jene  ©ruppe  fc^arf  fonberte  »on  ben  an 
ber  bisherigen  Äunftubung  ftarr  feft^attenben  „Sitten"  unb  fie  nidjt  mtnber 
ftarf  audj  fdjieb  »on  ben  int  aßeinfelig  madjenben  9faturaliSmuS  befangenen 
unb  alles  Uebrige  uerbammenben  „jungen",  bie,  Äinber  einer  anberen, 
weniger  Ijiftorifdjen,  weniger  pl)Uofo»l)tfd)en  unb  faft  mödjte  icf>  fagen, 
weniger  gebilbeten  &e\t  leid)ten  Wersens  ©ötter  ftürjten,  an  bie  jene  Slnbern 
ftd):r  nie  ju  rübren  gewagt  Ratten,  eine  ef)rfurd)tS»olIe  ©djeu  oor  iljnen, 
baS  ©rbt^eil  ifjrer  ^ugenbja^re,  aHjutief  nod)  im  ^erjen. 

3u  jener  litterarifd)en  ©ruppe,  bie  jwifdjen  jwei  SBelten  fo  redjt  in 
ber  «Witte  fteb,t,  gehört  aud)  SBolfgang  ftirc&badj.  Gr  ift  1857  in 
Sonbon  geboren,  ©ein  SBater,  ein  9Jtaler  unb  begabter  ©djüler  SdjnorrS,  »on 
beffen  fünftlerifd)en  gäbigfeiten  unter  änberem  aud)  bie  £e<fengemälbe  in 
bem  9tubenSfaate  ber  2>reSbner  ©alerie  3«upift  geben,  ftamntte  aus 
Bresben,  war  aber  1852  nad)  Sonbon  ausgemanbert,  wo  er  eine  junge, 
geiftüolle  9^einlänberin  f)etratl)ete,  eine  intime  $reunbin  ber  grau  SJionte* 
fioreS,  beS  befannten  ^8t)ilantb,ropen,  ber  in  feinem  eigenen  £aufe  fogar 
bem  jungen  Sßaare  bie  &odjsett  rüftete.  2BaS  in  Sonbon  bamals  an  inter« 
effanten  SDeutfdjen  fidj  auffielt,  ftanb  auef)  mit  ftird)6ad)8  ©Itern  in  regem 
Staffeln:;  fo  inSbefonbere  baä  (S&epaar  Äinfel  unb  gerbinanb  greiligratl); 
Jtarl  S3linb  war  ib,r  £auSnadjbar,  unb  beffen  burd)  fein  33iSmar<fattentat 
1866  ju  fo  trauriger  23erüfjmtl)eit  gelangter  ©oljn  gerbinanb  war  beS 
Meinen  SBolfgang  eifrigfter  ©»telfamerab,  big  ÄirdjbadjS  (Sltem  fd)on  1860 
wieber  nad)  ©reSben  überftebelten.  £ier  ließen  fie  bem  Änaben  feinen 
erften  Unterrid)t  angebenden,  wie  er  f)ier  im  SKefentltdjen  feine  ganje  wiffen= 
fdjaftlidje  9luSbilbung  überb^aupt  erhielt,  juerft  in  bem  aud)  über  Bresben 
InnauS  eine*  guten  JJufeS  fidj  erfreuenben  Straufe'fdjen  Qnftitute,  wo  2ltbert 
HJlöfer,  ber  fid)er  nidjt  nad)  ©ebüljr  gefannte  unb  gewürbigte  Snrifer,  fein 
&auptlef)rer  war,  unb  bann  nad)  bem  £obe  ber  SWntter  unb  nadjbem  ber 
SBater  eine  ©teile  al8  ©irector  ber  ftunftafabemie  in  Gf)ile  angenommen 
f»atte,  bie  il)n  fieben  $abre  lang  »on  ber  Heimat  unb  feinen  Äinbern  ferne 
f)telt,  im  9ieuftäbter  ©mnnafium  bafelbft. 

Sern  greifen  ^ermann  ©rimm  ift  jüngft  bae  ©elbftbefenntnif)  entfdblüpft, 
ba§,  was  bunter  bem  33eginn  biefeS  3!ölirl)unbert*  liege,  ibn  nid)t  meb.r  feft= 
galten  »ermöge.   311?  jwängen  bie  »öm'g  neränberten  SebenSbebingungen 


  2Itfr«&  Stoefjel  in  Dtesben.   


auch  ,u  oölttg  neuer  ©ebanfenarbett,  fo  concentrire  ftd£>  oft'  feine  geiftige 
£f)ätigfeit  nur  noch  auf  bie  ©egentoart.  316er  für  eine  jüngere  ©eneration, 
als  bie,  ber  ©rimm  angehört,  ift  biefe  ©renje  ju  fern  noch  gerücft,  unb 
über  ben  ßrieg  oon  1870  hinaus  oermag  nod)  fautn  ©troaS  baS  Qntereffe 
unfereS  litterarifcben  9Jeuroud)feS  ju  erregen.  ftirchbad)  jebod)  hatte  oon  feinen 
©ttern  nidt)t  nur  bie  Erinnerung  an  jenen  großen  greiheitsfturm,  ber  über 
gan,  ©uropa  babin  gebrauft  roar,  als  Srbtbeit  überfommen,  auch  oon  ber 
geiftigen  Sttntofpbäre  ber  %tit  mar  ibm  ein  gut  ©tücf  baften  geblieben,  in 
ber  ja  aud)  nod)  ein  großer  £heU  berjenigen  atbmete,  bie  feine  Sebrer  waren, 
©er  Srud»  mit  beut  Realismus,  mit  ber  fpecutatioen  ?ßbiiofopbie  hatte 
fid),  roenigftenS  in  ben  Sletteren  »on  ihnen,  nod)  nicht  oolljogen,  unb  maS 
in  ibnen  noch  tebenbig  roar,  tbeilte  fid)  naturgemäß  auch  ibren  <5d)ülern 
mit.  2lber  bane&en  fanben  bocb  aud)  fdjon  bie  neu  bie  3ett  beroegenben 
Sebren  eines  $)arroin  unb  Schopenhauer,  eines  Strauß  unb  Beuerbach 
ibren  (Singang  in  bie  Schule,  unb  bejeicbnenb  für  ben  3^0^  faw* 
sJ?eriobe  ift  es,  bofj  an  bem  ©ptnafium,  auf  beffen  Sänfen  ftirdbbacb  faß, 
ein  naturroiffenfcbaftlicber  3Sanberoerein  oon  ben  Schülern  begründet  rourbe, 
bem  (ich  halb  auch  eine  (Sitte  aus  anberen  ©oinnaften  anfcbloß.  hieben 
naturrotffenfcbaftlicben  Grcurfionen  in  SteSbens  l)errltd)e  Umgebung  Hefen 
regelmäßig  bann  aud)  SSorträge  ber  ÜJtttglieber,  in  benen  man,  oon  ben 
3caturroiffenfd)aften  auSgcbenb,  bem  Urgrunb  aller  Tinge  in  feiner  Söeife 
uacbäufpüren  fid)  bemühte.  „Alraft  unb  Stoff",  bie  „SSelt  als  Sßitle  unb 
23orftettung",  Tarroin,  .öäcfel  unb  .öartmann,  -Wichts  roar  biefen  jungen 
Seuten  fremb,  unb  mit  SBebntMtb  blicft  man  jenem  naturrotffenfcbaftlidben 
Sßanberoerein  roiffenSburftiger  Jünglinge  gegenüber  auf  unfere  beutige 
©mnnafialjugenb,  bie  sunt  großen  Steile  oon  allen  biefen  fingen  9tid)tS 
ober  fjerjlidj  roenig  nur  roeiß,  bafür  aber  im  Jiefcroelieutenant  unb  <£orpS= 
ftubenten  als  ftbeat  gar  oielfad)  einem  ©igerl=  unb  Strebertbnm  nacheifert, 
oon  bem  bie  ^ugcnb  oon  efiebem  SRid&tS  mußte. 

Sugleid)  aber  jeitigte  bie  nachhaltige  unb  feineSroegS  nur  fportSmäfeig 
betriebene  23efcbäftigung  mit  fo  ernften  Singen  bei  oielen  oon  jenen  jungen 
Seuten  eine  geiftige  frühreife,  bie  in  mancherlei  felbftftänbigen  93erfucben 
nach  biefer  ober  jener  ^Richtung  bin  fid)  mauifeftirte.  ^n  ßtrebbaeb  brängte 
fie  nach  ber  Seite  beS  poetifeben  Schaffens,  unb  neben  jabllofen  bid^terif^en 
Sdhülerarbeiten,  bie  ben  (Stempel  oon  foleben  unoerfennbar  auf  ber  Stirn 
tragen,  finbet  fid)  bod)  fchon  auch  SHancbeS,  roas  roeit  über  bie  fmbltdjen 
©eh'  unb  Steboerfucbe  bes  bichtenben  ©nmnafiaften  bJnauSragt.  ®o 
ftammt  bie  in  feinen  „2luSgeroäblteu  ©ebiebten"*)  enthaltene  33atlabe 
„Stranbräuber"  aus  jener  3«t,  fo  bas  Trauerfpiel:  „Sginbarb  unb 
Gtmua",  bas  ber  Slutor  jebod)  erft  bemttädift,  in  oöllig  neuer  Bearbeitung 
freilid),  erfdjeinen  (äffen  roirb;  fo  roar  oor  9lllem  aud)  baS  erfte  33ucb,  mit 


*)  fitipjifl,  SBitljflm  ftritbricfi,  18S3. 


  iVolfgang  Kird)ba<^.   


\G3 


bem  stircbbadj  als  SdjrtftfteHer  »or  bct  Deffenttidjfett  bebutirte,  feine  fdjon 
1878  erfd)ieuenen  „üRärdjen"*),  von  Sfafang  bis  ju  (Snbe  auf  bem 
©mmtafium  gefdjrieben. 

©in  ftarfeS  latent  fpricfjt  aus  biefen  feinen  poetifrfjeu  ©rftlingcu,  eine 
üppig  nmrfjernbe  ^Dicfiterpfjantafie,  ein  pf)Uofopf)ifd)er  £ieffinn,  bet  baS 
Baubergeroanb  ber  SDJärdjenform  nur  lofe  oft  fid)  um  bie  Sdmltern  l)ängt, 
unb  eine  feltene  gätjigfeit,  felbft  foldje  ©rfdjeinungen  unfereS  mobernen 
Sebent,  bie  man  geroöfmlidj  fonft  als  aller  s^oefie  feinblid)  bjnjuftellen 
pflegt,  für  feine  ®idjtung  ficjj  nufebar  ju  machen;  f)erauSsuf)olen,  was  an 
poettfdjem  Sterne  audj  in  Urnen  enthalten  ift,  unb  bamit  einen  ffiirflidjfeits= 
jug,  einen  $audj  mobenten  SebenS  in  jene  ©idjtungSart  ju  bringen,  bie 
au*  bem  iReirfie  ber  ^«ntafie  allein  jiimeift  fonft  bod»  nur  ifjre  SBurjeln 
nät»rt;  Stile«  nur  nicfjt  bie  fjelle  Stimme  beS  Stüters,  ber  aus  einem  un= 
reifen  Slnabengefidjt  bamals  nodj  in  bie  SBelt  blicfte,  als  er  feine  „9Kärdjen" 
fd)rieb. 

Dafür  ift  es  ber  naturroiffenfdjaftticfie  Söanberoerein,  beffen  Spuren 
beutticb.  erfenn6ar,  nid>t  nur  burdj  biefeS  Surf)  allein,  fonbern  faft  burdj 
Äircfjbadjs  gefammte  bidjterifdje  ^robuction  fiinburdj  firfj  »erfolgen  laffen. 
ditxn  äußerlid)  betrautet  frfjon,  fpielt  ber  9laturforfrfier,  ber  Sammler,  ber 
ben  ©rbbau  nadj  irgenb  einer  naturnnffenfdjaftlidben  5Dierfroürbigfeit  buraV 
ftöbernbe  ©eletnte  in  5lird)badjS  SBerfen  eine  große  sJ?oHe;  unterlief»  ift  es 
bie  aus  feinen,  aucb  fpäter  fortgefefcten  naturroiffenfdjaftlidjen  Stubien  ge= 
monnene  SBettanfdjauung,  ber  pbUofopfjifdlje  ttntergrunb  fojufagen,  unb  oft 
aud»  bie  HJtetljobe  ber  ^aturroiffenftfmft,  bereit  2ßdlenfef)lag  faft  aus  jeber 
feiner  Arbeiten  mebr  ober  minber  beutticb,  an  unfer  Dfjr  fcblägt.  2öaS 
naturaliftifdb  an  ÄtrdjbadjS  fünftlerifdjem  Schaffen  genannt  werben  fann, 
räljrt  au«  biefer  Duelle.  2lber  eS  ift  barin  nur  enthalten,  roie  ein  ftarfer 
Ginfdjtag  in  ein  im  Uebrigen  ganj  anberS  geartetes  Öeroebe,  beffen  Structur 
bie  gute  Srfjule  unferer  flaffifrfjen  Sttfjterperiobe  nur  ju  beuttief)  Der* 
rättj.  tiefer  ©infdjtag  wirb  größer  in  ber  $eit,  uarfjbem  ßird)bad)  baS 
©Humanuni  üertaffen  unb  au*  ber  immerhin  burdj  bie  Sdjule  im  2Befent; 
licfjen  beftimmten  ©eifteSroelt  hinausgetreten  mar  in  eine  anbere,  in  ber 
eS  mädjttg  eben  ju  gälten  anfing,  unb  roo  aUjufdjriHe  Trompetenftößc  ber 
erften  titterarifdjen  9teuolutionäre  gerabe  jum  9tnfturm  riefen  gegen  bie  in 
ausgefahrenen  ©teifen  einer  immer  größer  toerbenben  5Berflad»ung  entgegen» 
gefjenbe  fogenannte  ibealiftifdje  Dichtung.  ®enn  er  mar  jung,  wie  bie 
.^eerrufer  alle  ber  neuen,  tmlbauffdjäumenben  SBeroegung,  unb  if)r  ©inftuß 
marfjte  fid)  umfo  ftarfer  auf  ihn  geltenb,  je  mehr  er  in  perfönlidje  33e= 
rüfjrung  mit  ihnen  trat.  So  mar,  als  Gonrab  feine  „©efeflfdjaft"  in 
9JMindjen  begrünbete,  auch  Äirdibarf)  mit  bei  bem  „lebhaften  ^ßlänflergefedfjt 
gegen  genrtffe  nertjocfte  3uftänbe  ber  beutfdfjen  Sitteratur",  baS  aus  biefer 


*)  Stipjig,  SBreitfopf  &  Spartet. 


  2Jlfrtb  5toe§tl  in  Dresbert.   

3eitfd)rtft  ^et  eröffnet  rourbe.  freilich  nur  fo  lange  es  ein  SßtänHergefecbt 
blieb.  211s  ober  in  langen  unb  erbitterten  kämpfen  bann  ein  ruber  2cm 
auf  ©eite  ber  »orroärtsftürmenben  Qugenb  etniureifjen  begann,  ba  mar 
Ätrcl)6ocr)  nierjt  mehr  unter  jenen  „Stümpern",  bie  „ben  eblen,  alten  Soiner 
felbft  als  grasgrünen  Anfänger  ju  bejeiebnen"  fid)  erbreifteten.  Sie 
©Reibung  roarb  reinlich  sratfeben  ihm  unb  ibnen  »offjogen.  Äircbbacb  batte 
genug  an  äffen  ben  „Variier  ©Dreiern"  unb  mef»r  nocb  an  tbren 
„beulten  9lad)rebnem".  9Ktt  fc^arfer  ftltnge  siebt  er  jefet  gegen  biejenigen 
felbft  ju  gelbe,  in  beren  Sager  er  »or  ßurjem  noch  geroeilt  blatte,  unb  ihre 
^rrtbümer  unb  opfert  nrieber  ben  alten  ©öttern,  bie  gänjlid)  freilich  nie= 
mal«  aus  feinem  Serjen  »erbrängt  waren,  felbft  ju  jener  $eit  uid)t,  ba  er 
anfd)einenb  ber  neuen  Sebre  eifrigfter  SCbcpt  geroefen. 

3lun  roiff  ibm  auch  bie  einfettige  2luffaffung  ber  SHMffenfcbaft  als 
SRaturroiffenfcbaft  niebt  ganj  mehr  besagen,  er  lieft  roieber  fteifng  Segel 
unb  benennt  fiel)  als  einen  SBerebrer  feiner  ^bttofopbie.  2Iber  er  »erfällt 
bod)  auch  roieber  niebt  in  baS  anbere  Grtrem,  in  tbörtebtem  Uebereifer  baS 
$inb  mit  bem  93abe  ju  »erfd)ütten.  (Sr  ift  nid)t  blinb  bafür,  baf?  bie 
beutfebe  Sitteratur  aflmäblicb  ju  einer  grauenlitteratur  fierabgefunfen  mar, 
in  roeld)er  ber  nad)  beroäbrten  SRecepten  immer  »cm  SWeuem  roieber  ange* 
fertigte  gamilienblattroman  eine  faft  unumfd)ränftc,  aber  2lffeS,  nur  feine 
fegenbringenbe  Serrfcbaft  übte,  unb  er  beflagt  es,  baf?  es  fo  geworben. 
„Selber  roeif;  td),"  fagte  er,  „bafj  in  35eutfd)lanb  gegenroärtig  gar  »icle 
SJeänner  »on  ibren  grauen  bie  poetifd)e  Uiabrung  fid)  »orfd)reiben  laffen; 
ja,  fie  betrachten  bie  2Birfung  eines  ÄunftrocrfeS  auf  ibre  grauen  womöglich 
als  baS  äftbetifebe  Kriterium  ber  ©adje.  £aS  ift  eine  ^tbatfacbe,  unb 
mit  biefer  SCbatfacbe  abe  Siftorienmalerei  in  Äunft  unb  25icbtung!  9lbe 
©bafefpeare,  abe  ©oetbe  unb  alle  Äunft,  bie  al  fresoo  malt!"  Unb  bei 
einer  anberen  ©elegenbeit,  roo  er  eintritt  für  baS  SRedjt  beS  ÄünftlerS,  fid) 
feine  ©toffe  5U  boten,  roober  es  ibm  beliebe,  ein  j)iecbt,  baS  er  burch 
Gliquen*  unb  ©djulenroeiS^eit  fid)  nid)t  febmätern  laffen  roiff,  fagt  er: 
„®ie  SDlifjacbtung  beS  gefcbicbtlicben  StomaneS,  roelcbe  man  neuerbingS  mit 
einer  geroiffen  tt)cc-äftr)etifcfteit  Itornebmtbuerei  betreibt,  ift  gerabe  fo  »iel 
roertb,  roie  im  anbern  Sager  bie  gefliffentlicbe  Socbmütbigfeit,  mit  ber  man 
bie  SRobernen  unb  9Jtobernften  für  feinen  ©(büß  Sßuloer  roertb,  erflärt." 
ßr  hingegen  roeifj  red)t  roobl,  roaS  an  ben  -Kobernen  unb  SBiobernften  aud) 
©uteS  ift,  su  fcbäfcen,  unb  mebr  als  einmal  greift  er  beShalb  nach  bem 
@cbiffcben,  baS  mobernen  unb  mobernften  SebenS  fräftige  gäben  genug 
bann  in  feine  Sichtung  mit  »erroebt. 

Sie  Sarfteffung  ber  fünfttcrifeben  ©utroicflung  ÄircbbacbS  ift  bto  ber 
©ebitberung  feines  SebenSgangeS  »orangeeilt.  9Jocb  roäbrenb  Äircbbacb  auf 
bein  ©tmtnafium  faf?,  roar  fein  SBater  aus  Gbile  betmgefebrt.  @r  fanb 
feine  beiben  ©ohne  —  ber  ©ruber  beS  Siebter«  ift  ber  befannte  9}(und)ener 
3Mer  gleichen  -WarnenS  —  berangeroaebfen  unb  511  ben  fd)önften  Soffnungen 


HMfgang  Kirdfbad}.   


\65 


berechtigenb.  Stttein  es  mar  il)m  nicht  lange  oergömrt,  ftdj  ihrer  erfreuen, 
unb  nur  furje  3"*  \d)on,  nacfjbem  er  ben  Soben  beS  igeimattanbeS  bt- 
treten,  rourbe  er  ben  ©einigen  roieberum  entriffen.  GS  mar  nicht  oiel, 
roaS  nach  feinem  Tobe  surücfgeblieben,  unb  bie  trüber  roaren  in  ber 
£auptfadf)e  nun  auf  fid)  felbft  angeroiefen,  auf  ihre  eigenen  Gräfte  unb 
gäf>igfeiten.  Unfer  Sinter  bejog,  nadjbem  er  feine  ©omnafialftubien  be= 
enbigt,  bie  Unioerfität  Seipjig  unb  fyörte  hier  ein  paar  ©emefter  lang 
hiftorifdfje  unb  philofopbifdje  SSorlefungen,  roemt  aud)  ohne  rechte  innerliche 
•öefriebigung.  2luf  ber  einen  «Seite  waren  es  allerlei  bid^terifd^e  Richte 
unb  Arbeiten,  roeldf)e  ihn  5U  fehr  befchäftigten  unb  erfüllten,  um  für  Biel 
2lnbereS  baneben  Staum  ju  laffen;  mehr  aber  war  es  noch  eine  5teif»e 
äufjerer  Momente,  meiere  ben  SBunfdj  in  ihm  jeitigen  mujjten,  raf^er  ju 
einer  felbftftänbigen  Stellung  5U  gelangen,  als  bie*  auf  ben  ©dmeden: 
roegen  einer  auf  ein  langwieriges  UnioerfitätSftubium  fid)  grünbenben 
Garriöre  möglich  geroefen  wäre.  GS  roaren  bieS  feine  bef<f)ränften  ftnan= 
Stellen  SDWttel  unb  ein  SSerlöbnife,  baS  er  fd»on  als  Primaner  eingegangen 
mar,  unb  baS  tfm  übermächtig  nun  nad)  einer  Bereinigung  mit  ber  ge= 
liebten  Sraut  brängte.  ©0  roarb  eine  quälenbe  Unruhe  unb  Ungebulb  in 
ib^m  erjeugt,  bie  Um  immer  ftärfer  oon  feinen  Unioerfitätsftubien  abjog 
unb  immer  mehr  ber  Sitteratur  juführte.  ®enn  er  fal)  barin,  baf?  er  ganj 
fiel)  tfjr  roibmetc,  bie  einige  SRögltchfeit,  rafd)  fic^  auf  eigene  güfie  51t 
ftellen,  unb  tnand)erlei  Grfolge,  bie  er,  fo  mit  feinem  Vornan  „©aloator 
9iofa",  frf)on  errungen,  ermutigten  itin  ju  bem  Stritte,  baS  S3rotftubium 
ganj  an  ben  Magel  ju  hängen.  Trotjbem  roaren  es  fdiroere  innere  Ääinpfe, 
bie  er  burdjlebte,  ehe  er  511  bem  entfeheibenben  «Schritte  fid)  entfcfjlofj. 
Slrge  3wctfel  plagten  Um,  ob  fein  Talent  auch  ftarf  genug  ftd)  erroeifen 
mürbe,  um  über  bie  böfen  Tage,  bie  burdj  bie  %aab  nad)  einer  Griffen? 
it)tn  unä«)cifelf»aft  nod)  beoorftanben,  tljm  f)inroegäut)elfen,  bis  er  für?  ent- 
fchloffen  enblirf)  bie  ©cfiiffe  hinter  fid)  oerbrannte,  Seipjig  unb  ber  Um= 
»erfität  ben  Dtücfen  feb^rte,  nach  üDlünchen  überfiebelte  unb  fid)  bort,  noch 
nicht  sroeiunbäroaitsig  3al»re  alt,  oerheirathete. 

ÜHeun  3af)re  lang  blieb  er,  mit  einer  einjigen  größeren  Unterbrechung 
oon  faft  einem  ftafyte,  baS  er  in  Italien  jubradite,  in  ÜKünd)en,  unb  faft 
mit  allen  bort  lebenben  @d)riftftettem,  fo  mit  &e«fe,  Singg,  ©reif,  ©roffe, 
gulba,  ©tieler,  Gonrab,  SBeltrid)  u.  31.  trat  er  nad)  unb  nad)  in  perfönlicfien 
2?erfebr. 

Sie  9Jlünd)uer  Qa^re  roaren  für  .Uirdjbach  mehr  bie  3ahre  einer 
innerlichen  Gntroidlung,  mehr  bie  eines  geiftigen  3luSreifenS,  als  bie  ^aljre 
einer  reichen  unb  bebeutfameu  bichterifchen  5ßrobuctiou.  SBaS  in  ber  3*it 
gäfjrte,  mufjte  aud)  in  ihm  fid)  erft  noch  Koten.  9Zach  feinen  erften 
fchöpferifchen  Slnläufen  ftanb  ilnn  jeber  SBeg  offen,  ©r  fomtte  nach  redhts 
eben  fo  gut  gehen,  roie  nadh  linfs.  2lber  er  roar  boch  ein  oiel  ju  philo= 
fophifcher  ßopf,  um  fid)  bei  ber  Dichtung,  bie  er  ju  nehmeit  hatte,  00m 


\66    aifrtb  Stoefjel  in  Dtesbett.   

3ufatt  allein  nur  beftimmen  ju  taffen.  @r  mußte  ben  neuen  Theorien  erft 
auf  ben  ©runb  feben,  fid)  mit  ibnen  auSeinanberfefeen,  unb  aud)  ben  alten 
SKaln-betten  nochmals  tn'S  ©efidit  leudjten,  ob  fie  jtd)  audj  als  ecbt  nod) 
emriefen,  eöe  er  fidj  entfcbteb. 

Qn  einer  SRetye  non  2luffä|en,  bie  gefammett  unb  mit  einigem  3lnberen 
oereint  unter  bem  Titel  „Gin  SebenSbud)"*)  erfd)ienen  finb,  bat  er  bieS 
aud)  getljan.  «Sie  jeugen  alle  oon  einer  großen  33etefenf)eit  unb  oon  ein' 
gebenbften  ftenntniffen  auf  mannigfachen  (Gebieten  feitenS  ttjreS  SBerfafferS, 
beffen  geiftigeS  SRüftjcug  atterbtngS  ein  ganj  anbereS  ift,  als  bas  fo  mancher 
jüngerer  9lutoren,  bie  mit  erftaunlid)  leichtem  ©epäd  in  biefer  öinficbt  oft 
üjreS  SSegeS  roanbeln.  3tber  fie  jeigen  juroetlen  aud)  einen  fpintifirenben 
©eift,  nrie  er  fo  nieten  feiner  fädjfifdjen  SanbSleute  eigen  ift,  einen  bobrenben 
Tieffinn,  ber  fid)  in  Sacfgaffen  »errennen  fann,  ohne  eigenfinnigerwetfe 
einen  2tuSn>eg  barauS  aud)  nur  jänben  51t  motten. 

3ttö  eine  foldje  Sadgaffe  motten  uns  5.  33.  ÄircbbadjS  Theorien  über 
ben  SBerS  erfdjexnen,  ben  er  als  bie  nratire  realifttfd»e  §orm  ber  Tidrtung 
im  ©egenfaöe  jur  $rofa  preift,  bie  „rein  als  äußerlidbe  gorm  eine  burdwuS 
unbtdjterifdje,  unpoetifd)e  gorm"  fein  foff,  niemals  im  ©tanbe,  eine  poetifdje 
gorm  roerben  ju  fönnen.  2l(Ie  ^rofafcbrtftftetter  unb  felbft  Tutoren,  mie 
TidenS,  Retter  unb  3ola,  finb  ihm  benmad»  im  gemiffen  ©inn  feine  roirf= 
lidjen  ©idjter,  unb  nur  bie  „£albbrüber"  ber  eigentlidjen  Sßoeten. 

(SS  ift  erftaunlid),  roeldjen  Scbarfftnn  ßirdjbadj  aufroenbet,  um  eine 
folcbe  Theorie  ju  ftüfcen,  für  bie  er  immer  roieber  neue  ©riinbe  in'S  Treffen 
ju  führen  meiß.  3«erft  ift  ibm  ber  SSerS  fdbon  beSbalb  bie  raabre  realiftifdje 
^orm  ber  Tidbtung,  meil  bie  üttatur  felbft  in  biefer  realtftifd)en  ^omrbntbmifd) 
arbeitet  unb  ihre  ftraftleiftungen  bewältigt.  T>ann  aber  erfdjetnt  ü)m  bie 
Lebensart,  fein  9Kenfd)  rebe  in  Herfen,  fein  (Sinroanb.  „T>enn  es  rebet 
erft  recbt  fein  SRenfdb  non  9totur  in  ^Srofa.  ®aS,  roaS  mir  Sßrofa  nennen, 
ift  eine  febr  mübfam  errungene  ©enfform,  rocld)e  mir  Sitte  erft  baben  erlernen 
muffen  .  .  .  Tie  $rofa  ift  beSbalb  feine  reatifrifdbe  Jorm,  fonbern  eine 
abftracte." 

3lber  memt  bie  ganse  9totur  aud)  auSfcbließlidj  nur  in  SJlbntbmen 
fprädje,  roaS  fie,  nebenbei  gefagt,  aber  feineSroegS  tbut,  unb  idj  erinnere 
in  biefer  öinfiebt  nur  an  ben  SBinb,  ber  in  ben  unregelmäßigften  unb  un- 
rbi)tbmifd)fteu  Stößen  suroeilen  bodb  fid)  austobt  —  bie  $rofa  bliebe  bod) 
bie  realiftifebere  ^orm  ber  Ticbtung,  fo  lange  bie  3J?enfdben  nicht  in  SSerfen 
reben;  roofern  man  unter  einer  mebr  ober  minber  realiftifdien  ^idjtung  nur 
eine  foldie  nerftebt,  bie  in  mefir  ober  minber  getreuer  SSeife  ba5  ©üb  be>5 
im'rflidjen  SebenS  in  ber  ^idjtung  fimftterifcb  toiberfpiegelt.  Unb  es  rebet 
fein  3Jienfdj  in  Herfen.  Selbft  roenn  man  bie  Äird)bad)'fdbe  9lnfid)t  gelten 
laffen  mitt,  baß  bie  $rofa,  meil  fie  fid)  ber  fogenaimten  ©imtar  in  ibrer 

*)  S.  Gfttermann,  XrfSben. 


  tt»olfgang  Kirdjbadj.    {Cu 

ausgebildeten  gorm  bebtent,  eine  abfttacte  ©enfform  fei,  bie  wir  erft  müt)fam 
alle  t)aben  erlernen  muffen,  bann  ift  biefe  müljfam  erlernte,  abftracte  ^enfe 
form  bod)  bie  reattftifdjere  gönn,  roctt  bie  SRenfdjen  it)rer  fid£>  bebtenen 
unb  ntd)t  ber  urfprünglidien  gorm  beS  23erfeS.  2tber  märe  bann  nid)t  bie 
atlerurfprüngtid)fte  gönn  sugleid)  bie  realiftifdjfte,  unb  mar  biefe  aller: 
urfprüngltdrfte  gorm  wirflid)  ber  23erS?  Unb  bann:  ©pred)en  bie  gifd)er 
an  ber  "Jiorbfee  ober  bie  ^otjfnedjte  in  ben  baoerifdien  SBergen  etroa  in 
funftooll  gebauten  ^ierioben,  ober  mit  einem  größeren  fptaftifdten  2(pparate, 
als  aud)  ber  58er*  it)n  nid)t  entbehren  fann?  316er  fpred)en  fie  beStialb 
in  33erfen?  Unb  fdjeudit  ber  2}erS  wirfltd),  wie  ßird)bad)  an  einer 
anberen  ©teile  wteber  meint,  bie  Grinnerung  an  jene  banale  SBir£lid»feit 
hinweg,  bie  in  einem  Stüde  roie  feinem  „©orbon  $afd)a"  j.  33.  ftörenb 
fonft  es  uns  jum  Seroufjtfein  bräd)te,  bajj  ©orbon  unb  ber  5Diat)bi  ja 
nidjt  beutfd),  fonbern  englifd)  refp.  arabifd)  gefprodjen  l)abcn?  Unb  tl)äte 
er  es,  märe  er  bann  roieber  realtftifd)er,  als  bie  ^ßrofa,  ba  bod)  ber 
realiftifdje  Effect,  bafj  man  nämlid)  jene  fogenannten  „pf)ilologtfd)en  liebem 
gebanfen"  über  ben  23erS  oergeffen  foll,  nur  burd)  ben  SBcr^idjt  auf  bie  23or* 
flellung  erjielt  würbe,  als  märe  es  ein  ©tüd  rotrflidjen  Sebent,  roaS  fid) 
ba  »or  unferen  3lugen  abfpielt? 

9lber  roie  es  ^Jrofa  genug  giebt,  bie  unrealiftifd)  ift  im  l)öd)ften  ©rabe, 
fo  t)aben  roir  aud)  "Wer je  in  $üHe,  bie  reattftifd)er  rotrfen  als  mandje 
Sßrofa,  unb  es  wirb  2llleS  nur  barauf  anfommen,  roie  ^rofa  unb  23erS  ge« 
fymbt)abt  werben,  ©en  fanatifdjen  ^Brofaoerfünbem,  benen  jeber  23er§  wie 
ein  SSerbredjen  gegen  bie  roabre  ^oefie  erfdieint,  ift  Äird)bad)  mit  3{cd)t 
entgegengetreten,  mit  Unredjt  aber  ift  er  umgefeljrt  wieber  felbft  jum  fanati= 
fdjen  23erS»erfünber  geworben,  ber  feine  ©öfter  gelten  laffen  will,  aiifjer 
bem  9tlwtl)muS,  bem  er  meines  33ebünfenS  fogar  eines  feiner  SBerfe,  baS 
£rauerfpiel  „2>er  Ingenieur"*)  ä^nt  Dpfer  gebraut  l)at.  %n  feiner  ur- 
fprüngltd)en  Sßrofafaffung  l)at  baS  ©tüd  in  2Jtünd)en  reid)en  33eifall  fid) 
errungen;  in  feiner  Umarbeitung  in  Herfen  will  es  mir  faft  als  bie 
fdjwädjfte  oon  ßird)bad)S  Arbeiten  erfd)einen,  unb  ganj  beutlid)  fann 
man  an  met)r  als  einer  ©teile  es  erfefjen,  baf?  oft  nichts  2lnbereS  bie 
SBirfung  ber  3)idiiung  beeinträditigt,  als  ber  sl*erS  alfein.  5>lag  man  eben 
Imnbert  ÜDial  aud)  bem  33erS  bie  33ered)tigung  5iigeftel)en,  für  jeben  be- 
liebigen  ©toff  angeroanbt  p  werben;  es  wirb  immer  bod)  £t)cmata  geben, 
bie  meljr  für  eine  ^Srofabetjanblung  fid)  eignen,  als  für  eine  foldie  in 
93erfen,  £t)emata,  bei  benen  bie  ooüenbctfte  3Jleifterjd)aft  beS  SßerSs 
bidjterS  bie  gleite  SBirfung  ju  erbeten  im  ©tanbc  ift,  bie  bem  aud)  weit 
weniger  begabten  $rofafd>riftfteüer  511  erreichen  ganj  mül)eloS  gelingt.  Gin 
foldjeS  S|ema  ift  ber  SBorwurf  beS  Ingenieurs  jweifelloS,  unb  ber  93erS 
ftfet  il)m  bat)er  aud)  nur  wie  ein  getiet)enes  ©eroanb,  baS  ibn  brüdt  unb 


*)  35re8ben,  2.  ®f)termaiin. 


\C,8 


  Jllfreb  Stoegel  in  Bresben.   


beengt  an  allen  Gden  unb  ©nben  unb  i&n  an  jebet  freien  93eroegung 
Ijinbert. 

ÜWit  bem  „Ingenieur"  fajliefjt  gleid)jeutg  bie  erfte  ^ßeriobe  »on 
ftird)bad)S  fünftlerifdjem  ©d)affen,  in  ber  außer  ben  bereits  angeführten 
Serien  nod)  bie  jroeibänbige  9to»elIenfammlung  „Rinber  beS  9fleid)S",  ein 
SBanb  „2luSgeroä1jlte  ©ebid)te",  foroie  baS  £>rama  „$er  3Wenfd)enfemter,"  *) 
entftanben  finb.  GS  war  bieS,  roie  bereits  ermähnt,  mefjr  bie  $Periobe 
einer  mnerltd)en  Gntroidlung  eines  gelingen  ©idjauSreifenS,  2Bad)fen3 
unb  SBerbenS,  als  bie  einer  reid)en  unb  bebeutfamen  bid)terifd)en  Sßro« 
buction,  unb  fo  finbct  fid)  naturgemäß  »tet  ungegofirener  2Roft  nod)  in 
bem  bamals  ©efd)affenen;  baneben  aber  freilid)  aud)  gar  3J?and)eS,  baS 
man  mit  ju  bem  SJeften  jälilen  muß,  roaS  Äird)bad)  überhaupt  b,er»or« 
gebrad)t. 

Wt  bem  im  leiten  ^abje  feines  3Jfünd)ner  3luf enthalt eS  gefdjriebenen 
Sioman  „£>er  SBeltfaljrer**")  beginnt  bann  eine  neue  ^eriobe  feine« 
bid)terifd)en  <Sd)affenS.  $>er  ÜJioft  (jat  auSgegofiren.  GS  ift  fein  £aftenber, 
©ud)enber  meljr,  ber  uns  aus  ben  in  rafd)em  9lufeinanber  fid)  nun 
folgenben  2Berten  entgegentritt;  fonbem  eine  fertige,  gereifte  Siebter* 
pbnfiognomie.  ©ein  „SBeltfafjrer"  aber  bilbet  md)t  nur  äufjerlid)  ben  Slb^ 
fd)iuf?  feiner  2)iünd)ner  %ahxe,  er  siebt  aud)  gleid)fam  bie  (Summe  aus 
allen  ben  Ginbrüden,  bie  ber  £id)ter  in  einer  fo  langen  Beitperiobe 
empfangen,  unb  er  geftaltet  fid)  su  einer  grünblid)en  2tbred)mmg  mit  bem 
9Künd)ner  Naturalismus  unb  beffen  Ijauptfädrtidjften  SBertretem,  con  benen 
einjetne,  mef>r  ober  minber  beutlid)  porträtirt,  in  bem  2ßerfe  felbft  er« 
fd)einen.  Mein  er  ift  beSroegen  nod)  lange  nid)t  etwa  eine  ^utbigung  für 
eine  ftunftübung,  bie,  roie  $ird)bad)  fc^r  roobl  mußte,  in  Gonoentionen  afl« 
mäfittd)  erftarrt  roar.  %m  ©egentljeil;  er  ift  »ielmeb,r  ein  Sßroteft  gegen 
bie  b,erfömmlid)e  3lnfd)auting  »on  bem,  roaS  poetifd)  fein  fott,  unb  roaS 
nid)t.  „GS  ift  bod)  eine  l)errlid)e  3ett,  in  ber  mir  leben,"  ruft  Äonrab 
^ermann,  ein  junger  naturaliftifdjer  Sortier  unb  eine  ber  am  beften  ge= 
5eid)neten  gigiiren  aus  bem  „Sßeltfafirer"  aus,  „nid)t  baS  3eitalter  Römers, 
ja,  nid)t  baS  3^itatter  QtoetbeS  mödjte  id)  um  bie  lebenbige,  gefteigerte 
s4>oeüc  geben,  roeld)e  uns  gerabe  ber  tcd)nifd)e  gortfd)ritt  gebrad)t  hat.  .  .  . 
Sieln't  $)u,  bie  9Wür)lc,  baS  ^Küb^lenrab,  baS  erfdjeint  ^ebermann  poetifd). . .  . 
So  roirb  eine  3^it  fomtnen,  roo  man  aud)  baS  Gifenbafmrab  als  bie  trau» 
lidjfte  ^oefie  bei'tngt,  ja,  mir  fielen  fd)on  jur  Hälfte  mitten  in  biefer  3«t. 
Senn  aud)  bie  9JJül)le  unb  baS  2)?ühlenrab  ift  ja  nur  eine  uralte  3Kafd)ine; 
follten  ba  nid)t  unfre  unenblidj  oerooHfommneten  ®ampfmafd)inen, 
eleftrifd)en  9J?afd)inen  aud)  unenblid)  bid)terifd)er  fein?  GS  ift  nur  ©e* 
roöbnung.   Sdjön  unb  poetifd)  roirb  bie  2Belt  erft  5U  ber  3^tt  roerben,  ba 


*)  ©ammtlicfi  erfdjienen  bei  S.  ©Ijlermann,  Bresben. 
**)  SrtBben,  <g.  «Pierfon. 


EDolfgang  Ktrdjbad;.   


169 


man  2llle3  in  s3)?afd)inen  unb  9)Jed)ani3men  aufgctöft  f)at.  .  .  .  ®a§  ift 
unfre  neue  ^oefie!  ®ie  roollen  nrir  »erfünben;  bie  roiff  td)  (Sud)  bringen!" 

Sie  SBege  biefer  neuen  ^oefie  mar  $ird)badj  freilid)  fd)on  in  feinem 
©rftlingäroerfe,  in  ben  „SJiärdjen"  geroanbelt;  aber  jefct  »ermod)te  er  fie 
bod)  mit  einer  ganj  anberen,  gereifteren  $ef)errfd)ung  ber  fünftlerifdien 
Littel  ju  getien,  roie  efiebem.  2Ber  ben  epifobifd)  in  ben  „Sßettfaiirer" 
evttgeflodrtenen  „2Hiftobenroman"  getefen,  ber  wirb  fid)  aud)  bem  ©in« 
brucfe  nid)t  ju  entjiefjen  »ermögen,  bafj  er  liier  einem  Gabtnetftücfd)en 
gegenüberftetie,  roeld)e-3  allein  fdjon  ba$  Sßerf  über  ba$  $urd)fdmitt§niöeau 
geroölmtidjer  Unterljaltungätectüre  f)inau3  ju  lieben  wermödite.  2lber  baS 
ift  ber  Sfoman  aud)  fottft  in  feiner  SBeife.  2>aju  ift  er  ju  fetjr  gefättigt 
mit  bem  geifttgen  ^ntjalte  ber  3e^-  ®3  ift,  als  fiätte  &ird)bad)  in  bem 
Sßeltfafirer  fein  SebenSroerf  $u  fdjreiben  beabfidjtigt.  9flle$,  mag  ü)n  be= 
roegte,  roaS  er  erlebt,  gcfebeu  unb  gelernt  in  feinem  bis  baf)in  »erliättnifc 
mäjjig  nod)  fo  furjen  unb  bod)  fo  infiattSreidjen  Seben,  bie  ©rinnerungen 
feiner  ©pinnafiaftenjeit  mit  itiren  2icbf)abereien  unb  bem  naturrotffenfdmfte 
ttcr)en  2Banbert>eretn,  beffen  Slnbenfen  baS  Söitd^  aud)  gcroibmet  ift,  feine 
fpäteren  inneren  Äämpfe,  bie  SMtreifen  feines  SBaterS,  alle  feine  mannig; 
fadjen  plnlofoptjifdjen,  naturrotffenfdjaftltdjen  unb  Ijiftorifdjen  ©rubien,  fein 
fingen  nadj  geiftiger  greifieit,  nad)  llnabljängigfeit  von  jcglidjer  Sdjuk 
m  einung,  baS  ganje  Slilb  ber  3ett  mit  if)ren  Imnbertfadj  fid)  burdifreusenben 
Strömungen  unb  Unterftrömungen,  baä  2lllcä,  SCDfe^  fud)te  er  in  baä  eine 
©emälbe  jufammenjufaffen.  Unb  bod)  ift  es  ntcbt  Übertaben,  unb  feine 
frifdjen  garben  erfreuen,  gteidjgiltig  06  fie  aus  bem  naturaliftifc&en  garben= 
topfe  geholt  finb,  roie  in  bem  ©djlufkapitet  mit  feinem  faft  jolamäfeigen 
SluSflingen  ober  in  bem  graufig  paefenben  9iad)tftücfe,  roo  bie  freiroillig  »on 
ibrem  SJtonne  gefdjiebene  grau  Streiter,  bie  nur  beSfyalb  ben  ©atten 
freigab,  bamit  biefer  feinen  in'S  SBanten  geratenen  finanziellen  3>erf)ält= 
niffen  mit  einer  freilidj  ftarf  »erbrausten,  aber  rool)lfituirten  ^önjerin  auf* 
f)etfc,  bem  roieber  oermät)lten  3J?anne,  bem  fie  in  frmiftjafter  Sentimentalität 
felbft  baS  Skautbett  gerietet,  unb  bann  aud)  fid)  felbft  in  ber  £od)seitSnad)t 
bie  ©urgel  abftfmeibet  —  ober  ob  jene  färben  bem  3Katfafteu  ber  ibealifti= 
fd)en  9Ud)tung  entflammen,  roie  in  ber  reiäenbeit  3bnlle  beS  jroeitett  GapitelS. 

Slber  fo  roenig  t)auSf)älterifd)  ber  <£id)ter  in  feinem  „2ßeltfaf)rer"  mit 
feinen  3Kitteln  aud)  umgegangen  ift,  er  \)at  bod)  bei  SBettem  nid)t  fid)  auS; 
3ugeben  »ermodjt,  unb  roaS  faft  roie  ber  Sdjlufeftein  feines  ganjen  £>idjtefr= 
le6enS  fid)  ausnahm,  roar  bod)  erft  ber  ©runbftein  ju  einem  33au,  bei  bem 
ber  Stünftter  emfig  nod)  am  Sßerfe  ift.  3)aS  SBefte  ift  ifjtn  meHeidjt  nod) 
»orbefjalten;  baS  SBefte,  roa§  ib^m  bieder  aber  gelungen  ift,  f»«t  er  gleid) 
in  feinem  näd)ften  Sffierfe,  bem  Süb^nenmärcfjen  „®ie  legten  ajfenfdjen"*) 
gegeben,  einem  Vorläufer  jener  ungesagten  3Jlärd)en,  roeldje  bie  2l>eater  ein 


*)  ®.  gMerfon,  Bresben. 

«ort  mi  Silb.   LXXV.   22*.  1"^ 


\~0    Hlfreb  Stoegel  in  Bresben.   

paar  3at)re  fpäter  als  9lücfid)tag  ber  großen  natitraliftiid)en  föodjflutl)  nun 
uns  attjufreigebig  faft  crebcnjcn. 

©in  ©tücf  für  bie  grofje  3)?affe  finb  bie  „Sefeten  9Jienfd)en"  jebod)  in 
nod)  roeit  geringerem  ©rabe,  als  ber  „SÖettfaljrer"  etwa  ein  9toman  für 
bie  3Kenge  berjentgen  ift,  bie  mit  Ü)rer  Seetüre  nur  bem  platteften  Unter: 
IjaltungSbebürfnijfe  ju  &ütfe  fommen  fönnen  ober  motten;  oiel  rnetjr  iiiib 
fie  ein  ©tücf  für  titterarifdje  geinfdjmecfer,  unb  roie  fie  felbft  f)öl)ere  9ln= 
fprüd)e  an  ben  Stauer  ftellen,  fo  werben  fie  in  ber  £auptfad)e  aud)  foldje 
befonberS  mtereffiren,  bie  it>rerfeits  ein  größeres  3JJaf?  »on  2lnfprüd)en  in 
litterarifd)en  ©ingen  ju  ftellen  geroob,nt  finb.  Slber  baS  fott  nid)t  etma  ein 
Säbel  fein,  'Sie  „Sefcten  9)ienfd)en"  finb  fein  33ud)brama.  ©in  ftarfer 
bramatifdjer  3"Ö  k&t  in  ^nen  tro^  oeS  tieferen  P§ilofopl)ifd)en  ©tnnee, 
ber  burd)  bie  reid)beroegte  ßanblung  b^nburd^fefummert,  oljne  ifm  bod)  mebr 
ju  belaften,  als  etroa  ber  Slütbenftaub,  ber  bie  glfigel  beS  ^alters  über» 
beeft,  unb  eine  glutt)  oon  p&antafie  unb  Stimmung  ift  über  baS  Gtanje 
gegoffen,  bie  aud)  benjenigen  in  iljre  3a«bcrfreife  jroingen,  benen  jener 
tiefere  ©inn  beS  ©tücfeS  immer  ein  ungelöfteS  Stätbfel  bleiben  muft. 

©S  ift  ber  SBetten  ©nbe,  baS  uns  in  ben  „Seiten  9)ienf<^en"  »orgefüljrt 
wirb ;  aber  md)t,  roie  cS  in  ben  uralten  SDJnt^en  gemalt  fid)  finbet,  fonbent 
roie  bie  9?aturroiffenfd)aft  als  unausbleiblich)  es  uns  »orberfagt.  $>te  ©otme 
roill  »erlöfd)en,  unb  ber  ©rbbatl  »ereift. 

„Docrj  et)'  bei  eif'ae  %o\>  bie  ftarre  2Belt  umfcbKe&ei, 

SRod)  einmal  2eben  aus  ber  bangen  9tad)t  entfprie&et, 

Stoaj  einmal  trifft  ber  ©onne  lefeter  ©traf)! 

(Jrroärmenb  in  baS  fiible  (Srbentijal  .  . 

35a  blübt  bie  ffitbe  auf  im  fanften  2id)t  .  .  . 

©in  Sßarabie»  crtDäcbft  im  ©Uberfranse 

$er  ©Sflebirfle  .  .  .  ," 

burd)  baS  ein  UHenfdjenpaar,  bas  lefete,  r)inburd)roanbelt.  Unb  ringe 
um  biefeS  bemm  tummeln  fid)  ju  neuem  Seben  erroeefte  gabelroefen,  gaune 
unb  ©irenen,  Kentauren  unb  Sritonen,  ©aturn  unb  9tympben,  Proteus 
unb  ber  alte,  grofje  5ßan  felbft,  mit  einem  göttlichen  33el)ctgen,  baS  oon 
ben  quälenben  3roetfeln,  "on  all  ben  Seiben,  bie  aud)  beS  legten  3)cenfcr)erts 
paare*  3)ruft  burd)roüt)len,  9iid)tS  fennt  unb  roeifj.  ©S  ift  oft  faft  roie  ein 
©tücf  gebid)teten  SBöcflinS,  au«  beffen  Silbern  in  ber  ©d)ad"fd)en  ©aleric 
ju  3Jlünd)en  .ftirebbad)  ja  aud)  tnannigfad)e  2lnr«gung  empfangen  l)aben  mag; 
aber  eS  roebt  aud)  ein  grofter  tragifdjer  3^9  burd)  baS  ©tücf  l)inburd),  ber 
aus  ber  ©egenüberftettung  jener  mit  glüt)enben  färben  gematten,  faunifcb 
ben  Slugeublicf  geniefienben  unb  um  bie  3ufunft  unbefümmerten  gabelnelt 
unb  bem  unfäglidjen  Jammer  erfliefst,  ber  bie  legten  2J?enfcr)en  ibrem  eigenen 
uitb  ber  ©rbe  fidjer  nabem  ©nbe  gegenüber  erfaßt. 

£>er  red)te  3Kann  mar  t)tcr  an  ben  redeten  ©toff  gefommeu.  SaS 
9Jeid)  ber  ?|3f)antafic  ift  fo  eigentlid)  ,«ird)bad)S  Domäne  unb  baneben  bie 
pl)ilofopl)ifd)e  ©peculation,  unb  in  beiben  9rtd)tungen  fonnte  er  b,ier  nad) 


  IDolfgang  Kttdjbac^.    \7\ 

4?erjenStuft  ftd)  aufleben,  ofme  bod)  Gefügten  m  muffen,  bnrd)  ein  Zuviel 
uad)  btefer  ober  jener  ©eite  l)in,  roie  es  in  anbeten  feiner  SBerfe  ab  unb 
ju  bod)  fid)  geltenb  mad)t,  entroeber  a(S  aflju  p^antaftifc^  ober  attju  tief= 
finnig  3U  erfd)einen. 

©o  rourben  feine  ©d)roäd)en  felbft  ju  SJorjügen  an  biefem  ©toffe,  an 
beut  ber  2tutor  einen  ebenfo  glücflidjen  ©riff  getfjan,  wie  an  bem  Stoffe 
ju  feinem  näd)ftfolgenben  unb  bisher  rooljl  oerbteitetften  SBerfe,  bem  „Seben 
auf  ber  aBalje"*).  ©o  grunboerfd)ieben  bie  beiben  SSoramrfe  aber  aud) 
finb,  es  leitet  bod)  eine  SBrücfe  »on  bem  einen  jum  anbem,  bie  nad)  einem 
rein  aus  bem  SBoben  ber  Ißfiantafie  entfproffenen  SBerfe,  une  bie  „Seiten 
SHenfdjen"  eS  finb,  bie  SBaljl  eines  Steinas  oerftänblid)  erfdjeinen  läßt,  in 
bem  baS  erbärmliche  Seben  beS  £anbnierfsburfd)en  unb  SJennbruberS  bebanbelt 
ift.  Unb  biefe  SBrücfe  ift  nid)t  nur  in  bem  ©ontraft  51t  fud)en,  nidjt  nur 
barin,  bafj  baS  SJenbel,  nad)bem  eS  nad)  ber  einen  ©ette  fid)  aus* 
gefd)roungen,  nun  aud)  jurücf  unb  nad)  ber  entgegengefefcten  ©eite  fd)lagen 
mui  SUrd)bad)  ift  fein  ©efettfdjaftSmenfd),  fein  SJiann  beS  glatten  ©alonS; 
er  fü&lt  fid)  am  rootjlften  in  SBalb  unb  glur,  auf  roetten  gujjroanberungeit 
ober  in  ber  ©title  feiner  ©tubirftube,  oertieft  in  feine  S3üd)er  unb 
©tubien,  unb  er  fennt  bemnad)  bie  il)m  gleichgültige  SBelt,  bie  bie  ©alonS 
beoölfert,  roeit  weniger,  als  jene  SBelt,  ber  er  baS  gröfjte  Qfntereffe,  eine 
roarmfiersige,  tiefe  Siebe  entgegenbringt,  bie  SBelt  ber  ®id)ter  unb 
©enfer,  nrie  baS  Seben  unb  SBeben  braufeen  in  ber  9Jatur.  ©auon  Imt 
er  jioei  ©eiten  biSfjer  uns  nur  gefdjilbert,  im  „SBeltfafyrer"  baS  ftille,  ge= 
^eimnifeoolle  Seben  ber  *Bftanjenn>elt,  in  ben  „Seiten  9Renfd)en"  baS 
treiben  aller  ber  gabetroefen,  mit  benen  feine  iptjantafie  tljm  bie  9tatur 
fceoölfert;  nun  roenbet  er  fid)  aud)  bem  ju,  was  an  2Kenfd)enfinbern  im 
2)unfel  beS  SBalbeS  ober  auf  ber  jroifdjen  enblofen  gelbem  fid)  baf)in= 
jiefjenben  Sanbftrafje  umljerfrabbelt,  jener  tagfdjeuen  S3rüberfd)aft,  bie  fein 
anberes  .§eim  b,at,  als  9Jiutter  ©rün  unb  bie  $enne.  Unb  er  fcfjitbert 
fie  trofe  bem  n>afd)ed)teften  9kturalifteii.  Gr  fennt  irjre  ©prad)e,  jenes  feit« 
fame  9Jotf)roelfd),  in  bem  fie  mit  einanber  »erfef)ren,  unb  ifire  ©doofin* 
Reiten,  alle  bie  -Jiüancen  ber  ©pecieS,  u)re  guten  unb  böfen  ©eiten,  unb 
er  roeifj  fie  plaftifd)  unb  anfd)autid)  genug  uns  ju  fd)ilbent.  ®aft  ber 
^Hornau  überbieS  in  eine  3e^  ftd/  wo  cine  9anäe  SKdjtung  in  ber  ftnnft 
mit  Vorliebe  baS  Seben  ber  Enterbten  unb  (Henben  jum  ©egenftanbe  tfyrer 
®arfteHung  m«d)te  unb  bei  bem  eben  Ijerrfcfjenben  grofjen  ^ntereffe  für 
alle  fogenannten  focialen  fragen  aud)  ben  tebtjafteften  SBiberbaK  erroecfte, 
in  eine  3«t/  wo  bu*0)  beS  Geologen  ^aul  ©öfire  intereffante  ©tubie: 
„®rei  ÜKonate  gabrifarbeiter"  bie  SSjeilnalmte  für  bie  in  Äird)bad)S 
SBerfe  gefd)tlberte  9)?enfd)enflaffe  gerabe  eine  befonberS  ftarfe  war,  uer« 
modjte  beit  SBertf)  ber  Slrbeit  freilid)  nid)t  ju  erb,öf)en;  aber  eS  oertjatf 


*)  SBerlin,  herein  ber  Südjerfremtbe. 

12* 


\72    aifteb  Stoegel  in  Bresben.   

bem  ;8ud)e  boct)  mit  311  einer  größeren  Popularität,  al3  frühere  Slrbeüen 
be$  2lutor3  ifirer  mef»r  ober  minber  ftarfen  (Srclufioität  roegen  fid)  je  »er» 
muttjlidj  errungen  Ratten,  fo  baß  $ird)bacE)  feit  bem  „Seben  auf  ber  SBalje" 
roofjl  mit  $u  bem  r>erf)ättnifmtäfsig  fefjr  Meinen  Greife  oon  3tutoren  ju 
5äf)(en  ift,  beren  tarnen  aud)  roeiteren  Greifen  geläufig  finb. 

2lber,  als  märe  e§  ibm  barum  su  tlntn  geroefen,  nad)  biefem  feinem 
erfolgreichen  SBerfe  nidit  ein  für  alle  ÜM  jum  SJaturaliften  geftempelt  ju 
werben,  fo  finben  mir  ben  3Md)ter  fd>on  in  feiner  nädjften  größeren  2lrbeit, 
bie  er  auf  eine  «Sammlung  »on  9to»effen  unter  bem  £itel  „^Miniaturen"*) 
t>at  erfdjeinen  laffen,  in  „Te$  Sonnenreidje«  Untergang"**)  auf  ganj 
anberen  pfaben.  63  ift  ber  2Bcg  ber  f)iftorifd)en  Stragöbie,  ben  er  bie«« 
mal  fdireitet,  ber  2Beg  ©fiafefpeareä  unb  <Sd)ilIer3,  auf  bem  er,  ob  er 
gteid)  nie  Um  bisher  nod)  geroanbelt,  merfroürbig  gut  fid)  jured)t  ftnbet. 
(Sans  anberS,  roie  in  ben  33ü^nenroerfen  feiner  erften  ©djaffengperiobe, 
roie  im  „Ingenieur"  unb  im  „3Renfd)enfenner",  ift  er  jefct  £err  be£ 
ted)mfd)en  ^anbroerfsjeugs,  fennt  er  bie  ftorberungen  be3  Sweaters,  weife 
er  feine  ^anblung  3U  gruppiren  unb  bramatifd)  roirffam  aufjubauen.  ©er 
gortfd)ritt  ift  ganj  uiroerfennbar.  £>te  §lügel  finb  ttmt  geroad)fen,  unb  fie 
erlabmen  md)t  inebr  nad)  furjem  lytuge,  fonbern  tragen  ilm  fid)er  empor 
nad)  bem  l)of)en  3wfe,  ba?  er  fid)  geftecft. 

63  ift  ein  banfbareS  21jema,  bie  Eroberung  $eru3  burd)  bie  ©panier, 
ba3  ber  £id)ter  fid)  roteber  3um  SBorrourf  für  feine  £ragöbie  ertoren,  reid^ 
an  tragifd)en  Momenten  unb  roirffamen  Gontraften,  bie  nad)  einer  $ra* 
matifirung  förmtid)  ju  brängen  fd)einen,  unb  bie  e3  un§  oergeffen  laffen, 
nrie  fernab  jene  6reigniffe  alle  unä  im  örunbe  liegen.  SSBad  in  bem 
Stoffe  tag,  tjat  JUrd)bad)  aud)  gefd)i(ft  l)erau3üulrolen  oerftanben.  2lber 
ebenfo  gefdndft  bat  er  sugleid)  mit  feinen  fünftterifd)en  Mitteln  IjauSjutialten 
geroufit,  unb  ob  baä  ©rama  aud)  feinen  ^öbepunft  am  6nbe  beä  jroeiten 
9lcte§  fd)on  erreicht:  eä  roeifi  bod)  bis  jum  ©d)luf?  nod)  un§  ju  feffeln. 
Ter  3*erfud)ung  in  biefem  „Gulturbrama"  ber  ©djilberung  jene«  b>d)ent= 
roicfelten  6ulturjuftanbe3,  rote  er  un$  in  bem  auf  communiftifdier  ©ntnb= 
läge  aufgebauten  peruanifd)en  ©taatäroefen  in  brafttfdjem  ©egenfafce  ju  ber 
empörenben  Barbarei  unb  ©raufamfeit  jenes  bigotten,  robben  unb  aßen 
Softem  ergebenen  fpanifdjen  ^ßöbelbaufenS  entgegentritt,  beffen  £?ü(jrcr 
^ijarro  nid)t  einmal  beä  SefenS  unb  ©d)reibenS  funbig  mar,  auf  ftoften 
ber  ©efammtroirfung  einen  aHjubreiten  SRaum  ju  gönnen,  ift  $ird)bad)  ba= 
bei  flug  au>J  bem  SBege  gegangen,  unb  roaä  er  an  culturbjftorifdjen 
SRemini^censen  geboten,  cjat  er  biScret  unb  ofjne  alle  9lufbringlid)feit  get^an. 

Sd)abe,  bafj  gerabe  bie  Hauptfigur  be§  2)rama«,  ber  lefcte  ^nfa 
9ltal)ual[pa,  einige  Ungleid)f»eiten  in  ber  6l»arafter}eid)nung  aufroeift.  3m 


*)  Stuttgart  1892.  3.  ^oita. 
**)  TrtSben  1894.   @.  spifrfonB  Sfrtag. 


  tDolfgang  Kirdjbadj.   


erften  2lcte,  in  bem  Qmtfie  mit  feinem  Araber  £uasfar,  ben  2ttatmallpa 
t>om  Throne  oerbrängte,  um  ftä)  felbet  barauf  jn  fefeen,  finb  bte  ©rnnpaibjen 
beS  3uf^auw*  im  ©runbe  alle  auf  &uaSfarS  ©eite.  Unb  mit  9teüK. 
35enn  wenn  2ltafmaHpa  alle  feine  SSerroanbten,  bie  ju  bem  35ruber  geftanben, 
HTCänner  unb  grauen,  nacfj  glüdTicfj  errungenem  ©iege,  auf  baft  fic  itmt 
nidjt  weiter  gefätjrlicf)  werben  fönnen,  in  ben  gelfenabgrunb  ftürjen  läjjt 
unb  iljnen,  benen  in  wenigen  2lugenblid?en  bie  „^eiligen  Häupter"  äerfdjlagen 
werben  fotten,  auf  itirem  traurigen  SBege  jur  SRicfjtftätte,  als  wollte  er  fic 
ttodj  f)iu)nen,  juruft: 

„SBie  flliitfli*  fetb  3&r  Mtl  3&t  ge&t  tfn, 

2Bo  ®ndj  unftetblidj  £eben  blühen  wirb, 

Snbefien  wir  in  bicfex  SBelt  ber  Slrbrit 

9?odj  länget  unf're  SJlü&fal  tragen  muffen!" 

fo  fann  man  nicfjt  anberS,  als  mit  £ua*!ar  ficf)  über  eine  fo  grobe 
£eucf»elei  in  tieffter  ©eele  ju  entrüften.  ©S  wirb  ©inem  ferner,  bemfelben 
URanne  bann  in  ben  £agen  feines  UnglücfS  jenes  9ftaf}  »on  3)Jitleib  ent* 
gegenjubringen,  bas  ber  $>idjter  in  uns  offenbar  ertoecfen  miH,  unb  bas 
wir  fidber  fonft  audfj  für  ib^n  empfunben  bitten.  Unb  mit  SRüb^e  nur  oer= 
mag  man  beSfjalb  in  ber  fonft  b>d)bramatifcf>en  ©cene,  wo  Sttafjuatlpa  in 
ber  3fi)nengruft  bie  3Jhtmien  ber  tobten  3ftfa8  befragt,  ef»e  er,  ftdl>  31t 
retten,  ben  Sruber  b^eimlid)  um'S  Seben  bringen  täfjt,  ben  ©ebanfen  $u 
unterbrüdten,  ob  biefer  grofje  Äomöbiant,  als  ber  er  im  erften  3lcte  fidE) 
erwiefen,  nidjt  aud)  Ijict  abermals  unrein  S^eaterftüdldjen  aupbrt,  wäbrenb 
fein  Gntfdilufj,  ben  23ruber  ju  opfern,  längft  fdjion  gefafjt  mar,  unb  baf? 
ein  ©dmrfe,  2ltaf)uallpa,  fomit  iiier  nur  an  einen  nod)  weit  größeren 
©dfmrfen,  Sßijarro,  geraten. 

Um  fo  beffer  ift  &trd>bad>  bafür  bie  Gfiaraftertftif  ber  ©panier  ge= 
lungen,  unb  für  einige  ©dm>äd)en  beS  ©tüdfs  bietet  er  reic^ttd)ctt  ©rfafe  in 
einer  3tetb>  unleugbarer  Sßorjüge,  fo  in  einer  brillanten  garbengebung, 
bie  bie  Silber  tängftoergangener  Seiten  lebensfrifd;  uns  oor  bas  3luge  ftellt, 
unb  in  einigen  fein  abgetönten  lnrifd)en  Momenten,  bie,  als  5Ruf)epunfte 
gleidifam,  bie  bramatifd)  ftarf  bewegte  2lction  ftimmungSooH  unterbreiten. 
Smmerlnn  war  es,  fo  banfbar,  wie  ermähnt,  bas  £b>ma  einerfeits  aud) 
ift,  auf  ber  anberen  ©eite  bod»  ein  nidjt  ju  unterfdjäfcenbeS  SBagnift,  in 
ber  gät  3&fenS  unb  beS  focialen  SrauerfpielS  für  eine  tiiftoriidje  £ragöbie 
in  fünffüßigen  Jamben  nodj  ^futercffc  erroecfen  ju  wollen;  aber  ber  ©rfolg 
ber  erften  2Iuffül)rung  am  ©reSbner  £oftfieater,  ber  weitere  2tuffüf)rungen 
auf  einer  ganjen  SRetfje  erfter  Sühnen  folgen  fotten,  b>t  es  allein  fd)on 
bewiefen,  baft  bas  SÜBagnifj  geglüdt  ift. 

©inen  ungleidj  größeren  SBagemutf)  b>t  $it#adj  aber  bodf)  nod)  mit 
feiner  nädjften  £ragöbie  „Oorbon  $Pafcf»a"  bewiefen.  9Bir  baben  bie  ©r- 
eigniffe  alle  miterlebt,  bie  bem  ©tüdfe  ju  ©runbe  liegen.  2Wit  ängftlic^er 
Spannung  fiaben  wir  f.  3«  monatelang  baS  SßorwärtSbringen  beS  ßntfat= 


\71(    Zllfteb  Stoejjel  in  Dresden.   

Iieeres  unter  SBolfeten  oerfolgt,  in  banger  Grregung,  06  es  nod^  gelingen; 
würbe,  ©orbon  unb  feine  ©etreuen  su  erretten,  um  enblid)  bte  Äunbe  von 
bem  »er^ängniBootten  „,3"  fpät"  ju  »ernebmen.  Unb  nun  foff  uns  baS 
Sitte*  auf  bem  Sweater  »orgefübrt  roerben,  unb  nid)t  etroa  in  einem  äus« 
ftattung*ftücfe  ober  in  einer  jener  ©enfationsfomöbien,  bie  mit  SSorliebe 
ja  be*  2fllerneueften  unb  2lctueflften  ftd)  bemädbtigen,  fonbero  in  einem 
ernftgemeinten  Drama,  ba*  mit  ber  »ollen  ^Prätention  einer  roirflidjen 
litterarifdjen  Seiftung  auf  bcn  ^ßlan  tritt.  Das  Grperiment  ift  neu, 
roenigfteits  für  unfere  Tage.  2Ü>er  roarum,  meint  Äirdjbad),  fotl  ba«,  toa* 
oor  mebr  als  jroeitaufenb  ftabren  bem  2lefcbt)lus  mit  feinen  Werfern  et* 
laubt  mar,  oljne  bafj  ein  b9Poa)onbrifd)er  äftbetiidier  Gober  es  ibm  r»er= 
roebrte,  nidjt  aud)  bem  mobernen  Didbter  geftattet  fein? 

Die  3*iten  babeu  fid)  geroanbelt,  bte  ÜWenfdben  am  Gnbe  be*  neun« 
jebnten  ^abrbunberts  finb  biefetben  nidjt  mebr,  rote  bie  in  Slefdjnlu*'  ober 
©^afefpeare«  Tagen.  Sie  finb  weit  roeniger  naio,  als  jene,  ju  febr 
barauf  erptd)t,  bte  Didjtung  barauf  Ijin  anheben,  ob  fie  aud)  nur  ber 
35?abrbeit,  ber  2Birflid)feit  eutfpräd)e,  ju  roenig  baran  geroöbnt,  bie  (Sin* 
ridjtungen  unb  Grrungenfdjaften  unfere«  mobernen  Sebens  aud)  al*  poetifdje 
©(erneute  anjufe^en,  beren  eine  b°bere  9lnfprüd)e  erljebenbe  Didjtung  febr 
roobl  fid)  bebienen  barf.  Unb  besbalb  ift  ba«  Unternebmen,  ben  Seit* 
genoffen  ein  Drama,  ba*  fie  felber  miterlebt  b«ben,  im  «Spiegel  ber 
Did)tung  oorjufübren,  bentptage  ein  ganj  anbers  gewagtes,  als  es  ebebem 
geroefen,  unb  aud)  be*roegen,  roeil  bie  ©efaljr  aHjunabe  liegt,  in  ba«  ©enre 
eben  jener  ©enfationstomöbien  biteinjugeratben,  »on  benen  roir  eben  ge* 
fprodjen.  ^nbem  Äirdjbad)  feinen  „©orbon"  in  3?erfe  go&,  bot  er  biefe 
tefcte  JUippe  roenigftens  mit  ©efdbid  5U  umgeben  gerouf3t.  3Son  oomberem 
bat  er  bamit  fein  Drama  in  ein  böbere*  9Ji»eau  gerüdt  unb  ben  3ufd)auer 
ju  einem  ganj  anberen  ÜWaftftab  für  bie  33eurtbeilung  gejroungen,  fo  feljr 
befremblid)  e*  für  ben  erften  2lugenbltcf  aud)  roirft,  ©orbon  ^fctfdja  ober 
ben  33erid)terftatter  ber  Dirne*  mit  bem  febr  roenig  poetifd)  flingenben 
■Jiamen  sporoer  in  SBerfen  reben  ju  bören. 

äßie  in  bes  „@omtenreid)es  Untergang",  fo  finb  es  aud)  bier  jroet  SBelten, 
bie  einanber  gegenüberfteben.  Stber  biesmal  finb  nid)t  roie  bort  bie  SSilben 
bie  befferen  aJfenfd)en,  fonbern  bie  burd)  ben  eblen  unb  bod)berjigen  ©orbon 
rcyräfentirten  Guropäer,  benen  im  9)?abbt  unb  beffen  laroinenartig  ftd> 
meb,rcnben  Slnbängern  eine  nad)  auften  jroar  glanjüolle  ©ruppe  entgegen« 
gefegt  roirb,  glanjooll,  roeil  im  Steftfce  einer  ungeheuren  3Had)tfülle,  aber 
morfd)  unb  faul  im  Innern  bis  auf  bie  $nod)en,  roeil  auf  Süge  unb  ©einig 
aufgebaut.  Unb  roie  in  bem  Qnfabrama,  fo  erliegt  aud)  bier  ba*  ©ute 
im  ftampfe  mit  ber  brutalen  Uebermad)t.  Da*  Sööfe  triumpbirt.  9lber 
e*  ift  nun  einmal  fo  ber  ©ang  ber  Greigniffe  geroefen,  an  benen,  gerabe, 
roeil  fie  uns  fo  »erjrceifelt  nabe  liegen,  freilid)  nid)t  »iel  fid)  änbern  lieft,  unb 
Äird)bad)  glaubte  oon  ber  biftorifcben  SPabrbett  fd)on  be*roegen  umforoeniger 


  nJclfgang  KSrdjbadf.  


U5 


abweisen  ju  bürfe«,  als  eben  biefe  SBirflidjfeit  im  oorliegenben  gälte  it»m 
„baS  befte  ct^tfdf>e  unb  ftttlidje  2)fotio  bcr  ganjen  Did)tung"  ju  fem  fd)ien. 
Unb  bod)  wäre  eine  Heine  9letoud)e  ber  2Birftid)feit  bem  ©efammtbilbe 
»telleid)t  oon  33ortf)eil  gewefen,  in  betn  bie  einseinen  gtguren  immerhin  plafttfd) 
unb  fd)arf  oon  betn  ftimmungSootl  gezeichneten  ftintergrunb  ftd)  abgeben. 

Unter  Urnen  gebührt  bem  SKaljbi  unb  feinet  ©ruppe,  bie  freiließ  baS 
tebenbige  Golortt  beS  DrientS  unb  mit  bem  malerifdjeren  Goftüm  weit  mef>r 
£f)eatralifd)eS  überhaupt  fd)on  oon  Saufe  aus  oor  ben  in  bem  Drama 
auftretenben  Europäern  oorauS  fiat,  unbebittgt  ber  SSorjug,  unb  nur  baS 
roeiblidje  Clement  fdjeint  uns  in  ber  Gljarafteriftu'  ein  Kein  wenig  ju  furj 
gefommen  ju  fein.  9lber  baS  ift  eine  @d)wäd)e  beS  DidjterS  überhaupt; 
unb  mit  2luSnatyme  ber  grau  «Streiter  in  feinem  „2£eltfab,rer",  in  ber 
tttrdbbad)  fretlid)  einen  Gfiarafterfopf  oon  blenbenber  SBtrfung  gefdjaffen, 
finb  faft  ade  feine  grauengeftalten,  wenigstens  infofern  fie  ben  befferen 
©täuben  angehören,  mel)t  auSgebadjt,  als  geflaut.  @r  fennt  bie  grauen 
ju  menig;  aber  ber  Dabei,  ber  in  biefen  2Borten  für  ben  Didjter  liegt, 
fdjliefjt  jugleid)  bod)  wieber  baS  fjödjfte  Sob  für  ben  3JJenfd)en  Rirdjbad) 
ein,  ber  feit  feiner,  toie  erwähnt,  in  fo  jungen  Sabren  eingegangenen  ©fye 
in  ScrjenSfadjen  oetmuttjlid)  9iid)tS  weiter  mef)r  erlebt  f)at. 

3>or  wenigen  3Bod)en  ooüenbete  ftird)bad)  fein  38.  SebenSjaljr;  er  ftefjt 
fomit  in  einem  2ltter,  in  weld)cm  anbere  Talente  fid)  oft  erft  ju  ent= 
wtcfein  pflegen;  aber  wenn  man  bie  gülle  beffen  überblidft,  was  er  bereits 
gefdjaffen  —  unb  ju  ben  fd)on  erwähnten  25>erfen  finb  nod)  feine  legten 
Arbeiten,  ein  SRoman  „Der  SGBein",  baS  bereits  citirte  Drama  „<Sginb>rb 
unb  6mma",  fowie  ein  Dperntert  „Der  ©piegel"  OJiufif  oon  granj  Gurti) 
ju  ergänjen,  auf  bie  Ijier  nur  aus  bem  ©runbe  nid)t  näljer  eingegangen 
werben  fonnte,  weil  fie,  im  (Stfdfjeinen  begriffen,  nod)  nid)t  oorlagen  — 
bann  nimmt  bie  ftattlid)e  Sfajaljt  oon  33änben  fid)  aus,  wie  baS  @nb: 
ergebnifi  eines  langen  unb  arbeitfamen  DidjterlebenS,  beffen  aud)  ein  boppett 
fo  3llter  wie  Äird)bad)  feineSfallS  fid)  ju  fdjämen  braud)te.  Unb  fid)er  b,at 
fiirdjbad)  aud)  ben  ©ipfel  feines  Könnens  nod)  lange  nid)t  erreicht.  Denn 
ob  baS  33efte,  waS  er  uns  bisher  gegeben,  feine  „Seiten  9)Jenfd)en",  gleid) 
in  ben  2Cnfang  feiner  jweiten  ©djaffcnSperiobe  fällt,  fo  ift  bod)  ein  gort« 
fdjreiten,  wie  e$  oon  feiner  erften  ju  feiner  ^weiten  ^ßeriobe  conftatirt  würbe, 
nud)  innerhalb  eben  biefeS  jweiten  2tbfd)nitteS  in  oieter  &infid)t  nid)t  p 
oerfennen,  ein  25?ad)fen  unb  Gntfalten  feiner  Äräfte,  baS  offenbar  immer 
nod)  im  Steigen  begriffen  ift.  ©eine  beften  Äarten  f»at  Äirdbbad)  alfo  oer; 
mutfjlid)  nod)  nid)t  auSgefpielt;  aber  er  Ijat  bod)  genug  baoon  gejeigt,  um 
bie  (Sprung  gerechtfertigt  crfd)einen  ju  laffen,  bie  if)tn  baburd)  wiberfabren, 
bajj  ber  in  DreSben  tagenbe  Gongref?  ber  „Association  litteraire  et 
artistique  internationale"  tf»rt  ju  feinem  SJorfifeenben  erforen,  eine 
ebrung,  bie  allerlei  jufällige  unb  äufscrtidie  ©rünbe  allein  roofyl  faum 
fierbeigefüljrt  Ratten. 


Don 

ICubtofg  üCato&otapi. 

—   Berlin.  — 
Dorftöyll. 


Des  Küfters  blonbes  Odjterlein 
Sifet  mit  bcm  £ etjrer  gan3  allein. 
3m  ^lieber  fingt  bie  Zladjttgall 
Unb  fingt  von  Siebe  mit  ffigem  Sdjatl. 
Sie  fieb,t  nur  Seite,  er  fpridjt  fein  IDort, 
Das  Döglein  fingt  nodj  immerfort. 
Das  flingt  fo  bell  con  £uft  unb  tfreub', 
Da  rücft  er  ftill  an  ib,re  Seit' 
Unb  fügt  bas  Blonbtjaar  immcrsu, 
Sie  fajliegt  bie  beiben  2iugen  ja  .  .  . 


3m  33rombeerbufa7  am  «Sartenjaun, 
Da  ift  ein  junger  Bnrftb,  5a  fdjaun. 
Der  £?anfe(  ift's,  ber  2ltferfned>t, 
Dem  war  bie  Sadje  gar  nidjt  recht. 
3n  €rlenbläitern  ber  Hadjtminb  raufdjt, 
£r  ftet}t  am  §aun  nnb  fterjt  unb  lanfdjt 
Dann  fdjletdjt  er  fort  burdj's  Hübenfelb. 
(Er  pfeift  jetjt  auf  bie  ganje  IDelt. 
3m  tDirttistjaus  ift  t)eut'  Sauferei, 
Da  frfjlägt  er  Ciftb,  unb  Sanf  cntjroeil 


Die  Xiadjl 

Unb  wenn  micb,  Deine  füge  Stimme  3*  will  nicr/t  freoclnb  nadj  ben  Sternen 

riefe,  greifen, 

So  füg,  wie  feine  ITadjtigaU  gelacht,  Dod;  nadj  ben  Blumen,  bie  in  meiner 

3d?  müfjte  ttfun,  als  wenn  idj  tief  fcbon  UTadjt, 

fdjtiefe,  —  Denn  um  in's  Ungemegne  3U  entfdjweifen, 

3«i?  b,abe  ^urdft,  benn  braugen  fterft  bie  31*?  ^"be  ^urdjt,  benn  brangen  ftetft  bie 

ttadjt.  Haait. 

J}alt'  aus,  mein  I^erj,  wenn  aud;  mit 

Scr/roertesfcrfärfen 
(Ein  groges  tt>eb,  Dieb,  überelenb  madjt, 
Denn  um  mein  fleines  £eben  tjinju* 

werfen,  — 
3«b,  tfabe  tfurdjt,  benn  braugen  ftet[t  bie 

rTaajt  .  .  . 


  <Sebid)te.   


\T7 


<&n  Körbchen  Hofen  fanbt'  idj  Dir  in's 
fjans. 

Du  fuajteft  Dir  bie  beiben  fdjönftcn  aas. 
£jeut  2lbenb  prangt  bas  bunfelrottje  paar 
2Ms  ein3'ger  Sdjmncf  in  Deinem  f  djn>ar3en  ^ 
^aar. 


2?ofert. 

miaj  fiet(ftDu  nidjt!  3<1}  aber  fctjan  Diaban. 
(Es  arjnt  fein  OTeiifd;,  roas  idj  Dir  an= 
getrau, 

Kein  lITcnfcb,  im  Saal,  baß  mit  bem 

Hofenpaar 
tTteiu  Segen  rnl}t  auf  Deinem  totfenrjaar. 


Der  JDunöcrDogel. 


Dor'm  ienfter  f.efjt  ein  Jlbornbaum, 
Da  fingt  ein  Döglein  feltne  Sieber, 
Das  fommt  aus  frembem  fjimmelsraum 
3n  jeber  Sommernacht  b.ernieber. 
Dorf;  wenn  bie  legten  Blütfjcn  blüljn 
Unb  roeiß  unb  rott?  3ur  €rbe  werten. 
Dann  mufj  es  in  bie  ^rembe  äieljn, 
VOo  anbre  Stützen  anferficb.cn. 


(Eiefbuufel  war  bie  Sommernacht, 
Da  tjob  bas  Döglein  feine  Scf/wingen. 
3dj  rjSrte  b,alb  im  Cranme  fad;t 
Sein  letjtes  Klagelieb  oerflingen. 
3<*?  bin  fo  fterbensmübe  jetjt 
Unb  möchte  fcblafen  rote  bie  Knbern. 
iDas  fang  bas  Döglein  bod)  julefet?  — 
„sei  ftiO,  ciud)  Du  wirft  balbe  wanbern  . . ." 


Die  3üngftbeutfdjen  bes  adityfyntm  3afjrf?un6ert«. 

Don 

ßnbolf  bon  «fcottfrijall. 

—  £eip3ig.  — 

f/äfjfgU:-  ift  etwa«  9Kifeti<^e^  mit  ben  gefd)idjt(td)en  unb  litterargefd)id)t= 
1  lid^cn  parallelen:  Ter  Safe  „omne  simile  Claudicat"  finbct 
ä)  aud)  auf  biefe  feine  2Inroenbung.  ©leid)roof)l  finb  fie  immerhin 
leljrreid),  ba  fie  bod)  ba$  GJleidjartige  f)eroorf)eben,  was  »erfdjiebenen  burd) 
bie  3"t  getrennten  ©podjen  eigen  ift,  unb  roenn  eine  neue  Ittterarifdje 
9tid)tung  fid)  lärmenb  als  eine  Steoolution  anffinbigt,  meldte  alles  bisher 
©ageroefene  üüer  ben  Raufen  roirft  unb  carmina  non  prieus  audita 
auf  bem  litterarifdjen  ÜRarfte  anftimmt,  fo  mag  man  fie  bod)  mit  ber 
SöeiSljett  be$  SBen  2Äiba  $ur  Drbnung  rufen  unb  if»r  nadjroeifen,  ba§  fdjon 
oor  einem  ^Wunbert  in  baSfelbe  .öorn  gefto&en  nmrbe  unb  $>telc*  »Ott 
bem,  roaä  fie  als  eine  unerhörte  Neuerung  auSpofaunt,  nur  eine  SBieber« 
Rötung,  ein  2lbf(atfd)  früherer  bidjterifdjer  33eftrebungen  unb  Seiftungen  ift, 
meiere  bie  8itteraturgefd)id)te  aus  bem  Setlje,  in  bem  fie  fonft  oergraben 
finb,  bisweilen  l)en>orf)oit. 

GS  mürbe  bie  ©renjen  eines  @ffat)S  überfdjreiten,  maßte  id)  bie  parallele 
jroifdjen  ben  ^üngftbeutfdien  beS  neunjefjnteu  unb  benen  beS  adjtjelnrten 
3afjrt)unbert3  im  Gi^elnen  burdjfütiren;  es  fommt  liier  nur  barauf  an, 
einige  §auytgefid)ts»unfte  Ijeroorjufieben,  um  ju  seigen,  roie  fid)  ba« 
5Weucftc,  baS  fid;  fo  ftünnifd)  geberbet,  mit  bem  Sitten,  baS  lättgft  ocrfdwtten 
ift,  berührt. 

SBie  in  jener  Seit,  befonberS  in  bem  ^afyrjeljnt  oon  1770  ab,  roimmelt 
eS  aud)  gegenwärtig  von  ®enieS  auf  bem  ^arnaft,  unb  bie  -Reriolution  ber 


  Die  3»n9Pea,f(1!en  &es  ad;t3et)ttten  3<>l(rliuiiöert«.   


l"9 


Sitteratur  wirft  2llleS  über  Sorb,  roaS  bie  früheren  ^afyrjefutte  biefeö  „Jaljrs 
InmbertS  gefd)affen.  Sief)t  man  biefe  ©enteS  aber  näf»er  an,  fo  pafjt  auf 
fie  iUcleS  oon  bem,  roaS  bie  bamaligen  älteren  Sttteraturgröfjen  über  bie 
jüngeren  Stürmer  unb  Oranger  äufjerten;  eine  Heine  33tütf)enlefe  fold)er 
■DteinungSäußerungen  mag  bieS  betätigen,  ©egen  bie  Selbftberäudjerung 
biefer  ©enialüaten  roanbte  fid)  Sauater:  „®eme!  taufenbmal  unb  niemals 
me()r  als  in  unferer  2lftergente3eit  IjergenwrfeneS  Söort  —  aber  ber  ©ante 
bleibt  md)t,  jeber  £audj  beS  2BinbeS  n>ef)t  if»n  roeg  —  jebeS  Keine  Talent« 
müddjen  nennt  nod)  ein  Heinere«  ©enie,  bamit  bie*  roieber  ju  kleineren 
ffinabrufe:  feilt  an  bie  £öf)e  fnnan!  9lbcr  Flieger,  9tufer  unb  Stürmer, 
bie  fid)  einanber  £)inauf  unb  l)inabräud)erten  unb  cor  —  genierten, 
bie  Sonne  gellt  auf,  unb  wenn  fie  aufgegangen,  roaS  feib  i^r?"  3lef)tilid) 
fdjrieb  Nicolai  1776;  ,,^n  nur  fünf  3af)ren  nrirb  baS  nntbe  Sßefien  oer= 
raufd)t  fein,  unb  bann  nrirb  man  ein  paar  Kröpfen  Seift  im  ,§elm  unb  im 
Tigel  ein  grofjeS  caput  mortuum  treffen."  „T)a3  publicum",  fagt  %can 
Sjkul,  „las  unb  (alte  fid)  an  bem  äftljetifdien  Sdjnepfenbrede  biefer  cnnifdien 
Tid)ter,  ba  eS  für  eckten  IBombaft  melleid)t  mef)r  ©efd)mad  befifct  als  ganj 
sJ>ariS,  benn  roenn  ber  ungefunftelte  einfältige,  natürlid)  rofie  ©efdnnacf 
nid>t  nur  ber  rid)tigfte  ift,  fonbent  aud)  ber  ift,  ber  brennenbe  bide  färben, 
Quoblibetbilber  unb  mäßige  Uebertreibung  ju  genießen  weiß,  fo  inufj  er 
bod)  lüaljrljaftig  bei  einem  Sefepublicum  5U  finben  fein,  ba«  größtenteils 
aus  jungen  Seutcn,  Stubenten,  SlaufmanuSbienem  unb  ungebilbeten  ©efd)äfts« 
leuteu  beftel)t.  3efct  ift  ber  ^arnaij  ein  aufgebrannter  SMcan,  unb  100 
l)abeu  mo\)l  jene  Männer,  bie  aus  ©oetljeS  @ffe  funfetnb  ftoben,  ib,ren 
©lanj  unb  if)re  2l*ärme  gelaffen?"  3>ict  fdjärfer  nod)  ging  ben  Satirifer 
Sidrtenberg  biefen  Sitteraturrewolutionären  unb  fid)  gegenseitig  oergötternben 
©enieapofteln  ju  Seibe.  „Das  beutfdje  publicum,"  jagte  er  in  feinem 
„^arafletor  ober  Troftgrünbe  für  bie  Unglüdltdjen,  bie  feine  DriginalgenieS 
finb,"  „»erlangte  DriginalgenieS  unb  Driginalroerfe.  (£S  war  eine  fiuft 
an$ufef)en,  breijjig  3)orife  ritten  auf  itjrert  Stedenpferben  in  Spiralen  um 
ein  3iet  t)erum,  baS  fie  ben  Tag  juoor  mit  einem  Schritt  erreid,t  Ijätten, 
uub  ber,  ber  fonft  beim  3lnblid  beS  sJJiecreS  unb  beS  geftirnten  Rimmels 
Vichts  benfen  founte ,  fd)rieb  2lnbad)ten  über  eine  SdjnupftabafSbofe. 
Sljafefpeare  ftanbeu  ju  Dutsenben  auf,  roo  nid)t  allemal  in  einem  Trauer« 
fpiel,  ba  in  einer  Stecenfion;  ba  mürben  ^beeu  in  ftreunbfdjaft  gebradt, 
bie  fid)  außer  in  SBeblam  nie  gcfelien  (»arten,  9Jaum  unb  &\t  in  einen 
$irfd)fem  geflappt  unb  in  bie  (Sroigfeit  oerfd)offen;  es  triefe:  eins,  jroei, 
brei;  ba  gefdjalien  tiefe  SMide  in  baS  menid)tid)e  öerj;  man  fagte  feine 
$eimltd)feiten,  unb  fo  warb  SDfenfdjenfemttniß."  ©egen  bie  Spradje  unb 
ben  Stol  ber  .siraftgenieS  richtet  er  feine  nrifcigen  SluSfäHe  in  ber  „IMttfdjrift 
beS  SBaljnfinnigen";  er  copirte  bie  beliebten  ©lifionen.  „©ebs'n,  rooll'S  n't 
fonfi'n.  Sief)'S  öenie,  roie'S  u'  SBolfen  roebt?  Db  b'S  ©enie  fieb^ft?  SBenn 
b'S  nit  fiel)ft,  l)oi"t  bie  9iafen  11  it  'S  öenie  j'riedjei»."  Ct't  angefübrt  ift  bie 


\80   Hutiolf  (Soltfdjall  in  £eipätg.   

aieujjerung  Sidjtenbergä,  et  müffe  tägltd)  feben,  baß  &ute  jum  Namen  öenie 
tarnen,  wie  bie  tfelleraffeln  sum  tarnen  Taufcnbfujj,  nidjt  weil  fic  fooicle 
güfje  b<tben,  fonbern  weit  bie  SDieiften  uidbt  bi*  auf  üierje^n  jä^len  wollen. 
2lu<f)  SBielanb,  ber  oon  ben  jüngeren  »iel  getefen,  aber  aud)  beftig  angegriffen 
nmrbe,  ärgerte  fid)  über  bie  „laufidbten  ©elbfdmäbel,  bie  fid)  air  geben,  als 
ob  fic  mit  @ba!Mpeate  3Müibcfub  ju  fpielen  geioofint  mären."  ©er  burdj 
feine  geiftootten  Sieifebriefe  befannte  Sdjriftfteller  Sturj  ermabnte  bie  jüngeren 
©ememänner  $ur  SBefdjcibentjett  unb  »eröffentttd)te  einen  fefyr  heftigen  Grgufj 
feine?  Unroillen*  über  bie  jüngfte  l'itteratur  unter  ber  9)?a*fe  eincö  greunbe*, 
ber  ein  bcrartige*  Senbfcbreiben  an  ibn  gerichtet;  er  fprtrfjt  barin  von  ber 
finntofen,  5erf)adten,  bolprigen  s4>rofa  ober  ben  fkdjen  Slnittelreimen,  bie  uns 
jefct  nad)  jebn  3abren  geboten  würben,  nadjbem  wir  Effing,  SDienbelefofm, 
Zimmermann,  ben  2lgatbon  unb  Suljcr  getefen,  um  an  Ätopftocf*  b^mmlifdien 
©ebid)ten,  an  SBtetanb*  trbifdjen  ergäbt  bätten;  er  weift  bin  auf  bie  ^Jöbeteien 
im  Srama  unb  ber  Satire,  auf  bie  Ginfätte,  fid)  nieberjulaffen  in  ber 
leeren  fumpfigen  ©egenb  ber  -Natur,  bort  allein  Wloot-  unb  £aibeblumen 
511  fammeln:  burd)  foldje  SBürfe  feien  bie  ©riecben  wabrtid)  iricbt  unfterblid» 
geworben.  $on  ifirem  ©enie,  ba*  in  ber  üoHfominenften  Gupbemie  tiefen 
©ebatt  in  reijenben  2lu*brud  gefteibet,  bat  2lriftotele*  feine  Siegeln  em- 
pfangen  unb  nidrt  ©efebe  bem  ©enie  gegeben,  bie  man  jefct  fo  gern  »er= 
ad)ten  mödjte,  weil  man  fic  ntdbt  inebr  aueüben  tonne. 

Giner  ber  |>auptfübrer  ber  ©türm«  unb  ©rangperiobe  unb  i^r  Statf« 
patbe,  ßlinger,  geborte  bod)  ju  benen,  bie  fd)on  im  nädbften  ^abrsebnt  jur 
Sefinnung  tarnen,  menngteid)  feine  bid)terifd)e  <Sd)öpferfraft  mit  jenem 
jugenblid)en  Ungeftüm  mebr  ober  weniger  »ertöfd)t  5U  fein  fdbicn.  $n  ber 
2tu*gabe  feine*  Sweater*  1785  fprid)t  er  fid)  über  feine  frieren  bramatü 
fd)en  Arbeiten  unb  biejenigen  feiner  ©enoffeu  au*;  er  nennt  fie  inbi»ibuellc 
©emälbe  einer  jugenblidjen  ^b<*ntafic,  eine*  nad)  2T)ätigfeit  unb  33eftimmung 
ftrebenben  ©eifte*,  bie  in  ba*  9leid)  ber  träume  geboren,  mit  benen  fie  nabe 
»erwanbt  ju  fein  fdjeinen.  „2Ber  aber  gar  fein  Siebt  in  biefen  Grplofionen 
be*  jugenblidjen  ©eifte*  unb  Uttmutbc*  fud)t,  ift  nie  in  bem  fjoff  gewefen, 
Gtwa*  banon  in  fid)  fetbft  ju  füllen,  3d)  fann  beute  fo  gut  barüber  ladjen, 
at*  Giner,  aber  fooiel  ift  wabr,  ba§  jeber  junge  3Kann  bie  SBelt  mebr  ober 
weniger  at*  Siebter  ober  Träumer  anfierjt.  Grfabrung,  Uebung,  Umgang, 
Mampf  unb  Slnftofje  r)etlen  un*  oon  biefen  überfpannten  Qbealen  unb  ©es 
finnungeu.  ©ben  biefe*  lebren  bie  ©id)ter  unb  ßünftler,  bafj  Ginfad)b«t, 
Drbnung  unb  SBo^r^cit  bie  3a"berrutben  feien,  womit  man  an  ba*  &er$ 
be*  SDJenfdjen  fd)lagen  müffe,  wenn  e*  ertönen  fott.  Sie  klagen  finb  un= 
enblid),  bie  man  über  bie  wilben  Sßrobuctc  fübrt,  bie  ju  Seiten  in  ber 
beutfd)en  SBelt  unb  befonber*  für'*  Sweater  erfd)einen.  Somel  ift  tnbefj  gewin, 
bafj  wir  Teutleben  burd)  biefe  SSerjerrungen  geben  müffen,  bt*  mir  fagen 
mögen,  fo  unb  nid)t  anber*  bebagt'*  bem  beutfd)cn  Sinn.  9iid)t*  reift 
obne  ©äbrung."   Unb  »iele  3al)re  fpäter,  al*  ber  £id)ter  Älinger  längft 


 Die  3än9ftbentfc^en  bes  adjtsetmten  3allrfiuni,e*ts.  \8\ 

jum  SMtmamt  geworben  unb  baS  Ätnb  auS  bet  Sßrotetarierwicge  eine  b>hc 
SebenSftellung  erreidrt  hatte,  fdfjricb  er  in  ben  1803  herausgegebenen  „Söe* 
Pachtungen  unb  ©ebanfen  über  verfdjtebene  ©egenftänbe  ber  2Bett  unb 
Sitteratur":  „SBaruin  fonn  ein  welterfahrener  9Jfann  nidjtS  (SrcentrifcbeS 
vertragend  SBeit  er  gefetjen  f>at,  bojs  es  ju  RidjtS  führt,  ju  RidtS  taugt, 
9iid)tS  beförbert,  felbft  baS  Sadjen  nid)t.  2HleS,  was  es  wirft,  beftcl)t  barin, 
baß  eS  bem  ein  $ti<fyen  auflebt,  ber  fid)  bantit  fd)leppt  ober  ber  r>on 
biefem  SBefen  befeffen  ift.  $n  ber  2öett  ift  i^nt  feine  Stelle  angewtefen, 
unb  in  ber  Sitteratur  ift  es  gegen  ben  2ttenfd)enverftanb.  2tber  warum 
treten  fo  viele  unfercr  jungen  Seute  mit  bein  Qtifyn  als  Sdwiftfteller  auf? 
(?ben  barum,  weit  fie  junge  Seute  finb  unb  eS  ihnen  nod)  an  affebem 
fehlt,  was  fie  jum  Auftreten  berechtigen  fönnte." 

Sen  Stennern  ber  jüttgftbeutfdjen  £urba  wirb  eS  nicht  entgehen,  bafj 
foroofjt  biefe  tefcte  9(cuf3erung,  als  aud)  fetrr  viele  anbere  Söemerfungen 
bamaliger  namhafter  Sd)riftfteller  gegen  bie  Stürmer  unb  Oranger,  bie 
mir  l)ier  angeführt,  mutatis  mutandis,  aud)  auf  bie  3üngftbcutfd)cn  paffen, 
bie  wie  jene  eine  Revolution  ber  Sitteratur  mit  vollen  Jadeit  auSpofaunen, 
bie  bisherigen  Sitteraturgötter  51t  entthronen  unb  fid)  an  ihre  Stelle  ju 
feljen  fudjen.  Sie  haben  3ied»t,  wie  ihre  bamaltgen  Vorgänger,  wenn  eS 
fich  um  SKobegöfecn  hanbelt,  unb  es  ift  bamals  fowie  jeöt  fehr  viel  ge= 
bred)Iid)eS  Rippjeug  jur  Slnbetuug  unb  üBerehrung  auf  ben  Toitettenaltären 
aufgeteilt  worben;  wenn  bieS  von  ben  ©llenbogen  einer  jüngeren  (Generation 
heruntergeftoften  wirb,  baß  eS  im  Staub  jufammenftirrt,  fo  ift  hierin  nur 
ein  tfortfdjritt  ju  fcfjeit.  Unb  wie  in  jener  3«t  beS  Sturms  unb  SDrangS, 
fo  wel)t  aud)  in  ber  jüngften,  fid)  überftürjenben  litterarifd)en  Bewegung 
ein  frifdjer  £aud),  unb  ein  burdj  offene  genfter  hereinfommenber  Suftjug 
verfd)eud)t  bie  Miasmen,  bie  fid)  allmählid)  in  ber  Stidluft  beS  ©öfcenbienftes 
mit  gefeierten  Ridrttgfeiten  erjeugt  haben;  aber  ber  Sturm  ift  junädift  mehr 
Programm,  unb  es  ju  verwirflidjen,  bemüht  fid)  meiftenS  vergebens  bie 
fünftterifd)e  Ohnmacht. 

9leu  ift  aber  aud)  baS  ^rtneip  ttid)t,  bas  iefct  auf  bie  gähne  ge- 
fd)rieben  wirb,  baS  s$rtncip  beS  Naturalismus;  wir  finben  cS  wieber  in 
bem  Programme  ber  Stünner  unb  Oranger  beS  vorigen  ^[ahrhunberts. 
damals  aber  hatte  es  ben  Gronegf,  $raf)e,  ©leim,  ben  ©ottfd)ebianern 
gegenüber  mel)r  ^Berechtigung  als  jet?t,  wo  wir  eine  flaffifd)c  Sitteraturepodje 
hinter  uns  haben,  unb  wo  ©oetf)e  IDleifterwerfe  eines  geläuterten  9?eali«= 
mns  gcfd)affen  hat.  damals  fudjte  mau  bie  falfdjen  ©öfcen  mit  &itfe 
StjafefpearcS  51t  ftürjen;  jefet  ift  Sbafefpeare  uns  in'S  SBtut  übergegangen, 
unb  einen  Schiller  unb  ©oetlje  51t  ben  falfchcu  ©öfeen  ju  redmen,  baS  ge- 
trauen  fid)  bod)  unfere  verwegeufteu  SMtbcrftürmer  nidjt;  nur  bie  ©pigonen 
jener  Ätaffifer  werben  meud)liugS  aus  bem  SBegc  geräumt.  $m  ©anjen 
aber  ift  ber  neue  Naturalismus  ein  Rüdfall  in  baS  unftare  treiben  ber 
alten  Stürmer  unb  Oranger  unb  in  bie  äfthctifd)c  Anarchie,  wctd)e  jene 


\82    Hubolf  (Sottfdjall  in  £eip3tg.   

geprebigt  Ijaben.   T>a  begegnen  mir  auffattenben  2letmtid)fetten  in  ©fiiorie 

unb  ^ßrajil,  unb  roie  in  einem  SSerirfpiegct  mögen  mana>  ber  ^ünflften 

iljr  grotelfel  Qebatiren  in  ben  3Ser$errungen  jener  3eit  mieberfinben. 

*  * 
* 

Slidjt  blol  bie  Stürmer  unb  ©ränger  prebigten  bamal*  ben  9tatnrali#= 
mul;  aud)  ber  nad)  58olfltt)ümlid)feit  ftrebenbe  Sürger,  ber  verlangte,  baft 
bie  beutfd)e  SRufe  nidjt  auf  Steifen  geljen,  fonbern  ifjren  Stoturfatednämuä 
ju  £aufe  aulroenbig  lerne.  Gbenfo  erflärt  Sd)loffer  in  feinem  Senbfdjreiben 
an  Senj,  „bie  SSerfemadjer  Ijätten  alle  nur  an  ber  §ülle  gegangen  unb  ben 
©eift  nid»t  gefamtt,  ber  fie  belebte;  el  gebe  taufenb  gönnen,  unb  el  fei 
nur  ein  ©eift,  ber  fie  belebe,  eine  Siegel,  unb  bie  fei:  füljte,  mal  35u 
fügten  madien  mittft.  Unb  bie  Siegel  letjre  feine  Aefttjetif."  Gmancipatton 
»on  ben  Siegeln  —  bal  mar  bie  Sofung;  mal  Stotberg  fang:  füfte, 
{»eilige  Statur,  lafj  midi  getm  auf  beiner  Spur  —  bas  mar  bie  alleinige 
Siegel  aud)  für  bal  bid)terifd)c  Sdjaffen.  Siatürlid)  galt  ber  ^roteft  »or= 
juglroetfe  ber  SBeilfieit  bei  2lriftotelel;  namenttid)  bal  ©rama  follte  ftdj 
»on  bejfen  2Betll)eit  freimadjen.  $atte  Scnj  fdjon  bie  franjöfif^e  falfd)e 
Auslegung  ber  ariftotelifdjen  Siegeln  niiebertegt,  fo  gingen  bie  Stürmer  unb 
Oranger  nod)  weiter  unb  madjten  mit  bem  ganjen  AriftoteleS  reinen  £iid). 
33or  Allem  tf>at  bie3  .^acob  SWidjel  Sieinljolb  Senj,  einer  ber  begabteften, 
aber  aud)  »ernrilbertften  jünger  jener  £>id)terepod)e,  in  feinen  „Anmeldungen 
über'l  3^eater",  bie  er  in  Strasburg  nod)  »or  bem  Grfdteinen  »on  ©oetl)e$ 
„©öfe  »on  $Berlid)ingen"  gefdjrieben  fjatte.  ©afi  biel  Güangeltum  ber 
Stürmer  unb  ©ränger  aud)  baS  Goangelium  ber  ^üngftbeutfdjen  ift, 
baran  fatm  man  um  fo  weniger  smeifeln,  all  el  in  merfnmrbiger  SÖeife 
»on  einem  jüngeren  Sdjriftftetter  roieberfiott  wirb,  ber  inbefe  f)immeli»ett 
ba»on  entfernt  ift,  »on  einem  foldjen  Vorgänger  GtroaS  miffen  ju  motten, 
fonbern  etroal  gunfelnagetncueS  ju  bieten  glaubt  unb  bie  ganje  Aefttjetif 
früheren  ©atum*  aus  itjren  Angeln  liebt,  mir  meinen  $cnri  ©ertelmaim, 
ber  1892  eine  „©ramatif,  Äritif  bei  mntlwlogifdien  SnftemS  unb  ^c- 
grünbung  eine!  neuen"  herausgegeben  r)at.  Sd)ou  ber  2Jitet  beroetft,  bafj 
fid)  ber  SSerfaffer  für  einen  Sieformator  l)ält,  ber  novum  quid  atque  ioau- 
ditum  »erfünbigt;  jebenfaüs  aber  ift  feine  Xbeorie  im  ©inHang  mit  ber 
jüngftbeutfdjcn  s4$rarts.  Gr  menbet  fid),  ganj  wie  Senj,  gegen  ben  Safc 
bei  Ariftoteles,  baß  bie  3ufammenfc^ung  ocr  ^egebeul)eiten,  bie  gäbet  für 
ben  bramatifdjen  ÄunfUer  baS  nnd)tigfte,  bajj  bie  ,'panbtung  ber  tefcte  Gnb= 
Swecf  bei  ©ramal  fei.  „©iefc  5>orfd)rift,"  fngt  l'cnj,  „müffe  für  bie 
neueren  ©id)ter  gerabejn  umgefeljrt  merben;  nid;t  bie  gäbet  fei  bas  ^rä^ 
eipium  unb  gleidjfam  bie  Seele  uitferer  Jragöbic,  fonbern  bie  Gb^raftere. 
Fabuk  est  una,  si  circa  uniim  sit.  ©al  leugnet  3lriftotetel.  „33ei 
ben  atten  ©rieben,"  fagt  Senj,  „mar'*  bie  £anblung,  bie  fid;  bal  SPotf 
ju  feben  uerfammette;  bei  uns  ift'l  bie  Steide  »on  ^anbtungen,  bie  mic 


  Die  3iittgft&entfd?en  bes  adftjefjnten  ^atjttjnnbetts.    \83 

Donnerfd)täge  aufeinonbcr  folgen,  eine  bie  anbete  ftüfeen  unb  heben,  in  ein 
großes  ©anje  sufammenftie&en  muffen,  ba*  hernad»  mdus  mein-  unb  ni&fis 
minber  ausmtadjt,  ate  bie  £auptperfon,  wie  fie  in  ber  ganjen  ©ruppc  ihrer 
3Mitl)änbler  hetöorftidjt."  Üenj  behauptet,  bie  2)?aunigfaltigfeit  ber  6t)araftere 
unb  ber  ^füdjologteen  fei  bie  ftunbgrubc  ber  ütotur;  fykx  allein  fd)tage  bie 
2Bünfd»eIrutf)e  be*  Weine*,  unb  fie  allein  beftiintne  bie  unenblidje  3)iannig= 
faltigfeit  oer  £anblung  unb  Gegebenheiten  in  ber  Stfelt.  Unb  an  einer 
anberen  Stelle  fagt  er,  bie  heutigen  Slriftotelifer  malten  Seibenfdwften  ohne 
Gharaftere.  „2Bo  aber  bleibt  ba  ber  Dtduer?  roo  bie  golie,  n>o  bie  tubim* 
buelle  Äenntnifj  ber  menfd)Ud)en  Seele,  n>o  bie  unefle,  immer  gleid) 
glänjenbc,  rüdfpiegelnbc,  fie  mag  in  Dobtengräberbufen  forfdjen  ober  unter 
bem  3leifrod  ber  Königin?  9!ad»  meiner  Gmpftnbung  fdjäV  id)  ben 
<harafteriftifd)cn,  felbft  bie  Garicaturenmaler  jehnmal  höhet  al$  ben  ibcali; 
fdjen  —  tjimcrbolifd)  gefprodjen,  benn  es  gehört  jelmmal  mehr  baju,  eine 
gigur  mit  eben  ber  Öeuauigfeit  unb  SBal)rl)eit  barjuftellen,  ate  baä  ®enie 
fie  erfannt,  al*  selnt  ^aljre  an  einem  Qbeal  ber  Schönheit  ju  cirfeln, 
ba£  enblid)  boeb  nur  in  bem  öebirn  be*  ftünftler*,  ber  ee  l»ert)orgcbrad)t, 
ein  foldjes  ift."  9){an  fiebt,  Senj  fdjredt  nid)t  »or  ber  Gonfcqucnj  jurüd, 
baf3  felbft  ein  Dramatifer,  ber  Garicaturen  fdjafft,  mehr  auf  bem  redeten 
SBcge  fei,  al*  ein  ibealer  ^abulift,  ber  eine  cinjjeittidjc  .franblung  51t 
fdiaffen  fud)t.  2£a*  ein  §enri  Wertelmann  mit  bem  2lnfprud),  ein  neues* 
äfthetifebe*  Suftem  ju  grünben,  in  feiner  Sdjrift  proclamirt,  ba*  bedt  fid) 
in  fo  auffallenber  SSeife  mit  ben  Wrunbfäfcen  »on  i'enj,  bafe  e*  bem 
Shtnbigen  ah  eine  natfte  SBieberholung  erfd>eint.  Die  Gbaraftere,  fagt  er, 
bilben  ben  eigentlichen  Wcgenftanb  be*  Drama*.  Slufgabc  ber  Didjtung 
ift  e*,  Vergnügen  *u  bereiten  burd)  Darftellung  oott  Gharafteren.  Die 
Öanblung  im  Drama  ift  in  erfter  ßinie  511  beurthcilen  in  %b)iä)t  auf  bie 
ß^araftere;  ale  Wunjes  fommt  fie  erft  in  sroetter  Sinie  in  Getrad)t,  unb 
ihre  fogenannte  Ginbeit  ift  fein  bramatifdjeiS  öefefc.  Gr  fügt  fnnju,  baj? 
bie  Spradjc  be*  Drama«  bie  ber  2Birf(id)fett  nachahmen  unb  bie  ^erfonen 
ajarafterifiren  müjjte.  Da3  neue  Spftem  erroeift  fid)  alfo  aH  ctrca#  fel)r 
2Utee,  unb  bie  Uebcretnftimmung  ber  burd)  mehr  al*  ein  3al)rhunbert  ge= 
fannten  Dramaturgen  beroeift  nur  bie  geiftige  33erroanbtfd)aft  in  ben  litterari= 
fdjen  SBeftrcbungen  ber  beiben  Gpocben. 

öiebt  man  bie  (Sinfjeit  ber  £anölung  prei*,  fo  fommt  mau  leid»t 
bei  ben  3ofa'idicn  lambeaux  de  la  vie  bumaine  audj  im  Drama  an. 
Unb  ba$  ift  ben  Stürmern  unb  Drängern  ebenfo  oft  begegnet,  wie  ben 
3üngftbeutfd)en,  obfdjon  ber  bramatifdje  Qnftinct  bei  oieten  lebenbig  genug 
uiar,  um  bie  gotgeu  einer  falfdjen  Dbeorie  abjnnjeljren;  bod)  bie  uon  Sfcnj 
uerlangte  ü){annigfaltigfeit  ber  Gegebenheiten  jeigte  fid)  oft  genug  in  einem 
Denoirrenben  ^cl'eneinanber  oon  §aublungen,  ba«  im  Drama  ganj  unp« 
läffig  ift,  weil  e$  aud)  bie  Dl)eilnaf)me  ^erfplittert.  Die  Gompofitioit'?; 
tofigfeit  ift  ber  .^auptfebler  biefer  ganjen  Dramatif  bec-  aditjebnten  unb  and) 


\8<k    Hubolf  (Sottfdjall  in  Seidig.   

beS  neunjeljiiten  $af)rljunberts.  Senj  fetbft  gießt  bafür  SBctfptetc  genug ;  her 
genial  wraulagte  Diajter,  ber  aus  einem  SBirrfat  beS  SebenS  in'S  anbere 
gerietf)  unb  bem  ^rrfinn  nerftet,  f;at  Stüde  gefdjrieben,  roie  „Der  £>ofmeifter", 
t>ou  benen  man  ntcfjt  begreift,  roie  fic  auf  bie  Büfme  fommeu  fonnten;  au*er= 
btngS  gefd>al)  bas  nur  in  einer  Sdjröber'fajen  Bearbeitung  am  Sjamburger 
Stabttl»eater.  Die  .§anblung  fpringt  in  bicfem  Drama,  in  roelcbem  mehr 
als  stoansig  s}ierfoncn  mitfpielen,  tjiu  unb  fier;  fic  üerroanbelt  ftdj  oft  in 
ein  Sittengemälbe,  bas  felbftgenugfam  im  Berhältmj?  ju  ben  fonfttgen 
bramatifdjen  SafoniSmen  einen  breiten  ^ßtalj  einnimmt.  DicS  f)ättgt  mit  ber 
Zfyoxk  beS  DidjterS  jufammen,  nad)  roeldjer  bie  Gharaftere  fid)  im 
Drama  ausleben  muffen;  bie  einjelnen  öruppen  entfalten  fidj  faft  ganj 
felbftftänbtg,  bie  Berfnüpfung  ift  überaus  [oder.  Der  (beliebte  beS  in  bem 
£ofmeifter  entführten  ©uftdjenS,  $yrifc,  unb  fein  greunb  hoben  in  Seipjta, 
bie  mannigfadjften  9lbcnteuer,  bie  mit  jener  ben  Gober  ber  ^anbtung 
bitbenben  @efd)id)te  gar  Vichts  gemein  f)aben.  Unb  überbieS  geht  2Uleä 
burdjeinanber,  bie  $anbtung  fpringt  f)in  unb  her.  Grid)  Sdjmibt  fagt  in 
feiner  Sdnift  über  „Senj  unb  Ältngcr"  in  Bejug  auf  ben  „&ofmetfter": 
„Bei  biefem  rafdjen  3Bed)fel  ber  Bitbcr  ift  es  mir  immer,  als  hörte  id) 
baS  luftige  ,Sd)au  fic,  gud  fie'  unb  fälie  Seilte  äioifdjen  ben  getrennt 
fteljenben  Berfonen  ober  ©ruppen  bebenb  Inn  unb  t)er  fpringen.  9luf  einer 
Seite  breimaliger  Scenemredjfel!  Äaum  hält  er  bei  Gütern  füll,  fo  fällt 
ilmt  ein,  roa«  wohl  gerabe  ber  3lnberc  mad)t.  Der  3>M*d;ai!er  foll  3llle3 
feb,en,  fo  will  es  bie  mifjoerftanbene  englifdje  Dedmif."  üiodj  ärger  geb/S 
im  „leiten  Sttenoja"  Ijer,  beffen  SqcIo  mit  ber  Diogeneslaterne  9Benfd)en 
fudjt  —  ber  Dichter  h«t  feinen  Begriff  von  bramatifajem  gufammenhalt, 
oon  fünftterifdjer  Defonomie.  $tt  ben  Dramen  SUingcrS  ift  BeibeS  trofc  aller 
Uebertriebenljeit  ber  Gmpftnbung  unb  ber  Grfinbung  beffer  gercahrt,  nod) 
mehr  in  $einridj  Seopolb  SBagnerS  „ÄtnbeSmörberiu".  9ludj  unfere  jüngfte 
Dichtung  tjulbigt  ber  9lnfdb,auung,  baß  ein  Drama  nur  aus  jufammen« 
gerüdten  SebenSbilbern  beftchen  foK.  Die  Ginhett  ber  £anblung  gilt  für 
3tterglou6er.  SEBir  brauchen  btoS  auf  ©erf)art  Hauptmann«  „SSeber"  ju 
oerroeifen,  bie  nur  aus  einer  fficifie  uon  DabteauS  unb  ©enrebilbent  be« 
ftehen.  Die  Berfonett  fommen  unb  t)erfd)roinben;  jeber  9lct,  ja  faft  jebe 
Scene  b,at  einen  neuen  Felben.  Der  bramattfebe  Slufbau  ift  f)öd)ft  pri= 
mitiuer  3lrt  unb  mit  ber  .ftoläart  igejimmert;  baS  (Sanje  finb  ©udfaften- 
bilber,  unb  ba§  D^eater  nähert  fid;  bem  „3laritätenfaften",  ber  in  mandjer 
.§inud)t  ba«  ^beai  ber  Stürmer  unb  Dränger  mar. 

2Bir  b,aben  gefefjen,  mie  ßenj  felbft  ben  Garicaturenmaler  für  einen 
größeren  Äünftter  hält  als  ben  afabemifd)  ctrfelnben  Dichter,  meldjer  auf 
bie  gabel  ben  &auptnadjbrud  legt.  Gr  fah  fid)  roo^l  felbft  babet  im 
Spiegel,  benn  feine  Gt)araftere  finb  ilmt  nur  ,u  oft  als  Garicaturen  ge= 
ratfjen,  ja,  roo  bie  ^rafce  i^r  gutes  9icd)t  f)<rt/  roie  in  ber  ^Soffe,  ba  letftet 
er  bisweilen  2lnerfennenSroertl)eS.   9lud)  in  feiner  ernften  Dramatif  fdjafft 


  Die  3üitg|t&entfd!en  bes  actjtjeljnten  ^aljrfjunberts.    \85 

bei  ifmt  bie  Ueberlabung  mit  cb^rartertfttfdjen  3ügen,  bie  511  fdjarf  auS= 
geprägt  finb  bis  in'S  33arode  unb  ^tjarre,  bie  Garicatur.  ©raf  Gamäleon 
nnb  ©ottua  ©iana  im  „9ieuen  -Dtenosa"  finb  fotd^e  bis  jur  Ungeniefcbarfeit 
djargirte  bramatifdje  Jigurett.  $n  ÄltngerS  „Sturm  unb  ©rang"  ift  ber 
alte  itartenrjäuferbauer  33erflep  eine  ungewollte  Garicatur,  unb  es  ift  nid)t 
leid)t,  ben  logifdjen  Sinn  auä  feinem  blöbfinnigen  ©eftammet  t)erauSju= 
frören;  beabfid)tigte  Gartcaturen  aber  finb  bie  greunbe  beS  gelben  SBilb, 
ber  blaftrte  SlaftuS,  ber  mit  feiner  Sangenroeile  auch,  feine  geliebte 
Suife  anftedt,  unb  ber  überfdjroänglicbe  Sa  ft-eu  mit  feinen  paftoralen 
Schwärmereien  unb  fetner  Siebe  ju  ber  reifen  Sd)önljeit  Slatharine;  bod) 
bie  bloS  im  Uebertriebcnen  beftebenbe  'jßoffenhafttgfett  crmübet.  2lud)  bie 
tragifeben  Gbaraftere  rote  bie  betben  ©nelfos  in  ben  „Sroittingen"  finb  fo 
cfiargtrt,  bafj  fie  btcht  an  ber  ©rettje  &er  Garicatur  fteficn.  Sagt  bodj 
33ürger  »on  bem  jüngeren  ©uelfo,  eine  SHeftie  roie  biefett  muffe  man  tötten 
rote  einen  tollen  &unb,  unb  ba«  Sttdjroort  „ein  Söroeublutfäufer"  fam  auf 
bie  £agcSorbmtng.  ©od)  aud)  100  baS  Gh^ratteriftifche  fid)  innerhalb 
äftf)etifd)er  ©reusen  hält,  fann  fein  .Uebergeroidjt  bie  £anblung  lähmen. 
©aS  finb  Ginfettigfetten  einer  falfdjen  Sheorie,  bie  fid)  roie  ^Bleigewichte 
an  oie  bramatifdjen  ©eftalten  in  »tcteit  ©ramen  jener  Gpodje  hängen. 
Gbaraftere,  bie  fid)  Setbftjroed  finb,  gehören  in  baS  2Berf  beS  Üheophraft, 
aber  nicht  auf  bie  23übne.  2Bie  baS  bramatifche  ^ntereffe  unb  bie  Sebent 
fäfjigfeit  ber  Stüde  barunter  teiltet,  baS  beroetft  j.  $*.  ber  „College  Grampton" 
©ertjart  Hauptmanns,  beffen  .frelb  ein  bebauerltdier,  bem  Trunf  ergebener 
Mnftler  ift  —  ein  Gfiarafter,  aus  bem  nur  einige  bürftige  Jäben  ber 
.^anblung  fierauSgcfponuen  finb.  3lebnltd)  ift  es  in  vielen  auberen  jüngft= 
bcutfdjen  Stüden.  3?od;  heute  gilt,  was  Berber  in  ber  „9lbraftea"  fagt: 
„Sie  Gharafterfomöbien  rote  btc  aufgepmjten  Gharaftertrauerfpiete  finb 
hinfenbe  Stüde.  28ill  id)  Gharaftere  befd)rieben  fehen,  fo  nehme  id)  2heo= 
phraft,  la  33rut)6rc,  3lriftotele-j'  JRhetortf.  Cfnte  t>afs  fie  in  eine  Jabel 
greifen  unb  mit  ihr  imtig  oerroebt  finb,  hinbern  fie  baS  Suftfpiel.  .^folirt 
ftebt  fobann  ber  breit  angemetbete  (Sharafter  oor  mir,  gcfdtftoert,  nid)t 
fjanbelnb.  9lngepufet  roirb  er  unb  angezogen,  rings  um  il)n  roerben  Spiegel 
geftellt,  baß  man  ihn  ja  r>on  allen  Seiten  erbtiefe  nnb  wahrnehme,  ©ann 
roirb  er  entfleibct,  man  scigt  feine  .<pöder,  roohl  gar  roirb  er  lebenbigen 
SeibeS  operirt,  fecirt  —  eine  pctnttdje  Äunft!"  Namentlich  roaS  bie  £öder 
betrifft,  barin  letften  bie  Stürmer  unb  ©ränger,  bie  ^üngftbeutfdjen  unb  oor 
9(llem  itrr  2Mfter  ^bfen  mehr,  als  Berber  in  ahnenbem  ©emütbe  t>orgefd)aut. 
,,©te  trefflid)ften  Stüde,"  fagt  Berber,  „finb  nie  ohne  Jabel,  unb  je  beffer 
es  ber  ©id}tcr  »erftanb,  befto  forgfamer  tiefe  er  ben  Gbarafter  bem  ©e= 
roebe  ber  Jabel  nur  ötenen."  ©ie  abfonberltchen  bijarren  Gbaraftere,  bereit 
.§aublungSroeife  ctroaS  Unberechenbares  bat,  finb  in  neuefter  fy.it  roieber 
SRobe  geroorben,  unb  befonberS  ber  ^tafiuS  ÄlingerS  fiubet  mausen  9tb* 
flatfd)  unter  ben  jüngftbeutfd)en  -öetben. 

9lotl>  nnb  Süb.   LXXV.  124.  13 


\86   Hubolf  von  <5ott|<ff<xll  in  £etp3tg.   

Sllle  gramen  ber  „Stürmer  unb  ©ränger"  finb  in  Sßrofa  gcfdmeben; 
ee  tag  barin  gegenüber  ber  etwa*?  pb>afenf)aften  ©ramatif  ber  Gronegf, 
33rafje,  Stiegel,  SBetf?  ein  ^roteft,  bie  Sü'enbung  jur  Jiatur*  unb  Sebent 
toafirtieit;  ©erftenberge  „Ugolino",  ber  aud)  biefer  3ri<f)tung  angehörte, 
unb  ber  mafwollere  „ftuliu*  von  ©arent"  von  Seifcwifc  finb  ebenfalls  in 
Sßrofa  gefebrieben.    ©od)  biefe  $rofa  erfdjetnt  uid)t  in  alltäglicher  &e- 
wanbung;  fie  jeigt  ben  ©egenfd)lag  gegen  bie  getragene  iBer*bid)tung  junädjft 
in  ber  ©erbbeit  unb  iHotiljeit  be$  2luebrucf3,  reelle  bem  fteifbeinigen 
tragifdien  ?ßot^o§  fyerauäforbernb  auf  bie  Hühneraugen  trat.   ©arin  unb 
fid)  alle  biefe  ©id)ter  g(eid);  bcr  Gpiemu*  als  craffer  Vertreter  bcr 
9iaturn>al)rl)eit  f»at  ba*  grojjc  2i'ort.  3«  einer  ber  originellften  Scenen  bc* 
„Hofmeifter*"  non  Sen$,  al*  ber  alte  SHajor  feine  entehrte  ©od)ter  au*  bem 
©eid)e  jie^t,  in  ben  fie  fid)  geftürjt  l)at,  fdjmanft  berfetbe  jroifcb>n  feiner 
greube  über  bie  Rettung  be*  Äinbe*  unb  feiner  inneren  Gmpörung  über 
if)re  Sd)anbe  unb  giebt  biefen  miberfprudjSüollcn  ©efüfjlen  in  fcf)r  fräftigen 
SBenbungen  ?lu*brucf:  „Wuftel,  was  fef)tt  ©tr?  Haft  Gaffer  eingefdjtudt? 
33ift  weg,  mein  ©uftel?  -    Wotttofe  Canaille!   Hättet  ©u  mir  nur  ein 
3Bort  t>orf)er  banon  gejagt,  id)  Jjätte  bem  Saufejungen  einen  3lbet«brief  ge- 
lauft,  ba  bättet  3b>  fönneu  ,3ufummenfricd)en!'"  2JJeit;rl)in  fagt  er:  „3<b 
t>erjeif)'  ©ir,  »eräeib/  ©u  nur  mir!  3a  aber  nun  ift'3  nidjt  meljr  511  änbern; 
idj  l)abe  bem  Hunbsfott  eine  Sauget  burd)  ben  Äopf  getnaHt;"  unb  bann 
wieber:  „D  ©u  mein  einjig  tljeuerfter  Sd)afc!   3>a&  id)  ©id)  in  meinen 
Slrmclt  tragen  fann,  gottlofe  Canaille."   GHne  äfmlidje  Äraftfpradbe  ftnbet 
fid)  in  SiSagucr*  „ÄinbeSmörbcrin" ;  ba  fagt  ber  alte  H"iwpred)t,  ein  "Jtor= 
gänger  bc*  9Ruftfu*  ÜKüüer  in  „ftabale  unb  Siebe":  ,,©a*  Sumpengejeug! 
©er  »erbammt-  sJJidel!    ©cn  Stugenbtid  foll  fie  mir  au*  bem  Haufe! 
deinen  Riffen  fann  id)  in  9iub>  freffen,  fotange  bie  Hure  nod)  unter  einem 
©adje  mit  mir  ift!"  unb  at*  er  ben  Sünbenfall  feiner  ©odjter  erfäbrt, 
fagt  er  *ur  mttfdntlbigen  2Kutter:  „33eftie,  üermalcbctte  33eftie,  b>ft  ©u 
meine  £od)ter  jur  Hure  gemacht!"    ;]jn  Sllinger*  „Sturm  unb  ©rang" 
fagt  Sa  acu  gleidj  beim  beginne  bc*  Stüde*:  „$ft  feine  alte  Here  ba, 
mit  ber  id)  d)armiren  fönnte?   3f>re  Stunjctn  follen  mir  ju  SBelleulmien 
ber  Schönheit  werben,  if)re  b>rau*ftef)enben  fdjwarjen  3äfme  ju  marmornen 
Säulen  an  ©iana*  ©empet,  if)re  f)erab()ängcnben  tebemen  Bifeeu  Helena* 
33ufen  übertreffen."    ©er  Helb  be*  Sd)aufpiet*,  2Btlb,  fagt  ein  anoere* 
99tol:  „9?tmm  ©einen  ©egen  fo,  nimm  ©einen  ©egen,  ober  id)  würge 
©id)  in  biefcin  lieber  unb  frejj  ©ir'*  HctJ  «w*  bem  Seibe."  3lud) 
bei  SBialer  SÖiiiller  finben  fid)1  genug  berartige,    fd)on  »on  Jvriebridj 
©cblegel  gerügte  .siraftp^rafen.  „©er  ^saulferl",  „lümmelt",  „3)Jiftgeftdit", 
„^affion*f(cgel",  „id)  idnueiß'  ©ir  ©eine  Örimaffe".  3n  feinen  ^bnUcn, 
forool)l  in  feinen  antifen  wie  in  feinen  beutfdjen,  Iäftt  3J?üllcr  im  ©egenfafee 
jur  Sentimentalität  ©ejjner*  unb  feinen  empftnbfam  ausgemalten  2lrfabicn 
bie  ©erbbeit  bcr  rol)en  9tatiir  unb  einer  oft  y'tgellofcn  Sinnlidjfeit  walten. 


  Die  3ün(jjfteutfd(en  bes  adjtjefyiten  Zak^nt)ttts.    187 

IDlüllerä  „Sator  9)?opfu3"  ucrfpridf)t  ber  9ttmtphe  aU  haften  @tüd$= 
genug:  „er  wolle  fie  im  ©rünen  jagen,  il»r  bie  Äteiber  vom  ßetbe  reiften, 
fie  giften  unb  fifeeln  nad)  &erjen£tuft,  fie  auf  bem  Saud)  herumwerfen 
nnb  ihre  Sdjenfel  folange  platten,  bafj  fie  tf)r  funfein  follen  wie 
eine  jeitige  ©ranate;  fie  füttern  unb  mäften  wolle  er,  bafj  fie  feift 
würbe  unb  bidteibtg  unb  einen  fragen  üon  Sped  befäme  wie  ein  fette* 
Hertel."  . 

2lbgefef)en  »on  biefen  rohen  Derbheiten  fd)wanft  ber  (Stil  ber  (Stürmer 
unb  ©ränger  jnrifdien  bem  überfdjwänglidj  @d»wülfttgen  unb  bem  trimal 
Dtüditeraen:  eine  -IIHfdmng',  bie  ftets  wteberfehrt  bei  ben  fraftgenialen 
Dramatifern  bt$  auf  bie  jüngften  beutfdjen  9lu£täufer.  Da§  fülmere  33itö, 
ba#  ber  Dbe  geläufig  ift,  bie  |>i)perbel  ift  in  bie  bid)tirifd)e  ©ewanbung 
aU  £auptfd)mud  Ijineingemirft.  Sei  ÜDialer  SJüller,  befonberä  in  ben 
bramatifdjen  Fragmenten,  reidjt  eine  £nperbel  ber  anberen  bie  $anb.  „D 
mein  föcrj  ^üpft  mir  oor  $reuben,  wenn  id)  an  fie  benfe!  3ft  e3  nidjt, 
als  wenn  <Srb'  unb  Gimmel  fid)  erfd)öpft  Ratten,  um  SBoIlfommenheit  ju 
bilöen."  „£ie§  es  laut,  bafj  jebe  Sßanb  fid)  entfefce  unb  ber  unempfinbfame 
St;in  t>or  Sdjam  erröte.*'  2tud)  2Bagner$  „ÄinbeSmörberin"  ift  reid)  an 
4?t)perbeln:  „Die  mögen  meinetroegen  aud)  ein  ©ewiffen  haben,  baS  gröfjcr 
ift  atö  bie  ÜDiefegerau  brausen;"  „Soll  mid)  ber  Zeufel  lebenbig  jerretfjen, 
et)'  id)  ein  2Bort  hinsufetje."  „2Benn  er  bleute  SatiSfaction  »on  mir  »er- 
langt,  fo  fott  er  fie  haben,  unb  wenn  taufenb  Sdiaffotte  unb  taufenb  ©algen 
baneben  ftünben."  „Die  SJippen  itn  Seibe  tret'  id)  if)r  entzwei !"  „Wtit 
magrer  £er}en3wonne  will  id)  mid)  in  feinem  Stut  herumwäljen."  Die 
fd)wungf)aftefte,  aber  aud)  fdtroütftigfte  töraftfpradje  finbet  fid)  bei  Älinger, 
fortmäfjrenbe  Stnaftrophen  unb  (Spiftrophen,  cmphatifdje  2Bieberl)oluugen,  ge- 
wagte, oft  gefdjmadlofe  Silber:  „Der  Dob  b,at  fid)  längft  um  meine  ©e* 
beine  gelängt,  losreißen  merb'  id)  it)n  bieSmal  nidjt.  D  Gamüla  fann  fönen 
au£  Dbbeefdnaf  weden,  fann  (£inen  umwerfen  mit  einem  Slid."  ,,3d) 
möd)te  biefe  Aeueriuotfeu  jufammenpaden,  Stunn  unb  SBetter  anregen  unb 
mid)  jerfd)mettert  in  beu  2lbgrunb  ftürjen."  „Sd)au  nidtt,  ßamiHa!  Setter 
©uetfo  heult,  unb  wenn  er  heult,  hentt  Sieb'  aus  ihm."  beulen  unb  Srüllen 
finb  Siebliugemenbungen  be*  Dichters.  Gine  fieberifd)e  Bewegtheit  dwrafteri« 
firt  feinen  ganjen  Dialog. 

@S  ift  feine  ftragc,  bat)  Sd)iHer3  ^ugcnbbidrtungen  ben  ©etft  ber 
^Stürmer  unb  Dränger  athmen;  fie  waren  ein  9?ad)fpiel  biefer  Gpodie,  unb 
ba§  SerbinbungSglieb  bilbete  ber  gefangene  Dtdjter  Sd)ubart  oben  auf  bem 
.Öoftenafperg,  ebenfalls  ein  Äraft«  unb  geuergeift.  9ln  £t)pcrbeln  finb 
bie  „Räuber",  „gieäco"  unb  „Äabale  unb  Siebe"  hod)  reicher  als  bie 
Dramen  ftlingere  unb  feiner  ©enoffen;  bod»  bem  fdiärfer  Slidenben  fann 
ce  nid)t  entgehen,  bat's  in  ben  Sdntter'fdien  .^operbeln  eine  große  bramatifdte 
Mvaft  liegt,  währenb  in  benen  Älinger*  unb  ber  9lnberen  nur  bie  gefd)wollene 
yiraftphrafe,  hödtften-  ^n  ftfirnitfdjeä  SJaturell  fid)  aueprägt,  bem  feine 

13* 


^ 88    Hnbolf  Don  öottfdjatl  in  £«{pjig.   

SebenSäuBeruugen  Selbftjroecf  finb,  aud)  wo  fie  bic  bramatifd)e  SBirfung 
oerpfufdjen,  ftatt  iljr  ju  bienen. 

.£>anb  in  &anb  mit  biefen  überfd)n>änglid)en  ©rgüffen  gelten  aber  bei 
bot  Äraftbramatifero  bie  ÜRaturtaute  bcr  ßtnpfinbnug;  oft  löft  fwf»  bcr 
Dialog  in  ^ntenertionen  auf.  3>ie  Ijafta,  f»of)o,  f)u  finb  befonberS  bei 
Mttger  überalt  ju  jtnben  unb  erfefcen  oft  baS  ^ktfjoS  beS  SramatiferS, 
J»aS  fid)  nad»  Tegels  Anftdit  ftetS  „erpticiren"  folf.  3iamcntti<^  ber  &elb 
in  „Sturm  unb  Drang",  SBilb,  ift  unerfd)öpflidji  in  fotcben  Ausrufungen, 
unb  aud)  ber  &etb  ber  „3t»illinge",  Ghtelfo,  roirb  ftetS  feine  „&u"  aus* 
ftofjen,  roenn  etroaS  ©rauftgeS  in  ber  Suft  liegt,  ©ine  ergöfclidje  ^robe 
biefer  ^oefie  ber  Ausrufungen  finbet  fid)  in  bem  Fragment,  baS  Seuffert 
in  feinem  2Berfe  über  ben  3Rater  -Müller,  au«  beffen  „.§einrid)  V."  miu 
tfjeitt :  „9Beg  —  meg,  weg!  9ScrfCud;t  fei  aller  £roft  —  o!  $d)  null  bic 
3unge  jertreten,  bie  mir  t»on  öebulb  fpridjt  —  of>!  of)!  ob,!  ot|!  ad)!  So 
mit  mir  um^ugelin  —  fo!  —  fo!  —  fo  mit  mir  umjuge^en!  2Rein  arme« 
graues  föaupt  ju  »erfto&en  —  SBinb  unb  SBetter,  allen  dementen  preis! 
€f),  of)!  ob,!"  Das  ftingt  roie  eine  ^arobie  auf  Äönig  2ear. 

Dafs  aud)  unfere  iüngftbeutfd)e  Dramatif  ätoifdjen  bem  Ueberfdwäng* 

liefen  unb  SBortfargen  Ijin  unb  Ijer  trrlidtterirt,  ift  unbeftreitbar.  QbfenS 

SJorbilb  l)at  ben  fcanbina»ifd»en  SafoniSmuS  bei  uns  eingebürgert,  unb 

einige  ber  Süngften  geberben  ficb,  als  Ijätten  fie  in  ber  ©infamfett  ber 

norbifdjen  ^jorbö  baS  Sprechen  »erlernt.    ©S  ift  roabx  baß  jtdj  bei 

©erfjart  Hauptmann,  beffen  geber  nur  getcgentltdj  einige  ßnniSmen  aus? 

fpriW,  too^I  tjin  unb  roieber  jene  in  Epigramme  unb  ©mpftnbungSlaute  jtd) 

pfpifeenbe  SBortfargfieit  finbet ,  ba§  er  ficb,  aber  »on  bem  Sdjnnilftigett  unb 

Aufgebäumten  freihält,  unb  baf?  Subermann,  tteldjer  ben  Qüngften  ia  »on 

biefen  felbft  nid)t  jitgeää^lt  nrirb,  aud)  nur  feiten  eine  töraftptirafe  »erpufft 

unb  titetn-  franjöfifdjcn  ©fprit  funfeln  läßt;  bod)  mir  Ijaben  eine  grojje  Safyt 

»on  Dramen  aus  bem  Atelier  ber  jüngftbeutfdien  3)iufe  gelefen,  in  benen, 

trofe  ber  bajroifdjen  tiegenben  geläuterten  claffifdjen  Gpod»,  bie  Unarten 

ber  Stürmer  unb  Oranger,  ifire  GJefd)madlofigfeiten,  Alles,  roaS  gleiten  bic 

„geftotterte  ^Slirafe  ber  Unfttnft"  nennt,  fid)  in  auffaüenber  SBeife  nrieberf>olen. 

*  * 
* 

(jJeineinfain  ift  biefer  jüngften  @pod»c  mit  ber  alten  ©enieepodje  bic 
Vorliebe  für  bie  comedie  larmoyante,  baS  9tul)rf(f)aufptel  mit  guten 
Ausgängen  ober  audj  mit  traurigen,  nur  bafj  bies  traurige  ftc^  ntdjt  txtt- 
fernt  mit  bem  Xragtfdjen  bedt. 

.slein  Geringerer  als  Berber  in  ber  „Abraftea"  b,at  eine  Sanje  für  baS 
bürgerliche  Drauerfpiel,  für  bie  eomedie  larmoyante  gebrochen,  „%e  ge* 
orbneter,"  meint  er,  „bie  5Dlenfd»en  unb  bie  Staaten  werben,  befto  meljr 
rainbere  fid)  ber  3unber  jur  tragifd)en  flamme;  eine  geroiffe  9Jaub,b^it  bcr 
Seele  in  £>errid)fud)t,  9?ad)e,  Stolj,  öraufamfeit  fdjeine  unter  ber  ^anb 


  Die  3nn$jibeutid|en  &es  ac^tjettntett  Jaljriiunberts.    ^89 

i>er  3eit  abgefchliffen,  wemgfteus  geglättet  ju  fein,  baß  fie  fo  fd)arf  nic^t 
äfce  ober  fdmeibe;  mir  forbern  jefet  einen  fröhlichen,  wenigften*  einen  ge; 
mäßigten  Ausgang."  3>ie  &erabftimmung  ber  hohen  Sragöbie  ju  bem 
fogenonnten  bürgerlichen  £rauerfpiel  ift  alfo  feine  ©rniebrigung,  feine  6nt= 
roeitjung.  ©er  Ungeheuer  auf  fronen  finb  mir  fatt;  wir  wollen  in  ben 
uns  näheren  Stänben  unb  23erf>ältniffen  9)tenfd»en  fehen,  bie  mit  eigenerer 
firaft  als  »ielleid)t  jene  bie  Sd)idung  abwenben  ober  gegen  fie  fämpfen. 
„!Qat  bas  rettenbe  Stüd  einen  fröhlichen  Slusgang,  fo  fdmterst  uns  ber  Spott-- 
uame  einer  weinertidben  Stomöbte  (comedie  larmoyante)  ntd)t;  mir  f)aben 
unter  biefem  tarnen  rütjrenbe  Stüde  ber  leibenbeu  unb  geretteten  2Renfd)= 
tjeit.  Ueberhaupt  iffs  ein  gutes  3e*d)en,  bafj  mir  ben  ©efdjmad  am 
glitterftaat  ber  attfranjöftfd)en  fomie  an  ber  gotl)tfd)en  ^ßradjt  ber  englifdien 
Xragöbie  »erloren  tjaben;  aud)  bie  2:^eifnaf)me  am  ©eftirr  unb  ©elärm  bes 
alten  gebanfentofen  9Uttermefens  ift  faft  worüber".  Unb  biefen  Stbfagebrief 
an  bie  £ragöbie  fdjrteb  Berber  5U  einer  Qext,  als,  um  einen  uolfsthüm; 
lid)en  9lusbrud  ju  gebrauchen,  faum  einen  £unbeflaff  »on  ihm  entfernt, 
«Schiller  in  bemfelben  SBeimar  feine  Xrauerfpiele:  „SBallenftein",  „2Karia 
(Stuart",  ,,©ie  Jungfrau  oon  Drteans"  gefdirieben  hotte  unb  biefe  «Stüde  bort 
am  £oftt)eater  gegeben  mürben,  ©erabe  über  bie  ftofcebues  unb  ^fflanbs 
trug  Sdjtller  mit  biefen  Stüden  einen  Sieg  baoon,  ber  »on  Sahrjefmt  511 
Sahrjetmt  fid)  immer  glorreicher  bewährte.  ©od)  aud»  bie  »orausgehenben 
«Stürmer  unb  Oranger  hotten  juglctd)  mit  bem  SRatürlidjfeitiSprincip  bie 
comGdie  larmoyante  gepflegt,  unb  man  fann  aud)  an  ihren  Stüden 
uadnoeifen,  wie  in  biefer  SJJtfchgattung  fid)  leidjt  bas  $£ragtfd)e  entweber 
btos  jutu  traurigen  abftumpft  ober  Leibes  leer  ausgeht  unb  ein  barauf 
angelegtes  Stüd  plöfelid)  ein  gutes  ©übe  nimmt,  ^n  bem  „£ofmeifter" 
»on  Senj  »erführt  ber  |>elb  ein  junges  abltges  9Mbd)cn,  feine  Schülerin, 
bereit  Bräutigam  auf  ber  Unioerfität  fich  herumtreibt  unb  fie  ju  twrgeffen 
broht.  ©a£  SJiäbchen  will  fid)  in's  2öaffer  ftürjen,  ber  eigene  SBater  rettet 
fie.  ©er  junge  Stubent  aber  rjeirot^et  fie,  ohne  bas  beneficium  inventarii 
oeltenb  $u  machen,  darüber  fefet  man  fid)  leicht  hinweg,  ©in  uerföhnlicher 
Schluß  erhält  bas  publicum  bei  guter  Saune,  ©er  föofmeiftcr  felbft  aber 
abälarbifirt  fich;  äbex  auch  biefer  tragifchen  ©reuelthat  wirb  bie  Sptfce  ab; 
gebrochen,  benn  er  t)siratl;ct  trofcbem  ein  naioes,  in  ihn  »erliebtes  Sd>ul; 
tnetftertöd)tertein.  Sine  merftoürbige  ©he!  ©od)  mag's  biegen  ober 
bredjen  —  es  mujj  fid)  einmal  2lHes  jum  ©uten  menben.  $n  Ältngers 
„Sturm  unb  ©rang"  t)errfd)t  eine  grimme  £obfeinbfd)aft  jroifd)cn  Sorb 
^Bufft)  unb  Sorb  SBerflen.  Sie  Söhne  von  Reiben,  bie  in  bie  Sanbe 
»erfprengt  finb,  finben  fid)  in  Stmerifa  wieber,  ber  ©ine,  ber  junge  ^erflet), 
«in  üerroilberter  Seecapitän  feines  3e'd)cm3>  l)at  ben  alten  SBufft)  auf 
feinem  Sd)iff  entbedt  unb  ihn  bei  ftürmifeber  See  in  einem  33oote  aus; 
gefegt  unb  bem  fixeren  £obe  geweiht,  ©arüber  ergrimmt  ber  &elb  bes 
Stüde«,  SiMlb,  unb  es  foll  jum  3iwifai"Pf  fommen.    ©a  erjäf)lt  ein 


\90    Hubolf  von  (Sottfdjall  in  £etp3tg.   

SWohrenfnabe,  ein  Siebting  be«  &apitän«,  baf?  er  bamat«  biefen  getäufeht 
unb  ben  93ufft|  in  einem  SBerftecf  be«  ©ct)iffe«  in  Sicherheit  gebraut  h«be. 
Ta«  fü^rt  nun  eine  allfeitige  SBerföIjramg  fierbei  —  ba«  ©tuet,  eine 
Tarantella  be«  roahnnnfeigen  ^affeä,  enbet  mit  einem  fröhlichen  SSatjer. 
3n  anberen  ©Hufen  ift  ber  2tbfchtuf3  ein  trauriger,  ob>e  iebe  tragtfehe 
Sebeutung.  @o  enbet  in  ben  „©otbaten"  von  Senj  ber  ßonflict  bamit, 
baf}  ber  3Sater  feine  Tochter,  bie  uon  einem  Dfftjier  »erführt  roorben,  al« 
©traftenbirne  roieberfinbit.  9JJtt  biefer  fchmerjlidjen  ©ntbectuug  bricht  ba« 
©tuet  ab  —  balnn  führen  bie  Siebfchaften  ber  ©otbaten,  ber  Cfftjtere  —  ba« 
ift  biefetbe  Tarnung  unb  HWatmung  rote  biejenige,  mit  welcher  ber  £ofmeifter 
fd)tief.t.  ©ort  b^eifct  e«:  „|>ütet  @ud)  cor  ben  Söhnen  be«  War«!"  tiier: 
„ftütet  ©ud)  uor  ber  ^rinaterstehung  ber  Töchter!"  Ta«  2llle«  ift  nicht 
Tragöbie,  fonbern  com6die  larmoyante.  Seopotb  SBagner«  „£inbe«= 
mörberin"  mar  anfang«  al«  Tragöbie  gebaut  unb  niebergefdirieben.  Tod) 
brei  Satire  barauf  b^at  fie  ber  Tid)ter  felbft  in  eine  comedie  larmoyante 
uerroanbelt,  burd)  eine  Umbid)tung,  welche  fie  nid,t  nur  in  unferen  „beltcaten, 
tugenblallenben  Seiten"  bühnenmöglid)  machen  follte,  fonbern  aud)  bem  Ting 
am  @nbe  eine  anbere  SBenbung  gab,  „um  allen  feinen  3u^örern  eine 
fd)laftofe  9tod„t  ju  erfparen."  $n  biefem  ironifd)  angeführten  SHoti»  liegt 
ja  ber  .fcauptgrunb  für  ben  SBorjug,  welchen  bornat«  roie  je|t  bie  ^ülnten 
bem  5Rüt)rftücf  »or  ber  Tragöbie  gaben. 

$n  heutiger  $eit  ift  bie  comedie  larmoyante  oon  ^ranfreid)  herüber« 
gefommen  unb  bef)errfd)t  bie  fühlte.    93iele  Tramen  ber  eigentlichen 
9tepertoirebid)ter  gehören  biefem  ©enre  an,  and)  bie  meiften  ©rüde  ber 
3üngftbeutfd)en.  Sin  traurigen  2lu«gängcn  fehlt  e«  in  benfelben  nid)t;  aber 
ba«  Traurige  ift  nicht  ba«  Tragifcb>.   $aft  alle  ^bfeniaben  gehören  in 
biefen  Bereich,  aud)  bie  erfolgreichen  ©rüde  ber  lefeten  Qeit,  ©ubermami« 
„6t)re"  unb  „Heimat".  Ter  2lbfd)tuf3  be«  erften  Trama«  ift  ein  oerföhn* 
lieber,  bod)  ba«  Tragifcbe  ber  foäalen  ©egenfäfce:  ba«  *8orber*  unb  hinter« 
hau«  fteHt  nod)  niete  Tragöbien  ber  3"hi«ft  in  3lu«fid)t.  $n  ber  „Heimat" 
ift  ber  ©djtufe  ebenfalls  non  jener  abgeftumpften  Tragif,  bie  bem  3Jüb> 
ftüct  eigen  ift.  Ter  alte  Solbat  ftirbt  gleichfam  an  ber  2Biebcrbegegnung 
mit  feiner  Tochter;  3)?agba  aber  fefet  nad)  biefem  pfncbotogifdjen  fJJorb 
roahrfcheinlid)  ihren  ©iegeetauf  al«  Mnftlerin  fort.   %n  „©obom«  ©nbe" 
geht  ber  .§elb  jioar  ju  ©runbe,  aber  ber  Untergang  biefe«  innerlich 
»erroüfteten  unb  gemüth«rohen  3)lenfd)en  ift  nur,  rcie  ba«  SBertöfcben 
einer  hcrabgebrannten  Äerje.  2i?enu  in  £atbe«  „Jugcnb"  bie  £elbtn  nach 
ihrem  gehltritt  burd)  bie  Äuget  eine«  SBIöbfinmgen  fällt,  fo  ift  bie«  ein 
burd)  einen  3ufal'  hervorgerufener  Änalleffect,  ber  mit  ber  inneren  ©dwtb 
unb  ©ühne  nicht  ba«  ©eringfte  gemein  fjat.  Unb  nenn  in  ©erhart  £>aupt= 
mann«  „©infame  SUenfdjen"  ber  .^elb,  ber  junge  Roderath,  ein  geiftreicher 
^rinatgelehrter  unb  Tarminift,  fich  in'«  SBaffer  ftürjt,  weil  bie  3urid)«r 
©tubentin  fein  .öau«  uertaffen  hat,  bie  feinen  ©eift  unb  andj  fein  £er$  ju 


  Die  3&n$fibtnt\dien       adjtjeljnten  3<»1!rtiuni>*rts.    \9\ 

fcffeüt  oerftanb,  fo  ftel.t  fidE»  ber  £elb  be*  Stüdes  mit  bicfem  Selbfimorb 
nur  ein  geiftige*  2lrmutf)*5eugmj}  au*,  unb  man  ftet)t  in  biefem  2lbfd)luj?  nur 
einen  bebauerlidjen  Vorgang.  9tud)  Vertf)olb  Sitsmann,  einer  ber  eifrigften 
Vorfämpfer  Hauptmann*,  befennt,  bafj  er  biefc  Sdjtuüfataftropfie  rtidjt  al* 
organifd)  empfinbet.  Tie  comMie  larmoyante  ift  alfo  bei  ben  Stürmern 
unb  Prangern  fo  beliebt,  rote  bei  unferen  3üngftbeutfd)en;  nur  finb  bic 
letzteren  nie  über  bicfelbe  f)inau*gcfommen,  betrachten  fie  al*  bie  allein* 
beredjtigte  #orm  moberner  Trainntif,  roäljrenb  von  jenen  Vorgängern  nur 
9ieint)olb  Senj  au*fd)lie£tttd)  bei  if»r  fteljen  blieb.  Ter  madjtüoHe  Älinger 
aber  b,at  nidjt  nur  »on  &aufe  au*  aud)  ed>te  Trancrfpiele,  wie  bie  „3roiUingc" 
gebiditet,  fonbern  aud)  ®efd)id)t*bramen,  eine  Äontöbie  unb  Trauten  au*  bem 
2lltertf)um,  roie  2lriftobemu*,  Tamofle*  unb  bie  Stüde,  beren  &elbin  bie 
2)Jebea  ift,  in  betten  er  ftd)  al*  Vorläufer  örillparser*  jeigt. 

* 

Tie  Sprit  ber  Sturmer  unb  Tränger  ift  nidjt  frudjtbar  gcroefen.  Ta 
ift  bie  jüngftbeutfdje  Snrtf  ergiebiger.  25M  man  jene  in  if)rcm  ganjen  Um; 
fange  roürbtgen,  fo  muf?  man  Talente  mitf)eran3tcf)en,  bie  ttid)t  in  ben 
engeren  Slrei*  ber  Varnajjftürmer  gehören,  aber  bod)  ba*  ©epräge  ber 
3iid)tuug  meb,r  ober  roeniger-  jur  Sdjau  tragen:  ben  Tnrannenfiaffer 
Schubert,  bie  granbio*  fief»  geberbenben  trüber  Stolberg,  unb  fclbft  ben 
»olf*t()ümttd)ften  wm  9lllen,  Bürger,  ber  in  feiner  ungenirten  Stoffroafjt 
unb  in  feineu  ennifdjen  Terbf»eiten,  in  9lllcm,  roa*  Sd}iller  an  ifmt  fo  fdjarf 
tabelte,  ber  ÜKdjtung  fein-  naf)e  ftanb.  Tie  33rübcr  Stolberg  jäf)lte  ©octfie 
311  bem  fyerfulifdjen  Gentaurengefdjlectyt,  ba*  mit  Vermögen  unb  Alraft  nidjt 
roufste  roo  an*  unb  ein.  ©erabe  in  ifirer  Snrif  gehörten  fie  ganj  3U  bem 
©eniefturm.  $)xe  Dben  Ijabeu  einen  überfdnuänglidjen  Ton,  oft  aber  geniale 
Mfmtieit  —  unb  ba*  Uebcrfdjroänglidje,  roenn  aud)  einem  ganj  anberen 
3citgeift  bulbigenb,  finbet  fid>  in  unferen  jüngftbeutfeben  Cben  oon  Vleib« 
treu,  Siufe,  befonber*  Gonrabi,  ber  feingeftimmte  Ton  oft  burd)  gelegene 
ltd)e  Terb()eiten  unterbrochen,  tute  e*  bei  ben  Stürmern  unb  Trängent  unb 
ifiren  nädjften  3»"9«ni  aud}  ber  $ali  mar. 

Von  ben  cigenttid)cu  ^ü^rent  ber  Veroegnng  roar  J~ilingcr  fein  ütjrifer. 
(*r  hat  biiroeilen  „nütf)ige  Verfe"  gemadjt,  roie  er  felbft  in  ber  ,/JJeuen 
3lrria"  fie  oorlefen  läfct,  Verfe  ofme  Metrum  unb  Harmonie  —  bie  Sieget« 
lofigfeit  moberner  äftfjctifdjer  Starfgeiftcr  önt  aud)  „niitfjigc  Verfe"  genug 
an'*  Sidjt  geförbert.  Ta*  reijenbc  ©ebid)t  „Sophien*  Siebe"  ift  ein  au** 
naf)m*roeife  glüdlid)cr  SBurf  ber  Mlinger'fdjen  Sttufe.  ÜNaler  3)iüller  fwt 
al*  lurifdjer  Tid)tcr  faum  eine  beftimmte  Vf)t)fiogitomie.  Cbe  unb  ^bnlle 
löfen  fid)  bei  ifmt  ab;  er  ift  meift  jügello*  in  ber  ftonn;  am  beften  gelingen 
ifmt  bie  reimlofen  freirfytjtfmtifdjen  Ver*fnfteme,  ber  Ton  ber  £tjmne,  aud) 
für  ba*  £tebe*gebid)t;  ba*  Süftcrne  überwiegt  bei  if)tit  ba*  Ueppige.  Ter 
roirflid)  begabte  Snrtfer  jener  3«tt  ift  ffieinf)olb  2eny,  feine  erften  Siebe*= 


\<)2    Hubotf  Bon  (Scttfd)afl  in  £eipjig.   

gebidjte  laffen  fid)  faum  oon  ben  0oethe'fd)en  uttterf ereilten;  fie  haben  ben= 
felbcu  ©uft,  biefelbe  Slnmuth-  2Bemt  Dtto  ©ruppe  in  feiner  Schrift  „Steins 
I)otb  Öeiiä,  Seben  unb  SBerfe"  nad)  einer  3^gUeberung  feiner  Siebesgebtdrte 
fagt:  „SDJödjten  bie  fo  buref)  bie  ßebensumftänbe  beleuchteten  ©ebid)te  ben 
©nbruef  erweden,  baß"  wir  es  b^er  mit  einein  ber  größten  Snrifer  ntdjt 
nur  ©eutfdilanbs,  fonberu  aller  Qtittn  $u  tt)un  haben,"  fo  hat  er  wohl  Den 
sBogen  bes  Sobes  etwa*  $u  ftraff  gefpannt  ©od)  zweifellos  nimmt  i'cnj  aU 
Snrifer  einen  Sofien  Slang  ein.  28enn  ©eroinuä  fagt,  baß  feine  Stiftungen 
unt;r  bie  traurigften  Seifpiele  ber  unfinnigen  SSerirrungen  gehören,  bie  ben 
©eutfdjen  eigentümlich  finb,  ba  fie  bas  Gepräge  feines  wirren  2i>efcn* 
an  fid)  tragen,  wenn  ÜWcnjel  itm  wegen  feiner  raftlofen  ^iebertnfce  unb 
3ud)ttofigfeit  ausfdjilt  unb  oon  feinen  öebtdjten  nur  fein  fd)abloncnhafte£ 
Sanbplagenpoem  ermähnt,  fo  würbe  ein  ©lief  auf  triefe  Siebeslieber  aller; 
btngs  bie  geftrengeu  3üd)ter  milber  geftimmt  haben.  2*?cnn  er  ber  Qk- 
liebten  juruft: 

„Du  allein  giebft  Xroft  unb  ftreube; 
JEBätft  £u  ntcfct  in  bitfer  ffielt, 
<Srra<f«  fiel  alle  Suft  §ufammcn, 
SEBte  ein  g*uertt>erl  jerfäJt. 

8Benn  bie  fcbjjne  Stamm'  erlifdjet, 
35ie  baS  all  gejaubert  bat, 
Sleibtn  5Raud)  unb  Sränbe  fte&en 
SJon  ber  Bnifllidjen  ©tabt." 

fo  ift  ba«  lnrifd)e  ftracturfdjrift  in  ben  fräftigften  £üQax,  unb  ganj  im 
©oetb/feben  Ton  erftingen  bie  ^erfe: 

„Unb  unter  Soden,  toeldK  fliegen 
Um  üjrer  ©djultcrn  (Hfenbeht, 
SBerrätlj  ein  ©ettenblicf  beim  Siegen 
Xen  fdiBnen  ffiunfcb,  beftejt  su  fein!* 

Stürmifdje  Setbenfdjaft  atfnnet  bas  frei  rl)utr)mtfd)e  ©cbtd)t:  „©er  m- 
lorene  3lugenbtid".  ©a*  mödite  nodj  am  meiften  an  cinjelne  (*rgüffe  ber 
neueften  Stürmer  unb  ©ränger  erinnern,  währenb  jene  ©oethc'fcbe  ©rajie 
itjnen  unerreichbar  geblieben  ift. 

*  * 
* 

3Öas  inbeß  ber  neueften  litterarifchen  ^Bewegung  bas  erfennbarfte  (Ge- 
präge aufbrüdt,  bas  ift  bie  rüdfidjtslofe  Äüt)nl)cit  in  gefchlechtlidjen 
©ingen,  womit  fie  bas  Sügengewcbe  b,eud»lerifd)er  Gonnentionen  511  5er* 
reißen  fud)en  unb  als  2lpoftel  nadter  £ebenswahrr)eit  bie  große  9Jcr>olution 
ber  Sitteratur  burdjgeführt  ju  haben  glauben.  Unb  bod)  bewegen  fie  fid) 
gerabe  hier  in  ben  alten  ©eteifen,  weldje  bie  fin-de-siecle-£itteratitr  bes 
norigen  3nl)vb,»«b;rts  ausgefahren  hat,  unb  es  jeugt  »011  einer  gro&en  Un= 
fenntniß  berfelben,  wenn  man  hier  etwas  Sicues  unb  9{tebagcmefenes  ju 


  Die  3nng{ibeutfd)eit  bes  a^eljuten  3>itirl)uiii>ertä.    19^ 

bieten  glaubt;  ja  eine  2ltrt()ologie  btefer  gefdjledjtlidjen  ftülmfietten  brauet 
fid)  nicfjt  auf  bie  Stürmer  unb  ©ränger  ju  befdjränfen,  fonbern  fie  fann 
bie  ganje  bamalige  Unterfyaltungslitteratur  mit  in  ifire  Streife  $ief)en.  &n 
SUdt  barauf  ift  aud)  nad»  einer  anberen  Seite  feljr  lefyrreid).  S)ie  Üitteratur 
befanb  fid)  bem  (Staate  gegenüber  bamal*  in  einem  3uft«>tf«  ber  Unfdndb; 
bie  3umutf»ung,  bafe  bie  5l*ertreter  ber  ^fuftij  fid»  mit  iljren  (Srfinbungen 
befdjäftigen  unb  fie  oor  ©erid»t  ftellen  mürben,  t)ätte  fie  mef)r  befrembet 
aU  erfd)redt.  ©amate  gab  cä  fein  föetdjsftrafgefefcbud)  mit  Un$ud»t** 
Paragraphen;  bamate  gab  e*  feine  lex  ^einje  unb  feine  Umfturjoorlage, 
unb  ein  blutiger  StaatSanroalt  mürbe  einen  2tugia3ftall  ausräumen  muffen, 
menn  er  alle  biefe  ©ramen  unb  JWomanc  oor  ba*  Jorum  beS  Strafriditer* 
jiefjen  wollte.  £ie  Grnte  ber  9)Hffetl)at  ftanb  bamate  in  »ollen  Jahnen 
unb  erforberte  einen  „Sdjnitter  fonber  ©tetdjen". 

bleiben  mir  junädift  bei  ben  Stürmern  unb  ©rängern  ber  ftricten 
Dbferoanj.  Sieinfjotb  Scnj  uor  3lttem  pflegte  ba>3  „fepeüe  Problem",  um 
biefen  terminus  technicus  ju  gebrauchen,  mit  bem  fo  oiel  Unfug  getrieben 
mirb.  Sein  „föofmetfter"  »erführt  ba$  ©belfräulein,  ba$  feiner  ©rjiefmng 
anwertraut  ift;  fie  wirb  fdjroanger.  2Bie  l)at  man  fid)  befreujigt  »or  Hebbel* 
SJiaria  SDJagbalena!  —  3tt  ben  Siomanen  unb  ©ramen  jener  früheren  &it 
finb  fdnoangere  99iäbdjen  fo  oft  bie  ^elbinnen,  bafj  man  fie  ju  ben  „fteljen= 
ben  Jviguren",  befonberS  ber  ©ramatif  redmeu  fann.  ©a«  fdjroangere 
^räulein  aber  miß  fid»  in'£  SBaffer  ftürjen,  mirb  aber  fdrtiejjtid)  won  ifirem 
frütj^ren  Bräutigam  Jvrtfe  gel)ciratt)et,  ber  über  ba£  fteine  Ükrfefjeu  binweg* 
fiefjt.  „darüber  fann  fein  ÜKann  hinweg"  —  bamate  ftanb  man  utdrt 
auf  bem  Stanbpunfte  be$  ^ebbel'fdjen  Secretär*.  ©ie  ©pifoben  fjaben  ben 
gleidjen  Gbarafter  wie  bie  £auptf)anblung.  ®ae  Uni»erfität-Meben  in 
Sctp5ig  bringt  %vi$,  mit  einem  ©enoffen  jufammen,  meldier  bie  Xodjter 
be3  ÜMifus  3iel)aar  »erführt  Ijat  unb  f)etratf)et,  als  er  ba*  grojje 
£oo3  geroonnen.  1>ic  Söfäbcbettoerfüljrungen  ftcfien  in  biefem  Stüde  in 
3Hütf»e.  $m  „9ieucn  2JJenoja"  wirb  bie  lölutfdjanbc  bramattfirt  —  wenigftenS 
f)eiratb,en  fid)  ber  $rinj  unb  feine  (beliebte,  in  roeldjer  er  am  Xage 
nad)  ber  ftoefoeit  feine  Sdjroefter  erfennt.  ©od»  bie  9ioue  bee  DebipuS 
wirb  tfnn  erfpart  —  fie  ift  nid)t  feine  Sdjroefter,  fonbern  in  ifirer  ^ugenb 
oertaufdit  worben.  ©leidjmofil  ftedt  ba$  Problem  ber  ©efdjnrifteretje  un= 
fieimtid)  in  ber  Suft.  $n  bem  Stüde  „3)ie  ^reunbe  machen  ben  ^ßlnlo« 
fopb/*n,"  banbelt  ei  fid)  um  eine  Sd>emel)e,  ä^nlid)  etma  roie  in  .ftebbete 
„3utia".  Stephan,  ein  junger,  lieben^würbiger  ^ß^ilofopf),  ttebt  Serapijine, 
bie  Skaut  be^  ^rabo,  unb  am  Sdjluf?  ift  ^Jrabo  fo  gefällig,  fie  ju  beiratljeu, 
bod)  nur,  um  it>r  feinen  9iamen  ju  geben;  alle  efjelidjen  JWedjte  tritt  er  an 
ben  ^5f)itofopf)en  ab.  $n  ben  „Solbaten"  wirb  3Karie,  bie  £oa)ter  be§ 
Jtaufmann«  SBefcner,  oon  einem  Dffijier  »erführt  unb  aud)  entführt.  9Bir 
finben  fie  wieber  im  Tienfte  ber  3>enu^  9?utgioaga.  9)Jan  fiebt,  bie  Scnj'fcbe 
3>ramatif  ift  ein  SBefpenneft  ber  pridelnbften  unb  anftöfiigften  Ärbältniffe 


W    HnMf  von  (Sottfdjall  tu  £«ip3td-  

unb  wäre  ein  rechtes  treffen  für  einen  mobemen  Staatsanwalt,  wenn  bie 
beabfichtigten  ©efefee  burd>gegangen  wären. 

•iiHr  b^aben  fdjon  gefefjen,  Wefelen  jügeltofen  3Serfehr  bie  gaune  unb 
Shmtphen  in  fötaler  2)?üuerS  antifen  3br>uen  mit  einanber  treiben,  unb  muh 
in  ben  pfäfjifd»en  ^bnüen,  ber  „Schaffdbur"  unb  befonberS  ben  „9hifcfernen", 
fehlt  es  ntdrt"  an  epifdjen  Semerfungen  unb  SUatfcbereien.  Tie  Stubenten: 
feene  in  feinem  „Jauft"  tft  übertrieben  roh;  fic  »orjugSweife  beftimmte 
grtebrtdj  Stiegel  ju  bem  SutSfprudj,  9)?üllerS  „$auft"  fei  £anbwerfsburfcfjens 
poefte.  Ter  erfte  3fct  »on  SßagnerS  „JlinbcSinörberin"  fpielt  int  gelben 
tfreuj,  einem  Horbell;  bie  33erführungSfcene  wirb  hier  beS  breiteren  vtx- 
breitet.  2Bie  ber  fieudter  »om  Tifd)  föCt  unb  baS  Sidjt  ausgebt  — 
(£wfjen  fjebt  ben  Seudjter  auf,  ber  Hauptmann  greift  barnod),  ober  er  greift 
„bran  »orbei",  was  li»djen  511  bem  9(uSruf:  s^fui!  »eranlaft;  baS  finb 
Scenen,  bie  an  Wcrtjavt  Hauptmanns  „3Sor  «Sonnenaufgang"  erinnern. 
TaS  ©efpräd»  beS  Lieutenants  mit  ber  fupplerifdjen  unb  oerltelten  SJiutter 
GödjenS  ober  gar  feine  Unterhaltung  mit  ber  Ttenftmagb,  beren  SBefanntfdjait 
er  früher  in  einem  trautid)en  Gaf6  gemacht;  baS  tft  Naturalismus  de  pur 
sang  unb  mühte  jüngftbcutfd)e  93ewunberung  erregen.  2BaS  ßlinger  be* 
trifft,  fo  hat  and)  er  jur  3«",  ^  er  in  ben  (Jrbfotgefrieg  50g,  00m 
wüften  Solbateitlebeu  mit  fortgeriffen,  mehrere  red,t  laSciöc  iWomane  ge« 
fcf>rteben.  33on  Mtinger  faßt  @rid)  Sdnntbt,  er  bringe  unbebenffid)  ba£ 
Sinnltdtfte  auf  bie  ^üfjne,  nidjt  obne  einen  führen  SBurf  in  Simfone. 
Ter  „Simfone  Wrifatbo"  war  es,  ber  bem  Tidjter  ben  Spottnamen  be§ 
„Söwenbtutfaufers"  eil  trug.  $n  feinem  Suftfpiet  „Ter  Sdmntr  wiber  bie 
Che",  in  weitem  er,  ber  SSorrebe  infolge,  beutfehe  Sitten  fdulbern  will, 
täj,t  ber  @raf  vBlumin,  ein  SBeibcrhaffer,  feinen  Sohn  fdjmören,  bafi  er 
nie  ein  SBeib  fjeirathen,  aber  fo  »iele  Sßetber  als  möglich  »erführen  foDe. 
(£r  »ergift  biefen  Schwur,  als  er  eine  junge  SBittwe  fennen  lernt,  bie 
auch  ihrerseits  gefchworen  hat,  alle  ÜDtänner  ju  »erführen  unb  feinen  -Kann 
ju  tyhaifyw.  Ter  5?ater  interoenirt  unb  bietet  felbft  ber  SBittwc  feine 
£>anb.   Sie  fdjlägt  ein,  weift  aber  julefet  SBater  unb  Sohn  jurücf. 

X'lud)  Heinfe  wirb  oft  ben  Stürmern  unb  Trängern  beigeäählt,  obfdjon 
er  wefentlid)  unter  SBielanbs  Gnnflüffcn  ftanb,  »on  benen  jene  9itd)tg 
wiffen  wollen;  in  bie  fieberiger  %afyct  fällt  nod)  fein  fd)lüpfrigeS  ©ebid)t 
„Tie  Äirfdjen"  unb  fein  „Laibion",  weldjeS  bie  ©efdncfe  ber  SaiS  behanbclt 
Tie  Jmhlerin  wirb  »on  einem  Sobtengertdt,  bem  fie  ihre  ÖebenSgefdnd)te 
erzählt,  »on  jeber  Sdjutb  freigefprochen  unb  für  würbig  erflärt,  bie  elnftfdhen 
SBonnen  51t  genießen,  befonberS,  weil  fie  bie  SBaage  ber  Öercd^tgfeit  unter 
bem  .'öembe  getragen,  ^ugenb  unb  3llter  gleichmäßig  beglüdt  unb  ihren 
Wemhm  mit  ben  9(nneu  getheitt.  2lu  biefe  SaiS  erinnert  bie  2f|<-rotg,ne 
»on  39K'ricourt  in  bem  jüngftbeutfdjen  (SpoS  ber  ßngeme  belle  ©rasie  „9iobe*s 
pierre";  beim  auch  biefe  ^h^oigne  rühmt  fidb,  ihre  ©unft  ben  .^äfelichen 
gefdtenft  unb  biefen  fo  für  fehlcnbe  SebenSfrettbe  (Sirtfdjäbigung  geboten  ju 


  Die  ^fiiigfi&entfäen  bes  a<f)t3et[ttten  3al?*'t<»>'&'*te-   \9§ 

fabelt,  „Saibion"  ift  eine  2tpotf)eofe  ber  ^Jroftitution.  ^eiitfes  £auptroerf 
„3lrbittg^eIIo"  enthält  neben  ben  Eunftbetradjtttngen,  in  benen  manches 
<3d)öne  nnb  S8ead»ten3roerrt)e  gefagt  ift,  eine  9Jei^e  oon  SiebeSabenteuern, 
in  betten  jum  Tfyeil  b,öd)ft  emancipirte  grauend»araftere  bie  Hauptrolle  fpieten. 
Seine  erfte  Siebe  ift  eine  ßäcilia;  fie  roirb  2Hutter  burd)  Um,  er  crftidjt 
iljren  Bräutigam  am  £od»jeitetage.  Tann  gilt  feine  £eibenfd»aft  einer 
Sucinbe,  bie  er  ju  »erführen  fudjt.  ©ine  greunbin  berfelbeit,  gutoia, 
fdjleidjt  fid)  ju  it)m  unter  bem  Tanten  SucinbenS  unb  beglücft  ifm.  «Sie 
miß  ifmt  bafür  biefe  in  bie  9lrme  fptelen;  bod)  fie  t»at  fdwn  einen  Bräutigam, 
ber  bei  ben  ©aracenett  gefangen  ift.  SBenn  3trbing|etto  biefen  befreie, 
fo  toolle  fie  tljm  juerft  angehören,  darüber  fteflt  fie  if)tn  eine  SBer* 
fcfireibung  aus.  SBeiter  fann  man  bie  gretgeifterei  ber  Seibenfdjaft  nid>t 
treiben.  2lrbingb,elIo  ftefft  ifjr  nad)  ber  ^Befreiung  be8  SBräutigamS  biefe 
aSerfdtreibung  prüd,  unb  fie  toirb  roa^nfimrig.  Tann  liebt  Slrbingb^llo 
eine  tjöcbjt  freibenfenbe  Römerin,  bie  fidj  Gebern  fjingiebt,  ber  ihr  gefällt. 
9lad)  mandjen  Siebeäabenteuern  Slrbing^eHo«  f»eiratl)ct  fie  biefen,  ift  aber 
bamit  einoerftanben,  bafj  fidt)  3trbing^etto  mit  feinen  greunben,  allen  feinen 
früheren  (Mtebten  unb  beren  Erobern  auf  einer  gried)tfd)en  ftnfel  anfiebett. 
Tiefer  Vornan,  ber  überbieä  titele  iftubitäten  enthält,  mürbe  roofjt  gegenmärtig 
ba$  2oo3  oon  3<>fo3  „9iana"  geseilt  fiaben. 

SKodj  trollen  mir  aber  einen  2>li<f  auf  bie  fin-de-siöcle=Sitteratur 
werfen,  bie  mit  ben  principiellen  SSertretern  ber  ©enieepodje  roenig  gemein  f)at, 
aber  bod)  unter  if)ren  ©inftüffen  ftef)t:  auf  bie  llnterfjaltungslitteratur  in 
Vornan  unb  Tramattf  —  unb  aud)  btefer^lid  roirb  uns  jetgen,  bajj  bie 
3Jtufe  ber  3füngftbeutfd)en,  infofern  fie  gefd)led)t(td)  fed  unb  5ügello$  auftritt, 
fdjon  im  oorigen  ^afjrb^unbert  fogar  in  einer  großen  2)?affenprobuction  gleidj= 
artige  Sßenbungett  unb  gtetdjartigen  ©tit  toieberfinbett  fann.  Tie  Sieblinge= 
fdjrtftfteller  waren  bamafe  Gramer,  ©ptef?  unb  ßafontaine.  Gramerä 
„Teutfdjer  2l(ctbiabe$"  ift  ein  ^nbant  ju  |»einfe§  2trbirtgr)ello ;  er  lieft 
immer  mehrere  SNäbdjen  unb  grauen  jugleidj.  Gr  roirb  gürft,  unb  jroei 
berfelben,  feine  ©emafjlin  9Hfa  unb  feine  ©etiebte  ^ulie,  teilen  fid)  if>n. 
Gine  eiferfüditige  ©räfin  fditefjt  auf  if)n,  roirb  aber  oon  einem  feiner 
3fäger  mit  einem  $irfd)fänger  getöbtet.  ^n  bem  Vornan  ber  ,,©lücf3s 
pilj"  t)at  grifc,  ein  junger  ®ef)ilfe  eine«  alten  iBerroatterS,  ein  et)ebred)es 
rifd»eS  5ßerb,ältnif3  mit  beffen  grau  Tord)en.  Ter  2l(te  entbedt  baSfelbe, 
fd}lägt  aber  roeiter  nidjt  Särm,  fonbern  fd)idt  grifc  fort.  Terfetbe  liebt  unb 
fjetratfjet  ein  anbere«  SWäbdjen,  Sieädjen.  Torben  f)at  inbef3  mit  feinem 
9fad)folger  baS  gleite  Spiel  begonnen.  3m  „greifjemt  oon  9iubm"  töbtet 
ber  £etb  ben  trüber  feiner  ©eltebten,  bod)  biefe  felbft,  aU  feine  grau, 
bufjlt  mit  einem  ^aron,  ben  er  ebenfalls  meberfd)te£t.  3"  allen  biefen 
9?omanen  fyerrfdjt  ber  gemeinfte  Ton.  ßrarncr«  „3fafereien  ber  Siebe"  finb 
@rjäf)tungen  tlödjft  fd^lüpfriger  2lrt.  SSon  ben  Slotnanen  oon  Spiefs  wollen 
roir  nur  jroei  ermähnen:  „Gäcilie  ober  bie  gottlofe  Tod)ter"  nnb  „9(ttretie 


196 


  Hobolf  von  (SottfdfaU  in  £eip3tg.   


2Mbenborn".  Gäcilie  ift  ein  ad)tsetynjäf)rigeg  junges  2Heib,  alten  Softem 
Eingegeben,  rninirt  itycen  ©arten,  tljre  eitern,  fliegt  nad)  2lmerifa,  n»  fie 
in  bte  £änbe  »on  Kannibalen  gerätf»,  weldje  tfiren  greunben  bie  Prüfte  a£»= 
fdmeiben  unb  freffen,  fie  felbft  ift  nur  baburd)  »on  biefem  Sdndfal  errettet 
worben,  weil  bie  Kannibalen,  als  fie  bas  nadte  SBeib  mit  Keulen  niebet* 
fd)lagen  wollen,  Spuren  »on  einer  niebrigen  Kranf^eit  entbeefen;  iljr  gletfd) 
ift  p  unrein,  um  »erjefjrt  ju  werben. 

3lurelie  »on  Söalbenborn  toirb  SDtattrcffe  eines  dürften,  auf  ©eljetfj 
eines  gebeimen  SngenbbunbeS,  ber  burd)  iljren  (Sinftufj  bewirten  will,  baß 
er  baS  Sanb  gut  regiere  unb  bcglüde. 

®er  rüfirfelige  Safontninc  bewegt  fid)  jmar  meiftenS  auf  bem  ©ebtete 
bürgertidjer  Xugenb,  bod)  er  t)at  aud)  Slnwanblungen,  bei  benen  feine 
Sentimentalität  bebentlid)  in'«  grioole  b^inäberfd)ielt.  So  ^at  er  meb>ere 
Romane  gefd}rieben,  wie  j.  23.  „(SngelmannS  Sagebud)"  unb  „£ermatm 
Sange",  in  benen  3JJäbdien  in  aller  Unfdntlö  fdjwanger  werben, 
KniggeS  Romanen,  befonberS  in  ber  „@efd)id)te  Sßeter  Glaufen*"  unb 
ben  „SBerirrungen  beS  ^ilofopb^en"  fommen  »iele  gemeine  Scenen  »or. 
Julius  »on  33oj3  fcfjtlbert  in  feinen  Romanen  ba§  wüfte  preufnfd)e  Dfftjier3= 
leben,  bas  er  jum  ^eil  mit  emtifdjen  Sdnnufefarben  ausmalt.  33ieleä  er= 
innert  an  ben  „SimpliciffimuS".  ®in3  feiner  ^auptroerfe  finb  bie  „Stben^ 
teuer  einer  2Rarfetenberin",  bie  aus  2S?eimar  ftammt,  in  einem  bortigen 
Horbell  geboren  unb  erjogen  ift  unb  fid)  bort  einen  gewiffen  23ilbungSfirmfe 
angeeignet  l)at.  £>em  Sdbufterleb^rling  Samuel  bringt  fie  biefe  Silbung 
bei,  unb  jwar  fänben  biefe  platonifdjen  ©efprädje  auf  jwei  neben  einanber 
beftnblid)en  Slbtritten  ftatt,  wo  aud)  3Jomco  juerft  feine  %vilie  gefunben.  2Me 
fpäteren  3lbenteuer  ber  ,§elbtrt  bringen  mandieS  tragtfomtfdje  Stttermesjo, 
wie  ben  Sdjujj,  ber  fie  bort  »erwunbet,  wo  bie  neapolitanifdje  33em»S  ib^ren 
unfterblid)en  9tul)m  gefunben.  $ie  fleinen  Grjäljlungen  »on  3So&  finb  ein 
ragoüt-fin  für  bie  3*i»olttät;  fie  erinnerit  an  bie  „Traunen  SKärdien"  »on 
Sternberg,  ^te  ©rjäfjlungen  »on  ©ufta»  Shilling  bewegen  fid)  in  fädbfi- 
fdien  DfftjierSfreifen.  Ser  .§elb  feine«  grofjen  SRomanS  „©uibo  »on 
SoljnSbom"  ift  ein  £on  ^uan,  ber  SiebeSabcntcuer  mit  »ielen  ®amen  l»at, 
fomofjl  »or  ber  ©l)c,  als  aud)  fpäter  wälirenb  ber  föb/.  Unb  alle  biefe 
3)amen  fpradien  eine  febj  cinbeutige  Spraye,  2>ie  fündig  53änbe  ber 
Sdnlling'fd)en  Grsä^lungen  liefern  aud)  nad)  biefer  Seite  l)in  eine  reitf)c 
Ausbeute. 

9?eben  biefen  leichtfertigen  9tomanen  gingen  anbere  einher,  welcbc  fid} 
weniger  nad)  franjöfifdtem  als  nad)  englifdjem  3Kufter  gebilbet  Ratten  unb 
moralifirenbc  Xenbenjcn  »erfolgten.  SBenn  man  biefe  inbej}  mit  unferen 
heutigen  gamilienbtattromanen  oergteidjt,  fo  jeigt  fid)  bod)  aud)  ein  merf= 
lid)er  Unterfd)ieb;  benn  auf  bem  2ßegc  jur  £ugenb  unb  iljrem  Sdjlufjaccorb 
berühren  fie  bod)  baS  Safter  unb  feine  ®iffonanjen  oft  genug  in  einer 
2*?eife,  i»eld)e  ben  SRotf>ftift  unfercr  JRebacteure  {»erauSforbern  würbe, 


bem  oielbänbigen  SRoman  beS  Superintenbenten  Kermes,  „Soppens  9leife 
non  3Remel  nad»  Saufen",  einem  ber  tugenbreidjften,  ertebt  bie  £elbin 
tnandjerlei  Abenteuer,  fie  fommt  fogar  mit  einem  £errn  Seffe  in  einem 
SBett  äufammen;  bodj  nrie  es  in  ©Ijafejpcare^  „Du)ello"  fyeifjt:  she  means 
not  any  harro.  „Daä  gräuletn  von  Sternfjeim"  ber  grau  Sarodje  ift  eine 
brutale  iterfüf)rungsgefdjid)te :  bod)  bie  Dugenb  bleibt  fiegreidj,  wenn  fie 
aud)  ju  ©runbe  get)t.  $n  bem  SRomane  „^uldjen  ©ruentfyal"  roenbet  fid) 
Helene  Unger  gegen  bie  bamaligen  fransöfifdjen  Sitten,  befonberS  in  ben 
«PenfionSanftalten:  bie  ßelbin,  Suite,  bie  Dodrter  eines  2lnn>ate,  gerätt)  in 
biefe  SJerberbniß  unb  enbet  als  gemeine  Sudlerin.  $n  bem  Vornan  „Die 
Pupille"  t>on  3°^ann  3afob  Dufd)  befte^t  bie  ftataftroptje  barin,  baß 
SEBalter  feine  ©eliebte  in  ber  Drunfenfiett  auf  einem  SRaSfenbatl  entefirt, 
ftdj  aber  einbitbet,  es  fei  eine  Slnbere  gemefen.  3n  SdmmmetS  „@mpfhtb= 
f amen  SReifen"  entfdiliefet  fid)  ber  &elb,  ein  ;DJäbdjen  ju  fieiratfjen,  roeld)eS 
fdnuanger  ift.  Die  Romane  uon  SBejel,  oon  benen  „Dobias  Änaut" 
eine  la«9  felbft  einem  Berber  unb  SBietanb  jugefdjoben  mürbe 
unb  in  weitem  aud)  ÖeroinuS  einen  tieferen  3U9  erfennt,  Ijaben  mit 
ben  ^ßrobueten  ber  eigentlichen  ©enieepodje  9itd)ts  gemein,  unb  bod)  finb 
fie  feineSroegS  frei  t>on  ben  $ranfi)eiten  berfetben.  Die  Abenteuer  beS 
smcrgljaften  budtigen  Änaut  wären  für  unfere  heutigen  Jamtltenblätter 
unmögttd).  einmal,  als  er  im  Deid)  babet,  friert  itmt  eine  3MJCunerin 
feine  kleiber;  jtöet  junge  gräuletns,  barunter  befonberS  2lbell»etb,  nehmen 
fid)  fetner  an  unb  erbarmen  fid)  feiner  9?adtljeit.  9lm  Sd)tuffe  beS  SRomanS 
befucfjt  $naut  ein  Horbell,  roo  er  feine  frühere  äl*ot)ltf>äterin  mieberfinbet 
unb  otme  25>eitereS.  rjeiratf>et.  ^n  „33elpt)egor",  einem  ber  9Soltaire'fd)en 
Stomöbte  nadbgebilbeten  SRoman,  gel»en  nodj  merfroürbigere,  aber  aud)  meiftenS 
fefir  anftöfeige  Dinge  »or  fid».  Die  fd»önc  3lfante  roeift  U)ren  33eref)rer  aus 
bem  &aufe  unb  erteilt  i^tit  foldje  gufjtritte,  bajj  er  baS  Hüftbein  bridt, 
gronat  tritt  an  feine  Stelle.  Stelpfjegor  jie^t  in  bie  neitc  äöelt.  Der 
^reunb  unb  bie  greunbtn  gefeiten  fid)  nrieber  ju  tfmt.  Staute  er$äf)lt,  roie 
fie  bie  SWaitreffe  beS  ^ßapfteS  9tleranbcrS  III.,  unb  bann  biejenige  eines 
SWarfgrafen  gemefen  fei,  auf  beffen  93efet>lr  als  er  ein  9?edjt  511  f)aben 
glaubte,  eiferfüdjtig  ju  fein,  fie  ber  9?afe  unb  ber  redjten  £anb  beraubt 
unb  im  ganjen  ©eftd)t  gefdmnben  marb.  Später  geraten  fie  in  einen 
Slmajonenftaat,  rco  bie  Sßetber  fo  lange  SBrüfte  f)aben,  baß  fie  im  fofetten 
Spiet  biefetben  balb  über  bie  3ld)feln  werfen,  batb  fallen  laffen;  aud}  fiaben 
fie  ju  CDefellfdjaftem  3lffen,  beren  Sdjnmnä  ein  natürtid;er  Spiegel  ift, 
morin  fie  fid)  befdiauen.  3lfantc  roirb  fpäter  tobtgefdilagen,  als  fie  einen 
Gfjemann  »erführen  roilf.  9lefmlid)  finb  bie  9?omane:  „Die  rotlbe  93ettp", 
„9Btlt)elmine  Slrenb",  in  nwldiem  eine  Cpernfängerin  bie  Hauptrolle  fpielt, 
burdj  meldte  ein  Hamburger  .staufmann  feiner  ©attin  untreu  mirb.  Diefe, 
bie  fid)  nid)t  fdjeiben  loffen  will,  lebt  bann  in  Bigamie  mit  einem  ©eliebten 
SSebfter. 


*98 


  Knbolf  o»n  <Sottf djall  in  £etpjig.   


2Bie  her  SRoman,  fo  bot  audj  bie  Damalige  ©djaubüfinc  SSielee,  roas  fid; 
IjeuttgentagS  baS  publicum  triebt  gefallen  laffen  roürbe.  SBejel  felbft  l>ai  einige 
Derartige  Suftfptele  gefdirieben  rote  j.  33.  „Ter  bltnbe  Samt",  in  roeldjetn  ein 
©belmann  feiner  oerroittroeten  SRid^te  nnr  unter  ber  Sebingung  ju  l>etrartten 
geftattet,  bafj  fie  in  ber  @l>e  brei  Ätnber  befomme.  $\)T  ©eliebter  nrirt» 
»on  einer  9Jebenbul)lerin  »erleumbet,  er  b,abe  an  fid)  fo  geljanbelt,  nrie 
ber  &ofmeifter  »on  Senj;  bod>  ba$  tuirb  burefj  bie  3:^at  rotberlegt;  eine 
Ißarifer  Dpernfängerin  ift  »on  ifmt  guter  Hoffnung,  unb  ber  ©beltnann 
giebt  iljm  nun  »ertrauen§»oll  bie  £anb  feiner  9Jidjte.  S8on  ftofeebue* 
©djaufpielen  ^at  „3Wcnfcb,enl)af?  unb  9ieue"  roobj  mit  Unredit  ben  Ijeftigften 
£abel  ber  fittenftrengen  Sitterar^iftorifcr  erfaliren  alä  eine  $efd)önia.ung 
beä  ©bebrudjs.  Tqdj  bamt  müßte  bie  diriftlidje  Sef)re  »on  Siufte  unb 
Sfeue  unb  ©finbetroergebung  ebenfalte  beanftanbet  werben.  <£&  ift  ein  Gb,e= 
brudjäbrama,  nrie  bie  neufranjöfifdjen;  (Sulalie  aef»t  mit  einem  Dffijier 
burd);  bod)  im  ©tüde  erfdjetnt  fie  als  SDfagbalena,  unb  ber  ©arte  »erjeibt 
irjr.  Ta  ift  bod)  ntdjt*  2lnftöfjigeä,  roobl  aber  in  ber  »on  ßofcebue 
<jebid)teten  gortfefcung,  roo  3)?ainau  bie  reuige  ©ulalia  beruhigen  roill,  inbem 
er  fid)  ber  gleichen  ©ünbe  seibj  unb  ein  »on  einem  Sauernburfcben  ge= 
fd)i»ängerte$  2Wäbdjen  beftidjt,  bafj  fie  auSfagt,  er  fei  ber  ©djulbige. 
sJtod)  bleute  befannt  finb  bie  „beiben  ÄlingSberge"  uub  ber  »on  Sorfeina,  ju 
einer  Dper  benufcte  „9let)bod".  Tie  „©onnenjungfrau",  9ioc»a,  bie  guter 
Hoffnung  ift  »on  einem  ©panier  unb  geopfert  werben  foll,  bis  ber  2)nfa 
»on  $eru  felbft  baS  tb^öridjte  ©efefe  aufgebt,  gerabc  jur  redeten  3«t/  frbajj 
jefct  alle  ©onnenjungfrauen  nadj  föerjenSluft  lieben  fimnen,  unb  bie  naioe 
©urlt  in  ben  „^nbianern  in  ©nglanb",  roeldje  »on  europäifdjen  ©itten 
feinen  begriff  l»at  unb  in  aller  llnfdmlb  bie  anftöfjigften  Tinge  fagt, 
roaren  bamals  fo  beliebte  ^ülmenrollen  n>ie  bie  „©rille"  unb  bie  „Sorle" 
ber  ^rau  SMrcb,  in  ber  jroeiten  £älfte  unfereS  ^afirb.unbert8.  Ter  £elb 
be£  SuftfpielS  „33ruber  SDiorifc"  rottt  burdjauS  ein  gefallenes  9Käbd)cn 
beiratb/n,  ba§  felbft  feinen  ©ünbenfatt  eingeftcljt.  3tuf  gleiten  £on  ge- 
ftimmt  roaren  bie  bamalS  fo  beliebten  Suftfpiele  »on  33re|ner  unb  jünger. 
Sßir  erroäfnten  nur  SrefcuerS  „Siebe  nad)  ber  üRobe",  ein  Suftfpict,  in  beffen 
iDtittelpunft  ein  £>eiratl)$bureau  ift  mit  »erfduebenen  fein-  loderen  6bebunb= 
Werbern,  aber  nod)  fd)limmere  „Gljemänncr",  benn  ba  finbet  fid^  ber  £>ofratb, 
ber  feine  grau  gegen  ein  foftbareS  35itb  einem  Hauptmann  abtritt,  ^n  ber 
„»erftorbenen  (£f)efrau"  fpiclt  eine  erroadite  ©djeintobte  bie  Hauptrolle  unb 
orbnet  einige  mijjlidje  Stebe3»erf)ältniffe,  bie  fid)  nadj  ifjrem  Tobe  ans 
gefponnen.  3n  Jüngers  Suftfpielen:  „SSerftanb  unb  Seid^tfinn",  „Tie  im* 
»ermutl)ete  SBcnbung"  roirb  baS  frtoole  SSiener  Seben  gefdjilbert. 

Ueber  biefe  gan.^c  ^robuetion  fagt  ber  Sitteraturanjeiger  »on  1799: 
„Tie  »erftuditeften  ©cfiriften  fommen  feit  ben  legten  35  Sauren  jum  33or- 
fd)cin  unb  über  7000  Romane  unb  SiebeSbJftördjen,  bie  aU  ©iftpflanjen 
ben  brauen  Gbarafter  ber  beutfd)en  SPeiber  unb  2"8d»ter  fd;on  aud)  oer= 


 Die  3ü"3fticntfd)cn  &es  ac^tjetinten.  3at>rtjunb«ts.    J99 

borben  Ijaben."  2lu3  biefer  SBerfumpfung  t>at  fiel)  bie  fcitteratur  felbft  empor* 
gerafft  unb  geläutert,  nadjbem  bie  (Slaffifer  immer  mefyr  SBfoerfennung  ge* 
funben;  eä  b,at  baju  nic^t  ber  ©efefce,  nidrt  ber  (Singriffe  be$  ©taateä 
beburft.  Sie  ßitteratur  ift  roie  ber  Speer  ber  -äHtneroa,  fie  beeilt  felbft 
bie  Sßunben,  bie  fie  fdjlägt. 

*  * 

Un£  fttin  eä  barauf  an,  t)ter  ben  tlwtiädjlidjeu  i>iad^«>eiö  $u  fübren, 
bafe  ba§  9teue,  roaS  bie  ^üngftbcutfc^en  in  S^eorie  unb  SßrariS  ju  £age 
förbern  unb  beffen  fie  ftd)  rübmen  aU  unerhörte  ©rofjtfyaten  unb 
revolutionärer  Umroaljungen  ber  ©Ute,  jutn  großen  £f»eü  bem  alten 
©türm  unb  ©rang  be§  t>origen  ^alirbmtberts  angehört.  25?tr  motten  l)ter 
feineSroegS  ju  ©eridjt  fifym  roeber  über  hie  ©turmer  ober  ©ränger,  nod) 
über  bie  jüngften  (Epigonen  berfelben.  2ötr  finb  feine  2tnfyänger  eines  ge* 
fd)led)tliä)en  $)iuri£mu3,  ber  einer  geiftwotten  ©ntnwftung  ber  Sitteratur 
ebenfo  tyinberlid)  ift,  rote  bie  SDcafc  unb  3ügelloftgfeit.  9){ögltd),  bafj  auS 
bem  neuen  ©türm  unb  ©rang  aud)  eine  neue  ßlafficität  l)en)orgeI)t  roie 
©oetlie  unb  ©djtffer  aus  bem  ftreifc  ber  ©türmer  unb  ©ränger,  benen 
itpre  ^ugenberjeugmffe  angehörten  unb  bafi  ©ubermann  ber  ©cbtller  unb 
Hauptmann  ber  ©oetb>  be$  neunzehnten  3fl&rf)unbert$  wirb ! 

©od)  roer  fann  bieS  roiffen?   G$  ruljt  im  ©ebofj  ber  Öottcr! 


2^uflan6  in  <£entralafien. 

Von 

€.  Äafcöftc. 

—    Breslau.  — 

[te  potittf^cn  folgen  ber  neuefien  friegerifdjen  (Sreigmjfe  in  Dft* 
afien  jnrifcb>n  Rapan  unb  ß^ina  werben  oorausftdjtlidj  bie  alte 
Stioalität  ©ngianbä  unb  5Ruf?Ianb8  in  btefem  ©rbtljeUe  oon  Steuern 
unb  in  oerfdiärftem  ©rabe  hervortreten  laffen,  eS  bürfte  bemnadj  bie  öffent* 
Itcr>e  9lufmerffamfeit  aucf)  auf  baä  affmäfclid&e,  aber  unauffialtfame  33ors 
bringen  ber  Muffen  im  anatifcfjen  Sentralgebtete  wieber  in  erf)öb>m  SWafce 
f)ingelenft  rcerben.  SBenn  Gnglanb  fein  &anbetemonopol  in  6f»ina  möglidjft 
aufregt  ju  erhalten  unb  bab>r  bei  ©e[egenb>tt  beS  griebenSoertrageS  stoifdjen 
GMna  unb  ^ayan  im  Gtnoerftänbmft  tnit  teuerer  Stfadjt  felbftfü^tig  be= 
fonbere  commerjielte  3Sortf)ei(e  für  fvdf)  ju  -genrinnen  fudjt,  Stofelanb  aber 
bur<f>  bie  @mmgenfcf)aften  ^apan^  in  Ginna  fi<$  in  feinen  oftafiatifcben 
Sntereffen  bebroljt  fcb>n  mufj,  fo  fptfet  ftd)  burdj  btefe  SBerljättniffe  ber 
©egenfafe  sroifcfien  beit  beiben  genannten  europäifdjen  ©rofjmädjten  in  be« 
brot)liij)er  SBetfe  ju,  unb  eä  nrirb  bann  5n>ifri)en  biefer  ©ottifion  ber  ruffifdjen 
unb  engltfc&en  Sntereffen  in  Dftafien  unb  ben  äujjerft  empfinblidfjen  33e-- 
rübrungSpunften  beiber  Staaten  im  Gentrafgebtete  be§  @rbtb>il3  ferjr  balb 
eine  geroiffe  2Bed)feIn)irfung  eintreten  müffen. 

SBetm  tjter  oon  Gentralafien  bie  SRebe  ift,  fo  foll  bamit  nidf»t  bfo*  beS 
(*rbtljeii8  eigentliches  SDitttetgebiet  gemeint  fein,  beffen  engeren  39egriff  greiljerr 
oon  SRichtlwfen  in  feinem  grofjen  2Berfe  „ßijina"  (ebialidj  auf  bie  Sänber 
jnrifdfjen  betn  2Utai'@ebirge  im  9iorben,  ben  spamirS  im  SBeften,  beut  $odjs 
tanb  oon  2Hbet  im  ©üben  unb  ber  SBafferfcfjeibe  ber  ^auptftröme  oon 
Gflina  —  ^antfefiang  unb  £oangI?o  —  fonrie  bem  Gtjangangebirge  im 
Dften  befdjränft  fefjen  roitf.   Tiefer  Äern  oon  ^nnerafien  ift  bis  jefct  nod) 


  HnjjlanJ»  in  Centtolaf ien.    20\ 

mdjt  511m  ©egenftanbe  politifdjer  ©treitigfeiten  geworben,  unb  6f)ina  gilt 
I)tcr  nod)  immer  als  unbestrittener  9Jtad)tljaber.  gür  bie  oorfiegenbe  ©tubte 
fommen  oielmef)r  nur  bic  ber  weftlidjen  Sßeripf>erie  beS  eigenttid)en  ßentrat* 
gebietet  oorüegenben  Sättber  oon  £uran  unb  %xan  in  33etrad)t,  bie 
3((eranber  von  £umbolbt  ebenfalls  ju  feinem  Gentralafien  regnete,  unb 
oon  biefen  f)ier  namentlid»  bie  ßirgifengebiete,  SBefiturfiftan  mit  ben  Granaten 
SHodjara  unb  GInwa,  bie  £urfmenenfteppe  unb  2lfgf)amftan. 

§of)e  gewaltige  ©ebirgSmaffen  fdjliefjen  ÜJJirtetafien  im  Allgemeinen 
oon  ben  nad)  ben  9J?eeren  ju  geöffneten  Sunbera  be$  Grbtf)eifö  ab  unb 
trennen  e>3  anbererfeitS  im  Innern  in  oerfdiebene  Steile. 

3m  Horben  unb  Dften  wirb  bie  ©renje  burd)  ben  2lltat  mit  feinen 
oftroärtS  fid)  erftreefenbeu  SBerämeigungen  gebilbet,  bann  burdj  ben  3nfd)an, 
9Uäfd)an  unb  baä  I»of)e  ©ebtrge  beS  ftofonor.  ^m  ©üben  siebet  fid)  als 
SS?afferfdf)eibe  ber  Äaraforum  —  5D?uftagt)  ober  £f)angta  —  fyn,  meftwärts 
in  bem  .^inbufufd)  fid)  fortfefcenb.  Ter  .fiauptfamm  biefeS  ©ebirgeS,  an 
weites  fid)  im  SBeften  mittetft  niebrigerer  £öf)en;üge  ber  ben  ©übranb  bc§ 
ßafptfd)en  2J?eere3  begrenjenbe  ©lbur-3  anfd)ltefit,  ftellt  fid)  als  ber  Worb= 
ranb  be3  £tod)lanbe*  von  ^ran  bar,  mäljrenb  feine  33erämetgungen  in 
3lfgt)antftan  unb  bie  von  Worben  nad)  ©üben  ftreid)enbe  ©olimanfette  baS 
©rensgebirge  ^raus  gegen  3nbten  bitber.  3ttS  weftltd)cn  ©renäwatt  von 
9JUttelafien  enblid)  fefyen  mir  ben  ßaufafu*. 

ü)iit  bem  2lttaifyftem  im  Bufammenljange  unb  oon  ilrni  nur  burd)  eine 
etwa  21  km  breite  (Sinfenfung  'getrennt,  5ief)t  fid)  ba§  Tb/anfd)angebirge 
ljin,  unb  jroar  in  jmei  $auptrid)tungen,  von  ©übroeft  nad)  Worboft  unb 
oon  Worbroeft  gegen  ©üboft.  ,^m  öftlidjen  Tfrfanfdjan  trennt  eine  riefen^ 
fiaft  aufragenbe  ©ebirgömaffe  ben  d)inefifd)en  Äret*  Äur*fara*ufu  in  ber 
weftlidjen  2)iongo(ei  oom  Sanbe  ber  Tfdjulbuj  in  Dftturfeftan  unb  fefct  fid) 
öftlid)  in  weniger  fyofyen  ^ßarattelfetten  fort  bis  jur  d)inefifd)(n  ^rooinj 
Äanfu.  Tie  oon  Worb  nad)  ©üb  ftreidjenbe  Mette  bei-  £f)ianfd)an  fd)eibet 
Cft*  unb  SBefttttrfeftan  in  bie  jroei  grofjen  2ängentl)älcr  beä  2lmu=Tarja 
unb  bc£  Tarim  unb  ift  oon  ben  uorbmeftlidjen  gortfeßungen  be§  ^imalarja 
nid)t,  wie  im  Worben  oom  9lltai,  burd)  eine  ©enfung  gefdjiebcn,  fonbern 
beibe  ©ebirgäfofteme  geben  b,ier  burd)  3at)treict;e  furje  fid)  abftnbcrnbe  unb 
einanber  burd)fd)neibenbe  Letten  ba§  eine  311m  anberen  über.  3wifd)en  ben 
Guellflüffett  Slmu^Tarja  unb  Xarim  liegen  bie  wüftenäfmlidjen  .ftod)= 
flädten  ber  "pamirS  auf  ber  ©renje  oon  Cft=  unb  SBeftturfeftan.  2)?it  bem 
.Öimalana  ftetjeu  uod)  in  93ejief>ung  ber  ftaraforam,  weldjer,  if)in  nörblidt 
oorgelagert,  fid)  oon  SBeften  nad)  Dften  l)in,iief)t,  femer  ber  ßüeutün  unb, 
biefem  im  SBeften  fid)  anfd)lief5enb,  bie  oon  ©üboft  gegen  9?orbioeft  ftreid)en= 
ben,  uod)  immer  6000  m  <pöl)e  überfteigenben  ©cbirgSjüge,  roeld)e  unter 
bem  Warnen  33e(ur-Xagf)  jufammengefaf5t  werben.  Ter  am  Teref^afj  be= 
ginnenbe,  oon  Worboft  nad)  ©übroeft  fidj  erftreefenbe  mäd)tige  ©ebirgäroall 
fät)rt  aber  ben  Warnen  3ltai.    Terfeibe  bilbet  bie  33afferfd)eibe  jroifd)cn 

Hoxi  unb  Süb.  LXXV.  224.  14 


202 


  <£.  IHafdffe  in  Sreslan.   


bcm  Sir=  unb  2lmus®arja.  Gentralafien  ftefft  fid)  übrigens  feineemegS  al« 
ein  emsige*,  ununterbrod)enc3  £od)plateau  bar.  £urfeftan,  mit  bctn  (Strom« 
gebiete  be§  2lmu»®arja  im  SBeften  unb  be§  £arim  ($arfanb)  im  Dften, 
bilbet  eine  grofie,  in  ber  -äJKtte  gehobene  ©tnfentung,  bie  öftlid)  im  ©ebiete 
ber  Mongolei  enbet.  ©benfo  fehlen  mir  im  Sßlateau  »on  3ran  eine  bt-- 
beutenbe  ©epreffion  in  ©eiftan.  $)ie  auggebebntefte  SJieberung  befinbet 
ftd)  aber  in  ben  nad)  bem  Äaäpifd)en  9Jteere  ju  fid)  abbadjenben  «Steppen, 
©ie  unabfebbaren  ©inöben  ©entratafienS  finb  mit  fliegenbem  ©anb,  mit 
©aljlad)en  unb  toeit^in  fid)  erftredenben  SDJoräften  bebeeft  unb  geftalten  fid) 
nur  l)in  unb  nrieber  ju  Steppen  mit  einer  an  9lrten  »erbältnijjmäfjig  reiben 
gtora.  ©inen  ungeheuren  ßänbercompler  umfaßt  bie  aralo=faepifd)e 
•JMeberung;  öftlid)  ba»on  liegen  bie  SBüften  Äififfum  unb  Satfatfum,  unb 
fäbli(f>  oon  biefen  erftreeft  fieb  bie  meift  roafferarme  Surfmenenfteppe.  $n 
©borafan  fd)liefjt  baS  frudjtbare  Sanb  bie  »öllig  roeglofe  SBüfte  Sut  ein. 
3m  ©üben  bes  Jßtnbufufd)  nebmen  bie  unfruchtbaren  ©egenben  gtofee 
gläcben  ein.  Deftlid)  be§  23)ianfd)an  erftreeft  fid)  im  9torben  bie  SBüftc 
©obi  mit  ibtem  fd)mufeiggelben,  fanbiglebmigem  ©teppenboben,  auf  n>eld)em 
aber  aueb  £ugel  unb  Serge  über  2500  m  bod)  emporragen,  in  einem 
Staunte,  ber  granfreid)  »iermat  an  ©röfje  übertrifft.  Seblofe  ©rille  foll 
bier  r)crrf<^cn.  ©8  feblt  ätoar  nid)t  an  Dafen,  aber  erft  am  92orbabbange 
ber  Sfongolei,  nad)  Sibirien  unb  bem  Satfalfee  su  jeigen  fid)  Slnfänge 
»on  gtüffen  unb  ein  »ertyältnitjmä&ig  reid)er  entfaltetet  Seben.  ©barafte* 
riftifd)  für  baä  ©ebiet  »on  ©entralafien  ift  anbererfeits  bie  grofje  3<>bl  von 
bebeutenben  ©een,  roeld)e  mit  feinem  ber  großen  Dceane  in  SSerbinbung 
fteben  unb  bie  ©ammelbecfen  für  jablreicbe  pfiffe  bilben,  foroeit  leitete 
nid)t  in  ben  35?üften  fid)  »erlieren.  9lud)  bie  &od)gebirge  fittb  reid)  an 
3ttpenfeen,  unb  eine  9J?enge  glüffe  entfpringen  ibnen. 

£)te  gebietenbe,  ober  toemgften*  bie  gefürd)tete  unb  »on  ben  Stomaben 
als  Herrin  ber  2Belt  betrad)tete  2f?ad)t  in  ©entralafien  ift  unbeftreitbar 
Stnfjlanb.  2>te  Sänber  unmittelbar  an  ber  ^Peripherie  beS  oben  be5eid)neten 
engeren  ©entralgebieteä,  alfo  bie  »on  Xuran,  befinben  fid)  fafi  fämmtlid) 
unter  ruffifd)er  .§errfd)aft,  toäbrenb  ben  SBefifc  beS  iranifd)en  £od)lanbe$ 
SRußlanb  unt)  ©nglanb  fortgefefet  fid)  ftreitig  mad)en. 

©aä  SSorgeben  Slufjtanbä  in  ©entralaften  wirb  aber  immer  t)erfd)ieben 
beurtbeilt  werben,  je  nadjbem  bie*  »on  bem  einen  ober  »on  bem  anberen 
polittfdjen  Stanbpunfte  aus  gefdnebt. 

©ie  2tnbänger  ©ngtanbs  roerben  uatürlid)  urtbeilen,  wie  ber  Ungar 
3Samb6rn  in  feiner  ©d)rift  „©entralafien  unb  bie  englifd)=ruffifd)e  ©renj« 
frage".  3)tan  roirb  unter  ibnen  behaupten,  ba&  bie  ©nglänber  eifrig  btr- 
fliffen  mären,  ben  armen  unb  unterbrächen  Drientalen  ba§  93efte  unb  bödbfl 
©rreiebbare  ju  bieten,  ba§  bagegen  burd)  ben  ruffifd)en  GMtftrungSprocejj 
bie  afiatifd)en  -Kationen,  i»eld>e  il)tn  feit  »ier  ^abrbunberten  fd)on  unter? 
roorfen  feien,  9iid)t§  gewonnen,  fonbern  foroobl  moralifcb  nrie  materiell  mir 


  Knjjlanb  in  <£entralafien.    205 

»erloren  hätten,  unb  bajj  biefe  SBötfer  heute  nod)  unferem  meftlid)en  ßultur* 
begriffe  ebenfo  fem  ftänben  rote  ihre  unter  ber  £errfd)aft  bes  fanatifdfjen 
HJcohammebamSmuS  nod)  lebenben  ©tammesbrüber.  ®3  roirb  allerbingS  ya-* 
geftanben,  baf?  bie  ruffifd)e  ©imlifatton  trofe  aller  URänget  unb  Saften,  bie 
iljr  anhafteten,  bod)  nod)  immer  jener  überlegen  roäre,  bie  bem  3)Johamme= 
baniSmuS  entfpränge,  ber,  wie  fruchtbar  er  auch  in  ber  Vergangenheit  ge* 
roefen  fein  möge,  jefct  bodj  nur  mehr  einem  gänjltdjen  Aufgeben  aller 
9BittenS=  unb  ^atfraft  unb  einem  3urücf»erfinfen  in  frühere  primitioere 
©ntwtcfelungSphafen  jum  SSorroanbe  biene.  SDian  will  aud)  burdfwuS  nid)t 
leugnen,  bafj  Stufclanb,  tnbem  eS  eine  genriffe  gefefclidfje  Drbnung  in  einigen 
barbarifdjen  «Staaten  SlfienS  einführte,  in  benen  ©eroatttfiätigfeiten  unb  58lut= 
»ergießen  fd)on  weite  Sänberftreden  oeröbet  Ratten,  aud)  »telen  im  ©lenbe 
fdjmad)tenben  3Jienfd)en  2Bof)lthaten  erroiefen  b^abe.  ®od)  fei  es  trofcbem 
fraglid),  ob  man  jene  neuen  3ufiänbe  unb  3Serhältniffe,  bie  in  biefen  Sanb; 
ftridfjen  auf  rufftfdfjen  ©inftufi  surücf  juführen  wären,  aud;  wirfticb,  ©hnlifation 
uennen  fönnte,  unb  ob  man  fagen  bürfte,  bafe  Stufjlanb  bamit  aud)  nur 
einen  ©trahl  beS  glorreichen  Sicktes  ber  mobernen  Guttur  beS  djriftlichen 
2Befen3  nad)  jenen  Legionen  gelenft  tiabe.  £>ie  halbe  3JMton  Siafans 
Sartaren,  bie  einen  geiftig  begabten  33rud)tt)eil  ber  türfifdfien  Nation  bitbeten 
unb  in  alten  Seiten  um  ihrer  moSlemitifd)en  ©ultur  mitten  berühmt  ge« 
roefen  feien,  jeigteit,  aujjer  in  einigen  ljöd)ft  oberflächlichen  3u9cn,  in  ihrem 
focialen  unb  politifd)en  Sehen  aud)  feine  ©pur  »om  ©etfte  unfereS  $al)r= 
hunberts.  $aS  3Solf  werbe  in  feiner  moralifd)en  9tpatr)ie  belaffen  unb 
banfe  feine  geringe  ©eifteSbilbung  einjig  ber  ©d)ule,  bie  es  felbft  gegrünbet 
b,abe  unb  aus  eigenen  3Kitteln  erhalte.  SKIerbtngS  befänben  fid)  in  üafan 
»ou  ber  Regierung  errichtete  ©dmlen,  bod)  roäre  ber  ©eift  unb  bie  Senbenj 
beS  Untcrrid)tS  echt  ruffifd),  nur  barauf  auSgehenb,  bie  Sataren  ju  ©haften 
unb  -JKoSfowitern  umjuroanbeln,  bamit  fie  bem  ruffifd)en  SReidje  um  fo 
leid)ter  einäuoerleiben  feien.  2letmlid)  folle  es  bejüglid)  ber  33afd)firen  fid) 
»erhalten,  eines  gleichfalls  zahlreichen  SheiteS  ber  turfo*tatarifd)en  9Jaffe, 
roeld)er  feit  unbenflichen  Reiten  feinen  ©ifc  im  Uralgebirge  hat-  ®ie 
93afd)firen  roären,  obwohl  fd)on  feit  jroei  ^abrfiunberten  uttt«r  tuffifd)er 
4?errfd)aft  ftehenb,  »om  moratifchen  roie  »om  materiellen  ©eftd)tSpunfte  aus 
betrachtet,  fd)limmer  nod)  baran  als  bie  ©tammesbrüber  an  ber  2Mga. 
2Irm  unb  bebrüeft,  oon  ben  fanatifchen  ortt)oboren  Staffen  »ernadjläffigt  unb 
»erachtet,  roären  fie  naheju  auf  bie  föätfte  ihrer  ehemaligen  3ahl  5ufammcn= 
flefd)molsen.  ©aSfetbe  SBeobacbtangSrefuttat  roill  man  norböftlidj  hinauf  lue 
SobolSf  unb  im  ©üben  abwärts  bis  jum  3lltaigebirge  feftgeftellt  fyxbm. 
Ueberafl  trete  bie  £f>atfad)e  entgegen,  bafs  mit  bem  ©rfdjeirten  ber  ruffifchen 
€i»iltfatoren  fich  bie  ©ingeborenen  rafd)  »erminberten  unb  baf?  bie  Regierung 
anftatt  fid)  ber  graufam  unterbrächen  Untcrthanen  anzunehmen,  weit  eher 
nod)  baS  3etftörungSwerf  ber  ruffifd)en  föofafen,  5ßopen  unb  Äaufleute  untere 
ftüfete.   Um  bie  gänjltchc  SBirfungSlofigfeit  ber  ntffifd)en  GtoUifationS« 

U* 


  <£.  ntafd}!e  in  Breslau.   


33e(lrebungeu  ju  erf  ernten,  brause  man  nur  fotdje  SBölferfdjaften  ju  betrauten, 
bie,  lange  fdjon  unter  rufftfdjer  $errfd)aft  fletjenb  unb  jutn  Gl)riftentbum 
übergetreten,  fogar  ber  gried)ifd)=fatf)olifd)en  Äirdje  angetjörenb,  fomtt  atfo 
oon  allen  Seiten  ben  ©inflüffen  von  ftird)e  unb  Staat  jugänglid),  bennodj 
feine  SRefultate  berfelben  aufjunieifen  gärten.  2113  Seifptcl  werben  5unäd)ft 
bie  Tfdjuroafdjen  aufgeführt,  am  regten  Ufer  ber  SBolga  unb  am  linfen 
be3  <Strome§  in  füböftltdjcr  9Jid)tung  bis  Dren6urg,  bie  fett  1528  Unter* 
tfianen  bcä  &aten  finb.  ®lefe  türftfd^e,  auf  naljesu  600  000  Seelen  fid) 
bejiffernbe  33ölferfd)aft  fei  1743  jutn  Gfyriftentljum  übergetreten.  Sie  fjabe 
feit  ttirer  Unterwerfung  fid)  auSfdfiliefilid)  unter  ber  «fernen  £anb  ber 
ruffifdien  Sierroattung  befunben  unb,  obuiofjl  oorjugsroeife  au§  frteblidjeit 
2lcferbauern  beftefienb,  bennodj  burd)  bie  cioilifatorifdje  ^crrfdaft  feinen 
Segen  erfahren,  £er  £fd)un)afd)e  oon  Ijeutc  närc  nod)  fo  utiroiffenb  unb- 
abergläubtfd),  wie  feine  3Sorfab,rcn  einft  getoefen,  er  fei  nur  "nominell  eilt 
Gljrift  unb  bete  in^gefjeim  immer  nod)  feine  alten  Ijeibnifcfjen  ©älter  an. 
©ie  ugrifdie  2,'eoölferung,  roie  bie  £fd;ermiffen,  SEotjafen  unb  SBogulen 
fottten  aber  nod)  übler  brau  fein.  SBeber  tfjr  Mtagslcben  nod)  tljre  £enf* 
roeife  ober  ib,re  focialen  SPesielwngeu  miefen  aud)  nur  ben  geringften  ©nfluü 
n»eftlid)er  ßtoilifation  auf.  @ö  fjätte  fid)  wenig  ober  9iidjtä  bei  ifmeit  ge» 
änbert,  feit  fie  ben  »äterlid)en  Sdjnts  beä  3are"  Stoffen,  beffen  Regierung: 
fid)  bamit  begnüge,  fricblidic  unb  willfährige  Steuerjafiler  heranziehen,  unb 
nidjt  baran  benfe,  bie  Griftenjbebingungen  ber  ihrer  Sorge  anuertrauten 
SNölferfdjaften  5u  oerbeffem.  So  feien  beim  bie  fahrten  im  fernen  Dften 
an  ben  Ufern  ber  Sena  beinahe  auf  bie  föälfte  ihrer  früheren  ftaty  jU; 
fammengefd}moläeii,  unb  bie  SBogulen  befänben  fid)  naheju  fd>on  auf  bein 
9lu£fterbeetat.  3>ie  Mrim^ataren,  eine  berühmte  @roberers9iaffe,  bie  ;u 
Beginn  beä  oorigen  ftahrhunberts  eine  l;albe  SKiüion  Seelen  gejährt,  be= 
jifferteu  fid)  jefet  nur  nod)  auf  80  000.  £>icfelbe  erfdjredenbe  Slbnabmc 
miefen  bie  nogaifdjeu  Tataren  auf,  unb  bie  wegen  ifireS  ftampfe*mutbe$ 
unb  UnabbängigfeitäfiimeS  berühmten  33ewofmer  beS  weftlidjen  Äaufafu& 
feien  beinahe  gän}lid)  com  Scbauplafc  ihrer  Saaten  t>erfd)wunben.  —  SBabrc 
Soblieber  ftimmt  aber  SBambfrt)  auf  bie  Gnglänber  in  ^nbien  an.  2ludj 
erflärt  er  bie  in  Guropa  oorhcrrfdienbe  2Reinung,  baf?  ©rofebritannien  fein 
^nbien  ber  Verarmung  mfüfjre  unb  fid)  an  ihm  nur  bereitere,  für  eine 
burd)roeg  tädjerlidje. 

SDie  yreunbe  Diufjlanbs  bagegen  eutfdmlbigen  bie  ungenügenben  9Jefultate 
ber  moäforoitifcbcu  Gitnlifatoren,  inbem  fie  behaupten,  bafe  bie  3Wt$erfolgc 
ber  letzteren  md)t  ber  ungenügenben  Befähigung  berfelben  ätijufcbreiben, 
fonbent  auf  ben  fialsftarrtgen  SBiberftanb  jurüdäuführen  feien,  welken  bie 
UJJoljammebaiier  beinahe  überall  ben  Gi»ilifations»erfud)en  europäifdjer  6t» 
oberer  eutgegenfe^ten.  ÜDJan  fprid}t  bie  Ueberjeugung  au§,  baß  $Rufelanb>, 
beffen  Beoölferung  gröfstentljeils  au§  3lfien  ftamme,  unb  baS  in  feinem  focialen 
Slufbau  nod)  gar  manchen  afiatifd)cn  Gb^arafterjug  aufmeife,  {ebenfalls  geeigneter 


  Kujj(ani>  in  <£entralafien.   


203 


jei,  in  bcn  nod)  Ijatbbarbarifdjen  Säubern  biefcr  alten  2i>elt  roeftttdje  Gultur 
31t  »erbretten  unb  einer  gefefctidjen  Drbnung  }ur  ^errfdiaft  ju  »erljelfen, 
at$  ba3  ftrenge,  fatte,  unbeugfame  ©nglanb.  ©ine  weite  Ituft  trenne  bcn 
-oom  potenjirt  europäifdjen  ©eift  erfüllten  Gnglänbcr  »on  bem  »on  einer 
3af)rtaufenbe  alten  Gultur  imprägnirten  2lfiaten.  ©in  tmnber  oerfeinerter 
©inftufj,  eine  inmitten  ber  beiben  Gulrurftufcn  fteljenbe  2J?adjt  tnüpte  eine 
ungleid)  roirffamere  33ermtttetung  bilben,  unb  Jtufelanb,  ba$  auf  ber  ©rense 
tiefer  beiben  fo  oerfdjiebenartigcn  focialeu  ©eftaltungeu  fic3t>  befinbe,  »cr= 
möge  bafyer  bie  roeftlidje  Gioilifation  unbebingt  erfolgreid)er  im  Orient  ;u 
»erbreiten,  al«  bie*  für  ©nglanb  möglid)  wäre,  ©eneral  Sfobelero,  ein 
genauer  Kenner  ber  afiattfdjen  33crrjättmffc,  fprad)  aber  feine  2lnfid)t  he- 
jüglid)  ©nglanbä  bar)in  au§,  ba§  biefeS  bie  ifmt  untertoorfenen  SJölfer  fdjroer 
»ebrüefe  unb  in  einen  Buftanb  ber  ©Kaoerei  jurüdfjminge,  einjig  51t  ©unften 
be3  englifdjeu  föanbets  unb  bamit  bie  Sriten  reid)  mürben. 

Sie  3Bal>rf)cit  unb  ba>3  Sftdjtige  bürfte  roof)[,  roie  meiften-3  bei  ben 
$nfch>uung$»erfd)tebenh>iten  im  Seben,  aud)  Ijier  in  ber  SDJittc  aller  biefer 
^eurtfieitungen  liegen.  3tnbcrcrfcit^  »ermag  man  eine  aud)  nur  annäl)ernb 
richtige  'Borftellung  »01t  ber  Sage  Siufjlanbä  in  Gentralafien  unb  feinem 
■JJerljatten  bort  nur  ju  gemimten,  roenn  man  fidj  oorf»er  mit  ber  t)iftorifd)en 
©ntroicrelung  biefeS  Sänberertoerbä  oertraut  gemalt  fiat.  3ft  lefctereS  aber 
geftt)et)en,  fo  roirb  ber  »on  einem  unparteiifd)en  ©tanbpunfte  au«  Ur- 
tfieitenbe  beut  jielberoufjten,  flttgen  unb  bef)arrlid)en  33orgef»en  Srufjlanbtf, 
foroie  ben  Seiftungen  feiner  Offnere  unb  ©otbaten  bie  2lnerfennung  unb 
eine  geroiffe  Sfieilnafnne  roob^l  nid)t  »erfagen  fönnen.  — 

Sie  9ii»alität  jroifdjen  3htfjlanb  unb  ©nglanb  mufete  »on  jenem  3<Jtt= 
punfte  an  in' 3  Seben  treten,  roo  Spanien,  Portugal,  £toUanb  unb  graufreid) 
»on  bem  GroberungSgebiete  in  Stjten  fid)  jurücfjogen  unb  ba$  alte  3)turter= 
lanb  bem  ©Ijrgeije  unb  bem  ©igennufce  ber  beiben  erftgenannten  Nationen 
überließen,  ©nglanb  b>t  feine  ©roberung$baf»u  langfam,  aber  ftttig  »on 
©üben  aufroärt'S  »erfolgt,  bis  fid)  au3  ber  Keinen  $anbct$gefellfd)aft  ein 
gewaltiges  Dletd)  aufgebaut.  Sa§  £auptmotto  war  jebenfaHS  baS  ©etb» 
»erbtenen!  Unfcr  germanifd)er  Kelter  jenfetts  bei  ©anal*  ift  frei  »on 
feber  unpraftifdjen  ©mpfinbfamteit.  2Ba$  Stujslanb  aber  anbelangt,  fo  finb 
t>ic  Urfad)en  feiner  ©roberungen  unb  ift  aud)  ber  Verlauf  berfelben 
mefentlid)  anberer  2lrt.  Ser  ganje  Slufbau  be§  ruffifd)en  9teid)c3  baftrt 
au>3fd)tief}tid)  auf  ©roberangen  unb  9Xnnerionen.  Sie  9tuffen  bitbeten  ur* 
fprünglid)  eine  Keine  £örperfa)aft  »on  ©lanen,  aufgepfropft  auf  ugrifd)e, 
turfo4atarifd)e'  unb  finnifdje  ©lemente.  9lltmäf)lid)  belmten  fie  fid)  bamt 
aber  au«,  unb  fie  mürben  fid)erlid)  fd)on  im  Mittelalter  eine  l)cr»orragenbe 
9toHe  in  ben  gefd)id)tltd)en  ©reigniffen  gefpielt  fabelt,  roenn  nidjt  seit* 
roeilige  UmtȊl$ungen  unb  burd)  afiatifd)e  Eroberer  {jenwrgerufene  Kriege 
bie  ©ntroiifelung  ber  ruffifdjen  Nation  jurücfgelwtten  Ijätten.  Sie  beiben 
frebeutenbftcn  ^emmniffe  in  ifjrem  ©ntroidfctung'Jgangc  bitbeten  ber  ©inbrud) 


206 


  <E.  inafd)fe  in  Sreslan.   


ber  2J?ongolen  unter  ®fd)engiä  ©fyan  unb  bcr  grofee  Ärieg  gegen  Xttnur. 
©erabe  burd)  biefe  gefd)id)tttd)en  ©retgniffe  mürbe  bie  im  SBerben  begriffene 
mo3fowitifd)e  9)iad)t  gewaltfam  gelähmt.  9Som  ©eifte  d»riftlid)er  ßioilifotion 
getragen,  »ermodne  ba$  ruffifc^e  Stolf  fd)liefjlid)  bod)  über  bie  barbarifd)en 
^Repräsentanten  3Cftenö  ju  triumpf)iren.  Sie  ©olbene  $orbe  würbe  aus» 
einanber  geiogt,  baä  9ieid)  £imur£  fiel  in  krümmer,  unb  ba£  fiegreidje 
Slufclanb,  baä  fid)  eine  eroberte  ßänberftretfe  nad)  ber  anbern  einverleibte, 
trat  bie  @rbfd)aft  feiner  a|"iatifd»en  Vorgänger  an.  9Jadjbem  e£  fid)  ben 
Sanbftrld)  an  ber  unteren  Söolga  unterworfen  fyattt,  tb>ilte  es  bann  feine 
Stufmerffamfeit  äroifd)en  bem  SBeften  unb  öem  Cften,  unb  nad)  beiben 
SRtdjtungen  t)irt  errang  e$  unerwartete  Grfotge.  %tn  Dften  erfdjien  eä  jefct 
aU  ber  Slepräfentant  ©uropaS,  wie  biefeä  t>or  300  bis  200  $al)ren  mar; 
mit  befferen  2öaffen  auSgerüftet,  als  ber  barbarifdje  ©egner,  oermodite 
SRufttanb  mit  üertyältnitjmäfjig  fleinen  $rtegerfd)aarcn  grofje  5BöBerfd)aften 
fid)  ju  unterwerfen.  Sibirien  würbe  im  16.  ^afjrljunbert  erobert,  unb 
jroar  f)auptfäd)ltdj  mit  |>ilfe  bcr  ruffifdjen  Äofafen.  3n  bemfelben  Safyv- 
b^unbert  foll  Stufjlanb  aud)  bereite  mit  ßentralafien  in  4?anbefe»erfel|r  ge= 
treten  fein,  bie  erften  gefd)id)ttid)  nadnoeisbaren  93ejieb,ungen  finben  mir 
aber  erft  jur  3ett  Meters  be3  ©rofjen.  £>ie  9tbfid)t,  einen  SBeg  nad)  3nbien 
auSfinbig  ju  mad)en,  veranlagte  im  ^atyre  1717  ben  Sax,  eine  fleine 
2*uppenmad)t  unter  bem  gürften  Befewitfd)  £fd»erfaffi  nad)  bem  im  ©üben 
beä  2lralfee$  unb  ber  Jlirgifeufteppe  gelegenen  ßljanate  Gf)iwa  ju  entfenben, 
um  f)ier  mit  bem  afiarifdjen  ©ouoerain  58erbtnbungen  anjutnüpfen,  mo- 
möglid)  bis  %nbim  oorjubringen.  Sefewttfd)  blatte  inbeffen  ju  grofceS  2>er* 
trauen  in  feine  mititärifdje  Störte  gefegt,  tiefe  fid)  aud)  pon  ben  trügerifdjen 
SSerfpredmngen  be$  fd)lauen  aftatifdjen  dürften  täufdien  unb  ging  in  gotge 
beffen  fammt  feineu  Gruppen  burd)  jßerratl)  ju  ©runbe.  T>aä  (Snbe  be$ 
Unternehmens  mar  alfo  ein  fefjr  fläglidieä  gewefen.  3ur  3eü  *>e~  £obe£ 
Meters  bes  ©rofeen,  1725,  fjatte  Mufelanb  in  2J?ittelafien  nod)  feine  Senkungen. 

9fad)bem  jebod)  bie  Muffen  bic  ©rense  be$  2>on  unb  beS  Ural,  ben 
alten  burd)  bic  Äafafcnlinien  gebilbeten  SBall,  einmal  fibcrfd)ritten  batten, 
fonnte  sJHd)t£  mein-  if)r  weiteres  33orgel)en  aufhalten.  Um  feine  neuen  Unter* 
trauen  ju  fd)ü|sen,  fal)  fid)  SRufetanb  in  bie  unt>ermeibltd)e  9?otf)roenbigfett 
Derfefet,  aud)  ben  angrenjenben  93ölferfd&aftcn,  bie  nur  non  Staub  unb 
^ßlünberung  lebten,  fein  3"d)  genmltfam  aufjuerlegen.  SBaren  aber 
bie  einen  biefer  feinblid^en  Sßötferftämme  einmal  unterjod)t,  fo  mußten 
immer  roieber  nod)  neue  unterworfen  werben,  weil  fic  Beunruhigungen 
t)erurfad)ten.  Unb  fo  fam  es  attmäb^lid),  baft  wir  bleute  bie  Muffen  an  ber 
©renje  con  3lfgl)ani)"tan  ftelien  fehlen.  ®ie  Sage  Mufelanb«  in  ßentralafien 
war  alfo  oon  9lnfang  an  biefelbe,  wie  bie  aller  cimlifirten  33ölfer,  weld)e 
mit  ^albwilben  9iomabenftämmen  in  35erüb,rung  fommen.  Mur  inbem  man 
fic  jum  ©e^orfam  jwang  unb  an  ein  frieblidjereS  Seben  ju  gewönnen 
fud)te,  oermod)te  man  ü)ren  friegerifd)en  Einfällen  unb  Maubjügen  @üu)att 


  Xnglanb  in  Centralafien. 


207 


ju  tfnm.  Die  golge  mar  bann  aber  in  bet  Flegel,  baß  bie  Unterworfenen 
nun  ihrerfeitö  nrieber  ben  feinblid)en  Seläftigungen  bet  eigenen  unruhigen 
sJJad)barn  mehr  auSgefefct  waren,  daraus  entftanben  für  bie  9tuffen 
periobtfd)e  unb  weit  auSgreifenbe  friegerifd)e  Unternehmungen  gegen  einen 
geinb,  ber  in  $oIge  feiner  loderen  Drganifation  eigentlich  unfaßbar  war. 
33efd)ränfte  man  fid)  barauf,  ifyx  ju  sfid;ttgen,  fo  fonnte  tnan  mit  Sicherheit 
barauf  rechnen,  bafj  binnem  Äurjem  er  feine  geinbfeligfeiten  erneuerte,  benn 
in  feinen  äugen  war  jeber  Stüdsug  bei  ©egnerS  ein  S^djen  oon  beffen 
Schroäche.  Um  biefen  fortmährenben  Unruhen  alfo  ein  ®nbe  ju  mad)en, 
blieb  SRufjlanb  fdjltefjlich  9Jid)t3  übrig,  aU  bei  feinem  SSorrüden  in  ben 
feinblid)  gefinnten  Säubern  in  biefen  aud)  feftert  gufe  ju  f äffen  unb  ftd) 
burd)  2lntage  von  $efeftigungen  Stüfcpunfte  ju  »erfd)affen.  93ei  biefem 
-Vorbringen  f)at  atlerbing*  ber  friegerifdie  (Seift  ber  ruffifdjen  Gruppenführer 
roobt  mitunter  ben  ©ang  ber  (Sreigniffe  gegen  bie  ^läne  ber  Regierung 
unb  junt  SSerbruffe  ber  Diplomaten  befdrteuntgt.  ^in  9lllgemeinen  lehrt 
uns  aber  bie  ©efd)id)te,  bafi  bae  Sd)tdfat  aller  Völler  unter  folgen  $Ber= 
hältniffen  bod)  ftetö  ba$  gleiche  gewefen.  Ghtna  mußte  in  ber  Mongolei 
erft  ungeheuere  Steppenflächen  erobern,  um  feine  natürlid)en  ©renjen  ge= 
mimten  ju  fönnen.  ßbenfo  nmrbeu  bie  bereinigten  «Staaten  in  3lmerifa, 
g-ranfmdj  in  Algerien,  ®nglanb  in  ftnbien  nidjt  blo§  burd)  ©goismuS  unb 
£abfud)t,  fonbent  auch  burd)  bie  SRothwenbigfett,  ftd)  feftjufefeen  unb  ju 
fidjent,  unoermeiblid)  auf  ben  Sßeg  ber  9?ergröfjerung  unb  SluSbeljnung  ge= 
brängt.  3lud)  Stufjtanb  fjat  bemnad)  nid)t  bloS  au§  @roberung3fud)t  bie  fo 
ungeheueren  materiellen  Dpfer  unb  Saften  in  ßcntralafien  ftd)  auferlegt.  — 
3n  ber  jmölfiährtgen  SBerwaltungSpcriobe  »on  1868  bt$  1879  ergaben 
5.  S*.  bie  Ginnahmen  gegenüber  ben  3lu§gaben  ein  Deficit  uon  66815940 
Rubeln.  — 

93i§  in  bie  erfte  £älfte  beS  ad)tjeb,nten  ftahrhunbert*  hinein  f)aitt 
alfo  Stufjlanb  nod)  feinen  Sanberwerb  in  (Sentralafien  aufjuwetfen.  Grft 
im  Qa^re  1734  unterwarf  ftd)  bie  Äleine  £orbc  ber  ftirgtfenfafafen  in  beut 
weftltd)en  Steile  ber  «Steppe,  unb  jwar  anfd)einenb  freiwillig.  Die  greube 
über  biefen  (Sreignijj  follte  jebod)  nid)t  lange  mähren,  benn  balb  iahen  ftd) 
bie  Muffen  genötigt,  ber  Jtaubjüge  ber  neuen  Untertanen  beä  3teid)e« 
in  ba3  rufftfdje  (Sulturlanb  hinein  ftd)  ju  ermehren,  unb,  um  biefen  feinb* 
feltgen  ^Beunruhigungen  fchliefeltd)  ein  @nbe  3U  mad)en,  yat  planmäßigen 
Unterjochung  ber  SUrgtfenfteppen  ju  fcljreiten.  Gi  fiel  bamtt  Siufjlanb  eine 
überaus  fchnüerige  Aufgabe  ju.  2lbgefef)en  »on  ben  h«rtuädigen  kämpfen, 
loeldje  c§  mit  ben  ©ngeborenen  burd)jufed)ten  hörte,  ftellte  ihm  aud)  bie 
■JJatur  gewaltige  .^inberniffc  in  ben  2Beg.  (Snblofe,  müfte  flächen  mit  ab- 
ioed)felnbcm  faxten  ßehtlW0Den  ober  fufitiefem  Sanb  unb  au*gebehnte  waffer5 
lofe  Sanbftreden  waren  5U  überminben. 

Die  Steppe  mürbe  »on  jwei  Seiten,  t>on  Dften  unb  »on  SBeften  her, 
in  Eingriff  genommen.   %\u  ba§  erftere  Vorgehen  bilbetc  Sibirien  bie  33aft*. 


208 


  €.  lltafdffe  in  Breslau.   


3fo  bet  wcfilidjen  ©renje  Gf)inas  glitten  btc  ruffifdjen  ftafafen  nom  2lltai 
b>rab  jum  3ffifid5See,  ebenfo  geräufd)lo£,  toic  cS  ben  ruffifdjen  Vorpoften 
am  wefdtdjcn  3?anbe  bc$  Stirgifenlanbcs  »on  ber  Steinen  £orbe  gelang, 
fid)  an  ben  Slralfee  unb  an  ben  ©tr^arja  heranjustefieu. 

Tiefe*  langfame,  a6er  ftetige  fiegreidte  Vorbringen,  bas  SBerf  jweicr 
3al)rrmnbeTte,  d)arafterifirt  bie  £artnädigfeit,  2lusbauer  unb  Älugtjeit  ber 
Stoffen.  SBenn  toir  aber  mit  (Srftaunen  unb  Vewunberung  bie  Grfolge  bc= 
tradfjten,  bie  9hijjlanb  mit  mhältnifsmäfjtg  fef>r  geringen  Gräften  au  feinen 
urfprüngltdjen  Dft=  unb  Sübgrensen  unb  weit  barüber  hinaus  errungen  b>t, 
fo  bürfen  mir  namentlid)  einen  Factor  nid)t  Überfellen,  ber  mefentlid)  babei 
mitgewirkt.  @*  finb  bie*  bie  ruffifdjen  Safafeiiwlfer.  Sie  waren  ftete  für 
Stufelanb  von  unfdjäfe6arem  SBerttje  unb  finb  bie-S  aud)  heute  nod),  inbem 
mit  ihrer  $itfe  ^auptfäd)lid)  bic  weiten  (Steppengebiete  cufttoirt  rourDen 
unb  werben.  Sie  ruffifd)en  ftafafen  bilben  gewiffermafjen  ben  Uebergang 
uon  ben  cioilifirten  Muffen  ju  ben  b.al6roilben  nomabifirenben  Steppen* 
»ötfera  unb  ba«  Sinbegtieb  jwifdjen  irrnen.  Solange  bie  Äafafen  Süb* 
rufelanb*  nod)  ihre  Unabhängigfeit  galten  unb  oft  mit  ben  getnben  bc$ 
mosfowitifdjen  5RetdrjcS  gemeinfame  Sadje  madten,  waren  ber  Sruffcn  gort* 
fdjritte  in  ber  Steppe  nicht  bebeutenb.  (Srft  nad)bem  Stufjlanb  biefe  Äafafen 
unterworfen  unb  fid)  ju  treuen  Wienern  gemad)t  fjattc,  war  es  ihm  möglich, 
allmät)lid)  ber  Steppengebiete  feexv  JU  werben  unb  feine  ©renjen  immer 
mef)r  5U  erweitern.  Von  ben  ©reni=Äafafenltmen  aus  würbe  ein  beftänbiger 
33ert^eibigung!f=  unb  2lngriffsfrieg  gegen  bie  Steppen  unterhatten,  unb  je 
nadjbem  man  in  ber  festeren  ©ebiete  weiter  »orbrang,  würben  bie  alten 
ilafafenlinien  oerlaffen  unb  neue  uorgefeboben.  Tie  .vtafafen  bcfämpfteit 
babei  bie  wilben  Vötferfdjaften  ber  Steppe  uidjt  immer  blo*  mit  ben 
SBaffen,  fie  tnüpften  aud)  frieblidje  Verbinbungen  mit  benfelben  an  unb 
wirrten  burd)  Sift  unb  Ueberrebung.  Sie  afftmilirten  fid)  ihnen  fogar, 
würben  am  Äuban  unb  £eref  h«lbe  £fd)erfeffen,  am  Ural  fialbe  SUrgifen 
unb  boten  fo,  ba  fie  ftets  eine  fefte  breite  bem  Qaxcn  bewahrten,  bas  befte 
HJHttet,  bie  wilben  Völferfdiaften  ju  bänbigen  unb  $u  sügeln.  3"  bem 
eigentljümlidjen  Sßefen  unb  6f>arafter  ber  ßafafen,  bie  geborene  Krieger,  fdilane 
£anbet*leute  unb  2lderbauer  mit  ben  Sitten  unb  ©eroolmheitcn  ber 
9iomaben,  Mes  ju  glcid)er  $eit  finb,  finbet  bas  SRät^fet  ber  Unterwerfung 
unb  bes  Sufammenbatts  fo  ungeheurer  Steppengebiete,  wie  fie  im 
rufftfd)en  SRetdje  Bereinigt  finb,  l)auptfäd)ticfj  feine  ©rflärung  unb 
3luflöfung. 

Tie  Äirgifen,  weld)e  bas  weite  ©ebiet  in  SSorberafien  bewohnen,  ba* 
im  Horben  »om  Qucllgebtete  bes  UralftuffeS,  ber  gefrungölinie  längs  bes 
£obot  unb  uon  fyet  öfttid)  bis  Dmsf  am  3!rtifd),  im  9iorboften  unb  Cften 
»om  ^rtifd),  »om  weftlid)en  ©ebiete  ber  Seen  Saian  unb  9ltaful  bec^renjt 
wirb,  im  Süben  aber  oom  2llatau,  bann  »on  ben  glüffen  S'fdju  unb  Sir-- 
©arja,  bem  2tralfee  unb  bem  Ufi«Urt,  im  2?eften  enblid)  Pom  Äafpi^^ 


  Xufjlanb  in  <£entratafien,    209 

©ee  unb  Uralfluß,  repräfattiren  bat  SCnpuS  bet  türfifdjen  SRomaben.  3?on 
2lnfang  an  festen  fic  bat  Ginbringlingen  jäte  fperieHc  S5>iberftanb3form 
entgegen,  bie  ebenforoobl  bei  ben  9?omaben  9tmertfa§,  rote  bei  jenen  2lften3 
ju  beobachten  iß.  $uerft  ließen  fid)  einige  einflußreiche  Häuptlinge  burdj 
©cfdjenfe  unb  Sluäjeidmungcn  gewinnen.  9)iit  ber  eingegangenen  Seljn«* 
»erpfliditung  rourbe  e§  bann  aber  nidf)t  ernft  genommen,  unb  fobalb  ber 
ruffifdje  Unterfiänbler  bem  ©dwuplafe  ben  3?ücfen  gefe^rt  blatte,  »ergaß  ber 
ßirgifenf)äuptling  foroobl  bie  ©efdjenfe,  rote  ben  ©ib,  ben  er  geleiftet. 
9?ußlanb  mußte  bemnadj  ju  anberen  SWitteln  greifen.  ©£  legte  an  »er* 
fdjiebencn  fünften  Heine  gorts  an,  um  ben  HanbetSleutcn  auf  ibjen  $fyen 
Dbbadj  unb  ©diufc  51t  geroäb^ren.  £>en  Äirgifen  mürben  aber  ©djulen  unb 
©ebetfjäufcr  erbaut,  um  fic  burdj  ©rjieljung  unb  Sieligion  ju  ctoitifiren. 
33ci  biefen  festeren  Maßregeln  gefdjaljen  große  Mißgriffe  feiten«  ber  ruffifdjen 
33erroaltung.  STOan  pflegte  officiell  bie  tatarifdje  (Sprache,  roäfircnb  biefe 
bod)  gar  nid)t  bie  3Wutterfprad)e  ber  Steppenbewohner  mar,  unb  legte 
SDiofdjecn  an,  roät>rcnb  ber  5Bolf3glaube  nod)  ein  fdjamanifdjer  war.  ®urdj 
biefe  fefjlerf>aften  ©tnridjtungen  rourbe  nur  ben  ©rbfeinben  d)riftlidjer 
^Regierungen,  ben  tatcmftfrmiofjammebanifdjen  Sßrteftern  3Sorfd)ub  geleiftet, 
bie  jefet  in  großer  $afy  au§  ^nnerafien  herbeieilten,  um  ftdj  in  ber  ©teppe 
nieberjulaffen.  Die  rufftfdje  Regierung  cntfd)loß  fid}  baber  im  $al)re  1820, 
bie  Sfirgtfen  »ollftänbig  ju  ruffifdicn  Untertanen  $u  madjen.  3n  ber  ©teppe 
mürben  an  fünften,  bie  fid)  für  bie  Umgegcnb  5U  i'erfehr&Sentren  eigneten, 
Sefeftigungen  erbaut  unb  in  benfefbat  ruffifdje  Äafafen  angefiebelt.  Siefen 
(Softem  fanb  junäcbft  am  ^tifd)  9Inroenbung  unb  bann  1835  in  ber 
Drenburger  ©teppe.  ©0  entftanb  eine  33efefttgung3linte  in  ber  Mittleren, 
unb  bie  ileäftfdje  in  ber  steinen  £orbe  ber  Äirgifen.  9Iber  audj  biefe 
SKaßnafimat  »ermodjten  ben  3rocd,  SRufie  im  tirgifentanbe  ^erjuftetlen, 
nod)  nid}t  ganj  su  erfüllen,  fo  lange  bie  räuberifdjen  ©djaaren  nodj  ®e= 
[egenfieit  fanben,  burd)  ©ntroeidjen  in  bie  unabt)ängigen  Granate  im  ©üben 
ber  ©teppe,  nämlid)  nad)  ßb^ofanb,  33od)ara  unb  6l)iroa,  ftd>  eoentued  ber 
©träfe  ju  eutjiefjat.  9iamentltcfj  rourbe  ifmen  Unterftüfcung  geboten  burdj 
ben  Gfjan  »on  Gf)iroa.  SRacfibem  baljer  ruffifeberfeitä  ber  Soften  SRoroo« 
9lleranbroro3f  an  ber  $aibabud)t  beä  Safpifdien  Speere«,  ber  ©mba=^often, 
400  Kilometer  füblid)  »on  Drenburg,  unb  2lfbulaf,  etroa  160  Kilometer 
weiter  füblid)  nadj  bem  UftsUrt^lateau  ju,  angelegt  roorbat  roarat,  rourbe 

1839  »on  Orenburg  au3  ein  ©rpebitionäcorpS  unter  ©enerat  $ßeroro#fi 
gegen  ©bium  entfenbet.  ^asfelbe  blatte  eine  ©tarfe  oon  20000  Sftann 
unb  einen  £rain  »on  10000  Sameelen.  Heftige  Äälte  unb  3J?angel  an 
SebenSmitteln,  foroie  furdjtbare  ©cfjneegeftöber  nötfjigten  aber  6nbe  3anu(ir 

1840  ben  ruffifd»en  ©eneral  nad)  bem  SSertufte  ber  SQtifte  feiner  5D?annfd)aft 
fdwn  auf  bem  falben  SBege  jur  Umfefjr.  ©ine  große  9lnjabl  roegen  ©r= 
fd^öpfung  auf  ben  2Kärfd)en  SurüdgeMi  ebener  roar  in  feinblid»e  ©efangen« 
fdjaft  gcratben.   ®ie  ©rpebition  roar  alfo  »otlftänbig  gefd)eitert.  2lttd>  nabm 


2\0 


  €.  OTafdjfe  in  Breslau.   


bie  rufftfcbe  Regierung  jefet  3l£>ftonb  baoon,  einen  neuen  ÄriegSjug  burd) 
bie  Steppen  am  2lralfee  ju  verfugen,  entfdjlofc  fid)  otelmebr,  in  onberet 
2Betfe  einen  entfd)eibenben  ©cblag  oorjubereiten,  für  melden  bie  ©tr=1)arja 
(^ararteS^ßtnie  als  DperattonSbaftS  bienen  foHte.  3u  teuerem  3"*<fc 
muffte  man  fidf)  aber  sunäcbft  bes  ©banates  oon  ©b,ofanb  bemäcbtigen,  baS 
1840  ber  ©mir  oon  $od)ara  feinem  ©ebiete  einoerleibt  batte. 

9fad)  einem  1846  aufgebrochenen,  oon  ben  Hüffen  aber  mit  ©rfolg 
niebergeroorfenen  3lufftanbe  ber  Slirgifen  erhielten  @mbin$f  unb  2tfbutaf 
fefte  ©arnifonen,  unb  in  ber  ©teppe  entftanben  aufjerbem  bie  Soften 
UralSfoje  unb  DrenburgSfoje.  Qn  bemfelben  Bohrt  hatten  aud)  bie  SEirgifen 
ber  ©rojjen  £orbe  junfcben  bem  33alfafd):©ee  unb  bem  £bianfcban=©ebirge 
bie  ruffifcbe  Dberberrfdjaft  anerfannt.  ©üböftlidj  bes  genannten  ©eeS  rourbe 
oon  ben  Stuften  ber  ©tü|punft  Äopal  angelegt.  Um  btefelbe  3«t  entftanb 
9iaim3foje  an  ber  ÜDiünbung  beS  ©ir^arja.  3n  Drenburg  fammelte  man 
SlriegSoorrätbe  aller  2lrt  an.  %m  3abre  1847  begann  bann  ©eneral 
^ßeroroSft,  langfam  aber  fieser  oorjurüefen,  inbem  er  in  getroffen  ©tte 
fentungen  eine  SWcirjc  oon  gort«  errichtete,  roelcbe  bie  erften  ©lieber  ber 
Äette  bilbeten,  bie  fpäter  ben  ©ir=®arja  mit  9tuftlanb  oerbinben  foHte. 
2luf  bem  2lralfee  mürbe  eine  Meine  Flottille  errichtet.  £>ie  9tecognoScirung 
beS  SanbeS  bebnte  man  bis  ju  bem  feinblidjen  gort  3tf=2Wcsbfcr)et  im  ®e* 
biete  oon  ©bofanb  au«.  Sie  rufftfd)e  ©renje  50g  ju  btefer  3«*  oon  Oft 
nad)  SBeft  über  ben  ^liftujj  sum  2llataurüden  unb  längs  bes  £fd)u  $um 
©ir^arja.  3n  ben  folgenben  fahren  gelang  eS  bem  ©eneral  Sßerorosfi, 
ben  9J?arfd)  burd)  bie  SBüfte  Äara^fum,  im  9torboften  00m  2lra[fee,  ju-be« 
roerffteHigen  unb  nad)  garten  kämpfen  fid)  2lf=9BeSbfdjetS  ju  bemädrtigen. 
es  rourbe  l)ter  baS  gort  $PeroioSfi  angelegt.  ®er  Ärimfrieg  unb  bie 
polnifdje  SReoolution  nahmen  bann  sroar  eine  3eit  lang  bie  S^ätigfeit  her 
9iuffen  nacb  anberen  ©eiten  bin  in  Slnfprud),  niebtsbeftoroeniger  rourbe  aber 
aud)  in  ©entrataften  fortgefahren,  roidjtige  fünfte  oon  Sibirien  aus  511 
befefcen.  .^nt  ^abre  1854  rourbe  bie  geftung  SBernoje  am  9iorbabhange 
beS  tranSitienfifcben  Sllatau  gegrünbet.  3Me  Sinie  beS  ©ir»£arja  roar 
bereits  burd)  baS  gort  9?r.  1  ^ajalinSf,  baS  gort  9fr.  2  ftarmaffebt  unb 
baS  oon  SßeroroSft,  lefctereS  etroa  350  Kilometer  öftlicb  00m  2lralfee  ge= 
legen,  gut  gefiebert. 

®S  begannen  um  biefe  &it  blutige  innere  gebben  in  bem  Q.  banale 
oon  ©bofanb,  beroorgerufen  burd)  2br°"ffteitig!etten  3roifd)en  ben  berrfebenben 
gamilien.  2Iud)  baS  Granat  93od)ara  rourbe  in  9)Jitleibenfd;aft  gejogen,  unb 
fd»lief3lid)  fübrten  biefe  friegerifeften  SSerroidelungen  5U  geinbfeligteiten 
jrotfdjen  ben  beiben  genannten  Staaten  unb  9Juf}lanb.  ^ie  Gruppen  be# 
3aren  unterroarfen  1861  bie  Marafirgifen,  nabmen  baS  gort  2)fd)ule!  an 
ber  Sir=2inie  unb  eroberten  im  Sfuni  1864  2lulieata,  foroie  bie  ©tabt 
^urteftan  (^ajret).  ©leid)}eitig  feboben  fid)  anbere  ruffifebe  Slbtbeilungen 
00m  Stebenftromlanb  b«oor,  inbem  aus  bem  ^ejirf  ©emiretfcbenSf  eine 


  Knfjlattb  in  Cenitalaf ien.    2\\ 

©rpebition  {»eranrücfte,  um  im  <Süben  tyre  Serlnnbung  mit  ber  ©oloune 
com  Sir^arja  ju  bewirten. 

9ln  ber  ©pijje  be$  Setad)ement$  oon  SBernoje,  weCd^eö  nur  eine  (Störte 
oon  2000  3)fann  l»atte  unb  12  alte  Äanonen  führte,  mar  ©eneral  £fd)ernajero 
ausgesogen,  um  für  SRujjtanb  eine  weit  au3gebel)nte  ^rootnj  ju  erobern. 
23or  ben  ÜWaucrn  oon  Sjdjimfent  fd)(ug  er  bann  bie  40000  ÜKann  ftarfe 
Slrmee  beä  ®£)an  ton  Gf»ofant  unb  trat  fjierauf  ben  2Harfd)  gegen  £afd)fent 
an.  SHe  ©efd)id)te  biefe$  $uge3  ift  bamals  in  Gentralafien  gerabeju  ju 
einer  Gpopöe  geroorben.  £>te  fd)led)t  genährten  unb  mangelhaft  ausgerüsteten 
rufufdjen  ©olbaten  brangen  in  bem  unbetannten  fianbe  vor,  wie  jur  %t- 
oberung  einer  neuen  SBelt.  2ll#  ©eneral  £fd)erna|eto  fd)tic^tidE)  oor  £afd)fent 
ftanb  unb  eben  im  begriff  mar,  fid)  in  ben  33efi|  biefeS  @d)lüffel3  oon 
Surfeftan  ya  fefcen,  erfnelt  er  vom  StriegSminifterium  ben  SBefebX  umjus 
fefiren.  £od)  ber  ruffifd)e  ©eneral  ftedte  bie  $)cpefd)e  ftillfd)raeigenb  in 
bie  £afd)e  unb  nafmt  bie  fetnblidje  .öauptftabt.  3tm  £age  nad)  ber  @nt= 
fcb>tbung3fd)lad)t  bei  £afd)tent  ging  £fd)ernajero  ganj  allein,  ojjne  jebe  2Je* 
beefung  in  bie  äufterft  femblid)  gejinnte  (Stabt  hinein,  um  bort  ein  Sab 
ju  nehmen.  6r  fannte  wol)l  feine  Drientalen.  ©iefer  3ug  toflfüljnen 
3Jhitf)e3  mar  gleiä^jeitig  ein  3lct  beredjnenber  ^olitif,  benn  er  erwarb  bem 
©eneral  mit  einem  @d)lage  bie  Sewunberung  ber  9lfiaten,  bie  ba3  Stüter« 
orbentlidje  lieben  unb  auf  beren  (Stnbilbungäfraft  oor  2Wem  etngewirft 
werben  mu§,  wenn  ibnen  imponirt  werben  foH.  93on  biefer  3cit  f)er  fdjrieb 
fid)  ber  weit  oerbrettete  grofee  9tuf,  beffen  £fd)ernajero  bann  al§  SÖittitär= 
gouoemeur  unb  Gljan  oon  Xafdjfent  genofe. 

Sie  ßittnaljme  oon  £afd)fent  mirfte  in  ©nglanb  äufjerft  überrafdjenb. 
Sßenige  2Bod)en  oorljer,  eb>  biefeä  ©reignife  in  ©uropa  befannt  würbe,  foll 
Sorb  ^ßalmerfton  fid)  nod)  babjn  geäußert  fjaben,  bafi  gar  mandje  ©eneration 
nod)  fommen  unb  geljen  muffe,  efje  e3  9tufjlanb  gelingen  werbe,  bie 
tatarifdje  @d)ranfe  mebersureifsen  unb  fid)  bem  i'anbe  jroifdjen  S8od)ara 
unb  ^nbien  3U  näljern. 

$ürft  ©ortfd)afoff  oeröffeutlid)te  bann  aber  in  einer  Gtrfularnote  oon 
1864  bie  ©rünbe,  meiere  Stufjlanb  baju  beftimmt  Ratten,  fid)  2afd)fent3 
ju  bemäd)tigen.  @3  rourbe  ibarin  auf  bie  unabweisbare  9iotfiroenbigfeit 
t)ingebeutet,  bie  beiben  SBefefrigungSlinien  ber  ruffifd)en  ©renje,  beren  eine 
fid)  oon  Gljina  jum  %)\\tal-<&et  b^in,  bie  anbere  oom  2lralfee  ben  @ir= 
5Darja  entlang  jog,  burd)  fefte  fünfte  in  fold)er  9lrt  ju  oerbinben,  ba§ 
fämmtltd)e  ruffifd)e  Soften  in  bie  Sage  famen,  roenn  nötl)ig,  einanber 
uuterftüfeen  ju  fönnen,  unb  bafj  fein  3wifd)enraum  offen  gelaffen  rourbe, 
ber  ben  nomabifd)en  Stämmen  geftattete,  ifjre  ^piünberungSeinfälle  fortju» 
fe|en.  %etna  rourbe  als  oon  ber  größten  2Bid)tigfeit  bejeid)net,  biefe 
S3efeftigung8ltme  berartig  oorjufd)ieben,  ba§  fie  fid)  in  einem  Sanbftridje  be- 
fanb,  ber  nid)t  nur  fruchtbar  genug  mar  für  bie  SSerprootantirung  ber  39e= 
fa^ung,  fonbern  aud)  geeignet  für  eine  ßolonifation,  bie  allein  nur  er« 


2\2 


  €.  IJTafdjfe  in  Breslau.   


möglichen  fonnte,  bem  oecupirten  Sanbc  für  bic  Bufunft  georbnete  3*er= 
tyältniffe  unb  SBobJftanb  su  fiebern,  inbem  fic  bic  benachbarten  SBölferfdiaften 
'ber  einilifatton  gufutireit  follte.  ©dfjliefslidi  rourbe  für  brtngenb  notlpenbtg 
erflärt,  bie  33 cf eftigungstinie  in  enbgtlttger  Sßeife  ju  firtren,  um  bat  ge* 
fäljrlicfjen  uitb  beinahe  un»ermetblidjen  iBeranlaffungen  ju  entgegen,  bureb 
bic  fortroälirenben  Beunruhigungen  feitenS  ber  ©rensnadibarn  jur  Sßteberuers 
gettung  gebrängt  511  werben,  bie  fdjltefjlidj  p  einer  enblofen  2ln*behnung 
führen  fonnte.  3JJit  biefem  ftide  nor  9lugen  wollte  9htfjlanb  p  beffen 
33erroirflidjung  ein  ©uftem  finben,  ba3  nidjt  allein  auf  SSermtnftgrünben 
beruhte,  bie  immerhin  cfaftifdt)  roaren,  fonbern  aud)  auf  geographifcfjen  unb 
potittfdjeu  33ebingungen,  bie  von  beftimmter  unb  bleibenber  2lrt  fein  mußten. 

2)a3  neuerroorbene  ftmb  rourbe  mit  ber  <Sir=S5aria:£'inie  unb  Den 
am  3ffitul--(See  gemachten  ©roberungen,  reo  mau  oom  gort  SBernoje  bie 
an  ben  9Jarije  oorgebrnngen  roar,  su  bem  ©renjgebtete  Storfeftan  oereinigt. 

35ie  rufüfd)en  erfolge  in  6I)ofant  »eranlaftten  jefct  ben  emir  »on 
SBodiara,  in  ben  $ampf  einjutreten.  es  erging  »on  ü)m  an  ben  ©eneral 
2jdf)emajero  bie  fategorifdje  gorberung,  bie  Eroberungen  ^erauesugeben, 
anberenfaffs  rourbe  „ber  tieUige  ftrieg"  proclamirt  werben.  9twf  rufjifcher 
Seite  roar  tnjroifchen  ein  2Bed»fel  im  ßommanbo  eingetreten.  $e§  abbe» 
rufenen  ©enerat  ^fchernajero  ©tetfoertreter,  ber  ©eneral  9{omanon»fi),  ging 
aber  auf  bie  £erau3forberang  Bocharas  fühn  unb  nerroegen  mit  feineu 
3600  «Wann  ben  überlegenen  3J?affen  be§  (SmirS  SDfosaffer  entgegen.  3m 
ÜRai  1866  fam  es  in  ber  ebene  bei  3rbfd)ar,  äroifdben  Tafdrfent  unb 
Samarfanb,  sum  3ufammenftofj  mit  ben  40000  9J?ann  ftarfen  ©chaaren 
33od)ara3.  £)te  blutige  ©chladjt  nahm  einen  unglürflidjen  2lu3gang  für 
ben  emir  Sttojaffer,  ber  fein  £eil  in  ber  gtuebt  fudjen  mufte.  58on  ba 
an  gehörte  baä  gan5e  ©ir^lial  ben  9tuffen,  bereu  ©tegesmarfd)  bie 
Solaren  tief  entmutigte,  enbe  3Rai  rourbe  bie  ©tabt  Sfiobfdjent  erftürmt. 
9lnfang§  Dctober  fiel  $fd)ifaf  unb  SDiitte  beleihen  SJJonat«  Ura  Xjube, 
SöeibeS  ftrategifd)  mistige  fünfte  an  Raffen  nad)  Äafdbgar  (Dft«£urfeftan). 
3m  3«b^re  1867  rourbe  baS  bis  baljin  bem  ©eneralgounernement  Ctenburg 
unterteilt  geroefene  mittelafiatifd^e  Öebiet  als  felbftftänbiges  ©eneral: 
©ounentement  £urfeftan  organifirt.  ©eneral  oon  Kaufmann  trat  an  bie 
©pibe  beäfelben. 

3n  bem  Gljanate  SBodhara  brängten  injroifc^en  bie  UlemaS  energifd) 
auf  bie  gortfefeung  bes  Stampfen  bis  jum  ateujjerften  gegen  bie  ungläubigen 
„Uruffen".  Ter  emir  betrieb  mit  fieberhafter  eile  bie  33efeftigung  r>on 
©amarfanb  unb  concentrirte  bann  feine  ©treitfräfte  am  linfen  Ufer  bes 
©eraffd»an.  ©eneral  Kaufmann  ftanb  im  2M  1868  mit  feinen  3500 
SJfann  bei  £afä>$uprinf  auf  ber  Strafe  naef)  ©amarfanb.  Tie  bebro^tid)en 
5D?aftna^men  be$  geinbe'S  »eranlaftten  ib^n,  bie  Qnitiatioe  ju  ergreifen  unb 
gegen  ba?  bocharifdje  .§eer  normgelien.  9lngefid^t§  beS  ©egncrä  bureb^ 
roateten  bie  Sittffcn  ben  glu§  oeraffdjan,  o^ne  ftdj  buret)  ba§  ^eucr  btv 


  Hujjlanb  in  deittralafien.   


2\3 


auf  bot  gegenübet  liegenbeu  &öl)en  aufgeftellten  safilreidien  fetublidjen 
2lrtillerie  aufhalten  ju  (äffen.  9)iit  Ungeftütn  roarfen  fid^  bann  bie  tuffifdjen 
Gruppen  auf  bie  23odjaren  unb  jagten  fie  in  bie  gludjt.  9lm  folgenben 
Sage  jog  ber  Steger  in  Samarfanb  ein  unb  befefcte  bie  (EitabeUe.  öter 
lief?  ©eneral  »on  Kaufmann  fein  Kriegsmaterial  unb  bie  gelbfpitäler  unter 
bem  Sdjufee  einer  Befafcung  r>on  700  SJJann  jurüd,  roäljrenb  er  felbft 
bie  Iserfolguug  beä  geinbeS  roieber  aufnahm.  3)ie  (Sinroofmer  »on 
Samarfanb  breiten  aber  bte  9lbroefenf)ett  ber  ruffifdjen  föauptmadjt  für  eine 
günftige  ©elegentiett,  um  bie  Stabt  »om  geinbe  ju  befreien.  Sie  öffneten 
ben  aus  Sdjadjrifebs  lierabgeftiegenen  friegerifdjen  33ergberoofmem  bie  Sfjore 
unb  maa)t(it  fiel)  an  bie  Belagerung  ber  Gttabelle,  beren  fdjroadje  Bejahung 
ftd)  plöfelidj  von  etroa  10000  Wann  angegriffen  fafy.  SDJtt  rüljmlidjer 
Sapferfeit  führten  aber  bie  Dtuffeu  oom  14.  bis  20.  %nni  bie  33ertf)eibigung 
burdj.  Sittel,  was  nur  nodf)  ein  ©eroeljr  51t  lieben  tjermodite,  felbft  bie 
Kranfen  unb  3>ernmubeten  gelten  bie  über  einen  Kilometer  langen  SBäffe 
mit  unerfd)ütterltd;er  &artnädtgfeit  befefct.  9tad)  einem  erbitterten  unb 
fdjroeren  Kampfe  von  fed)S  Sagen  unb  fed)3  sJiäd)ten  mürbe  enblid»  bie 
braue  33efafcung,  oon  ber  bereits  mefyr  als  ein  drittel  getöbtet  mar,  burd} 
baS  SBiebereintreffen  beS  ©cuerals  Kaufmann  aus  ifirer  äufjerften  23e= 
bräugnifi  befreit.  SaS  ruffifdje  GorpS  f)ätte  fidj  ben  emftcften  ©efafjren 
ausgefegt  gefef»eu,  wenn  ber  s$la(j  in  bie  £änbe  ber  Sorten  gefallen 
märe.  Somit  mürben  bie  9iuffen  tfireS  ganjen  SDfaterialS  beraubt  unb  oon 
ber  ^WüdjugSlinte  abgcfdjmtten  roorben  fein.  3ur  Strafe  für  ben  33erratf) 
mürbe  Samarfanb  brei  Sage  lang  ber  Sßlünberung  preisgegeben.  Ser 
©mir  »«  23od)ara  erfaufte  jefct  reumütig  ben  ^rieben.  Stufjlanb  ertlärte 
fid)  bereit,  bie  Selbftftänbigfeit  beS  GfjanatS  5U  erhalten,  annectirte  jebod) 
ben  mittleren  Sauf  beS  Seraffdjan  mit  Samarfanb  unb  Katta=Korum. 

Sparen  fomit  Gliofttnb  unb  3iod)ara  51t  SSafallenftaaten  ffiuntanbs  ge= 
roorben,  fo  blieb  je(;t  nod)  Gbjroa  ju  unterroerfen.  SaS  Uuternelmten  gegen 
btefeS  6l)anat  nnirbe  aber  auf  ba*  Sorgfamfte  unb  von  langer  £aub  t>or= 
bereitet.  3unäd)ft  festen  fid)  bie  Staffen  am  öftlidjeu  Ufer  beS  Kafpifdtjen 
3)feereS  feft.  ©eneral  Stoljetoro  grüubete  1869  an  ber  Stelle  eines 
faufaftfdjen  gifdjerborfeS  bie  3){ilitärftation  oon  KraSnoroobSf.  %m  %xvn)- 
jaljr  1870  befefcte  man  baS  in  bem  trattSfafpifdjeu  ©rofjen  SSalfan  ge= 
legene  £afa>2lrroat  mit  ben  beiben  Gtappcnpoften  SJiidjael  unb  9Kulla= 
Kari.  ^m  4?erbft  beSfelben  ^afireS  füfjrte  eine  Srpebttion  fdjon  200  km 
meiter  naä)  Dften.  fernere  SfecognoScirungen  in  ber  9Hd)tung  auf  ben 
See  Sart)=Kamt)fcf)  fanben  1871  ftatt.  9lu  ber  ÜJtünbung  beS  2ltref  rourbe 
baS  gort  Sfdjitifdjlar  angelegt,  TOärj  1873  trat  Siufelanb  bann  in 
ben  Krieg  gegen  Gl)troa  ein. 

Sie  ©cfammtftärfc  ber  für  baS  Unternebmen  beftimmten  ruffifdjen 
Srttppeu  betrug  14  300  9)}ann.  ®em  ©eneral=Gou»enteur  von  Surfeftau, 
©eneral  0.  Kaufmann  in  Safdjfent,  rourbe  ber  iCberbefcltl  übertragen.  ^aS 


2\\    €.  HTafdffe  in  Breslau.  — 

©rpebition&Gorpä  war  in  fedje  Golotmen  formirt,  bie  oon  SWorben,  Dftat 
unb  aSJeftcn  auf  weit  auSetnanber  liegenben  ÜBegen  nad»  ber  im  Gentrum 
befinbltchen  Gulturoafe  oorrficfen  follten.  Tie  SluSgangspunfte  ber  per- 
fdbiebenen  2fbtbeilungen  waren:  Tafdjfent,  gort  Sßeroroäfi,  500  km  norb= 
öftlid)  oon  erfterem  gelegen,  gort  Stajalingf,  weitere  300  km  entfernt, 
©mbinSfoje,  400  km  norbweftlid»  oon  ÄajaltnSf,  2lteranbrowäf,  über 
700  km  fübwejUid)  oon  GmbinSf,  unb  5traSnowobSf,  mehr  aU  500  km 
ffiblidj  oon  2Heranbrow§f,  unb  jwar  Suftlinle  geredmet.  3*ef)t  "ta"  fetner 
nod)  in  33etradjt,  bajj  eä  nidjt  felbftftänbige  Slrmeen  waren,  bie  Incr 
40  big  100  beutfdje  3Mlen  oon  einanber  entfernt,  nad)  bem  gleichen 
DperationSjiele  b,inftreben  foHten,  fonbern  Keine  Tetachementa  »on 
2000  big  4000  3Wann,  fo  müffen  bie  ungeheueren  ©djwierigfeiten,  mit 
benen  ba§  ganje  Unternehmen  ju  fämpfen  hatte,  erft  redjt  flar  werben, 
namentlich  ba  bie  obroaltenben  Umftänbe  erforberten,  bafj  bie  einzelnen 
Keinen  Golonnen  nod)  enbtofe  TrainS  mit  fid)  führen  mufeten.  Ter  Sßlan 
für  bie  Grpebition  war  aber  mit  grofjer  ©aditenntnifi  unb  äujjerjl  gefdjidt 
entworfen  worben.  Tie  oerfd)iebenen  2lbtheitungen  trafen  trofc  aller 
ßinberniffe,  bie  überwunben  werben  mufften,  bis  auf  nur  eine  oon  ihnen, 
gleichseitig  oor  ber  $auptftabt  Ghiroa  ein.  Ginjig  unb  allein  bie  oon 
ÄraSnowobäf  oorgegangene  Golonne  fyatte  nicht  burdjjubringen  ocrmodjt, 
babei  aber  bodj  ihren  £auptjmed  erfüllt,  nämlid)  baS  ganje  Unternehmen 
gegen  bie  ^Beunruhigungen  burd)  bie  Teie;Turfmenen  ju  fidjern. 

Tie  Slbtheilungen  be3  GorpS  oon  Turfeftan  festen  fidi  junaeöf»  am 
13.  SDtörj  in  3Harfd).  Ta3  ©ro«  baoon,  etwa  2650  2Ratm  mit 
6700  .ftameelen  ftanb  unter  bem  Befehl  bc?  ©enerals  ©otowattdjeff  unb 
fchlug  oon  Tafd)fent  au«  bie  fübltdje  9ttd)tuna  ein.  TaSfelbe  gelangte  am 
16.  ajJärj  an  ben  <Sir*Taja  unb  nad)  bem  3U9C  bvxä)  bie  £mtgerwüfte, 
wo  bie  2Bafferbefd)affung  bereit«  fdjroiertg  war,  am  22.  nad)  Tfdniaf. 
33on  hier  würbe  bann  in  weftttdjer  Dichtung  läng«  ber  9lorbabl)änge  ber 
23ergau3läufer  beä  9Zuratau  wettennarfd)irt.  Tie  Truppe  hatte  babei  nidjt 
bloS  mit  Gntbehrungen  aller  2lrt,  fonbern  aud)  mit  ben  jähen  Temperatur* 
wechfeln  unb  mit  elementaren  ©ewalten  ju  fämpfen.  3n  ber  9lad)t  jum 
29.  -DJärj  wüthete  }.  $t.  ein  ©teppenfturm  unb  riß  bie  &dte  bes  Sager* 
nieber,  währenb  bei  6°  9?6ctumur  Slälte  ein  SReter  hoa)  <Sdmec  fiel. 
Ungteid)  größere  Strapazen  nod)  brachte  bann  aber  bie  Turchidjreitung  ber 
5lifiHum=Sß>üfte.  Sei  brüdenber  £ifee  unb  erftiefenbem  Staube,  ber  nur 
zeitweilig  burd)  iftegcnfdjauer  niebergehalten  warb,  ging  ber  3)Jarfch  nahe 
ber  bod)arifd)en  ©renze  burd)  bie  Sanbwüfte.  Tic  Truppen  erreichten  trofc= 
bem  in  befter  ©efunbljeü  9lriftan  bei  Äabuf,  bann  Ghataata,  wo  als  Stiu> 
punft  bie  St.  ©eorge^efefttgung  angelegt  würbe.  Stuf  bem  oerhältnifr 
mafüg  furzen  SBcgc  oon  lefeterem  Drte  nad)  bem  9lmu  bradne  jebod)  ber 
oölligc  SSaffermangct  baS  ganze  GorpS  bem  33erfdE)mad)ten  nahe.  9lur 
ba?  3luffinbeu  einiger  33runnen  fchaffte  nod)  Rettung.  9lm  18.  s3)fai  mürbe 


X 


  Rujjlattb  in  <£ entrolaf ien.  


2*5 


ber  Uebergang  über  ben  9lmu»Sarja  (Dru«)  bei  <3d)eid)arif  geroaltfam  er» 
jroungen,  nad)bem  ba«  turfeftamfdje  ßorp«  in  biefen  unroirtf)tid)en  ©egenben 
850  Stiometer  in  67  Sagen  jurfidgelegt  Ijatte. 

eine  3fi>tl>eUung  be«  6orp«,  2500  SWann  ftarf,  mit  2800  ßameelen, 
roar  in  jroei  ©olonnen  von  $ajaltn«f  unb  gort  $eroro«fi  au«  vorgerüdt, 
fiatte  fid»  bann  bei  ^rbitfat  am  Qani  Sarja  unter  Dberft  ©oloro  in  fid) 
vereinigt  unb  mar  bei  ßfialaata  jur  ßolonne  ©otoroatfdjeff  geflogen.  SBci 
Qrbitfai  rourbe  ba«  Keine  gort  33lagaroetfd)en«foje  erbaut. 

Sa«  ßorp«  oon  embtn«foje  unter  ©eneral  SBererofin  trat  feinen 
9Karfd)  am  7.  2CpriC  an,  unb  jroar  mit  2100  3ttann  unb  2700  Äameelen. 
Dlnte  befonbere  £inberniffe  erretdjte  e«  auf  bem,  1839  bem  ©eneral 
$ßeroro«ft  burd)  ben  ©teppemvintcr  fo  gefäl»rlid)  geworbenen,  670  km 
langen  Süege  am  17.  3Kai  bie  Urgafpifce  be«  2lralfee«,  burd)fd)ritt  bie 
au«getrodnete  3libugirbud)t  unb  befanb  fid)  jefet  im  ©ulturlanbe. 

©ine  faufaftfdje  2lbtljettung  von  2400  2Rann,  roeldje  unter  Dberft 
Somafin  bei  2lleranbroro«f  auf  ber  £al(>infel  2Hangifd)laf  verfammelt 
roorben  mar,  blatte  einen  900  km  wetten  2Beg  bi«  jum  2lralfee  jurüd}us 
legen  unb  vereinigte  fid)  bann  am  26.  9Kai  hinter  Äungrab  mit  ber  eolonne 
SBererofin.  Sa*  fetfenjerftüftetc  ^Slateau  be«  UffcUrt,  ba«  bis  bab^in  für 
unpaffirbar  gegolten,  Satte  nirgenb«  unüberivinblidjc  Sdmnerigfeiten  ge« 
boten.  Sie  Bereinigten  6olomten  Somafin  unb  SBererofin  mufjtcn  bann 
aber  im  eulturlanbe  sal)lreid)e  feinblidje  Angriffe  jurüdroetfen  unb  Sdjritt 
für  SduHtt  fid)  ben  SBeg  vorroärt«  erfäinpfen.  im  27.  9)?ai  rourbe  bie 
©tabt  ebobfdjeili  befefct,  roo  6000  d)ircaftfd)e  Ärieger  geftanben  Ratten,  unb 
am  30.  ÜHangit  geroaltfam  genommen. 

eine  zweite  faufafifdje  2tt>tl»eiluttg  roar  unter  Dberft  SJfarfoforo  von 
£ra«noroob«f  aus  vorgegangen,  um  in  bem  fogenannten  alten  S^ett  be« 
Dru«  gegen  Gfyiwa  vorjubringen.  3Son  3gbt  an  ftief?  fte  aber  fd)on  auf 
enblofe  glugfanbljügcl,  fanb  feine  33runnen  unb  fafj  fid)  bemnad)  jur  Um» 
fefjr  genötl)igt.  ^inbeffen  fiatte  SWarfoforo  mit  feinen  2400  3)iann  fiinter 
ivgbi  einen  2lngriff  ber  Surfmenen  fo  energifd)  surüdgeroiefen,  bafe  biefer 
mäd)tige  SBüftenftamm  infolge  beffen  bavon  Slbftanb  nat»m,  bem  eban  von 
Slliroa  ju  £ilfe  ju  eilen. 

Sa«  Unternehmen  gegen  6f)iroa  follte  burd)  eine  bei  SajalinSf  au«» 
gerüftete  ruffifd)e  Flottille  von  2  Sampfern  unb  3  anberen  galjrjeugen, 
mit  in«gefammt  19  65efd)üfeen,  unterftiüjt  toerbeu.  Sicfelbe  vermod)te  jebodj 
nid)t  5ur  2lction  ju  gelangen,  ba  fie  bereit«  oberhalb  Äungrab  im  Salbifarn 
$alt  mad)en  muffte. 

Sa«  gefammte  Gorp«  be«  ©eneral«  von  Kaufmann  vereinigte  fid)  am 
10.  3uni  unter  ben  SJlauern  von  etjiroa  in  ber  Störte  von  12  000  9JJanu. 
3?ad)  einem  furjen  ©efedjte  in  ben  SBorgärtcn  unb  nadjbem  burd)  ba« 
Slrtilleriefeuer  eine  33refd)e  in  bie  Stabtmaner  gelegt  roorben,  bot  Gbjroa, 
roo  bereit«  eine  ^nfurrection  au«gcbrod)eu  roar,  bie  unbebingte  Unter- 


2\6 


■ —    iE.  ntafdjfe  in  Breslon.   


merfung  an.  2er  Gf)an  follte  bie  Verwaltung  bes  SanbeS  behalten,  jebodj 
unter  ruffifcfjer  Cberaufficht.  2er  totdbtigfte  Grfolg  für  bie  Buffett  war 
aber  bie  mittetft  Urfunbe  unb  ^koclamation  erflärte  ooüftänbige  Aufhebung 
ber  Sflaueret  in  biefen  ©egenben.  Durdfj  biefe  SDcafjregcl  würbe  baS 
greunbfchaftSbanb  jwifchen  Ghiwa  unb  bcn  Siäubera  ber  Steppe,  ben 
Sürfmenen  jerriffen. 

Gl>e  es  jebocf)  sunt  tbatfächlichen  griebenSfchluffe  faut,  mußte  von  ben 
Muffen  noch  ein  ^elbjug  in  baS  £anb  jwifchen  Gliajawat  unb  3ltt=Urgenbfd), 
roejUidj  ber  Crte  3lm(>ar  unb  Safdbaus,  gegen  bie  ^omubensXurfmenen  unters 
nommen  werben,  tiefer  wtlbe  Söüftenftamm  bilbete  bie  größte  Sßlage  ber 
benachbarten  Sanbftriche.  Gr  branbfdjaßte  bie  frieblidje  Sanbbemohnerfchaft 
uon  Ghiwa  unb  fpielte  fich  trofebem  ben  Stuffen  gegenüber  als  Befreier  ber 
Gfnwefen  auf.  ©enerat  uon  Kaufmann  bictirtc  bemnad)  ben  ^omuben,  um 
fie  bie  rufftfche  Ueberlegenheit  füllen  ju  taffen,  eine  GontributionSftrafe  ju 
unb  entfanbte  betjufä  bereu  Beitreibung  ben  ©eneral  ®otomatfd)eff  mit 
8  Gompagmen,  8  Sotnien  Reiterei,  10  ©efchtüjen  unb  1  SRafetenbatterie 
in  bie  9Jieberlaffungen  ber  Surfmcnen.  Schon  am  21.  Quli  fam  bie 
ruffifdje  3l6tt>ci£ung  tu  Gontact  mit  bem  getnbe,  ^u  einem  großen  unb 
blutigen  ©efedbte  führte  aber  ein  Angriff,  ben  bie  ^omuben  am  25.  bei 
£fd)anbir  mit  ftarfen  Sieiterfdfiaaren  gegen  bie  9tuffen  unternahmen.  Srotj 
be8  gegen  fie  gerichteten  mörbertfdjen  Äartätfcheu=  unb  Sdjü&enfeuerS  ftürjten 
fich  bie  wilben  Steppenreiter  toiebercjott  in  bie  Siethen  ter  SJuffen  hin«"/ 
roähreub  eS  einem  ^heite  »on  ihnen  burch  Umgehung  ber  Stellung  bes  ©egnerS 
gelang,  fich  ber  beim  üNadjtrab  befinblichen  ruffifdjen  Jtfamecle  5U  bemächtigen. 
Schließlich  nötigte  aber  baS  ruhige  unb  fidjcre  $euer  ber  Sluffen  bie  ^omuben 
boch  jur  gludjt,  unb  auch  We  erbeuteten  Hameele  umrben  ihnen  roieber 
abgenommen.  Sic  oerfucfiten  bann  swar  noch  einen  jweiten  Angriff,  umrben 
ieboch  abermals  jurücfgejagt  unb  oon  beu  Slafafen  bis  in  bie  üRadbt  hinein 
»erfolgt.  Srofc  biefer  Siicberlage  wagten  bie  SurEmenen  fdwn  äuet  Sage 
fpäter,  bie  Stuffen  in  ihrem  Sager  »on  ;Ual»  unb  ftnfuU£fd;afata  anju« 
greifen.  33or  SageSanbrud)  beS  27.  v^uli  warfen  fich  etwa  10  000 
Somuben  mit  einer  bei  ben  centralaftatifchen  ÜDioSlemS  bis  bafnn  noch  nid)t 
gefannten  Gnergie  unb  Sapferfett  auf  baS  fletne  GorpS  ©olomatfieff.  Sie 
Steppenreiter  hatten  auf  ben  Struppen  ber  ^Sferbe  je  einen  sweiten  ÜDiann 
hinter  fich  fi^cii :  biefe  Seute  waren  barfuß  unb  nur  mit  einem  &embe  bt- 
f leibet,  beffen  9lermel  Ejcraufgeflretft  waren;  fie  bilbeten  eine  befonbere 
Kategorie  oon  .Uriegern,  es  waren  /fanattfer,  bie  fid»  ausschließlich  bem 
£obe  geweiht  hotten.  äBeuige  Schritte  uor  oer  ruffifdjen  Stute  fprang  ber 
auf  ber  ^ferbetruppe  filicnbe  Wuwm  ab  unb  ftürjte  fich,  nur  i«it  blanfer 
2Baffe  in  ber  .ftanb,  gegen  bie  ruffifchen  Bajonette.  SDiann  cegen  33iatm, 
Bruft  an  33ruft  würbe  gefämpft.  2ic  Feuerwaffen  würben  für  bie  Stoffen 
faft  unanweubbar,  nur  bie  b laufe  Söaffe  allein  fonnte  gebraucht  werben. 
GS  entftaub  ein  fürditerlicbe-j  öanbgcmeuge  unb  blutiges  ©cmefeel.  9;ad); 


  Knfjlanb  in  Cttttralaf  ten.   


2\7 


beut  ber  Slampf  in  bie)er  SBeife  ben  ganjen  ÜRorgett  über  fortgenmtfjct 
fjotte,  gelang  es  eubltd)  ber  rufftfdjen  Äaltblütigfeit  unb  TiScipltn,  bie 
Cberfianb  über  bie  mel)rfad)e  Ueberlegentieit  beS  rotlben  ©egnerS  ju  ge* 
roinnen.  ©eneral  ©oloroatfdjeff  befanb  fid)  aber  mit  feiner  Keinen  ©djaar 
in  bem  (Gebiete  ber  3omuben  in  einer  fo  bebenflidjen  Sage,  bafs  ©eneral 
von  Kaufmann  fid)  »erantafjt  fati,  am  27.  3uti  mit  bem  9ieft  feine«  6orpS 
naefourüden.  ©olomatfdjeff  jerftörte  bann  nod)  am  29.  brei  Sßagenburgen 
beS  ^feinbes,  moburd)  biefer  an  3000  gulirroerfe  unb  9000  Äameele  »erlor. 
Sie  äiomuben  waren  jefct  gebemüttngt  unb  »erfpradjen  ju  besagen.  SBian 
nalmt  ifnten  ©eifeln  ab,  bod)  mürben  nad)  bem  9C6juge  ber  ruffifdjen 
Gruppen  bie  Turfmenen  freiließ  mieber  ebenfo  unbotmäfjtg,  als  fie  »orljer 
geroefen  waren. 

Ter  Äampf  mit  ßfnroa  blatte  aber  fein  @nbe  erreid)t.  9lm  24.  9luguft 
mürben  bie  griebenSbebingungen  unterjeidjnet.  2lHe  Senkungen  ber 
Gfiiroefen  am  rechten  Ufer  beS  2lmu=Taria  unb  baS  Telta  btefeS  ftluffes 
bis  pm  ämusTalbif  mürben  bem  rufftfdjen  ©ebtete  einverleibt.  3m 
Uebrigen  roarb  Gliiroa  ein  3?afaHenftaat  ShtjjlanbS.  ©egenüber  von  ©fianfa 
unb  bem  UebergangSpunfte  über  ben  9lmu  erridjteten  bie  Muffen  in  ber 
überaus  frud)tbaren  ©egenb  bie  geftung  9Joroo=2lteranbroroSf,  mo  fortan 
ber  ©ifc  ber  militärifd)  organifirten  SBerroaltung  beS  neuen  ©ebiets  fid) 
befanb.  Ter  SReft  beS  GorpS  Kaufmann  trat  vom  24.  bis  28.  2tuguft  ben 
Jtücfmarfdj  in  ber  Stiftung  auf  SDianßifdjlaf,  Drenburg  unb  Tafd)fent  an. 
Tie  erften  beiben  Drte  mürben  in  30  Tagen,  ber  teuere  nad)  42tägigem 
9)iarfd)e  erreid)t.  Tie  5Wuffen  Ratten  bie  3eü  tyrer  9lnroefenb,eit  in  ©Enma 
ju  oielfeitigen  roiffenfd)aft(id)en  Grpebitionen  benutzt,  bie  bann  aud)  metter 
fortgefe|t  mürben  unb  beren  ©rfaljrungen  fpäter  bie  enbgiltige  Seroäftigung 
ber  Turfmenen  febr  erleid)tern  fußten. 

3m  3al»re  1876  fam  cS  bann  nodmtalS  ju  einem  Äriege  9htf?laubS 
mit  Gfjofanb.  Tiefe?  Gljanat  mürbe  jeftt  coUftänbig  unterroorfen  unb  als 
^ßrootnä  gergfyana  bem  ©eneral  5©ou»ernement  Turfeftan  einverleibt. 
9Juf?lanb  breitete  fid)  bemnad)  bereits  über  ben  größten  Tfyeil  t>on  GentraU 
afien  au«,  »om  tfafpifdjen  9Weerc  im  SEBeften  bis  5um  3fftful'<See  im 
Dften,  t>on  Sibirien  im  9iorben  bis  ju  ben  Turfmenen=@anbfteppen  im 
©üben. 

Sföer  aud)  f)ier  mufste  ruffifd)erfeits  fdbliejjlid)  mit  (Energie  »orgegangen 
roerben,  menn  baS  Slnferjen  beS  3arenreid)eS  f»ci  ben  mittelafiatifd)en 
33ölferfd)aften  aud)  ferner  geroaljrt  bleiben  foOte.  Ratten  fd)on  1873  bie 
Turfmenen  eine  Hauptrolle  als  <3tü£e  beS  GfjanS  von  Gljiroa  unb  als 
Qegner  ber  Muffen  gefpielt,  fo  festen  fie  aud)  fpäter  nodj  baS  ÜWäuber* 
roefen  fort  unb  beritten  itjrc  3üge  nid)t  feiten  bis  in  bie  9iät)e  ber  ruffifcfyen 
S3efeftigungen  beS  tranSfafpifdicn  TOlitärbejirfS  aus.  Dbmof)l  bie  oon  ben 
SRuffen  feit  1874  mieberfiolt  unternommenen  Grpebitionen  non  ÄraSnomobSf 
aus  eigeutlidj  gtütflid)  »erlaufen  maren,  inbem  1876  Äi)fi)l-9lrroat  erobert, 

»ort  unk  ©ill>.  LXXV.  524.  15 


2\S 


  <£.  tnafdjfe  in  Breslau.   


1878  Tfdjab  befcfet  morben,  fo  ^atte  ber  £auptjwed,  bie  Turfmenen  sur 
Sotmäfjigfeit  ;u  snüngen,  bod)  ntd)t  erreicht  werben  tonnen.  SJlan  war 
ruffifdjerfeits  immer  triebet  in  ben  Vereid)  bee  eigenen  Territoriums  prüd« 
gegangen,  unb  bie  Steppenbewohner  Ratten  bieS  als  ein  Qtifym  ber  Sdjroädje 
angefefien.  Tie  Dluffen  befdjloffen  bemnad)  eine  tefete  Grpebition,  um  bie 
Turfmenen  ettbgiltig  jur  9lul»e  ju  bringen.  SJKt  Shifaug  beS  Q^!)™9  1879 
begannen  bie  nötigen  Vorbereitungen.  9Bie  bei  ben  Unternehmungen  in 
•DJittelafien  in  ber  SHeget,  fdiien  eS  fid)  aud)  f)ier  mieber  mef)r  um  einen 
Kampf  mit  ben  geograpliifdjen  unb  topograpfnfdien  Verfjältntffen  beS  SanbeS 
Ijanbeln  ju  foHen.  SBarcn  bie  von  biefen  gebotenen  ©djwierigfctten  über; 
wunben,  fo  glaubte  man  audj  ben  äßiberftanb  ber  Vewofoter  leidjt  bewältigen 
$u  fönnen.  3um  SluSgangSpunfte  ber  ©rpebition  mäljlte  man  Tfd»ififd)lar 
an  ber  2ftrefmflnbung.  Von  Wer  aus  war  nur  eine  SBüftenftrede  »on  etroa 
50  Kilometern  bis  jur  Tefe:£>afc  ju  burdjfdjreiten.  TaS  für  baS  Unter« 
nehmen  beftimmte  GorpS  würbe  aus  16  Sataittonen,  2  GScabronS  unb 
18  ©otnien  9ieiterci,  26  ©efdjüfeen,  1  Siafetenbatterie  unb  1  Sappeur* 
compagnie  faufafifdjer  Truppen  unter  ©enerat  Sasarero  gebilbet.  liefern 
Vefel)lSb>ber  mar  ©eneral  Somafin  als  3lblatuS  beigegeben.  Der  Transport 
ber  Truppen  nad)  Tfdjiftfdjlar  begann  9lnfangS  2lpril,  mar  aber  in  ftotge 
ber  großen  SanbungSfdjwterigfeiten  erft  ®nbe  ftuni  beenbet.  2lud)  bie  Ve= 
fdjaffung  bee  crforberlidjen  großen  Trains  madjte  »iel  @d)wierigfeiten. 
Jtamentlidj  foftete  es  nid)t  wenig  2M)e,  bie  nötigen  Taufenbe  »on 
Äameelen  aufjubringen.  Taju  famen  nod)  1500  Starren  mit  1700  Sterben. 
3tud)  bie  2luSrüftung  unb  bie  Verpflegung  ber  Truppen  »erlangten  befonbere 
ajJafjnab^men.  9tad)  2lbred)nung  ber  Gtappentruppe  blieben  bann  7  Vataillone, 
2  GScabronS  Tragoner,  7  Sotnien  Äafafen  mit  13  ©efdmfcen  unb  1  ©appeur« 
compagnie  jum  Vormarfdje  nerfügbar. 

2lm  6.  Quni  ging  eine  2foaittgarbe  unter  Dberft  Surft  Tolgorudi  in 
ber  -Ktdjtung  auf  Tfdjab  »orauS.  Sfoxe  Hauptaufgabe  war,  für  bie  nad)- 
folgenben  Trappen  ben  2Beg  mögltdjft  gangbar  ju  mad)en.  Tem  3Itrcf 
unb  oon  Tfd)ab  aus  bein  ©fumbar  folgenb,  erreichte  Tolgorudi  am  17.  $uni 
TuSolum  an  teuerem  gluffe.  Tie  Gntfernung  non  208  Kilometern  n>ar 
in  12  Tagen  jurüdgelegt  worben.  gut  ©tdjerung  ber  rütfroärttgen  i*er* 
binbungen  mit  Tfcöififdjlar  hatte  man  Gtappenpoften  längs  beS  2Itref  unb 
©fumbar  etablirt.  3n  Tfd)ab  würben  ÜDfagasine,  ein  3lrtiIIerieparf  unb 
ein  §ofpital  beS  Stoßen  KreujeS  angelegt.  9?adjbem  bie  2lnantgarbe  ibre 
Aufgabe,  ben  2Beg  ju  bahnen,  gelöft  hatte,  marfdbirte  fie  in  ber  Sflidjtung. 
auf  bie  Tefe^Cafe  weiter.  Gntgegentretenbe  Turfmenen«©d)aaren  würben 
«erjagt.  Tolgorudi  erreichte  am  6.  3luguft  58cnbeffen  unb  ging  mit  ber 
Ganaflerie  nad)  33ami  t>or.  gm  Verfolgung  ber  in  nörblidjer  Jiiditung 
jurüdgegangenen  Tefe^Turfmenen  würben  jwei  fleine  Slbt^eilungen  entfanbt, 
welche  ben  $veinb  beim  33ruunen  Kara  ©inger  bejw.  beim  3lul  "JttaS 
wieber  erreiditen  unb  ibm  1200  ftameele  unb  6000  Rammet  abnahmen. 


 Knfjlanb  in  <£entralaf ien.    2\9 

SaS  ©roS  beS  rufnfd)en  GrpebitionScorpS  Ijatte  insmifdien  uod)  oual= 
»olle  SBodjen  im  Sager  »on  ^fd)iftfd^tar  ausarten  muffen,  bei  fd)led)tem, 
imgefunbem  SBaffer  unb  einer  «§ifce,  bie  44  ©rab  3J6aumur  erreichte.  Grft 
am  30.  unb  31.  ^uü  t>ermod)te  baSfelbe  ber  2l»antgarbe  ju  folgen- 
©eneral  Sajarew  {»arte  franfljeitsfyalber  jurüdbleiben  muffen.  9lm  5.  Slugnft 
tjattc  baS  ©roS  Sfdmb  unb  am  9.  SiSolum  erreicht.  Sie  3Jlärfd)c  waren 
in  golge  ber  &ifce  »on  oft  46  ©rab  unb  beS  meift  faljljalttgen  SBafferS 
überaus  befd)roerlid).   21m  19.  3Iuguft  würbe  Gljobfdjafala  erreid)t.  Bei 
Gfjorolum  beginnt  ein  fyügeligeS  Serrain,  baS  nad)  unb  nad)  in  Slatfberge 
übergel)t,  bie  fid)  in  bem  ®opet=Sagl)  bis  3100  gufs  £öl)e  erftreden.  SaS 
Grfteigen  beS  ©ebirgSftodeS  auf  fdnnalen  ©aumpfaben  längs  tiefer  Stbgrünbe 
uub  fd)roffer  gelSwänbe  mar  mit  großen  <Sd)wiertgfetten  uerfnüpft.  Sie 
©efdjüfee  muftten  burd)  9Jiannfd)aften  fortgefdjafft  werben,  ©enerat  Sajarew 
war  feinen  Gruppen  bis  £fd)ab  nachgefolgt,  tjier  aber  feinen  Seiben  erlegen, 
©eneral  Somafin  übernahm  vorläufig  ben  Dberbcfefit  unb  befdjloft,  »on 
(Sb,obfd)afala,  baS  jum  (Stappenort  gemacht  würbe,  ben  (Sinmarfd)  in  bie  Tete* 
Dafe  fofort  fortjufefeen.  2lm  22.  unb  23.  Sluguft  trat  man  bie  Bewegung 
an.  Die  Sloantgarbe  beS  #ürft  Sotgorudi  beftanb  aus  brei  Bataillonen,  ber 
<Sappeur=€ompagnie,  4  ©djwabronen,  5  ©efdnujen  unb  ber  9ial"etenbatterie, 
©eneral  ©raf  Bord)  fütjrte  bie  jwette  Golonne  von  3  Bataillonen,  3  ©otnien 
unb  3  ©efdmljen.  Ser  in  bem  gebirgigen  ©elänbe  äufterft  müljfelige  9Jtarfcb 
ging  über  Bamt,  Beunna,  2lrtfd)man,  Sarum  nad)  Qarobfd)a.  Üttan  [tieft 
Dabei  nur  auf  cereinjelte  2lbtfieilungen  oon  SefeS.  2llle  3lulS  waren  oer* 
laffen.    9Jad)  ben  eingegangenen  9tod)rtd)ten  füllten  fid)  bie  Surfmenen 
nad)  ©eoftepe  jurudgejogen  baben  unb  l)ier  erft  2Biberftanb  leiften  wollen. 
3lm  27.  mürbe  »on  ben  Muffen  Qarobfcba  erreicht,  unb  am  28.  war  baS 
9Karfd)3iel  ©eoftepe.    Ginige  Kilometer  »or  lefcterem  fünfte  seigten  fid) 
in  beiben  ^laufen  ber  ruffifd>en  Golonne  berittene  SefeS.   3lm  g-ufte  beS 
Äopet-Sagb  bei  bem  9lul  ^egman  Batnr  waren  gröfterc  Staffen  beS  $einbes 
»erfammelt,  bie  bann  bie  Golonne  Bord)  angriffen,  jebod)  jurüdgeworfen 
würben.  2lud>  bie  gegen  bie  Sloantgarbe  »orgefyenben  Surfmenen  »ermodjten 
ber  ruffifd)en  -Reiterei  nid)t  ©taub  ju  galten  unb  ben  Bormarfdj  nid)t  ju  »er* 
l)inbern.   ©eoftepe  bilbet  einen  ber  widjtigften  fünfte  ber  £efc=Dafe  unb 
war  mit  Sengiltepe  ju  einer  ^eftung  Bereinigt,   ©ine  2t>onmauer  »on  5 
bis  7  9Mer  £öt)e  unb  etwa  2  -Dteter  Breite,  fowie  ein  bauor  liegenber 
1  J/a  3Wcter  tiefer  unb  5  2J?eter  breiter  ©raben  fcbloffen  einen  großen  ffiaum 
ein,  in  welchem  etwa  9000  Äibitfen  (Seite)  für  bie  geflüchtete  Ginroofmers 
fd)aft  ber  2ld)al:Dafe  aufgeteilt  waren.  9JingS  um  bie  Sefiung  lagen  nod) 
Heinere  £?ortS,  $ala  genannt.   Sie  waren  quabratifd)  angelegt,  mit  einer 
Seitenlange  »on  100  SRetent;  ibre  9)?auern  Ratten  ebenfalls  eine  .ööfie 
bis  ju  7  SDietern  unb  einen  ©raben  »or  fid).   Sic  nörblidjfte  ber  beiben 
auf  ber  SBeftfette  gelegenen  ÄalaS  war  mit  ber  ftauptbefeftigung  burd) 
einen  SEßall  tierbunben.  Süblid)  bawon  lag  eine  befeftigte  3Jfül)le.  Unmittel; 

15* 


220 


  <£.  IHafdjfe  in  Breslau.   


bar  an  bem  in  bicfer  ©egenb  gänjlidj  unjugänglidjen  ßopet=Tagl)  liegt  ber 
3tut  Qangtfala,  in  weldjem  bie  33eroofmer  bet  anberen  »ertaffenen  2tufe 
r>erfammett  waren. 

©egen  Wittag  traf  bie  rufnfdje  2tt>antgarbe  uor  ber  Rettung  ein  unb 
lief?  burdj  ifjre  Artillerie  bie  nörbltdje  unb  bie  Wüf)lenfala  unter  geuer 
nehmen.  Tie  Turfmenen  erlitten  bebeutenbe  SBerlufte,  ergänzen  fid»  aber 
immer  roieber  burd)  neuen  3U5U9  au§  *>cr  $cftang.  ®ic  nörblid»  ber 
lefcteren  auftretenben  TefeS  mürben  burdj  bie  ruffifdje  ©aoallerie  unb 
Artillerie  trofc  uerjroeifelter  ©egenrocljr  unb  trofe  eines  Stuäfollä  femblidjen 
$uf3ootf$  jurüdgetrieben.  Audj  eine  Äala  öftltdj  oon  ©eoftepe  rourbe  ge- 
nommen, fo  bafs  man  bie  rücfroärtigen  SJcrbinbungen  bereite  beb/rrfdjte. 
2luf  ber  3t>eftfeite  mar  e8  aber  inswifcljen  ber  ruffifdjen  Infanterie  gelungen, 
fid)  ber  oorgefdjobeuen  33efeftigung  ju  bemädjtigen.  3Sor  bem  Angriffe  gegen 
ben  .£>auptmall  follte  inbeffen  ba§  Eintreffen  ber  jroetten  Golotme  erft  ab* 
geroartet  merben.  Tiefe  mar  um  3  Uf)r  }Jad)miltag3  jur  Stelle,  bodj  6e= 
fanben  fid)  bie  Wannfdjaften  in  golge  ber  föifee  oon  40  ©rab  in  äuferft 
erfdiöpftem  3uftaube.  Tie  Abteilung  Sordj  rourbe  nad)  ber  SRorbfeite 
ber  geftung  birigirt,  itjre  ©efdmfee  uerftärften  baä  geuer  ber  A»antgarben= 
Artillerie.  (S3  mar  fomit  bie  ganje  9Seft=  unb  ütorbfront  unb  tlieilroeife 
audj  bie  Oftfront  uon  ©eoftepe  umfaßt,  ©egenüber  ber  9iorbroeftede  roaren 
1  SBotaiHou  unb  2  ©otnien  al§  9teferue  jurüdgefiatten.  Tafjinter  ftanben 
bie  TrainS  mit  ifyrer  jflebedung  oerfammelt.  9?ad)  ben  bei  ben  früheren 
Grpebitionen  gemachten  Erfahrungen  glaubte  ©encral  Somafin  auf  einen 
weiteren  ernften  Sßiberftanb  ber  Turfmenen  nidtf  rennen  3U  brausen,  unb 
fo  befdjlof?  er  benn,  uodj  an  bcmfelben  Tage  bie  Entfd&etbung  fjerbeijufüliren, 
jumal  feine  Truppen  in  Senbeffem  nur  auf  14  Tage  oerprooiantirt  roaren. 
Um  5  Uf)r  9ladfmüttag<S  rourben  bie  ruffifdjen  Gruppen  junt  ©türm  not* 
geführt.  Ter  &auptmall  ber  Sforbfront  roar  balb  in  ifireu  £änben,  ber 
"ikrtfieibiger  rourbe  Ijter  mit  bem  Sajonett  »ertrieben.  ©in  weiteres  3$or= 
bringen  gegen  bie  uon  ben  TefeS  auf  baS  ^artnäcfigfte  vertlieibigten 
Äibitfen  roar  aber  nid;t  möglid).  2luf  baS  SteuBerfte  erfdjöpft  unb  be* 
beutenb  in  ber  Winberjafjl,  unterlagen  bie  Staffen  trofe  aller  Tapferfeit  bem 
befonberS  im  9iaf)fampfe  ferjr  gefäfjrliäjen  geinbe.  Ter  ruffifd)e  Singriff 
rourbe  fomoljl  f)ier,  rote  auf  ber  SBeftfeite,  roo  nur  unter  ben  größten 
<Sd)roierigfciten  ber  £auptwal(  fiatte  erftiegen  werben  fönnen,  uoUftänbig 
abgefdjfagen.  ©rofje  Waffen  beS  93ertfjeibtger§  warfen  fid)  iefct  auf  bie 
surüdflutfienben  Stoffen,  unb  nur  ba«  Eingreifen  ber  jReferoen  rettete  bie;  - 
felben  uor  oölliger  itonidjtung.  Tie  SSertufte  bei  ben  ruffifdjen  Truppen 
waren  uerfyältnifimäjug  bebeutenb.  Tie  im  ©efedjt  geroefenen  134  Dfft;iere 
unb  2890  Wann  ;äf)iten  an  Tobten  unb  SSerrounbeten  27  Cffijiere  unb 
411  Wann.   Tie  TefeS  foHen  allerbingS  iaufcnbe  uerloren  liaben. 

9lm  28.  2luguft  Slbenbl  tjotte  ©eneral  Somafin  nod)  in  ber  9iärjc  ber 
Jvcftung  ba§  SBioouac  belogen,  bodj  fdion  bei  Tage^anbmd)  ging  er  bis  nad) 


  Hujjlanb  in  Ceiitrolaficu.   


22\ 


ftarafap*,  10  Kilometer  weit,  5urüd.  2(n  eine  Söieberljolung  be*  Angriffes 
fonnte  »ortäufig  tt»of)C  tridbt  gebaut  werben.  2lnbererfeit*  ertaubten  bie 
unjurödjenben  $erpflegungg:38orrätt)e  nidfit,  »on  ben  mUitärifdben  Stü|= 
punften  länger  entfernt  51t  bleiben,  ba  el  audj  an  ber  2ftögttd(jfeit  fehlte, 
3Jerpf(egung3mittet  con  bort  tjeranjujieticn.  £3  blieb  atfo  nur  übrig,  fid) 
auf  bie  DperationebafiS  jurüctäujiciien.  3lm  30.  9(uguft  mürbe  ber  Stücf* 
inarfcfj  angetreten.  ®er  Transport  ber  ©ernmnbeten,  für  roeldje  nur  ganj 
itngenügenbe  gortfdjaffungätmttel  »orfjanben  waren,  sroang  ju  flehten 
}.)?ärfdf)en,  fo  bafj  bie  SCnfunft  in  £fd)ifiid)far  fid)  feb>  »erjögerte.  ®rft 
(Snbe  Secember  trafen  aber  bie  Truppen  im  faufafifd)en  9Jft(itärbe$irf 
mieber  ein.  (8*iub  foijt.) 


(Efyomas  fjuyfcy. 

Von 

SClejrantiet  <&Üle. 

—  <ßlasgou>.  — 


ie  in  ber  3Jö(fcrgcfd)id)tc  fid)  ein  Stamm  teifc,  faft  unmerflid), 
emporarbeitet  uiib  austratet,  bis  er  bann  mit  einem  Schlage 
aH  9?iarf)t,  rielleidit  fogar  als  SBcttmadjt,  auf  ben  Sd)auptafc 
bet  Staaten  tritt,  bie  miteinanber  im  2Mtberoerb  um  bie  ©rbfjerrfdmft 
fteljen,  fo  ift  es  aud)  auf  bem  (Mnete  ber  ££cttanfd)animgSgefdndjte.  SSährenb 
rjier  eine  9ieif)e  ©eroalteu,  oft  aud)  nur  eine  einige,  bem  äußeren  3(itfd)ein 
nad)  unbeftritten  baS  ganje  Jyetb  befjcrrfdjcn,  bilbet  fid)  mitten  unter  tfmen 
eine  neue  9)Jad;t  empor,  bte  faum  .^emanb  bemerft,  unb  bie,  100  jte  bc- 
merft  rotrb,  liödifteue  Spott  cinf)cimft,  bis  fic  plöfclid)  bei  einem  äujicren 
2(nlaf?  als  SikltanfdjauungSmadjt  in  ben  SBorbcrgrunb  tritt  unb  bte  anberen 
2)täd)te  fiegreid)  äurücfroirft.  9l(S  am  (Jnbc  bcS  15.  ^aljrfmnberts  Gljrijtopb, 
ßolou  9lmerifa  entbcette  unb  batb  barauf  bie  .Hugclgcftalt  ber  (Srbe  pofiti» 
burd)  bie  erfte  Crbumfegclung  nadigenüefeir  mürbe,  mar  bie  (£rbc  in  ben 
köpfen  weniger  begabter  511  einer  im  Siaumc  frei  fdnoebcnbeu  $ugel  gc= 
morben,  bie  ben  SDuttctpunft  beS  äikltall*  bitbete,  auf  ber  aber  bod)  für 
geograpf)ifd)e  begriffe  mic  ftölle,  ^arabieS,  (Snbe  ber  Söelt  mdjt  meljr 
fo  redjt  9f{aum  mar.  911*  bann  .sioperuifu*  im  fofgenben  ^al)rbunbert 
ber  (Srbe  biefe  ftol5c  9)iittetftcl(ung  nalnn  unb  fic  als  einen  ber  Planeten 
in  einem  Greife  um  bie  Sonne  laufen  lieft,  unb  unmittelbar  barauf  .vlepler 
bie  Öefetjc  ber  ^ßlanctcnbcioegtiug  entberfte,  burd)  bie  aus  jenem  .Hreife 
eine  Gllipfe  warb,  ba  nal)m  bei  menigen  grofien  ®eiftern  bie  SBorftellung 
ein  ©übe,  als  ob  bie  (Srbe  ber  9)iittelpunft  beS  2MtallS  fei  unb  als  fotdjer 
unter  ber  ganj  befonbereu  Dbfnit  beS  SBeltgetteS  f(ünbe.  2113  bann  9tercton 
bie  ©efebe  beS  ftalleS  ergrünbetc  unb  bie  9)ionbbatiuen  auf  fic  äitrücffübvte, 


—    Il;omas  fjujley.   


223 


ba  509  iit  biefett  2(nf<^auuitg*(rci§  bic  i'orftelfung  bcr  ©efefemäf.igfcit  ein, 
roie  fie  nod)  niemals  barin  geb>rrfd)t  blatte,  ©attteis  aftronomifdje  €nt- 
bedungen  unb  p^tjfifattfd)e  Jorfcljungen,  bie  ÜDicdjanif  »on  StemnuS  unb 
bie  -DJaguetenlefyre  ©ilberts  trugen  biefe  $bee  einer  unbegrcnjtcn  ©efefe* 
möBigfeit  burd)  baS  ©efammtgebiet  ber  unorganifdjeu  sJiatur,  roäf)rcnb  trofc 
ber  anatomifdjen  >sorfd)ungen  in  J-ranfreid)  unb  Italien  baS  ©ebiet  ber 
Sßf)i)ftofogie  bttoon  fo  gut  roie  unberührt  blieb,  bis  .£ar»ei)  (1619)  bie  ©nt* 
bedung  beS  SBlutfreiSlaufeS  madjte.  GS  fann  bie  grage  fein,  ob  bie  faft 
gleichzeitige  (Sntbedung  ber  Sogaritfunen  burd)  Papier  (1614)  ober  bie 
(Snttbedung  .$arr>et)S  fdjliefelid)  bie  rocitertragenbe  ift.  2tber  baS  ©ine  ift 
ficher,  bafi  erft  £>aroet)S  ©ntbetfung  in  ben  engften  $ad)freifen  ber  5Dfebiriner 
ber  Storftellung,  ein  ßnbe  bereitete,  baf?  ber  menfd)lid)e  Körper  ber  Hummel« 
plafc  immaterieller  Dämonen  fei,  bie  auf  ifjm  ifjre  Stümpfe  ausführten  unb 
if»re  geftc  feierten,  roaS  fid)  bann  als  $aud)grhnmen,  B^nf^111^  ober 
Sadjluft  unb  SBefmgKdjfeit  511m  SluSbrud  brädjte.  (5rft  am  (Snbe  beS  näd)ften 
,3af)rf)unbertS  fam  burd)  bie  StanfcSaplace'fcöe  ^cltentnndlungSfmpotbefe 
ein  neues  Clement .  in  biefe  ä?orfteUungSfreife  ber  ©cleftrten.  i)Jad)bem 
man  junäcfift  im  Uninerfum  Crbnung  gefdjaffen  blatte,  begann  man  fid) 
jetst  mit  fetner  mög[id)en  ©efd)id)te  ju  befd)äfttgen. 

Tiefe  nnffenfdjafttidjen  ßntbcdungen  fjabcn  mit  ber  ©efd)id)te  ber  volU- 
ti)ümtid)en  SMtanfcbauung  uon  1500  bis  1800  faum  GtroaS  su  tfmn. 
Ticfelbe  ift  uielmeljr  roefentlid)  »on  ben  tieften  a(tgermanifd)er  2Belt= 
anfd)auung  (namcnttid)  in  etf)ifd)er  $infid)t)  unb  bem  Gf)riftentf)um  befierrfdjt, 
baS  ben  gennanifd)en  Stämmen  bereinft  als  fertiges  Sefyrgebäube  entgegen* 
gebracht  roorben  mar.  Seit  bem  17.  3af)rf)ttnbert  wirft  bann  bie  $ors 
ftellungSroelt  unb  2tuffaffungSi»eifc  beS  griednfcf^römifcbcn  9lltertt)umS  ein 
wenig  ein,  inbem  fie  aus  ben  gcbifbeten  Greifen  t)erunterfidert.  ,^m  Kerne 
aber  bebeutet  baS  16.,  17.  unb  18.  ^afjrfmnbert  für  bie  breiten  <3d)idten 
bes  SSotfeS  nod)  immer  eine  ßurüdbrängung  ber  conferoatioen  germanifd)eit 
SBcItanfd)auungSelemente  unb  ein  Ü>orbrängcn  namentlich,  aSfetifdb>büfterer 
3Sorftellungen  unb  ber  djriftlicfjeu  Setjrc  »on  ber  ©tcidjheit  ber  SÖlenfcben 
untereinanber,  bie  fd)licflidj  31t  ben  bcmofrattfdjen  ©eroegungen  beS  18. 
unb  19.  ^afjrfmnbcrts  führte.  Qa  felbft  bie  SMtanfdjauungSentroidlung 
ber  fjöljeren  Stänbe  ift  in  feiner  SBeife  abhängig  von  jenen  gortfdjritten 
in  ber  3Zaturtt)iffenfd)aft.  £ie  roirb  im  ©egentfjeit  »on  benfetben  ©eroalten 
gefd)affen,  von  benen  biefe  gefdjaffett  roerben,  ftef)t  atfo  neben  ifmen.  Der 
SeiSmuS  mit  feinem  Lux  naturae  ift  gauj  unb  gar  fein  Grjeugnif?  natur« 
roiffenfdjaftlidjcr  ©ntbedungen,  unb  ebenfo  roenig  ift  es  ber  DffenbaruugS» 
Unglaube  beS  SeffingalterS.  Brotfcfjen  ber  Gntroidlung  ber  ^bjtofopfüe  unb 
ber  SBeltanfdjauung  ber  ©ebifbeten  beftef)en  bagegen  in  jenen  £agen  enge 
53esief)ungen,  toeit  engere  als  Ijeute,  unb  faft  jebc  ^fiafe  jener  finbet  im 
Saufe  eines  ^abrjroausigft  in  biefer  einen  9Zad)f)al(.  ©eitbem  baS  6f»rtften- 
tfjum  in  ben  ©ebifbeten  äurüdgel)t  —  in  Dcutfdjlanb  faft  genau  feit  bem 


22$    Mlejanber  (Etile  in  (Slasgoro.   

(Snbe  be«  30jährigen  Äriegc«,  in  Guglanb  feit  etwa  einem  SWcnfdbenalter 
eher  —  \)äü  fid)  bie  9J?affe  ber  ©ebiltieten  an  bie  nidjt  weniger  bogmatU 
fd)eu  Offenbarungen  ber  abftracten  £id)tung  au«  ^been,  bie  fie  ^bilofopbie 
nennt,  unb  glaubt  babei,  fid>  emsig  »on  ber  gottgegebenen  Vernunft  leiten 
ju  taffen.  211«  ©oettie  fid)  emgehenb  mit  allerlei  naturwiffenfd)aftlid)cr  %a& 
titteratur  befd)äftigt  unb  l)ic  unb  ba  fogar  »erfud)t,  feinen  ©ebanfen  barüber 
poetifdjen  2lu«brud  5U  geben,  toie  in  ber  2)fetamorphofe  ber  ^ßflanjen  unb 
ber  %l)im,  ba  oerftehcn  irjtt  feine  3c't9enoff«t  einfad»  nidjt,  roäljrenb  fie 
Sdjiller  sujaud^en,  wie  er  im  „^erfdjteierten  SJilb  ju  Sai*"  bie  mittels 
alterlidje  Storftcllung  »on  ber  öottgefäüigfeit  be«  9iid)trorfd)en«,  be«  Sid)= 
befdjeiben«  mit  feiner  Unwiffenhett,  »erf>errlid)t;  benn  felbft  bie  9tatur* 
fdiroännerei  ber  9)titte  be«  18.  ^alirliunbertä  hat  bie  rein  litterarifcbe 
SHltmng  nid)t  ju  überwinben  unb  ber  9iaturforfd)ung  bie  föerjen  ber  ©e= 
bilbeten  nidjt  $u  erfdjlteßen  »ermod)t. 

Grft  al«  im  19.  ^al)rl)unbert  bie  Gntbedungen  fid)  mit  ungeahnter 
Schnelle  folgten,  at«  bie  3)Jolecularhnpothsfc  breiteren  Swbeu  gewarnt  unb 
ba«  ©efe(j  »on  ber  @rf)altung  ber  ftraft  ganj  neue«  £id;t  auf  ben  Äraftbegriff 
warf  unb  ba«  2lequi»alent  »on  2i>ärme  unb  9lrbeit  cntbedt  warb,  al«  fterbart 
ben  begriff  ber  8eben«fraft  jerftörte  unb  bie  Seele  jum  Vorgang  machte, 
al«  Snell«  Theorie  ber  Gontinuität  geologifdjer  Sßeränbcrungen  Slnnabmc 
fanb  unb  Samard  ber  Vererbung  erworbener  ©igcnfdjaften  2lnhängcr  ge= 
mann,  ba  begann  fid)  in  ber  sJiaturwiffeufd)aft  eine  gewaltige  Spannung 
»orjuberettcn,  bie  5U  einer  madjtuollcn  Grplofion  in  ba«  ©ebiet  ber  all* 
gemeinen  2Mtanfd)auung  hineinführen  mufjte.  3lber  nod)  fehlte  ber  jünbenbe 
gfunfe.  @r  crfdjien  enblidj  1859  mit  Karmin«  „Urfprung  ber  Slrten". 
Gr  »ereinigte  im  9lu  bie  »erfd)icbenartigen  »creinjelten  ©ntbecfungen,  bie 
fid)  in  bem  großen  ftellergcwölbe  ber  9taturforfd)ung  unter  bem  Tempel 
ber  mittelalterlid)en  SMtanfdjauung  aufgehäuft  hatten,  ju  einer  Spreng* 
maffe  »on  9itcfenfraft.  Sangfam  l)ob  fid)  ber  Tempel  unter  bumpfcm 
©rörmen,  unb  feitbein  fielet  ba«  Slbenblanb  eine  Säule  uad)  ber  anberen 
nieberftnfen  unb  einen  SBogcn  nadj  bem  anberen  einftürjen;  unb  wa«  ba« 
Sd)limmfte  ift:  ber  ©runbbau  ift  »on  ber  tiefften  Tiefe  au«  jerftört  unb 
jerborften,  unb  nur  ba«  Tad)  l)ält  fid)  nod)  notdürftig  im  ©leid)geroid)t, 
weil  gefd)äftige  3immerleute  e«  immer  gleid)  ba  abtragen,  wo  ber  Untere 
bau  jufammengeftürjt  ift.  9lbcr  fd&on  fragen  bie  Äinber:  „9Bann  bürfen  mir 
alle  Tempelftürfe  jum  Spielen  nehmen?"  Unb  bie  9Inti»ort  lautet:  „SBenn 
bie  grofjen  Seute  bamit  nidjt«  Grnftc«  mehr  werben  anfangen  fönnen;  unb 
ba«  wirb  balb  fein." 

23i«  sunt  Qahre  1830  fann  man  nod)  nidjt  »on  einer  naturwiffem 
fd)aftlid)cn  äöeltanfd)auung  reben.  Sooiel  audj  ©aufteinc  jugehauen  ftnb : 
ber  Steifter  fehlt  nod),  ber  fie  jum  Tempel  baut,  unb  wenn  man  gleid) 
heute  bauen  wollte,  man  müftte  morgen  uiieber  einreiben;  benn  ba«  ©e= 
bäube  beleibigte  bn«  2tnge,  e«  f»öttc  (einen  Stil.   Solange  man  nod)  mit 


  (Etjomas  £ju{ley.   


225 


ber  Sdjöpfung  ber  einzelnen  2lrten  ber  2T)ier=  unb  ^flattjenwelt  &u  redmen 
tyatb,  fotange  bicfc  für  unabänberlidje  Sijpen  galten,  oon  einanbcr  burd) 
Älüfte  getrennt,  bie  eine  übcrnatürtidje  $anb  befeftigt  trotte,  —  fo  lange 
fomtte  man  ebenfo  gut  »cm  bemfelben  öott,  ber  all  bas  uollbradit  Ijatte, 
jeben  SRegenfdjauer  fenben,  jeben  Magneten  Gifen  anjiel)en  unb  jeben1 
■DJenfcbenwefen  eine  «Seele  einljaudjen  laffen.    Grft  bie  $bce  ber  Gnt-- 
widelung  l)at  bem  Tempel  ber  9Jaturwiffenfd)aft  feinen  Stil  gegeben,  unb 
barnm  gtebt  e«  eine  naturwiffcnfdjaftlidtc  2Mtanfd)auung  erft  fettbem  biefe 
^bee  ^oben  fafrt,  ja  cigentlid»  erft,  feit  fie  in  2agesftarf)eit  »or  aller  SBett 
2lugen  liegt.   Tiefe  2Mtanfd)auung  ift  Ijeute  nod)  ntdjts  roeniger  als  ab* 
gefdjloffen;  aber  bie  2Mtanfd)auungsgefd)id)te  fennt  feinen  jtueiten  gall, 
in  bem  fooiel  auf  bem  ytloe  bes  Ausbaue«  einer  neuen  2Mtanfd)auung 
in  einem  einigen  9)ienfd)enalter  gcleiftct  morben  wäre,  tote  feit  1853.  Starl 
Tarwin  gebüljrt  ber  -Hulmt,  ben  Stil  bes  glügel«  ber  organifdjen  Sßelt 
ollein  entworfen  ju  Iwben,  aber  er  Ijat  für  bie  Umbilbung  ber  2Mt= 
anfd)auung  feiner  Qeit  felbft  wenig  geleiftet.   £0311  fehlte  Unit  vor  3Wem 
ber  fünftlerifdje  Sinn,  ber  bie  2>orbebtngung  jeber  litterarifdjen  2i>irfung 
auf  bie  weiten  Greife  bes  2>olfes  ift,  unb  bie  weite  Umfaffenbljeit  bes 
geiftigen  0)end;trretfes.    Gr  ift  Qeit  feines  Gebens  bcr  gadmtann 
blieben,  ber  ben  „Urfpruttg  ber  2lrten"  gefdjrieben  batte,  unb  bat  ben  Streit: 
fragen  ber  eigenen  &eit  immer  faft  hilflos  gegenübergeftanben.  2lber  was 
er  feinein  Sßaterlanbe  unb  ber  Gultunneitfdjbeit  nid)t  ju  geben  wermodjte, 
bas  Ijat  ifmen  ein  greunb  unb  Sanbsmamt  gegeben,  Stomas  föenrn  &urley. 
Gr  ift  trofc  Herbert  Spencer,  bes  $f)ilofopf)en  bc*  Camarcftsmus,  bcr  erfte 
baramtiftifdje  ^Ijtlofopl)  Gnglanbs  unb   jugleid)  beffen  gröf-ter  ai>ett= 
aufdiauungsfämpfer  im  19.  3«f)rl)unbert.   Gr  ift  mebr  als"  ber  Sßopulari-- 
fator  be?  Tarwinismus,  er  ift  ein  felbftftänbiger  Teurer  unb  felbftftänbiger 
gorfdjer,  unb  burdj  feine  Älarfieit  unb  SBornefnnbett  be«  Tcnfens  jugteid) 
cd)t  t>olf3tl)ümlid).  Gr  füf)rt  nirgenbs  eine  Spradje,  wie  fie  Äarl  SBogt  in 
feinem  gegen  9tubolf  2Bagner  gerichteten  23udje  „Jlöljlerglaube  unb  SKiffen« 
fd)aft"  (1855)  ober  gar  in  feinen  fpäteren  unjäbligen  Feuilleton«  anfdilägt. 
2ludj  wo  ifm  ber  öegner  reijt,  fteigt  er  niemals  auf  ein  niebriges  sJJit>eau 
fyerab.  3lud)  er  fann  fpotten,  aber  fein  Spott  »erlefct  nidit  wie  bcr  i'ogts, 
unb  an  Älarbcit  unb  ttnerbtttlidjer  Sogif  ift  er  feinem  feurig=romantifd)en 
beutfdjen  SJJttfämpfer  überlegen.  %üt  bie  moberae  englifdje  S^eof ogie  mit 
iljrem  ©esänf  sroifdien  ben  einzelnen  Sccten  bebeutet  gurtet)  ein  reinigenbes 
©ewitter.   2Bie  ein  fotdje«  alle  Stauf  tb^eildjen  aus  ber  Stift  wegwäfdjt, 
wögen  fie  nun  von  ben  Straften,  ben  gelbem  ober  aus  ben  sJiaud)fängen 
auffteigen,  fo  l)at  er  iljrc  Streitfragen  nicbcrgefdjtagen,  um  fie  allefammt 
auf  baS  Stubium  ber  wiffenfdjaftttdien  beutfdjen  2Mbelfritif  liinjuweifen. 

gurten  nimmt  in  mebr  als  einer  öinfid)t  in  beut  Gnglanb  be« 
19.  Saljrliunbertö  bie  Stelle  ein  wie  Seffing  in  bem  Teutfcb,lanb  be«  18. 
Gr  ift  berfelbe  ftreitbare  9iede  wie  ^ener,  berfelbe  überjeugungstreue  Gieren; 


226 


  aieratiber  (EiUe  in  (Slasgom.   


mann,  berfelbe  fcTjarffinnigc  .stopf  unb  berfelbe  mitteiblofe  Spötter  über 
aufgeblafene  Xummheit.  3Sic  ber  ^ßaftor  öoefce  in  SeffingS  „2triomata"  unb 
ftlofc  in  beu  „Briefen  gntiquarifd)en  3nl)altä"  fortlebt,  fo  nrirb  ical)rfcbeinlid) 
eine  3eit  fommen,  iuo  man  ßenrn  ©eorge3  „  Jortfdjritt  unb  9lrmutf)"  nur 
nod)  aus  beut  Strafgericht  fennt,  ba3  £ur(en  in  beu  beiben  (Sffan3 
über  „Natürliche  unb  potitifche  9?ed;te"  unb  über  „Kapital,  bie  ÜDiutter  ber 
3lrbeit"  über  ben  amerifanifdjen  2Kaulf)elben  b,at  ergeben  laffen.  £ie  2lrt 
unb  Seife,  nrie  gurtet)  ba$  Theorem  ber  $Bobenöerftaatlid)ung  in  bem 
einen  unb  bie  Gapitalthcoric  Gieorgeä  in  bcm  anbeten  Gffan  in  Keine  Stüde 
fd)(ägt,  ift  edt  leffingifd).  SBer  bicfc  Vernichtung  eines  fiitteraten  mit  an* 
gehört  ober  burdjgclefen  §at,  ber  Hefte  fid)  fid)erlid)  nidjt  fo  gern  mit  bem 
2fotor  uon  Progress  and  Poverty,  ba$  nad)  .§urler(3  SBorte  mehr  2lnnutf) 
enthält  ali  i5ortfd)ritt,  auf  ber  Strafte  fehen.  ©eorgeä  i?orau*fefcungen 
finb  falfcb,  feine  fBeifptele  fiub  falfdj,  feine  Sd)lüffe  finb  falfd),  feine  23eroei^ 
füfjrung  ift  confitä,  er  n>iberfprid,t  fid)  unauSgefetst,  unb  an  Rimbert  Stellen 
fdjtrofelt  er  einfad)  baren  Unfinu,  fein  ganjer  $üdjerfram  ift  feinen  geller 
toevtl);  ba$  ift  baS  (Srgebnift  biefcr  Jtritifen,  wenn  anbcrs  man  bicfe  ^lifce 
unb  Tonnerfd)läge  Äritifen  nennen  fann.  2luS  bicfer  sermalmenben  Sdbärfe, 
bie  bie  fdjarfgefcfjtiffenen  Spieen  bc3  SBifee^  nod)  töbtlidjer  madjen,  fprid)t 
ber  Zeitige  3oru  ber  Gntrüftung  über  alles  .frcdbunffen  unb  ^alfcfmuffen, 
alles  bemagogifd)e  Sßljrafettren  unb  allen  nid;tigcn  rhetortfcbcn  9?ufe  ül>er 
halbuerftanbene,  unbeioiefene,  unbercetebare,  nriberfinnige,  uniinnige  Specula= 
tionen.  „Gin  öfonomifdjeS  Problem  »om  pl)t)fiologifd)en  Stanbpunfte  aus 
betrad;tet"  nennt  fid)  „Gapitat,  bie  3)?utter  ber  2lrbeit";  aber  aus  biefen 
blättern  fprid)t  nidjt  bloS  ber  ^}f)i)fiologe,  obgleid)  aud)  biefer  fein  2Biffen 
herfeiljt,  fonbcrn  ber  2Wann  »on  weitem  äMtoerftänbntft  uub  riefigem 
Süßiffen,  uon  leud)teuber  Verftanbe-5fd)ärfe  unb  fieghafter  ßtartjeit.  Ticfetben 
3üge,  bie  beu  ^udliciften,.  Sibliotfiefar  unb  3Hd)ter  Seffing  bereinft  in 
2tllem,  roa$.  er  fd)rieb,  fo  h°d)  über  feine  3eitgenoffen  hinaus  tjoben,  fjeben 
ben  3Jaturforfd)er  unb  $f)ilofop£)en  £urlen  barüber  hinaus. 

2lllerbing3  f)ot  föurlen  jur  Biologie  unb  ^ßaläofogie  ^ocbbebeutfame 
Beiträge  geliefert,  unb  auf  bem  öebiete  ber  t>ergleid)enben  2tnatcmie  nnb 
ber  ^()i)fiologie  bie  ßrgebniffe  ber  mobemen  Jyorfdnmg  in  muftergiltiger 
Jßeife  sufammengefaft;  allerbingS  bauft  tfjm  ber  ^öfjerc  naturn)iffenfd)aftlid)e 
Unterricht  ©rofebritanmeus  feine  Crganifatiou  unb  ber  nieberc  faft  fein  S^a« 
fein;  allerbiugä  lebt  feine  £ef)rthätigfeit  in  taufenben  »on  2lcr:,ten,  Statur« 
nuffenfdjaftlern  unb  Sehrern  bauemb  fort;  aber  fein  eigentlicher  9fub,me«ritel 
grüubct  fid)  bod)  auf  bie  neun  Jtfeinoctaubänbe  in  rothbraunem  Seinroanb- 
banb,  bie  beu  befdjeibenen  Xitel  tragen  Collected  Essays  by  T.  H.  Huxley. 
Sie  finb  berjenige  2:  heil  feines  SebcnSroerfeS,  burd)  ben  $urlen  in  lebenbige 
Fühlung  mit  feiner  3^it  unb  feinem  3?olfe  getreten  ift,  fie  enthalten  feine 
Seiträge  51a  Aortentroidelung  ber  allgemeinen  äMtanfdjauung.  3n  ihnen 
fprid)t  ber  9J?ann,  ber  ba  erflärt  fyat,  bie  Söiffenfdjaft  fei  nur  exogener 


  (Eljomas  tjurley.   


227 


unb  organifirter  gefunber  ÜJienfdjenuerftanb,  bcr  fidj  von  bem  einfachen 
■Slenfdjenncrftanbc  nur  unterfdjcibc,  rote  ber  Veteran  Dorn  Siefruten,  in 
Sdjerj  unb  Graft,  mit  fprubetnbetn  ÜDluttenuiß  unb  umrbiger  2i$eiäl)eit, 
aus  bem  Schafte  eine*  reiben  äBiffenS  unb  eineä  reichen  Sebent  ,u  feinen 
3ettgcnoffen,  bie  mental*  Unterfudnmgen  über  ojeanifdje  önbrojoen  gemadjt 
unb  niemals  uergletdjeube  2(natomie  ftubirt  fjaben.  Sic  ftefjen  in  toufenbeu 
oon  englifdjen  Familien  auf  bem  'Bücherbrett,  unb  fie  finb  ba-5  bebeut« 
famfte  uoKet^ümU^ptjiCofoptjifcrjc  Söerf,  ba§  ba£  Gnglanb  »on  fjeute  befifct. 
2(n>3  ifinen  fpridjt  Zuriet»,  ber  sp£)iCofop^,  ber  feiner  Seit  »orbenft,  ih^rem 
Teufen  feine  ^afjneu  weift,  unb  if)r  AÜfircr  tft  in  ber  gortentioidlung  itjrer 
3s?e(tanfcf)anung.  einem  3al)rl)uitbcrt  wirb  e£  Qtit  fein,  511  beftimmen, 
nner>iel  oon  bem,  roaä  biefe  Bänbe  umfaffen,  in  bie  allgemeine  Slnidjauung 
bcr  Gulturmenfd)f)eit  übergegangen  ift.  2lllcs>  wa«  roir  bleute  31t  tfjun  uers 
mögen,  ift,  uns  ju  oergcgenniärtigen,  aus  meinem  Borne  biefe  Ströme 
entsprungen  finb  unb  gegen  rocldje  anbereit  g-lutt)cu  fie  angebrauft  finb,  um 
fie  enttoeber  mit  fiel)  fortwreifieu  ober  in  ifmen  fpurloS  51t  ücrfdjroinben. 
3n  .§infid)t  auf  biefe  Seifrungen  ift  £urlen  oon  greunben  unb  5^"°^/ 
bie  aufter  Staube  roaren,  ftd)  eine  2!Mtaufd)ammg  uorjuftellen,  bie  nid)t 
blinb  non  einer  bogmatifdien  Religion  abhängig  mar,  „ein  Sfieolog  antU 
tf);ologifd)er  3Hd)tung"  genannt  roorben,  b.  \).  in  etroaS  genauerem  Teutfdj 
überfefet,  ein  9iV(tanfd}aunngsfämpfer,  ber  außerhalb  ber  bogntatifd)cn 
?Borau>jfe6ungcn  ber  ftirdjenfrommen  ftanb.  Er  ift  einer  bcr  größten  £ef»rer 
feine-3  3?o(fes  unb  einer  ber  größten  geiftigen  Jütirer  feiner  Qt\t  geroefen 
nnb  Ijat  fein  Tenten  oorfciljfid)  ben  febroerften,  gröften  unb  legten  3öcft= 
anfcbauungSfrageu,  bem  2Bob>r?  unb  2i>otjin?  bes  2)ienfdjeu,  ben  focialen 
Kernfragen,  ben  Greven  ber  menfcfytidjcn  ©rfeuntnifs  unb  bcr  ©eltung  bes 
Sittengefcbes  gerotbntct.  So  umfaßte  fein  ^ntereffe  ungefähr  baefetbe 
(Gebiet,  über  bae  bie  „fjcrrfcbenbe"  Religion  uod)  immer  bie  2llleinf)crrfd}aft 
ju  fyaben  behauptet,  unb  infofern  mar  er  ein  „£heolog".  2lbcr  uon 
bogmattfehem  töeiftc  mar  faum  eine  Spur  in  ihm.  Giujig  blnftd;tltcb  ber 
2(nroenbung  ber  (Sntimdelungslehre  auf  bie  (5thtf  ift  er  an  ben  eigenen 
Borurtbetlen  gefcheitert.  Stuf  allen  anberen  ftelbern,  auf  benen  er  einer 
eutfdriebenen  eigenen  SDceütung  2lu*brud  tjertietjen  hatte,  ift  er  ber  weiteren 
Gittnndlung  ber  Jorfdmng  mit  gefpanntem  2luge  gefolgt  unb  hat  neue  (Sv 
gebniffe  nur  alläu  gern  angenommen,  tute  bie  jablreidhen  fpäteren  9ln= 
merfuttgen  ju  feinen  früheren  ßffanS  bereifen.  (Sr  tjatte  bas  ©lüd,  auf 
einem  grofjen,  umfaffenben  ©ebiete,  gerabe  bemienigen  ©ebiete,  bas  am 
beftimmenbften  auf  bie  geiftige  unb  foriale  2Belt  bes  19.  ^arjrfjuubertä  ein* 
gerotrft  hat,  bie  grünbtichfteit  $ad;femttmffe  311  befiben,  unb  fein  Sehen  fiel 
in  bie  3e"/  in  °cr  beffen  grölte  Gntbedung,  bie  (SrtTärung  ber  Aufwärts« 
etttroidelung  be«  organtfdjen  Sehens,  gemad)t  rourbe.  2(15  bcr  „Urfprung 
ber  2lrten"  erfebien,  mar  gurtet)  34  $ahre  alt,  blatte  in  Sonbon  bereits  eine 
wichtige  Seb^rftelluttg  inne  unb  ftd}  als  fetbftänbiger  2lrbeiter  auf  bem  ©e= 


228 


  2JIejanbet  (Tille  in  (Slasgo».   


biete  ber  »ergleiebcnben  Sfnatomie  bereit*  einen  gearteten  9iamen  erworben, 
©o  mar  if»m  bie  2Köglicfjfeit  gegeben,  vom  erften  Tage  an,  wo  tbm  bic 
@rfenntni|3  ber  Siiefenbebeutung  ber  ©ntbeefung  aufgebämmert  war,  naeb* 
brüdlicb  für  fie  einjutreten  uub  fic  burd)  eigene  Seiftungen  fortjubilben. 

Bornas  £enrn  Zuriet)  mar  geboren  am  4.  9>lai  1825  ju  ©aling, 
bamals  einem  Keinen  ftiUen  Saubftäbtdfjen  anbertbalb  ©tunben  von  Sonbon, 
beute  einem  Vorort  SonbonS  mit  fiber  30  000  ©inmobnern.  ©ein  SSater  war 
Sebrer  an  einer  bortigen  ©ebule,  bie  in  bobem  Slnfeben  ftanb.  ©einer 
eigenen  3luSfage  naeb  bat  er  oou  feinem  Vater  faum  irgcnb  roeleben  3U9 
ererbt  außer  einem  Reiften  Temperament,  „jenem  2Jlaf?e  oon  3äbHJkit  in  ber 
Verfolgung  eines  3kleä,  ba§  unfreunbliefj»  33eobadbter  marabmaf  ©igenftnn 
nennen,"  unb  einem  bebeutmben  3^<^cntalent,  baS  er  jwar  niemals 
fünftlertfdb  auSgebtlbet  bat,  burefj  baS  aber  ber  2fafebauungSreiebtbum  feiner 
miffenfefjaftltdjen  Vortefungen  bebeutenb  geförbert  worben  ift.  ©eine  ©ebüler 
erjäbfen  uoll  Stewunberung,  wie  er  feine  Vorlefung  mit  einem  abenteuere 
lieben  Grafel  an  bie  25?anbtafel  begann,  ber  3tUen  unuerftänblieb  war,  wie 
er  bann  wäbrenb  bcS  ©preebens  im  Saufe  einer  balben  ©tunbe  ober  ©tunbe 
©trieb,  für  ©trief)  eintrug,  bis  fcbliejjlid)  baS  beutlidjfte,  febärfft  umriffene 
biologifdje  23ilb  »or  ben  3lugen  feiner  3ubörer  lag,  baS  mit  feiner  §ernor= 
bebung  alles  Tiwifdjen  unauSlöfcbtieb  in  ibrem  ©ebädbtniö  haftete.  SWebr 
bat  ibih  5U  feiner  ©igenart  feine  9)iutter  gegeben:  „^ßbnfifdb  unb  geiftig," 
crjäfjlt  er,  „bin  ieb  »oflftänbig  meiner  3)iutter  ©ofm,  bis  berab  &c« 
fonberen  .^anbbewegungeu,  bie  bei  mir  hervortraten,  a(S  id)  baS  3flter  er» 
reidbt  fjatte,  baS  fie  gefjabt  batte,  als  icf)  fie  an  ibj  bemerfte  .  .  .  SDicine 
ISJutter  war  eine  fdbfanfe  brünette  »on  erregtir  unb  tljatfräftiger  ©emütbSs 
art  unb  batte  bie  burebbringenbften  febwarjen  äugen,  bic  idj  jemals  in 
einem  grauenfopfe  gefeben  babe.  5Bei  nid/t  tieferer  SBitbung,  als  fie  bie 
grauen  ber  Stttttetflaffe  in  if)ren  Tagen  batten,  befaß  fie  eine  auSgejeidmetc 
Begabung.  $br  bejeicfmenbfter  Stennjug  war  jebodb  bie  SBüfceSfefmelle  ibreS 
T>enfenS.  Söenn  ^emanb  bie  Vemerfung  maebte,  fie  babe  niebt  eben  oiel 
3eit  barauf  »erwenbet,  um  ju  einem  ©ebluffe  p  gefangen,  fo  fagte  fie: 
,$d)  fann  mir  nidbt  beffen,  mir  blifet'S  nur  fo  auf.1  SHefe  ©igentbüm* 
liebfeit  ift  in  ibrer  »ollen  Stärfe  auf  mieb  übergegangen;  fie  ift  mir  oft 
nüfclieb  gewefen,  fie  bat  mir  oft  fdbfimme  ©treiebe  gefpielt,  unb  fie  ift  immer 
eine  ©efal)r  für  midj  gewefen.  Unb  boeb,  batte  ieb  meine  Tage  noeb  einmal 
ju  burebfeben,  ieb  würbe  mieb  uon  9fiebts  unlieber  fdbeiben,  als  oon  meinem 
Grbe  an  SDiutterwife." 

2ltS  Änabe  prebtgtj  er  Sonntags  ben  SienftmäWben  in  ber  Äüdbe,  unb 
läcbetnb  fügt  er  beut  Veriebt  biefcS  3»flcS  bei:  „$>aS  ift  baS  frübefte  mir 
crinnerfia^e  3cid)cn  t>on  jenen  ftarten,  firefjtidben  3kigungen,  bie  mir  mein 
greunb  Herbert  ©pencer  ftets  jugefebrieben  l)at,  wenn  ieb  audb  felbft  ber 
Meinung  bin,  baf?  fie  511m  größten  Tl);ile  latent  geblieben  finb."  ©eine 
9?;igung  ging  barauf,  3«9C"ieur  511  werben,  aber  baS  ©efef^id  wollte  eS 


  (Eljomas  £}njley.   


229 


anberS.  iKod)  fefjr  jung,  begann  et  unter  einem  <Sd)roager,  ber  SDiebiciner 
mar,  SDiebicin  ju  ftubiren;  aber  bie  2Kebicin  al$  &ei(funft  flimmerte  ifm 
nid)t  fonberüd).  ^fjnfiologie  —  bie  3"genwirfmtft  ber  (ebenbigen  2)?afd)inen 
—  mar  baS  Ginjige,  roaS  feine  2()eilna()me  bauernb  ju  feffeln  oermodjte, 
unb  baS  ift  fein  gonjeS  Seben  fo  geblieben.  2)er  ^ilofopt)  in  ifnn  fonnte 
fid)  nun  unb  nimmer  mit  ben  blojjen  Ginjelf)etten  befcfjieiben,  unb  er  mar 
fid)  beffen  nur  all-wgut  benntfst:  „Dbg(eid)  bie  9iaturnnffenfd)aft  mein  eigent= 
lieber  Scbeneberuf  geroorben  ift,  fo  roofmt  bod)  fdjred(id)  wenig  uom  edjten 
3tatnrforfc^et-  in  mir.  3d)  ()abe  niemals  GtroaS  gefammelt,  unb  bie  Ginje(= 
forfdnmg  ift  ftetS  eine  Saft  für  mid)  gercefen.  2l>irf(id)  am  ^erjen  gelegen 
f»at  mir  bagegen  ber  ardnteftonifdje  unb  med)anifd)e  SC^eit  ber  Arbeit,  baä 
herausarbeiten  be£  munberbar  einfjeittidjen  planes  in  ben  taufenben  unb 
abertaufenbeu  »on  tebenbigen  Gonftructionen  unb  bie  -Dfobiftcationen  ätmlidier 
Apparate,  um  fie  ju  uerfdiiebenen  3n>erfcn  geeignet  ju  machen." 

-Jlaä)  einer  Vergiftung,  bie  er  fid)  bei  einer  ©ection  jugejogen,  unb 
beren  folgen  er  nod)  ftatyce  (ang  in  heftigen  inneren  Sdmieräanfätten  ju 
tragen  tjatte,  uollenbete  er  fein  mebtcinifdjeS  Stubium  an  ber  Charing  Cross 
School  of  Medicine,  ico  bamatä  SBfiarton  ftoneS  ^fmfiotogie  lehrte,  Gr 
mar  ber  erfte  unb  einige  Se()rer,  beffen  SBiffen  unb  $D?et(jobe  auf  ben  ficb= 
äef)njä()rigen  (Stubenten  einen  nad)f)a(tigen  Ginbrud  mad-te.  £>urd)  eifrige 
3(rbeit  fudjte  er  fid)  ben  SBeifaH  beS  SefirerS  ju  erroerben,  unb  es  getang 
ifmi,  beffen  3lufmerffamfeit  auf  fid)  ju  siefjen.  3one3  ermutigte  irju  jur 
ä?eröffentfid)ung  feine«  erften  natumjiffenfdjafttidjen  SfuffafceS,  ja  corrigirte 
bem  nadmatigen  9)Jeifter  beS  Stile«  unb  bem  formwollenbetften  naturnriffens 
fdjafttidien  ©djriftftellet  beS  folgenbeu  falben  ^alirfjunbertä  bie  fleine  Arbeit 
ftitiftifd)  burd),  bie  enb(id)  in  ber  Medical  Gazette  1845  erfd)icn.  Gben 
f>atte  öur(et)  —  mit  20  ^afjren  —  fein  obIigatorifd)e«  mebicinifdeS  Stubium 
»oüenbet,  unb  im  Slnfang  1846  beftanb  er  baS  erfte  Gramen  eines  S^acca« 
(aureus  ber  ÜJIebicin  an  ber  University  of  London.  £aS  Gramen  eine« 
SJtagtfter  ber  Chirurgie  fonnte  er  nod)  nidit  mitmaden,  ba  er  bafür  nod) 
ju  jung  mar.  @(eidjroof)(  tret  bie  5Jotf)TOcnbigfeit  an  i(m  (jeran,  fid)  fein 
^rot  511  »erbienen,  unb  fo  begann  er  feine  Saufbafnt  im  felbftftänbigen 
Seben  g(eid)  ben  meiften  jungen  englifdjen  Slerjten  als  SdjiffSarst.  Gr 
roanbte  fid)  brieffidj  an  ben  ©eneralbirector  beS  ärjtlidjcn  £ienftcS  in  ber 
.slriegSflotte,  beftanb  fein  Gramen  all  ÜJHtitärarjt  unb  warb  junädjft  neben 
3)Jonate  Stffiftenjarjt  am  .<gaS(ar=6oSpita(  unb  bann  9lfnften}ar;t  auf  ber 
SWattfefnafc,  bie  itjn  burd)  ferne  9)ieere  trug. 

„,^n  jenen  Tagen,"  fo  bcrid)tet  er,  „mar  baS  Seben  auf  ben  Sdjiffen 
ber  Mxicgsffotte  febr  t>?rfd)iebcn  von  bem  heutigen,  unb  baS  unferc  mar 
ouSttalnnSrocife  fyart,  ba  mir  oft  SJlonat;  (ang  feinen  Vrief  erhielten  unb 
anner  uns  felbft  fdnen  eimlifirten  SHcnfdjen  fahren.  Tafür  (jatteu  mir 
frei(id)  baS  0>3(üd,  fo  ungcfäfjr  bie  (ctsten  Mieifenben  ju  fein,  bie  nod)  auf 
Seilt;  trafen,  bie  3Jid)tS  001t  ^euermaffen  mußten  —  fo  au  bor  Sübfüfte 


230 


  Jlleraiiber  Hille  in  <Slasgon>.   


von  Neuguinea  —  unb  mit  einer  bunten  9)Jenge  intereffanter  wilber  unb 
f)albci»ilifirter  Stämme  Skfanntfdjaft  machten.  9tber  felbft  abgefehen  uon 
berartigen  Grfaljrungen  unb  ber  Wc(cgcnl)eit  ju  wiffcnfdjafttidwn  Arbeiten, 
bie  fid)  mir  bot,  ift  mir  perfönlidj  biefe  Seefahrt  »on  aufserorbentlidj  bobem 
Sßertlje  gewefen.  Gs  mar  bcilfam  für  mid),  unter  ftrenger  ^«Scipltn  ju  fein, 
burd)  bas  Seben  vom  yiot^iocnbigftert  mitten  in  ber  2Birflid)feit  bee  Safcrne 
511  ftef)en,  Ijerau^ufinben,  roie  aujjcrorbentlid)  lebeusmcrtb,  bod)  ba8  Scben 
erfd)eine,  wenn  man  »on  feiner  9iad)trnf);  auf  einer  weieben  flaute  unb 
mit  bem  Stimmet  at*  23albad)tn  aufi»ad)te  unb  jum  ^yrüt)ftü<f  nur  Äafao 
unb  3tt$cuit$  mit  iölefjlmürmem  »or  fid)  faf) ;  unb  ganj  befonber*  für 
eigene  Grgcbniffe  arbeiten  311  lernen,  felbft  wenn  9llles  511m  ftudfiuf  ging 
unb  id)  felbcr  mit." 

3?ier  3af)re  lang  fulu  ber  junge  2lffiftenjarjt  auf  ber  „Jtlapperidjlangc" 
burd)  bie  Sübmeere,  »on  einer  Station  sirc  anberen,  unb  auf  biefer  Steife 
legte  er  in  fid)  felbft  ben  CJrnnb  311m  felbftftänbigen  SJaturforfcber  unb  aufcer= 
Ijalb  ben  Wrunb  311  feinem  wiffenfdjaftlidjen  9Jamen.  Beitrag  auf  Beitrag 
ging  an  bie  Linnean  Society  ab,  aber  feine  9(ntroort  fam.  1849  cnbtid) 
arbeitete  er  eine  umfängtidiere  2tbbaubtung  au*  unb  fanbte  fie  au  bie 
Royal  Society.  9(ber  and)  über  biefe  bort:  er  feine  Silbe.  Um  fo  größer 
mar  feine  Uebcrrafdjung,  aU  er  fie  bei  feiner  Stüdfebr  uadj  Gnglanb  Gube 
1850  nidjt  nur  angenommen,  fonbern  fogar  gebrud't  fanb.  Gin  gcmaltige-5 
Sflünbel  Sonbcrabjügc  lag  für  ttm  bereit. 

Sie  nädjften  brei  ^al)re  roarb  Ämrlen  in  £oubon  befdjäftigt.  %U  er 
aber  bann  mieber  33cfel)l  erbielt,  fid)  eiit3iifd)iffcn,  gab  er  ben  ärjtlicbcn 
®ienft  in  ber  flotte  auf  unb  bemüljte  fid)  um  mehrere  ^rofeffuren  ber 
Sßfinfiofogie  unb  »crgtetdienben  9tnatomie,  jebod)  »ergeben*.  Sein  ^rcunb 
Snnball  unb  er  bewarben  fid)  nad)  englifcbcr  Sitte  um  jroei  5profeffuren 
an  ber  Untocrfität  Toronto,  aber  311  ifjrem  ©lüde  mürben  fie  nidjt  geroäblt. 
911*  cnblid)  1854  Gbmarb  ftorbes  r«on  Sonbon  nad)  Gbiuburgb  berufen 
mürbe,  erhielt  gurtet)  beffen  ^ocentur  ber  ^Jaläologie  unb  9Jaturgcfd)id)te 
au  ber  öeologifdien  ^nfpection  augeboten.  Won  ber,  5£aläotogie  füllte  er 
fid)  jebod)  fo  wenig  angesogen,  baß  er  bem  öencratbirector  ber  Oeologifdjcn 
.ftnfpectton  erflärte,  Aofufion  feien  ibm  gleidjgiltig,  unb  er  werbe  bie  £ocentur 
für  9Jaturgefd)td)te  aufgeben,  fobalb  er  eine  pttniiologifdjc  ^ßrofcffur  erhalte; 
bennod)  Ijat  er  fie  bis  1885  befteibet,  unb  ein  groftcr  2l)ei(  feiner  9(rbeiten 
bat  fid)  auf  paläologifd)em  Wcbietc  bewegt.  Selbft  feine  Collected'  Essays 
enthaften  einen  33anb:  Discourses  Biological  and  Geological.  £amit 
trat  Zuriet)  feine  afabemifdjc  Saufbalm  in  Sonbon  an,  unb  trob  ber  jabl- 
reidien  glän^cnben  9tucrbieten,  bie  ilmt  »on  auswärt'?  gemadjt  würben,  bat 
er  Sonbon  niemals  u;rtaffeit.  Tae  öffentfiebe  Spredten  war  ilmt  anfangt 
in  bobem  ^Janc  unaugenebm,  aber  nadj  unb  nad)  gewöbnte  er  fid)  baran 
unb  warb  ber  flare,  cinbringlidie,  fclbftficfjerc  Sebrer,  ber  Jaufcnbcn  uon  eng; 
Iifdien  9(erjten  unb  Staturwiffenfdjaftlerit  ben  begriff  ber  ©iffenfdjaftlidrfeit 


(Etiomas  £jnjley.   


2Z\ 


»ermittelt  bat,  ber  ju  feierlichen  Welebrteui^rfammlungeu  mit  berfclben 
•äMfterfdiaft  fprad)  wie  511  ben  rujjbänbigen  Arbeitern  bei  populären  $or= 
tragäabenben  uub  ber  in  feiner  populären  Sebcrrfdmng  feine*  Sebrftoffeä 
felbft  in  Gitglanb  cinjig  boftanb. 

&urlen  Bjrbouft  feiner  9lu§btltumg  aU  3Jfebiciner  mehr,  aU  er  vielleicht 
gemufft  bat.  (S«5  ift  bic  Sra3c/  ob  er  mit  einer  fpeciell  auf  feinen  Seruf 
jugefdmittenen  Sorbitbung,  felbft  wenn  c*  eine  foldje  in  ben  Togen  feiner 
$ugenb  gegeben  bätte,  ber  umfaffenbe  Oieift  geworben  märe,  ben  bie  2Mt 
in  if)m  berouitbert  bat.  öerabe  weil  firf>  nad>mot-?,  ale  er  in'^  felbftftäubige 
Seben  eintrat,  fein  ^tnteref f eittrei??  fo  ftarf  fpecialifirte,  würbe  ee  für  ihn 
fo  bebeutfam,  bafj  er  auf  mehreren  ßJebteten  außerhalb  bcsfelben  &n$U 
fenntniffe  befaf?,  wie  fie  Harrain  fein  Sebeu  lang  »ergeblidj  crfelmt  bat. 
feilte  fd»eint  C*  unglaublich,  baft  ber  Segrünber  bcr  Gntmid[uug*lebre 
nuf  bem  Syclbc  ber  oergleicbcnbcn  Anatomie  nur  bie  brudifiüdbaftefteu 
Äenntmffe  hatte;  aber  eben  beeroegen  warb  es  uon  fo  unenblicber  Scbeutuitg, 
bafe  fie  ba«  Specialgebiet  be§  SDfanue*  war,  ber  juerft  eine  umfaffenbe 
Gtaffification  ber  Seberocfeit  auf  bcr  (\irunblage  uon  Darwin»  Wrunbfäljcn 
»erfu<hte. 

Tic  fcltfamen  fötaetbierc  ber  füblichen  9)fecrc  Ratten  feilte  9lufmerf= 
famfeit  in  bem  9)iaf?e  gefcffelt,  baft  er  bie  Sipbonoptpren  511111  Wegcitftaub 
einer  (Siujetbarftcllung  gemacht  hatte,  ber  er  ben  Titel  „Tie  oceanifd)en 
Änbrojocn"  gab.  Tatnit  tljat  er  »on  mehr  o£*  einem  Wefiditspuufte  aus 
einen  aufterorbentlid)  glüdlidien  Wriff;  benn  gerabe  biefe  Tbierc  ünb  es 
gewefen,  was  ben  (Sinblid  in  bie  (Sntwicttung  ber  £>auptgruppcii  bcr  Vebc= 
wefen  im  Saufe  bes  legten  halben  ^ahrhunbert*  fo  riefig  geförbert  bat. 
Pehmen  fie  bod)  eine  cigcntbümlidic  9)?ittelftellmtg  jwifdien  ben  jwei  auberen 
Thiergruppen  ein,  ben  einfdiiebtigen  unb  ben  breifdjiditigen,  nnb  finb  be£= 
halb  fo  wefentlid)  für  bic  (Srfenntnif?  be*  Stufengange*  bes  Sebent  auf 
ber  Sohn  allmählicher  Entfaltung.  £atte  i'iunö  burd)  feinen  unermitb- 
lidben  ßlaffificotionseifcr  in  ber  organifd^en  9Be.lt  ein  wenig  Crbnitng  gc= 
fdwffcu  unb  einen  Ueberblicf  ermöglicbt,  fo  hatte  Stoff  on  miubeftcit*  bie 
©runblage  für  ben  mobernen  Segriff  ber  Biologie  als  SSiffenfchaft  gelegt 
unb  Gttirier  bie  »ergleid)enbe  2lnatomie  unb  Paläontologie  begrünbet.  Turd) 
Samard  war  bcr  Segriff  ber  GntwicfTuug  wieber  lebenbig  gemacht  unb 
bie  3oologie  bcr  wirbcllofen  Tbicre  in  ben  Sorbergruub  gefdioben  worben. 
$urlen  verglich  in  feiner  9trbeit  bereit-?  gan,>  ridttig  bie  gwcifdndjtigfeit 
beS  Saue*  feiner  Ölastbiere  mit  bcr  3weifd)id)tigfett,  burd)  weldje  ba-J 
höhere  Thier  t)om  SBurm  bis  sunt  SDienfdien  in  feiner  cmbrponalen  <int- 
widlung  geht,  ein  Sergleid),  bcr  erft  nadjntal*,  nachbem  .fturlet)  felbft,  auf 
TarwinS  Gutbecfung  fitfienb,  bcr  u;rgläcbenbcn  3(natomie  eine  neue  Wrunb« 
läge  gegeben  hatte,  feine  «olle  Scbcutuitg  erhielt. 

Riefet,  nad)  feiner  bauernben  Weberlaffung  in  Sonbon,  ftauben  fturlei) 
bie  riefigen  Sammlungen  bcr  englifdien  ftauptftabt  51t  Gebote,  unb  feine 


232 


  2lleranber  (Etile  in  (Slasgow   


Tfyitigfcit  an  bcr  Vergafabemie  tieft  tf)m  reid)fid)  £cit  -m  roiffenfdjaftlidn'r 
Vefdjäftigung.  Ta$  roarb  für  ifm  »on  grojier  2Btd)tigfeit;  bcmt  cimiiol  bot 
e§  ifmt  bic  9)Jöglidjfeit,  fid)  in  baä  neue  Sefirfadt,  ba$  er  5U  »ertreten  fjttte, 
grünblid)  erarbeiten,  unb  fobann  gemattete  e3  ilmt,  eine  9?eif)e  opeciat= 
unterfudfmngcn  »orjunefmien,  bie  itju  ali  #orfd)er  f)ol)en  langes  jeigen. 
Sie  al(e  erretten  ifjren  Äernpunft  erft  »on  bcr  (httroidfungeteftre,  bie  mit 
ben  Satiren  1858  unb  1859  auf  beu  Sdtauptafe  trat. 

Gf)arte$  Karmin  am  1.  3uli  1858  ber  Linnean  Society  feine 
eigene  Arbeit  „Ueber  bie  £enbenj  ber  9lrtcn,  Varietäten  ä"  InIben,  unb 
über  bie  Jyortfefcung  ber  Varietäten  unb  Slrteu  burdj  ba3  natürlidje  2)»ittel 
bcr  9lu$tefe"  pgteid)  mit  bem  Gffaw  »on  9tlfreb  9iuffet  5i?allace:  „Ucbcr 
bie  icnbenj  bcr  Varietäten,  uuenblid)  »on  ber  Urform  absuroetcf)en,"  »or= 
fegte,  mar  gurtet)  nidjt  sugegen.  9lber  bie  neue  öefjre  geroann  fdmeli 
Voben,  unb  £urtew  fetbft  f)atte  fic  fid)  fcf)ou  51t  eigen  gemadjt,  ate  am 
24.  9io»cmbcr  1859  bie  erftc  Stuflage  bc$  SSerfeS  „Uebcr  ben  Urfprung 
ber  2lrten  burd)  natürtidte  3w<i,troat)t  ober  bic  Grfjaltung  ber  begünftigten 
Waffen  im  Äampf  um'«  Tafetn"  erfdjien. 

ÜWit  bem  ifnn  eigenen  £umor  bcrid)tet  er  uns  »on  jenem  £age,  an 
bem  „Ter  Urfprung  bcr  9trten"  geboren  roarb.  „2Bcr  fid)  »on  feinem 
Öebädnnift  fo  roeit  jurüdtragen  laffen  fann,  bcr  roirb  fid)  barauf  beiinnen, 
baft  baä  neugeborene  Slinb  aufterorbentlid)  tcbt)aft  roar,  unb  baß  eine  grl|fc 
Stuäafil  audgejeidjuete  Seilte  bie  ftuubgebnngen  feiner  fräftigen  (Eigenart 
aU  btone  Unart  auffaften.  Um  feine  SBiegc  gab  eS  5iemtid)e  Unruhe. 
9Jfeine  (Erinnerungen  an  biefe  3e't  fwb  bcfonberS  lebhaft,  benn  id)  blatte 
eine  sortc  3uiW9ung  3U  bem  tfinbc  gefaft,  ba$  mir  au&crorbentlidj  »iel 
511  »erfpred)en  fdjicn,  unb  fo  roar  id)  einige  3«*  in  bcr  (Sigenfdtaft  a(3 
Untcramme  bei  ifmt  tt)ätig  unb  erf)iett  fo  mein  Tb>il  »on  ben  Stürmen, 
bie  ba$  £ebcu  be£  jungen  öefd)öpfc£  bebrotjten.  TaS  roar  für  einige 
Satire  fragfoS  tjeifte  Arbeit.  SBenn  man  jebod)  in  93ctract)t  jiefjt,  roic 
aufjcrorbeutlid)  unangenehm  ba3  9tuftaud)en  be$  Deutings  allen  benen 
geroefen  fein  muß,  bic  fid)  nidit  auf  ben  erften  Vtirf  in  ifm  »erlictten, 
fo  fann  man  e$  uuferer  $üt  ju  il)rcn  Ounften  anred)ncn,  baß  ber  Äampf 
nid)t  t)eftigcr  roar  unb  bcr  bittere  unb  geroiffentofe  SBtberftanb  fo  rafd) 
abgeftorben  ift,  roic  er  ift." 

SBenn  mir  uns  fjeute  faum  me()r  »orjuftetlcn  vermögen,  roic  gegen  ben 
„Urfprung  ber  9lrtcn"  in  beu  fedijiger  3a()reu  ein  berartige«  SB>utt)gef)eul 
Io*bred)cn  fonntc,  roic  ein  "Tannin  tief)  fdjeuen  fonnte,  feine  „?tbftammung  be£ 
Htenfd;cn"  su  fdjreibcn,  unb  ein  -äNann  roie  gurten  für  feine  „3cugniffc  für  bie 
Steftung  beS  SWenfdicn  in  bcr  9Jatur"  »on  atten  Gl)riftenmenfd»en  mit  einer  3lrt 
Vann  belegt  ju  werben  »ermodte,  fo  ift  ba$  gcrabe  bcr  gcroattigftc  Vernein 
für  bie  riefige  SRMrtung  biefer  Vüdjer  unb  biefer  9)?änner.  2tfa$  anberS 
fjnt  beu  Umfdmmng  gcfd)affen,  traft  beffen  t)eute  ftemanb,  bcr  mit  feinem 
Teilten  noefj  nid.t  auf  bem  Voben  bcr  C-ntn.idfung?tel)rc  ftef)t,  faum  meftr 


  Homas  Ejurlty.   


233 


für  einen  (Mulbeten  gelten  fann?  Ter  jüngeren  ©eneration  ift  bie  $bee 
ber  ©ntwidtung  jur  felbftoerftänblicben  BorauSfefcung  beS  TenfenS  ge= 
worbett,  nnb  fie  judt  über  $eben  bie  9ld)feln,  ber  von  bem  alten  Stanbpunft 
einer  SttllftanbSweltaitfdjauung  aus  bie  SSklt  ber  Thatfachen  nnb  $been 
bctradrtet.  Unb  gcrabe  bie  allgemeine  2ßeltanfd)auung  in  ©ngtanb  'banft 
biefen  SBanbel  tueit  mehr  .fturlen  als  Tarnritt.  Reinen  Banb  beS  „Wneteenth 
(Senturn,"  ber  „Gontemporarn  9le»iem"  ober  ber  „gortnightln  Retricw"  fann 
man  in  bie  .£>anb  nehmen,  ohne  irgcnbioie  baS  2Bet)en  von  .§urlenS  ©eift  ju 
»erfpüren,  ber  bem  Sdriffe  ber  geiftigen  3ettfämpfe  bie  Segel  bläht.  Unb 
wer  ba  weiß,  melden  gactor  biefe  SJtonatSfdiriften  in  bem  geiftigen  Seben 
©roßbritannienS  bebeuten  unb  wie  bort  alte  bie  großen  fragen  beS  TageS 
in  ber  9JtonatS=  unb  BierteljahrSpreffe  auSgefodrten  werben,  ber  wirb  barauf 
boppeltcS  ©ewiebt  legen.  UeberbieS  waren  biefc  3eüfd)riften  md;t  &urlen§ 
einsiger  Äampfplan.  3n  feiner  engeren  BerufSthätigfcit,  in  feinen  SBerfen, 
in  öolfSthümlid)cn  BorlefungScurfen,  als  Reformator  beS  Unterrid)tSwefenö 
unb  als  SfJiitglieb  einer  großen  9lnsaf)t  öffentlicher  Körper  von  bem  Tirectorium 
beS  Brittfdjen  SJiufeumS  bis  5itr  Unioerfitätereformcommiffion  unb  bem 
Sonboner  SdjulauSfdmß'  ift  er  im  gleichen  Sinne  unaufhörlich  thätig  geroefen. 

3n  ber  erften  2tuflagc  beS  „UrfprungS  ber  9(rtcn"  f)atte  Tarwin  ge= 
fdn-teben:  „3«  ferner  3"funft  fef»c  id)  freies  gelb  für  weit  wichtigere 
Jforfdjuugen.  Tie  ^Sfochologie  wirb  auf  eine  neue  ©runblage  geftedt  werben, 
auf  biefenige  ber  nothwenbigen  (Erwerbung  jeber  geiftigen  Rraft  unb  gälrig5 
feit  Schritt  für  Schritt.  3tuf  ben  Urfprung  beS  3Kenfchen  unb  feine  ®e= 
fdnehte  wirb  bann  2id>t  fallen."  TaS  ift  eine  gelegentliche  nebenfädjtid)e 
Bemerfung,  bie  fid)  auf  ferne  S11^11^  besieht,  unb  wenn  fie  bie  9lbftammung 
beS  Sftenfdjen  »on  bem  affenartigen  5proanthropoS  einfdjließen  foH,  bann 
fdjlteßen  aud)  BuffonS  Säfec,  wie:  „Tie  Siatur  ift  nad)  meiner  Behauptung 
in  'einem  S"^110  beharrlichen  gluffeS  unb  beharrlicher  Bewegung"  ben 
Safe  oon  ber  Bcränberlidjfeit  ber  9(rten  ein.  öurlen  h'ubert  wobi  nur  feine 
Befdjeibenheit  baran,  in  biefer  Bewertung  Vichts  weiter  511  feljen  als  ein 
hingeworfenes  äl'ort.  Tenn  ihm  fetbft  gebührt  ba*  Bcrbicnft,  jiterft  unb 
mit  »oller  Klarheit  biefe  wtcfitigfte  aller  Folgerungen  an-?  ber  GntroidlungS* 
(ehre  gebogen  ju  haben,  unb  jwar  bereits  1860.  $n  biefem  ^aiire  hielt 
■Öurlet)  fed)S  Borlefungen  für  2frbettcr  über  bie  „Beziehungen  beS  ©ienfehen 
*;\u  ben  nächftnieberen  Tljieren"  unb  1862  jwei  weitere  oor  betn  ^ilofoptjif^en 
^nftitut  in  Gbinburgh.  So  fonntc  er  bereits  1868,  als  er  fein  Keines  Buch 
„3eugniffc  für  bie  Stellung  beS  9Jfenfd)en  in  ber  9iatur"  r>cröffcnttid;te,  fagen, 
feine  2lnfd)auungen  möchten  ridjtig  ober  faffch  fein,  ficberlid»  hätte  er  fie 
fid)  nicht  übereilt  gebilbet.  Tarwin  ahnte  1859  faum,  wetdje  Bebeutung 
fein  Budj  für  bie  ©cfchicbtc  ber  allgemeinen  SMtanfdjamittg  befommen 
werbe,  .öurlen  hotte  jeboch  mit  feinem  phitofopbifdjercn  ©eiftc  biefen  $unft 
fofort  erfanut.  So  fehrieb  er  bamalS:  „Tie  ^rage  ber  fragen  für  bie 
aJienfchheit,  baS  Problem,  baS  allen  anberen  511  ©runbe  liegt,  ift  bie  Be= 

9!ort  unt>  Siib.  LXXV.  2?4.  16 


23^    2llejonber  (Tille  in  (Slasgow.   

ftimmung  be*  $lafee§,  ben  bet  2)ienfd)  in  bcr  9iatur  einnimmt,  unb  feinet 
SBejieliungen  sunt  3ttt.  SBofyer  unfere  SWaffe  gefommen  ift,  was  bie  ©tenjen 
unferer  SJtocfit  übet  bie  9?atur  unb  ber  9)laä)t  bet  5Jatur  über  un£  finb, 
meinem  $kk  wir  juftreben  —  ba#  finb  bie  Probleme,  bie  fidj  von  9leuem 
unb  mit  um>erminberter  S^eitno^me  jebem  aWenfdjen  aufbringen,  ber  jur 
2Mt  geboren  wirb."  £>er  ttefgebilbete  $ooIoq  £urlen,  beffen  2ieblinge= 
farf»  oergfeid)enbe  3lnotomie  mar,  war  auf  biefem  gelbe  Harrain  entfdneben 
überlegen. 

3n  feinen  „Seugmffen  für  bie  (Stellung  bes  ÜDienfdjcu  in  ber  9iatur"  jetgte 
Jpurlet)  burd)  genaue  anatomifdje  33ergteid)ung,  baf3  ber  Unterfd)ieb  jitnfdien  bem 
ÜHenfdjen  unb  ben  fyöfyjren  Slffen  tuet  fleiner  fei  atä  ber  stüifc^en  ben  fiö^ercn 
unb  ben  näöpftniebrtgeren  3lffen,  unb  bie  2lbbilbung,  roeldje  baS  Sfelett 
beS  ©ibbon,  Drang,  ßbjmpanfe,  ©orilla  unb  90?enfä)en  neben  einanber  seigt, 
nerfeljlte  ntd)t,  Gntfefcen  ju  erregen.  $n  bem  jmeiten  ßapitel,  „£ie  3te 
jiebung  be3  9)Jenfcf)en  ju  ben  näcfjftnteberen  gieren"  fteüte  er  jum  erften 
3Bal  jenen  Stammbaum  ber  Sebewefen  auf,  wie  ilnt  bann  ßarl  3k>gt  in  feinen 
„Sorlefungen  über  ben  9)Jenfa)en,  feine  Stellung  in  ber  Scfjöpfung  unb 
in  ber  öefdjidjte  ber  Grbe"  (1863)  übernahm  unb  $ae<fel  in  femer 
„9Zatürlid)en  Sä)öpfungägefd)id)te''  (1869)  unb  in  fetner  „Stntbropogenie" 
grunbtegenb  ausbaute.  Unb  in  bem  britten  ©apitel  befcfiäftigte  er  fia)  mit 
ben  foffilen  STCcnfrijenreften,  beren  populärfte  beutfdie  3>arfteuung  nadjmal* 
Subwig  33üdmer  in  bem  erften  Steile  feinet  2utd)e$:  „35er  9Wenfä)  unb 
feine  Stellung  in  sJ?atur  unb  ©efellfdjaft"  (1869)  gegeben  l)at,  unb  bie  »on 
l)öd)fter  33ebeutung  finb,  weil  fie  bie  Sücfe  jrotfcijen  bem  peinigen  2)?enfäVn 
unb  ben  3lffenartcn  ber  grauen  SSorjeit  ausfüllen.  3Ktt  biefem  $ud)e  sog 
Jpurlen  bie  widjtigfte  Folgerung  auö  ber  GntroicflmtgSlebre  unb  begrünbete 
bie  Slffentljeorie  ober  äffenabftammuug  beS  SDJenfdjen  in  einer  Sßeife,  bafj 
fie  feitbem  won  ber  öcrgleicf)enben  2lnatomic  nidjt  wieber  in  3n,e'fe*  9(- 
5ogen  worben  ift,  unb  na)  ifmt  Darwin  mit  feiner  „9lbftammung  be* 
3)ienfd)en"  (1871)  »ollftcittbtg  anfcblicäen  fonnte. 

tiefem  SBcrfe  folgten  eine  große  gütle  anberer  Arbeiten,  bie  fid)  faft 
auf  ba$  gefammte  Tlnerreicb  erftreefen,  bie  2Birbeltl)iere  jebodj  benorjugen, 
balb  gröf3er,  balb  fleiner,  balb  ßinsclbeiten  feftftellenb,  balö  Grgebniffe  »cr= 
fdjiebener  gelber  sufammenfaffenb  unb  babei  niemals  ben  großen  ©eficfite* 
punft  bcr  generellen  (Sntmicfehing  au*  bem  Singe  »erliercnb,  unb  barai* 
fd)toffen  fieft  eine  9teil)e  ^ufamntenfaffenber  3lrbeitcu,  bie  in  erftcr  Sinie  ju 
.ftanbbüdjem  für  ben  atabemifdjen  Unterridit  beftimmt  waren. 

Gr  begann  mit  feinen  „55orlefungen  über  oergleid)enbe  9lnatomic"  1864 
unb  ließ  biefen  weitere  SefnMcber  folgen.  Sein  „.franbbueb  bcr  3lnatomtc 
ber  SBtrbeltlnere"  (1871)  unb  fein  „.ftanbbud»  ber  9lnototme  ber  wirbele 
lofett  iljiere  (1877)  finb  bie  Wrunblagc  be-?  afabemifeben  Unterridjtef  bcr  wr= 
gleid)cnben  9lnatomte  in  ganj  Großbritannien  gereorben.  Seine  ^bniiograpbie 
(1877)  ift  eine  (iintcttimg  in  ba*  Stubium  ber  9iatur,  wie  Tctttfcftlanb 


(El;omas  tjujley.   


235 


feine  beutst,  unb  all  bie  fleinen  älrbeiten  nrie  „®er  Rrebä  ober  bct§  Stubium 
ber  $oologie"  (1861)  ftnb  aU  gemeinoerftänblid)e  ©infüfirungen  in  ein 
fdjnrierigel  ©ebtet  roatirfdjeinlidj  unübertroffen.  Sßon  bem,  roa3  $eber  weife, 
füfirt  £urlen  feine  Qufyöxer  ju  bem  Sßiffen,  baä  man  roobl  uon  einem 
^urdjfdmittlarät  erwarten  fann,  »on  ba  aus  5U  bcn  örunbjügen  aller 
.Soologie  unb  fdiliejsttd)  ju  ifjven  legten  Problemen  unb  roeittragenbften  3$er= 
aOgemeinerungen.  „©in  Stücf  ftretbe"  (1868),  „&efe"  (1871),  „Sie 
£ot)lenbilbung"  (1870)  finb  nafjeju  gleite  SDieifierftüdcbeit.  3>er  engtifdie 
(Uebilbete,  ber  Ijeute  über  bie  allgemeinen  Grgebniffe  ber  6f)allengererpebition 
ober  über  ben  Umfdmmng  in  ber  geologifdjen  gorfdjung  fid)  juuertäffig  be^ 
leln-en  will,  ot»ne  fetbft  eine  ganje  gadjlitteratur  ju  fhtbiren,  wcnbet  fic^  an 
4?ujlen3  „33iotogifd)e  unb  ©eologifdje  $i*curfe". 

2Bie  gurtet;  aU  »ergleidjenber  2lnatom  Äarl  ©egenbaur  nidjt  erreidjt, 
fo  ftetjt  er  al$  fnftematifdjer  93iolog  aud)  hartem*  größtem  jünger, 
©ruft  £ädet,  nad).  9Jttt  beffen  „©cncreHcr  9)Jorpf)ologie",  „3lntf»ropogenie", 
ober  feloft  beffen  populärer  „9fatürtt<f>er  Sd&öpfungegefdjidite"  fann  fid) 
feinet  feiner  SBerfe  meffen,  rote  bie  Seiftungen  biefes  $aumeifter$  beä 
©nftems  ber  gefammten  Seberoelt  überhaupt  in  ber  ©egenroart  unübertroffen 
baftet)en,  aber  barum  ftef)t  £mrlen  bod)  unter  ben  $yaf»nbredjern  be3  ®arroU 
niämuS  in  ber  erften  9<eil)e,  wenn  aud)  ber  Sdjroerpunft  feiner  Seiftungen 
in  feiner  Arbeit  für  bie  SMtanfdwuungscntroicflung  feiner  3e'*  ^3*- 

9111  |>urlen  fein  afabemtfdjeä  Sef)ramt  in  Sonbon  antrat,  mar  es  um 
bie  naturroiffenfdjaftlidic  SHlbung  ©rofjbrttanmens  fdjlimm  beftelit.  'Sie 
englifdjen  Untueriitäten  Ratten  nod)  nidjt  einmal  felbftänbige  naturnriffem 
fdmftlidje  ^rofeffuren,  aufjer  fo  weit  e«  ba«  mebicinifdje  Stubium  unbe= 
bingt  forberte.  3luf  ben  großen  ©nmnafien  ©nglanb*  in  ©ton,  .f)arron>, 
2Bind)efter  gab  e3  überhaupt  nod)  feinen  naturrotffenfdjaftlidjen  Unterridjt; 
bie  tedmtfdje  93ilbung  mar  nod)  in  ben  ftinberfdjnf)e)t  unb  madjte  eben  if»re 
erften  fdjüdjternen  Saufuerfudjc.  Staatlidie  s3>olf3fdmten  gab  e$  nod)  nid)t. 
®a3  gefammte  Sdmtroefen  mar  bem  ^rioatuntcmefimeit  überlaffen  unb 
ftanb  auf  ber  niebrigften  Stufe.  Ueber  Glementarunterridjt  unb  SBibelftunbe 
fam  man  nur  in  ben  größeren  Stäbten  f)inau*,  unb  roo  Sprad»unterrid)t 
ertt»eilt  tourbe,  ba  bc5og  er  fid)  einzig  auf  Satein  unb  Okiecfiifd). 

1854  fprad)  Surlep  in  ber  <£t.  9J?artin3  &all  in  Sonbon  junt  erften 
HHale  über  naturroiffenfdjaftlitfje  SHlbung.  „lieber  ben  crjieberifdjen  9Bcrtl) 
ber  naturgefdnditlidben  2Biffenfd)aftcn"  tautet  ber  'Xitel  ein  wenig  fteif; 
unb  feitbem  £»at  er  biefe§  gelt»  nid)t  mebr  an*  bcn  9lngcn  oerlorcn.  Db  er 
1868  in  ber  2lrbetter=2ffabemie  in  Süblonbon  über  liberale  SMlöung  unb 
ttjre  Duellen  fprad),  ob  er  1880  mit  feiner  ;}febc  „ÜKaturmiffcitfdjaft  unb 
©eifteSbilüung"  ba*  Mason  College  in  SMrmingtiam  eröffnete,  ob  er  1884 
alä  Sorb  ;)iector  ber  llnioerfität  Slberbeen  über  Unioerfitäten  in  SBirflidjfeit 
unb  ba$  3beal  von  Unioerfitäten  fprad),  oöer  1876  bie  3ob,n  .^opfin? 
Unioerfität  in  Baltimore  mit  feiner  3?cbc  über  „Unioerfität^bilbung"  er= 

16* 


236 


  2UejanJ>er  <Ei I le  in  (Slasgom.   


öffnete,  06  er  über  baS  Stubium  bcr  'Biologie,  beu  ßtemcntarairterridjt  in 
bcr  piwftologie,  über  baS  tnebicinifc^e  Stubium,  über  bie  Stellung  bcS 
Staates  jutn  Slerjteberuf,  über  bie  33eäiel)ung  ber  biologifdjen  SBiffen* 
f triften  3ur  -Kebicin  ober  über  tedjnifdje  Slusbilbung  fprad):  allüberall  war 
fein  Streben  barauf  gerietet,  ben  Siatitrtotffcnft^aften  ju  ber  Stellung  in 
bcr  mobernen  allgemeinen  unb  gelehrten  Bilbung  in  oerljetfen,  bie  tfjrer 
Sebeutung  für  bie  Segrünbung  einer  eigenen  Sßettanfdiauung,  für  bie 
2(uSbübung  beS  ©eifteS  unb  bie  Sdjärfung  unb  Uebung  bcr  Sinne  enfc 
fpricfjt.  Um  biefem  gitte  $u  gelangen,  f>at  er  feine  3Müf)e  unb  feine 
9lnftrengung  gefreut  unb  ift  über  merjig  ,"\af)re  lang  ber  güf)rer  ber 
mädjtigcn  -Bewegung  jur  -Btobernifirung  ber  2Ulbung  in  ©rofibritaimien 
gewefen.  i^m  Sonboner  SdjulauSfdjui)  bat  er  ben  Äampf  gegen  ben 
keligionSunterrtdjt  mit  feinen  mt)tl)ologifd)en  Scnbeujen  gefönten,  unb 
als  eS  1870  barüber  $um  2$af)lfampfe  fam,  feine  Sacbe  in  3äf)cr  3trbcit 
•mm  Siege  geführt,  .steinern  einzelnen  9)Janne  oerbanft  ©nglanb  fo  viel 
t)infid)tlid)  ber  3lnSbreitung  ber  naturwiffenfdiaftlidien  SMlbung  im  legten 
9Kenfd)enatter.  (Sr  Ijat  feinem  SBolfe  bie  Sefjrcr  auSgebtlbet,  baS  Sdnil* 
gefetj  reformiren  Ijelfcn,  bie  UnterriditSpläne  umgeftaltet  unb  in  ber 
Ijöfjeren  33ilbung  ber  iUüdjerroeiSlteit  mandjen  fräftigen  Stof?  »erfefct  Sßknn 
Satein  unb  ©riednfdj  in  biefer  3^it  ein  gutes  £fieil  oon  tfyrcm  SWonopol 
eingebüft  liabcn,  fo  gebort  baS  aud)  auf  $urlei;§  9iedjnung. 

Gftenfo  gut  rote  Sötern  unb  ©riednfdj  fönnte  man  ja  Paläontologie 
5um  töern  ber  {(öfteren  Sdmlbilbung  madjen!  „Unb  cS  ift  rounberbar,  eine 
wie  genaue  parallele  311  ber  ftafiifdjen  Salbung  fieb  mit  bcr  Paläontologie 
Sieben  liefte.  (Jrftlid)  fönnte  id)  ein  fo  trodeneS,  in  feiner  Terminologie 
pcbantifcbeS  unb  bem  jugenbtieben  ©eifte  fo  roibrigeS  ofteologifdjeS  Sebr* 
bud)  aufbauen,  baß  id)  bie  neueren  berühmten  öeroorbringungen  uon 
Sdjulbirectoren  in  all  biefen  rBorjügen  bamit  ans  bem  $elbe  febtüge.  Tann 
fönnte  id)  meine  jungen«  auf  lcid)tc  goffilien  einbrillen  unb  all  tbre  ©e* 
bädrtmfifraft  unb  ifiren  Sßerftanb  burd)  bie  3lnroenbuug  meiner  ofteo- 
grammatifdjen  Siegeln  auf  bie  SluStegung  ober  ßonftruetion  biefer  örudp 
ftüde  au'S  Sidjt  bringen.  ISenen,  bie  in  ben  böberen  Älaffen  fäjjen,  fönnte 
id)  bann  ciirjelnc  .Slnodjcn  geben,  um  aus  ifmen  Sljicre  ju  bauen,  unb  bem, 
bcr  es  in  ber  ßr^eugung  uon  Ungefjeuent  in  bcr  genauften  Uebereim 
ftimmuug  mit  ben  Regeln  am  roeiteften  brädjte,  fönnte  id)  gute  ßenfuren 
unb  Prämien  geben.  TaS  entfpräd)e  bem  2?crfemad)cn  unb  2luffäfce= 
fd)reiben  in  ben  tobten  Spradjen.  2öenn  ein  großer  »crgleidjenbcr  Anatom 
biefe  Seiftungen  fäfie,  fo  möchte  er  allcrbmgS  feinen  .Qopf  fdwtteln  ober 
ladjen.  5lber  roie?  2$itrbc  eine  berartige  .stataftropbe  »ielleidit  bie  Parallele 
serftörcu?  SBaS  würbe  wollt  Cicero  ober  ^oraj  über  bie  Crjcugung  ber 
beften  berartigen  Sdjullciftungen  fagen?  Unb  roürbe  fidr^erens  uidit  bie 
Cbren  juljatten  unb  fjinauStaufcn,  wenn  er  bei  bcr  engtifdjen  9luffübrung 
feiner  eigenen  Stüde  .wgegen  fein  fönnte?" 


  (Ebomas  ijurley. 


237 


Srofc  ber  jabtreidjen  .Kämpfe,  in  bic  Zuriet;  ücnoicfett  warb,  bat 
vicllcidit  feiner  feiner  bebeutenben  geitgcnoffen  weniger  geinbe  gebäht  als  er. 
•tfadjbem  er  einmal  ben  tbeologifdien  ."paf;  übcrwunben  hatte,  ben  ifjtn  feine 
Slffcntbeorte  eingebracht  batte,  unb  man  nur  nod)  au*  beut  SBerfted  auf  ihn 
fdjimpfte,  bat  er  felbft  bei  feinen  natürlichen  3lntagoniften  3tnertennung, 
ja  $erounberung  gefunben.  3"  i&tr  großen,  nicht  politifdjcn  TageSfrage 
pflegte  man  auf  feine  ÜKcinungsäuBerung  31t  fpannen  unb  feinen  SBorten 
ju  laufeben.  3coe  wiffenfdhaftlidje  Gbre  ift  ihm  511  Tbeil  geiuorbeu.  ^ebe 
Gbre,  bie  ifjtn  genehm  gewefen  märe,  bätte  ihm  fein  SSotf  unter  liberaler 
tüie  unter  conferuatioer  Regierung  gegeben,  aber  er  hatte  feine  eigene  3ln« 
fdiauung  über  bicfe  Tinge  unb  hätte  ben  Soröstitcl  fidjcrlid)  freunblid) 
abgelehnt:  „3d>  ^abe  ycrfönlid),"  fdjrteb  er  vor  einem  SMertetjahrbunbert, 
„f einerlei  Vorliebe  für  2lfabemien  nach  conttncntatcm  3)Jufter  unb  nod) 
weniger  für  ba§  Softem,  auSgejeicbnet;  9)?änner  ber  SiSiffenfcbaft,  ber 
Sittcratur  ober  Äunft  mit  Drben  unb  Titeln  51t  fdwtüden  oöer  fie  burd) 
Sinecuren  ju  bereitem.  Tie  sJ?äuner  ber  2i>iffenfd)aft  braudjen  nur  ihren 
(inftäubigcn  Tagelobn  für  mehr  als  ein  auftänbigc*  Tagcmerf,  unb  bie 
SReiften  oon  uns  mürben  wohl  aujjerorbenttid)  jufriebcn  fein,  wenn  mir 
nn*  für  unfcre  unabläffigc  Slnftrengung  bei  Tag  unb  bei  9iadbt  ba§  ©e= 
balt  oerbienen  fönnten,  baä  in  Gnglanb  ein  Ainansfammerfecrctär  erfter 
.stlaffe  begebt,  ohne  bajj  er  barum  feine  gälngfeiten  irgcnbmic  fiditlicb  an» 
juftrengen  hätte.  Ter  emsige  3lbetöftern,  ber  nad)  meinem  Urtbcit  einen 
^Jbilofopben  flcibet,  ift  jeuer  9iang,  ben  er  in  ber  Sichtung  feiner  ftaa> 
genoffen  einnimmt:  benn  fie  finb  bie  einjigen  juftänbigeu  9üd)ter  in  fotdien 
Tingen.  'Jleroton  unb  Gnoier  haben  fid>  eruiebrigt,  als  ber  Gine  neu 
2loel  annahm  unb  ber  2lubere  ein  SBaron  beS  9?eid>c3  mürbe.  Tie  grojjen 
^fänner,  bie  mic  2)Jicf)ael  ^araban  unb  ©corge  ©rote  in  ihr  ©rab  ftiegen, 
febetnen  mir  [bie  SBürbe  ber  SBtffenfdbart  fchr  fein  unb  riditig  üerftanben 
ju  baben,  als  fie  allen  berartigen  uneebten  ?ßufc  ablehnten." 

2ßer  gurten  einfeitig  aU  9?aturfor  jeher  bejeidmen  wollte,  tbäte  bei 
aller  Sebcutung  biejes  28orte3  ihm  Unrcdit.  v)hm  felbft  fdhien  e>3,  aU 
füblte  er  fid)  von  ber  ^ngenieurfunft  am  ftärfften  angezogen,  aber  im  Äcntc 
feiner  Begabung  mar  er  ^bilofopb  unb  ein  ^bilofopb  hohen  Wange*.  Gin 
fertige*  „Stiftern"  in  adjt  kMnben  hat  er  allertung*  nidit  binterlaffen,  aber 
jum  23aue  ber  moberneu  2i>ettanfcbauug  hat  er  mabrjdieintid)  mehr  33aiu 
fteine  geliefert  als  jeber  anbere  3eitgcnoffe.  Unb  baju  befähigte  ihn  auöer 
feinem  umfaffenben  SBiffen  feine  pbilofopl)ifd)e  Begabung  unö  feine  philo» 
fopbtfd)e  23i(bung. 

?yür  £urlen  ift  TeScarte*  ber  Später  ber  mobernen  ^bilofopbie.  „Sein 
allgemeines  Softem  oon  ben  Tingen,  feine  SSorfte Hungen  »on  wiffenfdhaft'- 
licber  2Retbobe  unb  »on  ben  SBebingungeu  unb  ©renjen  ber  ©eroijtyeit  finb 
weit  wcfcntltdier  unb  beäeicbnenbcr  mobent  als  bie  eine-?  feiner  uumittel« 
baren  Vorgänger  unb  9fad)folger."    Gr  ift  ber  mürtuge  ^fadifolger  tied 


238    2IIejanbet  (Etile  in  (Slosgoi».   

erftcn  2lgnofriferS  SofrateS,  bcr  eS  nid)t  bis  ju  eigentlichen  Schülern  gebradjt 
fjat,  unb  eine  ©eneration  nad)  bem  bereite  jenes  nrilbeS  Spiel  ber  @in= 
bübungSfraft  einfefct,  baS  Sßtato  fennjeidmet.  „Tie  $ßfatomfd)e  ^5f(Uofopl)ie 
ift  roabrfd)einlid)  baS  riefigfte  33eifptel  beS  unnriffenfdjaftlidjen  ©ebraudjeS 
ber  ^fiantafie,  baS  es  giebt,  unb  bie  ÜDienge  Schaben,  bie  feine  Sbeenlejire 
auf  ber  einen  «Seite  unb  feine  unfetige  Theorie  »on  ber  ©cmetnljeu  ber 
■Diaterie  auf  ber  anberen  unmittelbar  ober  mittelbar  bem  Karen  Teufen 
getljan  fjaben,  ift  fd)roerlid)  ab5ufd)äfeen."  ftf)tn  ftef)t  ber  moberne  Weift 
gegenüber.  Gr  ift  ntd)t  „ein  ©eift,  ber  ftets  »erneint  unb  feine  £uft 
einjig  am  Oiicberreifjen  finbet.  ©benfoioenig  freilid)  einer,  ber  lieber  Sufu 
fdjlöffer  baut  als  ganj  auf  baS  33auen  oersid)tet.  @3  ift  ber  ©eift,  ber 
ba  arbeitet  unb  arbeiten  toirb  „otnte  £aft  unb  ofnte  9faft",  eine  9Baf)rf)eit 
nad)  ber  anberen-  einerntet  in  feine  Scheuern  unb  ben  3;rrtt)um  mit  un= 
auSlöfd)lid)em  ^euer  oertilgt." 

„Qn  ber  Reform  ber  $tn(ofopf)ie  feit  TeScarteS,"  meint  £>urlep, 
„finb  loofjt  bie  größten  unb  frudjtbarften  ßrgebniffe  ber  Tl)ätigfeit  beS 
mobernen  ©eifteS  —  pielleid)t  feine  einjigen  großen  unb  bauernben  @rgeb= 
niffe  —  biejenigen,  ioeld)e  Serflen  unb  $ume  juerft  in  ifjren  SBerfen  ge= 
boten  tiaben.  Ter  eine  t)ot  ben  ©runbfafe  oon  TeScarteS,  baß  abfotute 
©etotBbdt  nur  ber  Äenntnif?  ber  Tliatfadjen  beS  SBetoufjtfeinS  eignet,  bis 
ju  feinem  logifd)en  Grgebntfi  burd)gefüf)rt;  ber  Slnbere  bat  bie  Äritif  beS 
SarteftuS  auf  ba«  ganje  SReid)  ber  geroöfinlid)  als  3£af»rf)etten  Eingenommenen 
Säfee  auSgebefmt  unb  nadbgenriefen,  baß  nur  in  bcr  Wletyr3aty  ber  nudjttgen 
£?älle  r>on  bem  33efit$e  flarer  Grfenntmf?  foroeit  entfernt  finb,  ba&  mir  fagen 
fönnen,  mir  befaßen  überhaupt  feine;  bafj  eS  bcSroegen  unfere  ?ßftid)t  ift, 
ftiUjufdnoeigen,  ober  minbcftenS  uns  jum  2luffd)ieben  beS  Urteils  ju  be* 
rennen." 

3n  .&tnfid,t  auf  bie  pielcu  fragen,  auf  tocld)c  mir  empirifd)  nod) 
feine  2lntioort  ju  geben  oermögen,  nennt  ftd)  ^ur(et)  einen  2lgnofltfcr,  feine 
Tenfioetfe  2lgnofticiSmuS.  TaS  SZBort  ift  natürlid)  bem  bireften  ©egenfafc 
511  ben  gnoftifdjen  Sectcn  ber  früfpi  cbriftlidjeu  iiirebe  entfprungen;  unb 
ber  begriff  rechtfertigt  fid)  bamit,  baft  es  beffer  fei,  uns  unfer  Unocrmögen, 
bie  leisten  SBcltanfdjauungSfragen  ju  beantworten,  cinjugefteben,  als  uns 
burd)  eine  bogmatifefte  fdjetnbare  Slnttoort  über  unfere  Unroiffen^eit  binroeg* 
jutäufeben.  Unb  nid)t  nur  bicS :  über  oiele  rein  gefdnd)ttid)c  fragen  roiffen 
mir  abfolut  3Jid)tS.  So  wirb  uns  ioab/rfd)cinlid)  bie  gefd)tcbUtd)e  ©eftalt 
beS  9iabbi  oon  9iajara  für  immer  in  Tunfei  gefüllt  bleiben.  3lud)  bter 
ift  eS  beffer,  loir  madjen  uns  nidjt  mit  .£>tjpotf)efcn  blofjen  91Mnb  oor, 
fonbern  befebeiben  uns  mit  unferem  DJiditroiffen. 

Tiefes  efji*ltcr)e  Gingeftänbni|3  bcr  Unji.länglicbfcit  ber  eigenen  (Srfenut- 
uifi,  bcr  loaljrc  3lgnofticiSmuS,  ift  aber  nur  bcr  SBatcr  beS  2Bunfd)cS  nad) 
mcfjr  Riffen,  nidjt  fein  Tämpfcr,  unb  es  wäre  Tf)orf)eit,  mit  bcr  Tt)eologie 
geiotffe  GrfcbetnungSgebtete  als  bcr  mcnfd)licben  (Srfcnntnif?  überhaupt  im- 


  (Eltomas  tjnjlev.  


339 


jugänglid)  511  oerfdjreien.  ©egentf)eil,  in  mandjen  fünften  roiffen  rotr 
rueit  mef)r,  als  bie  Äirdje  sugeftcfjen  null,  unb  bieS  gilt  uor  3lllem  »on 
bet  narürlidjen  ©runblage  beS  SebenS. 

2lm  8.  9to»ember  1868  fnelt  £urlet)  in  ©binburgf)  einen  Sonntags« 
»ortrag  über  Protoplasma.  £aS  mar  bamalS  ein  ftarfeS  Stücf  unb  um 
fo  mefjr,  als  fid)  ber  Vortrag  in  feinem  Äem  gegen  baS  ©efpenft  einet 
„SebeuSfraft"  roanbte,  baS  in  £eutfd)lanb  bamalS  fdjon  geraume  3ett 
burd)  &erbart  feinen  XobeSftofj  erhalten  £>atte.  ^ene  fticfftofffialtige  ftofjlen« 
ftoffoerbinbung  ift  „lebenbig",  fie  ift  ber  alleinige  Sxägcr  beS  Sebent, 
Seben  ift  ifjre  ©igenfdiaft,  ttjr  9Jterfmat,  unb  obglcidj  mir  nod)  nidjt  im 
Stanbe  fiub,  auf  djemifdjem  SBege  lebenbigeS  Protoplasma  51t  erzeugen, 
fo  ift  bod)  bie  Hoffnung  gered)tfertigt,  bafe  baS  bercinft  nod)  gelingen  roerbe. 
2lts  £urlen  1870  jum  präfibenten  ber  British  Association  ert»äl)lt 
mürbe,  gab  er  in  feiner  präfibentenanfpradje  über  „Biogenesis  and 
Abiogenesis"  ben  gcfd)id)tltd)en  ^intergrunb  ber  Jyrage,  inbem  er  bie  ©nt* 
midlung  ber  Äeimtfieoric  »on  Francisco  3iebi  bis  in  bie  öcgenroart  ocrfolgte. 

2lllcrbtngS  giebt  eS  and)  in  iTeutfdjlanb  eine  Stiftung,  bie,  fid) 
flinter  nidjt  roegjuleugnenbe  erfenutnifjtfjeoretifdie  itfwtfacfjen  ocrfd)ansenb, 
»on  einer  unüberbrüefbaren  Äluft  smifdien  ©eift  unb  SDtatcrie  rebet  unb 
bie  »on  bem  ©efid)tSpunfte  auS,  bafe  uns  baS  SBefen  alles  Stoff« 
lidjen  abfolut  unerfennbar  bleibt,  mag  man  bie  SDiaterie  nun  in  „Äraft« 
punfte"  ober  in  materielle  3ltome  auflöfen,  fidj  felbft  ^ibealiSmuS  nennt  — 
aber  l)ier  ift  baS  alte  9Üort  in  einem  neuen  Sinne  gebraucht;  cS  ift  nid)t 
mef)r  ber  ©egenfals  ätutfdjeit  Stoff  unb  ©eift,  ober  2Bett  unb  Sott,  roie 
Um  bie  Geologie  beS  adjtjefmten  ^afirfmnberts  auSgebilbet  fjat,  nad)bem 
fie  ben  ©egenfafc  jwifdjen  ©ort  unb  Xcufel  »on  ber  fortfdjreitenben  Silbung 
aufzugeben  gejmungett  roorben  mar.  £>ie  3unaf)inc  erfenntmfjtbeoretifdjcr 
©rfafjrung  f»at  biefe  Äluft  oiclmefir  überbrüdt,  unb  biefe  Ueberbrüdung 
fointnt  5ttm  9luSbrud  in  einem  SEBorte,  baS  ^üdmer  unb  SBunbt,  &ädel 
unb  2u  prel  in  gleicher  SBetfc  braudjen  unb  baS  oon  ©oetfic  poetifd)  »er« 
flärt  roorben  ift:  in  bem  SBortc  SHontSmuS.  ©ine  „SBeltanfcbauung  auf 
moniftifdjer  örunbtage",  mag  fie  fid)  nun  als  natitrroiffenfd)aftlid)e  ober  als 
überfinnlidje  bejeidmen,  f)at  fid)  bereits  sunt  Stidnoort  b,erauSgebilbct. 
„5Woniftifd)"  ift  baS  Äampfroort  gegen  ben  bogmatifdjen  Dualismus  ge< 
roorben,  ben  bie  ^uben  einft  ben  Perfern  ent  leimten  unb  ber  feit  brittcfialb 
,3af)rtaufenbeu  fid)  unaufl)altfam  ausgebreitet  l)at.  ilt'od)  liegt  er  in  aller« 
l)anb  Spracfjfrnftallen  feftgefroren  oor  uns,  unb  fobalb  finb  mof)l  feine 
(Spuren  nidit  ans  bem  Tenfen  ©uropaS  roeg}uroifd)en.  2lber  bie  Sßiffen« 
fd)aft  roeifj  bereits,  baß  Seele  unb  Seif»,  ©eift  unb  ÜJiaterie,  Äraft  unb 
Stoff  nur  3lbftractionen  ünb,  bie  nid)t  als  objectioe  Sfiatfadfjen  gelten 
fömten,  roeil  fie  unferem  ©rfenntnißftanbpunfte  nid)t  mefjr  entfpred)cn. 
Äenncn  mir  bod)  feinen  unbewegten  Stoff,  feinen  materielofen  ©eift  unb 
feine  Seele  of»te  Seib.    ©rft  mit  bem  felbftftänbigen  Sellenteben  entfielt 


2^0 


  Ulejanber  CHIe  in  (Slasjom.   


roa*  roir  in  feinen  leeren  Gntundlungcn  als  Seele  bejeidmen.  9)Mt  ben 
einzelnen  Dogmen  ber  überlieferten  Religion  regtet  bie  beutfdje  &*iffenfdwit 
nidit  mel)r.  lefcteä  ^rineip  ift  es,  roaS  fie  nod)  ju  befämpfen  bat. 
©nglanb  bagegen  ift  non  bem  Süortc  2)iomsmu3  cd*  ttampfroort  fanm  nod» 
berührt.  S)a3  nadjgelaffene  Keine  SBud)  oon  ©eorge  3of)n  9iomaneS  „Mind 
and  Motion  and  Mouism"  f)at  in  ©nglanb  ein  Unoerftänbnifj  gefunben 
roie  faum  je  ein  anbereS  pbilofopljifd>e3  23ud).  Fontanes  mar  ber  33Jelt= 
anfd)auung  feiner  (*pod)e  31t  weit  »orauS,  um  bei  feinem  SBoffe  2lnflang 
ju  finben.  Unb  bennod)  ift  auf  bie  Trauer  biefer  3tnfd)ounng  ber  Sieg 
fidjer.  2Sie  9llbert  Sange  einft  fagte:  „ftmmer  roieber  rotrb  bie  3){enfd)b,eit 
ben  SHamt  freubig  begrüfjen,  ber  es  »erftefyt,  in  genialer  Steife  alle  5*ilbung3s 
momente  feiner  Seit  benufeenb,  jene  Einheit  ber  ÜBelt  unb  beS  ©eifte*; 
lebenS  ju  fdjaffen,  roeldje  unferer  ©rfemttnij?  uerfagt  ift,"  fo  fann  aud)  nie 
eine  SBeltanfdjauuug,  bie  roefenttidj  in  einem  grofjen  gragejetdjen  beftet)t, 
bie  2Beltanfd)auung  ber  Staffen,  ber  Golfer,  ber  ganjen  Gulturmenfd)l)ett 
werben;  fonbern  biefe  fann  immer  nur  in  einer  poftttoen  Ueberjeugung 
beftefien.  ®er  2lgnoftiri3mu8  mag  eine  nod)  fo  rotdjttge  ^afe  im  englifdjen 
©eifteäleben  non  geftern  unb  bleute  bebeuten,  bie  neue  SBeltanfdjauung  ift 
er  nod)  ntd)t.  Soweit  er  nidjt  eine  blof?e  ©rmübungeerfdjetnung  bes  Kenten* 
barftettt,  bie  e§  bem  ©egner  in  bie  Sd)ul)e  fdjiebt,  ben  Sewete  für  bie 
SHtdjtigfett  feiner  9fnfd)auung  anjutreten,  ift  er  bewußter  SfepticismuS,  wie 
er  in  3e'ten  heftiger  3Beltanfd)auungäfämpfe  tyaufig  auftritt,  roie  er  aber 
nod)  niemals  eine  mefyr  als  »orübergefiettbe  9iolle  in  ber  2Beltanfd)aHung*= 
entroidlung  gefpiclt  Ijat. 

2lber  bamit  fott  bem  SlgnofticismuS,  ber  in  ©roßbritannien  5mei 
SRiHionen  Slnfiänger  jaulen  foll,  fein  gefdncfjtlidjeö  Sßerbienft  burdiaus  nidbt 
abgefprod)en  werben.  3n  Otiten  tyodjgcfpannten  2BunberglaubenS  famt  ber 
SfepttäSmuS  ebenfo  am  ^Slatje  fein  rote  in  Seiten  ber  2luffd)lief;ung  großer 
unbefannter  9iaturgebiete  bie  füllte  £t)potbefe,  baS  £inan3gel)en  über  bie 
bereits  ganj  fidler  geftcllten  Grgelmiffe  unb  bie  Eingabe  an  ein  grofie* 
^Srincip.  £l)atfäd)lid)  Ijat  ja  auf  biefem  SBcge  bie  ungeheure  Grroeiterung 
ber  wiffenfd)aftlid)en  ftenntnift  ftattgefunben.  Senor  bie  $bee  nid)t  wrf»anbcn 
ift,  läf3t  fid)  fd)led)t  planmäßig  erperimentiren.  Ter  StfgnofticiämuS  ift  ein 
widriges  ©lieb  namentlich,  in  ber  religiöfen  ©ntaricflung  beS  englifeften 
aSolfeS,  unb  roer  ben  ftarren  paffiwen  SBiberftanb  fennt,  ben  biefe?  23olf  ju 
leiften  »ermag,  ber  wirb  feine  33cbeutung  ju  fdjäfcen  miffen. 

2>ie  Stellung  ber  breiten  Sdnditcn  ber  englifd)en  ^coölferung  311  ben 
(Sinjelticiten  ber  religiöfen  Ueberlieferung  »or  anbertljalbem  2)tenfd)enalter 
roar  eine  ganj  eigenartige  unb  ift  c-5  511m  2fieil  nod)  jefet.  3«  %ol^e  ber 
93ibelftunben  ber  confeffioncllcu  Sd)ulen,  bereu  Scbmerpnnft  in  ber  (Sin- 
Prägung  bes  genauen  ^nfialt*  bes  alten  unb  neuen  SeftamenteS  lag,  roar 
ber  ®urd)fd)nitt*brite  unb  ntellcidrt  nod)  mebr  bie  $ur<$fd)mtt*britin  mit  ben 
(»eiligen  Sd)riften  ifirer  3Jeltgion  in  einem  9)iaf?e  »ertraut,  roie  man  c-5 


  (Eljomas  Qufley.   


fetbft  in  beutfchen  proteftantifdjcn  ^farrhäufern  mahrfd)etnlid)  feiten  pnben 
würbe.  Siegt  bod)  ber  Schwerpunkt  be*  beutfchen  proteftantifd»en  Religion*: 
unterrichte'?  auf  ganj  onberem  Gebiete,  nämlid)  in  ber  ©nprägung  be$ 
Sutherifchen  ftatcdjtemus,  in  ber  Erlernung  einer  grof?en  Stnjabt  von  3W»el* 
fprüdjen,  b.  t).  furzen  Gitatcn  meift  fehr  allgemeinen  ^ntiolt^,  unb  in  ber 
Aienntnife  ber  „bibtifchen  Gefdjichte",  b.  f>-  etnjelner,  befonberS  nnjielienbcr 
©rjäljhmgen,  bie  in  befonberen  Sehrbüchern  Bereinigt  finb  unb  nur  eine 
9Xu*maht  barftellen.  ^tefe  Vertrautheit  ber  engtlfdjen  Gebitbctcn  mit  ben 
^itigeu  Schriften  fetbft  mußte  nottjgebrungen  baju  führen,  bajj,  100  immer 
eine  Ärittf  ber  heiligen  Ueberlieferung  auftauchte,  fie  fid)  gegen  bie  (Snnjcl= 
beiten  ber  biblifdben  Gr^ätjtuugen  wanbte.  2Bät)renb  in  2>eutfchlanb  ber 
fritifchc  l'orftof?,  ganj  ber  abftracteren  Begabung  be*  £>eutfd)cn  entfprccbenb, 
burd)  geuerbad)  unb  Strauj?  principiell,  theoretifd),  auf  ben  .Uernpunft  ber 
retigiöfen  Trabition  geriditet  warb,  töfte  fid)  in  ßnglanb  ber  9lngriff  in  eine 
enblofe  9){enge  Ginjctgeplänfet  über  jeben  befonberen  ^ßunft  auf.  ®a  jebodj 
bie  Slngrcifer  in  gotge  beffen  faft  immer  theitweifc  auf  bemfetben  SHobcn 
ftanben  wie  bie  Angegriffenen,  fo  »ertor  fid)  faft  jeber  fotehe  Streit  in  bie 
Grörbrung  »on  9Jebenpunften,  wa§  Iangfam  5U  ber  Betrachtung  ber  Jyrage 
führte,  ob  nnr  übet  ©Ott  unb  göttliche  Singe  überhaupt  GtmaS  wiffen 
fönnen.  .§ier  mar  nun  Üante  Ginftufj  ctioa  feit  ber  9)iitte  ber  merjiger 
3abre  unfere3  .^ahrhunbertä  entfd)eibenb.  2Bemt  unferer  Grfenntnifi  einmal 
Grenjen  gefegt  finb,  unb  mir  ÜHidjtS  ju  benfen  »ermögen,  wass  über  Siaum 
unb  3«t  hinau^liegt,  bann  ift  alle«  Göttliche  minbeftenS  unferem  birecten 
GrfenntntfcDermögen  unsugängüd).  Gelingt  el,  ben  Nachweis  511  führen, 
bafs  bie  Singe,  über  bie  bie  Theologen  Gtioa*  51t  wiffen  uorgeben,  wie 
persönliche  Itnfterblidjfeit,  Srcietnigfett  ber  Gottheit,  Bejichungen  bc* 
9)Jenfd)cn  ju  einer  übernatürltdjen  2Belt,  ja  bereu  itorhanbeitfcin  überhaupt, 
jenfeit-j  ber  Grenjen  untere*  heutigen  Grfemttniijpcrmögens  liegen  —  bann, 
ja  bann  ift  ber  gefammten  „pofitiuen"  Rheologie  ber  9joben  unter  ben 
güfjeu  meggejogen.  Sann  ift  fie  auf  ihrem  eigenften  At'lbe  gefchlagcn,  mit 
SBaffen,  bie  fie  fetbft  oft  gebraucht  unb  bereu  Veredjtigung  fie  bamit  an= 
erfannt  fjat. 

Siefen  .Uampf  in  Großbritannien  aufgenommen  51t  haben,  ift  baö 
Sßerf  bee  3tgnofticis>muji,  beffen  Bebcntung  für  ba§  ^nfelrcich  in  Seutfd)* 
Ianb  bisher  fcuim  oerftanben  worben  ift.  $ft  -ügnoftifer  gleicbbebeutcnb  mit 
„üerfdjämter  Slthcift?"  i)ai  wart  gefragt,  ^>raftifd)er  3(thcift  ift  ber  Stgnoftifer 
atterbing*,  b.  h.  er  lehnt  jebe  Folgerung  au>?  betu  für  ihn  nicht  beroiefenen  t^ox- 
banbenfetn  eine*  Gottes  für  bae>  praftifdje  Seben  ab;  aber  potrbetn  bogmati« 
fchen  3lthetemus  eine*  Gl»arte3  Brabtaugb  ift  er  weit  entfernt.  Ser  9tgnoftici*= 
mit*,  ber,  ohne  fid)  51t  einem  Ignorabimus  511  verfteigen,  fich  adtfetjutfenb 
tlinter  ba$  Igiioramus  uerfdmnjt,  fyxt  in  mancher  .^»inficht  2Bunber  getban. 
Dbgleid)  er  in  theologifchen  Greifen  bem  Sltheiämus  gteid)  gehajjt  wirb,  ift 
er  bod)  weit  mehr  Wctbobe  ate  Sogma  unb  hat  babureb,  bai;  er  ben 


2^2    Jtlejanfcer  (Eitle  in  <5tasgon>.   

Streitpunft  uon  beut  tikbalt  ber  Dogmen  unb  bcm  SBortlaut  bet  3iibeC 
in  bie  hiftorifche  Siritif  »erlegte,  ben  religtöfen  kämpfen  ©rofebritannienä 
»iel  uon  ifjrer  Scfiärfe  genommen.  Um  in  bicfen  fritifchen  gragen  mit' 
reben  ju  fönnen,  muß  man  fchon  ein  flanjeS  £heil  pofttioer  iienntniffe  haben, 
unb  in  ber  3eit,  n>o  man  fid)  biefelben  erwirbt,  fühlt  fid)  ber  ganütismu* 
für  einen  f  eftimmten  Ölaubenspunft  gewöhnlich  siemltdb  ftarf  ab,  unb  fidjer 
nicf,t  jum  i>Zad^tt)eiIe  ber  Sernenben.  ätfenn  wir  gar  ntä,t  binreicbenbe 
Wittel  haben,  um  ba3  Original  be>3  „2i?orte3  Rottes"  feftjuftellen,  wie 
fönnen  wir  uns  ba  über  feinen  .Ofthalt  ftreiten? 

Wemanb  fann  emftlidf»  biefcm  Umfdjwuug  bie  3lugen  »erfcbliejjeu. 
gurtet)  feibft  fagte  einmal  für,}  oor  feinem  2bbe:  „33or  breifeig  Rohren 
galt  eine  .slritif  über  „3Mofeä"  bei  ben  meiflen  achtbaren  beuten  für  eine 
Sobfünte.  ^eftt  ift  fte  511m  9iange  eineä  blofen  ^eccabitlo  l)inabgefunfen, 
minbeftens  wenn  fte  »or  ber  ©efdncbte  9lbraham3  £alt  mad;t."  Sie  Sagen 
be3  neuen  Aeftameitte*  gelten  bei  ber  grof5en  9)Jaffe  ber  ©ebilbeten  ba* 
gegen  immer  noch  für  über  alle  ilritif  erl)abcn,  unb  if»rc  SSorauafefcungen 
finb  noch  immer  äum  großen  Steile  3ugleicb  bie  ber  »olfetfjümlicfjen  2Belt: 
aufcbauung  »on  bleute,  ©egcn  fte  wenbet  fid)  Surfen,  in  bem  33anbe  „9iatur= 
wiffenfdiaft  unb  dt)riftltdt)c  Ueberltcferung"  mit  »oder  Schärfe.  Sö?aS  ihm  »or 
2lßem  als  wünfcbenSwertb  erfdjeint,  ift  bic  Äfarlegung  ber  Shatfacibe,  „baf3 
bie  Sämouologie  bes  UrdjriftentbumS  jeber  ©runblage  bar  ift".  „Unb  hier  ift 
e$  oietleicbt  angebracht,  51t  wicberfjolen,  waö  ich  anberortä  immer  niieber  unb 
niicber  betont  babc,  baß  apriorifdje  i'orftellungen  über  bie  9Wöglidjfeit  ober 
Unmöglichkeit  be$  SBerljanbenfcinä  einer  (Mfterwelt,  raie  fte  baS  echte  Gbriftens 
tbum  »orauSfcfct,  feinen  Ginflufj  auf  mein  Senfen  blähen,  gür  micb  ift  bie 
Sache  nur  eine  grage  bei  33en)cwmaterial$:  genügt  baö  ^eroeismaterial, 
um  bie  Sbeorie  511  tragen  ober  nidjt?  9Jach  meinem  Urtheil  ift  e$  ober 
nicbt  nur  ungenügenb,  fonbern  ganj  ungereimt  bebeutungSloS.  Unb  aus 
biefem  ©runbe  müfste  ich  bie  Theorie  »erwerfen,  feibft  wenn  e$  feine 
pofitiuen  ©rünbe  für  bie  2lnnahme  einer  »ollftänbig  anberen  SMtanfdjauung 
gäbe."  Unb  er  ift  ber  Uebcrjeugung ,  bafi  bie  gefcfcidjtliche  ßntwicflung 
ber  -Dfenfcbheit  jum  grof5en  Theil  in  einer  33efeitigung  be$  Uebernatürtidjen 
auä  feiner  ehemals  behenfehenben  Stellung  f»efter)t.  Sie  grage,  wie  weit 
biefer  Vorgang  ftcb  fortjufe^en  hat,  ift  nach  feiner  9lnfd;auung  bie  grojje 
Streitfrage  unferer  3ett.  „Sie  ^ßhrafeologtc  be3  Supranaturaliämuä  mag 
ben  Seuten  noch  auf  ben  Sippen  fdbroeben;  in  2Birflicbfeit  aber  befeitnen 
fte  ftd)  äur  }Jaturwiffenfd)aft.  Ser  9tid)ter,  ber  am  Sonntag  mit  anbäcfrtiger 
3lufmerffamfeit  bcm  Safce  laufcht:  „Sine  .§ere  foffft  Su  trierjt  leben  taffen," 
weift  am  9Kontag  eine  Sltiflage  einer  alten  grau  megen  S3eherung  einer 
.Hub  aB  albente§  3c«!]  ah.  Ser  Sirector  eine§  Äranfenbaufe«,  ber  ben 
©rorcismu§  für  bie  vernünftigen  ^ehanblungSmetfen  einführte,  würbe  niöbt 
lauge  in  feiner  Stellung  bleiben.  Selbft  Äirdjenbudhführer  bcjrocifefn  ben 
i)Ju^cu  be>S  ßebetc-S  um  Regelt,  fo  lange  ber  9Binb  »on  Cften  fommt, 


  dt)omas  fjujley.   


2<*3 


unb  ber  SKuSbrud)  einer  Seudje  lägt  bie  ü)ienfd)en  nid)t  mefir  in  bie  Äird)e, 
fonbern  nad)  —  ben  Slbjugeröljren  gefjen.  $ro|  ber  ©ebete  für  ben  ©r* 
folg  unferer  Staffen  unb  bie  SebeumS  für  ben  Sieg  glauben  nrir  in 
SBirfltdifeit  an  ftarfe  Bataillone  unb  trocfeneS  Sßufoer,  an  bie  Äenntnifj  ber 
ÄriegSrotffenfdtaft,  an  21)atfraft,  ÜJiutr)  unb  SiSciplin.  $n  biefen  rote  in 
allen  anberen  praftifdjen  Singen  f)anbetn  roir  nad)  bem  Sprud)e  Laborare 
est  orare,  geben  $u,  baß  von  bem  Senfen  6cf»errf<^te  Slrbeit  bie  einjig  an* 
neljmbare  2lnbad)t  ift  unb  baß  roir  eS  einjig  mit  ber  9Jatur  51t  tf)un  f)aben, 
mag  es  eine  übernatürliche  SBelt  geben  ober  nid)t." 

2ritt  Zuriet)  aud)  nidit  planmäßig  für  bie  momftifdje  3Beltanfd)auung 
ein,  fo  roeift  er  boefj  überjeugenb  nad),  baß  ber  ©laube  an  einen  ®ualiS= 
muS  in  ber  Grfabrung  nidit  bie  minbefte  örunblage  t»af>e,  unb  tfnit  fo  aud) 
fein  2T>eil  für  bie  Ausbreitung  beS  3JioniSmuS.  ©anj  unabfidjtlidj  aber 
hat  er  GtroaS  gcleiftet,  roaS  if)in  bie  englifdie  Stjcologie  fprslid)  banfen 
foltte.  $>urd)  feinen  $inrociS  auf  bie  beutfebe  Stbelfritif  mit  ifjren  ie- 
rounbentSroertben  ©rgebniffen  Ijat  er  fie  aus  bem  Sectengejänf  erlöft  unb 
in  bie  23af)n  ber  gefd)id;tlid)en  gorfdmng  gerotefen.  £>aS  ftot  baS  Unü 
tierfitätsftubium  ber  Stjeologie  roieber  belebt  unb  in  bem  Sanbe,  baS  eben 
baran  gel)t,  feine  brittlefcte  unb  uorle|te  Stirdje  511  entftaatliien,  ben  Sinn 
für  bie  Ginl)eit  ber  d)riftlicben  Äird)en  neugeroerft  unb  ber  Geologie  roieber 
bebeutenbere  ©eifter  äugefüfjrt,  fo  baß  eine  Steform  ber  Sogmattf  »on  innen 
fterauS  roieber  ptr  D?öglid)feit  geroorben  ift.  Sie  ftaatlid)  untersten 
©emeinbefebuten  ©roßbritannieuS  l)aben  feinen  oHigatorifdjen  JJeligtonSs 
Unterricht,  unb  baS  trägt  in  jtemlidjem  ütffaße  baju  bei,  bie  aufroadjfenbe 
öeneration  ben  Sogmcn  ber  einzelnen  Scfenntniffe  31t  entfremben,  fo  baß 
eine  religiöfe  Bewegung,  roeldje  bie  bogmatifdicn  Aonnen  oerflüebtigt,  fidj 
in  ©roßbritaimten  bereits  beute  »orbereitet. 

Satte  §urtei)  anfangs  bie  ^Solcmtf  »erabfdjeut  unb  gemieben,  fo  roarb 
if)m  baS  Rümpfen  unb  Streiten  nad)  unb  nad)  51t  einer  lieben  ©eroobnfieit. 
Unb  1889  fonntc  er  fagent  „3um  Schaben  meiner  93eljaglid;feit  bin  id) 
bie  legten  30  ^aljre  uiel  in  Streitigfeiten  uerrotcfelt  geroefen,  unb  bie  einjige 
Vergütung  für  ben  3cüoerluft  unb  bie  ©ebulbproben,  bie  baS  mit  fid)  ge= 
brad)t  b,at,  ift,  baß  id)  bie  ^Solemif  nad)  unb  nad)  als  einen  3roeig  ber 
fd)önen  Äünfle  habe  betradjten  lernen  unb  ein  unparteiifdjeS  unb  fünfilcrifdjeS 
^ntereffe  an  ibrer  Püning  neunte."  3n  feinen  SluSlaffungen  roar  £uylen 
fd)arf  unb  oftmals  farfafttfd),  aber  niemals  grob.  Seine  Slritif  hatte  immer 
eine  fd)arfe  Spifee.  3"  bem  Gffai)  „©labftonc  unb  bie  ©enefis"  fdmeb 
er:  „SofrateS  foH  »on  ben  Herfen  fteraflitS  gefagt  Ijaben,  roer  fie  ju  »er* 
flehen  »erfudje,  folle  ein  belifdjer  Sd)roimmer  fein,  aber  roaS  er  feinerfeitS 
»erftehen  fönnte,  fei  fo  auSgejeid)net,  baß  er  geneigt  fei,  aud)  an  bie  £reff= 
lidjfeit  beffen  ju  glauben,  roaS  er  uncerftänbtid)  fänbe.  Bei  bem  Berfuche, 
beS  Sinnes  in  biefen  Seiten  WtabftoneS  &err  ju  roerben,  f)at  mid)  oftmals 
ein  ©efüfil  überfd)lid)en  roie  SofrateS,  unb  bennod)  nid,t  ganj  baSfelbe. 


2<H  —    JUejanber  (Etile  in  ©lasgoro.   

2BaS  id)  tr)atfäd)lid)  »erftet)e,  ift  mir  fo  fct»r  als  baS  ©egentf»eil  beS  ©uten 
erfdjiencn,  baf?  idj  mir  manchmal  einen  Swift!  an  oer  Xreffltdjfeit  beffen 
gcftattet  ijabe,  roaS  idj  nid)t  »erftet)e."  3um  SBoljte  GnglanbS  werben  bie 
groften  Streitfragen  ber  Socialpoltttf  rote  ber  äußeren  5polittf  »on  Saä> 
funbigeu  in  ben  großen  2RonatSfdiriften  auSgefodrten,  unb  rooljl  auf  feinem 
©ebiete  jeigt  ftd»  bie  britifdje  Slampfluft  beutlidjer,  obwohl  btefen  Arbeiten 
bte  Mitterreit  äfmltdier  SluSetnanberfefcungcn  in  £eutfd)lanb  gänstid)  feljlt. 
Trofc  feiner  £apfer!eit  im  Stampfe  f)at  lief)  Zuriet)  »on  ben  politifeben 
Sämpfen  feinet  SanbcS  »öllig  fem  gehalten,  bis  bte  Home  Rule  Bill  auf  bem 
^Mane  erfdnen.  2lber  ba  r)telt  eS  Um  beinahe  ntdt)t  länger:  „3$  fcabe  mtet)," 
fdjrieb  er,  „mein  ganjcS  Seben  lang  forgfam  außerhalb  beS  politifd)en  0c= 
bietet  gehalten,  unb  jefct  ift  eS  511  fpät,  barau  benfen,  mid)  jefct  nod) 
baf)tn  ju  begeben.  2lber  roäre  id)  ein  ^olitifer,  idr)  roürbe  biefe  Sill  be= 
fämpfen,  folange  td)  Seben  in  mir  fpürte  .  .  .  ^Regierung  »crmittelft  ber 
burd)fd)mttlid)en  SBiemnng  ift  nur  ein  Umroeg,  auf  bem  ein  SBolf  511m 
Teufel  gcl)t." 

©erabe  fo  roie  fid)  bie  £r)cologie  sur  9iaturforfd)ung  »erljält,  »erhalten 
fidt)  bie  focialen  Sljcoricit,  bte  t)eute  gang  unb  gäbe  ftnb,  ju  einer  roirf» 
lidjen  Socialroiffenfdmft.  SBenn  eS  ein  ©ebiet  giebt,  auf  ba*  man  bie 
(SntroidtungSlefire  mit  überroältigenbcm  Crfolge  anroenben  fann,  fo  ift  es 
baSjenige  beS  Socialen.  Ueber  fragen  aus  biefem  ©ebiete  t)at  Zuriet)  ein 
paar  SffauS  gefdnieben,  bie  ju  bem  93efteu  geboren,  roaS  alle  3c^en  ^er 
geleiftet  fjaben,  unb  bie  suglcidj  3eu8«iB  für  bie  Straft  unb  Sdbärfe  feinet 
SenfenS  ablegen.  3n  einer  9lrbeit  „Ueber  bte  natürlidbe  Ung(eid)f)eit  ber 
2JJenfd)en"  forbert  er  bte  0letd)r)eitSmanie  9JouffeauS  unb  ber  mobenten 
$)emofratie  roie  beS  SoctaliSmuS  »or  bett  9ttdjterftuf)l  ber  9Jaturrotffens 
fdjaften  unb  jeigt,  baf?  bie  9Renfd)en  «tt  Hilter,  ©efdiledit,  ©efunbtjeit,  Äraft, 
Begabung,  $letf>,  £t)atfraft,  SciftungSfätjtgfeit  ntdjt  gletct)  finb  unb  niemals 
gleict)  geioefen  fein  tonnen,  baf?  es  alfo  »ollfommen  finnlos  ift,  einem  »oll* 
fräftigen  ÜWann  unb  einem  Säugling  gletdie  9iccr)te  sujuerfenuen,  unb  bafe 
infonberrjeit  baS  „allgemeine  9)Jenfd)cnred)t  auf  ben  ©runb  unb  Soben" 
^JtidjtS  ift  als  eine  leere  ^Jtjrofc.  3n  einer  zweiten  2lrbeit  „9Jatürlid)e  unb 
polittfdje  9ted»te"  jeigt  er  ferner,  baf?  in  ber  ^atur  alles  9>ied)t  gleid)  aWadjt 
ift,  baf?  es  nur  ein  etlnitrenber  9luSbrud  ift,  roemt  ber  9Wenfdj  beim  Ttjiere 
»on  einem  „9led)t  auf  sJ{ar)rimg"  fprtd)t.  Sie  Xigerin  r)at  baS  9Jedit, 
9lHeS  51t  freffen,  roaS  fie  erjagen  unb  töbten  fann,  unb  ber  3)Jenfd)  r)at  baS 
3led)t,  bie  Xtgerin  mit  bem  breifaltbrigen  Sidläufer  51t  crfdjieften,  wenn 
er  fie  nämlid)  trifft  unb  nid)t  juwor  »on  i£>r  gefreffen  roorben  ift.  ?ßolitifd)e 
3led)te  hingegen  finb  baS  3lequioatent  für  geioiffe  potitifdie  ^ßflidjten,  ttnb 
es  ift  »öllig  ungereimt,  beibe  oerfd}iebenarttgen  ©ruppen  „9ted)te"  in  einen 
2opf  ju  werfen  unb  benfclben  fleif?ig  umjurüliren.  3J?it  biefen  3luffäfeen 
f>at  Furien  ein  epod)emad)enbeS  großem  3Jeinemaa)en  im  $auSr)alt  ber  lanb= 
läufigen  Sociotogie  abgel)alten,  nadt)  bem  fid)  ber  Scfimufe  nidit  fo  letc6t 


(Thomas  ^njCey.   


roieber  fcftfefeen  wirb,  uitb  unter  bcn  Ueberwinbern  beS  SlouffcauismuS  unb 
ber  £emofratie  toirb  ilmt  immerbar  eilte  ß^renftelte  ficher  fein.  2lber  er 
ift  aud)  no<^  ein  gutes  ©tücf  weitergegangen. 

MerbingS  fjat  biefer  ftreitbare  Kämpfer  gegen  alles  apriorifd)e  ^?lnfo5 
fopfjiren  fid)  auf  bem  ©ebietc  ber  ©oriotogte  nod)  nidtjt  ganj  von  berlei 
apriorifdjen  SBorauSfefeuttgen  frei  gcmad)t.  Statt  jeber  9)ienfd)  nur  infoweit 
frei  fein  fall,  als  er  nid)t  bie  gletd^e  Freiheit  2faberer  ftört,  folltc  bod)  erft 
benriefen  werben.  ®aft  bie  ©efcüfdtjaft  ein  fitttidjeS  3iel  habe,  in  beffeu 
(Srretdjung  fid)  bie  oittlidjfeit  »erförpert,  bafe  baS  3^1  ber  Regierung  baS 
28ot)l  ber  9)?enfd)f)eit  fei,  baS  alles  finb  tiefte  jener  Senfweife,  bie  er  be= 
fämpft,  aber  fie  betreffen  faft  alle  ben  ©taatsbegriff,  über  bcn  er  mit 
©penccrS  einfeitigen  Xtyoxien  abpredmen  fiatte,  unb  berühren  faum 
ernfttief)  bie  ©efellfd)aftSorbnung,  beren  Äemjüge  £urleu  fdf>arf  erfaßt  fjat. 
9Wag  er  liier  aud)  nod)  nid;t  baS  tefete  2Bort  gefprod)en  b^aben:  auf  bem 
35?ege  t>on  ber  fpeculatioen  ©octologie,  bie  baS  ^eraupljren  eines  be* 
ftimmten,  aus  etf)ifd)en  (unb  jwar  ff(aucnmoralifd)en)  ^Betrachtungen  ab= 
geleiteten  foäalen  3uftQnbc§  in  eine  ©cmeinfd)aft  als  i^r  tefeteä  unb 
einziges  Qiei  betrad)tet,  jur  33olfSftanbSwirthfd)aft,  beren  le^tcS  $\d  baS 
©id)bef|aupten  unb  SBarfffen  ber  ftärfften  ©emeinfd)aften  ift,  ift  Surfet) 
jmetfelsohne.  3n  bem  ßffat)  über  ben  „Äampf  um'S  2>afein  in  ber  menfd)= 
lid)en  ©efellfdjaft"  fprid)t  er  fid)  barüber  ausführlich  aus.  SBenn  ßngtanb 
fünftig  nod)  33rot  haben  will,  „bann  ift  bie  augenfällige  ^orbebingung,  bafs 
unfere  ^robuete  beffer  als  bie  anberer  Sänber  fein  müffen.  9Jur  aus  einem 
einigen  ©runbe  siehst  man  unfere  Sstoaren  benen  unferer  ffliualen  »or: 
unfere  Slunbcn  müffen  fie  ju  bem  gleiten  greife  beffer  finben  als  anbere. 
£aS  f)eif3t,  mir  müffen  mehr  tontniß,  ©efdjicf  unb  ^leif»  auf  ihre  Qx- 
jeugung  wenben,  ofnte  baß  bamit  bie  ^SrobuctionSfoften  cntfpred)enb  wüd)fen. 
Unb  ba  ber  9trbeitSlofm  einen  bebeutenben  SPeftanbtfycil  biefer  Soften  bilbet, 
fo  muß  ber  Sohnfafc  innerhalb  beftimmter  ©renjen  bleiben.  MerbingS  finb 
billige  $robuction  unb  billige  9lrbeit  feines  wegS  glcicbbebcutenb;  aber  ebenfo 
wenig  fönnen  bie  Söljne  über  ein  befttmmteS  9)Jaß  f)inauSroad)fen,  ohne  bie 
Silligfett  ber  2Baaren  ju  oemid)ten.  Unb  bie  ^'illigfeit  unb  als  eine  ihrer 
erften  93orauSfefcungen  ein  mäßiger  ?lrbeitSlohn  ift  fomit  wefentlid)  ju 
unferem  «Siege  im  SBettbewerb  auf  bcn  ÜBtärften  ber  2Mt."  @rjieht  bie 
Slrbeiter  ju  enormen  Seiftungen,  unb  ,3$r  werbet  ifmen  aud)  enorme  Sötine 
5ab,len  fönnen;  unb  fie  werben  trofe  berfelben  ttjre  SDJttbewerber  in  ber  SBett; 
coneurrenj  ausstechen;  baS  ift  bie  unmittelbare  gotge  barauS.  $n  ber  ge= 
fammten  SRatur  fommt  ber  gortfdjritt  nad)  bem  heutigen  ©tanbe  ber 
2Biffenfd)aft  einjig  burd)  bie  natürliche  9luSlefe  ber  Süchtigeren  51t 
©tanbe.  SBenn  man  bie  StrbeitStetftung  eines  ganjen  SBoffeS  auf  eine 
böfiere  (Stufe  lieben  will,  fo  muij  man  naturgemäß  3U  allererft  an  baS 
gleite  9Kittel  benfen,  an  bie  fociale  SluSlefe,  fraft  bereit  bie  tüdjtigften 
Arbeiter  überleben  unb  reichliche  9?ad)fommenfchaft  erjeugen,  währenb  bie 


2^6    yiejanbet  Cille  in  ölasgo».   

untüdfjtigften  roomögltd»  fdfjon  oor  bem  &eiratf)3alter  ju  ©runbe  gefien.  Güten 
jioeiten  Sßunft,  oon  fecunbärer  SBebeutung  allerbingä,  bietet  bann  bie  tedjmifctje 
(Spülung  unb  9lu$bilbung  mögtidift  aller  oorfianbenen  Arbeiter. 

Obgleich  Surfen  an  mcf)r  als  einer  Stelle  einer  9teih>  Ifjatfadien 
gebenft,  beren  ©urd&fufirung  naturgemäß  bie  in'«  Stocfen  geratene  fociale 
StuSlefc  neu  beleben  mufc,  fo  fieljt  er  bodj  b,ier  in  ber  £auptbetrad(>tung 
ganj  baoon  ab.  Xrofe  aller  fdfjarfen  2Borte,  bie  er  gegen  bie  natürlidbe 
©leidfjfieit  ber  SWenfcfien  rietet,  murjelt  in  ilnn  bie  Ueberjeugung  oon  ber 
natürlichen  Ungleia^beit  ber  Arbeiter  unb  ifycer  Stiftungen  nidfit  fo  tief, 
bafj  er  fie  jur  ©runblage  forialariftofrattfdjer  3ieformoorfd)läge  madfjen 
fönnte,  mittete  beren  fidi  jugleidfi  jene  fociale  Stabilität  erreichen  liejje,  bie 
if)tn  fo  nrnnfcbenäroertl)  fdjeint.  2Ba3  tfnt  im  Sterne  an  ber  Umbilbung  ber 
Socwlogie  jur  $olföftanbäroirtf)fcfjaft  b^nbert,  ba$  ift  fein  ©taube  an  bie 
2Jiöglid)feit  einer  Ueberoölferung,  ben  er  nidjt  ju  übertoinben  oermodftf  Ijat. 
5ßor  einem  ftatyrfiunbert  l)at  XfjomaS  9?obert  2ttaltfju$  biefe«  föefpenft  bes 
3tltertf)umö  roteber  auä  bem  ©rabe  gemedtt,  unb  feitbem  ift  e$  nrieber  um* 
gegangen,  big  in  ©eutfdblanb  Slabenfiaufen  bagegen  ju  gelbe  gesogen  ift. 
Sarroin  bat  bie  Grfenntmfj  oon  ber  unenblidjen  Skrmetjrung  alle«  Sebenbigen 
einen  bebeutfamen  SMenft  geleiftet,  inbem  fie  ifnt  auf  bie  Sebeutung  bee 
®afeinäfampfe3  bjmoieä  unb  itim  fo  bie  3bee  ber  2luälefe  ber  Sitdbtigften 
braute.  2lber  ein  Ueberfdbietien  ber  33eoölferung  über  ben  9iat)rungsfpiel* 
räum  ift  nur  eine  giction,  bie  in  ber  SBirflidfjfeit  gar  nid)t  oorfommen 
famt,  weil  meb,r  9)Jenfd)en,  als  SMabjung  ftnben,  ja  nidjt  leben  fönnen;  unb 
e«  ift  ganj  finnloä,  biefe  gietton  in  focialnuffenfc^aftlic^en  Grörterungen  alä 
!Tf)atfad)e  ju  betrachten. 

9)}it  9iect)t  roeift  bagegen  §urlep  ben  9tnfprudj  bes  Gtnjetnen  auf  ben 
»ollen  Grtrag  feiner  2lrbeit  ab,  joenigften«  in  fo  roeit  ftcfj  berfelbe  in 
apriorifdjer  SBeife  begränbet. 

,,^dt)  glaube  nid)t,  baf?  ei  ju  oiel  gefagt  ift,  bafj  oon  allen  in  biefer 
feltfamen  2Belt  lanbläujtgen  focialen  Xäufdmngen  bie  bümmften  biejenigen 
finb,  roeldbe  amtefimen,  2lrbeit  unb  Kapital  ftänben  fi<ij  nott)ioenbigerioeife 
feinblid)  gegenüber;  alle«  Gapital  roerbe  burdj  3lrbeit  erjeugt  unb  fei  bee; 
balb  oon  itatürtieben  MedjtS  roegen  ba«  Gigentlium  be«  Arbeiter«;  ber 
Sflefifcer  bei  Gapital«  fei  ein  Siäuber,  ber  ben  Arbeiter  beraubt  unb  fid) 
felbft  ba«  aneignet,  an  beffen  £eroorbringitng  er  feinen  9lntljeil  b«t. 

„3m  ©egentbeit,  Gapital  unb  9lrbeit  finb  notfuoenbigertoeife  enge 
SBerbünbetc.  (Sapital  ift  niemals  einjig  ein  Grjeugmfj  menfdtfidber  9lrbeit. 
@>3  befielt  getrennt  oon  menfd)ltd)er  9lrbeit  unb  ift  bereu  notb,ioenbtge  aüorau«: 
febung.  6«  giebt  ba3  Baiertal,  auf  ba3  bie  9lrbeit  oerioenbet  nnrb.  Sie 
einjige  unentbebrlidje  ?fonn  be§  Gapitat«,  baSjenige  (Eapital,  ioa§  jur  Gr* 
uäl)rung  bient,  läßt  fid)  md)t  burd}  iDienfdjenarbeit  erjeugen.  ®er  3)?enfd) 
oermag  ciusig  feine  Silbung  burd)  bie  nürflidien  Grjeuger  ^u  förbern. 
G§  giebt  feine  roirflicbe  Scsielntng  jioifdjen  bem  betrag  9lrbeit,  ber  auf 


  tttjomas  £jujley.   


einen  ©egenftanb  nermanbt  worben  ift,  unb  feinem  £aufd)wertb\  'Ser  2ln= 
fprudj  ber  Strbeit  auf  baS  ©efammtergebnifj  t>on  $8errid)tungen,  bie  erft 
burd)  baä  Gapital  mögltd)  werben,  ift  einfad)  eine  apriorifdje  Ungered^tigfett." 

£>a3  finb  bie  Grgebniffe,  5U  benen  Imylen  burd)  bie  9tatbetrad)tung  ber 
fragen  geführt  wirb,  bie  £enrn  öeorge  tnit  blöbem  ©efafet  burd)etnanber 
rmjrt,  unb  fie  jeigen  am  beutltd)ften,  worin  bie  Sebeutnng  biefer  @ffai)S 
liegt,  $n  feiner  £anb  ift  eine  Srttif  £>enr»  ©eorgcS  nidjt  mefir  eine  .Writif 
&enrt)  ©eorgeS,  fonbern  fie  wirb  jur  Ärittf  ber  focialen  ©efammtbeftrebungen 
feiner  %eit  ®a$  unglüdltdie  Dbject,  baä  er  gerabc  beim  Stopfe  erwifdjt 
unb  grünbltd)  abfd)üttett,  jittert  nidjt  allein  unter  biefen  2lrmbewegungen, 
fonbern  in  ifmt  jittern  alle  btejenigen  mit,  bie  burd)  ftarfe  ober  bünne 
göbdjen  mit  ii»m  »erbunben  finb,  ber  SJoben,  auf  bem  e»  ftefit,  unb  ber 
Saum,  an  bem  eS  fid)  in  feiner  Serjweifiung  anflammert.  ©8  ift  SBenigen 
gegeben,  fo  bas,  was  eine  gan5e  3eit  aufrührt,  auS  bem  jufäUigen  äufeeren 
©ewanbe  fyerauSjulöfen  unb  es  rein  unb  ungetrübt  burd)  perfönlidje  Neigung 
ober  SIbneigung  oor  ben  9iid)terftut)[  beS  SenfenS  ju  serren. 

$er  SJJann,  ber  eS  fid)  jur  9tufgo6e  gemad)t  blatte,  atfc  mobernen 
©enfgebiete  mit  bem  Seifte  ber  mobernen  9Jaturwiffenfd)aft  unb  infonberl)eit 
ber  Gntwi<flungSlel)re  ju  bttrdjbringen,  fonnte  uumöglid)  bei  ber  tfjeoretifdjen 
Sßeltanfdjauung  ftefien  bleiben.  ®a#  ©efammtgebiet  beS  3leftl)ctifd)en  t)at 
er  allerbingS  nid)t  in  ben  SkciS  fetner  gotfdiuiig  gebogen,  wofyl  aber  ben 
3weig  baoon,  ber  für  ben  9)fenfd)en  bie  größte  prafttfd)e  Skbeutung  b>t, 
ba§  (5tf)tfd)e.  9tm  18.  SDiai  1893  trat  er  als  Romanes  Lccturer  im 
©belbonian  Sweater  in  Drforb  mit  einer  bebeutfamen  3lrbeit  über  „(Stfjif 
unb  Gittwidlung"  uor  eine  gelehrte  3wf>örerfd)aft,  unb  ber  ©turnt,  ben 
er  bamit  Iteroorrief,  fyat  iljn  faft  bis  an  fein  SebenScnbe  nmbrauft,  minbeftenS 
bis  3ur  2luSgabe  beS  legten  (neunten)  SanbeS  feiner  ©efammelten  GffanS 
1894.  „Gtfiif  tmb  (Sntwidlung  unb  anbere  ©ffaos"  nennt  fid)  ber  33anb, 
unb  in  ü)m  antwortet  ber  ftreitbare  ©reis  auf  bie  sal)lreid)en  Angriffe  aus 
allen  Sagern.  Gr,  ber  mit  füfnten  fritifd)en  tfeulenfdjlägcn  bie  fpeculattoen 
SJorauSfefeungen  ber  populären  <Socialtf)eorieit  zermalmt  tjat,  er  ftef)t  l)icr 
üor  ber  $ragc:  metd)e  unmittelbaren  folgen  mufi  bie  bebingungSlofe  9ln= 
nafnne  ber  GntwidlungSlebje  für  baS  ©ebiet  ber  Glf)if  b>bcn?  unb  er  fud)t 
fie  in  feiner  SBeife  511  beantworten. 

3n  fetner  „2lbftammung  beS  9)ienfd>en"  f»at  Gf)arlcS  ®arnnn  fid)  aud) 
mit  ber  23ebeutung  ber  Rumänen  ©ittlidjfeit  für  ben  9lufftieg  beS  9)Jenfd)en 
befd)äftigt,  wenn  aud)  nur  flüd)tig.  (St,  ber  grofje  3>erfünber  ber  natürlid)en 
9IuStefe  als  beS  gewaltigften,  faft  alleinigen  ftortfdjrittSbebelS  —  gerabe 
biefer  $unft  fd)ieb  Darwin  ja  oon  Samard,  ber  gletd)  ©ir  Francis  ©alton 
unb  SBilltam  Satefon  tjeute  allen  SHadjbrud  auf  bie  Vererbung  erworbener 
Gigenfdjaften  legte  —  fab  fid)  E>icr  iwr  bem  Problem:  2Beld)e  Wolle  fpiett 
bie  natürlid)e  9luSlefc  in  bem  ©tüd  5öfenfd)^eitSentwidlung ,  baS  wir  in 
engerem  ©inne  Wefd)id)te  nennen?   SBeldie  äiolle  fpiett  fie  im  mobernen 


2^8    yiejanber  (Lille  tii  <81asgon\   

93ölferbafcin,  unb  in  roelcfjem  SBertialtnif?  ftel)t  fie  ju  unferen  fittlicfien  %rt- 
fdjauungen?  ©en  großen  SBiotogen  tjaben  feine  bemofratifdj  Rumänen 
Qbeate  baran  nertjinbert,  bie  unmittelbare  Folgerung  für  bie  mobeme  @tr/if 
auS  feinem  ©efeti  ber  9luSlefe  5U  sieben,  unb  obrootil  feine  2lu§fprücbe 
ü6er  biefeu  ^ßuntt  ein  fidjtltdjes  Sdjroanfen  beS  StanbpunfteS  »erraten, 
fo  ift  eS  üim  bod)  nid)t  gelungen,  l)ier  enbgiltige  Stlarljeit  ;u  fdfjaffen. 

„Socialer  $ortfd)rirt  Gebeutet  Slufeerfraftfefcen  beS  2BaltenS  ber  9tatur= 
mächte  unb  baS  Dafüreinfefcen  von  etwas  2tnberem,  baS  man  baS  SBaÜen 
ber  etf)ifd)en  SJfädjte  nennen  fann."  3t6er  biefeS  Slufjerfraftfefcen  beS 
aBattens  ber  9taturmäd)te  bebeutet  einen  Stampf.  2>aS  £umanfittlid)e 
„fann  fid)  barauf  »erlaffen,  bafj  es  mit  einem  ääfyeu,  madnoollen  ©egner 
;u  redfinen  l)aben  roirb,  fo  lange  bie  SBelt  ftefjt".  Sarum  ift  bie  Sfanäljenmg 
ber  9J?enfcf)l)eit  an  baS  fiumane  3beal  nid)t  r»on  bem  9?ad}af)men  beS  3tatur= 
roaltcnS  ju  ericarten,  rote  «Spencer  meint,  unb  and)  nidjt  »on  ber  glucbt 
vor  biefem  SBalten,  roie  fein  Sdjüler  gisfe  benft,  fonbern  »on  bem  Kampfe 
gegen  biefeS  halten.  9Jaturn)aften  unb  Rumäne  Sittlicbfett  finb  unnerföfm= 
lid)e  ©egner,  Siebes  bebeutet  einen  $l?if;ton  für  bie  ©efüfytSroelt,  in  ber  baS 
9lnbere  Ijeimifcf)  ift.  . 

Sicfe  febarf  jugefpifete  ^rageftellung  allein  erflärt  ben  Sturm,  ber 
auf  biefe  Darlegungen  f)in  in  ber  engtifdjen  periobtfdjen  Sitteratur  gegen 
.'Our(ei)  »on  beiben  Seiten  l)er  toebradi.  $ie  gefammte  ljumane  (Stljif 
feinet  öeimatlanbeS,  ja  bie  firdf)lid)e  (£tl)if  batte  fidfj  bereits  baran  geroöfmt, 
bie  Tljatfadjcn  ber  natürlid>cn  (Sutroicflung  5ur  Stiftung  ber  eigenen 
etljifdjcn  SBünfdic  5U  üerroenben.  3Bie  ber  SocialiSmuS  eines  23ebel  mit 
feineu  ultrabeinofratifd)en  ©runbfäfccn  fid)  auf  baS  ariftofratifd)e  Sßrincip 
ber  organifcfjen  Gutrotcftuug  burd)  natärlidjc  SluSlefe  beruft,  fo  battc  man 
fid)  auf  tljeologifdicr  Seite  bereits  cntfdjtoffen,  jur  9?erfrieblid)ung  ber 
fünftigen  9Jlcnfd)f)eit  iid)  in  Brunft  m'djt  nur  religiöfer  Wittel,  fonbern 
aud)  ber  pbnfiologifdjen  9Iufl)äufung  altruiftifdjer  3ügc  ju  bebienen.  3lnbrer= 
fcitS  erfd)icn  eS  felbftftäubigeu  Senfern  gar  nidjt  fo  auSgemadit,  baft  itd) 
baS  allgewaltige  Statten  ber  9?aturmäditc  »or  ben  ctf)ifd)en  SBüitfdjen  ber 
fieutigcn  Gulturmenfdjen  51t  beugen  bade.  2Bie,  roenn  fid}  biefe  tjumanen 
2Sünfd>e  r>ielmcf)r  vor  beut  SBalten  ber  Watunnädite  511  beugen  gärten? 
äBcnn  bie  SOiitteibSmoral  ber  beiben  testen  $al)rtanfenbe  mit  iftrem 
©cfolge  »on  »ermeb/rter  Äranffieit,  uermel)rtem  Seiben,  mit  ifjrer  Aenbcu} 
jut  Siftirung  ber  natürlichen  SluStefe  nur  eine  trübe  unf)etlr/olle  (Jpifobe 
in  ber  ©efdndrte  ber  menfdf)lid)en  ?lufroärtSentnncflung  geroefen  roärc,  nur 
ein  SUifjgriff,  baS  fjumane  ^beal  ein  falfdjcS  ^beal,  baS  notb>enbig  jmn 
9ii  ebergang  ber  ©attung  führen  müßte? 

2Bie  feine  tbeorcrifdje  Uebcrjeugung,  ber  2lgnofticiSmuS,  fo  fütjrt  aueb 
feine  ctbifdjc  Ueberjeugung,  ber  ^umamtätSutititariSmnS,  511  einem  großen 
^ragejeidien.  Sie  finb  beibe  nid)t  als  bie  enbgiftigen  Söflingen  jener 
SKiefeitfrageu  51t  betrachten,  aber  bennodj  f)aben  fie  eine  geroaltige  33cbeutung. 


ütjomas  fjujley.   


2^9 


Senn  if»re  grage}eid)en  ftnb  bie  grage}etd)en  ber  Seit,  bic  gragejeidjen 
ber  mobemen  SBettanfd;auung«fämpfe.  Unb  roie  ber  2tgnofttaömu3,  bie 
Religion  ber  $efd)eibenen,  burd)  ben  beutfdjen  9Jloni3muS  überrouuben 
roorben  ift,  fo  ber  $umamtät8utilitari8mu3  burd)  ben  beutfdjen  ©attung8= 
utititariSmuS,  ber  iüd)t  mein:  in  ber  frieblicb^bemürt)ig=mUben,  fonbem  in 
ber  froren,  ftarten,  gefunben,  leifwng3fäl)tgen  3Jtenfd)f)ett  fein  Bufunftäibeal 
fie^t.  3fn  ilnn  unb  feinem  neuen  Qbeal  ift  bie  @ntroidtungglef)re  rotrfltd) 
auf  bie  ©ittlid)feit  angeroanbt,  benn  in  ibm  ift  ba§  griebenSibeat  ber 
Humanität  burd)  ba3  ftampfibeal  ber  fdjönen  Starte  erfetjt. 

2>ie  Wmiit  fämpft.   «Sie  bull  bie  ganje  <5rbe 
Srobernb  übergießt  mit  ifjren  ftinbem; 
Unb  jebe  toitt'8,  unb  jebc  Stift  öer&inbent, 
S3a&  alles  Saub  gur  oben  $atbe  »erbe. 

2)  er  fttrfd)  betoeift  in  töbtlicfiem  ®eied)t, 

Sag  er  ber  ©tärtfte  fei;  bann  barf  er  werben.1 

3)  e8  ©ditDäajIinflä  »Übung  foll  f;td)  nid)t  »ererben, 
Unb  fdjöne  ©tärle  nur  ift  S5afein3recf>t. 

$n  betn  ©djroingen  feinet  ©diniertet  in  ben  2Beltanfd)auung3fämpfen 
ber  ©egenroart  ficgt  ,$urlei;£  Sebeutung,  unb  er  fetter  f)at  ba3  'gefügt, 
geroufjt  unb  geroolit.  9Jur  roer  fid)  barüber  Kar  ;ift,  baf?  bie«  baS  &öd)fte 
ift,  wa%  ber  ©injelne  feiner  3«'t  reiften  fann,  fann  fdjreiben',  rcaS 
<<öurlet)  an  ben  @d)tuf5  fetner  @e(bftbiograpf)ie  fefcte: 

„Stm  attcrroenigften  mürbe  eä  fid)  für  mid)  fd)iden,  »on  meinem 
Sebeu$roerf  ju  fprecben  ober  je&t  am  ätbenb  ju  jagen,  ob  id)  nad)  meiner 
ÜJJetuung  meinen  £of)it  erhalten  fjabe  ober  [xnäjt.  £>ie  9Jlenfd)en  fotten 
varteiifdie  Sitdtcr  über  fid)  felbft  fein.  33telleid)t  ift  baS  bei  jungen 
attännern  richtig,  bei  alten  fdwerlid).  Seim  3rüdblid  erfdjeint  baä  Seben 
fdjredltd)  »erfürjt,  unb  ber  23erg,  ben  man  fid)  in  ber  $ugenb  Su  er* 
flimmcn  vornimmt,  erroeift  fid),  wenn  man  bann  atemlos  feinen  ©ipfcl 
errcid)t,  nur  aU  ber  SluSläufer  eines  unenbtid)  beeren  ©ebirgSpgeS. 
2i>enn  id)  aber  uon  ben  Sielen  fyredjcn  barf,  bie  id)  mefjr  ober  weniger 
beftimmt  im  Singe  gehabt  Ijabc,  feit  id;  mein  £ügeld)en  ju  erfteigen  beganr, 
fo  finb  fie  für}  bie  fotgenben  geroefen :  Sie  görberung  unb  ^ermeljrung  ber 
iHaturerfenntntf?  unb  bie  Slnroenbung  roiffenfdjaftlidier  gorfdjungSmetfioben 
auf  alle  ©ebiete  be§  Sebent,  foroett  cS  eben  in  meinen  Kräften  ftelit. 
'Senn  in  mir  unb  mit  mir  ift  bie  Uebcrjeugung  grof?  geroorben  unb  mit 
meiner  eigenen  Straft  gen>ad)fen,  baf?  bic  cinjige  Sinberung,  bie  eS  für 
bie  Seiben  ber  2)?enfcf)f)eit  giebt,  ift,  im  ©ettfen  unb  föanbeln  2£ab>f)aftif  * 
feit  }u  üben  unb  ber  Sßelt  entfd)loffen  tn'S  ©efid)t  }u  flauen,  roie  fie  fid) 
jeigt,  roenn  man  bie  £ütle  beä  ©taubenätrugeS  abgestreift  t)at,  unter  ber 
fromme  £änbe  ibre  tjäftticrjen  3üge  oerfteeft  l)aben. 

Qu  biefer  2lbfid)t  b^abe  id;  ben  uerftänbigen  ober  unBerfianbigen 
eb>geij  nad)  n)iffenfd)aftHd)em  3luf)me,  ben  id)  mir  »ieKeidjt  uerfiattet  b^abe 

3!ort  unb  Siib,   LXXV,  1' 


250 


  2Ueranber  (Tille  in  (ßlasgoro.   


ju  anberen  ftmeden  ju  liegen,  ber  &eroolf$tf)ümlidnmg  her  3iaturroiffen- 
fd^aft;  ber  ©ntrotdlung  unb  Drgamfvrung  beä  naturroiffenfd)aftlid)en  Untere 
rid>te3;  ber  enblofen  SWci^e  <Sd)(ad)ten  unb  ©diarrnüfeel  über  bie  @nt= 
roidlungSle^re  unb  ber  unermübüd)en  SBefämpfung  beS  ftrd)lid)en  ©eifteS, 
be8  $lird)entf|um3  untergeorbnet,  baä  in  (£nglanb  wie  fonft  allerwärts,  es 
fei  roetd)e8  jtefenntmffeä  es  molle,  ber  £obfemb  ber  3£tffenfd)aft  ift 

%m  «Streben  nad)  biefen  giekn  bin  id»  nur  einer  ron  Siefen  ge- 
roefen,  unb  id)  mürbe  überjufrieben  fein,  wenn  man  meiner  aU  eines  biefer 
Kämpfer  gebenft  ober  aud)  jnid)t  gebenft.  Umftänbe,  unter  bie  td)  mit 
©tolj  bie  ergebene  Siebe  jafilreidjcr  greunbe  redtne,  Ijaben  baju  geführt, 
bafe  id)  "ju  oerfd)iebenen  Ijeroorragenben  «Stellungen  gelangt  bin,  unter 
benen  bie  eines  Sßräfibenten  ber  9toi)at  «Societn  bie  f)öd)fte  ift.  <§8 
märe  falfctje  33efd)eibenf»eit  meinerfeits,  roenu  id)  angefidbta  bicfcr  unb 
anberer  |mtffenfd)aftlid)er  ©fjren,  bie  mir  m  ^tjeit  geroorben  finb,  tf)im 
wollte,  als  märe  id)  auf  ber  einmal  eingefdjlagenen  33alm  ntctyt  »orroärts 
gefommen,  roeif  id)  fie  nidrt  ganj  aus  eigner  SSab^l  betreten  fyabe,  aber  id) 
mürbe  fdjroertid)  biefe  $>ingc  als  Seifyen  für  ttgenbroetdje  Seiftungen  be* 
tradjten,  wenn  id)  nid)t  hoffen  bürfte,  jenen  3BeItanfd)auung8umfd)nmng 
einigermaßen  geförbert  ju  ftaben,  ben  man  bie  9ieue  Deformation  ge* 
nannt  b^at." 


21To6eblumen. 


Von 

#an£  ^ermann. 

—   BresliD.  — 

|  in  fibeler  Drt,  ba3  mufe  man  fagen." 

„Unb  ein  anftänbiger!  Sticht  gegen  gemeine  gettanfäfee  ober 
cfelhafte  ^überfein,  bto3  gerabe  gegen  fo'n  feubalen,  reinlichen 
9?heumati3muS  ober  bito  Änodjenbruch  • — * 

„Unb  gegen  no3j  ein  feubatel,  reinliches  Seiben:  bie  Sangeroeile  — " 
,/Jlicht  ju  »ergeben!  —  9la,  roaS  ift  benn  ba  lo§?" 
$>te  grage  mar  nicht  unberechtigt.  2lrm  in  2lrm  roaren  fic  bie  auf 
ben  ßurplafc  münbenbe  ^auptfirafee  be§  rhetnifchen  2Beltbabe3  hinunter* 
gefdfilcnbert,  bie  beiben  Gaoaliere,  bie  einanber  »on  ^Berlin  her  fannten  unb 
ftdt),  äbermübet  unb  bodfj  SRiuje  fTietjenb,  hier  miebergefunben  hatten.  SRun 
hemmte  ihre  Schritte  ber  2lnblicf  einer  ©ruppe  oon  Sieitpferben,  bie  Bor  bem 
portale  be3  erften  £otel§  be3  Äurortc«  »on  ©room§  sum  abritt  bereit  ge* 
halten  mürben.  £>a3  eleftrifchc  Sicht,  welches  ju  biefer  2lbenbftunbe  taghell 
ben  roeiten,  «tit  feinen  93lumenanlagen,  ^ontainen  unb  ©otonnaben  einem 
märchenhaften  Suftgarten  gleichenben  $lafe  überfluthete  unb  ebenfo  au«  bem 
palaftarttgen  |>aufe  hetawStoang,  Ke&  jebe  Schnalle  an  ©atteljeug  unb 
Si»r6e  aufblifeen. 

„2BaS  taufenb,  ein  ©amenfattel?    ©oUte  am  ®nbe  gar  fic  

3$  hatte  boch  ihre  ©rtaubnijj,  «Sie  ihr  f»cutc  2lbenb  .beim  gefi  »orfteHen 
ju  bürfen!   äber  es  ift  ihr  ja  2tllc§  sujutrauen!"  • 

•  2Bie  $ur  Seantroortung  biefer  Siebe  erfchien  im  felben"3tugenbticf  eine 
£>ame,  begleitet  »on  mehreren  Herren,  im  portale,  2HIe  jum  9lu§ritt  geräftet. 

„SBahrhaftig!  2Ba§  h^fit  oa§  nun  loieber  —  ?"  ba§  fwß>  mifc 
Wtligenb,  halb  beluftigt  flingenbe  -äRurmeln  erftarb  aber  im  9tu,  unb  eine 

17* 


252 


  fjans  fjermaun  in  Breslau.  


oftetttatioe  Begrüßung  tönte  aus  bcmfelben  ÜKnnbe!  „Slber  roaS  jefje  id), 
gnäbige  grau  motten  nod)  ju  fo  fpäter  ©tunbe  ju  Sßferbe,  anftalt,  rote  ver- 
fprodjen,  mit  3f)rer  ©egenroart  bie  italientfdje  9laä)t  5U  »ertierrltdien?" 
rourbe  jener  Ijinjugefügt. 

SDte  ©ame  lädjelte  falt  unb  fpöttifd".  „3talienifd>e  9larf)t  Inn, 
ttalienifdje  !Jtod)t  foer!  3d)  rcarb  inne,  baß  ^uföQuj  aud)  ein  9Hcmt>  am 
Gimmel  fte^t  unb  roiH  lieber  ben  genießen.  ®in  9Honbfd>etnritt  —  beulen 
©ie  nur!  -Dieme  Verehrer  —  l>m  —  ließen  fid)  ,aud)  nrirfTid)  baju  aufs 
bieten!  SBotten  |©te  mttfetni?  Siber  nein,  bleiben  ©ie  nur!  ©tnb  ja 
ä  quartre  6pingles  für  bie  itaUenifdje  9?adjt.  A  quatre  6pingles  unb, 
comme  toujours,  auf  ber  §öf)e  —  bis  auf  bie  neue  SHume  im 
ffnopflod)!"' 

„©näbigfte  laben  ein  unb  Ijeben  Qfjre  ©tnlabung  auf  in  einem  3ttbem! 
2BaS  bleibt  ©inem  ba  übrig,  als  ju  bteibeni?!" 

„9ttd)tS  weiter.  —  @l)e  ©ie  mit  ^Ijrem  2lbjufiement  foroeit  roären, 
»erftänben  fid)  bie  ©äute." 

„2lnS  fdjönem  3)Junbe  l)at  ber  Gatmtter  alle  SBonuänbe  gelten  ju 
laffen!" 

„Unb  maSfirt  t)tnter  $öftid)fcit  —  ©d>roäd)en!" 
„D  —  ob,  —  aber  — " 
„©efdjroinb,  gefdmunb!" 
„2tber  — " 

„einiges  ©igerltfmm  fönneu  Sie  fid)  beim  beften  SBtden  nidbt  ab- 
leugnen!"  —  9Kdjt?" 

„D  —  ob — :  aber,  cS  roäre  ja  allerbingS  fraS  erfte  9)ial,  meine 
©näbigfte,  baß  id)  bie]  6t)re  l»ätte,  mit  Sfonen  jufammenjutreffen,  otnte  baß 
3l)r  3Irfenal  um  eine  2Baffe  reifer  roäre!  ©taube,  ^aben  nun  roieber  bto$ 
auö  ber  barmlofen  33lume  eine  gegen  mtä)  gefdmtiebet.  2BaS  foQ  man 
benn  mit  fo  einem  bislang  nod;  orbenSlofen  ßnopftotfje  anfangen?" 

„Db  man  fid)  jemals  felbft  erfennt?" 

„Unb  nun  belieben  gnäbigfte  grau  gar  nod),  in  aller  ©djleunigfeit 
pfjilofopfiiren  51t  motten!   Dl)  —  ab,!" 

„Verfemen,  [reines  23erfef)en  —  rorrflid).  UebrtgenS:  fd;miebe  meiue 
Sßaffen  aus  confiftenterem  SDJaterial  —  wirb  einem  ja  genug  baju  geliefert." 

„Wan  roetß  factifd)  nid)t  mefjr,  roaS  man  fagen  foll." 

„©0?  ©ef>ett|  ©ie  [mal  an!  3(ber  id)  bin  gut:  um  ©ic  aus  ber 
Verlegenheit  ,u  reißen,  um  bod)  mal  3&r  Sidjt  leud)ten  ju  feb>n,  eine  ganj 
fcfyulmäbd)em)afte  grage:  „2Bo  ftammen  benn  eigentlid)  bie  ©inger  t>er?" 
©ie  galbenc  ftvüde  beS  3ieitftödd)enS  tippte  gegen  baS  rounberbar  getönte, 
große  (Sfjrgfantljemutn  in  beS  $errn  ftnopflod). 

„Um  ©otteSroillen,  gnäbige  grau,  roerbeu  ©ie  ntdjt  grünblid)!  ©a  fo 
immer  roärtfer." 

„SBieber  eine  9ttete!" 


IHobeblumcn.   


253 


„Die  Slume?   ^a,  fic  buftet  nid^t." 
„%%  feb>  gut  —  roieber!" 

„316er  fef>ert  Sie  nur,  rote  tabello«  fä)ön  in'garbe  unb  gornt." 

„3a,  ja:  tabelloä!"  —  Uebrigen«  roemt  td)  jnidjt  irre:  gröfctent  bette 
5tulturprobuct  baS!" 

(§r  ftanb  nor  it»r  in  beooter  Haltung,  bie  iBlume  in  bec  £anb. 

„Sie  wollen  fie  mir  root)l  gar  üerebjen  —  au«  öftrem  ftnopflod) 
h>rau«?  3"  liebenäroürbig!"  Sie  nab>t  bie  $lume  unb_fte<fte  fie  — 
beut  $ferbe  in'ö  .ftopfgeftell. 

„Danfe  geftorfamft,"  ftang  e#  pifirt. 

©ie  lädbette  noclj  fälter,  nodj  fpöttifdier  unb  fa§  auf.  — 

3f)re  ^Begleiter  waren  roie  auf  (Sommanbo  im  Sattel,  mit  flingenbem 
&uffd)tag  trabte  bie  (Saoalcabe  über  ben  ^ßlafc  roeg,  bie  Strafje  hinunter, 
©er  ganje  SBortrojcfjfel  f>attc  bei  ber  fprubelnben  rTleberoeife  ber  ©ante 
faum  SRinuten  gebauert. 

Der  &err  fafetc  ben  greunb,  ber  mit  ber  gequälten  SWiene  eine« 
roofytgefitteten  5Jtenfcfjen,  ber  gern  »orgeftellt  fein  mödjte,  babei  geftanben 
blatte,  für  ben  a6er  feine  Secunbe  abgefallen  mar,  roieber  unter  ben  9(rm. 

„(Sin  pifanteS  SBeib." 

„5Bo  flammt  ba«  Ding  eigentltä)  tier?" 

„Um  ©otteSroillen,  roerben  Sie  nicfjt  Jgrünblicf).    Da  fo  ;immer 
roärtfer." 
,,©o,  fo." 

„9ta,  fo  fdjlimm  ift  e-i  nidjt.  öattin  Jbe-3  befannten  fportsfreubigen 
9fabob  Dppenftebt  — " 

,,9latürlid)  unglücflicfje  @f»e  —  unbefriebigte  Seele,  fo  xoa*.  5Udjt 
gerabe  Scfiönfyeit,  aber  — " 
„^ifant." 
„©ans  recljt." 

„Änlturprobuct  größtenteils,  audfj  ba-3,  mein  8ie6er." 
„Stimmt!   Dodj  roaS  tfjut'«." 
„SHlan  amüfirt  fidb  — " 
„SaroobX" 

„Sä&t  ftdE)  gelegentlich]  auefj  etroa«  am  ^arrenfeil  führen  — " 
„Ober  tr)ut  bodh,  fo!" 
„SBieber  um  fiä)  &u  amüfiren." 
„C'est  9a!" 
„C'est  9a!"  — 

Die  Herren  betraten  ba<8  Äurbau«.  ©tn  falutirenber  Sortier  — "eine 
tjofje,  ernfte,  toeifee,  [fäutengetragene  üWorinortjaffe,  galonirte  Diener  barin 
Spalier  bilbenb  —  ein  Saal,  fdf)immernb[t)on*@olb,  ©lüblid&t  unb  2Banb= 
gemälben  —  unb  bann  — 


r 


25$    fjans  fjennaun  in  Steslan.   

SBenn  ein  Blumenbeet  im  <5omtenlid)te  loogt  —  genrife  ein  {jübfdjer 
Slnblicf!  Dtefer  Ijier  mar  bem  r>ergleid)bar,  unb  mand)eS  3wge  t>ätte  um 
jenem  rorgejogen.  ©o  tfiat  ba$,  mit  roeld)em  ifm  bie  beiben  ©aoaliere  in 
ftd)  aufnahmen;  obgteid)  et  fem  baoon  mar,  fie  etwa  in  Begeiferung  jn 
oerfefeen!   Unb  ba3  mar  er: 

©ine  9Jlenfd)enmenge.  2lber  nid)t  fo  ein  Slrmooll,  sufammengeftrictjeii 
auf  plumpe  SWicfentoeife  üou  ber  (Srboberfläd)e  herunter  in  einen  nmnber* 
6aren  ©acf,  aufs  ©etattjeroofjt:  nein,  eine  mit  fpifcem  Ringer  au«erlefener 
beljutfam  in  biefen  3au^erfa<*  »wfe&te,  befmtfam  nad)  bem  9}trottmm* 
raufd)enber  £öne  barin  auf«  unb  abgefd)roungene  3Jknfd)enmenge.  —  Da* 
war  feine  Stiefeufauft,  baä  mar  eine  geenljanb,  bie  ba£  t^at!  Unb  baß  bie 
baä  fdjöne  ©efd)led)t  überrotegenb  geroäfjlt  f»atte,  baS  mar*«,  roaä  bie  3Wjn= 
lid)feit  mit  bem  Blumenbeete  Ijenrorrief.  Buroeilen  bli|te  ein  Seudbjtafer 
barin  auf,  eine  Uniform  —  roaä  von  bunflen,  farblofen  Seberoefen  neb, 
barin  bewegte,  nrirfte  jur  golie  bienenbem  (Statten  gletd).  916er  ba§  Sidjt, 
bcu8  fid)  über  2tfle§  ergofj!  Da3  einer  bengalifd)en  flamme  mar'*,  in 
rotb>  ©lutfj  taudjenb  ©ebüfd)e  wie  Säume,  SBafferfptegel  rote  SBafferftralü, 
©eroänber  roie  2lngefid)ter.  3auberfjaft. 

Die  Seiben  fteuerten  unentroegt  mitten  tjtnburd). 

„£ier  Ijarrt  mand)e3  Slümlein  beä  ©epflütftroerbens.  Äönnte  mir 
fteijenben  gufjeä  eintgermafjer  oolumtnöfen  (Srfafc  oerfd)affen." 

„§aben  aber  nid)t  bie  2lbnd)t." 

„9iod)  nid)t!  Unb  bann,  ber  ©enre  —  —  Slber  nidjtabeftoroeniger  — 
fommen  <Sie  bod^  mal  — " 

„3d)  bitte  Sie  —  junge  aHabdjen!" 

„3a,  ja.  @eb,e  ]aber,  ift  aber  aud)  ber  einsige  £tfd),  wo  nod)  ^5la|."  — 

Die  ^rätibentin  rücfte  fid),  ganj  unmerflid)  natürlid),  in  ^Sofitur  unb 
roarf  bann,  ebenfo  unmerflid)  natürlid),  einen  prüfenben  Blid  auf  ba$ 
Dreigefrirn  ifjrer  £öd)ter;  fie  blatte  aus  einer  ©djroenfung  ber  Herren,  inbem 
fie  anfd)einenb  gteicfjgiltig  bie  langgeftielte  Sorgnette  finfen  liefe,  bereit» 
erratfjen,  roa<S  beoorftanb. 

$ier  rourbe  fein  »orftellungebebürftigeg  männlidjeä  Snbioibuum  über* 
f et>ert ;  l)ier  erfolgte  bemnäd)ft  eine  ©mlabung  ofme  jeben  SBiberruf  ju  bem 
£fjee,  roeld)en  bie  Damen  nippten;  bjer  beftellte  bie  ÜWutter  „nod)  jroei 
Waffen",  fd)enfte  bie  ältefte  Sodjter  ein,  reid)te  bie  jroeite  bie  «Salme,  bie 
britte  ben  3u<fer.  £w  fom  alsbalb  eine  Unterhaltung  in  gluf?,  angeregt, 
bod)  nernünftig;  bie  9)iutter  mar  liebenSroürbig,  bie  $öd)ter  roujjten  — 
of>ne  je  ju  fragen!  —  über  Sittel  ju  reben,1  über  SlHes!  —  nerfefjlten 
jebod)  babei  nid)t,  jutr-eiten  in  Meine  nette  Jtinblid)feiten  ju  rferfallen,  unb 
roaren  ju  aCebem  au§nab,m«lo8  bitbfjübfd)  unb  fo  d)tc  roie  möglid)  — 

9?afeten  unb  @d)roärmer  fnatterten  bajroifdjen,  ein  geuerroerf,  ate 
roolle      Gimmel  unb  @rbe  in  Sranb  fterfen,  fpielte  fid)  ab  um  bie  im 


  JTtoö  eblumen.    255 

©erooge  liegenbe  ^nfel  biefeä  Xiifyeä.  giet  fein  jünbenber  gunfe  ab 
für  fie? 

„2lfferliebft,"  fagte  ber  eine  ber  Herren  jutn  anbeten,  als  gerabe 
roieber  berounbernbe  Ausrufe  ber  Damen  ertönten.  Dann  empfahlen  fid) 
Seibe.  — 

„SBirftid)  aüetlicbft." 

„2Bat  aber  ßeit  — " 

„Dafe  roir  gingen." 

„2ltterbing3!" 

«3«,  i«  —  aUerliebft,  aber  — " 

„2(uf  ben  3)Jann  breffirt  rote  ber  umtfyenbfte  «§of()unb." 

„Offenbar!!" 

„Unb  roerben  faum  reüffiren." 
„Rulturprobucte  gröjjtentb>U3  —  rote  bie  ^ifaute  — " 
„Unb  ber  3Jtt§erfoig  fommt  fdjlieftlidj  über  bie  rootjlgeiogene  2111er* 
liebftfjett  rote  baä  Sltter  über  bie  begagirte  ^ifanterie  — " 
„bleibt  —  Debe." 
„A  qui  la  faute?!" 
„A.  qui  la  faute?!" 

©ie  fdjtenberten  nocb  eine  2öeile  burd)  bie  9)Jenge,  raogten  mit.  ?  2ludj 
fie  )"o  ein  paar  ©eftalten,  mit  fpifeen  2H"9eru  «uSerlefer. 
„Die  Sarau  DenniSs.frelbin." 
„$reie  2foterifanerin!" 

„Der  'S  aber  bod)  böHifd)  jn  Äopfe  geftiegen  — " 
„Dafj  fie  in  Hornburg  mit  ber  ©rofefjerjogin  oon  Tautenburg  gefpielt 
f»at  —  f>af)a!" 

„Unb  bie  iHuffin  — " 
„£rau'  nia)t  red)t:  Mfnlifrin." 
„3lber  jcujmbare  fdbeinbar  —  tjalja!" 
„9J{it  ber  «Dhitter  — " 
„^arire,  eine  angenommene." 
„©djnöbe!" 

„gteut  eud»  beS  SämpcfjenS  unb  roenu'S  pebigreeloe  glüf)t!" 
„2trm  in  2lrm,  bie  Reiben!" 

„SBaS  man  aus  Siebe  tfjut!  $ebe  roartet  auf  ben  2lpfel.  Da« 
Sßrinsdben  ift  baS  Sinbeglteb." 

„benimmt  fid)  aber  mit  mef)t  ©efdjicf  als  roeitanb  ^rin*  ^aris, 
&of)eit." 

„9ia  f)ören  ©ie  —  aud)  oiel  leidster  bei  beuen!    Tefmu'.u'S  uidbt 
fo  ernft  roie  bie  olnmpifdien  Damen." 
,,©eb>  praftifd)  — " 
„3um  flirten!" 
„3um  flirten!"  — 


256    Ejans  £jermann  in  Sreslau.   

Unb  fie  bemühten  fid>  »ergeben*,  ben  bieten  &rei*  511  burdtbrecbett, 
ber  jtoei  dornen  »on  eigenartiger,  in  33ejug  auf  Üftter  untarirbarer 
©cbönbeit  e*cortirte: 

„Sollen  un*  bod)  'ranpürfdben  — " 

„9toturltd)  — " 

©*  gelang  tbnen  nid)t.  — 

M." 

„%W  - 

©in  SMftuIjt,  eine  SBolfe  »on  licbter  ©eibe  nnb  ©pifcen  barin,  fd)ob 
fid)  tfinen  entgegen. 

„®rüden  nur  un*  um  bie  $ül)len." 

„^a*  mar  nun  ein  ©tern  —  ber  .Quttgc  bacbte,  er  fanterte  einfad) 
in  ben  Gimmel  — " 

„Unb  bot  fid)  ein  Smnbel  9ier»en  aufgelaben." 

2lber  felbft  ba*  „Zimbel  9ier»en"  macbte  fid)  nodi  anmutbig  gemig, 
um  md)t  bie  Harmonie  ber  präd)tigen  ©cene  ju  ftören.  — 

„9Ja,  biben  mobl  flcmtg  »on  bem  3iuber." 

„Bon,  geben  mir  in*  Gaf£." 

SDiefe*  fafbionable  Socal  lag  an  ber  .§auptftrafje.  ©ic  gingen  über 
ben  tagbellen  tfurplafc  unb  bogen  um  bie  Gcfe.  3Me  Wunf  brang  beutlid) 
bi*  liier  herüber,  in  S>atjertacten  —  ber  £anj  begann  jefct. 

Sßlöfcltd)  fcbofj  etroa*  ©rofie*,  £)unfle*  »or  ibrcn  äugen  burd)  bie 
Suft,  abroört*.   Gin  bumpfe*  2luffd)lagen,  unb  e*  lag  ju  ibren  güfeen! 

©*  mar  eine  menfd)lid)e,  eine  tttetblidbe  [©eftalt,  t»a*  fdnoarj,  um 
förmlid)  unb  regung*lo*  »on  betn  glatten,  lid)ten  STrottoir  fid)  abbob;  bie 
Mlciber  »errietben  e*.  .Raum  bafj  bie  SBetben'ba*  erfannt  bitten,  fo  mürben 
3  immen  laut  im  £aufe,  »or  bem  fie  ftanben,  Seute  famen  berau*geftürjt, 
ein  9Kenfc5enauflauf  fammelte  fid)  »on  ;ber  ©traf3e  b*r  'm  9tu  um  bie 
©teile.  SDie  Sßerfon  b«tte  man  aufgeboben,  au*  nrirrem  ®urd)einanberrufen, 
au*  Saftiger  grage  unb  2lttti»ort  fonnten  fidjÜneingeroeibte  ungefähr  sufammen* 
reimen,  roer  fie  mar.  $>ie  junge  3lerjtin  nämlid),  bie  ben  bod)berrfd)aftlid)en 
jtoeiten  ©tod  innebatte,  unb  beren  ©d)ilb  |fo  grofj  unb  reclamebaft  unten 
an  [ber  £au*tbüre  prangte.  Db  ba*  'etroa*  genügt  bitte?  3J?an  bitte 
e*  meinen  foltert,  toenigften*  fab  man  fie  alle  Sage  in  ©quipage  „in  bie 
Sßraji*"  fabren  —  eine  triebt  unfeböne,  febr  elegante  ©rfdbeittung,  ben 
beiben  ©aoalieren  mar  fie  fd)on  angenebm  aufgefallen. 

©od)  nun  bitte  fie  fid)  au*  betn  genfter  beti"*geftürjt. 

©ie  mar  niebt  tobt,  regte  fid),  fd)lug  große,  unheimliche  2lugen  auf. 
Gin  unarttfutierte*  ©tammein  —  bamt  mochten  £*  ©d)merjempftnbungen 
fein,  bie  fie  aufftöbnenb  toteber  in  Dbnmadjt  jfinfen  ließen.  211*  man  fie 
fd)on  im  £au*evngange  hatte,  rourbe  ein  alterer,  £err  Isoctor  angerebeter 
$err  an  ifjre  ©eite  gefd)oben.  „$n  bie  Jülinif,"  befahl  ber  nacb  roenigen 
©ecunben.    ,,.<öolt  bod)  it)re  ©ebroefter  —  ©laoierlebrerm,  SRotbegaffe  4 


  OTobeblumen.   


257 


wohnhaft,"  fcbrie  eine  Stimme  aue  ber  Portierloge,  $emanb  mufjtc  bie 
(benannte  aber  fdjon  benachrichtigt  haben;  fie  war  e$  wobt,  bie  jefct  bie 
lebenbige  flauer  um  bie  UnglüdSftcittc  burcbbracb.  (Sine  fchmäcbtige  ®es 
ftaCt  in  fdjtotternbem  Siegenmantel,  ein  fpifceä  öefubt  hinter  jerfd)lifenem 
Schleier  —  aber  93eibe$  uon  ftoifcbem  töletcbmuth  in  Haltung  unb  2lu3brucf 
ber  Stataftropbe  gegenüber!  SemerfewSroertb. 

Unb  fie  fprad)  ein  paar  ruhige  3Bort;  mit  bem  9lrjte,  bicfe  Sdjwefter. 
Präger  follteu  mit  einem  tfranfenforbe  fommen,  bie  Herimglücfte  ju 
fiolen  —  unb  fcbjcfte  fid)  bann  cbenfo  rul)ig  an,  in  einem  SBinfel  bc$ 
eleganten  .'oau-jflurS  eittftweileu  eine  9lrt  ^ager  für  biefelbe  Ijerpftellen. 

Sie  beiben  ßaualiere  hatten  natürlich  ritterlid)  &anb  angelegt  unb 
tbaten  e£  aud)  jcfet.  «Sie  ftänben  überhaupt  ganj  ju  be§  gräuleinS 
Stenften,  uerfidjerten  fie  mit  fo  ooHenbeter  ,§öftid)fett  ber  oerfümmerten 
fabenfd)einigeu  Glaüierlebrerin,  wie  fie  e-3  einer  Same  ber  grofeen  Sßelt 
fletban  haben  würben.  Sabeli^. 

^enc  banfte  furj.  Ser  eine  betnerfte  bamt  nod)  ftüfternb,  bafs  ber 
Sturj  @ott  fei  Sanf  »erbältnifemäBig  gut  abgelaufen  ju  fein  fdjetne;  e§ 
foHte  ein  btecreter  £roft  fein. 

„Sef>r  gut,"  triefte  baä  2Jcäbd)en  ba  —  fie  maß  plöfclid)  bie  ganje 
Grfdjetnung  bes  Spred)er3  mit  einem  fd)arfen  33tt<f  —  „febr  gut.  Senn 
erftenS  fann  fie  immer  nod)  fterbeu.  3™e'teU!?/  loentt  fie  nid}t  geifteS* 
geftört  ift  unb  fein  Krüppel  bleibt,  wirb  fie  nun  üieUeid)t  eine  33erüljmt= 
fjett.  Unb  enblid)  wenn  33eibe*  ober  ßines  »on  93eibem  ber  $all  ift,  nun, 
fo  gel»t'$  aud)  nur  in  einem  @lenb  bin." 

(Sie  tjatte  Ijart  unb  langfam  unb  beinafje,  als  fage  fie  eine  Section 
her,  bie  fie  febon  lange  auSwenbig  tröffe  unb  unwillfürlicf)  aud)  einmal  an* 
bräd)te,  gesprochen;  nun  famen  bie  Präger;  fie  wanbte  fid)  ibnen  ju.  — 

?fad)  wenigen  Minuten  mar  ber  elegante  föauäflur  leer.  9Iu#  bem 
Änmil,  ber  fid)  bem  büftera  fletnen  3l,9c  nad)fcbob,  löften  fid)  bie  beiben 
.perren  unb  feisten  ihren  alten  2Beg  fort.  Sicemal  hatten  fie  TOdjtS  5U 
bemerfen.  ftm  6af6  tranfen  fie  Sect  —  beutfdien;  feit  ber  franjöfifdje  an 
mafsgebenber  (Stelle  au*  bem  Sattel  gehoben,  mar  jener  jeitgemäfe. 

6t  febfiumte  —  unb  f»at  feinen  33obenfa^,  fo  feiten  bie  Srinfer  aud) 
(rtwaS  bar>on  gewahr  werben.  SBemt  ihnen  ba->  aber  ja  einmal  gefdhieht, 
fo  empfinben  fie  cö  natürlich  unangenehm  —  ungefähr  fo  wie  bie  beiben 
3ed)er  an  ben  .rierlicbeti  blumeugefd)mücften  SHfcfjleitt  beef  Sid)  beS  Gaf6 
^mp6rial  ben  ©inbruef  ber  Scene  empfunben  hatten,  bie  fie  eben  mit» 
erlebt. 

Sie  waren  übrigens  febou  ü6er  benfelben  hinweg,  fteeften  auf  einmal 
bie  Äöpfe  bid)ter  jufammen.  Ser  Sine  erjäblt  bem  3lnbern  eine  ganj  Keine 
$ofgefdhid)te  —  babei  ift  es  mitunter  fing,  bie  Äöpfe  bidhter  stammen* 
jufteefen  —  weldje  eine  jugenbliche  .slünftlerin,  beren  Talent  in  ftrage  ftanb, 
bie  aber  mit  hohen  Aufträgen  beebrt  würbe,  jnr  .^etbin  hatte  .  .  . 


528    £jans  fjermann  in  Breslau.   

3urifd)en  ©djaum  unb  SJobenfafc  aber  freift  unb  perlt  bet  flare  froft- 
»oHe  SBein.   Unb  baä  ift  gut.  

Slufeerbalb  bet  ©tabt  Ijatte  bie  ©aoolcabe  vorhin  ein  nod)  f<f)ätfete* 
Sempo  angelegt;  bie  in  ba3  ÄopfgefteH  be§  Samenpferbes  geftccfte  Slume 
lag  batb  am  Sßegranb. 

2)urd)  bie  Suft  id»roirrte  ein  ©eiftdien.  (£beu  ^atte  e£  auf  beut 
Ernftallranbe  eineö  ©Ijampagnerfeld)«  im  Gaf6  3mp6rial  gelrotft,  balb 
golbig  fd)iUernb  unb  fcbön,  balb  afdjgrau  unb  Ijäfilid),  immer  bie  SSarfen 
aufgeblafen  wie  ein  SBofaunenengel.  „3eitgemäft,  seitgemäfs,"  §atte  ti 
alfo  genüft  unb  fid)  in  bie  Sruft  geworfen.  „D  3eitgeift,  ungefdtfacbteter 
©efette,  nidrt  anberä  $u  pacfen  beim  wie  bie  ^pramibe  be3  ßgeopä  oon  ben 
£änben  eineö  ©äuglingä,  uerliere  ®id>,  verliere  ®id)  —  vor  mir,  bem 
©eiftlein  beä  3eitgemäfjen,  3wtßemäfeeit  —  beffen  Domäne  finb  ©djaum 
nnb  SBobenfafe,  ©ä)aum  unb  SBobenfafc  —  benn  bie  finb  d)arafterifnfd), 
mobern,  —  djarafteriftifä),  mobern  mobern  — " 

Unb  babei  ttatte  e3  bie  33aden  nod)  einmal  tüdjtig  aufgeblafen,  unb 
nad)  bem  flaren,  perlenben  SBetne  t)atte  ei  gefdnelt  mit  fd»eelen  SMiden. 

•Öier  in  ber  freien  3?atur  war  eä  »iel  weniger  aufgeblafen.  ^löfclid) 
aber  ftürjte  e3  fid)  auf  bie  33lume  f)erab:  „©u  rotrft  aud)  mit  in  ben 
33obenfa&  geftampft  roie  alle  bie  anbereu  lieben,  buftlofen,  djaraftciiftifcben, 
mobernen  — " 

„2lrmen,"  läa)elte  ber  SDconb  mitleibig,  unb  fie  in  ifjreS  Tafeittl 
le&tem  ätugenblufc  noa)  oerflärenb ,  füjjte  er  fie  mit  feinem  reinen 
£hnmel3üd)t  —  weil  fie  bod)  trofc  allebem  eine  33tume  blieb. 

Slbcr  baä  roar  in  ben  Singen  bes  ©eiftleinä,  bas>  bie  Sinne  pralp 
lerifcf)  hinter  fein  Df)r  gefteeft  £>attc,  ebenfo  undjarafteriftiid)  unb  unmobern 
roie  ber  flare,  fraftoolle  SBein  srotfe^en  @d)aum  nnb  s8obenfat. 


2Tlont  Saint  ZHidjel. 

Don 


UUcfjarb  25ecft. 


gtnitfau  i.  S.  — 


jtt  weiter  SJudjt  be8  blauen  3Weere3  erbebt  ftd)  unweit  bct  Säfte  ftranfreidjg,  [üb» 


QjQ  tueftlidj  bon  btr  §aicnftabt  ®  ranbitte,  bort,  ho  bie  Warfen  ber  S3retag!ie  unb 
bcr  Mormanbie  einonbtr  berühren,  wetten  über  bie  unenblidje  ebene  fidjtbar  bcr  bjftorifdj 
benfroürbige,  in  Sage  unb  Xidjtung  bieibefuncene  SDtont  et.  3Ridje(.  Strohe  unb 
Sßalaft,  SBurg  unb  ®efängniß,  SHoftrr  unb  $>örffein  finb  auf  bem  ®ranitfrget  mitten  in 
ber  See  auf»  unb  äbereinanber  getbürmtj;  bie  Warfen  goflbifdien  ^feiler  unb  Streben, 
ebebem  in  einen  fptfcen  £burm&elm  enbenb,  geftalten  bie  ©Ubouette  pbramibal  unb  ber« 
leiben  bem  [gangen  ®ebilbe  ba8  wunderbare  |8tu8fcben  einer  romantifdjen  ^elfenbura, 
eine«  berfteiiierten  ©dbloffeS,  eine»  ,2Eunber8*  unter  ben  SSauwerfen  bon  ÜWenfdjenbanb. 
3n  Sjronfreidj  aI8  ÜBallfabrtSoit  feit  me^benn  lfOO  2<uV«n  bod)  gefeiert  unb  Ifingft 
ein  3uflP*  wften  StangeS  für  bie  reifeluftigen  SBctoobner  ber  beiben  Ganaltänber,  bat 
ber  [S9erg  .etwa  feit  einem  Safcrgelmt  aud)  in  ®eutfcfjfanb  feine  SBercbrer  gefunben,  ab 
unb  gu  fd;aut  man  fein  Sitb  in  einer  unferer  größeren  tüuftrirtcn  3eitfd)riften,  bie  unb 
ba  lieft,  man  einen  mebr  ober  weniger  bbantafttfd)  gefdjriebenen  «Jeuidetonartitel  über 
„baS  SBunber  be8  Sonate". 

ftür  ben  [©djreiber  biefer  Stiltn,  bcr  bie  Oftergeit  in  SßariS  berlebte,  ftanb  eB 
bon  bornberein  feft,  bie  lang  erfebnte  Statte  gu  befudjen,  bie  officieHe  9Rittbei(ung,  rafs 
bom  8.  iSIptil  ab  9tunbretfebittd8  mit  6tägiger  ®iltigfeit  gtoifdjeu  $ari8  unb  3Ront 
@t.  SRidjel  auggegeben  würben,  gab  bie  befte  ®ewäbr  für  eine  möglicbft  bequeme  SJer« 
Wrrtlidiung  beB  $(ancS,  toenngleid)  fü  bie  SOufton,  etwa  eine  fclige  Debe  menfdjenleeren 
SafeinS  gu  betreten,  nnbarmbcrg'g  jerftörte.  SSber  fdjön  unb  gro&arttger  Steige  bott  ae= 
ftaltete  ftd)  tro&bem  bie  unternommene  ^abrt,  unb  begünftigt  bom  berrlidjften  in  ogurner 
SBIäue  über  bie  teuren  unb  bie  SDteerftutb  fid)  wölbenben  Di'terbimmel,  bat  fle  bem 
Dtetfenben  einen  unau8lofd)tid>en  Sinbrud  bjtnterlaffen. 

'Ulan  benufct  gu  bem  SfuSffage,  ber  fid)  in  brei  Xagen  brquem  madjeu  läfst,  ben 
©rbnetlgug,  ber  in  $ari8  auf  ber  gare  Montparnasse  früb  8  t%  30  SRin.  aißtljt. 
Die  SBabn  burdjläuft  gunädjft  bie  SJanlieue  ton  SßariS  unb  mit  ibr  bie  etngig  lanb» 
fdjafttid)  reigootte  ©trede.  §at  man  ben  (Siffeltburm  au8  bem  ®efidjt  berloren,  gur 
Stedden  ben  legten  SBIitf  auf  ben  SönigSbalaft  bon  SBerfailteS  unb  bie  Slbollo« 


260 


  Stidjarb  Secf  in  gipicfau  i.  5.   


f  ontatne  im  Spart  geworfen,  fo  füljrt  ber  3»8  bittet  baS  einige  einerlei  bei  9lormaiibte; 
nur  bie  Iteblid)  gelegene  ©tabt  ®reur.  mit  bei  teeitbin  jtebtfcaren  ©rabcapelle  ber 
Orleans,  bie  bie  irbtfcbeu  Ueberrefie  beS  le&ten  SönigS  aus  bem  $aufe  SBbüipBS  (SgaUte, 
ßubmig  $6itippS  birgt,  bringt  eine  ttiiüfommene  Slbtredjfetung  in  bie  ebene  fianb» 
fajaft,  bie  Woljt  frudjtbar  unb  obfrretrt,  (Süter  unb  ©eböfte  in  äHenge  jeigt,  aber  im 
böc&ften  ®rabe  eintönig  unb  ertnübenb  auf  ben  9teifenben  mirtt.  3n  Strgentan  fjält 
ber  3"fl  }U  (urjer  äNütagSrafr,  bann  ßet)t'-s  in  rajenbem  £empo  reeiter  bureb,  gleicb  ein« 
förmige  Xriften  bis  gfotlignt).   J&ier  gweigt  eine  (Seitenlinie  ab,  bie  ben  Steifenben 
feinem  3tele  jufä6,rt;  er  ecteitft  junäd)ft  2lBrandje8  unb  fommt  bamit  in  bie  9Jäbe 
beS  ÜJieereS,  fdjon  fest  ber  ©eeroinb  ein  unb  tünbet  burdrj  fein  SBroufen,  baß  bie  Jrüfte 
nlcbt  me&r  fern  ift.   ©8  lohnt  fiefo  für  ben  SBanberer,  in  SlorancfjeS  auSjufteigen,  ber 
Ort  ift  bott  Bon  biftorifdjen  Stimmungen.  SiS  1498  mar  er  in  enalifdjem  SBtfifer  int 
älufftanb  ber  SBeitböer  wäbrenb  ber  großen  Mebotution  eroberten  bie  SRebetten  1793  nasb 
idjroeren  Opfern  baS  ©täbtetjen,  in  ber  Siattjebrale,  bie  ftcb  auf  bem  ©ipfel  eines  £ügel3 
erbebt,  beugte  ber  ftönig  Don  (Snglanb,  ber  ftolje  §  ein  rieb,  II.  feine  Snie  bor  bem  91b* 
gefanbten  oeS  $apfteS  unb  bezeugte  bemütbiae  SSu&e  unb  Bleue  für  ben  an  bem  (Srj» 
biftfjof  »on  ©auterburb,  XljomaS  SBedC et,  Berübten  SDlorb.  pr  ben  ©efcbicbtBforfdjer 
birgt  bie  !8ibIiotf)ff  beS  $ötel  be  Sitte  reicfje  banbfäriftticfje  ©djäfce,  15  000  Söänbe,  bie 
efjebem  auf  bem  SJlont  St.  2Jlicbel  ruhten,  ©teigt  man  auf  ben  fcügel,  ber  bie  Äatljes 
brate  trägt,  fo  bat  man  weite  Umfiajt  über  bie  S3al  Bon  ©ranbilte,  Bor  bem  äuge  beS 
»efebauerS  ergebt  fiaj  in  ber  gerne  ber  3Ront  @r.  Wiebel  unb  mad)t  wotjl  ben  SBunfdj 
rege,  fcf»on  jeßt  nadj  bem  erfeljnten  ©tanb  ju  gelangen,  aber  bie  $artie  ift  Bon  biefer 
Seite  ber  wegen  ber  gtuttjeer&ältniffe  gefä&rlidj  uno  fdjwiertg  gu  unternehmen,  mir 
fe&ren  um,  befteigen  ben  3u«.  wieber  unb  Bertaffen  ibn  erft  in  $ontorfon,  wo  ein 
Ziagen  unfer  wartet,  uns  naet)  unferem  3<fte  i»  bringen. 

(SS  ift  roabr,  ber  erfe&nte  ftunft»  unb  9?aturgenufj  mufj  tbeuer  ertauft  teerben;  wir 
finb  mit  unferem  fcanbgepäcf  bant:  ber  Beibältnißmäßig  großen  Slnjabl  Oftergäfte  auf 
ein  Winttnum  Bon  5B(a&  im  2Bagen  befdjränfr,  ber  ÄBeg,  ber  mit  ©efpann  jurüefgetegt 
nierbeu  muf},  ift  etwa  V/i  ©tunbe  weit,  bie  gfa&rt  gefjt  burtf)  eine  wiiflidie  SBüftenei. 
in  ber  felbft  baS  bicfjt  am  ©tranbe  gelegene  £orf  SWoibre«  (eine  Oafe  abgeben  fermt;  baju 
ftreicrjt  über  bie  faltige  burdjgebrannte  Sanbftraße  eine  frifebe  ©übbrife  unb  überftf üttet 
äSkgen  unb  3nfaffen  mit  Saften  weißen  ©taubes  unb  fdjweren  ©cbmufceS.   9Jad)  33er* 
(auf  einer  SBiertelftunbe  (üften  mir  ein  wenig  bie  faiweren  SBorljänge  aus  ©egeltucb,  ba 
liegt  bor  uns  in  ber  ftferoe  im  SDieer  ber  erfet)nte  ÜJionf.  ©djon  ff  ben  wir  bie  gotfjifcben 
©treben;  wie  eine  Sßnramibe  im  ©ounenlicbt  funlelno  unb  glieerab  ragt  'er  in  ber 
weiten  tjtutij,  immer  Detter  unb  größer  tritt  ber  SJHdjelSberg  ju  läge,  ffurj  Bor  bem 
SDteereSftranbe  gewinnt  bie  3Üufion  botteB  ßtben,  fo  mag  bie  3flw»et6urg  SKontfalwatich, 
fo  ber  »rünfiilb  ®urg  auf  Sfenftein  in  ber  SBfjantafie  ber  b,öfifa)en  Siebter  auSgeieben 
baben,  wie  jeßt  bfe  breitbafige,  mit  ©äufern,  SWauem,  Stürmen  unb  3wnen  biebt  be« 
feWe  SWaffe!  —  Sinft  lag  baS  ©tanb,  auf  beffen  einer  ©eite  gar  ein  ©tücfcben  ffiatb 
©emäuer  unb  ©eftrebe  burct>ittäd)ft,  rings  com  3Reere  umgeben,  ber  bequemere  Steife 
eomfort  bat  gelS  unb  üanb  mit  einer  feften  35igue,  einem  Sei*,  berbunben,  auf  bem 
ber  Äeifenbe  fonber  8ä§miB  im  SQSagen  r)inübergetangen  tann.  9!ur  um  jur  Xorfgaffe 
am  Ju&e  beS  Reifens  }U  fommen,  mufj  ber  Sßogen  oon  ber  Dtgue  Huts  abbiegen  unb 
burd»  ben  5Keere$fanb,  ber  je&t  troefen  ift,  —  erft  gegen  Stbenb  fommt  bie  JJtutb;  — 
feinen  (Singang  jum  Sorfe  fudjen.  SIbwecbfelnb  wödjentlid)  berrftbt  ;^ier  gro&eS  unb 
Keines  SWeer,  gwehnal  tägllcb  fommt  bie  gtutb,  iebeSmoi  6  ©tunben  an&attenb,  bann 
liegt  ba«  Silanb  bon  ben  2Bogen  umtoft.  9fodj  tag  ber  3«flanfl  jiemltdi  troefen  ju  £age, 
als  roir  cinfuf/ren  unb  an  einem  alten  großen  ©teintbor,  ber  wabbengejierten  porte  du 
roi,  beren  üöogen  bie  Storfgaffe  überfpamtt,  §att  matbten.  3e&t  überfebauten  wir  autt) 
Dorf  @r.  hiebet,  baS  unter  bem  fieberen  ©dra&e  mäd)tiger  ©teinwätte,  gefrönt  bon  ber 
ftrinen  $farrfircbe,  am  Sn&e  beS  iöergeS  fid»  fcbtangengleicfi  binmmbet. 


  ItTont  Saint  OTidjel.   


Seit  langen  Sagten  fwfinbet  iidi  bei  eifte  ©aftbof  im  Sfötfdjen  tu  ben  §änben 
ber  gamilte  ^oularo,  b.  b-  Sßoutarb  ante,  benn  e8  giebt  auch  nodi  eine  ganje  Sin« 
jat)l  anbetcr  ©aftfjäufer  unter  betfelben  girma,  bie  aber  beS  originellen  Sltiftridje«  unb 
ber  SJorjüglicbfeit  entbebren,  bie  jener  Verberge  eigen  ftnb.  S>r  erfte  gintritt  in  baS 
wobnlicbe  §aus,  ber  mädjtige,  granitene  ftamin,  in  btm  ein  Sßaar  fräfttge  §ammel« 
gigotS  am  ©pieBe  fdjmorten,  rief  alte,  liebe  Erinnerungen  an  ©apii  wai>,  unb  als 
SRabame  SPoularb  uns  patriardjaltl'd)  unb  aud)  mieber  tout  moderne,  empfing,  beroifl- 
fommnete  unb  bie  3tntmer  anwies,  ba  mar  man  fofort  tuie  su  §auie.  Sieber  ßefer, 
(emtft  S>u  auf  ©apri  bie  betannte  ffneipe  gum  ffater  ftioigeigei  an  ber  $tajja  beS 
SHeftchenS?  Jtennft  £u  ba  ben  ©tgnor  Sßabione  unb  ©ignora  Sßabrona?  UeberjeSe 
Dir  Söetbe  in'i  grangofifebe,  unb  3)u  baft  SKonfieur  unb  3J!abame  Sßoularb  bor  2>ir. 
©o  bebeutenb  ift  ber  (Sonftuj  oon  gremben  auf  bem  felfigen  ßtlanb,  bafj  uufer  £ötel 
gtoet  S)epenbenjen,  ba«  „rote*  unb  baS  „Weiße"  &aus,  tjat;  mir  erhielten  unfere  Sobnung 
itt  erfterem,  etwa  50  ©tufen  gum  £betl  oon  febr  gioetfelbafter  Qualität  führten  uns 
berauf;  fo  erbieltcn  mir  einen  Storgefdjmacf  ber  morgenben  Äletterpartie.  $cr£Binbmar 
io  beftifl,  ba%  mir  beftänbig  (Mahr  liefen,  unferer  fiopfbebcefungen  beraubt  gu  werben. 
Oben  angefommen,  wies  uns  3Karie,  ber  emfige  bienftbare  (Seift  beS  $aufe8,  immer  im 
fdjtoarjen  ftteio,  ben  flopf  mit  bem  blenbenb  weißen  normanntfcfjen  §äubdjen  bebeeft, 
unier  3'mmer  an,  baS  aujjen  ein  SBalto»  umlief,  ber  eine  monuige  2lu8fid)t  auf  baS 
SWeer  unb  entjütftnoe  (Stnfidjt  in  baS  ©ewirr  alter  Käufer  geftattete,  baS  am  guße  beS 
SöergeS  fleh  ausbreitete.  (Sin  unentbebriicbeS  Stequiftt  ber  (Sinridjtung  unfereS  3immerB 
bilbete  eine  Sßapierlatente,  ben  2£eg  über  bie  felfigen,  ausgetretenen  ©tufen  binab  nacb 
bem  ©peifefaat  gu  beleudjten.  SRadjbem  mir  uns  pon  ben  feft  baftenben  ©taubmaffen 
gefäubert  betten,  fliegen  mir  unfere  geistreppen  binab,  bei  bem  mebenben  SBtnbe 
roabrlicb  fein  IeicbteS  ©tütf  Arbeit,  unb  matten  einen  Slusflug  in  bie  3)orfgaffe.  SBelaV 
ein  intereffanteS  ©emintel!  ©cbmalbenneftent  gletd)  febeinen  bie  Käufer  in  bie  mädjtigen 
geftungSmauem  eiitgeflemmt,  bie  gepftaftette  SJorfgaffe  Pertitft  ftdj  in  ber  SWitte,  um 
bem  SKaffer  unb  bem  Unratb  SJbflufs  gu  geben.  £aS  gange  3>orf  ift  ein  großes  $ötel 
unb  ein  gro&er  2?agar,  in  bem  man  Slnbenfen  an  ben  ÜDiont  ©t.  SKiajel  in  jeber 
Qualität  laufen  foQ,  $oft  unb  Xelegrapb,  bie  fieberen  Stenngetcben  mobemer  (Sultur, 
fehlen  ntcöt  |unb  fteben  in  feltfamem  ßontraft  gu  bem  ©tütf  edjteu  3RittelalterB,  baS 
unferem  S3licfe  fid)  barbietet.  UnS  gu  weit  ton  äHabame  $oularb8  gaftlicben  Räumen 
gu  entfernen,  oerbot  bie  bereinbredjenbe  Snmfelheit  unb  ber  nabe  beoorftebenbe  beginn 
beS  Einers,  baS  mir  uns  beute  reblicb  Perbient  batten.  Sei  ber  SRütffebr  gur  porte 
da  roi  gemabrten  mir  aueb  febon  bie  §lutb,  Wildje  je&t  bte  3nfet  mit  2lu«nal)me  ber 
$>fgue  umbranbete.  Sei  3Hfd)e  maebte  bie  Stau  SBirtbm  bie  ftonnettrS,  mäbrenb  Die 
beiben  Xöcbter  beS  Kaufes,  bie  in  Toilette  unb  grifur  bie  $arifer  ^Benfion,  bie  Tie  be« 
fuebt  batten,  nicht  Perleugnen  tonnten,  bie  ©peifen  baumreimten.  Sftacb  Xifaje  Pereinte 
ber  ffaffee  um  ben  8tiefen(amm  eine  wefenttub  ang[o>frangdfifcbe  ©efettfebaft,  S>eutf<be 
formen  nur  fetten  hierher.  9lad)  10  Übe  toarb  bie  Satente  ergriffen  unb  ber  luftige 
SSJeg  über  bie  Xreppen  nad)  ber  äBobnung  angetreten;  bie  Ofternadjt  mar  fternenbell  unb 
monbbei'rrablt,  fie  liefi  ein  b«rlicbeB  SBetter  gur  S3efid)tigung  ber  geftung  unb  beS 
^etligtbnmS  oon  @t.  3Rid]et  ermarten. 

SSon  9  Ubr  SBormtttag  ab  werben  ben  Ofremben  bte  Saultd)teiten  gegeigt,  eS  hatte 
ftd)  eine  giemlid)  gablretdje  ®efeöfchaft  gufammengefunben,  unb  bte  Sletterpartie  follte 
ieftt  beginnen,  guoor  aber  warb  ein  ©pagtergang  um  bie  Ställe  unternommm,  bie  eine 
Otribe  berrltcber  SluSfichtSpuntte  über  SKeer  unb  Süfte  bieten.  5)te  bentoürbige  ©efdjiebte 
unfereS  (SilanbeS  beginnt  mit  bem  Sab«  709,  ba  Söifcbof  Hubertus  Pon  SlurandjeS 
bie  große  ^btei  gegrünbet  baben  foH,  763  einleiten  fie  bte  SSenebittiner,  beren  Siebte 
fie  %n  jenem  mertroürbigen  SBunbermerfe  ausbauten,  baS  beute  ben  gelfen  bebeeft ; 
romanifche  Waffen  ^mit  gotbifeben  im  bunten,  mirren  SBecbfelfpiel,  fpifebogige  ©alerieen 
unb  ®tebel,  Stefttcerfe  oon  gialen  unb  SBimpergen  Heben  am  ©ipfel  unb  an  ben  ©etten 


262 


  Htdjarb  Setf  in  groicfau  i.  S.   


beS  S8etge8.  Sie  Ijiftorifdjen  ffirimterungen  finb  natürlich  aufierorbentlidj  teid)  unb 
mannigfaltig,  fte  brängen  fid)  best  aSefcbauer  bei  iebcm  Stritte  auf.  3m  großen 
100  Jährigen  ftriege  gwifcben  granfreich  unb  @ng(anb  naib  baS  J&eiltglbum  gut  gfeftung, 
bie  Don  ben  (Sngläubern  oft  bergebenS  beftürmt  unb  burd)  ein  auf  ber  Deinen  Sfacbbar* 
tnfef  Xombelaine  angelegtes  3rort  ohne  ©rfolg  bebrobt  roarb,  bie  S?efte  tft  immer 
jungfräulich  geblieben,  nie  Dom  (Jeinb  übettounben  werben.  1469  warb  auf  ber  3nfd 
Don  ftöntg  ßubwig  XI.  ber  Orbeu  beS  (jeiligen  iWtcbael  geftiftet.  Sange  Qtit,  nodj 
bie  in  bie  Witte  beS  borigen  3abr&unbertB,  galt  bie  Slbtei  au*  als  ©taatSgefängntfe, 
aus  bem  ein  ©ittroetdjen  tticfjt  möglid)  war:  hier  fcbmacbtete  im  eifernen  Räftg  auf  93e= 
fehl  ßubrolgS  XV.  SSictor  be  la  ©aftague.  Bis  ;gum  Sah«  1886  trar  ber  Berg 
SOkafabttSott,  feitbem  finb  alle  Sauten  bafetbft  ber  SBerroallung  beS  SDiinifteriutnS  ber 
fronen  Jtünfte  unterftellt,  bie  äBaüfabrten  haben  aber  beSbalb  nld)t  aufgehört,  fonbern 
finbcn  nad)  ber  mit  beu  uralten  BrocefflonBfabnen  reich  auSgefcbraütfteu  Sorffirebe  brr 
3n|'el  ftatt,  bie  als  böcbfteS  ^eiltgthuit  bie  nufifa  filbecne  ©tatue  beS  bradjentöbtenben 
©rgengelS  birgt,  bie  einft  bie  Slbtei  gierte. 

£>k  UnbUoen  ber  SBitterung,  benen  bie  Bauticbceiteit  beS  Berges  ieber  3eit  aus* 
gefegt  fmb,  erforbern  fortwähre««  Stebavaturen  unb  machen  baS  äBunber  wm  ©t  ftttbel 
gu  einem  febr  teuren  SBefiee  beS  frangöüicben  ©taates.  ©rofje  Baugerüfte'  fehlen  biet 
nie,  fie  geboren  gum  ©efammtbiloe  ber  ßocalität.  ©ämmtlicbe  Beridjtetftatter  überbieten 
fid)  in  ber  ©dnlberung  ber  Slnftrengung,  welche  bie  Berichtigung  berurfacbte,  Bor  allen 
Singen  ber  Dielen  hoben  unb  fd)led)ten  Srebpenftufen,  bie  man  babei  hinauf»  unb  binab> 
jutlettern  bat.  ©ewife  ift  bem  fo,  aber  eS  liegt  in  biefer  Slrt  Befragung  gerabe  efat 
gewiffer  9teig,  gubem  wirb  man  burd)  eine  Slngabl  ber  fdiönften  SluSblicfe  für  baS  müh» 
feiige  Stuf«  unb  Stieberfteigen  wenigstens  etioaB  entfdjäbigt.  Selber  ift  eB  augenblicf« 
lid;  gang  unmöglich,  bie  berüchtigte  Plattform,  bie  einftmalS  toobl  ben  boten  Sfmtm,  ber 
baS  (Sange  frönte,  trug,  unb  bie  befannte  „©pi&enrreppe"  (escalier  de  dentelle),  fo 
genannt  wegen  beS  reichen  gotbifchen  SJca&rcerfeS,  baä  fie  gierlid)  wie  Spinnwebe  fdjmüttr, 
gwi[d)en  bem  @ewirr  ber  Strebebögen  unb  gialen  beS  (SborcS  gu  erfteigen,  benn  auch 
hier  finben  weitläufige  Weparaturbauten  ftatt,  bie  baS  fchtauffteigen  oerbieten.  ©o« 
mit  ift  auch  bie  @efäbrltd)(eit  ber  Befteigung,  bie  gu  fcbilbern  bie  Steif rbefebreibungen 
nicht  mübe  Werben,  in  bog  9tcid)  ber  fjabel  Derlegt.  SfiaS  man  aber  ficht,  ift  wahrlich 
intereffant  genug,  um  bie  Begeicbnung  „Merreille"  für  einen  £&ei!  beS  SRiefenbaue»  gu 
rechtfertigen.  2Blr  gelangen  gunäcbft  in  bie  ftirdbe,  bie  im  11.  3abrbunbert  Dom  STbt 
©tlbebert  II.  begonnen,  1138  boHenbet  würbe,  natürlicb  im  romamfeben  ©til,  ben 
emgelne  Xfjeile  beS  ©ebäubeS  noch,  beute  geigen.  [JJeuerSbrünfte  [unb  (Smftürge  er= 
forberten  einen  gotbifeben  Neubau  beS  hoben  SboreS.  Sllte  ©cutpturen  gieren  noeb  bie 
SBänbe  ber  Äird)e,  wir  gewahren  eine  febr  begeidjnenbe  Sarftellung  be»  ©ünbenfatt« 
unb  in  Otelicfbarftettung  ba8  ©ebiff  ber  Strebe  auf  ben  SMen  fcbautelnb,  ein  ©etteiu 
ftücf  gu  ® tottos  ScabiceKa.  Sin  bie  ftirebe  fdjliefjen  ftd)  berfcbUbcne  ©öle  an,  fammtlid) 
nur  burd)  SWaffen  bon  treppen  nnb  ©tufen  erreiebbar,  unb  ber  berühmte  gierlicbe  Äreug« 
gang,  beffen  ^ängebreietfe  über  ben  gefämpferten  ©äulencapitälen  mit  rounberboffen  SBanb» 
muftem,  jebes  anbers,  gefdjmücft  finb.  |3)ie  3nnenfeite  beS  ffreuggangeS  bedt  leiber 
ein  moberncS  3iegelbad)  in  febreienoen  bunten  färben,  ,baS  gwar  baS  gerft&rte)  ®ad) 
genau  ttaebabmett  fod,  aber  bureb  ben  (9lang  feiner  SReubett  unangenehm  mit  beut  ehr* 
würbigen  alten  (Bemäuer  contraftirt.  Sie  gange  fflirebe  febeint  am  greifen  gu  Heben,  bor 
3ufammenbrud>  febtrmen  fte,  inSbefonbere  ben  hohen  (Sbor,  burd)  bie  $rad)t  feiner  Uetail» 
ben  ^auptgierat  beS  gangen  SSergeB,  loloffale  Unterbauten  oon  einer  ©röfje  unb  ©tärte, 
wie  bergleichen  nur  noch  in  Slf  fif  i,  in  ber  ®ruft(ird)e  beS  heiligen  gfrang,  gefunbea  werben. 
Sie  ßaft  ber  fiirdje  tragen  |bie  „gros  Piliers",  bie  biefen  18  gufe  im  Surchmeffer 
baltenben  $fetler,  gu  benen  [man  burd)  eine  lange  £reppenftud)t  gelangt.  Sie  mrfften 
©ewBlblatnmem  biefer  ©ubftructionen  finb  nun  gu  Flu^räumenCberWenbet,  bie  wiebrigften 
berfelben  finb:  baS  SPromenoir  ber  3J}ön<he,  ein  fübleS  ©emacb,  bon  mächtigen  ©äulen 


  Jllont  Saint  OTtdjel.   


263 


geftü&t,  auf  benen  weitauälabenbe  ftreujatwöl6e  rnljen,  ferner  bie  S  rtjbta  beS  Slquilon; 
enblidj  befinben  fid)  biet  aud)  bie  fdjauber&aften  9täume  bei  ©efängnifie  für  ©taat8« 
üerbredier,  in  bie  ebenfoirenig,  tote  in  bie  entfe&lidjen  ©efängniffe  im  ffiogenbalafte  Don 
SBenebtg,  ein  StdjtftrabI  fid)  Derirren  tann.  SBeitere  ©tuftnfolgen  führen  jit  bem  £ft ef ec* 
torium,  bem  ehemaligen  ©belfefaale  bet  äWBndje,  weldjeS  gaei  Stiefenfamine  jieren;  gur 
Salle  des  hötes,  bem  Kaum,  ber  jutn  Snwfang  bei  ©äfte  kftimmt  aar,  ben  Ietcrjtcre, 
berbältnl&mä&ig  gierlid)  au8(abeitbf,  bon  bünnen  Sßfeilem  geftüßte  ftreuggewb'Ibe  tragen. 
(Sine  abermalige  Sretbenffudjt  geleitet  in  ben  SRitterfaal  (la  salle  des  Chevaliers), 
eine  berrltdie  gotbifdje  Salle,  bie  elf  fotoffale  Sßfeiler  in  Bier  ©drfffe  trjetlen,  boflenbet 
anter  bem  lunftrmnigen  »bte  Sbomaa  De8  SbambreS  (1218—1225).  3"  Metern 
©aale  fHftete  1469  Jtönig  ßubtoig  XI.  ben  Orben  beS  betligen  Stengels  3Jlid)ael; 
wenn  aud)  ber  ©ig  beS  Orbene-fdjoit  1557  nad)  SSincenne8  »erlegt  würbe,  fo  erhielt 
bod)  ber  Saat  Bon  bei  ©tiftnngSfetertidjfeit  feinen  tarnen.  Unter  bem  3iitterfaal  wölben 
fid)  bie  weiten  ßeHerräume,  beftimmt,  Sßtobiant  unb  ©etränfe  in  großen  SWaffen  aufgu» 
neunten,  um  langen  SSelagemnaen  irofc  }it  bieten,  tsie  fie  ber  SUiont  ©t.  ÜRidjel  im 
bunbertjäbrigen  flriege  ber  beiben  Sanalmädjte  fo  oft  aushalten  tjatte. 

9cad)  anbertbalbftünbigem,  mübfeligem  herauf«  unb  $inabf(ettern  Saufenber  bon 
©rufen  gelangten  wir  loieber  in'8  greie  mit  bem  SSeteu&tfem,  ein  ©tuet  SRtttelalter 
gefeben  ju  baben,  wie  e8  fo  auSgejeidjnet  etbalten  nidjt  bäuftg  in  Suroba  Borfommt. 
Stadj  einem  trefffidjeit  Dejeuner,  bei  bem  bie  bifiorifebe  Omelette  nid)t  febltf,  tebrte  ber 
größte  £bei(  ber  Slnirefenben  bem  gafttieben  $aufe  SMabame  SßoularbS  Bieber  ben  Süden, 
um  neuen  Oftergäften  Sptaö  3"  madjen.  9hir  ju  balb  batten  wir  bie  fbantaftifdie 
5Pt)ramiöe  beS  unoergleldjltd)  malerifdjen  S3erge8  wieber  bmter  unS  unb  fubren  nad) 
©ranoüle  an  ben  SDleeteSirranb,  um  bon  bort  aus  am  nädjften  Sage  ben  ©djneHjug 
wieber  ju  befteigen,  ber  uns  in  jä&tr  (Sile  wieber  nad)  ber  franjofifdien  ©aubtftabt 
fflt)itn  foQte. 


3Uuftrirte  Bibliographie. 


3cvcmias  «uttljclf,  «uöflcwäftlte  «Seife.  6rfte  iüuftrtrte  5)3rad)tau8gabe.  9?adj 
bem  Drifltnalteste  fjeraufcgegeben  Don  Sßrof.  Otto  ©utermeift  er.  SJorwort  öon 
Dr.  fl.  ©djenf,  SDiitglieb  be8  febweij.  SBunbeBratbeS.  3JIU  200  3Huftrationen  oon 
21.  änfer,  »Ochmann,  20.  SUgier.  <Sbaur.=be»gonb8,  »erlag  öon  (?.  3a&n. 
©in  angefe&ener  fiiüerarljiftorifer  unb  Siebter  weift  in  feinein  in  biefem  $efte  Oer« 
bffentlicfjten  Sffat)  gegenüber  ben  ainfprüdjen  ntobemer  litterarifdjer  DeePoIutionfire,  als  bie 
Vertreter  einer  neuen,  auf  mefentlidj  anberen  ©runblagen  rubenben  Sidjtung  betrautet 
ju  werben,  barauf  f>in,  baß  bie  2Bei8belt  *en  SlfibaS  auch  auf  bem  lüteratifd.en  SRarfte 
(Seltung  babe.  £er  gortfdjritt,  ter  in  ber  mobeinen  SBettegung  tiegt,  foll  bamit  geanjj 
nidjt  in  Slbrebe  gefteQt  werben,  unb  ibre  SluSteüchfe  türfen  uns  nidt  blinb  machen  gegen 
bie  »erbienfte  üjrer  Präger.  $>af>  aber  biejenigen  bou  i^nen,  welche  glaubten  etwas  im 
SPrincipe  ganj  9leue8,  nodj  nicht  SagewefencS  ju  serfünben,  in  fdrtrerer  ©elbfttäufcbung  be- 
fangen toaren  refp.  fmb,  baf ür  liefert  ©ottfd;alI  in  feiner  parallele  gtetfcfcen  ben  „SHobernen* 
unb  ben  Stürmern  unb  Prangern  bc8  vorigen  ßoWwntertS  febr  lehrreiche  SJeifpiele. 
Slucfi  ber  Siebter,  mit  bem  wir  uns  anlä&lich  einer  SReuauSgabe  feiner  SBetfe  Wieber 
ju  befdjäftigen  angeregt  werben,  tonnte  als  äöeiiptel  bieuen.  Sil«  ber  als  ber  S.!ater  unb 
ba8  föaupt  beS  ejtremen  i)ieali8mu8  gefeierte  (Smile  3<>la  geboren  würbe,  im  3abre 
1S40,  waren  bereits  mehrere  Sränbe  ton  einem  Schweiger  Siebter  crfchteiien,  ber  halb  als 
ein  3)ieifter  realiftifcfcer  Saiftctluug  unb  al8  ein  epifcreS  Talent  elften  StongeS  gepriefen 
Würbe.  Sa,  ter  Steatigrous  SeumiaS  ®otthelf8  ober  Sllbert  SBifciuS'  ift  mitunter  fogar 
fo  träftig,  fo  urgcnirt,  bafj  ber  wärmfte  2?erebrcr  3»IaS  bauon  befriebigt  fein  tonnte ; 
bie  befannte  Schtlberung  be8  SampfeS  ber  beiben  mifttriefenben  SHägte  in  „Uli  ter 
ftneeftt"  löunte  üon  bem  franjöfifdjcn  2J!eifter  ße[djrieben  fein;  unb  in  ber  übermäßigen 
23erüdTid)ttgung  be8  befcriptioen  ©lernen  t8  fleht  ihm  Jeremias  @ottt)e(f  nicht  nad». 
greilicb,  im  allgemeinen  geilt  fieb  ber  8ceali8mu8  ©ottbelfS  oon  ben  SRafäojtgfeiten 
3oIa8  frei;  er  ift  nidjt  einfeitig  auf  bie  SRaditfeiten  unb  bie  pachologttchen  ©rfdjeinungen 
be8  menfdjlichen  2eben8  bejehränit;  ber  Schweiger  Pfarrer,  ber  in  engfter  »erübrung 
mit  bem  Sauern  gelebt,  fehilbert  ta8  läublidje  Sehen  gang  anbeiS  unb  fitf,«  nicht 
Weniger  trabr  unb  treu,  al8  3°to  e8  in  feinem  »on  ©räueln  erfüllten  JHoman  „La  Teire* 
getban;  anbererfeitS  ift  feine  ratoe,  realiftifcbe  SBibcrfpiegelung  ber  bäuerlichen  SBeit  oon 
ber  fentimentalen  Sluffaffung  be8  burdj  bie  üöriHe  beS  Spinogt8mu8  blicfenben  2?ertboß> 
Auerbach,  beffen  ©rfolge  auf  bem  Gebiete  ter  Sorfgeichiebten  in  bitfefbe  3«it  fallen, 
meientlld)  berf  Illeben. 


1 


266    Zt»rb  unb  Sfi&.   


3it  3etn«ia8  ©ottgelfS  ©c&riften  ift  »um  ©cbaben  ibrer  lünftlerffdjen  SSirfung 
neben  bem  Stifter  febr  häufig  bei  SParteimann  unb  bei  $rebiger  Ie6enbig:  lang  ans* 
gefoonnene  SBettacbtungen,  paftorale  Srgüffe,  breite,  rnxfen4cbrbafte  Söefcbreibungen  unter» 
bleiben  bie  fcanbtung  unb  ermüben  ben  ßefet;  unb  bie  iSejtebungen  auf  $erfonen  unb 
^uftanbe  aus  bei  näberen  Umgebung  beS  $)id)terB,  bie  aueb  nui  biefet  Dertraut  nnb 
üüeteffant  toaren,  baben  bem  Sidjter  in  bei  SBertbftfjäfcung  unb  bei  bauernben  Sanft 
bei  bem  nidjtfdjtoetgertfdjen  beutfcfjen  publicum  flaifen  Slbbrudb  getban.  S)iefe  SHänfld 
baben  eS  and)  oerfdjulbet,  bafj  ©ottbelf,  taum  Biergig  3abte  nadj  feinem  Xobe,  au&er* 
balb  bei  ©renjen  fetner  engeren  ftttmat  mebe  jene  mumienhafte  Unfteiblidjfeit  in  ben 
£itteratutgefd)id)ten,  als  jene  lebenbige  Unfleiblfobfeit,  bie  in  bei  foribauemben,  unmittel« 
baten  SBtitung  bei  SBerte  auf  empfängliche  @emütt)er  beftebt,  geniefjt  Unb  ba«  ift  §u 
bebauem,  benn  ©ottbelf  ift  mit  allen  feinen  ©djaiädien  ein  b«oonagenbet  epifebet 
Siebter  unb  ein  SSoH8fd)tiftfteüfi  elften  Stange«,  ber  al«  foldjer  erjiebeub  unb  etbebenb 


ffliabtli  a\i  5rau  S4ulmci(ler. 
8us:  Jeremias  rtoitjelf:  „8u8flen>a$lte  SBerfe*.  SOufttitte  sprac&tauäaobc. 
Vetou*8'B«l"«  »on  *tof.  D.  ©utermttftet.    JBertag  Don  %.  3 "fcn.  SSoupbe^gonbi. 


audj  beute  nod)  ju  Wirten  bermag,  wenn  man  ibn  in  reiner  ©eftalt,  in  bem  toabren 
©efialt  feinei  Watut  bem  SBolte  nabe  bringt.  Unb  bie«  gefdjiebt  bind)  eine  nene 
SluSgabe  feinet  beften  SEBerfe  burdj  $rofeffor  Otto  ©utermeffter.  $et  Herausgeber,  ber 
fid)  übet  bie  angebeuteten  SJiängel  in  ben  äBerten  ©ottbelfS  toobl  Hai  loai,  bat  eS 
unternommen,  biefelben  ju  befeitigen,  ntdjt,  inbem  er  eine  fogenannte  „Bearbeitung* 
lieferte  —  babon  bjelt  ibn  bie  riebtige  Btetät  für  ba8  SBort  be8  2>id)ter8  ab  —  fonbetn 
inbem  et  einfad)  jene  ftörenben  epifobifeben  SPartieen  entfernte.  2>ie8  tonnte  bier 
obne  ©efabr  ßefdjeben,  ba  bei  ©ottbelf  bie  £enbeng  nidjt  baS  Jhinftoerf  birrcbbringt, 
fonbern  gemeinbin  nur  äu&erltd)  angebängt  unb  eingefügt  ift.  £er  Herausgebet  tonnte 
alfo  biefe  toüben  Staaten  entfernen,  obne  in  ben  Organismus  beS  SSJerfeS  fdjäbigenb 
einjugreifen.  3lu&erbem  bietet  O.  ©utermeifterB  SluSgabe  nod)  nadj  einer  anbeten  ©eite 
bin  eine  Bereinigung,  inbem  fie  bie  erfte  urfprünglidje  SeSart,  ben  tmberfalfebten 
Driginaltejt  im  ©egenfafc  m  ben  fpateren  für  SDeutfdjIanb  fpecieU  beredmeten  SluSgaben 
unb  ju  ben  bietfacben  Siacbbrucfen  giebt. 


Bibliographie.  — 


267 


ißfarrljau»  Don  öiiselftulj. 
Hu»:  Oettmloä  Wottöetf:  „Suäatttfityte  SBerte."  SHuttriWe  $ta<$tau(gat>e. 
§trouSflcgcben  Bon  iJtof.  0.  Sutermeift  et.  «erlag  tum  3.  So^tt,  ^o«j«b(«3onb8. 


Sie  SBerlagShanblung  8?-  3«^  i»  <Shauj=be»3?onbS  bat  baS  berbienftficbe  Unter» 
nehmen  beg  Herausgebers  in  freigtbiger  Süieife  unterftüBt,  tnbetn  fic  bie  SluSgabe  Bon 
©otthelfS  ausgewählten  SBerfen  gu  einet  borncbmen  Prachtausgabe  gcftaltete,  bor  SlHem 
burcfi  bie  J&erangiebung  breier  berborragenber  ©djmeiger  Äünftler:  81.  Sinter,  $.  SSadjmann 
unb  SB.  SSigler,  welche  200  dottreffttctje  3Huftrationen  geliefert  fjabtn.  Sie  SluSgabe 
wirb  enthalten:  Seiben  unb  greucen  eines  ©djulnteifterS;  Uli  ber  ftnecht; 
Uli  ber  gJäctjter;  Ser  SJauernfbtegel;  Ser  (Sonntag  beS  ©ro&baterS; 
(Slfi  bie  feltfame  SDcagb;  Sinne  SBäbt  3ottäger  unb  erfdjeint  in  20—22  monat» 
lieben  ßieferungen  gum  ©ubfcribtionSbretfe  bon  je  1,20  SWf.  —  Sie  fchöne  SluSgabe  fei 
hiermit  befterS  empfohlen.  0.  W. 


(Erinnerungen  oon  Datjn. 

Viertes  Such,  2.  Slbthtilung  (1871— 1888).  Seitogig.  Sruef  unb  SBeilag  bon  SPreitfop 

unb  Härtel. 

9?aeb  ben  barfenben  ©ebilbetungen  ber  erften  Slbtbcilung  biefeS  SBudjeS,  baS  un» 
baS  3a^r  1870,  inSbefonbere  bie  (Schlacht  bei  @eban,  meiFtertjaft  gur  Slnfcbauung 
brachte,  hätte  man  eine  (Srlabmung  beä  3ntcreffe8  für  ben  »otliegenben  söanb  befürchten 
lönnen.  Ser  Siebter  bat  biefe  SBefütchtung  —  wenn  Tie  borljanben  fear  —  auf's 
(Mängenbfte  gu  niajte  gemacht;  ia,  ich  Fann  nicht  leugnen,  bat)  biefer  lefcte  SJanb  — 
WenigftenS  für  meinen  ©efebmaet  —  feine  SBorgänger  an  gülle  beS  3ntereffanten,  an 
SReichthum  beS  ©barafterifiifcben  noch  übertrifft.  <5»  ift  ber  «ebenSabfcbnitt,  in  welchem 
ber  Sichtet  ben  £öhepunft  feines  biebterifeben  unb  roiffenfcbaftlicbcn  flönnens  unb 
Sühlens  erreicht,  ben  fcöbepmttt  gugleiaj  feines  ßiebeB«  unb  SebenSglüefeS.  3"  SönigS« 
berg,  toohin  et  am  19.  3uni  1872  berufen  toorben  ift,  ftnb  faft  alle  bie  grofjen 
hiftorifchen,  philofopbifcben  unb  jutiftifchen  Slrbeiten,  bagu  bie  bebeutenbften  poertfehen 
SBetfe,  bie  gutn  2hetl  fchon  in  SBürgburg,  ja  in  SRünchfn  geblaut  unb  begonnen  toaren, 
ausgeführt  unb  boQetibet  morben.  Uebcrfcbaut  man  bie  nach  3abl  unb  Umfang,  nach 
toiffenfcbaftlicber  unb  poetifetjer  ©ebiegenbett  aufjerorbentlidie  SKenge  bon  SBerten,  fo  fragt 
man  ftcb  ftaunenb:  toie  ift  eS  möglich,  bafj  bie  Straft  eines  UJienfcfjen,  ber  baut  ein 

18* 


268    Horb  unb  Sül».  

fcbtoere«,  üeranttDortimgSreidjeS  unb  geitraubenbeB  Statt  bertraltet,  auSreicben  tonnte,  baS 
SMIeS  berborgubringen?  Sie  Slntoort  lautet:  nur,  »er  tote  Sabn  (eine  ©tunbe  bei 
SageB,  öom  frühen  SWorgen  bis  gum  fpfiten  Slbenb,  ungeuufet  oorüberiäfjr,  mer  bie 
©tunben  ber  -Kufef,  ber  (Sxbolung  auf 8  Steu&erfte  befcfjränlt  unb  feine  3«t  fo  eintbeiU, 
&a&  iebem  Sage  geroifferma&en  ein  genau  innegehaltene?  Sßroaramm  gu  @ranbe  liegt, 
nur  ber  rotrb  im  ©tanbe  fein,  bei  gleicher  SSegabung  gleich  ©rofeeS  gu  fdjaffen. 

Stacbbem  Sahn  bie  näheren  Umftänbe  feiner  Ueberfiebelung  nach.  Königsberg  be» 
richtet,  enhohft  er  bon  Sanb  unb  Beuten  in  »reufjen  unb  tnSbefonbere  mm  ber  £xnrj>t» 
ftabt  unb  ihren  SBemobnern  eine  böehft  anfehauliebe,  mit  föfäicbem  §umor  burebfeßte 
©cbtlberung,  bie  trofc  mancher  fatirifdjen  Stcmbgloffen  Bon  toärmftem  ffioblrootten  mü> 
aufriehtigfter  STnerfennung  getragen  ift.  Kommt  er  bod)  am  ©djluffe  berfelben  gu  bem 
Äefultat:  ,3n  Königsberg  liegt  bod)  moI>I  ber  ©chmerbunft  meines  ßebenS,  unb  meine 
banfbaiften  Erinnerungen  gelten  —  neben  benen  an  bie  glücHicbe  Jrnabengeit  im  Stern« 
garten  gu  Wlümbm  —  ber  lieben  alten  $regelftabt:  gang  befonbeiS  auch  um  ber 
©rinnerungen  mitten,  bie  ficr>  an  meine  Sbätigteit  als  Se&rer,  an  baS  bergerquirfenbe 
SerfjäitniB  gu  meinen  preu&ifchen  (Schülern  fnüpften.* 

§ier  in  Königsberg  mar  eS  aud),  mo  er  nad)  Jahrelangem  Kampfe  mit  ro&rigen 
SSerrjättniffen  btn  »unb  für'S  üeben  mit  S&erefen  fchliefsen  burfte,  bie  ihm  feine  $äu«ttcb= 
feit  gur  ©tätte  eebteften,  unmaängltdjen  ©lüefeS  machte.  Sie  ©ehilberungen  biefc» 
trauten  3ufammenlebenS  unb  3"fammenaibeiten8  finb  bon  gang  befonberer  SBärme  unb 
Sintnutb  burcbbnmgen.  (Srfreuudj  ift  babei  aud),  mabrgunebmen,  tote  bon  3<")t  i"  Satjr 
bie  Stnertetmung  unb  ber  9tubm  beB  StcbterS  wäehfi  unb  mit  ihm  guglelch  bie  materietten 
aietrjättnrffe  fldS  fortbauernb  günftiger  geftalten.  Ser  gro&e  ftrelS  bon  greunben  unb 
guten  fBefannten,  bie  fidj  affmäljHd)  um  ihn  fdjaaren,  bemeifen  aufjerbem,  bafj  nid» 
nur  ber  Siebter  unb  ©eletjite  bie  roohlberbiente  Slnerttnnung  gefimben,  fonbem  ba|  man 
bor  Slttem  aud)  ben  äftenfehen  ober  blelmebr  baS  Sbepaar  Sahn  bon  bergen  lieb« 
gemonnen  hatte. 

3n  bie  ©cbtlberung  aller  biefer  83erhältniffe,  bie  bon  beS  Siebter»  Stellung  in  ber 
©efeUfchaft,  in  ber  Untocrfität,  im  öffentlichen  Sebrn  unb  in  ber  $olirif  flunbe  geben, 
finb  eine  SDeaffe  reigenber  fleiner  Slnefbotrn  eingeflößten,  bie  Saf)n  fo  meifterlüb  ju 
ergäblen  berfterjt.  2i$er  (Megenbeit  gehabt  bat,  ihn  mirnblich  folctie  Staefbötcbrn  bortragen 
gu  tjören,  ber  wirb  tbn  bei  ber  geetüre  biefeB  83ud)e8  gemifc  an  bieten  ©teilen  leibhaftig 
bor  fid)  feben,  mie  er,  ben  Koöf  ein  menig  gur  cSeite  geneigt,  mit  eihobenem  Seigt* 
finger  unb  bem  ernfieftert  ©eficfjt  Bon  ber  SMt  bie  f*elmi(cfiften  SDinge  gum  »eften 
giebt,  bie  allemal  baS  herglidjfte  Sachen  ber  3uborer  toaefirufen.  fcietbei  fei  auch  eine» 
liebensmürbigen  ©baraftergugeS  Sabn'B  ermähnt,  ben  er  mit  manchem  anberen  beuiftb.en 
Siebter  tbeilt:  feine  Siebe  gur  Sljiermelt,  ingbefonbere  gur  gefieberten.  ©er  bädjte 
Bterbei  nieti  an  bie  rübrenben  fllagen,  bie  gfriebridi  Hebbel  feinem  ^agebuaje  anBertraure 
behn  Sobe  femeS  ©ünbeb.enS  unb  feine«  @id)&Brnd)enS?ä 

l'Ittjäbrlicf)  in  ben  großen  UniBerfüäiSferieu  unternimmt  Seujn  mit  feiner  grau 
SKeifen  nacb  bem  ©üben  ober  an  bie  «Rorbfee,  Bon  benen  er  maneberlei  iutereffante 
«ngelfjeiten  gu  berichten  rreife.  3n  biefen  ge^rt  Bornebmlid»  eine  mebrfiünbige  Unter« 
rebung  rntt^önig  Submfg  II.  Bon  »aBern,  ber  ben  Siebter  Bon  ^artenfirebm  au»  nadj 
feinem  SSernfdjlofe  Sttaeben  abbolen  liefe.  5Diefe8  3tDifgef»räc6,  in  bem  ber  König  mit 
einer  gerabtgu  Berblüffenben  Offenbeit  über  ©taatSoerbältniffe  rnib  ^erfdnlidjfeitm  fid) 
auslief}  unb  ber  Siebter  ebenfo  offen  unb  unerfcfirocfen  antmortete,  ge&Ört  gn  bem 
5Paefenbftfn,  bo8  id&  je  gelefen.  ©djabe,  baft  ber  Siebter  buref/  notbaenbige  8rüeffi(it« 
nafjme  ge^inbert  mar,  ein  anbereS  3miegefbräcb  —  mit  bem  gürften  CiSmarcI  —  taS 
er  nur  anbeutunggiueife  roiebergiebt,  auSfubrlicb  gu  beriebten:  ba»  märe  bielleiebt  nod) 
intereffanter  gemefen,  als  jenes  mit  bem  unglücflicben  König. 

3n  Königsberg  nimmt  Salm  auefj  guerft  güölung  mit  bem  S&eater,  auf  bem  er 
iT?e'  *£L-fiIona*nbe  **Wfle  babontragen  foKte.  Safe  fie  troftbem  niebt  bon  Ssauer 
blieben,  erfuttt  ben  Siebter  mit  geregtem  Unmutb.  @s  ift  in  ber  Sbat  niefit  webt  be» 
areifltcb,  meSfialfi  feine  ©tiiefe,  bie  abgefeben  bon  ibrem  boetifeben  ®efialt,  botfi  burebmea 
einen  ftarlen  tfjtatralffeben  3«fl  &abra  unb  ü)re  ffifrfung  bei  efntgerma&en  guter  Sar» 
E5SSfl  ^"2?'  f0  fla"»  6011  ber  btutf*tn  ®«fi"e  berfebmtnben  fonnten.  «ber 
Srr  T  r"6?'"1  ^cater  tmmt  mmtt  Mei  a«b«8",  »Bie  ber  alte  ßaube  ju  faaen 
Bffegte,  befonberS  in  Seutfefilanb,  eS  bietet  Hätbfel,  bie  fein  »erftänbiger  gu  Sja 


  Bibliograph^ d)e  notigen.    269 

68  liege  fidj  nod)  biet  SdtfneS  unb  ®ute8  übet  baS  borltegenbe  23ud),  baS  trofe 
ber  S3erfid)ermig  be8  S3idjterB  boffentttdj  nidjt  ba»  lefcte  feiner  örimterungen  fein  wirb, 
faflen;  Wer  mnfj  c8  genügen,  borauf  aufmerffam  gemalt  gu  baben:  gt&t  bjn  unb  Iefet  felbft! 

©efdratücft  tft  ba8  23ud)  burd)  ein  23ilbniB  bcS  fedjBicujrigen  ^elir,  ©a&n,  ein 
aHerliebfteS  ftinberpottrait,  auf  bem  uns  biefelben  Singen  entgegenleudjten,  bie  beute  nod) 
bcS  ültanneS  Slntlifc  beleben:  SDidjteraugen  altern  eben  nidjt.  ferner  bietet  ba8  S3ud) 
ein  moblgetroffenes  23ilb  XljerefenS  mto  eine  SDarfteHung  bc8  gemeinfdjaftlidjen  Sirbetts. 
3tmmerB  im  ©mter=2;rag&eim  gu  flönigSberg. 

gafjt  man  baS  ©nbeigebnifj  ber  fünf  ftarten  SBänbe  gufammen,  in  benen  ber 
3)id}ter  Bon  feinem  Seben  berietet,  fo  mu&  man  fagen:  e8  ift  eines  ber  glüdlldjften, 
ba8  man  fict)  benfen  tann,  boll  9Rüb>  unb  Arbeit,  Doli  teblicbften,  ebelften  SrrebenS, 
reidj  an  Segen  unb  6tfolgen  ber  fdjönften  Slrt  Soffen  Wir,  bajj  nod)  »tele  Sab«  tt)m 
ba8  alte  ®lud  treu  bleibt.  —  e. 


Btbltograpfyfdje  XZotism. 


»riefe  »cö  «trafen  »ctr&arbt  öon 
Sncifcnau  an  Dr.  3obattn  ©lafiuö 
eiegling,  $r«fcffor  Oer  WJarftetnattr 
in  ifrfurt.  33on  Dr.  St.  sptd.  6rfurt, 
Vertag  bon  Jiarl  SBillaret. 

Stoß  bie  clafftferje  Siograbljie  ®nelfe« 
nauS  oon  Sßerfc  unb  Selbrüd  biet  nur 
nod)  ergänzt  unb  erweitert  werben  tarnt, 
erfiebt  man  aus  bem  borliegenben  Seinen 
©djriftdjen.  ®er  SDienfdj  ©neifenau  bc 
fonberS  tritt  bier  in  eine  belle  8Meutfjtung. 
S)er  forgenbe  unb  tfjfilnebmenbe  greunb, 
ber  tiebenbe  unb  aufopfenmgBfäbiae  ©atte, 
ber  woljtiuollenbe  ©onner,  ber  woblt&ätige 
SDlenfdjenfreunb,  fie  2Ue  entbalten  ©igen» 
fdjaften,  bie  unferem  genialen  Sfetbbemt 
burdjaus  eigentbümlid)  finb.  68  ift  gerabegu 
ein  ®enu&,  bie  Briefe  gu  burdjmuftern, 
bie  er  an  feinen  alten  3ugenbfreunb  Siegltng 
gefdjrteben  bat.  3)afj  aud)  eine  liebenS» 
wfirbige  SBonbommie,  Hier  unb  ba  ein 
Orüntdjen  Sronie  bem  gelbtnarfcbaH  nidjt 
fremb  ift,  geigt  ftd)  an  Bielen  ©teilen  ber 
Sörieffammlung.  w8Beun  fo  ein  paar  ®e» 
lehrte  reifen,  ba  wirb  geioöbnltd)  etwas 
bergeffen  ober  geftobten."  21  ber  ber  fixier 
fo  leife  fpöttelt,  tjatte  felbft  eine  tüdjtige 
Slber  »on  einem  beutfdien  ®eleljrten  unb 
Sßrofrffor  in  fictj;  auB  i&r  erHärt  ftd)  nidjt 
gum  9J!lnbeften,  ba&  ©neifeiiau  nadj  langem 
SBarten  fo  fdmell  borroärts  gefornmen  ift. 

Wd. 

WrtbttiW  €t»vl  Hon  Ceftewetd).  6in 

SebenSbüb.  Won  §.  dl  oon  deifjberg. 
I.  93b.  1.  unb  2  i&älfte.  SZBten  unb 
Seipgig  SB.  SöraumüKer. 

68  ift  mebr  als  ein  ßebenSbilb,  baS 
fjier  geboten  wirb,  c8  ift  fdjliefjlid)  im 
gweiten  Zfyü  be8  1.  S3anbe8  eine  ©efefjtctjte 


Defterretd)8  ht  ber  natfctljerefianifdjen  3ett, 
in  ber  biefeS  ßanb  fid)  gu  einem  mobernen 
Staate  entroitfelte.  So  betfolgen  Wir  ben 
terjberjog  burd)  bie  fftnber»  unb  Sugenb« 
iabre,  burd)  baS  6Itembau8  bis  auf  bie 
belgifdien  Sdrfacbtfelber,  wo  bie  frangöfifd)e 
Üteoolution  fid)  in  friegeiifc&en  6ru)>tionen 
ßuft  madite  unb  bem  ^rinjen  ©elegenbeit 
gab,  ftd)  im  ÄriegSbanbrnert  fo  auSju» 
bilben,  ba&  et  root)l  befähigt  toat,  fbäter 
als  SHeorganifator  beS  Bfterreidjtfdjen  §eer> 
wefenS  aufjutreten. 

3Kan  barf  mit  Spannung  ben  nädjften 
SSänben  bes  SBerfeS  entgegenfeben;  tnüffen 
fie  uns  bod)  geigen,  rote  ber  «Sieger  bon 
Stepern"  bie  Sirbett  feiner  Statines  jaf)re 
erfafjt  unb  burdjgefübtt  babe. 

äEelai  umfaffenbet  gleifj  auf  biefeS 
SBerf  berwanbt  ift,  unb  weldjeS  ungebeure 
SWaterial  ibm  gu  ©tunbe  liegt,  gebt  untet 
Slnbetem  aus  ben  metjt  als  2000  2ln« 
merfungen  umfdfienben  Quellcnnadjttieifen 
betbor,  bie  am  Sd)luffe  jebeS  SBanbeB  an» 
gefügt  finb.  Wd. 

»Arft  ©iömarrf  un»  feine  3cit.  S3on 
§.  Blum.  3.  unb  4.  ®b.  3Künd)en, 
6.  &  93ed'fd;e  SBerlagSbud)banb> 
lung. 

Xer  SBetfaffer  b,at  ftd)  mit  gto&et 
Siebe  in  ben  gewaltigen  Stoff  Derfenft,  ben 
eS  gu  betoältigen  giebt,  wemt  eS  gilt,  einen 
SötSmard  unb  bie  bon  ibm  bebertfdjte  3eit 
in's  redjte  £id)t  gu  rüden.  Um  fo 
fdjttneriger  ift  biefe  Slufgabe,  als  Snbel'8 
naffifcfjeS  SBerf  borliegt.  Slber  23lum 
Wenbet  fidj  offenbar  an  ein  gtö&ereB 
publicum,  als  Stibel'8  bon  biblomatiftbem 
®eifte  getragene  Satftellung  beanfbrudjen 
tann.  3*  glaube  ht  ber  2tjat,  baf]  btttdj 


270 


Horb  unb  Sfio. 


SBlumS  fntereffante  Sdjilberungen  bie 
ffenntnif}  Don  brat  Seben  unb  2Btrfen  beS 
flctoalttgtn  Staatsmannes  ein  geiftigeS 
©rateingut  btS  gebiibeten  beutfaien  S3oIteB 
werben  tarnt  $ra<I  unb  Slulftattung 
laffen  Stifts  gu  tDÜnfdjen  übrig.  Wogen 
fld)  Me  folgenben  SBSnbe  ben  »orberge« 
gangenen  toürbig  anfdjliefjenl  Wd. 

Witmt  Sajrtfren  tum  1848-1868. 
Sßon  Subtoig  ©arnberger.  SBerlin, 
Stofenbaum  unb  £art. 

Sie  Ijier  gebotenen  Seitattitel  aus  bent 
3aljre  48,  bte  politifcbeu  6ffai)8  unb  Streit* 
fünften,  toeld;e  fajon  früher  gebraeft  toorben 
ftnb,  fonnten  mit  Stedjt  Bon  SBamberger  ju 
einem  SBanbe  »ereinigt  »erben.  Sinb  fiebod) 
alle  3eit>  unb  Spfegelbitber  einer  gä&renben 
©podje,  in  bet  ficb  ber  SonftiiutionaliSmuS 
enbgUttg  gum  fleben  bjnburebrang  unb 
Sßreufjen,  baS  »ielgefjafjte  Sßreu&en,  immer 
mtf>x  in  bie  5üb,rerfteHung  SeutfdjlanbS 
binehitoud)8. 

Sarin  Hegt  ber  Steig  biefer  Sluffäöe, 
bafj  fie  bie  3ettftimmung  mieberfpiegeln, 
ber  »tele  benlenbe  Sföpfe  tamalB  Dulbigten. 
Sie  Sarftellung  ift  immer  patfenb  unb 
geiftreicn,  mag  Dornberger  bon  bem  8tet>oIu= 
tiitadjen  in  ber  SBfatj  uon  1849  ergoöltdje 
SBilber  entwerfen,  mag  er  fogar  in  frangöfi» 
fcqer  Spradje  ben  ©alliern  beibringen,  ba& 
fie  ben  $emt  bon  SBiSmard  burdiauS  falfd) 
beurteilen;  SBamberger  ift  als  Sßarlatnen* 
tarier  burd)  feine  fadjlidjen,  fcöarffinntaen 
unb  r>äuftg  »on  pbjlofopljifdjem  ©elfte  bnrd> 
brungenen  Dieben  betannter  geworben  benn 
als  Sdjtiftfteller.  Sa&  er  aber  gu  einem 
foldjen  grofee  Sfäljigfeiten  befttjt,  betoeifen 
aud)  biefe  Keinen  Sdjriften  aus  einer  un* 
geftüm  »orttfirtS  brängenben  3eit 

Wd. 

ttufjlanft  iinter  Haifa:  «llesan&ev  III. 
(«wie  Volitlt  unb  Hufgaicn  KW«. 
IttW  II.  2?on  3.  SReubürger.  SBerlin, 
SDt.  SrteSner. 

Set  Xitel  entfpridjt  nid)t  gang  bem  3n= 
Halt;  mir  erfahren  mefjr  »on  SUeganber  II. 
als  bon  feinem  Sobjte.  Unb  baS  mit  »ollem 
Stedjte.  Senn  bie  neimenStoerttjen  9teue* 
rangen,  ba;u  bcftimmt,  baS  gro&e  ©lauen« 
reid)  ben  meftHdjen  Staaten  (SuropaS  näber 
ju  bringen,  fie  fmb  »on  SMfjanber  II.  au8= 
gegangen.  Sod)  baS  nur  nebenbei.  SSaS 
ba  ergabt  toirb  bon  bem  ruffifd)en  Sru«f  erel» 
unb  3titung8ttefen,  Don  ben  (Sljicanen  ber 
SBebörben  gegen  Untergebene,  »on  ßirdje, 
Serfaffung  unb  Staat,  bon  bem  leid)t= 


ftmiigen,  mebr  unb  meljr  oerarmenben  Hbel, 
oon  bem  altobolifirten,  balb  »ertbierren 
SBauern,  baS  9UeB  ftnb  totmbertare  Sütßt, 
bie  ben  anberen  Europäern  fatrm  betatmt 
fein  bürften.  SS  lieft  ftd)  mie  eine  £ra« 
aöble,  jene  Sdtllberartg  bon  ber  SBauetn= 
©manctpation  älejanberB  II.,  »on  feinem 
reblidjen  Streben,  feinen  Utawtb/nten  alle 
(Srrangenfd)aften  ber  mobernen  Guttur  in 
SJerfafjung,  ftunft  unb  SBiffenfdjaft  gugäng* 
Hd)  ju  macbra.  Unb  bie  »ntwort  barauf? 
Sie  Stinamttbombe  ber  9lü)iliften! 

SlcuteB  3nteteffe  bfitfen  bie  Partien  beS 
SBudjeB  beanfpradjen,  wo  bie  SRoalldjteiren 
eines  JhiegeB  gmifeben  SRufjIanb  unb  3)entfd> 
iatib  unb  feine  tjotgen  ermogen  werben. 
®el»if5,  ber  raffifd)e  Sotbat  wäre  imnriber* 
fteb,li*  ob,ne  ben  —  SdjnapS;  ber  rufüidje 
iBauer  ift  intelligent,  arbeitsluftig  unb  fä$a 
ob,ne  ben  —  SdjnapS.  Sufelanb  bat  un« 
ermefjliaje  Saja^e,  aber  Tte  fnu>  «djt  fle« 
boben  unb  Braten  alfo  gegen  SWemanb 
auSgefpielt  roerben.  Slber  bai  benn  Slufsbmb 
ein  3ntereffe  raran,  einen  iBaffeiiflang  mit 
£eutfd)lanb  gu  wagen?  Set  33erf.  txrnent 
baS  unb  fügt  b^fatgu,  bafj  beibe  ZRädftt 
babei  nur  »edleren  unb  9tid)tB  gewinnen 
tonnten. 

S)ie  STuSfü^rangen  bcB  SJerf.  tragen 
ben  Stempel  fotgfamet  Stubien  an  ber 
Stirn,  weshalb  man  ibnen  gerne  ©lattben 
fd>enfen  mag,  um  fo  mepr,  als  ein  gWangig« 
jähriger  »ufenüjalt  im  Sante  unb  ber 
Jöerfebr  mit  allen  S3ebolterung8flaffra  nur 
baju  beitragen  tonnte,  ben  Sajübernngen 
bes  Setf.  ftdjeren  Untetgraub  unb  ein 
befthnmteS  Solorit  gu  »trlelben.  SKödjten 
bte  $topb>geiungen  beS  SBerf.  aud)  be= 
güglid)  ber  9tegterung8grunbfä|e  beS  jungea 
regierenben  Baxm  fid)  btwatjrbeiten!  Samt 
Wäre  »on  ber  »üben  <Sb>  gmifd)en  (SaSiera 
unb  Slaeen  für  Seutfdjlanb  wenig  gu 
fürdjten.  Wd. 

«efd)id>te    gicilienö.     Son   <S.  9(. 

fjreeman.  Seutfcbe  SluSgabe  oon 
».  2upu8.  1.  «3b.  3Rit  bem  söUbniffe 
beS  äßerfaffetB  unb  fünf  »arten.  Cetpgtp, 
SB.  ®.  Seubner. 

Ser  Ueberfefeer  unb  ^erauigeber  ^at 
rtd)  ein  SBerbienft  um  bte  SBtffenfdjaf t  bamit 
ertoorben,  ba&  er  beS  berühmten  engGfdjen 
gorfd)ei8  Sttert  aud)  einem  grö&eren  beut» 
fetten  publicum  gugängltd)  gemadjt  fpL 
3»ar  ift  eS  nur  ein  Sorfo,  ber  bei  bem 
uorgeitigen  lobe  gfreemanS  geboten  werben 
temn;  aber  aud)  fo  er&alten  wir  erneu 
beutlidien  SBegrlff  »on  ber  »raft  unb  öoett- 


  23ibliograpb,i 

fdjen  ßebenbigfeit  ber  Starftellung  beS 
SSerfaffeiS,  ber  burd)  feinen  langen  unb 
»ieberijolten  ittufentfjnlt  auf  bcm  bertlidjen 
©feilten  in  bie  Sage  gefetjt  mar,  fo  gu 
fdjilbern,  ime  et  (8  mit  eigenen  Slugen  et» 
fdjaut  Ijattc  3b>ar  baben  mit  e8  in  biefem 
SBanbe  mit  bet  älteften  ®efd)td)te  berSRirteW 
meeruifel,  mit  ibren  Urbemobnern  unb  6er 
SBefiebelung  burd)  Sßbjänitier  unb  ©riedjen 
ju  tljun,  abet  bie  toppgrapbifdjen 
©djilberungen  halben  auch,  für  bie  SeQtjeit 
nod)  ibre  äebeutung,  unb  »er  jemals  auf 
ben  ßöben  bet  Sldjrebina  bei  ©oratuS  obet 
auf  bet  trümmerbefäten  Umgebung  uon 
SlfrogaS,  bem  beutigen  ©itgenti,  geftanben 
hat,  fier  mitb  bet  fdjarfen  83eobad)tung  unb 
bei  beutlidien,  nod)  ljeute  geltenben 
©barafteriftif  Bon  ©täbtebilbern,  wie  Tie 
Ofteeman  bietet,  feine  SBemunberung  nidjt 
Berfagen  Tonnen. 

©feilten  ftanb  einft  im  griedjifdjen 
unb  römifdjen  3eitaUer  im  aWittelpmifte 
beS  bamaligen  iBkltbanbelS.  §eute,  feitbem 
bie  3nfel  iabrbunDertelanger  SBergeffenljeit 
anfjetmgef allen  trat,  giefjt  bet  mobeme 
SBeltöerfebr  naef)  Ofttnbien,  an  ibren  ®e» 
ftaben  batun,  beute  bilbet  fie  jafjrauS  jatjr  = 
ein  ba8  2Banberjiel  ungejäblter  Jaufenöe 
Bon  ®ebilbetcnl  Siefen  fei  befonoerS 
5reeman8  SBetl  norm  an'S  §etj  gelegt. 

Wd. 


$te  Hutbioenfttgfett  einer '  curopät« 
fdjen  ttfcräftung  uuö  Steucrent» 
IftftUttft.  iBon  Dr.  Jt.  äüalrfer,  2)oc. 
b.  ©taatBlD.  an  ber  Unioerfüät  ßeipjig. 
©onberSljaufen,  5r.  2lug.  (Supel. 

3)er  3nbalt  bet  ©djrift  entfptidjt 
Wenig  bem  Xitel.  3ttd)tiger  märe  e8  ge= 
toefen,  wie  e8  bet  »erfaffer  urfpiiinglid) 
Borbatte,  als  Xitel  gu  mäblen:  „Xie 
OrtiebenSgefeUfcbaf  ten,  ftrttif  unb  Mefotmoot» 
fdjläge."  2Ba8  nun  bie  ffrittt  ber  SriebenB» 
gefeufebaften  anbetrifft,  fo  fdjeint  bem 
»erfaffet  bie  ©runbibce,  Bon  ber  biefetben 
ausgeben,  nidjt  »off  gum  Jöetuufetfein  ge» 
tommen  gu  fein,  unt>  fo  fämpft  et  bäufig 
gegen  ätiinbmüblen.  £a8,  ma8  et  übet  bie 
©ÄiebSgetidjtc  fagt,  balten  mit  füt  größten' 
tbeüS  oBllig  Betfeblt.  Unb  wenn  er  bier 
Bon  Utopien  fpridjt,  fo  Berbienen  unferet 
SKeinung  nad»  feine  eigenen  i'orfdilfige 
bieten  Stamm  »seit  mehr.  SeBenfallS  mürben 
biefetben  eine  Sßermirfltdjung  erft  etfabren 
lönnen  nad)  langet  SSotatbeit  burch  bie 
Sriebensoereine.  UebrtgenS  Perfennt  ber 
«erfaffet  bie  höbe  iBebeutung  ber  grieben«» 
beroegung  burdjauS  nidjt.  Wp. 


fdje  rietijen.    271, 

GJefcbicöte  »er  9tatfa>n<tttfi»tu>mic  unb 
Ucö  SuciöliSmuS.  S3on  Dr.  St. 
Sßalder,  £oe.  b.  ©taatsw.  a.  b.  Uni» 
Berfität  Seipjig.  3.  DöUig  umgearb. 
öluff.  —  5  iöb.  b.  ©anbbud)  ber  «Ratio» 
lialöfonomie.  ßeipjig,  iHoBberg'fcbe 
©ofbudjbanblimg. 

9?a<f|  ber  SJorrebe  foll  bie  2frbeit  „eine 
3lrt  ®runbrifj  gu  SJorlefungen  unb  ©tubien 
übet  bie  (Seidridjte  bet  3?ationalöfonomie 
nnb  beS  SocialiSmnS  fein",  ffiafüt  mag 
fie  braudjbar  fein;  als  ®runblage  für  baS 
©elbftftubium  atterbing«  mobl  nur  burdj 
bie  reicblid;en  £'itteraturnad,meife. 

3n  bem  gmeiten  ber  betben  angefügten 
„Sjcurfe"  ereifert  ftd)  ber  3?erfnffer  gegen 
ba»  allgemeine  gleiche  äikibtredjt  unb  für 
ein  ©ocialiftengefetj.  SBir  fönnen  nid)t  be= 
baupten,  baft  nnS  biefet  GrjfurS  fonberfid) 
imponirt  bötte.  Wp. 

tit  Sfvanenfrage  unb  Her  nefunbe 
üHenfdjenBevitanb  S8on  g.  illi. 
§igginfon.  SHu8  bem  Gmglifdjen  über» 
jetjt  bon  (Sugenie  3acobi.  9ceutoieb 
unb  Seipjtg,  Slug.  ©djupp. 

5pr)tjiioIoflie,  Xemperament,  §cim,  ®e» 
fellfdjaft,  ©rjiebung,  Söetdjäftigung,  ©timm« 
redit,  »erben  jebeä  in  einer  Sieibe  furjer, 
Iofe  jufammenbängenber,  faft  ielbftftänbigcr 
(Sopitel  befprocten,  bie  ftd)  abet  gut  lejen 
unb  anregenb  tvirfen,  ob  mir  ibnen  ju« 
ftimmen  fönnen  oDer  jum  2Biberfprudj  ge» 
reijt  toerben.  Wp. 

Vafttt  frei!  6in  ffiort  für  »ufere  grauen. 

33on  Di.  phil.3Koritä  Popper.  SfJrag, 

3.  ®.  ßaloe. 
Xa8  ©djttftdien  mürbe  nod)  beffer  für 
feinen  Sm^  mirten,  al8  eS  in  ber  Xljat 
fdjon  tbut,  memt  ber  SSerfaffer  fid)  Bon 
etnjelnen  Uebertreibungen  in  Snbalt  unb 
Slufcbrucf  freigehalten  bötte. 

t  ie  timwu  alö  »Sit  ernten,  «tbtff  f  ob  vts» 
fhafte  unb  Weifcvoutr.  S8on  31.  o. 
©dimeiger»2erd)enfelb.  SJlit  300 
Slbbilbungen,  barunter  gablreidjen  25oU« 
bilbem  unb  50  Statten,  leitete  jum 
Xbeil  in  garbenbruef.  3n  30  aieferungen 
gn  50  SPf.  8f.  $artlebeu8  »erlag, 
üBicn. 

2>er  burd)  gablreidje  ©diriften,  nament» 
lief}  auf  geograpijifdjem  ®ebiete,  belannte 
unb  beliebt  gemorbene  S3erfaffer  bot  bjer 
ein  befonberS  gelungenes,  nmfangreidjeS 
äöerf  geliefert  ör  entrottt  in  bemfelbeu 
I  g(eid)fam  bie  £eben8gefd)id)te  be«  gröfsten 


272 


Xloti  unb  Süo. 


©iiomeS  2JHltel»<8uropa8,  oon  bm  roman» 
tifcbcn  SJjälern  beS  ©cbtoarjtoalbeg  bis  an 
baS  Gdjwarje  SDleer  —  faft  oor  bie  Dbore 
(Sonf.anttnoOelS.  —  Der  äßerf äffet  thetlt 
baS  Ukrl  in  1  $aupttbeile  —  in  einen 
^tjbrr . irap^tf «^»naturiuif f enf t^af tlicficn,  einen 
hifioifdien,  einen  nautifcb=tedinifd)ni  unb 
einen  fcbilbemben  £b>il.  3«ber  biefer 
Xbeilc  gerfällt  in  eine  Angabt  Abfcfcnitte. 
3n  ben  bis  jefet  hirr  oorliegenben  fünf jeftn 
Lieferungen  ftnb  bie  Xfcile  1  unb  2  be* 
enbet  unb  ift  mit  beut  nautifdHeconifcfjen 
Xtjeu'  begonnen.  3n  belebrenber  unb  gu« 
gleich  unterhaltenber  SBeife  finb  im  elften 
Dbeile,  nach  einem  geologifdjen  lieber« 
bltcf,  mit  grofjer  ©achfeimtniB  bie  SL'affer-- 
ftanbsoerhältniffe,  bie  »obenplafiif  unb  baS 
organtfcbe  Sehen  in  unb  an  ber  Donau 
gef gittert,  toährenb  ber  gtoeite  Sbeil  in 
feiner  gefdjidjtlidjen  Abfjanbiunfl,  oon  ben 
©öuten  ber  Argonauten  angefangen,  bie 
SBanblungen  Oerfolgt,  welche  baS  9tömer« 
tbum  im  Donaugebiete  fomie  bie  SBölfer» 
manberung  jur  golge  hotte.  Daran 
fdjlie&t  fid)  bie  ©taatenbtlbung,  bie  Surfen» 
Wege  unb  bie  gefchlchtlichen  Sreigniffe  bis 
in  bie  Sleugett.  SBefonberS  ausführlich  unb 
oicl  92eue8  bringenb  ift  ber  prähiftorifche 
Slbfdmitt  gehalten,  tote  überhaupt  baS 
(Sange  eine  grofje  Anffaffung  oon  ber 
biftorifcben  SSebeutung  ber  Donaulänber 
burcbgieht.  —  Das  2l*erf  ift  bürg  [gabt 
reiche  Abbilbungert  unb  Sorten  in  tabel« 
lofer  Ausführung  Borjüglid)  auSgcftattet 
wo  fann  fomit  toarm  empfohlen  toerben. 

K. 

$aö  «ol»  »es  »droeiiö.  Sin  9tüdb(id 
auf  bie  ©efcbidne  beS  SetnftemS.  SSon 
SBaul  SWolbenhauer.  Daiigig,  Gar! 
fctnftorff. 

Die  regt  lefeitSmerthe  ©chrift  gicttt  eine 
inlcreffante  DarfteUung  beS  2Biffen8tt>crtbeften 
über  Slatur  unb  ®efgiö)te  beS  23ernfteinS. 
Sttdjt  befreunben  tonnen  mir  uns  mit  ben 
Anfdjauungen  be«  SBerfafferS  über  bie  6nt« 
ftebung  ber  SiSgeit.  Die  3oW<mgaben  auf 
pag.  28  über  bie  ©öbe  ber  Diluoialflutbcn 
fömten  leicht  tntfsOerftaiiben  toerben. 

Wp. 

fad  Beben  &eö  SWceree.  SBon  Dr.  ßonr. 

Seiler.   Scipgig.  fceft  2-12.  X.  O. 

SEBelflel  Slacbf.  (6hr.  Daudjniö,) 
Die  oorliegenben  ©efte  beS  fdjon  früher 
oon  uns  angetünbigten  ßieferungSloerfeS 
behanbeln  in  einer  Angab!  Don  Gapiteln 
eine  SRethe  intereffanter  allgemeiner  bio» 
logifeter  fragen  tote  ©enoffenfdjaftslebat, 


©chmaroberthum,  färben  ber  SDteereSthiere, 
3Reere&Ieudjten,  SUanberungen  ber  9ReereS< 
tt>icre,  ©tranbfauna,  $odjfeefauna,  Dhier» 
leben  ber  Xieffee  it.,  um  bann  girr  fr*« 
denen  Sodoait  übergugehen.  SS  finb  frift 
jefct  föftemattfd)  behanbdt  bie  ©äugethiere, 
ä;öad,  ffleptüien,  Qtfajt,  SWoauSfen,  SBürmer, 
SReffelthiere  unb  ein  Dfrett  ber  UrtKert. 
3ablreicbe  gute  fiolgfdmitte  unb  eine  8teibe 
Oon  tounberbaren  garbentafeln  erläutern 
ben  Xttt.  Wp. 

8Bettcvbüd>Ietn.  ^raftifefce  Anleitung  gur 
^Beobachtung  unb  SorauSfage  beS  SBettexS 
oon  Sari  »urgwebel.  Sfiit  24  Ab* 
bilbungen.  DreSben,  aßeinbolb  unb 
Säfine. 

3m  SSortoort  motioirt  ber  SJerfaffer 
bie  Seranlaffung  }tt  feiner  @d)rift  burtb 
bie  ©rmägung  „bafs  eB  an  einer  furjen 
unb  leidjtfaftlicben  Anleitung  jur  SBe» 
obagtung  unb  SorauSfage  beS  XBettert 
immer  nod)  feb,le."  Siun  finb  aber  inner« 
halb  ber  le&ten  io  3abre  gerabe  eine  3Renge 
berartiger  Heiner  ©dirif  ten  erfdjienen,  bie 
baSfelbe  3"l  beifolgen,  fcaB  ber  SJerfaffer 
fid)  gefteeft  bat.  S3on  biefen  Stbriften  febeint 
ber  söerfaffer  leine  Senntnifj  ju  bedien,  ober 
er  ift  ber  Anfitfit,  bafe  fie  bas  oorgeltetfte 
3iel  nidjt  erreidit  haben.  Der  »erfaffer 
befbriebt  junäd,ft  bie  ßuftfttömungen, 
31'olten  unb  SJieberfdjIäge  unb  toenbet  ficq 
bann  ben  funoptifebtn  ZBetterfarten  }u, 
benen  ber  tieitau8  gröfjte  3nbalt  bee  Süd)« 
leine  getoibmet  ift.  (SS  ift  baber  aueb  er* 
Uärlid),  leenn  ber  SJerfaffer  am  ©djlufe 
betont,  „babnurmtt  flenntnifj  ber  »Setter» 
läge  eines  großen  (SebieteS  eine  S3orau8« 
fage  beS  ÜBetteiS  moglicb  ifl*.  Saft  möchte 
eS  nadj  ben  AuBlaffungen  be«  aJerfafferB 
febeinen,  als  toären  mit^ilfeberfqnoprifcben 
harten  10O«/o  Xreffer  in  ber  2Betterborau8* 
fage  ju  erjielen,  toaS  iebod)  in  ffirrflicbleit 
nicht  ber  ftad  ift.  Siel  ;u  toenig  ÄBerttj 
legt  ber  Seifafftr  auf  bie  fpccififd)  localen 
S3erbältniffe,  bie  aber  bon  fieroorragenber 
SBicbtigfeit  finb.  Aüe  Diejenigen  ÜBerter« 
beobaditer,  benen  bie  telegraphiftben  Se« 
rid)te  über  bie  Wetterlage  in  Suiopa  bin« 
ftdrilid)  ber  barometrifdjen  SKajima  unb 
äJiinima  niebt  reebrjeitig  ober  überhaupt 
nicht  jngänglid)  finb,  bleiben  auf  bie  rehte 
£ocalprognofeangemiefen.  einjelne8,tDie*um 
SBeifpicl  baS  ^ogrometer,  aud)  baS  (Sftottrer 
ift  nur  oberflächlich  behanbelt,  unb  boeb  finb 
peiabe  bie  eleftrifchen  Srfcheinungeu  bei  ber 
2Betteroorberbcftimmung  im  gfrühiahr  unb 
©omraer  oon  größter  Sebeutung.  (Sanj 
anertennenStoerth  ift  bagegen  bieSöefprechung 


  8ibliogropf;if d;e  nötigen. 


273 


bei  allgemeinen  meteorotogifdjen  Vertiält« 
niffe,  fomie  im  ©pecieflen  ble  Erläuterung 
übet  bic  Sbeitbepreffionen  unb  bit  9tuB* 
waljt  bon  Vetfpielen  übet  einige  mldjtige 
tBetterlagen.  Slm  ©d>lu&  befprld)t  bet  Ver» 
faffer  ttod)  ,3falb8  fritifcbe  Sage".  Sem 
fjierüber  ©efagten  tarnt  man  nui  guftimmen. 

K. 

$er  Keine  Samariter.  SMergtlic^er  9latb> 
gebet  bei  plotfiajen  (Srfcantungen  unb 
UnglücfSfätlen  oon  Dr.  ©a)  u  I  j.  SreSbeit 
unb  Setpgig,  Seemann. 

3n  ben  .Behlingen  lieft  man  faft  tägltcb. 
9tadjrid)ten  über  in  SBoljnungen,  in  öffent» 
liefert  ßofalen  ober  auf  ber  ©traf«  uor= 
gefommene,  oftgefabjrbrob^nbeftrfranfungen, 
bei  benen  gumeift  fdjleunige  §ilfe  ein 
bringenbeS  Srforbernifj  ift.  Sin  Slrgt  ift 
aber  geroöfenlid)  nicfjt  g(eid)  gur  ©teile,  unb 
eS  tommt  ba&er  barauf  an,  bis  gu  feinem 
eintreffen  bte  gefäbrltd)en  unb  bie  Umgebung 
oft  beängfrigenben  Ärfd)einungm  febneü  unb 
fufier  }u  beteiligen,  hierüber  ben  Saien  gu 
belebten  unb  ibm  bie  ertorberlicbe  S(uf> 
flärung  gu  geben,  bamit  er  fofort  tfcat= 
fräftig  eingreifen  tarnt,  f)at  fieb.  ber  Verfaffer 
mit  bem  dJiotto:  „©cbnclte  §ilfe,  befte 
fcitfe!"  gur  Stufgabe  geftettt,  beren  SBfung 
tijm  burtjauS  gelungen  ift.  3m  erfteit  9tb> 
fermitt  bebanbelt  er  bte  plöölidjen  6rfran« 
fungen  unb  im  gweiten  Slbfdmitt  bie  Unfälle 
unb  Verlegungen  uno  bie  sttrt  ber  SeSinfi» 
cirnng.  (Sin  au8füljrltä)e8  8iegifter  am 
©djtufj  erteitfjteit  bie  Ucberfidit.  SaB  gut 
ausgeftattete  $5üt)  tann  beftenS  empfoblen 
werben.  K. 

$te  f&r>erltä)e  ^rjieftuttg  Her  dngenb. 

Von  Stngelo  Ütfoffo,  Vrofeffor  ber 
Vbafiologie  gu  Surin.  Ueberfefct  bon 
3ob.anna  @linger.  Hamburg  unb 
Seipgig,  Verlag  Oon  Seop.  Vojj. 

Von  Steuern  ift  in  ben  legten  3ah>en 
ber  fäon  für  entf$ieben  gefallene  Äampf 
über  bte  gfrage  entbrannt,  ob  mir  mit  bem 
„Xumen*  auf  bem  ridjtigen  2Bege  gu  einer 
geeigneten  ßörperpflege  unä  befinben,  immer 
neue  ©timmen  laffen  firf)  böten,  bie  gum 
SWinbeften  ber  «aeinfjerrichaft  ber  Xurnerei 
gegenüber  eine  grö&ere  Üöeaajtung  be8  Ve* 
tDegungSfpieteB  forbern;  immer  metjr  ßeute 
beginnen  fefcerifaje  Meinung  über  ben 
äBertb,  ber  Surnerci  gu  äu&ern. 

SHtt  bem  borliegenben  SBerfe  tritt  aueb, 
ber  Verf  affer,  einer  ber  berüfjmteften  itolieni« 
f  ajen  ^Irafiologen  in  ben  ermäbnten  Jfampf 


ein,  unb  mir  ftnb  gemifj,  ba&  baB  SBert  ein 
nid)t  gemöljntictieS  9tuffeb>n  erregen  wirb. 

©er  Verfaffer  fteßt  Rdj  auf  ben  bi8= 
Der  aDguoft  aufjer  Stcfjt  gelaffenen  ©tanb» 
puntt,  bafj  bie  Streitfrage,  weldje  bie 
flBrperergleljung  beljanbelt,  von  SJlilitär» 
perfonen,  ©dmtmännern  ober  Xurnleb,rern 
allein  nidjt  gum  3lu8trag  gebraut  werben 
tarnt,  baft  es  bielmefjr  bie  Stufgabe  ber 
V&bfiologie  ift,  ftd)  mit  bem  Junten  gu 
befchäftigen  unb  ein  entfdjetbenbeB  SBort 
utitgufpredjen. 

Unb  fernere  Staffagen  ftnb  e8,  Welche 
ber  Verfaffer  gegen  ba8  Junten  Pom 
©tanbpunlte  feiner  äßiffenfdjaft  ergeben 
mufj;  eben  fo  biete  unb  übermiegenbe 
(Srünbefüretne  natürltdjeVemcgungS« 
gbmnafttt  fjolt  er  aus  bem  Slrfenale  biefer 
SBiffenfa^aft  b>rt>or.  Siefen  SäuSfü^rungen 
gegenüber  ift  ein  £obtfrf)n>eigen  be8  SBudjeS 
ober  eht  Verlumpfenlaffen  beB  9ampf8  nidjt 
mSglia).  %a  Stampf  tnufj  bura^gefoajten 
»erben,  unb  wir  glauben,  bajj  er  mit  einer 
SRteberlage  beS  heutigen  XurnenS  enben 
wirb. 

Stber  niatt  allein  für  ben  Xumle^ier 
unb  für  ade  bie,  wetdje  fia)  mit  ber  förper* 
tidjen  @cgie^ung  ber  3ugenb  berufBmäfsig 
ober  aus  Siebt) obere t  bef äffen,  ift  baB 
SBert  unentbehrlich,  aua)  für  militäriföe 
Sfreife  ift  eS  bon  (jo&er  SJebeutung,  benn 
au*  ber  förperlia^en  StuSbitbung  ber 
©otbaten,  iijrer  (Srjtebung  gum  (Srtragen 
bon  ©trapagen  wibmet  bec  Verfaffer  auf 
©runb  femer  (Sigenfcfjaft  als  Vb>)ftologe 
unb  SWititärargt  einen  grofeen  X^ett  beS> 
fetben. 

Um  einen  Ueberbluf  über  ben  reid> 
tialttgen  3nb,att  gu  geben,  laffen  wir  ble 
Ueberfcfjriftcn  ber  eingetnen  Slbfcbnitte 
folgen:  1)  Sie  törperlidje  Srjiel)ttng  In 
Stallen  im  3eitalter  ber  9lenaiffance. 
2)  Sie  moberne  englifdje  ®rgieb,ung.  3)  Sie 
törperlicbe  ®r»ieb.ung  auf  ben  Uniber» 
fitäten.  4)  Sie  ©oflegeS  unb  bie  ©tunben- 
Pläne  in  ben  ©cbulen  önglat^  unb  beB 
(SontinentB.  6)  Sie  (Sntmirflung  beS  Sur» 
nenS.  6)  Veurtbetlung  beS  beutf djenSurnenB. 
7)  SaS  atbletifaje  Sumen.  8)  Sie  mili< 
tärifdje  StuSbilbung  unb  bie  „bataillons 
scolaires".  9)  SaS  ©Riegen  naiä)  bem  3iet. 
10)  Ser  Sornifter.   11)  Sie  SNärfdie. 

Sie  Uebertragung  tn  baS  Seutf*e  ift 
meifterbaft,  Vapier  unb  Srucf  gut.  — 
fturg  ein  nadj  Jeber  9tiaitung  t)in  em« 
pfet)IenSwertt)eS  Söucb,  baB  in  ber  SStbliotfjet 
feines  SKanneS,  ber  ftä)  mit  t&rperlia)er 
@rgieb.ung  beftb.äftigt,  fefjlen  foffte. 

Wp. 


27<*    Zlorb  t 

W»n«ttftefte  »er  «•weM»uS=«e?eU. 

6<menUiö««lättev  ffir  «olfser  jtchung. 

üeipjig,  81.  XSoigtlänber. 

SBir  freuen  uns.  conftatiren  gu  tonnen, 
bat  bie  <5omeniu8>®efettfcbaft  ihre  früher 
uon  uns  bargelegten  glele  unermüblicb 
Wetter  »erfolgt,  bafe  fle  immer  neue  SBegc 
fud)t,  um  bie  Aufgaben,  bie  fte  fich  ftellt, 
gu  lofen.  Sie  „Monatshefte"  bringen  na* 
tote  cor  gebicgene  wiffcnfcbaftlicbe  Arbeiten 
iiur  ©omeniusforfdjung,  bie  .SomeniuS« 
SBIätter",  welche  an  bie  ©teile  ber  früheren 
„2Jcitthetlungen"  getreten  finb,  Retten  fid) 
oorwiegenb  auf  ben  SBoben  ber  allgemeinen 
SoltSbtlbung  unb  SSolfSergiehung,  biefcS 
nichtigen  Factors  auf  bem  GSebiete  ber 
focialen  grage.  Sie  erftreben  Unterftüfcung 
unb  flulammcnfaffung  aller  SBeftrebnngen 
auf  bTefem  ®ebiet,  Errichtung  tonSBoltB» 
hodjfcfjulen;  <Srh<bw>g  »er  Sittenlehre 
gu  felbftftänbtgem  Setjrgegenftanb,  bie  all« 
gemeine  SSoltSfajuIe  unter  äöabrung  ber 
Freiheit  beS  SpriBatunterrlditS,  ©elbft« 
»ertoaltung  auf  bem  ©ebiet  ber®ctule, 
(SrWciterung  ber  Qfrauenrechte,  Pflege 
beS  ®enoffenfd)Qft8ttiefenS  rc. 

SBir  rufen  ber  ©..©.  gu  ihren  S8e» 
ftrebungen  ein  httäßcheS  (Slüctauf  gu. 

Wp. 

Svicfe  eine«  »dter«  an  feinen  Sühn. 

«ad)  beffen  Slbgang  an  bie  UniBerfüät. 
S8on  ***  23re8lau,  ©chleflfdje  58et» 
lagS'Slnftalt  b.  @.  ©chottlaenber. 
£er  unbef  annte  SJerfaffer  theilt  in  SBrtef- 
form  eine  Summe  uon  SebenSregeln  mit, 
bie  mir  Sitten,  für  bie  fie  beftimmt,  b.  h- 
Xenjenigen,  bie  berufen  finb,  ber  hcrange» 
trachfenen  männlichen  3ugcnb  Sebreit  gu 
ertheilen,  unb  bietet  felbft,  fofern  fie  bie 
löbliche  abfidt  hegt,  fid)  auf  bie  rechten 
Säege  leiten  ju  laffen,  als  fehr  beachtenS» 
Werth  rühmen  fönnen.  (Sin  ©obn  ift  auf 
bie  UniBerfität  gesogen,  unb  ber  Söater 
fchreibt  ihm  in  bem  toarmen  Zone  etneS 
älteren  ÖfreunreS  in  einseinen  Briefen, 
maS  in  ienen  ßebenSjabren,  in  benen  bie 
©tubienfemefter  fich  BoDsteben,  als  an» 
ftrebenSioerth,  als  nüfcüdi  ober  fdjäblid)  für 
bie  SebenSentwicfelung  beS  ©injelnen  gu 
erachten  ift.  3)er  Säerfaffer  geht  Bon  ber, 
letber,  unleugbaren  Xfptfaty  aus,  ba&  m 
ebt  immer  größeres  SRifjBerhättnifj  bie 
Steigung  gu  leichtem,  mühelofem  ßebenS« 
genuf?  mit  einer  ibeellen  Siicbtuna  beS 
SenfenS  unb  fcanbelnS  tritt;  bafj  immer 
berfdjobener  werben  bie  Strengen  Bon  @ut 
unb  »on  JPöfe,  unb  über  bie  SPflege  ber 


b  Sfib.   


ßrbetltchen  unb  materiell  geiftigen  Strafte 
immer  mehr  bie  Sultur  jener  9tea.una.ro 
in  ben  ^intergrunb  tritt,  für  bie  man, 
fprachgebräudjlidi,  baS  ®emüth  als  Organ 
bejeiebnet.  £>iefe  Xenbenj ,  m  ber  jene 
SBitefe  gefdjrieben,  tonnen  mir  gar  nicht 
laut  genug  als  richtig  anerfennen,  tonnen 
nicht  lebhaft  genug  ben  SBunfd)  auBfpredjen, 
bafj  ihr  Inhalt  in  attermettefien  »reifen, 
bie  Stiftung  angebenb,  in  ber  gerathen  unb 
geftrebt  werben  fottte,  befaimt  werben 
möchte  1  Silber  auch  biete  (Singelhetten  ftnben 
unteren  Bollen  Beifall  unb  Prien  uns 
grofee  2Berthfd)äfcung  für  baS  flare  Saiten, 
bie  reifen  Stnichammgen  ihres  Tutors  ein. 
SRur  ein  SBuntt  hätte  Bielleicht  eine  ein* 
gehenbere  83erücffid)tigung  ftnben  tonnen: 
3n  bem  »riefe,  ber  als  Sbema  hat  ,2>er 
falidje  fjfreunb  als  Serfucher"  werben  auch 
jene  mannigfachen  aJerfuihungen,  für  bie 
ein  junger  Wann  am  leichteften  unb  häufig* 
ften  gugänglich  ift,  bie  weitreiehenbfh  ®e» 
fahr  beS  3üngling8alterB,  berührt  $er 
Sater  hofft,  baft  fein  ©obn  äfthetijcbeS 
®eiüh(  genug  befäfje,  um  ber  grobften  S5rt 
ber  SBetlocfung,  unb  8ted)tSfinn  genug,  um 
jenen  berführerifdjen  (Selegenheiten,  an  bie 
fich  SSerpftidjtungen  tniipfen  tonnten,  )» 
miberftehen.  —  $ier  läfjt  ber  trefflube 
SBater  weniger  feinen  wägenben  SSerftanb, 
baS  9tefultat  feiner  Erfahrungen,  als  Biel' 
mehr  ben  äBmtfch  nur  gum  auSbrutf  t& 
langen.  A.  W. 

SKajeftät.  Vornan  Bon  ßouiS  fiouperuS. 
SreSben,  Heinrich  SRinben. 
3n  einem  ^bantafieftaat,  ber  nirgenbS 
auf  ber  ßanbtarte  gu  finben  ift,  h«tfcht 
eine  Stjnaftie,  beren  ©tammbaum  vir 
sergeblia)  im  ©othaer  aimanach  fuchen 
würben,  unb  boch  begegnen  »k  in  ber 
^frrfdjerfamilie  felbft,  fowie  in  bem  fie 
umgebenben  ^ofabel  manchem  Bertrauten 
3ug,  ber  unB  an  (fafajeinungen  erinnert, 
weldje  im  europäifdten  ©taatenleben  ber 
SReugeit  eine  SRoQe  gefpiclt  hoben;  —  ber 
9toman  ift  als  eine  parobiftiiehe  ©tubie  über 
böflfdjeS  Seben  im  allgemeinen  unb  Äron« 
prtngenfchicffal  im  SBefonbereu  aufjutaffen, 
unb  ber  Sßerfaffer  hat  feine  aufgäbe  mit 
pfnehologifcher  ©rünblichfeit  bearbeitet,  ia> 
bem  er  oerfucht,  baS  Seelenleben  biefer  auf 
fchwinbetnber  §öhe  ftetjenben  $erfönü4« 
leiten  gu  erforfdjtn  unb  gu  motiBircn.  Set 
SHoman  ift  aber  Biel  gu  gefünftelt,  um  ein 
wärmeres  3ntereffe  erwetfen  gu  rönnen,  nnb 
bie  auBbauer  beB  ßeferS  wirb  auf  eise 
recht  harte  $robe  gefteUt,  um  bem  SSep 
faffer  auf  ben  weiten  3rrgängcn,  ben  feine 


  Bibliograph 

Bbantafie  einfcftlagt,  folgen  ju  tonnen,  pmal 
Ärotd  unb  beSfelben  auch,  am  ©d&luffe 
gtetnlich  im  UnHaren  bleiben.  mz. 

Scr  Montan  einer  Iväumcrin  SBou 
3Rarta@olina.  SreSben, @.Bierfon. 
Sei  Vornan  umfafjt  baS  Sdjicfiat 
einet  grau,  bie  aus  einem  aabtreiefaen 
SdjwefternfreiS  a!8  unreifes  2Jläbcben  in 
eine  $3erforgung8elje  gebrängt  toiib,  in  loeldgei 
fte  bie  febönften  3ab,re  iijreS  SebenS  ge= 
banfenf.08  Beiträumt,  bis  fte  in  einem 
alter,  in  toetöra  3tnbere  bie  ©einstampfe 
längft  fonter  ftcb  Haben,  gutn  BetBttfjtfein 
ibrer  Siecfjtc  an  ba8  ®iücf  ermaebt.  Die 
<56e  toirb  nun  gelßft,  unb  ba  fte  ben  «Wann 
ibrer  ßiebe  nidjt  befitjen  fann,  fo  ift  fte 
gejtnungen,  (üb  in  Slbbärgigfeit  ju  begeben, 
um  auf  biefe  SBeife,  fiei  Bon  unnmrbtgen 
geffeln,  fi*  felbft  leben  ju  rönnen. .  $ie  fe^r 
Dürftige  fcanblung  ift  in  bieiem  turjen 
SluBjug  toiebergegeben,  alles  Uebrige  ift 
ein  ©pielen  mit  ©efüfifen,  bie  alle  mebr 
ober  minber  unnalütlicb  finb;  überhaupt 
ftnb  bie  banbelnben  Berfonen  (eine  3Kenfcf)en 
Bon  gleifcb  unb  sölut,  fonoecn  tünfttief)  con« 
ftruitte  SDlarionetten,  mit  benen  bie  Ber= 
fafferin  naef)  belieben  manöBtitt;  —  ber« 
artige  Beßetriftif  wirft  auf  unreife  ©emütber 
nur  bertotrrenb,  gereifte  Sefer  bütften 
fcbtuerlid)  ©efdjmarl  an  berfelben  pnben. 

mz. 

ttv  SBeg  }um  Sfriebcn.    Sßon  O. 

geller.   Berlin,  »erlag  beS  Biblio* 

grapbifdjen  Bureaus. 
3)er  m  einer  fpannenb  enttoiefelten 
SSbofitiou  baS  Sntereffe  be8  ßcferS  er» 


febe  Zlotijeu.    275 

wedVnbe  SHoman  bält  in  feinem  g-OTtaanae 
nidjt  baS,  toaS  er  im  Beginne  Berjpridjt; 
baju  ift  ber  $t(b  ber  ©rjäblung  eine  ju 
abentcuerlicbe,  roman&nfte  Berfönliditett, 
uub  feine  ©cbicffale,  fotnie  feine  enbHdje 
Sßdtfludjt  liegen  ju  tneit  ab  Bon  Dem  ®e* 
biet  beS  ©iaubbaften,  um  nidjt  baS  an» 
fänglicbe  3«tcreffe  erlabmen  §u  laffen. 
D.  fetter  Berfügt  über  ein  getoanbteS  ®r= 
jäblertatent;  eS  ift  gu  bebauen,  toemt  baS« 
felbe  auf  Sibmegc  gerätb  unb  aud)  ben 
SRattgel  an  SRaturroabrbeit  nnbefriebigt 
läfjt.  mz. 

Cie&cv  fincö  ÜHcnfdjen.  Bonßubroig 
©cbarf.  aWüncben,  Dr  Sllbert  unb 
©omp.,  ©eparatconto. 

(Sntfdjtebene  Begabung,  aber  auefi 
unangenebm  berübrenbee  ffraftmelertbum 
fpridjt  aus  ben  .Siebern  eines  TOenfdjen". 
gauft'fdjeS  unb  §eine'idjc8  finben  fid) 
in  bem  Bliebe,  §hnmelflürmenbe8  unb 
SBeltDeradjtung.  ®in  fouoeräneS  fttotocg« 
fetten  über  ©ebanfenlogif  unb  3orm  lägt 
(aum  ein  einjigeS  ®ebid)t  jur  Bollen  Sffiir* 
fung  fommen.  Die  Eigenart  eines  SidjterS 
Bermag  hiobl  3ntereffe  ju  erirecfen;  toenn 
er  aber  niebt  oerftefit  ober  fid)  baju  nidjt 
Berfteb.en  mitt,  biefelbe  auch  in  ttirflicbe 
SJum"tjd)öpfunflen  umjufeöcn,  fo  erlabmt 
baSfelbe.  Süfcnige  ßieber,  roit  ©tunne8= 
treten  (@.  14.),  @ebet  eines  SDtenfcfjen  (61), 
tonnen  mit  ungetrübter  (Smpfinbung  gc-- 
lefen  Werben. 

ls. 


Eingegangene  BUcber.  Besprechung  nach  Auswahl  der  Redactlon  vorbehalten. 


Bendler  0_  Der  Eine,  Roman  In  zwei  Banden. 

Berlin,  F.  Fontane  und  Co. 
Bethuny-Huo,         Gräfln,  Alte  nnd  Junge. 

Roman.  Dresden,  C.  Relssner. 
Beden  des  Fürsten  Bismarck,  II.  Band. 

Heraagg.   von   H.  Kraemer.    Halle  ajS., 

0.  Hendel. 

Bormann,  R,  Neue  Shakespeare-Enthflllungen 

Heft  L  Leipzig,  E.  Bormann. 
Brieger,  A,  Ausgewählte  Gedichte.  Grossenbaln 

und  Leipzig,  Baumert  &  Rouge. 
Buehwald,  G.  und  J.      Villa  M81Ü  und  mehr. 

Zweite  Auflage.  Leipzig,  R.  Fliese. 
Bosse,  C,  Neuere  Deutsche  Lyrik.  Halle  a.jS., 

0.  Hendel. 

Brüse,  H.  H.,  Die  Graphologie,  eine  werdende 
Wissenschaft.  Ihre  Entwlckelung  und  Ihr 
Stand.  Eine  orlenUrende,  kritische  Darlegung. 
Hänchen.  K.  Schüler,  (A.  Ackermannes 
Nachflg.i. 


Oalmoleone,  L,  Der  Rufer  Im  Streite,  Drama 
In  drei  Acten.  Trlest.  F.  H.  Schimpft. 

Daudet,  A.,  Die  kleine  Kirche.  Ein  Ebe-Romau. 
Autorlsirte  Uebersetzung  t.  Wolfgang  Alexan- 
der Meyer.  Stattgart,  Deutsche  Verlagsanstalt. 

Dayot,  A,  Napoleon  I.  in  BUd  nnd  Wort,  Ober- 
trägen  von  0.  Harschall  v.  Bieberstein. 
Llefrg.  4-6-  Leipzig,  H.  Schmidt  &  C. 
Günther. 

Dinoklase,  Frhr.  v.,  (Hans  Nagel  v.  Brawe) 
Baroness  Dr.  Roman.  Dresden,  C.  Relssner. 

Duboo,  J.,  Jenseits  vom  Wirklichen.  Eine  Studie 
aus  der  Gegenwart   Dresden,  H.  Henkler. 

Eschen,  H.  \n  Inmitten  der  Bewegung.  Socialer 
Roman.  2  Binde.  Dresden,  C.  Relssner. 

Friesius,  Wn  Die  Waffen  nieder!  Schauspiel  In 
fünf  Aufzügen.  Zum  25.  Gedenkjahre  des 
grossen  Krieges.  Leipzig-Anger,  R.  Lindner. 

Goldschmidt,  H,  Neue  Sinngedichte.  Frank- 
furt a./H.-Lelpzlg,  Kesselring'sche  Hofbuch- 
handlung. 


276 


—   Horb  nnb  Sflb. 


Ghrollar,  Bn  Zehn  Geschichten.  Dresden,  E. 
Pierson. 

Holtmann,  L-,  Richard  Wagnert  Tannhäuser- 
Festschrift  zum  Gedenktage  der  ersten  Auf- 
führung am  19.  October  1845  In  Dresden. 
Dresden,  R.  Bertling. 

Hafner,  J.,  Der  Spiritismus  und  die  moderne 
Wissenschaft.  An  Eduard  von  Hartmann. 
Hamburg,  Verlagsanstalt  und  Druckerei  A.-G. 
(vormals  J.  J.  Richter.) 

Hartana;,  V,  Im  Reigen,  Neue  Lieder.  Glarus, 
B.  Vogel. 

Jensen,  W,  Jenseits   der  Alpen.  Novellen. 

Dresden,  C.  Reissner. 
Keller,  C,  Das  Leben  des  Meeres.  Llefg.  14—16. 

Leipzig,  T.  0.  Welgel's  Nacbf. 
Klinokowström.  A.  v.,  Diebe.    Zwei  Binde. 

Dresden  und  Leipzig.  C.  Reissner. 
Kloas,  I.  E,  Max  Kretzer.    Eine  Studie  zur 

neueren  Lltteratur.  Dresden,  E.  Pierson. 
Knaekfuaa.  H,  Dürer.   Mit  187  Abbildungen 

von  Gemälden,  Holzschnitten  und  Handzelcnn. 

Bielefeld  und  Leipzig,  Velhagen  &  Klaslng. 
Kraasa,  J,  Ein  Unglück.  Sociales  Schauspiel 

aus  der  Gegenwart,  In  zwei  Aufzügen.  Düssel- 
dorf, Blelfoss  &  Co. 
Kretzer,  M,  Ein  Unbertlhmter  und  andere  Ge- 
schichten. Dresden,  E.  Pierson. 
Sie  Kritik,  Wochenschau  des  öffentlichen  Lebens. 

Herausg.  von  Karl  Schneldt.   IL  Jahrgang. 

No.  62.  Berlin,  H.  Storm. 
Die  Kunst-Halle,  Zeltschrift  für  die  bildenden 

Künste  und  das  Kunstgewerbe.  Jahrgang  I. 

No.  1.  Berlin,  Rosenbaum  &  Hart 
Die  Österreichische  Landwehr.  Eine  kritische 

Studie  von  einem  ehemaligen  österreichischen 

Offizier.    Braunschwelg,  Rauert  &  Rocco 

Nachflg. 

Zioti,  P,  Madame  Chrysantheme,  Roman.  Stutt- 
gart, Deutsche  Verlags-Anstalt. 

Haflins,  M_  Ein  Roman  vom  ersten  ConsuL 
(Bibliothek  der  Gesammtlltter.  No.  886-888). 
Halle  a./8-  0.  Hendel. 
—  Die  Frau  Gouverneuriii  von  Paris.  Bilder  vom 
Französischen  Kaiserhofe  1807.  Kopenhagen. 
A.  F.  Host  &  Sohn. 

Köret,  encyclopädlsches  Wörterbuch  der  eng- 
lischen und  deutschen  Sprache,  Lieferung  17. 
Berlin,  Langenscheldt'sche  VerlagsbuchhdL 

Nachrichten  aus  dem  Buchhandel  und  den 
verwandten  Geschäftszweigen  Fest- 
nummer. Leipzig,  Börsenverein  der  Deutschen 
Buchhändler. 

Newald,  J,  Friedrich  Schlögl.  Erinnerungen 
an  einen  alten  Wiener.  Ein  Gedenkblatt  zur 
dritten  Wiederkehr  seines  Todestages.  Wien, 
Im  Selbstverlage  des  Verfassers. 

Nossdar,  A.,  Ueber  die  bestimmende  Ursache  des 
PhUosophlrens.  Versuche  einer  praktischen 
Kritik  der  Lehre  Spinozas.  Stuttgart,  Deutsche 
Verlagsanstalt 


Pietsohker,  K,  Auf  dem  Siegesznge  von  Berlin 
nach  Paris.  Potsdam,  R  HachTeld. 

Presbar,  R.,  Das  Fellahmädcben  und  andere 
Novellen.  Berlin,  F.  Fontane  und  Co. 

Freser,  C,  Das  Arminslied.  Grossenhain  und 
Leipzig,  Baumert  und  Ronge. 

Preusohen,  H.  v.  Via  Pagalonis.  Lebenslieder. 
Dresden,  Carl  Reissner. 

Reform,  Ostdeutsche.  Blätter  zur  Forderung 
der  Humanität  IV.  Jahrg.  Lief.  17—18.  Königs- 
berg i.  Pr,  Braun  uud  Weber. 

Bia-uttnl,  G.  und  Bulle,  0.,  Neues  italienisch- 
deutsches  und  deutsch-italienisches  Warter- 
buch. 4.  Lieferung.  Leipzig,  B.  Tmuchnitr, 

Biotor.  L,  Le  Sceptique  loyaL  Paris,  Blblio- 
tnüque  AritlsUque  et  Lltteralre. 

Boderioh,  A.,  KUnstlerfahrten.  Humoresken. 
Iilustrirt  von  C.  Sellner.  Stuttgart,  Deutsche 
Verlags- Anstalt 

Sohneidt  K,  Die  Kritik.  Wochensebau  des 
öffentlichen  Lebens.  IX  Jahrgang.  Lieferung 
48—51.  Berlin,  W.  H.  Storm. 

Schultz,  A.,  Kunstgeschichte.  Lief«  rang  5. 
Berlin,  O.  Grote'sche  VerlagsbuchhdL 

Schulze-Schmidt,  B,  Lümlcida.  —  II  Briccon- 
cello.  Zwei  Novellen.  Dresden,  C.  Befesaer. 

Schweijrer-Lerchenfeld,  A.  v.,  Die  Denan 
als  Völkerweg ,  SchlSfahrtsstrasse  und  Reise- 
route. Mit  300  Abbildungen  und  Karten. 
Llefrg.  11—15.  Wien,  A.  Hartleben. 

Setteeast,  Prof.  Dr.  IL,  Woher- wohin?  Eine 
freimaurerische  Betrachtung.  Berlin,  E.  GoM- 
schmWt 

Skram,  A.,  Agnete.  Drama  In  drei  Acten. 
Deutsch  von  Therese  Krüger  und  Otto  Erich 
Hartleben.  Berlin,  Deutsche  Schriftsteller- 
Genossenucnaft 

Spitteier,  C,  Balladen.  Zürich,  A.  Müller. 

Stsgemann,  IL,  Des  Horatius  schönste  Lieder. 
Basel,  B.  Schwabe. 

Struck,  Dr.  F,  Die  ältesten  Zeiten  des  Theaters 
zu  Stralsund  1097—1834.  Ein  Beitrag  zur 
Geschichte  des  deutschen  Theaters.  Stralsund, 
Verlag  der  Königlichen  Regierung»- Buch- 
druck&rci 

Struck,  Dr.  W.,  Das  Bündniss  Wilhelms  von 
Weimar  mit  Gustav  Adolf.  Em  Beitrag  zur 
Geschichte  des  drelasizJUirlgen  Krieges. 
Stralsund.  Verlag  der  Königliche«  Regienmgs- 
Buchdruckerei. 

Büttner,  A.  G.  v.,  Ein  Dämon.  Roman  aus  der 
Gegenwart  Dresden,  E.  Pierson. 

Victoria.  Ulustr.  Zeitschrift  für  vaterländisch. 
Sport  nnd  krlegsgemässes  Radfahren.  Heft  1. 
Berlin,  Hacke  und  Grüzmacher. 

Vinoenti.  C.  v,  Erlebtes  und  Fabullrtes.  Dres- 
den, E.  Pierson. 

Wlttlar,  G.  C  Urkunden  und  Beläge  zur  Gnnther- 
Forschung.  Striegau,  A.  Holtmann. 


Btbigitt  unter  D«antmonlid)ff it  bts  $naasatbnt. 
Sdjltfifdjt  8ad)brncfrrci,  Knnfb  nno  Dtrlag»2InSalt  p.  S.  Sdjottlombft,  Breslau. 
UnbrteArlattr  UaOMai  aat  b»m  Jntjalt  biefti  3ritfd)rtf1  unttrfagt.   Ueberi«*iina>r«drt  socbfbaJtt«. 


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Die  Karlsbader  Mineralwässer  und  Quellenproducte 

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pbtfemon  nnb  33ands   277 

Hidjarb  Koeljlicb,  in  Breslau. 

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3ofcpl?  3oeften  in  Köln. 

2lus  Dflffelborfs  <Slan3epod;e.  Ungebrucf tc  Briefe  von  ^elij  OTenbels. 


fotm-Barttiotby)   308 

€.  2Tlafd?fe  in  Breslau. 

Hnfjlanb  in  <£entralaften.   (Schlug.)   3\6 

Bertha  Katfdjer  in  Baben  (£tieber«©ejlerreid)). 

^reibenferin  unb  Cfjeofopliin   337 

2luguji  tPunfdje  in  Dresben. 

Der  bentfdje  OTidjel  mit  feinem  mytfjologifdjen  Hintergründe   3^9 

^riebricb,  JDegmtiHer  in  ZTlüncfyen. 

Der  11%   (Eine  äflijetifdje  Stubie   358 

XKite  Kremnit)  in  Bufareft 

Sein  »rief.  HoceHe   370 

Bibliographie   402 

Silberntla»  jnr  <Stfd)id;tt  ber  beotfdjen  nationallittc  a \  r    ("Tlt  T'::':i  vioir  i ' 

i3ibliograpI}ifaje  Hotten  

Qierjn  ein  Portrait:  prin3  (Emil  3U  Sc  *;   a:.'-   :.ir  >. 
Habirnng  oon  tfran3  Horid;  in    ;  ii  r  •.  1?  •.  >  ■,; 

.rtorb  unk  Sab*  erfdjemf  am  2dif<ng  jebe»  Uloiutts  in    »f.—  ..   j:  {.r      .>  • 

 ptt i»  pro  (Baartal  (3  9efte)  6  :         ■■  ■  — 

XO*  Badibanblanfen  an»  poftangalttn  nehmen  jeberjeit  3  e)lf  Hungen  a*. 


Zille  auf  öen  reöacttonellen  3n^alt  oon  „5Barb  und  ^ttb"  be* 
Sügltdjen  Sen&ungen  ftnfc  ofytie  Ztngabe  eines  perfonennamens  3U 
rieten  an  «Me  — 

Hebaction  oon  „JSotb  una  £üu"  Breslau. 

 Siebenfeufenerftr.  U,  {3,  {5. 

Setlagen  3U  oiefem  Jjefte 

port 

ttnor.  9«*.  ftdR  &  *of)tt  In  Kopenhagen,   (tnciaing,  Sie  {tan  (Ponofmcurin  von  patis.) 

<5.  C.  £cf)inann  in  Droben  n.   (Sd>utj,  Der  fleine  Samariter.) 

3.  Keitmann  in  Heubamm.   lS3Ild>e.  «ntroi<feIunqs«eWajle  ber  Katar.) 

<£l)t.  #trm.  Xaudmtt}  in  Ceipsig.   («mpfer/lentmertlje  <Srfd>rnta>erre.) 

Woolf  tirje  in  Ceipjl«.    («mpfeblensmtnbe  ©efienftperfe.) 

(BOjUffla)«  »ud|br.<t«rel,  (tunfr  u.  BetlaaMUtfialt  ».  «  «4|oltU«»HT  in  Sreslau. 

(tfeiljnacfjtstatalog.) 


n  unfete  ^bonnenten! 


ES9|ie  bereits  erfcr/tertenen  3änt>e  oon 

„Horb  unb  SüM 

tonnen  entwebet  in  complet  bxoföMen  oöerfein  geßnabenen  Sänöen 
oon  uns  nadjbesogen  tperöen.  Preis  pro  23anö  (=3  f)efte)  bro- 
fct/irt  6  ZlTarf,  gebunöen  in  feinftem  0riginab<£inbanö  mit  reicher 
(ßolöpreffung  unö  Scfytnars&rucf  8  ZlTarf. 

€in5elne  £)efte,  weldje  wir  auf  Verlangen,  fotpeit  öer  Porratb, 
reidjt,  ebenfalls  liefern,  foften  2  ZTTarf. 

Cbenfo  liefern  wir,  wie  bisher,  gefdjmacfpolle 

g)rtgmaC  ■■  @i«ßan66ecßen 

im  Stil  öes  je^igen  ^eft«Umfcr/Iags  mit  fcr/iparser  unö  (Bolöpreffung 
aus  englifct/er  Ceimpanö,  unö  fter/en  folct/e  su  Sanö  LXXV  (£>dober 
bis  Decembet  (895),  tpie  aucb,  511  öen  früheren  öänöen  I — LXXIV 
ftets  5ur  t?erfügung.  —  Der  Preis  ift  nur  {  ZHarf  50  Pf.  pro  Seele. 
5u  33eftellungen  tPoüe  man  ficb,  öes  umfter/enöen  Settels  beöienen 
unö  öenfelben,  mit  Unterfct/rift  perfet/en,  an  öie  Bucr/r/anölung  oöer 
fonftige  Sesugsquelle  einfenöen,  öurc^  »eldje  öie  Jortfetjungsb/efte 
besogen  tperöen.  2lud?  ift  öie  unterseidmete  Perlagsr/anölung  gern 
bereit,  gegen  <£infenöung  öes  Betrages  (nebft  50  Pf.  für  ^rancatur) 
öas  <Sea>ünfajte  5U  erpeöiren. 
Breslau. 

Scr/leftfct/e  Buc^örucferei,  Kunft«  unö  t?erlags«2lnftalt 
p.  5.  Sdjottlaenöer. 

(Befalljettel  Mmfteljettb.) 


I 


-g&efteazettei. 

Sei  ber  Sucf/r/anblung  pon 


beftelle  ict)  Ijterburd} 

„Horb  uno  Sflo" 

herausgegeben  oon  poul  Einbau. 

Sdjltffldte  Sudjtirnrfrrei,  Knnf»-  u.  PetlagMnftalt  o.  5.  Stffottlaenber  in  Breslau. 

€jpl.  8anb  I.,  u.,  in.,  IV..  V.,  VI.,  VII..  VIII.,  IX.,  x.,  1 
XI.,  XII.,  XIII.,  XIV.,  XV.,  XVI.,  XVII.,  XVIII.,  XIX.,  XX., 

XXI.,  XXII.,  XXIII.,  XXIV.,  XXV.,  XXVI.,  XXVII.,  XXVIII.,  i 
XXIX..  XXX.,  XXXI.,  XXXII.,  XXXIII.,  XXXIV.,  XXXV., 

XXXVI.,  XXXVII.,  XXXVIII.,  XXXIX.,  XL.,  XLI.,  XLU.,  XLIU.,  i 

XLIV.,  XLV,  XL  VI.,  XL  VII.,  XLVIII ,  XLIX.,  L.,  LI.,  LU.,  LIU.,  , 

LIV.,  LV.,  LVI.,  LVII.,  LVUI.,  LIX.,  LX.,  LXI.,  LXII.,  LXHI.,  ! 
LXIV.,  LXV,  LXVI..LXVII.,  LXVIIL.LXIX.,  LXX.,  LXXL.  LXXIL, 

LXXIIL,  LXXIV  | 

elegant  brofcr/irt  sunt  Preife  pon  1  6. —  | 

~       pro  Sanb  (=  3  ßefte) 
fein  gebunben  5um  Preife  pon  M.  8. —  pro  Sanö. 

«SPI.  £Jeft  »,  2,  3,  4,  5,  6,  7,  8,  9,  10,  U,  12,  (3,  »4,  »5, 

»6,  »7,  (8,  19,  20,  2»,  22,  23,  24,  25,  26.  27,  28,  29,  30,  3»,  32,  33, 

34,  35,  36,  37,  38,  39,  40,  4»,  42,  43,  44,  45,  46,  47,  48,  49,  50,  5», 

52,  53,  54,  55,  56,  57,  58,  59,  60,  61,  62,  63,  64.  65,  66,  67,  68,  69, 

70,  71,  72,  75,  74,  75,  76,  77,  78,  79,  80,  8»,  82,  83,  84,  85,  86,  87, 

88,  89,  90,  9L  92,  93,  94,  95,  96,  9?,  98,  99,  »oo,  »o»,  »02,  »03, 

104,  105,  (06,  (07,  108,  »09,  HO,  »»»,  »  »2,  US,  U4.  U5,  U6,  »»7,  | 
»»8.  U9,  120,  \2\,  122,  »23,  124,   »25,  126,  127,  (28,  »29,  »30,  »3», 
»32,  »33,  »34,  »35,  »36,  »37,  »38.  »39,  »40,  »41,  »42,   »43,  »44.  »45. 
»46,  »47,  »48,  »49,  »50,  »5»,  »52,  »53,  »54,  »55,  »56,  \57,  »58,  »59, 
»60,  »6»,  »62,  »63,  »64,  »65,  »66,  »67,  »68,  »69,  »70,  17»,  »72,  »73, 
»74,  »75,  »76,  »77,  (78,  »79,  »80,  »8»,  »82,  »83,  »84,  »85,  »86,  »87,  I 
»88,  »89,  »90,  »<M,  »92,  193,  »94,  »95,  »96,  »97,  »98,  »99,  200,  20»,  , 
202,  203,  204,  :05,  206,  207,  208,  209,  2»0,  2»»,  2»2,  2»3,  2»4,  2»5,  1 
2»6,  2»7,  2  »8,  2»9,  220,  22»,  222,  223,  224 

5um  Preife  pon  M.  2. —  pro  ß,eft.  i 
€inbanbbecfe  311  So.  LXXIV.  Quli  bis  September  J895)  , 

«Spl.   bo.   3U  Sanb  I.,  IL,  III.,  IV.,  V.,  VI,  VII.,  VIII., 
IX.,  X.,  XI.,  XII.,  XIII.,  XIV.,  XV.,  XVI.,  XVII.,  XVIII.,  XIX.,  I 
XX  ,    XXI.,    XXII.,   XXIII.,   XXIV.,   XXV,  XXVI.,  XXVII., 
XXVIII.,  XXIX.,  XXX.,  XXXI.,  XXXII.,  XXXIII.,  XXXIV.,  ! 
XXXV.,  XXXVI.,  XXXVIL,  XXXVIII.,  XXXIX.,  XL.,  XLI.,  j 
XLU.,  XLIII.,  XLIV.,  XLV.,  XLVL,  XLVII.,  XLVUI.,  XLIX.,  L.,  I 
LI.,  LIL,  LUI..  LIV.,  LV.,  LVL,  LVII.,  LVUI.,  LIX.,  LX.,  LXI., 
LXII.,  LXUI.,  LXIV.,  LXV.,  LXVI  .LXVIL,  LXVUL,  LXIX.,  LXX  ,  • 
LXXL,  LXXIL,  LXXIIL,  LXXIV 

3um  Preife  pon  M.  (.50  pro  Z)ecfe. 

IDoliitnng:  Home: 


nid)tgrnrflRf4tM  bitten  jn  twrci)ftnid)tn. 


Um  grfl.  redjt  bntlldjt  Hamm».  nnt>  HJofjmmgsanaabe  nrirb  «rfndjt. 


•»••  •••• 


tt  4. 


IX-CMbcr  i.;3.'' 


•  -.  1  et  f 


- 


€ine  beutfcf^  ZTIonatsf  djrif t 


herausgegeben 
von 

Paul  linbau. 

LXXV.  3anb.  —  December  —  §cft  225. 

(mit  einem  Portrait  in  Kobirang :  p  r  i  n  3  €  m  i  I  jn  Sd>ocnaid;.CaroIatl!.) 


2ßr  eglau 

Sdjlefffdje  Budjbrucf  eret,  Knnfi*  nnb  De r(ags*2(n|)a(t 
».  5.  Sdjottlaenbct. 


pfjüemon  urtb  3aucis. 


Don 

€mil  &ri)oenaidj'€aroIatf). 

—   palsgaarb'3ue(sminbe  bei  £jorfcns  (Dänemarf).  — 
pbjlcmonl  pfyilemon! 

Sie  Sonne  ftid)t,  fd}ipar3  ragt  bet  Sorbeerfyatn, 

Don  fernen  f?6l('n  natjt  eine  HMterrooIfe, 

Birgt,  ceilcfjenfarben,  ferner  23litje  Sdjein. 

Die  giegen  bläfen  rutjelos  am  Hain, 

Unb  er,  ber  <8ute,  ging  jum  Sajnitteroolfe. 

JTtid;  bangt  um  iljn  .  .  fein  Sidjelton  burd)fd)it)irrt 

Die  fdjwiile  £uft  mit  froljgetjeimem  taute, 

Dies  Schweigen  lät|mt. 

PDdemon :  ' 
(Srnfj  Dir,  Du  forglicb,  (traute. 
Den  Klippenfanm  b,ab'  miitjpoü  id;  burdjirrt, 
Die  Bärftein  abwärts  fdjeurfjenb  ju  ben  tDiefen, 
Sie  nafdjen  gern  am  jungen  Sdjotenfeim 
Der  golbgebrSmten  giftigen  <£vtt|ifen. 
(Skid)  bradjt'  id;  ^utter  für  bie  (Ediere  fjeim. 
3etjt  mödjt'  idj,  miib'  com  ungetooimten  Steigen, 
Danfbar  bie  Slirn  bem  ^üHenfd)atten  neigen. 

Dem  Schatten  nidjf,  fomm  in  ben  Sonnenfdjein, 
Die  ^oljbanf  trag'  id;  in  ben  <SIan3  tjinein, 
(2s  rub,t  ftctj  gut  an  eigner  £)üttenf<f;n>elle. 


<£mü  5djoenaid>-£areIatb,  in  palsgaarb>3nelsminbe. 


Jldj,  ttjenre  (Sattin,  wo  Sein  fädjein  weilt, 
£jerrfd)t  (Babenfälte,  füge  Dafeinsb,elle. 

Xauct#: 

3a,  wir  finb  glürflid;,  bodj  —  bie  geit  enteilt. 

<Dft  fptiajt  mein  £jer3  in  ruljelofem  Sdflage: 

(Ein  <£nbe  brotjt  bem  allerfdjönften  tEage, 

£ängft  warben  fdjräg  an  unfrem  pfab  bie  rdjatten. 

2ld),  altersgrauer,  treuer  Weggefährte, 

Dag  boaj  bie  3ngenb  ewig,  ewig  währte  I 

pijttenion: 

Dergi§  ntdjt,  Stebfte,  wie  fo  gut  wir's  Ratten. 
Was  (Bötterrmlb  uns  Sterblidjen  erlaubt,  • 
Du  ftreuteft  es  als  fanften  Hofenregen 
ITtilöfye^ig,  frennbttdj  auf  mein  altes  £?aupt. 
Sein  tEtjun  war  <£>lü<S,  Dein  Cageswerf  war  Segen, 
Unb  täglidj  nod;  nimmt  Deine  (Säte  3a. 

Oßautig : 

Der  Stärffte,  Befie,  Sd^nfte  warft  ftets  Du. 
PDKtman: 

Dem  (Eage  preis,  ber  Dieb,  mir  angetraut, 
tfir  liebten  uns,  boaj  jwifdjen  Fallen  Myrten 
Sdjfid;  Hungersnöte,  bie  «Eumcnibenbraut. 
pofeibon  boeb  rjat  unfern  (Sram  erfdjaut: 
3m  wilben  Sübfturm  branbeten  bie  Syrttjen 
©lau,  gifdjtbefränjt  3U111  Klippenftranbe  b,er  .  . 

25auct'si  : 

Da  riffeft  Du,  3U  retlen  uns  con  Ittangel, 
2In  rjodjgeftr/wungener,  breigejaefter  2ingc( 
Den  filberfetten  (Etjnnfifcb,  aus  bem  IHeer. 
3d}  aber  ffotj  f<f/netlfü§ig  oon  ben  Klippen 
Unb  fügte  Cid;,  befj  21rm  nod?  ftraff  vom  fang, 
5al3fiberfd)äumt,  ben  tfaefen  mir  umfdjlang, 
fjelljubelnb  auf  bie  (Eriumpijatortippen. 

(£in  ITankerft  ctfdjcint.) 

lpfjilcmon 

tDie  warft  Du  fdjönl    IDir  fdjritten  buraj  bie  tlaajt, 

21uf  fremben  Bergen  gelten  ^irtenfeuer 

Ejodjrott)  unb  einfam  ftille  £jöriena>ad)t. 

3m  Süben  ftanb,  golbäugig,  erbenfern, 

Des  tiebesglficfes  gro§er  funfelftern. 

3lus  palmenüberbunfeltem  (Semäuer 

fjob  fidj  bas  tttoosbarb,,  unfer  (Erbentjeim; 


pjfilemon  unb  Baucis.   


279 


Du  tranfeft  fd;eu  00m  felbftgebtantcn  Seim, 
Dann,  fdjlucbjenb,  bang,  im  feigen  Hofenl(age  — 

aßaurig  : 
<D  fdiweig,  0  fdftocitj  .  . 

PDüemon : 

Starb  uns  in  Settgfeit 
Der  jungen  Setjnfudjt  tjerbe,  lefote  plage. 

*aii£f#: 

Sie  ging  batjin,  ble  nie  perfd;mer3te  §cit. 

Pflifeman: 
<D  ferjrt  3nrncf,  ib,r  l}onigfd)ir>eren  (Lage. 

28auri0: 

0?ie  o>arb  er  alt.   3b.m  fenfen  fidf  bie  Etber, 

«Er  nitft,  er  fdjISft.   Heb,,  fäm'  bie  3ugcnb  toreber! 

©et  IPanberrr: 

3tjr  friebllajenl   <£udf  fiel  ein  feltnes  £oos. 
Jld;,  baf}  fte  fdjlügen,  treuer  £  lebe  flammen 
Um  jebes  £}er3,  auf  jebem  Ejerb  3ufammen, 
Dann  tagten  Cenje,  tierrlitb,,  3ufunftsgro§. 
Dann  Fönnten  (Sötter  biefe  IPelt  ermahnen 
Um,  nngeftraft,  fid}  OTenfdjen  3U  permSi)(en. 

IDeirf;'  mir  com  Raupte,  großer  ronnentraum. 

Beut  «Eure  fjötte  bem  Derirrten  Kaum? 

asaucl$: 

<£in  (Saft,  ein  (Saft!   Seit  ficb,  3um  Dorfe  fenft 
Der  £jänbler  pfab,  roarb  uns  fein  (Saft  gefdjenft. 
Dem  Hage  ^eil,  ber  Did;  uns  3ugefälirt  — 
ptjilemon,  flinf,  jetjt  wirb  ber  Hopf  gerührt. 

pgilemon: 

(Ein  (Saft?  t>ernet)m  idj  redjt?  freunb,  nimm  rorfleb, 
(Sleiaj  flammt  bas  Seifig.   Kurie  Did?  im  Seffel, 
Unb,  Sauds,  mos  Du  (Sutes  ijaft,  bas  gieb. 

26auci#: 

§um  f  euer  tjebe  mir  nod)  rafdj  ben  Keffel, 
Dann  tummle  Did).   Dom  (Särtletn  bring  rjerbei 
mir  reidflid;  lTlin3e,  Hüben  unb  Salbei, 
(Sleid^eirig  fd?aff'  ben  ITtifd)frug  aus  bem  Keller, 
(Erag'  fänftlid;  ib,n,  bann  rjält  ber  Wein  fid}  fjeller, 
Unb  t)oI'  mir  etib(id),  wenn  Du  fertig  bift, 
Dom  Dodj  bies  Haudjfleifd!,  bas  iaj  längft  »ermißt. 


280 


—    €mil  Sd)»enaid)«<£arolatb,  in  palsgaarb-^uelsminbe.   


PÜitemon: 

£afj,  Bands,  mir  ben  Ejerb  nur  nidjt  erfaltenl 
%auri$ : 

§ier  ftetii  ber  Cifdj,  bodf  acb,,  gor  fpeifenleer. 

Wer  Iflanbercr: 
3tfr  lieben,  guten,  milbgefinnlen  2flten, 
OTidf  311  bewirken  fällt  nur  Reihen  fd)mer. 
Derädjtfid)  oft  wies  id)  vom  £ebenstifcb,e 
Des  Seidftlmms  fette,  golbgefdmppte  ^ifdje, 
Denn  Selbftfudjt  mar  bes  pruttfgelages  Kern. 
Dod;  3Ijr  ben>irtb,et  fonber  2lrg  unb  gern, 
Drum  bred)'  icb,  berb  von  (Euerm  Kleienbrote, 
Unb  es  bebagt  mir  €uer  IDetn,  ber  rottje. 

SßauctfJ: 

tt>ie  treulid;  etjrt  er  unf're  rantje  Koftl 
Ejor'  an,  ptjilemonl   Unler'm  £jeerbesroft 
Briet  tjeut  ioj  Hepfel;  wollt'  Did;  überrafdjen. 

©  (Sute,  nimm  fte  Imrttg  ans  ben  Jlfajen 
Unb  wiffe  benn:  im  Bienenjiod*  vermai)rt 
Siegt  {jonig  tiodf,  ben  idj  Dir  anfgefpart. 
Bring'  21Ues  tjer,  ben  fremben  mirb's  erfreuen. 

©er  JE>anbem: 
3b.r  (Suten  gebt;  es  foü  (End?  nidjt  gereuen. 
<Sern  mag  idj  raften,  wotybettfdjt  unb  marm,' 
Dodj  flammt  ob  Unbill,  untermegs  erlitten 
3m  fjlrtenborf,  ju  £jaupt  mir  jälier  fjarm. 
Jlud;  jenem  ©rt,  ben  quer  mein  Stab  burdffdjnitten. 
Dies  Oolf  ift  fdjledjt. 

ßljtlemon: 

£jart  auf  «Erwerb  verfeffen, 
Dod?  fdjledft?   ©  nein. 

©er  MDanberer: 

ijrennb,  Sdmlben  3U  bemeffen, 
3ft  Hidjteramt  unb  3iemt  nur  mir  allein. 
2(1*  Bettler  fam  idj,  weil  aus  Bettlermunben 
(Ein  b.eil'ger  Strom  ßur  lTTenfd)b,eit  nieberquittt, 
Bis  bafj  ber  (Sotttjeit  tiebesburft  gefüllt. 
2ln  jenem  Strom,  ber  fndjenb  tjeimroärts  gei)t, 
Jjarrt,  IDeltenfdjicffal  roägenb,  ber  propb,et 
ITlid)  tjefeten  fie  mit  magergelben  £junben, 
Die  £id;el  fdjor  ben  golbnen  (Serßentjag, 
mir  warb,  flatt  Speife,  fjotmwort,  Knüttelfdflag. 


  pt)t(emon  unb  Bands.   


3n  jebem  £jans,  bem  id;  mein  Ejeil  befatjl, 
Stielt  bie  <5enujjfud;t  breit  ifjr  Bacdjanaf, 
Dort  lagen  fte,  bie  graffe  Selbftfncr/t  fäugenb, 
Jim  ^utiertrog,  eergleiäjbar  fdjwarjen  Stieren, 
Die,  wieberfäuenb,  trag,  im  tlartrnngsgieren 
Sem  grofjen  Sdjladjttag  fttimpf  entgegen  Sagen. 
Der  dag  fcmmt  balb. 

asaucij : 
<2s  bricht  (Semitterglan3 
Vom  23(icf  bes  Jremben.    Hielt}*  idj  (einen  HJiflen! 

Jßgftemon: 

Ztocb.  fmngrig  blieb  er  worjL   2?ancis,  im  Stillen 
«Erwog  mein  Sinn:  wir  opfern  itun  bie  (Sans. 

aßaucifl: 

Das  treue  Ctiier?   U?er|,  wenn  fein  galm  fte  nagte, 
Sie  warb  uns  jrennb,  bie  Fluge,  b,ocr/betagte. 

pgflemon: 

2Id),  (Safipfticb,t  malmt,  mir  muffen  ftanbtjaft  fein; 
Das  ItTejfer  fdjätfc  fad>t  am  Keffelfieiit, 
3<b,  will  alsbalb  mit  unfres  Heftes  Broefen 
ans  irjrem  Stall  bie  ijansgenoffin  loden. 
Daun,  ahnungslos,  roenn  fie  bas  ITta^l  geniest, 
(Trifft  fte  ber  lob,  ber  jebes  (Slüc?  befdjiiefji. 

3d>  habe  OTuib,!    Dod),  Bauns,  immer3U 
IPaY  es  mir  lieber,  fdjladjteteft  fie  Du. 

•»aurt0 : 

3<f)?   Ztimmermetir,  rie^lofes  Ungeljeuerl 

Dod)  ...  Du  f>aft  Hedjt.   Das  fiiiftre  IPerf  gefdjet)'. 

So  fdjlaajte  fte,  bocb,  ttm  bem  Cf)ier  niajt  wer;. 

©et  DDanbertr: 
IDetcb,  ijeil'ger  Duft  umflort  itjr  fjütteitfeuer. 
Jln  biefes  Jjerbs  cerglommner  JEiebesfpur 
(Erftarft  mein  IDunfcb,  naaj  (Slücf  auf  (Erbenflur. 

Ejalt  einl    ZTad)  Speife  liifiet's  midf  nidjt  metjr, 
tTadj  (£nren  £jer3en  bodj  Irag'  idf  Begetjr. 
IDir  wollen  traulid)  um  ben  (Eifdf  ans  reiften, 
Unb.  rebefror),  ber  Haft  ein  Stänblein  weisen. 
Spred>t.   (Eures  £ebens  langgemeff'ne  §eit 
Sdmf  €udj  oiel  S  duneres? 

pjjileman: 
fjerr,  nur  Danfbarfeit. 

asaurlj: 

Der  (Sute  bjer  trieb  uns  vom  Jjaus  bie  plagen, 
mit  foldjem  (Satten  lieg  fidf  Mlles  wagen. 


I 


282    €mil  Sdjoenaiij'CaroIatb,  in  palsgaarb>3uelsminbe.  — 

ßBflemon: 

Dod;  oljtte  Baucis  tfätt*  ic^'s  nidjt  ertragen. 
»aucf0: 

Craut  nidjt  bem  IDort  —  bie  £iebe  fprad;  barein. 

©er  TOaubeter: 
Jreunb,  (Euer  (Slücf  beraufcf)t  gleid}  jungem  HJeirt. 
Deg  f|erber  Duft  i)at  meinen  ITtnnb  beflügelt, 
Hirn  traut  (End)  IDünfdie,  satjlreid;,  nngejüaelt. 
Den  iüirtljen  3oHt  ber  (Saftfrennb  ein  (Sefdjenf, 
Des  guten  Braudjs,  bes  alten,  feib  geben?  .  .  . 
ßDUeman: 

•  3a,  bamals  gingen  <S3tter  nodf  auf  «Erben 

©er  Zauberet: 
Hidft  traumhaft  taOt  bie  gute  golbne  geit 
Mus  IHardjenmunb,  —  fie  lebt,  jte  propljejeit. 
3ljr  priefter  natjt,  es  reißt  fein  lttantelfd|oog, 
Unb  blenbenb  flafft  cor  frommen  tjflttenbeerben 
Der  tDunfdjerfüllung  (Solbfdjag  fönigsgrog  — 

l^fjileman  und  »aurig: 
<D  lag  ncdj  einmal,  einmal  jung  uns  »erben! 

©er  »anbetet: 
tt>ie  fteigt  fo  »üb  mir  Sdjöpferfraft  3a  £jaupt, 
(Ein  Sonnenftrom,  ber  jebes  Bett  uerloren, 
Der  ungebänbigt,  fpottenb  jeber  furt, 
«Ein  jebes  t}er3,  bas  toertb,  ber  Iteugeburt, 
^eimraufd;enb  trägt  311  »eigen  Siegestboren. 

<Se»äf|rnng  foll  €ud)  fein,  »eil  3^  geglaubt, 
pbjlemon,  gel),  unb  tafte  Did)  am  Stocfe 
gum  beigen  (Särtlefn,  aus  ber  Bienengtorfe 
Brid)  Dir  ben  legten  fügen  fjonigfeim. 
Dann  auf  bem  Bänflein  rulje,  »unfdjr-etgeffen, 
Denn  nur  ein  Sdflaf  im  Schatten  von  Cypreffen, 
Der  Furje  Sdjlaf  bringt  3ugenb  wieber  b,eim. 
Xlun  neige  fanft  Dein  fjaupt  bem  füllen  £aube  . . . 

2ßaur<#: 

Sein  <fug  »arb  fd)»ad),  er  glitte  leidjt  im  Staube, 
fjerr,  er  ift  alt,  icff  (äff'  iljn  nidjt  allein. 

©et  »anbetet: 
Mnf,  mir  3U  tfügen  flattre,  fromme  (Laube, 

(eilt  pbilrmon) 

3d)  unb  mein  lüerf,  »ir  muffen  einfam  fein. 

ttnr,  wer  fitb,  tief  ber  (Einfamfeit  befab.1, 

£}5rt  raufdjenb  natjn  bes  Singfdjwans  (Solbgefteber, 

Unb  jubelnb  fteigt  aus  füger  Sd)öpferqnal 

Sein  tüerf  tjeroor,  fein  Kinb,  fein  £ieb  ber  Sieber. 


—    pijilemon  unb  öaucis.    283 

iTodj  sweifelt  er,  burdjfd|üttert,  fturmoerftört  .  .  . 
Bridj  benn  l)erab  jum  morfd(en  myrtenftamme, 
Du  grüner  £en3  —  b.ier  warb  ein  <Slücf  erhört, 
Den  <85tter  £jeü,  nnb  pfyrygiens  Sonne  flamme. 

(PernnrnMuitj.) 

2ßauci£ : 

tüie  warb  mir?    UJonne  faßt  midj.  Uferlos 

Derfinft  bie  iTadjt,  es  fdfwimmt  burdf  £rüb,lingsweite 

Ittein  £jer3fd[lag  tjtn,  fo  reich,,  fo  jitbelgrofj. 

Wie  bin  id;  feiig,  feiig  idj  Befreite. 

Zinn  feb,re  tjeim,  mein  erfter  £iebesrnf, 

§n  befpn  Bruft,  ber  neu  bas  (Sliicf  mir  fcbuf, 

Der  3ugenb,  3ugenb  mir  3urücf  gegeben. 

©er  ©anbetet: 

Vitl  I;öf)er  nod}  foQ  Did?  mein  2lrm  ergeben. 
So  juble  benn,  Du  metner  tträume  Kinb, 
Beraufdje  Dirf;  am  jungen  £en3,  erwad;e, 
mit  t}erb  gebäumte it  rotten  tippen  ladje 
Dein  £iebesn>ort  bem  frifdjen  £ebenswinb. 
Du  bift  ermäljtt,  bifi  (Söttern  angenehm, 
JJuf  Deiner  Stirn,  im  Setdjen  jungen  Hümmes 
Crag  frot)  bie  Krone  bes  f?ellenentb,umes, 
Der  ew'gen  Sd}3nb.ett  5trai)lenbiabem. 
Den  SdjSpfer  bannt  ein  tiefer  fjofjeitsglaube 
üor  fein  (ßefdjöpf,  bafj  er  bewutibernb  fteb,e . .  . 

OBaucig: 

<D  gieb,  bafj  nie  von  meinem  Ijaar  jum  Staube 
.  gnrücf  Dein  Kran3,  Dein  blüttjenrottjer,  tueb,e. 

©et  ©anbetet: 
<£r3tttre  nidjt.   §u  meinen  ^üfjen  3iei)t 
Der  Sonnenbad,  unb  tjinter  ITtyrtenbäumen 
Bleibt  er,  gluttjftarrenb,  tjaften  am  genitt), 
Um  ewig  über  unferm  <SIüd  3U  tränmen. 
<2rt)öre  midj,  bann  wirb  bies  IPunber  Dein, 
Unb  meine  Kraft  »erbürgt  Dir  £jerrf  djereljren ; 
Uuftcrblid;  foüft,  mir  an»ermät[lt,  Du  fein. 
Dein  liebesfufj  foll  uns  beit  Hut)m  befdjeeren 
2lls  (£rft(tngsfob,n;  ber  fdjütte  f raf tgefdj wellt 
Sein  gleigenb  ^ülltjorn  auf  bie  fd?warje  U7e(t. 
Doch,  ©pfer  nur,  bie  corbebingungslos 
Grifft  Dom  ©lymp  ber  tjeil'ge  Bliöesftofj, 
So  fdfmelj'  idj  Dir  bie  fpröben  Pan3erfiüllen, 
So  raff'  id)  jubelnb  Deinen  jungen  £eib 
3m  BliittjenfJnrm  tjinweg,  mein  UJerf,  mein  Weib. 


£mil  Sdjoenaidj'fcarolatb,  in  palsgaatb'3uelsminbe. 


IDeb,  mir,  lag  ab  . . .  Hein  tt>unfd)  birgt  fein  (Erfüllen. 
Pernid)tenb,  unermeßlich  mar  ber  IDatjn 
Unb  tief  bet  Sdfmerj,  ben  Du  mir  angctttanl 

©er  JE>anbcrrr: 
E3t|tnt  §agen  Did;?    tt>illjt  Du  bem  (Slücf  entrinnen? 
Konnjt  Du  bie  (Sinti),  bie  Dir  nm's  fjanpt  idf  flodjt. 
Dergleichen  mit  bes  tjüttleins  £ampenbo<b,t? 
Bift  Du  fo  fiein?   Bands!   Kamft  Du  »on  Sinnen? 
28aurig : 

<D  b,abe  Danf,  bag  Du  midj  redjt  benannt 
Unb  mir  ben  €rbenb,eimruf  3ugefant>r, 
Wo  bleibt  prfilemon? 

©er  Umänderet: 

Du  bem  Staub  (Setreue, 
Die  Du  3um  großen  Sonnenfinge  träg, 
Sdjon  fjängt  an  Deinem  £ippenfanme  fdjräg 
Unb  fd)wer  bes  (Släcfes  (Segenlafi,  bie  Heue. 
Zldj,  baß  Dein  £}er3  fo  fdjwer  ficb,  löfen  fann 
Vom  «Ebejoct/,  bem  plumpen  gweigefpann. 
Dein  (Satte  nab,e,  bann  mit  Sdjmerj  unb  (Stauen 
Jfirft  Du  bas  gerrbilb  Deiner  fdjöntjeit  fdjanen. 

gum  erften  OTaf  bat  Baucis  mein  oergejfen, 
Dod),  forglid}  wob,l,  fcljafft  fie  bem  ^remben  Danf. 
21ud}  mir  geroig  bringt  fie  3ur  (Sartenbanf 
ZTebft  bem  ge«jot)n(en  milben  Sdjlummertranf 
(Ein  Brölflein  2lbt)ub,  ber  ba  blieb  com  (Effen. 

afautip: 

Derfudjer!    §icf)c  Deines  lüegs  allein, 

Dir  warb  bie  Welt;  bies  weife  tjatipt  bleibt  mein. 

©er  JDanbt rer : 

So  roillft  Du,  taub  bem  2iuferftetmngsruf, 
§nm  Staub  $ntüd,  ber  2Irmnti)  nur  Dir  fttjaf  ? 
Du,  bie  beftimmt  3n  groger  Siegesreife, 
Cntroidjeft  mir,  Dieb,  pdjtenb  ju  bem  (greife, 
3n  feiner  faft  mfitjfclig  Ijeimjutragen 
riedjttium  unb  Sänbe,  <Eob  unb  Bettlerplagen, 
Die  Stirn  gefurdft,  wenn  (Erbenfonnen  ftedjen? 
tiein,  Ciebesrofen,  oolle,  follft  Du  brechen. 
2Jn  meine  Bruft,  auffet-auernbe  (Seftalt, 
3d;  bin  bie  Kraft,  bin  £eben,  bin  (Bewalt, 
€mpor  3U  mirl   3"  3ÜgeUofen  flammen, 
3n  ew'ger  3ugenb  ftiirmen  wir  3ufammen, 


ptlitemon  nnb  Bancis.   


285 


Dajj  ber  Olymp  fid?  nnferm  «Slücf  »ermäf|tel 

Hott  fdjläft  ber  (Sreis  —  fjier  ftef;t  Dein  (Sott:  Ztun  tpät;le. 

Sief}  bies  (Sefdjöpf,  oon  aiterslaji  gebrätft  .  . 

28autig : 

Heiß  mir  com  fjaar  ben  Krait3,  ber  mtd;  berütft 
(Ein  Sicgestjelb  in  Deinem  Ejimmel  bleibe, 
Hütin  auf  «Erben  lag  ben  mann  beim  tPeibe. 

©er  K> Anbeter: 
ITlein  Wext  miglang.    ©  groger  Eiebcspfeil, 
Den  feb,nenb  id;,  oon  Beutcbrang  geblenbet, 
3n  ȟber  Kraft  ber  menfdjljeit  jugefenbet, 
Du  fetn-ft  3urücf,  flug3itternb,  offne  £jeil. 
Dn  ffatterft  f;eim,  oon  fc}er3blut  tief  gerötfjet, 
Dod;  mein  Blut  ift's,  nnb  midj  fjaft  Du  getöbtet. 
»autltf : 

tDadj  auf,  pt)ifemon.   Sief;,  fjier  weilt  ein  mann, 
Der  barbenb  fam,  ber  uns  als  (Saft  gehörte, 
Der  3anbetfunbig,  burdj  BefduoSrungsbatm 
Dein  ItJeib  oerlotfte,  meinen  Sinn  betörte. 
Umgarnen!)  warf  bes  perlenftfdjers  Ejanb 
mir  über's  Ejanpt  ber  Sd;önt)eit  Hetjgewanb, 
Derftricfenb  mid>  im  golbnen  ItTafdjenregen, 
Unb  um  ein  Haarbreit  wäY  id;  unterlegen. 
So  (ofmt  ber  <$rembling  ©bbad),  labettanf. 

©er  BDanberer: 
tlun  fott,  ptjilemon,  einmal  nod;  in  Braufen 
Der  3»9e«o  Sübwinbftog  Didj  äberfanfen. 
H>f)iIeinon: 

Den  roft'gen  3a9°fPc«  fäll*  id;,  Dir  3nm  Danfl 
Dnrd;  biefen  Stat;!,  ber  tDolfsblut  oft  gelecft 
Mn  meiner  Sdjwelle  feift  Du  fiingefUerft, 
Hod;  wef;rt  mein  JJrm  lid;tfd;euem  Haubgelidjter. 

®et  JPanbrrer: 
Untjolbes  paar,  be§  Blicf  ber  Jrrtfjum  be<ft, 
Vox  «End;  ftet;t  geus,  ber  große  Fjersensridjter. 

<£rtjebet  «Eud;,  unb  wiffet:  milb  gebudjt 

lt»arb  «Eure  Sdjulb;  «Sott  felbft  b,at  «End;  oerfud;t. 

€rncuter  3ngenb  blitjenb  Stirngef;enf 

«Es  war  3u  grofj,  ju  f;errlid)  bies  (Sefdjenf. 

(Serfittelt  feib,  im  Sturm  oon  fjajj  nnb  Sieben 

3fjr  fdjulMos  nidjt,  bod;  menfdjlid;  wab,r  geblieben; 

3d;  bin  «Eud;  fjolb,  ntib  et;  ber  31benbfd;atten 

üon  biefer  Stätte  meine  IDegfpur  werft, 

tt>ill  id;  ertjören  «Euer  Zladjtgebet 

Unb  einen  tDunfd;,  ben  legten,  «End;  oerftatlen. 


286    «Emil  5d}oenaicf)-€atoIatli  in  Palsgaarb«3nelsminbe.   

IMjitemon  unb  Q5auti£: 
Zlimm  uns  com  fjaupt  bie  (Sinti;  ber  ero'gen  £en3e, 
Sag  uns,  nid?t  af^neitb  nnfres  £ebens  (Srenje, 
2In  einem  dag,  in  einem  Hüffe  fterben. 

©et  iBanberrr: 
(Es  fei,  bock,  3ugenb  follt  3fa  bennoeb,  erben. 
2Iuf  «Erben  fajoit  wirb  «Eurer  £iebe  Strom 
llnfterblidj  fTattjeti.  wirb  in  Didjtcrfagen 
gurfitf  ßur  tüelt,  ber  götterlofett,  tragen 
Des  (Sriedjenlorbeers  tjerbes  Duftarom. 

Zinn,  tjetjre  3<i9enb,  bie  mein  Sann  befebmor, 
Ker/r  jubeinb  (jeim  jum  rott)en  Kofenpor, 
5u  jrüttlingsfonnen,  bie  ftdj  niemals  weitben. 
£a§  biefes  paar  erfüllen  unb  coUenben 
3tjr  £oos,  bas  tragifdj  bunfle,  JTtenfcb,  3U  fein. 

Kerjrt  tjeim  unb  rntjt  im  «Erbenfonnenfcb.ein. 

PDiIrmon: 

tt>ar  3IUes  Craum? 

3Paurt$: 

<D  «Blücf  bes  2Iu f ermaßen» ! 
J&gilemon: 

Ztid)t  ift's  benn  warjr,  bag  wilb  idj  fdjroang  ben  Spiefj. 
08atici$ : 

Unb  (Eäufd;ung  bleibt  es,  bafj  mein  £jerj  Dia)  lieg. 
PÖilrmon: 

Dein  fc)er3?  mid??  —  Komm,  mein  ITTunb  quillt  frotjen  faajens. 
l£>ir  rooQen  plaubern,  auf  bem  SSnflein  rutft 
3m  Sonnengolb  es  firb,  fo  gut,  fo  gut. 

OBaunjS : 

€in  Kranicbpaar  im  Ztctljer  fet)  idj  freifen, 
«Es  ftrebt  im  £jeima>et(  neuem  <frür(ling  nacb,. 
pgtleman: 

Utein  Stief  er(ofd),  mein  Haa'  warb  trüb  unb  fd)wad?. 
Der  (SStter  fjulb  befdjirm'  ib,r  £jeimwärtsreifen, 
in8g'  itmen  balb  auf  frommer  £jütten  Darb, 
«Ein  neues  Heft,  ein  ftnrmesfid;res,  werben. 
Wir  aber  freun'  nod?  friebfam  uns  ber  «Erben. 
2Öauri0: 

groei  Kinber  finb  wir,  bie  bunb/s  €rntelanb 
tTacb,  langem  feft  ({eimroanbern  fjanb  in  Qanb. 

J&ljtltmon : 

Unb  beren  Sippen,  eb,'  fie  müb'  fidj  fajloffen 
21m  tPegesfaum,  im  festen  Sonnenbranb, 
^ür  2JUes  banfen,  bas  fie  reieb,  genoffen. 


pbjtemon  unb  Baucts.   


287 


©et  ltf  anbetet: 
Jlus  fo  piel  (jeif  gern  Sterbefrieben  raufdjt 
5Jud)  mir  3U  fjaupt  ein  großes  2Ibfctjiei>satjncrt, 
<£s  äicf]t  t)erau  auf  (Dffenbarungsbatmen 
(Ein  neuer  £en3,  ber  (5ottb,ettsfränje  taufdjt. 
Mus  ferner  £uft  IjöY  icfj,  proptjetifdf,  Hingen 
(Ein  großes  füttern  pon  (Etlöferfdjtuingen, 
(Ein  Demntb,sgott  tpirb  n>anbeln  bureb,  bie  §eit, 
lim  ftiü",  im  blut'gen  Ueberminberfleib, 
3m  frütirotf}lid)t  ben  Stein  com  <8rab  3U  lieben, 
ZTnr  biefer  (Sott,  nur  er,  wirb  ewig  (eben. 

Dann  britb,  3ufatnmen,  (SrieAentjerrlidjfcit! 
Unb  bennodj  f ctjlugft  ans  trümmerfdjiperen  tüogen, 
Du  jum  Olymp  ber  Dichtung  Stratflenbogen, 
Unb  bennoeb,  wirft  Du,  Poll  getpalt'ger  pradjt, 
So  weit  bie  Sonne  ffammenb  nieberlarfjt, 
Soweit  ber  Stnrm  brauft,  biefer  tt)e(t  polt  (Iraner 
fjeimipälicn   Deiner  rd}8nr|eit  Sefinfud)tsfd;aner, 
Dies,  fjellas,  aar  Dein  <S(an3,  bleibt  Deine  tTTadjt. 

Die  Seiben  bort  im  blütjenöen  3asminc 
Küfj  fanft  Pom  feben,  f reunbiu  proferptne, 
Dod;  itjrer  tje^en  Ijeilig  langen  (Eraum 
Sefdjatte  ftilf,  pon  cw'ger  fiebe  raufrfjenb, 
3m  Spiel  bes  Slattipctfs  Koferoorte  taufdjeub, 
(Ein  fraftgefdjjpellter  ^watyr  Lorbeerbaum. 

3d?  aber  roill,  gelernt  am  pilgerftab, 

Didf  fegnen,  Stätte,  bie  mir  (Dbbadj  gab. 

Den  wüten  U7unfd),  ber  mir  3U  ijaupt  gefdjoffen, 

(Erng  tcb,  3U  (Srab  anf  golbnen  Sonnenroffen, 

§erbtod;en  ftarrt  ber  Scbnfudft  flammenfpeer. 

Muf  unerfüllten  großen  Sajöpferpfaben 

Sinft  im  (Setömmel  jauebjenber  Hajaben 

Der  (Sott  3urütf  in's  frürjlingsgrüne  Uteer. 


(Ein  fürftlicfar  2)td>ter. 
(Pritt3  €mü  311  5d?ocnatd?'<CaroIatt|.) 

Don 

flid&fltb  Öoe&Urfj. 

Breslau. 

trfticf)  greifte  3Mdjter  finb  ofwefiin  fpärtid»  gefäet,  jumflt  in  jenen 
fiofjen  Dieotioncn,  wo  ein  auf  baä  reale  Seben  genieteter  ©In*« 
I  getj,  uerbunben  mit  forgtofem  CebenSgenufj,  bie  fünftterifdje  3frt 
ber  2Mtbctrad)tung,  uor  Stllem  bie  Steflerion,  jurüdbrängt.  3«  Reiben 
grofjen  unb  tjodjftcrjenbcn  Poeten,  bie  unfer  3af)rf)unbert  trofcbem  rjeruorbradjte, 
51t  ötjron  unb  klaren,  tritt,  »on  SBenigen  erft,  »on  biefen  aber  intenftr» 
geroürbigt,  ein  britter,  'jeitgenöffifdjer:  $rinj  ©mit  ju  @d)önaidj*6aroIatt(. 
2Bir  wollen  51t  biefer  an  fid)  rein  äufterlidjen  3"föwwenftellung  »on  vorn- 
f»erein  bemerfen,  bajj  ber  ÜReuromantifer  mit  bem  ©rafen  Opiaten,  beffen 
TDctttittcrarifc^e  33ebeutung  cor  3lllem  in  feinen  3?crbienften  um  bic  £?orms 
retnrjeit  unb  erft  in  jweiter  Sieifje  auf  feiner  —  »orroiegenb  ariftoprjantfdjen 
—  Begabung  fcerufit,  wenig  ober  9?id)t§  gemein  t>at;  befto  merjr  mit  bem 
Griten,  wie  fid)  fdjon  aus  einem  flüdjtigen  Sttid  auf  bie  fauftifdjen  Probleme 
unb  baS  erotifdie  5>iilieu  ber  beiben  Äünftler  ergiebt.  Gine  in'S  Tetait 
geljenbe  Skrgleidmng  motten  roir  uns  für  ben  @d)luf$  auffparen.  — 
Garolatfj  ift  am  8.  9lpril  1852  in  Breslau  geboren,  roo  .  er  unter  bem 
Ginflufi  feiner  2Hutter,  einer  fiodjbegabten  $rau,  bie  audj  als  Ueberfefcerin 
ernfter  wiffenfdjaftltdjer  2Berte  ttjättg  mar,  eine  »ielfeitige  unb  grunbltdje 
5Ulbung  erhielt,  ©eine  DffijterSlaufbafm,  bie  er  in  Colmar  im  GIfa§ 
abfoloirte,  mar  rootjt  audj  aus  biefent  ©runbe  nur  »on  furjer  Sauer; 
benn  baS  wenig  anregenbe  ©armfonlebcn  fonnte  ber  reidjen  $nbt»ibuaiität 
bes  Jünglings  n{^\  genügen,  ©anj  allgemein  ift  bie  Verfolgung 
geiftiger  ^ntereffen,  »erbunben  mit  einer  IcibenfdjaftSlofen,  unbefangenen 
SMtbetradrtung,  bie  gelcgentlid)  aud)  bie  ©renjen  ber  übtidjen  ©taube?» 


  £in  f ürflliAcr  ZUdjter.   


289 


intereffcn  nid)t  aditet,  trabitioneU  im  ©efd)(ed)te  ber  Sdjoenaidj'Garolatb,. 
Sffiir  erwähnen  Ijier  beiläufig  ben  ^ßrinjen  £einrid),    ben  StetdjStagS* 
abgeorbneten  für  ©üben.    Sitteraturfenner  werben  fid)  aud)  eines  $errn 
»on  Sd)önaid)  erinnern,  ber  aU  ©ottfdjebianer  freitid)  über  ben  3°Pf 
ber  oorteffing'fdjen  Gpodje  nid)t  f)inau§gefommen  ift.  —   ^ßrinj  Gmil 
machte  e3  wie  ber  ungtüdlidj  liebenbe  Herfen  am  ©d^tuß  non  ,,^Etiau= 
roaffer":  er  ging  auf  Sieifen,  „oon  benen  man  meift  nidjt  wieberfebrt". 
©r  fafj  am  Sagerfeuer  ber  Siour,  er  ritt  im  «Samum  ber  (Samara,  er 
jagte  bie  9iaubtl)iere  be$  Oriente  —  unb  nod)  Ijeute  erjagen  bem  ©afte 
auf  Sd)tofj  $at$gaarb  fo  manage  £ropf)äen  »on  ben  ©efaljren,  benen  fid) 
if»r  SBefifcer  entgegengeftefft  f)at.   9Jad)  jwei  Sauren  fefjrte  er  jurficf,  unb 
wa3  er  fyeimbradjte,  mar  aufier  ben  reidjljaltigen  Sammtungen  »or  3ltlem 
bie  Äenntnifj  frembcr  Sänber,  it)rer  SSötfer  unb  Spraken,  auf  beren  33aft3 
baS  vornehm  fd)öne,  ey otifctjc  SRilieu  ber  reifften  ©arotatb/fdjen  ©idjtungen 
beruht.  Unb  nun  begann  in  bem  ftitten,  wätberumraufdrten  s3kl3gaarb  am 
grofjen  33elt,  auf  bänifdiem  SBoben,  ein  fingen  unb  ©Raffen,  bem  bie 
Ärone  fünftferifdter  SBoOenbung  befdiieben  warb,  aU  ber  gro&e  ©tdjter  in 
glüdiicfjer  ©be  mit  einer  S)ame  aus  altem  battifdjen  2tbet  aud)  fein 
9JJenfd)englü<f  fanb.  ©S  mar,  bei  ber  Qugenb  unb  milbgäl)renben  ®emütf)35 
frimmung  be§  Sßrinjen,  nafyeju  fefbftoerftänbtid),  ba§  er  für  feine  erfte 
bid)tcrtfd)e  33etb,ätigung  bie  fubjectiofte  Äunftform,  bie  Stjrif,  wäbjte.  So 
entftanben  bie  „Sieber  an  eine  SSerlorene".  ©£  ift  fein  SÜBunber,  baf?  I)ter 
ber  Sßoet  nur  £öne  ber  9ieitgnation  ober  beS  wüben  SdirctS  nad)  Setbffc 
»ernid)tung  (SnduS  „SBeftrcärtS",  ber  »on  greiftgratf)«  auSgewanbertem 
<Did)ter  ftarf  beeinflußt  ift)  ftnbet,  baf?  man  »on  ber  ertöfenben  unb  bcfreienben 
2Birfung,  bie  ber  ©oettje'i'djen  —  unb  »on  ben  Beuern  audj  ber  ©reif  fdien  — 
Snrif  ju  eigen  ift,  9Jid)tS  »erfpürt.  ^ebe  ftarfe  Begabung  ift  pofiti»;  be^afb 
fonnte  aud)  Garotatb,  bei  bem  rein  negatben  9tefultat  ber  „Sieber"  nidjt 
ftefien  bleiben,  bie  aud;,  tednrifd)  betradjtet,  feiner  eminenten  SdntberungS* 
Jraft  nidit  ben  genügenden  Spielraum  boten.  S8or  2tHem  aber  tief?  fid)  baä 
fauftifdje,  grübterifdje  Clement  nid)t  in  ben  engen  9fat»men  beS  StebeS 
jwingen. 

©in  ®ufcenbta(ent  fiätte  feinen  Sdimerj  in  sabjfofen  Varianten  aus« 
gefungen  unb  märe  bann  »erftummt;  Garotatb  »eraDgemeinert  fein  fubjectioeS 
©mpftnben  unb  beffen  Urfadje  unb  getangt  fo  jur  SWenfä^eitäbtdnung.  Gr 
fiebj  fid)  um  unb  ftnbet  auf  ber  weiten  Grbe  fein  gtcddjen,  baä  frei  wäre 
t>on  SCtiränen,  bie  um  eine  grau  gemeint.  Unb  er  wirft  in  ber  gigantU 
fd)en  „Spfiinr"  baS  Problem  auf:  warum  ift  bie  grau  urfalfd)  unb  treu* 
lo3?  ®ie  Spb,inr,  baS  355eib,  fetbft  weife  bie  2lntwort  nidit',  aber  ber 
weife  Bube,  ben  ber  »erjroeifelte  ©ui)  fragt,  löft  ba§  9iäti)fct  in  bem 
wunberbaren  ©Ceidmiß  »om  Sd^öpfer  unb  bem  Sebuinen,  auf  ba§  id)  fpäter 
gurüdfommen  werbe.  Sie  öanbiung  bei  genialen  ©ebidjteS  felbft  bringt 
feine  Söfung,  benn  ©un,  ber  SUaitn,  geb^t  an  Santa,  bem  SBeibe,  ju 


290 


  Sidjatö  Koeljlicfy  in  Breslau.  - — 


©runbe,  inbem  er  fid)  auf  bcm  Saget  her  fdffönften  grau,  fatt  oor  Gfef, 
felbft  ben  £ob  giebt;  fo  ift  t-orfier  umgefefjrt  bie  engefeine  „Angelina"  an 
ber  Süfternfjett  beS  ÜDlanneS  ju  ©runbe  gegangen,  ücr  ringenbe  Äünftler« 
geniuS  fudite  nad)  einer  Ijarmomfdjen  Söfung  biefeS  ÄampfeS  äwifdfjen 
3Jlann  unb  SBeib;  er  fanb  iljn  in  ber  erhabenen  !Kenfdjb>itSbtdjtung  „£on 
3uanS  2:ob".  GS  ift  ebenfo  djarafteriftifd)  wie  rüfmtlidj  für  ben  ^oetcn, 
baß  er,  feine  eigenen  Sßfabe  wanbetnb,  ju  bemfetben  ©djluffe  gefangt  rote 
ber  reife  ©oetb>  im  lyauft :  „wer  immer  ftrebenb  ftcfj  bemüht,  ben  fönnen 
mir  erlöfen"  unb  „baS  ewig  2Bei6It<^c  jiefit  uns  fjtnan."  ©0  roirb  aud) 
£on  3uan,  ber  fünbige  ©enußmenfcfj,  erlöft  burdj  bie  opferfreubtge  Siebe 
eines  reinen  SSeibeS,  mit  ber  er,  jum  erften  SDMe  im  Seben  freiwillig 
auf  ben  brutalen  SiebeSgcnufe  t)er5id,tcnb,  in  füfmenben  flammen  eingebt 
5ur  ewigen  föeimat.  £aS  33crf)ältniß  ber  6efd)led)ter,  baS  bisber  in 
btd)terifd)er  50erflärung  im  SDttttelpunft  »on  Garolatf)S  ©Raffen  ftanb,  fjat 
nun  feine  enbgtttige  Söfung  gefuuben  unb  bamit  mgletd)  ben  SReij  $u 
weiterer  Bcftanblung  »erloren.  SSaS  er  fdjon  in  feinem  GtftliugSwerfe 
afmungSootl  rjcrfiiubete,  baß  nad)  Ueberwinbung  bcS  eignen  Keinen  SeibeS 
fein  £erj  ber  weiten  SBelt,  ber  3JJenfd)Ijeit  angehören  fotte;  was  er  in  ber 
„<Spf)inr"  flar  auSfprad),  baß  »oh  ber  grau  ber  ftbcenflug  empor  jur 
greibeit  füljre  —  baS  wirb  jur  Erfüllung  in  ber  büfteren  SRooefle  „Bürgers 
lidler  £ob",  in  ber  er  mit  ebter  ipcrsenSmärme  für  bie  Unglücfltdjen,  bte 
unfere  focialen  3"ftänbe  in  Gtcnb  unb  £ob  treiben,  eintritt.  ®ie  parallete 
Gr^äfilung  „3lbtiger  £ob",  in  ber  er  fid)  gegen  bie  rjielfadj  begegnenbe 
©leidjgiltigfeit  unb  ©enußfudit  beS  Stbetö  roenbet,  fjat  bem  Sßrinjen  natür= 
tief)  oiete  ©egner  erworben,  wie  wir  (eiber  aud)  in  fonft  fef)r  guten  frirU 
fd)en  iRubrifeu  fahren,  unb  aud)  bie  obenerwähnte  9Io»ctte  f»at  man  uictfacfi 
als  eine  S'enben5fd)rift  beäeidjitet,  unb  SBornirtjjcit  unb  böfeS  ©eroiffen 
fjaben  iljr  wol)t  gar  einen  aufrei3enben  Gljarafter  jugefdjrieben.  ©ine 
Senbenj  fjot  fie  allerbingS,  aber  bie  benfbar  ebelfte:  bie  3Jücffet)r  junt 
Goangclium  ber  Siebe,  bie  nad)  bcS  £td)tcrS  SKnfdmunng  allein  unfere 
furd)tbarcn  fotialen  'üKißftänbe  b>ifen  fann.  SBenn  freilid)  ber  pafü»e  &clb, 
ber  ©djreiber  SBtttljof,  unter  ber  gansen  «Summe  ftaatlid)er  unb  prioater 
Sieblofigfeit  unb  Brutalität  jnfammenbridit,  fo  wirb  mand)er  trietleidjt  biefe 
Gumulation  conftruirt  nennen,  unb  bod)  mad;t  fie  —  leiber  —  einen  nur 
allju  wabrfdjeinftdjen  Giubrucf.  GS  ift  ber  ©eift  bcS  fdnilblofen  GfenbS, 
baS  ucrl)öf)nt,  mt|',banbett,  burd)  bie  Sanbe  fcfireitct,  eS  ift  ©eift  »om 
SBebergeifte.  Gavotatt)  läft  feineit  unfcligen  gelben  auSbrüdtid)  bie  ©e= 
meinfdjaft  ber  ©ociatbemofratie  metben,  bte  ifrn  roab^fdjeinlidj  gerettet  fjätte, 
unb  als  äußerfte  Gonfcqucnj  $ül)t  er  nidjt,  wie  Hauptmann  es  t^at  unb 
unb  tf)im  mufte,  bie  3tenolte,  fonbern  bic  aBettf(ud)t,  ben  Selbftmorb. 
traurig  genug,  baf?  jwei  l)eruorrügenbe  2>id,ter  ju  fo  furd;tbaren  ©d)lüffen 
unabweislid)  gelangen  mußten,  ßarolatf)  felbft  nannte  unS  gegenüber  ba« 
Bud)  „fein  2Berf  ber  Äunft,  ein  Söcrf  beS  £cr5enS  nur";  er  möd)te  eS 


€in  fürftlidjer  Didjtcr.   


2$\ 


alfo  wob,l  nic^t  als  einen  33eftanbtf)ett,  fonbern  eine  parallele  feines  rein 
runftlerifcfien  SdjaffenS  betrautet,  unb  ba3  jeugt  oon  nötiger  ©infiäjt; 
benn  feine  3Jhtfe  ift  bo  ju  §aufe,  wo  fie  in  ©otb  unb  ^urpur  fajreitet, 
ein  frembartigeä,  wunberfcfiöneä  2Beib,  nidjt  reo  fie  aU  graue  grau  «Sorge 
burä)  Stacht  unb  Stenb  wanbetn  mufj.  — 

3JKt  ber  obigen  Sä)ilberung  beä  @ntwicf(ung3gange3,  in  feinen  Raupte 
Rationen,  glauben  mir,  gewiffermafsen  ba§  Sfetet  ■  gegeben  ju  ^aben,  an 
baä  fiä)  bie  ®ctail3  ber  folgenben  3tnatt)fe  jroanglo*  angliebern  mögen- 

lieber  ba§  ©rftttngäroerf  beä  fünfunbjwansigjäfjrigen  SMdfjterä,  bie 
„Sieber  an  eine  SBerlorene",  täf>t  fidt»  wenig  meljr  fagen,  aU  baf3  fie 
ein  sietoerfprecfienbeiS  latent  befunben.  33ei  bem  SncluS  „SBeftwärtS", 
ber  einen  erf»;b(icf)en  £f)eil  be3  33uä)e3  einnimmt,  f)at  offenbar  greitigratljS 
au§gewanbert;r  ©idjtjr  ju  ^ßatljen  geftanben;  bie  eine  Plummer  ift  ftarf 
oon  SenauS  Slliaäoerbiäjtiingen  beeinflußt.  3Son  ber  äauberifdf)en  färben» 
prad)t  unb  ber  Sä)itberung3fraft,  bie  bem  reifen  ßarolatf)  eigen  ift  wie 
wenigen  Sebenben,  ift  nur  erft  ber  Äeim  oortianben,  unb  fjäufig  rintjt  ber 
^ßoet  mit  ber  Spröbtgfeit  beS  2tu3brucf3.  ©asmifcfien  aber  treffen  wir  auf 
frappante  Sitoer  unb  immer  auf  eä)t  bicf)tirifä)e  ©mpfinbung.  SHe  gleite 
(Signatur  trägt  ber  rein  Imufäje  £f);il;  boä)  feien  liier  als  perlen  ermähnt 
ba»  Sieb  „grauer  SSoget  über  ber  &atbe"  unb  bie  Sdjtufiftropfje  (oor  einem 
SHditerbenfmat):  „er  ift  fo  grofj  geworben  unb  f)at  es  fo  weit  gebracht, 
weil  i^n  ein  ganj  fleineS  9Jtäbdjen  einft  enblos  elenb  gemalt."  — 

Soä)  fd^on  in  ben  „Siebern"  jeigt  ber  3lutor  einmal  bie  Söwenflaue, 
in  „Sulamitf)",  bie  auf  ber  £öl)e  feiner  reifen  Schöpfungen  ftefjt.  @r 
füljrt  Satan  ein,  nid)t  aU  ba§  böfe  ^ßrtneip,  foubent  als  ben  gefallenen 
Sid}tengcl,  ber  mit  ©ort  fyabert,  weil  er  bie  Schöpfung  für  ein  Stümpers 
werf  b,ält,  weit  er  bie  3Henfd)cn  unwertf)  erachtet  ber  göttlichen  Siebe,  bie 
fie  mit  2Beif)rauc?j  umfcfiwctten,  im  &erjen  aber  freä)  burdj  Rott)  fcfiletften 
—  afä  roüfte  £ra»eftie.  Unb  fcfjeinbar  fori  Satan  9ieä)t  behalten.  %m 
©taube  frümmt  fid)  »erfdimacfjtenb  ein  Bettler;  —  ba  naljt  mit  flattemben 
gähnen  unb  bem  ^Batlabium  eine  5ßilgerfcf)aar,  unter  güfirung  j>er  ^riefter, 
jum  Eiligen  ©rabe.  lieber  ben  Glenben  weg  fdjreitet  ad)tlo3  ibjr  gufj, 
Hingt  ber  Stuf  ber  Sßriefter:  auf  nad)  ^erufalem!  unb  liunbertftimmig 
fdt)aüt  bie  Dfterfiqmne:  6|rift  ift  erftanben!  <B<xta\\  triumpf)irt:  ©u  roeifct 
■Jitdite  mefir  con  Siebe,  ©u  fd)öne  SBett;  nun  bift  ©u  mein,  ganj  mein. 
£a  5ieb,t  beSfetbigen  2Bege3  ein  SWaronitenweib  mit  ifirem  JRinbe,  unb  aU 
fie  ben  £erftfimad)tcnben  fietjt,  legt  fie  ben  Säugling  jur  ©rbe  unb  bettet 
ba§  müfte  ©reifenb,aupt  an  ilnre  feufäje  fanftgefd)roeUte  SBruft.  ®ann  t>cr= 
b,üHt  fie  ib,r  roeinenbeä  ©efid;t  unb  weift  bem  5ieubetebten  ben  SBeg. 
,Unb  ©atan  bliefte  rcpngSloS  il)r  nadi 
SJtt  bot  entfl'5ttciten,  öctlor'nen  2luflcn." 

i)a3  ©ebi4t  ift  in  bem  für  feinen  paefenben  3nf)alt  jutreffenbften 
aSerämaf3,  bem  ^lantoerl,  gefdfjrteben;  unb  wir  fclbft  Ratten  cor  einigen 

9toit>  unk  Sab.   LXXV.  KB.  20 


292  —    Kidjarb  VotttUd)  in  Breslau.  — 

Satiren  in  einem  litterartfcfjen  Greife  ©elegenfieit,  bie  tiefe  bramatifdje 
SBirfung  ju  erfahren,  bie  es  beim  Vortrage  burcij  einen  befannten  Mecitator 
ausübte. 

Wt  ber  Anette  „Sfiaurooffer"  betrat  ©arotatt)  junt  erften  SJtale 
bas  ©ebiet  ber  ^Jrofa.  3n  ©eutf<f>lanb  ift  baS  intereffante  unb  fein: 
finnige  33udj  nab>ju  t>erf Rollen;  bagegen  t)at  es  neuerbingS  jenfetts  beS 
©anal«  unter  bem  SCitet  „Melting  snow"  bie  gebühjrenbe  Sßürbtgung 
feiten*  beS  publicum*  unb  ber  treffe  gefunben.  ®ie  Benennung  erfdfjetnt 
auf  ben  erften  2lugenbtt<f  m<f)t  redjt  »erftänbltcf).  2^auroaffer  —  baS  finb 
bie  SBaffer  ber  Sdjneefdmtetie,  bie  baS  erfte,  baS  fcfjönfte  ©rün  beS 
$rüt)lingS  begraben,  teett  es  feine  &e\t  nidjt  abwarten  foimte;  fo  geb>n  aud> 
bie  t)eiligften,  innigften  ©efü^tc  junger  aMenfdbenb^erjen  in  ber  plumpen, 
eiligen  äßelt  ju  ©runbe.  2Bot)l  mar  biefeS  erfte  junge  ©rün  baS  befte, 
baS  föftlidfifte,  was  ber  grüt)ting  bot;  aber  es  mujjte  fterben,  benn  es  fjat 
gefehlt  gegen  baS  ©efefc  ber  mäblicfien  ©ntroidfetung.  So  ift  es  aud)  ein 
■Jiaturgefefe,  baB  mir  an  unfern  tjeiügften  ©mpfinbungen  ju  ©runbe  geljen 
muffen.  So  etwa  äujjert  fidj  ber  unglürflict)  tiebenbe  ©idjter  SSerfen, 
hinter  beffen  9)iaSfe  ©arolatt)  fet6ft  unfcb>er  ju  erfennen  ift.  3ß>er  SSerfen* 
©arotatfiS  2lnfd)auung  ift  bod)  nid)t  ganj  ridjtig;  nicf)t  baS  Slaturgefefc 
trennt  ©iadnta  unb  Sent;  baS  tt)un  bie  focialen  SBertyältniffe.  @S  ift 
nic§t  eigentltd)  baS  uralte  aJJorit)  oon  ben  RönigSfinbem  unb  oon  Stomeo 
unb  ftulia,  fonbern  ein  oiet  brutaleres:  baS  ©elb.  Söenn  ntcfjt  ber  junge 
Stubent  fein  matf)emattfd)eS  Staatsexamen  madjen  mfifcte,  um  ben  33ater, 
einen  ortfyoboren  lutlierifdfjen  ^ßaftor  unb  bie  jaljlreidje  ©efcbmifterfcfjaar  ju 
erbitten,  roenn  ni<^t  bie  reijenbe  unb  geniale  Sängerin  juft  bei  ü)rem 
©ebüt  burdE)  it)r  ^ruftletben  ber  SluSfidjt  auf  $Hut)m  unb  ©olb  entfagen 
müjjte,  für},  wenn  nidjt  ber  brutale  SDlammon  märe,  fo  formten  fie  ber 
t)ämifd)en,  tücfif<f>en  2Belt  läd)elnb  ben  Jtücfen  fet)ren  unb  glüeflid)  werben. 
3n  furjer  feiiger  Stunbe  t)aben  fie  einanber  angehört;  „über  fie  t)tn  gingen 
bie  Sdjaurcaffer".  ©iacinta  t)eiratt)et  ben  £ofratt),  it)ren  »äterti<f>en  ©önner, 
unb  wirb  eine  fcf)öne  fülle  ^rau,  bie  eines  £ageS,  t)ielleid)t  nad)  langen 
3at)ren,  erfennen  roirb,  bafj  fie  innerlich  längft  geftorben  ift  ©er  einft  fo 
troefene  9Jtatt)ematifer,  toeldier  oon  spoefie  fo  oerädjtltd)  badete,  toirb  im 
t)eiligen  Sdfmterse  felbft  junt  ©td)ter,  bem  eine  £anbooll  fiieber  an  ©ia- 
cinta  faft  ben  3>iuf)m  gebracht  t)ätte,  bann  oerftummt  aud)  er.  Unb  SBerfen 
get)t  auf  Reifen,  oon  benen  man  meift  nicf)t  n>ieberfet)rt.  ©igentlic^  finb 
fie  2DIc  untergegangen  in  ben  Xlioutoaffem,  fc^lief3t  ber  ©icb/ter;  uns  roiU 
bebünfen,  als  fei  am  5Raturgefe|  unb  an  feinen  t)eitigften  ©mpfinbungen 
nur  Herfen  untergegangen.  — 

©aS  33ua;  ift  in  eblem,  clafftfd;  fcfiönem  Stile  gefdbrieben,  —  eine 
Seltenheit  in  unferer  Seit,  bie  ju  9itcijts  3eit  t)at,  aua)  nic^t  jur  geile; 
—  es  ift  reidj  an  pfi)d)ologifa;  feinen  3fi9cn  aucl)  in  foldfiem  ©enre,  baS 
eigentltd)  au&erlialb  ber  Sphäre  biefeS  ©icftferS  liegt,  unb  eS  ift  befonber» 


  €in  fürftlidjer  Dieter.   


293 


bebeutfam  burd)  bic  liolje  2luffaffung  von  bem  SBefen  echter  ftuttft.  3)ie 
Jtunft  ift  ein  9leffulgenwnb,  ba!  feinen  Präger  oerbrennt;  man  fann  fie 
ntd)t  ablegen  rote  ein  Äleib,  man  mufj  fid)  if»r  »erfd)roören  mit  Seib  unb 
©eete  —  fo  äu&ert  fid)  uor  ber  Unbineauffülirung  Sloffcßüljleborn  ju  ber 
fofetten  $)arfteäerin  ber  Sertatba.  Unb  33ent,  ber  bie  $oe[ie  all  nufclofe 
©pielerei  bejeidntet,  erhält  »on  ber  ©eliebten  bie  emfte  Entgegnung :  ein 
fröf|tid)e!  $jr$  fanb  niemall  ein  große!  Sieb  .  .  .  man  fott  bie  ^ßoefie 
aditen,  roenn  man  fdjon  bal  Ungtüd  fjat,  fie  niefit  ju  (ieben.  Unb  33ent 
geb,t  in  feine  Rammer  unb  roäf)(t  fid)  sroei  ©djemata:  Sürgerl  Senore  unb 
jQoraj'  integer  vitae,  um  aud)  einmal  p  bid)ten;  benn  —  fagt  er  fic6  — 
bie  £auptfad)e  ift  bie  %oxm,  ba!  ©nftem,  ba!  Uebrige  nrirb  fd)on  oon 
felbft  fommen.  (Sl  fommt  aber  üßtdtfl,  unb  ber  junge  ©tubent  gelangt 
nad)benflidi  ju  ber  @tnfid)t,  baß  jur  ^ßoefte  bod)  nod)  etwa«  meljr  gehöre 
all  9tl)t)tbmul  unb  SReime.  —  £umor  ift  fonft  bie  fdwmd)fte  «Saite  bei 
großen  $>id)terl;  mit  biefer  erquicfenben  ©pifobe  aber  f»at  er  ein  Keine« 
Gabinetftücf  geliefert. 

3)a!  näd)fte  $ud)  waren  bie  1883  erfdjienenen  „$)id)tungcn".  3)a 
fie  iebod)  in  ber  2.  ber  1893  er  3luflage  an  Qnfyalt  unb  SBertb,  berart  er* 
roeitert  finb,  bafe  fie  fid)  all  ein  neuel  SBerf  präfenttren,  unb  ba  fie  bal 
3tHeroor}äglid)fte  enthalten,  mal  ber  $>td)ter  überhaupt  fdjrieb,  fo  motten 
wir  fte,  im  ©inne  bei  crescendo,  an  ben  ©d)luf?  fefcen  unb  tfjnen  jugtetd) 
ben  atterroeiteften  SRaum  gemäßen.   1884  erfdnen  bal  sroeite  $rofan>erf, 
bie  ,,©efd)id)ten  aul  SJlotl".   $>ie  ©pecification  biefe!  Sitell  enthält 
ber  Xfyeil  bei  SDfotto:   la  storia  d'infelici  amori,  la  triste  melodia. 
£)ie  jelm  Keinen  ©rjäfilungen,  93?ärd)en  unb  SNooeletten  finb  faft  burdj« 
geljenb  auf  biefe!  SDfotto  geftimmt  —  mit  9lu!naf)me  bei  fociaten  9lad)t« 
ftücf!  „2lm  ©trome",  beffen  umjeftaltetel  unb  erroeiterte!  SJiotto  fpäter  in 
ber  ©ingang!  ermähnten  9io»jtte  „Bürgerlicher  £ob"  roicbcrfetjrt,  unb  bei 
„9lad)tfalter",  in  bim  ber  Boet  an  bem  ©leidjniß  einer  »erbrennenben 
^3fjaläitc  ben  Äampf  bei  ibeal  oeranlagten  Äünftlergeifte!  gegen  bie 
bumpfe,  behäbige  ©leidjgittigfeit  ber  ^Wittelmäßigen  betianbelt.    $n  ben 
ad)t  übrigen  Bieccn  erftingt  immer  nueber  ba!  Seitmotiö  ber  „Ttiaus 
maffer",  ba!  2Jioti»  00m  9iaturgefefc,  bal  unl  gerabe  an  ben  fyeiligften 
©mpfinbungen  ju  ©runbe  gelten  läßt.   Qn  ben  ©efd)id)ten  au!  9JioH  n>ie 
in  »ielen  ber  reifften  ©ebidite,  bie  jutn  £l)eit  eine  Igrifdje  ©regefe  ber 
^5rofafd)öpfungen  bilben,  am  frappanteften  in  ber  „©plnnr"  —  überall 
fefirt  ber  ©ebanfe  roieber,  baß  über  bie  furj?n,  einmal  genoffenen  Slugen» 
blicfe  Ijödjfter  irbtfdjcr  ©eligfett  bie  £f)auroaffer  braufen.   Unb  roemt 
bodj  einmal,  roie  in  „&on  3«an!  £ob",  bie  Bereinigung  erfolgt,  bann 
gefdjielit  el  gerabe  auf  Soften  biefe!  irbifd)en  ©lücfl;  bemt  3;uanj  unb 
3)iaoa  feiern  in  felbftgeroä^ltem  $lammcntobe  eine  rein  feelifd^e  S8er« 
mäbjung.  $Diefe  äuffaffung,  bie  für  Garotatb,  ropifa)  ift,  bedft  fid)  jugleid) 
mit  berjenigen  bei  beutfd^en  Bolflliebel,  in  bem  bal  9Jlotir>  von  ©d)eiben 

20* 


29^    Kidjarb  KoeljMtb,  in  Breslau.   

unb  Reiben  eine  mettfjerrfdjenbe  9Me  fpielt.  Unb  in  ber  Sfwt  ift 
©arotatl;  ein  burd)  unb  burdj  beutfdjer  ^Did^tcr,  ber  im  ladjenben  ©omten* 
fdjein,  unter  bem  blauen  Gimmel,  ben  hinten  unb  bem  Sorbeer  beS 
©übenS  immer  »on  beutfdjen  grauen,  »on  beutfdjen  S'annen,  »on  norbifdjen 
©türmen  unb  ©dmee  träumt.  33ejeidjnenb  ift  hierfür  bie  munberoolle 
©d)luf?ftropb,e  beS  ©ebidjteS  „Sefcter  £anj",  in  bem  ber  fyermfefyrenbe  Sßoet 
bie  $ugenbgeliebte  als  eben  getraute  (Sattin  eines  SKnbern  fiefjt: 

,3d)  wollte,  nur  irrten  im  norbtfdjen  fionb, 

Ston  Seinem  geliebt,  Don  Semem  gerannt, 

3m  ©dnteefturm  über  bie  ©aibe ; 

Unb  bafe  SDu  rubteft  unbemuät 

3n  meinem  SDlantel,  on  metner  »ruft, 

Unb  bafe  tulr  ftürbett  Seibc." 

3lucf)  fonft  f»at  ber  $i<f»ter  in  „®eutfd)tanb",  „©rufe  an  3)eutfa)tanb" 
gerabe  feiner  £eimatSltebe  ein  rühmliches  Senfmal  gefegt.  ©S  ift  eben 
nur  ber  fdjimlie'.tSfmnfene  Künftlergetft,  ber  beutfcb/S  ©mpfmben  gern  in 
ein  frcmbfdiöncS,  erotifdjeS  3)?ilieu  Reibet,  ber  ben  Gbelftein  in  bie 
fdnllernbe  gaffung  ju  fügen  liebt,  ©o  ferjrt  aud)  —  um  auf  bie  „©es 
ftfiidjten  auS  3Slöi"  jurüdjufommen  —  gletd)  in  ber  erften  ©fijäe  ber 
Stüter  jur  Heimat  mieber,  um  auf  ben  Krümmern  feines  »erratfjenen 
^ugenbgtücfS  $u  fterben  —  ober,  wie  fid)  bie  2lblerparabet  auSbrüdt,  er 
breitete  feine  ©Urningen  unb  flog  in  bie  9kd)t  I)inan3,  in  bie  fdjöne, 
fternenteere  5Rad)t,  aus  ber  es  fein  ©rroadjen  giebt.  2ln  ber  ©djwelle  beS 
£obeS  bietet  fid)  tt)m  ein  reines,  liebenbeS  £erj,  aber  er  weift  es  juriitf, 
benn  es  ift  mit  einer  grof3en  Siebe  wie  mit  ber  Slbenbfonne;  eb,e  fie  unter- 
geht, ift  fie  fd)öner  unb  b,errtid»er  benn  je.  Unb  ebenfo  fjanbelt  ber  „König, 
ber  fid)  t)btgelad)t  fjat",  weil  er  nad)  feiner  betrogenen  Sugenbliebe  nid>t 
mefjr  glauben  fann.  $n  ,,©ct)ön?Send)en"  wirb  ber  geliebte,  aber  »er* 
fd>mäf)!e  $unfer  jum  2tSfeten,  ber  bie  23eid)te  jener  grau  ungefannt  r)ört; 
er  enttäfet  Tie  mit  ben  Sorten:  „3^'  Helene,  2>tr  ift  oergeben."  ^aS 
tieffinnige  2Jiard)en  „£>ie  Königin  »on  £t)ule"  brüeft  bie  Sluffaffung  »on 
bem  3auber  gerabe  ber  »erratenen  Siebe  fef)r  treffenb  aus.  5Die  SJu^le 
beS  ©oetfye'fdien  ©ebidjteS  muf?  treulos  gewefen  fein,  meint  ©untrer 
Stormetf,  benn  nur  eine  grau,  bie  uns  uerratlien  bat,  bie  unS  unenblicf» 
wetie  gettyan,  lieben  mir  bis  jum  Sobe.  3n  i>er  ßTjäijlung  „Entlang  ben 
&etfen"  entfagt  baS  liebenbe  3Käbd)en  freiwillig,  um  burd)  einen  tiefen 
©djmers  ben  ©eliebten  pr  ßöfje  ber  flfinftlerfdwft  su  führen  —  gang  im 
©inne  ber  obigen  ©teile  aus  „^aumaffer" :  ein  fröl>lid)eS  $erj  fanb 
niemals  ein  grofseS  Sieb.  Unb  berfelbe  ©ebanfe  fefjrt,  jur  t)öd)ften  Jragif 
»erfdjärft,  als  Charlotte  ©tieglife  9Wotit>  wteber  in  „Sia".  Slber  Sias  frei= 
williger  £ob  ift  nid)t  nufeloS,  wie  baS  Opfer  ber  ©ricglife;  benn  ©iulio 
wirb  ein  edjter  Mnftler,  wenn  er  aud)  ein  einfamer  2Jiann  bleibt,  ber  fein 
SibenSglücf  begrub. 


  (gilt  fürftli^er  Didjter.   


295 


®aä  bebeutenbfte  ©tüd  ber  «Sammlung  aber  ift  unftrettig  bie 
bramatifd)  berocgte  @rjäbtmtg  „Sie  9iad)e  ift  mein",   ©raf  Sarinsfi  t)«t 
feiner  geliebten  Stcüffa  entfagt,  um  einer  fiodtberjigen  Regung  mitten;  er 
ergebt  eine  fd»einbei(ige  33erroorfene  3U  feiner  ©attin,  um  fie  auS  üjrer 
fd)ted)ten  Umgebung  ju  retten,  roie  er  meint.    Spat  gelangt  er  ?u  ber 
roafiren  ©infic^t,  bei  einem  3ufammentreffen  mit  Slaiffa,  bie  auä  oerfdimätiter 
Siebe  tnsroifd)en  feinen  2fctter  Xrefuroff  gebetratbet  i>at,  entbeeft  er  fid^ 
ber  ^ugenbgetiebten,  unb  bie  Seibcnfc^aft  33eiber  flammt  in  einer  fdjroadjen 
©tunbe  unbeifooff  auf.  ®ann  trennen  fie  fid);  SBarinSfi  siebt  aU  ©eneral 
in  einen  fdjroeren  JRrieg.  Sei  feiner  Gruppe  ftctjt  aud)  ein  junger  Dfftjier, 
SCrefuroff;  er  ift  bie  grud)t  jencä  leibenfdE)aft(id)en  gufammentreffen«  im 
$arf.  ©ein  9Bof)l  legt  bie  SDfutter  in  einem  SBriefe  bem  ©eliebten  bringenb 
an' 3  Qexy,  roenn  er  aus  bem  fdjredlidjen  Kriege  roieberfebre,  motte  fie  an 
©otteä  33crjeif)ung  glauben,  bann  motten  aud)  fie,  entfübnt,  fidj  roieberfeben. 
®iefer  Srief  in  feiner  fd)ltd)ten,  cinfad)en  ©röße  gehört  jum  Seften,  roa§ 
Garolatb,  gefd)ricben;  er  ftefyt  auf  gleidjer  $öf)e  mit  bem  beräumten  Briefe 
am  ©djtuffe  von  „grau  göbnä"  beä  ®änen  Safobfen,  be3  großen  Siebter;? 
oon  „9Kogen#"  unb  „9Ztet3  Si^ne".  33arin3ft)  roill  ben  jungen  3Wann,  ber 
natürtid)  ot;ne  eine  2lbm«tg  uon  feiner  roirfüdien  &erfunft  lebt,  jutn  ©tabe 
Jommanbiren,  um  üjn  ben  ©efafiren  ber  ©djladjt  ju  entsieben;  er  läßt  i|n 
am  23orabenb  in  fein  gelt  fommen  unb  roeiß  bort  fein  SBertrauen  ju 
roeden,  fobaß"  ilmt  Srefuroff  aud)  feine  gebeime  Siebe  entbedt    GS  ift 
biefelbe  sBerroorfene,  bie  einft  ben  ©rafen  in  tfjre  -Wetje  50g.   Uns  will 
bie§  nad)  einer  $eit  uon  etroa  jroanjig  ^abren  etroaä  unroabrfdjeinlid)  be= 
bünfen,  mir  meinen,  baf?  für  eine  moberne  ©rjäblung  ber  Siebter  mit  bem 
2llter  feiner  ^erfonen  etioaS  gar  ju  —  fagen  mir  —  l)omerifd)  oerfabren 
fei;  aber  fd)liej3lid)  fann  man  fid)  mit  ber  Sbatfadje  berubigen,  baö  e3 
ja  roirflid)  grauen  gab,  roie  bie  berübmte  9iinon,  bie  il)re  jteije  bte  in'3 
|obe  3fttcr  beroabrten.  iSreturoff,  eine  ungebänbigte  £igernatur,  bet)arrt 
bei  feinem  33orfafce,  jene  grau  I)eiin5ufü^ren,  unb  roenn  er  über  bie  33abre 
ber  9Kutter  fd)reiten  mü&te,  unb  als  fie  ber  ©eneral  eine  ©brlofe  nennt, 
}iebt  er  gegen  biefen  in  l)öd)fter  SButb  feinen  Segen  —  gerabe  in  bem 
2lugenbli(fe,  aU  bie  Dfftjierc  be3  $riegeratb§  in'3  3ett  treten.  Sem 
JtriegSgefefc  fann  ber  .§öd)ftcommanbirenbe  fein  Opfer  entjieben;  aber  er 
roitt  roentgftenS  Sfaiffa  fdjüfcen  —  oor  ibrem  unb  feinem  ©obn.  9Jod)  einmal 
gießen  »or  feinem  2luge  uerb(übte3  ©lü(I  unb  lefete  Hoffnungen  »orüber, 
bie  er  mit  eigener  &anb  in'3  ©rab  fto^en  mujj;  bann  erbibt  er  fein  vor« 
nebme§  tobtblaffeS  2lntth$  unb  commanbirt  mit  f efter  ©timme:  „9ltd)t  5um 
©tabe!   3um  crftcn  Sataitton  ber  erften  Singriff öftaffel!"  — 

2BaS  Garolatf)  in  ben  bilt)er  geroürbigten  SBerfen  niebergelegt  b,at, 
roürbe  genügen,  feinen  -Warnen  mit  größerem  9ied)te  aU  mandien  jebnmat 
aufgelegten  3Kobebid)ter  unter  ben  SBeften  ber  jeitgenöffifd)en  National: 
Sitteratur  tiufsufftliren;  ein  monumentum  aere  perennius  aber,  bie  2ln« 


296 


  Hidjart»  Koebjtd;  in  Breslau.   


roartfctiaft  auf  einen  5ßlafc  in  ber  SBeltlitteratur  l>at  et  fid)  erft  burd»  bie 
„SMdnungen"  gefdjaffen,  in  benen  er  als  Smifer  nrie  als  ©Töpfer  ber 
3Wenfd>l)eitäbid)rungen  „Singelina"  unb  befonberä  ,,©pl>inr"  unb  „£on 
ftuanä  £ob"  eine  uberragenbe  ©röße  befunbet.  2Pa8  uns  ben  Snrifer  . 
©arolatf)  oor  2tHem  fo  feffetnb  erfdjetnen  läßt,  ift  bie  tiefe  Snnigfeit  edjter 
©mpftnbung,  ber  bie  ©pieleret  mit  anempfunbenen  ©efüf»len  fern  liegt.  33ei 
biefem  £)id)ter  ift  jebe  $eile  erlebt,  —  fretlid)  nidjt  in  bem  ©inne  jene* 
fmbigen  ©taatäanroaltä,  ber  anlä£tid)  be8  befannten  „3Härdjen"*<SfanbaI$ 
äußerte,  jebem  Sunftmerfe  müffe  notb>enbtg  ein  concreteS  ©retgniß  $u 
©runbe  liegen,  £ann  'gäbe  e8  aflerbingS  nur  nod;  eine  naturaliftifdje 
Äunft,  unb  jebeS  nodj  fo  Heine  erotifd»e  ©ebidit  j.  33.  müßte  ein  pb,Dufcb>3 
©ubftrat  jur  33orauSfefcung  f)aben. 

$m  fmtftlerifdjen  ©inne  ift  bieS  Sßoftulat  ber  plumpen  SHaterie 
äußerft  gleid^gtCttg ;.  eä  genügt  —  unb  bieg  roirb  aud)  mit  wenigen  Su§= 
natjmen  bie  Siegel  fein  —  roenn  bie  bicfjterifd?  erfaßte  Situation  feetifdte* 
©gentium  be3  ©djöpferS  mar.  SDJit  biefer  für  jeben  großen  Snrifer  um 
erläßlidjen  ©igenfdjaft  »erbinbet  Garolatf)  eine  roeidje  9J?eIobif,  eine  füljne, 
bitberreidje  Sprache  unb,  niefit  jufetst,  eine  oornel)me,  ebte  SBeftanfdjauung, 
bie  in  SSerbinbung  mit  feinem  frembortig  fdjönen  unb  bod)  fo  b>iimfd) 
traulidjen  ÜJUlieu  eine  Qnbitribualität  ergeben,  rceldje  fo  ftarf  unb  eigen« 
artig  ift,  baß  ber  Äeitner  bie  Sieber  biefeä  Sßoeten  unter  S'aufenben 
fyerausfinbet,  roie  ber  'junge,  als  firitifer  rote  at8  ®id)ter  gleidj  ty-vom- 
ragenbe  Rarl  33uffe  in  einer  feiner  jat)lreidjen,  trefflichen  Garolatbjrubien 
mit  9ted)t  behauptet  f)at.  3fn  formaler  Sejie^ung  f)ätt  itd)  ber  £id,ter  ron 
allen  Mnfteleien  fern.  §aft  ausnahmslos  ucrroenbet  er,  in  werfdnebenen 
3lf)pt^men,  bie  gereimte,  merjeilige  ©tropb>,  unb  t>on  ftrengern,  fdmriertgern 
gormen  gebraust  er  nur  baS  ©onett,  beffen  Duartette  er  btSroeilen  nad) 
bem  SReimfdjema  ber  ©icitiane  belianbelt.  Origineller,  bafür  aber  weniger 
glücftid),  ift  feine  Steuerung,  bie  beiben  Srctjeiler  an  ben  3lnfang  unb  bie 
Duartette  an  ben  ©djtuß  ju  fteHen. 

Garolatf)  t)at  ganj  9ted»t;  benn  ber  ungefünfielten  (Jmpfinbung  ent« 
fpridit  aud)  am  beften  ber  ungefudjte  2luSbrucf.  —  SBie  meid)  unb  eins 
fdnneidietnb  Hingt  gleid)  bie  crfte  ©tropfe  ber  „öollunberflütfiett": 

@8  ift  (in  »örtltaa  im  ©üben, 
Gin  Zag  gar  füg  ju  berträumen, 
$ie  SSIütften,  bie  toel&en,  müben, 
©leiten  ftiH  bon  ben  Säumen. 

2118  33eroeis  für  bie  füfme  33ilblid)feit  feine«  2IuSbru<feS  biene  eine 
©teile  aus  „£on  Quan«  £ob";  bort  t>ergleid)t  er  $Dia»a8  oerfdjleterten 
2lugenftra1jl  mit  Sampen,  bie  burd}  3llabafter  brennen;  unb  anber^roo 
fagt  er  oon  ber  ©eliebten,  bie  ifirt  »erriet^,  baS  bunte  Seben  braufe 
über  fie  baliin,  roie  bie  fd)immemben  SBogen  über  bie  »erfunfenen 
Stäbte  ^itlin  unb   ©tavoren.   —   £>urdj   fein  gefammte«  ©tAaffen 


  <Ein  furjUidter  Diätes.   


297 


get)t  ein  3UÖ  e°kr  nn^>  wrne^imer  ©efmnung  (5.  33.  im  (Snctuä 
„gatttjume"): 

Stuf  SKkmberfcbaft  bon  trüber  STrt 
3toatifl  aud)  td)  burdj'S  Seben 
(Sin  bü&enb  fterj,  befT  SD3ar)Ifptuct>  toaib 
©eben  unb  «ergeben. 

Sriefe  ©cfinnurtg  läfjt  if)n  audj  frembeä  ©lud,  baä  ir)m  geraubt 
warb,  neibtoä  betrauten: 

3dj  aber  »iH  mit  leergebtiebner  §anb 
S)td)  fegnen,  ®Iü<f,  ba«  einem  2lnbern  reifte, 
Unb  »ia  bie  ©tirn,  bie  finftre,  blujgeftretfte, 
Slufridjten  fttH  jum  eto'gen  (Srntelanb. 

$ie  lefcte  Seite  ift  djarafteriftifä)  für  ben  reifen  Garotatlj.  2fa  jofjts 
reiben  Stetten  fet)rt  bie  ©efmfud)t,  ber  ©taube  an  eine  eroige  Heimat  unb 
einen  erotgen  Senj  roieber;  ber  p^ilofop^ifö^c  3roeif(er  roenbet  ftd)  oon 
SSottaire  unb  <Sct)openf|auer,  unter  beren  Sann  feine  ^ugenb  ftanb,  ab 
unb  wirb  jum  pofttio  ©täubigen,  eine  SJJetamorpIjofe,  bie  burdj  bie  Seilte 
unb  33u{?e  „Stbenbgebet"  ir)ren  Slbfdjtufi  ftnbet. 

3dj  bin  mir  tootjt  beroufjt,  bie  tnrifdje  Eigenart  be8  ^rinjen  feb^r 
unjureiriienb  jutn  SBerftänbnife  gebraut  ju  fyaben;  aber  einmat  erroetft  fid) 
feine  ^Soefieform  gegenüber  ber  3tnatt)fe  fo  fpröbe  roie  gerabe  bie  mufif« 
oerroanbte  Snrif,  unb  bann  fott  ja  aud)  bie  ©tubie  md;t  ein  Surrogat 
fein  für  bie  eigene  Seetüre  ber  33ücf>er,  roie  e3  in  unferer  3eit  ber 
tttterarfnftorifd&en  SÜBerfe  teiber  übtidj  ift,  fie  faß  im  ©egenttjeit  baju  nur 
anregen,  barum  mufi  td>  bem  perlenreidjen  Irjrifdfjen  Steile  ber  „©itfjtungen" 
aSatet  fagen  unb  mid)  begnügen,  eine  $erte  roenigftenä  bem  Sefer  »or« 
jufefcen  („2lucb.  ®u"): 

31  un  baft  ciurf)  35u  gelafien  2>ie  fi*  im  Ucbtrborbcn 

S3on  ©roll  unb  ebtem  Streit;  ©inft  au8  bem  SDleer  getoiegt 

$u  fanbeft  gotbne  ©äffen  Unb  nun,  gum  S^itt)  geworben, 

£er  äBeltjufrieben^eit.  2tefblau  im  SBalbe  liegt. 

SRid)  mabnt  SDeirt  ö<rj,  ba8  belle,  ffiobl  bedft  mit  ©lüt^enfCocTert 

9lun  frei  oon  SJcmtüf  unb  2Beb,  3Jlittfommer8  fie  bo8  SHobr, 

2tn  eine  SUefentoefle,  SBofjl  tönt'8  toie  ferne  ©Iocfen 

SDie  mübe  toorb  ber  ©ee ;  2Iu8  iljrem  ©runb  fjertior, 

SSBobl  niefen  grüne  Girten 
darüber  fdifammerfäjrocr;  — 
$>ocb  bat  fie  feine  Derlen 
Unb  feine  ©türme  mefjr. 

3roifd)en  ber  Snrif  unb  ben  bret  grofjen  ©tdjtungen  fle^t  als  9Ktttet* 
gruppe  eine  2lnsar)t  ftetnerer,  beren  tjeroorragenbfte  bie  granbiofe  ©ebanfen» 
btdjtung  „(Sin  Sttb"  ift.  «Sie  ift  ein  ©tfjönbeitäflBmttuS  »on  fo  rounber» 
barer,  reifer  ^Srad)t  unb  £iefe,  bafc  bie  ©efammttitteratur  ü)r  rooljt  wenige 


298 


  ??id;aro  Koebjtd;  in  Breslau. 


jur  «Seite  fteHen  fann.  9tn  reifet  ftünftterfäjaft  übertrifft  fie  felbft  ©aftonä 
nmnberoofle  @<f)örib,ettäapoftropI)e  in  „Singelina"  unb  wirb  nur  von  „$>on 
3uan§  Xo\>"  unb  ben  abgeflärteften  ©pifoben  ber  „<Spf)inr"  erreicht. 
„2lnge(ina"  ift  ba<3  Sieb  von  bem  uralten  gludie  ber  @d)önbeit: 

Sßefj'  ibm,  bem  Stab,  baä  auäjefenbet  nwtb 

Sin  reiche«  ftleiiiob  tuuuberfcltncr  2Irt 

Durd)  einen  Üßalb,  einfatn  bei  Sftadjt  jn  tragen. 

2Bof>[  atebt  c8  au3,  ftngenb  im  Slbenbrotb; 
®i  tcfjrt  nicht  beim,  am  SRorgcn  liegt  eS  tobt, 
Grroürgt,  beraubt  im  fröftelnben  (Sefjege. 

fagt  ©afton.  ®ie  «Sdjönljeit  ift  eine  reine,  l)of)e  ©ötttn;  mir  aber,  ber 
Sßerbammten  blaffe  ©äjaar,  fdjlingen  naa)  ifjr  ben  ^obtentanj: 

Unb  nid)t  umfonft;  Du  toirfft  Dtdj  oom  SKtar 
3u  unfre  ÜJraie,  Äinb  mit  Monbem  ©aar, 
(Scbön  wie  einft  (Süa.   (Sattin  Ijalb,  &atb  Dirne 
SWgft  Du  baS  §auöt,  in  ©ebnfucht  gtut&bebecft; 
SBir  aber  mit  ben  ßipben  ftaubbefteeft 
Stätten  bie  C8ottb,cit  fort  Dir  bon  ber  ©ttrne. 

3n  ben  angeführten  Herfen  ift  baS  Seitmoti»  ber  ®id)tung  Kar  au^ 
gebrüit.  ÜJJeifter^aft  t>erftel)t  e3  ber  Siebter,  fd)on  für  bie  Stbroefenbe 
unfer  ^ntereffe  roadjjurufen,  inbem  er  fie  sunt  SDiittelpunft  be$  ©efpräd)3 
einer  ßünftterfrfiaar  in  einer  römifcb,en  Dfterta  madbt.  ©iner  ber  ©äfte 
fdiroingt  fidj  fogar  5U  einer  ^'npfoifation  auf: 

O  ipreebt,  fetb  3&r  bie  SBalbeSfee, 
(Sgeria  Sßfjtlomele? 

Dwr  feib  Sljr  ba8  Qrräulein,  baS  Jräulein  bom  gee 
2Hit  ber  »eriorenen  ©eeie? 

@eib  3()r  ein  Sngel,  ber  Icuijtenb  {am 
3n'8  febmerjenbe,  laftenbe  fieben, 
Um  einer  2Mt  boQ  SBeb.  unb  ©ram 
Die  Siebe  jutüd  ju  geben? 

Unb  er  antwortet  fidj  fetbft: 

34  trage  ber  ©djönljeit  Jhonengefted)t, 
S3bt  ßilitb.  Wie  SMufina, 
Unb  nur  ein  entgottcrteS  SRenf<fjengefä)leä)t 
Sftennt  mld)  Singeiina. 

Unb  aU  ba3  fyerrlidje,  unfdjutbtge  33lumenmäbd)en  felbft  eintritt,  um 
ifyre  Sßaaren  ansubieten,  läßt  ber  S>id)ter  auf  iljrem  ©Heitel  einen  urtfid^t- 
baren  £eitigenfd)ein  ritten: 

Den  fonnte  nur  ein  tobte«  SWütterlefn 

3n  Stngft  unb  ©cfimerj  barum  gebetet  Ijabcn. 

©elbft  ber  geniale  ©afton,  ber  weife  3Wenfcfjenfenner,  ber  bem 
■Dfcibäjen  fieimtidj  auf  feinen  nät^tti<^ert  SBegen  folgt,  muß  mit  s$cfd)ätmmg 


  «Ein  fiitftlic^et  Didjter.   


299 


feljen,  roie  fie  tröftcnb  unb  fpenbenb  am  bürftigen  Säger  eine«  armen 
fremben  ÄinbeS  fniet.  ©0  fdjtie&t  ber  erfte  £fieit  fdfjeinbar  in  fonnigfter 
Sßcrfpectioe.  Um  fo  büfterer  unb  nicbcrbrücfenber  be'rt  fid)  bafür  ber 
jroeite  ab,  in  roeldjem  Garolatf)  jeigt,  baß  er,  roo  e£  ber  3roe<f  gebieterifd) 
forbert,  aud)  ein  9)ieifter  naturattftifdjer  ©arfteliung  fein  famt.  Angelina 
ift  bod)  gefallen,  unb  ber  Äünftlerfdmmrm,  ber  von  einem  gefte  t»eimfef)rt, 
um  fid)  in  t>;rrufenen  Käufern  ju  oertiercn,  pod»t  aud)  an  üjrer  21)är. 
(Sine  5D?artf»a  ©djroerbttein,  aber  in  oiel  meb,r  gcfutifener  2lu3fül)rung,  tb,ut 
auf  unb  rocift  fiöljmfd)  bie  fpäten  ©äfte  an  eine  gegenübertiegenbe  Pforte. 
2>iefe  roirb  aufgefprengt,  unb  mit  Gntfefeen  fieljt  fidj  bie  trunfene  ©diaar 
in  ein;r  SUrdje,  vov  beren  £oa)altar  ein  ©arg  ftef)t.  $m  9k  ift  bie 
roüfte  9iotte  jcrftoben,  unb  ber  Sinter  allein  fteljt  bem  verlorenen  Äinbe 
gegenüber.  £a  ift  es  if)tn,  aH  blicfte  fetbft  ba3  SBitb  ber  ©djmerjenäs 
retten  gnabenoott  auf  bie  £obte  h>rab,  unb  er  finbet  Söne  echter  9J?enfd> 
lic^feit: 

@d)Iaf  toof)I,  »erblühte»  ftinb. 

®8  raiiffeu  JBtumeit  fein 
3m  ©cbartadjfdjmucf  ber  ©djönljelt  aufjufiantmen 
9tm  ©tra&enranbe.  S)ir  wirb  @ott  berjetfm;  — 
Uns  Slnbre  boef),  mög'  er  un8  nicfjt  berbamtnett. 

2>a  nafien  Enaben,  bie  mit  neuen  93tumen  ben  2Utar  fdjmücfen;  ber 
3Borgen  bricht  an,  ber  Dftennorgen,  unb  rnndttooll  oerfünben  bie  ©toden: 
©jriftuä  ift  auferftanben. 

3n  „Ingettna"  ging  ba§  Sßeib  am  ©anaergefdjenf  ibjer  ©djönt)eit 
unb  am  Spanne  ju  ©runbe;  bie  nädjfte  grofje  5Md»tung  „©pljinr"  bringt 
geroiffermafeen  bie  ©üf)ue  be?  3)iatme$,  ber  »oll  Gfet  an  ber  genoffeuen 
©djönfieit  be3  2Setbe3  p  ©runbe  getjt.  Sie  „©pbjnr"  ftef)t  an  £iefe  unb 
©rofje  ber  ©ebanfen,  an  padenber  SarftellungSfraft,  an  berüdenber  ©iction, 
bie  un»  wie  im  gtebertaumel  fortreißen,  ben  reifften  äBerfen  SBvjronS 
ebenbärtig  jur  ©ette;  ber  Inrifdie  ©djmets  if)re-3  erften  'tytiU  roirb  von 
bem  Gngtcinber  rool)l  nur  in  bem  Anfange  »on  „^arifina"  erreicht.  9)iel)r 
noeb  als  in  „Angelina"  t)errfct)t  eine  roilbgenialc  3erriffenbeit,  bie  an  blü> 
burd)flammte  ©turmnad)te  gemannt.  2lud)  auf  bie  „@pb,inr"  paffen  bie 
SBorte  ber  erften  grofjen  ©idjtung:  fie  ift  roie  ein  ©ebet,  ba<l  glücfltdj  anfjob 
unb  geenbet  warb  in  einem  3luffcf)rei . . .  aud)  ifjr  fe^It  nieijt  ba§  „^rage* 
jeidjen  am  ©tfjtufj  eine§  geroaltigen  ©ebid)t3." 

9JJit  einem  liebttdien  ^bnO,  ba$  ben  tragifdjen  Slern  ber  ®id)tung  um 
fo  ftfjärfer  beroortreten  läfet,  fefct  bie  granbiofe  ©djöpfung  ein.  ©leid)  bie 
©infüfirung  be§  jungen,  frönen  örafenfinbe«  ©anta  jeigt  ben  reifen  aMfter. 

Sie  lief  im  roeißen  Slleibe, 
6in  frö^licft  Sliitb,  forgfo«  burij  S)ufcft  unb  (SraS, 
f?rei  flofl  i^r  $aar,  unb  au«  bem  &ntH&  blafj 
JBliötcn  fo  feiig  iljre  Slugen  beibe. 


300    Ht^arb  Koefjltd)  in  Breslau.   

Sic  roiH  2t6fd^teb  nehmen  t>on  U)rem  ©ur),  bcr  in  bat  föxmpf  f)tnau3» 
jiet)t  unb  bem  fie  baä  33erfpred)en  eroiger  £reue  giebt: 

Spraef)  fie  flanj  ernft,  unb  tuuuberfeltfam  {Tätig 
2lu3  iljrem  Stinbermunbe  biefe»  —  (Smtg. 


Mod)  einmal  b>It  bei  Sag,  ber  glücfburdrfonnte 
aJcrjägetnb  8taft  unb  flraljlte  traten  Stieben 
Sluf  jene  ffinber,  beren  ©lüef  ljienieben 
SJerfanf  am  buntlen  Seben8b>rijonte. 

Sdjarf  unb  büfter  fjebt  fid)  bie  fotgenbe  Gpifobe  ab.  GS  ift  $erbf> 
nadjt,  im  3?einb£tanb,  am  Sagerfeuer  ber  ©ragoner.  2Bie  }ufäUtg  [iejt 
einer  ber  Offnere  einen  Brief  nor,  beS  Mi  fiöf»  baS  fd^öne  ©rafen« 

finb  Santa  auf  Antrieb  beS  SßapfteS  mit  bem  atten,  aber  reidjen  unb  bocfc 
gefteüten  Äammerljerrn  Baflri  »ermaßt  tjat;  gerabe  jefet  ift  bie  $od)}ett$* 
nadjt.  35on  ber  Grbe  fpringt  ein  ©djläfer  auf;  eS  ift  ©u«;  er  fammelt 
fein  9ieiterfäfmlein  nnb  ftürjt  in  bie  9iaä)t  f)inau3,  bem  geinbe  entgegen, 
um  ben  Xob  ju  fuctjen.  2Bie  burd)  ein  SBunber  bleibt  er  unt-erfebjrt  unb 
fommt  nun  ju  bem  roeifen  Quben  Sftabbi  3e^an)a,  ber  auSgeroiefen  »or 
bem  £f)ore  ber  ©tobt  Ijauft.  ©em  großen  2ltd)rmuften  erjagt  er  fcblidjt 
feine  3fugenbgefd)id;te  (in  ben  Herfen:  reidj,  oornefmt,  jung  trat  idj  bin* 
au§  in'S  Seben  u.  f.  nx,  auf  bie  idj  auSbrütf(td)  brnroeife,  weif  fie  GarolatfjS 
eigene  ^ugenbentioictetung  beseidmen)  unb  t)eifd)t  ©enefung.  Gr  legt  ifjm 
bie  fragen  »or:  warum  ift  bie  grau  urfatfd»  unb  treulos?  2BaS  fenbet 
©ort  ein  fttnb,  baS  burftig  ift,  in  einen  roeiten  ©arten,  barin  bie  Srumten 
ring«  vergiftet  finb  V  —  ©ie  9Xnttuort,  bie  ber  gürftenfofm  ertjäft,  ift  an 
Äüf)nf>eit  unb  ©röfje  beS  gemähten  SBitbeS  faft  otmegteidjen: 

SBcnn  fein  ledjjenb  Kofi 
mit  SSBaffer  tiänft  ber  Fluge  iöebuine, 
Xfnit  in'e  ©efafj  er  eine  $anb  »od  @anb, 
SDa8  91afe  ju  trüben.  —  gieße,  atfo  tljat 
Der  weife  ©djöpfet:  in  ben  Harften  Cuctt 
Der  SeöenStcüfte  tljat  er  emfig  ©djlatnm 
SWit  »öden  ^änben,  in  ben  fö&ncn  ßeifr, 
Den  lüfjen,  finnbetfiörenben,  be»  SBeibeS 
©o&  et  ©emeinljeif.  —  3a,  ber  ©djöpfer  ift 
Sin  finget  $itte;  attsu  tiefet  Stroit 
Schabet  bem  Spiere. 

2lber  ©uw  entgegnet:  bie  lecbjenbe  Greatur  roirb  aud)  Trübung  unb 
©cfjtamm  tobadjt(o£  fdjlingen;  aud)  er  roiß  trinfen  mit  bem  GmpörungS* 
fdjrei:  mtd)  bürftet!  bürftet!  Gr  miß  es  fefm,  baS  bofie  Sitb  r-on  <BaiS, 
^n  feinem  2lrm  entblöf t  gieid)  einer  SaiS.  Gr  will  ben  fcfmlbigen  <Sd>öpfer 
im  ©efdjöpf  burd)  ©taub  fdtteifen  unb  rad»efatt  ju  ©runbe  ladjenb  gefjn. 
<So  ftürjt  er  baoon.  —  ©te  nädjfte  Scene  jeigt  ©anta  im  prunfooDen 


  (Ein  futfHid)er  Didjter.    —  30\ 

©d)tafgemad%  3tud^  fie  ift  nidjt  gtütftt«^;  fie  benft  mit  28ef)mutf)  an  bett 
3ugenbgeliebten  unb  bie  g(ü<fltd)en  forgfofen  ßinbertage. 

2Retn  £erj  wirb  alt, 
@te  ft>rad)  c8  ieife,  »nnt*  idj  fd)lafen,  fterben, 
2Hit  jenem  Xraum,  mit  2Mr,  o  ®unl 

2)a  fpringt  roeit  auf  bie  2^ür,  unb  ber  £obtgegtaubte  ftefjt  »or  il)r. 
«Santa  fudjt  Stuöftüd^te  fütji^ren  £reuebruä);  aber  ©un  bonnert  il)r  »er« 
ädbtliä)  entgegen: 

2>aS  ®rafenfütb  mit  ier  SWabonnenftirne 
Pt  ®otb  »etfouft!  SJerlauftl  3ltm,  melfdje  Stfrne, 
SEBie  ttjeuer  bift  ®u? 

9iodj  einmat  bäumt  fidj  ©antaS  ©rafenblut  gegen  bie  unerhörte 
33efd)impfung  auf;  fie  giebt  t>or,  ben  Qüngling  nie  ernft  geliebt,  jenen 
©djnrnr  nur  tänbetnb  gegeben  ju  fiaben.  Slber  ©u»  lafjt  fid)  nidjt  beirren. 

$u  liebteft  mid)  unb  liebft  midj  nod)  —  fag:  3a!  .  .  . 
3a,  fprad)  fie  tonlo«,  ia. 

SBarum  fie  it>n  oerratfien  fjat  —  fie  „roeife  eä  nidjt".  ©un.  glaubt 
ib>,  aber  er  ift  nid)t  ber  3Rarni,  ju  t)erjid)ten;  ganj  im  Sinne  jener 
SBorte  in  ber  3iabbifcene  roiH  er  nun  ben  Sdjöpfer  im  ©efdjöpf  burd) 
©taub  fdjleifen,  ben  Schöpfer,  ber  um  ba§  ©öttlidje  im  SBeibe  als  £üffe 
ein  falteS  3Warmorfteib  fd)lug. 

3d)  aber  bin  au«  toilbem  SJlut  entflammt. 

3)ie8  Slm&ellidjt,  baB  matt  unb  rofig  flammt 

3n  fernes  SeibeS  marmortofifjfm  üöau, 

34  toiE'8  bcfiften,  ttunberfdjöne  grau; 

Äüffenb  eiftiden,  iubtlnb  löfd)en  au« 

5£a8  rotbe  Siebt,  enttoeüjn  baB  ©otteSfjauB, 

2luf  bie  jetriffnen  fdjweren  SHltarbecfen' 

3u  langem  ©djlafe  uwnfcbloS  bann  mid)  reden 

Unb  fterbenb,  al8  ein  fatter  Mädjer  fagen: 

3m  fdjBnften  SBeiß,  befj  2luge  ie  geblaut, 

SReib&oUer  ©Ott,  bab'  id)  bie  ©pljinr,  etfdjaut 

Unb  bab*  35etn  2BerI,  3Md)  felbft  in  ü)r,  jerfdjtagen. 


£em  SBfib,  baB  in,  beraufdjt  tom  ßiebeSfüHe, 
3m  arm  i&m  Jjing,  bat  bebenb  ir  geriffen] 
Som  neigen  Seib  bie  ftarre  2ltla8f|ülle 
Unb  cB  gefcbleubcrt  fai  bcB  $ranfbett8  Riffen. 
(Sin  Saut,  ein  JMagicort,  girrenb,  tounberfad)t  .  .  . 
3n  einer  $lutb,  faljtMonber  Sorfenbaare 
SSerfanfen  fte,  ringS  Jjenfdjte  nmnberbare 
3a8minburd)baud)te,  purputfinftre  Stodjt. 

@£  bürfte  nidjt  ciel  ^octen  geben,  bie  eine  iotd)e  Situation  berart 
bemetfierten,  wie  e§  tricr  ßarolntf)  getlian  f)at.  3Wen  9tealiften,  9?aturaliften 


302    Hidjarb  Koetjl«^  «n  Breslau.   

unb  fonftigen  „tften",  bte  ifrre  Unfät)igfeit  I»intct  bem  .fftngenben  tarnen 
eines  ©oftemg  oerfie<fen,  wäre  überhaupt  5U  ratzen,  bafj  fte  bei  bcm 
©Töpfer  ber  „©ptn'nr"  in  bie  ©djule  gingen,  um  ju  lernen,  bafj  ber 
©djaffenbe  fd)ted)troeg  ein  ©tdjter  fei»  foff.  — 

Der  SDJorgen  graut  über  bem  fdilummernben  $aare.  ©arrta  träumt 
oon  einem  ©lfi<f  ointe  ©nbe: 

So$  feine  »ruft  ging  fä)ti>er,  tS  bradj  ein  ©djre» 
Saraus  Ijeroor,  ber  Hang:  ßebtoobjt  —  »orüber, 
$u  ©djlofe  mit  bcm  fteinernen  SBappentbor 
Unb  ben  bunften  ©ben  baraber! 
Qtjr  roellenbctt  Seen,  roinbroogenber  Sann, 
ßebt  ttoftl,  i&r  ©odjfaiibBbaiben! 
(SS  fegnet  im  legten  ©djeiben 
@udj  ein  rertorencr  Wann. 

2Iu3  biefem  £raum  fdjredt  ©un  auf  jutn  SBeroufetfein  ber  SBirttidtfeit. 
Unb  nun  tritt  mit  einem  ©d)tage  bie  Peripetie  ein,  bie  fid)  .in  ben  SBorten 
äufsert:  ©iefj  ooff  mid)  an,  gieb  mir  bie  3fugenb  roieber!  ©einer  ©eete 
©Urningen  lärjmt  ©fei,  eä  brid)t  fein  &erj  oor  fdjalem  2lbfd>eu;  nun,  ba 
Stillung  tjätte  ber  roilbe  SBunfd),  uertor  er  feinen  ©djmerj,  ba§  ©iabem. 
©r  greift  jum  ®o(d)e,  ba  bannt  irm  eine  feltfame  SBifion.  ©r  meint  ju 
fetten,  roie  ©anta  fid)  »om  ^urpurpfütjl  ergebt,  roie  ifrre  3"9e 
frembe,  füllte  Sädjeln  ber  ©pr)injc  annehmen;  er  füljtt,  roie  bie  ©eele 
ber  ©djläferin,  tf>r  felbft  unbenm&t,  tf)m  bas  3lätt)fel  be§  SBeibeö  ent* 
fd)(eiem  roiff. 

SBaS  ®u  gefudjr,  fo  fcbnfiitf)t?üoO,  fo  bange,' 
SieS  tiefe  etwas  ift  ein  ©trabt  rnn  fiidjt, 
Den  ©ott  ibr  gab,  baß  man  iljn  Ijeifj  »erlange 
Unb  boeb  auf  (geben  finbe  niäjr. 


3n  jeber  grau  liegt  ber  ticfi'üfje  3«C» 
Ser  unbefitreiblidie,  ein  eto'gee  ©ebnen 
3n  uns  erroerfen,  ba&  mir  aufwärts  be&nen 
3u  ©ott  empor  beS  2eben8  Probeflug. 

2Iutf)  ber  £etb  ber  fefeten  -Kenfcr^eitSbidjtung  (®on  QuanS  £ob)  fudjt 
in  feinem  2Bolluftbrange  biefen  „©trarjl  t>on  8id)t";  barum  jfttjlt  aud;  er 
—  tote  mir  fpäter  fefjjtt  rojrben  —  ju'  ben  ©rofjen,  ibarum  ift  aud)  ;er 
ertöfungäfätjig. 

316er  bie  SBoffuft  ift  oergänglict),  unb  nur  ber  ©dnuerj  ber  ©ntfagung 
fütjrt  ju  einfamen  £öf)'n;  ba3  roar  ber  Sinn  in  ben  SBorten  be3  9tobbi: 

SBer  je  baS  SQSeib  brrfämbft,  »erfdimerjt,  Oerrounben, 
©tebt  einfam  ba,  niebt  mebr  an  ©Ott  getmnben, 
Senn  öort  ber  grau  fuljrt  b:r  3brenftug 
(Smpor  jur  fjreibeit. 


 (Ein  färftltdjer  Dieter.   


303 


©o  Iieifjt  eä  auct)  t)ier  in  ber  ©pljinroiiton: 

Stur  S&enigen  fdrfagt  Siebe  tiefe  SBunben, 
Soij  Ibt  SBuiibe  roitb  ein  8lttterfd)lag. 
©eil  betn,  bei  ©tiicf  beim  SSkibe  nie  erfunben 
Unb  aus  bei  Siefe  bafüi  fegtten  maj. 
Sa8  e.oig  SBeibltdie  ift  Sdjmetj  obu'  Sitbe; 
SBer  alfo  gros,  bafs  obne  ©rol  unb  Spott 
6r  fcfjroeigenb  fit  öoit  (Jrbenfonnen  toenbe, 
Steht  fteiltd)  einfait  ba,  bod)  eine  mit  (Sott. 


Sa8  Sehen  ift  ein  ftatfer  SBanberflitg 
3u  ©ott  gerichtet,  unb  auf  allen  Siegen 
Xrägt  uns  beS  SdraierjcS  gro&er  Sltbemäug 
Sei  $eimat  ju,  bem  ew'gen  Seit  j  entjege  i. 

2ludj  ©un  mar  auf  biefem  2Bege,  erje  er  feinen  ©dfimerj  roegroarf, 
baS  £>tabem.  @r  ift  aber  boci)  ju  groß,  um  fid)  nun  nad)  2lrt  ber  großen 
■äJJaffe  an  bem  frönen  Soßroerf:  Seib  be£  ©ptyinrrättjfete  genügen  }u 
taffen,  unb  barum  muß  er  fterben.  3lBer  nodj  ein  »erfölmenber  £id)tbli<f 
faßt  in  fein  ©Reiben.  ©anta*©pt)tnr  fünbet  ifim,  bafj  nadj  2lttem,  roenn 
bie  ©efd)ted)ter  ber  3Renfd)en  »on  ber  ©rbe  »erroetjt  ftnb,  roenn  ber  lefete 
SBoCuftf^rei  »erhallt  ift,  and)  ba§  3tatb,fei  be8  2Beibe3  ftd)  löfen  roirbr 
atö  Siebe: 

Sann  toirb  bie  Sphuij  «löft,  gcbenebcit, 
©leid]  SDJetmionSftcüten,  bie  tiefbebenb  dingen, 
Sa«  belieb  »eifBbnter  ewigfeit, 
®üt  grojjcS  SiebeShalleTuiab  fingen. 

©o  Reifet  e3  aud)  ätjnltd;  in  ber  fjerrlidjen  ©ebanfenbidtfung  „©in  33ilb" : 

2L'aS  Schönheit  biet  uou  Schmer}  unb  Slhichieb  fprad), 
Sas  Hingt  —  tote  balb  —  gleich,  fernen  golbnen  Stimmen, 
Sic  rufenb  über  bieitem  Strome  fdjioimmeu, 
3n  bei  Unenbtichfeit  als  Siebe  nad).  — 

©ann  rjerfduoinbet  bie  erhabene  aSifion.  Um  ben  3)hmb  ber  ©djläferm 
fpiett  roieber  wie  corbem  „ein  ftumpfeä  Säbeln  fatter  ©eiigfeit".  $ab> 
grau  bricht  ber  SKorgen  herein;  ber  lefcte  ©tern  fitift  in  bie  ©ee,  unb 
mit  it)m  entftierjt  aud)  ©ut)3  Seben. 

3ui  Seite  warf  er  SantaS  $aat,  baS  Monbe, 
Unb  führte  taftenb,  ohne  Saut  nod)  ©ort, 
Sen  Sold)  in'S  $cw;  fo  fenft  ftd)  eine  Sonbe 
Sangfam  unb  ftiU  in  einen  Itcten  Ort. 

2i5tr  tjaben  bem  $)id)ter  felbft,  fo  oft  e§  anging,  ba§  SBort  gegeben 
unb  fönnen  trofebem  baä  33ebaueru  nidrjt  unterbrüäen,  bafj  roir  nidjt  ba* 
ganje  SBerf  fetbft  an  ©tefle  jeber  coramentirenben  3eiie  abfdjreibeu  burften, 
vor  bem  roir  nadj  einer  flehten  2tu£ftettung,  gegen  bie  tr)eüroeife  ermübenbe 
SBreite  ber  SRabbifcene,  bie  frtttfdje  geber  in  £emutr)  au3  ber  £anb  legen. 


30^    Hidjarb  Koel)lia>  in  Breslau.   

©in  geistreiches  SBort  fagt,  bafc  e3  Sdjeaterftüde  gebe,  vor  benen  nur  bag 
publicum  burdjfaHett  fann.  Die  „©plnnr"  ift  fdjon  in  ber  erften  Stuflage 
ber  Dichtungen  (1883)  enthalten;  baä  SBolf  ber  Dichter  unb  Denier  tyst 
es  atfo  fertig  befommen,  »or  biefer  Ditanenfchöpfung  ein  ganjeS  Decenmum 
lang  burc^jufatten  —  unb  baä  ift  taufenbmal  unBersei^li^er,  als  bie  2Ö>= 
lehnung  einer  ^heaterpremiöre,  bie  mit  unjäf)tigen  ftactoren  beS  3"^* 
ju  t(jun  \<A,  burd)  welche,  feI6ft  beut  beften  ©tüde  gegenüber,  aud)  ber 
reife  Äunftoerftanb  einmal  beirrt  werben  famt.  — 

„Angelina"  nrie  „©phinr"  faffen  bie  Siebe,  bie  23ereimgung  ber  ©e* 
fdjtechter,  als  einen  ftampf  auf,  in  bem  ein  £Ijeit  ju  ©runbe  get)t;  eS 
tag  nab>,  im  rünftlerifdjen  ©tnne  einen  2lu$gteich  h^erbeijufüb^ren,  bie 
Diffonanjen,  in  benen  bie  beiben  mächtigen  ©d)öpfungen  jäh  abbredjen,  in 
einen  3lccorb,  wenn  aud)  in  SJtolt,  aufjulöfen.  Diefe  Söfung  bringt  „"Bon 
3uan«  £ob".  ©arolatt)  mar  beim  Stufbau  biefer  Dichtung  auf  bie 
bubbhiftifch*fdjopenhauerfd)e  2Bettanfd)auung  ober  auf  ben  d>rifttidjen  HRnftU 
ctemuä  angeroiefen;  ein  ©ritte«  ift  faum  benlbar.  Unb  hierin,  in  ber  reinen 
2Ö>ftraction,  liegt  bie  Älippe  jeber  ©ebanfenbidjtung,  benn,  roie  2lntäo$, 
fdjöpft  auch  ber  93oet  feine  Äraft  au«  ber  ©rbe.  <£$  ift  fein  3ufaH/  baß 
inferno  ber  bebeutenbfte  Xheit  ber  Divina  commedia  ift,  bafc  ©oethe  mit 
feiner  magna  peccatrix  unb  mit  bem  ganjen  mnfiifdjsfijmbotiftifdjen 
©djluffe  mcf)t  »iel  anzufangen  nmfjte.  Unb  bod)  mar  Garotatl)  gerabe  auf 
baä  ©rethchensSDJotto  hingebrängt.  3lber  ©reichen  einerfettö  ift  fcb>n  eine 
©efaHene,  gauft  anbererfeitö  nicht  ber  reine  ©enujjmenfch,  fonbem  oor 
Stflem  ber  gro&e  Genfer  mit  einem  Don  3uan=3uge.  Die  ©egenfäfee 
maren  noch  nicht  genügenb  Derfdjärft,  toemt  bie  ftatharfis  mit  »otter 
fdjtagenber  Äraft  jur  SBirfung  fommen  follte.  De§h<d&  (ift  «uch  Diaua, 
bie  jungfräuliche  Königin  vom  StaulafuS,  ba$  mabomtenhafte,  nie  gefallene 
SBeib;  be^^alb  fteht  ihr  unb  bem  ftrengen  Prälaten  ber  abfolute  ©emifr 
menfch,  ber  fünbenbefledte  Spanier  gegenüber,  mit  beffen  unerbittlich  con* 
fequenter  Durchführung  jugteich  bie  irbtfcfje  ©ubftanj,  ber  ©rbgerud)  ber 
Dichtung,  gerettet  wirb.  Don  ftuan  famt  feine  anbere  Siebe,  als  bie  beä 
©enuffeS;  auf  ©rben  erfennt  er  nur  ein  giel:  baS  3Beib,  am  SBeibe  nur 
ein  ©öttlid)e3:  ben  Seib;  nicht  ein  SBeib  miß  ,er,  fonbem  ade  SBeiber; 
armfel'ge  23eute  mär'  ihm  eine  %vau,  unb  9üdjt3  perabfdjeut  er  fo  in  ben 
£ob,  als  föochjeitSgefafet  unb  Sßhitofophtren.  Unb  bod)  jählt  aud)  er,  nrie 
es  ausbrüdlid»  heifn,  su  ben  ©rofjen.  Der  SEBiberfpruch  ift  nur  fcheinbar. 
3$  erinnere  btoä  an  ©rabbeS  nritbgenialeS  Drama,  an  bie  SBorte  beS 
Teufel«,  bafj  gauft  unb  Don  Quan  auf  jroei  Sßegen  farren  —  ju  bem* 
felben  QkU.  Garolattj  b>t  bie  $ßerroanbtfchaft  ber  beiben  heterogenen 
€haraftere  in  fonnenhette  Beleuchtung  gerüdt.  2lu§  ber  erjmungenen 
3?erbinbung  ber  93enu$  mit  bem  enrigen  SBanberer  3lf»aSt>er,  au*  ber 
aSerfchmetjung  ber  irbifdjen  SBoIluft  mit  ber  nebelhaften  9lbftraction  läfst  er 
jmei  ©proffen  h'-roorgeh;n: 


  (Ein  fürftlidfer  Dieter.   


305 


£a8  Sßrieftert&um  ber  Suft,  beS  Banqi,  ber  Eimen 
©djuf  $on  Suan;  fein  3roifltofl8bniber  Qpauft 
3113  Surft  toettferner  fcodMjebanfen  b>uft 
3«  beutfäen  §erjen,  beutföen  2)i<f)terftirnen. 

®er  freterfunbene  sJJ?t)tf|u§  biefet  feltfamen  $ugenbticfä5$8ermäf)lung 
gehört  in  fetner  genialen  Qbee,  rote  in  beren  ctaffifrf)  fdjöner  2luSfütjrung 
ju  ben  fjerrlidfiften  ©manationen  einer  großen,  freien  Äünftlernatur.  Unb 
mit  richtigem  Stiele  t»ot  ber  5ßoet  fein  ©emälbe  niefit  auf  ben  grauen  hinter« 
grunb  bubbln'ftifdter  ©ntfagungöte^re,  fonbern  auf  ben  concretern,  färben* 
reiferen  beä  G§riftentb>m8,  mit  feiner  bem  Seben  »erroanbten  Senfeitä* 
tfjeorie,  gejaubert.  2Btr  mußten  bei  biefen  2lu3füljrungen  länger  oerroeilen, 
roeil  es  galt,  <Sch>iertgf"eiten  ber  (Sonceptton  aufjubeäen,  an  benen  mancher 
anbere  große  Säcfjter  t)ielletd)t  gefdjettert  märe. 

£)ie  gabel  felbft  ift  einfad)  unb  Mar.  —  %n  bangen  träumen  fdjon 
fjat  ®iat)a  ben  nadjtgeroeif)ten  ©ünber  erblicft,  wie  er  nad)  tljr,  bem  lidb> 
umftob'nen  Äinbe,  Kettling  Ijetfdjenb,  bie  £änbe  ftrecft.  £>a  tfjeilt  fid)  ber 
SSorfjang,  unb  ®on  3uan  felbft  ftef)t  oor  ber  ©rufenfürftin.   Qn  tollem 
Stnfiurm  Ijat  er,  ber  einjelne  Sföattn,  bie  Sßadjen  überramrt  unb  ift  in  bie 
ßömgSburg  gebrungen.  2>a3  nad)brängenbe  SBoDf,  bie  &eerfüt»rer,  ber  Prälat, 
forbern  einftimmig  ben  Xob  beä  3*et)ler3.   S5iat)a,  bie  fd>on  feit  tfiren 
bangen  träumen  unter  bem  Sanne  be3  finfteren  „©eelenbräutigamS"  ftefjt, 
will  Um  retten,  inbem  fie  üjn  jum  ©entarte  ergebt.   ®er  grembe  aber, 
bem  bie  grauen  9iid)t3  finb  al3  „©ntagSgliicfgeftalten",  roill  »om  SBetbe 
nur  ©innengenuß,  alle  geffeln  finb  if>m  gleidjbebeutenb  mit  9tid»tfein,  %ob. 
£ob,  biefeä  lefete  SBort  greift  —  ein  äußerft  fetner  3ug  —  00§  nmtfjenbe 
IBolf  auf;  nacf)  furjem,  tollen  Kampfe  tutrb  ®on  ^uan  gebunben,  unb  nun 
famt  Um  SRtdjt«  meljr  retten,  felbft  nid)t  bie  ftürfpradjc  ber  jungen  Königin; 
ber  Prälat  läßt  fein  Dpfer  nidjt  mefjr  loä.  9lm  ©in§  erreicht  fie,  baß  ber 
©efangene  jur  ftitlen  ©infefjr  in  bie  <Sd»toßcapetle  geführt  werbe,  bevor  ber 
nädifte  -Dforgen  Um  auf  bem  ©cfjaffot  nefjt.   9tad)  einem  bebeutenben,  ed)t 
bramatifdien  groiegefprädj  mit  bem  Prälaten  bleibt  er  allein  mit  ber  gürftin, 
bie  feine  Ueffeln  3eW  fjat.  £>ier  crjä^tt  er  baS  ©efjetmniß  feiner  £erfunft. 
IDteifterljaft  fdjilbert  nun  ber  SDtdjter  bie  erroadjenbe  £obe3angft  beS  trotzigen 
3Ranne§,  ber  fein  Sdjaff ot  jimmern  rjört  unb  ber  feinen  £roft  fdjöpfen 
famt  au§  einem  ßeben  Boll  Sünbe.   Unb  bod)  rotll  er,  pm  legten  SDlale 
ftdj  felber  treu,  felbft  bie  £obeSnad)t  als  £od)3ett3nadjt  feiern,  ©od)  immer 
mef)r  füfjlt  er  cor  $iat)a3  Stugenftrafjl  ben  roilben  SBunfd)  5errimten,  ber 
tlmt  bisher  im  Slute  getobt  l»at  cor  jebem  SBeib,  ba£  er  nodj  nidjt  befeffen. 
Unb  al*  fte  if»n  angftooll  forfdjenb  fragt: 

S8ener>rft  ®u  mi4,  fott  Sit  mein  fieib  geftören? 
3«6t  tBäge  teotjU  Beib  ober  «Seele?  ©prict)! 

Ta  (tnfen  bie  legten  Sdjtacfen. 


306 


  Ridjarb  Koeftlid;  in  Breslau.   


Die  Seele,  lief  er,  benn  iä)  liebe  Diij 
Unb  ffiill  Dir  folgen  buri)  bie  ©etigfeiten.  — 
Sin  feine  2?ruft  jog  bit  oeriorene  ©oim 
liaoa  fadjt,  bann  ljob  er  ben  geneigten 
Seid)  etb'aen  £id;tc8  fd):oeigenb  Dom  3fon. 

Gr  fdjleubert  ba3  geuer  in'ä  £etltfltf)um;  burd)  bie  Stammenpradjt 
flingen  nod)  einmal,  rcie  ftegenbes  Dfterläuteu,  SMaoaS  Grtöferroorte: 

Unb  barrte  Deiner  an  ber  $intmel8|)fort 
U.it  Deiner  ©ünben  ber  Dämonen  @dxtar, 
Unb  nenn  Didj  taufeub  2J}utterpi)e  banden, 
3urütf  fdjmd.t'  id)  fte  mit  cr&ob'ncn  §änben. 
öS  wirb  erfüllt,  maS  £ebe:i8traum  mir  mar. 

Sonn  begraben  bie  glammen  ben  entfüfmten,  bämonifdjen  3J?aim  unb 
feine  reine  £obeS&raut. 

68  fant  bie  SBurg,  burdj'S  £anb  bie  ©Iocfen  Hangen, 
Unb  als  bie  Stammen  $aüclujab  fangen, 
3ft  mit  bem  finftern  ©eclenbräutigam 
(Srlcft  Diana  btmmdtuärtS  gegangen.  — 
Skn  StebeSmadjt  in  feurigem  ÖMäljrt 
Stuf  $(ammcnfbeid)en  rettet  Dom  ©emeinen, 
Dem  trerben  ©onnen  ber  SSergebung  fdieinen 
3m  $eimatlanb,  befs  3rüf)Iing  e»ig  toäbrt. 

80  flingt  oline  bal  „gragejeidben  am  <Sd)luf?  eines  gercaltigen  ©ebidjt*" 
(2lngeltna)  bie  erhabene  Schöpfung  rein  unb  r>erfölmenb  au£,  auf  bie  unfer 
beutfdjeS  <£tr)riftt^um  mcHeidjt  nod)  ftolj  fein  wirb,  roenn  mand)c 
„©röfje"  längft  ber  oerbientin  ^Bergeffenljeit  »erfüllen  ift.  Sie  oicr 
©djluftäetfen  ber  Sichtung  entfalten  allein  eine  95klt  von  ©d>önf)eit  unb 
©röfje.  Qn  reifer  Mnftlcrfcfaft  ift  e3  mit  ber  Ijcrrlidjen  Öebanfenbidjtung 
„©in  33ttb"  baS  ^ö<f»ftc,  roaä  Garolatf)  gefefaffen  fat,  beSgleidjen  an  33olU 
enbung  ber  Sedmif;  roäljrenb  „Singelina"  fauftg,  bie  „©pljtnr"  in  ber 
Slabbtfcene,  tobte  fünfte  aufroeift,  fefaeitet  „Son  ^uatö  £ob"  in  raftlofer 
entroidelung  ebem  unb  gefdjloffen  wie  ein  Srama  bafitn.  9ln  genialen 
Gpifoben  roirb  e3  melleidjt  »on  ber  „©pbjnj"  nod)  ü6ertroffen;  aber  bie 
f)öd)ftc  ^ßatme  erringt  aHejeit  ba§  ©enie,  gebänbigt  burd)  Slunftwrftanb  . .  . 
fonft  wäre  ©rabbe  unfer  größter  Sidjt^r,  nid»t  ©oetfa.  — 

Morituri  te  salutant  —  ^ßrinj  2d)önaid)--Garolatf). 

2LUr  bitten  am  ©ingange  bie  SBerroanbtfcfaft  be3  ^rinjen  mit  Sorb 
33nron  angebeutet,  unb  mir  glauben  unfere  Stubie  nid)t  beffer  alä  mit  einer 
furjen  »ergletdjenben  Stnalnfe  fdjliefjen  ju  fönnen.  —  33eibe  finb  oon  fafar 
©eburt,  bie  ifaen  ebenfo  einen  weiten  unb  tiefen  33ltcf  in  baä  menfd)lid>e  Seben 
geftattet,  als  fie  ifaen  bie  £inberniffe,  bie  fid)  fonft  bem  ginge  be3  ©eniuS 
entgegenü)ürmen,  aus  bem  2£ege  räumte;  Reiben  mar  e3  Dergönnt,  iljre 
©ubjectioität  augreifen  5U  laffen,  |ofae  fie  einer  roirtf)fd;a'ttid)en  Spreffunt 
ober  ben  Saunen  eine*  »ielföpfigen  SpubticumS  umerorbnen  ju  muffen. 


  €in  füijJItdjer  Dieter.   


307 


©trief»  fjterbei  fri  jebod»  ein  roeittragenber  Unterfdiieb  fjeroorgeljoben.  Garolatlj 
roudjS  in  einer  glüdltcfjen  £äu3ltd)feit  fjeran  unb  fjat  fte  roteberum  im  reifen 
ÜDtanneSalter  fid)  felbft  gefdiaffen;  Söriron  mufjte  fie  als  Äinb  wie  als  UWann 
entbehren,  unb  für  biefen  fanget  tjat  itm  roeber  fein  ©enie  nod)  fein 
9teid)tf)um  unb  9tang  entfdjäbigt;  er  ift  fein  3Serf)ängnifs  geroorben.  2lber 
ber  parallelen  finb  nod)  genug.  SBeibe  mürben  oon  innerer  Unraft  in  bie 
gerne  getrieben,  aus  ber  fie  jene  roeitumfaffenbe  Stenntnifi  frentber  Sauber 
unb  SBötfer  fjeimbradjten,  bie  ben  Snfjalt  ifjrer  SHdnungen  in  ein  frembeS, 
erotifd)eS  ÜDiitieu  ju  bannen  liebt.  S3eibe  fud)en  mit  Vorliebe  gauft*  unb  2>on 
Suanartige  Probleme  auf,  unb  eS  ift  fein  3ufall,  baf3  ßarolatf)  fid)  ju  ber 
Harmonie  burdjrang,  bie  bem  Schöpfer  r>on  „3)knfreb"  unb  „£)on  $uan" 
»erjagt  blieb.  33eibe  mttersieljen  fid)  ben  aufreibenbften  ©trapa&en:  Snron 
bur<$fcfyroimmt  trofc  feines  Älumpfu&eS  ben  £elleSpont,  Garotatfj  trofct  ben 
ftimatifdien  ©inflüffen  unb  ben  Aufregungen  gefäf)rlid)er  ^agben.  Unb 

—  last  not  least  —  23eibe  befdjliefjen,  fo  roett  man  bei  bem  ^rinjen 
fdjon  »on  einem  2lbfd)luf?  fpredjen  fann,  ifjre  bicbtcrifdje  2l)ätigfeit  in  rein 
menfd)tid)er  SBeife:  ber  33rite  im  prafttfdjsnattonalen  ©inne  burd)  bie 
Eingabe  an  ein  untcrbrüdteS,  für  feine  ftaatlidje  greitictt  ringenbeS  SSolf, 
ber  ©eutfcfje  im  tfjeorettfdjnnternationaten  ©innc  burd)  bie  Eingabe  an 
bie  Unterbrüdtcn  unb  nad)  menfdjlidier  greifet  9ffingenben  überhaupt. 
3lber  ben  Kämpfer  »on  SDHffolungln'  umftratjlt  eine  eroige  ©toriole:  roie 
ber  früfjgefcbtebene  ©änger  beS  £eU  ging  er  im  3enitfj  feines  ©eniuS 
»on  ber  6rbe  unb  erregt  adiilleuSgleid)  eine  ewige  <Set)nfiict)t.  S5?aS 
©arolatb,  aber  nad)  „Qon  3uan3  £ob"  auf  reformatortfdjen  ©ebiete  u.  f.  ro. 
gefdirieben  l)at,  ift  im  fünftlerifdien  ©inne  als  ein  grofier  9?üdfd)ritt  ju 
bejeidinen,  unb  eS  bleibt  nur  &u  roünfd)en,  bafj  er  in  bie  »ertaffenen  SBafuien 
roieber  einlenfen  möge;  benn  bort,  auf  bem  ©ebiete  beS  Sieinmenfdjlidjen, 
nid)t  in  ber  ©d»ilbentng  trauriger  focialer  93crf)ältmffe,  fo  fetjr  fte  aud)  ben 
eblen  3Henfd)cn  efjrt,  liegt  bie  ©tärfe  feiner  gewaltigen  Begabung,  bie 
fdjon  auS  rein  tedmifd&en  9tüdfidten  ein  ©ebiet  meiben  follte,  auf  bem  fie 
all  bie  SBunberfarben  ifirer  Palette  nid)t  ju  »erroenben  »ermag.  Unb  roie 
biefe  färben  leudjten,  als  fjätte  fie  SDiafartS  ^ßinfet  gejaubert!  @S  roäre 
fd^ttcfelid)  tf)örid)t,  wollte  man  jefct  fd»on  bie  bic&tcrifdje  3ufunft  eines 
Sebenben,  jumal  wenn  biefer  erft  43  3al»re  jäblt,  antteipiren.  Unb  übrigens 

—  roaS  biefe  3u^unft  au$  bringen  mag,  fann  fie  bodj  9fid)tS  änbem  an 
ber  $erfpccti»e :  ®cr  ©djöpfer  ber  ,,©pf)inr"  unb  oon  „Ton  $mn$  %ob" 
gehört  ber  Sßettlitteratur. 


Siotb  unb  ©ift.   LXXV.  255. 


21 


2lus  Düffelöorfs  (Blan^pocfo. 

Unge&rucfte  Sriefe  t>on  ßeiijc  2Ttcnö«Isfo^n>Barl^oI6y*). 

Don 

3ofepÖ  Soeften. 

—  K5ln.  - 


lobt  wenige  beutfdie  ©täbte  f»aben  in  iliren  SJfauern  ein  fo  »iel* 
feittg  angeregtes  geifttgeS  Seben  in  einem  »er^ältmfjmäfeig  ftirjcn 
3nnfd)enraum  jur  ©ntfaltung  unb  SBlütlje  fommen  feilen,  tote 

SDüffetborf. 

©ie  mreergteidjlidje  ©artenftabt  ^atte  fidE»  fdjon  burdb,  bie  SSBirffamfeit 
bes  alten  33urgmüller,  beS  SaterS  beä  attjufrül)  bat)ingefd)tebenen  S-om« 
poniften  Norbert  SBurgmüller,  einen  root)foerbienten  Sftuf  auf  mufifalifcbetn 
©ebtete  erroorbeu,  ber  bort  in  ben  toeiteften  Greifen  ben  ©runb  einer 
geregelten  mufifalifcfien  öilbung  ju  legen  unb  ben  Gifer  für  bie  STonfunft 
nadi  Gräften  ju  beleben  beftrebt  war.  Qn  Äarl  Qmmermann  Iiatte  bie 
beutfdje  ©idjtfunft  unb  Säbine  iliren  großen  2tpoftel  rotebergefunben,  ber 
gerabe  frier  mit  glüdttd^er  £anb  feine  reformatorifdie  ifcljätigfett  entfaltete. 

©eit  bem  ^ab,re  1826,  in  roeldjem  SBilljelm  »on  ©djabom  mit  fetner 
jungen  Jtunftterfdjaar  in  ©üffetborf  einjog,  fdnen  Ijier  eine  neue  ^lütfje 
ber  Äunft  aufzugellen.  2lu§  biefer  ©dmte  gingen  ein  Sefftng,  ©otm, 
33enbemann,  föfibner,  ©djröbter  unb  ©firmer  fiertior,  beren  ß^arafter 
roefentlid)  ber  romanttfd&en  ©idjtung  entfpract).  2tudfj  ber  jugenbUdie  gerbi» 
nanb  Xljeobor  £ilbebranbt,  ber  nachmalige  Selirer  unb  ^ßrofeffor  an  ber 
©uffelborfer  ßunftafabemie  (geb.  2.  ^uli  1804  5U  Stettin,  geft.  29.  ©ep-- 
tember  1874  5U  ©üffetborf),  fam  mit  ©djaboro  nadj  ©fiffelborf. 


*)  »fll.  »tiefe  au»  ben  3aftren  1830  bis  1847  Bon  fjelts  3nenbel8fobn.93artf>olb&. 
ßetpjifl  1865.  2  SBänbe.  herausgegeben  »on  Dr.  SuItuS  8Hefc  unb  gelt;  SNenbelSfobn. 
SSartboIbt).  Briefe  unb  Erinnerungen  oon  fjerbtnanb  filier,  flöln  1878.  SSerlag  bou 
ffiu  2Ront«@djauber0. 


  Uns  Dflffel&orfs  (Slattsepodje.  


309 


3n  biefen  EretS  trat  im  ^aljre  1832  sunt  crften  9M,  auf  einer  Steife 
nad)  gJariS  jum  5Befud)e  ber  rlieimfdjen  Äunftftabt,  ber  jugenblidje  geltr 
SWenbelSfoljnsSartfjotbi).  9lafy  %afyc  unb  £ag  jog  9JJenbelSfobn  fd)on  als 
SJtufifbirector  in  ^üffelborf  ein.  @r  fanb  sunäd)ft  fdjroierigere  SBerljältniffe 
r>or,  als  er  erroortet  b>tte  unb  in  bem  ^rioatfreife  feines  elterlichen 
Kaufes  geroolnrt  mar.  ©d)on  bie  erften  ©oncerte  matten  il)m  Biet  Arbeit. 
@rft  als  ßtjor  unb  Drdjefter  greube  an  ber  ©ad)e  unb  2td)tung  cor  bem 
unermüblidjen  gleite  il)rc3  SeiterS  empfanben,  fam  aud)  ein  rediter  3U8 
in  bie  ©ad)e.  3U  Wefen  anftrengenben  ©efdjaften  blatte  ÜJlenbelSfofm  mit 
ber  3^it  aud)  bie  Seitung  ber  Dper  bei  bem  neuen  ^eaterunternelmter 
ßarl  Zimmermann  übernommen  unb  mar  f)ierburdj  mit  einem  ©djlage  als 
„©reiunbjroanjigiäfiriger"  ber  Siebting  ber  ganjen  ©tabt  geroorben. 

2tber  aud)  in  feinen  perföntidien  33ejiel)ungen  entroidelte  er  nad)  bem 
Urtf»etCe  ber  3eügenoffen  eine  ungeroöljnlidje  SiebenSroürbtgfeit,  SRunterfeit 
unb  33eroegltd)feit.  3tnregenb  unb  belebenb,  roie  fein  fünftlerifd)er  ©eift 
mar,  gab  er  überall  melir,  als  er  narmt.  ©0  war  eS  benn  fein  SBunber, 
bafe  um  biefen  Siebling  ber  ©ötter  fid)  eine  ©djaar  von  greunben,  2tn* 
betern  unb  ©önnern  fammelte.  SftenbelSfolin  fat)  fid)  jebod)  nad)  geraumer 
3cit  t>eranlaf?t,  »on  ber  ©irection  ber  $>üffelborfer  Dper  jurücfjutreten. 

SBolfgang  3JJüffer  oon  ÄontgSrointer  b>t  baS  SBerbienft,  in  feinem 
befamtten  SBerfe:  „©rjctylungen  eines  rb>imfd)en  ßljromften,  ßarl  Ummers 
mann  unb  fein  JtreiS",  33anb  1,  ©.48  (Seipjig,  SrodfyauS)  bie  ©rünbe, 
roeld)e  für  9BenbetSfob>  hierbei  entfdjeibenb  waren,  in  baS  red)te  Stdjt 
gefegt  ju  Ijaben.  „®aS  2Bab>e  an  ber  ©adje  ift"  —  fo  läfst  er 
■IWettbelSfofyt  felbft  fagen  —  „bafj  mir  bie  2lrbeit  über  ben  Äopf  roäd)ft. 
^ebermann  weiß,  roieoiel  id)  mit  ben  Goncerten  ju  tfiun  fyabe.  2lllerbtng3 
nmrbe  id)  in  einem  fd)road»en  2tugenblide  ju  bem  23erfpred)en  liingeriffen, 
bie  l)auptfäd)tid)ften  Dpcrn  ju  leiten,  roeil  meine  $reunbe  midj  baju 
brängten.  9tun  bin  td)  aber  ju  ber  ©nficf)t  gelangt,  baß  id)  melir  »er* 
fprod)en  babe,  als  id)  leiften  famt.  3d)  »erliere  mtd)  unb  meine  Sompofü 
Honen  über  all'  bem  ©d)affen  unb  2Birfen  in  ber  Stu&enroelt.  Ta  nun 
aud)  mein  $reunb  QuliuS  9Jiefc,  ben  mir  für  bie  £>irectton  ber  Dper  im 
Mgemeinen  von  Berlin  berufen  fiaben,  fid)  überaus  roaefer  unb  tüditig 
erroeift,  roie  id)  es  nidjt  anberS  erroartete,  unb  ba  id)  alfo  burdjauS  über« 
flüfftg  geroorben  bin,  fo  l)iett  idj  es  an  ber  3«*/  m^  jurüdfjujieb^en,  um 
an  meinem  Dratorium  Paulus  ju  arbeiten,  ©n  Mnftter,  ber  (StroaS  vor 
fid?  bringen  roill,  barf  fid}  aber  nierjt  ju  fef)r  jerftreuen.  liabe  bis 
jefct  nod)  ju  roenig  [geteiftet.  9JJit  meinen  Siebern  unb  ßlanierftücfen  ift 
erft  ber  3Bcg  su  einzelnen  ^erjen  gebahnt.  3)?it  meinem  neuen  SBerfe  Ijoffe 
id?  mir  baS  SBotf  ju  gerotnnen,  fo  ©ort  roill!" 

üfienbelsfoljn,  ber  fid)  in  feinem  Vertrage  nur  auf  .'jroei  ^ab^re  ners 
pftid&tet  blatte  (»ergt.  SampabiuS,  „$dix  9JJenbelSfo^n^artb^otbn",  Seipjig 
1848,  ©.  43),  ging  1835  nad)  Seipjig,  um  bie  ©irection  ber  ©eroanbbauS* 

21* 


3\0    3»fepl?  3oejien  in  K5ln.   

©oncerte  ju  übernehmen.  9tod)  in  bemfelben  grühiahr  tjattc  et  baS  SDiufif« 
fcft  ju  Mtt  unb  am  2.  Quli  1835  feilt  tefcteS  ßoncert  in  Eüffetborf 
birigtrt.  2tu<^  bic  ©Item  roaren  oon  SBertin  herbeigeeilt,  um  ben  Triumphen 
il)re§  Sohnes  6eijuroohnen.  33on  ben  ßeitgenoffen  wirb  uns  berietet,  bafj 
felbft  biejentgen,  bie  9RenbetSfohn  als  einen  fremben  ©inbringling  angefehen 
unb  ihm  mannen  ©erbruft  bereitet  Ratten,  burd)  fein  Glamercapriccio  in 
H-nioll  ocrfö^nt  geroefen,  jeber  SJtunb  beS  Rubels  uoll  uub  sugleidj  ber 
Trauer  fein  @nbe  geroefen  fei. 

3n  Scipjig  »offenbete  er  feinen  ^ßauluS.  2lm  22.  ÜDiai  1836,  einem 
Sßfingftfonntage,  rourbe  btefeS  Oratorium  jum  erften  3Rale  in  $üffetborf 
(im  Secfer'f^en  Saale)  aufgeführt,  Seit  Sohl""  Sebaftian  ©ad),  §änbel 
unb  Qofeph  §apbn  hatten  bie  Reiften  biefe  gorm  oertaffen.  9)?o;tart 
roibmete  lid)  nornehmlid)  ber  Oper  unb  ©eetljoöen  ber  Sinfonie.  9lun 
fd^tug  am  3thein  mit  einem  Schlage  ein  junger  fechSunbjroanjigjähriger 
Componift  burd).  3Wan  überreichte  Bei  biefer  ©cCcgcnfjett  bem  gelben  beS 
£ageS  ein  ^rachteremptar  beS  Paulus,  mit  trefflichen  £anbjeichnungen  oon 
ßitbebranbt,  9lbolf  Sd)röbter,  ^futiu«  £übner,  ßbuarb  Steinbrütf  unb 
Heinrich  3Hüde  illuftrirt. 

©aS  erfte  SBerf,  roeldjeS  3flenbelSfof)n  nach  feiner  3lbreife  x>on  Düffel* 
borf  Bomahm,  roar,  bajj  er  in  $ranffurt  am  Sfltnn  bie  groben  beS  oon 
feinem  erfranften  ftrcunbe  Scfjclble  geleiteten  6äcitiem)eretnS  fortführte. 
£ier  lernte  ber  „Solm  ber  ^immttfdhen  ©äcitia"  auch  feine  fpätere  ©atttn, 
ßäcitia  ^eanrenaub,  tennen. 

2luS  biefer  fonnigen  Qät  beS  jugenblichen  Schaffens  unb  Strebend 
ftammt  ein  ©riefroedjfel*)  aus  bem  9Jad»laffe  beS  treuen  greunbeS  beS 
grofjen  £onbid)terS,  beS  ^ßrofefforö  gerbinanb  Stieobor  £ttbebranbt,  ju 
©üffclborf.  21'ahre  greunbfdfjaft  »erbanb  bie  beiben  Äünftlematuren  bis 
an  ihr  SebenSenbe.  ©ing  baS  Sebcn  beS  ©inen  in  lieg  runb  unb  ferrig 
abgefdjloffen  bahin,  fo  roaren  bem  3lnberen  im  Saufe  ber  $ahre,  bie  er 
ben  greunb  überlebte,  mannigfache  Prüfungen  unb  Sd)idfalsfd)läge  nicht 
erfpart  geblieben. 

®iefe  Briefe  finb  geeignet,  ben  Äünftler  unb  SKenfcfjen  ihre«  Schreiber* 
in  einem  Haren  unb  ruhigen  Sichte  erfcheinen  ju  laffen  unb  über  manche 
Vorgänge  uub  ^erfönlidifetten  aus  ber  bamaligen  £üffelborfer  unb  Seipjiger 
3eit  Sluffdjlujj  ju  geben.  ^n  biefer  £tnfid)t  bürften  fte  auch  *>aS  ©ilb 
ber  ^erfönlichfeit  beS  grofjen  Cannes,  roie  es  aus  ben  ©rieffammlungen 
non  Julius  9fte|3  unb  gerbinanb  filier  uns  entgegentritt,  einigermaßen 
ergänjen. 

Sie  ©riefe  aus  Seipjig  unb  granffurt  Dom  %at)xt  1835  unb  1836 
ftammen  aus  beS  2JJeiftcrS  ^fiißetibgeit,,  bie  ©riefe  oom  Qahre  1847  finb 


*)  $iefe  SBrtcfe  fmb  mir  »on  befreunDettr  (Seite  jur  Verfügung  geflellt  toorben. 


  aus  Dfiffelöerfs  <Bfan3epodje.  - —  3U 

roenige  SBodjen  vor  bem  am  4.  9fooember  1847  erfolgten  £obe  3JJenbefö= 
fob,n£  getrieben. 

3$  glaube  barjer  ben  »tefen  greunben  ber  beiben  Äünftler  unb 
greunbe  einige  biefer  Briefe  von  allgemeinerem  ^ntercffe  befannt  geben 
p  follen: 

-ßeiusig,  ben  31.  October  1835 
(wäljrenb  bie  ©loden  fctjön  »um  3tefortnationBfefte 
läuten), 
ßieber  §i(bebranb! 

§abe  bielen  Sant  für  Seinen  lieben,  lieben  ©rief,  für  ben  Idj  Sir  fdjon  tänflft 
ftätte  banfen  unb  barauf  antworten  follen  (wäre  e8  aucf)  bloS  au8  Sigemrnfc  geroefen, 
um  balb  Wieber  einen  gu  befonraien)  ober  id)  mar  bie  3eit  Der  febr  gelje&t  unb  anßeftrengt 
unb  finbe  erft  jefct,  ba  id)  wegen  einer  Keinen  Unpä&Iicfjfeit  baS  3immer  büten  mu&, 
bie  redjte  2Jlu{»e,  um  Seine  freunblidjen  Seilen  fo  red)t  con  amore  ermibem  gu  fönnen. 
SBobl  trar  e8  eine  gute  3eit,  wo  Su  täfllid)  an'S  JJenfter  fommen  unb  in  mein  grub,« 
ftütf  Ijineinguden  fonnteft,  wo  Su  meinen  Sagen  baburd)  gtetdj  einen  bergnügten  Slnfang 
gabft,  unb  baran  babe  id)  toobl  oft  fdjon  gebadtt,  wenn  id)  leiber  gang  ungeftört  früb> 
früden  fonnte,  überbaust  mu&  id)  Semen  unb  ©djirmer'S  Brief  nidjt  gerabe  burdjlefen, 
Wenn  id)  (Sud)  meinen  neuen  2lufentt)alt  gang  unb  gar  loben  foH;  benn  für  bie  bieten 
f  rofjen  Stunben,  bie  wir  gufammen  bitten,  finbe  id)  t)ier  worjl  leinen  (Srfatj  unb  9ttd)tB, 
was  baran  erinnern  tonnte.  Safür  aber  geftebe  id)  Sir,  bafe  id)  erft  b,ier  redjt  empfinbe, 
wie  fer)r  biet  mir  in  mufifaltfdjer  ©tnficrjt  bort  abging,  tt>ie  biele  unb  gang  unnüfce 
Quälerei  id)  mit  mandjen  Singen  blatte,  bie  nun  einmal  eben  burd)  ben  guten  SffiiHen 
ber  ©ingelnen  nidjt  gu  fdjaffen  finb,  uno  wie  id)  mid)  alfo  in  Söegietjung  auf  mein 
öffentliches  SEBirlen  bier  gufrleben  füllen  mu&.  Sa8  3nftitut  ber  ©oncerte,  bei  benen 
id)  bin,  befteljt  feit  mebr  als  fünfgig  3abren,  SlffeS  ift  im  guten  georbneten  (Sange, 
manche  alte  hergebrachte  ©ewobn&etten,  bie  mid)  gutoeilen  rubren  tonnen,  weil  fte  auf 
eine  oergangene  3«t  nod)  binbeuten,  wie  mid)  benn  audj  ein  3»Pf  ober  eine  Sßerüie 
«ineB  alten  $ernt  erfreuen  fann  —  babei  ift  ba8  Orcbefter  tneiftentbetlB  jung  unb  lebenbig, 
ungemein  fid)er  eingefpielt,  fogar  einige  berühmte  SJtufifer  barunter,  id)  habe  einige 
meiner  Oubertüren  mit  meljr  (Snfemble  unb  (Senauigfeit  gebort,  alB  jemals  fonft,  unb 
Ijabe  babei  ba8  Vergnügen,  ba&  fte  felbft  SlbenbS  jeben  augenblicttidjen  ©nfaff  unb 
äßinl  be8  StaftftocfeS  berfteijen  unb  ausführen.  SBenn  Su  baS  mit  managen  Proben 
unb  Auffüllungen,  bie  Wir  gufammen  erlebten,  »ergleidjft,  fo  taitnft  Su  Sir  benten, 
bafe  mir  e8  hier  in  mufifalifdjer  £>infid)t  wobler  ift  —  aber  wenn  fo  ein  @tücf  3Raler» 
SIfabemie  nad)  Ceipgig  mitten  unter  bie  Serchen  gießen  wollte,  fo  wäre  cS  bod)  ein 
luftiges  lieben.  Sa8  getjt  nun  freilief)  nid)t,  unb  fo  fudje  id)  mid)  gurüdgugieben  unb 
fteifiig  gu  arbeiten.  SBenn  mir  eS  gelingt,  fo  bente  id)  mid)  gegen  ben  grübling  auf* 
gutnadien  unb  ein  paar  Monate  gu  gufj  gu  geben;  ba&  id)  bann  jebenfaHS  über  Süffel« 
borf  tomme  unb  wofjt  mal  eines  SWorgen«  bineingude,  Wie  ber  #err  2Mer  frübftüden 
tbun  —  ba8  ftebt  feft.  Sagwifd)en  liegt  nod)  biet  Sdmee  unb  $agel  unb  16  Abonnements» 
<5oncerte,  (benn  fünf  finb  erft  borbei)  unb  Ijoffentlid)  ntandjeB  ffirieflein  Bon  Sir,  unb 
überhaupt  eben  ein  paar  lange  SWonate  —  aber  id)  freue  mid)  bod)  fdjon  Jefct  barauf, 
fobalb  id)  lebhaft  baran  benfe.  —  SDBie  fchlfmm  fte&t  e8  aber  mit  ber  ebeln  SJcalerfunft 
gu  ßelpgig!  SBer  tarn  in  ber  SDJeffe  ber,  unb  Wirb  nod)  {efet  immer  bom  Stbreifen 
gurüdgcbalten  burd)  SSeftellungen  bon  SßortraitS?  äßen  bält  Seipgig  für  ein  gefdjidteS 
Shrldjen?   Sliemanb  anberS  als  Sßrofeffor  ®rünler*).   6r  malt  meljreTe  bide  S3ud)> 


*)  (Sbregott  ©tünfer,  Sßrofeffor  unb  Hofmaler  in  3<ulenroba,  malte  anfangs 
b;iftorifd)e  Silber,  raarf  fid)  fpäter  aud)  auf  bie  SarftcHung  bon  Spieren  (Sdjafen),  bie 
ilpn  beffrr  gdangen,  als  jene. 


3{2    2o\tfk  3oejten  in  Köln.   

hänbler  mit  i^ren  grauen,  unb  alte  rühmen,  ba&  man  faft  gar  nidjt  gu  fifcen  brause 
nnb  bod)  feien  alle  Sötlber  gleich  „gum  örfennen".  3<h  fud&te  mehrere  mal  fehr  gering« 
fdjäfeig  Bon  ihm  gu  leben,  aber  ohne  Grfotg.  Neulich  [teilte  itjn  mir  fogar  einer  öor, 
aber  id)  mar  ber  Süffelborfer  Slfabemie  eingeben!,  gu  ber  id)  halb  unb  b>lb  gehöre 
nnb  id)  betrug  mid)  ferjr  grob  unb  furg,  wegen  ber  SBafferflüffe  S9abülonS,  unb  anberen 
Unfugs,  ben  id)  Bon  ifem  gefehen  Ijabe.  Sludj  ©enelti*)  ift  %\tt,  fdjirapft  auf  gang 
ßeipgig,  unb  bie  gange  SBelt,  unb  malt  nidjtB.  Sfculidj  toaren  einige  gwangig  Silber 
auBgtfiellr,  bte  Born  SreSbener  ffunftberein  Betlooft  werben;  baS  befte  batunter  roar 
offenbar  unb  nad)  allgemeinem  Uitljeile  ber  §an8  ©adjS  Bon  Oer**);  mid)  freute 
eS  nod)  apart,  tote  id)'S  fo  fertig  unb  fdjän  gefirnifjt  fah,  unb  mid}  ber  Stli  erinnerte, 
too  e8  fialb  unbemalt  baftanb,  unb  id)  Sir  gum  Portrait  fafj,  unb  Su  Oer  Statbfdjläge 
mit  ber  fjingtrfpiadje  gabft,  unb  id)  bie  Nürnberger  Sljütme  als  Sanbfdjafter  tabelte  — 
eS  madjt  nun  bod)  einen  redjt  angenehmen  Sinbrucf,  unb  gefällt  tote  gejagt  allgemein. 
Slufierbem  roaren  ein  paar  nette  ©egenftänbe  ba,  nament(id)  eines  bon  SBurfel***),  t»a£ 
mir  mbeffen  ferjr  obenhin  gemalt  fdjien,  im  (Sangen  fduen  mir  nur  weniges  SBerttj  gu 
haben  —  ein  SBerliner  SBilb  mit  Sßferben  unb  9tettfnedjten  mar  gräfjlid)  langweilig  — 
ber  eine  Steithtedjt  mufj  als  2Bürje  eine  SBäfdjeriit  umarmen  —  eS  bleibt  bod)  [0119* 
toeilig.  Sagegen  habe  id)  ein  flubferwerf  gefehen,  baS  mid)  fet>r  amüftrt  fyxt:  eS  ftnb 
SßineUi'St)  Silber  gum  ©ebidjt  SDteo  $atacca.  Sennft  Su  baS?  ®S  erinnert  gar  gu 
fefjr  an  3tom,  mit  allem  $raditBoden  unb  Predigen  burdjefatanber.  Noch  mu&  id)  Sir 
Bon  einer  Sängerin  (ber  ©djtoefter  bcS  3KaIerS  ©raoau)tt)  ergät)Ien,  bte  hi«  ift,  tmb 
bie  SDu  einmal  feinen  foateft,  Wenn  fte  »ecthoBen'fdje  Sieber  fingt.  ©0  etwas  SSoO« 
lommenes  ift  mir  feiten  bei  einer  beutfdjen  Sängerin  Borgetommen,  unb  bie  Süffel« 
borfer  äRufenföhne  würben  fdjtoärmen,  wenn  fte  btefen  glocfenrehten  Jöortrag  hören  tonnten. 
SEBenn  fie  ein  biStfjen  hübfd)  Wäre,  unb  iünger,  fo  mü&te  id)  mid)  auf  ber  ©teile  Per« 
lieben  unb  thäte  ben  gangen  Sag  nidjts,  als  Sieber  componiren,  währenb  id)  jefct  an 
ber  iBoKenbung  beS  SßauluS  fteifjig  arbeite.  Sfber  Bergeü),  bafj  id)  Sir  fo  Biel  Bon  mir 
unb  meinen  Umgebungen  ergäble,  ttaB  Stdj  BieKeid)t  gar  ntdjt  tntereffiren  mag.  3<h 
thue  es  aber  mit  Slbfidit,  Weil  Su  audj  gar  gu  wenig,  ober  gar  nichts  oon  ber  Seimgat 
fdjrcibft;  bitte,  lieber  $iHenbart,  hole  baS  halb  nach,  unb  fage,  was  Seine  gfantttie 
macht,  ob  bie  bringen  nod)  leben  ober  fdjon  gemorbet  ffatb,  toaB  Su  für  SSitber  im  ffiopf 
haft,  ergähle  mir  Bon  ©c&aboro's  unb  Bon  Sud)  allen,  audj  bom  Sheater  unb  3mmer« 
mann,  ba  eS  mid)  intteffirt,  Bom  ©tngberetn  unb  bem  Statt)  ber  Stilen,  unb  bor  allen 
Singen  fdjreib  mir  halb  mal  wieber.  SDlit  ^erjlidjen  ©rügen  an  Seine  grau  unb 
SDtariedjen  bin  id) 

Sein 

fjfelij  'JKenbelSfohn^aSartholbB,. 


*)  SBonaBentura  ©enetll,  3eid)ner  unb  SOlalcr,  geb.  27.  (September  1800  gu  »erlin, 
geft.  13.  Siobember  1868  gu  äBeünar,  lief?  fid)  nad)  feiner  fflücffehr  bon  3talien,  1832  in 
Seipgig  nieber,  um  bort  für  ben  Soctor  $äitel  einen  ©aal  in  beffen  ©artenhaufe 
mit  SrcBfen  gu  fcfemücfen. 

**)  Sthcobalb  Bon  Oer,  ber  aus  SBeftfalen  ftammt  unb  fpäter  als  SJtaler  in 
SreSben  wohnte. 

***)  iöeinrid)  Eürtcl,  ©enre«  unb  £anbfd;aftSmaler. 

t)  SBartholomeo  Sfitnetli,  SMer,  geb.  1781  gu  »om,  geft.  bafelbft  1.  Hpril  1835. 
(SDleo  Sßatacce,  Sialect). 

HO  Ser  SanbfdaftS«  unb  Sthicrmalcr  Gferiftian  ©rabau,  geb.  1809  gu  ©remen, 
ber  mit  Vorliebe  «tafferfälle  barfteüte  unb  ftd)  inSbefonbere  burd)  feine  Shterftmte 
auSgeichnete. 


  Jlns  Düffelberfs  <5lanjepo<f;e.   


3\3 


Srantfurt  aßJl  ben  26.  3«ni  1836. 

Siebet  fcilbebranb! 

Riebet  erfolgt  ein  83rtef  ber  girma  äkeiilopf  &  fcärtet  mit  bem  c8  fo  gufammen« 
bängr.  Sie  fcbteiben  an  mid)  unb  baten  icb  mödjte  Sid)  bitten,  Su  mBdjteft  erlauben, 
bafj  fle  für  Ujre  muflfalifcfie  Rettung  Sein  Portrait  bon  mir  in  fletnem  ftormat  ftecben 
(ober  litbograpbtren)  liegen.  3&re  Slbficht  fchien  gu  fein,  Sein  23ilb  in  ßeipjtg  cophen 
gu  Iaffen,  unb  ba  id)  bor  ber  Seipgtger  $ortrattma(erei  unb  =ftecfjeret  ljöttifdien  Stefpect 
babe,  fo  fdirieb  id)  tljnen  gurüi,  fie  mürben  beffer  tbun,  bie  Sache  Sir  mttjutbeiten  unb 
antjeim  gu  (teilen;  treit  Xu  bieüeidjt  ht  Süffelborf  felbft  ober  in  Göln  fotch  einen  ©rieb 
beforgen  unb  beffer  machen  Iaffen  tannft,  als  fie  in  ßeipjtg.  @ie  fragen  nun  alfo  bei 
Sir  an,  ob  Su  biefe  ©efälligteit  toben  tr  oflteft?  Sa  benn  bod)  baS  Portrait  in  jebetn 
Sfa&e  berauBiommen  faßte,  fo  märe  mir*»  natürlid)  lieber,  toenn'S  gut  mürbe,  unb  bagu 
fattnft  Su  geaifj  am  heften  berbelfen.  Stimm  bie  Seläftigung  nid)t  übet,  bie  Sir  baburdj 
entftebt,  unb  tbue  mtr  unb  Härtel'«,  toenn  Su  eS  tamtft,  ben  (gefallen,  Sid)  beB  SingeS 
anguuebmen,  bamit  id)  mit  einem  bernünftigen  (Sefidjt  in  bie  ÜBelt  tbmtne. 

SBenn  e8  möglid)  ift,  fo  anttroite  ibnen  recht  balb  auf  tbre  SBitte,  ut>b  fielen  bann 
gugleid)  ein  paar  8*ü™  an  mid)  mit  ab,  fo  märe  baS  freilief)  befto  prächtiger ;  toenn 
aud)  meiter  nichts  brtn  ftänbe,  als  toaB  Su  unb  bie  Seinigen  machen,  unb  wie  eS  ©djaboio 
mit  feiner  ©efunbbtit  gebt. 

3d)  lebe  fjitx  fetjr  angenehm  unb  mit  bieten  licbenSmürbigen  Beuten;  bod)  braudje 
id)  nod)  3cit  mid)  bon  ben  Süffeiborfer  Arbeiten  ju  erboten,  beren  Stnftrenaungen  id) 
erft  tjier  gu  fiiblen  anfing.  Sftoffini'8  Slntoefenbeit  fjier  bat  alle  Diufifec  in  Sllarm  ber« 
fefct,  unb  mir  Diele  ftreube  gemadtf,  n  eil  er  ber  geifireiebfte,  amüfantefte  ©efeflfebafter 
ift,  ben  man  tn  ber  2Mt  finben  fann.  Sind)  2J!ufif  baben  mir  manches  SDcal  mit  ein« 
anber  gemacht,  unb  id)  tverbe  Sir  luftige  Slnefboten  oon  tbm  gu  ergäblen  baben;  ©chabe 
bafi  Su  fie  ntd;t  gleid)  felbft  ergäblen  fannft ;  eS  märe  ettraS  für  Xid).  ©r  ift  ein  toller 
SJhing.  Slud)  Pon  ber  biefigen  StuSftellung  merbe  id)  mancherlei  gu  ergäben  baben;  ein 
ebarmanteS  fflilb  bon  ©chelfbout*)  toar  mieber  ba,  unb  überhaupt  mebrere  bübfebe 
©achen.  Sie  2J?abomta  bon  Seger**)  unb  bie  Sanbftfjaft  von  Sßofe  ftbienen  alle 
Srantfurter  Jhtnftfenner  fetjr  gu  entgücfen,  unb  eS  mürbe  brüber  Biel  gefannegiefsert  bin  unb 
ber.  ©eftern  erbielt  id)  einen  furgen  Sörief  con  SBortngen,  11  orin  er  mir  mieber  alles 
möglidje  Unangenebme  über  baS  Süffelborfer  SRufiffeft  unb  Sföufifaefcn  naditräfilich  aug« 
gutrinfen  giebt;  cB  totrb  n>ot)i  nidjt  fo  fehlimnt  fein,  tote  er  eS  anrieht,  in  feinem  Salle 
aber  fptid)  ihm  babon. 

3d)  habe  aber  leine  ©chrctblaune,  toeil  id)  in  S— 4  Sffiodjen  nieber  in  Süffrlborf 
gu  fein  bente  unb  bann  2lD.cS  beffer  münblid)  fagen  lann,  einen  Slbenb  müffen  mir  bann 
aieber  bei  Sir  mit  Schirmet  allein  gubringen,  unb  toenn  nod)  Pflaumen  ta  fmb,  fo  bitte 
id)  Sehte  grau,  fie  bis  babin  aufjubeben.   Sffen  toül  id)  fie  bann  fcfjon. 

ßebe  nun  toobl,  fcilbebart!  ©rüfje  mir  ©chirmer  unb  SSenbemnnn  bielmal  unb 
lebe  toobi. 

Sein 

3-eltr,  3)cenbel8foljn«JSartbolbt). 

ffranffurt  aßR,  ben  10  ©ept.  1847. 
SJiein  lieber  §llbebranb!  §abe  bielen  Sanf  für  Seinen  frcunblidjen  SBrief,  ben  id) 
fo  eben  bei  meiner  Slnfunft  biet  empfing.  Unb  fage  aud)  Seinen  (Sollegen  Pom  SJiufif« 


*)  HnbrcaS  ©d)dfbout,  ßanbfchaftBmaler,  geb.  1787  im  fcaag,  geft.  baf.  1870. 
**)  (Srnft  Seger,  £tftorienmaler,  ber  mit  ben  SBrübern  SlnbreaB  unb  ffarl  SWülIer 
aus  Sarmftabt  unb  Ofrang  Sttenbadj  au8  StonigBmintcr  bie  greSfen  in  ber  älpoDinariS« 
fird)e  gu  Remagen  am  JRfjein  unb  fpäter  bie  greSfcn  in  ber  ©chlo&capeHe  ber  Burg 
©tolgenfels  gemalt  bat. 


 3°f«plt  3oeften  in  Köln.   


Comite  meinen  Sant  für  baS  SBertrauen  baS  ftc  mir  burd)  i&re  Slnfrafle  bewetfen.  Sa% 
tnidj  bie  ©adie,  Bon  btr  e8  ftc^  banbelt,  lebhaft  intereffirt  unb  bafe  idj  baber  gern  bot 
beften  9tat&  geben  möchte,  ber  ftd)  nur  erfinnen  lägt,  baS  brauche  id)  Xtr  WobJ  nidjt  erft 
)u  Derfidjefn.  Slber  eS  wirb  mir  fdjwer  werben;  nenn  feit  id)  bon  Sfctefc'  Abgang  borte, 
babe  id)  oft  gebaut,  tuem  id)  wot)I  biefe  ©teile  wänfcrjte  unb  ^abe  niemaub  berauSfinben 
IBnnen,  ber  unbebinat  pa&te  unb  für  ben  fie  unbebingt  pa&te.  @be  idj  midj  baber  näber 
auSfpredje,  möd)te  id)  Sieb  bitten  mir  gu  fagen  (es  seiftest  ft*  unter  bem  Skrfprecben 
meiner  Säerfcbiuiegentjeit)  ner  ftcf)  bei  (Sudj  gemelbet  bat.  SBlelleidjt  ift  tiner  barunter, 
ber  beffer  pafst,  als  einer  Don  benen  an  bie  id)  gebadjt  l>atte;  unb  ift  baS  nidjt  ber  fjall 
fo  will  id)  meine  SBorfdjtäge  madjen  fo  gut  id)  tann. 

©oHte  fid)  feiner  finben,  ber  uon  allen,  bem  Sfcrein  unb  bem  ©omite  gteid)  bei 
Nennung  feines  StamenS  per  Acelamation  angenommen  mürbe,  rooütet  3br  bann  nidjt 
bteHeidjt  bem  SBeifpiele  beä  biefigen  <5aeciIten«2JereinS  unb  ber  SDiainger  Vereine  folgen 
unb  für  ieben  Bewerber  einen  Slbenb  (ober  me&rere)  beftimmen,  wo  fie  bor  fämmtticben 
iDtifgliebern  eine  Sßtobe  ibreS  SirigirenS  unb  SinftubierenB,  tr>re8  ElabierfpielS  unb  irjrer 
gangen  SIrt  ablegten,  roonad)  bann  bie  SSabt  fict)  rid)ten  IBnnte?  Sold)  ein  Skrfa^ren 
bat  mandjeS  2abeln8aiertbe,  aber  e8  ift  nid)t  gu  Iäugnen,  ba&  beibe  Vereine,  ber  fciefige 
tote  ber  SKainger,  fcfjon  mcijreremal  fet)r  gut  babei  toeggefontmen  finb.  SDtan  ga&Ite  ben 
SJeroerbern  Mos  bie  SWeifefoften  bin  unb  ber,  lief}  fie  nadi  belieben  ein  SBerf  gum  Sin« 
ftubiren  auswären  weldjeS  fie  tonnten  ober  worauf  fie  fid)  vorbereitet  Ratten,  nabm  aud) 
(wenn  id)  ntd)t  ine)  irgenb  ein  ibnen  unbelannteS  unb  bitbete  fid)  fo  fem  Uttöeil.  Sie 
Herren  ©djott  in  2Jtaing  unb  irgenb  einer  Seiner  biefigen  SBetatmten  mürben  3Hr 
geroijj  alle  Setails  barüber  beffer  angeben  tonnen,  wenn  Su  fie  Hüffen  woHteft. 

ÜJünftbcft  Su  nun  meine  Slntoort  batb,  lieber  fiilbebranb,  fo  fdjreibe  mir  balb 
nad)  Smpfang  biefer  3c«fen  bieber,  8lbr.  hötel  d'Angleterre.  3d)  bleibe  nod)  5—6  Sage 
frier;  naefeber  ift  meine  Slbreffe  mieber  Seipjig.  äUte  gern  id)  Sir  auf  aüe  Seine  fragen 
mit  meiner  beft  n  2lu«funft  gu  Sienften  bin,  braudje  id)  nidjt  erft  gu  fagen. 

gür  bie  3bte  mit  ber  Sßartitur  meines  (SliaS  unb  ben  Unterfd)riften  barin  für 
3tteö  banfe  id)  Sir  unb  allen  febr  berglid);  e8  bat  mir  febr  grofje  8-reube  gemadjt.  Unb 
bafj  Su  atfeS  bumme  3<u<I  bdjättft,  was  mir  beim  2Infdjaucn  Seiner  fdjönen  ©über 
burd)  ben  Sfopf  fat)rt  unb  toag  id)  folg(id)  Sir  aud)  gleid)  fage,  ba8  bat  mid)  faft  be« 
fdjämt.  SIber  Su  weißt  ja,  wie  e8  gemeint,  unb  wie  fid)  niemanb  me&r  barüber  freut 
als  id),  trofc  ber  bieten  curiofen  Lebensarten,  bie  babei  gu  boren  finb.  §offentIid)  febe 
id)  Seinen  OtbeDo  recht  balb;  bie  Se8bemona  fte&t  mir  woljl  immer  »or  äugen,  feit  id) 
Sein  58ilb  tenne,  unb  fo  muf}  e8  jebem  geben. 

9hm  grü&e  mir  grau  unb  flinber  redjt  frergtid)  unb  fei  bon  ben  meinigen  ge> 
grü&t.  3mmer 

Seht 

Seltj  SKtnbet8fobn«58artbolbr». 
ßeibgig,  ben  1.  October  1847. 

SWein  lieber  ftilbebranb! 
Unter  ben  neun  Bewerbern,  bie  Su  mir  in  Seinem  testen  Briefe  nennft  ftebt 
©tHer  fo  entfd)ieben  obenan,  bafj  nad)  meiner  SMnung  fein  3'<>eifet  barüber  fein  tarnt. 
<5r  ift  t>urd)  fein  Satent,  feinen  Stuf  unb  feine  Uebung  ben  anbern  bon  Sir  (Benannten, 
ja  id)  glaube  Sitten  überlegen,  bie  ftd)  irgenb  in  Seutfcblanb  für  eine  foldje  ©teile  finben 
liegen.  3n  biefer  Uebertegenb^eit  liegt  baS  eingige  Siebenten,  baS  id)  babei  gu  nennen 
roüfjte:  id)  geftebe  Sir  offen,  bafs  mir  bie  ©teile  nidjt  bebeutenb,  nicht  umfaffenb  genug 
für  fiiaer  fdjetnr,  unb  bafj  td)  batjer  ntdit  glaube,  bafj  fte  für  ibn  pafjt  (natürlid)  fage 
id)  Sir  bie?  unter  uns,  benn  e8  mürbe  mand)en  Sortigen  beriefen,  wenn  er  eS  erführe). 
3d)  fürchte,  bafj  $tUer  auf  bie  Sänge  mit  ber  bortigen  SBJirtfamteit  nidjt  aufrieben  fem 
tann,  unb  gwar  aus  mufifalifchen  unb  nod)  mebr  aus  perfönlidjen  @rünben  —  tnbef} 
er  mufj  ba8  am  Snbe  beffer  beurtb  eilen  Bnnen,  als  ein  Slnbercr  unb  toaB  feine  flemtt« 


  21ns  Düffelborfs  (Blansepodje.   


3\5 


niffe  unb  ßriftungen,  mit  einem  SBort  feine  fünftlerifcbe  Befähigung  ju  biefet  ©teile  an» 
langt,  barüber  fann,  tote  gefagt,  nicht  bei  minbefte  3t»etfel  obmalten. 

S3on  ben  Uebiigen  ift  eigentlich  nur  Jeimann  ©cbornflein,  ben  ich  aus  früheren 
3etien  al8  einen  guten  SWuftfer  fenne;  bie  Slnberen  fmb  mir  fo  gut  tote  gang  unbefannt. 
steinen  SBorfdjlag  mit  ber  (Soncurrenj  muß  ich  iticfjt  reebt  beutltcb  gemaebt  haben;  benn 
oon  öffentlichen  ßoncerteit,  bie  als  SBrobe  birigiit  toutben,  ift  babei  bie  Siebe  nidjt, 
fonoern  nur  bon  ben  regelmäßigen,  teBdjentlicben  Uebungen  beS  betreffettben  SJereinS. 
3nbefj  braucht  baran  natürlich  nicht  toeiter  gebacht  ju  werben,  nenn  eS  fich  bon  Seilten 
anertannten  Stufe  unb  betoäfjrtcr  Xücbttgteit  hanbelt.  labei  bleibe  ich  aber,  bajj  bei 
mehreren  ehtauber  jiemlich  gleichen  Bewerbern  eS  taum  ein  beffere»  Wittel  geben  bürfte, 
bie  tJrage  ju  entfeheiben. 

£en  Sluftrag  Wegen  ber  3enn«  ßinb  fann  ich  niefit  unbebingt  übernehmen.  34 
habe  fie  gu  lange  nicht  gefehen,  um  ctiraS  bon  ihren  Sßlänen  gu  miffen,  unb  e8  fehlt 
mir  augenbltdlicb  an  (Gelegenheit,  bie  Gorrefponbenj  mit  ihr  wieber  anjutnüpfen.  Stet' 
leicht  fomme  ich  mit  ihr  Bieber  im  Saufe  be8  fcerbfteB  gufammen,  bann  tonnte  ich  fie 
barüber  fragen;  aber  auch  baS  tann  td)  bem  Somite  nicht  besprechen. 
®rft  geftern  2lbenb  bin  ich  bon  83«rltn  wiebergefommen,  unb  

£ier  bridjt  ber  SBrief  ab.   2tn  btefer  Stelle  ift  rjermerft: 
N.  B.  Die  anbere  ftälfte  biefe»  Briefe»  habe  ich  an  bie  ffronprinjeffin  bon  ®ng» 
lanb  abgegeben.  §ilbebranbt. 

35tefe  anbere  Hälfte  muf?  rooljt  einen  befonberen  SBertr)  burd)  ir)ren 
^nb^att  gehabt  Ijaben,  abgefefjen  bar>on,  baf?  e3  einer  ber  legten  SBriefe 
beä  grof?en  £onbid)ter3  »or  feinem  am  4.  9io»ember  1847  erfolgten  £obe  ift 
■Jlact)  ber  Dr.  giiefc'fdjen  Sammlung  fdjrieb  SDlenbeldfolm  nod)  einen  33rtcf 
an  feinen  S3ruber  Sßaut,  an  ben  ©eneral  oon  SBebern  in  Berlin  con 
Qnterlafcn  au§  unb  am  25.  Dctober  1847  feinen  legten  33rief  r>on  Seipjig 
au§  an  feinen  Sruber  $aul. 


2$u£lan&  in  <£entralaften. 

Don 

€.  Maiäße. 

—   Breslau.  — 

ie  ©rpebttton  von  1879  gegen  bie  2lcha[=2efe  roar  alfo  boH* 
j  ftänbig  mtjßglücft.  @in  Unterfcbäfcen  bei  getnbel,  in  golge  beffen 
!  ba!  ungenügenbe  9tecogno!ciren  ber  fernblieben  ^eftung,  ber 
ÜDianget  an  33elagcrungl'3)iaterial  unb  eine  ganj  unjuretcbenbe  Vorbereitung 
bei  ©türme!  jelbft  roaren  bie  Urfacben  für  ben  ÜWifjcrfolg  ber  rufjifcben 
2Baffen. 

■pDafe  SRufelanb  bemnad)  für  ba!  näcbfte  Qabr  eine  smeitc  Unternehmung 
gegen  bte  2lcbal«£efe  in  2tuSfict)t  nahm,  roar  wohl  fclbftoerftänblicb.  9hir 
burcb  einen  oottftcmbigen  (frfotg  fonnten  bte  gefährlichen  6onfequensen  ber 
oerunglücftcn  @rpebition  roteber  aulgcgltcben  werben.  ®a!  9lnfeben 
Stufelanbl  in  3Jitttelanen  roar  jcbenfall!  gefäbrbet,  e!  mufete  unter  allen 
Utnftänben  aufrecht  erhalten,  eoentueH  roteber  bergeftetlt  roerben. 

3m  grübiabr  1880  begann  man  mit  ben  Vorbereitungen  baju.  ©eueral 
©fobelero,  ein  tbatfräftiger,  in  ben  ccntralaftatifcben  gelbjügen  erprobter, 
erfahrener  Dfftjier  rourbe  jum  Oberbefehlshaber  ernannt.  6r  oerftanb  bann, 
bte  1879  begangenen  fehler  ju  oermeiben,  aus  ben  barau!  hetoorgegangenen 
Sehren  aber  9Jufeen  ju  sieben.  Sehr  roefentlicb  für  ba!  ©elingen  bei 
Unternehmen!  roar  bie  Veranlagung  ber  Dperationlbafil.  9Jtcht  blo!  t>on 
SCfchififcblar  au!,  fonbern  auch  oon  bem  5D<ichaelbufen  bei  Rafpifcben  HKeerel 
foifte  gegen  bte  £efe=Dafe  oorgegangen  roerben.  £al  beinahe  gleich  weit 
»on  biefen  beiben  2lu!gaitg!punftcn  gelegene  Vami  roar  all  ^auptetappen' 
ort  aulerfeben.  Surcb  feine  Sage  in  ber  £efe*Dafe  jenfeit!  bei  Stopefc'Stogb 
forote  burcb  feine  Umgebung  roar  e!  »orjüglicb  geeignet  ju  einem  Sentral* 
ftüfcpunfte-   Schon  am  10.  $um  rourbe  e!  oon  einer  f leinen  3lbtheilung 


  Xufjlanl»  in  <£entralaf  ien.   


3*7 


ber  ©tappentruppen  unter  perfönttcBer  Seitung  beS  ©enerals  ©fobelew  ge« 
nommen,  befeftigt  unb  entfpredjenb  befefet.  ©ine  fed)Smonatige  SSerpflegung 
für  8000  2Jfamt,  ferner  10000  2trtiacrie=©cfrf>offe  unb  2  SöHUionen 
Patronen  follten  auf  benbeiben  ©tappenfrraßen  borthin  gefdjafft  werben. 
@S  mar  baher  bie  grimbtiche  ^nftanbfeftung  ber  SBege  vom  2)?ichaeibuien  unb 
von  Tfcbififchlar  fier  nothroenbig.  ©urcf)  bie  9lntage  einer  ©ifenbahn  com 
2Ridjaetbufen  über  2Mtafara,  2libin,  2lcbtfchafuima  in  bcr  SRirfitung  auf 
Sh)fnU2lm>at  würbe  ber  Transport  von  Gruppen  unb  SKatertal  noch  wefent« 
lidj  erleichtert.  ®er  S3au  mar  freilieft,  ein  fd)wierigcr,  einmal  ber  Terrain» 
üerhältniffe  wegen  unb  bann  in  gotge  beS  weiten  Transports  aller  baju 
nothwenbtgen  ÜJkterialien.  2lm  1.  Dctober  1880  waren  22  Kilometer, 
am  25.  Januar  1881  aber  106  Kilometer  fertig  gefteflt,  währenb  bie  ganje 
©treefe  btö  Kt)fnls2lrwat  im  (September  1881  BOÜenbet  mürbe.  Sßährenb 
ber  Operationen  gegen  bie  Tefe^Dafe  fanb  ber  SBerfehr  auf  ber  tranSs 
fafpifchen  33abn  aber  nur  bis  2libin  —  84  Kilometer  weit  —  mit 
fiocomottoen  flatt,  oon  bort  ab  biä  Slcfttfcbafuima  —  106  Kilometer  weit 
—  benutzte  man  fie  als  Sßferbebafnt.  SZBo  ber  SBahntranSport  aufborte, 
forme  »on  Tfchififcbtar  ab  unb  längs  beS  2ltref  unb  ©fumbar  mürben  SBagen 
ober  Sameele  »ermenbet.  £>ie  Sefcbaffung  »on  20000  biefer  erforberttchen 
fiaftt^tcre  mar  allerbingS  mit  großen  ©djwierigfeiten  Derfnüpft.  Stfefelben 
mußten  felbft  bis  von  Drenburg  l»erbeigefcb,afft  werben.  35ie  SJerpffegungS» 
mittel  famen  $um  größten  ^etle  aus  SRußtanb,  aber  aud)  in  Werften  würbe 
©etreibe  aufgefauft.  £)te  ©tappenftraßen  Heerte  man  bureb  2lnlage  oon 
aSefefttgungen.  Sie  ©tappentruppen  f»attcrt  für  ben  ©chu|  ber  Transporte 
ju  forgen,  bie  nom  ÜM  bis  jum  ©ecember  1880  febr  häufig  bureb  3lns 
griffe  feitenS  ber  Turfmenen  gefäfirbet  waren.  3Jacb  allen  bieten  oorbereitenben 
9Raßnaf)men  begann  erft  im  9iot>ember  ber  Transport  ber  eigentlichen 
©jpebitionStruppen  oom  ÄaufafuS  her. 

©eneral  ©fobelew  blatte  aber  bereits  im  ©ommer  bie  geinbfeltgfeiten 
eröffnet,  foroeit  bieS  bie  notbwenbige  ©rreidnmg  uon  beftimmten  sJie6en= 
5mecfen  erforbertid)  machte.  3Bäb,renb  1879  »om  ©eneral  Somafin  doH* 
ftänbig  außer  SKcbt  gelaffen  morben  war,  fieb  bureb,  jweefmaßige  3?ecognoS= 
drungen  Äemttntß  über  Stellung  unb  ©tärfe  bes  ©egnerS  ju  oerfchaffen, 
legte  ©eneral  ©fobelew  gerabe  barauf  ein  großes  ©eroiebt.  bereits  am 
1.  Quli  ging  er  mit  einer  fleinen  3tbtl)eilung  aus  93ami  auf  ©eoftepe  vor. 
3lm  5.  erreichte  er  nad»  einigen  fleinen  (Scbarmüfceln  Segani  unb  93atprfuL 
Unter  bem  ©chufce  norgefchobener  Trupps  mürben,  trofebem  teuere  fiel)  einer 
bebeutenben  3)taffe  feinblicBer  Leiter  gegenüber  fallen,  am  6.  bie  33e* 
fefrigungS werte  von  ©eoftepe  recognoScirt  unb  Terrainaufnahmen 'ausgeführt. 
2lm  10.  %nl\  traf  ©fobelew  wieber  in  33ami  ein.  ©eoftepe  foßte  von  10000, 
naef)  anberen  Nachrichten  von  40000  Tefe*Turfmenen  [befefet  fein.  %m 
■Jtooember  begann  ©eneral  ©fobelew,  fich  twrwärts  33ami  ©tüfepunfte  $u 
fchaffen.  ©o  würben  am  27.  ÄanjS  unb  Ketat,  30  Kilometer  von  ©eoftepe, 


■i 

s 


3\8 


  <£.  OTafdjfe  in  Breslau.   


ben  fid)  liartnädig  »ertbeibigenben  £urfmenen  entriffen,  am  30.  SHooember 
3egman=8att)rful,  11  Kilometer  »or  ber  feinblidjen  geftung.  Sefcterer  Crt 
mürbe  bann  als  ,,©amur*fiid)e  Vefeftigung"  511m  2lu3gangäpunfte  für  bie 
Operationen  gegen  ©eoftepe  fetbft  beftimmt  unb  »on  t)ier  au«  bie  Gtappen« 
ftrafje  nad)  Samt  organifirt.  9lud)  legte  man  in  btefer  neuen  Sefeftigung 
bebeutenbe  ©epots  oon  Verpflegung,  Munition  unb  SRaterial  an.  4000 
ßameele  unb  100  »ierfpännige  ÜSJagen  »ermittelten  ben  SBerfeljr  smifdien 
t)ier  unb  iöami.  63  trafen  je|t  aud)  bie  für  bie  eigentlidie  ©rpebttion  hf- 
ftimmten  Gruppen  ein.  ©3  waren  bieS  9  Bataillone,  8  ßompagnieen  unb 
2  ÄomtnanboS  Infanterie,  10  ©djroabronen  SReiteret,  meiftenä  Äafafen, 
1  Vs  ©ompagnien  ©appeurä  unb  cnblid)  75  ©efdjüfce.  $ie  ©efammtfiärfe 
be§  am  15.  ©ecember  in  ©amuräfoje  concentrirten  Gorpä  betrug  8000 
Streitbare. 

3ur  VerooHftänbigung  ber  am  6.  Quli  aufgeführten  9tecogno§cirung 
mürbe  eine  roettere  fold)e  am  4.  Seccmber  jur  genauen  Grforfdjung 
ber  SBeftfront  »on  ©eoftepe  unternommen  unb  fyatte  ein  jiemlid)  heftiges 
©efedbt  jur  golge.  ®a  ferner  9iad)rid)ten  bei  ben  Muffen  eingingen,  bafe 
in  ber  feinbltdjen  geftung  eine  grofje  S3erocgung  ftattfänbe,  mürben  am 
11.  unb  12.  ©ecember  bie  Slufflärungen  mieber^olt  2ln  legerem  Zaa/t 
fallen  fid)  bie  Muffen  in  ein  befttgeä  ©efedjt.  »errotdelt;  if)re  SSerbinbung 
mit  ©amuräfoje  mürbe  fogar  eine  3«ü  tan9  bmä)  bie  £efe3  unterbrochen, 
unb  erft  ein  auf  bem  Sager  au£rüdenbe£  ©etadjement  mufjte  biefelbe 
roieber^erfteHen.  sJlad)  ben  SRefultaten  ber  legten  MecognoScirungen  mar  alfo 
nid)t  anjune^men,  bafj  bie  ^urfmenen  it)rc  Stellung  fner  olme  energifdien 
SBiberftanb  aufgeben  mürben.  2lnbererfeit§  mar  ledere  ju  ftart,  um  fid) 
ifirer  mittelft  eine«  forcirten  Angriffes  bcmäditigen  ju  fönnen.  2tbgefeben 
»on  ben  Sietterfdjaaren,  bie  ©eoftepe  außerhalb  »ertt)eibigten  unb  t»oI|l  an 
7000  $ferbe  jäljlten,  roaren  im  Innern  ber  £auptbefeftigung,  in  ben 
Äibitfen,  nod)  gegen  40000  ^ßerfonen  untergebradit,  bie  mcbr  ober  minber 
als  58ertbeibiger  in  33etradit  fnmen.  $ie  2lu£emterfe  roaren  ferner  mit 
»ortreffliojen  ©djüfcen  befefct.  ©er  im  Morboften  »on  ©eoftepe  gelegene, 
befeftigte  unb  mit  einer  £aubifce  armirte  &ügel  beberrfdjte  aber  bie  ganje 
Stellung. 

©eneral  ©fobelero  entfdjlofi  fid)  bemnadj  ju  bem  langroicrigeren,  aber 
bafür  aud)  fidleren  SBege  ber  förmlidjen  Belagerung.  Sie  ©üb«  unb  Cffc 
front  ber  geftung  fdjienen  fidj  am  meiften  für  ben  Angriff  ju  eignen.  Um 
aber  junädrft  einen  ©tütspunft  im  ©üben  5U  fyaben,  bemädjtigte  fid)  ©fobelero 
am  20.  ©ecember  ^angifalaS  Wx>  1800  3JJeter  »on  ber  ©üb* 

front  ber  geftung  entfernt,  fein  Sruppentager  auf.  ©djon  an  bemfelben 
2lbenbe  mußte  »on  bemfelben  ein  2lngriff  ber  SefeS  jurüdgcnüefen  merben. 
9tod)bem  bann  bie  Muffen  aud)  auf  ber  öftfront  burd)  ©innaljme  ber  Äala 
bort  fid)  feftgefefet  Ratten,  rourbe  am  23.  Secember  mit  £age3anbrud)  bie 
erfte  parallele  gegen  bie  ©üboftede  ber  geftung  auf  600  ÜJleter  3Ibftanb 


  Kajjlanb  in  «tenttalaf ien.   


319 


eröffnet.  Sie  33elagerung8arbeiten  nahmen  jefct  tljren  regelrechten  Verlauf. 
Sie  nötigen  Gommunicationen  rourben  augelegt,  unb  in  ber  9iad)t  jum 
28.  2>ecember  roarb  mit  bem  Sau  ber  jroeiten  parallele  »orgegangen. 
33iä  bal)in  Ratten  bie  £urfmenen  bie  Arbeiten  be8  9lngretfer8  faft  gar  nidjt 
geftört.  2113  aber  am  28.  mit  ©inbrud)  ber  ©unfetfiett  bie  ruffifdjen 
£rand)6en--2lrbeiter  roieber  angeftetlt  rourben,  madjte  plöfelid)  bie  ganje  SBe« 
fafcung  oon  ©eoftepe  einen  2lu3fatt.  SDerfelbe  richtete  fid^  namentlich  gegen 
ben  redeten  glügel  unb  ben  Jtücfen  ber  23elagerung8arbeiten.  ü)Jit  ber 
Manien  SBaffe  in  ber  $anb  ftürjten  fid)  bie  Sefe8  nrie  SJafenbe  gegen  bie 
rufnfdf>en  Sinien,  [prangen  auf  bte  33ruftroehren  ber  Saufgräben  unb  Rieben 
ron  bort  au3  auf  bie  Jhiffen  ein.  Sie  würben  bann  aHerbingö  prüefs 
geworfen,  aber  eine  gähne  unb  ein  ©efebüfc  blieben  in  tyren  föänben.  9tad> 
bem  bie  3tuffen  bte  9lrbeü  roieber  aufgenommen  fjatten,  erfolgte  in  ber 
■Jiadfit  nod)  ein  jroeiter  9lu8fall,  ber  jebod)  burd)  ba8  Sbrapnelfeuer  ber 
2trttHerie  surüefgerotefen  roarb.  3J?tt  welcher  §eftigfeit  unb  ©rbitterung 
»orb,er  in  ben  Laufgräben  gefämpft  roorben,  beroetft  namentlich  ba3  eigen» 
thümlicbe  iBerhältnifj  bei  ben  tuffifdjen  Sßerlitften  jroifd)en  lobten  unb 
SBerrounbeten.  SBährenb  t>on  Sefcteren  bie  Muffen  nur  1  Dfftjier  unb 
30  2Jtann  ju  »erjeiefmen  hatten,  waren  5  Dffijiere,  95  3)Jann  tobt  auf  bem 
Spta&e  geblieben. 

3lm  29.  SDecember  würbe  eine  öruppe  oon  feinblidjeu  SefefttgungS* 
anlagen,  etwa  100  m  t>or  ber  füböftlid)en  ©de  »on  ©eoftepe,  burd)  bie 
Stuffen  genommen,  gegen  bie  ^eftung  in  SßertheibigungSjuftanb  gefegt  unb 
mit  ben  23elagernng8arbetten  oerbunben.  $n  ber  sJJad)t  pm  31.  ©ecember 
tnad)te  ber  geinb  abermals  einen  grofjen  2lu3faH,  ber  ben  9iuffen  roieber 
erbebliche  SSerlufte  brachte.  ®ie  SEurfmenen  behielten  au<b  roieber  ein 
ruffifdjeS  ©efd)üfc  in  £änben.  Qn  berfelben  5fad)t  nmrbe  aber  bie  brüte 
parallele  eröffnet,  unb  ba3  ruffifd)e  Sager  bi8  bid)t  an  bie  erfte  parallele 
herangefdboben.  9lm  5.  .^onuar  fanb  cnblid)  nod)  ein  britter  2lu8fall  ber 
iefeS  ftatt,  ber  aber  nid)t  mebr  bie  ©nergie  ber  früheren  jeigte  unb  leid)t 
abgetöteten  roarb.  5DMt  bem  9.  Januar  roaren  bann  bie  projectirten  33es 
lagerung<8arbeiten  »ollenbet,  bis  auf  einen  5D?inengang,  ber  gegen  bie  SlJauer 
auf  ber  Süboftfeite  ber  geftung  oorgetrieben  rourbe. 

®a8  ruffifä)e  3lrtiHeriefeuer  hotte  injroifcben  grofse  33erf)eerungen  in 
ber  geftung  angerichtet,  tro|bem  ging  aber  ber  geinb  auf  bie  mit  Unit  ans 
gefnüpften  5ßerf)anblungen  nid)t  ein.  9iad)bcm  bafjer  bis  jum  11.  S^nnar 
aud)  bie  SJJine  jum  «Sprengen  bereit  geftellt  unb  oon  ber  2trtitlerie  eine 
33refd)e  in  ber  Sübfront  ber  geftungSmaucr  »orbereitet  war,  rourbe  für 
ben  12.  ber  Sturm  angeorbnet.  68  waren  für  biefen  23  ©ompagnieen  be* 
ftimmt,  währenb  25  bie  allgemeine  Steferoe  bilbeten.  2>er  Sturm  erfolgte 
in  brei  ©olonnen,  gegen  bie  auf  ber  SBeftfront  gelegene  2)iüf)lenfala,  gegen 
bie  33refd)e  auf  ber  Sübfeite  unb  bie  burd)  bie  2Jiine  tjergeftellte  Deffnung 
auf  ber  Süboftfeite.   9iad)  hartem,  fd)roerem  Äampfe  unb  heftigem  £anb* 


320 


  <£.  ITUfdjfe  in  Breslau.   


gemenge  gelang  es  bett  Stoffen,  fidj  in  ben  Vefifc  ber  3Jtauer  ber  §aupk 
befeftigung  5U  fefeen  unb  in  baS  innere  einzubringen.  &ier  fam  es  bann 
ju  einem  fürchterlichen  ©emefeel,  bem  lieh  bie  £efe3  fchliefctidf)  burd)  bie 
gludbt  ju  entstehen  fugten,   ©enerat  ©fobelem  liefe  aber  jefct  bie  bereit 
gehaltene  Steiterei  burä)  bie  fteftung  htnburdh  jur  Verfolgung  ber  in  nörb* 
lidtjer  Stiftung  nach  ber  ©teppe  ju  g-liehenben  oorgeb>n.  ©egen  8000  £efeS 
beiberlei  ©efch[eä)tS  mürben  bei  biefer  ©elegenheit  oon  ben  Dragonern  unb 
Äofafen  noch  niebergema^t.  3m  $imexn  ber  g'efrung  fanb  man  6500  tobte 
£urfmenen  oor,  gegen  4000  SBeiber  unb  Äinber  waren  in  ©efaugenfdjaft 
geraten,   ©er  ©ieg  ber  Stuften  war  alfo  ein  »oUftanbiger.   ©ie  Ratten 
ilm  mit  einem  Verlufte  oon  32  Dffaieren  unb  366  SWaitn  an  Verrounbeten 
unb  lobten  erfauft.    £>ie  Belagerung  oon  ©eoftepe  blatte  19  £age  ge* 
roätjrt.  £rofc  ber  helbemnüthigen  Vertheibigung  feitenS  ber  £efe*£urfmenen, 
troi  ber  ungeheuren  ÜJiühfeligfetten  unb  (Entbehrungen,  welche  bie  9tujfen  ju 
ertragen  gehabt,  l)atte  bennocij  ber  SDJuth,  bie  Stapferfeit  unb  bie  aufeets 
orbentlidbe  StuSbauer  ber  Sefcteren  obgefiegt.  Von  ben  40  000  £urfmenen, 
weldfje  in  ©eoftepe  sufammengebrängt  gemefen,  mar  wohl  bie  Hälfte  ju 
©runbe  gegangen,   ©urdf»  biefen  erfolgreichen  ©djlag  mar  bie  Äraft  unb 
bie  2>}acf)t  ber  2ldhal:2:efeS,  ber  bis  bat)in  am  meinen  gefürchtet  geroefenen 
■Jiomaben  GentralafienS,  enbgiltig  gebrochen  toorben. 

®ie  SBaffenthat  oon  ©eoftepe  erhöhte  aber  auch  baS  2mfet)en  Jhtfslanbs 
in  ben  2lugen  fämmtlid)er  Slftaten.  $n  Verfien  mar  aufeerbem  baS  ©efübl 
ber  ©anfbarfeit  bafür,  bafi  bie  9tuffen  bie  9ia<f)bargebtete  oon  bem 
räuberifdgen  ©teppenoolfe  befreit  Ratten,  ©eit  ^a^rliunberten  ben  lieber* 
fällen  ber  Xurfmenen  auSgefe|t,  roaren  bie  friebfertigen  unb  fleißigen  Se; 
rootmer  ftranS  bisljer  ftets  oergeblidfj  bemüht  geroefen,  bei  ihrem  Äönige  unb 
ihrer  Regierung  £ilfe  unb  ©djufc  gegen  biefelben  ju  finben.  Riefet  rourbe 
9tufjlanb  als  ber  Vefreter  unb  ©rretter  beS  öftlichen  VerftenS  gepriefen. 
2He  gan3en  Sänberftrecten  entlang  burct)  Ehorafan,  oom  ©äjarub  angefangen 
nach  3J?efcf)heb  unb  ©aradbS,  unb  namentlich  in  ben  Stachbarbejirfen  beS 
neuerbingS  oon  SJufjlanb  unterroorfenen  ©ebieteS,  oornehmliä)  in  Äabufdhan, 
Vubfchmurb,  ©eregög,  roar  bie  Veoölferung  befliffen,  ihre  ©ompathien  für 
ben  norbifdben  Eroberer  funbjuthun.  @iner  ber  £>auptoortheile  aber,  bie 
9tu{jlanb  auS  ber  Unterwerfung  beS  3lchal»2:efe*2:urfmenenlanbeS  errouchfen, 
roar  bie  fefte  ftrategifcbe  unb  auch  für  bie  &anbetSoerbinbungen  fehr  wichtige 
Vofition,  bie  eS  an  ben  3lbhängen  beS  5topets©ebtrge3  gewonnen  hatte.  ©aS 
öftliche  Mftengebiet  beS  ftafpifchen  9JJeereS  ift,  aufjer  an  ben  2luSmünbungen 
ber  glüffe  bis  ftufotSlrroat  hin  unfruchtbares  Sanb,  oollftänbtge  SBüfte. 
Sei  lefctgenanntem  Drte  erft  beginnt  bie  Vobencultur  mit  £ilfe  ber  Ve= 
roäffenutg  oom  ©ebirge  her.  $e  weiter  man  aber  oftmärts  oorbringt,  um 
fo  reicher  roirb  baS  betebenbe  ©lement  in  ben  VeroäfferungScanälen,  um  fo 
fruchtbarer  bemnach  ber  Voben,  unb  um  fo  mannigfaltiger  unb  üppiger 
werben  feine  Vrobucte.  Qm  2llterthum  führte  befanntltd)  bie  grofie  ^anbete» 


  Hnjjlanb  in  Centralafien.   


32  \ 


frrafje  aus  bcm  Innern  SlftenS  nad)  bem  Sßefien  übet  bie  füblidjen  Slbljänge 
beS  Äopets@ebirgeS  nad)  bcm  Äafpifdjen  ÜJieere,  unb  trofc  ber  SBerwüftungen 
burd)  bie  einfalle  ber  SDtongolen  erfreuten  fid)  ßaljta,  SWehne  unb  2lbit»erb 
bis  junt  ©nbe  beS  17.  SabjfiunbertS  f)in  eines  bebeutenben  9tufeS.  es 
war  baljer  rooljl  anjunefimen,  bafj  SJufjlanb,  im  Sefifce  biefeS  reidjen  SanbeS, 
feine  gauje  Sraft  barouf  richten  mürbe,  bie  ehemalige  Sulfurperiobe  roieber 
ju  erneuern.  $>iefer  Sanbftrid»  mar  »iel  leichter  ju  beoötfern  unb  ju  colotrU 
ftren,  als  bie  Groberungen  in  £urfeftan.  Stujjlanb  mufjte  fid>  »eranlafjt 
fehlen,  feine  2lnfieblung  Uev  p  befd)leunigen,  um  in  bem  ©ebiete  öfttic^  beS 
Äafpifdjen  -DieereS  feften  gufe  p  faffen  unb  fid)  bie  große  SBerbinbungSlinie 
lierjuftetlen,  bie  aus  bem  Qtmern  Stußlanbs  über  baS  @d)roarje  3Jieer,  burdjj 
ben  ftaufafuS  unb  über  baS  ßafpifdje  3Jleer  bis  an  ben  Stufeenranb  beS 
^inbufufd»  fid)  erftreden  fotlte.  3n  ber  oollen  erfenntirifs  ber  SfiMcbtigfeit 
biefer  Aufgabe  blatte  man  ben  ftaufafuS  »on  Saturn  bis  33afu  mit  einer 
©tfenbafm  überbrüdt.  SBäb^renb  jur  Unterwerfung  ber  £urfmenen  gefd»ritten 
würbe,  mar  gleidjjettig  audj)  ber  93au  ber  ttanSfafpifdjen  33afin  in  Angriff 
genommen  worben.  Stadlern  aber  bie  Eroberung  beS  StorfmenentanbeS 
»ollbradfjt  mar,  trug  SRußtanb  junäd)ft  bafür  ©orge,  baSfetbe  ju  parificiren. 
es  gelang  bieS  unter  bem  üftadifolger  ©fobeleroS,  bem  ©eneral  Stöfirberg, 
im  »ottften  SJJaße.  3>ie  glüd)tigen  rourben  jurüdgerufen,  unb  bie  mieber 
b>imfeljrenben  ä<^ts£efe*£urfmenen  boten  jefet  baS  geeignetfte  SJlaterial 
für  bie  Äernbilbung  einer  2Büftenbe»öIferuug  »on  friebfertigen  Untertanen 
SRußlanbS.  ©o  oermögen  beim  felbft  bie  3Biberfad)er  Slufjtanbs  nid)t  ah 
juleugnen,  baß  infolge  ber  ^Jaciftcation  beS  £urfmenenlanbeS  fd)on  nacfj 
wenigen  Saljren  Sobencultur,  bie  ^nbuftrie  unb  ber  föanbel  bort  einen 
großen  2luffdb>ung  genommen  Ratten. 

©er  (Sentralpunft  ber  rufftfdjen  SBerroaltung  in  bem  neueroberten  Sanbe 
mürbe  2l)d)fabab.  ©aSfelbe  bilbete  aucf)  ben  ©ammelort  für  bie  ^anbels* 
leute,  weldje  bem  ruffifd»en  3n»aftonScorpS  auf  bem  guße  gefolgt  waren, 
©iefe  Äaufleute  festen  fid)  jumeift  aus  Äaufafiern,  2Jlol)ammebanern  unb 
d)riftlidf»en  Armeniern  jufammen.  Sie  befaßen  bie  gäfngfeit,  fid?  mit  ben 
SCurfmenen  ju  »erfiänbigen  unb  rourben  baburdj,  baß  fie  unbeläftigt  bis  in 
bie  fernften  Steile  beS  2ldjak@ebieteS  oorjubringen  »ermodjten,  bie  beften 
9Serteb>S»ermittler  jroifdfjen  ben  eingeborenen  unb  ben  eroberem.  2lfd(jfabab, 
ber  ÜJKttelpunft  ber  neuen  §anbelS;  unb  eulturberoegung  lodte  aber  nidjt 
nur  bie  fdfjon  ber  ruffifdjen  £errfd(jaft  unterworfenen  £urfmenen  an,  fonbern 
Balb  audj  einjelne  ©lieber  ber  nod)  unabhängigen  ©tämme  biefeS  SßoÖeS, 
rote  bie  £efe  aus  9Werro,  ber  £etfcb>nb=Dafe  unb  »on  (ben  ©alors  unb 
©arif^Jölferu.  Jhifelanb  rid^tete  jebodg  im  richtigen  SSerftänbniß  fetner 
3fntereffen  feine  Sufmerffamfeit  5unä#  auf  3Werw,  baS  Hauptquartier  ber 
nod§  unabhängigen  SCefe^urrmenen.  ®emt  wenn  bie  3ld&aÖ=5Te!e  auf 
150  000  ©eelen  oeranfdhlagt  würben,  fo  fcfiäfete  man  bie  'USletro-'Xett  auf 
250000.    3Jierro  war  im  9lltertl)um,  unb  jwar  in  ber  »ormongoUfdfjen 


322 


  €.  aiafdjfe  in  Breslau.   


spcriobe,  ein  grofjeä  £anbel3centrum  gemefen  unb  eine  bebeutenbe  ©tabt, 
bie  an  ben  Ufern  be£  gluffeS  9Kurgf)ab  gelegen,  ben  geeignetsten  Staftpunft 
bot  für  bie  ftarawanen  jrotfd^en  8od)ara  unb  Werften.  Ta§  £eer  be$ 
Tfd)engt3  ßfian  blatte  bann  bie  ©tabt  in  einen  Trümmerhaufen  uerwanbelt, 
auä  bem  ftd;  biefelbe  nur  alä  elenber  Drt  nrieber  erfjob. 

Stafefanb  bahnte  jefct  alfo  &anbefe»erbinbungen  mit  SKerw  an;  im 
gebruar  1882  brad)  bie  erfte  Äarawane  oon  2lfd)tabab  borten  auf.  2U*I 
gübrer  fungirte  2lttd)anoff  2tuarSfi,  aus  einem  ©tamme  in  Tfjagijtan. 
Terfelbe  gehörte  ju  jener  ftlaffe  oon  Dffijieren  aftatifdjer  ^erfunft,  bie,  ofme 
ifirer  Religion  untreu  geworben  ju  fein,  burd)  üjren  gewonnenen  Silbungö« 
grab  unb  burd)  ben  SBerfefir  mit  ben  moSfowittfdjen  Äameraben  fid)  ooOU 
ftänbig  ruffifteirt  b>ben.  ^nbem  fte  ^rem  tarnen  ein  „off"  anhängen, 
nehmen  fte  aud)  offideß  bie  rufiifdje  Nationalität  an.  ©old)e  ruffifirirte 
Tataren,  bie  fid)  bem  ruffifd)en  Staate  fd)on  oft  als  feb>  nüfcltd)e  Tiener 
ermiefen  fjaben,  waren  aud)  SBelifljanoff,  ber  berühmte  9teifenbe  in  Äafdbgar, 
ferner  ÜHajiroff,  Tad)troff,  SDJuratoff  unb  ber  ruffifd)e  Malmücfe  Tanbufoff* 
Sorfafoff.  ©er  SßfeubosÄaufmamt  2llid)anoff  mar  nur  merjeljn  Tage  in 
■Dterw,  trofcbem  t)ermod)te  er  aber  fd)on  mit  ber  Ueberjeugung  juriiefjus 
teuren,  bafj  e3  nur  nod)  einiger  3^t  unb  ©ebulb  beburfte,  um  boJfelbe 
ooDftänbig  für  Sfufjlanb  ju  geroinnen.  ©r  blatte  fogar  uon  bem  Turfmenetu 
Häuptling  9Had)bum5iMi-.6f)an  baS  33erfpred)en  ju  erlangen  gemußt,  ber 
Krönung  Äaifer  2lleranbev3  III.  beijuwoljnen.  ©er  33efud)  be§  ©fjanS  in 
3Jfoäfau  erfolgte  bann  aud)  tfyatfäd)lid).  SBäljrcnb  aber  biefeS  ©reigmfc  cor 
fid)  ging,  ftreefte  ©eneral  Cornaron),  ber  9tod)folger  SJöfjrbergä,  einen  güljler 
nad)  bem  Süboften  be§  TurfmenenlanbeS  au3,  inbem  er  ben  Dberft  HJhtra* 
toff  »on  3lfcbfabab  200  km  weit  nad)  ber  Tetfd)enb=Dafe  entfanbte,  um 
»on  bort  au«  ben  ÜDfarfd)  um  bie  norböftlid)e  ©renje  ^ßerfienS  »orgubereiten. 
©3  foflte  140  km  »on  3Werro  entfernt  ein  SBorpoften  gegrünbet  werben  für 
ben  gaff,  bof?  bie  freunbfd)aftltd)en  ä>erb>nblungen  nid)t  jum  3iele  führten 
unb  bie  ©roberung  »on  3)?erw  burd)  SBaffengewatt  erfolgen  müßte.  Tiefe 
33orfid)t8maf?regel  erwies  fid)  als  eine  überaus  fluge.  3tnfang  beS  Qafyvti 
1884  ging  3llid)anoff  im  3luftrage  JtomaroroS  nad)  9J?erw  unb  oerlaS  bort 
in  öffentlidjer  SBerfammlung  bie  3lufforberung,  fid)  ber  rufjifd)en  £errfd)aft 
ju  unterwerfen.  Ta  bie  5M>nung  ben  nötigen  9Jad)bru<f  erhielt  burd) 
ben  §inmei3  auf  bie  2lnwefenf)eit  ber  ruffifdben  Äafafen  in  ber  Tetfcfjenb* 
Dafe,  fo  erflärten  fid)  bie  SBorneljmften  beä  Tefe=3Solfe§  fofort  jur  Unter* 
roerfung  bereit.  Tie  antiruffifdje  gartet  unter  Slabfd)ar5©l)an  fe^te  bann 
jwar  nod)  einigen  bewaffeten  ä&berftanb  entgegen,  würbe  aber  oon  ben 
Stuffen  niebcrgefd)lagen  unb  jerfprengt.  23on  SKitte  9Rärj  an  befefete  ein 
Tb>il  ber  ruffifd)en  Truppen  £atei=6f»urfd)ib=Gf)an,  unb  fpäter  würbe  in 
biefer  ©egenb  ba§  gort  9iifolajew«f  erbaut,  ©o  war  3Rerw  in  bie  £änbe 
ber  SRuffen  gefallen,  unb  9)?ad)bum  Äuli=6l»an  würbe  ^ur  S3elo^nung 
Häuptling  ber  Tetfd)enb=Dafe.   Turd)  bie  2lnnerion  oon  9Werw  unb  bie 


Hutjlanb  in  tentralafien.  — 


323 


Unterwerfung  bei  £efe=33otfeä  ^atte  fid)  Shifetanb  aber  aud)  foft  bie  ganje 
turfomanifche  Nation  untertban  gemacht.  Sttfle  33efürd)tungen  bejügtid)  weiterer 
getnbfeltgJeiteu  Ratten  ein  ©nbe  gefunben.  ©em  Setfpiete  ber  £efe3  »on 
2J?ern>  folgte  fd)on  nad)  furjer  3«t  bvc  turfmeniid)e  Stamm  ber  Sarnjfe, 
unb  balb  mar  aud)  bie  2ltetDafe  unterworfen,  meldte  fid)  »on  ©iaurS  bis 
Sarad)i  auSbelmt  unb  bie  33ertängerung  ber  2ld)al=Dafe  bilbet. 

©ie  Sage  »on  3Rerm  auf  bem  halben  SBege  jroifdjen  ^ßerfien  unb 
Sodjara  mad)t  baSfelbe  ferner  jum  beften  SßerbinbungSgliebe  jwtfd)en  ber 
tran»fafptfd)en  ©ifenbafm.,  ber  &anbeBftra&e  »on  3^affd)an  unb  bem  öfts 
ticken  $ßerfien.  £>ie  natürtid)e  ^olge  biefer  centralen  Sßofitton  mar  bann 
bie  Fortführung  ber  genannten  23af)n  über  ÜRerw,  2tmu=£>arja  unb  33od)ara 
big  Samarfanb.  Seit  unbenflid)en  ßeiten  beftanb  eine  £eerftrafte  5wtfd)en 
ben  ©banaten  SturfeftanS  unb  gJerfien.  2lud)  Dfrifjlanb  fd)ien  2lnfang§ 
biefem  SBege  nad)  ■ÜJittelafien  folgen  ju  motten.  ®ie  9fid)tmtg  »on 
Drenburg  über  ben  DpS  bis  junt  SßaropamtfuS  bot  aber  jebenfads  für 
eine  2trmee  aus  bem  Innern  9tuf?lanbs  ju  »iel  Sd)mterigfetten  unb  £tnber= 
ntffe.  2lud)  mar  ber  Sßeriud)  ber  Anlage  einer  ©ifenbabn  oon  Drenburg 
nadb,  £afd)fent  »on  t>om  herein.  gefd)eitert,  trofe  ber  Bemühungen  be£  fo 
unternebmenben  »on  SeffepS,  ber  fid)  befanntlid)  mit  bem  fübnen  Sßrojecte 
getragen  Ijatte,  eine  Sd)ieuen»erbinbung  berswftetten,  meld)e  in  neun  Tagen 
«on  Calais  nad)  ©alcutta  führen  fottte. 

SRufelanb  hatte  alfo  fd)on  lange  geplant,  feinen  2Beg  nad)  ^nner* 
afien  »om  Sdjwarjen  SJieere  burd)  ben  ÄaufafuS,  über  bas  ßafpifd)e  9J?ecr 
unb  entlang  ber  nörblid)en  ©renje  »on  Sßerfien  p  nehmen.  SDtc  Eroberung 
ber  brei  Granate  »on  Turfeftan  fonnte  in  biefer  Beziehung  ba^er  immer 
nur  bie  33ebeutung  haben,  burd)  ihren  SBeftfc  fid)  eine  fefte  tßofition  im 
SRücfen  ju  fid)ern.  $)ie  2luSbauer,  Ätugbeit  unb  baS  ©efd)icf,  mit  roeldjen 
3iu§lanb  biefe  eigentliche  ÜJ?arfd)route  nad)  -Diittelafien  in  Angriff  genommen 
unb  »erfolgt  hat,  bürften  aber  faum  ihresgleichen  in  ber  ©efd)id)te  ber 
©roberungen  finben.  ®urd)  naheju  jwei  Sabrbunberte  roar  eigentlich  ber 
'^pian  mit  33ebarrlid)fett  »erfolgt  worben.  SBährenb  baS  übrige  (Suropa  nod) 
in  gänzlicher  Unrotffenheit  über  Sanb  unb  Seute  in  bem  ©ebiete  öftlid)  beS 
5fafpifd)en  -DleereS  »erblieben  mar,  hatte  SRufjlanb  fid)  eine  jiemlid)  genaue 
Stenntnifc  ju  »erfd)affen  gemufft  »on  ber  geograpl)ifd)en  Situation  unb  ber 
Topographie  bes  SanbeS,  forote  »on  ben  Begebungen  feiner  turtomanifd)en 
©mwobner  untereinanber.  9iad)  ber  Unterwerfung  ber  brei  Granate  unb  ber 
gomuben  »ermod)te  bann  aber  Sftufelanb  fein  3*^  m^  »"ßet  Sicherheit  ju 
»erfolgen  unb  p  erreichen. 

2)urd)  bie  33efi|nahme  »on  SDlen»  hatte  9hiBlanb  pnädjft  wohl  aud) 
bie  tefcten  turfmenifd)en  3?äuberbanben  nieberroerfen  motten.  So  lange  biefe 
nid)t  gebänbigt  rotren,  fonnte  aud)  »on  9hu)e  unb  Drbnung  in  TranSfafpten 
nicht  bie  Siebe  fein.  SBte  alle  anberen  großen  Staaten  ©uropaS  mufi  aud) 
5Rufelanb  burd)  feine  afiati)d)e  ^ßolitif  beämecfen,  neue  9lbfafcgebiete  für  feine 

Kort  unb  Sfib.   LXXV.  225.  22 


321 


—    <E.  OTafcfjFe  in  Breslau.   


nationale  Qnbuftrtc  ju  finbeit.  ftaju  brauet  e£  bei  feinem  unermejjlidjen  ] 
33cfi^c  in  bet  alten  SBelt  atterbtngS  feine  überfeeifdjen  ßolonieen.  SBottte 
aber  Stufjlanb  aus  feinem  centratafiatifajen  ©ebtete  enblid^  aud>  einigen 
•Jiufcen  sieben,  fo  mar  eS  unumgänglid)  nottjroenbig,  burdj  bie  Unterwerfung 
ber  turrmenifdien  Sßölfer  ©id&erljeit  ju  gewinnen  unb  feine  ©renjen  bis  in 
bie  5läb,e  cioilifirter  Staaten  »orjufdjieben,  roeldje  im  (Stanbe  finb,  bie 
9tw)e  in  Ujrem  Sftnern  aufredet  au  ermatten.  Rft.  biefer  3t»e<i  einmal  er= 
reid)t,  oerfef»rt  auf  bem  DruS  eine  glottille,  roirb  £afdjfent  mit  ber  ftbiri* 
fdjen  ©fenbafm,  (Sarahs  burdj  ©d)ienenroeg  einerfeits  mit  ber  tranäfafpi- 
fdjen  Sinie,  anbererfeits  mit  3)?erro  »erbunben,  bann  beginnt  für  Central* 
afien  eine  neue  2lera  ber  33ejiel)ungen,  mit  6f)ina  burdj  flafdjgar  unb  mit 
Werften  burdj  bie  reidfie  ^pro»inj  ©fiorafan.  ®ie  9iomabenftämme  Eentrat« 
afienS  bis  jum  SßaropamifuS  unb  &"tbufufdj  tun  müffen  bafier  not^roenbig 
bie  DberlefienSliobeit  9tufelanbS  anerfennen,  anftatt  bie  2lfgb>niftanS,  meldte* 
nidjt  bie  9Jiadjt  r)at,  biefelben  im  3ö8^  galten.  3tudj  roirb  2tfgt>airiftan 
felbft  auf  bie  eine  ober  bie  anbere  Sßeife  ber  rufjifdjen  ^ntereffenfpb^äre 
anheimfallen. 

£)en  Sdjlfiffel  ju  2lfgl»aniftan  »on  SRorbroeften  Ijer  bilbet  aber  baS  am 
SBeftenbe  beS  &tnbufufdjgebirgeS  gelegene  Sanb  $erat.  @S  roar  balter  ein 
fef)r  richtiger  ftrategifdjer  3"9/  bafa  Shifjlanb  r>on  2Rerro  Seftfc  nab^n,  um 
jtdj  2tfgr)aniftan  gegenüber  eine  ^ßofition  ju  fidjern.  <So  blatte  audj 
Slteranber  ber  ©rofte  fid;  juerft  aHerroS,  beS  alten  SDtargtiiana,  »erneuert, 
el)e  er  baS  feurige  3lfgtianiftan  betrat,  unb  baS  £eer  $fd>engis  GljanS  erft 
9Jierro  eingenommen,  elje  es  föerat  befefete.  ©enfelben  SBeg  fdjlugen  SHmur, 
ber  Ujbete  ©djeibant  Gljan  unb  ber  ©diab  9?abir  ein.  SWerro  liegt  mit 
feiner  nafieju  »oüftänbigen  2Baffer»erbinbung  365  Äiloraeter  »on  föerat  enfc 
fernt.  ®ie  ©roberung  9fierroS  burdj  bie  9tuffen  bebeutete  bemnadj  eh»a$ 
ganj  3lnbereS  nod»,  als  bie  2ltmerion  einer  Dafe  in  einer  Sanbroüfte.  (Sie 
ftetlte  junäcbjt  bie  gefdtfoffene  33erbmbung$fette  ber  ruffvfdjen  SDHlitärmadjt  I 
I)er  »om  StaufafuS  bis  £urfeftan.  SDlit  ber  2lmterion  »on  Sldjal  ift  jugleidi 
bie  @in»erleibung  »on  lOOOOO  3Hann  ber  »orjüglidjften  irregulären 
Steiteret  »ou>gen  roorben,  unb  jroar  concentrirt  auf  eine  Gntfernung  »on 
nur  fieben  £agemärfdjen  »on  &erat.  £>ie  (Eroberung  »on  SHerro  bebeutete 
ferner  ba8  erfte  3»fa»"mentreffen  »on  Äafafen  unb  9lfgbanen,  ben  gänjtid)en 
Stnfäjlufi  »on  ß^iroa  in  baS  rufftfdje  ©ebiet  unb  bie  ^erabbrütfung 
23ocfjaraS  »on  ber  unabhängigen  (Stellung  eine«  ©renjlanbeS  ju  ber  %B>- 
Ijängigfeit  einer  einnerleibten  ^Jrooin}.  Wlxt  ber  »oüftänbigen  Untermerfung  J 
ber  STurfmenenfteppen  ift  ein  ©ebiet  »on  502800  Quabratfilometer  a6- 
gefd)loffen  unb  Jtufjlanb  in  Gentralafien  um  einen  Sänbercompler  »on  ber 
SluSbe^nung  granfreidjö  »ergröfeert  roorben. 

9)!it  3)Jerro  t)at  SRufelanb,  roie  bie  Setradjtung  ber  cffcograpljifdjen  Sage 
btefeä  Drte«  ergiebt,  einen  ^ßunft  befeftt,  in  roeld)em  bie  gäben  eines  rocit= 
»crjroeigten  3ntereffen=9iefee3  äufowmenlaufen.  SBerfen  mir  einen  ©Iii  auf 


  Knfjtanb  in  (tentralaften.   


325 


baS  füblidj  baoon  gelegene  ßanb,  £erat,  baS  bereits  als  6ingangStt)or 
nadj  3lfgl)amftan  f)ier  @rwäf)nung  gefunben  t»at,  fo  fetjen  mir  baSfelbe  am 
3ianbe  beS  öiuburUfd)  berartig  gelagert,  baß  biefeö  ©ebirge  im  Dftett  ben 
SSerfe^r  jwifdjen  Slfgbaniftan  unb  Gentralafien  rjmbert.  33on  ben  weftlidjen 
SluSläufern  beS  ßtnbufufcfj  fließen  bie  £>auptftröme  beS  SanbeS  Ijerab.  £>er 
eine  baoon  ift  bet  ÜDlurgbab,  ber  am  9lorbab§ange  beS  ©afebfofcSebirgeS 
entfpringt,  baS  oon  ben  föejaren  bewofntte  33ergtanb  burdjfdmeibet,  nörblid» 
HJenbfd^bet)  mit  bem  gluffe  ®f)ufd)f  fic&  oereinigt  unb  jenfeitS  3JJarutfd)af3 
fid)  in  bie  ebene  ergießt,  bie  baS  £urfmenenlanb  begrenjt.  3roifdjen  bem 
©afebfob,  (^ßaropamifus)  im  Horben  unb  bem  ©iatyfofy  im  ©üben  l)at  aber 
ber  Berirab  in  weftlidjer  SHidjtüng  feinen  Sauf,  wenbet  fid>  bei  Äub^fan 
gegen  Horben  unb  fließt  bann  längs  ber  ©renje  ^JerfienS  an  (Sarahs  oor» 
bei,  nad)  ber  £etfd)enb=Dafe.  ®aS  Sanb  gioifc^cit  biefen  beiben  glüffen 
ift  überaus  frud)t6ar.  $)en  widjtigften  Sentralpunft  ber  ©egenb  bilbet  aber 
b'e  am  mittleren  Berirab  gelegene  ©tabt  &erat,  über  weldje  bie  &aupt* 
ftraße  nad»  $nbien  füb>t.  Qm  fübltdjen  Steile  beS  £anbftricf)eS,  jwtfcfjen 
ben  beiben  genannten  ^Wffen,  finben  mir  baS  33ord)ut«©ebtrge,  eine  gort« 
iefcung  beS  ©afebfof).  BaSfelbe  nimmt  gegen  bie  perfifdje  ©renje  f)in  an 
Joöt)e  ju  unb  ftellt  lief)  als  einer  ber  ßauptswetge  bar,  burdj  reelle  ber 
^ßaropamifttS  mit  bem  (SlburS  Bereinigt  ift.  SBeiter  nörblidj  ftoßen  mir  auf 
bie  weniger  Ijobe  Äette  beS  @lbirms$ir,  eine  Steide  oon  Sergen,  bie  fieb, 
bis  ^ßu[=i=6t)atun  bin  erftreeft.  3Wan  l)ielt  früher  bie  SluSläufer  beS 
^JaripamifuS  für  eine  unüberfteiglidie  ©d)ranfe,  tjat  bann  aber  erfattnt, 
baß  ber  t)ödt)fte  ber  ©ebirgSpäffe  tjtcr  fieb.  nicf)t  über  900  3?uß  ergebt  unb 
baß  man  oon  ©arad)S  nad)  föerat  felbft  mit  oterfpämrigem  gmjrwerf  feljr 
gut  gelangen  fann.  1)ie  SBege  forool)t  über  ben  Sordmt,  wie  über  ben 
(*lb>r<n=.ftir  finb  jabtreid)  unb  bieten  feine  erfyebltdfjen  ©dmnerigfetten. 

TaS  Vorbringen  ber  SWuffen  gegen  bie  ©renje  oon  £erat,  wobei  fic 
fid)  gteidjiam  n.ie  ein  Keil  jwifdjen  Werften  unb  2tfgf)aniftan  t)ineinfcf)oben 
unb  fid»  ©aradjS  bereits  bemächtigt  batten,  fonnte  unmöglid)  ofme  SBiber« 
fprud)  fe'tenS  fönglanbs  bleiben,  baS  befanntlid)  felbft  bie  Dberauffid)t  über 
Slfgbaniftan  beaniprudjte.  (SS  fanben  baf)er  eifrige  SSerfianblungen  jwifdjen 
Sonbon  unb  Petersburg  ftatt.  SHe  beiben  Gabinette  famen  fdjließtidj  barin 
überein,  burd)  ß^mmifiionen  an  Drt  unb  Stelle  bie  ©renjen  jwifdjen 
9lfgbaniftan  unb  Stußlanb  oon  ©arad)S  nad»  Gfiobfdja  ©aleb  am  Dru$ 
feftfefeen  ju  laffen.  2US  aber  bie  englifdie  (Eommiffion  im  sJiooember  1884 
am  ^erirub  eintraf,  fanb  fie  sroar  bie  erwarteten  ruffifdjen  EoHegen  nidjt 
»or,  woljt  aber  ^BulUGbatun,  62  Kilometer  füblidj  oon  <Sarad)S,  oon  einem 
piquet  ifafafen  befe^t.  ®od)  nid)t  nur  am  föerirub  war  9Jußlanb  weiter 
nad)  ©üben  oorgebrungen,  foubem  aud)  in  jener  ©egenb  beS  ^CuffeS 
2Rurgb,ab,  bie  nod)  im  ©efißc  ber  2tfgl)anen  fid)  befanb,  fudjte  eS  Terrain 
ju  gewinnen.  @S  wollte  in  ber  frudjtbaren  Stegion  ber  Umgegenb  be* 
^ßaropamifuS  feften  guß  faffen,  nad;bem  |eS  oon  ÜKerw  aus  bie  SBüfte 

22* 


326 


  <£.  ITlaf djfc  in  Breslau.   


nad)  ^enbfc^bc^  burdjjogen  fjatte.  ©djon  1884  gebaute  2Jtajor  SUtdjmtoff 
ben  Drt  Sßenbfdjbef)  jn  befefcen,  fanb  aber  bort  eine  ftarfe  ofgl»anif(^c  33e^ 
fafeung  oor  unb  gab  bafyer  baS  Ünternetmten  »orläufig  auf.  ©päter  mürbe 
bann  ober  eine  2lbtf>eilung  am  SBJurgljab  gegen  ©üben  oorgefdjoben.  Sie 
Sßerljanblungen  bejügltdj  ber  ©renjregutirung  waten  inänrifdjen  fortgeführt 
morben.  Um  ein  SRefultat  berfelben  ju  fidjern,  blatte  man  baS  2lbfommen 
getroffen,  bafj  Stoffen,  roie  2lfgfjanen  ityre  jeweiligen  Stellungen  in  bem 
ftreitigen  Sanbe  »ortäuftg  behalten  follten.  Slufjlanb  mar  bamit  einoerftanben 
gewefen,  oorauSgefe&t,  bafe  feine  unoorfjergefeljenen  ßmifdjenfäHe  einträten. 
Qm  2Jtätj  1885  fam  es  aber  ju  (Streitigfeiten  pnfdjen  ben  Stfgfjanen  unb 
3iuffen.  ©eneral  Cornaron)  oerlangte  be8f>alb  bie  Släumung  be3  Rnfen 
ßfjufdjMlferä,  waS  jebod)  com  (Segner  oerweigert  mürbe.  2lm  25.  SRärs  fam 
e3  in  $olge  *>tf\en  jum  Kampfe,  ©ie  3lfgf)anen  mürben  bei  ©fjufäjf  ge* 
fdjlagen  unb  jogen  fid)  nadj  ©erat  prücf.  ©ie  9ruffen  nafjmen  Sßenbfdjbefi  in 
SSermaltung.  33ejügtid)  ber  Stellung  am  ©erirub  mürbe  aber  mit  ©nglanb 
oereinbart,  bafj  iJiufitanb  auf  ben  3ulftfar^af3  »erntete  unb  bie  ©renje  fid) 
nörbtid)  baoon  rjirtäiecjett  follte.  SMefelbe  begann  alfo  am  ©erirub,  3  Kilo« 
meter  nörblid)  3u^r,  fc^nitt  ben  2J?urgfyab  jwtfdjen  $Penbfd)befj  unb  'äJJarut* 
fdjaf  unb  erreichte  bei  Gfiobfdja  ©alelj  ben  2fauu&arja.  3)aS  ganje  ©ebiet 
oon  ^ßcnbfdjbet)  oerblieb  bei  Stufjlanb.  SefetereS  fjatte  mit  ber  ifjm  juge^ 
ftanbenen  ©renjlime  sroar  ttiebt  bie  ©tabt  ©erat,  aber  bodj  alle  ©UfSqueHen 
gemonnen,  meiere  baä  auSgebefjnte  fruchtbare  ©ebiet  nur  irgenb  geroäfjrt,  unb 
biefe  mußten  ifmt  oon  nod)  größerem  Sßertfje  fein,  als  bie  ©tabt  unb  geftung 
felbft.  $>er  an  SRußtanb  gefallene  weite  Sanbftricf)  mar  jum  S^eit  fdjon 
cultiotrt,  bie  bis  baf)in  nod)  unbebaut  gewefenen  glädjen  fonnten  aber  binnen 
Kurjcm  ertragäfäfjig  gemalt  roerben.  ÜJiit  ber  neuen  ©renje  gegen  ©erat 
fjatte  Stafilanb  jebod)  »or  3ldem  einen  guten  Xfjeil  jener  oon  ifmt  begehrten 
ftrategifdjen  Sßofttion  erhalten  unb  oermodite  fid)  erforberlid)en  $att$  binnen 
14  £agen  in  ben  23eftfc  beä  nod)  fefjlenben  2lbfdmttts  berfelben  ju  fetjen. 
©urdj  bie  transfafpifd^e  @tfenbab>  ift  Siufelanb  in  ber  Sage,  feine  ©trete 
fräfte  an  ber  Sinte  3utftfar — Sßenbfdjbef)  oom  KaufafuS  fjer  mit  je  einer 
®imfion  per  2Bod>e  oerftärfen  ju  fönnen.  $>cn  2lfgf)aneu  ift  äwar  im 
SBordjttt  unb  im  ^aropamtfuä  fjier  unb  bort  nodj  ein  5ßaf?  in  ©änben  ge* 
blieben,  boefj  befjerrfdjen  bie  9tuffen  fämmtltdje  bortfjin  füfjrenbe  ©tragen. 
5Diefe  ©ebirg§päjfe  finb  jaljlreid),  bie  meiften  audj  leidjt  ju  forciren  ober 
auf  -JJebenpfaben  3U  umgeljen.  SSon  ©aradjä  burdj  baS  S^al  beS  ^erirub 
ift  bi§  ,§erat  eine  Entfernung  ton  320  Kilometern  jurücfjutegen,  »on 
3ulfifar  au§  auf  bemfelben  SBege  220,  oon  Äut)fan  au*  99  Kilometer 
2Beg.  5ßenbfd)befj  ift  oon  ©arad)3  160  Kilometer  entfernt,  oon  3"tfi&r  144, 
oon  ©erat  224.  ftie  ßntfemung  oon  ©erat  nadj  Slfrobat  beträgt  128, 
nad)  Söala  SRurg^ab  224  Kilometer.  TOmmt  man  bafjer  baS  fefjr  be= 
fdjeibene  ©urdifd^nittsmaft  oon  20  Kilometer  für  ben  S'agemarfdj  an,  fo 
fann  eine  ruffifdbe  ©ioifion  ©erat  oon  ^ßertbfdjbefj  au«  in  11  £agen,  oon 


  Hujjlanb  in  £ enirolof ien.   


327 


gulfifar  in  gleicher  3eü  unb  »on  2lfrobat  aus  in  7  Sagen  erteilen, 
^ebenfalls  lagt  fidj  behaupten,  bafs  »on  ben  nädjftett  fünften  ber  ©tettje 
aus  mittetft  ©ilmärfeben  $erat  in  8  Sagen  genommen  roerben  famt,  bie 
<Sa»alIerie  unb  bie  Kafafen=Batterte  aber  biefen  SBeg  bereits  in  4  Sagen 
jurücfäulegen  »ermögen.  @S  ift  n>or)t  ansunebmen,  bafj  Stufelanb  nicht  für 
immer  in  Benbfd)beb  unb  in  BulüSliahm  flehen  bleiben  roirb,  fonbern  baf? 
es  btefe  beiben  fünfte  lebtglicb  'als  lefcte  ©tappen  für  ein  gelegentliches 
weiteres  Borgeben  nach  bem  ©üben  betrachtet.  9tufjlanb  tjat  gegenwärtig 
in  SranSfafpien  2  ©cbüfcenbrtgaben  mit  jufammen  8  Bataillonen,  foroie 
2  9iefer»e*BatailIone,  ferner  eine  Xeref  Kafafen*Brtgabe  ju  2  9iegimentem 
mit  je  6  ©otnien  unb  2  (SScabronS  Surfmenen,  enblid)  noch.  3  Batterieen, 
2  ©ifenbabnbataiHone  u.  f.  n>.  fielen.  35a  bie  beiben  9lefer»e*Bataittone 
im  Kriegsfälle  fieb  auf  10  foldjer  erroeitern,  fo  bürfte  bann  bie  ©efedjts* 
ftärfe  ber  regulären  Gruppen  liier  etroa  22000  -Kamt  betragen.  $>et 
mtfeerbem  »orbanbenen  bebeutenben  HRaffe  »on  irregulärer  Surfmenen* 
SRetterei  ift  bereits  ©rroäbnung  gefc^erjeti. 

3>n  3Rilttär*Bejirf  Surfeftan  befinben  fieb  ferner  4  turfeftanifebe 
Sinten'Brigaben  mit  jufammen  20  Bataillonen,  eine  turfeftanifebe  ©cbüfcen* 
brigabe  »on  4  Bataillonen,  eine  2lrtillerie*Brigabe  »on  1  rettenben  unb 
7  ©ebtrgSbatterieen,  1  Bataillon  $eftungS=2lrtilIerie  u.  f.  ro.  ©ie  Kriegs* 
ftärfe  biefer  Gruppen  roirb  25000  Streitbare  jäbten. 

<5ine  bebeutenbe  Sruppenmacbt  ftebt  aber  im  KaufafuS  jur  Berfügung. 
55Mefelbe  fefet  fid)  jufammen  aus  5  3nfanterie*£>i»ifionen,  1  ©cbüfcenbrigabe, 
3!/2  6a»atterie=®i»i|ionen  unb  5  2lrtiHerie=Brigaben,  bie  auf  bem  Kriegs* 
fufje  eine  ©efammtgefecbtsftärfe  »on  etroa  110000  3Jiaim  repräfentiren 
würben.  3tuf3erbem  ftefjen  im  KaufafuS  aber  noeb  24  9Jef ernenn  fanterie* 
Bataillone,  meldte  im  3JcobilmacbungSfade  ju  94  folgen  erroeitert  roerben. 
Bon  Se|teren  finb  bann  64,  in  16  ^Regimentern  formirt,  baju  beftimmt, 
bie  $elb*2lrmee  unmittelbar  bureb  4  3nfanterie*£)i»ifionen  ju  »erftärfen. 
<£s  roürbe  alfo  fcbltej?ticb  im  KaufafuS  eine  im  gelbe  }u  »erroenbenbe  9Racbt 
»on  minbeftenS  177000  (Streitbaren  jur  Betfügung  ftefjen. 

@S  barf  aueb  nicht  überfeben  roerben,  bafe  es  Slufjlanb  mit  ber  3eit 
gelungen  ift,  in  ßentratafien  fieb  bebeutenbe  ftrategifebe  Bordelle  »or 
©nglanb  »orauS  ju  fiebern.  $aju  gehört  »or  3lHem  bie  ununterbrochene 
BerbinbungSlinie,  bie  es  fieb  aus  bem  2Rutterlanbe  bis  an  baS  £bor  »on 
Stfgbaniftan  gefchaffen  bot-  gür  bie  896  Kilometer  ©fenbabn  »on  Batum 
nach  Bafu  braucht  ein  2Rilttär*£ranSportsug  ju  100  bis  110  3lren  (mit 
1  Bataillon,  best».  1  GScabron,  ober  1  Batterie)  etroa  44  ©tunben,  unb 
»on  lefcterem  Bunfte  aus  burchqueren  bie  Dampfer  baS  Kafpifche  SWeer 
bis  Ufun  3lba  jur  tranSfafpifcben  Bahn  in  24  ©tunben.  $ie  Babnftretfe 
»on  648  Kilometer  bis  $>uf<haf  legt  ber  SranSportjug  in  32  ©tunben,  bie 
»on  822  Kilometer  bis  SRerro  aber  in  41  ©tunben  jurücf.  Bon  ©amarfanb 
bis  SRerro  finb  es  611  Kilometer  unb  bemnacb  etroa  30  ©tunben  Bahn* 


528 


  <E.  llTafdjfe  in  Breslau.   


fat)rt.  $)te  ©ntfernung  äwfdjen  $)ufd)af  unb  @arad)S  betrögt  75  Kilometer. 
2Bie  bereits  bemerft,  t)aben  bie  9iuffen  oon  legerem  fünfte  bis  &erat 
noä)  320  Kilometer,  roäfjrenb  für  bie  ©nglänber  oon  SßaSbaoar  aus,  vom 
©nbpunfte  ber  inbtfä)en  33alm  an  ber  ©renje  oon  Slfgtjaniftan,  noä)  immer 
über  750  Kilometer  Sanbroeg  jurüdäulegen  finb.  Sie  «Stretfe,  roeldje 
Siufelanb  »ort  &erat  tremtt,  bitbet  ferner  ein  ebenes,  äufjerft  frud)tbareS, 
reid)lid)  mit  SBajfer  oerfet)eneS  ©etänbe,  wätirenb  ber  met)r  als  boppelt  fo 
wette  2Beg,  wetdjen  bie  (Sngtänber  oon  it)rer  ©renje  bis  ju  genanntem 
Sßunfte  fiaben,  mebrfaä)  burd)  waffertofe,  unnrirtbjidie  ©egenben  fübrt,  beren 
33e»ölEerung  autjerbem  anf  freunb[iä)e  ©efinnung  unb  Unterftüfcung  nidit 
fonberlid)  rennen  läfjt.  SBie  oon  genauen  Äennern  ber  a?erbä[rniffe  in 
Slfien  behauptet  wirb,  follen  bie  ©ngtänber  bort  überhaupt  weniger  beliebt 
fein  als  bie  Muffen.  SßaS  ben  englifd)en  ©inftufe  in  9lfgt)anifian  anbelangt, 
fo  t)atten  alterbingS  bie  ©reigniffe  oon  1878  unb  ber  folgenben  3at)re  be* 
roiefen,  toie  roenig  weit  bie  ©umpacken  bort  für  fie  getjen,  roäbrenb  bie 
ruffifä)en  9lbgefanbten  oon  ber  33eoölferung  ftets  gut  aufgenommen  mürben, 
©a  gegenwärtig  b^uptfää)lid)  nur  noä)  2ifgljaniftan  bie  britifä)en  33eft|ungen 
oon  ben  ruffifd)en  trennt,  fo  ift  es  toofit  erKärliä),  bat}  beibe  Regierungen 
2lffes  aufbieten,  um  itjren  ©influtj  bort  geltenb  ju  mad)en.  Srofebem  mar 
feit  ftafyTen  fdtjon  biefe  grage  in  ein  ruhigeres  ©tabium  getreten,  inbem 
fte  nid)t  met)r  als  eine  empftnbtid)e  @l)renfad)e  beljanbett,  fonbern  in  bie 
einfache  praftifd)e  Angelegenheit  ber  ©rensbeftimmung  umgewanbelt  mürbe. 
Stufslanb  mufi  freilief)  bie  9iott)wenbtgfeit  feft  im  3luge  behalten,  feinen  33e* 
fitjungen  in  Gentralaften  enbltä)  eine  fixere  füblidje  ©rense  ju  geben  unb 
bie  ftrategifd)e  33aftS,  bie  eS  fett  1884  gewonnen  tjat,  ju  oeroollftänbigen. 
SefctereS  fann  aber  nur  burd)  ©Raffung  einer  entfpredjenben  ^ßofition  in 
Stfgijamftan  gefdjeljen.  SJiag  JhtjHanb  noä)  immer  in  SluSfüfrrung  ber 
fogenannten  £eftamentsbeftimmungen  Meters  beS  ©rofjen  ben  2Beg  naä) 
$nbten  fid)  bat)nen  motten,  ober  mag  es  nur  bie  2ibftd)t  b,aben,  oon  feinem 
centralaftatifdjen  ©ebiete  aus  über  bie  SßamtrS  in  baS  3fmtere  oon  Steina 
oorjubringen,  fei  es  commer}iett,  fei  eS  mititärspolttifd),  fo  toirb  eS  boä) 
unter  feinen  Umftänben  beS  bet)errfä)enben  ©tnfluffeS  tu  3lfgt)aniftan  ent* 
bet)ren  unb  auf  benfelben  oerjidjten  tonnen.  9tad)  bem  unpartetifdjen 
llrttjeiT  @aä)oerftänbiger  rote  5.  33.  beS  centralaftatifdjen  Sieifenben,  bes 
<Sd)roetserS  Reinritt)  3Rofer,  ift  auä)  ber  rufftfdje  ©injluti  im  Sentratgebieie 
beS  alten  ©rbtfieils  bereits  fo  groft  geworben,  baft  er  feine  Süoalität  mebr 
ju  färbten  t»at.  (Sin  unbeftreitbarer  SBeroeiS  biefeS  überroiegenben  ©influffeS 
lag  roofjl  fd)on  in  ber  frieblidjen  S9efit)nat)me  oon  3Rerro.  ®ie  ftrategifdje 
Sßofition,  roetd;e  9?u§Ianb  gegenroärtig  an  ber  ©renje  3lfganiftanS  itme  t)at, 
ift  ben  Gnglänbern  gegenüber  eine  gfinftige  ju  nennen.  3fuf?[anb  oermag 
jefet  in  oerfiättnifjmäftig  furjer  %e\t  unb  ot)ne  befonbere  ©djroierigfeiten 
eine  ftarfe  3lrmee  nad)  ßentralaften  p  werfen. 

©ie  engtifd)5tnbifd)e  3lrmee  b,at  gegenroärtig  roofjt  einen  ©ffectiobeftanb 


  Haßlanb  in  Centratafien.   


329 


üott  223289  2)?ann,  ift  aber  über  ein  Sänbergebiet  oertbeitt,  ftebenmal  fo 
groß,  roie  granfreid».  Dtefelbe  5ät»lt  außerbem  nur  72000  engltfdje  ©olbaten; 
bie  ÜJ?et)r5Q{)t  ber  Gruppen  befielt  aus  ©ingeborenen.  3n  ber  spromnj 
Bengalen,  bie  für  Stfgtjaniftan  junädjft  in  23etradjt  fäme,  befinben  fidfj  135814 
9Rann  33efafcung,  roorunter  45000  ©nglänber.  Die  genannte  Sßräfibent« 
fdjaft  madbt  aber  für  fidfj  allein  fd)on  ben  größten  S^eit  oon  ^nbien  aus 
unb  umfaßt  ein  Slreat  von  2  -DJiHionen  Ckabratfttometern.  es  ftet)t  baber 
febr  in  ^rage,  ob  im  gaffe  eines  Krieges  an  ber  ©renje  t>on  2lfgbantftan 
e§  möglich  fein  mürbe,  100000,  ober  felbft  nur  75000  SJlann  »on  ber 
utbifdjen  9lrmee  borten  ju  entfenben.  Unb  roeldjeS  Vertrauen  fönnte  roobl 
©nglanb  barm  5U  feinen  inbifdjen  Sötbnern  b"ben,  aus  benen  bie  betreffende 
Dperation«ä3lrmee  jutn  Steile  bodj  roenigftenS  beftefien  müßte.  SMdfien 
einfluß  mürbe  ferner  wobt  bie  sJfaxdvrid)t  oon  einer  immerbin  bod)  als 
tnöglidj  in  erroägung  ju  siebenben  Jiieberlage  ber  Gngtänber  auf  eine  33e* 
»ölferung  »on  250  SDJillioncn  eingeborenen  üben,  bie  jum  2$etle  bod)  feinb« 
fetig  gefinnt  finb  unb  nur  ton  72000  2Rann  englifdjer  Gruppen  bemalt 
werben,  9}adj  ben  33erid>tett  ber  SJeifenben  in  Gentralafien  barf  9tußtanb 
anbererfeits  mit  33eftimmtbeit  annehmen,  baß  bie  eingeborenen  in  jenen 
©ebieten  Urm  eoentuett  eine  in'S  ©erotdrt  fadenbe  Untcrftüfcung  gemäßen 
mürben.  $n  ben  gitjjettett  ber  Jlomaben  fod  man  »ietmebr  nod)  als  in 
ben  ruffifcfien  Solonieen  »on  ber  9Kög[id)feit  eines  großartigen  3ltaman,  eines 
ÄriegSjugeS  nadj  bem  Venbfd;ab  fpredjen.  Die  £urfmenen  »on  ®f)tma  unb 
von  ©urgan,  bie  ßirgtfen  unb  9tfgt)anen  mürben  bann  nur  beSfelben  ÄriegS« 
pfabeS  sieben,  melden  bereits  i^re  SSorfabren  einft  eingefdjlagen  Ratten. 

Der  ©cbroerpunft  beS  ruffifdien  ffietcbeS  liegt  unbebingt  in  3tfien. 
Dtefe  ©runbanfdjauung  ift  fc^on  ju  Reiten  Meters  beS  ©rof5en  als  3lriom 
ber  ruffifdjen  Sßotitif  betrautet  roorben.  freilief)  Ijaben  ebrgeijige  ruffifdje 
Diplomaten,  bie  auf  europtüfd)em  ©ebiete  leidfiter  unb  fdmetter  eroberungen 
machen  ju  fönnen  glaubten,  bie  betreffenbe  2lnfd)auung  fpäter  oft  aus  ben 
Slugen  gefaffen.  SEBie  bie  ©efdjidite  uns  letjrt,  bat  Stußlanb  bann  ungebeure 
Dpfer  an  33lut  unb  ©elb,  unb  jroar  »ergeblidj  gebraut,  um  auf  ber  58alfan« 
£albinfel  ben  maßgebenben  ©injluß  su  geroinnen.  Das  Vorbringen  in  Slften 
ift  babei  aHerbingS  aud»  triebt  uerabfäumt  roorben,  unb  im  ßentralgebiete 
biefeS  erbtbeils  ift  eS  9?ußtanb  fogar  gelungen,  fidfj  eine  »ortbeill)afte  Vofition 
ju  fdbaffen. 

©ans  anberS  »erbält  fidj  aber  bie  ©adie  in  Dftafien.  £ter  fjat  Shifjlanb 
feit  »ieten  Sabrsebnten  fdjon  »erabfäutnt,  feine  9)iad)t  in  Sibirien,  ber 
SBidjtigfeit  biefeS  ungebeueren  VeüfceS  entfpredfjenb,  ju  confolibiren.  Stußlanb 
bat  biefe  Sänbergebiete  roeber  roirtbfdiaftlid)  fid)  entfalten  [äffen,  nod»  biefelben 
bem  SBeltoerfebr  eröffnet  unb  bie  mäcfjtigen  3)iontanmertbe  nufebar  51t  mad)en 
gefud)t,  roeldje  fie  bergen.  SRidjt  einmal  eine  ftrategifdie  93afis  bat  fid)  baS 
geroaltige  9ieid)  für  Sibirien  ju  fdjaffen  gemußt.  SBenn  man  bebenft, 
roeld»e  großen,  umfangreidben  ÄriegS=Sauten  unb  Anlagen  in  ben  legten  3abts 


330 


 <E.  IHofd}fe  in  Sreslan.   


jehnten  in  ber  ©renäprooinj  ©arfchau  ^crgcfteltt  roorben  finb,  unb  in  Sibirien 
Ijat  man  bie  Stnlage  einer  burchgehenben  ©ifenbahn,  biefer  fo  äußerjr  noth* 
menbigen  &anptoerfehrSaber,  erft  1890  in  2lngriff  genommen.  68  mar  ferner 
ein  großer  gehler  Stußtanbs,  baß  eS  nach  feinem  legten  orientalifchen  Kriege 
ben  größten  £heü  feiner  2Behrma<ht  an  ben  SBeftgrenjen  gegen  ©eutfchlanb 
unb  Defterreidj  bauernb  oerfammclte.  Sßeber  ber  eine,  noch  ber  anbere 
biefer  Staaten  blatte  begehrenSroerthe  ©roberungen  auf  ruftifdjem  ©ebtete 
$u  machen,  baS  3<rcenreid)  tonnte  alfo  auch  nicht  im  ©ntfernteften  eines 
StngriffS  oon  biefer  Seite  b^er  gewärtigen  bürfen.  3(18  ein  gteidjbebeutenber 
SJcißgriff  ift  aber  biefe  SSerfammlung  beS  £eereS  an  ber  ruffifdjen  2Bejt* 
grenje  su  bejeidmen,  wenn  9tußlanb  etwa  urirfTidj  geglaubt  fyabtn  follte, 
baß  feine  3uf"fft3frage  ätotfcf>cn  ber  SBeidjfel  unb  bem  SW^ein  ihre  ©ni* 
fcheibung  finben  müjfe,  unb  baß  eS  baS  Uebergenricht  auf  ber  Salfanhalb* 
infet  auf  beutfd^em  ober  öfterreidbifcfiem  Stoben  gemimten  fönne.  Selbft  im 
SBunbe  mit  granfretcf)  mürbe  eS  Slußtanb  niemals  gelungen  fein,  einen 
nachhaltigen  ©rfolg  über  SDeutfchlanb  unb  Defterreidb  $u  erringen. 

Stußlanb  ftef)t  alfo  gegenwärtig  mit  faft  ber  gefammten  Kriegsmacht 
an  feinen  europäischen  SBeftgrenjen  beinahe  ifolirt  ba,  roährenb  fein  Sdm»er= 
punft  in  2lfien  liegt,  So  ift  es  benn  auch,  gefommen,  baß  baS  &areme\d) 
burcb,  bie  ©retgniffe  im  Dften  beS  alten  ©rbtheils  eigentlich,  oottftänbig  übers 
rafcbt  roorben.  GS  broljen  bort  tief  einfdmetbenbe  politifcbe  ©reigniffe  fia)  ju 
ooHsieljen,  ohne  baß  SWußlanb  augenblicklich  in  ber  Sage  ift,  entfdjeibenb  ein= 
greifen  ju  fönnen.  ©aSfelbe  h«t  smar  jur  3rit  in  ben  oftafiatifchen  ©etoäffern 
ein  ©efchroaber  oon  6  Kratern  erften  unb  4  folgen  jmeiten  langes,  ferner 
oon  10  £odjfeefanonenbooten,  2  SDHnenfreujem,  foroie  14  3Rmenträgem 
unb  -DJinenbooten,  im  ©ansen  alfo  »on  32  gahrjeugen  oerfammelt;  ber  in 
Korea,  an  ber  ruffifctjen  ©renje  ftehenben  japanifchen  Streitmacht  b,at  eS 
vorläufig  aber  jebenfattö  nur  unjureichenbe  Kräfte  entgegen  }u  ftellen. 

■Jtach  ben  neueften  ftatiftifajen  2lngaben  oermag  3apan  eine  gelbsStrmee, 
rinfchtießlidj  ber  ^erritoriak  (Sanbroehr)  Gruppen,  oon  269748  Köpfen 
aufjuftetlen.  3)ie  £erritorial«9iegtmenter  fommen  babei  infofern  toobj  in 
33etract)t,  weil  fie  unbebingt  bodb  für  bie  33efefcung  bejio.  Behauptung  ber 
eroberten  unb  occupirten  Sanbftriche  geeignet  finb.  3n  Qapan  fetbft  oer= 
bleiben  bann  noch  bie  SJiiltj  oon  STafchina,  beftehenb  aus  einem  Infanterien 
Corps  unb  einer  3lrtttlerie=2lbtbeilung;  4  gefmngSjSrtinerie^egimenter  unb 
baS  ©ensbarmeriesßorps.  £)ie  9JJarine  jäf>lt  58  gahrjeuge,  barunter 
1  ^?an3erfcf)iff,  7  Kreujer  erfter  Klaffe,  5  ©oroetten,  6  Kanonenboote, 
26  STorpebofahrjeuge.  ©urdj  bie  Kriegsbeute  in  bem  gelbjuge  gegen  ©hina 
wirb  aber  bie  japanifcfye  flotte  jebenfaHS  noch  einen  3utoachS  oon  1  Sßa^er, 
4  Sreujern  unb  einer  Slnjafil  oon  Kanonen«  unb  £orpebobooten  erholten  haben. 

S'tußlanb  hat  nach  feinen  neueften  ©iSlocationSliften  im  2Wititär*Bestrf 
2lmur  5ur  Verfügung  10  oftfibirifche  Stmen'SBatatllone,  2  oftiibirifcfte  ©chüfcen* 
brigaben  $u  je  5  Bataillonen,  2  guß^afafen^Sataillone,  1  Slmurs^uß' 


  Hujjlanb  in  <£eniralaf ien.    53\ 

Äafafen^albbatatHon  ju  3  Sotnien,  1  tranSbaifa!ifdb>S  Kafafen  Deiters 
^Regiment,  1  Slmut^afafen^cgiment,  eine  Uffurisftafafen«2lbtf)etlung,  eine 
oftfibirtfdje  2lrttHerie=33rigabe  ju  6  Batterien  u.  f.  n>.  ©S  ergeben  biefe 
Struppen  auf  bem  Kriegsfuße  eine  ©efectjtsftärfe  »on  etwa  30000  SKamt; 
man  }ieh>  aber  ben  $läd(jenraum  beS  SöfilitärbejirfeS  2lmur  babei  in  33etradf)t, 
ber  beinahe  fedjSmal  fo  groß  ift  als  ganj  granfreid).  ÜJtan  roirb  bann  ein 
93er[iänbttiß  bafür  gewinnen,  roaS  eS  ju  bebeuten  f)at,  roenn  bie  öffent* 
licf>en  33ertd(jterftatter  baoon  fpredjen,  baß  bie  an  ber  äußerften  Dftgrenje 
fteiienben  rufftfdjen  Gruppen  fortroäljrenb  aSerftärtungen  erhalten  foÜctt. 

3n  bem  SDUKlärbejirf  ^rfutsf  ftnben  mir  bann  nodf)  8  roefmbirifefie 
Simenbataiffone  unb  7  9ieferoebatai(Ione.  Sefetere  erroeitern  jtdj  im  UKobil« 
madjungSfalle  5U  25  Sataidonen,  fo  baß  bie  3Jlttitärmadf)t  beS  SejtrfeS 
fcfilteßlicf)  33  23ataiflone  mit  inSgefammt  32000  Streitbaren  betragen  mürbe. 
3m  SJHtitärbejirf  DmSf  enbtidfj  befinben  fid)  nodf)  3  fibtrifd&e  Rahden? 
^Regimenter,  1  SemirjetfdienSf  6a»atteries5Wegiment,  1  roeftftbirifcfje  Strtttterie* 
Srigabe  }u  5  Batterien  u.  f.  vo.,  im  ©anjen  etroa  12000  Streitbare. 
<Die  gefammte  KriegSmadfjt  Sibiriens  mürbe  atfo  74000  Streitbare  betragen, 
baS  Sänbergebiet  umfaßt  aber  einen  glädbenraum  oon  beinahe  12  %  SKittionen 
Duabratfilometern,  faft  24  Wied  fo  groß,  roie  grattfreid).  SBenn  nun  nodf) 
menigftenS  bie  ftbirifdfje  Gifenbafm  bereits  fertiggeftedt  märe! 

$)er  2tuSgangSpunft  biefer  93af)n  ift  Samara  an  ber  Sßolga,  meiner 
JDrt  nadj  2Beften  f)in  in  ununterbrochener  SBerbinbung  mit  2J?oSfau  unb 
Petersburg  fte^t.  ©egen  Dften  reidf)t  »on  tjter  bie  Strecfe  ber  europäifdjen 
33ab>  über  Ufa  bis  Slatouft  am  SBeftabljange  beS  Ural.  33on  teuerem 
fünfte  ab  beginnt  bie  neue  33al)n  mit  ber  furjen  Uralftredte  bis  UfUjaS?, 
worauf  biefetbe  über  EfdfjelabtnSf,  SjufalinSf,  DmSf,  KcrinSf,  SomSf, 
SWorünSf,  KraSnojarSf  nad)  TOfdmüUbinSf  an  ber  Uba  geführt  wirb,  im 
Allgemeinen  ber  befannten  großen  Straße  folgenb.  GS  b,at  biefe  Strede 
eine  Sänge  dou  2912  Kilometern,  in  9?ußlanb  an  bie  fruchtbare  Legion 
beS  £fd)ernofam  (Sdjroarjerbe)  anfdfilteßenb  unb  buref»  ben  bewlfertften 
S^eit  Sibiriens  fidf)  fnnjtefjenb.  9lifdf)irUUbtnSf  ift  ber  3Jttttefpunft  ber 
ganjen  Salin.  $ie  2ßeiterfub,rung  »on  fjter  nad)  bem  KriegSb/tfen  Sßtabimoftof 
am  3(apanifd^en  9Keer  foH  aber  in  folgenber  Sinie  gefdb>b>n.  3unäcP  9e^ 
bie  SBajm  na<f)  ^rfutsf,  »on  bort  nadf)  bem  9)}ioenfoi»Sfis$afen  am  Süb; 
ufer  beS  SaifalfeeS,  bann  norböftlicf)  über  £fd)tta  unb  9iertfdf;inSf  nad) 
StrjetenSf  an  ber  Sdfjitfa,  bem  großen  Duetlfluß  beS  2tmur.  %m  £ljal 
ber  Schilfa  unb  beS  2lmnr  läuft  bann  ber  Sdfnenenroeg  abroärtS  bis 
6f)abaron)fa,  an  ber  Uffuri-aWünbung,  roeiter  in  füblid)er  SWcfitung  ben  Uffuri 
aufwärts  unb  nac^  SBtabirooftof.  tiefer  jroeite  große  2lbfd?nitt  ber  93al)n 
von  Mfc^ni'UbinSt  bis  SZBlabirooftof  roirb  765  Kilometer  lang,  bie  ©efammt* 
länge  beS  SdpienenmegeS  »on  SUHjaSf  ab  bemnad^  10568  Kilometer  be* 
tragen.  ®ie  ju  bem  Sau  erforberlidje  war  auf  10  bis  12  Qaljre 
Deranfd)lagt.  ©egenroärtig  finb  bie  Slrbeiten  erft  an  ben  beiben  Gnbftreden 


332 


  <E.  Iltaf^fe  in  Breslau.   


im  Dfteit  unb  im  SBeften  fo  weit  uorgefdiritten,  bafe  fd)on  auf  größere 
©ntfernungen  bet  betrieb  eröffnet  werben  fonnte.  $m  Sluguft  1894  war 
junäd)ft  bie  £b>ilftre<fe  oon  £fd)elabinSf  bis  sunt  littfeit  Ufer  beS  3rtif(^, 
gegenüber  ber  <Stabt  Dmef,  bem  SSerfefir  übergeben  worben.  3lm  25.  2lugttjt 
traf  ein  Sonberjug  aus  Petersburg  nad)  3urü<ffegung  einer  ©efammtftretfe 
oon  3542  Kilometer  am  ^rtifd)  ein.  $m  fernen  Dften  oon  (Sibirien  fanb 
fobann  am  1.  Dftober  189i  bie  23ctrtebSeröffnung  auf  ber  SüteUfjuri« 
Salin,  ton  SSBIabirooftoC  bis  Uffuri,  in  einer  2tuSbefmung  »on  349  Kilo« 
metern  ftatt.  9iad)  ber  3eit«nt^eilung  unb  bem  gortfdjritte,  ben  bie  Arbeiten 
bis  bafjm  gemacht  Ratten,  erwartete  man,  bafe  am  1.  Januar  1895  auf 
ber  meftfibirifd)en  33abn  960  Kilometer,  auf  ber  mittelfibtrtfd)en  Strecfe  550, 
auf  ber  ©üb^Uffuri^a^n  349  unb  auf  ber  SRorb»Uffurü33at)n  43  Kilo« 
meter,  sufammen  alfo  1902  Kilometer  fertig  geftellt  fein  mürben,  äugen* 
bltcflid)  foll  auf  ber  ganjen  Sinie  mit  ber  äufjerften  3lnftrengung  gearbeitet 
werben,  bod)  bürfte  bieS  für  baS  laufenbe  unb  wob,l  aud)  nod)  für  baS 
nädjfte  3ab>  roo^t  nod)  fein  bebeutenbeS  Stcfultat  ergeben  in  2lnbetrad)t  ber 
gewaltigen  Sänge  oon  8666  Kilometern,  bie  SlnfangS  1895  nod)  tierjus 
ftellen  roaren. 

9?ad)bem  ber  Krieg  jwifdjen  3apan  unb  6l)ina  eine  ernftere  ©eftalt 
angenommen  blatte  unb  als  fdjliefjlid)  mit  einem  (Siege  ber  3flPQner  W 
rennet  werben  mufete,  tuurbe  oon  ber  öffentlid)en  SJieinung  StufelanbS  ein* 
mütliig  erflärt,  bafj  Qapan  baS  Sanb  Korea  in  fein  &b§ängigfcitSoerl)ättmf$ 
oerfefeen,  auf  bem  afiatifäjen  Gontinente  fein  ©ebiet  annectiren  unb  gormofa 
fid)  nid)t  aneignen  bürfte.  $)ie  ruffifd)e  Regierung  mar  jebenfalls  aud)  oon 
oorntierein  entfd)loffett  geioefen,  bie  Abtretung  d)inefifd)en  geftlanbgebteteS 
an  ^apan  nid)t  sujulaffen,  menigftenS  nid)t  in  ber  9Ml)e  ber  rtbirifd)en 
©renäe.  2Beld)e  militärifcfien  Sftajjnafimen  aber  Stufelanb  roäfirenb  beS 
Krieges  in  Dftafien  getroffen  f)at,  um  feinem  SBillen  erforberltdjen  galls 
aud)  ben  nötigen  5Rad)bruö  geben  ju  fönnen,  läßt  fid)  iefet  nod)  nid)t  über» 
fefjen.  SBefanntlid)  bringen  fid)ere,  suoerläffige  9iad)rid)ten  über  rufftfdje 
SBerbältniffe  unb  SBorgänge,  namenttid)  mititärifd)er  3lrt,  nur  febr  fdjroer 
unb  oercinjelt  in  bie  Ceffenttid)feit,  fo  bafj  erft  feljr  aUmcu)Kd)  burd)  3* 
fammenfaffen  biefer  ftüdwetfen  9tod)rid)ten  ber  3uf°mn,eitf)<m9  ber  9Jfaj5= 
nafmten  erlannt  unb  über  beren  33ebeutung  unb  Sragwette  ein  Urtfjeil  ge* 
bilbet  werben  fann.  SBie  in  ben  oorfteb^enben  2lusfüljrwtgen  aber  bargelegt 
worben,  bürfte  SHufjlanb  oorläufig  nod)  nid)t  in  ber  Sage  fein,  ber  japantfd)en 
KriegSmad)t  an  ber  fibirifdjen  ©renje  mit  entfd)eibenbem  Erfolge  entgegen« 
treten  5U  fönnen.  Dfine  3">ttfcl  würbe  baS  mäd)tige  3<irenreid)  fdjliefjlid) 
ja  bod)  feines  Keinen  japanifdjen  ©egnerS  £err  werben,  bis  bafiin  möd)te 
aber  immerhin  nod)  einige  Seit  oergeb^en,  unb  eS  fönnten  injwifdjen  neue 
Gomplicationen  eingetreten  fein.  ©leid)wie  bem  ruffifdien  9ieid)e  ein  geft* 
fetsen  Japans  auf  ber  d)inefifä)en  Küfte  nid)t  nur  einen  neuen  Stioalen  in 
bem  Streben  nad)  Sanberwerb  auf  Koften  GfnnaS  entfielen  taffen,  fonbern 


  Hujjlanb  in  £entta(afien.   


333 


audj  für  baä  trufftfd^c  oftafiatifdje  Äüftengebiet  eine  übermäßige  Grftarfung 
Japans  birect  t>cbrof)li<^  werben  mufs,  fo  wirb  audb,  ©nglanb  burd»  eine 
roefentlidje  Steigerung  ber  3Jtod)tftelIung  3<*P<m3  unbebingt  in  feinen 
£anbel§intereffen  auf  baä  ©ntpfinbli^fte  gefd)äbigt  werben.  Trofcbem  fegeint 
ftd)  ba§  britifd)e  Steid)  jefct  auf  bie  ©eite  %a panS  ftetten  ju  wollen,  fei  es 
in  ber  Hoffnung,  in  biefer  SBeife  einige  3Sort^ci(e  in  6l)ina  erlangen  ju  fönnen, 
fei  e§  in  ber  (Srroartung,  ben  ntffif^en  Stiualen  in  3lfien  burd)  einen  ernften 
ßonfttet  mit  %apan  gefc^mä^t  unb  auf  längere  ftät  befdjäftigt  ju  feigen. 

6§  bürften  nämlid)  audj  in  ßentratafien  bie  58ert|ältniffe  auf  eine  enb= 
Itdje  2lu3einanberfefcung  snrifdjen  ©nglanb  unb  9iufelanb  unb  jmar  junädjft 
besüglidj  2lfgf)aniftan3  fnnbrängen. 

®ie  ftrategifdje  Sage  SRuftlanbS  in  Qnnerafien  an  ben  ©renjen  9lfgb,a= 
niftanS  unb  ^nbienö  fyat  fid)  burdj  ben  in  jüngfter  3eit  mit  ©nglanb  ab« 
gefd)loffenen  ^Jamiroertrag  fetir  roefenttid»  geänbert.  &a§  aus  bem  Keinen 
©ariful-.@ee  (ÜBoobSs,  aud)  $Bictoria5©ee)  abfKe&enbe,  fälfc^tict)  Dru$  be* 
nannte  ©eroäffer  fod  bie  ©übgrenje  beä  ruffifdjen  ©ebieteä  bilben.  Deftlidj 
oom  ©artful=@ee  nrirb  bie  ©renje  burd)  eine  Sinie  nadj  Tafdj  bis  jum 
djinefifdjen  ©ebiete  »erlängert,  unb  meftroärts  fott  ber  Sßanbfdjflufi  ba$ 
rufitfdbe  Territorium  uon  Slfgljaniftan  fd;eiben.  9lufjlanb  b,at  fomit  faft  ben 
ganjen  Spamir  mit  ©tnfdjlufj  ber  bisher  uon  Slfgliamftan  beanfprudjt  ge« 
mefenen  Staaten  ©diugnan  unb  9ioff»an  mit  ben  ©unb«  unb  ©djad)«baras 
£l)älern  erhalten;  e3  »erjidjtete  bagegen  auf  bie  am  tinfen  Ufer  be3 
Sßanbfdj  ftromabmärtS  »on  Mai  SBamar,  ber  £auptftabt  uon  Dfoflan,  ge= 
Iegenen  ©ebtete  bes  ju  Sodjara  gehörigen  SDarroa^Staateä.  Slfg&aniftan 
tourbe  an  ber  bejetdmeten  ©renje  burd)  einen  fdmtalen,  sunt  SBadjanfiaate 
gehörigen  ©ebtrgSabt)ang  abgefunben.  ßfjina,  beffen  Slufmerffamfeit  burd) 
ben  Ärieg  tnit  Qapan  in  2lnfprud)  genommen  mar,  ging  ganj  leer  aus. 

Stfe  ^Pamirs,  von  ben  ßirgifen  „©ad;  ber  2BeIt"  genannt,  ftnb  trofe 
itjrer  Debe  in  ganj  ßentratafien  berühmt,  ©eit  ben  älteften  $eiten  gingen 
£anbel3ftrafeen  über  fie  binroeg.  Täe  ruffifdje  ©rpebition  unter  ©enerat 
©fobelen»  uon  1875/76,  roeldje  jur  ^üdjtigung  ber  Äirgifen  auf  bem  Slloi* 
Sßlateau  ftattget)abt,  blatte  ©etegenfieit  gegeben,  bie  ©egenb  genauer  femten 
ju  lernen.  33on  einem  Sßaffe  be3  2llais©ebirge3  in  Gliofanb  auSgeljenb, 
fönnen  ruffifdje  Truppen  in  febj  furjer  3«t  über  ba3  ^Jamir^lateau  nadj 
?)affin  unb  ©ilgit  in  ©arbiftan,  alfo  in  bie  unmittelbare  9Jät»e  be§  QitbuS* 
t^aleä  gelangen.  Sie  Muffen  fiaben  bemnad)  in  bem  neuen  ^amiroertrage 
eigenttid»  faft  9Udjt3  aufgegeben,  bagegen  fo  gut  wie  Sitte«  geroonnen. 

3lnbererfeit§  baben  bie  ©nglänber  fürjlia;  im  Tfdjitralgebtete  einen 
fdjroeren  ©djlag  für  ttjre  Slutorität  in  3«bien  unb  Stfgljaniftan  erlitten. 
®a§  Tfdjitralgebiet,  ein  an  ber  norbioeftlidjen  ©renje  $nbien3  am  ©üb= 
abfange  beö  &inbufufdj  gelegenes  33erglanb,  gehört  par  nidjt  ju  ben  un« 
mittelbaren  inbosbritifdjen  Senkungen,  roobl  aber  ju  ber  englifdjen  ^ntve- 
effen«  unb  9lctionSfpb,äre. 


33$    €.  OTaf^fe  in  Breslau.   

®ie  inbtfdjje  Regierung  fyatte  infolge  beffen  bort  einen  befonberen 
2lgenten  mit  einer  geringen,  Sefcterem  als  ©dmti*  unb  ©fjrenmadje  bienenben 
£ruppenabtlieilung  ftationirt  unb  auä)  n>ieberl)olentlicfj  auf  bie  enblicfie  Gr' 
lebigung  ber  bort  lanbeSübftcfien  blutigen  S^ronftreitigfeiten  einen  ent« 
fdjeibenben  ©inftufe  ausgeübt.  2Jor  einiger  3^t  ifi  inbeffen  ber  ben  Gng* 
länbern  genehm  geroefene  Sktierrfdjer  »on  £fdjitral  burdj  einen  feiner 
SBerroanbten,  ©djir  Slfjul  entthront  unb  ermorbet  rcorben.  Se&terer  batte 
ftd»  bann  mit  Unterftüfcung  UmraS,  be§  Gb>n3  »on  Sanbol,  meldte  btefer 
trofe  beä  bejüglidjen  Verbotes  feitenS  ©nglanbs  geleiftet,  jum  ßerrfdjer  auf= 
gefd)roungen  unb  ben  englifdjen  ©eneral  9iobertfon  mit  feinen  wenigen 
fjunbert  SWatm  in  bem  gort  »on  £fdjitral  eingefdjloffen.  £>te  inbifdje 
Regierung  orbnete  fogletdj  bie  SluSrüftung  einer  ftärferen  ©rpebitton  unter 
bem  33efef»t  beS  ©enerals  9tobert  Sora  an,  um  in  bem  Meinen  ©renj« 
lanbe  iHufje  unb  Crbnung  mieber^erjufteßen.  33or  bem  ©intreffen  btefer 
Gruppen  mar  es  inbeffen  bereits  ©nbe  2Mr$  b.  3.  junfdjen  ben  im  £fd)itrafc 
gebiete  serftreuten  Keinen  inbifdjen  Soften  unb  ben  ©ingeborenen  ju 
blutigen  kämpfen  gefommen.  ©ine  2lbt^eilung  beS  14.  ©iff)s9JegimeitieS 
umer  Sieutenant  Slofe  mar  »om  geinbe  überfallen  unb  »otlftänbtg  aufgerieben 
roorben.  $>ajj  biefe  $ataftropb>  aber  eintreten  tonnte,  lag  unsroeifeÜjaft 
toteber  an  ber  ben  ©ngtänbern  im  gelbe  fdwn  fo  oft  »erfiängnifjooH  ge« 
morbenen  unb  bodj,  roie  e$  fdjciitt,  un»erbefferlidb>n  ©erooljnljeU,  mit  fou* 
»eräner  Sßeradjtung  auf  ben  ©egner  lierabjubltcfen  unb  fidj  bab,er  über  bie 
einfadjften  Siegeln  ber  tactifdjen  ©tdjerung  fjimoegpfefeen.  ©0  wirb  audj 
Sieutenant  9iof?  fein  ©diidffal  felbft  »erfdjulbet  Ijaben.  Ter  brittfcfien 
Regierung  blieb  aber  nadj  biefem  traurigen  ©reignife  feine  2Bal)l  meb>. 
SBoHte  fie  nicf)t  atteS  Slnfefien  in  ben  inbtfdjen  ©renjgebieten,  ja  »iefleidfjt 
im  ganjen  Sanbe  »erlieren,  fo  mußte  fie  bie  Serguölfer  am  £inbuhifdf> 
grünblid)  jüdjtigen. 

£iä)itral  unb  Qanbol  finb  SeibeS  Sänber  alpinen  GfytrafterS.  ©d&nee» 
unb  gletfcfjerbebedfte  Serge  ragen  bis  ein«*  co"  7000  SKetern 
empor,  ©er  93erfel)r  bewegt  fid)  auf  ©aumpfaben.  Tie  Drtfdjaften  be* 
ftnben  fi<f>  metftenS  auf  fdnoer  jugänglidien  Reifen.  S)ie  ©tobt  unb  33erg* 
oefte  Sfdjitrat  liegt  tjörjer  als  baS  £ofpij  beS  ©t.  ©otttjarbt. 

Tie  englifdje  Operation  gegen  £fdjitral  mar  berartig  »eranlagt,  bafi 
jroei  53rigaben  auS  bem  ^Senbfdjab  burdj  bie  Serglanbfd&aften  Sroat  unb 
Sßanbfdfifora  »orbrangen,  toetfirenb  eine  Golomte  unter  Dberft  KeHn  »on  Dften 
b^er,  oon  ©ilgit  auf  £fcf)itral  marfdjirte. 

Tie  beiben  unbotmafjigen  dürften  @djir--3lfjul  unb  Umra  6^an  fotlten 
jroar  über  80000  93emaffnete  ju  gebieten  b^aben,  bemtod?  fonnte  aber  ber 
2Iu3gang  bes  gelbäugeS  t)on  oontlierein  nidjt  sroeifel^aft  fein.  ®en  15000 
SPJann  europäifd)  gefdjulter  Gruppen  gegenüber,  bie  mit  ben  beften  SHitteln 
ber  mobernen  SBaffentedjnif  auägerüftet  waren,  »ermodjten  bie  nrilben 
S3ergben>of)ner  nidjt  ©tanb  ju  galten.   ©0  mürbe  benn  aud)  fd)on  Anfang 


  Ruglattb  in  Centralafien.   


335 


9lpril  burd)  jroei  englifä>inbifd)e  Angaben  ber  SDiatafanb^aß  erftürmt. 
SDerfelbe  war  »on  3000  3J?ann,  f)auptfäd)lid)  3Jhittap  unb  ©ift)3  nebft  bercn 
©cfolge,  hartnädig  ocrtf»cibigt  roorben.  $>ie  auf  bem  9Worab^  unb  bem 
©djafot^affe  angefammelten  9JJannfd)aften  hatten  feine  3ett  gehabt,  fid^ 
ju  Bereinigen.  2)ie  Jööben  nmrben  fd)ließlid)  mit  bem  Bajonett  genommen, 
nad)bem  bie  englifcbe  Slrtillerie  unb  bie  9JJarim=£anonen  mit  großem  ®r* 
folge  in  ben  $ampf  eingegriffen  fiatten.  ©er  geinb  »erlor  weit  über  500 
SKann.  ©ie  erfte  SBrtgabe  be£  ©eneratä  Robert  £ot»  überfdjritt  barauf 
ben  ©roatfluß  unter  bem  geuer  beä  ©egnerS.  ®ine  Schaar  »on  5000 
SanbeSberoolmern,  meldte  ba3  Vorbringen  liier  ju  »erhinbern  fuditen,  mürbe 
jurfidgefäjlagen.  %§ama,  baS  gort  Umra  Gf)an3,  roarb  erobert.  Sährenb 
biefer  Äämpfe  im  ©roatgebtet  rüdte  Dberft  ÄeHn  »on  ©ilgit  auf  ber  äußerft 
fdjnrierigen  ©traße  gegen  £fd)itral  »or  unb  langte  nad»  mehreren  fyeifjen 
©efed)ten  am  9.  9lpril  in  SWaftubfd)  unb  am  12.  in  ©amogfjar  an.  ©ie 
geinbe  Ratten  fid)  in  ihren  ©angarä  feb>  feft  »erfdjanit  unb  mußten  aus 
ihren  in  ber  tiefen  ©djtudjt  9JfuHah  mit  großer  Umfidjt  errid)teten  93ers 
theibigungSroerfen  erft  mit  ftürmenber  £anb  herausgetrieben  werben.  Sie 
Hauptarbeit  fiel  ben  »on  ftetln.  befehligten  ßafdmitrsQnfanteriften  unb 
©appeurä  ju.  -Had»  h<trtnädigem  Kampfe,  an  bem  fid)  namentttd)  audj 
bie  »on  ben  ©nglänbern  mitgeführten  beiben  ©efdmfee  mit  ©rfolg  beteiligten, 
gelang  e3,  ben  Gegner  burdj  eine  glanfenberoegung  aus  feinen  Stellungen 
ju  oertreiben.  2lu3  aHen  biefen  blutigen  ©djarmüfeeln  mar  roohj  ju  er= 
fehen,  baß  bie  33erg»ölfer  SlafiriftanS  feinbltdj  gefinnt  unb  nid)t  SEBiHenS 
maren,  bie  britiffen  Gruppen  burd)  iljr  ©ebtet  burd»sulaffen.  Umra  Gfian 
fdjien  jebod)  in  golge  ber  9Jieberlagen  feiner  greunbe  unb  Anhänger  ben 
9Jlutf)  »erloren  ju  Ijaben,  ben  fiegreid)  »orfdjreitenben  brittifdjen  33rigaben 
fid)  nodj  einmal  entgegen  ju  werfen.  -DUtte  9lprit  bat  er  um  ^rieben  unb 
flol)  bamt  nad)  Slfmar.  2Bährenb  bie  englifd)=inbifd)en  Gruppen  beS  ©enerals 
Sora  unb  Dberft  JteHn  alfo  burd)  baS  ^anbfdjoragebiet  unb  »on  Dften  her, 
unter  ben  größten  ©djnnerigfeiten  äroar,  aber  bod)  ftetig,  »orbrangcn,  fyatte 
©eneral  SHobertfon  mit  feiner  Keinen  ©d;aar  feit  4.  Stpril  eine  fdjroere 
SBetagerung  in  ber  £fd)itralfefte  aushalten  unb  eine  9ieib>  erbitterter 
kämpfe  burdijufedjten.  ©ie  ©nglänber  hatten  in  golge  ber  färglidjen  unb 
mangelhaften  Nahrung  fdjroer  5U  leiben,  erlitten  aud)  burd)  baS  feinbtid)e 
geuer  bebeutenbe  SBerlufte  unb  befaßen  feine  genügenben  $itf3-  unb  2tr5nei= 
mittel  für  bie  Vernmnbeten  unb  Sranfen.  2lm  17.  3lpril  madite  bie 
©arnifon  nod;  einen  legten  uerjweifelten  9luöfatl  unb  »erlor  babei  mieber 
21  9Kann.  35ie  SSebrängung  burd)  ben  Belagerer  rourbe  immer  fd)n>erer, 
ba  bie  »orgetriebcnen  unterirbifdjen  ©äuge  beäfelbcn  bereits  biä  unmittelbar  an 
baä  gort  heranreiften,  ©o  märe  benn  bie  Sßcfie  n)ahrfd)einlid)  aud)  gefallen, 
roetm  nid)t  enblid)  am  19.  3lpril  bie  ßolonne  beä  Cberft  Rtüt)  fie  entfefet 
hätte.  ©d)irs2lfeul  mar  entflohen,  ©er  3lufftanb  in  £i<f>itral  unb  ^««bol 
ift  bamit  »orläufig  niebergefdilagen. 


336 


  <E.  OTafdife  in  Breslau.   


^ebenfalls  werben  bie  ©ngtänber  aber  für  geboten  erad)ten,  in  JEfdjitrat 
bouernb  feften  ftufj  51t  faffen.  93eim  2lu3brud)  eine«  emfteren  Gonfltcts 
sroifdjen  SRufjlanb  unb  ©ngtanb  fönnte  in  ber  23»at  bie  unter  gewötmlidjen 
3Ser^ölrniffen  ntinber  bebeutfame  spofttion  »on  £fd)itral  für  bie  33ertl)eibigung 
be£  nörblidjen  ^nbien^  eine  gonj  befonbere  33ebeutung  gewinnen.  33ei  ber 
burd)  ben  jüngft  abgefd)loffenen  Sßamiroertrag  gefd)affenen  ©obläge  wirb 
©ngtanb  wol)t  für  notfiroenbig  polten,  baä  Xfcf)itralgebtet  fo  bolb  als  möglich 
^inreid)enb  ftarf  ju  befe&cn,  um  bann  bie  nad)  ben  SßamtrS  füf>renben 
£inbufufd)päffe  in  feine  ©ewalt  ju  bringen  unb  bamit  bie  inbifd)e  3iorb= 
weftgrense  gegen  Shtfttanb  ju  fd)lief?en.  $enn  e3  bfirfte  ju  erwarten  fein, 
bafj  9hijkanb  unb  ©ngtanb  binnen  furjer  3«t  ftd^  Iner  »on  2lngefid>t  ju 
9tngefid)t  gegenüber  ftetien  werben.  SefetereS  wirb  fid)  bann,  umgeben  oon 
ben  feinbttd)  gefilmten  33erg»ölfern  ÄaftriftanS,  fetneäwegä  in  einer  gfinftigen 
Sage  befinben. 

2lud)  an  ber  ^orbgrenje  £eratä  fömten  bie  SBerb^ältniffe  faunt  aU 
ftabile  ju  betrauten  fein.  2Benn  ©nglanb  liier  md)t  juoorfömmt,  werben 
bie  Siuffen  unoermeiblidj  nad)  £erat,  bann  nad)  33el<§  unb  weiter  nad) 
Äabul  »orgefjen.  Slber  felbft  bler  werben  fie  nid)t  fteben  bleiben.  @3  Dürfte 
bemnad)  »telleidjt  ber  ßeitpunft  ntd)t  tnefir  ferne  fein,  wo  bie  ©renje  ber 
rufiifd)en  Stafafen  in  2lfgb>niftan  mit  ber  ber  @e»ot)3  in  ^nbien  jufammen« 
flößen  wirb. 


$zeibenhv\n  unb  {EfKofopfjin. 

Don 

—   Saoen  (£Tteber»<Dejlei:retcf[).  — 

eit  mehreren  $af)ren  ift  in  bet  treffe  ber  ganjen  ßulturroett  fef»r 
oft  bie  3lcbc  von  3Jtr3.  SSfonie  SBefant,  weil  bercn  Uebertritt 
Dom  rabicatften  greibenfertlntm  jut  oerroorrenften  £f)eofopf(te 
Biet  ©taub  aufwirbelt.  SHefe  ©ame,  eine  bct  merfroürbtgften  grauen« 
geftalten  aller  S^ten,  war  fccjon  ftürjcr  aucf)  aufierljalb  ©nglanbs  befannt, 
namentticfj  burd)  eine  iljrer  nieten  trefftidjen  Schriften:  „®a3  33e»ötferung§s 
gefelj,  feine  golge  unb  fein  Ginflufj"  (in  fieben  ©prägen  in  roeit  über 
%  ÜMion  (Sremplaren  abgefefet);  jcfet  aber  ift  fie  burd)  ttjre  33efebjrung 
ju  bem  unfinnigen  —  um  nic^t  ju  fagen:  fdfjrotnbelt)aften  —  ©eifterfpuf 
ber  uor  einigen  3af»ren  »erftorbenen  Helene  SBtaroatjfi  teiber  jum  ©efpött 
bes  ganjen  gebitbeten  2lbenblanbe£  geworben,  ©ie  fjat  bie  SRadjfolge  biefer 
Stbenteurerin  atä  Seiterin  ber  „£f)eofopf)ifcf)en  ©efeUfdiaft"  angetreten  unb 
fefet  fid)  in  SBort  unb  ©djrtft  mit  bemfetben  ©ifer,  ben  fie  fo  lange  für 
bie  gretbenferei  an  ben  £ag  gelegt  b^at,  für  ifire  neue  ©djroärmerei  ein. 

2Bir  Ijaben  e3  ba  mit  einer  ber  feltfamften  Sßanblungen  ju  tlnm, 
reelle  bie  an  fettfamen  SBanblungen  fo  reiä)e  ©eifte§gefd)id)te  ber 
SFienfcffteit  aufouroeifen  tjat.  Sit  melier  SBeife,  burcf)  roeldie  getjeimnifc 
rollen  ©enfproceffe,  mittels  roetdjer  nmnberbaren  (Sinflüffe  fid)  ber 
aufcerorbenttidje  Uebergang  in  biefem  auf?erorbenttid)en  Äopfe  »oHjog, 
ift  nod)  gfhtjltdj  unaufgeklärt,  ba  grau  33efant  jeben  2luffd)lufs  barüber 
»erroeigert.  ©afj  eä  if)r  um  ©d)roinbel  ju  tt)itn  fein  fönnte,  bafj  fte  bie 
©acfje  nidjt  roirftid)  emft  nimmt,  baf?  fte  eine  gemeine  Betrügerin  ift,  mufj 
bei  ifirem  perfönlidjen  ßljrarafter  als  »ollfommen  au3gefd)loffen  betrachtet 


338    J3erttja  Katfdje*  in  JSaben  (Zlteber.QJejierreidf).  <  

werben.  ©3  bleibt  »orläufig  nur  übrig,  bie  ganje  ©efcbidjte  für  unbegreif- 
lich ju  Ratten  unb  SßettercS  abproarten. 

Dagegen  bat  fic  bie,  ebenfalls  febr  merfroürbige  ©efdjidjte 
einfügen  23efebrung  junt  gretbenfertbum  unb  bie  »übergegangenen  ©ei:  - 
unb  ßersenSfärnpfe  in  tljrem  anjiebenben  Sludbe  „Autobiography  of  Annie 
Besam"  (Sonbon  1893)  auSfübrlid)  gefdbilbert.  £>te  betreffenben  SSor* 
gänge  finb  für  bie  ©genart  ber  3J?rS.  33efant  fo  bejeidmenb  unb  an  unb 
für  fid)  »on  fo  bobem  pft)d)ologtfdben  roie  biograpbifdjen  ^tttereffe,  bafj 
nähere  SWittbeilungen  fid^erttd^  nrifllommen  fein  werben  barüber,  roas  bie 
fromme  junge  ^JaftorSfrau  einft  »eranlafjte,  mit  allen  biblifdjen  unb  reli* 
giöfen  Ueberlieferungen  ju  bredjen,  fid)  mit  ibrer  gamitie  ju  entjroeien, 
&auS  unb  $erb  ju  certaffen,  fid)  oon  3Kann  unb  Äinbern  5U  trennen,  furj: 
ber  ganzen  SBelt  ben  geljbebanbfdjub  binjuroerfen,  um  für  baS,  was  Tie 
nad)  febroeren  inneren  Kämpfen  als  reebt  unb  roaln:  erfatmt,  mit  offenem 
aSifir  ju  ftreiten. 

2lmtie  33efant  bat  am  1.  Dctober  1847  ben  erften  2Ui<f  in  biefeS 
Sammertbal,  baS  mir  SBelt  nennen,  getban.  %n  tfcen  9lbern  fltefet  balb 
englifdjeS,  balb  irifd^eö  MüL  3bre  SDiutter  foll  eine  ber  ebelften, 
tapferften,  opferfreubtgften,  nuttfjtgften,  felbftlofeften  grauen  geroefen  fein, 
bie  baS  „grüne  ©rin"  jemals  erjeugt  fjat.  £rofe  aller  Sßanblungen,  bie 
mit  unb  in  ibrem  Siebling  Slnnie  »orgegangen  finb,  btett  üe  treu  unb  feft 
ju  ibr.  33on  ibrem  SBater  roeifj  uns  ÜRrS.  33efant  roeniger  p  erjäblen, 
benn  er  ftarb,  als  fic  faum  fünf  3«f)re  alt  mar.  9JJr.  SBoob,  ber  SÜebicin 
ftubirt  batte,  bängte  feinen  Doctorbut  an  ben  3lagel  unb  roibmete  fid), 
als  it)m  oon  einem  Staroanbten  in  Sonbon  ein  guter  Soften  angeboten 
rourbe,  ber  faufmännifeben  Saufbabn.  $>od)  »ermoebte  er  nidbt  ganj  r>on 
feinem  alten  Stauf  51t  laffen  unb  befudjte,  fo  oft  eS  feine  freie  $ext  er* 
laubte,  mit  befreundeten  3lerjten  ben  ©ecirfaal,  roo  er  ibnen  b^freidie 
$anb  bot.  33ei  einer  foldjen  ©elcgenbeit  »erlefete  er  fid)  einen  ginger  an 
bem  Sruftfnodien  eines  9KamteS,  ber  an  galoppirenber  ©dmrinbfucbt  ge* 
ftorben  mar.  Sängere  3eit  nadjber  überrafdjte  ibn  ein  tjeftiger  Stegen;  er 
fam  burd»tä&t  beim  unb  trug  eine  ©rfältung  banon.  ©iner  ber  Ijeroor« 
ragenbften  aber  aud)  berbften  Sonboner  ^rofejforen  rourbe  confultirt,  um 
ben  ungebulbigen  Patienten  ju  beruhigen. 

„25?ann  roirb  er  ausgeben  bürfen?"  fragte  bie  abnungSlofe  ©atttn 
ben  iprofeffor,  als  er  fid)  jum  SBeggeben  anfebidte. 

,,©ar  niebt  mebr.  <Sie  müffen  fid)  mit  biefer  Sfyttfadje  oertraut 
madjen;  benn  $for  ©atte  leibet  an  ber  gatoppirenben  @<broinbfud»t  unb 
fann  cS  bödjftenS  nodj  fed)S  SSodjen  auSbalten."  Stte  grau  taumelte  ju* 
rücf  unb  fiel  obnmäd»tig  ju  33oben.  3b«  Siebe  unb  ©elbftbeb.errfd)ung 
mar  jebod)  fo  grofe,  baft  fie  fd)on  nad)  einer  falben  ©tunbe  mit  beiterem 
3lntli^  bem  Äranfcn  bie  3eit  ju  Berfürsen  tradbtete  unb  fidb  ü)r  fd)roierigeS 
^flegeramt   oon  9Jiemanbem  nefnnen  tiefe.    5WrS.  SBoob  b«tte  ib.ren 


  $ reibenf erin  nnb  (Etjeof  opfyin.   


339 


©atten  unenblid)  geliebt.  S^re  SBerjweiflung  über  feinen  SBerluft  machte 
ihr  rabenfchwarjeS  £aar  in  ber  9?ad)t,  ba  er  fie  für  immer  oerließ,  er? 
grauen. 

2>a  3Jlr.  Sßoob  eine  gebiegene  flaffifdje  33ilbung  unb  bebeutenbe  philo* 
fophifd)e  Äenntniffe  befeffen,  fünf  frembe  ©prägen  gefprocljen,  über 
Sieligionen  im  Mtgemeinen  unb  über  bie  d&riftlidje  im  Sefonbern  fc^r 
ffepttfche  2lnf<f»auungen  gelobt  {»atte  unb  oon  feinem  Sterbelager  ben 
Sßriefter,  ber  ihm  baS  lefcte  ©acrament  reiben  wollte,  wegjagte,  fo  werben 
mir  uns  nicht  barüber  oeriounbern,  baß  feine  £od)ter  2lnnie,  bie  fehr  reli* 
giöS  erjogen  worben,  traft  ihres  00m  SSater  ererbten  fcljarfen  SSerftanbeS 
unb  ber  ungeheuren  SBahrheitSliebe  —  ein  ©rbtfjeil  ber  trefflichen  Butter 
—  über  bie  2Biberfprüd)e,  bie  ihr  in  ber  93ibel  aufftießen,  ftufcig  würbe, 
grübelte  unb  fann,  tbeologifche  ©tubien  machte  unb  fchließlid)  aud)  burä) 
äußere  Umftänbe  baju  getrieben  mürbe,  an  ber  Unfet»lbarfeit  ber  33ibel, 
an  ber  ©öttlicfjfeit  beS  ©efreujigten  unb  enblich  aud)  an  ber  ©rtftenj 
©otteS  ?u  jweifeln.   ®och  mir  motten  nicht  oorgreifen. 

9JJrS.  SBoob  blieb  in  ben  benfbar  traurigften  SSerhältniffen  jurücf,  unb 
boeb,  rootlte  Tie  ben  testen  SBunfd)  ihres  fterbenben  ©atten,  ber  feine  gamilie 
pecuniär  gut  oerforgt  glaubte,  erfüllen  unb  ihren  ©ohn  ftubiren  laffen. 
3n  ©ngtanb  ift  baS  eine  febr  foftfpielige  ©adje.  ®ie  refotute  grau  übers 
fiebelte  nach  Narrow  unb  erroirfte  fiefj  oon  bem  ©trector  ber  bortigen  be= 
rühmten  Änabenmittelfd)ule  bie  erlaubniß,  Söfllm9c  ™  ^enfion  }u 
nehmen,  ©ie  einnähme  heraus  fefete  fie  in  ben  ©tanb,  ben  eigenen 
@of)n  ftubiren  ju  laffen.  ®er  Umgang  mit  ben  Änaben  unb  Settern 
ermeefte  and)  bei  Smnie  frühzeitig  bie  Suft  jum  Semen.  grünbliche 
unb  »ortrefflid)e  2luSbübuug  oerbanfte  fie  jebod)  2Riß  SJJarrtjat,  ber  2ieblingS= 
fd)roefier  beS  berühmten  SiomancierS  ©apitän  SJiarroat,  bie  über  ein  großes 
Vermögen  unb  ein  noch  größeres  päbagogifdjeS  Talent  oerfügte.  es 
machte  bem  alleinftehenben  ältlichen  gräutein  Vergnügen,  eine  Slnjabt  oon 
Änaben  unb  9JJäbd)en,  beren  eitern  nid)t  in  ber  Sage  waren,  ihre  JUttber 
auSbilben  yi  laffen,  nad)  ihrer  eigenen  2Jietf)obe  ju  unterrichten.  Unb 
was  unS  -Ufrs.  Sefant  oon  biefer  9Wethobe  berichtet,  ift  wabrtidj  beherjigenS= 
roerth: 

,,©ie  felbft  weihte  uns'  in  alle  gächer  ein,  nur  für  ÜJiufiE  hatten 
wir  einen  anbern  3Mfter.  -BÜß  3>?arrt)at  haßte  bie  Oberflächlichkeit,  wir 
mußten  SltteS  grünblich  erlernen.  ®ie  gibel,  biefe  Tortur  aller  Anfänger, 
blieb  unS  gänjtich  erfpart.  35>ir  mußten  2lfleS,  was  mir  auf  unferen 
©pastergängen  gefehen  unb  erlebt,  erjählen  unb  fpäter  nieberfchreibeu,  fo 
gut  ober  fo  fd)led)t  eS  ging.  £>iefe  finbifd)en  ergüffe  las  fie  forgfältig 
mit  uns  burch,  befferte  alle  grammatifalifchen  unb  orthograpf)ifchen  gehler 
aus  unb  fpomte  uns  auf  biefe  SBeife  an,  mit  offenen  3lugen  in  bie  SBett 
ju  fehen  unb  bie  Statur  ju  beobachten.  SBorte  finb  oiel  ju  nichtsfagenb, 
um  auSjubrücten,  waS  ich  ber  hochherjigen  grau  2ltteS  oerbanfe!  ©ie 

9Jort  unb  Siib.  LXXV.  225.  23 


3^0    53ertt(a  Katfdfer  in  Babeit  (ttieber-©efterreid;).   

war  es  auch,  bic  bcn  SBtffenSburft  in  mir  grofjgejogen  hat/  unb  biefer  ift 
mir  big  jum  feurigen  ©age  geblieben." 

SDttfj  -Utarrnat,  eine  ftrettggläubige  Sßroteftanttn,  geftattetc  ihren  3Ö9S 
[tagen  an  Sonntagen  feine  anbere  Seetüre  als  bie  ber  SBibeL  SBafjrenb 
ber  ©pajiergänge  burften  fie  nur  ßronnen  fingen,  aufjerbem  mußten  fte  in  ber 
©onntagSfdjule  arme  ßinber  unterrichten  —  „beim  was  nü|en  <5udj  Sure 
Äenntniffe,  wenn  3for  nid)t  Derfudjt,  fie  auf  biejeitigen  ju  übertragen,  bie 
fonft  9Uemanben  Ratten,  ber  fie  Untermiete?"  23at  einer  ü)rer  spfCcgtinge, 
einem  2lrmen  Reifen  ju  bürfen,  fo  mar  ftets  ihre  ^rage:  „SBetcheS  Cpfer 
toittft  ©u  ©ir  auferlegen?  SBenn  ©u  j.  93.  ©einen  -Norgenthee  eine 
3eit  lang  ohne  3wfer  trtafft,  fo  fannft  ©u  ©ir  6  $ence  bie  SBodje  er* 
fparen;  biefe  barfft  ©u  oerfdjenfen."  Äann  eis  eine  wetfere  2lrt  geben, 
©elbftoerleugnung  jum  &mti  ber  9tädjftenliebe  ju  lehren?!  2lnnie,  in 
beren  9totur  es  lag,  ÜRidjtS  b>lb  ju  tfmn,  mar  ein  überaus  frommes  Stinb, 
unb  bie  ©tunben,  in  benen  fie  fich  ungeftört  ber  Seetüre  ber  23ibel  unb 
anberer  ©rbauungSbücher  Eingeben  tonnte,  waren  ib>  unftreitig  bie  liebften. 
2ttS  ganj  junges  UJtäbchen  begleitete  fie  3Jiif?  ÜJiarroat  tn'S  2lu3lanb  unö 
jwar  juerft  naef)  ©üffelborf  unb  Sonn  unb  von  f)ter  nach  SßartS,  reo  üe 
mehrere  -Dionate  J»alb  bem  Vergnügen,  b>lb  bem  ernften  ©rubium  lebten, 
©ie  -äWittmoche  unb  ©amStage  würben  benüfct,  um  bie  SDteifierwerfe  in 
ben  ©alerten  beS  Souure  unb  ade  febenSwerthen  Ätrdjen  ber  franjonfehen 
SRetropole  fennen  ju  lernen.  -Jiächft  ben  b^errlidjen  ©pajiergängen,  bie  fte 
in  bie  Umgebung  oon  $aris  unternahmen,  um  Sanb  unb  Seute  ju 
ftubiren,  gewährte  bem  aufgewehten,  lebhaften  9Häbd£)en  9Hd)tS  fo  grofjeS 
Vergnügen  als  ber  Vefudj  ber  ßirdjen.  ©ie  fühle,  weihrauchfehwangere 
Suft,  baS  3wictidjt,  bie  Drgelflänge  unb  baS  SDteffelefen  übten  einen  mr- 
wiberftehlichen  Steij  auf  fie  aus;  fie  tonnte  ftunbenlang  uor  einent  ©briftuS= 
bilb  in  ftummer  2lnbacf)t  tnien;  itjre  ganje  ©eele  fäjwang  fid)  ju  bem 
©otteSfohne  auf.  Seitliche  Vergnügungen  oerabfeheute  fie  bamal*.  ©heater 
betrachtete  fie  als  „gaQftridfe,  bie  ber  ©atan  ben  9Kenfd)en  gelegt,  um 
i^re  ©eelen  ju  jerftören,"  auch  hflttc  fie  ft<^  »orgenommen,  feine  Salle  ;u 
befugen,  benn  fie  war  feft  entfdjloffen,  „ber  2Belt,  bem  gleifdje  unb  bem 
©eufet  ju  entfagen  unb  ein  gottgefälliges  Sehen  ju  führen."  ©iefes 
14jährige  9JJäbchen  war  uon  ber  Unfeblbarfett  ber  33ibet  fo  fehr  burcb> 
brungen  unb  glaubte  fo  feft  an  bie  @öttlidf)feit  ^efu,  bafc  fie  in  ihrer 
■Jtataetät  unb  Unerfahrenheit  es  als  bie  hö#e  Aufgabe  bes  SSetbeS  be* 
trachtete,  im  ©tauben  aufjugehen.  ©en  Sommer  1862  verbrachte  fie 
noch  mit  ÜDtff?  -Karrrjat  in  ©ibmoutb,  wo  biefe  fie  nach  unb  nach  baratt 
gewöhnte,  ihre  ©tubien  auf  eigene  $auft  ju  betreiben.  3llS  Stnnie  'ftcb 
einmal  barüber  beflagte,  baf?  „©anteben"  fich  jefet  fo  wenig  um  fie  be= 
fümmere  unb  fie  fo  feiten  unterrichte,  entgegnete  bie  weife  ©ante: 

„<*t,  mein  $tab,  ©u  bift  jefct  alt  genug,  um  allein  weiter  ju 
lernen,  ich  fann  ©ir  nicht  ©ein  Seben  lang  als  ßrücfe  bienen.  3«9e/ 


  ^reibenfertn  un&  Cljeof opljtn.    3^1 

baß  bie  Sefiren,  bie  2>u  empfangen,  nid)t  auf  unfruchtbaren  SBoben  ge« 
fallen  finb." 

Unb  bas  waren  Tie  totrftid^  nid)t,  benn  als  2tmtte  enblid)  ju  iljrer 
2Mter  nad)  &arroro  Ijeimfefirte,  ftubirte  ftc  fleißiger  beim  je.  @te  »er« 
»ollfommnete  fid^  in  ber  beutfd)en  unb  ber  franjöfifd)en  ©pradje,  trieb 
fleißig  HJiufif  unb  nafd)te  »on  allen  5Biffenfd)aften.  Sjjre  SiebltngSlectüre 
blieben  jebod)  tbeologtfdje  33üd)er.  ©te  las  mit  Feuereifer  bie  SBerfe  be* 
rüi)mter  engltfd)er  ©eifttiä)er  beS  17.  unb  18.  SabjfiunbertS.  ©urä) 
3ufall  befam  fie  aud)  bie  SBerfe  ber  $ird)enȊter  in  bie  &anb;  biefelben 
nahmen  ttjre  ©inbilbungSfraft  berart  gefangen,  baß  fie  ju  faften  begann 
—  gegen  ben  SBillen  SERrS.  SBoobS,  ber  bie  ©efunbljeit  ibjeS  ÄinbeS  roeit 
näf)er  ging  als  äße  ßaarfpaitereien  ber  gefammten  Äird)en»äter  —  bas 
ßreuj  fd)lug  unb  jebe  2Bod)e  jum  2lbenbmal)l  ging.  Sie  befd)äfrigte  fid) 
lebhaft  mit  bem  ©ebanfen,  fid)  ju  bem  ©lauben  iljreS  33aterS  ju  befebjeu, 
ber  ber  fatI)olifd)en  &ird)e  angehört  blatte.  3"  jener  3eit  er|'d)ten  ifjr  bie 
£eiligfeit  Sefu  nod)  unantaftbar.  Sie  fjätte  fid)  für  bie  größte  ©ünberin 
ber  SBelt  gehalten,  roemt  tl>r  ber  ©ebanfe  aufgetaud)t  märe,  baß  »tele 
©teilen  ber  ^eiligen  ©djrtft  fälfd)tid)  »erebjten  tarnen  jugefd)rieben  nmrben 
junt  3'ocde  frommer  £äufd)ungen.  Sie  glaubte  felfenfeft  an  2lHeS,  roaS 
bie  „^eiligen  SSäter"  erjagten,  unb  »ertiefte  fid)  mit  großem  Eifer  in  beren 
©tubium.  2Ran  glaube  ja  nid)t,  baß  fie  beSljatb  ©tubenbocferin  geroorben. 
2Bie  alle  englifd)en  9)Mbd)en,  bewegte  fie  fid)  tuet  im  freien,  mad)te  größere 
Sfosflüge  5U  guß  unb  ju  ^ferbe,  fpielte  mit  ben  ©tubenten  unb  Seljrent 
fleißig  iBallfpiele,  befud)te  ©artenfefte,  furj:  fie  genoß  trofc  ü)rer  ernften 
©tubien  if>r  junges  ßeben. 

„9tiematS  fann  ein  9Jfabd)en  eine  fröl»lid)ere  ftugenb  »erlebt 
baben  .  als  id)/'  fd)reibt  fie.  „SSormittagS  unb  einen  Srjcit  be« 
9tad)mittagS  befd)äftigtc  id)  mid)  mit  ernften  tf)eologifd)en  ober  roiffeu' 
fd)aftlid)en  ©tubien,  9lbenbS  befud)te  id)  anregenbe  ©efettfcbaften,  ober  id) 
muficirte  bafjeim;  aud)  tjattc  id)  mid)  entfd)loffen,  »on  meinem  $orfafc, 
niemals  einen  33atlfaat  ju  betreten,  absuroeidjen,  unb  mar  eine  red)t  flotte 
£mtäerin  geworben.  ÜReine  geliebte  3Jlutter  »erroöbnte  mid)  fef)r,  feine 
©orge  burfte  meine  ©eele  trüben,  id)  follte  genießen,  roäbrenb  fie  alle 
Saften  beS  Sebent  trug;  jefet  weiß  id),  roaS  id)  bamals  nicfjt  alntfe:  baß 
itir  jeber  Sag  neue  Seiben  unb  ßümmemiffe  brad)te,  bie  fie  uns  Stinbern 
uerljeimlid)te.  ®aS  ©odegeleben  meines  SBruberS  foftete  »iel  ©elb,  unb 
biefe  ©orge  »erurfadjte  ifir  fd)laflofe  5Räd)te.  (Sin  2lb»ocat,  bem  fie  »ott« 
ftänbig  »ertraute  unb  beffen  ert^af ttg Ceit  tbr  jroetfetloS  bünfte,  betrog 
fie  fdjmäljlid),  inbem  er  alle  ©elbfenbungen,  bie  fie  ibm  jur  (Erfüllung 
tljrer  33erbinblid)feiten  jufanbte,  für  eigene  $mde  »enoanbte  unb  ibr  ba« 
burd)  qual»olle  SBertegenfjetten  bereitete.  SSon  biefen  Singen  erfuhr  id) 
jebod)  erft  »iel  fpäter.  33efud)te  id)  einen  33all,  fo  brauchte  id)  mid) 
niemals  um  meine  Toilette  ju  befümmern;  biefe  lag,  roenn  bie  3e^  äutn 

23* 


3^2    Berttja  Katfdjer  in  Saben  (tliebet>©eftetreidj).   

Slnfletben  fam,  fit  unb  fettig  auf  meinem  3*n,met.  Seine  anbete  §anb 
als  bie  meinet  3Jhtttet  butfte  mein  langes  &aar  otbnen  ober  mein  SUeib 
jufdmüren,  —  mar  eS  bod)  tt>t  einjigeS  sBetgnügen,  tf)ten  Liebling"  IjetauS« 
jupufeen!  -Dieine  Äinbfieit  unb  SDiäbdjensett  mar  fo  fonnig  unb  glüdlid), 
baf?  td),  fo  lange  id)  untet  ben  fdjüfcenben  ft-lügetn  meiner  9Rutter  ftanb, 
nid)t  einmal  atinte,  meldte  ©orgen  unb  dualen  baS  Seben  mit  fid^  bringen 
famt.  21H  bie  ftreuben  jener  glü(flid)en,  fonmgen  3at>re  nafym  iä)  mit 
frofjer  Unberoufjttieit  als  etwas  ©elbftoerftänblidjeS  fcin  .  .  .  .  3d)  liebte 
meine  9Jlutter  mit  letbenfd)aftltd)er  Eingebung;  was  fie  für  mid)  get^an, 
würbe  mir  erft  Hat,  als  td)  unfer  trautet  £eim  oerlaffen  mußte,  um  bem 
•Kanne  meiner  9Q3ai)t  ju  folgen.  3ft  eine  fotd^e  @rjtefmng  weife?  $d) 
weif?  es  nid)t.  ©ie  SBunben,  bie  (Sinem  baS  Seben  fd)lägt,  memt  man 
fo  unvorbereitet  in  ben  Äampf  tritt,  ftnb  fo  fdmterälid)  unb  nad)f»altig, 
baf?  id)  t>orfd)tagen  mürbe,  bie  Sugenb  bei  %ei\m  barauf  »orjubereiten 
unb  ju  ftäf)len.  Unb  bod)  ift  es  eine  fd)öne  ©ad)e,  wenn  man  auf 
ein  glü<flid)eS  $inber=  unb  3Mbd)enparabieS  prüdMcfen  fann,  baS 
Ginem  bet  Ijärtefte  Äampf  um'S  ©afein  nid)t  aus  bet  ©riimerung  ju  löfdjen 
uermag!" 

3Jftt  Siebesträumen  gab  fid)  2lnme  niemals  ab,  maf>rfd)etnltd)  weil 
fie  nie  Romane  las  unb  it)te  ganje  ©ebanfenwelt  fid)  auSfd)liejjlid)  um  bie 
SUeligion  breite.  $f)r  emsiges  Söeftreben  mar,  3tefuS,  ben  fie  mit  ber 
ganjen  Sribenfd)aftlid)feü  if)teS  -Naturells  liebte  unb  »erefjrte,  ju  Ijulbigeit, 
unb  fte  tljat  bicS  aud)  im  auSgebetmteften  9Jiaf?e.  ®ie  liebeglübenben, 
farbenreidien  ©ebete,  bie  fte  an  „ifiren  ©rlöfer,  ijjren  b,immlifd)en 
33räutigam,  ber  fd)öner  unb  begeljrenSroertfier  als  bie  ©öfine  ber  3Nenfd)en/' 
rid)tete,  beweifen  ba«  jur  ©enüge. 

9Jfit  18  Satiren  regte  fid)  bet  erfte  Sroeifel  an  ber  Unfeljlbarfeit  ber 
2lpojtel  in  U»t.  3fn  ber  6f)arwod)e  1866  fain  ib,r  bie  Sfoee,  bie  SeibenS; 
gefd)td)te  Gbriftt  an  ber  &anb  ber  oier  ©oangelien  niebetjufd)reiben,  um 
fo  ben  ©puren  „ber  geheiligten  güfce  ©djritt  füt  ©d)ritt  51t  folgen,  bis 
fie  jum  SBobte  ber  9Menfd)t)eit  an'S  ftreuj  gefd)lagen  mürben."  9J?it  bem 
3Jhttt)e,  ber  bet  Unwiffenjjett  entfptang,  ftellte  fie  bie  2lu3fagen  bet  »ier 
(Soangeltften  nebeneinanbet  unb  mußte  ju  intern  ©djred  erfahren,  baß 
biefe  nidjt  ganj  übereinftimmten.  ©ie  unterbrucfte  tfjre  auffteigenben 
Zweifel  unb  fudjte  fid)  ju  überteben,  baß  ber  ©atan  fie  in  93erfud)ung 
führen  wolle,  ©te  faftete  unb  betete  unb  nabm  fid)  feft  »or,  in  3uiunft 
fold)e  oergleid)enbe  ©tubien  ju  untetlaffen. 

3(m  ©ecembet  1867  oetb,eiratb,ete  fie  fid)  mit  bem  Spaftot  grauf 
33efant.  %l)xe  tb,atfräftige  9Jatut  febnte  fid)  nad)  einet  i^r  jufagenben 
fdjäftigung,  unb  fie  befajlofe,  bet  Äitd)e  unb  ben  2trmen  uon  SJufcen  ju 
fein  unb  gegen  bie  ©ünbe  unb  baS  ßlenb  anjuJämpfen.  SBon  ber  eigent« 
lid)en  SBebeutung  ber  (Sb^e  mußte  fie  9iid)tS.  „®ie  oollftänbige  Unfdjulb 
mag  rooljl  im  ^Srindp  feb,r  fd)ön  fein,  aber  id)  Ijabe  es  leibet  an  mir  er* 


  f  retbeitferin  nitb  Ctjeof  opf]tn.    3^3 

fahren,  roie  gcfät»rti<^  fte  ift.  @t>a  müßte  roiffen,  roeldje  $Pfttd)ten  unb 
Saften  tt)r  beoorftel)en,  fobalb  fie  aus  bein  ^ßarabieS  ber  mütterltdjen 
Cblntt  unb  Siebe  auSroanbert,  um  baS  ü)r  unbefatmte  Sanb  ber  ©£je  ju 
betreten,  wo  bie  jarte  £reibb,auSblume  unoorbereitet  rautie  ©türme  treffen, 
bie  fie  leidet  oermdjten  ober  sunt  SBelfen  bringen  fönnen."  SSon  ib,rer 
@£)e  fpridjt  2RrS.  23efaitt  in  it>rer  ©elbftbtograpbje  gar  nid)t;  bod)  läßt 
fie  jroiidjen  ben  Reiten  burd)blicfen,  baß  fie  feine  befonberS  glü<flid)e  ge* 
roefen.  ©er  33cruf  üjreS  ©arten  brachte  CS  mit  fid),  baß  er  feine  grau 
oiel  allein  laffen  mußte,  unb  biefe  füllte  fid)  feb,r  einfam  unb  oertaffen.  3)aS 
atbeme  ©efdjroäfe  ibrer  jab,treid)en  33efud)erinnen  langweilte  fie,  unb  bte 
grau  Sßaftor  würbe  für  j)öd)ft  „fonberbar"  erflärt,  weil  fie  fid)  lieber  mit 
ben  rotdjtigen  fragen,  bie  bieSBett  beroegten,  befd)äftigte,  „als  fid)  barum 
ju  befümmew,  rote  ber  ©etiebte  ber  ©ienftmagb  ausfege  unb  ob  man  sunt 
Tübbing  beffer  ©djmalj  ober  SButter  uerroenbe."  !$n  iljrer  33erlaffent)eit 
roarf  fte  fid)  roteber  mit  Seibenfd)aft  auf's  ©tubtum  unb  »erfud)te  aud), 
fleine  üfiooeflen  ju  fd)reiben,  bie  im  „gamilt)  §eralb"  2lufnaf)me  fanben.  %fove 
greube,  als  fte  baS  erfte  felbftoerbiente  ©elb  in  ben  £änben  fjielt,  mar 
grenzenlos ;  fie  fanf  auf  bie  Knie  unb  „banfte  ©Ott,"  baß  er  es  tfjr  in 
feiner  ©nabe  »erliefen,  ©in  rounberbareS  ©efüfyt  ber  Unabljängtgfett  übers 
fam  fie.  Sie  glaubte,  nad)  belieben  über  „u)r  ©elb"  oerfügen  ju  fönnen, 
unb  af>nte  nid)t,  ba&  nad)  bamaligem  englifd)en  ©efefe  eine  »er^eirattiete 
grau  fein  $erfügungSred)t  befaß;  SltteS,  roaS  fie  »erbiente,  gehörte  bem 
©arten,  roie  fie  felbft!  ®iefe  ©nttäufdjung  roar  jroar  fet>r  grofä,  aber  fte 
fcfjrteb  trofebem  tapfer  roeiter,  benn  baS  gabuliren  mad)te  tf»r  Sßergnügen 
unb  lenfte  fie  »on  mand)en  ©orgen  ab.  2lud)  mit  ernfteren  Arbeiten  be* 
fd)äftigte  fie  fid),  unb  ju  biefen  gehörte  nad)  ibjem  bamaligen  dafürhalten 
eine  umfangreid)e  33rofd)üre  über  „®ie  ^ßftid)t  jebeS  gläubigen  ©firiften,  fjäufig 
ju  faften";  „leiber"  bat  fid)  für  biefeS  £f)ema  niemals  ein  Verleger  gefunben. 

3m  Qfanuar  1869  fd)enfte  fte  einem  fräftigen  ßnaben  baS  Seben, 
im  3luguft  1870  einem  garten  9JJägbeletn;  i^re  oljnebieS  fd)road)e  (£on* 
fiitution  rourbe  baburd)  febr  erfd)üttert,  unb  es  beburfte  langer  3ett,  efie  fte 
ftd)  roieber  erbolte.  %fote  2Rutterpflid)ten  naljm  fie  ungeheuer  ernft,  unb 
bie  betben  Keinen  3Wenfä)enfinber  madjten  fte  eine  3cit  lang  ber  Sitteratur 
abtrünnig,  benn  fie  befd)äftigten  fie  nottauf,  ba  u)re  pecuniäre  Sage  itjr 
nid)t  geftattete,  SBärterinnen  ju  galten.  $m  grübjabj  1871  erfranften 
beibe  Äinber  am  $eud)f)uften;  &er  ältere  unb  ftärfere  Knabe  überroanb  iljn 
leid)t,  aber  bie  fd)roäd)ltd)e,  roenige  -Bionate  alte  3Kabel  litt  fürd)terltd). 
Sföre  Sungen  rourben  angegriffen,  unb  fte  fd)roebte  rood)enlang  in  £obe3* 
gefafir.  2)aS  roar  eine  entfefclid)e  3«it  für  bie  ÜDJutter,  bie  baS  Äinb 
£ag  unb  sJiad)t  auf  ibjen  2trmen  roiegte.  Um  einen  ©rfticfungSanfau'  ju 
linbern,  brüefte  ber  Slrjt,  ber  bereits  jebe  Hoffnung  aufgegeben  Ijatte,  ein 
mit  einem  tropfen  ßfitoroform  beträufeltes  £afd)entud)  auf  baS  fdjmerj' 
oerjerrte  ©ertd)td)en  beS  Ätnbes: 


3$4>    Bertha  Katfdjet  in  Sahen  (nieber-©e(iettei^).   

„3e|t  fttttn  es  iljm  trid)t  mefir  fd)aben,  uttb  es  fcf)roäd)t  ben  heftigen 
Sfofall  ob,"  meinte  er,  unb  toirflid)  begann  eS  fofort  ruhiger  511  atfjmen. 
SWrS.  33efant  n)ieberb>lte  biefeS  $erfal)ren  unb  glaubt  nur  biefer  Strjnei 
baS  Seben  iljreS  ©dmterjenSfinbeS  ju  uerbanfen,  baS  nod)  jahrelang  an 
ben  folgen  ber  Äranfbeit  ju  leiben  blatte.  $>od)  aud)  an  bet  5TOuttet 
gingen  bie  quafoollen  SHocfjen,  bie  fie  in  ber  Äranfenftube  »erbrad)te,  nidjt 
fpurloS  worüber.  3n  i^rem  ©etfte  blatte  ftd),  faft  oljne  baj?  fie  es  merfte, 
eine  SBanblung  oottjogen.  ^mmer  rcieber  brängte  ftd)  tf)r  bie  grage  auf: 
„3ft  ©ort  roirflid)  gut?"  unb  mef|r  als  einmal  war  fie  in  bie  5tnie  ge-- 
funfen  unb  flehte:  „fierr  im  Gimmel,  liab'  ©rbarmen  unb  erlöfe  meinen 
Siebling!  2Bie  fatmft  ©u  ein  unfdfjulbtgeS  Äinb  fo  martern?  2BaS  b^at 
eS  t>erbrod)en,  baf?  ©u  ilnn  fold)'  fürdjterlidje  Dualen  aufertegft?  2Bemt 
es  biefeS  Qammertfyal  oerlaffen  mufe,  meS^alb  töbteft  ®u  es  nid)t  fofort?" 

,,2lllmäf)ttd)  fdjlid)  fid)  eine  ©rbitterung  gegen  ©ort  in  meine  «Seele, 
unb  id)  begann  an  feiner  ©üte  ju  smeifetn,"  fdireibt  fie.  „3111  mein  per= 
föntid)er  ©taube  an  ib>  unb  feine  3Jlad)t,  bie  SHnge  ju  teufen,  an  feine  3111* 
gegenmart  unb  an  bie  Äraft  meiner  ©ebete  geriet!)  in'S  SBanfen.  gür 
midj  mar  ©ott  feine  abftracte  3;bee,  fonbem  ein  nrirfltd)eS  2Befen,  unb  mein 
mütterlidjeS  ©efüljl  empörte  fid)  gegen  biefeS,  weil  id)  nid)t  begreifen 
fonnte,  roeSljatb  er  mein  armes  23abp  rood)enlang  in  S'obeSqualen 
fdjroeben  lieft." 

@in  bodjberjig  benfenber  ©eiftlid)er,  ben  £err  33efant  ju  feiner  grau 
gebradjt,  als  9Jkbet  in  gröfjter  ©efaf)r  gefdjroebt,  erfannte  fofort  ben 
«Seelenjuftanb  SlnnieS  unb  bemühte  fid),  fie  ju  tröften  unb  ifyren  erfd)üts 
terten  ©lauben  roieber  ju  befeftigen,  inbem  er  ber  geiftooHen  grau  ein« 
fd)lägige  33üd)er  tiel).  ©od)  wenn  man  ju  jnieifeln  angefangen,  b>t  man 
ju  glauben  aufgehört. 

©er  ©ebanfe  an  bie  &öHe  quälte  fie  am  meiften.  %n  ben  enblofen 
9läd)ten,  bie  fie  am  Äranfenlager  ü)reS  fttnbes  unb  an  benjenigen  Slnberer 
oerbradjt  —  fie  blatte  fid)  in  if»rem  ©prengel  einen  großen  9luf  als 
Äranlenpflegerin  erroorben  —  glaubte  Tie  eine  Slfinung  oon  ben  dualen 
unb  <Sd)merjen  berfetben  befommen  su  baben,  unb  üjr  ^erj  lehnte  fid) 
gegen  bie  ©raufamfeit  beS  erfd)affenben  unb  oernidrtenben  ©otteS  auf. 

„3(ebermann,  ber  geglaubt  unb  bann  gejroevfelt  l»at,  roeifj,  bafj  bem  erften 
3n>eifet  immer  neue  folgen,  olnte  baf?  man  fid)  tf»rer  erroebjen  fattn.  ©ine 
fiebere  nad)  ber  anberen  fteigt  (Sinem  in  neuer  bäfterer  33eleud)rung  auf, 
unb  in  biefer  fiebt  fie  ganj  anberS  aus,  als  fie  uns  burd)  ben  fanften 
Siebet  beS  ©laubenS  erfd)ienen  ift.  ®aS  58orf)anbenfein  ber  Seiben  unb 
@d)merjen  in  ber  SBelt,  bie  ein  »guter  ©ott'  erfdiaffen,  bie  Groigfeiten 
überbauernben  Dualen  ber  4?öHe  trieben  mid)  jur  SSerjnieiflung,  unb  bod> 

glaubte  id)  nod)  an  ©Ott   3Mn  nädjfter  <Sd)ritt  jum  g-retbeufer* 

tb^um  mar,  baf}  id)  mid)  gegen  bie  fiebere  oon  ber  ©ülnte  auflehnte;  id)  be= 
munberte  unb  betete  6l)riftuS  an,  fiafete  aber  ©ott,  ber  beffen  XobeSopfer 


  reibenftrin  unb  (Efjeof  opfjin.   


3<*5 


angenommen.  -ättonatelaug  bewerte  biefer  Äampf,  ber  meine  ©efunbfieit 
aufrieb.  ^rniner  oerfudjte  id)  eS  »on  Beuern,  mid)  in  bem  {förmigen 
•Dleer  meiner  Seifet  auf  eine  plante  beS  geftranbeten  SdiiffeS  meines 
©laubenS  retten.  SBergebenS.  9J?c.  Seob  ßampbell'S  Sßerf  über  bie 
©uljne,  Maurices  ,2BaS  ift  Sluferftelmng?'  unb  nod)  ein  $m|enb  anberer 
33ücf)er  uermodjten  meine  S^eifel  nid)t  ju  bannen;  im  ©egentfjeil,  je  meb^r 
id»  barüber  las,  befto  gered)tfertiger  erfd)tenen  mir  biefetbeit.  316er  wenn 
fid)  biefe  eine  SDoctrin  als  falfd)  erroieS,  waren  eS  alle  übrigen  md)t 
aud)?  ÜDtufete  id)  nid)!,  um  ©erotfcfiett  ju  erlangen,  alle  anberen  ebenfalls 
genau  prüfen?  Unb  wenn  fie  fid)  roirfltd)  als  falfd)  errotefen?  ©iefer 
©ebanfe  bradjte  mid)  bem  SBafmftnn  naf>e;  mein  ©efnm  oerfagte  Dollftänbig 
ben  2>ienft,  unb  id)  tag  rood)enlang  in  ben  fürd)terlid)ften  ßopffd)merien, 
ofine  im  Sd)laf  ©rlöfung  ju  finben.  211S  ade  SKebicamente  9licf>tS  nüfeten, 
fat»  mein  Strjt  ein,  bafj  er,  roenn  er  mid)  am  Seben  erfjalten  wolle, 
meinen  ©eift  in  anbere  Sahnen  lenfen  müffe,  unb  fo  bradjte  er  mir  ein 
tntereffanteS  33ud)  über  2lnatomie.  2Bcr  eS  nid)t  fetbft  empfunben  l)at, 
Sann  unmögtid)  bie  Seelenqualen  fennen,  bie  auf  ein  roirftiä)  religiöfeS 
©emüu)  einftürmen,  roenn  fid)  bie  erften  Steifet  einfteHen.  @S  giebt 
feinen  Sd)mers  auf  Srben,  ber  fd)re<flid)er  roäre,  unb  id)  fjabe  tyn  bis  auf 
bie  Steige  burdjfoftet." 

@S  roürbe  uns  ju  roeit  führen,  an  ber  £anb  ber  2tutortn  all  bie 
Stabten  tt)rer  3«>eifct  burd)jumad)en.  2Sir  roollen  nur  feftftellen,  baf?  fie 
fämmtlidje  Dogmen  ber  d)riftlid)en  Religion  ber  Ettet^e  nad)  burdjnalmt, 
um  fie  auf  ü)re  2Bab>t)eU  unb  9tid)tigfeit  5U  prüfen.  ®aS  3tefultat  roar 
für  fie  ein  troftlofeS. 

Dura)  bie  Vermittlung  feiner  ©attin  gelang  eS  £erm  Sefant,  eine 
Staatspfarre  ju  befommen,  —  in  bem  ©örfdjen  Sibfe»,  —  mit  einem 
SatjreSgefjatt  oon  <£  410.  Somit  waren  fie  iljrer  JJaljrungSforgen  ent» 
enthoben,  unb  ba  grau  Slnnie  aud)  feine  gefellfd)afttid)en  ^5flid)ten  blatte, 
benn  bie  jum  Sprengel  gefiörenben  Seute  roaren  jumeift  Arbeiter  unb  ein= 
fad)e  Sanbroirtfje,  fonnte  fie  fid)  mel  ib>en  ©rfibeteien  Eingeben. 

„2Bie  fann  ©Ott  feine  ©efd)öpfe  roegen  ifirer  Sünben  5U  eroiger 
Strafe  »erbammen,  ba  er  weift,  baß  fie  biefe  Sünben  olme  if»ren  eigenen 
SBiHen  ererbt?  $a  er  bie  9Belt  nad)  feiner  Saune  erfdjaffen,  roeSfiatb 
fjat  er  bie  Sünbe  überhaupt  in  bie  SBelt  gefegt?  Jlann  ein  ©ott  gut 
fein,  ber  feine  ©efd)öpfe  5U  eroiger  SBerbammnift  uerurtbeilt?  Söenn  ©ott 
allmäd)tig  ift,  fo  fann  er  bas  33öfe  unb  bie  Sünbe  aud)  Berbinbern,  unb 
tfjut  er  eS  nid)t  unb  ftef)t  ruliig  ober  gleidjgiltig  bie  kämpfe  auf  ©rben 
mit  an,  bann  ift  er  eben  md)t  gut,  unb  roünfd)t  er  roteber,  fie  aus  ber 
SBelt  5U  fd)affen,  unb  famt  ntd)t,  nun,  bann  ift  er  eben  nid)t  aHmädjtig! 
3n  biefem  Girfet  breiten  fid)  ttjrc  ©ebanfen  fortroätirenb,  ofnte  bafj  fie 
einen  2luSroeg  finben  fonnten  trofe  ber  Bielen  93üd)er,  bie  fie  über  biefe 
£l»emata  gelefen.    2ln  ber  ©riftenj  ©otteS  ju  jroeifeln,  fiel  ft)r  bamats 


3^6    Bertha  Katfc^er  in  Babrn  (£lieber«<Dejierreid)).  

nodj  nidjt  ein.  <Sie  correfponbirte  mit  oerfdjtebenen  @eifttid)en,  an  bic 
Tie  fid)  in  ifjrer  Stob,  um  2lufflärung  wanbte,  aber  fie  würbe  ftetä  auf 
neue  23üd)er  oerioiefen  ober  mit  blumenreichen  trafen  abgefpeift.  S'abei 
blatte  fie  als  spaftorggatttn  oft  genug  ©elegenljeit,  ba§  Gtenb  biefer 
SBett  in  ben  oerfd)iebenften  ©eftalten  rennen  ju  lernen,  aud)  ju  linbem. 
©ie  fd)ien  oon  ber  Statur  jur  Äranfenpflegertn  beftimmt  unb  entjog  ftdj 
niemals,  wo  e3  Srtott)  ü>at,  biefem  Slmte.  ©ar  manche  -Kutter  in  ©ibfep 
t)atte  ttjrer  forgfamen  Pflege  unb  $ad)twad)e  ba3  Seben  if)re«  ÄinbeS  ju 
banfen.  %xo§  all  iljrer  3roeifel  befugte  fie  nad)  wie  oor  fletfetg  bie  Äird)e 
unb  fprad)  mit  Wemanbem  über  i^rc  ©rübeleten,  um  nidjt  aud)  ben  ©tauben 
Slnberer  p  erfd)üttern. 

3  m  Sommer  1872  lernte  fie  in  Sonbon,  wo  fie  längere  3*it  in  ber 
93et)anblun'g  eine«  2lrjte3  ftanb,  6b,arle3  23oo,fen.  fennen,  unb  biefer  frei« 
finnige  93rebiger  mar  e§  aucf»,  ber  t^r  einen  2Beg  au§  bem  (Sf)ao3  tyrer 
©ebanfen  bahnte.  @r  tjatte  wie  fie  gefämpft,  elje  er  aU  bie  „barbarifd)en 
©ogmen  ber  d)riftltd)en  ßird)e  über  33orb  geworfen",  unb  fid)  nur  ben 
©tauben  an  ©ort  beioaljrt.  Stuf  feine  SSerantaffung  taä  fte  5Ct)eobore 
5ßarfer3,  Francis  SJeromanä  unb  SInberer  fieroorragenbe  beiftifd>e  SBerfc,  unb 
aud)  fie  oerbannte  balb  alle  ©ogmen,  um  fte  nie  wteberauferftefjen  $u  laffen, 
aber  mit  itmen  aud;  ben  ©tauben  an  ba3  ©jjriftenttmm  felbft.  2lm  fdmterj* 
liebsten  empfanb  jie  c$,  (StiriftuS  feiner  ©öttlidifett  entfleiben  ju  muffen. 
2>a  if>r  jebod)  bie  a®ar)rr)cit  t)öb>r  ftanb  als  üjre  perfönttdje  SRulje,  forfdjte 
fie  tapfer  weiter,  inbem  fie  fid)  fagte:  „3ft  SefuS  oon  9?ajaretf)  ein@ott, 
bann  wirb  meine  gorfd)ung  if>n  feiner  ©Ortzeit  nid)t  berauben;  ift  er  aber 
ein  SDtenfd),  bann  ift  e§  33ta3pl>emie,  ifm  anjubeten."  ©ie  oertiefte  fid) 
in  9lenan3  „Seben  3efu,"  SibbonS  „Vorträge"  unb  baä  ©oangelinm, 
fonnte  jebod)  $u  feinem  enbgittigen  ©rgebnift  gelangen;  fie  neigte  fid)  immer 
meljr  ber  9lnüd)t  ju  unb  nmrbe  burd)  bie  oier  ©oangeliften  in  ber= 
fetben  nur  beftärft,  baft  GljriftuS  ein  teibenber,  fänbigenber,  ringenber 
SWenfd)  geroefen,  ber  gerne  bie  SBett  oerbeffert  tjätte,  bercn  ÜWängel  er 
erfanitt,  aber  fein  ©ott.  Unb  als  aud)  ber  berühmte  Drf orber 
^ßrofeffor  93ufeq,  ber  güljrcr  ber  Drtfjoboren^artet,  ben  fie  auffudjtc,  i^r 
feine  näheren  3tuff(äruugen  geben  fonnte  ober  wollte,  fonbern  it)r  nur  mit 
ber  ewigen  33erbammnif3  broljte,  wenn  fte  fotd)  fefcerifd)en  2tnfd)auungen 
fmlbige,  ba  war  fie  für's  Gtjriftentfjum  oerloren  unb  feft  entfd)toffen,  mit 
ber  93crgangenbeit  p  brechen. 

„Sie  t)aben  fein  5Red)t,  ©ott  Sebingungen  5U  ftellen  über  bae,  was 
©ie  glauben  unb  nidjt  glauben  wollen.  Qd)  oerbiete  Sfonen,  öftren  Uw= 
glauben  $u  befennen,"  rief  ber  fromme  Doctor  ^ßufei»  erregt  aus.  8lber 
bie  refolute,  wafirtieitsliebcnbe  grau  tief?  fid)  eben  9tid)tS  oerbieten,  wa$ 
u)r  ©eroiffen§facf)e  war.  ^eimgefe^rt,  tbeitte  fie  bem  ©atten  iliren  ©tanb* 
punft  offen  mit.  ®a  fie  nod)  immer  ^)eiftin  mar,  weigerte  fte  fid)  nidit, 
bem  gewöt)ntid)en  ©otteöbienft  beijuwob,nen,  nur  bem  „©otteSfotnte"  wollte 


  ^reiftenfertn  uni  (Efjeof opt(in.   


3<*7 


fie  feine  &ulbigung  mehr  barbringen,  unb  fo  würbe  bemt  befdjloffen,  baß 
fie  fich  an  bem  Abenbmabl  nicht  beteiligen  werbe,  ©ine  $eit  lang  ging 
Alles  gut.  Aber  als  fie  fich  baS  erfte  Wlal  mäbrenb  bicfer  heiligen 
Function  aus  ber  ftircbe  entfernte  unb  ben  frommen  33etfchroeftern,  bie 
in  ber  Meinung,  fie  fei  plöfelicb  unwohl  geworben,  fie  befugten,  um  fich 
nach  ihrem  23efinben  ju  erfunbigen,  bie  SBabrbeit  mitteilte  —  benn 
fie  »ermocbte  nicht  ju  lügen  —  ba  tonnten  fid^  bie  braoen  grauen  »or 
©ntfefcen  faum  faffen.  £>ie  (Sattin  eines  93aftor3,  bie  nid^t  an  ©briftuS 
glaubte,  —  hatte  man  fd)on  fo  ©troaS  gehört?!  Auch  einige  SDtitglieber 
ber  gamilie  23efant  ftecften  in  beUem  ©ntfeken  bie  Äöpfe  äufammen,  unb 
es  würbe  fo  lange  gebebt,  bis  man  bie  mutige  grau  oor  bie  Alternative 
flellte,  entweber  bem  Abenbmahl  beijuwohnen  ober  ihr  £elm  31t  »erlaffen 
—  alfo  entroeber  Heuchelei  ober  23erbannung  —  unb  fie  wählte  bie  lejtere, 
nicht  abnenb,  roie  graufam  bie  SBelt  fie  oerurtbeilen  roürbe.  ©ine  allein^ 
ftebenbe  junge  grau  ift  immer  ber  33erleumbung  auSgefefet,  roie  erft, 
roenn  fie  unter  folgen  Uinftänben  ÜDlamt  unb  Sinber  unb  £eim  »erläßt! 
©S  rourbe  i^r  unenbticb  fcbroer,  fich  oon  ihrem  Stnaben  —  baS  SHäbcben 
rourbe  ihr  gefefelicb  juerfannt  —  ju  trennen,  bem  fie  2Hutter,  Pflegerin 
unb  Spielgefährtin  geroefen,  aber  fie  »ermoebte  felbjt  um  beS  fttnbeS 
roillen  fein  Seben  doH  Süge  unb  Heuchelei  auf  fich  ju  nehmen,  unb  fo  trat 
fie  benn  im  33efifc  ifirer  fleinen  Tochter  unb  eines  ihr  jugefproebenen  ©in' 
fommenS,  ba§  fie  fnapp  vor  bem  Verhungern  febütste,  ein  neues  Seben  an. 

Anfänglich  mußte  fie  hart  um'S  tägliche  33rot  fämpfen,  fie  »erfuebte  eS 
juerft  mit  £anbarbeiten,  boä)  würben  biefelben  fo  fcblecbt  bejaht,  baß  fie 
biefen  ©rroerb  batb  aufgab  unb  Sedionen  fucf)te.  Aber  Sliemanb  wollte 
einer  Jtefeerin  feine  unfchulbigen  Sämmcben  anoertrauen.  $n  bicfer  febroeren 
3eit  ftanb  ihr  baS  ©bepaar  Scott,  baS  fie  bureb  SBonfen  fennen  gelernt 
hatte,  tbatfräfttg  jur  Seite.  2Jfr.  Scott,  ein  alter  £err,  ber  ein  febr  be* 
roegteS  Seben  hinter  fich  hatte,  führte  ein  offenes  &auS,  in  welchem  »iele 
greibenfer  uerf ehrten  unb  folche,  bie  fich  auf  bem  Sßege  511m  greibenfers 
thum  befanben.  2lucr)  gab  er  eine  ßeitfebrift  heraus,  bie  er  gratis  in 
bie  SBett  Derfcbicfte;  feine  ÜDJitarbeiter,  ob  ber  gemäßigteren  ober  ber  ganj 
rabicalen  Achtung  angehörenb,  brauchten  fein  33latt  oor  ben  2)Iunb  ju 
nehmen,  aber  bie  Art  unb  2Beife,  in  welcher  fie  ihre  Anflehten  ausfprachen, 
mußte  oornebm  fein.  9Rr.  Scott  hielt  mel  auf  einen  guten  Stil  unb  ein 
reines  ©ngltfcb.  ©r  »eranlaßte  9JJrS.  SBefant,  fid)  mit  philofophifchen 
Sßerfen  ber  ÜReujeit  befannt  ju  machen;  unter  feiner  gübrung  erroeiterte 
fich  ihr  ©efidjtSfreiS  immer  mehr,  unb  halb  gehörte  fie  51t  feinen  fleißigften 
Mitarbeitern.  2>urcb  angeftrengte  titterarifche  Arbeit  war  es  ihr  bemt  auch 
gelungen,  fich  in  einem  23ororte  SonbonS  ein  befdfjeibeneS  £eim  5U  grünben, 
baS  fie  mit  ihrer  leibenben  SJiutter  theiten  wollte.  ©aS  ©cfjiicffat  machte  ihr 
einen  argen  Strich  bwtcb  bie  Rechnung;  ber  jarte  DrganiSmuS  ber  alten 
3)ame  war  burch  bie  jahrelangen  Sorgen  unb  ^Slageu  »ollftänbig  aufge* 


3^8    Settlja  Kotf<^er  in  Sailen  (HW&er'Oefterreidj).   

rieben,  unb  fic  »erfdiieb  nadj  langem  ftranfenlager  in  ben  3lrmen  ifjrer  ge= 
Uebten  £od)ter,  bie  fie  järtlidj  gepflegt  blatte.  2lud)  biefen  garten  ©djlag 
überroanb  bie  tapfere  grau;  um  fidj  ifjren  quätenben  ©ebanfen  ju  entriegelt, 
ftubirte  fie  mit  Feuereifer  pf)ilofopf)ifd)e  SBerfe,  bie  fie  ©d>ritt  für  ©djritt 
baju  brockten,  ifiren  ©otteSglauben  objuftreifen.  3Roncure  35.  Gonmat), 
beffen  93orträge  fie  ffeifeig  befudjte,  madjte  fie  auf  ben  güljrer  ber  englifdjen 
greibenfer,  Charles  33rablaugb,  aufmerffam.  ©ie  la3  juerft  feine 
©dirlften:  „@iebt  e8  einen  ©ott?"  unb  „(Sin  SBort  ju  ©unften  bei 
2ltf)ei3mu§."  Tiiefe  matten  tiefen  ©inbrucf  auf  fie,  benn  fte  brüdten  ht 
geiftooller  SBeife  au«,  roa«  fie  längft  fdion  gebacfjt  unb  empfunben  blatte. 
3lm  2.  Stuguft  1874  fefete  fie  511m  erften  2Ral  Upen  gufi  in  „Hall  of 
Science",  roo  bie  ©efellfdjaft  ber  greibenfer  ib^re  33erfammtungen  abhielt, 
um  aus  ber  £anb  $rablaugt)ä  tyxe  3JJitgliebäfarte  ju  erhalten  unb  feinem 
SBortrag  über  „bie  SBorfafiren  unb  bie  ©eburt  Sljrifti"  beijutwfyien. 

©djon  nadj  wenigen  Sagen  bot  Srablaugb,  tf)r  eine  fefte  Slnftellung 
al«  ÜJHtrebacteurtn  feine«  „National  Reformer"  an  —  eine  Stellung, 
bie  fie  bis  ®nbe  1890  beibehielt.  Nebenbei  entfaltete  fie  aU  ©dnHftfteHerm 
unb  Slgttatorin  eine  arbeit£»oHe  STfjätigfeit.  3Wr«.  Stefant  mürbe  roäfprenb 
biefer  3ett  oiel  bewunbert  unb  oiel  »erleumbet  —  93etbe§,  roeil  fie  jeigte, 
wie  ftdf)  ein  ftarfer  ©eift  trofc  ber  frömmften  ©rjie^ung  über  alle  3?or* 
urteile  erbebt  unb  alle  ©djranfen  burdjbridjt,  roenn  er  ©troaS  al«  2Bab,r« 
Ijeit  unb  SRedjt  erfennt.  3n  ber  9D?ännerroelt  giebt  eä  oiele  berartige  Sei« 
fpiele,  aber  unter  ben  grauen  fyaben  bisher  nur  wenige  ben  3JhUb,  ge« 
funben,  gletdj  Wlxi.  33cfant  ju  ringen,  &u  fämpfen,  ben  sBerleumbungen 
unb  SCorurttjeilen  ber  3Mt  offen  bie  ©tirne  ju  bieten!  SSie  grofj  tljr  Sln- 
fe^en  in  unbefangenen  Greifen  mar,  ge^t  u.  21.  au§  ber  Styatfadje  tjenwr, 
baß  ber  berühmte  engltfdje  $>id>ter  ©eralb  Waffen,  ber  ein  frommer  Gfirift 
ift,  tro|  biefer  feiner  ©igenfdjaft  unfere  greibenterin  oor  6 — 8  Satiren 
in  einer  begeifterten  Dbe  gefeiert  f)at. 

Unb  biefe  grau,  bie  logifd)  fdjärffte  gretbenferin,  bie  e3  geben  fann, 
mufjte  fid)  in  bie  b,irnoerbrannte  ÜJhjftif  ber  £f)eofopbie  »erbobren!  ift 
jammerfdjabe  um  fie.  SBirb  bie  jefeige  &ol)eprieftertn  ber  SHaroafcft'fdjen 
©ecte  je  mieber  tf)re  Ueffeln  abftreifen?  SBirb  fte  »ietteidjt  nod>  anbere 
SBanblungen  burdmtadien?   Chi  lo  sä?  .  .  .  . 


Der  fceutfcfye  ZTCidjel  mit  feinem  mytfjologifcfjen 
f)mtergrunöe. 

Don 

SCu0iift  lEünfrfje. 

—  Dresben.  — 

er  auägejeidmeten  gorfdjergabe  imb  bem  licbcoöH  fid)  »erfentenben 
Siefbliif  eines  ftafob  ©rimm  ift  e§  gelungen,  ben  ÜRadnoeig 
5U  führen,  toie  bic  beutfdje  9Jh)tt)ologie  auf  benfelben  ©runb« 
attfdjaiwngen  toie  bic  norbifdje  beruht.  @3  gebührt  ü)nen  baS  SGerbienft, 
bic  Sanbenge,  reelle  bie  norbifdje  von  ber  beutfdjen  ©ötterioett  trennte, 
burd)ftodfjen  unb  bie  beiben  ©agenftutljen  als  etwa«  3ufammengel|örige3 
roieber  Bereinigt  ju  fjaben.  2Ba3  3<üob  ©rimm  begonnen,  fiaben  3lnbere 
toie  Äarl  ©imroct,  SBillj.  3J?annf)arbt,  2tb.  £olfcmamt,  ©.  Stodjolä,  ^ofept) 
3ingerle  u.  3t.  immer  mefir  jur  SMenbung  geführt.  ®er  flare  Üeberblid, 
ben  mir  burdj  ben  ftleifc  ber  gorfdmng  btefer  -Kämter  gewonnen,  jeigt 
unä,  toie  naefj  allen  ©eiten  felbft  unfer  heutiges  beutfdjeS  Seben  in  ©pradje, 
©Ute  unb  ©ebraudj  reid»  ift  an  mntljologifdfien  2lnflängen.  ©ie  ©öfter 
unferer  tieibntfdfjen  Sßorfab^ren  leben  nodf»  in  unfern  2)iärd)en  unb  ©agen 
fort,  unb  fic  fd^atten  unb  malten  barin  fo  tebenbig,  bafj  unfere  tinber  mit 
©ntjüden  ber  rounberbaren  ÜJiär  laufdien  unb  fidfj  ben  Stopf  serbredfjen 
über  ben  3Renfdjenfreffer  im  Däumling  unb  über  baä  £infelbeindjen  in 
ben  fieben  Stoben.  SBiffen  mir  nid)t  Me,  bafe  hinter  bem  Stnedjt  9Jupred)t, 
bem  wermummten  SDtann  mit  bem  großen  Sorte,  Dbin,  bie  työdjfte  norbifdijc 
©otttjeit,  fid)  oerbirgt?  9lucf)  ber  Äönig  ©roffelbart  bes  beutfdjen  SDlärdjenS, 
ferner  ber  roilbe  SDtann  mit  bem  entnmrjelten  Tannenbaum  in  ber  £anb, 
ber  auf  Dielen  alten  SBirtfiSfiauSfdjilberu  nod)  ju  fehlen  ift,  ift  9itemanb 
anberS  als  Dbin.  ©ein  ©peer  ©ungir,  baS  »on  $n»albis  ©ölnten,  ben 
brei  Sorgen,  »erfertigte  tounberbare  Äunftftücf,  ift  ber  Änüppel  aus  bem 


350 


  tfngujl  IDünfcfje  in  Dtesben.   


©acf  im  2Härd;en:  £ifd)d)en,  be<f  bid^,  ©fei,  ftred"  bidj.  hinter  bem 
9Jtenfd)enfreffer  im  ©äumling  fteht  [ber  9liefe  &nmir,  unb  Rteinbäumchen 
ift  %t>ox,  ber  mächtige  Donnerer,  ber  fid»  im  Däumling  beS  9tiefenhanb* 
fdwheS  ju  Herbergen  fud)t  2Ber  rennt  nidjt  baö  Kardien  |uom  ftarfen 
£anS,  ber  ftd)  bie  ©locfe  als  ©djlafmüfce  über  bcn  Ropf  fiülpt?  ®a3  iji 
^b,or,  rote  er  bett  mädttgen  Reffet  beS  £nmir,  in  bem  breijelm  ©dmtiebe 
Lämmern,  ohne  einanber  ju  ^ören,  auf  feinem  Raupte  fortträgt.  Slucb, 
bie  beiben  grauen  in  £mntrS  föalle  finben  fid)  in  ben  9Rärd)en  roieber. 
©ie  alte  neunhunbertföpfige  grau  erfdjeint  als  beS  Teufels  ©rofjmutter, 
bte  jüngere,  allgolbene,  roeiftbrauige  ift  bie  grau  beS  2Wenfd)enfrefferS,  bie 
fd)ü&enb  unb  rettenb  eingreift.  Unb  nrie  ftebt'S  mit  unferm  lieben,  roofyU 
befonnten  Domröschen?  ©S  ift  bie  im  2Btnterfd)laf  rub^enbe  ©rbe,  bie 
DbinS  ©onnenblicf  wachrufet,  beren  Dberffädje  er  mit  feinem  ©olbfdjroerte 
ri|t,  bafe  fie  Reime  unb  ©proffen  aus  ihrem  ©d^oo&c  hemortreibt.  Unb 
ift  nicht  33arbaroffa  im  Rgffbäufer  aud)  leine  ©rinnerung  an  Dbin?  $>ie 
alte  beutfdje  ©age  erjät)lt:  Dbin  fifit  im  ^o^len  Serge,  ber  bie  Unterroelt 
bebeutet,  fein  33art  ift  fdjon  jiuei  -Kai  um  ben  £ifd)  geroadjfen,  feine 
Stäben  fliegen  umt)er,  unb  neben  ihm  fd)lafen  feine  gelben  bem  £ag  ber 
©ntfdjeibung  entgegen,  beffen  2lnbrud)  ber  ©dbaH  feinet  £ornS  »erfünben 
toirb.  Qn  ber  norbifd)en  ©age  lebt  er  nidjt  im  tytyen  33erge,  fonbent 
in  StSgarb  ober  Sßallbatt,  alfo  in  einem  überirbifdien  &tmmcl,  ben  er  mit 
feinen  gelben  thetlt.  2lud)  f)ler  finben  nrir  baS  Sjom  bei  ihm,  baS  ben 
Slnbrud)  beS  jüngften  £ageS  »ertunbigen  toirb.  ®aS  SBädrterhorn  DbinS 
lebt  noch  heut  in  bem  £ora  beS  9(achtroäd)terS  fort.  Dbin«  SStttribute,  bic 
Stäben,  finb  aud)  23arbaroffaS  Begleiter,  fie  tuüffen  auefliegen,  um  ben 
©taub  ber  ©inge  in  ber  SEBelt  ju  erforfd)en,  ob  er  aus  feinem  ©d)laf  er* 
roadjen  barf.  SBenn  er  aufftctjt,  bann  ift  bic  9J?ad)t  ber  ginftermfe  über* 
rounben,  unb  ber  teudjtenbe  ©omtenmagcn  roßt  roieber  über  bie  ©rbe  bahnt, 
©o  finben  ftd)  allenthalben  geiftige  ^Beziehungen  mit  einer  %t\t,  bte  wir 
längft  als  ausgelebt  ju  bctradbten  uns  gcroöbnt  haben. 

©S  ift  eine  |t)en>orragenbe  ©eite  beS  |beutfd)en  SßolfSdjarafterS,  alte 
Slnfdjauuttgctt  fortjupflansen,  fie  in  baS  ©croanb  ber  neuen  ©ulturentroidfelung 
umjufleiben  unb  babei  bod)  'ben  Rem  ju  wahren.  $>ie  ©innigfeit  unb 
Snnigfeir,  mit  ber  ber  ©eutfchc  and)  bie  gäben  ber  SSorjeit  in  baS  ©eroebe 
ber  neuen  2lnfdjauungen  aufnimmt,  mag  ir)m  root)!  in  ben  9lugen  anberer 
Sßölfer,  bie  leidster  mit  bem  2llten  abfdjtieften  unb  etroaS  SleueS  beginnen, 
ben  Stuf  eines  sroar  ^odjgebitbeten,  aber  pljlegmattfdjen  23olfeS  eingebradjt 
^aben.  SluSlänbifdje  Leitungen,  bantnter  befonberS  ^Jarifer,  gefielen  fidj 
früher  barin,  uns  fpottroeife  |ben  beutfdjen  5Dfid)el  ju  fnennen,  unb  felbft 
im  beutfdien  SSolfe  ift  bie  Lebensart  eine  feb>  gebräuchliche,  mie  jahlreidbe 
©teilen  aus  ber  Sitteratur  beraeifen. 

©o  lautet  ein  ©prtdjroort  bei  ©ebaftian  granf  (15.  ^tth^-)'  3n 
nöbigen  Sadjen  aber  fönben  fie  (bie  SBetber)  weniger  benn  ber  teutfdi 


  Der  beutfdje  ITtiajel  mit  feinem  inyttiofogiftben  fjinterornnoe.  — 


3JHd)el".  SeSgletdjen  fagt  Sßljilanber  Bon  ©ittewalb:  „£eud>elftu  nidjt 
mit,  fonbertt  wirft  als  ein  reblidjer,  beutfdjer  SWidiet  frei  burdjgeben  unb 
aus  gutem  ^erjen  aEeS  meinen,  reben  unb  tf)un  wollen."  Slabener  be= 
merft  in  einer  feiner  Satiren:  „Der  öefte  beutfdje  ^oet  ift  in  ben  Sfagen 
ber  lateintfdjen  SBett  weiter  9lid)tS  als  ein  bcutfd^cr  SDtidjel,  ober  IjödiftenS 
ein  leiblidier  SBerSmadjer."  @oetf)e  fdjtlbert  in  feinem  ©ebidjte:  „5fhtfen 
unb  ©rajien  in  ber  3Warl"  ben  beutfdjen  9Wid)et  mit  ben  SBorten: 

„Saß  ben  SB'tfclina  uns  befttdteln, 

©lüefltdt,  wenn  ein  brutidjer  2)tann 

©einem  g?reunbe,  SBetter  3JHd)eln, 

ffluten  Slbenb  bieten  fann. 

2Bie  ift  bet  ©ebanfe  labenb, 

©old)  ein  ©Wer  bleibt  im«  naf)', 

3mmer  faat  man:  (Heftern  Slbenb 

SEBar  bod)  Setter  SJHrtel  t>a!" 

3ln  einer  anberen  ©teile  äuöert  er  fid):  „93et  weiden  ©elagen  uns 
benn  freiltä)  mannen  2l6enb  93etter  9Jctdje[  in  feiner  wob^lbefannten  ®eutfd)-- 
Ijeit  ju  befudjen  nid)t  »erfeljlte."    3n  gleicher  SBeife  fingt  ©imrod: 
$er  gute  beutfrte  SHirtel  36m  lieft  fo  oft  jur  21ber 

S?efdiäftiflt  iefet  aar  triel  3of)n  23ull  unb  aucn  9Rnn&eer, 

Stefefeber,  ©tift,  ©rabftidjel,        £er  war  ber  frtHmmfte  »aber, 
£aju  ben  ©önicfiel.  SRitf  ftetS:  jusqu'ä  la  mer! 

SDlan  fief)t  ben  Unßcfüaen  9Jlit  Slberlaifen,  ©rtröefen 

D&nmätfitifl  baraefteOt,  <$rfd)Böften  fie  iljn  (Jana, 

Sil«  läfl'  in  legten  3üfl«"  2t1"  önbe  wirb  ibn  Kufen 

Der  nmnberftarfe  §elb.  9iort  gar  fein  9tod)bar  JJranj.* 

Sei  Sßlaten  in  einem  ©ebidrte:  „2tn  £ied"  lefen  wir: 
„Ulan  waflt'8,  ben  (Salberon  £ir  au8juporten, 
35a8  lief}  com  beutfdien  SWtrtet  ftrt  erwarten." 

Börne  fpridjt  einmal  oom  „tnerfdjröttgen  beutfdjen  SJttdjel". 

$n  bem  SBorte  „Widjel"  fjaben  wir  jebenfalls  eine  Sßerfdmteljung 
beS  in  allen  germanifdten  Spraken  wrfommenben  2tbjecttöS  „micfiel"  in 
ber  93ebeutung  oon  grofi,  mädjtig,  ftarf  mit  bem  fjebräifdjen  ©igennamen 
beS  (SrjengelS  SJttdjael.  2BaS  nun  ben  erften  £beit  ber  33erfdbmel}ung, 
baS  3lbiectio  „mid)el"  anlangt,  fo  begegnet  es  uns  f)äufig  in  mittelalter* 
Iidjen  Sitteraturmcrfen.  <So  läüt  2Baltf)er  »on  ber  58ogclweibe  (t  um 
1230)  in  feinem  ©ebicfite:  „£>ie  2xaumbeuterin"  ben  non  bem  ©efd)rei 
einer  Äräl)e  aus  feinem  füfjen  £raum  aufgefdjredten  ©djtäfer  fagen: 
„©ie  nam  mir  midiel  wiinne; 
t>on  ifjr  fdirien  td)  crfdjrac." 

fauler  (1508)  fagt  in  einer  feiner  ^Prebigten:  „Unb  feine  jünger 
fetnb  mit  ifmt  gangen,  bosu  eine  oöHige,  midjele,  merflidje  ©d>ar."  ßtterlin 
(1507)  f treibt:  „Dieweil  fie  »on  großen  ©efdjledjten  war,  aud)  iro  ein 
midieltetl  war."  33ei  ©dmppiuS  (im  16.  $cifyc\).)  lefen  wir:  „$rauf 
lädjett  ber  gute  öerr  3Jfetan^tl)on,  benu  er  blatte  beS  Banfes  üon  fetnigen 


  2Jugufi  n?nnfd|e  in  Bresben.   

etn  mi<^elteit  befommett."  $n  einem  alten  33olf3ttebe  bei  Ufrfanb  enblidj 
finbet  ftd)  bie  ©tcUe: 

„Die  3ubm  tarnen  pfammen, 
£er  mar  ein  midid  ©cöar." 

Sludj  Sönber«  unb  Ortsnamen  finb  mit  bem  Sßorte  „miöjel"  gebitbet 
roorben,  j.  58.  2Jledlenburg,  3Jttd)elbad),  3Widjelfkbt.  3n  $eutf$lot&ringen 
fagt  man  nodj  beute  „mietet"  in  ber  33ebeutung  oon  groß,  im  ©egenfafe 
ju  „lüfcel"  im  ©imte  oon  Kein,  rote  5.  33.  Säßelburg  (Suremburg),  Sü|elj 
roiebelsbad),  Süfcelrimbad).  Qn  DftfrieSlanb  beißt  eS  „lüttie",  tote  bie 
Drtänamen  Süttjenbaftet,  Süttjennnftebt*)  beroeifen.  ®er  fd>roäbif<$e  SSolte- 
munb  fagt:  „fürn  9Jlid)erte  bitten",  wenn  ^emanb  gebänfelt  roirb.  2tud) 
Sufammenfe&ungen  mit  bem  SBorte  „mtcrjel"  fommen  oor,  nrie  SQuatfd»-- 
midiel,  ein  alberner  ©d»ro%r,  Ätoßmidiel  (befonberS  in  ber  ©egenb  oon 
■Jtörbltngen  gebräudjttd),  roo  ber  lefcte,  ber  in  bie  ©dmle  fommt,  fo  be= 
jeidmet  wirb),  £ulmidjel,  ein  roeinerücber  SJienfc^.  SBenben  mir  uns  jum 
anbern  XtyU  ber  SPcrfcbmeläung,  jum  ©igennamen  bei  ©rjengete  SWidbjaeL 
$>iefer  ift  befanntlidj  einer  ber  brei  großen  ©ngelfürflen.  @r  gilt  alä 
3lnfübrer  ber  bintmlifdjen  $eerfdjaaren,  n>ie  aU  gübrer  ber  abgeriebenen 
Seelen  unb  als  Sdjufepatron  ber  ftrettenben  Äird)e.  DJad;  ©aoib  Strauß 
bat  ©ort  bie  33orfebung  für  fid)  bebalten,  bie  Seitung  aber  ber  einseinen 
ingelegenbeiten  ben  (Srjengeln  übertragen,  unb  jroar  ftanb  ©abriel  an  ber 
Spifce  beä  ßriegSroefenS,  9topbael  an  ber  Spt&e  bei  IDtebicinalroefenS  unb 
•Ditdjael  an  ber  Spi^e  bei  SuttuS.  SBäbrenb  ©abriel  unb  Stapbael  im 
cbrtftltd)en  GultuS  jurütfgetreten  finb,  fpielt  -Diicbael  nod)  immer  eine  große 
Motte.  ®r  wirb  Sdwfcpatron  beä  beutfdjen  SBotfeS  (protector  Germaniae) 
unb  fommt  alä  foldjer  auf  bie  beutfd}e  SReidjäfabne.  $aß  SBölfer  ibre 
Sdmfeengel  b«ben,  jeigt  uns  fdjon  baä  23ud)  Daniel.  ®er  ©dbufcengel 
eines  93olfe3  ift  gennffermaßen  fein  SfJufterbilb,  ebenfo  wie  ber  gute  ©eniuS 
baS  SDtufterbilb  beS  Ginjelnen  ift.  2118  9Jepräfentant  be£  beutfdjen  SSoHeS 
ift  SDHdiael  ein  Gollectiübegriff  geroorben.  SBenn  man  nun  00m  beutfdjen 
5DMdjel  rebet  unb  bamit  einen  plumpen,  berben,  flofeigen  S5eutfdien  mehrt, 
fo  gebt  "bie  Gollectiobebeutung  be£  SBorteS  in  bie  3Ippettatiobebeutung  über. 
$)aß  ein  ©injelbegriff  in  einen  ©ottectiobegriff  übergebt,  fommt  oft  oor. 
«Sagt  man  bodb  „3obn  23utt"  unb  meint  bamit  baS  ganje  englifdje  2Mf**), 
33ruber  ^oiwtbon  unb  meint  bamit  baS  gefammte  23olf  ber  norbamerifa; 
nifdjen  greiftaaten  ***),  3lbam,  ber  erfte  ÜJlenfdj,  wirb  Seseidmung  für  bie 

*)  SJergl.  (Srnft  tJörftemnann,  bie  beutfefien  Ortsnamen,  Storbljaufen  1863. 
**)  Sotin  S3uH,  eiflentti*  $anS  ©Her  ober  §an8  Odjfe,  würbe  üuerft  Don  bem 
©attritcr  ©toift  (1667—1745)  in  (Sang  gebracfit.  Die  Snalänber  felbft  bejtumten 
bamit  einen  reblidjen,  berben,  gutmütftiflen  Hjarafter;  SluSlänber  bagegen  meinen  bamit 
bie  SWatlonaleiflenbciten  unb  Sorurt^eile  be»  enafifdjen  »olfeS,  befonberS  bie  Unfä^iflfeit 
beSfelben,  fid)  in  bie  ®e»o^nb!eiten  anberer  Sänber  gu  fügen. 

***)  SBafbington  fagte,  als  er  im  ftreiljeitsfrlege  1776  über  bie  Stnfdjaffung  bon 
Bert^tibigunflSniitteln  in  Seriegenbieit  toar,  in  einer  SBeratbung  mit  feinen  Offtgtertn: 


  Der  benlfdje  JTtidfet  mit  feinem  urftb,oIogtfd}en  Ijintergtunbe. 

gefallene  ÜHenfdjfieit,  uitb  SbjiftuS  ift  bei  £ertuu*ian  bie  recapitulatio 
bumani  generis,  ftettt  otfo  bie  ganje  2Renfc£)l)eit.  bor,  wie  fie  nad)  ©otteS 
(Sbenbilb  fein  fott.  2ludj  in  bcr  ^icrtoelt  fyabm  mir  ein  analoges  93ct= 
fpiel,  infofern  9?einefe  §ud)S  ber  ^Repräsentant  aller  güdrfe  ift. 

Setreffs  ber  grage:  mann  unb  roo  bie  Sejeidmung  „®eutfdber 
SRidjel"  aufgefonttnen  ift,  giebt  es  jroei  2lnfidjten.  -Jiaä)  ber  einen  rüf)rt 
fie  non  ben  granjofen  her,  nad)  ber  anberen  ift  fie  aus  bem  föerjen  beS 
germanifcben  33olfeS  felbft  herauSgeroadifen.  SÜBattenbadj  madjt  im  Slnjeiger 
beS  germanifdjen  SD?ufeum  1869  auf  bie  merfroürbige  ©rfcbetnung  ber 
„SJUdjetSbrüber"  aufmerffam.  3n  ber  SRormanbie,  am  93ufen  r>on  @t.  -Dlidjel 
liegt  ein  33erg  2Ront  ©t.  Sßidjel,  ju  bem  3)eutfdje,  namenttid)  beutfdje 
Stnaben,  ehebem  SBattfalirten  unternahmen.  2J?an  oerfpottete  biefe  S33off= 
fairer  unb  nannte  fie,  roie  aus  ber  Sßerorbnung  eines  SettetoogteS  ju 
Saben  1528  heroorgeljt,  SJHdjelSbrüber.  ©aS  franjöfifdje  SBort  miquelot 
(Setteljunge,  frömmelnber  4}eud)ler)  ftebj  jebenfaHs  hiermit  im  ßufammen* 
ijange.  grifd»  bagegen,  ber  um'S  ftofyt  1730  lebte,  behauptet,  „ber 
beutfdje  üWidjet"  fei  bereits  im  16.  3<rf)r{junbert  gebräudjltdj  geroefen  unb 
weife  entfdbjeben  auf  eine  ©injelperfönlidbfeit  ^in.  ©r  fefct  fomit  ben  ;3u* 
fammenb,ang  ber  SftebenSart  mit  ben  2)tid)elsbrübem  in  grage.  3Bfr 
neigen  ber  SKnfidbt  ju,  baf3  ber  9came  „beutfd>er  SRid^el"  entfdjieben 
beutfdjen  UrfprungS  ift,  unb  ftimmen  mit  grifd)  überein,  bafj  er  auf  eine 
©njelperfon  fjinbeutet,  unb  jroar  auf  feine  anbere  als  bie  beS  ©rjengels 
3Jttd)ael.  Saft  biefe  ^eilige  ^igur  aber  in  geroiffer  Sejiefiung  in  eine 
Spottfigur  übergeben  fonme,  bafür  giebt  uns  bie  beutfdje  9Jtytl)ologie  t)in= 
reidjenb  2luffd)lufi. 

@S  ftebj  feft,  bajj  man  bei  Sefebrung  unferer  alten  ^eibnifdjen  SBor« 
fahren  non  Seiten  ber  Äirdje  ab(td)tlidi  fef)r  »orfid)tig  »erfuhr.  9Jian  tiefe 
ihnen  ihre  ©öfcentempet,  entfernte  aber  bie  |©öfcen  unb  legte  Reliquien  bafür 
hinein.  !$xt  gefte,  ©djmaufereten  unb  3ed)gelage  änberte  man  nur 
infofern,  als  man  ihnen  einen  d)riftlid)en  <Sinn  unterfdjob.  SemerfenSroerth 
ift  in  biefer  Sejieljung  ein  33rief  beS  SßapfteS  ©regor  I.  an  ben  ,316t 
SMittuS  (596).  „Sagt  bem  2luguftinuS,"  fdjreibt  er,  „bafe  man  bie 
©öfeenfireben  bei  jenem  SBolfe  (ben  2lngelfad)fen)  ja  nidjt  jerftören,  fonbern 
nur  bie  ©öfcenbitber  bartn  »erniditen,  baS  ©ebäube  mit  SBeibmaffer  be* 
fprengen,  2lttäre  bauen  unb  Reliquien  hineinlegen  foll.  35enn  finb  jene 
Äirdjen  gut  gebaut,  fo  mufj  man  fie  uom  ©öfeenbienft  51a  wahren  ©otteS= 
»erebrung  umfebaffen,  bamit  baS  Sßolf,  roenn  eS  feine  fttreben  nicht  jerftören 
fiebt,  non  ^erjen  feinen  S"9fowoen  ablege,  unb  um  fo  lieber  an  ben 
©tätten,  bie  es  geroöfmt  ift,  fieb  oerfammle.   ^l)re  ©ü^,  bei  ©ö|enopfcrn 


„SBir  muffen  äöruber  Sonaten  froflen,"  tnomit  er  feinen  Sfreunb  3onat6an  SiumbuII, 
@oubemeur  von  Connecticut,  meinte.  Später  mutbe  SBaf^incjtonS  2lu8fptud)  jum 
totjelnben  ©pridjtoort. 


  Jluguft  HJnitfdje  in  Dresbeit.   

Odrfen  ju  fdjladjten,  mu§  ihnen  ju  irgenb  einer  djriftlidjen  3feterlicb> 
feit  umgetoanbelt  roerben.  2tm  ©ebädjtnifjtage  ber  heiligen  3Wärtt>rer  foüett 
fic  Kütten  oon  33aum}n>eigen  um  ihre  ©öfeenfirdjen  madjen,  triebt  mehr 
bem  SCeufel  £ljtere  opfern,  fonbern  fte  jum  Sobe  ©otteS  für  ftcfj  jur  ©peife 
unb  Sättigung  fdjtachten,  bantit  fte,  inbem  ilnten  einige  äufjerltdje  greuben 
bleiben,  um  fo  geneigter  ben  innerlichen  fittb."  —  ©o  laffen  fidj  nun  audj 
beftimmte  ©puren  nadjroeifen,  bafi  ©t.  3Jii<^aeC  an  bie  ©teile  be$  mächtigen 
©otteS  SBuotan  getreten  tft.  Unb  betradjten  mir  bie  SBuotanäfigur,  nrie  fte 
uns  in  ben  beutfdien  ©agen  unb  Kardien  entgegentritt,  fo  unterliegt  es 
feinem  3n>eifel,  baf?  fidj  biefetbe  mit  ber  b;3  3Widf>aet  in  trielen  SJejieljungen 
beett.  ^n  SBuotan,  bem  Skter  ber  norbii<^*beutfcf)en  ©ötter,  gipfelte  ber 
ßidjtcuftuS  ber  alten  $>eutfä)en;  benn  mit  ber  arifdten  9iace  feilten  bie 
alten  SDeutfdjen  bie  2lnfd)auung,  bafi  im  Sichte  bie  höcbfte  göttliche  Straft 
für  fie  jur  ßrfdjeinung  fomme.  ©o  badeten  fic  fid^,  baft  am  ßnbe  beS 
SBinterS  SBuotan  im  feurigen  ©onnenroagen,  im  golbenen  ^ßanjer  unb  mit 
golbenem  ©dEiroerte  gegürtet  baljinfatjre.  3In  ben  brennenden  SRäbern 
feines  SBagenS^entjünbet  fid&  baS  Sid)t  ber  ©rbe,  unb  biefelbe  fdmtficft  fiel) 
bräutlich  mit  ^Blättern,  SMütlien  unb  StnoSpen,  um  ihn,  ben  teudjtenben, 
glänzenden  ©ort  beS  CeibltdEjcn  unb  geiftigen  Sebent,  ju  empfangen.  Sa 
in  bem  23en>ufttfein  ber  ©ermanen  Statur  unb  ©eift  untrennbar  roaren,  fo 
lebte  SBuotan  für  fie  nidjt  nur  in  jebem  Suftljaucf)  bis  pra  nmtbenbfien 
©türm,  fonbern  aud)  in  jeber  ©emüthsberoegung,  in  ber  Stegeifterung  wie 
in  ber  3?aferei,  in  ber  Stimmung  beä  SDidjterS  unb  ber  Siebenben,  mie 
in  ber  Serferferroutf)  unb  in  bem  StampfeSmuth  ber  Ärieger.  $>ie  Suft 
mar  fein  SFJeidf»,  unb  bie  ©eelen,  als  Cbem  unb  $auch  gebaut,  gehörten 
mit  ju  bemfelben.  Sie  ©eelen  berjenigen  Sßerftorbenen,  bie  auf  bem 
Äranfenbett  geenbet  fiatten,  famen  nidht  ju  ihm  nadj  SBathalla,  fonbern 
nur  bie  ber  gefallenen  Krieger.  2113  ©djladjtengott  lenfte  er  baS  ©dhladjten* 
glüd  unb  fdjürte  bie  Stricgsflamme.  2Bie  aber  in  ben  3JJi)then  aller 
SSölfer  in  einer  göttlichen  gigur  fich  entgegengefe|te  ©eiten  berühren,  fo 
bajj  ber  fommerlid)  lidjte  ©Ott  sugleid)  ber  nmtterltdj  bunfle,  ber  fiarfe 
jugleidj  ber  fdEiroadfie  unb  ohnmächtige  ift,  fo  glaubte  man  aud),  bafe  bie 
lichte  Kraft  beS  fommerlidjen  SBuotan  im  SBinter  fraftloS  unb  bunfel 
werbe,  daher  erfcheint  neben  ber  SBorftclIung  beS  fommerlichen  SBuotan,  ber 
mit  ©olbbetm,  Skfinne  Cßanser)  unb  ©peer  burdj  baS  Suftreid)  reitet, 
überall  Seben  erroedenb,  ©egen  unb  ©ebenen  fpenbenb,  aud)  bie  beS 
nnnterltd)en  SBuotan  im  niebergebrüeften,  tief  in'S  ©efidjt  geb>nben  $ur, 
mit  gefenftem  £aupt,  eingenridfelt  in  einen  alten,  fdjäbigen,  blau  unb 
fd^TOars  gefledten  SRantel,  blinb,  bumm  unb  plump.  Qu  Mefer  S?orfteHung 
ift  nun  nach  unferem  dafürhalten  bie  Söfung  unferer  ftrage  ju  fudjen. 
da  ber  Zeitige  3Hicr)nel  nad)  ber  Stefetirung  ber  alten  beutfe^en  Reiben 
an  SBuotanS  ©teile  trat,  fo  mufjten  naturgemäß  aud)  bie  beiben  ©eiten 
beS  SBuotan,  bie  fommerlidje  lidjte,  mädjtige,  fiarfe,  wie  bie  nnnterlid) 


  De»  bentfdje  Hlidjel  mit  feinem  mvttjologifdjen  ^intergrnnbe.   


355 


ob>mädjtige,  fraftlofe,  berbe,  plumpe,  in  Um  übergeben.  2ludj  SDUdjael 
rourbe  als  Sidjtgeftalt  oerefjrt,  roe3l)atb  feine  Äiräjen  meift  auf  Sergen 
ober  erbeten  päfcen  ftanben.  krümmer  von  3Ridjaett3ftrdfjen  ftnben  fidj 
nodj  ju  ©obeSberg  unb  Stegburg,  gerner  liegt  ein  3JKdjaetiäberg  bei 
URunftereifet.  Sßie  äßuotan,  fo  nmrben  aitdj  3Ridjael  ju  @f)ren  geuer 
angejünbet  unb  brennenbe  SRäber  an  feinem  gefte  bie  Serge  l)inabgerotlt. 
SMe  brennenben  SRäber  finb  £inbeutungen  auf  ben  teudjtenben  Sonnen« 
roagen.  2lud)  fiel  ba3  SDtidjaeliSfeft  urfprunglid»  auf  ben  23.  3Jiai,  alfo 
ju  berfelben  3eit,  wo  man  bem  SEBuotan  p  ©b>en  ein  grül)ling3feft  feierte. 
3RU  biefem  gefte  roaren  bie  9Mleb>n  oerbunben.  ©3  roaren  baS  S8olf3« 
b^od)5eiten,  bei  benen  tagelang  gefdjmauft  unb  gejedit  rourbe.  $)tefe 
£ocbjeü3feierlt<$feiten  foHten  an  bie  2?ermäf)lung  SBuotanä  mit  ber  braut« 
Itdjen  ©rbe  erinnern.  Später  »erlegte  man  baS  3Kid;aeli8feft  in  ben 
£erbft,  roeil  man  nad)  eingebradjter  ©rnte  mebjr  3«t  jum  Sdjmaufen  unb 
3ed}en  blatte,  als  im  grüljlmg,  roo  ba§  Saub  befteüt  werben  muffte. 

SEBie  fdjon  oben  angebeutet,  war  SBuotan  aber  audj  Ärieg3gottb>it. 
@r  fonnte  feine  getnbe  taub  unb  blinb  matfjen  unb  fie  fo  in  Sdjreden 
»erfefcen,  bafj  tljre  SBaffen  nidjt  mefir  oerrounbeten  als  9iutb>n;  aber 
feine  -Kannen  brangen  oor  otnte  ^ßanjer,  roaren  roütljenb  rote  &unbe 
unb  SBölfe  unb  ftärfer  als  33ären,  Stiere.  Stelntlidje  SJorfteffungen  »erbanb 
man  fpäter  audf)  mit  bem  fettigen  aKidjaeL  3Kit  gefdjroungenem  Sdjroerte 
badjte  man  ifm  ftdj  an  ber  Spifee  beä  beutfd>en  &eere3  ftef>enb.  SEBemt 
bie  aßen  2)eutfdjen  in  ben  ftrieg  sogen,  fo  riefen  fie  Um  um  &ilfe 
an,  roie  eine  lateinifdie  $mmte  bejeugt.  SHefelbe  lautet  in  ber  lieber« 
fefcung: 

§«808  SRicfjaef, 

Pfr*  £u  bo8  beutfc&e  $eer  in'«  gelb, 

Öergog  SWtcfiaet, 

D  ftefi  uns  gur  «Seite, 

O  tiilf  uns  im  Streite, 

§er}Ofl  W'äiadl 

3)u  unfer  £ergoa  in  bem  Streit, 
SBefdjtrmeft  ftorf  bie  (Sljriftenljeit  u.  f.  to. 
33«8  Rimmels  ©eifter  3<U)t 
aSermebren  deiner  Streiter  3<>&l  u.  f.  ». 
®urd)  alte  2Bdt,  gu  SReer  unb  Sanb 
Sinb  Sehte  @d)tad)ten  moljlbcfcmnt  u.  f.  tt>. 

Stnberroeittge  ©puren,  roie  in  3Kia)ael  bie  ÄrtegSnatur  SBuotanS  über« 
gegangen,  fiaben  rolr  nocfi  in  ben  gedjterfpielen,  bie  bis  ©nbe  beä  vorigen 
Sabjrljunberts,  namentlidi  in  ber  ©egenb  öon  £rier,  mit  bem  SWidjaeliS« 
fefte  oerbunben  roaren.  $n  »ielcn  Rirdjen  unb  auf  Säutencapitäten 
finben  roir  3JUdjael  bab^er  afä  fräftigen  Jüngling  in  friegeTifdier  Lüftung 
bargefteUt,  aber  ob^ne  §elm. 

gerner  galt  SBuotan  alä  gü^rer  ber  abgefdjtebenen  Seelen  unb  als 
©eelenroäger.   «Die  Seelen  ber  ©efaHenen  mürben  t>on  ben  SBalfären  nadj 

«ort  Uni  6«b.  LXXV.  225.  24 


356 


  2lugu(i  IDünfdfe  in  Bresben.   


2Batt)aK  geleitet,  wo  ibnen  SBuotan  entgegenfam,  fic  an  eine  too^Ibefefete 
£afel  führte,  iljnen  SRetb,  bic  gülle  reifte  unb  fic  tägttd)  jum  3eitt>ertreibe 
festen  unb  fämpfen  tiefe.  2lud)  9JUd)aet  ift  ©eetenfüt)rer  unb  Seelen* 
beroaljrer.  Säöt  bod)  fd)on  bie  23i6el  im  ©riefe  beS  3iuba  ben  Erjenget 
9Jlid;ael  fid)  mit  bem  Xeufel  um  ben  ßeidjnam  SJlofiS  ftreiten. 

3fn  gletdjer  2Beife  ift  in  mittelalterlichen  SHdjtungen  »on  einem 
«Streite  ber  Engel  unb  Teufel  um  bie  ausfal)renbe  ©eele  bie  Siebe,  Bon 
benen  $eber  bie  ©eele  für  fidt)  Ijaben  will.  9tn  ber  ©pifce  ber  Enget  fteljt 
gewöfinlict)  ÜRidjael.  Qu  einer  Urfunbe  beS  13.  3af>rt)unDertS  nrirb 
2fiid(aet  ber  2Bäd>ter  beS  ^JarabiefeS  unb  gurft  ber  ©eelen  genannt  (prae- 
positus  paradisi  et  prineeps  animarum).  SRad)  einer  atten  ©age  ift  bie 
©eele  in  ber  erften  9ladt>t  bei  ber  ^eiligen  ©ertrub,  in  ber  jweiten  bei 
©t.  2Jtid)aet,  unb  erft  in  ber  brüten  gelangt  (ie  baliin,  woljin  fic  nadtj 
ibjcm  35<rbienfte  gehört.  £>ie3  jeigt  flar,  wie  bie  'öciCigc  ©ertrub  an 
£ulbaS  unb  üJKdjael  an  SBuotanS  ©teile  getreten  finb.  SBie  nadj  ber 
gried)ifd)en  ©age  Qtuä  bie  ©efdncfe  ber  9Jlenfd)en  in  ©djaten  abwog,  fo 
oerfätjrt  nad)  ber  d}riftlict)en  Segenbe  aud)  9JKcf)ael.  Er  mögt  bie  guten 
unb  böfen  Saaten  beS  ©terbenben  ab,  unb  je  nad)  39efunb  wirb  baS 
©d)i(ffat  ber  ©ee(e  entfdjieben.  ©aber  erfd)eint  SDtüjjael  in  oerfdjiebenen 
Capellen  auf  griebt)öfen  mit  einer  Sßaage,  in  bereu  ©djaalen  je  eine  ober 
mehrere  naefte  ©eelen  fifeen. 

2tm  innigften  aber  berühren  fid)  SBuotan  unb  3Rid)aet  enbtictj  als 
®rad)enfämpfer.  35a  auf  ©runb  bibtiid)er  3tnfct)auung  bie  2eb>e  Bom 
ber  ginfternifs,  non  ber  atten  ©djlange,  bie  SIbam  jur  ©ünbe  oerfülfrte, 
im  d)riftltd)en  Dogma  eine  große  33ebeutung  geroamt,  fo  mußte  oor  OTem 
mit  itjr  bei  ber  Sefebrung  ber  Reiben  eine  3lnrnüpfung  gefudjt  werben. 
SBuotan  bot  biefen  SlnfnüpfungSpunft.  Er  töbtet  im  gruljling  ben  ©rächen 
beS  SBtnterbunfelS,  inbem  er  ben  gfenriSroolf,  aud)  SBanaganbr,  b.  I). 
$>rad)e,  ©d)tange,  beilegt;  baljer  aud)  fein  Setname  ©igi,  ber  bann  in 
©iegfrieb  beS  üfttbelungenliebeS,  in  roeldjem  er  Rd)  .oerjüngte,  wieberfelrrt. 
Slud)  Md)ael  ift  £>rad)entöbter.  SRad)  ber  Offenbarung  beS  ^olj.  12,  7-  9 
ftrettet  er  unb  feine  Enget  im  Gimmel  gegen  ben  Sftadjen,  unb  ber  S>radje 
ftreitet  aud)  mit  feinen  Engeln,  unb  ber  Sefetere  wirb  ausgeworfen  auf  bie 
Erbe,  ber  alte  SDradje,  bie  alte  ©djlange,  ber  Teufel,  ber  bie  SBelt  »er= 
fütjrt,  unb  feine  Engel  werben  aud)  bafjin  geworfen.  SBie  tief  bie  33or= 
ftettung  Born  3JHd)ael  als  ®racbentöbter  im  germanifdjen  ©emütbe  ein* 
gewurjett  war,  bewetft  baS  uns  Stilen  woljlbefannte  ©prüdjtein,  womit  ein 
©eiftlidjer  beS  Mittelalters  feine  $rebtgt  angefangen  f)aben  foH: 

SMe  ©BUe  iummt, 

$er  Icufet  brummt 

Unb  iiocfelt  mit  bem  ©diroanje, 

©t.  VHctael, 

Söei  meiner  @ecl, 

Srftirbt  it)n  mit  bei  Banje. 


  Oer  bentfdfe  JTItd?el  mit  feinem  mytljologtfdjett  Ejintergrntt&e.    357 

Sßie  bie  SSorftettung  oon  Sfiidjael  als  ©radjentöbter  fclfefl  nodj  in  ber 
©egenroart  filnfttcrifc^  au3genü|t  roorben  ift,  jeigt  baS  in  JtarlSrulie  ben  in 
ber  babtfä)en  Sfteoolution  1848  gefallenen  preufjtfdjen  ftriegern  erriäjtete 
3>enfmat.  ©aSfetbe  fteUt  bcn  {»eiligen  -äJUcljael  bar,  fteljenb  'auf  einem 
©radjen,  ben  er  im  SBegriff  ift,  mit  ber  Sanje  ju  tobten. 

2Benn  nur  nun  an  baS  atte  ©ermanien  benfen,  nrie  es  fieben  SDtonate 
lang  unter  ©cfmee  unb  Sis  begraben  tag,  baäu  an  unfere  alten  f)eibnifä)en 
SSorfabren,  bie  mit  ber  Slatur  auf's  ftmtigfte  »erroadjfen  toaren,  fo  barf  eS 
triebt  SBunber  nehmen,  wenn  fte  ifyren  attbelierrfcfjenben  SBuotan  im 
SBinter  fid)  fdjtäfrig,  oljnmädjtig  unb  plump,  tm  gfrülilinge  aber  als  ben 
atte  nribrigen  Staturgeroalten  nieberroerfenben  gelben  fid^  »orftefften.  2ttS 
fpäter  bei  tlirer  ©^riftianijirung  bie  SBuotanSfigur  fidj  in  ben!  ©rjengel 
■äRidjael  umroanbette,  fo  gingen  felbftrebenb  audj  niete  feiner  3ufle  tn  iljn 
über,  unb  fo  ift  es  gefommen,  baf?  er,  als  ber  9tepräfentant  beS  beutfdjen 
SBolfeS,  gerabe  mit  ber  Iräftigen,  berben,  plumpen  (Seite  feines  SßefenS 
un«  ben  «Spottnamen  „beutfdjer  3)tid;el"  jngejogen  Ijat. 


24* 


2>er  VOty. 

€ine  äfttjetifdje  Stubie. 

Don 

jfriebtirifj  fl&egmüUet. 

—  mündjen.  — 

nter  bett  »erf^tebencn  2frten  ber  SorfletlungSöerbinbungen,  burdj 
bie  wir  tljeilS  im  Cogifd^en  ober  biird^  eine  Sucdbejie^ung  ge« 
regelten  ©ebanfengange  ©lieb  an  ©lieb  reiben,  bis  fidj  auä 
gegebenen  3Sorberfäfcen  baS  gefudbte  ©dblufjglieb  ergiebt,  flbeils,  burdj  bie 
lautlidljen  2luSbrudSmtttel  unterftüfct,  ben  gewörmlid&eren  Sebürfniffen  beS 
©ebanfenauötaufdfieS  unb  gegenfeitigen  SterfeljrS  geredet  werben,  nimmt  ber 
SBifc  eine  befonbere  Stellung  ein.  2Bie  feine  Sßirfung  eine  »on  ber  aller 
anberen  Siebeformen  »erfdfitebene  ift,  wie  feine  anbere  ben  beftimmten  pfod&o« 
logifdben  Keffer  fjeroorjubringen  oermag,  ber  ben  SBife  cfjarafterifirt,  fo  fmb 
audj  feine  9Jatur  unb  bie  93ebingungen  feines  3uftanb*fommens,  Quellen, 
aus  beuen  er  entfpringt,  wefentlid)  uerfcf)ieben  ton  ber  normalen  geiftigen 
Sbätigfeit,  als  beren  SBirtung  mir  bie  erwähnten  fonftigen  formen  ber 
^beenuerbinbnngen  betrauten,  ©dbon  baS  fprangfiafte,  bli|arttg  über« 
rafdienbe,  baS  bem  SBüje  notfjwenbtg  innewormt,  beweift  ja,  bafj  l)ier  ein 
oon  ben  gewöfmlidfien  uerfdnebener  geiftiger  Vorgang  ooÜjogen  worben  fein 
mufe;  unb  bafj  biefeS  SBerfwItnif?  audb  allgemein  anerfannt  ift,  beweift  ber 
Umftanb,  bafj  mir  im  Allgemeinen  geneigt  finb,  bie  $ä&igfeit  jum  25H& 
überhaupt  als  SRafeftab  für  bie  geiftige  £öb>  unb  inSbefonbere  für  bie 
natürliche  S3eanlagung  eines  SDlenfcIjen  anzufeilen;  aHerbingS,  wie  mir  weiter 
unten  fct)cn  werben,  md&t  mit  unbebingtem  SRcdrjt. 

®aS  Sfiort  „SBife"  würbe  früher  befanntlid»  in  oiel  weiterem  «Sinne 
gebraust  als  bleute,  ungefähr  in  bem,  ben  baS  engttfdbe  „wit",  fein  ge* 
naueS  Analogon,  nodj  Ijeute  6efi|t:  Ijöljere  geiftige  gäfjtgfeit  ober  Setböttgung 


  Der  Wij$.   


359 


überhaupt,  in  welcher  33ebeutung  baSfelbe  übrigens  auch  bei  uns  noch  nicht 
»öttig  untergegangen  ift.  <So  fielen  beim  früher  namentlich  ßunft  unb 
Äunftgefchmacf  unter  ben  Segriff  beS  SßifeeS;  ju  ©ottfchebs  $eit  unb  unter 
feinen  2lufpicien  erfchien  eine  3^itfd^rift  „SBetuftigungen  beS  SSerftanbeS  unb 
SBifceS"  unb  eine  ehemalige  SftouatSbeitage  ber  33oftifd)en  3eitung,  bereu 
erfter  Seiter  Sefjing  unb.  beren  ftroed  hauptfädfjlich  bie  fchöngeifhge  Rritif 
war,  nannte  fich  „baS  3leuefte  aus  bem  Sieiche  beS  SBifteS".  SHefer  alt 
gemeinen  Sebeutung  ging  inbeffen  baS  SBort  siemlich  halb  ju  ©unften  ber 
heutigen  prägnanteren  oerlufttg. 

©er  2Btfe  beruht,  logifa)  betrachtet,  auf  einer  SßorfteffungSoerbinbung, 
SBie  baä  Urteil,  roie  ber  SSergleidf)  —  bie  beibe  „roüjtg"  fein  fönnen  unb 
fo  beroeifen,  bafj  er  nicht  für  fid»  eine  logifdjje  ©attung,  fonbem  »ielmefir 
eine  logifcfje  Dualität  ift,  bie  »ergebenen  ©attungen  jufommen  fann  — 
fommt  er  baburdj  ju  ©tanbe,  bafj  ju  einer  Sßorftettung  a  eine  SBorftellung  b 
in  33ejtet)ung  gefeftt  nrirb. 

äber  bie  3lrt  biefer  SSejiehung  ift  eine  befonbere.  SBä^renb  bei  ben 
ermähnten  logifcljen  ©attungen  bie  folgenbe  33orftellung  an  bie  »orhergehenbe 
in  einer  burch  bie  objectioe  Siealität  ber  ®inge  bebingten  Sßeife  an« 
flefd§toffen,  alfo  fojufagen  f<f>rittroeife  oon  ber  erften  sur  jroeiten  unb  allen 
folgenden  oorgegangen  nrirb,  gehört  es  gerabe  jur  ©genthümlichfeü  beS 
SBtfceS,  bafj  bie  beiben  burch  ihn  unter  einen  einheitlichen  ©eftchtSpunft  ge« 
trachten  Sßorftellungen  entroeber  überhaupt  tnöjjlichft  roeit  auSetnanber  liegen, 
ober  bocfj  nur  burch  ein  Abgehen  »om  gewöhnlichen  SBecje  ber  affociattoen 
SJerbinbung  ju  Kremigen  finb;  je  biSparater  bie  5ßorfteHungen,  je  mehr 
logifdhe  3"»f<henglieber  ber  SBife  ü6erfprungen  hat,  um  fo  gröfjer  ift  feine 
SBirfung.  6r  überrafcht  bie  £örer,  inbem  er  sroei  fcheinbar  frembe  33or» 
ftellungen  ju  einanber  in  Sejiehung  bringt,  unb  er  löft  jugleich  bie  beroirfte 
Spannung,  inbem  er  roie  mit  einem  blifcarttgen  ©djlag(tcht  bie  an  fich 
bunfle  ©ejiehung  in'«  rechte  Sicht  fefct.  ©arauf  beruht  feine  fomifdhe 
ÜBirfung,  barauS  erflärt  eS  fid»  aber  auch,  bafe  jeber  SBtfe,  ber  burch  ©djulb 
beS  äfotorS  ober  beS  £örerS  nicht  fogteich  richtig  oerftanben  roirb,  ber  einer 
©rflärung  burch  SJilbung  feiner  logifchen  3n>ifthenglieber  bebarf,  rotrfungSloS 
»erpufft.  (Sin  2Bi|  roirft  fpontan  unb  unmittelbar,  ober  baS  33efte  feiner 
SBirfung  ift  oerloren. 

ÜJian  hat  6efannttich  baS  ftomtfche,  »on  bem  auch  ber  Sßtfc  eine 
©attung  ift,  baS  „umgefehrte  @rh<*fone"  genannt.  Dbrooljl  roir  hier  leinen 
Slnlafj  h^en,  auf  bie  eigentliche  ÜMnung  biefer  uneigentlichen  SBegriffS* 
beftimmung  beS  Näheren  einjugehen,  fo  beroeift  fie  uns  boch,  baf5  auch  ber 
2Bi|  eine  ber  formen  ber  äftfjetifchen  SBtrfung  ift,  unb  bafj  man  ju  feinem 
SSerftänbnifj  roie  nodfj  mehr  ju  feiner  ^eroorbringung  ein  geroiffeS  SDlafj 
jener  objecttoen  SetrachtungSart  bebarf,  bie  roir  uns  feit  Schopenhauer  ge« 
roöhnt  haben  als  Äennjeichen  unb  Sebingung  beS  äftbetifäen  ©enuffeS  ju 
betrachten.  ©aS  ift  eS  »or  2Wem,  rooburdh  ber  9Bi|  nicht  nur  geifttg, 


360 


  ifrtebrid)  IDegmälUr  in  Hlündjen.   


fonbern  id)  mödjte  gerabeju  fagen  aud)  moralifd)  über  bic  gett>öb,nttd)eren 
«Rebeformen  fid)  erbebt.  Seilte,  bie  „feinen  ©paft"  »erflehen,  galten  wir 
mit  9ied)t  nidjt  nur  für  geiftig  befcfiränft,  fonbern  aud)  für  moralifd) 
ftemlid)  unb  enfl^erjig,  baS  ertragen  eines  guten  2Bt&eS,  aud)  wenn  er 
auf  bie  eigene  ^ßerfon  fid)  begießt,  gilt  bagegen  als  baS  3eid)en  einer  freien 
9latur. 

„Cid)  tobe  mir  bat  Reitern  SWann 

Sünt  mciftcn  unter  meinen  ©äflen; 

üi-er  ftd)  nidjt  feibft  jum  Seftcn  b,aben  fomi, 

©«fjort  Qctoiö  nicfit  ju  ben  SBtften."  (@oeib>.) 

2Bät>renb  mir  uns,  um  im  ©d)openb,auer'fd)en  ©pradjgebraudi  ju 
bleiben,  bei  ber  2)?ef)r}abt  ber  übrigen  SorfteflungSr-erbinbungen  »ottenb  oer* 
fjalten,  b.  £.  uns  berfelben  jum  3n>ede  ber  ©rreidjung  perfönlidjer  ober 
fdd)ltd)er  Qntereffcn  bebienen,  »ermatten  mir  uns  im  Slugenbltd  ber  £en>or* 
bringung  ober  2tuffaffung  eines  SßtfceS  rein  erfennenb.  33ebingung  beS* 
fel6en  ift  -barum  ein  geiftiger  3«ftam\  ber  nid)t  uöllig  in  ben  Sejieljungen 
beS  SBtllenS  ju  ben  bebanbeltcn  Dbjecten  aufgebt,  fonbern  ber  oermöge 
einer  glücfliä)en  33eanlaguug  unb  augenbltdlidjen  $)iSpofttton  nod)  objecti» 
genug  bleibt,  um  mitten  im  ©piet  ber  33ejiel)ungen  jnrifdjen  ^ntereffe  unb 
Dbjecten  bod)  nod)  foldje  bigparate  SBesielnmgen  ber  Dbjecte  unter  einanber 
ju  ftnben,  bereu  Bereinigung  bie  beraubte  SBirfung  beS  ßomifdjen  ljeroor= 
bringt.  Stuf  biefer  Bebingung  ber  geiftigen  Seberrfdjung  ber  Sage  beruht 
ber  SluSbrud  vom  „fouweränen  SBifee";  unb  es  ift  flar,  bafj  ber  SBertb  beS 
SßifceS  um  fo  ljöb,er  ift,  je  roidrttger,  je  infjaltSnoller,  je  mef>r  ©etft  unb 
SBillen  auf's  £öd)fte  anfpannenb  bie  äufeeren  Umftänbe  finb,  unter  benen 
er  entfteb,t.  $>urd)  SFlicrjtö  beroieS  j.  3?.  23iSmard  feine  oöHige  $eb>rrfdjung 
aud)  ber  fdjnnerigften  unb  beifelflen  Situationen  mefir  als  baburd),  baf?  er 
in  tb^ten  trofc  b,öcbfier  geiftiger  Stnfpanmmg  immer  nod)  ©elegenb>eit  ju 
feinen  berühmten  beijjenben  ©arfasmen  fanb.  ©o  ift  ber  3Bifc  ein  fteineS 
Äunftroerf  unb  tb>ilt  mit  jebem  äflb,ettfd)en  Sßrobuct  baS  SJorredjt,  jroedloS 
ju  fein;  feine  SBirfung  gebt  uerloren,  fobalb  man  bie  3lbfid)t  babei  merft. 
©r  »erhält  fid)  barum,  bilblid)  ju  fpred)en,  jur  geroötmtidjen  Jieberoeife  wie 
ber  ©efang  jur  ©pradje,  nrie  baS  ©piet  jur  ernften  SügeSarbeitj;  er  ijt 
ein  ,geu  d'esprit",  ein  „fpielenbeS  Urteil".  SRidn"  einmal  auf  ben  SBifc 
feibft  barf  bie  2lbft<f)t  gerietet  fein,  fonbern  im  ©egentljeit  wirb  er  fiets 
um  fo  beffer  roirfen,  je  meb,r  er  »öllig  ungefucgt  unb  ungefünftelt  auftritt 
—  roaS  unfere  ©pradje  nadj  jeber  9ftdjtung  treffenb  djarafteriftrt,  wenn 
fie  in  biefem  galle  »on  einem  „guten  ©tnfaH",  im  anbern  aber  »on  einem 
„gequälten  SBtfce"  fpridjt. 

©ine  früher  oiel  gebrauchte  ©rflärung  beS  SBifceS,  ber,  metm  nrir 
nidjt  irren,  aud)  nod)  ^ean  Sßaul  juftimmte,  lautet,  ber  SBife  beruhe  auf 
einem  ©ontraft.  SBill  man  biefe  ©rflärung  bab,in  »erfteben,  ba&  unter 
biefem  „©ontrafte"  eben  jene  3n*33ejieb)ung*©e6ung  meit  auSeinanber 


  Der  ttHfc.   


Iiegenber  33orftetfungen,  oon  ber  roir  fprad)en,  gemeint  fei,  fo  laffen  roir 
uns  biefelbe  um  fo  lieber  gefallen,  als  fte  ju  einer  fefir  brauchbaren  @in* 
Teilung  ber  SSifee  fül)rt.  ©ie  oermittelnbe  23esiet)ung,  bie  roir  als  baS 
(Sfiarafteriftifum  beS  2Bi|eS  betrauten,  fann  nämlid)  entroeber  burd)  eine 
blofie  ^fmlid)teit  ber  bie  betreffenben  Segriffe  bejeidinienben  SBorte,  ober 
fic  famt  burd)  eine  in  ben  betreffenben  SSorfteffungen  felbft  liegenbe  2tefm* 
feit  t)erbeigefüf>rt  werben.  %m  erfteren  gaffe  Ijaben  mir  ben  2ßort*  ober 
Älangrotfc,  im  jroeiten  ben  eigentlichen  unb  ed)ten  2Bifc,  ben  man  oon 
feinem  unebenbürtigen  Sruber  roof)l  aud)  als  ,,©ad)roi6"  unterfd)eibeit 
fömtte. 

$>er  SBortroij}  ift  unftreitig  bie  nieberfte  aller  SBtkgattungen,  wie  au« 
feiner  ©ntfteljung  aus  btofjer  Sautäljnlidjfeit  unmittelbar  f)eroorgel)t  urtb 
roeSljatb  er  f)äuftg  unfreiroiHig.  ben  Äinbern  beffer  gelingt  als  ben  meljr 
auf  fad)lid)e  23e$iet)ungen  feb,enben  ©rroadjfenen.  Gfmrafteriftii'd)  genug  ift 
es  aud),  bafj  faft  jebe  <5prad)e  trjre  eigene  befpectirlidje  2<e*eid)mmg  für 
ifm  i>at  —  Galembourg,  Äalauer  — ,  unb  baf?  feine  ßäufigfeit  metjr  im 
umgefelirten  als  im  geraben  3Serr)ättni§  ju  feinem  äftt)jtifd)en  2Bertt»e  ju 
fteb>n  fdjeint.  Gr  ift  baS,  roaS  ber  berliner  fo  red)t  treffenb  einen  „faulen" 
SBife  nennt  —  obroof)l  boshafte  ^roöinjler  gerabe  ben  ^Berlinern  eine  ge« 
roiffe  SSorliebe  für  biefelben  nadijufagen  pflegen. 

®ieS  ift  ein  allgemeiner  Gbarafterjug  beS  heutigen  ©roffitäbterS,  über 
beffen  pfod)otogifd)e  Urfadje  roir  roeiter  umen  3lnlaf3  haben  werben,  uns 
nod)  beS  9?äb,eren  ju  oerbreiten 

„Söifce"  biefer  2lrt  finb  unfern  Sefern  ju  oiete  befamtt,  als  ba§  roir 
fie  mit  einer  Stufjäljlung  einiger  berfelben  ermüben  bürften;  fei  uns  nur 
geftattet,  einen  ber  affer„btutigften"  £»ier  als  SnpttS  ber  ©attung  ju 
bringen,  ber  fid)  roie  fo  otele  anbere  auf  politifcfe  ©reigniffe  jüngfter 
3eit  bejie^t  unb  „natürlich"  aud)  33erlin  jur  ©eburtsftabt  f)at:  SUSmarcf 
fd)eiterte  am  Gap  9liot,  unb  Gaprioi  oerbrannte  an  ber  £ol)enlol)e! 
UebrigenS  fann  ber  Ätangrott?,  namentlid)  in  feiner  Häufung,  p  einet 
rebnerifd)  ferjr  roirfungSooffen  gigur  roerben,  roie  j.  33.  in  musterhafter 
SBeife  bie  befannte,  bem  Abraham  a  Santa  Elara  nad)gebilbete  Äapujiners 
prebigt  in  „SBaffenfteinS  Sager"  jeigt: 

„Unb  bat  rimifcfc  SReitn  —  ba&  ©Ott  erbarm! 

©oflte  b>t&fn  ein  römifd)  2Trm. 

Da  SRIjeinftrom  ift  qeroorben  }U  einem  Sßeinftrom, 

$ie  ftlöfter  finb  auSflenommtne  SReflet, 

£te  SiStbümer  finb  üertoanbelt  in  SBüfttb,  unter', 

Die  SIbteien  unb  bie  Stifter 

©inb  nur  Waubtbeien  unb  3>ieb8flüfter, 

Unb  alle  bie  aeffflwten  beutfcnen  Sänber. 

@inb  bernxmbelt  morben  in  Stenber  u.  f.  f. 

®a  ber  SBortroifc  ftd)  an  red)t  eigentlich  natoe  ©eelen  roenbet,  fo  be* 
tuljt  ein  gutes  Zfytil  beliebter  Äinberräthfelfcherje  auf  itim.   9BaS  für 


362  ■         friebridf  UJegmfiHet  in  OTündjen.  

(Stiten  trlitfen  SBier?  ble  ©tiuventen.  SEBaS  für  Dringe  Fmb  nidjt  ruitb? 
bic  geringe.  SßeldjeS  ©emaä)  liebt  bet  2Renfdj  am  meirigflen?  baS 
Unsgemaä)  u.  f.  f.  —  ©djerje,  bereu  ©ebraud)  allerbingS  unfere  „reifere 
Sugenb"  doh  ijeute  fdjon  mit  bebenfltdjem  Slafenrümpfen  begleiten  mag. 

9Jttt  bem  SBorrroüje  oerroanbt,  aber  bod)  nidjt  o&ne  SBeiiereS  mit  ifmt 
ju  ibentiftciren  ift  baS  SBortfpiel,  baS  tooljl  in  feinen  fdjledjteren  SSertretern 
nodj  Ijierlier  gehört,  in  ber  Sieget  aber  bod)  fd»on  ber  jroeiten  ©ruppe, 
bem  „©admnfc",  äujutf)eilen  ift;  ber  ©leidjflang  tami  liier  bic  Pointe 
oortljeifljaft  »erftärfen,  aber  er  bringt  jie  ttid^t  eigentlid)  b>n>or.  SBäljrenb 
ber  SBortnrifc  barauf  beruht,  bafj  jtoei  »erfdjiebene  Segriffe  burd)  SBorte 
gleiten  ober  äfytlidjen  ÄlangS  auSgebrüdt  werben,  werben  Ijier  unter 
einem  ©ompler  »on  SBorten  jroei  ganj  oerfd)iebene  Sßorfteßungen  jufammen* 
gefaxt  unb  fo  bie  fomifdje  SBirfung  erjielt.  £>a$  SBortfpiel,  namentttdjj 
wo  eS  fid)  in  rafdjer  Siebe  unb  ©egenrebe  fdjlagfertig  einftetit,  ift  fo 
red)t  bie  Ijödjfte  gorm  beS  SBifceS,  ber  eigentliche  ^rüffiein  ber  bem 
roifcigen  Äopfe  jugefdjriebenen  Pieren  33egabung.  -Dieifter  berfetben  finb  j.  33. 
alle  ©fiafefpeare'fdien  ©eftalten,  bie  ib>  ©d)öpfer  entroeber  mit  pb^ilofop^ifcb^ 
betradjtenber  ober  mit  intrtgatttsoerfdjlagener  ßfytraneranlage  ausgefluttet 
$at.  „UnS  3ltten  iffs  gemein  ju  fterben,  lieber  ©o§n,"  fagt  Hamlets 
eb^roergeffene  3Jhitter,  bie  tyn  mit  biefer  nidjtsfagenben  Sanalität  baS  Stuten 
Aber  beS  SaterS  rätfifettjafUrafdjeS  &infd>eiben  unb  ti)re  ^anblungSmeife 
oergeffen  madjen  toiE.  „3a,  fjolje  grau,  es  ifi  gemein,"  lautet  bie  botdj* 
fd)arfe  Slntroort.  &ier  finb  bem  äufjern  2tnfd)eine  nad)  betbe  ©predjenben 
ganj  einig,  inbem  fie  fid)  jwm  2luSbru<f  tyrer  ©ebanfen  genau' beäfelben 
SBortcomptereS  bebienen;  möb^renb  aber  bie  SRutter  bie  SBorte  im  eigenfe 
lidjen  ©tnne  gebraust,  Ijat  Hamlet  burd)  leiste  Seränberung  in  2tuSbru<I 
unb  ©eberbe  aus  benfelben  SBorten  eine  fernere  Slnflage  gegen  feine 
3Rutter,  il)r  nermut^eteS  ©noerftänbnifj  mit  bem  Sföörber  unb  bie  ©djänb= 
lidjfeit,  biefen  fo  rafdj  nad)  bem  ßinfdjeiben  ü)reS  erften  ©atten  gu 
l)eiratb>n,  erhoben.  „Tou  '11  soon  find  me  a  grave  man,"  fagt  ber  mit 
bem  Segen  fd)lagfertige  9Kercutio,  als  feine  greunbe,  bem  leidet  aufs 
flammenben  ßifcfopf  im  Innern  jürnenb,  Um  fdjroeroernjunbet  com  flampf* 
plafee  wegtragen.  £)a3  fönnte  b^eifjen:  werbet  balb  —  viz.  @urem 
SButtfdje  entfpredjenb  —  einen  burd)  foldje  Erfahrungen  gefegten  SDiaim  in 
mir  finben;  ber  roirflidje  ©imt  ift  aber  rooljl  ber:  werbet  balb  finben, 
ba§  id)  ein  2flann  beS  ©rabeS  geroorben  bin  —  roeldje  ®eutung  ja  be- 
lamttlid;  ber  Ausgang  beftätigt.  <3o  fann  man  bemt  allgemein  baS  SBort* 
fpiet  mit  feinen  »erfdjiebenen  in  einanber  überge^enben  Slntioorten,  bem 
©oppelfinn,  ber  Sroeibeutigfeit  u.  f.  f.  als  jene  SBifegattung  beieidmen, 
meldte  burd)  3ufammenfaffung  »erfdiiebener  —  ridjtiger:  red;t  weit  oon 
einanber  abfte^enber  —  33orfteffungen  unter  baSfelbe  3Bort  ober  benfelben 
2Bortcompler  entftebj.  33ei  einiger  aufmerffamfeit  ift  biefer  3ufammen« 
b^ang  aud;  bei  fdjeinbar  »ermidelter  Sage  leia)t  ju  erlernten.   SBemt  j.  9. 


  Der  tDift.   


363 


23iSmarcf  auf  bic  entfette,  nebenbei  einen  erbebtictjen  Srrtbum  in  fidj  ent« 
baltenbe  Sfotwort,  mit  bet  3!ule3  ??a»re  bie  SDlitt^eilung  von  ber  &öfje  ber 
beutfdjerfeitS  geforberten  JWegSentfdjäbiguug  empfing:  fo  groß  fei  ja  nidfjt 
einmal  bie  ©umme,  bie  ficö  aus  bem  befannten  Stedjenbeifpiet  »on  bem 
©rtrage  beS  feit  ©briftt  ©eburt  auf  3inS  unb  3wfeSjtnS  gelegten  Pfennig 
ergebe,  mit  2lnfpielung  auf  bie  ©onfefüon  feine«  finanziellen  23eratberS  bie 
äfotroort  gab:  „®rum  b^ab  ic$  mir  ja  einen  mitgenommen,  ber  f<|on  »or 
GbriftuS  angefangen  I»at  ju  5äb>n"  —  fo  liegt  £»icr  baS  gleiche  %kx* 
bältnifj  cor.  SÖlit  ber  »on  §a»re  aufgenommenen  SBenbung  „jäblen  feit, 
beim,  »or  ©fnifti  ©eburt"  f)at  23iSmar<f  einen  burdjauS  »om  urfpriing* 
liefen  »erfd&tebenen  ©inn  »erbunben  unb  fo  ein  SBortfpiel  »on  febjr 
fomtfdjer  SBirfung  b>n>orgebradjt,  berounberungSroürbig  »or  3Wem  wegen 
ber  mistigen  unb  einen  gewöhnlichen  SnteHect  »öllig  abforbirenben  Um- 
ftänbe,  unter  benen  eS  ju  ©tanbe  fam.  Sei  biefer  ©ruppe  brauet 
übrigens  ber  mit  »erfdjiebener  23ebeutung  gebrauchte  2Bortcomple?  feines« 
wegS  immer  auSgefprodjen  p  werben.  2Betm  }.  23.  jener  SBiener  feinem 
neuen  Sefannten  fagt:  „2Bie,  ©ie  geben  gern  allein?  ©anj  mein  gfatl; 
ba  fömten  mir  ja  jufammengeben"  —  fo  liegt  ber  28i|  ffiev  in  ber  9tn« 
wenbung  beS  unauSgefprodfjenen  ©runbfafeeS:  „Seute  mit  gleichen  Steigungen 
eignen  fldf»  ju  gemeinfamen  ©pajiergängern"  gerabe  auf  ben  gaH,  auf  ben 
ber  9ktur  biefeS  gfalleS  wegen  feine  3lnroenbung  nidjt  fiattfittben  fomüe. 
2ttfo  auc^  ^icr  jeigt  iteb,  bafj  baS  ©igentbümlicbe  beS  SBifeeS  in  ber  über» 
rafebenben  Bereinigung  unpfammengeljöriger  SSorfteHungen  benu)t.  ©elbfc 
»erftänbticb  gehört  bierber  audj  jenes  ©enre  »on  SEBifccn,  bei  bem  nadj 
bem  befannten  SBort  33ottaireS  3JJandien  audj  baS  fctjalfte  nodj  als  wifctg 
erfebeint,  fofern  fyex  niebt  ber  $)oppel|inn  »on  »ornberein  jur  ©nbeutig* 
feit  wirb. 

3)a  ber  „©aebwifc"  tebigtieb  in  ber  $erfteHung  »on  23ejiebungen  ber 
bargelegten  2lrt  jwifeben  33or|Mungen  beflebt,  fo  folgt,  bafe  berfelbe  unter 
Umftänben  ber  fpradjlidjen  33erftänbigungSmtttel  entbebren  fann,  fofern  bie* 
fetben  nämlicb  auf  anberem  —  j.  23.  mimifeben  SBege  —  eben  fo  gut  jur 
2tnfäjauung  gebraut  werben  fömten.  ©o  bejeiefmen  wir  eS  ebenfalls  als 
2Bifc  —  ty.ee  freilid)  als  unfreiwilligen  —  toenn  jwei  9fa<btroäcbter  einen 
jingenben  ©tubenten  in  ber  9tacbt  mit  fidb;  auf  bie  2Ba<$tftube  fcbleppten 
benfelben  bort  jum  ©fat  einluben,  bann  aber,  als  jener  ttjnen  ju  „mogeln" 
fdjien,  ibn  entrflftet  bmauSroarfen  —  jur  großen  greube  beS  fo  entronnenen 
Häftlings.  35er  allgemeine  ©runbfafe:  „2Ber  mogelt,  wirb  bmauSgemorfen," 
ifl  fytx  in  fomifeber  2Beife  fttflfcbweigenb  unb  tbätlicb  eben  auf  ben  gall 
angewanbt  worben,  ber  feiner  9tatur  nacb  bie  Sforoenbung  beSfelben  tridjt 
geflattert  fann.  ©in  febr  guter,  mit  2lbfidjt  gemaebter  2Bife  berfelben  3lrt 
ift  es,  wenn  jener  Sßapft  beS  3JUttelalterS  einem  SJirtuofen,  bejfen  Äunft 
barin  beftanb,  mit  Sinfen  unfeblbar  genau  burdj  ein  SRabelöbr  ju  werfen 
unb  ber  ftdj  eine  große  ©umme  als  23elobnung  für  feine  toft  erroartet 


364 


  ^riebrid)  tDegmflller  in  Ittün^en.   


botte,  ftott  beffctt  eine  —  grofje  ©Rüffel  Äinfen  überreifen  tiefe,  Umt  ba« 
mit  ad  oculos  bemonftrirenb,  wie  §0$  er  ben  SBertf)  feiner  Runft  fdjöfce. 
©er  fomifdje  „©ontraft"  beftebt  l)ter  in  ben  fo  entfernten  SSorjMungen  ber 
erwarteten  unb  ber  nrirflidj  erhaltenen  ©abe.  2lud)  bie  treuen  SBeiber  von 
SBeinäberg  matten  einen  ©djerj  ber  gleiten  2trt,  als  fie  auf  ben 
33efdjeib  be8  &aifer§,  fie  mödjten  au§  ber  jum  ©türme  beftimmten  ©tabt 
ba8  mit  ftd^  b^erauänefimen,  roaS  tfmen  am  Iiebften  fei,  ber  Segenbe  nadj 
jebe  mit  ibrem  -Kanne  auf  bem  SRüden  aus  ber  guten  ©tabt  SBeinsberg 
jogen;  betm  gerabe  ber  gall  mar  ber  SJleinung  be3  faiferltdjen  ©prud&eS 
nadj  auSgefdjloffen.  UebrigenS  gilt,  mai  b,ier  von  „unfreimifligen  2Bttjen* 
gefagt  ift,  für  fämmtlidje  btät)cr  ertoäbnten  ©artungen  beSfetben;  benn  im 
^inbliö  auf  bie  fomifdje  SBirfung  madjt  e3  offenbar  fetjr  wenig  aus,  ob 
biefelbe  mit  ober  obne  Slbfidjt  fjerbeigefübrt  nmrbe.  9tur  pflegt  babet,  ba 
ber  unfreiwillige  SBife  in  ber  9?eget  aus  einem  SRangel  an  SBtffen  ober  an 
©dtfagfertigfeit  benrtrgebt,  bie  £etterfeit  fidf)  geroöfmlidj  ttidjt  aud»  auf  bie 
©eite  ju  erftreden,  bie  fie  erjeugt  bat. 

Unter  ben  Segriff  be3  mtmtfdjen  SBUjeS  fallt  natürltdj  audj  bie  pan« 
tomimtfdje  ©arftettung  unb  fomifdje  Uebertreibung  ber  ©eberben  unb  ©predj« 
roeife  beftimmter  ^erföntidtfeiten,  bie  fd}aufpielerifd}e  ©aricatur,  bejro.  itire 
grapbifdje  ©arftedung. 

$>ie  Bereinigung  bisparater  33orfMungen,  bie  mir  als  ba$  ©barafte* 
rifticum  be§  SBifees  fennen  gelernt  baben,  fann  fidj  unter  llmfiänben  audj 
auf  eine  blo&e  93ergleidjung  6efdjränfen.  3)ieS  ift  namentlid)  in  ber  SBeife 
bäufig  ber  gaH  —  unb  ber  foml|"djen  Sßirfung  ftd>er  — ,  ba|  fidj  bie  SSer* 
gteidjung  an  beftimmte  ©igentbümlidjfeiten  einer  5perfon  ober  ©adje  beftet  unb 
biefelbe  burdj  eine  braftifdje  SBergleidjung  läd)ertid)  madjt.  ©o  entfielt  ber 
djarafterifirenbe  SBife.  2ludj  für  tt)n  Tmb  bie  ©eftalten  ©bafefpeareS  eine 
unerfd)öpflidje  fjunbgrube,  vox  ^Wem  ber  biebere  ©ir  3obn,  ber  bei  aller 
eigenen  fittlidjen  ©efunfeitfiett  bod)  ein  fdiarfe«  3luge  für  bie  ©djroädjen 
feiner  9lebenmenfd)en  unb  eine  unerfd)öpfltd)e  ^Bt)antafie  in  ber  £erbeisiebung 
ber  fomifdjften  Sergleidje  befifet.  SDJan  böre  nur  bie  fdner  unenblidje  Steide 
ber  roifetgften  Silber,  mit  benert  er  feinen  greunb  unb  feinen  3e#n»ber, 
ben  faben  tpf)Uiftcr  griebenäridrter  ©balloro  unb  ben  eroig  burjtenben,  rotb* 
nafigen  Sarbotpb  peififlirt!  „tiefer  fdjmädjtige  ^riebenäridjter  bat  mir 
in  ©inem  fort  oon  ber  SKHlbbett  feiner  Qugenb  oorgefdmwfet,  unb  um'S 
brüte  SBort  eine  Süge,  bem  3ub8rer  rtdrtiger  auäbejabtt  als  ber  Tribut 
bem  ©rofjtürfen.  3fdj  erinnere  mtdj  feiner  in  ©temenSbof,  ba  mar  er  wie 
ein  SWäimdjen,  nadj  bem  ©ffen  auä  Ääferinbe  perfertigt;  wenn  er  nadt 
mar,  fab  er  natürtid)  aus  roie  ein  gefpaltener  SWetttg,  an  bem  man  mit  bem 
9Wejfer  ein  läd)erlid)e3  ©eftdEit  auSgefdjnüjt  bat;  er  mar  febr  fdmtädjtig, 
ba§  ein  ftumpfeS  ©efid)t  gar  feine  ©reite  unb  ©idte  an  ibm  unterfcbeiben 
fonnte."  Dber  gar  erft  Sarbolpb'.  „Seffere  T>u  ®ein  ©etld^t,  fo  nnll  id) 
mein  Seben  beffern.    ©u  bift  unfer  3lbmiralfd)iff,  ©u  trägft  bie  Saterne 


  Der  rOifc.   


365 


am  ©teueroerbecf,  aber  fie  ftetft  ©ir  in  ber  SRafe,  ©u  bift  bcr  SRilter  von 
ber  brettnenben  Sampe."  ,,3d)  feb>  ©ein  ©efid)t  niemals,  ohne  an  ba3 
$ötlifd)e  3*uer  $u  benfen  unb  an  ben  reiben  2Wann,  ber  in  Sßurpurfleibern 
lebte,  benn  ba  fifct  er  in  feiner  Xxafyt  unb  brennt  unb  brennt.  SBärft 
®u  einigermaßen  ber  £ugenb  ergeben,  fo  wollte  id)  bei  ©einem  ©eftd^te 
fd)roören,  mein  ©djmur  foflte  fein:  bei  biefem  flammenben  6berubfd)werte! 
2lber  ©u  liegft  ganj  im  Slrgen,  unb  wenn  e3  nicht  ba3  Std^t  in  ©einem 
©eftdjt  tf)äte,  fo  roärft  ©u  gänjlid)  ein  Jttnb  ber  ginfterntfj.  D  ©u  bift 
ein  beftänbiger  g-acfeljug,  ein  unau§löfd)ltche3  greubenfeuer!  ©u  b^afi  mir 
an  bie  taufenb  'SJfarf  für  Äerjen  unb  gacfeln  erfpart,  wenn  id)  mit  ©ir 
9tad)t3  »on  ©djenfe  ju  @d)enfe  wanberte:  aber  für  ben  ©ect,  ben  ©u 
mir  babei  getrunfen  ^aft,  blatte  id)  bei  bem  tfjeuerften  £tä)ter}iet)er  »on 
(Suropa  ebenfo  wohlfeil  8id)ter  b^aben  tonnen,  ©ett  jroeiunbbreifeig  fahren 
nunmebr  b^abe  id)  biefett  ©einen  ©alamanber  mit  geuer  unterhalten,  ber 
Gimmel  lotme  e3  mir!" 

SBeld)  unerfd)öpflid)er  ©turjbad)  »ön  3Retapl)ern,  jebe  ein  bei&enbeä 
©pigramm!  Qn  ber  £b>t  ift  biefe  klaffe  beä  2Bifee§  red)t  eigentlich  bod) 
bie  epigrammatifdje;  unb  es  ift  bejeicfntenb,  bafj  einer  unferer  beften 
(Spigrammattter,  ber  lange  nid)t  nad)  ©ebühr  gefd)ä|te  £aug,  ber  Qugenb* 
freunb  ©chillerä,  einen  älmltdjen  SJorrourf  sunt  3$ema  einer  großen  SReitjc 
rosiger  ©pigramme  gemacht  §at.  2Bir  meinen  feine  „Epigramme  auf 
£errn  SBaljte  ungeheure  Jlafe".  SltlerbingS  ift  bei  ihm  felbftftänbigeS 
bid)terifd)e§  ©rjeugnijj,  waS  bei  ©^afefpcare  fo  ganj  beiläufig  unb  neben» 
her  a6fällt. 

Unter  ben  33egriff  beä  2Bi|e3  im  weiteren  ©inne  fällt  aud)  bie  unä 
SUIen  geläufige  ©prediweife  ber  $ronie.  ©ie  wirb  gewöhnlich  balnn  ers 
läutert,  ein  fjall  ber  Ironie  fei  bann  gegeben,  wenn  bie  äußere  gorm  beS 
£obe§  gewählt  werbe,  um  bamit  befto  nad)brüdflid)er  unb  wirffamer  einen 
£abet  auäjufpredjen;  wie  man  fieht,  liegt  babei  ber  fomifdje  Sontrafi  in  bem 
©egenfafe  jwifdjen  bem  wörtlich  auSgebrüdten  unb  bem  in  SEahrheit  b'eab» 
ftd)tigten  ©inne.  ©iefc  ©rflärung  ift  inbefe  ohne  Bweifel  5"  eng;  mir 
fpredhen  nid)t  minber  bort  oon  ftro nie,  wo  ber  SBortlaut  tabelt,  ber  be* 
abfichtigte  ©inn  aber  als  Sob  5U  oerftehen  ift.  @8  ift  fronte,  roenn  id) 
einen  93etrüger  einen  ©entleman,  einen  unreifen  ©tdjterling  einen  jungen 
©oethe  nenne,  unb  unjählige  SBenbungen  unb  9teben§arten  bes  täglichen 
SebenS  gehören  ju  bieier  Kategorie  @3  ift  aber  ebenfo  gut  Ironie,  roenn 
3Jlarc  9lnton  an  ber  93ab,re  be3  ermorbeten  ßäfar  fcheinbar  bie  ©tünbe  ber 
3Körber  anertennt  unb  ben  Gäfar  einen  $etnb  beS  SBolfeS,  einen  geinb  ber 
Freiheit  nennt,  um  in  biefer  2Ka3fe  feine  wahre  9J?einung  befio  einbringlicher 
ju  oerfünbigen.  2l(Ierbing3  wirb  —  unb  bas  gab  ohne  Sw«fef  h*«  btn 
©runb  ju  jener  ermähnten  einfeitigen  ©efinition  —  bie  erfte  2lrt  ungleich 
häufiger  gebraucht  als  bie  jroeite;  benn  ber  3Wenfd)  liebt  mehr  ju  tabeln 
alg  ju  loben.   3^onie  ift  e§  aber  aud),  roenn  man  eine  auSgefprocfiene 


366    ^riebridf  rDegmflller  in  ntfindjen.   

SBefyouptung  baburdfj  ju  entkräften  fudfit,  baß  man  ifir  fcfjeinbar  jujrimmt, 
bann  aber  baburdfj,  ba&  man  bie  ßonfequenjen  berfetben  in  läcijerlid&er 
SBeife  übertreibt,  if>re  Siicfjtigfeit  bartljut.  @o  wirb  Dnfel  Sräng, 
wie  fo  oft,  ironifcf),  wenn  er  bem  jungen  4?errn  »on  Slambow,  ber 
feine  frifdfj  gelernte  33üdfierwei«fieit  fofort  nadfj  Antritt  feine«  ©ute«  in  bie 
grätig  übertragen  will,  bie  ^ttufionen  ju  jerftören  fud^t  mit  bem  SBemerfen, 
ja  roor)I,  fo  macfjen  mir1!*,  unb  auf  jene«  $elb  oort  pflanjen  mir  Sterinen, 
unb  bie  siofinen  freffen  bann  bie  ©cljioeine;  ba«  gebe  bann  einen  guten 
©cfjroetnebraten! 

Dber  richtiger,  er  würbe  farfaftifd).  Denn  ber  @arfa«mu«,  in  allem 
SBefentlicfjen  wefen«ein«  mit  ber  ^onie  unb  begrtffttdj  in  feiner  SBeife 
»on  i^r  ju  trennen,  unterfd)eibet  ficfj  »on  ber  Ironie  burcfj  bie  unmittelbare, 
aggreffioe  33ejiefmng  auf  eine  beftimmte  Sßerfon;  er  ifi  bie  Ironie,  bie  „bifng" 
unb  „ftadjettg"  geworben  ift  <5r  miß  nicf)t  tiarmlo«  fd)erjen  ober  mit  ber 
Sßeitfcfie  fotogen,  fonbern  »errounben.  Darum  ift  ber  ©arfaSmu«  naments 
tidfj  bort  am  ^ßlatse,  wo,  wie  j.  33.  im  polttifcfjen  Seben,  Ijöljere  Seiben* 
fc&aften  unb  ^ntcreffen  audj  bie  2lnmenbung ,  fcfjärferer  getftiger  SEBoffen 
red&tfertigen.  ©o  bieten  bie  „^fliegenben  33lätter"  fiarmlofe  Sronieen,  ge» 
milbert  burcf)  &umor,  unfere  polttifcfjen  SBifeblätter  beißenben  ©arfaSmu«. 
6lne  wunberbare  ^ßrobe  farfaftifc^er  Sleberoeife  bietet  un«  audfj  b,ier  roiebet 
©Ijafefpeare  in  ber  berühmten  Seicfjenrebe  be«  3Ratc  9lnton  auf  ©äfar,  bie  mir 
foeben  erft  erroäfmt;  unb  beren  SBirfung  ber  ©ang  ber  ©efdf»icf)te  bejeugt: 
„Unb  S3rutu8  ift  ein  efjrentoertfjer  SWonn  — 
©o  ftnb  fte  Mt,  mit  e^reiaoert^e  SHömtfr." 

©o  —  wie  33rutu«  nämücf). 

2öirb  bie  ben  ©arfa«mu«  bitbenbe  2tntl)iiefe  auf  ein  paar  fnappe 
Sßorte  jufammengebrängt,  roomögtlcfj  nur  auf  jwei,  fo  entfielt  ba«  »on  ben 
Sitten  fogenannte  Drnmoron.  „@tn  bunfler  ©fjrenmann",  „eine  biebm 
©algenoogelptiofiogttomie",  ferner  9?eben«arten  wie  „eine  gro&e  S^nft 
hinter  ficlj  f>aben",  ba«  „Smmer  weiter  nadfj  granfreicfj  fnnemgejtegt  werben", 
womit  man  fo  treffenb  bie  anfänglichen  franjöfifd§en  ©iege«beridfjte  »on 
1870  perfifltrte,  unb  »iele«  met)r  gehört  b,ieb,er.  SBirb  enblicb,  ein  ganjeS 
fünftlerifcfje«  SBerf  fo  angelegt,  baß  e«  biefen  Sebingungen  genügt,  bient  ber 
ganje  SBortlaut  eine«  23udje«  nur  baju,  bie  baliinter  ftecfenbe  wabere  SHeimmg 
be«  23erfaffer«  umfo  beutltcfier  fyeroortreten  ju  taffen,  fo  fjaben  wir  eine 
ganj  auf  bie  logifdf>e  Function  ber  Ironie  gegrünbete  tunftlerifcfie  ©attung 
»or  un«  —  bie  fatmfd)e  Dicfjtung.  ein  SRabelai«,  ein  SKriftoptiane«,  em 
©roift,  ein  ^cine,  ein  ßeroante«,  —  ade  biefe  3Jieifter  ber  ©attre  ftnb 
jugleid)  in  unferm  ©inne  Qronifer  im  työcfjften  unb  beften  ©tnne  be«  SBorte«. 
Da«  gewaltige  SBerl  be«  ©eroante«  unb  bie  Ironie  be«  täglichen  Seben« 
mögen  ndj  nod^  fe^r  unterf Reiben  bjnficfjtlicf)  ber  geiftigen  ^ätigfett,  bie 
in  Urnen  jum  3lu«brucf  fommt  —  b^infic§tlic§  ib,rer  logifcb,en  Staffifxcirung 
ftnb  fie  »ötlig  gleid^. 


  Der  n?ifc.   


367 


2Bir  |aben  oben  bereits  in  Äutjem  bie  getftige  ©iSpofitton  unterfudjt, 
bie  eine  Sebtngung  bet  ©ntfteljung  beS  SBifeeS  tft,  unb  gefunben,  baf?  fte 
in  einet  befonberen  gäljtgfeit  ber  objectinen  Settadjtung  beftefie,  rote  fte  j.  33. 
aud)  baS  fünftlerifcbe  ©Raffen  ober  ©eniefjen  verlangt.  3)arauS  erf löten 
ftdj  mandje  ©igent^ümlid^fetten,  bie  jebem  roifeig  »eranlagten  ftopf  nur  attju 
befannt  ftnb.  3unädjft  ^0[^  ^aü^,  baf?  eine  geroiffe  fettere  obet  bodj 
fotglofe  ©emütf»Sftimmung  »orfianben  fein  mujj,  roenn  roifeige  33emerfungen 
fprubetn  follen;  fobamt  aber,  baf?  bet  letdfitefte  ©Ratten  einet  SBetfrintmung, 
einer  23eftemmung  bet  ©efellfcfjaft  biefelben  »erfdjeudjen  fann.  2Bte  oft 
ifi  eS  nidjt  fdwn  audj  bem  roifeigften  Stopfe  »orgefommen,  bat?  feine  eben 
nodj,  unter  bem  Seifall  ber  ©efellfdiaft,  beroiefene  galligfeit  plöfelid)  oer* 
fagte;  ber  eintritt  einer  unftmtpatbifdjen  $etfönliä)feit,  baS  33erüf)ren  eines 
tniBliebigen  ©efprädfjSftoffeS,  eine  ftörenbe  9kdnidjt,  ein  3n>tfd)enfall,  baS 
33erouf«fein  gefellfdfiaftlidfjer  Ungleichheit  unb  bie  baraus  entfpringenbe  9totlj* 
roenbigfeit  ftteng  ju  beobadjtenber  ©tifette  —  baS  2flIeS  genügt  feb^t  ftfuftg, 
um  bem  getftreidjen  Stopfe  nie  mit  einem  ©djtage  geroölmltdie  MtagS* 
roorte  ftatt  ber  erroarteten  Pointen  unb  roifenoflen  treffet  einjugeben,  oft 
genug  getabe  im  entfd)eibenben  SÄugenblicf.  3k  &«ufe,  ja  fdfjon  auf  bet 
Stoppe,  bei  ruhiger  unb  unbefangener  Betrachtung,  ftnbet  er  bie  beften 
Sßointen  offenbar  ju  £age  liegen,  faum  faffenb,  baf?  fte  gerabe  im  frittfdjen 
SRoment  feinem  ©d§arffinn  entgangen.  3)te  Utiglücffeligert,  bei  benen  bies 
9Jhfjgefdf)icf  ftönbige  ©rfdjetnung,  bat  ^einrieb,  oon  Äleift  nidjt  übel  ge* 
jeidmet: 

„fcreffenb,  burdjflängtfl,  ein  SBIife,  öott  2ikfitfitit  ftnb  feine  @ebanfen; 
SBo?  Sin  bet  Xafel?  Sergiebl  ffienn  er*a  ju  fcaufe  beben«.* 

SfabrerfeitS  erftärt  es  ftdt)  aber  audj  barauS,  roie  ber  SBife  geroiffe 
«Stänbe  unb  33erl)ältniffe  mit  SBorliebe  als  Dbjecte  ober  als  ÜWilieu  feinet 
6ntftef)ung  roätilen  fann.  @t  roirb  ftd)  ftets  mit  SBorliebe  an  foldje  ©tänbe 
fjeften,  benen  böfe  3"n9cn  einen  ©egenfafe  ärotfdjen  (Sdietn  unb  SBefen, 
jtt>ifä)en  aufgebaufdjter  Stoßen*  unb  holjfer  Qnnen  fette  nad)fagen;  et  roitb 
aber  am  Uebften  bort  entfteben,  roo  (Stanb  unb  33efdjäftigung  baw  an* 
getrau  ftnb,  forglofe  Stimmung  unb  »or  2lffem  baS  —  berechtigte  obet 
unberechtigte  —  ©efüfil  ber  Ueberlegenfieit  über  bie  Umgebung  auf» 
fommen  ju  taffen.  @o  ift  es  erftärlid),  roenn  ber  Unteroffijier  feine 
SRefruten,  ber  ©rolftäbter  ben  ßleinftäbter,  ber  Jtünftler  ben  Sßbjlifter  jur 
3ielfd(jeibe  feines  SBifeeS  mad)t;  oot  Mem  abet  ercjeüt  batauS,  roie  fef)t 
alle  gactoten  beS  afabemifdjen  SebenS,  bieS  33erouf?tfein  übetlegenet  23ilbung, 
bie  afabemifdje  greifieit,  bie  jugenblicfie  ©orglofigfeit,  ber  jroanglofe  93er* 
lefyc  mit  ©ommilitionen  unb  ®ocenten  aller  2lrt,  bie  mannigfaltigen  SPedbfel* 
fäHe,  bie  ftd)  aus  bem  3Hif3t)erf)ältniffe  jtDifctjen  ftöf)lid)et  33urfdjenftimmung 
unb  leeret  33örfe  ergeben,  geeignet  fei  muffen,  aus  ben  jugenbttdjen  3Jiufen* 
föbnen  bie  eigenttid)ften  „SBifenögel",  bie  herüber  aller  erbenflid)en  „Ulfe" 
in  SBort  unb  5Cr}at  ju  mad;en. 


368    jjriebrid)  tfegmüllet  in  fflünctien.   

■Natürlich  werben  ftd)  bann  bie  betroffenen  in  ihrer  SBeife  ju  räd)en 
fuchen;  unb  fo  ift  benn  SWtchtS  nabeliegenber,  als  ba§  ber  ©injährige  feinem 
Unteroffijter  ben  fid)  jum  X^eil  gerabe  in  feinen  SBifcen  auSfprechenben 
■äJlangel  an  Stlbung,  ber  Äleinftäbter  bem  ©ro&ftäbter  feinen  angeblichen 
$ang  jum  SBortroife  oorroirft;  bie  toirftid^  guten  Einfälle  pflegen  eben  bie 
gefränften  ©eeten  auf  beiben  ©eiten  als  quantit6  n^gligeable  anjufeb^en. 

Sie  finb  unS  ja  von  unfern  SBifcblättern  ber  aufs  33efte  befannt,  bie 
©tänbeunb  ©ruppen,  an  benen  fid)  ber  SBtfc  fojufagen  ber  SUlgemeinljeü 
ofme  Unter fdjieb  erbaut:  ber  überfdjneibige  Sieutenant,  ber  unwiffenbe,  tad* 
lofe  Gmporfömmling,  ber  ©omüagSjäger,  ber  »erhinberte  ^Dichter,  ber 
gröfjenmahnfinnige  ©d)aufpieler  u.  f.  f, 

SBenn  wir  oben  beS  2Beiteren  bemerften,  bafj  bie  ©abe  beS  SBifceS 
im  Allgemeinen  mit  SRedjt  als  läJiafjftab  ber  natürlichen  SBeanlagung  eines 
ÜRenfdjen  angefeljen  werbe,  fo  bebarf  biefe  33emerfung  übrigen«  einer  fleinen 
Berichtigung.  3lderbingS  ift  ber  angeborene  „3Rutt<ir.oifc"  fo  werthDott  unb 
bie  burd)  il)it  begrünbete  Uebertjgenbeit  fo  grof?,  bafe  fie  buref)  feine  fünjt* 
tid}e  33ilbung,  gefdjweige  benn  ©elebrtamfiit  wirflid)  erfe$t  werben  tarnt. 
@S  giebt  ja  eine  geroiffe  ©orte  Don  Suchgelchrfainfeit  ohne  angeborenen 
ÜWutteranfc;  hier  weiß  aber  Qeber,  wie  fefjr  biefelbe  ber  natürlichen  Segabung 
auf  ©djrttt  unb  £ritt  Ret)  unebenbürtig  erroeift,  ja  wie  fehr  gerabe  burd) 
ben  aufgefpeid)erten  SBiffenSbattaft  biefer  ßontraft  nod)  mehr  gesteigert  wirb. 
3n  Bürgers  „Staifer  unb  3lbt"  roirb  ein  folcbeS  SBsrbältnif?  mit  gutem 
&umor  entroicfelt;  ber  ungelebrte  ©d)äfer,  $anS  benbir  beifjt  ber  33iebere, 
ftid)t  bureb  feinen  natürlichen  aJcutterroife  niebt  nur  ben  3lbt  »on  ©t.  ©allen 
auS,  ber  bas  ^Buloer  niebt  erfunben  bot,  triebt  nur  bie  irier  $od)febulen 
mit  ib^ren  ©octoren,  fonbern  auch  nod)  ben  fich  mit  Siecht  roifcig  bünfenben 
„furrtgen"  ftatfer  obenbrein. 

„2Ba8  3hr  Such,  (Mehrte,  für  ©rtb  nicht  ertottbt, 
SDai  bab'  ich.  »on  meiner  Swu  2Nutter  peerbL* 

2)enn,  roie  baS  alte  ©pridjroort  fagt,  „ein  Quentchen  eigener  SJhitterroifc  ifi 
mehr  werth  als  5cf(n  ^Bfunb  T>on  anberer  Seilte  ihrem",  ^rofcbem  aber 
fmb  bie  $äHe  nicht  feiten,  roo  ein  attju  grof?er  ©ebrauch  biefer  gäbigfeit 
baS  geiftige  Sltoeau  eines  3K-nfchen  fehr  unoortbeitbaft  »eränbern,  ja  bereits 
ein  ©pmptom  geiftigen  SRiebergangS  fein  fatm.  ®er  2Bi|  ifi  ein 
©piel  beS  ©eifteS,  eine  Bereinigung  »on  SSorfteHungen ,  bie  burd)  ben 
orbnungSmäfjigen  3lblauf  ber  ©ebanfen  nicht  p  einanber  in  bejiebung 
gefe&t  werben.  2>arum  oerfteeft  fich  hinter  bem  Slnfcheine  blenbenben  SBifceS 
unb  überfprubelnben  ©eifleS  nicht  fetten  bie  Unfähigfeit  jum  logifd)en,  burch 
bie  Realität  ber  ©inge  gegebenen  ©ebanfengang,  bie  Unfähigfeit  jur  eigent« 
liehen  geiftigen  Arbeit,  ©inb  uns  boch  aus  ber  politifchen  wie  aus  ber 
litterarifchen  ©efchichte  felbft  ans  relati»  junger  3^*  Beifpiele  genug 
befannt,  roie  ftd)  mit  fcheinbar  geiftuoDem  SEBifee  nicht  nur  ftäglicbe  ^wtlt* 
lofigfeit  beS  SBoHenS,  fonbern  felbft  bie  Anfänge  geiftiger  3errüttung  fehr 


  Der  IDife.   


369 


t»ol)[  »ertragen  fötmen.  2)at)er  audj  ba3  äftfjetifdje  Unbehagen,  ba3  ein 
allju  häufiger  ©ebraudj  beä  2Btfee8,  fei  es  im  Seben  ober  im  Äunftroerf, 
in  unä  beroorruft;  nrir  baben  babci  ftets  baS  peinttdje  ©efü^t  mangelnber 
©acfjltd&feit  ober  mangelnben  fünftlerifcijen  (SrnfteS.  £>er  SBife  ift  ein  Hors 
d'oeuvre,  feine  näbrenbe  «Speife;  aHjuoiet  genoffen  »erbirbt  er  beit  9JJagen. 
Die  £üterargefdjidE)te  bietet  unä  Setfptctc  genug,  rote  nidfit  nur  leinjelne 
Sutoren  unb  SBerfe,  fonbern  felbft-  ganje  Sttteraturepocfien  —  j.  33.  bie 
eptfdjen  Vorgänger  unb  bramatifdjen  sJtaijfolger  ©tyafefpeareS  —  burdfj  Gin= 
ffifjrung  gefpretjten  SßifceS  um  jeben  sprete  bem  gebilbeten  ©efdbmad  un* 
genießbar  gemalt  rourben. 


J 


Sein  3rtef, 

XXoveüe. 
Von 

Mitt  Öremnits. 

—  Bnforej}.  — 


ürbe  fie  nod)  anfomtnen? 

(Sie  fat»  nad)  bct  Ut)t  —  nod)  jroölf  ©tunben,  unb  tljr 
.Hopf  brannte  fo  furä)tbar,  fie  fottnte  ilm  nid)t  meb,r  liodjijalteit, 
unb  wenn  fie  bie  2tugen  öffnete,  flimmerte  2lße8  t»or  Unten,  unb  fie  fab, 
rote  in  rotlje  SBolfen,  bie  unauffjörlid)  ibre  ©eftalt  metzelten  unb  in  ein» 
anber  jerfloffen,  um  fiä)  Qltiä)  wieber  von  einanber  ju  Iöfen. 

23?enn  ibr  nun  aber  ba§  Senmfjtfetn  fdjroänbe,  roaS  füllte  aus  ibr 
werben?  —  ®er  3"9  6toujle  burd)  bie  9tod)t  babjn;  bort  brüben  ber 
tiefte  «Streif,  beutete  er  fdbon  ben  SJiorgen  an?  Iber  fie  mar  bod)  erft  eben 
eingeftiegen!  Dber  foffte  fie  gefdjlafen  Ijaben?  9Jein,  rote  tiätte  fte  mit 
ben  furchtbaren  ©dmterjen  fd)lafen  fönnen!  —  SBielleidjt,  bafc  fie  fd)on 

»orübergeb,enb  baS  aSenwfjtfein  »erloren  blatte?  D  ©ort,  ber 

menf<f)Ud)e  2Biße  oermag  ja  2flle3,  fie  mußte  nod)  bis  naä)  $aufe  fommen! 
£ort  roollte  fie  bann  gern  fterben,  aber  nur  nidjt  unterroegS  liegen  bleiben, 
nur  nietjt  bie  ©d)anbe,  bafj  man  i^r  nad)forfd)te  unb  fie  b^er  entbeefte, 
ben  SBegen  nadtfpürte,  bie  fte  gegangen  war!  —  2Ba3  mürbe  tt)r  SDfamt 
fagen?  &ier  mürbe  er  fte  nie  fudjen!  Unb  bie  ©elmfudjt  nad)  ber 
Kleinen  —  foffte  fie  ba3  füfje  Äinb  nie  mieberfefien? 

Sie  fd)lud)ste  laut  auf.  —  2Bie  tiel  mar  bie  Uljr?  3mmer 

nodb,  jelm  ©tmtben!  Unb  eben  blatte  fie  bie  lebenbige  SBorfteHung  gebebt, 
nidjt  auf  ber  Stalin,  fonbern  auf  bem  ©d)iff  oon  Jßoper  nad)  ©utt  ju  fein 
—  fie  tonnte  alfo  nrirftid)  nicöt  mebjr  ftar  benfen!  ©rojjer  ©ort,  roaä 
foffte  au«  ibr  werben?  .  .  .  $>ie  <2ä)anbe,  bie  furchtbare  ©d)anbe,  bie  fie 
auf  i^ren  SRann  gelaben  batte!  ....    SWein,  nein,  bi«  nad)  &aufe  mufjte 


  Sein  33rief.   


fic  fommen!  ....  216er  meint  e3  nun  ein  !Keroenf«6er  roar?  Scfjon  feit 
mefir  aU  a<S)t  £agen  mar  ü)r  ju  SJhttfie,  alä  märe  fie  front;  fie  Ijatte  ba8 
auf  feetifcfjeS  Setb  gefdjoben,  altein,  roenn  fte  nun  bo<^  erfranfte,  roenn 
man  fie  aus  bem  3U9C  ^ob,  roenn  man  na$  ©rfennungääeicfjen  bei  tb,r 

fu^te  unb  ifjren  ÜRamen  buref)  bie  SBett  tetegrap^irte!  2lber  SRicfjtS 

an  i^r  trug  ja  tfjren  Flamen,  if»r  SReifefacf  nicfjt  unb  aud)  nid)t  i^re  SBäfdje, 

fie  fjatte  bie  größte  3Sorfid)t  beobadjtet,  unb  Initialen  fagen  ja  9lid»tg  

D,  aber  ber  33rief  »cm  tf>m,  ben  fie  bei  fiefj  trug,  ber  mufte  »erntetet 

werben,  fcfmell,  f^tteff  fein  lefcter,  lieber  ©rief!  ....  Sie  burfte 

ja  ib,n  »or  Sitten  nicfjt  btofefteHe«.  —  Sieber  namenlos  begraben  werben — 
£>er  griebfiof  ber  9iamenlofen,  —  fie  mar  fcfjon  roieber  an  ber  See!  

2lber  ber  33rief,  fein  SBrief!  28a3  blatte  fie  bo<$  eben  ge* 

roottt?   2tcf)  ja,  ifm  jerretfjen!  «Sie  trug  iljn  ja  auf  ber  93ruft  

^afcf),  bie  %adt  auffnöpfeu!  —  D,  roenn  fie  aber  nicfjt  einmal  baS  meljr 
fonnte,  roenn  man  bann  feinen  ©rief  fanb!  .  .  .  .  ©3  roar  gerotfj  ein 
9len>enfteber!   $>ie  tefcten  £age  roaren  ju  furchtbar  geroefen,  fie  Ijatte  fidj 

übermenfcfilicij  äufammennefmten  muffen,  unb  bie  SBocfien  »orfjer  

9iatnrlid),  9lffe§  fann  ber  SRenfcfj  nicfjt  überroinben. 

2Bie  laut  bie  2Betlen  an'S  Ufer  fdjlugen  —  bie  gutf)  ftieg  —  fie 
fann  mcfjt  oorroärtS  —  o,  fie  roar  nicfjt  ju  retten!  ....  Sie  fcfjrie  laut 

auf  unb  fat)  fid^  bann  oerrounbert  um  3ld),  es  roar  ja  nur  ein 

2*aum,  fie  blatte  geträumt  —  3lber  ber  33rief?  §atte  fie  ifm  roirflicfj 
noefj  nicfjt  fjerauägefrolt  unb  jerriffen?  .... 

2Bie  fie  5itterte!  —  Unb  bie  grofjen  knöpfe  roollten  ifjren  Ringern 
nidfjt  geljorcfjen  —  33abu  fjatte  oor  ber  2lbreife  mit  biefen  knöpfen 
gefpielt  

©ie  lief}  bie  $anb  jxnfen.  —  SBieber  fcfjaufetten  bie  SBellen  fie,  ba3 
©raufen  roar  faft  unerträglicfj.  .  .  .  D,  fte  mußte  fiefj  retten!  .... 

$aftig  ftanb  fie  auf,  fiel  aber  gegen  ba3  genfter,  Kirrenb  jer* 
braefj.  .  .  .  3)ie  Csrfcfjütterung  tf»at  tfjrem  Kopfe  fo  roof)t!  ....  28ie  gut 
'  roar  bie  SWacfjtluft;  fie  fjatte  ja  längft  baS  genfter  aufmachen  motten,  um  ben 

33rief  fjinau^juroerfen  SBofjin  er  roofit  fliegen  mürbe?  .  .  .  ©ie 

Srone  barauf,  bie  mufjte  oor  2lllem  jerriffen  roerben  Slber  ba3 

roar  ja  gar  nicfjt  ber  35rief,  ba3  roar  bie  .fjotelredmung  au3  ber  ^atetot« 
tafele,  bie  fie  äerfefet  uub  fortgeroorfen  blatte!  .  .  .  Db  bie  Sßetlen  ba 
brauf?en,  bie  fo  fdjirarj  gegen  fte  anftürmten,  bie  Scfjriftjüge  aud>  ganj 
abroafdjen  würben?   So,  baß  fein  menfcfjlicfjeS  2luge  feine  SiebeSiuorte 

meb,r  entjiffern  fonnte?  D,  ba§  Rapier  roollte  fieb,  nicfjt  jerreifsen 

laffen!  Sie  riß,  bajg  if»r  ber  Scfjroeif3  auf  bie  Stirn  trat  

2Kein  ©ort,  fie  roar  roofjl  fetjon  irrfinnig,  baä  roar  ja  ber  5Borf)ang,  an 
beffen  graben  fie  jerrte,  unb  fein.  SBrief  rufjte  immer  noef)  auf  ifjrcr 
Sruft!  ....  SSarum  roar  fie  aucf>  fo  tfjöric|t  geroefen,  ifm  bortf)in  }u 
fteefen!  .... 

Horb  unb  ©Ob.  LXXV.  225.  25 


372    IlTite  Kremnifc  in  Buforep.  

2Ba3  roar  baä?  .  .  .  ^emanb  bufdjte  an  i^r  »orbei  —  ein  (Seift  

2Bar  e3  ber  ©eift  ber  Siebe,  ber  nidfjt  butben  trollte,  bajj  fie  feine  SBorte 
profanirte?  .  .  . 

©te  flüd^tcte  ftdj  in  bie  äufjerfte  @cfe  be8  Goup6$;  'ifyc  mar  immer, 
als  bränge  eine  fdirecfticbe  ©eftalt  burdö  ba3  jerfcblagene  g^nfter  hinein. . . . 
2Bie  merfnmrbig,  bafj  fie  beim  ©mfieigen  nicfjt  bemerft,  bajj  e3  jerbrodjen 
mar!  .  .  .  .  2Bo  mar  fie  bettn  eigentlich  in  biefen  3"9  gefttegen?  .... 

llnb  mar  fie  auf  ber  £inreife  ober  auf  ber  SHtdreife?  2Bie  gut,  bajj 

fie  in  ■äWündfien  feinen  SBefamtten  auf  bem  Salmbofe  getroffen!  Sie  blatte 
bo(f)  ©lücf  gehabt,  grojjeS  ©lud,  unb  nun  mar  fie  ja  gleic&  ju  &aufe.  .  . 
2Bie  »iel  ©tunben  nodf)?  .... 

(Sie  Ijob  ben  2lrm,  um  auf  bie  ttf)r  ju  flauen,  bie  fie  an  ber  Äette 
um  ba&  &anbgelenf  trug.  D,  toie  fie  fror.  —  ©ie  fror  furchtbar  —  tln- 

Rletb  unb  üjre  Sacfe  roaren  ja  aud)  offen  2W),  unb  in  ber  $anb  fjielt 

fie  immer  nocfj  feinen  SBrief!  ©ie  nab^n  ityn  sanften  bie  3äfme 

—  fte  mufjte  ibn  jerreifeen!  .  .  .  3lber  roas  mar  benn  baä?  .... 

©ie  fcfjrie  furchtbar  auf  unb  ftürjte  an  ba«  jerbrodfjene  genfter.  ©ie 
fdjrie,  al3  fottte  fie  baä  ©etöfc  beS  braufenben  &uQe%  überf<§reien  — 
J&tttfc!  .  .  .  gfllfe!  •  •  • 

9JJan  wollte  fie  ermorben  —  jraei  SRänner,  grofje,  fcbroarje,  maäfirte 

Scanner  ftanben  »or  ifir!  .  .  .  .  ©ie  fudfjte  bie  2^ür  ju  öffnen,  um  ilinen 

ju  entfliegen.  —  GS  gelang  ibj:  audj,  bie  ßlinfe  ju  erfaffen  unb  bie  2^ür 

aufjuftofeen,  aber  e-S  f)iett  fie  @tn>a3  feft,  wie  eine  ©fenflammer  blatte  e3 

ftd)  um  itire  Taille  gelegt  

*  * 
* 

211$  ©octor  Söraun  um  neun  Uf»r  SDforgenS  feine  gritfnüfite  im  Rranfen= 
fjaufe  ju  Kempten  machte,  berichtete  il»m  bie  SBarmberjige  ©cbroefter,  baß 
cor  einigen  ©tunben  oon  ber  33abnr<erroaltung  eine  Twne  eingeliefert 
warben  fei,  bie  im  9tacf)tjuge  einen  2lnfatt  »on  STobfudjt  gehabt  fyxbt 
unb  jefet  noct)  ganj  berou&ttog  fei;  fie  bobe  boljeS  gieber,  baS  S^ermometer 
jeige  40°,  unb  nur  mit3Mbe  fei  fie  im  33ett  ju  leiten,  ©letdj  bei  iJjrem 
Ginfteigen  in  9Jtündjen  fyabe  ber  ©djaffner  bemerft,  ba&  fie  füb  mit  ben 
£>änben  ben  Äopf  gehalten  unb  »or  fid)  bi«9cfprocben  t)abc;  roäljrenb  ber 
ftafyxt,  fo  oft  er  burdj'ä  genfter  geblicft,  l)abe  fie  unaufhörlich,  ihren  Sßtafc 
geroecfifelt,  fei  aufgefprungen  unb  b<*be  [ihre  fttetbung  aufs  unb  jugefnöpft; 
fcbließticb,  al«  fie  bie  Scheibe  jerbrodjen,  habe  er  bem  gugfübrer  3Mbung 
gemacht.  33iHet  I.  Älaffe  habe  3)iünd)en— Sinbau  gelautet,  bie  Steife 
tafele  tjicr  fei  it)r  einiges  ©epäcf;  ibrem  2lu3feben  nacb  gehöre  fie  ben 
beften  ©täuben  an.  .  .  . 

„SDie  £>ame  fct)eint  ©ie  ja  auäneljmenb  ju  intereffiren,  ©ebroefter 
Slnua,"  unterbrach  ber  SXrjt  fie  läc^elnb,  „bafj  ©ie  alle  ®etait§  fo  gut 
bebatten  baben.   SBir  wollen  fie  uns  erft  einmal  anfeben  .  .  ." 


  Sein  Brief.  — 


373 


„316er  &err  3>octor,  e3  fdfmett  uns  bod)  nicfit  jeben  Sag  eine  fdböne 
Sßamenlofe  fo  in  ber  2)?orgenfrübe  auf  bie  Station!"  .entgegnete  fie  fcfjerjenb. 

©octor  33raun  war  ber  auSgefprodbene  Siebting  ber  93armf)erjigen 
©ibroeftern;  fie  berounberten  fein  jomale«,  runbeS  ©eficbt  als  ben  böcbften 
SluSbrucf  mämtlidjer  SBeiSbeit  unb  ©ütc,  obgteidb  er  fautn  breifeig  Satire 
jaulte,  unb  bie  ©djroeftern  felbft  biefeä  Sitter  Jämmttidj  f<bon  überfcbritten- 
Ratten. 

„Stlfo  fc|ön  ift  fie  aucb,  bie  ÜRamentofe?"  fragte  ber  Slrjt  unb  trat 
in  baS  fogenannte  ©rtrajimmer,  roobin  bie  Äranfe  gekaut  roorben  mar. 

£ell  fiel  baS  £age3ltcbt  auf  baä  fcbmate  23ett,  in  bem  bie  9teu* 
angefommene  mit  gefcbloffenen  Slugen  rubte.  %fyx  auffallenb  langes,  bunfle« 
&aar  lag  in  einer  bieten  gleite  ibr  im  2lrm,  i^r  2lntlifc  mar  fiebergerötbet, 
unb  bie  troefnen  Sippen  ibreä  2Jiunbe§  geöffnet,  fo  ba&  bie  fleinen,  biebt* 
gereiften  Styne  fidjtbar  roaren;  ibre  feinen  fdbroarjen  Slugenbrauen  batten 
fiefi  wie  im  ©cfjmerj  jufammengejogen,  unb  5u<fenb  befd&atteten  bie  langen 
bunflen  2Bimpern  ibre  SBangen. 

„(Sie  ift  oerbeiratbet,"  flüfterte  bie  ©djroefter  unb  rotes  auf  bie  rechte 
£anb,  bie  auf  ber  carrirten  SßoHbecfe  tag  unb  neben  einem  Sriffantring 
ben  breiten  ©bering  jeigte;  bie  ginger  waren  ftnblidj  fdbmat  unb  fdnenen 
faft  burebfidbttg.  „SBieltetcbt  ftebt  ber  Stame  ibre3  3Jlanne3  im  SWinge,  unb 
mir  ftnben  fo  am  fdbnellften  bie  (Spur  .  .  ." 

„3a,  aber  bie  £auptfacf)e  ift,  bafj  mir  fie  am  Seben  erbatten,"  atte 
roortete  ber  Slrjt.  „Qn  ber  erften  £upbu3roodbe,  benn  bie  erfte  mufj  e§  fein, 
fold^e  S:emperaturböbe!" 

2)ie  Äranfe  richtete  fieb  plöfetieb  auf  unb  fab  ben  fremben  Wann  mit 
ftarren,  entfetten  2tugen  an.  „£ütfe!"  febrie  fie,  „$ütfe!"  unb  »erfudfite 
au§  bem  SBette  ju  fpringen.  ©r  legte  fie  mit  fanfter  Söeftimmtbeit  in  bie 
ßiffen  äurücf.  „<Sie  müffen  ganj  rubig  liegen  bleiben,"  fagte  er  laut  unb 
faf)  fie  feft  an  —  roie  ©djroefter  Stnna  backte,  „mit  feinem  magnetifeben 
»tief." 

„916er  idj  mufj  nadfj  $aufe!"  ftöbnte  fie  unb  ftiefj  roirre  2Borte  aus: 
»on  ben  SBellen,  »on  bem  furchtbaren  SRaufdben  —  bann  würben  ibre  Saute 
un»erftänblidb. 

$octor  93raun  fab  fie  eine  SBeite  naebbenftieb  an;  e3  roar  fo  febroer  ju 
entfebeiben,  ob  bier  eine  ©ebirneittjünbung,  ober,  roie  bie  ©ebroefter  meinte, 
2typbu3  »ortag.  Unb  bann  bie  nädbfte  grage:  935er  roar  fie?  2Bie  fam 
biefe  fdjöne,  uorncbme  grau  baju,  fo  obne  Begleitung,  obne  Dienerfcbaft 
ju  reifen?  2Bie  fonnte  man  fcbnelt,  ebe  es  3U  fpät  roar,  ibre  ^bentität 
feftftetlen  unb  bie  übrigen  benachrichtigen? 

©r  traf  berroeit  feine  mebicinifeben  Sflerorbnungen:  ©i§  unb  ein  Sab, 
ebe  er  bie  übrigen  Traufen  feiner  Station  befudbte,  unb  als  er  fieb  bann 
auf  feine  ^ßriöatprariö  begab,  febärfte  er  noöo  eimnat  ber  ©djroefter 
9lnna,  auf  bereu  Seo&acbtungägabe  er  fidf)  »ertaffen  fonnte,  ein,  bafi  e§ 

25* 


37<k    mite  Ktemnifc  in  Sufarefh   

»on  größter  2ßid)tigfeit  fei,  fobalb  als  möglid)  tarnen  unb  SBoljnort  ber 
gremben  feftpftetten;  fie  möge  beSlialb  bie  9teifetafd)e  auf 3  ©enauefte 
unterfudjen  unb  aud)  auf  ber  ^nnenfeite  bei  Trauringes  nadjjfeben,  wenn 
fie  ifnt  olnte  SBeunrubJgung  ber  ftranfen  abjiefyen  fönnte. 

@rft  nad)  Verlauf  mehrerer  Stunben  fefirte  Dr.  33raun  in'«  ^ofpital 
jurucf.  (St  war  unterbefj  beim  Gfjef  beä  S3al)n^ofeS  gewefen,  um  ftd) 
perfönlid)  nad)  ber  Unbefamtten  ju  erfunbtgen,  unb  blatte  auf  eigene  Soften 
bie  5ßolijiei6eb,örben  in  ÜKündben  unb  Sinbau  telegraptyfd)  oon  bem  Sßorfaß 
benad)rid)tigt.  Daß  eine  SluSfunft  fel6ft  im  günftigften  gaHe  nid)t  fd)neH 
ju  erhoffen  ftanb,  wufjte  er. 

©djroefter  3lnna  beridbtete  ifjm,  bafj  iie  feinen  Hinweis  auf  9iamen 
unb  Heimat  ber  ©rfranften  gefunben  fiatte;  im  JHnge,  ben  fie  tbr  teid)t 
abgeftretft,  ftanb  nur  „SBalter"  eingrauirt,  unb  baS  jierlidbe  ©Ifenbein* 
»ortemomtaie  entbielt  lebiglid)  (Mb,  16  SRapoteonS,  fo»iel  rote  bmeinging, 
rocu)renb  ftd)  in  ber  9ieifetafd)e  außer  einem  eleganten  Portefeuille  mit 
mehreren  &unbertgulbenfd)einen  unb  außer  einer  Keinen  ftal)lmafd)tgen  Sförfe 
mit  öfterreid)ifd)em  unb  beutfdfjem  (Silbergelbe  nur  etwas  Setbenwäfdje 
befanb,  oon  berfelben  9lrt,  wie  bie  Dleifenbe  fie  trug,  2t(leS  uon  jarter 
ftarbe,  mit  edjjten  Spifcen  befefet  unb  mit  einem  großen,  »erfd)lungenen  6 
gejeid)net;  bie  9ieifetafd)e  war  ju  ^aris  im  Souore  gefauft. 

„®S  ift  jum  SSeräroeifetn!"  fcufjte  Sd)roefter  2lnna.  „SBemt  man  ftd) 
»orftelit,  bafj  bie  näd)ften  2lnt>erroanbten  in  2»be3ängftcn  Marren  unb 
»ielleicbt  eine  Sßelt  in  $eroegung  fefcen  tnödjten,  um  bie  Verlorene  ju  ftnben!*1 

@ie  fcblug  bem  2lrjte  t>or,  bie  Rranfe  in  tbren  ^ieberpb^xntaiien  ein* 
mal  nad)  ifjrem  9iamen  ju  fragen;  fie  felbft  tiabe  e£  objte  (Srfolg  getljan, 
aber  ibm,  beffen  Stimme  fo  »iel  über  Patienten  »ermöge,  werbe  e« 
gerotß  gelingen. 

Doctor  ©raun  trat  in  baS  fat)(e  3mtmer,  an  baS  33ett  ber  fdjönen  Un* 
belanmen,  beren  3U9*  fe't  *>er  grübe  nod)  fetner  unb  »erflärter  geworben 
ju  fein  fd)ienen;  rubjg  tief?  er  ftd)  neben  ityrem  Sager  nteber  unb  beofc 
adjtcte  fie.  Die  Slranfe  fd)tud)jte  in  ib.  ren  Delirien  fjerjjerreißenb  auf,  unb 
als  ber  2lr$t  ibre  fd)male  &anb  ergriff  unb  ftreid)efte,  wanbte  fie  ftd)  ibm 
ju  unb  flüfterte:  „«Wein  ftung?" 

„SBie  Reifet  Du?"  fragte  er. 

„3a,  rote  f»eif%t  Du?"  roieberfjolte  fie  faft  fd)etmifd).  „SBie  Reifet  Du 
eigentlid),  mein  Sieb?  greb  ober  griebfreb  ober  grifc?  — Du  Reifet  «JJiein 
ftung  .  .  ."   Dabei  Iäd)elte  fie  füß  unb  fcbien  beruhigter." 

Doctor  Söraun  fat)  ein,  bafj  es  ein  ^etiler  geroefen  mar,  fie  mit  Du 
anjureben,  benn  einem  greunbe,  ber  ©inen  bufet,  braud)t  man  ja  feinen 
•Kamen  nid)t  ju  fagen;  aber  and)  fonft  mod)te  biefe  grau  ttsoljl  faum  in 
bie  Sage  gefommen  fein,  fel6ft  ib^ren  9iamen  ju  nennen.  —  Um  il>r  beü 
jufommen,  mußte  er  ftd)  erft  tiefer  in  ibje  SJertyältniffe  »erfcfe«n  fömten, 
unb  für  ben  Slugenblid  nab,m  er  9lbftanb,  weiter  in  fie  ju  bringen.  %ieU 


  Sein  Brief.   


375 


leidjt  träumte  fic  gerabe  »on  ihrem  Äinbe;  Sdjroefter  2lnna  t)attc  ja  be« 
rietet,  baß  fie  ängftlid»  nadj  „SBabo"  gerufen  t»abe.  —  „3$  glaube,  fie 
ift  feine  SDeutfdje,"  mar  ber  lefetc  Schluß  ber  beobachtenben  Sdnoefter 
geroefen,  unb  bamit  ftimmte  bie  eigene  SHutfimaßung  beS  2lrjte3  überein, 
benn  bie  Äronfe  friert  if|m  in  ihrer  2lu8fprad)e  etroaS  gremblänbtfdieä  p 
haben,  fo  geläufig  ihr  augenfdjeinlich  ba§  ©eutfdje  aud)  mar.  Seflätigte 
ftdj  ober  biefe  SDiuthmaßung,  bann  warb  eä  erft  recht  hoffnungslos,  fdjnett 
ihre  3tngeb^örigen  aufjuftnben.  —  2Bte  furchtbar  tragifd),  wenn  biefeS 
rounberfchöne  junge  Sffiefen  fyet  fterben  unb  begraben  roerben  mußte,  ehe 
bie  Siebften  unb  -Jtächften  »on  ihrer  ©efahr  aud)  nur  unterrichtet  werben 
fonnten!  3lber  rcaS  roar  p  thun?  Selbft  mit  ben  größten  -Mitteln  — 
unb  bie  befaß  er  mäjt  unb  blatte  fie  audj  faum  auf  eine  grembe  »errcenben 
Dürfen  —  tief;  fidj  hier  ferner  (SiroaS  erreichen!  £>ie  Sdnoeftern  Ratten 
oorfiin  gemeint,  baß  bie  (Steine,  roeldie  an  ben  Keinen  Dfjren  ber  ßranfen 
blifcten,  »iete  £aufenbe  roerth  feien,  ©efefct,  baß  er  biefe  Steine  nahm 
unb  fogleid)  buref)  feinen  3lffiftenten,  ben  er  nach  2Jfündjen  fenbete,  »er* 
faufen  ließ,  fonnte  er  bann  nicht  mit  bem  @rlö§  Gimmel  unb  £ötte,  b.  h- 
bie  geheime  Sßolijei  in  SBeroegung  fefcen,  um  bie  Spuren  ber  ßranfen  }u 
»erfolgen?  2Bäre  ba§  nidjt  roerfthätige  3J?enf dienliebe?  Seine  Sßflidit  war 
e8  mdjt,  aber  nun  e§  ihm  eingefallen,  roar  e§  beinahe  fdjon  Sßflidjt,  es 
aufführen!  ©a§  roar  etroaS  3tomanhafte3;  bisher  aber  l)atte  er  noch 
nichts  SSfoßergeroöhnticheS  erlebt,  erft  burdj  biefe  Stranfe  roarb  eS  in  fein 
Seben  hineingetragen!  —  SKußerbem,  in  »ierunbjroanjig  Stunben,  roenn 
er  nicht  fofort  hanbelte,  fonnte  es  ju  fpät  fein. 

£)ie  2lntroortbepefd)e  aus  Sinbau  h«tte  gelautet,  baß  fdjeinbar  SRiemanb 
bort  eine  ©ante  ertoartet  ober  »ermißt  habe.  —  @r  badete  noch  einmal 
baran,  if)r  bie  großen  brillanten  fadjte  auS  bem  Dfytl&wfym  ju  löfen,  allein 
er  roar  nidjt  baju  im  Stanbe,  ihn  fdjauberte,  eS  trieb  ihm  baS  SBort  ßeidjen« 
raub  in'S  ©ebäd»tntß.  —  $>odj  baS  roar  falfdje  Sentimentalität!  2Mrbe 
fie  felbft  nidrt,  roenn  bei  23eroußtfetn,  9ÜIe8  hingegeben  fyabtn,  um  fidj 
£ülfe  unb  ©rlöfung  aus  biefem  gefängnißähnlidjen  £ofpitat  ju  »erfdjaffen? 

Unb  es  mußte  fdmell  (StroaS  gefdjehen,  beim  baS  gieber  flieg,  unb 
in  ihrem  ©ehirn  war  abfolute  SHadrt.  £>aS  Sab  roar  ohne  @influß  auf 
bie  Körpertemperatur  geblieben,  ben  ©isbeutet  fHeß  fte  oft  »on  ihrem 
ßopfe  fort,  hotte  alfo  feine  Sinberung  ba»on.  2lber  gefcheb>"  mußte 
StroaS! 

@r  faß  nun  fdjon  eine  SBiertetftunbe  ba,  ohne  ben  33lid  »on  ihr  ju 
roenben,  obgleich  es  ihm  roie  eine  ftnbiScretion  »orfam,  fie  anjufdiauen, 
unb  er  aus  Zartgefühl  bie  $hur  ium  üßebenjimmer,  nio  jroei  ber  Sdjroeftem 
fafjen,  offen  gelaffen  hatte. 

SWit  feinen  lautlofen  fleinen  Sd)ritten  trat  er  an  ba«  Thermometer 
—  jroölf  ©rab  3?c«aumur,  alfo  bie  ridjtige  3intmerroärme;  aud)  bie  S3entita* 
tion  roar  gut.  —  SBie  fonnte  nur  biefe  SreibhauSpflanäe  »on  $rau  fo 


376    OTtte  Kremntg  in  Sufarefi.  

allein  burd)  bie  2Mt  reifen!  SBeldje  Sebensumftänbe  motten  fie  bap  ge» 
trieben  f)aben? 

<5r  ging  ju  ben  ©djmeftern  unb  bradjte  feinen  SSorfd^rag  mit  bcn 
Sridonten  an.  Sdiroefier  2tnna  rentonflrirte  energifd):  „$f)un  Sie  bas 
nid)t,  £err  £octor,  eS  fönnte  Offnen  Unannef)mlid)feiten  oerurfadjen"  — 
fic  faf)  bie  ganje  2Belt  nur  unter  bem  (MtdjtSpunfte  ber  ^nnefmilidifeitctt 
ober  Unannefmitidifetten  für  ifycen  ©octor  an  — ;  „td>  ratbe  3$nen 
bringenb,  2Itte§,  was  bie  Äranfe  an  unb  bei  fid)  blatte,  unoerfeb^rt  aufju; 
beroabren!  £öd)ften8  fönnten  mir  ib,r  etroaä  25?äfd)e  faufen,  beren  fie 
morgen  bebürfen  wirb;  bie  9tedmnng  bleibt  unä  bann  al«  Seleg  .  . 

„Cb  fie  morgen  überhaupt  nod)  ßtmaS  bebarf?"  marf  er  ein. 

Sdnoefter  2lmta  f>atte  eine  Siegung  oon  ©iferfudjt. 

„SBenn  fie  aud)  fdjön  unb  fremb  ift,  fo  motten  mir  bod)  nid>t  gletdj 
baS  Slu&ergeroöfinüdie  annehmen  .  .  ." 

„3[di  fomme  fofort  nad)  bem  ©ffen  roieber,"  fagte  ©octor  Sraun  unb 
brad)  baä  ©efpräd)  ab.  ©od)  ber  ©cgenftanb  beäfelben  fjörte  nid)t  auf, 
ir)rt  ju  befdjäfttgen;  in  feiner  ^rioatmotinung  fefcte  er  ein  lange«  Telegramm 
an  bie  „SHündjener  Allgemeine"  auf,  roorin  alle  3eihmflcn  bringenb  erfudit 
mürben,  ben  rätljfefi)aften  Vorfall  möglid)ft  ju  »erbreiten. 

„@s  ift  nid)t  angenehm,  roie  ein  oertoreneä  ©tücf  Sief)  auägefdjrien 
ju  merben,  aber  nur  burd)  bie  gröfjte  Deffentlidjfeit  famt  id)  auf  6rfo(g 
rennen.  Unb  bie  SBerantroortung  ift  mir  fdjrectlid}!"  backte  er  bei  fid), 
als  er  in  bie  „(Mbene  Traube"  ju  feinem  2Rittag3tifdje  ging. 

2Bie  immer,  warb  er  mit  i^ubel  empfangen;  jmar  gab  man  itmt 
einige  Spieen  roegen  feine«  3tu8bteibenS  beim  grübfdioppen  ju  I)ören, 
allein  bem  „^fiffifuS"  rourbe  felbfi  biefeS  bettet  »erstellen.  —  S5er  SDHttagS* 
tifd)  beftanb  au2  jef)n  Herren,  faft  jur  Hälfte  9lorbbeutfd)en.  68  pflegte 
Ijödjft  ftbel  tiermge^en  in  bem  Keinen  Greife,  beffen  -Dtittelpunft  unbeftritten 
Äurt  Sraun  bilbete;  bie  SBifce  waren  nid)t  immer  ganj  neu,  unb  e3  mar 
fjauptfädjltdj  bie  grau  2Birtf)in,  bie  immer  mieber  b,er|atten  mutte,  aber 
ber  Sdiabernad,  ber  mit  ib,r  getrieben  mürbe,  war  ftets  fo  gutmütig  unb 
b,armlo«,  bajj  iljr  felbft  roaS  gefehlt  f)aben  mürbe,  menn  Soctor  Sraun  de 
einmal  nid)t  fjätte  rufen  laffen,  um  fid;  über  irgenb  eine  neue  »orgefdjtujte 
Unbill  ju  beflagen. 

Toctor  ©raun  mar  erft  feit  jmei  Qafjren  in  Kempten;  tro|bem 
fonnte  fid)  jefct  feiner  feiner  Sefannten  meljr  »orftelten,  baf3  ba$  Seben 
bort  früher  roaS  Stedjte«  geroefen  fei,  fo  beliebt  blatte  feine  um»ermüftlid)e 
gute  Saune  üjn  gemadjt. 

9lud)  fyeute  mar  er  uttoeränbert  gefprädjig  unb  gut  aufgelegt 

©n  Sliaraftetpg  oon  U)m,  ben  freilid)  nur  SBenige  rannten,  mar,  ba§ 
er  f)öd)ft  bilcret,  ja,  mefir  als  baS,  oerfteeft  unb  r<erfd)loffen  mar;  bie 
meiften  fetner  Sefannten  blatten  im  ©egentfjeil  barauf  gefd)rooren,  bafj 
ßurt  Sflraun  fein  ßerj  auf  ben  Sippen  trüge,  berni  feine  jomale  9trt,  fein 


  Sein  Brief.   


377 


fietä  bereiter  $umor  oerleiteten  ju  ber  2lnftd)t,  bafj  er  Obermann  in  fein 
Vertrauen  }og.  Qn  2Birflid)fett  aber  roar  er  ein  3JJeifter  ber  Äunft,  bic 
eigene  Meinung  ju  oertjefylen  unb  jeber  fremben  ein  getmffes  9)iaf3  Seifatt 
Jollen,  fobaf3  am  Sdjlufj  ber  ©ebatte  über  irgenb  eine  (Streitfrage  9tte* 
tnanb  f)ätte  ange6en  fönnen,  roeldjer  2lnfid)t  eigenttid)  $)octor  33raun  ge« 
roefen  fei. 

2lud)  bleute  merfte  feiner  feiner  SHfdjgenoffen  ifmt  an,  roa<3  fein 
QunereS  bewegte,  unb  in  tote  großer  (Spannung  feine  ganje  3?atur  fid) 
befanb. 

2113  er  gegen  brei  Ul)r  roieber  in  fein  ÄranfenfjauS  tarn,  empfing  ifyn 
<Sd)roefter  3lnna  mit  ernfter  SJMene:  ,,3;d)  glaube,  e§  geijt  nnrcTid)  ju 
©nbe  ,  .  .  ." 

„Um  ©otteämtllen!"  murmelte  er,  unb  ifmt  roarb  plöfclid)  ganj  übet. 
@r  füllte,  bafj  er  mit  bem  ©ebanfen  eines  fd)limmen  2lu2gange8  bisher 
bod)  nur  gefpiett,  unb  bafj  feine  Seele  bie  Hoffnung,  bie  Unbefannte 
roerbe  ber  $ranH»eit  roiberfieljen,  fjartnädig  feftgefjalten  blatte.  SBarum 
eigentlid)  blatte  er  bett  ftäbtifdjen  ©efjörben  nod)  feine  3lnjeige  gemad)t, 
roarum  ftd)  barauf  »erlaffen,  baj)  bie  SBafjnoerroattung  e3  getf)an?  2ld), 
all  biefer  gormelfram,  n>a3  fümmerte  ifjn  ber,  wenn  fie  roirflid)  fterben 
foCte!  .... 

„2Btr  muffen  fogleid)  nod)  ein  93ab  geben,"  beftimmte  er.  $)tcamat 
affiftirte  er  bem  33abe,  roetl  bie  Äranfe  SBiberftanb  [eiftete,  unb  er  bie 
©cfnoeftem  unterftütjen  mufjte  —  bie  jarte,  mäbd)enf)afte  ©eftatt  rjatte  un« 
geahnte  Gräfte! 

©ott  fei  ®anf,  eine  Stunbe  fpäter  mar  bie  Temperatur  um  einige 
©ecima[ftrid)e  tiefer,  aU  vor  bem  33abe,  e3  fd)ien  alfo  genügt  5U  f»aben. 

*  * 
* 

SJoctor  23raun  »erlief?  baä  3immer  ber  Unbefannten  nur,  um  feine 
9tunbe  burd)  bie  Äranfenfäle  ju  mad)en.  Sobalb  er  bann  oon  Beuern  feinen 
spiafe  am  SBette  ber  rätfjfelfiaften  Patientin  einnahm,  flüfterten  bie  Scfnoeftern 
einanber  ju:  „@r  glaubt  aud),  ba§  es  bleute  nod)  ju  ®nbe  gefjt;  fonft 
mürbe  er  nid)t  fd)on  roieber  ba  fein!"  ■ 

3fl)n  fjatte  ein  merfroürbigeä  9Witleib  gefangen  genommen;  nid)t  bie 
<Sd)önf)eit  unb  bie  23erlaffenf)eit  ber  jungen.grau,  fonbcrn  etwa«  ganj  Un* 
erflärlid)eä  mar  e§,  roaS  ifm  ju  ifjr  jog.  ^inmer  blatte  er  ba§  ©efübX 
ate  fömte  er,  nur  er,  ifjr  Reifen,  unb  bod)  fragte  er  fid)  umfonft,  roie 
unb  rooburd)?  —  ©dion  »or  fed)ö  1%  fd)ienen  fid)  alle  33efürd)tungen  51t 
betätigen,  ba3  $ieber  ftieg  roieberum,  ibj  Slntltfc  mar  nid)t  mef>r  gerötfjct, 
fonbern  »on  franffiaftem  ©etb  entftcllt,  unb  in  furdjtbaren  3lengften  richtete 
fie  fid)  auf,  »erfudjte  aus  bem  Sette  31t  fprtngen  unb  forberte  „ben  Jtrief". 
S)er  2lrjt  laufd)te  ifjren  ^fjantafien:  immer  «lieber  taudjte  in  tfmen  ber 


378 


  Utile  Kremnife  in  Sufatefl.   


Srief  auf.  Seife  erf)ob  Stoctor  SBraun  fidj,  faltete  im  SHebenjimmer  ein 
©tüd  Rapier  jufammen,  unb  als  fie  wieber,  ftd)  anpadenb,  aU  fudjte  ite 
Um  an  ftd),  „ber  Srief!"  rief,  ba  briicfte  er  t^r  ba$  Sßapier  in  bie  £anb. 
©ie  ergriff  el  frampfliaft,  jerrijj  es,  warf  bie  Stüde  neben  bem  23ette 
nieber  unb  fanf  bann,  übcrroattigt  von  ber  2lnftrengung,  auf  ba3  Äiffen 
jurüd.  Allein  nadj  einer  SBeite  erfdnen  abermals  ber  Srief  in  Ujren  um 
jufammenfiängenben  Sieben  —  ber  Srief,  baä  genfter,  bie  ©ifenbalm. 

SDoctor  33raun  taufdjte.  2öar  tfir  ein  Srief  au»  bem  Goup6fenfter 
entflogen?  £atte  fie  barum  bie  ©djetbe  jerbrod)en?  Unb  ftanben  in  jenem 
SBriefe  2tuff(ärungen  über  fie?  —  2lugenfd)einlid)  b>tte  fie  felbft  fd)tm 
wäfirenb  ber  galnt  empfunben,  bafj  itir  23ewufjtfein  fd)wanb,  unb  mit  ber 
auäbredjenben  ÄranHjeit  gerungen,  ^m  {inen  eä  plöfclidj  eine  ©enrijjb>it, 
ba§  fie  in  ber  3lngft,  f>ü(fio$  unterwegs  liegen  ju  bleiben,  einen  SJrief  mit 
ib>em  3lamen  unb  ifjrer  2lbreffe  gefdjrieben,  unb  bafj  ber  3ugfül)rer,  als 
er  bie  »ermeinttidje  2lbfidjt  ber  Rranfen,  fid)  au§  bem  SBagen  s«  ftürjen, 
»ereitelte,  fie  tebiglid)  »erfiinbert  blatte,  ben  wegffatternben  ©rief  wieber  su 
erf)afd)en. 

Se&t  madjte  ber  2lnbrud)  ber  ©unJetfieit  bie  SSerfolgung  biefer  Qbee, 
biefer  faum  wahrnehmbaren  ©pur  unmöglich,  aber  am  näd)ften  -Diorgen 
wollte  SDoctor  33raun  fein  3Köglid)fte§  tfiun,  um  ba$  9täthfel  ju  löfen! 
3hm  war  ein  $tan  gefommen,  ptöfclich  wie  eine  ©rteucjjtung.  £»en 
33rief  mujjte  unb  wollte  er  wieberfd)affen!  gortwäljrenb  fah  er  jene  ©cene 
»or  fid):  35ie  franfe  arme  grau,  bie  angeblich  ^rre,  im  Äampf  mit  ben 
unwiffenben,  wenn  aud)  wohlmeinenben  Söaljnbeamten,  welche  bie  SSer= 
jweiflung  beS  unterltegenben  jarten  SBeibeS  für  £obfud)t  nahmen!  .  .  .  . 

3Son  feiner  tiefgefienben  ©rregung  war  ü)m  äußerlich  aber  ;Kid)t3  an* 
jumerfen. 

„©djroefter  Sünna,"  fagte  er  beim  fortgehen  au8  bem  $ofpital, 
„machen  ©ie  mir  f»eute  2lbenb  ein  ©las  öftres  ^errlid;en  SljeeS  —  fo 
wie  öftrer  fdmtedt  lein  anberer.  3d)  werbe  gegen  elf  Uf>r  nüeberfommen 
unb  bie  Siad)t  hierbleiben  unb  wad)en,  bamit  ©ie  e§  nid)t  thun.  Äeinen 
SBiberfprudf) !  Ünä  Seiben  ift  bas  arme  SBefen  nun  bodj  mal  an'ä  §erj 
gewachsen,  unb  wir  möditen  bodj  nidjt  morgen  früh  mit  ber  3laä)rid)t 
aufgewedt  werben,  baf?  3lHeS  oorbei?  3d)  aber  bin  oon  unä  ber 
Äräf  tigere \" 

„Stollen  wir  fie  nerfeb^en  laffen?"  fragte  iljn  bie  ©d)wefter. 

bädjte  eigentlid»  nid)t,  aber  wie  ©ie  meinen  .  .  .  ."  ant= 
wortete  er  unb  ging;  bie  ®ntf Reibung  biefer  grage  überlieft  er  lieber  ben 
©tfjweflern. 

©l>e  er  fid)  jum  3lbenbimbife  in  bie  „Traube"  begab,  burdrflog  er  in 
feiner  SBo^nung  nod)  rafd)  bie  3«t"n9;  m  jwar  ^öd)ft  unwab^= 
fdjeinlid),  ba§  er  barin  einen  gingerjeig  entbeden  würbe,  aber  feine 
Sßfyantafte  war  nun  einmal  wad),  unb  er  ftubirte  bie  9hi6rif  „SocaleS", 


  Sein  Brief.   


379 


ja,  felbjt  bie  „öofnad&ridfjten"  aus  3Ründ)en  mit  ber  grö&ten  ©enautgfett  — 
freilid)  oljne  (StroaS  ju  fmben.  9Ked)antfd)  roanberten  bann  feine  2lugen 
nod)  über  bie  näd)fte  ©palte:  $od)äettSfeier  einer  erj^erjogin  in  SBten 
mit  irgenb  einem  Sßrinjen  aus  regierenbem  £aufe.  $>octor  33raun  gehörte 
nid)t  ju  ben  £efern  beS  @otl)atfd)en  ÄalenberS;  fo  intereftirten  üm  aud) 
nidjt  bie  2luSeinanberfetmngen  beS  Sötener  Gorrefponbenten  über  ©enealogte 
unb  $ent)anbtfd;aftSterb/ä[rmffe  beS  fürftlid)en  Bräutigams,  ber  burd)  ben 
£ob  jroeier  Steffen  —  2)ipf)tf)eritiS  —  plöfelid)  jum  präfumti»en  Stroit« 
erben  geroorben  unb  bamit  in  bie  Slotfiroenbigfeit  »erfe|t  mar,  fid)  nad) 
einer  ©emafrtm  umjufel)2n. 

3n  rafd)erem  £empo  roeiterlefenb,  fanb  SDoctor  33raun  bie  üblichen 
biograpf)ifd)en  JJotijen  über  baS  tjorje  Brautpaar:  ^rinj  $riebrid)  ftanb  im 
33egitm  ber  SBierjiger,  tjatte  bisher  für  einen  SBeiberfetnb  gegolten  unb 
nur  feiner  2Biffenfd)aft  gelebt;  mit  einem  <Sd)lage  mar  er  batm  oon  fjeifjer 
Siebe  erfajjt  ju  ber  jugenbtid)  liebreisenben  @rjb,erjogin,  bie  gleichfalls  eine 
warme  £erjenSneigung  für  ben  geiftreid)en  3Jfann  empfanb,  ber  alle,  ib^re 
fünftterifdjen  Snterejfen  feilte.  —  ©rofje  ©nmpatljie  beS  SßublicumS  mit 
biefem  6f>ebunbe  —  2lnetooten  über  beS  Sßrinjen  ©elebrtenleben  in  SßariS 
—  fein  nom  de  plume  „Friedfred",  fein  Rufname  im  engften  gamilien« 
freife  „ftreb"  u.  f.  n>. 

„2llfo  roiffenfd)aftlid)e  ^rinjen  giebt'S  aud)!"  läd)elte  ©octor  33raun 
»or  fic§  f)in.  „£at  über  SBürmer  unb  gefd)rieben  —  ein  gelehrtes 
£au8!  ....  2Birb  aber  2llIeS  fo  roafir  fein  wie  baS  SDteifte,  roaS  über 

tyofie  #errfd)aften  gebrucft  roirb  ©onnerroetter!   2Bo  f)ab'  id)  aber 

biefen  bummen  9iamen  $rieb=3=reb  fürjlid)  gelefen?  .  .  .  ." 

®r  entfann  fid)  beffen  nid)t;  eilig  burd)mufterte  er  nod)  ben  23erid)t 
über  eine  polijeilid)  gefd)loffene  ©ociattften  SBerfammlung  foroie  „neue 
Variante  ber  leiten  Äanjterfrtfe",  legte  bann  in  fetner  peinttd)  orbentlid)en 
SBeife  baS  Slatt  jufammen  unb  ftanb  auf,  um  ju  33ier  ju  geb^en. 

„£errjeli!"  entfuhr  es  tfmt  auf  ber  treppe.  „3$  bin  n>of)I  rein 
toll?  2(ber  bie  Äranfe  fprad)  fa  oon  gftieb^reb!  —  ©elefen  f»abe  id)  es 

nid)t,  fie  fprad)  ja  »on  tl>m,  toatjrriaftig !  2BaS  fann  baS  fein, 

ein  3«^?  $am  fie  etwa  aus  Sßien?  ^efet  Reifet  es  aber  23or* 

fid)t!  —  ©od)  nein,  fie  trägt  ja  einen  ©gering,  es  roirb  ein  jufättiger 
©letd)ftang  fein.  $d)  tiabe  ben  &opf  t>off  »on  iljr  unb  bejicfje  Stiles  auf 
fie!  .  .  ." 

* 

SHe  9ieuigfeit  oon  ber  im  9kd)tjuge  irrfumig  geroorbenen  $ame,  bie 
im  ftranfetdjeuS  liegen  follte,  b,atte  in  t)ielfad)en  Storianten  bie  ©tabt  burd> 
flogen,  unb  als  ®octor  SBraun  jum  3lbenbeffen  baS  ©aftjimmer  ber  „©olbenen 
Traube"  betrat,  faßte  il»n  fogleid}  bie  SBirtcjirt  ab  unb  beftürmte  ib,n  mit 
fragen,  ©r  aber  blatte  »on  feiner  Qrrfinnigen  GtroaS  geferjsn  ober  gehört. 


380 


  Utile  Kremnitj  in  J3ufarejh 


2tud)  am  Stammtifdie  fprad)  matt  nur  über  bie  $ame,  bi«  „^ßfifftfus" 
fid)  baju  fcfete  unb  fagte:  „Äinber,  id)  bitte  mir  ein  anber  ©efpräd^  an«, 
©ntroeber  (aßt  3$*  bie  Älatfdierei,  ober  tdj  Derjidite  auf  6ure  angenetime 
©efellfdiaft  —  mir  roäd)ft  bie  Sad)e  jum  ^alfe  lierau«!  .  .  ." 

211«  er  feinen  Ueberjiefier  an  ba«  £irfd)geroeil)  gelängt  fyatte,  mar  it)m 
©troa«  eingefallen:  Stuf  ber  ^mtenfeite  be«  Stodfragen«  ftanb  fa  9km: 
unb  Sflbreffe  feine«  SRündjener  Sdjneiber«  —  folite  nidjt  aud)  an  einem  btr 
ftleibung«ftüde  ber  Same  etwa«  2tet)nttd)e«  ju  ftnben  fein?  .  .  .  SBirfttd), 
er  mufcie  fid)  einen  SBorroanb  erfmnen,  um  gleid)  —  ad)  nein,  bie  Sßoft 
mar  bod)  fdjon  -gefdiloffen,  ba«  blatte  alfo  3«^  bis  elf,  unb  uor  ber  an* 
gefügten  Stunbe  roollte  er  ntd)t  roieber  ju  ber  lieblichen  grau  .  .  . 

9iie  mar  ifnn  ber  Sfat  —  benn  biefe«  norbbeutfdje  Spiel  Ijatte  er 
fofort  liier  eingebürgert  —  fo  öbe  erfdiienen;  nie  maren  tf»m  bie  Stunben 
in  ber  „©olbenen  Traube"  fo  langfam  »erftridjen!  5ßunft  elf  Ut>r  trat 
er  in  ba«  Äranfenfiau«;  er  mar  fel)r  fdmell  gegangen,  benn  if)tn  fdjnürte 
bie  3lngft,  bajj  etroa«  Um>orl)ergefel)ene«  uorgefaHen  fein  möd)te,  bie  Äeb,te 
ju.  Sdjroefter  2lnna  melbcte  jebod),  bajs  3llle«  unoeränbert  fei;  bie  Sranfe 
merfe  nid)t,  roer  in  ilirem  3immer  au«;  unb  eingebe,  fpred)e  oft  halblaut 
abgeriffene  Säfee  ofme  Sinn  unb  merfe  fid)  unrubjg  lierum. 

„Sdjroefter  9lnna,  mir  müffen  feilen,  ob  nid)t  an  $a<fe  ober  Äteib  ber 
£ame  bie  Slbreffe  ifire«  Sdmeiber«  tft!" 

Äu?" 

„fta«  roerbe  id)  ^nen  gleid)  fagcn." 

$)ie  Sdjroefter  fanb  in  ber  £f)at  auf  bem  £aiUenbanbe  be«  Steibe« 
eine  2Biener  gfirma  angegeben,  mit  Straße  unb  -Kummer. 

„@ut,"  rief  ber  9lrjt  befriebigt  au«.  „ftefet  trennen  Sie  Iner  unten 
ba«  $utter  ab,  fo"  —  er  jog  felbft  fein  Safdjemneffer  —  „9cur  red)t 
»orfid)tig,  bamit  mir  Mdjt«  »erberben!  —  £ad)te  id)'«  mir  bod),  e«  ift 
ein  breiter  6infd)lag;  nun  eine  Sdieere,  unb  mir  fiaben  ein  fdjöne«,  große« 
Stüd  3eug  al«  9Jhifter!" 

„Sie  ftnb  ein  ©eme!"  fagte  Sdiroefter  3fona  berounbemb. 

„9iid)t  roafjr?"  fufir  er  läd)elnb  fort,  „^efct  näb,eu  Sie  e«  gleid; 
roieber  $u  —  paffenbe  Seibe  finben  Sie  fdion  in  3*>rem  berühmten  3°Pf 
—  unb  id)  fd)reibe  unterbefj  an  bie  girma  —  nein,  e«  ift  beffer,  Sie 
tfnm  e«  —  red)t  t)öflid)  —  mir  erbitten  umgefienb  9tadrrid)t,  ob  au«  ben 
©efd)äft«büd)ern  nadijurcetfen,  mer  in  biefer  Saifon  —  benn  au«  biefer 
Saifon  ftammt  ba«  .«leib  bod)?" 

2lmra  judte  bic  9ld)feln. 

„2llfo,  roer  in  biefer  Saifon  eine  SReifetoilette  au«  inliegenbem  Seiben= 
ftoffe  fid)  bei  ber  gefaxten  girma  f)abe  anfertigen  laffen?  %üQen  Sic 
tlinju,  bafs  e«  fid)  um  Seben  ober  Sob  fianbelt!  .  .  .  So,  unb  nun  ^fyetn 
ganjen  9?amen,  nid)t  nur  Sd)roefter  9Inna,  aud)  bie  3?aronin  S3irfenfetb  — 
ba«  3ie^t  in  SSien;  jefet  ben  Stempel  be«  ^ofpitat«,  unb  recommanbirt 


  Sein  Brief.   


—  fo! .  .  .  Selber  gefjt  ber  SJrtef  erft  morgen  ab.  -Wim,  roir  motten  Ijoffen, 
bajj  er  uns  bie  geroünfd)te  2lu8funft  bringt,  unb  —  baß  wir  ben  Planten 
für  bie  Sebenbe,  ntd)t  für  ba3  ©rabfreuj  gebrauten  roerben." 

2>er  qualnoffe  Buftanb  oer  fdjroerfranfen  jungen  grau  bauerte  unge* 
tinbert  an;  fie  fprad)  oft  teife  oor  fid)  f|in,  [oerfudjte  unruhig  fid)  aufju= 
rieten,  fiarrte  in  falbem  SBenmjjtfem  um  fid)  unb  »erfanf  bann  auf  einige 
ÜDiinuten  in  ©djlaf,  um  plöfelid)  auffdjreienb  unb  laut  ftöfinenb  in  bie  £öf>e 
gu  fahren.  3un,eilen  ^m  au3>  ocr  2Mcf  nrieber  in  it)ren  ^ßfjantafien  oor 
unb  bradjte  ben  2lrjt  auf  feinen  sptan  jurücf,  bie  ©trecfe  barnad)  abjufud)en. 
„Sange  b,äft  biefe  jarte  Gonftitution  ba3  nidjt  auä,"  bad)te  er  beforgt;  aber 
immer  mar  tfmt,  als  ob  eine  innere  Stimme  i\)m  fagte,  bafe  fie  md)t  fo 
beroufjttoS  fterben  fönnte  unb  bürfte,  bafe  fie  berufen  fein  mürbe,  if)m  nod) 
einen  SBenbepunft  im  Seben  ju  bebeuten.  Unb  bod),  roie  oft  blatte  eine 
fotd)e  innere  ©timme  üm  nid)t  fd)on  getäufd)t!  —  $>er  SJfenfd)  f)offt  eben 
bis  über  bie  ©renjen  ber  9J?ögtid)feit!  — 

2lm  näd}ften  ÜJiorgen  fyatte  bie  Temperatur  ber  ßranfen  fid)  etroa$ 
gebeffert,  man  blatte  if)r  aud)  ein  roenig  9iaf)rung  einflößen  fönnen,  attein 
ba3  Seroufjtfein  blatte  fid)  nod)  nid)t  roteber  eingeftettt.  Dr.  SBraun  neigte 
fid)  mefir  als  je  ber  3lnfid)t  ju,  bafj  eine  ©efiirnaffection  norliege.  9iber 
nod)  lebte  fie,  unb  nod)  Ijoffte  er!  — 

9iad)mtttag3  mad)te  er  fid)  an  bie  2lu3füf)rung  feines  planes,  in  ben 
er  ÜRiemanben  eingeroeiljt  fyatte;  nur  beiläufig  erfunbigte  er  fid)  auf  bem  Salm* 
fiofe,  afe  er  eine  $al|rfarte  1.  Ätaffe  nad)  Sefeigau  löfte,  ob  biefetben 
2Baggon§,  bie  in  ber  norgeftrigen  5Wad)t  bie  ©trecfe  gemad)t,  bleute  roieber 
jurücff ehrten;  genauen  93efd)eib  ertjiett  er  nid)t,  nur,  baft  eä  roab,rfd)einlid) 
fei,  ba  bie  Sßagen  bisher  nod)  nid)t  jurüdgetaufen  feien. 

®er  b^bftlid)  leere  ^ßerfonenjug  führte  bloS  ein  einjigeS  6oup6 
1.  Ätaffe;  ©djaffner  unb  $ugfüljrer  roaren,  roie  ©octor  33raun  burd)  33e» 
fragen  conftatirte,  leiber  nid)t  biefelben,  roetdje  bie  t)ermeintlid)e  ^rre  ein= 
geliefert  Ratten.  Trofebem  roar  er  nidjt  entmutigt,  benn  er  falj  gleid)  beim 
©infieigen,  baß  bie  ©arbine  be$  6oup6fenfter3  an  »erfd)iebenen  ©teilen 
ein»,  unb  bie  granjen  abgeriffen  roaren;  baä  beftärfte  in  ifmt  bie  SInnafjme, 
baß  er  fid)  roirflia)  in  bem  gefügten  Goup6  befinbe.  ©ofort  nad)  ber 
2lbfaf)rt  begann  er  feine  3Jad)forfd)ungen;  er  rechnete  babei  auf  bie  nad)* 
läfiige  SBeife,  in  ber  meift  bie  SBaggonS  gereinigt  roerben,  unb  fyolte  ein 
Äiffen  nod)  bem  anberen  heraus,  grub  feine  £anb  tief  in  bie  SßolfterungS« 
einfd)nitte:  SRidjtä!  —  bann  legte  er  fid)  auf  ben  SBoben:  aud)  3<iid)t3!  — 
®od)  —  bort,  f)inter  ben  &ei5ung3röljren,  roaljrfiaftig,  ein  äufammengefnitterteä 
Rapier!  .  .  .  3tym  roar  ju  9JJutt)e,  als  fei  eä  unmöglid),  bafj  er  fotdjeä 
©lüct  f)ätte!  3lber  roarum  nid)t,  roar  e§  bod)  nur  eine  2Baf)rfd)einlid)feit3s 
red)nung,  roetd)e  ftimmte! 

9Wit  einiger  ÜJ?ür)c  fjolte  er  ba3  Sßapter  au§  bem  SBinfet  Ijeroor, 
rooljin  eä  beim  Peinigen  ad)tlo$  mit  bem  söefen  gefdjoben  fein  mod)te.  @r 


382 


  JJTite  Kremniö  in  Suforeji.   


fe|te  fid)  Ijin,  et)e  er  es  glättete.  ©S  roar  ein  ©oucert  ofme  2lbreffe,  aus 
leichtem  engtifdjen  Rapier;  gefcf)loffen  mar  eS  nie  geroefen,  fjatte  alfo  rooljl 
urfprüngltdj  in  einet  jroeiten  Umhüllung  geftecft.  Sangfam  jog  Äurt  Sraun 
aus  bem  ©ouuert  einen  Keinen  Briefbogen,  ber  gleid)  jenem  eine  Ätone 
trug  unb  mit  einer  jterlid»en,  beutlidjen  ßanbfcfirift  befdirieben  mar,  o^ne 
Datum  unb  Unterfdjrift;  er  lautete: 

,,©S  ift  rooljf  ein  5U  großem,  ju  unmenfcjjtidjes  Dpfer,  roaS  id)  Dir 
}umutf)e?  Du  fetbft  wirft  entf Reiben,  unb  mag  Du  audj  tljuft,  eS  foll 
mir  red)t  fein!  SCag  unb  9lad)t  »erfolgt  mid)  bie  quälenbe  ©elmfud)t, 
Dir  nodj  einmal  in'S  9luge  ju  flauen,  ©eine  roeid)e  fleine  £anb  nod) 
einmal  ju  faffen.  Umfonft  fage  id)  mir,  bafj  eS  ein  ^rcfinn  ift,  Dir  bie 
3Wül)fal  einer  fo  langen  unb  befdjroertidien  galjrt  aufjuerlegen,  ba  mir 
roeber  jufammen  fterben  nod)  leben  bürfen.  Die  ©efmfudit  roädjft  unb 
concentrirt  fid)  auf  bieS  ©ine,  baS  lefete  3JlaU 

„2Benn  Du  allein,  unter  frembem  JJamen  —  nenne  Didfi  Xfjun  nad) 
bem  See,  ber  uns  einmal  gefd)aufelt  ()at  —  am  nädjfieri  Donnerstag  }u 
Sßien  im  Grand  Hotel  abftiegeft,  fo  fömrte  tdj  Dtd)  jwifdjen  brei  unb 
fünf  Uh>  JiadjmittagS  auffudjen.  Die  -Jiummer  Deines  3in"nerS  müjjteft 
Du  mir  in  einem  ©ou»ert  burd)  bie  Sßoft  gleich  nad)  Deiner  3lnfunft  ju= 
fenben,  bamit  id)  im  £6tel  nidjt  su  fragen  brauste.  Dort  femtt  mid) 
Sliemanb,  unb  au<$  Du  wirft  »erfdiroinben  in  bem  grofsen  belebten  £6teL 
3d)  jäf)le  bie  ©tunben  bis  ju  jenem  SBieberfefien  —  roaS  nadjljer  folgt, 
ift  fdjroarje  9iad)t.  greittd)  feine  fo  fdjroarje,  bafj  mir  nid)t  bie  ©r« 
innerung  an  bie  grau,  bie  mid)  jur  ©rfenntnifj  beS  SebenS  unb  meiner 
Sßfftdjten  gebracht  b,at,  fternen^ell  barin  leudjten  wirb!  ©inS  bleibt  mir 
immer:  unauSlöfdjlid&e  Danfbarfeit  gegen  Didf)!" 

£urt  33raun  las  es  jroeimat,  unb  ib^rn  roarb  eisfatt.  Die  Sfimung 
einer  anberen  ©efü^lSroelt  als  jener,  in  melier  er  bisher  gelebt  blatte, 
brad)te  if)m  eine  unheimliche  ©mpfinbung  unb  lähmte  il)m  bie  Ueberlegung. 
©rft  «13  ber  3U3  «nb  er  auSftieg,  um  mit  bem  nädjften  3u9e  nadj 
Kempten  surudjufaliren,  nmrbe  tytn  flar,  roie  wenig  er  erreicht  blatte  von 
bem,  n>aS  er  erhofft.  6t  legte  fid)  bie  befrembenben  ^atfac^en  juredjt: 
Diefe  grau  mar  l)eimli<f)  eine  roeite  ©trede  gereift,  um  'einen  2JJann  ju 
fetyen,  mit  bem  fie  „roeber  leben  nod)  fterben"  burfte,  alfo  augenfdjetnlid) 
nidbt  itiren  legitimen  ©arten!  <Sie  blatte  fid)  oorgefeb^en,  bafj  fie  nidjt 
erfdnnt  roürbe;  9iid)tS  beutete  auf  ityren  @tanb  unb  SRamen  f)in;  fie  blatte 
roalirfd&einlidj  auc?  feine  birecte  Jioute,  fonbern  ber  ©tcfjcrrjeit  roegen  einen 
Umroeg  gerodelt.  3weifelloS  fjarte  fie  furchtbare  geiftige  unb  feelifdje  &c- 
regungen  burd)gemacht  unb  eine  Stranffieit  mit  fid)  gefd)lepnt,  an  ber  fie 
5ufammengebrod>en  roar.  —  2luf  ber  Qin-  ober  Sriictreife?  DaS  war 
leid)t  su  entf (Reiben  —  Stucfreife!  ... 

SBaS  aber  follte,  roas  fonnte  er  nun  für  fie  tlmn?  Zfyc  fetbft  roäre 
rool;l  am  beften,  fie  ftürbe!  ©inen  Slugenbtid  roar  ib^m  fogar,  als  müffe  er 


Sein  Brief.   


383 


nriinfd&en,  bafj  fte  ftürbe.  £)odfj  nein,  nur  im  Vornan  löft  fx<^  ber  ßonflict 
burcfj  %ob  jur  redjtett  Seit,  ©ie  aSBirfCid^fcit  ober  jroingt  ben  3Jlm\ä)en, 
mündig  felbfi  feine  SBerrotcflungen  su  töfen,  unb  läßt  ifin  crft  bann  fterben, 
roemt  tljm  2tlle3  gerabe  boran  Regt,  weiter  ju  leben! 

SßaS  fonnte  er  für  fie  tfmn?  .  .  .  @r  ging  eine  2Beile  auf  bem 
Sßerron  auf  unb  ab.  ©r  fagte  ficlj,  bafj  er  rate  ein  Detecti»  ficb,  in  bie 
©efieimniffe  einer  gremben  eingefdfilicfjen  batte,  unb  roar  eä  aucf)  aus  reinfter 
2)?enf(^nfreunblidE)feit  gcfdEietien,  fo  befferte  ba§  bie  Sage  mcf)t.  liefen 
33rief,  ben  er  jefet  in  ber  33rufltafdfje'  trug,  burfte  er  nidit  gelefen  Ijaben, 
ber  burfte  nifyt  mefjr  eriftiren;  aber  ein  9tedjt,  t^n  ju  t>ernidjten,  traute 
er  ficfj  aucfj  nicfjt  ju.  SBer  weife,  oielleid^t  fonnte  ber  33rief  i^r  nod)  einmal 
jur  SRedfjtfertigung  bienen?  —  6r  felbft  mufjte  t^r  gegenüber  ftetS  tbun, 
als  fämtte  er  ilm  ni<$t,  unb  burfte  ib,n  if>r  audj  nur  im  $alle  ber  ©efaljr 
roiebcrgeben!  2ld(j  ©ott,  baä  2lUe3  mar  fo  un^eitoott  oerfnotet  unb  »er= 
f jungen,  baf?  ber  Gimmel  am  ®nbe  ein  6infeb,en  fiaben  unb  fie  abrufen 
roürbe!  <Sie  ftürbe  gerotfj  aucfj  gern,  nacfj  bem  furchtbaren  ©dfjmerj  ber 
Trennung  oon  bem  2Ranne,  ben  fie  über  9UIeä  geliebt  —  ober  mar  e3 
»ieffeicf)t  bocb,  fein  -Kann?  konnte  e§  niefit  aucb,  eine  grau  fein,  eine 
überfdfjroänglicfj  geliebte  greunbin?  .... 

Kurt  35raun  sog  ben  Brief  nodfj  einmal  liernor  —  9Iein,  roofil  roar 
e3  ntc^t  mit  bürren  SBorten  gefagt,  aber  e3  roar  ein  Wlaxm,  es  mufjte 
einer  fein! 

$f)m  rourbe  bie  Stunbe  beS  SBartenS  nidjt  lang,  bis  ber  nädfifte  3«g 
nad)  Kempten  in  SBefeigau  einlief;  ber  Kopf  roirbelte  ü)m  »or  angftootlem, 
frudf>tlofem  Ueberlegen. 

2JJÜ  fettfam  peränberten  ©efüljlen  trat  er  roieber  an  baS  Sager  ber 
Ktanfen.  ©r  mu|te  fie  immer  roieber  barauffjin  anfeilen,  ob  fte  roof)t  fei, 
roaä  bie  £ugenbtjaften  eine  ©ünberin  nennen.  9lid)t,  baff  eS  für  tljn,  ben 
Slrjt,  in  iljrem  jefcigen  3ufan^e  ben  geringften  Unterfdf>ieb  gemacht  tiätte, 
aber  il)m  fdfjien  bie  grage  bocb,  aufproerfen  ju  fein,  ob  bie  ©eeletroerfaffung 
beS  SJlenfcb.en  bei  über  39°  Körpertemperatur  fidt)  nodjj  entfdfjetben  taffe? 
(Sigentlid)  roar  bocf)  2ltte3,  roa*  er  an  feiner  Patientin  beobachtete,  nur 
feine  eigene  $l)antafie;  fie  lag  ba  roie  jebeS  fcfjrocrfraufe  SBefen  au£  gleifcfj 
unb  SBlut,  nur  anfprucljslofer  als  bie  meiften  Kranfen;  bodfj  ba£  fomtte 
aucf)  an  ber  3trt  itjrer  Kranffieit  liegen.  —  ®aft  ber  2J?ann,  von  bem  ber 
bünne  Briefbogen  mit  ber  Krone  barauf  ftammte,  jener  ^kinj  greb  fein 
mußte,  über  beffen  Sßermäfilung  bie  „5Mndt)encr  allgemeine''  beridjtet  blatte, 
feinen  bem  Slrjte  flar  ju  fein.  3lber  biet/  wo  e3  fidf)  um  Seben  ober  3^ob 
unb  um  bie  oerroidfeltftcn  menfdb,lid)en  ©eelenbejiefiungen,  um  einen  roirflid^en 
©cfi,merj  banbefte,  b,ier  Ratten  ©tanb  unb  bob,e  Stellung  aufgehört,  für  ibn 
33ebeutung  ju  b,aben,  obgleid)  fie  e§  roalirfdpeinitch  geroefen  roaren,  bie  jroei 
liebenbe  9Kcnfd^en  getrennt  Ratten.  —  9iur  eine  ^bee  uerfdgeuc^te  Kurt 
35raun  mit  Unbebagen:  bafj  biefe  »orneb,mc  feböne  $ra\i  eine  £änserin  ober 


38<t 


  ZTIite  Kremntfo  in  Bufarefl   


©ct)aufpielerm  fei.  (Sine  foldje  SSorfteltung  wollte  er  nid(jt  auffommen 
taffeit,  nein,  etjer  alles  2lnbere!  Unb  bodt»,  Iwlen  Sßrinjen  fidj  tljre  Qbole 
nicljt  meift  aus  jenen  Streifen?  «Sollte  ber  ©fjering  ber  Äranfen  etroa  ein 
falfcfjer  ©djmucf  fein,  wie  »ielleidjt  audt)  bie  uon  ben  ©c&roeftern  fo  an; 
geftaunten  brillanten  in  ifjrem  Dljre?  .... 

*  * 
* 

$)ret  bange  £age  »ergingen.  Sturt  SBraun  tjatte  feinen  Srieffunb  in 
baS  ©etyeimfacc)  feines  ©ecretärs  uerfdjtoffen  unb  att  fein  $>enfen,  all  fein 
©orgen  ber  Äranfljeit  beS  unbefannten  jungen  SßetbeS  geroibmet,  bie  iljren 
tm>tfcf>en  SBerlauf  naljm.  68  roar  immer  nodf)  mcfjt  ju  fagen,  ob  ifyre 
Gonftitutton  unterliegen  ober  roiberftef)en  mürbe;  bie  ©tabt  blatte  fiel)  über 
bie  ©adfje  Iängft  auSgefprodjen,  fie  mar  tt)r  ju  tangroierig. 

5ßon  ben  ©ebroeftern  treulich  unterftüfct,  leiftete  25octor  33raun  Unglaube 
Ud)e3,  um  ber  2Butf)  ber  Qttfection  entgegen  ju  treten,  unb  aufjerfjalb  beS 
©rtrajimmerS  abbitte  man  9tict)tS  oon  feiner  Eingabe  unb  Slufopferung. 
©eine  fräftige  3latur  tiefe  feine  33eränberung  merfen;  feine  frtfdt>crt  rotten 
SBangen,  bie  ibm  ein  fo  appetitliches  2tuSfet)en  gaben,  behielten  trofc  ber 
9lact)tmadt)en  if»tc  garbe  unb  9tunbung. 

Gnbttctj  fam  bie  2lntroort  beS  SBiener  ©efajäftstjaufeS;  fie  rourbe  bem 
2lrjte  roätjrenb  fetner  SSifite  im  ftranfenbaufe  einget)änbigt.  Gr  marf  einen 
furjen  33ttcf  auf  bie  girma,  bie  bem  Gom^rt  aufgebrudft  roar,  unb  fteefte 
ben  2Mef  in  bie  £afd)e.  Grft  nadjbem  er  alle  Äranfen  abfofotrt  jjatte, 
ging  er  in  fein  3imiuer,  um  tfm  ju  öffnen.  Gr  tljat  eS  otjne  $aft,  rote 
otjne  Hoffnungen. 

*3Me  gtrma  tljeitte  ifjm  mit,  bafj  fie  aus  bem  beigelegten  ©toffe  »or 
»ier  Sßodjen  eine  9?eifetoitette  für  iljre  langjährige  Äunbin,  bie  ®emaf>lin 
beS  bänifdjen  2egationSratf)eS  33aron  Äjerfunb,  in  SßartS  angefertigt  unb 
iljr  nact)  abtntn,  33iHa  Serefa,  überfanbt  b«be. 

3ltfo  enblicf»!  .  .  .  $f)m  roarb  eigentfiümticc)  pUWutbe:  $>a  war  nun 
bie  3tuefunft;  er  rouftfe  nun,  roofrtn  er  fief)  roenben  follte,  aber  er  Ijatte  fub. 
irt  biefen  Sagen  auet)  übertegt,  bafj  er  bie  grau,  wenn  fie  oerfietrattjet  roar, 
tjoffmmgSloS  compromittiren  roürbe,  falls  er  if»rem  9)?amte  ibren  gegen* 
roärtigen  2lufentf)attSort  unb  bamit  ifire  Steife  nadt)  SZBten  »errietbe.  — 
3a,  roenn  fie  bei  SBefinnung  roäre,  bann  blatte  er  mit  if)r  eine  gäbet  er» 
fintten  tonnen,  unb  roenn  Tie  geftorben  roäre,  roürbe  bie  fd^roarje  Stacht 
2lHeS  begraben  fiaben,  fctbft  in  ben  9lugen  tbreS  (Satten.  Slber  nietteidjt 
follte  fie  roeiterteben;  fie  blatte  Äinber  —  roettlidfje  9tocfftct)ten  mußten  alfo 
eine  9toHe  in  feinen  Gntfcbliefjungen  fpieten,  unb  er  wollte  nur  troffen,  baß 
feine  erften  übereilten  3eitungSaufrufe  m(^t  fct)on  9lUe3  »erborben  bitten! 

Stein  einziges  2)?al  fragte  er  fidb,  roetcf)'  ungeroölintidbeS  3'öereffe  i§n 
fo  fdjarf finnig  gemacht  babe;  audf)  ntdfit,  roober  er  eine  fo  ftarfe  äntipat^ie 


  Sein  Brief.   


385 


gegen  ben  unbefannten  ftjerfunb  liegte.  3umtäjft  warb  er  oon  ber  Aufgabe 
in  2lnfprucf)  genommen,  ju  conftatiren,  ob  nid)t  etwa  bie  Saromn  Äjcrfunb 
mnnter  unb  gefunb  in  ber  2Ma  Serefa  am  S^unerfee  lebte.  fietdr)t  war 
biefe  2lufgabe  nicrjt  für  ihn.  ©r  muffte  eä  berweil  üermeiben,  ben  üftamen 
ßjerfunb  b^ter  befamit  ju  machen,  beätjatB  burfte  er  nicht  telegraphtren. 
■Hein,  er  roufjte  nur  ben  einen  2tu3roeg:  felbft  nach  Sfym  ju  fahren  unb 
Umfrage  ju  Ratten!  .  .  .  ©r  fanb  rafdfj  einen  SBorroanb,  um  fich  einen 
£ag  Urlaub  ju  nehmen:  ©in  franfer  greunb  roar  auf  ber  ©urdfjreife  in 
3üridh  unb  wollte  ihn  confultiren.  —  2lu3  bem  ©urSbudf)  erfuhr  er,  bafj 
er  bie  £in*  unb  9iü<ffaf>rt  in  einem  £age  unb  jroet  SRäcbten  mürbe  machen 
fönnen. 

SRadhbem  er  fidfj  3lffeS  zurechtgelegt,  6efdE)lofj  er,  auch  ©djroefter  2lnna 
3iict)tä  ju  fagen;  er  blatte  e§  ftets  für  ba§  SBeifefte  befunben,  2lnberen  fo  roenig 
n»ie  möglich  mitäutb,eilen,  ba$  erfparte  fo  oiete  Unannehmlichkeiten,  gubem 
mar  ihm  roof>l  bewußt,  baf?  ©chroefter  2lnna  ihn  eiferfüd^tig  übermalte  unb 
e3  für  if)r  fpecielleS  SWcc^t  hielt,  in  feinem  Sßertrauen  ju  fein;  hoffentlich 
hatte  fie  nidht  fcljon  erfahren,  bafj  er  einen  33rief  aus  SBien  befommen  hatte? 

3lm  2tbenb  roar  alles  SRötfjige  uorbereitet,  unb  er  fuhr  mit  bem  9iacb> 
juge  nach  Sinbau;  »on  ba  über  ben  ©ee  nach  3üricr)  unb  weiter  nach 
£f)un,  roo  er  am  nächfien  Nachmittage  anfain.  ©8  mar  büftereS  9lebet= 
unb  Stegenroetter ;  man  fornite  fich  in'ä  gladjlanb  werfest  roäb,nen,  fo  btd&t 
Derfdjletert  roaren  bie  Serge.  Äurt  33raun  fragte  auf  bem  ^Bahnhofe  nadb. 
ber  3SiHa  £erefa  unb  roarb  nach  einem  fletnen  eleganten  ©ebäube  bidjt 
am  ©ee  geroiefen.  31uf  fein  klingeln  trat  ein  ©ärtnerburfche  fyxauä, 
ber  lange  3cü  brauchte,  ehe  er  bie  grage  beS  ^remben,  ob  Baronin 
Äjerfunb  hier  molme,  baf)in  beantwortete,  bafj  bie  £errfd(jaften  tt>ot)I  fo 
geheißen  haben  möchten;  fie  mären  aber  fct)on  längft  fort. 

Kurt  93raun  forfcbje  weiter,  ob  auch  ein  £err,  unb  ob  Äinber  ba= 
geroefen  feien;  ber  Surfdje  Jonnte  ieboch  nichts  91nbere§  berichten,  als  bafj 
bie  33illa  fdfjon  feit  ein  paar  SBodfjen  leer  ftehe.  —  ©nttäufcbt  wanbte  ber 
3lrjt  fidb,  in  baä  nädhfte  $ötet.  9lud&,  tyex,  wie  auf  ber  Sßoft,  brachte  er 
9Ud(jt3  oon  Sebeutung  in  (Erfahrung,  nur,  bafj  in  ber  £bat  jene  93iUa 
roährenb  beS  ©ommerS  »on  einem  Saron  Äjerfunb  unb  feiner  gtanilie 
bewohnt  gewefen  fei.   ©injelheiten  wußte  JHemanb  anjugeben. 

©octor  SBraun  mufjte  fich  fagen,  bafj  feine  £f)uner  Steife  ein  9Wifj= 
erfolg  roar.  SBer  bürgte  ihm  bafür,  bafj  feine  Sranfe  unb  biefe  SBaronin 
Äjerfunb  »on  ber  SMa  J'erefa,  an  welche  bie  2Bicner  girma  eine  Toilette 
gefdb^idtt  hatte,  eine  unb  biefelbe  ^ßerfon  waren?  ©ewifj  gab  e§  üiele 
©amen,  bie  in  biefer  ©aifon  au3  einem  r>on  ber  9)iobe  gerabe  begünstigten 
©toffe  fich  SReifefleiber  hotten  anfertigen  [äffen!  —  ©er  etnjige  3lnhalt§5 
punft,  ben  er  behielt,  war,  bafj  jener  SBrief  Pom  %\)UMtfee  fprach,  unb 
abjuweifen  war  bie  9ttögticf)fcit  nicht,  bafj  feine  Äranfe,  ehe  fie  bie  SReife 
nach  SBien  antrat,  bie  Sßtlla  Jerefa  bereite  feit  geraumer  3«*  oerlaffen  hatte. 


386 


  ITttte  Kremnifc  in  Snfarejt   


■Dltjjmutljig  lehrte  fturt  33raun  nad)  bent  8af)ttf)of  jurütf;  er  mufjte 
fid)  beeilen,  roenn  er  ben  2lbenbjug  nodj  erreichen  unb  am  näajften  $im 
mittag  redjtjeitig  in  ftempten  eintreffen  rootlte.  2Bäf)renb  bet  langen, 
einfamen  gaJjrt  flof)  ifm  bet  ©d)laf.  @r  mar  unsufrieben  mit  ftd&  felojt 
unb  fd)alt  ftd)  einen  Marren.  —  2Ba«  in  aller  Sßelt  fyatte  er  fid)  für 
frembe  Seute  ben  Äopf  ju  jerbred)en  unb  3«t  unb  (Selb  roegjuroerfen!  — 
©ollte  feine  Patientin  roirflid)  mit  bem  Seben  bawm  lommen,  fo  mürbe 
fie  itmt  fdjon  ba«  üHötfiigfte  felbft  fagen;  fotlte  fie  aber  fterben,  —  nun,  fo 
mürbe  e«  fie  aud)  nid)t  retten,  roenn  er  iljren  SWann  unb  ifyre  gamilie 
ifir  jur  ©teile  fajaffte!  — 

*  * 
* 

©leid)  nad)  feiner  2lnfunft  in  Äempten  galt  fein  erfter  ©ang  bet 
Äranfen.  (Sin  einsiger  23lid  überzeugte  ifm,  baf?  bie  Äranfb^eit  auf  if>rem 
^öbepunft  angelangt  fei,  unb  ba|  fie,  bie  einft  fo  liebltdje  junge  grau, 
jefet  traurig  entftellt  burd)  bie  SButf)  be«  Seiben«,  roafjrfdiemlid)  im  Saufe 
biefer  2Bod)e  fterben  mürbe. 

3n  ber  bebenben  2lngft,  bie  biefe  brofjenbe  2lu«fid)t  in  tfjm  erroecfte, 
la«  er  jenen  SBrief  nodj  einmal  unb  fdjrieb  bann  in  aller  £afl  an  bie 
®itection  be«  ©ranb  Rötels  in  Sien,  ©ein  93orfafe  »on  ber  »ergangenen 
9tadjt,  9Jid)t«  melir  jur  Söfung  be«  3?ätb,felS  ju  tfmn  unb  ben  Singen 
ibren  Sauf  ju  laffen,  mar  »ottftänbig  »ergeffen;  er  rounberte  fid)  nur,  baf} 
er  nidjt  fd)on  oon  Anfang  an  biefe  ©pur  »erfolgt  liatte.  2lud)  an  bie 
SBiener  ^olijei  fafjtc  er  ein  Schreiben  ab,  bod)  ba«  fd)roere  SBebenfen,  in 
roetdie  Sage  er  baburcf)  bie  junge  grau  möglicher  SBeife  bringen  mürbe,  fjtelt 
itm  baoon  jurücf,  biefe«  ©d)retben  abjufenben.  Sßenn  iie  nun  meiterleben 
foDfte  ?  ®anj  au«gefdjloffen  mar  ba«  ja  md)t!  —  gall«  ber  Wlarm,  ber 
fie  am  9tadjmittage  be«  23.  ©eptember«  im  £6tel  aufgefuajt  blatte, 
roirllid)  jener  ^rinj  greb  geroefen  roar,  bann  befaß  bie  geheime  Ißolijei 
natürlich  .Qenntnifi  baoon  unb  tjatte  fid)er  aud)  ber  ®ame  nadjgeforfdjt  ®ie 
Sßolijei  roar  alfo  nur  in  biefem  gatle  im  ©tanbe,  ifmt  2lu«funft  ;u  geben, 
aber  jugleid)  compromittirte  er  bann  bie  grau  l)offnung«lo«  in  ben  2lugen 
if»re«  Pfanne«!  D,  bat?  er  bod)  nur  einige  Jage  in  bie  Su&wft  bilden 
fömtte,  um  ju  roiffen,  ob  fie  bem  £obe  gemeint  fei!  ...  ®r  mufjte  bod) 
root)t  abroarten,  bi«  er  3lntroort  au«  bem  &ötel  erhielte.  .  .  .  3lber  bi« 
baf)in,  roie  otele  bange  ©tunben!  3a,  mürbe  benn  ba«  £ötel  ib,m  über» 
fjaupt  antroorten?  ©id>er  roar  ba«  fetne«roeg«,  unb  besfialb  mufte  er 
bod)  feinen  SJrief  an  bie  $oltjei  abfeuben!  .  .  . 

9iadj  langer,  harter  Üebcrlegung  führte  er  biefen  (5ntfd(lu&  au«. 

©ine  Hiertelftunbe  fpäter  roarb  er  eilig  in'«  £ofpital  gerufen;  ein 
Settel  non  ber  £>anb  ber  ©df>roefter  3tnna  enthielt  bie  SBortc:  „Um  ©orte« 
SBitten,  fommen  ©ie  fogleidj!"  — 


  Sein  Brief.   


387 


2BaS  foUte  er  bort?  Sffienn  ber  £ob  fdfjon  eintrat,  fonnte  audf)  er 
nicfit  fjetfen!  .  .  .  ©eltfam  genug  war  eS,  baf?  bei  biefer  Traufen  fogar 
bie  fonft  fo  gefegte,  überlegte  ©djroefter  2ltma  ib,r  ©leidjmafe  »crlor.  ©ab 
es  roirflid)  SDJenfdfjen,  um  bie  berum  &bex  aus  feiner  eigenen  9?atur 
IjerauS  in  bas  Slufjergeroöfmltdje  getrieben  rourbe? 

Äurt  fetbft  roar  fiä)  fe^r  roof)l  beroufjt,  ba§  audj  er  aus  feinem  ©teidj= 
tnafj  gefommen  war,  bocf>  baS  fonnte  aucb,  pbjfifdie  ©rfinbe  (jaben,  er  rjatte 
ja  feit  mef>r  als  a<J)t  Sagen  feine  9?aä)t  ruljig  gefdblafen.  Unb  bann  bie 
ganje  erbrüdenbe  Saft  biefer  SSerantroortung!  — 

©r  mar  am  $ranfenf)aufe  angelangt  unb  eilte  mit  feinen  Meinen 
fjämmernben  (Schritten  bie  Steppe  Ijtnauf  unb  tn'S  ©rtrajimmer.  —  3?or 
bem  33ette  ber  Äranfen,  fein  £aupt  auf  ifirer  ©cde,  tag  ein  Ijocfigeroacljfener 
SWamt  .  .  . 

fturt  33raun  blieb  wie  angerourjelt  an  ber  Zfyür  fteb^en.  Sdjroefter 
Slnna  fläfterte  il»m  ju:  „@r  ift  faffungStoS,  mir  fiaben  Unt  eben  erft  aus 
ber  Dfmmadjt  erroedt  —  idf)  baä)te,  er  gäbe  ben  ©ctft  auf!  .  . 

3efet  fprang  ber  grembe  auf,  ging  bem  Slrjt  entgegen,  ergriff  beffen 
beibe  &änbe  unb  ftammette  einige  SBorte,  roäfirenb  bie  Sfyränen  ilmt  über*S 
©eftcfit  rannen,  iturt  33raun  roarf  rafd)  einen  SUtd  auf  bie  Stranfe  — 
blatte  fie  fd)on  ju  atfimen  aufgehört?  9?ein,  es  mar  2tlIeS  beim  3llten, 
aber  wer  mar  biefer  SWann?  3f)r  ©arte  fonnte  es  bocr)  nicfit  fein  —  war 
es  ber  ^rinj?  .  .  . 

„3ft  feine  Hoffnung?"  ftiejj  ber  grembc  müfifelig  b.eroor.  ßurt  trat 
an'S  Söett,  judte  bie  9ld)feln  unb  fagte  leife,  als  er  bem  angftooUen  35licf 
beS  ib,n  um  .Haupteslänge  überragenben  ftarfen  ÜDJanneS  begegnete:  „Hoffnung 
ift  immer,  fo  lange  nocf)  2ltf)em  ift,  unb  fie  ift  jung  .  .  ." 

„©tebenunbsroanjtg  3af>re,"  ffüfterte  ber  Slnbere.   „Seibet  fie?" 

Äurt  jucfte  roieber  bie  2lcf)fctn.  SBaS  für  eine  $rage,  man  fall  ja, 
roie  fie  litt!  —  „<5ie  ift  beroufjttoS,"  antwortete  er  auSroeidjenb. 

£er  $rembe  fniete  von  Steuern  »or  bem  33ette  nieber  unb  natym  bie 
£anb  ber  Äranfen  facfitc  jroifäjen  feine  beiben  £änbc;  er  faf)  aus,  als 
fjabe  er  »ergeffen,  baf?  nocf>  3lnbere  im  Limmer  roarcn.  <Sidj  über  fie 
neigenb,  rebete  er  leife  in  fie  hinein  unb  ftöfjnte  fdjmerjltdj  auf,  als  feine 
Sßorte  Tie  gar  nid)t  ju  berühren  fcfjienen. 

3f)r  ©atte  foitnte  es  nidjt  fein,  entfdjieb  Äurt  33raun;  ber  toürbe  bod) 
befrembct  fein,  roie  fie  Ijergefommen,  unb  fid)  erfunbigen,  feit  mann  fie 
im  5tranfenf)aufe  läge,  unb  roie  man  fie  aufgefunben  blatte;  nur  ber  Sieb» 
b,aber,  ber  ba  raufte,  roie  2llleS  jufammenfling,  fonnte  bie  Sage  fo  fetbft* 
nerftänblid)  Ijinnelmien!  —  Slber  rocid/  ein  fdjöner  SWann!  ©eine  atfjtetifcfie 
©eftalt,  bie  Äräufetung  feines  braunen  £auptf>aareS  erinnerten  an  antife 
©tatuen,  ebenfo  roie  ber  ©djnitt  ber  faft  ju  großen  3lugen.  ®ie  gerabe 
SRafe  roar  fo  ebel  roie  bie  Sinie,  bie  oom  Df)r  jum  Kinn  lierablief  unb 
burd)  ben  gepflegten  Vollbart  b^nburd;  erfennbar  roar.  Äurt  blieb  einen 

»ort  unb  «Ob.  LXXV.  225.  26 


388 


  Utile  Kremnijj  in  Bnfarejl.   


2lugenbtt<f  in  bie  33erounberung  biefer  Wanne«fd)önb>it  »erfunfen.  Stbt 
Seroegung  be«  Körper«,  jeber  2lu«brud  ber  SDJienen  biefeS  3Renfä)en  atljmete 
fd)lid)te  ^atürlidjfett. 

<3d)roefter  2lnna  l»ottc  bem  2lrjte  Stifyen  gemalt;  ba  er  )le  nid^t 
beamtete,  jupfte  fic  ilm  am  2lertncl  unb  nrinfte  üjm,  in'«  Sicbcnjimmet  p 
treten.  £ier  erjagte  fie  iljm,  bafj  ber  grembe  burd)  bie  3«t"n93nad)rid)t 
fiergefüfirt  war,  b.  t|.  baß  beim  Sefen  jener  Slotij  ilm  eine  unbejnringlidje  ängft 
befallen  fjattc,  jumal  ba  er  auf  eine  ®epefd)e  an  feine  grau  nad)  3"ridi 
feit  mehreren  Sagen  otyne  SSfatroort  geblieben  mar;  al«  er  bann  auf  feint 
Anfrage  pon  ber  Kammerfrau  —  ober  Sonne  —  benadjrtd)tigt  würbe, 
baß  itjre  Herrin  pon  einem  2lu«fluge  nad)  Sern  md)t  jurüdgefefyrt  mar, 
eilte  er  fofort  au«  Kopenhagen  b>rbei.  —  ©r  oermutl)ete,  baß  feine  g-ran 
in  golge  geiftiger  Störung  eine  falfdje  3rid)tung  pon  3ütid)  <»u8  ein* 
gefdjtagen  t)ätte. 

Kurt  Sraun  ftufete.  Sollte  e«  roirflid)  ifyc  ©arte  fein?  Dber  gab 
fid)  ber  Sfabere  fjicr  für  ben  ©arten  aus,  um  bie  geliebte  Kranfe  feb>n 
ju  fönnen? 

@t)e  ber  3trjt  fid)  bafür  entfdneben  blatte,  roa«  ba«  Sffiab>fä)einiid>ere 
märe,  trat  ber  grembe  ein.  Riefet,  roo  bie  franfe  grau  nid)t  meljr  in  feiner 
■JJätye  roar,  fd)ien  er  feine  Selbftbef>errfd)ung  roieberjugeroinnen.  Gr  begann: 

,,3d)  b>be  Qtfmen  für  fo  Siele«  ju  banfen,  baß  id)  e«  nid)t  in  SSorte 
faffen  fann  .  .  ." 

Kurt  Sraun  lehnte  ben  Sani  ab.  @r  l»abe  nur  feine  Sdjulbtgfeit 
gettian,  roie  bei  jebetn  Kranren.  Ungefragt  fefcte  er  bann  bie  Sage  au& 
einanber:  SDer  Sertauf  ber  Kranffieit  fei  ferjr  unregelmäßig  geroefen;  in 
ben  erften  Sagen  f)abe  er  überbaupt  faum  Hoffnung  gehabt;  ba  aber  bie 
Patientin  bisher  am  Seben  geblieben,  fei  e«  triebt  au«gefd)toffen,  baß  ifyct 
Kräfte  aud)  nod)  btefe  2Bod)e  Überbauern  fönnten  —  galt«  ba«  gefd)äb>, 
wäre  alle  2lu«fid)t  auf  &erftellung  .  .  . 

„Sa«  Reifet  alfo,  etgentlid)"  —  $>er  grembe  tonnte  ben  ©a|  nid)t 
Bollenben.  Gr  faßte  fid)  aber  geroattfam  unb  fragte  bann  nad)  äußeren 
©etail«:  Db  er  feiner  grau  ein  anbere«  33ctt  unb  eine  bequemere  ^nftatta- 
tion  nerfdjaffen  bürfc;  ob  e«  fonft  irgenb  eine  @rleid)terung  gebe?  (SS 
ftünben  unbegrenjte  Wittel  jur  Verfügung,  unb  ob  .  .  . 

Kurt  Sraun  füllte,  roa«  fommen  würbe,  unb  fd)tug  felbft  bot,  aus 
9ttünd)en  är$tlid)e  kutoritäten  für  ^nfeetton««  unb  innere  Kranfljeiteu  ju 
berufen. 

Uebcr  2llle«,  roa«  er  oon  ber  Sorgefd)td)te  ber  Kranftjeit,  »on  ber 
(Sinlieferung  ber  Patientin  in  ba«  föofpttal  rougte,  »ertor  ber  bi«crete  Slrjt 
fein  SBort,  unb  ber  ©arte  —  benn  ber  fdjien  e«  roirflid)  ju  fein  —  fragte 
aud)  nid)t  einmal  inbirect  banad). 

<Sd)roefter  9Imta  fprad)  gegen  ©octor  Sraun  iljre  greube  au«,  baß 
nun  bie  Serantroortung  uon  iljnen  Seiben  genommen  fei,  unb  er  enblidj 


Sein  Brief. 


389 


roicber  ruhig  werbe  fd)fafen  fönnen.  Kurt  33raun  thetlte  biefe  freubige 
©mpftnbung  nid)t.  33i?her  hatte  auch  er  gemeint,  bafe  eine  Saft  ihm  vom 
£erjen  fallen  würbe,  fobalb  ba?  ©eheimmfj,  ba§  über  feiner  Äranfen  lag, 
jich  aufgetlärt  r)ättc.  £>a?  mar  ein  ^rrtfium  geroefen.  ©erabe  jefet,  wo  fic 
in  ba?  Normale  be?  gewöhnlichen  Seben?  surücfgegtitten  war,  befd)äftigte 
fic  ilm  mehr  als  je:  $)iefe  grau  mar  im  ©tanbe  geroefen,  einen  folgen 
3Ramt,  einen  ©arten,  ber  mit  größter  Siebe  an  ihr  lung,  ju  hintergehen! 
gaft  hätte  ßurt  33raun  &af;  unb  Verachtung  für  fie  oerfpürt,  aber  fic 
fdiroebte  in  fcfjroerfter  £obe?gefabr!  .  .  .  SBie  mar  e?  nur  möglich!  @r 
fannte  jroar  nid)t  bie  geiftigen  unb  feelifdjen  gäljigfeiten  biefe?  fdjönen 
•Kanne?,  bod)  ftanben  unoerfennbar  ©üte  unb  ©belmuth  ihm  auf  bem 
©efid)t  gefd)riebeit.  —  Unb  raa?  rouftte  Äurt  33raun  fd)lie&lid)  von  ihr, 
bie  unter  ber  fd)aurigen  ßranfhett  ror  feinen  3tugen  hingeioelft  roar?  ®od) 
nur,  roa?  er  in  fie  hineingeträumt  hatte!  (£r  bad)te  über  biefe  eigenthüm* 
lid)e  Xraumfähigfeit  be?  9)Jenfd)en  nad).  2Bar  fie  ihm  junt  ßeile  ober 
pr  gtein  mitgegeben?  —  2113  er  an  jenem  UJtorgen  biefe  bleiche  9JJenfd)en« 
fcfume  juerft  gefehen,  mar  ihm  geroefen,  als  hätte  er  fie  längft  erroartet 
unb  gefannt;  fie  mar  bie  lebenbe  &etbüt  all'  ber  SRomane,  bie  er  in  ber 
Sugenb  gelefen  —  jefet  l>atte  er  fd)on  lange  feinen  nur  £anb  genommen. 
Äetn  einjige?  2öort  hatte  fie  ju  ihm  gefprochen,  unb  bod)  roar  ihm,  al? 
hätte  fie  ihm  fid)  ganj  enthüllt  .  .  , 

Vielleicht  war  fie  aber  nid)t?  at?  eine  frioote  SBeltbame?  SRein, 
einen  93rief  roie  jenen,  ben  er  im  SBaggon  gefunben,  fchreibt  Sftiemanb  einer 
%xa\x,  bie  nicht  jeber  SB.'reljrung  roerth!  Sie  mufite  bie  Stomanfrau  fein, 
ber  nur  ba?  Außergewöhnliche  im  Dafein  gefchieht!  <3ie  roürbe  auch  nid)t 
fterben  —  ber  ßranfheit,  roeld)e  jeben  Slnberen  getöbtet  hätte,  roürbe  fie 
toiberftehen! 

*  * 
* 

9Zad)  einigen  £agen  liefen  bie  3lntroorten  auf  $urt?  tefcte  ©rfunbigungen 
ein:  fie  hatten  jinar  jefct,  roo  er  roufjte,  baft  feine  ßranfe  roirflich  bie 
Saronin  Äjerfunb  roar,  feine  roirfltche  Sebeutung  mehr,  flöfjten  ihm  aber 
bennoch  ein  eigenthümlicbe?  ^Mereffe  ein. 

£>ie  35trection  be?  ©ranb  £ötel  fd)rieb,  baf?  eine  $rau  v.  Xtyin  am 
23.  September  3ftorgen?  ein  »on  3«"<h  <w?  telegraphifdj  beftellte?  Slparte« 
ment  (Salon  unb  (Schlafzimmer  in  ber  erften  Gtage)  bejogen  t)abt,  aber 
fchon  am  2tbenb  roieber  abgereift  fei;  nach  2lu?fage  be?  3tmmermäbd)en? 
habe  bie  3>ame  im  Saufe  be?  Nachmittag?  einen  Vefudj  empfangen,  an« 
fdjeinenb  einen  öerrn,  bemt  ein  foldjer,  ber  aber  nid)t  im  öötet  gewohnt 
habe,  fei  t>om  Sortier  beim  kommen  unb  ©eh?n  bemerft  worben.  ©?gen 
3lbenb  fyabt  bie  Same  bem  3immerma^che't  geflingelt|,  bamit  biefe? 
ihr  beim  Vacfen  ber  Steifctafcbe  behülflid)  fei,  unb  bemfetben  ein  ©olb= 
ftücf  bafür  gefd)enft.    3lu?  biefem  ©runbe  \)ave  ba?  9Jtäbd)en  fid) 

26* 


390    mite  Kremntfc  in  Snfarefl.   

ber  ©ad»e  fo  gut  erinnert,  bafj  fic  nod)  anjugeben  wiffe,  bie  Tarne  f>abe 
tierroetnt  auSgefetyen  unb  über  ftarfe  Äopffdmterjen  geflagt.  TaS  Ttner, 
weldjeS  fie  ftd)  auf  tt)rem  311™™*  f)abe  fertnren  taffett,  fei  unberührt 
wieber  abgetragen  warben.  S3on  ü)rer  Sfafunft  bis  ju  ifjrer  3tbreife  fjabe 
bie  Tarne  baS  £ötel  ntdbt  oerfaffen. 

Tie  ßotelteitung  f»atte  atfo  bie  gragen  bei  StrjteS  genau  beantwortet"; 
bie  Sßolijei  bagegen  oeruietgerte  jebe  2luSfunft,  b.  f).  fie  leugnete,  bajj  fie 
t»on  ber  2tnn>efenbeit  einer  grau  v.  Tf»un  in  2Bien  Äemttntfc  gehabt 
f)abe.  @S  mar  Ijöftid),  baf?  fie  überhaupt  geantwortet  Ijatte;  Äurt 
83raun  brauste  ir)re  2tuSfunft  aud)  nid)t  tneljr,  feine  9Me  als  Tetcctb 
mar  überhaupt  auSgefpiett. 

@r  fdjtof?  bie  Sriefe  aus  SBien  ju  jenem  im  SBaggon  gefunbenen  unb 
naljm  fid)  oor,  fid)  tiinfort  fo  wenig  als  mögtid)  mit  ber  ©ad)e  ju  befaffen; 
am  liebften  tiätte  er,  um  auf  anbere  ©ebanfen  ju  fommen,  einen  fur&ttt 
Urtaub  genommen,  aber  baS  r)ättc  ben  2tnfd)etn  erwedft,  als  füllte  er  )u| 
beleibigt,  ba{i  man  jwei  fogenamtte  2(utoritäten  berufen  Ijatte;  beteibigt 
aber  war  er  nid)t  unb  Ijatte  aud)  feinen  ©runb  baju,  ba  bie  Herren  er« 
Märten,  baf?  bie  Skbanblung  uidjt  beffer  l)ätte  fein  fömten  unb  bie  Äranfe 
fid;  in  ben  beften  &änben  t»efänbe.  Gr  wollte  alfo  abwarten,  bis  bie 
ÄrifiS  überftanben,  unb  er  bie  <5id)erf)eit  it)rer  Rettung  l)ätte;  alsbamt 
gebaute  er  fid)  einen  Söefud)  im  Glternfjaufe  ju  gönnen. 

Sharon  Äjerfunb  batte  bereits  mit  ben  fremben  Slerjten  barüber  ner* 
Ijanbctt,  wann  es  mögtid)  fein  werbe,  bie  Äranfe  ju  tranSportiren;  er  r)atte 
ben  ^Slan,  fie  bis  ju  ifprer  oöiligen  ©enefung  in  5?i,;ja,  in  ber  SBiOa  eines 
greunbeS,  unterjubringen.  —  Äurt  SBraun  fagte  fid),  ba|  er  bann  bie 
rätbfelbafte  grau  nie  wieberfetyen,  unb  baf?  fie  nie  erfahren  würbe,  wie 
tief  er  in  baS  ©eljcttmtif?  iljreS  $erjcnS  eingebrungen  war!  — 

Ter  tefete  Tag  ber  britten  Äranff)ettSwod)e  war  angebroeben;  feit  fetner 
2lnfunft  rjatte  ber  ©atte  jebe  9Jad;t  bei  feiner  grau  gewad)t  unb  nur  am 
Sage,  wäftrenb  bie  Äammerfrau,  bie  er  fyatte  fommen  taffen,  fid)  mit 
ben  Sditueftern  in  bie  Pflege  feilte,  fid)  ein  paar  ©tunben  ber  9?ul»c  über« 
laffen.  Gr  mufte  eine  9iatur  oon  fettener  SBiberftanbSfraft  befi&en;  cS 
war,  als  ob  bie  furdjtbare  (Spannung  ibjt  aufredit  erhielte.  Dbne  ein 
SBort  ju  fagen,  ja,  obne  aud)  nur  eine  einjige  grage  ju  ttjun,  befolgte 
er  bie  ärjtlidjen  2?orfd)riften  auf  baS  $ünftlid)fte;  er  trug  bie  Keine, 
jarte  ©eftatt  in'S  33ab  unb  legte  fie  im  5Bette  um,  immer  in  ber  Hoffnung, 
fie  würbe  il)it  enbtidj  erf ernten,  ein  2Bort  für  ifm  tyaben.  9?ur  einmal 
f>atte  er  ben  Toctor  bcfdbworcn,  baf?  er  bie  Äranfe,  falls  es  hoffnungslos 
fei,  nid)t  unnötbig  quälen,  fonbem  %  baS  Sterben  erleidjtern  möge.  Äurt 
"Braun  f>atte  aber  erroibert,  fein  gaH  bürfe  bem  2trit  burd)auS  boffnungS* 
loS  fein. 

Tie  franfe  grau  fpradj  ntd)t  meb,r  irre  —  fie  fprad»  überfiaupt  nidt 
me^r;  am  »origen  9lbnb  rjatte  Äurt  SBraun  conftatiren  fönnen,  bafj  baS 


  Sein  Srief.   


gieber  etroas  gefunfen  roar.  211«  er  bamt  ,0m  borgen  mit  ben  beften 
Hoffnungen  ju  feiner  grüfroiftte  fam,  blieb  er  einen  Slugenbticf  erftorrt 
fielen  .  .  .    SBarum  I)atte  man  tl)n  nid)t  gerufen?  ... 

Sieben  bem  Sette  fniete  ber  ©atte;  baS  ftenfter  war  weit  geöffnet  — 
bie  Keine  jarte  grau  mar  oerf Rieben! 

Sturt  Sraun  roax%  als  breb>  fidj  baS  3»"«"«,  als  träume  er.  — 
©S  fonnte  nid)t  roaf)r  fein,  burfte  nidjt  roaln"  fein!  —  ©r  t>ermod)te  es 
nid)t  ju  faffen.  ©id)  gegen  bie  SBanb  lelmenb,  fud)te  er  feine  ©elbft* 
bel)errfd)wtg  —  Umfonft,  er  begriff  fidj  felbft  nid)t,  begriff  bie  Sage  md)t. 
2Bie  roar  eS  möglid)?  ®a3  Unroieberbringlid)e  roar  alfo  bodj  eingetreten! 
9Bie  blatte  er  fict»  felbft  fo  täufcfjen,  fo  befugen  fönnen!  D,  feine  innere 
(Stimme,  fie  t)atte  if)n  abermals  betrogen!  .  .  . 

2lbcr  roar  eS  benn  ftdfjer?  2Bar  bieS  Seben  roirflid)  »erlöfdjt?  — 
SBie  gejagt  eilte  er  plöfetid)  an  baS  33ett,  befühlte  bie  £anb,  fud)te  ben 
Keinen  roftgen  ftufj  unter  ber  teilten  $)ecfe.  .  . 

Äjerfunb  blidfte  auf.   ©r  war  fo  bleid)  roie  bie  £obte. 

,,©d)on  »or  einer  falben  ©tunbe,"  fagte  er  tonlos ;  „eS  war  alfo 
SlUeS  umfonft,  aber  Sie  finb  roie  ein  ©ruber  gegen  uns  geroefen,  gegen 
meine  Keine  ©tlen  unb  mid)  .  .  .  Qd)  fann  fie  ntdjt  überleben,"  fefcte  er 
tiinju,  „eS  ift  über  9Jtenfd>enfraft.  ©ie  roiffen  nid)t,  roie  fie  roar,  Steiner 
mußte  es  aufjer  mir!  —  ®aS  Seben  ift  ein  ^rrfinn,  roemi  eS  foldje  2Befen 
Dernidbtet!  —  33or  adjt  £agen  glaubte  id)  nod)  an  eine  9lrt  »on  2Mt» 
orbnung,  aber  nein,  nein,  es  ift  SllleS  btöber  3ufal^'  •  •  •  ®^en/  wie 
fomtteft  Du  mid)  allein  laffen?  .  .  .  D,  meine  Keine  ©Hen,  bie  fo  gern 
lebte,  unb  beren  Seben  eben  erft  begonnen  t)atte!  .  .  ." 

„®enfen  ©ie  an  %fyc  Slinb!"  roarf  5turt  mit  Reiferer  ©timme  ein. 
©r  blatte  nie  gefragt,  ob  eS  ein  Stnabe  ober  ein  9JJäbd)en,  er  tjatte  über* 
$aupt  nid)t  meljr  an  baS  JUnb  gebadjt,  aber  er  fudjte  nad)  einem  ©trob/ 
Ijalm,  um  tljn  bem  SDtanne  jusuroerfen. 

„D,  baS  ift  ein  neues  Seben  .  .  .  ©ie  roirb  ntelleid)t  einmal  einem 
2lnbern  fein,  roaS  ©llen  mir  geroefen  —  Qd)  fann  ntd)t  —  SBenn  es  Sin* 
fteefung  giebt,  fo  Ijabe  id)  aud)  ben  £t»pf)uS;  idb  t)abe  Stiles  getljan,  roaS 
man  tlmn  fann,  um  ftd)  anjufteefen.'  —  $d)  fann  nidjt  otme  fie  leben!  — 
SBiffen  ©ie  benn  nid)t,  roaS  es  tyeifrt,  ©troaS  nidrt  fönnen?" 

Shirt  fdjroteg.  SBaS  foUte  er  bem  überreiäten  -Dtanne  entgegenhalten? 

„Stann  id;  ^t)nen  irgenbroie  beluilftid)  fein?  §aben  ©ie  Sßerroanbte, 
benen  id)  Steige  madien  folt?" 

Äjerfunb  griff  fidj  an  ben  Stopf.  „HRetn  armer  ©d)roiegen)ater,  roie 
mirb  er  feine  ©onntagSbriefe  »ermißt  fiaben!  .  .  .  ®er  arme  SRann  — 
©den  roar  bie  Qüngfte  —  fieben  33rüber  unb  bann  fie;  roie  im  SWärdfjen, 
Ijief?  eS  immer  —  ja,  roie  im  ÜDZärdjen,  bie  ÜJtutter  ftarb  bei  tt)rer  ©eburt 
 SWun  ift  fie  felbft  aud)  tobt  —  fo  ift'S  im  roirKid)en  Seben!" 

„SBie  ift  bie  äbreffe  ftljreS  ©d)roiegeroaterS?" 


392 


  XTTite  Ktemniö  «n  Bufareß.   


,,2ld),  es  bat  ja  feine  eile,  e§  fommt  immer  nod)  ju  früf>.  3d)  mödtfe 
fie  einbalfamtren  taffcn  . . .  9Jein,  baju  müßten  frembe  &änbe  fte  berühren? 
Siein,  nein,  bie  Meine  33lume  foll  Sßiemanb  anfaffen  als  ©ie  unb  idj . . . 
•Jttcbt  voafyc,  Sie  Reifen  mit?" 

Äurt  niefte.  9Bie  waren  bie  aWenfdjen  bod)  alle  einanber  gteid),  in 
©dmterj  unb  SRotb:  grember  Nation  unb  frembet  Äafte  gehörte  Qener  an, 
unb  bod)  füllte  $urt  für  ibn,  niie  für  einen  35ruber. 

„SBolIen  ©ie  fte  bter  beftatten?" 

„D  nein,  id)  nebme  fie  mit  —  ber  SSater  wirb  fte  nod)  fe^en  wollen." 

Sturt  badjte  plöfclid)  an  ben  2tnberen  .  .  •  2Bie  war  es  bod)  SUIeS 
feltfam,  unb  wie  unbegreiflid)  bie  $>oppelnatur  ber  tobten  grau! 

„£aben  ©ie  nid)t  greunbe,  bie  in  9lngfi  unb  ©orge  auf  SRadjridjt 
roarten?"  fragte  er  ben  oerjweifelten  9Wann. 

,,3ld)  b^abe  nur  'einen  na^en  greunb,"  antwortete  er  jögemb,  „unb 
ber  ift  in  ben  glitterwod)en  unb  atynt  non  unferem  Ungtüd  3Hd)tö." 

SBieber  warf  er  ftd),  in  neu  angefachter  SJerjwetflung,  über  ba3  33ett 
unb  ftrid)  ber  iljrer  £>afein8form  tangfam  ©ntrüdenben  über  baS  roeidje, 
bunfte  $aar. 

fturt  roanbte  ftd)  ab;  er  fonnte  bie  tränen  nidn"  met)r  jurüdljalten 
unb  ging  fort. 

*  * 
* 

Äaum  tjatte  er  in  feinem  3'mmer  ftd)  in  einen  ©tubl  geworfen, 
ofe  eä  flopfte,  unb  bie  Jtantmerfrau  ber  SBerftorbenen  eintrat,  ©ie  war 
eine  .fd)lid)t  gefteibete,  fülle  ^erfon,  grofj  unb  ftarffnodng,  bie  wobt  b<xö, 
in  ben  Sßierjigem  fteben  modjte;  fie  fab  mebjr  wie  eine  ehrbare  33ürger& 
frau  als  wie  bie  Äammerjofe  einer  eleganten  unb  »ornebmen  Spante  aus. 
3lad;  einer  @ntfd)utbigung,  bafi  fie  ben  £errn  £octor  fißre,  fagte  fte,  bafe 
fie  ibm  ßtwaS  übergeben;möd;te.  ©ie  b<*be  au*  &Mä)  StwaS  mitgebradt, 
waS  fie  ber  grau  3?aronin  rjötte  jurüdftellen  f ollen;  ju  behalten  wage  fte 
es  nid;t,  unb  aud)  bem  £errn  ober  bem  alten  ©rafen  fönne  fie  es  nidjt 
abliefern-;  oemid)ten  aber  bürfe  fte  es  nid)t,  fo  wolle  fie  eS  bem  $emt 
©octor  geben.  SBei  ibm  fei  es  ftd)er,  baS  fyabe  fie  nom  erften  2lugenblii 
an  gemuft,  wo  fie  ibn  am  Äranfenbette  gefeben.  Gr  möge  entfd)eiben,  ob 
e3  »ernid;tet  ober  einem  Inberen  übergeben  werben  follte.  —  ädj,  fte 
babe  fd)on  lemgft  geahnt,  baß  eS  fo  enben  müfte,  fie  fyabt  es  aud)  ber 
SBaronin  oft  »orauS  gefagt  —  „216er  es  fann  ja  nie  Einer  bem  2lnberen 
Reifen,  3eber  muß  2lttcö  felbft  ausfoften!"  fefete  fie  f)inju.| 

jturt  33raun  bat  fte,  Sßlafe  ju  nebmen;  fte  tbat  e$  aber  nid)t,  Da  fte 
oiet  ju  tief  in  ibren  ©ebanfen  war,  um  barauf  ju  ad)ten. 

,,3fd)  bin  nur  eine  ungebitbete  5ßerfon,  £err  ©octor,  id)  fann  weber 
lefen  nod)  fdjreiben,  aber  wenn  bie  SBaronin  auf  mid»  gehört  bätte,  war« 
fte  jefet  nod)  am  Sebcn.  —  greilid),  ba  wir  Sitte  einmal  fierben  muffen,  fommt 


  Sein  Brief.   


393 


eä  tneUeidjt  nicht  fo  fefir  barauf  an.  —  3lur  ba3  füfje  Äinb  .  .  ." 
•Sie  trocfnete  ihre  Spänen,  unb  bcr  Wext  roufjte  nicht,  ob  fte  doh  bet 
lobten  ober  von  bem  jurücfgebliebenen  ftinbe  fprach.  Sie  hatte  in 
ihrem  SBefen  eine  fo  ruhige  SBürbe,  bafj  er  iie  md)t  auszufragen  roagte; 
er  ftanb  auf  unb  nahm  aus  ihrer  $anb  eine  grofie  rotbraune  Sammet« 
tafele  entgegen,  bie  mit  ©olbfticferei  oerjiert  roar  unb  Rapiere  ober  33üd)er 
5U  enthalten  f<f)ien. 

„QR)t  fic  abreifte,"  fub>  bie  Kammerfrau  fort,  „braute  fie  mir  bieä, 
wie  febeSmat,  wenn  fie  einen  Heineren  ober  größeren  2lu3flug  machte.  — 
,Sie  tröffen  fchon,  (Sfiriftine,  £e6en3«  ober  SterbenSrotllen,  bei  3ftnen  ift 
e3  fidjer/  —  Sie  fpiette  ja  auch  »or  mir  Äomöbie,"  fefcte  fie  bitter  tiinju, 
„unb  rebete  mir  uor,  ihr  93ruber  führe  mit  feiner  gamilie  buref)  33ern, 
unb  bie  Schwägerin  würbe  e3  übelnehmen,  roenn  fie  ihr  nicht  bei  ber 
Durchreife  ©Uten  %a%  fagte.  —  21(3  ob  ich  &  nicht  gemerft  hätte,  feit* 
bem  ber  33rief  angefommen  roar,  bafe  fie  ganj  roo  anberS  tyn  wollte!  211$ 
06  ich  fic  nicht  beffer  gefamtt  t»ätte,  aU  fie  fidj  felbft!  —  3$  roufjte 
2tHe3,  SHIcä;  fie  fomite  mir  auch  nie  mehr  gerabe  tn'8  ©eficbj  fehen!  — 
3$  bat  fie  noch,  nur  um  meiner  Sache  fidjer  ju  fein,  mich  mitjunehmen, 
aber  fie  fagte:  SBoju?  ®a3  roäre  rein  lächerlich,  al§  ob  fie  nid)t  'mal  ihr 
SiUet  felbft  löfen  unb  ohne  mich  fahren  fönnte!  —  2tcf),  man  foll  SRiemanb 
33öfe8  roünfchen,  aber  erroürgen  roürbe  ich  ben  2lnberen,  roo  ich  it>tt  auch 
träfe,  er  ift  ja  nur  fotdt)  fchmädjtiger,  jarter  £err,  ich  tönnf  &  teid^t !  — 
£ätt'  ich'3  nur  gethan,  b  hört'  ich  nur  bie  Courage  gehabt!  2Ba§  t^äfa, 
roemt  ich  ün  Sufyfyatö  fä&e,  roenn  fie  nur  lebte!" 

Kurt  fchroieg  noch  immer;  er  hatte  fchon  oft  erprobt,  ba|  Mchtä  bie 
Seute  fo  berebt  mache,  roie  biefe  feine  ©djroeigfamfeit  unb  feine  eigen« 
thümliche  2lrt,  bie  Sprechenben  beim  Schöten  anjufeben. 

316er  in  wela)  eine  ©efettfehaft  leibenfehaftlicher  SDienfchen  roar  er  ge= 
rathen!  —  „35er  £err  roirb  ihr  balb  nachfterben,  ber  Xob  liegt  fchon  in 
feinen  2tugen,  ich  fyabe  ben  ungtücflicfjen  33licf  bafür,  unb  es  roäre  mir 
fchon  ganj  recht,  roenn  er  brüben  ein  bischen  auf  fie  pafcte,  obgleich  fie  ia 
bort  ihre  3ftutter  hat.  —  Doch  gerecht  ift  unfer  Herrgott  nicht  —  fyex  in 
biefem  armfeligen  Ärantenhauä  mufjte  fie  ben  ©eift  aufgeben,  unb  er,  ber 

Slnbere  216er  bie  (Strafe  roirb  fchon  fommen!   SBarum  fotlte  fie 

allein  geftraft  roerben,  ba  fie  e3  boch  au«  purer  ^erjenSgüte  unb  SDJitleib 
gethan  hat!  (Sie  braudjte  ihn,  weift  ©ort,  nicht,  fie  hatte  einen  »iet 
fd)öneren  unb  ftattttcheren  -Kann;  unb  fomtte  fie  bafür,  bajj  $eber  ben 
Kopf  um  fie  uerlor,  3ung  unb  2tlt,  2lrm  unb  Steide)?  —  Sie,  £err 
®octor,  mürben  ber  JJächfte  geroefen  fein,  roenn  ber  £ob  nicht  bajroifchen 
getreten  roäre!  Sie  roar  eben  anberä  als  alle  2tnberen.  SWicht  weil  fie  fo 
fchön  roar,  hingen  fie  ihr  an,  fonbern  roeil  fie  im  ©etjen  für  Qeben  StwaS 
übrig  hatte!  2Bie  oft  hab'  tch'3  ihr  früher  gefagt:  ,©omtejjchen,  mäfngen 
Sie  ftet),  bie  Seute  jmb'S  garnicht  roerth,  bafj  Sie  fte  2tHe  fo  lieb  haben!" 


39^   Otite  Ktemniß  in  Bnfareft.   

SSon  Äinbticit  an  war  fie  fo;  mit  wem  Stiemanb  fertig  werben  foimte,  au3 
wem  sJUemanb  was  ©uteä  IjerauSfriegte,  fie  warb  bamit  fertig,  unb  ganj 
von  felbft  ©ie  meinte  eben,  Tie  fei  für  2We  auf  ber  SBeit,  unb  tljre  ätt 
roar  aud)  fo,  baf?  »on  ben  5Berfd)tebenften  ein  Seber  meinte,  fie  märe  für 
ib,n  gerabe  wie  gefd)affen." 

Äurt  l)ätte  gern  nad)  i$m  gefragt,  roie  fie  ilm  fennen  gelernt;  aber 
er  beforgte,  fie  mürbe  bann  »erftummcn.  3U  fpreä)en,  mar  i^r  offenbar 
etwas  Unnatürliches;  baS  SRofir  mufjte  erft  geplagt  fein,  bamit  $erau3s 
fprubelte,  was  ein  ganjes  Seben  lang  prüctgebrangt  geroefen  roar.  (Sie 
burfte  nid)t  jur  33efinnung  fommen,  ober  fie  oerfittete  ben  9ttf?. 

3lber  roie  begreiflid),  baf}  fie  gerabe  auf  tyn,  ben  gremben,  ad  ba£ 
ergofj;  ein  Stnberer  fyätte  if)rer  2tuffaffung  mit  feinem  befferen  SBtffen  ent* 
gegentreten  fönnen  —  oor  ifim  jebod)  matte  fie  bie  tobte  Herrin  fo,  urie 
fie  in  tljr  lebte.  —  „Slatürlid),  er  roar  anberS  als  bie  2tnberen,  in  feinet 
befd)eibenen  ftillen  3lrt,  unb  nidjt  nur,  roeil  er  ein  Sßrinj  roar  .  .  .  .  6S 
mu&te  fie  reisen,  baf}  er  bie  oielen  ©tunben  immer  über  feinem  3JJifroffop 
fafj,  bafs  er  es  nie  merfte,  roemt  fie  fid)  fd)ön  gemacht  Ijatte!  Unb  £>urd> 
lauert,  feine  ©djwefter,  blatte  fte  bod)  befd)woren,  ifm  roieber  jum  Seben 
jurücfjubringen!  ....  2Bemt  fie  fpajieren  gingen  über  bie  gelber  — 
bettn  fie  fallen  fid)  perft  beim  alten  ©rafen  — ,  bann  blieb  er  bei  jebem 
SBurm  unb  jeber  Sßftanje  fteljen.  —  $d)  fab,  iljnen  oft  nad),  roeil  mir 
bie  ©ad)e  oon  Slnfang  an  nid)t  gefiel.  3ln  fo  einem  &erm  ift  baS 
©tubiren  fonft  bod)  nur  eine  Sßofe,  aber  er  fab,  eä,  weif}  ©ort,  roirllid) 
niefit,  bafj  fie  rounberfd)öne  3lugen  Ijatte,  roenn  fte  ifyn  fo  berounbernb  an* 
fdjaute!  Unb  roie  fie  nun  plöfclid)  anfing,  ilmt  bie  ©ad)en  abjujetdjnen 
unb  ju  malen,  bie  er  ba  in  feinem  SDUfroffop  blatte  —  beim  fie  »erftanb 
2llIeS,  bie  füj?e  fleine  £ere,  fpielen  unb  fingen  unb  malen,  fo  gut  roie 
tanjen  unb  reiten!  —  ©abhätte  man  meinen  follen,  fie  roäre  roie  geboren 
baju,  nur  fold)e  ernften  £>inge  ;u  treiben.  ©o  glücfttd)  Ijabe  id)  Tie  nie 
oorljer  gefefien,  unb  ber  £err  33aron  roar  fo  ftolj  auf  fie.  —  3Kein  ©Ott, 
ein  btSdjen  ©itelfeit  roar  aud)  babei,  baf}  ber  Sßrinj  fie  fo  üerefirte,  unb 
um  eiferfüdjtig  ju  fein,  roar  er  felbft  »iet  ju  nobel  von  ©efimtung  — 
@iferfüd)tig  auf  biefen  jarten,  fd)wäd)lid)en  ©eleljrten?  9tein,  baS  roäre 
iljm  nie  in  ben  (Sinn  gefommen!  —  @S  roar  aud)  waf)rf)aftig  fein  ©runb 
baju,  lange,  lange  3«t  "id)t  —  nur,  mir  wollte  bie  ©ad)e  nid)t  gefallen, 
benn  id)  fann  nun  einmal  nid)t  brau  glauben,  baf}  man  fid)  für  fold) 
ftumme  Greatur  wie  gifd)e  unb  SBürmer  aufrichtig  begeifiert!" 

„Unb  glauben  ©ie  nid)t,  grau  Gljriftine,  baf}  ©ie  Syrern  $errn  jefct 
Reifen  würben,  feinen  ©d)merü  ju  überwinben,  wenn  ©ie  if>m  fagtett, 
baf}  er  ©runb  gehabt  fiätte,  eiferfüd)tig  }u  fein?" 

„@r  würbe  mid)  nieberfd)tagen,  wenn  id)  bie  geringfte  Slnbeuüutg 
mad)te!  Gr  würbe  nie  an  iljr  jweifeln!  3ia,  legten  ©ie  ilmt  fel6ft  bie 
fd)rifttid)en  Seroeife  in  bie  ^änbe,  er  würbe  fie  ungelefen  »erbreunen!" 


  Sein  Srief.   


395 


„SBarum  geben  ©ie  beim  ntd)t  ü)m  bie  braune  Safdje?" 

„S)aS  faitn  id)  nid)t,  nein,  ba8  famt  td)  rotrflid)  nid)t  ....  SßaS 
fie  mir  anvertraute,  bamit  eS  nid)t  in  feine  &änbe  fiele?  D  nein!  — 
Unb  eä  fönnte  ifim  aud)  triebt  Reifen,  benn  er  mürbe  es  auf  feine  2lrt 
beuten.  —  £>a  brüben,  ba  foH  fie  üm  fo  roieberfinben,  roie  fie  Um  I)ier 
gerannt  Ijat;  id)  Ijätte  nid)t  einmal  im  ©rabe  Stulie,  roenn  id)  bie  £afd)e 
of)ne  @rlaubnif?  oerbrännte  ober  bei  meinem  Slbleben  in  unfid)ere  £änbe 
fallen  tiefte!  ....  Unb  ber  2lnbere  ift  \a  jefct  ber  Sbronerbe  —  grau 
Skronin  fagte  mir,  ba3  märe  etroaä  ^eiliges  —  ba«  SBoljl  oon  Millionen 
fjinge  von  iljm  ab!  63  rcäre  .  .  .  9Ja,  geglaubt  l)abe  id)  e3  nid)t;  unfer 
Herrgott  I)at  bie  9Henfd)en  alle  gteid)  gefcljaffen,  b.  I).  nur  ©(£391®  Unter* 
fd)iebe  ifynen  aufgebrüeft,  unb  ba  flehen  mein  £err  unb  meine  ©omtef} 

meilenweit  über  allen  Sljronerben!  9hm  mödfjte  id)  $f)nen  aber 

aud)  nod)  banfen,  &err  SJoctor;  id)  bin  feine  ®ame  unb  fyab'  oieQeicfjtt 
ttic^t  'mal  ba§  9^edr)t  baju,  $fynm  ju  banfen;  aber  ©inä  weife  td):  ber 
Herrgott  in  ©einer  ©nabe  unb  gürforge  raufte  iool)l,  warum  <5r  meine 
arme  Gomtejj  gerabe  3U  Qb,nen  führte!  —  @ie  fyaben  geroife  2ltte3  geahnt 
unb  fid)  jured)tgeflügelt,  baä  tnerfte  id)  in  ber  erften  ©tunbe!  Unb  Sie 
f>aben  fie  gefd)ü$t,  foroeit  ©ie  fonnten!  .  .  .  ." 

* 

Äurt  Sraun  mar  allein  mit  ber  golbgeftieften  ©ammettafd)e.  @r 
toufete  nid)t,  ob  er  fie  öffnen  ober  fo,  roie  fie  mar,  oerbrennen,  ober  06  er 
fie  bem  3lnberen  auf  irgenb  eine  SBeife  aufteilen  follte? 

6r  oerfd)ob  bie  ©ntfd)etbung  barüber.  3"etft  mar  ja  feine  tägliche 
Slrbeit  ju  abfotoiren,  aud)  muf5te  er  bem  t)ülflofen  ©arten  beiftefjen,  all  bie 
entfefetidjen  Formalitäten  ju  erfüllen.  $>er  oeräroetfelte  9Jfann  fomtte  ja 
fein  oerloreneS  Äleinob  nid)t,  roie  er  gewollt  blatte,  auf  feinen  2lrmen  nad) 
Sütlanb  tragen;  ba  galt  es,  einer  SWenge  fanitörer  unb  fonfliger  SBor* 
fcfjriften  ju  genügen. 

©er  %aS.  blatte  natürtid)  2luffef)en  gemadjt  unb  befd)äftigte  nid)t  nur 
bie  Socalblätter;  fo  erroartete  Äurt  35raun  immer,  irgenb  eine  9tad)frage, 
irgenb  ein  £ebenäjeid)en  oon  feuern  ju  erhalten,  ben  bie  Sobte  über  Sittel 
geliebt  liaben  mufete;  aber  9iid)t$  traf  ein.  Sßenn  er  aud)  nid)t,  roie  bie 
Kammerfrau,  iljn  für  ben  £ob  ber  liebretjenben  grau  oerantroorttid)  mad)te, 
fo  fd)ien  iljm  biefeS  ©d)roeigen  bod)  graufam  unb  unmenfd)lid). 

33aron  Äjerfunb  reifte,  als  2tIIeS  georbnet  roar,  oon  Äempten  ab. 
3mei  Sage  oergingen,  ba  erfd)ien  ein  grember  im  Äranfenb,aufe  unb 
fdjtdfte  bem  birigirenben  9trjte  feine  ftarte  herein.  Äurt  Sraun  las  einen 
tb,m  unbefannten  tarnen  barauf:  31.  oon  2Jler3,  unb  liefe  ben  &errn 
bitten,  einjutreten. 

©er  grembe  gab  an,  im  2luftrage  eines  greunbeä  ju  fommen,  um 
©rfunbigungen  über  bie  legten  Sage  ber  Saronin  Äjerfunb  einjujiefjen; 


396 


  mite  Kremnitj  in  Bnfare(t.   


allein  Äurt  33raun  warb  fehr  balb  inne,  bajj  ber  23efucher  itm  auSjufiolen 
jtrebte:  Db  man  nicht  gleidt)  aus  bcn  papieren  ober  Sriefen,  roetdje  bie 
Äranfe  etroa  bei  fidt)  geführt,  ihren  Flamen  unb  ©tanb  erfaimt  hätte?  — 
Äurt  antroortete  f>ödj>ft  einfilbig  unb  erleichterte  betn  biplomatifchen  gremben 
in  feiner  SBeife  feine  SJHffion,  er  DerroieS  ihn  fursroeg  an  ben  Saron. 
©dEjon  nad&  ben  erften  SBorten  war  er  uberjeugt  geroefen,  bafj  btefer  SKaira 
hergefanbt  roorben  war,  um  ju  erforfdEjen,  ob  aot  ober  nadt)  bem  £obe  feiner 
Patientin  ber  Jiame  beS  ^ßrinjen  genannt,  ob  irgenb  etroaS  itm  ©ompro: 
mittirenbeS  bei  ber  Sßerftorbenen  gefunben  fei?  — 

Äurt  mar  empört.  ©iefe  felbftfudfjtige  Unruhe  mar  alfo  baS  ©injige, 
maS  ber  einft  fo  t)ei&  Siebenbe  bei  ber  £obeSnadt/ridf)t  empfunben  ^atte! 
Sßelttiche  SRücf  ficht  allein  mar  in  ihm  ju  SBorte  gefommen!  .  .  . 

©er  ^ßrinj  motzte  rut»ig  fein:  Äurt  fjütete  eiferfüc^tig  ihr,  ber  lieb* 
lidfjen  grau,  ©ehetmnif?,  unb  t>on  biefem  2lugenbli(f  an  füllte  er,  bafj  cS 
fein  9led)t  mar,  ben  Inhalt  jencr  ^afdfje  ju  ergrünben.  ©r  b^ifete  ben 
SDiann,  ben  fie  geliebt,  unb  ber  fie  in  ben  £ob  gerrieben  blatte!  — 

2US  ber  2tbenb  fam,  reo  Äurt  am  roenigften  einer  ©törung  aus* 
gefegt  mar,  öffnete  er  bie  altertümlich  geftiefte  3Rappe:  ber  Hauptinhalt 
waren  Briefe  auf  bem  binnen  englifc^en  Rapier,  mit  ber  Ärone  barauf  unb 
in  ber  feinen  jierlichen  &anbfd)rift,  meldte  Äurt  aus  feinem  gunbe  im  SBaggon 
bereite  fannte.  ©te  roaren  gröBtcntt)ciS  fachlicher  9ktur,  nur  b^n  unb 
roieber  eigentliche  SiebeSbriefe,  unb  auch  bann  nicht  befonberer  3trt;  aber 
ihrem  2luge  mochte  rootjC  jeber  ©trict)  erroaS  ganj  23efonbereS  bebeutet 
b^aben. 

Äurt  las  ihrer  nur  wenige,  bann  nahm  er  baS  33ünbel,  ging  oor  ben 
Dfen,  in  bem  baS  geuer  brannte,  unb  roarf  einen  nach  &em  anberen 
hinein  —  julefet  auch  ben  im  SBaggon  gefunbenen. 

2>ie  SWappe  enthielt  aber  noch  mehr:  ein  Tagebuch  oon  ihr.  Sluf 
bem  ©edel  beS  SBänbdfjenS  ftanb  in  fühnen  Strichen  ihr  SJorname  ge= 
malt:  eilen. 

©inen  Slugenblicf  äögerte  er,  ehe  er  es  öffnete,  aber  bie  Ueberlegung 
fagte  ihm,  ba§  er  fidt)  eine  unnöthige  Dual  auferlegen  roürbe,  roenn  er 
fidt»  iroänge,  baS  £agebu<h  ungetefen  5U  »erbrennen.  ©ie  hotte  e*  äugen* 
fcheinltdfj  erft  ju  fdfjreiben  angefangen,  als  fie  mit  ber  überfommenen  ©üte 
gebrochen  hotte,  als  in  ifir  eine  2Bett  von  ©efühlen  erroacht  roar,  bie  fie 
mit  ihrer  geroohnten  Umgebung  nidt)t  theilen  fonnte.  3n  ungleichen  3tb* 
fäfeen,  ju  Derfcfjiebenen  &t\tm,  aber  ohne  ©atum  unb  ohne  Drtsbeftimmung 
roar  es  niebergefchrieben,  balb  mit  £inte,  halb  mit  33leiftift  —  immer  in 
berfelben  langgejogenen,  gleichmäßigen  fdt)önen  grauemSdhrift,  unb  immer 
in  beutfdher  ©pradhe.  — 

„SWir  ift,  feit  ich  2tt<h  liebe,  als  roanble  ich  <"if  SBolfen,  h<*h 
ber  SBett,  bie  Stimmen  ber  Uebrigen  bringen  mir  roie  aus  ber  gerne 
ju  mir. 


  Sein  Brief.   


397 


„SBalter  fagte  Ijeute,  idj  fä^e  fo  »erflärt  aus,  roie  er  midj  nodj  nie 
gefeben,  unb  SSater  fanb  fogar  meine  ©timme  oeränbert,  fle  erinnerte  Um 
an  bie  ber  2Rutter.  —  2Bie  foll  idj  nidjt  eine  2lnbere  geworben  fein,  feit  ber 
©uft  deines  2ltf)emS  midj  geftreift,  feit  idj  »or  ©ir  fttieenb  bem  (Sdrtage 
S)eine§  &erjenS  gelaufdjt!  ....  ©aS  nennt  man  ©djulb?  D,  nein! 
Sßäre  eS  ©djulb,  fo  mürbe  idj  leiben.  3$  bin  ja  fein  Ungeheuer  — 
wäre  es  ©djulb,  idj  mürbe  bodj  jittern,  »or  SBatter  ober  bem  SBater,  unb 
mürbe  midj  fdjämen  »or  meiner  Meinen!  2lber  nie  Ijabe  idj  bie  ^Keinen 
fo  lieb  gehabt  roie  bleute;  idj  h>6e  ifmen  ja  9HdjtS  geraubt,  bie  3latur  b>t 
einen  neuen  <Sä)aä)t  in  mir  gegraben,  beffen  9teidjtf)ümer  alle  Slnberen 
nodj  mit  beglüden!  —  ©u  ftef»ft  aufserfjalb  ber  SBelt,  mein  Sieb,  unb  unfere 
Siebe  ift  fo  einjtg  roie  ©ein  ganjeS  ©ein!  — 

„Unb  ©u  baft  fo  lange  gegen  fie  gefämpft?  D,  fdjabe  um  jeben 
©ag,  ber  uns  »erloren  ging!  28ie  fonnte  idj  es  je  erhoffen,  bafj  ©ein 
33licf  fidj  mit  ©ef  allen  auf  midj  meberlaffen  fönnte?  —  ©u  warft  mir 
ein  ®ott,  unb  idj  nidjt  roertl),  ju  ©einen  güfjen  su  fvfcen!  .... 

«3fr»  3i"»ne*  meiner  Kammerfrau  Ijängt  eine  Photographie  jenes 
©emälbeS  »on,  idj  meif?  nidjt  meinem,  beutfdjen  aWaler:  ©retfydjen  auf 
ilirem  ©ang  jum  ©algen.  £eute  b^abe  idj  mid)  jum  erften  9Wal  mit  @nt» 
fefeen  in  baS  33ilb  »ertieft,  grüner  btidte  idj  immer  nur  fort  unb  fagte 
oft  ju  6f>riftine,  baf?  idj  in  tt>rer  ©teile  foldj  23itb  nidjt  »or  meinen  Slugen 
bulben  mürbe. 

,Do£6  —  SUte»,  1008  midj  baju  trieb, 
©Ott,  toor  fo  flittl  ad),  tnar  fo  lieb!" 

bieS  fd)öne  SBort  fiel  mir  fieute  ein.  b>6e  bisher  nie  gebadjt,  bafj 
©u  unb  idj  mit  anberen  SBefen  ©troaS  gemeinfam  b>ben  fönnten,  aber 
gerabe  biefeS  2Bort:  eS  mar  fo  gut  unb  mar  fo  lieb,  roaS  uns  baju  trieb, 
bas  muf?  idj  audj  »on  unferer  Siebe  fagen!  —  $ft  nidjt  bie  Siebe  fo 
mäcljtig  roie  bie  glut^,  bie  2UIeS  jerftört  unb  einebnet  unb,  roo  fie  einbricht, 
SUfer  unb  ©arten,  SBiefe  unb  ©anb  gteidj  madjt?  —  2ß>er  bie  fdjredltdje 
Seljre,  bie  ©oetlje  uns  giebt?  .  .  .  ÜWufs  baS,  roaS  „gut"  unb  „lieb"  mar, 
jum  ©algen  fübren?  2J?ein  ©ort,  mir  ift  ganj  Slngft  geroorben!  SBenn 
idj  ©idj  nur  erft  roteberfefie!  ©odj  nein,  ©ir  barf  idj  9KdjtS  ba»on  fagen, 
©u  fpridjft  ja  fdjon  »on  ©einer  ©djulb  unb  madjft  ©ir  SBorroürfe,  ba  idj 
allein  bodj  bie  ganje  SSerantroortung  trage! 

„©u  bift  frei,  idj  bin  eS  nidjt.  3lber  baS  finb  gefellfdjaftlidje  Segriffe, 
unb  bie  Siebe  ftammt  aus  anberen  Sanben,  roo  man  bie  ©praäje  ber  ©efetfc 
fdjaft  nie  gehört!  —  2Beiftt  ©u,  roie  fdmlbloS  ©u  bift?  D,  nur  idj,  idj 
trage  alle  ©djulb!  2llS  ©u  juerft,  ganj  unberoufjt,  meine  &anb  crgriffft 
unb  länger  fjietteft,  als  bie  ©itte  eS  erlieifdjt,  ba  fing  mein  $erj  fdjon 
ju  flopfen  an,  unb  als  ©ein  $nie  »erfef>enttidj  einmal  baS  meine  berübjrte, 
ba  mar  mir,  als  .'roäreft  ©u  mein  5ttnb,  unb  idj  müßte  ©idj  ftreidjeln. 
Unb  roie  aus  SBerfeben  fam  audj  ber  erfte  Äufj!   Sßeifjt  ©u,  roie  mir 


398    Utite  Kremnig  in  Sufareft.   

uns  uertegen  anbauten,  als  es  gefd)eb>n  mar,  als  unfere  Sippen  ftd)  ge* 
funben  Ratten?  ©u  fogtcft  munter:  „@inen£u|  in  (Slpen  barf  9ttemanb 
roefiren!"  aber  bie  3lött>e  mar  uns  Seiben  bis  in  bie  Stirn  geftiegen,  unb 
id)  locife  nid)t  mal,  06  er  „in  ©tiren"  war;  id)  mußte  ja  ©einem  tiotben 
Stntltfe  immer  roieber  nalje  fommen,  id)  mußte  ©ir  fo  bemütljtg  tn'S  äuge 
f dornen,  bis  ©u  mid)  füffen  unb  immer  roieber  tüffert  mußtefl!  3d)  roar'S, 
mein  Sieb,  id)  roar'S,  bie  anfing  —  rote  ber  Äeffct  im  „&etmd)en  auf  bem 
Serbe"! 

„Qd)  Ijabe  immer  roieber  an  baS  ©reihten  benfen  muffen.  —  ©igentlid) 
roar  eS  bod)  nid)t  bie  Siebe,  an  ber  fic  ju  ©runbe  ging:  nur,  roeil  fie  ib^re 
Siebe  unb  it»r  äußeres  Safein  nid)t  oon  einanber  getrennt  ju  galten  uer= 
mochte!  —  Sie  Siebe  foff  aber  fein  roie  bie  Suft,  bie  man  nur  atljmet  — 
0  roel),  bie  Suft  burd)bringt  ja  aud),  jerfefet  ja  aud)  9lHeS!  —  ©er  SDienfd) 
fann  ftd)  nid)t  löfen  aus  feinen  tnelfältigen  23ejieljungert!" 

„2lber  baß  id)  ©id)  liebe,  ift  baS  nid)t  ebenfo  mein  <Sd)icffal,  roie 
meine  pljofifdje  ßrfd)einung?  2Hein  freier  SBille  roar  es  nid)t,  berat  id) 
rannte  bod)  nid)t  bie  Sßomten  ©einer  Siebe!  Ijätte  id)  meiner  Ueberlegung 
folgen  bürfen,  id)  blatte  mir  fid)er  ein  anber  S00S  geroä^t!  —  Sßer  roill 
benn  gern  vom  l)ergebrad)ten  SBege  abroetdjen?  SBer  jieljt  nid)t  3tuf)e  ber 
dual,  @id)erl>eit  ber  Stngft  »or?  —  Unb  bod)  ift  bie  Siebe  ein  ©naben* 
gefd)enf  ber  9latur!  £at  bie  9iatur  mid)  baju  geheiligt,  itjrer  Ijöcbften 
©abe  tf)etfi)aftig  ju  werben,  fo  barf  id)  nid)t  mit  tt)r  red)ten  über  ein 
Bufpät  ober  3"^%  fo  barf  id)  ntd)t  flagen,  fefbft  roerni  bie  SBelt  mid) 
jum  föenferStobe  füfirt.  Siebe  ift  fd)on  ber  £ob;  in  ijjr  erftirbt  bie  Sßerfön» 
lid)feit!  SBenn  id)  »or  ®ir  fniee,  fo  fd)roinben  mir  bie  ©ebanfen,  id)  füfile 
nur  ©id),  id)  empftnbe  mid)  felbft  nid)t  meljr,  nur  ©u,  ©u  bift  Elles  \" 

,,3ld)  bin,  roaS  baS  bürre  ©efefe  eine  @b>bred)ertn  Reifet  —  mir  tlmt 
baS  SBort  fo  roel»,  obroofil  id)  weiß,  roie  mitbe  ber  föeitanb  ber  @f)ebred)erin 
begegnete.  Sebermamt  mürbe  mid)  oerurtfieilen.  SBemt  id)  aber  graufam 
genug  märe,  meinem  SDJanne  bas  £erj  ju  bred)en,  meinem  Steter  ben  9?ejt 
feines  SebenS  ju  verbittern  unb  meinem  fiinbe  bie  Brunft  ju  rauben  — 
roenn  id)  mid)  fd)eiben  ließe,  um  bem  Slnberen  meine  &anb  ju  reid)en, 
bann  billigt  mid)  baS  ©efefc  unb  bie  SBelt,  unb  id)  fte^e  ba  als  eine 
correcte  grau!  .  .  .  3a,  dber  nur  cor  ber  SBelt,  nid)t  »or  meinem  ©e* 
rotffen!  SBaS  uerfteljen  bie  9Jienfd)en,  roetd)e  bie  ©efefce  mad)en,  »om 
©eroiffen?  ©er  £err  l)at  es  t>erfd)ieben  in  feine  oerfd)iebenen  ©efd)öpfe 
gelegt!  ©er  $eilanb  allein  fab,  in  bie  ganje  ©iefe  ber  3Jlenfd)enfeele, 
aber  fein  ©efefcgeber  folgt  if)m  nad)!  .  .  ." 

„bringe  id)  nid)t  Opfer,  bamit  fein  Slnberer  geopfert  roerbe?  SRödjte 
id)  nid)t  aud)  lieber  mit  ber  SBelt  als  gegen  fie  leben?  —  9lie  barf  id) 
mid)  im  gellen  ©onnenfdjein  an  ben  9lrm  beS  ©etiebten  Rängen  unb  mein 
©lücf  boppelt  genießen,  inbem  id)  es  offen  genieße!  .  .  .  ©ein  Seben,  baS 
bie  9fatur  mir  gefdjenft  b>t,  bie  ©efellfd)aft  enthält  es  mir  oor,  unb 


—   Sein  Srief.   


399 


id)  füge  mid)  barein,  um  Jtiemanbem  Seib  jujufügen:  SBur  Ijeimlid)  foften 
barf  iü)  von  bent  reichen  Sd»afce,  bcr  bod)  ganj  unb  gar  mein,  beim  id) 
Ijab'  iljn  gehoben !  — " 

„So  beruhige  id)  mid)  immer  roieber,  um  nid)t  burcb,  ßtehttidfifeit  ben 
großen  Skufd)  ber  9?atur  ju  ftören;  aber  baS  Seib  (bleibt  nid^t  aus,  id) 
jeige  e§  ©tr  nur  nie!  3d)  trage  ir)n  allein,  ben  Sßiberfprud)  ju  mir  fetbft, 
in  ben  id)  midf)  gefefct  fiabe  —  SBenn  SSalter  anbetenb  ju  mir  aufbltcft, 
fo  möchte  id)  il»m  fagen:  „9$  bin  nid)t  flecfentoS  —  bemütfjige  midi)  md)t 
burdE)  ©eine  Siebe!"  .  .  .  3lber  baä  roäre  ju  bequem;  beffer  ift'S,  burdj 
unenblidie  ©fite  an  3lnberen  gut  ju  machen  ba3  2Jief)r,  womit  ber  Gimmel 
mtdj  auägejeidmet  f)at!  —  5B>aS  fönnte  id)  nur  ttnm,  um  mein  ©tuet  ju 
oerbienen?  Dft  benfe  id),  id)  müfte  baran  fterben  —  ad),  unb  rote  gern 
ttiäte  id)'3,  rjättc  id)  nur  feine  Sßflidjten!  .  .  .  SBoju  finb  mir  auf  @rben? 
Um  bie  bödjfte  Stufe  ber  SSerebtung  ju  erfttmmen?  —  ©ann  roäre  id) 
nod)  tauge  nid)t  jum  ©obe  reif!  3ft  e3  aber,  um  bie  tiödfjfte  UKögtidtfeit 
beS  ©lücfä  ju  foften,  fo  f)ätte  id)  ben  Sinn  be3  ©afeind  erfd)öpft.  9iur 
©ein  2hrtti|  ju  erb  tiefen,  in  ©  einer  9täf)e  5U  atfmten,  ift  ©lüdffetigfeit; 
immer  nod)  fdmnnben  alle  meine  ©ebanfen  unb  Sorgen,  roenn  id)  ©id? 
umflammert  f)atte;  id)  begreife  garmdjt,  baß  e§  etroaS  2lnbere3  als  Harmonie 
im  Sßeltenraume  gtebt;  unmerftid)  roirb  ©eine  Stnfdwuung  bie  meine, 
©eine  Seele  gef)t  ganj  über  in  bie  meine." 

„Gflriftine  fpät)t  mir  nad),  ifire  fiellen  grauen  2mgen  fef)en  mid) 
t)orrourf§r>oll  an;  0,  roie  fdEjabe,  bafj  fie  eä  nie  begreifen  unb  f äffen  roürbe, 
roa§  mir  gefdjeljen  ift!  Sie  fief)t  bie  SBett  unter  bem  einjigen  @efid)t3s 
punft  meinet  SBobJeS  an  unb  fyafct  gteid)  Meä,  roaS  mir  in  ben  Sebent 
roeg  tritt,  unb  xoaä  fie  nid)t  billigt.  —  ©id)  fonnte  fie  oon  3tnfang  an 
nid)t  teiben;  id)  füllte  baS,  unb  fo  fiaben  roir  nie  von  ©ir  gefprodjen  . ." 

*  * 

* 

,,©r  ift  fort!  SSier  SBodfien  lang  roerbe  id)  feine  Stimme  nid)t  fiören 
—  0,  roaä  für  ein  Seib  ift  Trennung!  —  SBäre  id)  feine  grau,  fo 
brauchten  roir  un3  nie  ju  trennen  —  aber  id)  barf  nid)t  baran  benfen  . . ." 

„9Hir  fet)tt  bie  SebenSfraft,  roenn  t<f>  if)tt  ntdfjt  fefie;  td(j  bin  pbnftfdfj 
franf  bauon  geworben,  fo  fef)r  iä)  midj  jufammennatjm!  D,  mein  armer 
3Batter  f)at  fo  barunter  getitten,  unb  id)  bat  ibjt  taufenbfad)  um  3?erjeit)ung, 
bafj  id)  if)m  Sorge  gemacht  f)abe.  —  SRodj  ad)t  £age!  — " 

„$ann  idj  bafür,  bafi  id)  nid)t  ju  teben  »ermag  ofine  it)n?  Db  ba3 
je  anber«  werben  roirb?  $at  Siebe  eine  befiimmte  ©auer?  SRein,  fie  ift 
roie  bie  ©roigfeit,  otine  3lnfang  unb  ot)ne  Gnbe!  Steulid)  fagte  2Batter« 
liebe  ©ante,  bie  bei  uns  jum  33efud)  war:  ,,©ie  grauen  rühmen  fid)  fo 
oft,  ber  Siebe,  roenn  fie  oljne  Xugenb  itmen  nabte,  roiberftanben  ju  tiaben. 
3$  aber  behaupte,  roenn  fie  ifjr  roiberftanben,  roar  e§  eben  nid»t  bie 


'$00    nttte  Kremnig  in  Bufareji.   

Siebe,  benn  ber  roiberftetit  Stiemanb!"  —  Unb  2Balter  gab  ifir  Siedet  unb 
fab,  mid)  mit  feinen  ftraljlenben  Slugen  an;  id)  a6et  rourbe  fo  tobeStraurig, 
bafe  id)  feinen  93li<f  nid)t  erroibern  fonnte.  ©r  metfte  eS  uid)tf  unb  id) 
füfjte  feine  &anb  unb  bat  —  ja,  idj  bat  ben  Mmädjtigen  um  meinen 
£ob!  — " 

*  * 
* 

—  „O,  mein  ©ott,  wie  fonnte  id)  flagen,  als  id)  tljn  überhaupt  nod) 
fall,  als  unfer  Seben,  fem  übet  bet  2KMgUä)feit,  nod)  ein  gemeinfame« 
mar,  als  id)  ad'  feine  ©ebanfen  tfieitte,  feine  gälte  feine«  &erjen£  mir 
»erborgen  mar!  @S  gab  feinen  Sag  feines  Sebent,  ben  id)  nid)t  nad)träg= 
lid)  mit  U)m  burdjlebt;  nie  fiat  ein  &aud)  ber  ©iferfudrt  in  if)m  ober  m 
mir  sptafc  greifen  fömten — .aber  jefet!  9iein,  id)  fann  es  nid&t  überleben. 

—  9hm  ift  2£ffe§  oorbei!  S)ieS  elenbe  SDafein  mit  feinen  f leinen  menfdj* 
lid)en  Qnftttutionen  faß  Me  ©eroalt  Ijaben,  baS  ©ötterfinb,  bie  Siebe,  ?u 
»ernid)ten?  —  „@S  bleibt  ja  SlHeS,  rote  eS  mar,  jroifdjen  uns!"  fagte  er; 
id)  fab,  ifnt  nur  fti£C  an.  2Bte  fonnte  er  ftd)  fold)e  ©normität  aud)  nur 
oorftellen?  @S  mar  ja  aud)  feine  grage  melrc,  bie  er  mir  »orlegte,  es 
mar  für  mid)  fd)on  entfdjieben  in  bem  Slugenblicf,  roo  iljm  überhaupt  bie 
3JJöglid)feit  feiner  SBermäljlung  burd)  ben  Äopf  gegangen  mar.  —  „33ift  S)u 
nidjt  aud)  oerljeiratfiet?"  fagte  er.  Unb  id)  fd)roieg  roieber,  roetl  id;  bie 
2tntroort  barauf  nid)t  fanb,  fonbern  nur  baS  ©efttf»!,  es  fei  etroaS  SlnbereS, 
etroaS  ganj  2lnbereS!  — " 

,,3d)  bin  rootjl  bod)  eine  (Sgoiftin  geroefen,  mein  ganjeS  Seben  lang, 
trofe  meiner  gerühmten  ©üte,  bafj  id)  baS  ntdjt  »ertrage?  3$  ftefle  mir 
»or,  baf5  fein  Seben  —  er  fagt,  baS  Seben,  ju  bem  id)  Ujn  erroecft  b.abe 

—  ein  reid)ereS  fein  werbe  als  bisher,  unb  eS  überriefelt  mid)  falt.  3d) 
benfe  baran,  bajj  er  einen  33eruf  b,aben  nrirb,  ber  if)m  eine  unenblid) 
größere  SBirffamfeit  giebt,  als  feine  2Biffenfd)aft  eS  bisher  getljan.  — 
316er  id)  fdjreie  »or  ©dmtera,  bafe  er  mir  entriffen  werben  mirb.  Smmer 
fefie  id)  bie  Slnbere  neben  il)m,  bie  im  ©onnenfdjein  beS  £ageS  an  feinem 
3lrme  Rängen  barf,  bie  fein  Seben  tfjeilt,  bie  neben  iljm  fifct  in  ber  2tbenb= 
bämmerung  unter  ben  {»olien  $ud)en  beS  Dorfes,  bie  an  feiner  ©ette  ein* 
tritt  in  ben  ftrafjlenben  geftfaal,  bie  bas  Saasen  über  feine  geliebten  3üge 
gleiten  Tieb,t  unb  if»m  bie  Stirn  glätten  barf,  roenn  Unmutb,  unb  ©orge 
fie  fräufeln,  bie  if»n  pflegen  barf,  roenn  er  franf  ift,  unb  bie  —  o,  ©ott, 
tyab'  erbarmen!  —  bie  ifim  Slinber  fd)enfen  barf,  roeld)e  feine  eblen  3üge 
tragen!  — " 

„Unb  wirb  er  nid)t  SBergängltdjeS  leiften  bann,  roie  jefct?  ©iebt  eS 
eine  gorm  ber  3lrbeit,  roeldje  fiöljer  ift  als  bie  anbere,  auf  biefer  jer« 
ftäubenben  2Belt?  —  2öie  »iele  3teid)e  finb  jerfauen,  roie  »iele  SJpnaftien 
auSgeftorben,  unb  bie  SBett  ift  barum  nid)t  fd)led)ter  ober  beffer  geroorben. 

—  3lber  —  o  ja,  id)  weift  alle  3lber!   £abe  id)  felbft  es  ibm  nid)t  ge* 


  Sein  Brief.   


fagt  —  beim  in  feinet  SRäbe  bel)erridjen  mief)  feine  ©ebanfen,  —  bajj 
man  feine  Sßfftdjtcn  gegen  bie  SJHtmenfdjen  erfüllen  muß,  baß  man  feine 
<Mid)t3punfte  befdiränfen  foll,  um  überhaupt  ©twa«  ju  leiften!  .  .  .  D, 
wie  weife  Ijabe  id)  gerebet,  immer  mit  bem  lauernben  33lid  auf  iljn, 
immer  mit  ber  erfterbenben  Hoffnung,  er  würbe  antworten:  „2ÜIc§,  waä 
mid)  ©tr  entfrembet,  ift  wertlos!"  —  ^a,  id)  fiabe  eö  erhofft,  aber  £>u, 
$reb,  $>u  ^aft  es  md)t  gemerft,  ©u  tiaft  nur  gehört,  wa§  ber  -Btunb 
fptad),  SDu  nannteft  mid)  ,einjig'  unb  ,ebet'  unb  tfrofeartig'  unb  falieft 
nidjt,  was  id;  litt!  .  .  .  ©eine  üWatur  ift  bie  langfamere  t>on  uns  Seiben 
—  nrirb  baäfelbe  Seib  aud)  über  ©id)  fommen,  wenn  $ur  SBirflidjfeit 
geworben,  was  SDu  als  $lan  mir  mittfieilteft?  3Stelleid)t  —  idj  glaube 
es,  aber  idj  wünfdie  eS  nid)t.  £)u  fönnteft  es  nielleidit  nidfit  ertragen, 
id»  ertrage  eS  ja  —  id)  wanble  nodj  immer  l)od)  über  ber  SBelt  — 
medjattifd)  ladje  unb  weine  idj,  aber  bie  SBolfen,  bie  mtdj  tragen,  finb 
nidjt  meb,r  uon  ber  ©otme  »ergotbet,  eS  finb  fdmxträe  9Jegenwotfen,  unb 
bie  Grbe  jiefit  Tie  an  —  o,  wie  fefir!"  — 

*  * 
* 

Kurt  33raun  nmrbe  burd)  Klopfen  an  ber  £t)ür  aufgefc^redt.  ©3 
war  nur  (Sdjwefter  2lnna,  weldje  fragte,  ob  baS  3immcr/  m  welkem  bie 
SBaronin  Äjerfunb  geftorben,  neu  betest  werben  bürfte?  @S  fei  ja  grünb= 
lidj  beSmftcirt  worben,  unb  man  Ijabe  eben  einen  vom  ©ad;  gefallenen 
Arbeiter  eingebracht  —  fein  -DJenfd)  roiffe,  was  er  fo  fpät  nodj  auf  bem 
Sau  gewollt  —  unb  fonft  fei  nirgenbs  $lafc  .  .  . 

Kurt  gab  feine  ©inroilligung  unb  ftanb  auf,  um  baS  SBud»  in'«  geuer 
ju  werfen. 

©djwefter  2tnna  fab,  ib,n  fdjarf  an:  ,,©S  ift  ^nen  wob,l  fdjwer, 
wieber  in  baS  Limmer  ju  gefien?  9lber  wir  müffen  b,alt  Stile  weiterleben, 
was  audj  immer  gefdjelje!"  — 


3IIuftrirte  23tf>ltograpf}te. 


©tlticrotloS  jur  «Sefcfticfttc  Der  ttrutfdfjcn  9?fltionaUittevatur.  eine  (FTpängung 
gu  ieber  beutichen  ßitteraturpefchicbte.  Stach  bm  CUiellrn  bearbeitet  bon  Dr.  ©uftoD 
Wönnecfe.  3,peite  öetbffferte  unb  oerme&rte  Staffage^  SNarburg,  91.©.  (Slmert'f  che 
SSerlagSbudjbanblung. 

Hie  ©ertngfdiääung,  mit  bet  man  früfjer  auf  ifluftrirte  SBerfe  toiffenfdjaftlic&en 
©ljaralterB  nidit  obne  fflrunb  bliefte,  ift  in  bem  9J?a6e  gewieften,  als  aud)  bie  anfangs 
boitolegenb  eiitrr  müßigen  Slugenweibe  bienenbe  31Iuftration  mefir  unb  mr&r  ftiftfinatifd), 
narf)  »iffenfdiaftltdien  ©runbiäSen  unb  3iel«n  au*qcfibt  touebe  unb  bte  frirtfcb=&tfiortfcfce 
2J!etbobe  auch  bei  ihr,  toie  bei  iebei  biftortidVn  Qu-  Henarbeft,  gut  Anwerbung  gelangte. 
S)te  überrafdienben  gtortfcfcritte  ber  mobemen  WrWobucrionStrdjnif  famrn  biefetn  Streben 
gu  §tlfe,  inbem  fte  bte  unbebinat  treue,  umnanierirte  2i>tebtrgabe  alter  Vorlagen,  Bon 
fianbfehriften,  £tucfen,  Jfunferft'chen  11.  f.  ro.  rrmöulid  trn.  fceutgutage  bürfte  es  füum 
eine  toiffenfdiafttidie  TiSciblin  aeben,  welrte  ber  ©ilfe  b»B  ergängenben  SHlbeB  gang  ent* 
bebren  möchte;  einzelne  tonnen  fic  nicht  entbehren.  — 

(Sin  Seuflntfs  tür  bie  fieiaenbe  2L<ertf)id)ä6una  ber  im  SÜenfte  ber  SBiffenfdiaft 
ftefienben  unb  auf  wiffcnfchaftlfdier  ©ranblage  ru&enben  £UIuftration  bon  ©eiten  ber 
aajfleli  Ijrten  wie  beS  gebilbeten  publicum«  legt  j.  &  bie  2lufnab,me  ab,  weldte  bie  im 
abre  1886  erfdiienene  erfte  Sluflnflf  beS  iHlberatlaB  gnr  ©efdjichte  btr  beutfdien  National« 
Iitteratur  gefunben  bat.  £>ie  Sfrttit  hat  bamalS  bie  monumentale  öcbeutung  biefcB 
2Berfe8,  ba«  eine  erfreuliebe  SScrbrettnng  m  ben  ffreifen  bei  ©ebilbeten  flefunben  bat, 
anerfannt,  ber  gewiffrnbaften  ©rünblfdifeit,  ben  ffcnntmffen  unb  bem  ©eidjmctf  be» 
£>erau«geber8  toie  bem  SSerbienft  beB  SSerlegerB  berartige  ÜbürMgung  hriberfabren  laffen, 
bafj  ftet)  eine  eingefjenbe  fritijche  Beleuchtung  beB  SUnfeB  fffet  erübrigt.  ®8  genügt, 
baranf  btoguweifen,  bafj  bie  »weite  Siuflorie  eire  rermebrte  unb  m  me&tfacber  £>infid)t 
berbefferte  ift.  @o  ift  bie  3a&l  ber  SUuftrationcn  ton  l(i75  auf  2200  erhobt  moroen, 
toogu  nodi  14  Beilagen  fommen.  Unter  ben  bingugetommenen  Silbern  befinben  Heb 
manche  tntereffante  aus  ffioet&eB  unb  Schillers  3'<t;  auch  ift  ber  S3ilber»8ltla«  bis  gur 
©egenmart  fortgeführt  Worten,  inbrm  beroorragenbe  Vertreter  ber  neueftrn  fiitteratur» 
Beriobe  (wie  Hauptmann,  ©ubermann)  Sßla^  gefunben  fcaben.  fjreilicb  bat  bei  §erau8> 
geber  in  biefer  Sbegiefiurg  nid)t  ade  Uiünfcbe  erfü'len  fönnen,  u.  2t.  bermtffen  mir 
bas  Portrait  Subroig  ftulbaS.  @me  Söercidierung  unb  bamit  eine  (Srböijung  feines 
miffenfdmftltcbfn  SBertbeB  bat  ber  MaB  babureb  erfahren,  bafj  bon  allen  $anbfcbriften 


  3tlnj"tTirte  Biblloijraptiie.    <K>3 

unb  $anbf4riften*®rud)ftäctert  beS  toiditigften  ßitteraturbcnfmala  beS  3JHtteIatter8,  beS 
SRibelunß'-nliebrS,  Proben  aufgenommen  worben  ftnb.  Sil«  iöerbefferimaen  ftnb  angu= 
fügten,  lafj  einige  Säbbilbungen  fortgelaffen  unb  eine  gro{te  2lnjaf)l  foldier,  für  bie  entroebtr 


6effere  Oueffenbtlbet  gefunben  mürben,  ober  bie  bitren  bie  injttjtfdieii  ief>r  ueruottfommiteteit 
Steorobuctionämetfioben  fdiöiter  unb  ßarer  nneberaeaeben  »erben  tonnten,  buren  quellen- 
mäfjigere  ober  tlarere  Slbbilbungen  erfefct  »oorben  ftito;  ferner  baft  bie  erßärenben  Teste 

Slotfc  unb  Sflb.  LXXV.  3-25.  27 


<*(H    Zto»b  unb  Sflö.   

einer  genauen  3)urcbüdjt  unterzogen  unb  auf  ®runb  ber  fett  bem  ßrfdjeincn  Der  1.  8nf- 
tage  ju  Xage  geförderten  [forfdMngSrefultate  beriditigt  toorben  finb. 

Set  »ilberatlas  gerfäflt  in  jroet  Slbtljeilungen,  Sie  erfte  bringt  bie  »übntffe  ber 
bebeutenbften  »erftorbenen  beutfdjen  ©btacbforfcbfr  unb  ßitterarfjiftorifer  (mir  Derurfffen 
unter  bieten  §ettner);  bie  jtoelte,  bie  £auötabtbeilung,  bringt  bie  eigentliche  Sammlung 
Don  Äbbilbungen  »ur  ©efd)i<bte  ber  beutfeben  Sitteratur.  ÖDiefe  Slbbttbungert  erläutern 
bie  gefammte  beut|dje  Sitteraturgefcfjitrjte  Bon  bem  älteften  Auftreten  ber  Jtacbricrjten  über 
bentfdjen  ©ang  bis  auf  unfere  £age. 


(Sbriftiane  unb  Sluguft  Bon  Woetbe.  Wqnattn  bon  $«inr.  SHtqer. 

«nS :  Dr.  (Muftatt  Süttncct«:  „»ilberatta»  Jttt  Ot«fd>i<^te  btt  beut(<bett  SiatioiiaUittcrarur.* 
aiatbutj,  31.  ©.  gtwtrt'fdje  «trlofl«  bucbbanbluno. 


2Iu8  bem  üRittelalter  hjerben  Sfladjbilbungen  ber  §anbfd)riften  unb  Srucft  ber  bt* 
beutenbftm  ßitteraturbenfmäler  gebracht;  Hiniaturen  au8  brn  ^anbfebriften,  leite  mit 
wortgetreuer  Uebeitragung.  3n  ber  UebergatigSDeriobe  Dom  aßittdalter  jur  neueren  Seit 
wirb  bie  bebeutfame  ®ntroicfelut;g  beB  SBurtbrucfS  Dom  rohen  SStotfbrucf  lehrreich  oeran' 
fdiaulitft.  SBom  8lii8flange  be«  XV.  3abrhunbert8  treten  bie  »ilbntffe  ber  ©idjttr  unb 
©Artftftetler  in  ben  SJorbergrmtb;  baiteben  werben  itrtereffante  SBüdiertitel,  einjelne 
Seiten  au8  toidjtiflen  Erliefen,  littcrarbiftorifdje  Rltertljümer  unb  Denfmäler,  inSbtfonbere 
(Stabmäler  unb  i>idjtcrftätten  »iebergegebeti. 


  3 1 f « ft r i r t e  23ibIio£jrapt|te.   


$06    Horb  unb  Snb.   

Slucf)  bie  »üdjeriffuftratton  ift  betart  bcrüdffütiflt,  ba&  ficö  (&rc  ©ntroitfeltmB  in 
3)eutfdjlanb  Bon  ben  SKimaturen  be8  XII.  bi«  gum  Anfange  unfere»  Sotjrbtmbtrr* 
»erfolgen  lägt.  Satyrtid)  fttib  bie  9to<f)bilbungen  bon  fcanbfdiriften  ber  ©diriftftellex, 
mSbefonbere  9lomen«üiigen.  ©er  ältefte  ftcfete  ift  bie  Unterfcfcrift  flöntg  ßonrabtr» 
tttttet  einer  $ifoer  Urfunbe  bom  3a&re  1258.  — 

SJiefe  Slngaben  laffen  ertennen,  roelcb*  ein  ungemein  reiße«  SHateriot  in  biefnn 
»tlberatfa»  jufammengebradit  ift,  rote  febr  berfelbe  geeignet  ift,  eine  ©tüfee  unb  ©r« 


Ottilie  »ou  spoaroifä.  (»ottbe»  6c$ioieflMloa)ttr,  HujuR»  grau, 
tfrclbfjeidmuna.  be»  (Mtimam-  ßitbograpbtn  ßclntid)  SKüttet  (um  1820). 
2tit* :  Dr.  (Muttao  ff  Snnccf  e:  .Silberatta»  jur  ©tf4l4ti  bti  beuttoai  MatlonaHitttratur.* 
Marburg.  5t.  ffl.  (Sllotrffa>e  iBtrl ag»bti AtianMung- 


flänjung  beS  lttterart>iftorifd)en  Unterrid)tS  ju  bieten,  benfelben  burdj  8ln[d)auung  in  be- 
[eben  unb  ju  oertiefen.  — 

Sie  SlitSftattung  be8  2Ber!e8  ift  in  jeber  »ejieljung  »ortreffödi;  für  treue  unb 
fünftteriitfje  SBieberaabe  ber  SBUberborfagen  Ijabm  natntntlidj  bie  fiunftanfialten  uon 
?lngerer  &  Gtöfebt  in  üUien,  ÜWeifenba*,  SÄiffartfj  &  (So.  in  iHündien  unb  fflerltn.  Öfter- 
rlett)  in  JJranffurt  a.  9JI.  unb  SBerner  &  SBinter  ebenbafelbft  geiorgt.  SJon  le&tgenarmter 
iyirma  ritbren  tjer  bie  wcrtbbollcn  farbigen  SBeifagen:  (Sine  Seite  aus  bem  Codex 
argenteus;  bie  beiben  SWiniaturen  nuS  ber  gro&en  §eibelberger  ßteberbanbfdjrift:  Slrib* 


  Stbliograprjif dje  Ztottgen.   


<*07 


bart  oon  Sieuentbal  inmitten  feiner  frSblidien  Bauern;  Sffialtber  bon  bei  Sogetroeibe; 
bie  SfcadjbilDuna  eines  coloritten  §olgfdjnitteS  aus  Dem  3abre  1530:  „$>er  SJJafentang" 
mm  fianS  (SSütDenmunb  in  Dürnberg;  Bon  2luguft  Ofterrietl)  bie  farbige  SCafel: 
ftlanbriidjer  Xcppii)  beS  XIV.— XV.  3abrbunbert8  mit  ©cenen  au8  äMbetm  öon 
Orlens  (Original  im  güiftl.  iWufeum  gu  ©igmaringen);  öon  3Wttfenbad),  Miffartb,  &  60. 
bie  auSgegf  idjneten  großen  Sßfjotogratouren :  ©oetfje,  nad}  bem  Oelbilb  »on  3.  Ä.  ©tieler 
(1828)  mtb  fieffing,  na*  bem  Oelgemälbe  bon  3-  Xifrtbfin  b.  31.  0760),  mefdje 
liebft  ber  guten  9teprobuctu>n  be«  »on  3o&ann  (Sottharb  äJiüUer  nad)  bem  ©emälbe  «on 
3lnton  ©raff  geftodjenen  SßortraitS  gfricbrid)  ©ebillerS  bem  silierte  gum  bejonbcren  ©djmucf 
aereicben.  — 

2)er  BilberatlaS  umfaßt  11  Lieferungen  oon  je  40—48  ©eiten  größten  gormats. 
Xer  $reiS  con  2,00  X  für  bie  Lieferung  ift  in  Slnbetracbt  te-3  überaus  reidjen  3)1(10118, 
ber  gebiegeneu  Slu«ftattung  unb  bcS  inneren  SBertbeS  ein  überaus  mäßiger  gu  nennen. 
IFtöge  baS  in  feiner  2lrt  einjig  baftebenbe  2lierf  bie  roeitefte  Süctbreitung  finben. 


23ibliograpfjifdK  Zloti$en. 


l'cqvbiid)  Der  Allgemeinen  iMlJdJolonic. 

SBou  Ur.  3obaune4  8t e t> m f e ,  0.  ö. 
SBrofeffor  ber  5ßbj(oiophie  3U  ©reifsmalb. 

timburg  unb  fieipjtg,  Berlag  oon 
eopolb  ob. 

SDaS  neue  äßerf  beä  SSerfafferS  mehrerer 
Schriften  über  ben  SBcfiimiSmuS  unb  über 
»ie  (oon  ibm  ibealifttfdj  beantwortete') 
ftrage  nad)  ber  Slutsemoelt  fiellt  an  bie 
ftacfegenoifen  eine  Steifte  bebeutenber  Sin» 
jprücbe  auf  grünblidie  iiluScinauberiefcung, 
gumal  ba  es  aud)  abgeieben  oon  Slnficfttä* 
uerfdiiebcnbeiten  geeignet  ift,  gum  äiJtber» 
fprucfj  {lerauSguforbern  —  unb  %\vax  bon 
feinen  aUgcmeincn  Slnfängcn  an  (^Definition 
ber  Süiffenidiatt,  ber  SHarbelt  u.  f.  u>.; 
pfudiologifcfje  Aufgabe  berSßbnfiologie,  J.'ogtt, 
Ütcfttjttit  unb  (Sthjf,  ©.  349)  bis  binein 
in  feine  Öinjelfteiten  (3.  B.  ba*  3el)lcn 
DcS  Begriffs  „äS<ah,t"  beim  Slnfaffen  ber 
iüiHenaftage  unb  bie  Beidiränfung  ber 
JreibeiUftage  auf  bie  eine  „®eter= 
miuismuS— QnbetermintSmu-S" ;  ferner  ber 
uötltge  iVtanget  an  Stillegung  beS  inneren 
üSabrnebmetiS,  befonberS  §  24).  2luf  biefe 
feine  @igeufd)aft  fömicn  mir  Ijier  nidjt 
näher  eingebn,  müffen  auf  Tie  i  boi)  bin« 
mclfen,  ba  ber  Sitcl  ben  (Siubrucf  ermeefr, 
es  Rubele  fid)  um  ein  von  gadjftrcüig» 
feiten  abfebeubcS  Seljrbud),  baS  ben  ficheien 
ober  UjenigftcnS  ficr.er  ju  madienbeu  Ibcil 
einer  2Biffenfdiaft,  fei  eS  ber  Ocffcntlidjfeit, 
iei  eS  bem  Slnfänger  ocrmittcln  foll.  Sicfe 
©igenfajaft  binmiber  befi&t  ba«  SLBert  nun 
einmal  gar  nicht  unb  beniübt  fieb  aud) 
nid)t  nad)  ifjr,  fo  ftreng  unb  anerfennetts» 
»ertfj  unb  erfolgreich,  aud)  ber  Berfaffer 
nad)  einer  „allgemeinen"  JBindjoIogie  gc= 


ftrebt  bot.  MerbingS  ift  ber  bergeittge 
Stanb  ber  Sßfuchologie  für  fiebrbücher  nidjt 
günftig;  aber  felbft  bie  Annäherungen 
baran,  Die  eS  giebf  (ben  „Brentano",  ben 
tleincn  unb  großen  „3<>mcS",  felbft  ben 
„Holtmann")  mitb  mau  für  ein  Sefjrbucb 
immer  nod)  uorjitben  Dürfen. 

Sie  ülufgnbe  ber  $fnd)olonie  fei:  „bie 
©cieömäfjigfiit  ber  SJeränberungen,  lueldje 
man  Das  Seelenleben  nennt,  flar  gu  be* 
greifen."  Sf)r  „pbtlofopbild;er"  Xbcil  läfet 
ben  rid)tigen,  fraglos  tlareu  SJegriff  bon 
„Seele*  übetftaupt  erft  gcroinnen;  iftr  „fad)= 
miffcnfdjaftlicber"  2beil  Ijat  „baB  ©celen« 
gegebene  in  ber  Sütannigfaltigfeit  ber  !öe= 
muBtfeinSbeftimmtbeif,  nie  fie  baS  abftracte 
3ubtoibuum  „Seele"  bietet,  unb  in  bem 
geldlichen  3i'">nimenbang ,  iielctcn  baS 
concrete  Snbiuibuum  .Seele'  aufioeift,  flar 
ju  begreifen."  3mmcr  banbelt  eS  fid)  ba« 
bei  um  „reine"  llMndjologie,  b.  b.  abgefeften 
oon  ben  ^cjicftuiigen  bcS  JöemufjtfeiuS  gum 
„(SJcgeuftanD".  —  jür  (Sinjelfragen  ift  baS 
Werf  umjo  weniger  gu  bcnüBcn,  als  ibte 
Beantwortung  bier  gu  febr  bon  ber  &c 
fammtleiftung  abhängig  fein  bürfte. 

H.  Schm. 

Sic  äufmtft  Dcv  ^ftildfiiötc.  aintritts» 
oorlcjung  ton  Ur.  Start  3oeI,  Sßriüat» 
bocent  ber  S|5fjttoioptjie  an  ber  Unioerfität 
Bajel.   2)afel,  Benno  ©djtoabe. 

9iefereut  bat  oerfudjt,  bem  33üd)tein  an 
einer  beionberen  ©teile  geredjt  gu  »erben, 
unb  barf  bieS  bier  rootjl  babin  gufammen» 
faifen,  bafs  er  So^'l«  erften  afabemifeben 
©rtff  mit  freute  ob  feiner  »armen  3bealiS= 
men  begrüftt,  troö  einer  ettoaB  toeitgeften« 


408 


Horb  nnb  Sfib. 


ben  SBereinfadjung  bei  angemeldeten  SSegriffe. 
©egenüber  ben  Dielen  Sobtfagungen  bei 
$büofopbte  eines  iljtei  nodj  Biel  gab> 
reiifieren  ßebenBgeidjen.        H.  Schm. 

Wilofopftie  »er  Befreiung  »urdj  >afi 
reine  Wittel.  Beiträge  gui  $äbagogif 
be»  2Renfd)engefdjledjtS  oon  Dr.  SBruno 
SßWe.  »erlin,  S.  giftet. 

Sie  »ebeutung  biefeS  SSud»S  berubt 
auf  feinem  Kaien  unb  felbftftänbigen  Sin« 
greifen  in  bie  fragen  bei  gegenwärtigen 
unb  nädjften  ©efeüfdiaftSentwicflung.  S3ei 
biefem  feinen  „praftifd)en"  Sßertlj  bean« 
fprudjt  e8  einerseits  eine  gelingen  faa> 
wiffenfdjaftlidie,  anbererfeitS  aber  eine  um 
fo  größere  allgemeine  Slufmerffamfeit  unb 
jtoar  wenigfrenS  oon  Seiten  Serer.  bie 
mit  feinen  ©egenftänben  raaBgebeno  gu 
Ujun  fjaben.  ©mnbgebanfe:  „Stein  ift  ein 
SKittel  nur  bann,  Denn  eS  burd)  feine 
SRebenwirfungen  feinen.  3we<f  gar  nidit 
ober  öerbaltniferaciBig  wenig  beeinträchtigt. 
Sa  nun  mein  &id,  mein  tjBcfjfter  (SnbjtoedC 
,ber  freie  ä3emunftmenfd)'  ift,  fo  oerfte^e  idj 
unter  . .  .  ,bem  reinen  SDiittel-  lebiglid) 
folctje  SßaBnabmen,  meldie  . .  .  uns  ben 
freien  SSeinunfttnenfdjen  tt)atfäcr)lic6  näljer 
bringen,  ntd)t  aber  gegen  gfretyett  unb  S3er» 
nunft  fo  etfjeblicb  tterftoßen,  bafj  fte  in 
biefer  wichtigen  aKer  SJegiebungen  meljr 
fdjaben  als  nü&en."  —  Statt  einer  ein» 
ge&enben  ffrittt  feien  bier  als  SBeifpitle 
bermerft:  bie  wiHfüttiche  (Sinengung  bei 
äikrtbbegriffs  auf  baS  Slngenebme  unb  ber 
3Jitf3öttff,  baß  bei  ben  „3nbibibuetlen 
3JHtieIroertbungen"  ber  ©egenfafc  „normal" 
unb  abnorm"  ober  „anomal"  (wie  eS  ftatt 
bes  fe^lerbaften  äßorteS  „anormal"  beißen 
muß)  mit  bem  ©egenfaö  beS  alten  unb 
Steuen  fowie  mit  bem  beS  Allgemeinen  unb 
3nbiöibueHen  bertoedjfelt  ift. 

H.  Schm. 

3ettfdjrtft  für  WilofaMic  unb  pWo> 
faMHdjc  StvUti.  . .  104.  S3b.  1.  §eft. 
Seipgig,  SPerlag  bou  G.  ©.  3H.  Sßf  ef  f  er. 

(Sin  Stücf  Sfortfctjung  ber  in  unferm 

februarijeft  1894  genauer  befprodjenen 
ubiläumSbänbe.  §eroorjuljebeit  wären 
bieSmal  Ueberfiditen  über  SRu&lanb,  <5ng» 
lanb,  Sfmerila  unb  bie  feinfinnige  Scbäöuna, 
bie  Sbeobalb  3ießler  Heineren  Schriften 
oon  fjfrang  SSrentano  angebenden  läßt.  — 
2üär'  eS  ntd)t  biefer  .Seitfdjrift  Würbig, 
Wenn  fie  aud>  bie  äußeren,  inSbefonberS 
bie  Sebrberhältniffe  ber  Spijilofopbie  in 


ifjren  regelmäßigen  SBeactjtunaStreiB  ein» 
begög«?  H.  Schm. 

«ntwitfelun«S«ei*idjte    »er  9Utor. 

SJon  SBilbelra  Jüölfdje.  2  SPänbe  nnb 
gegen  1000  Stbbilbungen  im  Xfjt  mit 
16  Safein  in  Scbwarg»  unb  garbenbrurf . 
©eb.  $reiS  15  SDcarf,  aucb  in  40  ßtefe« 
rungen  &  30  fßl  —  SReubamm,  Skrlag 
oon  3.  Steumann.  — 
Ser  Stoff  gu  bem  oorliegenben  größeren 
ffierfe  bat  gmar  bereits  trüber  berufene 
^Bearbeiter  gefunben,  gegenwärtig  fefjlte  e* 
aber  an  einem  berartigen  SSucb,  baS  bem 
Saien  baS  reidjbaltiae  27caterial,  unter 
3ugrunbetegung  gerabe  auä)  ber  neueften 
(Srrungenfdjaften  auf  naturwiffenfcbaftUdjem 
©ebiet,  überfidjllidj  unb  in  burdjauS  aü* 
gemein  oerftänblfcfjer  Seife  barbietet. 
Siefe  Aufgabe  gu  löfen  unb  ein  berartiges 
äBert  gu  fchaffen,  ift  bem  Skrfaffer  oor= 
trefflidj  gelungen.  Serfelbe,  ber  aüdj  bnrcb 
feine  SSemü&ungen,  bic  JÜefiljcttt  auf  eine 
naturwifjcnfdjaftlidje  ©runblage  gu  Reuen, 
fid)  befannt  gemacht  bat,  enreift  fidj  in 
bem  oorliegenben  Sffierfe  als  ein  grünb» 
lieber  flenner  ber  Oerfd)iebenen  3^'ge  ber 
9iaturwiffenfdjaften  bis  in  tbre  jünaften 
(Sntwictclungen.  Sei  glänjenbet  ©tiliftit 
»erftebt  er  baS  Sntere ffe  beS  SeferS  ju  ge» 
Winnen  unb  baSfelbe  Bon  Sauitel  ju  (Sapitel 
gu  fteigern.  Sie  ganje  33ebanblung  beS 
mädjtigeu  Stoffes  gebt  Uon  großen  ©endjt*» 
punften  aus,  niigenbS  uerleßenb,  babei  ift 
ber  SJerfaffer  Weit  entfernt,  etwaige  Süden 
unterer  (Srtcnntnii  gu  berbeefeu,  »ielmebr 
beitritt  er,  wie  er  bieS  in  ber  (Einleitung 
beroorbebt,  bie  SJnfidjt  Sllejanber  oon 
^umbolbtS,  „baß  jenes  einjeitige  Sidj= 
ftetfen  auf  bie  fefeten  9tälbf elfragen,  uon 
beten  geitlidjer  UnlöSbarteit  man  hi  gewiffen 
Streifen  immer  wieber  nur  }u  gern  ben 
(Sufturwertb  ber  Scaturfotfdjung  abbängig 
madjen  wöd)te,  wefentlid)  in  foldjen  SBpfen 
entftebt,  bie  gar  feine  Slbnung  bergen  oon 
ber  wirtlichen  ©röte,  bem  9teid)tbum  unb 
ber  Sdiönbeit  bev  bereits  gu  boüer  Slarbeit 
erforid)ten  ©ebiete  ber  Äaturariffcnfdjaften. 
—  äßer  oon  einer  redjten  Siebe  gum 
Slaturftubium  unb  oon  ber  erbabenen 
äiiürbe  beefelben  befeelt  ift,  fann  burd> 
9üd)t8  entmutigt  werben,  was  an  eine 
tünftige  SSerOoUtommnung  beS  menfdjlidjen 
ätiffenS  erinnert."  Unter  biefer  SBoiauS» 
feöung,  fdjretbt  ber  SSerfaffer,  fei  unfer 
2Beg  begonnen.  — 

Saa  umfangreidje  2Bert  beftebt  aus 
2  SBänben,  jeber  Söanb  gegliebert  in  Drei 
Unterabtbeilungen   (ȟdjer).    Ser  erfte 


  Bibliograph 

SBonb  befdjäftigt  fid)  mit  btr  <Sntoi<Mung8> 
öefdjidjte  bei  menfdjlidjen  Sfenntnife  btr 
tilatux,  ferner  mit  ber  ffintwidelungS* 
«efdjidite  ber  au&erirbifdjen  SEBelt,  Dom 
fflibtlfUd  bis  gum  Planeten,  unb  fdjlie&lid) 
mit  bem  Urguftanb  ber  drbe  unb  ben 
Duleanifdjen  ©rfdjemungen  ber  ©egenwart. 
$>ie  SutroidelungSgefdiidjte  ber  au&er« 
hbifdjen  SBelt  fann  als  ein  BoUflänbigeB 
populäres  „Sompenbium  ber  Slftronomie" 
begeidjnet  Werben.  £>er  gweite  89anb  um» 
fagt  in  fernen  einseinen  SBüdjem  bie  ©rbe 
m  ber  älteften  (Spodje  ihrer  (Sntwidelung, 
aföbatm  bie  £ria8«,  3ura»  unb  Sreibegett 
unb  fdjIieMtd)  ben  3«traum  "pn  S3eginn 
ber  Xertiärgeit  bis  m  ©egenmart.  3n 
feljr  intereffanter  SBeife  behanbelt  iu  biefem 
löanb  ber  SBerfaffer  bie  Sarwin'fcfce  Sehre, 
bie  er  aus  ben  ^fjatfacben  heraus,  ftufen« 
weife  enimicMt  unb  bem  Sefer  oorführt. 
3«  einer  Steide  Bon  Slbbilbungen,  bie  ftd) 
bem  SCcjte  genau  anfdiliefeen,  lntrb  baS 
intereff  ante  ©ebiet  ber  Slnpaffung,  SDMmifrn, 
bem  Sefer  beranfdiaulid)t.  SEBeiterhin  er= 
läutert  ber  Serfaffer  in  fehr  ausführlicher 
SBeifc  bie  gcfdjkhtliche  ©nlwidelung  ber 
Organismen  Bon  ben  älteften  Urformen  bis 
herauf  gum  SWenfeben.  Sem  Sefcteren  ift 
baS  ©djlu&capitel  gewibmet,  in  welchem, 
bei  SJermeibung  ejtremer  ©cblüffe,  ben 
Sftefultaten  einer  BorurtbeilSfreien  gorfdjung 
SKedjnung  getragen  ift.  Sin  ausführliches 
Stegtfter  ift  bem  gweiten  SBanb  am  ©djlufs 
beigefügt.  — 

3af)lreidie  3Huftrationen,  theils  nad) 
Original«  Spijotograpbien,  IhcilS  nad)  3et*s 
nungen,  erläutern  ben  Stejt;  baS  recht  gut 
auSgeftattete  äüerf  fann  mctrm  empfohlen 
»erben.  K. 


$orjpiele  auf  bem  Ibcatci-.  ®tama= 
turgifdje  ©figjen  uou  ißaul  S  in  bau. 
Bresben  unb  üBten,  Scrlag  bcS  Uni= 
Berfum.  (älfreb  $aufd)ilb.) 

Sin  bramaturgifcben  SBerfeit,  bie  fid) 
mit  ben  ©efeöen,  nad)  benen  ber  brama« 
tifdje  Dichter  fd)affen  fott,  refp.  nad)  benen 
bie  anerkannten  SÜietfter  beS  ®rama8  ge- 
fdjaffen  haben,  befaffen,  fehlt  eS  nidjt;  ba= 
gegen  f er)It  eS  an  einer  p  r  a  f  t  i  f  dj  e  u  ® rama= 
turgie,  an  einem  äöerfe,  weldjeB  uns  bie 
Sßhafen  Born  fertig  Borliegenben  SBJerf  beS 
bramatifd)en  DidjterS  bis  gu  feiner  SJer» 
fBrperung  auf  ben  Wrltbebeutenben  üörettern 
beleudjtet,  baS  bie  Xtjntigfeit  beS  SidjterS 
nad)  SMenbuug  feines  SBerfeS,  fein 
»erhältnife  gum  StegiUeur,  bie  Sbättgfeit 
beS  Seiteren  forote  beS  ©djaufpielerS  auf 


fdje  nötigen.    ^09 

ben  groben  wie  bei  ber  Slufführung  fdjilbert. 
Diefe  Surfe  füllt  baS  Borliegenbe  SSud) 
SPaul  SinbauS  in  banfenStoerther  SBeife 
aus.  Sie  reidjen  Erfahrungen,  bte  $aul 
Sinbau  als  23ülmenbid)ter ,  Dramaturg 
unb  Sfjeaterftttifer  gefammelt,  unb  bie  er 
jefct  in  cinftufjreidier  Stellung  mujbar  gu 
machen  ©elegenhett  hat,  bie  i&inblide,  bie 
er  burd)  feine  perfönlidjen  SBegiehungcn  gu 
belannten  SBühnenleitern  unö  berühmten 
©djaufpielern  in  baS  geben  unb  Xreiben 
hinter  ben  Gouliffen  foirohl  an  beutfdjen 
mie  an  fremben,  Bornehmlidj  frangöfifdien 
X&eatern  hat  ttjun  tonnen,  fefceu  ujn  in 
bie  Sage,  biefen  ©egenftanb  mit  Bottfter 
©adifentitnie  gu  befjanbeln;  ba&  bicSaufeer* 
bem  in  gefäUigfter  gönn,  in  feffelnbftcr, 
burd)  gahlretdie,  charafteriflifdje  unb  amü» 
fante  Slnefboten  unb  eigene  grlebniffe 
SinbauS  gewürgter  ®arftellung  gefd)ie^t, 
braudjt  nid)t  erft  Berfidjert  gu  werben. 
SDa«  S3ud)  fe^t  fid)  aus  brei  Slbtjanblungen 
guiammen:  »SRegie  unb  Snfcentrung", 
»3>id)ter  unb  *übne  in  Seutfdilanb  unb 
gtanlreidj"  unb  »lieber  bie  Sunft  beS 
©djauipiclerS".  3n  bem  erften  äluffa^e 
wirb  bie  toidjtige  £f)ätigfeit  beS  SWegiffeu», 
bou  beren  äüejeu  unb  SÖebeutung  baS  grofje 
publicum  leine  SBorfteHung  hat,  fowo|l 
in  SSegug  auf  bie  „SntjaltSregie",  wie  auf 
bie  »gormregie"  (3nfcenirung)  —  wie 
Sinbau  es  begännet  —  eingiljenb  gewürbigt 
unb  ein  anfcbaulidjeS  Jöilb  oon  bem  3Jer« 
laufe  ber  ßeftptoben,  SBühnenproben  u.  f.  w. 
gegeben.  Sllteingemurgelte  iDiifeftänbe  an 
beutidjen  äDübnen  werben  in  lehrreidjtr 
SSSeife  bloßgelegt  unb  mandier  beb/rgigen£« 
wertfte  SBitit  gegeben,  beffeu  Sefolgung 
Stegiffeuren  unb  ©djaufpielern  Bon  ÜRuöcn 
fein  bürfte.  Der  gweite  2luffa&  getgt 
bie  öerfdjiebene  Stellung,  weldje  ber 
beutfdje  unb  ber  frangöfifdie  3)ramatifer 
ihren  Bühnen  gegenüber  einnehmen  — 
eine  parallele,  weide  niebt  gu  ©unften  ber 
beutfdjen  Xheateroerbältniffe  ausfättt.  Der 
britte  (Sffap  befdiäfligt  fid),  anfnüpfenb 
an  SluSlaffungcn  beS  betaitnteu  frangöfi» 
fdjen  SchaufpielerS  (SoquclinS,  mit  ber 
flunft  beS  ©djaufpielerS  unb  erörtert  be» 
fonberS  bie  Srage,  ob  ber  wahre  Sdjau« 
(pielfünfiler  mehr  imS?anne  ber  3nfpiration, 
ober  ber  fünftlerifdjen  Uebcrlegung  ftehe, 
ob  er  in  ber  SHolle  ober  über  ber  3iolle 
ftehen  müffe,  um  bie  gröfete  unb  reinfte 
2BirIung  gu  ergielen.  — 

£aS  SSud)  ift  gunäcfjft  2lHen,  bie  mit 
ber  Sühne  in  engerer  Söegiehung  ftehen, 
Bontehmlid)  alfo  Theaterleitern,  ätegiffeuren 
unb  ©djaufpielern,  fenter  aber  aud)  Sitten, 


HO 


ZTorb  un&  5üb.  


bie  für  bas  Theater  unb  bie  bratnaiifrfje 
ftunft  3ntert{fe  haben  —  unb  wer  gabelte 
nicht  gu  biefen,  —  aiigelegentlid)  gu  em« 
pfehlen.  0.  W. 

ftaralog  tri-  Vereinigung  ber  Äunft» 
freuntc  für  amtliche  ißublicationen  btr 
Srönigl.  9£attonal=@alcric.  Söerlin. 
ßänflft  überwunben  ift  jene  farbenfeinb« 
lietje  Sßeriobe  einer  bem  wirflichen  Sehen 
aflgu  fefir  entfrembet'tt  ßunft;  btr  6tanb= 
punft,  ben  einft  Tiberot  in  feinem  essai 
sur  la  peinture  eimia&m,  in  beut  er  bie 
ftarbe  als  ben  „göttlichen  §aucb,  ber  2lttc8 
belebt,"  pricS,  ift  wieber  gu  allgemeiner 
©eltung  gelangt;  nicht  nur  in  ber  ßunft 
felbft  fommt  biefer  neu  belebte,  gefteigerte 
unb  gugteid)  berfetnerte  ffarbenfinn  gur 
©eltung,  auch  bie  berbielfaltigenbe  Sfunft 
flicht  ihm  mehr  unb  mehr  Dledinung  »u 
tragen.  Tie  Schroierigfetfen,  mit  benen  fie 
Ijier  gu  fämpfen  hatte,  um  ben  fünftterifetj 
gebilbeten  ©efdimacf  gu  befriebigen,  finb  att> 
mählid)  überwunben  werben;  unb  neben 
ber  ^Photographie  unb  ber  Stabirung,  beren 
*coorgugung  in  neuerer  3««t  fdjon  ben 
neubclebteit  Sinn  für  malerifdie  Mrfuttg 
bocumeutirt,  fommt  mehr  unb  mehr  bie 
farbige  3B:cbergabe  heroorragenber  ©eniäloe 
tu  Stuf  nähme.  (Sin  neues  Verfahren:  ber 
yarbenlichtbrucf  bon  3lb.  D.  Trot&icb  er» 
möglidit  e«,  bie  üfuiiftioerte  mit  ber  bollften 
Irene  bc§  pbotograpbifdien  WachbilbcS  unb 
mit  ber  —  nur  genta«  ber  beräuberten 
©röfje  rebuetrten  —  tJarbettmirfung  beS 
Originale  wieberaugeben.  Ter  (Sitibrncf, 
ben  bie  nach  bieiem  3>erfal)reti  eTgeugten 
.siunftblätter  machen,  fommt  bem  ber  llr* 
bilber  fo  nahe,  bafi  fie  einen  wirtlich  an« 
nehmbaren  unb  wi(Ifommencu  (Srfafc  für 
biefclben  hüben  unb  man  faft  uergtüt.  bafj 
ihnen  ein  median iidjeS  Verfahren  gu  ©runbe 
liegt.  (Sine  fotdie  Treue,  vereint  mit  füuftlcri» 
fcher  Reinheit  ber  coloriftiidicn  Wadibilbung 
ift  bieher  tto.1i  bttrdi  fein  Söcroiclfältigimg«» 
berfahren  errcidit  werben.  Tie  Tircctton 
ber  fg(.  9fotioinI=(yaIcric  lerbient  baher 
lebhafte  üluerteuuung,  bnf?  fie  einen  Theil 
ihrer  Wunftid  age  mit  fttlfe  biefcs  Verfahrens 
bem  fuuftfitiiiigeii  publicum  gttgängltd) 
madien  will  unb  bieten  3«tcf  bureb  bie  oon 
ihr  begiiinbete  ^Bereinigung  berflunftfreume 
gu  erretden  fudit,  bereit  ©cfdiät'tSleitung 
tn  bic  Sjätibe  bon  21b.  O.  Troifejcb  gelegt 
ift  Tie  SBercinigung  liefert  ihren  ÜJiit* 
gliebcrit  für  einen  ^abre&beitraa  bon  20  9Kf. 
SßereinSbiltcr  und)  freier  äi;al)l  in  gleichem 
SBerthe  (citt  9!ormaIbilb,  bfgm.  gtra  $alb« 
blätter  ober  4  2i<appenbilbcr).  Ter  Sratalog 


für  1895—1896  Weift  ©emälbe  auf  t»n 
b.  (Sana!,  @b.  Sifdjer,  Sari  ©raeb,  <ö. 
fiilbebranbt,  o.  ©chenniS  (Sanbfdwftlidit* 
unb  SlrdiiteftonifdieS),  Srnft  £>Ubebranb 
(Königin  ßttife  auf  ber  gludjt  na*  3KemeI), 
fjerbinaub  Setter  (älpotbeofe  Jfaifer 
ätfilbelm'S  be8  ©iegreitfen);  Stbolf  ättenjel 
(Trotfenptafc),  Sari  Sßütter  CäJlaborma), 
Starl  Salfcmann  (flaifer  2BilBclm  II.  an 
Söorb  beS  „Tuncan  ©rerj"  auf  ber  SBal* 
3agb),  Stnton  ».  SBerner  (Om  ötawwf 
quartier  Bor  3kri8),  bie  fämmtlid)  burrh 
fletne,  aber  gute,  Hare  SPhotohtoien  mieber« 
gegeben  fmb,  fo  bafj  man  auch  ohne  bie  bei« 
gefügte  genaue  iöefchreibung  eine«  ieben 
Sötlbe«  eine  genügenbe  S?orfteUung  bon  jebem 
ffunftblatte  befommt,  um  nach  ben  Sota« 
logen  eine  2Bat)l  treffen  gu  fönnen.  SBir 
münfehtn  bem  Unternehmen  gebeihlichen 
Fortgang  unter  ber  £t)eilnabmt  De8  fünft» 
ftnnigen  $ublifum8.  —  1— 

$d6  föerr  tium  9Kenje».  Sine 
^eftgabe  gum  80.  Öeburt*tage  be8 
HunftlerS.  (iin  Söanb  ©roftquart  mit 
31  StolMberit  unb  106  £ejt=3Uufiw 
tiotten. 

«Jföiij  oon  yenbaths  3rttaenör1tf4c 
Siloniffe.  40  Portrait«  m  t'boto« 
graoüre.  ©rofefolioformat.  Sfieue  golge. 

Withovo  «Sagner.  Söon  ^oufton 
Stewart  (Sbamberlatn.  3Rit  bieten, 
meift  unberöffentlidtten  a?ortrait8,  »ig= 
netten  unb  gahlrcidjen  anberen  SUuftra« 
tionen,  ffacfimile»  u.  f.  w.  SJcrlag«« 
anftatt  f iir  Sunft  unb  äl'iffenf dj af t 
in  München,  lormatö  grtebrich 
Söruefmann. 

Tie  burdt  ihre  heroorragenbenßeiftungen 
auf  bem  ©ebiete  ber  fünftlerifdjen  Wepro» 
buetion  befannte  unb  baourch  um  bie  SJunft 
felbft  berbiente  ÜWüucheuer  fthma  bringt 
gu  gleicher  S^it  brei  8Beife  Don  heröor« 
rageuöem  ftunftiuertbe  auf  ben  iDiarft,  mit 
benen  brei  ber  bebeutenbften  3?amen  unfercr 
3ett  berfnüpft  finb. 

SJon  aciueflem  Sutereffe  ift  befonberS 
ba8  ctfte  ber  brei  2ßerf;-,  welches  unfertn 
genialen  SDiengcl,  bem  Bahnbrecher  einer 
tiencn  Munft  gewibmet  ift,  ber  bemnäcbft, 
am  8.  Tccember,  feinen  80.  ©eburtetaj 
feiern  wirb.  TaS  ift  ein  3«i'b»wft,  ber  tS 
gur  $flid)t  macht,  bie  gewaltige  SebenS« 
arbeit  biefcS  SKeifter«,  ber  noch  als  ©reis 
bie  Srifchc  unb  €<haffcttSfraft  eines  Süng« 
IingS  offenbart,  auch  weiteren  ffireifen  ein« 
gehenb  bertraut  gu  madjen.   TaS  Fon  ber 


  3 lluftrtrtc  Bibliograph«- 


ÄerlagSanftalt  im  Sabre  1885  fjerauSge» 
flcbene  grofse  SNengelrocrf  ift,  ba  e8  nur  in 
einer  Sluftoae  von  350  (Jjemplaren  berge 
fteüt  mar,  natürlich  auf  einen  fetjr  engen 
ffrei«  befebränft  geblieben.  Xie  vorliegenbe 
Sfu«gabe,  bie  in  electantem  SSanbe  40  Ulf. 
foftet,  wirb  bem  SKangel  abhelfen,  ©te 
fchilbert  bie  gange  fünftlcrifcbe  Sbätipfett 
SWengelS  in  ©ort  unb  SÖilb.  Xer  Xejt 
rührt  bon  SDtar,  3orban  6er,  her,  nadibem 
er  fitrg  bie  eflten  fünftlerifchen  Sfeufjerungen 
be8  früfjreifcii  ©nahen  befprodien,  ausfuhr» 
lief)  jene  cpocbemacbtnbenßeiftungenSDfengete 
würbigt,  burdi  bie  er  ba8  3«*alter  ftrieb. 
rid)8  bei  ©roßen  gu  neuem  Sehen  erwrefte, 
bureh  bie  er  ba8  SSerftänbni&  für  ben  arofjen 
ftönig  unb  feine  3«t  fo  ungemein  geförbert 
Ijat,  fo  ba&  jene  äBerfe  nicht  nur  im  rein 
fünftlerifdjen  ©inne  reformirenb  getoirft 
gaben. 

3u  ebeufo  flarer,  cinfadjer,  anjiebeuber 
Xarftellnng,  mie  Sorban  biefe  l'eriobe 
fchilbert.  tu  ber  ber  ©eniuS  beS  JrünftlerS, 
anfangs  bon  einer  unentioicfelten  3u*uftra= 
rionStcdmif  beengt,  bann  aud)  beren  SBer« 
öoBfommnung  mit  förbernb,  maditboH  gum 
Xurchbrudi  tarn,  führt  er  uns  aud)  bie 
weitere  (Sutivicftung  vor,  in  ber  ftd)  ber 
SDieifter  ber  funftlerifdien  SEBiebergabe  ber 
gegenwärtigen  äBirfltd)fett  gmuaiiDte  — 
Xa8  3Bert  ift  rcid)  unb  glängenb  au8> 
geftattet,  mit  31  auSgejeidmeten  gangfeitigen 
Sicbtbrucfbilbem  unb  106  XeEttUuftrationeit 
geftbmüctt.  — 

Xie  9?eue  golfle  &er  „3eitgenöffi* 
fdjen  Söilbnift'e"  Don  Srang  von 
Senbad)  —  beren  erftrr  SJanb  uor  nahe 
10  Sohren  erfdiieuen  —  bietet  nach  einer, 
vom  ftüitftler  feloft  getroffenen  SluSrabl 
eine  SluSlcfe  bcB  SBibeutenbftcn,  ma8  itai« 
ba*  im  lefcten  Sabrjebnt  geiebaffen:  40 
IßortraitS  gumeift  von  berühmten  SJierföu* 
ltdjfeiteu;  baruntcr:  Sönig  Sllbert  von 
©achieu,  ber  ilkingregeut  ron  Söaijcrn, 
Papft  fico  XIII.,  giirft  Serbinanb  von 
iöuigarien,  Sürft  söiBmarcf  (2  3JiaI),  Surft 
Hohenlohe,  ©raf  SDIcitfe,  §.  v.  »üloio, 
iKietjarb  SBagner,  3<>b-  Strauß,  ©corg 
iSberS,  9lidjarb  itoft,  §erm.  Singg,  ©dnoe* 
ninger,  £.  v.  §.lmf)o(6,  Steint).  S?cgaS, 
Üenbad)  mit  SHnb;  SWarceHa  ©embrtd), 
ßUTian  ©anberfon.  XaS  iöiloiiifj  ber 
Stfeteren  bea>cift,  wie  ba8  ber  ©räfin  ©örft 
unb  ber  SDiabame  <£.,  ba&  ber  S(  imitier, 
obmof)I  er  fid)  nidit  bc8  9tufc8  cinc8 
ipecieUen  XamenmalerS  erfreut,  bem  weidjen 
loeiblldjcn  ©chönbeltSreig  cbenfo  grredjt  gu 
werben  bermag,  tt>ie  mämilieber  SüiUenS« 
ftärfe   unb  Sntcüigenj.    Xen  SBefdjIufj 


maebt  ein  relgenbeS  SSilbnife  beB  XodjterdjenS 
beS  flünftlerS:  2Jlation  Senbad).  lieber 
Seiibachs  ßbarafterifirungsfunft,  bie  uns 
mit  fo  überieugenber  flraft  ben  2Defen8ge« 
balt  jeber  Sßerfönlicbfeit  in  i&rem  Slntlt'ö  gum 
SluSbrucf  gu  bringen  bermag,  braueben  wir 
uns  bier  beS  ©eiteren  nidit  auSgulaffen. 
Xieie  geitgenöffifeben  SBilbniffe,  weldje  un8 
bier  in  brädittgen  ißrjotogratiüren  in  ©ro&« 
foüoformat  angeboten  werben,  fja&en  in  ber 
Sbat  neben  ihrer  bofjen  funftlerifdien  Be« 
beutung  ben  SBertt)  bon  Xocumenten  jur 
3eitaefd)idite. 

Dtur  einen  furjen  $tuiret8  tonnen  wir 
hier  bem  SBeite  über  Sticftarb  ©aguer 
von  Sbamberlain,  tvibmtn,  bon  bem 
uns  jur  3ett  nur  bie  erfte  Hälfte  vorliegt, 
unb  auf  baS  wir  nod)  eingehenber  jurücf« 
fommen  werben.  S)a8  bon  einem  grünblicben 
äBagnertcnner  unb  begeifterten  2üagneruer= 
ehrer  herrährenbe  vornehm  ausgestattete  unb 
mit  gahlreicben  3Quftrationen  gefdjmücfte 
3Bcrf  bringt  viel  bisher  UnbefannteS,  baS  ber 
Herausgeber  jum  grofsen  Ibeil  bot  bon 
grau  ©ofima  jur  Verfügung  geftetlten 
©chä$en  aus  JßiUa  fflahnfrieb  verbantt. 
S)itx  fott  auch  jum  erften  3MaIe  ein  voll« 
ftänbigeS  ^ergetebnii)  ber  ÜBerfe  ©agner8 
geboten  tterbeu.  2)dS  ÜÜerf  wirb  24  3Kt., 
gebunben  30  üWf.  foftcu.  —  1— 

© (i voller;  Or.  dl oman  von  S-  S  t  e « 6 « r r 
von  Sinftage  (öans  SRagel  von 
üttramc).  XrcSoen  unb  Seipjig,  Gart 
SHei&ner. 

©ie  fetjort  ber  Xitel  errathen  lafjt,  ift 
bie  §clbin  beS  SiomanS  eine  junge,  fetjöne 
S3aronefj,  Doctov  medicinae  unb  erfüllt 
biefen  S3eruf,  ju  bem  fie  fid)  burchgerungen, 
nad)Dem  ihre  §fr}cu§ancielegeuheiten  burd) 
eine  Söeifettuug  inif3ltd)er  Umftänbe  ©djiff« 
bruch  gelitten,  int  fegeneretchften  unb 
cbtlften  ©iune.  Xer  Sktfaffer  bocumentirt 
)id)  in  feinem  2L*erfe  als  ein  SSorfämbfer 
ber  ftraiienbeiDegung  unb  Sinwalt  berjenigen, 
bie  für  bie  3»l<iffu',8  b«r  jyrauen  gu  ben 
gelehrten  Sötrufeu  plaibiren;  es  gtfdjicht 
bicS  in  burehauS  nid:t  lehrhafter  SBeife, 
er  berfueht  nur  am  £ciibicl  gu  übergeugen, 
unb  wenn  er  feiner  §clcmt  Worte  in  ben 
SDJunb  legt,  meld«  feine  Parteinahme  für 
biete  viel  umftrttteue  %xaw  betbätigen,  fo 
fügt  fid)  Siebe  unb  ©egenrebe  ohne  2luf* 
bringliditeit  in  ben  Stahmeu  ber  (^rgählung. 
9!ur  bie  2?afii,  auf  »ocldier  bie  33er= 
tvicflung  fid)  aufbaut,  bie  baS  £>ergen8> 
bünbnif?  ber  S)arone6  in  einer  Sfataftrobbe 
enben  läfjt,  erfdieint  uns  giemlich  funftlid) 


<k\2 


ZXotb  unb  Sab. 


conftruirt,  fjier  toirfen  .gufäaiafeiten  mit, 
bie  aufgcdätt  toerben  raupten,  unb  baf;  fie 
nidjt  aufgetlart  (Derben,  ift  unglaub&aft 
unb  unnatürlicb.  — 

Die  ©egeifterung  be8  SerfafferS  für 
bat  $rinjtn  griebrid)  ftarl,  melier  er  in 
{einem  Stoma«  ben  lebhaften  SluSbrucf  ber« 
leibt,  tarnt  ber  Sefer  willig  in  ben  ftauf 
nefjmen,  wenn  aud)  bie  ©eftalt  b(8  SJJrinjen 
in  red)t  tofem  äufommenbang  mit  beut 
©ang  ber  §anblung  fte&t  unb  roof)I  nur 
aus  befonberer  Smnpatbie  be8  StutorB  mit 
hinein  Derffod)ten  roorben  ift.  raz. 

Tla  passionia.  SebenSlieber  uon  Termine 
Don  5ßreuf4en.  Serlag  bon  ©arl 
31  e  it  n  e  r,  Dreflben  unb  Seipjig. 
„Via  passionis"  jeigt,  tt>ie  bie  unter 
bem  DiteI,,Regina  vitae"  früher  erfdjie  nenen 
©ebidjte  biefer  bod)begabten  Sdjrif tftellertn, 
baS  flleidjfam  impulfiue  gortflirtgen  be8« 
felben  njebmütbiaen  ©ranbgebanfenS,  ber 
Se&nfudjt  na*  ©lücf,  be8  fdjmerjltdien  ©e« 
füblS  feelifdier  Skreinfamuna  al8  Seitmotiü. 
9Hct>t  bie  SBlume  begtüdenber  Siebe  —  bie 
Kofe  —  fonbtrn  Die  roilbtoudiembe  SBlutbe 
ber  Seibenfdiaft,  ber  rot&e  SKoftn  Ift  ba8 
Sinnbilb  biefeS  fdinett  fdilagenbert,  ßlütjetu 
ben  3rauenbergen8 :  „Unb  toteber  flammt 
Bor  meinem  trüben  Sölicf  —  Der  rotbe 
SDiobln!  —  Der  rotfje  SDlobn  -  Unb  fpottet 
meines  2eib8  —  Unb  maimt  an  jeben  un* 
gefügten  Stuf)  —  Unb  matjnt  an  all  bie 
ungelofebte  ©lutb  —  Unb  maimt  an  meiner 
Seele  tieffte  Qual  —  Der  rot&e  Wotyxl" 
2)ei  ber  lüettadjtung  einer  Dom  Dröbler 
getauften  fdiabbaften,  altert&ümlid)en  Ubr, 
n>eld)e  na*  itjrer  Sleftaurirung  täglid)  eine 
Stunbe  borgebt,  ruft  fte  au8:  ,34  aber 


tarnt  ibr  totteS  Dbun  begreifen,  —  3ft  fte 
bod)  »ie  ein  trautes,  mübeS  $erj  —  Dan 
nod)  ein  ©iüct  genabt  ht  aroBlfter  Staube 

—  Unb  ba«  barum  nun  SUIeS,  toaS  ef  je 

—  &erfäumt  ht  jahrelanger  Debe,  mödjte 

—  SDlit  »Uber  $ul|e  nngeftümen  Sdjläflen 

—  Einbringen  k." 

(SS  ift  baber  begreiflieb,  bafj  in  ben 
Dorltegenben  ©ebidjteu  ntdjt  bie  Säinbfrifle 
ber  3»friebenb>it,  Jonbern  ber  Sturm  beS 
Verlangens  unb  teS  SBüttrfprudjS  t»or= 
berrfdjt,  9htbm  unb  Siebe  jinb  gutretlen 
ber  Did)term  nur  Süaljn  unb  Xranm, 
SBeKenfcbaum  unb  3J!rere8lcud)ten.  Sie 
bält  alles  ©lüdt  für  ein  $&antom,  ^  m 
itjrer  Seele  ift  ob  ber  armen,  menfcrlidxn 
©efüble,  ob  beS  gagbaften,  Reinen  StingenS 
ein  Soeben  rote  jenes  Sadjen  ber  geftürtfen 
ftrtgel,  bie  all  ber  meiten  Sd)öpfung  ©etit 
begreifen  unb  bod)  fld)  bäumen  roiber  ibren 
fterrn ;  aber  fte  tommt  aud)  toteber  ju  einer 
oerföbnlicben  SebenSauffaffung  uno  fd)lie§t 
baS  ®ebtd)t  „Slufrutjr"  mit  ben  Söorten: 
„Dein  ift  bie  Siebe  unb  ü)r  SBunberglauben. 

—  SiJer  Diel  geliebt,  bem  teirb  aud)  Diel 
oergeben  —  Sad)  Deines  SdmmrS,  beS 
tbörid)t'febnfud)t8tauben,  —  Saß  feinen 
Dag  beS  ©lüetS  Dir  ferner  rauben  —  HuS 
biefem  armen,  turjen  SKenfcbenleben.*  — 

Sie  erinnert  fid)  baran,  baß  fie  noch 
tJlüael  Ijat,  bie  fte  emportragen  06  allen 
SiSuft  unb  alle  Dualen  beS  MtagS  ht  bie 
reinen  Säfte,  barin  allein  ibjr  ©enius  toirtt 
unb  lebt.  Dag  aber  ber  Dtajtertn  aud) 
fanftere,  Ijarmonifdje  Däne  }u  ©ebote 
fteben,  faeteeifen  bie  tiefempfunbenen  Sieber, 
in  benen  fie  itjre  Siebe  unb  if)re  ÜHurterliebe 
aueflingen  Iä6t.  uiz. 


Eingegangene  Bücher.  Besprechung  nach  Auswahl  der  Redaction  vorbehalten. 


Allen,  C  V/„  Unser  Bismarck.  Lieferung  12. 13 
(Schlnss.)  Stuttgart,  Union  DcutecIie.Verlags- 
Gesellschalt. 

Ambrosius,  J_  Ciedichte.Hera\i9gegcben  vou  Karl 
Selirattentlial.  Dreizehnte  Atinage.  Mit  Por- 
trait und  Ablilldung  des  Wohnhauses  der 
Dichterin.   Königsberg  i.  Pr.,  Ferd.  Beyer. 

Aogrusti,  Brigitte,  In  gutem  delelt  Ein  Deuk- 
und  Merktitlehlein  für  alle  Tage  des  Jahres 
zusammengestellt  u.  ihren  jungen  Freundinnen 
gewidmet.  Liii  zlg,  F.  Hirt  &  Sohn. 

Baas,  S.  II.,  Die  geschichtliche  Entwicklung  des 
ärztlich''!!  Standes  und  der  medleinlsehen 
Wissenschaften.  Mit  zwei  Abbildungen.  Berlin, 
Friedrich  Wieden. 

Bahr,  0.  Dr.,  Das  frühere  Kurhesseu.  Ein  Ge- 
schichtsbild. Zweite  Auflage.  Kassel,  Max 
Brunnemann. 

Beer,  M_  Bekehrt.  Schwank  in  zwei  Akten. 
Königsberg,  Haitung'sehe  Verlagsdnickcrei. 


Borger,  J.,  Unter  deu  modernen  Landsknechten. 
Bilder  und  Skizzen  aus  deui  Soldatenleben 
der  französischen  Fremdenlegion.  Braun - 
schweig,  Albert  Limbaclt 

Bismarck'*  Kahnworte  an  das  deutsche 
Volk.  Zusammengestellt  und  erläutert  \ol 
Dr.  Hans  Blum.  Erlangen,  Verlag  von  Palm 
und  Enke  (Carl  Enkc). 

Blanok,  Carl,  Gedichte.  Zürich  und  Leipzig. 
Verlag  von  „Btern's  Utterarischem  Bulleün 
der  Schweiz". 

Blum,  H.  Dr.,  Fürst  Bismarck  und  seine  Zeit. 
Eüie  Biographie  für  das  deutsche  Volk.  Band 
V— VI.  München,  C.  H.  Beck'sche  Verlags- 
buchhandlung. 

Bühlau,  II.,  Der  lianglrbahnhof.  Bomat.. 
F.  Fontane  &  Co. 

Busse,  C  Neue  ficllcbte.  Stuttgart.  J.  G.Cnttr« 

Nachfolger. 
—  Träume.   Leipzig,  A.  <i.  Liebeskind. 


  Bibliographie. 


3(3 


Oaar,  E.,  Kbnlgsleid.    Drama  Iii  fünf  Acten. 

Dresden  und  Leipzig,  Heinrich  Minden. 
Cyon,  E.  de,  La  guerre  ou  la  palx?  Lausanne, 

B.  Betida. 

—  Hlstolre  de  L'Eutente  Franco-Russe  1886-1894. 

Documenta  et  Souvenir«.  Avec  nn  Portrait 
de  Katkof.  Deuxleme  edltion.  Lausanne,  B. 
Benda. 

Dahn,  F.,  Chlodovech.  Historischer  Roman  aus 
der  Völkerwanderuiig.  Vierte  Auflage.  Leip- 
zig, Breitkopf  und  Härtel. 

Dante  Alighieri,  La  Divina  Commedla.  Riveduta 
nel  testo  commentata  da  O.  A.  Scartazzlnl. 
Milano,  ülrlco  Hoepli. 

Deutschland*  Buhmestage  1870—71.  Iu 
Schilderungen  von  Mitstreitern.  Lieferung 
8—5.  Rathenow,  Max  Babenzlen. 

Dttntser,  Heinrich.  Goethe.  Kail  August  und 
Ottokar  Lorenz.  Ein  Denkmal.  Dresden, 
Dresdener  Verlagsanstalt  (V.  W.  Esche). 

Dulmchen,  Th.,  Aus  altem  Hause.  Roman. 
Leipzig,  Robert  Friese  (Arth.  Cavael). 

Ertl,  E.,  Opfer  der  Zelt  Zwei  Novellen  aus  dem 
Wiener  Leben.  Jena,  Hermann  Costenoble. 

Kachricht,  En  Unter  dunklen  Menschen.  Roman. 
Berlin,  F.  Fontane  &  Co. 

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Flodatto,  Durch  Dabome.  Eni9te  und  heitere 
Erlebnisse,  Reise-  und  Jagdabeiiteuer.  Mit 
sechs  Tonblldern  von  Johannes  Gehrts.  Leip- 
zig, F.  Hirt  &  Sohn. 

Fontane,  Tb.,  Effi  Briest.  Roman.  Berlin,  F. 
Fontane  &  Co. 

Franke-ScMevelbein ,  Gertrud,  Kunst  und 
Gunst.  Roman.  Berlin,  F.  Fontane  &  Co. 

Frapan,  I-  Flügel  auf!  Novellen.  Berlin,  Ge- 
brüder Paetel. 

—  I.,  Querköpfe.  Hamburger  Novellen. 
Berlin.  Gebrüder  Paetel. 

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Leipzig  und  Wien,  E.  Pierson. 

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Kalserzelt.  VI.  (Sehluss-)  Band.  Die  letzten 
Zeiten  Kaiser  Friedrichs  des  Bothbarts.  Her- 
ausgegeben und  fortgesetzt  von  B.von  Simson. 
Leipzig,  Duncker  &  Hnmblot 

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&  Sohn. 

Hillern,  W.  v.,  Und  sie  kommt  doch !  Erzählung 
aus  einem  Alpenkloster  des  13.  Jahrhunderts. 
4.  Auflage.  Berlin,  Gebrüder  Paetel. 

Hincbfeld,  Georg,  Der  Bergsee.  Dresden, 
Verlag  von  Georg  Bondi. 

Hocker,  Oskar.  Im  Zeichen  des  Bären.  Cultur- 
geschlchtllche  Erzählungen  aus  Berlins  Ver- 
gangenheit Deutschlands  Jugend  gewidmet. 
Mit  vielen  Abbildungen  von  A.  von  RHssler. 
Leipzig,  F.  Hirt  &  Sobn. 

Hofmann,  Else,  Mflller-Lletel.  Eine  Erzählung 
für  erwachsene  Mädchen.  Mit  einer  Heliogra- 
vüre. Leipzig,  F.  Hirt  &  Sohn. 

Hosaus,  W.,  Gedichte.  Dessau,  C.  DUimhaupt. 

Ignotu»,  Die  Kreuzzeituugs-Politik  und  die  Aera 
Humniersteln-Stöcker.  Berlin,  Rosenbaum  & 
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Ingram.  J.  K.,  Geschichte  der  Sklaverei  und  der 
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von  Leopold  Kutscher.  Dresden  und  Leipzig, 
Carl  Relssner. 

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Klitscher.  G.,  Von  Weibes  Herztn.  Zwei  Novellen. 
Berlin,  Deutsche  Sclirift<tellei -Genossenschaft. 


Die  Kritik.  Wochenschau  des  öffentlichen  Lebens. 

Herausg.  von  Karl  Schnaidt  TL  Jahrgang. 

No.  53—57.  Berlin,  W.  Hugo  Storm. 
Kruse,  H.,  Nero.  Trauerspiel  in  fünf  Aufzügen. 

Leipzig,  &  Hlrzel. 

Leliwa,  Graf,  Russisch-polnische  Beziehungen. 
Ein  Abrlss.  Autorislrte  Uebersetzong  von 
Arthur  C.  Arnold.  Leipzig,  E.  L.  Kasprowicz. 

Le  Monde  Moderne.  Revue  Mensueile  Illus- 
tre«. 1895.  Nov.  Paria,  A.  Quantin. 

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Lindau,  R.,  Aus  China  und  Japan.  Reise-Er- 
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Lindenberg:,  P,  Kaiser  Friedrich  als  Student. 
Mit  unveröffentlichtem  Material  aus  dein  Nach- 
lasse Kaiser  Friedrich'?,  einem  Titelbild  und 
16  Abbildungen,  autographlschen  Blättern  etc. 
Berlin,  Ferd.  Dümmler. 

Malcolm,  Laura,  Wir  Frauen    und  unsere 
Dichter.    Wien   und   Leipzig    Verlag  der 
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—  Zwei    Frauenerlebnisse.     Novellen.  Paris, 
Leipzig,  München,  Albert  Langen. 

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(G.  Meinecke.) 

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Berlin,  Gebrüder  Paetel. 

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aus  der  deutschen  Geschichte  zu  festlichen 
Aufführungen  für  Jung  und  Alt.  1.  Heft 
Aus  der  Zelt  der  Babenberger.  Wien,  Verlag 
der  litterarischen  Gesellschaft 

Meyer'»  Heisebücher.  Rom  und  die  Campagna. 
Von  Dr.  Th.  Gsell  Fels.  Vierte  Auflage.  Mit 

5  Karten,  47  Plänen  und  Grundrissen,  «3  An- 
sichten. Leipzig  und  Wien,  Bibliographi- 
sches Institut. 

Müller,  V.,  Der  Bau  des  Reichs-Gerichts  zu  Leip- 
zig. Eine  Schilderung  des  Baues  und  seiner 
Einzelheiten,  zugleich  ein  Führer  durch  seine 
Räume.  Mit  5  Illustrationen,  2  Plänen  und 
dem  Bildnlss  des  Erbauers.  Berlin,  Georg 
Siemens. 

Nassen,  J.,  Heinrich  Helne's  Familienleben  nebst 
einer  Helne-Lltteratur.  Fulda,  Fuldaer  Actien- 
druckerel. 

Neumayr,  Prof.  Dr.  Melchior,  Erdgeschichte 
Zweite  Auflage,  neu  bearbeitet  von  Prof.  Dr. 
Victor  Uhllg.  Zweiter  Band.  Beschreibende 
Geologie.  Mit  495  Abbildungen  im  Text, 
10  Farbendruck-  und  6  HolTschnltttafeln,  so- 
wie 8  Kalten,  von  Th.  Alphocs,  F.  Dotzaner, 
F.  Etzold,  E.  Heyn,  H.  Kaufmann,  0.  Peters, 
K.  Poschinger,  E.  von  Ransonnet  0.  Schulz, 
A.  Swoboda  n.  a.  Leipzig  und  Wien,  Biblio- 
graphisches Institut 

Nemmersdorf,  F.  v.  Aus  gärender  Zeit.  Eine 
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6  Cle. 

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Verlagsdruckerei. 

PetrL  J.  Rothe  Erde.  Ans  seinem  Nachlass  heraus- 
gegeben von  Erich  Schmidt  Berlin,  Gebrüder 
Paetel. 


—  «otb 


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Hit  Blldniss.  (Geisteshelden,  herausgegeben 
von  Anton  Bettelheim.  19.  Band).  Berlin, 
Emst  Hof  mann  &  Co. 

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schichten. Berlin,  Hugo  Storni. 

Bansoni,E.,  DasSchSneund  die  bildenden  Künste. 
Wien,  Pest,  Leipzig,  A.  Hartleben. 

Raphaels.  J., Künstlerische  Photographie.  Düssel- 
dorf, Ed.  Liesegang. 

Reform,  Ostdeutsche,  Blätter  zur  Förderung 
der  Humanität  IV.  Jahrgang  N.  19-20. 
Königsberg  1.  P.,  Braun  und  Weber. 

Kogge,  D.  B.,  Bei  der  Garde.  Erlebnisse  und  Ein- 
drucke aus  den  Kriegsiahren  1870/71.  Hit 
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Herausgegeben  von  Ludwig  Lateiner.  Erste 
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handlung. 

achillers  Werke.  Herausgegeben  von  Ludwig 
Bellermann.  Kritisch  durchgesehene  und  er- 
läuterte Ausgabe.  Erster  Band.  Leipzig  und 
Wien,  Bibliographisches  Institut. 

Schmitt,  Ch.,  Alsalieder.  Zweite  vermehrte 
Auflage.  Zabern  1.  E.,  A.  Fuchs. 

Sohnackenburg,  J.,  Lose  Blätter.  Mit  farbigem 
Titelblatt  von  M.  Höpffner.  Leipzig,  Alfred 
Janssen. 

Schnitze,  Dr.  S.,  Der  Zeitgeist  der  modernen 
Litterntur  Europas.  Einige  Capital  zur  ver- 
gleichenden Litteraturgescbicbte.  Halle  a.  S., 
C.  A.  Kümmerer  &  Co. 

Sohuster,  R.,  Der  Menschenfreund.  Trauerspiel 
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Helena  Majdanska.  Berlin,  Rosenbaum  und 
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Spandow,  Ph.,  Von  Ihr  und  mir.    Berlin,  E. 

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Stökl.  Helene.  Feierstunden  der  Seele.  Diclitcr- 

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Herz  und  Geist.  Mit  Titelbild.  Leipzig,  F. 

Hirt  &  Solln. 
StösseL  Allred.    Brandung.    Novelle.  Leipzig, 

Verlag  von  Robert  Friese  Sep.-Cto. 
—  Freunde.    Roman.    Leipzig,  Robert  Friese 

Sep.-Conlo. 

Strasburger,  E.,  Streifzllge  an  der  Rlvlera. 

Berlin.  Gebrüder  Paciel. 
Stubenrauch,  E.,  Pflug  und  Laute  Dichtungen. 

Grossenhain  und  Leipzig,  Baumert  &  Ronge. 
Suttner,  A.  O.  v.t  Nichts  Ernsthaltes  Kleine 

Geschichten.   Dresden,  Leipzig  &  Wien,  E. 

Pierson. 

Teiohert,  A.,  Für  Israel!  Mahn-,  Weck-  und 
Trostrufe.  München,  Carl  Rupprc:ht. 


nb  5ü&.   


Thiel,  P.  J.,  Naturische  Briefe  gegen  die  moderne 

Dichtung.    Neue  verm.  Auflage.  Elberfeld, 

Selbstverlag. 
Tovote.  H„  Hclsses  Blut.    Novellen.  Berlin 

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Trandt,  V.,  Auf  einsamem  Pfad.  Gedichte. 

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Valles,  J.,  Vlngtras  junge  Leiden.   Nach  dem 

Französischen    frei    bearbeitet    von  Karl 

ScbneldL  Berlin,  Verein  ftlr  freies  Schrtfcthmn. 
Verxeichniss  des  Antiquarischen  Böcher- 

lagera  von  A.  Bielefeld's  Hofbuchhandluag 

Nr.  178  (Llttcraturgefchlchte.  Biographien.) 

Karlsruhe,  A.  Bielefeld's  Hofbuchb. 
Villa  marin,  Titellos.    Novellen.  Berlin,  Gebr. 

PaeteL 

Volbehr,  Dr.  Th,  Goethe  und  die  bildende  Kunst. 
Leipzig,  E.  A.  Seemann. 

Voss,  Georg  Dr.,  Die  Frauen  in  der  Kunst 
Berlin,  Riebard  Taendler. 

Vrchlicky,  J.  v,  Gedichte,  Ausgewählt  und  über- 
setzt von  Friedrich  Adler.  Mit  dem  Blldniss 
d's  Dichters.  Leipzig,  Philipp  Reclam  jus. 

Die  Waffen  nieder!  Monatschr.  zur  Förderung 
der  Friedensbewegung.  Herausgegeben  von 
B.  Suttner,  10.  Jahrgang,  N.  8-9.  Dresden. 
E.  Pierson. 

Die  Wahrheit  Halbmonatschrift  zur  Ver- 
tiefung In  die  Fragen  und  Aufgaben  des 
Menschenlebens.  Herausg.  von  Ch.  Schrempf. 
V.  Band  N.  1.  Stuttgart,  Fr.  Fromm ann 
(E.  Hauff). 

Weichelt  H.  Dr.  phll.,  Hannoversche  Geschichten 
und  Sagen.  Erster  Band.  Norden,  DIedr. 
Soltau. 

Weia-eL,  A.,  Antiquariats-Katalog  Nr.  20—  Sl. 
Quellen-  und  Sammelwerke.  Volkstümliche 
Litteratur,  Cultur-  und  Sittengeschichte. 
Leipzig,  A.  Welgel. 

Werthelmer,  E.,  Pensees  et  Maxime*.  Tradno- 
tlon  de  Marcellln.  B°"  Grlvot  de  Grandcourt 
Lettre-Pri'face  de  Franeols  Coppee  de  l'Aca- 
demle  Francalse.  Paris.  Paul  Ollendorff. 

Wiehert,  E-  Anderer  Leute  Kinder.  Zwei  No- 
vellen.  Dresden  und  Leipzig.  Carl  Reissner. 

Wolters,  Wilhelm,  Ach,  wenn  Du  wirst  mein 
eigen.  .  .  Erzählung.  Dresden,  Dresdener 
Verlagsanstalt  (V.  W.  Esche). 

WychgTam,  Dr.  J.,  Schiller  dem  deutschen 
Volke  dargestellt  Ein  neues  Standwerk  Uber 
den  Lieblingsdichter  des  deuL-ichen  Volkes 
fttr  das  deutsche  Volk.  Mit  Lichtdrucken, 
zahlreichen  authentischen  Beilagen  und  Text- 
abbildungen, darunter  vielen  noch  nicht  ver- 
öffentlichten Interessanten  Portralts  und  Auto- 
graphen.  Lieferung  13—16.  Bielefeld  und 
Leipzig.  Velhagen  &  Klaslng. 

Zapp,  A.,  Ein  Lieutenant  a.  D.  Roman.  Dresden 
Leipzig  &  Wien,  E.  Pierson. 

Deutsche  Zeitschrift  für  Ausländisches 
Unterrichtswesen.  Herausgegeben  von 
Dr.  J.  Wycbgram.  Erster  Jahrgang.  Heft  I. 
Leipzig,  R.  Voigtländer. 

Zeitschrift  fttr  Philosophie  und  philo- 
sophische Kritik.  107.  Band,  1.  Heft 
Leipzig,  C.  E.  M.  Pfeffer. 

***,  Die  geschichtliche  Stellung  und  Aufgabe  des 
deutschen  Altkatholiclsmus.  Leipzig,  Friedr. 
Jansa. 


HrMqtrt  unter  Dnantvortlidifrit  bes  $rraasgrbtrs. 
£d}lrfif<fee  Sucfctirucfrm,  KanU«  nnb  Drrlags>21n0a[t  p.  5.  Sdjottloen&et,  Brtslaa. 
Unbftrcttiatrt  riüd)6ruif  au»  ttm  3nba"  Mefer  g»tt(d|rift  unterfaßt.   UrbtrfrUangMtdtf  DOrbrbalm. 


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1895. 

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«                                                     tf.  5.  fdgottlamber. 

$erl*0  «Ott  Uermutttt  «efenin«  in  $«Ue. 


tfeö.egenfte  ifeftgaüc  für  den  l£ritji.fldjtgt.frij. 

Mim  unit  fletten  ibntfdin  »idifang.  »KCÄ^I^Äi-^V'^^SaS 

in  BoUWniii  nad)  CrtotualKiajmnigtn  »on  Bitkino«»  gttft  unb  3.  SS.  Sutltaal.  3n  Staojrtanb  ariuubti  Sil.  ie.-. 
Jon  aba  «uttologuV  bb  Bit  Innen,  bat  bitte  bal  nwilh  «H  gtmai&t  unb  ni  AI  mit  ttnt<4l."  (»int  14  t  »unbt4a«-> 
Mto  im  «u&ttn,  ffl  '<  trafl.M»  etbnlt.  «jotgiom  gtMttt,  »titinlgt  ti  btt  WJitfh«  eiätt»  bn  btutHto  «artl  ■»«  •■»}■ 
unb  «Vtttlti  bii  int  «3tgtamatt  in  tinet  «utumtl,  BtUbt  »tot  nnt  out  bat  fetfrlti»  «VWnfibtfuabtBi,  lonbt  tu  o«*  am)  bal  ftr 
itbra  «ttttt  bttoubtrt  iWlttriniHt  »tb«4t  nimmt.  (3ol,«n«ittf»Bo4e«Haiu 

Die  t>.  tVinbuvg'täen  Uebertragungen  ber  Werfe  ber 
prci  graten  nw&iMen  Sinter 

jfoiös  legner,  |.  §fW(f%r  unD  1  |.  Jlnöerfen 

{in»  »te  »avjQgliajftett,  ftie  ienwW  in  betttföcr  Sjiraiftt  ertoienen  fta*: 

Ueberfefct  pon  «ottfrieb  »on  Ceinburg.  St. 
triajefiat  bem  König  (Dsrar  IL  von  Sdiroebtn  unb 
tfonorgen  jugretgnet.  Cinjige,  fomoljl  bnrd) 
bil  golbene  ZTI r b a i 1 1 r  ber  Sdjweblfdien 
Jlfabemie,  als  bnrd)  bie  grofee  golbene  Ulf 
j  ballle  „literis  et  artibus"  St.  majrBAt 
bes  Käitig*  oon  Sdjroeben  unb  Rorvrgen 
betab.nl«  ttaä)bid)lnng  btt  jrtttjjofjfagt. 

■  \*\    llflttr  (mit  «rlauterungen).  preis  Inf. 
,  IV«  ^mumaji  gebunben. 

Sit  Britbjcfl-eagt  ifl  langt,  langt  Stil  bU  Sittli*altu4 
•  unHtrt atnifttn  Sugtnb  gtmtftn,  nnb  Bai  bie  3ugtnb  l  itbt, 
tBtr  i»t  aus)  ftrnrrbin  bitl  Iilttatt 


Cine  ttorbfanbs-Sagr.   Utbrrffftl  oon  Sottf  rieb  : 

oon  Ceinburg.  Sr. OTajefldt bem Konig £l)ri$ia*  ' 

Et.  oon  Danemarf  jngeVtgnrt     (.  teil:  Beige  ' 

2.  teil:  ^rfa.  3.  Ceil :  tjroar.  3  teile  in  l  San*  geh  ■' 

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Sites  bn  StUtteR-Ca«  «  CtUtBWSgetl  «tuig  «ttnt  ' 

ilttartam  uubtrtbmt  grtiitbt«,  aemtt  mitttare*«.   CttT>  : 
S4i»fano  in  at4t  miubtt  tsefiebsll  aliXtaalrl 
littli4t  2l4iuag.  «ttt  tie  t B  gtotatttgtt.  »ea 

«tBolligittt  SBu4t.  Sunt  Ct|traf4lletta  «naei 
mufcu  mnWUt  SttbcaMafttn  mit  «tnirnnrhu..  Sit  Sustan 
Ce«ieaMtitrtl  nnb  bit  SteuHru  brt  atnaearttra  Sentit  ni» 
nnb  «roS  Bit  fit,  unttüttli4  in  8n»  nnb  ea|  nnt  Jt.  tu 
altt  Stttt  tauktt  ut  unl  an),  Vegit  mit  ktaea tMtrhaaat 
WBUtttt  bh  »luttn,  bit  «Hit  btt  fBitiaaWfft  aan4kWkm 
ftt,  brt  alttn  Rebn  «ang  nnb  Otmalnf  Hallt  in  Brttt  Oß. 
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tobta.  Btt  Imnt  birk  (Aolrbofttn  nnb  fhnmitgtu  OfettionJitn  nt4t.  btttn  tint,  bit  Dom  Honig  im  fitmbt,  Unbamg  matte  In  : 
eto*  ju  leinm  VtlatttttiUttubniitn  .SolUmon"  gab!  Stiubutj  •ijlblt  tit  btn  beutlita  ainbttn  in  fo  tbltt.  ■ 
lAontttivtaitt,  unbjtin Si4ttt(tmit  ltna)tti  OlbBSnbig  abttall  in  i|ntn  onl.  ba|  mir  aar  mtnlsti  I 
!  fSnnta,  Vnbetftn  refltbt  bei  unl  gtnan  lo  Donul&t,  tote  tr  tl  in  Itintt  tngtttn  Atimot  in. 

(StstlOt  BarttJ  ; 


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3un>tl  in  bit  «anb  gitbi,  btt  btaitti.  M  nintt  «laut  bii 
tumjtu  Cttltn  bunbfttabU,  btt  Halft  ttn  Stgtaatniat  btm  tbMl< 
Mtnidjtnbtn  «Iliagllitai,  btm  matttialiftiHtn  Ctttbtu  bttiet 
3tlt  unb  wirft  to  Itt  Irin  Xtil  ttbli*  an  btt  «Munbungj, 
atttit  mit.  (Stnt|e)e  Dartt.) 

JliifrffM,  §.f  ptam. 


:  ®in  8$ atj  für  \tbt»  $au»  Jini»  biefe  «Büdjcr,  nidjf  allein,  ntrit  (lt  rdjl  • 
:  btntfätn  tßtift  afmen,  fonbeim  weil  flt  anrf;  an  in6)ttvifd}tv  !Pf öfte  fumtipth : 
:  übtv  btn  mttflen  DaF6trtunoen  btv  mujtü  (leljtn. 

ientfdj  von  21.  Sdjeibe. 


:       9len«  Hnigabc  olitie  3U«firationen. 

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HH<t»i»iet.  Jn  2  Sdnbe  gebnnben  mf.  «,-. 
j  K3T  Sri  Jlbnatinit  ber  fdnitl.  8  Sdnbe  in  tleg. 
j  temtnbanb  gtbunben  ftatl  mf.  34.—  ftr  mf.  32.—. 


;  €ine  als  muflergBItig  anetfanntt,  bem  (Original  mJglidjil  gleidjfammenbe.  Dar  allen  Ding  tu  au*  : 

;  DX>a8Jinbige  Uebertragnng,  guter  bentlia>er  Sruif  (nnter  Drrmeibung  ber  oft  flnntntftttlenbtn  Snuffeb,ler)  auf  ; 
;  gutem,  fatinirtem  papier  nnb  billiger  preis  bflrfen  als  OorjBge  biefer  ausgaben  l)erpargeboben  njetben. 

5  ilüßige  (BetfanAen  eines  jftügigea.  Don  Strome  It.  3<tome.  Sentfd)  nadj  ber  132.  ftllflflg«  ; 

•  bes  engtifdjen  Originals  pon  3ulius  Kaulen,    finjige  autorifrrle  Jlnsgabe.  Sieg,  gebunben  mf.  ' 

•  .OibttHttt  nnb  Sttltgtt  babtn  fl*  untrtaitbat  ein  Sttbinlt  babntaj  etnwttra.  bot  Bt  bitM  tlbrrf  Briten«  (he* 

,  lugänglidj  moftten.    Kau  »irb  gtfttbtu  nfifltn,  baft  man  (tlttu  eint  folaje  i^iUt  gtinitk&tt  unb  origfntlltt  vtbanttn  in  ba  ; 

;  mobttnm  Siutnuut  Mtflnbtt,  bit  lugltia)  in  tin  )o  gtfäaigci  «tannb  bumoriRita»oliriHR  f)uubnti  ttOrtbtt  Unb." 

;  (•Iferltlbtr  3tit<«»J  - 


2 


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1 


METHODE  HAEUSSER. 

Selbstunterrichtsbriefe 
zur  Erlernung-  moderner  Sprachen 

unter  Mitwirkung  von  deutschen  und  ausländischen  Fachmännern  nach  eigener 
Methode  bearbeitet 
von 

Professor  E.  Haeusser. 


ENGLISCH. 

Vcrfasst  von  Professor  F..  Haeusser  und  Oberlehrer  Dr.  R.  Krön  unter  Mitwirkung  von 
Christopher  Darling,  H.A.  fLond.) 

Vollständig  in  27  Briefen.    Preis  in  Mappe:  20  Mark. 

FRANZÖSISCH. 

Verfasat  von  Professor  £.  Haeusser  und  Oberlehrer  Dr.  K.  Krön 
unter  Mitwirkung  von  mehreren  gebildeten  Franzosen. 

Vollständig  in  32  Briefen  und  zwei  Supplementen.  Preis  in  Mappe:  35  Mark. 

Hieraus  apart:  Guide  epistolaire.    Anleitung  zum  Brief  schreiben. 
Verfasst  vom  Oberlehrer  Dr.  K.  Krön.   Preis  1  Mark. 

Französisches  Fachsupplement  für  Heer  und  Marine 

bearbeitet  unter  Mitwirkung  von  Offizieren.    2  Briefe  je  1  Mark. 

ITALIENISCH. 

Verfasst  von  Professor  E.  Hausier  unter  Mitwirkung  von  Professor  C.  V.  G  iusti  in  Florenz. 
Vollständig  in  24  Briefen.    Preis  in  Mappe:  z8  Mark. 

RUSSISCH. 

Verfasst  von  Professor  E.  Häusser  und  Dr.  J.  Kaikin  aus  Cherson. 
Vollständig  in  32  Briefen  und  3  Supplementen.    Preis  in  Mappe:  26  Mark. 

Rassisches  Fachsupplement  für  Heer  und  Marine 

bearbeitet  unter  Mitwirkung  von  Offizieren.    2  Briefe  je  1  Mark. 

SPANISCH. 

Verfasst  von  Professor  E.  Haeusser  unter  Mitwirkung  von  Eduarde.  Kirchner, 
Professor  am  Lyceum  in  Harcelona. 
Vollständig  in  25  Briefen.    Preis  in  Mappe:  19  Mark     Einzeln  bezogen: 
1.  (Probe-)  Brief  50  Pf.,  2.  Brief  und  folgende  je  1  Mark. 


Hie  UPetit  Parisien 

Pariser  Französisch. 

Ein  Fortbildungsmittel  für  diejenigen,  welche  die  lebendige  Umgangs- 
sprache auf  allen  Gebieten  des  täglichen  Verkehrs  erlernen  wollen. 
Nebst  einer  Anweisung  zum  Studium  und  einem  systematischen  Dialogisierungsschema. 

Verfasst  von  Dr.  R.  Krön. 
Eleganter  Leinwandband  mit  Rotschnitt  1  Mark  90  PI. 


J.  Bielefeld's  Verlag  in  Karlsruhe. 


3 


Ein  Probe- Abonnement  für  December  liefern  für  1,00  Jffc.  aämmüiche  BwMumihH 

und  Pustanglalten. 


4 


IWrlafl  tonn  S.  Staattmann  in  ««(»(in. 

3oebeu  erfdiienen: 

HJetcr  Wofeggev: 

„t><*  Wal***»©»}.?!". 

9tcut  «efditdik'n  au*  »«•»„  uno  itral. 

Mit  einem  Xiteltilbe  »on  Si.  i'ioitict. 
SroMiIct  M.  4.—,  elegant  gebuiiben  jl  6  — 
Kit  itbtn  neuen  »adx  Büitft  bir  ijabl  ber  Slmqrtt  bei 
Qottbtaunbftru  SBalbnottrn.  -    *lu4)  btHcl  Sud)  wirb  wie 
bat  in  bortaen  Öahre  ju  glfidxm  ^nife  ctMicncRt 

„Jll*  t<u  fung  n*dj  war." 

9ieue  C5)efd)id)ten  aus  ber  3äa  Ibije  i  111  a  t. 
dnxitc  üuflagc. 
tbra  mut  &wtmbf  ntttinnin. 


j    Vertat?  von  Brelta-oi»f  d  Harte!  In  Lelpil«. 

Soeben  erschien: 

"FVIi-x  Dnlin 
Kleine  Romane  aus  der  Völkerwanderung 
Bd.  VIII. 
Cblodoveob  (a.  481-511). 
Preis  Mark  6.—,  gebunden  Mark  7.— 

In  dleeer  Krzählung  wollte  der  Verfaeser  ein  wahr- 
heitgetreuea  Spiegelbild  der  Vorzüge  und  der  Fehler 
dal  damaligen  Frankentbuma  darstellen,  wie  hie  nach 
der  geeehlchtlicben  Ceberliaferung  In  Jenem  Konig 
gipfeln.  Zugleich  wurde  die  aeeleuforecherische  Er- 
klärung dieler  oit  befremdenden  Gestalt  versucht.  Der 
Gegensatz  und  die  Mischung  Ton  Christentum»,  und 
Heidenthum  bildet  deu  Huitrrvrund,  wie  der  ganzen  Zelt, 
so  jenes  bösartigen  aber  genialen  Hei  lenund  Hemehera. 


(fiefes  Mtes 


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1 


Huf  bat  Stufen 
Sunt  Cbrett» 

iCJiftorifd:er  Soman 
von  Tregor  Snmmotu, 
(Cicac  stcuinfl.) 

2  »ärtlW.  <*2  ÖOijen  80 
©eb.  mt.  (0.—  ;  qebtm.  HU.  I 

Sit  tt>ii<l  am  $o[«  bei  tifttn  ffönigl 
Bon  9tcu1mit,  tbtilfi  am  Ciofe  SDiiljdm'a 
III.  Don  tjnolanb  fpirtt nbc  Äoinan  ift 
in  liiurr  gfW&tfJten  üOerbinbinig  ddi 
btftotiHjer  Söaljtiytt  mit  freier  £ta> 
tun«  ein  b 
bei  SB.Tf, 
fortlDätjrtnbe 
»fetten  äug« 

bcb  bietet.  . ,  . 

©am  a  to  ro'iÄoman  btn  Weift 
bei  3rit,  in  bet  bit  itotWütt 
ftd)  juttägt,  rtifixr,  unb  bie 
•EÄtibfiuna  bet  biftoriWun 
SrrfÖRtitljIettrii  roie  and)  brr 
Ctaffaae  ift  tnu  unb  Itbcnbtg. 


ins  bfm  Utrlagf  brr  Sifjlff.  ^mrjbrnibrrei,  0nmft-  unb 
gerlop^nftot  v.  S.  J^ottlarnbfr, 
Tralau. 


,<'"",,""t  r"""\''  * 


—  s.*«*  ****** 

;*>u  hoben  in  allen  «udilianoluiiaen 
M  %n:  unb  Hu*lati»e*. 


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31 

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4-).! 

ii 


«rljhftfrfjc  ©ncf)öriic&Erci,  ßmifl*  nnö  aPertatjP^J^nrtalf 


3 


.«f^  ein  ff  eftgefdjeni 
für  <J5EÖüimc  jtben  j?tanbep. 


Oit  locbru  abgt[(blo|[nu  I.  *?rrie  lion  12  ViSnbtu  cntb/äU  bisher  in  ijuibform  noA 
nitbl  trfdiitntuc  fintnigr  brr  hcrborr.igtnb[ttn  StUttriftihrr  nnb  jboar: 

tloyjjcl.^llfclti,  JFr.,  „Cln  fugt  Jmij,"  Xmbau,  ]T>.,  fint  gaitfafcrt  raifc 
ilortotgtn.  Celntann,  W.,  öagnr.  fcanfiem,  <£>.,  Ptutönjl.  Jitcinb&erg,  3., 
Orr  luifttr  auf  Ennä.  3(oli.li,  JB.,  PajjnttB.  itorjllEttc,  Strttbi  unb  piftbi. 
■iidftttci n,  -iE.,  Ana  Srmpronia.    fftclliuillll,  |tlärtbrn  aus  brm  runnabtitm 

wbrbuuiitti.  fricbncli  irücft  IPrcbc,  in  »fitbjtl  §it  «Rafft.  94.  3ofiai, JB., 
pit  grlbr  t'iotc.    l'J.tnflOIl,  Ö.,         'liulörrbanu.  jlaibtfpnk. 


/ 


^  ^  .4, 
******** 

12  ßiinlif 

fjvfoiibrrrni 
iT-nrloii. 

*♦•»#*♦** 

-T-  -T-  --!-  --r- 


12  gärte 

in 

ÖEfcuilitrem 

ajnrfon 
12  2t«. 
******** 


jlrris  pro  fluni!  71 jlf.  firolrfiirl,  in  rfrnnnf.  (Origiiuif=tP inGaiuf  1 JHR. 

Ütit  8ud}banbumijrn  N-s  3"  tln^  Huslflnbfs,  rbrnfo  ^ic  IVrlagsburtMuni;  nrt?men 
^ll'iMini'ituMi! 3  nuf  „llntrnuras  uitf1  Habrim*  an  uub  fenbrn  auf  IDunfrf?  13anb  I.  jur  2Irtftd?i 


I  1 1 1 1  1 1  I  1 1  I  1 1  I  1 1  1 1 1 1 1 1  1 1  1 1 1 1 1 1 1 1  1 1 1 1 1  1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1  II  1 1 1  II  1 1  II  II  I  II  II  I  II  I  II  IIIIII  I  MIM  II  III  III!  II  II  III 

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1  II  1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 


2  iiinniH  miiiniiiri  i  im  iiinti  Hin  nun  ihm  iiinmii  nii  mniii  i  n  mihi 

v.  3$.  ÄrfioHlaeniisr,  ©rEstnu. 


1840-  1870  Me 


Profcffor  Dr.  Karl  Biebermann, 
j  Vierte  (tfolkö=)  Äiwgabe. 

Dicfes  weit  »erbrettere  populäre  <Sefct;id;tst»etF  [bes  befannten  = 
:.;  ^iftorifecs  erfdfeint  anlä§lid)  ber  25jäf)rigcn  ^eiet  ber  JSegrünbung  bes 
r   beutftben  Heid; es  als 

1  lubilätnns-^iTsaabc 

_  — &  in  12  cSieferungen  h  50  Pfennige, 

■T"  "i^1-; '  ^T"*"  "T*  ~^T*  ^T^  "T**  *T*   ^t-*  ^p*        '""T1*  "T*  "T™  "F* 

Das  „Ceipjigcr  Sägeblatt"  Dom  19.  Itopeinber  Ii.  3.  fdjreibt: 
Seifen  roirb  bem  Kritifer  bie  Aufgabe,  ein  Budj  3U  befpredjen,  311  empfehlen,  fo  Ieidil 
nnb  angenehm;  feilen  fortnten  mir  mit  gleidj  gutem  (Feroiffen  tum  Kaufe  eines 
IDerfes  aufforbern,  umfomefjr,  als  ber  preis  ber  Tolfsausgabe  ein  bebeutenb  ermäßigter 
ift.  fX>ir  galten  es  fflr  unfere  pffictjt,  barauf  rfinjuii>eifcn,  bafj  tocilere  "Kreife  bes 
beutfdren  Dolfes  einen  tplrflidjen  fiausfdjatj  in  biefem  Budfe  gewinnen  werben;  alle 
bie  Dorjüge,  bie  mir  bereits  als  £igenfrf;aften  bes  förderen  „teitfabens  ber  beutferten 
©efdjidjte"  furjlieli  erwärmten,  fanben  wir  tjier  in  wenn  möglich,  noefi  böserem  IKafje 
prreint.  Cs  ift  ein  Uolfsbuch  unb  böd>  ftreng  Ijiflorifcfj;  es  i|i  objrctio  unb  juglcict) 
amegenb  gefdirieben ;  es  fdiilbert  eine  geit,  bie  ber  tüerfaffer  wie  IDtnige  fennt;  es 
befianbelt  biefes  Irjema  in  ber  elnjig  richtigen  Ifeife,  mit  befonberer  Betonung  bes 
culrnrt|ifforifd)en  Momentes.  Sine  roitfjtige  (Ergansnng  —  Heberfid)!  ber  erften  25  Jahre 
bes  neuen  beutfcfien  Keidjes  —  triirb  als  Jlnf)ang  biefer  neuen  Ausgabe  beigefugt.  Sur 
rediten  Seit,  26  3aljre  nad;  bfn  großen  lagen  von  1870/71,  n>irb  bies  tt>rrf  bem 
beutfcfien  publicum  geboten ;  möge  es  baraus  lernen  !  «Eine  Seit  ber  beutfdjen  ©efajidjte, 
bie  nidjt  fo  glucrlidi  war,  lernen  wir  oerfteben,  wenn  wir  Bicbmnann's  tDorten  folgen; 
nnb  toir  lernen  burd?  fle  urrfletjeii  bie  fpätcren  rulimerfäUten  Jaljre  unb  jene,  bie  ben 
Siegen  folgten.  Dr.  nippotb. 

(Tomplet  in  2  §*n*tn  öel|eftet  6  HUrlt, 
fein  rjiclun^cn  8  |ttnrh. 


S.i  liii  nun  in  ii  n  i  riTiTn  i  n  fn  1 1 1 1  in  i  in  i  iiiiiIhhiim  in  im  1 1  nun  n  ninninii  in  in 


-As  A^A^A^,.^.  _;^A^A^--AaA^A^-^-AaA^^A^A^A^^^A^ 


—   q 

rr,    Srtiu-iijrtu'  «udjöicuu'cm,  ftnnft=  ttKt)  «Berfagd'Wttftatt  ^ 
|  *  ».  <Z.  Sdjottlocnbcv  in  «rcöla«.  o-- 

Kl   _g 


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Briefe  ^ 

eines  Daters  an  feinen  Sofyn 


Don 


©eheftft  l«b.  l.-,  gtbtttt**»  pb.  3.-. 

„Die  3eit  naht  fieran,  ba  bie  Jünglinge,  meldte  bie  afabemiiebe  üaufbabn  einiufcblagen 
gebeutet!,  (ich  »um  Stieben  b(t  llitiperiitcit  rniteu.  6ht  neues  Sieben  beginnt  für  fic.  auf 
ba*  eigene  34  angelaufen  unb  auf  ivtcifjcit  be*  Wollen*  unb  .vanbeüi»  geftellt.  2Bopt  ift 
ei  gerechtfertigt,  tienu  ba  imiurfie  Mtern  nicht  ohne  »eforgniB  ben  Sohn  icr/eiben  feben; 
loenn  eine  lelfe  Sorge  ilir  ÖtIJ  befallt,  ob  er  in  btm  freien  afabemiicbeu  Sehen  fieb  auch 
gelftig  nnb  fittlicö  berooljren  Werbe.  Sin  flittcn  iRatbicblagen  fehlt  es  ba  rootjl  nicht,  aber 
iuic  leidtt  iit  tWefagtes  Pcrgeffen,  roie  oft  febroemmeu  bic  ÜBogcn  bei  Seben*  bie  bellen 
iSorföee  weg!  Da  fommt  ein  SSudi,  beffen  '-üerraifer  fieb  nicht  ttermt,  v.i  gelegener  Seit: 
„Briefe  eines  Satcrs  an  fei  nett  Sohn  nach  beffen  ätbgaug  auf  bie  UnioerfitSt," 
bas  Pon  Sötern  wie  Söfiuen  feiner  Stiebhing  unb  feinem  gamen  Inhalte  nach  loarm  ju 
begrünen  ift.  Suerft  fpicgclt  fidj  In  biefen  »riefen,  bie  ben  fflnbruef  machen,  bafj  I«  au* 
beut  Sehen  hcrausgcmadiicu  finb,  ein  SterbhltniH  iwifdten  Sater  ititb  tsobn  roiber.  roie  es 
inniger,  febbuer  nnb  freier  tticlit  gebatlit  lucrben  fann.  'Der  Sater  tritt  im*  in  ben  »riefen 
als  älterer,  erfahrener  o-reiinb  entgegen,  ber  in  benielben  nad)  unb  nach  eine  fittlicb  ernfte, 
aber  nicht  (leimidi  beengte,  eine  getftig  freie,  aber  in  ber  Freiheit  ÜJias  haltenbe  Sebent 
auffaffung  cntmicfelt,  ber  bei  feinem  Sobne  baraur  hiniulpirfen  fuebt,  Selbftbeberrfdjung 
unb  Siiichterfüllitug  rief)  SU  eigen  \u  machen,  eine  ibealere  Jtiditung  be*  Denten*  nnb  be* 
»anbellt*  in  pflegen  unb  in  üben.  Sie  Briefe,  fiebjebn  an  ber  3abl.  bejieben  neb  auf  bie 
Unseren  Seiten  bes  ftubentiteben  Sehens,  bie  ÜVrufsluabl,  ben  Stitbiengang,  allgemeine 
geiitige  Jtttereffen  it.  f.  lu.  äiias  ber  Serfaffer  ba  über  Sefanntfdiaiteu  unb  (Joaegien* 
beliiib.  nber  ben  Sann  bei  i^ambrtmi*,  über  Duell,  '.Itcrbinbungsipefeu,  Somilienhertebr 
lt.  f.  lu.  fagt,  mitb  ben  nteiften  Settern  aus  ber  Seele  gefprodicn  fein;  es  beruht  eben  auf 
ber  mit  einem  greiften  Ibeile  bes  SerbtnbungSPJefenS  nicht  oereinbareu  Stnficbt,  bas  man 
[leb  nidit  nur  Stitbireus  halber  auf  ber  Un&erfitat  aufhalten,  fonbern  roirflid)  ftubiren, 
Ipirfltdj  arbeiten  foH.  Da&  es  audi  üerbinbuiigiitiibeuteit  aller  Sürt  gegeben  bat  unb  ntxb 
giebt.  bie  (ehr  fteifjig  unb  erfotgreleb  arbeiten,  Soll  bamit  burchau*  nicht  geleugnet  tpetben. 
trbenfo  Perrathen  b!e  JtuSfübritugen  über  SeffitnismuS,  über  iJlieefcbe'«  3}hilofo>>bie  unb 
bas  ftafdien  nach  «rfect,  ubev  Sinnliches  unb  Ueberfinnlidie*  n.  f.  rt>.  bie  SJJelterfabrung 
eines  JJiaunei,  ber  burdi  bas  Sieben  mit  offenen  '.'lugen  unb  empfängliebem  Sjerjen  je« 
gangen  iit.  unb  her  aus  beifeti  Stürmen  fidi  ein  freie*  unb  eble*  2BoUen  gerettet  bat.  Set 
bas'  trefflidie  Such  ben  SStetn  loie  ben  Jünglingen  heften*  empfohlen.  (Sine  iBefoIgung 
bes  Wefagten  loirb  biete  bor  mancher  (»nttäitfdiung  unb  bor  :)icue  beroabren." 

StraBburger  Soft. 


liriirlini  iwrili  ,illr  Btiihnnblimgfn  brs  In=  nnb  Jlusil.utbf». 


4t 


\ty     \W  \-/ 


iW'is?' 


38 


8 


Sevilla  Her  §d>ic?.  Butft&nufcrei,  ftunft»  tttiH  Scrlagd'ftnftalt 
lt.  S.  Stftattliicttfter  in  Breslau. 


<3SS 


Mit 


~j~~>-  fü*  alt«  »*t^  jung«  K*i«£«*. 

\H  Bog.  8°.  €leg.  geheftet  IHf.  2.—  ;  fein  gebuno.  ZTtf.  3.—. 

JUIe,  bie  bes  Königs  Kor?  getragen  [jaben  unb  nod)  tragen,  insbefonbere 
aber  bie  ehemaligen  IDaffeitgef  dljrtett  bes  Perfaffers,  brs  Weiteren  alle  ble 
Kreife,  in  benen  ein  lebenbtger  Patriotismus  rferrfdjt,  roerben  bie  Ausgabe 
ooit  Kutfdifc's  Ciebern  geroifj  fretibig  roiUfommen  iieigen. 


diu  Sommermflrdjeii  t>on  Artl)iir  Stein. 

\Oxlz  Bogen.    (Seiftet  ZXlt.  \.50;  gebunöen  ZTtf.  2.50. 

Der  (Eitel  ber  Didjtung.  toeldic  (Eagesereigniffe  fatirifd?  beleucritrt,  roeifi  brutlid; 
genug  baranf  bin,  baf;  ber  Drrfaffer  ftdj  lieines  „UMnterm  ardjen*  jnm  Corbilö 
genommen  l)at.  Ulan  roirb  itfni  bas  geugmjj  ausstellen,  bafj  er  ben  £jeinCfdjen  Con 
mit  d31ürf  copirt  bat.  Dag  Stein's  Satire  ptm  bem  Zynismus  bes  „unnetogenen  Cirblings 
ber  ©rajien"  fieb.  frei  bält,  roirb  feinem  tPcrfe  geroig  nidjt  jum  Sdjabtn  gereidjen. 
Die  flotten  Derfe,  tjinter  beren  feinem  Spott  unb  grajiöfem  IPift  unoerfennbar  flttlidfcr 
firntr  unb  roarnte  Begeiferung  fn1>  oerbergen  unb  an  cinjelnen  Stellen,  ben  fiumor 
burdi  ein  fdjroungoolles  pattjos  uerbrungenb,  offen  brroorbredjen,  bilben  eine  überaus 
untcrrjaltcnbe  unb  anregenbe  Seetüre,  bie  audj  benen  einen  ©enufj  bereiten  roirb,  roeldtc 
bie  polltifcr/en  unb  focialcn  Jlnfrbauungen  bes  üerfaffrrs  nicht  in  allen  fünften  tfjeilen. 

Don  iRuöoUif)  Sotfjar. 

22  Bogen  8°.    (Seiftet  2TIF.  5.—  ;  gebun&en  2Tlf.  6.—. 

IRiiboIpll  Votfiar,  als  pliantaficuoller  unb  gebanrentiefer  poet,  insbefonbere 
als  Dramatifer  ldngl't  brCannt,  tritt  uns  in  bem  ooriicgeiiben  Bucrie  als  ein  ebenfo 
feinfühliger  roie  geroiffenbafter  Kritifrr  entgegen.  Seine  nad;  Jntjal't  unb  ,^orm  gleid) 
Ijeroorragenbeu  Stubien  geiiören  }u  bem  Befielt  roas  übet  ben  mobernen  Kommt  unb 
bas  moberne  Drama  Jranrrridjs  unb  Dcuifdilaitbs  orröffentlid)t  roorben  ifr. 


71/2  Bogen  8<>. 


@et>tdjte  von  3e<*«  'lianr. 

(Seiftet  lUt.  2.—;  gebunöen  2.TTF.  3.—. 


(Es  ift  ein  tDerbenber,  ber  mit  biefer  ©ebidjifammlung  jum  eritett  mal  oor  bie 
©tffentlidifeit  Iritt,  aber  ein  lüerbenber,  beffen  Bingen  uns  mit  größerem  Jrttercffe 
erfüllt,  als  bie  glatten  nidjtigfciten  mittelmäßiger  Keife.    <£s  finb  nidit  bie  alten,  ab- 

gebrofcfjenen  Ulitngc,  bie  roir  t/ier  oemel)mcn.  nid7t  bie  lanbldnffge,  einen  banalen 
3nba[t  unter  einer  gelerflen  $orm  uerhüflenbc  Dilcttantenpocfie  orme  pbTftognomic ; 
mau  merft,  bnfj  ber  Perfaffer  eine  eigene  Spradic  rebet  unb  in  feinen  Kr/Ttl)nten  ein 
lebenbigcr  pu[sfd)Iag.  bas  podjen  eines  beißen  Ijerjens  pibrirt. 

Ja  bfjifljen  burilj  alle  gudjljnnbliiitgfit  ksfit»  utili  JlnsloiiDrö. 


«nftaU  ».  g.  CftottUortet  in  BretU«. 


HIS  Botjiigltdje  afeftgefctertte  empfehle: 
4»l)Mth,  ©..  JJiargatete.  eine  «rjSbtung  fitt 

eroadjfene  junge  SPiaixben.  (Sebbtt.  ut  4.—. 
£Hi«nrran,  H.  Ii.,  (Selten  61»  in  ben  Zob. 

Deel  @Tjäi)Utnaen  a.  b.  glorrticben  Sagen  bei 

bentfcb=ftanjbf.  ffciegeS  1370  fll.  (Btbbn.  M.  4.—. 
91  uc  fellg.   Ärjabluna  lug  bemßeben  B.  n.  t>.  C. 

©ebbn.  ,K  1.—. 
4<rmtni,  C,  3>te  (Bette  ber  Oatmbetjla- 

teit.    JJiit  Wtbern  nad)  SKotie  Bon  6d)»inb. 

IStegnnt  cott.  *.  1.50 

Barme*.     Hufo  Klein  (3nf/.  JuL  ferti).  3n  bejieb.  bnta)  oUe  »udj^anblung.  b.3n>n.  HioianM* 


(Bin  Jlcrfincr  auf  (öcfnoland 


3f  rtebr  td^ 
«etjeftet  »t  8.-; 


5«rn6utg. 

«ebunoen  Wr.  6.- 


EEL1I  O  l  Iii  i  1 1  u  i  ■ « I  1 1  I  i  1 1  i  ml  1 1 1  i  ij  itj  i  • 


■  IUI  11  M  l  IUI 


£i^ii5Hr'ii^^'^iiir*%i-cN^^^ 


pämmern. 

Sfi33cn 

pon 

SWarie  toon  «tafer. 

gmeite  aufläge 

(Ein  Sattö.     22  Sogen  8». 
Sc».  SWf.  3.-;  geb.  Vit.  4.- 

ITlarie  von  ©lafer's  €ritIingsroerf 
,3lttergras",  pon  rofldjem  ebenfalls  in  für. 
jtt  Seit  jroei  Auflagen  rrfdjienen,  rourbe 
oon  Oer  Kritlf  fcifi  burdjgangig  als  bie 
©abe  eines  perbeifjungsp >llen.  eigenartig 
gen  Talents  bcgrflfft.  Hiefes  Talent  jrigt 
ftd>  nun  erffarrt  unb  portieft.  in  feine! 
(Eigenart  nodj  ausgeprägter  in  bem 
oorliegenben  Sucfjc. 


3)  (18 

ä  denen. 


<nrrcnn 

Koman 
Don  Wannt*  ^otai. 

2lusfd>lirfjlid)  ermdd;tigtt 

Uebertraqung  oon 
tutm.i«  ^tterl,8ltr. 

(Ein  Banb.  ;5  Bogen  8«. 
«ef|.  Wt.  3.-;  fltp.  Mt  4.- 

„©irbt  es  bafjlidje  mabefjen?" 
Diefe  jrage,  beren  (Erörterung 
getoifj  auf   bas  3nterrffe  ber 
ftfcflnen  Cefcrin   rechnen  barf, 
rpirft    b*r    gefeierte  ungarifdje 
Didjter  in  Dorlirgenbem  Romnn  auf, 
unb  er  beantwortet  fle  baljin:  *£s 
giebt  feine  Wfjli*cn  mabajen,  es  fann 
aud7  feine  geben. 


flammen  im  i?«üV5CH. 

Xoman  von  $erutamt. 

(Ein  Sani.  26  Bogen  8°. 

Seftcfiel  SRf.  5.-;  gebititoen  Vit.  6.- 

g).  Qrrmann,  als  ein  edjt  fünfllcrifdje  tDirrungrn  erftrebenber 
£rjat|ler  pon  eigenartigem  Taltnt  befannl,  bat  in  feinem  neueften 
Boman  ein  IDerf  gefdjaffen,  bas  hüben  portifdSen  IDertt)  mit 
etbifrfiem  C3el)alt  pereint  unb  ebenfo  bura>  einen  ibealen  gng  ben 
£efet  erbebt,  roie  bur*  oatfenbe  £ebtnsn>aljrl)eit  in  ber  Seidjnung 
ber  Tbaraftere  unb  ber  Sdjilberung  ber  Dorgdnge  Bberrafdjt 
cnb  fefielt.   j 

< 

im  Jto  $niff. 

Homan  von 

(Ein  Banb.        Bogen  8». 
«en.  »f.  8.-;  geü.  S»t  4.- 

«in  febr  geroagtes  Ttjema  ijl 
in  biefem  Homant  mit  ebenfo  piel 
fnnftl»rifd)er  meifterfdjaft  wie  fitt.  ^ 
liebem  ^eingefubl  betjanbelt  roorben.  * 


SebrufrnUe 
Irnfulfti. 


9«ttnttfUi»ra, 
jtknun  (ntrnfn 

nnb 

intim 

pon 

•«hefte«  XL  5.-; 
grimnben  Sit  6.—. 

2las  bem  eigenen 
£eben  bat  bie  be» 
fanntc  Derfafextej 
b«n  Stoff  jn  bem  oom 
liegenben  8ndp  oft* 
itolt:  Rficffd^aii  avf 
bie  oextTofJene  &&\ 
l}aItenb.l}atjUbi«3«» 
n&dtfk  ifyt  in's  2Uar .„ 
faflenben  beBfbnt- 
ftdjtfnnfte  «jw», 
Seins  feftaeftatte«? 
bie  Begegnung 
mit  bntd;  mtfl  ■  . 
<£baroftet  bettwo 
ragenbenperftaa^» 
feiten.  Diefe  p«e« 
ttaits  finb  mit  toi*' 

Oerzen  anfge» 
nommen  unb  bal)et 
n>ot)Igetroffen. 


LULLIJ  ■  Ii  IJ  II  l  II  IUI  ii  M  l  iß'i  II  l  I  II  i  Ii  II  |  |  I  |  |  ( Ii  |  l  ni  l  I  III  i  |  i  lij  i  |  |l  I  II  t  »i  I  ■  I .  I  t-I^Tf^.t: 


10 


»erlag       Sdftlef.  »udjjirud'erei,  »unft«  uiib  »erto88'»nfcalt 
n.  8.  8rt)dttlaen>er  in  ©realati. 

EDerfe  r>on  Paul  Cmfcau* 

Die  (Seljilftn.    Berliner  Soman  in  örei  Büchern. 

03eljeftet  OTf.  6.—;  gebunden  Utf.  8.—. 
Ijängenöes  ZHoos.   2?oman.   (3.  Caufenö.) 

(Elegant  brofdjirt  X  «.— ;  fein  gebunden  X  7.—. 
Der  ZTCöröer  6er  ^rau  ZTlarte  .gietrjen.    Siethen  oöer 
HMHjelm?   Z?aa>n>ort  oon  Dr.  ZHar  Heuöa.  2Tlit 
einem  Sifuationsplan  6er  <£lberfelöer  2>ertlicf)Feiten 
unö  einem  (ßrunörtf  öes  3\ett)en'fäen  fjaufes. 
(Elegant  brofdjirt  X  2.50;  fein  gebunben  X  3.S0. 
£jerr  unö  #rau  Betoer.   Xloveüe.   9.  2fufl.    ZTTtt  einem 
Briefe  »on  <£mil  2tugter  an  öen  Perfaffer. 

«Elegant  brofdjirt  X  2.50;  fein  gebnnben  X  3.50. 
IXlayo.    (E^äfylung.   5.  Zluflage. 

(Elegant  brofdjirt  X  4.50;  fein  gebnnben  X  5.50. 
3m  lieber.   (Erjtärjlung.   3.  Auflage. 

(Elegant  brofdjirt  X       ;  fein  gebnnben  X  5.—. 
Poggenburg  unö  anöere  (ßefdjidjten. 

(Elegant  brofdjirt  X  3. — ;  fein  gebnnben  X  n.—. 
IDunöerlicfye  £eute.    Kleine  (Erzählungen. 

(Elegant  btofdjirt  X  4.50;  fein  gebnnben  X  3.50. 
Pater  2törian  unö  anöere  (Sefcfjtdjten. 

(Ein  8anb.   (Seljeftet      4. — ;  fein  gebnnben  X  5.—. 
llus  öem  £)rient.    ^liidjtige  ilufseidjnungen. 

(Elegant  brofdjirt  >ft  t.50;  fein  gebunben  «M.  5.50. 
Sd?au-  unö  Cuftfpiele. 

(Elegant  brofd)ict  X  4.50;  fein  gebnnben  ^.6.—. 
3ntereffante  ^äüe.    (Eriminalproceffe  aus  neuefter  §ett. 

(Elegant  brofdjirt  X  4.50;  fein  gebnnben  X  5.50. 
Ueberflüfftge  Briefe  an  eine   ^reunoin.  ©efammelte 
Feuilletons.    3.  lluflage. 

(Elegant  brofdjirt  X  $.— ;  fein  gebnnben  X  5.—. 
Jjarmlofe  Briefe  eines  öeutfcf/en  Kleinftäöters.  ^u>eite 
vermehrte  Auflage.   2  Bänöe. 

(Elegant  brofajirt  X  6.—;  fein  gebnnben  X  8.—. 
Dramaturgifcr/e  Blätter.  Heue  ^olge.  \  875— \  878.  2  Bänöe. 

(Elegant  btofdjirt  X  10.—;  fein  gebnnben  X  12.—. 
tlfidjtemc  Briefe  aus  Bayreuth,.    \0.  Auflage. 

(Elegant  brofajirt  X  — .75:  fein  gebunben  X 
Bayreutljer   Briefe   oom   reinen   (Choren.  „Parftfal" 
pon  Xid?arö  JDagner.    5.  Auflage. 

(Elegant  brofdjirt  X  y.—;  fein  gebnnben  X  2.—. 
Uus  öem  litterartfcfjen  ^ranfreidj.    2.  Uujlage. 

(Elegant  brofdjirt  X  5.—;  fein  gebnnben  X  «.— . 

§n  bejietjen  burdj  aOe  8nd>h,anblnn<ien  bes        nnb  Jlnslanbe«. 


11 


ü  ii  i  ii  auii  ii  ii  111  mri  imtii  'luimiiiniiiniiiiiiiiiiiiiiiif  iiimiiiiiiiiiim-'  iiiniiiii  1 1 1 1 : 


«kriita  »er  ®*Ieflf«en  eu^tindmi,  ftnuft«  un»  Öfrl«g».«Btt«U 
».  g.  S4«ttlaen»cr  in  ©reSlau. 


tomanc  unb  Hot)effen. 


gtaUtfrem,  tfttfettiit»,  fhrSfto 

(itan  con  ZIMersfelb),  &at9fräölf in. 

Koman.    Dritte  Auflage. 

(Ein  Banb.  (ße  Reffet  X       ;  gebunden 

JL  5,— 

Biefer  Koman  (fi  n»l)I  bas  befte  IDecT  ber  bf 
liebten  £rj<5hlerln,  beten  fdjdnes  Calent  (idj  nod) 
nirgenb»  reicher  unb  ausgiebiger  entfaltet  tjat.  alt  in 
bicfem  Boman,  rpfldjer  insbefonbere  ber  Bamenipelt 
von  Heuern  eine  ariUfommene  ©abe  fein  wirb. 


$0tf-t&b,  f  fta,   ettim.  nooeOen. 

<Sef)eftet  X  %— ;  gebunben  X  5,— 

3n  biefen  btei  Hopellen  offenbort  Jba  8oT.(2b 
eine  £ogif  unb  einen  pfy*ologtfd>en  Sd>arfbliff,  roie 
er  ipenigen  ihrer  Sd>ipeftern  in  Jlpoll,  man  fann  fagen 
überhaupt  wenigen  SdjriftftcUern  brr  cBegenuxirt 
eigen  ift. 


«lafrr,  Pari«  »«tt,  sutergro«. 

£Fi3jrn  nnb  ZTopeüetten.  2.  Auflage. 
(Ein  Banb.  (Behaftet  X  4,—;  fein  ge- 
bunben  JL  5,— 

Siefes  CErjilingstoerf  einer  begabten  Sd)rift»ellcrin 
fjat  einen  fo  lebhaften  Unflang  gefunben,  bafj  bie 
erde  Jlaflaje  in  furjer  geil  Dergriffen  mar.  Bie 
Krilif  rühm'  ^en  liebensreflrblgen  planbrrlon,  über 
ben  bie  Derfafferin  pcrfagt,  ihre  Sabigfeif,  mit 
rornigen  Strichen  eine  Charaftrriftif  ju  enttoerfen, 
eine  Situation  anjubeaten.  Sie  Meinen  03efd>id;ten 
flnb  jumelfl  Nriilofraten-nopellen,  aber  and)  n>ie  bas 
Pdf  btnfi  nnb  fub,It,  tiat  bie  Derfafferin  mit  Der- 
ftdnbnifj  erlaofdjl  unb  Ȇbergegeben. 


|ttfHw»«,  ©öhrtr,  «in  tfvoletavicv 
tinü.  fiumoriftifdjer  Koman  aus  bem 
Berliner  Seben. 

2  Bänbe.  «Seiftet  JL  7,50;  fein  ge= 
bunben  JL  9,50 

gahllcfen  Ccfrrn  tjat  (Dsfar  3uftinns  burtb, 
feine  launigen,  tjumorpollen  Feuilletons  pergnugte 
OTomente  bereitet;  jum  etilen,  leiber  aber  and;  jum 
letzten  Blal  tritt  ihnen  ber  beliebte  piauberer  als 
Bomanfdjrtfrtleller  entgegen,  ber  aud)  als  foldjer  bas 
Cebcn  pom  Stanbpunttc  bes  ladjenben  philofophen 
betrachtet.  So  rcid)  unfere  Cittcratnr  an  Heineren 
humoriftifrben  tDerfrn  ift,  fo  arm  ift  fie  an  fcldjen 
großen  Umfanges,  an  humoriPifdjen  Hörnernen,  bie 
ein  ganjes  umfaffenbes  geitbilb,  unter  bem  ©eftdjts' 
rpinfel  bes  tjumoriflen  gefehen,  bieten.  Deshalb  rpirb 
biefer  grofje  bumoriltifdie  Boman  mit  um  fo  größerer 
jteube  begrüßt  »erben. 


g)0lptt,  $tbtoi&  öle  frone«  *w 
»en.  -  Berte,  >ie  tm  »ift.  ZtovtOn. 
<Setjeftet  JL  3, — ;  gebnnbrn  JL  4— 

Diefe  rtooellen  ibertreffen  bnrd;  fuirftlmidx  Cti. 
enbang.  bnrd)  3bertigeho.ll  nnb  tDeite  bes  ßorfeocT» 
ux>bl  illles,  a>ai  fonfl  auf  bicfem  CBtbirle  gefdjaffrm  wc. 

Zerf«.  Die  IITaus.  —  OTaria  im  Sdjn« 
tloreUen. 

(Ein  8anb.  (Seiftet  JL  n,— ;  fehl  «r 
bunben  JL  5,— 

Das  £nrig'IDeibIid>e  hat  auf  Sadjer-mai.-4 
Don  jeher  grofje  Jlnjiehnngf fraft  grabt ;  mit  hfm. 
beere  Dorliebe  nnb  tneifhrfd>aft  fdfilbrrt  er  Jrw 
gehalten  Poll  Cemperamrnt,  Caunen,  soll  Stolj  u-v 
£errfd)fud>t.  2tud>  in  ben  btei  «Irjähirmgen  biet» 
2Jud)e»  finb  sie  fielbinnen  jranen,  bie  n>eiMid>e  Jte- 
muth  mit  einem  gnge  mannlidjrr  Cmtnte  vnriun. 
Hern  anfmertfamen  Cefer  enthallt  fldj  in  bieten  «nter 
haltenben  <Befd>id>ten  mairdj«  emfte  tDabrbeil,  bte  brr 
Perfaffer  in  Beutg  auf  bie  jraaenfraae,  anf  bie 
Stellung  »ontnann  unb  jrau  ju  einanbrr  in  atmUuu» 
ber  jorm  einer  fanfilerifd)  abgrrunbttra  Crjahlng 
jum  2Iusbrud  bringt. 

$atttarw,  #r«0«r,  *m  Vfgnnl. 

Koman. 

2  BSnbe.   (Seljeftet  JL  gelmnber; 

JL  U- 

fSregor  Samarom  perfirht  es  merfterbaft,  ami 
in  biefem  neuen  Romane  bas  Jnterrffe  feiner  tr'et 
in  forttpährenber  Spannung  ju  erhalten.  C*  ifl  em 
jum  ttheil  neue  IPelt,  bi*  n>ir  hier  in  ben  Sdnttf 
rangen  rufPfdger  gnfldnbe  fennen  lernen.  Sie  ipnir 
ift  mie  bei  allen  Samaroa>fd>en  IDerfen  doU  Sdpnni 
unb  babei  bod>  mafjpoU ;  einjelne  Semen  oon  gerabrjk 
ergreifenber  tPirfung. 

neral.  tTooeüe. 

<Sel(eftet  JL  2,—;  fein  gebnnben  X  5,- 

T>a%  jranj  Don  Sdgonrhan,  ber  bem  grofje*  poH;< 
cum  Domrhmlid)  als  ein  UnMngrr  ber  heirerrn  Dbrii 
btfannt  ift,  aud>  fitr  bie  emfien  CorrRirte  bes  £ebnn 
Perftdnbnifj  unb  b(d)terifd)  grflaltenbe  Begabung  tf 
flSt,  hat  er  in  bem  Sd>aufpiel  .Das  golbene  Budi". 
Aberjeugenber  jtbod)  in  biefer  Crjdlglung  bra>icfrn. 

lH*f«,  9tM  3l»eier(ei  8ie»e.  Boman. 
€in  Banb.  (Setjeftet  JL  4,—;  gebanbett 

JL  5,- 

Ser  Boman  ift  padVnb  aefd>rieben  unb  bie 
Sd>i!bernng  ber  feelifdien  Porgänae  im  firiben  frbr 
anfdjanlidi  unb  feffelnb.  Das  tDerf,  bas  in  feinrn 
Chemo  ganj  fin  da  tiiclo  ift,  barf  anf  einen  grofim 
Ceferfreis  red>nen 


3a  bffitljttt  Utk  dt  MfaMnwn  bre  |n«  nnb  ^ultiitf. 


1  hui  111 11 11 11 1111111111111 11 111  im  111 111111111  im 


Hill 

12 


iiiiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiip 


um 


KARLSBADER 

Natürliche  Mineralwässer 

^     1895er.     Frische  Füllung.    1895er.  & 


yiMiMnuuniii  iMM!HM[;jiii|[[ii,iniMii|iTiiT?Til 

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Quellen 

und 

deren  Wärmegrade. 


Sprudel  .  .  5830  & 

Mühlbrnnn  .  40  » 

SchloMbrnna  418  , 

Tliereiienbninii471  » 

Heobnma.  .  47s  * 

■arktbrnna .  345  > 

MienqodU.  47  * 

KaiserSarts-Qo  ' 

Itijerbnini.  3J1  • 

-K+- 


Proaucte 


KARLSBADER 
Sprudel-Salz 
pulverförmlg 

und 
krystallisirt. 

KARLSBADER 
Sprudel-Seife. 

KARLSBADER 
Sprudel-Pastillen 


ilL'r''tlllllllimil'niiiiiiiiiiiiiiiMiiiiMiiMirn[nrirrnrHiiiiii[iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  in» 


Die  Karlsbader  Mineralwässer  und  Quellenproducte 

sind  zu  beziehen  durch  die 


Löbel  Schottländer,  Karlsbad  (/Böhmen 

sowie  durch 

alle  Mineralwasser-Handlungen,  Apotheken  und  Droguisten. 

||  I   Ueberseeische  Depots  in  den  grössten  Städten  aller  Welttheile. 


Ermässigung  der  Preise  für 

A pollinaris 

Natürlich  kohlensaures  Mineral  Wasser. 


Im  Einzelnverkauf  wird  das  obige  Wasser,  jetzt  wie 
folgt  berechnet : — 


Inclusive 
des  Gefässes. 

Vergütung  für 
das  leere  Gefäss. 

Netto-Preis 
des  Wassers. 

1ji  Flasche 

30 

5  Pf. 

25  Pf. 

*/2  Flasche 

23  „ 

3  " 

20  ,, 

Vi  Krug 

35  « 

5  n 

30  „ 

*/>  Krug 

26 

3  -n 

23  ,. 

Käuflich  bei  allen  Apothekern  und  Mineralwasser-Händlern. 


THE  APOLLINARIS  COMPANY, 

LIMITED. 


Aord  und  Süd. 

Eine  deutsche  Monatsschrift. 

Herausgegeben 

l>0N 

Paul  tindau. 

Fünfundsiebzigster  Vand. 
M!<  den  por!rai>5  von- 

Fürst  Cl,l«di»ig  »on  l>ll>,c„!/vl>e'5chill!N9zfürst,  w»lf<;>>„g  «irchbach,  pri»;  Lmll 
Vre  A  I  au 

5chle<ische  Vuchdruckerei,  Kunst»  und  verlag3>Anstalt 
v,  2.  Lchottlaendel. 


I  nhalt  des  75.  Bandes. 

Gctaver.  —  Oovember.  —  December. 

"895.  <» 

Seile 

Richard  Veck  in  Zwickau  i.  ö. 
Mont  5aint  Michel.  Lin  Rcisebild  25y 
R.  G.  Vockenheinier  in  Mainz. 

Das  Vriefgeheimniß  währen!»  der  französischen  Revolution  85 

Francis  <üopp6e  in  f)aris. 

Rivalinnen.  Novelle  Y5 

Rudolf  von  Gottschall  in  Leipzig. 

Die  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  lahlhundertz  I?« 

Hans  Hermann  in  Vreslau. 

Modeblumen  25" 

tudwig  lacobowski  in  Verlin. 

Gedichte  l?e 

Joseph  loesten  in  Aöln. 

Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche.  Ungedruckte  Vriefe  von  Felix  Mendels» 
sohn-Vartholdy  508 

Vertha  Aatscher  in  Vaden  <!liedcr°Oesterreich>. 
Freidenker!»  und  Cheosophin  527 
Richard  Aoehlich  in  Vreslau. 

«Lin  fürstlicher  Dichter.  (Prinz  Lmil  zu  Lchoenaich-Carolath.),.,  .  288 

Alite  Aremnitz  in  Bukarest. 

sein  Vrief.  Novelle  5?n 

G.  Maschke  in  Vreslau. 

Rußland  in  Lentralasien  2<>c>,  5"6 

INarlin  Nlendelsohn  in  Verlin. 

Krankenpflege  und  specifische  Therapie  52 


I  nhalt  »es  75.  Vandes, 
So,!? 

Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

Die  3age  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien  6? 

Lmil  5choenaich-Tarolath  in  Palsgaard-Iuelsminde  bei  horsens 

(Dänemark). 

Ohilemon  und  Vaucis  27? 
Georg  Steinhaufen  in  Jena. 

„Das  gelehrte  Frauenzimmer."  Ein  Essai  über  das  Frauen» 
Studium  in  Deutschland  zur  Rococo»  und  Zopfzeit  "6 
Alfred  5loeßel  in  Dresden. 
Wolfgang  Kirchbach  ;»i0 

!N.  ötona  auf  2chloß  5trzebowitz  (Vesterr.-öchlesien). 

Nur  zwei  Veilchen.  Novelle  "59 

Aonrad  Telmann  in  Rom. 

In  der  Hochzeitsnacht.  Novelle  " 

Alexander  Tille  in  Glasgow. 

Thomas  Hnxley  222 

Friedrich  wegmüller  in  München. 

Der  Witz  Eine  ästhetische  Studie  25» 

August  wünsche  in  Dresden. 

Der  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen  Hintergründe  ,,.  2Hq 
Gebhard  Zernin  in  Darnistadt. 

Fürst  Chlodwig  von  Hohenl«he-3chillingsfürst,  Kanzler  des  Deutschen 
Reiches.  Eine  lebens»  und  Eharakterskizze  2U 
Vibliographie  ".224,  "02 
Vibliographische  Notizen  <2H.  2K<».  "07 
Mit  d«m  f)ortiaits  von: 

Fürst  Ehlodwig  von  k)ohenlohe-5chillingsfürst,  radirt  von  Johann 
lindner  in  München;  Wolfgang  Kirchbach,  radirt  von  J  ohann  lindner 
in  München;  Prinz  Emil  zu5ch«enaich°Earolath,  radirt  von  Franz  Nor  ich 
in  Nürnberg. 


October  <8Y5. 
Inhalt. 

Se«, 

Aonrad  Telmann  in  Rom. 

In  der  Hochzeitsnacht.  Novelle  ~ 

Gebhard  Zernin  in  Darmstadt. 

Fürst  Chlodwig  von  Hohenlohe>3chillingsfürst,  Kanzler  des  veutschen 
Reiches.  Line  lebens»  und  Charakterslizze  20 
Georg  öteinhausen  in  )ena. 

„vas  gelehrte  Frauenzimmer,"  <Lin  Lssai  über  das  Frauen» 

Studium  in  Deutschland  zur  Rococo-  und  Zopfzeit  H6 

Martin  Mendelsohn  in  Verlin. 

Krankenpflege  und  specifische  Therapie  56 

Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

vie  3age  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien  6? 

R.  G.  Vockenheimer  in  Mainz. 

Da«  Vriefgeheimniß  während  der  französischen  Revolution  85 
Francis  Coppee  in  f)ari5. 
Rivalinnen.  Novelle  92 
Bibliographie  ~  31, 

Veutschland«  Kolonie»,  (Mi!  I llnstra! i° ne„  > 
Vibliographische  Notizen  I,  3H 

hierzu  ein  Portrait:  Fürst  Chlodwig  von  H«henlohe-5chilling5fürst. 
Radirnng  von  Johann  lindner  in  München. 

»Nord  und  2üd'  erscheint  am  Anfang  ~et>«  M»na!«  In  l)ef!en  mit  je  einer  Runstbellage. 
p«>»  pi»  <l!»»i<»|  12  Heft»)  6  Mail. 

All»  Vochhanolnnaen  nn«  poftanftalt«»  n«l>m»n  i«l>«iz»it  V,st«ll»ng»n  «n. 
Alle  auf  öen  redactionellen  Inhalt  von„Mord  und  Süd"  be« 
züglichen  Sendungen  sind  ohne  Angabe  eines  Personennamens  zu 
richten  an  die 

Redaction  von  „Mord  und  Süd"  Vreslau. 
2iebenhufeners.tr.  ~,  ~3,  1.5. 


In  der  Hochzeitsnacht. 

Lovelle, 

von 

Aonriid  Lelmann. 
—  R«m.  — 

»le  saßen  im  Restaurant  des  Ausstellnngsparks,  vorn  an  den 
offenen  Glas-Schiebefenstern,  wo  man  den  Vlick  frei  hatte  über 
das  wogende  Meer  von  Köpfen  drunten  und  die  bunte  Menge,  die 
sich  in  unablässigem  Wechsel  an  dem  Musikpavillon  uorüberschob.  Auch  die 
elektrisirenden  Weisen  der  österreichischen  Eapelle  drüben  vernahm  man  hier 
deutlich  trotz  des  nicht  ruhenden  Ctimmengeschwirrs  und  des  Messer»  und 
Gabelgeklappers  an  den  fast  sämiutlich  besetzten  Tischen  des  großen  Saales. 
Die  Neiden  hatten  ihre  Abendmahlzeit  beendet,  die  halb  geleerte  Rheinwein- 
flasche stand  vor  ihnen,  und  sie  schauten  Beide  iu  den  Park  hinaus,  ohne 
viel  zu  sprechen.  Es  war  seltsam:  sie  hatten  sich  auf  diefen  Abend  so 
ganz  besonders  gefreut,  uud  nun  wollte  eine  eigentliche  Fröhlichkeit  zwischen 
ihnen  nicht  aufkommen.  Die  rechte  Stimmung  blieb  aus.  Herbert  Fürst 
strich  sich  mit  der  laugen,  weißen,  wohlgepflegten  Hand,  die  nur  durch 
einige  braune  Sonnnerflecke  entstellt  wnrde,  immer  wieder  durch  den  statt- 
lichen, rothblonden  Vollbart,  der  das  feine,  schmale  Gesicht  über  Gebühr 
zu  verlängern  schien,  und  ranchte  schweigend  seine  Eignrre,  für  die  er  Gerdas 
Erlaubniß  erst  eingeholt  batte. 

Er  konnte  sich  dies  Letzte  noch  imm'r  nicht  abgewöhnen,  obgleich  sie,  die 
am  liebsten  sich  gleichfalls  ihre  Eigarette  angezündet  hätte  uud  es  nur  aus 
Rücksicht  auf  ihn  unterließ,  ihn  jedesmal  deswegen  auslachte.  Er  blieb  nun 
einmal  der  allzeit  höfliche,  die  Formen  der  guten  Gesellschaft  ängstlich  wahrende 
Mann,  auch  feitdem  aus  dem  Negiernngs-Referendar  ein  freier  Tchrift- 


2  lloniad  Telmann  in  Rom. 

steller,  Nils  dein  Sprößling  der  reichen,  hanseatischen  Plltricierfamilie  der 
Bräutigam  der  Schauspielerin  Gerda  Lindheim  geworden  war.  Und  trotz- 
dem er  sich  einbildete,  sich  Etwas  darauf  zu  Gute  that,  von  allem  Con- 
ventionellen, welchen  Namen  es  auch  führen  mochte,  sich  losgelöst  zu  haben, 
er,  der  dies  in  Ansehung  seiner  Abstammung,  Erziehung  und  Anlage  un- 
säglich viel  schwerer  gehabt,  als  irgend  ein  Anderer,  und  also  auch  viel 
stolzer  darauf  fein  konnte. 

„Correct!"  Das  war  das  Wort,  mit  den:  sie  ihn  am  schwersten 
verwunden  konnte,  was  ihn  am  heftigsten  aufbrachte.  Das  warf  alle 
feine  Errungenfchaften,  alle  feine  Einbildungen  über  den  Haufen;  es  war 
nicht  viel  anders,  als  ein  Schlag  in's  Gesicht  für  ihn.  Er  wollte  nicht 
correct  sein,  —  alles  Andere,  nur  nicht  das.  Das  war  für  ihn  der  In- 
begriff alles  Faden,  Gedankenlosen  und  Lächerlichen,  was  er  nach  langen, 
inneren  und  äußeren  Kämpfen  mit  feiner  sonstigen  Metamorphose  zugleich 
abgestreift  zu  haben  glaubte.  Das  wollt'  er  denen  lassen,  aus  deren  Reihen 
er  ausgetreten  war,  das  hatte  für  einen  unabhängigen,  modern  denkenden 
und  empfindenden  Künstler  unbedingt  etwas  Komisches,  etwas  Entwürdigendes. 
Nur  daß  er  über  seine  Natur  nicht  hinauskounte.  Gerda  wenigstens 
behauptete  das.  Sie  hänselte  ihn  gern  etwas,  stichelte  gern  über  diesen 
Punkt.  Selbstverständlich  nur,  weil  sie  ihn  noch  weiter  treiben  wollte,  als 
er  schon  war,  weil  er  ihr  immer  noch  nicht  „frei"  genug  dachte.  Nun,  sie 
hatte  gut  reden.  Eine  Schauspielertochter  —  selbst  eine  Schauspielerin  — 
da  konnte  freilich  von  Correctheit  und  Convention  nicht  viel  die  Rede  sein. 
Und  schließlich  hatte  ihn  das  ja  gerade  mit  zu  ihr  hingezogen:  diese  lockere 
Ungebundenheit,  dies  freie  Sichgehenlassen,  in  dem  soviel  Grazie,  soviel 
Selbstsicherheit  und  soviel  Tact  —  natürlicher  Tact  lag.  Ja,  gerade  das 
war  das  Bewundernswerthe,  das,  was  ihn  immer  neu  entzückte  und  be- 
rauschte. Gerda  war  ja  auch  schön,  —  eigenthümlich  schön,  —  sie  hatte 
eine  ganze  Reihe  von  bestrickenden  Eigenschaften  an  sich,  und  sie  war  eine 
Künstlerin  von  Ruf  und  Ansehen.  Aber  das  Alles  wog  für  ihn  doch  dies 
Eine  nicht  auf:  ibre  reizvolle  Uncorrectheit,  bei  der  man  doch  immer  das 
bestimmte  Gefühl  hatte,  auch  als  Mitglied  der  guten  Gesellschaft  könne  man 
sich  vollkommen  ruhig  und  gefahrlos  in  ihrer  Nähe  bewegen. 
Daß  sie  ihn:  zu  Gefallen  Manches  ablegte  und  unterdrückte,  was  sie 
ihrer  Natur  nach  gern  gelhan  hätte,  ahnte  er  ebensowenig,  wie  daß  ihr  das 
hin  und  wieder  als  ein  lästiger,  kaum  mehr  erträglicher  Zwang  erschien,  daß 
sie  zu  Zeiten  sogar  über  einem  Gewaltmittel  brütete,  um  sich  dieser  Not- 
wendigkeit zu  entziehen.  Es  zuckte  und  prickelte  ihr  dann  in  all'  ihren 
kleinen,  weißen,  nervösen  Fingern,  endlich  einmal  Etwas  zu  sagen.  Etwas, 
was  ihn  mit  einem  Schlage  über  ihr  uncorrectes  Selbst  im  ganzen  Umfange, 
in  der  ganzen  Tragweite  aufklären  muhte,  felbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  ihm 
das  einen  gewaltigen  Stoß  gab  und  ihn  vollständig  an  ihr  irre  machte. 
Visher  war  ihm  nie  ein  anderer  Gedanke  gekommen,  als  daß  sie  es  wahr- 


)n  der  tzochzeitsnacht.  3 

hastig  leicht  gehabt  hatte,  sich  vom  „Correcten"  fern  zu  halten;  ihr  ein 
Verdienst  daraus  zu  machen,  daß  sie  niemals  Mißbrauch  mit  ihrer  Freiheit 
getrieben,  daran  dachte  er  gar  nicht.  Er  hatte  sich  die  Möglichkeit  eines 
solchen  Mißbrauchs  noch  garnicht  überlegt.  Er,  Herbert  Fürst,  hatte  sich  mit 
Gerda  Lindheim  verlobt;  das  hieß  eigentlich  beinahe  soviel,  als  daß  er  ihr 
vor  aller  Welt  das  glänzendste  Leumundzeugniß  ausstellte  und  ihr  Vorleben 
als  makellos  erklärte,  es  gewissermaßen  adelte. 
Daß  sie  heute  hier  allein  waren,  hatte  einen  kleinen,  ganz  kleinen 
Kampf  gekostet.  Es  war  das  erste  Mal.  Herbert  fand  es  in  der  That 
nicht  ganz  passend,  daß  sie  als  Brautpaar  ohne  jede  Begleitung  Abends  in 
den  Ausstellungspark  gingen.  Man  konnte  doch  garnicht  wissen,  was  andere 
Leute  dazu  sagen  würden.  Es  sah  immerhin  ein  bischen  prouocant  aus. 
Dieser  oder  Jener  hätte  Gott  weiß  was?  unter  diesem  harmlosen  Zusammen- 
sein »  äeux  vermuthen  können,  zumal  Abends  im  Ausstellungspark  doch 
notorisch  allerlei  zweifelhafte  weibliche  Eristenzen  ihr  Wesen  trieben.  Kurz: 
Herbert  hatte  allerlei  kleine  Bedenken  gehabt.  Vor  Allem  sah  er  gar  keinen 
rechten  Grund  für  diese  Neuerung  ein.  Man  war  mit  Gerdas  Dante  — 
einer  dieser  sehr  entfernten  Tanten,  zu  der  das  verwandtschaftliche  Verhält- 
nis durchaus  nicht  mehr  ganz  klargestellt  werden  konnte,  die  aber  seit 
J  ahren  mit  ihrer  „Nichte"  zusammenlebte  —  immer  ganz  ungenirt  gewesen, 
und  es  hatte  soviel  anständiger  ausgesehen.  Aber  Gerda  setzte  nun  einmal 
ihren  Kopf  darauf.  Und  er  wollte  ja  nicht  correct  sein.  Das  gab  den 
Ausschlag.  Schließlich  fand  er  es  selbst  ganz  amüsant,  einmal  mit  ihr 
allein  im  Ausstellungs-Restaurant  zu  soupiren,  und  sie  hatten  sich  Neide 
wie  die  Kinder  darauf  gefreut. 

Nun  war's  doch  nicht  ganz  so  geworden,  wie  sie  gedacht.  Woran  das 
lag  —  wer  wußte  es?  Hatte  Herbert  nachträglich  nun  doch  wieder  Scrupel 
bekommen?  Genirten  ihn  die  Blicke  und  Mienen  irgendwelcher  Bekannten 
oder  Unbekannten,  die  zu  ihnen  hinüberschielten?  Fürchtete  er,  ihrer  Beider 
Verhältniß  werde  nicht  ganz  klar  vor  aller  Welt  erscheinen?  Denn  das  war 
ihm  zeitlebens  das  Schrecklichste  gewesen:  unklare  ^Verhältnisse,  —  alles 
Verworrene,  Undeutliche,  nicht  ganz  Zweifelsfreie.  Oder  was  hatte  er  sonst? 
Hatte  überhaupt  er  angefangen  mit  diesem  freudlosen  Stillesein,  oder  war 
Gerda  es  selbst  gewesen?  Nachdenklich  erschien  sie  heute  jedenfalls,  fo  nach- 
denklich, wie  er  sie  garnicht  kannte.  Auch  das  mochte  ihn  verdrießen,  eine 
ansteckende  Wirkung  ausüben,  denn  er  wollte  sie  immer  heiter,  strahlend, 
—  ihr  ganzer  Zauber  beruhte  darin;  lieber  mochte  sie  ausgelassen  und 
übermüthig  sein,  als  so,  —  nur  nicht  so  wie  heute,  das  stand  ihr  garnicht. 
„Du  bist  heute  so  merkwürdig  still,"  sagte  er  endlich  zwischen  zwei 
Dampfwölkchen  feiner  Cigarre,  „hast  Du  'was?" 
Es  klang  übellaunig  und  ein  bischen  herrisch,  weniger  als  theilnehmende 
Frage,  wie  vielmehr  als  die  dringliche  Aufforderung,  Nichts  „zu  haben" 
und  nicht  mehr  stille  zu  sein.  Gerda  begriff  das  vollkommen.  Sie  er- 


H  llonrad  Telmann  in  Rom. 

widerte  aber  nur:  „Tu  bist  auch  still,  scheint  nur.  Mm,  muß  doch  auch 
nicht  immer  schwatzen." 

„Ich!"  Er  machte  mit  seiner  schönen  Hand  eine  Bewegung,  als  ob  er 
sagen  wollte:  „Ich  kann  mir  das  eben  leisten.  Ich  bin  ich."  Laut  aber 
fügte  er  hinzu:  „Ja,  das  ist  wohl  wahr.  Ich  habe  heut  viel  gearbeitet, 

—  ein  schwieriges,  psychologisches  Problem,  weißt  Du.  Unsereins  lebt 
das  immer  gleich  so  mit.  lind  es  ist  gnrnicht  leicht,  immer  die  correcte 
Lösung  — "  Er  stockte,  wurde  etwas  roth  und  warf  einen  fast  ängstlichen 
Blick  zu  ihr  hinüber.  Da  war  es  ihm  nun  doch  einmal  wieder  entfahren, 
dies  Wort,  das  er  jetzt  haßte  und  mied,  das  ihn  in  Gerdas  Augen  geradezu 
compromittirte,  —  und  bei  folcher  Gelegenheit!  „Correcte  Lösungen"  wollte 
er  ja  in  Wahrheit  garnicht  bei  seinen  Geschichten  finden,  —  was  Gerda 

—  und  neuerdings  er  mit  ihr  —  denn  so  „correct"  nannte.  Im  Gegen- 
theil.  Ein  alberner  Lapsus!  Und  er  war  fest  entschlossen,  mitzulachen, 
wenn  Gerda  ihn  jetzt  auslachen  würde. 

Das  that  sie  aber  nicht.  Merkwürdigerweise  ließ  sie  sich  die  Gelegen- 
heit dazu  diesmal  entgehen  und  sagte  nur  zerstreut:  „Ja,  ja,  ich  kann  mir's 
denken.  Es  ist  sehr  schwierig.  Im  Leben  ja  auch."  Und  dann,  nachdem 
sie  das  grüne  Glas  vor  ihr  an  die  Lippen  geführt,  mit  einem  verlorenen 
Blick  in  die  grünen  Parkwipfel  hinaus:  „Wollen  wir  nicht  ein  bischen 
hinausgehen?  Ich  denke  mir's  jetzt  hübsch  draußen.  Und  wenn  Dir's  recht 
ist,  abseits  von  der  Mnsik  und  von  den  Menschen.  Man  bekommt's  auf 
die  Dauer  satt.  Es  betäubt,  aber  es  befriedigt  nicht." 
„Wie  Du  willst,"  sagte  er  phlegmatisch,  etwas  nachgiebig  gestimmt, 
weil  sie  sich  die  Gelegenheit,  ihn  auszulachen,  hatte  entgehen  lassen.  „Wir 
werden  dann  auch  wohl  bald  den  Heimweg  antreten  müssen."  Dabei  schlug 
er  discrct  mit  dem  Dessertmesser  an  sein  l^las,  um  den  Kellner  zu  rufen. 
„Nach  Hause?"  fragte  sie.  „Schon?  Warum  denn?"  Sie  sah  auf 
die  Uhr. 

Er  hatte  eigentlich  erwidern  wollen:  „Weil  es  unfchicklich  ist,  wenn 
wir  Beide  allein  zu  so  später  Stunde  — "  Aber  er  begriff,  daß  sie  ja  das 
voraussetzte,  daß  sie  darauf  geradezu  wartete.  Und  deshalb  fagte  er's 
nicht,  sondern  stattdessen:  „Die  letzten  Pferdebahnen  sind  immer  so  überfüllt, 
auf  die  darf  man's  nicht  ankommen  lassen." 

Ein  stichhaltiger  Grund  war  auch  das  nicht.  Denn  es  blieb  ihnen  dann 
immer  noch  die  Stadtbahn,  und  er  war  durchaus  in  den  Verhältnissen,  anch 
eine  Nachtdroschke  nehmen  zu  können,  sie  war  für  feine  Verhältnisse  sogar 
das  natürlichste  Beförderungsmittel;  aber  Gerda  fagte  Nichts  mehr.  Er 
zahlte,  ohne  nachzurechnen  oder  ein  Wort  einzuwenden,  legte  ein  reichliches 
Trinkgeld  neben  seine  sauber  zusammengelegte  Serviette  und  stand  auf.  Dann 
half  er  ihr  in  ihr  laquet,  ließ  sich  vom  Kellner  seinen  lichtgrauen  Havelock 
umhängen  und  nahm  seinen  Eylinder.  Sie  gingen.  Er  sah  sehr  groß 


In  der  HochzeitZnacht,  >"> 

und  stattlich  aus,  als  er  sie  am  Arm  führte,  alle  Leute  sahen  sich  nach 
den  Beiden  um. 

Draußen  hatten  sie  Mühe,  sich  durch  die  Menschenmassen  zu  winden, 
die  immer  noch  auf  dem  breiten  Wege  vor  der  Musikkapelle  sich  hin-  und 
herschoben.  Sie  gingen  gegen  das  Pergamon-Panormua  zu,  immer  noch 
ohne  zu  sprechen. 

Allmählich  verklang  das  Streichconcert  hinter  ihnen,  —  noch  ein 
Strauß'scher  Walzer,  mit  dem  es  für  heute  schloß.  Ganz  leise  und  gedämpft 
hallten  die  Töne  herüber,  untermischt  mit  Menschenstimmen,  hin  und  wieder 
durchschnitt  von  dem  Pfiff  einer  Locomotive,  übertäubt  vom  dröhnenden 
Gerassel  eines  jagenden  Stadtbahnzuges.  Dann  gelangten  die  Beiden  in 
stillere,  einsame  Seitenwege.  Wie  wundervoll  diese  luninacht  eigentlich  war, 
spürten  sie  erst  hier,  wo  der  sternenüberglitzerte  Nachthimmel  zu  ihren 
Häupten  lag  und  nur  die  geheimnißvollen  Stimmen  des  Frühsommerdnnkels 
um  sie  her  laut  wurden,  für  die  sie  doppelt  empfänglich  geworden  nach  dem 
lärmenden  Gewoge,  das  sie  durch  Stunden  und  Stunden  umbraust.  Hie 
und  da  gleißten  die  Büsche,  wie  versilbert  vom  elektrischen  Licht  der  Glüh- 
lampen in  den  Hauptwegen,  sie  ctthmeten  eine  kühle  Frische,  einen  Hauch 
von  Unberührtheit  aus.  Irgendwo  in  einem  lauschigen  Winkel,  aus  deni 
der  Duft  der  Goldregentrauben  herüberwehte,  schlug  in  kleinen  Zwischen- 
räumen eine  Nachtigall  an,  leise  nnd  schüchtern,  als  wagte  sie  ssch  nicht 
recht  hervor. 

Herbert  schien  in  eine  weiche  Stimmung  zu  verfallen.  Er  war  sehr 
empfänglich  solchen  Naturreinen  gegenüber,  und  wenn  er  dann  allein  mit 
Gerda  war  und  Niemand  seine  Mienen  in  Obacht  nehmen  konnte,  ~  denn 
in  solchem  Fall  hätte  er  sich  genirt,  —  wurde  er  sentimental,  er  fing  au 
zu  schwärmen.  Auch  jetzt  begann  er  damit.  Es  waren  überschwängliche, 
glühende  Worte,  die  von  seineu  Lippen  brachen,  voller  Verliebtheit,  Begierde 
nnd  irrer,  stammelnder  Trunkenheit.  Gerda  erwiderte  kein  Wort.  Nur 
manchmal  zuckte  ihr  Arm  ganz  leise  in  dem  seinen.  Und  dann  gingen  sie 
weiter  und  weiter,  ganz  langsam,  ganz  wie  in  einer  fremden  Welt. 
Da  plötzlich,  als  sie  von  einer  Gebüschlücke  am  Wege  aus  die  große 
Fontaine  sahen,  die  drüben  wie  ein  mächtiger  Silberstrahl  in  den  Teich 
niederwallte,  sagte  Gerda  leise,  dumpf:  „Ja,  das  ist  Alles  ein  schöner 
Traum,  Herbert,  das  Alles  hätte  werden  können.  Aber  Du  bist  zu  spät 
gekommen.  Verzeih'  mir!  Verzeih'  mir!  Ich  konnte  Dir's  nicht  eher 
sagen." 

Er  starrte  sie,  mitten  aus  seinein  verzückten  Schwärmen  auffahrend, 
mit  erblassendem  Gesicht  an.  „Was  ist  das?  Was  soll  das  beißen? 
Gerda!" 

Sie  nickte  leise  vor  sich  hin.  Dann  zog  sie  ihn  mit  sanfter  Gewalt 
weiter  in  das  Dunkel  des  Laubgangs  hinein,  als  ob  ihre  Augen  das  Stück 
Helle  da  drüben  nicht  vertrügen,  und  nun,  sich  an  ihn  klammernd,  raunte 


6  Konrad  Telmaini  in  Rom. 

sie  an  ihm  empor:  „Es  soll  heißen,  wie  ich's  sagte.  Es  soll  heißen,  daß 
Deine  Liebe  zu  mir  auf  die  härteste  Probe  gestellt  wird,  die  es  geben 
kann,  Herbett;  verdamme  mich,  daß  ich  bis  heute  geschwiegen  habe!  Ich 
bin  ja  verdammensweith  um  deswillen.  Aber  Du  muht  auch  begreifen 

—  Ich  habe  Dich  so  lieb,  Herbett,  und  Du  zeigtest  mir  ein  so  hohes 
Glück,  —  und  da  sollte  ich  nun  mit  einein  Worte,  mit  einem  Schlage  — 
nein!  ich  tonnt's  nicht.  Leicht  ist  es  für  ein  Mädchen  ohnehin  nicht,  so 
Etwas  auszusprechen,  —  so  Etwas  einem  Manne  einzugestehen,  auch  nur 
anzudeuten  —  Und  wenn  man  den  Mann  nun  gar  liebt  —  Und  wenn 
man  sich  nun  durch  das  Geständniß  gar  die  Pforte  zuni  Glück  verrammelt 
für  immer,  —  Herbett,  Tu  mußt  begreifen,  daß  ich's  nicht  über  mich 
brachte,  daß  ich  schwieg,  —  Dich  betrog.  Wir  waren  auch  so  selten  allein, 

—  es  war  nie  eine  Gelegenheit,  —  ich  wollt's  ja  so  oft;  —  taufend,  taufend 
stachelnde  Vorwürfe  macht'  ich  mir  jeden  Tag,  —  jeden  Tag  von  jenem 
ersten,  glückseligen  an  nahm  ich  mir  vor:  heute  —  heute  ganz  gewiß  — 
Und  dann  geschah's  doch  wieder  nicht,  dann  war  doch  wieder  die  Angst 
zu  groß  und  schnürte  mir  die  Kehle  zu,  —  die  Angst,  Dich  zu  verlieren, 
Herbert!  Aber  ich  hatte  durch  mein  Schweige»  —  durch  dies  einige 
Hinausschieben  keine  wahrhaft  glückliche  Stunde.  Und  deshalb  —  blos 
deshalb  könntest  Du  mir  vergeben  — " 

Es  quoll  Alles  von  ihren  Lippen  tonloo,  sich  überstürzend,  ein  klein 
wenig  schauspielerisch.  Aber  das  merkte  er  nicht.  Er  merkte  überhaupt 
nicht  auf  die  Art,  wie  sie  sprach.  Er  griff  sich  nur  ein  paarmal  an  die 
Stirn,  weil  er  immer  noch  glaubte,  er  träume.  Er  athmete  schwer,  wie 
ein  Erstickender.  Er  blieb  stehen,  er  griff  sich  vorn  in  den  Halskragen,  um 
ihn  zu  lockern,  er  nahm  den  Hut  ab.  Er  wußte  garnicht  mehr,  was  er 
that,  er  wußte  überhaupt  Nichts  mehr  von  sich.  Alles  in  ihm  wirbelte  und 
quirlte  durcheinander.  Er  hatte  die  Empfindung  von  lauter  Stürzendem 
und  Brechendem  um  sich  her.  Erst  ganz  allmählich  begriff  er,  daß  er  es 
sich  schuldig  sei,  Herr  der  Situation  zu  bleiben,  daß  er  sich  eine  unheilbare 
Vlöße  gab,  wenn  dies  nicht  geschah.  Er  richtete  sich  gewaltsam  auf,  aber 
er  schüttelte  sie  von  sich  ab,  er  lehnte  sich  gegen  einen  Baum  am  Wege 
und  warf  ihr  einen  Blick  zu  voller  Anklage,  Jammer  und  Entsetzen.  Er 
wußte  selbst  nicht,  was  davon  eigentlich  in  ihm  vorherrschte;  ~-  am  ehesten 
wohl  das  Entsetzen  über  das,  was  er  hier  erfuhr,  —  plötzlich,  unvorbereitet, 
mitten  in  feine  verliebte  Ekstase  hinein.  Wie  ein  Blitzschlag  kam  das  Alles, 
betäubend,  verwirrend,  und  diese  jähe  Helle  blendete  ihn.  „Mein  Gott," 
sagte  er  nur  stöhnend,  „wie  ist  das  Alles  möglich?  Was  soll  das  Alles 
heißen?" 

Sie  zuckte  trostlos  die  Schulten«.  „Im  Grunde,"  sagte  sie  leise,  mit 
gesenktem  Gesicht,  „hättest  Du  Dir's  fast  denken  können.  Wenn  Du  mein 
Leben,  meine  Erziehung  in  Betracht  ziehst  —  Mit  sieben  Jahren  bin  ich 
zum  ersten  Mal  aufgetreten.  Seitdem  immer  in  dieser  Atmosphäre  von 


In  der  Hochzeitsnacht,? 

Leichtsinn,  Verführung  und  Ungebundenheit  —  Ist  eö  da  ein  Wunder? 
Ist  es  da  ein  Verbrechen?  Man  könnte  sich  eigentlich  nur  wundern,  daß 
es  sc»  spät  geschah  —  und  nur  einmal  —  Ich  bin  ja  nie  beschützt  gewesen. 
An  mich  darf  man  den  Maßstab  aus  Deinen  Kreisen  doch  wahrhaftig  nicht 
anlegen.  Für  ein  Schauspielerkind  mar  ich  tugendhaft  genug.  Darüber  lass' 
ich  mir  keine  grauen  Haare  wachsen.  Nur  daß  ich  Dich  in  der  Täuschung 
ließ  —  bis  heute,  —  das  war  unrecht.  Jetzt,  wo  ich's  endlich  vom  Herzen 
habe,  wird  mir  leicht.  Jetzt  werd'  ich  wenigstens  Gewißheit  haben,  ob  Du 
mich  wirklich  so  liebst,  wie  Du  mir's  oft  —  eben  noch  —  gesagt  hast,  und 
ob  Deine  Liebe  zu  nur  stärker  ist,  als  alles  —  alles  Andere." 
Ihr  Ton  hatte  sich  langsam  um  etwas  gewandelt,  er  war  weniger 
verzweifelt,  ruhiger,  sicherer  geworden,  es  lag  sogar  etwas  Mahnendes  und 
Forderndes  darin.  Aber  auch  diese  Veränderung  entging  Herbert.  Er  war 
immer  noch  fassungslos.  Dies  Alles  kam  zu  unvorbereitet,  war  zu  nieder- 
fchmetterud.  Für  solchen  Fall  hatte  er  die  nöthige  Haltung  nicht  bereit, 
er  war  sich  nicht  klar  über  das,  was  er  jetzt  zu  thun  und  zu  sagen  hatte, 
und  das  verwirrte  ihn,  brachte  ihn  in  Conflict  mit  sich  selber.  Plötzlich 
fiel  ihm  Etwas  ein,  eine  Stelle  aus  Hebbels  „Maria  Magdalena",  und  die 
sprach  er  jetzt  in  seiner  Verlegenheit  über  ein  eigenes  Wort,  das  er  hätte 
sagen  sollen  und  das  er  nicht  fand,  vor  sich  hin:  „Darüber  kann  kein  Mann 
weg"  —  Und  dann  bedeckte  er  seine  Augen  mit  den  Händen  und  schluchzte. 
Nun  hatte  er  plötzlich  die  Rolle  gefunden,  die  er  in  dem  gegebenen  Falle 
zu  spielen  hatte.  Es  erleichterte  ihn  ordentlich. 
Eine  Zeitlang  sagte  Gerda  Nichts.  Es  war  so  still  zwischen  ihnen, 
daß  man  das  plätschernde  Niederfallen  des  Wassers  drüben  und  leise 
Menschentritte  auf  den  anderen  Parkwegen  deutlich  vernehmen  konnte.  Dann 
klang  ihre  Stimme  zaghaft  zu  ihm  hinüber:  „Wenn  das  Dein  letztes  — 
einziges  Wort  ist,  dann  ist's  ja  wohl  am  besten,  wir  gehen  gleich  jetzt 
und  hier  auseinander  —  für  alle  Zeit.  Wozu  follte  dann  ein  weiteres 
Herumzerren  noch  sein,  —  zwecklose  Vorwürfe  und  Klagen,  da  ja  nun  doch 
einmal  Nichts  mehr  gutzumachen  ist?  Mit  dem  Geschehenen  müssen  wir 
uns  eben  abfinden,  lind  wenn  Du  entschlossen  bist  —  Ich  habe  dann  Nichts 
mehr  zu  sagen,  als:  „Verzeih'!  und  Leb'  wohl!" 
Nun  kam  Leben  in  ihn.  Er  streckte  die  Hände  nach  ihr  ans.  „Nein, 
nein,  nicht  so  —  ich  —  ich  habe  ja  noch  nicht  —  ich  weiß  ja  noch  gar- 
nicht,  —  ich  bin  noch  immer  so  verwirrt,  so  rathlos,  —  das  Alles  erscheint 
mir  immer  noch  so  unglaublich,  —  so  unmöglich  — " 
„Wir  müssen  aber  doch  nun  zu  Ende  kommen,"  sagte  sie  leise,  herb, 
ungeduldig.  „So  oder  so.  Diese  gräßliche  Ungewißheit  hat  lange  genug 
angedauert,  mir  Qualen  genug  gemacht.  Jetzt  trag'  ich  sie  nicht  mehr. 
Ich  habe  Dich  so  unsäglich  lieb,  Herbert,  daß  ich  jede  Stunde  besinnungs- 
los für  Dich  sterben  könnte.  Ich  möchte  wissen,  ob  es  bei  Dir  ebenso 
ist,  ob  Deine  Liebe  zu  mir  größer  und  stärker  ist,  als  Wes  sonst  in  der 


8  Koniad  Telman»  in  Rom. 

Welt,  —  ob  Tu  durch  sie  —  mit  ihr  Alles  überwinden  kannst,  —  auch 

dies  Aeuherste;  —  ob  ich  Dir,  wie  ich  da  biu,  mehr  werth  bin,  als 

die  schmeichlerische  Fiction,  —  der  Erste  zu  sein,  die  jeden  Mann  so  stolz 

macht!" 

Herbert  stöhnte  noch  einmal  auf,  dann  wandte  er  ihr  sein  Gesicht  zu, 
das  jetzt  kühl  und  ruhig  erschien.  Nur  seine  Mundwinkel  zuckten  leise. 
„Gönne  mir  Zeit,"  sagte  er  mit  heiseren,  rauhen  Tönen.  „Ich  kann  mich 
jetzt  nicht  aussprechen.  Du  mußt  das  doch  begreifen.  Morgen  —  über- 
morgen —  Laß  mich  nur  erst  einmal  zu  mir  selbst  kommen!  Du  kannst 
doch  nicht  verlangen,  daß  ich  jetzt  und  hier  über  so  Etwas  —  über  eine 
so  wichtige,  einschneidende  Lebensfrage  —  Das  ist  doch  unmöglich.  Tas 
wäre  ja  gerade,  als  wenn  Du  mir  so  sn  plannt  vorschlügest  — "  er 
wußte  offenbar  nicht  gleich,  was  er  sagen  sollte,  oder  unterdrückte  das  wieder, 
was  er  hatte  vorbringen  wollen,  um  nach  einer  kleinen  Pause  murmelnd 
beizufügen:  —  „vorschlügest,  von  jetzt  an  nicht  mehr  zu  Schriftstellern  oder  mich 
von  der  Sonne  abzusperren  oder  dergleichen.  Das  ist  doch  wie  eine  furcht- 
bare Revolution  dies,  —  und  nun  so  unvermuthet,  und  jetzt  nnd  hier, 
während  — "  Er  trocknete  sich  wiederholt  die  Stirn  mit  einem  lichtblauen, 
seidenen  Taschentuche.  „Ordentlich  der  kalte  Angstschweiß  ist  nur  alisge- 
brochen," sagte  er  mit  einer  gewissen  suchenden  Hilflosigkeit,  aber  ohne  Gerda 
anzusehen,  denn  davor  schien  er  sich  zu  fürchten,  —  „aber  so  Etwas  auch! 
In  meinen:  ganzen  Leben  habe  ich  eine  ähnlich  peinvolle  Situation  —  Du 
hast  Dir  wirklich  eine  Stunde  ausgesucht  zu  dem  Allen!  Laß  uns  nur 
jetzt  gehen,  —  womöglich  könnt'  uns  noch  wer  Bekanntes  begegnen,  —  das 
fehlte  gerade!  Und  man  weiß  auch  garnicht,  wer  Einen  hier  Alles  hören 
kann  hinter  den  Büschen.  Mein  Gott,  mein  Gott,  was  sind  das  für  Sachen! 
Wenn  ich  mir  so  'was  je  hätte  träumen  lassen!" 
Er  athmete  mühsam,  steckte  sein  Tuch  ein  und  versuchte,  sich  wieder 
eine  Haltung  zu  geben.  Er  hatte  sie  völlig  verloren  gehabt.  Dabei  konnte 
er  aber  nicht  umhin,  seine  Augen  eine  Weile  mit  scheuer  Angst  rundlaufen 
zu  lassen.  Gerda  betrachtete  ihn  während  alledem  mit  einer  gewissen  kühlen 
Neugier.  Dann,  als  er  ihr  seinen  Arm  bot,  sagte  sie:  „Oh,  zwinge  Dich 
nicht  dazn!  Ich  kann  ja  allein  gehen  —  Oder  nein,"  setzte  sie  hinzu,  und 
es  zuckte  Etwas  zwischen  Oberlippe  und  Nasenflügeln,  während  sie  ihren 
Ann  leicht  in  den  feinen  schob,  —  „gerade  das  könnte  anffallen,  wenn  man 
uns  sähe.  Und  es  ist  ja  garnicht  nöthig,  daß  man  vor  der  Zeit  erfährt, 
was  nachher  immer  noch  früh  genug  unter  die  Leute  kommt." 
Es  lag  Etwas  wie  ein  fchmerzlicher  Spott  in  ihren  Worten  und  machte 
ihn  nervös.  Er  zuckte  ordentlich  zusammen,  als  er  sie  jetzt  an  seinem  Ann 
gegen  den  Stadtbahnhof  zu  führte.  Und  dann  fagte  er:  „Du  thust  ja, 
als  wäre  es  schon  entschieden,  daß  wir  —  daß  ich  —  So  weit  sind  wir 
ja  doch  nicht.  Ich  bin  sehr  consternirt  —  begreiflicherweise  —  und  ich  kann 
in  meiner  Verwirrung,  in  diefer  heftigen,  allgemeinen  Gemüthsdepression 


In  der  Hochzeitsnacht,  9 

durchaus  keineu  Entschluß  fassen,  mir  garnicht  einmal  klarwerden  über  das, 
was  ich  zu  thun  habe,  —  aber  die  Möglichkeit  liegt  ja  doch  vor  —  Es 
ist  etwas  Furchtbares,  Gerda.  Ich  wollte,  dies  wäre  mir  erspart  geblieben. 
Man  konnte  darüber  wahnsinnig  werden." 

Nach  diesem  letzten  Ausbruch  sagte  sie  Nichts  mehr,  und  er  führte 
sie  weiter.  Sie  stießen  jetzt  fortwährend  auf  Menschen,  die  gleich  ihnen 
dem  Ausgange  zudrängten:  sie  schwiegen  Neide.  Erst  als  sie  die  Treppen 
zum  Bahnhof  hinaufgestiegen  waren  und  in  der  weiten  Halle  droben  die 
Menschen  sich  wieder  vertheilten,  so  daß  sie  allein  und  ungestört  abseits 
bleiben  konnten,  sagte  er  mitten  in  das  donnernde  Getöse  hinein,  mit 
dem  ein  einfahrender  Zug,  der  nicht  der  ihre  war,  den  gewaltigen  Raun« 
durchschüttelte:  „Nachdem  Du  mir  das  furchtbare  Bekenntnis!  einmal  gemacht 
hast,  Gerda,  mußt  Du  nur  nun  auch  Alles  sagen.  Das  hilft  Nichts,  Ich 
muß  nun,  da  Du  mir  die  Binde  von  den  Augen  gerissen  hast,  doch  auch 
gleich  völlig  klarsehen,  um  gerecht  urtheilen  zu  können.  Ich  muß  alles 
Einzelne  wissen,  —  wie  und  wann  es  geschah  und  — " 
„Nein,  nein."  Sie  schüttelte  ruhig  den  Kopf.  „Das  nicht.  Das 
erlaß  mir!  Es  ist  fo  widerwärtig,  das  noch  einmal  aufwühlen  zu  sollen, 
so  häßlich,  —  und  vor  Allem  so  zwecklos.  Wozu  sollt'  es  denn  etwa  dienen? 
Es  macht  Nichts  besser  und  Nichts  schlimmer.  Ich  fühle  mich  nicht  ver- 
pflichtet dazu,  und  ich  verweigere  es  Dir.  Verzeih'!  Aber  Du  mußt  ja 
selbst  begreifen  —  Die  Thatsache  muß  Dir  genügen,  die  Hab'  ich  zugegeben. 
Mit  der  mußt  Du  Dich  abfinden,  —  so  oder  so.  Mehr  bin  ich  Dir  nicht 
schuldig,  —  das  wäre  undelicat.  Wenn  wir  erst  verheirathet  sind  —  ich 
ineine:  falls  Du  Dich  trotz  Allem  dennoch  bereit  finden  solltest,  —  dann, 
dann  natürlich  —  dann  wäre  es  etwas  Andres,  wem:  Du  dann  noch 
darauf  bestehen  solltest,  —  aber  jetzt:  nein.  Bitte,  reden  wir  nicht  mehr 
davon!  Es  ist  gerade  genug  und  übergenug!" 
Herbert  war  sehr  roth  geworden,  er  murmelte  Etwas  zwischen  den 
Zähnen,  was  sie  nicht  verstand.  I  hr  Zug  fuhr  jetzt  ein,  und  sie  muhten 
sich  eilen,  einzusteigen.  Während  sie  es  thaten,  sagte  sie:  „Herr  Gott,  wir 
wollten  ja  mit  der  Pferdebahn  fahren!  Wie  dumm!" 
Er  begriff  nicht,  daß  sie  jetzt  und  so  von  dieser  Sache  reden  konnte. 
Es  schwoll  Etwas  in  ihm  empor  von  Bitterkeit,  Empörung  und  Haß.  Dies 
Mädchen,  seine  Braut>,  die  ihm  eben  gestanden  hatte,  —  merkwürdig 
spät  gestanden  hatte,  —  daß  sie  nicht  die  war,  die  er  in  ihr  zu  finden 
geglaubt,  daß  sie  nicht  mehr  rein  war,  —  dies  Mädchen  amüsirte  sich 
jetzt  darüber,  daß  sie  nun  doch  mit  der  Stadtbahn  und  nicht,  wie  er  ge- 
wollt, mit  der  Pferdebahn  nach  Hause  fuhren,  darüber  also,  daß  er  dies 
bei  all'  dein  auf  ihn  einstürmenden  Schrecklichen  vergessen  hatte!  Es  war 
unglaublich,  einfach  unglaublich.  Eine  Komödiantin  —  das  war's!  Darin 
lag's!  Sie  sind  alle  nicht  viel  anders.  Das  Gewerbe,  das  sie  treiben, 
macht  sie  so.  Im  Grunde  kann  man  sich  nie  bei  ihnen  darauf  verlassen. 


~0  Koniad  Telmllnn  in  Rom. 

daß  sie  in  der  einen  Stunde  noch  so  sind,  wie  in  der  andren;  das  ist  eben 
das  Traurige,  dem  verdankte  er  diese  Bescheerungen  von  heute  Abend. 
Großer  Gott,  wenn  er  das  so  recht  bedachte:  —  seine  Braut!  Und  schon 
in  eines  Andren  Händen  gewesen!  Pfui,  es  war  abscheulich,  es  war  kaum 
auszudenken. 

Und  sie  hätte  es  ihm  sagen  müssen,  bevor  sie  ihm  ihr  J  awort  gab, 
ihn  um  sie  werben  ließ,  —  damals  doch  zum  Mindesten.  Statt  dessen 
—  aber  natürlich:  eine  Komödiantin!  Warum  war  er  auf  den  verrückten 
Einfall  gekommen,  eine  Komödiantin  heirathen  zu  wollen?  Die  nehmen 
das  alle  nicht  gar  so  genau,  die  haben  die  „spießbürgerlichen"  Grund- 
sätze der  soliden,  bürgerlichen  Gesellschaft  nicht  und  bilden  sich  noch 
sogar  Etwas  darauf  ein,  wenn  nicht  Alles  bei  ihnen  so  klappt,  wie  dort. 
Nun  hatte  er's!  Nun  mit  guter  Manier  loskommen,  das  war  eine  eigene 
Sache.  Gerede  gab's  natürlich,  —  und  was  für'n  Gerede!  Das  war 
peinlich.  Aber  schließlich:  wenn  man  zum  Gegenstand  der  allgemeinen 
Aufmerksamkeit  wurde,  —  zu  verachte»  war  das  auch  nicht,  es  konnte 
immerhin  für  einen  Schriftsteller,  der  noch  als  Anfänger  gelten  mußte  und 
den  Ehrgeiz  hatte,  schnell  zn  einein  Namen  zu  kommen,  von  Vortheil  sein. 
Man  würde  fragen:  „Die  Lindheim  im  Stiche  gelassen  von  ihren: 
Bräutigam?  Wer  ist  denn  der?  Ach,  der  Schriftsteller  Fürst!  Was  hat 
er  doch  gleich  geschrieben?"  Und  dann  so  weiter.  Es  konnte  geradezu  zu 
einer  neuen  Auflage  feiner  „Pflicht"  führen.  Die  Welt  war  nun  einmal 
so,  und  man  mußte  sie  nehmen,  wie  sie  war. 
Nur  —  es  war  doch  eigentlich  schade.  Er  hatte  Gerda  lieb.  Und  der 
Mann  einer  bekannten  Schauspielerin,  —  selber  ein  Dichter  —  Es  machte 
sich  doch  ganz  gut.  Es  war  so  gewissermaßen  das  Siegel  darauf,  daß  er 
sich  von  seiner  hochwohlcmständigen  Gesippschaft  emancivirt  hatte  und  seine 
eignen  Wege  wandelte  als  ein  freier  und  unabhängiger  Künstler.  Mit  dieser 
Beweggrund  hatte  ihn  getrieben,  —  ganz  gewiß.  Neben  seiner  Leidenschaft 
ein  gewisser  Trotz,  ein  herber  Eigenwille,  eine  bestimmte,  bewußte  Absicht. 
Wenn  er  freilich  gewußt  hätte,  —  dann  natürlich  nicht;  nicht  im  Traum 
wär's  ihm  dann  eingefallen.  Aber  nun  würd'  es  wie  ein  Rückzug  aus- 
sehn, gerade  wie  wenn  er  doch  bereute,  sich  von  seinen  Sippen  getremtt  zu 
haben,  und  einsähe,  es  sei  mit  Leuten  andren  Schlages  kein  ewiger  Bund 
zu  flechten.  Und  das  wollt'  er  nun  doch  nicht,  das  dürft'  er  ihnen  um 
seiner  selbst  willen  nicht  gönnen.  Eine  fatale  Lage  also  — 
Das  Eoups,  in  das  sie  gestiegen  waren,  war  so  voll,  und  der  Zug 
rasselte  mit  so  betäubendem  Lärm  dahin,  daß  eine  Unterhaltung  zwischen 
dem  Brautpaar,  das  sich  gegenübersaß,  nicht  wohl  möglich  gewesen  wäre, 
am  wenigsten  über  das  Eine,  was  Herbert  nun  unablässig  in  seiner  Seele 
hin-  und  herwälzte  Es  war  ihm  auch  gerade  recht  so.  Nur  ruhten  Gerdas 
Augen  unverwandt  auf  ihm,  und  das  genirte  ihn,  das  machte  ihn  nervös. 
Was  wollte  sie  eigentlich  mit  diesem  ewigen  Herüberblicken?  Es  war  ja  gerade. 


In  der  Hochzeitsnacht.  ~ 

als  wollte  sie  aus  seinen  Mienen  seine  wechselnden  Gedanken  ablesen.  Nun,  das 
sollte  ihr  doch  wohl  schwer  werden.  Etwas  so  Dringendes,  so  Verlangendes 
lag  in  ihren  Augen.  Herbert  rückte  unruhig  auf  seinen,  Sitz  hin  und  her. 
Sie  liebte  ihn  doch  sehr,  diese  Gerda.  Eine  furchtbare  Angst  mußte  jetzt 
in  ihr  wühlen,  ihn  zu  verlieren.  Sie  wollte  mit  ihren  Augen  ihn  zwingen, 
ihn  bannen,  ihn  festhalten.  Das  war's!  Lieber  Himmel,  ja,  es  wäre  auch 
Alles  so  gut  und  schön  gewesen,  nur  —  Es  ging  ihm  eben  doch  gegen 
die  innerste  Natur.  Er,  Herbert  Fürst,  und  nicht  der  Erste  bei  dem  Weibe, 
das  er  liebte,  das  er  heirathen  wollte!  In  seinen  eignen  Augen  ent- 
würdigte es  ihn.  Er  war  garnicht  mehr  er,  wenn  er  das  that,  wenn  es 
wirklich  dahin  kam.  Nein,  nein,  es  ging  nicht,  es  ging  nicht. 
Die  rasselnden  Mder  des  Zuges  wiederholten  es  unablässig,  was  aus 
all'  seinen  Gedanken  heraus  tönte  und  schrie:  „Es  geht  nicht,  —  es  geht 
nicht,  —  es  geht  nicht  — " 

Bahnhof  Friedrichstraße!  Sie  stiegen  aus,  gingen  die  Treppe  hinab, 
tauchten  unter  in  das  immer  noch  fluthende  Gewühl.  Wieder  hatte  er  ihr 
seinen  Arm  geboten,  wieder  hatte  sie  ihn  genommen.  Schweigend  schritten 
sie  nebeneinander  her,  durch  all'  das  laute,  aufgeregte  Sommernachtleben 
der  Großstadt.  Sie  überquerten  die  Linden.  Gerda  warf  einen  Blick  zum 
Eafe  Vauer  hinüber,  durch  dessen  offene  Thüren  und  Fenster  man  auf  die 
lichtüberhellte,  bunte  Menschenmasse  sah,  die  sich  an  all'  den  kleinen  Tischen 
zusammendrängte,  —  es  war  ein  sehnsüchtiger  Nlick,  dem  ein  kleiner 
Seufzerfolgte.  „Bin  ich  durstig,  Herbert!"  und  ihr  Arm  machte  in  dem 
feinen  eine  zuckende  Bewegung  nach  dem  Caf6  hin.  Jetzt  einen  Eiskaffee 
dort  —  es  müßte  kostlich  sein.  Und  mitten  in  die  bunte,  internationale, 
ein  klein  bischen  „gemischte"  Gesellschaft  hinein,  nach  dem  steifen,  lang- 
weiligen Ausstellungs-Restaurnnt  —  In  allen  Zehenspitzen  prickelte  es  sie 
danach.  Wozu  denn  auch  jetzt  schon  zu  Bett  gehn?  Es  mar  wohl  noch 
garnicht  einmal  Mitternacht,  —  doch  wahrhaftig  noch  keine  Schlafenszeit. 
Aber  Herbert  war  entsetzt  über  die  bloße  Andeutung  ihres  Wunsches. 
Jetzt  in's  Cafü  Bauer,  —  sie  Beide  allein,  —  und  nach  dem,  was  eben 
vorgefallen  war,  nach  diesen  Eröffnungen,  die  von  fo  lebeneinschneidender 
Bedeutung  waren  — ?  Da  mußte  man  sich  denn  doch  wirklich  fragen, 
ob  man  recht  gehört  hatte;  das  war  in  jedein  Falle  ein  Zeichen  von 
Frivolität,  —  von  nichts  Andrem.  Wenn  Gerda  dazu  im  Stande 
war,  —  nun,  dann  erleichterte  sie  ihm  seinen  Entschluß  wenigstens,  der 
ja  wohl  ohnehin  hätte  seiner  Eigenwürde  halber  von  ihm  gefaßt  werden 
müssen! 

Sehr  verdrossen  schlugen  sie  Beide  den  Weg  in  die  stille  Charlotten- 
straße ein  und  standen  nach  wenigen  Mnuten  vor  Gerdas  Hause.  Sie 
hatten  kein  Wort  mehr  gewechselt.  Als  sie  sich  zum  Abschiede  die  Hand 
reichten,  kühl,  ohne  kräftigen  Druck,  stand  er  mit  dem  abgezogenen  Cylinder 
in  der  Linken  vor  ihr,  hoch,  steif,  gemessen,  wie  ein  fremder  Mann.  Und 


~2  Koniad  ll^elmann  in  Rom. 

da  sagte  sie,  —  noch  unter  der  zitternden  Nachwirkung  ihres  Aergers  und 
der  Enttäuschung  von  vorhin,  —  gewollt  hatte  sie  es  nicht,  und  kaum  daß 
sie  es  ausgesprochen,  bereute  sie  es  auch  schon  wieder:  —  „Ich  werde  Deine 
Entscheidung  dann  ja  wohl  erfahren,  wenn  Du  es  an  der  Zeit  hältst.  Triff 
sie  so,  wie  Du  sie  correct  findest!  Gute  Nacht!" 
Noch  nie  hatte  ihre  Stimme  so  hart  geklungen.  Und  ehe  er  noch  ein 
Wort  hätte  erwidern  können,  war  sie  im  Hause  verschwunden.  Nur  daß 
er  glühroth  im  Gesicht  geworden  war,  hatte  sie  noch  gesehn.  Beinahe  that 
er  ihr  leid.  Aber  vor  allen  Dingen  war  es  sehr  unvorsichtig  von  ihr 
gewesen,  das  Wort  zu  gebrauchen,  —  deswegen,  weil  es  ihn  beeinflussen,  ihn 
bestimmen  konnte.  Sie  wußte  ja,  daß  er,  wie  der  Schmetterling  unter  der 
Nadel,  beim  Anhören  dieses  Wortes  zuckte  und  zappelte.  Und  er  hatte 
sich  doch  frei  entscheiden  sollen,  absolut  frei,  damit  —  Von  solchen  Kleinig- 
keiten, von  solch'  einem  einzelnen  Wort  hing  manchmal  ein  Lebensschicksal 
ab.  Und  dann  war's  kein  Wunder,  wenn  die  Reue  darauf  folgte.  Nein, 
lieber  als  auf  solchem  Grunde  das  Glück  seines  Daseins  aufbauen  — 
Wenn  es  überhaupt  ein  Glück  war,  je  werden  konnte 
Während  Gerda  mit  solchen  Gedanken  die  Treppen  zu  ihrer  Wohnung 
hinaufstieg,  setzte  Herbert  Fürst  seinen  Heimweg  fort.  Er  mußte  die  Linden 
hinunter,  zum  Brandenburger  Thor  hinaus.  Er  ging  in  der  Mitte  des 
Weges,  zwischen  den  verstaubten  Bäumen,  unter  den  elektrischen  Glühlampen 
hin.  Noch  immer  glühte  sein  Gesicht.  Wie  ein  Peitschenschlag  hatte  das 
Wort  ihn  getroffen:  —  „wie  Du  sie  correct  findest!"  Teufel  auch!  Er  wollte 
ja  nicht  correct  sein,  darin  hatte  er  ein  Haar  gefunden,  und  Gerda  wußte 
das.  Correct!  Alles  Andere  eher,  als  das.  Wie  ein  freidenkender,  modern 
empfindender  Mensch  wollte,  mußte  er  entscheiden.  Natürlich,  das  war  er 
sich  und  seiner  neu  errungenen  Stellung  schuldig.  Aber  schließlich:  das  war 
eine  Frage  —  nicht  der  Moral  —  zum  Teufel  mit  der  Moral!  —  sondern 
der  Selbsteinschätzung.  Wenn  man  sich  doch  nun  einmal  für  zu  gut  hielt, 
um  der  „Nachfolger"  zu  sein,  wo  man  der  Erste  und  Einzige  sein  wollte, 
—  das  war  der  springende  Punkt,  ganz  allein  das.  Und  dann:  daß  sie 
ihn  getäuscht,  belogen  hatte  bis  heute  Abend!  Auf  so  Eine,  die  das  fertig 
brachte,  war  keinerlei  Verlaß,  jetzt  nicht  nnd  nie,  auf  so  Eine  brauchte  man 
keine  zarte  Rücksicht  zu  nehmen. 

Auch  eine  andere  Angst  war  noch  in  Herbert  lebendig.  Dieser  Eine, 
der  Gerda  einmal  besessen  hatte,  lebte  doch  wahrscheinlich  noch,  war  vielleicht 
sogar  hier  in  Berlin.  Wenn  der  nun  eines  Tages  in  einer  lustigen  Ge- 
sellschaft, am  Biertisch  —  wo  es  auch  war  —  mit  der  Faust  auf  den 
Tisch  schlug,  als  die  Rede  auf  die  schöne  Frau  Gerda  Fürst  gekommen 
war,  und  lachend  —  mit  jenein  Lachen,  das  Herbert  von  ähnlichen  Erleb- 
nissen her  nur  allzu  gut  kannte,  ausrief:  „Kinder,  ich  weiß  —  im  Ver- 
trauen gesagt:  ich  Hab'  sie  auch  'mal  gehabt,  ich  —  und  ich  war  der  Erste  — 
kann's  beschwören!"  Unmöglich,  unmöglich! 


In  der  Hochzeitsiiacht.  ~3 

Herbert  hatte  im  Weiterschreiten  die  Fäuste  geballt.  Das  thut  kein 
Ehrenmann,  natürlich  nicht.  Nlos  baß  manchmal  Einen  eine  weinselige 
Renommistenstimmung  dazu  hinreißt.  Und  dann:  war  er  denn  ein  Ehren- 
mann, der  Betreffende?  Wer  bürgte  Herbert  dafür?  Und  wenn  erst  ein- 
mal Einer  sich  gerühmt  hat,  glaubt  natürlich  alle  Welt,  es  wären  ihrer 
Mehrere  gewesen  und  der  jetzige  Ehemann  nur  gerade  der  Letzte,  der  das 
Dutzend  voll  macht.  Pfui  Teufel!  Aber  dem  trete  einmal  Einer  entgegen! 
Womit  denn?  Wie  denn  solch'  einem  ekelhaften,  niederträchtigen  Gerücht 
das  Lebenslicht  ausblasen?  Durch  eine  Herausforderung?  Da  konnte 
man  sein  halbes  Leben  mit  Duellen  verbringen.  Und  daß  so  ein  Duell  mit 
seinem  Zufallsausgaug  überhaupt  garnichts  bewies,  soviel  wußte  er  doch 
nun  mich  schon;  auf  dem  Standpunkt  befand  er  sich  seit  Langem.  Also  — 
Nun,  zum  Henker,  man  durfte  es  ebeu  nicht  darauf  ankommen  lassen. 
Es  gab  da  keinen  Ausweg.  Herbert  Fürst  durfte  keine  bemakelte  Frau 
haben,  —  um  seiner  selbst  willen  nicht  und  um  der  Anderen  willen  nicht, 
denen  er  keinen  Vorwand  für  ihr  geiferndes  Gezüngel  bieten  durfte.  Dabei 
blieb  er  stehen,  darüber  kam  er  nicht  hinweg,  —  mit  all'  feinem  Sinniren, 
mit  all'  seinen,  Getüftel  nicht.  Mit  einem  großen,  männlichen  Entschluß 
sich  freimachen,  —  weiter  blieb  Nichts.  Das  war  er  sich  selber  schuldig. 
Und  wer  es  gut  mit  ihm  meinte,  mußte  ihm  Veifall  zollen.  Nur  daß 
er  über  die  Gründe  dieses  Auseinandergehns  nie  würde  sprechen  dürfen. 
Und  daß  die,  welche  ihm  Veifall  zollten,  es  vermuthlich  thun  würden, 
weil  sie  überhaupt  —  in  Unkeimtniß  der  Sachlage  —  annahmen,  er 
sei  sich  über  die  Unmöglichkeit  einer  Verbindung  mit  einer  Komödiantin 
klar  geworden,  denn  solche  Verbindung  sei  nun  einmal  ein  Ding  der  Un- 
möglichkeit für  einen  correcten  Menschen.  Puh!  Dumm!  Das  wollte  er 
nicht,  gerade  das  nicht. 

Er  hatte  inzwischen  seine  Wohnung  draußen  in  der  Koniggrätzer- 
straße  erreicht,  in  einem  großen,  vornehmen  Hause,  eine  Treppe  hoch,  — 
ein  paar  Zimmer  mit  allein  moderneu  Lomfort,  üppig,  von  peinlicher 
Sauberkeit  der  Einrichtung,  fast  ein  bischen  weibisch-lururiös.  Gerda  hatte 
das  wenigstens  gefunden,  als  sie  hier  gewesen,  —  zum  ersten  und  letzten 
Mal  uud  natürlich  i»  Begleitung  der  Tante.  Es  roch  sogar  etwas  nach 
Veilchenparfüm  in  den  Zimmern,  gerade  wie  sein  Taschentuch  und  die 
Seidenaufschläge  seines  Ueberrocks.  Herbert  kleidete  sich  aus  und  legte  sich 
zu  Bett.  Es  war  ein  weiches,  breites  Nett  mit  schwellenden  Federkissen, 
und  er  schlief  sonst  immer  sehr  gut  darin,  —  fast  mit  dem  Glockenschlage, 
von  Mitternacht  bis  sieben  Uhr  Morgens  ohne  jede  Unterbrechung.  Nur 
seltene  Ausnahmen  kamen  dabei  vor.  Heute  konnte  er  durchaus  nicht  ein- 
schlafen. Alles  störte  ihn.  Das  Geklingel  der  Pferdebahn  draußen  wollte 
gar  kein  Ende  nehmen,  —  und  diese  ewigen  Wagen,  die  da  vorbeirollten 
—  und  im  Zimmer  über  ihm  wurde  Clauier  gespielt.  Und  zu  alledem, 
noch  irgendwo  ein  bellender  Hund.  Erwürgen  hält'  er  ihn  mögen.  Hunde 


IH  Aonrad  Telmann  in  Rom. 

konnte  er  überhaupt  nicht  ausstehen;  es  war  einer  seiner  Streitpunkte  mit 
Gerda,  die  für  Hunde  schwärmte  und  durchaus  von  ihm  verlangte,  er  sollte 
sich  eine  große  Ulmer  Dogge  anschaffen.  Das  hätf  ihm  gefehlt!  Ein  großer 
Hund  in  einer  geordneten  Berliner  Stadtwohnuug,  wo  er  Alles  umstieß, 
verunreinigte,  verdarb,  die  besten  Freunde  mit  wüthendem  Gekläff  anfuhr, 
—  alle  paar  Tage  ein  Schmerzensgeld  an  einen  gebissenen  Bettler,  ein 
ewiges  Gejage  hinter  ihm  drein,  Scherereien  mit  der  Polizei,  mit  den 
Nachbarn  —  Aber  Gerda  hatte  gesagt:  „Sonst  heirath'  ich  Dich  nicht!" 
Wie  dumm!  Weshalb  ihm  das  jetzt  wohl  Alles  kam?  Es  war  ja  sowieso 
zu  Ende  —  mußte  zu  Ende  sein  — 

Ruhelos  wälzte  sich  Herbert  in  seinen  Kissen  hin  und  her.  Er  er- 
bitterte sich  immer  mehr  gegen  Gerda,  je  weiter  die  Nacht  vorrückte.  Daß 
sie  ihm  diese  Schmach  angethan  hatte!  Daß  ihn  dieser  Keulenschlag  heute 
hatte  treffen  müssen!  Möglich,  daß  sie  entschuldbar,  —  in  höherem  Sinne 
sogar  unschuldig  war,  er  wollt'  es  ja  gern  glauben;  aber  daß  sie  seine 
Werbung  angenommen,  ohne  ihm  ihren  moralischen  Defect  einzugestehen, 
daß  sie  ihn  bis  heute  verschwiegen  hatte,  —  das  war  unverzeihlich,  dafür  gab 
es  keinen  Schatten  einer  Rechtfertigung.  Sie  hatte  ihn  doch  wohl  erst  sicher 
machen  wollen,  —  offenbar  nichts  Anderes;  sie  hatte  ihn  erst  so  fest  an  sich 
ketten  wollen,  daß  er  nicht  mehr  zurückkonnte,  daß  er  einen  Theil  seines 
Lebens  dabei  einbüßte,  wenn  er  es  that.  Schmähliche  Berechnung  war  es 
gewesen.  Eingefangen  sollt'  er  erst  sein  und  dann  nicht  mehr  zurückkönnen. 
Gerade  das  empörte  ihn  am  allermeisten.  So  handelte  eine  raffinirte 
Kokette,  eine  fchlaue,  überschlaue  Komödiautin.  Ein  paar  Wochen  vor  der 
Hochzeit!  Denn  jeden  Tag  konnten  ja  nun  doch  diese  dummen,  so  schwer 
zu  beschaffenden  Papiere  aus  ihrem  böhmischen  Heimatsort  endlich  eintreffen, 
und  dann  konnte  das  Aufgebot  sofort  bestellt  werdeu.  Hätte  bestellt  werden 
können.  Und  deshalb  war's  ihr  endlich  an  der  Zeit  erschienen,  den  Mund 
aufzuthun.  Nur  weil  es  sonst  zu  spät  wurde,  weil  es  sonst  einen  bösen 
Krach  hätte  geben  müssen,  wenn  er  selbst  erst  —  den  Teufel  auch!  Wer 
ein  Mädchen  heirathet,  nimmt  sie  doch  in  dem  felsenfesten  Glauben  hin, 
wirklich  ein  Mädchen  zu  bekommen,  und  nicht  — 
Nun,  sie  sollte  sich  in  ihren  feinen  Berechnungen  denn  doch  getäuscht 
haben.  Die  Schlingen,  in  denen  sie  ihn  hielt,  waren  noch  keineswegs  sc» 
fest  geknüpft,  daß  es  kein  Entrinnen  mehr  daraus  gegeben  hätte.  Oho, 
nein!  Und  wenn  selbst  ein  Theil  seines  besten  Seins  dabei  zu  Grunde 
ging,  während  er  sich  freimachte  —  Besser,  ein  Stück  Lebensglück,  Hoffnung 
und  Illusion  aufopfern,  als  seine  Ehre.  Die  Ehre  muhte  gewahrt  werben 
um  jeden  Preis,  auch  um  den  höchsten  und  äußersten. 
Dieser  Schlußgedanke  gab  Herbert  eine  gewisse  Ruhe  zurück.  Seine 
Mannesehre  verlangte  die  Trennung  von  dieser  Frau,  die  nicht  mehr  rein 
war  und  die  ihn  hintergangen  hatte.  Damit  fertig;  darüber  hinaus  gab 
es  'Nichts  mehr  zu  klügeln.  Uni  feiner  Ehre  willen  muhte  er  entsagen  und 


In  der  Hochzeitsnachl.  ~5 

leiden;  das  war  Menschenloos,  und  es  war  eines  Mannes  würdig,  so  zu 
handeln.  Mit  diesen»  Bewußtsein  versuchte  er  gestärkt  einzuschlafen,  nachdem 
es  endlich  ganz  still  drallsten  und  im  Hanse  gewordeil  war,  und  es  gelang 
ihm  nach  einiger  Zeit  auch  wirklich.  — 

Am  anderen  Morgen  fühlte  er  sich  zwar  weniger  frisch,  als  sonst,  aber 
im  Uebrigen  war  er  ganz  ruhig.  Die  Trennung  mußte  vor  sich  gehen, 
daran  war  kein  Zweifel  mehr.  Er  hätte  Gerda  gleich  jetzt  den  Abschieds- 
brief schreiben  köunen,  aber  es  sollte  nicht  den  Anschein  haben,  als  ob  er 
sich  übereilte.  Morgen  war  ja  auch  noch  Zeit  genug.  Er  kleidete  sich  mit 
der  gewohnten,  umständlichen  Peinlichkeit  an,  frühstückte,  las  die  Zeitungen, 
—  Alles  genau,  wie  fönst.  Alles  ganz  nach  dem  Schnürchen,  Und  dann 
wollte  er  arbeiten.  „In  diesen  Stunden  pflege  ich  zu  dichten,"  hatte  Gerda 
in  ihrem  übermüthigen  Spott  von  feinen  Vormittagen  gefügt.  Nun, 
fchliesilich  muht'  es  doch  auch  in  diesen  Dingen  eine  gewisse  Regelmäßigkeit 
geben,  Schriftsteller  fein  hieß  doch  noch  lauge  nicht  Faulenzer  fein.  Im 
Gegentheil.  Die  Ungebundenheit  mußte  doch  auch  ihre  Grenzen  haben,  es 
war  doch  immer  noch  ein  gewaltiger  Unterschied  zwischen  einem  geregelten 
Lebenswandel  und  einer  steifleinenen,  pedantischen  Correctheit,  wie  sie  in 
der  Sphäre  heinlisch  war,  aus  der  er  hervorgegangen  — 
Eorrectheit!  Da  war  das  widerwärlige  Wort  schon  wieder,  mit  dem 
Gerda  ihn  gesteril  Abend  entlassen  hatte  und  das  immer  wie  ein  Peitschen- 
schlag auf  ihn  wirkte.  Eorrect!  Eorrect  wollt  er  garnicht  handeln.  Jetzt 
nicht  und  nie.  Aber  schließlich:  wenn  es  die  Ehre  gebot  — 
Er  setzte  sich  au  seinen  Schreibtisch.  Alles  lag  und  stand  hier,  wie 
er  es  brauchte.  Eine  vortreffliche  Feder,  kein  Härchen  in  der  Tinte  — 
Er  überlas  die  letzten  Manuscriptseiten.  „Zerrissene  Fesseln,"  sollte  der 
Roman  heißeil.  Und  hier  stand:  „Wenn  er  das  that,  was  in  seinen 
Kreisen  vernehmt  und  unmöglich  gewesen  wäre,  so  wußte  er  jedesmal  ganz 
genau,  daß  dies  in  seiner  jetzigen  Lage  und  wenn  er  sich  wirklich  —  auch 
innerlich  —  freimachen  wollte,  gerade  das  Richtige  und  das  einzig  Gebotene 
war,  das,  wozu  sein  Herz  seine  Zustimmung  gab."  —  Das  hatte  er  gestern 
geschrieben,  bevor  Gerda  ihm  —  Seltsam!  Und  da  sollte  er  nun  heute 
wieder  anknüpfen.  Rein,  das  konnte  er  nicht,  Iwifchen  gestern  und  heute 
lag  für  ihn  ein  Abgrund.  Schließlich  war  der  Schriftsteller  doch  auch  nur 
ein  Mensch.  Er  strich  den  Satz  aus,  mehrmals  hintereinander,  mit  dicken 
Federstrichen.  Aber  die  ganze  Geschichte  war  schließlich  ans  diese  Sentenz 
angelegt,  die  ganze  Geschichte  sollte  im  Grunde  Richts  weiter  besagen. 
Ein  Theil  seiner  eigenen  Lebensgeschichte,  —  zurecht  gestutzt,  verbrämt,  ans 
andere  Verhältnisse,  in  eine  andere  Weltgegend  übertragen,  —  wie  man  das 
denn  so  macht.  Und  nuu  —  es  war  dumm.  Er  wußte  durchaus  nicht 
weiter.  Schlechterdings  mußte  man  doch  Ausnahmen  von  jener  Regel 
constatiren;  in  solcher  Mgemeinheit,  mit  solchem  Anspruch  auf  Willigkeit 
war  sie  absurd.  Wo  die  Ehre  in's  Spiel  kam  —  Das  Ganze  war  über- 
Nold  >,nl>  2iid,  I.XXV.  223.  2 


~6  Ronrad  Telmann  in  Rom.  

Haupt  Nichts,  als  eine  sehr  natürliche  Neactiou,  die  nun  natürlich  auch 
wieder  über's  Ziel  hinausschoß  und  in's  Ertrem  verfiel.  In  der  Mitte  lag, 
wie  immer,  die  Wahrheit. 

Er  wollte  weiterschreiben.  Nein,  das  ging  auch  wieder  nicht,  das  mit 
der  goldenen  Mitte,  Es  'war  gar  zu  abgedroschen,  und  gerade  gegen  die 
gedankenlosen  Dnrchschniltsanschauuugen  der  „Mitte"  sollte  sich  das  Buch 
ja  in  erster  Linie  lichten.  Er  schob  die  Blätter  fort,  er  stand  ans.  Ganz 
heiß  war  er  geworden,  die  Haare  klebten  ihm  an  den  Schläfen.  Diese 
erbärmliche  Geschichte!  Daß  die  nnn  auch  in  seine  Arbeit  eingriff,  über- 
stieg doch  alle  Begriffe.  Herbert  war  müthend.  Nun  konnte  er  den  ganzen 
Pack  Blätter  da  nur  zerreißen,  nun  war  das  Alles  umsonst  geschrieben 
worden.  Denn  in's  Gesicht  schlagen  tonnt'  er  sich  doch  nicht  geradezu;  wie 
man  schrieb,  so  mußte  man  doch  auch  leben,  im  Leben  handeln.  Und  nach 
seinen  papiernen  Tendenzen  da  hätte  er  also  jetzt  Gerda  heirathen  müssen, 
gerade  weil  in  seinen  Kreisen  Jedermann  ohne  Unterschied  das  für  unmöglich 
erklärt  haben  würde,  gerade  deshalb.  Weil  es  nicht  correct  war! 
Er  ging  mit  großen  Schritten  im  Zinnner  hin  lind  her.  Alles  in  ihm 
war  in  Aufruhr.  Wenn  er  sich  nur  irgendwo  hätte  Nath  einholen  können! 
Aber  wie  ging  das  denn  an?  Wer  kann  denn  von  so  Etwas  auch  nur 
andeutungsweise  mit  einem  Andern  reden?  Uebrigens:  was  hätte  man 
ihm  auch  rathen  sollen?  Solche  Dinge  muß  Jeder  mit  sich  selbst  im  stillen 
Kämmerlein  abmachen  und  nach  seiner  eigensten  Natur  entscheiden,  Jeder 
wird  zu  einem  anderen  Resultat  dabei  kommen.  Seiner  Natur  —  darüber 
war  er  garnicht  mehr  im  Zweifel  —  widerstrebte  es,  Gerda  jetzt  noch  zu 
seinem  Weibe  zu  machen.  Es  fragte  sich  eben  nur,  ob  er  seine  Natur 
nicht  bekämpfen,  nicht  niederzwingen  mußte  wegen  —  nun,  wie  sollte 
man  es  gleich  nennen?  —  wegen  höherer  Interessen,  —  um  sich  als 
wahrhaft  freier  Menfch  zu  zeigen,  —  um  zu  beweisen,  daß  die  früheren 
Fesseln  seiner  Anschauungen,  Empfindungen,  Vorurtheile  wirklich  und  end- 
giltig  zemssen  waren.  Das  war's:  ein  Kampf,  eine  Feuerprobe.  Er  mußte 
da  durch,  um  sich  als  der  neue  Mensch  zu  legitimireu,  der  er  ja  sein 
wollte.  Und  wenn  das  ein  Stück  von  seinen»  innersten  Selbst  kostete,  — 
und  das  würde  es  ja,  —  wenn  er  unter  diesen  Kämpfen  und  Qualen  so 
schwer  zu  leiden  hatte,  daß  er  schier  zusammenzubrechen  drohte:  es  half 
Nichts,  es  mußte  fein.  Er  batte  dann  definitiv  bewiesen,  daß  er  wirklich 
kein  correcter  Mensch  war.  ?ies  Incr  war  eine  Lebensfrage,  eine  Lebens- 
entscheid«»«/. 

Herbert  duldete  es  nicht  mehr  im  Zimmer.  Es  war  ihm  zu  eug  hier. 

Er  mußte  weite  Horizonte  um  sich  haben,  der  Lärm  des  brandenden  Lebens 

mußte  ihn  iimballen.  Er  hatte  die  Empfindung,  als  ob  es  ihm  am 

wohlsten  sein  würde,  wenn  er  jetzt  seine  Ellenbogen  gebrauchen  uud  mit 

kräftigen  Armen  eine  sich  gegen  ihn  andrängende  Menge  gewaltsam  zertheilen 

könnte.  Er  sehnte  sich  nach  Kampf,  nach  einer  Betätigung  feiner  Muskel- 


)>i  der  Hochzeitsnacht.  ~? 

kräfte.  Alles  in  ihin  war  in  Bewegung,  es  stürmte  in  seiner  Seele.  Wie 
ein  Erstickender  fühlte  er  sich  stellenweise.  Ein  Heiher  Groll  gegen  Gerda 
brannte  in  ihm.  Wenn  er  sie  jetzt  hier  vor  sich  gesehn  hätte,  er  wäre  mit 
geballten  Fäusten  vielleicht  auf  sie  losgegangen,  er  hätte  ihr  Worte  zuge- 
schrieeu  in  seiner  allmählich  sich  steigernden  Erhitzung,  die  wild  und  brutal 
gewesen  sein  würden.  Er  sagte  sich  in  dieser  Stunde,  daß  er  sie  hasse. 
Weshalb  zwang  sie  ihn  in  dies  Alles  hinein,  ~  in  diesen  Kampf,  diese 
Selbstguälerei,  dies  häßliche  Zerwühlen  und  Zermartern  seines  Innern? 
Er  mochte  das  nicht,  ihm  war  all'  das  noch  tausendmal  widriger  und  pein- 
voller, als  jedeni  Anderen.  Es  paßte  so  garnicht  zu  ihm,  brachte  ihn  mit 
sich  selber  in  schreienden  Gegensatz.  Er  war  ein  Mann  der  Ruhe,  der 
Ordnung,  der  stillen  Arbeit.  Ihm  that  man  Schwereres  an,  als  irgend 
Einem  sonst,  mit  alledem.  Wenn  er  da  nur  erst  wieder  heraus,  damit 
nur  erst  fertig  gewesen  wäre! 

Er  hatte  seinen  Hut  aufgestülpt  und  war  in's  Freie  gelaufen.  Er 
wußte  nicht,  wohin  er  follte.  Der  Tag  war  strahlend  schön,  er  stand  in 
so  schroffem  Gegensatz  zu  Herbert's  Verstörtheit,  daß  ihm  diese  leuchtende 
Sommerherrlichkeit  förmlich  einen  körperlichen  Schmerz  verursachte.  Es 
hätte  lieber  stürmen  uud  regnen  sollen.  Was  sing  er  mit  diesen«  Tage 
jetzt  an?  Eine  Secunde  lang  durchschoß  ihn  der  Gedanke,  zu  Gerda  zu 
gehe»  und  sie  zu  einer  Fahrt  nach  Wannsee  abzuholen.  Dann  schämte  er 
sich  seiner  Regung.  Wie  er  doch  schon  an  sie  gewöhnt  war!  Es  würde 
Mühe  kosten,  sich  von  ihr  loszureißen,  —  es  hätte  Mühe  gekostet!  Wenn 
er  freilich  nun  entschieden  war,  eingesehen  hatte,  daß  er  doch  nicht  anders 
konnte,  als  sie  heirathen  —  Nein,  auch  dann  nicht.  Zappeln  lassen  wollt' 
er  sie  doch  in  jedem  Falle  eine  Zeit  lang.  Wie  sie  sich  jetzt  wohl  härmen, 
bangen  und  ängstigen  würde!  Mit  welcher  Sorge  sie  seiner  Entscheidung 
entgegensehn  mochte!  Denn  sie  war  ja  wirklich  sehr  verliebt  in  ihn,  und 
die  drohende  Möglichkeit,  ihn  in  letzter  Stunde  nun  doch  noch  zu  verlieren, 
mußte  ihr  furchtbar  sein.  Wahrscheinlich  hatte  sie  ja  doch  auch  deswegen 
allein  ihr  verhängnißvolles  Bekenntnis;  immer  weiter  und  weiter  hinaus- 
geschoben; sie  hatte  ihn  nicht  verlieren  wolle».  Nun,  Herbert  Fürsts 
Gattin  zu  werden,  —  es  begriff  sich,  das  war  nichts  Kleines.  Aber  büßen 
mußte  sie  ihre  Unaufrichtigkeit  doch.  Nicht  heute  und  nicht  morgen  würde 
er  ihr  Botschaft  senden,  das  stand  bei  ihm  fest.  Bis  an  den  Rand 
der  Verzweiflung  wollt'  er  sie  erst  gelangen  lassen,  diese  Genugthuung 
wenigstens  dürft'  er  sich  gönnen.  Wenn  er  alle  diese  inneren  Qualen  zu 
durchleiden  hatte  und  so  ganz  aus  dem  Gleichgewicht  geschleudert  wurde, 
weshalb  follte  sie  frei  ausgehen,  fie,  die  doch  an  all'  diesem  Abscheulichen 
die  Schuld  trug? 

Herbert  war  am  Raud  des  Thiergartens  hingeschlendert  und  sah  sich 
jetzt  mitten  im  wirren  Getriebe  des  Leipziger  Platzes,  Als  er  bei  lostn 
vorüber  wollte,  rief  man  ihn  an.  Kuno  Barrenholz,  —  wahrhaftig.  Da 

2* 


~8  Aonrad  Telmann  in  Rom. 

saß  er  an  eine!»  der  Tische  im  Vorgarten,  vier,  fünf  Zeitungen  um  sich, 
die  Beine  lang  ausgestreckt,  ein  halb  leeres  Glas  Madeira  und  ein  paar 
Pastetchen  vor  sich,  an  die  er  sich  gerade  machte.  Herbert  ging  hinein 
und  setzte  sich  zu  ihm.  „Was  treiben  Sie  denn  hier?  Zeitungen 
lesen?  Vormittags?  Ist  das  auch  eine  Beschäftigung,  eines  Schriftstellers 
würdig?" 

Kuno  Varrenholz  drehte  seinen  schwarzen  Spitzbart  und  zwinkerte 
durch  seinen  Kneifer.  „Großstadtstudien  machen,"  brummte  er.  „Famoser 
Obseroationsposten  hier.  Na  und  Sie—  Arbeitsthier?  Wohin  des  Weges? 
Stelldichein  mit  Feinsliebchen?" 

Herbert  wurde  etwas  verlegen,  „~ffen  gestanden,  —  ich  bin  sc» 
auf's  Gerathewohl  in  die  Welt  gelaufen.  Es  wollte  mit  der  Arbeit  heut 
nicht  so  recht  flecken." 

„Kenne  ich,"  meinte  der  Andere,  behaglich  kauend.  „Fleckt  bei  mir 
fast  nie.  Prosit!" 

„Ein  schwieriges  Probten»,  wissen  Sie.  Ta  muß  man  sich  Zeit  lassen, 
innerlich  ruhiger  und  reifer  werden.  Sonst  ist's  ja  doch  nur  Pfuscherei." 
Hm,"  machte  der  Schwarze.  „Ganz  mein  Fall.  Uebrigens  — " 
Er  schlürfte  sein  Glas  langsam  leer.  „Interessanter  Stoff?  Was?  Er- 
zählen Sie  doch  'mal!"  Als  Herbert  zögerte,  fügte  er  verächtlich  bei: 
„Na,  Sie  glauben  wahrscheinlich,  ich  könnt'  Ihnen  die  Geschichte  wegkapern? 
Nicht?  Na,  haben  Sie  man  blos  keene  Angst!  Ich  habe  mehr  Stoffe 
vorräthig,  als  Haare  aufm  Kopf.  Ich  könnt'  Ihnen  im  Gegentheil  vielleicht 
doch  'n  guten  Nath  geben.  In:  Aussprechen  wird  man  sich  oft  erst  klar 
über  das,  was  man  will  und  soll." 

Herbert  lächelte  halb  verlegen.  Er  wußte  sehr  gut,  daß  Kuno  Var- 
renholz dafür  berühmt  war,  die  „Collegen"  nach  ihren  neuen  Stoffen  auf- 
zuhorchen, und  diese  dann,  wenn  sie  „ihm  lagen",  in  Schnellarbeit  vorweg 
zu  Verwertheu.  Kein  Mensch  wollte  ihm  deshalb  mehr  Etwas  erzählen,  und 
seitdem  schrieb  er  fast  Nichts  mehr.  Sein  Hauptaugenmerk  richtete  er  auf 
Neulinge  im  Fach.  Plötzlich  siel  Herbert  Etwas  ein.  Er  erzählte  Kmw 
Varrenholz  nicht  seinen  Roman,  den  er  in  Arbeit  hatte,  sondern  seinen 
eigenen  Fall,  wie  wenn  es  sich  da  um  einen  Romanstoff  handelte,  — 
natürlich  nur  in  ganz  allgemeinen  Umrissen,  unter  veränderten  Verhältnissen 
und  nur  im  Hinblick  auf  die  eine,  ausschlaggebende  Frage:  Tarf  ein 
Mann  unter  solchen  Umständen  seine  Braut  noch  zu  seiner  Frau  machen? 
Es  war  doch  immerhin  höchst  interessant,  wie  ein  moderner  Romancier 
—  denn  das  war  Kuno  Varrenholz  und  gar  kein  uubedeutender,  im  Gegen- 
theil: einsehr  scharfer,  logisch  analpsirender,  durch  und  durch  von  moderner 
Empfindungsweise  durchträukter  —  über  die  Sache  von  seinem  Stand- 
punkt aus  urtheilte.  Es  mußte  ihn,  einen  sehr  deutlichen  Fingerzeig  geben. 
Anfangs  hörte  der  Schwarze  sichtlich  mit  gespannter  Aufmel-ksamteit 
zu.  Nach  einiger  Zeit  aber  zeigte  sich  ein  geringschätziges  Lächeln  auf  seinen 


In  der  Hochzeitsnacht.  ~9 

Lippen.  Und  schließlich  unterbrach  er  Herbert  mit  einer  abwinkenden 
Handbewegung.  „Aber  lieber  Herr,  das  ist  doch  kein  modernes  Problem. 
Seien  Sie  gut!" 

Herbett  war  sehr  verblüfft,  „Erlauben  Sie  'mal!  Line  so  ernste 
Sache  -" 

„Ach,  gehen  Sie  doch!  Solche  abgeklapperte  Geschichte!  Ueber  so 
'was  zerbricht  man  sich  die  Köpfe  heutzutage  nicht  mehr.  Ne,  ne,  das  ist 
abgethan;  das  ist  überhaupt  kein  modernes  Problem.  Damit  locken  Tic 
keinen  Hund  vom  Ofen.  Antiguirte  Sache." 

Herbert  wußte  nicht  mehr,  was  er  sagen  sollte,  er  war  sehr  kleinlaut. 
„So  'was  kommt  aber  doch  vor,"  sagte  er  verschüchtert.  „Heute  auch  noch." 
„Na!"  Der  Andre  lachte.  „Das  versteht  sich.  Erst  recht.  Aber 
da  nun  längst  feststeht,  wie  ein  modern  denkender  Mensch  so  'was  auf- 
nimmt, ist  das  eben  kein  Problem  mehr,  sondern  'n  ganz  vulgärer  Durch- 
schnittsfall." 

„So!"  Herbert  warf  dem  Sprecher  einen  schrägen  Blick  zu.  „Nun, 
ich  weiß  doch  nicht  recht  —  Mein  Held  befindet  sich  gerade  im  höchsten 
Zweifelsstadium.  Aber  er  wird  wohl  schließlich  doch  alle  Bedenken  über- 
winden nnd  trotz  alledem  und  alledem  — " 
„Natürlich  wird  er."  Kuno  Varrenholz  brannte  sich  eine  Cigarrette 
an.  „Wenn  er  'n  moderner  Mensch  ist,  wohlverstanden.  Denn  sie  könnten 
ja  auch  'n  Waschlappen  und  gedankenlosen  Jämmerling  schildern  wollen. 
Sonst  aber  wird  er  sagen,  daß  solch'  Mädel  mit  'm  sogenannten  sittlichen 
Defect  für  einen  denkenden  Menschen  ganz  genau  dasselbe  ist,  wie  'ne 
Witlwe  oder  'ne  geschiedene  Frau.  Hat  er  gegen  so  Eine  keinen  D^gout, 
kann  er  auch  hier  seine  moralischen  Bedenken  nur  getrost  zu  Hause  lassen. 
Oder  stehen  Sie  etwa  auf  dein  Standpunkt  von  Standesamt  und 
Kirche?  Das  ist  ja  freilich  ganz  correct  nach  'm  alten  Stiefel,  aber  für'n 
tlartopfigen  Menschen  wird  so  'was  niit  oder  ohne  staatliche  Sanction  nicht 
besser  und  nicht  schlechter.  Im  Gegentheil:  so'  was  ans  Liebe  zu  thun 
ohne  standesamtliche  Registratur  ist  jedenfalls  viel  moralischer,  als  ohne 
Liebe,  mit  hoher,  obrigkeitlicher  Erlaubniß.  Woraus  zn  folgern  ist  — 
Donnerwetter!  Sie  sind  ja  ganz  roth  geworden,  College.  Ich  sag'  Ihnen 
da  doch  hoffentlich  nichts  Neues?" 

„Nein,  nein,"  machte  Herbert  gedehnt  und  versuchte,  überlegen  zu 
lächeln.  „Natürlich  nicht.  Alter  Kram.  Standesamt  und  Kirche  können 
keine  Ehe  sittlich  machen,  die  Hauptsache  muß  da  noch  erst  hinzukommen. 
Und  andererseits  kann  auch  ohne  Ehe  —  Ja,  es  kommt  immer  auf  den 
Einzelfall  an.  Aber  natürlich:  ein  Problein  liegt  da  nicht  vor,  —  von 
einem  modernen  Problem  kann  gar  keine  Rede  sein.  Ich  dank'  Ihnen, 
lieber  Varrenbolz.  Wissen  Sie,  wenn  man  seinen  Kopf  so  mitten  in  die 
Arbeit  hineinsteckt  und  löffelt  und  löffelt  immerfort  daran  herum,  verliert 
man  schließlich  ganz  den  freien  Blick  über  den  eigentlichen  Kernpunkt  der 


20  iloniad  Telmann  in  Rom. 

Sache,  Und  meistens  ist  der  so  einfach,  —  so  spotteinfach.  Es  ist  die 
Geschichte  von  dem  Walde,  den  man  vor  lauter  Bäumen  nicht  sieht." 
„Ja,  wenn  Sie  weiter  Nichts  vorhaben  — "  Varrenholz  blies  kleine, 
blau-graue  Ringelchen  in  die  Luft.  „Den  Roman  würd'  ich  ungeschrieben 
lassen.  Der  kommt  um  ein  viertel  Säculum  zu  spät.  Aber  sonst  vielleicht 
'was  auf  Lager?  Hm?" 

„Leider  nein.  Garnichts."  Herbert  stand  auf.  „Ich  dank  Ihnen 
nochmals.  Ich  hält'  da  leicht  einen  taux  p»3  machen  tonnen.  Adieu." 
„Sie  wollen  schon  fort?" 

„Eine  Verabredung,  ja.  Sie  wissen  ja:  ein  Verlobter  Mann,  — 
Weiberdienst  geht  da  vor  Herrendienst." 
„Ja,  richtig.  Und  heirathen  bald?" 

„In  allerkürzester  Zeit.  Auf  Wiedersehn!"  Er  winkte  lächelnd  mit 
der  Hand  uud  ging. 

Als  er  auf's  Gemthewohl  die  Potsdamer  Straße  hinunterschlenderte, 

—  wohin  er  nnn  sollte,  wüßt'  er  garnicht,  nur  allein  hatt'  er  sein  wollen, 

—  sagte  er  tonlos  zweimal  vor  sich  hin:  —  „wie  'ne  Wittwe  oder  'ne 
geschiedene  Frau  — "  Mit  einem  Mal  hatte  er  das  erlösende  Wort. 

Dieser  Varrenholz  war  im  Grunde  ein  ausgesprochener  Lump,  aber  Herbert 
hätte  ihm  von  Rechtswegen  um  den  Hals  fallen  follen. 
Dreimal  vierundzwanzig  Stunden  waren  nun  vergangen  feit  dem  Abend 
im  Ausstellungspark,  und  Gerda  Lindheim  hatte  noch  immer  keine  Nachricht 
von  Herbert  erhalten.  Sie  sollte  eben  „zappeln".  Herbert  überlegte  gar 
nicht,  daß  sie  ans  dieser  langen,  über  die  Verabredung  ausgedehnten  Bedenk- 
zeit nur  einen  Schluß  auf  seine  haltlose  Unentschlossenheit  ziehen  konnte,  der 
keineswegs  günstig  auf  ihr  Gesammturtheil  über  seinen  Charakter  wirken 
mußte.  Er  wollte  sie  um  keinen  Preis  merken  lassen,  daß  er  längst  ent- 
schieden war,  noch  weniger  natürlich,  wer  und  was  eigentlich  den  Ausschlag 
gegeben  hatte.  Sie  sollte  nicht  denken,  daß  er  die  Sache  leicht  nahm  und 
rasch  damit  fertig  war.  In  Wahrheit  war  dies  auch  gar  nicht  der  Fall.  Er 
hatte  im  Gegentheil  unabläfsig  weiter  daran  zu  schlucken  und  zu  würgen.  Trotz 
Allem  und  Allem  wollte  es  ihm  gar  nicht  eingehen,  daß  seine  Braut 
Was  nützten  ihm  da  alle  anderen  Schlagworte  und  brüchigen  Sophiste- 
reien? Natürlich,  ja,  man  mußte  sich  nicht  d'ran  kehren,  man  mußte  als 
moderner  Mensch  die  Sache  vom  modernen  Standpunkt  aus  betrachten,  und 
er  vor  Allem  —  gerade  er  —  durfte  nicht  „correct",  „nach'm  alten  Stiefel" 
sich  resoluiren.  Alles  gut  und  schön.  Und  es  lebte  auch  wirklich  kein 
Zweifel  mehr  in  ihm.  Aber  eine  abscheuliche  Sache  blieb  es  deshalb  doch. 
Erst  das  Factum  selbst  und  dann  ihre  Verheimlichung  —  Pfui,  nein,  das 
verwand  sich  nicht  so  leicht.  Innerlich  gewiß  nicht,  wenn  man  auch  äußer- 
lich thun  mußte,  als  hätte  das  Alles  nicht  viel  zu  sagen.  Wer  konnte  gegen 


I»  der  H«chzei!«nacht.  2~ 

seine  )latur?  Der  Grimin  und  Groll  über  das  Geschehene  blieb  bestehen, 
der  lies;  sich  nicht  ausrotten,  der  fraß  innerlich  immer  weiter.  Verbergen 
konnte  man  ihn,  aber  besiegen,  verscheuchen,  —  nein,  unmöglich.  Das 
war  nun  einmal,  wie  es  war. 

Mit  der  Zeit  begann  Herbert  sich  auf  seine  Selbstüberwindung  immer 
mehr  einzubilden.  Er  sonnte  sich  förmlich  darin.  Es  war  doch  wirklich 
etwas  Großes,  was  er  that,  hier  klaglos  und  vorwurfslos  zu  verzeihen. 
Nicht  Jeder  hätte  es  ihm  nachgemacht.  Aus  seinen  Kreisen  —  den  ursprüng- 
lichen Kreisen  —  nun  sicherlich  schon  Niemand.  Ja,  er  war  eben  ein 
freier  Mensch,  er  hatte  sich  losgemacht  von  allem  Eonventionellen,  er  gewiß, 
—  so  schwer  das  gerade  ihn«  geworden  war/  Es  war  nicht  abgegangen 
ohne  viel  Weh  und  Herzeleid.  Aber  nun  hatte  er  auch  wirklich  Grund,  mit 
sich  zufrieden,  ans  sich  stolz  zu  sein.  Einer  von  jenen  modernen  Märtyrern 
war  er,  die  die  Zeit  gebar  und  die  an  der  Wende  eines  neuen  Zeitalters 
standen,  um  für  die  kommenden,  freieren  Menschen  mit  zu  leiden  und  zu 
entbehren. 

Am  Abend  des  dritten  Tages  schrieb  Herbert  folgenden  Brief  an 

Gerda! 

„Geliebte! 

Ich  habe  entschieden.  Du  wirst  mein  Weib  werden  trotz  Allem.  Von 
der  Stunde  unseres  Wiedersehens  an  wird  nicht  mehr  von  dem  Geschehene» 
zwischen  uns  die  Rede  sein,  nicht  wahr?  Nein,  mit  keiner  Andeutung. 
Darauf  bestehe  ich,  das  ist  geradezu  meine  Bedingung.  Es  soll  Alles  sein, 
als  wäre  jenes  Wort  nie  gesprochen,  jene  schwere  Entscheidung  nie  an  mich 
herangetreten.  Wir  wollen  es  auslöschen  uud  vergessen.  Es  ist  abgethnn. 
Nur  darfst  Du  um  deswillen  nicht  glauben,  daß  es  mir  leicht  geworden 
wäre.  Bei  Gott,  nein,  Gerda.  Ich  bringe  Dir  ein  Opfer  meiner  innersten 
Ueberzeugungen.  Du  hast  nicht  recht  an  mir  gehandelt.  Aber  danke  mir 
nicht  dafür,  —  wenigstens  nicht  mit  Worten.  Komm'  gar  nicht  mehr  auf 
dies  Traurige  und  Peinliche  zurück!  Danke  mir  höchstens  durch  Dein  Ver- 
halten. Heute  sind  Deine  Papiere  endlich  bei  nur  eingetroffen.  Morgen 
früh  gehe  ich  zum  Standesamt,  um  den  Aushang  zu  veranlassen,  und  dann 
komme  ich  zu  Dir.  Vis  dahin  schließe  ich  Dich  mit  ernster  Ergriffenheit 
in  meine  A>me.  Mir  ist,  als  hätte  ich  Dich  neu  errungen  und  gewonnen. 
Dein  Herbert." 

Am  nächsten  Tage,  um  die  für  seine  früheren  Besuche  üblich  gewesene 
Nachmittagsstunde,  ging  Herbert  zu  Gerda.  Ersah  blaß  und  angegriffen 
ans.  Nachts  hatte  er  vor  Zahnschmerzen,  an  denen  er  manchmal  litt,  die 
er  aber  nie  eingestand,  weil  er  das  für  ein  mannesunwürdiges  Leiden  hielt, 
wenig  geschlafen.  Auch  der  Gang  vorher  zun,  Standesamt  mit  smiem  Zu- 
behör von  lästigein  Warten  und  Herumstehen  hatte  ihn  ermüdet.  Diese 
Leidensmiene  kleidete  ihn  aber  gut,  was  er  selbst  sehr  genau  wußte,  uud 
sie  war  ihm  gerade  jetzt  recht.  Er  war  sehr  gehalten  in  seinem  Wesen, 


22  Uonrao  lüelmann  in  Rom, 

eme  gewisse  gedainpfte  Schwermut!)  lag  über  ihm  ausgegossen.  In  Allein, 
vom  jeweiligen  Zücken  seiner  Mundwinkel  bis  zu  dem  leisen,  etwas  singenden 
Ton,  in  den,  er  sprach,  die  Stirn  leicht  gesenkt,  das  Auge  bohrend  auf 
immer  den  gleichen  Gegenstand  gerichtet,  prägte  sich's  aus,  daß  hier  ein 
großer  Schmerz  männlich  zu  Ende  gerungen  sei.  Er  hatte  Gerdas  beide 
Hände  ein,:  kleine  Weile  mit  kräftigem  Druck  umschlossen  gehalten  und  dann 
wortlos  ihre  Stirn  geküßt.  Sprechen  konnte  er  eine  Zeit  lang  gar  nicht; 
als  er's  that,  sprach  er  von  gleichgiltigen  Dingen. 
Gerda  ihrerseits  war  voller  Jubel.  Man  sah  ihr  freilich  Nichts  davon 
an,  daß  sie  gelitten  habe  od:r  auch  nur  in  schwerer  Sorge  gewesen  sei, 
in  ihren  strahlenden  Mienen  sprach  sich  Nichts  von  irgend  welchem  Hangen 
und  Bangen  ans;  aber  gerade  das  Ueberwallende  in  ihrem  Glücksgefühl 
jetzt  schien  von  den  früheren  Zweifeln  zu  reden.  Es  war  sogar  hin  und 
wieder  etwas  Uebermüthiges  in  ihrem  Lachen,  wenn  sie  auch  in  sich  nur 
hinein  lachte,  um  bei  Herbert  keinen  Anstoß  zu  erregen.  Man  konnte  bei- 
nahe argwöhnen,  daß  ihr  irgend  Etwas  im  Grunde  sehr  komisch  bei  diesem 
Allen  erschien,  —  ob  seine  etwas  gemachte  Schmerzenshaltung  oder  sonst 
Etwas,  blieb  unaufgeklärt.  Jedenfalls  hielt  sie  das  Versprechen,  mit 
keinem  Wort  auf  das  zurückzukommen,  was  zwifchen  ihnen  gestanden  hatte, 
und  es  war,  als  sei  Alles  beim  Alten.  Arn,  in  Arm  gingen  sie  zusammen 
spazieren,  —  ohne  Begleitung  der  Tante;  das  erschien  jetzt  selbstverständlich, 
von  der  war  überhaupt  nicht  mehr  die  Rede. 
Nach  der  schweren  Krise  schien  das  Verhältniß  zwischen  den  Beiden 
gefesteter  zu  fein,  als  vorher.  Herbert  verharrte  freilich  bei  der  etwas 
schwermüthig-gemessenen  Haltung,  die  er  seiner  Braut  gegenüber  eingenommen, 
aber  er  war  von  zarlerer  Rücksicht  gegen  sie,  als  früher,  und  vermied  den 
schulmeisternden  Ton  von  sonst  fast  völlig.  Er  schien  jeder  Möglichkeit  eines 
neuen  Conflicts  ängstlich  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Es  machte  so  etwa 
den  Eindruck,  als  ob  er  Gerda  und  sich  als  zwei  vom  Schicksal  gezeichnete 
Leidgenossen  betrachtete,  die  fest  zusammenhalten  und  sich  das  Leben  nicht 
selbst  noch  schwerer  machen  mußten,  als  es  olmehin  schon  für  sie  war. 
Gerda  selbst  war  dankbar,  gefügiger,  als  sonst,  und  immer  voll  heiterer  Zu- 
friedenheit. Die  Genugthuung  über  etwas  Wohlgelungenes  leuchtete  aus 
ihrem  Wesen. 

Herbert  kam  sich  eigentlich  mit  jedem  Tage  braver  vor.  Es  verging 
keiner,  an  dem  er  nicht  das,  was  er  gethan,  vor  sich  hätte  aufleben 
lassen,  um  sich  darin  zu  spiegeln.  Er  betrachtete  sein  Bild,  wie  es  aus 
seiner  Handlungsweise  hervortrat,  mit  wachsendem  Wohlgefallen.  Ja,  er 
war  eigentlich  ein  ganzer  Kerl.  Wenn  das  ein  Anderer  über  sich  vermocht 
und  fertig  gebracht  hätte.  Einer,  der  aus  anderen  Kreifen  hervorgegangen, 
in  anderen  Anschauungen  groß  geworden  war,  mochte  es  ja  nicht  viel  be- 
deuten. Leichtsinn,  Gedankenlosigkeit,  Verständnißlosigkeit  und  was  Alles  noch 
konnte  der  Grund  dafür  fein.  Man  konnte  ja  auch  einfach  Gerda,  die  ja 


In  der  Hochzeitsnacht.  23 

ein  reizendes  Geschöpf  war,  nicht  haben  verlieren  wollen.  Oder  man  hatte 
nicht  den  scharf  ausgeprägten,  männlichen  Ehrbegriff,  der  ihm  in  der  Brust 
wohnte,  und  das  natürliche  Selbstbewußtsein,  den  natürlichen  Wunsch,  der 
Erste  und  Einzige  zu  sein.  Bei  hundert  Anderen  hätte  das  Alles  also  nicht 
viel  zu  sagen  gehabt.  Bei  ihm  aber 

Täglich  hatte  er  noch  neu  zu  kämpfen,  täglich  stieß  ihm  das  Unge- 
heuerliche neu  wieder  auf.  Der  reiche,  schöne  Mann,  der  Sohn  eines 
jener  „fürstlichen"  Kaufleute,  er,  der  jede  Frau  hatte  sein  nennen  können, 

—  und  begnügte  sich  nun  mit  der,  die  ihm  nicht  mehr  das  einzige  Gut 
einmal  entgegenbrachte,  über  das  doch  die  Armseligste  ihrer  Schwestern 
verfügt,  und  das  der  armseligste  Mann  als  etwas  Selbstverständliches,  Un- 
ersetzbares beansprucht!  Das  war  etwas  Großes,  es  war  eine  That. 

Darin  konnte  er  immer  mit  Recht  wühlen,  das  durfte  ihn  wahrlich  stolz 
machen. 

Und  nur  um  so  mehr,  weil  er  sich  äußerlich  gegen  Niemanden  dessen 
rühmen  konnte,  nie  auch  nur  andeutungsweise  davon  überhaupt  sprechen 
durfte.  Gerda  gegenüber  wäre  ihm  das  tactlos  und  unzart  vorgekommen, 

—  sie  sollte  ja  auch  gar  nicht  wissen,  wie  schwer  ihm  das  Geschehene 
geworden,  und  sollte  die  ganze  Tragweite,  die  ganze  Bedeutung  seines 
Entschlusses  nicht  ermessen.  Bei  Anderen  verbot  es  sich  ohnehin  von  selbst. 
Was  Wunder  aber,  daß  er  nun  um  so  selbstgefälliger  sein  eigenes  Bild 
betrachtete,  sich  an  diesem  Bilde  gewissermaßen  berauschte?  Welche  Selbst- 
bezwingung, welch'  Freiheitsempfinden,  welche  Leidensentschlossenheit  doch  in 
dem  Allen!  Ja,  er  war  ein  ungewöhnlicher  Mensch.  Und  daß  er  dies 
Bewußtsein  hatte,  haben  durfte,  das  allein  ließ  ihn  sich  in  das  Unabänder- 
liche so  ohne  Klage  nnd  ohne  Vorwurf  finden,  das  gab  ihm  Geltung,  Kraft 

und  Ruhe.  Es  stimmte  ihn  sogar  milde  gegen  Gerda,  denn  er  sagte  sich, 
ohne  sie  und  ohne  ihren  Fehltritt  würde  er  nie  Gelegenheit  gehabt  haben, 
sich  vor  ihr  und  vor  sich  selber  in  seiner  ganzen  Größe  und  in  seinem 
ganzen  Heroismus  zu  zeigen. 

So  vergingen  die  Wochen  bis  zum  Hochzeitstage  den  Neiden  in  so 
ungetrübter  Harmonie,  wie  es  sonst  vermuthlich  nicht  der  Fall  gewesen  sein 
würde.  Denn  auch  Gerda  blieb  weich  gestimmt;  für  sie  lag  etwas  Rührendes 
in  diesem  gelassenen,  schmerzverbeißenden  Wesen  Herberts.  „Er  ist  doch 
wirklich  ein  guter  Kerl,"  dachte  sie  immer  wieder,  „was  bedeutet  daneben 
das  bischen  Verschrobenheit?"  Es  kam  zu  gar  keinem  Wortwechsel,  zu  gar 
keiner  Verstimmung  mehr  zwischen  ihnen. 
Die  Hochzeit  sollte  ganz  in  der  Stille  gefeiert  werde».  Herbert  war 
mit  seinen  Verwandten,  obgleich  sie  gar  nicht  ahnten,  was  für  Eine  er  in 
Wahrheit  zu  seiner  Fran  machen  wollte,  schon  längst  wegen  seiner  Berufs- 
wahl und  wegen  seiner  Heirath  zerfallen.  Er  galt  als  „aus  der  Art  ge- 
schlagen", man  achselzuckte  über  ihn.  Nahestehende  Freunde  hatte  er  kaum, 
und  Gerdas  Anhang  reizte  ihn  nicht.  Es  entsprach  übrigens  auch  ihren 


2H  llonrad  Telmaon  in  A«m. 

Wünschen  durchaus,  ohne  viel  Gepränge  seine  Frau  zu  werden.  Die  kirch- 
liche Trauung,  die  ihm  Anfangs  als  etwas  Unvermeidliches  erschienen  war, 
hatte  sie  ihm  glücklich  ausgeredet;  er  sah  schließlich  selbst  ein,  daß  sie  in 
ihrem  Falle  eine  jener  zahllosen  „correcten  Lügen"  gewesen  wäre,  von 
denen  es  im  Leben  der  „gut  bürgerlichen"  Gesellschaft  wimmelte.  Nur 
bezüglich  der  Hochzeitsreise  kam  es  zu  Meinungsverschiedenheiten  zwischen 
ihnen.  Sonderbarer  Weise  bestand  Gerda  darauf,  obgleich  Herbert  gerade 
dies  für  Schablonenthum  ohne  jeden  tieferen  Sinn  und  Zweck  erklärte. 
Gerda  wollte  nun  einmal  fort.  Für  acht,  für  vierzehn  Tage,  und  gar  nicht 
weit  weg,  aber  in  keinem  Fall  in  Berlin  bleiben.  Endlich  gab  er  nach. 
Er  sagte  sich,  daß  es  Eineni,  der  das  über  sich  gebracht,  was  er,  nicht 
schwer  fallen  könne,  einer  kleinen  Grille  zu  weichen.  Eine  kleine  Erholung 
würde  übrigens  auch  ihm  gut  thun;  er  hatte  in  der  letzten  Zeit  ziemlich 
angestrengt  gearbeitet,  und  die  seelischen  Erregungen,  die  er  durchgemacht, 
zehrten  sichtlich  an  ihm.  Es  kam  hinzu,  daß  sein  Roman  immer  mehr 
Ähnlichkeit  mit  seinen  eigenen  Schicksalen  und  Erlebnissen  gewann.  Das 
war  ihm  zugleich  eine  Befriedigung  ~  es  zwang  ihn  geradeswegs  dazu  — 
und  ein  dauerndes  Bohren  und  Wühlen  in  seinen  eigenen  Wunden.  Es 
zehrte  an  seiner  Lebenskraft.  Aber  irgendwie  hatte  er  sich  doch  äußern 
müssen.  Und  nun  brauchte  er  wirklich  eine  Erholung,  er  war  nervös  ge- 
worden. 

Man  beschloß,  am  Hochzeitstage  nach  Hamburg  zu  fahren,  von  dort 
anderen  Tages  nach  Helgoland.  Das  Hochzeitsdiner  in  einem  öffentlichen 
Local,  unter  Assistenz  von  allerlei  Menschen,  denen  man  die  Ehre  hatte 
anthun  müssen,  ohne  ihnen  irgendwie  nahe  zn  stehen,  verlief  ziemlich  steif. 
Es  waren  da  sehr  heterogene  Elemente  zusammengekommen,  und  man  fand 
sich  nicht  recht  zusammen.  Erst  gegen  den  Schluß  hin  wurde  es  animirt; 
der  vorzügliche  Champagner  that  da  seine  Wirkung.  Nun  drohte  die 
Stimmung  aber  auch  gleich  iu's  Allzuheitere  umzuschlagen.  Unter  den 
Bühnen-Elementen  waren  Einige,  die  anfingen,  sich  in  burschikosen  An- 
spielungen zu  ergehen  nnd  Reden  zu  imvrovisiren,  die  schon  nicht  mehr 
zweideutig  waren.  Es  lief  natürlich  Alles  auf  den  einen  Punkt  heraus: 
„Mit  dem  Gürtel,  mit  dem  Schleier"  —  Herbett  hielt  es  schließlich  nicht 
inehr  aus.  Was  wußten  diese  lustigen  Trinker  freilich  davon,  in  was  für 
nie  verharschenden  Wunden  das  Alles  bohrte  und  wühlte!  Er  brach  auf, 
ohne  Abschied  ging  er  mit  Gerda  davon.  Eine  Stunde  später  waren  sie 
auf  dem  Lehrter  Bahnhof,  und  bald  darnach  rasselten  sie  in  einem  Coupö 
erster  Klasse  allein  im  Schnellzuge  nach  Hamburg. 
Gerda  legte  sich  sofort  mit  dem  Kopf  in  die  Kissen  und  schloß  die 
Augen,  Sie  war  sehr  müde,  eine  wohlige  Abgespanntheit  löste  ihre  Glieder. 
Dabei  lächelte  sie,  mit  jenem  stillen,  siegbemußten  Lächeln,  das  er  ans  der 
letzten  Zeit  an  ihr  kannte  und  das  ihm  immer  sagen  zu  wollen  schien: 
„Siehst  Du  wohl,  daß  Du  ohne  mich  nicht  sein  kannst?  Und  wenn  ich 


In  der  Hochzeitsnacht.  25 

noch  tausendmal  Schlimmeres  begangen  hätte,  als  das,  —  Tu  bliebst  mir 
doch  verfallen!  Es  hatte  ihn  schon  früher  manchmal  aufgeregt,  ihn  zum 
Widerspruch  gereizt,  dies  Lächeln.  Und  jetzt  —  Er  war  ohnehin  fehr  nervös 
durch  das  Hochzeitsdiner  geworden,  an  dem  ihm  eigentlich  Alles  mißfallen 
hatte,  das  ihn  in  dauernder  Uuruhe  gehalten  hatte.  Er  begriff  gar  nicht, 
wie  Gerda  schlafen  konnte  —  oder  wenigstens  so  thun,  als  ob  sie  schliefe. 
Und  dazu  dies  Lächeln!  Wenn  sie  wenigstens  stumm  feine  Hand  in  der 
ihren  gehalten  hätte!  Ahnte  sie  denn  gar  Nichts  von  dem,  was  jetzt,  gerade 
jetzt  wieder  vor  ihn:  heraufstieg,  in  ihm  gährte  und  ihn  folterte?  Wäre 
es  nicht  natürlich  gewesen,  wenn  sie  ihm  jetzt  Worte  des  Dankes,  der  An- 
erkennung, der  Bewunderung  gesagt  hätte?  Begriff  sie  denn  nicht,  daß 
er  seit  jener  Krise  innerlich  ein  Anderer  geworden  war,  daß  ein  ganzes 
Leben  sich  darnach  umgestaltet  hatte,  und  hätte  sie  ihm  nicht  aussprechen 
müssen,  daß  auch  sie  stolz  auf  ihn  war,  wie  er  auf  sich  selber? 
Erst,  als  der  rastlos  jagende  Zug  auf  dem  Berliner  Bahnhof  in  Hamburg 
hielt,  schlug  Gerda  die  Augen  auf.  Herbert  war  fehr  verstimmt.  Es 
kochte  Etwas  in  ihm.  „Sind  wir  schon  da?"  fragte  Gerda  erstaunt.  Er 
bejahte  kurz  und  herb.  Sem  Selbstbewußtsein  bäumte  sich  auf,  er  fühlte 
sich  fehr  gekränkt.  „Es  scheint  Dir  nicht  gerade  eilig  zu  sein,"  murmelte 
er  bitter.  Sie  lachte  hell  auf.  „Lieber  Kerl!"  Sie  strich  ihm  über  die 
Wange  hin.  Es  war  etwas  so  herablassend  Gutmüthiges  in  Ton  und  Be- 
wegung, daß  es  ihn  eher  noch  mehr  aufstachelte,  als  daß  es  ihn  besänftigte. 
Sie  schien  ihm  sagen  zu  wollen:  „Ach,  so  einem  guten  Jungen,  wie  Dir, 
kann  man  ja  doch  Alles  bieten,  —  versteht  sich."  Mit  dieser  Empfindung 
verließ  er  das  Coup»'!  und  half  ihr  aussteigen. 
Sie  fuhren  iu  den  „Hamburger  Hof".  Unterwegs  hatte  Gerda  nur 
Worte  der  Bewunderung  für  die  sternklare  Milde  des  Sommerabends  „hier 
oben  im  Norden",  für  den  Lindenblütheuduft,  der  überall  die  breiten 
Avenüen  durchwogte,  für  die  sich  drängenden  Menschenmassen  auf  den 
Straßen  nnd  endlich  für  das  prächtige  Stadtbild  am  Alsterbassin.  Sie 
war  in  der  strahlendsten  Laune,  sie  fand  Alles  fchöner  und  großartiger,  als 
in  Berlin.  Im  „Hamburger  Hof"  hatte  Herbert  die  Zimmer  uorausbestellt. 
Vom  Balkon  ihres  lururiös  eingerichteten  Salons  im  ersten  Stock  hatten 
sie  die  Aussicht  frei  über  die  Alster-Quais.  Gerda  konnte  sich  von  dem 
Anblick  garnicht  losreißen.  Als  Herbert  sie  fragte,  was  sie  am  liebsten 
noch  nehmen  wolle,  bevor  sie  zur  Ruhe  gingen,  schlug  sie  vor,  noch  auszu- 
gehen, zu  bummeln,  drüben  im  Alsterpavillon  nachher  eine  Erfrischung  zu 
nehmen.  „Eine  köstliche  Idee,  nicht?"  Sie  klatfchte  in  die  Hände  vor 
lauter  Ausgelassenheit. 

Herbert  wußte  uicht  recht,  ob  sie  fcherzte  oder  im  Ernst  sprach.  Jetzt 
noch  ausgehen,  während  er  —  Ja,  war  sie  denn  von  Stein  und  Eisen? 
Oder  wollte  sie  die  Stunde  nur  absichtlich  hinausschieben,  wo  er  noch  ein- 
mal wieder  peinvoll  mitten  in  allen  Wonneempsindungen  daran  erinnert 


26  Roniao  Celmann  in  Rom. 

werden  mußte,  das;  —  er  nicht  der  Erste  war?  Oder  war  das  Alles  Schani, 
Angst,  kokettes  Spiel?  Er  wurde  nicht  klug  daraus.  Er  fieberte  bereits, 
es  hämmerte  ihm  in  den  Schläfen,  das  Vlut  drängte  sich  ihm  in  den  Kopf, 
während  ihm  kalte  Schauer  über  Nacken  und  Nucken  herabrieselten.  Seine 
Nerven  waren  wirklich  in  einer  unleidlichen  Verfassung.  Aber  Gerda  that 
denn  auch  wahrlich  das  Ihrige  dazu,  ihn  wild  zu  machen.  Es  mußte  nun 
einmal  ein  Ende  haben. 

„Nein,  wir  gehen  nicht  mehr  aus,"  sagte  er  mit  einer  eigenthümlich 
heiseren  Stimme,  „heute  Abend  nicht  mehr.  Entscheide  Dich,  was  Du  noch 
nehmen  willst.  Aber  bald,  bitte,  bald!" 

Seine  Hand  krallte  sich  fast  in  ihren  Arm  ein,  seine  Worte  preßten 
sich  zwischen  den  Zähnen  hervor,  in  seinen  Augen  glühte  es  irr  auf.  Gerda 
wurde  unruhig.  Ihr  Lachen  klang  etwas  unnatürlich,  ihre  Finger  zuckten, 
mährend  auf  ihrem  Gesicht  die  Nöthe  in  Secundenhast  kam  und  ging. 
„Mein  Gott,  Du  thust  mir  weh,  Herbert.  Meinetwegen!  Bleiben 
wir!  Du  kannst  mir  das  ja  in  anderein  Tone  sagen.  Bestell'  nur,  was 
Du  willst!  Mir  ist  Alles  gleich.  Hunger  Hab'  ich  noch  gar  nicht  wieder. 
Und  müde  bin  ich  auch  nicht,  gar  nicht  — "  Sie  lachte  ihm,  während  ein 
paar  echte  Thränen  an  ihren  Wimpern  perlten,  schon  wieder  spitzbübisch 
in's  Gesicht. 

„Dn  hast  ja  auch  im  Eouv6  die  ganze  Zeit  geschlafen,"  sagte  er  in 

empfindlichem  Ton,  während  er  dem  Kellner  schellte. 

Dann  aßen  und  tranken  sie  noch  Etwas.  Aber  es  geschah  ohne  alle 

Lust,  und  sie  warfen  sich  über  den  Tisch  weg  hin  und  wieder  scheue  Blicke 

zu.  Die  kleine  Mahlzeit  wollte  kein  rechtes  Ende  nehmen.  Als  der 

Kellner  zum  Abräumen  kam,  knupperte  Gerda  immer  noch  an  ihren  Früchten 

umher.  Dann  wollte  sie  wieder  auf  den  Balcon  hinaus.  Nun  wurde 

Herbert  aber  ärgerlich  und  schloß  klirrend  die  Thür. 

„Zu  Bett!  Jetzt  geht's  zu  Nett!" 

Draußen  war  das  Nachtleben  schon  fast  verstummt. 

„Gute  Nacht  also!" 

Sie  stand  vor  ihm,  zwinkerte  ihn  mit  halb  geschlossenen  Augen  an, 
reichte  ihm  mit  einer  matten  Bewegung  die  Hand  und  schien  sich  ihm  in 
der  nächsten  Secunde  an  die  Brust  legen  zu  wollen. 
Er  verstand  das  Alles  aber  nicht  recht.  Sollte  das  Spott  sein? 
War's  wieder  nur  ein  Spiel,  um  ihn  zu  reizen?  Es  berührte  ihn  unbe- 
haglich. 

„Geh'  nur  voraus,"  murmelte  er,  „ich  komme  gleich  nach." 

Und  dabei  drehte  er  sich  um.  Was  zum  Teufel  war  denn  das?  Er 

wurde  ja  ganz  roth.  War  er  denn  ein  Kind?  Sein  Benehmen  war  in 

jedem  Fall  das  eines  Knaben,  —  unerhört  albern. 

Als  er  sich  wieder  umwandte,  so  ärgerlich  über  sich  selbst,  daß  er  mit 

dem  Fuße  hätte  aufstampfen  mögen,  war  Gerda  schon  hinaus.  Die 


—  In  der  kiochzeit3nacht,  2? 

Portiere,  die  das  Schlafzimmer  von,  Salon  trennte,  bewegte  sich  noch  leise. 
Er  warf  sich  in  einen  Sammetsessel.  Wie  sein  Herz  klopfte!  Und  dies 
Ticken  und  Hämmern  in  den  Stirnadern!  Der  Athem  wurde  ihm  ordentlich 
knapp.  Wenn  nur  die  Minuten  etwas  rascher  hätten  hingehen  wollen! 
Konnte  er  jetzt  schon  — ?  Wie  weit  mochte  sie  — ?  Er  horchte.  Er 
spannte  alle  seine  Sinne  an,  um  Etwas  zu  vernehmen,  das  leiseste  Geräusch, 
ein  Knistern  und  Knittern  von  fallenden  Kleidungsstücken  —  Nein,  er  hörte 
Nichts.  Das  Blut  sauste  und  sang  ihm  viel  zu  laut  in  den  Ohren,  sein 
Herz  schlug  viel  zu  stürmisch.  Er  muhte  —  Ja,  nun  mußte,  wollte  er  zu 
ihr  hinein,  gleichviel,  wie  weit  sie  —  Ah! 

Als  er  sich  eben  der  Portiore  näherte,  mit  rasch  athmender  Nrust,  mit 
langen,  schleichenden  Schritten,  die  Hände  etwas  vorgestreckt,  theilte  sie  sich 
auseinander,  und  Gerda  erschien  im  Salon.  Sie  hatte  ihr  Oberkleid  ab- 
geworfen, hatte  nackte  Arme,  war  aber  sonst  noch  ganz  bekleidet.  Nur  ihr 
Haar  hatte  sie  sich  gelöst,  es  hing  ihr  in  langer,  breiter  Welle  in  den 
Nacken  hinab.  Ihr  Gesicht  war  heiß  geröthet,  aber  ein  Lächeln  lag  auf 
ihren  Lippen,  —  wieder  dies  überlegene,  triumphirende  Lächeln.  Und  in 
ihren  Augenwinkeln  zuckte  und  zitterte  es.  Es  war  etwas  Verhaltenes  in 
all'  ihren  Mienen. 

„Was  —  was  willst  Du  noch,  Gerda?"  stammelte  er,  halb  erfreut, 

halb  verlegen  zurückweichend.  „Hast  Du  noch  Etwas  hier  vergessen? 

Ich  — "  Er  benahm  sich  wirklich  wieder  wie  ein  dummer  J  unge.  Er 

wußte  gar  nicht,  was  er  thun  sollte.  Warum  ging  er  nun  jetzt  nicht  wenigstens 

auf  sie  zu,  statt  niit  ihr  zu  schwatzen,  riß  sie  in  seine  Arme  —  und  — 

„Du,"  sagte  Gerda,  und  es  klang  ihm  ans  ihren  Worten,  wie  ein 

mühsam  verbissenes,  schadenfrohes  Kickern  an's  Ohr,  „ich  muß  Dir  erst 

noch  'mal  'was  sagen,  Herbert." 

Und  eh'  er  sich's  versah,  saß  sie  auf  seinen,  Schooß,  ihre  beiden  Anne 
umklammerten  seinen  Hals,  nnd  er  athmete  die  Nähe  ihres  weichen,  an  ihn 
geschmiegten  Leibes  ein. 

„Gerda,"  murmelte  er,  „was  —  was  denn?"  Rothe  Flecke  tanzten 
vor  seinen  Augen  hin  und  her. 

Da  brach'sie  plötzlich  ans:  „Es  ist  ja  Alles  Unsinn,  Du,  —  verstehst 
Du?  Ich  habe  Dir  das  ja  blos  vorgeredet  damals,  um  Dich  auf  die 
Probe  zu  stellen.  Ich  bin  gar  keine  Gefallene,  Gott  bewahre!  Du  wirst 
der  Erste  sein.  Es  war  Lug  und  Trug.  Vlos  wissen  wollt'  ich  ja,  ob  Dil 
mich  wohl  wirklich  so  liebtest,  um  das  zu  überwinden  —  so,  wie  ich's 
brauchte,  wie  ich  Dich  wollte,  verstehst  Du  —  Und  ob  Du  wohl  wirklich 
das  „Eorrecte"  gründlich  abgethan  hättest,  denn  sonst  —  weißt  Du  ~  Ich 
war'  ja  gestorben  vor  langer  Weile  an  Deiner  Seite,  radical  zu  Grunde 
gegangen  —  So'n  correcten  Mann  —  na,  begreif  mal,  das  war  doch 
Nichts  für  mich.  Na,  und  dann  hast  Dn  die  Probe  ja  glänzend  be- 
standen, mein  Alterchen,  —  glänzend,  —  obgleich  es  ein  bischen  lange  ge- 


26  llonral»  lelmann  in  Rom. 

dauert  hat  und  Du  Dir  das  wahrscheinlich  ein  bischen  schwer  abgerungen 
hast.  Hast  es  natürlich  wieder  viel  zu  tragisch  genommen,  alter  Pedant! 
Na,  die  Hauptsache  bleibt  aber  —  Und  nun  wirst  Du  ja  auch  be« 
lohnt  -" 

Das  Alles  strömte  zwischen  immer  sich  erneuerndem,  übermüthigem 
Gelächter  von  ihren  Lippen.  Manchmal  warf  sie  sich  vor  Ausgelassenheit 
sogar  hintenüber,  so  ruckhaft,  so  ungebunden,  daß  er  denken  mußte,  sie 
glitte  ihm  von  den  Knieen.  All'  die  sonst  vor  ihn:  zurückgekämmte, 
triumphirende  Lustigkeit  über  diesen  wohlgelungenen  Streich,  an  der  sie 
zuweilen  beinahe  erstickt  wäre,  machte  sich  nun  gewaltsam  Luft.  Sie  konnte 
sich  gar  nicht  fassen.  Sie  lachte,  lachte,  lachte.  So  Etwas  von  Lachen 
hatte  Herbert  noch  nie  erlebt.  Und  es  klang  schließlich  gar  nicht  mehr 
schön,  sondern  schrill  und  gellend,  es  war  beinah'  schon  wie  ein  Krampf. 
Und  er  selbst  hatte  immer  noch  kein  Wort  gesagt,  geschweige  denn  in  ihr 
Lachen  eingestimmt.  Er  rührte  und  regte  sich  gar  nicht,  er  streckte  nicht 
die  Hand  aus,  um  sie  zu  halten,  wenn  sie  fallen  wollte.  Wie  erstarrt, 
wie  versteinert  saß  er  da  angesichts  dieses  Ungeheuerlichen. 
Und  er  selbst  fühlte  ganz  deutlich,  daß  Etwas  in  ihm  erstarb,  unter 
ihrem  Lachen  hinschwand  und  erlosch  nnd  in  seiner  Vrust  bestattet  wurde. 
Er  wußte  nicht,  was  es  war,  er  machte  es  sich  nicht  klar,  aber  aufleben 
konnte  es  sicherlich  niemals  wieder.  Kalt,  merkwürdig  kalt  pulsirte  das 
Vlut  in  ihm.  „Lug  und  Trug!"  klang  es  in  ihm  wieder.  Sie  selbst 
hatte  ja  so  gesagt.  Alles  das  Lüge,  —  Lüge  —  Was  ihn  den  schwersten 
Kampf  seines  Lebens  gekostet  hatte,  was  umgestaltend  auf  sein  Wesen  und 
Denken  gewirkt  hatte,  was  ihn  innerlich  losgerissen  hatte  von  Allem,  was 
ihm  bisher  als  heilig  nnd  unumstößlich  gegolten!  Lüge  —  Komödie! 
Alles  um  Nichts,  für  einen  Spaß,  den  sie  sich  mit  ihm  erlaubt,  —  für 
eine  Kurzweil,  um  ihr  Stoff  zum  Lachen  zu  geben  —  Weil  es  fönst  doch 
gar  zu  langweilig  war,  das  Leben  mit  ihm  und  für  ihn!  Komödie! 
Wie  ein  ungeheurer  Abgrund  gähnte  es  ihn  plötzlich  an.  Und  da 
drüben,  jenseits  des  Abgrundes  stand  sie,  dies  herzlose,  lachdurstige  Weib, 
das  eine  solche  Farce  mit  dem  Heiligsten  gewagt,  sie  über  sich  vermocht 
hatte!  Und  es  führte  keine  Brücke  dort  Innüber.  Komödie,  das  war's! 
Alles  Komödie  i  ihre  Liebe  sogar,  —  die  vor  Allem,  —  Nichts,  als  Komödie. 
Mit  einer  Komödiantin  halt'  er  sich  eingelassen  gehabt!  lind  nun  —  Wie 
jammervoll  stand  er  vor  sich  selber  da,  er,  der  so  stolz  auf  sich,  auf  seine 
unter  Qualen  errungene  Verzeihung  für  sie  und  ihren  Fehltritt  gewesen, 
—  wie  erbärmlich,  wie  lächerlich!  Zum  Popanz  war  er  geworden,  —eine 
verächtliche,  komische  Figur,  —  Nichts  weiter  — 
Ein  heißer,  wilder  Zorn,  eine  unbezwingbare  Wuth  quoll  in  ihm  auf. 
Wenn  er  dieser  Komüdiantendirne  auch  Alles  hätte  verzeihen  können,  das 
nicht,  —  do.5  wahrhaftig  nicht!  Erdrosseln  halt'  er  sie  können  um  dieses 
Einen  willen.  Und  sie  Inclite  immer  noch,  lachte,  wie  über  den  tollsten 


In  der  Nochzeltsnacht.'  29 

Spaß,  den  es  nur  geben  konnte.  Sie  konnte  ja  auch  lachen.  Jetzt  hatte 
sie  ihn  sicher.  Wohlweislich  hatte  sie  gewartet,  bis  sie  ihn  sicher  hatte, 
«he  sie  ihm  eingestand  —  Und  jetzt  buhlte  sie  vor  ihn«  mit  ihren  nackten 
Annen,  ihrem  losen  Haar,  ihrem  verführerischen,  schmiegsamen  Leibe  — 
Ein  ungeheurer  Ekel  faßte  ihn  an.  Nein!  Nein!  Nein!  Sie  sollte 
nicht  zum  Ziel  kommen.  Hatte  sie  ihn  denn  wirklich  schon  so  sicher?  Gab 
es  keine  Rettung  mehr?  Keine  vor  der  Selbsterniedrigung,  —  vor  der 
platten  Lächerlichkeit?  War  er  dieser  abgefeimten  Komödiantin  verfallen  mit 
Haut  und  Haar? 

Noch  nicht  —  Sein  ganzes  Ich  sträubte  sich  grimmig  dagegen,  bäumte 
sich  jäh  auf.  Noch  nicht! 

Und  plötzlich  hatte  er  Gerda  von  seinen  Knieen  herabgleiten  lassen, 
ihre  Arme  von  seinem  Halse  gelöst.  Und  nun  stand  er  vor  ihr,  starr, 
blaß,  hochmüthig,  ohne  jeden  leisesten  Ausdruck  von  Leidenschaft  oder  Be- 
gehrlichkeit, ~-  auch  nur  von  Nachsicht  —  und  sagte,  sie  mit  kühler  Ver- 
achtung messend:  „Also  Komödie  war  das  Alles?  Nun,  dann  erlaubst  Dn 
wohl,  daß  ich  meinerseits  dieser  Komödie  nun  für  immer  ei»  Ende  mache. 
Mich  gelüstet  nicht  nach  Wiederholungen.  Wir  Beide  passen  nicht  zu  ein- 
ander. Wie  mit  einem  Blitzstrahl  ist  mir  das  jetzt  erhellt  worden.  Und 
deshalb  —  Lache  Dich  ungestört  weiter  aus,  meine  Liebe!  Ich  gehe  — 
Und  ich  gehe  für  immer.  Lebe  wohl!" 

Er  suchte  nach  seine»»  Ueberzieher,  warf  ihn  um  die  Schultern  und 
griff  nach  feinem  Hnt.  Gerda  stand  fassungslos  da,  das  Lachen  erstarb 
ihr  auf  den  Lippen,  sie  stierte  ihn  offenen  Mundes  an,  wie  einen  Wahn- 
sinnigen, „Dn  gehst,  —  willst  Dich  von  mir  trennen,  weil  ich 
weil  ich  noch  rein  bin?  Du  bist  also  -~  wahnsinnig?!"  Sie  kreischte  das 
letzte  Wort  heraus  mit  mild  verzerrten,  schreckensbleichen  Mienen.  Sie 
brach  fast  zusammen  unter  der  Wucht  dieses  Ungeheuerlichen,  der  Lontmst 
zermalmte  sie. 

Er  aber  hatte  seinen  Cylinder  aufgezwängt  und  verbeugte  sich  ganz 
kühl,  die  Lippen  zitternd  von  all'  dem  verhaltenen  Grimm  und  Groll. 
„Mein  Anwalt  wird  alles  Weitere  zwischen  uns  ordnen.  Wir  sind  ge- 
schiedene Leute.  Halte  mich,  wofür  Du  willst!  Erlaube  mir  aber  auch  Dir 
gegenüber  das  Gleiche.  Gute  Nacht." 

Und  die  Thür  des  Zimmers  fiel  hinter  ihm  zu,  Gerdas  Aufschrei 
mit  ihrem  knarrenden  Geräusch  übertäubend. 


Fürst  Chlodwig  von  Hohenlohe-5chillingsfürst, 
Ranzier  des  Deutschen  Reiches. 
Line  Gebens-  und  ~haraktersrizze. 
von 

Geuhard  Ternin. 
—  Varmstaob.  — 

^hlodwig  Fürst  uon  Hohenlohe-Schillingsfürst  entstanunt  einein 
alten  vornehmen  Geschlecht.  Es  giebt  wenige  Fürsten,  nament- 
lich solche,  die  keine  Krone  tragen,  welche  von  älterer  Abkunft 
wären  als  der  gegenwärtige  deutsche  Reichskanzler.  Ein  kurzer  Mckblick 
ans  seine  Vorfahren  wird  dies  darthun. 
Das  Haus  Hohenlohe  leitet  seinen  Ursprung  ab  uon  Gisbertus, 
Herzog  von  ^stfranken,  der  ein  Sohn  des  Herzogs  Chlodwig  uon  Franken 
war  und  im  Jahre  688  den  christlichen  Glauben  annahm.  Gisbertus' 
Sohn  —  Kunibert  —  wurde  erster  Graf  uon  Rothenburg  (-f-  710). 
Diese  Thatsache  erhielt  für  den  jetzigen  Fürsten  Hohenlohe  dadurch  eine 
besondere  Bedeutung,  daß  die  Nothenburgschen  Besitzungen  später  als 
Erbschaft  unvermuthet  an  seine  Familie  kamen.  Der  eigentliche  Stamm- 
vater der  Fürsten  von  Hohenlohe  mar  jedoch  „Hermann  der  Durch- 
lauchtige", welcher  sich  mit  der  Wittwe  des  Herzogs  Heinrich  von  Franken, 
Adelheid,  der  Mutter  des  Kaisers  Konrad  IL,  in  zweiter  Ehe  vermählte. 
Neider  Sohn,  Eberhard  (etwa  1042),  änderte  den  Namen  Rothenburg 
nach  der  Dheilung  mit  seinen  Brüdern  und  nannte  sich  nach  dem  über- 
nommenen Schlosse  Hohenlohe.  Siegfried,  ein  Sohn  Eberhards,  be- 
gleitete den  Kaiser  Heinrich  IV.  auf  der  Reise  nach  Italien  (1077),  als 
dieser  nach  Eanossa  ging.  Er  war,  was  geschichtlich  beglaubigt  ist,  einer 
der  entschiedensten  Gegner  des  Papstes  Gregor  VII.  So  ist  also  der 
Kampf  mit  den  hierarchischen  Uebergriffen  der  Römischen  Eurie,  welchen 
Fürst  Ehlodwig  so  ^entschlossen  durchgeführt  hat,  ein  fast  tausendjähriges 
Erbtheil  seiner  Familie.  Der  genannte  Eberhard  von  Hohenlohe  wurde 


Fürst  Chlodwig  vo»  liohenlohe>2chilling3fürst.  3~ 
von  Heinrich  IV.  mit  vielen  italienischen  Herrschaften  belehnt  und  nannte 
sich  nach  denselben  0c>wL8  c>6  Hltstlumm«,  et  liomauiol^ß.  Er  ging  aber 
nicht  mit  nach  Canossa,  sondern  kehrte  nach  Deutschland  zurück,  wo  später 
(~!230)  die  Brüder  Gottfried  und  Konrad  alle  Besitzungen  theilten  und  die 
beiden  Linien  „Hohenlohe-Hohenloh"  und  „Hohenlohe-Brauneck"  gründeten. 
Schon  1390  erlosch  die  letztere,  auch  die  erstere  zählte  im  Jahre  1407 
nur  noch  einen  Sprossen,  Albrecht,  der  sich  den«  geistlichen  Stande  gewidmet 
hatte.  Um  das  Geschlecht  nicht  aussterben  zu  lassen,  vermählte  er  sich  nach 
päpstlichem  Dispens  und  brachte  als  ein  sehr  vertrauter  Ruth  des  Kaisers 
Siegismund  die  Hohenlohesche  Familie  zu  hohem  Ansehen.  Während  der 
Negierung  dieses  Kaisers  hat  er  beispielsweise  ans  seinen  Besitzungen  nicht 
weniger  als  255  Vasallen  belehnt.  Im  Jahr  1553  wurden  durch  Grund- 
theilung  des  Gesammtbesitzes  die  beiden  noch  jetzt  blühenden  Hauptlinien 
—  die  Reuensteinsche  (protestantische)  und  die  Waldenburgsche  (katho- 
lische) —  begründet;  der  letzteren  gehört  unser  Fürst  Chlodwig  an. 
Chlodwig  Karl  Victor,  Fürst  zu  Hohenlohe-Schillingsfürst,  Prinz  zu 
Ratibor  und  Coruev,  wurde  am  31.  März  1819  zu  Rothenburg  an  der 
Fulda  als  der  zweite  Sohn  des  Fürsten  Franz  Joseph  und  der  Fürstin 
Constanze,  geborenen  Hohenlohe  -  Langenburg,  geboren.  Unter  sieben 
Geschwistern  hatte  er  noch  vier  Brüder:  den  Erbprinzen  Victor  Moritz  Karl, 
die  jüngeren  Brüder  Prinz  Philipp  Ernst,  Prinz  Gustav  Adolf,  den 
späteren  sehr  bekannten  Cardinal  nnd  den  Prinzen  Const  antin,  später 
k.  k.  General  der  Cauallerie  und  Oberhofmeister  des  Kaisers  Franz  Joseph 
von  Oesterreich.  Da  die  Vermögensverhältnisse  der  Familie  sich  ver- 
ändert hatten,  auch  keine  Secundo-Genitur  zu  vergeben  war,  so  mußte  in 
dem  Fürstensohn  sich  bald  der  Gedanke  regen,  sich  auf  eigene  Füße  zu 
stellen,  eine  tüchtige  Bildung  sich  anzueignen  und  dein  Adel  seines  Namens 
dadurch  Glanz  zu  verleihen,  daß  er  sich  durch  Fleiß  und  Studium  zu 
beruorragenden  Leistungen  befähigte. 

Er  besuchte  zunächst  die  Gymnasien  in  Ansbach  und  Erfurt  und  bezog 
dann,  mit  Kenntnissen  wohlcmsgerüstet,  die  Hochschule.  In  Heidelberg, 
Göttingen  und  Bonn  studirte  er  die  Rechts-  nnd  Staatswissenschasten  nnd 
wurde  im  J  ahre  1841  —  also  im  Alter  von  22  J  ahren  —  als  Auscnl- 
tator  bei  dem  Gericht  in  Chrenbreitstein,  sodann  als  Referendar  bei  der 
Regierung  in  Potsdam  beschäftigt.  In  diesen  Lehr-  und  Wo.ndcrio.hren 
war  er  eifrig  beflissen,  sich  tüchtige  Fachkenntnisse  zn  erwerben  nnd  seine 
Prüfungen  gut  zu  bestehen.  Beides  gelang  ihm  vortrefflich,  obwohl  die 
gelehrten  bürgerlichen  Eraminatoren  ihm  das  Fortkommen  nicht  gerade  er- 
leichterten, fondern  im  Gegentbeil  den  hocharistokratischen  Candidaten  der 
Rechtsknnde  sehr  streng  prüften. 

Während  fein  älterer  Bruder  als  Fürst,  ja  felbst  Herzog  in  der  großen 
Welt  erschien,  trat  auch  für  ihn  ein  wichtiger  Wendepunkt  in  feinem 
Leben  ein.  Das  Haus  Hohenlohe-Schillingsfürst  hatte  durch  Testament 
Nor»  >mb  2,',K.  I.XXV.  2?3.  3 


32  Gebhard  Zernin  in  Daimsladt, 

des  kinderlos  verstorbenen  Landgrafen  von  Hessen-Rheinfels-Nothenburg  eine 
bedeutende  Erbschaft  gemacht  und  dabei  auch  die  großen  Herrschaften, 
Natibor  und  Corvey  erlangt.  Der  Erbprinz  Victor  Moritz  Karl  von 
Hoheulohe  trat  die  letztere  an  und  wurde  von  König  Friedrich  Wilhelm  IV. 
gleichzeitig  zum  Herzog  erhoben,  während  Prinz  Chlodwig  das  zweite 
ihm  vom  Landgrafen  von  Hessen  vermachte  Fideikommiß  antrat  und  den  Titel 
eines  Prinzen-  vom  Natibor  und  Corvey  erhielt.  Der  fürstliche  Besitz  in 
Bayern  ging  an  den  dritten  Vruder  Philipp  Ernst  über. 
Als  aber  dieser  im  Jahre  1845  plötzlich  und  zwar  ohne  Erben  starb, 
sielen  die  in  Bayern  gelegenen  Familiengüter  an  Chlodwig  zurück,  ein 
Ereigniß,  welches  für  seine  Zukunft  höchst  bedeutungsvoll  wurde,  denn  er 
sah  sich  nun  genöthigt,  seine  Beamtenlaufbahn  aufzugeben  und  die  Standes- 
herrschaft Schillingsfürst  in  Mittelfranken  zu  übernehmen.  Am  12,  Februar 
1846  —  alfo  27  J  ahre  alt  —  war  er  das  fürstliche  Haupt  einer  der  vor- 
nehmsten standesherrlichen  Familien  Bayerns  geworden  und  wurde  als 
erbliches  Mitglied  in  die  Kammer  der  bayrischen  Neichsräthe  eingeführt. 
Damit  begann  seine  öffentliche  Wirksamkeit  in  einer  Stellung,  die  sowohl 
seiner  Herkunft,  als  auch  den  erworbenen  Kenntnissen  und  Erfahrunaen 
entsprach,  und  die  ihn  von  Erfolg  zu  Erfolg  führen  sollte. 
Nun  war  es  ihn»  beschieden,  die  in  langeil  entsagungsreichen  Jahren 
gereiften  Früchte  zu  genießen,  das  Erlernte  und  Durchgearbeitete  zur  prakti- 
schen Anwendung  zu  bringen  und  im  Interesse  seines  ihn:  stets  am  Herzen 
gelegenen  Heimatlandes  zu  verwerthen.  Bisher  war  er  ein  tüchtiger,  aber 
nicht  immer  einflußreicher  Beamter  gewesen;  nun  trat  das  Ansehen  seines 
fürstlichen  Standes  zu  den  persönlichen  Vorzügen:  er  wurde  eine  Persönlich- 
keit von  stets  wachsender  Bedeutung. 

Nachdem  die  äußeren  Verhältnisse  des  Prinzen  Chlodwig  sich  so 
glänzend  gestaltet  hatten,  dachte  er  auch  an  die  Begründung  einer  Fannlie. 
Am  16.  Februar  1847  vermählte  er  sich,  nicht  ganz  28  Jahre  alt,  mit 
der  Prinzessin  Marie  von  Sayn-Wittgenstein  aus  dem  Hause  Berle- 
burg, einer  ebenso  geistvollen  wie  liebenswürdigen  Dame.  Dieser  Seelenbund 
war  eine  Folge  der  reinsten  gegenseitigen  Neigung  und  beglückte  daher 
beide  Theile  auf  das  Innigste.  Die  Prinzessin  war  eine  groß  angelegte 
Natur,  die  Kopf  und  Herz  auf  dem  nchtigeu  Flecke  hatte.  An  den  viel- 
seitigen Bestrebungen  ihres  Gemahls  nahm  sie  den  regsten  Antheil  und 
verstand  es,  seine  Vertraute  zu  werden  und  zwar  in  so  hohem  Grade,  wie 
das  ein  großes  und  tiefes  Fraueugemüth  immer  zu  erreichen  versteht,  wenn 
die  beiderseitigen  Seelen  gleichgestimmt  sind.  Sic  ist  ihm  auf  seinem  ganzen 
Lebenswege  eine  treue  Gefähriin  und  die  beste  Freundin  geblieben. 
Der  junge  Neich-nath  sollte  aber  auch  schon  frühzeitig  mannigfache 
Kämpfe  auszufechten  bekommen,  Streitigkeiten  der  verschiedensten  Art,  oft 
mehr  oder  weniger  hartnäckiger  Natur.  Zunächst  war  es  die  östeneichisch- 
nltmuwntane  Politik  der  l'eiden  Ministerien  Echrenck  und  von  der 


Fürst  Chlodwig  von  Hohenlohe-3chilling5fnrst.  33 
Pfordten,  gegen  welche  der  mit  einem  weiten  staatsmannifchen  Blick 
ausgerüstete  Prinz  entschlossen  auftrat.  Dann  waren  es  Mißbrauche  und 
veraltete  Einrichtungen  überhaupt,  welche  ihn  veranlassten,  Front  gegen 
sie  zu  machen  und  einem  vernünftigen  Fortschritte  möglichst  die  Wege  zu 
bahnen.  Hierdurch  machte  er  sich  freilich  zuerst  bei  seiuen  Standesgenossen 
nicht  beliebt,  er  wurde  selbst  mit  dem  zweifelhaften  Titel  eines  „Volks- 
freundes" belegt,  doch  als  das  Jahr  1848  mit  feiner  freieren  Bewegung 
herbeigekommen  war,  gewann  er  fehr  bald  allgemeine  Anerkennung  dafür, 
daß  er  das,  was  als  richtig  in  den  Forderungen  der  Zeit  zugegeben 
werden  mußte,  vorausgesehen  und  empfohlen  hatte. 
So  kam  es  denn  auch,  daß  der  junge  Reichsrath  an  den  Berathungen 
über  das  Ablöfungsgesetz  in  der  Kammer  thätigen  Antheil  nahm,  welches 
den  Uebergang  Bayerns  vom  ehemaligen  Feudalstaate  zum  zeitgemäßen 
Rechtsstaate  besiegelte.  Es  gelang  damals,  ohne  Verletzung  berechtigter 
Ansprüche  und  in  durchaus  gesetzmäßiger  Weise  jene  wichtige  Unigestaltung 
vorzunehmen,  die  so  gut  gelang,  daß  selbst  in  der  späteren  Renctions- 
Periode  nicht  einmal  der  Versuch  ihrer  Anfechtung  gemacht  wurde.  Und 
das  war  hauptsächlich  das  Verdienst  des  Prinzen  Ehlodwig  von  Hohen- 
lohe. Dieser  gab  auch  durch  sein  persönliches  Verhalten  ein  durchaus 
uneigennütziges  Beispiel,  indem  er,  als  einer  der  ersten  bayerischen  Standes- 
herren, in  der  Ablüsungsfrage  unaufgefordert  Opfer  brachte  und  hierdurch 
feine  Genossen  zur  Nachahmung  vercmlaßte.  So  kam  es  denn,  daß,  wenngleich 
im  Jahre  1848  mit  manchen  verrotteten  Zuständen  in  Bayern  aufgeräumt 
wurde,  mau  doch  stets  das  Maß  zu  halteu  verstand,  so  daß  dieser  Staat  der 
einzige  blieb,  in  welchem  eine  Octroyirung  in  der  sonst  nirgends  ausgebliebenen 
Reactions-Periode  sich  als  durchaus  nicht  nothwendig  herausstellte. 
Ein  scharfer  Beobachter  der  politischen  Zustände  Bayerns  aus  der 
Zeit  der  deutschen  Befreiungskriege  bis  zum  Jahre  1870  entwirft  von  den- 
selben folgendes  Bild:  „Die  Metamorphose,  welche  die  Cabinets-Politik 
und  die  Regierungs-Marimen  Bayerns  von  1816  bis  zum  Schluß  des 
Jahres  1872  erlitten,  ist  sehr  kaleidoskopisch  uud  bewegt.  Vier  deutliche 
Phasen  zeichnen  sie  aus  und  geben  der  Zeit  ihr  Gepräge.  Von  1817  bis 
1837  ist  die  Epoche  des  stauen  Schein-Constitution  alismus.  Von  1837, 
mit  dem  Regiment  Abel  beginnend,  und  Ende  1848  mit  dem  Labinet 
Bray-Ringelmann  schließend,  tritt  die  innere  Krisis  Bayerns  ein. 
1849  begann  mit  der  Reactions-Epoche  unter  von  der  Pfordten,  um 
mit  Bayerns  äußerer  und  schwerster  Katastrophe  1866  zu  enden.  Die 
letzte  Phase  begann  das  Cabinet  Hohenlohe  und  schloß  mit  dem  deutschen 
Kaiserthum,  der  Reichseinheit  und  dem  Anfange  des  klerikal-politischen 
Kampfes  der  Jetztzeit^)."  Dieser  Schlußsatz  deutet  bereits  den  wichtigen 
*)  Man  vergleiche  „Tic  Männer  der  neuen  deutschen  Zeit,  von 
N.  E.  Billchvoacl,"  3.  Band,  S.  170.  Diesem  Werke,  das  nach  offenbar  sehr  nuten 
3«° 


3H  Gebhllld  Sernin  in  varmstadt. 

Wendepunkt  an,  welcher  in  der  Lebensstellung  des  jungen  Neichsraths  ein- 
treten sollte,  und  auf  welchen  mir  demnächst  näher  einzugehen  haben. 
Zwei  Jahre  hindurch  hatte  Prinz  Chlodwig  seine  warnende  Stimme 
erhoben,  doch  war  sie  ungehört  verhallt,  man  hatte  ihn  verkannt  und  sogar 
beargwöhnt.  Da  kam  das  Jahr  1848:  König  Ludwig  I.  trat  freiwillig 
von  der  Regierung  zurück,  und  in  ganz  Deutschland  brachen  Unruhen  aus. 
Die  damals,  geschaffene  deutfche  Centraigewalt  in  Frankfurt  n.M.,  welche 
die  ernsten  Bestrebungen  des  Prinzen  Chlodwig  wohl  erkannt  hatte,  wandte 
ihre  Aufmerksamkeit  auf  ihn:  er  wurde  zu  ihrem  Gesandten  in  Athen,  Florenz 
und  Rom  ernannt.  Gern  folgte  er  einem  fo  ehrenvollen  Rufe  und  begrüßte 
in  Athen  die  dortigen  Deutschen  mit  einer  so  deutsch-nationalen  Nede,  das; 
diese  wegen  ihres  lange  nicht  vernommenen  Tones  in  ganz  Europa  wider- 
hallte. Das  Reichsministerium  gab  ihm  den  Auftrag,  von  Griechenland 
nach  Gaüta  zu  gehen,  wohin  Papst  Pius  IX.  geflohen  war.  Ueberall  that 
der  thalkräftige  Prinz  seine  Schuldigkeit  im  Interesse  seines  deutschen  Vater- 
landes; doch  lehnte  er  das  Portefeuille  im  Ministerium  ab,  das  ihm  Fürst 
Wittgenstein  im  Frühjahr  1849  antrug,  um  seine  Kraft  nicht  zu  zersplittern. 
In  den  nächstfolgenden  J ahren,  nachdem  die  österreichische  Politik 
gesiegt  und  den  großen  Erfolg  von  Olmütz  erreicht  hatte,  nachdem  selbst 
der  Bundestag  wieder  von  den  Tobten  erstanden  war,  sah  Prinz  Chlodwig 
seine  Thätigkeit,  die  er  stets  in  nationalem  Sinne  zu  entwickeln  sich  gewöhnt 
hatte,  lahmgelegt.  Er  versuchte  zwar  noch,  in  der  bayerischen  Kammer  der 
Reichsräthe  mit  seinen  Gesinnungsgenossen  die  Politik  des  Ministers  von 
der  Pfordten  zu  bekämpfen,  allein  er  begriff  fehr  bald,  daß  in  einem 
folchen  Streite  vorläufig  kein  Sieg  zu  erringen,  daß  der  Kampf  felbst  für 
die  Wohlfahrt  Bayerns  fchädlich  sei.  So  gab  er  einstweilen  jeden  Widersland 
auf  und  zog  sich  auf  feine  Güter  zurück,  von  denen  aus  er  die  Entwickelung 
der  Dinge  aufmerkfam  verfolgte. 

Diese  Zeit  der  ländlichen  Ruhe  —  sie  dauerte  etwa  ein  Jahrzehnt  — 

war  für  ihn  keine  verlorene.  Seit  dem  J  ahre  1850  allen  Aufregungen 

der  politischen  Kreise  der  Residenz  entrückt,  saß  er  auf  seinem  Stammsitz 

Schillingsfürst  in  Mittelfranken  und  lenite  die  ruhige  Behaglichkeit  eines 

Landedelmannes  in  der  Provinz  kennen.  Nunmehr  konnte  er  sich  des 

Umganges  mit  seiner  ihm  geistig  ebenbürtigen  Gemahlin,  die  ihm  im  Jahre 

184?  eine  Tochter,  die  Prinzessin  Elisabeth,  geschenkt  hatte,  erfreuen 

und  gleichzeitig  die  mannigfaltigen  Früchte  des  Landlebens  genießen.  Aber 

in  strenger  Schulung  seines  Geistes  stets  gewöhnt  zu  arbeiten  und  erst  zu 

säen,  bevor  er  an  die  Einheimsung  der  Ernte  dachte,  suchte  er  auch  hierbei 

eine  grundlegende  Thätigkeit  zu  entfalten.  Die  Bewohner  und  die  Nachbarn 

des  Fleckens  Schillingfürst  von  Rothenburg  bis  Ansbach  erinnern  sich  nock 

Quellt»  bellibeitet  worden  ist,  haben  wir  veischiedene  thatsächliche  Angaben  für  unsere 

bi?aiaphische  Slizze  entnommen. 


Fürst  Chlodwig  von  H«b.enlohe'3chill!ng5fürsl.  25 
heute  mit  Freuden  jener  10  jährigen  Periode  ländlicher  Zurückgezogenheit 
des  Prinzen  Chlodwig,  in  welcher  er  sein  angestammtes  Gebiet  so  gründ- 
lichen Verbesserungen  unterwarf,  daß  es  förmlich  ganz  neu  aufblühte.  Ein 
Ausfluß  dieser  guten  Meinung  war  z.  B.,  daß  Fürst  Ludwig  von 
Sciyn-Wittgenstein,  der  Schmiegervater  Chlodwigs,  sich  bewogen 
fand,  dem  letzteren  seine  eigenen  großen,  in  Litthauen  belegenen  Güter  zur 
Vemirthschaftung  anzuvertrauen.  Prinz  Chlodwig  entsprach  gern  einer 
solchen  Ausforderung  und  ging  persönlich  nach  Litthauen,  dann  machte  er  auch 
andere  größere  Reisen,  so  nach  Frankreich,  Italien,  England,  um  neue  An- 
schauungen zu  gewinnen  und  wichtige  Bereicherungen  seiner  Kenntnisse  über 
die  nationalen,  politischen,  socialen  Zustände  des  Auslandes  davonzutragen. 
Nun  kam  der  österreichische  Krieg  mit  Italien  und  Frankreich  von  1859, 
und  Prinz  Chlodwig,  der  während  seines  Stilllebens  in  Schillingsfürst  auch 
seinen  Familienkreis  sich  hatte  erweitern  sehen  —  Prinzessin  Stephanie 
war  ihm  am  6.  Juli  1851  und  Erbprinz  Philipp  Emst  am  5.  Juni 
1853  dort  geboren  worden  —  wurde  wieder  in  den  Vordergrund  der 
politischen  Bühne  gestellt.  Die  Ereignisse  in  der  großen  Welt  der  letzten 
Jahre  hatten  sein  Herz  mit  frohen,  neuen  Erwartungen  geschwellt;  nachdem 
ihn  Preußens  Demüthigung  bei  Olmütz  1850  stark  niedergebeugt,  war  er 
durch  den  Regierungs-Antritt  des  Prinz-Regenten  von  Preußen  7  Jahre 
spater  erhoben  worden  und  trat  nun  wieder  freiwillig  auf  den  Schauplatz  der 
politischen  Kämpfe,  welcher,  wie  er  wohl  fühlte,  ihm  Erfolge  gewähren  mußte. 
Noch  war  sein  alter  Gegner,  der  Minister  Schrenck,  als  Verfechter  der 
österreichisch-klerikalen  Politik,  am  Nuder,  aber  Österreich  hatte  in  Italien 
eine  schwere  Niederlage  erlitten,  und  damit  war  auch  die  Stellung  Schrencks 
in  München  einigermaßen  erschüttert  worden.  Nun  galt  es,  in  offener 
Fehde  dem  immer  noch  mächtigen  Mann  und  allgemein  gefürchteten  Leiter 
der  politischen  Angelegenheiten  Bayerns  sich  wieder  gegenüberzustellen. 
Prinz  Chlodwig  trat  ihm  1859  furchtlos  unter  die  Augen.  Hier- 
mit nahm  er  jedoch  einen  Kampf  auf  sich,  der  schwerer  war,  als  es 
äußerlich  schien.  Er  mar  selbst  ein  guter,  aufrichtiger  Katholik  und  hatte 
zwei  Brüder,  von  denen  einer,  Gustav  Adolf,  wie  wir  oben  gesehen, 
der  spätere  Cardinal  in  Rom,  der  andere,  Constantin,  erster  Oberhof- 
meister des  Kaisers  Franz  Joseph  war.  Mußte  es  nun  nicht  für  Chlod- 
wig einen  ernsten  Entschluß  bedeuten,  wenn  er  bei  seinem  Wiedereintritt 
in  die  bayerische  Neichsrathskammer  sich  vornahm,  eine  antiklerikale,  anti- 
österreichische und  preußen-  wie  deutsch-freundliche  Politik  zu  treiben  und 
seine  beiden  Brüder  hierdurch  ebenso  zu  verletzen  wie  zu  schädigen?  Allein  das 
Interesse  und  die  Ehre  Bayerns  und  des  deutschen  Vaterlandes  gingen  ihm 
über  Alles  und  überwöge«  etwaige  Bedenken,  wenn  sich  dieselben  einstellen 
wollten.  Es  galt  ihm  darum,  Bayern  aus  seiner  gefährlichen  politischen 
Lage  zu  befreien  und  seinen  Anschluß  an  den  preußischen  Staat  vorzu- 
bereiten, —  den  einzigen,  welchen  er  als  gesund  und  lebensfähig  erkannte. 


36  Gebhaid  Zerilin  i»  varmsiadt. 

Nicht  etwa  weil  ihm  dessen  Politik  bei  dein  öfter  wechselnden  Ministerium 
gefiel,  wohl  aber  deshalb,  weil  ihm  das  geistige,  sittliche  und  thatsächliche 
Material  zusagte,  aus  welchem  man  allein  einen  tüchtigen,  kraftvollen  und 
leistungsfähigen  Staat  so  zu  bilden  im  Stande  war,  wie  er  den  An- 
forderungen der  Zeit  genügen  konnte. 

Dieses  Material  hatte  Chlodwig  wohl  keimen  und  würdigen  gelernt. 
Es  bestand  nach  seiner  festen  Ueberzeugung  zunächst  in  dem  preußischen 
Volksheere,  zu  dessen  Entwickelung  ein  Scharnhorst  in  den  Jahren  der 
Erniedrigung  des  Staates  den  Gruncl  gelegt  hatte,  und  durch  welches 
vornehmlich  der  französische  Soldatenkaiser  in  den  Jahren  der  Befreiungs- 
kriege niedergekämpft  worden  war;  sodann  in  dem  ernsten  preußischen 
Volkssinne,  den  der  fürstliche  Student  auf  der  Universität  unter  seinen 
Commilitonen,  als  Nichter  und  Verwaltungs-Neamter  in  zwei  Provinzen, 
der  Mark  und  Schlesien,  als  besonderes  Kennzeichen  aufgefunden  hatte. 
Bei  keinem  anderen  Staatswesen  waren  ihm  ähnlich  gute  Materialien  als 
Grundlagen  der  Ordnung  und  des  Gemeindewesens  bekannt  geworden,  und  so 
erklärt  sich  ganz  einfach  feine  Neigung  zu  dem  größten  reindentschen  Staate 
des  Nordens,  die  ihn  frühzeitig  angeflogen  und  später  nie  wieder  verlassen 
hat.  Nirgendwo  sonst  fand  er,  der  die  Welt  genau  kannte  und,  wie  wir 
gefehen,  Frankreich,  England,  Italien,  Griechenland  :c.  bereist  hatte, 
nationalere  und  sittlich  gediegenere  Eigenschaften  als  bei  den  Preußen,  und 
dies  erklärt  wohl  auch  zur  Genüge  seine  ganze  Politik. 
Schon  im  Jahre  1860,  kurze  Zeit  nach  dem  Wiederauftreten  des 
Prinzen  Chlodwig  im  bayerischen  Neichsrath,  erkannte  man  allgemein, 
welche  Bedeutung  dasselbe  in  sich  schließen  müsse.  Noch  klarer  wurde  es, 
als  er  im  folgenden  J  ahre  dem  bayerischen  Ministerium  seine  ernsten  und 
eindringlichen  Warnungen  zurief  und  unter  Anderen«  dasselbe  ersuchte:  jene 
unglückliche  Politik  doch  zu  verlassen,  die,  auf  Oesterreich  gestützt,  Preußens 
Stellung  in  Deutschland  zu  negiren,  ja  schließlich  selbst  gewaltsam  zu  ver- 
nichten bestrebt  sei.  Später  scheute  sich  dasselbe  furchtlose  Neichsrathsmitglied 
nicht,  dem  Minister  von  der  Pfordten  znzunifen,  daß  die  von  dem 
Letzteren  gern  gehegte  „Trias-Idee"  Bayern  niemals  Glück  bringen  könne. 
Im  Jahre  1864  starb  König  Marimilian  II.  von  Bayern,  und  sein 
Sohn  Ludwig  II.  wurde  mit  I8V2  Lebensjahren  sein  Nachfolger  auf  dem 
Thron.  Abermals  wurde  nach  der  Entlassung  des  Freiherrn  von  Sckrenck  der 
5  Jahre  vorher  von  demselben  Posten  abberufene  frühere  von  der  Pfordten 
bayerischer  Ministerpräsident,  und  zwar  zu  derselben  Zeit,  als  Preußen  mit 
Oesterreich  gemeinschaftlich  in  Schleswig-Holstein  auftrat.  Seine  Pläne 
eines  Dreikünigsbundes  als  dritte  Staatsgruppe  in  Deutschland  konnte 
und  wollte  er  nicht  aufgeben,  doch  zerschellten  sie  bald  in  kläglicher  Weise. 
Im  Sommer  1866  brach  der  Krieg  zwischen  Preußen  und  Oesterreich 
aus,  der  schon  längst  eine  geschichtliche  Notwendigkeit  geworden  und  durch 
den  Vertrag  von  Gastein  nur  künstlich  um  ein  Jahr  zurückgehalten  worden 


Fiilst  Chlodwig  l>«!i  rol>enlohe-3chilllng3fürst.  —  3? 
war.  Obwohl  damals  noch  in  letzter  Stunde  Prinz  von  Hohen  lohe  in 
der  bayerischen  Reichsrathssitzung  die  dringende  Mahnung  an  die  Minister 
und  das  Haus  richtete,  besonnen  zu  handeln,  da  nur  ein  freundschaftliches 
Verhältnis  Bayerns  mit  Preußen  allein  noch  den  Krieg,  damit  aber  „Roth, 
Elend  und  Demüthigung"  von  Vayern  abwenden  könne,  so  drang  Freiherr 
von  der  Pfordten  doch  mit  seinen  Anträgen  durch.  Die  Würfel  des 
Krieges  wurden  bald  darauf  geworfen  und  der  Feldzug  selbst  sehr  schnell 
entschieden:  am  14.  Juni  war  in  Frankfurt  a.  M.  die  Mobilmachung  des 
deutschen  Bundesheeres  gegen  Preußen  beschlossen  worden,  und  am  2.  August 
rückte  die  Main-Armee  siegreich  in  Würzburg  ein.  Nun  war  es  wieder 
Chlodwig,  welcher  am  23.  August  in  der  Kammer  es  aussprach,  „daß 
die  Ratification  des  Friedens  der  letzte  politische  Act  des  Ministeriums 
von  der  Pfordten  sein  müsse  und  nur  bei  sofortigem  Rücktritt  dieses 
Ministeriums  das  Land  von  seiner  schweren  Prüfung  sich  erholen  könne". 
Allgemein  wurde  nunmehr  erkannt,  daß  Fürst  Hohenlohe  der 
Mann  der  Zukunft  für  Bayern  fei.  Der  jugendliche  König  Ludwig  1 1 . 
forderte  ihn  auf,  ihm  ein  Programm  der  Grundsätze  einzureichen,  wie  er 
sie  als  Leiter  des  bayerischen  Staatswesens  für  die  geänderten  Verhältnisse 
für  geeignet  halte.  Chlodwig  folgte  diefem  Befehl,  und  der  1.  Januar 
186?  brachte  feine  Bestallung  als  Pfordtens  Nachfolger:  als  Minister 
des  königlichen  Hauses  und  des  Auswärtigen.  Seinem  Programm  gemäß, 
welches  offenen  und  ehrlichen  Anschluß  an  Preußen  und  Stellung  der  süd- 
deutschen Contingents  unter  preußische  Führung  im  Ernstfalle  verlangte, 
bandelte  der  neue  Minister  und  schloß  sofort  ein  Schutz-  und  Drntzbündniß 
mit  Preußen  ab.  Damit  war  der  Wendepunkt  in  der  bayerischen  Politik 
eingetreten  und  eine  neue  segensreiche  Aem  begonnen. 
Drei  volle  J  ahre  hat  Fürst  Hohenlohe  seinem  Heimatlande  die  er- 
sprießlichsten Dienste  als  Leiter  des  Auswärtigen  geleistet,  Ciner  der 
wesentlichsten  war  es,  daß  er  die  Zolleinigung  der  süddeutschen  Staaten 
mit  Preußen  durchsetzte,  obwohl  die  bayerischen  Klerikalen  und  die  speci- 
fischen  sogenannten  Patrioten  ihm  hierbei  den  kräftigsten  Widerstand  leisteten. 
Selbst  zum  Abgeordneten  des  Zollparlaments  in  dem  Kreise  Forchheim  ge- 
gewählt, ging  Fürst  Hohenlohe  nach  Verlin  und  war  3  Sessionen  hin- 
durch der  erste  Vice-Präsident  dieses  Parlaments,  —  der  ersten  deutschen 
gesetzmäßigen  Vereinigung,  des  Vorgängers  des  deutschen  Reichstags. 
Erreichte  der  Fürst  hierbei  seinen  Zweck,  so  mar  dies  in  seinem  Auf- 
treten und  Vorgehen  gegen  die  nltramontanen  Parteien  in  Bayern  und 
besonders  die  Jesuiten  nicht  der  Fall.  Ihm  lag  sehr  der  Versuch  am 
Herzen,  zunächst  die  katholischen  Staaten  Deutschlands,  sodanu  aber  auch 
alle  katholischen  Mächte  Europas  zu  einer  gemeinsamen  Abwehr  des  von 
dem  Vatikanischen  Concilium  drohenden  Angriffs  zu  gewinnen.  Zu  diesem 
Zwecke  erließ  er  uuter  dem  9.  April  18<>9  eine  Circular-Depesche,  welche 
dein  durch  die  Unfehlbarkeit  drohenden  Schisma  der  katholischen  Christen- 


38  Gebhard  Zernin  in  Darmstadt. 

heit  vorzubeugen  suchte,  nachdem  Papst  Pius  IX.  für  den  December  186!) 
ein  allgemeines  Concilium  in  Rom  ausgeschrieben  hatte.  Schon  vor  dem 
Zusammentritt  dieses  Eoncils  fanden  in  Bayern  Neuwahlen  zur  Kammer 
statt,  und  als  dieselben  im  November  1869  eine  Majorität  der  Ultra- 
montanen ergeben  hatten,  gab  das  Ministerium  des  Fürsten  Hohenlohe 
seine  Entlassung.  Fürst  Hohenlohe  und  der  Kriegsminister  vonPranckh 
ließen  sich  zwar  vom  König  Ludwig  II.  bestimmen,  ihr  Gesuch  zurück- 
zunehmen; allein  das  leidenschaftliche  Entgegentreten  der  Kammer  mußte 
Ersteren  veranlassen,  am  15.  Februar  nochmals  seine  Entlassung  zu  erbitten, 
worauf  derselbe  am  7.  März,  mit  den  höchsten  Orden  seines  Monarchen 
geschmückt,  seinen  Rücktritt  ausführte.  Er  ging,  weil  sein  Bleiben,  wie  er 
wohl  einsah,  der  nationalen  Sache  nichts  mehr  nützen  konnte;  er  war 
wieder  Privatmann  geworden  und  zog  sich  in  die  bekannte  Stille  von 
Schloß  Schillingsfürst  zurück. 

Mehrere  Monate  vergingen:  sie  bildeten  die  unheimliche  Ruhe  vor 
dem  Sturm,  welchen  Fürst  Hohenlohes  Voraussicht  in  dem  deutsch- 
französischen Kriege  längst  hatte  kommen  sehen.  In  den  I ulitagen  des 
entscheidenden  Jahres  1870  trieb  es  Chlodwig  wieder  nach  München. 
Er  wollte,  wenn  nöthig,  auch  seinen  Einfluß  dazu  verwenden,  daß  Bayern 
in  dein  zu  erwartenden  Weltkampfe  sich  sofort  auf  die  Seite  des  Haupt- 
streiters stellen  möchte.  Sein  Wunsch  ging  in  Erfüllung,  und  mit  be- 
rechtigtem Stolze  sah  er  die  Bayern  an  den  Rhein  und  über  ihn  hinaus 
eilen,  um  unter  der  ritterlichen  Oberleitung  des  preußischen  Königssohnes 
für  Deutschlands  Unabhängigkeit  zu  fechten.  Die  ersten  Schläge  von 
Weißenburg  und  Wörth  brachten  die  Feuertaufe,  und  das  gemeinsam 
«ergossene  Blut  bildete  den  Kitt  der  stolzen  und  schönen  Bereinigung 
der  deutschen  Stämme,  welche  am  18.  Januar  1871  in  dem  alten  fran- 
zösischen Königsschlosse  von  Versailles  die  Wiedererrichtung  des  Reiches 
besiegelte.  Fürst  Hohenlohe,  der  schon  am  30.  December  1870  für 
den  Eintritt  Bayerns  in  das  Deutsche  Reich  gesummt  hatte,  fühlte  sich  hoch 
erhoben  von  der  Erfüllung  seiner  langgehegten  Wünsche  und  sah  eine  reiche 
Zukunft  seinem  engeren  und  weiteren  Baterlande  erwachsen,  in  der  auch 
ihm,  was  er  damals  in  seiner  Selbstlosigkeit  nicht  im  Entferntesten  ahnte, 
eine  einflußreiche  und  vielseitige  Wirksamkeit  beschieden  sein  sollte. 
Nachdem  König  Wilhelm  als  erster  Deutscher  Kaiser  des  neu  errich- 
teten Reichs  in  die  Heimat  zurückgekehrt  war,  trat  der  Deutsche  Reichstag 
in  Berlin  zusammen.  Fürst  Hohenlohe  war  als  Abgeordneter  seines 
Kreises  Forchheim  dessen  Mitglied  und  schloß  sich  der  liberalen  Reichspartei 
an.  Das  allgemeine  Vertrauen  berief  ihn  schon  am  23.  März  1871  als 
ersten  Vice-Präsidenten  in  die  Leitung,  welche  Stellung  er  auch  während 
der  Legislatur-Periode  von  1874—187?  bekleidete.  Seine  politische 
Thätigteit  sah  er  nunmehr  mit  den  grüßten  Erfolgen  gekrönt;  jetzt  sollte  ihn, 
auch  beschieden  sein,  auf  dem  Gebiete  der  Diplomatie  dem  neugeeinten 


Fürst  Chlodwig  von  Hol,enlohe>3chilling5fiirft,  2Z 

Reiche  Dienste  zu  leisten,  deren  Bedeutsamkeit  sich  in  stets  steigerndem  Grade 
zu  äußern  hatte. 

Es  war  im  Mai  des  J  ahres  1874,  als  Fürst  Hohenlohe  zur  Be- 
setzung des  Deutscheu  Botschaftervostens  in  Paris,  welcher  durch  die  Ab- 
berufung des  Grase»  von  Arnim  frei  geworden  war,  ausersehen  wurde. 
Um  seine  Willensmeinung  befragt,  zögerte  der  Fürst  keinen  Augenblick  mit 
der  Annahme  der  ebenso  verantwortungsreichen  wie  ehrenvollen  Stelle. 
Volle  11  Jahre  —  vom  Mai  1874  bis  zum  Juli  1885  —  ist  Fürst 
Chlodwig  als  deutscher  Botschafter  in  Paris  thätig  gewesen  und  hat 
während  dieser  langen  Zeit  durch  sein  echt  patriotisches  und  entschlossenes, 
wie  taktvolles  und  umsichtiges  Auftreten  seinem  wohlerworbenen  Rufe  im 
In-  und  Auslande  Ehre  gemacht.  Unter  den  verschiedensten  Regierungs- 
leitern Frankreichs  und  bei  desseu  so  oft  wechselnden  Ministerien  hat  es  der 
Fürst  stets  verstanden,  sein  schönes  großes  Vaterland  würdig  in  Paris  zu 
vertreten,  manchen  während  dieser  Zeit  eingetretenen  Verstimmungen  jede 
Schärfe  zu  uehmeu  und  seine  Angelegenheiten  so  zu  führen,  daß  er  die 
allgemeinste  Hochachtung  genoß  und  fast  überall  Anerkennung  fand. 
Wir  dürfen  hier  einige  hervorragende  Gelegenheiten  anführen,  bei  denen 
sich  der  Fürst  vornehmlich  als  Beherrscher  des  Augenblicks  bewährte.  Bei 
dem  Berliner  Congreß  des  Jahres  1878  wirkte  er  als  zweiter  Bevoll- 
mächtigter des  Deutschen  Reichs  neben  Fürst  Bismarck  und  Staatsminister 
von  Nülow*);  seine  Wirksamkeit  soll  besonders  „hinter  den  Eoulissen"  eine 
ebenso  bedeutsame  wie  vielseitige  gewesen  sein.  Es  war  dies  dasselbe  J  ahr, 
in  dem  der  Fürst  eine  deutsche  Kunstausstellung  in  Paris  eröffnet  hatte, 
durch  welche  den  Franzosen  eine  hervorragende  Zahl  von  Gemälden  und 
Bildhauerwerlen  vorgeführt  worden  war.  (Eine  Bctheilignng  an  der  Welt- 
ausstellung von  1878  war  von  der  Neichsregierung  aus  industriellen  und 
politischen  Gründen  abgelehnt  worden.)  Im  März  des  Jahres  1880  über- 
nahm der  Fürst  provisorisch  die  Leitung  der  Geschäfte  eines  Staatssecretärs 
der  cmswärtigen  Angelegenheiten  und  trat  zunächst  mannhaft  für  Annahme 
der  Samoa-Vorlage  der  Negierung  ein  (im  April),  dann  präsidirte  er  der 
Berliner  Eonferenz  zur  Schließung  der  Grenzstreitigkeiten  zwischen  der 
Türkei  und  Griechenland  (16.  Juni  bis  1.  Juli)  und  kehrte  im  November 
auf  seinen  Botschafter- Posten  nach  Paris  zurück,  auf  welchem  er  dann  noch 
ein  Lustrum  hindurch  seine  ersprießliche  Thätigkeit  fortsetzen  sollte. 
Am  17.  Juni  1885  starb  unerwartet  der  Statthalter  von  Elsaß- 
Lothringen,  General-Feldmarschall  Freiherr  von  Manteuffel,  an  Lungen- 
entzündung. Diese  wichtige  Stelle  erforderte  eine  baldige  Neubesetzung, 
doch  machte  eine  solche  im  Hinblick  auf  die  bewährten  Eigenschaften  des 
Fürsten  Hohenlohe  als  Staatsmann  und  Verwaltungsbeamter  keine 
*)  Das  bekannte  Vild  aller  Vcuollmächtigten  des  Professors  Anton  von  Werner 
zeigt  den  Fürsten  Hohenlohe  in  einer  besonders  gelungenen  Auffassung  seiner  äußeren 
Erscheinung. 


Hl)  Gebhaid  Zeinin  in  varmftadt,  —  ~ 

Schwierigkeit.  Auf  den  Antrag  des  Fürsten  Bismarck,  welcher  am  besten 
in  der  Lage  gewesen  war,  die  Fähigkeiten  und  Leistungen  des  bisherigen 
Botschafters  in  Paris  zu  würdigen,  wurde  die  freigewordeüe  Stelle  eines 
Statthalters  der  Gleichstände  mit  ausgedehnten  landesherrlichen  Befugnissen 
unter  dem  28.  September  1885  dem  Fürsten  Hohen  lohe  übertragen.  Schon 
am  8.  Tctober  überreichte  der  Fürst  dem  Präsidenten  der  französischen 
Republik,  Herrn  Grevy,  sein  Abberufungsschreiben,  welches  niit  dem  Aus- 
druck höchsten  Bedauerns  entgegengenommen  wurde,  nnd  traf  am  5.  November 
zur  Ueberimhme  seiner  neuen  Würde  in  Straßburg  ein. 
Ueberans  herzlich  war  der  Empfang,  der  dort  dem  neuernannten  Statt- 
halter bereitet  wurde.  Schon  bei  feinem  ersten  Austritt  aus  den«  Bahnhofe 
wurde  Fürst  Hohenlohe  mit  donnernden  sich  oft  erneuernden  Hochrufen  will- 
kommen geheißen,  die  Krieger-,  Schützen-,  Turner-  und  Gefangvereine  veran- 
stalteten ihni  zu  Ehren  am  ersten  Abend  einen  Fackelzug,  brachten  ihm  ein 
Ständchen,  und  am  folgenden  Tage  schloß  sich  eine  glänzende  Auffahrt  der 
Studentenschaft  mit  Eommers  an.  Bei  dieser  Gelegenheit  hielt  der  neue 
Statthalter  eine  Ansprache  an  die  akademische  J  ugend,  welche  von  zündender 
Wirkung  war.  Selbst  in  Metz,  wohin  der  Fürst  sich  am  16.  November  be- 
gab, wurde  derselbe  in  übei'rafchend  festlicher  und  überaus  herzlicher  Weife  be- 
willkommt;  Neflaggung  der  Häuser  und  Fackelzug  bildeten  die  äußeren  Kenn- 
zeichen. Sehr  bemerkt  wurde  die  bei  dein  Galadiner  am  17.  November  von 
dem  Statthalter  gehaltene  Rede.  Er  knüpfte  au  eine  Aeußerung  feines  Vor- 
gängers an,  welcher  gesagt  hatte,  daß  er  wohl  begreife,  wie  man  in  Elfasi- 
Lothringen  noch  nicht  die  Zusammengehörigkeit  mit  Frankreich  vergessen  habe, 
und  fuhr  dann  fort  wie  folgt:  „Ich  gehe  aber  weiter  und  sage:  ich  begreife, 
daß  die  Bewohner  des  Landes,  als  sie  vor  2  Jahrhunderten  von  Deutsch- 
land getrennt,  mit  Frankreich  vereinigt  wurden,  die  Aenderung  nicht  zu  sehr 
empfanden.  Deutschland  war  damals  ein  zerrissenes  Land,  das  weder  seine 
Angehörigen  schützen,  noch  ihre  Wohlfahrt  fördern  konnte,  während  Frank- 
reich nahezu  auf  der  Höhe  feiner  geistigen  und  materiellen  Entwickelung 
stand.  Da  konnte  die  Trennung  von  Deutschland  leicht  verschmerzt  werden. 
Wenn  ich  aber  so  einer  historischen  Tbat  gerecht  werde,  darf  ich  nun  auch 
auf  die  Gegenwart  verweisen.  Aus  einem  machtlosen  zerrissenen  Deutsch- 
land ist  ein  mächtiges  Reich  geworden.  Wie  die  Einigung  znr  Wieder- 
gewinnung verlorener  Landestheile  geführt,  fo  hat  sie  uns  auch  die  Macht 
gegeben,  das  Wiedergewonnene  festzuhalten,  die  Angehörigen  zu  fchützen  und 
ihnen  die  Bedingungen  des  geistigen  und  materiellen  Gedeihens  zu  bieten. 
Damit  schwindet  das  Motiv,  das  die  Bewohner  des  Landes  auf  Frankreich 
blicken  läßt.  So  gebe  ich  mich  der  Erwartung  hin,  Elsaß-Lothringen  werde 
niehr  nnd  mehr  erkennen,  die  Trennung  von  Frankreich  sei  kein  Unglück,  die 
Wiedervereinigung  mit  Deutschland  sei  eine  Gewähr  einer  glücklichen  Zukunft." 
Schon  bei  den  am  12.  Juli  188<i  erfolgten  Gemeindemthswahlen  in 
den  Neichslanden  zeigte  sich  ein  Fortschreiten  des  Deutschthnms.  Der 


Fürst  Chlodwig  von  Hohen!ohe>2chillingsfilist,  Hl, 

Fürst- Statthalter,  welcher  als  außerordentlicher  Bevollmächtigter  des  Kaisers 
Wilhelm  I.  noch  im  December  1885  nach  Madrid  geeilt  war,  um  an  der 
Leichenfeier  des  Königs  Alfons  XII.  theilzunehmen,  hatte  ein  solches  nach 
besten  Kräften  anzubahnen  gesucht.  Bei  der  Eröffnung  des  Lcmdesausschusses 
im  Januar  1886  hielt  er  wieder  eine  bemerkenswerthe  Rede  und  sagte 
darin,  daß  er  kein  politisches  Programm  vortragen  wolle.  Dann  fuhr  er 
fort:  „Selbst  der  Staatsmann,  welcher  die  Macht  hat,  seine  Versprechungen 
zu  erfüllen,  wird  wohl  daran  thnn,  damit  sparsam  zu  sein,  da  er  nicht 
weiß,  ob  die  Verhältnisse  ihn:  erlauben  werden,  sein  Programm  durchzu- 
führen. Wer  aber  wie  ich  mit  Factoren  zu  rechnen  hat,  die  über  nnd 
außerhalb  der  Sphäre  seiner  Einwirkung  stehen,  der  muß  doppelt  vorsichtig 
sein.  Das  beste  Programm  ist  eine  gute  Verwaltung.  Darin  erblicke  ich 
zunächst  meine  Aufgabe.  Ich  werde  sie  zu  erfüllen  suchen  mit  Gewissen- 
haftigkeit und  Pflichttreue  und  in  dein  Gefühl  aufrichtigen  Dankes  für  das 
Vertrauen,  mit  dem  man  mir  in  diesem  Lande  entgegengekommen  ist." 
Die  hier  betonte  „Gewissenhaftigkeit  und  Pflichttreue"  war  es  denn 
auch,  welche  der  Fürst  in  dein  Neichslande  ebenfo  zur  Anwendung  brachte, 
wie  dies  seinerzeit  auf  dem  Botschafterposten  in  Paris  geschehen  war,  und 
die  auch  im  Lande  selbst  wachsende  Anerkennung  fand.  Es  mußte  daher 
Ueberrcischung  erregen,  als  bei  den  Reichstagswahlen  am  21.  Februar  188? 
in  sämmtlichen  15  Wahlbezirken  von  Elsaß-Lothringen  Protestler  durchgebracht 
wurden,  doch  ließ  sich  die  Thatsache  wohl  dadurch  erklären,  daß  weit 
weniger  eine  Aenderung  der  Gesinnung,  als  die  Befürchtung  einer  Rache 
Frankreichs  bei  einem  doch  immer  möglichen  Reuanchekriege  zu  Grunde  lag. 
Fürst  Hohen  lohe  zögerte  aber  nicht,  strengere  Maßregeln  zn  ergreifen;  fo 
beantwortete  er  bereits  am  22.  Februar  das  Wahlergebnis  mit  einen» 
Rundschreiben  an  die  Bezirks-Präsidenten,  worin  er  eine  strengere  Beauf- 
sichtigung des  gesammten  Nereinslebens  anordnete  und  die  beiden  Centrai- 
verbände der  Elsässischen  Gesang-  nnd  Turnvereine  auflöste.  Im  März 
desselben  J  ahres  begab  sich  der  Fürst  nach  Berlin,  uni  Bericht  über  den 
Stand  der  Dinge  zu  erstatten  nnd  an  den  Verhandlungen  über  die  Neu- 
gestaltung der  staatlichen  Verhältnisse  der  Neichslande  theilzunehmen.  Er 
vertrat  die  Ansicht,  daß  Elsaß-Lothringen  in  staatsrechtlicher  Beziehung  den 
übrigen  deutschen  Staaten  dann  gleichgestellt  werden  sollte,  wenn  es  den 
bestehenden  Nechtszustand  rückhaltlos  anerkennen  und  das  Protestiren  ent- 
schieden aufgeben  würde.  Es  bestanden  damals  politische  Meinungs- 
verschiedenheiten einflußreicher  Personen  in  Berlin  über  die  Gestaltung  der 
staatsrechtlichen  Verhältnisse  der  Neichslande,  von  denen  Einzelne  die  Auf- 
hebung des  Statthalterpostens  wünschten,  doch  weder  Fürst  Bismarck,  noch 
ilaiser  Wilhelm  I.  trat  solchem  Verlangen  bei.  Wohl  wurden  einige  zeit- 
gemäße Modificationen  in  den  inneren  Einrichtungen  des  Verwaltungs- 
Mechanismus  vorgenommen,  doch  blieb  der  Statthalterposten  bestehen,  und 
Fürst  Hohenlohe  kehrte  mit  den  Beweisen  vollständigen  Vertrauens  auf 


H2  Gebhard  Zernin  in  vaimstadt. 

denselben  zurück.  Die  neue  Gestaltung  der  Dinge  sicherte  ihm  ein  strafferes 
Auftreten,  er  ließ  sich  durch  Einreden  von  deutsch-freundlichen  Stimmen  nicht 
beirren  und  erreichte  sehr  bald,  daß  die  Achtung  vor  dem  neuen  Regiments 
stieg.  Auch  das  Ergebnis;  der  Bezirkswahlen  des  Jahres  1888  war  ein 
erfreuliches. 

Nach  dem  Tode  des  hochseligen  Kaisers  Wilhelm  1.  wandte  auch  dessen 
zweiter  jugendlicher  Nachfolger  Wilhelm  II.  dein  Fürsten  Hohenlohe 
große  Huld  und  völliges  Vertrauen  zu.  Die  Dinge  gingen  in  den  Neichs- 
landeu  ihren  ungestörten  Gang,  so  daß  der  Statthalter  bei  seiner  Eröffnungs- 
rede der  17.  Tagung  des  Landesausschusses  am  29.  Januar  1889  recht 
befriedigt  sich  aussprechen  konnte.  Im  Frühling  des  folgenden  J ahres  er- 
öffnete er  die  Ausstellung  der  deutschen  Landwirthschaftsgesellschaft  in  Straß- 
burg, welche  großes  Interesse  erregte,  und  brachte  der  gleich  darauf  er- 
folgten Gründung  eines  elsaß-lothringischen  Sängerbundes  wahre  und  wanne 
Sympathie  entgegen.  In  der  Folgezeit  gelang  es  dem  Fürsten  Hohen- 
lohe, den  einige  Jahre  vorher  eingeführten  Paßzwang  für  Reisende  theil- 
weise  aufzuheben  (er  wurde  nur  noch  für  ausländische  Militärpersonen  und 
für  Ausgewanderte  unter  45  Jahren  beibehalten)  und  dadurch  im  Lande 
große  Freude  zu  verbreiten.  Als  er  am  19.  October  des  genannten  Jahres 
von  einem  Sommerurlaube  nach  Straßburg  zurückkehrte,  wurde  er  am 
Bahnhofe  von  einer  großen  Versammlung  herzlich  begrüßt  und  durch  eine 
Ansprache  als  „edelmüthiger  Freund  der  Bevölkerung,  verständnißvoller  und 
wohlmeinender  Förderer  aller  Interessen  der  Neichslande"  gefeiert,  worauf 
der  Statthalter  der  Wahrheit  gemäß  erwidern  konnte,  daß  Elaß-Lothringen 
keinen  aufrichtigeren  und  treueren  Freund  habe  als  ihn.  Das  allgemeine 
Vertrauen,  welches  ihm  fchon  längere  Zeit  hindurch  von  den  Bewohnern 
der  fchönen  Reichslande  entgegengebracht  worden  war,  hatte  hierdurch  eine 
wesentliche  Stärkung  erfahren  und  follte  niemals  mehr  getrübt  werden. 
Schon  bei  den  Neichstagswahlen  am  20.  Februar  1890  hatte  sich 
herausgestellt,  daß  die  Zahl  der  Stimmen  der  Protestler  von  247000  auf 
100000  zurückgegangen  war,  so  daß  vier  deutschfreundliche  Vertreter  nach 
Verlin  entsandt  werden  konnten,  welche  Zahl  drei  Jahre  später  noch  um 
eine  vermehrt  wurde,  indem  der  eigene  Sohn  des  Fürsten,  Prinz  Alexander 
von  Hohenlohe,  am  15.  Juni  1893  als  gewähltes  Neichstagsmitglied 
hinzutrat.  Eine  noch  gesteigerte  günstige  Stimmung  der  Stadt-  und  Land- 
bewohner sollte  zum  Ausdruck  gelangen,  als  Kaiser  Wilhelm  II.  im  Sommer 
dieses  Jahres  persönlich  die  Reichslande  durch  einen  Besuch  auszeichnete. 
Ani  3.  September  1883  war  es,  genau  65  Jahre  nach  dem  Einzüge 
des  Königs  Karl  X.  von  Frankreich,  als  unter  dem  Geläute  aller  Glocken 
Kaiser  Wilhelm  II.  seinen  feierlichen  Einzug  in  die  Hauptstadt  Lothringens, 
das  alt-ehrwürdige  Metz,  hielt.  Noch  an  demselben  Mittage  begab  er  sich 
in  Begleitung  des  Statthalters  nach  Knrzel  und  von  dort  zu  Wagen  nach 
seinem  neu  erworbenen  Schlosse  Urville,  zum  ersten  Male  als  lothringischer 


Fiirft  Chlodwig  von  Hohenlohe'5chilling5fürs«,  H3 
Gutsbesitzer.  Bei  der  Paradetafel,  welche  am  folgenden  Tage  in  Metz 
stattfand,  war  es  eine  hohe  Befriedigung,  welche  den  Kaiser  die  schönen 
Worte  sprechen  ließ:  „Ich  sehe,  ...  daß  Lothringen  sich  wohl  im  Reiche 
fühlt ...  Mit  Genugthuung  fehe  ich,  daß  Lothringen  das  Verständniß  für 
des  Reiches  Größe  und  für  seine  Stellung  im  Reiche  gewonnen  hat," 
Und  das  Verdienst,  hierzu  ein  mefentliches  Stück  beigetragen,  nnt  allen 
Kräften  dabei  mitgewirkt  zu  haben,  mußte  dem  Statthalter  Fürsten  Chlodwig 
von  Hohenlohe  zugeschrieben  werden,  welcher  hieran  beinahe  ein  volles 
J  ahrzehnt  die  Arbeit  seiner  reifsten  Mcmnesjahre  gefetzt  hatte. 
Es  erregte  daher  allgemeines  Bedauern,  als  im  Herbst  1  894,  nachdem 
der  General  von  Eavrivi  als  Reichskanzler  zurückgetreten  war,  Fürst 
Hohenlohe  aus  den  Neichslandeu  abberufen  wurde.  Mit  der  Würde  des 
einflußreichen  Statthalteramts  bekleidet,  mag  es  dem  Fürsten  wohl  nicht 
leicht  geworden  sein,  sich  zur  Amiahme  der  neuen  Bürde  zu  entschließen, 
allein  sein  nationales  Pflichtgefühl  ließ  ihm  keine  andere  Wahl:  er  folgte 
entschlossen  dem  Rufe  seines  kaiserlichen  Herrn,  Seit  dem  26.  October 
1894  steht  Fürst  Chlodwig  an  der  Spitze  der  Leitung  des  deutschen 
Staatsschiffes,  und  da  der  seitdem  verflossene  kurze  Zeitraum  zu  einer  vollen 
Würdigung  seiner  Wirksamkeit  noch  nicht  ausreichen  dürfte,  so  schließen  wir 
hier  seine  eigentliche  Lebensskizze. 

Es  dürfte  wohl  angezeigt  sein,  nachdem  hier  versucht  worden,  ein 
kurzes  Lebens-  und  Charakterbild  des  Fürsten  Chlodwig  von  Hohen- 
lohe zn  entwerfen,  nunmehr  auch  eine  Schilderung  des  Eindrucks  zu 
unternehmen,  welchen  die  Persönlichkeit  des  bedeutenden  Mannes  macht,  und 
letztere  überhaupt  zu  stizzireu.  Wir  wollen  der  Lösung  dieser  Aufgabe  uns 
nicht  entziehen. 

Der  Reichskanzler  Fürst  Hohenlohe  hat  im  März  1895  das  76.  Lebens- 
jahr vollendet,  sieht  aber  jünger  aus.  Cr  besitzt  eine  vorzügliche  Gesundheit 
und  hat  von  Jugend  auf  dem  Geiste  die  äußere  Hülle  dienstbar  gemacht, 
so  daß  er  auch  gegenwärtig,  nachdem  die  erste  Hälfte  des  8.  Jahrzehnts  über- 
schritten worden,  keineswegs  etwas  Greisenhaftes  an  sich  trägt.  Seine 
fünf  Sinne  sind  gut  entwickelt  und  selbst  theilweise  noch  geschärft  worden; 
nur  besitzt  seine  Stimme,  ähnlich  wie  dies  bei  seinem  großen  Amtsvorgänger, 
dem  Fürsten  Vismarck,  auch  der  Fall  ist,  einen  etwas  schwachen  Klang,  doch 
pflegt  sie  auch  niemals  überangestrengt  zu  werden. 
Man  begegnet  im  Leben  öfters  männlichen  Physiognomien,  aus  welchen 
sich  sehr  schwer  oder  überhaupt  kaum  mit  einiger  Sicherheit  Schlüsse  auf 
deu  Charakter  ableiten  lassen.  Ein  derartiges  Gesicht  zeigt  Fürst  Chlodwig 
nicht.  Das  seinige  macht  vielmehr  den  offensten  Eindruck  und  giebt  mit 
großer  Klarheit  und  Treue  wieder,  was  dieser  Maun  ist  uud  uicht  ist. 
Aber  etwas  ungewöhnlich  erscheint  es  doch:  die  Form  seines  Hauptes,  wohl- 


H4  <3cbhard  Zeiilin  in  Darmstadt. 

gebildet  und  regelnmßig,  die  Linien  des  Profils  und  das  kräftig  entwickelte 
Kinn  lassen  erkennen,  daß  man  hier  einen  feinen  Kopf  vor  sich  hat.  Das 
Auge  drückt  zugleich  Klugheit  und  Herzensgüte  aus;  es  pflegt  in  ruhiger 
Prüfung  und  mit  natürlichen:  Wohlwollen  jeden  ihn,  zum  ersten  Mal  Be- 
gegnenden zu  messen;  es  zeigt  eine  Ueberlegenheit  an  Geist  und  Herz,  von 
der  man  sofort  überzeugt  ist,  daß  sie  nur  dem  Dienste  der  guten  Sache 
sich  widmen  werde.  Eine  vornehme  Ruhe  und  Würde  ist  über  der  ganzen 
Persönlichkeit  ausgegossen,  die  allerdings  nicht  erkennen  läßt,  daß  dieser 
hervorragende  Mann  noch  heute  in  demselben  lugendfeuer  erglühen  kann, 
welches  einst  den  bäuerischen  Reichstagsredner  besonders  kennzeichnete.  Dann 
erscheint  das  dunkle  Auge,  welches  sonst  in  stiller  Wachsamkeit  um  sich  zu 
blicken  pflegt,  in  leuchtendem  Glänze,  es  vergrößert  sich  und  äußert  eine 
durchdringende,  selbst  durchbohrende  Kraft.  Man  fühlt  es  alsdann  ganz 
deutlich:  dieser  Mann  ist  zum  Befehlen  geboren,  er  weiß,  was  er  will, 
und  will  stets  nur,  was  er  soll  und  muß.  Jeder  Zoll  an  ihm  ist  deutsch. 
Die  Stirnmuskel  tritt  oberhalb  der  Nasenmuskel  etwas  hervor,  sie 
küudet  uns  die  Folgen  der  Denkarbeit,  welche  sich  schon  manches  J  ahrzehnt 
hindurch  in  dem  Sitze  der  menschlichen  Hauvtthätigkeit  vollzogen  hat.  Die 
Stirn  selbst  ist  hoch,  aber  nicht  sehr  breit,  über  sie  legt  sich  das  in  früheren 
Jahren  leicht  geträufelte  schwarze  Kopfhaar,  welches  heute  ergraut  ist. 
Auch  der  volle  Schnurrbart,  welcher  die  feinen  Lippen  bedeckt  und  das 
heimliche  unwillkürliche  Spiel  derselben  verdeckt,  ohne  es  zu  verbergen,  hat 
die  Farbe  des  Alters  angenommen.  Einen  anderen  Bart  soll  der  Fürst 
niemals  getragen  haben,  so  daß  er,  zumal  da  er  wenig  gealtert  ist,  von 
Bekannten  sofort  wieder  erkannt  worden  ist,  die  ihn  Jahrzehnte  lang  nicht 
gesehen  haben.  Die  Figur  ist  zierlich  schlank,  nicht  zu  hoch  und  keineswegs 
untersetzt,  sie  entspricht  der  ruhigen,  vornehmen  Haltung  eines  Weltmanns, 
welcher  von  Kindheit  auf  sich  unter  den  Großen  dieser  Erde  bewegt  hat. 
Daß  Fürst  Hohen  lohe  einen  sehr  einfachen,  anspruchslosen  Charakter 
besitzt,  kann  man  schon  an  der  außerordentlich  bescheidenen  Einrichtung  seines 
Arbeitszimmers  in  dem  Reichskanzler-Palais  zu  Berlin  wahrnehmen.  Die 
Fenster  dieses  Ranmes  gehen  auf  deu  Park  hinaus,  an  einem  derselben, 
der  Eingangsthür  gerade  gegenüber,  steht  sein  Schreibtisch.  Auf  dem 
letzteren  erblicken  wir  eine  ganz  gewöhnliche  Schreib-Unterlage,  ein  Tinten- 
und  Sandfaß  aus  weißem  Porzellan,  einen  Löscher,  eine  Scheere,  also  Alles, 
was  auf  einen  Schreibtisch  gehört,  und  von  derselben  einfachen  Beschaffen- 
heit, wie  man  sie  in  fast  jedem  öffentlichen  Bureau  fiudet.  Drei  Feder- 
halter —  „Stück  für  Stück  einen  Silbergroschen"  —  liegen  auf  den» 
Tintenfaß.  Das  Petschaft,  ein  großes  Leseglas,  Leuchter,  Zündholzständer, 
Eigarrenhalter  —  alles  dieses  ist  von  der  großen  Einfachheit,  wie  sie  dem 
Fürsten  seit  seiner  Neferendarzeit  lieb  und  zur  Gewohnheit  geworden  ist.  Ein 
Papiermesser  aus  Brouze  von  etwa  30  Centimeter  Länge,  dessen  schwerer 
Griff  von  Bronzestreifen  spiralenförmig  umschlungen  wird,  dient  dem  Reichs- 


Fürst  Chlodwig  von  Hohenlohe-Tchillingsfüist.  45 
lanzler  als  Waffe  gegen  dickfelliges  Kanzleipapier.  Von  einem  etwa 
V2  Meter  hohen  Obelisken  aus  Marmor,  dessen  Sockel  ein  mit  silberhellem 
Glockchen  ausgerüstetes  Uhrwerk  birgt,  liest  der  Fürst  die  Zeit  ab,  welcher 
durch  Läutemerke  den  Diener  herbeirufen  kann,  während  er  noch  einen 
Klingelzug  nebst  Quaste  über  seinem  Haupte  zur  Verfügung  hat. 
Vor  dem  Schreibtisch  steht  ein  lederbezogener  Rohrstuhl;  außerdem  be- 
findet sich  vor  dem  Pfeilerspiegel  ein  größerer  Sorgenstuhl  mit  kleinem 
Lesetisch.  Neben  deni  von  Säuleu  umgebenen  grünen  Kamin  aus  Majolica 
stehen  Sessel  rings  um  einen  ovalen  Tisch,  auf  welchen  ein  lebensgroßes 
Oelgemälde  des  Herzogs  von  Ratibor  herabblickt.  An  der  gegenüberliegen- 
den Wand  hängt  das  wohlgetroffene  Oelbild  des  Kaisers  Wilhelm  I., 
unter  welchem  sich  ein  fünf  Mal  getheiltes  Bücher-Negal  mit  Acten,  Schriften, 
Druckwerken  hinzieht,  —  zum  Beweise,  daß  es  dem  Reichskanzler  an 
arbeitsreichem  Stoff  nicht  fehlt.  Die  langen  Gesimse  sind  von  Photo- 
graphien aus  der  Familie  des  Fürsten  Hohen  lohe  bedeckt,  auch  reihen  sich 
hieran  lagdtrophäen,  Humpen,  Kannen,  Gläser  ?c.  Daß  der  Fürst 
Raucher  ist,  erkennt  man  aus  den  verschiedenen  Utensilien:  auf  jedem  Tisch 
steht  Feuerzeug  mit  Eigarrenständer,  jedoch  auch  alles  dies  iu  einfachster 
Ausstattung;  der  Reichskanzler  raucht  am  liebsten  Cigaretten  und  zwar  russi- 
schen Herkommens.  Der  ganze  Raum  dieses  Arbeitszimmers  hat  viel  An- 
heimelndes und  das  Gemüth  Ansprechendes. 
Das  Temperament  des  Fürsten  ist  maßvoll  und  wird  durch  lang- 
jährige Herrschaft  des  Geistes  über  den  Körper  bedingt,  was  bei  der 
Lebhaftigkeit  des  Denkens  und  dem  außerordentlich  schnellen  Auffassungs- 
vermögen seines  Geistes  gewiß  nicht  leicht  zn  erreichen  gewesen  ist.  Weder 
Sanguiniker,  noch  Choleriker  ist  Fürst  Hohen!  ohe,  aber  auch  keineswegs 
ein  Phlegmatiker,  wohl  aber  hat  er  sich  eine  ihm  sehr  wohl  anstehende  ge- 
wisse Zurückhaltung  angeeignet,  die  ihn  oft  ruhiger  erscheinen  läßt,  als  er 
tatsächlich  ist.  Ihm  ist  es  gelungen,  das  zn  erreichen,  was  Vater  Horaz 
jedem  Manne  anempfiehlt,  wenn  er  sein  Hsquam  mLmsnto  rsdu8  in 
aräuis  gsivaro  inc-ntsin  anstimmt. 

Hanpteigenschnften  nnd  Fähigkeiten  des  Fürsten,  die  er  während  seines 
langen  und  vielseitigen  Berufslebens  stets  zu  bethätigen  gesucht  hat,  sind: 
Klarheit  des  Geistes,  richtiges  Erfassen,  Erkennen  und  Durchdringen  felbst 
verwickelter  Dinge,  Gewandtheit  der  Feder  in  schriftlichem  Ausdrucke,  uner- 
schütterliche Ruhe  und  Leidenschaftslosigkeit  in  Veurtheilung  der  That- 
sachen,  strenges  Festhalten  an  deni  für  Recht  Erkannten,  völlige  Uneigen- 
nühigkeit,  treue  Hingabe  an  alles  Große,  Schöne  und  Hohe,  dann  eine  edle 
Milde  des  Herzens  und  der  Wille,  jedem  Mitmenschen  gerecht  zu  werden 
und  lieber  zu  versöhnen  als  zu  kränken.  Man  wird  gestehen  müssen,  daß 
diese  Eigenschaften  ein  Ganzes  bilden,  dessen  Besitz  Jedem  zu  wünschen  ist. 
Und  das  ist  der  Mann,  in  dessen  Hände  die  Leitung  des  schweren  Amts 
eines  deutschen  Reichskanzlers  gelegt  ist.  Möge  sie  ihm  stets  wohlgelingen! 


„Das  gelehrte  Frauenzimmer." 

Ein  Essai  über  das  Frauenstudium  in  Deutschland  zur  Rococo  und 

Zopfzeit. 

von 

Georg  Steinhaufen. 
—  J  ena. 

bitte  meine  Leser  und  namentlich  ineine  Leserinnen,  in  dem 
gewählten  Titel  keine  irgendwie  malitiüse  Färbung  sehen  zu 
wollen.  Der  Ausdruck:  „das  gelehrte  Frauenzimmer"  ist  ein 
allgemein  üblicher  Ausdruck  der  Zeit,  van  der  ich  handeln  will,  und 
besitzt  jene  Färbung  durchaus  nicht.  So  nennt  beispielsweise  ein  damaliger 
Vertheidiger  der  gelehrten  Frauen,  C.  F.  Paullini,  ein  von  ihm  verfaßtes 
Vuch  „Hoch-  und  Wohl-  gelahrtes  deutsches  Frauen  Zimmer";  und  in 
ähnlichen  Schriften  z.  V.  von  Engeicken,  Eberti,  Finauer  kehrt  die  Be- 
zeichnung überall  wieder.  Mehr  könnte  die  Erscheinung  selbst,  über  die  ich 
hier  Einiges  beibringen  will,  auffallen,  daß  man  nämlich  schon  damals 
überhaupt  von  einem  Frauenstudium  reden  kann.  Natürlich  nicht 
von  einem  organisirten,  obgleich,  wie  wir  sehen  werden,  anch  dazu  ein  An- 
lauf genommen  wurde:  aber  doch  von  einer  auffälligen  Neigung  des 
weiblichen  Geschlechts  zu  gelehrten  Studien.  Heute,  im  Zeitalter  der 
schriftstellernden  Damen,  ist  zwar  die  allgemeine  Nildung  der  Frauen  un- 
endlich viel  größer  geworden  als  damals.  Aber  von  gelehrten  Frauen  kann 
doch  nur  in  erheblich  geringerem  Umfange  gesprochen  werden,  nnd  eine 
neuere  Schriftstellerin  hat  Recht,  wenn  sie  meint,  „daß  es  während  jener 
Periode  wenigstens  zwanzig  gelehrte  Weiber  gebe  gegen  eine  Zeitgenossin, 
die  unsere  gegenwärtigen  Gelehrten  für  ebenbürtig  anerkennen  möchten." 
Gelehrte  Frauen  hat  es  ja  fast  zu  allen  Zeiten  gegeben.  Schon 
Enripides  ineint:  Ich  hasse  ein  gelehrtes  Weib,  und  keine  soll  mir  in's 
Haus  kommen,  die  mehr  weiß,  als  dem  Weibe  nütze  ist.  Als  auffällige 
Erscheinung  aber  tritt  —  in  Deutschland  uenigftens  —  die  Gelehrsamkeit 
x 


„Das  gelehrte  Frauenzimmer,"  H? 

der  Frauen  erst  in  der  bezeichneten  Periode  hervor.  —  Es  scheint  das  im 
Widerspruch  zu  stehen  mit  dem  allgemeinen  Vildungszustand  der  Frauen 
und  Mädchen  jener  Zeit.  Im  Mittelalter  war  dieser  weit  höher  gewesen 
als  der  der  Männer;  das  Minnezeitalter  hatte  dann  die  Frau  mit  einem 
strahlenden  gesellschaftlichen  Nimbus  umgeben.  Neides  war  anders  geworden: 
in  geistiger  wie  in  gesellschaftlicher  Beziehung  trat  die  Frau  zurück;  sie 
wurde  auf  das  Haus  beschränkt,  und  in  häuslicher  Abgeschlossenheit  wuchs 
das  weibliche  Geschlecht  heran:  seine  Erziehung  und  Bildung  wurden  ver- 
nachlässigt. Die  italienische  Renaissance,  die  so  viele  hochgebildete  Fraueu 
hervorbrachte,  erweckte  nur  schwache  Nachklänge  ans  deutschem  Boden.  Gegen- 
über diesen  wenigen  Ausnahmen,  wie  der  Charitas  Pirkheimer  und  anderen, 
tritt  die  grosse  Masse  völlig  zurück.  Der  Durchschnitt  der  Frauen  war  ohne 
jedes  höhere  geistige  Interesse.  In  meinem  Aufsatz:  „Die  deutscheu 
Frauen  im  siebzehnten  Jahrhundert"  (abgedruckt  in  den  Eulturstudien)  habe  ich 
das  näher  ausgeführt  und  belegt,  freilich  dabei  stark  betont,  wie  sehr  diese 
Abgeschlossenheit  ein  Glück  für  die  Frauen  war.  Sie  retteten  Gemüth  und 
Natürlichkeit  durch  eine  ganz  verbildete  Zeit  hindurch:  dem  vielen  Neuen 
und  Abstoßenden  gegenüber  blieben  sie  —  namentlich  die  Frauen  des  Mittel- 
standes —  treue  Hüterinnen  des  alten  Familiengeistes  und  frischer  Naivctät. 
In  diesen  Zuständen  trat  nun  gegen  Ausgang  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts —  in  einzelnen  Erscheinungen  auch  schon  früher  —  eine  gewisse 
Aenderung  durch  das  Aufkommen  jener  gelehrten  Species  ein,  deren 
Eremvlare  immer  zahlreicher  wurden.  Freilich,  die  große  Masse  der  Frauen 
wurde  auch  jetzt  davon  wenig  berührt. 
Immerhin  wurde  die  gelehrte  Frau  zu  einem  geiuifsen  Typus 
und  ist  insofern  culturhistorisch  bemerkenswert!).  Man  scheint  das 
heute  vielfach  vergessen  zu  haben.  So  sieht  Ludwig  Geiger  in  seinem 
tüchtigen  Buch:  „Berlin  1688—1840"  die  gelehrten  Interessen  der  Königin 
Sophie  Charlotte  anscheinend  als  eine  besondere  Ausnahme  an.  Das  ist 
nickt  der  Fall.  Ich  bemerke  es  ausdrücklich,  daß  ich  hier  nicht  von  schön- 
geistigen Bestrebungen  handle,  obgleich  auch  auf  dem  Gebiet  der  Litteratur, 
wie  auf  dem  des  Kirchenliedes,  eine  ganze  Reihe  Frauennamen  (z.  N. 
Sibylle  Schwarz)  zu  nennen  wären,  fondern  von  gelehrten  Studien. 
An  die  Renaissance  knüpft  diese  Erscheinung  mir  in  gewissem  Sinne 
an,  so  namentlich  insofern,  als  die  theoretifchen  Erörterungen  über 
die  Unterschiede  der  beiden  Geschlechter  und  über  die  Frage, 
ob  die  Frauen  sich  mit  gelehrten  Dingen  beschäftigen  dürften,  bereits 
ein  beliebtes  Thema  italienischer  Humanisten  waren.  Jakob  Burkhard! 
und  lanitschek  haben  darüber  eingehender  gehandelt.  Während  aber 
diese  theoretische  Frage  in  dem  Italien  der  Renaissance,  in  dem  die 
Bildung  der  Frau  der  des  Mannes  völlig  ebenbürtig  war,  praktisch  bereits 
zu  Gunsten  der  Frau  gelöst  war,  wandte  sich  das  Interesse  der  deutschen 
Humanisten  zwar  gelegentlich  auch  der  Frage  zu  —  so  pries  Eonrad 
Nord  und  Lud.  I.VXV.  221.  4 


HN  Georg  3teinhausen  in  I <na. 

Celles  die  Hroswitha  —  aber  sie  konnten  doch  nur  auf  wenige  deutsche 
Frauen  zu  ihrer  Zeit  hinweisen,  die  der  klassischen  Bildung  theilhaftig 
waren.  Auch  Erasmus  hat  diese  Frauenfrage  erörtert.  Ein  besonderer 
Verfechter  der  Frauen  wurde  Agrippa  von  Nettesheim,  der  ihnen  sogar 
eine  Superiorität  vor  den  Männern  beilegte.  Seine  Schrift  ist  betitelt:  De 
iwdi Üt»tE  st  vraooellsnti»  losminini  86XU8  eiuLäsmyus  8upra  virilsiu 
eiuiueuti»..  Gegen  Ende  des  sechzehnten  J  ahrhunderts  traten  dann  eine 
ganze  Reihe  deutscher  Pertheidiger  der  Frauen  auf,  so  1595  der  Doctor 
Simon  Gedicke,  der  in  allem  Ernst  das  weibliche  Geschlecht  gegen  eine 
Behauptung,  die  damals  aufgestellt  und  in  vielen  Nachdrucken  verbreitet 
war,  daß  nämlich  die  Weiber  keine  Menfchen  feien,  vertheidigte,  fo  1596 
Andreas  Schoppius  und  1597  Valthafar  Wandel,  die  aus  demselben  Grunde 
für  die  Frauen  auftraten. 

Ganz  unverhältnismäßig  stärker  tritt  dann  diese  Litteratur  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  auf  und  zwar,  weil 
damals,  wie  gesagt,  das  gelehrte  Frauenzimmer  eine  Erscheinung  war,  die 
auffallen  mußte. 

Woher  kam  diese  Erscheinung.  In  erster  Linie,  meine  ich,  ist  sie 
in  dem  Charakter  der  ganzen  Zeit  begründet.  Mit  Recht  hat  man 
dieses  Zeitalter  als  das  polnhistorische,  als  das  gelehrte  K»t'  exoctie,, 
bezeichnet.  Es  ist  ja  im  Grunde  eine  höchst  widerwärtige  Periode;  in  mora- 
lischer nnd  geistiger  Beziehung  zeigt  sich  seit  Ausgang  des  16.  Jahrhunderts 
eine  starke  Depression,  und  so  ist  denn  dieses  Attribut  der  Gelehrtheit  nicht 
fchlechthin  als  Vorzug  aufzufassen.  Zweifellos  ist  in  dieser  Zeit  gerade 
auf  gelehrtem  Gebiet  viel  geleistet  worden:  aber  ebenfo  unzweifelhaft  wiegt 
der  Charakter  des  Epigonenhaften,  nicht  der  frifcher  und  fröhlicher  Pro- 
dnction  vor.  Und  noch  schlimmer  ist  der  banausische  Zug,  der  sich  zeigt, 
und  weiter  die  Sucht,  sich  einen  Anstrich,  ein  Air  zu  geben.  Nicht  gelehrt, 
sondern  wenn  wir  das  Wort,  das  heute  eine  bezeichnende  Färbung  erhalten 
hat,  anwenden  wollen:  gelahrt  erscheint  uns  die  Zeit.  Curiositäten  und 
Alfanzereien  werden  besonders  werth  gehalten:  oft  schreitet  der  helle  Blöd- 
sinn in  gelehrt  aufgeputztem  Gewände  einher.  Das  Einfachste  wird  durch 
gelehrtes  Brimborium  verdunkelt:  noch  heute  haben  viele  Gelehrte  es  nicht 
fertig  bringen  können,  sich  von  der  öden  Manier  der  Unverständlichkeit  freizu- 
machen, als  ob  sie  damit  der  Wahrheit  dienten  —  mit  einem  Wort:  Die 
Gelehrtheit  wurde  damals  Mode. 

Vereinzelt  tritt  nns  das  „gelehrte  Frauenzimmer"  schon  zu  Anfang 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  entgegen.  Waren  vorher  einzelne  Frauen 
schon  auf  dem  Gebiet  der  Erbauungslitteratur  —  man  vergleiche  darüber 
den  Aufsatz  von  Talvj:  „Deutschlands  Schriftstellerinnen"  im  Historischen 
Taschenbuch  —  thätig  gewesen,  so  kamen  jetzt  weibliche  „Wunder"  der 
reinen  Gelehrsamkeit  zum  Vorschein.  Um  jene  Zeit  stand  bekanntlich  die  ge- 
lehrte Thätigkeit  vor  Allem  in  den  Niederlanden  in  Blüthe.  Namen 


„vas  gelehrte  Frauenzimmer."  HH 

wie  Lipsius,  Scaliger,  Heinsius  sind  ja  Allen  geläufig.  So  ist  es  erklär- 
lich, daß  gerade  in  den  Niederlanden  die  gelehrten  Frauen  —  als  Bei- 
spiel wird  öfter  Cornelia  Vossius  angeführt  —  zuerst  häufiger  werden.  Die 
Niederlande  nannten  auch  jene  Anna  Maria  von  Schurmann, 
die  niederländische  Minerva.,  mit  Stolz  die  ihrige..  Von  Geburt  eine 
Deutsche  —  sie  ist  1607  in  Köln  geboren  —  hat  sie  den  größten  Theil 
ihres  Lebens  in  Utrecht  zugebracht.  Man  findet  über  sie  in  zahlreichen 
Büchern  Näheres:  hier  genüge  anzuführen,  daß  sie  vierzehn  Sprachen  ver- 
stand, mit  zahlreichen  Gelehrten  in  Briefwechsel  stand  und  selbst  schrift- 
stellerte.  Interessant  ist  aber  namentlich,  wie  diesem  „gelehrten  Frauen- 
zimmer" die  gesammte  gelehrte  Welt  huldigte.  Die  zehnte  Muse,  das 
Wunder  des  J  ahrhunderts,  diese  und  ähnliche  Bezeichnungen  wurden  zahl- 
reich auf  sie  angewandt.  Sie  imponirte  dieser  polyhistorischen  Zeit,  und 
daß  sie  ein  Weib  war,  machte  sie  dieser  curiositätenlüsternen  Epoche  nur 
noch  interessanter.  Ter  Sucht  jener  Zeit  nach  dem  „Wunderbarlichen  und 
Unerhörten"  schreibe  ich  dieses  Interesse  nicht  zum  kleinsten  Theil  zu. 
Anna  Maria  von  Schurmann,  die  übrigens  ihrerseits  Schriften  pro 
ckomo  d.  h.  für  die  gelehrten  Frauen  (z.  N.  6«  i n F S » i i  iu u iisbi- i8  aä  clootri- 
n»ni  et  ui6ll<ilS8  litoi'ü8  llptituäius)  schrieb,  fand  nun  in  Teutschland 
selbst  bald  zahlreiche  Nachfolgerinnen.  Aus  anderen  Ländern,  wo  man 
dieselbe  Erscheinung  beobachten  kann,  will  ich  hier  im  Vorbeigehen  nur  an 
Engländerin  Weston  und  die  berühmte  Christine  von  Schweden  erinnern. 
Die  bekannten  und  unbekannten  „gelehrten  Frauenzimmer"  Deutsch- 
lands hier  einzeln  aufzuzählen,  hat  wenig  Zweck.  Die  Hauptsache  ist,  fest- 
zustellen, daß  sie  gegen  17t)()  hin  gerade  in  Deutschland  eine 
Modeerscheinung  werden.  So  spricht  ein  damaliger  Autor,  Johann 
Gerhard  Menschen,  der  Verfasser  eine  „Oourisuson  Schau-Bühne  Durch- 
lauchtigst-Gelehrter vllmeg"  von  Deutschland  als  „einem  Lande,  so  sich 
vor  allen  andern  viel  gruncl-gelahrter  Vams8  zu  rühmen  hat".  Von 
einzelnen  Erscheinungen  aus  der  ersten  Hälfte  des  J  ahrhunderts  will  ich 
hier  Anna  Maria  Cramer  nennen,  die  im  Alter  von  14  Jahren,  wahrschein- 
lich in  Folge  der  Ueberladung  mit  gelehrten  Dingen,  starb.  Ter  Vater, 
der  Magdeburger  Pastor  Andreas  Cramer,  rühmt  von  ihr  in  einem 
lateinischen  Epitaphium,  daß  sie  KiZtoriae  6t  pootioa«  8tu6w8i83iw», 
liußuig  latinÄ  6t  bsdrnie»  sl6A»ntl88im«  excult»  6t  8aorai'urn  littorarum 
8wäil8  unics  äeäitn  gewesen  sei.  Auf  sein  „Wunderkind"  war  der 
Vater  zweifellos  sehr  stolz  gewesen,  und  ähnlich  dachten  viele  Gelehrten 
und  suchten  aus  ihren  Töchtern  gelehrte  Monstra  zu  machen. 
Aber  nicht  nur  die  Töchter  der  Gelehrten,  fondern  namentlich  auch 
Fürstentöchter,  an  deren  Erziehung  mehr  herumerperimentirt  wurde,  als 
an  der  geringerer  Frauen,  bieten  Beispiele,  wie  Luise  Amöne  von  Anhalt, 
die  Hebräisch  verstand,  die  fertige  Lateinerin  Katharina  Ursula  von  Baden, 
Antonio,  von  Württemberg  „mit  ihrer  ungemeinen  Wissenschafft  in  der 
4» 


50  Georg  Zteinhausen  in  Jena. 

Griechischen,  vornehmlich  in  der  Hebräischen  Sprache",  die  Töchter  des 
Winterkünigs,  Elisabeth,  Aebtissin  von  Herford,  die  gelehrte  Freundin 
Descartes',  und  Sophie  von  Vraunschweig.  Von  der  Letzteren  rühmt  der 
obenerwähnte  Meuschen,  daß  die  „Strahlen  Ihrer  durchdringenden  Weiß- 
heit, schärften  Verstandes  und  inettadlsr  Wissenschaft  in  der  ^lisOlo^ie, 
6eoßr»pdis,  2i8toril_  und  vielerlei)  Sprachen  so  hellgläntzend  sennd,  daß  sie  das 
Licht  seiner  blöden  Augen  verdunkeln  und  machen,  daß  er  sie  mehr  in  stiller 
Verwunderimg  verehre  als  zu  entwerffen  sich  überwinde."  Ihre  Tochter 
war  die  bekannte  Sophie  Charlotte,  die  Freundin  Leibnizens. 
Neben  diesen  fürstlichen  gelehrten  Frauen  —  die  Beispiele  ließen  sich 
leicht  vemehren  —  wären  gar  viele  aus  bürgerlichen  und  adligen  Kreisen  zu 
nennen,  von  denen  einzelne,  wie  Maria  Barbara  Lehmann,  Maria  Kunitz, 
Helene  Sibylle  Wagenseil,  weit  und  breit  bekannt  waren.  Doch  will  ich 
hier  nicht  mit  Notizen  ermüden.  Zahlreiche  Beispiele  „gelehrter  Frauen- 
zimmer" findet  man  in  dem  erwähnten  Aufsatz  der  Talvj  und  in  der 
gleich  zu  nennenden  Litteraturgattung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts. 
Hervorzuheben  ist  nämlich,  daß  man  damals  von  solchen  Frauen  und 
Jungfrauen  —  nicht  blos  jener,  sondern  auch  früherer  Zeit  —  befonders 
gern  hörte  und  las.  Sehr  zahlreich  werden  die  Schriften,  die  ~  oft 
in  trockener  Aufzählung  —  von  gelehrten  Frauen  berichten.  So  sind  zu 
nennen:  loh.  Franenlob,  die  lobwürdige  Gesellschaft  der  gelehrten  Weiber, 
Paschii  ss.vnaeceum  äocwiu,  C.  F.  Panllini,  Hoch«  nnd  Wohl-gelahrtes 
Teutsches  Frauen-Zimmer,  loh.  Casp.  Eberti  eröffnetes  Cabinet  des  ge- 
lehrten Frauenzimmers  und  sehr  viele  andere.  Diese  Litteratur  muß  also 
sehr  beliebt  gewesen  sein  und  zahlreiche  Leser  gefunden  haben.  Diese  Galerien 
sollten  „zum  angenehmen  Zeitvertreib"  dienen,  man  sollte,  wie  es  bei 
Pau Mini  heißt,  daraus  ersehen,  „wie  unser  geliebtes  Teutschland  weder  den 
hochtrabenden  Spaniern  noch  den  ehrgeitzigen  Welschen  oder  aufgeblasenen 
Frantzosen  dißfalls  im  geringsten  nachzugeben  habe,  sintemahl  hierinn 
solche  Pierinnen  gezeigt  werden,  die  viele  Ausländerinnen  in  den  Winkel 
jagen."  Und  dann  heißt  es  stolz:  „Denn  wie  weit  glückseliger  und  zier- 
licher ist  unser  jetziges  Teutschland,  als  zu  Taciti  Zeiten,  da  weder  Mann 
noch  Frau  was  künstliches  kont-  oder  wüsten." 
Diese  Litteratur  zeugt  weiter  davon,  daß  man  in  vielen  Kreisen, 
namentlich  natürlich  den  gelehrten,  die  gelehrten  Frauenzimmer  besonders 
hochachtete.  Wenn  schon  zu  Anfang  des  J  ahrhunderts  die  lenaischo 
theologische  Facultät  ein  gelehrtes  Buch  der  Regina  von  Grünad: 
„Der  geistliche  Wagen"  —  das  Buch  selbst  konnte  ich  nicht  erlangen, 
auf  der  Jenaer  Bibliothek  ist  es  nicht  —  mit  einer  empfehlenden  Vorrede 
einleitete,  so  zeigt  das  die  wachsende  Achtung.  Mit  besonderer  Vorliebe 
wandte  man  sich  auf's  Neue  der  Frage  zu,  ob  den  Frauen  das  ge- 
lehrte Studium  dienlich  fei.  Auch  diese  Litteratur  ist  sehr  zahlreich: 
es  würde  zu  weit  führen,  hier  Nachweise  zu  geben.  Es  ist  ja  auch  er- 


„Das  gelehrte  Frauenzimmer."  5~ 

tlärlich,  daß  die  Menge  der  gelehrten  Frauen  die  Frage  und  das  Interesse 
daran  besonders  in  Fluß  bringen  mußte.  Namentlich  um  1700  läßt  sich 
das  bemerken.  In  dem  großen  encnklopä'dischen  Werke  des  von  Hohberg: 
,,6eorFiea  eurio8»,  oder  Adeliges  Landleben"  findet  sich  in  der  Ausgabe 
von  1682  die  Frage  nicht  berührt,  in  der  von  1701  ist  dann  aber  ein 
neues  Capitel  enthalten:  „Ob  einen«  Weibsbild  das  Studium  wohl  anstehe?" 
Die  meisten  Autoren  nun  nehmen  in  der  Frage  einen  ziemlich  ver- 
nünftigen Standpunkt  ein,  wenngleich  sie  den  allgemeinen  Nespect  vor  den 
gelehrten  Frauen  meistens  theilen.  Ein  besonderer  Verehrer  derselben 
ist  Pau Mini.  Er  sagt  von  der  oben  erwähnten  Euripidesstelle:  „Es  ist  ja 
wohl  eine  Ochsenstimme,  wenn  Eurivides  also  herausplumpet."  Er  schilt,  daß 
die  Frauen  selbst,  d.  h.  die  Masse  derselben,  diese  gelehrten  Zierden  wenig 
achten,  und  läßt  eine  also  sprechen:  „Ja  so  gar  sind  wir  zur  Barbarei  und  Un- 
wissenheit verdammt,  daß  nicht  allein  die  Mannspersonen,  sondern  auch  die 
meisten  von  unserem  Geschlecht  selber,  weil  sie  in  der  Eitelkeit  und  Unwissen- 
heit verwildert  sind,  uns  verachten  und  verlachen,  wenn  eine  oder  die  andere 
auf  löbliche  Wissenschaft  sich  befleißt,  und  nichts  auf  gelehrte  Weibspersonen 
halten."  Ein  anderer  wanner  Vertheidiger  ist  Paullinis  Freund,  Herr 
Johannes  Sauerbrei,  der  zwei  Disputationen  äs  teiuinaruiii  sruäitiuns  hielt. 
Ein  wenig  anders  urtheilt  der  erwähnte  Herr  von  Hohberg-,  er  be- 
wundert „die  yxosllsutsu  InAyni»"  unter  den  Frauen,  aber  für  allgemeine 
gelehrte  Nildung  ist  er  nicht.  „Wann  ich  hierinnen,"  sagt  er,  „meine 
Mennung  unmaßgeblich  beifügen  sollte,  geb  ich  zwar  gerne  zu,  daß  mehr 
Schad  als  Nutzen  daraus  entspringen  sollte,  wenn  sich  die  Weiber  ins- 
gemein auf's  Studium  begeben  wollen;  das  kann  man  aber  dennoch  nicht 
laugnen,  daß  sie  so  mol  GOttes  Ebenbild  sind  als  die  Männer,  und  wo 
sich  sxtraoräinni'ie  hohe  InFSnia,  scharfsinnige  .luäicin,  und  fürtreffliche 
Einfälle  unter  ihnen  befinden,  und  sie  solche  zu  GOttes  Lob  und  Dienst 
des  Nächsten  bescheidentlich  anwenden,  es  nicht  allein  untadelich,  sondern 
auch  löblich  und  rühmlich  sey;  wie  ich  dann  von  dergleichen  fürtrefflichen 
weissen  Frauenzimmer  viel  Erempel  anziehen  könnte  u.  s.  w.  Weil  aber 
dieses  absonderliche  und  heroische  Erempel  sind,  wäre  es  verwegen,  wann 
man  ihnen  insgemein  nachahmen  sollte,  sonderlich,  wann  man  dabe«  die 
weibliche  Pflicht,  Gebühr-  und  Neruffs-Arbeit  beyseits  setzen,  versäumen 
und  vernachlässigen  wolle."  In  ähnlicher  Weise  spricht  sich  ein  etwas 
später  erschienenes  Werk:  „Nutzbares,  galantes  und  curiöses  Frauenzimmer- 
Lexikon"  aus.  In  der  Vorrede  desselben  wird  auf  den  neuerdings  heftig 
entbrannten  Streit  über  die  gelehrten  Frauen  hingewiesen:  der  Verfasser 
will  deshalb  „einige  unvorgreiffliche  Gedanken:  Ob  und  wie  weit  ein  Frauen- 
zimmer sich  in  die  gelehrte  Wissenschaften  einzulassen  Ursache  habe",  aus- 
führen. Er  ist  durchaus  für  wissenschaftliche  Nildung,  aber  in  einem  be- 
schränkten Sinn.  „Mit  solchen  Weibes-Personen  aber,"  fährt  er  fort,  „die 
sich  in  der  Äat!>erü»tic,  l'dilozopliia  8oiontiiica,  Staats-Kunst,  Oriti«, 


52  Georg  steinhausen  in  Jena. 

I'b.iloloßie,  ?n?8is>  Sprachen,  der  höheren  ^iisoloßis,  luriZpruäeu?  unl> 
Neäioill  allzu  sehr  vertiefst  haben,  wird  wohl  niemanden  viel  gedienet  seyn. 
Kommt  ein  dergleichen  Gewächse  in  den  gelehrten  Gefilden  zum  Vorschein, 
so  muh  man  es  wie  eine  rare  ausländische  Pflantze  bewundern, 
keineswegs  aber  zur  Nachahmung  vorzeigen." 
Dieser  Standpunkt  wird  allmählich  immer  häufiger  vertreten.  Keine 
gelehrten  Wunder,  aber  größere  Nildung  des  weiblichen  Geschlechtes. 
Denn  man  muß  nicht  vergessen,  worauf  ich  schon  zu  Anfang  dieser  Skizze 
hingewiesen  habe,  daß,  wenn  auf  der  einen  Seite  das  „gelehrte  Frauen- 
zimmer" nicht  selten  war,  auf  der  anderen  doch  ganz  auffallende  Unbildung 
und  Umvissenheit  herrschte.  Darauf  weist  z.  V.  Veit  Ludwig  von  Secken- 
dorf in  seinen:  „Christen-Stat"  sehr  nachdrücklich  hin.  „Ist  also,"  sagt 
er,  „eine  grosse  und  unverantwortliche  Nachlässigkeit,  daß  so  wenig  Sorge 
für  die  Unterweisung  und  gute  Erziehung  des  weiblichen  Geschlechts  getragen 
wird.  Ein  sehr  weniges  geschiehet  in  den  Mägdlein-Schulen  und  bleibet 
gemeiniglich  und  bei  dem  alleruntersten  Grad  der  (ÜÄtkcb.i8ation."  Un- 
bedingt für  „gelehrte  Weiber"  ist  er  auch  nicht,  aber  es  ist  „auch  eine 
Mittel-Straße  zu  treffen".  So  bedauert  er,  daß  aus  dem  Plane  des  Kur- 
fürsten August  von  Sachsen  1555,  „drey  so  genante  I  ungfran-Schulen, 
iede  vor  40  Personen,  im  Lande  zu  stiften,"  Nichts  geworden  ist;  „wie 
anders  Gutes  mehr,  ist  auch  dieses  ohne  s3sc>t  geblieben,  so  doch  ein  herrlich 
Erempel  gegeben  hätte,  dem  hin  und  wieder  nachzufolgen  gewesen  wäre". 
Auf  diese  wichtige  und  interessante  Bewegung  zur  Hebung  des  weiblichen 
Geschlechtes  will  ich  hier  nicht  näher  eingehen:  man  weiß,  wie  namentlich  die 
moralischen  Wochenschriften  sehr  darauf  hinwirkten.  Das  „Frauen-Volk"  follte, 
wie  es  in  den  „Discursen  der  Mahler"  heißt,  „witzig  und  angenehm,  aber  nicht 
gelehrt  und  pedantisch"  werden.  An  Geliert  ist  ebenfalls  zu  erinnern:  die 
Vremer  Beiträge  wandten  sich  namentlich  an  das  „gebildete  Frauenzimmer". 
Von  dieser  socialen  Bewegung  werde  ich  in  größerem  Zusammenhang  über 
kurz  oder  lang  zu  handeln  versuchen. 

Hier  beschränke  ich  mich  darauf,  die  gelehrteTpecies  weiter  zu  beobachten. 
In  diefer  Beziehung  stoßen  wir  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  auf  Be- 
strebungen, die  trotz  der  Angriffe  auf  die  „gelehrten  Weiber"  und  trotz  der 
oben  angeführten  Warnungen  vor  Uebertreibungen  den  Frauen  höhere  Ge- 
lehrsamkeit nachdrücklicher  zu  sichern  suchen. 
Der  Gedanke  einer  Akademie  tritt  auf  und  wird  vielfach  erörtert. 
Namentlich  in  Zeitschriften.  So  wird  in  den  „auserlesenen  Anmerkungen 
über  allerhand  wichtige  Materien  und  Schriften"  170?  eine  „Jungfer- 
Akademie"  vorgeschlagen.  Der  Autor  will  allerdings  wesentlich  „eine  Gelehrt- 
heit in  IßalibuL",  keine  „gelehrten  Dhorheiten.  welche  man  bisher  eine 
Erudition  genennet".  Da  nun  die  Universitäten  „zur  Zeit  noch  nicht  im 
Stande"  mären,  „daß  man  Jungfern  und  Weibern  rathen  dürfte,  mit  den 
Herren  Studenten  im  Collegio  eine  bunte  Reihe  zu  machen",  fo  müsse  man 


„Das  gelehrte  Frauenzimmer."  53 

eben  für  sie  „eigene  Schulen  und  Universitäten"  aufrichten.  Er  schlägt  denn 
eine  vollständige  Organisation  vor,  will  z.  B.  auch  Promotionen,  also 
weibliche  Doctoren,  und  verspricht  von  einer  solchen  Anstalt  dem  Lande  auch 
materiellen  Vortheil.  „Dergleichen  Jungfer-Akademie  würde  über  den  Nutzen, 
so  von  der  Wcibergelehrtheit  der  Republik  zugeht,  auch  der  Stadt  und  den: 
Lande  ein  Großes  eintragen".  Das  gleiche  Thema  fpielt  in  den  moralischen 
Wochenschriften  eine  erhebliche  Rolle.  Hin  und  wieder  wird  es  dort  freilich 
etwas  fatirifch  behandelt.  „Der  Patriot",  die  Hamburger  Wochenschrift, 
kommt  schon  im  dritten  Stück  des  ersten  Jahres  darauf  zu  fprechen.  „Wir 
meinen,  die  Wissenschaften  sind  dem  Fraunzimmer  Nichts  nütze;  es  werde 
derselben  nach  seiner  natürlichen  Schwachheit  mißbrauchen,  und  lassen  deswegen 
mit  Fleiß  unsere  Töchter  in  der  dickesten  Unwissenheit  aufwachsen."  „Dieses 
Betragen"  wird  „unverantwortlich"  gefunden,  und  auch  hier  eine  Akademie 
vorgeschlagen,  die  aber  wesentlich  auch  eine  gebildete  und  gute  Hausfrau 
erziehen  soll.  Sie  soll  „in  allen  Wissenschaften  akademische  Ehren-Stellen" 
vertheilen  können,  und  vornehmlich  soll  sie,  wird  wohl  etwas  schalkhaft 
hinzugefügt,  „in  der  Haushaltungs-Kunst  sie  zu  Magisterinnen,  Licentia- 
tinnen  und  Doctorinnen  machen".  Die  Leipziger  Wochenschrift  „Der 
Biedermann"  behandelt  die  Sache  auch  anfangs  nicht  ernst,  indeni  es  einen 
lächerlichen  Vorschlag,  nämlich  das  männliche  Geschlecht  vom  Katheder  ab- 
zuweisen und  au  dessen  Stelle  lauter  galantes  und  gelehrtes  Frauenzimmer 
als  Professorinnen  und  Doctorinnen  der  studirenden  Jugend  vorzusetzen", 
erörtern  und  abweisen  läßt.  Dann  aber  wird  ein  Brief  veröffentlicht,  in 
dem  folgende  Stellen  vorkommen:  „Ich  zweifle  keineswegs,  daß  nicht  die 
in  Vorschlag  gebrachte  Frauenzimmer-Akademie  in's  Werk  zu  richten, 
möglich  sein  sollte,  uud  zwar  auf  folgende  Art:  Fänden  die  Mütter  bey 
ihren  annoch  zarten  Töchtern,  daß  sie  Gaben  zum  Studiren  befassen,  so 
dürften  sie  dieselben  nur  mit  einein  und  dem  anderen  Gelehrten  Privat- 
Stunden  halten  lassen,  bis  sie  die  Vollkommenheit  erreichet  hätten,  daß  sie 
weiter  keinen  Unterricht  brauchten.  Wozu  ihre  Neigung  eine  jede  triebe, 
dazu  müßte  man  sie  anführen  lassen,  so  daß  man  nnter  ihnen  Geistliche, 
Rechts-Gelehrte,  Artzenen-Verständige  und  Welt-Weise,  ja  überhaupt  alle 
Arten  der  Gelehrten  anträfe,  dergestalt  würde  in  wenig  Jahren  fo  viel  ge- 
schicktes Frauenzimmer  als  Mannspersonen  zu  finden  seyn.  Ihrem  Werthe 
und  Wissenschaft  nach  müsste  man  eben  aus  ihnen  Doctores  und  Professores 
machen,  damit  ihre  Bemühungen  gleichfalls  einige  Belohnung  von  Ehren- 
Stellen  zu  gewarten  hätten".  Im  Ganzen  will  der  Schreiber  beweisen, 
„daß  die  Frauenzimmer-Akademien  der  gelehrten  Welt  mehr  Nutzen  als 
Schaden  stiften  würden,  im  Fall  sie  sollten  aufgerichtet  werden".  Sie 
wurden  nicht  aufgerichtet,  auch  ein  Plan  im  Jahre  1748,  den  Moliu  in 
Hamburg  ausführen  wollte,  wurde  nicht  verwirklicht. 
Aber  die  Bestrebungen  zeigen  doch,  daß  das  „gelehrte  Frauenzimmer" 
noch  immer  sich  ernsthafte  Geltung  verschaffte.  Am  hingehendsten  wird  es  in 


5H  Georg  3t«inhausen  in  Jena. 

der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Wochenschrift:  „Die  ver- 
nünftigen Tadlerinnen"  vertheidigt  —  leicht  erklärlich,  denn  es  ist  das 
Organ  Gottscheds.  Ein  Artikel  in  derselben  von  „Ealliste",  d.  h.  von 
Gottsched  selber,  kommt  darauf  ausführlich  zu  sprechen.  „Ich  muß  mich 
oftmals  wundern,"  beginnt  er,  „daß  der  Haß  gegen  die  Gelehrsamkeit 
des  weiblichen  Geschlechts  ben  vielen  Leuten  so  gar  groß  ist.  Man  kann 
bey  den  ineisten  Leuten  ein  Frauenzimmer  nicht  lächerlicher,  nicht  abscheu- 
licher abbilden,  als  wenn  man  ihm  den  Titel  eines  gelehrten  Frauenzimmers 
beyleget."  Auf  seine  Verthcidigung  will  ich  hier  nicht  eingehen,  das  Thema 
wird  in  der  Zeitschrift  noch  wiederholt  behandelt.  So  wird  einmal  in  einein 
Stück  mit  dem  Motto  „Ist  irgendwo  ein  Mann,  der  einer  Schurmannin 
sich  gleich  erweisen  kann?"  (Rachel)  ausführlich  die  oben  erwähnte  Schrift 
der  Schurmann  ausgezogen  und  damit  die  Nothwendigkeit  des  Frauen- 
studiums dargelegt.  Ein  anderes  Mal  wird  das  Lob  der  gelehrten  Frau 
also  gesungen:  „Ich  ergehe  mich,  so  oft  ich  daran  gedenke,  wie  der  be- 
rühmte Dacier  mit  seiner  gelehrten  Frauen  gelebet  haben  müsse.  Ich 
stelle  mir  zum  Eremvel  vor,  wie  bende  Ehegattinnen  beysammen  sitzen,  und 
die  weisen  Sprüche  des  großen  Kaisers  Antoninus  aus  dem  Griechischen  in's 
Französische  übersetzen.  Welch  ein  angenehmer  Streit  ist  dieses,  da  der 
Mann  es  der  Frauen,  die  Frau  aber  dem  Manne  in  der  Gelehrsamkeit 
zuvor  thun  will;  endlich  aber  sich  mit  einander  vergleichen  und  zuletzt  ein 
Buch  unter  bender  Namen  an's  Licht  stellen." 
Unwillkürlich  fühlt  man  sich  an  Gottsched  und  seine  Frau  erinnert. 
In  Frau  Gottsched,  der  früheren  „Jungfer  Kulmus",  haben  wir  noch 
eine  charakteristische  Vertreterin  der  gelehrten  Frauen  vor  uns.  Sie  verstand 
mehrere  Sprachen,  auch  Lateinisch  und  Griechisch,  und  ihre  Interessen  waren 
sehr  weite.  Freilich  konnte  sie  gleichzeitig  auf  den  Namen  einer  gebildeten 
Frau  Anspruch  machen.  Davon  zeugen  ihre  Briefe;  in  meiner  „Geschichte 
des  deutschen  Briefes"  habe  ich  wohl  mit  Recht  auf  sie  besonders  hingewiesen. 
Vor  den  gebildeten  Frauen  mußten  aber  dann  die  „gelehrten"  weichen. 
In  der  zweiten  Hälfte  des  J  ahrhunderts  sterben  sie  aus,  trotz  Vor- 
kämpferinnen, wie  der  Dichterin  Sidonia  Hedwig  Zäunemann,  die  es 
bitter  rügt,  daß  den  Frauen  die  Lehrsäle  verschlossen  seien,  und  die  Männer- 
welt anklagt  wegen  ihrer  Verhöhnung:  „Ein  Weib,  das  dichtet  und  schreibt, 
heißt  sie  (bedenkt  es  nur)  ein  schönes  Ungeheuer  und  Blendwerk  der  Natur." 
Die  Zäunemann  hat  aber  doch  nicht  ganz  Recht.  Die  gelehrte  Welt 
hielt  noch  in  der  Mitte  des  J  ahrhunderts  an  manchen  Orten  die  gelehrte 
Frau  hoch  und  verschloß  ihr  mitunter  sogar  nicht  die  Lehrsäle. 
Dafür  will  ich  noch  ein  bisher  wohl  unbekanntes  Beispiel  an- 
führen, ein  gelehrtes  Frauenzimmer  aus  Pommern,  das  uns  zugleich  als 
letzte  Vertreterin  des  aussterbenden  Typus  dienen  mag.  Es  ist 
Anna  Christine  Ehrenfried  von  Balthasar,  der  Weltweisheit  Naccalaurea  in 
Greifswald.  Am  14.  Juli  1750  Nachmittags  hielt  sie  zur  Eröffnung  der 


„Das  gelehrte  Ftaueiizimnier."  55 

akademischen  Bibliothek  eine  Rede,  die  nachgehende  gedruckt  ist:  „Erweis, 
daß  Bibliotheken  die  sichersten  Wohnstätten  einer  wahren  und  ächten  Freund- 
schaft sind."  Der  Anfang  ist  charakteristisch,  und  ich  theile  ihn  hier  mit: 
„Sie  erlaubten  es  mir.  Hochgeschätzte  Glieder  der  Köngl.  Akademie, 
ben  den  ersten  Feierlichkeiten  in  den:  neuen  Tempel  der  Musen  die  Gesinnung 
der  Freude  und  der  Andacht  zu  schildern.  Sie  erlaubten  es  nicht  nur;  Sie 
bewiesen  auch  auf  eine,  für  mich  und  mein  Geschlecht  so  vortheilhafte  Art, 
wie  weit  ihr  rühmlicher  Trieb  für  die  Ausbreitung  der  Wissenschaften  gehet 
und  wie  bereitwillig  Sie  sind,  die  Neigung  zu  denselben  auch  an  denen 
zu  lieben  und  zu  belohnen,  welchen  die  Herrschaft  der  Gewohnheit  sonst 
den  Zutritt  zu  Lehrsälen  und  Kathedern  beynahe  verschlossen  hatte." 
Noch  interessanter  ist  eine  Schrift,  die  an  sie,  „die  Greifswaldische 
Muse,"  gerichtet  ist  und  zwar  aus  Königsberg:  „An  die  Hochwohlgebohrne 
Fräulein,  Fränlein  Anna  Christine  Ehrenfrieb  von  Balthasar,  der  Weltweisheit 
Baccalaurea,  der  Königl.  Gesellschaft  der  schönen  Wissenschaften  zu  Greifs- 
wald und  der  Königl.  deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg  Ehrenmitglied, 
ber,  der  Akademischen  lubelfener  zu  Greifswalde  gerichtet.  Den  18.  des 
Weinmonats  1756."  Darin  heißt  es  unter  Anderem: 
„Jetzt  errathen  Sie  fchon  gnädige  Fräulein,  warum  unsere  Gesellschaft 
diese  Blätter  an  Sie  gerichtet  hat.  Sie  sind  die  Zierde  der  Greifswaldischen 
Musen.  Diese  hohe  Schule  zählt  es  unter  die  grossesten  Glücksgüter 
bei)  ihrem  Jubelfest,  in  ihren  Mauern  eine  gelehrte  Dame  auf- 
zeigen zu  können.  Ihre  Einsicht  in  das  Reich  der  Gelehrsamkeit,  der 
schönen  Wissenschaften  ist  der  gelehrten  Welt  bekannt.  Ihre  Einweihungs- 
rede des  Greifswaldischen  Musentempels,  die  Sie  in  lateinischer  Sprache 
gehalten,  die  Antrittsrede  in  die  Königliche  Deutsche  Gesellschaft,  und  die 
Rede  bey  Eröffnung  der  akademischen  Bibliothek  sind  ewige  Denkmäler  ihrer 
feinen  und  witzigen  Beredsamkeit,  die  die  Nachwelt  als  einen  seltenen  Schatz 
aufbewahren  wird." 

Und  weiter:  „Frankreich  mag  sich  immerhin  einer  Dacier  und  Ehatelet 
und  Italien  einer  Baßi,  Leipzig  einer  Gottschedin  und  Schweden  selbst  einer 
gelehrten  Gräfin  von  Eckeblad  rühmen;  wir  haben  eine  gelehrte,  eine  witzige 
und  eine  tugendhafte  von  Balthasar  aufzuzeigen  und  können  mit  Recht  auf 
unsere  Ehre  stolz  sein.  Je  seltener  es  ist,  ein  Frauenzimmer  von  Stande 
zu  seyn  und  sich  zugleich  über  das  Genie  dieses  J  ahrhunderts,  nur  beym 
Nachtisch  und  Lomberspiel  zu  denken  und  in  frauenzimmerlichen  Kleinigkeiten 
groß  zu  werden,  zu  erheben  und  den  schönen  Geist  der  Gelehrsamkeit  zu 
widmen;  je  mehr  Achtsamkeit  und  Verwunderung  bezeugt  die  vernünftige 
Welt,  wenn  sie  von  schönen  Lippen  die  Lehren  der  Weisheit  fließen  höret. 
Die  Gratien  umschwärmen  lächelnd  ihr  Haupt  und  jedes  Wort  flößet  Ent- 
zückung in  die  Seele  des  Zuhörers." 

Stärkeren  Ausdruck  kann  der  Cultus  der  gelehrten  Frau  nicht  gut  finden. 


Krankenpflege  und  specisische  Therapie, 
von 

Martin  Mendelsohn. 
-  Vellin. 

gegenüber  einer  tiefgehenden  Anschauung  der  Völker,  ivelche  allen 
~rten  und  allen  Zeiten  eigenthümlich  anzugehören  sck)eint,  hat 
die  medicinische  Wissenschaft,  wenigstens  was  ihre  Anwendung 
im  Leben  und  ihre  tatsächlichen  Leistungen  anbetrifft,  ihre  Wertschätzung 
mit  Müh?  aufrecht  zu  erhalten  und  zu  vertheidigen:  der  Anschauung  gegen- 
über, alle  Krankheiten  wüßten  geheilt  werden  können,  die  Menschheit  habe 
geradezu  einen  Anspruch  darauf,  uon  der  Mediciu  eine  solche,  nie  versagende 
Leistungsfähigkeit  zu  «erlangen.  Und  doch  ist  solch  ein  Anspruch  nichts 
Anderes,  als  wollte  wem  etwa  uon  dem  Astronomen  verlangen,  er  solle  nicht 
nur  eine  bestimmte  Eonsiellotion  des  Mondes  zur  Erde  voraussagen  und 
berechnen,  sondern  auch  eine  hierdurch  vielleicht  eintretende  ^turmfluth  ver- 
hindern und  abwenden.  Denn  den  gleichen,  ewigen,  ehernen,  großen  Gesehen, 
wie  die  Körper  des  Weltalls  in  ihren  gewaltigen  Bewegungen,  gehorchen  auch 
wir,  auch  nach  ihnen  müssen  wir  unseres  Daseins  Kreise  vollenden,  und 
das,  was  wir  Krankheit  zu  nennen  gewöhnt  sind,  ist  nichts  Anderes,  als 
der  Widerhall  der  gescunmten  Einflüsse  und  Einwirkungen  der  uns  um- 
gebenden Natur  auf  den  jeder  Beeinflussung  zugänglichen  menschlichen 
Organismus,  der  Widerhall  von  Einwirkungen,  die  wir  nie  und  nimmer 
aus  der  Welt  zu  schaffen  vermögen,  denn  sie  umfassen  eben  die  gesummte 
Natur;  und  wie  unser  ganzes  Leben  niclt-5  anderes  ist,  als  ein  „Sichab- 
finden" nnseres  Ichs  mit  seiner  Umgebung,  so  sind  die  Epochen  der  Krankheit 
nur  jene  Perioden  im  Leben,  wo  dies  dem  Organismus  uur  schwer  uud 
■> 


Krankenpflege  und  specifische  Cheiapie.  5? 

nur  mit  Mühe  gelingt.  Und  darum  ist  es  eine  naive  nnd  hinter  der  heutigen 
Weltanschauung  weit  zurückbleibende  Auffassung  des  Begriffes  der  Krankheit, 
wenn  man  sich  vorstellt,  daß  in  der  Natur,  wie  für  jedes  Gift  ein  Gegen- 
gift, wider  jede  Krankheit  ein  Kraut  gewachsen  sei,  daß  es  gegen  jede 
„Krankheit"  ein  „Mitte!"  geben  müsse.  Nur  der  Wunsch  war  hier  der 
Vater  des  Gedankens;  und  der  Wunsch  nach  so  hohem,  so  unerreichbarem 
Ziel  hat  die  besten  Geister,  welche  die  medicinische  Wissenschaft  aufzuweisen 
hat,  immer  wieder  versucht,  nach  Mitteln  gegen  die  Krankheiten  zu  forsche«, 
specifischen  Mitteln,  welche  die  Krankheiten  vernichteten.  Aber  niemals  ist 
Einer  mit  diesem  heißen  Bemühu  weiter  von  wahrer  Heilkunst  entfernt, 
als  wenn  er  so  mit  gier'ger  Hand  nach  Schätzen  gräbt  und  froh  ist,  wenn 
er  Negenwürmer  findet. 

Uni  Etwas  bekämpfen  und  besiegen  zu  können,  muß  es  ein  Greifbares, 
ein  Körperliches  fein,  ein  reales  Ding,  gegen  das  man  sich  wenden  kann. 
Und  so  hat  die  Anschauung  einer  directen  Bekämpfung  einer  Krankheit  durch 
ein  specifisches  Mittel  eine  gar  bedenkliche  Hinneigung  zu  jeuer  mystischen, 
einer  vergangenen  Zeit  angehörenden  Auffassung  von  den  Krankheiten  als 
körperlicher  Wesen,  die  den  Menschen  befallen,  als  strafender  Abgesandter 
der  Götter,  die  man  durch  Opfer  und  Gebet  versöhnen  kann.  Denn  nur 
der  Inhalt  des  körperlichen,  wesenhaften  Krankheitsbegriffes  würde  sich  dann 
im  Laufe  der  J  ahrhunderte  geändert  haben;  der  Begriff  der  Krankheit  selber 
wäre  nach  wie  vor  ein  greifbares,  materielles  Etwas,  das  außerhalb  des 
menschlichen  Organismus  stände,  ob  es  nun  ein  Abgesandter  einer  höheren 
Macht  oder  eine  in  der  Luft  umher  fliegende  Batterie  ist,  die  sich  Beide 
dann  ganz  nach  ihrem  Belieben  im  menschlichen  Organismus  niederlassen 
und  natürlich  auch  durch  entsprechende  Mittel  daraus  wieder  vertrieben 
werden  könnten.  Aber  selbst  bei  den  Infectionskrankheiten,  deren  Namen 
schon  auf  solch  ein  Eindringen  einer  fremden  Schädlichkeit  hinweist,  ist  diese 
doch  nur  ein  einziges  Glied  in  einer  großen  Kette  von  Reizen  und  Neac- 
tionen,  die  an  einem  bestimmten  Individuum  zusammenwirken  müssen,  um 
z»  einer  Krankheit  zu  werden,  und  Nichts  märe  unwissenschaftlicher,  als 
von  diesem  äußeren  Agens  allein  den  ganzen  Krankheitsbegriff  ableiten  zu 
wollen  und  etwa  mit  einem  bequemen  Schema  zu  fagen:  ndi  Lao!llu8 
idi  Oliolsrn. 

Krankheiten  an  sich  giebt  es  überhaupt  nicht,  es  giebt  nur  kranke 
Menschen;  und  auch  hier  ist  der  Begriff  Krankheit  etwas  durchaus  Relatives, 
das  allein  nach  der  Individualität  der  einzelnen  Person  zu  beurtheilen 
ist.  Wie  es  keine  absolute  Gesundheit  giebt,  so  giebt  es  auch  keine  absolute 
Krankheit.  Der  lebende  und  handelnde  Organismus  des  Menschen  ist  in 
eine  Welt  von  Schädlichkeiten  hineingesetzt,  durch  die  er  hindurch  muh  und 
mit  denen  er  sich  abzufinden  hat;  Alles,  aber  auch  Alles,  die  Luft,  die  er 
nthmet,  der  Trunk,  den  er  genießt,  das  Maß  der  Bewegung,  die  er  voll- 
führt, und  die  Nuhe,  die  ihm  wird.  Alles,  Alles  wirkt  auf  das  feinstorganisirte 


58  Martin  Mendelsohn  in  Verlin. 

und  complicirteste  Gebilde  der  Natur  dauernd  und  doch  in  ewigem  Wechsel 
ein.  Alles  hinterläßt  an  ihm  seinen  Eindruck,  Alles  beeinflußt  den  Ablauf 
seines  Lebensprocesses:  auf  Alles  reagirt  er.  Wir  haben  uns  gewöhnt,  den 
Zustand,  in  weichein  dieser  Lebensproceß  sich  leidlich  abspielt,  in  dem  die 
Organe  ordentlich  functioniren,  wo  wir  uns  so  eben  behaglich  fühlen  und 
unsere  Leistungsfähigkeit  den  Umfang  hat,  welchen  wir  nun  einmal  der 
einzelnen  Persönlichkeit  je  nach  ihrer  Individualität  als  den  normalen  zu- 
rechnen, als  Gesundheit  zu  bezeichnen;  aber  an  keinem  Tage  erreichen  diese 
Functionen  den  gleichen  Grad  wie  an  einem  andern,  und  die  verwirrende 
Vielheit  der  äußeren  Einflüsse  läßt  auch  die  Leistungen,  die  Thätigkeit,  das 
Functioniren  des  menschlichen  Organismus  täglich  anders  sich  gestalten.  So 
unsäglich  fein  ist  die  Einwirkung  dieser  äußeren  Einflüsse,  daß  sie  nicht 
einmal  materieller  Natur  zu  sein  brauchen,  um  deutliche  Folgewirkungen 
auszulösen,  daß  Gemüthsbewegungen,  Stimmungen,  psychische  Eindrücke  nicht 
nur  eine  Erhöhung  oder  Herabminderung  der  Leistungsfähigkeit,  sondern 
auch  directe  körperliche  Veränderungen  und  selbst  Krankheitszustände  im 
Gefolge  haben  können.  In  diesem  ewigen  Spiel  und  Gegenspiel  der  Kräfte, 
welche  auf  den  Menschen  in  der  Natur  einwirken,  und  auf  die  er  wiederum 
reagirt,  läßt  sich  von  einer  absoluten  Gesundheit  nicht  sprechen;  wir  sind 
sicherlich  zu  Zeiten  übergesund,  suhlen  uus  wohler,  sind  leistungsfähiger  als 
dein  uns  zukommenden  durchschnittlichen  Mittel  entspricht,  und  ebenso  sinkt 
der  Ablauf  unferer  Functionen  oft  auch  unter  dieses  Mittel,  ohne  gleich 
eine  tiefste  Stelle  zu  erreichen,  wo  wir  dann  uns  als  „unwohl"  erachten, 
nicht  jedoch  von  einer  Krankheit  befallen  glauben.  Die  Eurve  uuseres 
Lebens,  deren  höchste  Spitze  die  vollste  Gesundheit,  deren  tiefster  Fall  die 
schwere  Krankheit  ist,  schwankt  eben  in  stetem  Wechsel  auf  und  nieder. 
Nun  bringen  es  die  Dinge  der  Welt  mit  sich,  daß  man  solclie 
minderen  Störungen  geringachtet;  nur  die  ganz  schweren  Beeinträchtigungen 
in  der  normalen  Arbeitsleistung  des  Organismus  sind  zu  „Krankheiten" 
geworden.  Eine  Anzahl  von  Erscheinungen,  welche  gleichartig  an  ver- 
schiedenen Individuen  bei  erheblicheren  Störungen  in  den  Vordergrund  der 
Aufmerksamkeit  träte»,  sind  zu  diesem  Nehufe  zu  Kranthoitsbildern  zu- 
sammengefaßt worden,  ein  Systematisiren  und  Einordnen,  welches  für  eine 
spätere  Erkenntniß  zweifellos  der  erste  Schritt  sein  muß.  Aber  man  darf 
dabei  niemals  vergessen,  daß  in  diesen  KranklMsbildern,  von  denen  jedes 
eine  bestimmte  Summe  klinischer  Symptome  enthält,  ein  Zusammenfassen 
von  Erscheinungen  vorgenommen  worden  ist,  welche  uns  zwar  auffällig  und 
außergewöhnlich  genug  erscheinen,  um  registrirt  zu  werden,  die  jedoch  dadnrek, 
daß  sie  in  dein  Krankheit-Knlde  gerade  für  unsere  Sinne  besonders  hervor- 
treten, noch  durchaus  nicht  eben  das  Wesentliche  in  dem  außergewöhnlichen 
Vorgang,  welcher  sich  da  abspielt,  zu  sein  brauchen.  Denn  die  Krankheit 
ist  nichts  Anderes  als  der  Anpassungsvorgang  des  Menschengeschlechts  an 
die  Schädlichkeiten  der  Umgebung  im  Kampfe  uin's  Dasein,  und  gerade  in 


Krankenpflege  und  specifische  Therapie.  5) 

ihr  tritt  das  große  Gesetz  Darwins  an  dein  höchstorganisirten  lebenden 
Wesen  am  greifbarsten  in  die  Erscheinung.  Was  für  einzelne,  unseren 
Augen  deutlich  verfolgbare  Verhältnisse  der  Vorgang  der  Acclimatisation 
ist,  das  ist  für  das  ganze  Menschengeschlecht  die  Gesammtheit  der  Krank- 
heiten, in  welchen  die  einzelnen  Individuen  entweder  den  Schädlichkeiten, 
welche  sie  umgeben,  sich  anpassen  oder  in  dem  ohnmächtigen  Versuche  hierzu 
erliegen.  Und  dieser  Anpassuugsvorgang  geht  mit  einein  so  erhöhten 
und  so  angespannten  Functioniren  bestimmter  Gruppen  und  Systeme  des 
menschlichen  Organismus  einher,  daß  die  augenfälligen,  die  unseren  Sinnen 
wahrnehmbaren  unter  diesen  Erscheinungen  uns  als  die  Symptome  der 
Krankheiten  imponiren  und  zum  eigentlichen  Krankheitsbilde  werden.  Aber 
ebensowenig,  wie  diese  gerade  zu  Tage  tretenden  Erscheinungen  nun  auch 
die  gesummten,  hier  überhaupt  sich  abspielenden  Abweichungen  von  dem 
normalen  Laufe  der  Dinge  sind,  ebensowenig  dürfen  sie  gerade  als  die 
eigentlichen  krankhaften  Symptome  augefehen  werden,  mit  deren  Beseitigung 
etwa  auch  eine  Beseitigung  der  Störung  erzielt  würde.  Alles  das,  was 
als  Symptom  in  dem  Krankheitsbilde  in  den  Vordergrund  tritt,  ist  nur  ein 
Theil,  nur  der  nnseren  Sinnen  erkennbare  Theil  der  veränderten  Arbeits- 
leistung des  Organismus,  nur  eine  Steigerung  oder  eine  Herabsetzung  seines 
natürlichen  Functionirens  iu  dem  Bestreben,  sich  der  Schädlichkeit  anzupassen; 
nnd  so  ist  der  Vegrisf  der  Krankheit  durchaus  ein  rein  funktioneller,  nicht 
nur  der  eines  Lebens  unter  veränderten  Bedingungen,  fondern  der  eines 
Bestrebens,  sich  den  veränderten  Bedingungen  anzupassen.  Nie  und  nimmer 
kann  allein  die  eine  oder  die  andere  äußere  Schädlichkeit  den  Begriff  der 
Krankheit  ganz  für  sich  ausmachen,  und  ebensowenig  sind  es  etwa  die 
anatomischen  Veränderungen,  welche  hinterher  als  Residuen  des  Krcmkheits- 
processes  auf  dem  Leichentifch  gefunden  werden,  aus  denen  sich  das  Wesen 
der  Krankheit  allein  zusammensetzt.  Die  Krankheit  ist  vielmehr  in  jedem 
einzelnen  Falle  das  erhöhte,  veränderte,  abgelenkte  Functioniren  des  Organis- 
mus in  seinem  Bestreben  einer  Anpassung  an  die  äußeren  Reize,  gleich- 
giltig,  ob  merkbare  anatomische  Veränderungen  nebenhergehen  oder  nicht, 
sie  hängt  ihrem  Wesen  und  ihrer  Schwere  nach  immer  nur  von  der  An- 
passungsfähigkeit des  einzelnen  Organismus  ab,  von  dem  Umfange,  in 
welchem  dieser  seine  Lebensvorgänge  der  Schädlichkeit  entsprechend  zu 
reguliren  vermag,  mit  Einem  Worte  lediglich  von  Eigenschaften,  welche  in 
dem  erkrankten  Organismus  selber  liegen,  welche  ihm  eigenthümlich,  von 
ihm  unzertrennlich  sind. 

Und  in  dieses  verwickelte  Spiel  der  Kräfte  wirksam  und  nach  ihrem 
Willen  eingreifen  zu  können,  verspricht  sich  jene  specifische  Therapie,  die  alle 
die  vielfachen  Einflüsse  und  Reize,  die  dem  Kranken  aus  seinem  Milieu  er- 
wachsen, alle  die  verschiedenartigen  Reactions-  und  Anpassungsmöglichkeiten, 
die  ein  jedes  Individuum  in  anderein  Maße  besitzt,  geringachten  und  ver- 
nachlässigen zu  können  glaubt  und  uur  gegen  einen,  allerdings  den  letzten 


60  Martin  Mendelsohn  in  Verlin, 

und  augenfälligsten  der  einwirkenden  Einflüsse  meint  ankämpfen  zu  müssen, 
lüulltr»  viin  morlig  non  luscüollmku  in  uorti»;  ein  bestimmtes  „Mittel" 
gegen  eine  bestimmte  „Krankheit"  giebt  es  nicht  und  kann  es  nicht  geben. 
Wo  eine  Therapie  nicht  an  den  natürlichen  Kräften  des  Organismus  ansetzt, 
wo  sie  nicht  stets  vor  Augen  hat,  daß  das,  was  wir  als  Krankheit  vor  uns 
sehen,  nicht  in  erster  Linie  von  der  Stärke  der  eindringenden  Schädlichkeit, 
sondern  von  der  Schwäche  des  Überfallenen  Körpers  abhängt,  da  muß 
sie  mit  unabänderlicher  Nothwendigkeit  Schiffbruch  leiden.  Denn  der  Grad 
der  Erkrankung  hängt  von  dem  Grade  der  in  jedem  Fale  vorhandenen 
Schwächung  der  natürlichen  Schutzkräfte  des  Körpers  ab;  nnd  es  ist 
der  gleiche  Vorgang,  ob  eine  tüdtliche  Dosis  Arsenik,  das  eine  Mal  an 
einem  gewohnheitsmäßigen  Arsenitesser,  dessen  Organismus  der  Schädlichkeit 
bereits  ganz  angepaßt  ist,  völlig  symptomlos  abprallt,  das  andere  Mal  eine 
Person  sofort  zum  Tode  bringt,  oder  ob  bei  dem  epidemischen  Auftreten 
einer  Seuche,  wo  alle  Menschen  den  Giftkeim  gleichzeitig  in  sich  aufnehmen, 
die  einen,  weil  sie  eben  gerade  über  die  entsprechenden  Schutzkräfte  ver- 
fügen, ihn  ohne  Weiteres  eliminiren,  die  anderen  dies  nur  unter  der  höchsten 
Arbeitsleistung  derjenigen  Functionen  thun  können,  welche  im  gegebenen 
Falle  einen  Ausgleich  herbeizuführen  vermögen,  eine  Steigerung  der  Funk- 
tionen, die  eben  als  Erkrankung  sich  uns  darthut,  und  die  dritten,  nicht 
zu  einer  genügenden  und  ausreichenden  Neaction  fähigen,  der  Schädlichkeit 
erliegen.  Immer  ist  der  letzte  und  anscheinend  einzige  Neiz  nur  dasjenige 
Moment,  welches  den  Krankheitsuorgaug  auslöst,  das  die  Kräfte  des  Orga- 
nismus anstößt,  das  Spiel  der  Abwehr  und  der  Anpassung  in  dem  Maße 
und  dem  Umfang  zu  beginnen,  dessen  sie  ihrer  individuellen  Natur  nach 
sähig  sind;  und  dieses  Maß  hängt,  da  nur  Alle  das  Product  aus  unserem 
überkommenen  Erbtheil  und  den  sämmtlichen  uns  treffenden  Einflüssen 
unserer  Hingebung  sind,  von  diesen  gesammten  Einflüssen,  nicht  nur  von 
dem  letzten,  den  Vorgang  unmittelbar  auslösenden  ab.  Diese  Verhältnisse 
lassen  sich  vielleicht  zweckmäßig  mit  denjenigen  vergleichen,  welche  bei  dem 
allgemein  gekannten  Vorgange  des  Wachsthums  in  Betracht  kommen:  in 
jedem  thierischen  Organismus,  der  noch  in  der  Entwickelung  begriffen  ist, 
besitzen  die  einzelnen  Nestandtheile,  aus  denen  er  sich  zusammensetzt,  die 
Fähigkeit,  aus  der  eingeführten  Nährsubstanz  Stoffe  festzuhalten  und  zu 
ihrem  Aufbau  zu  verwenden,  uud  zwar  besitzen  sie  die  Fähigkeit  in  sehr 
verschiedenem,  aber  bestimmtem  Maße,  verschieden  nicht  nur  bei  Gattung 
und  Art,  bei  Beginn  und  Abschluß  der  Entwickelung,  sondern  auch  ganz 
individuell,  je  nachdem  Erbtheil  oder  ungünstige  äußere  Einwirkungen  diese 
Fähigkeit  der  Wachsthumsaufnnhme  mehr  oder  weniger  gestöl't  haben. 
Wollte  man  hier  bei  einem  Versuche  zu  einer  günstigeren  Wendung  nur 
das  eine  Moment,  welche»  bei  dem  Vorgang  das  äußerliche  ist:  die  ein- 
geführte Nahrung,  im  Auge  behalten,  so  würde  eine  günstigere  Gestaltung 
dieses,  also  vielleicht  eine  reichlichere  oder  geeignetere  Nahrung,  nur  zu  einem 


Krankenpflege  und  specifische  Cherapie.  6~ 

ganz  geringen  Theile  eine  Besserung  herbeiführen;  denn  nicht  darauf  kommt  es 
zunächst  an,  daß  das  Nahrungsmaterial  in  überreichlicher  Menge  vorhanden 
ist,  sondern  daß  die  nicht  völlig  leistungsfähige  Zelle  geneigt  und  befähigt 
wird,  es  zu  afsimiliren.  Und  ebenso  kommt  es,  und  zwar  in  gewissem 
Sinne  gerade  umgekehrt,  bei  dem  Vorgang  der  Krankheit  nicht  sowohl  darauf 
an,  das  eine  äußerliche  Agens  lahm  zu  legen,  als  vielmehr  den  Organismus 
zu  befähigen,  der  Schädlichkeit,  die  ihm  die  eigentlichen  Lebensbedingungen 
streitig  macht,  Herr  zu  werden.  Eine  specisische  Therapie,  die  in  den» 
Falle  der  Wachsthumsstürung  nichts  weiter  könnte,  als  mehr  und  besser  zu 
essen  geben,  würde  auch  im  günstigsten  Falle  nicht  mehr  leisten,  als  den 
einen  schädlichen  Reiz  zu  vernichten,  ohne  jedoch  damit  diejenigen  Vorgänge 
veränderten  Functionirens  im  Organismus  in's  Gleiche  bringen  zu  können, 
zu  deren  Auslösung  und  Abwickelung  dieser  den  Anstoß  gegeben  hat. 
Nun  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  dort,  wo  ein  folcher  Reiz  fort- 
dauernd und  immer  wieder  von  Neuem  wirksam  ist,  bei  den  Infections« 
krankheitm  alfo,  wo  er  von  belebten  und  schnell  sich  vermehrenden  Organis- 
men auszugehen  scheint,  seine  Beseitigung  immerhin  sehr  viel  werth  sein 
muß.  Aber  wenn  auch  eines  Taqes  einer  von  den  ganz  Großen  käme,  die 
auf  dein  Wege  nach  Indien  Amerika  finden,  und  uns  Mittel  an  die  Hand 
gäbe,  welche  auch  innerhalb  des  menschlichen  Körvers  organisirte  Krankheits- 
keime zu  vernichten  im  Stande  sind,  damit  allein  würde  die  Medicin 
niemals  über  eine  ausreichende  Therapie  in  jedem  Krankheitsfalle  verfügen. 
Und  wie  geringe  sind  die  Aussichten  solcher  inneren  Antisepsis  überhaupt! 
Die  menschliche  Gewebszelle  ist  im  VerlMtniß  zu  der  primitiven  Zelle  der 
Batterie  ein  so  fein  organisirtes  und  fubtiles  Gebilde,  daß  »  priori  ein 
jedes  Agens,  welches  auf  diefe  schädigend  einwirkt,  in  noch  viel  höherem 
Maße  und  erheblich  früher  sie  selber  vernichten  muß,  auch  wenn  es  ein- 
mal gelingen  sollte,  die  Schwierigkeiten  der  großen  Verdünnung  in  der 
reichlichen  Flüssigteitsmasse  des  Körpers,  der  schnellen  Elimination  der  ein- 
geführten Substanz,  der  schweren  Zugänglichkeit  der  Infettionskeime  zu 
umgehen. 

Nein,  wo  es  hundertfache  Wege  giebt,  die  Gesundheit  zu  verlieren, 
muß  auch  mehr  als  einer  beschritten  werden  können,  sie  wieder  zu  erlangen. 
Wie  die  Erkrankung  ein  Ankämpfen  des  menschlichen  Organismus  ist  gegen 
die  auf  ihn  einstürmenden  Schädlichkeiten,  so  müssen  wir,  wo  sich  diese 
Gegner  nun  einmal  nicht  aus  der  Welt  schaffen  lassen,  wo  die  Abwehr  der 
hundertfältigen  äußern  Reize  nicht  in  unserer  Hand  liegt,  den  menschlichen 
Organismus  in  diesem  Kampfe  fo  unterstützen,  daß  er  in  die  besten  Be- 
dingungen gebracht  wird,  ihn  aufzunehmen  und  selber  durchzuführen,  daß 
wir  sein  Bestreben  einer  Anpassung  an  die  Schädlichkeiten  in  möglichst 
weitem  Maße  erleichtern  und  fördern.  Zwar  die  größten,  die  gewichtigsten 
unt~r  diesen  Einflüssen:  den  Mangel  und  den  Hunger,  die  Uebernrbeitung 
und  die  leichte  Möglichkeit,  zu  verunglücken,  ist  unsere  Zeit,  in  der  das  tägliche 


62  Maitin  Mendelsohn  in  Verlin, 

Gebet  der  Annen  nun  lautet:  „unser  Vrod  für  morgen  gieb  uns  heute", 
mehr  und  mehr  zu  verhüten  und  zu  beseitigen  bestrebt.  Aber  all  die  kleinen 
Nadelstiche  des  Lebens  und  seine  Misören,  denen  Keiner  entgeht,  die  Sorge 
und  der  Kummer,  die  aufreibende  Arbeit,  die  Ausschweifung  und  die  Er- 
schöpfung, die  Erregungen  des  Ehrgeizes  und  der  Liebe,  der  Arbeit  und  des 
Lasters,  die  Entbehrungen  und  alle,  all  die  vielen  Dornen  und  Disteln, 
die  das  Menschengeschlecht  auf  deni  Uebergange  zur  Ewigkeit  auf  feinem 
Wege  findet,  wo  hart  im  Räume  stoßen  sich  die  Zachen,  sie  alle  hinter- 
lassen ihre  Eindrücke  an  jeder  Persönlichkeit,  sie  alle  bestimmen  seine  Wider- 
standsfähigkeit —  seine  Disposition,  wie  wir  jetzt  sagen  —  den  Ablauf 
feiner  Functionen  und  feine  Anpassungsfähigkeit  an  die  Schädlichkeiten,  nnd 
sie  alle  sind  in  ihren  Folgewirkungen  auf  den  Organismus  da  und  fprechen 
mit,  wenn  dieser  einmal  von  einer  besonderen,  letzten,  augenfälligen  Schädlich- 
keit so  arg  ans  dem  Gleichgewicht  gebracht  wird,  das;  wir  das  Krankheit 
nennen.  Und  alle  diese  Schädlichkeiten  werden  sein,  so  lange  das  Menschen- 
geschlecht sein  wird  und  so  lange  ein  Kranker  von  der  Medicin  Hilfe  lieischt. 
Gegen  die  Krankheit  ihm  ein  Mittel  zu  geben,  vermag  sie  nicht;  aber  einem 
einzelnen  Kranken  die  Anpassung  an  seine  veränderten  Lebensbedingungen 
zu  erleichtern  und  zu  ermöglichen,  das  kann  sie  wohl.  Und  wenn  Jemand 
einen  Herzfehler  hat  oder  eine  chronische  Nierenentzündung,  so  kommt  es 
nicht  sowohl  darauf  an,  die  Herzklappen  wieder  ganz  zu  machen,  oder  die  Ver- 
änderungen im  Nierengewebe  zu  beseitigen,  sondern  darauf,  den  gefammten 
Organismus  des  Kranken  fo  zu  beeinflussen,  daß  trotz  seiner  nicht  intacten 
Klappen  und  trotz  seiner  Nierenläsion  die  Functionen  in  ihm  sich  in  der 
größtmöglichen  Annäherung  an  die  Norm  abspielen.  Das  schöne  und  vor 
Allem  das  einer  jeden  Anforderung  an  die  medicinische  Wissenschaft  durch- 
aus Genüge  leistende  Nesultat  solchen  3'estrebens  wird  dann  sein,  daß  der 
«ranke  den  gleichen  Lebensgenuß  und  die  gleiche  Lebensfähigkeit,  wenn 
möglich  bis  zum  natürlichen  Abschluß  des  Daseins  beibehält,  wie  wenn 
seine  Organe  normal  fnnctionirten.  Es  wäre  ja  auch  geradezu  abfurd,  von 
einer  specifischen  Heilung  der  Herzklappenfehler  oder  der  Nierenentzündungen 
zu  sprechen;  und  die  Insertionen  bilden  doch  nur  einen  kleinen  Theil  aller 
Krankheiten. 

Hier  erwächst  der  Medicin  die  große  und  umfassende  Aufgabe  der 
Krankenpflege.  Und  weil  sie  eben  keine  Krankheiten  kennt,  sondern  nur 
Kranke,  hat  sie,  in  jedem  Falle  immer  wieder  auf's  Neue  und  immer  wieder 
als  ein  neues  Problem,  zunächst  die  Arbeitsleistung  und  die  Functions- 
fähigkeit  des  betreffenden  Organismus  und  seiner  einzelnen  Dheile  festzu- 
stellen und  kennen  zu  lernen,  um  einen  klaren  Einblick  gerade  in  die  ab- 
weichenden Leistungen  uud  die  außergewöhnliche  DIMgkeit  dieses  kranken 
Körpers  zu  gewinnen.  Denn  jeder  Mensch,  mag  er  gesund  sein  oder  krank, 
ist  ja  in  seinen  Functionen  nur  das  Product  der  sämmtlichen  auf  ihn  ein- 
wirkenden Einflüsse  seiner  Umgebung,  und  krank  ist  er  eben  nur  dann. 


Krankenpflege  und  specifische  Therapie.  63 

wen»  die  ungünstigen  Einflüsse  in  ihm  präponderiren.  Ter  Krankenpflege 
erwächst  daher  als  nächste  Aufgabe  die  Pflicht,  den  Kranken  aus  seinem 
bisherigen  Milieu  herauszunehmen,  dessen  einzelne,  einseitige  Factors«  sie 
nicht  kennt,  und  ihn  dafür  unter  Bedingungen  zu  bringen,  welche  bis  in 
die  kleinsten  Details  der  gesammteu  Lebensweise  bekannt  und  in  ihrer  Ein- 
wirkung auf  ihn  verfolgbar  sind.  Dann  läßt  sich  ein  klarer  Einblick  ge- 
winnen, welche  Functionen  in  zu  angestrengtem,  welche  in  zu  lässigem 
Maße  arbeiten,  und  die  Krankenpflege  hat  die  Möglichkeit,  hier  einzusetzen, 
die  allzugroße  Inanspruchnahme  zu  mildern,  die  herabgesetzten  Leistungen 
wieder  anzuregen;  und  zu  diesem  Zwecke  ist  ein  jedes  Mittel  recht,  welches 
überhaupt  eine  Einwirkung  auf  den  menschlichen  Organismus  auszuüben 
vermag.  Wenn  irgend  wer,  so  kann  die  Krankenpflege  sagen  ,»jo  preuäZ 
ruon  diyü  uu,js  I«  trouvß".  Alle  Momente  der  Regelung  von  Körper- 
bewegung und  Ruhe,  von  Essen  und  Trinken,  von  Schlafen  und  Wachen, 
von  psychischer  Erregung  und  Fernhalten  geistiger  Anstrengung,  alle  die 
unzähligen  directen  Einwirkungen  auf  den  Organismus  und  feiue  einzelnen 
Theile,  wie  sie  als  Massage  und  Elektrotherapie  bekannt  sind,  wie  sie  auf 
dem  Wechsel  des  Klimas  und  dem  Gebrauch  von  Bädern  beruhen,  alle  die 
methodischen  Uebungen  des  Körpers  und  seiner  Organe,  die  quantitativen 
und  qualitativen  Aenderungen  der  Ernährung,  alle  die  unzähligen  Hand- 
haben, die  Natur  und  Welt  und  Wissenschaft  und  Kunst  uns  darbieten,  sie 
alle  sind  in  jedem  Falle  so  nach  dem  einen,  einzigen  Ziele  hin  anzuwenden, 
daß  die  in  ihrem  Gleichgewicht  gestörten  Functionen  des  Kranken  wieder 
in  Harmonie  zu  einander  kommen,  wieder  die  größtmögliche  Anpassung  an 
die  Schädigung  erlangen.  Das  nennt  man  Individunlisiren,  und  es  ist 
etwas  gar  so  Neues  nicht;  und  nur  die  uuselige  Sucht,  Mittel  zu  finden 
gegen  die  Krankheiten,  hat  es  wieder  mehr  in  den  Hintergrund  treten 
lassen.  Die  individualisirende  Krankenpflege  ist  es,  auf  der  das  Heil  der 
Kranken  beruht,  die  Erkenntnis;,  daß  nicht  eine  vereinzelte  Maßnahme, 
ein  Medicament,  ein  Recept  einen  Kranken  wieder  herzustellen  vermag, 
sondern  nnr  die  sorgfältige,  andauernd  durchgeführte  Regelung  aller  seiner 
einzelnen  Functionen.  Es  giebt  eben  keine  Wunder,  wenigstens  in  der 
Medicin  nicht;  hier  ist  Alles  lange,  mühsame,  geduldige,  künstlerische  Arbeit. 
Hier  ist  Alles  uur  Functionsstörung  und  Regelung  dieser  Functionsstörung, 
und  an  jedem  Kranken,  an  jeder  Persönlichkeit  ist  diese  eine  andere.  Und 
darum  ist  hier  Nichts  so  schädlich  und  so  wirkungslos  wie  ein  Schema, 
ein  von  vornherein  feststehender  Heilplan,  wie  er  in  den  sogenannten  Euren 
seinen  Ausdruck  findet,  die  auch  nur  wieder  gegen  die  Krankheit  sich  richten, 
gegen  diejenigen  auffälligen  Erscheinungen,  welche  einer  ganzen  Gruppe  von 
Kranken  das  Gemeinsame,  aber  nicht  das  Wesentliche  sind. 
Bon  solch  symptomatischer  Behandlung  ist  die  wissenschaftliche  Kranken- 
pflege fern;  die  Symptome  sind  ja  garnicht  die  Krankheit.  Wohl  aber  strebt 
sie  eine  Erleichterung  und  Beseitigung  der  mit  einhergehenden  quälenden  Er- 
Nord und  Siib,  I. XXV.  2?l.  3 


6H  Martin  Mendelsohn  in  Verlin. 

scheinungen  an,  und  damit  erfüllt  sie  nicht  nur  eine  humanitäre  Ver- 
pflichtung!, sondern  sie  trägt  auch  dadurch  wiederum  zum  Ausgleich  des 
krankhaften  Zustcmdes  bei.  Gerade  weil  der  überaus  fein  orgcmisirte 
menschliche  Organismus  auf  einen  jeden  Reiz,  der  ihn  trifft,  in  seiner  Weise 
reagirt,  wird  jeder  quälende  Eindruck  am  Körper  wiederum  zu  einem  neuen 
Reize  und  zur  Quelle  neuer  Functlonsänderungen.  „8aluti  «t  zolatic» 
asßrutorum"  lautet  die  Inschrift  am  Wiener  Allgemeinen  Krankenhause; 
nicht  nur  zum  Heilen  der  Kranken,  auch  zu  ihrer  Erleichterung  ist  die 
Medicin  da,  und  gerade  daß  sie  den  Kranken  ein  größtmögliches  Maß  von 
Wohlbefinden,  von  Lomfort  zu  schaffen  vermag,  ist  eine  der  schönsten  Auf- 
gaben der  Krankenpflege. 

Aus  der  gemaltigen  Vielfältigkeit  ihrer  Ziele  und  dem  enormen  Um- 
fange ihrer  Mittel  ergiebt  sich  die  Größe  des  wissenschaftlichen  Funda- 
ments, auf  dem  sich  die  Krankenpflege  aufbaut.  Denn  der  naturwissen- 
schaftlich denkende  Arzt  darf  für  sein  Handeln  die  naturwissenschaftliche 
Begründung  nicht  vermissen.  Gerade  weil  sie  mit  allen  Factoren  des 
Lebens  einzuwirken  vermag  und  einzuwirken  suchen  soll,  muß  die  Kranken- 
pflege die  Wirkung  eines  jeden  einzelnen  dieser  Factoren  auf  den  mensch- 
lichen Organismus  auf  das  Genaueste  zu  kennen  bestrebt  sein.  Das  ist 
in  eracter,  wissenschaftlicher  Weise  bisher  allerdings  nur  für  den  kleinsten 
Theil  der  Fall.  Aber  darum  ist  das  heutige  Können  der  Krankenpflege 
nicht  gering  zu  achten.  Gewiß  sind  viele  unserer  bisherigen  Handhaben 
aus  der  Empirie  hervorgegangen,  aus  der  Erfahrung,  welche  die  Mutter 
der  Therapie  ist;  aber  sie  werden  alle  sicherlich  bei  einem  weiteren  Fort- 
schreiten der  Wissenschaft  in  ihren«  thatsächlichen  Wirken  erkannt  werden. 
Das  ist  ja  bei  aller  produktiver  Geistesthätigkeit  der  Menschen  von  An- 
beginn an  so  gewesen,  daß  alles  das,  was  die  Wissenschaft  nicht  in  klaren, 
eracten  Formeln  wiederzugeben  vermochte,  die  Kunst  mehr  intuitiv  und  fast 
unbewußt  zum  Ausdruck  brachte:  und  mit  jedem  Schritt,  den  die  Wissen- 
schaft in  der  Erkenntnis;  weiter  vorschreitet,  nimmt  sie  der  Kunst  die  be- 
treffenden Objecte  fort  und  reiht  sie  ihrem  Gebiete  ein.  So  ist  es  auch  mit  der 
Krankenpflege.  Das  Recht  der  Persönlichkeit,  das  der  Kranke  für  sich  mit 
Fug  voll  in  Anspruch  nimmt,  kommt  hier  sogar  in  der  Person  desjenigen 
zum  Ausdruck,  der  die  Heilanordnungen  trifft,  des  Arztes,  dessen  Persön- 
lichkeit oft  eine  besondere  Einwirkung  auf  den  Kranken  und  den  Ablauf  des 
Krankheitsvrocesses  ausübt.  Und  diese  und  die  vielen  anderen  Impondera- 
bilien der  Krankenpflege,  die  wissenschaftlicher  Analyse  bisher  noch  nicht 
zugänglich'  waren,  wiegen  gar  gewichtig,  und  auch  die  Zeit  wird  kommen, 
wo  sie  alle  in  ihrem  inneren  Wesen  durch  die  Wissenschaft  eine  Erklärung 
finden  werden.  Für  heute  sind  sie  noch  ungetannte  Dinge  hinsichtlich  ihrer 
Wirkung,  Namen  nennen  sie  nicht;  sie  zu  erkennen,  ist  eben  das  Object 
künftiger  wissenschaftlicher  Forschung.  Aber  sich  ihrer  zu  bedienen,  sie  alle 
klar  und  zielbewußt  zum  Ausgleich  der  gestörten  Functionen  zu  verwenden. 


Urankenpflege  und  specifische  Therapie.  65 

hat  durchaus  die  volle  wissenschaftliche  Berechtigung,  und  über  sie  abzu« 
urtheilen,  ohne  sie  zu  kennen,  wäre  ein  schwerer  Fehler.  Denn  jedes  Urtheil 
über  Unbekanntes  ist  ein  Vorurtheil. 

Und  ebenso  leichtfertig  wäre  die  Meinung,  das  sorgfältige  Eingehen 
in's  Detail,  die  Regelung  der  kleinsten  und  unwesentlichsten  Dinge,  n«lche 
den  Kranken  betreffen,  für  überflüssig  und  kleinlich  zu  erachten.  Hliniiu» 
nou  curat  playtor,  gewiß;  in  der  Krankenpflege  jedoch  soll  sich  der  Prätor 
um  Alles  kümmern.  Ist  die  Krankheit  nun  einmal  ein  Kampf,  so  soll  der 
Rüther  und  Helfer  in  ihm  sich  auch  die  bewährten  Gepflogenheiten  der 
Strategie  thatfächlich  zu  Nutze  machen.  Was  das  deutsche  Heer  unüber- 
windlich macht,  ist  nicht  allein  der  Genius  seiner  Führer,  sondern  die  un- 
ablässige Sorgfalt  und  peinliche  Genauigkeit,  mit  welcher  diese  auch  das 
Geringste  und  scheinbar  Gleichgültigste  in  dem  großen  Betriebe  selber  an- 
ordnen und  bestimmen.  Da  ist  kein  Gamaschenknopf,  kein  Kochgeschirr,  das 
nicht  von  der  höchsten  Commandostelle  aus  geprüft  und  angeordnet  wäre; 
denn  diese  weiß  sehr  wohl,  welch'  einen  gewaltigen  Einfluß  ein  Versagen 
irgend  eines  Moments  an  einer  anscheinend  unbedeutenden  Stelle  auf  das 
Functioniren  des  Gesammtapparates  hat.  Um  wieviel  gewaltiger  ist  die 
Rückwirkung  einer  jeden,  selbst  der  geringfügigsten  Maßnahme  in  dem  sub- 
tilen, lebenden  Organismus,  wie  wirkt  hier  der  kleinste  Reiz  durch  die 
Summation  seiner  Effecte  bis  zu  erheblichen  Aeußerungen  fort,  wie  muß 
an  einem  so  überaus  reaktionsfähigen  Wesen  Alles,  ausnahmslos  Alles,  was 
an  ihm  eine  Einwirkung  auslosen  kann,  in  Berechnung  gezogen  und  geleitet 
und  geregelt  werden.  Da  ist  das  Kleinste  eben  noch  groß  genug,  um  beachtet 
zu  werden. 

So  ist  denn  die  Krankenpflege  nur  anscheinend  eine  rein  praktische 
Disciplin;  thatfächlich  ruht  sie  durchaus  auf  wissenschaftlichem  Boden.  Die 
Aufgabe  der  Wissenschaft  ist  es,  nach  der  berühmten  Definition,  die  Vor- 
gänge in  der  Natur  zu  beschreiben.  Nun  denn,  lehren  wir  die  jungen 
Mediciner,  die  Vorgänge  am  menschlichen  Körper,  welche  infolge  seiner 
täglichen  Anpassung  an  die  Umgebung  in  ihm  sich  abspielen,  kennen  und 
erfassen  zu  lernen,  machen  wir  sie  vertraut  mit  den  Wechselwirkungen 
zwischen  dem  menschlichen  Organismus  und  seinem  materiellen  und  geistigen 
Milieu,  lehren  wir  sie  klarsehen  in  den  tausendfältigen  Bedingungen  des 
Lebens,  dann  werden  sie  auch  dermaleinst  ini  Stande  sein,  wenn  sie  für 
Kranke  Rathgeber  und  Helfer  sein  sollen,  mit  allen  Mitteln,  welche  Natur 
und  Kunst  uns  an  die  Hand  geben,  den  kranken  Organismus  in  die  besten 
für  ihn  möglichen  Bedingungen  zu  bringen.  Sie  werden  dann  die  hohe 
Befriedigung  in  ihrem  Berufe  davontragen,  den  Kampf  um's,  Dasein  in 
dieser  Welt,  wo  Alles  Allem  feindlich  wird,  für  den  Menschen  gemildert, 
zu  seiner  Absindung  mit  ihm  das  Mögliche  beigetragen  zu  haben.  Sie 
werden  dann  auch,  wenn  sie  so  ihre  Aufgabe  und  ihren  Lebenszweck  er- 
fassen, fernbleiben  von  öden«,  unwissenschaftlichem  Schematismus,  fern  von 
5* 


<»<> 

Mattin  Mendelsohn  in  Verlin. 

dem  Haschen  nach  specifischcn  Mitteln  gegen  die  Krankheiten.  Aber  auch 
die  Gesammtheit,  die  es  doch  «in  nächsten  angeht,  wird  sich  dann  der  natür- 
lichen Grenzen  der  medicinischen  Wissenschaft  bewust  werden,  sie  wird  nichts 
Unmögliches,  nichts  Unnatürliches  mehr  von  ihr  beanspruchen  und  nicht 
mehr  von,  der  geheimnisvollen  Formel  des  Recepts  in  todter  Sprache, 
noch  von  der  gleichermaßen  geheimnißvoll  erzeugten  Substanz  specifischer 
Heilmittel  alles  Heil  und  alle  Gesundheit  erwarten.  Tenn  nur  auf  der 
tiefsten  Culturstufe  glaubt  man  an  die  Medicinmänner. 


Die  Sage  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien, 
von 

Alfred  Nuhemann. 
—  Rom.  — 

>  ist  keine  allzukühne,  vielleicht  auch  nicht  einmal  allznneue  Be- 
hauptung, daß  man  in  Italien  über  alles  Andere  besser  unter- 
richtet ist,  als  über  das  eigene  Volk,  seine  Empfindungen,  Ge- 
bräuche und  geistigen  Schätze.  Der  gebildete  Italiener  hat  die  klassische 
Vergangenheit  seines  Landes  ziemlich  gut  am  Schnürchen;  er  kennt  die 
lateinischen  Dichter  uud  die  vaterländische  Litteratur  bis  in  die  neuste  Zeit 
hinein.  Er  spricht  fast  täglich  von  Titius  und  Eajus  und  wirft  gern  mit 
klassischen  Eitaten  um  sich,  was  sich  stets  sehr  großartig  anIM  —  die 
Sagen  und  Sitten  der  Leute  seiner  eigenen  Heimat  aber  kennt  er  nicht, 
und  er  giebt  sich  auch  keine  Mühe,  sowohl  sie~,  wie  die  Provinzen  des 
Landes  überhaupt  kennen  zu  lernen,  nicht  einmal  diejenigen,  die  an  zden 
großen  Verbindungsstraßen,  liegen.  Ich  könnte  ein  gutes  Dutzend  von 
römischen  Bekannten:  höheren  Beamten,  Aerzten,  also  gebildeten  Leuten  an- 
führen, die  sich  nicht  einmal  soweit  aus  ihrer  angeborenen  Trägheit  auf- 
zuraffen vernlögen,  um  —  mit  einer  Eisenbahnfahrt  von  nur  5  1/2  Stunden  — 
Neapel  kennen  zu  lernen!  Ich  kenne  in  Neapel  noch  gebildetere  Leute, 
Professoren  der  Universität  und  Gelehrte,  welchen  die  Abhänge  und  der 
Vulcan  des  Vesuvs  noch  eine  „wrra  inco^nittl"  sind! 
Als  am  20.  September  1870  die  Kugeln  der  italienischen  Truppen 
Bresche  in  die  Porta  Pia  in  Nom  legten,  zog  ein  unverkennbarer  Hauch 
der  Aufklärung  und  des  Fortschrittes  mit  ihnen  in  die  ewige  Stadt  und 
in  die  Gefilde  des  ehemaligen  Kirchenstaates  ein.  Die  mit  blutigen  Opfern 
erkämpfte  Einigkeit  war  endlich  gesichert  worden,  und  es  hätte  die  Krönung 
dieses  Opfers  sein  müssen  —  so  wenigstens  hatte  man  es  erwarten  dürfen  — 


68  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

daß  die  seit  J ahrhunderten  getrennten  Provinzen  Italiens  sich  um  so  inniger 
an  den  so  heiß  ersehnten  Stamm,  an  Rom  also,  schließen  würden.  Anstatt 
dessen  spukt  das  Gespenst  des  Regionalismus  heute  toller  als  zuvor  im 
politischen  und  wirthschaftlichen  Leben  dieser  unglücklichen  Nation,  und  diese 
Interessenwirthschaft,  von  deren  Vorhandensein  der  italienische  Parlamentaris- 
mus den  schlagendsten  Beweis  liefert,  hält  natürlich  auch  das  geistige  und» 
wissenschaftliche  Leben  nieder  und  im  Bann. 

Unter  solchen  Umständen  konnte  der  grundlegendste  Zweig  der  neuzeitigen 
Geschichtsforschung,  die  Volkskunde,  in  Italien  bisher  nur  kümmerlich  ge- 
deihen. Feudalismus  und  Priesterthum,  welche  jede  selbstständige  Regung 
des  Volkscharakters  erstickten  und  die  allgemeine  Unwissenheit  stärkten,  haben 
nicht  nur  die  sichtbaren  Merkmale  der  größten  Culturevoche  der  Welt  zer- 
trümmert, sondern  auch  —  was  noch  schlimmer  —  mit  dem  Schlamme 
der  künstlichen  Verdummung  die  fruchtbaren  Gefilde  der  Überlieferungen 
und  Sagen  des  Volkes  zugedeckt.  Die  letzten  dreißig  und  einige  Jahre 
haben  wohl  hier  und  da  diesen  Schlamm  ein  wenig  gelüftet.  Ein  knappes 
Dutzend  beherzter  Männer  und  Frauen,  das  den  hohen  Werth  des  „Folklore" 
erkannte,  hat  sich  wohl  daran  gemacht,  zu  retten,  was  noch  zu  retten  war: 
bisher  aber  waren  ihnen  nur  Wenige  auf  diesem  Wege  gefolgt.  Es  ist 
auf  diese  Weise  ein  ungeheures  und  unersetzliches  Material  für  die  Erforfchung 
der  Geschichte  der  italienischen  Völkerstämme  aus  seinen  Sagen  und  aus 
deren  Vergleichung  mit  den  Sagen  und  Liedern  anderer  Rassen  und  Völker 
verloren  gegangen.  Die  in  das  Grab  gesunkenen  Geschlechter  haben  die 
Märchen  und  Gesänge,  welche  ihr  Mund  in  jenen  schlichteren  Zeiten  gewif? 
noch  in  großer  Fülle  zu  erzählen  wußte,  mit  in  die  Vergessenheit  hinüber- 
genommen, denn  es  ist  keine  Feder  vorhanden  gewesen,  welche  sie  aufgezeichnet 
hätte.  Bei  der  gegenwärtigen  Verflachung  der  Sitten  und  Gewohnheiten  des 
Lebens  aber,  nun  sich  schon  der  Bauer  selbst  seiner  altehrwürdigen  Sonderheiten 
und  Sondersprüchlein  zu  schämen  beginnt,  drohte  die  ernste  Gefahr,  daß  die 
letzten  Reste  der  von  den  Ahnen  ererbten  Märchen  und  Gesänge  des  italieni- 
schen Volkes  kaum  noch  vor  dem  Untergange  und  dem  Vergessenwerden  zu 
retten  waren. 

Italien!  In  keinem  anderen  Lande  haben  sich  durch  zwei  Jahrtausende 
die  Rassen  der  drei  alten  Erdtheile  so  gemischt  wie  hier.  Wo  sonst,  wenn 
nicht  in  Italien,  konnte  ein  Volk  aus  dem  endlosen  Gewühl  heidnischer 
Gottheiten  und  christlicher  Märtyrer,  sagenhafter  und  geschichtlicher  Helden 
bis  zu  Napoleon  dem  Ersten,  Victor  Emanuel  und  Garibaldi  hinauf  die 
kühnsten  Märchengebilde  spinnen?  Es  bezweifelt  Niemand,  daß  es  das 
gethan  hat.  Aber  erst  der  wackere  Giuseppe  Pitrö  machte  den  Gedanken 
in  den  siebziger  Jahren  zurThat,  als  er  zusammenzuraffen  begann,  was 
das  Volk  auf  Sicilien  an  geistigen  Schätzen  und  Vermächtnissen  noch  besaß. 
Nach  ihm  sind  DÄncona,  De  Gubernatis,  Graf,  Maria  Savi-Lopez  und 
noch  Dieser  oder  Jener  gekommen;  an  einer  planmäßigen,  wissenschaftlichen 


Die  3age  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien. 
") 

Ausbeutung  des  italienischen  „Folklore"  aber  hat  es  bis  vor  Jahr  und  Tag 
gefehlt. 

In  letzter  Stunde  aber  ist  zum  Glück  noch  ein  Hoffnungsstern  auf- 
gegangen: seit  November  1893  besitzt  Italien,  dank  der  unermüdlichen  Hin- 
gabe des  Professors  Angelo  de  Gubernatis  an  diesen  Gedanken,  eine  Gesellschaft 
zur  Sammlung  aller  im  Volk  umlaufenden  Überlieferungen.  An  ihre  Spitze 
hat  sich  Königin  Margherita  in  Person  gestellt,  und  zwar  als  Mitarbeiterin, 
indem  sie  selbst  Volkssagen  in  den  Alpenthälern  der  Berge  Piemonts  und 
Savonens  zu  sammeln  gedachte.  Als  die  Gesellschaft  gegen  Ende  November 
ihre  Thätigkeit  eröffnete,  zählte  sie  bereits  an  achthundert  Mitglieder  in  allen 
Theilen  Italiens,  denen  sich  solche  in  Deutschland,  England,  Amerika  und 
anderen  Ländern  sofort  angeschlossen  haben.  Der  Minister  hat  ebenfalls  das 
seinige  gethan,  indem  er  die  Lehrer  in  den  Provinzen  ganz  besonders  anhielt, 
ihre  Aufmerksamkeit  auf  die  Sagen  und  Lieder  des  Volkes  zu  richten.  Es  ist 
nunmehr  also  die  erfreuliche  Aussicht  vorhanden,  daß  die  letzten  Reste  der 
Volks  Überlieferungen  in  Italien  festgehalten  werden,  ehe  sie  völlig  ver- 
schwinden, und  daß  aus  ihnen  heraus  manche  noch  dunkle  Punkte  der  Ge- 
schichte dieses  Landes  eine  willkommene  Aufklärung  erhalten.*) 
Man  wird  aus  Vorstehendem  sehr  leicht  begreifen,  wie  es  kam,  daß  noch 
im  Jahre  188ft,  nnd  zwar  in  der  „Lne)'Llop6^i6  äes  8cienc68  lieliFieuge»" 
ein  fo  bedeutender  Romanist  wie  Gaston  Paris  seine  damalige  Abhandlung 
mit  den  Worten  schließen  konnte:  „Die  Volkstümlichkeit  des  „Ewigen 
Juden"  ist  auf  gewisse  Striche  des  nordwestlichen  Europas,  so  auf  Deutsch- 
land, Skandinavien,  die  Niederlande  und  Frankreich  beschränkt",  und:  „Wir 
wiederholen  am  Schluß  dieser  Abhandlung  über  die  Sage  vom  Ahasver, 
die  sich  in  einem  deutschen  und  protestantischen  Milieu  gebildet  hat,  daß 
sie  in  Spanien,  Italien  und  dem  östlichen  Europa  völlig  ungekannt  zu 
sein  scheint."  Inzwischen  hat  auch  die  böse  Wissenschaft  die  so  viel  durch- 
forschte und  so  rührend  umdichtete  Sage  vom  Ewigen  Juden  jeder  Poesie 
zu  entkleiden  versucht.  Der  kürzlich  verstorbene  große  Charcot  in  Gemein- 
schaft mit  seinem  Assistent  Meige  haben  nachgewiesen,  daß  den  semitischen 
Rassen  besonders  eine  eigene  Art  von  Hysterie  und  Nervosität  anhaftet, 
welche  sie  zu  einem  rastlosen  Umherwandern  zwingt.  Diese  Krankheit  befällt 
ganz  befonders  diejenigen  J  uden,  welche  im  östlichen  Europa  unter  der 
russischen  Knute  im  tiefsten  Elend  fchmachten.  Sie  suchen  ihr  Unglück 
hinter  sich  zu  lassen,  indem  sie  sich  in  verkehrsreichere  Mittelpunkte  begeben. 
Aber  auch  hier  verbessert  sich  ihr  Loos  nicht.  Und  dieses  düstere  Verhängnis?, 
welches  ihnen  anhaftet,  treibt  sie  ruhelos  von  Ort  zu  Ort,  selbst  aus  den 
Heilstätten,  an  deren  Pforten  sie  halb  verhungert,  halb  entkleidet  zusammen- 
*)  Und  wie  «cht  hatte  ich,  als  ich  obige  Vinleitungs.norte  schrieb!  Nach  laum  cmdeit- 
halbiähriaem  Leben  ist  auck  diese  Gesellschaft  hinüber,  gescheitert  an  der  Gleichgültigkeit 
und  Freibeuterei,  welche  in  Italien  regelmäßig  der  eisten  Begeisterung  und  Opferfrcudigteit 
zu  folgen  pflegt!  Der  Verfasser. 


?0  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

brechen.  So  gewaltig  tragisch  auch  diese  Auslegung  der  Entstehung  der 
Ahasverussage  ist,  so  soll  sie  uns  doch  nicht  die  uns  lieb  und  vertraut 
gewordenen  poetischen  Gebilde  eines  Hamerling,  Hauff,  eines  Sue  und 
Quinet  zertrümmern.  Die  medicinische  Wissenschaft  soll  Recht  behalten,  aber 
auch  diejenige,  welche  die  wirren  Gänge  aufzuklären  sucht,  die  dieses  wunder- 
barste, dunkelste,  ergreifendste  aller  Märchen  im  Laufe  der  J  ahrtausende 
durchlaufen  ist.  Ich  glaube  deshalb,  daß  nur  trotz  Charcot  und  Meige  in 
Deutschland,  dem  Patronatslande  der  Sage  vom  Zlhasver,  Niemand  gram 
sein  wird,  wenn  ich  viele,  bei  uns  noch  unbekannte  Dinge  über  den  Ewigen 
Juden  aus  Italien  berichte,  und  wie  sich  im  Kopfe  des  italienischen  Volkes 
seine  düstere  Gestalt  gemalt  hat  und  noch  malt. 
Ein  Land,  welches  die  ersten  christlichen  Märtyrer  in  seinem  Schöße 
barg,  das  mit  dem  Blute  derselben  noch  fester  als  durch  die  römischen 
Waffen  mit  dem  Orient  und  den  Leidensstätten  des  Heilands  sich  verband, 
konnte  in  seinem  Erwachen  aus  deni  Heidenthume,  wie  man  doch  wohl 
annehmen  muß,  kein  einziges  der  Begebnisse  aus  dem  Leben  und  Wirken 
des  Jesus  von  Nazareth  missen,  am  wenigsten  eines,  welches  die  letzten 
Stunden  des  edlen  Märtyrers  verbitterte.  Das  mit  einer  außerordentlichen 
Einbildungskraft  ausgestattete  Volk  Italiens  stellte  sich  in  seinem  ebenso 
schnell  empfänglichen,  wie  leicht  verwirrbaren  Geiste  bald  die  Schandthat 
des  Kriegsknechtes  Malchus  oder  Marcus  vor,  der,  anstatt  der  empfangenen 
Wohlthaten  eingedenk  zu  sein,  die  ihm  der  Erlöser  damit  erwies,  daß  er  ihm 
das  im  Garten  von  Gethsemane  abgehauene  Ohr  wieder  anheilte,  den  Heiland 
auf  seinem  letzten  Wege  verspottete.  Man  blieb  auch  nicht  bei  der  Ver- 
spottung stehen,  sondern  glaubte  vielmehr  der  Schilderung,  daß  Marcus  — 
dieser  Name  wurde  landläufiger  als  Malchus  —  dem  Verurteilten  mit  der 
eisenbeschuhten  Linken  in  das  Gesicht  geschlagen  habe.  Es  ist  kaum  dara«  zu 
zweifeln,  daß  durch  die  Evangelisten  diese  Malchussage  nach  Italien  gebracht 
wurde  und  daß  sie  deshalb  als  die  älteste  der  uns  bekannten  betrachtet  werden 
darf.  Sie  ist  schnell  genug  volksthümlich  geworden,  wozu  viel  gedruckte 
Berichte,  wie  die  des  Carlo  Ranzo,  Edlen  von  Venedig,  und  des  Priesters 
Francesco  Alcarotti,  letztere  von  Pitrö  und  D'Ancona  in  einem  Nachdrucke 
des  Jahres  1849  entdeckt,  wesentlich  beigetragen  haben.  In  einem  palatini- 
schen  Loder  des  17.  Jahrhunderts  und  in  einem  Manuscripte,  welches  sich 
—  nach  Mittheilung  von  N.  Nenier  im  „Journal  für  die  Geschichte  der 
italienischen  Litteratur"  —  unter  sechzig  anderen  „Florentinischen  Novellen 
und  sonstigen  sich  besonders  auf  die  Stadt  Florenz  beziehenden  Erzählungen" 
in  der  königl.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Turin  befindet,  lautet  der  Titel 
dieser  Sage  gleichmäßig  in  deutscher  Übertragung:  „Erzählung  eines  sicht- 
lichen und  leiblichen  Augenzeugen,  welcher  als  gewiß  behauptet  und  sagt, 
gesehen  und  mit  seinen  Händen  berührt  zu  haben  jenen  Soldaten,  der  neben 
Anna  dem  Jesus  Nazarenus  eine  Ohrfeige  gab,  mit  ganz  besonderer 
Schilderung,  in  welcher  Weise  er  so  glücklich  gewesen  ist,  eine  so  großartig 


Die  2age  vom  «Lwigen  J  uden  in  Italien.  ?~ 

wunderbare  Sache  zu  erblicken,  wie  sie  noch  niemals  gesehen  worden  ist." 
Pitrö  theilt  das  Vorhandensein  eines  weiteren  Belegs  für  die  Malchussage 
mit,  der  sich,  nach  Erkundigungen  unseres  verdienstvollen  Forschers  Di-.  Neu- 
bllur  in  Elbing,  in  der  Universitätsbibliothek  zu  Bologna  befindet.  Hier 
lautet  der  Titel  in  der  Übertragung:  „Erzählung  jenes  Dieners,  der  unserm 
Heilande  Jesu  Christo  einen  Nackenstreich  gab,  und  welche  Strafe  er  duldet. 
Und  eine  andere  Erzählung,  die  ein  umherirrender  J  ude  that,  der  sich  bei 
dem  Leidensgange  und  den«  Tode  des  Erlösers  zugegen  fand.  Turin, 
bei  Carlo  Grosso,  Buchhändler  im  Bezirk  des  Gallo.  Mit  Erlcmbniß." 
Ter  Titel  des  schon  erwähnten  Neudrucks  des  Jahres  1849  heißt:  „Er- 
zählung ~  des  Zustandes,  in  welchem  sich  befindet!  der  verfluchte  und  undank- 
barste ~  Malchus  ~  der  die  Kühnheit  hatte  zu  geben  ~  eine  Ohrfeige  ~  Christo 
unsrem  Herrn  j  wie  man  von  einem  ernsten  (ssrave)  Verfasser  hört.  ~  Neapel  ~ 
bei  Avallone  1849".  Schließlich  fand  DÄncona,  wie  er  in  der  „Nuoua 
Antologia"  mitgetheilt  hat,  einen  noch  anderen  Druck  bei  den  Verlegern 
M  ig  Mo  und  Crotti  in  Novam.  An  diesen  Bericht  desselben  Venetianers 
Ranzo  ist  ebenfalls  die  gleiche  „Erzählung  des  umherirrenden  Juden"  an- 
gehängt, welche  Pitrtz  in  der  Turiner  Allsgabe  fand.  Dieser  letztere  Bericht 
ist  aber  leider  keine  italienische  Originalerzählung  vom  Ewigen  Juden,  sondern 
lediglich  eine  Uebersetzung  der  bekannten,  deutschen,  grundlegenden  Sage 
vom  Ewigen  Juden,  die  Paul  von  Eitzen  geschrieben  hat.  Man  hat  aller- 
dings Eitzen  in  Erizen  verwandelt  und  spricht  von  „Ahasverus,  der  sich 
jetzt  Putadeus  nennt."  Zum  Schlüsse  ist  auch  eine  Art  wissenschaftlicher 
Erklärung  der  Erscheinung  vom  rastlos  wandernden  Juden  angefügt,  welche 
die  Behauptung  verwirft,  daß  der  Jude  ein  böses  Gespenst  sei,  vielmehr 
ein  natürlicher  Mensch.  Leben  doch,  nach  den  Makrobiern,  die  Menschen  unter 
dem  Aequator  siebenhundert  Jahre,  und  gab  es  doch  zur  Zeit  Karls  des 
Großen  Einen,  der  dreihundert  J  ahre  alt  wurde. 
Jene  genannten  Drucke  und  Neudrucke  der  Sage  vom  Kriegsknechte 
Malchus  weichen  in  vielen  Zügen  von  einander  ab,  wenn  auch  der  Grund- 
tenor des  Märchens  stets  derselbe  bleibt:  ein  Beweis,  daß  diese  Litteratur 
schon  seit  vielen  Jahrhunderten  bestand  und  zwar  in  einer  außerordentlichen 
Fülle,  vielfach  ausgehend  von  demselben  Berichte  des  Ranzo,  vielfach  aber 
auch  schon  vor  demselben.  Ja,  es  ist  eigentlich  merkwürdig,  daß  nur  so 
wenige  und  fast  gleichlautende  Drucke  auf  uns  überkommen  sind;  ist  doch 
der  Zug  der  Pilger  nach  dem  Morgenlande  bis  in  das  16.  Jahrhundert 
hinein  ein  außerordentlicher  geblieben,  und  kaum  geringer  die  mündliche 
oder  schriftliche  Berichterstattung  ihrer  Erlebnisse.  Während  nämlich  im 
Turiner,  von  Renier  angeführten  Coder  Carlo  Nanzo  beim  Edelmanne 
Morosini  in  Venedig  das  Vegebniß  erzählt,  ist  der  Gewährsmann  des 
Ranzo  im  Nachdrucke  von  Novara  der  vicentinische  Edelmann  Penaglio 
Lorenzo.  Der  schon  ermähnte  Francesco  Alcarotti,  Pfarrer  an  der  Kathe- 
drale der  Stadt  Navara  —  augenscheinlich  Novara  —  welcher  die  gleiche 


72  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

Erzählung  des  Ranzo  als  eigene  wiedergiebt,  führt  als  die  Zeugen  „seiner" 
Geschichte  den  Cardinal  Delsino,  Patriarch  von  Aquila  (Aquileia),  den 
Generalvrocurator  von  S.  Marco  Giacomo  Soranzo  und  den  zum  Not- 
schafter  in  Konstantinopel  an  Stelle  des  Antonio  Trupola  —  soll  heißen 
Tiepolo?  —  bestimmten  Giovanni  Coronario  —  Cornaro?  —  an,  schließlich 
den  Herrn  Giovanni  Enea  Raporto  —  Da  Porto?  —  aus  Vicenza. 
Und  des  Weiteren  muß  die  Erzählung  des  Ranzo  in  der  einen  oder 
anderen  Form  dem  Verfasser  der  von  Heibig  und  Neubaur  angezogenen 
deutschen  „Relation"  bekannt  gewesen  sein,  die  aus  dem  17.  Jahrhundert 
stammt.  Der  deutsche  Autor  aber  glaubt  zu  wissen,  daß  der  venetianische 
Patrizier,  welcher  das  merkwürdige  Abenteuer  in  Jerusalem  erlebte,  aus 
dem  Geschlechte  der  Bianchi  gewesen  sei.  Ranzo,  Bianchi,  Alcarotti  oder 
wie  immer  der  nach  Jerusalem  Gepilgerte  geheißen  haben  möge,  hatte  das 
Glück,  in  der  heiligen  Stadt  einem  Türken  zu  begegnen,  der  einstmals  von 
des  Pilgers  Geschlecht  zum  Gefangenen  gemacht,  von  seinen«  Herrn  aber  gut 
behandelt  worden  war.  Der  ehemalige  Sklave  ladet  den  Fremdling  zum 
Abendessen  ein,  und  um  keine  Absage  zu  hören,  verspricht  er  ihm  eine 
außerordentliche  Sehenswürdigkeit.  Nach  genossenem  Imbiß  entnahm  der 
Türke  einer  Truhe  einen  Schlüsselbund,  eine  Laterne  und  eine  halbe  Kerze. 
Alles  dieses  versteckte  er  unter  seinem  Kaftan.  Er  ließ  sodann  den  christ- 
lichen Edelmann  schwören,  vor  Ablauf  von  zehn  Jahren  keiner  menschlichen 
Seele  zu  verrathen,  was  er  ihm  zeigen  würde,  weil  ihm  selbst  sonst  ein 
großes  Leid  zustieße.  Die  Beiden  wanderten  nun  eine  gute  Viertelmeile, 
bis  sie  an  einen  schönen  Palast  gelangten.  Ter  Türke  schloß  nacheinander 
drei  eiserne  Thüren  auf,  worauf  sie  ein  unterirdisches  Gemach  betraten, 
dessen  Wände  und  Fliesen  aus  Mosaik  gemacht  waren.  Dieses  Gemach 
war  aber  keineswegs  unbewohnt,  ein  ganz  in  Eisen  gehüllter  Mann  mit  dem 
Schwerte  an  der  Hüfte  spazierte  darin  unermüdlich  von  einer  Wand  zur 
andern  mit  der  wie  zum  Schlage  erhobenen  Rechten.  Carlo  Ranzo  merkte  sich 
jede  Einzelheit  dieser  merkwürdigen  Erscheinung.  Cr  sah,  daß  der  Gewappnete 
von  mittlerer,  hagerer  Statur  und  stark  gebräunter  Gesichtsfarbe  war,  hohl- 
liegende Augen  und  einen  leichten  Vartanflug  hatte.  Der  Türke  hob  von 
Neuem  an:  „Seht  einmal,  Herr  Carlo,  ob  es  Euch  gelingt,  ihn  zum  Still- 
stehen zu  bringen."  Herr  Carlo  versuchte  es  muthig,  aber  trotzdem  er  selbst 
stark  und  kräftig  war,  gelang  es  ihm  nicht,  den  Marsch  des  Kriegers  zu 
unterbrechen.  Der  Türke  erklärte  nunmehr  dem  Venetianer,  dieses  sei  der 
Soldat,  welcher  an  dieser  Stätte  dem  Jesus  Nazarenus  eine  Ohrfeige  ge- 
geben habe.  Er  sei  deshalb  bis  zun:  Tage  des  jüngsten  Gerichts  an  diesen 
Ort  gebannt  worden.  Der  Soldat  esse  nicht,  trinke  und  schlafe  nicht,  spreche 
nicht,  sondern  gehe  rastlos  auf  und  ab.  Herr  Carlo  Ranzo  hat  fein  Wort 
gehalten.  Erst  zwölf  Jahre  später  hat  er  bei  einen«  Bankett  beim  Edel- 
mann Morosini  in  Venedig  sein  Erlebniß  verrathen  und  hinzugesetzt:  „Ich 
ging  eines  Tages  an  einem  herrlichen,  mit  einen«  Säulengange  geschmückten 


Vie  5age  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien.  ?2 

Palaste  vorüber  und  Hütte  daselbst  einen  mächtigen  Lärm  von  Ketten  und 
Geißelhölzern.  Es  befand  sich  aber  keine  andere  Seele  in  der  Nähe  als 
eine  hochbetagte  >Frau.  Zu  ihr  ging  ich,  um  sie  zu  fragen,  was  wohl 
dieser  Lärm  zu  bedeuten  hätte.  Herr',  sagte  sie,  , schon  seit  vierzig  Jahren 
stehe  ich  hier,  und  sowohl  am  Tage  wie  in  der  Nacht  habe  ich  diesen  Lärm 
vernommen.  Man  sagt,  dieses  sei  der  Palast  des  Pilatus  gewesen,  wo 
Jesus  Nazarenus  an  die  Säule  gebunden  war  und  gegeißelt  wurde/  Ich, 
I  hr  Herren,  bin  Euch  ein  wahrhaftiger  Vürge  für  Alles  das,  was  ich  Euch 
erzählt  habe,  denn  ich  felbst  habe  jenen  Soldaten  gesehen  und  ihn  mit  der 
Hand  berührt;  die  Geißel  aber  habe  ich  mit  diesen  meinen  eigenen  Ohren 
vernommen." 

Während  der  Bericht  des  Ranzo,  wie  anzunehmen  ist,  zu  Beginn  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  im  Druck  erschien,  hat  die  Verschmelzung  der  Ge- 
stalt des  Kriegsknechtes  Malchus  mit  dem  Apostel  Johannes  oder  mit  dem 
Pförtner  Johannes,  woraus  die  Figur  des  Ewigen  Juden  zweifellos  ent- 
standen sein  dürfte,  selbst  in  Italien  schon  viel  eher  stattgefunden.  Vor- 
herrschend in  der  Vorstellung  der  Italiener  aber  blieb  trotzdem  die  Auffassung, 
daß  es  Malchus  gewesen  ist,  der  den  Herrn  schlug,  und  der  für  diefe 
Frevelthat  wandern  muß,  bis  ihm  der  Herr  felbst  gebieten  wird,  zur  ewigen 
Ruhe  einzugehen.  Professor  D'Ancona  verdanken  wir  die  Mittheilung,  daß 
der  von  1482  bis  1528  in  Siena  lebende  Chronist  Sigismondo  Tizio 
bei  Besprechung  der  Gemälde  von  Andrea  di  Vanni  unter  dem  Jahre  14A1 
von  Johannes  Nuttadeus  spricht,  weil  der  Künstler,  der  von  1369  bis  1413 
lebte,  diesen  Peiniger  des  Erlösers  in  der  Ecke  eines  Gemäldes  abgebildet  hatte. 
Tizio  erzählt  des  Weiteren,  daß  auch  er  von  der  Erscheinung  des  Johannes 
Buttadeus  in  Siena  selbst  des  Längeren  gehört,  diese  jedoch  für  fabelhaft  erklärt 
hatte.  Es  fchien  ihm,  als  stützte  man  sich  lediglich  auf  die  Behauptung  des 
Astrologen  Guido  Bonatti  aus  Forli,  dessen  Dante  im  20.  Gesang  der 
„Hölle"  gedenkt.  Bonatti  erzählt,  daß  er  in  Ravenna  einem  gewissen 
Richard  begegnet  wäre,  der  sich  rühmt,  bereits  am  Hofe  Karls  des  Großen, 
also  um  vierhundert  J  ahre  früher  gelebt  zu  haben.  Es  fei  auch  damals, 
fo  fährt  Bonatti  fort,  ein  großes  Gerede  von  einem  Johannes  Buttadeus 
gewesen,  der  zur  Zeit  Christi  gelebt  habe,  als  der  Erlöser  zum  Kreuze  ge- 
führt wurde,  und  zu  diefem  selbst  habe  Christus  gesagt:  ,,~u  sxpeot»di8 
ms,  ckum  vonsro."  Johannes  Buttadeus  sei  auf  einer  Wallfahrt  zum 
heiligen  lacobus  in:  Jahre  1267  durch  Forli  gekommen.  Bonattis  Bericht  ist, 
wie  Neubaur  beweist,  auch  in  einen:  der  ältesten  deutschen  Drucke  der  Sage 
enthalten. 

Nimmt  man  hier  noch  einen  Bericht  des  Ser  Mariano  aus  Siena 
über  seine  Reise  in  das  gelobte  Land  hinzu,  welcher  ebenfalls  von  der 
Schandthat  eines  gewissen  Johannes  Buttadeus  spricht,  aber  ehrlich  genug 
ist,  zu  gesteheu,  daß  er  nur  von  diesem  gehört,  ihn  nicht  selbst  erblickt  hatte, 
so  wären  dieses  wohl  die  Anfänge  zur  Volkssage  von.  Ewigen  J  uden  in 


?H  —  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

Italien.  Man  darf  sich  eben  nicht  an  die  Benennung  stoßen,  die  Gestalt 
bleibt  immer  dieselbe.  Von  Malchus  oder  Marcus  spricht  die  italienische 
Überlieferung,  von  Johannes  die  viel  ältere  englische,  und  den  Spitznamen 
Vuttadeo  hat  nach  der  Etymologie  des  Wortes  und  nach  Ansicht  aller 
Forscher  ohne  Zweifel  Italien  dem  räthselhaften  Wesen  des  ruhelosen,  jüdischen 
Kriegsknechtes  oder  Pförtners  des  Pontius  Pilatus  gegeben.  Lutwrs^stoßen, 
schlagen;  äsu  —  der  Gott:  sau  bsll's  Irirto!  Die  Sage  ist  eben,  von 
Kreuzrittern  zuerst  nach  Europa  überführt,  von  Land  zu  Land  und  wieder 
zurückgewandert  und  hat  daher  dieses  kosmopolitische  Aussehen  erhalten. 
Jede  Provinz  Italiens  hat  sie  sich  dann  nach  eigenem  Gefallen  zurechtgestutzt. 
Haben  nun  die  wenigen  ältesten  italienischen  Dichter,  die  sich  mit  der  Ge- 
stalt des  die  Rückkehr  des  Erlösers  erwartenden  „Vuttadeo"  —  nicht  des 
umherirrenden  —  beschäftigen,  aus  diesem  Kosmopolitismus  geschöpft  oder 
bereits  aus  den  Vorstellungen  des  eigenen  Volkes?  Eecco  Angiolieri  in 
Siena,  zum  Beispiel,  bediente  sich  bereits  vor  Ser  Mariano  und  vor  Dizio 
dieses  Namens  in  einem  der  haßerfüllten  Sonette  gegen  seinen  Vater,  in 
welchem  er  sagt: 

II  p«»3imo  ß  'I  eiuäole  oclio  od'i  porto 
II  lurn  vivar  z>iü  elis  Lowdso: 
2  äi  eiü,  buon  6i  m«>,  us  8«nc>  aeLoiw-, 
Mein  grausamer,  aber  gerechter  Haß  gegen  meinen  Vater  wird  ihn 
noch  so  lange  leben  lassen,  wie  Nuttadeus.  Im  selben  Sinne  äußert  sich, 
nach  Mittheilung  des  Florentiner  Gelehrten  Morpurgo,  Nicolö  de  Nossi  aus 
Treviso.  Es  scheint  sich  also  zu  ergeben,  daß  die  Sage  vom  „wartenden" 
Sünder  ursprünglich  in  Italien  allein  verbreitet  war,  und  daß  ihre  Er- 
weiterung zum  „ruhelosen"  Juden  erst  durch  fremdländische  Einflüsse  erfolgte. 
Es  scheint  ferner  festzustehen,  daß  der  Ursprung  sowohl  der  einen  wie  der 
anderen  Auslegung  im  Norden  Italiens  wurzelt,  denn  bisher  erwähnte  ich 
thatsächlich  nur  Personen  und  Städte  des  nördlichen  Italiens.  In  Siena 
namentlich  ist  der  Glaube  an  das  leibliche  Vorhandensein  des  Ewigen  Juden 
noch  heute  sehr  lebendig.  Die  Sage  tritt  dort  in  zweierlei  Gestalten  auf. 
Nach  der  einen  hat  sich  die  Erde  unter  Ahasver  aufgethan,  und  er  ist  in 
ein  tiefes  Loch  gefallen.  Er  bemüht  sich  nun,  dieses  Loch  weiter  auszugraben; 
wenn  er  mit  dieser  Arbeit  fertig  ist,  fällt  er  geradenwegs  in  die  Hölle.  Wo 
Buttadeus  von  der  Erde  verschlungen  wurde,  hört  man  den  unaufhörlichen 
Lärm,  den  sein  Grabewerk  verursacht.  Letztere  Annahme  wäre  also  die  Fott- 
pflanzung  der  Erzählung  des  Venetianers  Ranzo  von  dem  Lärm  der  Geißelung 
im  Paläste  des  Pilatus  zu  Jerusalem.  Nach  der  anderen,  in  Siena  um- 
laufenden Auslegung,  die  Alessandro  D'Ancona  von  Marzocchi  in  Siena 
mitgetheilt  wurde,  wäre  Vuttadeo,  gleich  dem  Malchus,  ebenfalls  in  ein 
unterirdisches  Gemach  eingeschlossen.  Er  tobt  in  diese,»  Gemache  umher 
und  verabreicht  sich  selbst  unermüdlich  die  Ohrfeige,  die  er  einst  Christo  zu 
x 


—  ~—  Die  sage  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien.  ?5 
Theil  werden  ließ.  Mit  der  Zeit  ist  unter  seinen  Füßen  eine  Art  Grube 
entstandeil,  in  der  er  jetzt  schon  bis  zur  Nase  steckt.  Wenn  die  Höhlung 
ihln  erst  über  den  Kopf  reichen  wird,  wird  die  Welt  untergehen.  In  der 
Provinz  Siena  unterscheidet  man  demnach  die  Gestalt  des  Malchus  aus- 
drücklich von  dein  Ewigen  Juden.  Ich  möchte  daher  behaupten,  daß  durch 
die  von  außen  nach  Italien  überführten,  abweichenden  Auslegungen  der 
Sage  vom  Ewigen  Juden  sich  nach  und  nach  Malchus  von  Ahasver  getrennt 
hat,  und  daß  Beide  dann  als  zwei  besondere  Wesen  bis  heutigen  Tages 
ill  der  Phantasie  des  Volkes  weiterlebten.  Auffallend  ist,  daß<  nach  Pinoli, 
man  in  einer  Gegend  Piemonts  dem  J  uden  den  Namen  „dlüarin  ä' 
?»äon»"  beigelegt  hat.  Eine  venetianische  Auslegung  hat  mit  der  letzt- 
genannten aus  Siena  eine  große  Aehnlichkeit.  In  Venetien  läßt  man  den 
Juden  um  eine  auf  einem  Berge  stehende  Säule  kreisen  und  ihr  die  Ohr- 
feige geben,  die  er  ehedem  nicht  Jesus  selbst,  wohl  aber  Maria,  dessen 
Mutter,  verabreichte.  Diese  Beleidigung  konnte  Jesus  nicht  vergeben!  Auch 
dort  hat  er  schon  einen  Graben  unter  sich  durchgetreten,  in  welchem  er 
bereits  bis  au  den  Hals  steckt.  Auch  dort  wird  sein  Versinken  bis  über 
den  Kopf  den  Untergang  der  Welt  mit  sich  bringen.  Der  Venetianer  aber 
überläßt  Gott  die  Entscheidung  über  das  Schicksal,  welches  den  Ewigen 
J  uden  nach  Untergang  der  Welt  treffen  soll.  Leider  hat  der  Letztere  wenig 
Aussicht,  so  bald  voll  seinem  Leiden  erlöst  zu  werden.  Kommt  Jemand  des 
Weges  über  jenen  Verg,  auf  welchem  Ahasver  die  Säule  ohrfeigt,  fo  fragt 
der  Letztere,  geradeso  wie  wir  fragen:  Entschuldigen  Sie,  wie  spät  ist  es  am 
Tage,  ob  die  Weiber  noch  immer  geschlagen  werden.  Bejaht  der  Gefragte, 
wie  selbstverständlich,  so  seufzt  Buttadeo  tief  auf  und  sagt:  „So  ist  es 
noch  immer  nicht  Zeit,  denn  ehe  die  Welt  untergehen  kann,  dürfen  die 
Weiber  sieben  Jahre  keine  Prügel  bekommen!"  Das  ist  echt  italienische  Auf- 
fassung! 

Ein  herzhafter  Sprung  über  die  Meerenge  von  Mefsina  nach  Sicilien, 
und  die  landläufige  Sage  erhält  sofort  ein  anderes,  wärmeres  Gesicht. 
Hier  sind  „Maren"  und  „Buttadeo"  dein  Volke  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen: sie  sind  sprüchwörtlich  geworden.  Von  einer  Person,  häßlich  von 
Aussehen  und  Eharakter,  sagt  der  Sicilianer:  „lluvi  'na  fneoia  6i  In 
jliclku  Hlarou."  Der  Kerl  hat  ein  Gesicht  wie  der  J  ude  Marcus.  Von 
einem  Menschen,  der  nicht  einen  Augenblick  zur  Ruhe  kommen  kann,  meint 
der  Insulaner:  ~  un  Luttn^eu;  ü  eoms  Lutt»cl«u;  nun  zta  mni 
tsrma  com«  Lntw^LU,  curri  8emnrs  cuins  Lutta6eu",  und  so  fort. 
Pitrö,  der  verdienstvollste  „Folklorist"  Italiens,  berichtet  auch  von  der 
äußeren  Erscheinung  desselben.  Erträgt  einen  unsauberen  Hut  (onovelaccio) 
mit  breiten  Krampen,  überaus  laugeu  Bart  und  Haare,  beide  weiß  wie 
Schnee:  sein  Antlitz  drückt  starkes  Leiden  ans;  sein  Körper  ist  bedeckt  mit 
einem  langen  und  weiten  Ueberrock  von  tiefrother  Farbe;  seine  Stiefel  sind 
arg  zerrisseil.  In  diesem  Aufzuge  wird  er  wohl  auch  nach  der  Meinung 


?6  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

der  Leute  in  Ealaparuta  dein  Vauer  Antonino  Cascio  und  seiner  jüngsten 
Tochter  erschienen  sein,  als  Beide  zur  Winterszeit  außerhalb  des  genannten 
Ortes  in  einer  Hütte  weilten,  um  sich  am  Feuer  zu  wärmen.  Die  Tochter 
des  Bauern  erzählt,  daß  Hut  und  Schuhe  der  fremdartigen  Erscheinung 
gelb,  roth  und  schwarz  gestreift  waren.  Antonino  hatte  eine  mächtige  Furcht 
vor  dem  Fremdling.  Letzterer  aber  beruhigte  ihn,  indem  er  sagte:  „Fürchte 
Dich  nicht,  ich  heiße  Buttadeus."  Sofort  erinnerte  sich  Cascio  der  Sage; 
er  lud  den  Ewigen  J  uden  ein,  sich  neben  ihn  an  das  Feuer  zu  setzen,  und 
ihm  die  merkwürdige  Geschichte  seiner  Wanderungen  zu  erzählen.  Buttadeo 
willfahrt  dem  Wunsche  des  Cascio,  da  er  aber  nicht  sitzen  darf,  so  wandert 
er  während  der  Erzählung  im  Zimmer  aufgeregt  und  rastlos  umher.  Ehe 
Buttadeo  den  Bauern  und  seine  Tochter  verließ,  lehrte  er  sie  noch  „fünf 
Gebete  an  die  himmlische  Hand,  außerdem  noch  eines  an  die  linke  Hand  Jesu". 
Ein  zweiter  Forscher  sicilianischer  Legenden,  Salomone-Marino,  theilt 
zwei  weitere  Auslegungen  der  Sage  mit,  wie  sie  in  Vorgetto  von  Mund 
zu  Mund  gehen.  Wie  Salomone  sich  überzeugte,  ist  diese  Ueberlieferung  auch 
in  Palermo,  Partinico  und  anderen  Orten  lebendig  geblieben.  Wie  der 
Bauer  Pietro  Randezzo  in  Vorgetto  dem  genannten  Herrn  erzählte,  habe 
der  frevelhafte  ,,»drsu"  vor  der  Thür  seines  Hauses  auf  der  Bank  gesessen, 
und  als  J  esus,  der  mit  dem  Kreuz  auf  der  Schulter  an  ihm  vorüberkam. 
Jenen  bat,  sich  ausruhen  zu  dürfen,  ihn  mit  Schimpfworten  fortgewiesen. 
V  mkQou  tu  da  »'  rriMZari  nni  In,  to'  vita,  camiu»nuu  8ßmpri  86mpri, 
antwortete  ihm  der  Erlöser.  „Und  Du  sollst  Dein  Lebelang  Nichts  zum 
Ausruhen  haben,  Dil  wandre  immer  und  ewig."  Und  so  ist  es  geschehen. 
„Jetzt  ist  er  alt,"  fuhr  der  Bauer  Nandezzo  fort  zu  erzählen,  „ja  überalt, 
aber  er  stirbt  nie,  dieser  Hebräer,  der  den  Namen  Buttadeo  erhielt,  weil 
er  Jesus  Christus  zurückgestoßen  (»i-riduttnu)  hat.  Und  mancher  hat  ihn 
schon  durch  Norgetto  kommen  sehen,  während  es  um  Mittemacht  stark 
regnete,  blitzte  und  donnerte-,  Niemand  aber  sah  ihn  stehen  bleiben  oder  auch 
nur  ein  Stückchen  Nrod  annehmen,  weil,  wie  er  selbst  sagt,  es  ihn,  ver- 
boten ist,  so  zu  thun,  bis  das  letzte  Gericht  gesprochen  ist."  Hier  hat  also 
die  Sage  keine  Aehnlichkeit  mit  der  des  Malchus,  ebensowenig  in  der  fast 
gleichlautenden  Erzählung  des  Bauern  Giuseppe  Morici  aus  demselben 
Orte.  Der  Letztere  nennt  den  J  uden  aber  nicht  Buttadeo,  sondern 
Arributta-Diu",  den  „Gottstoßer",  wörtlich  übersetzt.  „Wer  ihn  erblickt," 
meint  dieser  letztere  Gewährsmann,  „dem  erzählt  er  gen:  die  Leiden  Jesu, 
die  Schmerzen  und  Foltern,  die  dieser  erlitt,  und  dabei  weint  der  ,Gottstoher~ 
blutige  Thränen.  Er  trägt  einen  Turban,  einen  Nock,  der  wie  ein  Hemde 
aussieht,  aber  von  blutrother,  ein  wenig  dunkler  Farbe;  auch  führt  er 
einen  hölzernen  Stecken  in  Händen."  Vom  wahren  Malchus  dagegen 
handelt  das  Gedicht  vom  „Nnron  cUnpsrntu",  dem  „verzweifelten  Markus", 
welchem  auch  eine  gleichlautende  in  Sicilien  umlaufende  Erzählung  in 
Prosa  entspricht: 


Die  Lage  vom  «Lwigen  J  uden  in  Italien,?? 
I~n'  ~uäsu  2l»l<:u  'II  i>«äi  »i  gpineiu 
On  'n»  'nssUHnta  Iii  kenn  den  2im»tu 
H,  ( ! ii »tu  (1,'tti  uu  8ebmllu  loltimenti, 
l)i  'mm»««:»  »äilliuto  Ii  »u~ri  äenti. 

Der  J  ude  Marcus  giebt  hier  also  Christo  einen  so  heftigen  Schlag 

mit  dein  eisernen  Handschuh,  daß  ihm  „alle  Zähne  im  Munde  springen". 

Die  Phantasie  des  Volkes  veranschaulicht  an  der  Hand  täglicher  Ereignisse 

sich  solche  Situation  sehr  deutlich,  wie  man  sieht.  Eine  zweite  Lyrik  von 

Marcus,  wie  er  auf  Sicilien  durchaus  heißt,  findet  sich  im  dritten  Theile 

der  „Passionen  Jesu  Christi"  vor,  wo  gesagt  wird: 

D  ou  'na  voßßui»  tlünull  si  »l^ncian 

lAn  ~u«i»  2l»reu  »  lu  LiAnuli  Diu; 

Di  rabdill  'n»  ssUÄnoült»  «ei  tiran 

<~»  'u  terra  msnüll  l»eei  eoi  zuinniu 

D  8»n  ketni  ^inoulu  'un  FUÄiänn, 

~»z~di»  'n  ornoui»  2  66u  e»ni  .luäiui 

(i«3Ü  (!n3tu  äi  'n  tsll»  III  pi^ui«», 

l~nn  'ei»  ll>  liritll  1»  Mnoiu. 

Das  wäre  also  die  Geschichte  aus  dein  Garten  von  Gethsemane,  zu- 
sammengewürfelt mit  dem  Vorfalle  auf  dem  letzten  Gange  des  Heilands. 
Die  siciliamsche  Auffassung  von  der  Vertreibung  Christi  von  dem  Hause 
des  J  uden,  vor  welchen«  er  ausruhen  wollte,  entspräche  den  Worten  in  dem 
alten  französischen  Liede  vom  „Ewigen  Juden": 
Ote-toi,  «limine!, 
De  <iev«ut  m»  m»isou 
Avance  et  maiene  6ono 
<ü«l  tu  me  iÄg  »ffiont. 

kleben  Pitrö  will  auch  D'Ancona  sich  von  der  Einwirkung  der 
französischen  Dichtungen  über  denselben  Gegenstand  auf  die  italienische 
Volkslitteratur  überzeugt  haben.  Er  fand  bei  einem  der  fliegenden 
Händler  in  Tivoli,  die  allerlei  Canzonen  und  ähnliche  geistige  Volksspeisen 
verkaufen,  als  da  sind  Traumbücher,  Berichte  von  grausigen  Mordthaten  in 
Poesie  und  Prosa  und  so  fort,  eine  in  Poesie  gekleidete  Legende  vom 
Ewigen  J  uden,  die  sich  aber  bei  näherer  Besichtigung  als  eine  fast  wort- 
getreue Übertragung  der  französischen  „Complainte"  erwies.  Auch  der 
Name  des  J  uden  lautet  sowohl  in  der  französischen  wie  italienischen 
Dichtung  gleichmäßig,  Isaac  Laquedem: 
|»»3«  l~«jue>!»m 
l'nur  >wme  me  tut  Nonne 
>'n  i>  Jerusalem, 

und  der  italienische  Dichter  Giovanni  Nomani: 
l«»2<!  I^uecleiume  e  il  nnmn  mio, 
~eru3»iewme  min  »oi  ul>ti>i  .... 


?8  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

Ein  ungleich  poetischeres  Gewand  hat  die  Sage  vom  Ewigen  Juden 
in  den  italienischen  Alpen  angenommen,  besonders  im  Aosta-Thale.  So 
erzählen  Maria  Savi-Lopez  in  ihren  vortrefflichen  „Alpensagen"  (Stuttgart 
Ad.  Bonz  und  Co.)  und  Corona  in  ,,H,ri»  äi  Hlonw."  Nach  ihnen:  „es 
dou^rs  äs  Nout  Osrviu  non  e'sr»."  An  der  Stelle,  wo  sich  jetzt  die 
riesige  Pyramide  des  Monte  Cervino  erhebt,  gab  es  einst  eine  blühende 
Stadt,  in  welcher  der  Ewige  J  ude  eine  freundschaftliche  Aufnahme  fand, 
so  daß  er  in  einer  kurzen  Rast  seine  müden  Glieder  ruhen  konnte.  Als 
er  aber  nach  tausend  J  ahren  wiederkehrte,  fand  er  an  Stelle  der  gast- 
freundlichen Stadt  den  unheimlichen  Gebirgsriesen.  Tief  betrübt  über  das 
Schicksal  derselben,  weinte  er  lange,  und  aus  seinen  Thränen  ist  der 
schwarze  See  unweit  von  Zermatt  entstanden.  Die  Savi-Lopez  und  auch 
Tschudi  haben  gefunden,  daß  im  ganzen  Zuge  der  Alpenkette  der  Glaube 
umgeht,  das  Erscheinen  des  Ewigen  Juden  ziehe  Unglück  nach  sich.  Der- 
selbe Aberglaube  ist  in  Frankreich  eingewurzelt.  Bevor  Navaillac  Heinrich  IV. 
ermordete,  war  Ahasver  in  Beauvais,  Ncmon  und  anderen  Städten 
Frankreichs  gefehen  worden.  In  der  Schweiz  gilt,  der  Ewige  Jude  auch 
als  Prophet.  Auf  den:  Passe  von  Zermatt  nach  Breil  ruhte  ebenfalls 
der  Fluch,  den  Ahasver  durch  das  Ueberschreiten  desselben  darauf  zurück- 
gelassen hatte.  Der  heilige  Theodulus  brach  denselben,  indem  er 
zuerst  nach  ihm  den  Paß  überschritt  und  die  dort  sich  aufhaltenden  giftigen 
Schlangen  beschwor.  Der  Hügel  ist  daher  nach  dem  Heiligen  benannt 
worden. 

Die  Vermuthung,  daß  auch  iu  Italien  der  Glaube  an  die  Eristenz 
und  das  zeitweilige  Erscheinen  des  Ewigen  Juden  vorhanden  und  weit 
älter  sein  müßte,  als  die  bisher  bekannte  Litteratur  ergab,  ist  glänzend 
gerechtfertigt  worden  durch  eine  neuere  Entdeckung,  die  aber  leider  auch 
Deutschland  den  Nuhm  zu  nehmen  scheint,  die  älteste  Geschichte  vom 
Ewigen  J  uden  zu  besitzen.  Zweihundert  J  ahre  vor  dem  Auftreten  Ahas- 
vers  in  Deutschland  ist  er  in  Toscana  wiederholt  erschienen,  und  daß  hier 
keine  Phantastereien,  sondern  thatsächliche  Begebnisse  erzählt  werden,  beweisen 
auf  das  Schlagendste  die  außerordentlich  interessanten  Documente,  welche 
S.  Morpurgo,  der  verdienstvolle  Bibliothekar  an  der  „Niccardiana"  in 
Florenz,  gefunden  und  geprüft  hat.  In  der  schlichten,  gemeißelten  Weise 
des  15.  Jahrhunderts  erzählt  uns  ein  gewisser  Antonio  di  Francesco 
d'Andrea,  der  mit  seinen  Brüdern  Andrea  und  Bartolomeo  in  Borgo  a  San 
Lorenzo  und  in  Florenz  selbst  ansässig  war,  von  ihrem  wiederholten 
Zusammentreffen  mit  „Giovanni  Votaddio,  auch  genannt  Giovanni,  Gottes- 
diener" während  der  Jahre  1410  bis  1420;  ferner  von  den  Ereignissen, 
die  sich  auf  Grund  der  Erscheimmg  des  Ewigen  J  uden  in  Florenz  ab- 
gespielt haben. 

„Zu  Ehren  und  zum  Ruhm  des  allmächtigen  Gottes,  in  seiner  Drei- 
heiligkeit Vater,  Sohn  und  heiliger  Geist,  und  seiner  immer  jungfräulichen 


vie  3age  vom  Ewigen  Jude»  in  Italien.  <H 

Maria,  und  des  gesammten  himmlischen  Hofes  von»  Paradiese,"  so  hebt 
der  genannte  Antonio  seinen  merkwürdigen  Bericht  an,  „werde  ich,  arm- 
seliger Sünder  oder  besser  gesagt,  großer  gewohnheitsmäßiger  und  häufiger 
Sünder,  in  diesem  Hefte  eines  der  wunderbarsten  Dinge  in  Erinnerung 
bringen,  wie  sie  vielleicht  der  größte  Theil  der  heute  Lebenden  niemals 
wird  vernommen  haben.  Und  mit  großem  Zagen  habe  ich  die  Feder  in 
die  Hand  genommen,  um  diese  so  wunderbaren  Dinge  zu  erinnern  und 
niederzuschreiben,  weil  man  mir  darin  nicht  glauben  möchte.  Deshalb  gehe 
ich  mit  Furcht  an  das  Werk.  Ich  will  mir  aber  Muth  zusprechen  und 
rufe  Gott  und  die  andern  Bewohner  des  Himmels  als  meine  Zeugen 
an,  auch  Jene,  die  noch  am  Leben  sind  und  zum  Theil  jene  Dinge  mit 
ansahen,  die  ich  im  Folgenden  erzählen  will.  Deren  Namen  werde  ich 
nach  Maß  und  Bedarf  kundgeben,  sobald  im  Verlaufe  der  Arbeit  es  Zeit 
sein  wird,  sie  zu  nennen." 

Nach  dieser  vertrauenerweckenden  Einleitung  theilt  uns  Antonio  di 
Francesco  d'Andre«  mit,  daß  ihm  die  Erscheinung  des  Gottesdieners 
Johannes  vom  Hörensagen  bereits  bekannt  war,  ehe  er  dessen  persönliche  Be- 
kanntschaft machte.  „Botaddio"  oder  Nuttadeo  —  ich  will  b«i  dem  ge- 
läufigeren Namen  bleiben  —  sei  fast  in  allen  Theilen  der  Provinzen  Italiens 
gesehen  worden.  Alte  Leute  versicherten  Antonio,  daß  sie  selbst  den  Juden 
gesehen  und  gesprochen  hätten.  Ein  ganz  besonders  glaubwürdiger  Ge- 
währsmann hierfür  sei  ihm  der  greise  Bartolo  di  lachopo  aus  Faena  im 
Gebiete  von  Firenzuola,  ein  Mann,  der  stets  fromm  und  achtbar  gelebt 
habe.  Dieser  habe  Antonio  versichert,  daß  Johannes  in  seinem  Hause  in 
Borgo  a  San  Lorenzo  di  Mngello  sich  ausgeruht  uud  ihm  von  vielen 
Dingen  gesprochen  habe,  die  nur  Gott  allein  hätte  wissen  können.  Seitdem  habe 
sich  Vuttadeo  in  Italien  nicht  mehr  sehen  lassen,  weil  er  ja  auch  die  übrigen 
Theile  der  Welt  besuchen  müsse.  Antonio  will  gefunden  haben,  daß  es  un- 
gefähr an  hundert  J  ahre  dauert,  ehe  der  J  ude  wieder  demselben  Lande  einen 
Besuch  abstatte.  Demnach  wäre  also  schon  zu  Beginn  des  14.  Jahrhunderts 
die  Sage  und  die  Erscheinung  des  Ewigen  in  Italien,  wenigstens  im  nörd- 
lichen Theile  der  Halbinsel,  bekannt  gewesen!  Genug,  in  dem  December  des 
Jahres  1411  —  nach  den  Untersuchungen  Morpurgos  muß  es  aber  das 
Jahr  1416  gewesen  sein  —  gegen  Weihnachten  kehrte  ein  gewisser  Giano 
di  Duccio  aus  Bologna  nach  letzterer  Stadt  zurück,  aus  welcher  er  sich  nach 
Toscana  und  zwar  nach  Borgo  a  San  Lorenzo  geflüchtet  hatte,  weil  die 
Verbannten  Bolognas,  namentlich  die  Ghuidotti  ihm  gedroht,  sie  würden  ihn 
so  lange  hungern  lassen,  bis  er  die  eigenen  Kinder  äße.  Giano  di  Duccio 
war  nämlich  ein  Freund  von  Luigi  da  Prato,  dem  Regenten  Bolognas.  Da 
die  Guidotti  keine  Aussicht  zu  einer  Nückkehr  nach  Bologna  hatten,  so  hielt 
es  Giano  für  richtig,  selbst  nach  Bologna  zurückzureisen-.  „Sie  brachen 
also  von  Borgo  auf  mit  einem  Pferde,  das  zwei  Körbe  trug.  In  einem 
saßen  Duccio,  zwölf  Jahre  alt,  im  anderen  Giovanni  im  Alter  von  acht 
Noib  und  Ziid.  I.XXV.  223,  6 


80  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

Jahren  —  beide  die  Söhne  des  genannten  Giano."  Andrea,  der  Bruder 
des  Chronisten  Antonio,  führte  das  Pferd,  während  hinter  ihnen  Giano 
felbst  auf  einem  starken  Gaule  dahertrabte.  Im  Gebirge  nun  übersiel  sie 
ein  so  fürchterliches  Schneetreiben,  daß  die  Pferde  fortwährend  ausglitten, 
sielen  und  die  Kinder  somit  in  großer  Gefahr  schwebten.  Mit  Mühe  und 
Roth  erreichten  sie  Rifredi,  an  der  alten  Straße  nach  Bologna. 
„Während  sie  sich  ein  wenig  ruhten,  erreichte  sie  der  genannte  Giovanni 
Votaddio,  der  kräftig  bergab  marschirte.  Der  bewußte  Andrea  rief  ihn 
deshalb  an  und  sagte:  „0  Bruder,  wenn  es  Dir  beliebt,  leiste  uns  aus 
Liebe  zu  Gott  ein  wenig  Gesellschaft,  damit  diese  Kinder  nicht  zu  Schaden 
kommen."  Jener  war  nämlich  im  Gewände  des  „nin^oeusro"  vom 
dritten  Orden  des  heiligen  Franziscus,  aber  ohne  Mantel  und  mit  nur 
einem  Schuhe  verseheu.  Er  antwortete:  „Gut,  Gott  zu  Liebe."  So  ging 
er  mit  ihnen,  die  Hände  an  die  Körbe  gelegt.  Und  Andrea  führte  das 
Pferd,  mährend  Giano  auf  seinem  Pferde  ritt.  Während  sie  so  reisten  — 
und  die  Gefahr  war  groß  —  wandte  sich  der  bewußte  J  ohannes  Gottes- 
diener an  Giano  und  fragte:  „Willst  Du,  daß  ich  diese  Knaben  rette?" 
Antwortete  Giano:  „Ja,  bei  Gott."  Sagte  Johannes:  „Wo  wollen  wir 
übernachten?"  In  Scharichalasino,"  antwortete  Giano.  „Auf  denn,  im 
Namen  Gottes,"  sagte  Johannes.  Und  niit  diesen  WoMn  setzte  er  sich  auf 
jede  Schulter  einen  der  Knaben  und  sagte:  „Haltet  Euch  fest  an  meinen 
Haaren."  Er  hatte  die  Kapuze  heruntergenommen,  und  so  geschah  es. 
Und  da  ihm  der  Schuh  unbequem  war,  warf  er  ihn  fort.  Er  ging  davon, 
und  in  wenigen  Augenblicken  war  er  ihren  Augen  entschwunden,  so  daß 
sie  ihn  nicht  mehr  erblickten.  Er  langte  bei  der  Herberge  eines  Wirthes. 
Namens  Lhavechio  an.  Er  setzte  die  Kinder  daselbst  an  das  Feuer,  tröstete  sie, 
ließ  ein  Paar  guter  Kapaunen  abschlachten  und  über  das  Feuer  hängen,  und 
sie  schmorten  schon  im  Topfe,  als  Giano  eintraf,  der  sicher  glaubte,  seine 
Söhne  verloren  zu  haben,  jetzt  aber  in  großer  Freude  war." 
In  der  Herberge  nach  dem  Nachtmahle  legt  Nuttadeo  die  erste  Probe 
seiner  unheimlichen  Allwissenheit  ab.  Während  man>  behaglich  am  Feuer 
sitzt,  fragt  Giano  den  Wirth,  wie  die  Geschäfte  gehen.  Der  Wirth  jammert 
ob  der  schlechten  Geschäfte,  die  ihm  nicht  einmal  erlauben,  seine  Töchter  zu 
verheirathen.  Darauf  lacht  Vuttadeo  und  erklärt  den  Reisegefährten,  es 
gäbe  auf  der  ganzen  Strecke  von  Bologna  nach  Florenz  kein  stärker  besuchtes 
Gasthaus  wie  dieses.  Auch  habe  der  Wirth  Geld  genug,  um  seine  Töchter 
zu  verheirathen,  denn  er  halte  240  Goldgulden  in  einem  Loche,  keine  zwei 
Armlängen  von  Gianos  Bette  entfernt,  versteckt.  Der  Wirth  leugnet  und 
man  zankt  sich  ein  wenig.  „Ich  glaube,  ich  habe  Gaukler  (oi»rl»l»ni)  im 
Hause,"  meint  der  erboste  Wirth.  Am  nächsten  Morgen  aber  zieht  er  doch 
Buttadeo  bei  Seite  und  fragt  ihn  um  Rath.  „Berheirathe  Deine  Töchter," 
antwortet  ihm  der  Allwissende,  „cmorenfalls  verkünde  ich  Dir,  daß  sie  schlecht 
gerathen  werden."  Der  Herbergsvater  that,  was  ihm  der  Jude  rieth,  und 


Die  Zage  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien.  -  8~ 

er  hatte  es  nicht  zu  bereuen.  Es  muh  übrigens  bemerkt  werden,  daß 
Antonio  ausdrücklich  erwähnt,  der  Gottesdiener  habe  sich  nicht  des  Nettes 
als  Lagerstätte  bedient.  Trotzdem  Ahasver  hier  uns  als  ein  ganz  anderes 
Wesen  erscheint,  ist  der  ursprüngliche  Charakterzug  des  Ruhelosen  durchaus 
nicht  verwischt  worden.  „Und  das  jetzt  habe  ich  erzählt,  damit  Ihr  ver- 
stehet, wie  ihm  alle  verborgenen  Dinge  offenbar  sind,"  schließt  Antonio  diesen 
Theil  seiner  Aufzeichnungen,  „jetzt  wollen  wir  von  größeren  Thaten  sprechen." 
Buttadeo  beweist  in  Wahrheit,  daß  er  nicht  ein  Charlatan  ist,  der 
nur  geschickt  errathen,  wohin  der  Wirth  seine  Goldgulden  zu  stecken  pflegt. 
Während  er  mit  Giano,  Andrea  und  den  beiden  Knaben  weiter  des  Weges 
nach  Bologna  zieht,  erklärt  Giano  ihm  die  Veranlassung  zur  beschwerlichen 
Reise  in  starrer  Winterszeit.  Nicht  wenig  verblüfft  mag  Letzterer  gewesen 
sein,  als  ihn,  Johannes  mit  aller  Seelenruhe  verrieth,  daß  innerhalb  zehn 
Tagen  die  Ghuidotti  sich  wieder  im  Besitze  von  Bologna  befinden  würden! 
Giano  will  sofort  umkehren,  der  Jude  aber  sagt,  er  hätte  Nichts  zu  fürchten, 
wenn  er  seinen:  Nathe  folgen  wollte,  im  Gegentheil,  er  würde  alsbald  der 
beste  Freund  der  ihm  bisher  feindlichen  Sippe  fein.  Und  somit  verblieb 
Ahasver  vom  Sonnabend  Abend  bis  Montag  früh  im  Hause  Gianos  zu 
Bologna.  Während  dieser  Frist  berieth  sich  nicht  nur  Buttadeo  mit  Giano, 
sondern  stellte  ihm  auch  ein  „di-isvs",  ein  Breve  also  aus,  welches  ihn  vor 
jeder  Hausdurchsuchung  oder  ähnlichen  Belästigungen  schützen  würde.  Dann 
verließ  Buttadeo  seinen  Gastfreund.  Andrea  begleitete  den  Ruhelosen  bis 
zum  Thore  und  wollte  ihm  unterwegs  ein  Paar  neue  Stiefel  kaufen.  Der 
Jude  aber  schlug  sie  aus,  versprach  dagegen  Andrea  durch  Handschlag,  ihn 
in  seinen  Häusern  in  Norgo  und  in  Florenz  zu  besuchen.  Wie  es  Ahasver 
vorausgesagt,  so  geschah  es.  Giano  wurde  der  gute  Freund  der  Ghuidotti. 
Die  Erhebung  der  Nolognesen  zu  Gunsten  der  Letzteren  fand  am  5.  Januar 
1416  statt.  Es  ist  daher  leicht  nachzuweisen,  daß,  wie  schon  oben  bemerkt, 
Antonio,  der  Chronist,  sich  im  Datum  irrte,  wenn  er  1411  schrieb. 
Der  ewige  J  ude  durchstreifte  darauf  die  ganze  Lombardei,  die  Marken 
von  Treuiso  und  Ancona.  In  Vicenza  wollte  ihn  der  „odapitnno",  der 
Statthalter,  aufknüpfen  lassen.  Als  man  aber  den  Strick  anziehen  wollte, 
war  der  Buttadeo  nicht  von  der  Erde  freizubekommen,  trotzdem  der  Statt- 
halter felbst  anfaßte.  Ein  neuer  Strick  riß  in  drei  Stücke.  „0  wahrer 
und  allmächtiger  Gott,"  ruft  an  diefer  Stelle  der  Chronist  mit  der  ganzen 
Naivetät  seiner  Zeit  und  seines  Glaubens  aus,  „wie  groß  ist  doch  Deine 
Liebe  zu  Deinen  Freunden,  daß  ein  solcher  Hanfstrick,  der  einen  Thurm 
hätte  heben  können,  in  mehr  Stücke  zerfiel,  als  sie  selbst  die  Fäulniß 
hätte  schaffen  mögen!"  Und  so  gelangte  endlich  der  Jude  auch  nach  Borgo 
«  San  Lorenz»,  während  Antonio  di  Ser  Tommaso  Redditi  daselbst  als 
PodM  waltete  (23.  April  bis  23.  October  1416).  Seine  Anwesenheit 
wurde  schnell  bekannt,  und  die  ganze  Stadt  lief  auf  dem  Platze  zusammen, 
um  Buttadeo  mit  den  tölpelhaftesten  Fragen  zu  belästigen,  „thierisch  und 


6» 


82  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

wenig  ehrerbietig",  wie  der  Chronist  in  gerechtem  Unmuth  sich  ausdrückt.  Sie 
fragten  ihn:  „Wie  lange  werde  ich  noch  zu  leben  haben?"  „Wird  mir  das 
Glück  beschieden  sein?"  „Werde  ich  Kinder  haben?"  Und  Aehnliches.  Der 
Jude  selbst  ist  es,  der  den  Leuten  von  Borgo  den  Ernst  des  Lebens  in 
die  Erinnerung  ruft.  Zum  Podestü  gewendet,  sagt  er:  „Wenn  Ihr  wüßtet, 
was  ich  weiß,  so  würdet  Ihr  sehr  betrübt  sein,  und  Mancher  würde  heiße 
Thränen  weinen.  Ehe  Ihr  noch  aus  dem  Amte  treten  werdet,  soll  Einer, 
der  sich  in  diesem  Kreise  befindet,  an  eben  dieser  Stelle  gehängt  werden." 
Und  so  geschah  es,  denn  daselbst  wurde  auf  Befehl  desselben  Podest» 
Erchole,  den  man  für  den  besten  aller  jungen  Männer  hielt,  an  den  Galgen 
geknüpft.  Von  Norgo  siedelte  der  Ewige  nach  Florenz  über  in  das  Haus 
des  „demüthigen"  Antonio,  woselbst  ihn  auch  Messer  Lionardo  d'Arezzo,  der 
Kanzler  der  Republik,  aufsuchte,  und  über  drei  Stunden  mit  ihm  im  ge- 
heimen Gespräche  blieb.  Messer  Lionardo,  von  vielen  Bürgern  befragt,  was 
er  von  dem  Gottesdiener  halte,  gab  zur  Antwort:  „Entweder  ist  er  ein 
Engel  Gottes,  oder  er  ist  der  Teufel.  Er  hat  alle  Wissenschaften  der  Welt 
inne,  er  kennt  alle  Sprachen,  alle  Vocabeln  von  allen  auserlesenen  Provinzen." 
Mehr  verrieth  Messer  Lionardo  nicht.  Es  muß  bemerkt  werden,  daß  Lio- 
nardo Bruni,  genannt  d'Arezzo,  einer  der  gelehrtesten  Männer  seiner  Zeit 
war.  Glaubte  er  wirtlich  an  das  Märchen,  welches  ihm  Buttadeo  auftischte? 
I  m  folgenden  J  ahre  kehrte  der  J  ude  abermals  in  das  an  der  Ecke 
von  Alberti  da  San  Romeo  gelegene  Haus  der  Brüder  von  Francesco 
d'Andrea  zurück.  Der  Chronist  nennt  alle  die  Patricier,  die  Buttadeo  be- 
suchten, so  die  Peruzzi,  Nicasoli,  Vusini,  Morelli,  Alberti  und  Andere  von 
nah  und  fern.  „Ich  hatte  Furcht,  daß  die  Dielen  meines  alten  und  kleinen 
Hauses  brechen  würden,  und  so  sagte  ich  Allen:  Er  wird  gewiß  heute  Abend 
in  einer  Herberge  übernachten.  Und  Alles  wartete  geduldig  vor  der  Thür, 
bis  die  ganze  Straße  überfüllt  war.  Es  fanden  sich  in  den  ersten  Abend- 
stunden viele  Würdenträger  der  Republik  ein,  mit  diesen,  dem  Bruder 
Vartolomeo  und  den»  Schreiber  selbst  schritten  wir  mit  Fackeln  durch  die 
gestaute  Menge,  um  den  Ewigen  zum  Hause  des  Ser  Pagolo  di  Ser 
Lando  Forum,  des  damaligen  Kanzlers,  zu  führen,  und  doch  wurden  wir 
nicht  gesehen.  0  wahrer  Gott,  wie  bewunderungswürdig  sind  doch  Deine 
Werke!"  Am  nächsten  Morgen  führte  man  den  Juden  in  den  Palazzo  der 
Signoria  felbst,  und  Letztere  erhielt  von  ihm  sehr  wichtige  politische  Auf- 
schlüsse. Der  damalige  J  ohannes  oder  Buttadeo  scheint  demnach  seine 
Augen  hübsch  offen  gehalten  zu  haben.  Er  ist  jedenfalls  ein  äußerst  ge- 
schickter, seiner  Zeit  weit  überlegener  Mensch  gewesen,  unter  Umständen  viel- 
leicht auch  ein  politischer  Agent!  Die  vornehmen  Herren  hatten  an«  Abend 
bis  Mittenmcht  auf  das  Erscheinen  Buttadeos  gewartet  und  verabreichten 
dafür  Antonio  eine  derbe  Kopfwäsche.  Erst  auf  das  Zeugniß  des  Kanzlers 
hin  Ivurde  geglaubt,  daß  der  J  ohannes  in  der  That  trotz  der  Fackeln  un- 
gesehen durch  die  Menge  geschritten  sei.  Unter  Jenen,  die  trotzdem  nicht 


Die  Zage  vom  Ewigen  J  uden  in  Italien.  —  ~  83 
an  die  Kräfte  des  Gottesdieners  glauben  wollten,  befand  sich  auch  der 
Geschichtsschreiber  Giovanni  Morelli.  Er  wünschte  sich  ein  Amt,  um  er- 
proben zu  können,  ob  der  wunderbare  Fremdling  auch  die  Fähigkeit  besitze, 
durch  die  Luft  zu  verschwinden.  Diese  Gelegenheit  ließ  nicht  auf  sich  warten. 
Morelli  wurde  im  Jahre  1413  zum  Vicar  von  Mugello  ernannt.  Buttadeo 
besuchte  in  demselben  Jahre  den  Ort  und  ruhte,  von  vielem  Volke  be- 
gleitet, in  der  Kirche  San  Donnino,  nördlich  von  der  Stadt  selbst  aus. 
Hierher  schickte  der  Vicar  seine  Sendboten,  schließlich  die  ganze  berittene 
Leibwache  aus,  um  den  Ewigen  zu  sich  zu  entbieten  und  ihn  unter  Um- 
ständen mit  Gewalt  und  gefesselt  vor  sich  führen  zu  lassen.  Wahrend  das 
Volk  in  Buttadeo  drang,  der  Obrigkeit  nicht  Widerstand  zu  leisten,  lachte 
er  und  meinte,  nicht  einmal  der  Vicar  könne  ihn  zu  Etwas  zwingen,  was 
ihm  nicht  gefiele.  Um  aber  schließlich  dem  Oberbefehlshaber  der  „t»iui- 
ßliari",  der  Leibwächter,  keine  Ungelegenheiten  zu  bereiten,  rief  er  dem  sich 
schon  erfolglos  Entfernenden  nach,  er  werde  schon  vor  ihm  beim  Vicar  sein. 
Der  J  ude  schlug  darauf  einen  anderen  Weg  ein  und  war  richtig  viel  früher 
beim  Vicar.  Dieser  ließ  ihn  zwischen  sich  und  seiner  Gemahlin  Platz 
nehmen,  und  es  wurde  Vieles  geklatscht.  Auch  beklagte  sich  Giovanni 
Morelli  beim  Buttadeo,  daß  ihm  seine  junge  Frau  keinen  Nachwuchs  be- 
schweren wollte.  Buttadeo  verhieß  ihm  einen  Sohn,  noch  ehe  er  vom  Amte 
scheiden  würde.  Diese  Prophezeiung  ist  nach  Allem,  was  bekannt,  nicht 
eingetroffen,  wohl  aber  ist  es  erwiesen,  daß  die  junge  Frau  dem  Vicar  noch 
während  seiner  Amtsführung  durchbrannte.  Kurz,  Morelli  hatte  seines  Un- 
glaubens nicht  vergessen.  Als  sich  Johannes  nach  dem  Nachtmahle  verab- 
schieden wollte,  complimentirte  ihn  der  Vicar  in  ein  „ehrenwerthes"  Ge- 
fängniß,  das  heißt  in  eine  sichere  Kammer,  die  unter  dem  Fundament  des 
Thurmes  in  den  Felsen  eingelassen  war.  In  dieser  Kammer  „befand  sich 
auch  ein  ehrbares  Bett,  trotzdem  Johannes  nicht  in  einem  solchen  zu 
schlafen  pflegte.  Der  Raum  enthielt  zwei  kleine  Fenster,  die  mit  starkem 
Eisen  so  dicht  bekleidet  waren,  daß  nicht  eine  Maus  hätte  hindurchschlüpfen 
können;  ferner  eine  Bohlenthür  mit  einer  niedrigen  engen  Oeffnung,  eben- 
falls mit  starkem  Eisen  ausgeschlagen  und  einem  mächtigen  Schlosse  ver- 
sehen." Hier  hinein  wurde  Johannes  gesperrt.  Als  der  Vicar  am  nächsten 
Morgen  das  Verließ  öffnen  lieh,  war  natürlich  kein  Johannes  mehr  darin 
zu  entdecken. 

Die  von  Antonio  erzählte  Geschichte  berichtet  des  Weiteren,  daß  Butta- 
deo auch  in  den  Jahren  1414,  1415  und  1416  in  seinem  Hause  weilte, 
und  von  anderen  sich  an  diese  Besuche  knüpfenden  Begebnissen.  Während 
des  zweiten  Nefuches  wohnte  Buttadeo  in  der  Herberge  und  gab  hier  den 
Brüdern  ein  großes  Essen.  Zum  Schlüsse  brannte  Antonio,  dem  Chronisten, 
eine  Frage  auf  der  Zunge.  Er  verlangte  zu  wissen,  ob  der  J  ude  wirklich 
der  Giovanni  Votaddio  sei.  Dieser  belehrte  ihn  darauf,  daß  man  seinen 
Namen  verstümmelt  habe.  Er  nenne  sich  „Giovanni  Batt6dio",  das  heißt 


8H  Alfred  Ruhemann  in  Rom. 

Johannes,  der  „Gottprügler".  Und  nun  wiederholte  er  dem  Neugierigen 
die  sattsam  bekannte  Erzählung  vom  letzten  Gange  des  Heilands.  Als 
Antonio  schließlich  aber  nochmals  fragte,  ob  er  auch  thatsächlich  derselbe 
„Gottprügler"  sei,  antwortete  Vuttadeo:  „Versuche  nicht  Weiteres  zu  er- 
forschen, Antonio."  Und  damit  schlug  er  die  Augen  nieder,  aus  denen  eine 
Thräne  herniederrollte.  Der  Schlich  der  Chronik  des  Antonio  ist  rührend. 
Als  der  J  ude  zum  letzten  Male  bei  ihm  einkehrte,  rang  seine  Frau  mit 
dem  Tode.  Nuttadeo  heilte  sie,  indem  er  abermals  ein  Vreve  ausfertigte 
und  es  der  Kranken  um  den  Hals  hing.  „Mit  diesem  Breve  habe  ich  noch 
viele  und  verschiedene  Krankheiten  heilen  können,"  schreibt  Antonio.  „End- 
lich lieh  ich  es  Einem,  der  es  mir  nicht  wiedergab:  Gott  verzeihe  ihm!  Als 
Johannes  mich  verließ,  umarmte  er  mich,  was  er  vorher  nie  gethan.  Ich 
staunte  darob  und  fragte:  „Werde  ich  Euch  nie  wiedersehen?"  Er  ant- 
worte: „Nie  mehr  mit  den  körperlichen  Augen."  Und  so  ging  er.  Er 
begab  sich  in  das  Kloster  vom  Paradiese,  wo  ihn  die  Mönche  gefangen 
nahmen,  um  ihn  der  Obrigkeit  auszuliefern.  Während  der  Nacht  aber  ver- 
schwand er,  und  die  Mönche  standen  verdutzt  da.  Seitden,  kam  er  nicht 
mehr  in  diese  Gegenden.  Und  so  trabt  er  durch  die  Welt,  bis  Gott  die 
Lebendigen  und  die  Todten  richten  wird  in  seiner  Majestät  und  im  Thale 
von  losavhllt.  Möge  er  für  uns  beten,  damit  Gott  uns  unsere  Sünden 
vergebe,  und  er  uns  zum  Himmel  eingehen  lasse.  Amen!" 
Der  treffliche  Morpurgo  hat  außer  obiger  Chronik,  die  sich  unter  den 
Strazzi'schen  Dokumenten  vorfindet,  auch  ein  Tagebuch  des  Salvestro  di  Gio- 
vanni Mannini  entdeckt,  der  im  Jahre  1416  Podest»  von  Agliana  war,  den 
Besuch  Buttadeos  und  dessen  politische  Orakel  empfing.  Was  sagen  unsere 
Gelehrten  zu  so  merkwürdigen  Beiträgen  zur  Geschichte  der  Sage  vom 
„Ewigen  J  uden"? 


Das  Briefgeheimniß  wahrend  der  französischen 

Revolution. 

von 

A.  G.  Vllckenheimer. 
—  Mainz.  — 

Inter  den  Mißständen,  deren  Beseitigung  die  Wähler  zn  den 
Ntilt8  ^sueranx  Frankreichs  im  Jahre  1789  fast  einstimmig  ver- 
langten, erscheint  in  den  s.  g.  Eahiers  die  von  der  Regierung 
bis  dahin  geduldete,  vielfach  sogar  verlangte  Verletzung  des  Briefgeheim- 
nisses. Die  Unverletzlichkeit  des  letzteren  stellten  die  Wähler  auf  gleiche 
Stufe  mit  der  Freiheit  der  Person,  des  Eigenthums  und  mit  dem  Rechte 
der  freien  Meinungsäußerung.  Solche  Gleichstellung  war  durchaus  zu- 
treffend, insofern  jedes  Eindringen  in  die  in  Briefen  niedergelegten  Ge- 
heimnisse Anderer  als  eine  Beeinträchtigung  der  aus  den»  Begriffe  der 
Persönlichkeit  hervorgehenden  und  mit  der  letzteren  verknüpften  Rechte,  als 
eine  Verletzung  des  Anspruchs  auf  Treue  sich  darstellt.  In  dem  Maße, 
in  welchem  eine  Regierung  die  Persönlichkeit  würdigt  und  schützt,  in  dem- 
selben Maße  würdigt  und  schützt  sie  das  Geheimmß  des  Briefverkehrs. 
Dafür  bietet  die  Geschichte  Frankreichs  im  18.  Jahrhunderte  und  zu  Anfang 
dieses  J  ahrhunderts  den  besten  Beleg.  Wie  die  Negierung  Ludwigs  XIV. 
in  Frankreich  in  Mißachtung  der  persönlichen  Freiheit  das  Aeußerste  leistete, 
so  schwer  versündigte  sie  sich  an  dem  Briefgeheimnisse,  nicht  etwa  blos 
unter  dem  heuchlerischen  Verwände  der  Fürsorge  für  das  Staatswohl, 
sondern  auch  zur  Befriedigung  der  Neugierde  des  Königs,  der  über  den 
Pariser  Klatsch  auf  dem  Laufenden  sich  halten  wollte.  Auch  die  Nachfolger 
Ludwigs  XIV.  trieben  neben  dem  Mißbrauche  mit  den  lsttrs8  äs  eaenst 
den  hergebrachten  Unfug  mit  der  Eröffnung  der  Briefe,  wie  dies  aus  den 
Beschwerden  der  Wähler  der  Ltat8  ßensraux  erhellt. 


86  II.  <3.  Vockenheimer  in  Mainz, 

Mit  dem  Zusammentreten  der  letzteren  durfte  man  die  Beendigung 
des  schwer  empfundenen  Mißbrauches  erwarten.  In  der  That  verkündigte 
die  Volksvertretung  bereits  im  Juli  1789  den  Grundsatz  der  Unverletzlichkeit 
des  Briefgeheimnisses.  Sie  that  dies  noch,  bevor  sie  mit  der  Aufstellung 
der  Menschenrechte,  mit  der  Gewährleistung  der  vollen  Entfaltung  der 
persönlichen  Freiheit,  sich  beschäftigte.  Nachdem  die  gesetzgebende  Gewalt 
wiederholt  veranlaßt  worden,  für  den  Briefschutz  einzutreten,  ging  sie  später 
dazu  über,  den  zugesagten  Schutz  durch  ernste  Strafbestimmungen  zu  erhöhen. 
Allein  wie  in  anderen  Dingen,  so  erwies  sich  auch  hier  im  Fortgange  der 
Revolution  die  Gesetzgebung  als  wirkungslos  gegenüber  dem  Auftreten  der 
jeweiligen  Machthaber  in  Paris  und  in  den  Provinzen,  welche  in  Ver- 
Übung von  Willkürlichkeiten  und  Gewaltthätigkeiten  die  alten  Behörden  weit 
in  Schatten  stellten.  Wo  immer  mit  der  hereinbrechenden  Anarchie  neben 
den  gesetzmäßigen  Gemalten  die  Herrschaft  des  Pöbels  oder  der  Clubs  sich 
geltend  machte,  und  wo  immer  die  eingesetzten  Behörden  in  den  Dienst  der 
Parteien  und  deren  Leidenschaften  sich  stellten,  da  gab  es,  den  Erklärungen 
und  Strafandrohungen  der  gefetzgebenden  Gewalt  zum  Trotz,  weder  einen 
Schutz  der  Persönlichkeit,  der  freien  Meinungsäußerung,  noch  einen  Schutz 
des  Briefgeheimnisses.  Als  gar  die  republikanische  Gesetzgebung  in  einem 
Augenblicke  des  heftigsten  Kampfes  zwischen  den  um  die  Oberherrschaft 
streitenden  Parteien  für  einen  ganz  bestimmten  Fall  die  Durchforschung  der 
Briefe  gestattete,  da  machten  die  damals  allgewaltigen  Gemeindeverwaltungen 
die  Ausnahme  zur  Regel.  Ihr  Beispiel  blieb  maßgebend  für  die  sie  ab- 
lösenden republikanischen  Behörden,  namentlich  zur  Zeit  des  Directoriums. 
Während  aber  die  letzteren  zur  Rechtfertigung  ihres  Verhaltens  der  Post 
gegenüber  zu  einer  allerdings  willkürlichen  Auslegung  des  Gesetzes  ihre 
Zuflucht  nahmen,  glaubten  die  Polizeiminister  des  Kaiserreichs  über  alle 
Bedenken  sich  wegsetzen  zu  dürfen  und  beeinträchtigten  den  Nriefverkehr  in 
einer  Weise,  die  das  Verhalten  der  Behörden  bei  Beginn  der  Revolution 
noch  harmlos  erscheinen  ließ. 

Den  Anlaß  zu  der  oben  erwähnten  ersten  Aeußerung  der  Volksvertretung 
vom  25.  J  uli  1789  gab  ein  in  jeder  Hinsicht  merkwürdiger  Vorfall.  Un- 
mittelbar nach  Erstürmung  der  Pariser  Bastille  (14.  Juli  1789)  waren  an 
den  verschiedensten  Orten  Frankreichs  ernste  Unruhen  ausgebrochen,  die 
bereits  am  16.  Juli  einen  Theil  des  Adels,  darunter  auch  den  Grafen 
Artois,  den  Bruder  des  Königs  Ludwig  XVI.,  zur  Flucht  in's  Ausland 
veranlaßten.  Der  rasch  sich  vollziehende  Verfall  der  königlichen  Gewalt 
ermuthigte  die  Rädelsführer  der  Bewegungen  in  Paris  und  in  den 
Provinzen,  auf  eigene  Faust  neue  Behörden  einzusetzen.  So  entstand  in 
Paris  ein  republikanischer  Gemeinderath,  der  den  Astronomen  Bailly  zum 
Maire  bestellte  und  es  als  seine  erste  Aufgabe  erachtete,  den  verrätherischen 
Absichten  der  Königspartei  nachzuspüren.  In  Verfolg  dieses  Bestrebens 
sing  die  neue  Behörde  eine  Sendung  des  Barons  Castelnau,  des  Veilreters 


Das  Vriefgeheimniß  während  der  französischen  Revolution.  8? 
Frankreichs  in  Genf,  ab,  um  sich  in  den  Besitz  von  Briefen,  die  an  den 
Grafen  Artois  bestimmt  waren,  eigenmächtig  zu  fetzen.  Bailln  sandte  die 
also  erlangten  Briefe  an  den  Präsidenten  der  Nationalversammlung  in 
Versailles,  der  sich  weigerte,  die  Schriftstücke,  die  nicht  etwa  in  Verlauf 
einer  Untersuchung  zu  Folge  richterlicher  Beschlagnahme  angehalten  worden 
waren,  zu  öffnen  und  der  Versammlung  kundzugeben.  An  diese  in  öffent- 
licher Sitzung  vom  25.  Juli  1789  erfolgte  Weigerung  des  Vorsitzenden 
knüpfte  sich  sofort  eine  lebhafte  Besprechung,  indem  mehrere  Mitglieder  der 
Volksvertretung,  unzufrieden  mit  der  Haltung  ihres  Vorsitzenden,  auf  Mit- 
theilung der  Briefe  bestanden,  unter  dem  Vorbringen,  daß  hier  die  Rücksicht 
auf  das  Staatswohl  allein  in  Betracht  komme.  Einer  der  entschiedensten 
Vertreter  dieser  Ansicht  war  der  redegewandte,  zu  den  Constitutionellen 
zählende  Marquis  Gouy-d'Arcis,  der  davon  ausging,  daß  man  in  Kriegs- 
zeiten Briefe  erbrechen  dürfe,  dem  Kriege  aber  die  Zeit  der  Unruhen  und 
geheimen  Treibereien  völlig  gleichstehe.  Einer  lebhaften  Unterstützung  hatte 
der  Marquis  von  Seiten  Robespierres  sich  zu  erfreuen.  „Ohne  Zweifel," 
fo  bemerkt  diefer,  „ist  das  Briefgeheimniß  unverletzlich;  aber,  wenn  eine 
ganze  Nation  in  Gefahr  ist,  wenn  Anschläge  gegen  ihre  Freiheit  geplant 
werden,  dann  wird  das,  was  zu  anderer  Zeit  als  Verbrechen  erscheint,  zu 
löblichem  Handeln.  Nachsicht  gegen  Verschwörer  ist  Verrath  gegen  das 
Volk."  In  der  Widerlegung  dieser  Ansicht  begegneten  sich  die  Wortführer 
der  verschiedensten  Parteirichtungen  innerhalb  der  Versammlung.  Der 
charakterfeste  Armand  Gaston  Camus,  einer  der  Vertreter  der  Stadt  Paris, 
verwies  auf  die  in  den  Eahiers  zu  Tag  getretene  Willensäußerung  aller 
Wahlkreise  und  auf  das  eigentliche  Wesen  des  Brief  Verkehrs.  Ein  geschlossener 
Brief,  fo  meinte  der  Redner,  ist  gemeinschaftliches  Eigenthum  Desjenigen, 
der  ihn  abgesendet  hat,  und  Desjenigen,  der  ihn  empfangen  foll  oder  em- 
pfangen hat;  ohne  sich  gegen  die  ersten  Rechtsgrundsätze  aufzulehnen,  darf 
man  dämm  kein  Briefsiegel  eröffnen.  Den  Rechtsstandpunkt  streifte  auch 
der  Bischof  von  Langres.  Er  hielt  es  zwar  für  erlaubt,  Briefe  eines  dem 
Vaterlande  verdächtigen  Menschen  zu  erbrechen;  allein  der  Verdacht  muß 
begründet  sein  und  darf  sich  nicht  lediglich  auf  irgend  eine  Anzeige  stützen. 
Ganz  entschieden  trat  der  Demokrat  Duo  ort  gegen  die  Eröffnung  der 
Briefe  ein.  „Es  ist,"  so  rief  er,  „einer  Nation,  welche  die  Gerechtigkeit 
liebt,  die  sich  auf  Ehrlichkeit  und  Offenheit  Etwas  zu  gut  thun  will,  durch- 
aus unwürdig,  eine  derartige  Schnüffelei  zu  begehen."  Den  stärksten  Stoß 
versetzte  dem  Antrage  auf  Mittheilung  der  Briefe  einer  der  Väter  der 
Revolution,  Graf  Mirabeau.  Wo  immer  damals  eine  Beeinträchtigung 
der  Freiheit  in  Frage  stand,  hatte  kein  Mitglied  der  Versammlung  so 
zündende  Worte  wie  er;  dabei  verstand  kein  Anderer  gleich  ihn,  die  jeweils 
auftauchenden  Fragen  an  der  Hand  der  Erfahrungen  des  Lebens  zu  prüfen 
und  zu  behandeln.  Für  ihn  war  hier  nicht  blos  eine  Rechtsfrage  im  Spiele, 
für  ihn  drehte  es  sich  noch  um  den  Nachweis,  daß  der  Vertrauensbruch 


88  «.  G,  Vockenheimer  in  Mainz. 

Völlig  nutzlos  sei.  „Was  erfährt  man,"  so  fragte  er,  „aus  Briefen?  Glaubt 
man  im  Ernste,  daß  die  Anschläge  zu  gefährlichen  Unternehmungen  durch 
die  Post  befördert  werden?  Selbst  politische  Nachrichten  erfährt  man  nicht 
auf  diesem  Wege.  Welche  große  Gesandtschaft,  welcher  Träger  eines  be- 
sonders wichtigen  Auftrags  umgeht  nicht  die  Gefahr  der  Nachspürung  auf 
der  Post?"  Die  zu  erwartende  Ausbeute  steht  nach  seiner  Ansicht  in  keinem 
Verhältnisse  zur  Versündigung  an  Treue  und  Glauben  unter  den  Menschen. 
Am  Schlüsse  seiner  Abstimmung  schildert  Mirabeau  den  von  der  begehrten 
Maßregel  zu  besorgenden  Eindruck  wie  folgt:  „In  Frankreich  beraubt  man 
unter  dem  Vorwcmde  der  öffentlichen  Sicherheit  die  Bürger  des  Eigenthums 
an  ihren  Briefen,  welche  die  Eingebungen  des  Herzens,  den  Schah  des 
Vertrauens  verwahren.  Diese  letzte  Zuflucht  der  Freiheit  haben  Diejenigen 
verletzt,  welche  von  der  Nation  zum  Schutz  ihrer  Rechte  berufen  wurden; 
sie  haben  durch  ihren  Beschluß  es  ermöglicht,  daß  die  geheimsten  Regungen 
des  Herzens,  die  kühnsten  Eingebungen  des  Geistes,  die  Ergüsse  eines 
oft  unbegründeten  Zornes,  die  vielfach  schon  im  nächsten  Augenblicke 
wieder  zurückgenommenen  irrigen  Unterstellungen  zu  Beweismitteln  gegen 
dritte  Personen  sich  gestalten,  daß,  ohne  es  zu  wissen,  Bürger  gegen 
Bürger,  Freunde  gegen  Freunde,  Söhne  uud  Väter  gegeneinander  zu 
Richtern  werden,  daß  sie  einander  verberben,  denn  die  Versammlung  hat 
es  ausgesprochen,  daß  sie  zu  Grundlagen  ihrer  Urtheile  zweideutige  Mit- 
theilungen machen  werde,  die  sie  sich  nur  durch  ein  Verbrechen  beschaffen 
konnte." 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen  unterblieb  die  Erbrechung  der  Briefe. 
Eine  gesetzliche  Regelung  der  angeregten  Frage  erfolgte  weder  in  der 
Sitzung  vom  25.  J  uli  1789  noch  in  jener  vom  27.  J  uli  darauf,  als  die 
Frage  von  Neuem  besprochen  wurde. 

Die  Aeußerungen  der  Nationalversammlung  hinderten  nicht  die  Fort- 
setzung des  einmal  eingerissenen  Mißbrauches.  Nach  Jahresfrist  kam  die 
Frage  nochmals  an  die  Volksvertretung.  Es  hatte  nämlich  die  Munici- 
palität  von  Saint-Aubin  eine  an  den  Generalintendanten  der  Post, 
d'Ogny,  gerichtete  Postsendung  angehalten  und  eine  Reihe  von  Briefen 
erbrochen,  welche  für  den  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  in 
Paris  und  für  die  Minister  Spaniens  bestimmt  waren.  Diesmal  bekannte 
die  Versammlung  Farbe,  indem  sie  durch  Decret  vom  10.— 14.  August  1790 
das  Briefgeheimnis;  für  unverletzlich  erklärte  und  Privaten  wie  Behörden 
die  Befugniß,  Briefe  zu  eröffnen,  absprach.  Noch  einmal  verkündigte  die 
Versammlung  in  demselben  Monat  August  1790  den  Grundsatz  der  Unver- 
letzlichkeit des  Briefgeheimnisses,  als  sie  durch  Decret  von«  26.-29.  August 
den  von  den  Postcommissären  zu  leistenden  Eid  regelte.  Diese  mußten 
eidlich  geloben,  das  Briefgeheimnis;  treu  zu  wahren  und  den  Gerichten  jede 
Zuwiderhandlung  gegen  den  Briefschutz,  sobald  sie  davon  Kenntniß  erhielten, 
unverzüglich  anzuzeigen. 


Das  Vriefgeheimniß  während  der  fianzösischen  Revolution.  89 
Auf  diejenigen,  welchen  an  der  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  Nichts 
gelegen  war,  machten  die  vorgenannten  Decrete,  welche  der  Strafandrohungen 
für  den  Fall  der  Verletzungen  des  Briefgeheimnisses  entbehrten,  keinen 
sonderlichen  Eindruck.  Wo  immer  Unruhen  entstanden,  da  waren  auch  die 
Briefe  in  Gefahr.  So  wurde  die  Jagd  nach  Briefen  in  Paris  in  groß- 
artigem Maße  betrieben  im  Juni  1791  aus  Anlaß  der  Flucht  der  könig- 
lichen Familie  und  in  Verfolg  eines  Decretes  der  Nationalversammlung 
vom  21.  Juni,  das  die  Bürger  von  Paris  zur  Aufrechterhaltung  der 
Ordnung  und  zur  Verteidigung  des  Vaterlandes  aufforderte.  Eine  der 
ersten  Schutzmaßregeln  war  die  Einhaltung  aller  eingelaufenen  Briefe,  wo- 
gegen die  Nationalversammlung  noch  am  nämlichen  21.  Juni  einschritt. 
Trotzdem  ging  die  Fahndung  nach  Briefen  ruhig  weiter,  wie  dies  ein 
Decret  der  Nationalversammlung  vom  10.— 20.  Juli  1791  belegt.  Darnach 
hatten  einzelne  Verwaltungen  und  Gemeindevorstände  zum  Schutze  des 
Staates  die  Uebermachung  des  Postverkehrs  in  die  Hand  genommen,  Post- 
fuhren angehalten,  die  Führer  derselben  gezwungen,  Packete  an  anderen 
Orten  als  in  den  Posträumen  niederzulegen,  die  Diensträume  der  Post« 
directoren  untersucht  und  die  Austheilung  der  Briefe  verzögert.  Da  nach 
Ansicht  der  Nationalversammlung  ungesetzliche  Mittel  der  bezeichneten  Art 
höchstens  im  Augenblicke  drohender  Gefahr  oder  allgemeiner  Unruhen  ge- 
duldet werden  dürften,  nicht  aber  zu  Zeiten,  wo  alle  zur  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  erforderlichen  Maßregeln  bereits  getroffen  wären,  so  schärfte 
die  Nationalversammlung  noch  einmal  die  zum  Schutze  des  Postverkehrs 
erlassenen  gesetzlichen  Bestimmungen  zur  Nachachtung  ein.  In  der  Begründung 
ihres  Beschlusses  hatte  die  Nationalversammlung  angedeutet,  daß  es  Fälle 
gäbe,  in  welchen  der  Grundsatz  der  Unverletzlichkeit  des  Briefgeheimnisses 
nicht  in  Betracht  käme.  Solche  Fälle  sich  zurechtzulegen,  war  keine  besonders 
schwierige  Aufgabe  für  diejenigen,  welche  Unruhen  anzuzetteln  im  Begriffe 
waren,  oder  welche  durch  Verdächtigung  ihrer  Gegner  sich  diese  vom  Halse 
schaffen  wollten. 

Die  in  dem  zuletzt  erwähnten  Decrete  unterlaufene  Abschwächung  des 
Grundsatzes  der  Unverletzlichkeit  des  Briefgeheimnisses  sollte  durch  Straf- 
bestimmungen ausgeglichen  werden.  In  dieser  Absicht  bedrohte  der  0«6s 
ptzualy  vom  25.  September  bis  6.  October  1791  (im  2.  Theil  I.  Titel, 
3.  Abth.  Art.  23)  die  vorsätzliche,  absichtliche  Unterdrückung  eines  der  Post 
anvertrauten  Briefes  sowie  die  Verletzung  oder  Erbrechung  von  Brieffiegeln 
mit  der  Strafe  der  äössraäation  oiviqus.  Wurde  das  vorbezeichnete  Ver- 
brechen auf  Grund  eines  Befehls  der  vollziehenden  Gewalt  oder  durch  einen 
Postbeamten  begangen,  so  traf  den  Minister,  welcher  den  Befehl  ertheilt  oder 
den  Befehl  mit  feiner  Gegenschrift  gezeichnet,  ferner  Jeden,  der  den  Befehl  in 
Vollzug  gesetzt,  den  Postagenten,  der  ohne  Befehl  gehandelt,  eine  Strafe  von 
zwei  Jahren  Gefängniß.  Wenige  Wochen  nach  Verkündigung  des  Gesetzes 
übersandte  ein  Pariser  Bürger  der  gesetzgebenden  Versammlung  einen  Brief, 


HO  U.  <L.  Vockenheimei  in  Mainz. 

der  zur  Verlesung  gebracht  werden  sollte.  Kaum  bemerkte  die  Versamm- 
lung, daß  der  Brief  durch  unbefugte  Hand  eröffnet  worden  war,  als  sie 
sofort  die  Verbrennung  des  Briefes  verordnete  (10.  December  1791). 
Außerhalb  des  Sitzungssaales  der  gesetzgebenden  Versammlung  legte 
man  sich  keineswegs  Beschränkungen  auf,  um  das  Briefgeheimniß  zu  schonen. 
Die  Männer,  welche  die  Greuelthaten  des  1.  September  1792  veran- 
stalteten, hatten  ihren  Werkzeugen  die  Weisung  ertheilt,  bei  Durchsuchung 
der  Wohnungen  der  Bürger  vor  allen  Dingen  nach  Briefen  zu  forschen. 
Briefe,  einerlei  wie  der  Besitz  derselben  erworben  worden,  waren,  als  ein- 
mal das  Revolutionsgericht  seine  Thätigkeit'  eröffnete,  die  besten  Beweis- 
mittel, um  politische  Gegner  an's  Messer  zu  bringen,  so  lange  das 
Revolutionsgericht  überhaupt  noch  auf  die  Beobachtung  der  Formen  eines 
Verfahrens  Werth  legte. 

Eine  Sorte  von  Briefen  wurde  zur  Zeit,  als  der  große  Entscheidungs- 
kampf zwischen  Girondisten  und  lacobinern  bereits  begonnen  hatte,  durch 
Decret  des  Nationalconventes  vom  9.— 11.  Mai  1793  von  dem  Postschutze 
förmlich  ausgeschlossen  und  vogelfrei  erklärt,  nämlich  der  Briefwechsel  der 
auf  die  Liste  der  Emigranten  gesetzten  Personen.  Nach  Art.  3  des  ge- 
dachten Decretes  sollten  die  Briefe  dieser  Personen  in  Gegenwart  des 
Generalrathes  der  Gemeinden  eröffnet,  die  vorgefundenen  Werthgegenstände 
beschlagnahmt  werden. 

Um  diesem  Gesetze  nachzukommen,  durchforschten  die  Gemeinden  täglich 
die  Briefsendungen.  Ueber  die  Art  und  Weise,  wie  dieses  Geschäft  be- 
trieben wurde,  belehren  uns  die  Protokolle  der  Straßburger  Munici- 
palität,  die  im  Drucke  vorlagen.  In  Straßbnrg  beschloß  am  15.  Frimaire  II 
der  Ausschuß  der  Wachsamkeit  und  allgemeinen  Sicherheit,  „daß  dem 
Director  der  Briefpost  eingeschärft  werden  soll,  die  ankommenden  Briefe 
nicht  anders  zu  öffnen,  als  in  Gegenwart  der  Mitglieder  der  Propaganda, 
welchen  die  Bürger  Jung  und  Wilvot  beigegeben  werden  sollen."  Zur 
besseren  Würdigung  dieses  Beschlusses  sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Propaganda  eine  Privatgesellschaft,  und  der  Bürger  Jung  feines  Zeichens 
Schuster  war.  Wenige  Tage  später,  am  24.  Frimaire,  wurde  der  Bürger 
Stamm  mit  der  Durchsuchung  der  Briefe  betraut,  auf  dessen  Bericht  hin 
die  weiteren  Weisungen  an'den  Postdirector,  Brülbaut,  ergehen  sollten. 
Bezeichnend  für  das  Treiben  dieser  Straßburger  ist  die  Thatsache,  daß  sie 
eines  Tages  eine  an  einen  Kaufmann  in  Kopenhagen  gerichtete  Sendung 
eröffneten  und  darin  einen  Brief  des  Ministeriums  des  Aeußeren  in  Paris 
antrafen,  der  zum  Theil  chisfrirt  mar.  Nach  vollendeter  Durchlesung,  so 
weit  dieselbe  möglich  war,  ging  der  Brief  an  den  Ort  feiner  Bestimmung 
ab.  Einmal  entnahm  man  einer  Postsendung  einen  Naarbetrag  von 
309  Livres,  um  ihn  gegen  Assignaten  in  gleichem  Betrage  umzuwechseln. 
Was  man  sich  in  Straßburg  herausnahm,  das  erlaubte  man  sich  «Her- 
wärts in  Frankreich  während  der  Zeit  der  Schreckensherrschaft  und  der 


Vas  Vriefgeheimniß  während  der  französischen  Revolution.  Yl, 
Allgewalt  des  lacobinerclubs.  Mein  auch  nach  dem  Sturze  Robespierres 
und  nach  Einführung  der  Directorialregierung  glaubten  die  obersten  Behörden 
von  dem  Grundsätze  der  unbedingten  Unverletzlichkeit  des  Briefgeheimnisses 
zur  Sicherheit  des  Staatswohles  Abstand  nehmen  zu  dürfen. 
Zunächst  erhielt  der  obenerwähnte  Artikel  des  Strafgesetzbuches  in  dem 
neuen  l^ocis  6ß8  äÄitz  st  6s8  psinsn  vom  3.  Brumaire  IV  einen  Zusatz 
dahin:  „Durch  den  gegenwärtigen  Artikel  wird  Nichts  geändert  an  dem  der 
Regierung  zustehenden  Rechte  der  Überwachung  der  Briefe,  welche  aus 
fremden  Ländern  kommen  und  nach  folchen  Ländern  bestimmt  sind."  Im 
Einklänge  mit  diesem,  den  Werth  des  gesetzlich  verkündigten  Schutzes  des 
Nriefverkehrs  bedenklich  herabmindernden  Zusätze  zum  Gesetze  erscheint 
sodann  ein  Ausschreiben  Carnots  vom  11.  Florsal  IV,  welches  den 
Commissär  der  vollziehenden  Gewalt  bei  den  Municipalitäten  —  jene  von 
Paris  ausgenommen  —  anwies,  die  aus  Spanien  und  Italien  kommenden 
oder  dorthin  bestimmten  Briefe  zu  öffnen  und  jene  Briefe  zurückzubehalten, 
welche  an  deportirte  Priester  oder  Emigranten  gerichtet  waren,  oder  welche 
Aufklärung  über  Angriffe  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  enthielten. 
Die  zurückbehaltenen  Briefe  sollten  sofort  ~dem  Polizeiminister  vorgelegt 
werden. 

Auf  Grund  dieser  Anordnungen  entwickelte  sich  ein  regelmäßiger 
Svionirdienst  auf  der  Post,  der  einen  solchen  Umfang  Annahm,  daß  ein 
Mitglied  des  Ruches  der  Fünfhundert  sich  veranlaßt  fah,  den  eingerissenen 
Unfug  öffentlich  zur  Sprache  zu  bringen.  Allerdings  wirft  es  ein  ungünstiges 
Licht  auf  die  Gesinnung,  aus  welcher  die  Anregung  des  Abgeordneten 
Imbert  Colomös  hervorging,  wenn  noch  im  Laufe  der  durch  ihn  ver- 
anlagen Verhandlungen  die  Entdeckung  gemacht  wurde,  daß  Colomös  in 
geheimer  Verbindung  mit  dem  Prinzen  Conds  stand.  In  den  Sitzungen 
vom  26.  Messidor  nnd  8.  Frnctidor  V  wurde  für  und  gegen  die  Unver- 
letzlichkeit des  Briefgeheimnisses  weitläufig  verhandelt.  Für  die  Berechtigung 
der  Regierung  zur  Ueberwachung  des  Briefwechsels  trat  mit  aller  Ent- 
schiedenheit ein  Mann  ein,  der  schon  einmal  der  von  der  seiner  Partei  so  hoch 
gehaltenen  freien  Bewegung  der  Bürger  einen  empfindlichen  Stoß  versetzt 
hatte,  Jean  Debry,  der  Vater  des  Fremdengesetzes,  das,  angeblich  zum 
Zwecke  der  Ueberwachung  der  Fremden  erlassen,  die  Gesinnung  der  Bürger 
einer  für  Viele  verhängnißvollen  Beobachtung  und  Erforschung  unterwarf. 
Es  ist  ein  merkwürdiges  Verhängniß  gewesen,  daß  der  Schutz  fremder 
Papiere  so  wenig  Gnade  fand  in  den  Augen  eines  Mannes,  der  um  ge- 
heimer Papiere  halber  beinahe  sein  Leben  hätte  lassen  müssen.  Nur  durch 
einen  unbegreiflichen  Glücksfall  entging  Debry  dem  Schicksale,  das  am 
28.  April  1799  vor  Rastatt  die  übrigen  Mitglieder  der  französischen  Ge- 
sandtschaft ereilte,  als  hie  Papiere  der  letzteren  geraubt  werden  sollten. 
Im  Rathe  der  Fünfhundert  stand  Debry  so  ziemlich  allein;  dagegen  ging 
seine  Ansicht  im  Rath  der  Alten  durch,  die  der  Meinung  waren,  die  Regierung 


92  II.  G.  Vockenheimer  in  Mainz. 

des  Direktoriums  könne  ohne  die  bisher  beliebte  Behandlung  der  Briefe 

nicht  auskommen,  womit  allerdings  der  gesetzgebende  Körper  der  damaligen 

Zeit  der  Staatsgewalt  kein  rühmliches  Zeugniß  ausstellte. 

Nach  wie  vor  wurde  unter  der  von  der  Achtung  der  Zeitgenossen 

wohl  nicht  getragenen  Directorialherrschaft  nach  dem  Briefwechsel  verdächtiger 

Personen  gefahndet.  Verdächtig  war  aber  unter  dem  Direktorium  gerade 

so  wie  zur  Zeit  der  Schreckensherrschaft  ein  J  eder,  der  dem  jeweiligen 

Machthaber  nicht  gefiel. 

Hielt  schon  das  Direktorium  sich  befugt,  über  einen  im  Jahre  1789 
so  feierlich  verkündigten  Grundsatz  sich  hinwegsetzen  zu  dürfen,  so  erwies 
sich  die  von  einem  außergewöhnlichen  Selbstbewußtsein  geleitete  Regierung 
des  Consulats  und  des  Kaiserreichs  in  dieser  Beziehung  noch  viel  weniger 
ängstlich.  Weder  Napoleon  noch  Fouch6  schreckten  vor  dem  Erbrechen 
von  Briefen  zurück,  wenn  sie  hinter  Geheimnisse  Anderer  kommen  wollten. 
Sie  fanden  hierbei  eine  allzeit  bereite  Beihilfe  bei  dem  obersten  Leiter 
des  Postwesens,  Lavalette,  der,  wie  Schlosser  berichtet,  die  „polizei- 
liche Verletzung  des  Geheinmisses  der  Privatcorrespondenzen  und  das  Er- 
brechen der  Briefe  im  Großen  betreiben"  ließ.  Den  Höhepunkt  der  Miß- 
achtung der  Persönlichkeit  und  der  freien  Meinungsäußerung  erreichte  die 
kaiserliche  Negierung  nach  den  Niederlagen  in  Rußland.  Um  das  Geheim- 
niß  der  letzteren  so  lange  wie  möglich  vor  den  Franzosen  zu  bewahren,  gab 
der  Kaiser  den  Befehl,  die  vom  Auslande  kommenden  und  dahin  abgehen- 
den Briefe  anzuhalten.  Zu  dem  für  solche  Zwecke  bereits  in  Paris  er- 
richteten Cabinet  gesellten  sich  von  da  an  die  geheimen  Cabinete  in  Ostende, 
Brüssel,  Hamburg,  Berlin,  Mailand  und  Florenz.  Ein  Wink  der  oberen 
Behörde  genügte,  um  Briefe  anzuhalten,  deren  Inhalt  der  Kaiser  oder 
dessen  Minister  kennen  wollten.  Das  stand  in  vollem  Einklänge  mit  den 
übrigen  Willkürlichkeiten,  die  sich  die  Polizei  in  Frankreich  gegen  Ende  des 
Kaiserreichs  erlauben  durfte,  nach  Maßgabe  des  kaiserlichen  Decrets  vom 
3.  März  1810,  wonach  die  Negierung  befugt  war,  mit  Umgehung  aller 
zum  Schutze  der  persönlichen  Freiheit  erlassenen  Gesetze  auf  Grund  ein- 
gezogener Berichte  ohne  Weiteres  und  auf  unbestimmte  Zeit  Personen  zu 
verhafteu,  die  man  den  Gerichten  nicht  überliefern  wollte. 
Von  Anwendung  der  großen  Grundsätze  des  Jahres  1789  war,  wie 
hier  an  einen«  Beispiel  gezeigt  worden,  schon  bald  nach  deren  Verkündigung 
keine  Rede  mehr  gewesen,  weil  die  Franzosen  keine  Republikaner  waren 
wie  die  Nordamerikaner,  die  noch  vor  den  Franzosen  die  Freiheit  sich  er- 
rungen hatten  und  sie  zu  bewahren  verstanden. 


Rivalinnen/^ 
Novelle 

Francis  Popper. 
—  paii«.  — 

r  Ausblick  auf  das  H6tel  und  die  Esplanade  der  I  nvaliden  ge- 
währt eine  der  großartigsten  Ansichten  von  Paris.  Es  giebt 
kaum  etwas  Vornehmeres,  Stattlicheres  zu  schauen  als  diesen 
gewaltigen  Platz  mit  seinen  alten  Bäumen  und  —  ganz  im  Hintergrunde, 
jenseits  der  Schutzgräben  und  der  erbeuteten  Kanonen  —  die  goldene  Kuppel 
von  Mansard,  unter  welcher  der  legendarische  Sarg  ruht,  den  man  von 
Sanct-Helena  hierher  überführt  hat.  Selbst  der  nüchternste  Fremde,  welchen, 
im  carrirten  Anzug,  den  Vädecker  in  der  Hand,  das  Neisebureau  von  Look 
nach  Paris  bringt,  kann  sich  dein  feierlichen  Eindruck  nicht  entziehen.  Er 
denkt  an  den  großen  König  und  an  den  großen  Kaiser,  er  bleibt  bewundernd 
und  manchmal  auch  beneidend  stehen.  An  jenes  Alt-Frankreich,  das  solch' 
dauerhafte  und  solch'  imposante  Zeugen  seines  Ruhmes  besitzt,  mochte  wohl 
auch  Bismarck  denken,  als  ihn  in  Ferriöres  der  Advocat  Jules  Favre 
Namens  der  Republik  um  Frieden  bat  und  ihn  fragte:  „Gegen  wen  wollen 
Sie  denn  eigentlich  noch  Krieg  führen?"  ~  „Gegen  Ludwig  den  Vier- 
zehnten," foll  da  der  eiserne  Kanzler  geantwortet  haben. 
Indessen,  in  den  Augen  des  Parisers,  der  ja  schon  seit  Langen:  au 
den  glänzenden  Anblick  gewöhnt  ist,  hat  die  Esplanade  der  Invaliden  wohl 
auch  ihre  melancholischen  Seiten.  Ganz  in  der  Nähe  befindet  sich  ein  arm- 
seliges Stadtviertel,  der  „Große  Kieselstein"  genannt,  und  wenn  das 
Wetter  mild  oder  auch  nnr  erträglich  ist,  so  sendet  dasselbe  in  die  pracht- 
vollen Anlagen  seine  betrübten  Müßiggänger,  seine  in  Lumpen  gehüllten 
*)  Einzig  autonsnte  Uebcrsetzung  von  Lothai  Schmidt. 


9~  Fran?o>5  Coppse  in  Paris. 

Spaziergänger  hinaus.  Ein  seltsamer  Philemon,  ein  braver  Alter,  dessen 
Brust  mit  Medaillen  besät  ist  und  der  an  seiner  Soldatenmütze  eine 
Cocarde  trägt,  humpelt  auf  hölzernen  Stelzfüßen  neben  einer  scheußlichen 
Baucis  in  schmutzigem  Camisol  dahin.  Ein  uraltes  Mütterchen  mit  ge- 
beugtem Rücken  treibt  vor  sich  oder  zieht  am  Rocke  hinter  sich  zwei  oder 
drei  ungesunde  Kinder  her.  Ausgestreckt  auf  einer  Bank  und  den  schäbigen 
Filzhut  in  die  Augen  gedrückt,  schläft  ein  Landstreicher  und  träumt  vielleicht 
von  einem  Verbrechen,  das  er  im  Sinne  hat. 

Der  Gegensatz  zwischen  dem  schmutzigen  Elend  und  dem  königlichen  Luxus 
ist  mir  immer  schmerzlich  gewesen. 

In  Venedig  verleiden  mir  die  Weiber  mit  langem  Kopftuch,  die  mit 
den  Pantoffeln  klappern  und  sich  in  Einem  fort  in  ihrer  rothen  Mähne  mit 
den  Fingern  Herumfratzen,  San  Marco  und  den  Dogenpalast,  und  im 
Hnde-Park  zu  London  machen  mir  die  zerlumpten  Gestalten  mit  nackten 
Füßen,  welche  sich  allenthalben  auf  dem  Nasen  Herumsielen,  das  Gewimmel 
der  Equipagen  und  das  Reiten  der  blonden  Amazonen  geradezu  verhaßt. 
Andererseits  hat  aber  die  Volksmenge  für  mich  wiederum  einen 
großen  Reiz.  Ich  mische  mich  gern  unter  sie.  Deshalb  führe  ich  oft 
meine  Gedanken  nach  der  Esplanade  und  nach  dem  „Großen  Kieselstein" 
spazieren. 

Als  ich  so  eines  Tages  unter  den  großen  Bäumen  der  Esplanade  der 
Invaliden  einherging,  bemerkte  ich  zwei  alte  Frauen. 
Der  Monat  Februar  neigte  sich  seinem  Ende  zu,  und  die  bereits 
wanne  Nachmittagssonne  ließ  an  den  Zweigen  die  bronzefarbenen  Knospen 
erglänzen.  Die  beiden  Alten,  welche,  wahrscheinlich  wegen  der  Feuchtigkeit, 
noch  nicht  im  Freien  zu  sitzen  wagten,  wandelten  langsam  dahin,  wobei  die 
Bejahrtere  sich  zitternd  und  schwerfällig  auf  den  Arm  der  Genossin  stützte, 
die,  obschon  eine  hagere,  elende  Gestalt,  sich  dennoch  kerzengerade  trug  und 
voller  Energie  schien.  Alle  Beide  waren  ärmlich,  aber  sauber  gekleidet. 
Ihre  schwarzen  Halstücher  waren  sorgfältig  aufgesteckt,  ihre  weißen  Hauben 
glänzten  vor  Reinlichkeit.  Damit  die  Kranke  bei  der  geringsten  Ermüdung 
ausruhen  konnte,  trug  die  Rüstigere  einen  Klappstuhl  unter'm  Anne.  Sie 
richtete  geduldig  ihre  Schritte  nach  denen  der  Freundin  und  schaute  sie  alle 
Augenblicke  zärtlich  und  liebevoll  an.  Sie  mochte  etwa  zehn  Jahre  jünger 
sein  als  die  Andere,  welche,  eine  Ruine  in  Menschengestalt,  mindestens 
sechzig  zählte.  Sie  allein  besaß  von  Beiden  noch  ein  wenig  Kraft,  ein  wenig 
Gesundheit.  Das  mußte  für  Jene  mit  genügen.  Wenn  man  ihnen  be- 
gegnete, so  dachte  man  unwillkürlich  an  jene  ländlichen  Gespanne,  wo  ein 
Pferd  einäugig  und  das  andere  völlig  blind  ist  und  die  trotzdem  den 
Karren  ziehen. 

Die  beiden  Frauen  interessirten  mich  sofort.  Ich  beobachtete  sie. 
Die  Greisin  mußte  sicher  einstmals  schön  gewesen  sein.  Die  Haube 
vermochte  kaum  das  reichliche  schneeweiße  Haar  zusammenzuhalten.  Eben« 


Rivalinnen,  9~ 

mäßig  waren  die  Züge  ihres  unbeweglichen,  gelben,  gichtbrüchigen  Gesichtes, 
und  unter  den  noch  schwarzen  Brauen  schimmerten  die  tief  eingesunkenen 
Augen  in  einen«  fieberhaften  Glänze. 

Die  Andere,  rothhaarig,  einstmals  mit  weicher  Haut  und  weißen,  Teint 

—  mochte  Vielleicht  ebenfalls  hübsch  gewesen  sein.  Doch  grausam  verfährt 

die  Zeit  mit  den  Reizen  der  Jugend!  Nur  Runzeln  und  Flecken  läßt  sie 

zurück.  Und  trotzdem  erregte  dieses  elende,  welke  Gesicht  noch  Gefallen  durch 

seinen  nnlden  Blick  und  sein  gütiges  Lächeln. 

Schwestern  waren  sie  nicht;  sie  hatten  nicht  die  geringste  Ähnlichkeit 

mit  einander. 

Der  Anblick  jener  beiden  armen  Geschöpfe,  die  aufeinander  gestützt, 
ihre  schwachen  Kräfte  vereinten,  hatte  mich  wahrhaft  gerührt.  —  Das 
schone  Wetter  hielt  einige  Tage  an,  und  so  traf  ich  die  beiden  Alten  öfters 
wieder. 

An  gewissen  Einzelheiten,  an  ihren  Händen,  über  welche  sie  immer 
Handschuhe  von  grauer  Baumwolle  gezogen  hatten,  an  einein  unerklärlichen 
Etwas  in  ihrer  ganzen  Erscheinung,  merkte  ich,  daß  sie  nicht  immer  eine 
so  gewöhnliche  Kleidung  getragen  hatten  und  daß  sie  einstmals,  wie  das 
Volk  sagt,  bessere  Tage  gesehen  hatten.  Ihr  Verlangen,  des  geringsten 
Sonnenstrahles  zu  genießen,  trotz  ihres  Alters  und  ihrer  Hinfälligkeit  aus- 
zugehen, ließ  mich  vermuthen,  daß  sie  während  des  langen  Winters  in 
irgend  einer  traurigen  Mansarde  des  „Großen  Kieselsteins"  eine  Art 
Gefangenen-Dafein  führten.  Ich  stellte  sie  mir  vor  im  Geiste,  wie  sie 
da  hockten,  die  Füße  auf  der  Wärmflasche,  und  von  ihren  Erinnerungen 
zehrten. 

Sie  erregten  immer  mehr  mein  Mitleid  und  —  daß  ich  es  nur  ge- 
stehe —  auch  meine  Neugierde. 

Nun  kannten  auch  sie  mich  vom  Sehen.  Eines  Tages,  als  die  ganz 
ungewöhnlich  laue  Luft  ihnen  gestattete,  sich  auf  einer  Bank  niederzulassen, 
setzte  ich  mich  neben  sie,  und  alsbald  knüpften  wir  ein  Gespräch  an.  Der 
weibliche  Instinct,  der  weit  sicherer  und  zarter  als  der  des  anderen  Ge- 
schlechtes ist,  ließ  sie  Vertrauen  zu  mir  fassen.  Und  kurz  und  gut,  nach 
einer  Stunde  kannte  ich  ihre  Lebensgeschichte. 
Dieselbe  ist  rührend,  ich  will  sie  erzählen. 
II. 

Eristirt  noch  ein  Vesucher  des  Vaudevilletheaters,  der  sich  an  Nelly 
Robin  erinnert? 

Vielleicht  nein.  Aber  im  Winter  des  Jahres  185!)  war  sie  eine  der 
schönsten  Huris  des  muselmännischen  Paradieses,  das  damals  die  Truppe 
dieses  Theaters  aufführte.  Freilich  zwischen  dieser  Darstellung  und  dem 
Himmel  des  Propheten  herrschte  der  Unterschied,  daß  all'  diese  reizenden 
Nord  und  S»d,  I.XXV,  22».  7 


9<i  Francis  Loppee  in  Paris. 

Schauspielerinnen  nur  sehr  zweifelhalte  Ansprüche  auf  den  Titel  „Fräulein" 

hatten,  einen  Titel,  welcher,  wenn  anders  man  dem  Koran  glauben  will, 

den  Huris  ewig  und  unverbrüchlich  zukommt. 

Sie  war  brünett,  hatte  einen  marmorblassen  Teint  und  weiches, 

wolliges  Lockenhaar.  Groß  und  schlank,  von  wunderbarem  Wüchse,  besaß 

sie  ein  Paar  dunkle  Augen,  die  immer  in  sinniges  Träumen  verloren 

schienen. 

Ihre  göttergleiche  Schönheit,  in  der  sich  Würde  und  Anmuth  paarten, 
hätte  die  florentinischen  Meister  der  Renaissance  entzückt.  Und  doch  hatte 
Nellp  nur  einen  armen  Hutmachergehilfen  zun,  Vater,  den  die  Sorge  um 
seine  zahlreiche  Familie  fast  zu  Boden  drückte,  .stein  Wunder,  daß  das 
Mädchen,  um  welches  man  sich  wenig  kümmern  konnte,  in  allen  Gassen 
der  Stadt  sich  herumtrieb.  Ein  Nachbar,  der  Maschinist  am  Nelleville- 
Theater  war,  verführte  sie  und  nahm  sie  zu  sich.  Jetzt  mußte  sie  arbeiten, 
daß  ihre  Hände  rauh  und  roth  wurden,  muhte  sie  für  den  Trunkenbold,  der 
sie  mit  Schlägen  tractirte,  kochen  und  ihm  seine  schmutzige  Bude  auskehren. 
Sie  war  bereits  fast  zweiundzwanzig  Jahre  alt,  als  Lamorliöre,  der  erste 
Heldendarsteller  des  Theaters,  welcher  trotz  seiner  Bärentatzen,  seines  ge- 
färbten Schnurrbartes  und  seiner  fünfzig  Jahre  noch  immer  Pascha  hinter 
den  Coulissen  geblieben  war,  sie  zu  bemerken  und  ihr  zum  Zeichen  seiner 
Gunst  das  Taschentuch  hinzuwerfen  geruhte.  Tic  Vorstadtbewohnerin  be- 
kam einen  riesigen  Respect  am  ersten  Zlbend,  wo  sie  das  bescheidene  Logis 
des  Schauspielers  betrat,  der  seine  eigenen  Möbeln  besaß  und  die  Zimmer-, 
wände  mit  alten  Theaterzetteln  und  goldenen  Papierkronen  decorirt  hatte, 
den  glorreichen  Zeugen  seiner  ehemaligen  Erfolge  im  Süden,  in  Ngen, 
Auch  und  Montauban. 

Der  Schauspieler  war  zweifellos  gegen  die  Verehrung  vou  Seiten 
der  holden  Weiblichkeit  bereits  abgestumpft.  Ehemals  hatte  er  bei  seinen 
Gastrollen  in  der  Provinz  den  häuslichen  Frieden  von  mehr  als  einer 
Familie  gestört.  Die  Frau  eines  Steuereinnehmers  im  Departement 
Tarn-et-Garonne  war  ihm  nachgelaufen,  und  in  Gers  hatte  er  die  Gattin 
eines  Unter- Präfecten  stark  comvromittirt.  Dennoch  aber  schmeichelte  die 
naive  Bewunderung  des  armen  Mädchens  den,  Herzen  des  alten  Schmet- 
terlings, der  es  bereits  müde  war,  rastlos  von  Blume  zu  Vlunie  zu 
flattern.  Sie  sollte  am  nächsten  Morgen  wieder  heimkehren;  so  war  es 
abgemacht.  Indessen  nach  acht  Tagen  wusch  und  plättete  sie  ihn,  be- 
reits seine  Wäsche. 

Sie  knüpften  also  ein  Verhältnis!  mit  einander  an.  stell,)  lebte  an 
der  Seite  des  ersten  Helden  in  einer  beständigen  Aufregung.  Sie  nannte 
ihn  „Herr  Lamorliöre",  wenn  sie  mit  den  Nachbarn  von  ihn,  sprach,  sie 
diente  ihn,  wie  eine  verliebte  Sklavin.  Sie  sorgte  auf's  Peinlichste  für 
ihn,  wurde  in  seine  Toilettengeheimuisse  eingeweiht  und  leimte  ihn,  das 
Haar  färben,  welches  sie  mit  Hilfe  von  Wassern  und  Salben  ans  Grau- 
>, 


Rivalinnen.  9" 

Grün-Roth  in's  schönste  Schwarz  sich  verwandeln  sah,  ohne  daß  sie  darum 

auch  nur  im  Geringsten  aufgehört  hätte,  Lamorliore  als  den  Jüngsten  lind 

Schönsten  unter  den  Sterblichen  zu  betrachten. 

Er  war  im  Grunde  genommen  ein  guter  Kerl.  Er  war  gerührt,  daß 

sie  ihn  so  sehr  bewunderte  und  so  gut  bediente.  Er  interessirte  sich  für 

Nelly,  erkannte,  daß  dieselbe  trotz  ihrer  Unwissenheit  durchaus  nicht  dumm 

war,  gab  ihr  ein  wenig  declamatorischen  Unterricht  und  sorgte  dafür,  daß 

sie  in  kleinen  Rollen  debütiren  durfte.  Nach  einem  halben  Jahre  gab  sie 

schon  ganz  leidlich  die  Namen. 

Lamorliore,  der  bereits  seit  mehreren  Jahren  nur  uoch  in  kleinen 
Orten  gastirte,  bekam  durch  einen  glücklichen  Zufall  ein  Engagement  an 
dem  „Großen  Theater"  zu  Lille,  wo  fein  in  der  Provinz  erworbener  Ruhm 
zun,  letzten  Male  hell  aufstrahlte.  Diejenigen,  welche  ihn  damals  nicht  in 
den  „Piraten  der  Savanne"  die  große  Wahnsinnsscene  spielen  gesehen 
haben,  in  der  er,  wild  anflachend,  an  vergiftetem  lava-Lioueur  stirbt, 
können  sich  keinen  Begriff  von  dem  alten  pathetischen  Spiel  machen,  das 
heute  gänzlich  aus  der  Mode  gekommen  ist.  Da  er  just  um  diese  Zeit  eine 
kleine  Erbschaft  machte,  so  konnte  Nelly  in  präsentablen  Costümen  neben 
ihm  debütiren.  Sie  war  und  konnte  auch  nur  immer  eine  mittelmäßige 
Schauspielerin  sein.  Doch  bei  ihrer  außerordentlichen  Schönheit  hatte  sie 
trotzdem  glänzende  Erfolge.  Alle  reichen  Lebemänner  singen  Feuer.  Doch 
sie  schwärmten  vergebens.  Nelly,  die  voller  Bewunderung  und  Dankbarkeit 
für  Lamorliore  war,  blieb  ihm  unerschütterlich  treu,  und  drei  Jahre  lang 
sahen  die  Bewohner  von  Lille  mit  Staunen,  wie  dieses  wunderbare  Ge- 
schöpf in  einem  Schmuck  aus  Talmi  Komödie  spielte  und  ehrlich  sittsam 
am  Arme  des  alten  Schauspielers  allabendlich  aus  dem  Theater  kam. 
Als  Lamorliore  am  Abende  seines  Benefizes,  wo  er  sich  in  der  Rolle 
des  Fischers  Gasparde  sehr  erhitzt  hatte,  heimkehrte,  erkältete  er  sich  unter- 
wegs derartig,  daß  er  bald  darauf  an  einer.Lungenentzündung  starb.  Der 
Schmerz  Nellys  war  ein  aufrichtiger;  indessen  sie  ließ  sich  bald  —  wie 
das  nicht  anders  zu  erwarten  stand  —  von  einem  reichen  Müßiggänger, 
einem  vier-  oder  fünffachen  Millionär  trösten,  der  seit  drei  J  ahren  nur  dann 
seinen  Krimstecher  hervorholte  und  in's  Theater  ging,  wenn  das  herrliche 
Mädchen  auf  die  Bühne  kam.  Dieser  geschmackvolle  Mensch  begriff,  daß 
zu  solch'  mattem  Teint  und  solch'  dunklen  Haaren  nur  echte  Diamanten 
paßten.  Er  miethete  ihr  eine  prachtvolle  Wohnung  und  ließ  sie  auf  Gummi- 
rädern fahren. 

Das  ehemalige  Gassenmädchen  aus  Charonne,  welches  früher  sich  oft 
für  zwei  Sous  Backwerk  in  einer  Tüte  zum  Frühstück  gekauft  hatte,  nahm 
diesen  Lurus  als  etwas  ganz  Selbstverständliches  hin,  ohne  deshalb  inter- 
essirt  oder  habsüchtig  zu  werden.  Im  Grunde  genommen,  langn»eilte  sie 
ihre  neue  Lebensweise  sogar.  In  der  Gesellschaft  ihres  Geliebten,  eines 
hübschen,  kaum  vierzigjährigen  Provinzialen,  der  sich  sehr  viel  auf  seinen 
7* 


9b  Fian>,ois  Coppöe  in  Paris. 

blonden  Backenbart  zu  gute  that,  worin  noch  kein  einziges  Silberhaar  erglänzte 
und  dessen  Freigebigkeit  Nelly  Nobin  Kutscher,  Köchin  und  Kammerfrau 
verdankte,  sehnte  sie  sich  fast  nach  der  Zeit  zurück,  wo  sie  ihren  Lamorliöre 
mittelst  einer  Pomade  verjüngte  oder  ihm  nach  der  Heimkehr  von  der 
Probe  eigenhändig  das  Mittagessen  bereitete. 
Larmorliöre  hatte  immer  seine  ihm  ergebene  Freundin  mit  Nachsicht 
nnd  Schonung  behandelt,  wenn  er  auch  ihr  gegenüber  den  überlegenen  Ton 
des  ersten  Heldendarstellers  und  die  Protectormiene  eines  vom  Publicum 
verhätschelten  Schauspielers  niemals  verleugnete.  Ertrug  es  ihr  nicht  nach, 
daß  sie  aus  dem  niederen  Volke  stammte  lind  daß  sie  gewisse,  den  Mädchen 
aus  den  Vorstädten  eigene  Manieren  beibehielt,  so  -.  B.  ihr  lautes  Lachen 
oder  verschiedene  Redensarten  oder  ihre  Lieder,  welche  sie  mit  leiernder 
Stimme  hersang,  wenn  sie  ihre  bescheidene  Garderobe  ausbesserte.  Sie 
hatte  für  den  alten  Schauspieler  ein  aufrichtiges  Gefühl  der  Dankbarkeit 
und  Freundschaft  empfunden,  während  Mallet-Deshaumes  —  so  hieß  ihr 
jetziger  Verehrer  —  in  vieler  Beziehung  ihr  einen  lästigen  Zwang  auf- 
erlegte. 

Er  war  ein  bischen  conventioneil,  der  schöne  Herr  aus  Lille,  und 
wollte  sich  mit  seiner  Maitresse  Ehre  einlegen,  wollte,  daß  sie  Benehmen 
zeigte.  Er  hatte  eine  unangenehme  Art  und  Weise,  alle  Augenblicke  zu 
wiederholen:  „Aber  meine  Liebe,  so  was  sagt  man  nicht,  so  was  thut  man 
nicht,"  und  dabei  strich  er  sich  mit  einem  Schildpattkämmchen,  das  er 
stets  bei  sich  tnig,  den  goldenen  Bart.  Indem  so  der  correcte  Gentleman 
vier  Jahre  lang  an  ihr  herumschulmeisterte,  langweilte  sich  Nelly  Robin 
zwar  gehörig,  erhielt  aber  Erziehung  und  wurde  eine  Dame,  ohne  indessen 
ihre  natürliche  Heiterkeit  einzubüßen. 

Nun  kam  eines  Tages  der  Director  des  Vaudeville-Theaters  nach 
Lille,  um  sich  einen  Komiker  anzusehen,  welcher  daselbst  mit  großen»  Erfolge 
auftrat,  weil  feine  Nase  zwei  Centimeter  länger  war  als  die  des  berühmten 
Hanswursts  Hnacinth.  Bei  dieser  Gelegenheit  bekam  er  Nelly  Robin  zu 
Gesicht  und  war  svon  ihrem  Anblick  wie  geblendet.  Sie  war  28  Jahre 
alt  und  hatte  den  Höhepuukt  ihrer  Schönheit  erreicht.  Gerade  um  diese 
Zeit  suchte  er  die  schönsten  Weiber  zu  engagiren,  denn  er  wollte  die 
„Dirnen"  spielen,  eines  jener  satirischen  Lustspiele  gegen  den  Lurus  dir 
Halbwelt,  die  damals  in  der  Mode  waren  und  worin  die  hübschesten 
Mädchen,  mit  Diamanten  bedeckt,  auf  der  Bühne  erscheinen  mußten,  um 
die  zornigen  Tiraden  des  Sittenrichters  einigermaßen  zu  rechtfertigen.  Mit 
einem  Contracte  in  der  Hand  kam  der  Director  in  Nellns  Garderobe.  — 
„Schnell,  Feder  und  Tinte!"  Sie  unterzeichnete  alsbald  den  gestempelten 
Bogen  auf  dem  Toilettentifche  zwischen  Schminken  und  Pomaden.  Denn 
sie  hatte  die  Provinz  und  die  Lebemänner  von  Lille  herzlich  satt,  die  beim 
Souper  vom  Steigen  der  Baumwolle  sprachen.  Sie  hatte  genug  von 
Mallet-Deshaumes  und  seinem  decorativen  Barte.  Noch  an  demselben 


Rivalinnen.  99 

Abend  brach  sie  mit  ihm,  und  sechs  Wochen  später  debütirte  sie  im  Vaude- 
ville  in  den  „Dirnen". 

Die  Rolle  war  klein.  Sie  trat  erst  im  dritten  Acte  auf  nnd  hatte 
nur  25  Zeilen  zu  sagen.  Aber  bei  der  Premiöre  herrschte  in  den  Couloirs 
«ine  Aufregung:  „Nein,  was  das  für  ein  hübsches  Mädchen  ist!"  Die 
Pariser  verloren  die  Köpfe.  Im  Foyer  ließ  sich  eine  Unmenge  von  Herren 
im  schwarzen  Fraä  und  weißer  Craoatte  Nelly  Nobin,  die  man  umringte, 
vorstellen.  Ihr  Director  hüpfte  vergnügt  in  der  Schaar  der  Bewunderer 
herum.  —  „Liebe  Freundin,  ich  stelle  Ihnen  Herrn  Cohn  vor."  Nnd  der 
jüdische  Bankier  präsentirte  seinen  nnt  Breloques  behängten  dicken  Vauch. 

—  „Obrist  Sags  von  den  Gardereitern."  Der  Offizier  knickte  mit  einer 
steifen  Verbeugung  zusammen  wie  ein  Federmesser.  Doch  auf  einmal 
machte  Alles  respectvoll  einem  etwa  sechsjährigen  Herrn  mit  I  melken  Lippen 
und  hohlen  Augen  Platz.  Der  Director  stürzte  auf  ihn  zu:  „Ercellenz!.  ." 

—  Es  war  Graf  N  .  .  .,  der  Nath  des  Kaifers.  Er  nahm  die  Schau- 
spielerin bei  Seite  und  sprach  lange  leise  mit  ihr.  Sie  hörte  mit  zu  Boden 
gesenkten  Augen  zu. 

Endlich  tonnte  sie  in  die  Garderobe  zurückkehren  und  sich  umkleiden; 
aber  alle  Augenblicke  klopfte  es:  „tock,  tock!"  —  Es  war  die  Garderobiere, 
die  mit  einer  Visitenkarte  und  mit  Blumen  kam.  Alle  Blumenläden  der 
Nachbarschaft  wurden  an  jenem  Abend  geplündert. 
Sie  wurde  eine  jener  galanten  Gebieterinnen,  eine  verschwenderifche, 
lururiöse  Courtifane.  Sie  bewohnte  ein  eigenes  Hotel,  besaß  die  theuersten 
Toiletten  und  fuhr  die  Avenue  du  Vois  in  einem  kostbaren  Wagen  entlang, 
den  ein  Paar  Pferde  im  Preise  von  fünfzehnhundert  Louisdor  zogen.  Alle 
Photographen  stellten  in  den  Schaufenstern  ihr  Bild  aus.  Die  Damen  der 
Halbwelt  platzten  vor  Neid,  und  die  Damen  der  guten  Gesellschaft  ahmten 
ihre  Hüte  nach.  Ein  geschickter  Schwankdichter  schrieb  sihr  zwei  oder  drei 
leichte  Rollen  auf  den  Leib,  in  denen  sie  fast  Talent  zeigte  und  womit  das 
Theater  kolossale  Einnahmen  erzielte.  Ihretwegen  ruinirte  sich  Cohn  an 
der  Börse  und  floh  nach  Belgien,  und  die  alte  Herzogin  von  Esmont  mußte 
ihre  Güter  verkaufen  und  ihren  Sohn,  der  sich  in  wahnsinnige  Schulden 
gestürzt  hatte,  unter  Curatel  stelle»  lassen.  Gerade  durch  die  abweisende 
Kälte,  mit  der  sie  die  zahlreichen  Anbeter  behandelte,  erzielte  sie  die  größten 
Triumphe.  Launisch,  aus  purem  Trotz,  sagte  sie  Nein  und  immer  wieder 
Nein  zu  einer  nordischen  Hoheit,  einem  bildhübschen  Fürsten,  der  ertra 
ihretwegen  in  Paris  blieb  und  sie  allabendlich  von  seiner  Loge  aus 
anschmachtete.  „Der  kann  warten,  bis  er  schwarz  wird!"  pflegte  sie  lächelnd 
zu  sagen.  Doch  sie  hatte  nicht  mit  Unrecht  solch'  große  Erfolge.  Sie  war 
gutmüthig,  klug  und  ungeziert;  sie  besaß  den  für  ein  Weib  ihrer  Art  un- 
schätzbaren Vorzug,  daß  sie  allezeit  lustig  und  guter  Dinge  sein  konnte,  sie 
entzückte  und  nahm  für  sich  ein  durch  den  Gegensatz  zwischen  ihrer  vornehmen 
Schönheit  und  ihrer  heiteren  Lebensfreude.  Sie  bezauberte  ihre  Liebhaber 


~00  Fian?ois  toppse  in  Paris. 

geradezu.  Man  behauptete  allen  Ernstes,  daß  Sag6,  der  Oberst  von  den 

Gardereitern,  für  den  der  Kaiser  hundertlausend  Franken  Schulden  bezahlte, 

die  jener  ihretwegen  gemacht  hatte,  bei  Solserino  den  Tod  gesucht  habe, 

weil  sie  Nichts  mehr  von  ihm  wissen  wollte. 

Gefiel  diese  Lebensweise  Nelly?  War  sie  dabei  glücklich?  Mein 

Gott,  ja!  Sie  sehnte  sich  durchaus  nicht  mehr  nach  jener  Zeit  zurück,  nm 

sie  Lamorliüre  die  Wirtschaft  geführt  hatte.  Wie  sollte  auch  ein  armes 

Mädchen,  das  ohne  alle  moralische  Erziehung  aufgewachsen  war  und  in  der 

frühesten  J  ugend  bereits  das  Laster  kennen  gelernt  hatte,  nicht  durch  ein 

solches  „Glück"  geblendet  werden? 

I  n  zwei  J  ahren  hatte  sie  vier  oder  fünf  Liebhaber,  denen  sie  will- 
fährig, ja,  zu  denen  sie  sogar  liebenswürdig  war;  aber  sie  brachte  sie  alle, 
ohne  es  selbst  zu  wollen,  an  den  Bettelstab.  Es  war  ihre  Schwäche  und 
auch  ihr  Vorzug,  daß  das  Gold  in  ihrer  Hand  verdampfte  wie  Wassertropfen 
ans  glühendem  Metall.  Sie  verschwendete  ungeheure. Summen  mit  unglaub- 
lichem Leichtsinn.  Die  Männer,  die  sich  ihretwegen  ruinirten,  sie  beklagte 
sie  nicht  einmal.  Und  sie  hatte  Recht.  Keiner  von  ihnen  hatte  sie  wirklich 
geliebt.  Nicht  aus  Leidenschaft,  sondern  aus  Genußsucht  und  Eitelkeit 
hatten  dieselben  nach  ihrem  Besitze  gestrebt.  In  dem  festlichen  Trubel  des 
eleganten  Paris  zur  Zeit  des  Kaiserreichs  lebte  das  schöne  Mädchen,  berauscht 
von  den  Triumphen,  die  es  feierte,  dahin,  ohne  zu  ahnen,  daß  es  ein 
Herz  besah. 
III. 

An  einem  Novembernachmittage  kehrte  Nelly  Robin  von  einer  langen 
Probe  ermüdet  Heini.  Sie  hatte  sich  eben  in  ihrem  Schlafzimmer  auf  der 
Chaiselongue  ausgestreckt  und  rauchte  eine  russische  Cigarette,  als  ihr  die 
Kammerfrau,  indem  sie  verächtlich  ein  schiefes  Maul  zog,  eine  ziemlich  be- 
schmutzte Visitenkarte  überreichte,  worauf  die  Schauspielerin  folgenden 
Namen  las: 
Saint-Firmin, 

zweiter  Regisseur  am  kaiferlichen  Odeon-Theater. 
„Wie!  lebt  der  arme  gute  Teufel  wirklich  noch?  ...  Er  soll  gleich 
hereinkommen,"  rief  Nelly  mit  ihrem  munteren  Lächeln. 
Tas  erinnerte  sie  an  ihre  J  ugendzeit.  Diefer  Saint-Firmin  war  ein 
Komiker,  der  einstmals  in  Velleuille  mit  ihr  und  Lamorliöre  zusammen  ge- 
spielt hatte. 

Er  erschien  auf  der  Thürschwelle,  machte  eine  Verbeugung,  die  demüthig 
und  anspruchsvoll  zugleich  war,  und  obschcm  Nelly  ihn  bereits  seit  mehreren 
Jahren  nicht  gesehen  hatte,  so  erkannte  sie  doch  sofort  den  kleinen  Mann 
mit  dem  Gesicht,  das  braun  war  wie  die  Farbe  einer  gekochten  Kartoffel, 
und  mit  dem  schwarzen  Haar,  das  wie  eine  Perrücke  am  Schädel  Nebte. 


Rivalinnen.  10» 

Er  war  ziemlich  reducirt  gekleidet  und  trug  einen  falschen  Diamanten  für 

vierzig  Sous  in  der  Eraoatte  aus  rothem  Satin. 

Sie  konnte  nicht  einmal  sagen,  daß  er  gealtert  hatte.  Saint-Firmin 

hatte  jene  schwer  auf  ihr  Alter  zu  tarnenden  Gesichtszüge  der  Schauspieler, 

welche  schnell  welk  werden,  welche  sich  aber  dennoch  verhältnismäßig  lange 

gegen  den  Zahn  der  Zeit  vertheidigen. 

„Guten  Tag,  Saint-Firmin!"  sagte  Nelly  herzlich  und  reichte  ihm  ihre 
schöne,  warme  Hand.  —  „Wie  geht's  Dir?  Was  ist  inzwischen  aus  Dir 
geworden?  .  .  .  Das  ist  aber  'mal  ein  gescheidter  Gedanke  von  Dir,  daß 
Du  Deiue  alte  Collegin  besuchst." 

Das  trübselige  Gesicht  des  Komödianten  hellte  sich  auf.  Ter  feiudliche 
Blick  der  Kammerfrau  und  die  kostbaren  Tapisserien  des  Vorzimmers  hatten 
ihn  einen  ganz  anderen  Empfang  befürchten  lassen. 
Er  reckte  sich  und  reichte  Nelly  mit  theatralischer  Geberde  die  Hand. 
„Na!  ich  sehe,  daß  Du  ein  gutes  Mädel  geblieben  bist  wie  früher  zu 
Lamorliüres  Zeit." 

Und  indem  er  seine  wirkliche  Bewegung  noch  übertrieb  und  in  seinen 

aufgerissenen  Augen  die  Thräne,  welche  den  Leuten  vom  Theater  immer 

zur  Verfügung  steht,  erblinke»  lieh,  fuhr  er  fort: 

„Man  hat  gut  über  sie  reden  ...  es  geht  dennoch  nichts  über  die 

Künstler." 

Sie  hieß  ihn  neben  sich  niederzusitzen  auf  einem  bequemen  Lehnsessel. 
„Nun,  Süint-Firmin,  womit  kann  ich  Dir  helfen?  .  .  .  Auf  Deiner 
Karte  Hab'  ich  gesehen,  daß  Du  jetzt  am  Odeon,  an  einem  kaiserlichen 
Theater  bist ..  .  Entschuldigen  Sie,  daß  ich  ...  .  Aber  als  Regisseur  .... 
Du  spielst  also  nicht  mehr  Komödie?  .  .  ." 
—  „Nein,"  erwiderte  er,  „ich  habe  vorläufig  auf  die  Bühne  ver- 
zichtet ....  ich  bin  nur  noch  bei  der  Leitung  beschäftigt." 
In  Wahrheit  war  seine  Hauptbeschäftigung  am  Odeon,  die  Rufe  und  die 
Coulissengeräusche  zu  machen  und  auf  Treppen  und  Gängen  mit  einer 
Klingel  herumzulaufen.  Er  war  der  rollende  Tonner,  der  plätschernde 
Negen,  der  heulende  Wind.  Er  war  die  rasselnde  Postschaise,  welche  davon 
fährt,  der  Papagei  der  alten  Dame,  welche  schreit:  „Hast  Du  gefrühstückt, 
Lora?"  Der  Stoß  Teller,  welcher  klirrend  zu  Boden  fällt,  die  Uhr,  welche 
beini  Eintreten  des  Verräthers  die  Mitternachtsstunde  mit  zwölf  schaurigen 
Schlägen  verkündet,  der  Pistolenschuß  des  Verzweifelten,  der  sich  an  der 
Straßenecke  eine  Kugel  durch  deu  Kopf  jagt.  Doch  dank  der  Illusions- 
fähigkeit der  Komödianten,  dank  ihrer  Gabe,  Alles  in  ein  glänzenderes 
Licht  zu  stellen,  sprach  er  jenes  Wort  „Leitung"  aus,  als  wenn  er  Bank- 
director  oder  Präsident  irgend  einer  Eisenbahngesellschaft  gewesen  wäre. 
„Ich  kann  mir  denken,"  .  .  .  sagte  Nelln  mit  freundlichen:  Lächeln. 
„Hundertfünfundzwanzig  Franken  monatlich,  nicht  wahr?  .  .  .  Solltest  Dn 


~02  Francis  C»ppöe  in  Paris. 

Dich  in  momentaner  Geldverlegenheit  befinden,  so  genire  Dich  nicht  .  .  . 
Du  weißt  ja  ..." 

Doch  der  alte  Mime  war,  obwohl  sehr  arm,  ein  rechtschaffener  Mensch, 
der  Etwas  auf  Anstand  und  Würde  gab.  Er  machte  die  klassische  Geste 
der  Ablehnung,  die  Geste  des  Hipvokrates  vor  den  Geschenken  des 
Artarerres  und  sagte,  ohne  sich  verletzt  zu  fühlen,  sondern  im  Gegentheil 
von  Nellns  edlem  Anerbieten  gerührt: 

Ich  danke,  Nobin,  ich  brauche  Nichts.  Man  ist  nicht  reich,  aber  man 
schlägt  sich  so  durch  .  .  .  Nein,  ich  komme.  Dich  um  etwas  viel  Wichtigeres 
zu  bitten  ...  Ich  protegire  einen  jungen  Dichter  uud  Hab'  mir  in  den 
Kopf  gesetzt,  seinem  ersten  Stücke  zu  einer  Aufführung  zu  verhelfen." 
Angesichts  der  trübseligen  Miene  des  Niedermannes  versuchte  Nelly 
vergebens  ein  mitleidiges  Lächeln  zu  unterdrücken.  Sie  kannte  das  Theater 
uud  wußte,  daß  der  Einfluß  eines  zweiten  Regisseurs  im  günstigsten  Falle 
gerade  ausreiche,  um  der  Tochter  eines  Portiers,  welche  ihre  Abende  frei 
hat,  eine  Statistenrolle  zu  verschaffen. 

„Höre  und  staune!"  sagte  Saint-Firmin.  „Es  handelt  sich  um  leine 
Rolle  für  Dich,  noch  überhaupt  um  ein  Stück  sür's  Vaudeuilletheater  .... 
Das  Werk,  von  dem  ich  rede,  ich  möchte,  daß  die  Schauspieler  des  Kaisers 
es  im  TIMtre  Francis  zur  Aufführung  brächten.  Und  das  wäre  auch 
uicht  mehr  als  billig  ...  Du  hast  nun  glänzende  Beziehungen  —  ja  ja, 
m^in  schönes  Fräulein,  wir  wissen  das  —  Beziehungen,  welche  bis  in's 
Ministerium,  ja  sogar  bis  in  die  Tuilerien  reichen,  uud  wenn  Du  Dich 
für  meinen  jungen  Mann  interessiren  willst,  so  kannst  Du  viel  für  ihn 
thuu  ...  Du  siehst,  liebe  Nobin,  was  ich  von  Dir  erwarte,  ist  eine 
Gefälligkeit,  an  der  ich  persönlich  gar  nicht  interessirt  bin  .  .  .  Es  handelt 
sich  nicht  um  ein  umfangreiches  Werk",  fügte  er  hinzu,  indem  er  aus  der 
Tasche  seines  Ueberziehers  ein  kleines  Heft  hervorzog  .  .  .  „nur  um  einen 
Einacter  in  Versen  .  .  .  Aber  es  ist  etwas  Köstliches,  es  sei  denn,  daß 
ich  Nichts  von  der  Sache  verstände.  Und  ich  verstehe  mich  darauf  .  .  . 
Du  weißt  doch  noch  in  Nelleuille?  .  .  .  Man  nannte  mich  da  immer  den 
Dramaturgen  ....  Alfo  darf  ich  auf  Dich  rechnen,  Robin?" 
Nelly  fühlte  sich  sehr  geschmeichelt.  Bisher  hatte  sie  alle  Welt,  ihr 
Director,  ihre  Eollegen,  selbst  ihre  Liebehaber  nur  als  schönes  Weib 
betrachtet,  und  das  war  Alles  gewesen.  Der  alte  Saint-Firmin,  der  zu 
ihr  schlechthin  als  Künstlerin  sprach,  kitzelte  die  Eitelkeit  des  schönen 
Mädchens.  Sie  versprach  ihre  Unterstützung  und  wollte  wissen,  wie  der 
Prot6g6  des  alten  Regisseurs  hieß. 

„Nun,  erzähl'  mal,  Alterchen,"  sagte  sie  heiter:  „Wie  hast  Du  ihn 

kennen  gelernt?  ...  Wo  hast  Du  ihn  getroffen?" 

—  „In  der  Garküche!  sehr  einfach,"  antwortete  der  gute  Mann. 

„Meiner  Treue,  Du  kannst  Dir  denken,  Nobin,  daß  ich  nicht  im  -Englischen 

Ellst~  zu  Mittag  esse  und  daß  ich  nicht  gleich  beim  ersten  Glase  eine  andere 


Rivalinnen.  1.03 

Flasche  Champagner  für  2I>  Franken  geben  lasse  unter  den,  Vormunde, 
daß  die  erste  nach  dem  Korken  schinecke.  Ich  nehme  meine  Mahlzeiten  bei 
einem  Weinkaufmann  in  der  Nne  Vaugirard  ein,  an  welche  eine  Kutscher- 
stube anstößt.  Daselbst  habe  ich  mein  Dichterlein  bemerkt,  der,  wie  Du 
mir  glauben  kannst,  sich  kein  Neefsteak  mit  Bratkartoffeln  und  keinen 
Schoppen  Rothwein  leisten  darf.  Der  arme  Tropf!  Dazu  reichen  seine 
Mittel  nicht  aus.  Er  begnügt  sich  gewöhnlich  mit  einem  Menü  für  fünfzig 
Centimes,  welches  aus  Brot,  Suppe  und  ausgekochtem  Rindfleisch  besteht, 
und  dazu  trinkt  er  eine  Flasche  „Pumpenheimer".  Der  gute  Junge  gefiel 
mir  auf  den  ersten  Blick.  Aermlich,  aber  sauber.  Seine  blonden  Haare 
glänzen  goldig  im  Sonnenschein,  er  tragt  einen  kleinen,  am  Kinn  getheilten 
Bart,  hat  braune  schüchterne  Augen,  die  sich  zu  Boden  senken,  wenn  man 
ihn  anblickt,  mit  einen,  Worte,  er  schaut  sanft  und  traurig  drein,  wie  ein 
25  jähriger  Christus.  Ich  mochte  ihm  noch  so  oft  Oel  und  Mostrich  hin- 
übereichen, es  war  nicht  möglich,  mit  ihm  ein  Gespräch  anzuknüpfen.  Als 
ich  ihm  aber  endlich  beigebracht  hatte,  daß  ich  ein  alter  Künstler  wäre, 
der  seit  30  Jahren  Komödie  spielte  und  am  Odeon  engagirt  sei,  da  hatte 
er  keine  Furcht  vor  mir  und  wurde  aufgeknüpfter .  ,  .  Wir  sind  mit- 
sammen im  Park  von  Luxemburg  spazieren  gegangen,  und  dort  hat  er  mir, 
während  wir  um  den  Springbrunnen  herumwandelten,  sein  allerliebstes 
kleines  Stück  auswendig  vorgetragen.  Bei  der  zwanzigsten  Runde  sagte  er 
den  letzten  Vers.  Ich  war  ganz  weg!  Vor  dem  Schwänehause  habe  ich 
ihn  umarmt.  Cr  hat  mir  sein  Mcmuscript  anvertraut.  Ich  hab's  noch- 
mals gelesen.  Famos!  Allein,  Du  begreifst,  was  konnte  ich  für  ihn  thnn. 
Sollte  ich  von  den»  Stücke  mit  dem  Director  des  Odeons  sprechen?  Ich, 
der  zweite  Regisseur?  Er  würde  zu  mir  gesagt  haben:  „Schön,  schön," 
würde  darauf  das  Diug  in  eine  Schublade  geworfen  und  mir  den  Auftrag 
gegeben  haben,  in  der  Garderobe  einen  Zettel  anzuschlagen,  der  besagte, 
daß  die  dumme  Gaus,  die  Deborah,  zwanzig  Franken  Strafe  zu  zahleu 
habe,  weil  sie  nur  dann  pünktlich  zur  Probe  käme,  wenn  ihr  kleiner  Unter- 
Lieutenant Arrest  hätte  .  .  .  Und  dann  sagte  ich  mir  auch:  „Dil  brauchst 
ja  nicht  gleich  mit  dem  Kopf  durch  die  Wand  zu  rennen.  Wer  kann  Dir 
hierbei  behilflich  fein?"  fragte  ich  mich.  Und  da  dachte  ich  gleich  an  Dich, 
mein  schönes  Kind.  Ich  wußte,  daß  Du  Dein  Glück  gemacht  hattest,  ich 
hatte  mir  erzählen  lassen,  daß  Du  den  General-Intendanten  persönlich 
kennst  nnd  außerdem  noch  eine  Unmenge  anderer  großer  Thiere  .  .  .  Und 
ich  Hab'  vielleicht  ganz  gut  daran  gethan.  Dich  zu  besuchen,  denn  Du  bist 
immer  noch  das  gute  Mädel,  das  Du  früher  warst  .  .  .  Ach,  wie  würde 
ich  mich  freuen,  wenn's  Dir  gelingen  möchte  .  .  .  denn,  ohne  Scherz:  ich 
tmb'  den  Jungen  fehr  lieb  gewonnen.  Cr  ist  gerade  so  alt,  wie  meiner  jetzt 
sein  könnte,  wenn  ich  geheirathet  hätte  oder  wenn  ich  eine  Geliebte  gehabt 
hatte.  Doch  Du  weißt  ja,  wie  das  ist.  Alles  ist  immer  nur  für  die  ersten 
Rollen  da.  Unsereins,  beim  komischen  Fach  ist  nur  in:  besten  Falle  im 


~0H  Franc,«!«  Loppse  in  f)ar>5. 

Stande,  eine  flüchtige  Neigung  zu  erwecken.  Ich  bin  allein  alt  geworden 
wie  eine  Coulissenratte  ...  Na,  Du  hast  nun  das  Manuscript  nebst  Namen 
und  Wohnung.  Thu,  was  Du  kannst,  und  sobald  Du  Näheres  weißt,  so 
schreib'  mir,  ich  will  Dir  dann  meinen  jungen  Dichter  herschicken.  Denn 
ich  Hab'  ihm  Nichts  von  diesem  Schritte  erzählt,  für  den  Fall,  daß  es  miß- 
glückte." 

„Und  wie  heißt  denn  Dein  Günstling,  Saint-Firmin?"  fragte  Nelly 

Robin,  welche  während  der  malerischen  Erzählung  des  Komödianten  träumerisch 

und  sinnend  an  jenen  armen,  unbekannten  und  hübschen  Dichter  denken 

mußte. 

„Jean  Delly  .  .  .  und  dieser  Name  wird  dereinst  berühmt  werden, 
dafür  stehe  ich  Dir." 

„Ich  will  mich  gleich  morgen  für  Deinen  jungen  Mau»  verwenden," 
versetzte  Nelly.  „Es  trifft  sich  gerade  gut,  daß  ich  morgen  mit  einigen  ein- 
flußreichen Persönlichkeiten  soupiren  muß  .  .  Ich  hoffe,  Alterchen,  Du  wirst 
bald  gute  Nachrichten  von  mir  erhalten.  Jetzt  aber  muß  ich  Toilette  machen. 
Ich  speise  heut  außerhalb." 

Sie  streckte  den»  alten  Regisseur  ihre  Hand  hin,  die  dieser  artig  nach 
den  strengsten  Vorschriften  des  Theaterstils  küßte.  Dann  eutfernte  er  sich, 
guter  Hoffnung  voll. 
IV. 

Frau  Delly,  die  Wittwe  eines  Infanterieoffiziers,  welcher  in  der 
Krim  der  Cholera  erlegen  war,  hatte  durch  Protection  in  Beauvais  die 
Leitung  eines  Tabakladens  erhalten.  Diefer  war  ihre  alleinige  Einnahme- 
quelle. Ihr  einziger  Sohn,  der  auf  dem  Gymnasium  seiner  Vaterstadt 
eine  Freistelle  erhielt,  machte  daselbst  gute  Fortschritte,  obwohl  er  eiue 
schwächliche  Gesundheit  besaß  und  oft  träumerisch  und  zerstreut  war.  Mit 
neun  Jahren  verlor  er  seine  Mutter,  und  nachdem  die  Begräbnißkosten  be- 
zahlt waren,  hatte  er  keine  hundert  Franken  in  der  Tasche.  Mit  dem 
problematischen  Zeugnisse  eines  Baccalaureus  versehen  und  dem  Hirn  voller 
vager  Pläne  und  schöner  Träume  kam  er  nach  Paris  und  fristete  dort  ein 
kümmerliches  Dasein.  Der  bedauernswerthe  junge  Mann,  in  deni  eine 
Flamme  reinster  Begeisterung  glühte,  mußte  Schreiberdienste  verrichten  und 
verkaufte  außerdem  an  die  Schüler  höherer  Lehranstalten  ein  wenig  von 
seiner  klassischen  Bildung.  Der  Dichter  mit  der  feiuen,  zarten  Empfindung 
trug  gebrauchte  Stiefeln,  welche  er  bei  dem  Schuhflicker  billig  erstand,  und 
aß  in  übelriechenden  Kneipen  die  breite  Bettelsuppe  der  Tagelöhner.  Er 
hatte  keine  Angehörigen.  Sein  Vater  hatte  lange  vor  seinem  Tode  die 
wenigen  Verwandten,  die  er  besaß,  aus  den«  Gesichte  verloren.  Seine 
Mutter  war  ein  natürliches  Kind  gewesen,  und  als  der  Offizier  sie  aus 
Liebe  heirathete,  muhte  er  das  Militärreglement,  das,  wie  man  weiß,  eine 
gewisse  Mitgift  vorschreibt,  heimlich  umgehen.  Wohl  hatte  Delly  während 


Rivalinnen.  1.05 

seiner  Schulzeit  einige  Freundschaften  geschlossen,  und  die  ineisten  seiner 
ehemaligen  Mitschüler  wohnten  in  Paris.  Doch  diese  gehörten  wohlhabenden 
Familien  an,  und  der  Dichter  in  seinem  Stolze  suchte  keinen  von  ihnen  auf, 
ja  er  mied  sie  sogar  geflissentlich. 

So  lebte  er  drei  J  ahre  lang  in  schrecklicher  Vereinsamung.  Er  be- 
wohnte in  einem  alten  Hause  am  Quai  Saint-Michel  eine  elende  Mansarde, 
in  der  man  im  Sommer  vor  Hitze  umkam,  während  Einem  im  Winter  das 
Waschwasser  im  Kruge  gefror.  Die  Kammer  war  gar  zu  traurig.  Delly 
hielt  sich  darin  nur  auf,  um  den  fchönen  Schlaf  der  Jugend  zu  schlafen. 
Er  langweilte  sich  furchtbar.  Ach,  die  langen  Stunden,  die  er  mit  niederen: 
Gesindel,  mit  betrunkenen  Eovisten  zusammen  im  Schreibbureau  verbringen 
mußte,  bis  tief  in  die  Nacht  hinein,  um  lumpige  drei  Franken  zu  ver- 
dienen. Dann  konnte  er  endlich,  nachdem  er  Seite  an  Seite  gefügt,  mit 
Schmerzen  im  Kreuz  und  mit  dem  Krampf  in  der  Hand  heimkehren.  An 
einigen  Tagen  der  Woche  gab  er  in  kleinbürgerlichen  Häusern  Unterricht, 
die  Stunde  für  vierzig  Sous.  Und  auch  dies  war  eine  wenig  erfreuliche 
Beschäftigung,  wenn  er  so  neben  seinen  unsauberen  Buben  sitzen  mußte, 
die  sich  mit  den  Fingern  in  der  Nase  herumstöberten  und  sich  die  Federn 
in  den  Haaren  abwischten. 

Dabei  konnte  er  noch  von  Glück  reden,  wenn  er  Abschriften  zu  machen 
oder  Nachhilfestunden  zu  geben  hatte.  Seine  leider  allzu  zahlreichen  Muße- 
stunden verbrachte  er  mit  Lesen  auf  der  Bibliothek  Sainte-Geneviöoe,  oder 
er  füllte  sie  mit  ziel-  und  endlosen  Spaziergängen  aus,  bei  denen  er, 
langsam  schlendernd,  seinen  Träumereien  nachhing. 
Bei  einer  solch'  erbärmlichen  Lebensweise  hätte  der  arme  Dichter 
schließlich  geistig  verkommen  müssen.  Er  schrieb  Nichts  mehr  und  fügte  der 
Sammlung  seiner  zarten  sinnigen  Gedichte,  die  er  trotz  alledem  in  weniger 
schlimmen  Stunden  verfaßt  hatte,  keine  Zeile  hinzu. 
Jean  Delly  war  bereits  der  Verzweiflung  nahe,  da  rettete  ihn  die 
Liebe. 

Es  war  an  einem  lunisonntnge.  Die  Luft  war,  nachdem  es  soeben 
aufgehört  hatte  zu  regnen,  lau  und  feucht.  Jean  Delly  wandelte  im  I ardin 
des  Plantes  einher.  Dem  aufgeweichten  Erdboden  entströmte  ein  Geruch 
von  frischem  nassen  Grün.  Aus  der  Menagerie  herüber  ertönte  in  Einem 
fort  seltsames  Vogelgeschrei.  Jean  bewunderte  die  rothen  Trauben  an  den 
Bäumen  aus  Palästina,  welche  Nuffon  hierher  verpflanzt  hatte.  Da  be- 
gegnete ihm  die,  welche  feine  Freundin  werden  follte. 
Ihre  Handschuhe  waren  gerade  nicht  mehr  gut,  ihre  Schuhe  nicht 
mehr  neu  zu  nennen.  Im  Monat  Juni  trug  sie  ein  schwarzes  Kleid!  Sie 
hatte  einen  garstigen  Strohhut  auf,  welcher  mit  drei  Kornblumen  garnirt 
war.  Doch  welch'  ein  Glanz,  was  für  eine  jugende  Frische  strahlte  aus 
diesem  gesunden,  zwanzigjährigen  Gesichte,  das  von  dichtem  rothen  Gold- 
haar umrahmt  war! 


~06  Fran<?ois  <~opp«e  in  Paris. 

Ein  Kenner  würde  vielleicht  auch  die  schönen  Körperformen  des 
Mädchens  mit  Wohlgefallen  betrachtet  haben,  doch  Jean  Delly  fah  nur  die 
dunkelbraunen  Augen,  die  ihn  sanft  anblickten. 
Sie  mar  offenbar  arm  wie  er  und  machte  ebenfalls  ihren  Sonntags- 
nachmittagsspaziergang. Instinctiv  folgte  er  ihr  einige  Schritte.  Sie  ging 
in  die  Menagerie  und  blieb  vor  den  Zebras  stehen.  Er  machte  ebenfalls 
nicht  weit  von  ihr  Halt,  und  zum  zweiten  Male  begegneten  sich  die  Blicke 
Beider.  Das  schlichte  Volk  liebt  nicht  die  langen  Idylle,  und  so  standen 
sie  denn  bald  darauf  dicht  nebeneinander  über  die  Brüstung  des  Bären- 
zwingers gelehnt.  Und  wiederum  eine  Weile  später,  als  sie  bei  den  Anti- 
lopen vorbeikamen,  hatte  Jean  Delly,  dessen  Lippen  trocken  und  dessen 
Ohren  glühend  roth  waren,  den  Muth  zu  sagen:  „Ach  die  hübschen  Thiere, 
nicht,  Fräulein?"  So  kam,  wenn  auch  Anfangs  nur  stockend,  ein  Gespräch 
in  Gang.  Vor  dem  Affenhause  tauschten  sie  ihre  Namen  aus,  und  als  die 
Wandelgänge  des  Gartens  sie  zum  zehnten  Male  zum  Elephanten  führten, 
da  gaben  sie  sich  den  Arm  und  waren  in  eine  so  interessante  Unterhaltung 
vertieft,  daß  sie  jetzt  garnicht  mehr  daran  dachten,  dem  Dickhäuter  Roggen- 
brot anzubieten,  obwohl  dieser  seinen  Rüssel  mit  einer  Geduld,  die  einer 
besseren  Sache  werth  war,  nach  ihnen  ausstreckte. 
Sie,  gnädige  Frau,  die  sie  dreimal  am  Tage  sich  an-  und  ausziehen, 
ärgern  sich  jetzt  vielleicht,  wenn  Sie  mich  lesen.  Erstens  nämlich  würden 
Sie  niemals  zu  bemerken  geruhen,  daß  ein  junger  Mann  hübsche  Augen 
hat,  wenn  er  nicht  Ihrer  Gesellschaftssphäre  angehört  und  wenn  er  Ihnen 
nicht  in  aller  Form  vorgestellt  wäre.  Und  sodann  würden  Sie  mich,  bevor 
Sie  ihn  Ihre  Schwäche  ahnen  ließen,  ihm  alle  nur  möglichen  Geduld- 
proben auferlegen.  Er  hätte  sie  erst  bei  unzähligen  Diners,  Thees  und 
Vorstellungen  in  der  Comödie-Franyaise  und  der  Oper  treffen  müssen.  Er 
wäre  gezwungen  gewesen,  sich  fünf-  oder  sechsmal  im  Hintergrunde  Ihrer 
Loge  die  „Favoritin"  anzuhören,  ehe  Ihr  Blick  gelegentlich  des  große« 
Duetts:  „Oh,  komm',  komm'.  Dir  will  ich  mich  ergeben"  ermuthigend  den 
seinigen  getroffen  hätte  und  wahrscheinlich  erst  nach  drei  Bällen  und  einem 
Dutzend  Walzern  hätte  Ihre  Hand  die  seinige  bedeutsam  gedrückt  — 
Nicht  als  ob  Sie,  schöne  Frau,  ein  Ausbund  von  Tugend  wären,  aber 
Sie  verlangen  eine  bestimmte  Werbezeit  von  Ihrem  Verehrer.  Werden  Sie 
es  dem  armen  Kinde,  das  Jean  Delly  im  I ardin  des  Plantes  traf,  verzeihen, 
daß  es  fo  wenig  Umschweife  machte?  Vielleicht  halten  Sie  gar  das  Mädchen 
für  schamlos.  Doch  es  war  eben  nur  freimüthig  und  naiv.  Während 
jenes  Spazierganges  durch  die  Menagerie  am  Arme  des  Dichters  niit  der 
sanften  Stimme  und  den  traurigen  Augen  hatte  Marie  im  Herzen  ein  ge- 
heimnißvolles  Maßliebchen  entblättert:  „er  liebt  Dich  ..  .  von  Herzen.  .. 
mit  Schmerzen"  u.  s.  w.,  und  auf  den  letzten  Stiel  war  das  Wort:  „kann's 
garnicht  lassen"  gekommen.  Alsbald  hatte  Jean  Marie  erzählt,  daß  er 
allein  und  unglücklich  wäre,  und  Marie  äußerte  sofort  darauf  den  hoch- 


Rivalinnen.  ~0? 

herzigen  Wunsch,  seine  Genossin  zu  werden  und  ihm  ein  wenig  Glück  zu 
bringen.  Doch,  glauben  Sie  wir,  gnädige  Frau:  allzu  schnell  gab  Marie 
dennoch  nicht  dem  Ungestüm  seiner  zärtlichen  Liebe  nach.  Sie  war  ein 
Weib,  wie  Sie  es  sind,  und  wie  Sie  besaß  sie  Schanigefühl  und  sogar 
auch  ein  bischen  Koketterie.  Acht  Tage  waren  erforderlich  und  drei  Rendez- 
vous zur  Abendzeit  in  der  friedlichen  Rue  Cuvier,  bevor  sie  sich  entschloß, 
zu  Jean  in  die  Mansarde  am  Quai  Saint-Michel  hinaufzukommen.  Aber 
in  jener  Frühlingsnacht  wurde  da  oben  im  Mondenfcheine,  der  die  Dachstube 
erleuchtete,  ein  Fest  von  Thrcinen  und  Küssen  gefeiert,  wie  ich  Ihnen, 
gnädige  Fmu,  nur  eines  wünschen  mochte,  nachdem  Sie  für  gut  befunden, 
daß  I  hnen  I  hr  Verehrer  genügend  den  Hof  gemacht  hat  und  I  hrer  Gegen- 
liebe würdig  ist. 

Marie,  bereits  mit  zehn  Jahren  Waise,  war  von  einem  Onkel,  einem 
Eisenbahnbeamten,  aufgezogen  worden.  Dieser  war  ein  rechtschaffner  und 
nicht  mehr  junger  Mann,  ein  kinderloser  Wittwer.  Aus  Gutmütigkeit  und 
auch,  weil  er  es  bequem  fand,  beim  Heimkommen  den  Tisch  gedeckt  und 
das  Vett  gemacht  zu  sehen,  hatte  er  die  Nichte  zu  sich  genommen.  Später 
war  dieselbe  Lehrmädchen  und  späterhin  Gehilfin  bei  Frau  Indiana,  einer 
sehr  beschäftigten  Modistin,  geworden.  Sie  bekam  aber  daselbst  nur  einen 
geringen  Gehalt,  denn  sie  war  nicht  sehr  geschickt.  Man  verwandte  sie 
deshalb  hauptsächlich  dazu,  geschäftliche  Gänge  zu  besorgen.  Ihr  alter 
Onkel  überwachte  sie  so  gut  wie  gar  nicht.  Als  sie  Jean  Delln  kennen 
lernte,  war  sie  nicht  mehr  unschuldig.  Pflegen  doch  die  Unterhaltungen  der 
Mädchen  in  derartigen  Ateliers  mitunter  sehr  indecent  zu  sein.  Nachdem 
sie  im  Alter  von  sechzehn  Jahren  von  einem  Ladenschwengel  verführt  und 
bald  darauf  verlassen  worden  war,  hatte  sie  einen  gewissen  Abscheu  vor  den 
Mannen:  bekommen  und  war  vorsichtig  genug,  sich  mit  keinem  Anderen  mehr 
einzulassen.  Indessen,  die  Liebkosungen  eines  Dichters,  der  in  Allem,  was 
er  sprach  und  that,  das  Weib  in  ihr  respectirte,  berauschten  und  verführten 
sie.  Die  beiden  jungen  Leute,  welche  Nichts  hatten  als  ihre  Küsse,  beteten 
einander  an.  Marie  mußte  in  Einem  fort  an  ihren  Freund  denken,  sei  es 
nun,  daß  sie  im  Atelier  saß  und  nähte  oder  durch  die  Straßen  von  Paris 
lief.  Ja  selbst,  wenn  sie  des  Abends  zu  Nette  ging  und  sogar  noch  im 
Traume  verfolgte  sie  sein  Vild.  Und  Jean  lebte  nur  uoch  der  Minute, 
wo  Marie  zwischen  einer  Besorgung  und  der  andern  zu  ihm  heraufkam, 
ihre  Hutschachteln  unter'm  Arm,  das  Paradies  im  Auge  und  im  Herzen. 
So  kam  neue  Lebenslust  über  den  Dichter,  er  fing  wieder  an  zu  arbeiten, 
und  in  einigen  Stunden  reiner,  begeisterter  Freude  schrieb  er  in  Dialogform 
jenes  entzückende  Idyll  „Die  Sternennacht"  nieder,  das  später  nach  der 
AuMhrung  im  TIMtre  Francis  von  Seiten  des  Publicums  ihm  die  Be- 
zeichnung „Theokrit  von  Paris"  eintrug. 

Jean  las  zuweilen  Marie  seine  Verse  vor.  Sie  hörte  ihm  begeistert 

und  vielleicht  mit  mehr  Gefühl  als  mit  Verständnis?  zu.  Ihn  beseligte  es. 


~08  ,Franfo>5  ~»ppse  in  j)aris. 

bewundert  zu  werden,  und  seine  Zärtlichkeit  für  Marie  wuchs  infolgedessen 
noch.  Allerdings,  er  liebte  sie  nicht  mit  gleicher  Innigkeit  wie  sie  ihn. 
Bei  einer  derartigen  Musik  giebt  es  nicht  einen  vollkommenen  Accord. 
Jean  war  gut,  aber  er  besaß  ein  beträchtliches  Theil  Egoismus  wie  alle 
wahrhaften  Künstler.  Trotzdem  vermochte  er  nicht  ohne  Wärme  und  ohne 
innerliche  Zufriedenheit  an  diese  schlichte  Freundin  zu  denken,  die  sich  ihn» 
mit  Leib  und  Seele  hingegeben  und  die  sich  besinnungslos  in  seine  Anne 
geworfen  hatte,  wie  man  sich  in  einen  Abgrund  stürzt.  Er  vermochte  sich 
sein  Leben  nicht  mehr  vorzustellen  ohne  sie;  und  da  er,  im  Grunde  genommen, 
billig  und  gerecht  dachte,  so  träumte  er  nicht  von  Glück  und  Erfolg,  ohne 
daß  er  in  seiner  Phantasie  die  mit  einbegriff,  welche  ihm  in  seinem  gegen- 
wärtigen Elend  eine  Trösterin  war. 

So  liebten  sich  Jean  und  Marie  bereits  seit  mehreren  Jahren  mit 
einer  Liebe,  deren  eben  nur  die  armen  Leute,  welche  keinen  anderen  Genuß 
und  keine  andere  Zerstreuung  kennen,  fähig  sind.  Schüchtern  von  Natur 
und  aller  Initiative  bar,  lebte  der  junge  Menfch  dahin,  arbeitete  wohl  hin 
und  wieder,  suchte  aber  keine  Gelegenheit  auf,  die  ihn  zur  Geltung  bringen 
könnte.  Da  führte  ihn  der  Zufall  in  dem  Wirthshnus,  wo  er  zu  fpeifen 
pflegte,  mit  dem  alten  Samt-Firmin  zusammen.  Jean  Delln  hatte  keines- 
wegs an's  Theater  gedacht,  als  er  seine  „Sternennacht"  schrieb,  und  der 
Enthusiasmus  des  Komödianten  nahm  ihn  daher  Wunder.  Mit  nicht  viel 
Hoffnung  vertraute  er  ihn,  sein  Manuskript  an.  Was  hätte  auch  ein 
armer  Unter- Regisseur  am  Odeontheater  ausrichten  können?  Um  so  größer 
war  deshalb  das  Erstaunen  des  Dichters,  als  er  vierzehn  Tage  später 
einen  äußerst  liebenswürdigen  Brief  erhielt,  worin  ihn  der  Leiter  der 
Comödie  Franyaise  eigenhändig  zu  seinem  Werk  beglückwünschte  und  ihn 
einlud,  ihn  baldigst  zu  besuchen. 

Noch  an  demselben  Abend,  wo  Saint-Firmin  ihr  das  Manuscrivt 
übergeben,  hatte  Nelly  Robin  es  im  Nette  gelesen.  Das  hübsche  Mädchen 
verstand  nicht  viel  von  Litteratur.  Wie  viele  Schauspielerinnen  lernte  sie 
ihre  Rolle  auswendig,  ohne  das  Stück  zu  kennen,  und  schließlich  machte  sie 
ihre  Sache  ganz  leidlich,  nachdem  Verfasser  und  Regisseur  sie  in  den  Proben 
gehörig  gedrillt  hatten.  Doch  für  Verse,  für  gereimte  Phrasen,  die  von 
Liebe  sprachen,  hatte  sie  jenes  instinctive  Gefühl,  das  die  Mädchen  der 
Vorstädte  bereits  als  Schulkinder  bekunden,  indem  sie  auf  den  Schreibheften 
für  10  Centimes  eifrig  den  Tert  der  Romanze  zu  entziffern  fuchen,  welche 
der  Leiermann,  seinen  Kasten  drehend,  mit  näselnder  Stimme  hersingt.  Die 
Musik  in  Jean  Dellns  Gedicht  war  köstlich.  Dieselbe  rührte  Nelln  und 
schien  ihr  noch  weit  schöner  als  die  Couplets,  die  sie  als  kleines  Gassen- 
mädchen auf  den  Straßen  gesummt  hatte.  Sie  schlief  endlich  ein  und 


Rivalinnen.  "NH 

träumte  von  dem  jungen  Dichter,  der  mit  den  Kutschern  zusammen  essen 
mußte  und  dessen  Verse  ihr  so  zu  Herzen  gegangen  waren. 
Der  Geliebte  Nellys  war  damals  der  Herzog  von  Eylau,  der  natür- 
liche Sohn  des  heldenhaften  Marschalls,  des  ehemaligen  Tambours,  welcher 
auf  der  Brücke  von  Arcole  neben  Napoleon  zun,  Angriffe  getrommelt  hatte. 
Er  war  ein  hübscher,  ein  wenig  blasirter  Mann,  von  eleganten  Manieren, 
doch  von  weniger  als  mittelmäßiger  Intelligenz.  Das  zweite  Kaiserreich 
hatte  aus  ihm  nicht  mehr  als  einen  Kammerherrn  machen  können.  Beim 
Souper,  welches  der  Herzog  am  folgenden  Tage  in  einem  vornehmen 
Restaurant  einigen  Freunden  aus  den  Tuilerien  gab,  erschien  Nelly  mit  dem 
Manuscript  Jean  Dellns.  Es  war  nicht  gerade  eine  für  Liebespoesien 
empfängliche  Gesellschaft  da  versammelt.  Lauter  Leute  mit  grauen  Köpfen 
und  steifen  Hälsen.  Aber  zur  Rechten  der  Schauspielerin  saß  Herr  Eaduc, 
der  Privatsecretär  und  intimste  Freund  des  Kaisers.  Er  war  ein  wohl- 
wollender, litterarisch  hochgebildeter  Mensch,  von  ungeheurem  Einfluß  auf 
das  Theater,  Dieser  mußte  ihr  das  Versprechen  geben,  die  „Sternennacht" 
zu  lesen.  Acht  Tage  darauf  erhielt  Nelly  von  Caduc  eine  Karte  folgenden 
Inhalts:  „Ein  kleines  Meisterwerk.  Ich  begebe  mich  sofort  nach  der 
Com^die  FrawMse." 

Nellv  schrieb  hocherfreut  über  den  Erfolg  ihrer  Empfehlung  an  Saint- 
Firmin,  Doch  der  arme  alte  Mime  bekam  den  Brief  nicht  zu  lesen.  Drei 
Tage  lang  lag  er  bereits  im  Hospital  todtkrank  darnieder.  Und  da  er 
dem  Dichter  von  seinen:  Besuch  bei  der  Schauspielerin  Nichts  gesagt  hatte, 
so  erhielt  diese  keine  Antwort  und  war  beleidigt  wegen  des  Schweigens,  in 
das  sich  Saint-Firmin  und  sein  Günstling  hüllten.  Bald  hatte  sie  im 
Strudel  der  Vergnügungen  Beide  vergessen. 

Indessen  das  mitunter  recht  launenhafte  Glück  entschädigte  plötzlich  Jean 
Delly  für  seine  unberühmte  Vergangenheit. 

Noch  waren  nicht  vierzehn  Tage  verstrichen,  seitdem  er  Saint-Firnim 
das  Manuscript  übergeben  Hütte,  als  er  eines  Morgens  ein  Nillet  vom 
Director  der  Com^die  Frcm^aise  erhielt.  Marie  konnte  ihn  an  diesem  Tage 
nicht  besuchen,  und  der  Umstand,  daß  er  die  gute  Kunde  seiner  lieben 
Freundin  nicht  alsbald  mittheilen  konnte,  erfüllte  den  Dichter  trotz  feiner 
ausgelassenen  Freude  mit  einen«  Gefühl  von  Traurigkeit.  Heut  war  auch 
nicht  einmal  im  Hospital  Besuchszeit,  sodaß  er  selbst  uicht  deni  alten 
Saint-Firmin  seinen  heißen  innigen  Dank  aussprechen  durfte. 
Mit  klopfendem  Herzen  und  schier  beängstigt  von  seinem  Geheimniß, 
nmchte  Jean  Delli,,  nachdem  er  den  räthselhaften  Brief  mindestens  zehn 
Mal  durchgelesen,  sorgfältig  Toilette,  um  sich  nach  dein  TIMtre  Franyais 
zu  begeben.  Zum  Glück  hatte  er  einen  passablen  Gesellschaftsrock  und  eine 
nette  Cravatte,  ein  Geschenk  Maries.  Er  verlieh  das  Haus.  Die  schmutzigen 
Straßeil  machten  auf  den  Glücklichen  einen  festlichen  Eindruck,  der  wolken- 
schwangere, traurige  Novemberhimmel  fchien  zn  lachen,  und  die  Leute,  die 


^0  Fianvois  Coppse  in  Paris. 

er  unterwegs  traf,  kamen  ihm  vor,  als  wären  sie  die  verkörperte  Güte  und 
Freundlichkeit.  Jean  hatte  noch  mehrere  Stunden  Zeit  bis  zu  seinem  Be- 
such. Er  ging  nach  der  Rue  Monsieur-Ie-Prince,  um  einem  seiner  Schüler 
Unterricht  zu  geben.  In  seiner  Erregtheit  übersah  er  diesem  den  schrecklichen 
Barbarismus  „ltonianidu8"  im  lateinischen  Exercitium.  Die  Folge  davon 
war,  daß  der  arme  Schlucker  von  Gymnasiast  bis  an's  Ende  des  Schul- 
jahres für  diesen  entsetzlichen  Schnitzer  die  ärgsten  Sticheleien  von  Seiten 
seines  Ordinarius  zu  ertragen  hatte.  Darauf  wanderte  Jean  nach  der 
Garküche.  Und  während  er  nun  in  Gesellschaft  von  Droschkenkutschern 
speiste,  glaubte  er  mit  den  Göttern  des  Olymps  bei  Tische  zu  sitzen  und 
Nektar  und  Ambrosia  zu  genießen,  obwohl  man  in  Wirklichkeit  ihm  nur  einen 
in  ranzigem  Oel  gebackenen  Kalbskopf  und  einen  Schoppen  höchst  ver- 
dächtigen Weines  vorgesetzt  hatte.  Nach  dem  Mittagsessen  machte  er  sich 
festen  Schrittes  und  erhobenen  Hauptes  auf  den  Weg. 
Doch  kaum  war  er  vor  dem  berühmten  „Molitzre-Hause"  angelangt, 
als  seine  ganze  Begeisterung  schwand.  Es  überkam  ihn  auf  einmal  eine 
unbefchreibliche  Schüchternheit.  Auf  der  Wendeltreppe  schienen  ihn  die 
prachtvollen  Portraits  und  die  stolzen  Büsten  der  berühmten  Schauspieler 
der  Vergangenheit  anzublicken,  als  wollten  sie  sagen:  „Was  will  denn  dieser 
armselige  Gesell  bei  uns?"  Und  der  Portier,  dem  er  seinen  Namen  nannte, 
musterte  ihn  mit  einer  so  verächtlichen  Miene,  daß  er  sich  fragte,  ob  er  nicht 
geträumt  habe,  oder  ob  er  wirklich  nach  dieser  Stätte  des  Hochmuths  berufen 
worden  sei. 

Der  Dichter  fand  indessen  in  Gegenwart  des  General-Intendanten, 
der  ihn  auf's  Schmeichelhafteste  empfing,  seinen  Gleichmuth  wieder.  Sein 
Stück  würde  binnen  Kurzem,  in  zwei  oder  spätestens  drei  Monaten,  von 
dem  Lesecomit6  geprüft  und  gleich  darauf  angenommen  und  gespielt  werden. 
Herr  Cadue  hätte  den  kaiserlichen  Schauspielern  einen  außerordentlichen 
Dienst  geleistet,  indem  er  dieses  kleine  Meisterwerk  zu  ihrer  Kenntniß  ge- 
bracht habe.  Nun  begriff  der  junge  Mann  mit  Staunen,  daß  er  vom  Hofe 
protegirt  wurde.  Und  als  er  verwirrt  Dankesworte  stammelte,  da  ant- 
wortete ihm  der  Intendant: 
„Danken  Sie  Herrn  Eaduc.  Besuchen  Sie  ihn  nur. 
Er  ist  ein  Mann  von  feinem  litterarischen  Geschmack  und  wohnt  hier 
ganz  in  der  Nähe,  Nue  de  Nivoli  .  .  ." 
Jean  begab  sich  alsbald  dahin  und  wurde  in  ein  schönes,  hell- 
erleuchtetes Nibliothekszimmer  geführt,  dessen  beide  Fenster  nach  dem  Garten 
der  Tuilerien  hinausgingen.  Der  liebenswürdige  Greis  ließ  nicht  lange 
auf  sich  warten  und  begrüßte  ihn  mit  der  gewandten  Eleganz  eines  Hof- 
mannes: 

„Sie  sind  mir  zu  keinerlei  Danke  verpflichtet.  Im  Gegentheil,  ich 

bin  stolz  darauf,  dem  Publicum  mit  Ihrer  Dichtung  dieselbe  Freude  zu 

bereiten,  welche  ich  bei  der  Leetüre  dieser  reizenden  Verse  empfunden 


Riralinne».  ~~ 

habe  .  .  .  Uebrigens  habe  ich  das  Wölkchen  selbst  erst  von  anderer  Seite 
empfangen  und  zwar  aus  den  Händen  der  Schönheit.  Nelly  Robin  vom 
Vaudeville-Theater  hat  mir  Ihr  Manuscript  übergeben.  Sie  sagte,  daß 
sie  es  von  einem  Ihnen  bekannten  Schauspieler  bekommen  habe  .  .  ." 
Und  als  der  junge  Mensch  in  immer  größeres  Erstaunen  gerieth,  fügte 
Cadue  hinzu: 

„Wußten  Sie  es  denn  nicht?  ...  Ja,  ja,  das  Pariser  Leben,  von 
dem  man  viel  zu  viel  Schlechtes  spricht  und  iu  dem  trotz  alledem  ein 
Mensch  von  Verdienst  nicht  lange  unverborgen  bleibt,  bringt  mitunter 
wunderbare  Zufälle  mit  sich  .  .  .  Legen  Sie  also  Fräulein  Robin  Ihren 
Dank  zu  Füßen.  Sie  spielt  heut  Abend;  Sie  werde»  sie  in  ihrem 
Garderobenzimmer  finden  .  ..  Und  ich  bin  überzeugt,"  so  schloß  der  freund- 
liche Greis  mit  einem  Lächeln,  das  ein  ganz  klein  wenig  verschmitzt  aussah, 
„der  Dichter  wird  ihr  ebenso  gut  gefallen  wie  die  Dichtung." 
Nelly  Robin!  .  .  .  Jean  Delly  wiederholte  diesen  Namen  in  Einem 
fort,  indem  er  durch  die  Straßen  von  Paris  dahineilte.  Er  hatte  diesen 
Namen  bisweilen  in  der  Zeitung  gelesen,  und  mit  demselben  verband  sich 
ihm  die  Idee  der  Freude,  des  Reichthums  und  der  Ueppigkeit.  Er  hatte 
bei  den  Photographen  das  Bild  der  blendend  schönen  Schauspielerin  gesehen. 
Also  Nelly  Robin  verdankte  er  diesen  Dienst!  Erfühlte  sich  feltsam  be- 
wegt bei  dem  Gedanken,  daß  dieses  schöne  Wesen,  das,  man  mochte  ihr 
nachreden,  was  man  wollte,  doch  immerhin  eine  Künstlerin  war,  ihn  aus 
dem  Elend  und  ans  dem  Dunkel  emporziehen  würde. 
„Wenn  ich  morgen  Marie  mein  Abenteuer  erzählen  werde,  wird  sie 
diese  Nelly  Robin  anbeten,"  dachte  er. 
Doch  alsbald  stieg  ihm  ein  Zweifel  in  dieser  Hinsicht  auf. 
„Wer  weiß?  Marie  wird  es  vielleicht  verdrießen,  daß  dieses  Glück 
von  einem  anderen  Weibe  kommt .  .  .  Pah,  ich  werde  ihr  die  Sache  schon 
auseinandersetzen." 

Und  nun  ging  es  über  die  Ehmnps-Elys6es,  wohin  der  Zufall  seine 
Schritte  gelenkt  hatte.  Das  Vild  seiner  kleinen  Freundin  begann  ein 
wenig  in  seiner  Erinnerung  zu  verblassen  bei  dem  Gedanken  an  die  schöne 
Wohlthäterin.  Ach,  wie  viele  Stunden  mußten  noch  vergehen,  bevor  er  sie 
sehen  konnte.  Sie  würde  ihn  in  ihrer  Garderobe  empfangen.  Er  sollte  in 
die  Geheimnisse  des  Theaters  eindringen,  hinter  jene  mysteriösen  Coulissen 
gehen,  hinter  denen  seine  naive  Phantasie  eine  Märchenwelt  verborgen 
glaubte.  Er  fühlte  sich  so  unsicher,  daß  er  fürchtete,  er  würde  sich  linkisch 
und  ungeschickt  benehmen.  Wie  sollte  er  das  passende  Wort  und  den 
richtigen  Ton  finden,  ihr  zu  danken?  lind  dann  u  ürde  sie  lächeln  und  ihm 
die  Hand  reichen  .  .  . 

Der  empfindsame  Dichter  schrieb  die  Unruhe  seines  Herzens  dem 
Dankbarkeitsgefühle  zu,  das  ihn  beherrschte. 
Nord  unb  Ziid.  I.XXV.  ?23.  8 


~2  Franfois  «Loppee  in  pari?, 

An  jenem  Abende  war  Nelln  bei  schlechter  Laune,  als  sie  in's  Theater 

kam.  Erstens  hatte  sie  nämlich  mit  dem  vierundfünfzigjährigen  Herzog  von 

Eylau  eine  schrecklich  langweilige  Partie  V6zigue  von  vier  bis  um  sechs 

Uhr  spielen  müssen,  und  sodann  hatte  sie  der  Kammerherr  es  auch  entgelten 

lassen,  das;  der  neu  erschienene  Gotha'fche  Hofkalender  einen  genealogischen 

Irrthum  enthielt.  Wie  der  Stunnwind  war  Nelln  in  ihr  Ankleidezimmer 

geeilt  und  hatte  dabei  eine  Garderobenfrau  fast  über  den  Haufen  gerannt. 

Indessen  unfähig,  lange  böse  zu  sein,  hatte  sie  sich  im  Pudermantel  an  den 

Toilettentisch  gesetzt  und  begann  sich  zu  frisiren,  als  der  Theaterdiener  ihr 

melden  tan«,  daß  ein  gewisser  Herr  Jean  Delln  beim  Portier  sei  und  sie 

einen  Augenblick  zu  sprechen  wünsche. 

„Jean  Dellu?"  ...  Wer  ist  das,  Jean  Delln?  ...  Ah,  ja,  der 

juuge  Dichter,  der  Freund  Scn'nt-Firmins  ...  Na,  der  hat  sich  aber  'mal 

Zeit  genommen,  mir  seinen  Dank  zu  sagen....  Er  soll  hereinkommen." 

Sie  nahm  sich  vor,  trotz  alledem  liebenswürdig  zu  sein  und  dem  genialen 

jungen  Manne  einen  freundlichen  Empfang  zu  bereiten. 

Und  alo  er  nun  auf  der  Thürschwelle  erschien,  kreideweis!  in«  Gesicht 

vor  Aufregung,  da  erhob  sie  sich,  und,  ohne  den  Pudermantel,  der  über 

dem  kostbaren  Mieder  geöffnet  war,  zu  schließen,  ging  sie  auf  ihn  zu  und 

streckte  ihm  beide  Hände  entgegen. 

„Kommen  Sie  nur  näher,  damit  man  Sie  beglückwünscht,  mein  Herr 
.  ..  Ihr  kleines  Stück  ist  allerliebst,  und  ich  hoffe,  es  wird  bald  aufgeführt 
werden  .  .  .  Kommen  Sie  nur  weiter,  lassen  Sie  sich  doch  'mal  ansckcmen 
...  ich  bin  erfreut,  Ihre  Bekanntschaft  zu  machen." 
Sie  zog  ihn  in's  Zimmer  herein  und  hieß  ihn  neben  ihr  auf  einem 
schmalen  Divan  niedersitzen.  Und  während  nun  Jean,  in  Folge  des  herz- 
lichen Empfanges,  des  Parfüms  ihrer  Kleidung,  des  warmen  Druckes  ihrer 
Hände  und  überhaupt  der  Berührung  mit  dem  fchönen  Weibe  verwirrt 
uud  entzückt,  Worte  des  Dankes  stammelte,  betrachtete  sie  ihn  mit  Auf- 
merksamkeit. 

Nelly  zählte  bereits  dreißig  Jahre  und  hatte  eine  ziemlich  schwelgerische 
Vergangenheit  hinter  sich.  Dennoch  überkam  sie  plötzlich  ein  ganz  eigenartiges 
Gefühl,  wie  sie  es  nie  zuvor  gekannt  hatte.  Dieser  schöne  junge  Mann, 
dieser  talentvolle  Dichter,  der  mit  großen  seelenvollen  Augen  schüchtern  zu 
ihr  aufschaute,  wie  kam  es  nur,  daß  er  einen  so  seltsamen  Eindruck  auf 
sie  machte? 

War  das  etwa  Liebe,  was  sie  heut  zum  ersten  Mal  in  ihre«!  Leben 
empfand? 

Instinctiu  und  unwiderstehlich  fühlte  sie  sich  zu  ihm  hingezogen.  Sie 
war  wieder  das  schlichte  Mädchen  aus  den,  Volke  geworden  und  erinnerte 
sich  ihrer  heißblütigen  lugendgefährtinnen  von  den  Straßen  der  Vorstadt, 
zu  denen  der  brutale  Geliebte  nur  zu  sage»  braucht:  „Komm!"  und  welche 
diesem  dann  gesenkten  Hauptes  folgen. 


Rivalinnen.  ~3 

Was  sie  einander  sagten?  Banale  Phrasen.  Sie  machte  ihn,  irgend 
einige  Complimente,  wobei  sie  mehrmals  dieselben  Worte  gebrauchte.  Dann 
auch  befragte  sie  ihn,  wenn  auch  in  wohlwollender,  so  doch  in  ziemlich  un- 
geschickter Weise,  über  sein  bisheriges  Leben.  Er  antwortete  kam«.  Trotz 
seiner  Unerfahrenheit  Frauen  gegenüber,  fiel  ihm  doch  an  der  Schauspielerin 
eine  gewisse  Unruhe  auf,  deren  Ursache  er  sich  freilich  nicht  zu  deuten 
wußte.  Die  warme,  parfümgeschwängerte  Luft  im  Garderobenzimmer  nahm 
ihm  den  Kopf  ein,  und  da  er  Nichts  mehr  zu  sagen  hatte  und  durch  längeres 
Verbleiben  zu  stören  fürchtete,  stand  er  auf,  um  sich  zu  verabschieden. 
„Sie  werden  mich  bald  wieder  besuchen,  nicht  wahr?"  .  ..  sagte  Nelln 
leise,  fast  bittend. 

„Mit  Freuden,"  antwortete  er.  „Wann  darf  ich  .  .  .?" 

„Um  dieselbe  Zeit  in  meinem  Ankleidezimmer ...  bin  ich  stets 

allein." 

Er  verbeugte  sich;  sie  reichte  ibm  ihre  Hand.  Und  als  nun  J  ean  in 
die  lühle  Abendluft  hinaustrat,  da  schien  e-5  ihm,  als  ob  Nellys  Hand 
vorhin  in  der  seinigen  gezittert  habe. 

„Wie  schon  sie  ist!"  dachte  er,  während  er  seiner  entfernten  Wohnung 
zuschritt .  .  .  „Meiner  Treu!  ich  will  doch  lieber  Marie  sagen,  daß  Saint- 
Firmin  mein  Manuskript  direct  Caduc  übergeben  hat.  Wenn  Marie  er- 
führe, daß  diese  herrliche  Person  mich  vroiegirt,  so  würde  sie  am  Ende 
vielleicht  eifersüchtig  werden  und  sich  betrüben  .  .  .  Nesser,  die  Kleine  er- 
fährt Nichts." 
VI. 

Der  Dichter  brachte  seine  Lüge  vor,  und  Maries  Freude  war  groß, 
als  sie  hörte,  daß  die  „Sternennacht"  bald  aufgeführt  werden  würde.  Aber 
es  dauerte  nicht  lange,  da  verdrängten  Kummer  und  Sorgen  die  Festes- 
stimmung in  ihr.  Es  schien  ihr,  als  ob  mit  einen»  Male  der  Geliebte 
kühler  gegen  sie  geworden  wäre.  Vor  Kurzen»  noch,  wenn  sie  zu  ihn»  kam. 
so  stand  Jean  schon  ungeduldig  und  erwartete  sie  auf  der  Thürschwelle, 
noch  bevor  sie  die  letzte  Treppe  erstiegen  hatte.  Und  dann  das  glückselige 
Lächeln,  die  Umarmung,  der  Kuß,  womit  er  sie  empfing!  Doch  jetzt  war 
er  nicht  mehr  derselbe.  Immer  noch  sanft  und  gut  zu  ihr,  ja,  aber  weniger 
zärtlich.  Dabei  zerstreut.  Sie  suchte  ihn  zu  entschuldigen.  Ohne  Zweifel 
ging  ihm  gegenwärtig  Vieles  im  Kopfe  herum.  Pläne  und  Hoffnungen 
bezüglich  der  Gestaltung  seines  ferneren  Schicksals  beschäftigten  ihn.  Dennoch 
beunruhigte  es  sie,  daß  er  so  war,  sogar  in  ihren  Armen,  in»  Augenblick  der 
innigsten  Hingebung.  Aengstlich  fragte  sie  ihn: 
„Woran  denkst  Du  eigentlich?" 
Die  Antwort,  die  er  gab,  konnte  sie  beruhigen. 
„Nun,  an  mein  Stück!  Woran  denn  sonst  ...  In  vierzehn  Tagen 
ist  Leseprobe,  Du  weißt  es  ja." 
8" 


Fran^ois  toppse  in  Paris 
Er  sagte  die  Unwahrheit,  und  während  Marie  sich  dicht  an  ihn 
schmiegte  und  sein  Gesicht  mit  unzähligen  Küssen  bedeckte,  dachte  er  cm 
Nelly,  an  jene  üppige  Blume,  deren  Duft  er  eine  Weile  lang  geathmet 
hatte  und  deren  sinneuerwirrendes  Parfüm  ihn  überall  hin  verfolgte. 
Warum  war  er  seit  zehn  Tagen  immer  noch  nicht  wieder  im  Vaude- 
ville-Theater  gewesen?  Nun  einfach:  Marien»  wegen.  Es  war  doch  nicht 
hübsch  von  ihm,  ihr  gegenüber  ein  Geheimniß  zu  haben.  Er  tadelte  sich 
selbst  wegen  seiner  Treulosigkeit.  Sie  liebte  ihn  doch  so  sehr!  Und  er 
liebte  sie  doch  auch!  Was  auch  kommen  würde,  sie  sollte  immer  seine  Ge- 
fährtin, seine  Freundin  bleiben,  immer  im  Innersten  seines  Herzens  die  erste 
Stelle  einnehmen.  Und  nun  lehnte  er  liebestrunken  sein  Haupt  an  ihre 
Schulter  und  betrachtete  dieses  naive  Kindergesicht,  das  lange,  aufgelöste  und 
in  goldigen  Strähnen  über  ihren  Nucken  hinabfallende  röthliche  Haar,  das 
weiche,  rundliche  Kinn  und  die  dunkelbraunen,  großen  Augen,  die  von  Zeit 
zu  Zeit  ihm  vertrauensvoll  entgegenglänzten. 
„Nein!  es  wäre  unrecht  von  mir!"  sagte  er  sich.  „Ich  werde  diese 
Nelly  Nobin  nicht  mehr  besuchen." 

Aber  er  sollte  ihr  bald  wieder  begegnen,  ohne  daß  er  es  beabsichtigte. 
Es  geschah  dies  auf  dem  Kirchhofe  Mre-Lnchaise  an  einem  offenen  Grabe, 
in  das  man  soeben  den  Sarg  des  im  Hospitale  verstorbenen  Saint-Firmin 
hinabgelassen  hatte.  Schmerzlich  bewegt  durch  den  Verlust  des  ihm  auf- 
richtig und  treu  ergebenen  Freundes,  hörte  Jean  Delly,  dessen  Stück  am 
Tage  zuvor  mit  großem  Beifall  in  der  Comödie  Franyaise  aufgenommen 
worden  war,  die  Worte  des  De  prufunäiF  an.  Ein  feiner,  kalter  Regen 
fiel  vom  Himmel  hernieder,  und  nur  eine  kleine  Anzahl  College«  des  alten 
Regisseurs  hatte  diesem  bis  nach  dem  Kirchhof  das  Geleit  gegeben.  Nur 
drei  oder  vier  junge  Schauspieler  vom  Odeon  und  etwa  ein  Dntzend  alter 
Minien  mit  glattrasirten,  welken  Gesichtern,  die  einstens  zusammen  mit 
Saint-Firmin  gespielt  hatten,  waren  anwesend. 

Als  man  das  Weihwasser  sprengte,  erschien  plötzlich,  in  einen  prächtigen 
Pelz  gehüllt  und  einen  kostbaren  Kranz  am  Arme  tragend,  ein  Weib.  Jean 
erkannte  alsbald  Nelly  Nobin.  Das  gute  Mädchen  kam,  dem  Zeugen  ihrer 
traurigen  Vergangenheit  den  letzten  Liebesdienst  zu  erweisen. 
Nasch  näherte  sie  sich  dem  Grabe,  senkte  das  Hanpt,  schlug  ein  Kreuz, 
murmelte  leise  ein  kurzes  Gebet  und  übergab  dem  Todtengräber  den  Kranz. 
Nun  bemerkte  sie  Jean,  der  sie  begrüßte. 

Unter  dem  schwarzen  Schleier  hervor  warf  sie  ihm  einen  zärtlichen  und 

zugleich  betrübten  Blick  zu.  Seit  vierzehn  Tagen  hatte  sie  immerwährend 

an  den  jungen  Dichter  deuten  müssen.  Jeden  Abend  hatte  sie  ihn  in  ihrem 

Ankleidezimmer  erwartet,  aber  vergebens.  Wie  ein  Vorwurf  lag's  in  ihren 

Augen,  und  er  deutete  sich  das  zu  seinen  Gunsten, 

Sie  standen  auf  dem  schmutzigen  Kirchhofe  in  der  Nähe  der  Leichenhalle, 

und  über  ihnen  breitete  sich,  düster  und  wolkenschwer,  der  Decemberhimmel  aus. 


Rivalinnen.  ~  I.  5 

Die  Liebe  ist  stärker  als  der  Tod. 

Die  Schauspielerin  wandte  sich  an  Jean. 

„Deranne  Saint-Firmin!...  Wir  hatten  ihn  nlleVeide  gern,  nicht  wahr?" 
In  Wahrheit  aber  dachten  sie  kaum  noch  an  ihn,  den  armen  Saint- 
Firmin.  Nachsichtig  lächelnd,  sah  sein  Schatten  gewiß  schon  auf  sie  herab 
aus  dem  Paradiese  der  Schauspieler,  wo  diese  alle  immer  eine  dankbare 
Hauptrolle  zu  spielen  haben  und  wo  sie  ihren  Namen  immer  fett  gedruckt 
auf  dem  Anschlagzettel  erblicken. 

Jean  und  Nelly  entfernten  sich  von  den:  Grabe  und  schritten  die  mit 
traurigen,  entlaubten  Bäumen  bestandene  Allee  entlang. 
„Warum  habeu  Sie  mich  denn  nicht  besucht?"  fragte  sie  leise. 
Er  antwortete  in  demselben  Tone: 
„Ich  wagte  es  nicht  .  .  ." 

Nun  gingen  sie  schweigend  neben  einander  her.  Am  Ausgange  des 
Kirchhofes  wartete  das  Eoup6  Nelly  Robins. 
„Sie  fahren  doch  mit  mir  nach  Paris  zurück?  Nicht  wahr,  Herr  Dellv?" 
.Kaum  saß  Jean  neben  ihr  in  dem  engen  Wagen,  dicht  an  sie  gedrängt 
und  von  ihrem  Parfüm  und  von  dem  weichen  Pelze  sanft  umschmeichelt,  da 
verlor  er  deu  Kopf.  Nellv,  die  gar  wohl  das  Leuchten  feiner  Augen  bemerkte, 
schmiegte  sich  noch  dichter  an  ihn  und  lehnte  den  Kopf  auf  feine  Schulter. 
„Ich  lieb'  Dich  ja,  weißt  Du's  deuu  nicht?"  hauchte  sie. 
Sie  hatten  Küsse  ohne  Zahl  gewechselt,  als  das  Coupü  vor  der 
Wohnung  der  Schauspielerin  hielt.  Nelly  sprang  zuerst  aus  dem  Wagen, 
Jean  hinterdrein.  Er  wollte  sich  verabschieden,  doch  sie  zog  ihn  mit  sich 
in's  Haus  hinein. 

Im  Vorzimmer  kam  ihnen  die  Kammerfran  entgegen. 
„Der  Hen-  Herzog  ist  seit  zwanzig  Minuten  da,"  sagte  sie.  „Er-  er- 
wartet Madame  in:  Boudoir." 

Der  Herzog!  Sie  hatte  ganz  vergessen!  Das  war  die  Zeit,  um  welche 
er  mit  ihr  seine  endlose  Partie  B6zigue  zu  spielen  pflegte. 
Mit  einer  Handbewegung  entließ  sie  die  Kammerfrau;  und,  indem  sie 
Uli,  den  Hals  Jeans,  dessen  Gesicht  plötzlich  einen  stolzen,  finsteren  Ausdruck 
angenommen  hatte,  ihre  Arme  schlang,  bat  sie: 
„Ach,  sei  nicht  bös!  Verzeih  mir.  Morgen,  wenn  Du  willst,  wirst 
Du  der  Herr  hier  im  Hause  sein  .  .  .  Und  Dil  mußt  mir  auch  ver- 
sprechen, heut  Abend  in's  Vaudeuille  zu  kommen  .  .  ." 
Also  ihr~  Geliebter!  Einer  von  Vielen!  ...  0  nein;  er  besaß 
Ehrgefühl  und  Eigenliebe,  der  Dichter.  Er  machte  sich  von  ihr  los,  grüßte 
und  verließ  ohne  Antwort  das  Zimmer. 

Draußen  auf  der  Straße  eilte  er  erregt  mit  großen  Schritten  dahin, 
„Nein!"  dachte  er,  „ich  werde  heut  Abend  bestimmt  nicht  in's  Vaudeville 
gehen!  .  .  .  Schön  ist  sie  wie  der  Tag,  und  wie  Feuer  brennen  ihre 
Küsse  auf  den  Lippen.  Zlber  ich  bin  nicht  eiller  von  denen,  die  mit 


~6  Fia»f«is  Coppee  in  Paris. 

Anderen  die  Liebe  theilen  und  die,  wenn  einer  von  diesen  Anderen  plötzlich 
erscheint,  sich  im  Kleiderschrank  verstecken  ...  Der  Herr!  hat  sie  gesagt ... 
morgen,  wem  ich  will!  Der  Herr  in  all'  dem  Lurus,  den  sie  einem 
Anderen  .  .  .  mehreren  Anderen  verdankt!  Und  ich  habe  nicht  Geld  genug 
in  der  Tasche,  um  ihr  einen  Rosenstrauß  zu  kaufen!  .  .  .  Wofür  hält  sie 
mich  denn  eigentlich?  .  .  .  Und  dennoch  ...  ich  bin  thöricht  und  un- 
dankbar ...  Aber  Marie?  .  .  ." 

Er  suchte  sich  durch  den  Gedanken  an  Marie  zu  erheben.  Hatte  er 

wirklich  ernstlich  daran  gedacht,  sie  zu  verlassen?  Niemals!  Ein  bischen 

Untreue,  das  war  das  ganze  Verbrechen,  das  er  hatte  begehen  wollen.  Das 

war  am  Ende  verzeihlich,  und  er  hatte  darum  noch  lange  nicht  aufgehört,  seine 

kleine  Freundin  zu  lieben  .  .  .  Jedoch?  .  .  .  Jean  wunderte  sich  selbst 

darüber,  mit  welcher  Gemüthsruhe  er  soeben  es  fertig  gebracht  hatte,  sie, 

wenn  auch  nur  in  Gedanken,  zu  betrügen.  Unwillkürlich  verglich  er  die 

beiden  Frauen  mit  einander,  und  alsbald  bemächtigte  sich  ein  plötzlicher 

Rausch  seiner  Sinne.  Noch  fühlte  er  auf  feinen  Lippen  die  glühenden 

Küsse  der  heißblütigen  Sünderin!  Ach  was!  er  war  auch  gar  zu 

fcrupulös  .  .  .  Das  schöne  Geschöpf  hatte  für  ihn  eben  einen  kleinen 

Faible.  Warum  sollte  er  sich  das  nicht  gefallen  lassen?  Freilich,  vor 

allen  Dingen  Offenheit.  Sie  sollte  es  erfahren,  daß  er  nicht  frei  war; 

er  würde  das  ihr  selbst  sagen,  heute  Abend  noch. 

Um  acht  Uhr  war  er  im  Ankleideraum  bei  Nellu.  Sie  bestürmte  ihn 

mit  Liebkosungen.  Sie  kniete  vor  ihm  nieder,  küßte  ihm  die  Hände. 

„Du  brauchst  nur  ein  Wort  zu  sagen,"  wiederholte  sie  ein  Mal  über 

das  andere,  „und  ich  weise  dein  Herzog  die  Thür,  und  ich  gehöre  Dir, 

Dir  ganz  allein." 

Der  Dichter  faßte  sich  ein  Herz  und  beichtete. 
Vebend  schnellte  sie  empor: 
„Wie,  Du  hast  eine  Geliebte?" 

Jean  suchte  einzulenken,  zu  erklären.  Ja,  ein  Mädchen,  das  gut  und 
lieb  in  seinem  Unglück  und  in  seiner  Einsamkeit  zu  ihm  gewesen  wäre. 
Aus  Dankbarkeit  hatte  er  sie  anfangs  wieder  geliebt,  jetzt  fühlte  er  nur 
noch  Freundschaft  für  sie.  —  Und  er  sprach  die  Wahrheit.  — 
Nelln  konnte  sich  nicht  darüber  wundern.  War  es  ihr  doch  dereinst 
ebenso  gegangen! 

„Ich  werde  dein  Herzog  mein  Haus  verbieten!"  rief  die  Schau« 
Spielerin  .  .  .  „Brich  Du  mit  dem  Mädchen," 
Eine  so  grausame  Logik  erschreckte  J  ean  Delly  förmlich.  In  seiner 
Harmlosigkeit  machte  er  den  thörichten  und  unnützen  Versuch,  ein  Weib 
seiner  Rivalin  gegenüber  zu  vertheidigen.  Nie  würde  er  es  über's  Herz 
bringen,  Marie  so  schnöde  zu  verlassen.  Sie  würde  ja  ganz  verzweifelt 
sein.  Er  muhte  Zeit  haben,  sie  auf  die  Trennung  vorzubereiten,  sonst 
wäre  sie  zu  Allem  fähig.  Sie  liebte  ihn  ja  so  grenzenlos. 


Rivalinnen-  ~7 

In  den  Augen  einer  Kokette  würde  Jean  sich  durch  eine  derartige 
Ungeschicklichkeit  unmöglich  gemacht  haben.  Da  aber  Nelly  wirklich  in  ihn 
verliebt  war  und  ein  gutes  Herz  besaß,  so  senkte  sie  den  Kopf  und 
flüsterte: 

„'s  ist  wahr.  Die  Kleine  hat  Dich  gewiß  sehr  lieb  .  .  ." 

Nun  machte  sich  der  Dichter  die  eigne  Naivetät  zum  Vorwurf.  Er 

umarmte  Nelly,  sprach  zu  ihr  zärtlich,  leidenschaftlich: 

„Was  schert  uns  Dein  Herzog?  Was  schert  uns  Marie?  Können 

wir  uns  nicht  trotzdem  gut  sein?" 

Aber  sie  wandte  den  Kopf  bei  Seite. 

„Nelly,  was  ist  Dir?"  rief  er  besorgt. 

Und  wie  er  nun  einen  Kuß  auf  ihren  Mund  drücken  wollte,  sah  er, 
daß  das  fchüne  Mädchen  die  Augen  voller  Thränen  hatte. 
Er  glaubte  sie  verletzt  zu  haben  und  bat  sie  reumüthig  um  Verzeihung. 
Da  ergriff  sie  von  Neuem  seine  Hände,  bedeckte  sie  mit  Küssen,  netzte  sie 
mit  der  wannen  Fluth  ihrer  Thränen  und  fagte  ihm,  wie  innig  lieb  er 
ihr  fei.  Nein,  böse  war  sie  ihm  nicht.  Im  Gegentheil,  sie  hatte  ihn  um 
Entschuldigung  zu  bitten  dafür,  daß  sie  ihn  zu  gewinnen  gehofft.  Sie 
hatte,  wie  ihresgleichen  alle  es  wenigstens  einmal  in  ihrem  Leben  thun, 
sich  der  trügerischen  Hoffnung  hingegeben,  ihre  Schuld  durch  Liebe  zu 
fühnen.  Das  war  eine  Thorheit,  sie  sah  es  ein.  Ueberdies  sei  er  ja 
auch  nicht  mehr  frei. 

„Entweder  Du  täuschst  mich  absichtlich,  oder  Du  belügst  Dich  selbst," 
rief  sie  schluchzend,  „wenn  Du  behauptest,  daß  Du  Deine  Marie  nicht 
mehr  liebst.  Sie  ist  Deine  erste  und  einzige  Freundin  gewesen,  sie  hat 
Dir  Trost  gebracht  in  den  Tagen  des  Unglücks.  Ich  beneide  sie,  aber  ich 
kann  sie  nickt  hassen.  .  .  .  Hören  Sie,  theurer  Freund,"  fuhr  sie  nach 
einer  Pause  scheinbar  ruhig  fort,  „glauben  Sie,  es  ist  das  Beste,  wir 
gehen  von  einander  jetzt  und  sehen  uns  nie  wieder,  —  das  wird  Ihnen 
und  mir  gut  sein.  Versuchen  wir,  einander  zu  vergessen." 
Außer  sich  vor  Schmerz,  stürzte  der  Dichter  Nelly  zu  Füßen,  bat  nnd 
flehte,  fchwur,  daß  er  sie  aufrichtig  liebte,  und  glaubte  an.  seine  Schwüre. 
Doch  sie  blieb  standhaft  und  besaß  sogar  die  Kraft,  ihm  „nur  noch  einen 
einzigen  Kuh"  zu  versagen.  Zu  allen  seinen  Vetheuerungen  schüttelte  sie 
blos  den  Kopf.  Und  als  er  endlich,  mehr  gezwungen,  als  freiwillig,  sie 
verließ,  da  konnte  sie  hoffen  —  oder  auch  fürchten  —  daß  er  nicht  mehr 
zurückkehren  würde. 
VII. 

Er  kam  schon  am  nächsten  Tage  wieder,  er  kam  alle  Abende  wieder, 
und  sie  empfing  ihn,  war  gut  und  zärtlich  zu  ihm,  ohne  ihm  indes;  nach- 
zugeben, noch  ihm  Hoffnung  zu  lassen,  daß  sie  ihm  jemals  nachgeben 


~8  Fianfois  Loppee  in  Paris. 

könnte.  Und,  wie  es  so  oft  bei  Liebesabenteuern  vorkommt:  sie  waren  Alle 
unglücklich. 

Alle;  zunächst  Nelly.  Sie  batte  jetzt  volle  Gewißheit,  daß  der  Dichter 
rasend  in  sie  verliebt  und  völlig  bereit  war,  seine  Marie  zu  verlassen.  Auch 
sie  dachte  jetzt  daran,  ihre  Kette  zu  brechen,  und  man  würde  alsdann,  so 
gut  es  anging,  als  ein  rechtes  Liebespaar,  von  Liebe  und  Luft  leben.  Aber 
sie  besaß  einen  Fonds  von  Edelmuth.  Es  widerstrebte  ihr,  daß  ihr  Glück 
das  Unglück  einer  Anderen  herbeiführen,  das  Ergebnis!  einer  grausamen 
Handlungsweise  sein  sollte.  Aus  alle  Fälle  wollte  sie  dies  nicht  veranlassen. 
Niemals  hätte  sie  zn  Jean  gesagt:  „Brich  mit  Deiner  Marie,"  und 
wiederum,  wäre  er  gekommen,  ihr  zu  sagen:  „Ich  habe  mit  ihr  gebrochen," 
sie  wäre  ihm  an  den  Hals  geflogen.  Indessen,  er  sagte  es  nicht,  und  sie 
fragte  sich  dann  mit  gar  bittereni  Zweifel,  ob  er  denn  für  sie  nur  sinnliche 
Begier,  nur  eine  vorübergehende  "Neigung  hege. 
Marie  war  nicht  minder  zu  beklagen.  Jeden  Tag  wurde  Jean  Dell« 
gleichgiltiger,  verdrießlicher.  Beklagte  sie  sich  darüber,  so  entschuldigte  er 
den  Wechsel  seiner  Laune  mit  seiner  Zelstreutheit:  denn  er  ging  jetzt  alle 
Nachmittage  in's  TIMtre  Fran^ais,  der  Einstudirung  feines  Stückes  beizu- 
wohnen. Aber  das  einfache  Mädchen,  gewarnt  durch  den  fehr  sicheren 
Instinct  des  vernachlässigten  Weibes,  täuschte  sich  hierin  nicht,  und  jeden 
Augenblick  durch  ein  rauhes  Wort,  durch  eine  ungeduldige  Geste  ihres  Ge- 
liebten erschreckt,  lebte  die  arme  kleine  in  beständigem  Aufruhr  des  Herzens 
und  ahnte  eine  Katastrophe. 

Jean  litt  ebenfalls.  War  er  bei  Nelly  Nobin,  fo  lebte  er,  unaufhör- 
lich allen  Tantalusqualen  preisgegeben,  in  einer  Aufregung  der  Sinne,  und 
fobald  er  zu  Marie  zurückkehrte,  empfand  er  ein  schreckliches  Gefühl  von 
Müdigkeit  und  Mitleid.  Denn,  ohne  sich  bis  jetzt  dazu  entschließen  zu 
können,  dachte  er  doch  bereits  daran,  sie  zu  verlassen,  und  dabei  empfand 
er  im  Voraus  Abfcheu  vor  feiner  Feigheit  und  feiner  Undankbarkeit. 
Sie  waren  eben  Alle  unglücklich.  Ja!  Alle,  bis  zu  dem  unglückseligen 
Herzog  von  Eylau,  der  jetzt  mehr  denn  je  die  Gabe  besah,  die  nervöse 
Nelln  Nobin  im  höchsten  Grade  zu  reizen,  und  der  die  barschen  Abweisungen 
seiuer  Maitresse  ebenso  wenig  wie  die  zahllosen  Fehler  begriff,  die  er  feit 
einiger  Zeit  beging,  wenn  er  Bözigue  spielte. 
Er  war  das  erste  Opfer  der  Situation,  der  arme  Herzog:  Wegen  eines 
Nichts,  des  Ausspielens  einer  Karte  ~  ruudweg  verabschiedet.  Er  war 
gleichwohl  nicht  anspruchsvoll  gewesen,  wenn  er  nur  seine  obligate  Partie 
von  4  bis  6  hatte.  Ei'  entfenite  sich  discret,  und  mit  ihm  verschwanden 
die  Päckchen  Tausendfrankscheine.  Bah!  Neil»  kümmerte  sich  viel  um  Geld! 
Sie  liebte. 

Ohne  irgendwie  ihre  Ausgaben,  ihr  Hauswesen  zn  verringern,  verkaufte 
sie  einen  Schmuck  nach  clem  andern  und  lebte  in  den  Tag  Innen,  mit  der 
Sorglosigkeit  der  Maitressen. 


Rivalinnen.  ~9 

Endlich  wurde  die  „Sternennacht"  im  TtMtre  Fran?ais  gespielt. 
Man  erinnert  sich  noch  des  Triumphes!  Das  Premiörenvublicum,  alle 
die  alten,  abgelebten  Nouös  weinten  dabei  vor  Rührung.  Das  erfrischte 
sie,  das  that  ihnen  wohl. 

Den  Tag  nach  der  Aufführung  machte  der  Name  Jean  Dellu,  hoch 
gepriese»,  die  Runde  durch  die  Zeitungen,  d.  h.  durch  Frankreich,  durch 
Europa,  Der  Dichter,  dessen  Gesicht  noch  ganz  pudrig  war  vom  Vruder- 
kuß  seiner  Interpreten,  wurde  hinter  einer  Coulisse  von  den:  dicken  Verleger 
Beer  erwischt,  der  ihm  schnurstracks  das  Mauuscript  seines  Stückes  abkaufte 
und  ihm  5000  Franken  in  die  Hand  drückte.  Nei  den  ersten  Aufführungen 
saß  Nelln  in  der  Loge  des  Herrn  Caduc,  weinte  Frendenthränen  uud 
applaudirte  so  stürmisch,  daß  sie  ihren  Fächer  zerbrach,  während  ganz  im 
Hintergründe  der  einzigen  Loge,  die  man  dem  Dichter  bewilligt  hatte, 
Marie  in  den  Annen  der  Freundin  aus  dein  Atelier,  die  sie  begleitet  hatte, 
vor  Aufregung  verging. 

Mißtrauen  wir  dem  Glück.  Es  macht  die  Guten  besser,  aber  für  den 
Egoisten  ist  es  gefährlich,  und  der  Mann,  der  Erfolg  gehabt,  glaubt,  ihm 
fei  Alles  erlaubt. 

Nei  seinem  späten  Erwachen  am  nächsten  Morgen  in  der  Mansarde  des 
Quai  St.  Michel  erhielt  Jean  Dellv  von  Nellv  Nobin  einen  überschwäng- 
lichen  Brief  und  ein  Packet  Journale,  die  wann  seinen  Ruhm  verkündeten. 
Er  war  berühmt,  er  war  geliebt.  Auf  einmal.  Nein!  Er  besaß  ja  Nelly 
nicht.  Ein  einziges  Hindernis;  —  und  das  war  Marie.  Da  fiel  sein 
Blick  auf  die  Banknoten,  die  ihm  Beer  am  Abend  gegeben,  und  die  er  bei 
der  Heimkehr  auf  den  Tifch  geworfen  hatte.  Geld!  Losten  sich  nicht  mit 
Geld  am  häufigsten  die  I  ugendliebschaften,  die  Liebeleien  des  Quartier 
Latin?  5000  Franken,  das  war  für  eiue  Handwerkerin  schon  Etwas,  womit 
sie  sich  etabliren  konnte,  eine  Art  Aussteuer,  der  Anfang  eines  Glücks 
vielleicht.  Und  für  ihn  konnten  sie  das  Lösegeld,  seine  Freiheit  bedeuten. 
Und  schließlich  hatte  er  ja  keine  J  ungfrau  verführt.  Marie  hatte  ihm  nur, 
und  zwar  aus  eigenstem  freien  Antriebe,  zwei  Jahre  ibres  Lebens  geschenkt. 
5000  Franken!  Das  hieß  bezahlt!  ... 

Und  Jean  Delly  war  kein  Bösewicht!  Noch  am  Abend,  im  Hochgefühl 
des  Triumphes,  hatte  er  feine  kleine  Freundin,  die  ihn  ganz  schüchtern  auf 
der  Straße,  am  Eingang  für  die  Schauspieler,  erwartete,  freudig  nmarmt 
.  .  .  Aber  ein  ungestillter,  rasender  Wnnsch  verblendete  ihn. 
O  Gefühllosigkeit,  o  Härte  des  Menschenherzens!  O  über  die  Niedrig- 
keiten, die  in  einer  Minute  erdacht,  beschlossen,  ausgeführt  sind! 
Marie  würde  ihn  ohne  Zweifel  so  bald  als  möglich  besuchen,  vielleicht 
diesen  Morgen  schon. 

Er  kleidete  sich  hastig  an  uud  schrieb  in  einem  Zuge  den  Abschieds- 
brief. Er  beschwor  Marie,  ihm  zu  verzeihen.  Aber  er  liebte  sie  nun  ein- 
mal nicht  mehr.  Sie  könnten  sich  hinfort  gegenseitig  doch  nur  noch  zur 


~20  Fran?o>5  Loppee  in  Oaiis. 

Qual  leben.  Und,  das  Geld  anzubieten,  fand  er,  der  Mann  der  Feder, 
eine  geistvolle,  fast  zärtliche  Wendung. 

Er  legte  die  Hülle,  die  den  Brief  und  die  Banknoten  enthielt,  recht 
augenfällig  auf  den  Tisch,  fagte  im  Fortgehen  dem  Portier,  daß,  wem 
Fräulein  Marie  käme,  oben  Etwas  für  sie  läge,  stieg  in  eine  Droschke  und 
ließ  sich  zu  Nelln  fahren. 

Seit  einigen  Tagen  spielte  sie  nicht  mehr  im  Vaudeoille,  wo  ihr 

Engagement  soeben  zu  Ende  gegangen  war.  Einige  Monate  zuvor  hatte 

sie,  angesichts  sehr  vorteilhafter  Anerbietungen  nach  Rußland,  abgelehnt,  es 

zu  erneuern.  Dann  war  Jean  erschienen,  sie  hatte  sich  nicht  mehr  von  ihm 

entfernen  wollen,  und  noch  am  Abend  zuvor  hatte  sie  den  Theateragenten 

abgeschüttelt,  der  in  sie  drang  und  sich  nicht  erklären  konnte,  warum  ein 

hübsches  Weib  eine  Reise  in  das  Land  der  Rubel  abschlug. 

„Es  ist  geschehen.  Ich  habe  mit  ihr  gebrochen!"  rief  Jean  in  den 

Annen  der  Schauspielerin. 

Und  er  erzählte  ihr,  mit  häßlicher,  egoistischer  Freude,  die  schlechte 
Handlung,  die  er  soeben  begangen.  Nelln,  eine  Maitresse  trotz  alledem, 
bewunderte  ihn  und  war  stolz  und  gerührt,  daß  er,  ohne  zu  zögern,  um 
ganz  ihr  anzugehören,  das  erste  Gold  geopfert  hatte,  das  ihm  das  Glück 
zuwarf. 

„Und  ich,  ich  bin  auch  frei!"  sagte  sie  zu  ihm,  auf  seine  Schulter 
gelehnt,  „ich  bin  Dein  und  gehöre  Dir  für  immer!  ...  Dieser  Luxus,  der 
mich  umgiebt,  erregt  Dir  Zlbschen  ...  Du  bist  stolz.  Du  hast  Recht  .  .  . 
Nun,  beruhige  Dich  nur ...  Ich  habe  bis  jetzt,  ohne  zu  rechnen,  gelebt, 
und  seit  vierzehn  Tagen  habe  ich  den  Herzog  fortgeschickt,  der  meine 
Schulden  bezahlen  wollte  .  .  .  Wohlan,  Möbel,  Toiletten,  Schmuck,  Alles 
lasse  ich  meinen  Gläubigem  ...  Du  wirst  eine  Kameradin  haben,  die  eben 
so  arm  ist  wie  Dn  .  .  Sprechen  Sie,  mein  Herr,  werden  Sie  dann  auch 
noch  Ihre  Freundin  im  Grisettenkleide  lieb  haben?  Nah!  Es  ist  gar  nicht 
so  lange  her,  daß  ich  höchst  eigenhändig  meine  Wäsche  ausbesserte  und 
meiue  Suppe  kochte  ..  .  Ich  werde  das  Theater  verlassen,  willst  Du?  .  .. 
Du  würdest  doch  zu  eifersüchtig  sein,  nicht  wahr?  wenn  ich  dort  bliebe, 
und  ich,  ich  könnte  nicht  genug  bei  Dir  sein  .  .  .  Nein,  ich  will  Deine 
Wirthschafterin  werden,  und  Du  sollst  sehen,  wie  ich  Dich  pflegen  werde, 
während  Dil  allerhand  schöne  Sachen  schreiben  wirst .  .  .  Zunächst  wirst 
Dn  jetzt  Deinen  Lebensunterhalt  verdienen;  Du  wirst  nicht  reich  sein,  bei 
Gott!  .  .  .  Dichter  haben  kein  Glück.  Aber  ich  werde  so  vernünftig  sein 
...  Ja!  wir  werden  sogar  noch  große  Sprünge  machen  können.  Und  Du 
wirst  mir  bald  mein  erstes  Schinuckstück  kaufen  .  .  .  Ohrringe  in  Doublt, 
zehn  Franken  das  Paar,  wie  jene  beim  J  uwelier  in  der  Nue  Mönilmontant, 
die  so  sehr  meinen  Neid  erregten,  da  ich  mich  noch  als  Kind  auf  der 
Straße  umhertrieb  ...  0  meiu  Jean,  wie  liebe  ich  Dich!"  .  .  . 


Rivalinnen.  1.21. 

Und  wie  er  sie  feurig  an  sich  preßte,  fügte  sie,  sich  losmachend,  hinzu: 
„Nein,  noch  nicht,  noch  nicht  und  nicht  hier .  .  .  Hier  erinnert  mich 
Alles  an  meine  Vergangenheit,  widert  mich  Alles  an  ...  0  vergieb  mir! 
Ich  war  ja  Dir  noch  nicht  begegnet,  ich  wußte  ja  nicht,  was  es  heißt,  zu 
liebe»  .  .  .  Nein,  ich  will  noch  heut  Abend  zu  Dir  kommen,  in  die  ümi- 
liche  Wohnung,  wo  Dil  so  unglücklich  gewefen  bist.  Ich  werde  dorthin 
kommen,  um  nicht  mehr  fortzugehen,  und  Nichts  will  ich  mitbringen  als 
die  Kleider,  die  ich  am  Leibe  trage  .  .  .  Sprich,  bist  Du  einverstanden? 
.  .  .  Jetzt  gehe  an  Deine  Geschäfte  ...  Du  mußt  Dich  im  Theater 
zeigen.  Du  mußt  allen  Deinen  Bekannten  danken.  Deinen  Interpreten, 
jenen  Journalisten,  die  Dich  soeben  als  großen  Dichter  ausposaunt  haben 
und  die  man  subtil  behandeln  muß  ...  Ich  kenne  das  .  .  .  Währenddem 
werde  ich  hier  Alles  regeln,  und  das  wird  nicht  lange  dauern,  ich  versichere 
Dich.  Ich  werde  nicht  einmal  die  wenigen  Lonis  in  meinem  Portemonnaie 
behalten  ...  Es  giebt  ja  genug  Sammelbüchsen  für  die  Armen  .  .  . 
Erwarte  mich  heut  Abend,  um  fechs  Uhr,  und  laß  uns  unfer  gemeinsames 
Leben  damit  beginnen,  daß  wir  in  Deiner  Kneipe  speisen,  mit  jenen 
Kutschen,  zusammen,  weißt  Du?  dort,  wo  Du  den  armen  St.  Firmin 
kennen  gelernt  hast ...  Es  liegt  mir  daran,  daß  auch  ich  ein  wenig 
Dein  großes  Elend  getheilt  habe!"  .  .  . 

Jean  ging,  berauscht  von  Stolz,  eine  solche  Leidenschaft  eingeflößt, 
solche  Opfer  veranlaßt  zu  haben. 

Allein  und  von  dem  Wunsche  beseelt,  sobald  als  möglich  die  Spuren 
ihres  galanten  Lebens  zu  vernichten,  nahm  Nelly  zuerst  aus  einem  Schub- 
fache einige  Packete  Briefe  und  warf  sie  in's  Feuer. 
Sie  sah  sie  brennen  und  wollte  gerade  ihrer  Kammerfrau  klingeln,  um 
ihr  den  soeben  gefaßten  Entschluß  anzukündigen,  als  diese  erschien  nnd  sagte: 
„Kann  Madame  das  Mädchen  Ihrer  Modistin  empfangen?  ...  Sie 
ist  unten  mit  dem  bewußten  Hut,  den  Madame  vor  acht  Tagen  bestellt  hat." 
„Laß  sie  heraufkommen,"  erwiderte  Nelly  Nobin  mechanisch. 
Und  während  die  Kammerfrau  gehorchte,  dachte  die  Schauspielerin 
und  konnte  nicht  umhin  zu  lächeln: 

„Ein  Hut  für  fünf  Louis!  Ich  werde  ohne  Zweifel  auf  lange  hinaus 
keinen  solchen  mehr  tragen,  und  dieser  soll  nach  der  Erecution  durch  die 
Gerichtsdiener  bezahlt  werden  wie  das  Uebrige.  .  .  Bah!  ich  will  ihn  heut 
Abend  auffetzen,  wenn  ich  mich  bei  Jean  einlogiren  werde." 
Denn  welche  Macht  der  Erde  vermöchte  eine  Frau,  selbst  wenn  sie 
närrisch  vor  Liebe,  selbst  wenn  sie  in  einer  Krise  der  Leidenschaft  ist,  zu 
hindern,  daß  sie  einen  hübschen  Hnt  probirt? 
Das  Mädchen  trat  ein  und  öffnete  seinen  Earton. 
„Lassen  Sie  sehen,"  sagte  Nelly. 

Sie  stellte  sich  vor  ihren  Spiegel,  rückte  den  koketten  Chiffon  auf  ihrem 

Kopfe  zurecht  uud  bemerkte  erst  jetzt  im  Spiegel  das  Gesicht  der  jungen  Modistin. 


~22  Francis  «^oppee  in  Paris. 

Was  hatte  sie  nur,  die  arme  Kleine  mit  den  goldrothen  Haaren? 
Warum  waren  jene  hübschen  kaffeebraunen  Augen  mit  Thronen  gefüllt? 
Und  warum  stützte  sie  sich  wie  ohnmächig  auf  die  Lehne  eines  Fauteuils? 
Es  war  Alane,  die  den  Hut  gebracht  hatte. 
Oh!  wie  war  sie  heut  Morgen  so  fröhlich  aus  dein  Atelier  weg- 
gegangen, ihren  Earton  unter'm  Arm! 

Schnell,  erst  zu  Jean!  Er  mußte  lange  geschlafen  haben,  nach  all' 
den  Aufregungen  feines  Triumphes.  Sie  würde  ihn  beim  Aufstehen  finden, 
ihren  Vielgeliebten,  ihren  Dichter,  wie  er  endlich  glücklich  war.  Aber  nein, 
fchon  ausgegangen!  „Sie  können  sofort  hinaufgehen,  Fräulein,"  hatte  ihr 
der  Portier  gesagt,  „es  ist  oben  Etwas  für  Sie." 
Was  das  oben  war?  großer  Gott!  es  war  der  fchreckliche  Brief  und 
jene  Banknoten,  die  sie  sogleich  wieder  fortgeworfen  hatte,  die  ihr  in  den 
Fingern  gebrannt  hatten.  So,  das  war  zu  Ende.  Jean  liebte  sie  nicht 
mehr  und  verabschiedete  sie,  bezahlte  sie  wie  eine  Dirne.  Roth,  als  hätte 
sie  einen  Backenstreich  erhalten,  todt  das  Herz,  das  Blut  im  Gehirn,  war 
sie  geflohen  und  weinte  auf  der  Straße,  ohne  sich  zu  schämen. 
Wenn  Sie  einen  großen  Kummer  haben,  wenn  Ihr  Liebhaber  Sie 
verläßt,  schöne  Dame  mit  den  drei  Toiletten  täglich,  so  verriegeln  Sie 
Ihre  Thür,  Sie  schließen  sich  in  Ihr  Boudoir  ein  mit  einem  Flacon 
englischen  Niechsalzes,  und  Sie  können  dann  wenigstens  in  der  Einsamkeit 
schluchzen.  Ich  beklage  Sie,  gewiß!  denn  das  Leiden  ist  dasselbe  für  das 
Herz  einer  verlassenen  Frau,  ob  es  mm  unter  Seide  oder  unter  grobem 
Zwillich  schlägt.  Aber  haben  Sie  gütigst  Mitleid  mit  dem  kleinen  Lauf- 
burschen von  Modistin,  die  vor  allen  Passanten,  die  Trotwirs  entlang,  um 
ihr  verlorenes  Glück  weint,  und  die,  trotz  ihres  Schmerzes,  —  der  ebenso 
grausam  ist  wie  der  Ihrige,  schöne  Dame,  —  dennoch  ihre  triviale  Be- 
sorgung nicht  vergessen  darf  und  einen  Hut  zur  Kundin  tragen  muß. 
Marie  hatte  Nelly  Nobin  niemals  gesehen,  hatte  ihren  Namen  erst 
heut  Morgen  erfahren,  wußte  Nichts  von  ihr.  Ohne  daß  die  Eine  oder  die 
Andere  es  ahnte,  standen  sich  die  beiden  Mvalinnen  gegenüber. 
Vor  dem  Gesicht  der  Unbekannten,  das  durch  den  Schmerz  verstört 
war,  wurde  Nelly  von  Mitleid  erfüllt.  Von  Natur  sehr  gutmüthig,  war 
sie  es  um  so  mehr  an  diesem  für  sie  so  glücklichen  Tage. 
„Was  fehlt  Ihnen  denn,  meine  liebe  Kleine?" 
Aber  Marie  fank  unter  der  Wucht  ihres  allzu  schweren  Kummers  auf 
einen  Diuan  und  barg  den  Kopf  in  ihren  Händen.  Nelly  fetzte  sich  lieb- 
reich neben  sie  und  war  mit  mütterlicher  Zärtlichkeit  um  sie  bemüht. 
„Ein  schwerer  Kummer  wohl?  .  .  .  Kommen  Sie,  mein  liebes  Kind, 
weinen  Sie  nicht  so  .  .  .  Sie  kennen  mich  zwar  nicht,  aber  Sie  tonnen 
Vertrauen  zu  mir  haben!  ...  Ich  würde  so  zufrieden  sein,  wenn  ich  Ihnen 
helfen  könnte  .  .  .  Und,  auf  alle  Fälle,  fage»  Sie  mir  getrost,  was  Sie 
so  betrübt." 


Rivalinnen,  ~23 

Sich  anvertrauen  ist  ein  so  natürliches  Bedürfniß,  und  diese  schöne 
Dame  schien  so  gütig!  Seit  zwei  Stunden  irrte  Marie  in  Paris  umher, 
sterbensmatt  vor  Verzweiflung:  Sie  offenbarte  das  Geheimnis!  derselben  in 
einem  Weheruf. 

„Jean!  .  .  .  Mein  Jean  hat  mich  verlassen!  .  .  ." 
Ihr  Jean?  .  .  .  Nelln  war  das  Herz  wie  zugeschnürt  infolge  einer 
Vorahnung.  Mehrmals  hatte  sie  mit  eifersüchtiger  Neugier  den  Dichter 
über  seine  kleine  Freundin  befragt:  „Hübsch,  nicht  wahr?  Wie  sieht 
sie  denn  aus?  Und  jetzt,  just  während  sie  dieses  jugendliche,  vou  Thränen 
überströmte  Gesicht  betrachtete,  das  dem  ihren  so  nahe  war,  und  unter 
dem  in  Unordnung  gerathenen  rothen  Haar  diese  Stirn,  auf  die  sie,  einer 
Regung  der  Sympathie  folgend,  beinahe  ihre  Lippen  gedrückt  hatte,  er- 
innerte sich  die  Schauspielerin  der  verlegenen  Antwort  Jean  Dellvs:  „Ein 
Nothkopf  mit  braunen  Augen." 

„Ein  Liebeskummer  also.  Ich  dachte  mir's,"  sagte  Nelln  mit  ver- 
änderter Stimme.  „Lassen  Sie  hören,  Liebchen,  erzählen  Sie  mir  das  ,  . 
Und  vor  Allem:  wie  heißt  denn  das  herzige  Kind,  das  so  großen  Kummer  hat?" 
Und  das  junge  Mädchen  warf  Nelln  unter  Thränen  einen  Vlick  der 
Dankbarkeit  zu  und  antwortete  mit  Anstrengung: 
„Wie  gütig  Sie  sind,  Madame!  ...  Ich  heiße  Marie." 
Da  wurde  die  Hand,  welche  die  ihrige  drückte,  eisig  kalt,  der  Ann, 
der  um  ihre  Taille  lag,  sank  herab.  Aber  Marie  achtete  nicht  darauf. 
Eine  Stimme  von  Mitgefühl  hatte  sie  gebeten,  ihr  Herz  zu  erleichtern.  Es 
schüttete  sich  aus,  es  ergoß  sich  in  Klagen  und  Schluchzen. 
„Mein  Jean!  ...  Ich  liebte  ihn  so  sehr!  .  .  .  Wenn  Sie  wüßten!" 
Und  Marie  ließ  sich  zu  Nellns  Füßen  gleiten,  behielt  die  Hand  der 
Dame,  die  soviel  Mitleid  zeigte,  in  der  ihrigen,  küßte  sie  wiederholt 
schmeichelnd  wie  ein  krankes  Kind  uud  erzählte  vou  den  zwei  Jahren  ihres 
Glücks  und  ihrer  Liebe,  wo  alle  Minuten  ihres  Lebens  Jean  gehört  hatten, 
wo  jeder  Stich  ihrer  Nadel  von  einem  Gedanken  der  Anbetung  für  ihren 
Vielgeliebten  begleitet  gewesen  war.  Sie  hatte  geglaubt,  daß  er  sie  liebte. 
Aber  sie  war  weder  thöricht  noch  eitel  gewesen.  Sie  sagte  sich  wohl 
manchmal  mit  Seufzen,  daß  ein  unwissendes  Mädchen  wie  sie  nicht  die 
einzige  Liebe  eines  Dichters  sein  könnte.  Zweifellos  wird  er  von  anderen 
Frauen  verführt  werden,  die  ihn  liebten  —  er  war  ja  so  entzückend!  — 
und  würde  ihr  untreu  werden.  Alles  vergeht.  Alles  hat  ein  Ende,  sie 
wußte  es  wohl.  Sie  durfte  nur  hoffen,  daß  er  ihr  einen  kleinen  Raum 
in  seiner  Freundschaft  wahren  werde,  daß  er  stets  ein  wenig  Zärtlichkeit 
für  diejenige  haben  werde,  die  ihm  während  seiner  traurigen  J  ugend  Glück 
gespendet  hätte.  Hundert  Mal  hatte  er  es  ihr  geschworen.  Wenn  sie  ihn 
doch  weuigstens  sehen,  mit  ihm  zusammenkomme»  könnte  —  und  gar  nicht 
einmal  oft,  wenn  er  es  so  gefordert  hätte  —  ihn  zu  pflegen,  sobald  er 
trank  wäre,  sie  hätte  sich  mit  einer  kargen  Zärtlichkeit  begnügt,  solch  einer. 


~2H  Fran^ois  toppee  in  Paris. 

wie  man  sie  wohl  beiläufig  den«  Hunde  des  Quartiers  zu  Theil  werden  läßt. 
Aber  nein.  Er  trieb  sie  in  hartherziger,  in  brutaler  Weise  von  sich.  Oh! 
über  den  Schlechten  und  Undankbaren!  Und  er  warf  ihr  wie  einen  Schimpf 
dieses  elende  Geld  hin!  Geld!  Sie  brauchte  Nichts  mehr.  Ihr  Jean  hatte 
ihr  das  Herz  gebrochen.  Sie  würde  daran  sterben,  ja  wohl!  sie  würde 
daran  sterben!  Und  wenn  der  Tod  auf  sich  warten  ließe,  je  nun,  es  gab 
Wasser  unter  den  Brücken  und  Kohlen  bei  dem  Kohlenhändler!  .  .  . 
Heftig  legte  ihr  Nelly  die  Hand  auf  den  Mund. 
„Was  sagen  Sie  da,  kleine  Unglückliche?  .  .  ." 
Vor  ihrer  Rivalin  hingesunken,  den  Kopf  auf  deren  Knieen,  schwieg 
Marie,  und  jetzt  weinte  sie,  weinte  und  weinte. 
Und  während  Nellv  noch  das  trostlose  Mädchen  betrachtete,  fühlte  sie 
sich  von  namenlosem  Mitleid  ergriffen.  Denn:  das  Unglück,  das  sie  hier 
vor  Augen  hatte,  es  war  ihr  eigenes  Werk,  Wahrhaftig,  das  erste 
Mal,  wo  sie  ernstlich  liebte,  hatte  sie  kein  Glück.  Sie  konnte  nur  glücklich 
sein,  indem  sie  Böses  stiftete.  Und  während  sie  diese  arme  kleine  Marie 
betrachtete,  die  Jean  ihr  opferte,  empfand  sie  ein  unbestimmtes  Gefühl  des 
Neides.  Sie  selbst  hatte  diese  echte  und  aufrichtige  Leidenschaft,  diesen 
schönen  Schmerz,  nie  kennen  gelernt.  Das  Neste,  was  ihr  noch  das  Leben, 
dessen  goldene  Schande  sie  jetzt  verabscheute,  geboten  hatte,  das  waren  — 
welcher  Hohn!  —  die  bei  Lamorlisre  verlebten  J  ahre,  ihre  Ergebenheit  als 
dienende  Maitresse  eines  alten  und  lächerlichen  Komödianten.  Marie  konnte 
doch  nach  alledem  wenigstens  sterben,  Sie  hatte  gelebt,  hatte  geliebt;  sie 
hatte  eine  kurze,  aber  entzückende  J  ugend  genossen.  Oh!  Wie  beneidete 
Nelln  sie  um  ihren  schönen  Traum,  selbst  um  den  Preis  eines  so  rauhen 
Erwachens!  .  .  .  Aber  wie  sie  so  von  Neuem  ihr  Opfer  betrachtete,  das 
völlig  niedergeschmettert  war,  dem  beständig  große  Thränen  unter  den  ge- 
schlossenen Augenlidern  hervorquollen,  und  das  den  rührenden  Eindruck  eines 
verwundeten  Vögleins  machte,  da  regte  sich  das  gute  Herz  Nellys,  und  sie 
wurde  zugleich  von  einer  unbestimmten  Verachtung,  einer  Art  von  Abscheu 
gegen  diesen  Jean  erfaßt,  diefen  Egoisten  und  verführerischen  Dichter,  dem 
sie  sich  so  unklug  hingegeben  hatte,  dem  sie,  sie  konnte  es  sich  nicht  verhehlen, 
jene  schlechte  Handlungsweise  inspirirt  hatte,  und  der  sie  ohne  Zweifel  bald 
ihrerseits  würde  Qualen  erleiden  lassen,  da  sie  ihn  ja  auch  liebte. 
„Und  sagen  Sie  mir,  Liebchen,"  fragte  sie  das  junge  Mädchen,  das 
sich  ein  wenig  beruhigte,  „wissen  Sie,  um  wessen  willen  Sie  verlassen  sind?" 
„Ach!  nein,"  antwortete  Marie.  „Seit  einiger  Zeit  hatte  ich  wohl  be» 
merkt,  daß  Jean  mir  gegenüber  nicht  mehr  derselbe  war.  Aber  ich  hatte 
so  viel  Vertrauen  zu  ihm!  Ich  wies  meinen  Argwohn  weit  von  nur, 
tadelte  mich  sogar  deswegen  .  .  .  Aber  die  Lebensweise  Jeans  ist  eine 
andere  geworden;  er  geht  jetzt  hinter  die  Coulissen.  Dort  wird  er  vermuthlich 
irgend  eine  schöne  Schauspielerin  gefunden  haben,  die  viel  liebenswürdiger 
ist  als  ich,  Toiletten  hat  und  Lurus  treibt,  von  Huldigungen  umgeben  ist, 


Rivalinnen,  1.25 

und  die  es  versteht,  die  Kokette  zu  spielen  und  einen  Mann  eifersüchtig  zu 
machen...  Oh!  so  ist  es,  gewiß,  und  ich  war  von  Anfang  an  verloren  ... 
Denn  ich  verstand  ja  nur,  ihn  unsinnig  zu  lieben,  meinen  Jean,  und  hatte 
ihm  Nichts  weiter  zu  geben,  als  mein  armes  Herz!  .  .  ." 
Und  während  Marie  mit  keuchenden  Worten  ihrem  Schmerze  noch 
freien  Lauf  läßt,  siehe,  da  ist  im  Geiste  Nellu  Robins  soeben  ein  Wunsch 
entstanden,  ach!  ein  Wunsch,  der  ihr  viel  Schmerz  bereitet,  der  aber 
gebieterisch,  unwiderstehlich  ist,  nämlich:  sie  will  auf  Jean  verzichten  und 
ihn  dieser  armen  Kleinen  zurückgeben.  Sie  kennt  das  Leben,  sie  weiß,  was 
sie  aufgiebt.  Mit  dreißig  J  ahren  liebte  sie  zum  ersten  Male,  und  es  war 
köstlich.  Ach!  es  ist  sehr  hart,  diese  späte  Liebesblüthe  sich  aus  dem  Herzen 
zu  reißen.  Dieselbe  wird  nicht  wiederkehren,  deß  ist  sie  sicher.  Und  nicht 
allein  Jean  vermißt  sie,  sondern  auch  die  Empfindung,  die  sie  für  ihn  hegte. 
Ja,  es  ist  hart!  Aber  das  schöne  Mädchen  hat  alle  Verderbniß  gekostet, 
ohne  ihren  Fonds  von  Edelmuth,  ohne  ihr  angeborenes  Gerechtigkeitsgefühl, 
ihren  plebejischen  Sinn  für  Gleichheit  zu  verlieren.  Daß  ihr  die  fchönen, 
aber  duftlosen  Camelien  widerwärtig  geworden  sind,  ist  das  ein  Grund, 
jenem  Kinde,  das  da  vorübergeht,  sein  armseliges  Veilchensträußehen  zu 
nehmen,  das  nur  zwei  Sous  werth  ist,  aber  gut  duftet?  .  .  . 
Schöne  Dame,  mit  den  drei  Toiletten  täglich,  Sie  würden  ebenso 
handeln,  davon  bin  ich  überzeugt.  Sie  tragen  in  Herzensangelegen- 
heiten keine  Eitelkeit  und  keine  Selbstliebe  hinein;  und  sollte  der  Eavalier 
Ihrer  besten  Freundin  versuchen,  Ihnen  den  Hof  zu  machen,  so  ist  Ihnen 
das,  ich  zweifle  nicht  daran,  im  höchsten  Grade  unangenehm.  Geben  Sie 
mir  nur  das  Eine  zu:  daß  diese  Nelly  Nobin,  trotz  all'  ihrer  Flecken,  das 
Herz  ganz  ebenso  auf  dem  rechten  Fleck  hatte,  da  sie,  selbst  in  voller 
Leidenschaft,  in  vollem  Begehren,  einem  I  nstinete  der  Gerechtigkeit  und  des 
Erbarmens  gehorchte. 

Nellv.  hatte  Marie  aufgehoben,  hatte  sie  neben  sich  niedersitzen  lassen. 
„Wollen  Sie,  mein  Kind,"  sagte  sie  mit  herzlicher  Stimme,  „daß  ich 
Ihnen  jetzt  einen  guten  Nath  gebe?" 

„Gewiß,  Madame,  aber  zuvor  lassen  Sie  mich  Ihnen  sagen,  wie  sehr 

ich  verwirrt  bin  ...  Ich  habe  Ihnen  soeben  tausend  Thorheiten  erzählt, 

und  ich  bitte  Sie  dafür  recht  sehr  um  Vergebung." 

„Lassen  nur  das.  Sie  sollen  mir  später  danken  ...  Die  Brutalität, 

womit  Ihr  Geliebter  Sie  verlassen  hat,  ist  meines  Erachtens  ein  Beweis 

dafür,  daß  er  in  einer  Augenblickslaune,  in  der  Heftigkeit  gehandelt  hat 

.  .  .  Und  dies  ist  nicht  das  Gewöhnliche  bei  ihm,  nicht  wahr?  .  .  ." 

„Oh!  gewiß  nicht  ...  Er  ist  immer  so  nett  gegen  mich  gewesen!" 

„Nun  wohl,  Sie  müssen  ihn  wiedersehen.  Ja!  ich  kenne  die  Menschen. 

Zu  dieser  Stunde,  ich  möchte  darauf  schwören,  bereut  er  schou,  so  schlecht 

gewesen  zu  sein;  denn  er  muß  inzwischen  nach  Hause  zurückgekehrt  sein  und 


~26  Fianyois  <~«ppee  in  Pari«. 

dort  jenes  Geld  wiedergefunden  haben  ...  Sie  müssen  ihn  so  bald  als 
möglich  wiedersehen  .  .  .  Können  Sie  es  schon  heute?" 
„Ich  kann  zu  ihn:  gehen,  wie  ich  es  oft  that,  nach  6  Uhr,  wenn  ich 
aus  dem  Geschäft  komme." 

„Versäumen  Sie  das  nicht.  Wollen  Sie  es  mir  versprechen?  .  .  . 
Entweder  hat  dieser  Jean  kein  Herz,  oder  er  wird  erröthen  über  seine 
Handlungsweise  vor  diesen  schönen,  ganz  verweinten  Augen  .  .  ." 
„Ach,  Madame,  hoffen  Sie  das?  ...  Oh!  ich  bin  nicht  so  stolz,  ich 
würde  schon  mehr  als  zufrieden  sein,  wenn  er  mich  nur  noch  ein  bischen 
lieben  wollte,  nur  aus  Mitleid  .  .  .  Aber  ich  wage  selbst  daran  uicht  zu 
glauben." 

„Aber  ich,  »nein  Liebling,  ich  bin  beinahe  gewiß,  das;  er  Ihnen  emen 
Empfang  bereiten  wird,  über  den  Sie  erstaunt  sein  werden  .  .  .  Also  ab- 
gemacht. Sie  werden  heut  Abend  zu  ihni  gehen  .  .  .  Versuchen  Sie  nur, 
bis  dahin  nicht  mehr  zu  weinen  .  .  .  Und  jetzt  umarmen  Sie  mich,  denn 
ich  werde  Ihnen  zu  beweisen  wissen,  wie  sehr  ich  Ihre  Freundin  bin." 
Und  Nelly  küßte  sie  auf  die  Stirn  »ud  verabschiedete  das  junge 
Mädchen,  das  noch  sehr  in  Unruhe  war,  ein  wenig  getröstet  jedoch  und  von 
einer  leichten  Hoffnung  beseelt. 

Bei  der  Rückkehr  in  seine  Wohnnng  hatte  Jean  auf  seinem  Tische  die 

Banknoten  vorgefunden,  die  Marie  hatte  liegen  lassen. 

„Nah!  ich  werde  schon  machen,  daß  sie  das  Geld  nimmt,"  hatte  er 

zu  sich  gesagt,  wobei  er  indessen  ein  wenig  üble  Laune  und  einige  Scham 

empfand. 

Aber  er  hatte  auch  nicht  umhin  gekonnt,  zn  denken: 
„Diese  herzige  Kleine!  Sie  liebte  mich  trotzdem." 
Dann  hatte  er  aber  diese  unbequeme  Eriunerung  wieder  von  sich  ge- 
wiesen, hatte  ein  wenig  Ordnung  in  sein  Zimmer  gebracht  und  schritt  nun, 
in  nervöser  Aufregung,  mit  klopfendem  Herzen,  wie  ein  gefangener  Löwe  in« 
Käfig  auf  uud  ab;  er  fehnte  ja  so  heiß  die  Stunde  herbei,  den  Augenblick 
des  Triumphes  und  der  Liebe,  da  Neil»  zu  ihm  kommen  würde. 
Aber  um  5i>/«  Uhr  erschien  der  Portier  mit  einem  Briefe,  den  ein 
Dienstmann  soeben  gebracht  hatte,  ohne  auf  Antwort  zu  warten,  und  Jean  las, 
das  Herz  von  einem  Schüttelfrost  durchbebt,  folgende  abscheuliche  Zeilen: 
„Erwarten  Sie  mich  heut  Abend  nicht,  mein  lieber  Poet,  Weder 
hent  Abend,  noch  jemals.  Behandeln  Sie  mich  als  Kokette,  als  eine  Elende. 
Verachten  Sie  mich,  hassen  Sie  mich.  Aber  es  geht  nun  einmal  nicht  anders. 
Heute  Morgen,  nach  Ihren«  Weggänge,  ist  mir  plötzlich  klargeworden, 
daß  wir  alle  Beide  im  Begriff  standen,  eine  große  Thorheit  zu  begehen. 
Und  zwar  hat  mich,  ich  gebe  es  zu,  eine  unbedeutende  Kleinigkeit  ans 
meinem  Traume  gerissen.  Meine  Modistin  hat  mir  einen  neueu  Hut  für 
fünf  Louis  gebracht,  und  ich  habe  mich  hierbei  erinnert,  daß  folche  Blumen 
nicht  am  Fenster  einer  Mansarde  wachsen.  Nach  acht  Tagen  schon  hätte 


Rivalinnen.  ~2? 

ich  die  hübschen  Hüte  und  das  Uebrige  vermißt.  Sie  haben  sich  getäuscht, 
ich  bin  nur  eine  Maitresse,  aber  eine  gutes  Mädchen,  das  Ihnen  trotz  alle- 
dem eine  große  Enttäuschung  erspart.  Versuchen  Sie  nicht,  mich  wieder- 
zusehen. Ich  habe  soeben  ein  Engagement  nach  St.  Petersburg  abgeschlossen, 
wo  der  Großherzog,  der  mich  vorigen  Winter  in  einer  Loge  des  Vaudeville 
bewunderte,  mich  durchaus,  und  zwar  nicht  so  sehr  aus  der  Entfernung, 
wiedersehen  will.  Aber  bevor  ich  mich  nach  den  Eisfeldern  des  Nordens 
aufmache,  will  ich  ein  Sonnenbad  nehmen  und  reise  daher  noch  heut  Abend 
nach  Nizza  ab,  wohin  mich  der  Herzog  von  Evlau,  ein  Freund,  gegen  den 
ich  sehr  ungerecht  war,  begleiten  wird.  Leben  Sie  wohl  und  viel  Glück. 
Ich  hoffe,  daß  Sie  in  einigen  Tagen,  nach  ruhiger  Ueberlegung,  nicht  allzu 
sehr  einen«  Weibe  zürnen  werden,  die  so  glücklich  gewesen  ist,  mein  lieber 
Poet,  Ihr  erstes  Debüt  am  Theater  zu  erleichtern,  uud  die  nicht  aufhören 
wird,  sich  >für  die  nenen  Erfolge  zu  interessiren,  die  Ihnen  sicherlich  noch 
beschieden  sind. 

Ihre  Freundin  trotz  alledem  Nelln  Nobin." 
Tiefen  Brief,  den  Nelly  im  Fieber  ihrer  guten  Negung,  aber  doch 
mit  recht  schwerem  Herzen  und  mit  so  mühsamer  Anstrengung  geschrieben 
hatte,  las  Jean  Delli,  zun»  zehnten  Male  wieder,  allen  Qualen  der  unge- 
stillten Sehnsucht  und  tödtlich  verletzten  Eigenliebe  preisgegeben,  als  Marie 
ankam.  .» 

Obwohl  der  Schlüssel  in  der  Thür  steckte,  hatte  das  junge  Mädchen 
doch  zuerst  schüchtern  geklopft,  ach!  wie  bei  einem  Fremden.  Aber  Jean, 
ganz  außer  Fassung,  hatte  Nichts  gehört.  Sie  erschien  daher  plötzlich,  ganz 
eingeschüchtert  vor  ihm  nnd  richtete  zu  ihrem  undankbaren  Freunde  einen 
furchtsamen  und  treuen  Blick  empor  wie  ein  geschlagener  Hnnd. 
Tie  ante  ~elly  hatte  sich  nicht  getäuscht.  In  einem  Gedankenblitze 
verglich  der  phantasiereiche  Mann  die  beiden  Frauen,  ihre  beiderseitige 
Liebe  zu  ihm.  Wie  hatte  er  doch  diesem  herzigen  Kinde  entsagen  können 
um  eines  eitlen  und  verdorbenen  Frauenzimmers  willen?  Ihn  schauderte. 
Und  dann  kam  Marie  auch  gelegen:  sie  war  die  Tröstung. 
Jean  eilte  auf  sie  zu  und  preßte  sie  leidenschaftlich  an  sich. 
„Vergieb  mir!"  sagte  er  zu  ihr  mit  zitternder  Stimme.  „Vergieb  mir, 
meine,  innig  geliebte  Marie!  .'.  .  Du  bist  die  Treuherzigkeit,  die  Offenheit, 
Dil  bist  das  schlichte  Glück  und  die  wahrhafte  Liebe!  Und  ich  stand  im 
Begriff,  Dich  zu  verlassen,  um  einer  Lügnerin,  einer  Elenden  willen!  .  .  . 
Aber  das  ist  ganz  aus,  ich  schwüre  es  Dir!  .  .  .  Und  da  ich  hinfort  kein 
Geheimnisi  mehr  vor  Dir  haben  will,  nimm,  lies"  —  fügte  er  hinzu,  indem 
er  ihr  den  Brief  reichte  —  „und  sieh,  um  welcher  Person  willen  ick  im 
Begriff  war.  Dir  soviel  Leiden  zu  bereiten  und  eine  Infamie  und  eine 
Feigheit  zu  begehen!" 

Marie,  berauscht  und  wie  betäubt  von  Glück,  schwankte  und  ließ  sich 
auf  einen  Stuhl  nieder,  und  während  der  Dichter  vor  ihr  ans  die  Kniee 
«°rb  und  SN».  I.XXV.  223.  9 


~23  Fian^ois  Loppse  in  Paris,  — 

sank  und  seine  vor  Scham  rothe  Stirn  in  den  Schooß  seiner  Geliebten 
barg,  las  sie  den  verhängnisvollen  Brief  und  den  Namen,  mit  dem  er 
unterzeichnet  war:  „Nelly  Robin!" 

So,  also  um  Nelly  Robin  hatte  sie  Jean  verlassen  wollen!  Nelly 

Nobin,  dieselbe,  der  sie  heut  Morgen  ihr  Unglück  anvertraut  hatte!  .  .  . 

Und  nun  begriff  Marie  die  großmüthige  Lüge  und  das  hochherzige  Opfer 

ihrer  Rivalin  und  war  gerührt  bis  in's  innerste  Herz. 

VIII. 

Dreißig  Jahre  sind  nun  seit  damals  vergangen,  und  die  beiden  alten 
Freundinnen,  die  mir  an  einem  lauen  Nachmittage  des  Vorft-ühlings  auf 
einer  Bank  der  Esplanade  der  Invaliden  ihre  Geschichte  erzählt  haben, 
sind  Niemand  anders  als  Marie  und  Nelly. 

Alle  Beide  aus  dem  Volke  und  aus  dem  Elende  hervorgegangen,  sind 
sie  auf  ihr  alten  Tage,  gedrängt  durch  widriges  Geschick,  dorthin  zurück- 
gekehrt. 

Jean  Delly  erschien  am  Dichterhimmel  wie  ein  Meteor:  er  glänzte 
plötzlich  hellleuchtend  auf,  um  alsbald  wieder  zu  verschwinden.  Kurze  Zeit 
nach  dem  Erfolge  seiner  „Sternennacht"  und  des  Bandes  Gedichte,  welcher 
ihr  folgte  und  der  der  litterarischen  Welt  die  Hoffnung  gab,  das;  ein 
großer  Dichter  geboren  sei,  —  wurde  er  krank,  siechte  dahin  und  arbeitete 
nicht  mehr.  Kaum  25  Jahr  alt,  starb  er,  von  der  Schwindsucht  dahin- 
gerafft, in  den  Armen  seiner  treuen  Marie,  der  er,  ein  Egoist  bis  zum 
Ende,  nicht  einmal  seinen  Namen  vermachte.  Mit  der  bescheidenen  Baar- 
schaft,  die  er  ihr  hinterließ,  miethete  das  arme  Mädchen  einen  kleinen 
Laden  und  versuchte,  von  ihrem  Geschäft  zu  leben.  Aber  sie  war  weder 
eine  gewandte  Vertauferi«  noch  eine  sehr  geschickte  Arbeiterin;  ihr  Unter- 
nehmen prosperirte  nicht,  und  sie  war  überglücklich,  daß  sie,  dank  einer 
geringen  Summe  Geld,  die  ihr  noch  blieb,  eine  alte  Leihbibliothek  im  „Großen 
Kieselstein"  kaufen  konnte,  wo  sie  ihr  Dasein  fristete,  indem  sie  gleicherweise 
Schreibmaterialien  wie  Zeitungen  verkaufte.  Ihre  Sinne  waren  ab- 
gestorben am  Krankenbett  J  eans,  in  den  langen  Nachtwachen,  und  ihr  Herz 
hatte  sich  bei  dem  letzten  Seufzer  des  Dichters  für  immer  geschlossen. 
Uebrigens,  ihr  weiblicher  Reiz,  ganz  Anmuth  und  Frische,  verging  schnell. 
Nach  und  nach,  in  Folge  nagender  Arbeit  des  Kummers,  der  Annuth,  der 
Einsamkeit,  ließ  sie  sich  gehen  und  wurde  ziemlich  rasch  eine  alte  Frau, 
die  in  einem  Umschlagetuch  und  einer  Haube  einherging. 
Nelly  hingegen,  die  bis  in  die  Vierziger  schön  geblieben,  setzte  ihr 
tolles  Leben  in  St.  Petersburg  fort,  als  sie  plötzlich  vou  einer  Glieder- 
lähmung getroffen  wurde.  Ihr  Verfall  vollzog  sich  rasch  uud  war  schrecklich. 
Nach  Paris  fast  lahm  zurückgekehrt,  lebte  sie  daselbst  eine  Zeit  lang  von 
den  Trümmern  ihres  Schiffbruchs  und  von  dem  Ertrag  einer  ihr  be- 


Rivalin  ne».  I,2H 

willigten  Benefizuorstellung.  Aber  da  sie  in  keiner  Weise  auf  die  Zukunft 
bedacht  war,  so  lernte  sie  rasch  das  Elend  kennen.  Die  alten  Bewunderer 
waren  todt  oder  in  alle  Winde  zerstreut.  Sie  mußte  bei  einigen 
Colleginnen  von  ehemals,  die  glücklicher  oder  verständiger  als  sie  gewesen 
waren,  die  demüthigende  Rolle  einer  heruntergekommenen  Freundin  spielen, 
der  man  hie  und  da  einen  Louis  oder  ein  altes  Kleid  giebt.  Bald,  ach! 
versagten  ihr  auch  diese  schmachvollen  Almosen.  Ihre  allzu  bittere  Noth, 
ihre  Gebrechlichkeit  wirkten  abstoßend.  Da,  mitten  in  ihrer  Verzweiflung 
schöpfte  die  unglückliche  Frau  wieder  ein  wenig  Muth.  Sie  erinnerte  sich, 
daß  sie  ja  als  junges  Mäocheu  im  Eamisol  gegangen  und  oft  zum  Frühstück 
eine  ganz  gewöhnliche  Wurst  gegessen,  die  sie  im  Schlächterladen  schmarotzt 
hatte.  Als  ehemalige  Schauspielerin  konnte  sie  auf  Unterstützung,  sehr 
minimale  zwar,  aber  regelmäßige,  von  Seilen  der  Theater- Verwaltung 
und  einiger  Wohlthätigkeitsgesellschaften  rechnen.  Sie  verkaufte  ihre  letzten 
galanten  Lumpen,  miethete  in  einem  entlegenen  Viertel  nahe  am  Mars- 
felde eine  Mansarde  und  beschied  sich  damit,  dort  wie  eine  Bettelftau, 
aber  ohne  Schande,  zu  leben. 

So  trat  Nelly  Nobin,  der  Prinzen  von  Geblüt  zu  Füßen  gelegen 

hatten,  die  aber  jetzt  ungefähr  wie  eine  alte  Wollkämmerin  ausfah,  eines 

Tages,  um  ihr  „Kleines  J  ournal"  zu  kaufen,  in  den  Laden  Maries,  der 

„Mutter  Marie",  wie  man  sie  in  der  Vorstadt  zu  nennen  pflegte. 

Sie  hatten  sich  nur  einmal  in  ihrem  Leben  gesehen,  aber  in  welcher 

unvergeßlichen  Stunde!  Sie  betrachteten  einander  lange,  und  trotz  ihrer 

so  grausam  verwüstete!!  Züge  erkannten  sie  einander  schließlich  am  Blick, 

der  sich  nicht  verändert. 

„Wer ...  Sie  sind  die  Geliebte  Jean  Dellus?  ..." 

„Sie  sind  Nelly  Nobin!" 

Und,  die  Kehle  wie  zugeschnürt,  erstickend  vor  Aufregung,  näherten  sich 
die  beiden  Frauen,  faßten  sich  an  den  Händen  und  umarmten  sich  unter 
Thränen. 

Sie  sahen  sich  alle  Tage,  um  von  der  Vergangenheit  zn  plaudern. 
Marie  sagte  jetzt  Nelly,  wie  dankbar  sie  ihr  stets  dafür  gewesen  sei,  daß 
Jene  ihr  einst  Schonung  bewiesen;  und  Nelly  konnte  Marie  gestehen,  daß 
jene  Liebe,  die  sie  angesichts  des  Unglücks  ihrer  Nebenbuhlerin  geopfert 
hatte,  die  einzige  wahrhafte  ihres  zügellosen,  im  Grunde  so  traurigen  Lebens 
gewesen  war. 

Es  that  ihnen  allen  Beiden  unendlich  wohl,  von  dem  theureu  Ver- 
storbenen zu  sprechen.  Sie  liebten  einander  im  Andenken  an  ihn.  Bald 
entschlossen  sie  sich,  beisammen  zu  wohnen,  und  die  gutmüthige  Marie 
pflegte  die  Gebrechliche  nach  besten  Kräften  und  brachte  es  durch  die  Macht 
des  Beispiels  nach  und  nach  dahin,  daß  die  einstige  Eonrtisane  ihre  Ge- 
wohnheiten der  Ordnung  und  der  Decenz  annahm.  Ihr  beiderseitiges  Un- 
glück wurde  vereint  erträglich.  Welch'  sauberen  und  anständigen  Eindruck 
9» 


^30  Franyois  Hoppes  in  Paris. 

machten  die  beiden  armen  Freundinnen  an  dem  Tage,  wo  sie  Inir  ihre 
Mittheilungen  anvertrauten!  Man  hätte  sie  für  zwei  recht  würdige  Matronen 
gehalten,  ich  versichere  es.  Nie  rührend  war  es,  wenn  Marie  in  ihren 
Händen  die  fast  leblose  Hand  der  Gelähmten  wieder  zu  erwärmen  versuchte! 
lind  wie  glänzten  die  noch  immer  wundervollen  Augen  Nellns,  die  einst 
ganze  Säle  von  Zuschauern  entzückt  hatten,  von  Dankbarkeit,  wenn  sie  aus 
ihrer  Freundin  ruhten! 

„Sie  können  sich  keinen  Begriff  machen,  mein  Herr,  von  ihrer  Er- 
gebenheit für  mich,"  sagte  clie  alte  Nelly  am  Schlüsse  ihres  Berichts  zu 
mir.  „Aber  sie  ist  ein  wahrer  Schatz  für  mich,  diese  Marie  .  .  .  Und  so 
erfinderisch,  so  sparsam!  Wenn  wir  unsere  vier  Sous  zusammenlegen,  so 
leiden  wir  wahrhaftig  an  Nichts  Mangel  .  .  .  Niemals  eine  Klage,  eine 
Ungeduld,  obgleich  ich  immer  krank  und  recht  beschwerlich  bin  ...  die 
zärtlichste  Tochter  könnte  nicht  mehr  für  ihre  Mutter  thun  .  .  .  Und  warum 
ist  sie  so?  —  frage  ich  Sie.  Weil  ich  sie  einmal,  das  ist  schon  sehr  lange 
her,  unglücklich  gesehen  und  ein  gutes  Herz  gehabt  habe  .  .  .  Sollte  man 
nicht  meinen,  sie  fühlt  sich,  um  ein  so  Geringes,  meine  Schuldnerin?"  .  . 
Aber  die  andere  Greisin  unterbrach  sie  mit  einem  Blick,  und  ich  werde 
niemals  den  tiefen,  den  leidenschaftlichen  Klang  ihrer  Worte  vergessen: 
„Nun  ja,  ich  bin  Deine  Schuldnerin,  Deine  Schuldnerin  auf  ewig! 
...  Du  hast  mir  einst  das  gelassen,  was  Du  mir  nehmen  konntest  und 
was  Du  selbst  ach!  niemals  besessen  hast,  meine  liebe  Nelly  ...  Ich  werde 
das  niemals  vergessen,  und  ich  werde  niemals  genug  für  Dich  thun  .~  . 
Denn,  sehen  Sie,"  fügte  sie  hinzu  und  wandte  mir  ihr  verwelktes  Gesicht  zu, 
dem  ihr  Lächeln  gleichwohl  einen  flüchtigen  Reiz  verlieh  —  „sehen  Sie,  ein 
wenig  Liebesglück  in  der  Jugend,  das  ist  Alles,  was  wir  Gutes  im  Leben 
haben,  nur  armen  Frauen." 


Illustrirte  Bibliographie. 
Entwickelung  und  Hilfsquellen.  Von 
v"lin.  ~rlc?  des'  Vereinst 
Der  Verfasser  des  vorliegenden 
Wertes  ist  hinreichend  bekannt.  Sein 
früherer  Ehef,  Major  von  Wiss  manu, 
nennt  ihn  in  einem  einleitenden  Worte 
einen  der  im  Afrikadienste  erfahrensten 
Offiziere  und  weist  darauf  hin,  dah, 
wenn  er  auch  bislang  nicht  Zeit  und  Ge- 
legenheit gefunden  habe,  die  Arbeit  durch- 
zulesen und  in  Folge  dessen  über  das 
Wert  selbst  sttitit  nickt  üben  könne,  der 
langiährige  Aufenthalt  des  Verfassers 
in  Ost-Afrika,  seine  Stellung  während 
des  Aufstandes,  und  endlich  seine  Thätig» 
leit  als  Offizier  der  kaiserlichen  Schutz- 
truvvc  ein  werthvollcs  Urtheil  gewähr- 
leisten: er  ist  überzeugt,  daß  dieses 
Buch  wie  kaum  ein  anderes  beitragen 
wird  zur  Aufklärung  der  Verhältnisse 
in  uuseren  überseeischen  Besitzungen,  und 
daß  es  das  Interesse  an  denselben  stärken 
nnb  mehren  wiro. 
Das  Buch  behandelt  im  eisten 
Vande  Ost-Afrika  und  im  zweiten  Bande 
West-Afrika  und  die  Südsee.  Ter  Ver- 
fasser, der  aus  eigener  Anschauung  nur 
über  Oft-Afrika  schreiben  kann,  ist  weit 
davon  entfernt,  seine  bort  gewonnenen 

Vug>>°r.ie  am  Tarn0».  Erfahrungen  zu  verallgemeinern  und  auf 

yvi.  andere  Eolomen  zu  übertragen.  Er  hat 
vielmehr  bezuglich  der  Sud,ce  und  West-Afrikas  die  vorhandenen  Quellen  gesittet  und 
benutzt  und  auch  von  den  Mittheilungen  und  Beitragen  seiner  in  den  Colonicn  wohl- 
erfahrenen Freunde  und  Bekannten  reichlichen  Gebrauch  gemacht.  So  stammen  z  B  die 


"32 

Noid  und  5ül>. 
Kix-Ülcgei, 
Ztallo»  F»»!>«n!. 

Ilu«:  Nochu«  Schmidt:  „Deutschland»  üolonien".  Vciew  der  Vilchelfieunbe,  Schall  und  Olund. 


I  llustrirle  Vibliographie. 
"23 

Abschnitte  über  die  Kolonien  in  der  Südsee  sämmtlich  ans  dei  Feder  des  dort  wohl- 
bewanderten DI,  Neubaur. 

Im  eisten  Bande  folgt  auf  eine  kurze  „Einführung",  in  der  die  Colonialbewcgung 
in  Deutschland  als  Ausfluß  einer  handelspolitischen,  für  die  nächsten  Jahrhunderte  maß- 
gebenden Strömung  hingestellt  wird,  eine  Geschichte  der  colonialcn  Unternehmung  Branden- 
burg>Pieußens  an  der 
WestküsteAfiitas,ein 
Abschnitt,  der  seinen 
Platz  besser  im  zwei- 
ten Bande  gefunden 
hatte,  während  das 
5.  und  «,  Kapitel  des 
zweiten  Bandes,  die 
sich  mit  dem  deutschen 
Schutzgebiete  in  der 
Südsee  und  auf  den 
S  am  oa-lnseln  be- 
schäftigen, vielmehr  in 
den  ersten  Band  hin- 
eingezogen werden 
mußten.  Den  Nest 
dieses  Bandes  füllt 
dann  die  Schilderung 
Oft- Afrillls,  so  weit 
es  den  Deutschen  ge- 
hört. Schmidt  geht 
von  der  Erwerbung 
der  Colonie  durch  Dr. 
Carl  Peters  aus, 
legt  bann  ihre  wei- 
tere Entwickclung  bis 
zum  Eingreifen  der 
Reichslegierung  dar, 
schildert  ferner  die 
Niederwerfung  des 
Aufstandes  durch 
Major  von  Wiss- 
mllnn  und  giebt  end- 
lich ein  Bild  von  der 
Colonie  nach  dem 
deutsch>englischen  Ver> 
trage,  wobei  auch  der 
Abtretung  der  deut- 
schen Schutzhcrischaft 
über  Witu  an  Eng- 
land Erwähnung  ge- 
schieht. In  sieben  wei- 
teren Kapiteln  werden 
die  naturwissenschaft- 
lichen, militärischen 
und  wirthschllftlicheu 
Verhältnisse  Deutsch- 

Ost-Afrllas  eingehend  berücksichtigt  und  Antisclaverei,  Mission  und  Eelonialueiwaltung 
in  meist  angemessener  Weise  besprochen. 

Dm  grüßten  Thcil  des  zweiten  Bandes  nimmt  die  Darstellung  Tentsch-West« 
Afrilas  ein,  wozu  im  weiteren  Sinne  auch  Kamerun  nnd  das  Togoland  gerechnet  werden. 
Den  deutscheu  Missionen  in  diesen  Colonien  ist  ein  besonderes  Kapitel  gewidmet.  Den 
Schluß  bildet  dann  eine  Darstellung  der  Entwickclung  und  Bedeutung  von  Kaiser 


Wilhclms-Land,  des  Bismarck-Archipels,  der  Salomoris-,  Marschall-  und  Samoa-Inseln. 

Aus:  Äochus  Ichmidt: 
„Deutschland«  Eolomen". 
Schall  und  Grund. 
Verein  bei  Bücherfreunde, 


<34 

Nord  und  2üd. 

Beiden  Bänden  sin»  zusammen  über  200  Bilder  und  8  Karten  in  Schwaizdruck  bei 
gegeben:  die  ersten  zeichnen  sich  nicht  immer  durch  Deutlichkeit  aus. 
Der  Verfasser  sieht  in  Bezug  auf  unseren  auswärtigen  Besitz  mit  ruhigem,  aber 
vertrauensvollem  Blick  in  die  Zukunft.  Bezeichnend  hierfür  ist  z.  N.  seine  Ansicht  über 
Deutsch'West-Afrila.  Diese  erste  deutsche  Kolonie  hat  eine  schwere  Zeit  im  eisten  lahrzeh  >t 
ihres  Bestehens  durchgemacht,  aber  sie  hat  nunmehr  die  größten  Schwierigkeiten  übeiwu»den: 
die  Zeit  der  friedlichen  Arbeit,  der  eigentlichen  Aussaat  ist  jetzt  gekommen,  und  gerade 
hier  ist  eine  gute  Ernte  zu  erhoffen,  da  diese  Colon«  in  einem  Punkt  alle  anderen  über- 
trifft. Sie  bietet  dem  deutscheu  Ansiedler  Gelegenheit,  wenn  auch  nur  durch  Ernst  und 
Arbeit,  sich  und  seinen  Nachkommen  dauernd  eine  deutsche  Heimat  über  dem  Oecan  an 
der  Grenze  der  Tropen  zu  schaffen,  wo  er  nicht  vergessen  ist,  sondern  unter  dem  Schutze 
einer  örtlichen  deutschen  Regierung  sein  deutsches  Wesen,  seine  deutsche  Art  und  Sitte 
sich  und  seinem  Vatcrlande  erhalte»  kann,  — 

Wir  stimmen,  im  Ganzen  genommen,  dem  Urtheile  Wissmanns  über  den  inneren 
Werth  des  Buches  bei,  wünschen  aber  bei  ferneren  Aufligen  den  sprachlichen  und  snntac« 
tischen  Ausdruck,  der  an  manchen  Stellen  viel  zu  wünschen  übrig  läßt,  einer  gründ» 
liehen  Verbesserung  unterzogen.  U.  ~. 
Bibliographische  Notizen. 
Ovnnorifz  der  Psychologie  auf  expen» 
mcntcU«  Grundlage.  Dargestellt  von 
OswaldKülzc,  Prioatdocenten  an  der 
Universität  Leipzig.  Mit  1«  Figuren 
im  Texte.  Leipzig,  Verlag  von  Wil- 
helm Engelmann. 

Külze,  gegenwärtig  Professor  der  Philo- 
sophie an  der  Universität  Würzburg,  ist 
ein  Schüler  Wunbts.  Ihni  ist,  und  mit 
Recht,  die  Psychologie  leine  philosophische, 
sondern  eine  Erfahrungswissenschafr.  Wohl 
huldigen  allen  neueren  Psychologen  diesem 
Grundsatz!,  noch  nie  ist  aber  die  Seelen» 
lehre  so  conseanent  von  aller  metaphysischen 
Spccullltion  befreit  und  ausschließlich  als 
eine  Physische  Wissenschaft  behandelt  worden, 
wie  von  Külze.  So  läßt  er  die  Frage, 
was  die  Seele  ist,  ganz  aus  dem  Spiele; 
ein  tiansccndentlllcs  Bewußtsein,  eine 
substantielle  Seele,  ein  immaterieller  Geist 
und  Aehnliches  sind  ihm  nicht  Vorwürfe 
wissenschaftlicher  Erörterung,  weiden  daher 
ganz  außer  Acht  gelassen  und  in  das  Gebiet 
der  Metaphysik  verwiesen.  Bezeichnungen, 
wie  die  erwähnten,  sind  ihm  nichts  Anderes 
als  Ausdrücke,  welche  dassemae  an  den  Er- 
lebnissen andeuten  sollen,  was  von  erlebenden 
Individuen  abhängig  ist.  Die  subjeetwen 
oder  subjectioirten  Vorgänge,  Bewußtsein«' 
thatsachen,  psychischen  oder  geistigen  Zu- 
stände haben  für  ihn  nur  diesen  Sinn,  und 
das  Bewußtsein,  die  Seele  oder  der  GM 
stellen  uns  die  Summe  aller  solcher  Er» 
scheinungen  in  unserem  Eprackgcbrauche 
dar.  So  ist  dem  Verfasser  die  Psychologie 
eine  vollständige  Beschreibung  der  von  er- 
lebenden Individuen  abhängigen  Eigen- 
schaften der  Erlebnisse.  Dazu  gehören  nicht 
nur  solche,  die  leinen  objecliven  Zusammen- 
hang darstellen,  also  lediglich  individuelle 


Zustände  sind,  wie  Affccte,  Triebe  und 
dergleichen,  sondern  auch  Thatsachen,  die 
zugleich  ein  vom  Indimduum  unabhängiges 
Verhalten  aufweisen  und  somit  auch  einer 
naturwissenschaftlichen  Untersuchung  anheim- 
fallen, wie  die  Vorstellung  so  bjecte  mit  ihren 
raum-zeitlichen  Beziehungen.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  behandelt  Külze  zunächst 
die  Elemente  des  Bewußtseins,  wobei  er 
sich  ganz  besonders  der  experimentellen 
psycho-physischen  Methode  befleißigt.  Als 
Elemente  des  Bewußtseins  betrachtet  er  die 
Empfindungen,  als  welche  er  diejenigen 
einfachen  Bewußtseinsuorgänae,  deren  Ab- 
hängigkeitsbeziehunge»  zu  bestimmten  ner- 
vösen Organen  in  Peripherie  un)  Eentium 
des  Gehirns  stehen,  ansieht,  und  die  Ge- 
fühle, die  sich  als  Lust  und  Unlust  charalte» 
risiren.  So  haben  die  Gefühle  leine  oojective 
Bedeutung  neben  ihrer  psychologischen,  sie 
sind  etwas  rein  Subjcctiucs,  während  die 
Empfindungen  auch  eine  dem  Subjcct 
unabhängige  Seite  aufweisen.  Bei  den 
Empfindungen  sind  Qualität  und  Intensität 
zu  unterscheiden.  Der  eigentliche  Rcichthum 
unseres  Seelenlebens  deruht  hierauf.  So 
kann  man  etwa  13  NUN  unterscheidbaie 
Qualiläten  der  Empfindungen  unterscheiden, 
deren  Zahl  noch  durch  die  mannigfaltigen 
Eombinationen  dieser  Elemente  und  durch 
die  unterscheidvaren  Zustände,  in  denen 
iede  Qualität  nach  ihren  Eigenschaften  ge» 


Vibliogiaphische  Notizen. 
535 

geben  sein  kann,  wesentlich  «höht  wird. 
Ganz  außerordentlich  arm  erscheint  gegen- 
über der  Empfindung  der  qualitative  Be- 
stand der  Gefühle,  die  sich  nur  in  die  beiden 
Gruppen  der  Lust-  undUnlustgefühle  scheiden 
lassen.  —  In  einem  zweiten  Theile  wird 
dann  von  den  Verbindungen  der  Bewußt- 
seinselementc  gehandelt,  die  uns  als  Ver- 
schmelzung und  als  Verknüpfung  entgegen- 
treten. Jene  ist  dadurch  charalterisirt, 
daß  die  Analyse  der  in  ihr  enthaltenen 
Elemente  durch  die  Verbindung  erschwert, 
diese  dagegen  dadurch,  daß  die  Analyse  der 
von  ihr  enthaltenen  Elemente  durch  die 
Verbindung  erleichtert  ist.  Vei  dm  Ver- 
knüpfungen werden  taun  räumliche  und 
zeitliche  unterschieden  und  deren  Eigenschaften 
und  Beziehungen  erörtert.  Ein  dritter 
Theil  des  Werkes  beschäftigt  sich  endlich 
mit  dem  Zustande  des  Bewußtseins,  wobei 
noch  die  Frage  des  Willens  und  des  Selbst- 
bewußtseins, sowie  Schlaf,  Traum  und 
Hypnose  zur  Sprache  gebracht  werden. 
II.  0. 

Grundzüge  der  pliysiowgischc«  Psycho- 
logie. Von  Wilhelm  Wunbt,  Pro« 
fessor  an  der  Universität  Leipzig.  Vierte 
umgearbeitete  Auslage.  Zwei  Bände. 
Erster  Band  mit  143  Holzschnitten. 
Zweiter  Band  mit  94  Holzschnitten. 
Leipzig,  Verlag  von  Wilhelm  Engel- 
MIINN. 

Zwei  J  ahrzehnte  sindnunmehr  verflossen, 
seitdem  Wilhelm  Wundt  mit  seiner  physio- 
logischen Psychologie  vor  die  Oeffentlichteit 
trat.  Es  war  im  Jahre  1874,  als  das 
Werl  zum  ersten  Male  erschien;  seitdem 
hat  es  vier  Aussagen  erlebt  und  einen  Welt- 
ruf erlangt,  ist  es  doch  ein  »timäai-cl  wnrlc, 
wie  wir  auf  diesem  Gebiete  lein  zweites 
besitzen.  Die  experimentelle  Methode,  die  von 
Ernst  Heinrich  Weber  in  genialer  Weise  in 
die  psychologische  Forschung  eingefühlt  und 
von  Fechner  systematisch  ausgebildet  worden 
ist  zu  ü,  Zwecke  der  Ergründung  der  Wechsel- 
beziehungen zwischen  den  physischen  und 
psychischen  Vorgängen  de«  Lebens,  sie  ist 
von  Wundt  in  einer  Weise  entwickelt  und 
vervollkommnet  worden,  daß  die  »Leipziger 
psychologische  Schule"  heute  die  Hegemonie 
ausübt.  Wenn  auch  Manches  von  der  Lehre 
Wundts  noch  problematisch  ist,  Manches 
Widerspruch  herausfordert,  so  hat  er  doch  in 
seinen  „Grundzügen  der  physiologischen 
Psychologie"  ein  Werk  von  eminenter  Be- 
deutung, von  klassischem  Werthe  geschaffen, 
ein  Wert,  das  wohl  fundirt  und  fest  ge- 
fügt ist,  dessen  Grundpfeiler  sicher  stehen, 


wenn  auch  der  innere  Ausbau  noch  manche 
Veränderungen  nothig  machen  wiro.  Dies- 
seits wie  jenseits  des  Oceans,  in  der  alten 
wie  in  der  neuen  Welt,  hat  Wundt  begeisterte 
Anhängergefunden,  noch  nie  ist  ei»  Psycholog 
bei  aller  Gelehrsamkeit,  wir  mochten  sagen, 
so  populär  gewesen,  als  Wundt,  allerdings 
nicht  von  einer  Popularität,  wie  sie  Bulwer 
meint,  wenn  er  sagt:  »Wir  werden  populär, 
indem  wir  affectiren,  ärmer  an  Geist  zu 
sein,  als  wir  wirklich  sind,"  sondern  von 
einer  Popularität,  wie  sie  auf  biologischem 
Gebiete  Darwin,  oder  auf  allgemein  natur- 
wissenschaftlichem Alexander  von  Humboldt 
errungen  haben,  einePopularitätdieFührer- 
schuft  bedeutet.  Wenn  nun  auch  die  An- 
schauungen Wundts  in  den  betreffenden 
K«ise,i  sattsam  bekannt  sind  und  auch  in 
einem  Essay  in  diesen  Blättern  bereits  der- 
selben eingehender  gedacht  worden  ist,  so 
hat  es  eine  besondere  Äewandtniß,  wenn 
wir  der  neuen  Aussage  seiner  „Grundzüge 
der  physiologischen  Psychologie"  hier  Erwäh- 
nung thun,  indem  das  Werk  nicht  nur  iu 
allen  Theilcn  eine  gründliche  Umarbeitung 
erfahren  hat,  sondern  indem  ihm  auch 
in  einem  speciellcn  Punltc  eine  wesentliche 
Ergänzung  und  Erweiterung  zu  Theil  ge- 
worden ist,  durch  die  es  namentlich  für  den 
Forscher  werthvoller  geworden  ist  und  an 
Brauchbarkeit  für  denselben  außerordentlich 
gewonnen  hat.  Iu  den  zwei  Jahrzehnten 
von  Wundts  Thütigleit  auf  psycho» 
physiologischem  Gebiete  hat  sich  für  die 
betreffenden  Untersuchungen  eine  eigenartige 
Methodik  herausgebildet,  wie  sie  in  Wundts 
Laboratorium  geübt  wird.  Dieser  ver- 
änderten Lage  ist  nun  dn  Verfasser  in  der 
neuen  Aussage  des  Werkes  durch  eingehen- 
dere Ecürtemng  der  principicllen  methodo- 
logischen Probleme  und  durch  eine  genauere 
Beschreibung  der  wichtigsten  technischen  Hilfs- 
mittel gerecht  geworden,  wodurch  er  gewiß 
Vielen,  namentlich  denen,  die  sich  mit  psycho- 
physiologischen Forschungsarbeiten  beschäfti- 
gen, einen  großen  Dienst  erwiesen  hat. 
Nicht  unerwähnt  wollen  wir  hierbei  lassen, 
daß  auch  die  Verlagshandlung,  die  seit 
ihrem  Bestehen  eine  besondere  Ehre  darin 
gesucht  hat,  nicht  nur  bedeutende  wissen- 
schaftliche Werke  herauszugeben,  sondern 
sie  auch  in  möglichster  Vollendung  erscheinen 
zu  lassen,  daß  die  Verlagshandlung,  sagen 
wir,  die  Erreichung  des  genannten  Zweckes 
durch  reichere  Ausstattung  des  Werkes  mit 
gut  ausgeführten  Holzschnitten  in  dankens» 
wcrthester  Weise  gefördert  hat. 
11.0. 


536 

Nord  und  Süd. 

Asten  und  Europa.  Nach  altägnvtischen 
Denkmälern  von  W.  Max  Müller.  Mit 
einem  Vorworte  von  Georg  Ebers. 
Mit  zahlreichen  Abbildungen  inZinlotvpie 
und  einer  Karte.  Leipzig,  Verlag  von 
Wilhelm  Gngelmann, 
Wir  haben  hier  das  Werl  eines  jüngeren 
Aegyptologen  vor  uns,  der  sich  bereits 
manche  Sporen  auf  dem  Gebiete  gelehrter 
Forschung  verdient  hat.  Waren  seine  bis- 
herigen Arbeiten  ausschließlich  seiner  Fack- 
disciplin  gewidmet  und  schwersten  Kalibers, 
so  wendet  er  sich  in  dem  vorliegenden 
Buche  an  einen  weiteren  Leserkreis.  Der 
Geschichtsforscher,  der  Geograph  und  Ethno- 
graph, wie  der  Kunsthistoriker  und  Archäo- 
loge, finden  nicht  nur  außerordentliche 
Anregung  in  dem  Werke,  sondern  auch  Be- 
friedigung. Ein  reiches  und  wcrthvolles 
Material  ist  hier  kritisch  gesichtet  mit  grülter 
Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit  zusammen- 
getragen worden,  worauf  dann  der  Ver- 
fasser das  Gebäude  der  eigenen  Schluß- 
folgerungen errichtet,  die  nicht  seilen  von 
den  althergebrachten  und  breitgetretenen 
Wegen  abweichen,  so  bah  auch  dem  Weile 
eine  außergewöhnlich  originelle  und  neue 
Ausblicke  eröffnende  Seite  eigen  ist,  wob,i 
der  Verfasser  zwar  kühn  und  mit  viel 
selbstbewußter  Energie  zu  Werke  geht,  ohne 
sich  jedoch  auf  gewagte,  in  der  Luft 
schwebende  Svecullltionen  einzulassen.  Von 
ganz  besonderem  Interesse  sind  die  Ergeb- 
nisse des  Verfassers  für  Länder-  und  Völker- 
kunde; in  dieser  Beziehung  ist  noch  kein 
Werl  vorhanden,  das  dem  von  Müller 
ebenbürtig  an  die  Seite  gestellt  werden 
könnte.  Einzelsorschungen  giebt  es  wohl 
nach  dieser  Seite  hin  mehrfach,  allerdings 
oft  sehr  verborgen  und  namentlich  für 
weitere  Kreise,  worunter  wir  nicht  Laien 
in  der  Wissenschaft  verstehen,  aber  nickt 
Aegyptologen,  sckwer  zugänglich.  Ter  Stoff 
hat  aber  nicht  allein  für  letztere  Bedeutung 
und  würde  nur  zum  kleineren  Theil  vcr- 
wcrthct  sein,  gelangte  er  nur  in  die  Hände 
dieser.  Das  Wert  ist  aber  nicht  nur  da- 
durch von  Wichtigkeit,  daß  es  das  sehr  zer- 
streute und  vielfach  vergrabene  Material 
zu  einem  G.»nzcn  vereint,  sondern  auch  durch 
dessen  Deutung.  Zwardürftees  hier  manchem 
Widerspruche  begegnen,  zumal  es  sehr 
selbststandig  und  ohne  viel  Rücksicht  auf 
Anderer  Meinungen  zu  nehmen,  vorgebt. 
Dies  wäre  nun,  wenn  die  entgegengesetzte 
Ansicht  wohl  begründet  wird,  sehr  löblick, 
vorausgesetzt,  baß  dabei  auch  die  gehörige 
Form  und  der  schicklich«  Ton  gewahrt 


bleiben.  Nun  ist  Müller  allerdings  außer- 
ordentlich vorsichtig,  nicht  leicht  wird  er  sich 
eine  Blöße  geben,  von  geistreichen,  aber  leicht- 
fertigen Conjecturen  hält  er  sich  fern,  und 
wenn  einmal  eine  Schlußfolgerung  auf  nicht 
allzu  festen  Füßen  steht,  so  ist  davon  wohl 
Niemand  mehr  überzeugt,  als  er  selbst,  den 
bann  freilich  auch  die  Schuld  nicht  trifft, 
sondern  die  Mangelhaftigkeit  und  Dürftigkeit 
der  lleberlieferungcn.  Er  ist  sich  aber  auch 
dieser  seiner  Vorzüge  bewußt  und  macht  von 
diesem  Bewußtsein  ausgiebigen  Gebrauch. 
Wir  bedauern,  auf  Einzelheiten  des  ebenso 
gehaltvollen,  wie  gedankenreichen  Werkes 
hier  nicht  näher  eingehen  zu  können,  es  ist 
eine  überaus  verdienstvolle  Arbeit,  sowohl 
durch  die  mit  peinlicher  Sorgfalt  erzielte 
Vollständigkeit  im  weitesten  Rahmen,  wie 
durch  die  wissenschaftliche  Verwerthung  des 
Materials,  die  immer  einen  gewaltigen 
Reiz  ausübt,  auch  wenn  man  der  Ansicht 
des  Verfassers  nickt  beistimmen  kann,  und 
zur  Polemik  herausfordernd  wirkt,  wodurch 
die  anregende  Wirkung  des  Buches  außer- 
ordentlich gesteigert  wird.  Nur  beipflichten 
können  wir  Müller,  wenn  er  am  Schlüsse 
seines  Vorwortes  bemerkt:  „Mein  verehrter 
Lehrer  Georg  Ebers  hat  diese  mühevolle 
Arbeit  mit  so  Ihätigem  Interesse  verfolgt 
und  gefördert,  daß  es  mir  doppelt  eine 
Pflicht  der  Dankbarkeit  schien,  seinen  Name» 
auf  das  Widmungsblatt  zu  setzen.  Tank 
schulde  ich  auch  der  Verlagsbuchhandlung, 
welche  die  großen  Koste»  der  Veröffentlichung 
llusschlies>lich  getragen  hat  und  den  anstelligen 
ketzern  ter  Tiuaulin'schen  Druckerei  in 
Leipzig."  Es  ist  nur  recht  und  billig,  daß 
hier  auch  der  Verlagsbuchhandlung  und 
Druckerei  rühmend  Eiaähnung  gethan  wird, 
beide  haben  sich  um  die  Ausführung  des 
schwierigen  und  Oofer  erhaschenden  Werkes 
nicht  geringe  Verdienste  erworben. 
II.  0. 

Anti.  —  ßrsccolo's  2ynan«»e.  —  Ter 
bM'!Nlic»;igc  Vruder.  —  Von  Hein- 
rich «t  c  i  n  e  n  (H,  Z>  o  r  k).  Dresden,  Leip- 
zig und  Wien,  E.  Pierson. 
Die  im  Geiste  religiöser  Toleranz  ver- 
faßten Novellen  sind  inhaltlich  sehr  an- 
sprechend geschrieben,  ebenso  ist  an  ihnen 
zu  rühmen,  daß  jedes  lästige  Vorbringen 
einer  Tendenz  vermieden  ist,  —  nur  die 
Form,  in  welcher  sie  uns  geboten  weiden, 
laßt  Manches  zu  wünschen  übrig,  stilistische 
Nachlässigkeiten  und  sprachliche  Unschön» 
heilen  sind  uns  wiederholt  aufgefallen. 


Vibliogrllphische  Notizen. 
53? 

Voran  die  Liebe.  Von  S.  Flitz.  Kleine 
Geschichten.  Dresden  und  Leipzig,  Carl 
Reißnei. 

Die  kleinen  feuillctonistischen  Plaude» 

reien  sind  ebenso  unterhaltend,  wie  stilistisch 

elegant  geschrieben  und  erscheinen  uns  muster« 

giltig  für  das  Genre,  dem  sie  angehören. 

MI. 

Zwischen  zwei  Nächten.  Neue  Gedichte 
von  Gustav  Falle.  Stuttgart,  Co  tra- 
sche Buchhandlung. 
Schon  der  Umstand,  daß  der  alt- 
rcnommirte  Verlag  von  ssotta  das  neue  Büch- 
lein des  Hamburger  Dichters  in  Verlag 
genommen  hat,  beweist,  daß  wir  es  hier 
mit  einem  ganzen  Mann  zu  thun  haben, 
einer  Persönlichkeit,  welche  sich  erbebt  über 
das  Gros  der  Lyriker.  Und  in  der  That, 
Falte  rcpiäsenlirt  eine  Eigenart,  ebenso  weit 
entfernt  von  den  Gefühlsausbrücten  der 
lyrischen  Dichter  älterer,  Wieron  den  himmcl- 
stürmenden,  phrasenvollen,  Welt-  und  form» 
verachtenden  Gaben  neuerer  Richtung.  Es 
ist  ein  gewaltiger  Fortschritt,  den  er  seit 
seinem  ersten  Buche  »Tanz  und  Andacht" 
gemacht  hat.  Verrieth  sich  auch  dort  schon 
der  begabte  Poet,  so  war  doch  Manches 
noch  unabaeNäit,  manche  Vorwürfe  der 
dichterischen  Behandlung  nicht  ganz  würdig 
und  wiedcrManches  in  den  mystischen  Schleier 
gehüllt,  den  jetzt  die  moderne  Poesie  und 
die  moderne  Malerei  so  sehr  lieben.  Bis 
auf  wenige  Ausnahmen  hält  sich  „Zwischen 
zwei  Nächten"  von  mystischen  Gcdm.ken 
frei.  Eine  volle,  eigenartige  Persönlichkeit 
tritt  uns  hier  entgegen,  eine  wunderbare 
Zartheit  der  Naturauffassung  und  bei  allem 
Pessimismus,  der  des  Dichters  Seele  er- 
griffen hat,  doch  eine  versöhnliche  Weltweis» 
yeit,  welche  jede  einzelne  poetische  Gabe 
abgeklärt  erscheinen  lassen. 
So  kommt  auch  der  Humor  in  dem 
Vuche  zu  seinem  Rechte,  („Deutschland  über 
Alles",  „DieConcurrcnten",  „Am  Himmels» 
thron"),  wenn  er  auch  nur  mit  einem  Auge 
lacht  und  im  anderen  die  Manncsthräne 
zeigt. 

Daß  die  Form  tadellos  ist,  versteht  sich 
bei  Falle  ron  selbst;  und  der  Dichter  besitzt 
auch  die  seltene  Kunst,  mit  kurzen  Strichen 
unendlich  viel  zu  sagen.  Es  sei  gestattet  zur 
Chi  Ii  lllterisiru  ng  des  Dichters,  —  (der  den 
Lesern  dieser  Zeitschrift  durch  die  im  J  uli- 
Hefte  veröffentlichten  Dichtungen  bereits 
auf's  Vortheilhllfteste  bekannt  geworben  ist. 
D.  Red.)  —  eine  kurze  Probe  zu  geben: 
Zwiegespräch. 

<5!n  müde«  Auge,  ein«  liihlc  Hand, 


Ein  güt'gei  Mund  mit  einem  leisen  Zug 
Von  Schemel«!,  <5r  war«,  der  vor  mir  stand, 
Den  Ich  von  je  alz  Freund  in»  Herzen  trug. 
Ich  lomm'  zu  mahnen,  sprach  sein  sanfte«  Wort. 
Sei  guten  Muthe«,  «en»  wir  Lehn,  Du  weiht, 
E»  ist  nach  einem  stillen  Frieden«»«, 
Und  dat!  »>an,  die  d » It  wohnen,  selig  pnist. 
Zuvor  tisch'  ich  «in  müde»  Flackerliclt, 
Nüsse  »»»  einer  tranken  Stirn  den  Schmerz, 
Vin  Kind  Vin  Held,  tliu  «lautlich  Angesicht. 
Ein  Iraiserhermelin,  sin  Mörderherz. 
„Gewaltiger,  letzt  siehit  3»  schrecklich  »»«!' 
Wie  auch  mein  Thun  Dich  ängstigt,  ich  bin  gut. 
Zerstreute  Kinler  Hot'  ich  euch  räch  Hau«, 
Daß  wieder  ihr  im  Schoh  der  Mutter  ruht. 
<5>n  verlorenes  Leben.  Lyrisches  Epos. 
Vontzugo  Kegel.  Dresden,  E.Pierson. 
Es  sind  kleine  Gedichte  verschiedensten 
Genres,  welche  zusammen  die  Schilderung 
eines  verfehlten  Daseins  geben:  darunter 
echte  PerltU  deutscher  Lyrik,  welche  an  die 
früheren  Schöpfungen  desDichters  in  seinem, 
bereits  in  vierter  Auflage  erschienenen  Buche: 
„Gegen  den  Strom"  erinnern.  I«. 

LinßeMnLene  Li!c!,er.  LLZprecItUu^  »Itcli  HuH»lt!il  «sei-  Ke,l«eUon  vulbeliuiteu. 

vlu,  2«ilin»Ui>«ll  in  lätt«i»t<ur,  Hn»i5 

>VII!t, 

2>«~v«l«l,  Orl,  >v<.>tte,ku<:liHII,  l>wKtt»«>«: 
Ki-tllüone  ?»8«.  »it  24  ,~»,!>>lc!u,!ß<:n.  vrexlen, 
D«il«l>«lil»,itcl»  lt~li!n««i«,«f«  llj?0 — 71.  In 


Nord  und  2üt>. 

D»»  usus  "u««»»«iu»  XIIIIIII«!"»«»  IN 

Xllln»»,  l>[°<5li°li,  8„  lliüißo  L,»„l«,  !,u«l!lpiol, 

Di»  Xc>!Av»nai»lc«it  v«iti">«ni««i  2«> 

t»nnn»  d«i  8t»6tsiv«lt«iul>"»n  nncl 

<li«  iscüitllol»«!!  nn<!  t««uni»cn«n  Hill«! 

in  inl«»7  ~n»Mnl7NN«?.  "III  13  «in» 

?l»n  von  2nn»ps»l  mil  lcuii«n»  V« ff» 

v«i«ei  nnn  8tc» » »snv« I« « ioQ ni« »  in 

nns»ii«en»i  NNN  <l«Nt«!N«l  »pinen» 

n»t<!«nt»un«  ItstoilN,  INI I i I » « I  ÜU!  r<i5,wr„„8 

"«in,  >v„  Vn«.v!<i„i>ü6l«c!i«»  u»i«!du<:l!  sei  rz>!»' 

Lonv« i» ?» 1-1 »« I« n« nt»in,  "  V,  lulelne««, 

I n i « 1 « ,  i>r.  >>!i!l,  lüo!>2r6,  Die  1  I!e»l<?l2«>ll>>!  >!?r 

bchlestsche  Vuchdiuckeiei,  Kunst»  und  veilugl'Anstuü  o.  2.  Schonlaendn,  VI»! » » . 

U»l>e«cht!g!ei  Nuchdiuil  uu»  »em  Inhal!  di»<n  Jellschlift  untlisogt.  U » I > « ii » < ! u ng « ech !  ourulhall««. 


Uebsszoolson«  Nonot«  in  önn  yl-ü88tvn  8täclt«n  allor  Wylttnoll». 


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Xäuüied  dei  n,Uen  H.potde^srn  uilä  I lliuei- lävaLgei- Häiiaisru . 


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November  l,8Y5. 
Inhalt. 

!N.  ötona  auf  schloß  ötrzebowitz  (<vesterr.>5>chlesien). 

Nur  zwei  Veilchen.  Novelle  !,  3H 

Alfred  ötoeßel  in  Dresden. 

wolfzang  «irchbach  -  "0 

tudwig  lacobowski  in  Verlin. 

Gedichte  "76 

Rudolf  von  Gottschall  in  leipzig. 

Die  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts  "78 

<L.  Maschke  in  Breslau. 

Rußland  in  Centtalasien  2IX) 

Alexander  Tille  in  Glasgow. 

Thomas  Huxley  222 

Hans  Hermann  in  Breslau. 

Modeblnmen  25  " 

Richard  Beck  in  Zwickau  i.  5. 

Mont  Saint  Michel,  <Lin  Reisebild  259 

Bibliographie  26" 

leremi«  Voühelf,  Auigewilhüe  werte.  (Mi!  I llusti» ! I « nen) 

Vibliographische  Notizen  2Ü9 

hierzu  ein  Portrait:  Wolfgang  tlirchbach. 

Radin»ng  von  Johann  lindner  in  München. 

,ll»l>  n»l>  sld '  nlcheln!  «m  Anfang  jede,  Man»»»  !n  heften  IN«  i«  einer  «»nflbellag». 

—  "  pie!»  p«  <D»«I«»I  («  Y»N»>  »  M»»l.  """ 

Uli,  snchhandlnngen  »nd  postanstaüen  nehmen  i«d«l»it  Vestellnngen  an. 

Alle  auf  den  redactionellen  Inhalt  von  "Mord  und  Süd"  be, 

züglichen  Sendungen  sind  ohne  Angabe  eines  Personennamens  zu 

richten  an  die 

Redaction  von  „Oord  und  Süd"  Breslau. 
Ziebenhufenerstr.  ",  "3,  >(5. 


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,')'.!-, «.-:""r~!"N5?!ri!M  V  53äi'?lli,xsäö!'MLreÄ« 


Aord  und  Süd. 

Cine  deutsche  Monatsschrift. 

Herausgegeben 

ron 

Paul  tindau. 

I.XXV.  Vand.  -  November  "895.  -  Heft  224. 

(Mit  einem  poriloi,  in  «odilung-  wolfgang  Rilchbach,) 

Breslau 

5chles<sche  Vuchlüuckelei.  «nnst.  und  ve  rlags.Aüstalt 
v.  2.  3chottlaender. 


EMPTY 


MM 

H,yv<'2 

2~lur  zwei  Veilchen. 

Novelle, 

von 

M.  Stonll. 

:chloß  -tizebswih  (Vesteir.-chlesien). 

^losepha  war  eine  süße,  liebe  kleine  Frau,  nicht  gerade  glücklich, 
aber  auch  nicht  unglücklich.  Ihr  Leben  floß  in  der  Ungewissen 
Dämmerung  dahin,  die  dein  Morgen  oder  der  Nacht  vorangeht, 
Ihr  Gatte,  Gerhard  Hiller,  war  zu  Zeiten  so  übelgelaunt  und  ver- 
drießlich, daß  sie  es  manchmal  bereute,  ihn  geheirathet  zu  haben.  Doch 
konnte  sie  Niemand  einen  Vorwurf  macheu,  denn  sie  hatte  sich  ihr  Schicksal 
selbst  gewählt.  Ihr  Vater  und  ihre  Geschwister  —  die  Mutter  war  schon 
lange  gestorben  —  warnten  sie  vor  der  Ehe  mit  dem  um  zwanzig  labre 
älteren  Manne',  sie  aber  hörte  auf  Keinen.  Gerhard  schwnr,  daß  er  sie 
auf  den  Händen  tragen  wolle,  uud  sie  glaubte  es  ihm. 
Das  junge  Paar  nahm  seinen  Wohnsitz  auf  Hillers  Landgut  Altdorf 
in  einer  österreichischen  Provinz. 

Schon  die  Flitterwochen  bereiteten  Joseph«  manche  Enttäuschnng.  Der 
Hagestolz,  der  sich  spät  entschließt,  eine  Ehe  einzugehen,  bringt  seiner  Fran 
als  Morgengabe  ein  ganzes  System  verknöcherter  Gewohnheiten  und  Eigen- 
heiten mit,  für  das  er  eiue  liebevolle  Rücksicht  als  etwas  Selbstverständ- 
liches verlangt.  Um  losepha  das  Studium  seiner  Launen  zn  erleichtern, 
beeilte  sich  Gerhard,  sie  sogleich  mit  ihnen  bekannt  z»  machen. 
Sie  fand  bald,  daß  er  eine  zum  Mindesten  eigenthümliche  Art  habe, 
sie  auf  den  Händen  zn  tragen.  Hatte  sie  irgend  ein  Nersäumuiß  verschuldet, 
war  eine  Schleife  ihres  Kleides  ungeknüpft,  stand  das  Mittagessen  um  füuf 
Minuten  zu  spät  auf  dein  Tisch:  so  konnte  er  außer  sich  gerathen  uud 
schmähen,  als  ob  sie  ein  Verbrechen  begangen  bätte.  Anfänglich  wollte  sie 
10* 


~0  N.  Ltona  in  Strzebowitz  (Vefterr.-Schlesien). 

verzweifeln.  Doch  als  sie  sah,  daß  er  wegen  jeder  Kleinigkeit  in  die  gleiche 
Aufregung  gerieth,  stumpfte  ihre  Reue  sich  ab,  und  sie  nahm  die  Ausbrüche 
seines  Zorns  gleichgiltig  hin. 

Gerhard  gehörte  zu  jeuen  Männern,  die  klng  genug  sind,  ihrer  Übeln 
Lauue  nur  vor  ihrer  Frau  die  Zügel  schießen  zu  lassen,  in  Gesellschaft  aber 
stets  heiter,  gesprächig  und  unterhaltend  erscheinen.  Wenn  sie  besonders 
gut  aufgelegt  sind,  werden  sie  sogar  witzig.  Solche  Männer  bleiben  ihrer 
Frau  gegenüber  stets  im  Vortheil;  denn  wenn  diese  unter  dem  Druck  der 
kleinlichen  Quälereien,  die  sie  zu  Hause  erduldet,  einmal  es  wagt,  ihrem 
Gebieter  vor  Zeugen  ein  heftiges  Wort  zn  sagen,  so  läßt  er  es  mit  der 
Miene  eines  Märtyrers  über  sich  hinbrausen,  wohl  wissend,  daß  Alle,  die 
es  gehört,  auf  feiner  Seite  stehen  werden.  „Welche  unbefonnene  Frau! 
Der  arme  Mann  mag  bittere  Stunden  erleben!" 
Joseph«  hatte  ihrem  Gatten  —  vielleicht  noch  mehr  sich  felbst  —  ein 
Düchterchen  geschenkt,  und  das  kleine  Wesen  füllte  ihr  ganzes  Herz  aus. 
Ihm  erzählte  sie  ihr  Leid  nnd  ihre  Freuden,  als  es  noch  wie  eine  ge- 
schlossene Blume  in  seinem  Vettchen  lag,  und  wie  es  später  die  Aermchen 
um  ihren  Hals  schlang,  da  war  es  ihr,  als  ob  ihr  in  dem  Kinde  eine 
zärtliche  Freundin  heranwachse. 

Indessen  follte  ihr  bald  vom  Schicksal  eine  zweite  Freundin  zugeführt 
werden,  die  an  Jahren,  Erfahrung  und  weltlicher  Klugheit  J oseph«  weit 
überlegen  war. 

Sie  hieß  Helene  von  Wallheim.  Ihr  Mann,  ein  reicher  Fabrikant, 

war  das  genaue  Gegentheil  von  losephas  Gatten:  still  und  verschlossen  in 

großer  Gesellschaft,  doch  von  liebenswürdiger  Gesprächigkeit  in  vertrautem 

Kreise,  dabei  jung,  kraftvoll  und  gütig,  mit  einem  für  einen  Mann  fast  zu 

weichen  Gemüth.  Cr  betete  Helene  an;  sie  erfchien  ihm  als  das  Muster 

jeder  Vollendung.  Und  Helene  war  es  zufrieden. 

Sie  liebte  Heinrich  auf  ihre  Art.  Nicht  blind  nnd  abgöltifch,  nicht 

heiß  nnd  leidenschaftlich,  fondern  mit  ruhiger  Zärtlichkeit.  Sie  war  sich 

über  feine  Fehler  und  Vorzüge  ganz  klar  nnd  wog  die  einen  gegen  die 

anderen  mit  Ueberlegnng  ab. 

Nnd  weil  feine  Vorzüge  zu  jenen  gehörten,  die  ihr  sympathisch  waren 
—  es  gab  auch  solche,  die  sie  nicht  leiden  konnte,  z.  N.  eiserner  Fleiß  und 
(Konsequenz  —  seine  Fehler  aber,  die  «llzngroße  Nachgiebigkeit  und  der  Hang 
zur  Verschwendung,  sehr  leicht  sich  ertragen  ließen,  war  sie  mit  Heinrich 
vollkommen  zufrieden.  Erfchmückte  ihr  Leben  mit  Kostbarkeiten,  sie 
schmückte  das  seine  mit  ihrer  frühlichen  Laune. 
Sie  war  viel  zu  klug,  sich  ihm  je  mürrisch  oder  verdrießlich  zu  zeigen, 
vielleicht  auch  zu  eitel  dazu;  denn  sie  liebte  ihre  Schönheit  weit  mehr  als 
ihren  Galten.  Ihre  Schönheit  war  von  jener  eigenen  Art,  die  wie  ein 
Zauber  in  einem  Gesichtchen  aufzuleuchten  vermag,  das  uns  fönst  blaß  und 
mwedenteno  erscheint.  Der  Geist  ist  es,  der  all  die  anmuthigen  Linien 


Nur  zwei  Veilchen, 

weckt  und  das  Antlitz  gleichsam  von  innen  heraus  erblühen  läßt.  Helene 
wußte  in  solchen  Augenblicken  genau,  wie  sie  aussah,  wußte,  daß  sie  un- 
widerstehlich war. 

In  den  Maitagen  des  Jahres  1892  bereitete  ihr  Gatte  ihr  eine 
freudige  Ueberraschung.  Er  kaufte  ihr  eine  Villa  auf  dem  Lande.  Sie 
fiel  ihm  dafür  um  den  Hals  und  nannte  ihn  ihren  lieben,  einzigen  Heinrich. 
Nachdem  Helene  mit  Gatten  und  Dienerschaft  —  Kinder  hatten  sie 
nicht  —  in  das  neue  Sommerheim  übersiedelt  war,  hielt  sie  Umschau  in 
der  lieben  Nachbarschaft. 

Es  kam  die  große  Frage,  mit  wem  man  verkehren  sollte.  Frauen, 
unbedeutende,  geschmacklose  Landfrauen,  reizten  Helene  gar  nicht.  Eine 
«der  die  andere  wollte  sie  ertragen,  wenn  es  des  Mannes  wegen  sich  lohnte 
—  mehr  absolut  nicht. 

Sie  war  der  Ansicht,  daß  ein  dummer  Manu  noch  immer  mit  seinem 
Verstände  für  eine  Plauderei  ausreicht,  während  die  beschränkte  Frau  zu 
einem  lebenden  Bleigewicht  wird,  das  Einen  unbarmherzig  in  die  Tiefen 
oer  Langenweile  zieht. 

Es  traf  sich  vortrefflich,  daß  Wallheims  gleich  bei  der  ersten  Orientirungs- 

reife  in  die  nächste  Stadt  einem  alten  Studiengenossen  Heinrichs  begegneten, 

der  mit  seiner  jungen  Frau  nur  eine  Stunde  von  der  Villa  entfernt  lebte. 

Es  war  Gerhard  Hiller.  Gerhard  war  in  vorzüglichster  Stimmnng,  und 

seine  Einfälle  entzückten  Helene.  Man  beschloß,  gute  Nachbarschaft  zu 

halten.  Helene  besorgte  heimlich  nur  Eines:  daß  Hillcrs  Frau  eine  gnr 

zu  langweilige  Provinzlerin  sein  werde. 

Zwei  Tage  später  wurde  der  Besuch  iu  Altdorf  gemacht. 

„Gott,  wie  geschmacklos!"  sagte  Helene  sich,  als  sie  losepha  erblickte. 

„Himmel,  wie  elegant!"  dachte  losepha. 

Man  ließ  sich  um  einen  runden  Familientisch  nieder.  Gerhard  war 
in  seinem  Element.  Sein  Geist  phosphorescirte  förmlich.  Er  unterhielt 
feine  Gäste,  indem  er  kleine  Anekdoten  von  seiner  Fran  zum  Pesten  gab. 
losepha  war  an  diese  Erzählungen  gewöhnt,  die  dem  Gespräche  auf  ihre 
.Kosten  einen  pikanten  Reiz  gaben,  dennoch  verletzte  sie  heute  diefer  Tou. 
Sie  besorgte  nicht,  lächerlich  zu  erscheinen;  allein  sie  fürchtete,  die  Oede 
ihrer  Ehe  könnte  errathen  werden.  Auch  schien  es  ihr  nicht  die  richtige 
Art,  Frau  von  Nauheims  Interesse  zu  erregen,  au  dem  ihr  so  viel  lag. 
Für  ihr  Leben  gern  hätte  sie  mit  der  schönen,  weltgewandten  Dame  ver- 
kehrt, Sie  kam  sich  unscheinbar  neben  ihr  vor,  die  Worte  fielen  ihr 
so  blöde  von  den  Lippen,  und  bewundernd  blickte  sie  auf  .Helene,  die  fo 
anmuthig  plauderte,  so  graziös  sich  zurücklehnte  und  es  sich  gar  nicht 
merken  ließ,  daß  sie  ein  neues  Kleid  trug,  —  ein  Ereigniß,  das  man  allen 
Nachbarinnen  aus  der  Provinz  nnf  den  ersten  Blick  ansah. 
Auch  Helene  fühlte  sich  zu  losepha  hingezogen  —  um  der  Vewuuderung 
willen,  die  unverhohlen  aus  den  Augen  der  kleinen  Fran  sprach.  Sie  bätte 


~2  M.  5tona  in  Ltizebowitz  (Vestetr.«2chlesien). 
gern  init  ihr  allein  geplaudert,  denn  daß  losepha  in  Gegenwart  ihres 
Gatten  befangen  war,  hatte  sie  auf  den  ersten  Blick  gemerkt.  Eine  Frage 
nach  dem  Garten  brachte  den  erwünschten  Erfolg:  Gerhard  schlug  einen 
Spaziergang  vor. 

Die  beiden  Frauen  gingen  mit  einander,  und  Joseph«  schien  nun 
aufzuathmen.  Alles,  was  sie  sagte,  trug  den  Zauber  einer  ungesuchten 
Originalität, 

„Haben  Sie  uiel  Verkehr  in  der  Umgebung?"  fragte  Helene. 

„Leider  nicht,  und  das  ist  so  schade,  denn  ich  habe  das  Glück,  daß 

mir  so  viele  Menschen  gefallen!" 

Sie  weiß  gar  nicht,  wie  herzig  sie  ist,  dachte  Helene. 

Fast  zu  lange  dauerte  die  erste  Visite,  und  beim  Abschied  versprach 

man,  einander  oft  zu  besuchen. 

„Aus  dieser  Joseph«  ließe  sich  viel  machen,"  sagte  Helene  bei  der 
Rückfahrt.  „Ich  glaube,  es  wäre  nicht  schwer,  ihr  die  Provinzlerin  ein 
wenig  abzuschleifen." 

„Wenn  sie  nur  hübscher  wäre,"  meinte  Heinrich. 

„Hübsch?  Si~  könnte  es  dazu  bringen,  reizend  zu  sein.  Es  liegt  so 

uiel  in  ihr,  aber  es  müßte  erst  geweckt  werden.  I  hr  Männer  ahnt  ja  gar 

nicht,  daß  sogenannte  Schönheit  oft  nur  eine  geschickte  Vereinigung  zahlloser 

Künste  und  einiger  bescheidener  Gaben  der  Natur  ist.  Eine  Frau  muß  ihre 

Vorzüge  und  ihre  Schwächen  kennen  und  jene  zu  heben,  diese  zu  verbergen 

verstehen.  Die  arme  Joseph«  aber  ist  sich  weder  der  einen  noch  der  andern 

bewußt.  Sie  lebt  hin,  wie  eine  geschmacklose  Schneiderin  sie  verzeichnet, 

und  frisirt  sich,  als  ob  sie.  ihre  eigene  Köchin  wäre.  Trotzdem  gefällt  sie 

mir  viel  besser  als  ihr  Gatte." 

„Wie?  Gerhard  ist  doch  ein  famoser  Mensch!" 

„Wie  man's  nimmt.  Ein  Mann,  der  es  wagt,  in  Gesellschaft  die  kleinen 

Schwächen  seiner  Frau  zu  geißeln,  ist  der  geborene  Haustyrann  unter  vier 

Augen.  Wie  froh  bin  ich,  daß  Dn  nicht  so  bist,  Heinrich!"  lachte  sie  und 

wandte  ihm  ihr  rosiges  Gesicht  zu. 

„Aber  Gerhard  ist  so  witzig,  und  das  bin  ich  leider  nicht,"  sagte  er. 

„Dafür  bist  Du  gut,  und  das  ist  mir  tausendmal  lieber." 

II. 

Zwischen  Altdorf  nnd  der  Villa  entspann  sich  ein  lebhafter  Verkehr. 
Da  Helene  fühlte,  daß  losepha  noch  immer  eine  kleine  Scheu  vor  ihr  habe, 
trug  sie  ihr  das  Du  an.  losepha  war  selig,  und  in  ihre  Beziehungen  zu 
Helene  trat  nun  eine  innige  Vertraulichkeit.  Wie  unter  Freunden  der  eine 
Dheil  immer  der  Dominirende  ist,  so  war  es  auch  hier,  losepha  unter- 
warf sich  vollkommen  den,  überlegenen  Nrlheil  Helenens,  ließ  sich  von  ihr 
Alles  sagen  und  nahm  sogar  ihre  Rügen  mit  dankbarem  Lächeln  hin. 


Nur  zwei  Veilchen.  I  .H3 

Einmal  traf  Joseph«  Helene  vor  dem  Toilettetisch,  ihr  blonde?  Haar 
ordnend. 

„Nein,  wie  geschmackvoll  Du  Dich  frisirst,"  rief  sie  „und  —  und 
hast  doch  — 

„Viel  weniger  Haar  als  Du,  willst  Du  sagen?"  vollendete  Helene 
lachend.  „Ja,  siehst  Du,  Kind,  nicht  die  Fülle,  der  Geschmack  ist  ent- 
scheidend. Setze  Dich  einmal  nieder,  ich  will  Dir  zeigen,  wie  man  es 
macht."  Und  in  wenigen  Almuten  veränderte  sie  losephas  Aussehen  auf 
das  Vorcheilhafteste,  indem  sie  ihr  Haar  in  einen  prächtigen  Knoten  schürzte 
und  an  der  Stirn,  wo  es  früher  straff  augespannt  gewesen,  in  leichten 
Wellen  empor  hob. 

„Du  verstehst  aber  auch  Alles!"  rief  Joseph«. 

Nun  hüllte  Helene  sie  in  ein  Morgenkleid  ans  weicher  rosa  Seide 

und  führte  sie  vor  den  Spiegel.  Joseph«  erruthete  vor  Vergnügen,  als  sie 

sich  erblickte. 

„Siehst  Du,  wie  entzückend  Dir  helle  Farben  stehen!  Du  kleidest 

Dich  wie  eine  Matrone.  Unter  uns  gesagt:  Du  vernachlässigst  Dich  sogar. 

Wenn  ich  an  Deinen  grauen  Schlafrock  denke,  in  dem  ich  Dich  letzthin 

überraschte  —  brr!  Wie  kannst  Du  hissen.  Deinem  Mann  zu  gefallen, 

wenn  er  Dich  mit  abgerissenen  Nandschleifen  und  fehlenden  Knöpfen  sieht?" 

„Cr  sieht  mich  ja  gar  nicht  an!" 

„Das  begreif  ich.  Glaub'  mir,  Joseph«,  wir  Frauen  sollen  stets  auf 
unser  Aeußeres  achten.  Die  Männer  sind  eitler  auf  uns,  als  wir  es 
ahnen,  und  wenn  wir  aufhören,  uns  zu  schmücken,  fangen  wir  an,  sie  zu 
langweilen.  Es  ist  viel  besser,  man  sieht  wie  die  Tochter  seines  Gatten 
aus,  als  wie  seine  Mutter." 

„Ach,  Helene,"  seufzte  Joseph«,  „wenn  Du  Gerhards  Launen  kennen 
würdest,  verginge  Dir  vielleicht  auch  die  Lust,  an  Dich  zu  denken!" 
„Ich  würde  vor  Allem  trachten,  mit  Gerhard  gut  auszukommen." 
„Wie  denn?" 

„Das  will  ich  Dir  sagen.  Dein  ehrlicher  Charakter  wird  sich  vielleicht 
dagegen  sträuben,  doch  nicht  alle  Wege  sind  gerade,  und  die  krummen  führen 
uns  oft  «m  schnellsten  an's  Ziel,  weil  wir  sie  durchlaufen  können,  während 
wir  auf  den  geraden  breiten  Straßen  fein  schicklich  und  gemessen  dahin- 
schreiten  müssen.  Ich  würde  vor  Allem  die  Schwächen  Gerhards  studiren, 
denn  beherrschen  wir  die  Schwächen  eines  Mannes,  dann  beherrschen  wir 
ihn  selbst." 

„So  klug  bin  ich  nicht.  Ich  habe  längst  alle  Macht  über  Gerhard 
verloren." 

„So  gewinne  sie  wieder!" 
„Dazu  ist  es  zu  spät." 

„Cs  ist  nie  zu  spät,"  entgegnete  Helene.  „Hör'  meinen  Rath. 

Wenn  Du  im  Unrecht  bist  —  und  glaube  mir.  Du  bist  es  oft  —  schweig' 


m.  Ztona  in  Ztrzebon'itz  (Vesterr,-3chlesien). 
und  ertrage  seine  Launen.  Warte,  bis  Du  im  Recht  sein  wirst.  Hast 
Du  einen  eklatanten  Fall,  dann  tritt  ruhig  und  bestimmt  gegen  Gerhard 
auf.  Tobt  er,  so  laß  ihn  toben,  beharre  aber  mit  fester  Entschlossenheit 
auf  Deinen,  Standpunkt.  Sobald  sein  Zorn  verraucht,  wird  er  sein  Un- 
recht einsehen,  und  das  ist  Dein  erster  Sieg." 
„Ich  will  es  versuchen,"  sagte  Joseph«  und  umarmte  die  verständige 
Freundin. 

Eines  Tages  ruhte  Helene  auf  einer  indischen  Chaiselongue  in  ihrem 
Schreibzimmer.  Weiche,  seidene  Kissen  in  allen  Regenbogenfarben  umgaben 
sie,  eine  kostbare  Decke,  die  sie  einst  ans  Egnpten  gebracht,  breitete  sich 
über  ihre  schmaleu  Füße. 

Frau  von  Wallheim  war  nicht  etwa  krank;  im  Gegentheil,  die  süße 
Ruhe,  der  sie  sich  hingab,  war  das  Zeichen  eines  besonderen  Wohl- 
befindens. 

Wie  eine  Rose  auf  den  Wellen  des  Meeres,  wiegte  sie  sich  in  ihren 
Träumen.  Mit  immer  gleichem  Vergnügen  ließ  sie  die  Augen  über  all 
die  Kostbarkeiten  uud  bunten  Gedächtnißzeichen  gleiten,  die  sie  von  ihren 
Reisen  mitgebracht  und  mit  tändelndem  Geschmack  auf  Tischchen  nnd 
Eonsolen  verstreut  hatte.  Ihr  Zimmer  war  ein  kleines  Museum,  dessen 
Werth  seine  Besitzerin  auf  eine  capriciöse  Weise  bestimmte.  Manche  Band- 
schleife, manche  welke  Blume  galt  ihr  mehr  als  der  ,«rug  aus  Pompeji 
oder  die  kunstvolle  Elfenbeinschnitzerei,  welche  die  Verwandlung  der  Daphne 
darstellte.  Nur  Helene  verständlich,  erzählte  jedes  Ding  seine  Geschichte 
und  zauberte  entschwundene  Bilder  vor  die  Seele  der  Herrin. 
In  Nizza  war's,  während  der  unvergeßlichen  Earueoalstage,  da  hatte 
sie  jene  Drahtmaske,  die  dort  in  der  Ecke  hing,  über  ihren  Kopf  gestülpt, 
jenes  Hirtentäschchen  mit  „Nmit'etti"  umgethan  und  mit  der  kleinen  Schaufel 
auf  biegsamem  Rohr  kampflustig  die  weißen  Geschosse  nach  rechts  und  links 
geschleudert,  während  ein  tolles  Maskentreiben  sie  umtobte....  Und  dann 
war  plötzlich  eine  Menschenwoge  gekommen,  die  sie  von  ihrem  Gatten 
trennte.  Nur  der  deutsche  Varon  blieb  an  ihrer  Seite,  der  so  lange  auf 
die  Gelegenheit  gewartet,  ihr  seine  Liebe  zu  gestehen.  Jetzt  bot  sich  die 
Gelegenheit,  und  er  —  er  fand  nicht  die  Worte.  Wie  blöde  er  war! 
Oder  achtete  er  sie  so  hoch,  daß  er  fürchtete,  sie  durch  sein  Geständnis; 
zu  beleidigen? 

Sie  hätte  ihm  so  gern  zugehört  —  solche  Geständnisse  waren  eine 
berauschende  Musik  für  ihre  kleineu  Ohreu  —  »lud  sie  hätte  ihn  dann 
herzlich  ausgelacht,  so  herzlich,  daß  er  in  ihr  Lachen  eingestimmt  haben 
würde,  wie  es  die  Meisten  thaten,  die  dankbar  die  weiße  Hand  küßten, 
welche  sie  aus  Freundschaft  ihnen  bot.  Manche  freilich  murrten  und  zogen 
sich  grollend  zurück  —  was  that's!  Andere  schlössen  die  Reihen. 
Nun  ruhteu  ihre  Augen  eine  Secunde  lang  auf  einein  Blatt  Papier, 
das  lässig  an  einen  Palmenfächer  gesteckt  war  und  die  Worte  trug:  l'out 


Nur  zwei  Veilchen.  !>H5 

dnniiour,  Hue  ia  mal»  n'atwiut  p»8,  u'«8t  c^u'un  rsvs.  Ein  Unglück- 
licher hatte  ihr  einst  diesen  Spruch  geschickt,  und  sie  bewahrte  ihn  in  der 
dämmernden  Ahnung,  daß  auch  ihr  das  echte  Glück  ewig  fern  bleiben 
würde. 

Während  sie  jetzt  sinnend  vor  sich  hinsah,  klopfte  es  an  die  Thür,  nnd 
Joseph«  stürmte  in's  Zimmer. 

„Verzeih',  daß  ich  Dich  überfalle...  .  Die  Sehnsucht,  Dich  zu  sehen, 
war  zu  groß!" 

Helene  erhob  sich  freudig  und  begrüßte  die  Freundin.  Sie  plauderte» 
ein  Weilchen  von  gleichgiltigen  Dingen,  dann  bat  Joseph«:  „Laß'  uns  in 
den  Wald  gehen!  Die  Luft  im  Zimmer  ist  so  schwül." 
Ann  in  Arm  verließen  sie  die  Villa.  Helene  betrachtete  lächelnd  die 
junge  Frau.  „Ich  sehe  mit  Freude,  daß  meine  Nachschlage  Dir  schon  Er- 
folge brachten,"  sagte  sie.  „Du  bist  selbstständiger,  ruhiger,  sicherer  ge- 
worden —  und  hundertmal  hübscher  .  .  .  weiht  Du  das?" 
„Ich  weiß  nur,  daß  ich  Dir  dankbar  bin.  Ohne  Dich  wäre  ich  ver- 
sauert, verbauert,  versumpft  und  verstumpft!" 
„Und  nun  wird  am  Ende  gar  eine  kleine  Weltdame  aus  Dir!  Es 
thut  Nichts,  wenn  Du  nur  glücklich  bist ....  und  das  bist  Du  doch, 
nicht?" 

„Ja,  siehst  Du,  mit  dem  Glück  ist  das  eine  eigene  Sache.  Ich  war 
ja  früher  auch  nicht  glücklich,  aber  mir  ist,  als  ob  ich  erst  jetzt  erkenne, 
wie  arm  mein  Leben  ist,  das  Leben  meines  Herzens.  .  .  .  Sag'  mir, 
Helene,  hast  Du  nie  die  Sehnsucht  gehabt,  zu  lieben,  glühend  zu  lieben?" 
„Nein."  Frau  von  Wallheim  kannte  in  der  That  nur  die  Sehnsucht, 
geliebt  zu  werden. 

„Siehst  Du,  ich  möchte  Etwas  erleben,  das  groß,  herrlich,  göttlich 
wäre  und  mit  einem  Male  diese  entsetzliche  Leere  ausfüllen  würde,  die  mir 
da  drinnen  entgegen  gähnt.  Mir  ist  manchmal,  als  ob  mein  Herz  eine 
finstere  Höhle  wäre.  Früher  Hab'  ich  gedacht,  daß  es  so  sein  müsse,  daß 
gewiß  viele  Frauen  mit  mir  das  gleiche  Schicksal  theilen,  aber  jetzt  scheint 
es  mir  oft,  als  ob  ich's  nicht  länger  ertragen  könnte!  Lieber  tausend 
Qualen  leiden  und  wissen,  daß  man  gelebt  hat,  als  dieses  gleichgiltige 
Dasein  weiter  führen!" 

„Aber  das  ist  ja  offene  Empörung!"  neckte  Helene. 
„Es  ist  Sehnsucht,  heiße,  übermächtige  Sehnsucht  nach  etwas  Un- 
erreichbarem, nach  Etwas,  das  meine  Wege  nie  durchkreuzen  soll.  Und 
vielleicht  ist  diese  Sehnsucht  darum,  weil  sie  sich  ihrer  Hosfunngslosigkeit 
bewußt  ist,  so  verzehrend." 

Sie  waren  zu  einer  alten  Eiche  gekommen.  Ihre  mächtigen  Aeste  zun« 
Himmel  erhebend,  schien  sie  stolz  aus  dem  Voden  emporzustreben,  ein  Ur- 
bild der. Ilraft  und  Zähigkeit.  Eine  Nasenbank  zog  sich  um  sie  hin.  Hier 


~6  M.  5to,ia  in  Ltlzebowih  ^Vesterr.'-chlesien).  — ~ 
warf  sich  losepha  nieder  und  blickte  mit  ihren  sonst  so  träumerischen,  jetzt 
brennenden  Augen  auf  Helene,  die  ruhig  sagte: 
„Ich  weiß  nicht,  was  das  Leben  Dir  noch  bringen  wird,  ob  es  Deine 
Wünsche  erfüllen  kann  oder  nicht.  Sieh  diefe  mächtige  Eiche.  Sie  wollte 
auch  einmal  in  den  Himmel  wachsen,  und  als  sie  sah,  das;  es  nicht  ging, 
da  begnügte  sie  sich  damit,  ihre  Wurzeln  um  so  tiefer  in  den  heimatlichen 
Boden  zu  senken.  Von  dieser  Eiche  können  wir  viel  lernen." 
„Du  bist  so  ruhig,  so  besonnen.  Sag'  mir,  hast  Du  schon  geliebt?" 
„Ich  glaube  ja,"  erwiderte  Helene  gedankenvoll;  „als  ich  ein  ganz 
kleines,  kaum  elf  Jahre  altes  Mädchen  war.  Damals  hatte  ick  ein  so 
leidenschaftliches  Herz  wie  Du,  und  ich  liebte  einen  jungen  Mann  von 
zwanzig  Jahren,  der  gewiß  keine  Ahnung  hatte,  wie  viel  er  dem  Kinde 
war.  Alles,  was  ein  Weib  an  heimlicher  Liebe  empfinden  kann,  von  dem 
süßen  Erwachen  des  Gefühls  und  der  leidenschaftlichen  Zärtlichkeit  bis  zum 
glühenden  Drennungsschmerz,  Alles  ist  damals  durch  die  Seele  des  Kindes 
gezogen,  unbeachtet  von  Allen  und  ungekcmnt.  Mein  Herz  war  eine  kleine 
Gluthenwelt,  iu  der  die  wunderfamsten  Dinge  vor  sich  gingen.  Aber  wie 
es  das  Schicksal  der  Welten  ist,  sich  immer  mehr  und  mehr  abzukühlen,  so 
war  es  auch  mein  Schicksal,  immer  kälter  zu  werden,  und  ich  glaube,  daß 
ich  der  vollständigen  Vereisung  uicht  mehr  fern  stehe." 
„Du  bist  zu  früh  gereift,  ich  bin  zu  lange  Kind  geblieben"  —  sagte 
losepha.  „Man  führte  mich  nicht  in  die  Welt,  ich  lernte  Niemand  kennen 
...  ich  war  ja  das  Stiefkind  der  Familie,  klein  und  häßlich.  Keiner 
beachtete  mich.  Und  als  dann  endlich  ein  Manu  kam,  der  um  so  vieles 
älter  und  vernünftiger  war  als  ich,  dem  ich  gefiel,  der  es  mir  sa^te,  da 
war  ich  so  stolz,  so  überglücklich!  Ich  sah  mich  mit  einem  Male  gefeiert, 
von  meinen  Geschwistern  beneidet,  und  zögerte  keinen  Augenblick,  diesem 
Mann  in  seine  Heimat  zu  folgen.  Und  dort  erkannte  ich,  welch'  ein  kalter 
Egoist  er  ist,  der  mich  nur  dann  beachtet,  wenn  er  etwas  an  mir  zu  tadeln 
findet,  und  der  in  der  Ueberzeugung  lebt,  daß  ich  Gott  dafür  danken  kann, 
daß  er,  Gerhard  Hiller,  mich  zu  seiner  Frau  erhoben  hat.  Es  ist  wahr, 
mich  hungert  und  dürstet  nicht;  doch  nach  dem  Hunger  nud  dem  Durst  der 
Seele  fragt  Niemand!  Das  ist  mein  Leben:  eine  freudlose  J  ugend,  eine 
glucklose  Eh.',  eingeschlossen  rings  von  Tugenden  und  Pflichten.  Und  wenn 
ich  endlich  dahin  gekommen  sein  werde,  dieses  jauchzende,  pochende  Herz, 
das  nach  Liebe  verlaugt,  stückweise  zu  Dode  gemartert  zu  nabeu,  dann  wird 
man  mich  zur  Belohnung  für  all'  diese  Bravheit  in  der  Familiengruft  bei- 
sehen." 

„Du  bist  eine  kleiue  eraltirte  Person,"  fagte  Helene  und  legte  ihre 
Hand  auf  losephas  Schulter.  „Ich  sage  Dir  voraus,  daß  Du  noch  sehr 
viel  sündigen  wirst,  aber  blos  in  Deinen  Gedanken.  Du  gehörst  zu  den 
Fraueu,  welche  die  schrecklichsten  Dinge  ausführen  —  in  ihrer  Phantasie, 
die  aber  in  Wahrheit  nie  ein  Haar  breit  vom  Wege  der  Tugend  abweichen, 


Nui  zwei  Veilchen.  !>H? 

denn  ihr  Pflichtgefühl  ist  größer  als  ihre  Sehnsucht.  Zu  ihrem  Glücke; 
denn  so  genießen  sie  in  ihren  Träumen  alle  Wonnen,  ohne  je  von  einem 
erdrückenden  Schuldgefühl  zermalmt  zu  werden.  Zum  Sündigen  nach  den 
gewöhnlichen  Begriffen  der  Welt  gehören  entweder  sehr  leichtsinnige,  gedanken- 
lose Frauen,  die  nicht  wissen,  was  sie  thun,  oder  starke  Naturen,  die  mit 
Ueberlegung  fallen.  Du  gehörst  weder  zu  den  einen  noch  zu  den  andern." 
„Und  Tu?" 

„Ich  gehöre  zu  den  kalten  Frauen,  und  die  gehören  auf  ein  anderes  Blatt." 
Hl. 

Wenige  Tage  später  sollte  die  ländliche  Stille  der  Villa  durch  einen 
Bestich  unterbrochen  werden.  Heinrich  erhielt  den  Brief  eines  Freundes 
aus  Wien,  in  welchem  dieser  um  die  Erlaubnis;  bat,  für  einige  Tage  Wall- 
heims Gastfreundschaft  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen. 
Helene  hatte  Walter  von  Erlach  vor  zwei  Jahren  im  Salon  einer 
Bekannten  kennen  gelernt.  Er  war  ihr  durch  sein  wundervolles  Elavierspiel 
aufgefallen,  und  sie  entdeckte  später  eine  überraschende  Vielseitigkeit  der 
Talente  an  ihm.  Genial  als  Musiker  wie  als  Maler,  mit  einer  Seele, 
die  sür  die  Kunst  glühte,  und  einem  Körper,  der  die  Strapazen  jedes  Sports 
bedurfte,  um  den  Ueberschuß  an  Kraft  auszugeben,  glich  er  dem  Über- 
menschen der  Modernen  oder  den  Halbgöttern  der  Antike. 
Helene  wußte  nach  der  ersten  Stunde,  die  sie  mit  ihm  verplauderte, 
daß  ihr  hier  ein  Mann  entgegentrat,  der  dem  Zauber  ihrer  Persönlichkeit 
nicht  erliegen  würde. 

Sie  sprachen  damals  viel  mit  einander,  unter  Anderem  auch  von  der 
Liebe.  Helene  sagte,  daß  sie  die  Neigung  über  die  Liebe  stelle,  denn  die 
Liebe  sei  veränderlich,  sie  verspräche  einen  Himmel  und  gäbe  manchmal 
Nichts;  die  Neigung  aber,  ihre  gütige  Schwester,  ist  treu  uud  unwandelbar. 
Herr  von  Erlach  blickte  sie  forschend  an,  als  wollte  er  auf  dem  Grund 
ihrer  Seele  lesen,  und  sagte  dann:  „Wie  modern!  So  spricht  nur,  der 
keiner  Liebe  mehr  fähig  ist  .  .  ."  Sein  Nrtheil  über  Frau  von  Wallheim 
faßte  Walter  am  nächsten  Tage  in  die  Worte  zusammen:  „Eine  der  inter- 
essantesten Frauen,  die  ich  kenne.  Sie  ist  wie  ein  Pastellbild  mit  den  rothen 
warmen  Lippen  und  den  großen  kalten  Augen,  die  den  schönen  Mund  Lügen 
strafen." 

Helene  fühlte  instinctiv,  daß  sie  seinen  Geist  interessire,  ohne  sein  Herz 
zu  berühren,  und  sie  war  viel  zu  klug,  um  sich  nur  einen  Augenblick  den 
Schein  zu  geben,  als  suche  sie  mit  ihm  zu  kokettiren.  Das  rettete  ihr  seine 
Sympathie.  Er  suchte  ihre  Gesellschaft  nnd  wurde  im  Laufe  der  Zeit  ein 
gern  gesehener  Gast  ihres  Salons.  Aufrichtige  Zuneigung  brachte  Walter 
Helenens  Gatten  entgegen,  mit  dem  er  auf  sportlichen,  Gebiete  viele  An- 
knüpfungspunkte fand  nnd  dessen  ruhige  Güte  ihm  wohl  that. 


"8  M.  Ltona  in  3trzeb«witz  (Veste,r.'2chlesie,l). 

Nun  war  der  interessante  Gast  in  der  Villa  eingetroffen. 

„Sie  werden  sich  bei  uns  furchtbar  langweilen,"  sagte  ihm  Helene 

bald  nach  seiner  Ankunft.  „Sie  dürfen  nicht  hoffen,  hier  einen  geistvollen 

Salon  zn  finden,  wo  Sie  das  Gold  Ihrer  Einfälle  ausstreuen  können. 

Wir  sind  nur  auf  Kupfer  eingerichtet.  Höchstens  daß  manchmal  durstig 

etwas  Talmi  aufblitzt." 

„Um  so  besser,  gnädige  Frau.  Alles,  wonach  ich  mich  sehne,  ist  Rübe, 
göttliche  Ruhe.  So  im  grünen  Walde  liegen,  wo  Gräser  dnften  und  Vögel 
singen,  die  Zeit  vorüber  gleiten  lassen  und  Nichts  fühlen,  weder  Hoffnung 
noch  Leid,  weder  Sehnsucht  noch  Liebe,  das  schwebte  mir  als  das  Höchste 
vor,  wenn  ich  an  den  Besuch  bei  Ihnen  dachte." 

„Sehr  schmeichelhaft.  Diefe  bescheidenen  Wünsche  können  Ihnen  vollauf 
erfüllt  werden.  Sie  dürfen  mit  Unterbrechung  der  Mahlzeiten  täglich  zwölf 
Stunden  im  Walde  träumen  und  Nichts  empfinden,  wenn  Sie  das  zu 
Wege  bringen.  Vevor  Sie  aber  dieses  Klosierleben  im  Grünen  beginnen, 
wollen  Sie  mit  uns  bei  einem  Gutsbesitzer  in  der  Nachbarschaft  einen 
Besuch  machen,  ja?" 

„Wo  bleibt  die  ländliche  Stille,  die  Abgeschiedenheit!"  klagte  Walter. 
„Ich  sehe  schon,  eine  schöne  Frau  besuchen,  und  wenn  es  im  entlegensten 
Winkel  der  Welt  wäre,  heißt  immer,  sich  in  den  Strudel  der  Geselligkeit 
stürzen." 

„Sie  fabeln.  Von  einem  Strudel  der  Geselligkeit  ist  keine  Rede.  Ter 
Gutsbesitzer  hat  eine  einzige  Tochter,  die  noch  nicht  zählt,  und  eine  Frau, 
die  ganz  einzig  ist." 

„Und  natürlich  erwartet,  daß  man  ihr  den  Hof  macht." 
„Wenn  sie  das  erwarten  würde,  wäre  sie  nicht  einzig.  Uebrigens  will 
ich  Nichts  mehr  von  ihr  sagen.  Sie  sollen  sie  morgen  selbst  kennen  lernen." 
losepha  war  durch  einige  Zeilen  von  Helene  auf  den  neuen  Gast  vor- 
bereitet worden.  Sie  schien  sehr  befangen  zu  seiu.  Herr  von  Erlacl, 
imponirte  ihr  offenbar,  und  sie  verlor  ganz  die  natürliche  Sicherheit  ihres 
Wesens.  In  der  Kunst,  Conversation  zu  machen,  hatte  sie  es  noch  gar  nicht 
weit  gebracht,  wie  Helene  mit  Schrecken  bemerkte.  Sie  nahm  sich  vor,  ihr 
bei  nächster  Gelegenheit  eine  kleine  Anleitung  über  das  Gespräch  mit 
Fremden  zn  geben.  Joseph«  kümmerte  sich  nicht  im  Geringsten  darum,  was 
die  Gäste  interessiren  konnte;  sie  erschöpfte  ein  Thema  bis  zur  Ermattung 
und  brach  das  nächste  in  dem  Augenblick  ab,  als  man  sich  dafür  zu  er- 
wärmen begann.  Auch  fprach  sie  zuviel  von  sich  und  ihrer  Familie, 
Auf  Walters  Frage,  ob  sie  viel  beschäftigt  sei,  erwiderte  sie:  „Ach 
nein.  Man  braucht  mich  nicht.  Mein  Mann  hat  seinen  Beruf,  mein  Kind 
die  Wärterin,  die  Köchin  die  Wirtschaft  —  nur  ich  habe  Niemand.  Es 
kommt  mir  manchmal  vor,  als  ob  ich  die  UebeiMssigste  in  meinem  Hause  wäre." 
Um  dem  planlosen  Umherirren  des  Gesprächs  ein  Ende  zu  machen, 
forderte  Helene  Walter  ans.  Etwas  vorzuspielen." 


Nur  zwei  Veilchen.  >,H9 

„Ah,  Sie  sind  musikalisch!"  rief  losepha  und  klatschte  in  die  Hände. 

„Das  ist  herrlich!  Ich  liebe  die  Musik  so  sehr." 

Walter  trug  ein  schwermüthiges  Lied  vor  und  bat  dann  losepha, 

seinem  Beispiele  zu  folgen. 

„Ich  singe  blos,"  entgegnete  sie. 

Auch  das  noch!  dachte  Helene  mit  Schrecken,  losepha,  die  eine 
schöne,  klangvolle  Stimme  hatte,  pflegte  nämlich  häusig  in  reizender  Ver- 
wirrung mitten  in  einem  Liede  Melodie  und  Text  zu  vergessen.  Auch  heute 
verlor  sie  gleich  nach  den  ersten  Tacten  den  Faden  und  unterbrach  sich. 
Walters  musikalisches  Feingefühl  schien  jedoch  gar  nicht  darunter  zu 
leiden.  Er  ruhte  nicht  eher,  als  bis  das  Lied  zu  tadellosem  Vortrag  ge- 
bracht war. 

Gerhard  und  Heinrich  staunten  über  diesen  unerwarteten  Fortschritt. 
Frau  vou  Wallheim  war  sehr  gespannt,  ans  dem  Rückweg  Walters  Urtheil 
über  Joseph«  zu  hören.  Er  konnte  nicht  genug  Worte  des  Entzückens 
finden.  Welche  Natürlichkeit!  welche  Frische!  Wahrlich,  diese  junge  Frau 
war  von  einem  Zauber,  wie  er  ihn  nie  gekannt.  Sie  glich  jenen«  dunklen 
Vergißmeinnicht,  das  in  schattigen  Waldesgründen  vergessen  blüht,  und 
nur  darum  jenes  tiefe,  herrliche  Vlau  behalten  hat,  weil  die  Sonne  ibm 
noch  nie  gluthuersengend  in's  Herz  geblickt. 
Helene  sah  ihn  überrascht  an.  Merkwürdiger  Mensch!  dachte  sie. 
Es  giebt  für  ihn  kein  Frauenräthsel.  — 

Die  nächsten  Wochen  vergingen  für  losepha  in  einem  Taumel  von 
Vergnügungen.  So  glücklich  wie  jetzt  hatte  sie  sich  noch  nie  gefühlt.  Eine 
fast  ausgelassene  Fröhlichkeit  beherrschte  sie;  sie  glich  einem  übermüthigen 
Kinde;  oft  ersann  sie  tolle  Spiele,  mit  denen  sie  Helene  zur  Verzweiflung 
brachte  und  Walter  entzückte.  Er  konnte  sich  nicht  satt  sehen  an  ihren  an- 
muthigen  Bewegungen,  nicht  satt  hören  an  ihrem  hellen  klingenden  Lachen. 
Sie  erschien  ihm  wie  eine  sonnige  Fee.  Er  fühlte,  daß  er  einem  jungen 
Herzen  gegenüberstehe,  welches  einer  leidenschaftlichen  Liebe  fähig  fei,  und 
über  das  er  mit  jedem  Tage  an  Macht  gewann.  Der  Gedanke,  dieses 
glühende  Empfinden  zu  wecken,  reizte  ihn. 

losepha  war  so  ganz  anders  als  die  verwöhnten  Frauen,  die  er  bisher 
gekannt;  als  die  kalten,  berechnenden  Koketten,  denen  er  ausgewichen,  oder 
die  allzuweichen,  empfindsamen  Seelen,  die  seiner  Leidenschaft  sich  hingegeben 
hatten.  Hier  umsing  ihn  zun:  ersten  Mal  der  ganze  Zauber  einer  eckten, 
zarten  Weiblichkeit.  Er  fühlte  sich  wohl  wie  nie;  er  vergaß  jedes  tändelnde 
Spiel.  Viel  früher  als  losepha  selbst  wußte  er,  daß  sie  ihn  liebte.  Die 
Situation  schien  ihm  neu;  sie  machte  ihn  nachdenklich,  und  was  ihm  lange 
nickt  passirt  war  —  er  ward  natürlick. 

losepha  hingegen  kam  gar  nicht  zum  Denken,  Sie  lebte  einzig  der 
wonnigen  Gegenwart  und  sorgte  nicht  einen  Augenblick  um  das  Morgen. 
Der  blaue  Himmel  lachte  ihr  in's  Herz. 


~50  M.  2t«na  in  Ltlzebowih  (Vesterr.-Tchlesien). 

Helene  beobachtete  sie  und  Walter  mit  wachsender  Unruhe. 

Das  war  kein  kokettes,  graziöses  Spiel,  wie  sie  es  liebte;  es  drohte 

ein  himmelstürmender  Ernst  zn  werden,  und  sie  mußte  Alles  daran  setzen, 

um  den  lieben  Landfrieden  zu  bewahren. 

Schon  wünschte  sie  sehnlichst  Walters  Abreise  herbei,  allein  der  junge 
Mann  schien  gesonnen,  das  Ende  seiner  Tage  in  der  Villa  abzuwarten. 
Eines  Nachmittags  erschien  Joseph«  allein  bei  Helene.  „Gerhard  hat 
ein  neues  Pferd  bekommen,  das  er  jetzt  versucht,"  erzählte  sie.  „Er  will 
später  herüberreiten." 

„Was  beginnen  wir  h.mte?"  fragte  Walter.  „Befehlen  Sie  Ätunt 

oder  In'vn  tennii,,  oder  sind  Sie  gegen  Ihre  sonstige  Gewohnheit  für  das 

Stillsitzen  eingenommen?" 

„Ich  bin  zu  gar  Nichts  aufgelegt,"  entgegnete  Joseph«. 

„Was  fehlt  Ihnen?"  fragte  Walter  besorgt. 

„Eigentlich  Nichts.  Aber  ich  bin  so  unruhig,  beinahe  sorgenvoll.  Ich 

glaube,  ich  war  in  der  letzten  Zeit  zu  lustig,  nein  —  nicht  lustig,  zu 

fröhlich." 

„Was  so'.l  denn  das  für  ein  Unterschied  sein?"  fragte  Helene. 
„Ich  kann  Dir  das  nicht  erkläre»'.  Die  Lustigkeit  kann  Einem  für 
einige  Stunden  von  außen  anfliegen,  die  Fröhlichkeit  kommt  immer  aus 
der  Tiefe  des  Gemüths." 

Das  war  einer  jener  Aussprüche,  die  Walter  an  der  kleinen  Frau 

so  sehr  liebte;  sie  enthüllten  blitzartig  den  grübelnden  Sinn,  der  ihr  bei 

aller  Kindlichkeit  eigen  blieb. 

„Gehen  wir  spazieren,"  schlug  Helene  vor. 

losevha  erhob  sich.  Es  mar  ein  trüber  Nachmittag  mit  warmer, 

schwüler,  gesättigter  Lust.  Schon  sanken  die  ersten  gelben  Blätter  von  den 

Bäumen.  „Sehnsüchtige  Schwärmer,  die  den  Tod  nicht  erwarten  können," 

wie  Helene  sie  nannte. 

Man  näherte  sich  dem  Walde.  Alte  Eichen  mit  mächtigen,  knorrigen 
Stämmen  umsäumten  den  Weg. 

Xein  rechtes  Gespräch  wollte  sich  entspinnen.  Da  kam  ein  Diener 
ihnen  nachgeeilt  und  bat  die  Gnädige,  für  einige  Augenblicke  nach  Hause 
zu  kommen.  Nur  ungern  verliest  Helene  das  Paar  und  versprach,  so  bald 
als  möglich  zurückzukehren. 

Walter  und  losepha  ließen  sick  auf  einer  Bank  nieder,  um  zu  warten. 
Ihretwegen  hätte  Helene  sich  nicht  zn  beeilen  brauchen;  sie  waren  gar  nickt 
ungeduldig.  Walter  sah  die  junge  Frau  von  der  Seite  an.  Sie.  trug  ein 
weißes  Kleid,  das  in  zarten  Wellenlinien  sie  umstoh.  Er  konnte  den  Blick 
nicht  von  ihr  losreißen.  Sie  fühlte  es  und  erröthete  über  uud  über. 
Verwirrt  neigte  sie  den  Oberkörper  leicht  vor,  'als  wollte  sie  Helene  nach- 
spähen. Er  mußte  mi  sich  halten,  um  der  Versuchung  zn  widerstehen,  sich 
vor  ihr  niederzuwerfen  und  ibre  Hände,  ihre  Lippen,  ihre  ganze  wonnige 


Nur  zwei  Veilchen.  I  >5I 

Gestalt  mit  heißen  süssen  zu  bedecken.  Wußte  er  doch,  sie  würde  ihn 
erschreckt  und  zornig  zurückweisen,  wie  sehr  sie  ihn  auch  liebte,  denn  es 
träumte  ihre  Reinheit  von  einer  schuldlosen  Liebe.  Da  kam  ihm  der 
Gedanke,  wie  bald  er  von  ihr  scheiden  müsse,  vielleicht  ohne  sie  ein  einziges 
Mal  an  sein  Herz  gezogen  zu  haben,  uud  seiue  Leidenschaft  wuchs. 
„Nur  noch  wenige  Tage,  und  ich  sehe  Sie  vielleicht  nie  wieder!" 
sagt  er  plötzlich  mit  bebender  Stimme. 

Sie  erschrickt.  Das  Entsetzliche,  die  Oede  ihres  verlassenen  Lebens 
taucht  vor  ihr  auf.  Sie  sieht  starr  vor  sich  hin,  dann,  als  ob  sie  reden 
wollte,  wendet  sie  den  Kopf,  ihre  Angen  heften  sich  mit  einem  wacksenden 
Blick  auf  ihn,  doch  sie  sagt  Nichts. 
„Sie  werden  mich  nicht  vergessen,  nicht  wahr?"  fragt  er. 
Sie  ist  fehr  bleich  geworden,  sieht  wieder  vor  sich  hin,  schüttelt  den 
Kopf  und  sagt:  „Nie."  Dann  athmet  sie  tief  und  will  aufspringen. 
Doch  sie  vermag  es  nicht.  Sehnige  Arme  halten  sie  umschlungen,  und 
jugendfrische,  brennende  Lippen  pressen  sich  auf  die  ihren.  Eine  Secunde 
giebt  sie  der  Wonne  nach,  die  über  sie  hereinfluthet .  .  .  Dann  erfaßt  fie 
plötzlich  eine  wilde  Angst,  sie  reift  sich  los  und  flieht  wie  besinnungslos 
dem  Walde  zu.  Er  ihr  nach.  Mit  wenigen  Sätzen  hat  er  sie  erreicht. 
„Joseph«!"  jubelt  er. 

Da  dringt  der  Schall  von  Pferdehufen  an  ihr  Ohr,  und  im  nächsten 
Augenblick  sprengt  Gerhard  in  rasendem  Galopp  ihnen  entgegen.  Joseph« 
hat  nur  noch  Zeit,  aus  dem  Wege  zn  springen.  Die  plötzliche,  blitzartige 
Bewegung  des  weißen  Kleides  erschreckt  das  durchgegangene  Pferd;  es 
wirft  sich  zur  Seite  und  schleudert  den  Neiter  aus  dem  Sattel.  Mit  dem 
Kopfe  gegen  einen  Baumstamm  anprallend,  stürzt  er  zu  Boden,  indeß 
das  schnaubende  Noß  davonjagt. 

Das  Alles  war  in  wenigen  Secunden  geschehen.  Joseph«,  noch 
zitternd  von  den  Küssen  des  Geliebten,  kniet,  ihrer  Sinne  kaum  mächtig, 
vor  dem  leblosen  Gatten  nnd  sucht  das  Blnt,  das  einer  tiefen  Kopfwunde 
entquillt,  mit  ihrem  Tafchentuch  zn  stillen. 
„Er  ist  todt!"  jammert  sie. 

Walter  erwidert  kein  Wort,  er  hebt  mit  feiner  Niefenkraft  den  Ver- 
wundeten empor  nnd  trägt  ihn  wie  ein  Kind  der  Villa  zu. 
Helene  verlor  keinen  Augenblick  die  Geistesgegenwart,  als  Walter  ihr 
mit  der  schrecklichen  Bürde  entgegen  kam.  Sie  traf  fofort  alle  nöthigen 
Vorkehrungen,  lieh  den  «ranken  in  ihr  Zimmer  betten  uud  schickte  in  die 
nächste  Stadt  nach  dem  Arzt,  während  Heinrich  telegraphifch  ans  Wien  die 
schleunige  Ankunft  eines  Professors  erbat. 


~52  M.  2t«na  in  Ztizebowitz  (Vesterr,»3chlesien). 
Joseph«  saß  zu  einer  Bildsäule  erstarrt  an  dem  Lager  des  Kranken. 
Tausend  wirre  Gedanken  flogen  ihr  durch  den  Kopf;  abgerissene  Reime  von 
Liedern,  die  sie  als  Kind  gehört,  und  die  in  keinem  Zusammenhang  mit 
dem  Äugenblick  standen.  Nein,  Gerhard  durfte  nicht  sterben;  so  groß  konnte 
ihre  Schuld  nicht  fein!  Er  mußte  ihr  erhalte»  bleiben,  ihr  und  ihrem 
Kinde;  er  mußte  gesund  werden!  Ihr  ganzes  übriges  Leben  sollte  eine 
schweigende  Abbitte  sein^ 

Der  herbeigeholte  Arzt  erklärte  die  klaffende  Kopfwunde  als  unge- 
fährlich; ein  Tropfen  Blut  jedoch,  der  aus  dem  linken  Ohr  gedrungen  war, 
hieß  ihn  die  Befürchtung  aussprechen,  daß  die  Schädeldecke  durch  den  scharfen 
Anprall  einen  Sprung  bekommen  habe.  An  eine  Uebersührung  des  Kranken 
nach  Altdorf  konnte  nicht  gedacht  werden. 
Nach  sechs  Stunden  traf  der  Professor  aus  Wien  ein.  Er  schloß  sich 
der  Diagnose  seines  College«  an  und  bezeichnete  die  Stelle,  wo  der  muth- 
maßliche  Sprung  sich  befand.  Sein  Ausspruch  lautete  ernst,  aber  nicht 
hoffnungslos.  Wohl  schwebte  der  Patient  augenblicklich  in  Lebensgefahr, 
aber  er  konnte  genesen;  freilich  war  die  Möglichkeit  nicht  ansgeschlossen, 
daß  eine  Gehirnerschütterung  die  übelsten  Folgen  nach  sich  ziehen  konnte. 
Alles  hing  von  dem  Verlauf  der  nächsten  Tage  ab. 
Nachdem  er  mit  dem  ordinirenden  Arzte  eine  genaue  Behandlungs- 
weife vereinbart  hatte,  reiste  der  Professor  nach  Wien  zurück.  Herr  von 
Erlach  schloß  sich  ihm  an,  ohne  Joseph«  wiedergesehen  zu  haben.  ~ 
Die  Villa  war  in  tiefes  Schweigen  getaucht;  man  flüsterte  nur,  man 
ging  auf  den  Fußspitzen;  eine  ängstliche  Spannung  lag  auf  allen  Gesichtern. 
Heinrich  und  Helene  bewiesen  in  diesen  Tagen  Joseph»  eine  hingebungs- 
volle Freundschaft. 

Endlich  war  der  gefürchtete  Termin  abgelaufen:  Gerhards  Zustand 
besserte  sich,  uud  Josepha  athmete  auf.  Neue  Hoffnung  erfüllte  sie,  und  mit 
der  Hoffnung  kam  langsam  und  zögernd  —  die  Erinnerung.  Wie  weit 
fortgescheuchte  Vögel  kehrten  die  Gedanken  an  Walter  wieder.  Vergeblich 
suchte  sie  sein  Bild  zurückzudrängen  .  .  .  Aus  irgend  einer  Falte  ihres 
Herzeus  tauchte  es  vor  ihr  auf.  Sie  preßte  die  Hände  an  die  Schläfen 
und  konnte  es  doch  nicht  hindeni,  daß  eine  fuße,  selige  Erinnerung  sie 
durchglühte. 

Wie  eine  stille,  namenlose  Freude  lag  es  oft  über  ihr  Antlitz  hin- 
gegossen. Oeffnete  Gerhard  in  folchen  Momenten  die  Augen,  da  fah  er  sie 
überrascht  an.  So  war  sie  ihm  noch  nie  erschienen,  so  weich,  so  träumerisch, 
so  glücklich.  Es  rührte  ihn  tief. 

„Sie  weiß,  daß  ich  gerettet  bin,"  dachte  er.  „Wie  gut  sie  ist!" 
Joseph«  pflegte  ihn  mit  liebeuoller  Sorgfalt.  Sein  Bewußtsein  kelnte 
immer  anhaltender  zurück.  Zwar  versank  er  noch  dann  und  wann  in  eine 
Art  Betäubung  oder  sprach  mit  weit  geöffneten  Augen  verworrene  Dinge, 
doch  besserte  sich  sein  Zustand  mit  jedem  Tage. 


Nur  zwei  Veilchen.  ~53 

Bald  machte  er  sich  schwere  Vorwürfe  darüber,  daß  er  in  das  friedliche 

Leben  der  Villa  eine  solche  Störung  gebracht,  und  begehrte,  nach  Altdorf 

überführt  zu  werden.  Als  man  feiuen  Wünschen  nicht  nachgeben  wollte, 

steigerte  sich  sein  Verlangen  zu  maßloser  Heftigkeit. 

Ter  Arzt  hielt  es  für  das  Zweckmäßigste,  ihm  den  Willen  zu  thun, 

da  keinerlei  Gefahr  mehr  damit  verbunden  war. 

So  fuhr  denn  eines  Morgens  Joseph«  mit  ihrem  Gatten,  vom  Doctor 

geleitet,  nach  Altdorf. 

Sie  hatte  alle  Ursache,  zufrieden  zu  sein.  Die  Befürchtungen  der 
Aerzte  waren  grundlos  geblieben;  als  einzige  Folge  von  Gerhards  Krank- 
heit blieb  eine  nervöse  Reizbarkeit  zurück,  die  sich  sonderbarer  Weise  nie 
gegen  seine  Frau  richtete.  Mit  ihr  war  er  gütig  wie  nie  zuvor.  Aus  seinem 
ganzen  Wesen  sprach  Dankbarkeit.  Wenn  sie  sich  anklagte,  dnrch  ihren 
übereilten  Sprung  Schuld  an  seinem  Sturz  zu  sein,  widersprach  er  lebhast. 
Er  allein  hatte  das  Unglück  herbeigeführt,  weil  er  das  durchgegangene 
Pferd  nicht  zu  zügeln  gewußt  .  .  .  Seine  frühere  Rücksichtslosigkeit  und 
Strenge  wich  einer  milden  Zärtlichkeit. 

Er  wunderte  sich  jetzt,  wie  leicht  mit  Joseph«  auszukommen  war. 
Ein  wenig  Nachsicht,  ein  freundlicher  Vlick,  und  er  erreichte  mehr  als  ehe- 
mals mit  einer  Fluth  von  zornigen  Worten.  — 

Inzwischen  war  der  Herbst  gekommen,  das  große  Maskenfest  der  Natur. 
Helene  fand  die  bunte  Scenerie  in  Wald  und  Feld  reizend;  sie  ließ  aber 
doch  die  Koffer  packen,  denn  vom  Landleben  hatte  sie  gerade  genug.  Sie 
erklärte  Heinrich,  daß  sie  dringend  einer  Erholungsreise  bedürfe,  und  be- 
stimmte ihn,  nach  einen:  mehrwöchentlichen  Aufenthalt  in  Wien  mit  ihr 
über  Paris  an  die  Niviera  zu  gehen. 

Auch  für  Gerhard  war  eine  Luftveränderung  geboten;  der  Arzt  empfahl 
ihm  Arco. 

So  wurden  denn  Schloß  und  Villa  zu  gleicher  Zeit  von  ihren  Be- 
wohnern verlassen.  Nur  losephas  Tochterchen,  die  kleine  Else,  blieb  mit 
ihrer  Kinderfrau  in  Altdorf  zurück,  dn  ihre  Lebhaftigkeit  Gerhard  zu  sehr 
aufregte. 
V. 

Die  ersten  Tage  in  Arco  erschienen  Joseph«  recht  einsam.  Die  fremden 
Menschen  ließen  sie  gleichgiltig;  sie  sehnte  sich  gar  nicht  danach,  Nekanut- 
schaften  zu  machen. 

Häufig  schrieb  sie  an  Helene.  „Aber  wie  umständlich  ist  doch  dieses 

Schreiben,"  klagte  sie  einmal.  „Vom  Herzen  in  den  Kopf,  in  die  Hand, 

in  die  Feder,  aufs  Papier  und  noch  immer  nicht  bei  Dir!" 

Ein  Fest  war  es  für  sie,  wenn  Helencns  Antwort  eintraf.  Frau 

von  Wallheim  war  eine  routinirte  Nrieffchreiberin;  sie  wußte  sich  stet?  dem 

Geiste  desjenigen  anznpassen,  den«  sie  schrieb  —  sie  konnte  auch  brieflich 

Noib  IM»  l,",d.  I.XXV.  ?24.  11 


~54  M.  2t«na  in  Ltrzebowitz  (Vesterr.<3chlesien). 
kokettiren,  wenn  es  der  Mühe  lohnte.  Vtit  Joseph«  plauderte  sie  heiter  lind 
witzig  nnd  erzählte  von  Land  und  Leuten,  die  sie  sah.  Von  ihren  Erleb- 
nissen erzählte  sie  Nichts.  Nur  eine  Bemerkung  lies;  auf  sie  schließen. 
„Wenn  Frauen  das  Bewußtsein  haben,  zu  gefallen,  dann  sagen  sie, 
daß  sie  sich  vortrefflich  unterhalten.  Also:  ich  unterhalte  mich  königlich!" 
Eines  Tages  sollte  losepha  eine  unerwartete  Neberraschung  erleben. 
Als  sie  von  einem  Spaziergange  nach  Hause  zurückkehrte,  rief  ihr  Gerhard 
entgegen:  „Nathe,  wer  in  Arco  angekommen  ist!" 
„Helene!"  rief  losepha,  von  plötzlicher  Freude  erfüllt. 
.„Fehlgeschossen!  Ein  Herr  ist  es,  ein  interessanter  junger  Mann.  Nun 
—  rächst  Dn's  noch  nicht?" 

„Nein,  das  kann  ich  unmöglich  errathen,"  stammelte  losepha.  Den 

Namen,  der  sich  ihr  auf  die  Lippen  drängte,  vermochte  sie  nicht  auszusprechen. 

Mit  um  so  größerer  Leichtigkeit  that  es  Gerhard.  „Herr  von  Erlach  ist 

gestern  angekommen.  Ich  bin  ihm  soeben  begegnet  und  habe  ihm  gesagt,  daß 

wir  heute  auf  der  Promenade  fein  werden.  Aber  Du  scheinst  ja  gar  nicht 

erfreut ..." 

„Das  ist  wirklich  eine  Neberraschung.  Bleibt  er  lange  hier?" 
„Er  weiß  es  nicht.  Es  hängt  von  Nachrichten  ab,  die  er  erwartet. 
Mach'  Dich  nur  rasch  bereit.  Du  siehst  etwas  blaß  aus  ...  es  fehlt  Dir 
doch  Nichts?" 

„Nicht  das  Geringste.  Im  Gegentheil,  ich  fühle  mich  fo  wohl." 
„Gott  fei  Dank!" 

losepha  wandte  sich  ab,  um  ihre  Bewegung  zu  verbergen,  und  ging 
in  ihr  Zimmer. 

Sie  sollte  ihn  wiedersehen!  >lein  Zweifel,  nur  um  ihretwillen  war 
er  gekommen. 

Widerstreitende  Empfindungen  stürmten  auf  sie  ein.  I  n  den  J  ubel, 
der  sie  erfüllte,  mischte  sich  Angst,  Furcht  vor  der  Zukunft.  Es  war  ja 
jetzt  Alles,  Alles  anders  geworden!  Früher,  als  Gerhard  kalt  und  rücksichts- 
los mit  ihr  war,  überließ  sie  sich  ohne  Bennnen  ihren  Gefühlen;  sie  wußte 
ja,  daß  er  nicht  nach  dem  Besitze  ihres  Herzens  fragte,  wenn  sie  ihm  nur 
treu  blieb.  Jetzt  aber  bewies  er  ihr  mit  jedem  Tage,  wie  theuer  sie  ihm 
sei.  Er  liebte  sie,  und  seine  Liebe  legte  ihr  Verpflichtungen  auf.  Wie 
sollte  sie  Walter  begegnen?  Sie  vergrub  den  Kopf  in  den  Händen. 
„Bist  Du  bald  fertig?"  fragte  Gerhard  aus  dem  Nebenzimmer. 
„Gleich,  mein  Freund,"  erwiderte  sie. 

Einige  Minuten  später  trat  sie  mit  ihrem  Gatten  aus  dem  Hanse. 
Herr  von  Erlach  kam  ihnen  entgegen. 

Sie  begrüßten  sich  herzlich  wie  gute  Bekannte;  nur  die  Hände  bebten, 
die  sie  einander  reichten. 

Man  sprach  von  gleichgültigen  Dingen,  von  Arco,  von  Wien.  Gerbard  blieb 
plaudernd  mit  einem  Bekannten  zurück,  und  das  junge  Paar  schritt  allein  weiter. 


Nur  zwei  Veilchen,  ~55 

Jetzt  erst  wagte  Walter,  Joseph«  voll  in's  Antlitz  zu  blicken.  In  seinen 
Augen  spiegelte  sich  die  ganze  Freude,  sie  wiederzusehen.  Dann  glitt  ein 
Schatten  über  seine  Züge.  „Sie  haben  eine  schwere  Zeit  durchgemacht," 
sagte  er  in  tiefer  Bewegung. 

„Ja,  es  war  furchtbar.  Eine  jener  Zeiten,  die  ganze  Wandlungen 
in  dem  Menschen  heroorbringen." 

Er  sah  sie  forschend  an.  „Es  scheint  wirklich,  daß  Sie  ernster  ge- 
worden sind?" 

„Finden  Sie?  0,  ich  kann  noch  gerade  so  herzlich  lacken,  wie 
früher." 

„Und  ich  wollte,  ich  könnte  Sie  hören  ...  wie  früher.  Es  war 
fo  schön!" 

Joseph«  erschrak.  Nur  um  Gotteswillen  an  keine  gemeinsamen  Er- 
innerungen rühren.  „Wirklich?  Ich  habe  ein  schlechtes  Gedächtnis;.  Ich 
habe  Alles  vergessen." 
„Alleo?"  fragte  er  mit  weicher  Stimme. 
Sie  lachte;  in  ihrem  Lachen  war  ein  gezwungener  Ton,  der  ihn 
verletzte. 

„Dafür  haben  Sie  etwas  Neues  gelernt,"  fagte  er. 

„Was  denn?" 

„Ein  grausames  Lacken!" 

Seine  Angen  streiften  sie  mit  einem  bitteren  Vorwurf,  ~ie  fühlte, 
daß  er  litt,  und  hatte  nur  den  einen  Wunsch,  ihn  zu  versöhnen.  Mit 
der  alten  Herzlichkeit  rief  sie  aus:  „Sind  Sie  böse?  Verzeihen 
Sie  mir!" 

„Man  ist  nur  zu  leicht  geneigt,  Ihnen  zu  verzeihen!"  sagte  er  glücklich. 

In  diesem  Augenblicke  hatte  Gerhard  sie  erreicht.  — 

Mehrere  Tage  vergingen.  Walter  wußte  uicht,  was  er  von  lofepha 

halten  sollte.  Sie  vermied  es,  mit  ihm  allein  zu  sein;  Allem,  was  er 

fagte,  suchte  sie  mit  einer  gezwungenen  Heiterkeit  zu  begegnen,  die  oft  in 

eine:»  grellen  Widerspruch  zu  seinen  Worten  stand.  Ihre  bezaubernde 

Natürlichkeit  war  verschwunden,  und,  was  er  nie  an  ihr  beobachtet:  es 

erwachte  eine  fast  neruöse  Sncht  in  ihr,  sich  in  den  Strudel  der  Geselligkeit 

zu  stürzen.  Sie  wurde  bald  der  Mittelpunkt  eines  Kreises,  der  sie 

bewunderte. 

Gerhard  war  nicht  im  Geringsten  eifersüchtig;  er  freute  sich  über 
losephas  kleine  Triumphe  und  brachte  ihr  ein  blinde?  Vertrauen 
entgegen. 

Walter  dagegen  fühlte  alle  Qualen  der  Eifersucht.  Verführerifcher, 
begehrenswerther  denn  je  erfchien  ihm  losepba,  und  die  Sehnsucht,  sie  in 
seine  Arme  zu  schließen,  beherrschte  seine  Sinne  mit  übermäcktiger  Gewalt. 
Nnd  dock  gab  es  Augenblicke,  wo  sein  Glaube  an  sie  erscküttert  war,  »nd 
11* 


<56  M,  2t«na  in  ötrzebowitz  ( Veftelr. >2chlesien) . 
er  sie  für  kalt  und  herzlos  hielt.  Wiederholt  wollte  er  abreisen  ohne  ein 
Wort  de?  Abschieds,  aber  er  vermochte  es  nicht.  Liebte  Sie  ihn?  Hatte 
sie  aufgehört,  ihn  zn  lieben?  Den  feinen  Frauenkenner  verlies;  das  sichere 
Urtheil,  das  er  in  jeden«  andern  Falle  gefüllt  haben  würde.  Seine  Leiden- 
schaft verwirrte  sein  Denken. 

Eines  Abends  fand  eine  Tauzuuterhaltung  statt,  losepha  hatte  ihr 
Erscheinen  zugesagt;  an  Gerhards  Ann  betrat  sie  den  Saal.  Sie  war 
bleich,  und  ihre  Lippen  umspielte  eiu  nervöses  Lächeln. 
Vei  ihrem  Anblick  krumpfte  sich  Walters  Herz  zusammen.  Seine 
Hand  pretzte  die  ihre.  Die  junge  Frau  erschrak  und  wandte  sich  von  ihm 
ab  einem  Herrn  zu,  der  sie  um  die  erste  Tour  bat. 
Walters  Micke  folgten  ihr  mit  lodernder  Qual.  Nur  eiumal  trafen 
sie  die  ihren,  und  ein  wilde»?  Weh  ergriff  Joseph«,  als  sie  seine  schmerz- 
erfüllten Züge  sah.  Sie  hätte  sich  an  seine  Brust  werfen,  willenlos  all 
dem  Vlampf  entsagen  und  das  Leben  hingeben  mögen  für  eine  Stunde  des 
Glücks.  ...  Da  begegneten  ihre  Augen  Gerhard,  der  freundlich  lächelnd 
ihr  zunickte,  und  sie  gewann  ihre  Fassung  wieder.  Nicht  um  sie  allein 
handelte  es  sich,  es  galt  Gerhards  Frieden,  es  galt  ihr  Kind. 
Als  wollte  sie  sich  betäuben,  gab  sie  sich  an  diesem  Abend  immer 
leidenschaftlicher  dem  Tanze  hin,  und  ausgelassener  denn  je  schien  ihre 
Laune.  Niemand  hätte  ahnen  können,  daß  hinter  der  glänzenden  Maske 
die  Verzweiflung  sich  barg.  - 

Walter  hörte  keinen  Augeublick  auf,  sie  zu  beobachten.  Er  konnte 

nicht  daran  zweifeln,  daß  sie  sich  vortrefflich  unterhielt.  Von  den  Thränen, 

die  durch  ihr  Lachen  zitterten,  merkte  er  Nichts.  Es  erfaßte  ihn  plötzlich 

der  brennende  Wunsch,  mit  ihr  zu  sprechen. 

Während  einer  Pause  trat  er  auf  sie  zu.  Sie  fühlte,  daß  seine 

Augen  die  ihren  suchten,  und  ihr  Vlick  wich  ihm  ans.  Das  machte  ihn 

rasend.  Er  neigte  sich  zu  ihr  nieder  und  flüsterte  mit  bebender 

Stimme:  „Ich  habe  einst  geglaubt,  das;  Sie  ein  Herz  haben,  aber  Alles 

beweist  mir,  wie  sehr  ich  mich  täuschte.  Sie  spielen  nur  mit  Herzen, 

und  Ihre  Koketterie  ist  darum  raffinirter  als  jede  andere,  weil  sie  schwerer 

zu  durchblicken  ist.  Ich  aber  habe  sie  durchblickt,  gnädige  Frau  .  .  .  seien 

Sie  dessen  sicher  —  und  .  .  .  leben  Sie  wohl  für  immer!" 

Und  ehe  sie  «och  die  >irast  fand,  ein  Wort  zu  erwidern,  verbeugte  er 

sich  und  verlies;  sie. 

Am  nächsten  Morgen  war  er  abgereist.  Niemand  wußte  wohin. 
VI . 

Nach  einem  sechswöchmtlichen  Aufenthalt  in  Arco  kehrten  Gerhard  und 
losepba  in  ihre  Heimat  zurück.  Gerhard,  völlig  wieder  hergestellt,  war  in 
ftöhlichster  Stimmung.  Die  kleine  Else  erguickte  seine  Mußestunden  durch 


Nur  zwei  Veilchen,  ~5? 

ihr  rosige?  Geplauder,  und  Joseph«,  die  sorgsame,  pünktliche  losepha  gab 
ihm  nie  wieder  Ursache,  unmnthig  zu,  werden.  Seine  Augen  ruhteu  oft 
mit  inuigem  Wohlgefallen  auf  ihrer  zierlichen  Gestalt.  Wie  himmelweit 
verschieden  ist  die  losepha  von  einst  und  die  losepha  von  heute!  sagte  er 
sich  oft.  Daß  auch  er  ein  Änderer  geworden,  daran  dachte  er  nicht.  Er 
wäre  vollkommen  zufrieden  gewesen,  wenn  nicht  Eines  ihn  befremdet  hätte: 
die  trübe  Stimmung,  der  losepha  sich  von  Zeit  zu  Zeit  hingab.  Sie 
konnte  ohne  jeden  änßern  Grund  einsilbig,  ja  traurig  werden.  Still  blickte 
sie  dann  vor  sich  hin,  und  wenn  er  sie  ansprach,  da  schien  es,  als  müsse 
sie  ihre  Gedanken  erst  aus  weiter  Feme  herbeiholen,  um  ihn«  antworten  zu 
können. 

Was  ihr  wohl  fehlen  mochte?  Vergebens  zerbrach  er  sich  den  Kopf 
darüber.  Die  Einsamkeit,  sagte  er  sich  endlich,  der  harte  Winter  verderben 
ihre  Laune.  Mit  dem  Frühling  und  mit  Helene  wird  ihre  Fröhlichkeit 
wiederkehren.  Damit  tröstete  er  sich. 

Doch  die  kalte  J ahreszeit  war  es  nicht,  die  losepha  bedrückte.  Sie 
krankte  an  einem  andern  Leid.  Mit  einem  schrillen  Mißton  war  der  Traum 
ihres  Herzens  zersprungen;  sie  fühlte  sich  verkannt,  der  Lüge  angeklagt  von 
dem  Manne,  um  desseu  willen  sie  so  viel  gelitten,  und  dieses  Bewußtsein 
verbitterte  ihr  das  Lebeu.  Sie  war  ja  zufrieden  mit  dem  ruhigen  Dasein 
an  Gerhards  Seite;  das  leidenschaftliche  Sehnen,  da?  sie  einst  erfüllt, 
war  erloschen;  nur  deu  einen  glühenden  Wunsch  konnte  sie  nicht  aus 
ihrer  Seele  bannen:  daß  Walter  ihr  Gedächtnis;  hochhalte,  wie  sie  es 
verdiente. 

Anfangs  April  kehrten  Heinrich  und  Helene  in  ihre  Villa  zurück. 
Helene  beschleunigte  ihre  Ankunft  losepha  zu  Liebe,  deren  Briefe 
sie  riefen. 

J  ubelnd  schlössen  sich  die  Freundinnen  in  die  Anne. 

„Eigentlich  sollte  ich  Dir  zürnen!"  rief  Helene,  als  die  beiden  Frauen 

sich  zurückgezogen  hatten,  und  znpfte  losepha  lachend  am  Ohr.  „Du  hast 

mir  einen  meiner  getreuesten  Anbeter  geraubt  — " 

„Ich -Dir?" 

„Natürlich!  Deine»  Gatten.  Glanbst  Du,  ich  habe  es  nicht  gleich 
gemerkt,  daß  er  jetzt  nur  Augen  für  Dich  hat?" 
losepha  lächelte.  „Ach  ja  —  er  ist  sehr  lieb  und  gut  mit  mir  — " 
„Warum  siehst  Tu  aber  dauu  bekümmert  aus?  J  a,  glaube  gar,  wir 
haben  Sorgen!" 

„Ach,  Helene  wenn  Du  wüßtest .  .  ." 

„So  beichte  Dir  das  Leid  vou  der  Seele!  Wozu  bin  iä>  denn  da, 
wenn  nicht,  um  Dir  zu  rächen,  zu  helfen?" 

Und  losepha  begann  ihre  Geschichte.  Sie  schilderte  Walters  Ankunft 
in  Arco,  jedes  Wort,  jeden  Blick  bis  zu  dem  letzten  bitteren  Lebewohl. 
„Jetzt  weißt  Du,  warum  ich  so  traurig  bin,"  schloß  sie.  „Weil  ich  eine 


~58  M  Ztona  in  -trzebowiy  (Vefteir. 'Schlesien), 

ehrliche  Frau  bleiben  wollte,  halt  er  mich  für  eine  herzlose  Motette,  und 
dieses  Bewußtsein  ist  nur  unerträglich!" 

„Dein  Benehmen  war  eben  danach,  ihn  an  Dir  irre  werden  zu  lassen. 
Du  hättest  ihm  ehrlich  die  Wahrheit  sagen  sollen." 
„Dazu  fand  ich  nicht  den  Muth." 

„0  über  Euch  tugendhafte  Frauen,  die  Ihr  so  stolz  seid  auf  Eure 
Stärke  und  doch  so  elend  in  Eurer  Schwäche!  Und  was  nun?" 
„Das  frag'  ich  Dich!  Kannst  Du  ihm  nicht  fagen,  wie  Alles  ge- 
kommen ist?  Und  daß  es  so  kommen  muhte?" 
„Nein,  mein  Kind,  das  mußt  Du  selbst  thun." 
„)ch  —  aber  wie?" 

„Wie?"  wiederholte  grübelnd  Helene.  Dann  sagte  sie  einfach: 
„Schreib'  es  ihm.  Nicht  iu  Form  eines  Briefes.  Erzähl'  ihm  ein  Märchen. 
Es  war  einmal  ein  einsames  Frauenherz,  das  sehnte  sich  nach  Liebe  .  ." 
„Ja,  das  will  ich  thun!"  rief  losepha,  von  dem  bedanken  hingerissen, 
mit  leuchtenden  Augen.  „Ich  will  ihm  schreiben,  und  er  wird  mich  ver- 
stehen. — " 

Schon  am  nächsten  Tage  brachte  sie  Helene  den  Brief.  „Ich  bitte 
Dich,  lies  ...  Ist  es  gut  so?" 

Helene  überflog  das  Blatt  und  fah  die  Freundin  überrascht  an.  So 
viel  Zartheit,  so  viel  Vollendung  hatte  sie  ihr  nicht  zugetraut.  Joseph« 
erzählte  ein  Märchen  von  der  jungen  Frau  eines  nicht  mehr  jungen  Fischers, 
die  sich  in  einen  fremden  Burschen  verliebt  hatte.  Ohne  etwas  Arges  zu 
deuten,  gab  sie  sich  dem  beseligenden  Gefühl  der  Jugend  hin,  die  sich  au 
Jugend  schließt.  Da  schlug  im  Sturm  der  Nachen  des  Fischers  um, 
Kameraden  ntteten  den  Erlrinkenden  und  brachten  ihn  erstarrt  an's  Ufer. 
Bei  seinem  Anblick  erschrak  die  Frau  bis  in  die  Seele  vor  dem  Gedanken 
au  eiueu  anderen  Sturm,  der  plötzlich  hereinbrechen  und  vom  Vater  ihres 
>iiudes  sie  für  immer  trennen  konnte.  So  groß  ihre  Angst,  so  groß  war 
ihr  Jubel,  als  der  Gatte  die  Augen  aufschlug.  Sie  gelobte  sich  'in  jener 
stunde,  ihr  Glück  hinfort  nur  an  feiner  Seite  zu  suchen.  —  Wochen  ver- 
gingen; da  sah  sie  den  Burschen  wieder.  Sie  floh  ihn,  er  aber  rief  ihr 
grausame  Worte  zu,  die  ihre  Erinnerung  an  den  schuldlosen  Wah»,  der  so 
schön  und  so  süß  war,  vergifteten,  weil  sie  sich  von  demjenigen  verkannt  sah, 
dessen  Achtung  sie  vor  jeder  Anderen  verdiente.  Joseph«  schloß  mit  den 
Worten:  „Es  wachsen  wohl  am  Donaustrand  viel  blaue  Veilchen.  Nur 
zwei  von  ihnen  in  das  beigeschlossene  Eouuert  gelegt,  würdeu  einem  Frauen- 
herzen sagen,  daß  es  verstanden  ist,  einem  Herzen,  das  viel  gekämpft  hat, 
bis  es  zu  jeuer  Entsagung  sich  emporgenmgen,  die  in  sich  selbst  das  reinste 
Glück  einschließt." 

Das  Eouvert,  welches  sie  dem  Briefe  beilegte,  trug  Hcleuens  Adresse. 
Eine  Woche  später  fnhr  Heinrich  in  die  Stadt.  Helene  hatte  abgelehnt, 
ihn  zu  begleiten.  Sie  lag  in  ihrer  Chaiselongue  und  dachte  an  Joseph«. 


Nur  zwei  Veilchen.  !>5Z 

Da  klopfte  es  an  die  Thür;  der  hereintretende  Diener  brachte  die  ein- 
getroffenen Briefe. 

Helene  ließ  sie  flüchtig  durch  die  Finger  gleiten.  Plötzlich  stutzte  sie. 

Was  war  das?  Ein  Couvert,  fo  leicht,  als  ob  es  leer  wäre.  Sie  hielt 

es  gegen  das  Licht.  In,  das  waren  sie,  die  Veilchen! 

Sie  klingelte  und  befahl,  foglelch  einspannen  zu  lassen.  Eine  halbe 

Stunde  später  war  sie  auf  dein  Wege  nach  Altdorf. 

Sie  traf  Joseph«  .allein  vor  den«  Hause.  „Ich  bringe  Dir  Botschaft!" 

flüsterte  sie  und  gab  ihr  den  Brief. 

„Helene!"  rief  lofepha  mit  einem  Auffchrei  und  drückte  ihn  an  sich. 
Dann  zog  sie  die  Freundin  in  stürmischer  Aufregung  mit  sich  fort  in  ihr 
Zimmer.  Hier  riß  sie  das  Couvert  auf.  Zwei  Veilchen,  an  ein  Epheublatt 
geknüpft,  fielen  ihr  entgegen.  Jauchzend  drückte  sie  die  Blumen  an  ihre 
Lippen  und  bedeckte  sie  mit  Küssen;  ihr  ganzes  Wesen  offenbarte  eine 
namenlose  Seligkeit.  Lachend  und  weinend  zugleich  sank  sie  neben  einem 
Stuhl  zu  Boden. 

„Sieh  mich  nicht  an!"  bat  sie.  „Laß  mich,  bis  dieser  Sturm  vorüber- 
geht. Er  hat  mich  verstanden!  0  (Hott,  wie  glücklich  bin  ich!" 
Helene  stand  indessen  an  die  Thür  gclehut  und  blickte  mit  großen, 
iveitgeoffneten  Augen  auf  die  Freundin.  Das  hatte  sie  nie  empfunden! 
Wie  arm  kam  sie  sich  vor.  Se  gedachte  all  der  unwürdigen  Koketterien, 
all  der  bunten  Abenteuer,  hinter  denen  nicht  ein  warmes  Gefühl  sich  ge- 
borgen, und  schaudernd  erkannte  sie  mit  einem  Male  die  ganze  Oede  und 
~eere  ihres  Gebens.  Was  lag  ihr  au  den  Leidenschaften,  die  sie  erweckt. 
Nur  Liebe  giebt  der  ~iebe  Werth.  Sie  hatte  so  lange  mit  Herzen  gespielt, 
bis  die  Liebe  verspielt  war. 

„Du  bist  so  stumm,"  sagte  losepha  und  blickte  auf.  „  )ch  komme  Dir 
recht  kindisch  vor,  nicht  wahr? 

Helene  schüttelte  ernst  den  Kopf.  Dann  fagte  sie  leise:  ,,~ch  be- 
neide ?ich." 


Wolfgang  Kirchbach, 
von 

Alfred  Stoeszel. 
—  Dresden, 

literarische  Nubrikeneifer  unserer  Tage  —  übrigens  keine 
speeifisch  moderne  Krankheit  —  pflegt  in  der  Regel  mit  zwei 
Kategorien  sich  zu  behelfen.  Er  theilt,  was  da  kreucht  und  fleucht 
in  der  Welt  der  Litteratur,  in  die  beiden  großen  Gruppen  der  „Alten"  und 
„Jungen"  oder  der  lieben  Abwechselung  halber  auch  in  die  der  „Idealisten" 
und  „Realisten"  uud  begeht  damit  zu  den  tausend  Fehlern,  deren  er  damit 
sich  schuldig  macht,  anch  den  tausenduudersten:  indem  er  eine  ganze,  große 
Gruppe  von  Leuten  einfach  ignorirt,  die  weder  alt  sind  noch  jung,  weder 
ausschließlich  Idealisleu,  noch  unbedingte  Realisten,  die  aber  in  dem  litterari- 
schen Eoncerte  doch  so  gewichtige  Parte  spielen,  daß  man  sie  nicht  über- 
sehen kann,  ohne  damit  das  Litteraturbild  der  Zeit  geradezu  zu  fälschen. 
I  hre  J  ugendjahre  fallen  in  eine  Periode,  wo  diejenigen,  die  als  die 
„Alten"  nachmals  so  viel  verlästert  und  begeifert  wurden,  im  lenithe  ihrer 
Geltuug  standen,  und  wo  der  deutsche  Leser  keine  Götter  kannte  außer 
ihnen;  in  den  Anfang  der  siebziger  Jahre,  der  Jahre  nach  dem  Kriege, 
die  zugleich  die  Jahre  einer  große»,  breit  dahinflutheuden  liberalen  Strömung 
und  jenes  uolkswirthschaftlichen  Aufschwunges  waren,  der  in  dem  Krach 
von  187A  nachmals  sein  freilich  nicht  gerade  überraschend  schnelles  Ende 
fand.  Ter  Hegelianismus,  wenn  anch  im  Grunde  längst  überwunden,  warf 
doch  noch  feine  letzten,  matt  aufleuchtenden  Wellen,  der  Materialismus- 
streit war  noch  nicht  verstummt,  und  mächtig  wurden  vor  Allem  die  Geister 
durch  Pessimismus  und  Darwinismus  aufgerührt,  die  ihrem  Höhepunkt  zu- 
strebten. 


 Wolfgang  Riichbach,  —  1,6" 

Seme  lugendeindrücke  wird  man  so  leicht  nicht  los.  Und  als  der 
Naturalismus  aufkam  und  alsbald  üppig  in  die  Halme  schoß,  da  hatte 
ein  Theil  aus  jener  Gruppe  sich  überdies  seine  ersten  litterarischen  Sporen 
bereits  verdient.  Sie  warfen  sich  der  vorwärts  stürmenden  und  allzu  oft 
über's  Ziel  hinaus  schießenden  Bewegung  nicht  blindlings  in  die  Arme;  sie 
standen  ihr  vielmehr  schon  kritisch  gegenüber;  aber  ganz  freilich  vermochten 
sie  es  auch  nicht,  sich  ihrer  Einwirkung  zu  entziehen.  Dazu  waren  sie  noch 
nicht  genug  in  sich  gefestigt,  noch  zu  unfertig,  zu  viel  noch  in  der  Ent- 
wicklung begriffen.  So  entstand  eine  eigenartige  Mischung  in  ihnen  —  und 
sicher  nicht  die  schlechteste  — ,  die  jene  Gruppe  scharf  sonderte  von  den  an 
der  bisherigen  Kunstübung  starr  festhaltenden  „Alten"  und  sie  nicht  minder 
stark  auch  schied  von  den  im  alleinselig  machenden  Naturalismus  befangenen 
und  alles  Uebrige  verdammenden  „Jungen",  die,  Kinder  einer  anderen, 
weniger  historischen,  weniger  philosophischen  und  fast  mochte  ich  sagen, 
weniger  gebildeten  Zeit  leichten  Herzens  Götter  stürzten,  an  die  jene  Andern 
sicher  nie  zu  rühren  gewagt  hätten,  eine  ehrfurchtsvolle  Scheu  vor  ihnen, 
das  Erbtheil  ihrer  J  ugendjahre,  allzutief  noch  im  Herzen. 
Zu  jener  litterarischen  Gruppe,  die  zwischen  zwei  Welten  so  recht  in 
der  Mitte  steht,  gehört  auch  Wolfgang  Kirchbach.  Er  ist  1857  in 
London  geboren.  Sein  Vater,  ein  Maler  und  begabter  Schüler  Schnorrs,  von 
dessen  künstlerischen  Fähigkeiten  unter  Anderem  auch  die  Deckengemälde  in 
dem  Rubenssaale  der  Dresdner  Galerie  Zeugnis?  geben,  stammte  aus 
Dresden,  war  aber  1852  nach  London  ausgewandert,  wo  er  eine  junge, 
geistvolle  Rheinländerin  heirathete,  eine  intime  Freundin  der  Frau  Monte- 
fiores,  des  bekannten  Philanthropen,  der  in  seinem  eigenen  Hause  sogar 
dem  jungen  Paare  die  Hochzeit  rüstete.  Was  in  London  damals  an  inter- 
essanten Deutschen  sich  aufhielt,  stand  auch  mit  Kirchbachs  Eltern  in  regem 
Verkehr;  so  insbesondere  das  Ehepaar  Kinkel  lind  Ferdinand  Freiligrath; 
Karl  Vlind  war  ihr  Hausnachbar,  und  dessen  durch  sein  Vismarckattentat 
1866  zu  so  trauriger  Berühmtheit  gelangter  Sohn  Ferdinand  war  des 
kleinen  Wolfgang  eifrigster  Spielkamerad,  bis  Kirchbachs  Eltern  schon  186(1 
wieder  nach  Dresden  übersiedelten.  Hier  ließen  sie  dem  Knaben  seinen 
ersten  Unterricht  angedeihen,  wie  er  hier  im  Wesentlichen  seine  ganze  wissen- 
schaftliche Ausbildung  überhaupt  erhielt,  zuerst  iu  dein  auch  über  Dresden 
hinaus  eines  guten  Rufes  sich  erstellenden  Krause'schen  Institute,  wo  Albert 
Moser,  der  sicher  nicht  nach  Gebühr  gekannte  und  gewürdigte  Lyriker,  sein 
Hauptlehrer  war,  und  dann  nach  dem  Tode  der  Mntter  und  nachdem  der 
Vater  eine  Stelle  als  Director  der  Kunstakademie  in  Chile  angenommen 
hatte,  die  ihn  sieben  Jahre  lang  von  der  Heimat  und  seinen  Kindern  ferne 
hielt,  im  Reustädter  Gymnasium  daselbst. 

Dem  greisen  Hennann  Grimm  ist  jüngst  das  Selbstbekenntnis;  entschlüpft, 
daß,  was  hinter  dem  Beginn  dieses  J  ahrhunderts  liege,  ihn  nicht  mehr  fest- 
zuhalten vermöge.  Als  zwängen  die  völlig  veränderten  Lebensbedingungen 


1.02  Alfred  5toeßel  in  Kiesden. 

auch  zu  völlig  neuer  Gedankenarbeit,  so  concentrire  sich  all'  seine  geistige 
Thätigkeit  uur  noch  auf  die  Gegenwart.  Aber  für  eine  jüngere  Generation, 
als  die,  der  Grimm  angehört,  in  diese  Grenze  zu  fern  noch  gerückt,  und 
über  den  Krieg  von  1879  hinaus  vermag  noch  kaum  Etwas  das  Interesse 
unseres  litterarischen  Neuwuchses  zu  erregen.  Üirchbach  jedoch  hatte  von  seinen 
Eltern  nicht  nur  die  Erinnerung  an  jenen  großen  Freiheitssiurm,  der  über 
ganz  Europa  dahin  gebraust  war,  als  Erbtheil  überkommen,  auch  von  der 
geistigen  Atmosphäre  der  Zeit  war  ihm  ein  gut  Stück  haften  geblieben,  in 
der  ja  auch  noch  ein  großer  Theil  derjenigen  athmete,  die  seine  Lehrer  waren. 
Ter  Bruch  mit  dem  Idealismus,  mit  der  speculativen  Philosophie  hatte 
sich,  wenigstens  in  den  Aelteren  von  ihnen,  noch  nicht  vollzogen,  und  was 
in  ihnen  noch  lebendig  war,  theilte  sich  naturgemäß  auch  ihre»  Schülern 
mit.  Aber  daneben  fanden  doch  auch  schon  die  nen  die  Zeit  bewegenden 
Lehren  eines  Darwin  uud  Schopenhauer,  eines  Strauß  und  Feuerbach 
ihren  Eingang  in  die  Schule,  und  bezeichnend  für  den  Zeitgeist  jener 
Periode  ist  es,  daß  an  dem  Gymnasium,  auf  dessen  Bänken  Kirchbach  saß, 
ein  naturwissenschaftlicher  Wcmderuerein  von  den  Schülern  begründet  wurde, 
dem  sich  bald  auch  eine  Elite  aus  anderen  Gymnasien  anschloß.  Neben 
naturwissenschaftlichen  Ercursiouen  in  Dresdens  herrliche  Umgebung  liefen 
regelmäßig  dann  auch  Vorträge  der  Mitglieder,  in  denen  man,  von  den 
Naturwissenschaften  ausgehend,  dem  Urgrund  aller  Dinge  in  seiner  Weise 
nachzuspüre»  sich  bemühte.  „>iraft  und  Stosf",  die  „Welt  als  Wille  und 
Vorstellung",  Darwin,  ,väckel  und  Hartmann,  Nichts  war  diesen  jungen 
Leuten  fremd,  uud  mit  Wehmuth  blickt  mau  jenem  naturwissenfchaftlichen 
Wanderuerein  wissensdurstiger  J  ünglinge  gegenüber  auf  uufere  heutige 
Gymnasialjugend,  die  zum  großen  Theile  von  allen  diesen  Dingen  Nichts 
oder  herzlich  wenig  nur  weiß,  dafür  aber  im  Neservelieutenant  und  Corps- 
studenteu  als  Ideal  gar  vielfach  einem  Gigerl-  und  Sireberthum  nacheifert, 
von  dem  die  Jugend  vou  ehedem  Nichts  wußte. 
Zugleich  aber  zeitigte  die  nachhaltige  uud  keineswegs  nur  sportsmäßig 
betriebene  Beschäftigung  mit  so  ernsten  Dingen  bei  vielen  von  jenen  jungen 
Leuten  eine  geistige  Frühreife,  die  in  mancherlei  selbstständigen  Versuchen 
nach  dieser  oder  jener  Richtung  hin  sich  manifestirte.  In  Kirchbach  drängte 
sie  nach  der  Seite  des  poetischen  Schaffens,  nud  neben  zahllosen  dichterischen 
Schülerarbeiten,  die  den  Stempel  von  solchen  unverkennbar  auf  der  Stirn 
tragen,  findet  sich  doch  schon  auch  Manches,  was  weit  über  die  kindlichen 
Geh-  und  Stehversuche  des  dichtenden  Gymnasiasten  hinausragt.  So 
stammt  die  in  seinen  „Ausgewählten  Gedichten"*)  enthaltene  Ballade 
„Strandräuber"  aus  jener  Zeit,  so  da?  Trauerspiel:  „Eginhard  und 
Emma",  das  der  Autor  jedoch  erst  demuächst,  in  völlig  neuer  Bearbeitung 
freilich,  erscheinen  lassen  wird;  so  war  vor  Allein  auch  das  erste  Nuck,  mit 
»,  Leipzig,  Wilhelm  Friedlich,  1883. 


Ivolfgang  «itchbach,  ~63 

de»:  Kirchbach  als  Schriftsteller  vor  der  Oeffentlichteit  debutirte,  seine  schon, 
1878  erschienenen  „Märchen"*),  von  Anfang  bis  zu  Ende  auf  dem 
Gymnasium  geschrieben. 

Ein  starkes  Talent  spricht  aus  diesen  seinen  poetischen  Erstlingen,  eine 
üppig  wuchernde  Dichterphantasie,  ein  philosophischer  Tiefsinn,  der  das 
Zaubergewand  der  Märchenform  nur  lose  oft  sich  um  die  Schultern  hängt, 
und  eine  seltene  Fähigkeit,  selbst  solche  Erscheinungen  unseres  modernen 
Lebens,  die  man  gewöhnlich  sonst  als  aller  Poesie  feindlich  hinzustellen 
pflegt,  für  seine  Dichtung  sich  nutzbar  zu  macheu;  herauszuholen,  was  an 
poetischem  zierne  auch  i»  ihnen  enthalten  ist,  und  damit  einen  Wirklichkeits- 
zug, einen  Hauch  modernen  Lebens  in  jene  Dichtungsart  zu  bringen,  die 
aus  dem  Reiche  der  Phantasie  allein  zumeist  soust  doch  nur  ihre  Wurzeln 
nährt;  Alles  nur  nicht  die  helle  Stimme  des  Schülers,  der  aus  einem  un- 
reifen Knabengesicht  damals  noch  in  die  Welt  blickte,  als  er  seine  „Märchen" 
schrieb. 

Dafür  ist  es  der  naturwifsenfchaftliche  Wanderverein,  dessen  Spuren 
deutlich  erkennbar,  nicht  nur  durch  dieses  Buch  allein,  sondern  fast  durch 
Kirchbachs  gesammte  dichterische  Production  hindurch  sich  verfolge»  lassen. 
Min  äußerlich  betrachtet  fchon,  fpielt  der  Naturforscher,  der  Sammler,  der 
den  Erdbau  nach  irgend  einer  naturwissenschaftlichen  Merkwürdigkeit  durch- 
stöbernde Gelehrte  in  Kirchbachs  Werken  eine  große  Rolle;  innerlich  ist  es 
die  ans  seinen,  auch  später  fortgefetzten  naturwissenschaftlichen  Studien  ge- 
wonnene Weltanschauung,  der  philosophische  Untergrund  sozusagen,  und  oft 
anch  die  Methode  der  Naturwissenschaft,  deren  Wellenschlag  fast  aus  jeder 
seiner  Arbeiten  mehr  oder  minder  deutlich  an  unser  Ohr  schlägt.  Was 
naturalistifch  an  Kirchbachs  küustlerischem  Schaffen  genannt  werden  kann, 
rührt  aus  dieser  Quelle.  Aber  es  ist  darin  nur  enthalten,  wie  ein  starker 
Einschlag  in  ein  im  Nebrigen  ganz  anders  geartetes  Gewebe,  dessen  Strnctur 
die  gute  Schule  unserer  klassischen  Dichterperiode  nur  zu  deutlich  ver« 
räth.  Dieser  Einschlag  wird  größer  in  der  Zeit,  nachdem  Kirckbach  das 
Gymnasium  verlasse»  »nd  aus  der  immerhin  durch  die  Schule  im  Wesent- 
lichen bestimmten  Geisteswelt  hinausgetreten  war  in  eine  andere,  in  der 
es  mächtig  eben  zn  gähren  anfing,  lind  wo  allzuschrille  Trompetenstöße  der 
ersten  litterarischen  Revolutionäre  gerade  zum  Ansturm  riefen  gegen  die  in 
ausgefahrenen  Gleifen  einer  immer  grüßer  werdenden  Verflachnng  entgegen- 
gehende sogenannte  idealistische  Dichtung.  Denn  er  war  jung,  wie  die 
Heerrufer  alle  der  neuen,  wildaufschäumenden  Bewegung,  und  ihr  Einflnß 
»»achte  sich  umso  stärker  auf  ihn  geltend,  je  mehr  er  in  persönliche  Be- 
rührung mit  ihnen  trat.  So  war,  als  Conrad  seine  „Gesellschaft"  in 
München  begründete,  auch  Kirchback  mit  bei  dem  „lebhaften  Plänklergefecht 
gegen  gewisse  verhockte  Zustände  der  deutschen  Litteratur",  das  aus  dieser 
»)  Leipzig,  Nicitlopf  K  Härtel 


~  6H  Alfred  -toeßel  in  Vresden, 

Zeitschrift  her  eröffnet  wurde.  Freilich  nur  so  lange  es  ein  Plänklergefecht 
blieb.  Als  aber  in  langen  und  erbitterten  Kämpfen  dann  ein  rüder  Ton 
auf  Seite  der  vorwärts  stürmenden  Jugend  einzureißen  begann,  da  war 
Kirchbach  nicht  mehr  unter  jenen  „Stümpern",  die  „den  edlen,  alten  Homer 
selbst  als  grasgrünen  Anfänger  zu  bezeichnen"  sich  erdreisteten.  Die 
Scheidung  ward  reinlich  zwischen  ihn,  und  ihnen  vollzogen.  Kirchbach  hatte 
genug  an  allen  den  „Pariser  Schreiern"  und  mehr  noch  an  ihren 
„deutschen  Nachrednern".  Mit  scharfer  Klinge  zieht  er  jetzt  gegen  diejenigen 
felbst  zu  Felde,  in  deren  Lager  er  vor  Kurzem  noch  geweilt  hatte,  und  ihre 
Irrthümer  und  opfert  wieder  den  alten  Göttern,  die  gänzlich  freilich  nie- 
mals aus  seinem  Herzen  verdrängt  waren,  selbst  zu  jener  Zeit  nicht,  da  er 
anscheinend  der  neuen  Lehre  eifrigster  Adept  gewesen. 
Nun  will  ihn«  auch  die  einseitige  Auffassung  der  Wissenschaft  als 
Naturwissenschaft  nicht  ganz  mehr  behagen,  er  liest  wieder  fleißig  Hegel 
uud  bekennt  sich  als  einen  Verehrer  seiner  Philosophie.  Aber  er  verfällt 
doch  auch  wieder  nicht  in  das  andere  Extrem,  in  thörichtem  Uebereifer  das 
Kind  mit  dein  Bade  zu  verschütten.  Er  ist  nicht  blind  dafür,  daß  die 
deutsche  ^itteratur  allmählich  zu  einer  Frauenlitteratur  herabgesunken  war, 
in  welcher  der  nach  bewährten  Necepten  immer  von  Neuem  wieder  ange- 
fertigte Familienblattroman  eine  fast  unumschränkte,  aber  Alles,  nur  keine 
segenbringende  Herrschaft  übte,  und  er  beklagt  es,  daß  es  so  geworden. 
„Leider  weiß  ich,"  sagte  er,  „daß  in  Deutschland  gegenwärtig  gar  viele 
Männer  von  ihren  Frauen  die  poetische  Nahrung  sich  vorschreiben  lassen: 
ja,  sie  betrachten  die  Wirkung  eines  Kunstwerkes  auf  ihre  Frauen  womöglich 
als  das  ästhetische  Kriterium  der  Sache.  Das  ist  eine  Thatsache,  und 
mit  dieser  Thatsache  ade  Historienmalerei  in  Kunst  und  Dichtung!  Ade 
Shakespeare,  ade  Goethe  und  alle  Kunst,  die  al  1'rsZco  malt!"  Und  bei 
einer  anderen  Gelegenheit,  wo  er  eintritt  für  das  Necht  des  Künstlers,  sich 
seine  Stoffe  zu  holen,  woher  es  ihm  beliebe,  ein  Necht,  das  er  durch 
Cliquen-  und  Schulenweisheit  sich  nicht  schmälern  lassen  will,  sagt  eri 
„Die  Mißachtung  des  geschichtlichen  Nomanes,  welche  man  neuerdings  mit 
einer  gewissen  thee-ästhetischen  Vornehmthuerei  betreibt,  ist  gerade  so  viel 
werth,  wie  im  andern  Lager  die  geflissentliche  Hochmüthigkeit,  mit  der  man 
die  Modernen  und  Modernsten  für  keinen  Schuß  Pulver  werth  erklärt." 
Cr  hingegen  weiß  recht  wohl,  was  an  den  Modernen  und  Modernsten  auch 
Gutes  ist,  zu  schätzen,  uud  mehr  als  einmal  greift  er  deshalb  nach  dem 
Schiffchen,  das  modernen  und  modernsten  Lebens  kräftige  Fäden  genug 
dann  in  seine  Dichtung  mit  verwebt. 

Die  Darstellung  der  künstlerischen  Entwicklung  Kirchbachs  ist  hier  der 
Schilderung  seines  Lebensganges  vormigeeilt.  Noch  während  Kirchbach  auf 
dem  Gymnasium  saß,  war  sein  Vater  aus  Chile  heimgekehrt.  Erfand 
seine  beiden  Söhne  —  der  Vruder  des  Dichters  ist  der  bekannte  Münchener 
Maler  gleichen  Namens  —  herangewachsen  und  zu  den  schönsten  Hoffnungen 


Wolfgang  Riichbach.  <.Ü5 

berechtigend.  Allein  es  war  ihm  nicht  lange  vergönnt,  sich  ihrer  zu  erstellen, 
und  nur  kurze  Zeit  schon,  nachdem  er  den  Boden  des  Heimatlandes  be- 
treten, wurde  er  den  Seinigen  wiederum  entrissen.  Es  war  nicht  viel, 
was  nach  seinem  Tode  zurückgeblieben,  lind  die  Brüder  waren  in  der 
Hauptsache  nun  auf  sich  selbst  angewiesen,  auf  ihre  eigenen  Kräfte  und 
Fähigkeiten.  Unser  Dichter  bezog,  nachdem  er  seine  Gymnasialstudien  be- 
endigt, die  Universität  Leipzig  und  hörte  hier  ein  paar  Semester  lang 
historische  und  philosophische  Vorlesungen,  wenn  auch  ohne  rechte  innerliche 
Befriedigung.  Auf  der  einen  Seite  waren  es  allerlei  dichterische  Pläne 
und  Arbeiten,  welche  ihn  zu  sehr  beschäftigten  und  erfüllten,  um  für  viel 
Anderes  daneben  Raum  zu  lassen;  mehr  aber  war  es  noch  eine  Reihe 
äußerer  Momente,  welche  den  Wunsch  in  ihm  zeitigen  mußten,  rascher  zu 
einer  selbstständigen  Stellung  zu  gelangen,  als  dies  auf  den  Schnecken- 
wegen einer  auf  eiu  langwieriges  Universitätsstudium  sich  gründenden 
Carritzre  möglich  gewesen  wäre.  Es  waren  dies  seine  beschränkten  finan- 
ziellen Mittel  und  ein  Verlöbniß,  das  er  schon  als  Primaner  eingegangen 
war,  und  das  ihn  übermächtig  nun  nach  einer  Vereinigung  mit  der  ge- 
liebten Braut  drängte.  So  ward  eine  quälende  Unruhe  und  Ungeduld  in 
ihm  erzeugt,  die  ihn  immer  stärker  von  seinen  Uniuersitätsstudien  abzog 
und  immer  mehr  der  Litteratur  zuführte.  Denn  er  sah  darin,  daß  er  ganz 
sich  ihr  widmete,  die  einzige  Möglichkeit,  rasch  sich  auf  eigene  Füße  zn 
stellen,  und  mancherlei  Erfolge,  die  er,  so  mit  seinem  Roman  „Saluator 
Rosa",  schon  errungen,  ermuthigten  ihn  zu  dem  Schritte,  das  Brotstudium 
ganz  an  den  Nagel  zu  hängen.  Trotzdem  waren  es  schwere  innere  Kämpfe, 
die  er  durchlebte,  ehe  er  zn  dem  entscheidenden  Schritte  sich  entschloß. 
Arge  Zweifel  plagten  ihn,  ob  fein  Talent  auch  stark  genug  sich  erweisen 
würde,  um  über  die  bösen  Tage,  die  durch  die  J  agd  nach  einer  Eristenz 
ihm  unzweifelhaft  noch  bevorstanden,  ihn:  hinwegzuhelfen,  bis  er  kurz  ent- 
schlossen endlich  die  Schiffe  hinter  sich  verbrannte,  Leipzig  und  der  Uni- 
versität den  Rücken  kehrte,  nach  München  übersiedelte  und  sich  dort,  noch 
nicht  zweiundzwanzig  Jahre  alt,  verheirathete. 
Neun  Jahre  lang  blieb  er,  mit  einer  einzigen  größeren  Unterbrechung 
von  fast  einem  Jahre,  das  er  in  Italien  zubrachte,  in  München,  und  fast 
mit  allen  dort  lebenden  Schriftstellern,  so  mit  Hei,se,  Lingg,  Greif,  Grosse, 
Fulda,  Stieler,  Eonrad,  Weltrich  u,  A.  trat  er  nach  und  nach  in  persönlichen 
Verkehr. 

Die  Münchner  J  ahre  waren  für  Xirchbach  mehr  die  J  ahre  einer 
innerlichen  Entwicklung,  mehr  die  eines  geistigen  Ausreifens,  als  die  J  ahre 
einer  reichen  und  bedeutsamen  dichterischen  Production.  Was  in  der  Zeit 
gährte,  mußte  auch  in  ihm  sich  erst  noch  klären.  Nach  seinen  ersten 
schöpferischen  Anläufen  stand  ihm  jeder  Weg  offen.  Er  konnte  nach  rechts 
eben  fo  gut  gehen,  wie  nach  links.  Aber  er  war  doch  ein  viel  zu  philo- 
sophischer Kopf,  um  sich  bei  der  Richtung,  die  er  zu  nehmen  hatte,  vom 


I.t>6  Alfred  3toeß«l  >»  Dresden. 

Zufall  allein  nur  bestimmen  zu  lassen.  Er  mußte  den  neuen  Theorien  erst 
auf  den  Grund  sehen,  sich  mit  ihnen  auseinandersetzen,  und  auch  den  alten 
Wahrheiten  nochmals  in's  Gesicht  leuchte»,  ob  sie  sich  auch  als  echt  noch 
erwiesen,  ehe  er  sich  entschied. 

In  einer  Reihe  von  Aufsätzen,  die  gesammelt  und  mit  einigem  Anderen 
vereint  unter  dem  Titel  „Ein  Lebensbuch"*)  erschienen  sind,  hat  er  dies 
auch  gethan.  Sie  zeugen  alle  von  einer  großen  Belesenheit  und  von  ein- 
gehendsten Kenntnissen  ans  mannigfachen  Gebieten  seitens  ihres  Verfassers, 
dessen  geistiges  Rüstzeug  allerdings  ein  ganz  anderes  ist,  als  das  so  mancher 
jüngerer  Autoren,  die  mit  erstaunlich  leichtem  Gepäck  in  dieser  Hinsicht  oft 
ihres  Weges  wandeln.  Aber  sie  zeigen  zuweilen  auch  einen  svintisirenden 
Geist,  wie  er  so  vielen  seiner  sächsischen  Landsleute  eigen  ist,  einen  bohrenden 
Tiefsinn,  der  sich  in  Tackgassen  verrennen  kann,  ohne  eigensinnigerweise 
einen  Ausweg  daraus  auch  nur  finden  zu  wollen. 
Als  eine  solche  Tackgasse  wollen  uns  z.  V.  Kirchbachs  Theorien  über 
den  Vers  erscheinen,  de»  er  als  die  wahre  realistische  Form  der  Dichtung 
im  Gegensätze  zur  Prosa  preist,  die  „rein  als  äußerliche  Form  eine  durchaus 
undichterische,  unpoetische  Form"  sein  soll,  niemals  im  Stande,  eine  poetische 
Forin  werden  zu  können.  Alle  Prosaschriftsteller  und  selbst  Autoren,  wie 
Dickens,  Keller  und  Zola,  sind  ihn,  demnach  im  gewissen  Sinn  keine  wirk- 
lichen Dichter,  und  nur  die  „Halbbrüder"  der  eigentlichen  Poeten. 
Es  ist  erstaunlich,  welchen  Scharfsinn  Kirchbach  aufwendet,  um  eine 
solche  Theorie  zu  stützeu,  für  die  er  immer  wieder  neue  Gründe  in's  Treuen 
zu  führen  weih.  Zuerst  ist  ihm  der  Vers  schon  deshalb  die  wahre  realistische 
Form  der  Dichtung,  weil  die  Natur  selbst  in  dieser  realistischen  Form  rhythmisch 
arbeitet  und  ihre  Kraftleistungen  bewältigt.  Dann  aber  erscheint  ihm  die 
Redensart,  kein  Mensch  rede  in  Versen,  kein  Einwand.  „Denn  es  redet 
erst  recht  kein  Mensch  von  Natur  in  Prosa.  Das,  was  wir  Prosa  nennen, 
ist  eine  sehr  mühsam  errungene  Denkform,  welche  wir  Alle  erst  haben  erlernen 
müssen  ...  Die  Prosa  ist  deshalb  keine  realistische  Form,  sondern  eine 
abstracte." 

Aber  wenn  die  ganze  Natur  auch  ausschließlich  nur  in  Rhythmen 
spräche,  was  sie,  nebenbei  gesagt,  aber  keineswegs  thut,  und  ich  erinnere 
in  dieser  Hinsicht  nur  an  den  Wind,  der  in  den  unregelmäßigsten  und  un- 
rhythmischsten Ttöhen  zuweilen  doch  sich  austobt  —  die  Prosa  bliebe  doch 
die  realistischere  Forin  der  Dichtung,  so  lange  die  Menschen  nicht  in  Verse» 
reden;  wofern  man  unter  einer  mehr  oder  minder  realistischen  Dichtung  nur 
eine  solche  versteht,  die  in  mehr  oder  minder  getreuer  Weise  dno  Vild  des 
wirklichen  Lebens  in  der  Dichtung  künstlerisch  widerspiegelt.  Und  es  redet 
kein  Mensch  in  Versen.  Selbst  wenn  man  die  Kirckbach'sche  Ansicht  gelten 
lassen  will,  daß  die  Prosa,  weil  sie  sich  der  sogenannte«  Smtar  in  ihrer 
*)  3.  MelMII,!»,  Dresden. 


Wolfgang  Rirchbach.  ~tt? 

ausgebildeten  Form  bedient,  eine  abstracte  Denkform  sei,  die  wir  erst  mühsam 
alle  haben  erlernen  müssen,  dann  ist  diese  mühsam  erlernte,  abstracte  Denk- 
form doch  die  realistischere  Forin,  weil  die  Menschen  ihrer  sich  bedienen 
und  nicht  der  ursprünglichen  Form  des  Verses.  Aber  wäre  dann  nicht  die 
nllerursprünglichste  Form  zugleich  die  realistischste,  und  war  diese  aller- 
ursprünglichste  Forni  wirklich  der  Vers?  Und  dann:  Sprechen  die  Fischer 
an  der  Nordsee  oder  die  Holzknechte  in  den  bayerischen  Bergen  etwa  in 
kunstvoll  gebauten  Perioden,  oder  mit  einem  größeren  syntaktischen  Apparate, 
als  auch  der  Vers  ihn  nicht  entbehren  kann?  Aber  sprechen  sie  deshalb 
in  Versen?  Und  scheucht  der  Vers  wirklich,  wie  Kirchbach  an  einer 
anderen  Stelle  wieder  meint,  die  Erinnerung  an  jene  banale  Wirtlichkeit 
hinweg,  die  in  einem  Stücke  wie  seinem  „Gordon  Pascha"  z.  B.  störend 
sonst  es  uns  zum  Bewußtsein  brächte,  daß  Gordon  und  der  Mahdi  ja 
nicht  deutsch,  sondern  englisch  resp.  arabisch  gesprochen  haben?  lind  thäte 
er  es,  wäre  er  dann  wieder'  realistischer,  als  die  Prosa,  da  doch  der 
realistische  Effect,  daß  man  nämlich  jene  sogenannten  „philologischen  Neben- 
gedanken" über  den  Vers  vergessen  soll,  nur  durch  deu  Verzicht  auf  die  Vor- 
stellung erzielt  würde,  als  wäre  es  ein  Stück  wirklichen  Lebens,  was  sich 
da  vor  unseren  Augen  abspielt? 

Aber  wie  es  Prosa  genug  giebt,  die  unrealistisch  ist  im  höchsten  Grade, 
so  haben  wir  auch  Verse  in  Fülle,  die  realistischer  wirken  als  manche 
Prosa,  nnd  es  wird  Alles  nur  darauf  ankommen,  wie  Prosa  und  Vers  ge- 
handhabt werden.  Den  fanatischen  Prosaverkündern,  denen  jeder  Vers  wie 
ein  Verbrechen  gegen  die  wahre  Poesie  erscheint,  ist  Kirchbach  mit  Necht 
entgegengetreten,  mit  Unrecht  aber  ist  er  umgekehrt  wieder  selbst  zum  fanati- 
schen Versverkünder  geworden,  der  keine  Götter  gelten  lassen  will,  außer 
dein  Rhythmus,  dem  er  meines  Vedünkens  sogar  eines  seiner  Werke,  das 
Trauerspiel  „Der  Ingenieur"*)  zum  Opfer  gebracht  hat.  In  seiner  ur- 
sprünglichen Prosafassung  hat  das  Stück  in  München  reichen  Beifall  sich 
errungen;  in  seiner  Umarbeitung  in  Versen  will  es  mir  fast  als  die 
fchwächste  von  Kirchbachs  Arbeiten  erscheinen,  und  ganz  deutlich  kann 
man  an  mehr  als  einer  Stelle  es  ersehen,  daß  oit  nichts  Anderes  die 
Wirkung  der  Dichtung  beeinträchtigt,  als  der  Vers  allein.  Mag  man  eben 
hundert  Mal  auch  dem  Vers  die  Berechtigung  zugestehen,  für  jeden  be- 
liebigen Stoff  angewandt  zu  werden;  es  wird  immer  doch  Themata  geben, 
die  mehr  für  eine  Prosabehandluug  sich  eignen,  als  für  eine  solche  in 
Versen,  Themata,  bei  denen  die  vollendetste  Meisterschaft  des  Ver- 
dichters die  gleiche  Wirkung  zn  erzielen  im  Stande  ist,  die  dem  auch  weit 
weniger  begabten  Prosaschriftsteller  zn  erreichen  ganz  mühelos  gelingt.  Ein 
solches  Thema  ist  der  Vorwurf  des  Ingenieurs  zweifellos,  und  der  Vers 
sitzt  ihm  daher  anch  nur  wie  ein  geliehenes  Gewand,  das  ihn  drückt  nnd 
*)  Dresden,  L.  Ehleimann. 


t,s,8  Alfred  5toeßel  in  vresden. 

beengt  an  allen  Ecken  und  Enden  und  ihn  an  jeder  freien  Bewegung 
hindert. 

Mit  dem  „Ingenieur"  schließt  gleichzeitig  die  erste  Periode  von 
Kirchbachs  künstlerischem  Schaffen,  in  der  außer  den  bereits  angeführten 
Werken  noch  die  zweibändige  Novellensammlung  „Kinder  des  Reichs",  ein 
Band  „Ausgewählte  Gedichte",  sowie  das  Drama  „Der  Menschenkenner,"*) 
entstanden  sind.  Es  war  dies,  wie  bereits  erwähnt,  mehr  die  Periode 
einer  innerlichen  Entwicklung  eines  geistigen  Sichausreifens,  Wachsens 
und  Werdens,  als  die  einer  reichen  und  bedeutsamen  dichterischen  Pro- 
duction,  und  so  findet  sich  naturgemäß  viel  nngegohrener  Most  noch  in 
dein  damals  Geschaffenen;  daneben  aber  freilich  auch  gar  Manches,  das 
man  mit  zu  dem  Besten  zähle»  muß,  was  Kirchbach  überhaupt  hervor- 
gebracht. 

Mit  dem  im  letzten  Jahre  seines  Münchner  Aufenthaltes  geschriebenen 
Roman  „Der  Weltfahrer**")  beginnt  dann  eine  neue  Periode  seines 
dichterischen  Schaffens.  Der  Most  hat  ausgegohren.  Es  ist  kein  Tastender, 
Suchender  mehr,  der  uus  aus  den  in  rafchem  Aufeinander  sich  nun 
folgenden  Werken  entgegentritt;  fondern  eine  fertige,  gereifte  Dichter- 
plmsiognomie.  Sein  „Weltfahrer"  aber  bildet  nicht  nur  äußerlich  den  Ab- 
schluß seiner  Münchner  J  ahre,  er  zieht  auch  gleichsam  die  Summe  aus 
allen  den  Eindrücken,  die  der  Dichter  in  einer  so  langen  Zeitperiode 
empfangen,  und  er  gestaltet  sich  zu  einer  gründlichen  Abrechnung  mit  dem 
Münchner  Naturalismus  und  dessen  hauptsächlichsten  Vertretern,  von  denen 
einzelne,  mehr  oder  minder  deutlich  porträtirt,  in  dem  Werke  selbst  er- 
scheinen. Allein  er  ist  deswegen  noch  lange  nicht  etwa  eine  Huldigung  für 
eine  >vnnstübung,  die,  wie  Kirchbach  sehr  wohl  wußte,  in  Eonventionen  all- 
mählich erstarrt  war.  Im  Gegentheil;  er  ist  vielmehr  ein  Protest  gegen 
die  herkömmliche  Anschauung  von  dem,  was  poetisch  sein  soll,  und  was 
nicht.  „Es  ist  doch  eine  herrliche  Zeit,  in  der  wir  leben,"  ruft  Konrad 
Hermann,  ein  junger  naturalistifcher  Lyriker  und  eine  der  am  besten  ge- 
zeichneten Figuren  aus  dein  „Weltfahrer"  aus,  „nicht  das  Zeitalter  Homers, 
ja,  nicht  das  Zeitalter  Goethes  möchte  ich  um  die  lebendige,  gesteigerte 
Poesie  geben,  welche  uns  gerade  der  technische  Fortschritt  gebracht  hat.  .  .  . 
Siehst  Du,  die  Mühle,  das  Mühlenrad,  das  erscheint  Jedermann  poetisch.  .  .  . 
So  wird  eine  Zeit  kommen,  wo  man  auch  das  Eisenbahnrad  als  die  trau- 
lichste Poesie  besingt,  ja,  wir  stehen  schon  zur  Hälfte  mitten  in  dieser  Zeit. 
Denn  auch  die  Mühle  und  das  Mühlenrad  ist  ja  nur  eine  uralte  Maschine; 
sollten  da  nicht  unsre  unendlich  vervollkommneten  Dampfmaschinen, 
elektrischen  Maschinen  auch  unendlich  dichterischer  sein?  Es  ist  nur  Ge- 
wöhnung. Schön  und  poetisch  wird  die  Welt  erst  zu  der  Zeit  werden,  da 
')  Sämmllich  erschienen  bei  L.  Ghlermann,  Dresden. 
**)  Ticsden,  E.  Pierson. 


Wolfgang  Kirchbach.  ~6<) 

man  Alles  in  Maschinen  und  Mechanismen  aufgelöst  hat.  .  .  .  Das  ist 
unsre  neue  Poesie!  Die  wollen  wir  «erkunden;  die  will  ich  Euch  bringen!" 
Die  Wege  dieser  neuen  Poesie  war  Kirchbach  freilich  schon  in  seinein 
Erstlingswerke,  in  den  „Märchen"  gewandelt;  aber  jetzt  vermochte  er  sie 
doch  mit  einer  ganz  anderen,  gereifteren  Beherrschung  der  künstlerischen 
Mittel  zu  gehen,  wie  ehedem.  Wer  den  episodisch  in  den  „Weltfahrer" 
eingessochtenen  „Mitrobenroman"  gelesen,  der  wird  sich  auch  dem  Ein- 
drucke nicht  zu  entziehen  vermögen,  daß  er  hier  einem  Eabinetstückchen 
gegenüberstehe,  welches  allein  schon  das  Werk  über  das  Durchschnitts«  !venu 
gewöhnlicher  Unterhaltungslectüre  hinaus  zu  heben  vermöchte.  Aber  das 
ist  der  Noman  aus)  sonst  in  keiner  Weise.  Dazu  ist  er  zu  sehr  gesättigt 
mit  dem  geistigen  Inhalte  der  Zeit.  Es  ist,  als  hätte  Kirchbach  in  dem 
Weltfahrer  sein  Lebenswerk  zu  schreiben  beabsichtigt.  Alles,  was  ihn  be- 
wegte, was  er  erlebt,  gesehen  und  gelernt  in  seinein  bis  dahin  verhältnis- 
mäßig noch  so  kurzen  und  doch  so  inhaltsreichen  Leben,  die  Erinnerungen 
seiner  Gmmmsiastenzeit  mit  ihren  Liebhabereien  und  dem  naturwissenschaft- 
lichen Wanderverein,  dessen  Andenken  das  Buch  auch  gewidmet  ist,  seine 
späteren  inneren  Kämpfe,  die  Weltreisen  seines  Vaters,  alle  seine  mannig- 
fachen philosophischen,  naturwissenschaftlichen  nnd  historischen  Studien,  sein 
Ringen  nach  geistiger  Freiheit,  nach  Unabhängigkeit  von  jeglicher  Schul- 
meinung, das  gan-e  Bild  der  Zeit  mit  ihren  hundertfach  sich  durchkreuzenden 
Strömungen  und  Unterströmungen,  das  Alles,  Alles  suchte  er  iu  das  eine 
Gemälde  zusammenzufassen.  Und  doch  ist  es  nicht  überladen,  nnd  seine 
frischen  Farben  erfreuen,  gleichgiltig  ob  sie  aus  dem  naturalistischen  Farben- 
topfe geholt  sind,  wie  in  dem  Schlnßcapitel  mit  seinem  fast  zolamäßigen 
Ausklingen  oder  in  dem  grausig  packenden  Nachtstücke,  wo  die  freiwillig  von 
ihrem  Manne  geschiedene  Frau  Streicher,  die  nur  deshalb  deu  Gatten 
freigab,  damit  dieser  seinen  in's  Wanken  gerathenen  finanziellen  Verhält- 
nissen mit  einer  freilich  stark  verbrauchten,  aber  wohlsituirten  Tänzerin  auf- 
helfe, dem  wieder  vermählten  Manne,  dem  sie  in  krankhafter  Sentimentalität 
selbst  das  Vrautbett  gerichtet,  und  dann  auch  sich  selbst  in  der  Hochzeitsnacht 
die  Gnrgel  abschneidet  —  oder  ob  jene  Farben  den»  Malkasten  der  idealisti- 
schen Richtung  entstammen,  wie  in  der  reizenden  Idylle  des  zweiten  Eapitels. 
Aber  so  wenig  haushälterisch  der  Dichter  in  seinen:  „Weltfahrer"  mit 
seinen  Mitteln  auch  umgegaogen  ist,  er  hat  doch  bei  Weitem  nicht  sich  aus- 
zugeben vermocht,  und  was  fast  wie  der  Schlußstein  seines  ganzen  Dichter- 
lebens sich  ausnahm,  war  doch  erst  der  Grundstein  zu  eiuem  Vau,  bei  dem 
der  Künstler  emsig  noch  am  Werke  ist.  Das  Neste  ist  ihm  vielleicht  noch 
vorbehalten:  das  Beste,  was  ihm  bisher  aber  gelungen  ist,  hat  er  gleich 
in  seinem  nächsten  Werke,  dem  Bühnenmärchen  „Die  letzten  Menschen"*) 
gegeben,  einen,  Vorläufer  jener  ungezählten  Märchen,  welche  die  Theater  ein 
*)  E.  Pierson,  Dresden. 
Nu«,  und  l»l>,  I.XXV.  224.  ~ 


1?0  Alfred  -toeßel  in  Dresden. 

paar  Jahre  später  als  Rückschlag  der  großen  naturalistischen  Hochfluth  nun 
uns  allzufreigebig  fast  credenzen. 

Ein  Stück  für  die  große  Masse  sind  die  „Letzten  Menschen"  jedoch  in 
noch  weit  geringerem  Grade,  als  der  „Zeitfahrer"  etwa  ein  Roman  für 
die  Menge  derjenigen  ist,  die  mit  ihrer  Leetüre  nur  dem  plattesten  Unter- 
haltungsbedürfnisse zu  Hülfe  kommen  können  oder  wollen;  viel  mehr  find 
sie  ein  Stück  für  litterarische  Feinschmecker,  und  wie  sie  selbst  höhere  An- 
sprüche an  den  Zuschauer  stellen,  so  werden  sie  in  der  Hauptsache  auch  solche 
besonders  interessiren,  die  ihrerseits  ein  größeres  Maß  von  Ansprüchen  in 
litterarischen  Dingen  zu  stellen  gewohnt  sind.  Aber  das  soll  nicht  etwa  ein 
Tadel  sein.  Die  „Letzten  Menschen"  sind  kein  Buchdrama.  Ein  starker 
dramatischer  Zug  lebt  in  ihnen  trotz  des  tieferen  philosophischen  Sinnes, 
der  durch  die  reichbewegte  Handlung  hindurchschimmert,  ohne  ihn  doch  mehr 
zu  belasten,  als  etwa  der  Blüthenstaub,  der  die  Flügel  des  Falters  über- 
deckt, und  eine  Fluth  von  Phantasie  und  Stimmung  ist  über  das  Ganze 
gegossen,  die  auch  denjenigen  in  ihre  Zauberkreise  zwingen,  denen  jener 
tiefere  Sinn  des  Stückes  immer  ein  ungelöstes  Mthsel  bleiben  mus!. 
Es  ist  der  Welten  Ende,  das  uns  in  den  „Letzten  Menschen"  vorgefühlt 
wird;  aber  nicht,  wie  es  in  den  uralten  Mythen  gemalt  sich  findet,  sondern 
wie  die  Naturwissenschaft  als  unausbleiblich  es  uns  vorherfagt.  Die  Sonne 
will  verlöschen,  und  der  Erdball  vereist. 
.Doch  eh'  der  eis'ae  Tod  die  starre  Welt  umschliehet, 
Noch  einmal  Leben  aus  der  bangen  Nacht  entsprießet. 
Noch  einmal  trifft  der  Sonne  letzter  Strahl 
Erwärmend  in  das  tühle  Erdcnthal  .  . 
Da  blüht  die  Erde  auf  im  sanften  Licht  .  .  . 
Ein  Paradies  erwächst  im  Sllberlranze 
Der  Elsaebiiac 

durch  das  ein  Menschenpaar,  das  letzte,  hindurchwandelt.  Und  rings 
um  dieses  herum  tummeln  sich  zu  neuem  Leben  erweckte  Fabelwesen,  Faune 
und  Sirenen,  Kentauren  und  Tritonen,  Saturn  und  Rumphen,  Proteus 
und  der  alte,  große  Pcm  selbst,  mit  einem  göttlichen  Behagen,  das  von 
den  quälenden  Zweifeln,  von  all  den  Leiden,  die  auch  des  letzten  Menschen- 
paares Brust  durchwühlen,  Nichts  kennt  und  weiß.  Es  ist  oft  fast  wie  ein 
Stück  gedichteten  Böcklins,  aus  dessen  Bildern  in  der  Schack'schen  Galerie 
zu  München  Kirchbach  ja  auch  mannigfache  AnMylng  empfangen  haben  mag; 
aber  es  weht  auch  ein  großer  tragischer  Zug  durch  das  Stück  hindurch,  der 
aus  der  Gegenüberstellimg  jener  mit  glühenden  Farben  gemalten,  faunisch 
den  Augenblick  genießenden  n»d  um  die  Zukunft  unbekümmerten  Fabelwelt 
und  dem  unsäglichen  Jammer  erfließt,  der  die  letzten  Menschen  ihrem  eigenen 
und  der  Erde  sicher  nahem  Ende  gegenüber  erfaßt. 
Der  rechte  Mann  war  hier  an  den  rechten  Stoff  gekommen.  Das 
Reich  der  Phantasie  ist  so  eigentlich  >lirchbachs  Domäne  nnd  daneben  die 
philosophische  Tpeculation,  nnd  in  beiden  Richtungen  konnte  er  hier-  nach 


Wolfgang  «irchbach,  ~?l 

Herzenslust  sich  ausleben,  ohne  doch  befürchten  zu  müssen,  durch  ein  Zuviel 
nach  dieser  oder  jener  Seite  hin,  wie  es  in  anderen  seiner  Werke  ab  und 
zu  doch  sich  geltend  macht,  entweder  als  allzu  phantastisch  oder  allzn  tief- 
sinnig zu  erscheinen. 

So  wurden  seine  Schwächen  selbst  zu  Vorzügen  an  diesem  Stoffe,  an 
dem  der  Autor  einen  ebenso  glücklichen  Griff  gethan,  wie  an  dem  Stoffe 
zu  seinen»  nächstfolgenden  und  bisher  wohl  verbreiterten  Werke,  dem  „Leben 
auf  der  Walze"*),  So  grundverschieden  die  beiden  Vorwürfe  aber  auch 
sind,  es  leitet  doch  eine  Brücke  von  dem  einen  zum  andern,  die  nach  einem 
rein  aus  dein  Boden  der  Phantasie  entsprossenen  Werke,  wie  die  „Letzten 
Menschen"  es  sind,  die  Wahl  eines  Themas  verständlich  erscheinen  läßt,  in 
dem  das  erbärmliche  Leben  des  Handwerksburschen  und  Pennbruders  behandelt 
ist.  Und  diese  Brücke  ist  nicht  nur  in  dem  Contrast  zu  suchen,  nicht  nur 
darin,  daß  das  Pendel,  nachdem  es  nach  der  einen  Seite  sich  aus- 
geschwungen, nun  auch  zurück  und  nach  der  entgegengesetzten  Seite  schlagen 
inuß.  Kirchbach  ist  kein  Gesellschaftsmenfch,  kein  Man«  des  glatten  Salons; 
er  fühlt  sich  am  wohlsten  in  Wald  und  Flur,  auf  weiten  Fußwanderungen 
oder  in  der  Stille  seiner  Studirstube,  vertieft  in  seine  Bücher  nnd 
Studien,  und  er  kennt  demnach  die  ihm  gleichgültige  Welt,  die  die  Salons 
bevölkert,  weit  weniger,  als  jene  Welt,  der  er  das  größte  Interesse,  eine 
warmherzige,  tiefe  Liebe  entgegenbringt,  die  Welt  der  Dichter  nnd 
Denker,  wie  das  Leben  nnd  Weben  draußen  in  der  Natur,  Davon  hat 
er  zwei  Seiten  bisher  uns  nur  geschildert,  im  „Weltfahrer"  das  stille,  ge- 
heimnißvolle  Leben  der  Pflanzenwelt,  in  den  „Letzten  Menschen"  das 
Dreiben  aller  der  Fabelwesen,  mit  denen  seine  Phantasie  ihm  die  Natur 
bevölkert;  nun  wendet  er  sich  auch  dem  zu,  was  an  Menschenkindern  im 
Dunkel  des  Waldes  oder  auf  der  zwischen  endlosen  Felden«  sich  dahin- 
ziehenden Landstraße  umherkrabbelt,  jener  tagscheuen  Brüderschaft,  die  kein 
anderes  Heim  hat,  als  Mutter  Grün  und  die  Penne.  Und  er  schildert 
sie  trotz  dem  waschechtesten  Naturalisten.  Er  kennt  ihre  Sprache,  jenes  selt- 
same Nothwelsch,  in  dem  sie  mit  einander  verkehren,  und  ihre  Gewohn- 
heiten, alle  die  Nüanceu  der  Species,  ihre  guten  und  bösen  Seiten,  und 
er  weiß  sie  plastisch  und  anschaulich  genug  uns  zu  schildern.  Daß  der 
Noman  überdies  in  eine  Zeit  siel,  wo  eine  ganze  Richtung  in  der  sinnst 
mit  Borliebe  das  Leben  der  Enterbten  und  Elenden  zum  Gegenstande  ihrer 
Darstellung  machte  und  bei  dem  eben  herrschenden  großen  Interesse  für 
alle  sogenannten  socialen  Fragen  auch  den  lebhaftesten  Widerhall  erweckte, 
in  eine  Zeit,  wo  durch  des  Theologen  Paul  Göhre  interessante  Studie: 
„Drei  Monate  Fabrikarbeiter"  die  Theilnahme  für  die  in  Kirchbachs 
Werke  geschilderte  Mensckentlasse  gerade  eine  besonders  starke  war,  ver- 
mochte de»  Wertli  der  Arbeit  freilich  nicht  zu  erhöhen;  aber  es  verhalf 
*)  Berlin,  Verein  der  Bücherfreunde. 
12* 


~72  Alfred  3t«eßel  in  Dresden. 

dem  Buche  doch  mit  zu  einer  größeren  Popularität,  als  frühere  Arbeiten 
des  Autors  ihrer  mehr  oder  minder  starken  Erclusivität  wegen  sich  je  ver- 
muthlich  errungen  hätten,  so  daß  Kirchbach  seit  dem  „Leben  auf  der  Walze" 
wohl  mit  zu  den«  verhältnißmäßig  sehr  kleinen  Kreise  von  Autoren  zu 
zählen  ist,  deren  Namen  auch  weiteren  Kreisen  geläufig  sind. 
Aber,  als  wäre  es  ihm  darum  zu  thun  gewesen,  nach  diesen:  seinem 
erfolgreichsten  Werke  nicht  ein  für  alle  Mal  zum  Naturalisten  gestempelt  zu 
werden,  so  finden  wir  den  Dichter  fchon  in  seiner  nächsten  größeren  Arbeit, 
die  er  ans  eine  Sammlung  von  Novellen  unter  dem  Titel  „Miniaturen"*) 
hat  erscheinen  lassen,  in  „Des  Sonnenreiches  Untergang"**)  auf  ganz 
anderen  Pfaden.  Es  ist  der  Weg  der  historischen  Tragödie,  den  er  dies- 
mal schreitet,  der  Weg  Shakespeares  und  Schillers,  auf  dem  er,  ob  er 
gleich  nie  ihn  bisher  noch  gewandelt,  merkwürdig  gut  sich  zurecht  findet. 
Ganz  anders,  wie  in  den  Bühnenwerken  seiner  ersten  Schaffensperiode, 
wie  im  „Ingenieur"  und  im  „Menschenkenner",  ist  er  jetzt  Herr  des 
technischen  Handwerkszeugs,  kennt  er  die  Forderungen  des  Theaters,  weiß 
er  seine  Handlung  zu  gruppiren  und  dramatisch  wirksam  aufzubauen.  Der 
Fortfehritt  ist  ganz  unverkennbar.  Die  Flügel  sind  ihm  gewachsen,  und  sie 
erlahmen  nicht  mehr  nach  kurzem  Fluge,  sondern  tragen  ihn  sicher  empor 
nach  dem  hohen  Ziele,  das  er  sich  gesteckt. 
Es  ist  ein  dankbares  Thema,  die  Eroberung  Perus  durch  die  Spanier, 
das  der  Dichter  sich  wieder  zum  Vorwurf  für  seine  Tragödie  erkoren,  reich 
an  tragischen  Momenten  und  wirksamen  Kontrasten,  die  nach  einer  Tra- 
matisirung  förmlich  zu  drängen  fcheinen,  und  die  es  uns  vergessen  lassen, 
wie  fernab  jene  Ereignisse  alle  uns  im  Grunde  liegen.  Was  in  dem 
Stoffe  lag,  hat  Kirchbach  auch  geschickt  herauszuholen  verstanden.  Aber 
ebenso  geschickt  hat  er  zugleich  mit  seinen  künstlerischen  Mitteln  hauszuhalten 
gewußt,  und  ob  das  Drama  auch  seinen  Höhepunkt  am  Ende  des  zweiten 
Actes  schon  erreicht:  es  weiß  doch  bis  zum  Schluß  noch  uns  zu  fesseln. 
Der  Versuchung  in  diesem  „Eultuxdrama"  der  Schilderung  jenes  hochent- 
wickelten Eulturzustandes,  wie  er  uns  in  dem  auf  communistifcher  Grund- 
lage aufgebauten  peruanischen  Staatswesen  iu  drastischem  Gegensatze  zu  der 
empörenden  Barbarei  und  Grausamkeit  jenes  bigotten,  rohen  und  allen 
Lastern  ergebenen  spanischen  Pöbelhaufens  entgegentritt,  dessen  Führer 
Pizarro  nicht  einmal  des  Lesens  und  Schreibens  kundig  war,  auf  Kosten 
der  Gesammtwirkung  einen  allzubreiten  Raum  zu  gönnen,  ist  Kirchbach  da- 
bei klug  aus  dem  Wege  gegangen,  und  was  er  an  kulturhistorischen 
Neminiscenzen  geboten,  hat  er  discret  und  ohne  alle  Aufdringlichkeit  gethan. 
Schade,  daß  gerade  die  Hauptfigur  des  Dramas,  der  letzte  Inka 
Atahuallpa,  einige  Ungleichheiten  in  der  Charakterzeichnung  aufweist.  Im 
*)  Stuttgart  1892.  I.  st«.  Cottll. 
**)  Dresden  1894.  G.  Piersons  Verlan. 


Wolfgang  Kiichbach,  l,?2 

ersten  Acte,  in  dem  Zwiste  mit  seinem  Bruder  Huaokar,  den  Atahuallpa 
vom  Throne  verdrängte,  um  sich  selber  darauf  zu  setzen,  sind  die  Sympathien 
des  Zuschauers  im  Grunde  alle  auf  Huaskars  Seite.  Und  mit  Reci,c. 
D  enn  wenn  Atahuallpa  alle  seine  Verwandten,  die  zu  dem  Bruder  gestanden, 
Männer  und  Frauen,  nach  glücklich  errungenem  Siege,  auf  das;  sie  ihm 
nicht  weiter  gefährlich  werden  können,  in  den  Felsenahgrund  stürzen  läßt 
und  ihnen,  denen  in  wenigen  Augenblicken  die  „heiligen  Häupter"  zerschlagen 
werden  sollen,  auf  ihrem  traurigen  Wege  zur  Richtstätte,  als  wollte  er  sie 
noch  höhnen,  zuruft: 
„Wie  glücklich  seid  Ihr  Alle!  Ihr  „cht  hin. 
Wo  Euch  unsterblich  Leben  blühen  wird. 
Indessen  wir  in  dieser  Welt  der  Arbeit 
Noch  länger  uns're  Mühsal  tillgen  müssen!" 
so  kann  man  nicht  anders,  als  mit  Huaskar  sich  über  eine  so  grobe 
Heuchelei  in  tiefster  Seele  zu  entrüsten.  Es  wird  Einem  schwer,  demselben 
Manne  dann  in  den  Tagen  seines  Unglücks  jenes  Maß  von  Mitleid  ent- 
gegenzubringen, das  der  Dichter  in  lins  offenbar  erwecken  will,  und  das 
wir  sicher  sonst  auch  für  ihn  empfunden  hätten.  Und  mit  Mühe  nur  ver- 
mag man  deshalb  in  der  sonst  hochdramatischen  Scene,  wo  Atahuailpa  in 
der  Ahnengruft  die  Mumien  der  todten  Inkas  befragt,  ehe  er,  sich  zu 
retten,  den  Bruder  heimlich  um's  Leben  bringen  läßt,  den  Gedanken  zu 
unterdrücken,  ob  dieser  große  Komödiant,  als  der  er  ini  ersten  Acte  sich 
erwiesen,  nicht  auch  hier  abermals  nur  ~in  Theaterstückchen  aufführt,  während 
sein  Entschluß,  den  Bruder  zu  opfern,  längst  schon  gefaßt  war,  und  das; 
ein  Schurke,  Atahuallpa,  fomit  hier  nur  an  einen  noch  weit  größeren 
Schurken,  Pizarro,  gerathen. 

Um  so  besser  ist  Kirchbach  dafür  die  Eharakteristik  der  Spanier  ge- 
lungen, und  für  einige  Schwächen  des  Stücks  bietet  er  reichlichen  Ersatz  in 
einer  Reihe  unleugbarer  Borzüge,  so  in  einer  brillanten  Farbengebung, 
die  die  Bilder  längstvergangener  Zeiten  lebensfrisch  uns  vor  das  Auge  stellt, 
und  in  einigen  fein  abgetönten  lyrischen  Momenten,  die,  als  Ruhepunkte 
gleichsam,  die  dramatisch  stark  bewegte  Action  stimmungsvoll  unterbrechen. 
Immerhin  war  es,  so  dankbar,  wie  erwähnt,  das  Thema  einerseits  auch 
ist,  auf  der  anderen  Seite  doch  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Wagniß,  in 
der  Zeit  Ibsens  und  des  socialen  Trauerspiels  für  eine  historische  Tragödie 
in  fünffüßigen  Jamben  noch  Interesse  erwecken  zu  wollen;  aber  der  Erfolg 
der  ersten  Aufführung  am  Dresdner  Hoftheater,  der  weitere  Aufführungen 
auf  einer  ganzen  Reihe  erster  Bühnen  folgen  follen,  hat  es  allein  schon 
bewiesen,  daß  das  Wagniß  geglückt  ist. 

Einen  ungleich  größeren  Wagemnth  hat  Kirchbach  aber  doch  noch  mit 
seiner  nächsten  Tragödie  „Gordon  Pascha"  bewiesen.  Wir  haben  die  Er- 
eignisse alle  miterlebt,  die  dem  Stücke  zn  Grunde  liegen.  Mit  ängstlicher 
Spannung  haben  wir  s.  Z.  monatelang  das  Vorwärtsdringen  des  Entsatz- 


I.?H  Alfred  5toeßel  in  vreiden. 

Heeres  unter  Wolseley  verfolgt,  in  banger  Erregung,  ob  es  noch  gelingen 
würde,  Gordon  und  seine  Getreuen  zu  erretten,  nm  endlich  die  Kunde  von 
dem  verhängnißuollen  „Zu  spät"  zu  vernehmen.  Und  nun  soll  uns  das 
Alles  auf  den«  Theater  vorgeführt  werden,  und  nicht  etwa  in  einem  Aus- 
stattungsstücke oder  in  einer  jener  Sensationskomödien,  die  mit  Vorliebe 
ja  des  Allerneuesten  und  Actuellsten  sich  bemächtigen,  sondern  in  einem 
ernstgemeinten  Drama,  das  mit  der  vollen  Prätension  einer  wirtlichen 
litterarischen  Leistung  auf  den  Plan  tritt.  Das  Experiment  in  neu, 
wenigstens  für  unsere  Tage.  Aber  warum,  meint  Kirchbach,  soll  das,  was 
vor  mehr  als  zweitausend  Jahren  dem  Aeschylus  mit  seinen  Persern  er- 
laubt war,  ohne  daß  ein  hypochondrischer  ästhetischer  Coder  es  ihm  ver- 
wehrte, nicht  auch  dein  modernen  Dichter  gestattet  sein? 
Die  Zeiten  haben  sich  gewandelt,  die  Menschen  am  Ende  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  sind  dieselben  nicht  mehr,  wie  die  in  Aeschylus'  oder 
Shakespeares  Tagen.  Sie  sind  weit  weniger  naiv,  als  jene,  zu  sehr 
darauf  erpicht,  die  Dichtung  darauf  hin  anzusehen,  ob  sie  auch  nur  der 
Wahrheit,  der  Wirklichkeit  entspräche,  zu  wenig  daran  gewöhnt,  die  Ein- 
richtungen und  Errungenschaften  unseres  modernen  Lebens  auch  als  poetische 
Elemente  anzusehen,  deren  eine  höhere  Ansprüche  erhebende  Dichtung  sehr 
wohl  sich  bedienen  darf.  Und  deshalb  ist  das  Unternehmen,  den  Zeit- 
genossen ein  Drama,  das  sie  selber  miterlebt  haben,  im  Spiegel  der 
Dichtung  vorzuführen,  heutzutage  ein  ganz  anders  gewagtes,  als  es  ebedem 
gewesen,  nnd  anch  deswegen,  weil  die  Gefahr  allzuuahe  liegt,  in  das  Genre 
eben  jener  Sensationskomüdien  hineinzngerathen,  von  denen  wir  eben  ge- 
sprochen. Indem  Kirchbach  seinen  „Gordon"  in  Verse  goß,  hat  er  diese 
letzte  Klippe  wenigstens  mit  Geschick  zu  umgehen  gewußt.  Von  vornherein 
hat  er  damit  sein  Drama  in  ein  höheres  Niveau  gerückt  und  den  Zuschauer 
zu  einem  ganz  anderen  Maßstab  für  die  Neurtheilung  gezwungen,  so  sehr 
befremdlich  es  für  den  ersten  Augenblick  auch  wirkt,  Gordon  Pascha  oder 
den  Berichterstatter  der  Times  mit  dem  sehr  wenig  poetisch  klingenden 
Namen  Power  in  Versen  reden  zu  hören. 

Wie  in  des  „Sonnenreiches  Untergang",  so  sind  es  auch  hier  zwei  Welten, 
die  einander  gegenüberstehen.  Aber  diesmal  sind  nicht  wie  dort  die  Wilden 
die  besseren  Menschen,  sondern  die  durch  den  edlen  und  hochherzigen  Gordon 
rcpräsentirten  Europäer,  deneu  im  Mahdi  und  dessen  lawinenartig  sich 
mehrenden  Anhängern  eine  nach  außen  zwar  glanzvolle  Gruppe  entgegen- 
gesetzt wird,  glanzvoll,  weil  im  Vesitze  einer  ungeheuren  Machtfülle,  aber 
morsch  und  faul  im  Innern  bis  auf  die  Knochen,  weil  auf  Lüge  und  Velrug 
aufgebaut.  Und  wie  in  dem  Inkadrama,  so  erliegt  auch  hier  das  Gute 
im  Kampfe  mit  der  brutalen  Uebermacht.  Das  Vöse  triumphirt.  Aber 
es  ist  nun  einmal  so  der  Gang  der  Ereignisse  gewesen,  an  denen,  gerade, 
weil  sie  uns  so  verzweifelt  nahe  liegen,  freilich  nicht  viel  sich  ändern  ließ,  und 
Kirchbach  glaubte  von  der  historischen  Wahrheit  schon  deswegen  umsoweniger 


Wolfgang  Riichbach.  1.75 

abweichen  zu  dürfen,  als  eben  diese  Wirklichkeit  im  vorliegenden  Falle  ihm 
„das  beste  ethische  und  sittliche  Motiv  der  ganzen  Dichtung"  zn  sein  schien. 
Nnd  doch  wäre  eine  kleine  Retouche  der  Wirtlichkeit  dem  Gefammtbilde 
vielleicht  uon  Vortheil  gewesen,  in  dein  die  einzelnen  Figuren  immerhin  plastisch 
und  scharf  uon  dem  stimmungsvoll  gezeichneten  Hintergrund  sich  abheben. 
Unter  ihnen  gebührt  dem  Mahdi  und  seiner  Gruppe,  die  freilich  das 
lebendige  Eolorit  des  Orients  und  mit  dem  malenscheren  Eostüm  weit  mehr 
Theatralisches  überhaupt  schon  uon  Hause  aus  vor  den  in  dem  Drama 
auftretenden  Europäer»  voraus  hat,  unbedingt  der  Vorzug,  und  nur  das 
weibliche  Element  scheint  uns  in  der  Charakteristik  ein  klein  wenig  zu  kurz 
gekommen  zn  sein.  Aber  das  ist  eine  Schwäche  des  Dichters  überhaupt', 
und  mit  Ausnahme  der  Frau  Streicher  in  seinem  „Weltfahrer",  in  der 
Kirchbach  freilich  einen  Eharakterkopf  von  blendender  Wirkung  geschaffen, 
sind  fast  alle  seine  Frauengestalten,  wenigstens  insofern  sie  den  besseren 
Ständen  angehören,  mehr  ausgedacht,  als  geschaut.  Er  kennt  die  Frauen 
zu  wenig;  aber  der  Tadel,  der  in  diesen  Worten  für  den  Dichter  liegt, 
schließt  zugleich  doch  wieder  das  höchste  Lob  für  den  Menschen  Kirchbach 
ein,  der  seit  seiner,  wie  erwähnt,  in  so  jungen  Jahren  eingegangenen  Ehe 
in  Herzenssachen  vermuthlich  Nichts  weiter  mehr  erlebt  hat. 
Vor  wenigen  Wochen  vollendete  Kirchbach  sein  38.  Lebensjahr;  er  steht 
somit  in  einem  Alter,  in  welchem  andere  Talente  sich  oft  erst  zu  ent- 
wickeln pflegen;  aber  wenn  man  die  Fülle  dessen  überblickt,  was  er  bereits 
geschaffen  —  und  zu  den  schon  erwähnten  Werken  sind  noch  seine  letzten 
Arbeiten,  ein  Roman  „Der  Wein",  das  bereits  citirte  Drama  „Eginhard 
und  Emma",  sowie  ein  Operntert  „Der  Spiegel"  <  Musik  von  Franz  Eurti) 
zn  ergänzen,  auf  die  hier  nur  aus  dem  Grunde  nicht  näher  eingegangen 
werden  konnte,  weil  sie,  im  Erscheinen  begriffen,  noch  nicht  vorlagen  — 
dann  nimmi  die  stattliche  Anzahl  von  Bänden  sich  aus,  wie  das  End- 
ergebnis; eines  langen  und  arbeitsamen  Dichterlebens,  dessen  auch  eiu  doppelt 
so  Älter  wie  Kirchbach  keinesfalls  sich  zu  schämen  brauchte.  Uud  sicher  hat 
.Nirchbach  auch  den  Gipfel  feines  Könnens  noch  lange  nicht  erreicht.  Denn 
ob  das  Beste,  was  er  uns  bisher  gegeben,  seine  „Letzten  Menschen",  gleich 
in  den  Anfang  feiner  zweiten  Schaffensperiode  fällt,  so  ist  doch  ein  Fort- 
schreiten, wie  es  von  seiner  ersten  zn  seiner  zweiten  Periode  constatirt  wurde, 
auch  innerhalb  eben  dieses  zweiten  Abschnittes  in  vieler  Hinsicht  nicht  zu 
verkennen,  ein  Wachsen  und  Entfalten  seiner  Kräfte,  das  offenbar  immer 
noch  im  Steigen  begriffen  ist.  Seine  besten  Karten  hat  Kirchbach  also  ver- 
muthlich noch  nicht  ausgespielt;  aber  er  hat  doch  genug  davon  gezeigt,  um 
die  Ehrung  gerechtfertigt  erscheinen  zu  lassen,  die  ihm  dadurch  widerfahren, 
daß  der  in  Dresden  tagende  Eongreß  der  ,,/v,«8oc:!gtion  littörlui-s  ot 
Il!'ti8ticil>6  intsriintiunalß"  ihn  zu  seinem  Vorsitzenden  erkoren,  eine 
Ehrung,  die  allerlei  zufällige  und  äußerliche  Gründe  allein  wohl  knnm 
herbeigeführt  hätten. 


Gedichte, 
von 

Ludwig  NacouowM. 
—  Verlin.  — 
Dorfidyll. 

Des  Küsters  blondes  Töchterlein 

sitzt  mit  dem  Lehrer  ganz  allein. 

Im  Flieder  singt  die  Nachtigall 

Und  singt  von  liebe  mit  süßem  schall, 

sie  sieht  zur  Seite,  er  spricht  kein  Wort, 

Das  vöglein  singt  noch  immerfort. 

Das  klingt  so  hell  von  tust  und  Freud', 

Da  rückt  er  still  an  ihre  Zeil' 

Und  küßt  das  Vlondhaar  immerzu, 

sie  schließt  die  beiden  Augen  zu  .  .  . 

Im  Vrombeerbusch  am  Gartenzaun, 

Da  ist  ein  junger  Vursch  zu  schaun. 

Der  Hansel  ist's,  der  Ackerknecht, 

Dem  war  die  sache  gar  nicht  recht, 

In  Erlenblä'ltern  der  Nachtwind  rauscht, 

<3r  steht  am  Zaun  und  steht  und  lauscht. 

Dann  schleicht  er  fort  durch's  Rübenfeld. 

Li  pfeift  jetzt  auf  die  ganze  Welt, 

Im  wirthshaus  ist  heut'  Rauferei, 

Da  schlägt  er  Tisch  und  Vank  entzwei! 

Die  Nacht. 

lind  wenn  mich  Deine  süße  stimme  Ich  will  nicht  frevelnd  nach  den  steinen 
riefe,  greifen, 

so  süß,  wie  keine  Nachtigall  gelacht,  Doch  nach  den  Vlumcn,  die  in  meiner 
Ich  müßte  thun,  als  wenn  ich  tief  schon  Macht, 
schliefe,  —  Denn  um  in's  Ungemeßne  zu  entfchweifen, 

Ich  habe  Furcht,  denn  draußen  steht  die  Ich  habe  Furcht,  denn  draußen  steht  die 
Nacht.  Nacht. 

Halt'  aus,  mein  lierz,  wenn  auch  mit 
Schwertesschärfen 

Lin  großes  weh  Dich  Nberelend  macht. 
Denn  um  mein  kleines  leben  hinzu- 
werfen, — 

Ich  habe  Furcht,  denn  draußen  steht  die 
Nacht .  .  . 


Gedichte, 
57? 

Rothe  ~osen. 

Ein  Körbchen  Rosen  sandt'  ich  vir  in's 
Haus. 

Du  suchtest  Vir  die  beiden  schönsten  aus. 
Heut  Abend  prangt  das  dunkelrothe  paar 
Als  einz'ger  5chmuck  in  Deinem  schwarzen 
Haar, 

Mich  siehst  Du  nicht!  Ich  aber  schau  Dich  an. 
Es  ahnt  kein  Mensch,  was  ich  vir  an- 
gethan, 

Kein  Mensch  im  Saal,  daß  mit  dem 
Rosenpaar 

Mein  Segen  ruht  auf  Deinem  lockenhaar. 
3er  Wundervogel. 

Dorm  Fenster  steht  ein  Ahornbaum, 
Da  singt  ein  vöglein  seltne  lieber, 
Das  kommt  ans  fremdem  Himmelsraum 
In  jeder  Sommernacht  hernieder. 
Doch  wenn  die  letzten  Vlüthen  blühn 
Und  weif;  und  roth  zur  Erde  wehen. 
Dann  muft  es  in  die  Fremde  zieh«, 
wo  andre  Nliithen  auferstehen. 
Tiefdunkel  war  die  Sommernacht, 
Da  hob  das  vöglein  seine  Schwingen. 
Ich  hörte  halb  im  Craume  sacht 
Sein  letztes  Klagelied  verklingen. 
Ich  bin  so  sterbensmiide  jetzt 
Und  möchte  schlafen  wie  die  Andern, 
was  fang  das  vöglein  doch  Zuletzt?  — 
„5ei  still,  auch  Du  wirst  balde  wandern 


Die  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts, 
von 

Nlltwlf  von  Gilttschall. 
—  telpzia.  — 

7  ist  etwas  Mißliches  mit  den  geschichtlichen  und  litterargeschicht- 
lichen  Parallelen:  Der  Satz  „omns  gimils  olausUcnt"  findet 
auch  auf  diefe  feine  Anwendung.  Gleichwohl  sind  sie  immerhin 
lehrreich,  da  sie  doch  das  Gleichartige  hervorheben,  was  verschiedenen  durch 
die  Zeit  getrennten  Epochen  eigen  ist,  und  wenn  eine  neue  litterarische 
Richtung  sich  lärmend  als  eine  Revolution  ankündigt,  welche  alles  bisher 
Dagewesene  über  den  Haufen  wirft  und  enrmin«,  nun  prisuz  auctit» 
cmf  dem  litterarischen  Markte  anstimmt,  so  mag  man  sie  doch  mit  der 
Weisheit  des  Nen  Akiba  zur  Ordnung  rufen  und  ihr  nachweifen,  daß  schon 
vor  einem  J  ahrhundert  in  dasselbe  Honi  gestoßen  wurde  und  Vieles  von 
dem,  was  sie  als  eine  unerhörte  Neuerung  ausposaunt,  nur  eine  Wieder- 
holung, ein  Abklatsch  früherer  dichterifcher  Bestrebungen  und  Leistungen  ist, 
welche  die  Literaturgeschichte  aus  dem  Lethe,  in  dem  sie  sonst  vergraben 
sind,  bisweilen  hervorholt. 

Es  würde  die  Grenzen  eines  Essays  überschreiten,  wollte  ich  die  Parallele 
zwischen  den  lüngstdeutschen  des  neunzehnten  und  denen  des  achtzehnten 
J  ahrhunderts  im  Einzelnen  durchführen;  es  kommt  hier  nur  darauf  an, 
einige  Hcmvtgesichtsvnnkte  hervorzuheben,  um  zu  zeigen,  wie  sich  das 
Neueste,  das  sich  so  stürmisch  geberdet,  mit  dem  Alten,  das  längst  verschollen 
ist,  berührt. 

Wie  in  jener  Zeit,  besonders  in  dem  Jahrzehnt  von  1770  ab,  wimmelt 
es  auch  gegenwärtig  von  Genies  auf  dein  Parnaß,  und  die  Revolution  der 


vie  lüngftdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhundert».  I?9 
Litteratur  wirft  Alles  über  Bord,  was  die  frühere»  J  ahrzehnte  dieses  J  ahr- 
hunderts  geschaffen.  Sieht  man  diese  Genies  aber  näher  an,  so  paßt  ans 
sie  Vieles  von  dein,  was  die  damaligen  älteren  Litteraturgriißen  über  die 
jüngeren  Stürmer  und  Dränger  äußerten;  eine  kleine  Vlüthenlese  solcher 
Meinungsäußerungen  mag  dies  bestätigen.  Gegen  die  Selbstberäucherung 
dieser  Genialitäten  wandte  sich  Lavater:  „Genie!  tausendmal  und  niemals 
mehr  als  in  unserer  Aftergeniezeit  hergeworfenes  Wort  —  aber  der  Same 
bleibt  nicht,  jeder  Hauch  des  Windes  weht  ihn  weg  —  jedes  kleine  Talent- 
mückchen  nennt  noch  ein  kleineres  Genie,  damit  dies  wieder  zu  Kleineren 
Isinabrufe:  seht  an  die  Höhi  hinan!  Aber  Flieger,  Rufer  und  Stürmer, 
die  sich  einander  hinauf  und  hinabräucherteu  und  vor  —  genierten, 
die  Sonne  geht  auf,  und  weun  sie  aufgegangen,  was  seid  ihr?"  Achnlich 
schrieb  Nicolai  1776':  „In  nur  fünf  J ahren  wird  das  wilde  Wehen  ver- 
rauscht sein,  und  dann  wird  man  ein  paar  Tropfen  bieist  im  Helm  und  im 
Tigel  ein  großes  caput  inorwuin  treffen."  „Das  Publicum",  sagt  Jean 
Paul,  „las  und  labte  sich  an  dem  ästhetischen  Schnepfendrecke  dieser  cpnischen 
Dichter,  da  es  für  echten  Bombast  vielleicht  mehr  Geschmack  besitzt  als  ganz 
Paris,  denn  wenn  der  ungekünstelte  einfältige,  natürlich  rohe  Geschmack 
nicht  nnr  der  richtigste  ist,  sondern  auch  der  ist,  der  brennende  dicke  Farben, 
Quodlibetbilder  und  mäßige  Uebertreibung  zu  geuießen  weiß,  so  muß  er 
doch  wahrhaftig  bei  einen»  Lesepnblicum  zu  finden  sein,  das  größtentheils 
aus  jungen  Leuten,  Studenten,  Kaufmannsdienern  und  ungebildeten  Geschäfts- 
leuten besteht.  Jetzt  ist  der  Parnaß  ein  ausgebrannter  Bulcau,  und  wo 
haben  wohl  jene  Männer,  die  aus  Goethes  Esse  funkelnd  stoben,  ihren 
Glanz  und  ihre  Wärme  gelassen?"  Viel  schärfer  noch  ging  den  Satiriker 
Lichtenberg  diesen  Litteraturrevolutionären  und  sich  gegenseitig  vergötternden 
Genieaposteln  zu  Leibe.  „Das  deutsche  Publicum,"  sagte  er  in  seinem 
„Parakletor  oder  Trostgründe  für  die  Unglücklichen,  die  keine  Originalgenies 
sind,"  „verlangte  Originalgenies  und  Originalwerke.  Es  war  eine  Lust 
anzufehen,  dreißig  ~)orike  ritten  auf  ihren  Steckenpferden  in  Spiralen  um 
ein  Ziel  hernm,  das  sie  den  Tag  zuvor  mit  einem  Schritt  erreicht  hätten, 
uud  der,  der  sonst  beim  Anblick  des  Meeres  und  des  gestirnten  Himmels 
Nichts  denken  kounte,  schrieb  Andachten  über  eine  Schnupftabaksdose. 
Shakespeare  standen  zu  Dutzenden  auf,  wo  nicht  allemal  in  einem  Trauer- 
spiel, da  in  einer  Necension;  da  wnrden  Ideen  in  Freundschaft  gebracht, 
die  sich  außer  in  Bedlmn  nie  gesehen  hatten,  Naum  und  Zeit  in  einen 
Kirschkern  geklappt  und  in  die  Ewigkeit  verschossen;  es  hieß:  eins,  zwei, 
drei;  da  geschahen  tiefe  Blicke  in  das  menfchliche  Herz;  man  fagte  feine 
Heimlichkeiten,  und  fo  ward  Menschenkenntnis;."  Gegen  die  Sprache  und 
den  Styl  der  >traftgeiiies  richtet  er  feine  witzigen  Ausfälle  in  der  „Bittschrift 
des  Wahnsinnigen";  er  copirte  die  beliebten  Elisionen.  „l'Hebs'n,  woll's  n't 
sonst'n.  Sieh's  Genie,  wie's  n'Wolken  webt?  Ob  d's  Genie  siehst?  Wenn 
d's  mt  siehst,  Host  die  Nasen  nit  's  Genie  z'riechen."  Ost  angesührt  ist  die 


I>80  Rudolf  Goltschall  in  leipzig. 

Aeußerung  Lichtenbergs,  er  müsse  täglich  sehen,  daß  seilte  zu»!  Namen  Genie 
kämen,  wie  die  Kellerasseln  zum  Flamen  Tausendfuß,  nicht  weil  sie  souielo 
Füße  haben,  sondern  weil  die  Meisten  nicht  bis  auf  vierzehn  zählen  wollen. 
Auch  Wieland,  der  von  den  Jüngeren  viel  gelesen,  aber  auch  heftig  angegriffen 
wurde,  ärgerte  sich  über  die  „lausichten  Gelbschnäbel,  die  sich  »ir  geben,  als 
ob  sie  mit  Shakespeare  Blindekuh  zu  spielen  gewohnt  wären."  Der  durch 
seine  geistvollen  Reisebriefe  bekannte  Schriftsteller  Sturz  ermahnte  die  jüngeren 
Geniemänner  zur  Bescheidenheit  und  veröffentlichte  einen  sehr  heftigen  Ergus; 
seines  Unwillens  über  die  jüngste  Litteratur  unter  der  Maske  eines  Freundes, 
der  ein  derartiges  Sendschreiben  an  ihn  gerichtet;  er  spricht  darin  von  der 
sinnlosen,  zerhackten,  holprigen  Prosa  oder  den  stachen  Kuittelreimen,  die  «ns 
jetzt  nach  zehn  Jahren  geboten  würden,  nachdem  wir  Lessing,  Mendelssohn, 
Zimmermann,  den  Agathon  und  Snlzcr  gelesen,  uns  an  >Uopstocks  himmlischen 
Gedichten,  an  Wielands  irdischen  ergötzt  hätten;  er  weist  hin  auf  die  Pöbeleien 
im  Drama  uud  der  Tatire,  auf  die  Einfälle,  sich  niederzulassen  in  der 
leeren  sumpfigen  Gegend  der  Natur,  dort  allein  Moor-  und  Haideblumen 
zu  sammeln:  durch  solche  Würfe  seien  die  Griechen  wahrlich  nicht  unsterblich 
geworden.  Von  ihrem  Genie,  das  in  der  vollkommensten  Euphemie  tiefen 
!>jehalt  in  reizenden  Ausdruck  gekleidet,  hat  Aristoteles  seine  Regeln  em- 
pfangen und  nicht  Gesetze  dem  Genie  gegeben,  die  man  jetzt  so  gern  ver- 
achten möchte,  weil  man  sie  nicht  mehr  ausüben  könne. 
Einer  der  Hauptführer  der  Sturm-  uud  Drangperiode  und  ihr  Tanf- 
pathe.  Klinger,  gehörte  doch  zu  denen,  die  fchon  iin  nächsten  Jahrzehnt  zur 
Besinnung  kamen,  wenngleich  seine  dichterische  Schöpferkraft  mit  jenem 
jugendlichen  Ungestüm  mehr  oder  weniger  verlöscht  zu  sein  schien.  In  der 
Ausgabe  seines  Theaters  1785  spricht  er  sich  über  seine  früheren  dramati- 
schen Arbeiten  nnd  diejemgen  seiner  Genossen  aus;  er  nennt  sie  individuelle 
Gemälde  einer  jugendlichen  Phantasie,  eines  nach  Thätigkeit  und  Bestimmung 
strebenden  Geistes,  die  in  das  Reich  der  Träume  gehören,  mit  denen  sie  nabe 
verwandt  zu  sein  scheinen.  „Wer  aber  gar  kein  Licht  in  diesen  Erplosionen 
des  jugendlichen  Geistes  und  Unmuthes  sucht,  ist  nie  in  dem  Fall  gewesen. 
Etwas  davon  in  sich  selbst  zu  fühlen.  Ich  kauu  heute  so  gut  darüber  lacken, 
als  Einer,  aber  soviel  ist  wahr,  daß  jeder  junge  Mann  die  Welt  mehr  oder 
weniger  als  Dichter  oder  Träumer  ansieht,  Erfahrung,  Uebung,  Umgang, 
Kampf  und  Anstoße  heilen  uns  von  diesen  überspannten  Idealen  und  Ge- 
sinnungen. Eben  dieses  lehren  die  Dichter  und  Künstler,  daß  Einfachheit, 
Ordnung  und  Wahrheit  die  Zauberruthen  seien,  womit  man  an  das  Herz 
des  Menschen  schlagen  müsse,  wenn  es  ertönen  soll.  Die  Klagen  sind  un- 
endlich, die  man  über  die  wilden  Produkte  führt,  die  zu  Zeiten  in  der 
deutschen  Welt  und  besonders  für's  Theater  erscheinen.  Soviel  ist  indeß  gewiß, 
daß  wir  Deutschen  durch  diese  Verzerrungen  gehen  müssen,  bis  wir  sagen 
mögen,  so  und  nicht  anders  behagt's  dem  deutscheu  Sinn.  Nichts  reift 
ohne  Gährung."  Und  viele  Jahre  später,  als  der  Dichter  Klinger  längst 


Vie  lungstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhundert«.  ^8^ 
zum  Weltmann  geworden  und  das  Kind  aus  der  Proletarierwiege  eine  hohe 
Lebensstellung  erreicht  hatte,  schrieb  er  in  den  1803  Heransgegebenen  ,,Be» 
trachtungen  und  Gedanken  über  verschiedene  Gegenstände  der  Welt  nnd 
Litteratur":  „Warum  kann  ein  welterfahrener  Mann  nichts  Ercentrifches 
uer-tragen?  Weil  er  gesehen  hat,  daß  es  zu  Nichts  führt,  zu  Nichts  taugt. 
Nichts  befördert,  selbst  das  Lachen  nicht.  Alles,  was  es  wirkt,  besteht  darin, 
daß  es  dein  ein  Zeichen  anklebt,  der  sich  damit  schleppt  oder  der  von 
diesem  Wesen  besessen  ist.  In  der  Welt  ist  ihm  keine  Stelle  angewiesen, 
und  in  der  Litteratur  ist  es  gegen  den  Menschenverstand.  Aber  warum 
treten  so  viele  unserer  jungen  Leute  mit  dem  Zeichen  als  Schriftsteller  auf? 
Eben  darum,  weil  sie  junge  Leute  sind  und  es  ihnen  noch  an  alledem 
fehlt,  was  sie  zum  Auftreten  berechtigen  könnte." 
Den  Kennern  der  jüngstdeutschen  Türba  wird  es  nicht  entgehen,  daß 
sowohl  diese  letzte  Aeußerung,  als  auch  sehr  viele  audere  Bemerkungen 
damaliger  namhafter  Schriftsteller  gegen  die  Stürmer  und  Dränger,  die 
wir  hier  angeführt,  muwtiz  nnttaucli»,  auch  auf  die  I  üngstdeiitschen  passen, 
die  wie  jene  eine  Revolution  der  Litterawr  mit  vollen  Backen  ausposaunen, 
die  bisherigen  Litteraturgötter  zu  entthronen  und  sich  an  ihre  Stelle  zu 
setzen  suchen.  Sie  haben  Recht,  wie  ihre  damaligen  Vorgänger,  wenn  es 
sich  um  Modegötzen  handelt,  nnd  es  ist  damals  sowie  jetzt  sehr  viel  ge- 
brechliches Nippzeug  zur  Anbetung  nnd  Verehrung  auf  den  Doilettenaltären 
aufgestellt  worden;  wenn  dies  von  den  Ellenbogen  einer  jüngeren  Generation 
heruntergestoßen  wird,  daß  es  im  Staub  znsammenklirrt,  so  ist  hierin  nur 
eiu  Fortschritt  zu  sehen.  Und  wie  in  jener  Zeit  des  Sturms  und  Drangs, 
so  weht  auch  in  der  jüngsten,  sich  überstürzenden  litterarischen  Bewegung 
ein  frischer  Hauch,  und  ein  durch  offene  Fenster  hereinkommender  Luftzug 
verscheucht  die  Miasmen,  die  sich  allmählich  in  der  Stickluft  des  Götzendienstes 
mit  gefeierten  Nichtigkeiten  erzengt  haben;  aber  der  Sturm  ist  zunächst  mehr 
Programm,  und  es  zu  verwirklichen,  bemüht  sich  meistens  vergebens  die 
künstlerische  Ohnmacht. 

Neu  ist  aber  auch  das  Princip  nicht,  das  jetzt  auf  die  Fahne  ge- 
schrieben wird,  das  Princip  des  Naturalismus;  wir  finden  es  wieder  in 
dem  Programme  der  Stürmer  und  Dränger  des  vorigen  Jahrhunderts. 
Damals  aber  hatte  es  den  Eronegk,  Brnhe,  Gleim,  den  Gottschediaueru 
gegenüber  mehr  Berechtigung  als  jetzt,  wo  wir  eine  klafsische  Litteratu repoche 
biiiter  uns  haben,  nnd  wo  Goethe  Meisterwerke  eines  geläntei'ten  Realis- 
mus geschaffen  hat.  Damals  suchte  man  die  falschen  Götzen  mit  Hilfe 
Shakespeares  zu  stürzen;  jetzt  ist  Shakespeare  uns  in's  Blut  übergegangen, 
und  einen  Schiller  und  Goethe  zu  den  falsche»  trotzen  zu  rechnen,  das  ge- 
trauen sich  doch  unsere  verwegensten  Bilderstürmer  nicht;  nur  die  Epigonen 
jener  Klassiker  werden  meuchlings  aus  dem  Wege  geräumt.  Im  Ganzen 
aber  ist  der  neue  Nawmlismus  ein  Rückfall  in  das  unklare  Treibe»  der 
alten  Stürmer  und  Dränger  und  in  die  ästhetische  Anarchie,  welche  jene 


1,82  Rudolf  Gottschall  in  leipzig, 

gepredigt  haben.  Da  begegnen  wir  auffallenden  Aehnlichkeiten  in  Theorie 
und  Praxis,  und  wie  in  einein  Verirspiegel  mögen  manche  der  Jüngste,! 
ihr  groteskes  Gebahren  in  den  Verzerrungen  jener  Zeit  wiederfinden. 
Nicht  blos  die  Stürmer  und  Dränger  predigten  damals  den  Naturalis- 
mus; auch  der  nach  Volkstümlichkeit  strebende  Vürger,  der  verlangte,  dan 
die  deutsche  Muse  nicht  auf  Reisen  gehen,  sondeni  ihren  Naturkatechismus 
zu  Hause  auswendig  lerne.  Ebenso  erklärt  Schlosser  in  seinem  Sendschreibeil 
an  Lenz,  „die  Versemacher  hätten  alle  nur  an  der  Hülle  gehangen  und  den 
Geist  nicht  gekannt,  der  sie  belebte;  es  gebe  tausend  Formen,  und  es  sei 
nur  eiu  Geist,  der  sie  belebe,  eine  Regel,  und  die  sei:  fühle,  was  Du 
fühlen  machen  willst.  Und  die  Regel  lehre  keine  Aesthetik."  Emancipation 
von  den  Regeln  —  das  war  die  Losung;  was  Stolberg  fang:  fuße, 
heilige  Natur,  last  mich  gehu  auf  deiner  Spur  -~  das  war  die  alleinige 
Regel  auch  für  das  dichterische  Schaffen.  Natürlich  galt  der  Protest  vor- 
zugsweise der  Weisheit  des  Aristoteles;  namentlich  das  Drama  sollte  sich 
von  dessen  Weisheit  freimachen.  Hatte  Lenz  fchon  die  ftanzüsische  falfche 
Auslegung  der  aristotelischen  Regeln  wiederlegt,  so  gingen  die  Stürmer  und 
Dränger  noch  weiter  und  machten  mit  dem  ganzen  Aristoteles  reinen  Tisch. 
Vor  Allem  that  dies  Jacob  Michel  Neiuhold  Leuz,  einer  der  begabtesten, 
aber  auch  verwildertsten  Jünger  jener  Dichterepoche,  in  seineu  „Anmei'kungen 
über's  Theater",  die  er  in  Straßburg  noch  vor  dem  Erscheinen  von  Goethes 
„Götz  von  Nerlichingeu"  geschrieben  hatte.  Daß  dies  Evangelium  der 
Stürmer  und  Dränger  auch  das  Evangelium  der  lüngstdeutschen  ist, 
daran  kann  man  um  so  weniger  zweifeln,  als  es  iu  merkwürdiger  Weife 
von  einem  jüngeren  Schriftsteller  wiederholt  wird,  der  indeß  himmelweit 
davon  entfernt  ist,  von  einem  folchen  Vorgänger  Etwas  wissen  zu  wollen, 
sondern  etwas  Funkelnagelneues  zu  bieten  glaubt  und  die  ganze  Aesthetik 
früheren  Datums  aus  ihreu  Angeln  hebt,  wir  meinen  Henri  Gertelmann, 
der  1892  eine  „Dramatik,  Kritik  des  mythologischen  Systems  und  Be- 
gründung eines  neuen"  hcrausgegebeu  hat.  Schon  der  Titel  beweist,  das; 
sich  der  Verfasser  für  einen  Reformator  hält,  der  novum  s>uiä  «tc^ie  inm,- 
clitmn  verkündigt;  jedenfalls  aber  ist  feine  Theorie  im  Einklang  mit  der 
jüngstdentschen  Prnris.  Er  wendet  sich,  ganz  wie  Lenz,  gegen  den  Sak 
des  Aristoteles,  daß  die  Zusammensetzung  der  Begebenheiten,  die  Fabel  für 
den  dramatischen  Künstler  das  wichtigste,  daß  die  Handlung  der  letzte  End- 
zweck des  Dramas  sei.  „Diese  Vorschrift,"  sagt  Lenz,  „müsse  für  die 
neueren  Dichter  geradezu  umgekehrt  werden;  nicht  die  Fabel  fei  das  Prä- 
cipium  und  gleichfam  die  Seele  unserer  Tragödie,  sondern  die  Eharaktere. 
l?Ädula  68t  unn,  8i  ciwn  nimm  8it.  Das  leugnet  Aristoteles.  „Bei 
den  alten  Griechen,"  sagt  Lenz,  „war's  die  Handlung,  die  sich  das  Volt 
zu  sehen  versammelte;  bei  uns  ist's  die  Reihe  von  Handlungen,  die  wie 


Die  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  1.82 
Donnerschläge  aufeinanderfolgen,  eine  die  andere  stützen  und  Heden,  in  ein 
großes  Ganze  zusammenfließen  müssen,  das  hernach  nichts  mehr  und  nichts 
minder  ausmacht,  als  die  Hauptperson,  wie  sie  in  der  ganzen  Gruppe  ihrer 
Mithändler  hervorsticht."  Lenz  behauptet,  die  Mannigfaltigkeit  der  Charaktere 
und  der  Pflichologieen  sei  die  Fuudgrube  der  Natur;  hier  allein  schlage  die 
Wünschelruthe  des  Genies,  und  sie  allein  bestimme  die  unendliche  Mannig- 
faltigkeit der  Handlung  nnd  Begebenheiten  in  der  Welt.  Und  an  einer 
anderen  stelle  sagt  er,  die  heutigen  Aristoteliker  malten  Leidenschaften  ohne 
Charaktere.  „Wo  aber  bleibt  da  der  Dichter?  wo  die  Folie,  wo  die  indivi- 
duelle Kenntnis;  der  menschlichen  Seele,  wo  die  unekle,  immer  gleich 
glänzende,  rückfpiegelnde,  sie  mag  in  Todtengräbcrbnsen  forfchen  oder  unter 
dem  Neifrock  der  Königin?  Nach  meiner  Cmpfindung  schätz'  ich  den 
charakteristischen,  selbst  die  Caricatnrenmaler  zehnmal  hoher  als  den  ideali- 
schen —  hyperbolisch  gesprochen,  denn  es  gehört  zehnmal  mehr  dazu,  eine 
Figur  mit  eben  der  Genauigkeit  nnd  Wahrheit  darzustellen,  als  das  Genie 
sie  erkannt,  als  zehn  ,~ahre  an  einem  Ideal  der  Schönheit  zu  cirkeln, 
das  endlich  doch  nur  in  dem  Gehirn  des  Künstlers,  der  es  hervorgebracht, 
ein  solches  ist."  Man  sieht,  Lenz  schreckt  nicht  vor  der  Conseanenz  zurück, 
daß  selbst  ein  Dramatiker,  der  Cnrimturen  schafft,  mebr  auf  dem  rechten 
Wege  sei,  als  ein  idealer  Fnbulist,  der  eine  einheitliche  Handlung  zu 
schaffeu  sucht.  Was  ein  Henri  l>iertelmanu  mit  dem  Anspruch,  ein  »eues 
ästhetisches  Spstem  zu  gründen,  in  seiner  Schrift  proclamirt,  das  deckt  sich 
in  so  auffallender  Weife  mit  den  Grundfätze»  von  Lenz,  daß  es  dem 
Kundigen  als  eiue  uackte  Wiederholung  erscheint.  Die  Charaktere,  sagt  er, 
bilden  den  eigentlichen  Gegenstand  des  Dramas.  Aufgabe  der  Dichtung 
ist  es,  Vergnügen  zu  bereiten  durch  Darstellung  von  Charakteren.  Die 
Handlung  im  Drama  ist  in  erster  Linie  zn  bcurtheilen  in  Absicht  ans  die 
Charaktere;  als  (Ganzes  kommt  sie  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht,  und 
ihre  sogenannte  Ciubeit  ist  kein  dramatisches  Gesetz.  Cr  fügt  hinzn,  daß 
die  Sprache  des  Dramas  die  der  Wirklichkeit  nachahmen  nnd  die  Personen 
charakterisiren  müßte.  Das  neue  Spstem  erweist  sich  also  als  etwas  sehr 
Altes,  und  die  Uebereiustimmnng  der  durch  mehr  als  eiu  J  ahrhundert  ge- 
kannten Dramatnrgen  beweist  nur  die  geistige  Verwandtschaft  in  den  litterari- 
schen Bestrebungen  der  beiden  Cpochen. 
Giebt  man  die  Cinheit  der  Handlung  preis,  so  kommt  man  leicht 
bei  den  lola'schen  Innideaux  eis  I»  vis  dumains  auch  im  Drama  an. 
Und  das  ist  den  Stürmern  und  Drängern  ebenso  oft  begegnet,  wie  den 
I  üngstdentschen,  obschou  der  dramatische  I  nstinet  bei  vielen  lebendig  genug 
war,  um  die  Folgeu  einer  falschen  Theorie  abzuu'ehren;  doch  die  von  Lenz 
verlangte  Mannigfaltigkeit  der  Begebenheiten  zeigte  sich  oft  genug  in  eine»« 
verwirrenden  Nebeneinander  von  Handlungen,  das  im  Drama  ganz  uuzu- 
läfsig  ist,  weil  es  auch  die  Teilnahme  zersplittert.  Die  Compositions- 
losigkeit  ist  der  Hauptfehler  diefer  ganzen  Dramatik  des  achtzehnten  und  auch 


I,8H  Rudolf  G«ttschall  in  leipzig. 

des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Lenz  selbst  giebt  dafür  Beispiele  genug;  der 
genial  veranlagte  Dichter,  der  aus  einein  Wirrsal  des  Lebens  in's  andere 
gerieth  und  dein  Irrsinn  verfiel,  hat  Stücke  geschrieben,  wie  „Der  Hofmeister", 
von  denen  man  nicht  begreift,  wie  sie  auf  die  Bühne  kommen  konnten;  aller- 
dings geschah  das  nur  in  einer  Schrüder'fchen  Bearbeitung  am  Hamburger 
Stadttheater.  Die  Handlung  fpringt  in  diesem  Drama,  in  welchem  mehr 
als  zwanzig  Personen  mitspielen,  hin  und  her;  sie  verwandelt  sich  oft  in 
ein  Sittengemälde,  das  selbstgenugsam  im  Berhältniß  zu  den  sonstigen 
dramatischen  Lakonismen  einen  breiten  Platz  einnimmt.  Dies  hängt  mit  der 
Theorie  des  Dichters  zusammen,  nach  welcher  die  Charaktere  sich  im 
Drama  ausleben  müssen;  die  einzelnen  Gruppen  entfalten  sich  fan  ganz 
selbstständig,  die  Verknüpfung  ist  überaus  locker.  Der  Geliebte  des  in  dem 
Hofmeister  entführten  Gustchens,  Fritz,  und  sein  Freund  haben  in  Leipzig 
die  mannigfachsten  Abenteuer,  die  mit  jener  den  Codex  der  Handlung 
bildenden  Geschichte  gar  Nichts  gemein  haben.  Und  überdies  geht  Alles 
durcheinander,  die  Handlung  springt  hin  uud  her.  Erich  Schmidt  sagt  in 
seiner  Schrift  über  „Lenz  und  Klinger"  in  Bezug  auf  den  „Hofmeister": 
„Bei  diesem  raschen  Wechsel  der  Bilder  ist  es  mir  immer,  als  hörte  ich 
das  lustige  , Schau  sie,  guck  sie'  und  sähe  Leute  zwischen  den  getrennt 
stehmden  Personen  oder  Gruppen  behend  hin  nnd  her  springen.  Auf  einer 
Seite  dreimaliger  Scenenwechsel!  Kaum  hält  er  bei  Einem  still,  so  füllt 
ihm  ein,  was  wohl  gerade  der  Andere  macht.  Der  Zusckauer  soll  Alles 
sehen,  so  will  es  die  mißverstandene  englische  Technik."  Noch  ärger  geht's 
im  „Neuen  Menoza"  her,  dessen  Held  mit  der  Diogeneslaterne  Menschen 
sucht  —  der  Dichter  hat  keinen  Begriff  von  dramatischem  Zusammenhalt, 
von  künstlerischer  Oekonomie.  In  den  Dramen  Klingers  ist  Beides  trotz  aller 
Nebertriebenheit  der  Empfindung  und  der  Erfindung  besser  gewahrt,  noch 
mehr  in  Heinrich  Leopold  Wagners  „Kindesmörderin".  Auch  unsere  jüngste 
Dichtung  huldigt  der  Anschauung,  daß  ein  Drama  nur  aus  zusammen- 
gerückten Lebensbildern  bestehen  so!>.  Die  Einheit  der  Handlung  gilt  für 
Aberglauben.  Wir  brauchen  blos  auf  Gerhart  Hauptmanns  „Weber"  zu 
verweisen,  die  nur  aus  einer  Neihe  von  Dabieaus  und  Genrebildern  be- 
steben. Die  Personen  kommen  und  verschwinden;  jeder  Act,  ja  fast  jede 
Scene  hat  einen  nenen  Helden.  Der  dramatische  Aufbau  ist  höchst  pri- 
mitiver Art  und  mit  der  Holzart  gezimmert;  das  Ganze  sind  Guckkasten- 
bilder, nnd  das  Theater  nähert  sich  dem  „Naritätenkasten",  der  in  mancher 
Hinsicht  das  Ideal  der  Stürmer  und  Dränger  war. 
Wir  haben  gesehen,  wie  Lenz  selbst  den  Carimturenmaler  für  einen 
größeren  Künstler  hält  als  den  akademisch  cirkelnden  Dichter,  welcher  auf 
die  Fabel  den  Hauptnachdruck  legt.  Er  sah  sich  wohl  selbst  dabei  im 
Spiegel,  denn  seine  Charaktere  sind  ihm  nur  zu  oft  als  Caricaturen  ge- 
rathen,  ja,  wo  die  Fratze  ihr  gutes  Recht  hat,  wie  in  der  Posse,  da  leistet 
er  bisweilen  Anerkennenswerthes.  Anch  in  seiner  ernsten  Dramatik  schafft 


Die  lüügsldelitschen  des  achtzehnten  Jahrhundert«.  ~85 
bei  ihm  die  Ueberladung  mit  charakteristischen  Zügen,  die  zu  scharf  aus- 
geprägt sind  bis  in's  Barocke  und  Bizarre,  die  Caricatur.  Graf  Camäleon 
und  Donna  Diana  im  „Neuen  Menoza"  sind  solche  bis  zur  Ungeniehbarteit 
chargirte  dramatische  Fignren.  In  Klingers  „Sturm  und  Drang"  ist  der 
alte  Kartenhauserbauer  Berklev  eine  ungewollte  Caricatur,  und  es  ist  nicht 
leicht,  den  logischen  Sinn  aus  seinem  blödsinnigen  Gestammel  herauszu- 
hören; beabsichtigte  Caricaturen  aber  sind  die  Freunde  des  Helden  Wild, 
der  blasirte  Blasius,  der  mit  seiner  Langenweile  auch  seine  geliebte 
Luise  ansteckt,  und  der  überschwängliche  La  Feu  mit  seinen  Pastoralen 
Schwärmereien  und  seiner  Liebe  zu  der  reifen  Schönheit  Katharine;  doch 
die  blos  im  Uebertriebenen  bestehende  Possenhaftigkeit  ermüdet.  Auch  die 
tragischen  Charaktere  wie  die  beiden  Gnelfos  in  den  „Zwillingen"  sind  so 
chargirt,  daß  sie  dicht  an  der  Grenze  der  Cnrieatnr  stehen.  Sagt  doch 
Bürger  uon  dem  jüngeren  Guelfo,  eine  Bestie  wie  diesen  müsse  man  tötten 
wie  einen  tollen  Hund,  und  das  Stichwort  „ein  Lüwenblutsäufer"  kam  auf 
die  Tagesordnung.  Doch  auch  wo  das  Charakteristische  sich  innerhalb 
ästhetischer  Grenzen  hält,  kann  sein  Ucbergewickt  die  Handlung  lähmen. 
Das  sind  Einseitigkeiten  einer  falschen  Theorie,  die  sich  wie  Bleigewichte 
an  die  dramatischen  Gestalten  in  vielen  Dramen  jener  Epoche  hängen. 
Charaktere,  die  sich  Selbstzweck  sind,  gehören  in  das  Wert  des  Theophrast, 
aber  nicht  auf  die  Bühne.  Wie  das  dramatische  Interesse  und  die  Lebens- 
fähigkeit der  Stücke  darunter  leidet,  das  beweist ;.  B.  der  „College  Crampton" 
Gerhart  Hauptmanns,  dessen  Held  ein  bedauerlicher,  dem  Trunk  ergebener 
Künstler  ist  —  ein  Charakter,  aus  dem  nur  einige  dürftige  Fäden  der 
Handlung  herausgesponnen  sind.  Achnlich  ist  es  in  vielen  anderen  jüngst- 
deutschen Stücken.  Noch  heute  gilt,  was  Herder  in  der  „Adrastea"  sagt: 
„Die  Charakterkomödien  wie  die  aufgeputzten  Lharaktertrauerspiele  sind 
hinkende  Stücke.  Will  ich  Charaktere  beschrieben  seben,  so  nehme  ich  Theo- 
phrast, la  Bruyöre,  Aristoteles'  Rhetorik,  ~hne  das;  sie  in  eine  Fabel 
greifen  nnd  mit  ihr  innig  verwebt  sind,  hindern  sie  das  Lustspiel.  Isolirt 
steht  sodann  der  breit  angemeldete  Charakter  vor  mir,  geschildert,  nicht 
handelnd.  Angeputzt  wird  er  und  angezogen,  rings  um  ihn  werden  Spiegel 
gestellt,  das;  man  ihn  ja  uon  allen  Seiten  erblicke  und  wahrnehme.  Dann 
wird  er  entkleidet,  man  zeigt  seine  Höcker,  wohl  gar  wird  er  lebendigen 
Leibes  opcrirt,  secirt  —  eine  peinliche  Kunst!"  Namentlich  was  die  Höcker 
betrifft,  darin  leisten  die  Stürmer  und  Dränger,  die  lüngstdeutscheu  und  vor 
Allem  ihr  Meister  ~bseu  mehr,  als  Herder  in  ahnendem  Gemüthe  vorgeschaut. 
„Die  trefflichsten  Stücke,"  sagt  Herder,  „sind  nie  ohne  Fabel,  und  je  besser 
es  der  Dichter  verstand,  desto  sorgsamer  ließ  er  den  Charakter  dem  Ge- 
webe der  Fabel  nur  dienen."  Die  absonderlichen  bizarren  Charaktere,  deren 
Handlungsweise  etwas  Unberechenbares  hat,  sind  in  neuester  Zeit  wieder 
Mode  geworden,  und  besonders  der  Blasius  Klingers  findet  manchen  Ab- 
klatsch unter  den  jüngstdeutschen  Helden. 
Äoid  und  Zii!,.  I.XXV.  524.  13 


~86  Rudolf  von  Gottschall  in  leipzig, 

Alle  Trauten  der  „Stürmer  und  Tränger"  sind  in  Prosa  geschrieben; 
es  lag  darin  gegenüber  der  etwas  phrasenhaften  Dramatik  der  Cronegt, 
Brahe,  Schlegel,  Weiß  ein  Protest,  die  Wendung  zur  Natur-  und  Lebens- 
wahrheit; Gerstenbergs  „Ugolino",  der  auch  dieser  Richtung  angehörte, 
und  der  maßuoüere  „Julius  von  Tarent"  von  Leisewitz  sind  ebenfalls  in 
Prosa  geschrieben.  Doch  diese  Prosa  erscheint  nicht  in  alltäglicher  Ge- 
wandung; sie  zeigt  den  Gegenschlag  gegen  die  getragene  Versdichtung  zunächst 
in  der  Derbheit  und  Rohheit  des  Ausdrucks,  welche  dem  steifbeinigen 
tragischen  Pathos  herausfordernd  auf  die  Hühneraugen  trat.  Darin  sind 
sich  alle  diese  Dichter  gleich;  der  Cynismus  als  crasser  Vertreter  der 
Naturwahrheit  hat  das  große  Wort.  In  einer  der  originellsten  Scenen  des 
„Hofmeisters"  von  Lenz,  als  der  alte  Major  seine  entehrte  Dochter  aus  dein 
Teiche  zieht,  in  den  sie  sich  gestürzt  hat,  schwankt  derselbe  zwischen  seiner 
Freude  über  die  Rettung  des  Kiudes  und  seiner  inneren  Empörung  über 
ihre  Schande  und  giebt  diesen  widerspruchsvollen  Gefühlen  in  sehr  kräftigen 
Wendungen  Ausdruck:  „Gustel,  was  fehlt  Dir?  Hast  Wasser  eiugeschluckt? 
Vist  weg,  mein  Gustel?  -~  Gottlose  Canaille!  Hättest  Du  mir  nur  ein 
Wort  vorher  davon  gesagt,  ich  hätte  dem  Lauscjuugen  einen  Ädelsbrief  ge- 
kauft, da  bätt^t  Ihr  können  , zusammenkriechen""  Weiterhin  fagt  er:  „Ich 
verzeih'  Dir,  verzeih'  Dil  nur  mir!  Ja  aber  nun  ist's  nicht  mehr  zu  ändern; 
ich  habe  dem  Hundsfott  eine  Kugel  durch  den  Kopf  geknallt;"  und  dann 
wieder:  „3)  Du  mein  einzig  theuerster  Schatz!  Daß  ich  Dich  in  meinen 
Armen  tragen  kann,  gottlose  Canaille."  Eine  ähnliche  Kraftsprache  findet 
sich  in  Wagners  „Kindesmürderin";  da  sagt  der  alte  Humprecht,  ein  Vor- 
gänger des  Musikus  Müller  iu  „Kabale  und  Liebe":  „Das  Lumpeugezeug! 
Der  verdammt,'  Nickel!  Den  Augenblick  soll  sie  mir  aus  dem  Hause! 
Keinen  Pissen  kann  ich  in  Ruhe  fressen,  solange  die  Hure  noch  unter  einem 
Dache  mit  mir  ist!"  und  als  er  den  Sündenfall  seiner  Tochter  erfährt, 
sagt  er  zur  mitschuldigen  Mutter:  „Bestie,  vermaledeite  Bestie,  hast  Du 
meine  Tochter  zur  Hure  gemacht!"  In  Klingers  „Sturm  und  Drang" 
sagt  Ln  Feu  gleich  beim  Beginne  des  Stückes:  „Ist  keine  alte  Here  da, 
mit  der  ich  charmiren  konnte?  Ihre  Runzeln  sollen  mir  zu  Wellenlinien 
der  Schönheit  werden,  ihre  herausstellenden  schwarzen  Zähne  zu  marmornen 
Säulen  an  Timms  Tempel,  ihre  herabhängenden  ledernen  Zitzen  Helenas 
Busen  übertreffen."  Ter  Held  des  Schauspiels,  Wild,  sagt  ein  anderes 
Mal:  „Nimm  Temen  Tegen  so,  nimm  Deinen  Tegen,  oder  ich  würge 
Dich  in  diesem  Fieber  und  freß  Dir's  Herz  aus  dem  Leibe."  Aucb 
bei  Maler  Müllerfinden  sich'  genng  derartige,  schon  von  Friedrich 
Schlegel  gerügte  >Uaftl,hrasen.  „Ter  Faulkerl",  „lümmelt",  „Mittgesicht", 
„Passionsflegel",  „ich  schmeiß'  Dir  Deine  Gnmasse".  In  seinen  Idpllen, 
sowohl  in  seinen  antiken  wie  in  seinen  deutschen,  läßt  Müller  im  Gegensätze 
zur  Sentimentalität  Geßners  und  seinen  empfindsam  ausgemalten  Arkadien 
die  Derbheit  der  rohen  Natur  und  einer  oft  zügellosen  Sinnlichkeit  walten. 


vi«  lüngstdeutschen  de«  achtzehnten  J  ahrhunderts.  ~3? 
Müllers  „Satyr  Mopsus"  verspricht  der  Nyinphe  als  höchsten  Glücks- 
genuß: „er  wolle  sie  im  Grünen  jagen,  ihr  die  Kleider  vom  Leibe  reißen, 
sie  hchen  und  kitzeln  nach  Herzenslust,  sie  ans  dem  Bauch  herumwerfen 
und  ihre  Schenkel  solange  platschen,  daß  sie  ihr  funkeln  sollen  wie 
eine  zeitige  Granate;  sie  füttern  und  mästen  wolle  er,  daß  sie  feist 
würde  und  dickleibig  uud  einen  Kragen  von  Speck  bekäme  wie  ein  fettes 
Ferkel." 

Abgesehen  von  diesen  rohen  Derbheiten  schwankt  der  Stil  der  Stürmer 
und  Drängerzwischen  dem  überschwänglich  Schwülstigen  und  dem  trivial 
Nüchternen:  eine  Mischung,  die  stets  wiederkehrt  bei  den  kraftgenialen 
Dramatikern  bis  auf  die  jüngsten  deutschen  Ausläufer.  Das  kühnere  Nild, 
das  der  Ode  geläufig  ist,  die  Hyperbel  ist  in  die  dichterische  Gewandung 
als  Hauptschmuck  hineingewirkt.  Bei  Maler  Müller,  besonders  in  den 
dramatischen  Fragmenten,  reicht  eine  Hyperbel  der  anderen  die  Hand.  „0 
mein  Herz  hüpft  mir  vor  Freuden,  wenn  ich  an  sie  denke!  Ist  es  nicht, 
als  wenn  Erd  uud  Himmel  sich  erschöpft  hätten,  nm  Vollkommenheit  zu 
bilden."  „Lies  es  laut,  daß  jede  Wand  sich  entsetze  und  der  unempfindsame 
Sinn  vor  Scham  erröthe."  Auch  Wagners  „Kindesmörderin"  ist  reich  an 
Hyperbeln:  „Die  mögen  meinetwegen  auch  ein  Gewissen  haben,  das  größer 
ist  als  die  Metzgerau  draußen;"  „Soll  mich  der  Teufel  lebendig  zerreißen, 
eh'  ich  ein  Wort  hinzusetze."  „Wenn  er  heute  Satisfaction  von  mir  ver- 
langt, fo  soll  er  sie  haben,  und  wenn  tausend  Tchaffotte  und  tausend  Galgen 
daneben  stünden."  „Die  Nippen  im  Leibe  tret'  ich  ihr  entzwei!"  „Mit 
wahrer  Herzenswonne  will  ich  mich  in  seinem  Blut  herumwälzen."  Die 
schwunghafteste,  aber  auch  schwülstigste  Kraftsprache  findet  sich  bei  Klinger, 
fortwährende  Anasrropheu  und  Epistrophen,  emphatische  Wiederholungen,  ge- 
wagte, oft  geschmacklose  Bilder:  „Der  Tod  hat  sich  längst  um  ineine  Ge- 
beine gehängt,  losreißen  werd'  ich  ihn  diesmal  nicht.  0  Eamilla  kann  Einen 
aus  Dode-öschlaf  wecken,  kann  Einen  umwerfen  mit  einem  Blick."  „Ich 
möchte  diefe  Feuerwolken  zusammenpacken,  Sturm  und  Wetter  anregen  und 
mich  zerschmettert  in  den  Abgrund  stürzen."  „Tchan  nicht,  Eamilla!  Vetter 
Guelfo  heult,  und  wenn  er  heult,  heult  Lieb'  aus  ihm."  Heulen  und  Brüllen 
sind  Lieblingswendungen  des  Dichters.  Eine  fieberische  Bewegtheit  charakteri- 
sirt  seinen  ganzen  Dialog. 

Es  ist  keine  Frage,  daß  Schillers  lugenddichtungen  den  Geist  der 
Stürmer  und  Dränger  athmen;  sie  waren  ein  Nachspiel  dieser  Epoche,  und 
das  Verbindungsglied  bildete  der  gefangene  Dichter  Schubart  oben  anf  dem 
Hohenüsperg,  ebenfalls  ein  Kraft-  und  Feuergeist.  An  Hyperbeln  sind 
die  „Räuber",  „Fiesco"  und  „Kabale  und  Liebe"  noch  reicher  als  die 
Dramen  Klingers  und  seiner  Genossen;  doch  dem  schärfer  Blickenden  kann 
es  nicht  entgehen,  daß  in  den  Schiller'fchen  Hyperbeln  eine  große  dramatifche 
Kraft  liegt,  während  in  denen  Klingers  und  der  Anderen  nur  die  geschwollene 
.Kraftphrnse,  höchstens  ein  stüriinsches  Naturell  sich  ausprägt,  dem  seine 
13* 


1.88  Rudolf  von  Gottschall  in  leipzig. 

Lebensäußeruuge»  Selbstzweck  sind,  auch  wo  sie  die  dramatische  Wirkung 
verpfuschen,  statt  ihr  zu  dienen. 

Hand  in  Hand  mit  diesen  überschwänglichen  Ergüsse»  gehen  aber  bei 
den  Kraftdramütikern  die  Naturlaute  der  Empfindnug;  oft  löst  sich  der 
Dialog  in  Interjectionen  auf.  Die  haha,  hoho,  hu  und  besonders  bei 
Klinger  überall  zu  finde»  und  ersetzen  oft  das  Pathos  des  Dramatikers, 
~ms  sich  nach  Hegels  Ansicht  stets  „erpliciren"  soll.  Namentlich  der  .Held 
in  „Sturm  und  Drang",  Wild,  ist  unerschöpflich  in  solchen  Ausrufungen, 
und  auch  der  Held  der  „Zwillinge",  Guelfo,  wird  stets  seine  „Hu"  aus- 
stoßen, wenn  etwas  Grausiges  in  der  Lust  liegt.  Eine  ergötzliche  Probe 
dieser  Poesie  der  Ausrufungen  findet  sich  in  dem  Fragment,  das  Seufferr 
in  seinem  Werke  über  den  Maler  Müller,  aus  dessen  „Heinrich  V."  mit- 
theilt i  „Weg  —  weg,  weg!  Perflucht  sei  aller  Trost  —  o!  Ich  will  die 
Zunge  zertreten,  die  mir  von  Geduld  spricht  —  oh!  oh!  oh!  oh!  ach!  So 
mit  mir  umzugehu  —  so!  —  so!  —  so  mit  mir  umzugehen!  Mein  armes 
graues  Haupt  zu  verstoßen  —  Wind  und  Wetter,  allen  Elementen  preis! 
Oh,  oh!  oh!"  Das  klingt  wie  eine  Parodie  auf  König  Lear. 
Daß  auch  unsere  jüngstdeutsche  Dramatik  zwischen  dem  Ueberschwäng- 
lichen  und  Wortkargen  hin  und  her  irrlichterirt,  ist  unbestreitbar.  Ibsens 
Vorbild  hat  den  skandinavischen  Lakonismus  bei  uns  eingebürgei't,  und 
einige  der  J  üngsten  geberden  sich,  als  hätten  sie  in  der  Einsamkeit  der 
nordischen  Fjords  das  Sprechen  verlernt.  Es  ist  wahr,  daß  sich  bei 
Gerhart  Hauptmann,  dessen  Feder  nur  gelegentlich  einige  Cnnismen  aus- 
spritzt, wohl  hin  und  wieder  jene  in  Epigramme  und  Empfindungslaute  sich 
zuspibeude  Wortkargheit  siudet,  daß  er  sich  aber  von  dem  Schwülstigen  und 
Aufgebauschten  freihält,  und  daß  Sudermann,  welcher  den  Jüngsten  ja  von 
diesen  selbst  nicht  zugezählt  wird,  auch  nur  selten  eine  Krastphrase  verpufft 
und  mehr  französischen  Esprit  funkeln  läßt:  doch  wir  haben  eine  große  Zahl 
von  Dramen  aus  dein  Atelier  der  jüngstdeutschen  Muse  geleseu,  in  denen, 
trotz  der  dazwischen  liegenden  geläuterten  classischen  Epoche,  die  Unarten 
der  Stürmer  und  Dränger,  ihre  Geschmacklosigkeiten,  Alles,  was  Platen  die 
„gestotterte  Phrase  der  Unkunst"  nennt,  sich  in  auffallender  Weise  wiederholen. 
Gemeinsam  ist  dieser  jüngsten  Epoche  mit  der  alten  Genieepoche  die 
Vorliebe  für  die  «oniü^iß  l»rmov»ntk,  das  Mhrschauspiel  mit  guten 
Ausgängen  oder  auch  mit  traurigen,  nur  daß  dies  Traurige  sich  nicht  ent- 
fernt mit  dein  Tragischen  deckt. 

>tein  Geringerer  als  Herder  in  der  „Adrastea"  hat  eine  Lanze  für  das 
bürgerliche  Trauerspiel,  sür  die  c^omeclis  larmo^nnt«  gebrochen.  „Je  ge- 
ordneter," meint  er,  „die  Menschen  uud  die  Staaten  werden,  desto  mehr 
mindere  sich  der  Funder  zur  tragischen  Flamme;  eine  gewisse  Rauhheit  der 
Seele  in  Herrschsucht,  Mche,  Stolz,  Grausamkeit  scheine  unter  der  Hand 


Vie  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  ~8) 
der  Zeit  abgeschliffen,  wenigsten?  geglättet  zu  sein,  daß  sie  so  scharf  nicht 
ätze  oder  schneide;  wir  fordern  jetzt  einen  fröhlichen,  wenigstens  einen  ge- 
mäßigten Ausgang."  Die  Herabstimmung  der  hohen  Tragödie  zu  dein 
sogenannten  bürgerlichen  Trauerspiel  ist  also  keine  Erniedrigung,  keine  Ent- 
weihung, Der  Ungeheuer  auf  Thronen  sind  wir  satt;  nur  wollen  in  den 
uns  näheren  Ständen  und  Verhältnissen  Menschen  sehen,  die  mit  eigenerer 
Kraft  als  vielleicht  jene  die  Schickung  abwenden  oder  gegen  sie  kämpfen. 
„Hat  das  rettende  Stück  einen  fröhlichen  Ausgang,  so  schmerzt  uns  der  Spott- 
name einer  weinerlichen  Komödie  (eomöäiß  lariuoxaQts)  nicht;  wir  haben 
unter  diesen»  Namen  rührende  Stücke  der  leidenden  und  geretteten  Mensch- 
heit. Ueberhaupt  ist's  ein  gutes  Zeichen,  daß  wir  den  Geschmack  am 
Flitterstaat  der  altftanzosischen  sowie  an  der  gothischen  Pracht  der  englischen 
Tragödie  verloren  haben;  auch  die  Theilnahme  am  Geklirr  und  Gelärm  des 
alten  gedankenlosen  Ritterwesens  ist  fast  vorüber".  Und  diesen  Absagebrief 
an  die  Tragödie  schrieb  Herder  zu  einer  Zeit,  als,  um  einen  volkstüm- 
lichen Ausdruck  zu  gebrauchen,  kaum  einen  Hundeklaff  vou  ihm  entfernt, 
Schiller  in  demselben  Weimar  seine  Tranerspiele:  „Wallenstein",  „Maria 
Stuart",  „Die  Jungfrau  von  Orleans"  geschrieben  hatte  und  diese  Stücke  dort 
am  Hoftheater  gegeben  wurden.  Gerade  über  die  Kotzebues  und  Isflands 
trug  Schiller  mit  diesen  Stücken  einen  Sieg  davon,  der  von  Jahrzehnt  zn 
Jahrzehnt  sich  immer  glorreicher  bewährte.  Doch  auch  die  vorausgehenden 
Stürmer  und  Dränger  hatten  zugleich  mit  dem  Natürlichkeitsprincip  die 
«omöäis  lariuo.vante  gepflegt,  und  man  kann  auch  an  ihren  Stücken 
nachweisen,  wie  in  dieser  Mischgattung  sich  leicht  das  Tragische  entweder 
blos  zum  Traurigen  abstumpft  oder  Beides  leer  ausgeht  und  ein  darauf 
angelegtes  Stück  plötzlich  ein  gutes  Ende  nimmt.  In  dem  „Hofmeister" 
von  Lenz  verführt  der  Held  ein  junges  adliges  Mädchen,  seine  Schülerin, 
deren  Bräutigam  auf  der  Universität  sich  herumtreibt  und  sie  zu  vergessen 
droht.  Das  Mädchen  null  sich  in's  Wasser  stürzen,  der  eigene  Vater  rettet 
sie.  Der  junge  Student  aber  heirathet  sie,  ohne  das  dsnLÜoiam  inventarii 
geltend  zu  macheu.  Darübersetzt  man  sich  leicht  hinweg.  Ein  versöhnlicher 
Schluß  erhält  das  Publicum  bei  guter  Laune.  Der  Hofmeister  felbst  aber 
abälardisirt  sich;  aber  auch  dieser  tragischen  Greuelthat  wird  die  Spitze  ab- 
gebrochen, denn  er  heirathet  trotzdem  ein  naives,  in  ihn  verliebtes  Schul- 
meistertöchterlein. Eine  merkwürdige  Ehe!  Doch  mag's  biegen  oder 
brechen  —  es  muß  sich  einmal  Alles  zum  Guten  wenden.  In  Klingers 
„Sturm  und  Drang"  herrscht  eine  grimme  Todfeindschaft  zwischen  Lord 
Bussy  und  Lord  Nerklep.  Die  Sühne  von  Beiden,  die  in  die  Lande 
Versprengt  sind,  finden  sich  in  Amerika  wieder,  der  Eine,  der  junge  Berklen, 
«in  verwilderter  Seecapitän  seines  Zeichens,  hat  den  alten  Bussy  auf 
seinem  Schiff  entdeckt  und  ihu  bei  stürmischer  See  in  einem  Boote  aus- 
gesetzt und  dem  sicheren  Tode  geweiht.  Darüber  ergrimmt  der  Held  des 
Stückes,  Wild,  und  es  soll  zum  Zweikampf  kommen.  Da  erzählt  ein 


^0  Rudolf  von  Goltschall  in  leipzig, 

Mohrentnabe,  ein  Liebling  des  Kapitäns,  daß  er  damals  diesen  getäuscht 
nnd  den  Vussy  in  einen»  Versteck  des  Schiffes  in  Sicherheit  gebracht  habe. 
Das  führt  nun  eine  allseitige  Versöhnung  herbei  —  das  Stück,  eine 
Tarantella  des  wahnwitzigen  Hasses,  endet  mit  einen«  fröhlichen  Walzer. 
In  anderen  Stücken  ist  der  Abschluß  ein  trauriger,  ohne  jede  tragische 
Bedeutung.  So  endet  in  den  „Soldaten"  von  Lenz  der  Constict  damit, 
daß  der  Vater  seine  Tochter,  die  von  einem  Offizier  verführt  worden,  als 
Straßendirne  wiederfindet.  Mit  dieser  schmerzlichen  Entdeckung  bricht  das 
Stück  ab  —  dahin  führen  die  Liebschaften  der  Soldaten,  der  Offiziere  —  das 
ist  dieselbe  Warnung  und  Mahnung  wie  diejenige,  mit  welcher  der  Honneister 
schlieft.  Dort  heißt  es:  „Hütet  Euch  vor  den  Söhnen  des  Mars!"  hier: 
„Hütet  Euch  vor  der  Privaterziehung  der  Töchter!"  Das  Alles  ist  nicht 
Tragödie,  sondern  oom6äi6  Inrmovants.  Leopold  Wagners  „Kindes- 
mörderin" war  anfangs  als  Tragödie  gedacht  und  niedergeschrieben.  Doch 
drei,  Jahre  darauf  hat  sie  der  Dichter  felbst  in  eine  cuin6öis  larmovnntft 
verwandelt,  durch  eine  Umdichtung,  welche  sie  nicht  nur  in  unseren  „delicaten, 
tugendlallendeu  Zeiten"  bühnenmüglich  machen  sollte,  sondern  auch  den:  Ding 
am  Ende  eine  andere  Wendung  gab,  „um  allen  seinen  Zuhörern  eine 
schlaflose  Nackt  zu  ersparen."  In  diesen,  ironisch  angeführten  Motiv  liegt 
ja  der  Hauptgrund  für  den  Vorzug,  welchen  damals  wie  jetzt  die  Bühnen 
dem  Nührstück  vor  der  Tragödie  gaben. 

In  heutiger  Zeit  ist  die  comöäie  larmovanw  von  Frankreich  herüber- 
gekommen und  beherrscht  die  Bühne.  Viele  Dramen  der  eigentlichen 
Repertoiredichter  gehören  diesem  Genre  an,  auch  die  meisten  Stücke  der 
lüngstdeutschen.  An  traurigen  Ausgängen  fehlt  es  in  denselben  nicht;  aber 
das  Traurige  ist  nicht  das  Tragische.  Fast  alle  Ibseniaden  geKören  in 
diesen  Bereich,  auch  die  erfolgreichsten  Stücke  der  letzten  Zeit,  Sudermanns 
„Ehre"  und  „Heimat".  Der  Abschluß  des  ersten  Dramas  ist  ein  versöhn- 
licher, doch  das  Tragische  der  socialen  Gegensätze:  das  Vorder-  nnd  Hinter- 
haus stellt  noch  viele  Tragödien  der  Zukunft  in  Aussicht.  In  der  „Heimat" 
ist  der  Schluß  ebenfalls  von  jener  abgestumpften  Tragik,  die  dem  Nühr- 
stück eigen  ist.  Der  alte  Soldat  stirbt  gleichsam  an  der  Wiederbegegnnng 
mit  seiner  Tochter;  Magda  aber  seht  nach  diesem  psychologischen  Mord 
wahrscheinlich  ihren  Siegeslauf  als  Künstlerin  fort.  In  „Sodonis  Ende" 
geht  der  Held  zwar  zu  Grunde,  aber  der  Untergang  dieses  innerlich 
verwüsteten  und  gemüthsroheu  Menschen  ist  nur,  wie  das  Verlöschen 
einer  herabgebrannten  Xerze.  Wenn  in  Halbes  „Engend"  die  Heldin  nach 
ihrem  Fehltritt  durch  die  Kugel  eines  Blödsinnigen  fällt,  so  ist  dies  ein 
dnrch  einen  Zufall  hervorgerufener  Knalleffect,  der  mit  der  inneren  Schuld 
und  öühne  nicht  das  Geringste  gemein  hat.  Nnd  nenn  in  Gerhart  Haupt- 
manns „Einsame  Menschen"  der  Held,  der  junge  Vockerath,  ein  geistreicher 
Priuatgelebrter  und  Darwinist,  sich  in'o  Wasser  stürzt,  weil  die  Züricher 
Studentin  sein  Hans  verlassen  bat,  die  seinen  Geist  und  anch  sein  Herz  zu 


Die  lüiigndeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  ^H^ 
fesseln  verstand,  so  stel.t  sich  der  Held  des  Stück«-  mit  diesem  Selbstnwrd 
nur  ei»  geistiges  Armuthszeugniß  aus,  und  man  sieht  in  diesem  Abschluß  n»r 
einen  bedauerlichen  Vorgang.  Auch  Verthold  Litzmann,  einer  der  einigsten 
Vorkämpfer  Hauptmanns,  bekennt,  daß  er  diese  Schlußkatastrophe  nicht  als 
organisch  empfindet.  Die  eomöckie  lnrmo)'aut6  ist  also  bei  de»  Stürmern 
und  Dräugern  so  beliebt,  wie  bei  unseren  lüngstdeutschen;  nur  find  die 
letzteren  nie  über  dieselbe  hinausgekommen,  betrachten  sie  als  die  allein- 
berechtigte Form  moderner  Dramatik,  während  von  jenen  Vorgängern  nur 
Neinhold  Lenz  ausschließlich  bei  ihr  stehen  blieb.  Der  machtvolle  Mnger 
aber  hat  nickt  nur  von  Hause  aus  auch  echte  Trauerspiele,  wie  die  „Zwillinge" 
gedichtet,  sondern  auch  Geschichtsdramen,  eine  Komödie  und  Dramen  aus  dein 
Alterthum,  wie  Aristodemus,  Damokles  und  die  Stücke,  deren  Heldin  die 
Medea  isl,  in  denen  er  sich  als  Vorläufer  Grillparzers  zeigt. 
Die  Lyrik  der  Stürmer  und  Dränger  ist  nicht  fruchtbar  gewesen.  Da 
ist  die  jüugstdeutsche  Lyrik  ergiebiger.  Will  man  jene  in  ihrem  ganzen  Um- 
fange würdigen,  fo  muh  man  Talente  mitheranziehen,  die  nicht  in  den 
engeren  >lreis  der  Parnaßstürmer  gehören,  aber  doch  das  Gepräge  der 
Richtung  mehr  oder  weniger-  zur  Schau  tragen:  den  Tyrannenhasser 
Schubert,  die  grandios  sich  geberdenden  Brüder  Stolberg,  und  selbst  den 
vulksthümlichsten  von  Allen,  Vürger,  der  in  seiner  ungenirten  Stoffwahl 
und  in  seinen  cynischen  Derbheiten,  in  Allem,  was  Schiller  an  ihm  so  scharf 
tadelte,  der  Richtung  fehr  nahe  stand.  Die  Brüder  Stolberg  zählte  Goethe 
zu  dem  herkulischen  Centaurengeschlecht,  das  mit  Vermögen  und  Vtrast  nicht 
wußte  wo  aus  und  ein.  Gerade  in  ihrer  Lyrik  gehörten  sie  ganz  zu  dem 
Geniesturm.  Ihre  Oden  haben  einen  überschwänglichen  Ton,  oft  aber  geniale 
Kühnheit  —  und  das  Ueberschwängliche,  wenn  auch  einem  ganz  anderen 
Zeitgeist  Imldigend,  findet  sich  in  unseren  jüngstdeutschen  Oden  von  Bleib- 
treu, Linke,  besonders  Conradi,  der  feingestimmte  Ton  oft  durch  gelegent- 
liche Derbheiten  unterbrochen,  wie  es  bei  den  Stürmern  und  Drängen:  und 
ihren  nächsten  J  üngern  auch  der  Fall  war. 

Von  den  eigentlichen  Führern  der  Bewegung  war  Minger  kein  Lyriker. 
Er  Hot  bisweilen  „nüthige  Verse"  gemacht,  wie  er  selbst  in  der  „Neuen 
Ärria"  sie  vorlesen  läßt,  Verse  ohne  Metrum  und  Harmonie,  —  die  Regel- 
losigkeit moderner  ästhetischer  Starkgeister  hat  auch  „nüthige  Verse"  genug 
an's  Licht  gefördert.  Das  reizende  Gedicht  „Sophiens  Liebe"  ist  ein  aus- 
nahmsweise glücklicher  Wurf  der  ttlinger'schen  Muse.  Maler  Müller  hat 
als  lyrischer  Dichter  kaum  eine  bestimmte  Physiognomie.  Üde  und  Idylle 
lösen  sich  bei  ihm  ab;  er  ist  meist  zügellos  in  der  Form;  am  besten  gelingen 
ihm  die  reimlosen  freirhythmischen  Verssysteme,  der  Ton  der  Hymne,  auch 
für  das  Liebesgedicht;  das  Lüsterne  überwiegt  bei  ihm  das  Ueppige.  Der 
wirklich  begabte  Lyriker  jener  Zeit  ist  Reinhold  Lenz;  seine  ersten  Liebes- 


1.9^  Rudolf  von  Gotischall  in  leiozig. 

gedichte  lasse»  sich  kaum  von  den  Goethe'schen  unterscheiden;  sie  haben  den- 
selben Duft,  dieselbe  Anmuth.  äiienn  Otto  Gruppe  in  seiner  Schrift  „Rein- 
hold Le»z,  Leben  und  Werke"  nach  einer  Zergliederung  seiner  Liebesgedicht.,' 
sagt:  „Mochten  die  so  durch  die  Lebensumstände  beleuchteten  Gedichte  den 
Eindruck  erwecken,  daß  wir  e?  hier  mit  einem  der  größten  Lyriker  nicht 
nur  Deutschland«,  sondern  aller  Zeiten  zu  thun  haben,"  so  hat  er  ,oohl  den 
Bogen  de?  Lobes  etwa?  zu  straff  gespannt.  Doch  zweifellos  nimmt  ~cnz  al? 
Lyriker  einen  hohen  Rang  ein.  Wenn  Gervinus  sagt,  das;  seine  Leistungen 
unter  die  traurigsten  Beispiele  der  unsinnigen  Nerirrmlgen  gehören,  die  den 
Deutscheu  eigeuthümlich  sind,  da  sie  da?  Gepräge  seine?  wirren  Wesens 
an  sich  tragen,  wenn  Menzel  ihn  wegen  seiner  rastlosen  Fieberhitze  und 
Zuchtlosigkeit  nusschilt  und  von  seinen  Gedichten  uur  sein  schablonenhaftes 
Landplagenpoem  erwähnt,  so  würde  ei»  Vlick  auf  diese  Liebeslieder  aller- 
dings die  gestrengen  Richter  milder  gestimmt  haben.  W^cnn  er  der  Ge- 
liebten zürnst- 

„Du  allein  giebst  Trost  und  Freude: 
Wärst  Tu  nicht  in  dies«  Welt. 
Stracks  fiel  alle  Lust  zusammen, 
Wie  ein  Ftuerwerl  zersägt. 
Wenn  die  schöne  Flamm'  erlischet, 
Tic  da«  all  gezaubert  hat. 
Bleiben  Rauch  und  Brande  stehen 
Von  der  löniglichen  Stadt." 

so  ist  das  lyrische  Fracwrschrift  in  den  kräftigsten  Zügen,  und  ganz  im 

Goethe'schen  Don  erklingen  die  Verse: 

„Und  unter  Locken,  welche  stiegen 

Ilm  ihrer  Schultern  Elfenbein, 

Verräth  ein  Seltenblick  beim  Siege» 

Ten  schönen  Wunsch,  besiezt  zu  sein!" 

Stürmische  Leidenschaft  athmet  das  frei  rhythmische  Gedicht:  „Der  ver- 
lorene Augenblick".  Dn?  möchte  noch  am  meisten  an  einzelne  (N'güsse  der 
neuesten  Stürmer  und  Dränger  erinnern,  während  jene  Goethc'sche  Grazie 
ihnen  unerreichbar  geblieben  ist. 

Was  indetz  der  neuesten  litterarischen  Bewegung  dn?  erkennbarste  Ge- 
präge aufdrückt,  das  ist  die  rücksichtslose  Kühnheit  in  geschlechtlichen 
Dingen,  womit  sie  das  Lügengewebe  heuchlerischer  Conventionen  zu  zer- 
reisten suche»  und  al?  Apostel  nackter  Lebenswahrheit  die  große  Revolution 
der  Litterawr  durchgeführt  zu  haben  glauben.  Und  doch  bewegen  sie  sich 
gerade  hier  in  de»  alten  Geleise»,  welche  die  tiN'äe-8nx:lo-Litteratur  des 
vorigen  Jahrhundert?  ausgefahren  hat,  und  es  zeugt  vou  einer  großen  Un- 
kenntnis; derselbe»,  wenn  man  hier  etwa?  Neues  nud  Niedagewesenes  zu 


vie  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  ~>Z 
bieten  glaubt;  ja  eine  Anthologie  dieser  geschlechtlichen  Kühnheiten  braucht 
sich  nicht  auf  die  Stürmer  und  Dränger  zu  beschränken,  sondern  sie  kann 
die  ganze  damalige  Unterhaltungslitteratur  mit  in  ihre  Kreise  Siehe».  Ein 
Blick  darauf  ist  nncb  nach  einer  anderen  Seite  sehr  lehrreich.  Die  ^itteratur 
befand  sich  dem  Staate  gegenüber  damals  in  einem  Zustande  der  Unschuld; 
die  Zumuthung,  daß  die  Vertreter  der  Justiz  sich  mit  ihren  Erfindungen 
beschäftigen  und  sie  vor  Gericht  stellen  würden,  hätte  sie  mehr  befremdet 
als  erschreckt.  Damals  gab  es  kein  Reichsstrafgesehbuch  mit  Unznchts- 
paragraphen;  damals  gab  es  keine  lex  Heinze  und  keine  Umsturzvorlage, 
und  ein  heutiger  Staatsanwalt  würde  einen  Augiasstall  ausräumen  müssen, 
wenn  er  alle  diese  Dramen  und  Romane  vor  das  Forum  des  Strafrichters 
ziehen  wollte.  Die  Ernte  der  Missethat  stand  damals  in  vollen  Halmen 
und  erforderte  etilen  „Schnitter  sonder  Gleichen". 
Bleiben  wir  zunächst  bei  den  Stürmern  und  Drängern  der  stricte» 
Observanz.  Reinhold  Lenz  vor  Allem  pflegte  das  „sexuelle  Problem",  um 
diesen  tsi-iniiniz  reebnie^  zu  gebrauchen,  mit  dem  so  viel  Unfug  getrieben 
wird.  Sein  „Hofmeister"  verführt  das  Edelfräuleiu,  das  feiner  Erziehung 
anvertraut  ist;  sie  wird  schwanger.  Wie  hat  man  sich  bekreuzigt  vor  Hebbel«? 
Maria  Magdalena!  —  In  den  Romanen  und  Dramen  jener  früheren  Zeit 
sind  schwangere  Mädclien  so  oft  die  Heldinnen,  daß  man  sie  zn  den  „stehen- 
den Figuren",  besonders  der  Dramatik  rechnen  kann.  Das  schwangere 
Fräulein  aber  will  sich  in's  Wasser  stürzen,  wird  aber  schließlich  von  ihrem 
früheren  Bräutigam  Fritz  geheirathet,  der  über  das  kleine  Versehen  hinweg- 
sieht. „Darüber  kann  kein  Mann  hinweg"  —  damals  stand  man  nicht 
auf  dem  Standpunkte  des  Hebbel'schen  Secretärs.  Die  Episoden  haben  den 
gleichen  Charakter  wie  die  Haupthandlnng.  Das  Universitätsleben  in 
Leipzig  bringt  Fritz  mit  einem  Genossen  zusammen,  welcher  die  Dochter 
des  Muntus  Rehaar  verführt  hat  uud  heirathet,  als  er  das  große 
Loos  gewonnen.  Die  Mädchenuerführungen  stehen  in  diesem  Stücke  in 
Blüthe.  Im  „Neuen  Menoza"  wird  die  Blutschande  dramatisirt  —  wenigstens 
heirathon  sich  der  Prinz  und  seine  Geliebte,  in  welcher  er  am  Tage 
nach  der  Hochzeit  seine  Schwester  erkennt.  Doch  die  Rolle  des  Oedipus 
wird  ihm  erspart  —  sie  ist  nicht  seine  Schwester,  sondern  in  ihrer  fugend 
vertauscht  worden.  Gleichwohl  steckt  das  Problein  der  Geschwisterehe  un- 
heimlich in  der  Luft.  In  dem  Stücke  „Die  Freunde  machen  den  Philo- 
sophen," handelt  es  sich  um  eine  Scheinehe,  ähnlich  etwa  wie  in  Hebbels 
„Julia".  Stephau,  ein  junger,  liebenswürdiger  Philosoph,  liebt  Seraphine, 
die  Braut  des  Prado,  und  am  Schluß  ist  Prado  so  gefällig,  sie  zu  heirathen, 
doch  nnr,  um  ihr  seinen  Namen  zu  geben;  alle  ehelichen  Rechte  tritt  er  an 
den  Philosophen  ab.  In  den  „Soldaten"  wird  Marie,  die  Tochter  des 
Kaufmanns  Wefener,  von  einem  Offizier  verführt  und  mich  entfühtt.  Wir 
finden  sie  wieder  im  Dienste  der  Benus  Vnlgivaga.  Mau  sieht,  die  Lenz'sche 
Dramatik  ist  eiu  Wespennest  der  prickelndsten  und  anstößigsten  Berbältnisse 


Ä9Ä  Rudolf  von  Gottschall  i»  leipzig, 

und  wäre  ein  rechtes  Fressen  für  einen  modernen  Staatsanwalt,  wenn  die 
beabsichtigten  Gesetze  durchgegangen  wären. 
Vir  haben  schon  gesehen,  welchen  zügellosen  Verkehr  die  Faune  und 
Nymphen  in  Maler  Müllers  antiken  Idyllen  mit  einander  treiben,  und  auch 
in  den  pfälzischen  Idyllen,  der  „Schafschur"  und  besonders  den  „Nußkernen", 
fehlt  es  nicht  an  cynischen  Bemerkungen  und  Klatschereien.  Die  Studenten- 
scene  in  seinem  „Faust"  ist  übertrieben  roh;  sie  vorzugsweise  bestimmte 
Friedrich  Schlegel  zu  dem  Ausspruch,  Müllers  „Faust"  sei  Handwerksburschen- 
poesie. Der  erste  Act  von  Wagnero  „Kindesmörderin"  spielt  im  gelben 
Kreuz,  einem  Bordell;  die  Verfuhrungsscene  wird  hier  des  Breiteren  ver- 
breitet. Wie  der  Lenclter  vom  Tisch  fällt  und  das  Licht  ausgeht  — 
Evchen  hebt  den  Lenchter  auf,  der  Hauptmann  greift  darnach,  aber  er  grent 
„dran  vorbei",  was  Evchen  zu  dem  Ausruf:  Pfui!  ueranlast;  das  sind 
Scenen,  die  an  Gerhart  Hauptmanns  „Vor  Sonnenaufgang"  erinnern. 
Das  Gespräch  des  Lieutenants  mit  der  knpplerischen  und  verlielten  Mutter 
Evchens  oder  gar  seine  Unterhaltung  mit  der  Dienslmagd,  deren  Bekanntschaft 
er  früher  in  einem  traulichen  Enf5  gemacht;  das  ist  Naturalismus  de  pur 
8llr>ß  und  müßte  jüngstdeutsche  Bewundernng  erregen.  Was  Klinger  be- 
trifft, so  hat  auch  er  zur  Zeit,  als  er  in  den  Erbwlgelrieg  zog,  vom 
wüsten  Soldateuleben  mit  fortgerissen,  mehrere  recht  lascive  Nomane  ge- 
schrieben. Von  Klinger  sagt  Erich  Schmidt,  er  bringe  unbedenklich  das 
Sinnlichste  auf  die  Bühne,  nicht  obne  einen  kühnen  Wurf  iu  Simsone. 
Der  „Simsone  Grisaldo"  war  es,  der  dem  Dichter  den  Spottnamen  des 
„Äwenblutsaufers"  eiltrug.  Iu  seiuem  Lustspiel  „Der  Schwur  wider  die 
Ehe",  in  welchem  er,  der  Borrede  zufolge,  deutsche  Sitten  schildern  will, 
läßt  der  Graf  Blumin,  ein  Weiberhasser,  seiueu  Soh»  schwören,  das,  er 
nie  ein  Weib  heirathen,  aber  fo  viele  Weiber  als  möglich  verführen  solle. 
Er  vergist  diesen  Schwur,  als  er  eine  junge  Wittwe  kennen  lernt,  die 
auch  ihrerseits  geschworen  hat,  alle  Männer  zu  verführen  und  keinen  Mann 
zu  heirathen.  Der  Bater  interuenirt  und  bickt  selbst  der  Wittum  seine 
Hand.  Sie  schlägt  ein,  weist  aber  zuletzt  Vater  und  Sohn  zurück. 
Auch  Heinse  wird  oft  den  Stürmern  und  Drängern  beigezählt,  obschon 
er  wesentlich  unter  Wielands  Einflüssen  stand,  von  denen  jene  Nichts 
wissen  wollen;  in  die  siebenziger  J  ahre  fällt  noch  sein  schlüpfriges  (Gedicht 
„Die  Kirschen"  nnd  sein  „Laidion",  welches  die  Geschicke  der  Lais  behandelt. 
Die  Buhlerin  wird  von  einem  Dodtengerickt,  dem  sie  ihre  Lebensgeschichte 
erzählt,  von  jeder  Schuld  freigesprochen  und  für  würdig  erklärt,  die  clysischen 
Wonnen  zu  genießen,  besonders,  weil  sie  die  Waage  der  Gerecktigteit  unter 
dem  Hemde  getragen,  Jugend  und  Alter  gleichmäßig  beglückt  und  ihren 
Gewinn  mit  den  Armen  getheilt.  An  diese  Lais  erinnert  die  Thcroigne 
von  M^rieourt  in  dem  jüngstdentschen  Epos  der  Eugenie  belle  Grazie  „Robes- 
pierre"; denn  auch  diese  Thoroigne  rühmt  sich,  ihre  Gunst  den  Häßlichen 
geschenkt  uud  diesen  so  für  fehlende  Lebensfreude  Entschädigung  geboten  zu 


Die  liingftdentschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  ~5 
haben.  „Laidion"  ist  eine  Apotheose  der  Prostitution.  Heinses  Hauptwerk 
„Ardinghello"  enthält  neben  den  Kunstbetrachtungen,  in  denen  manches 
Schone  und  Veachtenswerthe  gesagt  ist,  eine  Reihe  von  Liebesabenteuern, 
in  deneu  zum  Theil  höchst  emcmcipirte  Frauencharaktere  die  Hauptrolle  spielen. 
Seine  erste  Liebe  ist  eine  Eäcilia;  sie  wird  Mutter  durch  ihn,  er  ersticht 
ihren  Bräutigam  am  Hochzeitstage.  Dann  gilt  seine  Leidenschaft  einer 
Lucinde,  die  er  zu  verführen  sticht.  Eine  Freundin  derselben,  Fnlvia, 
schleicht  sich  zu  ihm  unter  dem  Namen  Lucindens  und  beglückt  ihn.  Sie 
will  ihm  dafür  diese  in  die  Arme  spielen;  doch  sie  hat  schon  einen  Bräutigam, 
der  bei  den  Saracenen  gefangen  ist.  Wenn  Ardinghello  diesen  befreie, 
so  wolle  sie  ihm  zuerst  angehören.  Darüber  stellt  sie  ihm  eine  Ver- 
schreibung  aus.  Weiter  kann  man  die  Freigeisterei  der  Leidenschaft  nicht 
treiben.  Ardinghello  stellt  ihr  nach  der  Befreiung  des  Bräutigams  diese 
Verschreibung  zurück,  und  sie  wird  wahnsinnig.  Dann  liebt  Ardinghello 
eine  höchst  freidenkende  Römerin,  die  sich  Jedem  hingiebt,  der  ihr  gefällt. 
Nach  manchen  Liebesabenteuern  Ardinghellos  heirathct  sie  diefen,  ist  aber 
damit  einverstanden,  das;  sich  Ardinghello  mit  seinen  Freunden,  allen  seinen 
früheren  Geliebten  und  deren  Kindern  auf  einer  griechifchen  Insel  ansiedelt. 
Dieser  Noman,  der  überdies  viele  Nuditnten  enthält,  würde  wohl  gegenwärtig 
das  Loos  von  Zolas  „Nana"  getheilt  haben. 
Noch  wollen  wir  aber  einen  Blick  auf  die  tin-äo.8itzcly- Litteratiir 
werfen,  die  mit  den  principiellen  Vertretern  der  Genieepoche  wenig  gemein  hat, 
aber  doch  unter  ihren  Einflüssen  steht:  auf  die  Unterhaltungslitteratur  in 
Roman  und  Dramatik  —  und  auch  dieser  3  lick  wird  uns  zeigen,  daß  die 
Muse  der  I  üngstdeutschen,  insofern  sie  geschlechtlich  keck  und  zügellos  auftritt, 
schon  im  vorigen  Jahrhundert  sogar  in  einer  großen  Massenproduktion  gleich- 
artige Wendungen  und  gleichartigen  Stil  wiederfinden  kann.  Die  Lieblings- 
schriftsteller waren  damals  Cramer,  Spieß  und  Lafontaine.  Cramers 
„Deutscher  Alcibiades"  ist  ein  Pendant  zu  Heinses  Ardinghello;  er  lielt 
immer  mehrere  Mädchen  und  Frauen  zugleich.  Er  wird  Fürst,  und  zwei 
derselben,  seine  Gemahlin  Risn  und  seine  Geliebte  J  ulie,  theilen  sich  ihn. 
Eine  eifersüchtige  Gräsin  schießt  auf  ihn,  wird  aber  von  einen:  feiner 
ftäqer  mit  einem  Hirschfänger  getödtet.  In  dem  Roman  der  „Glücks- 
pilz" hat  Fritz,  ein  junger  Gehilfe  eines  alten  Verwalters,  ein  ehebreche- 
risches Verhältnis;  mit  dessen  Frau  Dorchen.  Der  Alte  entdeckt  dasselbe, 
schlägt  aber  weiter  nicht  Lärm,  sondern  schickt  Fritz  fort.  Derselbe  liebt  und 
heirathet  ein  anderes  Mädchen,  Lieschen.  Dorchen  hat  indeß  mit  seine,» 
Nachfolgerdas  gleiche  Spiel  begonnen.  Im  „Freiherrn  von  Rubin"  tödtet 
der  Held  den  Bruder  feiner  Geliebten,  doch  diese  selbst,  als  seine  Frau, 
buhlt  mit  einem  Baron,  den  er  ebenfalls  niederschießt.  In  allen  diesen 
Romanen  herrscht  der  gemeinste  Don.  Cramers  „Rasereien  der  Liebe"  sind 
Erzählungen  höchst  schlüpfriger  Art.  Von  den  Romanen  von  Spieß  wollen 
wir  nur  zwei  erwähnen:  „Läcilie  oder  die  gottlose  Dochter"  und  „Aurelie 


/vHt>  Rudolf  von  <3ottsch»ll  in  leipzig. 

Waldenboru".  Eäcilie  ist  ein  achtzehnjähriges  juuges  Weib,  allen  Lasten! 
hingegeben,  rninirt  ihren  Gatten,  ihre  Eltern,  flieht  nach  Amerika,  wo  sie 
in  die  Hände  uon  Kannibalen  gercith,  welche  ihren  Freunden  die  Brüste  ab- 
schneiden und  fressen,  sie  selbst  ist  nur  dadurch  von  diesem  Schicksal  errettet 
worden,  weil  die  Kannibalen,  als  sie  das  nackte  Weib  mit  Keulen  nieder- 
schlagen wollen,  Spuren  von  einer  niedrigen  Krankheit  entdecken;  ihr  Fleisch 
ist  zu  unrein,  um  verzehrt  zu  werden. 

Aurelie  von  Waldenboru  wird  Maitresse  eines  Fürsten,  auf  Geheiß 

eines  geheimen  Tugendbundes,  der  durch  ihren  Einfluß  bewirken  will,  daß 

er  das  Land  gut  regiere  und  beglücke. 

Ter  rührselige  Lafontaine  bewegt  sich  zwar  meistens  auf  dem  Gebiete 
bürgerlicher  Tugend,  doch  er  hat  auch  Anwandlungen,  bei  denen  seine 
Sentimentalität  bedenklich  in's  Frivole  hinüberschielt.  So  hat  er  mehrere 
Romane  geschrieben,  wie  z.  B.  „Engelmanns  Tagebuch"  und  „Hermann 
Lange",  in  denen  Mädchen  in  aller  Unschuld  schwanger  werden.  In 
Knigges  Romanen,  besonders  in  der  „Geschichte  Peter  Elausens"  und 
den  „Verirrungen  des  Philosophen"  kommen  viele  gemeine  Tcenen  vor. 
Julius  von  Voß  schildert  in  seinen  Romanen  das  wüste  preußische  Offiziers- 
leben, das  er  zum  Theil  mit  cynifckieu  Schmutzfarben  ausmalt.  Vieles  er- 
innert an  den  „Simplicifsimus".  Eins  seiner  Hauptwerke  sind  die  „Aben- 
teuer einer  Marketenderin",  die  aus  Weimar  stammt,  in  einem  dortigen 
Vordell  geboren  und  erzogen  ist  und  sich  dort  einen  gewissen  Nildungssirniß 
augeeignet  hat.  Dem  Tchusterlehrling  Samuel  bringt  sie  diese  Bildung 
bei,  und  zwar  finden  diese  platonischen  Gespräche  auf  zwei  neben  einander 
befindlichen  Abtritten  statt,  wo  auch  Romeo  zuerst  seine  Julie  gefunden.  Die 
späteren  Abenteuer  der  Heldin  bringen  manches  tragikomische  Intermezzo, 
wie  den  Schuß,  der  sie  dort  verwundet,  wo  die  neapolitanische  Venns  ihren 
unsterblichen  Ruhm  gefunden.  Die  kleinen  Erzählungen  von  Voß  sind  ein 
rl>Aoüt'5n  für  die  Frivolität;  sie  erinnern  an  die  „Vraunen  Märchen"  von 
Sternberg.  Die  Erzählungen  uon  Gustav  Schilling  bewegen  sich  in  sächsi- 
schen Offizierskreisen.  Der  .Held  seines  großen  Romans  „Guido  von 
Sohnsdom"  ist  ein  Don  Juan,  der  Liebesabenteuer  mit  vielen  Damen  hat, 
sowohl  vor  der  Ehe,  als  auch  später  während  der  Ehe.  Und  alle  diese 
Damen  sprachen  eine  sehr  eindeutige  Sprache.  Die  fünfzig  Bände  der 
Schilling'schen  Erzählungen  liefern  auch  nach  dieser  Seite  hin  eine  reiche 
Ausbeute. 

Neben  diesen  leichtfertigen  Romanen  gingen  andere  einher,  welche  sich 
weniger  nach  französischem  als  nach  englischem  Muster  gebildet  hatten  und 
moralisirende  Tendenzen  verfolgten.  Wenn  man  diese  indeß  mit  unseren 
heutigen  Familienblattromanen  vergleicht,  so  zeigt  sich  doch  auch  eiu  merk- 
licher Unterschied;  denn  ans  den«  Wege  zur  Tugend  und  ihrem  Schlußaccord 
berühren  fie  doch  das  Laster  und  seine  Dissonanzen  oft  genug  in  einer 
Weise,  welche  den  Rothstift  unserer  Redacteure  herausfordern  würde.  In 


Die  lüngstdeutschen  des  achtzehnten  )ahrhundert3.  ^9^ 
du!»  vielbändigen  Roman  des  Superintendenten  Hermes,  „Tophie»s  Reise 
von  Memel  nach  Sachsen",  einem  der  tugendreichsten,  erlebt  die  Heldin 
mancherlei  Abenteuer,  sie  kommt  sogar  niit  einem  Herrn  Lesse  in  einem 
Bett  zusammen;  doch  wie  es  in  Shakespeares  „Othello"  heißt:  8U6  nisans 
not  an?  Imrw.  „Das  Fräulein  von  Sternheini"  der  Frau  Laroche  ist  eine 
brutale  Verführungsgeschichte:  doch  die  Tugend  bleibt  siegreich,  wenn  sie 
auch  zu  Gru»de  geht.  In  dem  Romane  „lulchen  Gruenthal"  wendet  sich 
Helene  Unger  gegen  die  damaligen  französischen  Sitten,  besonders  in  den 
Pensionsanstalten:  die  Heldin,  Julie,  die  Tochter  eines  Anwalts,  geräth  in 
diese  Verderbnis)  und  endet  als  gemeine  Buhlen».  In  dem  Roman  „Die 
Pupille"  uo»  Johann  Jakob  Dusch  besteht  die  Katastrophe  dari»,  da« 
Walter  seine  (beliebte  in  der  Trunkenheit  auf  einen,  Maskenball  entehrt, 
sich  aber  einbildet,  es  sei  eine  Andere  gewesen.  In  Schnmmels  „Empfind- 
samen Reisen"  entschließt  sich  der  Held,  ei»  Mädchen  zu  heirathen,  welches 
schwanger  ist.  Die  Romane  von  Wezel,  von  denen  „Tobias  Knaut" 
eine  Zeit  lang  selbst  einem  Herder  und  Wieland  zugeschoben  wurde 
und  in  welchem  auch  Gcrviuus  einen  tieferen  Zug  erkennt,  haben  mit 
den  Producten  der  eigentlichen  Genieepoche  Nichts  gemein,  und  doch  sind 
sie  keineswegs  frei  von  den  Krankheiten  derselbe».  Die  Abenteuer  des 
zwerghaften  buckligen  >innut  wären  für  unsere  heutigen  Familienblätter 
unmöglich.  Einmal,  als  er  im  Teiä,  badet,  stiehlt  ihni  eine  Zigeunerin 
seine  Kleider;  zwei  junge  Fräulems,  darunter  besonders  Adelheid,  nehmen 
sich  seiner  n»  und  erbarmen  sich  seiner  Nacktheit.  Am  Schlüsse  des  Romans 
besucht  Knaut  ei»  Vordell,  wo  er  seine  frühere  Wohlthäteri»  wiederfindet 
und  ohne  Weiteres,  heirathet.  In  „Velphegor",  einem  der  Voltaire'schen 
Komödie  nachgebildeten  Roman,  gehen  noch  merkwürdigere,  aber  auch  meistens 
sehr  anstößige  Dinge  vor  siel'.  Die  schöne  Akante  weist  ihren  Verehrer  aus 
dem  Hause  uud  ertheilt  ihm  solche  Fußtritte,  daß  er  das  Hüftbein  bricht, 
Fronal  tritt  an  seine  Stelle.  Velphegor  zieht  in  die  neite  Welt.  Der 
Freund  und  die  Freuudin  gesellen  sich  wieder  zu  ihni.  Akante  erzählt,  wie 
sie  die  Maitresse  des  Papstes  Alexanders  III.,  und  dann  diejenige  eines 
Markgrafen  gewesen  sei,  auf  dessen  Befehl,  als  er  ei»  Recht  zu  habe» 
glaubte,  eifersüchtig  zu  sein,  sie  der  Rase  und  der  rechten  Hand  beraubt 
und  im  ganze»  Gesicht  geschunden  ward.  Später  gerathe»  sie  in  einen 
Amazonenstaat,  wo  die  Weiber  so  lange  Brüste  haben,  daß  sie  im  kokette» 
Spiel  dieselben  bald  über  die  Achsel»  werfe»,  bald  fallen  lassen;  auch  habeu 
sie  zu  Gesellschaftern  Affeu,  deren  Schwauz  ein  natürlicher  Spiegel  ist, 
worin  sie  sich  beschauen.  Alante  wird  später  todtgeschlagen,  als  sie  emen 
Ehemann  verführen  will.  Aehnlich  siud  die  Romane:  „Die  wilde  Betty", 
„Wilhelminc  Arend",  in  welchem  eine  Opernscmgeri»  die  Hauptrolle  spielt, 
durch  welche  ein  Hamburger  Kaufmann  fei»er  Gattin  untreu  wird.  Diese, 
die  sich  nicht  scheide»  lasse»  will,  lebt  da»»  i»  Bigamie  mit  einem  Geliebte» 
Webster. 


~H8  Rudolf  von  Gottschall  in  leipzig. 

Wie  der  Roman,  so  bot  auch  die  damalige  Schaubühne  Vieles,  was  sich 
heutigentags  das  Publicum  nicht  gefallen  lassen  würde.  Wezel  selbst  hat  einige 
derartige  Lustspiele  geschrieben  wie  z.  B.  „Der  blinde  Lärm",  in  welchem  ein 
Edelmann  seiner  verwittweten  Nichte  nur  unter  der  Bedingung  zu  Heiratben 
gestattet,  daß  sie  in  der  Ehe  drei  Kinder  bekomme.  Ihr  Geliebter  wird 
von  einer  Nebenbuhlerin  verleumdet,  er  habe  an  sich  so  gehandelt,  wie 
der  Hofmeister  von  Lenz;  doch  das  wird  durch  die  That  widerlegt;  eine 
Pariser  Opernsängerin  ist  von  ihm  guter  Hoffnung,  und  der  Edelmann 
giebt  ihm  nun  vertrauensvoll  die  Hand  seiner  Nichte.  Von  Kohevues 
Schauspielen  hat  „Menschenhaß  und  Neue"  wohl  mit  Unrecht  den  heftigsten 
Tadel  der  sittenstrengen  Literarhistoriker  erfahren  als  eine  Beschönigung 
des  Ehebruchs.  Doch  dann  müßte  die  christliche  Lehre  von  Buße  und 
Neue  und  Sündenvergebung  ebenfalls  beanstandet  werden.  Es  ist  ein  Ebe- 
bruchsdrmua,  wie  die  neufranMschen;  Eulalie  geht  mit  einem  Offizier 
durch;  doch  im  Stücke  erscheint  sie  als  Magdalena,  und  der  Gatte  verzeiht 
ihr.  Da  ist  doch  nichts  Anstößiges,  wohl  aber  in  der  von  Kotzebue 
gedichteten  Fortsetzung,  wo  Mainnu  die  reuige  Eulalia  beruhigen  will,  indem 
er  sich  der  gleichen  Süude  zeiht  und  ein  vo»  einem  Banemburschen  ge- 
schwängertes Mädchen  besticht,  daß  sie  aussagt,  er  sei  der  Schuldige. 
Noch  heute  bekannt  sind  die  „beiden  Klingsberge"  und  der  von  Lortziug  zu 
einer  Oper  benutzte  „Nehbock".  Die  „Sonnenjungfrau",  Nocva,  die  gilter 
Hoffnung  ist  von  einen»  Spanier  und  geopfert  werden  soll,  bis  der  ))nta 
von  Peru  selbst  da«  thörichte  Gesetz  aufhebt,  gerade  zur  rechten  Zeit,  sodaß 
jetzt  alle  Sonnenjungfrauen  nach  Herzenslust  lieben  können,  und  die  naive 
Gurli  in  den  „Indianen,  in  England",  welche  von  europäischen  Sitten 
keinen  Begriff  bat  und  in  aller  Unschuld  die  anstößigsten  Dinge  sagt, 
waren  damals  so  beliebte  Bühnenrollen  wie  die  „Grille"  und  die  „Lorle" 
der  Frau  Birch  in  der  zweiten  Hälfte  unseres  J  ahrhunderts.  Der  .Held 
des  Lustspiels  „Bruder  Moritz"  will  durchaus  ein  gefallenes  Mädclien 
heirathen,  das  selbst  seinen  Sündenfall  eingesteht.  Auf  gleichen  Don  ge- 
stimmt waren  die  damals  so  beliebten  Lustspiele  von  Nretzner  und  Jünger. 
Wir  erwähnen  nur  Brehners  „Liebe  nach  der  Mode",  ein  Lustspiel,  in  dessen 
Mittelpunkt  ein  Heirathsbureau  ist  mit  verschiedeilen  sehr  lockeren  Ehebund- 
werbern,  aber  noch  schlimmere  „Ehemänner",  denn  da  findet  sich  der  Hofratb, 
der  seine  Frau  gege«  ein  kostbares  Bild  einem  Hauptmann  abtritt.  In  der 
„verstorbenen  Ehefrau"  spielt  eine  erwachte  Echeintodte  die  Hauptrolle  und 
ordnet  einige  mißliche  Liebesverhältnisse,  die  sich  nach  ihrem  Tode  an- 
gesponnen. In  Jüngers  Lustspielen:  „Verstand  und  Leichtsinn",  „Die  un« 
uermuthete  Wendung"  wird  das  frivole  Wiener  Leben  geschildett. 
Ueber  diese  ganze  Production  sagt  der  Litteraturanzeiger  von  1799: 
„Die  verfluchtesten  Schriften  kommen  seit  den  letzten  35  Jahren  zum  Vor- 
schein und  über  7W0  Nomnne  und  Liebeshistörchen,  die  als  Giftpflanzen 
den  braven  Charakter  der  deutschen  Weiber  und  Töchter  schon  auch  ver- 


Die  liingstdeutschen  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  ~HH 
dorben  haben,"  Aus  dieser  Versumpfung  hat  sich  die  Litteratur  selbst  empor- 
gerafft und  geläutert,  nachdem  die  Clafsiker  immer  mehr  Anerkennung  ge- 
funden; es  hat  dazu  nicht  der  Gesetze,  nicht  der  Eingriffe  des  Staates 
bedurft.  Die  Litterntur  ist  wie  der  Speer  der  Minerva,  sie  heilt  selbst 
die  Wunden,  die  sie  schlägt. 

Uns  kam  es  darauf  an,  hier  den  thatsächlichen  Nachweis  zu  führen, 
daß  das  Neue,  was  die  lüngstdeutschen  in  Theorie  und  Praxis  zu  Tage 
fördern  und  dessen  sie  sich  rühmen  als  unerhörte  Großthaten  und 
revolutionärer  Umwälzungen  der  Sitte,  zum  großen  Theil  dem  alten 
Sturm  und  Drang  des  vorigen  Jahrhunderts  angehört.  Wir  wollen  hier 
keineswegs  zu  Gericht  sitzen  weder  über  die  Stürmer  oder  Dränger,  noch 
über  die  jüngsten  Epigonen  derselben.  Wir  sind  keine  Anhänger  eines  ge- 
schlechtlichen Purismus,  der  einer  geistvollen  Entwicklung  der  Litteratur 
ebenso  hinderlich  ist,  wie  die  Maß-  und  Zügellosigkeit.  Möglich,  daß  aus 
dein  neuen  Sturm  und  Dräng  auch  eine  neue  Classicität  hervorgeht  wie 
Goethe  uud  Schiller  aus  dem  Kreise  der  Stürmer  und  Dränger,  denen 
ihre  lugenderzeugnisse  angehörten  uud  daß  Sudermann  der  Schiller  und 
Hauptmann  der  Goethe  des  neunzehnten  Jahrhunderts  wird! 
Doch  wer  kann  dies  wissen?  Es  ruht  im  Schoß  der  Götter! 


M 

Rußland  in  Centraiasien, 
von 

—  Viezla».  — 

ie  politischen  Folgen  der  neuesten  kriegerischen  Ereignisse  in  Ost- 
asien zwischen  Japan  und  China  werden  voraussichtlich  die  alte 
Rivalität  Englands  und  Rußlands  in  diesem  Erdtheile  von  Neuem 
und  in  verschärften:  Grade  hervortreten  lassen,  es  dürfte  demnach  die  öffent- 
liche Aufmerksamkeit  auch  auf  das  allmähliche,  aber  unaufhaltfame  Vor- 
dringen der  Rusfeu  im  asiatischen  Eentralgebiete  wieder  in  erhöhtem  Maße 
hingelenkt  werden.  Wenn  England  sein  Znndelimonopol  in  China  möglichst 
aufrecht  zu  erhalten  nnd  daher  bei  Gelegenheit  des  Friedensvertrages  zwischen 
Ehina  und  Japan  im  Einverständnis)  mit  letzterer  Macht  selbstsüchtig  be- 
sondere commerzielle  Vortheile  für  sich  zu  -gewinnen  sucht,  Rußland  aber 
durch  die  Errungenschaften  Japans  in  China  sich  in  seinen  ostasiatischen 
Interessen  bedroht  sehen  muß,  so  spitzt  sich  durch  diese  Verhältnisse  der 
Gegensatz  zwischen  den  beiden  genannten  europäische,:  Großmächten  in  be- 
drohlicher Weise  zu,  und  es  wird  dann  zwischen  dieser  Collision  der  russischen 
und  englischen  Interessen  in  Ostasien  und  den  äußerst  empfindlichen  Be- 
rührungspunkten beider  Staaten  im  Centraigebiete  des  Erdtheils  sehr  bald 
eine  gewisse  Wechselwirkung  eintreten  müssen. 
Wenn  hier  von  Centraiasien  die  Rede  ist,  so  soll  damit  nicht  blos  des 
Erdtheils  eigentliches  Mittelgebiet  gemeint  sein,  dessen  engeren  Begriff  Freiherr 
von  Richthofen  in  seinen:  großen  Werke  „China"  lediglich  auf  die  Länder 
zwischen  dem  Altai-Gebirge  in:  Norden,  den  Pamirs  in:  Westen,  de»:  Hoch- 
land von  Tibet  in:  Süden  und  der  Wasserscheide  der  Hauptströme  von 
China  —  lantsekiang  und  Hoangho  ~  sowie  den:  Lhangangebirge  im 
lösten  beschränkt  sehen  will.  Dieser  Kern  von  Innerasien  ist  bis  jetzt  noch 


Rußland  in  tentralasien.  20^ 

nicht  zum  Gegenstande  politischer  Streitigkeiten  geworden,  und  China  gilt 
hier  noch  immer  als  unbestrittener  Machthaber.  Für  die  vorliegende  Studie 
kommen  vielmehr  nur  die  der  westlichen  Peripherie  des  eigentlichen  Centrai- 
gebietes vorliegenden  Länder  von  Turan  und  Iran  in  Betracht,  die 
Alerander  von  Humboldt  ebenfalls  zu  seinem  Centraiasien  rechnete,  und 
von  diesen  hier  namentlich  die  Kirgisengebiete,  Weslturkistan  mit  den  Chanaten 
Bochara  und  Chiwa,  die  Turkmenensteppe  nnd  Afghanistan. 
Hohe  gewaltige  Gebirgsmassen  schließen  Mittelasien  im  Allgemeinen 
von  den  nach  den  Meeren  zu  geöffneten  Ländern  des  Erdtheils  ab  und 
trennen  es  andererseits  im  Innern  in  verschiedene  Theile. 
Im  Norden  und  Osten  wird  die  Grenze  durch  den  Altai  mit  seinen 
ostwärts  sich  erstreckenden  Verzweigungen  gebildet,  dann  durch  den  Inschan, 
Aläschan  und  das  hohe  Gebirge  des  Kokonor.  Im  Süden  zieht  sich  als 
Wasserscheide  der  Karakomm  —  Mustagh  oderThangla  —  hin,  westwärts 
in  dem  Hindukusch  sich  fortsetzend.  Der  Hauptkamm  dieses  Gebirges,  an 
welches  sich  im  Westen  mittelst  niedrigerer  Höhenzüge  der  den  Südrand  des 
Kaspischen  Meeres  begrenzende  Elburs  anschließt,  stellt  sich  als  der  Nord- 
rand des  Hochlandes  von  Iran  dar,  während  seine  Verzweigungen  in 
Afghanistan  und  die  von  Norden  nach  Süden  streichende  Solimankctte  das 
Grenzgebirge  Irans  gegen  Indien  bilden.  Als  westlichen  Grenzwall  von 
Mittelasien  endlich  sehen  wir  den  KaukaM. 

Mit  dem  Altaisystem  im  Zusammenhange  und  von  ihm  mir  durch  eine 
etwa  21  Kiu.  breite  Einsenkung  'getrennt,  zieht  sich  das  Thmnschangebirge 
hin,  und  zwar  in  zwei  Hauptrichtnngen,  von  Südwest  nach  Nordost  und 
von  Nordwest  gegen  Südost.  Im  östlichen  Thianschan  trennt  eine  riesen- 
haft aufragende  Gebirgsmasse  den  chinesischen  Kreis  Kur-kara-usu  in  der 
westlichen  Mongolei  vom  Lande  der  Dschulduz  in  Ostturkestan  und  setzt  sich 
östlich  in  weniger  hohen  Parallelketten  fort  b>5  zur  chinesischen  Provinz 
Kansu.  Die  von  Nord  nach  Süd  sireichende  >vette  des  Thianschan  scheidet 
Ost-  und  Westturkestau  iu  die  zwei  großen  Längenthäler  des  Amn-Tarja 
und  des  Tarim  nnd  ist  von  den  nordwestlichen  Fortsetzungen  des  Himalaya 
nicht,  wie  im  Norden  vom  Altai,  durch  eine  Senkung  geschieden,  sondern 
beide  Gebirgssusteme  gehen  hier  durch  zahlreiche  kurze  sich  absendernde  und 
einander  durchschneidende  Ketten  das  eine  zum  anderen  über.  Zwischen  den 
Ouellflüssen  des  Amu-Tnrja  und  Tarini  liegen  die  wüstenähnlichen  Hoch- 
flächen der  Pamirs  auf  der  Grenze  von  Ost-  und  Westturteslan.  Mit  dein 
Himalaya  stehen  noch  in  Beziehung  der  Karatonn»,  welcher,  ihm  nördlich 
vorgelagert,  sich  von  Westen  nach  Osten  hinzieht,  ferner  der  Küenlün  uud, 
diesem  im  Westen  sich  auschlieüend,  die  von  Südost  gegen  Nordwest  streichen- 
den, noch  immer  6(XX>  m  Höhe  übersteigenden  Gebirgszüge,  welche  unter 
dem  Namen  Nelur-Tagh  zusammengefaßt  werden.  Ter  am  Terek-Paß  be- 
ginnende, von  Nordost  nach  Südwest  sich  erstreckende  mächtige  Gebirgswall 
führt  aber  den  Namen  Alm.  Derselbe  bildet  die  Wasserscheide  zwischen 
ülord  und  VÜd.  I.XXV.  224,  14 


202  e.  Maschke  in  Vleslau, 

dem  Sir-  und  Amu-Darja.  Centraiasien  stellt  sich  übrigens  keineswegs  als 
ein  einziges,  ununterbrochenes  Hochplateau  dar.  Tnrkestan,  mit  dem  Strom- 
gebiete des  Amu-Darja  im  Westen  und  des  Darin,  (larkand)  im  Osten, 
bildet  eine  große,  in  der  Mitte  gehobene  Einsenkung,  die  östlich  im  Gebiete 
der  Mongolei  endet.  Ebenso  sehen  wir  in,  Plateau  vou  Iran  eine  be- 
deutende Depression  in  Seistan.  Die  ausgedehnteste  Niederung  befindet 
sich  aber  in  den  nach  dem  Kaspischen  Meere  zu  sich  abdachenden  Steppen. 
Die  unabsehbaren  Einöden  Centraiasiens  sind  mit  fliegendem  Sand,  mit 
Salzlachen  und  weithin  sich  erstreckenden  Morästen  bedeckt  und  gestalten  sich 
uur  hin  und  wieder  zu  Steppen  mit  einer  an  Arten  verhältnißmäßig  reichen 
Flora.  Einen  ungeheuren  Ländercompler  umfaßt  die  aralo-kaspische 
Niederung;  östlich  davon  liegen  die  Wüsten  Kisilkum  und  Natkattum,  und 
südlich  von  diesen  erstreckt  sich  die  meist  wasserarme  Turkmenensteppe.  In 
Chorasan  schließt  das  fruchtbare  Land  die  völlig  weglose  Wüste  Lut  ein. 
Im  Süden  des  Hindukusch  nehmen  die  unfruchtbaren  Gegenden  große 
Flächen  ein.  Oestlich  des  Thianschan  erstreckt  sich  im  Norden  die  Wüste 
Gobi  mit  ihrem  schmutziggelben,  sandiglehmigem  Steppenboden,  auf  welchem 
aber  auch  Hügel  und  Verge  über  2509  ru  hoch  emporragen,  in  einem 
Naume,  der  Frankreich  viermal  an  Größe  übertrifft.  Leblose  Stille  soll 
hier  herrschen.  Es  fehlt  zwar  nicht  an  Oasen,  aber  erst  am  Nordabhange 
der  Mongolei,  nach  Sibirien  und  dem  Baikalsee  zu  zeigen  sich  Anfänge 
von  Flüssen  und  ein  verhältnißmäßig  reicher  entfaltetes  Leben.  Charakte- 
ristisch für  das  Gebiet  von  Centraiasien  ist  andererseits  die  große  Zahl  von 
bedeutenden  Seen,  welche  mit  keinem  der  großen  Oceane  in  Verbindung 
stehen  und  die  Sammelbecken  für  zahlreiche  Flüsse  bilden,  soweit  letztere 
nicht  in  den  Wüsten  sich  verlieren.  Auch  die  Hochgebirge  sind  reich  an 
Alpenseen,  und  eine  Menge  Flüsse  entspringen  ihnen. 
Die  gebietende,  oder  wenigstens  die  gefürchtete  und  von  den  Nomaden 
als  Herrin  der  Welt  betrachtete  Macht  in  Centraiasien  ist  unbestreitbar 
Ruhland.  Die  Länder  unmittelbar  an  der  Peripherie  des  oben  bezeichneten 
engeren  Centraigebietes,  also  die  von  Turau,  befinden  sich  fast  sämmtlich 
unter  russischer  Herrschaft,  während  den  Besitz  des  iranischen  Hochlandes 
Rußland  und  England  fortgesetzt  sich  streitig  machen. 
Das  Vorgehen  Nußlands  in  Centraiasien  wird  aber  immer  verschieden 
beurtheilt  werden,  je  nachdem  dies  von  dem  einen  oder  von  dem  anderen 
politischen  Standpunkte  aus  geschieht. 

Die  Anhänger  Englands  werden  natürlich  urtheilen,  wie  der  Ungar 
VanMni  in  seiner  Schrift  „Centraiasien  und  die  englifch-russische  Grenz» 
frage".  Mau  wird  unter  ihnen  behaupten,  daß  die  Engländer  eifrig  be- 
flissen wären,  den  armen  und  unterdrückten  Orientalen  das  Veste  und  höchü 
Erreichbare  zu  bieten,  daß  dagegen  durch  den  russischen  Civilisirungsproceß 
die  asiatischen  Nationen,  welche  ihm  seit  vier  Jahrhunderten  schon  unter- 
morsen seien.  Nichts  gewonnen,  sondern  sowohl  moralisch  wie  materiell  nur 


Rußland  in  Centraiasien.  203 

Verloren  hätten,  und  daß  diese  Völker  heute  noch  unserem  westlichen  Cultur- 
begriffe  ebenso  fern  ständen  wie  ihre  unter  der  Herrschaft  des  fanatischen 
Mohammedanismus  noch  lebenden  Stammesbrüder.  Es  wird  allerdings  zu- 
gestanden, daß  die  russische  Civilisation  trotz  aller  Mängel  und  Lasten,  die 
ihr  anhafteten,  doch  noch  immer  jener  überlegen  wäre,  die  dem  Mohamme- 
danismus entspränge,  der,  wie  fruchtbar  er  auch  in  der  Vergangenheit  ge- 
wesen sein  möge,  jetzt  doch  nur  mehr  einem  gänzlichen  Aufgeben  aller 
Willens-  und  Thatkmft  und  einem  Zurückversinken  in  frühere  primitivere 
Entwickelungsphasen  zum  Vorwande  diene.  Man  will  auch  durchaus  nicht 
leugnen,  daß  Nußland,  indem  es  eine  gewisse  gesetzliche  Ordnung  in  einigen 
barbarischen  Staaten  Asiens  einführte,  in  denen  Genmltthätigkeiten  und  Blut- 
vergießen schon  weite  Länderstrecken  verödet  hatten,  auch  vielen  im  Elende 
schmachtenden  Menschen  Wohlthaten  erwiesen  habe.  Doch  sei  es  trotzdem 
fraglich,  ob  man  jene  neuen  Zustände  und  Verhältnisse,  die  in  diesen  Land- 
strichen ans  russischen  Einfluß  zurückzuführen  wären,  auch  wirklich  Civilisation 
nennen  könnte,  und  ob  man  sagen  dürfte,  daß  Rußland  damit  auch  nur 
einen  Strahl  des  glorreichen  Lichtes  der  modernen  Eultur  des  christlichen 
Wesens  nach  jenen  Regionen  gelenkt  habe.  Die  halbe  Million  Kasan- 
Tartaren,  die  einen  geistig  begabten  Bruchtheil  der  türkischen  Nation  bildeten 
und  in  alten  Zeiten  um  ihrer  moslemitischen  Eultur  willen  berühmt  ge- 
wesen seien,  zeigten,  außer  in  einigen  höchst  oberflächlichen  Zügen,  in  ihrem 
socialen  und  politischen  Leben  auch  keine  Spur  vom  Geiste  unseres  Jahr- 
hunderts. Das  Volk  werde  in  seiner  moralischen  Apathie  belassen  und 
danke  seine  geringe  Geistesbildung  einzig  der  Schule,  die  es  felbst  gegründet 
habe  und  aus  eigenen  Mitteln  erhalte.  Allerdings  befänden  sich  in  Kasan 
von  der  Regierung  errichtete  Schulen,  doch  wäre  der  Geist  und  die  Tendenz 
des  Unterrichts  echt  russisch,  nur  darauf  ausgehend,  die  Tataren  zu  Christen 
und  Moskowitern  umzuwandeln,  damit  sie  dem  russischen  Reiche  um  so 
leichter  einzuverleiben  seien.  Aehnlich  solle  es  bezüglich  der  Baschkiren  sich 
verhalten,  eines  gleichfalls  zahlreichen  Theiles  der  turko-tatnrischen  Nasse, 
welcher  seit  undenklichen  Zeiten  seinen  Sitz  im  Uralgebirge  hat.  Die 
Baschkiren  wären,  obwohl  schon  seit  zwei  Jahrhunderten  unter  russischer 
Herrschaft  stehend,  vom  moralischen  wie  vom  materiellen  Gesichtspunkte  aus 
betrachtet,  schlimmer  noch  daran  als  die  Stammesbrüder  an  der  Wolga. 
Arm  und  bedrückt,  von  den  fanatischen  orthodoren  Nüssen  vernachlässigt  und 
verachtet,  wären  sie  nahezu  auf  die  Hälfte  ihrer  ehemaligen  Zahl  zusammen- 
geschmolzen. Dasselbe  Beobachtungsresultat  will  man  nordöstlich  hinauf  bis 
Tobolsk  und  im  Süden  abwärts  bis  zum  Altaigebirge  festgestellt  haben. 
Ueberau  trete  die  Thatsache  entgegen,  daß  mit  dem  Erscheinen  der  russischen 
Civilisatoren  sich  die  Eingeborenen  rasch  verminderten  und  daß  die  Negierung 
anstatt  sich  der  grausam  unterdrückten  Uutcrthanen  anzunehmen,  weit  eher 
noch  das  Zerstöruugswerk  der  russischen  Kosaken,  Popen  und  Kanfleute  unter- 
stützte. Um  die  gänzliche  Wirkungslosigkeit  der  nissischen  Civilisations- 
14* 


204  <L.  Maschke  in  Vreslau. 

Bestrebungen  zu  erkennen,  brauche  man  nur  solche  Völkerschaften  zu  betrachten^ 
die,  lange  schon  unter  russischer  Herrschaft  stehend  und  zum  Christentum 
übergetreten,  sogar  der  griechisch-katholischen  Kirche  angehörend,  somit  als» 
von  allen  Seiten  den  Einflüssen  uon  Kirche  und  Staat  zugänglich,  dennoch 
keine  Resultate  derselben  aufzuweifen  hätten.  Als  Beispiel  werden  zunächst 
die  Tschuwaschen  aufgeführt,  am  rechten  Ufer  der  Wolga  und  am  linken 
des  Stromes  in  südöstlicher  Richtung  bis  Orenburg,  die  seit  1528  Unter- 
thanen  des  Zaren  sind.  Diese  türkische,  auf  nahezu  600  000  Seelen  sich 
beziffernde  Völkerschaft  sei  1748  zum  Ehristenthum  übergetreten.  Sie  habe 
seit  ihrer  Unterwerfung  sich  ausschließlich  unter  der  eisernen  Hand  der 
russischen  Verwaltung  befunden  und,  obwohl  vorzugsweise  aus  friedlichen 
Ackerbauern  bestehend,  dennoch  dnrch  die  civilisntorische  Herrschaft  keinen 
Segen  erfahren.  Der  Tschuwasche  von  heute  wäre  noch  so  unwissend  und 
abergläubisch,  wie  seine  Vorfahren  einst  gewesen,  er  sei  nur  nominell  ein 
Christ  und  bete  insgeheim  immer  noch  seine  alten  heidnischen  Götter  an. 
Die  ugrische  Bevölkerung,  wie  die  Tschermissen,  Wotjaken  und  Wogulen 
sollten  aber  noch  übler  dran  sein.  Weder  ihr  Alltagsleben  noch  ihre  Denk- 
weise oder  ihre  socialen  Beziehungen  wiesen  auch  nur  den  geringsten  Einfluß 
ivestlicher  Eivilisation  auf.  Es  hätte  sich  wenig  oder  Nichts  bei  ihnen  ge» 
ändert,  seit  sie  den  väterlichen  Schutz  des  Zaren  genossen,  dessen  Regierung 
sich  damit  begnüge,  friedliche  »nd  willfährige  Steuerzahler  heranzuziehen,  und 
nicht  daran  denke,  die  Eristenzbedingnngcn  der  ihrer  Sorge  anvertrauten 
Völkerschaften  zn  verbessern.  So  feien  denn  die  Jakuten  im  fernen  Osten 
an  den  Ufern  der  Lena  beinahe  auf  die  Hälfte  ihrer  früheren  Zahl  zu- 
sammengeschmolzen, und  die  Wogulen  befänden  sich  nahezu  fchon  auf  dem 
Aussterbeetat.  Die  Krim-Tataren,  eine  berühmte  Eroberer- Rasse,  die  zu 
Beginn  des  vorigen  Jahrhunderts  eine  halbe  Million  Seelen  gezählt,  be- 
zifferten sich  jetzt  nur  noch  auf  80  000.  Dieselbe  erschreckende  Abnahme 
wiesen  die  nogaischen  Tataren  auf,  und  die  wegeu  ihres  Kampfesmutnes 
und  Unabhängigkeitssinnes  berühmten  Vewohner  des  westlichen  Kaukasus 
seien  beinahe  gänzlich  vom  Schauplatz  ihrer  Thaten  verschwunden.  —  Wahre 
Loblieder  stimmt  aber  Vambcry  ans  die  Engländer  in  Indien  an.  Auch 
erklärt  er  die  in  Europa  vorherrschende  Meinung,  daß  Großbritannien  sein 
Indien  der  Verarmung  zuführe  und  sich  an  ihm  nur  bereichere,  für  eine 
durchweg  lächerliche. 

Die  Freunde  Nußlands  dagegen  entschuldigen  die  ungenügenden  Resultate 
der  mostowitischen  Civilisatoren,  indem  sie  behaupten,  daß  die  Mißeil'olge 
der  letzteren  nicht  der  ungenügenden  Befähigung  derselben  zuzuschreiben, 
sondern  auf  den  halsstarrigen  Widerstand  zurückzuführen  seien,  welchen  die 
Mohammedaner  beinahe  überall  den  Ciuilifationsuersuchen  europäischer  Er- 
oberer entgegensetzten.  Alan  spricht  die  Ueberzengung  aus,  daß  Rußland, 
dessen  Bevölkerung  grüßtentbeils  aus  Asien  stamme,  und  das  in  seinem  socialen 
Aufbau  noch  gar  manchen  asiatischen  Charakterzng  aufweise,  jedenfalls  geeigneter 


Rußland  in  Centralas,en.  20,'» 

sei,  in  den  noch  halbbaibarischen  Landen!  dieser  alten  Welt  westliche  Eultur 
zu  verbreiten  und  einer  gesetzlichen  Ordnung  zur  Herrschaft  zu  verhelfen, 
als  das  strenge,  kalte,  unbeugsame  England.  Eine  weite  Kluft  trenne  den 
vom  potenzirt  europäischen  Geist  erfüllte«  Engländer  von  dem  von  einer 
Jahrtausende  alten  Eultur  imprägnirten  Asiaten,  Ein  minder  verfeinerter 
Einfluß,  eine  inmitten  der  beiden  Eulturstufeu  stehende  Macht  müßte  eine 
ungleich  wirksamere  Vermittelung  bildeu,  und  Rußland,  das  auf  der  Grenze 
dieser  beiden  so  verschiedenartigen  socialen  Gestaltungen  sich  befinde,  ver- 
möge daher  die  westliche  Eiuilisation  unbedingt  erfolgreicher  im  Orient  zu 
verbreiten,  als  dies  für  England  möglich  wäre.  General  Skobelew,  ein 
genauer  Kenner  der  asiatischen  Verhältnisse,  sprach  aber  seine  Ansicht  be- 
züglich Englands  dahin  aus,  daß  dieses  die  ihm  unterworfenen  Völker  schwer 
bedrücke  und  in  einen  Zustand  der  Sklaverei  zurückzwinge,  einzig  zu  Gunsten 
des  englischen  Handels  und  damit  die  Briten  reich  würden. 
Die  Wahrheit  nnd  das  Nichtige  dürfte  wohl,  wie  meistens  bei  den 
Anschauungsverschiedenh.'iten  im  Leben,  auch  hier  iu  der  Mitte  aller  dieser 
Veurtheilungen  liegen.  Andererseits  vermag  man  eine  auch  nur  annähernd 
richtige  Vorstellung  von  der  Lage  Rußlands  in  Eentralasien  und  seinem 
Verhalten  dort  nnr  zn  gewinnen,  wenn  man  sich  vorher  mit  der  historischen 
Entwickelung  dieses  Ländererwerbs  vertraut  gemacht  hat.  Ist  letzteres  aber 
geschehen,  so  wird  der  von  einem  unparteiischen  Standpunkte  aus  Ur- 
teilende dein  zielbewußten,  klugen  und  beharrlichen  Vorgehen  Nußlands, 
sowie  den  Leistungen  seiner  Offiziere  und  Soldaten  die  Anerkennung  nnd 
eine  gewisse  Dheilnahme  wohl  nicht  versagen  können.  — 
Die  Rivalität  zwischen  Rußland  und  England  mußte  von  jenem  Zeit- 
punkte an  in's  Leben  treten,  wo  Spanien,  Portugal,  Holland  und  Frankreich 
von  dem  Eroberungsgebiete  in  Asien  sich  zurückzogen  nnd  dos  alte  Mutter- 
land den»  Ehrgeize  nnd  dem  Eigennutze  der  beiden  erstgenannten  Rationen 
überließen.  England  hat  seine  Eroberungsbahn  langsam,  aber  sutig  von 
Süden  aufwärts  verfolgt,  bis  sich  aus  der  kleinen  Handelsgefellschaft  ein 
gewaltiges  Reich  aufgebaut.  Das  Hauptmotiv  war  jedenfalls  das  Geld- 
verdienen! Unser  germanischer  Vetter  jenseits  des  Eauals  ist  frei  von 
jeder  unpraktischen  Empsindfamkeit.  Was  Nußlaud  aber  anbelangt,  fo  sind 
die  Ursachen  seiner  Eroberungen  und  ist  auch  der  Verlauf  derselben 
wesentlich  anderer  Art.  Der  ganze  Aufbau  des  russifchen  Reiches  basirt 
ausschließlich  auf  Eroberungen  und  Annerionen.  Die  Russen  bildeten  ur- 
sprünglich eine  kleine  Körperschaft  von  Slaven,  aufgepfropft  anf  ugrifche, 
rurko-tatarische  und  sinnische  Elemente.  Allmählich  dehnten  sie  sich  dann 
aber  ans,  nnd  sie  würden  sicherlich  schon  im  Mittelalter  eine  hervorragende 
Rolle  in  den  geschichtlichen  Ereignissen  gespielt  haben,  wenn  nicht  zeit- 
weilige Umwälzungen  und  durch  asiatische  Eroberer  hervorgerufene  Kriege 
die  Entwickelung  der  russischen  Ration  zurückgehalten  hätte».  Die  beiden 
bedeutendsten  Hemmnisse  in  ihrem  Entwickelungsgange  bildeten  der  Einbruch 


20t»  t,  Maschke  in  Vreslau. 

der  Mongolen  uuter  Dfchengis  Chan  und  der  große  zirieg  gegen  Timur. 
Gerade  durch  diese  geschichtlichen  Ereignisse  wurde  die  im  Werden  begriffene 
moskomitifche  Macht  gewaltsam  gelähmt.  Vom  Geiste  christlicher  Eioilifation 
getragen,  vermochte  das  russische  Volk  schließlich  doch  über  die  barbarischen 
Repräsentanten  Asien»  zu  triumphiren.  Die  Goldene  Horde  wurde  aus- 
einander gejagt,  das  Reich  Timurs  siel  in  Trümmer,  uud  das  siegreiche 
Rußland,  das  sich  eine  eroberte  Länderslrecke  nach  der  andern  einverleibte, 
trat  die  Erbschaft  seiner  asiatischen  Vorgänger  an.  Nachdem  es  sich  den 
Landstrich  an  der  unteren  Wolga  unterworfen  hatte,  theilte  es  dann  seine 
Aufmerksamkeit  zwischen  dem  Westen  und  dem  Osten,  und  nach  beiden 
Richtungen  hin  errang  es  unerwartete  Erfolge.  Im  Osten  erschien  es  jetzt 
als  der  Repräsentant  Europas,  wie  dieses  vor  309  bis  290  J  ahren  war; 
mit  besseren  Waffen  ausgerüstet,  als  der  barbarische  Gegner,  vermochte 
Runland  mit  verhältnismäßig  kleinen  Kriegerfchaaren  große  Völkerschaften 
sich  zu  unterwerfen.  Sibirien  wurde  im  16,  Jahrhundert  erobert,  und 
zwar  hauptfächlich  mit  Hilfe  der  rufsifchen  Kosaken.  In  demfelben  Jahr- 
hundert foll  Rußland  anch  bereits  mit  Centraiasien  in  Handelsverkehr  ge- 
treten sein,  die  ersten  geschichtlich  nachweisbaren  Beziehungen  finden  wir 
aber  erst  zur  Zeit  Peters  des  Großen.  Die  Absicht,  einen  Weg  nach  Indien 
ausfindig  zu  machen,  ueranlahte  im  Jahre  1717  den  Zar,  eine  kleine 
Truppenmacht  unter  dein  Fürsten  Vekewitfch  Tfckerkafsi  nach  dem  im  Süden 
des  Aralsees  und  der  iiirgisensteppe  gelegenen  Chnnate  Ehiwa  zu  entsenden, 
um  hier  mit  den,  asiatischen  Souuerain  Verbindungen  anzuknüpfen,  wo- 
möglich bis  Indien  vorzudringen.  Vekewitfch  hatte  indessen  zu  großes  Ver- 
trauen iu  feine  militärische  Stärke  geseht,  ließ  sich  auch  von  den  trügerischen 
Versprechungen  des  schlauen  asiatische»  Fürsten  täuschen  und  ging  in  Folge 
dessen  sammt  seinen  Truppen  durch  Verrat!)  zu  Grunde.  Das  Ende  des 
Unternehmens  war  also  ein  sehr  klägliches  gewesen.  Zur  Zeit  des  Todes 
Peters  des  Großen,  1725,  hatte  Rußland  in  Mittelasien  noch  keine  Vesitzungen. 
Nachdem  jedoch  die  Russen  die  Grenze  des  Don  und  des  Ural,  den 
alten  durch  die  Kasakenlinien  gebildeten  Wall,  einmal  überschritten  hatten, 
konnte  Nichts  mehr  ihr  weiteres  Vorgehen  aufhalten.  Um  feine  neuen  Unter- 
thanen  zu  schützen,  sah  sich  Ruhland  in  die  unvermeidliche  Nothwendigkeit 
versetzt,  auch  deu  angrenzenden  Völkerschaften,  die  nur  von  Raub  und 
Plünderung  lebten,  sein  Joch  gewaltsam  aufzuerlegen.  Waren  aber 
die  einen  diefer  feindlichen  Völkerstämme  einmal  unterjocht,  so  mußten 
immer  wieder  noch  neue  unterworfen  werden,  weil  sie  Beunruhigungen 
verursachten.  Und  so  kam  es  allmählich,  daß  wir  heute  die  Russen  an  der 
Grenze  von  Afghanistan  stehen  sehen.  Die  Lage  Rußlands  in  Eentralasien 
war  also  von  Anfang  an  dieselbe,  wie  die  aller  civilisirten  Völker,  welche 
mit  halbwilden  Nomadenstämmen  in  Berührung  kommen.  Nur  indem  man 
sie  zun,  Gehorsam  zwang  und  an  ein  friedlicheres  Leben  zu  gewöhnen 
suchte,  vermochte  man  ihren  kriegerifchen  Einfällen  und  Raubzügen  Einhalt 


Rußland  in  Centialasien.  20? 

zu  thun.  Die  Folge  war  dann  aber  in  der  Negel,  daß  die  Unterworfenen 
nun  ihrerseits  wieder  den  feindlichen  Belästigungen  der  eigenen  unruhigen 
Nachbarn  mehr  ausgesetzt  waren.  Daraus  entstanden  für  die  Russen 
periodische  und  weit  ausgreifende  kriegerische  Unternehmungen  gegen  einen 
Feind,  der  in  Folge  seiner  lockeren  Organisation  eigentlich  unfaßbar  war. 
Beschränkte  man  sich  darauf,  ihn  zu  züchtigen,  fo  konnte  man  mit  Sicherheit 
darauf  rechnen,  daß  binnem  Kurzem  er  seine  Feindseligkeiten  erneuerte,  denn 
in  seinen  Augen  war  jeder  Rückzug  des  Gegners  ein  Zeichen  von  dessen 
Schwäche.  Um  diesen  fortwährenden  Unruhen  also  ein  Ende  zu  machen, 
blieb  Nußland  schließlich  Nichts  übrig,  als  bei  seinem  Borrücken  in  den 
feindlich  gesinnten  Ländern  in  diesen  auch  festen  Fuß  zu  fassen  und  sich 
durch  Anlage  uon  Befestigungen  Stützpunkte  zu  verschaffen.  Bei  diesem 
Bordringen  hat  allerdings  der  kriegerische  Geist  der  russischen  Truppenführer 
wohl  mitunter  den  Gang  der  Ereignisse  gegen  die  Pläne  der  Negierung 
und  zum  Verdrusse  der  Diplomaten  beschleunigt.  Im  Allgemeinen  lehrt 
nns  aber  die  Geschichte,  daß  das  Schicksal  aller  Böller  unter  solchen  Ber- 
Hältnissen  doch  stets  das  gleiche  gewesen.  Ehina  mußte  in  der  Mongolei 
erst  ungeheuere  Eteppenflächen  erobern,  um  seine  natürlichen  Grenzen  ge- 
winnen zil  tonnen.  Ebenso  wurden  die  Bereinigten  Staaten  in  Amerika, 
Frankreich  in  Algerien,  England  in  Indien  nicht  blos  durch  Egoismus  und 
Habsucht,  sondern  auch  durch  die  Notwendigkeit,  sich  festzusetzen  und  zu 
sichern,  unvermeidlich  auf  den  Weg  der  Bergrößerung  und  Ausdehnung  ge- 
drängt. Auch  Nußland  hat  demnach  nicht  blos  aus  Eroberungssucht  die  so 
ungeheueren  materiellen  Opfer  und  Lasten  in  Centralasicn  sich  auferlegt.  — 
In  der  zwölfjährigen  Verwaltungsperiode  uon  1868  bis  1879  ergaben 
z.  B.  die  Einnahmen  gegenüber  den  Ausgaben  ein  Deficit  uon  66815949 
Rubeln.  — 

Bis  in  die  erste  Hülste  des  achtzehnten  Jahrhunderts  hinein  halte 
also  Nußland  noch  keinen  Landerwerb  in  Centralasicn  aufzuweiseu.  Erst 
im  Jahre  1734  unterwarf  sich  die  Kleine  Horde  der  Kirgisenkasaken  in  dem 
westlichen  Theile  der  Steppe,  und  zwar  anscheinend  freiwillig.  Die  Freude 
über  dieses  Ereignis;  sollte  jedoch  nicht  lauge  währen,  denn  bald  sahen  sich 
die  Russen  genüthigt,  der  Naubzüge  der  neuen  Unterthanen  des  Neiches 
in  das  russische  Eulturland  hinein  sich  zu  erwehren,  und,  um  diesen  feind- 
seligen Beunruhigungen  schließlich  ein  Ende  zu  machen,  zur  planmäßigen 
Unterjochung  der  Kirgisensteppen  zu  schreiten.  Es  fiel  damit  Nußland  eine 
überaus  schwierige  Aufgabe  zu.  Abgesehen  von  den  hartnäckigen  Mmpsen, 
welche  es  mit  den  Eingeborenen  durchzufechten  hatte,  stellte  ihm  auch  die 
Natur  gewaltige  Hindernisse  in  den  Weg.  Endlose,  wüste  Flächen  mit  ab- 
wechselnden» harten  Lehmboden  oder  Wtiefem  Sand  und  ausgedehnte  wasser- 
lose Landstrecken  waren  zu  überwinden. 

Die  Steppe  wurde  vou  zwei  Seiten,  von  Osten  und  vou  Westen  her, 

in  Angriff  genommen.  Für  das  ersten  Vorgehen  bildete  Sibirien  die  Basis. 


208  <L.  Maschke  in  Vieslau, 

An  der  ivestlichen  (Grenze  Chinas  glitten  die  russischen  basalen  vom  Altai 
herab  zmn  Issikul-See,  ebenso  geräuschlos,  wie  es  den  russischen  Vorposten 
am  westlichen  Rande  des  Kirgisenlandes  von  der  Kleinen  Horde  gelang, 
sich  an  den  Aralsee  und  an  den  Sir-Darja  heranzuziehen. 
Dieses  langsame,  aber  stetige  siegreiche  Vordringen,  das  Werk  zweier 
Jahrhunderte,  charakterisirt  die  Hartnäckigkeit,  Ausdauer  und  Klugheit  der 
Nüssen.  Wenn  nur  aber  mit  Erstaunen  und  Vewuuderung  die  Erfolge  be- 
trachten, die  Nußland  mit  verhältnismäßig  sehr  geringen  Kräften  an  seinen 
ursprünglichen  Ost-  und  Südgrenzen  und  weit  darüber  hinaus  errungen  hat, 
so  dürfen  wir  namentlich  einen  Factor  nicht  übersehen,  der  ivesentlich  dabei 
mitgewirkt.  Es  sind  dies  die  russischen  Kasakenvölker.  Sie  waren  stets  für 
Nußland  von  nnschähbarem  Werthe  und  sind  dies  auch  heute  noch,  indem 
mit  ihrer  Hilfe  hauptsächlich  die  weiten  Steppengebiete  mltivirt  wurden 
und  werden.  Die  russischen  Kasaken  bildeu  gewissermaßen  den  Uebergang 
von  den  civilisirten  Nüsse«  zu  deu  halbwilden  nomadisirenden  Steppen- 
Völkern  und  das  Bindeglied  zwischen  ihnen.  Solange  die  Kasaken  Süd- 
rußlands noch  ihre  Unabhängigkeit  hatten  und  oft  mit  den  Feinden  des 
moskowitischen  Reiches  gemeinsame  Sache  machten,  waren  der  Mssen  Fort- 
schritte in  der  Steppe  nicht  bedeutend.  Erst  nachdem  Nußland  diese  Xasaken 
unterworfen  nnd  sich  zu  treuen  Dienern  gemacht  hatte,  war  es  ihm  möglich, 
allmählich  der  Steppengebiete  Herr  zu  werden  und  seine  Grenzen  immer 
mehr  zu  erweitern.  Von  de»  Grenz-Kasakenlinien  aus  wurde  ein  beständiger 
Vertheidigungs-  und  Angriffskrieg  gegen  die  Steppen  unterhalten,  nnd  je 
nachdem  man  in  der  letzteren  Gebiete  weiter  vordrang,  wurden  die  alten 
Kafakenlinien  verlassen  nnd  neue  vorgeschoben.  Die  Kasaken  bekämpften 
dabei  die  wilden  Völkerschaften  der  Steppe  nicht  immer  blos  mit  den 
Waffen,  sie  knüpften  auch  friedliche  Verbindungen  mit  denselben  an  nnd 
wirkten  durch  List  und  Ueberrednng.  Sie  assimilirten  sich  ihnen  sogar, 
wurden  am  Kuban  und  Derek  halbe  Tscherkessen,  am  Ural  halbe  Kirgisen 
uud  boteu  so,  da  sie  stets  eine  feste  Treue  dem  Zaren  bewahrten,  das  beste 
Mittel,  die  wilden  Völkerschaften  zu  bäudigen  und  zu  zügeln.  In  dem 
eigen!  hümlichen  Wefen  und  Charakter  der  Kafaken,  die  geborene  Krieger,  schlane 
Handelsleute  und  Ackerbauer  mit  den  Sitten  und  Gewohnheiten  der 
Nomaden,  Alles  zn  gleicher  Zeit  sind,  findet  das  Näthsel  der  Unterwerfung 
und  des  Zusammenhalts  so  uugeheurer  Steppengebiete,  wie  sie  im 
russischen  Reiche  vereinigt  sind,  hauptsächlich  seine  Crklärung  und 
Auflösung. 

Die  Kirgisen,  welche  das  weite  Gebiet  in  Vorderasien  bewohnen,  das 
im  Norden  vom  Quellgebiete  des  Uralflufses,  der  Festungslinie  längs  des 
Tobol  und  von  hier  östlich  bis  Omsk  am  Irtisck,  im  Nordosten  und  Osten 
vom  Irtisch,  vom  westlichen  Gebiete  der  Seen  Saian  und  Alaknl  begrenzt 
wird,  im  Süden  aber  vom  Alatau,  dann  von  den  Flüssen  Dschu  nnd  Sir- 
Do. rja,  dem  Aralsee  und  dem  Ust-Urt,  im  Westen  endlich  vom  Kaspis- 


Rußland  in  Centraiasien.  20Y 

See  und  Uralfluß,  repräseutireu  den  Typus  der  türkischen  Nomaden.  Von 
Anfang  an  setzten  sie  den  Eindringlingen  jene  fpecielle  Widerstandsfonn 
entgegen,  die  ebensowohl  bei  den  Nomaden  Amerikas,  wie  bei  jenen  Asiens 
zu  beobachten  ist.  Zuerst  ließen  sich  einige  einflußreiche  Häuptlinge  durch 
Geschenke  und  Auszeichnungen  gewinnen.  Mit  der  eingegangenen  Lehns- 
verpflichtung wurde  es  dann  aber  nicht  ernst  genommen,  und  sobald  der 
russische  Unterhändler  dcni  Schauplatz  den  Nucken  gekehrt  hatte,  vergaß  der 
Kirgisenhauptling  sowohl  die  Geschenke,  wie  den  Eid,  den  er  geleistet. 
Nußland  mußte  demnach  zu  anderen  Mitteln  greifen.  Es  legte  an  ver- 
schiedenen Punkten  kleine  Forts  an,  um  den  Handelsleuten  auf  ihren  Zügen 
Obdach  und  Schutz  zu  gewähren.  Den  Kirgisen  wurden  aber  Schulen  und 
Gebethäufer  erbaut,  um  sie  durch  Erziehung  und  Neligion  zu  civilisiren. 
Bei  diesen  letzteren  Maßregeln  geschahen  große  Mißgriffe  seitens  der  russischen 
Verwaltung.  Man  pflegte  officiell  die  tatarische  Sprache,  während  diese 
doch  gar  nicht  die  Muttersprache  der  Steppenbewohner  war,  und  legte 
Moscheen  an,  während  der  Volksglaube  uoch  ein  schamanischer  war.  Durch 
diese  fehlerhaften  Einrichtungen  wurde  nur  den  Erbfeinden  christlicher 
Regierungen,  den  tatarisch-mohammedanischen  Priestern  Vorschub  geleistet, 
die  jetzt  in  großer  Zahl  aus  Innerasien  herbeieilten,  um  sich  in  der  Steppe 
niederzulassen.  Die  russische  Negierung  entschloß  sich  daher  im  Jahre  1820, 
die  Kirgisen  vollständig  zn  russischen  Unterthanen  zu  machen.  In  der  Steppe 
wurden  an  Punkten,  die  sich  für  die  Umgegend  zu  Vcrkehrs-Ceutren  eigneten, 
Befestigungen  erbaut  und  in  denselben  russische  Kasaken  angesiedelt.  Dieses 
System  fand  zunächst  am  Irtisch  Anwendung  und  dann  1835  in  der 
Orenburger  Steppe.  So  entstand  eine  Befestigungsliuie  iu  der  Mittleren, 
und  die  ilezkische  in  der  Kleinen  Horde  der  Kirgisen.  Aber  auch  diese 
Maßnahmen  vermochten  den  Zweck,  Nuhe  im  Kirgisenlande  herzustellen, 
noch  nicht  ganz  zn  erfüllen,  so  lange  die  räuberischen  Schnaren  noch  Ge- 
legenheit fanden,  durch  Entweichen  in  die  unabhängigen  Ehanate  im  Süden 
der  Steppe,  nämlich  nach  Chokand,  Vochara  nnd  Chima,  sich  eventuell  der 
Strafe  zu  entziehen.  Namentlich  wurde  ihnen  Unterstützung  geboten  durch 
den  Ehan  von  Ehiwa.  Nachdem  daher  russtscherseits  der  Posten  Nomo- 
Alerandrowsk  an  der  Kaidabucht  des  Kaspischen  Meeres,  der  Emba-Posten, 
400  Kilometer  südlich  von  Orenburg,  und  Aklmlak,  etwa  160  Kilometer 
weiter  südlich  nach  dem  Ust-Urt-Plateau  zu,  angelegt  wordeu  waren,  wurde 

1839  von  Orenburg  aus  ein  Erpeditionscorps  unter  General  Perowski 
gegen  Ehiwa  entsendet.  Dasselbe  hatte  eine  Stärke  von  20000  Mann 
nnd  einen  Train  von  10000  Kameelen.  Heftige  Kälte  und  Maugel  an 
Lebensmitteln,  sowie  furchtbare  Schneegestöber  nothigten  aber  Ende  Januar 

1840  den  russischen  General  nach  den:  Verluste  der  Hälfte  seiner  Mannschaft 
schon  auf  dem  halben  Wege  zur  Umkehr.  Eine  große  Anzahl  wegen  Er- 
schöpfung auf  den  Märschen  Zurückgebliebener  war  in  feindliche  Gefangen- 
schaft gerathen.  Die  Erpedition  war  also  vollständig  gescheitert.  Auch  nabm 


2~0  <L  Mllschke  in  Vreslau. 

die  russische  Regierung  jetzt  Abstand  davon,  einen  neuen  Kriegszug  durch 
die  Steppen  am  Aralsee  zu  versuchen,  entschloß  sich  vielmehr,  in  anderer 
Weise  einen  entscheidenden  Schlag  vorzubereiten,  für  welchen  die  Sir-Darja 
(larartes-)Linie  als  Operationsbasis  dienen  sollte.  Zu  letzterem  Zwecke 
mußte  man  sich  aber  zunächst  des  Chanates  von  Ehokand  bemächtigen,  das 
1840  der  Emir  von  Vochara  seinem  Gebiete  einverleibt  hatte. 
Nach  einen»  1846  ausgebrochenen,  von  den  Russen  aber  mit  Erfolg 
niedergeworfenen  Aufstande  der  Kirgisen  erhielten  Embinst  und  Atbulat 
feste  Garnisonen,  und  in  der  Steppe  entstanden  außerdem  die  Posten 
Uralskoje  und  Orenburgskoje.  In  demselben  Jahre  hatten  auch  die  Kirgisen 
der  Großen  Horde  zwischen  dem  Balkasch-See  und  dein  Thianschan-Gebirge 
die  russische  Oberherrschaft  anerkannt.  Südöstlich  des  genannten  Sees  wurde 
von  den  Russen  der  Stützpunkt  Kopal  angelegt.  Um  dieselbe  Zeit  entstand 
Raimskoje  an  der  Mündung  des  Sir-Darja.  In  Orenburg  sammelte  man 
Kriegsuorräthe  aller  Art  an.  Im  Jahre  1847  begann  dann  General 
Perowski,  langsam  aber  sicher  vorzurücken,  indem  er  in  gewissen  Ent- 
fernungen eine  Reihe  von  Forts  errichtete,  welche  die  ersten  Glieder  der 
Kette  bildeten,  die  später  den  Sir-Darja  mit  Rußland  verbinden  sollte. 
Auf  dem  Aralsee  wurde  eine  kleine  Flottille  errichtet.  Die  Necognoscirung 
des  Landes  dehnte  man  bis  zu  dem  feindlichen  Fort  Ak-Mesdschet  im  Ge- 
biete von  Chokand  aus.  Die  russische  Grenze  zog  zu  dieser  Zeit  von  Ost 
nach  West  über  den  Iiifluß  zum  Alataurücken  und  längs  des  Tschu  zum 
Sir-Darja.  In  den  folgenden  J ahren  gelang  es  dem  General  Perowski, 
den  Marsch  durch  die  Wüste  Kara-kum,  im  Nordosten  vom  Aralsee,  zn  be- 
werkstelligen und  nach  harten  Kämpfen  sich  Ak-Mesdschets  zu  bemächtigen. 
Es  wurde  hier  das  Fort  Perowski  angelegt.  Der  Krimkrieg  und  die 
polnische  Revolution  nahmen  dann  zwar  eine  Zeit  lang  die  Thätigkeit  der 
Russen  nach  anderen  Seiten  hin  in  Anspruch,  nichtsdestoweniger  wurde  aber 
auch  in  Eentralasien  fortgefahren,  wichtige  Punkte  von  Sibirien  aus  zu 
besetzen.  Im  Jahre  1854  wurde  die  Festung  Wernoje  am  Rordabhauge 
des  transiliensischen  Alatau  gegründet.  Die  Linie  des  Sir-Darja  war 
bereits  durch  das  Fort  Rr.  1  Kazalinsk,  das  Fort  Rr.  2  Karmakschi  und 
das  von  Perowski,  letzteres  etwa  350  Kilonieter  östlich  vom  Aralsee  ge- 
legen, gut  gesichert. 

Es  begannen  um  diese  Zeit  blutige  innere  Fehden  in  dem  Chanate 

von  Chokand,  hervorgerufen  durch  Thronstreitigkeiten  zwischen  den  herrschenden 

Familien.  Auch  das  Chanat  Nochara  wurde  in  Mitleidenschaft  gezogen,  und 

schließlich  führten  diese  kriegerischen  Verwickelungen  zu  Feindseligkeiten 

zwischen  den  beiden  genannten  Staaten  und  Ruhland.  Die  Truppen  des 

Zaren  unterwarfen  1861  die  Karakirgisen,  nahmen  das  Fort  Dfchulek  an 

der  Sir-Linie  und  eroberten  im  Juni  1864  Aulieata,  sowie  die  Stadt 

Turkeftan  (Hazret).  Gleichzeitig  schoben  sich  andere  russische  Mtheilungen 

vom  Siebenstromland  hervor,  indem  aus  dem  Nezirk  Senüretschensk  eine 


Rußland  in  Centialasien.  2~ 

Erpedition  heranrückte,  um  im  Lüden  ihre  Verbindung  mit  der  Colonne 
vom  SWTarja  zu  bewirken. 

An  der  Spitze  des  Detachements  von  Wernoje,  welches  nur  eine  Stärke 
von  2000  Mann  hatte  und  12  alte  Kanonen  führte,  war  Geueral  Tschernajew 
aufgezogen,  um  für  Rußland  eine  weit  ausgedehnte  Provinz  zu  erobern. 
Vor  den  Mauern  von  Tschimtent  schlug  er  dann  die  40000  Mann  starke 
Armee  des  Chan  von  Chokant  uud  trat  hierauf  den  Marfch  gegen  Taschkent 
an.  Die  Geschichte  dieses  Zuges  ist  damals  in  Centraiasien  geradezu  zu 
einer  Epopöe  geworden.  Die  schlecht  genährten  und  mangelhaft  ausgerüsteten 
russischen  Soldaten  drangen  in  dem  unbekannten  Lande  vor,  wie  zur  Er- 
oberung einer  neuen  Welt.  Als  General  Tschernajew  schließlich  vor  Taschkent 
stand  uud  eben  im  Begriff  war,  sich  in  den  Besitz  dieses  Schlüssels  von 
Turkestan  zu  setzen,  erhielt  er  vom  Vtriegsministerium  den  Befehl,  umzu- 
kehren. Doch  der  russische  General  steckte  die  Depesche  stillschweigend  in 
die  Tasche  und  nahm  die  feindliche  Hauptstadt.  Am  Tage  nach  der  Ent- 
scheidungsschlacht bei  Taschkent  ging  Tschernajew  ganz  allein,  ohne  jede  Be- 
deckung in  die  äußerst  feindlich  gesinnte  Stadt  hinein,  um  dort  ein  Bad 
zu  nehmen.  Er  kannte  wohl  seine  Orientalen.  Dieser  Zug  tollkühnen 
Mulhes  war  gleichzeitig  ein  Act  berechnender  Politik,  denn  er  erwarb  dem 
General  mit  einem  Schlage  die  Bewunderung  der  Asiaten,  die  das  Außer- 
ordentliche lieben  und  auf  deren  Einbildungskraft  vor  Allem  eingewirkt 
werden  muß,  wenn  ihnen  imponirt  werden  foll.  Von  dieser  Zeit  her  schrieb 
sich  der  weit  verbreitete  große  Ruf,  dessen  Tfchernajew  dann  als  Militär- 
gouverneur und  Ehan  von  Taschkent  genoß. 

Die  Einnahme  von  Taschkent  wirkte  in  England  äußerst  überraschend. 
Wenige  Wochen  vorher,  ehe  dieses  Ereigniß  in  Europa  bekannt  wurde,  soll 
Lord  Palmerston  sich  noch  dahin  geäußert  haben,  daß  gar  manche  Generation 
noch  kommen  und  gehen  müsse,  ehe  es  Rußland  gelingen  werde,  die 
tatarische  Schranke  niederzureißen  und  sich  dem  ~nnde  zwischen  Bochara 
und  Indien  zu  nähern. 

Fürst  Gortschnkoff  veröffentlichte  dann  aber  in  einer  Eirkularnote  von 
1864  die  Gründe,  welche  Rußland  dazu  bestimmt  hatten,  sich  Taschkents 
zu  bemächtigen.  Es  wurde  zdarin  auf  die  unabweisbare  Nothwendigteit 
hingedeutet,  die  beiden  Nefestignngslinien  der  russischen  Grenze,  deren  eine 
sich  von  China  zum  Issitul-See  hin,  die  andere  von:  Aralsee  den  Sir- 
Darja  entlang  zog,  durch  feste  Punkte  in  solcher  Art  zu  verbinden,  daß 
sämmtliche  russische  Posten  in  die  Lage  kamen,  wenn  nüthig,  einander 
unterstützen  zu  können,  und  daß  kein  Zwischenraum  offen  gelassen  wurde, 
der  den  nomadischen  Stämmen  gestattete,  ihre  Plünderungseinfälle  fortzu- 
setzen. Ferner  wurde  als  von  der  größten  Wichtigkeit  bezeichnet,  diese 
Nefestigungslinie  derartig  vorzuschieben,  daß  sie  sich  in  einem  Landstriche  be- 
fand, der  nicht  nur  fruchtbar  genug  war  für  die  Verproviantirung  der  Be- 
satzung, sondern  auch  geeignet  für  eine  Colonifation,  die  allein  nur  er- 


2~2  «,  Maschke  in  Vreslau. 

mögliche»:  konnte,  dem  occupirten  Lande  für  die  Zukunft  geordnete  Ver- 
hältnisse und  Wohlstand  zu  sichern,  indem  sie  die  benachbarten  Völkerschaften 
der  Zivilisation  zuführen  sollte.  Schließlich  wurde  für  dringend  nothwendig 
erklärt,  die  Befestigungslinie  in  endgiltiger  Weise  zu  firiren,  um  dm  ge- 
fährlichen und  beinahe  unvermeidlichen  Veranlassungen  zu  entgehen,  durch 
die  fortwährenden  Beunruhigungen  seitens  der  Grenznachbarn  zur  Wiederver- 
geltung gedrängt  zu  werden,  die  schließlich  zu  eiuer  endlosen  Ausdehnung 
führen  konnte.  Mit  diesen:  Ziele  vor  Augen  wollte  Nußland  zu  dessen 
Verwirklichung  ein  System  finden,  das  nicht  allein  auf  Vernunftgründen 
beruhte,  die  immerhin  elastisch  waren,  sondern  auch  auf  geographischen  und 
politischen  Bedingungen,  die  von  bestimmter  und  bleibender  Art  fein  mußten. 
Das  neuerworbene  Land  wurde  mit  der  Sir-Darja-Linie  und  den 
am  Issikul-See  gemachten  Eroberungen,  wo  man  vom  Fort  Wernoje  bis 
an  den  Narije  vorgedrungen  war,  zu  dein  Grenzgebiete  Turkestau  vereinigt. 
Die  russischen  Erfolge  in  Chokant  veranlaßten  jetzt  den  Emir  von 
Nochara,  in  den  Kampf  einzutreten.  Es  erging  von  ihm  an  den  General 
Tschernajew  die  kategorische  Forderung,  die  Eroberungen  herauszugeben, 
anderenfalls  würbe  „der  heilige  Krieg"  proclamirt  werden.  Auf  russischer 
Seite  war  inzwischen  ein  Wechsel  im  Kommando  eingetreten.  Des  abbe- 
rufenen General  Tschernajew  Stellvertreter,  der  General  Romanowskp,  ging 
aber  auf  die  Herausforderung  Vocharas  kühn  und  verwegen  mit  seineu 
3600  Mann  den  überlegenen  Massen  des  Emirs  Mozaffer  entgegen.  Im 
Mai  1866  kam  es  in  der  Ebene  bei  Irdschar,  zwischen  Taschkent  und 
Samarkand,  zum  Zusammenstoß  mit  den  40000  Mann  starken  Schaaren 
Bocharas.  Die  blutige  Schlacht  nahm  einen  unglücklichen  Ausgang  für 
den  Emir  Mozaffer,  der  sein  Heil  in  der  Flucht  suchen  muste.  Von  da 
an  gehörte  das  ganze  Sir-Thnl  den  Russen,  deren  Siegesmarsch  die 
Nocharen  tief  entmuthigte.  Ende  Mai  wurde  die  Stadt  Chodschent  erstürmt. 
Anfangs  October  siel  Dschisnk  und  Mitte  desselben  Monats  Nra  Tjube, 
Beides  strategisch  wichtige  Punkte  an  Pässen  nach  Kaschgar  (iDst-Tmkestan>. 
Im  Jahre  186?  wurde  das  bis  dahin  dem  Generalgouvernement  Orenburq 
unterstellt  gewesene  mittelasiatische  Gebiet  als  selbstständiges  General- 
Gouvernement  Turkestan  organisirt.  General  von  Kaufmann  trat  an  die 
Spitze  desselben. 

In  dem  Ehanate  Bochara  drängten  inzwischen  die  Ulemas  energisch 
auf  die  Fortsetzung  des  Kampfes  bis  zum  Aeußersten  gegen  die  ungläubigen 
„Nrussen".  Der  Emir  betrieb  mit  fieberhafter  Eile  die  Befestigung  von 
Samarkand  und  concentrirte  dann  selue  Streitkräfte  am  Unken  Ufer  des 
Serafschnn.  General  Kaufmann  stand  im  Mai  1868  mit  seinen  3500 
Mann  bei  Tasch-Kuprink  auf  der  Straße  nach  Samarkand.  Die  bedrohlichen 
Maßnahmen  des  Feindes  veranlaßten  ihn,  die  Initiative  zu  ergreifen  und 
gegeu  das  bocharifche  Heer  vorzugehen.  Angesichts  des  Gegners  durch- 
wateten die  Russen  den  Fluß  Serafschnn,  ohne  sich  durch  das  Feuer  der 


Rußland  in  ~entralasien.  2^3 

auf  den  gegenüber  legende»  Hohen  aufgestellten  zahlreiche»  feindlichen 
Artillerie  aufhalten  zu  lassen.  Mit  Ungestüm  warfen  sich  dann  die  russischen 
Truppen  auf  die  Bocharen  und  jagten  sie  in  die  Flucht.  Am  folgenden 
Tage  zog  der  Sieger  in  Samarkand  ein  und  besetzte  die  (Zitadelle,  vier 
lief;  General  von  Hausmann  sein  Kriegsmaterial  und  die  Feldspitäler  unter 
dein  Schulze  einer  Besatzung  von  ?()()  Manu  zurück,  während  er  selbst 
die  Verfolgung  des  Feindes  wieder  aufnahm.  Die  Einwohner  von 
Samarkand  hielten  aber  die  Abwesenheit  der  russischen  Hauptmacht  für  eine 
günstige  Gelegenheit,  um  die  Stadt  vom  Feinde  zu  befreien.  Sie  öffneten 
den  aus  Schachrifebs  herabgestiegenen  kriegerischen  Bergbewohnern  die  Thore 
und  machten  sich  an  die  Belagerung  der  Citadelle,  deren  schwache  Besatzung 
sich  plötzlich  von  etwa  10000  Mann  angegriffen  sah.  Mit  rühmlicher 
Tapferkeit  führten  aber  die  Russen  vom  14.  bis  20.  Juni  die  Vertheidigung 
durch.  Alles,  was  nur  noch  ein  Gewehr  zu  heben  vermochte,  selbst  die 
Kranken  und  verwundeten  hielten  die  über  einen  Kilometer  langen  Wälle 
mit  unerschütterlicher  Hartnäckigkeit  besetzt.  Nach  einem  erbitterten  und 
schweren  Kampfe  von  sechs  Tagen  und  sechs  Rächten  wurde  endlich  die 
brave  Besatzung,  von  der  bereits  mehr  als  ein  Drittel  getödtet  war,  durch 
das  Wiedereintreffen  des  Generals  Kaufmann  aus  ihrer  äußersten  Be- 
drängnis; befreit.  Das  russische  Corps  hätte  sich  den  ernstesten  Gefahren 
ausgesetzt  gesehen,  wenn  der  Platz  in  die  Hände  der  Sarten  gefallen 
wäre.  Damit  würden  die  Russen  ihres  ganzen  Materials  beraubt  und  von 
der  Rückzugslinie  abgeschnitten  worden  sein.  Zur  Strafe  für  den  Berrath 
wurde  Samarkand  drei  Tage  lang  der  Plünderung  preisgegeben.  Der 
Cmir  von  Bochara  erkaufte  jetzt  renmüthig  den  Frieden.  Rußland  erklärte 
sich  bereit,  die  Selbstständigkeit  des  Lhanats  zu  erhalten,  annectirte  jedoch 
den  mittleren  Lauf  des  Serafschan  mit  Samarkand  und  Katta->vornm. 
Waren  somit  Chokand  und  Bochara  zu  Bnsallenstaaten  R»s,lands  ge- 
worden, so  blieb  jetzt  noch  Chiwa  zu  unterwerfen.  Das  Unternehmen  gegen 
dieses  Channt  wurde  aber  auf  das  Sorgsamste  uud  von  langer  Hand  vor- 
bereitet. Zunächst  setzten  sich  die  Russen  am  östlichen  Ufer  des  Kaspischen 
Meeres  fest.  General  Stoljetow  gründete  1869  an  der  Stelle  eines 
kaukasischen  Fischerdorfes  die  Militärstation  von  Krasnowodsk.  Im  Früh- 
jahr 1870  besetzte  man  das  in  dem  transkaspischen  Großen  Baikau  ge- 
legene Tasch-Arwnt  mit  den  beiden  Ctnppcnposten  Michael  und  Mulla- 
>iari.  Im  Herbst  desselben  Jahres  führte  eine  Crpedition  schon  200  Km 
weiter  nach  Osten.  Fernere  Recognoscirungen  in  der  Richtung  auf  den 
See  San)-Kann>fch  fanden  1871  statt.  An  der  Mündung  des  Atrek  wurde 
das  Fort  Tschitischlar  angelegt,  ~m  März  1873  trat  Rußland  dann  in 
den  Krieg  gegen  Chiwa  ein. 

Die  Gesammtstärke  der  für  das  Unternehmen  bestimmten  russischen 
Truppe»  betrug  11300  Mann.  Dem  General-Gouverneur  vou  Turtestan, 
General  v.  Kausinann  in  Taschkent,  wurde  der  Oberbefehl  übertragen.  Das 


2~  <k.  Maschke  in  Vreslau, 

Erpeditions-Eorps  war  in  sechs  Eolouneu  fonnirt,  die  von  Norden,  Osten 
und  Westen  auf  weit  auseinander  liegenden  Wegen  nach  der  im  Centriim 
befindlichen  Eulturoafe  vorrücken  sohlten.  Die  Allsgangspunkte  der  ver- 
schiedenen Abtheilungen  waren:  Taschkent,  Fort  Perowski,  500  Km  nord- 
östlich von  ersterem  gelegen.  Fort  Kazalinst,  weitere  300  Km  entfenrt, 
Embiuskoje,  400  Kni  nordwestlich  von  Kazalinsk,  Alerandrowst,  über 
700  Km  südwestlich  von  Embinst,  und  Krasnowodst,  mehr  als  500  Km 
südlich  von  Alerandrowst,  und  zwar  Luftlinie  gerechnet.  Zieht  man  ferner 
noch  in  Betracht,  daß  es  nicht  selbstständige  Armeen  waren,  die  hier 
40  bis  100  deutsche  Meilen  von  einander  entfernt,  nach  dein  gleichen 
Operationsziele  hinstreben  sollten,  sondern  kleine  Detachements  von 
2000  bis  4000  Mann,  so  müssen  die  ungeheueren  Schwierigkeiten,  mit 
denen  das  ganze  Unternehmen  zu  kämpfen  halte,  erst  recht  klar  werden, 
namentlich  da  die  obwaltenden  Umstände  erforderten,  daß  die  einzelnen 
kleinen  Colonnen  noch  endlose  Trains  mit  sich  führen  mußten.  Ter  Plan 
für  die  Erpedition  war  aber  mit  großer  Sachkenntnis;  und  äußerst  geschickt 
entworfen  worden.  Tie  verschiedenen  Abtheilungen  trafen  trotz  aller 
Hindernisse,  die  überwunden  werden  mnßten,  bis  auf  nur  eine  von  ihnen, 
gleichzeitig  vor  der  Hauptstadt  Chiwa  ein.  Einzig  und  allein  die  von 
Krasnowodsk  vorgegangene  Colonne  hatte  nicht  durchzudringen  vermocht, 
dabei  aber  doch  ihren  Hauptzweck  erfüllt,  uämlich  das  ganze  Unternehmen 
gegen  die  Beunruhigungen  durch  die  Tete-Turkmenen  zu  sichern. 
Die  Abteilungen  des  Eorps  von  Turkestcm  setzten  sich  zunächst  am 
13.  März  in  Marsch.  Das  Gros  davon,  etwa  2650  Mann  mit 
6700  Kameelen  stand  unter  dem  Befehl  des  Generals  Golowatscheff  und 
fchlug  von  Taschkent  aus  die  südliche  Richtung  ein.  Dasselbe  gelangte  am 
16.  März  an  den  Sir-Daja  nnd  nach  dem  Zuge  durch  die  Hungerwüste, 
wo  die  Wasserbeschaffung  bereits  schwierig  war,  am  22.  nach  Dscknsat. 
Bon  hier  wurde  dann  in  westlicher  Richtung  längs  der  Nordabhänge  der 
Nergausläufer  des  Nuratau  weitermarschirt.  Die  Truppe  hatte  dabei  nichl 
blos  mit  Entbehrungen  aller  Art,  sondern  auch  mit  den  jähen  Tempcrntur- 
wechseln  und  mit  elementaren  Gewalten  zu  kämpfen.  In  der  Nacht  zum 
29.  März  wüthete  z.  B.  ein  Steppensturm  und  riß  die  Zelte  des  Lagers 
nieder,  während  bei  6°  Maunmr  Kälte  ein  Meter  hoch  Schnee  fiel. 
Ungleich  größere  Strapazen  noch  brachte  dann  aber  die  Durchfchreituna  der 
Hisilkum-Wüste.  Bei  drückender  Hitze  und  erstickendem  Staube,  der  nur 
zeitweilig  durch  Regenschauer  niedergehalten  ward,  ging  der  Marsch  nahe 
der  bocharischen  Grenze  dnrch  die  Snndwüstc.  Die  Truppen  erreichten  trotz- 
dem in  bester  Gesundheit  Aristau  bei  Kaduk,  dann  Ehalaata,  wo  als  Stütz- 
punkt die  St.  Georgs- Befeftigung  angelegt  wurde.  Auf  den«  uerbältniß- 
mäßig  kurzen  Wege  von  letzterem  Orte  nach  dein  Anw  brachte  jedock  der 
völlige  Wassermangel  das  ganze  Eorps  dem  Nerfchmachten  nahe.  Nur 
das  Auffinde»  einiger  Brunnen  schaffte  noch  Rettung.  Am  15<  Mai  wurde 


Rußland  in  Lentralasien.  21,5 

der  Uebergcmg  über  den  Amu-Darja  (Orus)  bei  Scheicharik  gewaltsam  er- 
zwungen, nachdem  das  turkestanische  Corps  in  diesen  nnwirthlichen  Gegenden 
856  Kiometer  in  67  Tagen  zurückgelegt  hatte. 
Eine  Abtheilung  des  Corps,  2500  Mann  stark,  mit  2800  Kameelen, 
war  in  zwei  Colonnen  von  Kazalinsk  und  Fort  Perowski  aus  vorgerückt, 
hatte  sich  dann  bei  Irbitkai  an,  lani  Darja  unter  Oberst  Golow  in  sich 
vereinigt  und  war  bei  Chalaata  zur  Colonne  Golowatscheff  gestoßen.  Bei 
Irbitkai  wurde  das  kleine  Fort  Nlagawetschenskoje  erbaut. 
Das  Corps  von  Embinskoje  unter  General  Werewtin  trat  seinen 
Marsch  am  7.  April  an,  und  zwar  mit  2100  Mann  und  2700  Kameelen. 
Ohne  besondere  Hindernisse  erreichte  es  auf  dein,  183!)  dem  General 
Perowski  durch  den  Steppenwinter  so  gefährlich  gewordenen,  670  Km 
langen  Wege  am  17.  Mai  die  Urgaspitze  des  Aralsees,  durchschritt  die 
ausgetrocknete  Aibugirbucht  und  befand  sich  jetzt  im  Culturlande. 
Cine  kaukasische  Abtheilung  von  2400  Mann,  welche  unter  Oberst 
Lomatin  bei  Alerandrowst  auf  der  Halbinsel  Mangischlat  versammelt 
worden  war,  hatte  einen  900  Km  weiten  Weg  bis  zuni  Aralsee  zurückzu- 
legen und  vereinigte  sich  dann  am  26.  Mai  hinter  Kungrad  mit  der  Colonne 
Werewtin.  Das  felsenzerklüftete  Plateau  des  Ust-Urt,  das  bis  dahin  für 
unpassirbar  gegolten,  hatte  nirgends  unüberwindliche  Schwierigkeiten  ge- 
boten. Die  vereinigten  Colonnen  Lomatin  und  Werewkin  mußten  dann 
aber  im  Culturlande  zahlreiche  feindliche  Angriffe  zurückweifen  uud  Schritt 
für  Schritt  sich  deu  Weg  vorwärts  erkämpfen.  An:  27.  Mai  wurde  die 
Stadt  Chodscheili  besetzt,  wo  6000  chiwasischc  Krieger  gestanden  hatten,  und 
am  30.  Mangit  gewaltsam  genommen. 

Eine  zweite  kaukasische  Abtheilung  war  unter  Oberst  Markosow  von 
Krasnowodsk  aus  vorgegangen,  um  in  dem  sogenannten  alten  Bett  des 
Orus  gegen  Chiwa  vorzudringen.  Von  Jgdl  an  stieß  sie  aber  schon  auf 
endlose  Flugsandhügel,  fand  keine  Brunnen  und  fah  sich  demnach  zur  Um- 
kehr genöthigt.  Indessen  hatte  Markosow  mit  seinen  2400  Mann  hinter 
Igdi  einen  Angriff  der  Turkmenen  so  energisch  zurückgewiesen,  daß  dieser 
mächtige  Wüstenstamm  infolge  dessen  davon  Abstand  nahm,  dem  Chan  von 
Chiwa  zn  Hilfe  zu  eilen. 

Das  Unternehmen  gegen  Chiwa  sollte  durch  eine  bei  Kazalinsk  aus- 
gerüstete russische  Flottille  von  2  Dampfen:  und  3  anderen  Fahrzeugen, 
mit  insgefammt  IN  Geschützen,  unterstützt  werden.  Dieselbe  vermochte  jedoch 
nicht  zur  Action  zu  gelangen,  da  sie  bereits  oberhalb  Klingrad  in:  Talditarn 
Halt  inachen  mußte. 

Das  gesummte  Corps  des  Generals  von  Kaufmann  vereinigte  sich  am 
10.  J  uni  unter  den  Mauern  von  Chiwa  in  der  Stärke  voll  12  000  Mann. 
Nach  einem  kurzen  Gefechte  in  den  Vorgärten  und  nachdem  durch  das 
Artilleriefeuer  eine  Bresche  in  die  Stadtmauer  gelegt  worden,  bot  Chiwa, 
wo  bereits  eine  Insurrection  miogebrochen  war,  die  unbedingte  Unter- 


2~6  E,  Maschke  in  VreLlan. 

werfung  an.  Ter  Chan  sollte  die  Verwaltung  des  Landes  behalten,  jedoch 
unter  russischer  Oberaufsicht.  Ter  wichtigste  Erfolg  für  die  Russen  war 
aber  die  mittelst  Urkunde  und  Proclamation  erklärte  vollständige  Aufhebung 
der  Sklaverei  in  diesen  liegenden.  Durch  diese  Maßregel  wurde  das 
Freundschaftsband  zwischen  China  und  den  Mubern  der  Steppe,  den 
Turkmenen  zerrissen. 

Ehe  es  jedoch  zun:  thatsächlichen  Friedensschlüsse  kam,  mußte  von  den 
Russen  noch  ein  Feldzug  in  das  Land  zwischen  Ehazawat  und  Alt-Urgendsch, 
westlich  der  i!)rte  Anwar  und  Taschauz,  gegen  die  lomuden-Turkmenen  unter- 
nommen werden.  Dieser  wilde  Wüsten  stamm  bildete  die  größte  Plage  der 
beuachbarten  Landstriche.  Er  brandschatzte  die  friedliche  Landbewohnerschaft 
von  Ehiwa  und  spielte  sich  trotzdem  den  Russen  gegenüber  als  Befreier  der 
Ehiwesen  auf.  General  von  Kaufmann  dictirte  demnach  den  lomuden,  um 
sie  die  russische  Ueberlegenheit  fühlen  zu  lassen,  eine  Eontribntionsstrase  zu 
und  entsandte  behufs  deren  Beitreibung  den  General  Golowatschesf  mit 
8  Eomvagnien,  8  Sotnien  Reiterei,  10  Geschützen  und  1  Naketenbatterie 
in  die  Niederlassungen  der  Turkmenen.  Schon  am  91.  J  uli  kam  die 
russische  Abtheilung  in  Content  mit  dem  Feinde,  zu  einem  großen  und 
blutigen  Gefechte  führte  aber  ein  Angriff,  den  die  lomuden  am  25.  bei 
Tschandir  mit  starken  Reiterschaaren  gegen  die  Russen  unternahmen.  Trotz 
des  gegen  sie  gerichteten  mörderischen  kartätschen-  und  Schühenfeuers  stürzten 
sich  die  wilden  Stepvenreiter  wiederholt  in  die  Reihen  der  Russen  hinein, 
während  es  einem  Theile  von  ihnen  durch  Umgehung  der  Stellung  des  Gegners 
gelang,  sich  der  beim  Rachtrab  befindliche»  nissischen  .^amecle  zu  bemächtigen. 
Schließlich  nöthigte  aber  das  ruhige  und  sichere  Feuer  der  Russen  die  lomuden 
doch  zur  Flucht,  und  auch  die  erbeuteten  >tcm,eele  wurden  ihnen  wieder 
abgenommen,  Sie  versuchten  daun  zwar  uoch  einen  zweiten  Angriff,  wurden 
jedoch  abermals  zurückgejagt  und  von  den  basalen  bis  in  die  Nacht  hinein 
verfolgt.  Trotz  dieser  Niederlage  wagten  die  Turkmenen  schon  znei  Tage 
später,  die  Russen  in  ihrem  Lager  von  llaly  und  Kysul-Tschakata  anzu- 
greifen. Vor  Tagesanbruch  des  27.  ~»li  warfen  sich  etwa  1<>  (»(»<> 
lomuden  mit  einer  bei  den  centralasiatischen  Moslems  bis  dahin  noch  nicht 
gekannten  Energie  nnd  Tapferkeit  auf  das  kleine  Corps  Golowcitschefs.  Die 
Steppenreiter  hatten  auf  den  Kruppen  der  Pferde  je  einen  zweiten  Mann 
hinter  sich  sitzen:  diese  Leute  waren  barfuß  und  mir  mit  einem  Hemde  be- 
tleidet, dessen  Aermel  heraufgestreift  waren;  sie  bildeten  eine  besondere 
Kategorie  von  Kriegern,  es  waren  Fanatiker,  die  sich  ausschließlich  dem 
Tode  geweiht  hatten.  Wenige  Schritte  vor  der  russischen  Linie  sprang  der 
auf  der  Pferdekruuve  sitzende  Mann  ab  und  stürzte  sich,  nur  mit  blanker 
Waffe  in  der  Hand,  gegen  die  russischen  Bajonette.  Mann  gegen  Mann, 
Brust  an  Brust  wurde  gekämpft.  Die  Feuerwaffe»  wurden  für  die  Russen 
fast  unllnweudbar,  nur  die  blanke  Waffe  allein  konnte  gebraucht  werden. 
Es  entstand  ein  fürchterliches  Handgemenge  nnd  blutiges  Gemetzel.  Nach- 


Rußland  in  tentralasien.  21.7 

dem  der  Kampf  in  dieser  Weise  den  ganzen  Morgen  über  fortgewüthet 
hatte,  gelang  es  endlich  der  russischen  Kaltblütigkeit  und  Disciplin,  die 
überhand  über  die  mehrfache  Ueberlegenheit  des  wilden  Gegners  zu  ge- 
winnen. General  Golowatscheff  befand  sich  aber  mit  seiner  kleinen  Schaar 
in  dem  Gebiete  der  lomuden  in  einer  so  bedenklichen  Lage,  daß  General 
von  Kaufmann  sich  veranlaßt  sah,  am  27.  Juli  mit  dem  Nest  seines  Corps 
nachzurücken.  Golowatscheff  zerstörte  dann  noch  am  29.  drei  Wagenburgen 
des  Feindes,  wodurch  dieser  an  3000  Fuhrwerke  und  9000  Kameele  verlor. 
Tie  lomuden  waren  jetzt  gedemüthigt  und  versprachen  zu  bezahlen.  Man 
nahm  ihnen  Geiseln  ab,  doch  wurden  nach  dem  Abzüge  der  russischen 
Truppen  die  Turkmenen  freilich  wieder  ebenso  unbotmäßig,  als  sie  vorher 
gewesen  waren, 

Ter  Kampf  mit  Chiwa  hatte  aber  sein  Eiche  erreicht.  Am  24.  August 
wurden  die  Friedensbedingnngen  unterzeichnet.  Alle  Besitzungen  der 
Chiwesen  am  rechten  Ufer  des  Amn-Darja  und  das  Telta  dieses  Flusses 
bis  zum  Amu-Taldik  wurden  dein  russischen  Gebiete  einverleibt.  Im 
Uebrigen  ward  Chiwa  ein  Vasallenstaat  Rußlands.  Gegenüber  von  Chanka 
und  dem  Uebergangspunkte  über  den  Amu  errichteten  die  Russen  in  der 
überaus  fruchtbaren  Gegend  die  Festung  Nowo-Alerandrowsk,  wo  fortan 
der  Sitz  der  militärisch  orgcmisirten  Verwaltung  des  neuen  Gebiets  sich 
befand.  Ter  Nest  des  Corps  Kaufmann  trat  vom  24.  bis  28.  August  den 
Rückmarsch  in  der  Richtung  auf  Mangischlak,  Orenburg  und  Taschkent  an. 
Tie  ersten  beiden  Orte  wurden  in  30  Tagen,  der  letztere  nach  42tägigem 
Marsche  erreicht.  Die  Russen  hatten  die  Zeit  ihrer  Anwesenheit  in  Chiwa 
zu  vielseitigen  wissenschaftlichen  Crpeditionen  benutzt,  die  dann  auch  weiter 
fortgesetzt  wurden  und  deren  Erfahrungen  später  die  endgiltige  Bewältigung 
der  Turkmenen  sebr  erleichtern  sollten. 

Im  Jahre  1876  kam  es  dann  nochmals  zu  einem  Kriege  Nußlands 

mit  Chokand.  Tiefes  Chanat  wurde  jetzt  vollständig  unterworfen  und  als 

Provinz  Ferghana  dem  General-Gouvernement  Tnrkestan  einverleibt. 

Rußland  breitete  sich  demnach  bereits  über  den  größten  Theil  von  Lentral- 

asien  aus,  vom  Kaspischen  Meere  im  Westen  bis  zum  Issikul-See  im 

Osten,  von  Sibirien  im  Norden  bis  zu  den  Turkmenen-Sandsteppen  im 

Süden. 

Aber  auch  hier  mußte  russischerseitö  schließlich  mit  Energie  vorgegangen 
werden,  wenn  das  Ansehen  des  Zarenreiches  bei  den  mittelasiatischen 
Völkerschaften  auch  ferner  gewahrt  bleiben  sollte.  Hatten  schon  1873  die 
Turkmeuen  eine  Hauptrolle  als  Stütze  des  Chans  von  Chiwa  und  als 
Gegner  der  Russen  gespielt,  so  setzten  sie  auch  später  noch  das  Näuber- 
wesen  fort  und  dehnten  ihre  Züge  nicht  selten  bis  in  die  Nähe  der  russischen 
Befestigungen  des  transkaspischen  Militärbezirks  aus.  Obwohl  die  von  den 
Russen  seit  1874  wiederholt  unternommenen  Erpeditionen  von  Krasnowodsk 
aus  eigentlich  glücklich  verlanfen  waren,  indem  1876  Kysul-Arwat  erobert, 
«»rd  und  Süd,  I.XXV.  i24,  "5 


2"8  L,  Maschke  in  Vreslau. 

1878  Tschad  besetzt  worden,  so  hatte  der  Hauptzweck,  die  Turkmenen  zur 
Botmäßigkeit  zu  zwingen,  doch  nicht  erreicht  werden  können.  Man  war 
russischerseits  immer  wieder  in  den  Bereich  des  eigenen  Territoriums  zurück- 
gegangen, und  die  Steppenbewohner  hatten  dies  als  ein  Zeichen  der  Schwäche 
angesehen.  Die  Nüssen  beschlossen  demnach  eine  letzte  Erpedition,  um  die 
Turkmenen  endgiltig  zur  Nuhe  zu  briugeu.  Mit  Anfang  des  J  ahres  1879 
begannen  die  nöthigen  Vorbereitungen.  Wie  bei  den  Unternehmungen  in 
Mittelasien  in  der  Regel,  schien  es  sich  auch  hier  wieder  mehr  um  einen 
Kampf  mit  den  geographischen  und  topographischen  Verhältnissen  des  Landes 
handeln  zu  sollen.  Waren  die  von  diesen  gebotenen  Schwierigkeiten  über- 
wunden, so  glaubte  man  auch  den  Widerstand  der  Bewohner  leicht  bewältigen 
zu  tonnen.  Zum  Ausgangspunkte  der  Erpedition  wählte  man  Tschitischlar 
au  der  Atrekmündung.  Von  hier  aus  war  nur  eine  Wüstenstrecke  von  etwa 
50  Kilometern  bis  zur  Tete-Oase  zu  durchschreiten.  Das  für  das  Unter- 
nehmen bestimmte  Corps  wurde  aus  16  Bataillonen,  2  Escadrons  und 
18  Sotnien  Reiterei,  26  Geschützen,  1  Raketenbatterie  und  1  Savpeur- 
compaguie  kaukasischer  Truppen  unter  General  Lazarew  gebildet.  Diesem 
Befehlshaber  war  General  Lomakin  als  Adlatus  beigegeben.  Der  Transport 
der  Truppen  nach  Tschitischlar  begann  Anfangs  April,  war  aber  in  5olge 
der  großen  Landungsschwierigkeiten  erst  Ende  Juni  beendet.  Auch  die  Be- 
schaffung des  erforderlichen  großen  Trains  machte  viel  Schwierigkeiten. 
Namentlich  kostete  es  nicht  wenig  Mühe,  die  nöthigen  Tausende  von 
Kameelen  aufzubringen.  Dazu  kamen  noch  1500  Karren  mit  1700  Pferden. 
Auch  die  Ausrüstung  und  die  Verpflegung  der  Truppen  verlangten  besondere 
Maßnahmen.  'Nach  Abrechnung  der  Etappeutruppe  blieben  dann  7  Bataillone, 
2  Escadrons  Dragoner,  7  Sotnien  Kasaten  mit  13  Geschützen  und  1  Sapveur- 
compagnie  zum  Vormarsche  verfügbar. 

Am  6,  Juni  ging  eine  Avantgarde  unter  Oberst  Fürst  Dolgorucki  in 
der  Richtung  auf  Tschad  voraus.  Ihre  Hauptaufgabe  war,  für  die  nach- 
folgenden Truppen  den  Weg  möglichst  gangbar  zu  machen.  Dem  Atret 
und  von  Tschad  aus  dein  Ssumbar  folgend,  erreichte  Dolgorucki  am  17.  Juni 
Dusolum  an  letzterem  Flusse.  Die  Entfernung  von  208  Kilometern  war 
in  12  Tagen  zurückgelegt  worden.  Zur  Sicherung  der  rückwärtigen  Ver- 
bindungen mit  Tschitischlar  hatte  man  Etnppeuposteu  längs  des  Atrek  und 
Ssumbar  etablirt.  In  Tschad  wurden  Magazine,  ein  Artilleriepark  und 
ein  Hospital  des  Nöthen  Kreuzes  angelegt.  Nachdem  die  Avantgarde  ihre 
Aufgabe,  den  Weg  zu  bahnen,  gelöst  hatte,  marschirte  sie  in  der  Richtung 
auf  die  Tete-Oase  weiter.  Entgegentretende  Turtmenen-Schaaren  wurden 
verjagt.  Dolgorucki  erreichte  am  6.  August  Pendessen  und  ging  mit  der 
Eavallerie  nach  Vami  vor.  Zur  Verfolgung  der  in  nördlicher  Richtung 
zurückgegangenen  Tete-Turkmenen  wurden  zwei  kleine  Abtheilungen  entsandt, 
welche  den  Feind  beim  Brunnen  Kara  Singer  bezw.  beim  Aul  Rias 
wieder  erreichten  und  ihm  1200  .«iiameele  und  6000  Hammel  abnahmen. 


Rußland  in  «^entralasien.  2~H 

Das  Gros  des  russischen  Erpeditionscorps  hatte  inzwischen  noch  gual- 
volle  Wochen  im  Lager  von  Tschikischlar  ausharren  müssen,  bei  schlechtem, 
ungesundem  Wasser  und  einer  Hitze,  die  44  Grad  Maumur  erreichte.  Erst 
am  39,  und  31.  Juli  vermochte  dasselbe  der  Avantgarde  zu  folgen- 
General  Lazarew  hatte  krankheitshalber  zurückbleiben  müssen.  Am  5>.  August 
hatte  das  Gros  Tschad  und  am  9.  Disolum  erreicht.  Die  Märsche  waren 
in  Folge  der  Hitze  von  oft  46  Grad  und  des  meist  salzhaltigen  Wassers 
überaus  beschwerlich.  Am  IN.  August  wurde  Chodschakala  erreicht.  Bei 
Choroluin  beginnt  ein  hügeliges  Terrain,  das  nach  und  nach  in  Kalkberge 
übergeht,  die  sich  in  dem  Kopet-Dagh  bis  3100  Fuß  Hohe  erstrecken.  Das 
Ersteigen  des  Gebirgsstockes  auf  schmalen  Saumpfaden  längs  tiefer  Abgründe 
nnd  schroffer  Felswände  war  mit  großen  Schwierigkeiten  verknüpft.  Die 
Gefchühe  mußten  durch  Mannschaften  fortgefchafft  werden.  General  Lazarew 
war  seinen  Truppen  bis  Tschad  nachgefolgt,  hier  aber  feinen  Leiden  erlegen. 
General  Lomakin  übernahm  vorläufig  den  Oberbefehl  nnd  beschloß,  von 
Chodschakala,  das  zun:  Etappenort  gemacht  wurde,  den  Einmarsch  in  die  Teke- 
Oafe  sofort  fortzusetzen.  Am  22.  und  23.  August  trat  man  die  Bewegung 
an.  Die  Avantgarde  des  Fürst  Tolgorncki  bestand  aus  drei  Bataillonen,  der 
Sappeur-Eompagnie,  4  Schwadronen,  5  Geschützen  und  der  Naketenbatterie, 
General  Graf  Borch  führte  die  zweite  Colonne  von  3  Bataillonen,  3  Sotnien 
und  3  Geschützen.  Ter  in  dem  gebirgigen  Gelände  änßerst  mühselige  Marsch 
ging  über  Bann,  Neurma,  Artschman,  Tamm  nach  larodscha.  Man  stieß 
nabei  nur  auf  vereinzelte  Abtheilnngen  von  Tekes.  Alle  Auls  waren  ver- 
lassen. Nach  den  eingegangenen  Nachrichten  füllten  sich  die  Turkmenen 
nach  Geottepe  zurückgezogen  haben  und  hier  erst  Widerstand  leisten  wollen. 
Am  27.  wurde  von  den  Nuffeu  larodfcha  erreicht,  und  am  28.  war  das 
Marschziel  Geoktepe.  Einige  Kilometer  vor  letzterem  Punkte  zeigten  sich 
in  beiden  Flanken  der  russischen  Colonne  berittene  Tekes.  An«  Fuße  des 
Kopet-Dagh  bei  dem  Aul  legman  Batpr  waren  größere  Massen  des  Feindes 
versammelt,  die  dann  die  Colonne  Borch  angriffen,  jedoch  zurückgeworfen 
wurden.  Auch  die  gegen  die  Avantgarde  vorgehenden  Turkmenen  vermochten 
der  russischen  Neiterci  nicht  Stand  zu  halten  nnd  den  Bormarsch  nicht  zu  ver- 
hindern. Geoktepe  bildet  einen  der  wichtigsten  Punkte  der  Teke-Oase  und 
war  mit  Dengiltepe  zn  einer  Festung  vereinigt.  Eine  Thonmauer  von  5 
bis  7  Meter  Höhe  nnd  etwa  2  Meter  Breite,  fowie  ein  davor  liegender 
11/2  Meter  tiefer  nnd  5  Meter  breiter  Graben  schlössen  einen  großen  Naum 
ein,  in  welchem  etwa  9000  Kibitken  (Zelte)  für  die  geflüchtete  Einwolmer- 
schaft  der  Achal-Oase  aufgestellt  waren.  Rings  um  die  Festung  lagen  noch 
kleinere  Forts,  Kala  genannt.  Sie  waren  quadratisch  angelegt,  mit  einer 
Seitenlänge  von  100  Metern;  ihre  Mauern  hatten  ebenfalls  eine  Hübe 
bis  zu  7  Metern  und  einen  Graben  vor  sich.  Die  nördlichste  der  beiden 
auf  der  Westfeite  gelegenen  Kalas  war  nnt  der  Hauptbefestigung  dnrck, 
einen  Wall  verbunden.  Südlich  davon  lag  eine  befestigte  Mühle.  N  n  mittel - 
15* 


220  «.  Maschke  in  Vreslau, 

bar  an  dem  ilt  dieser  Gegend  gänzlich  unzugänglichen  Kopet-Dagh  liegt  der 
Aul  langitala,  in  welchem  die  Bewohner  der  anderen  verlassenen  Auls 
versammelt  waren. 

Gegen  Mittag  traf  die  russische  Avantgarde  vor  der  Festung  ein  und 
lies;  durch  ihre  Artillerie  die  nördliche  und  die  Mühlenkala  unter  Feuer 
nehmen.  Die  Turkmenen  erlitten  bedeutende  Verluste,  ergänzten  sich  aber 
immer  wieder  durch  neuen  Zuzug  aus  der  Festung.  Die  nördlich  der 
letzteren  auftretenden  Tekes  wurdeu  durch  die  russische  Cavallerie  und 
Artillerie  trotz  verzweifelter  Gegenwehr  und  trotz  eines  Ausfalls  feindlichen 
Fußvolks  zurückgetrieben.  Auch  eine  Kala  östlich  von  Geottepe  wurde  ge- 
nominen, so  daß  man  die  rückwärtigen  Verbindungen  bereits  beherrschte. 
Auf  der  Westseite  war  es  aber  inzwischen  der  nissischen  Infanterie  gelungen, 
sich  der  vorgeschobenen  Befestigung  zu  bemächtigen.  Vordem  Angrisse  gegen 
den  Hauptwall  sollte  indessen  das  Eintreffen  der  zweiten  Eolonne  erst  ab- 
gewartet werden.  Diese  war  um  3  Uhr  Nachmittags  zur  Stelle,  doch  be- 
fanden sich  die  Mannschaften  in  Folge  der  Hitze  von  40  Grad  in  äußerst 
erschöpftem  Zustande.  Die  Abtheilnng  Borch  wurde  nach  der  Nordseite 
der  Festung  dirigirt,  ihre  Geschütze  verstärkten  das  Feuer  der  Avantgarden- 
Artillerie.  (5s  war  somit  die  ganze  West-  und  Nordfront  und  theilweise 
auch  die  Ostfront  von  Geokteve  umfaßt.  Gegenüber  der  Nordwestecke  waren 
1  Bataillon  und  2  Sotnien  als  Reserve  zurückgehalten.  Dahinter  standen 
die  Drains  mit  ihrer  Bedeckung  versammelt.  Nach  den  bei  den  früheren 
Expeditionen  gemachten  Erfahrungen  glaubte  General  Lomakin  auf  einen 
weiteren  ernsten  Widerstand  der  Turkmenen  nicht  rechnen  zu  brauchen,  und 
so  beschloß  er  denn,  noch  an  demselben  Tage  die  Entscheidung  herbeizuführen, 
zumal  feine  Truppen  in  Nendessem  nur  auf  14  Tage  verproviantirt  waren. 
Um  5  Uhr  Nachmittags  wurden  die  russischen  Truvven  zum  Sturm  vor- 
geführt. Der  Hauptwall  der  Nordfront  war  bald  in  ihren  Händen,  der 
Bertheidiger  wurde  hier  mit  dem  Bajonett  vertrieben.  Ein  weiteres  Vor- 
dringen gegen  die  von  den  Tekes  auf  das  Hartnäckigste  uertheidigten 
.Mitten  war  aber  nicht  möglich.  Auf  das  Aeußerste  erschöpft  und  be- 
deutend in  der  Minderzahl,  unterlagen  die  Russen  trotz  aller  Tapferkeit  den, 
besonders  im  Nahkampfe  fehr  gefährlichen  Feinde.  Der  russische  Angriff 
wurde  sowohl  hier,  wie  auf  der  Westfeite,  wo  nur  unter  den  größten 
Schwierigkeiten  der  Hauptwall  hatte  erstiegen  werden  können,  vollständig 
abgeschlagen.  Große  Massen  des  Vertheidigers  warfen  sich  jetzt  auf  die 
zurückflüthenden  Russen,  und  nur  das  Eingreifen  der  Reserven  rettete  die- 
selben vor  völliger  Vernichtung.  Die  Verluste  bei  den  russischen  Truppen 
waren  uerhältnißmäftig  bedeutend.  Die  im  Gefecht  gewesenen  134  Offiziere 
nnd  2890  Mann  zählteil  an  Todten  und  Verwundeten  27  Offiziere  und 
411  Mann.  Die  Tekes  sollen  allerdings  Tausende  verloren  haben. 
Am  28.  August  Abends  hatte  General  Lomakin  noch  in  der  Nähe  der 
Fenung  das  Biuouac  bezogen,  doch  schon  bei  Tagesanbruch  ging  er  bis  nach 


Rußland  in  «^entralasie», 

Narakans,  10  Kiloineter  weit,  zurück.  An  eine  Wiederholung  des  Angriffes 
konnte  vorläufig  wohl  nicht  gedacht  werden.  Andererseits  erlaubten  die 
unzureichenden  Verpflegungs-Vorräthe  nicht,  von  den  militärischen  Stütz- 
punkten länger  entfernt  zu  bleibe»,  da  es  auch  au  der  Möglichkeit  fehlte, 
Verpflegungsmittel  von  dort  heranzuziehen.  Es  blieb  alfo  nur  übrig,  sich 
auf  die  Operationsbasis  zurückzuziehen.  Am  30.  August  wurde  der  Rück- 
marsch angetreten.  Der  Transport  der  Verwundeten,  sür  welche  nur  ganz 
ungenügende  Fortschaffungsmittel  vorhanden  waren,  zwang  zu  kleinen 
Märschen,  so  daß  die  Ankunft  in  Tschikischlar  sich  sehr  verzögerte.  Erst 
Ende  Deceuiber  trafen  aber  die  Truppen  im  kaukasischen  Militärbezirk 
wieder  ein.  «Zchiuü  wigt.» 


Thomas  Hurley. 
von 

Alexander  Lille. 
—  Glasgow.  — 

Hie  in  der  Vülkergefchichte  sich  ein  Stau»»  leise,  fast  uumerklich, 
emporarbeitet  und  ausbreitet,  bis  er  dann  mit  einem  Schlage 
als  Macht,  vielleicht  sogar  als  Weltmacht,  auf  den  Schauplatz 
der  Staaten  tritt,  die  miteinander  im  Wettbewerb  um  die  Erdherrsckaft 
stehen,  so  ist  es  auch  auf  dem  (Gebiete  der  Weltanschanuugsgeschichte.  Während 
hier  eine  Reihe  Gewalten,  oft  auch  mir  eine  einrisse,  dem  äusieren  Anschein 
nach  nnbestritten  das  ganze  Feld  beherrschen,  bildet  sich  mitten  unter  ihnen 
eine  neue  Macht  empor,  die  kaum  Jemand  bemerkt,  und  die,  wo  sie  be- 
merkt wird,  höchstens  3pott  einheimst,  bis  sie  plötzlich  bei  einem  äusieren 
Anlas;  als  Weltauschauuugsmacht  in  deu  Vordergrund  tritt  uud  die  anderen 
Mächte  siegreich  zurückwirst.  Als  am  Ende  des  15.  Inhrbuuderts  Christoph 
Eolon  Amerika  entdeckte  und  bald  darauf  die  Kugelgestalt  der  Erde  positiv 
durch  die  erste  Erdumsegelung  nachgewiesen  wurde,  war  die  Erde  in  den 
lüpfen  weniger  Begabter  zu  einer  im  Räume  srei  schwebenden  >tugcl  ge- 
worden, die  den  Mittelpunkt  des  Weltalls  bildete,  ans  der  aber  doch  für 
geographische  Begriffe  wie  Hülle,  Paradies,  Ende  der  Welt  nicht  mebr 
so  recht  Raum  war.  Als  dau»  >toperuik»s  im  folgeudeu  Jahrhundert 
der  Erde  diese  stolze  Mittelstellung  nahm  uud  sie  als  einen  der  Planeten 
in  einem  kreise  um  die  Souue  laufen  liest,  und  unmittelbar  darauf  Kepler 
die  Gesetze  der  Plaueteubewegung  entdeckte,  durch  die  aus  jenem  preise 
eine  Ellipse  ward,  da  nahm  bei  wenigen  großen  Geistern  die  Vorstellung 
ein  Ende,  als  ob  die  Erde  der  Mittelpunkt  des  Weltalls  sei  und  als  solcher 
unter  der  ganz  besonderen  Obhut  des  Weltgottes  stünde.  Als  dann  Newton 
die  Gesetze  des  Falles  ergründete  und  die  Mondbahnen  auf  sie  zurückfülnte. 


Thomas  Huzley.  —  223 

da  zog  in  diesen  AnschauuugM'eis  die  Vorstellung  der  Gesehmäßigkeit  ein, 
wie  sie  noch  niemals  darin  gehen'scht  hatte.  Galileis  astronomische  Ent- 
deckungen und  physikalische  Forschungen,  die  Mechanik  von  Stevinus  und 
die  Magnetenlehre  Gilberts  trugen  diese  Idee  einer  unbegrenzten  Gesetz- 
mäßigkeit durch  das  Gesammtgebiet  der  unorganischen  Natur,  während  trotz 
der  anatomischen  Forschuugen  in  Frankreich  und  Italien  das  Gelnet  der 
Physiologie  davon  so  gut  wie  unberührt  blieb,  bis  Harvey  (1619)  die  Ent- 
decknng  des  Blutkreislaufes  machte.  Es  kauu  die  Frage  sein,  ob  die  fast 
gleichzeitige  Entdeckung  der  Logarithmen  durch  Napier  (1614)  oder  die 
Entdeckung  Harueys  schließlich  die  weitertragende  ist.  Aber  das  Eine  ist 
sicher,  daß  erst  Harueys  Entdeckung  in  den  engsten  Fachkreisen  der  Mediciner 
der  Vorstellung  ein  Ende  bereitete,  das;  der  menschliche  Körper  der  Tummel- 
platz immaterieller  Tämonen  sei,  die  auf  ihm  ihre  kämpfe  ausführten  und 
ihre  Feste  feierten,  was  sich  daun  als  Bauchgrimmen,  Zahnschmerz  oder 
Lachinst  nnd  Behaglichkeit  zum  Ausdruck  brächte.  Eist  am  Ende  des  nächsten 
Jahrhunderts  kam  durch  die  Kant-Lnplace'sche  Weltentwicklnngshypothese 
ein  ueues  Element  in  diese  Vorstellnngskreise  der  Gelehrten.  Nachdem 
man  zunächst  im  Universum  Ordnung  geschaffen  hatte,  begann  man  sich 
jetzt  mit  feiner  möglichen  Gefchichte  zu  beschäftigen. 
Tiefe  wissenschaftlichen  Entdeckungen  haben  mit  der  Geschickte  der  volks- 
tümlichen Weltanschauung  von  1500  bis  1800  kaum  (5twas  zu  thuu. 
Tieselbe  ist  vielmehr  wesentlich  von  den  Resten  altgermanischer  Welt- 
anschauung (namentlich  in  ethischer  Hinsicht)  nnd  de,»  Ehristenthum  beherrscht, 
das  den  germanischen  Stämmen  dereinst  als  fertiges  Lehrgebäude  entgegen- 
gebracht worden  war.  Seit  dem  17.  Jahrhundert  wirkt  dann  die  Bor- 
stellungswelt und  Ausfassungsweise  des  griechisch-römischen  Alterthums  ein 
wenig  ein,  indem  sie  aus  den  gebildeten  Kreisen  heruutersickert.  Im  Kerne 
aber  bedeutet  das  16.,  17.  nnd  18.  J  ahrhundert  für  die  breiten  Schichten 
des  Volkes  noch  immer  eine  Znrückdrängnng  der  conservatiuen  germanischen 
Weltanschauungselemente  und  ein  Bordrängen  namentlich  a-cktisch-düsterer 
Vorstellungen  nnd  der  christlichen  Lehre  von  der  Gleichheit  der  Menschen 
untereinander,  die  schließlich  zn  den  demokratischen  Bewegungen  des  18. 
und  19.  Jahrhunderts  führte.  Ja  selbst  die  Weltanschauungseutwicklung 
der  höheren  Stande  ist  in  keiner  Weise  abhängig  von  jenen  Fortschritten 
in  der  Naturwissenschaft.  Sie  wird  im  Gegentheil  von  denselben  Gewalten 
geschaffen,  von  denen  diese  geschaffen  werden,  steht  also  neben  ihnen.  Ter 
Teismus  mit  seinem  l~ux  imtuias  ist  ganz  und  gar  kein  Erzeuguist  natur- 
wissenschaftlicher Entdeckungen,  und  ebenso  wenig  ist  es  der  Offenbarungs- 
unglaube des  Lessingalters.  Zwischen  der  Entwicklung  der  Philosophie  nnd 
der  Weltanschauung  der  Gebildeten  bestehen  dagegen  in  jenen  Tagen  enge 
Beziehungen,  weit  engere  als  heute,  und  fast  jede  Phase  jener  findet  im 
Laufe  eiues  lahrzwanzigst  in  diefer  einen  Nachhall.  Seitdem  das  Ehristen- 
thum in  den  Gebildeten  zurückgeht  —  iu  Teutschland  fast  gena»  seit  dein 


22H  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

Ende  des  3l)jährigen  Krieges,  in  England  seit  etwa  einem  Menschenalter 
eher  —  hält  sich  die  Masse  der  Gebildeten  an  die  nicht  weniger  dogmati- 
schen Offenbarungen  der  abstracten  Dichtung  aus  Ideen,  die  sie  Philosophie 
nennt,  und  glaubt  dabei,  sich  einzig  uon  der  gottgegebenen  Vernunft  leiten 
zu  lassen.  Als  Goethe  sich  eingehend  mit  allerlei  naturwissenschaftlicher  Fack- 
litteratur  beschäftigt  und  hie  und  da  sogar  versucht,  seinen  Gedanken  darüber 
poetischen  Ausdruck  zu  gebcu,  wie  in  der  Metamorphose  der  Pflanzen  und 
der  Thiere,  da  verstehen  ihn  seine  Zeitgenossen  einfach  nicht,  während  sie 
Schiller  zujauchzen,  wie  er  im  „Verschleierten  Bild  zu  Sais"  die  mittel- 
alterliche Vorstellung  von  der  Gottgefälligkeit  des  Nichtforscheus,  des  Sick- 
befcheidens  mit  seiner  Unwissenheit,  verherrlicht;  denn  selbst  die  Natur- 
schwärmerei der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  hat  die  rein  litterarisä« 
Bildung  nicht  zu  überwinden  und  der  Naturforschung  die  Herzen  der  Ge- 
bildeten nicht  zu  erschließen  vermocht. 

Eist  als  im  19.  Jahrhundert  die  Entdeckungen  sich  mit  ungeahnter 
Schnelle  folgten,  als  die  Moleeularhnpothese  breit'ren  Boden  gewann  und 
das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  ganz  neues  Licht  auf  den  Kraftbegriff 
warf  und  d~s  Acauivalent  von  Wärme  und  Arbeit  entdeckt  ward,  als  Herbart 
den  Begriff  der  Lebenskraft  zerstörte  und  die  Seele  zum  Vorgang  machte, 
als  Lyells  Theorie  der  Eontinuität  geologischer  Veränderungen  Annahme 
fand  und  Lamarck  der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  Anhänger  ge- 
wann, da  begann  sich  in  der  Naturwisseuschaft  eine  gewaltige  Spannung 
vorzubereiten,  die  zu  einer  machtvollen  Erplosion  in  das  Gebiet  der  all- 
gemeinen Weltanschauung  hineinführen  mußte.  Aber  uoch  fehlte  der  zündende 
Funke.  Er  erschien  endlich  185!)  mit  Darwins  „Ursprung  der  Arten". 
Er  vereinigte  im  Nu  die  verschiedenartigen  vereinzelten  Entdeckungen,  die 
sich  in  dem  großen  Kellcrgewölbe  der  Naturforschung  unter  dem  Tempel 
der  mittelalterlichen  Weltanschauung  aufgehäuft  hatten,  zu  einer  Spreng- 
masse uon  Niesenkraft.  Langsam  hob  sich  der  Tempel  unter  dumpfem 
Tröhnen,  und  seitdem  sieht  das  Abendland  eine  Säule  nach  der  anderen 
niedersinken  und  einen  Bogen  nach  dem  anderen  einstürzen;  und  was  das 
Schlimmste  ist:  der  Grundbau  ist  von  der  tiefsten  Tiefe  aus  zerstört  und 
zerborsten,  und  nur  das  Tnch  hält  sich  noch  nothdürftig  im  Gleicligewicht, 
weil  geschäftige  Zimmerleute  es  immer  gleich  dn  abtragen,  wo  der  Unter- 
bau zusammengestürzt  ist.  Aber  schou  fragen  die  Kinder:  „Wann  dürfen  nur 
alle  Tempelstücke  zum  Spielen  nehmen?"  Und  die  Autwort  lautet:  „Wenn 
die  großen  Leute  damit  nichts  Ernstes  mehr  werden  anfangen  können;  nnd 
das  wird  bald  fein." 

Bis  zum  Jahre  1830  kann  man  noch  nicht  uou  einer  naturwissen- 
schaftlichen Weltanschauung  reden.  Soviel  auch  Bausteine  zugehauen  sind: 
der  Meister  fehlt  noch,  der  sie  zum  Tempel  baut,  und  wenn  man  gleicl, 
heute  bauen  woüte,  man  müßte  morgen  wieder  einreißen;  denn  das  Ge- 
bäude beleidigte  das  Auge,  es  hätte  keinen  Ttil.  Solange  man  noch  mit 


Thomas  Huzley,  225 

der  Schöpfung  der  einzelnen  Arten  der  Thier-  nnd  Pflanzenwelt  zu  rechnen 
halt.',  solange  diese  für  unabänderliche  Typen  galten,  von  einander  durch 
Klüfte  getrennt,  die  eine  übernatürliche  Hand  befestigt  hatt^:,  —  sc»  lange 
konnte  man  ebenso  gut  von  demselben  Gott,  der  all  das  vollbracht  hatte, 
jeden  Regenschauer  senden,  jeden  Magneten  Eisen  anziehen  und  jeden» 
Menschenwesen  eine  Seele  einhauchen  lassen.  Erst  die  Idee  der  Ent- 
wickelung  hat  dem  Tempel  der  Naturwissenschaft  seinen  Stil  gegeben,  uud 
darum  giebt  es  eine  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  erst  seitdem  diese 
Idee  Boden  faßt,  ja  eigentlich  erst,  seit  sie  in  Tagesklarheit  vor  aller  Welt 
Augen  liegt.  Diese  Weltanschauung  ist  heute  noch  nichts  weniger  als  ab- 
geschlossen; aber  die  Weltanschauungsgeschichte  kennt  keinen  zweiten  Fall, 
in  dem  soviel  ans  dem  Felde  des  Ausbaues  einer  neuen  Weltanschauung 
in  einem  einzigen  Menschenalter  geleistet  worden  wäre,  wie  seit  1853.  Karl 
Darwin  gebührt  der  Ruhm,  den  Stil  des  Flügels  der  organischen  Welt 
nilein  entworfen  zu  haben,  aber  er  hat  für  die  Umbildung  der  Welt- 
anschauung seiner  Zeit  selbst  wenig  geleistet.  Dazu  fehlte  ihm  vor  Allem 
der  künstlerische  Sin»,  der  die  Vorbedingung  jeder  literarischen  Wirkung 
auf  die  weit'«  Kreise  des  Voltes  ist,  nnd  die  weite  Umfasseudheit  des 
geistigen  Gestclttreises.  Er  ist  Zeit  seines  Lebens  der  Fachmann  ge- 
blieben, der  den  „Ursprung  der  Arten"  geschrieben  hatte,  und  hat  den  Streit- 
fragen der  eigenen  Zeit  immer  fast  hilflos  gegenübergestanden.  Aber  was 
er  seinem  Vaterlande  und  der  Eulturmenschheit  nicht  zu  geben  vermochte, 
das  hat  ihnen  ein  Freund  uud  Landsmann  gegeben,  Thomas  Henry  Hurley. 
Er  ist  trotz  Herbert  Spencer,  des  Philosophen  des  Lamarckismus,  der  erste 
darwiuistische  Philosoph  Englands  und  zugleich  dessen  größter  Welt- 
auschauungskämpfer  im  19.  Jahrhundert.  Er  ist  mehr  als  der  Populari- 
snlor  des  Darwinismus,  er  ist  ein  selbstständiger  Deuter  und  felbstftändiger 
Forscher,  und  durch  seine  Klarheit  uud  Vornehmheit  des  Denkens  zugleich 
echt  uolksthümlich.  Er  führt  nirgends  eine  Sprache,  wie  sie  Karl  Vogt  in 
seinem  gegen  Rudolf  Wagner  gerichteten  Buche  „Köhlerglaube  und  Wissen- 
schaft" (1855)  oder  gar  iu  seinen  späteren  unzähligen  Feuilletons  anschlägt. 
Auch  wo  ihu  der  Gegner  reizt,  steigt  er  niemals  auf  ciu  niedriges  Niveau 
herab.  Auch  er  kann  fpotten,  aber  fein  Spott  verletzt  nicht  wie  der  Vogts, 
und  an  Klarheit  und  unerbittlicher  Logik  ist  er  seinem  feurig-romantischen 
deutschen  Mitkämpfer  überlegen.  Für  die  moderne  englische  Theologie  mit 
ihrem  Gezänk  zwischen  den  einzelnen  Secten  bedeutet  Hnrley  ein  reinigendes 
Gewitter.  Wie  ein  solches  alle  Staultheilchen  aus  der  Luft  wegwäscht, 
mögen  sie  nun  von  den  Straßen,  den  Feldern  oder  aus  deu  Rauchfäugen 
nufsteigen,  so  hat  er  ihre  Streitfrage»  niedergeschlagen,  um  sie  allesnmmt 
auf  das  Studium  der  wissenschaftlichen  deutschen  Bibelkritik  hinzuweisen. 
Hurley  nimmt  in  mehr  als  einer  Hinsicht  in  dem  Eugland  des 
19.  Jahrhunderts  die  Stelle  ein  wie  Lessing  in  dem  Deutschland  des  18. 
Er  ist  derselbe  streitbare  Recke  wie  Jener,  derselbe  überzeugungstreue  Ehren- 


226  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

mann,  derselbe  scharfsinnige  >topf  und  derselbe  mitleidlose  Spötter  über 
ausgeblasene  Dummheit.  Wie  der  Pastor  Goetze  in  Lessings  „Ariomata"  und 
>Uotz  in  den  „Briefen  antiquarischen  Inhalts"  fortlebt,  so  wird  wahrscheinlich 
eine  Zeit  kommen,  wo  man  Henry  Georges  „Fortschritt  und  Armuth"  nur 
noch  aus  dem  Strafgericht  kennt,  das  Hnrley  in  den  beiden  Essays 
über  „Natürliche  und  politische  Rechte"  und  über  „Capital,  die  Mutier  der 
Arbeit"  über  den  amerikanischen  Maulhelden  hat  ergehen  lassen.  Die  Art 
und  Weise,  wie  Hnrley  das  Theorem  der  Nodenverstaatlichnng  in  dem 
einen  und  die  Enpitaltheorie  Georges  in  dem  anderen  Essay  in  kleine  Stücke 
schlägt,  ist  echt  lessingisch.  Wer  diese  Vernichtung  eines  Littcraten  mit  an- 
gehört oder  durchgelesen  hat,  der  ließe  sich  sicherlich  nicht  so  gern  mit  dem 
Autor  von  ?rc>ßl688  arnl  kuvßrt^,  das  nach  Hurleys  Worte  mehr  Armuth 
enthält  als  Fortschritt,  auf  der  Straße  sehen.  Georges  Voraussehungen 
sind  falsch,  seine  Beispiele  sind  falsch,  seine  Schlüsse  sind  falfch,  feine  Beweis- 
führung ist  coufus,  er  widerspricht  sich  unausgesetzt,  nnd  an  hundert  Stellen 
schwafelt  er  einfach  baren  Unsinn,  sein  ganzer  Bücherkram  ist  keinen  «eller 
werth;  das  ist  das  Ergebnis!  diefer  Kritiken,  wenn  anders  man  diefe  Blitze 
und  Donnerschläge  Kritiken  nennen  kann.  Aus  dieser  zermalmenden  Schärfe, 
die  die  scharfgeschliffenen  Spitzen  des  Witzes  noch  tödtlicher  machen,  spricht 
der  heilige  Zorn  der  Entrüstung  über  alles  Halbwissen  und  Falschwissen, 
alles  demagogische  Phraseliren  und  allen  nichtigen  rhetorischen  Putz  über 
halbuerstandcne,  unbewiesene,  unbeweisbare,  widersinnige,  unsinnige  Specula- 
tionen.  „Ein  ökonomisches  Problem  vom  physiologischen  Standpunkte  aus 
beiracktet"  nennt  sich  „Eavital,  die  Mutter  der  Arbeit";  aber  aus  diesen 
Blättern  spricht  nicht  blos  der  Physiologe,  obgleich  auch  dieser  sein  Wissen 
herleiht,  sondern  der  Mann  von  weitem  Weltverständniß  und  riesigem 
Wissen,  von  leuchtender  Verstandesschärfe  und  sieghafter  Klarheit.  Dieselben 
Züge,  die  den  Publicisten,  Bibliothekar  und  Dichter  Lessing  dereinst  in 
Allem,  was  er  schrieb,  so  hoch  über  seine  Zeitgenossen  hinaus  hoben,  heben 
den  Naturforscher  und  Philosophen  Hnrley  darüber  hinaus. 
Allerdings  hat  Hnrley  znr  Biologie  nnd  Paläologie  hochbedeutsame 
Beiträge  geliefert,  und  auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Anatomie  und 
der  Physiologie  die  Ergebnisse  der  modernen  Forschung  in  mnstergiltiger 
Weise  znsammcngefast;  allerdings  dankt  ihm  der  höhere  naturwissenschaftliche 
Unterricht  Großbritanniens  feine  Organisation  und  der  niedere  fast  fein  Da- 
sein; allerdings  lebt  feine  Lehrthätigkeit  in  taufenden  von  Achten,  Natur- 
wissenschaftlern nnd  Lehrern  dauernd  fort;  aber  fein  eigentlicher  Ruhmestitel 
gründet  sich  doch  auf  die  neun  >tleinottaubände  in  rothbraunem  Leinwand- 
band, die  den  bcfcheidenen  Titel  tragen  Lollects«.!  N«8»V8  dv  I'.  II.  Huxlev. 
Sie  sind  derjenige  Theil  seines  Lebenswertes,  durch  den  Hurley  in  lebendige 
Fühlung  mit  seiner  Zeit  und  seinem  Volke  getreten  ist,  sie  enthalten  feine 
Beiträge  zur  Fortentwickelung  der  allgemeinen  Weltanfchanuug.  In  ihnen 
fpricht  der  Mann,  der  da  erklärt  hat,  die  Wissenschaft  sei  nur  erzogener 


Thomas  Huiley.  22? 

und  orgauistrter  gesunder  Meuschenuerstand,  der  sich  uon  dein  einfachen 
Menschenverstände  nur  unterscheide,  wie  der  Veteran  vom  Retruten,  in 
Scherz  und  Ernst,  mit  sprudelnden!  Mutterwitz  und  würdiger  Weisheit, 
aus  dein  Schatze  eines  reichen  Wissens  und  eines  reichen  Lebens  zu  seinen 
Zeitgenossen,  die  niemals  Untersuchungen  über  ozeanische  ,o»drozoen  gewacht 
und  nicwals  vergleichende  Anatomie  studirt  haben.  Sie  stehen  iu  taufenden 
von  englischen  Familien  auf  dem  Bücherbrett,  und  sie  sind  das  bedeut- 
samste uolksthümlich-philosophische  Werk,  das  das  England  uon  heute  besitzt. 
Aus  ihnen  spricht  vurley,  der  Philosoph,  der  seiner  Zeit  vordenkt,  ihrem 
denken  seine  Bahnen  weist,  und  ibr  Führer  ist  in  der  Fortentwicklung  ihrer 
Weltanschauung.  I  n  einem  J  ahrhundert  wird  es  Zeit  seiu,  zu  bestimmen, 
mieuiel  uon  dein,  was  diese  Bände  umfassen,  iu  die  allgemeine  Anschaunng 
der  Eulturmenschheit  übergegaugeu  ist.  Alles  was  wir  heute  zu  thun  ver- 
mögen, ist,  nns  zu  vergegenwärtigen,  aus  welchem  Vorne  diese  Ströme 
entsprungen  siud  und  gegen  welche  anderen  Fluthen  sie  angebraust  sind,  um 
sie  entweder  mit  sich  fortzureiten  oder  in  ihnen  spurlos  zu  verschwinden. 
In  Hinsicht  auf  diese  Leistungen  ist  Hnrley  von  Freunden  nnd  Feinden, 
die  außer  Stande  waren,  sich  eine  Weltanschauung  vorzustellen,  die  nicht 
blind  uon  einer  dogmatischen  Religion  abhängig  war,  „ein  Theolog  anti- 
Ib.'ologischer  Htichtung"  genannt  worden,  d.  h.  in  etwas  genaueres  Deutsch 
überseht,  ein  Weltnnschannngstampfer,  der  austerhalb  der  dogmatischen 
Voraussetzungen  der  Kirchenfrommen  stand.  Er  ist  einer  der  größten  Lehrer 
seines  Volkes  uud  einer  der  grösten  geistigen  Führer  seiner  Zeit  gewesen 
und  bot  sein  Denken  vorsätzlich  den  schwersten,  grösten  und  letzten  Welt- 
anfchanungsfragen,  dem  Woher?  und  Wohin?  des  Menschen,  den  socialen 
Kernfragen,  den  (Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnis,  und  der  Geltung  des 
Sittengesetzes  gewidmet.  So  nmfaßte  fein  Interesse  ungefähr  dasselbe 
Gebiet,  über  das  die  „herrschende"  Religion  noch  immer  die  Alleinherrschaft 
zu  haben  behauptet,  nnd  insofern  war  er  ein  „Theolog".  Aber  von 
dogmatischem  Geiste  war  kaum  eine  Spur  in  ihm.  Einzig  hinsichtlich  der 
Anwendung  der  Entwickelungslehre  auf  die  Ethik  ist  er  an  den  eigenen 
Vorurtheilen  gescheitert.  Ans  allen  anderen  Feldern,  auf  denen  er  einer 
entschiedenen  eigenen  Meinung  Ausdruck  verliehen  hatte,  ist  er  der  weiteren 
Entwicklung  der  Forschung  mit  gespanntem  Auge  gefolgt  uud  hat  neue  Er- 
gebnisse nur  allzu  gern  angenommen,  wie  die  zahlreichen  späteren  An- 
merkungen zu  seinen  früheren  Essays  beweisen.  (5r  hatte  das  Glück,  auf 
einem  großen,  umfassenden  Gebiete,  gerade  demjenigen  Gebiete,  das  am 
bestimmendsten  auf  die  geistige  und  sociale  Welt  des  19.  Jahrhunderts  ein- 
gewirkt hat,  die  gründlichsten  Fachkenntnisse  zn  besitzen,  uud  seiu  Leben  fiel 
in  die  Zeit,  in  der  dessen  größte  Entdeckung,  die  Erklärnng  der  Aufwärts- 
entwickclung  des  organischen  Lebens,  gemacht  wurde.  Als  der  „Ursprung 
der  Arteu"  erschien,  war  Hurle»  31  Jahre  alt,  hatte  in  London  bereits  eine 
wichtige  ^ehrstellnng  inne  uud  sich  als  selbständiger  Arbeiter  auf  dem  Ge- 


226  Alexander  Tille  in  Glasgow, 

biete  der  vergleichenden  Anatomie  bereits  einen  geachteten  Namen  erworben. 
So  war  ihm  die  Möglichkeit  gegeben,  vom  ersten  Tage  an,  wo  ihm  die 
Erkenntnis;  der  Niesenbedeutnng  der  Entdeckung  aufgedämmert  war,  nach- 
drücklich für  sie  einzutreten  und  sie  durch  eigene  Leistungen  fortzubilden. 
Thomas  ,tzenry  Hurley  war  geboren  am  4.  Mai  1825  zu  Ealing, 
damals  einem  kleinen  stillen  Landstädtchen  anderthalb  Stunden  von  London, 
heute  einem  Vorort  Londons  mit  über  30  OUI)  Einwohnern.  Sein  Vater  war 
Lehrer  au  einer  dortigen  Schule,  die  in  hohem  Ansehen  stand.  Seiner 
eigenen  Aussage  nach  hat  er  von  seinem  Vater  kaum  irgend  welchen  Zug 
ererbt  außer  einein  heißen  Temperament,  „jenem  Maße  von  Zähigkeit  in  der 
Verfolgung  eines  Zieles,  das  unfreundlich:  Beobachter  manchmal  Eigensinn 
nennen,"  und  einem  bedeutenden  Zeichentalent,  das  er  zwar  niemals 
künstlerisch  ausgebildet  hat,  durch  das  aber  der  Anschauungsreichthum  seiner 
wissenschaftlichen  Vorlesungen  bedeutend  gefördert  worden  ist.  Seine  Schüler 
erzählen  voll  Bewunderung,  wie  er  seine  Vorlesung  mit  einem  abenteuer- 
lichen Orakel  an  die  Wandtafel  begann,  der  Allen  unverständlich  war,  wie 
er  dann  während  des  Sprechens  im  Laufe  einer  halben  Stunde  oder  Stunde 
Strich  für  Strich  eintrug,  bis  schließlich  das  deutlichste,  schärfst  umrisfene 
biologische  Bild  vor  den  Augen  seiner  Zuhörer  lag,  das  mit  seiner  Hervor- 
hebung alles  Typischen  unauslöschlich  in  ihrem  Gedächtnis;  haftete.  Mehr 
hat  ihm  zu  seiner  Eigenart  seine  Mutter  gegeben:  „Physisch  und  geistig," 
erzählt  er,  „bin  ich  vollständig  meiner  Mutter  Sohn,  bis  herab  zu  be- 
sonderen Handbewegungen,  die  bei  mir  hervortraten,  als  ich  das  Alter  er- 
reicht hatte,  das  sie  gehabt  hatte,  als  ich  sie  an  ihr  bemerkte  .  .  .  Meine 
Mutter  war  eine  schlanke  Brünette  von  erregter  und  thatkräftiger  Gemüths- 
art  und  halte  die  durchdringendsten  schwarzen  Allgen,  die  ich  jemals  in 
einem  Frauenkopfe  gesehen  habe.  Bei  nicht  tieferer  Nildung,  als  sie  die 
Frauen  der  Mittelklasse  in  ihren  Tagen  hatten,  besaß  sie  eine  ausgezeichnete 
Begabung.  Ihr  bezeichnendster  Kennzug  war  jedoch  die  Blitzesschnelle  ihres 
Denkens.  Wenn  Jemand  die  Bemerkung  inachte,  sie  habe  nicht  eben  viel 
Zeit  darauf  verwendet,  um  zu  einem  Schlüsse  zu  gelangen,  so  sagte  sie: 
.Ich  kann  mir  nicht  helfen,  mir  blitzt's  nur  so  auf/  Tiefe  Eigentüm- 
lichkeit ist  in  ihrer  vollen  Stärke  auf  mich  übergegangen;  sie  ist  mir  oft 
nützlich  gewesen,  sie  hat  mir  oft  schlimme  Streiche  gespielt,  und  sie  ist  immer 
eine  Gefahr  für  mich  gewesen.  Und  doch,  hätte  ich  meine  Tage  noch  einmal 
zu  durchleben,  ich  würde  mich  von  Nichts  unlieber  scheiden,  als  von  meinem 
Erbe  an  Mutterwitz." 

Als  Knabe  predigte  er  Tonntags  den  Dienstmädchen  in  der  Küäie,  und 
lächelnd  fügt  er  dem  Bericht  dieses  Zuges  bei:  „Das  ist  das  früheste  mir 
erinnerliche  Zeichen  von  jenen  starten,  kirchlichen  Neigungen,  die  mir  mein 
Freund  Herbert  Spencer  stets  zugeschrieben  hat,  wenn  ich  auch  selbst  der 
Meinung  bin,  daß  sie  zum  größten  Theile  latent  geblieben  sind."  Seine 
Neigung  ging  darauf,  Ingenieur  z»  werden,  aber  das  Geschick  wollte  es 


Thomas  huiley.  22Y 

anders.  Noch  sehr  Mg,  begann  er  unter  einen«  Schwager,  der  Medianer 
war,  Medicin  zu  studiren;  aber  die  Medicin  als  Heilkunst  kümmerte  ihn 
nicht  sonderlich.  Physiologie  ~  die  Ingenieurkunst  der  lebendigen  Maschinen 
—  war  das  Einzige,  was  seine  Theilnahme  dauernd  zu  fesseln  vermochte, 
und  das  ist  sein  ganzes  Leben  so  geblieben.  Ter  Philosoph  in  ihm  konnte 
sich  nun  und  nimmer  mit  den  bloßen  Einzelheiten  bescheiden,  und  er  war 
sich  dessen  nur  allzugut  bewußt  i  „Obgleich  die  Naturwissenschaft  mein  eigent- 
licher Lebensberuf  geworden  ist,  so  wohnt  doch  schrecklich  wenig  uom  echten 
Naturforscher  in  mir.  Ich  habe  niemals  Etwas  gesammelt,  und  die  Einzel- 
forschung ist  stets  eine  Last  für  mich  gewesen.  Wirklich  am  Herzen  gelegen 
hat  mir  dagegen  der  architektonische  und  mechanische  Theil  der  Arbeit,  das 
Herausarbeiten  des  wunderbar  einheitlichen  Planes  in  den  taufenden  und 
abertausenden  von  lebendigen  Eonstructionen  und  die  Modifikationen  ähnlicher 
Apparate,  um  sie  zu  verschiedenen  Zwecken  geeignet  zu  machen." 
Nach  einer  Vergiftung,  die  er  sich  bei  einer  Sectio»  zugezogen,  und 
deren  Folgen  er  noch  Jahre  lang  in  heftigen  inneren  Schmerzanfällen  zu 
tragen  hatte,  vollendete  er  sein  medicinisches  Studium  an  der  (Harmg  Oc»88 
8cd«c>l  c»t'  Hleclicine,  wo  damals  Wharton  Jones  Physiologie  lehrte.  Er 
war  der  erste  und  einzige  Lehrer,  dessen  Wissen  und  Methode  ans  den  sieb- 
zehnjährigen Studenten  einen  nachhaltigen  Eindruck  machte.  Turch  eifrige 
Arbeit  suchte  er  sich  den  Beifall  des  Lehrers  zu  erwerben,  und  es  gelang 
ihm,  dessen  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  ziehen.  Jones  ermuthigte  ihn  zur 
Veröffentlichung  feines  ersten  naturwissenschaftlichen  Aufsatzes,  ja  corrigirte 
dem  nachmaligen  Meister  des  Stiles  und  dem  formvollendetsten  naturwissen- 
schaftlichen Schriftsteller  des  folgenden  halben  Jahrhunderts  die  kleine  Arbeit 
stilistisch  durch,  die  endlich  in  der  Hle<li<?al  La/.Liw  1845  erschien.  Eben 
hatte  Hnrley  —  mit  29  fahren  ~  sein  obligatorisches  medicinisches  Studium 
uolleudct,  und  !m  Anfang  ltt4l>  bestand  er  das  erste  Emmen  eines  Vacca- 
laureus  der  Medicin  an  der  l^niverzit?  ot'  l.c>!,clon.  ?as  Eramen  eiueS 
Magister  der  Ehirurgie  konnte  er  noch  nicht  mitmachen,  da  er  dafür  noch 
zu  jung  war.  Gleichwohl  trct  die  Nothwcudigkeit  an  ihn  heran,  sich  fein 
Vrot  zu  verdienen,  uud  fo  begann  er  seine  Laufbahn  im  selbstständigen 
Leben  gleich  den  meisten  jungen  englischen  Aerzten  als  Schiffsarzt.  Er 
wandte  sich  brieflich  an  den  Generalciirector  des  ärztlichen  Dienstes  in  der 
.Kriegsflotte,  bestand  sein  Eramen  als  Militärarzt  und  ward  zunächst  siebeu 
Monate  Assistenzarzt  am  Haslar-Hospital  und  dann  Assistenzarzt  auf  der 
Nattlesnake,  die  ihn  durch  ferne  Meere  trug. 
„~n  jenen  Tagen,"  so  berichtet  er,  „war  das  Leben  auf  den  Schiffen 
der  Kriegsflotte  fehr  verschieden  von  dein  heutigen,  und  das  unsere  war 
ausnahmsweise  hart,  da  wir  oft  Monate  lang  keinen  Vrief  erhielten  und 
außer  uus  felbst  keinen  ciuilisirten  Menschen  sahen.  Dafür  litten  wir 
freilich  das  Glück,  fo  ungefähr  die  letzten  weisenden  zu  sein,  die  »och  auf 
Leute  trafen,  die  Nichts  von  Feuerwaffen  wußten  —  fo  an  der  Eüdküste 


230  Alexander  Tille  i»  Glasgow. 

von  Neuguinea  -~  nnd  mit  einer  bunten  Menge  interessanter  wilder  und 
halbciuilisirter  Stämme  Bekanntschaft  »lachten.  Aber  selbst  abgesehen  von 
derartigen  Eriahrungen  und  der  Gelegenheit  zu  wissenschaftlichen  Arbeiten, 
die  sich  mir  bot,  ist  wir  persönlich  diese  Seefahrt  von  außerordentlich  hohem 
Werthe  gewesen.  Es  war  heilsam  für  nlich,  unter  strenger  Disciplin  zu  sein, 
durch  da~  Leben  um»  Notlnvendigsten  mitten  in  der  Wirklichkeit  des  Daseins 
zu  stehen,  herauszufinden,  wie  außerordentlich  lebenowerth  doch  das  Leben 
erscheine,  wenn  man  von  seiner  Nachtruh:  auf  einer  weichen  Planke  und 
mit  dein  Himmel  als  Baldachin  nnfwachte  und  zum  frühstück  nur  Kakao 
nnd  Biseuits  mit  Mehlwürmern  vor  sich  sah;  nnd  ganz  besondere  für 
eigene  Ergebnisse  arbeiten  zu  lernen,  selbst  wenn  Alles  zum  Kuckuck  ging 
und  ich  selber  mit." 

Vier  J  ahre  lang  fuhr  der  junge  Assistenzarzt  ans  der  „Klapperschlange" 
dnrch  die  Südmeere,  von  einer  Station  zur  anderen,  und  auf  dieser  Gleise 
legte  er  in  sich  selbst  den  Grund  zum  selbstständigen  Naturforscher  und  auster- 
halb deu  Grund  zu  seinem  wissenschaftlichen  Namen.  Beitrag  aus  Beitrag 
ging  an  die  l^innLan  Locietv  ab,  aber  keine  Antwort  kam.  1819  endlich 
arbeitete  er  eine  umfänglichere  Abhandlung  ans  und  fandte  sie  an  die 
Ito^-il  8ocietv.  Aber  mich  über  diese  hört, >  er  teiue  Silbe.  Um  so  größer 
war  seine  Neberraschung,  als  er  sie  bei  seiner  Rückkehr  nach  England  Ende 
1850  nicht  mir  angenommen  sondern  sogar  gedruckt  fand.  Ein  gewaltiges 
Bündel  Tonderabzüge  lag  für  ihn  bereit. 

Die  nächsten  drei  Jahre  ward  Hurlep  in  London  beschäftigt.  Als  er 
aber  dann  wieder  Befehl  erhielt,  sich  einzuschiffen,  gab  er  den  ärzllicdcn 
Dienst  in  der  Flotte  auf  und  bemühte  sich  um  mehrere  Professuren  der 
Physiologie  und  vergleichenden  Anatomie,  jedoch  vergebens.  Sein  Freund 
Tnndall  und  er  bewarben  sich  nach  englischer  Sitte  um  zwei  Professuren 
an  der  Universität  Toronto,  aber  zu  ihrem  Glücke  wurden  sie  nickt  gewählt. 
Als  endlich  1854  Edward  Forbes  von  London  nach  Edinburgh  berufen 
wnrde,  erhielt  Hnrlen  dessen  Docentur  der  Paläologie  und  Naturgeschichte 
an  der  Geologischen  Inspection  angeboten.  Bon  der  Paläologie  fühlte  er 
fich  jedoch  fo  wenig  angezogen,  daß  er  dem  Generaldirector  der  Geologischen 
Inspection  erklärte,  Fossilien  seien  ihm  g leichg iltig ,  nnd  er  werde  die  Docentur 
für  Naturgeschichte  aufgeben,  fobald  er  eine  physiologische  Professur  erhalte! 
denuoch  hat  er  sie  bi?  188.')  bekleidet,  und  ein  großer  Dheil  seiner  Arbeiten 
hat  sich  auf  paläologifchem  Gebiete  bewegt.  Selbst  feine  <Üo!!ecteck'H83»v3 
enthalten  einen  Band:  D!z<?auri?o5  Liolc^ioal  »ncl  Opal^icn!.  Damit 
trat  Hurlep  feine  akademische  Laufbahn  in  London  an,  und  trotz  der  zahl- 
reichen glänzenden  Anerbieten,  die  ihm  von  auswärts  gemacht  wurden,  hat 
er  London  niemals  verlassen.  Das  öffentliche  Sprechen  war  ihm  anfangs 
in  hohem  Maße  nnangenehm,  aber  nach  nnd  nach  gewöhnte  er  sich  daran 
und  ward  der  klare,  eindringliche,  selbstsichere  Lehrer,  der  Tausenden  von  eng- 
lischen Aerzten  nnd  Naturwissenschaftlern  den  Begriff  der  B.>issenscl,aftlichkeit 


Chomaz  Hurley,  231 

vermittelt  bat,  der  zu  feierlichen  Gelehrteuversammlungen  mit  derselben 
Meisterschaft  sprach  wie  zu  den  rußhändigen  Arbeitern  bei  populären  Vor- 
tragsabenden und  der  in  seiner  populären  Beherrschung  seines  Lehrstoffes 
selbst  in  England  einzig  dastand. 

Hnrley  verdankt  seiner  Ausbildung  als  Medianer  mehr,  als  er  vielleicht 
gewußt  bat.  Es  ist  die  Frage,  ob  er  mit  einer  speciell  auf  seinen  Beruf 
zugeschnittenen  Vorbildung,  selbst  wenn  es  eine  solche  in  den  Tagen  seiner 
Jugend  gegeben  Hütte,  der  uiufassende  Geist  geworden  wäre,  den  die  Welt 
in  ihm  bewundert  hat.  Gerade  weil  sich  nachmale,  als  er  in's  selbständige 
Leben  eintrat,  sein  Interessenkreis  so  stark  svecialisirte,  wurde  es  für  ibn 
so  bedeutsam,  daß  er  ans  mehreren  Gebieten  anßerbalb  desselben  Einzel- 
kenntnisse besaß,  wie  sie  Darwin  sein  Leben  lang  vergeblich  crselmt  bat. 
Heute  scheint  es  unglaublich,  daß  der  Begründer  der  Entwicklungslehre 
auf  dem  Felde  der  vergleichenden  Anatomie  nur  die  bruchstückbaftesteu 
Kenntnisse  batte;  aber  eben  deswegen  ward  es  von  so  unendlicher  Bedeutung, 
das;  sie  das  Specialgebiet  des  Mannes  war,  der  zuerst  eine  unifassende 
Classification  der  Lebewesen  auf  der  Grundlage  von  Darwins  Grundsätzen 
versuchte. 

Die  seltsamen  Glastbiere  der  südlichen  Meere  hatten  seine  Aufmerk- 
samkeit in  dem  Maße  gefesselt,  das;  er  die  Tipbouopbnen  zum  Gegenstand 
einer  Einzeldarstellung  gemacht  batte,  der  er  den  Titel  „Die  oceanischen 
Hydrozoen"  gab.  Damit  tbat  er  von  mehr  als  einem  Gesichtspunkte  aus 
einen  außerordentlich  glücklichen  Griff;  denn  gerade  diese  Tbiere  sind  es 
gewesen,  was  den  Einl'lick  in  die  Entwicklung  der  Hauptgruppen  der  Lebe- 
wesen im  Laufe  des  lebten  halben  lahrbunderts  so  riesig  gefördert  bat. 
Nehmen  sie  doch  eine  eigentbümlicke  Mittelstellung  zwischen  den  zwei  anderen 
Tlnergruppcn  ein,  den  einschichtigen  und  den  dreischichtigen,  und  sind  des- 
halb so  wesentlich  für  die  Erkenntnis;  des  Ttufengcmges  des  Lebens  auf 
der  Bahn  allmMicher  Entfaltung.  Hatte  Linnö  dnrch  feinen  unermüd- 
lichen Elassificntionseifer  in  der  organischen  Welt  ein  wenig  Ordnung  ge- 
schaffen und  einen  Ueberl'lick  ermöglicht,  so  batte  Bnffon  mindestens  die 
Grundlage  sürden  modernen  Begriff  der  Biologie  als  Wissenschaft  gelegt 
und  Euvierdie  vergleichende  Anatomie  und  Paläontologie  begründet.  Durch 
Lamarck  war  der  Begriff  der  Entwicklung  wieder  lebendig  gemacht  und 
die  Zoologie  der  wirbellosen  Thiere  in  den  Vordergrund  geschoben  worden. 
Hurley  verglich  in  seiner  Arbeit  bereits  ganz  richtig  die  Zweifcbiclitigkeit 
des  Baues  seiner  Glastbiere  mit  der  Zweischichtigkeit,  durch  welche  das 
höhere  Thier  von,  Wurm  bis  zum  Menschen  in  seiner  cmbryoualeu  Ent- 
wicklung gebt,  ein  Vergleich,  der  erst  nachmals,  nachdem  Hurley  selbst,  auf 
Darwins  Entdeckung  fußend,  der  vergleichenden  Anatomie  eine  nenc  Grund- 
lage gegeben  hatte,  seine  volle  Bedeutung  erhielt. 
Jetzt,  nach  seiner  dauernden  Niederlassung  in  London,  standen  Hurley 
die  riesigen  Sammlungen  der  englischen  Hauptstadt  zu  Gebote,  und  seine 


232  Alerander  Tille  i»  Glasgow 

Thätigteit  an  der  Bergakademie  lies;  ihm  reichlich  Zeit  zu  wissenschaftlicher 
Beschäftigung.  Tas  ivard  für  ihn  von  großer  Wichtigkeit;  denn  einmal  bot 
es  ihm  die  Möglichkeit,  sich  in  das  neue  Lehrfach,  das  er  zu  vertreten  hctte, 
gründlich  einzuarbeiten,  uud  sodann  gestattete  es  ihm,  eine  Reihe  Special- 
Untersuchungen  vorzunehmen,  die  ihn  als  Forscher  hohen  Ranges  zeigen. 
Sie  alle  erhielten  ihren  Kernpunkt  erst  von  der  Entwicklilngö  lehre,  die  mit 
den  J  ahren  1858  und  185,9  auf  deu  Schauplatz  trat. 
Als  Charles  Tariviu  am  1.  J  uli  1858  der  I  ^innean  8o~ietv  seine 
eigene  Arbeit  „lieber  die  Tendenz  der  Arten,  Varietäten  zn  bilden,  und 
über  die  Fortsetzung  der  Varietäten  und  Arte»  durch  das  natürliche  Mittel 
der  Auslese"  zugleich  mit  dem  Essay  von  Alfred  Rüssel  Wallace:  „Ueber 
die  Tendenz  der  Varietäten,  unendlich  von  der  Urform  abzuweichen,"  vor- 
legte, war  Hurler,  nicht  zugegen.  Aber  die  neue  Lehre  gewann  schnell 
Boden,  und  Hurlep  selbst  hatte  sie  sich  schou  zu  eigen  gemacht,  als  an, 
24.  November  1859  die  erste  Auflage  des  Werkes  „Ueber  den  Ursprung 
der  Arten  durch  natürliche  Zucktwahl  oder  die  Erhaltung  der  begünstigten 
Rassen  im  Kampf  um'sTaseiu"  erschien. 

Mit  dem  ihm  eigenen  Humor  berichtet  er  uus  uou  jenem  Tage,  an 
dem  „Ter  Ursprung  der  Arten"  geboren  ward.  „Wer  sich  von  seinem 
(Gedächtnis!  so  weit  zurücktragen  lassen  kann,  der  wird  sich  darauf  besinnen, 
das;  das  neugeborene  Kind  austerordentlick  lebhaft  war,  nnd  das;  eine  grW 
Anzahl  ausgezeichnete  Leute  die  Kundgebungen  seiner  kräftigen  Eigenart 
als  blof;e  Unart  auffasten.  Um  feine  Wiege  gab  es  ziemliche  Unruhe. 
Meine  Erinnerungen  an  diefe  Zeit  find  besonders  lebhaft,  denn  ich  hatte 
eine  zarte  Zuneigung  zu  dem  Kinde  gefaft,  das  mir  cumerordeutlich  viel 
zu  versprechen  schien,  und  so  war  ich  eiuige  Zeit  in  der  Eigenschaft  als 
Unteramme  bei  ihm  thätig  nnd  erhielt  so  mein  Theil  von  den  Stürmen, 
die  das  Leben  des  jungen  Geschöpfes  bedrohten.  Tas  war  für  einige 
Inhre  fraglos  heiße  Arbeit.  Wenn  man  jedoch  in  Betracht  zieht,  wie 
außerordentlich  unangenehm  das  Auftauchen  des  Neulings  allen  denen 
gewesen  sein  muß,  die  sich  nickt  auf  den  ersten  Blick  in  ihn  verlielten, 
so  kann  man  es  unserer  Zeit  zu  ihren  bumsten  anrechnen,  das;  der  Kampf 
nicht  heftiger  war  und  der  bittere  nnd  gewissenlofe  Widerstand  so  rasch 
abgestorben  ist,  wie  er  ist." 

Wenn  wir  uns  heute  kaum  mehr  vorzustellen  vermögen,  wie  gegen  den 
„Ursprung  der  Arten"  in  den  sechziger  J  ahren  ein  derartiges  Wuthgeheu! 
losbrechen  konnte,  wie  ein  Tarimn  sich  scheuen  konnte,  seine  „Abstammung  des 
Menschen"  zu  sckreibeu,  und  ein  Mann  wie  Hurleu  für  feine  „Zeugnisse  für  die 
Stellung  des  Menschen  in  der  Rotur"  von  allen  Ehristenmcnschen  mit  einer  Art 
Vau»  belegt  zu  werdeu  uermockte,  so  ist  das  gerade  der  gewaltigste  Beweis 
sür  die  riesige  Wirkung  dieser  Bücker  und  dieser  Männer.  Was  anders 
hat  den  UmsckMiug  geschaffen,  kraft  dessen  Leute  Jemand,  der  mit  seinem 
Tenken  noch  nickt  auf  dem  Bodeu  der  Entwicklungslehre  steht,  kaum  mehr 


Thomas  Hurley,  233 

für  einen  Gebildeten  gelten  kann?  Der  jüngeren  Generation  ist  die  Idee 
der  Entwicklung  zur  selbstverständlichen  Voraussetzung  des  Denkens  ge- 
worden, und  sie  zuckt  über  Jeden  die  Achseln,  der  von  dem  alten  Standpunkt 
einer  Stillstandsweltanschannng  aus  die  Welt  der  Thatsachen  nnd  Ideen 
betrachtet.  Nnd  gerade  die  allgemeine  Weltanschauung  in  England  dankt 
diesen  Wandel  weit  mehr  Hurley  als  Darwin.  Keinen  Band  des  „Nineteenth 
Century,"  der  „Eontemporary  Review"  oder  der  „Fortnightly  Review"  kann 
man  in  die  Hand  nehmen,  ohne  irgendwie  das  Wehen  von  Hurleys  Geist  zu 
verspüren,  der  dem  Schifte  der  geistigen  Zeitkämpfe  die  Segel  bläht.  Und 
wer  da  weiß,  welchen  Factor  diese  Monatsschriften  in  dem  geistigen  Leben 
Großbritanniens  bedeuten  und  wie  dort  alle  die  großen  Fragen  des  Dages 
in  der  Monats-  nnd  Vierteljahrspresse  ansgefochten  werden,  der  wird  darauf 
doppeltes  Gewicht  legen.  Ueberdies  waren  diese  Zeitschristen  nicht  Hurleys 
einziger  Kampfplan.  ,An  seiner  engeren  VerufetlMigkeit,  in  seinen  Werken, 
in  volksthümlichen  Vorlesungscnrsen,  als  Reformator  des  Unterrichtswesens 
und  als  Mitglied  einer  großen  Anzahl  öffentlicher  Körper  von  dem  Directorimn 
des  Britischen  Museums  bis  zur  Uniuersitätsreformcommission  nnd  dem 
Londoner  Tchulausschuß  ist  er  im  gleichen  Sinne  unaufhörlich  thätig  gewesen. 
In  der  ersten  Auflage  des  „Ursprungs  der  Arten"  hatte  Darwin  ge- 
schrieben: „In  ferner  Zukunft  sehe  ich  freies  Feld  für  weit  wichtigere 
Forschuuge«.  Die  Psychologie  wird  ans  eiue  neue  Grundlage  gestellt  werden, 
auf  diejenige  der  notwendigen  Erwerbung  jeder  geistigen  Kraft  nnd  Fähig- 
keit Schritt  für  Schritt.  Auf  clen  Ursprung  des  Menschen  nnd  seine  Ge- 
schichte wird  dann  Licht  fallen."  Das  ist  eine  gelegentliche  nebensächliche 
Bemerkung,  die  sich  auf  ferne  Zukunft  bezieht,  und  wenn  sie  die  Abstammung 
des  Menschen  von  dem  affenartigen  Proanthropos  einschließen  soll,  dann 
schließen  auch  Puffous  Sätze,  wie-  „Die  Natur  ist  nach  meiner  Behauptung 
in  einem  Zustand  beharrlichen  Flusses  nnd  beharrlicher  Bewegung"  den 
Satz  von  der  Veränderlichkeit  der  Arten  ein.  Hurle»  hindert  wohl  nur  seine 
Bescheidenheit  daran,  in  dieser  Bemerkung  Nichts  weiter  zn  sehen  als  ein 
hingeworfenes  Wort.  Denn  ihm  selbst  gebührt  das  Verdienst,  zuerst  und 
mit  voller  Klarheit  diese  wichtigste  aller  Folgerungen  aus  der  Entwicklungs- 
lehre gezogen  zu  haben,  und  zwar  bereits  1869.  In  diesem  ~ahre  hielt 
Hurley  sechs  Vorlesungen  für  Arbeiter  über  die  „Beziehungen  de?  Menschen 
>zn  den  nächstniederen  Thieren"  und  1862  zwei  weitere  vor  dein  Philosophischen 
Institut  in  Edinburgh.  So  konnte  er  bereit?  186A,  als  er  sein  kleines  Buch 
„Zeugnisse  für  die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur"  veröffentlichte,  sagen, 
seine  Anschauungen  möchten  richtig  oder  falsch  sein,  sicherlich  hätte  er  sie 
sich  nicht  übereilt  gebildet.  Darwin  ahnte  1859  kaum,  welche  Bedeutung 
sein  Buch  für  die  Geschichte  der  allgemeinen  Weltanschauung  bekommen 
werde.  Hurley  hatte  jedoch  mit  seinem  philosophischeren  Geiste  diesen  Punkt 
sofort  erkannt.  So  schrieb  er  damals:  „Die  Frage  der  Fragen  für  die 
Menschheit,  das  Problem,  da?  allen  anderen  zu  Grunde  liegt,  ist  die  Ve- 
?!°id  »nd  Fiid,  I.XXV.  2?4,  16 


23H  Alezander  Tille  in  Glazgow. 

stimmilng  des  Platzes,  den  der  Mensch  in  der  Natur  einnimmt,  nnd  seiner 
Beziehungen  zum  All.  Woher  unsere  Rasse  gekommen  ist,  was  die  Grenzen 
unserer  Macht  über  die  Natur  und  der  Macht  der  Natur  über  uns  sind, 
welche!»  Ziele  wir  zustreben  —  das  sind  die  Probleme,  die  sich  von  Neuem 
nnd  mit  unverminderter  Theilnahme  jedem  Menschen  aufdringen,  der  zur 
Welt  geboren  wird."  Der  tiefgebildete  Zoolog  Hurley,  dessen  Lieblings- 
fach vergleichende  Anatomie  war,  war  auf  diesem  Felde  Darwin  entschieden 
überlegen. 

In  seinen  „Zeugnissen  für  die  Stellung  des  Menfchen  in  der  Natur"  zeigte 
Huxley  durch  genaue  anatomifche  Vcrgleichung,  dah  der  Unterschied  zwischen  dem 
Menschen  und  den  höheren  Affen  viel  kleiner  sei  als  der  zwischen  den  höheren 
und  den  nächstniedrigeren  Affen,  und  die  Abbildung,  welche  das  Skelett 
des  Gibbon,  Orang,  Ehimpanfe,  Gorilla  und  Menschen  neben  einander  zeigt, 
verfehlte  nicht,  Entsetzen  zu  erregen.  In  dem  zweiten  Eapitel,  „Die  Be- 
ziehung des  Menschen  zu  den  nächstniederen  Dhieren"  stellte  er  zum  ersten 
Mal  jenen  Stammbaum  der  Lebewesen  auf,  wie  ihn  dmm  Karl  Vogt  in  seinen 
„Vorlesungen  über  den  Menschen,  seine  Stellung  in  der  Schöpfung  und 
in  der  Geschichte  der  Erde"  (1863)  übernahm  und  Haeckel  in  seiner 
„Natürlichen  Schöpfungsgeschichte"  (1869)  und  in  seiner  „Anthrovogenie" 
grundlegend  ausbaute.  Und  in  dem  dritten  Enpitel  beschäftigte  er  sich  mit 
den  fossilen  Menschenresten,  deren  populärste  deutsche  Darstellung  nachmals 
Ludwig  Büchner  in  dem  ersten  Theile  seines  Buches:  „Der  Mensch  und 
seine  Stellung  in  Natur  und  Gesellschaft"  (1869)  gegeben  hat,  uud  die  von 
höchster  Bedeutung  sind,  weil  sie  die  Lücke  zwischen  dem  heutigen  Menschen 
und  den  Affenarten  der  grauen  Vorzeit  ausfüllen.  Mit  diesem  Buche  zog 
Hurley  die  wichtigste  Folgerung  aus  der  Entwicklungslehre  und  begründete 
die  Affentheorie  oder  Affenabstammung  des  Menschen  in  einer  Weise,  das; 
sie  seitdem  von  der  vergleichenden  Anatomie  nicht  wieder  in  Zweifel  ge- 
zogen worden  ist,  und  sich  ihm  Darwin  mit  feiner  „Abstammung  des 
Menschen"  (1871  >  vollständig  anschließen  konnte. 
Diesem  Werke  folgten  eine  große  Fülle  anderer  Arbeiten,  die  sich  sau 
auf  das  gesammte  Tbicrreich  erstrecken,  die  Wirbelthiere  jedoch  bevorzugen, 
bald  grüßer,  bald  kleiner,  bald  Einzelheiten  feststellend,  bald  Ergebnisse  ver- 
schiedener Felder  zusammenfassend  und  dabei  niemals  den  großen  Gesichts- 
punkt der  generellen  Entwickelung  ans  dem  Ange  verlierend,  nnd  darai«» 
schloffen  sich  eine  Reibe  zusammenfassender  Arbeiten,  die  in  erster  Linie  zu 
Handbüchern  für  den  akademischen  Unterricht  bestimmt  waren. 
Er  begann  mit  seinen  „Vorlesungen  über  vergleichende  Anatomie"  1864 
und  ließ  diesen  weitere  Lehrbücher  folgen.  Sein  „Handbnch  der  Anatomie 
der  Wirbelthiere"  <1871>  und  fein  „Handbuch  der  Anatomie  der  Wirbel- 
losen Tbiere(1877>  sind  die  Grundlage  des  akademischen  Unterrichtes  der  ver- 
gleichenden Anatomie  in  ganz  Großbritannien  geworden.  Zcine  Plnniogravbic 
(1877)  ist  eine  Einleitung  in  das  Studium  der  Natur,  wie  Deutschland 


Thomas  Huxley,  235 

keine  besitzt,  und  all  die  kleinen  Arbeiten  wie  „Ter  Krebs  oder  das  Ttudium 
der  Zoologie"  (1861)  sind  als  gemeinverständliche  Einführungen  in  ein 
schwieriges  Gebiet  wahrscheinlich  unübertroffen.  Von  dem,  was  Jeder  weiß, 
führt  Hurlen  seine  Zuhörer  zu  dem  Wissen,  das  man  wohl  von  einem 
Durchschnittsarzt  erwarten  kann,  von  da  aus  zu  den  Grundzügen  aller 
Zoologie  und  schließlich  zu  ihren  letzten  Problemen  und  weittragendsten  Ver- 
allgemeinerungen. „Ein  Stück  Kreide"  (1868),  „Hefe"  (1871),  „Die 
Kohlenbildung"  (1870)  sind  nahezu  gleiche  Meisterstückchen.  Der  englische 
Gebildete,  der  heute  über  die  allgemeinen  Ergebnisse  der  Lhallengererpedition 
oder  über  den  Unischwung  in  der  geologischen  Forschung  sich  zuverlässig  be- 
lehren will,  ohne  selbst  eine  ganze  Fachliteratur  zu  studiren,  wendet  sich  an 
Hurleys  „Biologische  und  Geologische  Diseurse". 
Wie  Hurlen  als  vergleichender  Anatom  Karl  Gegenbaur  nicht  erreicht, 
so  steht  er  als  systematischer  Violog  auch  Darwins  größtem  Jünger, 
Ernst  Häckel,  nach.  Mit  dessen  „Genereller  Morphologie",  „Anthropogenie", 
oder  selbst  dessen  populärer  „Natürlicher  Tchöpfungsgeschickte"  kann  sich 
keines  seiner  Werke  messen,  wie  die  Leistungen  dieses  Baumeisters  des 
Systems  der  gesammten  Lebewelt  überhaupt  in  der  Gegenwart  nnübertroffrn 
dastehen,  aber  darum  steht  Hurlen  doch  unter  den  Bahnbrechern  des  Darwi- 
nismus in  der  ersten  Reihe,  wenn  auch  der  Schwerpunkt  seiner  Leistungen 
in  seiner  Arbeit  für  die  Weltanschauungsentwicklung  seiner  Zeit  liegt. 
Als  Hurlen  sein  akademisches  Lehramt  in  London  antrat,  war  es  um 
die  naturwissenschaftliche  Nildung  Großbritanniens  fchlimm  bestellt.  Die 
englischen  Universitäten  hatten  noch  nickt  einmal  selbständige  naturwissen- 
schaftliche Professuren,  außer  fo  weit  es  das  medieinische  Studium  unbe- 
dingt forderte.  Auf  den  großen  Gymnasien  Englands  in  Eton,  Hnrrow, 
Winchester  gab  es  überhaupt  noch  keinen  naturwissenschaftlichen  Unterricht; 
die  technische  Nildung  war  noch  in  den  Kinderschuhen  und  machte  eben  ihre 
ersten  schüchternen  Laufuersuche.  Staatliche  Volksschulen  gab  es  noch  nickt. 
Das  gesammte  Schulwesen  war  dem  Priuatunternehmen  überlassen  und 
stand  auf  der  niedrigsten  Ttufe.  Ueber  Elementarunterricht  nnd  Bibclstunde 
kam  man  nur  in  den  größeren  Ttädten  hinaus,  und  wo  Sprachunterricht 
ertheilt  wurde,  da  bezog  er  sich  einzig  auf  Latein  und  Griechisch. 
1854  sprack  Kurien  in  der  St.  Martins  Hall  in  London  zum  ersten 
Male  über  naturwissensckaftliche  Bildung.  „Ueber  den  erzieherischen  Wertb 
der  naturgeschichtlichen  Wissenschaften"  lautet  der  Titel  ein  wenig  steif: 
und  seitdem  hat  er  dieses  Feld  nicht  mehr  aus  den  Augen  verloren.  Ob  er 
1868  in  der  Arbeiter-Akademie  in  Südb.mdon  über  liberal.'  Bildung  und 
ihre  Quellen  sprach,  ob  er  1889  mit  seiner  Rede  „Naturwissenschaft  und 
Geistesbildung"  das  N«5on  (.'ullsßß  in  Birmingham  eröffnete,  ob  er  1884 
als  Lord  Nector  der  Universität  Aberdeen  über  Universitäten  in  Wirklichkeit 
und  das  Ideal  von  Universitäten  sprach,  oder  1^76  die  ^ohn  Hopkins 
Universität  in  Baltimore  mit  seiner  Rede  über  „Universitätsbildung"  er- 


16* 


236  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

öffnete,  ob  er  über  das  Studium  der  Biologie,  deu  Elementarunterricht  in 
der  Physiologie,  über  das  medicinische  Studium,  über  die  Stellung  des 
Staates  zum  Aerzteberuf,  über  die  Beziehung  der  biologischen  Wissen- 
schaften zur  Medicin  oder  über  technische  Ausbildung  sprach  i  allüberall  war 
sein  Streben  darauf  gerichtet,  deu  Naturwissenschaften  zu  der  Stellung  in 
der  modernen  allgemeinen  uud  gelehrten  Bildung  zu  verhelfen,  die  ihrer 
Bedeutung  für  die  Begründung  einer  eigenen  Weltanschauung,  für  die 
Ausbildung  des  Geistes  und  die  Schärfung  und  Uebung  der  Sinne  ent- 
spricht. Um  zu  diesem  Ziele  zu  gelangen,  hat  er  keine  Mühe  und  keine 
Anstrengung  gescheut  und  ist  über  vierzig  J  ahre  lang  der  Führer  der 
mächtigen  Bewegung  zur  Modernisirung  der  Bildung  in  Großbritannien 
gewesen.  Im  Londoner  Schulausschuß  hat  er  den  Kampf  gegen  den 
Religionsunterricht  mit  seinen  mythologischen  Tendenzen  gefochten,  und 
als  es  1870  darüber  zum  Wahlkampfe  kam,  seine  Sacke  in  zäher  Arbeit 
zum  Siege  geführt,  deinem  einzelnen  Manne  verdankt  England  so  viel 
hinsichtlich  der  Ausbreitung  der  naturwissensckastlicken  Bildung  im  letzten 
Mensckenalter.  Er  hat  seinem  Volke  die  Lehrer  ausgebildet,  das  Schul- 
gesetz reformiren  helfen,  die  Untemchtspläne  umgestaltet  und  in  der 
höheren  Bildung  der  Bückerweisheit  mauckeu  kräftigen  Stoß  versetzt.  Wenn 
Latein  und  Griechisch  in  dieser  Zeit  ein  gutes  Theil  von  ihrem  Monopol 
eingebüst  habeu,  so  gehört  das  auch  auf  Zulleys  Rechnung. 
Ebenso  gut  wie  Latein  und  Griechisch  könnte  man  ja  Paläontologie 
zum  Kern  der  höheren  Schulbildung  machen!  „Und  es  ist  wunderbar,  eine 
wie  genaue  Parallele  zu  der  klasstscheu  Bildung  sich  mit  der  Paläontologie 
ziehen  ließe.  Erstlich  könnte  ich  ein  so  trockenes,  in  seiner  Terminologie 
pedantisches  uud  dem  jugendlichen  Geiste  so  widriges  osteologifches  Lehr- 
buch aufbauen,  daß  ich  die  neueren  berühmten  .vcrvorbringungen  von 
Tchuldirectoren  in  all  diesen  Vorzügen  damit  aus  dein  Felde  schlüge.  Dann 
konnte  ich  meine  lungens  auf  leichte  Fossilien  eindrillen  und  all  ihre  Ge° 
dächtnißkraft  und  ihren  Verstand  durch  die  Anwendung  meiner  osteo- 
grammatischen  Regeln  auf  die  Auslegung  oder  Eonstruction  dieser  Bruch- 
stücke an's  Licht  bringen.  Denen,  die  in  den  höheren  Klassen  säßen,  könnte 
ich  dann  einzelne  Knochen  geben,  um  aus  ihnen  Thiere  zu  bauen,  und  dem, 
der  es  in  der  Erzeugung  von  Ungeheuern  in  der  genausten  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Regeln  am  weitesten  brächte,  könnte  ich  gute  Eensuren 
und  Prämien  geben.  Das  entspräche  dein  Bersemachen  und  Aufsähe- 
sckreiben  in  den  todten  Sprachen.  Wenn  ein  großer  vergleichender  Anatom 
diese  Leistungen  sähe,  so  möchte  er  allerdings  seinen  Kopf  Mitteln  oder 
lacken.  Aber  wie?  Würde  eine  derartige  Katastrophe  vielleicht  die  Parallele 
zerstören?  Was  würde  wohl  Cicero  oder  Horaz  über  die  Erzeugung  der 
besten  derartigen  Schulleistungen  sagen?  Uud  würde  sich  Tereuz  nickt  die 
~hreu  zuhalten  und  hinauslaufen,  wenn  er  bei  der  englischen  Aufführung 
seiner  eigenen  Stücke  zugegen  sein  könnte?" 


EMPTY 


228  —  Alezandei  Tille  in  «Llosgow. 

ersten  Agnostikers  Sokrates,  der  es  nicht  bis  zu  eigentlichen  Schülern  gebracht 
hat,  und  eine  Generation  nach  den«  bereits  jenes  wildes  Spiel  der  Ein- 
bildungskraft einseht,  das  Plato  kennzeichnet.  „Die  Platonische  Philosophie 
ist  wahrscheinlich  das  riesigste  Beispiel  des  unwissenschaftlichen  Gebrauches 
der  Phantasie,  das  es  giebt,  und  die  Menge  Schaden,  die  seine  Ideenlehre 
auf  der  einen  Seite  und  seine  unselige  Theorie  von  der  Gemeinheit  der 
Materie  auf  der  anderen  unmittelbar  oder  mittelbar  dein  klaren  Denken 
gethan  haben,  ist  schwerlich  abzuschätzen."  Ihm  steht  der  moderne  Geist 
gegenüber.  Er  ist  nicht  „ein  Geist,  der  stets  verneint  und  seine  Lust 
einzig  am  Niederreißen  findet.  Ebensowenig  freilich  einer,  der  lieber  Luft- 
schlösser baut  als  ganz  auf  das  Bauen  verzichtet.  Es  ist  der  Geist,  der 
da  arbeitet  und  arbeiten  wird  „ohne  Hast  und  ohne  Rast",  eine  Wahrheit 
nach  der  anderen-  einerntet  in  seine  Scheuern  und  den  Irrthum  mit  un- 
auslöschlichem Feuer  vertilgt." 

„In  der  Reform  der  Philosophie  seit  Descartes,"  meint  Hurley, 
„sind  wohl  die  grüßten  und  fruchtbarsten  Ergebnisse  der  Thätigteit  des 
modernen  Geistes  —  vielleicht  seine  einzigen  großen  und  dauernden  Ergeb- 
nisse —  diejenigen,  welche  Berklen  und  Hume  zuerst  in  ihren  Werken  ge- 
boten haben.  Der  eine  hat  den  Grundsatz  von  Descartes,  daß  absolute 
Gewißheit  nur  der  Kenntnis;  der  Thatsachen  des  Bewußtseins  eignet,  bis 
zu  seine»!  logischen  Ergebnis;  durchgeführt;  der  Andere  hat  die  Kritik  des 
Cartesius  auf  das  ganze  Reich  der  gewöhnlich  als  Wahrheiten  hingenommenen 
Sähe  ausgedehnt  und  nachgewiesen,  daß  wir  in  der  Mehrzahl  der  wichtigen 
Fälle  von  dem  Besitze  klarer  Erkenntnis;  soweit  entfernt  sind,  daß  wir  sagen 
können,  wir  besäßen  überhaupt  keine;  daß  es  deswegen  unsere  Pflicht  ist, 
stillzuschweigen,  oder  mindestens  uns  zum  Aufschicben  des  Urthcils  zu  be- 
kennen." 

In  Hinsicht  auf  die  vielen  Fragen,  auf  welche  wir  empirisch  noch 
keine  Antwort  zu  geben  vermögen,  nennt  sich  Hurley  einen  Agnostiker,  seine 
Denkweise  Agnosticismus.  Das  Wort  ist  natürlich  dein  direkten  Gegensatz 
zu  den  gnostischen  Secten  der  frulM  christlichen  Kirche  entsprungen;  und 
der  Begriff  rechtfertigt  sich  damit,  daß  es  besser  sei,  uns  unser  Unvermögen, 
die  letzten  Weltanschaunngssragen  zn  beantworten,  einzugestehen,  als  uns 
durch  eine  dogmatische  scheinbare  Antwort  über  unsere  Unwissenheit  hinweg- 
zutäuschen. Und  nicht  nur  dies:  über  viele  rein  geschichtliche  Fragen  misten 
wir  absolut  Nichts.  So  wird  uns  wahrscheinlich  die  geschichtliche  Gestalt 
des  Rabbi  von  Nazara  für  immer  in  Dunkel  gehüllt  bleiben.  Auch  hier 
ist  es  besser,  wir  machen  uns  nicht  mit  Hypothesen  bloßen  Wind  vor, 
sondern  bescheiden  uns  mit  unserem  Nichtwissen. 
Dieses  ehrliche  Eingeständnis;  der  Unzulänglichkeit  der  eigenen  Erkennt- 
nis;, der  wahre  Agnosticismus,  ist  aber  nur  der  Vater  des  Wunsches  nach 
mehr  Wissen,  nicht  sein  Dämpfer,  und  es  wäre  Torheit,  mit  der  Theologie 
gewisse  Erscheinungsgebiete  als  der  menschlichen  Erkenntnis;  überhaupt  »n- 


Thomas  Huzley.  339 

zugänglich  zu  verschreien.  Im  Gegentheil,  iu  manchen  Punkten  wissen  wir 
weit  mehr,  als  die  Kirche  zugestehen  will,  und  dies  gilt  vor  Allem  von 
der  natürlichen  Grundlage  des  Lebens. 

Am  8.  November  18<i8  hielt  Hurlen  in  Edinburgh  einen  Sonntags- 
Vortrag  über  Protoplasma.  Das  war  damals  ein  starkes  Stück  und  um 
so  mehr,  als  sich  der  Vortrag  in  seinem  Kern  gegen  das  Gespenst  einer 
„Lebenskraft"  wandte,  das  in  Deutschland  damals  schon  geraume  Zeit 
durch  Herbart  seinen  Todesstoß  erhalten  hatte,  ~ene  stickstoffhaltige  Kohlen- 
stoffverbindung ist  „lebendig",  sie  ist  der  alleinige  Träger  des  Lebens, 
Leben  ist  ihre  Eigenschaft,  ihr  Merkmal,  und  obgleich  wir  noch  nickt  im 
Stande  sind,  anf  chemischem  Wege  lebendiges  Protoplasma  zu  erzeugen, 
so  ist  doch  die  Hoffnung  gerechtfertigt,  daß  das  dereinst  noch  gelingen  werde. 
Als  Hurley  1870  zum  Präsidenten  der  Lriiizli  ~88oei»ticm  erwählt 
wurde,  gab  er  in  seiner  Präsidentenansprache  über  „LioFenszüs  ancl 
^,dioß6N68i8"  deu  geschichtlichen  Hintergrund  der  ~rage,  indem  er  die  Ent- 
wicklung der  Keimtheorie  von  Francisco  Nedi  bis  in  die  Gegenwart  verfolgte. 
Allerdings  giebt  es  auch  in  Teutschland  eine  Züchtung,  die,  sich 
hinter  nicht  wegzuleugnende  erkenntnißtheoretische  Thatsachen  verschanzend, 
von  einer  unüberbrückbaren  >Uust  zwischen  Geist  uud  Materie  redet  und 
die  von  dem  Gesichtspunkte  aus,  daß  uns  das  Weseu  alles  stoff- 
lichen abfolut  unerkennbar  bleibt,  mag  man  die  Materie  nuu  in  „Kraft- 
puukte"  oder  iu  materielle  Atome  auflofen,  sich  felbst  Idealismus  nennt  — 
aber  hier  ist  das  alte  Wort  in  einem  neuen  Sinne  gebraucht;  es  ist  nicht 
mehr  der  Gegensatz  zwischen  Stoff  und  Geist,  oder  Welt  und  Gott,  wie 
ihn  die  Theologie  des  achtzehnten  Jahrhunderts  ausgebildet  hat,  nachdem 
sie  deu  Gegensatz  zwischen  Gott  nnd  Teufel  uou  der  fortschreitenden  Bildung 
anfzugeben  gezwungen  worden  war.  Tie  Zunahme  erkcuntuißtheoretischer 
Erfahrung  hat  diese  Klnft  vielmehr  überbrückt,  uud  diese  Ueberbrückung 
kommt  zum  Ausdruck  iu  einem  Worte,  das  Büchner  und  Wundt,  Häckel 
und  Tn  Prel  in  gleicher  Weise  brauchen  und  das  von  Goethe  poetisch  ver« 
klärt  worden  ist:  in  dein  Worte  Monismus.  Eine  „Weltanschauung  auf 
monistifcher  Grundlage",  mag  sie  sich  nun  als  naturwissenschaftliche  oder  als 
übersinnliche  bezeichnen,  hat  sich  bereits  zum  Stichwort  herausgebildet. 
„Monistisch"  ist  das  Kampfwort  gegen  den  dogmatifchen  Tualismus  ge- 
worden, den  die  Juden  einst  den  Persern  entlehnten  und  der  seit  drittehalb 
Jahrtausenden  sich  unaufhaltsam  ausgebreitet  hat.  A'och  liegt  er  iu  aller- 
hand Sprachkrnstallen  festgefroren  vor  uns,  uud  sobald  sind  wohl  seine 
Spuren  nicht  aus  dem  Texten  Europas  wegzuwischen.  Aber  die  Wissen- 
schaft weiß  bereits,  daß  Seele  und  Leib,  Geist  nnd  Materie,  Kraft  und 
Stoff  nur  Abstractionen  sind,  die  nicht  als  objective  Thatsachen  gelten 
können,  weil  sie  unserem  Erkeuntnißstandpunlte  nicht  mehr  entsprechen. 
Kennen  wir  doch  keinen  unbewegten  Stoff,  keinen  materielosen  Geist  und 
keine  Seele  ohne  Leib.  Erst  mit  dem  selbstständigen  Zellenleben  entsteht 


2H0  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

was  wir  in  seinen  höheren  Entwicklungen  als  Seele  bezeichnen.  Mn  den 
einzelnen  Dogmen  der  überlieferten  Religion  rechtet  die  deutsche  Wissenschaft 
nicht  mehr,  Ihr  letztes  Princip  ist  es,  was  sie  noch  zu  bekämpfen  bat. 
England  dagegen  ist  von  dem  Worte  Monismus  als  >iampfwort  kaum  nock 
berührt.  Das  nachgelassene  kleine  Buch  von  George  John  Nomanes  „Aiiul 
auä  Uotion  »nck  Ao»i8m"  hat  in  England  ein  Unverständnis;  gefunden 
wie  kaum  je  ein  anderes  philosophisches  Buch.  Romanes  war  der  Welt- 
anschauung seiner  Epoche  zu  weit  voraus,  um  bei  seinem  Volke  Anklang 
zu  finden.  Und  dennoch  ist  auf  die  Dauer  dieser  Anschauung  der  Sieg 
sicher.  Wie  Albert  Lange  einst  sagte:  „Immer  wieder  wird  die  Menschheit 
den  Mann  freudig  begrüßen,  der  es  versteht,  in  genialer  Weise  alle  Biloungs- 
momente  seiner  Zeit  benutzend,  jene  Einheit  der  Welt  und  des  Geistcs- 
lebeus  zu  schaffe«,  welche  unserer  Erkenntnis;  versagt  ist,"  so  kann  mich  nie 
eine  Weltanschauung,  die  wesentlich  in  einem  großen  Fragezeichen  besiebt, 
die  Weltanschauung  der  Massen,  der  Völker,  der  ganzen  Lulturmenschheit 
werden;  sondern  diese  kann  immer  nur  in  einer  positiven  Ueberzeugung 
bestehen.  Der  Agnosticismus  mag  eiue  noch  so  wichtige  Phase  im  englischen 
Geistesleben  von  gestern  und  heute  bedeuten,  die  neue  Weltanschauung  ist 
er  noch  nicht.  Soweit  er  nicht  eine  bloße  Ermüdungserscheinung  des  Denkens 
darstellt,  die  es  dem  Gegner  in  die  Schuhe  schiebt,  deu  Beweis  für  die 
Richtigkeit  seiner  Anschauung  anzutreten,  ist  er  bewußter  Skepticismus,  wie 
er  in  Zeiten  heftiger  Weltanschauungskämpfe  häufig  auftritt,  wie  er  aber 
noch  niemals  eine  mehr  als  vorübergehende  Rolle  in  der  Weltanschauungs- 
entivicklnng  gespielt  hat. 

Aber  damit  soll  dem  Agnosticismus,  der  in  Großbntannien  zwei 
Millionen  Anhänger  zählen  soll,  sein  geschichtliches  Verdienst  durchaus  nick: 
abgesprochen  werden.  In  Zeiten  hochgespannten  Wunderglaubens  kann  der 
Skeptizismus  ebenso  am  Platze  sein  wie  in  Zeiten  der  Aufschließung  großer 
unbekannter  Raturgebiete  die  kühue  Hypothese,  das  Hiuausgehen  über  die 
bereits  ganz  sicher  gestellten  Ergebnisse  und  die  Hingabe  an  ein  großes 
Princip.  Thatsächlich  hat  ja  auf  diesem  Wege  die  ungeheure  Erweiterung 
der  wissenschaftlichen  Kenntnis,  stattgefunden.  Bevor  die  Idee  nickt  vorhanden 
ist,  läßt  sich  schlecht  planmäßig  erperimentiren.  Der  Agnosticismus  ist  ein 
wichtiges  Glied  namentlich  in  der  religiösen  Entwicklung  des  englischen 
Volkes,  und  wer  den  stamm  passiven  Widerstand  kennt,  den  dieses  Volt  zu 
leisten  vermag,  der  wird  seine  Bedeutung  zu  schätze»  wissen. 
Die  Stellung  der  breiten  Schichten  der  englischen  Bevölkerung  zu  den 
Einzelheiten  der  religiösen  Ueberlieferung  vor  anderthnlbem  Mcnschenalt?r 
war  eine  ganz  eigenartige  nnd  ist  es  znm  Theil  noch  jetzt.  In  Folge  der 
Bibelstunden  der  confessionellen  Schulen,  deren  Schwerpunkt  in  der  Ei»- 
Prägung  des  genauen  Inhalts  des  alten  nnd  neuen  Testamentes  lag,  war 
der  Durchschuittsbrite  uud  vielleicht  nock  mehr  die  Durchschnittsbritin  mit  den 
heiligen  Schriften  ibrer  Religion  in  einem  Maße  vertraut,  wie  man  es 


Thomas  Huxley,  2H~ 

selbst  in  dentscheu  protestantischen  Pfarrhäusern  wahrscheinlich  selten  finden 
würde.  Liegt  doch  der  Schwerpunkt  de-?  deutschen  protestantischen  Neligious- 
uuterrichtes  auf  ganz  anderem  Gebiete,  nämlich  in  der  Eiupräguug  des 
Lutherischen  Katechismus,  in  der  Erlernung  einer  großen  Anzahl  uon  Bibel- 
sprüchen, d.  h.  kurzen  Eitaten  meist  sehr  aügenieineu  Inhalts,  und  in  der 
Kenntuift  der  „biblischen  beschichte",  d.  h.  einzelner,  besonders  anziehender 
Erzählungen,  die  in  besonderen  Lehrbüchern  vereinigt  sind  nnd  nur  eine 
Ausiuahl  darstellen.  Diese  Vertrautheit  der  englischen  Gebildeten  mit  den 
heiligen  Schriften  selbst  mußte  nothgedrungen  dazu  führen,  daß,  wo  immer 
eine  Kritik  der  heiligen  Überlieferung  auftauchte,  sie  sich  gegen  die  Eiuzel- 
lieiten  der  biblischen  Erzählungen  wandte.  Während  in  Deutschland  der 
kritische  Vorstoß,  ganz  der  abstrakteren  Begabung  des  Deutschen  entsprechend, 
durch  Feuerbach  und  Strauß  principiell,  theoretisch,  auf  den  Kernpunkt  der 
religiösen  Tradition  gerichtet  ward,  löste  sich  in  England  der  Angriff  in  eine 
ondlofe  Menge  Einzelgepläukel  über  jeden  besonderen  Punkt  auf.  Da  jedoch 
die  Angreifer  in  Folge  dessen  fast  immer  theilweise  auf  demselben  Boden 
standen  wie  die  Angegriffenen,  so  verlor  sich  fast  jeder  solche  Streit  in  die 
Erörterung  uon  Nebenpunkteu,  was  langsam  zu  der  Betrachtung  der  Frage 
führte,  ob  wir  über  Gott  uud  göttliche  Dinge  überhaupt  Etwas  wissen 
können.  Hier  war  nun  Kants  Eiufluß  etwa  seit  der  Mitte  der  vierziger 
Jahre  unseres  J ahrhunderts  entscheidend.  Wenn  unserer  Erkenntnis;  einmal 
Grenzen  gesetzt  sind,  und  wir  Nichts  zu  deuten  vermögen,  was  über  Raum 
und  Zeit  hiuausliegt,  dauu  ist  alles  Göttliche  mindestens  unserem  directeu 
Ei'keuutnißuermögeu  unzugänglich.  Gelingt  es,  den  Nachweis  zu  führen, 
daß  die  Dinge,  über  die  die  Theologen  Etwas  zu  wissen  vorgeben,  wie 
persönliche  Unsterblichkeit,  Dreieinigkeit  der  Gottheit,  Beziehungen  des 
Meuscheu  zu  einer  übernatürlichen  Welt,  ja  deren  Borhauoenseiu  überhaupt, 
jenseits  der  Greuzen  unseres  heutigen  Ei'keuutnißueriuögcns  liegen  —  dauu, 
ja  dann  ist  der  gesammten  „positiven"  Theologie  der  Bodeu  unter  den 
Füßen  weggezogen.  Dann  ist  sie  auf  ihrem  eigensten  Felde  geschlagen,  mit 
Waffen,  die  sie  selbst  oft  gebraucht  und  deren  Berechtigung  sie  damit  an- 
erkannt hat. 

Diesen  >lampf  iu  Großbritannien  aufgeuommeu  zu  habeu,  ist  das 
Werk  des  Aguostieismus,  dessen  Bedeutung  für  das  Inselrcich  in  Deutsch- 
land bisher  tnnm  verstanden  worden  ist.  Ist  Agnostiker  gleichbedeutend  mit 
„verschämter  Atheist?"  hat  man  gefragt.  Praktischer  Atheist  ist  der  Agnostiker 
allerdings,  d.  h,  er  lehnt  jede  Folgerung  aus  dem  für  ihn  nicht  bewieseneu  Bor- 
liaudensein  eines  Gottes  für  das  praktische  Lebeu  ab;  aber  uoir  dem  dogmati- 
schen Atheismus  eines  (iharles  Bradlaugh  ist  er  weit  entfernt.  Ter  Aguostieis- 
mus, der,  ohne  sich  zu  einem  iFnurlldilnus  zu  versteigen,  sich  achselzuckend 
lunter  das  Ißum-nmu«  verschanzt,  hat  in  mancher  Hinsicht  Wunder  gethan. 
obgleich  er  in  theologischen  Kreisen  dem  Atheismus  gleich  gebaßt  wird,  ist 
er  doch  weit  mehr  Methode  als  Dogma  nnd  hat  dadurck,  das;  er  den 


-H-  Aleiandei  Tille  in  Glasgow. 

Streitpunkt  uon  dein  (schalt  der  Dogmen  und  deni  Wortlaut  der  Bibel 
in  die  historische  Kritik  verlegte,  den  religiösen  Kämpfen  Großbritanniens 
viel  uon  ihrer  Scharfe  genommen.  Um  in  diesen  kritischen  Fragen  mit- 
reden zu  tonnen,  muß  man  schon  ein  ganzes  Theil  positiver  Kenntnisse  haben, 
und  in  der  Zeit,  wo  man  sich  dieselben  erwirbt,  kühlt  sich  der  Fanatismus 
für  einen  bestimmten  Glaubenspunkt  gewöhnlich  ziemlich  stark  ab,  und  sicher 
nicht  zum  Nachtheile  der  Lernenden.  Wenn  wir  gar  nicht  hinreichende 
Mittel  haben,  um  das  original  des  „Wortes  Gottes"  festzustellen,  wie 
können  wir  uns  da  über  seinen  Inhalt  streiten? 
Niemand  kann  ernstlich  diesem  Umschwung  die  Augen  verschließen. 
Hurle»  selbst  sagte  einmal  kurz  vor  seinem  Tode:  „Vor  dreißig  Jahren 
galt  eine  Kritik  über  „Moses"  bei  den  meisten  achtbaren  Leuten  für  eine 
Todsünde.  leKt  ist  sie  zum  Nange  eines  bloßen  Peccadillo  hinabgesunken, 
mindestens  wenn  sie  vor  der  Geschichte  Abrahams  Halt  macht."  Die  Tagen 
des  neuen  Testamentes  gelten  bei  der  großen  Masse  der  Gebildeten  da- 
gegen immer  noch  für  über  alle  Kritik  erhaben,  und  ihre  Voraussetzungen 
sind  noch  immer  zum  großen  Theile  zugleich  die  der  volkstümlichen  Welt- 
anschauung uon  heute.  Gegen  sie  wendet  sich  Hurlei)  in  dein  Bande  „Natur- 
wissenschaft und  christliche  Ueberlieferung"  mit  voller  Schärfe.  Was  ihm  vor 
Allein  als  wünfehenswerth  erfcheint,  ist  die  Klarlegung  der  Thatfache,  „daß 
die  Dämonologie  des  Urchristenthums  jeder  Grundlage  bar  ist".  „Und  hier  ist 
es  vielleicht  angebracht,  zu  wiederholen,  was  ich  anderotts  immer  wieder  und 
wieder  betont  habe,  daß  apriorische  Vorstellungen  über  die  Möglichkeit  oder 
Unmöglichkeit  des  Verhandenseins  einer  Geisterwelt,  wie  sie  das  echte  Christen- 
thum voraussetzt,  keinen  Einfluß  auf  mein  Denken  haben.  Für  mich  ist  die 
Sache  nur  eine  Frage  des  Veweismaterials:  genügt  das  Veweismaterial, 
uni  die  Theorie  zu  tragen  oder  nicht?  Nach  meinem  Uttheil  ist  es  aber 
nicht  nur  ungenügend,  sondern  ganz  ungereimt  bedeutungslos.  Und  aus 
diesem  Grunde  müßte  ich  die  Theorie  verwerfen,  felbst  wenn  es  keine 
positiven  Gründe  für  die  Annahme  einer  vollständig  anderen  Weltanschauung 
gäbe."  Und  er  ist  der  Überzeugung,  daß  die  geschichtliche  Entwicklung 
der  Menschheit  zum  großen  Theil  in  einer  Veseitigung  des  Uebernatürlichen 
ans  seiner  ehemals  beherrschenden  Stellung  besteht.  Die  Frage,  wie  weil 
dieser  Vorgang  sich  fortzusetzen  hat,  ist  nach  feiner  Anschauung  die  große 
Streitfrage  unserer  Zeit.  „Die  Phraseologie  des  Suvranaturalismus  mag 
den  Leuten  noch  auf  den  Lippen  schweben:  in  Wirklichkeit  aber  bekennen 
sie  sich  zur  Naturwissenschaft.  Der  Richter,  der  am  Sonntag  mit  andächtiger 
Aufmerksamkeit  dem  Satze  lauscht:  „Eine  Here  sollst  Du  nicht  leben  lassen," 
weist  am  Montag  eine  Anklage  einer  alten  Frau  wegen  Veherung  einer 
Kuh  als  albernes  Zeug  ab.  Der  Director  eines  Krankenhauses,  der  den 
Erorcismus  für  die  vernünftigen  Vehandlungsweifen  einführte,  würde  nicht 
lange  in  feiner  Stellung  bleiben.  Selbst  Kirchenbuchführer  bezweifeln  den 
Nutzen  des  Gebetes  um  Regen,  fo  lange  der  Wind  von  Osten  kommt. 


Thomas  Huzley.  2H3 

und  der  Ausbruch  einer  Seuche  läßt  die  Menschen  nicht  mehr  in  die  Kirche, 
sondern  nach  —  den  Abzugsrohren  gehen.  Trotz  der  Gebete  für  den  Er- 
folg unserer  Waffen  und  die  Tedeums  für  den  Sieg  glauben  wir  in 
Wirklichkeit  an  starke  Bataillone  und  trockenes  Pulver,  an  die  Kenntniß  der 
iiriegswissenschaft,  an  Thatkrnft,  Muth  und  Disciplin.  In  diesen  wie  in 
allen  anderen  praktischen  Dingen  handeln  wir  nach  dein  Spruche  l^doi-ars 
68t  ornre,  geben  zu,  daß  von  dein  Denken  beherrschte  Arbeit  die  einzig  an- 
nehmbare Andacht  ist  und  daß  wir  es  einzig  mit  der  Natur  zu  thun  haben, 
mag  es  eine  übernatürliche  Welt  geben  oder  nicht." 
Tritt  Hurlep  auch  nicht  planmäßig  für  die  monistische  Weltanschauung 
ein,  so  weist  er  doch  überzeugend  nach,  daß  der  Glaube  an  einen  Dualis- 
mus in  der  Erfahrung  nicht  die  mindeste  Grundlage  habe,  und  thut  so  auch 
sein  Theil  für  die  Ausbreitung  des  Monismus.  Gauz  unabsichtlich  aber 
hat  er  Etwas  geleistet,  uns  ihm  die  englische  Theologie  herzlich  danken 
sollte.  Durch  seinen  Hinweis  auf  die  deutsche  Bibelkritik  mit  ihren  be- 
wundernswerthcn  Ergebnissen  hat  er  sie  aus  dein  Sectengezänk  erlöst  und 
in  die  Vahn  der  geschichtlichen  Forschung  gewiesen.  Das  hat  das  Uni- 
versitätsstudium der  Theologie  wieder  belebt  und  in  dein  Lande,  das  eben 
daran  geht,  seine  drittletzte  nnd  vorletzte  Kirche  zn  entstaatlichen,  den  Sinn 
für  die  Einheit  der  christlichen  Kirchen  neugeweckt  und  der  Theologie  wieder 
bedeutendere  Geister  zugeführt,  so  daß  eine  Reform  der  Dogmatil  von  innen 
heraus  wieder  zur  Möglichkeit  geworden  ist.  Die  staatlich  unterstützten 
Gemeindeschiilen  Großbritanniens  haben  keinen  obligatorischen  Religions- 
unterricht, und  das  trägt  in  ziemlichem  Maße  dazu  bei,  die  aufwachfende 
Generation  den  Dogmen  der  einzelnen  Bekenntnisse  zu  entfremden,  so  daß 
eine  religiöse  Bewegung,  welche  die  dogmatischen  Formen  verflüchtigt,  sich 
in  Großbritannien  bereits  heute  vorbereitet. 

Hatte  Hurle»  anfangs  die  Polemik  verabscheut  nnd  gemieden,  so  ward 
ihm  das  Kämpfen  und  Streiten  nach  und  nach  zn  einer  lieben  Gewohnheit. 
Und  1889  konnte  er  sageni  „Zum  Schaden  meiner  Behaglichkeit  bin  ich 
die  letzten  As>  Jahre  viel  in  Streitigkeiten  verwickelt  gewesen,  und  die  einzige 
Vergütung  für  den  Zeitverlust  uud  die  Geduldproben,  die  das  mit  sich  ge- 
bracht hat,  ist,  daß  ich  die  Polemik  nach  und  nach  als  einen  Zweig  der 
schönen  Künste  habe  betrachten  lernen  und  ein  unparteiisches  nnd  künstlerisches 
Interesse  an  ihrer  Führung  nehme."  In  seinen  Auslassungen  war  Hurle« 
scharf  und  oftmals  sarkastisch,  aber  niemals  grob.  Seine  Kritik  hotte  immer 
eine  scharfe  Spitze.  In  dem  Essai,  „Gladstone  und  die  Genesis"  schrieb 
er:  „Sokrates  soll  von  den  Werken  Heraklits  gesagt  haben,  wer  sie  zu  ver- 
stehen versuche,  solle  ein  delischer  Schwimmer  sein,  aber  was  er  seinerseits 
verstehen  könnte,  fei  so  ausgezeichnet,  daß  er  geneigt  fei,  auch  au  die  Treff- 
lichkeit dessen  zu  glauben,  was  er  unverständlich  fände.  Bei  dem  Bersuche, 
des  Sinnes  in  diesen  Seiten  Glndstones  Herr  zu  werden,  hat  mich  oftmals 
ein  Gefühl  überschlichen  wie  Sokrates,  und  dennoch  nicht  ganz  dasselbe. 


2HH  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

Was  ich  tatsächlich  verstehe,  ist  mir  so  sehr  als  das  Gegentheil  des  Guten 
erschienen,  daß  ich  mir  manchmal  einen  Zweifel  an  der  Trefflichkeit  dessen 
gestattet  habe,  was  ich  nicht  verstehe."  Zum  Wohle  Englands  werden  die 
großen  Streitfragen  der  Eocialpolitik  wie  der  äußeren  Politik  von  Sach- 
kundigen in  den  großen  Monatsschriften  ansgefochten,  und  wohl  auf  keinem 
Gebiete  zeigt  sich  die  britische  Kampflust  deutlicher,  obwohl  diese»  Arbeiten 
die  Bitterkeit  ähnlicher  Auseinandersetzungen  in  Deutschland  gänzlich  fehlt. 
Trotz  seiner  Tapferkeit  im  Kampfe  hat  fich  Hurlep  von  den  politischen 
Kämpfen  seines  Landes  völlig  fern  gehalten,  bis  die  Horns  liuls  Liil  auf  dem 
Plane  erschien.  Aber  da  hielt  es  ihn  beinahe  nicht  länger:  „Ich  Imbc  mich," 
schrieb  er,  „mein  ganzes  Leben  lang  forgsnm  außerhalb  des  politischen  Ge- 
bietes gehalten,  und  jetzt  ist  es  zu  spät,  daran  zu  denken,  mich  jetzt  noch 
dahin  zu  begeben.  Aber  wäre  ich  ein  Politiker,  ich  würde  diese  Vill  be- 
kämpfen, solange  ich  Leben  in  mir  spürte  .  .  .  Negierung  vennittelst  der 
durchschnittlichen  Meinung  ist  nur  eiu  Umweg,  auf  dem  ein  Volk  zum 
Teufel  geht." 

Gerade  so  wie  sich  die  Theologie  zur  Naturforschung  verhält,  verhalten 
fich  die  socialen  Theorien,  die  heute  gang  und  gäbe  sind,  zu  einer  wirk- 
lichen Socinlwissenschnst.  Wenn  es  ein  Gebiet  giebt,  auf  da?  man  die 
Entwicklungslehre  mit  überwältigendem  Erfolge  nnwenden  kann,  fo  ist  es 
dasjenige  des  Socialen.  Ueber  Fragen  ans  diesem  Gebiete  hat  Hurlep  ein 
paar  Essays  geschrieben,  die  zu  dein  Bestell  gehören,  was  alle  Zeiten  hier 
geleistet  haben,  und  die  zugleich  Zeugniß  für  die  Kraft  und  Schärfe  feines 
Denkens  ablegen.  In  einer  Arbeit  „Ueber  die  natürliche  Ungleichheit  der 
Menschen"  fordert  er  die  Gleichheitsmanie  Rousseaus  nnd  der  modernen 
Demokratie  wie  des  Eocialismus  vor  den  Nichterstuhl  der  Naturwissen- 
schaften und  zeigt,  daß  die  Menschen  an  Alter,  Geschlecht,  Gesundheit,  Kraft, 
Begabung,  Fleiß,  Thatkraft,  Leistungsfähigkeit  nicht  gleich  sind  und  niemals 
gleich  gewesen  sein  können,  daß  es  also  uoütommen  sinnlos  ist,  einem  voll- 
träftigen  Mann  und  einen:  Säugling  gleiche  Rechte  zuzuerkennen,  und  daß 
insonderheit  das  „allgemeine  Menschenrecht  auf  den  Grund  und  Boden" 
Nichts  ist  als  eine  leere  Phrase.  In  einer  zweiten  Arbeit  „Natürliche  und 
politische  Rechte"  zeigt  er  ferner,  daß  in  der  Nat,ir  alles  Recht  gleich  Macht 
ist,  daß  es  nur  ein  ethisirender  Ausdruck  ist,  wenn  der  Mensch  beim  Thiere 
von  einem  „Recht  auf  Nahrung"  spricht.  Die  Tigerin  hat  das  Recht, 
Alles  zu  fressen,  was  sie  erjagen  und  tödten  kann,  und  der  Mensch  hat  das 
Recht,  die  Tigerin  mit  dem  dreitalibrigen  Dicklänfer  zu  erschieße«,  wenn 
er  sie  nämlich  trifft  und  nicht  zuvor  von  ihr  gefressen  worden  ist.  Politische 
Rechte  hingegen  sind  das  Aeguiualent  für  gewisse  politische  Pflichten,  und 
es  ist  völlig  ungereimt,  beide  verschiedenartigen  Gruppen  „Rechte"  in  einen 
Topf  zu  werfen  nnd  denselben  fleißig  umzurühren.  Mit  diesen  Aufsätzen 
hat  Hurley  ein  epochemachendes  großes  Reinemachen  im  Haushalt  der  land- 
läufigen Tociologie  abgehalten,  nach  dem  sich  der  Schmutz  nicht  so  leicht 


Chomas  Hnxley.  2~5 

wieder  festsetzen  wird,  und  unter  den  Ueberwindern  des  Nousseauismus  und 
der  Demokratie  wird  ihm  immerdar  eine  Chrenstelle  sicher  sein.  Aber  er 
ist  auch  noch  ein  gutes  Stück  weitergegangen. 
Allerdings  hat  dieser  streitbare  Kämpfer  gegen  alles  apriorische  Philo- 
sophiren sich  auf  dem  Gebiete  der  Sociologie  noch  nicht  ganz  von  derlei 
apriorischen  Voraussetzungen  frei  gemacht.  Daß  jeder  Mensch  nur  insoweit 
frei  fein  soll,  als  er  nicht  die  gleiche  Freiheit  Anderer  stört,  sollte  doch  erst 
bewiesen  werden.  Daß  die  Gesellschaft  ein  sittliches  Ziel  habe,  in  dessen 
Erreichung  sich  die  Sittlichkeit  verkörpert,  daß  das  Ziel  der  Regierung  das 
Wohl  der  Menschheit  sei,  das  alles  sind  Neste  jener  Denkweise,  die  er  be- 
kämpft, aber  sie  betreffen  fast  alle  den  Staatsbegriff,  über  den  er  mit 
Spencers  einseitigen  Theorien  abzurechnen  hatte,  und  berühren  kaum 
ernstlich  die  Gesellschaftsordnung,  deren  Kernzüge  Hurlei)  scharf  erfaßt  hat. 
Mag  er  hier  auch  noch  nickt  das  letzte  Wort  gesprochen  haben-  ans  dem 
Wege  von  der  speeulatiuen  Sociologie,  die  das  Heraufführen  eines  be- 
stimmten, aus  ethischen  (und  zwar  fklavenmoralischen)  Betrachtungen  ab- 
geleiteten socialen  Zustandes  in  eine  Gemeinschaft  als  ihr  letztes  und 
einziges  Ziel  betrachtet,  zur  Volksstandswirthschaft,  deren  letztes  Ziel  das 
Sichbehaupten  und  Wachsen  der  stärksten  Gemeinschaften  ist,  ist  Hurley 
zweifelsohne.  In  dem  Essay  über  den  „Kampf  uni's  Dafein  in  der  mensch- 
lichen Gesellschaft"  spricht  er  sich  darüber  ausführlich  aus.  Wenn  England 
künftig  noch  Brot  haben  will,  „dann  ist  die  augenfällige  Vorbedingung,  daß 
unsere  Producte  besser  als  die  anderer  Länder  sein  müssen.  Nur  aus  einem 
einzigen  Grunde  zieht  man  unsere  Waaren  denen  unserer  Niualen  vor: 
unsere  Kuuden  müssen  sie  zu  deni  gleichen  Preise  besser  finden  als  andere. 
Das  heißt,  wir  müssen  mehr  Kenntniß,  Geschick  und  Fleiß  ans  ihre  Er- 
zeugung wenden,  ohne  daß  damit  die  Prodnctionskosten  entsprechend  wüchsen. 
Und  da  der  Arbeitslohn  einen  bedeutenden  Bestandtheil  dieser  Kosten  bildet, 
so  muß  der  Lohnsatz  innerhalb  bestimmter  Grenzen  bleiben.  Allerdings  sind 
billige  Production  und  billige  Arbeit  keineswegs  gleichbedeutend;  aber  ebenso 
wenig  können  die  Löhne  über  ein  bestimmtes  Maß  hinauswachsen,  ohne  die 
Billigkeit  der  Waaren  zu  vernichten.  Und  die  Billigkeit  nnd  als  eine  ihrer 
ersten  Voraussetzungen  ein  mäßiger  Arbeitslohn  ist  somit  wesentlich  zu 
unserem  Siege  im  Wettbewerb  auf  den  Märkten  der  Welt."  Erzieht  die 
Arbeiter  zu  enormen  Leistungen,  und  Ihr  werdet  ihnen  auch  enorme  Löhne 
zahlen  können;  und  sie  werden  trotz  derselben  ihre  Mitbewerber  in  der  Welt- 
concurrenz  ausstechen;  das  ist  die  unmittelbare  Folge  daraus.  In  der  ge- 
sammtcn  Natur  kommt  der  Fortschritt  nach  dem  heutigen  Stande  der 
Wissenschaft  einzig  durch  die  natürliche  Auslese  der  Tüchtigeren  zu 
Stande.  Wenn  man  die  Arbeitsleistung  eines  ganzen  Volkes  auf  eine 
höhere  Stufe  heben  will,  so  muß  man  naturgemäß  zu  allererst  an  das 
gleiche  Mittel  denken,  an  die  sociale  Auslese,  kraft  deren  die  tüchtigsten 
Arbeiter  überleben  und  reichliche  Nachkommenschaft  erzeugen,  während  die 


2Ht>  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

untüchtigsten  womöglich  schon  vor  dein  Heirathsalter  zu  Grunde  gehen.  Einen 
zweiten  Punkt,  uon  secundärer  Bedeutung  allerdings,  bietet  dann  die  technische 
Schulung  nnd  Ausbildung  möglichst  aller  vorhandenen  Arbeiter. 
Obgleich  Hurlen  an  mehr  als  einer  Stelle  einer  Reihe  Thatsachen 
gedenkt,  deren  Durchführung  naturgemäß  die  in's  Stocken  gerathene  sociale 
Auslese  neu  beleben  mnß,  so  sieht  er  doch  hier  in  der  Hauptbetrachtung 
ganz  davon  ab.  Trotz  aller  scharfen  Worte,  die  er  gegen  die  natürliche 
Gleichheit  der  Menschen  richtet,  wurzelt  in  ihm  die  Ueberzeugung  von  der 
natürlichen  Ungleichheit  der  Arbeiter  und  ihrer  Leistungen  nicht  so  tief, 
daß  er  sie  zur  Grundlage  socialaristokratischer  Neformvorschläge  machen 
könnte,  mittels  deren  sich  zugleich  jene  sociale  Stabilität  erreichen  ließe,  die 
ihm  so  wünschenswert!)  scheint.  Was  ihn  im  .~enie  an  der  Umbildung  der 
Sociologie  zur  Volksstandswirthschaft  hindert,  das  ist  sein  Glaube  an  die 
Möglichkeit  einer  Ueberuölkerung,  den  er  nicht  zu  überwinden  vermocht  hat. 
Vor  einem  Jahrhundert  hat  Thomas  Robert  Malthns  dieses  Gespenst  des 
Alterthums  wieder  aus  dem  Grabe  geweckt,  und  seitdem  ist  es  wieder  um- 
gegangen, bis  in  Deutschland  Radenhausen  dagegen  zu  Felde  gezogen  ist. 
Darwin  hat  die  Erkenntnis,  von  der  unendlichen  Verunehrung  alles  Lebendigen 
einen  bedeutsamen  Dienst  geleistet,  indem  sie  ihn  auf  die  Bedeutung  des 
Daseinskampfes  hinwies  und  ihm  so  die  Idee  der  Auslese  der  Tüchtigsten 
brachte.  Aber  eiu  Ueberschießen  der  Bevölkerung  über  den  Nahrungsspiel- 
raum ist  nur  eiue  Fiction,  die  in  der  Wirklichkeit  gar  nicht  vorkommen 
kann,  weil  mehr  Menschen,  als  Nahrung  finden,  ja  nicht  leben  können;  und 
es  ist  ganz  sinnlos,  diese  Fiction  in  socialwissenschaftlichen  Erörterungen  als 
Thatsache  zu  betrachten. 

Mit  Recht  weist  dagegen  Hurlen  den  Anspruch  des  Einzelnen  auf  den 
vollen  Ertrag  seiner  Arbeit  ab,  wenigstens  in  so  weit  sich  derselbe  in 
apriorischer  Weise  begründet. 

„Ich  glaube  nicht,  daß  es  zu  viel  gesagt  ist,  daß  von  allen  in  dieser 
seltsamen  Welt  landläufigen  socialen  Täuschungen  die  dümmsten  diejenigen 
sind,  welche  annehmen,  Arbeit  und  Capital  ständen  sich  nothwendigerweise 
feindlich  gegenüber;  alles  Capital  werde  durch  Arbeit  erzeugt  und  fei  des- 
halb uon  natürlichen  Rechts  wegen  das  Eigenthum  des  Arbeiters;  der 
Besitzer  des  Capitals  sei  ein  Räuber,  der  den  Arbeiter  beraubt  und  sich 
selbst  das  aneignet,  an  dessen  Hervorbringung  er  keinen  Äntheil  hat. 
„Im  Gegentbeil,  Capital  und  Arbeit  sind  nothwendigerweise  enge 
Verbündete.  Capital  ist  niemals  einzig  ein  Erzeugnis;  menschlicher  Arbeit. 
Cs  besteht  getrennt  von  menschlicher  Arbeit  und  ist  deren  nothwendige  Voraus- 
setzung. Es  giebt  das  Material,  auf  das  die  Arbeit  verwendet  wird.  Die 
einzige  unentbehrliche  Form  des  Capitals,  dasjenige  Capital,  was  zur  Er» 
nühruug  dient,  läßt  sich  nicht  durch  Menschenarbeiterzeugen.  Der  Mensch 
vermag  einzig  seine  Bildung  durch  die  wirklichen  Erzeuger  zu  fördern. 
Es  giebt  keine  wirkliche  Beziehung  zwischen  dem  Betrag  Arbeit,  der  auf 


Thomas  Huzley.  2H? 

einen  Gegenstand  verwandt  worden  ist,  und  seinem  Tauschwert!).  Der  An- 
spruch der  Arbeit  ans  das  Gesammtergebniß  von  Verrichtungen,  die  erst 
durch  das  Capital  möglich  werden,  ist  einfach  eine  apriorische  Ungerechtigkeit." 
Das  sind  die  Ergebnisse,  zu  denen  Hurley  durch  die  Neubetrachtung  der 
Fragen  geführt  wird,  die  Henry  George  mit  blödem  Gefasel  durcheinander 
rührt,  und  sie  zeigen  am  deutlichsten,  worin  die  Bedeutung  dieser  Essays 
liegt.  In  seiner  Hand  ist  eine  Kritik  Henry  Georges  nicht  mehr  eine  Kritik 
Henry  Georges,  sondern  sie  wird  zur  Kritik  der  socialen  Gesammtbestrebungen 
seiner  Zeit.  Das  unglückliche  Object,  das  er  gerade  beim  Schöpfe  erwischt 
und  gründlich  abschüttelt,  zittert  nicht  allein  unter  diesen  Armbewegnngen, 
sondern  in  ihn,  zittern  alle  diejenigen  mit,  die  durch  starke  oder  dünne 
Fädchen  mit  ihm  verbunden  sind,  der  Boden,  auf  dem  es  steht,  und  der 
Bauin,  an  dem  es  sich  in  seiner  Verzweiflung  anklammert.  Es  ist  Wenigen 
gegeben,  so  das,  was  eine  ganze  Zeit  aufrührt,  aus  den,  zufälligen  äußeren 
Gewände  herauszulöseu  und  es  rein  und  ungetrübt  durch  persönliche  Neigung 
oder  Abneigung  vor  den  Nichterstuhl  des  Denkens  zu  zerren. 
Der  Mann,  der  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht  hatte,  alle  modernen 
Denkgebiete  mit  den,  Geiste  der  modernen  Naturwissenschaft  und  insonderheit 
der  Entwicklungslehre  zu  durchdringen,  konnte  unmöglich  bei  der  theoretischen 
Weltanschauung  stehen  bleiben.  Das  Gesamnitgebiet  des  Aesthetischen  hat 
er  allerdings  nicht  in  den  Kreis  seiner  Forschung  gezogen,  wohl  aber  den 
Zweig  davon,  der  für  den  Menschen  die  größte  praktische  Vedeutnng  hat, 
das  Ethische.  An,  18.  Mai  18W  trat  er  als  liomanß«  l.ectnrer  im 
Sheldonian  Theater  in  3)rford  mit  einer  bedeutsamen  Arbeit  über  „Ethik 
und  Entwicklung"  vor  eine  gelehrte  Zuhörerschaft,  und  der  Sturm,  den 
er  damit  hervorrief,  hat  ihn  fast  bis  an  sein  Lebensende  umbranst,  mindestens 
bis  zur  Ausgabe  des  letzten  Ineunten)  Bandes  seiner  Gesammelten  Essays 
1894.  „Ethik  und  Entwicklung  und  andere  Essays"  nennt  sich  der  Band, 
und  in  ihm  antwortet  der  streitbare  Greis  auf  die  zahlreichen  Angriffe  aus 
allen  Lagern.  Er,  der  mit  kühnen  kritischen  Xeulenschlägen  die  speculativen 
Voraussetzungen  der  populären  Socialtheorien  zermalmt  hat,  er  steht  hier 
vor  der  Frage:  welche  unmittelbaren  Folgen  muß  die  bedingungslose  An- 
nahme der  Entwicklungslehre  für  das  Gebiet  der  Ethik  haben?  und  er  sucht 
sie  in  seiner  Weise  zu  beantworten. 

In  seiner  „Abstammung  des  Menschen"  hat  Charles  Darwin  sich  auch 
mit  der  Bedeutung  der  humanen  Sittlichkeit  für  den  Aufstieg  des  Menschen 
beschäftigt,  wenn  auch  nur  flüchtig.  Cr,  der  große  Verkünder  der  natürlichen 
Auslese  als  des  gewaltigsten,  fast  alleinigen  Fortschrittshebels  —  gerade 
dieser  Punkt  schied  Darwin  ja  von  Lamarck,  der  gleich  Sir  Francis  Galton 
und  William  Bateson  heute  allen  Nachdruck  auf  die  Vererbung  erworbener 
Cigenschafteu  legte  —  sab  sich  Iner  vor  dem  Problem:  Welche  Nolle  spielt 
die  natürliche  Auslese  in  dem  Stück  Menschheitsentwicklung,  das  wir  in 
engerem  Sinne  Geschichte  nennen?  Welche  Nolle  spielt  sie  im  modernen 


2~8  Alexander  Tille  in  Glasgow. 

Völkerdasein,  und  in  welchem  Verhältnis;  steht  sie  zu  unseren  sittlichen  An- 
schauungen? Den  großen  Biologen  haben  seine  demokratisch  humanen 
Ideale  daran  verhindert,  die  unmittelbare  Folgerung  für  die  moderne  Ethik 
aus  seinem  Gesetz  der  Auslese  zu  ziehen,  und  obwohl  seine  Aussprüche 
über  diesen  Punkt  ein  sichtliches  Schwanken  des  Standpunktes  verrathen. 
so  ist  es  ihm  doch  nicht  gelungen,  hier  endgiltige  Klarheit  zn  schaffen. 
„Socialer  Fortschritt  bedeutet  Auszerkraftsetzen  des  Waltens  der  Natur- 
mächte und  das  Dafüreinsetzen  von  etwas  Anderem,  das  man  das  Walten 
der  ethischen  Mächte  nennen  kann."  Aber  dieses  Auherkraftsetzen  des 
Waltens  der  Nntunnächte  bedeutet  eiuen  Kampf.  Das  Hnmcmsittliche 
„kann  sich  darauf  verlassen,  das;  es  mit  einem  zähen,  machtvollen  Gegner 
zu  rechnen  haben  wird,  so  lange  die  Welt  steht".  Darum  ist  die  Annäherung 
der  Menschheit  an  das  humane  Ideal  nicht  von  dem  Nachahmen  des  Natur- 
waltens zu  erwarten,  wie  Spencer  meint,  und  auch  nicht  von  der  Flucht 
vor  diesem  Walten,  wie  sein  Schüler  Fiske  denkt,  sondern  von  dein  Kampfe 
gegen  dieses  Walten.  Naturwalten  und  humane  Sittlichkeit  sind  unversöhn- 
liche Gegner,  Jedes  bedeutet  einen  Mißton  für  die  Gefühlswelt,  in  der  das 
Andere  hennisch  ist,  , 

Diese  scharf  zugespitzte  Fragestellung  allein  erklärt  den  Sturm,  der 
auf  diefe  Darlegungen  hin  in  der  englischen  periodischen  Litteratur  gegen 
Hurley  von  beiden  Seiten  her  losbrach.  Die  gesammte  humane  Ethik 
feines  Heimatlandes,  ja  die  kirchliche  Ethik  hatte  sich  bereits  daran  gewöhnt, 
die  Thatsacheu  der  natürlichen  Entwicklung  zur  Stützung  der  eigenen 
ethischen  Wünsche  zu  verwenden.  Wie  der  Socialismus  eines  Bebel  mit 
seinen  ultrademokratischen  Grundsätze,:  sich  ans  das  aristokratische  Princip 
der  organischen  Entwicklung  durch  natürliche  Auslese  beruft,  fo  hatte  man 
sich  auf  tbeologifcher  Seite  bereits  entschlossen,  zur  Verfriedlichnng  der 
künftigen  Menschheit  sich  in  Zukunft  nicht  nur  religiöser  Mittel,  sondern 
auch  der  physiologischen  Aufhäufung  altruistischer  Züge  zu  bedienen.  Andrer- 
seits erschien  es  selbstständigen  Denkern  gar  nicht  so  ausgemacht,  das;  sich 
das  allgewaltige  Walten  der  Naturmächte  vor  deu  ethischen  Wünschen  der 
heutigen  Enlturmenschen  zu  beugen  habe.  Wie,  wenn  sich  diese  humanen 
Wünsche  vielmehr  vor  dem  Walten  der  Natnrmächte  zu  beugen  hätten? 
Wenn  die  Mitleidsmoral  der  beiden  letzten  Jahrtausende  mit  ihren: 
Gefolge  von  vermehrter  Krankheit,  vermehrtem  Leiden,  mit  ihrer  Tendenz 
zur  Eistiruug  der  natürlichen  Auslese  nur  eine  trübe  unheilvolle  Episode 
in  der  Geschichte  der  menschlichen  Aufwärtsentwicklung  gewesen  wäre,  nur 
ein  Mißgriff,  das  humane  Ideal  ein  falsches  Ideal,  das  nothwendig  zum 
Niedergang  der  Gattung  führen  müßte? 

Wie  feine  theoretische  Ueberzeugung,  der  Agnosticismus,  fo  führt  auch 
seine  ethische  Ueberzeugung,  der.vumanitätsutilitarismns,  zn  einem  großen 
Fragezeichen.  Sie,  sind  beide  nicht  als  die  endgiltigen  Lösungen  jener 
Riesenfragen  zu  betrachten,  aber  dennoch  haben  sie  eine  gewaltige  Bedeutung. 


Thomas  Huxley.  2HH 

Denn  ihre  Fragezeichen  sind  die  Fragezeichen  der  Zeit,  die  Fragezeichen 

der  modernen  Weltanschauungskämpfe.  Und  wie  der  Agnosticismus,  die 

Religion  der  Bescheidenen,  durch  den  deutschen  Monismus  überwunden 

worden  ist,  so  der  Humanitätsutilitarismus  durch  den  deutschen  Gattungs- 

utilitarismus,  der  nicht  mehr  in  der  friedlich-demüthig-milden,  sondern  in 

der  frohen,  starten,  gesunden,  leistungsfähigen  Menschheit  sein  Zu kunfts ideal 

sieht.  In  ihm  und  seinem  neuen  Ideal  ist  die  Entwicklungslehre  wirklich 

auf  die  Sittlichkeit  angewandt,  denn  in  ihm  ist  das  Friedensidenl  der 

Humanität  durch  das  Kampfideal  der  schönen  Stärke  ersetzt. 

Die  Pflanze  lämpfl.  Sie  will  die  aanze  Erbe 

Erobernd  überziehn  mit  ihren  Kindern: 

Und  jede  will's,  und  jede  hilft  verhindern, 

Nah  alles  Land  zur  öden  Haide  werde. 

Der  Hirsch  beweist  in  tödtlichem  Gefecht, 

Daß  er  der  Stärlfte  sei;  dann  darf  er  werben.' 

Des  Schwächlings  Vilduna  soll  s^ich  nicht  vererben, 

Und  schöne  Starte  nur  ist  Daseinsrecht. 

In  dem  Schwingen  seines  Schwertes  in  den  Weltanschauungskämpfen 
der  Gegenwart  liegt  Hurleys  Bedeutung,  und  er  selber  hat  das  'gesuhlt, 
gewußt  und  gewollt.  Nur  wer  sich  darüber  klar  .ist,  daß  dies  das  Höchste 
ist,  was  der  Einzelne  seiner  Zeit  leisten  kann,  kann  schreiben!,  was 
Hurley  an  den  Schluß  seiner  Selbstbiographie  setzte: 
„Am  allerwenigsten  würde  es  sich  für  mich  schicken,  von  meinem 
Lebenswerk  zu  spreche»  oder  jetzt  nm  Abeud  zu  sagen,  ob  ich  nach  meiner 
Meiuuug  meinen  Lohn  erhalten  habe  oder  snicht.  Die  Menschen  sollen 
parteiische  Richter  über  sich  selbst  sein.  Vielleicht  ist  das  bei  jungen 
Männern  richtig,  bei  alten  schwerlich.  Beim  Rückblick  erscheint  das  Leben 
schrecklich  verkürzt,  nnd  der  Berg,  den  man  sich  in  der  Jugend  zu  er- 
klimmen vornimmt,  erweist  sich,  wenn  man  dann  athewlos  seinen  Gipfel 
erreicht,  nur  als  der  Ausläufereines  unendlich  höheren  Gebirgszuges. 
Wenn  ich  aber  von  den  Zielen  sprechen  darf,  die  ich  mehr  oder  weniger 
bestimmt  im  Auge  gehabt  habe,  seit  ich  mein  Hügelchen  zu  ersteigen  begann, 
so  sind  sie  knrz  die  folgenden  gewesen:  Die  Förderung  nnd  Vermehrung  der 
Naturerkenntniß  und  die  Anwendung  wisfenfehaftlicher  Forschungsmethoden 
auf  alle  Gebiete  des  Lebens,  soweit  es  eben  in  meinen  Kräften  steht. 
Denn  in  mir  und  mit  mir  ist  die  Neberzengung  groß  geworden  und  mit 
meiner  eigenen  Kraft  gewachsen,  daß  die  einzige  Linderung,  die  es  für 
die  Leiden  der  Menschheit  giebt,  ist,  im  Denken  nnd  Handeln  Wahrhaftig- 
keit zu  üben  und  der  Welt  entschlossen  in's  Gesicht  zu  schauen,  wie  sie  sich 
zeigt,  wenn  man  die  Hülle  des  Glaubenstruges  abgestreift  bat,  unter  der 
fromme  Hände  ihre  häßlichen  Züge  versteckt  haben. 
In  dieser  Absicht  habe  ich  den  verständigen  oder  unverständigen 
Ehrgeiz  nach  wissenschaftlichein  Ruhme,  den  ich  mir  vielleicht  verstattet  habe 
Nord  imd  Iii!,,  I.XXV,  2~4,  17 


250 

Alelander  Tille  in  Glasgow, 

zu  anderen  Zwecken  zu  hegen,  der  Veruolksthümlichuug  der  Naturwissen- 
schaft; der  Entwicklung  und  Organisirung  des  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richtes; der  endlosen  Reih?  Schlachten  und  Scharmützel  über  die  Ent- 
wicklungslehre nnd  der  unermüdlichen  Bekämpfung  des  kirchlichen  Geistes, 
des  Kirchenthums  untergeordnet,  das  in  England  wie  fönst  allermärts,  es 
fei  welches  Bekenntnisses  es  wolle,  der  Todfeind  der  Wissenschaft  ist. 
Im  Streben  nach  diefen  Zielen  bin  ich  nur  Einer  von  Vielen  ge- 
wesen, nnd  ich  würde  überzufrieden  fein,  wenn  man  meiner  als  eines  diefer 
Kämpfer  gedenkt  oder  auch  suicht  gedeukt.  Umstände,  nnter  die  ich  mit 
Stolz  die  ergebene  Liebe  zahlreicher  Freunde  rechne,  haben  dazu  geführt, 
daß  ich  zu  verschiedenen  hervorragenden  Stellungen  gelangt  bin,  unter 
denen  die  eines  Präsidenten  der  Royal  Societn  die  höchste  ist.  Es 
wäre  falsche  Bescheidenheit  meinerseits,  wenn  ich  angesichts  dieser  und 
anderer  ^wissenschaftlicher  Ehren,  die  mir  zu  Theil  geworden  sind,  thun 
wollte,  als  wäre  ich  auf  der  einmal  eingefchlagenen  Bahn  nicht  vorwärts 
gekommen,  weil  ich  sie  nicht  ganz  aus  eigner  Wahl  betreten  habe,  aber  ich 
würde  schwerlich  diese  Dinge  als  Zeichen  für  irgendwelche  Leistungen  be- 
trachten, wenn  ich  nicht  hoffen  dürfte,  jenen  Weltanschauungsumschwung 
einigermaßen  gefördert  zu  Imben,  den  man  die  Neue  Reformation  ge- 
nannt hat." 


Modeblumen, 
von 

Dans  Hermann. 

—  Vresl«.  — 

n  fideler  Ort,  das  muh  man  sagen." 

„Und  ein  anständiger!  Nicht  gegen  gemeine  Fettansätze  oder 
ekelhafte  Tuberkeln,  blos  gerade  gegen  so'n  feudalen,  reinlichen 
Rheumatismus  oder  dito  Knochenbruch  >— " 
„Und  gegen  noch  ein  feudales,  reinliches  Leiden:  die  Langeweile  — " 
„Nicht  zu  vergessen!  —  Na,  was  ist  denn  da  los?" 
Die  Frage  mar  nicht  unberechtigt.  Arm  in  Arm  waren  sie  die  auf 
den  Kurvlatz  mündende  Hauptstraße  des  rheinischen  Weltbades  hinnnter- 
geschlendert,  die  beiden  Caualiere,  die  einander  von  Verlin  her  kannten  nnd 
sich,  übermüdet  und  doch  Ruhe  fliehend,  hier  wiedergefunden  hatten.  Nnn 
hemmte  ihre  Schritte  der  Anblick  einer  Gruppe  von  Reitpferden,  die  vor  dem 
Portale  des  ersten  Hotels  des  Kurortes  vo»  Grooms  zum  Abritt  bereit  ge- 
halten wurden.  Das  elektrische  Licht,  welches  zu  dieser  Abendstunde  taghell 
den  weiten,  mit  seinen  Mumenanlagen,  Fontaine«  und  Colonnaden  einem 
märchenhaften  Lustgarten  gleichenden  Platz  überfluthete  und  ebenso  aus  dem 
Palastartigen  Hause  herausdrang,  ließ  jede  Schnalle  an  Sattelzeng  und 
Livree  aufblitzen. 

„Was  tausend,  ein  Damensattel?  Sollte  am  Ende  gar  sie 

Ich  hatte  doch  ihre  Erlaubniß,  Sie  ihr  heute  Abend  beim  Fest  vorstellen 

zu  dürfen!  Aber  es  ist  ihr  ja  Mes  zuzutrauen!" 

-  Wie  zur  Beantwortung  dieser  Rede  erschien  im  selben'Augenblick  eine 
Dame,  begleitet  von  mehreren  Herren,  im  Portale,  Alle  zum  Ausritt  gerüstet. 
„Wahrhaftig!  Was  heißt  das  nun  ivieder  — ?"  das  halb  miß- 
billigend, balb  belustigt  klingende  Murmeln  erstarb  aber  im  Nu,  und  eine 
17* 


252  Hans  Hermann  in  Vrcslau. 

ostentative  Begrüßung  tönte  auo  demselben  Munde!  „Aber  was  sehe  ich, 
gnädige  Frau  wollen  noch  zu  so  später  Stunde  zu  Pferde,  anstatt,  wie  ver- 
sprochen, mit  Ihrer  Gegenwart  die  italienische  Nacht  zu  verherrlichen?" 
wurde  jener  hinzugefügt. 

Die  Dame  lächelte  kalt  und  spöttisch.  „Italienische  Nackt  hin, 
italienische  Nacht  Her!  Ich  ward  inne,  daß  zufällig  auch  ein  Mond  am 
Himmel  steht  und  will  lieber  den  genießen.  Ein  Mondscheinritt  —  denken 
Sie  mir!  Meine  Verehrer  —  hm  —  ließen  sich. auch  wirklich  dazu  auf- 
bieten! Wollen  Die  mitsein?  Aber  nein,  bleiben  Sie  nur!  Sind  ja 
n,  c; u» i'ti'6  6pmAe8  für  die  italienische  Nacht.  ~  yrwtre  öpiü~le~  und, 
cumino  touMllg,  auf  der  Höhe  —  bis  auf  die  neue  Blume  im 
Knopfloch!"' 

„Gnädigste  laden  ein  und  heben  Ihre  Einladung  auf  in  einem  Athem! 
Was  bleibt  Einem  da  übrig,  als  zu  bleiben,?!" 
„Nichts  weiter.  —  Ehe  Sie  mit  Ihrem  Adjustemeut  soweit  wären, 
verständen  sich  die  Gäule." 

„Aus  schönem  Munde  hat  der  Cavalier  alle  Vorwände  gelten  zu 
lassen!" 

„Und  mnstn-t  hinter  Höflichkeit  —  Schwächen!" 
„0  —  oh  —  aber  — " 
„Gefchwind,  geschwind!" 
„Aber  — " 

„Einige?  Gigerlthum  können  Sie  sich  beim  besten  Willen  nicht  ab- 
leugnen!" -  Nicht?" 

„0  —  oh—:  aber,  es  wäre  ja  allerdings  sdas  erste  Mal,  meine 
Gnädigste,  daß  ich  die!  El)«  hätte,  mit  Ihnen  zusammenzutreffen,  ohne  das; 
Ihr  Arsenal  um  eine  Waffe  reicher  wäre!  Glaube,  haben  nun  nneder  blos 
aus  der  harmlose»  Vlume  eine  gegen  mich  geschmiedet.  Was  soll  man 
denn  mit  so  einen«  bislang  noch  ordeuslosen  Knopfloche  anfangen?" 
„Ob  man  sich  jemals  felbst  erkennt?" 

„Und  nun  belieben  gnädigste  Frau  gar  noch,  in  aller  Schlennigkeit 
philosophiren  zu  wollen!  Oh  —  ah!" 

„Versehen,  seines  Versehen  —  wirklich.  Uebrigens:  schmiede  meuie 

Waffen  aus  eonsistenterem  Material  —  wird  einem  ja  genug  dazu  geliefert." 

„Mau  weiß  factifch  nicht  mehr,  was  man  fagen  soll." 

„So?  Sehenl  Sie  mal  an!  Aber  ich  bin  gut:  um  Sic  aus  der 

Verlegenheit  zu  reißen,  um  doch  mal  Ihr  Licht  lenchten  zu  fchen,  eine  ganz 

schulmädchenhafte  Frage:  „Wo  stammen  denn  eigentlich  die  Dinger  her?" 

Die  güldene  Krücke  des  Neitstöckchens  tippte  gegen  das  wunderbar  getönte, 

große  Clinisauthemnm  in  des  Hern:  Knopfloch. 

„Um  Gotteswillen,  gnädige  Frau,  werden  Sie  nicht  gründlich!  Da  so 

immer  wärtser." 

„Wieder  eine  Niete!" 


Modeblumen,  253 

„Die  Blume?  Ja,  sie  duftet  nicht," 

„Ah,  sehr  gut  —  wieder!" 

„Aber  sehe»  Sie  nur,  wie  tadellos  schön  in'Farbe  und  Fori»." 
„Ja,  ja:  tadellos!"  —  Uebrigens  wenn  ich  >nicht  irre:  größtemlieils 
Kulturproduct  das!" 

Er  stand  vor  ihr  in  devoter  Haltung,  die  Blume  in  der  Hand. 

„Sie  wollen  sie  mir  wohl  gar  Unehren  —  aus  Ihrem  Knopfloch 

heraus?  Zu  liebenswürdig!"  Sie  nahm  die  Blume  und~  steckte  sie  — 

dem  Pferde  in's  Kopfgestell. 

„Danke  gehorsamst,"  klang  es  vikirt. 

Sie  lächelte  noch  kälter,  noch  spöttischer  und  saß  anf.  — 

Ihre  Begleiter  waren  wie  auf  Eommando  im  Sattel,  mit  klingendem 

Hufschlag  trabte  die  Cavalcade  über  den  Platz  weg,  die  Straße  hinunter. 

Der  ganze  Wortwechsel  hatte  bei  der  sprudelnden  Redeweise  der  Dame 

kaum  Minuten  gedauert. 

Der  Herr  faßte  den  Freund,  der  mit  der  gequälten  Miene  eines 

wohlgesitteten  Menschen,  der  gern  vorgestellt  sein  möchte,  dabei  gestanden 

hatte,  für  den  aber  keine  Secunde  abgefallen  war,  wieder  unter  den  Arm. 

„Ein  pikantes  Weib." 

„Wo  stammt  das  Ding  eigentlich  her?" 

„Um  Gotteswillen,  werden  Sie  nicht  gründlich.  Da  so  , immer 

wärtser." 

.So,  so." 

„Na,  so  schlimm  ist  es  nicht.  Gattin  hes  bekannten  sportsfreudigen 
Nabob  Oppenstedt  — " 
„Ach  was!" 

„Natürlich  unglückliche  Ehe  —  unbefriedigte  Seele,  so  was.  Nicht 
gerade  Schönheit,  aber  — " 
„Pikant." 
„Ganz  recht." 

„Kulturproduct  größtentlMs,  auch  das,  mein  Lieber." 
„Stimmt!  Doch  was  thnt's." 
„Man  amüsirt  sich  — " 
„Jawohl." 

„Läßt  sich  gelegentlich  auch  etwas  am  Nlirrenseil  führen  — " 

„Oder  thut  doch  so!" 

„Wieder  um  sich  zu  amüsiren." 

,,0'o8t  ya!" 

,,0'S8I,  y»!"  - 

Die  Herren  betraten  das  Kurhans.  Ein  salntirender  Portier  —'eine 
hohe,  ernste,  weiße,  Isäulengetragene  Marmorhalle,  galonirte  Diener  darin 
Spalier  bildend  —  ein  Snal,  schimmernd^uon^Gold,  Glühlicht  und  Wand- 
gemälden —  nnd  dann  — 


25H  Ha»5  izeimann  in  Vieslau, 

Wenn  ein  Blunienbeet  im  Sonnenlichte  wogt  -~  gewiß  ein  hübscher 
Anblick!  Dieser  hier  war  dem  vergleichbar,  und  manches  Auge  hätte  ihn 
jenem  vorgezogen.  So  that  das,  mit  welchem  ihn  die  beiden  Cavaliere  in 
sich  aufnahmen;  obgleich  er  fern  davon  war,  sie  etwa  in  Begeisterung  zu 
versetzen!  Und  das  war  er: 

Eine  Menschenmenge.  Aber  nicht  so  ein  Armvoll,  zusammengeflrichen 
auf  plumpe  Niesenweise  von  der  Erdoberfläche  herunter  in  einen  wunder- 
baren Sack,  aufs  Gerathewohl:  nein,  eine  mit  spitzen,  Finger  auserlesene, 
behutsam  in  diesen  Zaubersack  versetzte,  behutsam  uach  dem  Rhythmus 
rauschender  Töne  darin  auf-  und  abgeschwungene  Menschenmenge.  —  Das 
war  leine  Riesenfaust,  das  war  eine  Feenhand,  die  das  that!  Und  daß  die 
das  fchöne  Geschlecht  überwiegend  gewählt  hatte,  das  wai's,  was  die  Ähn- 
lichkeit mit  dem  Blumenbeete  hervorrief.  Zuweilen  blitzte  ein  Leuchtkäfer 
darin  auf,  eine  Uniform  —  was  von  dunklen,  farblosen  Lebewesen  sich 
darin  bewegte,  wirkte  zur  Folie  dienende»:  Schatten  gleich.  Aber  das  Licht, 
das  sich  über  Alles  ergoß!  Das  einer  bengalischen  Flamme  war's,  in 
rothe  Gluth  tauchend  Gebüsche  wie  Bäume,  Wasserspiegel  wie  Wasserstrahl, 
Gewänder  wie  Angesichter.  Zauberhaft. 
Die  Beiden  steuerten  unentwegt  mitten  hindurch. 
„Hier  harrt  manches  Blümlein  des  Gepflücktwerdens.  Könnte  mir 
stehenden  Fußes  einigermaher  voluminösen  Ersatz  verschaffen." 
„Haben  aber  nicht  die  Absicht." 

„Noch  nicht!  Und  dann,  der  Genre  Aber  nichtsdestoweniger  — 

kommen  Sie  doch  mal  — " 

„Ich  bitte  Sie  —  junge  Mädchen!" 

„Ja,  ja.  Sehe  ~aber,  ist  aber  auch  der  einzige  Tisch,  wo  noch  Platz."  — 
Die  Präsidentin  rückte  sich,  ganz  unmerklich  natürlich,  in  Positur  und 
warf  dann,  ebenso  unmerklich  natürlich,  einen  prüfenden  Blick  auf  das 
Treigestirn  ihrer  Töchter;  sie  hatte  aus  einer  Schwenkung  der  Herren,  indem 
sie  anscheinend  gleichgültig  die  langgestielte  Lorgnette  sinken  liest,  bereits 
errathen,  was  bevorstand. 

Hier  wurde  kein  vorstellungsbedürftiges  männliches  Individuum  über« 
sehen;  hier  erfolgte  demnääist  eine  Einladung  ohne  jeden  Widerruf  zu  dem 
Thee,  welchen  die  Damen  nippten;  hier  bestellte  die  Mutter  „noch  zwei 
Tassen",  schenkte  die  älteste  Tochter  ein,  reichte  die  zweite  die  Sahne,  die 
dritte  den  Zucker.  Hier  kam  alsbald  eine  Unterhaltung  in  Fluß,  angeregt, 
doch  vernünftig;  die  Mutter  war  liebenswürdig,  die  Töchter  wußten  — 
ohne  je  zu  frage«!  —  über  Alles  zu  reden/  über  Alles!  —  verfehlten 
jedoch  dabei  nicht,  zuweilen  in  kleine  nette  Kindlichkeiten  zu  verfallen,  und 
waren  zu  alledem  ausnahmslos  bildhübfch  und  so  chic  wie  möglich  — 
Raketen  und  Schwärmer  knatterten  dazwischen,  ein  Feuerwerk,  als 
wolle  es  Himmel  und  Erde  in  Brand  stecken,  spielte  sich  ab  um  die  im 


Modeblumen.  255 

Gewoge  liegende  Insel  dieses  Tisches.  Fiel  kein  zündender  Funke  ab 
für  sie? 

„Allerliebst,"  sagte  der  eine  der  Herren  zum  anderen,  als  gerade 
wieder  bewundernde  Ausrufe  der  Damen  ertönten.  Tann  empfahlen  sich 
Beide.  — 

„Wirklich  allerliebst." 
„War  aber  Zeit  — " 
„Daß  wir  gingen." 
„Allerdings!" 

„Ja,  ja  —  allerliebst,  aber  — " 

„Auf  den  Mann  dressirt  wie  der  wüthendste  Hoshund." 
„Offenbar!!" 

„Und  werden  kaum  reüssiren." 

„Kulturproducte  größtentheils  —  wie  die  Pikante  — " 

„Und  der  Mißerfolg  kommt  schließlich  über  die  wohlgezogene  Aller- 

liebslheit  wie  das  Alter  über  die  degngirte  Pikanterie  — " 

„Bleibt  -  Oede." 

„H.  <~ni  la  sauts?r 

„H.  <zui  la  taute?!" 

Sie  schlenderten  noch  eine  Weile  durch  die  Menge,  wogten  mit.  ?  Auch 
sie  so  ein  paar  Gestalten,  mit  spitzen  Fingern  auserlesen. 
„Tie  Lawn  Tennis-Heldin." 
„Freie  Amerikanerin!" 

„Ter  's  aber  doch  hollisch  zu  >iopfe  gestiegen  — " 

„Taß  sie  in  Homburg  mit  der  Großherzogin  uon  Ncmtenburg  gespielt 

hat  -  haha!" 

„Und  die  Mssiu  — " 

„Trau'  nicht  recht:  Nihilistin." 

„Aber  zähmbare  scheinbar  —  haha!" 

„Mit  der  Mutter  -" 

„Parire,  eine  augeuoumiene." 

„Schnöde!" 

„Freut  euch  des  Lämpchens  uud  wenu's  pedigreelos  glüht!" 
„Arm  in  Arm,  die  Neiden!" 

„Was  man  aus  Liebe  thut!  Jede  wartet  auf  den  Apfel.  Das 
Prinzchen  ist  das  Bindeglied." 

„Benimmt  sich  aber  mit  mehr  Geschick  als  weiland  Prin;  Paris, 
Hoheit." 

„Na  hören  Sie  —  auch  uiel  leichter  bei  denen!  Aebmen's  nicht 
so  ernst  wie  die  olympischen  Tnmen." 
„Sehr  praktisch  — " 
„Zum  Flirten!" 
„Zum  Flirten!"  — 


256  Hans  Hermann  in  Vrezlau. 

Und  sie  bemühten  sich  vergebens,  den  dichten  Kreis  zu  durchbrechen, 

der  zwei  Damen  von  eigenartiger,  in  Bezug  auf  Alter  untarirbarer 

Schönheit  escortirte: 

„Wollen  uns  doch  'ranpürschen  — " 

„Natürlich  — " 

Es  gelaug  ihnen  nicht.  — 

„Pech."' 

„Pech."  - 

Ein  Nollstuhl,  eine  Wolke  von  lichter  Seide  und  Spitzen  darin,  schob 

sich  ihnen  entgegen. 

„Drücken  wir  uns  um  die  Buhlen." 

„Das  war  nun  ein  Stern  —  der  J  unge  dachte,  er  läuterte  eiusach 
in  den  Himmel  — " 

„Und  hat  sich  ein  Bündel  Nerven  aufgeladen." 

Aber  selbst  das  „Bündel  Nerven"  machte  sich  noch  anmuthig  genug, 

um  nicht  die  Harmonie  der  prachtigen  Scene  zu  stören.  — 

„Na,  haben  wohl  genug  von  dem  Zauber." 

„Lon,  gehen  wir  ins  Eaf»?." 

Dieses  fashionable  ~ocal  lag  nn  der  Hauptstraße.  Sie  gingen  über 
den  taghellen  Kurplatz  nud  bogen  um  die  Ecke.  Die  Musik  drang  deutlich 
bis  hier  herüber,  in  Walzertacteu  —  der  Tanz  begann  jetzt. 
Plötzlich  schoß  etwas  Großes,  Dunkles  vor  ibren  Augen  durch  die 
Luft,  abwärts.  Nu  dumpfes  Aufschlagen,  und  es  lag  zu  ihreu  Füßen! 
Es  war  eine  menschliche,  eine  weibliche  Destalt,  was  schwarz,  un- 
förmlich und  regungslos  von  dem  glatteu,  lichteu  Trottoir  sich  abhob;  die 
Kleider  verriethen  es.  Kaum  daß  die  Beiden^das  erkannt  hatten,  so  wurden 
Simmen  laut  im  Hause,  vor  dem  sie  standen,  Leute  kamen  herausgestürzt, 
ein  Menschenaussauf  sammelte  sich  von  der  Straße  her  im  Nu  um  die 
Stelle.  Die  Person  hatte  man  aufgehoben,  aus  wirrem  Durcheiuanderrufen, 
aus  hastiger  Frage  uud  Autwort  konnten  sich  Uneingeweihte  ungefähr  zusammen- 
reimen, wer  sie  war.  Die  junge  Aerztin  nämlich,  die  den  hochherrschaftlichen 
zweiten  Stock  innehatte,  und  deren  Schild  >so  groß  und  reclamehaft  unten 
an  sder  Hausthüre  praugte.  Ob  das  'etwas  genützt  hatte?  Man  hätte 
es  meiueu  sollen,  wenigstens  sah  man  sie  alle  Tage  in  Eguipage  „in  die 
Prans"  fahren  —  eine  nicht  unschöne,  fehr  elegante  Erscheinung,  den 
beiden  Eavalieren  war  sie  schon  angenehm  aufgefallen. 
Doch  uun  hatte  sie  sich  aus  dem  Fenster  herausgesturzt. 
Sie  war  uicht  todt,  regte  sich,  schlug  große,  uuluiniliche  Augen  auf. 
Ein  unartikuliertes  Stammeln  —  dann  mochten  <ses  Schmerzempfindungen 
fein,  die  sie  aufstöhnend  wieder  in  Ohnmacht  sinken  ließen.  Als  man  sie 
schon  im  Hauseingange  hatte,  wurde  ein  älterer,  Herr  Doctor  angeredeter 
Herr  an  ihre  Seite  geschoben.  „In  die  Klinik,"  befahl  der  nach  wenigen 
Secunden.  „Holt  dock  ihre  Schwester  —  Clavierlebrerin,  Notbegasse  4 


Mo  bebt»  inen,  25? 

wohnhaft,"  schrie  eine  Stimme  aus  der  Portierloge.  Jemand  mußte  die 
Genannte  aber  schon  benachrichtigt  haben-  sie  war  es  wohl,  die  jetzt  die 
lebendige  Mailer  um  die  Unglücksstätte  durchbrach.  Eine  schmächtige  Ge- 
stalt in  schlotternden!  Regenmantel,  ein  spitzes  Gesicht  hinter  zerschlißnem 
Schleier  —  aber  Neides  von  stoische»»  Gleichmntli  in  Hallung  und  Ausdruck 
der  Katastrophe  gegenüber!  Bemerteuswerth. 
Und  sie  sprach  ein  paar  ruhige  Wort'  mit  dem  Ärzte,  diese  Schwester. 
Träger  sollten  mit  einem  Krankenkorbe  kommen,  die  Verunglückte  zu 
boten  —  n»d  schickte  sich  dann  ebenso  ruhig  an,  in  einem  Winkel  des 
eleganten  Hausflurs  einstweilen  eine  Art  ~ager  für  dieselbe  herzustellen. 
Die  beiden  Caualiere  hatten  natürlich  ritterlich  Hand  angelegt  nnd 
Ihaten  es  auch  jetzt.  Sie  stände»  überhaupt  ganz  zn  des  Fräuleins 
Diensten,  versicherten  sie  mit  so  vollendeter  Höflichkeit  der  verkümmerten 
fadenfcheinigen  Elavierlehreri»,  wie  sie  es  einer  Dame  der  großen  Welt 
ciethan  haben  würden.  Tadellos. 

Jene  dankte  kurz.  Ter  eine  bemerkte  dann  noch  flüsternd,  daß  der 
Sturz  Gott  sei  Dank  uerbältnisimäßig  gut  abgelaufen  zu  sein  scheine;  es 
sollte  ein  discreter  Trost  sein. 

„Sehr  gut,"  nickte  das  Mädchen  da  —  sie  maß  plötzlich  die  ganze 
Erscheinung  des  Sprechers  mit  einem  scharfen  Blick  —  „sehr  gut.  Denn 
erstens  kann  sie  immer  noch  sterben.  Zweitens,  wenn  sie  nicht  geistes- 
gestört ist  und  kein  Krüppel  bleibt,  wird  sie  nun  vielleicht  eine  Berühmt- 
heit. Und  endlich  wenn  Beides  oder  Eines  von  Beidem  der  Fall  ist,  nun, 
so  geht's  auch  nur  in  einem  Elend  bin." 

Sie  hatte  hart  und  langsam  und  beinahe,  als  sage  sie  eine  Lection 
her,  die  sie  schon  lange  auswendig  wisse  und  unwillkürlich  auch  einmal  an- 
brächte, gesprochen;  nun  kamen  die  Träger;  sie  wandte  sich  ihnen  zu.  — 
Nach  wenigen  Minuten  war  der  elegante  Hausflur  leer.  Aus  deni 
Knaul,  der  sich  dein  düster»  kleinen  Zuge  nachschob,  lösten  sich  die  beiden 
Herren  und  setzten  ihren  alten  Weg  fort.  Diesmal  hatten  sie  Nichts  zu 
bemerken,  ~m  Eaf6  tränten  sie  Sect  —  deutschen;  seit  der  französische  an 
maßgebender  Stelle  aus  dem  Sattel  gehoben,  war  jener  zeitgemäß. 
Er  schäumte  —  und  bat  seinen  Bodensatz,  so  selteu  die  Trinker  auch 
Etwas  davon  gewahr  werden.  Wenn  ilmen  das  aber  ja  einmal  geschieht, 
so  empfinden  sie  es  natürlich  »nangenelnn  —  ungefähr  fo  wie  die  beiden 
Zecher  an  den  zierlichen  blnmengeschmückten  Tifchlein  deck  Dich  des  Eaf6 
.^mpörial  den  Eindrnck  der  Scene  empfunden  hatten,  die  sie  eben  mit- 
erlebt. 

Sie  waren  übrigens  schon  über  denselben  hinweg,  steckten  ans  einmal 
die  Köpfe  dichter  zusammen.  Der  Eine  erzählt  dem  Andern  eine  ganz  kleine 
Hofgeschichte  —  dabei  ist  es  mitunter  klug,  die  Köpfe  dichter  zusammen- 
zustecken —  welche  eine  jugendliche  Künstlerin,  deren  Talent  in  Frage  stand, 
die  aber  mit  boben  Aufträgen  beehrt  wnrde,  zur  Heldiu  hatte  .  .  . 


528  Hans  Hermann  in  Vieslau. 

Zwischen  Schau»,  und  Bodensatz  aber  kreist  und  perlt  der  klare  kraft- 
volle Wein.  Und  das  ist  gut. 

Außerhalb  der  Stadt  hatte  die  Cavalcade  vorhin  ein  noch  schärferes 
Temvo  angelegt;  die  in  das  Kopfgestell  des  Damenpferdes  gesteckte  Blume 
lag  bald  am  Wegrand. 

Durch  die  Luft  schwirrte  ein  Geistchen.  Eben  halte  es  auf  dein 
Krnstallrande  eines  Champagnerkelchs  im  Caf6  Imuörial  gehockt,  bald 
goldig  schillernd  und  schön,  bald  aschgrau  und  häßlich,  immer  die  Backen 
aufgeblafen  wie  ein  Posaunenengel.  „Zeitgemäß,  zeitgemäß,"  hatte  es 
also  genickt  und  sich  in  die  Brust  geworfen.  „0  Zeitgeist,  ungefchlachtetei 
Geselle,  nicht  anders  zu  packen  denn  wie  die  Pyramide  des  Cheops  von  den 
Händen  eines  Säuglings,  verliere  Dich,  verliere  Dich  —  vor  mir,  dem 
Geistlein  des  Zeitgemäßen,  Zeitgemäßen  —  dessen  Domäne  sind  Schaum 
und  Bodensatz,  Schaum  nnd  Bodensatz  —  denn  die  sind  charakteristisch, 
modern,  —  charakteristisch,  modern  modern  — " 
Und  dabei  hatte  es  die  Backen  noch  einmal  tüchtig  aufgeblasen,  und 
uach  dein  klaren,  perlenden  Weine  hatte  es  geschielt  mit  scheelen  Blicke». 
Hier  in  der  freien  Natur  war  es  viel  weniger  aufgeblasen.  Plötzlich 
aber  stürzte  es  sich  auf  die  Blume  Herabi  „Du  wirst  auch  mit  in  den 
Bodensatz  gestampft  wie  alle  die  anderen  lieben,  duftlofen,  charakteristische!!, 
modernen  — " 

„Annen,"  lächelte  der  Mond  mitleidig,  uud  sie  in  ihres  Daseins 
letztem  Augenblicke  noch  verklärend,  küßte  er  sie  mit  seinem  reinen 
Himmelslicht  —  weil  sie  doch  trotz  alledem  eine  Blume  blieb. 
Aber  das  war  in  den  Angen  des  Geistleins,  das  die  Arme  prah- 
lerisch hinter  sein  Ohr  gesteckt  hatte,  ebenso  uncharakteristisch  und  unmodern 
wie  der  klare,  kraftvolle  Wein  zwischeu  Schaum  und  Bodensatz. 


Mont  Saint  Michel. 
«Lin  ^veisebild. 
0°!l 

Richard  Vecll. 
—  Zwickau  i.  3.  — 

~  weiter  Bucht  des  blauen  Meeres  erhebt  sich  unweit  der  Küste  Frankreichs,  süd« 
westlich  vo»  der  Hafenstadt  Ginnville,  dort,  wo  die  Marie»  der  Bretagne  und 
der  Rormandic  einander  berühren,  weithin  über  die  unendliche  Ebene  sichtbar  der  historisch 
denkwürdige,  in  Sage  und  Tichtung  uielbesuns.ene  Mont  St.  Michel.  Kirche  und 
Palast,  Burg  und  Gefängniß,  Kloster  und  Dünlein  sind  auf  dem  Grauitlcgel  mitten  in 
der  See  auf»  und  übereinander  gelhürmH  die  scharfen  gothiscken  Pfeiler  und  Streben, 
ehedem  in  einen  spitzen  Thurmhelm  endend,  gestalten  die  Silhouette  pyramidal  und  vei» 
leihen  dem  'ganzen  Gebilde  das  wunderbare  Mussehen  einer  romantischen  Felscnbura, 
eines  versteinerten  Schlosses,  eines  „Wunders"  unter  den  Bauwerken  von  Menschenhand. 
In  Frankreich  als  Wallfahrtsort  seit  mehi^denn  1<  00  Jahren  hoch  gefeiert  und  längst 
ein  Zugstück  ersten  Ranges  für  die  reiselustigen  Bewohner  der  beiden  Canalländer,  hat 
der  Merg  ,ctwa  seit  einem  Jahrzehnt  auch  in  Deutschland  seine  Verehrer  gefunden,  ab 
und  zu  schaut  man  sein  Bild  in  einer  unserer  größeren  illuiirirten  Zeitschriften,  hie  und 
da  lieü,  man  einen  mehr  oder  weniger  phantastisch  geschriebenen  Fcuillelonartilel  über 
.das  Wunder  des  Canals". 

Für  den  Schreiber  diestr  Zeilen,  der  die  Oslerzcit  in  Paris  verlebte,  stand  es 
von  vornherein  fest,  die  lang  ersehnte  Statte  zu  besuchen,  die  olficielle  Mittheilung,  ruh 
vom  8.  »April  ab  Rundreiscbillets  mit  ßtägiger  Billigkeit  zwischen  Paris  und  Mont 
St.  Michel  ausgegeben  würden,  gab  die  beste  Gewahr  für  eine  möglichst  bequeme  Ver- 
wirklichung des  Planes,  wenngleich  sie  die  Illusion,  etwa  eine  selige  Oede  menschenleeren 
Daseins  zu  betreten,  unbaimhcrz'g  zerstörte.  Aber  schön  und  großartiger  Reize  voll  ge- 
staltete sich  trotzdem  die  unternommene  Fahrt,  und  begünstigt  vom  herrlichsten  in  azurner 
Blaue  über  die  Fluren  und  die  Meerfluth  sich  wölbenden  Osterhimmel,  hat  sie  dem 
Reisenden  einen  unauslöschlichen  Eindruck  hinterlassen. 
Man  benutzt  zu  dem  Ausflüge,  der  sich  in  drei  Tagen  bequem  machen  läßt,  den 
Schnellzug,  der  in  Paris  auf  der  ssare  )lonti>»ruÄ38«  früh  8  Uhr  30  Min.  abgeht. 
Die  Bahu  durchläuft  zunächst  die  Banlieue  ron  Paris  und  mit  ihr  die  einzig  land» 
schaftlich  reizvolle  Strecke.  Hat  man  den  Eiffelthurm  aus  dem  Gesicht  verloren,  zur 
Rechten  den  letzten  Blick  auf  den  Königspalast  von  Versailles  und  die  Apollo» 


260  Richard  Veck  in  Zwickau  i,  2. 

fontlline  im  Pail  geworfen,  so  führt  der  Zug  durch  das  ewige  Einerlei  der  Normandie: 
nur  die  lieblich  gelegene  Stadt  Dreux  mit  der  weithin  sichtbare!«  Grabcapelle  der 
Orleans,  die  die  irdischen  Ueberreste  des  letzten  Honigs  aus  dem  Hause  Philipps  Egalii«. 
Ludwig  Philipps  birgt,  bringt  eine  willkommene  Abwechselung  in  die  ebene  Lano- 
schalt,  die  wohl  fruchtbar  und  obstreich,  Güter  und  Gehöfte  in  Menge  zeigt,  aber  im 
höchsten  Grade  eintönig  und  ermüdend  auf  den  Reisenden  wlrlt.  In  Argentan  hält 
der  Zug  zu  lurzcr  Mittagsrast,  dann  geht's  in  rasendem  Tempo  weiter  durch  gleich  ein» 
förmige  Triften  bis  Follignn.  Hier  zweigt  eiie  Seitenlinie  ab,  die  den  Reisenden 
seinem  Ziele  zuführt:  er  erreicht  zunächst  Aoranches  und  lommt  damit  in  die  Näh« 
des  Meeres,  schon  setzt  der  Seewind  ein  und  lündct  durch  sein  Brausen,  baß  die  Küste 
nicht  mehr  fern  ist.  Es  lohnt  sich  für  den  Wanderer,  in  Avmnches  auszusteigen,  der 
Ort  ist  voll  von  historischen  Erinnerungen.  Bis  1488  war  er  in  englischem  Besitz,  im 
Aufstand  der  Veudöer  während  der  großen  Revolution  eroberten  die  Rebellen  1798  nach 
schweren  Opfern  das  Städtchen,  in  der  Kathedrale,  die  sich  auf  dem  Gipfel  eines  Hügel« 
erhebt,  beugte  der  König  von  England,  der  stolze  Heinrich  II.  seine  Knie  vor  dem  Ab- 
gesandten °es  Papstes  und  bezeugte  demüthige  Buhe  und  Reue  für  den  an  dem  Erz» 
biichof  von  Cauterbury,  Thomas  Becket,  verübten  Mord.  Für  den  Geschichtsforscher 
birgt  die  Bibliothek  de«  tzutel  de  Villc  reiche  handschriftliche  Schütze,  15  000  Bände,  die 
ehedem  auf  dem  Mont  St.  Michel  ruhten.  Steigt  man  auf  den  Hügel,  der  die  Kathe- 
drale trägt,  so  hat  man  weite  Umficht  über  die  Bai  von  Granville,  vor  dem  Auge  des 
Beschauers  erhebt  sich  in  der  Ferne  der  Mont  St.  Michel  und  macht  wohl  den  Wunsch 
rege,  schon  jetzt  nach  dem  ersehnten  Eiland  zu  gelangen,  aber  die  Partie  ist  von  dieser 
Seite  her  wegen  der  Fluthverhältnlsse  gefährlich  uno  schwierig  zu  unternehmen,  wir 
kehren  um,  besteigen  den  Zug  wieder  und  verlasse»  ihn  erst  in  Pontorson,  wo  ein 
Wagen  unser  wartet,  uns  nach  unserem  Ziele  zu  bringen. 
Es  ist  wahr,  der  ersehnte  Kunst-  und  Naturgenuh  muh  theuer  erlauft  werde«:  wir 
sind  mit  unserem  Handgepäck  dank  der  verhältnißmäßig  grohen  Anzahl  Ostergaste  aus 
ein  Minimum  von  Platz  im  Wagen  beschränkt,  der  Weg,  der  mit  Gespann  zurückgelegt 
werden  muß,  ist  etwa  11/2  Stunde  weit,  oie  Fahrt  geht  durch  eine  wirkliche  Wüstenei, 
in  der  selbst  da«  dicht  am  Strande  gelegene  Torf  Moidren  leine  Oase  abgeben  kann;  dazu 
streicht  über  die  kalkige  durchgebrannte  Landstraße  eine  frische  Südbrise  und  überschüttet 
Wagen  und  Insassen  mit  Lasten  weißen  Standes  und  schweren  Schmutzes.  Nach  Ver- 
lauf einer  Viertelstunde  lüften  wir  ein  wenig  die  schweren  Vorhänge  aus  Segeltuch,  da 
liegt  vor  uns  in  der  Ferne  im  Meer  der  ersehnte  Mont.  Schon  sehen  wir  die  gothischcn 
Streben:  wie  eine  Pyramide  im  Sonnenlicht  funlclnd  und  glitzernd  ragt  'er  in  der 
weiten  Fluth,  immer  Heller  und  größer  tritt  der  Michelsberg  zu  Tage.  Kurz  vor  dem 
Meeiesstrande  gewinnt  die  Illusion  volles  Leben,  so  mag  die  Zmiberburg  Montsalwatscb, 
so  der  Brünhild  Burg  auf  Iseustein  in  der  Phantasie  der  höfischen  Tichter  ausgesehen 
haben,  wie  jetzt  die  breitbasige,  mit  Häusern,  Mauern,  Thürmen  und  Zinnen  dicht  be- 
setzte Masse!  —  Einst  lag  das  Eiland,  auf  dessen  einer  Seite  gar  ein  Stückchen  Wald 
Gemäuer  und  Gestrebe  durchwächst,  rings  vom  Meere  umgeben,  der  bequemere  Reise- 
comfort hat  Fels  und  Land  mit  einer  festen  Digne,  einem  Teich,  verbunden,  auf  dem 
der  Reisende  sonder  Fährnih  im  Wagen  hinübergelangen  kann.  Nur  um  zur  Torsgasse 
am  Fuße  des  Felsens  zu  kommen,  muh  der  Wogen  von  der  Digue  link«  abbiegen  und 
durch  den  Meeressand,  der  jetzt  trocken  ist,  —  erst  gegen  Abend  kommt  die  Fluth  — 
seinen  Eingang  zum  Torfe  suchen.  Abwechselnd  wöchentlich  herrscht  hier  große«  und 
kleines  Meer,  zweimal  täglich  kommt  die  Fluth,  jedesmal  8  Stunden  anhaltend,  dann 
liegt  das  Eiland  von  den  Wogen  umtost.  Noch  lag  der  Zugang  ziemlich  trocken  zu  Tage, 
als  wir  einfuhren  und  an  einem  alten  großen  Lteinthor,  der  wavpengezierten  Port«  an 
rui,  deren  Bogen  die  Dorfgasse  überspannt.  Halt  machten.  Jetzt  überschauten  wir  auch 
Torf  St.  Michel,  das  unter  dem  sicheren  Schutze  mächtiger  Steinwiille,  gekrönt  von  der 
kleinen  Pfarrkirche,  am  Fuße  des  Berges  sich  schlangengleich  hinwindet. 


Mont  Saint  Michel.  261. 

Seit  langen  Jahren  befindet  sich  der  eiste  Gasthof  im  Dörfchen  in  den  Händen 
dei  Familie  Poulard,  d.  h.  Poulard  ainö,  denn  es  giebt  auch  noch  eine  ganze  An» 
zahl  anderer  Gasthäuser  unter  derselben  Firma,  die  aber  des  originellen  Anstriche«  und 
der  Vorzüglichkeit  entbehren,  die  jener  Herberge  eigen  sind.  Der  erste  Eintritt  in  das 
wohnliche  Haus,  der  mächtige,  granitene  Kami»,  in  dem  ein  Paar  kräftige  Hammel» 
gigots  am  Spieße  schmorten,  rief  alte,  liebe  Erinnerungen  a»  Ccwli  wack>,  und  als 
Madame  Poulard  uns  patriarchalisch  und  auch  wieder  tout  mollerus,  empfing,  bewill» 
kommnete  und  die  Zimmer  anwies,  da  war  man  sofort  wie  zu  Hause.  Lieber  Leser, 
kennst  Du  auf  Capri  die  bekannte  Kneipe  zum  Kater  Hiüigeigei  an  der  Piazza  des 
Nestchens?  Kennst  Du  da  den  Signor  Padrone  und  Signora  Paorona?  Ueberjeye 
Dir  Neide  in's  Französische,  und  Du  hast  Monsieur  und  Madame  Poulard  vor  Dir. 
So  bedeutend  ist  der  Confluz  von  Fremden  auf  dem  felsigen  Eiland,  daß  unser  Hotel 
zwei  Dependcnzen,  das  „rote"  und  das  „weiße"  Haus,  hat;  wir  erhielten  unsere  Wohnung 
in  elfterem,  etwa  50  Stufen  zum  Theil  von  sehr  zweifelhafter  Qualität  führten  uns 
herauf;  so  erhielten  wir  einen  Vorgeschmack  der  morgenden  Kletterpartie.  Der  Wind  war 
io  heftig,  daß  wir  beständig  Gefahr  liefen,  unserer  Kopfbedeckungen  beraubt  zu  weiden. 
Oben  angekommen,  wies  uns  Marie,  der  emsige  dienstbare  Geist  des  Hauses,  immer  im 
schwarzen  Kleio,  den  Kopf  mit  dem  blendend  weißen  normannischen  Häubchen  bedeckt, 
unser  Zimmer  an,  das  außen  ein  Ballon  umlief,  der  eine  wonnige  Aussicht  auf  das 
Meer  und  entzück»««  Einsicht  in  das  Gewirr  alter  Häuser  gestaltete,  das  am  Fuße  des 
Berges  sich  ausbreitete.  Ein  unentbehrliches  Requisit  der  Einrichtung  unseres  Zimmers 
bildete  eine  Papierlaterne,  den  Weg  über  die  felsigen,  ausgetretenen  Stufen  hinab  nach 
dem  Speisesaal  zu  beleuchten.  Nachdem  wir  uns  von  den  fest  hastenden  Staubmassen 
gesäubert  hatten,  stiege«  wir  unsere  Felstreppen  hinab,  bei  dem  wchmden  Winde 
wahrlich  kein  leichtes  Stück  Arbeit,  und  machten  einen  Ausflug  iu  die  Dorfgasse.  Welch' 
ein  interessantes  Gewintel!  Schwalbennestern  gleich  scheinen  die  Hänser  in  die  mächtigen 
Festungsmauern  eiugcNemmt,  die  gepflasterte  Dorfgasse  vertieft  sich  in  der  Mitte,  um 
dem  Wasser  und  dem  Unnith  Abfluß  zu  geben.  Das  ganze  Dorf  ist  ein  großes  Hütel 
und  ein  großer  Bazar,  in  dem  man  Andenken  an  den  Mont  St.  Michel  in  jeder 
Qualität  taufen  soll,  Post  und  Telegraph,  die  sicheren  Kennzeichen  moderner  Cultur, 
fehlen  nicht  >unb  stehen  in  seltsamem  Conlrast  zu  dem  Stück  echten  Mittelalters,  das 
unserem  Blicke  sich  darbietet.  Uns  zu  weit  von  Madame  Poulards  gastlichen  Räumen 
zu  entfernen,  verbot  die  hereinbrechende  Dunkelheit  und  der  nahe  bevorstehende  Beginn 
des  Diners,  das  wir  uns  heute  redlich  verdient  hatten.  Bei  der  Rückkehr  zur  poi-w 
<lu  roi  gewahrten  wir  auch  schon  die  Fluth,  wdche  jetzt  die  Insel  mit  Ausnahme  der 
Digue  umbrandele.  Bei  Tische  machte  die  Frau  Wirthin  die  Honneurs,  während  Li« 
beiden  Töchter  des  Hauses,  die  in  Toilette  und  Frisur  die  Pariser  Pension,  die  sie  be« 
sucht  hatten,  nicht  verleugnen  konnten,  die  Speisen  herumreichten.  Nach  Tische  vereinte 
der  Kaffee  um  den  Ricsenkamin  eine  wesentlich  anglo»französische  Gesellschaft,  Deutsche 
kommen  nur  selten  hierher.  Nach  10  Uhr  ward  die  Laterne  ergriffen  und  der  luftige 
Weg  über  die  Treppen  nach  der  Wohnung  angetreten?  die  Osternacht  war  sternenhell  und 
mondbestrahlt,  sie  ließ  ein  herrliches  Wetter  zur  Besichtigung  der  Festung  und  des 
Heiligthums  von  St.  Michel  erwarten. 

Von  9  Uhr  Vormittag  ab  weiden  den  Fremden  die  Baulichkeiten  gezeigt,  es  hatte 
sich  eine  ziemlich  zahlreiche  Gesellschaft  zusammengefunden,  und  die  Kletterpartie  sollte 
jetzt  beginnen,  zuvor  aber  ward  eiu  Spaziergang  um  die  Wälle  unternomm,»,  die  eine 
Reihe  herrlicher  Aussichtspunkte  über  Meer  und  Küste  bieten.  Die  denkwürdige  Geschichte 
unseres  Eilandes  beginnt  mit  dem  J  ahre  709,  da  Bischof  Aubertus  von  Auranches 
die  glotze  Abtei  gegründet  haben  soll,  763  erhielten  sie  die  Benedittincr,  deren  Aebte 
sie  zu  jenem  merkwürdigen  Wundenveite  ausbauten,  das  heute  den  Felsen  bedeckt: 
romanische  Massen  ~mlt  gothischen  im  bunten,  wirren  Wechselspiel,  spitzbogige  Galerieen 
und  Giebel,  Netzwelle  von  Fialen  und  Wimpergen  kleben  am  Gipfel  und  an  den  Seiten 


262  Richard  Veck  in  Zwickau  i  3. 

des  Berges.  Die  historischen  Erinnerungen  sind  natürlich  außerordentlich  «ich  und 
mannigfaltig,  sie  drängen  sich  dem  Beschauer  bei  jedem  Schritte  auf.  Im  glotzen 
100  jährigen  Kriege  zwischen  Frankreich  und  England  nard  das  Heiligthum  zur  Festung, 
die  von  den  Engländern  oft  vergebens  bestürmt  und  durch  ein  auf  der  Ncinen  Nachbar« 
insel  Tombellline  angelegtes  Fort  ohne  Erfolg  bedroht  ward,  die  Beste  ist  immer 
jungfräulich  geblieben,  nie  vom  Feind  überwunden  worden.  1469  ward  ans  der  Insel 
von  König  Ludwig  XI.  der  Orden  des  heiligen  Michael  gestiftet.  Lange  Zeit,  noch 
bis  in  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts,  galt  die  Abtei  auch  als  Staatsgefängnitz, 
aus  dem  ein  Entweichen  nicht  möglich  war:  hier  schmachtete  im  eiserneu  Käfig  auf  Be- 
fehl Ludwig«  XV.  Victor  de  la  Castllgue.  Bis  'zum  Jahre  1886  war  der  Bei« 
Wallfahrtsort,  seitdem  sind  alle  Hauten  daselbst  der  Berwaliung  des  Ministeriums  der 
schönen  Künste  unterstellt,  die  Wallfahrten  haben  aber  deshalb  nicht  aufgehört,  sondern 
finden  nach  der  mit  den  uralten  Processionsfahnen  reich  ausgeschmückten  Torftirche  der 
Insel  statt,  die  als  höchstes  Hciligthu >n  die  massi»  silberne  Statue  des  drachentödtenden 
Erzengel«  birgt,  die  einst  die  Abtei  zierte. 

Hie  Unbilden  der  Witterung,  denen  die  Banlichteiien  des  Berges  jederzeit  aus- 
gesetzt sind,  erfordern  fortwährende  Reparaturen  und  machen  das  Wunder  von  St.  Michel 
zu  einem  sehr  theuren  Besitze  des  französischen  Staates.  Große  Baugerüste  fehlen  hi« 
nie,  sie  gehören  zum  Gesammtbilie  der  Localität.  Sämmtliche  Berichterstatter  überbieten 
sich  in  der  Schilderung  der  Anstrengung,  welche  die  Besichtigung  verursachte,  vor  allen 
Dingen  der  vielen  hohen  und  schlechten  Treppenstufen,  die  man  dabei  hinauf-  und  hinab- 
zutlcttcrn  hat.  Gewiß  ist  dem  so,  aber  es  liegt  in  dieser  Art  Besteigung  gerade  ein 
gewisser  Reiz,  zudem  wird  mai  durch  eine  Anzahl  der  schönsten  Ausblicke  für  das  müh' 
selige  Auf»  und  Niedersteigen  wenigstens  etwas  entschädigt.  Leider  ist  es  augenblick- 
lich ganz  unmöglich,  die  berüchtigte  Plattform,  die  einstmals  wohl  den  hohen  Thurm,  der 
da«  Ganze  Irönte,  trug,  und  die  bekannte  „Spitzentreppe"  l?««»>i«r  <l«  äenteüe),  so 
genannt  wegen  des  reichen  gothlschen  Maßwertes,  das  sie  zierlich  wie  Spinnwebe  schmückt, 
zwischen  dem  Gewirr  der  Strebebögen  und  Fialen  des  Chores  zu  ersteigen,  denn  auch 
hier  finden  weitläufige  Reparaturbouten  statt,  die  das  Hinaufsteigen  verbieten.  So- 
mit ist  auch  die  Gefährlichkeit  der  Besteigung,  die  zu  schildern  die  Reisebeschreibungen 
nicht  müde  werden,  in  das  Reich  der  Fabel  verlegt.  Was  man  aber  sieht,  ist  wahrlich 
interessant  genug,  um  die  Bezeichnung  ,M«r?sills"  für  einen  Theil  des  Riesenbaues  zu 
rechtfertigen.  Wir  gelangen  zunächst  in  die  Kirche,  die  im  11.  Jahrhundert  vom  Abt 
Hildebert  II,  begonnen,  1138  vollendet  wurde,  natürlich  im  romanischen  Stil,  den 
einzelne  Thcile  des  Gebäudes  noch  heute  zeigen.  ^Feuersbrnnste  lund  Einstürze  er- 
forderten einen  gothlschen  Neubau  des  hohen  Chores.  Alte  Sculvturcn  zieren  noch  die 
Wände  der  Kirche,  wir  gewahren  eine  sehr  bezeichnende  Darstellung  des  Sündcnfalles 
und  in  Relicfdarstellung  das  Schiff  der  Kirche  auf  den  Wellen  schaukelnd,  ein  Seiten- 
stück zu  Giottos  Nllvicella.  An  die  Kirche  schließen  sich  verschiedene  Säle  an,  sämmtlich 
nur  durch  Massen  von  Treppen  nnd  Stufen  erreichbar,  und  der  berühmte  zierliche  Kreuz- 
gang, dessen  Hängedreiecke  über  den  gekampferten  Säulencapitälen  mit  wundervollen  Band- 
mustern, jedes  anders,  geschmückt  sind.  !Die  Innenseite  des  Krenzganges  deckt  leider 
ein  modernes  Ziegeldach  in  schreienden  bunten  Farben,  .das  zwar  das  zerstörte!  Dach 
genau  nachahmen  soll,  aber  durch  den  Glanz  seiner  Neuheit  unangenehm  mit  dem  ehr» 
würdigen  alten  Gemäuer  contrastlrt.  Die  ganze  Kirche  scheint  am  Felsen  zu  Neben,  vor 
Zusammenbruch  schirmen  sie,  insbesondere  den  hohen  Chor,  durch  die  Pracht  seiner  Details 
den  Hauptzierat  des  ganzen  Beiges,  kolossale  Unterbauten  von  einer  Größe  und  Starte, 
wie  dergleichen  nur  noch  in  Assi»  i,  in  der  Gruftkirche  des  heiligen  Franz,  gefunden  werden. 
Die  Last  der  Kirche  tragen  jbie  ,.ssw8  kiüerz".  die  dicken  18  Fuß  im  Durchmesser 
haltenden  Pfeiler,  zu  denen  Mn  durch  eine  lange  Treppenflucht  gelangt.  Die  meisten 
Gewölblammern  dieser  Substructionen  find  nun  zu  NutzräumenAerwenbet,  die  wichtigsten 
derselben  sind:  das  Promcnoir  der  Mönche,  ein  kühles  Gemach,  von  mächtigen  Sülilen 


Moni  5aint  Michel,  263 

gestützt,  auf  denen  weitausladende  Kreuzgewölbe  ruhen,  ferner  die  Krypta  des  Aquilon; 
endlich  befinden  sich  hier  auch  die  fchauberhaften  Räume  der  Gefängnisse  für  Staats- 
verbrecher, in  die  ebensoaenig,  wie  in  die  entsetzlichen  Gefängnisse  im  Togenpalaste  von 
Venedig,  ein  Lichtstrahl  sich  verirren  lann.  Weitere  Stufenfolgen  führen  zu  dem  Refec« 
t  oriuin,  dem  ehemaligen  Speisesaale  der  Mönche,  welches  zwei  Niesentamine  zieren;  zur 
8211«  äeg  nüws,  dem  Raum,  der  zum  Empfang  der  Gäste  bestimmt  war,  den  leichtere, 
verhältnlhmätzig  zierlich  ausladende,  von  dünnen  Pfeilern  gestützte  Kreuzgewölbe  tragen. 
Eine  abermalige  Treppenflucht  geleitet  in  den  Rittersaal  (I»  82110  äc>8  «l»sv»lier»), 
eine  herrliche  «ethische  Halle,  die  elf  kolossale  Pfeiler  in  vier  Schiffe  thcilen,  vollendet 
unter  dem  kunstsinnigen  Abte  Thomas  des  Chambres  (1218—1225).  In  diesem 
Saale  stiftete  1469  König  Ludwig  XI.  den  Orden  des  heiligen  Erzengels  Michael; 
wenn  auch  der  Sitz  des  Ordens  schon  1557  nach  Vincennes  verlegt  wurde,  so  erhielt 
doch  der  Saal  von  der  Stiftungsfeierlichleit  seinen  Namen.  Unter  dem  Rittersaal  wölben 
sich  die  weiten  Kellerräume,  bestimmt,  Proviant  und  Getränke  in  großen  Massen  aufzu» 
nehmen,  um  langen  Belagerungen  Trotz  zu  bieten,  wie  sie  der  Mont  St.  Michel  im 
hundertjährigen  Kriege  der  beiden  Canalmächte  so  oft  auszuhalten  hatte. 
Nach  anderthalbstüncligem,  mühseligem  Herauf»  und  Hinabtlettern  Tausender  von 
Stufen  gelangten  wir  wieder  in's  Freie  mit  dem  Bewußtsein,  ein  Stück  Mittelalter 
gesehen  zu  haben,  wie  es  so  ausgezeichnet  «halten  nicht  häufig  in  Europa  vorkommt. 
Nach  einem  treffliche»  Dejeuner,  bei  dem  die  historische  Omelette  nicht  fehlte,  lehrte  der 
größte  Tbeil  der  Anwesenden  dem  gastlichen  Hause  Madame  Poularbs  wieder  icn  Rücken, 
um  neuen  Osteigästen  Platz  zu  machen.  Nur  zu  bald  hatten  wir  die  phantastische 
Pyramide  deö  unvergleichlich  malerischen  Beiges  wieder  hinter  uns  und  fuhren  nach 
Granville  an  den  Meeresstrand,  um  von  bort  aus  am  nächsten  Tage  den  Schnellzug 
wieder  zu  besteigen,  der  uns  in  jäher  Eile  wieder  nach  der  französischen  Hauptstadt 
führen  sollte. 


Die  Einic 

lllustrirte  Bibliographie. 

leremias  Gotthelf,  «usgcwählle  Werte.  Eiste  illustrirte  Prachtausgabe.  Nact, 
dem  Originaltezte  herausgegeben  von  Prof.  Otto  Suteemeistcr.  Voiwort  von 
DI.  K.  Schenk,  Mitglied  des  Schweiz.  Bundesrathcs.  Mit  200  Illustrationen  von 
A,  Anler,  H.  Bachmann,  W.  Vigicr.  Eh  aux-de°  Fonds,  Verlag  von  F.  Zahn. 
Ein  angesehener  Litterarhistoriker  und  Dichter  weist  in  seinem  in  diesem  Hefte  ver- 
öffentlichten Essay  gegenüber  den  Ansprüchen  moderner  litterarischer  Revolutionäre,  als  die 
Vertreter  einer  neuen,  auf  wesentlich  anderen  Grundlagen  ruhenden  Dichtung  betrachtet 
zu  weiden,  darauf  hin,  das;  die  Weisheit  Ben  Atibas  auch  auf  dem  lilteraiischen  Markte 
Geltung  babe.  Ter  Fortschritt,  der  in  der  wodeinen  Bewegung  liegt,  soll  damit  gewiß 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  und  ihre  Auswüchse  dürfen  uns  nicl  t  blind  machen  gegen 
die  Verdienste  ihrer  Träger.  Daß  aber  diejenigen  von  ihnen,  welche  glaubten  etwas  im 
Principe  ganz  Neues,  noch  nickt  Dagewesenes  zu  verkünden,  in  schwerer  Selbsttäuschung  be- 
fangen waren  resp.  sind,  dafür  liefert  Goltschall  in  seiner  Paiallele  zwischen  den  „Modernen" 
und  den  Stürmer»  und  Drängein  des  vorigen  Jahrhunderts  sehr  lehrreiche  Beispiele. 
Auch  der  Dichter,  mit  dem  wir  uns  anläßlich  einer  Neuausgabe  seiner  Werke  wieder 
zu  beschäftige«  angeregt  werben,  tonnte  als  Beispiel  dienen.  Als  der  als  der  Vater  und 
das  Haupt  des  extremen  Realismus  gefeierte  Emile  Zola  geboren  wurde,  im  Jahre 
1840,  waren  bereits  mehrere  Bande  ton  einem  Schweizer  Dichter  erschiene»,  der  bald  uls 
ein  Meister  realistischer  Darstellung  und  als  ein  episches  Talent  ersten  Ranges  gepriesen 
wurde.  Ja,  der  Rcaliswus  leiemias  Gotthelfs  oder  Albert  Bitzius'  ist  mitunter  sogar 
so  kräftig,  so  iwgcniit,  daß  der  wärmste  Verehrer  Zolas  davon  befriedigt  sein  tonnte- 
die  bekannte  Schilderung  des  Kampfes  der  beiden  misttriefenden  Mägde  in  „Uli  ter 
Knecht"  könnte  von  dem  französischen  Meister  geschrieben  sein:  und  in  der  übermäßigen 
Berücksichtigung  des  descriptioen  Elements  fleht  ihm  leremias  Gotthelf  nicht  nach. 
Freilich,  im  Allgemeinen  hält  sick  der  Realismus  Gotthelfs  von  den  Maßlosigkeiten 
Zolas  frei;  er  ist  nicht  einseitig  auf  die  Nachtseiten  und  die  pathologischen  Erscheinungen 
des  menschlichen  Lebens  beschränkt:  der  Schweizer  Pfarrer,  der  in  engster  Berührung 
mit  dem  Bauern  gelebt,  schildert  das  ländliche  Leben  ganz  anders  und  sicher  nicht 
weniger  wahr  und  treu,  als  Zola  es  i«  seiuem  von  Gräueln  erfüllten  Roman  „t~  leir« - 
gethan;  andererseits  ist  seine  raive,  realistische  Widerspiegelung  der  bäuerlichen  Welt  von 
der  sentimentalen  Auffassung  des  durch  die  Brille  des  Spinozismus  blickenden  Berlhold 
Auerbach,  dessen  Erfolge  auf  dem  Geviele  der  Dorfgeschichte»  in  dieselbe  Zeit  fallen, 
wesentlich  vcrsliiedc». 


Illustiiite  Bibliographie. 
265 

Nor!Ä»  und  2>id,  I.XXV,  224, 
18 


266 

Nord  und  Lud, 
H 

In  Icremias  Gotthelss  Schiiftm  ist  zum  Schaden  ihrer  künstlerischen  Wirkung 
neben  dem  Dichter  sehr  häufig  der  Parteimann  und  der  Prediger  lebendig:  lang  aus- 
gesponnene Betrachtungen,  Pastorale  Ergüsse,  breite,  trocken-lehrhafte  Beschreibungen  unter- 
brechen die  Handlung  und  ermüden  den  Leser:  und  die  Beziehungen  auf  Personen  und 
Zustande  aus  der  näheren  Umgebung  des  Dichters,  die  auch  nur  dieser  vertraut  und 
interessant  waren,  haben  dem  Dichter  in  der  Werthschätzung  und  bei  Kauernden  Gunst 
bei  dem  nichtschweizerischen  deutschen  Publicum  starken  Abbruch  gethan.  Diese  Mängel 
haben  es  auch  verschuldet,  daß  Gotthclf,  kaum  vierzig  Jahre  nach  seinein  Tode,  außer- 
halb der  Grenzen  seiner  engeren  Heimat  mehr  jene  mumienhafte  Unsterblichkeit  in  den 
Litteraturgeschichten,  als  jene  lebendige  Unsterblichkeit,  die  in  der  fortdauernden,  unmittel- 
baren Wirkung  der  Werke  auf  empfängliche  Gemütycr  besteht,  genießt.  Und  das  ist  zu 
bedauern,  denn  Gotthclf  ist  mit  allen  leinen  Schwächen  ein  hervorragender  epischer 
Dichter  und  ein  Volksschriststeller  eisten  Ranges,  der  als  solcher  erziehend  und  erhebend 

Made»  »1?  FillU  schulmlist». 

Au«!  ~eiemill«  c^oühelf:  „Auögcwiihlte  Wellt",  lllusteiite  Piochwuzgobe. 
Heiouigegebe»  00,1  Prof,  I),  SutelM  elfter.  Verlag  von  F,  Zahn,  (!h<mi>l>e»F«ndl, 
auch  heute  noch  zu  wirken  vermag,  wenn  man  ihn  in  reiner  Gestalt,  in  dem  wahren 
Gehalt  seiner  Natur  dem  Volke  nahe  bringt.  Und  dies  geschieht  durch  eine  neue 
Ausgabe  seiner  besten  Werke  durch  Professor  Otto  Sutermeister.  Der  Herausgeber,  der 
sich  über  die  angedeuteten  Mängel  in  den  Weilen  Gotthelfs  wohl  klar  war,  hat  es 
unternommen,  dieselben  zu  beseitigen,  nicht,  indem  er  eine  sogenannte  „Bearbeitung' 
lieferte  —  davon  hielt  ihn  die  richtige  Pietät  für  das  Wort  des  Dichters  ab  —  sondern 
indem  er  einfach  jene  störenden  epifodifchcn  Partiecn  entfernte.  Dies  konnte  hier 
ohne  Gefahr  geschehen,  da  bei  Gotthclf  die  Tendenz  nicht  das  Kunstwerk  durchdringt, 
sondern  gemeinhin  nur  äußerlich  angehängt  und  eingefügt  ist.  Ter  Herausgeber  konnte 
also  diese  wilden  Ranken  entfernen,  ohne  in  den  Organismus  des  Werkes  schädigend 
einzugreifen.  Außerdem  bietet  0.  Sutcrmeisters  Ausgabe  noch  nach  einer  anderen  Seite 
bin  eine  Bereinigung,  indem  sie  die  erste  ursprüngliche  Lesart,  den  ulwerfälschten 
Originaltext  im  Gegensatz  zu  den  späteren  für  Deutschland  specicll  berechneten  Ausgaben 
und  zu  den  vielfachen  Nachdrucken  gicbt. 


Vibliographie. 
26? 


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Pilliih«!!»  von  Lilyllflu", 

Au«:  leiemio«  <~«tlhelf:  „Ausgewählte  Weile,"  INuftiirtc  lplochtau»»a!>e, 
Hei»u3gegehen  von  Pros,  0.  Zutermeist  er,  Verlag  von  F,  Zahn,  Chaur-oe-Fonbi, 
Tic  Verlagshandlung  F.  Zahn  in  Chauz-de-Fonds  hat  das  verdienstliche  Unter- 
nehmen des  Herausgebers  in  freigebiger  Weise  unterstützt,  indem  sie  die  Ausgabe  von 
Gotthelfs  ausgewählten  Werken  zu  einer  vornehmen  Prachtausgabe  gestaltete,  vor  Allem 
durch  die  Heranziehung  dreier  hervorragender  Schweizer  Künstlei:  A.  Änler,  H.  Nachmonn 
und  W.  Vigier,  welche  200  vortreffliche  Illustrationen  geliefert  haben.  Die  Ausgabe 
wird  enthalten:  Leiden  und  Freuren  eines  Schulmeisters;  Uli  der  Knecht; 
Uli  der  Pächter;  Der  Bauernspiegel:  Der  Sonntag  des  Großvaters; 
Elfi  die  seltsame  Magd;  Anne  Bäbi  lowägei  und  erscheint  in  20—22  monat» 
liehen  Lieferungen  zum  Subscriptionsvreise  von  je  1,20  Mk.  —  Die  schöne  Ausgabe  sei 
hiermit  bestens  empfohlen.  0,  >V. 
Erinnerungen  von  Felix  Dahn. 

Viertes  Buch,  2.  Abtheilun«  (1871—1888).  Leipzig.  Druck  und  Verlag  vonBreittop 
und  Hallel. 

Nach  den  packenden  Schilderungen  der  eisten  Abtheiluug  dieses  Buches,  das  uns 
das  J  ahr  1870,  insbesondere  die  Schlacht  bei  Sebcm,  meisterhaft  zur  Anschauung 
brachte,  hätte  man  eine  Erlahmung  des  Interesses  für  den  vorliegenden  Band  befürchten 
lonncn.  Ter  Dichter  hat  diese  Befürchtung  —  wenn  sie  vorhanden  war  —  auf's 
Glänzendste  zu  nicht«  gemacht;  sa,  icb  kann  nicht  leugnen,  daß  dieser  letzte  Band  — 
wenigstens  für  meinen  Geschmack  —  seine  Vorgänger  an  Fülle  des  Interessanten,  an 
Reichthum  des  Charakteristischen  noch  übertrifft.  Ei  ist  der  Lebensabschnitt,  in  welchem 
der  Dichter  den  Höhepunkt  seines  dichterischen  und  wissenschaftlichen  Könnens  und 
Wirkens  erreicht,  den  Höhepunkt  zugleich  seines  Liebes»  und  Lebensglückes.  In  Königs» 
berg,  wohin  er  am  19.  Juni  1872  berufen  worden  ist,  sind  fast  alle  die  giotzen 
historischen,  philosophischen  und  jmistischen  Arbeiten,  dazu  die  bedeutendsten  poetischen 
Weile,  die  zum  Thcil  schon  in  Würzburg,  ja  in  München  geplant  und  begonnen  waren, 
nusgesührt  und  vollendet  norden.  Ueberschaut  man  die  nach  Zahl  und  Umfang,  nach 
wissenschaftlicher  und  poetischer  Gediegenheit  auheroroentlicke  Menge  von  Weilen,  so  fragt 
man  sich  staunend:  wie  ist  es  möglich,  dah  die  Kraft  eines  Menschen,  der  dazu  ein 
18» 


268  Nord  und  2nd. 

schweres,  verantwortungsreiches  und  zeitraubendes  Amt  verwaltet,  ausreichen  tonnte,  das 
Alles  hervorzubringen?  Die  Antwort  lautet:  nur,  wer  wie  Dahn  lewe  Stunde  de» 
Tages,  vom  frühen  Morgen  bis  zum  späten  Abend,  ungenutzt  vorüberläfzt,  wer  die 
Stunden  der  Muße,  der  Erholung  auf's  Acußerste  beschränkt  und  seine  Zeit  so  eintheilt, 
daß  jedem  Tage  gewissermaßen  ein  genau  innegehaltenes  Programm  zu  Grunde  liegt, 
nur  der  wird  im  Stande  sein,  bei  gleicher  Begabung  gleich  Grobes  zu  schaffen. 
Nachdem  Dahn  die  näheren  Umstände  seiner  Uebersiedelung  nach  Königsberg  be» 
lichtet,  entwirft  er  von  Land  und  Leuten  in  Preußen  und  insbesondere  von  der  Hauvt» 
Stadt  und  ihren  Vewohnern  eine  höchst  anschauliche,  mit  köstlichem  Humor  durchsetzte 
Schilderung,  die  trotz  mancher  satirischen  Randglossen  von  wärmstem  Wohlwollen  und 
aufrichtigster  Anerkennung  getragen  ist.  Kommt  er  doch  am  Schlüsse  derselben  zu  dem 
Resultat:  ,ln  Königsberg  liegt  doch  wohl  der  Schwerpunkt  meines  Lebens,  und  meine 
dankbarsten  Erinnerungen  gelten  —  neben  denen  an  die  glückliche  Knabenzeit  im  Eltern» 
garten  zu  München  —  der  lieben  alten  Pregelstadt:  ganz  besonders  auch  um  der 
Erinnerungen  willen,  die  sich  an  meine  Thätigleit  als  Lehrer,  an  das  herzerquickende 
Verhältnis;  zu  meinen  preußischen  Schülern  knüpften." 
hier  in  Königsberg  war  es  auch,  wo  er  nach  jahrelangem  Kampfe  mit  widrigen 
Verhältnissen  den  Bund  füi's  Leben  mit  Theresen  schließen  durfte,  die  ihm  seine  Häuslich- 
keit zur  Stätte  echtesten,  unvergänglichen  Glückes  machte.  Die  Schilderungen  dieses 
trauten  Zusammenlebens  und  Zusammenaibeitens  sind  von  ganz  besonderer  Wärme  und 
Anmuth  durchdrungen,  Erfreulich  ist  dabei  auch,  wahrzunehmen,  wie  von  J  ahr  zu  J  ahr 
die  Anerkennung  und  der  Ruhm  des  Dichters  wächst  und  mit  ihm  zugleich  die  materiellen 
Verhältnisse  sich  fortdauernd  günstiger  gestalten.  Der  große  Kreis  von  Freunden  und 
guten  Bekannten,  die  sich  allmählich  um  ihn  schaaren,  beweisen  außerdem,  daß  nicht 
nur  der  Dichter  und  Gelehrte  die  wohlverdiente  Ancilinnung  gefunden,  sondern  daß  man 
vor  Allem  auch  den  Menschen  oder  vielmehr  das  Ehepaar  Dahn  von  Herzen  lieb« 
gewonnen  hatte. 

I  n  die  Schilderung  aller  dieser  Verhältnisse,  die  von  des  Dichters  Stellung  in  der 
Gesellschaft,  in  der  Universität,  im  öffentlichen  Leben  und  in  der  Politik  Kunde  geben, 
sind  eine  Masse  reizender  kleiner  Anekdoten  eingcflochtcn,  die  Dahn  so  meisterlich  zu 
erzählen  versteht.  Wer  Gelegenheit  gehabt  hat,  ihn  mündlich  solche  Auelbötchen  vortrage:! 
zu  hören,  der  wird  ihn  bei  der  Leetüre  dieses  Buches  gewiß  an  vielm  Stellen  leibhaftig 
vor  sich  sehen,  wie  er,  den  Kovf  ein  wenig  zur  Seite  geneigt,  mit  eihovenem  Zeige- 
finger und  dem  ernstesten  Gesicht  von  der  Welt  die  schelmischsten  Dinge  zum  Besten 
giebt,  die  allemal  das  herzlichste  Lachen  der  Zuhörer  wachrufen.  Hinbei  sei  auch  eines 
liebenswürdigen  Charatterzuges  Dahn's  erwähnt,  den  er  mit  manchem  anderen  deulschen 
Dichter  theilt:  seine  Liebe  zur  Thierwelt,  insbesondere  zur  gefiederten.  Werdächte 
hierbei  nicht  an  die  rührenden  Klagen,  die  Friedrich  Hebbel  seinem  Tagebuche  anvertraute 
beim  Tobe  seines  Hündchen«  und  seines  Eichhörnchen«  ?i 
Alljährlich  in  den  großen  Univcisitätsfciicn  unternimmt  Dahn  mit  seiner  Frau 
Reisen  nach  dem  Süden  oder  an  die  Nordsee,  von  denen  er  mancherlei  interessante 
Einzelheiten  zu  berichten  weiß.  Zu  diesen  gehört  vornehmlich  eine  mehrstündige  Unter» 
rebung  mit  iiönig  Ludwig  II.  von  Bayer,!,  der  den  Dichter  von  Paitcnlirchen  aus  nach 
seinem  Neigschloß  Scheichen  abholen  ließ.  Dieses  Zwiegespräch,  in  dem  der  König  mit 
emer  geradezu  verblüffenden  Offenheit  über  Staatsoerhältnisse  und  Persönlichkeiten  sich 
aMieß  und  der  Dichter  ebenso  offen  und  unerschrocken  antwortete,  gehört  zu  dem 
Packendsten,  das  ich  je  gelesen.  Schade,  daß  der  Dichter  durch  nothwendige  Rücksicht» 
nähme  gehmbert  war,  ein  anderes  Zwiegesvräch  —  mit  dem  Fürsten  Bismarck  —  ras 
er  nur  andeutungsweise  wiedergiebt,  ausführlich  zu  berichten:  da»  wäre  vielleicht  nock 
interessanter  gewesen,  als  jenes  mit  dem  unglücklichen  König, 
,/\,  I"  Königsberg  nimmt  Dahn  auch  zuerst  Fühlung  mit  dem  Theater,  auf  dem  er 
schone,  in  glänzende  Erfolge  davontragen  sollte.  Daß  sie  trotzdem  nicht  von  Dauer 
blieben,  erfüllt  den  Dichter  mit  gerechtem  Unmuth.  Es  ist  in  der  That  nicht  recht  be- 
greiflich, weshalb  seine  Stücke,  die  abgesehen  von  ihrem  poetischen  Gehalt,  doch  durchweg 
einen  starken  theatralischen  Zug  haben  und  ihre  Wirkung  bei  einigermaßen  guter  Dar- 
stellung nie  versagen,  so  ganz  von  der  deutschen  Bühne  verschwinden  konnten.  Aber 
»  '?  >-  »beim  Theater  kommt  immer  Alle«  anders",  wie  der  alte  Laube  ,u  saaen 
Pflegte,  besonders  in  Deutschland,  es  bietet  Räthsel.  die  lein  Verständiger  zu  lösen 


Vibliogravhisch«  Notizen. 
269 

Es  ließe  sich  noch  viel  Schönes  und  Gutes  üb«  das  vorliegende  Vuch,  das  trotz 

der  Versicherung  des  Dichters  hoffentlich  nicht  da«  letzte  seiner  Erinnerungen  sein  wird, 

sagen;  hier  muh  es  genügen,  darauf  aufmerksam  gemacht  zu  haben:  geht  hin  und  leset  selbst! 

Geschmückt  ist  das  Buch  durch  ein  Bildnis,  des  sechsjährigen  Felix  Dahn,  ein 

allerliebstes  Kinderportrait,  auf  dem  uns  dieselben  Augen  entgegenleuchten,  die  heute  noch 

des  Mannes  Antlitz  beleben:  Dichteraugen  altern  eben  nicht.  Ferner  bietet  das  Buch 

ein  wohlgetroffenes  Bild  Theresens  uno  eine  Darstellung  des  gemeinschaftlichen  Arbeits, 

zimmers  im  Hinter-Tragheim  zu  Königsberg. 

Fllht  man  das  Endergebnih  der  fünf  starten  Bünde  zusammen,  in  denen  der 
Dichter  von  seinem  Leben  berichtet,  so  muh  man  sagen:  es  ist  eines  der  glücklichsten, 
das  man  sich  denlen  lann,  voll  Mühe  und  Arbeit,  voll  redlichsten,  edelsten  Streben«, 
«ich  an  Segen  und  Erfolgen  der  schönsten  Art.  Hoffen  wir,  daß  noch  viele  Jahre  ihm 
das  alte  Glück  treu  bleibt.  —  «. 
Bibliographische  Notizen. 
Vliese  »es  Grafen  Neithardt  von 
(Yucisenau  an  vr.  Johann  Vlasius 
Ticglmg,  Professor  de»  Mathematik 
inVrfurt.  Von  Dr.  A.  Pick.  Erfurt, 
Verlag  von  Karl  Biliarer. 
Nah  die  classische  Biographie  Gneise- 
«aus  von  Pertz  und  Delbrück  hier  nur 
noch  ergänzt  und  erweitert  werden  lann, 
ersieht  man  aus  dem  vorliegenden  kleinen 
Schriftchen,  Ter  Mensch  Gneisenau  be- 
sonders tritt  hier  in  eine  helle  Beleuchtung. 
Der  sorgende  und  teilnehmende  Freund, 
der  liebende  und  aufopferungsfähige  Gatte, 
der  wohlwollende  Gönner,  der  wohlthätige 
Menschenfreund,  sie  Alle  enthalten  Eigen- 
schaften, die  unserem  genialen  Feldherrn 
durchaus  eigenthümlich  sind.  Es  ist  geradezu 
ein  Genuh,  die  Briefe  zu  durchmustern, 
die  er  an  seinen  alten  J  ugendfreund  Siegling 
geschrieben  hat.  Daß  auch  eine  liebens- 
würdige Bonhommie,  hier  und  da  ein 
Fünlchen  Ironie  dem  Feiomarschall  nicht 
fremd  ist,  zeigt  sich  an  vielen  Stellen  der 
Nriefsllmmlung.  „Wenn  so  ein  paar  Ge- 
lehrte reisen,  da  wird  gewöhnlich  etwas 
vergessen  oder  gestohlen."  Aber  der  hier 
so  leise  spöttelt,  hatte  selbst  eine  tüchtige 
Ader  von  einem  deutschen  Gelehrten  und 
Professor  in  sich;  aus  ihr  erklärt  sich  nicht 
zum  Mindesten,  daß  Gneisenau  nach  langem 
Warten  so  schnell  vorwärts  gelommm  ist. 
>Vä. 

Erzherzog  Karl  von  Defterreich.  Ein 
Lebensbild.  Von  H.  N.  von  leihberg. 
I.  Bd.  1.  und  2  Hälfic.  Wien  uno 
Leipzig  W.  Äraumüller. 
Es  ist  mehr  als  ein  Lebensbild,  das 
hier  geboten  wird,  es  ist  schließlich  im 
zweiten  Theil  des  1.  Bandes  eine  Geschichte 
Oesterreichs  in  der  nachtheresianischen  Zeit, 
in  der  dieses  Land  sich  zu  einem  modernen 
Staate  entwickelte.  So  verfolgen  wir  den 
Erzherzog  durch  die  Kinder-  und  lugeiw- 
jähre,  durch  das  Elternhaus  bis  auf  die 


belgischen  Schlachtfelder,  wo  die  französische 
Revolution  sich  in  kriegerischen  Eruptionen 
Luft  machte  und  dem  Prinzen  Gelegenheit 
gab,  sich  im  Kriegshandwerk  so  auszu- 
bilden, daß  er  wohl  befähigt  war,  spater 
als  Neoiganislltor  des  österreichischen  Heer- 
wesens aufzutreten. 
Man  darf  mit  Spannung  den  nächsten 
Bänden  des  Werkes  entgegensehen;  müssen 
sie  uns  doch  zeigen,  wie  der  „Sieger  von 
Aspein"  die  Arbeit  seiner  Mannesjahre 
erfaßt  und  durchgeführt  habe. 
Welch  umfassender  Fleiß  »uf  dieses 
Wert  verwandt  ist,  und  welches  ungeheure 
Material  ihm  zu  Grunde  liegt,  geht  unter 
Anderem  aus  den  mehr  als  20U0  An- 
merkungen umfassenden  Quellennachweisen 
hervor,  die  am  Schlüsse  jedes  Bandes  au> 
gefügt  sind.  >Vc>, 
Fürst  Vismarck  und  seine  Zeit.  Von 
H,  Blum.  3.  und  4.  Bd.  München, 
E.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhand- 
lung. 

Ter  Verfasser  hat  sich  mit  großer 
Liebe  in  den  gewaltigen  Stoff  versenkt,  den 
es  zu  bewältigen  giebt,  wenn  es  gilt,  einen 
Bismarck  und  die  von  ihm  beherrschte  Zeit 
in's  rechte  Licht  zu  rücken.  Um  so 
schwieriger  ist  diese  Aufgabe,  als  Snbel's 
klassisches  Wert  vorliegt.  Aber  Blum 
wendet  sich  offenbar  an  ein  größeres 
Publicum,  als  Snbel's  von  diplomatischem 
Geiste  getragene  Daistellung  beanspruchen 
kann.  Ich  glaube  in  der  That,  daß  durch 


270 

Nord  und  5iio. 

Vlums  interessante  Schilderungen  die 
Kenntnis;  von  dem  Leben  und  Willen  des 
gewaltigen  Staatsmannes  ein  geistiges 
Gemeingut  des  gebildeten  deutschen  Volles 
werden  lann.  Druck  und  Ausstattung 
lassen  Nichts  zu  wünschen  übrig.  Mögen 
sich  die  folgenden  Bände  dm  vorherge» 
gangenen  würdig  anschliehen!  ~6, 
Politische  Zchrlften  von  1848-1868. 
Von  Ludwig  Namberger.  Berlin, 
Rosenbaum  und  Hart. 
Die  hier  gebotenen  Leitartikel  aus  dem 
Jahre  48,  die  politischen  Vss<U)2  und  Streit- 
schriften, welche  schon  früher  gedruckt  worden 
sind,  tonnten  mit  Recht  von  Bamberg«  zu 
einem  Vande  vereinigt  weiden.  Sind  sie  doch 
alle  Zeit»  und  Spiegelbilder  einer  giihrenden 
Epoche,  in  der  sich  der  Constitutionalismus 
endgiltig  zum  Leben  hindurchiang  und 
Preußen,  das  viclgehaßte  Preuße»,  immer 
mehr  in  die  Führelstellung  Teutschlands 
hineinwuchs. 

Darin  liegt  der  Reiz  dieser  Aufsätze, 
dasz  sie  die  Zeitstimmung  wiedersviegeln, 
der  viele  denkende  Köpfe  tamals  huldigte». 
Die  Darstellung  ist  immer  packend  und 
geistreich,  mag  Bamberger  von  dem  Revolu- 
tiönchcn  in  der  Pfalz  von  1849  ergötzliche 
Bilder  entwerfen,  mag  er  sogar  in  französi- 
scher Sprache  den  Galliern  beibringen,  daß 
sie  den  Herrn  von  Nismarck  durchaus  falsch 
beurtheilen;  Bamberg«  ist  als  Parlamen- 
tarier durch  seine  sachlichen,  scharfsinnigen 
und  häufig  von  philosophischem  Geiste  durch» 
drungenen  Reben  bekannter  geworden  denn 
als  Schriftsteller,  Daß  er  aber  zu  einem 
solchen  große  Fähigleiten  besitzt,  beweisen 
auch  diese  kleinen  Schriften  aus  einer  un- 
gestüm vorwärts  drängenden  Zeit. 
>Vc>. 

Mfzland  unter  «aiser  Alexander  III. 
sowie  Pslitil  und  Aufgabe»  stilo- 
l»IS  II.  Von  F.  Neubürger.  Berlin, 
M.  Driesner. 

Ter  Titel  entspricht  nicht  ganz  dem  I  n- 
halt;  wir  erfahren  mehr  von  Alexander  II. 
als  von  seinem  Sohne.  Und  das  mit  vollem 
Rechte.  Denn  die  nennenswerthen  Neue- 
rungen, dazu  bestimmt,  das  große  Slaven» 
reich  den  westlichen  Staaten  Europas  naher 
zu  bringen,  sie  sind  von  Alexander  II.  aus- 
gegangen. Doch  das  nur  nebenbei.  Was 
da  erzählt  wird  von  dem  russischen  Druckerei» 
und  Zeitungswesen,  von  den  Chiconen  der 
Behörden  gegen  Untergebene,  von  Kirche, 
Verfassung  und  Staat,  von  dem  leicht- 
sinnigen, mehr  und  mehr  verarmenden  Adel, 
von  dem  alloholisirten,  halb  verthielten 


Bauern,  das  Alles  sind  wunderbare  Dinge, 
die  den  anderen  Europäern  laum  bekannt 
sein  dürften.  Es  liest  sich  wie  eine  Tra» 
gödie,  jene  Schilderung  von  der  Bauern- 
Emancipation  Alexanders  IL,  von  seinem 
redlichen  Stieben,  seinen  Untcithanen  alle 
Errungenschaften  der  modernen  Cultur  in 
Verfassung,  Kunst  und  Wissenschaft  zugäng- 
lich zu  machen.  Und  die  Antwort  darauf? 
Die  Tynamitbombe  der  Nihilisten! 
Acutes  Interesse  dürfen  die  Partien  de» 
Buche»  beanspruchen,  wo  die  Möglichkeiten 
eines  Krieges  zwischen  Rußland  und  Deutsch- 
land und  seine  Folgen  erwogen  weiden. 
Gewiß,  der  russisch«  Soldat  wäre  unwider- 
stehlich ohne  den  —  Schnaps:  der  russische 
Bauer  ist  intelligent,  aibeitslustig  und  fähig 
ohne  den  —  Schnaps.  Rußland  hat  un- 
ermeßliche Schätze,  aber  sie  sind  nicht  ge- 
hoben und  können  also  gegen  Niemand 
ausgespielt  werden.  Aber  hü  denn  Rußland 
ein  Interesse  daran,  einen  Wafieiigang  mir 
Teutschland  zu  wagen?  Der  Verf.  veineini 
das  und  fügt  hinzu,  daß  beide  Mächte 
dabei  nur  verlieren  und  Nichts  gewinnen 
tonnten. 

Die  Ausführungen  des  Verf.  tragen 
den  Stempel  sorgsamer  Studien  an  der 
Stirn,  weshalb  man  ihnen  gerne  Glauben 
schenken  mag,  um  so  mehr,  als  ein  zwanzig- 
jähriger Aufenthalt  im  Lande  und  der 
Verkehr  mit  allen  Bevölleiungsllassen  nur 
dazu  beitragen  tonnte,  den  Schilderungen 
des  Verf.  sicheren  Untergrund  und  ein 
bestimmtes  Colorlt  zu  verleihe».  Möchten 
die  Pcophezeiungen  des  Verf.  auch  be- 
züglich der  Regierungsgrundsätzc  de»  jungen 
regierenden  Zaren  sich  bewahrheiten!  Dann 
wäre  von  der  wilden  Ehe  zwischen  Galliern 
und  Slaven  für  Teutschland  wenig  zu 
fürchten.  Wä, 

Geschichte  Siciliens.  Von  E.  A. 
Freeman.  Deutsche  Ausgabe  von 
B.  Lupus.  1.  Bd.  Mit  dem  Bildnisse 
de«  Verfassers  und  fünf  Karten.  Leipzia, 
N.  G.  Teubner. 

Ter  Uebersetzer  und  Herausgeber  Hot 
sich  ein  Verdienst  um  die  Wissenschaft  damit 
erworben,  daß  er  des  berühmten  englischen 
Forschers  Werk  auch  einem  größeren  deut- 
schen Publicum  zugänglich  gemacht  hat. 
Zwar  ist  es  nur  ein  Torso,  der  bei  dem 
vorzeitigen  Tod«  Freemcms  geboten  werden 
kann;  aber  auch  so  erhalten  wir  eine» 
deutlichen  Begriff  von  der  Kraft  und  poeti» 


Vibliographische  Notizen. 
2?«, 

sehen  Lebendigkeit  der  Darstellung  des 
Verfassers,  der  durch  seinen  langen  und 
wiederholten  Aufenthalt  auf  dem  heillichen 
Sicilim  in  die  Lage  gesetzt  war,  so  zu 
schildein,  wie  er  es  mit  eigenen  Augen  er- 
schaut hatte.  Zwar  haben  wir  es  in  diesem 
Bande  mit  der  ältesten  Geschichte  der  Mittel» 
meerinsel,  mit  ihren  Urbewohnern  und  der 
Besiedelung  durch  Phönilicr  und  Griechen 
zu  thun,  aber  die  topographischen 
Schilderungen  haben  auch  für  die  Jetztzeit 
noch  ihre  Bedeutung,  und  wer  jemals  auf 
den  Höhen  der  Achredina  bei  Syrakus  oder 
auf  der  trümmerbesiiten  Umgebung  von 
Alrogas,  dem  heutigen  Girgenti,  gestanden 
hat,  der  wird  der  scharfen  Beobachtung  und 
der  deutlichen,  noch  heute  geltenden 
Charakteristik  von  Stadtebildern,  wie  sie 
Freeman  bietet,  seine  Bewunderung  nicht 
versagen  können. 

Stellten  stand  einst  im  griechischen 
und  römischen  Zeitalter  im  Mittelpunkte 
des  damaligen  Welthandels.  Heule,  seitdem 
die  Insel  jahrhundertelanger  Vergessenheit 
anheimgefallen  war,  zieht  der  moderne 
Weltverkehr  nach  Ostindien,  an  ihren  Ge- 
staden dahin,  heute  bildet  sie  jahraus  jahr- 
ein das  Wanberziel  ungezählter  Taufende 
von  Gebildeten!  T  lesen  sei  besonders 
Freemans  Werl  warm  an's  Herz  gelegt. 
VV<I. 

Die  Nothweudigleit  einer  europäi» 
scheu  Abrüstung  nnd  Steuere»»' 
laftung.  Von  Dr.  K.  Walcker,  Doc, 
d.  Staatsw.  an  der  Universität  Leipzig, 
Sondeishausen,  Fr.  Aug.  Eupcl. 
Der  Inhalt  der  Schrift  entspricht 
wenig  dem  Titel.  Richtiger  wäre  es  ge- 
wesen, wie  es  der  Verfasser  ursprünglich 
vorhatte,  als  Titel  zu  wähle»:  „Die 
Fiicdensgefcllschllften,  Kritik  und  Reformvor- 
ichläge."  Was  nun  die  Kritik  der  Friedens- 
gesell schuften  anbetrifft,  so  scheint  dem 
Verfasser  die  Grundidee,  von  der  dieselben 
ausgehen,  nicht  voll  zum  Bewußtsein  ge- 
kommen zu  sein,  uno  so  kämpft  er  häufig 
gegen  Windmühlen.  Das,  was  er  über  die 
Schiedsgerichte  sagt,  halten  wir  für  größten» 
thtils  völlig  verfehlt.  Und  wenn  er  hier 
von  Utopien  spricht,  so  verdienen  unserer 
Meinung  nach  seine  eigenen  Vorschläge 
dielen  Namen  weit  mehr.  Jedenfalls  würden 
diefelben  eine  Verwirklichung  erst  erfahren 
können  nach  langer  Vorarbeit  durch  die 
Friedensvereine.  Uebrigcns  verkennt  der 
Verfasser  die  hohe  Bedeutung  der  Friedens- 
bewegung durchaus  nicht.  ~r>. 
weschichte  der  Nationalökonomie  und 


des  Sociulismns.  Von  llr.  K. 
Walcker,  Doc.  d.  Staatsw.  a.  d.  Uni- 
versität Leipzig.  3.  völlig  umgearb. 
Aufl.  —  5  Ad.  d.  Handbuch  der  Natio- 
nalökonomie. Leipzig,  Roßberg'sche 
tzofbuchhanblung. 

Nach  der  Vorrede  soll  die  Arbeit  „eine 
Art  Grundriß  zu  Vorlesungen  und  Studien 
über  die  Geschichte  der  Nationalökonomie 
und  des  Eocilllismus  sein".  Dafür  mag 
sie  brauchbar  sein;  als  Grundlage  für  das 
Selbststudium  allerdings  wohl  nur  durch 
die  reichlichen  Litteraturnnchweise. 
In  dem  zweiten  der  beiden  angefügten 
»Ezcuise"  ereifert  sich  der  Verfasser  gegen 
da«  allgemeine  gleiche  Wahlrecht  und  für 
ei»  Socllllistengcsetz.  Wir  können  nicht  be- 
haupten, daß  »ns  dieser  Exkurs  sonderlich 
imponirt  hätte.  ~Vp. 
Tic  Frauenfrage  nnd  der  «esnnde 
Menschenverstand  Von  F.  W. 
Higginson.  Au«  dem  Englischen  über- 
setzt von  Eugeuie  lacobi.  Neuwied 
und  Leipzig,  Aug.  Schupp. 
Physiologie,  Temperament,  Heim,  Ge- 
sellschaft, Erziehung,  Beschäftigung,  Stimm- 
recht, werden  jedes  in  einer  Reihe  kurzer, 
lose  zusammenhangender,  fast  selbstständigcr 
Eopitel  besprochen,  die  sich  aber  gut  lesen 
und  anregend  wirken,  ob  wir  ihnen  zu- 
stimmen können  ooer  zum  Widerspruch  ge» 
reizt  weiden.  >Vp. 

Vahn  frei!  Ein  Wort  für  unsere  Frauen. 
Von  0>.  pbil.  Moritz  Popper.  Prag, 
I.G.  Calve. 

Das  Schliftchen  würde  noch  besser  für 
seinen  Zweck  wirken,  als  es  in  der  That 
schon  thut,  wenn  der  Verfasser  sich  von 
einzelnen  Ucberlieibungen  in  Inhalt  und 
Ausdruck  freigehalten  hätte. 
Die  Donau  als  Völlcrwea,  Schifffahrts- 
ftrafze  und  Reiseroute.  Von  A.  u. 
Schweigei-Lerchenfeld.  Mit  300 
Abbildungen,  darunter  zahlreichen  Voll, 
bildem  und  50  «arten,  letztere  zum 
Thcil  in  Farbendruck.  In  30  Lieferungen 
z»  50  Pf.  A.  Hartlebens  Verlag, 
Wien. 

Der  durch  zahlreiche  Schriften,  nament- 
lich auf  geographischem  Gebiete,  bekannte 
und  beliebt  gewordene  Verfasser  hat  hier 
ein  besonders  gelungene«,  umfangreiches 
Werk  geliefert.  Er  entrollt  in  demselben 
gleichsam  die  Lebensgeschichte  des  größten 


272 

Nord  und  2üo. 

Sttomes  Mittel-Europas,  von  den  roman« 
tischen  Thälcrn  des  Schwarzwaldes  bis  an 
das  Schwarze  Meer  —  fast  vor  die  Tbore 
Consantinovels.  —  Der  Verfasser  thcilt 
das  Werl  in  4  tzanvttheile  —  in  einen 
hybiriraphisch.nllwiwisscnschaftlichen,  einen 
histoi  sehen,  einen  nautisch-technischen  und 
einen  schildernden  Theil.  Jeder  dieser 
Thei~  zerfällt  in  eine  Anzahl  Abschnitte. 
In  den  bis  jetzt  hier  vorliegenden  fünfzehn 
Lieferungen  sind  die  Theile  1  und  2  be> 
endet  und  ist  mit  dem  nautisch-lechnischen 
Theil  begonnen.  In  belehrender  und  zu- 
gleich unterhaltender  Weise  sind  im  ersten 
Theile,  nach  einem  geologischen  lieber- 
blick, mit  großer  Sachlenntniß  die  Wasser- 
standsuerhältnisse,  die  Bodcnplaslil  und  das 
organische  Leben  in  und  an  der  Tonau 
geschildert,  während  der  zweite  Theil  in 
seiner  geschichtlichen  Abhandlung,  von  den 
Spuren  der  Argonauten  angefangen,  die 
Wandlungen  verfolgt,  welche  das  Römer- 
thum im  Donaugebietc  sowie  die  Völker- 
wanderung zur  Folge  hatte.  Daran 
schließt  sich  die  Staatcnbildung,  die  Tüllen- 
Iriege  und  die  geschichtlichen  Ereignisse  bis 
in  die  Neuzeit,  Besonders  ausführlich  und 
viel  Neues  bringend  ist  der  prähistorische 
Abschnitt  gehalten,  wie  überhaupt  das 
Ganze  eine  große  Auffassung  uon  der 
historische»  Bedeutung  der  Donauländer 
durchzieht.  —  Na«  Werl  ist  durch  »zahl- 
reiche Abbildungen  und  Karlen  in  tadel- 
loser Ausführung  vorzüglich  ausgestattet 
un)  kann  somit  warm  empfohlen  werden. 
X. 

H«S  Gold  des  ««rdenS.  Ein  Rückblick 
auf  die  Geschichte  des  Bernsteins.  Von 
Paul  Moldenhauer.  Danzig,  Carl 
hinstorff. 

Die  recht  lesenswerthe  Schrift  giebt  eine 
inlcressante  Darstellung  des  Wissenswerthesten 
über  Natur  und  Geschichte  des  Bernsteins. 
Nicht  befreunden  lönnen  wir  uns  mit  den 
Anschauungen  de«  Verfassers  über  die  Ent- 
stehung der  Eiszeit.  Die  Zahlangaben  auf 
r>»6.  28  über  die  Höhe  der  Diluuialfluthcn 
lönnen  leicht  mißverstanden  werben. 
3aS  Leben  des  Meeres.  Von  l)r.  Com. 
Keller.  Leipzig.  Heft  2-12,  T.  0. 
Weigel  Nachf.  (Chr.  Tauchnitz.) 
Die  vorliegenden  hefte  des  schon  früher 
von  uns  angelündigten  Lieferunasweiles 
behandeln  in  einer  Anzahl  von  Capiteln 
eine  Reiht  interessanter  allgemeiner  bio- 
logischer Fragen  wie  Genossenschaftslcben, 
Schmarotzertum,  Farben  der  Meeresthiere, 
Meeresleuchten,  Wanderungen  der  Meeres- 


thicre,  Strandfauna,  hochscefauna,  Thier» 
leben  der  Tiefs«  «.,  um  bann  zurfpe» 
ciellen  Zoologie  überzugehen.  Es  sind  bis 
jetzt  systematisch  behandelt  die  Säugcthiere, 
Kugel.  Reptilien. Fische,  Molluscen.  Würmer. 
Ncsselthiere  und  ein  Thetl  der  Urthiere. 
Zahlreiche  gute  Holzschnitte  und  eine  Reihe 
von  wunderbaren  Farbentafeln  erläutern 
den  Text.  ~z>. 

Wetterbüchlein.  Praktische  Anleitung  zur 
Beobachtung  und  Voraussage  des  Wetters 
uon  Carl  Burgwedel.  Mit  24  Ab- 
bildungen. Dresden,  Meinyol»  und 
Sühne. 

Im  Vorwort  motivirt  der  Verfasser 
die  Veranlassung  zu  seiner  Schrift  durch 
die  Erwägung  »daß  es  an  einer  kurzen 
und  leichtfaßlichen  Anleitung  zur  Be» 
obachtung  und  Voraussage  des  Wetters 
immer  noch  fehle."  Nun  sind  aber  inner- 
halb der  letzten  lt)  Jahre  gerade  eine  Menge 
derartiger  Heiner  Schriften  erschienen,  die 
dasselbe  Ziel  verfolgen,  das  der  Verfasser 
sich  gesteckt  hat.  Von  diesen  Schriften  fcheint 
der  Verfasser  leine  Kenntniß  zu  besitzen,  oder 
er  ist  der  Ansicht,  daß  sie  da«  oorgcteckte 
Ziel  nicht  erreicht  haben.  Der  Verfasser 
bespricht  zunächst  die  Luftströmungen, 
Wolle»  un»  Niederschläge  und  wendet  sich 
dann  den  synoptischen  Wetterkarten  zu, 
denen  der  weitaus  größte  Inhalt  des  Büch- 
leins gewidmet  ist.  Es  ist  daher  auch  er» 
llärlich,  wenn  der  Verfasser  am  Schluß 
betont,  „daß  nur  mit  Kenntniß  der  Wetter- 
lage eines  großen  Gebietes  eine  Voraus» 
sage  des  Wetters  möglich  ist'.  Fast  möchte 
es  nach  den  Auslassungen  des  Verfasser» 
scheinen,  als  wären  mit  Hilfe  der  synoptischen 
Karlen  100»/«  Treffer  in  der  Wettervoraus- 
sage zu  erzielen,  was  jedoch  in  WirN icklcit 
nicht  der  Fall  ist.  Viel  zu  wenig  Werth 
legt  der  Verfasser  auf  die  jpccifisch  localen 
Verhältnisse,  die  aber  von  hervorragender 
Wichtigkeit  sind.  Alle  diejenigen  Wetter- 
beobaäiter,  denen  die  tclegraphischen  Be» 
lichte  über  die  Wetterlage  in  Europa  hin- 
sichtlich der  barometrischen  Mazima  und 
Minima  nicht  rechtzeitig  ober  überhaupt 
nicht  zugänglich  sind,  bleiben  auf  die  reine 
Localvrognosc  angewiesen.  Einzelnes,  wie  zum 
Beispiel  das  Hygrometer,  auch  da»  Gewitter 
ist  nur  oberflächlich  behandelt,  und  doch  sind 
gerade  die  cleltrischen  Erscheinungen  bei  der 
Wcttervorherbeftimmung  im  Frühjahr  und 
Sommer  von  größter  Bedeutung.  Ganz 
anerlcnncnswerth  ist  dagegen  die  Besprechung 


Vibliographische  Notizen. 
272 

der  allgemeinen  meteorologischen  Verhält» 
nisse,  sowie  im  Speciellen  die  Erläuterung 
über  die  Theilbepresstonen  und  die  Aus- 
wahl von  Beispielen  über  einige  wichtige 
Wetterlagen.  Am  Schluß  bespricht  der  Ver- 
fasser noch  „Falbs  kritische  Tage".  Dem 
hierüber  Gesagten  lann  man  nur  zustimmen. 
Der  kleine  Samariter.  Aerztlichcr  Ruth» 
gebcr  bei  plötzlichen  Erkrankungen  und 
Unglücksfällen  von  Dr.  Schulz.  Dresden 
und  Leipzig,  Lehmann. 
In  den  Zeitungen  liest  man  fast  täglich 
Nachrichten  über  in  Wohnungen,  in  öffent- 
lichen Lokalen  oder  auf  der  Straße  vor- 
gekommene, oft  gefahrdrohende  Erkrankungen, 
bei  denen  zumeist  schleunige  Hilfe  ein 
dringendes  Vrforderniß  ist.  Ein  Arzt  ist 
aber  gewöhnlich  nicht  gleich  zur  Stelle,  und 
es  kommt  daher  darauf  an,  bis  zu  seinem 
Eintreffen  die  gefährlichen  und  die  Umgebung 
oft  beängstigenden  Erscheinungen  schnell  und 
sicher  zu  beseitigen.  Hierüber  den  Laien  zu 
belehren  und  ihm  die  erforderliche  Auf- 
klärung zu  geben,  damit  er  sofort  that- 
Iräftig  eingreifen  kann,  hat  sich  der  Verfasser 
mit  dem  Motto:  „Schnelle  Hilfe,  beste 
Hilfe!"  zur  Aufgabe  gestellt,  deren  Lösung 
ihm  durchaus  gelungen  ist.  Im  eiste»  Ab- 
schnitt behandelt  er  die  plötzlichen  Erkran- 
kungen und  im  zweiten  Abschnitt  die  Unfälle 
und  Verletzungen  uni>  die  Art  der  Desinfi- 
cirung.  Ein  ausführliches  Register  am 
Schluß  erleichtert  die  Ucbersickt.  Das  gut 
ausgestattete  Buch  kann  bestens  empfohlen 
werden.  X. 

Hie  körperliche  Orziehung  der  Jugend. 
Von  Angelo  Mosso,  Professor  der 
Physiologie  zu  Turin.  Uebersetzt  von 
J  ohanna  Glinzer.  Hamburg  und 
Leipzig,  Verlag  von  Leop.  Voß. 
Von  Neuem  ist  in  den  letzten  J  ahren 
der  schon  für  entschieden  gehaltene  Kampf 
,'iber  die  Frage  entbrannt,  ob  wir  mit  dem 
„Turnen'  auf  dem  richtigen  Wege  zu  einer 
geeigneten  Körperpflege  uns  befinden,  immer 
neue  Stimmen  lassen  sich  hören,  die  zum 
Mindesten  der  Alleinherrschaft  der  Turner« 
gegenüber  eine  größere  Beachtung  des  Be» 
»egungsspieles  fordern;  immer  mehr  Leute 
beginnen  ketzerische  Meinung  über  den 
Weich  der  Turnerci  zu  äußern. 
Mit  dem  vorliegenden  Werke  tritt  auch 
der  Verfasser,  einer  der  berühmtesten  italieni- 
schen Physiologen  in  den  erwähnten  Kampf 
ein,  und  wir  sind  gewiß,  daß  da»  Werl  ein 
nicht  gewöhnliches  Aufsehen  erregen  wird. 
Der  Verfasser  stellt  sich  auf  den  bis- 
her allzuoft  außer  Acht  gelassenen  Stand- 


punkt,  daß  die  Streitfrage,  welche  die 
Körpererziehung  behandelt,  von  Militär- 
Personen,  Schulmännern  oder  Turnlehrern 
allein  nicht  zum  Austrug  gebracht  weiden 
kann,  daß  es  vielmehr  die  Aufgabe  der 
Physiologie  ist,  sich  mit  dem  Turnen  zu 
beschäftigen  und  ein  entscheidendes  Wort 
mitzusprechen. 

Und  schwere  Anklagen  sind  es,  welche 
der  Verfasser  gegen  das  Turnen  vom 
Standpunkte  seiner  Wissenschaft  erheben 
muß;  eben  so  viele  und  überwiegende 
Gründe  füreine  nlltürlicheNew  egungs- 
gymnastil  holt  er  aus  dem  Arsenale  dieser 
Wissenschaft  hervor.  Diesen  Ausführungen 
gegenüber  ist  ein  Totschweigen  des  Buches 
oder  ein  Versumpfenlassen  des  Kampfs  nicht 
möglich.  Der  Kampf  muh  durchgefochten 
weiden,  und  wir  glauben,  daß  er  mit  einer 
Niederlage  des  heutigen  Turnens  enden 
wird. 

Aber  nicht  allein  für  den  Turnlehrer 
und  für  alle  die,  welche  sich  mit  der  körper- 
lichen Erziehung  der  Jugend  berufsmäßig 
oder  aus  Liebhaberei  befassen,  ist  das 
Werl  unentbehrlich,  auch  für  militärische 
Kreise  ist  es  von  hoher  Bedeutung,  denn 
auch  der  körperlichen  Ausbildung  der 
Soldaten,  ihrer  Erziehung  zum  Ertragen 
von  Strapazen  widmet  der  Verfasser  auf 
Grund  semer  Eigenschaft  als  Physiologe 
und  Militärarzt  einen  großen  Thcil  des- 
selben. 

Um  einen  Ueberblick  über  den  reich- 
haltigen Inhalt  zu  geben,  lassen  wir  die 
Ueberschriften  der  einzelnen  Abschnitte 
folgen:  1)  Die  körperliche  Erziehung  in 
Italien  im  Zeitalter  der  Renaissance. 
2)  Die  moderne  englische  Erziehung.  3)  Die 
körperliche  Erziehung  auf  den  Univer- 
sitäten. 4)  Die  Eolleges  und  die  Stunden- 
pläne in  den  Schulen  Englands  und  des 
Continents.  5)  Die  Entwicklung  des  Tur- 
nens. 6)Beurtheilungde«deutschenTurnens. 
7)  Da«  athletische  Turnen.  8)  Die  mili- 
tärische Ausbildung  und  die  „b^willon» 
»oolllir««".  9)  Das  Schießen  nach  dem  Ziel. 
10)  Der  Tornister.  11)  Die  Märsche. 
Die  Uebertragung  in  das  Deutsche  ist 
meisterhaft,  Papier  und  Druck  gut.  — 
Kurz  ein  »ach  jeder  Richtung  hin  ein» 
pfehlenswerthes  Buch,  das  in  der  Bibliothek 
keines  Mannes,  der  sich  mit  körperlicher 
Erziehung  beschäftigt,  fehlen  sollte. 


2?H 

Nord  und  Süd. 

«anatshefte  »er  ««meni„S-«e,e«» 
schaft. 

«omcnius-Vlätter  für  Vollserziehung 
Leipzig.  R,  Voigtländer. 
Wir  neuen  uns,  constatiren  zu  können, 
daß  die  Comenius-Gesellschaft  ihre  früher 
von  uns  dargelegten  Ziele  unermüdlich 
weiter  verfolgt,  daß  sie  immer  neue  Wege 
sucht,  um  die  Aufgaben,  die  sie  sich  stellt, 
zu  lösen.  Tic  „Monatshefte"  bringen  nach 
wie  vor  gediegene  wissenschaftliche  Arbeiten 
zur  Comeniusforschung,  die  „Comenius- 
Blätter",  welche  an  die  Stelle  der  früheren 
„Mittheilungen"  getreten  sind,  stellen  sich 
vorwiegend  auf  den  Boden  der  allgemeinen 
Vollsbüdung  und  Vollseiziehung,  dieses 
wichtigen  Factors  auf  dem  Gebiete  der 
socialen  Frage.  Sie  erstreben  Unterstützung 
und  Zusammenfassung  aller  Bestrebungen 
auf  diesem  Gebiet,  Errichtung  von  Volts- 
hochschulen: Erhebung  der  «ittenlehre 
zu  selbstständigem  Lehrgegenstand,  die  all- 
gemeine Volksschule  unter  Wahrung  der 
Freiheit  des  Privatunterricht«,  Selbst- 
verwaltung auf  dem  Gebiet  berSctule, 
Erweiterung  der  Frauenrechte,  Pflege 
des  Genossenschaftswesens  ?c. 
Wir  rufen  der  C-G.  zu  ihren  Be- 
strebungen ein  herzliches  Glückauf  zu. 
Vriefe  eines  Vaters  «»  seinen  3« hu. 
Nach  dessen  Abgang  an  die  Universität. 
Von  '**.  Breslau,  Schleiische  Ver- 
lags-Anstalt v.  S.  Schottlaender. 
Ter  unbekannte  Verfasser  theilt  in  Brief- 
form eine  Summe  von  Lebensregeln  mit, 
die  wir  Allen,  für  die  sie  bestimmt,  b.  h. 
denjenigen,  die  berufen  sind,  der  herange- 
wachsenen männlichen  J  ugend  Lebrm  zu 
eühcilen,  und  diejer  selbst,  sofern  sie  die 
löbliche  Abfielt  hegt,  sich  auf  die  »echten 
Wege  leiten  zu  lassen,  als  sehr  beachten«- 
werth  rühmen  können.  Ein  Sohn  ist  auf 
die  Universität  gezogen,  und  der  Vater 
schreibt  ihm  in  dem  warmen  Tone  eines 
älteren  Freundes  in  einzelnen  Briefen, 
was  in  jenen  Lebensjahren,  in  denen  die 
Studiensemester  sich  vollziehen,  als  an« 
strcbenswerth,  als  nützlich  oder  schädlich  für 
die  Lebensentwickelung  des  Einzelnen  zu 
erachten  ist.  Der  Verfasser  geht  von  der, 
leider,  unleugbaren  Thatsache  aus,  daß  in 
ein  immer  größere«  Mißverhältniß  die 
Neigung  zu  leichtem,  mühelosem  Lebens- 
genuß mit  einer  ideellen  Richtung  des 
Denkens  und  Handelns  tritt:  daß  immer 
verschobener  werden  die  Grenzen  von  Gut 
und  von  Böse,  und  über  die  Pflege  der 
körperlichen  und  materiell  geistigen  Kräfte 


immer  mehr  die  Cultur  jener  Regungen 
in  den  Hintergrund  tritt,  für  die  man, 
svillchgebriinchlich,  das  Gemüth  als  Organ 
bezeichnet.  Diese  Tendenz,  in  der  jene 
Briefe  geschrieben,  tonnen  wir  gar  nicht 
laut  genug  als  richtig  anerkennen,  tonn» 
nicht  lebhaft  genug  den  Wunsch  aussprechen, 
daß  ihr  Inhalt  in  allerweitesten  Kreisen, 
die  Richtung  angebend,  in  der  gerathen  und 
gestrebt  werden  sollte,  bekannt  werden 
möchte!  Aber  auch  viele  Einzelheiten  finden 
unseren  vollen  Beifall  und  flößen  un« 
große  Wertschätzung  für  das  tlare  Deuten, 
die  reifen  Anschauungen  ihres  Autors  ein. 
Nur  ein  Punkt  hätte  vielleicht  eine  ein- 
gehendere Berücksichtigung  finden  tonnen: 
In  dem  Briefe,  der  als  Thema  hat  .Der 
falsche  Freund  als  Versucher"  werben  auch 
jene  mannigfachen  Versuchungen,  für  die 
ein  junger  Mann  am  leichtesten  und  häufig- 
sten zugänglich  ist,  die  weitreichendste  Ge- 
fahr de«  Jünglingsalter«,  berührt.  Der 
Vater  hofft,  daß  sein  Sohn  ästhetische? 
Geiühl  genug  besäße,  um  der  gröbsten  Art 
der  Verlockung,  und  Rechtssinn  genug,  u» 
jenen  verführerischen  Gelegenheiten,  an  die 
sich  Verpflichtungen  knüpfen  tonnten,  zu 
widerstehen.  —  Hier  läßt  der  trcfflicbe 
Vater  weniger  seinen  wagenden  Verstau?, 
da»  Resultat  seiner  Erfahrungen,  als  viel- 
mehr den  Wunsch  nur  zum  Ausdruck  ge- 
lange». H,.  ~V. 

Majestät.  Roman  von  Louis  Eouperus. 
Dresden,  Heinrich  Minden. 
In  einem  Phantasiestaat,  der  nirgends 
auf  der  Landkarte  zu  finden  ist,  herrscht 
eine  Dynastie,  deren  Stammbaum  wir 
vergeblich  im  Gotha«  Almanach  suchen 
würden,  und  doch  begegnen  wir  in  der 
Heiischeifamilie  selbst,  sowie  in  dem  sie 
umgebenden  Hofadel  manchem  veitrauleii 
Zug,  der  uns  an  Erscheinungen  erinnert, 
welche  im  europäischen  Staatenleben  der 
Neuzeit  eine  Rolle  gespielt  haben;  —  der 
Roman  ist  als  eine  parodistiiche  Studie  über 
höfisches  Leben  im  Allgemeinen  und  5lron- 
prinzenschicksal  im  Besonderen  aufzufassen, 
und  der  Verfasser  hat  seine  Aufgabe  mit 
psychologischer  Gründlichkeit  bearbeitet,  in- 
dem er  versucht,  da«  Seelenleben  dieser  am 
schwindelnder  Höhe  stehenden  Persönlich- 
leiten zu  erforschen  und  zu  motiviren.  Ter 
Roman  ist  aber  viel  zu  gekünstelt,  um  cm 
wärmeres  Interesse  ciwecken  zu  tonnen,  wb 
die  Ausdauer  des  Lesers  wirb  auf  ciie 
recht  harte  Probe  gestellt,  um  dem  Ver- 
fasser auf  den  weiten  Irrgänger»,  den  seine 


Vibliographisch«  Notizen. 
275 

Phantasie  einschlagt,  folgen  zu  können,  zumal 
Zweck  und  Ziel  desselben  auch  am  Schlüsse 
ziemlich  im  Unklaren  bleiben.  n>l. 
3er  Roman  einer  Träumerin  Von 
Maiia  Solina.  Dresden,  E.  Pierson. 
Ter  Roman  umfaszt  das  Schicksal 
einer  Frau,  die  aus  einem  zahlreichen 
Schtvesterntreis  als  unreifes  Mädchen  in 
eine  Versorgungsehe  gedrängt  wird,  in  welcher 
sie  die  schönsten  Jahre  ihres  Lebens  ge- 
dankenlos verträumt,  bis  sie  in  einem 
Alter,  in  welchem  Andere  die  Herzenstämpfe 
längst  hinter  sich  habe»,  zum  Bewußtsein 
ihrer  Rechte  an  das  Glück  erwacht.  Nie 
Ehe  wird  nun  gelöst,  und  da  sie  dm  Mann 
ihrer  Liebe  nicht  besitzen  kann,  so  ist  sie 
gezwungen,  sich  in  Abhängigkeit  zu  begeben, 
um  auf  diese  Weise,  frei  von  unwürdigen 
Fesseln,  sich  selbst  leben  zu  können.  Die  seh: 
dürftige  Handlung  ist  in  diesem  kurzen 
Auszug  wiedergegeben,  alles  Neblige  ist 
ein  Spielen  mit  Gefühlen,  die  alle  mehr 
oder  minder  unnalürlich  sind;  überhaupt 
sind  die  Handelnben  Personen  leine  Menschen 
von  Fleisch  und  Blut,  sondern  künstlich  con> 
struirte  Marionetten,  mit  denen  die  Ver- 
fasserin nach  Belieben  manövrirt:  —  der- 
artige Belletristik  wirkt  auf  unreife  Gemüther 
nur  verwirrend,  gereifte  Leser  dürften 
schwerlich  Geschmack  an  derselben  finden. 
MX. 

3er  Weg  zum  Friede«.  Von  0. 
Heller.  Berlin,  Verlag  des  Biblio- 
graphischen Bureaus, 
Der  in  einer  spannend  entwickelten 
Exposition  das  Interesse  des  Lesers  er- 
weckende Roman  hält  in  seinem  Fortgange 
nicht  das,  was  er  im  Beginne  verspricht: 
dazu  ist  der  Held  der  Erzählung  eine  zu 
abenteuerliche,  romanhafte  Persönlichkeit, 
und  seine  Schicksale,  sowie  seine  endliche 
Weltflucht  liegen  zu  weit  ab  von  oem  Ge- 
biet des  Glaubhaften,  um  nicht  das  an- 
fängliche Interesse  erlahmen  zu  lassen. 
0.  Heller  verfügt  über  ein  gewandtes  Er- 
zählertalent: es  ist  zu  bedauern,  wenn  das- 
selbe auf  Abwege  geräth  und  auch  den 
Mangel  an  Naturwahiheit  unbefriedigt 
laßt,  mx. 

Lieder  eines  Menschen.  Von  Ludwig 
Scharf.  München,  Or  Albert  und 
Comp.,  Sepailltconto. 
Entschiedene  Begabung,  aber  auch 
unangenehm  berührendes  Kraftmeieithum 
spricht  aus  den  .Liedern  eines  Menschen". 
Faust'sches  und  Heine'schcs  finden  sich 
in  dem  Buche,  Himmelslürmendes  und 
Weltverachtung.  Ein  souveränes  Hinweg- 


setzen  über  Gedanlenlogit  und  Form  läht 
kaum  ein  einziges  Gedicht  zur  vollen  Wir- 
kung kommen.  Die  Eigenart  eines  Dichters 
vermag  wohl  Interesse  zu  erwecken;  wenn 
er  aber  nicht  versteht  «der  sich  dazu  nicht 
verstehen  will,  dieselbe  auch  in  wirkliche 
Kunstschöpfungen  umzusetzen,  so  eilahmt 
dasselbe.  Wenige  Lieder,  wie  Stunnes- 
wehen  (S.  14.),  Gebet  eines  Menschen  (61), 
können  mit  ungetrübter  Empfindung  ge- 
lesen weiden. 
>5. 

LmLeMULeuL  Llwnei'.  Le«precd«»L  »»ei!  H u 8 ^ » I i I  der  MeMcUon  vurvenlliten. 

NsnÄlsi  N.,  Der  Line,  lium»n  !n  ««ei  Musen. 

L« '! in,  ?,  r»ut»ne  und  Q>. 

2«Ulu»~-H>«>,  V.,  NiMn,  Hit«  uns  ~un~e. 

ltom»n.  Ilr« »den,  (.',  II« I » » ner. 

»«Hell  H«,  Vl»i»t«i»  N«»«le!i,  II.  Mnd. 

Her»»»«,  v<m  U,  Xizemer.  H»ll«  »,/8~ 

0.  U«nd«l. 

LonulUlu,  ü.,  Xene  8bll!ie«p<»le'l!ntllU»unLen 

Uelt  I .  I  .eip« I ss,  I!.  Lulwonn. 

Alis5«i',  H~  Huzeenilulte  Uedlente.  Nio!>>!enn»iu 

und  l^lpxlz,  L»um«rt  H  »on-ie. 

2u«Kv»l«!.  N.  und  1.  v,,  VII!»  iwii!  und  menr. 

Lveiw  Hulwze.  l.e!p«IF,  It.  liiere. 

Wu»»«.  0.,  Keu«r«  De»««!!«  I^vrlll.  N»!ie  ».D,. 

0.  Ueud«l. 

Ni»»«.  t?.  2~  VI«  NilIPnnlozIe,  eine  »erdende 
VIzzenseluM.  H>re  üutvlekeluuz  und  Ibr 
8!«,nd.  Line  orleullrende,  !lrlt!»eb«  vlrlezune. 
Illlnouen,  H.  8ebUler,  ,H.  Hell«rm»un« 
»«dl!«.'. 

Vtlllnol«oli«,  l.~  Der  linierlm  8treite.  Vr2>,i» 
In  drei  Helen,  ?rie»t,  r.  II.  »enlmnll. 
0»r>cle<,  >.,  Nie  kleine  üircbe.  I?ln  Hue-liNman. 
Hutorlzirte  veder«et«unss?.  Wnll^lmg  Hlexan- 
derÄever,  8tlltt"»rt,  lleutücne  V<!li»g8»nZt»,lt, 
v»/vot,  H.,  Klpulenu  I.  I»  Lud  und  ^Vnrt,  Über- 
ti»8«u  von  0.  !l»r«<:t!»ll  v.  Lieber.xtem, 
rieirz,  4-S.  ripllss,  U.  8eumldt  H  0. 
ÜUntuer. 

viil«lll»-l«,  1~  rrnr.  v,,  IU«,nl!  >'»ge!  v.  Lr»«e> 
L»rnue«8  DI.  Ilunuln.  Dresden,  0.  Üei88ner. 
Dulxx»,  5.,  henkelt«  vom  VirKllclieu.  Line  Ftudie 
»U8  der  (!ez«i!»!»lt.  Dresden,  U.  Henkle,-. 
ü»cli«l,,  II.  v.,  Inmitten  der  Leve^unz.  8»ei»!er 
li«m»n.  2  Müde.  vr«8d«n,  0.  Ile!»«uer. 
?rie»lu»,  IV,,  Nie  v?»üen  nieder!  3eu»ll8n!e!  In 
lünl  Hnlüllzeu.  2nm  Lb.  OedenHzure  de» 
ssro~~eu  Xrleee».  I^lpllss  Huz«r,  ü.  I. ludner. 
<3c>ld»clmi!<lt,  11^  Keue  Nlnuzedlente.  ! ? r« , n 1 1 - 
lurt  ».M.-l«!pllF,  Xe8»«!r!n8'»c!ie  Uolbuon- 
u  »  u  d  I  unL. 


276 

—  Nord  und  2Ld. 

<5roU»i,  8~  2»nu  (letwulonten.  vr«»Ä«n,  I!. 
N«I80U. 

^«Ultiluulil,  1."  Illeulrä  V«»ei'»  I»nill!lu8«r- 
I^5l8eurlft  lum  Neäenirt»««  äer  «r8t«u  >ul- 
lüurunz  »m  19.  Oetuber  1845  w  vre»>ie,>. 
Dreien,  II.  LerUln«. 

2 Httl« i,  ~~  Her  8n!rlU8MU8  uns  <iie  mocierne 
Vi8»en80n»lt.  >n  Läll»lä  von  U»rtm»!M. 
U»mburz,  V«>l2ß«»N8tl»>t  uns  vruoilerei  ~.0. 
<vorm»>5  ~.  ~.  ülobter.! 
H»,rN»i»8/,  V~  Im  Neigen,  Heue  l^leser.  (!wru8, 
L.  V«i«l. 

^«»»«u,      Unzeit»  äer  Hlpen.  Kovellen, 
vreliäen,  C,  Üei88iier, 

X«U«r,  (?,.  !>»«  lieben  ses  Ueerez.  I^lefü.  14— IN, 
XI lli<:!lov»tl«li».  ä.  v~  Vlebe.  2»ei  lÄnse. 
Vre8<l«n  u»s  i,e!P?,U.  0.  ile>88ner. 
Xlo»,  I,      ü»x  Xreller,  Line  8tn«Ue  iur 
neu«ren  l,itter»tur.  Ilr«8<!en,  L.  Neroon. 
Xn»o!ttu»,  U~  VUrer.  Ult  12?  "bblliiunssen 
von  NemillHen,  Uollsennltten  uns  Honäleieun. 
LlelelelH  unÄ  relpliß,  V«ln»«en  ~  Ll»«!llz, 
X«l»!c».  ~  Hin  vnziUeii.  8»el»!e8  8eb»u8plei 
»U8  ser  >  iezen  v»rtl  In  2v«i  Xullllgeu.  Vu88«l- 
soll,  Llettu««  K  c!o. 

Xref,«!«r,  lu~,  ÜIII  vnberunmtei  un<!  Iwier«  Ue- 
»ouiedten.  vr«8!i»n,  L,  ri«r8on. 
DI«  XrllT,  "ue!i«n8!:n»ll  6«8  LllenUienen  lieben». 
H«r»u«g.  vo»  L»r!  8eune!ät,  II.  ^»nr^nz, 
Nu.  52,  Lerün,  U.  8tur». 

vi»  Xun»t»>»ll«,  2elt8°nr!tt  lllr  <U«  bl!<!en(ien 

Ü!ln8t«  un<l  <!»»  Xun8t8««  erbe,  ~»nrl_iwß  I, 

Ho,  I.  Lerlw,  Mo8enb»um  ~  N»rt. 

Di«  «»tsrrsiciilscb,«  l^ncl  v«l«.  II  ine  liritizcn« 

8tu>!le  von  einem  eu«m»l!gei!  i>8lerr«lc!!>l8c!ieu 

Olliile,-,  LI»un8ob««i8,  ü»uert  ~  üoeeo 

N  « !  U I ! « . 

I«U,  ?^  tl»s»me  Lui  v»»nt!i«Ne,  lloman,  Ltutt- 
Mi-t,  Ve»t8<:l!0  Ver!»z8-H!!8l»l I. 
IIIMin^,  iL.  Hin  llomlln  vom  er8len  0un8ul. 
Gibliutuei  uer  ««»»mmUltter.  No.  886-888». 
«alle  »./8.,  0.  Ueno«!. 

—  Die  k°i»u  Nonvernenr!»  von  ?»rl».  Lilier  vom 
ri»n?.n8i«cu«n  Xzlzerdole  18N7,  Hopennzzen. 
~.  ?.  Il»8t  "  Sonn. 

H«i«t,  enez  e!uM<il8e!!e»  V8N«ibueb  ser  «n?- 
I I8e! >en  unä  Heol8eneu  8 n i »<:!!« ,  l^elerunl  I?. 
NeNIII.  r»NL«n8o!!el,l!,'8en«  VelUIßKbllelmHI . 
lf»olU7i« l..»t« n  »u»  Ä«IU  2>illl>l»>,li<!»l  uikl  <!«ll 
v»iv~»l»Ät«l»  <3«»oli~tl«ivei~ei»  Ie8t- 
nummer.  l«loll8,  U«l»envei«w  <ier  veutzolien 
Luobulndlei-. 

»«v»ia,  ~~  rrle<!l!eu  Lcuiüzl.  Lr!,>nei-un8«n 
»n  «wen  »Iteu  Viener.  Lm  Uec>«nKbl3tt  üur 
«iritteu  Vleäerllebr  «eine»  ?<x!e«t»L~'  ~isn. 
Im  8e!l>,<tvel!»z«  cie»  Vellll88«l8, 
Xo»»!~.  H~  Heber  sie  beÄlmmencie  Hr»»cd«  6« 8 
?!!lio8upbllen8.  Vel8uode  einer  pr»!iti8el>e>i 


Xritilc  uerl>«nre  8plnul»8.  sluttMi't,  Ueut""n« 
Veri»38»N8l»lt. 

I>i«t«!llll»l,  ü,  "ul  sem  Aege»«««»  von  Lerlw 

uzen  ?»il8.  ?ot8"2m,  ü,  U»edfel<i. 

?r6«l»r,  Ii,,  v»8  keü^umücicuen  uns  «user« 

Kovelien.  Leriin,  I.  !>ont»ne  un<l  c«. 

?re»»r,  0"  v»8  Xrmln8lie<l.  Ur»«8enl»ln  uu! 

l>!pü!L,  Luumerl,  uixl  MonLe, 

?l»~i»«li«il,  N,      VI»  l'«88wnl«.  l<eb«n«ll«Her. 

Vre8<!eu,  (All  Ne!88ner. 

lt«ioriil,  t»s!">?ut«<ne.  LMIter  nur  Inrseruuz 

6«!  UumunitÄt.  I  V,  "ul,r3.  riel.  17-18.  8dnlß8- 

lieiT;  i.  ?r"  Ur»i«,  u»<!  Vrber. 

I U « ^ « I i i ,  N.  u n < I  2 » 1 1 « ,  0,.  I,eu«8  Iwlieuiscb- 

H«ut8«de8  uuH  Äeutzeu  i u > 1 1 « u I « c ! ! « «  "'ort«r- 

bucn.  4.  I  "leierung,  Lelpllz,  L.  ?»uc!n:!li. 

"iotor.  !>.,  I.e  Leepti,,!!«  lo.vlll.  ?»rl»,  Llbilo- 

tbixjue  Hrlllslique  el  Imitier»! r«. 

Koilerloli,  H.,  XunzUerlalul«!!.  UnM«re«!ie». 

II ! » »tri rt  von  Q  8e!!ner.  8tutt«2rt,  v«nl«cue 

Verl8z8'Hn«t»lt. 

Lelmeial,  X"  Die  XrMli.  V<«u«n«ib»n  äe« 
üüeutllcuen  l«oen8,  II.  "»nrzlmg.  Üelerunss 
18-51.  L«l!in,  V.  H.  8I«IM. 
Lobult»,      "u»«t8«»ebiente.  Uelerunl  5. 
Lerlln,  N.  Urote'üene  Vell»«8bnon>>äl. 
l3«liuli«>8ollnu<!t,  L"  "»miciu».  —  II  Lliec«»- 
eelio.  2«"«l  Novellen,  vrexien,  0.  »el >H»«r. 
Lelivsj"sr  l.«rc!i«l»t«l<l,  H.  v.,  Die  Oou«u 
»18  VoUlerve?,  8cblM»!!rt«8tl»88e  ui«l  lleiZe- 
ruut«.  Illt  3«<>  XdbUÄunien  uns  "»nen. 
Uelrg.  11-15.  Vieu,  H.  UlMieben. 
8e««5»»t,  rrut.  Dr.  U.,  "'uuer-«unln?  Nu« 
lre!m»urerl»on«  Letnledtunz.  LerUn,  I!.  ««!<!- 
»eduiiÄt. 

8»i«li,  H.,  X"nete.  vr»m»  w  srei  ."cten. 
ve>i!«cb  von  Inereze  XrUger  un<!  Ott«  Lilci 
UIINieben.  Lerlln,  0eut5cl>e  8cnriN8teUel- 
l>eno,«ü?u8od»lt. 

8l»iN«l«r,  0.,  I!»ll»<!en.  2»r!e!i,  4.  UlUler. 
8t«»«li>»2lu,  11"  v«8  Uor»Uu8  8c!>ün8l«  l,l»<ier, 
L»8ei,  L,  3eu»»be. 

8ti"«!",  Dr.  r"  Nie  !M«8ten  2«lt«u  öe»  Lb«»!«r, 
»u  8ti»l8lln<i  1UN7-1834.  lün  «eltr»g  lur 
Ne8enlente  <le8  «lentzclien  Iue»ter8.  8li»l«!i!,!, 
Verwß  6er  X»nl8l!eben  ll««leiuuz»'Lncb- 
«Iruckurei. 

LtruoK,  llr.  V..  0»«  LUnänl««  Vilnelm«  von 
>Ve!m»r  mit  (!u»t»v  "Holl.  Nn  Lellr» ß  inr 
Ue8cl>iot!te  <ios  >!le!8l>izKIINgen  lirieze? . 
8tr»!«ui«i,  Veri»8  <ier  XonlgÜebe»  lieLiernngz- 
Luoudrueiierel. 

suttner,  H.  N.  v"  l!lu  vimnn,  Lom»»  »u«  <ier 

Uegeuwt.  I»l«8ä«n,  15.  l-.erzon. 

Vlotori».  Ulu8tr.  2eil«ellr!N  lur  vuter!»n,l>8cd. 

8purt  unÄ  Ili!e388enxi«8e3  I i H ä I » b re i i .  Hell  I. 

Lerlln,  Huelce  iml  Nrulm»>.'!«l. 

VllloenU.  C.  >>  Lrlebt«»  uns  !?»!,ullrte«.  vre»- 

Hen,  D,  ?!er»un. 

Vi«l",  u.  c:,.  vi-KunÄen  uns  «elü«  llnr  «üntner- 
k»r8«uun6.  8tr!e8»u,  >.  Noumlmn. 


Nedigii!  »!,!«  vnan!w»«l ichsei!  !»»  y«»u»g»b«». 

3chl»fi!che  Vnch!>inl5»n!»  K»nst«  un!>  v«!a«»>Anftoll  o.  S.  5ch»«l»»nl>n,  VI»!«». 

Ui,be»!h!!»«»i  Nochdiuck  »n»  d»m  Inhalt  ü!»s«  l«<»lchr!ft  »nlers««!.  U»l>»il»«,nng»«ch»  »«b»h»ln!yv 


« 

~  1895sr.  1'riLCtlO  k'ÜlWNF.  1895«.  ~ 
>  ~!~!> 

~  Isslioder  Ver82us 

H>««lin>!>r»»«NI  - 
««in»  <7»  » 
»»lUln«.  34»  » 
llixlinu».  3>l 
"  IT, ',",„. "m~m. 

MmM.,!l!!.!!l!l!l!ü!  NN  NN  »!»>!ll!l.jl!!!»!!!!!!!»!!ll»IIMlljM,MI 

« 

Ustle^soisono  llopnts  in  «len  8>'ü88t«n  8tä<lton  »lies  W«lttli«il», 


"tüi'licK  "ndlcrßauicS  Mineral  ~33cr. 

Im  Hin~elnvcrl<2us  wird  623  odi^e  XVa^ßer,  ~et?t  wie 

ful~t  dcrecknet:  — 

I  ncluzive 

wettol'leiz 

6e«  ~V238el8. 

ci23  leere  (~etAzz. 

25  ?s. 

1/1  l"!25cKe 
30  i's 
5  ?s. 
20  .. 

"2  H.'rcKe 

23" 

3  . 

Vi  r,x 
35  .. 
5  .. 
30  ., 

1/2  Kru" 

26  . 
3  ,. 
23  .. 

X«,u2ied  dei  »Heu  H,potdeKeru  uuä  ülliuerHIvs.zZei-Hänälsi'n. 
INc  "?0I.IMäKI5  cO«!?^. 


A.ĻA 

.AAAīAAAĻAZ 


December  18Y5. 

Inhalt. 

Sei« 

Lmil  5choenaich~arolath  in  Palsgaard-Iuelsminde  bei  tzorsens 
(Dänemark). 

Philemon  und  Vaucis  27? 
Richard  Roehlich  in  Vreslau. 

Lin  fürstlicher  Dichter.  (Plinz  Emil  zu  Schoenaich-Earolath.)  288 
J  oseph  loesten  in  Röln. 

Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche.  Ungedruckte  Vriefe  von  Feliz  Mendels» 

sohn-Vartholdy)  308 

<L.  Maschke  in  Breslau. 

Rußland  in  Lentralasien.  (Schluß.)  31,6 

Vertha  Katscher  in  Baden  (Nieder»Vesterreich). 

Freidenkerin  und  Theosovhin  337 

August  wünsche  in  Dresden. 

Der  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen  Hintergründe  3^9 

Friedrich  Wegmüller  in  München. 

Der  Witz.  «Line  ästhetische  Studie  358 

Mite  Kremnitz  in  Vukarest. 

5ein  Vrief.  Novelle  370 

Bibliographie  402 

Vibliographische  Notizen  >  >' 

Hierzu  ein  Portrait:  Prinz  «Lmil  zu  Sc~o:  ai.  ..,/\.  .- 

Radirung  von  Franz  Roiich  in  i i — ' . t " .  >.7 

»Nord  und  Sld'  «scheint  »m  Anfang  jede»  Monats  in  ?>,—  ,.  !  ~:  «,n  ,yv 
~— ~—  p«i»  p«  «llnanal  <«  Heft«)  i  ~  ..  .  ~. 

All»  »nchbandlnnaen  und  ponansalten  »ehmen  jederzeit  Vestellnngen  an. 
Alle  auf  den  redactionellen  Inhalt  von  „Mord  und  .Süd"  be, 
züglichen  Sendungen  sind  ohne  Angabe  eines  Personennamens  zu 
richten  an  die 

Redaction  von  »Mord  und  Süd"  Breslau. 
Ziebenhufenerstr.  <<,  <3,  <5. 
Beilagen  zu  diesem  Hefte 

Uno»,  ssre».  OiN  a»  «loh»  In  Kopenhagen,  sMallina,  Die  Flau  <?ouuerneurin  uan  pari»,) 

«.  0.  «ehmann  in  Dresden  N,  «Schulz,  vcr  kleine  Samariter.) 

yv<.  Neumann  in  Neuda,»,»,  IVölsche,  tntmickelungzgelchich!»  der  Natur.) 

Ci,r.  Herrn.  Tauchnih  in  leipzia.  <k,!!pfehlen,weitt,e  <8eschenlu»rle,) 

ÄOoll  lihe  in  te,p,!g,  («mpfedlenlwerche  Veichenswers») 

«chleMche  !»uch»»a<l«»»l,  «»«»»  u.  » < » I« « » 0 « Nft« U  ».  «.  «ch, »«««»»«  in  Vreslau 
<weil,nach!ss»!alag.) 


5n  unsere  Müonnenten! 


ie  bereitö  erschienenen  Vände  von 
// 

Nord  und  Süd" 

können  entweder  in  complet  broschilten  oder  fein  gelundenen  Vänden 
von  uns  nachbezogen  werden.  Preis  pro  Vand  (—3  Hefte)  bro> 
schirt  6  Mark,  gebunden  in  feinstem  Driginal >«Linband  mit  reicher 
Goldpressung  und  Schwarzdruck  8  Mark. 
Einzelne  Hefte,  welche  wir  auf  Verlangen,  soweit  der  Vorrath 
reicht,  ebenfalls  liefern,  kosten  2  Mark. 
Ebenso  liefern  wir,  wie  bisher,  geschmackvolle 
Original  -  Ginbanööecksn 

im  5til  des  jetzigen  Heft-Umschlags  mit  schwarzer  und  Goldpressung 
aus  englischer  leinwand,  und  stehen  solche  zu  Vand  LXXV  (October 
bis  December  1.895),  wie  auch  zu  den  früheren  Vänden  I  — I  .XXI V 
stets  zur  Verfügung.  —  Ver  Preis  ist  nur  ~  Mark  50  Pf.  pro  Decke. 
Zu  Vestellungen  wolle  man  sich  des  umstehenden  Zettels  bedienen 
und  denselben,  mit  Unterschrift  versehen,  an  die  Buchhandlung  oder 
sonstige  Vezugsquelle  einsenden,  durch  welche  die  Fortsetzungshefte 
bezogen  werden.  Auch  ist  die  unterzeichnete  Verlagshandlung  gern 
bereit,  gegen  Linsendung  des  Vetrages  (nebst  50  Pf.  für  Francatur) 
das  Gewünschte  zu  expeoiren. 
Vreslau. 

3chlesische  Vuchdruckerei,  Runst-  und  verlags»Anstalt 
v.  5.  5chottlaender. 
(Vestellzettel  umstehend.) 


UesteNzettel'. 
Vei  der  Vuchhandlung  von 
bestelle  ich  hierdurch 
„Nord  und  Süd" 

herausgegeben  von  j?aul  tinda«. 

Schleiche  Vuchdrucfeiei,  Kunst»  »,  veilagzanstal!  I>.  5,  öchoüluender  in  Urrzlou. 

«zpl.  Vand  I.  II,,  III,.  IV..  V,,  VI..  VII..  vm.,  IX..  X.. 

XI.,  XII.,  xm..  XIV..  XV„  XVI,,  XVII..  XVIII..  X1X„  XX„ 

XXI,.  XXII,,  XXIII,.  XXIV..  XXV.,  XXVI.,  XXVII.,  XXVIII.. 

XXIX.,  XXX..  XXXI..  XXXII..  XXXIII.,  XXXIV..  XXXV.. 

XXXVI,,  XXXVII..  XXXVIII..  XXXIX.,  XI...  XI. I.,  Xl.ll,  XI. III., 

XI. IV.,  XI. V..  XI  .VI..  XI  .VII,.  XI. vm,  XI. IX..  I...  I.I.,  LH.,  I.III., 

UV..  I.V..  I.VI..  I.VII..  I.VIII.,  MX..  I.X..  I.XI..  I.XII.,  I.XIII., 

I .XIV..  I.XV.  QXVI..I.XVII.,  I. XVIII. .1. XIX.,  I.XX..I.XXI..  I.XXII., 

I. XXI II.,  I .XXIV 

elegant  broschirt  zum  streife  von  «~i  6.— 
pro  Vand  (-  3  Hefte) 

fein  gebunden  zum  streife  von  cyv  8.—  pro  Vand. 

«Lxpl.  Heft  I.  2,  3,  4,  5.  6,  7,  8,  9,  IN,  „,  12,  12,  l„  ,5, 

,6,  I?,  »8,  ,9,  20,  21,  22,  23,  24,  25,  2«.  27,  28,  29,  30,  31,  22,  22, 

2<5,  25,  26,  27,  28,  29,  5»,  Hl,  42,  42,  44,  45,  HS,  47,  48,  49,  50,  51, 

52,  53,  54,  55,  56,  57,  58,  59,  KU,  61,  62,  62,  64.  65,  66,  67,  68,  69, 

70,  71,  72,  73,  74,  75,  76,  77,  7»,  79,  80,  81,  82,  82,  84,  85,  86,  87, 

88,  89,  90,  91,  92,  32,  95,  95.  9«,  9?,  9».  93,  ~oo,  IUI,  102.  ,02, 

10„  105,  ,06,  107,  108.  109,  ,10,  111,  1,2,  „2.  „4,  „5,  „6,  „?. 

„8,  „9,  ,20,  ,2„  ,22,  ,22,  ,24,  ,25,  ,26,  ,27,  ,28,  ,29,  ,20,  ,2„ 

,22,  ,23,  134,  135,  ,36,  ,37,  ,28,  ,29,  ,40,  ,4„  ,42,  ,42,  ,44.  ,45, 

>46,  ,47,  „8,  ,49,  550,  ,5„  ,52,  ,53,  ,54,  ,55,  ,56,  !>57,  ,58,  ,59, 

,60,  ,ü„  ,62,  ,63,  ,64,  165.  ,66,  ,67,  ,58,  ,69.  ,70,  ,?„  ,72,  ,73, 

,?4,  ,75,  ,76,  ,77,  ,78,  ,79,  ,80,  ,8„  ,82,  ,82,  ,84,  ,85,  ,86,  ,87, 

,88,  ,89,  19«,  ,q„  ,92,  ,93,  ,94.  195,  196.  ,9?,  19»,  199,  200.  20„ 

202,  202,  204,  2>>5,  206,  207,  208,  2«9,  2,0,  2„,  2,2,  2,3,  2,4,  2,5. 

2,6,  2,7,  2,8,  2,9,  220,  22„  222,  223,  224 

zum  streife  von  ~  2.—  pro  Heft. 

Einbanddecke  zu  Vd.rxxiV.  Iluli  bi>  September  5895, 

<kxv>.  d«.  zu  Vand  l„  II.,  III.,  IV.,  V.,  VI,  VII.,  VIII., 

IX..  X.  XI.,  XII..  XIII..  XIV.,  XV.,  XVI.,  XVII.,  XVIII..  XIX., 

XX,  XXI.,  XXII,.  XXIII.,  XXIV.,  XXV.  XXVI.,  XXVII.. 

XXVIII.,  XXIX.,  XXX..  XXXI,,  XXXII.,  XXXIII,  XXXIV. 

XXXV.,  XXXVI..  XXXVII..  XXXVIII..  XXXIX..  XI...  XI. I' 

Xl.ll..  XI. III..  XI. IV.,  XQV  XI .VI.,  XI .VI I . .  Xl.vm.,  XI. IX..  I.., 

i.i.,  i.h.,  ni..  i.iv..  i.V.,  i.vi.,  i.vii.,  i.viii..  ux,  i.x.,  i.xi., 

I.XII.,  I.XIII.,  I .XIV.,  I.XV.,  QXVI..1.XVII.,  I. XVIII.,  I .XIX.,  I.XX  . 
I.XXI.,  I.XXII.,  I .XXII I .,  I  .XXIV 
zum  streife  von  ~  ~,50  pro  Vecke. 

Um  «Ifi.  «cht  d» » ! I ich»  rl«m«n»>  »»!>  wohnnilglüngabe  »ild  »rsnch!. 


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Aord  und  SAlÄd. 

Gine  deutsche  Monatsschrift. 

Herausgegeben 

von 

Paul  tindau. 

I.XXV.  Vand.  ä€"  Deceniber  A895.  ä€"  Heft  225. 
Vrezll  au 

Lchleslsche  Vuchdruckerei,  Kunst'  und  verlagS 'Anstalt 
v.  5.  2chottlĻendei. 


EMPTY 


Ohilemon  und  Baucis. 
von 

Emil  Schaenaich-^arolnth. 

—  j)alsgaard'l  uelsminde  bei  Wolfens  (Dänemark), 

VauciZ: 

Philemon!  sihilemon! 

vie  3onne  sticht,  schwarz  ragt  der  torbeerhain, 

van  fernen  Höh'n  naht  eine  Wetterwolke, 

Virgt,  veilchenfarben,  ferner  Vlitze  schein. 

Die  Ziagen  blöken  ruhelos  am  Rain, 

Und  er,  der  Gute,  ging  zum  Schnittervolke. 

Mich  bangt  um  ihn  .  .  kein  3ichelton  durchschwirrt 

Die  schwüle  tust  mit  frohgeheimem  laute, 

Dies  schweigen  lähmt. 

Wilemun: 

Gruß  vir,  Du  sorglich  Traute 
Den  Rlippensanm  Hab'  mühvoll  ich  durchirrt, 
Die  Vöcklein  abwärts  scheuchend  zu  den  wiesen, 
Sie  naschen  gern  am  jungen  Lchotenkeim 
Der  goldgebrämten  giftigen  Cythisen. 
Gleich  bracht'  ich  Futter  für  die  Thiere  heim. 
Jetzt  möcht'  ich,  müd'  vom  ungewohnten  steigen, 
Dankbar  die  stirn  dem  Hüttenschatten  neigen. 
Baucis: 

Dem  -chatten  nicht,  komm  in  den  Sonnenschein, 
Die  Holzbank  trag'  ich  in  den  Glanz  hinein, 
<Ls  ruht  sich  gut  an  eigner  Hllttenschwelle. 
19' 


2?8  «Lmil  Zchoenaich-Carolath  in  Palsgaard'luelsminde. 
Milrnwn: 

Ach,  theure  Gattin,  wo  Dein  lächeln  weilt, 

Herrscht  Gabenfülle,  süße  Vaseinshelle. 

Ja,  wir  sind  glücklich,  doch  —  die  Zeit  enteilt. 

<vft  spricht  mein  Herz  in  ruhelosem  3chlage: 

Ein  Ende  droht  dem  allerschönsten  Cage, 

längst  wurden  schräg  an  unsrem  Z?fad  die  -chatten. 

Ach,  altersgrauer,  treuer  Weggefährte, 

Daß  doch  die  Jugend  ewig,  ewig  währte! 

Wllcmon: 

vergiß  nicht,  liebste,  wie  so  gut  wir's  hatten, 

was  Götterhuld  uns  sterblichen  erlaubt, 

Du  streutest  es  als  sanften  Rosenregen 

Mildherzig,  freundlich  auf  mein  altes  Haupt, 

Dein  Thun  war  Glück,  Dein  Tageswerk  war  Zegen, 

Und  täglich  noch  nimmt  Deine  Güte  zu. 

N2uci§: 

Der  5tärkstc,  Veste,  schönste  warst  stets  Du. 
Milrmon: 

Dem  Tage  preis,  der  Dich  mir  angetraut. 
Wir  liebten  uns,  doch  zwischen  fahlen  Myrten 
schlich  Hungersroth,  die  «Lumenidenbraut. 
Poseidon  doch  hat  unfern  Gram  erschaut: 
Im  wilden  3üdsturm  brandeten  die  3yithcn 
Gla»,  gischtbekränzt  zun,  Alippenstrande  her  .  . 
Vaucis: 

Da  rissest  Du,  zu  retle»  uns  von  Mangel, 
An  hochgeschwungener,  dreigezackter  Angel 
Den  silberfetten  Thunfisch  aus  dem  Meer. 
Ich  aber  floh  schnellfüßig  von  den  Klippen 
Und  küßte  Dich,  dcß  Arm  noch  straff  vom  Fang, 
3alziibeischäumt,  den  Nacken  mir  umschlang, 
Helljubelnd  auf  die  üriumphatorlippen. 
Mllemon: 

wie  warst  Du  schön!  wir  schritten  durch  die  Nacht, 

Auf  fremden  Vergen  hielten  Hirtenfeuer 

Hochrolh  und  einsam  stille  Höhenwacht, 

Im  3üden  stand,  goldäugig,  erdenfein, 

Des  liebesglückes  großer  Funkelstern. 

Aus  palmenübcrdunkeltem  Gemäuer 

Hob  sich  das  Moosdach,  unser  «krdenheim; 


philemon  und  Vaucis.  2? H I 

Du  trankest  scheu  vom  selbstgebrauten  Seim, 

Dann,  schluchzend,  bang,  im  heißen  Rosenhage  — 

Bauriß: 

G  schweig,  «  schweig  .  . 
Mllemon: 

Starb  uns  in  Seligkeit 

Her  jungen  Sehnsucht  herbe,  letzte  Plage, 

«aucis: 

Sie  ging  dahin,  die  nie  verschmerzte  Zeit. 
Wilemon: 

(!)  kehrt  zurück,  ihr  honigschweren  Tage. 
Nlluiiß: 

wie  ward  er  alt.  Ihm  senken  sich  die  lider, 

<Lr  nickt,  er  schläft.  Ach.  kam'  die  Jugend  wieder! 

Wer  Wanderer: 

Ihr  Friedlichen!  «Luch  fiel  ein  seltnes  loos. 
Ach,  daß  sie  schlügen,  treuer  liebe  Flammen 
Um  jedes  Herz,  auf  jedem  Herd  zusammen, 
Dann  tagten  lenze,  herrlich,  zukunftsgroß. 
Dann  könnten  Götter  diese  Welt  erwählen 
Um,  ungestraft,  sich  Menschen  zu  vermählen, 
weich'  mir  vom  Haupte,  großer  Sonnentraum. 
Reut  Eure  Hülte  dein  verirrten  Raum? 
Vaucis: 

Ein  Gast,  ein  Gast!  Seit  sich  zum  Dorfe  fenkt 
Der  Händler  Pfad,  ward  uns  kein  Gast  geschenkt. 
Dem  Tage  Heil,  der  Dich  uns  zugeführt  — 
philemon,  stink,  jetzt  wird  der  Topf  gerührt. 
Mllemon: 

«Li»  Gast?  vernehm  ich  recht?  Freund,  nimm  vorlieb. 
Gleich  stammt  das  Reisig,  Ruhe  Dich  im  Sessel, 
Und,  Vaucis,  was  Du  Gutes  hast,  das  gieb. 
Vaucis: 

Zum  Feuer  hebe  mir  noch  rasch  den  Ressel, 
Dann  tummle  Dich,  vom  Gältlein  bring  herbei 
Mir  reichlich  Minze,  Rüben  und  Salbei, 
Gleichzeitig  schaff  den  Mischkrug  aus  dem  Keller, 
Trag'  sänftlich  ihn,  dann  hält  der  wein  sich  Heller, 
Und  hol'  mir  endlich,  wenn  Du  fertig  bist, 
vom  Doch  dies  Ranchfieisch,  das  ich  längst  vermißt. 


281)  «Lmil  3ch«ena!ch>Earolath  in  valsgaard^luelsminde. 
Milemnn: 

laß.  Vancis,  mir  den  Herd  nur  nicht  erkalten! 
Nüuciß: 

Hier  steht  der  Cisch,  doch  ach,  g»r  speisenleer. 
Vei  Wanderer: 

Ihr  lieben,  guten,  mildgesinnten  Alten, 
Mich  zu  bewirthen  fällt  nur  Reichen  schwer, 
verächtlich  oft  wies  ich  vom  tebenstische 
Des  Reichthums  fette,  goldgeschuppte  Fische, 
Denn  Selbstsucht  war  des  Prunkgelages  Rem, 
Doch  Ihr  bewirthet  sonder  Arg  und  gern, 
Drum  brech'  ich  derb  von  Euerm  Aleienbrote, 
Und  es  behagt  mir  Luer  wein,  der  rothe. 
Nsucls: 

wie  treulich  ehrt  er  nns're  rauhe  Host! 
Hör'  an,  f>hilemonl  Unler'm  Heerdesrost 
Vriet  heut  ich  Aepfel;  wollt'  Dich  überraschen. 
Milemon: 

V  Gute,  nimm  sie  hurtig  aus  den  Aschen 
Und  wisse  denn:  im  Vienenstock  verwahrt 
liegt  Honig  noch,  den  ich  Dir  aufgespart. 
Vring'  Alles  her,  den  Fremden  wird's  erfreuen. 
Ver  Wanderer: 

Ihr  Guten  gebt;  es  soll  «Luch  nicht  gereuen. 

Gern  mag  ich  rasten,  wohlbetischt  und  warm,' 

Doch  stammt  ob  Unbill,  unterwegs  erlitten 

Im  Hirtendorf,  zu  Haupt  mir  jäher  Harm. 

Fluch  jenem  Vrt,  den  quer  mein  Stab  durchschnitten, 

Dies  Volk  ist  schlecht. 

Milemon: 

Hart  auf  Erwerb  versessen. 
Doch  schlecht?  V  nein. 
Vcr  Wanderer: 

Freund,  Schulden  zu  bemessen^ 

Ist  Richteramt  nnd  ziemt  nur  mir  allein. 

Als  Nettlei  kam  ich,  weil  aus  Vettlerwunden 

Ein  heil'ger  Strom  zur  Menschheit  niederquillt. 

Vis  daß  der  Gottheit  liebesdurst  gestillt. 

An  jenem  Strom,  der  suchend  heimwärts  geht, 

Harrt,  Weltenschicksal  wägend,  der  vrophet. 

Mich  hetzten  sie  mit  magergelben  Hunden, 

Die  Sichel  schor  den  goldne»  Gerstenhag, 

Mir  ward,  statt  Speise,  Hohnwort,  Knüttelschlag. 


Philemon  und  Vaucis.  28~ 
In  jedem  Haus,  dem  ich  mein  Heil  befahl, 
Hielt  die  Genußsucht  breit  ihr  Vacchanal, 
Dort  lagen  sie,  die  grasse  3elbstsncht  säugend. 
Am  Futtertrog,  vergleichbar  schwarzen  3tieren, 
Die,  wiederkäuend,  trag,  im  Nahrungsgicren 
Dem  großen  Zchlachttag  stumpf  entgegen  äugen. 
Der  Tag  kommt  bald. 
B2uc>§: 

«LZ  bricht  Gewitterglanz 

vom  Vlick  des  Fremden.  Rieth'  ich  seinen  willen! 

Mllcmon: 

Noch  hungrig  blieb  er  wohl.  Vaucis,  im  5tillen 
Erwog  mein  3inn:  wir  opfern  ihm  die  Gans. 
VauciK: 

Das  treue  Thier?  weh,  wenn  sein  Zahn  sie  nagte, 
5ie  ward  uns  Freund,  die  kluge,  hochbetagte. 
l?hllemon: 

Ach,  Haftpflicht  mahnt,  wir  müssen  standhaft  sein; 
Das  Messer  schärfe  sacht  am  Kesselstein, 
Ich  will  alsbald  mit  unsres  Festes  Vrocken 
Aus  ihrem  3tall  die  Hansgenossin  locken. 
Dann,  ahnungslos,  wenn  sie  das  Mahl  genießt, 
Trifft  sie  der  Tod,  der  jedes  Glück  beschließt. 
Ich  habe  Muth!  Voch,  Aaucis,  immerzu 
War'  es  mir  lieber,  schlachtetest  sie  Du. 
Vaucis: 

Ich?  Nimmermehr,  herzloses  Ungeheuer! 
Voch  ...  Du  Haft  Recht.  Das  finstre  Werk  geschieh'. 
3«  schlachte  sie,  doch  thu  dem  Thier  nicht  weh. 
Ver  Wanderer: 

welch  heil'ger  Duft  umflort  ihr  Hüttenfeuer. 
An  dieses  Herds  verglommner  liebesspur 
Erstarkt  mein  Wunsch  »ach  Glück  auf  Erdenstur. 
Halt  ein!  Nach  3peise  lüslet's  mich  nicht  mehr. 
Nach  Euren  Herzen  doch  !rag'  ich  Vegehr. 
wir  wollen  tranlich  um  den  Tisch  uns  reihen, 
Und,  redefroh,  der  Rast  ein  Ltündlein  weihen, 
sprecht.  Eures  lebens  langgemess'ne  Zeit 
3chuf  Euch  viel  schweres? 
Wilcman: 

Herr,  nur  Dankbarkeit, 
NauciZ: 

Der  Gute  hier  trieb  uns  vom  Haus  die  Plagen, 
Mit  solchem  Gatten  ließ  sich  Alles  wagen. 


232  Emil  schoenaich-Earolath  in  sialsgaard'l  uelsminde. 
IMIenwn: 

Doch  ohne  Vaucis  hält'  ich's  nicht  ertragen, 
Nauriß: 

Craut  nicht  dem  wort  —  die  liebe  sprach  darein. 
Vcr  Wanderer: 

Freund,  Euer  Glück  berauscht  gleich  jungem  wein 
Deß  herber  Duft  hat  meinen  Mund  beflügelt, 
Nun  traut  «Luch  Wünsche,  zahlreich,  ungezügelt. 
Den  wirthen  zollt  der  Gastfreund  ein  Geschenk, 
Des  guten  Vrauchs,  des  alten,  seid  gedenk.  .  . 
Milemon: 

,  Ja,  damals  gingen  Götter  noch  auf  Erden 
Ver  Wanderer: 

Nicht  traumhaft  lallt  die  gute  goldne  Zeit 
Aus  Märchenmund,  —  sie  lebt,  sie  prophezeit, 
Ihr  Priester  naht,  es  reißt  sein  Mantelschooß, 
Und  blendend  klafft  vor  frommen  Hültenheerden 
Der  wunscherfllllung  Goldschatz  königsgroß  — 
Milenwn  im»  Vaucis: 

V  laß  noch  einmal,  einmal  jung  uns  werden! 
Wer  Wanderer: 

wie  steigt  so  wild  mir  Schöpferkraft  zu  Haupt, 
Ein  sonnenstrom,  der  jedes  Vett  verloren, 
Der  »»gebändigt,  spottend  jeder  Furt, 
<Lin  jedes  Herz,  das  werth  der  Neugeburt, 
Heimrauschend  trägt  zu  weißen  siegesthoren. 
Gewährung  soll  Euch  sein,  weil  Ihr  geglaubt, 
sihilemon,  geh,  und  taste  Dich  am  Ztocke 
Zum  heißen  Gältlein,  aus  der  Vienenglocke 
Vrich  Dir  den  letzten  süßen  Honigseim, 
Dann  auf  dem  Vänklein  ruhe,  wunschvergessen, 
Denn  nur  ein  schlaf  im  schatten  von  Eypressen, 
Der  kurze  schlaf  bringt  Jugend  wieder  heim. 
Nun  neige  sanft  Dein  Haupt  dem  kühlen  taube  ... 
Vauriß: 

sein  Fuß  ward  schwach,  er  glitte  leicht  im  staube. 
Herr,  er  ist  alt,  ich  lass'  ihn  nicht  allein. 
Der  Wanderer: 

Auf,  mir  zu  Füßen  fiattre,  fromme  Caube, 
(exlt  plvll'nio,, 

Ich  und  mein  Werk,  wir  müssen  einsam  sein. 

Nur,  wer  sich  tief  der  Einsamkeit  befahl. 

Hört  rauschend  nahn  des  singschwans  Goldgefieder, 

Und  jubelnd  steigt  aus  süßer  schöpferqual 

sein  Werk  hervor,  sein  Rind,  sein  lied  der  lieber. 


—  Phil  einen  und  Vaucis.  283 

Noch  zweifelt  ei,  durchschüttelt,  sturmverstört  .  .  . 

Vrich  denn  herab  zum  Marschen  Myrlenstamme, 

Du  grüner  lenz  —  hier  ward  ein  Glück  erhört, 

ven  Götter  Heil,  und  phrygiens  5onne  stamme. 

Nauiis: 

Nile  ward  mir?  Wonne  faßt  mich.  Uferlos 

versintt  die  Nacht,  es  schwimmt  durch  Frühliugsweite 

Mein  Herzschlag  hin,  so  reich,  so  jübelgroß. 

wie  bin  ich  selig,  selig  ich  Befreite. 

Nun  kehre  heim,  mein  erster  liebesruf, 

Zu  dessin  Vrust,  der  neu  das  Glück  mir  schuf, 

Der  J  ugend,  J  ugend  mir  zurück  gegeben. 

Ver  Wanderer: 

viel  höher  noch  soll  Dich  mein  Arm  erheben. 
2o  juble  denn,  Du  meiner  Träume  Kind, 
Veransche  Dich  am  jungen  lenz,  erwache, 
Mit  herb  gebä'umteu  rothen  tippen  lache 
Dein  licbeswort  dem  frischen  lebenswind. 
Du  bist  erwählt,  bist  Göttern  angenehm, 
Auf  Deiner  5tirn,  im  Zeichen  jungen  Ruhmes 
Trag  froh  die  Krone  des  Hellenenthumes, 
Der  ew'gen  Schönheit  Ltrahlcnoiadem. 
Den  5chöpfer  bannt  ein  tiefer  Hoheitsglaube 
vor  sein  Geschöpf,  daß  er  bewundernd  stehe.  .  . 
Naliciß: 

V  gieb,  daß  nie  von  meinem  Haar  zum  staube 
Zurück  Dein  Kranz.  Dein  bliitheniother,  wehe. 
Vcr  Wanderer: 

Erzittre  nicht.  Zu  meinen  Füßen  zieht 

Der  3onnenball,  und  hinter  Myctenbäumen 

Vlcibt  er,  gluthstarrend,  haften  am  Senith, 

Um  ewig  über  unserm  Glück  zu  träumen. 

Erhöre  mich,  dann  wird  dies  Wunder  Dein, 

Und  meine  Kraft  verbürgt  Dir  Herrscherehren; 

Unsterblich  sollst,  mir  anvermählt,  Du  sein. 

Dein  liebeskuß  soll  uns  den  Ruhm  bescheeren 

Als  Cistlingsfohn;  der  schütte  kraftgeschwellt 

3ein  gleißend  Füllhorn  auf  die  schwarze  Welt. 

Doch  Vpfer  nur,  die  vorbedingungslos 

Trifft  vom  Vlymp  der  heil'ge  Vlitzesstoß, 

5o  schmelz'  ich  Dir  die  spröden  Panzerhüllen, 

3o  raff  ich  jubelnd  Deinen  jungen  leib 

Im  Vlüthensturm  hinweg,  mein  Werk,  mein  Weib. 


28H  Emil  5ch«enaich»Earolath  in  Paligaard'l  uelsminde.  - 
Bllucis: 

weh  mir,  laß  ab  .  .  .  Dein  Wunsch  birgt  kein  Erfüllen, 
vernichtend,  unermeßlich  war  der  Wahn 
Und  tief  der  schmerz,  den  Vu  mir  angcthan! 
Ver  Wanderer: 

lähmt  Sagen  Dich?  willst  Du  dem  Glück  entrinnen? 
Kannst  Du  die  Glnth,  die  vir  nm's  Haupt  ich  stecht, 
vergleichen  mit  des  Hüttlein-  lampendocht? 
Vist  Du  so  klein?  Vaucis!  Kamst  Vu  von  sinnen? 
NlluciZ: 

V  habe  Dank,  daß  Du  mich  recht  benannt 

Und  mir  den  Erdenheimruf  zugesandt, 

wo  bleibt  philemon? 

Vei  Wanderer: 

Du  dem  staub  Getreue, 

Die  vu  zum  großen  sonnenstnge  trag, 

schon  hängt  an  Deinem  lippensanme  schräg 

Und  schwer  des  Glückes  Gegeiilast,  die  Reue. 

Ach,  daß  Dein  Heiz  so  schwer  sich  lösen  kann 

vom  Ehejoch,  dem  plumpen  Zweigespann. 

Dein  Gatte  nahe,  dann  mit  schmerz  und  Grauen 

wirst  Du  das  Zerrbild  Deiner  Schönheit  schauen. 

Mllcmon: 

Zum  ersten  Mal  hat  Vaucis  mein  vergessen. 
Doch,  sorglich  wohl,  schafft  sie  dem  Fremden  Dank. 
Auch  mir  gewiß  bringt  sie  zur  Gartenbank 
Nebst  dem  gewohnten  milden  schlummertrank 
Ein  Vröcklein  Abhub,  der  da  blieb  vom  Essen. 
Vaucis: 

Versucher!  Ziehe  Deines  Wegs  allein, 

vir  ward  die  Welt;  dies  welke  Haupt  bleibt  mein. 

Vcr  wandern: 

so  willst  Du,  taub  dem  Auferstehungsruf, 
Zum  5taul>  Zurück,  der  Armulh  nur  vir  schuf? 
vu,  die  bestimmt  zu  großer  Ziegesreise, 
Entwichest  mir,  Dich  flüchtend  zu  dem  Greise, 
In  seiner  last  mühselig  heimzutragen 
5iechthum  und  sünde,  Tod  und  Vettlerplagen, 
Vie  stirn  gefurcht,  wenn  Erdensonnen  stechen? 
Nein,  liebesrosen,  volle,  sollst  Vu  brechen. 
An  meine  Vrust,  aufscheuernde  Gestalt, 
Ich  bin  die  Kraft,  bin  lebe»,  bin  Gewalt, 
Empor  zu  mir!  In  zügellosen  Flammen, 
I  n  ew'ger  J  ugend  stürmen  wir  zusammen, 


philemon  und  Aancis.  285 

Daß  der  Vlymp  sich  unseim  Glück  vermähle! 

Dort  schläft  der  Greiz  —  hier  steht  Dein  Gott:  Nun  wähle. 

2ieh  dies  Geschöpf,  von  Alter-Iast  gedrückt  .  . 

Nlluciß: 

Reiß  mir  vom  Haar  den  Kranz,  der  mich  berückt 
Ein  5iegesheld  in  Deinem  Himmel  bleibe, 
Allein  auf  Erden  laß  den  Mann  beim  Weibe. 
Ver  Wanderer: 

Mein  Werk  mißlang  V  großer  liebespfeil, 
Den  sehnend  ich,  von  Veutcdrang  geblendet, 
In  wilder  Kraft  der  Menschheit  zugesendet. 
Du  lehrst  zurück,  fiugzitternd,  ohne  Zeil. 
Du  stillte rst  Heini,  von  Herzblut  tief  geröthet, 
Doch  mein  Vlut  ist's,  und  mich  hast  Du  getödtet. 
!V«l>ciß: 

wach  auf,  f?hilemon,  Lieh,  hier  weilt  ein  Mann, 
Der  darbend  kam,  der  uns  als  Gast  gehörte, 
Der  zauberkundig,  durch  Veschwörungsbann 
Dein  Weib  verlockte,  meinen  3inn  bethörte. 
Umgarnend  warf  des  Perlenfischers  Hand 
Mir  über's  Haupt  der  Schönheit  Netzgewand, 
verstrickend  mich  im  goldnen  Maschenregen, 
Und  um  ein  Haarbreit  war'  ich  unterlegen. 
3o  lohnt  der  Fremdling  Vbdach,  labetrank. 
Ver  Wanderer: 

Nun  soll,  philemon,  einmal  noch  in  Vrausen 
Der  Jugend  2üdwindstoß  Dich  übersausen, 
Mllemon: 

Den  rost'gen  lagdspcer  fäll'  ich.  Dir  zum  Dank! 
Durch  diesen  5tahl,  der  wolfsblut  oft  geleckt 
An  meiner  schwelle  seist  vn  hingestreckt, 
Noch  wehrt  mein  Arm  lichtscheuem  Raubgelichter. 
Ver  Wanderer: 

Unholdes  Paar,  deß  Vlick  der  Irrthum  deckt, 

vor  «Luch  steht  Zeus,  der  große  Heizensrichter, 

Erhebet  Euch,  und  wisset:  mild  gebucht 

ward  Eure  Schuld;  Gott  selbst  hat  Euch  versucht. 

Erneuter  J  ugend  blitzend  3lirngehenk 

Es  war  zu  groß,  zu  herrlich  dies  Geschenk. 

Gerüttelt  seid,  im  5  türm  von  Haß  und  lieben 

Ihr  schuldlos  nicht,  doch  menschlich  wahr  geblieben; 

Ich  bin  Euch  hold,  und  eh  der  Al-endschatlen 

von  dieser  3tätte  meine  Wegspur  weht, 

will  ich  erhören  Euer  Nachtgebet 

Und  einen  Wunsch,  den  letzten,  Euch  verstatlen. 


286  Lmil  2choenaich°Carolath  in  Palsgaard>luelsminde. 
Mllenwn  und  Bauriß: 

Nimm  uns  vom  Haupt  die  Gluth  der  ew'gen  lenze, 
laß  uns,  nicht  ahnend  unsres  lebens  Grenze, 
An  einem  Tag,  in  einem  Russe  sterben. 
Vcr  Wandeier: 

<Ls  sei,  doch  J  ugend  sollt  I  hr  dennoch  erben. 

Auf  Erden  schon  wird  «kurer  liebe  3trom 

Unsterblich  stnthe»,  wird  in  vichtersagen 

Zurück  zur  Welt,  der  götterlose»,  tragen 

Des  Griechenlorbeers  herbes  Duftarom, 

Nun,  hehre  Jugend,  die  mein  Vann  beschwor, 

Kehr  jubelnd  heim  zum  rothen  Rosenflor, 

Zu  Frühlingssonnen,  die  sich  niemals  wenden, 

laß  dieses  f>aar  erfüllen  und  vollenden 

Ihr  loos,  das  tragisch  dunkle,  Mensch  zu  sein. 

Kehrt  heim  und  ruht  im  Erdensonnenschein. 

Wileman: 

war  Alle?  Traum? 

Bauriß: 

(!)  Glück  des  Auferwacheni! 
Milemun: 

Nicht  ist's  denn  wahr,  daß  wild  ich  schwang  den  Spieß, 
Bauriß: 

Und  CÄuschung  bleibt  es,  daß  mein  Herz  Dich  ließ. 
Milemon: 

Dein  Herz?  mich?  —  Komm,  mein  Mund  quillt  frohen  lachens 
wir  wollen  plaudern,  auf  dem  Vänklein  ruht 
Im  2onnengold  es  sich  so  gut,  so  gut. 
Bauriß: 

Ein  Kranichpaar  im  Aether  seh  ich  kreisen, 
Es  strebt  im  Heimweh  neuem  Frühling  nach, 
pljilemon: 

Mein  Vlick  erlosch,  mein  Aug'  ward  trüb  und  schwach. 
Der  Göiter  Huld  beschirm'  ihr  Heimwärtsreisen, 
M3g'  ihnen  bald  auf  frommer  Hütten  Dach 
Ein  neues  Nest,  ein  sturmessichres,  werde», 
wir  aber  freun'  noch  friedsam  uns  der  Erden. 
Bauriß: 

Zwei  Kinder  sind  wir,  die  durchs  Ernteland 
Nach  langem  Fest  heimwandern  Hand  in  Hand. 
Mileman: 

Und  deren  lippen,  eh'  sie  müd'  sich  schlössen 
Am  Wegessaum,  im  letzten  Sonnenbrand, 
Für  Alles  danke»,  dos  sie  reich  genossen. 


sihilemon  und  Vaucis. 
28? 

Vcr  wiliiderer: 

Aus  so  viel  heil'gem  3terbcfrieden  rauscht 

Auch  mir  zu  Haupt  ein  großes  Abschiebsahnen, 

«3«  zieht  Hera»  auf  Vffenbarungsbahnen 

<3in  neuer  lenz,  der  Gottheitskränze  tauscht. 

Aus  ferner  luft  hör'  ich,  prophetisch,  klingen 

Ein  großes  Flattern  von  Ellö'serschwingen, 

Lin  vemnthsgott  wird  wandeln  durch  die  Zeit, 

Um  still,  im  blut'gen  Ueberwinderkleid, 

Im  Fillhrothlicht  den  Stein  vom  Grab  zu  heben, 

Nur  dieser  Go!t,  nur  er,  wird  ewig  leben. 

Kann  brich  zusammen,  Griechenherrlichkeit! 

Und  dennoch  schlugst  aus  tiümmeischweren  wogen, 

Du  zum  Vlvmp  der  Dichtung  Strahlenbogen, 

Und  dennoch  wirst  Du,  voll  gewalt'ger  Fracht, 

So  weit  die  Sonne  stammend  niederlacht, 

Soweit  der  3turm  braust,  dieser  Welt  voll  Traner 

Heimwälzen  Deiner  Schönheit  Sehnsnchtsschauer, 

Dies,  Hellas,  war  Dein  Glanz,  bleibt  Deine  Macht. 

Die  Veiden  dort  im  blühenden  J  asmine 

Küß  sanft  vom  leben,  Freundin  j)roserpine, 

Doch  ihrer  Herzen  heilig  langen  Traum 

Veschatte  still,  von  cw'ger  liebe  rauschend, 

Im  Spiel  des  Vlattwelks  Roseworte  tauschend, 

Ein  kraftgeschwrllier  schwarzer  lorbeerbaum. 

Ich  aber  will,  gelehnt  am  Pilgerstab, 

Dich  segnen,  statte,  die  mir  Gbdach  gab. 

Den  wilden  Wunsch,  der  mir  zu  Haupt  geschossen, 

Trug  ich  zu  Grab  auf  goldnen  Sonnenrossen, 

Zerbrochen  starrt  der  Sehnsucht  Flammenspeer. 

Auf  unerfüllten  großen  ^cho'pferpfaden 

Sinkt  im  Getümmel  jauchzender  Najaden 

Der  Gott  zurück  in's  frühlingsgrüne  Meer. 


-?» 


Ein  fürstlicher  Dichter. 

(f>rinz  Emil  zu  5choenaich«<~arolath.) 

von 

Nichard  Unehlich. 
Vreslau. 

irklich  große  Dichter  sind  ohnebin  spärlich  gesäet,  zumal  in  jenen 
hohen  Regionen,  wo  ein  auf  das  reale  Leben  gerichteter  Ehr- 
W  geiz,  verbunden  mit  sorglosen!  Lebensgenuß,  die  künstlerische  Art 
der  Weltbetrachtung,  vor  Allem  die  Neflerion,  zurückdrängt.  Zu  den  beiden 
großen  uud  hochstellenden  Poeten,  die  nnser  J  ahrhundert  trotzdem  hervorbrachte, 
zu  Vnron  und  Platen,  tritt,  von  Wenigen  erst,  von  diesen  aber  intensiv 
gewürdigt,  ein  dritter,  zeitgenossischer:  Prinz  Emil  zu  Schönaich'Earolath. 
Wir  wollen  zu  dieser  an  sich  rein  äußerlichen  Zusammenstellung  von  vorn- 
herein bemerken,  daß  der  Neuromantiker  mit  dem  Grafen  Platen,  dessen 
weltliterarische  Bedeutung  vor  Allen»  in  seinen  Verdiensten  um  die  Form- 
reiuheit  und  erst  in  zweiter  Reihe  auf  seiuer  ~  vorwiegend  aristophanischen 
—  Begabung  beruht,  wenig  oder  Nichts  gemein  hat;  desto  mehr  mit  dem 
Briten,  wie  sich  schon  aus  einem  flüchtigen  Blick  auf  die  faustischen  Probleme 
und  das  erotische  Milieu  der  beiden  Künstler  ergiebt.  Eine  in's  Detail 
gehende  Vergleichung  wollen  wir  uns  für  den  Schluß  aufsparen.  — 
Earolath  ist  am  8.  April  1852  in  Breslau  geboren,  wo,  er  unter  dem 
Einfluß  feiner  Mutter,  einer  hochbegabten  Frau,  die  auch  als  Uebersetzerin 
ernster  wissenschaftlicher  Werke  thätig  war,  eine  vielseitige  und  gründliche 
Bildung  erhielt.  Seine  Offizierslaufbahn,  die  er  in  Lolmar  im  Elsaß 
nbsolvirte,  war  wohl  auch  aus  diesem  Grunde  nur  von  kurzer  Dauer: 
deun  das  wenig  anregende  Garnisonleben  konnte  der  reichen  Individualität 
des  J  ünglings  nicht  genügen.  Ganz  allgemein  ist  die  Verfolgung 
geistiger  Interessen,  verbunden  mit  einer  leidenschaftslosen,  unbefangenen 
Weltbetracktung,  die  gelegentlich  auch  die  Grenzen  der  üblichen  Standes- 


Lin  fürstlicher  Dichter.  28Y 

interessen  nicht  achtet,  traditionell  im  Geschlechts  der  Schoenaich-Earolath, 
Wir  erwähnen  hier  beiläufig  den  Prinzen  Heinrich,  den  Reichstags- 
abgeordneten für  Guben.  Litteraturkenner  werden  sich  auch  eines  Herrn 
von  Schönaich  erinnern,  der  als  Gottschedianer  freilich  über  den  Zopf 
.  der  vorlessing'schen  Epoche  nicht  hinausgekommen  ist.  —  Prinz  Emil 
machte  es  wie  der  unglücklich  liebende  Versen  am  Schluß  von  „Thau- 
wasser":  er  ging  auf  Reisen,  „von  denen  man  meist  nicht  wiederkehrt". 
Er  saß  am  Lagerfeuer  der  Siour,  er  ritt  im  Samum  der  Sahara,  er 
jagte  die  Naubthiere  des  Orients  —  und  noch  heute  erzählen  dem  Gaste 
auf  Schloß  Palsgnard  so  manche  Trophäen  von  den  Gefahren,  denen  sich 
ihr  Besitzer  entgegengestellt  hat.  Nach  zwei  Jahren  kehrte  er  zurück,  und 
was  er  heimbrachte,  war  anßer  den  reichhaltigen  Sammlungen  vor  Allem 
die  Kenntnih  fremder  Länder,  ihrer  Völker  und  Sprachen,  auf  deren  Basis 
das  vornehm  schöne,  erotische  Milieu  der  reifsten  Earolath'schen  Dichtungen 
beruht.  Und  nun  begann  in  dem  stillen,  wälderumrauschten  Palsganrd  am 
großen  Veit,  auf  däuischem  Boden,  ein  Ringen  und  Schaffen,  dem  die 
Krone  künstlerischer  Vollendung  beschieden  ward,  nlo  der  große  Dichter  in 
glücklicher  Ehe  mit  einer  Dame  ans  altem  baltischen  Adel  auch  sein 
Menschenglück  fand.  Es  war,  bei  der  Jugend  und  wildgährenden  Gemüths- 
stimmung  des  Prinzen,  nahezu  selbstverständlich,  daß  er  für  feine  erste 
dichterische  Bethätignng  die  subjektivste  Kunstform,  die  Lyrik,  wählte.  So 
entstanden  die  „Lieder  an  eine  Verlorene".  Es  ist  kein  Wunder,  daß  hier 
der  Poet  nur  Töne  der  Resignation  oder  des  wilden  Schreis  nach  Selbst- 
vernichtung (Eyclus  „Westwärts",  der  von  Freiligraths  ausgewandertem 
Dichter  stark  beeinflußt  ist)  findet,  daß  man  von  der  erlösenden  und  befreienden 
Wirkung,  die  der  Goethe', chen  —  und  von  den  Neuem  auch  der  Greifschen  — 
Lyrik  zu  eigen  ist.  Nichts  verspürt.  Jede  starke  Begabung  ist  positiv;  deshalb 
konnte  auch  Earolath  bei  dem  rein  negativen  Resultat  der  „Lieder"  nicht 
stehen  bleiben,  die  auch,  technisch  betrachtet,  seiner  eminenten  Schilderungs- 
kraft nicht  den  genügenden  Spielraum  boten.  Vor  Allem  aber  ließ  sich  das 
faustische,  grüblerische  Element  nicht  in  den  engen  Rahmen  des  Liedes 
zwingen. 

Ein  Dutzendtalent  hätte  seinen  Schmerz  in  zahllosen  Varianten  ans- 
gesungen  und  wäre  dann  verstummt;  Earolath  verallgemeinert  sein  subjectives 
Empfinden  und  dessen  Ursache  nnd  gelangt  so  zur  Menschheitsdichtung.  Er 
sieht  sich  um  und  findet  auf  der  weiten  Erde  kein  Fleckchen,  das  frei  wäre 
von  Thränen,  die  um  eine  Frau  geweint.  Und  er  wirft  in  der  giganti- 
schen „Sphinr"  das  Problem  auf:  warum  ist  die  Frau  urfalsch  uud  treu- 
los? Die  Sphiur,  das  Weib,  selbst  weiß  die  Antwort  nicht',  aber  der 
weise  J  ude,  den  der  verzweifelte  Guy  fragt,  löst  das  Näthsel  in  dem 
wunderbaren  Gleichnis;  vom  Schöpfer  nnd  dem  Beduinen,  nnf  das  ich  später 
zurückkomme«  werde.  Die  Handlung  des  genialen  Gedichtes  selbst  bringt 
keine  Lösung,  denn  Guy,  der  Mann,  geht  an  Santa,  dem  Weibe,  zu 


290  Richard  «oehlich  in  Vreslau. 

Grunde,  indem  er  sich  auf  dem  Lager  der  schönsten  Frau,  satt  vor  Ekel, 
selbst  den  Tod  (siebt;  so  ist  vorher  umgekehrt  die  engelreine  „Angelina"  an 
der  Lüsternheit  des  Manuel  zu  Grunde  gegangen.  Ter  ringende  Künstler- 
genius suchte  nach  einer  harmonischen  Lösung  dieses  Kampfes  zwischen 
Mann  und  Weib;  er  fand  ihu  in  der  erhabenen  Menschheitsdichtung  „Ton 
Juans  Tod".  Es  ist  ebenso  charakteristisch  wie  rühmlich  für  den  Poeten, 
das;  er,  seine  eigenen  Pfade  wandelnd,  zu  demselben  Schlüsse  gelangt  wie 
der  reife  Goethe  im  Faust:  „wer  inimer  strebend  sich  bemüht,  den  können 
wir  erlösen"  und  „das  ewig  Weibliche  zieht  uns  hinan."  So  wird  auch 
Ton  Juan,  der  sündige  Genußmensch,  erlöst  durch  die  opferfreudige  Liebe 
eines  reinen  Weibes,  mit  der  er,  zum  ersten  Male  im  Leben  freiwillig 
auf  den  brutalen  Liebesgenns;  verzichtend,  in  sühnenden  Flammen  eingeht 
zur  ewigen  Heimat,  Tas  Verhältnis;  der  Geschlechter,  das  bisher  in 
dichterischer  Verklärung  im  Mittelpunkt  von  Earolaths  Schaffen  stand,  hat 
nun  seine  endgiltige  Lösung  gefunden  und  damit  zugleich  den  Reiz  zu 
weiterer  Behandlung  verloreu.  Was  er  schon  in  seinem  Erstlingswerke 
ahnungsvoll  verkündete,  daß  nach  Ueberwindung  des  eignen  kleinen  Leides 
sein  Herz  der  weiten  Welt,  der  Menschheit  angehören  solle;  was  er  in  der 
„Sphiur"  klar  aussprach,  das;  von  der  Frau  der  Ideenflug  empor  zur 
Freiheit  führe  —  das  wird  zur  Erfüllung  in  der  düsteren  Novelle  „Bürger- 
licher Tod",  in  der  er  mit  edler  Herzenswärme  für  die  Unglücklichen,  die 
unsere  socialen  Zustände  in  Elend  uud  Tod  treiben,  eintritt.  Die  parallele 
Erzählung  „Adliger  Tod",  in  der  er  sich  gegen  die  vielfach  begegnende 
Gleichgiltigteit  und  Geuunsucl,t  de«  Adels  wendet,  hat  dem  Prinzen  natür- 
lich viele  Gegner  erworben,  wie  wir  leider  auch  in  sonst  sehr  guten  kriti- 
schen Rubriken  sahen,  und  auch  die  obenerwähnte  Novelle  hat  mau  vielfach 
als  eine  Tendenzschrist  bezeichnet,  und  Voruirtheit  und  böses  Gewissen 
haben  ihr  wohl  gar  einen  ausreizcudeu  Charakter  zugeschrieben.  Eine 
Tendenz  hat  sie  allerdings,  aber  die  denkbar  edelste:  die  Rückkehr  zum 
Evangelium  der  Liebe,  die  nach  des  Tichters  Anschauung  allein  unsere 
furchtbaren  socialen  Minstände  heilen  kann.  Wenn  freilich  der  passive  Held, 
der  Schreiber  Witthof,  unter  der  ganzen  Summe  staatlicher  und  privater 
Lieblosigkeit  uud  Brutalität  zusammenbricht,  so  wird  mancher  vielleicht  diese 
Eumulation  construirt  nennen,  nnd  doch  macht  sie  —  leider  —  einen  nur 
allzu  wahrscheinlichen  Eindruck.  Es  ist  der  Geist  des  schuldlosen  Elends, 
das  verhöhnt,  mischandelt,  durch  die  Lande  schreitet,  es  ist  Geist  vom 
Webergeiste.  Earolath  last  seinen  unseligen  Helden  ausdrücklich  die  Ge- 
meinschaft der  Socialdemokrntie  meiden,  die  ihn  wahrscheinlich  gerettet  hätte, 
uud  als  äußerste  Eonsegueuz  zieht  er  »icht,  wie  Hauptmanu  es  that  und 
und  thun  muste,  die  Revolte,  sondern  die  Weltflncht,  den  Selbstmord. 
Traurig  genug,  das;  zwei  hervorragende  Tichter  zu  so  furchtbaren  Schlüssen 
unabweislich  gelangen  mußten.  Earolath  selbst  nannte  uns  gegenüber  das 
Buch  „kein  Werk  der  Kunst,  eiu  Werk  des  Herzens  nur";  er  möchte  es 


«in  fürstlicher  Dichter.  2yl. 

also  wohl  nicht  als  einen  Vestandtheil,  sondern  eine  Parallele  seines  rein 
künstlerischen  Schaffens  betrachtet,  und  das  zeugt  von  richtiger  Einsicht; 
denn  seine  Muse  ist  da  zu  Hause,  wo  sie  in  Gold  und  Purpur  schreitet, 
ein  fremdartiges,  wunderschönes  Weib,  nicht  wo  sie  als  graue  Frau  Sorge 
durch  Nacht  und  Elend  wandeln  muß.  — 

Mit  der  obigen  Schilderung  des  Entwicklungsganges,  in  seinen  Haupt- 
stationen, glauben  wir,  gewissermaßen  das  Skelet  gegeben  zu  haben,  an 
das  sich  die  Details  der  folgenden  Analyse  zwanglos  angliedern  mögen. 
Ueber  das  Erstlingswerk  des  fünfundzwanzigjährigen  Dichters,  die 
„Lieder  an  eine  Verlorene",  läßt  sich  wenig  mehr  sagen,  als  daß  sie 
ein  vielversprechendes  Talent  bekunden.  Bei  dem  Cyclus  „Westwärts", 
der  einen  erheblichen  Theil  des  Buches  einnimmt,  hat  offenbar  Freiligraths 
ausgewanderter  Dichter  zu  Pathen  gestanden;  die  eine  Nummer  ist  stark 
von  Lenaus  Ahasverdichtnngen  beeinflußt.  Von  der  zauberischen  Farben- 
pracht und  der  Schilderungskraft,  die  dem  reifen  Earolath  eigen  ist  wie 
wenigen  Lebenden,  ist  nur  erst  der  Keim  vorhanden,  und  häufig  ringt  der 
Poet  mit  der  Sprödigkeit  des  Ausdrucks.  Dazwischen  aber  treffen  wir  auf 
frappante  Viloer  und  immer  auf  echt  dichterische  Empfindung.  Die  gleiche 
Signatur  trägt  der  rein  lyrische  Theil;  doch  seien  hier  als  Perlen  erwähnt 
das  Lied  „grauer  Vogel  über  der  Haide"  und  die  Schlußstrophe  (vor  einem 
Dichterdenkmlll):  „er  ist  so  groß  geworden  und  hat  es  so  weit  gebracht, 
weil  ihn  ein  ganz  kleines  Mädchen  einst  endlos  elend  gemacht."  — 
Doch  schon  in  den  „Liedern"  zeigt  der  Autor  einmal  die  Löwenklaue, 
in  „Sulamith",  die  auf  der  Höhe  seiner  reifen  Schöpfungen  steht.  Cr 
führt  Satan  ein,  nicht  als  das  böse  Princip,  sondern  als  den  gefallenen 
Lichtengel,  der  mit  Gott  hadert,  weil  er  die  Schöpfung  für  ein  Stümper- 
werk hält,  weil  er  die  Menschen  unwerth  erachtet  der  göttlichen  Liebe,  die 
sie  mit  Weihranch  umschwelten,  in:  Herzen  aber  frech  durch  Koth  schleiften 
—  als  wüste  Travestie.  Und  scheinbar  soll  Satan  Necht  behalten.  Im 
Staube  krümmt  sich  verschmachtend  ein  Vettler;  —  da  naht  mit  flatternden 
Fahnen  nnd  dem  Palladium  eine  Pilgerschaar,  unter  Führung  der  Priester, 
zum  heiligen  Grabe.  Ueber  den  Elenden  weg  schreitet  achtlos  ihr  Fuß, 
klingt  der  Ruf  der  Priester:  auf  nach  Jerusalem!  und  hundert  stimm  ig 
schallt  die  Osterhmnne:  Ehrist  ist  erstanden!  Satan  triumphirt:  Du  weift 
Nichts  mehr  von  Liebe,  Du  schöne  Welt;  nun  bist  Du  mein,  ganz  mein. 
Da  zieht  desselbigen  Weges  ein  Maronitenweib  mit  ihrem  Kinde,  und  als 
sie  den  Verschmachtenden  sieht,  legt  sie  den  Säugling  zur  Erde  und  bettet 
das  wüste  Greisenhaupt  an  ihre  keusche  sanftgeschwellte  Vrust.  Dann  ver- 
hüllt ne  ihr  weinendes  Gesicht  uud  weist  den:  Neubelebten  den  Weg. 
.Und  Satan  blickte  icaunaslos  ihr  nach 
Mit  den  entgütciten,  veiloi'nen  Augen." 

Das  Gedickt  ist  in  dein  für  seinen  packenden  Inhalt  zutreffendsten 
Versmaß,  dem  Blankvers,  geschrieben;  und  wir  selbst  hatten  vor  einigen 
Nord  und  Süd,  I. XXV,  2:5.  Zs> 


2"2  —  Richard  Roehlich  in  Vreslau.  ~— 

Jahren  in  einem  litterarischen  Kreise  Gelegenheit,  die  tiefe  dramatische 
Wirkung  zu  erfahren,  die  es  beim  Vortrage  durch  einen  bekannten  Recitator 
ausübte. 

Mit  der  Novelle  „Thauwasser"  betrat  Earolath  zum  ersten  Male 
das  Gebiet  der  Prosa.  In  Deutschland  ist  das  interessante  und  fein- 
finnige Bnch  nahezu  verschollen;  dagegen  hat  es  neuerdings  jenseits  des 
Canals  unter  dem  Titel  „illsltinß  8n«/vv"  die  gebührende  Würdigung 
seitens  des  Publicums  und  der  Presse  gefunden.  Die  Benennung  erscheint 
auf  den  ersten  Augenblick  nicht  recht  verständlich.  Thauwasser  —  das  sind 
die  Wasser  der  Schneeschmelze,  die  das  erste,  das  schönste  Grün  des 
Frühlings  begraben,  weil  es  seine  Zeit  nicht  abwarten  konnte;  so  gehen  auch 
die  heiligsten,  innigsten  Gefühle  junger  Menschenherzen  in  der  plumpen, 
eisigen  Welt  zu  Grunde.  Wohl  war  dieses  erste  junge  Grün  das  beste, 
das  köstlichste,  was  der  Frühling  bot;  aber  es  mußte  sterben,  denn  es  hat 
gefehlt  gegen  das  Gesetz  der  mählichen  Entwicklung.  So  ist  es  auch  ein 
Naturgesetz,  daß  wir  an  unfern  heiligsten  Empfindungen  zu  Grunde  gehen 
müssen.  So  etwa  äußert  sich  der  unglücklich  liebende  Dichter  Versen, 
hinter  dessen  Maske  Carolath  felbst  unschwer  zu  erkennen  ist.  Aber  Versen- 
Carolaths  Anschauung  ist  doch  nicht  ganz  richtig;  nicht  das  Naturgesetz 
trennt  Gincinta  und  Vent;  das  thun  die  socialen  Verhältnisse.  Es  ist 
nicht  eigentlich  das  uralte  Motiv  von  den  Königskindern  und  von  Romeo 
und  J  ulia,  sondern  ein  viel  brutaleres:  das  Geld.  Wenn  nicht  der  junge 
Student  sein  mathematisches  Staatsexamen  machen  müßte,  um  den  Vater, 
einen  orthodoren  lutherischen  Pastor  und  die  zahlreiche  Geschwisterschaar  zu 
erhalten,  wenn  nicht  die  reizende  und  geniale  Sängerin  just  bei  ihrem 
Debüt  durch  ihr  Brustleiden  der  Aussicht  auf  Ruhm  und  Gold  entsagen 
müßte,  kurz,  wenn  nicht  der  brutale  Mammon  wäre,  so  könnten  sie  der 
hämischen,  tückischen  Welt  lächelnd  den  Nucken  kehren  und  glücklich  werden. 
In  kurzer  seliger  Stunde  haben  sie  einander  angehört;  „über  sie  hin  gingen 
die  Thauwasser".  Gincinta  heirathet  den  Hofrath,  ihren  väterlichen  Gönner, 
und  wird  eine  schöne  fülle  Frau,  die  eines  Tages,  vielleicht  nach  langen 
Jahren,  erkennen  wird,  daß  sie  innerlich  längst  gestorben  ist.  Der  einst  so 
trockene  Mathematiker,  welcher  von  Poesie  so  verächtlich  dachte,  wird  ini 
heiligen  Schmerze  selbst  zum  Dichter,  dein  eine  Handvoll  Lieder  an  Gin- 
cinta fast  den  Nuhm  gebracht  hätte,  dann  verstummt  auch  er.  Und  Versen 
geht  auf  Reifen,  von  denen  man  ineist  nicht  wiederkehrt.  Eigentlich  sind 
sie  Alle  untergegangen  in  den  Thauwassern,  schließt  der  Dichter;  uns  will 
bedünken,  als  fei  am  Naturgesetz  und  an  seinen  heiligsten  Empfindungen 
nur  Versen  untergegangen.  — 

Das  Buch  ist  in  edlem,  classisch  schönem  Stile  geschrieben,  —  eine 
Seltenheit  in  unserer  Zeit,  die  zu  Nichts  Zeit  hat,  auch  nicht  zur  Feile; 
—  es  ist  reich  an  psychologisch  feinen  Zügen  auch  in  solchen«  Genre,  das 
eigentlich  außerhalb  der  Sphäre  dieses  Dichters  liegt,  und  es  ist  besonders 


Gin  füistlichei  vichter,  2<)3 

bedeutsam  durch  die  hohe  Auffassung  von  den:  Wesen  echter  Kunst.  Die 
Kunst  ist  ein  Nessusgewand,  das  seinen  Träger  verbrennt;  man  kann  sie 
nicht  ablegen  wie  ein  Kleid,  man  muß  sich  ihr  verschwören  mit  Leib  und 
Seele  —  so  äußert  sich  vor  der  Undineaufführung  Rossi-Kühleborn  zu  der 
koketten  Darstellerin  der  Bertaida.  Und  Nent,  der  die  Poesie  als  nutzlose 
Spielerei  bezeichnet,  erhält  von  der  Geliebten  die  ernste  Entgegnung:  ein 
fröhliches  Herz  fand  niemals  ein  großes  Lied  .  .  .  man  soll  die  Poesie 
achten,  wenn  man  schon  das  Unglück  hat,  sie  nicht  zu  lieben.  Und  Bent 
geht  in  seine  Kammer  und  wählt  sich  zwei  Schemata:  Bürgers  Lenore  und 
Horaz'  into^sr  vitas,  um  auch  einmal  zu  dichten;  denn  —  sagt  er  sich  — 
die  Hauptsache  ist  die  Form,  das  System,  das  Uebrige  wird  schon  von 
selbst  kommen.  Es  kommt  aber  Nichts,  und  der  junge  Student  gelangt 
nachdenklich  zu  der  Einsicht,  daß  zur  Poesie  doch  noch  etwas  mehr  gehöre 
als  Rhythmus  und  Reime.  —  Humor  ist  sonst  die  schwächste  Saite  des 
großen  Dichters;  mit  dieser  erquickenden  Episode  aber  hat  er  ein  kleines 
Cabinet  stück  geliefert. 

Das  nächste  Buch  waren  die  1883  erschienenen  „Dichtungen".  Da 
sie  jedoch  in  der  2.  der  1893  er  Austage  an  Inhalt  und  Werth  derart  er- 
weitert sind,  daß  sie  sich  als  ein  neues  Werk  vräsentiren,  nnd  da  sie  das 
Alleruorzüglichste  enthalten,  was  der  Dichter  überhaupt  schrieb,  so  wollen 
wir  sie,  im  Sinne  des  cr68esnäo,  an  den  Schluß  sehen  und  ihnen  zugleich 
den  allerweitesten  Raum  gewähren.  1884  erschien  das  zweite  Prosawerk, 
die  „Geschichten  aus  Moll".  Die  Specification  dieses  Titels  enthält 
der  Theil  des  Motto:  I»,  storm  ä'intelioi  amori,  111  trizts  msluäia. 
Die  zehn  kleinen  Erzählungen,  Märchen  nnd  Noveletten  sind  fast  durch- 
gehend auf  dieses  Motto  gestimmt  —  mit  Ausnahme  des  socialen  Nacht- 
stücks „Am  Strome",  dessen  umgestaltetes  und  erweitertes  Motiv  später  in 
der  Eingangs  erwähnten  Novelle  „Bürgerlicher  Tod"  miederkehrt,  und  des 
„Nachtfalter",  in  dem  der  Poet  an  dem  Gleichniß  einer  verbrennenden 
Phaläne  den  Kampf  des  ideal  veranlagten  Künstlergeistes  gegen  die 
dumpfe,  behäbige  Gleichmütigkeit  der  Mittelmäßigen  behandelt.  In  den 
acht  übrigen  Pi^cen  erklingt  immer  wieder  das  Leitmotiv  der  „Thau- 
wasser",  das  Motiv  vom  Naturgesetz,  das  uns  gerade  an  den  heiligsten 
Empfindungen  zu  Grunde  gehen  läßt.  In  den  Geschichten  aus  Moll  wie 
in  vielen  der  reifsten  Gedichte,  die  zum  Theil  eine  lyrische  Eregese  der 
Prosaschöpfungen  bilden,  am  frappantesten  in  der  „Sphinr"  —  überall 
kehrt  der  Gedanke  wieder,  daß  über  die  kurzen,  einmal  genossenen  Augen- 
blicke höchster  irdischer  Seligkeit  die  Thauwasser  brausen.  Und  wenn 
doch  einmal,  wie  in  „Don  J  uans  Tod",  die  Vereinigung  erfolgt,  dann 
geschieht  es  gerade  auf  Kosten  dieses  irdischen  Glücks;  dem:  Juan!  und 
Diava  feiern  in  selbstgewähltem  Flammentode  eine  rein  seelische  Ver- 
mählung. Diese  Auffassung,  die  für  Earolath  typisch  ist,  deckt  sich  zugleich 
mit  derjenigen  des  deutschen  Volksliedes,  in  dem  das  Motiv  von  Scheiden 
20» 


29~  Richard  «oehlich  in  Vreslüu. 

und  Meiden  eine  iveitherrscheude  Rolle  spielt.  Und  in  der  That  ist 
Carolath  ein  durch  und  durch  deutscher  Dichter,  der  im  lachenden  Sonnen- 
schein, unter  dem  blauen  Himmel,  den  Pinien  und  den»  Lorbeer  des 
Südens  immer  von  deutscheu  Frauen,  von  deutschen  Tannen,  von  nordischen 
Stürmen  und  Schnee  träumt.  Bezeichnend  ist  hierfür  die  wundervolle 
Schlußstrophe  des  Gedichtes  „Letzter  Tanz",  in  dem  der  heimkehrende  Poet 
die  lugendgeliebte  als  eben  getraute  Gattin  eines  Andern  sieht: 
»Ich  wollte,  wir  inten  im  nordischen  Land, 
Bon  Keinem  geliebt,  von  Keinem  gekannt, 
Im  Schneesturm  über  die  Haide; 
Und  dah  Du  rubt.st  unbewußt 
In  meinem  Mantel,  an  meiner  Brust, 
Und  dah  wir  stüib: n  Beide." 

Auch  sonst  hat  der  Dichter  in  „Deutschland",  „Gruß  an  Deutschland" 
gerade  seiner  Heimatsliebe  ein  rühmliches  Denkmal  gesetzt.  Es  ist  eben 
nur  der  schönhe',tstrunkene  Künstlergeist,  der  deutsches  Empfinden  gen:  in 
ein  fremdschönes,  erotisches  Milieu  kleidet,  der  den  Edelstein  in  die 
schillernde  Fassung  zu  fügen  liebt.  So  kehrt  auch  —  um  auf  die  „Ge- 
schichten aus  Moll"  zurückzukommen  —  gleich  in  der  ersten  Skizze  der 
Ritter  zur  Heimat  wieder,  um  auf  den  Trümmern  seines  verrathenen 
lugendglücks  zu  sterben  —  oder,  wie  sich  die  Adlerparabel  ausdrückt,  er 
breitete  seine  Schwingen  und  flog  in  die  Nacht  hinaus,  in  die  schone, 
Sternenleere  Nacht,  aus  der  es  kein  Erwachen  giebt.  An  der  Schwelle  des 
Todes  bietet  sich  ihm  ein  reines,  liebendes  Herz,  aber  er  iveist  es  zurück, 
denn  es  ist  mit  einer  großen  Liebe  wie  mit  der  Abendsonne;  ehe  sie  unter- 
geht, ist  sie  schöner  und  herrlicher  denn  je.  Und  ebenso  handelt  der  „König, 
der  sich  t  idtgelacht  hat",  weil  er  nach  seiner  betrogenen  Jugendliebe  nicht 
mehr  glauben  kann.  In  „Echün-Lenchen"  wird  der  geliebte,  aber  ver- 
schmähe J  unker  zum  Asketen,  der  die  Beichte  jener  Frau  ungekannt  hört; 
er  entläßt  sie  mit  den  Worten:  „Zieh'  hin,  Helene,  Dir  ist  vergeben."  Das 
tiefsinnige  Märchen  „Die  Konigin  von  Thüle"  drückt  die  Auffassung  von 
dem  Zauber  gerade  der  verrathenen  Liebe  sehr  treffend  aus.  Die  Buhle 
des  Goethe'schen  Gedichtes  muß  treulos  gewesen  sein,  meint  Günther 
Stormeck,  denn  nur  eine  Frau,  die  uns  uerrathen  hat,  die  uns  unendlich 
wehe  gethan,  lieben  wir  bis  zum  Tode.  In  der  Erzählung  „Entlang  den 
Hecken"  entsagt  das  liebende  Mädchen  freiwillig,  um  durch  einen  tiefen 
Schmerz  den  Geliebten  zur  Höhe  der  Künstlerschaft  zu  führen  —  ganz  im 
Sinne  der  obigen  Stelle  aus  „Thauwasser":  ein  fröhliches  Herz  fand 
niemals  ein  großes  Lied.  Und  derselbe  Gedanke  kehrt,  zur  höchsten  Tragik 
verschärft,  als  Eharlotte  Stieglitz  Motiv  wieder  in  „Lia".  Aber  Lias  frei- 
williger Tod  ist  nicht  nutzlos,  wie  das  Opfer  der  Stieglitz;  denn  Giulio 
wird  ein  echter  Künstler,  wenn  er  auch  ein  einsamer  Mann  bleibt,  der  sein 
Lebensglück  begrub. 


Ein  fürstlicher  Dichter.  213 

Das  bedeutendste  Stück  der  Sammlung  aber  ist  unstreitig  die 
dramatisch  bewegte  Erzählung  „Die  Rache  ist  mein".  Graf  Barinski  hat 
seiner  geliebten  Naifsa  entsagt,  um  einer  hochherzigen  Regung  willen;  er 
erhebt  eine  scheinheilige  Verworfene  zu  seiner  Gattin,  um  sie  aus  ihrer 
schlechten  Umgebung  zu  retten,  wie  er  meint.  Spat  gelangt  er  zu  der 
wahren  Einsicht,  bei  einem  Zusammentreffen  mit  Nai'ssa,  die  aus  verschmähter 
Liebe  inzwischen  seinen  Vetter  Trekuroff  geheirathet  hat,  entdeckt  er  sich 
der  I  ugendgeliebten,  uud  die  Leidenschaft  Neider  flammt  in  einer  schwachen 
Stunde  unheilvoll  auf.  Dann  trennen  sie  sich;  Barinski  zieht  als  General 
in  einen  schweren  Krieg.  Bei  seiner  Truppe  steht  auch  ein  junger  Offizier, 
Trekuroff:  er  ist  die  Frucht  jenes  leidenschaftlichen  Zusammentreffens  im 
Park.  Sein  Wohl  legt  die  Mutter  in  einem  Briefe  dem  Geliebten  dringend 
cm's  Herz;  wenn  er  aus  dem  fchrecklichen  Kriege  wiederkehre,  wolle  sie  an 
Gottes  Verzeihung  glauben,  dann  wollen  auch  sie,  entsühnt,  sich  wiedersehen. 
Dieser  Brief  in  seiner  schlichten,  einfachen  Größe  gehört  zum  Besten,  was 
Carolath  geschrieben;  er  steht  auf  gleicher  Höhe  mit  dem  berühmten  Briefe 
am  Schlüsse  von  „Frau  Föhns"  des  Dänen  lakobfen,  des  großen  Dichters 
von  „Mogens"  nnd  „Niels  Luhne".  Barinsky  will  den  jungen  Mann,  der 
natürlich  ohne  eine  Ahnung  von  feiner  wirklichen  Herkunft  lebt,  zum  Stabe 
kommandiren,  um  ihn  den  Gefahren  der  Schlacht  zu  entziehen;  er  läßt  ihn 
am  Vorabend  in  fein  Zelt  kommen  und  weiß  dort  fein  Vertrauen  zu 
weckeu,  fodaß  ihm  Trekuroff  auch  feine  geheime  Liebe  entdeckt.  Es  ist 
dieselbe  Verworfene,  die  einst  den  Grafen  in  ihre  Netze  zog.  Uns  will 
dies  nach  einer  Zeit  von  etwa  zwanzig  Jahren  etwas  unwahrscheinlich  be- 
dünken, wir  ineinen,  daß  für  eine  moderne  Erzählung  der  Dichter  mit  dem 
Alter  seiner  Personen  etwas  gar  zu  —  sagen  wir  —  homerisch  verfahren 
sei;  aber  schließlich  kann  man  sich  mit  der  Thatsache  beruhigen,  daß  es 
ja  wirklich  Frauen  gab,  wie  die  berühmte  Ninon,  die  ihre  Neize  bis  in's 
hohe  Alter  bewahrten.  zTrekuroff,  eine  ungebändigte  Tigernatur,  beharrt 
bei  seinem  Vorsätze,  jene  Fran  heimzuführen,  und  wenn  er  über  die  Bahre 
der  Mutter  schreiten  müßte,  und  als  sie  der  General  eine  Ehrlose  nennt, 
zieht  er  gegen  diesen  in  höchster  Wuth  seinen  Degen  —  gerade  in  dein 
Augenblicke,  als  die  Offiziere  des  Kriegsraths  in's  Zelt  treten.  Dem 
Kriegsgesetz  kann  der  Hüchstcommandirende  sein  Opfer  entziehen;  aber  er 
will  wenigstens  Raisso.  schützen  —  vor  ihrem  nnd  seinem  Sohn.  Noch  einmal 
ziehen  vor  seinem  Auge  verblühtes  Glück  und  letzte  Hoffnungen  vorüber, 
die  er  mit  eigener  Hand  in's  Grab  stoßen  muß;  dann  erhebt  er  sein  vor- 
nehmes todtblllsses  Antlitz  und  commandirt  mit  fester  Stimme:  „Nicht  zum 
Stabe!  Zum  ersten  Bataillon  der  ersten  Angriffsstaffel!"  — 
Was  Carolath  in  den  bisher  gewürdigten  Werken  niedergelegt  hat, 
würde  genügen,  seinen  Namen  mit  größeren.  Rechte  als  manchen  zehnmal 
aufgelegten  Modedichter  unter  den  Besten  der  zeitgenössischen  National- 
Litteratur  aufzuführen;  ein  ruonumßntuin  aei-6  psrsnuili8  aber,  die  An- 


2Z6  Richard  «oehlich  in  Vreslan. 

wartschaft  auf  einen  Platz  in  der  Weltlitteratnr  hat  er  sich  erst  durch  die 
„Dichtungen"  geschaffen,  in  denen  er  als  Lyriker  wie  als  Schöpfer  der 
Menschheitsdichtungen  „Angelina"  und  besonders  „Sphinx"  und  „Ton 
Juans  Tod"  eine  überragende  Größe  bekundet.  Was  uns  den  Lyriker 
Carolath  vor  Allein  so  fesselnd  erscheinen  läßt,  ist  die  tiefe  Innigkeit  echter 
Empfindung,  der  die  Spielerei  mit  anempfundenen  Gefühlen  fern  liegt.  Bei 
diesem  Dichter  ist  jede  Zeile  erlebt,  —  freilich  m'cht  in  dem  Sinne  jenes 
findigen  Staatsanwalts,  der  anläßlich  des  bekannten  „Märchen"-Skandals 
äußerte,  jedem  Kunstwerke  müsse  nolhwcndig  ein  concretes  Ereigniß  zu 
Grunde  liegen.  Dann  'gäbe  es  allerdings  nur  noch  eine  naturalistische 
Kunst,  und  jedes  noch  so  kleine  erotische  Gedicht  z.  B.  müßte  ein  physisches 
Substrat  zur  Voraussetzung  haben. 

Im  künstlerischen  Sinne  ist  dies  Postulat  der  plumpen  Materie 
äußerst  gleichgültig;  es  genügt  —  und  dies  wird  auch  mit  wenigen  Aus- 
nahmen die  Regel  sein  —  wenn  die  dichterisch  erfaßte  Situation  seelisckes 
Eigenlhum  des  Schöpfers  war.  Mit  dieser  für  jeden  großen  Lyriker  un- 
erläßlichen Eigenschaft  verbindet  Carolath  eine  weiche  Melodik,  eine  kühne, 
bilderreiche  Sprache  und,  nicht  zuletzt,  eine  vornehme,  edle  Weltanschauung, 
die  in  Verbindung  mit  seinem  fremdartig  fchönen  und  doch  fo  heimisch 
traulichen  Milieu  eine  Individualität  ergeben,  welche  so  stark  und  eigen- 
artig ist,  daß  der  Kenner  die  Lieder  dieses  Poeten  unter  Tausenden 
herausfindet,  wie  der  'junge,  als  Kritiker  wie  als  Dichter  gleich  hervor- 
ragende Karl  Busse  in  einer  seiner  zahlreichen,  trefflichen  Earolathstudien 
mit  Recht  behauptet  hat.  In  formaler  Beziehung  hält  sich  der  Dichter  von 
allen  Künsteleien  fern.  Fast  ausnahmslos  verwendet  er,  in  verschiedenen 
Rhythmen,  die  gereimte,  vierzeilige  Strophe,  und  von  strengern,  schwierigem 
Formen  gebraucht  er  nur  das  Sonett,  dessen  Quartette  er  bisweilen  nach 
dem  Reimschema  der  Siciliane  behandelt,  origineller,  dafür  aber  weniger 
glücklich,  ist  seine  Neuerung,  die  beiden  Dreizeiler  an  den  Anfang  und  die 
Quartette  an  den  Schluß  zu  stellen. 

Carolath  hat  ganz  Recht;  denn  der  ungekünstelten  Empfindung  ent- 
spricht auch  am  besten  der  ungesuchte  Ausdruck.  —  Wie  weich  und  ein- 
schmeichelnd klingt  gleich  die  erste  Strophe  der  „Hollnnderrlüthen": 
Es  ist  ein  Npilltog  im  Süden, 
Ein  Tag  gar  süß  zu  verträumen, 
Die  Vlüthen,  die  weißen,  müden. 
Gleiten  still  von  den  Bäumen. 

Als  Beweis  für  die  kühne  Bildlichkeit  seines  Ausdruckes  diene  eine 
Stelle  aus  „Don  Juans  Tod";  dort  vergleicht  er  Dianas  verschleierten 
Augenstrahl  mit  Lampen,  die  durch  Alabaster  brennen;  und  anderswo 
sagt  er  von  der  Geliebten,  die  ihn  verrieth,  das  bunte  Leben  brause 
über  sie  dahin,  wie  die  schimmernden  Wogen  über  die  versunkenen 
Städte  lulin  und  Stavoren.  —  Durch  sein  gesummtes  Schaffen 


«Lin  fürstlicher  Vichter.  29? 

geht  ein  Zug  edler  und  vornehmer  Gesinnung  (z.  B.  im  Cyclus 
„Fatthume"): 

Auf  Wanderschaft  von  tiübei  Art 
Zwang  auch  ich  duich's  Leben 
Ein  büßend  Herz,  dess'  Wahlspruch  ward 
Geben  und  «ergeben. 

Diese  Gesinnung  läßt  ihn  auch  fremdes  Glück,  das  ihm  geraubt 

ward,  neidlos  betrachten: 

Ich  aber  will  mit  leergebliebner  Hand 

Dich  segnen,  Glück,  das  einem  Andern  reiste. 

Und  will  die  Stirn,  die  finstre,  blitzgestreiftc, 

Auflichten  still  zum  ew'gen  Grnteland. 

Die  letzte  Zeile  ist  charakteristisch  für  den  reifen  Carolath.  An  zahl- 
reichen Stellen  kehrt  die  Sehnsucht,  der  Glaube  an  eine  ewige  Heimat  und 
einen  ewigen  Lenz  wieder;  der  philosophische  Zweifler  wendet  sich  von 
Voltaire  und  Schopenhauer,  unter  deren  Nanu  seine  Jugend  stand,  ab 
und  wird  zum  positiv  Gläubigen,  eine  Metamorphose,  die  durch  die  Beichte 
und  Buße  „Abendgebet"  ihren  Abschluß  findet. 
Ich  hin  mir  wohl  bewußt,  die  lyrische  Eigenart  des  Prinzen  sehr 
unzureichend  zum  Verständniß  gebracht  zu  haben;  aber  einmal  erweist  sich 
keine  Poesieform  gegenüber  der  Analyse  so  spröde  wie  gerade  die  musik- 
verwandte Lyrik,  und  dann  soll  ja  auch  die  Studie  nicht  ein  Surrogat 
sein  für  die  eigene  Leetüre  der  Bücher,  wie  es  in  unserer  Zeit  der 
litterarhistorischen  Werke  leider  üblich  ist,  sie  soll  im  Gegentheil  dazu  nur 
anregen,  darum  muß  ich  dem  perlenreichen  lyrischen  Theile  der  „Dichtungen" 
Valet  sagen  und  mich  begnügen,  eine  Perle  wenigstens  dem  Leser  vor- 
zusetzen („Auch  Du"): 

Nun  hast  auch  Du  gelassen  Die  sich  im  Ucbcrbordcn 

Von  Groll  und  edlem  Streit;  Einst  aus  dem  Meer  gewiegt 

Du  fandest  goldne  Gassen  Und  nun,  zum  Teich  geworden, 

Ter  Weltzufriedenheit.  Tiefblau  im  Walde  liegt. 

Mich  mahnt  Dein  Herz,  das  helle,  Wohl  deckt  mit  Vluthenflocken 

Nun  frei  von  Kampf  und  Weh,  Mittsommers  sie  da»  Rohr, 

An  eine  Riesenwelle,  Wohl  tönt's  wie  ferne  Glocken 

Die  müde  ward  der  See;  Aus  ihrem  Grund  hervor, 

Wohl  nicken  grüne  Erlen 

Darüber  schlummerschwer:  — 

Doch  hat  sie  keine  Peilen 

Und  leine  Stürme  mehr. 

Zwischen  der  Lyrik  und  den  drei  großen  Dichtungen  steht  als  Mittel- 
gruppe eine  Anzahl  kleinerer,  deren  hervorragendste  die  grandiose  Gedanken- 
dichtung „Ein  Bild"  ist.  Sie  ist  ein  Schönheitshymnus  von  so  wunder- 
barer, reifer  Pracht  und  Tiefe,  daß  die  Gesammtlitteratur  ihr  wohl  wenige 


2Z8  Richard  «oehlich  in  Vreslau. 

zur  Seile  stelleil  kann.  All  reifer  Künstlerschaft  übertrifft  sie  selbst  Gastons 

wundervolle  Schönheitsavostrophe  in  „Angelina"  und  wird  nur  von  „Don 

Juans  Tod"  und  den  abgeklärtesten  Episoden  der  „Sphinr"  erreicht. 

„Angelina"  ist  das  Lied  von  dem  uralten  Fluche  der  Schönheit: 

Weh'  ihm,  dem  Kind,  das  ausgesendet  ward 

Ei»  reiches  Kleinod  wundeiseltner  Art 

Durch  einen  Wald,  einsam  bei  Nacht  zu  trag,». 

Wohl  zieht  es  au3,  sinnend  im  Abendioth; 

Es  lehrt  nicht  heim,  am  Moroni  liegt  es  todt. 

Erwürgt,  beraubt  im  fröstelnden  Gehege. 

sagt  Gaston.  Die  Schönheit  ist  eine  reine,  hohe  Göttin-,  wir  aber,  der 
Verdammten  blasse  Schnar,  schlingen  nach  ihr  den  Todtentanz: 
Und  nicht  umsonst:  Du  wirfst  Dick,  vom  Altar 
In  uns«  Arme,  Kind  mit  blondem  Haar, 
Schon  wie  einst  Eva.  Gottin  halb,  halb  Dirne 
Neigst  Du  das  Hauvt,  in  Sehnsucht  gluthbcdcckt; 
Wir  aber  mit  den  Lippe«  staubbesleckt 
Küssen  die  Gottheit  fort  Dir  von  der  Stirne. 
In  den  angeführten  Versen  ist  das  Leitmotiv  der  Dichtung  klar  aus- 
gedrückt. Meisterhaft  versteht  es  der  Dichter,  schon  für  die  Abwesende 
unser  Interesse  wachzurufen,  indem  er  sie  zum  Mittelpunkt  des  Gesprächs 
einer  Künstlerschaar  in  einer  römischen  Osteria  macht.  Einer  der  Gäste 
schwingt  sich  sogar  zu  einer  Improvisation  auf: 
0  sprecht,  seid  Ihr  die  Waldesfee, 
Egeria  Philomele? 

Oder  seid  Ihr  das  Fräulein,  das  Fräulein  vom  3« 

Mit  der  verlorenen  Seele? 

Seid  Ihr  ein  Engel,  der  leuchtend  tarn 

In's  schmerzende,  lastende  Leben, 

Um  einer  Welt  voll  Weh  und  Gram 

Die  Liebe  zurück  zu  geben? 

Und  er  antwortet  stA)  selbst: 

Ich  trage  der  Schönheit  Kronengeflecht, 

Bin  Lilith  wie  Melusin«, 

Und  nur  ein  entgötteites  Menschengeschlecht 
Nennt  mich  Angelina. 

Und  als  das  herrliche,  unschuldige  Blumenmädchen  selbst  eintritt,  um 

ihre  Waaren  anzubieten,  läßt  der  Dichter  auf  ihrem  Scheitel  einen  unsicht- 

bnreu  Heiligenschein  ruhen: 

Ten  lonnte  nur  ein  tobte«  Mütterlein 

In  Angst  und  Schmerz  darum  gebetet  haben. 

Selbst  der  geniale  Gaston,  der  weise  Menschenkenner,  der  dem 

Mädchen  heimlich  auf  seinen  nächtlichen  Wegen  folgt,  muß  mit  Beschämung 


<ki,i  fürstlicher  Dichter.  2H9 

sehen,  wie  sie  tröstend  und  spendend  am  dürftigen  Lager  eines  armen 
fremden  Kindes  kniet.  So  schließt  der  erste  Theil  scheinbar  in  sonnigster 
Perspective.  Uni  so  düsterer  und  niederdrückender  be~t  sich  dafür  der 
zweite  ab,  in  welchem  Carolath  zeigt,  daß  er,  wo  es  der  Zweck  gebieterisch 
fordert,  auch  ein  Meister  naturalistischer  Darstellung  sein  kann.  Angelina 
ist  doch  gefallen,  und  der  Künstlerschwarm,  der  von  einem  Feste  heimkehrt, 
um  sich  in  verrufenen  Häusern  zu  verliere»,  pocht  auch  an  ihrer  Thür. 
Eine  Martha  Schwerdtlein,  aber  in  viel  mehr  gesunkener  Ausführung,  thut 
auf  und  weist  höhnisch  die  späten  Gäste  an  eine  gegenüberliegende  Pforte. 
Diese  wird  aufgesprengt,  und  mit  Entsetzen  sieht  sich  die  trunkene  Schaar 
in  einer  Kirche,  vor  deren  Hochaltar  ein  Sarg  steht.  Im  Nu  ist  die 
wüste  Rotte  zerstoben,  und  der  Dichter  allein  steht  dem  verlorenen  Kinde 
gegenüber.  Da  ist  es  ihm,  als  blickte  selbst  das  Bild  der  Schmerzeus- 
reichen gnadenvoll  auf  die  Todte  herab,  und  er  findet  Tone  echter  Mensch- 
lichkeit: 

Schlaf  wohl,  verblühtes  Kind. 
NZ  müssen  Blumen  sein 

Im  Scharlachschmuck  der  Schönheit  aufzuflammen 

Am  Sirahenranbe.  Dir  wird  Gott  verzeih»:  — 

Uns  Andre  doch,  mög'  er  uns  nicht  verdammen. 

Da  nahen  Knaben,  die  mit  neuen  Nlumen  den  Altar  schmücken;  der 

Morgen  bricht  an,  der  Ostermorgen,  und  machtvoll  verkünden  die  Glocken: 

Christus  ist  auferstanden. 

In  „Angelina"  ging  das  Weib  am  Danaergeschenk  ihrer  Schönheit 
und  am  Manne  zu  Grmide;  die  nächste  große  Dichtung  „Sphinr"  bringt 
gewissermaßen  die  Sühne  des  Mannes,  der  voll  Ekel  an  der  genossenen 
Schönheit  des  Weibes  zu  Grunde  geht.  Die  „Sphinr"  steht  an  Tiefe  und 
Größe  der  Gedankeu,  au  packender  Darstelluugskrnft,  an  berückender  Diction, 
die  uns  wie  im  Fiebertmmiel  fortreißen,  den  reifsten  Werken  Byrons 
ebenbürtig  zur  Seite;  der  lyrische  Schmelz  ihres  ersten  Theils  wird  von 
dem  Engländer  wohl  nur  in  dein  Anfange  u?n  „Parisina"  erreicht.  Mehr 
noch  als  in  „Angelina"  herrscht  eine  wildgeniale  Zerrissenheit,  die  an  blih- 
durchflammte  Stnrmnächte  gemahnt.  Anch  auf  die  „Sphinr"  passen  die 
Worte  der  ersten  großen  Dichtung:  sie  ist  wie  ein  Gebet,  das  glücklich  anhob 
und  geendet  ward  in  einem  Aufschrei  ..  .  auch  ihr  fehlt  nicht  das  „Frage- 
zeichen am  Schluß  eines  gewaltigen  Gedichts." 
Mit  einem  lieblichen  Idyll,  das  den  tragischen  Kern  der  Dichtung  uni 
so  schärfer  hervortreten  läßt,  setzt  die  grandiose  Schöpfung  ein.  Gleich  die 
Einführung  des  jungen,  schönen  Grafenkindes  Santa  zeigt  den  reifen  Meister. 
Sie  lief  im  weinen  Kleide, 
Gin  fröhlich  iti„d,  sorglos  durch  Busch  u„o  Gras, 
Frei  flog  ihr  Haar,  und  ans  dem  Antlitz  blas; 
Blitzten  so  selig  ihre  Augen  beide. 


200  Richard  «oehlich  in  Vreslau. 

Sie  will  Abschied  nehmen  von  ihrem  Guy,  der  in  den  Kampf  hinaus- 
zieht und  dem  sie  das  Versprechen  ewiger  Treue  giebt: 
Twig, 

Sprach  sie  ganz  einst,  und  wunderseltsam  klang 
Aus  ihrem  Kindermunde  diese«  —  Ewig. 
Noch  einmal  hielt  der  Tan,  der  alückdurchsonnte 
Verzögernd  Rast  und  strahlte  letzten  Frieden 
Auf  jene  Kinder,  deren  Glück  hienieden 
Verfaul  am  dunklen  Lebenshorizonte. 

Scharf  und  düster  hebt  sich  die  folgende  Episode  ab.  Es  ist  Herbst- 
nacht, im  Feindsland,  am  Lagerfeuer  der  Dragoner.  Wie  zufällig  liest 
einer  der  Offiziere  einen  Brief  vor,  des  Inhalts,  daß  sich  das  schöne  Grafen- 
kind Santa  auf  Antrieb  des  Papstes  mit  dem  alten,  aber  reichen  und  hoch- 
gestellten Kümmerherrn  Valbi  vermählt  hat;  gerade  jetzt  ist  die  Hochzeits- 
nacht. Von  der  Erde  springt  ein  Schläfer  auf;  es  ist  Guy;  er  fammelt 
sein  Neiterfähnlein  nnd  stürzt  in  die  Nacht  hinaus,  dem  Feinde  entgegen, 
um  den  Tod  zu  suchen.  Wie  durch  ein  Wunder  bleibt  er  unversehrt  und 
kommt  nun  zu  dem  weisen  Juden  Rabbi  Zevhcmja,  der  ausgewiesen  vor 
dem  Thore  der  Stadt  haust.  Dem  großen  Nlchymisten  erzählt  er  schlicht 
seine  lugendgeschichte  (in  den  Versen:  reich,  vornehm,  jung  trat  ich  hin- 
aus in's  Leben  u.  s.  w,,  auf  die  ich  ausdrücklich  hinweife,  weil  sie  Carolctths 
eigene  lugendentwickelung  bezeichnen)  und  heischt  Genesung.  Er  legt  ihm 
die  Fragen  vor:  warum  ist  die  Frau  urfalfch  und  treulos?  Was  sendet 
Gott  ein  Kind,  das  durstig  ist,  in  einen  weiten  Garten,  darin  die  Brunnen 
rings  vergiftet  sind?  —  Die  Antwort,  die  der  Fürstensohn  erhält,  ist  an 
Kühnheit  und  Größe  des  gewählten  Bildes  fast  ohnegleichen: 
Wenn  sein  lechzend  Roh 
Mit  Wasser  tliinlt  der  kluge  Beduine. 
Thut  in'2  Gefäß  er  eine  Hand  voll  Sand, 
Das  Nah  zu  trübe».  —  Siehe,  also  thllt 
Der  weise  Schöpfer:  in  den  klarsten  Quell 
Der  Lebenswüste  that  er  emsig  Schlamm 
Mit  «ollen  Händen,  in  den  schönen  Leib, 
Den  süßen,  sinnbelhörenden,  des  Weibe« 
Goh  er  Gemeinheit.  —  Ja,  der  Schöpfer  ist 
Ein  kluger  Hirte;  allzu  tiefer  Trunk 
Schadet  dem  Thiere. 

Aber  Guy  entgegnet:  die  lechzende  Ereatur  wird  auch  Trübung  und 
Schlamm  todachtlos  schlingen;  auch  er  will  trinken  mit  dem  Empörungs- 
schrei: mich  dürstet!  dürstet!  Cr  will  es  sehn,  das  hohe  Bild  von  Sais, 
In  seinem  Arm  entblüst  gleich  einer  Lais.  Er  will  den  schuldigen  Schöpfer 
im  Geschöpf  durch  Staub  schleifen  und  rachesatt  zu  Grunde  lachend  gehn. 
So  stürzt  er  davon.  —  Die  nächste  Scene  zeigt  Santa  ini  prunkvollen 


«Lin  fürstlicher  Dichter.  301, 

Schlafgemach.  Auch  sie  ist  nicht  glücklich;  sie  denkt  mit  Wehmuth  an  den 
lugendgeliebten  und  die  glücklichen  sorglosen  Kindertage. 
Mein  Heiz  wirb  alt, 

Sic  sprach  es  leise,  sinnt'  ich  schlafen,  sterben. 
Mit  jenem  Traum,  mit  Dir,  o  Guy! 

Da  springt  weit  auf  die  Thür,  und  der  Todtgeglaubte  steht  vor  ihr. 
Santa  sucht  Ausflüchte  fürAhren  Treuebruch;  aber  Guy  donnert  ihr  ver- 
ächtlich entgegen: 

Da»  Grafenlind  mit  der  Mabonnenstirne 

Für  Gold  verlauft!  Verlauft!  Nun,  welsche  Dirne, 

Wie  thcuer  bist  Du? 

Noch  einmal  bäumt  sich  SantaZ  Grafenblut  gegen  die  unerhörte 
Beschimpfung  auf;  sie  giebt  vor,  den  Jüngling  nie  ernst  geliebt,  jenen 
Schwur  nur  tändelnd  gegeben  zu  haben.  Aber  Guy  läßt  sich  nicht  beirren. 
Du  liebtest  mich  und  liebst  mich  noch  —  sag:  Ja!  .  .  . 
J  a,  sprach  sie  tonlos,  ja. 

Warum  sie  ihn  verrathen  hat  —  sie  „weis;  es  nicht".  Guy  glaubt 

ihr,  aber  er  ist  nicht  der  Mann,  zu  verzichten;  ganz  im  Sinne  jener 

Worte  in  der  Nabbiscene  will  er  nun  den  Schöpfer  im  Geschöpf  durch 

Staub  schleifen,  den  Schöpfer,  der  um  das  Göttliche  in«  Weibe  als  Hülle 

ein  kaltes  Marmorkleid  schlug. 

Ich  aber  bin  aus  wildem  Blut  entstammt. 

Dies  Ampellicht,  das  matt  und  rosig  flammt 

In  Deines  Leibes  marmorweißem  Bau, 

Ich  will's  besitzen,  wunderschöne  Frau; 

Küssend  ersticken,  jubelnd  löschen  aus 

Das  rothe  Licht,  cutweihn  das  Gotteshaus, 

Auf  die  zeirissncn  schweren  Warbecken' 

Zu  langem  Schlafe  wunschlos  dann  mich  recken 

Und  sterbend,  als  ein  satter  Rächer  sagen: 

Im  schönsten  Weib,  defz  Auge  ie  geblaut, 

Neibvoller  Gott,  Hab'  ich  die  Sphinx,  erschaut 

Und  Hab'  Dein  Werl,  Dich  selbst  in  ihr,  zerschlagen. 

Dem  Weib,  das  irr,  berauscht  von  Liebessülle, 

Im  Arm  ihm  hing,  hat  bebend  Ir  gerissen) 

Vom  weißen  Leib  die  starre  Ntlashüllc 

Und  es  geschleudert  in  des  Prunlbetls  Kissen. 

Ein  Laut,  ein  Klagwort,  girrend,  wunbersacht .  .  . 

In  einer  Fluth  fahlblondcr  Lockenhaare 

Vcrsanlen  sie,  ring«  herrschte  wunderbare 

lasmindurchhauchte,  purpurfinstre  Nacht. 

Es  dürfte  nicht  viel  Porten  geben,  die  eine  solche  Situation  derart 

bemeisterten,  wie  es  hier  Carol^th  gethan  hat.  Allen  Realisten,  Naturalisten 


302  Richard  «oehlich  in  Vrezlan, 

und  sonstigen  „isten",  die  ihre  Unfähigkeit  hinter  den»  .klingenden  Namen 

eines  Systems  verstecken,  wäre  überhaupt  zu  rathen,  daß  sie  bei  dem 

Schöpfer  der  „Sphinr"  in  die  Schule  gingen,  um  zu  lernen,  das;  der 

Schaffende  schlechtweg  ein  Dichter  sein-  soll.  — 

Der  Morgen  graut  über  dem  schlummernden  Paare.  Santa  träumt 

von  einem  Glück  ohne  Ende: 

Doch  seine  Brust  ginn  schwer,  es  brach  ein  Schrei 

Taraus  hervor,  der  Nana:  Lebwohl  —  vorüber. 

Tu  Schloß  mit  dem  steinernen  Wavpcnthor 

Und  den  dunklen  Eiben  darüber! 

Ihr  wellenden  See»,  windivogender  Tann. 

Lebt  wohl,  ihr  Hochlandshaiden! 

Es  segnet  im  letzten  Scheiben 

Euch  ein  reilorencr  Mann. 

Aus  diesem  Traum  schreckt  Guy  auf  zum  Bewußtsein  der  Wirklichkeit. 
Und  nun  tritt  mit  einem  Schlage  die  Peripetie  ein,  die  sich  .in  den  Worten 
äußert:  Sieh  voll  mich  an,  gieb  mir  die  Jugend  wieder!  Seiner  Seele 
Schwingen  lähmt  Ekel,  es  bricht  sein  Herz  vor  schalem  Abscheu;  nun,  da 
Stillung  hätte  der  wilde  Wunsch,  verlor  er  seinen  Schmerz,  das  Diadem. 
Er  greift  zum  Dolche,  da  bannt  ihn  eine  seltsame  Vision.  Er  meint  zu 
sehen,  wie  Santa  sich  vom  Purpurpfühl  erhebt,  wie  ihre  Züge  das 
fremde,  kühle  Lächeln  der  Sphinr  annehmen;  er  fühlt,  wie  die  Seele 
der  Schläferin,  ihr  felbst  unbewußt,  ihm  das  Näthsel  des  Weibes  ent- 
schleiern will. 

Was  Du  gesucht,  so  sehnsuchtsvoll,  so  bange,' 
Tics  tiefe  Etwas  ist  ein  Strahl  v  m  Licht, 
Den  Gott  ihr  gab,  bah  man  ihn  heiß  verlange 
Und  doch  auf  Erden  finde  nicht. 
In  jeder  Frau  liegt  der  tiefsüße  Znsi, 
Der  unbeschreibliche,  ein  cw'ges  Sehne» 
In  uns  erwecken,  dah  wir  aufwärts  dehnen 
Zu  Gott  empor  des  Lebens  Probeflug. 

Auch  der  Held  der  letzten  MenschlMsdichtung  (Don  Juans  Tod)  sucht 
in  seinem  Wallustdrange  diesen  „Strahl  von  Licht";  darum  zählt  auch  er 
—  wie  wir  später  seh:n  werden  —  zu'  den  Großen,  ^darum  ist  auch  er 
erlösungsfähig. 

Aber  die  Wollust  ist  vergänglich,  und  nur  der  Schmerz  der  Entsagung 
führt  zu  einsamen  Höh'n;  das  war  der  Sinn  in  den  Worten  des  Rabbi: 
Wer  je  das  Weib  verkämvft,  verschmerzt,  verwunde», 
Steht  einsam  da.  nicht  mehr  an  Golt  gebunden, 
Denn  von  der  Frau  führt  d.'r  Ideenflug 
Empor  zur  Freiheit. 


«Lin  fürstlicher  Dichter.  303 

So  heißt  es  auch  hier  in  der  Svhinroision: 

Nur  Wenigen  schlägt  Liebe  tiefe  Wunden, 

Doch  j.de  Wunde  wird  ein  Ritterschlag. 

Heil  dem,  der  Glück  beim  Weibe  nie  erfunden 

Und  aus  der  Tiefe  dafür  segnen  mag. 

Das  Eoig  Weidliche  ist  Schmerz  oh»'  Ende; 

Wer  also  groß,  daß  ohne  Groll  und  Spott 

Er  schweigend  sich  von  Erdensonncu  wende. 

Steht  freilich  einsan  da,  doch  eins  mit  Gott. 

Das  Leben  ist  ein  starrer  Wanderung 

Zu  Gott  gelichtet,  und  auf  allen  Wegen 

Tragt  uns  des  Schmerzes  grober  Athemzug 

Der  Heimat  zu,  dem  ew'gen  Lenz  entgege  i. 

Auch  Guy  war  auf  diesem  Wege,  ehe  er  seinen  Schmerz  wegwarf, 

das  Diadem.  Er  ist  aber  doch  zu  groß,  um  sich  nun  nach  Art  der  großen 

Masse  an  dem  schonen  Vollwerk:  Leib  des  Sphinrräthsels  genügen  zu 

lassen,  und  darum  muß  er  sterben.  Aber  noch  ein  versöhnender  Lichtblick 

fällt  in  sein  Scheiden.  Santa-Sphinr  kündet  ihm,  daß  nach  Allem,  wenn 

die  Geschlechter  der  Menschen  von  der  Erde  verweht  sind,  wenn  der  letzte 

Wollustschrei  verhallt  ist,  auch  das  Rä'thsel  des  Weibes  sich  lösen  wird: 

als  Liebe: 

Tann  wird  die  Sphinx  erlöst,  gcbenedcit. 
Gleich  MemnllnLsteiiicn,  die  tiefbebend  llmgcn, 
Das  Hohelied  versöhnter  Ewigkeit, 
Ein  großes  Liebeshalle'ujah  singen. 

So  heißt  es  auch  ähnlich  in  der  herrlichen  Gedankendichtung  „Ein  Bild": 
Was  Schönheit  hier  uo»  Schmerz  und  Abschied  sprach, 
Das  klingt  —  wie  bald  —  gleich  feinen  goldncn  Stimmen, 
Tic  rufend  über  breitem  Strome  schwimmen, 
In  der  Unendlichkeit  als  Liebe  nach.  — 

Dann  verschwindet  die  erhabene  Vision.  Um  den  Mund  der  Schläferin 
spielt  wieder  wie  vordem  „ein  stumpfes  Lächeln  satter  Seligkeit".  Fahl- 
grau bricht  der  Morgen  herein;  der  letzte  Stern  sinkt  in  die  See,  nnd 
mit  ihm  entflieht  auch  Guys  Leben, 
Zur  Seite  warf  er  Santas  Haar,  das  blonde, 
Und  führte  tastend,  ohne  Laut  noch  Wort, 
Ten  Tolch  in's  Herz;  so  senkt  sich  eine  Sonde 
Langsam  und  still  in  eine»  Heren  Ort. 

Wir  haben  dem  Dichter  selbst,  so  oft  es  anging,  das  Wort  gegeben 
und  können  trotzdem  das  Bedauern  nicht  unterdrücken,  daß  wir  nicht  das 
ganze  Werk  selbst  an  Stelle  jeder  commentirendeu  Zeile  abschreiben  durften, 
vor  dem  wir  nach  einer  kleinen  Ausstellung,  gegen  die  theilweise  ermüdende 
Breite  der  Nabbiscene,  die  kritische  Feder  in  Demuth  aus  der  Hand  legen. 


30H  Richard  «oehlich  in  Vre?lau. 

Ein  geistreiches  Wort  sagt,  daß  es  Theaterstücke  gebe,  vor  denen  nur  das 
Publicum  durchfallen  kann.  Die  „Sphinr"  ist  schon  in  der  ersten  Auflage 
der  Dichtungen  (1883)  enthalten;  das  Volk  der  Dichter  und  Denker  hat 
es  also  fertig  bekommen,  vor  dieser  Titanenschöpfung  ein  ganzes  Decennium 
lang  durchzufallen  —  und  das  ist  tausendmal  unverzeihlicher,  als  die  Ab- 
lehnung einer  Theaterpremiöre,  die  mit  unzähligen  Factoren  des  Zufalls 
zu  thun  hat,  durch  welche,  selbst  dein  besten  Stücke  gegenüber,  auch  der 
reife  Kunstverstand  einmal  beirrt  werden  kann.  — 
„Angelina"  wie  „Sphinx"  fassen  die  Liebe,  die  Vereinigung  der  Ge- 
schlechter, als  einen  Kampf  auf,  in  dem  ein  Theil  zu  Grunde  geht;  es 
lag  nahe,  im  künstlerischen  Sinne  einen  Ausgleich  herbeizuführen,  die 
Dissonanzen,  in  denen  die  beiden  mächtigen  Schöpfungen  jäh  abbrechen,  in 
einen  Accord,  wenn  auch  in  Moll,  aufzulösen.  Diese  Lösung  bringt  „Don 
J  uans  Tod".  Earolath  war  beim  Aufbau  dieser  Dichtung  auf  die 
buddhistisch-schopenhauersche  Weltanschauung  oder  auf  den  christlichen  Mnsti- 
cismus  angewiesen;  ein  Drittes  ist  kaum  denkbar.  Und  hierin,  in  der  reinen 
Abstraktion,  liegt  die  Klippe  jeder  Gedankendichtung,  denn,  wie  Antäos, 
schöpft  auch  der  Poet  seine  Kraft  aus  der  Erde.  Es  ist  kein  Zufall,  daß 
intsruo  der  bedeutendste  Theil  der  vivina  eommscii»  ist,  daß  Goethe  mit 
seiner  inn^na  psocatrix  uud  mit  dem  ganzen  mystisch-symbolistischen 
Schlüsse  nicht  viel  anzufangen  wußte.  Und  doch  war  Earolath  gerade  auf 
das  Grethchen-Motiu  hingedrängt.  Aber  Grethchen  einerseits  ist  schon  eine 
Gefallene,  Faust  andererseits  nicht  der  reine  Genußmensch,  sondern  vor 
Allem  der  große  Denker  mit  einem  Don  J  uan-Zuge.  Die  Gegensätze 
waren  noch  nicht  genügend  verschärft,  wenn  die  Katharsis  mit  voller 
schlagender  Kraft  zur  Wirkung  kommen  sollte.  Deshalb  list  auch  Diana, 
die  jungfräuliche  Königin  vom  Kaukasus,  das  madonnenhafte,  nie  gefallene 
Weib;  deshalb  steht  ihr  und  dem  strengen  Prälaten  der  absolute  Genuß- 
mensch, der  sündenbefleckte  Spanier  gegenüber,  mit  dessen  unerbittlich  con« 
sequenter  Durchführung  zugleich  die  irdische  Substanz,  der  Erdgeruch  der 
Dichtung,  gerettet  wird.  Don  Juan  kennt  keine  andere  Liebe,  als  die  des 
Genusses;  auf  Erden  erkennt  er  nur  ein  Ziel:  das  Weib,  am  Weibe  nur 
ein  Göttliches:  den  Leib;  nicht  ein  Weib  will, er,  sondern  alle  Weiber; 
armsel'ge  Beute  war'  ihm  eine  Frau,  und  Nichts  verabscheut  er  so  in  den 
Tod,  als  Hochzeitsgefasel  uud  Philosophireu.  Und  doch  zählt  auch  er,  wie 
es  ausdrücklich  hoißt,  zu  den  Großen.  Der  Widerspruch  ist  nur  scheinbar. 
Ich  erinnere  blos  an  Grabbes  wildgeniales  Drama,  an  die  Worte  des 
Teufels,  daß  Faust  und  Don  J  uan  auf  zwei  Wegen  karren  —  zu  dem- 
selben Ziele.  Earolath  hat  die  Verwandtschaft  der  beiden  heterogenen 
Charaktere  in  sonnenhelle  Beleuchtung  gerückt.  Aus  der  erzwungenen 
Verbindung  der  Venus  mit  dem  ewigen  Wanderer  Ahasver,  aus  der 
Verschmelzung  der  irdischen  Wollust  mit  der  nebelhaften  Abstraction  läßt  er 
zwei  Sprossen  hervorgehen: 


<Lin  fürstlicher  Dichter.  305 
Das  Priesterthum  dn  Lust,  de«  Sang»,  der  Dirnen 
Schuf  Don  J  uan;  sein  Zwillingsbruder  Faust 
Als  Fürst  weltferner  Hochgedanten  haust 
In  deutschen  Herzen,  deutschen  Dichterstirnen. 
Der  freierfundene  Mythus  dieser  seltsamen  Augenblicks-Vermählung 
gehört  in  seiner  genialen  Idee,  wie  in  deren  classisch  schöner  Ausführung 
zu  den  herrlichsten  Emanationen  einer  großen,  freien  Künstlernatur.  Und 
mit  richtigem  Blicke  hat  der  Poet  sein  Gemälde  nicht  auf  den  grauen  Hinter- 
grund buddhistischer  Entsagungslehre,  sondern  auf  den  concretern,  farben- 
reicheren des  Christenthums,  mit  seiner  dem  Leben  verwandten  lenseits- 
theorie,  gezaubert.  Wir  mußten  bei  diesen  Ausführungen  länger  verweilen, 
weil  es  galt,  Schwierigkeiten  der  Conception  aufzudecken,  an  denen  mancher 
andere  große  Dichter  vielleicht  gescheitert  wäre. 
Die  Fabel  selbst  ist  einfach  und  klar.  —  In  bangen  Träumen  schon 
hat  Diava  den  nachtgeweihten  Sünder  erblickt,  wie  er  nach  ihr,  dem  licht« 
umstob'nen  Kinde,  Rettimg  heischend,  die  Hände  streckt.  Da  theilt  sich  der 
Vorhang,  und  Don  Juan  selbst  steht  vor  der  Grusenfürstin.  In  tollen: 
Ansturm  hat  er,  der  einzelne  Mann,  die  Wachen  überrannt  und  ist  in  die 
Königsburg  gedrungen.  Das  nachdrängende  Volk,  die  Heerführer,  der  Prälat, 
fordern  einstimmig  den  Tod  des  Frevlers.  Diava,  die  fchon  seit  ihren 
bangen  Träumen  unter  dem  Banne  des  finsteren  „Seelenbräutigams"  steht, 
will  ihn  retten,  indem  sie  ihn  zun,  Geinahle  erhebt.  Der  Fremde  aber, 
dem  die  Frauen  Nichts  sind  als  „Eintagsglückgestalten",  will  vom  Weibe 
nur  Sinnengenuß,  alle  Fesseln  sind  ihm  gleichbedeutend  mit  Nichtsein,  Tod. 
Tod,  dieses  letzte  Wort  greift  —  ein  äußerst  feiner  Zug  —  das  milchende 
Volk  auf;  nach  kurzem,  tollen  Kampfe  wird  Don  J  uan  gebunden,  und  nun 
kann  ihn  Nichts  mehr  retten,  selbst  nicht  die  Fürsprache  der  jungen  Königin; 
der  Prälat  läßt  sein  Opfer  nicht  mehr  los.  Nur  Eins  erreicht  sie,  daß  der 
Gefangene  zur  füllen  Einkehr  in  die  Schloßcapelle  geführt  werde,  bevor  der 
nächste  Morgen  ihn  ans  dem  Schaffot  sieht.  Nach  einem  bedeutenden,  echt 
dramatifchen  Zwiegespräch  mit  den»  Prälaten  bleibt  er  allein  mit  der  Fürstin, 
die  seine  Fesseln  gelöst  hat.  Hier  erzählt  er  das  Geheimniß  seiner  Herkunft. 
Meisterhaft  schildert  nun  der  Dichter  die  erwachende  Todesangst  des  trotzigen 
Mannes,  der  sein  Schaffot  zimmern  hört  nnd  der  keinen  Trost  schöpfen 
kann  aus  einem  Leben  voll  Sünde.  Und  doch  will  er,  zum  letzten  Male 
sich  selber  treu,  selbst  die  Todesnacht  als  Hochzeitsnacht  feiern.  Doch  immer 
mehr  fühlt  er  vor  Dianas  Augenstrahl  den  wilden  Wunsch  zerrinnen,  der 
ihm  bisher  im  Blute  getobt  hat  vor  jedem  Weib,  das  er  noch  nicht  besessen. 
Und  als  sie  ihn  angstvoll  forschend  fragt: 
Begehrst  Tu  mich,  soll  Dir  mein  Leib  gehören? 
Jetzt  wäge  wohl!  Leib  oder  Seele?  Sprich! 
Da  sinken  die  letzten  Scklacken. 


3)6  Richard  Roehlich  in  Vreslau. 

Tic  Teele,  lief  er,  denn  ich  liebe  Dich 

Und  will  Dir  folgen  durch  die  Seligkeiten.  — 

An  seine  Brust  zog  d>r  verlorene  Eo~n 

Tiavll  sacht,  dann  hob  er  den  geweihten 

Kelch  en,'gcn  Lichtes  schweigend  vom  Hon. 

Er  schleudert  das  Feuer  in's  Heiligthum;  durch  die  Flammenpracht 

klingen  noch  einmal,  wie  siegendes  Osterläuten,  Dianas  Erlüserworte: 

U»d  darrte  Deiner  an  der  Himmelspfort 

Um  Deiner  Sünden  der  Däninnen  Sckaar, 

Und  ncn^i  Dich  tausend  Multcrflüche  banxn, 

Zurück  scheuät'  ich  sie  mit  erhob'««!  Händen. 

Es  wird  erfüllt,  was  Lebeüstraum  mir  war. 

Tann  begraben  die  Flammen  den  entsühnten,  dämonischen  Mann  und 
seine  reine  Todesbraut. 

Es  sanl  die  Vurg,  durch's  Land  die  Glocken  klangen. 
Und  als  die  Flammen  ^aülcluiah  sangen, 
Ist  mit  dem  finster»  Seclenbräutigam 
Erlöst  Diana  himmilväits  gegangen.  — 
Wen  Liebesmacht  in  feurigem  «Abfährt 
Auf  Flllmmcnspeichen  rettet  vom  Gemeinen, 
Dem  neiden  Sonnen  der  Vergebung  scheinen 
Im  Heimatland,  des;  Frühling  ewig  währt. 

So  klingt  ohne  das  „Fragezeichen  am  Schluß  eines  gewaltigen  Gedichts" 
(Angelina)  die  erhabene  Schöpfung  rein  und  versöhnend  aus,  auf  die  unser 
deutsches  Cchriftthum  vielleicht  noch  stolz  sein  wird,  wenn  manche 
„Größe"  längst  der  verdienten  Vergessenheit  verfallen  ist.  Die  vier 
Echlußzeilen  der  Dichtung  enthalten  allein  eine  Welt  von  Schönheit  und 
Größe.  In  reifer  Künstlerschast  ist  es  mit  der  herrlichen  Gedankendichtung 
„Ein  Bild"  das  Höchste,  was  Earolath  geschaffen  hat,  desgleichen  an  Voll- 
endung der  Technik;  während  „Angelina"  häusig,  die  „Sphinr"  in  der 
Nabbiscene,  todte  Punkte  aufweist,  schreitet  „Don  Juans  Tod"  in  rastloser 
Entwickelung  ehern  und  geschlossen  wie  ein  Drama  dahin.  An  genialen 
Episoden  wird  es  vielleicht  von  der  „Sphinx"  noch  übertroffen;  aber  die 
höchste  Palme  erringt  allezeit  das  Genie,  gebändigt  durch  Kunstverstand  .  .  . 
sonst  wäre  Grabbe  unser  größter  Dichter,  nicht  Goethe.  — 
Nariluri  tu  Lnlutant  —  Prinz  Schönaich-Earolath. 
Wir  hatten  am  Eingange  die  Verwandtschaft  des  Prinzen  mit  Lord 
Byron  angedeutet,  und  wir  glauben  unsere  Studie  nicht  besser  als  mit  einer 
kurzen  vergleichenden  Analyse  schließen  zu  können.  —  Beide  sind  von  hoher 
Geburt,  die  ihnen  ebenso  einen  weiten  und  tiefen  Blick  in  das  menschliche  Leben 
gestattet,  als  sie  ihnen  die  Hindernisse,  die  sich  sonst  dem  Fluge  des  Genius 
entgegenthürmen,  aus  dem  Wege  räumte;  Beiden  war  es  vergönnt,  ihre 
Sub,ectimtät  ausreifen  zu  lassen,  >ohne  sie  einer  wirthscha'tlichen  Pression 
oder  den  Launen  eines  vielköpfigen  Publicmiiö  unterordnen  zu  müssen. 


Ein  fürstlicher  Dichter. 
30? 

Gleich  hierbei  sei  jedoch  ein  weittragender  Unterschied  hervorgehoben.  Earolath 
wuchs  in  einer  glücklichen  Häuslichkeit  heran  und  hat  sie  wiederum  im  reifen 
Mannesalter  sich  selbst  geschaffen;  Byron  mußte  sie  als  Kind  wie  als  Mann 
entbehren,  und  für  diesen  Mangel  hat  ihn  weder  sein  Genie  noch  sein 
Reichthum  und  Rang  entschädigt;  er  ist  sein  Verhängnis;  geworden.  Aber 
der  Parallelen  sind  noch  genug.  Beide  wurden  von  innerer  Unrast  in  die 
Ferne  getrieben,  aus  der  sie  jene  weitumfassende  Kenntniß  fremder  Länder 
und  Völker  heimbrachten,  die  den  Inhalt  ihrer  Dichtungen  in  ein  fremdes, 
erotisches  Milieu  zu  bannen  liebt.  Beide  suchen  mit  Vorliebe  Faust-  und  Don 
luanartige  Probleme  auf,  und  es  ist  kein  Zufall,  daß  Carolath  sich  zu  der 
Harmonie  durchrang,  die  dem  Schöpfer  von  „Manfred"  und  „Don  Juan" 
versagt  blieb.  Beide  unterziehen  sich  deu  aufreibendsten  Strapazen:  Byron 
durchschwimmt  trotz  seines  Klumpfußes  den  Hellespont,  Carolath  trotzt  den 
klimatischen  Einflüssen  und  den  Aufregungen  gefährlicher  J  agden.  Und 

—  ll»3t  nor  lsa8t  —  Neide  beschließen,  so  weit  man  bei  dein  Prinzen 

schon  von  einein  Abschluß  sprechen  kann,  ihre  dichterische  T  Heiligkeit  in  rein 
menschlicher  Weise:  der  Brite  im  praktisch-nationalen  Sinne  durch  die 
Hingabe  an  ein  unterdrücktes,  für  seine  staatliche  Freiheit  ringendes  Volk, 
der  Deutsche  im  theoretisch-internationalen  Sinne  durch  die  Hingabe  an 
die  Unterdrückten  und  nach  menschlicher  Freiheit  Ringenden  überhaupt. 
Aber  den  Kämpfer  von  Missolunghi  umstrahlt  eiue  ewige  Kloriole:  wie 
der  frühgeschiedene  Sänger  des  Dell  ging  er  im  Zenith  feines  Genius 
von  der  Erde  und  erregt  achilleusgleich  eine  ewige  Sehnsucht.  Was 
Carolath  aber  nach  „Don  J  uans  Tod"  auf  reformntorischeu  Gebiete  u.  s.  w. 
geschrieben  hat,  ist  im  künstlerischen  Sinne  als  ein  großer  Rückschritt  zu 
bezeichnen,  und  es  bleibt  mir  zu  wünschen,  daß  er  in  die  verlassenen  Bahnen 
wieder  einlenken  möge;  denu  dort,  auf  dem  Gebiete  des  Reinmenschlichen, 
nicht  in  der  Schilderung  trauriger  socialer  Verhältnisse,  so  sehr  sie  auch  den 
edlen  Menschen  ehrt,  liegt  die  Stärke  seiner  gewalligen  Begabung,  die 
schon  aus  rein  technischen  Rücksichten  ein  Gebiet  meiden  sollte,  auf  dem  sie 
all  die  Wunderfarben  ihrer  Palette  nicht  zu  verwenden  vermag.  Und  wie 
diese  Farben  leuchten,  als  hätte  sie  Maknrts  Pinsel  gezaubert!  Es  wäre 
schließlich  thöricht,  wollte  man  jetzt  schon  die  dichterische  Zukunft  eines 
Lebenden,  zumal  wenn  dieser  erst  43  Jahre  zählt,  anticipiren.  Und  übrigens 

—  was  diese  Zukunft  auch  bringen  mag,  kann  sie  doch  Nichts  ändern  an 
der  Perspective:  Der  Schöpfer  der  „Sphinr"  und  von  „Don  Juans  Tod" 
gehört  der  Weltliteratur. 


Nord  und  Niid,  I.XXV. 
21 


Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche. 

Ungedruckte  Vriefe  von  Felix  Menoelssohn-Vartholdy  *). 
von 

Mseph  Karsten. 
—  «Sin. 

ob  wenige  deutsche  Städte  haben  in  ihren  Mauern  ein  so  viel- 
seitig angeregtes  geistiges  Leben  in  einem  verhältnißmäßig  kurzen 
Zwischenraum  zur  Entfaltung  und  Nlüthe  kommen  sehen,  wie 
Düsseldorf. 

Die  unvergleichliche  Gartenstadt  hatte  sich  schon  durch  die  Wirksamkeit 
des  alten  Nurgmüller,  des  Vaters  des  allzufrüh  dahingeschiedenen  Com- 
vonisten  Norbert  Nurgmüller,  einen  wohlverdienten  Ruf  auf  musikalischem 
Gebiete  erworben,  der  dort  in  den  weitesten  Kreisen  den  Grund  zu  einer 
geregelten  musikalischen  Bildung  zu  legen  und  den  Eifer  für  die  Tonkunst 
nach  Kräften  zu  beleben  bestrebt  war.  In  Karl  Immermann  hatte  die 
deutsche  Dichtkunst  und  Vühne  ihren  großen  Apostel  wiedergefunden,  der 
gerade  hier  mit  glücklicher  Hand  feine  reformatorifche  Thätigkeit  entfaltete. 
Seit  dem  Jahre  1826,  in  welchem  Wilhelm  von  Schadow  mit  feiner 
jungen  Künstlerschaar  in  Düsseldorf  einzog,  fchien  hier  eine  neue  Vlüthe 
der  Kunst  aufzugehen.  Aus  dieser  Schule  gingen  ein  Lessing,  Sohn, 
Vendemann,  Hübner,  Schrödter  und  Schirmer  hervor,  deren  Charakter 
wesentlich  der  romantischen  Dichtung  entsprach.  Auch  der  jugendliche  Ferdi- 
nand Theodor  Hildebrandt,  der  nachmalige  Lehrer  und  Professor  an  der 
Düsseldorfer  Kunstakademie  (geb.  2.  Juli  1804  zu  Stettin,  gest.  29.  Sep- 
tember 1874  zu  Düsseldorf),  kam  mit  Schadow  nach  Düsseldorf. 
*)  Vgl.  Briefe  aus  den  Jahren  1830  bis  1847  von  Felix  Mendelssohn. Bartholvy. 
Leipzig  1865.  2  Bände.  Herausgegeben  von  Dr.  Julius  Rieh  und  Felix  Mendelssohn» 
Nartholdy.  Briefe  und  Erinnerungen  von  Ferdinand  Hill«.  Köln  1878.  Verlag  von 
Du  Mont-Schlluverg. 


Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche.  30H 

In  diesen  Kreis  trat  im  Jahre  1832  zun:  ersten  Mal,  auf  einer  Reise 
nach  Paris  zum  Besuche  der  rheinischen  Kunststadt,  der  jugendliche  Felir 
Mendelssohn-Bartholdy.  Nach  Jahr  und  Tag  zog  Mendelssohn  schon  als 
Musikdirector  in  Düsseldorf  ein.  Erfand  zunächst  schwierigere  Verhältnisse 
vor,  als  er  erwartet  hatte  und  in  dem  Privatkreise  seines  elterlichen 
Hauses  gewohnt  war.  Schon  die  ersten  Concerte  machten  ihm  viel  Arbeit. 
Erst  als  Chor  und  Orchester  Freude  an  der  Sache  und  Achtung  vor  dem 
unermüdlichen  Fleiße  ihres  Leiters  empfanden,  kam  auch  ein  rechter  Zug 
in  die  Sache.  Zu  diesen  anstrengenden  Geschäften  hatte  Mendelssohn  mit 
der  Zeit  auch  die  Leitung  der  Oper  bei  dem  neuen  Theaterunternehmer 
Karl  Immermann  übernommen  uud  war  hierdurch  mit  einem  Schlage  als 
„Dreiundzwanzigjähriger"  der  Liebling  der  ganzen  Stadt  geworden. 
Aber  auch  in  seinen  persönlichen  Beziehungen  entwickelte  er  nach  dem 
Urtheile  der  Zeitgenossen  eine  ungewöhnliche  Liebenswürdigkeit,  Munterkeit 
und  Beweglichkeit.  Anregend  und  belebend,  wie  sein  künstlerischer  Geist 
war,  gab  er  überall  mehr,  als  er  nahm.  So  war  es  denn  kein  Wunder, 
daß  um  diesen  Liebling  der  Götter  sich  eine  Schaar  von  Freunden,  An- 
betern und  Gönnern  sammelte.  Mendelssohn  sah  sich  jedoch  nach  geraumer 
Zeit  veranlaßt,  von  der  Direction  der  Düsseldorfer  Oper  zurückzutreten. 
Wolfgang  Müller  von  Künigswinter  hat  das  Verdienst,  in  seinem 
bekannten  Werke:  „Erzählungen  eines  rheinischen  Chronisten,  Karl  Immer- 
mann und  sein  Kreis",  Band  1,  S.  48  (Leipzig,  Brockhaus)  die  Gründe, 
welche  für  Mendelssohn  hierbei  entscheidend  waren,  in  das  rechte  Licht 
gesetzt  zu  haben.  „Das  Wahre  an  der  Sache  ist"  —  so  läßt  er 
Mendelssohn  selbst  sagen  —  „daß  mir  die  Arbeit  über  den  Kopf  wächst. 
Jedermann  weiß,  wieviel  ich  mit  den  Concerten  zu  thun  habe.  Allerdings 
wurde  Lch  in  einem  schwachen  Augenblicke  zu  dem  Versprechen  hingerissen, 
die  hauptsächlichsten  Opern  zu  leiten,  weil  meine  Freunde  mich  dazu 
drängten.  Nun  bin  ich  aber  zu  der  Einsicht  gelangt,  daß  ich  mehr  ver- 
sprochen habe,  als  ich  leisten  kann.  Ich  verliere  mich  uud  meine  Composi- 
tionen  über  all'  dem  Schaffen  und  Wirken  in  der  Außenwelt.  Da  nun 
auch  mein  Freund  J  ulius  Nietz,  den  wir  für  die  Direction  der  Oper  im 
Allgemeinen  von  Berlin  berufen  haben,  sich  überaus  wacker  und  tüchtig 
erweist,  wie  ich  es  nicht  anders  erwartete,  und  da  ich  also  durchaus  über- 
flüssig geworden  bin,  so  hielt  ich  es  an  der  Zeit,  mich  zurückzuziehen,  um 
an  meinen:  Oratorium  Paulus  zu  arbeiten.  Ein  Künstler,  der  Etwas  vor 
sich  bringen  will,  darf  sich  aber  nicht  zu  sehr  zerstreuen.  Ich  habe  bis 
jetzt  noch  zu  wenig  'geleistet.  Mit  meinen  Liedern  und  Ciavierstücken  ist 
erst  der  Weg  zu  einzelnen  Herzen  gebahnt.  Mit  meinem  neuen  Werke  hoffe 
ich  mir  das  Volk  zu  gewinnen,  so  Gott  will!" 
Mendelssohn,  der  sich  in  seinem  Vertrage  nur  auflzwei  J  ahre  ver- 
pflichtet hatte  (vergl.  Lampadius,  „Felir  MendelssolmVnrtholdn",  Leipzig 

1848,  S.  43),  ging  1835  nach  Leipzig,  um  die  Direction  der  Gewandhaus- 
2^oii 


3(0  Joseph  loesten  in  Köln. 

Concerte  zu  übernehnten.  Noch  in  demselben  Frühjahr  hatte  er  das  Musik- 
fest zu  Köln  und  am  2.  Juli  1835  sein  letztes  Concert  in  Düsseldorf 
dirigirt.  Auch  die  Eltern  waren  von  Berlin  herbeigeeilt,  um  den  Triumphen 
ihres  Sohnes  beizuwohnen.  Von  den  Zeitgenossen  wird  uns  berichtet,  daß 
selbst  diejenigen,  die  Mendelssohn  als  einen  fremden  Eindringling  angesehen 
und  ihm  manchen  Verdruß  bereitet  hatten,  durch  sein  Ciaviercapriccio  in 
2-mull  versöhnt  gewesen,  jeder  Mund  des  J  ubels  voll  uud  zugleich  der 
Trauer  kein  Ende  gewesen  sei. 

In  Leipzig  vollendete  er  seinen  Paulus.  Am  22.  Mai  1836,  einem 
Psingstsonntage,  wurde  dieses  Oratorium  zum  ersten  Male  in  Düsseldorf 
(im  Vecker'schen  Saale)  aufgeführt.  Seit  Johann  Sebastian  Bach,  Händel 
und  Joseph  Handn  hatten  die  Meisten  diese  Form  vorlassen,  Mozart 
widmete  sich  vornehmlich  der  Oper  und  Beethoven  der  Sinfonie.  Nun 
schlug  am  Rhein  mit  einem  Schlage  ein  junger  sechsundzwanzigjähriger 
Componist  durch.  Man  überreichte  bei  dieser  Gelegenheit  dem  Helden  des 
Tages  ein  Prachteremvlar  des  Paulus,  mit  trefflichen  Handzeichnungen  von 
Hildebrandt,  Adolf  Schrüdter,  Julius  Hübner,  Eduard  Steinbrück  und 
Heinrich  Mücke  illustrirt. 

Das  erste  Werk,  welches  Mendelssohn  nach  seiner  Abreise  von  Düssel- 
dorf vornahm,  war,  daß  er  in  Frankfurt  am  Main  die  Proben  des  von 
seineni  erkrankten  Freunde  Schelble  geleiteten  Cäcilienvereins  fortführte. 
Hier  lernte  der  „Sohn  der  himmlischen  Eäcilia"  auch  seine  spätere  Gattin, 
Eäeilia  leanrenaud,  kennen. 

Aus  dieser  sonnigen  Zeit  des  jugendlichen  Schaffens  und  Strebens 
stammt  ein  Briefwechsel*)  aus  dem  Nachlasse  des  treuen  Freundes  des 
großen  Tondichters,  des  Professors  Ferdinand  Theodor  Hildebrandt,  zu 
Düsseldorf.  Wahre  Freundschaft  verband  die  beiden  Künstlernaturen  bis 
an  ihr  Lebensende.  Ging  das  Leben  des  Einen  in  sich  rnnd  und  fertig 
abgeschlossen  dahin,  so  waren  dem  Anderen  im  Laufe  der  Jahre,  die  er 
deu  Freund  überlebte,  mannigfache  Prüfungen  und  Schicksalsschläge  nickt 
erspart  geblieben. 

Diese  Briefe  sind  geeignet,  den  Künstler  und  Menschen  ihres  Schreibers 
in  einem  klaren  und  ruhigen  Lichte  erscheinen  zu  lasse»  uud  über  manche 
Vorgänge  und  Persönlichkeiten  ans  der  damaligen  Düsseldorfer  und  Leipziger 
Zeit  Aufschluß  zu  geben.  In  dieser  Hinsicht  dürften  sie  auch  das  Bild 
der  Persönlichkeit  des  großen  Mannes,  wie  es  aus  den  Briefsammlungen 
von  Julius  Rietz  uud  Ferdinand  Hiller  uns  entgegentritt,  einigermaßen 
ergänzen. 

Die  Briefe  aus  Leipzig  und  Frankfurt  vom  Jahre  1835  und  1836 

stammen  aus  des  Meisters  Jugendzeit,  die  Briefe  vom  Jahre  1847  sind 

*)  Diese  Viicfc  sind  mir  Uon  befreundeter  Seite  zur  Verfügung  gestellt  worden. 


Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche.  —  31.1. 

wenige  Wochen  vor  dem  am  4.  November  1847  erfolgten  Tode  Mendels- 
sohns geschrieben. 

Ich  glaube  daher  den  vielen  Freunden  der  beiden  Künstler  und 
Freunde  einige  dieser  Briefe  von  allgemeinerem  Interesse  bekannt  geben 
zu  sollen: 

Leipzig,  den  31.  Octobei  1835 

(während  die  Glocken  schön  zum  Reformationsfeste 

läuten). 

Lieber  Hildebrand! 

Habe  vielen  Tank  für  Deinen  lieben,  lieben  Brief,  für  den  ich  Dir  schon  längst 
hätte  danken  und  darauf  antworten  sollen  (wäre  es  auch  blas  aus  Eigennutz  gewesen, 
um  bald  wieder  einen  zu  bekommen)  ober  ich  war  die  Zeit  her  sehr  gehetzt  und  angestrengt 
und  finde  erst  jetzt,  da  ich  wegen  einer  kleinen  Unpäßlichkeit  das  Zimmer  hüten  muß, 
die  rechte  Muhe,  um  Deine  freundlichen  Zeilen  fo  recht  ouu  »mar«  erwidern  zu  können. 
Wohl  war  es  eine  gute  Zeit,  wo  Du  täglich  an's  Fenster  kommen  und  in  mein  Früh» 
stück  hineingucken  konntest,  wo  Du  meinen  Tagen  dadurch  gleich  einen  vergnügten  Anfang 
gabst,  und  daran  habe  ich  wohl  oft  schon  gedacht,  wenn  ich  leider  ganz  ungestört  früh» 
stücken  konnte,  überhaupt  muß  ich  Deinen  und  Schirmei's  Brief  nicht  gerade  durchlesen, 
wenn  ich  Much  meinen  neuen  Aufenthalt  ganz  und  gar  loben  soll;  denn  für  die  vielen 
frohen  Stunden,  die  wir  zusammen  hatten,  finde  ich  hier  wohl  keinen  Ersatz  und  Nichts, 
was  daran  erinnern  tonnte.  Dafür  avcr  gestehe  ich  Dir,  daß  ich  erst  hier  recht  empfinde, 
wie  sehr  viel  mir  in  musitalischer  Hinsicht  dort  abging,  wie  viele  und  ganz  unnütze 
Quälerei  ich  mit  manchen  Dingen  hatte,  die  nun  einmal  eben  durch  den  guten  Willen 
der  Einzelnen  nicht  zu  schaffen  find,  und  wie  ich  mich  also  in  Beziehung  auf  mein 
öffentliches  Wirken  hier  zufrieden  fühlen  muß.  Das  Institut  der  Conccrte,  bei  denen 
ich  bin,  besteht  seit  mehr  als  fünfzig  Jahren,  Alles  ist  im  guten  geordneten  Gange, 
manche  alte  hergebrachte  Gewohnheiten,  die  mich  zuweilen  rühren  können,  weil  sie  aus 
«ine  vergangene  Zeit  noch  hindeuten,  wie  mich  dmn  auch  ein  Zopf  oder  eine  Perücke 
eines  alten  Herrn  erfreuen  kann  —  dabei  ist  das  Orchester  meistentheils  jung  und  lebendig, 
ungemein  sicher  eingespielt,  sogar  einige  berühmte  Musiker  barunter,  ich  habe  einige 
meiner  Ouvertüren  mit  mehr  Ensemble  und  Genauigkeit  gehört,  als  jemals  sonst,  und 
habe  dabei  das  Vergnügen,  daß  sie  selbst  Abends  jeden  augenblicklichen  Einfall  und 
Wink  des  Taktstockes  verstehen  und  auifühien.  Wenn  Tu  das  mit  manchen  Proben 
und  Aufführungen,  die  wir  zusammen  erlebten,  vergleichst,  so  kannst  Du  Dir  denken, 
daß  mir  es  hier  in  musikalischer  Hinsicht  wohler  ist  —  aber  wenn  so  ein  Stück  Maler» 
Akademie  nach  Leipzig  mitten  unter  die  Lerchen  ziehen  wollte,  so  wäre  es  doch  ein 
lustiges  Leben.  Das  geht  nun  freilich  nicht,  und  fo  suche  ich  mich  zurückzuziehen  und 
fleißig  zu  arbeiten.  Wenn  mir  es  gelingt,  so  denke  ich  mich  gegen  den  Frühling  auf» 
zumachen  und  ein  paar  Monate  zu  Fuß  zu  gehen;  daß  ich  dann  jedenfalls  über  Düffel» 
dorf  komme  und  wohl  mal  eines  Morgens  hineinguckc,  wie  der  Herr  Mal«  frühstücken 
thun  —  das  steht  fest.  Dazwischen  liegt  noch  viel  Schnee  und  Hagel  und  15  Abonnements» 
Eoncerte,  (denn  fünf  sind  erst  vorbei)  und  hoffentlich  manches  Brieflein  von  Dir,  und 
überhaupt  eben  ein  paar  lange  Monate  —  aber  ich  freue  mich  doch  schon  jetzt  darauf, 
sobald  ich  lebhaft  daran  denke.  —  Wie  schlimm  steht  es  aber  mit  der  edeln  Malerkunst 
zu  Leipzig!  Wer  kam  in  der  Messe  her,  und  wird  noch  jetzt  immer  vom  Abreisen 
zurückgehalten  durch  Bestellungen  von  Portraits?  Wen  hält  Leipzig  für  ein  geschicktes 
Kerlchen?  Niemand  anders  als  Professor  Grünler*).  Er  malt  mehrere  dicke  Buch» 
*)Ebregott  Grünler,  Professor  und  Hofmaler  in  Zeulenroda,  malte  anfangs 
historische  Bilder,  warf  sich  fpätei  auch  auf  die  Darstellung  von  Thierm  (Schafen),  die 
ihm  besser  gelangen,  als  jene. 


2~2  Joseph  Poesien  in  Köln. 

Händler  mit  ihrm  Frauen,  und  alle  rühmen,  daß  man  fast  gar  nicht  zu  sitzen  brauche 

und  doch  seien  alle  Bilder  gleich  »zum  Erkennen".  Ich  suchte  mehrere  mal  sehr  gering« 

schätzig  von  ihm  zu  reden,  aber  ohne  Erfolg.  Neulich  stellte  ihn  mir  sogar  einer  vor, 

aber  ich  war  der  Tüsseldorfei  Akademie  eingeben!,  zu  der  ich  halb  und  halb  gehöre 

und  ich  betrug  mich  sehr  grob  und  lurz,  wegen  der  Wasserflüsse  Babylons,  und  anderen 

Unfugs,  den  ich  von  ihm  gesehen  habe.  Auch  Genelli*)  ist  hier,  schimpft  auf  gcmz 

Leipzig,  und  die  ganze  Welt,  und  malt  nichts.  Neulich  waren  einige  zwanzig  Bilder 

ausgt  stellt,  die  vom  Dresdener  Kunstvercin  verloost  werden;  das  beste  darunter  wccr 

offenbar  und  nach  allgemeinem  Uitheile  der  Hans  Sachs  von  Oer**);  mich  freute 

es  noch  apart,  wie  ich'L  so  fertig  und  schon  gefirnißt  sah,  und  mich  der  Zeit  erinnerte, 

wo  es  halb  unbemalt  dastand,  und  ich  Dir  zum  Portrait  sah,  und  Du  Oer  Ratschläge 

mit  der  Fingersprache  gabst,  und  ich  die  Nürnberger  Thürmc  als  Landschafter  tadelte  — 

es  macht  nun  doch  einen  recht  angenehmen  Eindruck,  und  gefällt  wie  gesagt  allgemein. 

Auherdem  waren  ein  paar  nette  Gegenstände  da,  namentlich  eines  von  Bürlel"*),  was 

mir  indessen  sehr  obenhin  gemalt  schien,  im  Ganzen  schien  mir  nur  weniges  Werth  zu 

haben  —  ein  Berliner  Bild  mit  Pferden  und  Reiltnechten  war  gräßlich  langwellig  — 

der  eine  Reitlnecht  muß  als  Würze  eine  Wäscherin  umarmen  —  es  bleibt  doch  lang» 

weilig.  Dagegen  habe  ich  ein  Kuvferwerk  gesehen,  das  mich  lehr  amüfirt  hat:  es  sind 

Pinelli'sl-)  Bilder  zum  Gedicht  Meo  Patacca.  Kennst  Du  das?  Es  erinnert  gar  zu 

sehr  an  Rom,  mit  allem  Prachtvollen  und  Dreckigen  durcheinander.  Noch  muß  ich  Dir 

von  einer  Sängerin  (der  Schwester  des  Malers  Grabau)  f-s-)  erzählen,  die  hier  ist,  und 

die  Du  einmal  hören  solltest,  wenn  sie  Becthoven'sche  Lieder  singt.  So  etwas  Voll« 

lommenes  ist  mir  selten  bei  einer  deutschen  Sängerin  vorgekommen,  und  die  Düffel» 

dorfer  Musensöhne  würben  schwärmen,  wenn  sie  diesen  glockenreinen  Vortrag  hören  könnten. 

Wenn  sie  ein  bischen  hübsch  wäre,  und  jünger,  so  müßte  ich  mich  auf  der  Stelle  der» 

lieben  und  thäte  den  ganzen  Tag  nichts,  als  Lieder  componircn,  während  ich  jetzt  an 

der  Vollendung  des  Paulus  fleißig  arbeite.  Aber  verzeih,  daß  ich  Dir  so  viel  von  mir 

und  meinen  Umgebungen  erzähle,  was  Dich  vielleicht  gar  nicht  intcressiren  mag.  Ich 

thue  es  aber  mit  Absicht,  weil  Du  auch  gar  zu  wenig,  oder  gar  nichts  von  der  Deinige» 

schreibst!  bitte,  lieber  Hillenbart,  hole  das  bald  nach,  und  sage,  was  Deine  Familie 

macht,  ob  die  Prinzen  noch  leben  oder  schon  gemordet  sind,  was  Tu  für  Bilder  im  Kopf 

hast,  erzähle  mir  von  Schabow's  und  von  Euch  allen,  auch  vom  Theater  und  Immer« 

mann,  da  es  mich  intressirt,  vom  Singverein  und  dem  Nath  der  Alten,  und  vor  allen 

Dingen  schreib  mir  bald  mal  wieder.  Mit  herzlichen  Grüße»  an  Deine  Frau  und 

Mariechen  bin  ich 

Dein 

Felix  Mendelssohn-Bartholby. 

*)  Bonaventura  Genelli,  Zeichner  und  Maler,  geb.  27.  September  1800  zu  Berlin, 
gest.  13.  November  1868  zu  Weimar,  ließ  sich  nach  seiner  Rückkehr  von  Italien,  1832  in 
Leipzig  nieder,  um  dort  für  den  Toctor  tz.  Häitel  einen  Saal  in  dessen  Gartenhause 
mit  Fresken  zu  schmücken. 

**)  Theobald  von  Oer,  der  aus  Westfalen  stammt  und  spät«  als  Maler  in 
Dresden  wohnte. 

***)  Heinrich  Bürlel,  Genre«  unb  Landschaftsmaler. 

s)  Bartholomeo  Pinelli,  Maler,  geb.  1781  zu  Rom,  gest.  daselbst  1.  April  1335. 
(Meo  Pataccc',  Dialect). 

-j-s)  Der  Landsäafts«  und  Thicrmaler  Christian  Grabau,  geb.  1809  zu  Bremen, 

der  mit  Vorliebe  Wasserfälle  darstellte  und  sich  insbesondere  durch  seine  Thierftücke 

auszeichnete. 


Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche.  31.3 
Frankfurt  a/M  Ken  26.  Juni  1836. 
Lieber  Hildebranb! 

Hiebci  erfolgt  ein  Brief  der  Firma  Breitlopf  K  Härtel  mit  dem  es  so  zusammen» 
hangt.  Sie  schreiben  an  mich  und  baten  ick  möchte  Dich  bitten,  Du  möchtest  erlauben, 
daß  sie  für  ihre  musikalische  Zeitung  Dein  Portrait  von  mir  in  kleinem  Format  stechen 
(oder  lithographiren)  liehen.  Ihre  Absicht  schien  zu  sein,  Tel»  Bild  in  Leipzig  copiren 
zu  lassen,  und  da  ich  vor  der  Leipziger  Portraitmalerei  und  -stecherei  höllischen  Respect 
habe,  so  schrieb  ich  ihnen  zurück,  sie  würden  besser  thun,  die  Sache  Dir  mitzutheilcn  und 
llnheim  zu  stellen;  weil  Tu  vielleicht  in  Düsseldorf  selbst  oder  in  Cöln  solch  einen  Stich 
besorgen  und  besser  machen  lassen  kannst,  als  sie  in  Leipzig.  Sie  fragen  nun  also  bei 
Dir  cm,  ob  Du  diese  Gefälligkeit  haben  wolltest?  Da  denn  doch  das  Portrait  in  jedem 
Falle  herauskommen  sollte,  so  wäre  mir's  natürlich  lieber,  wenn's  gut  würde,  und  dazu 
kannst  Du  gen/iß  am  besten  verhelfen.  Nimm  die  Belästigung  nicht  übel,  die  Dir  dadurch 
entsteht,  und  thue  mir  und  tzärtel's,  wenn  Tu  es  kannst,  den  Gefallen,  Dich  des  Tinges 
anzunehmen,  damit  ich  mit  einem  vernünftigen  Gesicht  in  die  Welt  komme. 
Wenn  es  möglich  ist,  so  antworte  ihnen  recht  bald  auf  ihre  Bitte,  ui'd  sielen  dann 
zugleich  ein  paar  Zeilen  an  mich  mit  ab,  so  wäre  das  freilich  desto  prächtiger;  wenn 
auch  weiter  nichts  drin  stände,  als  was  Du  und  die  Deinigen  machen,  und  wie  es  Schadow 
mit  seiner  Gesundheit  geht. 

Ich  lebe  hier  sehr  angenehm  und  mit  vielen  liebenswürdigen  Leuten;  doch  brauche 
ich  noch  Zeit  mich  von  den  Düsseldorfer  Arbeiten  zu  erholen,  deren  Anstrenaungcn  ich 
eist  hier  zu  fühlen  anfing.  Rossini'«  Anwesenheit  hier  hat  alle  Musiker  in  Alarm  ver» 
setzt,  und  mir  viele  Freude  gemacht,  »eil  er  der  geistreichste,  amüsanteste  Gesellschafter 
ist,  den  man  in  d.-r  Welt  finden  kann.  Auch  Musik  haben  wir  manches  Mal  mit  ein» 
ander  gemacht,  und  ich  werde  Dir  lustige  Anekdoten  von  ihm  zu  erzählen  haben;  Schade 
daß  Du  sie  nicht  gleich  selbst  erzählen  kannst;  es  wäre  etwas  fürTich,  Er  ist  ein  toll« 
Prinz.  Auch  von  der  hiesigen  Ausstellung  werde  ich  mancherlei  zu  erzählen  haben;  ein 
charmantes  Bild  von  Schclfhoul* )  war  wieder  da,  und  überhaupt  mehrere  hübsche 
Sachen.  Die  Madonna  von  Tegcr**)  und  die  Landschaft  von  Pose  schienen  alle 
Frankfurter  Kunstkenner  sehr  zu  entzücken,  und  es  wurde  drülier  viel  gclanneaieheit  hin  und 
her.  Gestern  erhielt  ich  einen  kurzen  Brief  von  Worivgen,  norm  er  mir  wieder  alles 
mögliche  Unangenehme  über  das  Düsseldorfer  Musilfest  und  Musik»esen  nachträolich  aus» 
zutrinken  gilbt;  es  wird  wohl  nicht  so  schlimm  sei»,  wie  er  es  ansieht,  in  keinem  Falle 
aber  sprich  ihm  davon. 

Ich  habe  aber  leine  Schicivlaune,  weil  ich  in  3—4  Wochen  wieder  in  Düsseldorf 

zu  sein  denke  und  dann  Alles  besser  mündlich  sagen  lann,  einen  Abend  müssen  wir  bann 

wieder  bei  Dir  mit  Schirmer  allein  zubringen,  und  wenn  »och  Pflaumen  ta  sind,  so  bitte 

ich  Deine  Frau,  sie  bis  dahin  aufzuheben.  Essen  will  ich  sie  dann  schon. 

Lebe  nun  wohl,  Hildebart!  Grüße  mir  Schirme!  und  Bcndcmann  vielmal  und 

lebe  wohl. 

Dein 

Felix  Mendclssohn-Bartholdy. 
ssranksult  a/M,  den  10  Sept.  1847. 

Mein  lieber  Hildebrand!  Habe  vielen  Tank  für  Deinen  freundlichen  Brief,  den  ich 
so  eben  bei  meiner  Ankunft  hier  empfing.  Und  sage  auch  Deinen  Eollegen  vom  Musik» 
*)  Andreas  Schelfhout,  Landschaftsmaler,  geb.  1787  im  Haag,  gcst,  das.  1870. 
**)  Ernst  Deger,  Historienmaler,  der  mit  den  Brüdern  Andrea»  und  Karl  Müller 
aus  Tllinistlldt  und  Franz  Ittenbach  aus  Königswinter  die  Freske»  in  der  Avollinaris» 
tirche  zu  Remagen  am  Rhein  und  später  die  Fresken  in  der  Schloßcapelle  der  Burg 
Stolzenfels  gemalt  hat. 


3~  Joseph  l°es»en  in  Köln. 

Eomit«  meinen  Dan!  für  das  Vertrauen  das  sie  mir  durch  ihre  Anfrage  beweisen.  Tay 
mich  die  Sache,  von  der  es  sich  handelt,  lebhaft  interessirt  und  daß  ich  daher  gern  den 
besten  Rath  geben  möchte,  der  sich  nur  ersinnen  Iaht,  das  brauche  ich  Tir  wohl  nicht  erst 
zu  versichern.  Aber  es  wird  mir  schwer  werden;  denn  seit  ich  von  Rieh'  Abgang  hörte, 
habe  ich  oft  gedacht,  wem  ich  wohl  diese  Stelle  wünschte  und  habe  niemand  herausfinden 
tonnen,  der  unbedingt  paßte  und  für  den  sie  unbedingt  paßte.  Ehe  ich  mich  daher  näher 
ausspreche,  möchte  ich  Dich  bitten  mir  zu  sagen  (es  versteht  sich  unter  dem  Versprechen 
meiner  Verschwiegenheit)  wer  sich  bei  Euch  gemeldet  hat.  Vielleicht  ist  einer  darunter, 
der  besser  pafzt,  als  einer  von  denen  an  die  ich  gedacht  hatte;  und  ist  das  nicht  der  Fall 
so  will  ich  meine  Vorschlage  wachen  so  gut  ich  lann. 

Sollte  sich  keiner  finden,  der  von  allen,  dem  Verein  und  dem  Comile  gleich  bei 
Nennung  seines  Namens  per  H«l»iu2tiou  angenommen  würde,  wolltet  Ihr  dann  nicht 
vielleicht  dem  Beispiele  de;  hiesigen  Eaecilieii0 Veieins  und  der  Mainzer  Vereine  folgen 
und  für  sebe»  Bewerber  einen  Abend  (oder  mehrere)  bestimmen,  wo  sie  vor  sämmtlichen 
Mitgliedern  eine  Probe  ihres  Dirigirens  und  Einstudierens,  ihres  Ciavierspiels  und  ihrer 
ganzen  Art  ablegten,  wonach  bann  die  Wahl  sich  lichten  tonnte?  Solch  ein  Verfahren 
hat  manches  Tadelnsiucrthe,  aber  es  ist  nicht  zu  läugnen,  daß  beide  Vereine,  der  hiesige 
wie  der  Mainzer,  schon  mehreremal  sehr  gut  dabei  weggekommen  sind.  Man  zahlte  den 
Bewerbern  blos  die  Reisekosten  hin  und  her,  ließ  sie  nach  Belieben  ein  Wert  zum  Gin« 
studiren  auswählen  »reiches  sie  konnten  oder  worauf  sie  sich  vorbereitet  hatten,  nahm  auch 
(wenn  ich  nicht  irre)  irgend  ein  ihnen  unbekanntes  und  bildete  sich  so  sein  Urtheil.  Die 
Herren  Schölt  in  Mainz  und  irgend  einer  Deiner  hiesigen  Bekannten  würden  Dir 
gewiß  alle  Details  darüber  besser  angebe»  toni«n,  wenn  Du  sie  wissen  wolltest. 
Wünschest  Du  nun  meine  Antwort  bald,  lieber  Hildebrand,  so  schreibe  mir  bald 
nach  Empfang  dieser  Zeilen  hich.'l,  Adr.  twwl  ä'H,r>FI«t«rre.  Ich  bleibe  noch  5—6  Tage 
hier;  nachher  ist  meine  Adresse  wieder  Leipzig.  Wie  gern  ich  Dir  auf  alle  Deine  Fragen 
mit  meiner  best  n  Auskunft  zu  Diensten  bin,  brauche  ich  nicht  erst  zu  sagen. 
Für  die  Idee  mit  der  Partitur  meines  Elias  und  den  Unterschriften  darin  für 
Rietz  danke  ich  Tir  und  allen  sehr  herzlich;  es  hat  mir  sehr  große  Freude  gemacht.  Und 
daß  Du  alles  dumme  Zeug  behältst,  was  mir  beim  Anschauen  Deiner  schönen  Bilder 
durch  den  Kopf  fährt  und  was  ich  folglich  Dir  auch  gleich  sage,  das  hat  mich  fast  be» 
schämt.  Aber  Du  weißt  ja,  wie  es  gemeint,  und  wie  sich  niemand  mehr  darüber  freut 
als  ich,  trotz  der  vielen  curiosen  Redensarten,  die  dabei  zu  hören  sind.  Hoffentlich  seh« 
ich  Deinen  Othello  recht  bald;  die  Tesdemona  steht  mir  wohl  immer  vor  Augen,  seit  ich 
Dein  Bild  kenne,  und  so  muß  es  jedem  gehen. 

Nun  grüße  mir  Frau  und  Kinder  recht  herzlich  und  sei  von  den  meinigen  ge- 
grüßt. Immer 
Dein 

Felix  Mendelssohn-Bartholdr». 
Leipzig,  den  1.  October  1847. 
Mein  lieber  Hildebrand! 

Unter  den  neun  Bewerbern,  die  Du  mir  in  Deinem  letzten  Briefe  nennst,  steht 
Hiller  so  entschieden  obenan,  daß  nach  meiner  Meinung  lein  Z  veifel  darüber  sein  kann. 
Er  ist  durch  sein  Talent,  seinen  Ruf  und  seine  Ucbung  den  andern  von  Dir  Genannten, 
ja  ich  glaube  Allen  überlegen,  die  sich  irgend  in  Deutschland  für  eine  solche  Stelle  finden 
ließen.  In  dieser  lleberlegenheit  liegt  das  einzige  Bedenken,  das  ich  dabei  zu  nennen 
wüßte:  ich  gestehe  Dir  offen,  daß  mir  die  Stelle  nicht  bedeutend,  nicht  umfassend  genug 
für  Hiller  scheint,  und  bah  ich  daher  nicht  glaube,  daß  sie  für  ihn  paßt  (natürlich  fage 
ich  Tir  dies  unter  uns,  denn  es  würde  manchen  Dortigen  verletzen,  wenn  er  es  erführe). 
Ich  fürchte,  daß  Hiller  auf  die  Länge  mit  der  dortigen  Wirksamkeit  nicht  zufrieden  sein 
kann,  und  zwar  aus  musikalischen  und  noch  mehr  aus  persönlichen  Gründen  —  indeß 
er  muß  das  am  Ende  besser  beurtheilen  können,  als  ein  Anderer  und  was  seine  Kennt« 


Aus  Düsseldorfs  Glanzepoche. 
31,5 

nisse  und  Leistungen,  mit  einem  Wort  seine  künstlerische  Befähigung  zu  dieser  Stelle  an» 
langt,  darüber  lann,  wie  gesagt,  nicht  der  mindeste  Zweifel  obwalten. 
Von  den  Uebrigen  ist  eigentlich  nur  Hermann  Schornstein,  den  ich  aus  früheren 
Zeiten  als  einen  guten  Musiker  kenne;  die  Anderen  sind  mir  so  gut  wie  ganz  unbekannt. 
Meinen  Vorschlag  mit  der  Concurrenz  musz  ich  nicht  recht  deutlich  gemacht  haben;  denn 
von  öffentlichen  Concerten,  die  als  Probe  dirigirt  wurden,  ist  dabei  die  Rebe  nicht, 
sondern  nur  von  den  regelmäßigen,  wöchentlichen  Ucbungcn  des  betreffenden  Vereins. 
Indeß  braucht  daran  natürlich  nicht  weiter  gedacht  zu  werden,  wenn  es  sich  von  Leuten 
anerkannten  Rufs  und  bewährter  Tüchtigkeit  handelt.  Tabei  bleibe  ich  aber,  daß  bei 
mehreren  einander  ziemlich  gleichen  Bewerbern  es  kaum  ein  besseres  Mittel  geben  dürfte, 
die  Frage  zu  entscheiden. 

Ten  Auftrag  wegen  der  Jenny  Lind  kann  ich  nicht  unbedingt  übernehmen.  Ich 
habe  sie  zu  lange  nicht  gesehen,  um  etwas  von  ihren  Plänen  zu  wissen,  und  es  fehlt 
mir  augenblicklich  an  Gelegenheit,  die  Correspondenz  mit  ihr  wieder  anzuknüpfen.  Viel- 
leicht komme  ich  mit  ihr  wieder  im  Laufe  des  Herbstes  zusammen,  dann  tonnte  ich  sie 
darüberfragen;  aber  auch  das  kann  ich  dem  Comitö  nicht  versprechen. 
Erst  gestern  Abend  bin  ich  von  Verlin  wiedergekommen,  und 
Hier  bricht  der  Nrief  ab.  An  dieser  Stelle  ist  vermerkt: 
N.  L.  Die  andere  Hälfle  dieses  Briefes  habe  ich  an  die  Kronprinzessin  von  Eng» 
lllnd  abgegeben.  Hildebrandt. 

Diese  andere  Hälfte  muß  wohl  einen  besonderen  Werth  durch  ihren 
Inhalt  gehabt  haben,  abgesehen  davon,  daß  es  einer  der  letzten  Briefe 
des  großen  Tondichters  vor  seinem  am  4.  November  1847  erfolgten  Tode  ist. 
Nach  der  Dr.  Nietz'schen  Sammlung  schrieb  Mendelssohn  noch  einen  Nrief 
an  seinen  Vruder  Paul,  an  den  General  von  Webern  in  Berlin  von 
Interlaken  aus  und  am  25.  October  1847  seinen  letzten  Brief  von  Leipzig 
ans  an  seinen  Bruder  Paul. 


0«" 


Rußland  in  Centraiasien, 
von 

E.  MaschKe. 
—  Vreslau.  — 
,3chl!,ß„ 

i!  Erpedition  von  1879  gegen  die  Achal-Teke  war  also  voll- 
ständig mißgluckt.  Ein  Unterschätzen  des  Feindes,  in  Folge  dessen 
das  ungenügende  Necognosciren  der  feindlichen  Festung,  der 
Mangel  an  Nelagerungs-Material  und  eine  ganz  unzureichende  Vorbereitung 
des  Sturmes  selbst  waren  die  Ursachen  für  den  Mißerfolg  der  russischen 
Waffen. 

Daß  Rußland  demnach  für  das  nächste  J  ahr  eine  zweite  Unternehmung 
gegen  die  Achal-Teke  in  Aussicht  nahm,  war  wohl  selbstverständlich.  Nur 
durch  einen  vollständigen  Erfolg  konnten  die  gefährlichen  Eonseguenzen  der 
verunglückten  Erpedition  wieder  ausgeglichen  werden.  Das  Ansehen 
Rußlands  in  Mittelasien  war  jedenfalls  gefährdet,  es  muhte  unter  allen 
Umständen  aufrecht  erhalten,  eventuell  wieder  hergestellt  werden. 
Im  Frühjahr  1880  begann  man  mit  den  Vorbereitungen  dazu.  General 
Skobelew,  ein  thatträftiger,  in  den  centralasiatischen  Feldzügen  erprobter, 
erfahrener  Offizier  wurde  zum  Oberbefehlshaber  ernannt.  Er  verstand  dann, 
die  1879  begangenen  Fehler  zu  venneiden,  aus  den  daraus  hervorgegangenen 
Lehren  aber  Nutzen  zu  ziehen.  Sehr  wesentlich  für  das  Gelingen  des 
Unternehmens  war  die  Veranlagung  der  Operationsbasis.  Nicht  blos  von 
Tfchikischlar  aus,  sondern  auch  von  dem  Michaelbusen  des  Kaspischen  Meeres 
sollte  gegen  die  Teke-Oase  vorgegangen  werden.  Das  beinahe  gleich  weit 
von  diesen  beiden  Ausgangspunkten  gelegene  Vnmi  war  als  Hauptetappen- 
ort ausersehen.  Durch  seine  Lage  in  der  Teke-Oase  jenseits  des  Kovet-Dagh 
sowie  durch  seine  Umgebung  war  es  vorzüglich  geeignet  zu  einem  Centrai- 
stützpunkte. Schon  an,  10.  Juni  wurde  es  von  einer  kleinen  Abtheilung 


Rußland  in  Lentralasien.  3I>? 

der  Etappentruppen  unter  persönlicher  Leitung  des  Generals  Skobelew  ge- 
nommen, befestigt  und  entsprechend  besetzt.  Eine  sechsmonatige  Verpflegung 
für  8000  Mann,  ferner  10000  Artillerie-Geschosse  und  2  Millionen 
Patronen  sollten  auf  den  beiden  Etappenstraßen  dorthin  geschafft  werden. 
Es  mar  daher  die  gründliche  Instandsetzung  der  Wege  vom  Michaelbusen  und 
von  Tschikischlar  her  nothwendig.  Durch  die  Anlage  einer  Eisenbahn  von: 
Michaelbusen  über  Muliakara,  Aidin,  Achtschakuima  in  der  Richtung  auf 
Kysnl-Arwat  wurde  der  Transport  von  Truppen  und  Material  noch  wesent- 
lich erleichtert.  Der  Bau  war  freilich  ein  schwieriger,  einmal  der  Terrain- 
verhältnisse wegen  und  dann  in  Folge  des  weiten  Transports  aller  dazu 
notwendigen  Materialien.  Am  I.  October  1880  waren  22  Kilometer, 
am  25.  Januar  1881  aber  106  Kilometer  fertig  gestellt,  während  die  ganze 
Strecke  bis  Kysyl-Arwat  im  September  1881  vollendet  wurde.  Während 
der  Operationen  gegen  die  Tete-Oase  fand  der  Verkehr  auf  der  trans- 
kaspischen Vahn  aber  nur  bis  Aidin  -~  84  Kilometer  weit  —  mit 
Locomotiven  statt,  von  dort  ab  bis  Achtschakuima  —  106  Kilometer  weit 
—  benutzte  man  sie  als  Pferdebahn.  Wo  der  Bahntransport  aufhörte, 
fowie  von  Tschikischlar  ab  und  längs  des  Atrek  und  Ssumbar  wurden  Wagen 
oder  Kameele  verwendet.  Die  Beschaffung  von  20000  dieser  erforderlichen 
Lllstthiere  war  allerdings  mit  großen  Schwierigkeiten  verknüpft.  Dieselben 
mußten  selbst  bis  von  Orenburg  herbeigeschafft  werden.  Die  Verpflegungs- 
mittel kamen  zum  größten  Theile  aus  Rußland,  aber  auch  in  Persien  wurde 
Getreide  aufgekauft.  Die  Etappenstraßen  sicherte  man  durch  Anlage  von 
Befestigungen.  Die  Etappentruppen  hatten  für  den  Schutz  der  Transporte 
zu  forgen,  die  vom  Mai  bis  zun:  December  1880  sehr  häufig  durch  An- 
griffe seitens  der  Turkmenen  gefährdet  waren.  Nach  allen  diesen  vorbereitenden 
Maßnahmen  begann  erst  im  November  der  Transport  der  eigentlichen 
Expeditionstruppen  vom  Kaukasus  her. 

General  Skobelew  hatte  aber  bereits  im  Sommer  die  Feindseligkeiten 
eröffnet,  soweit  dies  die  notwendige  Erreichung  von  bestimmten  Neben- 
zwecken erforderlich  machte.  Während  1879  von:  General  Lomakin  voll- 
ständig außer  Acht  gelassen  worden  war,  sich  dnrch  zweckmäßige  Necngnos- 
cirungen  Kenntnis;  über  Stellung  und  Stärke  des  Gegners  zu  verschaffen, 
legte  General  Skobelew  gerade  darauf  ein  großes  Gewicht.  Bereits  am 
1.  J  uli  ging  er  mit  einer  kleinen  Abtheilung  aus  Nanu  auf  Geottepe  vor. 
Am  5.  erreichte  er  nach  einigen  kleinen  Scharmützeln  legani  und  Batyrkul. 
Unter  dem  Schutze  vorgeschobener  Trupps  wurden,  trotzdem  letztere  sich  einer 
bedeutenden  Masse  feindlicher  Reiter  gegenüber  sahen,  an:  6.  die  Ve- 
festigungswerke  von  Geoktepe  recognoscirt  und  Terrainaufnahmen  ausgeführt. 
Am  10.  Juli  traf  Skobelew  wieder  in  Bann  ein.  Geoktepe  sollte  von  10000, 
nach  anderen  Nachrichten  von  40000  Teke-Tnrkmenen  gesetzt  sein.  Im 
November  begann  General  Skobelew,  sich  vorwärts  Bann  Stützpunkte  zu 
schaffen.  So  wurden  am  27.  Karns  und  Kelat,  30  Kilometer  von  Geoktepe, 


3~8  «,  Maschke  in  Viesla». 

den  sich  hartnäckig  verlheidigenden  Durtinenen  entrissen,  am  80.  November 
legnian-Batyrkul,  11  .Kilometer  vor  der  feindlichen  Festung.  Letzterer  Ort 
wurde  dann  als  „Samurskiiche  Befestigung"  zum  Ausgangspunkte  für  die 
Operationen  gegen  Geoktepe  selbst  bestimmt  und  von  hier  aus  die  Etappen- 
straße nach  Bami  organisirt.  Auch  legte  man  in  dieser  neuen  Befestigung 
bedeutende  Depots  von  Verpflegung,  Munition  und  Material  an.  499» 
Kameele  und  199  vierspännige  Wagen  vermittelten  den  Verkehr  zwischen 
hier  und  Nami.  Es  trafen  jetzt  auch  die  für  die  eigentliche  Erpedition  be- 
stimmten Truppen  ein.  Es  waren  dies  9  Bataillone,  8  Compagnieen  und 
2  Kommandos  Infanterie,  19  Schwadronen  Reiterei,  meistens  Kasaken, 
1  V,  Eompagnien  Sappeurs  und  endlich  75  Geschütze.  Die  Gesammtstärke 
des  am  15.  December  in  Samurskoje  concentrirten  Eorps  betrug  8999 
Streitbare. 

Zur  Vervollständigung  der  am  6.  Juli  ausgeführten  Necognoscirung 
wurde  eine  weitere  solche  am  4.  December  zur  genauen  Erforschung 
der  Westfront  von  Geoktepe  unternommen  und  hatte  ein  ziemlich  heftiges 
Gefecht  zur  Folge.  Da  fenier  Nachrichten  bei  den  Russen  eingingen,  das; 
in  der  feindlichen  Festung  eine  große  Bewegung  stattfände,  wurden  am 
II.  und  12.  December  die  Aufklärungen  wiederholt.  An  letzterem  Tage 
sahen  sich  die  Russen  in  ein  heftiges  Gefecht  «erwickelt;  ihre  Verbindung 
mit  Samurskoje  wurde  sogar  eine  Zeit  lang  durch  die  Tekes  unterbrochen, 
und  erst  ein  aus  dem  Lager  ausrückendes  Detachement  mußte  dieselbe 
wiederherstellen.  Nach  den  Resultaten  der  letzten  Necognoscirungen  war  also 
nicht  anzuuehmen,  daß  die  Tm-kmenen  ihre  Stellung  hier  ohne  energischen 
Widerstand  aufgeben  würden.  Andererseits  war  letztere  zu  stark,  um  sich 
ihrer  mittelst  eines  forcirten  Angriffes  bemächtigen  zu  können.  Abgesehen 
von  den  Reiterschaaren,  die  Geoktepe  außerhalb  vertheidigten  und  wohl  an 
7999  Pferde  zählten,  waren  im  Innern  der  Hauptbefestigung,  in  den 
.Mitken,  noch  gegen  49999  Personen  untergebracht,  die  mehr  oder  minder 
als  Vertheidiger  in  Betracht  kamen.  Die  Außennerke  waren  ferner  mit 
vortrefflichen  Schützen  befetzt.  Der  im  Nordosten  von  Geoktepe  gelegene, 
befestigte  und  mit  einer  Haubitze  armirte  Hügel  beherrschte  aber  die  ganze 
Stellung. 

General  Skobelew  entschloß  sich  demnach  zu  dem  langwierigeren,  aber 
dafür  auch  sicheren  Wege  der  förmlichen  Belagerung.  Die  Süd«  und  Ost- 
front der  Festung  schienen  sich  am  meisten  für  den  Angriff  zu  eignen.  Um 
aber  zunächst  einen  Stützpunkt  im  Süden  zu  haben,  bemächtigte  sich  Skobelew 
am  29.  December  langikalas  und  schlug  hier,  1899  Meter  von  der  Süd- 
front der  Festung  entfernt,  sein  Druvpenlager  auf.  Schon  an  demselben 
Abende  mußte  von  demselben  ein  Angriff  der  Dekes  zurückgewiesen  werden. 
Nachdem  dann  die  Russen  auch  auf  der  Ostfront  durch  Einnahme  der  Kala 
dort  sich  festgesetzt  hatten,  wurde  am  23.  December  mit  Tagesanbruch  die 
erste  Parallele  gegen  die  Südostecke  der  Festung  auf  690  Meter  Abstand 


Rußland  in  Centraiasien.  31.9 

eröffnet.  Die  Belagerungsarbeiten  nahmen  jetzt  ihren  regelrechten  Verlauf. 
Die  nöthigen  Eommunicationen  wurden  angelegt,  und  in  der  Nacht  zum 
28.  December  ward  mit  dem  Bau  der  zweiten  Parallele  vorgegangen. 
Bis  dahin  hatten  die  Turkmenen  die  Arbeiten  des  Angreifers  fast  gar  nicht 
gestört.  Als  aber  am  28.  mit  Einbruch  der  Dunkelheit  die  russischen 
Tranch^en-Arbeiter  wieder  angestellt  wurden,  machte  plötzlich  die  ganze  Be- 
sahung von  Geokteve  einen  Ausfall.  Derselbe  richtete  sich  namentlich  gegen 
den  rechten  Flügel  und  den  Nucken  der  Velagerungsarbeiten.  Mit  der 
blanken  Waffe  in  der  Hand  stürzten  sich  die  Tekes  wie  Rasende  gegen  die 
russischen  Linien,  sprangen  auf  die  Brustwehren  der  Laufgräben  und  hieben 
von  dort  aus  auf  die  Nüssen  ein.  Sie  wurden  dann  allerdings  zurück- 
geworfen, aber  eine  Fahne  und  ein  Geschütz  blieben  in  ihren  Händen.  Nach- 
dem die  Nüssen  die  Arbeit  wieder  aufgenommen  hatten,  erfolgte  in  der 
Nacht  noch  ein  zweiter  Ausfall,  der  jedoch  durch  das  Sbrapnelfeuer  der 
Artillerie  zurückgewiesen  ward.  Mit  welcher  Heftigkeit  und  Erbitterung 
vorher  in  den  Laufgräben  gekämpft  worden,  beweist  namentlich  das  eigen- 
tümliche Verhältnis)  bei  den  russischen  Verlusten  zwischen  Todten  und 
Vermundeten.  Während  von  Letzteren  die  Nüssen  nur  1  Offizier  und 
30  Mann  zn  verzeichnen  hatten,  waren  5  Offiziere,  95  Mann  todt  auf  den: 
Platze  geblieben. 

Am  29.  December  wurde  eine  Gruppe  von  feindlichen  Befestigungs- 
anlagen, etwa  IM  m  vor  der  füdöstlichen  Ecke  von  Geoktepe,  durch  die 
Russen  genommen,  gegen  die  Festung  in  Vertheidigungszustand  gesetzt  und 
,nit  den  Velagerungsarbeiten  verbunden.  In  der  Nacht  zum  31.  December 
inachte  der  Feind  abermals  einen  großen  Ausfall,  der  den  Nüsse»  wieder 
erhebliche  Verluste  brachte.  Die  Turkmenen  behielten  auch  wieder  ein 
russisches  Geschütz  in  Händen.  In  derselben  Nacht  wurde  aber  die  dritte 
Parallele  eröffnet,  und  das  russische  Lager  bis  dicht  an  die  erste  Parallele 
herangeschoben.  Am  5.  Januar  fand  endlich  noch  ein  dritter  Ausfall  der 
Tekes  statt,  der  aber  nicht  mehr  die  Energie  der  früheren  zeigte  nnd  leicht 
abgewiesen  ward.  Mit  dem  9.  Januar  waren  dann  die  projectirten  Ve- 
lagerungsarbeiten vollendet,  bis  auf  einen  Minengaug,  der  geoeu  die  Mauer 
auf  der  Südostseite  der  Festung  vorgetrieben  wurde. 
Das  russische  Artilleriefeuer  hatte  inzwischen  große  Verheerungen  in 
der  Festung  angerichtet,  trotzdem  ging  aber  der  Feind  auf  die  mit  ihm  an- 
geknüpften Verhandlungen  nicht  ein.  Nachdem  daher  bis  zum  11.  Januar 
auch  die  Miue  zum  Sprengen  bereit  gestellt  und  von  der  Artillerie  eine 
Bresche  in  der  Südfront  der  Festungsmauer  vorbereitet  war,  wurde  für 
den  12.  der  Sturm  angeordnet.  Es  waren  für  diesen  23  Compaguieen  be- 
stimmt, während  25  die  allgemeine  Neserue  bildeten.  Der  Sturm  erfolgte 
in  drei  Colonnen,  gegen  die  auf  der  Westfront  gelegene  Mühlenkala,  gegen 
die  Bresche  auf  der  Südseite  nnd  die  durch  die  Mine  hergestellte  iüeffnung 
auf  der  Südostseite.  Nach  hartem,  schwerem  Kampfe  und  heftigem  Hand- 


320  «.  Maschle  in  Vreslau, 

gemenge  gelang  es  den  Russen,  sich  in  den  Besitz  der  Mauer  der  Haupt: 
Befestigung  zu  setzen  und  in  das  Innere  einzudringen.  Hier  kam  es  dann 
zu  einein  fürchterlichen  Gemetzel,  dem  sich  die  Tekes  schließlich  durch  die 
Flucht  zu  entziehen  suchten.  General  Skobelew  ließ  aber  jetzt  die  bereit 
gehaltene  Reiterei  durch  die  Festung  hindurch  zur  Verfolgung  der  in  nörd- 
licher Richtung  nach  der  Steppe  zu  Fliehenden  vorgehen.  Gegen  8000  Tekes 
beiderlei  Geschlechts  wurden  bei  dieser  Gelegenheit  von  den  Dragonern  und 
Kosaken  noch  niedergemacht.  Im  Innern  der  Festung  fand  man  6500  todte 
Turkmenen  vor,  gegen  4000  Weiber  und  Kinder  waren  in  Gefangenschaft 
gerathen.  Der  Sieg  der  Russen  war  also  ein  vollständiger.  Sie  hatten 
ihn  mit  einem  Verluste  von  32  Offizieren  und  366  Mann  an  Verwundeten 
und  Todten  erkauft.  Die  Belagerung  von  Geoktepe  hatte  19  Tage  ge- 
währt. Trotz  der  heldenmüthigen  Vertheidigung  seitens  der  Teke-Turtmenen, 
trotz  der  ungeheuren  Mühseligkeiten  und  Entbehrungen,  welche  die  Russen  zu 
ertragen  gehabt,  hatte  dennoch  der  Muth,  die  Tapferkeit  und  die  außer- 
ordentliche Ausdauer  der  Letzteren  obgesiegt.  Von  den  40  000  Turkmenen, 
welche  in  Geoktepe  zusammengedrängt  gewesen,  war  wohl  die  Hälfte  zu 
Grunde  gegangen.  Durch  diesen  erfolgreichen  Schlag  war  die  Kraft  und 
die  Macht  der  Achal-Tekes,  der  bis  dahin  am  meisten  gefürchtet  gewesenen 
Nomaden  Centraiasiens,  endgiltig  gebrochen  worden. 
Die  Waffenthat  von  Geoktepe  erhöhte  aber  auch  das  Ansehen  Rußlands 
in  den  Augen  sämmtlicher  Asiaten.  In  Persien  war  außerdem  das  Gefühl 
der  Dankbarkeit  dafür,  daß  die  Russen  die  Nachbargebiete  von  dem 
räuberischen  Steppenvolke  befreit  hatten.  Seit  J  ahrhunderten  den  Ueber- 
fällen  der  Turkmenen  ausgefetzt,  waren  die  friedfertigen  und  fleißigen  Be- 
wohner Irans  bisher  stets  vergeblich  bemüht  gewesen,  bei  ihrem  Könige  und 
ihrer  Negierung  Hilfe  und  Schutz  gegen  dieselben  zu  finden.  Jetzt  wurde 
Nußland  als  der  Befreier  und  Erretter  des  östlichen  Persiens  gepriesen. 
Die  ganzen  Länderstrecken  entlang  durch  Chorasan,  vom  Scharud  angefangen 
nach  Mefchhed  und  Sarachs,  und  namentlich  in  den  Nachbarbezirken  des 
neuerdings  von  Nußland  unterworfenen  Gebietes,  vornehmlich  in  Kabuschan, 
Vudschmurd,  Deregög,  war  die  Bevölkerung  beflissen,  ihre  Sympathien  für 
den  nordischen  Eroberer  kundzuthun.  Einer  der  Hauvtvortheile  aber,  die 
Nußland  aus  der  Unterwerfung  des  Achal-Teke-Turkmenenlandes  erwuchsen, 
war  die  feste  strategische  und  auch  für  die  Handelsverbindungen  sehr  wichtige 
Position,  die  es  an  den  Abhängen  des  Kopet-Gebirges  gewonnen  hatte.  Das 
östliche  Küstengebiet  des  Kaspischen  Meeres  ist,  außer  an  den  Ausmündungen 
der  Flüsse  bis  Kysyl-Arwat  hin  unfruchtbares  Land,  vollständige  Wüste. 
Bei  letztgenanntem  Orte  erst  beginnt  die  Nodencultur  mit  Hilfe  der  Be- 
wässerung vom  Gebirge  her.  Je  weiter  man  aber  ostwärts  vordringt,  um 
so  reicher  wird  das  belebende  Element  in  den  Bewässerungscanälen,  um  so 
fruchtbarer  demnach  der  Boden,  und  um  so  mannigfaltiger  und  üppiger 
werden  seine  Producte.  Im  Alterthum  führte  bekanntlich  die  große  Handels» 


Rußland  in  Centialasien.  321. 

Straße  aus  dem  Innern  Asiens  nach  dem  Westen  über  die  südlichen  Abhänge 
des  Kopet-Gebirges  nach  dem  Kaspischen  Meere,  und  trotz  der  Verwüstungen 
durch  die  Einfälle  der  Mongolen  erfreuten  sich  Kahka,  Mehne  und  Zlbiverd 
bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhunderts  hin  eines  bedeutenden  Rufes.  Es 
war  daher  wohl  anzunehmen,  daß  Rußland,  im  Besitze  dieses  reichen  Landes, 
seine  ganze  Kraft  darauf  richten  würde,  die  ehemalige  Eulturperiode  wieder 
zu  erneuem.  Dieser  Landstrich  war  viel  leichter  zu  bevölkern  und  zu  coloni- 
siren,  als  die  Eroberungen  in  Turkestan.  Nußland  mußte  sich  veranlaßt 
sehen,  seine  Ansiedlung  hier  zu  beschleunigen,  um  in  dem  Gebiete  östlich  des 
Kaspischen  Meeres  festen  Fuß  zu  fassen  und  sich  die  große  Verbindungslinie 
herzustellen,  die  aus  dem  Innern  Rußlands  über  das  Schwarze  Meer,  durch 
den  Kaukasus  und  über  das  Kasvische  Meer  bis  an  den  Außenrand  des 
Hindukusch  sich  erstrecken  sollte.  In  der  vollen  Erkenntnis,  der  Wichtigkeit 
dieser  Aufgabe  hatte  man  den  Kaukasus  von  Vatum  bis  Baku  mit  einer 
Eisenbahn  überbrückt.  Während  zur  Unterwerfung  der  Turkmenen  geschritten 
wurde,  war  gleichzeitig  auch  der  Bau  der  transkaspischen  Vahn  in  Angriff 
genommen  worden.  Nachdem  aber  die  Eroberung  des  Turkmenenlandes 
vollbracht  war,  trug  Nußland  zunächst  dafür  Sorge,  dasselbe  zu  pacificiren. 
Es  gelang  dies  unter  dem  Nachfolger  Skobelews,  dem  General  Nöhrberg, 
im  vollsten  Maße.  Die  Flüchtigen  wurden  zurückgerufen,  und  die  wieder 
heimkehrenden  Achal-Teke-Turkmenen  boten  jetzt  das  geeignetste  Material 
für  die  Kernbildung  einer  Wüstenbevölkerung  von  friedfertigen  Unterthanen 
Rußlands.  So  vermögen  dem:  selbst  die  Widersacher  Nußlands  nicht  ab- 
zuleugnen, daß  infolge  der  Pacisication  des  Turkmenenlandes  schon  nach 
wenigen  Jahren  die  Bodencultur,  die  Industrie  und  der  Handel  dort  einen 
großen  Aufschwung  genommen  hatten. 

Der  Eentralpunkt  der  russischen  Verwaltung  in  dem  neueroberten  Lande 
wurde  Aschkabad.  Dasselbe  bildete  auch  den  Sammelort  für  die  Handels- 
leute, welche  dem  russischen  Invasionscorps  auf  dem  Fuße  gefolgt  waren. 
Diese  Kaufleute  setzten  sich  zumeist  aus  Kaukasiern,  Mohammedanern  und 
christlichen  Armeniern  zusammen.  Sie  besaßen  die  Fähigkeit,  sich  mit  den 
Turkmenen  zu  verständigen  und  wurden  dadurch,  daß  sie  unbelästigt  bis  in 
die  fernsten  Theile  des  Achal-Gebietes  vorzudringen  vermochten,  die  besten 
Verkehrsvermittler  zwischen  den  Eingeborenen  und  den  Eroberem.  Aschkabad, 
der  Mittelpunkt  der  neuen  Handels-  und  Culturbewegung  lockte  aber  nicht 
nur  die  schon  der  russischen  Herrschaft  unterworfenen  Turkmenen  an,  sondern 
bald  auch  einzelne  Glieder  der  noch  unabhängigen  Stämme  dieses  Volkes, 
wie  die  Tele  aus  Merw,  der  Tetschend-Oase  und  von  jden  Salor-  und 
Sarik-Völkern.  Rußland  richtete  jedoch  im  richtigen  Verständnis,  seiner 
Interessen  seine  Aufmerksamkeit  zunächst  auf  Merw,  das  Hauptquartier  der 
noch  unabhängigen  Teke-Turkmenen.  Demi  wenn  die  Achal'-Teke  auf 
150  ()(>()  Seelen  veranschlagt  wurden,  so  schätzte  man  die  Merw-Tete  auf 
250  000.  Merw  war  im  Älterthum,  und  zwar  in  der  vormongolischen 


322  <L.  Maschke  in  VreZIau. 

Periode,  ein  großes  Handelscentrum  gewesen  und  eine  bedeutende  Stadt, 
die  an  den  Ufern  des  Flusses  Murghab  gelegen,  den  geeignetsten  Rastpunkt 
bot  für  die  Karawanen  zwischen  Vochara  und  Persien.  Das  Heer  des 
Dschengis  Chan  hatte  dann  die  Stadt  in  einen  Trümmerhaufen  verwandelt, 
aus  dem  sich  dieselbe  nur  als  elender  Ort  wieder  erhob. 
Nußland  bahnte  jetzt  also  Handelsverbindungen  mit  Merw  an;  im 
Februar  1882  brach  die  erste  Karawane  von  Aschkabad  dorthin  auf.  Als 
Führer  fungirte  Alichanoff  Avarski,  aus  einem  Stamme  in  Dhagistan. 
Derselbe  gehörte  zu  jener  Klasse  von  Offizieren  asiatischer  Herkunft,  die,  ohne 
ihrer  Religion  untreu  geworden  zu  sein,  durch  ihren  gewonnenen  Bildungs- 
grad und  durch  den  Verkehr  mit  den  moskowitischen  Kameraden  sich  voll- 
ständig russificirt  haben.  Indem  sie  ihrem  Namen  ein  „off"  anhängen, 
nehmen  sie  auch  officiell  die  nissische  Nationalität  an.  Solche  russificirte 
Tataren,  die  sich  dem  russischen  Staate  schon  oft  als  sehr  nützliche  Diener 
erwiesen  haben,  waren  auch  Velikhanoff,  der  berühmte  Reifende  in  Kafchgar, 
fenier  Naziross,  Tachiroff,  Muratoff  und  der  russische  Kalmücke  Dandutoff- 
Korfakoff.  Der  Pseudo-Kaufmann  Alichanoff  war  nur  vierzehn  Tage  in 
Merw,  trotzdem  vermochte  er  aber  fchon  mit  der  Ueberzeugung  zurückzu- 
kehren, daß  es  nur  noch  einiger  Zeit  und  Geduld  bedurfte,  um  dasselbe 
vollständig  für  Nußland  zu  gewinnen.  Er  hatte  fogar  von  dem  Turkmenen- 
Häuptling  Mllchdum- >Uili'.CHan  das  Versprechen  zu  erlangen  gewußt,  der 
Krönung  Kaiser  Aleranders  III.  beizuwohnen.  Ter  Vesuch  des  Chans  in 
Moskau  erfolgte  dann  auch  thatsächlich.  Während  aber  dieses  Ereigniß  vor 
sich  ging,  streckte  General  iiomarow,  der  Nachfolger  Röhrbergs,  einen  Fühler 
nach  dem  Südosten  des  Turkmenenlandes  aus,  indem  er  den  Oberst  Mura- 
toff von  Aschkabad  200  Km  weit  nach  der  Tetfchend-Oafe  entsandte,  um 
von  dort  aus  den  Marsch  um  die  nordöstliche  Grenze  Persiens  vorzubereiten. 
Es  sollte  140  Km  von  Merw  entfernt  ein  Vorposten  gegründet  werden  für 
den  Fall,  daß  die  freundschaftlichen  Verhandlungen  nicht  zun»  Ziele  führten 
und  die  Eroberung  von  Merw  durch  Waffengewalt  erfolgen  müßte.  Diese 
Vorsichtsmaßregel  erwies  sich  als  eine  überaus  kluge.  Anfang  des  Jahres 
1884  ging  Alichanoff  im  Auftrage  Komarows  nach  Merw  und  verlas  dort 
in  öffentlicher  Versammlung  die  Aufforderung,  sich  der  russischen  Herrschaft 
zu  unterwerfen.  Da  die  Mahnung  den  nöthigen  Nachdruck  erhielt  durch 
den  Hinweis  auf  die  Anwesenheit  der  russischen  Kasaken  in  der  Tetschend- 
Ollse,  so  erklärten  sich  die  Vornehmsten  des  Teke-Volkes  sofort  zur  Unter- 
werfung bereit.  Die  antirufsische  Partei  unter  Kadschar-Chan  sehte  dcmn 
zwar  noch  einigen  bewaffeten  Widerstand  entgegen,  wurde  aber  von  den 
Russen  niedergeschlagen  und  zersprengt.  Von  Mitte  März  an  besetzte  ein 
Theil  der  russischen  Truppen  Kalei-Ehurschid-Ehan,  und  später  wurde  in 
dieser  Gegend  das  Fort  Nikolajewsk  erbaut.  So  war  Merw  in  die  Hände 
der  Russen  gefallen,  und  Machdum  Kuli-Chan  wurde  zur  Belohnung 
Häuptling  der  Tetschend-Oase.  Durch  die  Annexion  von  Merw  und  die 


Rußland  in  Lenlralasien.  323 

Unterwerfung  des  Teke-Volkes  hatte  sich  Rußland  aber  auch  fast  die  ganze 
turtomanische  Nation  unterthan  gemacht.  Alle  Befürchtungen  bezüglich  weiterer 
Feindseligkeiten  hatten  ein  Ende  gefunden.  Dem  Beispiele  der  Tekes  von 
Merw  folgte  schon  nach  kurzer  Zeit  der  turkmenische  Stamm  der  Saruks, 
und  bald  war  auch  die  Atek  Oase  unterworfen,  welche  sich  von  Giaurs  bis 
Sarachi  ausdehnt  und  die  Verlängerung  der  Nchal-Oase  bildet. 
Die  Lage  von  Merw  auf  dem  halben  Wege  zwischen  Persien  und 
Buchara  macht  dasselbe  ferner  zum  besten  Verbindungsgliede  zwischen  der 
transkaspischen  Eisenbahn,  der  Handelsstraße  von  Zerafschan  und  dem  öst- 
lichen Persien.  Die  natürliche  Folge  dieser  centralen  Position  war  dann 
die  Fortführung  der  genannten  Bahn  über  Merw,  Amu-Darja  und  Buchara 
bis  Samarkand.  Seit  undenklichen  Zeiten  bestand  eine  Heerstraße  zwischen 
den  Ehanaten  Turkestans  und  Persien.  Auch  Rußland  schien  Anfangs 
diesem  Wege  nach  Mittelasien  folgen  zu  wollen.  Die  Richtung  von 
Orenburg  über  den  Orus  bis  zum  Paropamisus  bot  aber  jedenfalls  für 
eine  Armee  aus  dem  Innern  Rußlands  zu  viel  Schwierigkeiten  und  Hinder- 
nisse. Auch  war  der  Versuch  der  Anlage  einer  Eisenbahn  von  Orenburg 
nach  Taschkent  von  vorn  herein  gescheitert,  trotz  der  Bemühungen  des  so 
unternehmenden  von  Lesseps,  der  sich  bekanntlich  mit  dem  kühnen  Projecte 
getragen  hatte,  eine  Schienenverbindung  herzustellen,  welche  in  neun  Tagen 
von  Calais  nach  Calcutta  führen  follte. 

Rußland  hatte  also  schon  lange  geplant,  seinen  Weg  nach  Inner- 
asien vom  Schwarzen  Meere  durch  den  Kaukasus,  über  das  Knspische  Meer 
und  entlang  der  nördlichen  Grenze  von  Persien  zu  nehmen.  Die  Eroberung 
der  drei  Ehanate  von  Turkestan  konnte  in  dieser  Beziehung  daher  immer 
nur  die  Bedeutung  haben,  durch  ihren  Besitz  sich  eine  feste  Position  im 
Rücken  zu  sichern.  Die  Ausdauer,  Klugheit  und  das  Geschick,  mit  welchen 
Rußland  diese  eigentliche  Marschroute  nach  Mittelasien  in  Angriff  genommen 
und  verfolgt  hat,  dürften  aber  kaum  ihresgleichen  in  der  Gefchichte  der 
Eroberungen  finden.  Durch  nahezu  zwei  Jahrhunderte  war  eigentlich  der 
Plan  mit  Beharrlichkeit  verfolgt  worden.  Während  das  übrige  Europa  noch 
in  gänzlicher  Unwissenheit  über  Land  und  Leute  in  dem  Gebiete  östlich  des 
Kaspischen  Meeres  verblieben  war,  hatte  Rußland  sich  eine  ziemlich  genaue 
Kenntnis;  zu  verschaffen  gemußt  von  der  geographischen  Situation  und  der 
Topographie  des  Landes,  sowie  von  den  Beziehungen  seiner  turkomnmschen 
Einwohner  nntereincmder.  Nach  der  Unterwerfung  der  drei  Chanate  und  der 
lomuden  vermochte  dann  aber  Nußland  sein  Ziel  mit  voller  Sicherheit  zu 
verfolgen  und  zu  erreichen. 

Durch  die  Besitznahme  von  Merw  hatte  Nußland  zunächst  wohl  auch 
die  letzten  turkmenischen  Räuberbanden  niederwerfen  wollen.  So  lange  diese 
nicht  gebändigt  wÄren,  konnte  auch  von  Nuhe  und  Ordnung  in  Transkaspien 
nicht  die  Nede  sein.  Wie  alle  anderen  großen  Staaten  Europas  muß  auch 
Rußland  durch  seine  asiatische  Politik  bezwecken,  neue  Absatzgebiete  für  seine 
Nord  und  Süd.  I. XXV.  225.  22 


224  -  <L.  Mllschle  in  Vreslan. 

nationale  Industrie  zu  finden.  Dazu  braucht  es  bei  seinein  unermeßlichen 
Besitze  in  der  alten  Welt  allerdings  keine  überseeischen  Colonieen.  Wollte 
aber  Rußland  aus  seinem  centralasiatischen  Gebiete  endlich  auch  einigen 
Nutzen  ziehen,  so  war  es  unumgänglich  nothwendig,  durch  die  Unterwerfung 
der  turkmenischen  Völker  Sicherheit  zu  gewinnen  und  seine  Grenzen  bis  in 
die  Nähe  civilisirter  Staaten  vorzuschieben,  welche  im  Stande  sind,  die 
Ruhe  in  ihrem  Innern  aufrecht  zu  erhalten.  Ist  dieser  Zweck  einmal  er- 
reicht, verkehrt  auf  dem  Orus  eine  Flottille,  wird  Taschkent  mit  der  sibiri- 
schen Eisenbahn,  Sarachs  durch  Schienenweg  einerseits  mit  der  transkaspi- 
schen Linie,  andererseits  mit  Merw  verbunden,  dann  beginnt  für  Centrai- 
asien eine  neue  Aera  der  Beziehungen,  mit  China  durch  Kaschgar  und  mit 
Persien  durch  die  reiche  Provinz  Chorasan.  Die  Nomadenstämme  Centrai- 
asiens bis  zum  Parovamisus  und  Hindukusch  hin  müssen  daher  nothwendig 
die  Oberlehenshoheit  Rußlands  anerkennen,  anstatt  die  Afghanistans,  welches 
nicht  die  Macht  hat,  dieselben  im  Zügel  zu  halten.  Auch  wird  Afghanistan 
selbst  auf  die  eine  oder  die  andere  Weise  der  russischen  Interessensphäre 
anheimfallen. 

Den  Schlüssel  zu  Afghanistan  von  Nordwesten  her  bildet  aber  das  am 
Westende  des  Hindukuschgebirges  gelegene  Land  Herat.  Es  war  daher  ein 
sehr  richtiger  strategischer  Zug,  daß  Rußland  von  Merw  Besitz  nahm,  um 
sich  Afghanistan  gegenüber  eine  Position  zu  sichern.  So  hatte  auch 
Alercmder  der  Große  sich  zuerst  Merms,  des  alten  Marghiana,  versichert, 
ehe  er  das  heutige  Afghanistan  betrat,  und  das  Heer  Dfchengis  Chans  erst 
Merw  eingenommen,  ehe  es  Herat  besetzte.  Denselben  Weg  schlugen  Timm, 
der  Uzbeke  Scheibani  Chan  und  der  Schah  Nadir  ein.  Merw  liegt  mit 
seiner  nahezu  vollständigen  Wasserverbindung  365  Kilometer  von  Herat  ent- 
fernt. Die  Eroberung  Merws  durch  die  Russen  bedeutete  demnach  etwas 
ganz  Anderes  noch,  als  die  Annerion  einer  Oase  in  einer  Sandwüste.  Sie 
stellte  zunächst  die  geschlossene  Verbindungskette  der  russischen  Militärmacht 
her  vom  Kaukasus  bis  Turkestan.  Mit  der  Annerion  von  Achal  ist  zugleich 
die  Einverleibung  von  100090  Mann  der  vorzüglichsten  irregulären 
Reiterei  vollzogen  worden,  und  zwar  concentrirt  auf  eine  Entfernung  von 
nur  sieben  Tagemärschen  von  Herat.  Die  Eroberung  von  Merw  bedeutete 
ferner  das  erste  Zusammentreffen  von.«asaken  und  Afghanen,  den  gänzlichen 
Einschluß  von  Chiwa  in  das  russische  Gebiet  und  die  Herabdrückung 
Bucharas  von  der  unabhängigen  Stellung  eines  Grenzlandes  zu  der  Ab' 
hängigkeit  einer  einverleibten  Provinz.  Mit  der  vollständigen  Unterwerfung 
der  Turkmenensteppeu  ist  ein  Gebiet  von  502800  Quadratkilometer  ab- 
geschlossen uud  Nußland  in  Centraiasien  um  einen  Ländercompler  von  der 
Ausdehnung  Frankreichs  vergrößert  worden. 
Mit  Merw  hat  Rußland,  wie  die  Betrachtung  der  geographischen  Lage 
dieses  Ortes  ergiebt,  einen  Punkt  besetzt,  in  welchem  die  Fäden  eines  weit- 
verzweigten Interessen- Netzes  zusammenlaufen.  Werfen  wir  einen  Blick  am 


Rußland  in  »^entralasien.  325 

das  südlich  davon  gelegene  Land,  Herat,  das  bereits  als  Eingangsthor 
nach  Afghanistan  hier  Erwähnung  gefunden  hat,  so  sehen  wir  dasselbe  am 
Rande  des  Hindukusch  derartig  gelagert,  daß  dieses  Gebirge  im  Osten  den 
Verkehr  zwischen  Afghanistan  und  Eentralasien  hindert.  Von  den  westlichen 
Ausläufern  des  Hiudukusch  fließen  die  Hauptströme  des  Landes  herab.  Der 
eine  davon  ist  der  Murghab,  der  am  Nordabhange  des  Safedtoh-Gebirges 
entspringt,  das  von  den  Hezaren  bewohnte  Verglcmd  durchschneidet,  nördlich 
Pendschcleh  mit  dem  Flusse  Chuschk  sich  vereinigt  und  jenseits  Marutschats 
sich  in  die  Ebene  ergießt,  die  das  Turkmenenland  begrenzt.  Zwischen  dem 
Safedkoh  (Paropamifus)  im  Norden  und  dem  Siahkoh  im  Süden  hat  aber 
der  Herirud  in  westlicher  Richtung  seinen  Lauf,  wendet  sich  bei  Kuhsan 
gegen  Norden  und  stießt  dann  längs  der  Grenze  Persiens  an  Sarachs  vor- 
bei, nach  der  Tetschend-Oase.  Das  Land  zwischen  diesen  beiden  Flüssen 
ist  überails  fruchtbar.  Den  wichtigsten  Eentralpunkt  der  Gegend  bildet  aber 
d'e  am  mittleren  Herirud  gelegene  Stadt  Herat,  über  welche  die  Haupt- 
straße nach  Indien  führt.  Im  südlichen  Theile  des  Landstriches,  zwischen 
den  beiden  genannten  Flüssen,  finden  wir  das  Borchut-Gebirge,  eine  Fort- 
setzung des  Safedkoh.  Dasselbe  nimmt  gegen  die  persische  Grenze  hin  an 
Höhe  zu  und  stellt  sich  als  einer  der  Hauptzweige  dar,  durch  welche  der 
Parovamisus  mit  deni  Elburs  vereinigt  ist.  Weiter  nördlich  stoßen  wir  auf 
die  weniger  hohe  Kette  des  Elbirin-Kir,  eine  Reihe  von  Bergen,  die  sich 
bis  Pul-i-Chlltun  hin  erstreckt.  Man  hielt  früher  die  Ausläufer  des 
Par^pomisus  für  eine  unübersteigliche  Schranke,  hat  dann  aber  erkannt, 
daß  dt>r  höchste  der  Gebirgspässe  hier  sich  nicht  über  900  Fuß  erhebt  und 
daß  man  von  Sarachs  nach  Herat  felbst  mit  vierspännigem  Fuhrwerk  sehr 
gut  gelangen  kann.  Die  Wege  sowohl  über  den  Vorchut,  wie  über  den 
Elb'r'N-Kir  sind  zahlreich  und  bieten  keine  erheblichen  Schwierigkeiten. 
Das  Vordringen  der  Russen  gegen  die  Grenze  von  Herat,  wobei  sie 
sich  gleichsam  wie  ein  Keil  zwischen  Persien  und  Afghanistan  hineinschoben 
und  sich  Sarnchs  bereits  bemächtigt  hatten,  konnte  unmöglich  ohne  Wider- 
spruch se'tens  Englands  bleiben,  das  bekanntlich  selbst  die  Oberaufsicht  über 
Afghanistan  beanspruchte.  Es  fanden  daher  eifrige  Verhandlungen  zwischen 
London  und  Petersburg  statt.  Die  beiden  Cabinette  kamen  schließlich  darin 
unrein,  durch  Emimisswnen  an  Ort  und  Stelle  die  Grenzen  zwischen 
Afghanistan  und  Rußland  von  Sarachs  nach  Chodscha  Saleh  am  Orus 
feftfetzen  zu  lassen.  Als  aber  die  englifche  Commission  im  November  1884 
am  Herirud  eintraf,  fand  sie  zwar  die  erwarteten  russischen  Collegen  nicht 
vor,  wohl  aber  Pul'-Chatun,  62  Kilometer  südlich  von  Sarachs,  von  einem 
Piquet  Kasaken  besetzt.  Doch  nicht  nur  am  Herirud  war  Nußland  weiter 
nach  Süden  vorgedrungen,  sondern  auch  in  jener  Gegend  des  Flusses 
Murghab,  die  noch  im  Besitze  der  Afghanen  sich  befand,  suchte  es  Terrain 
zu  gewinnen.  Es  wollte  in  der  fruchtbaren  Region  der  Umgegend  des 
Paropamisus  festen  Fuß  fassen,  nachdem  es  von  Merw  aus  die  Wüste 
22» 


326  «.  Maschk«  in  Vieslau, 

nach  Pendschdeh  durchzogen  hatte.  Schon  1884  gedachte  Major  Alichanoff 
den  Ort  Pendschdeh  zn  besetzen,  fand  aber  dort  eine  starke  afghanische  Be- 
satzung vor  und  gab  daher  das  Unternehmen  vorläufig  auf.  Später  wurde 
dann  aber  eine  Abtheilung  am  Murghab  gegen  Süden  vorgeschoben.  Die 
Verhandlungen  bezüglich  der  Grenzregulirung  waren  inzwischen  fortgeführt 
worden.  Um  ein  Resultat  derselben  zu  sichern,  hatte  man  das  Abkommen 
getroffen,  daß  Russen,  wie  Afghanen  ihre  jeweiligen  Stellungen  in  dem 
streitigen  Lande  vorläufig  behalten  sollten.  Rußland  war  damit  einverstanden 
gewesen,  vorausgesetzt,  daß  keine  unvorhergesehenen  Zwischenfälle  einträten. 
Im  März  1885  kam  es  aber  zu  Streitigkeiten  zwischen  den  Afghanen  und 
Russen.  General  Komarow  verlangte  deshalb  die  Räumung  des  linken 
Chuschk-Ufers,  was  jedoch  vom  Gegner  verweigert  wurde.  Am  25.  März  kam 
es  in  Folge  dessen  zun:  Kampfe.  Die  Afghanen  wurden  bei  Chuschk  ge- 
schlagen und  zogen  sich  nach  Herat  zurück.  Die  Russen  nahmen  Pendschdeh  in 
Verwaltung.  Bezüglich  der  Stellung  am  Herirud  wurde  aber  mit  England 
vereinbart,  daß  Rußland  auf  den  Zulsikar-Paß  verzichtete  und  die  Grenze  sich 
nördlich  davon  hinziehen  sollte.  Dieselbe  begann  also  am  Herirud,  3  Kilo- 
meter nördlich  Zulftkar,  schnitt  den  Murghab  zwischen  Pendschdeh  und  Marut- 
schak  und  erreichte  bei  Ehodscha  Saleh  den  Amu-Darja.  Das  ganze  Gebiet 
von  Pendschdeh  verblieb  bei  Rußland.  Letzteres  hatte  mit  der  ihm  zuge- 
standenen Grenzlinie  zwar  nicht  die  Stadt  Herat,  aber  doch  alle  Hilfsquellen 
gewonnen,  welche  das  ausgedehnte  fruchtbare  Gebiet  nur  irgend  gewährt,  und 
diese  mußten  ihm  von  noch  größerem  Werthe  sein,  als  die  Stadt  und  Festung 
selbst.  Der  an  Rußland  gefallene  weite  Landstrich  war  zum  Theil  schon 
cultivirt,  die  bis  dahin  noch  unbebaut  gewesenen  Flächen  konnten  aber  binnen 
Kurzem  ertragsfähig  gemacht  werden.  Mit  der  neuen  Grenze  gegen  Herat 
hatte  Rußland  jedoch  vor  Allen»  einen  guten  Theil  jener  von  ihm  begehrten 
strategischen  Position  erhalten  und  vermochte  sich  erforderlichen  Falls  binnen 
14  Tagen  in  den  Besitz  des  noch  fehlenden  Abschnitts  derselben  zu  sehen. 
Durch  die  transkaspische  Eisenbahn  ist  Rußland  in  der  Lage,  seine  Streit- 
kräfte an  der  Linie  Zulfikar— Pendschdeh  vom  Kaukasus  her  mit  je  einer 
Division  per  Woche  verstärken  zu  tonnen.  Den  Afghanen  ist  zwar  im 
Vorchut  und  in«  Paropamisus  hier  und  dort  noch  ein  Paß  in  Händen  ge- 
blieben, doch  beherrschen  die  Russen  sämmtliche  dorthin  führende  Straßen. 
Diese  Gebirgspässe  sind  zahlreich,  die  meisten  auch  leicht  zu  forciren  oder 
auf  Nebenpfaden  zu  umgehen.  Von  Sarachs  durch  das  Thal  des  Herirud 
ist  bis  Herat  eine  Entfernung  von  320  Kilometern  zurückzulegen,  von 
Zulfikar  aus  auf  demselben  Wege  229,  von  Kuhsan  aus  99  Kilometer 
Weg.  Pendschdeh  ist  von  Earachs  169  Kilometer  entfernt,  von  Zulfikar  144, 
von  Herat  224.  Die  Entfernung  von  Herat  nach  Akrobat  beträgt  128, 
nach  Bala  Murghab  224  Kilometer.  Nimmt  man  daher  das  sehr  be- 
scheidene Durchschnittsuiaß  von  29  Kilonieter  für  den  Tagemarsch  an,  so 
kann  eine  russische  Division  Herat  von  Pendschdeh  aus  in  11  Tagen,  von 


Rußland  in  Centraiasien.  32? 

Zulsikar  in  gleicher  Zeit  und  von  Akrobat  aus  in  7  Tagen  erreichen. 
Jedenfalls  laßt  sich  behaupten,  daß  von  den  nächsten  Punkten  der  Grenze 
aus  mittelst  Eilmärschen  Herat  in  8  Tagen  genommen  werden  kann,  die 
Cavallerie  und  die  Kasaken-Vatterie  aber  diesen  Weg  bereits  in  4  Tagen 
zurückzulegen  vermögen.  Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  Rußland  nicht  für 
immer  in  Pendschdeh  und  in  Puli-Ehatun  steheu  bleiben  wird,  sondern  daß 
es  diese  beiden  Punkte  lediglich  als  letzte  Etappen  für  ein  gelegentliches 
weiteres  Vorgehen  nach  den:  Süden  betrachtet.  Nußland  hat  gegenwärtig 
in  Transkaspien  2  Schützenbrigaden  mit  zusammen  8  Bataillonen,  sowie 
2  Reserve-Bataillone,  femer  eine  Terek  Kasaken-Vrigade  zu  2  Regimentern 
mit  je  6  Sotnien  und  2  Escadrons  Turkmenen,  endlich  noch  3  Vatterieen, 
2  Eisenbahnbataillone  u.  s.  w.  stehen.  Da  die  beiden  Reserve-Bataillone 
im  Kriegsfalle  sich  auf  10  solcher  erweitern,  so  dürfte  dann  die  Gefechts- 
stärke der  regulären  Truppen  hier  etwa  22  000  Mann  betragen.  Der 
außerdem  vorhandenen  bedeutenden  Masse  von  irregulärer  Turkmenen« 
Reiterei  ist  bereits  Erwähnung  geschehen. 
Im  Militär-Bezirk  Turkestan  befinden  sich  ferner  4  turkestanische 
Linien-Brigaden  mit  zusammen  20  Bataillonen,  eine  turkestanische  Schützen- 
brigade von  4  Bataillonen,  eine  Artillerie-Brigade  von  1  reitenden  und 
7  Gebirgsbatterieen,  1  Bataillon  Festungs-Nrtillerie  u.  s.  w.  Die  Kriegs- 
stärke dieser  Truppen  wird  25000  Streitbare  zählen. 
Eine  bedeutende  Truppenmacht  steht  aber  im  Kaukasus  zur  Verfügung. 
Dieselbe  setzt  sich  zusammen  aus  5  Infanterie-Divisionen,  1  Schützenbrigade, 
ZV?  Cavallerie-Divisionen  und  5  Artillerie-Brigaden,  die  auf  dem  Kriegs- 
füße eine  Gesmumtgefechtsstärke  von  etwa  110000  Mann  repräsentiren 
würden.  Außerdem  stehen  im  Kaukasus  aber  noch  24  Reserve- Infanterie- 
Bataillone,  welche  im  Mobilmachungsfalle  zu  1)4  solchen  erweitert  werden. 
Von  Letzteren  sind  dann  64,  in  16  Regimentern  furmirt,  dazu  bestimmt, 
die  Feld-Armee  unmittelbar  durch  4  Infanterie-Divisionen  zu  verstärken. 
Es  würde  also  schließlich  im  Kaukasus  eine  im  Felde  zu  verwendende  Macht 
von  mindestens  177000  Streitbaren  zur  Verfügung  stehen. 
Es  darf  auch  nicht  übersehen  werden,  daß  es  Rußland  mit  der  Zeit 
gelungen  ist,  in  Centraiasien  sich  bedeutende  strategische  Vortheile  vor 
England  voraus  zu  sichern.  Dazu  gehört  vor  Allem  die  ununterbrochene 
Verbindungslinie,  die  es  sich  aus  dem  Mutterlande  bis  an  das  Thor  von 
Afghanistan  geschaffen  hat.  Für  die  896  Kilometer  Eisenbahn  von  Natum 
nach  Baku  braucht  ein  Militär-Transportzug  zu  100  bis  110  Aren  (mit 
1  Bataillon,  bezw.  1  Escadron,  oder  1  Batterie)  etwa  44  Stunden,  und 
von  letzterem  Punkte  aus  durchqueren  die  Dampfer  das  Kaspische  Meer 
bis  Usun  Ada  zur  transkaspischen  Bahn  in  24  Stunden.  Die  Bahnstrecke 
von  648  Kilometer  bis  Duschak  legt  der  Transportzug  in  32  Stunden,  die 
von  822  Kilometer  bis  Merw  aber  in  41  Stunden  zurück.  Von  Samcnkand 
bis  Merw  sind  es  611  Kilometer  und  demnach  etwa  30  Stunden  Bahn- 


228  <L.  Maschle  in  Vrejau. 

fahrt.  Die  Entfernung  zwischen  Duschak  und  Sarachs  beträgt  75  Kilometer. 
Wie  bereits  bemerkt,  haben  die  Nüssen  von  letzterem  Punkte  bis  Herat 
noch  320  Kilometer,  während  für  die  Engländer  von  Paslmvar  aus,  vom 
Endpunkte  der  indischen  Bahn  an  der  Grenze  von  Afghanistan,  noch  immer 
über  750  Kilonieter  Landweg  zurückzulegen  sind.  Die  Strecke,  welche 
Ruhland  von  Oerat  trennt,  bildet  ferner  ein  ebenes,  äußerst  fruchtbares, 
reichlich  mit  Wasser  versehenes  Gelände,  während  der  mehr  als  doppelt  so 
weite  Weg,  welchen  die  Engländer  von  ihrer  Grenze  bis  zu  genanntem 
Punkte  haben,  mehrfach  durch  wasserlofe,  unwirthliche  Gegenden  führt,  deren 
Bevölkerung  außerdem  auf  freundliche  Gesinnung  und  Unterstützung  nicht 
sonderlich  rechnen  läßt.  Wie  von  genauen  Kennern  der  Verhältnisse  in 
Asien  behauptet  wird,  sollen  die  Engländer  dort  überhaupt  weniger  beliebt 
sein  als  die  Russen.  Was  den  englischen  Einfluß  in  Afghanistan  anbelangt, 
so  hatten  allerdings  die  Ereignisse  von  1878  und  der  folgenden  Jahre  be» 
wiesen,  wie  wenig  weit  die  Snmpathieen  dort  für  sie  gehen,  während  die 
russischen  Abgesandten  von  der  Bevölkerung  stets  gut  aufgenommen  wurden. 
Da  gegenwärtig  hauptsächlich  nur  noch  Afghanistan  die  britischen  Besitzungen 
von  den  russischen  trennt,  so  ist  es  wobt  erklärlich,  daß  beide  Regierungen 
Alles  aufbieten,  um  ihren  Einfluß  dort  geltend  zu  machen.  Trotzdem  war 
seit  Jahren  schon  diese  Frage  in  ein  ruhigeres  Stadium  getreten,  indem 
sie  nicht  mehr  als  eine  empfindliche  Ehrensache  behandelt,  sondern  in  die 
einfache  praktische  Angelegenheit  der  Grenzbestimmung  umgewandelt  wurde. 
Rußland  muß  freilich  die  Notwendigkeit  fest  im  Auge  behalten,  seinen  Be- 
sitzungen in  Eentrnlasien  endlich  eine  sichere  südliche  Grenze  zu  geben  und 
die  strategische  Basis,  die  es  seit  1884  gewonnen  hat,  zu  vervollständigen. 
Letzteres  kann  aber  nur  durch  Schaffung  einer  entsprechenden  Position  in 
Afghanistan  geschehen.  Mag  Mßlnnd  noch  immer  in  Ausführung  der 
sogenannten  Testamentsbestimmungen  Peters  des  Großen  den  Weg  nach 
Indien  sich  bahnen  wollen,  oder  mag  es  nur  die  Absicht  haben,  von  seinem 
centralllsiatischen  Gebiete  aus  über  die  Pamirs  in  das  Innere  von  Ehina 
vorzudringen,  sei  es  commerziell,  sei  es  militär-politisch,  so  wird  es  doch 
unter  keinen  Umständen  des  beherrschenden  Einflusses  iu  Afghanistan  ent- 
behren und  auf  denselben  verzichten  können.  Nach  dem  unparteiischen 
Urtheil  Sachverständiger  wie  z.  N.  des  centralasintischen  Reisenden,  des 
Schweizers  Heinrich  Moser,  ist  auch  der  nissische  Einfluß  im  Centraigebiete 
des  alten  Erdtheils  bereits  so  groß  geworden,  daß  er  keine  Rivalität  mehr 
zu  fürchten  hat.  Ein  unbestreitbarer  Beweis  dieses  überwiegenden  Einflusses 
lag  wohl  schon  in  der  friedlichen  Besitznahme  von  Merw.  Die  strategische 
Position,  welche  Nußland  gegenwärtig  an  der  Grenze  Afganistans  inne  hat, 
ist  den  Engländern  gegenüber  eine  günstige  zu  nennen.  Rußland  vermag 
jetzt  in  verhältmßmcisiig  kurzer  Zeit  und  ohne  besondere  Schwierigkeiten 
eine  starke  Armee  nach  Centraiasien  zu  werfen. 
Die  englisch-indische  Armee  hat  gegenwärtig  wohl  einen  Effectivbestand 


Rußland  in  Centraiasien.  32H 

von  223289  Mann,  ist  aber  über  ein  Ländergebiet  vertheilt,  siebenmal  so 
groß,  wie  Frankreich.  Dieselbe  zahlt  außerdem  nur  72000  englische  Soldaten; 
die  Mehrzahl  der  Truppen  besteht  aus  Eingeborenen.  In  der  Provinz 
Bengalen,  die  für  Afghanistan  zunächst  in  Betracht  käme,  befinden  sich  135814 
Mann  Besatzung,  worunter  45000  Engländer.  Die  genannte  Präsident- 
schaft macht  aber  für  sich  allein  schon  den  größten  Theil  von  Indien  aus 
und  umfaßt  eiu  Areal  von  2  Millionen  Quadratkilometern.  Es  steht  daher 
sehr  in  Frage,  ob  im  Falle  eines  Krieges  an  der  Grenze  von  Afghanistan 
es  möglich  sein  würde,  100000,  oder  selbst  nur  75000  Mann  von  der 
indischen  Armee  dorthin  zu  entsenden.  Und  welches  Vertrauen  könnte  wohl 
England  dann  zu  seinen  indischen  Söldnern  haben,  aus  denen  die  betreffende 
Operations-Armee  zum  Theile  doch  wenigstens  bestehen  müßte.  Welchen 
Einfluß  würde  ferner  wohl  die  Nachricht  von  einer  immerhin  doch  als 
möglüh  in  Erwägung  zu  ziehenden  Niederlage  der  Engländer  auf  eine  Be- 
völkerung von  250  Millionen  Eingeborenen  üben,  die  zum  Theile  doch  feind- 
selig gesinnt  sind  und  nur  von  72000  Mann  englischer  Truppen  bewacht 
werden.  Nach  den  Berichten  der  Reisenden  in  Centraiasien  darf  Rußland 
andererseits  mit  Bestimmtheit  annehmen,  daß  die  Eingeborenen  in  jenen 
Gebieten  ihm  eventuell  eine  in's  Gewicht  fallende  Unterstützung  gewähren 
würden.  In  den  Filzzelten  der  Nomaden  soll  man  vielmehr  noch  als  in 
den  russischen  Colonieen  von  der  Möglichkeit  eines  großartigen  Alaman,  eines 
Kriegszuges  nach  dem  Pendschab  sprechen.  Die  Turkmenen  von  Chiwa  und 
von  Gurgan,  die  Kirgisen  und  Afghanen  würden  dann  nur  desselben  Kriegs- 
pfades ziehen,  welchen  bereits  ihre  Vorfahren  einst  eingeschlagen  hatten. 
Der  Schwerpunkt  des  russischen  Reiches  liegt  unbedingt  in  Asien. 
Diese  Grundanschauung  ist  schon  zu  Zeiten  Peters  des  Großen  als  Ariom 
der  russischen  Politik  betrachtet  worden.  Freilich  haben  ehrgeizige  russische 
Diplomaten,  die  auf  europäischem  Gebiete  leichter  und  schneller  Eroberungen 
machen  zu  können  glaubten,  die  betreffende  Anschauung  später  oft  aus  den 
Aligen  gelassen.  Wie  die  Geschichte  uns  lehrt,  hat  Nußland  dann  ungeheure 
Opfer  an  Blut  und  Geld,  und  zwar  vergeblich  gebracht,  um  auf  der  Balkan- 
Halbinsel  den  maßgebenden  Einfluß  zu  gewinnen.  Das  Vordringen  in  Asien 
ist  dabei  allerdings  auch  nicht  verabsäumt  worden,  und  im  Centraigebiete 
dieses  Erdtheils  ist  es  Nußland  sogar  gelungen,  sich  eine  vortheilhaste  Position 
zu  schaffen. 

Ganz  anders  verhält  sich  aber  die  Sache  in  Ostasien.  Hier  hat  Rußland 
seit  vielen  Jahrzehnten  schon  verabsäumt,  seine  Macht  in  Sibirien,  der 
Wichtigkeit  dieses  ungeheueren  Besitzes  entsprechend,  zu  consolidiren.  Nußland 
hat  diese  Ländergebiete  weder  wirtschaftlich  sich  entfalten  lassen,  noch  dieselben 
dem  Weltverkehr  eröffnet  und  die  mächtigen  Montcmwerthe  nutzbar  zu  machen 
gesucht,  welche  sie  bergen.  Nicht  einmal  eine  strategische  Bn'is  hat  sich  das 
gewaltige  Neich  für  Sibirien  zu  fchaffen  gewußt.  Wenn  man  bedenkt, 
welche  großen,  umfangreichen  Kriegs-Vauten  und  Anlagen  in  den  letzten  Jahr- 


230  <k.  Maschke  in  Vreslau. 

zehnten  in  der  Grenzprovinz  Warschau  hergestellt  worden  sind,  und  in  Sibirien 
hat  man  die  Anlage  einer  durchgehenden  Eisenbahn,  dieser  so  äußerst  not- 
wendigen Hanvtverkehrsader,  erst  1899  in  Angriff  genommen.  Es  war  ferner 
ein  großer  Fehler  Nußlands,  daß  es  nach  seinem  letzten  orientalischen  Kriege 
den  größten  Theil  seiner  Wehrmacht  an  den  Westgrenzen  gegen  Deutschland 
und  Oesterreich  dauernd  versammelte.  Weder  der  eine,  noch  der  andere 
dieser  Staaten  hatte  begehrensmerthe  Eroberungen  auf  russischem  Gebiete 
zu  machen,  das  Zarenreich  konnte  also  auch  nicht  im  Entferntesten  eines 
Angriffs  von  dieser  Seite  her  gewärtigen  dürfen.  Als  ein  gleichbedeutender 
Mißgriff  ist  aber  diese  Versammlung  des  Heeres  an  der  russischen  West- 
grenze zu  bezeichnen,  wenn  Msiland  etwa  wirklich  geglaubt  haben  sollte, 
daß  seine  Zukunftsfrage  zwischen  der  Weichsel  und  dem  Rhein  ihre  Ent- 
scheidung finden  müsse,  und  daß  es  das  Uebergewicht  auf  der  Valkanhalb- 
insel  auf  deutschem  oder  österreichischen!  Boden  gewinnen  könne.  Selbst  im 
Bunde  mit  Frankreich  würde  es  Nußland  niemals  gelungen  fein,  einen 
nachhaltigen  Erfolg  über  Deutschland  und  Oesterreich  zu  erringen. 
Nußland  steht  also  gegenwärtig  mit  fast  der  gefammten  Kriegsmacht 
an  seinen  europäischen  Westgrenzen  beinahe  isolirt  da,  während  sein  Schwer- 
punkt in  Asien  liegt.  So  ist  es  denn  auch  gekommen,  daß  das  Zarenreich 
dnrch  die  Ereignisse  im  Osten  des  alten  Erdtheils  eigentlich  vollständig  über- 
rascht worden.  Es  drohen  dort  tief  einschneidende  politische  Ereignisse  sich  zu 
Vollziehen,  ohne  daß  Nußland  augenblicklich  in  der  Lage  ist,  entscheidend  ein- 
greifen zu  können.  Dasselbe  hat  zwar  zur  Zeit  in  den  ostasiatischen  Gewässern 
ein  Geschwader  von  6  Kreuzern  ersten  und  4  solchen  zweiten  Ranges,  ferner 
von  10  Zochseeümonenbooten,  2  Minenkreuzern,  sowie  14  Minenträgern 
und  Mmenbooten,  im  Ganzen  also  von  32  Fahrzeugen  versammelt;  der  in 
Korea,  an  der  russischen  Grenze  stehenden  japanischen  Streitmacht  hat  es 
vorläufig  aber  jedenfalls  nur  unzureichende  Kräfte  entgegen  zu  stellen. 
Nach  den  neuesten  statistischen  Angaben  vermag  Japan  eine  Feld-Ärmee, 
einschließlich  der  Territorial-  (Landwehr)  Truppen,  von  26!)  748  Köpfen 
aufzustellen.  Die  Territorial-Negimenler  kommen  dabei  insofern  wohl  in 
Betracht,  weil  sie  unbedingt  doch  für  die  Besetzung  bezw.  Behauptung  der 
eroberten  und  occupirten  Landstriche  geeignet  sind.  In  Japan  selbst  ver- 
bleiben dann  noch  die  Miliz  von  Taschina,  bestehend  aus  einein  Infanterie- 
Corps  und  einer  Artillerie-Abtheilung;  4  Festungs-Artillerie-Negimenter  und 
das  Gensdarmerie-Eorps.  Die  Marine  zählt  58  Fahrzeuge,  darunter 
1  Panzerschiff,  7  Kreuzer  erster  Klasse,  5  Coruetten,  6  Kanonenboote, 
26  Torpedofahrzeuge.  Durch  die  Kriegsbeute  in  dem  Feldzuge  gegen  China 
wird  aber  die  japanifche  Flotte  jedenfalls  noch  einen  Zuwachs  von  1  Panzer, 
4  Kreuzeru  und  einer  Anzahl  von  Kanonen-  und  Torpedobooten  erhalten  haben. 
Ruhland  hat  nach  feinen  neuesten  Dislocationslisten  im  Militär-Bezirk 
Amur  zur  Verfügung  10  ostsibirifche  Linien-Bataillone,  2  ostsibirische  Schützen- 
brigaden zu  je  5  Bataillonen,  2  Fuß-Kasaken-Bataillone,  1  Amur-Fuß- 


Rußland  in  Lentralasien.  33~ 

Kasaken-Halbbataillon  zu  3  Sotnien,  1  transbaitalisches  Kasaken-Reiter- 
Negilnent,  1  Amur-Kasaken-Negiment,  eine  Ussuri-Kasakeu-Abtheilung,  eine 
ostsibirische  Artillerie-Brigade  zu  6  Batterien  u.  s.  w.  Es  ergeben  diese 
Truppen  auf  den,  Kriegsfuße  eine  Gefechtsstärke  von  etwa  30000  Mann; 
man  ziehe  aber  den  Flächenraum  des  Militärbezirkes  Amur  dabei  in  Betracht, 
der  beinahe  sechsmal  so  groß  ist  als  ganz  Frankreich.  Man  wird  dann  ein 
Verständniß  dafür  gewinnen,  was  es  zu  bedeuten  hat,  wenn  die  öffent- 
lichen Berichterstatter  davon  sprechen,  daß  die  an  der  äußersten  Ostgrenze 
stehenden  russischen  Truppen  fortwährend  Verstärkungen  erhalten  sollen. 
In  dem  Militärbezirk  Irtutsk  finden  wir  dann  noch  8  westsibirifche 
Linienbataillone  und  7  Neservebataillone.  Letztere  erweitern  sich  in,  Mobil- 
machungsfalle zu  25  Bataillonen,  so  daß  die  Militärmacht  des  Bezirkes 
fchließlich  33  Bataillone  mit  insgesammt  82000  Streitbaren  betragen  würde. 
Im  Militärbezirk  Omsk  endlich  befinden  sich  noch  3  sibirische  Kasaken- 
Regimenter,  1  Semirjetschensk  Eauallerie-Negiment,  1  westsibirische  Artillerie- 
Brigade  zu  5  Batterien  u.  s.  w.,  im  Ganzen  etwa  12000  Streitbare. 
Die  gesmnmte  Kriegsmacht  Sibiriens  wurde  also  74000  Streitbare  betragen, 
das  Ländergebiet  umfaßt  aber  einen  Flüchenraum  umi  beinahe  12  V2  Millionen 
Quadratkilometern,  fast  24  Mal  so  groß,  wie  Frankreich.  Wenn  nun  noch 
wenigstens  die  sibirische  Eisenbahn  bereits  fertiggestellt  wäre! 
Der  Ausgangspunkt  dieser  Bahn  ist  Samara  an  der  Wolga,  welcher 
Ort  nach  Westen  hin  in  ununterbrochener  Verbindung  mit  Moskau  und 
Petersburg  steht.  Gegen  Osten  reicht  von  hier  die  Strecke  der  europäischen 
Bahn  über  Ufa  bis  Slatoust  am  Westabhange  des  Ural.  Von  letzterem 
Punkte  ab  beginnt  die  neue  Bahn  mit  der  kurzen  Uralstrecke  bis  Mijask, 
worauf  dieselbe  über  Tschelabinsk,  Tjukalinsk,  Omsk,  Kainsk,  Tomsk, 
Moriinsk,  Krasnojarsk  nach  Nischni-Udinsk  an  der  Uda  geführt  wird,  im 
Allgemeinen  der  bekannten  großen  Straße  folgend.  Es  hat  diefe  Strecke 
eine  Länge  von  2912  Kilometern,  in  Nußland  an  die  fruchtbare  Region 
des  Tschernosam  (Schwarzerde)  anschließend  und  durch  den  bevölkertsten 
Theil  Sibiriens  sich  hinziehend.  Nischni-Udinsk  ist  der  Mittelpunkt  der 
ganzen  Bahn.  Die  Weiterführung  von  hier  nach  dein  Kriegshafen  Wladiwostok 
am  Japanischen  Meer  soll  aber  in  folgender  Linie  geschehen.  Zunächst  geht 
die  Bahn  nach  Irkutsk,  von  dort  nach  dem  Mwensowski-Hafen  am  Süd- 
ufer des  Baikalsees,  dann  nordöstlich  überTschita  und  Nertschinsk  nach 
Strjetensk  an  der  Schiita,  dem  großen  Quellfluß  des  Amur.  In:  Thal 
der  Schill«  und  des  Amur  läuft  dann  der  Schienenweg  abwärts  bis 
Ehabarowka,  an  der  Ussuri-Mündung,  weiter  in  südlicher  Richtung  den  Ussuri 
aufwärts  und  nach  Wladiwostok.  Dieser  zweite  große  Abschnitt  der  Bahn 
von  Nischni-Udinsk  bis  Wladiwostok  wird  765  Kilometer  lang,  die  Gesammt- 
länge  des  Schienenweges  von  Mijask  nb  demnach  10568  Kilometer  be- 
tragen. Die  zu  dem  Vau  erforderliche  Zeit  war  auf  10  bis  12  Jahre 
veranschlagt.  Gegenwärtig  sind  die  Arbeiten  erst  an  den  beiden  Endstrecken 


332  <L  Mafchle  in  Vieslau. 

im  Osten  und  im  Westen  so  weit  vorgeschritten,  daß  schon  auf  größere 
Entfernungen  der  Betrieb  eröffnet  werden  konnte.  Im  August  1894  war 
zunächst  die  Theilstrecke  von  Tschelabinsk  bis  zum  linken  Ufer  des  Irtisch, 
gegenüber  der  Stadt  Omsk,  dem  Verkehr  übergeben  worden.  Am  25.  August 
traf  ein  Sonderzug  aus  Petersburg  nach  Zurücklegung  einer  Gefammtstrecke 
von  3542  Kilometer  am  Irtifch  ein.  Im  fernen  Osten  von  Sibirien  fand 
fodann  am  1.  Oktober  189  t  die  Vetriebseröffnung  auf  der  Süd-Ussuri- 
Vllhn,  von  Wladiwostok  bis  Ussuri,  in  einer  Allsdehnung  von  349  Kilo- 
metern statt.  Nach  der  leiteintheilung  und  dem  Fortschritte,  den  die  Arbeiten 
bis  dahin  gemacht  hatten,  erwartete  man,  daß  am  1.  Januar  1895  auf 
der  westsibirifchen  Bahn  969  Kilometer,  auf  der  mittelsibiriscken  Strecke  550, 
auf  der  Süd-Ussuri-Bahn  349  und  auf  der  Nord-Ussuri-Vahu  43  Kilo- 
meter, zusammen  also  1992  Kilonieter  fertig  gestellt  fein  würden.  Augen- 
blicklich soll  auf  der  ganzen  Linie  mit  der  äußersten  Anstrengung  gearbeitet 
werden,  doch  dürfte  dies  für  das  laufende  und  wohl  auch  noch  für  das 
nächste  Jahr  wohl  noch  kein  bedeutendes  Resultat  ergeben  in  Anbetracht  der 
gewaltigen  Länge  von  8666  Kilometern,  die  Anfangs  1895  noch  herzu- 
stellen waren. 

Nachdem  der  Krieg  zwischen  Japan  und  China  eine  ernstere  Gestalt 
angenommen  hatte  und  als  schließlich  mit  einem  Siege  der  Japaner  ge- 
rechnet weiden  mußte,  wurde  von  der  öffentlichen  Meinung  Rußlands  ein- 
müthig  erklärt,  daß  Japan  das  Land  Korea  in  kein  Abhängigkeitsverhältnis; 
versetzen,  auf  dem  asiatischen  Continente  kein  Gebiet  annectiren  und  Fonnosa 
sich  nicht  aneignen  dürfte.  Die  russische  Negierung  war  jedenfalls  auch  von 
vornherein  entschlossen  gewesen,  die  Abtretung  chinesischen  Festlandgebietes 
an  Japan  nicht  zuzulassen,  wenigstens  nicht  in  der  Nähe  der  sibirischen 
Grenze.  Welche  militärischen  Maßnahmen  aber  Mßland  während  des 
Krieges  in  Ostasien  getroffen  hat,  um  seinem  Willen  erforderlichen  Falls 
auch  den  nöthigen  Nachdruck  geben  zu  können,  läßt  sich  jetzt  noch  nicht  über- 
sehen. Bekanntlich  dringen  sichere,  zuverlässige  Nachrichten  über  russische 
Verhältnisse  und  Vorgänge,  namentlich  militärischer  Art,  nur  sehr  schwer 
und  vereinzelt  in  die  Oeffentlichkeit,  so  daß  erst  sehr  allmählich  durch  Zu- 
sammenfassen dieser  Stückmeisen  Nachrichten  der  Zusammenhang  der  Maß- 
nahmen erkannt  und  über  deren  Bedeutung  und  Tragweite  ein  Urtheil  ge- 
bildet werden  kann.  Wie  in  den  vorstehenden  Ausführungen  aber  dargelegt 
worden,  dürfte  Rußland  vorläufig  noch  nicht  in  der  Lage  fein,  der  japanischen 
Kriegsmacht  an  der  sibirischen  Grenze  mit  entscheidendem  Erfolge  entgegen- 
treten zu  können.  Ohne  Zweifel  würde  das  mächtige  Zarenreich  schließlich 
ja  doch  seines  kleinen  japanischen  Gegners  Herr  werden,  bis  dahin  möchte 
aber  immerhin  noch  einige  Zeit  vergehen,  und  es  könnten  inzwischen  neue 
Complicationen  eingetreten  sein.  Gleichwie  dem  russischen  Reiche  ein  Fest- 
setzen Japans  auf  der  chinesischen  Küste  nicht  nur  einen  neuen  Rivalen  in 
dein  Streben  nach  Landerwerb  auf  Kosten  Chinas  entstehen  lassen,  sondern 


Rußland  in  Centialasien.  332 

auch  für  das  russische  ostasiatische  Küstengebiet  eine  übermäßige  Erstarrung 
Japans  direct  bedrohlich  werden  muß,  so  wird  auch  England  durch  eine 
wesentliche  Steigerung  der  Machtstellung  Japans  unbedingt  in  seinen 
Handelsinteressen  auf  das  Empfindlichste  geschädigt  werden.  Trotzdem  scheint 
sich  das  britische  Reich  jetzt  auf  die  Seite  Japans  stellen  zu  wollen,  sei  es 
in  der  Hoffnung,  in  dieser  Weise  einige  Vortheile  in  China  erlangen  zu  können, 
sei  es  in  der  Erwartung,  den  russischen  Rivalen  in  Asien  durch  einen  ernsten 
Conflict  mit  Japan  geschwächt  und  auf  längere  Zeit  beschäftigt  zu  fehen. 
Es  dürften  nämlich  auch  in  Centraiasien  die  Verhältnisse  auf  eine  end- 
liche Auseinandersetzung  zwischen  England  uud  Rußland  und  zwar  zunächst 
bezüglich  Afghanistans  hindrängen. 

Die  strategische  Lage  Nußlands  in  Innemsien  an  den  Grenzen  Afgha- 
nistans und  Indiens  hat  sich  durch  den  in  jüngster  Zeit  mit  England  ab- 
geschlossenen Pamirvertrag  sehr  wesentlich  geändert.  Das  aus  dem  kleinen 
Saritul-See  (Woods-,  auch  Victoria-See)  abfließende,  fälschlich  Orus  be- 
nannte Gewässer  soll  die  Südgrenze  des  russischen  Gebietes  bilden.  Oestlich 
vom  Sarikul-See  wird  die  Grenze  durch  eine  Linie  nach  Tasch  bis  zum 
chinesischen  Gebiete  verlängert,  und  westwärts  soll  der  Pandschfluß  das 
russische  Territorium  von  Afghanistan  fcheiden.  Rußland  hat  somit  fast  den 
ganzen  Pamir  nnt  Einschluß  der  bisher  von  Afghanistan  beansprucht  ge- 
wesenen Staaten  Schugnan  und  Roshan  mit  den  Gund-  und  Schach-dam- 
Thälern  erhalten;  es  verzichtete  dagegen  auf  die  am  linken  Ufer  des 
Pandsch  stromabwärts  von  Kalai  Wamar,  der  Hauptstadt  von  Roshan,  ge- 
legenen Gebiete  des  zu  Buchara  gehörigen  Darwas-Staates.  Afghanistan 
wurde  an  der  bezeichneten  Grenze  durch  einen  schmalen,  zun«  Wachanstaate 
gehörigen  Gebirgsabhang  abgefunden.  China,  dessen  Aufmerksamkeit  durch 
deu  Krieg  mit  Japan  in  Anspruch  genommen  mar,  ging  ganz  leer  aus. 
Die  Pamirs,  von  den  Kirgisen  „Dach  der  Welt"  genannt,  sind  trotz 
ihrer  Oede  in  ganz  Centraiasien  berühmt.  Seit  den  ältesten  Zeiten  gingen 
Handelsstraßen  über  sie  hinweg.  Die  russische  Erpedition  unter  General 
Skobelew  von  1875/76,  welche  zur  Züchtigung  der  Kirgisen  auf  dem  Alai- 
Plateau  stattgehabt,  hatte  Gelegenheit  gegeben,  die  Gegend  genauer  kennen 
zu  lernen.  Von  einein  Passe  des  Alai-Gebirges  in  Chokand  ausgehend, 
können  nissische  Truppen  in  sehr  kurzer  Zeit  über  das  Pamir-Plateau  nach 
Allssin  und  Gilgit  in  Dardistan,  also  in  die  unmittelbare  Nähe  des  Indus- 
thales  gelangen.  Die  Russen  haben  demnach  in  dem  neuen  Pamirvertrage 
eigentlich  fast  Nichts  aufgegeben,  dagegen  so  gut  wie  Alles  gewonnen. 
Andererseits  haben  die  Engländer  kürzlich  in:  Tschitraigebiete  einen 
schweren  Schlag  für  ihre  Autorität  in  Indien  und  Afghanistan  erlitten. 
Das  Tschitraigebiet,  ein  an  der  nordwestlichen  Grenze  Indiens  am  Süd- 
abhange  des  Hindukusch  gelegenes  Bergland,  gehört  zwar  nicht  zu  den  un- 
mittelbaren indo-britischen  Besitzungen,  wohl  aber  zu  der  englischen  Inter- 
essen- und  Actionssphäre. 


334  «,  Maschfe  in  Vieslau.  — 

Die  indische  Regierung  hatte  infolge  dessen  dort  einen  besonderen 
Agenten  mit  einer  geringen.  Letzterem  als  Schutz-  und  Ehrenwache  dienenden 
Truppenabtheilung  stationirt  und  auch  wiederholentlich  auf  die  endliche  Er- 
ledigung der  dort  landesüblichen  blutigen  Thronstreitigkeiten  einen  ent- 
scheidenden Einfluß  ausgeübt.  Vor  einiger  Zeit  ist  indessen  der  den  Eng- 
ländern genehm  gewesene  Beherrscher  von  Tfchitral  durch  einen  seiner 
Verwandten,  Schir  Afzul  entthront  und  ermordet  worden.  Letzterer  hatte 
sich  dann  mit  Unterstützung  Umras,  des  Chans  von  landol,  welche  dieser 
trotz  des  bezüglichen  Verbotes  seitens  Englands  geleistet,  zum  Herrscher  auf- 
geschwungen und  den  englischen  General  Robertson  mit  seinen  wenigen 
hundert  Mann  in  den.  Fort  von  Tschitral  eingeschlossen.  Die  indische 
Regierung  ordnete  sogleich  die  Ausrüstung  einer  stärkeren  Erpedition  unter 
dem  Vefebl  des  Generals  Robert  Low  an,  um  in  dem  kleinen  Grenz- 
lande Ruhe  und  Ordnung  wiederherzustellen.  Vor  dem  Eintreffen  dieser 
Truppen  war  es  indessen  bereits  Ende  März  d.  I.  zwischen  den  im  Tschitrai- 
gebiete zerstreuten  kleinen  indischen  Posten  und  den  Eingeborenen  zu 
blutigen  Kämpfen  gekommen.  Eine  Nbtheilung  des  14.  Sikh-Regimentes 
unter  Lieutenant  Roß  war  vom  Feinde  überfallen  und  vollständig  aufgerieben 
worden.  Daß  diese  Katastrophe  aber  eintreten  konnte,  lag  unzweifelhaft 
wieder  an  der  den  Engländern  im  Felde  schon  so  oft  verhängnißvoll  ge- 
wordenen und  doch,  wie  es  scheint,  unverbesserlichen  Gewohnheit,  mit  sou- 
veräner Verachtung  auf  den  Gegner  herabzublicken  und  sich  daher  über  die 
einfachsten  Regeln  der  tactischen  Sicherung  hinwegzusetzen.  So  wird  auch 
Lieutenant  Roß  sein  Schicksal  selbst  verschuldet  haben.  Der  britischen 
Regierung  blieb  aber  nach  diesen:  traurigen  Ereignis;  keine  Wahl  mehr. 
Wollte  sie  nicht  alles  Ansehen  in  den  indischen  Grenzgebieten,  ja  vielleicht 
im  ganzen  Lande  verlieren,  so  mußte  sie  die  Bergvölker  am  Hindukufch 
gründlich  züchtigen. 

Tschitral  und  landol  sind  Neides  Länder  alpinen  Charakters.  Schnee- 
und  gletscherbedcckte  Berge  ragen  bis  zu  einer  Höhe  von  7009  Metern 
empor.  Der  Verkehr  bewegt  sich  auf  Saumpfaden.  Die  Ortschaften  be- 
finden sich  meistens  auf  schwer  zugänglichen  Felsen.  Die  Stadt  und  Nerg- 
veste  Tschitral  liegt  höher  als  das  Hospiz  des  St.  Gotthardt. 
Die  englische  Operation  gegen  Tschitral  war  derartig  veranlagt,  daß 
zwei  Brigaden  aus  dem  Pendschab  durch  die  Berglandschaften  Swat  und 
Pandschkora  vordrangen,  während  eine  Eolonne  unter  Oberst  Kelly  von  Osten 
her,  von  Gilgit  auf  Tschitral  marschirte. 

Die  beiden  unbotmäßigen  Fürsten  Schir-Afzul  und  Umra  Chan  sollten 
zwar  über  80  (XX)  Bewaffnete  zu  gebieten  haben,  dennoch  konnte  aber  der 
Ausgang  des  Feldzuges  von  vornherein  nicht  zweifelhaft  fein.  Den  15(XX) 
Mann  europäisch  geschulter  Truppen  gegenüber,  die  mit  den  besten  Mitteln 
der  modeiiien  Waffentechnik  ausgerüstet  waren,  vermochten  die  wilden 
Bergbewohner  nicht  Stand  zu  halten.  So  wurde  denn  auch  fchon  Anfang 


Rußland  in  Centlaiasien.  335 

April  durch  zwei  englisch-indische  Brigaden  der  Malakand-Paß  erstürmt. 
Derselbe  war  von  8000  Mann,  hauptsächlich  Mullahs  und  Sikhs  nebst  deren 
Gefolge,  hartnäckig  vertheidigt  worden.  Die  auf  dem  Momh-  und  dem 
Schakot-Pllsse  angesammelten  Mannschaften  hatten  keine  Zeit  gehabt,  sich 
zu  vereinigen.  Die  Höhen  wurden  schließlich  mit  dem  Bajonett  genommen, 
nachdem  die  englische  Artillerie  und  die  Marim-Kanonen  mit  großem  Er- 
folge in  den  Kampf  eingegriffen  hatten.  Der  Feind  verlor  weit  über  500 
Mann.  Die  erste  Brigade  des  Generals  Robert  Low  überschritt  darauf 
den  Swatfluß  unter  dem  Feuer  des  Gegners.  Eine  Schaar  von  5000 
Landesbewohnern,  welche  das  Vordringen  hier  zu  verhindern  suchten,  wurde 
zurückgeschlagen.  Thanna,  das  Fort  Unna  Chans,  ward  erobert.  Während 
dieser  Kämpfe  im  Swatgebiet  rückte  Oberst  Kelly  von  Gilgit  auf  der  äußerst 
schwierigen  Straße  gegen  Tschitral  vor  und  langte  nach  mehreren  heißen 
Gefechten  am  9.  April  in  Mastudsch  und  am  12.  in  Samoghar  an.  Die 
Feinde  hatten  sich  in  ihren  Scmgars  sehr  fest  verschanzt  und  mußten  aus 
ihren  in  der  tiefen  Schlucht  Mullah  nnt  großer  Umsicht  errichteten  Ver- 
theidigungsmerten  erst  mit  stürmender  Hand  herausgetrieben  werden.  Die 
Hauptarbeit  fiel  den  von  Kelly  befehligten  Kaschmir-Infanteristen  und 
Sappeurs  zu.  Nach  hartnäckigem  Kampfe,  an  dem  sich  namentlich  auch 
die  von  den  Engländern  mitgeführten  beiden  Geschütze  mit  Erfolg  betheiligten, 
gelang  es,  den  Gegner  durch  eine  Flankenbewegung  aus  seinen  Stellungen 
zu  vertreiben.  Aus  allen  diesen  blutigen  Scharmützeln  war  wohl  zu  er- 
sehen, daß  die  Bergvölker  Kapristans  feindlich  gesinnt  und  nicht  Willens 
waren,  die  britischen  Truppen  durch  ihr  Gebiet  durchzulassen.  Umra  Ehan 
schien  jedoch  in  Folge  der  Niederlagen  seiner  Freunde  und  Anhänger  den 
Mnth  verloren  ;n  haben,  den  siegreich  vorschreitenden  brittischen  Brigaden 
sich  noch  einmal  entgegen  zu  werfen.  Mitte  April  bat  er  um  Frieden  und 
floh  dann  nach  Asmar.  Während  die  englisch-indischen  Truppen  des  Generals 
Low  und  Oberst  Kelly  also  durch  das  Pandschoragebiet  und  von  Osten  her, 
unter  den  größten  Schmierigkeiten  zwar,  aber  doch  stetig,  vordrangen,  hatte 
General  Robertson  mit  seiner  kleinen  Schaar  seit  4.  April  eine  schwere 
Belagerung  in  der  Tschitralfeste  auszuhalten  und  eine  Neihe  erbitterter 
Kämpfe  durchzufechten.  Die  Engländer  hatten  in  Folge  der  kärglichen  und 
mangelhaften  Nahrung  schwer  zu  leiden,  erlitten  auch  durch  das  feindliche 
Feuer  bedeutende  Verluste  und  besaßen  keine  genügenden  Hilfst  und  Arznei- 
mittel für  die  Verwundeten  und  Kranken.  Am  17.  April  machte  die 
Garnison  noch  einen  letzten  verzweifelten  Ausfall  und  verlor  dabei  wieder 
21  Mann.  Die  Bedrängung  durch  den  Belagerer  wurde  immer  schmerer, 
da  die  vorgetriebenen  unterirdische,!  Gänge  desselben  bereits  bis  unmittelbar  an 
das  Fort  heranreichten.  So  wäre  denn  die  Beste  wahrscheinlich  auch  gefallen, 
wenn  nicht  endlich  am  19.  April  die  Colonne  des  Oberst  Kelly  sie  entsetzt 
hätte.  Schir-Afzul  war  entflohen.  Der  Ausstand  in  Tschitral  und  landol 
ist  damit  vorläufig  niedergeschlagen. 


336 

<L.  Maschle  in  Vreslau, 

Jedenfalls  werden  die  Engländer  aber  für  geboten  erachten,  in  Tschitral 
dauernd  festen  Fuß  zu  fassen.  Neil»  Ausbruch  eines  ernsteren  Eonflicts 
zwischen  Rußland  und  England  könnte  in  der  That  die  unter  gewöhnlichen 
Verhältnissen  minder  bedeutsame  Position  von  Tschitral  für  die  Vertheidigung 
des  nördlichen  Indiens  eine  ganz  besondere  Bedeutung  gewinnen.  Bei  der 
durch  den  jüngst  abgeschlossenen  Pamiruertrag  geschaffenen  Sachlage  wird 
England  wohl  für  nothwendig  halten,  das  Tschitraigebiet  so  bald  als  möglich 
hinreichend  stark  zu  besetzen,  um  dann  die  nach  den  Pamirs  führenden 
Hindutuschuasse  in  seine  Gewalt  zu  bringen  und  damit  die  indische  Nord- 
westgrenze gegen  Rußland  zu  schließe».  Denn  es  dürfte  zu  erwarten  sein, 
daß  Rußland  und  England  binnen  kurzer  Zeit  sich  hier  von  Angesicht  zu 
Angesicht  gegenüber  stehen  werden.  Letzteres  wird  sich  dann,  umgeben  von 
den  feindlich  gesinnten  Bergvölkern  Kapristans,  keineswegs  in  einer  günstigen 
Lage  befinden. 

Auch  an  der  Nordgrenze  Herats  können  die  Verhältnisse  kaum  als 
stabile  zu  betrachten  sein.  Wenn  England  hier  nicht  zuvorkömmt,  werden 
die  Russen  unvermeidlich  nach  Herat,  dann  nach  Belch  und  weiter  nach 
Kabul  vorgehen.  Aber  selbst  hier  werden  sie  nicht  stehen  bleiben.  Es  dürfte 
demnach  vielleicht  der  Zeitpunkt  nicht  mehr  ferne  sein,  wo  die  Grenze  der 
russischen  Kasaken  in  Afghanistan  mit  der  der  Sevons  in  Indien  zusammen- 
stoßen wird. 


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Freidenkerin  und  Theosophin. 
Vertha  Aatscher. 

—  Vaden  ( Nieder- Vesterreich).  — 

~eit  mehreren  Jahren  ist  in  der  Presse  der  ganzen  Culturwelt  sehr 
oft  die  Rede  von  Mrs.  Annie  Besant,  weil  deren  Uebertritt 
vom  radicalsten  Freidenkerthum  zur  verworrensten  Theosophie 
viel  Staub  aufwirbelt.  Diese  Dame,  eine  der  merkwürdigsten  Frauen- 
gestalten aller  Zeiten,  war  schon  früher  auch  außerhalb  Englands  bekannt, 
namentlich  durch  eine  ihrer  vielen  trefflichen  Schriften:  „Das  Bevölkerungs- 
gesetz, seine  Folge  und  sein  Einfluß"  (in  sieben  Sprachen  in  weit  über 
V,  Million  Exemplaren  abgesetzt);  jetzt  aber  ist  sie  durch  ihre  Bekehrung 
zu  den«  unsinnigen  —  um  nicht  zu  sagen:  schwindelhaften  —  Geisterfpuk 
der  vor  einigen  Jahren  verstorbenen  Helene  Vlawatzki  leider  zum  Gespött 
des  ganzen  gebildeten  Abendlandes  geworden.  Sie  hat  die  Nachfolge  dieser 
Abenteurerin  als  Leiterin  der  „Theosophischen  Gesellschaft"  angetreten  und 
setzt  sich  in  Wort  und  Schrift  mit  demselben  Eifer,  den  sie  so  lange  für 
die  Freidenkerei  an  den  Tag  gelegt  hat,  für  ihre  neue  Schwärmerei  ein. 
Wir  haben  es  da  mit  einer  der  seltsamsten  Wandlungen  zu  thun, 
welche  die  an  seltsamen  Wandlungen  so  reiche  Geistesgeschichte  der 
Menschheit  aufzuweisen  hat.  In  welcher  Weise,  durch  welche  geheimniß- 
vollen  Denkprocesse,  mittels  welcher  wunderbaren  Einflüsse  sich  der 
außerordentliche  Uebergang  in  diesem  außerordentlichen  Kopfe  vollzog, 
ist  noch  gänzlich  unaufgeklärt,  da  Frau  Vefant  jeden  Aufschluß  darüber 
verweigert.  Daß  es  ihr  um  Schwindel  zn  thun  kein  könnte,  daß  sie  die 
Sache  nicht  wirklich  ernst  nimmt,  daß  sie  eine  gemeine  Betrügerin  ist,  muß 
bei  ihrem  persönlichen  Ehrarakter  als  vollkommen  ausgeschlossen  betrachtet 


338  Vertl,2  Uatfcher  in  Laden  (Nieder. Vesteireich). 
werden.  Es  bleibt  vorläufig  nur  übrig,  die  ganze  Geschichte  für  unbegreis' 
lieh  zu  halten  und  Weiteres  abzuwarten. 
Dagegen  hat  sie  die,  ebenfalls  febr  merkwürdige  Geschichte 
einstigen  Bekehrung  zum  Freidenkerthum  und  die  vorhergegangenen  Gei~  - 
und  Herzenskämpfe  in  ihrem  anziehenden  Buche  „H,uwbi<~i-2pb)'  ul  Hnni« 
L?8l»nt~  (London  1893)  ausführlich  geschildert.  Die  betreffenden  Vor- 
gänge sind  für  die  Eigenart  der  Mrs.  Besant  so  bezeichnend  und  an  und 
für  sich  von  so  hohem  psychologischen  wie  biographischen  Interesse,  daß 
nähere  Mitteilungen  sicherlich  willkommen  seiu  werden  darüber,  was  die 
fromme  junge  Pastorsfrau  einst  veranlaßte,  mit  allen  biblischen  und  reli- 
giösen Ueberlieferungen  zu  brechen,  sich  mit  ihrer  Familie  zu  entzweien, 
Haus  und  Herd  zn  verlassen,  sich  von  Mann  uud  Kindern  zu  tremien,  kurz: 
der  ganzen  Welt  den  Fehdehandschuh  hinzuwerfeu,  um  für  das,  was  sie 
nach  schweren  inneren  Kämpfen  als  recht  und  wahr  erkannt,  mit  offenem 
Visir  zu  streiten. 

Annie  Besant  hat  am  1.  October  1847  den  ersten  Blick  in  dieses 
lammerthal,  das  wir  Welt  nennen,  gethan.  In  ihren  Adern  fließt  halb 
englisches,  halb  irisches  Blut.  Ihre  Mutter  soll  eine  der  edelsten, 
tapfersten,  opferfreudigsten,  muthigsten,  selbstlosesten  Frauen  gewesen  sein, 
die  das  „grüne  Erin"  jemals  erzeugt  hat.  Trotz  aller  Wandlungen,  die 
mit  uud  in  ihrem  Liebling  Annie  vorgegangen  sind,  hielt  sie  treu  und  fest 
zu  ihr.  Von  ihrem  Vater  weiß  uns  Mrs.  Besant  weniger  zu  erzählen, 
denn  er  starb,  als  sie  kaum  fünf  J  ahre  alt  war.  Mr.  Wood,  der  Medicin 
studirt  hatte,  hängte  seinen  Doctorhut  an  den  Nagel  und  widmete  sich, 
als  ihm  von  einem  Verwandten  in  London  ein  guter  Posten  angeboten 
wurde,  der  kaufmännischen  Laufbahn.  Doch  vermochte  er  nicht  ganz  von 
feinem  alten  Beruf  zu  lassen  und  besuchte,  so  oft  es  seine  freie  Zeit  er- 
laubte, mit  befreundeten  Aerzten  den  Secirsaal,  wo  er  ihnen  hilfreiche 
Hand  bot.  Bei  einer  folchen  Gelegenheit  verletzte  er  sich  einen  Finger  an 
dem  Brustknochen  eines  Mannes,  der  an  galoppirender  Schwindsucht  ge- 
storben war.  Längere  Zeit  nachher  überraschte  ihn  ein  heftiger  Regen;  er 
kam  durchnäht  heim  und  trug  eine  Erkältung  davon.  Einer  der  hervor- 
ragendsten aber  auch  derbsten  Londoner  Professoren  wurde  consultirt,  um 
den  ungeduldigen  Patienten  zu  beruhigen. 
„Wann  wird  er  ausgehen  dürfen?"  fragte  die  ahnungslose  Gattin 
den  Professor,  als  er  sich  zum  Weggehen  anschickte. 
„Gar  nicht  mehr.  Sie  müssen  sich  mit  dieser  Thatsache  vertraut 
machen;  denn  Ihr  Gatte  leidet  an  der  galoppirenden  Schwindsucht  und 
kann  es  höchstens  noch  sechs  Wochen  aushalten."  Die  Frau  taumelte  zu- 
rück und  fiel  ohnmächtig  zu  Boden.  Ihre  Liebe  und  Selbstbeherrschung 
war  jedoch  so  groß,  daß  sie  schon  nach  einer  halben  Stunde  mit  heiteren» 
Antlitz  dem  Kranken  die  Zeit  zu  verkürzen  trachtete  und  sich  ihr  schwieriges 
Pflegeramt  von  Niemandem  nehmen  ließ.  Mrs.  Wood  hatte  ihren 


Freideiikerin  und  Theosophiil.  3Z9 

Gatten  unendlich  geliebt.  Ihre  Verzweiflung  über  seinen  Verlust  machte 
ihr  rabenschwarzes  Haar  in  der  Nacht,  da  er  sie  für  immer  verließ,  er- 
grauen. 

Da  Mr.  Wood  eine  gediegene  klassische  Bildung  und  bedeutende  philo- 
sophische Kenntnisse  besessen,  fünf  fremde  Sprachen  gesprochen,  über 
Religionen  im  Allgemeinen  und  über  die  christliche  in«  Besonder»  sehr 
skeptische  Anschauungen  gehabt  hatte  und  von  seinem  Sterbelager  den 
Priester,  der  ihm  das  letzte  Sacrament  reichen  wollte,  wegjagte,  so  werden 
wir  uns  nicht  darüber  verwundern,  daß  seine  Tochter  Annie,  die  sehr  reli- 
giös erzogen  worden,  kraft  ihres  vom  Vater  ererbten  scharfen  Verstandes 
und  der  ungeheuren  Wahrheitsliebe  —  ein  Erbtheil  der  trefflichen  Mutter 
—  über  die  Widersprüche,  die  ihr  in  der  Bibel  aufstießen,  stutzig  wurde, 
grübelte  und  sann,  theologische  Studien  machte  und  schließlich  auch  durch 
äußere  Umstände  dazu  getrieben  wurde,  an  der  Unfehlbarkeit  der  Bibel, 
an  der  Göttlichkeit  des  Gekreuzigten  und  endlich  auch  an  der  Existenz 
Gottes  zu  zweifeln.  Doch  wir  wollen  nicht  vorgreifen. 
Mrs.  Wood  blieb  in  den  denkbar  traurigsten  Verhältnissen  zurück,  und 
doch  wollte  sie  den  letzten  Wunsch  ihres  sterbenden  Gatten,  der  seine  Familie 
pecuniär  gut  versorgt  glaubte,  erfüllen  und  ihren  Sohn  studiren  lassen. 
In  England  ist  das  eine  sehr  kostspielige  Sache.  Die  resolute  Frau  über- 
siedelte nach  Harrow  und  erwirkte  sich  von  dem  Director  der  dortigen  be- 
rühmten Knabenmittelschule  die  Erlaubnis!,  Zöglinge  in  Pension  zu 
nehmen.  Die  Einnahme  hieraus  setzte  sie  in  den  Stand,  den  eigenen 
Sohn  studiren  zu  lassen.  Der  Umgang  mit  den  Knaben  und  Lehrern 
erweckte  auch  bei  Annie  frühzeitig  die  Lust  zum  Lernen.  Ihre  gründliche 
und  vortreffliche  Ausbildung  verdankte  sie  jedoch  Miß  Marrnat,  der  Lieblings- 
schwester des  berühmten  Romanciers  Capitän  Marrnat,  die  über  ein  großes 
Vermögen  und  ein  noch  größeres  pädagogisches  Talent  verfügte.  Es 
machte  den»  alleinstehenden  ältlichen  Fräulein  Vergnügen,  eine  Anzahl  von 
Knaben  und  Mädchen,  deren  Eltern  nicht  in  der  Lage  waren,  ihre  Kinder 
ausbilden  zu  lassen,  nach  ihrer  eigenen  Methode  zu  unterrichten.  Und 
was  uns  Mrs.  Nesant  von  dieser  Methode  berichtet,  ist  wahrlich  beherzigens- 
werth: 

„Sie  selbst  weihte  uns'  in  alle  Fächer  ein,  nur  für  Musik  hatten 
wir  einen  andern  Meister.  Miß  Marrnat  haßte  die  Oberflächlichkeit,  wir 
mußten  Alles  gründlich  erlernen.  Die  Fibel,  diese  Tortur  aller  Anfänger, 
blieb  uns  gänzlich  erspart.  Wir  mußten  Alles,  was  wir  auf  unseren 
Spaziergängen  gesehen  und  erlebt,  erzählen  und  später  niederschreiben,  so 
gut  oder  so  schlecht  es  ging.  Diese  kindischen  Ergüsse  las  sie  sorgfältig 
mit  uns  durch,  besserte  alle  grammatikalischen  und  orthographischen  Fehler 
aus  und  spornte  uns  auf  diese  Weise  an,  mit  offenen  Augen  in  die  Welt 
zu  sehen  und  die  Natur  zu  beobachten.  Worte  sind  viel  zu  nichtssagend, 
um  auszudrücken,  was  ich  der  hochherzigen  Fran  Alles  verdanke!  Sie 
Noid  und  Süd,  I.XXV.  22»,  23 


2H0  Veitha  «atscher  in  Vaden  (Niedel>Vesterre>ch). 

war  es  auch,  die  den  Wissensdurst  in  mir  großgezogen  hat,  und  dieser  ist 

mir  bis  zum  heutigen  Tage  geblieben." 

Miß  Marryat,  eine  strenggläubige  Protestantin,  gestattete  ihren  Zög- 
lingen an  Sonntagen  keine  andere  Leetüre  als  die  der  Bibel.  Während 
der  Spaziergänge  durften  sie  nur  Hymnen  singen,  außerdem  mußten  sie  in  der 
Sonntagsschule  arme  Kinder  unterrichten  —  „denn  was  nützen  Euch  Eure 
Kenntnisse,  wenn  Ihr  nicht  versucht,  sie  auf  diejenigen  zu  übertragen,  die 
sonst  Niemanden  hätten,  der  sie  unterwiese?"  Bat  einer  ihrer  Pfleglinge, 
einem  Armen  helfen  zu  dürfen,  so  war  stets  ihre  Frage:  „Welches  Opfer 
willst  Du  Dir  auferlegen?  Wenn  Du  z.  V.  Deinen  Morgenthee  eine 
Zeit  lang  ohne  Zucker  trinkst,  so  kannst  Du  Dir  6  Pence  die  Woche  er- 
sparen; diese  darfst  Du  verschenken."  Kann  es  eine  weisere  Art  geben, 
Selbstverleugnung  zum  Zweck  der  Nächstenliebe  zu  lehren?!  Annie,  in 
deren  Natur  es  lag,  Nichts  halb  zu  thun,  war  ein  überaus  frommes  Kind, 
und  die  Stunden,  in  denen  sie  sich  ungestört  der  Leetüre  der  Bibel  und 
anderer  Erbauungsbücher  hingeben  konnte,  waren  ihr  unstreitig  die  liebsten. 
Als  ganz  junges  Mädchen  begleitete  sie  Miß  Marryat  in's  Ausland  und 
zwar  zuerst  nach  Düsseldorf  und  Bonn  und  von  hier  nach  Paris,  wo  sie 
mehrere  Monate  halb  dem  Vergnügen,  halb  dem  ernsten  Studium  lebten. 
Die  Mittwoche  und  Samstage  wurden  benützt,  um  die  Meisterwerke  in 
den  Galerien  des  Louvre  und  alle  sehenswerthen  Kirchen  der  franzosischen 
Metropole  kennen  zu  lernen.  Nächst  den  herrlichen  Spaziergängen,  die  sie 
in  die  Umgebung  von  Paris  unternahmen,  um  Land  und  Leute  zu 
studiren,  gewährte  dem  aufgeweckten,  lebhaften  Mädchen  Nichts  so  großes 
Vergnügen  als  der  Besuch  der  Kirchen.  Die  kühle,  weihrauchschmangere 
Luft,  das  Zwielicht,  die  Orgelklänge  und  das  Messelesen  übten  einen  un- 
widerstehlichen Reiz  auf  sie  aus;  sie  konnte  stundenlang  vor  einen,  Christus- 
bild in  stummer  Andacht  knien;  ihre  ganze  Seele  schwang  sich  zu  dem 
Gottessöhne  auf.  Weltliche  Vergnügungen  verabscheute  sie  damals.  Theater 
betrachtete  sie  als  „Fallstricke,  die  der  Satan  den  Menschen  gelegt,  um 
ihre  Seelen  zu  zerstören,"  auch  hatte  sie  sich  vorgenommen,  keine  Bälle  zu 
besuchen,  denn  sie  war  fest  entschlossen,  „der  Welt,  dem  Fleische  und  dein 
Teufel  zu  entsagen  und  ein  gottgefälliges  Leben  zu  führen."  Dieses 
14jährige  Mädchen  war  von  der  Unfehlbarkeit  der  Bibel  so  sehr  durch- 
drungen und  glaubte  so  fest  an  die  Göttlichkeit  Jesu,  daß  sie  in  ihrer 
Naivetät  und  Unerfahrenheit  es  als  die  höchste  Aufgabe  des  Weibes  be- 
trachtete, ini  Glauben  aufzugehen.  Den  Sommer  1862  verbrachte  sie 
noch  mit  Miß  Marryat  in  Sidmouth,  wo  diese  sie  nach  und  nach  daran 
gewöhnte,  ihre  Studien  auf  eigene  Faust  zu  betreiben.  Als  Annie  'sich 
einmal  darüber  beklagte,  daß  „Tantchen"  sich  jetzt  so  wenig  um  sie  be- 
kümmere und  sie  so  selteu  unterrichte,  entgegnete  die  weise  Dame: 
„Ei,  mein  Kind,  Du  bist  jetzt  alt  genug,  um  allein  weiter  zu 
lernen,  ich  kann  Dir  nicht  Dein  Leben  lang  als  Krücke  dienen.  Zeige, 


Fieidenkeiin  und  Cheosophin.  3~ 

daß  die  Lehren,  die  Du  empfangen,  nicht  auf  unfruchtbaren  Boden  ge- 
fallen sind." 

Und  das  waren  sie  wirklich  nicht,  denn  als  Annie  endlich  zu  ihrer 
Mutter  nach  Harrow  heimkehrte,  ftudirte  sie  fleißiger  denn  je.  Sie  ver- 
vollkommnete sich  in  der  deutschen  und  der  französischen  Sprache,  trieb 
fleißig  Musik  und  naschte  von  allen  Wissenschaften.  Ihre  Lieblingslectüre 
blieben  jedoch  theologische  Bücher.  Sie  las  mit  Feuereifer  die  Werke  be- 
rühmter englischer  Geistlicher  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  Durch 
Zufall  bekam  sie  auch  die  Werke  der  Kirchenvater  in  die  Hand;  dieselben 
nahmen  ihre  Einbildungskraft  derart  gefangen,  daß  sie  zu  fasten  begann 
—  gegen  den  Willen  Mrs.  Woods,  der  die  Gesundheit  ihres  Kindes  weit 
näher  ging  als  alle  Haarspaltereien  der  gesammten  Kirchenväter  —  das 
Kreuz  schlug  und  jede  Woche  zum  Abendmahl  ging.  Sie  beschäftigte  sich 
lebhaft  mit  dem  Gedanken,  sich  zu  dem  Glauben  ihres  Vaters  zu  bekehren, 
der  der  katholischen  Kirche  angehört  hatte.  Zu  jener  Zeit  erschien  ihr  die 
Heiligkeit  J  esu  noch  unantastbar.  Sie  hätte  sich  für  die  größte  Sünderin 
der  Welt  gehalten,  wenn  ihr  der  Gedanke  anfgetaucht  wäre,  daß  viele 
Stellen  der  heiligen  Schrift  fälschlich  verehrten  Namen  zugeschrieben  wurden 
zum  Zwecke  frommer  Täuschungen.  Sie  glaubte  felsenfest  an  Alles,  was 
die  „heiligen  Väter"  erzählten,  und  vertiefte  sich  mit  großem  Eifer  in  deren 
Studium.  Man  glaube  ja  nicht,  daß  sie  deshalb  Stubenhockerin  geworden. 
Wie  alle  englischen  Mädchen,  bewegte  sie  sich  viel  im  Freien,  machte  größere 
Ausflüge  zu  Fuß  und  zu  Pferde,  spielte  mit  den  Studenten  und  Lehrern 
fleißig  Ballspiele,  besuchte  Gartenfeste,  kurz:  sie  genoß  trotz  ihrer  ernsten 
Studien  ihr  junges  Leben. 

„Niemals  kann  ein  Mädchen  eine  fröhlichere  J  ugend  verlebt 
habeu  als  ich,"  schreibt  sie.  „Vormittags  und  einen  Theil  des 
Nachmittags  beschäftigte  ich  mich  mit  ernsten  theologischen  oder  wissen- 
schaftlichen Studien,  Abends  besuchte  ich  anregende  Gesellschaften,  oder  ich 
musicirte  daheim;  auch  hatte  ich  mich  entschlossen,  von  meinem  Vorsatz, 
niemals  einen  Vallsaal  zu  betreten,  abzuweichen,  und  war  eine  recht  flotte 
Tänzerin  geworden.  Meine  geliebte  Mutter  verwöhnte  mich  sehr,  keine 
Sorge  durfte  meine  Seele  trüben,  ich  sollte  genießen,  während  sie  alle 
Lasten  des  Lebens  trug;  jetzt  weiß  ich,  was  ich  damals  nicht  ahnte:  daß 
ihr  jeder  Tag  neue  Leiden  und  Kümmernisse  brachte,  die  sie  uns  Kindern 
verheimlichte.  Das  Eollegeleben  meines  Bruders  kostete  viel  Geld,  und 
diese  Sorge  verursachte  ihr  schlaflose  Nächte.  Ein  Advocat,  dem  sie  voll- 
ständig vertraute  und  dessen  Ehrenhaftigkeit  ihr  zweifellos  dünkte,  betrog 
sie  schmählich,  indem  er  alle  Geldsendungen,  die  sie  ihm  zur  Erfüllung 
ihrer  Verbindlichkeiten  zusandte,  für  eigene  Zwecke  verwandte  und  ihr  da- 
durch qualvolle  Verlegenheiten  bereitete.  Von  diesen  Dingen  erfuhr  ich 
jedoch  erst  viel  später.  Besuchte  ich  einen  Ball,  so  brauchte  ich  mich 
niemals  um  meine  Toilette  zu  bekümmern;  diese  lag,  wenn  die  Zeit  zum 
23* 


2H2  Aeithll  «atscher  in  Vade»  ( Nieder. Vestei reich), 
Ankleiden  kani,  sir  und  fertig  auf  »«einem  Zimmer.  Keine  andere  Hand 
als  die  meiner  Mutter  durfte  mein  langes  Haar  ordnen  oder  mein  Kleid 
zuschnüren,  —  war  es  doch  ihr  einziges  Vergnügen,  ihren  ,Mebling"  heraus- 
zuputzen! Meine  Kindheit  und  Mädchenzeit  war  fo  fonnig  und  glücklich, 
daß  ich,  fo  lange  ich  unter  den  fchützenden  Flügeln  meiner  Mutter  stand, 
nicht  einmal  ahnte,  welche  Sorgen  und  Qualen  das  Leben  mit  fich  bringen 
kann.  All  die  Freuden  jener  glücklichen,  fonnigen  Jahre  nahm  ich  mit 
froher  Unbewußcheit  als  etwas  Selbstverständliches  hin  .  ...  Ich  liebte 
meine  Mutter  mit  leidenschaftlicher  Hingebung:  was  sie  für  mich  gethan, 
wurde  mir  erst  klar,  als  ich  unser  trautes  Heim  verlassen  mußte,  um  dem 
Manne  meiner  Wahl  zu  folgen.  Ist  eine  solche  Erziehung  weise?  Ich 
weiß  es  nicht.  Die  Wunden,  die  Einen:  das  Leben  schlägt,  wenn  man 
so  unvorbereitet  in  den  Kampf  tritt,  sind  so  schmerzlich  und  nachhaltig, 
daß  ich  vorschlagen  würde,  die  Jugend  bei  Zeiten  darauf  vorzubereiten 
und  zu  stählen.  Und  doch  ist  es  eine  schone  Sache,  wenn  man  auf 
ein  glückliches  Kinder-  und  Mädchenparadies  zurückblicken  kann,  das 
Einem  der  härteste  Kampf  um's  Dafeiu  nicht  aus  der  Erinnerung  zu  löschen 
vermag!" 

Mit  Liebesträunxn  gab  sich  Annie  niemals  ab,  wahrscheinlich  weil 
sie  nie  Romane  las  und  ihre  ganze  Gedankenwelt  sich  ausschließlich  um  die 
Religion  drehte.  Ihr  einziges  Bestreben  war,  Jesus,  den  sie  mit  der 
ganzen  Leidenschaftlichkeit  ihres  Naturells  liebte  und  verehrte,  zu  huldigen, 
und  sie  that  dies  auch  im  ausgedehntesten  Maße.  Die  liebeglühenden, 
farbenreichen  Gebete,  die  sie  an  „ihren  Erlöser,  ihren  himmlischen 
Bräutigam,  der  schöner  und  begehrenswerther  als  die  Söhne  der  Menschen," 
richtete,  beweisen  das  zur  Genüge. 

Mit  18  Jahren  regte  sich  der  erste  Zweifel  an  der  Unfehlbarkeit  der 
Apostel  in  ihr.  In  der  Charwoche  1866  kam  ihr  die  Idee,  die  Leidens- 
geschichte Christi  an  der  Hand  der  vier  Evangelien  niederzuschreiben,  um 
so  den  Spuren  „der  geheiligten  Füße  Schritt  für  Schritt  zu  folgen,  bis 
sie  zum  Wohle  der  Menschheit  an's  Kreuz  geschlagen  wurden."  Mit  dem 
Muthe,  der  der  Unwissenheit  entsprang,  stellte  sie  die  Aussagen  der  vier 
Evangelisten  nebeneinander  und  mußte  zu  ihrem  Schreck  erfahren,  daß 
diese  nicht  ganz  übereinstimmten.  Sie  unterdrückte  ihre  aussteigenden 
Zweifel  uud  suchte  sich  zu  überreden,  daß  der  Satan  sie  in  Versuchung 
führen  wolle.  Sie  fastete  und  betete  und  nahm  sich  fest  vor,  in  Zukunft 
solche  vergleichende  Studien  zu  unterlassen. 
Im  December  186?  verheirathete  sie  sich  mit  dem  Pastor  Frank 
Besant.  Ihre  Ihatkräflige  Natur  sehnte  sich  nach  einer  ihr  zusagenden  Be- 
schäftigung, und  sie  beschloß,  der  Kirche  und  den  Armen  von  Nutzen  zu 
sein  und  gegen  die  Sünde  und  das  Elend  anzukämpfen.  Von  der  eigent- 
lichen Bedeutung  der  Ehe  wußte  sie  Nichts.  „Die  vollständige  Unschuld 
mag  wohl  in»  Princip  sehr  schön  sein,  aber  ich  habe  es  leider  an  nur  er- 


Freidenkerin  und  Theosophin.  2H3 

fahren,  wie  gefährlich  sie  ist.  Eva  müßte  missen,  welche  Pflichten  und 
Lasten  ihr  bevorstehen,  sobald  sie  ans  dem  Paradies  der  mütterlichen 
Obhut  und  Liebe  auswandert,  um  das  ihr  unbekannte  Land  der  Ehe  zu 
betreten,  wo  die  zarte  Treibhausblume  unvorbereitet  rauhe  Stürme  treffen, 
die  sie  leicht  vernichten  oder  zum  Welken  bringen  können."  Von  ihrer 
Ehe  spricht  Mrs.  Vesant  in  ihrer  Selbstbiographie  gar  nicht;  doch  läßt 
sie  zwischen  den  Zeilen  durchblicken,  daß  sie  keine  besonders  glückliche  ge- 
wesen. Der  Beruf  ihres  Gatten  brachte  es  mit  sich,  daß  er  seine  Frau 
viel  allein  lassen  mußte,  und  diese  fühlte  sich  sehr  einsam  und  verlassen.  Das 
alberne  Geschwätz  ihrer  zahlreichen  Besucherinnen  langweilte  sie,  und  die 
Frau  Pastor  wurde  für  höchst  „sonderbar"  erklärt,  weil  sie  sich  lieber  mit 
den  wichtigen  Fragen,  die  die  Welt  bewegten,  beschäftigte,  „als  sich  darum 
zu  bekümmern,  wie  der  Geliebte  der  Dienstmagd  aussehe  und  ob  man  zum 
Pudding  besser  Schmalz  oder  Nutter  verwende."  In  ihrer  Verlassenheit 
warf  sie  sich  wieder  mit  Leidenschaft  anf's  Studium  und  versuchte  auch, 
kleine  Novellen  zu  schreiben,  die  im  „Family  Herald"  Aufnahme  fanden.  Ihre 
Freude,  als  sie  das  erste  selbstverdiente  Geld  in  den  Händen  hielt,  war 
grenzenlos;  sie  sank  auf  die  Knie  und  „dankte  Gott,"  daß  er  es  ihr  in 
feiner  Gnade  verliehen.  Ein  wunderbares  Gefühl  der  Unabhängigkeit  über- 
kam sie.  Sie  glaubte,  nach  Belieben  über  „ihr  Geld"  verfügen  zu  können, 
und  ahnte  nicht,  daß  nach  damaligem  englischen  Gesetz  eine  verheirathete 
Frau  kein  Verfügungsrecht  besaß;  Alles,  was  sie  verdiente,  gehörte  dem 
Gatten,  wie  sie  selbst!  Diese  Enttäuschung  war  zwar  sehr  groß,  aber  sie 
schrieb  trotzdem  tapfer  weiter,  deun  das  Fabuliren  machte  ihr  Vergnügen 
und  lenkte  sie  von  manchen  Sorgen  ab.  Auch  mit  ernsteren  Arbeiten  be- 
schäftigte sie  sich,  und  zu  diesen  gehörte  nach  ihren:  damaligen  Dafürhalten 
eine  umfangreiche  Broschüre  über  „Die  Pflicht  jedes  gläubigen  Christen,  häusig 
zu  fasten";  „leider"  hat  sich  für  dieses  Thema  niemals  ein  Verleger  gefunden. 
Im  Januar  1869  schenkte  sie  einem  kräftigen  Knaben  das  Leben, 
im  August  1870  einem  zarten  Mägdelein;  ihre  ohnedies  schwache  Con- 
stitution wurde  dadurch  sehr  erschüttert,  und  es  bedurfte  langer  Zeit,  ehe  sie 
sich  wieder  erholte.  Ihre  Mutterpstichten  nahm  sie  ungeheuer  ernst,  und 
die  beiden  kleinen  Menschenkinder  machten  sie  eine  Zeit  lang  der  Litteratur 
abtrünnig,  denn  sie  beschäftigten  sie  vollauf,  da  ihre  vecuniäre  Lage  ihr 
nicht  gestattete,  Wärterinnen  zu  halten.  Im  Frühjahr  1871  erkrankten 
beide  Kinder  am  Keuchhusten;  der  ältere  und  stärkere  Knabe  überwand  ihn 
leicht,  aber  die  schwächliche,  wenige  Monate  alte  Mabel  litt  fürchterlich. 
Ihre  Lungen  wurden  angegriffen,  und  sie  schwebte  wochenlang  in  Todes- 
gefahr. Das  war  eine  entsetzliche  Zeit  für  die  Mutter,  die  das  Kind 
Tag  und  Nacht  auf  ihren  Armen  wiegte.  Um  einen  Erstickungsanfall  zu 
lindern,  drückte  der  Arzt,  der  bereits  jede  Hoffnung  aufgegeben  hatte,  ein 
mit  einem  Tropfen  Chloroform  beträufeltes  Taschentuch  auf  das  schmerz- 
verzerrte Gesichtchen  des  Kindes: 


2HH  Veitha  «»tscher  in  Vaden  (Nieder-Vesteireich). 
„Jetzt  kann  es  ihn,  nicht  mehr  schaden,  und  es  schwächt  den  heftigen 
Anfall  ab,"  meinte  er,  und  wirklich  begann  es  sofort  ruhiger  zu  athmen. 
Mrs.  Besant  wiederholte  dieses  Verfahren  und  glaubt  nur  diefer  Arznei 
das  Leben  ihres  Schmerzenskindes  zu  verdanken,  das  noch  jahrelang  an 
den  Folgen  der  Krankheit  zu  leiden  hatte.  Doch  auch  an  der  Mutter 
gingen  die  qualvollen  Wochen,  die  sie  in  der  Krankenstube  verbrachte,  nicht 
spurlos  vorüber.  In  ihren,  Geiste  hatte  sich,  fast  ohne  daß  sie  es  merkte, 
eine  Wandlung  vollzogen.  Immer  wieder  drängte  sich  ihr  die  Frage  auf: 
„Ist  Gott  wirklich  gut?"  und  mehr  als  einmal  war  sie  in  die  Knie  ge- 
sunken und  flehte:  „Herr  im  Himmel,  Hab'  Erbarmen  und  erlöse  meinen 
Liebling!  Wie  kannst  Du  ein  unschuldiges  Kind  so  martern?  Was  hat 
es  verbrochen,  daß  Du  ihm  solch'  fürchterliche  Qualen  auferlegst?  Wenn 
es  dieses  lammerthal  verlassen  muß,  weshalb  tobtest  Du  es  nicht  sofort?" 
„Allmählich  Wich  sich  eine  Erbitterung  gegen  Gott  in  meine  Seele, 
und  ich  begann  an  feiner  Güte  zu  zweifeln,"  schreibt  sie.  „All  mein  per- 
sönlicher Glaube  an  ihn  und  seine  Macht,  die  Dinge  zu  lenken,  an  seine  All- 
gegenwart und  an  die  Kraft  meiner  Gebete  gerieth  in's  Wanken.  Für 
mich  mar  Gott  keine  abstracte  Idee,  sondern  ein  wirkliches  Wesen,  und  mein 
mütterliches  Gefühl  empörte  sich  gegen  dieses,  weil  ich  nicht  begreifen 
konnte,  weshalb  er  mein  armes  Baby  wochenlang  in  Todesqualen 
schweben  ließ." 

Ein  hochherzig  denkender  Geistlicher,  den  Herr  Besant  zu  seiner  Frau 
gebracht,  als  Mabel  in  größter  Gefahr  geschwebt,  erkannte  sofort  den 
Seelenzustand  Annies  und  bemühte  sich,  sie  zu  trösten  und  ihren  erschüt- 
terten Glauben  wieder  zu  befestige»,  indem  er  der  geistvollen  Frau  ein- 
schlägige Bücher  lieh.  Doch  wenn  man  zu  zweifeln  angefangen,  hat  man 
zu  glauben  aufgehört. 

Der  Gedanke  an  die  Hölle  quälte  sie  am  meisten.  In  den  endlosen 
Nächten,  die  sie  am  Krankenlager  ihres  Kindes  und  an  denjenigen  Anderer 
verbracht  —  sie  hatte  sich  in  ihrem  Sprengel  einen  großen  Nnf  als 
Krankenpflegerin  erworben  —  glaubte  sie  eine  Ahnung  von  den  Qualen 
und  Schmerzen  derselben  bekommen  zu  haben,  und  ihr  Herz  lehnte  sich 
gegen  die  Grausamkeit  des  erschaffenden  und  vernichtenden  Gottes  auf. 
„Jedermann,  der  geglaubt  und  dann  gezweifelt  hat,  weiß,  daß  dem  ersten 
Zweifel  immer  neue  folgen,  ohne  daß  man  sich  ihrer  erwehren  kann.  Eine 
Lehre  nach  der  anderen  steigt  Einem  in  neuer  düsterer  Beleuchtung  auf, 
und  in  diefer  sieht  sie  ganz  anders  aus,  als  sie  uns  durch  den  sanften 
Nebel  des  Glaubens  erschienen  ist.  Das  Vorhandensein  der  Leiden  und 
Schmerzen  in  der  Welt,  die  ein  , guter  Gott~  erschaffen,  die  Ewigkeiten 
überdauernden  Qualen  der  Hölle  trieben  mich  zur  Verzweiflung,  und  dock 
glaubte  ich  noch  an  Gott  Mein  nächster  Schritt  zum  Freidenker- 
thum mar,  daß  ich  mich  gegen  die  Lehre  von  der  Sühne  auflehnte;  ich  be- 
wunderte und  betete  Christus  an,  haßte  aber  Gott,  der  dessen  Todesopfer 


Fieidenkeiin  und  Theos«phin.  3H5 

angenommen.  Monatelang  dauerte  dieser  Kampf,  der  meine  Gesundheit 
aufrieb.  Immer  versuchte  ich  es  von  Neuem,  mich  in  dem  stürmischen 
Meer  meiner  Zweifel  auf  eine  Planke  des  gestrandeten  Schiffes  meines 
Glaubens  zu  retten.  Vergebens.  Mc.  Leod  Camvbell's  Werk  über  die 
Sühne,  Maurices  ,Was  ist  Auferstehung ?~  und  noch  ein  Dutzend  auderer 
Bücher  vermochten  meine  Zweifel  nicht  zu  bannen;  im  Gegentheil,  je  mehr 
ich  darüber  las,  desto  gerechtfertiger  erschienen  mir  dieselben.  Aber  wenn 
sich  diese  eine  Doctrin  als  falsch  erwies,  waren  es  alle  übrigen  nicht 
auch?  Mußte  ich  nicht,  um  Gewißheit  zu  erlangen,  alle  anderen  ebenfalls 
genau  prüfen?  Und  wenn  sie  sich  wirklich  als  falsch  erwiesen?  Dieser 
Gedanke  brachte  mich  den:  Wahnsinn  nahe;  mein  Gehirn  versagte  vollständig 
den  Dienst,  und  ich  lag  wochenlang  in  den  fürchterlichsten  Kopfschmerzen, 
ohne  im  Schlaf  Erlösung  zu  finden.  Als  alle  Medicamente  Nichts  nützten, 
sah  mein  Arzt  ein,  daß  er,  wenn  er  mich  am  Leben  erhalten  wolle, 
meinen  Geist  in  andere  Bahnen  lenken  müsse,  und  so  brachte  er  mir  ein 
interessantes  Buch  über  Anatomie.  Wer  es  nicht  selbst  empfunden  hat, 
kann  unmöglich  die  Seelengualen  kennen,  die  auf  ein  wirklich  religiöses 
Gemüth  einstürmen,  wenn  sich  die  ersten  Zweifel  einstellen.  Es  giebt 
keinen  Schmerz  auf  Erden,  der  schrecklicher  wäre,  und  ich  habe  ihn  bis  auf 
die  Neige  durchkostet." 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  an  der  Hand  der  Autorin  all  die 
Stadien  ihrer  Zweifel  durchzumachen.  Wir  wollen  nur  feststellen,  daß  sie 
sämmtliche  Dogmen  der  christlichen  Religion  der  Neihe  nach  durchnahm, 
um  sie  auf  ihre  Wahrheit  und  Richtigkeit  zu  prüfen.  Das  Resultat  war 
für  sie  ein  trostloses. 

Durch  die  Vermittlung  seiner  Gattin  gelang  es  Herrn  Besant,  eine 
Staatspfarre  zu  bekommen,  —  in  dein  Dörfchen  Sibsep,  —  mit  einem 
lahresgehalt  von  ~,  410.  Somit  waren  sie  ihrer  Nahrungssorgen  ent- 
enthoben, und  da  Frau  Annie  auch  keine  gesellschaftlichen  Pflichten  hatte, 
denn  die  zum  Sprengel  gehörenden  Leute  waren  zumeist  Arbeiter  und  ein- 
fache Landwirthe,  konnte  sie  sich  viel  ihren  Grübeleien  hingeben. 
„Wie  kann  Gott  seine  Geschöpfe  wegen  ihrer  Sünden  zu  ewiger 
Strafe  verdammen,  da  er  weiß,  daß  sie  diese  Sünden  ohne  ihren  eigenen 
Willen  ererbt?  Da  er  die  Welt  nach  seiner  Laune  erschaffen,  weshalb 
hat  er  die  Sünde  überhaupt  in  die  Welt  gesetzt?  Kann  ein  Gott  gut 
sein,  der  seine  Geschöpfe  zu  ewiger  Verdammnis,  verurtheilt?  Wenn  Gott 
allmächtig  ist,  so  kann  er  das  Böse  und  die  Sünde  auch  verbinden,,  und 
thut  er  es  uicht  und  sieht  ruhig  oder  gleichgiltig  die  Kämpfe  auf  Erden 
mit  an,  dann  ist  er  eben  nicht  gut,  und  wünscht  er  wieder,  sie  aus  der 
Welt  zu  schaffen,  und  kann  nicht,  nun,  dann  ist  er  eben  nicht  allmächtig! 
In  diefem  Cirkel  drehten  sich  ihre  Gedanken  fortwährend,  ohne  daß  sie 
einen  Ausweg  finden  konnten  trotz  der  vielen  Bücher,  die  sie  über  diese 
Themata  gelesen.  An  der  Existenz  Gottes  zu  zweifeln,  fiel  ihr  damals 


2H6  Vertha  Katschei  in  Vaden  (Nieder-Vesterreich), 
noch  nicht  ein.  Sie  correspondirte  mit  verschiedenen  Geistlichen,  an  die 
sie  sich  in  ihrer  Noth  um  Aufklärung  wandte,  aber  sie  wurde  stets  aus 
neue  Bücher  verwiesen  oder  mit  blumenreichen  Phrasen  abgespeist.  Dabei 
hatte  sie  als  Pastorsgattin  oft  genug  Gelegenheit,  das  Elend  dieser 
Welt  in  den  verschiedensten  Gestalten  kennen  zu  lernen,  auch  zu  lindem. 
Sie  schien  von  der  Natur  zur  Krankenpflegerin  bestimmt  und  entzog  sich 
niemals,  wo  es  Noth  that,  diesem  Amte.  Gar  manche  Mutter  in  Sibsen 
hatte  ihrer  sorgsamen  Pflege  und  Nachtwache  das  Leben  ihres  Kindes  zu 
danken.  Trotz  all  ihrer  Zweifel  besuchte  sie  nach  wie  vor  fleißig  die  Kirche 
und  fprach  mit  Niemanden,  über  ihre  Grübeleien,  um  nicht  auch  den  Glauben 
Anderer  zu  erschüttern. 

Im  Sommer  1872  lernte  sie  in  London,  wo  sie  längere  Zeit  in  der 
Behandlung  eines  Arztes  stand,  Charles  Voysey  kennen,  und  dieser  frei- 
sinnige Prediger  war  es  auch,  der  ihr  einen  Weg  aus  dem  Chaos  ihrer 
Gedanken  bahnte.  Er  hatte  wie  sie  gekämpft,  ehe  er  all  die  „barbarischen 
Dogmen  der  christlichen  Kirche  über  Nord  geworfen",  und  sich  nur  den 
Glauben  an  Gott  bewahrt.  Auf  seine  Veranlassung  las  sie  Theodore 
Parkers,  Francis  Newmans  und  Anderer  hervorragende  deistische  Werke,  und 
auch  sie  verbannte  bald  alle  Dogmen,  um  sie  nie  wiederauferstehen  zu  lassen, 
aber  mit  ihnen  auch  den  Glauben  an  das  Christenthum  selbst.  Am  schmerz- 
lichsten empfand  sie  es,  Christus  feiner  Göttlichkeit  entkleiden  zu  müssen. 
Da  ihr  jedoch  die  Wahrheit  höher  stand  als  ihre  persönliche  Ruhe,  forschte 
sie  tapfer  weiter,  indem  sie  sich  sagte:  „Ist  Jesus  von  Nazareth  ein  Gott, 
dann  wird  meine  Forschung  ihn  seiner  Gottheit  nicht  berauben;  ist  er  aber 
ein  Mensch,  dann  ist  es  Blasphemie,  ihn  anzubeten."  Sie  vertiefte  sich 
in  Nenans  „Leben  Jesu,"  Liddons  „Vorträge"  und  das  Evangelium, 
konnte  jedoch  zu  keinem  endgiltigen  Ergebnis?  gelangen;  sie  neigte  sich  immer 
mehr  der  Anficht  zu  und  wurde  durch  die  vier  Evangelisten  in  der- 
selben nur  bestärkt,  daß  Christus  ein  leidender,  sündigender,  ringender 
Mensch  gewesen,  der  gerne  die  Welt  verbessert  hätte,  deren  Mängel  er 
erkannt,  aber  kein  Gott.  Und  als  auch  der  berühmte  Orforder 
Professor  Pusey,  der  Führer  der  Orthodoreu-Partei,  den  sie  aufsuchte,  ihr 
keine  näheren  Aufklärungen  geben  konnte  oder  wollte,  sondern  ihr  nnr  mit 
der  ewigen  Verdammniß  drohte,  wenn  sie  solch  ketzerischen  Anschauungen 
huldige,  da  war  sie  für's  Christenthum  verloren  und  fest  entschlossen,  mit 
der  Vergangenheit  zu  brechen. 

„Sie  haben  kein  Recht,  Gott  Bedingungen  zu  stellen  über  das,  was 
Sie  glauben  und  nicht  glauben  wollen.  Ich  verbiete  Ihnen,  Ihren  Un- 
glauben zu  bekennen,"  rief  der  fromme  Doctor  Pusey  erregt  aus.  Aber 
die  resolute,  wahrheitsliebende  Frau  lies;  sich  eben  Nichts  verbieten,  was 
ihr  Gewissenssache  war.  Heimgekehrt,  tbeilte  sie  dem  Gatten  ihren  Stand- 
punkt offen  mit.  Da  sie  noch  immer  Deistin  war,  weigerte  sie  sich  nicht, 
dem  gewöhnlichen  Gottesdienst  beizuwohnen,  nnr  dem  „Gottessohne"  wollte 


Fleidenkerin  und  Theosophin.  —  3H? 

sie  keine  Huldigung  mehr  darbringen,  und  so  wurde  denn  beschlossen,  daß 
sie  sich  an  dein  Abendmahl  nicht  betheiligen  werde.  Eine  Zeit  lang  ging 
Alles  gut.  Aber  als  sie  sich  das  erste  Mal  während  dieser  heiligen 
Function  aus  der  Kirche  entfernte  und  den  frommen  Betschwestern,  die 
in  der  Meinung,  sie  sei  plötzlich  unwohl  geworden,  sie  besuchten,  um  sich 
nach  ihrem  Befinden  zu  erkundigen,  die  Wahrheit  mittheilte  —  denn 
sie  vermochte  nicht  zu  lügen  —  da  konnten  sich  die  braven  Frauen  vor 
Entsetzen  tauin  fassen.  Die  Gattin  eines  Pastors,  die  nicht  an  Christus 
glaubte,  —  hatte  man  schon  so  Etwas  gehört?!  Auch  einige  Mitglieder 
der  Familie  Bescmt  steckten  in  Hellem  Entsetzen  die  Köpfe  zusammen,  und 
es  wurde  so  lange  gehetzt,  bis  man  die  muthige  Frau  vor  die  Alternative 
stellte,  entweder  dem  Abendmahl  beizuwohnen  oder  ihr  Heim  zu  verlassen 
—  also  entweder  Heuchelei  oder  Verbannung  —  und  sie  wählte  die  letztere, 
nicht  ahnend,  wie  grausam  die  Welt  sie  verurtheilen  würde.  Eine  allein- 
stehende junge  Frau  ist  immer  der  Verleumdung  ausgesetzt,  wie  erst, 
wenn  sie  unter  solchen  Umständen  Mann  und  Kinder  und  Heim  verläßt! 
Es  wurde  ihr  unendlich  schwer,  sich  von  ihrem  Knaben  —  das  Mädchen 
wurde  ihr  gesetzlich  zuerkannt  —  zu  trennen,  dem  sie  Mutter,  Pflegerin 
und  Spielgefährtin  gewesen,  aber  sie  vermochte  selbst  um  des  Kindes 
willen  kein  Leben  voll  Lüge  und  Heuchelei  auf  sich  zu  nehmen,  und  so  trat 
sie  denn  im  Besitz  ihrer  kleinen  Tochter  und  eines  ihr  zugesprochenen  Ein- 
kommens, das  sie  knapp  vor  dem  Verhungern  schützte,  ein  neues  Leben  an. 
Anfänglich  mußte  sie  hart  um's  tägliche  Brot  kämpfen,  sie  versuchte  es 
zuerst  mit  Handarbeiten,  doch  wurden  dieselben  so  schlecht  bezahlt,  daß  sie 
diesen  Erwerb  bald  aufgab  und  Lectionen  suchte.  Aber  Niemand  wollte 
einer  Ketzerin  seine  unschuldigen  Lämmchen  anvertrauen.  In  dieser  schweren 
Zeit  stand  ihr  das  Ehepaar  Scott,  das  sie  durch  Voysey  kennen  gelernt 
hatte,  thatkräftig  zur  Seite.  Mr.  Scott,  ein  alter  Herr,  der  ein  sehr  be- 
wegtes Leben  hinter  sich  hatte,  führte  ein  offenes  Haus,  in  welchem  viele 
Freidenker  verkehrten  und  solche,  die  sich  auf  dem  Wege  zum  Freidenker- 
thum befanden.  Auch  gab  er  eine  Zeitschrift  heraus,  die  er  gratis  in 
die  Welt  verschickte-,  seine  Mitarbeiter,  ob  der  gemäßigteren  oder  der  ganz 
radicalen  Richtung  angehörend,  brauchten  kein  Blatt  vor  den  Mund  zu 
nehmen,  aber  die  Art  und  Weise,  in  welcher  sie  ihre  Ansichten  aussprachen, 
mußte  vornehm  sein.  Mr.  Scott  hielt  viel  auf  einen  guten  Stil  und  ein 
reines  Englisch.  Er  veranlaßte  Mrs.  Vesant,  sich  mit  philosophischen 
Werken  der  Neuzeit  bekannt  zu  machen;  unter  seiner  Führung  erweiterte 
sich  ihr  Gesichtskreis  immer  mehr,  und  bald  gehörte  sie  zu  seinen  fleißigsten 
Mitarbeiten:,  Durch  angestrengte  literarische  Arbeit  war  es  ihr  denn  auch 
gelungen,  sich  in  einem  Vororte  Londons  ein  bescheidenes  Heim  zu  gründen, 
das  sie  mit  ihrer  leidenden  Mutter  theilen  wollte.  Das  Schicksal  machte  ihr 
einen  argen  Strich  durch  die  Rechnung;  der  zarte  Organismus  der  alten 
Dame  war  durch  die  jahrelangen  Sorgen  und  Plagen  vollständig  aufge- 


3^8  Aeitha  Ratschei  in  Vaden  (Niedei-Gesterreich). 
rieben,  und  sie  verschied  nach  langem  Krankenlager  in  den  Armen  ihrer  ge- 
liebten Tochter,  die  sie  zärtlich  gepflegt  hatte.  Auch  diesen  harten  Schlag 
überwand  die  tapfere  Frau;  um  sich  ihren  quälenden  Gedanken  zu  entziehen, 
studirte  sie  mit  Feuereifer  philosophische  Werke,  die  sie  Schritt  für  Schritt 
dazu  brachten,  ihren  Gottesglauben  abzustreifen.  Moncure  D.  Conwan, 
dessen  Vorträge  sie  fleißig  besuchte,  machte  sie  auf  den  Führer  der  englischen 
Freidenker,  Charles  Bradlaugh,  aufmerksam.  Sie  las  zuerst  seine 
Schriften:  „Giebt  es  einen  Gott?"  und  „Ein  Wort  zu  Gunsten  des 
Atheismus."  Diese  machten  tiefen  Eindruck  auf  sie,  denn  sie  drückten  in 
geistvoller  Weise  aus,  was  sie  längst  schon  gedacht  und  empfunden  hatte. 
Am  2.  August  1874  setzte  sie  zum  ersten  Mal  ihren  Fuß  in  „HaN  ok 
Lcisnes",  ~  hje  Gesellschaft  der  Freidenker  ihre  Versammlungen  abhielt, 
um  aus  der  Hand  Nradlaughs  ihre  Mitgliedskarte  zu  erhalten  und  seinem 
Vortrag  über  „die  Vorfahren  und  die  Geburt  Christi"  beizuwohnen. 
Schon  nach  wenigen  Tagen  bot  Bradlaugh  ihr  eine  feste  Anstellung 
als  Mitredacteurin  feines  „National  Nstormsi-"  an  —  eine  Stellung, 
die  sie  bis  Ende  189U  beibehielt.  Nebenbei  entfaltete  sie  als  Schriftstellerin 
und  Agitatorin  eine  arbeitsvolle  Thätigkeit.  Mrs.  Vesant  wurde  während 
dieser  Zeit  viel  bewundert  und  viel  verleumdet  —  Neides,  weil  sie  zeigte, 
wie  sich  ein  starker  Geist  trotz  der  frömmsten  Erziehung  über  alle  Vor- 
urtheile  erhebt  und  alle  Schranken  durchbricht,  wenn  er  Etwas  als  Wahr- 
heit und  Recht  erkennt.  In  der  Männerwelt  giebt  es  viele  derartige  Bei- 
spiele, aber  unter  den  Frauen  haben  bisher  nur  wenige  den  Muth  ge- 
funden, gleich  Mrs.  Vesant  zu  ringen,  zu  kämpfen,  den  Verleumdungen 
und  Vururtheilen  der  Welt  offen  die  Stirne  zu  bieten!  Wie  groß  ihr  An- 
sehen in  unbefangenen  Kreisen  war,  geht  u.  A.  aus  der  Thatsache  hervor, 
daß  der  berühmte  englische  Dichter  Gerald  Massen,  der  ein  frommer  Christ 
ist,  trotz  dieser  seiner  Eigenschaft  unsere  Freidenkerin  vor  6—8  Jahren 
in  einer  begeisterten  ~de  gefeiert  hat. 

Und  diefe  Frau,  die  logisch  schärfste  Freidenkerin,  die  es  geben  kann, 
mußte  sich  in  die  hirnverbrannte  Mystik  der  Theosophie  verbohren!  Es  ist 
jammerschade  um  sie.  Wird  die  jetzige  Hohepriesterin  der  Blawatzki'schen 
Secte  je  wieder  ihre  Fesseln  abstreifen?  Wird  sie  vielleicht  noch  andere 
Wandlungen  durchmachen?  Oln  lu  «a?  .... 
?~7 


Der  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen 

Hintergrunde. 

von 

August  Wünsche. 
—  Dresden.  — 

?r  ausgezeichneten  Forschergabe  und  dem  liebevoll  sich  versenkenden 
Tiefblick  eines  Jakob  Grimm  ist  es  gelungen,  den  Nachweis 
zu  führen,  wie  die  deutsche  Mythologie  auf  denselben  Grund- 
anschauungen wie  die  nordische  beruht.  Es  gebührt  ihnen  das  Verdienst, 
die  Landenge,  welche  die  nordische  von  der  deutschen  Götterwelt  trennte, 
durchstochen  und  die  beiden  Sagenfluthen  als  etwas  Zusammengehöriges 
wieder  vereinigt  zu  haben.  Was  Jakob  Grimm  begonnen,  haben  Andere 
wie  Karl  Simrock,  Wilh.  Mannhardt,  Ad.  Holtzmann,  E.  Rocholz,  Joseph 
Zingerle  u.  A.  immer  mehr  zur  Vollendung  geführt.  Der  klare  Ueberblick, 
den  wir  durch  den  Fleiß  der  Forschung  dieser  Männer  gewonnen,  zeigt 
uns,  wie  nach  allen  Seiten  selbst  unser  heutiges  deutsches  Leben  in  Sprache, 
Sitte  und  Gebrauch  reich  ist  an  mythologischen  Anklängen.  Die  Götter 
unserer  heidnischen  Vorfahren  leben  noch  in  unser»  Märchen  und  Sagen 
fort,  und  sie  schalten  und  walten  darin  so  lebendig,  daß  unsere  Kinder  mit 
Entzücken  der  wunderbaren  Mär  lauschen  und  sich  den  Kopf  zerbrechen 
über  den  Menschenfresser  im  Däumling  und  über  das  Hinkelbeinchen  in 
den  sieben  Raben.  Wissen  wir  nicht  Alle,  daß  hinter  dem  Knecht  Ruprecht, 
dem  vermummten  Mann  mit  den,  großen  Barte,  Odin,  die  höchste  nordische 
Gottheit,  sich  verbirgt?  Auch  der  König  Drosselbart  des  deutschen  Märchens, 
ferner  der  wilde  Mann  mit  dein  entwurzelten  Tannenbaum  in  der  Hand, 
der  auf  vielen  alten  Wirthshausschildern  noch  zu  sehen  ist,  ist  Niemand 
anders  als  Odin.  Sein  Speer  Gungir,  das  von  Invaldis  Sühnen,  den 
drei  Zwergen,  verfertigte  wunderbare  Kunststück,  ist  der  Knüppel  aus  dem 


250  August  wünsch«  in  Viesden. 

Sack  im  Märchen:  Tischchen,  deck'  dich,  Esel,  streck'  dich.  Hinter  dem 
Menschenfresser  im  Däumling  steht  ~der  Niese  Hnmir,  und  Kleindäumchen 
ist  Thor,  der  mächtige  Donnerer,  der  sich  im  Däumling  des  Niesenhand- 
schuhes  zu  verbergen  sucht.  Wer  kennt  nicht  das  Märchen  Ivom  starken 
Hans,  der  sich  die  Glocke  als  Schlafmühe  über  den  Kopf  stülpt?  Das  ist 
Thor,  wie  er  den  mäcltigen  Kessel  des  Hnmir,  in  den,  dreizehn  Schmiede 
hämmern,  ohne  einander  zu  hören,  auf  seinem  Haupte  fortträgt.  Auch 
die  beiden  Frauen  in  Hymirs  Halle  finden  sich  in  den  Märchen  wieder. 
Die  alte  neunhundertköpfige  Frau  erscheint  als  des  Teufels  Großmutter, 
die  jüngere,  allgoldene,  weißbrauige  ist  die  Frau  des  Menschenfressers,  die 
fchützeud  und  rettend  eingreift.  Und  wie  steht's  mit  unserm  lieben,  wohl- 
bekannten ^Dornröschen?  Es  ist  die  in,  Winterschlaf  ruhende  Erde,  die 
Odins  Sonnenblick  wachküßt,  deren  Oberstäche  er  mit  seinem  Goldschwerte 
ritzt,  daß  sie  Keime  und  Sprossen  aus  ihrem  Schooße  heruortreibt.  Und 
ist  nicht  Barbarossa  im  Kuffbäuser  auch  ,'eine  Erinnerung  an  Odin?  Die 
alte  deutsche  Sage  erzählt:  Odin  sitzt  im  hohlen  Berge,  der  die  Unterwelt 
bedeutet,  sein  Bart  ist  schon  zwei  Mal  um  den  Tisch  gewachsen,  seine 
Naben  stiegen  umher,  und  neben  ihm  schlafen  seine  Helden  dem  Tag  der 
Entscheidung  entgegen,  dessen  Anbruch  der  Schall  seines  Horns  verkünden 
wird.  In  der  nordischen  Sage  lebt  er  nicht  im  hohlen  Berge,  sondern 
in  Asgard  oder  Wallhall,  also  in  einem  überirdischen  Himmel,  den  er  mit 
seinen  Helden  theilt.  Auch  hier  finden  wir  das  Hörn  bei  ihm,  das  den 
Anbruch  des  jüngsten  Tages  verkündigen  wird.  Das  Wächterhorn  Odins 
lebt  noch  heut  in  den.  Hörn  des  Nachtwächters  fort.  Odins  Attribute,  die 
Naben,  sind  auch  Barbarossas  Begleiter,  sie  müssen  ausstiegen,  um  den 
Stand  der  Dinge  in  der  Welt  zu  erforschen,  ob  er  aus  feinem  Schlaf  er- 
wachen darf.  Wenn  er  aufsteht,  dann  ist  die  Macht  der  Finsternis?  über- 
wunden, und  der  leuchtende  Sonnenwagen  rollt  wieder  über  die  Erde,  dahin. 
So  finden  sich  allenthalben  geistige  Beziehungen  mit  einer  Zeit,  die  wir 
längst  als  ausgelebt  zu  betrachten  uns  gewöhnt  haben. 
Es  ist  eine  Hervorragende  S>nte  des  ^deutschen  Volkscharakters,  alte 
Anschauungen  fortzupflanzen,  sie  in  das  Gewand  der  neuen  Culturentwickelung 
umzukleiden  und  dabei  doch  Iden  Kern  zu  wahren.  Die  Sinnigkeit  und 
Innigkeit,  mit  der  der  Deutsche  auch  die  Fäden  der  Vorzeit  in  das  Gewebe 
der  neuen  Anschauungen  aufnimmt,  mag  ihn,  wohl  in  den  Augen  anderer 
Völker,  die  leichter  mit  dem  Alten  abschließen  und  etwas  Neues  beginnen, 
den  Nuf  eines  zwar  hochgebildeten,  aber  phlegmatischen  Volkes  eingebracht 
haben.  Ausländische  Zeitungen,  darunter  besonders  Pariser,  gefielen  sich 
früher  darin,  uns  spottweise  >den  deutschen  Michel  zu  'nennen,  und  selbst 
im  deutschen  Volke  ist  die  Nedensart  eine  sehr  gebräuchliche,  wie  zahlreiche 
Stellen  ans  der  Litteratur  beweisen. 
So  lautet  ein  Sprichwort  bei  Sebastian  Frank  (15.  lahrh.):  In 
nödigen  Sachen  aber  könden  sie  (die  Weiber)  weniger  denn  der  teutsch 


ver  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen  Hintergründe, 
Michel".  Desgleichen  sagt  Philander  von  Sittewald:  „Heuchelstu  nicht 
mit,  sondern  wirst  als  ein  redlicher,  deutscher  Michel  frei  durchgehen  und 
aus  gutem  Herzen  alles  meinen,  reden  und  thun  wollen."  Nabener  be- 
merkt in  einer  seiner  Satiren:  „Der  beste  deutsche  Poet  ist  in  den  Augen 
der  lateinischen  Welt  weiter  Nichts  als  ein  deutscher  Michel,  oder  höchstens 
ein  leidlicher  Versmacher,"  Goethe  schildert  in  seinein  Gedichte:  „Musen 
und  Grazien  in  der  Mark"  den  deutschen  Michel  mit  den  Worten: 
„Las;  den  Witzling  uns  beslichcln, 
Glücklich,  wenn  ein  deutscher  Mann 
Seinem  Freunde,  Vetter  Micheln, 
Guten  Abend  bieten  kann. 
Wie  ist  der  Gedanke  labend, 
Solch  ein  Edler  bleibt  u»Z  nah', 
Immer  sagt  man:  Gester»  Abend 
War  doch  Vetter  Michel  oa!" 

Än  einer  anderen  Stelle  äußert  er  sich:  „Bei  welchen  Gelagen  uns 
denn  freilich  manchen  Abend  Vetter  Michel  in  seiner  wohlbekannten  Deutsch- 
heit zu  besuche«  nicht  verfehlte."  In  gleicher  Weise  singt  Simrock: 
Der  nute  deutsche  Michel  Ihm  ließ  so  oft  zur  Ader 
Veschäftigt  letzt  gar  viel  John  Null  und  auch  Mnnhecr, 
Reißfeder,  Stift,  Grabstichel,  Der  war  der  schlimmst«  Bader, 
Dazu  den  Gänsekiel.  Rief  stets:  H»8q>>'»  I»  m«i! 
Man  ficht  den  Ungcniacn  Mit  Aberlaiien,  Schrövfen 
Ohnmäcktin  daraeliellt,  Orschövften  sie  ihn  ganz. 
Als  läa'  in  letzten  Zügen  Am  linde  wird  ihn  laufen 
Der  wunderstarle  Held.  Noch  gar  sein  Nachbar  Franz," 
Bei  Platen  in  einem  Gedichte:  „An  Tieck"  lesen  wir: 
.Man  nagt's,  den  Calderon  Dir  auszuvochen. 
Das  lieh  vom  deutläen  Michel  sich  eiwanen." 
Börne  spricht  einmal  vom  „vierschrötigen  deutschen  Michel". 
In  dem  Worte  „Michel"  haben  wir  jedenfalls  eine  Verschmelzung 
des  in  allen  germanischen  Sprachen  vorkommenden  Adjectivs  „michel"  in 
der  Bedeutung  von  grost,  mächtig,  stark  mit  dem  hebräischen  Eigennamen 
des  Erzengels  Michael.  Was  nun  den  ersten  Theil  der  Verschmelzung, 
das  Adjectiv  „mickel"  anlangt,  so  begegnet  es  uns  häufig  in  mittelalter- 
lichen Litteraturwerken,  So  lä,')t  Walther  von  der  Vogelweide  (~  um 
1230)  in  seinem  Gedickte:  „Die  Dranmdeuterin"  den  von  dem  Geschrei 
einer  Krähe  aus  seinem  süsien  Traum  aufgeschreckten  Schläfer  fagen: 
„Sie  nom  mir  michel  Winnie; 
von  ihr  schrie»  ich  erschiac," 

Tauler  (1598)  sagt  in  einer  seiner  Predigten:  „Und  seine  J  ünger 

seind  mit  ihm  gangen,  dorn  eine  völlige,  michele,  merkliche  Schar."  Etterlin 

(15N7)  schreibt:  „Dieweil  sie  von  grofen  Gcschlechten  war,  auch  iro  ein 

michelteil  war."  Bei  SchuvuiuZ  (im  16.  Inhrh)  lesen  wir:  „Drauf 

lächelt  der  gute  Zerr  Melanchthou,  denn  er  hatte  des  Dankes  von  seinigen 


August  wünsche  in  vresden, 

em  michelteil  bekommen."  In  einem  alten  Volkslieds  bei  Uhland  endlich 

findet  sich  die  Stelle: 

„Die  J  uden  kamen  zusammen, 

Ter  war  ein  michel  Schar.' 

Auch  Länder-  und  Ortsnamen  sind  mit  dem  Worte  „michel"  gebildet 
worden,  z.  N.  Mecklenburg,  Michelbach,  Michelstadt.  In  Deutschlothringen 
sagt  man  noch  heute  „michel"  in  der  Vedeutung  von  groß,  im  Gegensatz 
zu  „lützel"  im  Sinne  von  klein,  wie  z.  B.  Lützelburg  (Luxemburg),  Lützel- 
wiebelsbach, Lützelrimbach.  In  Ostfriesland  heißt  es  „lüttje",  wie  die 
Ortsnamen  Lüttjenhastet,  Lüttjen  Wistedt*)  beweisen.  Der  schwäbische  Volks- 
mund sagt:  „fürn  Michelle  halten",  wenn  Jemand  gehänselt  wird.  Auck 
Zusammensetzungen  niit  dem  Worte  „michel"  kommen  vor,  wie  Quatsch- 
michel, ein  alberner  Schwätzer,  Kloßmichel  (besonders  in  der  Gegend  von 
Nördlingen  gebräuchlich,  wo  der  letzte,  der  in  die  Schule  kommt,  so  be- 
zeichnet wird),  Hulmichel,  ein  weinerlicher  Mensch.  Wenden  wir  uns  zum 
andern  Theil  der  Verschmelzung,  zum  Eigennamen  des  Erzengels  Michael. 
Dieser  ist  bekanntlich  einer  der  drei  großen  Engelfürsten.  Er  gilt  als 
Anführer  der  himmlischen  Heerschaaren,  wie  als  Führer  der  abgeschiedenen 
Seelen  und  als  Schutzpatron  der  streitenden  Kirche.  Nach  David  Strauß 
hat  Gott  die  Vorsehung  für  sich  behalten,  die  Leitung  aber  der  einzelnen 
Angelegenheiten  den  Erzengeln  übertragen,  und  zwar  stand  Gabriel  an  der 
Spitze  des  Kriegswesens,  Naphael  an  der  Spitze  des  Medicinalwesens  und 
Michael  an  der  Spitze  des  Eultus.  Während  Gabriel  und  Naphael  im 
christlichen  Cultus  zurückgetreten  sind,  spielt  Michael  noch  immereine  große 
Nolle.  Er  wird  Schutzpatron  des  deutschen  Volkes  (protector  6eriuni>i»v) 
und  kommt  als  solcher  auf  die  deutsche  Neichsfahne.  Daß  Völker  ihre 
Schutzengel  haben,  zeigt  uns  fchon  das  Vnch  Daniel.  Der  Schutzengel 
eines  Volkes  ist  gewissermaßen  sein  Musterbild,  ebenso  wie  der  gute  Genius 
das  Musterbild  des  Einzelnen  ist.  Als  Nepräsentant  des  deutschen  Volkes 
ist  Michael  ein  Collectiubegriff  geworden.  Wenn  man  nun  vom  deutfchen 
Michel  redet  und  damit  einen  plumpen,  derben,  klotzigen  Deutschen  meint, 
so  geht  die  Eollectivbedeutung  des  Wortes  in  die  Appellativbedeutung  über. 
Daß  ein  Einzelbegriff  in  einen  Eollectivbegriff  übergeht,  kommt  oft  vor. 
Sagt  man  doch  „John  Bull"  und  meint  damit  das  ganze  englische  Volk**), 
Vruder  J  onathan  und  meint  damit  das  gesnmmte  Volk  der  nordamerika- 
nischen Freistaaten  yv*),  Adam,  der  erste  Mensch,  wird  Bezeichnung  für  die 
*)  Vergl.  Ernst  Förstcnmann,  die  deutschen  Ortsnamen,  Nordhausen  1863. 
**)  John  Bull,  eigentlich  Hans  Stier  oder  Hans  Ochse,  wurde  zuerst  von  dem 
Satiriker  Swift  (1667—1745)  in  Gang  gebracht,  Die  Engländer  selbst  bezeichnen 
damit  eine»  redlichen,  derben,  gutmüthigen  Charakter;  Ausländer  dagegen  meinen  damit 
die  Nationaleigenhciten  und  Vorurtheile  des  englischen  Volke«,  besonders  die  Unfähigkeit 
desselben,  sich  in  die  Gewohnheiten  anderer  Länder  zu  fügen. 
***)  Washington  sagte,  als  er  im  Freiheitskriege  1775  über  die  Anschaffung  von 
Vertheibigungsmitteln  in  Verlegenheit  war,  in  einer  Berathung  mit  seinen  Offizieren: 


Der  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen  Hintergründe, 
gefallene  Menschheit,  und  Christus  ist  bei  Tertullian  die  rsoapiwlatio 
dumani  ß6N6i-i8,  stellt  also  die  ganze  Menschheit  dar,  wie  sie  nach  Gottes 
Ebenbild  sein  soll.  Auch  in  der  Thierwelt  haben  wir  ein  analoges  Bei- 
spiel, insofeni  Reineke  Fuchs  der  Repräsentant  aller  Füchse  ist. 
Betreffs  der  Frage:  wann  und  wo  die  Bezeichnung  „Deutscher 
Michel"  aufgekommen  ist,  giebt  es  zwei  Ansichten.  Nach  der  einen  rührt 
sie  von  den  Franzosen  her,  nach  der  anderen  ist  sie  aus  dem  Herzen  des 
germanischen  Volkes  selbst  herausgewachsen.  Wattenbach  macht  im  Anzeiger 
des  germanischen  Museum  1869  auf  die  merkwürdige  Erscheinung  der 
„Michelsbrüder"  aufmerksam.  In  der  Normandie,  am  Busen  von  St.  Michel 
liegt  ein  Berg  Mont  St.  Michel,  zu  dem  Deutsche,  namentlich  deutsche 
Knaben,  ehedem  Wallfahrten  unternahmen.  Man  verspottete  diese  Wall- 
fahrer und  nannte  sie,  wie  aus  der  Verordnung  eines  Betteloogtes  zu 
Baden  1528  hervorgeht,  Michelsbrüder.  Das  französische  Wort  miquslot 
(Betteljunge,  frömmelnder  Heuchler)  steht  jedenfalls  hiermit  im  Zusammen- 
hange. Frisch  dagegen,  der  um'sjahr  1730  lebte,  behauptet,  „der 
deutsche  Michel"  sei  bereits  im  16.  J  ahrhundert  gebräuchlich  gewesen  und 
weise  entschieden  auf  eine  Einzelpersönlichkeit  hin.  Er  setzt  somit  den  Zu- 
sammenhang der  Redensart  mit  den  Michelsbrüdern  in  Frage.  Wir 
neigen  der  Ansicht  zu,  daß  der  Name  „deutscher  Michel"  entschieden 
deutschen  Ursprungs  ist,  und  stimmen  mit  Frisch  überein,  daß  er  auf  eine 
Einzelperson  hindeutet,  und  zwar  auf  keine  andere  als  die  des  Erzengels 
Michael.  Daß  diefe  heilige  Figur  aber  in  gewisser  Beziehung  in  eine 
Spottfigur  übergehen  konnte,  dafür  giebt  uns  die  deutsche  Mythologie  hin- 
reichend Aufschluß. 

Es  steht  fest,  daß  man  bei  Bekehrung  unserer  alten  heidnischen  Vor- 
fahren von  Seiten  der  Kirche  absichtlich  sehr  vorsichtig  verfuhr.  Man  ließ 
ihnen  ihre  Götzentempel,  entfernte  aber  die  Motzen  und  legte  Reliquien  dafür 
hinein.  Ihre  Feste,  Schmausereien  und  Zechgelage  änderte  man  nur 
insofern,  als  man  ihnen  einen  christlichen  Sinn  unterschob.  Vemerkensmerth 
ist  in  dieser  Beziehung  ein  Brief  des  Papstes  Gregor  I.  an  den  Abt 
Melittus  (596).  „Sagt  dem  Augustinus,"  schreibt  er,  „daß  man  die 
Götzenkirchen  bei  jenem  Volke  (den  Angelsachsen)  ja  nicht  zerstören,  sondern 
nur  die  Götzenbilder  darin  vernichten,  das  Gebäude  mit  Weihwasser  be- 
sprengen, Altäre  bauen  und  Reliquien  hineinlegen  soll.  Denn  sind  jene 
Kirchen  gut  gebaut,  so  muß  man  sie  vom  Götzendienst  zur  wahren  Gottes- 
verehrung umschaffen,  damit  das  Volk,  wenn  es  seine  Kirchen  nicht  zerstören 
sieht,  von  Herzen  seinen  Irrglauben  ablege,  und  um  so  lieber  an  den 
Stätten,  die  es  gewöhnt  ist,  sich  versammle.  Ihre  Sitte,  bei  Gützenopfern 
„Wir  müssen  Bruder  J  onathan  fragen,"  womit  er  seinen  Freund  J  onathan  Tmmbull, 
Gouverneur  von  Connecticut,  meinte.  Später  wurde  Washingtons  Ausspruch  zum 
witzelnden  Sprichwort. 


August  wünsche  in  Dresden. 

.  Achsen  zu  schlachten,  muß  ihnen  zu  irgend  einer  christlichen  Feierlich- 
keit umgewandelt  werden.  Am  Gedächtnißtnge  der  heiligen  Märtyrer  sollen 
sie  Hütten  von  Baumzweigen  um  ihre  Götzenkirchen  machen,  nicht  mehr 
dem  Teufel  Thiere  opfern,  sondern  sie  zum  Lobe  Gottes  für  sich  zur  Speise 
und  Sättigung  schlachten,  damit  sie,  indem  ihnen  einige  äußerliche  Freuden 
bleiben,  um  so  geneigter  den  innerlichen  sind."  —  So  lassen  sich  nun  auch 
bestimmte  Spuren  nachweisen,  daß  St.  Michael  an  die  Stelle  des  mächtigen 
Gottes  Wuotan  getreten  ist.  Und  betrachten  wir  die  Wuotansfigur,  wie  sie 
uns  in  den  deutschen  Sagen  und  Märchen  entgegentritt,  so  unterliegt  es 
keinem  Zweifel,  daß  sich  dieselbe  mit  der  dis  Michael  in  vielen  Beziehungen 
deckt.  In  Wuotan,  den,  Vater  der  nordisch-deutschen  Götter,  gipfelte  der 
Lichtcultus  der  alten  Deutschen;  denn  mit  der  arischen  Nace  theilten  die 
alten  Deutschen  die  Anschauung,  daß  im  Lichte  die  höchste  göttliche  Kraft 
für  sie  zur  Erscheinung  komme.  So  dachten  sie  sich,  daß  am  Ende  des 
Winters  Wuotan  im  feurigen  Sonnenwagen,  im  goldenen  Panzer  und  mit 
goldenem  Schwerte  gegürtet  dcchinfahre.  An  den  brennenden  Rädern 
feines  Wagens^. entzündet  sich  das  Licht  der  Erde,  und  dieselbe  schmückt  sich 
bräutlich  mit  Blättern,  Blüthen  und  Knospen,  um  ihn,  den  leuchtenden, 
glänzenden  Gott  des  leiblichen  und  geistigen  Lebens,  zu  empfangen.  Da 
in  dem  Bewußtsein  der  Germanen  Natur  und  Geist  untrennbar  waren,  so 
lebte  Wuotan  für  sie  nicht  nur  in  jeden,  Lufthauch  bis  zum  wüthendsten 
Sturm,  sondern  auch  in  jeder  Gemüthsbewegung,  in  der  Begeisterung  wie 
in  der  Naserei,  in  der  Stimmung  des  Dichters  und  der  Liebenden,  wie 
in  der  Berserkerwuth  uud  in  dem  Kampfesmuth  der  Krieger.  Die  Luft 
marsein  Neich,  und  die  Seelen,  als  5Ddem  und  Hauch  gedacht,  gehörten 
mit  zu  demselben.  Tie  Seelen  derjenigen  Verstorbenen,  die  auf  dem 
Krankenbett  geendet  hatten,  kamen  nicht  zu  ihm  nach  Walhalla,  sondern 
nur  die  der  gefallenen  Krieger.  Als  Schlachtengott  lenkte  er  das  Schlachten- 
glück und  schürte  die  Kriegsflamme.  Wie  aber  in  den  Mnthen  aller 
Völker  in  einer  göttlichen  Figur  sich  entgegengesetzte  Seiten  berühren,  so 
daß  der  sommerlich  lichte  Gott  zugleich  der  winterlich  dunkle,  der  starke 
zugleich  der  schwache  uud  ohnmächtige  ist,  so  glaubte  man  auch,  daß  die 
lichte  Kraft  des  sommerlichen  Wuotan  im  Winter  kraftlos  und  dunkel 
werde.  Daher  erscheint  neben  der  Vorstellung  des  sommerlichen  Wuotan,  der 
mit  Goldhelm,  Brünne  (Panzer)  und  Speer  durch  das  Luftreich  reitet, 
überall  Leben  erweckend,  Segen  und  Gedeihen  spendend,  auch  die  des 
winterlichen  Wuotan  im  niedergedrückten,  tief  in's  Gesicht  gehenden  Hut, 
mit  gesenkten,  Haupt,  eingewickelt  in  einen  alten,  schäbigen,  blau  und 
schwarz  gefleckien  Mantel,  blind,  dumm  und  plump.  In  dieser  Vorstellung 
ist  nun  nach  unserem  Dafürhalten  die  Lösung  unserer  Frage  zu  suchen. 
Da  der  heilige  Michael  nach  der  Bekehrung  der  alten  deutschen  Heiben 
an  Wnotans  Stelle  trat,  so  mußten  naturgemäß  auch  die  beiden  Seiten 
des  Wuotan,  die  sommerliche  lichte,  mächtige,  starke,  wie  die  winterlich 


Der  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen  Hintergründe.  355 
ohnmächtige,  kraftlose,  derbe,  plumpe,  in  ihn  übergehen.  Auch  Michael 
wurde  als  Lichtgeftalt  verehrt,  weshalb  seine  Kirchen  meist  auf  Bergen 
oder  erhöhten  Plätzen  standen.  Trümmer  von  Michaeliskirchen  finden  sich 
noch  zu  Godesberg  und  Siegburg.  Ferner  liegt  ein  Michaelisberg  bei 
Münstereifel.  Wie  Wuotan,  so  wurden  auch  Michael  zu  Ehren  Feuer 
angezündet  und  brennende  Räder  an  seinem  Feste  die  Berge  hinabgerollt. 
Die  brennenden  Räder  sind  Hindeutungen  auf  den  leuchtenden  Sonnen- 
wagen. Auch  siel  das  Michaelisfest  ursprünglich  auf  den  23.  Mai,  also 
zu  derselben  Zeit,  wo  man  dem  Wuotan  zu  Ehren  ein  Frühlingsfest  feierte. 
Mit  diesem  Feste  waren  die  Mailehen  verbunden.  Es  waren  das  Volts- 
hochzeiten, bei  denen  tagelang  geschmaust  und  gezecht  wurde.  Diese 
Hochzeitsfeierlichkeiten  follten  an  die  Vermählung  Wuotans  mit  der  bräut- 
lichen Erde  erinnern.  Später  verlegte  man  das  Michaelisfest  in  den 
Herbst,  weil  man  nach  eingebrachter  Ernte  mehr  Zeit  zum  Schmausen  und 
Zechen  hatte,  als  im  Frühling,  wo  das  Land  bestellt  werden  mußte. 
Wie  schon  oben  angedeutet,  war  Wuotan  aber  auch  Kriegsgottheit. 
Er  konnte  seine  Feinde  taub  und  blind  machen  und  sie  so  in  Schrecken 
versetzen,  daß  ihre  Waffen  nicht  mehr  verwundeten  als  Ruthen;  aber 
seine  Mannen  drangen  vor  ohne  Panzer,  waren  wüthend  wie  Hunde 
und  Wölfe  und  stärker  als  Bären,  Stiere.  Aehnliche  Vorstellungen  verband 
man  später  auch  mit  dem  heiligen  Michael.  Mit  geschwungenem  Schwerte 
dachte  man  ihn  sich  an  der  Spitze  des  deutschen  Heeres  stehend.  Wenn 
die  alten  Deutschen  in  den  Krieg  zogen,  so  riefen  sie  ihn  um  Hilfe 
cm,  wie  eine  lateinische  Hymne  bezeugt.  Dieselbe  lautet  in  der  Über- 
setzung: 
Her,»«  Michael, 

Fühl'  Tu  das  deutsche  Heer  in'«  Feld, 
Verzoll  Michael, 
0  steh  uns  zur  Seite, 
0  hilf  uns  im  Streite, 
Herzog  M'chael! 
Du  unser  Herzog  in  dem  Streit, 
Beschirmest  stall  die  Christenheit  u.  f.  v. 
Des  Himmels  Geister  Zahl 
Vermehren  Deiner  Streiter  Zahl  u.  s.  w. 
Durch  alle  Welt,  zu  Meer  und  Land 
Sind  Deine  Schlachten  wohlbekannt  u.  s.  w. 
Anderweitige  Spuren,  wie  in  Michael  die  Kriegsnatur  Wuotans  über- 
gegangen, haben  wir  noch  in  den  Fechterspielen,  die  bis  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts,  namentlich  in  der  Gegend  von  Trier,  mit  dem  Michaelis- 
feste verbunden  waren.  In  vielen  Kirchen  und  auf  Säulencapitälen 
finden  mir  Michael  daher  als  kräftigen  Jüngling  in  kriegerischer  Rüstung 
dargestellt,  aber  ohne  Helm. 

Ferner  galt  Wuotan  als  Führer  der  abgeschiedenen  Seelen  und  als 
Seelenwäger.  Die  Seelen  der  Gefallenen  wurden  von  den  Walküren  nach 
Noid  und  Süd.  I.XXV.  225.  24 


356  August  wünsche  in  Dresden. 

Walhall  geleitet,  wo  ihnen  Wuotan  entgegenkam,  sie  an  eine  wohlbesetzte 
Tafel  führte,  ihnen  Meth  die  Fülle  reichte  und  sie  täglich  zum  Zeitvertreibe 
fechten  und  kämpfen  ließ.  Auch  Michael  ist  Seelenführer  und  Seelen- 
bemahrer.  Laut  doch  schon  die  Bibel  im  Briefe  des  Inda  den  Erzengel 
Michael  sich  mit  dem  Teufel  um  den  Leichnam  Mosis  streiten. 
In  gleicher  Weise  ist  in  mittelalterlichen  Dichtungen  von  einem 
Streite  der  Engel  und  Teufel  um  die  ausfahrende  Seele  die  Rede,  von 
denen  Jeder  die  Seele  für  sich  haben  will.  An  der  Spitze  der  Engel  steht 
gewöhnlich  Michael.  In  einer  Urkunde  des  13.  Jahrhunderts  wird 
Michael  der  Wächter  des  Paradieses  und  Fürst  der  Seelen  genannt  (9120- 
po8ltu8  pai-acUsi  st  princepz  imimaruiu.).  Nach  einer  alten  Sage  ist  die 
Seele  in  der  ersten  Nacht  bei  der  heiligen  Gertrud,  in  der  zweiten  bei 
St.  Michael,  und  erst  in  der  dritten  gelangt  sie  dahin,  wohin  sie  nach 
ihrem  Verdienste  gehört.  Dies  zeigt  klar,  wie  die  heilige  Gertrud  cm 
Huldas  und  Michael  an  Wiwtans  Stelle  getreten  sind.  Wie  nach  der 
griechischen  Sage  Zeus  die  Geschicke  der  Menschen  in  Schalen  abwog,  so 
verfährt  nach  der  christlichen  Legende  auch  Michael.  Er  wägt  die  guten 
und  bösen  Thaten  des  Sterbenden  ab,  und  je  nach  Befund  wird  das 
Schicksal  der  Seele  entschieden.  Daher  erscheint  Michael  in  verschiedenen 
Capellen  auf  Friedhöfen  mit  einer  Waage,  in  deren  Schallten  je  eine  oder 
mehrere  nackte  Seelen  sitzen. 

Am  innigsten  aber  berühren  sich  Wuotan  und  Michael  endlich  als 
Drachenkämpfer.  Da  auf  Grund  biblischer  Anschauung  die  Lehre  vom 
der  Finsternis!,  von  der  alten  Schlange,  die  Adam  zur  Sünde  verführte, 
im  christlichen  Dogma  eine  große  Bedeutung  gewann,  so  mußte  vor  Mem 
mit  ihr  bei  der  Bekehrung  der  Heiden  eine  Anknüpfung  gesucht  werden. 
Wuotan  bot  diesen  Anknüpfungspunkt.  Er  tödtet  im  Frühling  den  Drachen 
des  Winterdlinkels,  indem  er  den  Fenriswolf,  auch  Wanagandr,  d.  h. 
Drache,  Schlange,  besiegt;  daher  auch  sein  Beiname  Sigi,  der  dann  in 
Siegfried  des  Nibelungenliedes,  in  welchem  er  sich  verjüngte,  wiederkehrt. 
Auch  Michael  ist  Drachentödter.  Nach  der  Offenbarung  des  loh.  12,  7-9 
streitet  er  und  seine  Engel  im  Himmel  gegen  den  Drachen,  und  der  Drache 
streitet  auch  mit  seinen  Engeln,  und  der  Letztere  wird  ausgeworfen  auf  die 
Erde,  der  alte  Drache,  die  alte  Schlange,  der  Teufel,  der  die  Welt  ver- 
führt, und  seine  Engel  weiden  auch  dahin  geworfen.  Wie  tief  die  Vor- 
stellung vom  Michael  als  Drachentödter  im  germanischen  Gemüthe  ein- 
gewurzelt war,  beweist  das  uns  Allen  wohlbekannte  Sprüchlein,  womit  ein 
Geistlicher  des  Mittelalters  seine  Predigt  angefangen  haben  soll: 
Die  Hölle  summt, 
Der  Teufel  brummt 
Und  „llckelt  mit  dem  Schwänze, 
St.  Michael. 
Bei  meiner  Secl, 
Ersticht  ihn  mit  der  Lanze. 


Der  deutsche  Michel  mit  seinem  mythologischen  Hintergründe.  35? 
Wie  die  Vorstellung  von  Michael  als  Drachentüdter  selbst  noch  in  der 
Gegenwart  künstlerisch  ausgenützt  worden  ist,  zeigt  das  in  Karlsruhe  den  in 
der  badischen  Revolution  1848  gefallenen  preußischen  Kriegern  errichtete 
Denkmal.  Dasselbe  stellt  den  heiligen  Michael  dar,  stehend  5auf  einem 
Drachen,  den  er  im  Begriff  ist,  mit  der  Lanze  zu  tödten. 
Wenn  wir  nun  an  das  alte  Germanien  denken,  wie  es  sieben  Monate 
lang  unter  Schnee  und  Eis  begraben  lag,  dazu  an  unsere  alten  heidnischen 
Vorfahren,  die  mit  der  Natur  auf's  Innigste  verwachsen  waren,  so  darf  es 
nicht  Wunder  nehmen,  wenn  sie  ihren  allbeherrschenden  Wuotan  im 
Winter  sich  schläfrig,  ohnmächtig  und  plump,  im  Frühlinge  aber  als  den 
alle  widrigen  Naturgewalten  niederwerfenden  Helden  sich  vorstellten.  Als 
später  bei  ihrer  Christianistrung  die  Wuotansfigur  sich  in  den'  Erzengel 
Michael  umwandelte,  so  gingen  selbstredend  auch  viele  seiner  Züge  in  ihn 
über,  und  so  ist  es  gekommen,  daß  er,  als  der  Repräsentant  des  deutschen 
Volkes,  gerade  mit  der  kräftigen,  derben,  plumpen  Seite  feines  Wesens 
uns  den  Spottnamen  „deutscher  Michel"  zugezogen  hat. 


24* 


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3er  Witz. 

«Line  ästhetische  Studie, 
von 

Friedrich  Wegmüller. 
—  München.  — 

Interden  verschiedenen  Arten  der  Vorstellungsverbindungen,  durch 
die  wir  theils  im  logische»  oder  durch  eine  Zweckbeziehung  ge- 
regelten Gedankengange  Glied  an  Glied  reihen,  bis  sich  aus 
gegebenen  Vordersätzen  das  gesuchte  Schlußglied  ergiebt,  theils,  durch  die 
lautlichen  Allsdrucksmittel  unterstützt,  den  gewohnlicheren  Bedürfnissen  des 
Gedankenaustausches  und  gegenseitigeil  Verkehrs  gerecht  werden,  nimmt  der 
Witz  eine  besondere  Stellung  ein.  Wie  seine  Wirkung  eine  von  der  aller 
anderen  Redeformen  verschiedene  ist,  wie  keine  andere  den  bestimmten  psycho- 
logischen Nester  hervorzubringen  vermag,  der  den  Witz  charakterisier,  so  sind 
auch  seine  Natur  und  die  Bedingungen  seines  Zustandekommens,  die  Quellen, 
aus  denen  er  entspringt,  wesentlich  verschieden  von  der  normalen  geistigen 
Thätigkeit,  als  deren  Wirkung  wir  die  erwähnten  sonstigen  Formen  der 
Ideenverbindnngen  betrachten.  Schon  das  sprunghaste,  blitzartig  über- 
raschende, das  dem  Witze  nothwendig  innewohnt,  beweist  ja,  daß  hierein 
von  den  gewöhnlichen  verschiedener  geistiger  Vorgang  vollzogen  worden  sein 
mußi  und  daß  dieses  Verhältnis;  auch  allgemein  anerkannt  ist,  beweist  der 
Umstand,  daß  wir  im  Allgemeinen  geneigt  sind,  die  Fähigkeit  zum  Witz 
überhaupt  als  Maßstab  für  die  geistige  Höhe  und  insbesondere  für  die 
natürliche  Beanlagung  eiucs  Menschen  anzusehen;  allerdings,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  nicht  mit  unbedingtem  Necht. 
Das  Wort  „Witz"  wurde  früher  bekanntlich  in  viel  weiterem  Sinne 
gebraucht  als  heute,  ungefähr  in  dem,  den  das  englische  „n>t",  sein  ge- 
naues Analogon,  noch  heute  besitzt:  höhere  geistige  Fähigkeit  oder  Bethätigung 


ver  Witz.  359 

überhaupt,  in  welcher  Bedeutung  dasselbe  übrigens  auch  bei  uns  noch  nicht 
völlig  untergegangen  ist.  So  fielen  denn  früher  namentlich  Kunst  und 
Kllnstgeschmack  unter  den  Begriff  des  Witzes;  zu  Gottscheds  Zeit  und  unter 
seinen  Auspicien  erschien  eine  Zeitschrift  „Belustigungen  des  Verstandes  und 
Witzes"  und  eine  ehemalige  Monatsbeilage  der  Vossischen  Zeitung,  deren 
erster  Leiter  Lesung  und  deren  Zweck  hauptsächlich  die  schöngeistige  Kritik 
war,  nannte  sich  „das  Neueste  aus  dem  Reiche  des  Witzes".  Dieser  all- 
gemeinen Bedeutung  ging  indessen  das  Wort  ziemlich  bald  zn  Gunsten  der 
heutigen  prägnanteren  verlustig. 

Der  Witz  beruht,  logisch  betrachtet,  auf  einer  Vorstellungsverbindung, 
Wie  das  Urtheil,  wie  der  Vergleich  —  die  beide  „witzig"  sein  können  und 
so  beweisen,  daß  er  nicht  für  sich  eine  logische  Gattung,  sondern  vielmehr 
eine  logische  Qualität  ist,  die  verschiedenen  Gattungen  zukommen  kann  — 
kommt  er  dadurch  zu  Stande,  daß  zu  einer  Vorstellung  »  eine  Vorstellung  b 
in  Beziehung  gesetzt  wird. 

Aber  die  Art  dieser  Beziehung  ist  eine  besondere.  Während  bei  den 
erwähnten  logischen  Gattungen  die  folgende  Vorstellung  an  die  vorhergehende 
in  einer  durch  die  objective  Realität  der  Dinge  bedingten  Weise  an- 
geschlossen, also  sozusagen  schrittweise  von  der  ersten  zur  zweiten  und  allen 
folgenden  vorgegangen  wird,  gehört  es  gerade  zur  Eigentümlichkeit  des 
Witzes,  daß  die  beiden  durch  ihn  unter  einen  einheitlichen  Gesichtspunkt  ge- 
brachten Vorstellungen  entweder  überhaupt  möglichst  weit  auseinander  liegen, 
oder  doch  nur  durch  ein  Abgehen  vom  gewöhnlichen  Wege  der  associativen 
Verbindung  zu  vereinigen  sind;  je  disparater  die  Vorstellungen,  je  mehr 
logische  Zwischenglieder  der  Witz  übersprungen  hat,  um  so  größer  ist  seine 
Wirkung.  Er  überrascht  die  Hörer,  indem  er  zwei  scheinbar  fremde  Vor- 
stellungen zu  einander  in  Beziehung  bringt,  und  er  löst  zugleich  die  bewirkte 
Spannung,  indem  er  wie  mit  einem  blitzartigen  Schlaglicht  die  an  sich 
dunkle  Beziehung  in's  rechte  Licht  setzt.  Darauf  beruht  seine  komische 
Wirkung,  daraus  erklärt  es  sich  aber  auch,  das;  jeder  Witz,  der  durch  Schuld 
des  Autors  oder  des  Hörers  nicht  sogleich  richtig  verstanden  wird,  der  einer 
Erklärung  durch  Bildung  seiner  logischen  Zwischenglieder  bedarf,  wirkungslos 
verpufft.  Ein  Witz  wirkt  fpontan  und  unmittelbar,  oder  das  Beste  seiner 
Wirkung  ist  verloren. 

Man  hat  bekanntlich  das  Komische,  von  den»  auch  der  Witz  eine 
Gattung  ist,  das  „umgekehrte  Erhabene"  genannt.  Obwohl  wir  hier  keinen 
Anlaß  haben,  auf  die  eigentliche  Meinung  dieser  uueigentlichen  Begriffs- 
bestimmung des  Näheren  einzugehen,  so  beweist  sie  uns  doch,  daß  auch  der 
Witz  eine  der  Formen  der  ästhetischen  Wirkung  ist,  und  daß  man  zu  seinem 
Verständniß  wie  noch  mehr  zu  seiner  Hervorbringung  ein  gewisses  Maß 
jener  objectiven  Vetrachtungsart  bedarf,  die  wir  uns  seit  Schopenhauer  ge- 
wöhnt haben  als  Kennzeichen  und  Bedingung  des  ästhetischen  Genusses  zu 
betrachten.  Das  ist  es  vor  Allem,  wodurch  der  Witz  nicht  nur  geistig. 


260  Friedrich  wegmüller  in  München. 

sondern  ich  möchte  geradezu  sagen  auch  moralisch  über  die  gewöhnlicheren 
Redeformen  sich  erhebt.  Leute,  die  „keinen  Spaß"  verstehen,  halten  wir 
mit  Recht  nicht  nur  für  geistig  beschränkt,  sondern  auch  für  moralisch 
kleinlich  und  engherzig,  das  Ertragen  eines  guten  Witzes,  auch  wenn  er 
auf  die  eigene  Perfon  sich  bezieht,  gilt  dagegen  als  das  Zeichen  einer  freien 
Natur. 

„Ich  lobe  mir  den  heitern  Mann 
Am  meisten  unter  weinen  Gästen; 
B.er  sich  nicht  selbst  zum  Besten  haben  llllw. 
Gehölt  acwih  nicht  zu  den  Besten.'  (Goethe.) 
Wahrend  wir  uns,  um  im  Schopenhauer'schen  Sprachgebrauch  zu 
bleiben,  bei  der  Mehrzahl  der  übrigen  Vorstellungsverbindungen  wollend  ver- 
halten, d.  h.  uns  derselben  zum  Zwecke  der  Erreichung  persönlicher  oder 
sachlicher  Interessen  bedienen,  verhalten  wir  uns  im  Augenblick  der  Hervor- 
bringung oder  Auffassung  eines  Witzes  rein  erkennend.  Bedingung  des- 
selben ist  darum  ein  geistiger  Zustand,  der  nicht  völlig  in  den  Beziehungen 
des  Willens  zu  den  behandelten  Objecten  anfgeht,  sondern  der  vermöge 
einer  glücklichen  Neanlaguug  und  augenblicklichen  Disposition  noch  objectiv 
genug  bleibt,  um  mitten  im  Spiel  der  Veziehungen  zwischen  Interesse  und 
Objecten  doch  noch  solche  disparate  Beziehungen  der  Objecte  unter  einander 
zu  finden,  deren  Vereinigung  die  bemußte  Wirkung  des  Komischen  hervor- 
bringt. Auf  dieser  Bedingung  der  geistigen  Beherrschung  der  Lage  beruht 
der  Ausdruck  vom  „souveränen  Witze";  und  es  ist  klar,  daß  der  Werth  des 
Witzes  um  so  höher  ist,  je  wichtiger,  je  inhaltsvoller,  je  mehr  Geist  und 
Willen  auf's  Höchste  anspannend  die  äußeren  Umstände  sind,  unter  denen 
er  entsteht.  Durch  Nichts  bewies  z.  V.  Vismarck  seine  völlige  Beherrschung 
auch  der  schwierigsten  und  heikelsten  Situationen  mehr  als  dadurch,  daß  er 
in  ihnen  trotz  höchster  geistiger  Anspannung  immer  noch  Gelegenheit  zu 
seinen  berühmten  beißenden  Sarkasmen  fand.  So  ist  der  Witz  ein  kleines 
Kunstmerk  und  theilt  mit  jeden»  ästhetischen  Product  das  Vorrecht,  zwecklos 
zu  sein;  seine  Wirkung  geht  verloren,  sobald  man  die  Absicht  dabei  merkt. 
Er  verhält  sich  darum,  bildlich  zu  sprechen,  zur  gewöhnlichen  Redeweise  wie 
der  Gesang  zur  Sprache,  wie  das  Spiel  zur  ernsten  TagesarbeiH  er  ist 
ein  ,~eu  ä'sLprit^,  ein  „spielendes  Urtheil".  Nicht  einmal  auf  den  Witz 
selbst  darf  die  Absicht  gerichtet  sein,  sondern  im  Gegentheil  wird  er  stets 
um  so  besser  wirken,  je  mehr  er  völlig  ungesucht  und  ungekünstelt  austritt 
—  was  unsere  Sprache  nach  jeder  Richtung  treffend  charakterisirt,  ivenn 
sie  in  diesem  Falle  von  einem  „guten  Einfall",  im  andern  aber  von  einem 
„gequälten  Witze"  spricht. 

Eine  früher  viel  gebrauchte  Erklärung  des  Witzes,  der,  wenn  wir 
nicht  irren,  auch  noch  Jean  Paul  zustimmte,  lautet,  der  Witz  beruhe  auf 
einem  Contrast.  Will  man  diese  Erklärung  dahin  verstehen,  daß  unter 
diesen«  „Contraste"  eben  jene  In-Beziehung-Setzung  weit  auseinander 


Der  Witz.  36«. 

liegender  Vorstellungen,  von  der  wir  sprachen,  gemeint  sei,  so  lassen  wir 
uns  dieselbe  um  so  lieber  gefallen,  als  sie  zu  einer  sehr  brauchbaren  Ein- 
teilung der  Witze  führt.  Die  vermittelnde  Beziehung,  die  wir  als  das 
Charakteristikum  des  Witzes  betrachten,  kann  nämlich  entweder  durch  eine 
bloße  Aehnlichkeit  der  die  betreffenden  Begriffe  bezeichnenden  Worte,  oder 
sie  kann  durch  eine  in  den  betreffenden  Vorstellungen  selbst  liegende  Aehn- 
teit  herbeigeführt  werden.  Im  ersteren  Falle  haben  wir  den  Wort«  oder 
Klangwitz,  im  zweiten  den  eigentlichen  und  echten  Witz,  den  man  von 
seinem  unebenbürtigen  Bruder  wohl  auch  als  „Sachwitz"  unterscheiden 
könnte. 

Der  Wortwitz  ist  unstreitig  die  niederste  aller  Witzgattungen,  wie  aus 
seiner  Entstehung  aus  bloßer  Lautähnlichkeit  unmittelbar  hervorgeht  und 
weshalb  er  häufig  unfreiwillig  den  Kindern  besser  gelingt  als  den  mehr 
auf  sachliche  Beziehungen  sehenden  Erwachsenen.  Charakteristisch  genug  ist 
es  auch,  daß  fast  jede  Sprache  ihre  eigene  despectirliche  Bezeichnung  für 
ihn  hat  —  Calembourg,  Kalauer  — ,  und  daß  seine  Häufigkeit  mehr  im 
umgekehrten  als  im  geraden  Verhältnis;  zu  seinem  ästhetischen  Werthe  zu 
stehen  scheint.  Cr  ist  das,  was  der  Berliner  so  recht  treffend  einen  „faulen" 
Witz  nennt  —  obwohl  boshafte  Provinzler  gerade  den  Berlinern  eine  ge- 
wisse Vorliebe  für  dieselben  nachzusagen  pflegen. 
Dies  ist  ein  allgemeiner  Charakterzug  des  heutigen  Großstädters,  über 
dessen  psychologische  Ursache  wir  weiter  unten  Anlaß  haben  werden,  uns 
noch  des  Näheren  zu  verbreiten 

„Witze"  dieser  Art  sind  unfern  Lesern  zu  viele  bekannt,  als  daß  wir 
sie  mit  einer  Aufzählung  einiger  derselben  ermüden  dürften;  sei  uns  nur 
gestattet,  einen  der  aller,, blutigsten"  hier  als  Typus  der  Gattung  zu 
bringen,  der  sich  wie  so  viele  andere  auf  politische  Ereignisse  jüngster 
Zeit  bezieht  und  „natürlich"  auch  Verlin  zur  Geburtsstadt  hat:  Bismarck 
scheiterte  am  Cap  Rivi,  und  Caprivi  verbrannte  an  der  Hohenlohe! 
Uebrigens  kann  der  Klangwitz,  namentlich  in  seiner  Häufung,  zu  einer 
rednerisch  sehr  wirkungsvollen  Figur  werden,  wie  z.  V.  in  musterhafter 
Weise  die  bekannte,  dem  Abraham  a  Santa  Clara  nachgebildete  Kapuziner- 
predigt in  „Wallensteins  Lager"  zeigt: 
»Und  dos  römische  Reich  —  daß  Gott  erbarm! 
Sollte  heißen  ein  römisch  Arm. 
D>r  Rheinstrom  ist  neworben  zu  einem  Peinstrom, 
Die  Klöster  sind  ausaenommene  Nester, 
Tic  Bisthümer  sind  verwandelt  in  Wüstthümer', 
Die  Abteien  und  die  Stifter 
Sind  nur  Raubtbeien  >md  Diebsklüfter, 
Und  alle  die  nesegn^len  deutschen  Länder. 
Sind  verwandelt  worden  in  Elender  u.  s.  f. 

Da  der  Wortwitz  sich  an  recht  eigentlich  naive  Seelen  wendet,  so  be- 
ruht ein  gutes  Theil  beliebter  Kinderräthselscherze  auf  ihm.  Was  für 


262  Friedrich  Wegmüller  in  München. 

Enten  trinken  Bier?  die  Stud-enten.  Was  für  Ringe  sind  nicht  rund? 
die  Heringe.  Welches  Gemach  liebt  der  Mensch  am  wenigsten?  das 
Un-gemach  u.  s.  f.  —  Scherze,  deren  Gebrauch  allerdings  unsere  „reifere 
Jugend"  von  heute  schon  mit  bedenklichem  Nasenrümpfen  begleiten  mag. 
Mit  dem  Wortwitze  verwandt,  aber  doch  nicht  ohne  Weiteres  mit  ihm 
zu  identificiien  ist  das  Wortspiel,  das  wohl  in  seinen  schlechteren  Vertretern 
noch  hierher  gehört,  in  der  Regel  aber  doch  schon  der  zweiten  Gruppe, 
dem  „Sachwitz",  zuzutheilen  ist;  der  Gleichklang  kann  hier  die  Pointe 
vorteilhaft  verstärken,  aber  er  bringt  sie  nicht  eigentlich  hervor.  Während 
der  Wortwitz  darauf  beruht,  daß  zwei  verschiedene  Begriffe  durch  Worte 
gleichen  oder  ähnlichen  Klangs  ausgedrückt  werden,  werden  hier  unter 
einem  Compler  von  Worten  zwei  ganz  verschiedene  Borstellungen  zusammen- 
gefaßt und  so  die  komische  Wirkung  erzielt.  Das  Wortspiel,  namentlich 
wo  es  sich  in  rascher  Rede  und  Gegenrede  schlagfertig  einstellt,  ist  so 
recht  die  höchste  Form  des  Witzes,  der  eigentliche  Prüfstein  der  dem 
witzigen  Kopfe  zugeschriebenen  höheren  Begabung.  Meister  derselben  sind  z.  B. 
alle  Shakespeare'schen  Gestalten,  die  ihr  Schöpfer  entweder  mit  philosophisch- 
betrachtender oder  mit  intrigant-verschlagener  Charakteranlage  ausgestattet 
hat.  „Uns  Allen  ist's  gemein  zu  sterben,  lieber  Sohn,"  sagt  Hamlets 
ehrvergessene  Mutter,  die  ihn  mit  dieser  nichtssagenden  Banalität  das  Brüten 
über  des  Vaters  räthselhaft- rasches  Hinscheiden  und  ihre  Handlungsmeise 
vergessen  machen  will.  „Ja,  hohe  Frau,  es  ist  gemein,"  lautet  die  dolch- 
scharfe Antwort.  Hier  sind  dem  äußern  Anscheine  nach  beide  Sprechenden 
ganz  einig,  indem  sie  sich  zum  Ausdruck  ihrer  Gedanken  genau'desselben 
Wortcompleres  bedienen;  während  aber  die  Mutter  die  Worte  im  eigent- 
lichen Sinne  gebraucht,  hat  Hamlet  durch  leichte  Veränderung  in  Ausdruck 
und  Geberde  aus  denselben  Worten  eine  schwere  Anklage  gegen  seine 
Mutter,  ihr  vermuthetes  Einverständniß  mit  dem  Mörder  und  die  Schänd- 
lichkeit, diesen  so  rasch  nach  dem  Hinscheiden  ihres  ersten  Gatten  zu 
heirathen,  erhoben.  ,,~ou  'II  soon  tinä  ins  a  ssruv«  mau,"  sagt  der  mit 
dem  Degen  schlagfertige  Mercutio,  als  seine  Freunde,  dem  leicht  auf- 
stammenden Hitzkopf  im  Innern  zürnend,  ihn  schweruerwundet  vom  Kampf- 
platze wegtragen.  Das  könnte  heißen:  Ihr  weidet  bald  —  vi?.  Eurem 
Wunsche  entsprechend  —  einen  durch  solche  Erfahrungen  gesetzten  Mann  in 
mir  finden;  der  wirkliche  Sinn  ist  aber  wohl  der:  Ihr  werdet  bald  finden, 
daß  ich  ein  Mann  des  Grabes  geworden  bin  —  welche  Deutung  ja  be- 
kanntlich der  Ausgang  bestätigt.  So  kann  man  denn  allgemein  das  Wort- 
spiel mit  seinen  verschiedenen  in  einander  übergehenden  Antworten,  dem 
Doppelsinn,  der  Zweideutigkeit  u.  s.  f.  als  jene  Witzgattung  bezeichnen, 
welche  durch  Zusammenfassung  verschiedener  —  richtiger:  recht  weit  von 
einander  abstehender  —  Vorstellungen  unter  dasselbe  Wort  oder  denselben 
Wortcompier  entsteht.  Bei  einiger  Aufmerksamkeit  ist  dieser  Zusammen- 
hang auch  bei  scheinbar  verwickelter  Lage  leicht  zu  erkennen.  Wenn  z.  B. 


Der  Witz.  263 

Nismarck  auf  die  entsetzte,  nebenbei  einen  erheblichen  Irrthum  in  sich  ent« 
haltende  Antwort,  mit  der  J  ules  Favre  die  Mittheilung  von  der  Höhe  der 
deutscherseits  geforderten  Kriegsentschädigung  empfing:  so  groß  sei  ja  nicht 
einmal  die  Summe,  die  sich  aus  dem  bekannten  Nechenbeispiel  von  dem 
Ertrage  des  seit  Christi  Geburt  auf  Zins  und  Zinseszins  gelegten  Pfennig 
ergebe,  mit  Anspielung  auf  die  Confession  seines  finanziellen  Verathers  die 
Antwort  gab:  „Drum  Hab  ich  mir  ja  einen  mitgenommen,  der  schon  vor 
Christus  angefangen  hat  zu  zählen"  —  so  liegt  hier  das  gleiche  Ver- 
hältnis; vor.  Mit  der  von  Favre  aufgenommenen  Wendung  „zählen  seit, 
bezw.  vor  Christi  Geburt"  hat  Bismarck  einen  durchaus  vom  ursprüng- 
lichen verschiedenen  Sinn  verbunden  und  so  ein  Wortspiel  von  sehr 
komischer  Wirkung  hervorgebracht,  bewunderungswürdig  vor  Allem  wegen 
der  wichtigen  und  einen  gewöhnlichen  Intellect  völlig  absorbirenden  Um» 
stände,  unter  denen  es  zu  Stande  kam.  Bei  dieser  Gruppe  braucht 
übrigens  der  mit  verschiedener  Bedeutung  gebrauchte  Wortcompier  keines- 
wegs immer  ausgesprochen  zu  werden.  Wenn  z.  N.  jener  Wiener  seinem 
neuen  Bekannten  sagt:  „Wie,  Sie  gehen  gern  allein?  Ganz  mein  Fall; 
da  können  wir  ja  zusammengehen"  —  so  liegt  der  Witz  hier  in  der  An- 
wendung des  unausgesprochenen  Grundsatzes:  „Leute  mit  gleichen  Neigungen 
eignen  sich  zu  gemeinsamen  Spaziergängern"  gerade  auf  den  Fall,  auf  den 
der  Natur  dieses  Falles  wegen  seine  Anwendung  nicht  stattfinden  konnte. 
Also  auch  hier  zeigt  sich,  daß  das  Eigenthümliche  des  Witzes  in  der  über- 
raschenden Vereinigung  unzusammengehöriger  Vorstellungen  beruht.  Selbst- 
verständlich gehört  hierher  auch  jenes  Genre  von  Witzen,  bei  dem  nach 
dem  bekannten  Wort  Voltaires  Manchen  auch  das  schalste  noch  als  witzig 
erscheint,  sofern  hier  nicht  der  Doppelsinn  von  vornherein  zur  Eindeutig- 
keit wird. 

Da  der  „Sachwitz"  lediglich  in  der  Herstellung  von  Beziehungen  der 
dargelegten  Art  zwischen  Vorstellungen  belteht,  so  folgt,  daß  derselbe  unter 
Umständen  der  sprachlichen  Verständigungsmittel  entbehren  kann,  sofern  die- 
selben nämlich  auf  anderem  —  z.  B.  mimischen  Wege  —  eben  so  gut  zur 
Anschauung  gebracht  werden  können.  So  bezeichnen  wir  es  ebenfalls  als 
Witz  —  hier  freilich  als  unfreiwilligen  —  wenn  zwei  Nachtwächter  einen 
singenden  Studenten  in  der  Nacht  niit  sich  auf  die  Wachtstube  schleppten 
denselben  dort  zum  Skat  einluden,  dann  aber,  als  jener  ihnen  zu  „mogeln" 
schien,  ihn  entrüstet  hinauswarfen  —  zur  großen  Freude  des  so  entronnenen 
Häftlings.  Der  allgemeine  Grundsatz:  „Wer  mogelt,  wird  hinausgeworfen," 
ist  hier  in  komischer  Weise  stillschweigend  und  thätlich  eben  auf  den  Fall 
angewandt  worden,  der  seiner  Natur  nach  die  Anwendung  desselben  nicht 
gestatten  kann.  Ein  sehr  guter,  mit  Absicht  gemachter  Witz  derselben  Art 
ist  es,  wenn  jener  Papst  des  Mittelalters  einen,  Virtuosen,  dessen  Kunst 
darin  bestand,  mit  Linsen  unfehlbar  genau  durch  ein  Nadelöhr  zu  werfen 
und  der  sich  eine  große  Summe  als  Belohnung  für  seine  Kunst  erwartet 


36H  Friedrich  Wegmüller  in  München. 

hatte,  statt  dessen  eine  '—  große  Schüssel  Linsen  überreichen  ließ,  ihm  da- 
mit »ä  oouloZ  demonstrirend,  wie  hoch  er  den  Werth  seiner  Kunst  schätze. 
Der  komische  „Contrast"  besteht  hier  in  den  so  entfernten  Vorstellungen  der 
erwarteten  und  der  wirklich  erhaltenen  Gabe.  Auch  die  treuen  Weiber  von 
Weinsberg  machten  einen  Scherz  der  gleichen  Art,  als  sie  auf  den 
Bescheid  des  Kaifers,  sie  möchten  ans  der  zum  Sturme  bestimmten  Stadt 
das  mit  sich  herausnehmen,  was  ihnen  am  liebsten  sei,  der  Legende  nach 
jede  mit  ihrem  Manne  auf  dem  Rücken  aus  der  guten  Stadt  Weinsberg 
zogen;  denn  gerade  der  Fall  war  der  Meinung  des  kaiserlichen  Spruches 
nach  ausgeschlossen.  Uebrigens  gilt,  was  hier  von  „unfreiwilligen  Witzen" 
gesagt  ist,  für  sämmtliche  bisher  ermähnten  Gattungen  desselben;  denn  im 
Hinblick  auf  die  komische  Wirkung  macht  es  offenbar  sehr  wemg  aus,  ob 
dieselbe  mit  oder  ohne  Absicht  herbeigeführt  wurde.  Nur  pflegt  dabei,  da 
der  unfreiwillige  Witz  in  der  Regel  aus  einem  Mangel  an  Wissen  oder  an 
Schlagfertigteit  hervorgeht,  die  Heiterkeit  sich  gewöhnlich  nicht  auch  auf  die 
Seite  zu  erstrecken,  die  sie  erzeugt  hat. 

Unter  den  Begriff  des  mimischen  Witzes  fällt  natürlich  auch  die  pan- 
tomimische Darstellung  und  komische  Übertreibung  der  Geberden  und  Sprech- 
weise bestimmter  Persönlichkeiten,  die  schauspielerische  Caricatur,  bezw.  ihre 
graphische  Darstellung, 

Die  Vereinigung  disparater  Vorstellungen,  die  wir  als  das  Charatte- 
risticum  des  Witzes  kennen  gelernt  haben,  kann  sich  unter  Umständen  auch 
auf  eine  bloße  Vergleichung  beschränken.  Dies  ist  namentlich  in  der  Weise 
häusig  der  Fall  —  und  der  komischen  Wirkung  sicher  — ,  daß  sich  die  Ver- 
gleichung an  bestimmte  Eigenthümlichkeiten  einer  Person  oder  Sache  heftet  und 
dieselbe  durch  eine  drastische  Vergleichung  lächerlich  macht.  So  entsteht  der 
charakterisirende  Witz.  Auch  für  ihn  sind  die  Gestalten  Shakespeares  eine 
unerschöpfliche  Fundgrube,  vor  Allem  der  biedere  Sir  John,  der  bei  aller 
eigenen  sittlichen  Gesunkenheit  doch  ein  scharfes  Auge  für  die  Schwächen 
feiner  Nebenmenschen  und  eine  unerschöpfliche  Phantasie  in  der  Herbeiziehung 
der  komischsten  Vergleiche  besitzt.  Man  höre  nur  die  schier  unendliche  Reihe 
der  witzigsten  Bilder,  mit  denen  er  seinen  Freund  und  seinen  Zechbruder, 
den  faden  Philister  Friedensrichter  Shallow  und  den  ewig  durstenden,  roth» 
nasigen  Vardolph  peisiflirt!  „Dieser  schmächtige  Friedensrichter  hat  mir 
in  Einem  fort  von  der  Wildheit  feiner  J  ugend  vorgeschwatzt,  und  um's 
dritte  Wort  eine  Lüge,  dem  Zuhörer  richtiger  ausbezahlt  als  der  Tribut 
dem  Grohtürken.  Ich  erinnere  mich  seiner  in  Clemenshof,  da  mar  er  wie 
ein  Männchen,  nach  dem  Essen  aus  Käserinde  verfertigt;  wenn  er  nackt 
war,  fah  er  natürlich  aus  wie  ein  gespaltener  Nettig,  an  dein  man  mit  dem 
Messer  ein  lächerliches  Gesicht  ausgeschnitzt  hat;  er  war  sehr  schmächtig, 
daß  ein  stumpfes  Gesicht  gar  keine  Breite  und  Dicke  an  ihm  unterscheiden 
konnte."  Oder  gar  erst  Bardolph!  „Bessere  Du  Dein  Gesicht,  so  will  ich 
mein  Leben  bessern.  Du  bist  unser  Admiralschiss,  Du  trägst  die  Laterne 


Der  Witz.  365 

am  Steuerverdeck,  aber  sie  steckt  Dir  in  der  Nase,  Du  bist  der  Ritter  von 
der  brennenden  Lampe."  „Ich  sehe  Dein  Gesicht  niemals,  ohne  an  das 
höllische  Feuer  zu  denken  und  an  den  reichen  Mann,  der  in  Purpurkleidern 
lebte,  denn  da  sitzt  er  in  seiner  Tracht  und  brennt  und  brennt.  Wärst 
Du  einigermaßen  der  Tugend  ergeben,  so  wollte  ich  bei  Deinem  Gesichte 
schworen,  mein  Schwur  sollte  sein:  bei  diesen:  stammenden  Cherubschwerte! 
Aber  Du  liegst  ganz  im  Argen,  und  wenn  es  nicht  das  Licht  in  Deinem 
Gesicht  thate,  so  wärst  Du  gänzlich  ein  Kind  der  Finsternis'.  0  Du  bist 
ein  beständiger  Fackelzug,  ein  unauslöschliches  Freudenfeuer!  Du  hast  mir 
cm  die  tausend  'Mark  für  Kerzen  und  Fackeln  erspart,  wenn  ich  mit  Dir 
Nachts  von  Schenke  zu  Schenke  wanderte:  aber  für  den  Sect,  den  Du 
mir  dabei  getrunken  hast,  hätte  ich  bei  dem  theuersten  Lichterzieher  von 
Europa  ebenso  wohlfeil  Lichter  haben  können.  Seit  zweiunddreißig  J  ahren 
nunmehr  habe  ich  diesen  Deinen  Salamander  mit  Feuer  unterhalten,  der 
Himmel  lohne  es  mir!" 

Welch  unerschöpflicher  Sturzbach  von  Metaphern,  jede  ein  beißendes 
Epigramm!  In  der  That  ist  diese  Klasse  des  Witzes  recht  eigentlich  doch 
die  epigrammatische;  und  es  ist  bezeichnend,  daß  einer  unserer  besten 
Epigrammatiker,  der  lange  nicht  nach  Gebühr  geschätzte  Hang,  der  Jugend- 
freund Schillers,  einen  ähnlichen  Vorwurf  zum  Thema  einer  großen  Reihe 
witziger  Epigramme  gemacht  hat.  Wir  meinen  seine  „Epigramme  auf 
Herrn  Wahls  ungeheure  Nase".  Allerdings  ist  bei  ihm  selbstständiges 
dichterisches  Erzeugnis;,  was  bei  Shakespeare  so  ganz  beiläufig  und  neben- 
her abfällt. 

Unter  den  Begriff  des  Witzes  im  weiteren  Sinne  fällt  auch  die  uns 
Allen  geläufige  Sprechweise  der  Ironie.  Sie  wird  gewöhnlich  dahin  er- 
läutert, ein  Fall  der  Ironie  sei  dann  gegeben,  wenn  die  äußere  Form  des 
Lobes  gewählt  werde,  um  damit  desto  nachdrücklicher  und  wirksamer  einen 
Tadel  auszusprechen;  wie  man  sieht,  liegt  dabei  der  komische  Contrast  in  dem 
Gegensatz  zwischen  dem  wörtlich  ausgedrückten  und  dem  in  Wahrheit  beab- 
sichtigten Sinne.  Diese  Erklärung  ist  indeß  ohne  Zweifel  zu  eng;  mir 
sprechen  nicht  minder  dort  von  Ironie,  wo  der  Worllant  tadelt,  der  be- 
absichtigte Sinn  aber  als  Lob  zu  verstehen  ist.  Es  ist  Ironie,  wenn  ich 
einen  Betrüger  einen  Gentleman,  einen  unreifen  Dichterling  einen  jungen 
Goethe  nenne,  und  unzählige  Wendungen  und  Redensarten  des  täglichen 
Lebens  gehören  zn  dieser  Kategorie.  Es  ist  aber  ebenso  gut  Ironie,  wenn 
Marc  Anton  an  der  Bahre  des  ermordeten  Cäsar  scheinbar  die  Gründe  der 
Mörder  anerkennt  und  den  Cäsar  einen  Feind  des  Volkes,  einen  Feind  der 
Freiheit  nennt,  um  in  dieser  Maske  seine  wahre  Meinung  desto  eindringlicher 
zu  verkündigen.  Allerdings  wird  —  und  das  gab  ohne  Zweifel  hier  den 
Grund  zu  jener  erwähnten  einseitigen  Definition  —  die  erste  Art  ungleich 
häusiger  gebraucht  als  die  zweite;  denn  der  Mensch  liebt  mehr  zu  tadeln 
als  zu  loben.  Ironie  ist  es  aber  auch,  wenn  man  eine  allsgesprochene 

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Title  Paae 

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Table  of  Contents 

Section  1  - 

1 

Section  2  - 

14 

Section  3  - 

32 

Section  4  - 

46 

Section  5  - 

62 

Section  6  - 

87 

Section  7  - 

125 

Section  8  - 

134 

Section  9  - 

275 

Section  10 

-  424 

Section  11 

-  280 

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Der  Witz.  365 

am  Steuerverdeck,  aber  sie  steckt  Dir  in  der  Nase,  Du  bist  der  Ritter  von 
der  brennenden  Lampe."  „Ich  sehe  Dein  Gesicht  niemals,  ohne  an  das 
höllische  Feuer  zu  denken  und  an  den  reichen  Mann,  der  in  Purpurkleidern 
lebte,  denn  da  sitzt  er  in  seiner  Tracht  und  brennt  und  brennt.  Wärst 
Du  einigermaßen  der  Tugend  ergeben,  so  wollte  ich  bei  Deinem  Gesichte 
schworen,  mein  Schwur  sollte  sein:  bei  diesen:  stammenden  Cherubschwerte! 
Aber  Du  liegst  ganz  im  Argen,  und  wenn  es  nicht  das  Licht  in  Deinem 
Gesicht  thate,  so  wärst  Du  gänzlich  ein  Kind  der  Finsternis'.  O  Du  bist 
ein  beständiger  Fackelzug,  ein  unauslöschliches  Freudenfeuer!  Du  hast  mir 
cm  die  tausend  'Mark  für  Kerzen  und  Fackeln  erspart,  wenn  ich  mit  Dir 
Nachts  von  Schenke  zu  Schenke  wanderte:  aber  für  den  Sect,  den  Du 
mir  dabei  getrunken  hast,  hätte  ich  bei  dem  theuersten  Lichterzieher  von 
Europa  ebenso  wohlfeil  Lichter  haben  können.  Seit  zweiunddreißig  J  ahren 
nunmehr  habe  ich  diesen  Deinen  Salamander  mit  Feuer  unterhalten,  der 
Himmel  lohne  es  mir!" 

Welch  unerschöpflicher  Sturzbach  von  Metaphern,  jede  ein  beißendes 


Epigramm!  In  der  That  ist  diese  Klasse  des  Witzes  recht  eigentlich  doch 
die  epigrammatische;  und  es  ist  bezeichnend,  daß  einer  unserer  besten 
Epigrammatiker,  der  lange  nicht  nach  Gebühr  geschätzte  Hang,  der  Jugend- 
freund Schillers,  einen  ähnlichen  Vorwurf  zum  Thema  einer  großen  Reihe 
witziger  Epigramme  gemacht  hat.  Wir  meinen  seine  „Epigramme  auf 
Herrn  Wahls  ungeheure  Nase".  Allerdings  ist  bei  ihm  selbstständiges 
dichterisches  Erzeugnis;,  was  bei  Shakespeare  so  ganz  beiläufig  und  neben- 
her abfällt. 

Unter  den  Begriff  des  Witzes  im  weiteren  Sinne  fällt  auch  die  uns 
Allen  geläufige  Sprechweise  der  Ironie.  Sie  wird  gewöhnlich  dahin  er- 
läutert, ein  Fall  der  Ironie  sei  dann  gegeben,  wenn  die  äußere  Form  des 
Lobes  gewählt  werde,  um  damit  desto  nachdrücklicher  und  wirksamer  einen 
Tadel  auszusprechen;  wie  man  sieht,  liegt  dabei  der  komische  Contrast  in  dem 
Gegensatz  zwischen  dem  wörtlich  ausgedrückten  und  dem  in  Wahrheit  beab- 
sichtigten Sinne.  Diese  Erklärung  ist  indeß  ohne  Zweifel  zu  eng;  mir 
sprechen  nicht  minder  dort  von  Ironie,  wo  der  Worllant  tadelt,  der  be- 
absichtigte Sinn  aber  als  Lob  zu  verstehen  ist.  Es  ist  Ironie,  wenn  ich 
einen  Betrüger  einen  Gentleman,  einen  unreifen  Dichterling  einen  jungen 
Goethe  nenne,  und  unzählige  Wendungen  und  Redensarten  des  täglichen 
Lebens  gehören  zn  dieser  Kategorie.  Es  ist  aber  ebenso  gut  Ironie,  wenn 
Marc  Anton  an  der  Bahre  des  ermordeten  Cäsar  scheinbar  die  Gründe  der 
Mörder  anerkennt  und  den  Cäsar  einen  Feind  des  Volkes,  einen  Feind  der 
Freiheit  nennt,  um  in  dieser  Maske  seine  wahre  Meinung  desto  eindringlicher 
zu  verkündigen.  Allerdings  wird  —  und  das  gab  ohne  Zweifel  hier  den 
Grund  zu  jener  erwähnten  einseitigen  Definition  —  die  erste  Art  ungleich 
häusiger  gebraucht  als  die  zweite;  denn  der  Mensch  liebt  mehr  zu  tadeln 
als  zu  loben.  Ironie  ist  es  aber  auch,  wenn  man  eine  allsgesprochene 


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266  Friedrich  Wegmüller  in  München 

Behauptung  dadurch  zu  entkräften  sucht,  daß  man  ihr  scheinbar  zustimmt, 
dann  aber  dadurch,  daß  man  die  Consequenzen  derselben  in  lächerlicher 
Weise  übertreibt,  ihre  Nichtigkeit  darthut.  So  wird  Onkel  Brässg, 
wie  so  oft,  ironisch,  wenn  er  dem  jungen  Herrn  von  Rambow,  der 
seine  frisch  gelernte  Bücherweisheit  sofort  nach  Antritt  seines  Gutes  in  die 
Praris  übertragen  will,  die  Illusionen  zu  zerstören  sucht  mit  dem  Bemerken, 
ja  wohl,  so  machen  wir's,  und  auf  jenes  Feld  dort  pflanzen  wir  Rosinen, 
und  die  Rosinen  fressen  dann  die  Schweine;  das  gebe  dann  einen  guten 
Schweinebraten! 

Oder  richtiger,  er  wurde  sarkastisch.  Denn  der  Sartasmus,  in  allem 
Wesentlichen  wesenseins  mit  der  Ironie  und  begrifflich  in  keiner  Weise 
von  ihr  zu  trennen,  unterscheidet  sich  von  der  Ironie  durch  die  unmittelbare, 
aggressive  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Person;  er  ist  die  Ironie,  die  „bissig" 
und  „stachelig"  geworden  ist.  Er  will  nicht  harmlos  scherzen  oder  mit  der 
Peitsche  schlagen,  sondern  verwunden.  Darum  ist  der  Sarkasmus  nament- 
lich dort  am  Platze,  wo,  wie  z.  N.  im  politischen  Leben,  höhere  Leiden- 
schaften und  Interessen  auch  die  Anwendung  schärferer  geistiger  Waffen 
rechtfertigen.  So  bieten  die  „Fliegenden  Blätter"  harmlose  Ironieen,  ge- 
mildert durch  Humor,  unsere  politischen  Witzblätter  beißenden  Sarkasmus. 
Eine  wunderbare  Probe  sarkastischer  Redeweise  bietet  uns  auch  hier  wieder 
Shakespeare  in  der  berühmten  Leichenrede  des  Marc  Anton  auf  Cäsar,  die  wir 
soeben  erst  erwähnt;  und  deren  Wirkung  der  Gang  der  Geschichte  bezeugt: 
„Und  Brutu»  ist  ein  ehieuwerthei  Mann  — 
So  sind  sie  Alle,  Alle  ehienweühe  Männer." 
So  —  wie  Brutus  nämlich. 

Wird  die  den  Sarkasmus  bildende  Anthitese  auf  ein  paar  knappe 
Worte  zusammengedrängt,  womöglich  nur  auf  zwei,  so  entsteht  das  von  den 
Alten  sogenannte  Oxymoron.  „Ein  dunkler  Ehrenmann",  „eine  biedere 
Galgenuogelphysiognomie",  ferner  Redensarten  wie  „eine  große  Zukunft 
hinter  sich  haben",  das  „Immer  weiter  nach  Frankreich  hineingesiegt  werden", 
womit  man  so  treffend  die  anfänglichen  französischen  Siegesberichte  von 
1879  persistirte,  und  vieles  mehr  gehört  Hieher.  Wird  endlich  ein  ganzes 
künstlerisches  Werk  so  angelegt,  daß  es  diesen  Bedingungen  genügt,  dient  der 
ganze  Wortlaut  eines  Buches  nur  dazu,  die  dahinter  steckende  wahre  Meinung 
des  Verfassers  umso  deutlicher  hervortreten  zu  lassen,  so  haben  wir  eine 
ganz  auf  die  logische  Function  der  Ironie  gegründete  künstlerische  Gattung 
vor  uns  —  die  satirische  Dichtung.  Ein  Rabelais,  ein  Aristophanes,  ein 
Swift,  ein  Heine,  ein  Cervantes,  —  alle  diese  Meister  der  Satire  sind 
zugleich  in  unserm  Sinne  Ironiker  im  höchsten  und  besten  Sinne  des  Wortes. 
Das  gewaltige  Werk  des  Cervantes  und  die  Ironie  des  täglichen  Lebens 
mögen  sich  noch  sehr  unterscheiden  hinsichtlich  der  geistigen  Thätigkeit,  die 
in  ihnen  zum  Ausdruck  kommt  —  hinsichtlich  ihrer  logischen  Classisicirung 
find  sie  völlig  gleich. 


Der  Witz.  36? 

Wir  haben  oben  bereits  in  Kurzem  die  geistige  Disposition  untersucht, 
die  eine  Bedingung  der  Entstehung  des  Witzes  ist,  und  gefunden,  daß  sie 
in  einer  besonderen  Fähigkeit  der  objectiven  Betrachtung  bestehe,  wie  sie  z.  B. 
auch  das  künstlerische  Schaffen  oder  Genießen  verlangt.  Daraus  erklären 
sich  manche  Eigenthümlichkeiten,  die  jedem  witzig  veranlagten  Kopf  nur  allzu 
bekannt  sind.  Zunächst  folgt  daraus,  daß  eine  gewisse  heitere  oder  doch 
sorglofe  Gemüthsstimmung  vorhanden  sein  muß,  wenn  witzige  Bemerkungen 
sprudeln  sollen;  sodann  aber,  daß  der  leichteste  Schatten  einer  Verstimmung, 
einer  Beklemmung  der  Gesellschaft  dieselben  verscheuchen  kann.  Wie  oft 
ist  es  nicht  schon  auch  dem  witzigsten  Kopfe  vorgekommen,  daß  feine  eben 
noch,  unter  dem  Beifall  der  Gefeilschaft,  bewiesene  Fähigkeit  plötzlich  ver- 
sagte; der  Eintritt  einer  unsympathischen  Persönlichkeit,  das  Berühren  eines 
mißliebigen  Gesprächsstoffes,  eine  störende  Nachricht,  ein  Zwischenfall,  das 
Bewußtfein  gesellschaftlicher  Ungleichheit  und  die  daraus  entspringende  Not- 
wendigkeit streng  zu  beobachtender  Etikette  —  das  Alles  genügt  sehr  häusig, 
um  dem  geistreichen  Kopfe  nie  mit  einem  Schlage  gewöhnliche  Alltags- 
morte  statt  der  erwarteten  Pointen  und  witzvollen  Treffer  einzugeben,  oft 
genug  gerade  im  entscheidenden  Augenblick.  Zu  Hause,  ja  schon  auf  der 
Treppe,  bei  ruhiger  und  unbefangener  Betrachtung,  findet  er  die  besten 
Pointen  offenbar  zu  Tage  liegen,  kaum  fassend,  daß  sie  gerade  im  kritischen 
Moment  seinem  Scharfsinn  entgangen.  Die  Unglückseligen,  bei  denen  dies 
Mißgeschick  ständige  Erscheinung,  hat  Heinrich  von  Kleist  nicht  übel  ge- 
zeichnet: 

.Treffend,  durch«ängi»,  cm  Blitz,  voll  Wahiheit  sind  feine  Gedanlen; 
Wo?  An  der  Tafel?  Ve'llieb!  Wenn  er's  zu  Haufe  bedenkt." 
Andrerseits  erklärt  es  sich  aber  auch  daraus,  wie  der  Witz  gewisse 
Stände  und  Verhältnisse  mit  Vorliebe  als  Objecte  oder  als  Milieu  seiner 
Entstehung  wählen  kann.  Er  wird  sich  stets  mit  Vorliebe  an  solche  Stände 
heften,  denen  böse  Zungen  einen  Gegensatz  zwischen  Schein  und  Wesen, 
zwischen  aufgebauschter  Außen-  und  hohler  Innenseite  nachsagen;  er  wird 
aber  am  liebsten  dort  entstehen,  wo  Stand  und  Beschäftigung  dam  an- 
gethan  sind,  sorglose  Stimmung  und  vor  Allem  das  —  berechtigte  oder 
unberechtigte  —  Gefühl  der  Ueberlegenheit  über  die  Umgebung  auf- 
kommen zu  lassen.  So  ist  es  erklärlich,  wenn  der  Unteroffizier  seine 
Rekruten,  der  Großstädter  den  Kleinstädter,  der  Künstler  den  Philister  zur 
Zielscheibe  seines  Witzes  macht;  vor  Allem  aber  erhellt  daraus,  wie  sehr 
alle  Factoren  des  akademischen  Lebens,  dies  Bewußtsein  überlegener  Bildung, 
die  akademische  Freiheit,  die  jugendliche  Sorglosigkeit,  der  zwanglose  Ver- 
kehr mit  Commilitionen  und  Docenten  aller  Art,  die  mannigfaltigen  Wechsel- 
fälle, die  sich  aus  dem  Mißverhältnisse  zwischen  fröhlicher  Burfchenstimmung 
und  leerer  Börse  ergeben,  geeignet  sei  müssen,  aus  den  jugendlichen  Musen- 
söhnen die  eigentlichsten  „Witzvögel",  die  Verüber  aller  erdenklichen  „Ulke" 
in  Wort  und  That  zu  machen. 


2b8  Friedrich  Wegmüller  in  München. 

Natürlich  werden  sich  dann  die  Betroffenen  in  ihrer  Weise  zu  rächen 
suchen;  und  so  ist  denn  Nichts  naheliegender,  als  daß  der  Einjährige  seinem 
Unteroffizier  den  sich  zum  Theil  gerade  in  seinen  Witzen  aussprechenden 
Mangel  an  Bildung,  der  Kleinstädter  dem  Großstädter  seinen  angeblichen 
Hang  zum  Wortwitz  vorwirft;  die  wirklich  guten  Einfälle  pflegen  eben  die 
gekränkten  Seelen  auf  beiden  Seiten  als  qu»ntit6  u^lißsabls  anzusehen. 
Sie  sind  uns  ja  von  unser«  Witzblättern  her  auf's  Neste  bekannt,  die 
Stände  und  Gruppen,  an  denen  sich  der  Witz  sozusagen  der  Allgemeinheit 
ohne  Unterschied  erbaut:  der  überschneidige  Lieutenant,  der  unwissende,  tact- 
lose  Emporkömmling,  der  Sonntagsjäger,  der  verhinderte  Dichter,  der 
größenwahnsinnige  Schauspieler  u.  s.  f. 

Wenn  wir  oben  des  Weiteren  bemerkten,  daß  die  Gabe  des  Witzes 
im  Allgemeinen  mit  Recht  als  Maßstab  der  natürlichen  Neanlagung  eines 
Menschen  angesehen  werde,  so  bedarf  diese  Bemerkung  übrigens  einer  kleinen 
Berichtigung.  Allerdings  ist  der  angeborene  „Mutterwitz"  so  werthvoll  und 
die  durch  ihn  begründete  Ueberlegcnheit  so  groß,  daß  sie  durch  keine  künst- 
liche Bildung,  geschweige  denn  Gelehrsamkeit  wirklich  ersetzt  werden  kann. 
Es  giebt  ja  eine  gewisse  Sorte  von  Buchgelehrsamkeit  ohne  angeborenen 
Mutterwitz;  hier  weiß  aber  Jeder,  wie  sehr  dieselbe  der  natürlichen  Begabung 
auf  Schritt  und  Tritt  sich  unebenbürtig  erweist,  ja  wie  sehr  gerade  durch 
den  aufgespeicherten  Wissensballast  dieser  Contrast  noch  mehr  gesteigert  wird. 
In  Bürgers  „Kaiser  und  Abt"  wird  ein  solches  Verhältnis;  mit  gutem 
Humor  entwickelt:  der  ungelehrte  Schäfer,  Hans  Vendir  heißt  der  Biedere, 
sticht  durch  seinen  natürlichen  Mutterwitz  nicht  nur  den  Abt  von  St.  Gallen 
aus,  der  das  Pulver  nicht  erfunden  hat,  nicht  nur  die  vier  Hochschulen 
mit  ihren  Doctoren,  sondern  auch  noch  den  sich  mit  Recht  witzig  dünkenden 
„turrigen"  Kaiser  obendrein. 
»Was  l!n  Euch,  Orlslirte,  für  G^ld  nickt  eNveibt, 
Tai  !wb'  ich  von  mein«  Fn,u  Mutter  peeldi." 

Denn,  wie  das  alte  Sprichwort  sagt,  „ein  Quentchen  eigener  Mutterwitz  ist 
mehr  werth  als  zehn  Pfund  von  anderer  Leute  ihrem".  Trotzdem  aber 
sind  die  Fälle  nicht  selten,  wo  ein  allzu  großer  Gebrauch  dieser  Fähigkeit 
das  geistige  Niveau  eines  Manschen  sehr  unvortheilhaft  verändern,  ja  bereits 
ein  Symptom  geistigen  Niedergangs  sein  kann.  Der  Witz  ist  ein 
Spiel  des  Geistes,  eine  Vereinigung  von  Vorstellungen,  die  durch  den 
ordnungsmäßigen  Ablauf  der  Gedanken  nicht  zu  einander  in  Bezielmng 
gesetzt  werden.  Darum  versteckt  sich  hinter  dem  Anscheine  blendenden  Witzes 
und  übersprudelnden  Geistes  nicht  selten  die  Unfähigkeit  zum  logischen,  durch 
die  Realität  der  Dinge  gegebenen  Gedankengang,  die  Unfähigkeit  zur  eigent- 
lichen geistigen  Arbeit.  Sind  uns  doch  aus  der  politischen  wie  aus  der 
litterarischen  Geschichte  selbst  aus  relativ  junger  Zeit  Beispiele  genug 
bekannt,  wie  sich  mit  scheinbar  geistvollem  Witze  nicht  nur  klägliche  Halt- 
losigkeit des  Wollens,  sondern  selbst  die  Anfänge  geistiger  Zerrüttung  sebr 


Der  Witz. 
369 

wohl  vertragen  können.  Daher  auch  das  ästhetische  Unbehagen,  das  ein 
allzu  häufiger  Gebrauch  des  Witzes,  sei  es  im  Leben  oder  im  Kunstwerk, 
in  uns  hervorruft;  wir  haben  dabei  stets  das  peinliche  Gefühl  mangelnder 
Sachlichkeit  oder  mangelnden  künstlerischen  Ernstes.  Der  Witz  ist  ein  Hor8 
ck'osuvrs,  keine  nährende  Speise;  allzuviel  genossen  verdirbt  er  den  Magen. 
Die  Litterargeschichte  bietet  uns  Beispiele  genug,  wie  nicht  nur  Einzelne 
Autoren  und  Werke,  sondern  selbst'  ganze  Litteraturepochen  —  z.  B.  die 
epischen  Vorgänger  und  dramatischen  Nachfolger  Shakespeares  —  durch  Ein- 
führung gespreizten  Witzes  um  jeden  Preis  dem  gebildeten  Geschmack  un- 
genießbar gemacht  wurden. 


~ein  Brief. 

Novelle, 

von 

Mite  Aremnitz. 

—  Vukarest.  — 

~ürde  sie  noch  ankommen? 
Sie  sah  nach  der  Uhr  —  noch  zwölf  Stunden,  und  ihr 
Kopf  brannte  so  furchtbar,  sie  konnte  ihn  nicht  mehr  hochhalten, 
und  wenn  sie  die  Augen  öffnete,  flimmerte  Alles  uor  ihnen,  und  sie  sah 
wie  in  rothe  Wolken,  die  unaufhörlich  ihre  Gestalt  wechselten  und  in  ein- 
ander zerflossen,  um  sich  gleich  wieder  von  einander  zu  lösen. 
Wenn  ihr  nun  aber  das  Bewußtsein  schwände,  was  sollte  aus  ihr 
werden?  —  Der  Zug  brauste  durch  die  Nacht  dahin;  dort  drüben  der 
lichte  Streif,  deutete  er  schon  den  Morgen  an?  Aber  sie  war  doch  erst  eben 
eingestiegen!  Oder  sollte  sie  geschlafen  haben?  Nein,  wie  hätte  sie  mit 
den  furchtbaren  Schmerzen  schlafen  können!  —  Vielleicht,  daß  sie  schon 
Vorübergehend  das  Bewußtsein  verloren  hatte?  0  Gott,  der 
menschliche  Wille  vermag  ja  Alles,  sie  mußte  noch  bis  nach  Hause  kommen! 
Tort  wollte  sie  dann  gern  sterben,  aber  nur  nicht  unterwegs  liegen  bleiben, 
nur  nicht  die  Schande,  daß  man  ihr  nachforschte  und  sie  hier  entdeckte, 
den  Wegen  nachspürte,  die  sie  gegangen  war!  —  Was  würde  ihr  Mann 
sagen?  Hier  würde  er  sie  nie  suchen!  Und  die  Sehnsucht  nach  der 
Kleinen  —  sollte  sie  das  süße  Kind  nie  wiedersehen? 
Sie  schluchzte  laut  auf.  —  Wie  viel  war  die  Uhr?  Immer 
noch  zehn  Stunden!  Und  eben  hatte  sie  die  lebendige  Vorstellung  gehabt, 
nicht  auf  der  Bahn,  sondern  auf  dem  Schiff  von  Honer  nach  Sylt  zu  sein 

—  sie  konnte  also  wirklich  nicht  mehr  klar  denken!  Großer  Gott,  was 
sollte  aus  ibr  werden?  ...  Die  Schande,  die  furchtbare  Schande,  die  sie 
auf  ihren  Mann  geladen  hatte!  ....  Nein,  nein,  bis  nach  Hause  mußte 


5ein  Vlief.  2?~ 

sie  kommen!  ....  Aber  wenn  es  nun  ein  Neruenfieber  war?  Schon  seit 
mehr  als  acht  Tagen  war  ihr  zu  Muthe,  als  wäre  sie  trank;  sie  hatte  das 
auf  seelisches  Leid  geschoben,  allein,  wenn  sie  nun  doch  erkrankte,  wenn 
man  sie  aus  dem  Zuge  hob,  wenn  man  nach  Erkennungszeichen  bei  ihr 
suchte  und  ihren  Namen  durch  die  Welt  telegraphirte!  Aber  Nichts 
an  ihr  trug  ja  ihren  Namen,  ihr  Neisesack  nicht  und  auch  nicht  ihre  Wäsche, 
sie  hatte  die  größte  Vorsicht  beobachtet,  und  Initialen  sagen  ja  Nichts 
0,  aber  der  Brief  von  ihm,  den  sie  bei  sich  trug,  der  mufte  vernichtet 
werden,  schnell,  schnell  sein  letzter,  lieber  Brief!  ....  Sie  durfte 
ja  ihn  vor  Allen  nicht  bloßstellen.  —  Lieber  namenlos  begraben  werden 
Der  Friedhof  der  Namenlosen,  ~  sie  war  schon  wieder  an  der  See! 
Aber  der  Brief,  sein  Brief!  Was  hatte  sie  doch  eben  ge- 
wollt? Ach  ja,  ihn  zerreißen!  Sie  trug  ihn  ja  auf  der  Brust 
Rasch,  die  Jacke  aufknöpfen!  —  0,  wenn  sie  aber  nicht  einmal  das  mehr 
konnte,  wenn  man  dann  seinen  Brief  fand!  ....  Es  war  gewiß  ein 
Neruenfieber!  Die  letzten  Tage  waren  zu  furchtbar  gewesen,  sie  hatte  sich 
übermenschlich  zusammennehmen  müssen,  und  die  Wochen  vorher 
'Natürlich,  Alles  kann  der  Mensch  nicht  überwinden. 
Wie  laut  die  Wellen  an's  Ufer  schlugen  ~  die  Futh  stieg  —  sie 
kann  nicht  vorwärts  —  o,  sie  war  nicht  zu  retten!  ....  Sie  schrie  laut 
auf  und  sah  sich  dann  verwundert  um  Ach,  es  war  ja  nur  ein 
Traum,  sie  hatte  geträumt  —  Aber  der  Brief?  Hatte  sie  ihn  wirklich 
noch  nicht  herausgeholt  und  zerrissen?  .... 
Wie  sie  zitterte!  —  Und  die  großen  .Knüpfe  wollten  ihren  Fingern 
nicht  gehorchen  —  Baby  hatte  vor  der  Abreise  mit  diesen  Knöpfen 
gespielt 

Sie  ließ  die  Hand  sinken.  —  Wieder  schaukelten  die  Wellen  sie,  das 
Brausen  war  fast  unerträglich.  ...  0,  sie  mußte  sich  retten!  .... 
Hastig  stand  sie  auf,  fiel  aber  gegen  das  Fenster,  das  klirrend  zer- 
brach. ...  Die  Erschütterung  that  ihrem  Kopfe  so  wohl!  ....  Wie  gut 
war  die  Nachtluft;  sie  hatte  ja  längst  das  Fenster  aufmachen  wollen,  um  den 
Brief  hinauszuwerfen  Wohin  er  wohl  fliegen  würde?  ...  Die 
Krone  darauf,  die  mußte  vor  Allem  zerrissen  werden  Aber  das 
war  ja  gar  nicht  der  Brief,  das  war  die  Hotelrechnung  aus  der  Paletot- 
tasche, die  sie  zerfetzt  uud  fortgeworfen  hatte!  ...  Ob  die  Wellen  da 
draußen,  die  so  schwarz  gegen  sie  anstürmten,  die  Schriftzüge  auch  ganz 
abwaschen  würden?  So,  daß  kein  menschliches  Auge  seine  Liebesworte 
mehr  entziffern  konnte?  0,  das  Papier  wollte  sich  nicht  zerreißen 
lassen!  Sie  riß,  daß  ihr  der  Schweiß  auf  die  Stirn  trat 
Mein  Gott,  sie  war  wohl  schon  irrsinnig,  das  war  ja  der  Vorhang,  an 
dessen  Franzen  sie  zerrte,  und  sein,  Brief  ruhte  immer  noch  auf  ihrer 
Brust!  ....  Warum  war  sie  auch  so  thöricht  gewesen,  ihn  dorthin  zu 
stecken!  .... 

3I°II>  und  S»K.  I.XXV.  225.  25 


272  Mite  «remnitz  in  Vukatest. 

Was  war  das?  .  .  .  Jemand  huschte  an  ihr  vorbei  —  ein  Geist 

War  es  der  Geist  der  Liebe,  der  nicht  dulden  wollte,  daß  sie  seine  Worte 

profanirte?  .  .  . 

Sie  flüchtete  sich  in  die  äußerste  Ecke  des  Coupes;  ihr  war  immer, 
als  dränge  eine  schreckliche  Gestalt  durch  das  zerschlagene  Fenster  hinein 
Wie  merkwürdig,  daß  sie  beim  Einsteigen  nicht  bemerkt,  daß  es  zerbrochen 
war!  ....  Wo  war  sie  denn  eigentlich  in  diesen  Zug  gestiegen?  .... 
Und  war  sie  auf  der  Hinreise  oder  auf  der  Rückreise?  ....  Wie  gut,  daß 
sie  in  München  keinen  Bekannten  auf  dem  Bahnhofe  getroffen!  Sie  hatte 
doch  Glück  gehabt,  großes  Glück,  und  nun  war  sie  ja  gleich  zu  Hause.  .  . 
Wie  viel  Stunden  noch?  .... 

Sie  hob  den  Arm,  um  auf  die  Uhr  zu  fchauen,  die  sie  an  der  Kette 
um  das.  Handgelenk  trug.  0,  wie  sie  fror.  —  Sie  fror  furchtbar  —  ihr 
Kleid  und  ihre  Jacke  waren  ja  auch  offen  Ach,  und  in  der  Hand  hielt 
sie  immer  noch  seinen  Brief!  Sie  nahm  ihn  zwischen  die  Zähne 
—  sie  mußte  ihn  zerreißen!  .  .  .  Aber  was  war  denn  das?  ...  . 
Sie  schrie  furchtbar  auf  und  stürzte  an  das  zerbrochene  Fenster.  Sie 
schrie,  als  sollte  sie  das  Getöse  des  brausenden  Zuges  überschreien  — 
Hülfe!  .  .  .  Hülfe!  .  .  . 

Man  wollte  sie  ermorden  —  zwei  Männer,  große,  schwarze,  maskirte 
Männer  standen  vor  ihr!  ...  .  Sie  suchte  die  Thür  zu  öffnen,  um  ihnen 
zu  entfliehen.  —  Es  gelang  ihr  auch,  die  Klinke  zu  erfassen  und  die  Thür 
aufzustoßen,  aber  es  hielt  sie  Etwas  fest,  wie  eine  Eisenklammer  hatte  es 
sich  um  ihre  Taille  gelegt 

Als  Doctor  Braun  um  neun  Uhr  Morgens  seine  Frühvisite  im  Kranken- 
Hause  zu  Kempten  machte,  berichtete  ihm  die  Barmherzige  Schwester,  daß 
vor  einigen  Stunden  von  der  Vahnverwaltung  eine  Dame  eingeliefert 
werden  sei,  die  im  Nachtzuge  einen  Anfall  von  Tobsucht  gehabt  habe 
nnd  jetzt  noch  ganz  bewußtlos  sei;  sie  habe  hohes  Fieber,  das  Thermometer 
zeige  40",  und  nur  mit  Mühe  sei  sie  ini  Bett  zu  halten.  Gleich  bei  ihrem 
Einsteigen  in  München  habe  der  Schaffner  bemerkt,  daß  sie  sich  mit  den 
Händen  den  Kopf  gehalten  und  vor  sich  hingesprochen  habe;  während  der 
Fahrt,  so  oft  er  durch's  Fenster  geblickt,  habe  sie  unaufhörlich  ihren  Platz 
gewechselt,  sei  aufgesprungen  und  habe  Ühre  Kleidung  auf-  und  zugeknöpft; 
schließlich,  als  sie  die  Scheibe  zerbrochen,  habe  er  dem  Zugführer  Meldung 
gemacht.  Ihr  Villet  I.  Klasse  habe  München^Lindau  gelautet,  die  Reise- 
tasche hier  sei  ihr  einziges  Gepäck;  ihrem  Aussehen  nach  gehöre  sie  den 
besten  Ständen  an.  .  .  . 

„Die  Dame  scheint  Sie  ja  ausnehmend  zu  interessiren,  Schlvener 
Anna,"  unterbrach  der  Arzt  sie  lächelnd,  „daß  Sie  alle  Details  so  gut 
behalten  haben.  Wir  wollen  sie  uns  erst  einmal  ansehen  .  .  ." 


"  Sein  Vlief.  273 

„Aber  Herr  Doctor,  es  schneit  uns  doch  nicht  jeden  Tag  eine  schöne 
Namenlose  so  in  der  Morgenfrühe  ans  die  Station!"  entgegnete  sie  scherzend. 
Doctor  Braun  mar  der  ausgesprochene  Liebling  der  Nannherzigen 
Schwestern;  sie  bewunderten  sein  joviales,  rundes  Gesicht  als  den  höchsten 
Ausdruck  männlicher  Weisheit  und  Güte,  obgleich  er  kaum  dreißig  Jahre 
zählte,  und  die  Schwestern  selbst  dieses  Alter  sämmtlich  schon  überschritten» 
hatten. 

„Also  schön  ist  sie  auch,  die  Namenlose?"  fragte  der  Arzt  und  trat 
in  das  sogenannte  Ertrazimmer,  wohin  die  Kranke  gebracht  worden  war. 
Hell  fiel  das  Tageslicht  auf  das  schmale  Nett,  in  dem  die  Neu- 
angekommene mit  geschlossenen  Augen  ruhte.  Ihr  auffallend  langes,  dunkles 
Haar  lag  in  einer  dicken  Flechte  ihr  im  Arm,  ihr  Antlitz  war  fiebergeröthet, 
und  die  trocknen  Lippen  ihres  Mundes  geöffnet,  fo  daß  die  kleinen,  dicht- 
gereihten Zähne  sichtbar  waren;  ihre  feinen  schwarzen  Augenbrauen  hatten 
sich  wie  im  Schmerz  zusammengezogen,  und  zuckend  beschatteten  die  langen 
dunklen  Wimpern  ihre  Wangen. 

„Sie  ist  verheirathet,"  flüsterte  die  Schwester  und  wies  auf  die  rechte 
Hand,  die  auf  der  carrirten  Wolldecke  lag  und  neben  einem  Nrillantring 
den  breiten  Ehering  zeigte;  die  Fingerwaren  kindlich  schmal  und  schienen 
fast  durchsichtig.  „Vielleicht  steht  der  Name  ihres  Mannes  im  Ringe,  und 
wir  finden  so  am  schnellsten  die  Spur .  .  ." 
„Ja,  aber  die  Hauptsache  ist,  daß  wir  sie  am  Leben  erhalten,"  ant- 
wortete der  Arzt.  „In  der  ersten  Typhuswoche,  denn  die  erste  muß  es  fein, 
solche  Temperaturhühe!" 

Die  Kranke  richtete  sich  plötzlich  auf  und  fah  den  fremden  Mann  mit 
starren,  entsetzten  Augen  an.  „Hülfe!"  schrie  sie,  „Hülfe!"  und  versuchte 
aus  dem  Nette  zu  springen.  Er  legte  sie  mit  sanfter  Nestimmtheit  in  die 
Kissen  zurück.  „Sie  müssen  ganz  ruhig  liegen  bleiben,"  sagte  er  laut  und 
sah  sie  fest  an  —  wie  Schwester  Anna  dachte,  „mit  seinem  magnetischen 
Nlick." 

„Aber  ich  muß  nach  Hause!"  stöhnte  sie  und  stieß  wirre  Worte  aus: 

von  den  Wellen,  von  dem  furchtbaren  Raufchen  —  dann  wurden  ihre  Laute 

unverständlich. 

Doctor  Nrcmn  sah  sie  eine  Weile  nachdenklich  an;  es  war  so  schwer  zu 

entscheiden,  ob  hier  eine  Gehirnentzündung,  oder,  wie  die  Schwester  meinte, 

Typhus  vorlag.  Und  dann  die  nächste  Frage:  Wer  war  sie?  Wie  kam 

diese  schöne,  vornehme  Frau  dazu,  so  ohne  Begleitung,  ohne  Dienerschaft 

zu  reisen?  Wie  konnte  man  schnell,  ehe  es  zu  spät  war,  ihre  Identität 

feststellen  und  die  Ihrigen  benachrichtigen? 

Er  traf  derweil  feine  medicinischen  Verordnungen:  Eis  und  ein  Nad, 

ehe  er  die  übrigen  Kranken  seiner  Station  besuchte,  uud  als  er  sich  dann 

auf  seine  Priuatpraris  begab,  schärfte  er  noch  einmal  der  Schwester 

Anna,  auf  deren  Beobachtungsgabe  er  sich  verlassen  konnte,  ein,  daß  etz 

25« 


3?H  Mite  «remnitz  in  Vukarest. 

von  größter  Wichtigkeit  sei,  sobald  als  möglich  Namen  und  Wohnort  der 
Fremden  festzustellen!  sie  möge  deshalb  die  Reisetasche  auf's  Genaueste 
untersuchen  und  auch  auf  der  Innenseite  des  Trauringes  nachsehen,  wenn 
sie  ihn  ohne  Beunruhigung  der  Kranken  abziehen  könnte. 
Erst  nach  Verlauf  mehrerer  Stunden  kehrte  Dr.  Braun  in's  Hospital 
zurück.  Er  mar  unterdeß  beim  Chef  des  Bahnhofes  gewesen,  um  sich 
persönlich  nach  der  Unbekannten  zu  erkundigen,  und  hatte  auf  eigene  Kosten 
die  Polizeibehörden  in  München  und  Lindau  telegraphisch  von  dem  Vorfall 
benachrichtigt.  Daß  eine  Auskunft  selbst  im  günstigsten  Falle  nicht  schnell 
zu  erhoffen  stand,  wußte  er. 

Schwester  Anna  berichtete  ihm,  daß  sie  keinen  Hinweis  auf  Namen 
und  Heimat  der  Erkrankten  gefunden  hatte;  im  Ninge,  den  sie  ihr  leicht 
abgestreift,  stand  nur  „Walter"  eingravirt,  und  das  zierliche  Elfenbein- 
portemonnaie enthielt  lediglich  Geld,  16  Napoleons,  foviel  wie  hineinging, 
wahrend  sich  in  der  Reisetasche  außer  einem  eleganten  Portefeuille  mir 
mehreren  Hundertguldenfcheinen  und  außer  einer  kleinen  stahlmafchigen  Börse 
mit  österreichischem  und  deutschein  Silbergeide  nur  etwas  Seidenwäsche 
befand,  von  derselben  Art,  wie  die  Reisende  sie  trug.  Alles  von  zarter 
Farbe,  mit  echten  Spitzen  besetzt  und  mit  einen:  großen,  verschlungenen  E 
gezeichnet;  die  Reisetasche  war  zu  Paris  im  Louvre  getauft. 
„Es  ist  zum  Verzweifeln!"  seufzte  Schwester  Anna.  „Wenn  man  sick 
vorstellt,  daß  die  nächsten  Anverwandten  in  Todesängsten  harren  und 
vielleicht  eine  Welt  in  Bewegung  setzen  möchten,  um  die  Verlorene  zu  finden!" 
Sie  schlug  dem  Arzte  vor,  die  Kranke  in  ihren  Fieberphantasien  ein- 
mal nach  ihrem  Namen  zu  fragen;  sie  felbst  habe  es  ohne  Erfolg  gethan, 
aber  ihm,  dessen  Stimme  fo  viel  über  Patienten  vermöge,  werde  es 
gewiß  gelingen. 

Doctor  Braun  trat  in  das  kahle  Zimmer,  an  das  Bett  der  schönen  Un- 
bekannten, deren  Züge  seit  der  Frühe  noch  feiner  und  verklärter  geworden 
zu  fein  schienen;  ruhig  ließ  er  sich  neben  ihrem  Lnger  nieder  und  beob- 
achtete sie.  Die  Kranke  schluchzte  in  ihren  Delirien  herzzerreißend  auf,  und 
als  der  Ar.~t  ihre  schmale  Hand  ergriff  und  streichelte,  wandte  sie  sich  ihm 
zu  und  flüsterte:  „Mein  Jung?" 
„Wie  heißt  Du?"  fragte  er. 

„Ja,  wie  heißt  Du?"  wiederholte  sie  fast  schelmisch.  „Wie  heißt  Dil 
eigentlich,  mein  Lieb?  Fred  oder  Friedfred  oder  Fritz?  —  Du  heißt  Mein 
Jung  .  .  ."  Dabei  lächelte  sie  süß  und  schien  beruhigter.' 
Doctor  Braun  sah  ein,  daß  es  ein  Fehler  gewesen  war,  sie  mit  Du 
anzureden,  denn  einem  Freunde,  der  Einen  dutzt,  braucht  man  ja  seinen 
Namen  nicht  zu  sagen;  aber  auch  sonst  mochte  diese  Frau  wohl  kaum  in 
die  Lage  gekommen  sein,  selbst  ihren  Namen  zu  nennen.  —  Um  ihr  bei- 
zukommen, muhte  er  sich  erst  tiefer  in  ihre  Verhältnisse  uerfetzcn  können, 
und  für  den  Augenblick  nahm  er  Abstand,  weiter  in  sie  zu  dringen.  Viel- 


Sein  Vrief,  275 

leicht  träumte  sie  gerade  von  ihrem  Kinde;  Schwester  Anna  hatte  ja  be- 
richtet, daß  sie  ängstlich  nach  „Baby"  gerufen  habe.  —  „Ich  glaube,  sie 
ist  keine  Deutsche,"  war  der  letzte  Schluß  der  beobachtenden  Schwester 
gewesen,  und  damit  stimmte  die  eigene  Muthmaßung  des  Arztes  überein, 
denn  die  Kranke  schien  ihm  in  ihrer  Aussprache  etwas  Fremdländisches  zu 
haben,  so  geläufig  ihr  augenscheinlich  das  Deutsche  auch  war.  Bestätigte 
sich  aber  diese  Muthmaßung,  dann  ward  es  erst  recht  hoffnungslos,  schnell 
ihre  Angehörigen  aufzufinden.  —  Wie  furchtbar  tragisch,  wenn  dieses 
wunderschöne  junge  Wesen  hier  sterben  und  begraben  werden  mußte,  ehe 
die  Liebsten  und  Nächsten  von  ihrer  Gefahr  auch  nur  unterrichtet  werden 
konnten!  Aber  was  war  zu  thun?  Selbst  mit  den  größten  Mitteln  — 
uud  die  befaß  er  nicht  und  hätte  sie  auch  kaum  auf  eine  Fremde  verwenden 
dürfen  —  ließ  sich  hier  schwer  Etwas  erreichen!  Die  Schwestern  hatten 
vorhin  gemeint,  daß  die  Steine,  welche  an  den  kleinen  Ohren  der  Kranken 
blitzten,  viele  Tausende  werth  seien.  Gesetzt,  daß  er  diese  Steine  nahm 
und  sogleich  durch  seinen  Assistenten,  den  er  nach  München  sendete,  ver- 
kaufen ließ,  konnte  er  dann  nicht  mit  dem  Erlös  Himmel  und  Hölle,  d.  h. 
die  geheime  Polizei  in  Bewegung  fetzen,  um  die  Spuren  der  Kranken  zu 
verfolgen?  Wäre  das  nicht  werkthätige  Menschenliebe?  Seine  Pflicht  war 
es  nicht,  aber  nun  es  ihm  eingefallen,  war  es  beinahe  schon  Pflicht,  es 
auszuführen!  Das  war  etwas  Romanhaftes;  bisher  aber  hatte  er  noch 
nichts  Außergewöhnliches  erlebt,  erst  durch  diese  Kranke  ward  es  in  sein 
Leben  hineingetragen!  —  Außerdem,  in  vierundzwanzig  Stunden,  wenn 
er  nicht  sofort  handelte,  konnte  es  zu  spät  sein. 
Die  Antwortdepesche  aus  Lindau  hatte  gelautet,  daß  scheinbar  Niemand 
dort  eine  Dame  erwartet  oder  vermißt  habe.  —  Er  dachte  noch  einmal 
daran,  ihr  die  großen  Brillanten  sachte  aus  dem  Ohrläppchen  zu  lösen,  allein 
er  war  nicht  dazu  im  Stande,  ihn  schauderte,  es  trieb  ihm  das  Wort  Leichen« 
raub  in's  Gedächtniß.  —  Doch  das  war  falsche  Sentimentalität!  Würde 
sie  selbst  nicht,  wenn  bei  Bewußtsein,  Alles  hingegeben  haben,  um  sich 
Hülfe  und  Erlösung  aus  diesem  gefängnißähnlichen  Hospital  zu  verschaffen? 
Und  es  mußte  schnell  Etwas  geschehen,  denn  das  Fieber  stieg,  und 
in  ihrem  Gehirn  war  absolute  Nacht.  Das  Bad  war  ohne  Einfluß  auf 
die  Körpertemperatur  geblieben,  den  Eisbeutel  stieß  sie  oft  von  ihrem 
Kopfe  fort,  hatte  alfo  keine  Linderung  davon.  Aber  geschehen  muhte 
Etwas! 

Er  saß  nun  schon  eine  Viertelstunde  da,  ohne  den  Blick  von  ihr  zu 
wenden,  obgleich  es  ihm  wie  eine  Indiscretion  vorkam,  sie  anzuschauen, 
und  er  aus  Zartgefühl  die  Thür  zum  Nebenzimmer,  wo  zwei  der  Schwestern 
saßen,  offen  gelassen  hatte. 

Mit  seinen  lautlosen  kleinen  Schritten  trat  er  an  das  Thermometer 
—  zwölf  Grad  Maumur,  also  die  richtige  Zimmerwärme;  auch  die  Ventila- 
tion war  gut.  ~  Wie  konnte  nur  diefe  Treibhauspflanze  von  Frau  so 


376  Mite  Aremnitz  in  Vutaiest. 

allein  durch  die  Welt  reisen!  Welche  Lebensumstände  mochten  sie  dazu  ge- 
trieben haben? 

Er  ging  zu  den  Schwestern  und  brachte  seinen  Vorschlag  mit  den 
Brillanten  an.  Schwester  Anna  remonstrirte  energisch:  „Thun  Sie  das 
nicht,  HerrToctor,  es  könnte  Ihnen  Unannehmlichkeiten  verursachen"  — 
sie  sah  die  ganze  Welt  nur  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Annehmlichkeiten 
oder  Unannehmlichkeiten  für  ihren  Toctor  an  — ;  „ich  rathe  Ihnen 
dringend.  Alles,  was  die  Kranke  an  und  bei  sich  hatte,  unversehrt  aufzu- 
bewahren! Höchstens  könnten  wir  ihr  etwas  Wäsche  kaufen,  deren  sie 
morgen  bedürfen  wird;  die  Rechnung  bleibt  uns  dann  als  Beleg  .  .  ." 
„Ob  sie  morgen  überhaupt  noch  Etwas  bedarf?"  warf  er  ein. 
Schwester  Anna  hatte  eine  Regung  von  Eifersucht. 
„Wenu  sie  auch  schön  und  fremd  ist,  so  wollen  wir  doch  nicht  gleich 
das  Außergewöhnliche  annehmen  .  .  ." 

„Ich  komme  sofort  nach  dem  Essen  wieder,"  sagte  Doctor  Braun  und 
brach  das  Gespräch  ab.  Doch  der  Gegenstand  desselben  hörte  nicht  auf, 
ihn  zu  beschäftigen;  in  seiner  Privatwohnung  setzte  er  ein  langes  Telegramm 
an  die  „Münchener  Allgemeine"  auf,  worin  alle  Zeitungen  dringend  ersucht 
wurden,  den  räthselhaften  Porfall  möglichst  zu  verbreiten. 
„Es  ist  nicht  angenehm,  wie  ein  verlorenes  Stück  Vieh  ausgeschrien 
zu  werden,  aber  nur  durch  die  größte  Oeffenllichkeit  kann  ich  auf  Erfolg 
rechnen.  Und  die  Verantwortung  ist  mir  schrecklich!"  dachte  er  bei  sich, 
als  er  in  die  „Goldene  Traube"  zu  seinem  Mittagstische  ging. 
Wie  immer,  ward  er  mit  Jubel  empfangen;  zwar  gab  man  ihm 
einige  Spitzen  wegen  seines  Ausbleibens  beim  Frühschoppen  zu  hören, 
allein  dem  „Pfiffikus"  wurde  felbst  dieses  Delict  verziehen.  —  Der  Mittags- 
tisch bestand  aus  zehn  Herren,  fast  zur  Hälfte  Norddeutschen.  Es  pflegte 
höchst  fidel  herzugehen  in  dem  kleinen  Kreise,  dessen  Mittelpunkt  unbestritten 
Kurt  Braun  bildete;  die  Witze  waren  nicht  immer  ganz  neu,  und  es  war 
hauptsächlich  die  Frau  Wirchin,  die  immer  wieder  herhalten  mui'te,  aber 
der  Schabernack,  der  mit  ihr  getrieben  wurde,  war  stets  so  gutmüthig  und 
harmlos,  daß  ihr  selbst  was  gefehlt  haben  würde,  wenn  Toctor  Braun  sie 
einmal  nicht  hätte  rufen  lassen,  um  sich  über  irgend  eine  neue  vorgeschützte 
Unbill  zu  beklagen. 

Toctor  Braun  war  erst  seit  zwei  Jahren  in  Kempten;  trotzdem 
konnte  sich  jetzt  keiner  seiner  Bekannten  mehr  vorstellen,  daß  das  Leben 
dort  früher  was  Rechtes  gewesen  sei,  so  beliebt  hatte  seine  unverwüstliche 
gute  Laune  ihn  gemacht. 

Auch  heute  war  er  unverändert  gesprächig  und  gut  aufgelegt. 
Ein  Charakterzug  von  ihm,  den  freilich  nur  Wenige  kannten,  war,  daß 
er  höchst  discret,  ja,  mehr  als  das,  versteckt  und  verschlossen  war;  die 
meisten  seiner  Bekannten  hätten  im  Gegentheil  darauf  gefchworen,  daß 
Kurt  Braun  fein  Herz  auf  den  Lippen  trüge,  denn  feine  joviale  Art,  sein 


5ein  »rief.  27? 

stets  bereiter  Humor  verleiteten  zu  der  Ansicht,  daß  er  Jedermann  in  sein 
Vertrauen  zog.  In  Wirklichkeit  aber  war  er  ein  Meister  der  Kunst,  die 
eigene  Meinung  zu  verhehlen  und  jeder  fremden  ein  gewisses  Maß  Beifall 
zu  zollen,  fodaß  am  Schluß  der  Debatte  über  irgend  eine  Streitfrage  Nie- 
mand hätte  angeben  können,  welcher  Ansicht  eigentlich  Doctor  Braun  ge- 
wesen sei. 

Auch  heute  merkte  keiner  seiner  Tischgenossen  ihm  an,  was  sein 
Inneres  bewegte,  und  in  wie  großer  Spannung  seine  ganze  Natur  sich 
befand. 

Als  er  gegen  drei  Uhr  wieder  in  fein  Krankenhaus  kam,  empfing  ihn 
Schwester  Anna  mit  ernster  Miene:  „Ich  glaube,  es  geht  wirklich  zu 
Ende 

„Um  Gotteswillen!"  murmelte  er,  und  ihm  ward  plötzlich  ganz  übel. 
Er  fühlte,  daß  er  mit  dem  Gedanken  eines  schlimmen  Ausganges  bisher 
doch  nur  gespielt,  und  daß  seine  Seele  die  Hoffnung,  die  Unbekannte 
werde  der  Krankheit  widerstehen,  hartnäckig  festgehalten  hatte.  Warum 
eigentlich  hatte  er  den  städtischen  Behörden  noch  keine  Anzeige  gemacht, 
warum  sich  darauf  verlassen,  daß  die  Bahnverwaltung  es  gethan?  Ach, 
all  dieser  Formelkram,  was  kümmerte  ihn  der,  wenn  sie  wirklich  sterben 
sollte!  .... 

„Wir  müssen  sogleich  noch  ein  Bad  geben,"  bestimmte  er.  Diesmal 
assistirte  er  dem  Bade,  weil  die  Kranke  Widerstand  leistete,  nnd  er  die 
Schwestern  unterstützen  mußte  —  die  zarte,  mädchenhafte  Gestalt  hatte  un- 
geahnte Kräfte! 

Gott  sei  Dank,  eine  Stunde  später  war  die  Temperatur  um  einige 
Decimalstriche  tiefer,  als  vor  dem  Bade,  es  fchien  also  genützt  zu  haben. 
Doctor  Braun  verließ  das  Zimmer  der  Unbekannten  nur,  um  seine 
Runde  durch  die  Krankensäle  zu  machen.  Sobald  er  dann  von  Neuem  seinen 
Platz  am  Bette  der  rätselhaften  Patientin  einnahm,  flüsterten  die  Schwestern 
einander  zu:  „Er  glaubt  auch,  daß  es  heute  noch  zu  Ende  geht;  sonst 
würde  er  nicht  schon  wieder  da  sein!"  0 

Ihn  hatte  ein  merkwürdiges  Mitleid  gefangen  genommen;  nicht  die 
Schönheit  uud  die  Verlassenheit  der  jungen. Frau,  sondern  etwas  ganz  Un- 
erklärliches war  es,  was  ihn  zu  ihr  zog.  Immer  hatte  er  das  Gefühl, 
als  könne  er,  nur  er,  ihr  helfen,  und  doch  fragte  er  sich  umsonst,  wie 
und  wodurch?  —  Schon  vor  sechs  Uhr  schienen  sich  alle  Befürchtungen  zu 
bestätigen,  das  Fieber  stieg  wiederum,  ihr  Antlitz  war  nicht  mehr  geröthct, 
sondern  von  krankhaften.  Gelb  entstellt,  und  in  furchtbaren  Aengsten  richtete 
sie  sich  ans,  versuchte  aus  dem  Bette  zu  springen  und  forderte  „den  Brief". 
Der  Arzt  lauschte  ihren  Phantasien:  immer  wieder  tauchte  in  ihnen  der 


278  Mite  Kremnitz  in  Vukaiest. 

Brief  auf.  Leise  erhob  Doctor  Braun  sich,  faltete  im  Nebenzimmer  ein 
Stück  Papier  zusammen,  und  als  sie  wieder,  sich  anpackend,  als  suchte  sie 
ihn  an  sich,  „der  Brief!"  rief,  da  drückte  er  ihr  das  Papier  in  die  Hand. 
Sie  ergriff  es  krampfhaft,  zerriß  es,  warf  die  Stücke  neben  dem  Bette 
nieder  und  fank  dann,  überwältigt  von  der  Anstrengung,  auf  das  Kissen 
zurück.  Allein  nach  einer  Weile  erschien  abermals  der  Brief  in  ihren  un- 
zusammenhängenden Reden  —  der  Brief,  das  Fenster,  die  Eisenbahn. 
Doctor  Braun  lauschte.  War  ihr  ein  Brief  aus  dem  Coupüfenster 
entflogen?  Hatte  sie  darum  die  Scheibe  zerbrochen?  Und  standen  in  jenem 
Briefe  Aufklärungen  über  sie?  —  Augenscheinlich  hatte  sie  selbst  schon 
während  der  Fahrt  empfunden,  daß  ihr  Bewußtsein  schwand,  und  mit  der 
ausbrechenden  Krankheit  gerungen.  Ihni  schien  es  plötzlich  eine  Gewißheit, 
daß  sie  in  der  Angst,  Hülflos  unterwegs  liegen  zu  bleiben,  einen  Brief  mit 
ihreni  Namen  und  ihrer  Ndresse  geschrieben,  und  daß  der  Zugführer,  als 
er  die  vermeintliche  Absicht  der  Kranken,  sich  aus  dem  Wagen  zu  stürzen, 
vereitelte,  sie  lediglich  verhindert  hatte,  den  wegflatternden  Brief  ivieder  zu 
erhaschen. 

Jetzt  machte  der  Anbruch  der  Dunkelheit  die  Verfolgung  dieser  Idee, 
dieser  kaum  wahrnehmbaren  Spur  unmöglich,  aber  am  nächsten  Morgen 
wollte  Doctor  Braun  sein  Möglichstes  thun,  um  das  Näthsel  zu  lösen! 
Ihm  war  ein  Plan  gekommen,  plötzlich  wie  eine  Erleuchtung.  Den 
Brief  mußte  und  wollte  er  wiederschaffen!  Fortwährend  sah  er  jene  Scene 
vor  sich:  Die  kranke  arme  Frau,  die  angeblich  Irre,  im  Kampf  mit  den 
unwissenden,  wenn  auch  wohlmeinenden  Nahnbeamten,  welche  die  Ver- 
zweiflung des  unterliegenden  zarten  Weibes  für  Tobsucht  nahmen!  .... 
Von  seiner  tiefgehenden  Erregung  war  ihn«  äußerlich  aber  Nichts  an- 
zumerken. 

„Schwester  Anna,"  sagte  er  beim  Fortgehen  aus  dem  Hospital, 
„«lachen  Sie  mir  heute  Abend  ein  Glas  Ihres  herrlichen  Thees  —  so 
wie  I  hrer  schmeckt  kein  anderer.  Ich  werde  gegen  elf  Uhr  wiederkommen 
und  die  Nacht  hierbleiben  und  wachen,  damit  Sie  es  nicht  thun.  Keinen 
Widerspruch!  Uns  Beiden  ist  das  arme  Wesen  nun  doch  mal  an's  Herz 
gewachsen,  und  wir  möchten  doch  nicht  morgen  früh  mit  der  Nachricht 
aufgeweckt  werden,  daß  Alles  vorbei?  Ich  aber  bin  von  uns  der 
Kräfttgere!" 

„Wollen  wir  sie  versehen  lassen?"  fragte  ihn  die  Schwester. 
„Ich  dächte  eigentlich  nicht,  aber  wie  Sie  meinen  .  .  .  ."  ant- 
wortete er  und  ging;  die  Entscheidung  dieser  Frage  überließ  er  lieber  den 
Schwestern. 

Ehe  er  sich  zum  Abendimbiß  in  die  „Traube"  begab,  durchflog  er  in 
seiner  Wohnung  noch  rasch  die  Zeitung;  es  war  zwar  höchst  unwahr- 
scheinlich, daß  er  darin  einen  Fingerzeig  entdecken  würde,  aber  seine 
Phantasie  war  nun  einmal  wach,  und  er  studirte  die  Rubrik  „Locales", 


Sein  Vtief.  37Y 

ja,  selbst  die  „Hofnachrichten"  aus  München  mit  der  größten  Genauigkeit  — 
freilich  ohne  Etwas  zu  finden.  Mechanisch  wanderten  dann  seine  Augen 
noch  über  die  nächste  Spalte:  Hochzeitsfeier  einer  Erzherzogin  in  Wien 
mit  irgend  einem  Prinzen  aus  regierendem  Hause,  Doctor  Braun  gehörte 
nicht  zu  den  Lesern  des  Gothaischen  Kalenders;  so  interessirten  ihn  auch 
nicht  die  Auseinandersetzungen  des  Wiener  Correspondenten  über  Genealogie 
und  Verwandtschaftsverhältnisse  des  fürstlichen  Bräutigams,  der  durch  den 
Tod  zweier  Neffen  —  Diphtheritis  —  plötzlich  zum  präsumtiven  Thron- 
erben geworden  und  damit  in  die  Notwendigkeit  versetzt  war,  sich  nach 
einer  Gemahlin  umzusehen. 

In  rascherem  Tempo  weiterlesend,  fand  Doctor  Braun  die  üblichen 
biographischen  Notizen  über  das  hohe  Brautpaar:  Prinz  Friedrich  stand  im 
Beginn  der  Vierziger,  hatte  bisher  für  einen  Weiberfeind  gegolten  und 
nur  seiner  Wissenschaft  gelebt-,  niit  einem  Schlage  war  er  dann  von  heißer 
Liebe  erfaßt  zu  der  jugendlich  liebreizenden  Erzherzogin,  die  gleichfalls  eine 
warme  Herzensneigung  für  den  geistreichen  Mann  empfand,  der  alle,  ihre 
künstlerischen  Interessen  theilte.  —  Große  Sympathie  des  Publicums  mit 
diesem  Ehebunde  -~  Anekdoten  über  des  Prinzen  Gelehrtenleben  in  Paris 
—  sein  nom  äs  pluiuL  „Irisät'lsä",  sein  Rufname  im  engsten  Familien- 
kreise „Fred"  u.  s.  w. 

„Also  wissenschaftliche  Prinzen  giebt's  auch!"  lächelte  Doctor  Braun 
vor  sich  hin.  „Hat  über  Würmer  und  Fische  geschrieben  —  ein  gelehrtes 
Haus!  ....  Wird  aber  Alles  so  wahr  sein  wie  das  Meiste,  was  über 
hohe  Herrschasten  gedruckt  wird  Donnerwetter!  Wo  Hab'  ich  aber 
diesen  dummen  Namen  Fried-Fred  kürzlich  gelesen?  .  .  .  ." 
Er  entsann  sich  dessen  nicht;  eilig  durchmusterte  er  noch  den  Bericht 
über  eine  polizeilich  geschlossene  Socialisten  -  Versammlung  sowie  „neue 
Variante  der  letzten  Kanzlerkrise",  legte  dann  in  seiner  peinlich  ordentlichen 
Weise  das  Blatt  zusammen  und  stand  auf,  um  zu  Bier  zu  gehen. 
„Herrjeh!"  entfuhr  es  ihm  auf  der  Treppe.  „Ich  bin  wohl  rein 
toll?  Aber  die  Kranke  sprach  ja  von  Fried-Fred!  —  Gelesen  habe  ich  es 
nicht,  sie  sprach  ja  von  ihm,  wahrhaftig!  Was  kann  das  sein, 
ein  Zufall?  Kam  sie  etwa  aus  Wien?  Jetzt  heißt  es  aber  Vor- 
sicht! —  Doch  nein,  sie  trägt  ja  einen  Ehering,  es  wird  ein  zufälliger 
Gleichklang  fein.  Ich  habe  den  Kopf  voll  von  ihr  und  beziehe  Alles  auf 
sie!  ..." 

Die  Neuigkeit  von  der  im  Nachtzuge  irrsinnig  gewordenen  Dame,  die 
im  Krankenheus  liegen  sollte,  hatte  in  vielfachen  Varianten  die  Stadt  durch- 
flogen, und  als  Doctor  Braun  zum  Abendessen  das  Gastzimmer  der  „Goldenen 
Traube"  betrat,  faßte  ihn  sogleich  die  Wirthin  ab  und  bestürmte  ihn  mit 
Fragen.  Er  aber  hatte  von  keiner  Irrsinnigen  Etwas  gesehen  oder  gehört. 


380  Mite  Uiemnitz  in  Vukarest.  . 

Auch  am  Stammtische  sprach  man  nur  über  die  Dan,«,  bis  „Pfiffikus" 
sich  dazu  setzte  und  sagte:  „Kinder,  ich  bitte  mir  ein  ander  Gespräch  aus. 
Entweder  laßt  Ihr  die  Klatscherei,  oder  ich  verzichte  auf  Eure  angenehme 
Gesellschaft  —  mir  wächst  die  Sache  zum  Halse  heraus!  .  .  ." 
Als  er  seinen  Ueberzieher  an  das  Hirschgeweih  gehängt  hatte,  war  ihm 
Etwas  eingefallen:  Auf  der  Innenseite  des  Rocktragens  stand  ja  Nam.' 
und  Adresse  seines  Münchener  Schneiders  -~  sollte  nicht  auch  an  einem  d«.r 
Kleidungsstücke  der  Dame  etwas  Aehuliches  zu  finden  sein?  .  .  .  Wirklick, 
er  mußte  sich  einen  Vorwand  ersinnen,  um  gleich  —  ach  nein,  die  Post 
war  doch  schon  geschlossen,  das  hatte  also  Zeit  bis  elf,  und  vor  der  an- 
gesagten Stunde  wollte  er  nicht  wieder  zu  der  lieblichen  Frau  .  .  . 
Nie  war  ihm  der  Skat  -~  denn  dieses  norddeutsche  Spiel  hatte  er 
sofort  hier  eingebürgert  —  fo  öde  erschienen;  nie  waren  ihm  die  Stunden 
in  der  „Goldenen  Traube"  so  langsam  verstrichen!  Punkt  elf  Uhr  trat 
er  in  das  Krankenhaus;  er  war  sehr  schnell  gegangen,  denn  ihm  schnürte 
die  Angst,  das;  etwas  Unvorhergesehenes  vorgefallen  fein  möchte,  die  Kehle 
zu.  Schwester  Anna  meldete  jedoch,  daß  Alles  unverändert  sei;  die  Kranke 
inerte  nicht,  wer  in  ihrem  Zimmer  aus-  uud  eingehe,  spreche  oft  halblaut 
abgerissene  Sätze  ohne  Sinn  und  werfe  sich  unruhig  herum. 
„Schwester  Anna,  wir  müssen  fehen,  ob  nicht  au  J  acke  oder  Kleid  der 
Dame  die  Adresse  ihres  Schneiders  ist!" 
„Wozu?" 

„Das  werde  ich  Ihnen  gleich  sagen." 

Die  Schwester  fand  in  der  That  auf  den«  Taillenbande  des  Kleides 

eine  Wiener  Firma  angegeben,  mit  Straße  und  Nummer. 

„Gut,"  rief  der  Arzt  befriedigt  aus.  „Jetzt  trennen  Sie  hier  unten 

das  Futter  ab,  so"  —  er  zog  selbst  sein  Taschenmesser  —  „Nur  recht 

vorsichtig,  damit  wir  Nichts  verderben!  —  Dachte  ich's  mir  doch,  es  ist 

ein  breiter  Einschlag;  nun  eine  Scheere,  und  wir  haben  ein  schönes,  großes 

Stück  Zeug  als  Muster!" 

„Sie  sind  ein  Genie!"  sagte  Schwester  Anna  bewundernd. 
„Nicht  wahr?"  fuhr  er  lächelnd  fort.  „Jetzt  nähen  Sie  es  gleich 
wieder  zu  —  passende  Seide  finden  Sie  schon  in  Ihrem  berühmten  Zopf 
—  und  ich  fchreibe  unterdeß  an  die  Firma  —  nein,  es  ist  besser,  Sie 
thun  es  —  recht  höflich  —  wir  erbitten  umgehend  Nachricht,  ob  aus  den 
Geschäftsbüchern  nachzuweisen,  wer  in  dieser  Saison  —  denn  aus  dieser 
Saison  stammt  das  Kleid  doch?" 
Anna  zuckte  die  Achseln. 

„Also,  wer  in  dieser  Saison  eine  Reisetoilette  aus  inliegendem  Seiden- 
stoffe sich  bei  der  geschätzten  Firma  habe  anfertigen  lassen?  Fügen  Sic 
hinzu,  daß  es  sich  um  Leben  oder  Tod  handelt!  ...  So,  und  nun  Ihren 
ganzen  Namen,  nicht  nur  Schwester  Anna,  auch  die  Baronin  Birkenfeld  — 
das  zieht  in  Wien;  jetzt  den  Stempel  des  Hospitals,  und  recommandirt 


Sein  Vrief,  36" 

—  so!  .  .  .  Leider  geht  der  Vrief  erst  morgen  ab.  Nun,  wir  wollen  hoffen, 
daß  er  uns  die  gewünschte  Auskunft  bringt,  und  —  daß  wir  den  Namen 
für  die  Lebende,  nicht  für  das  Grabkreuz  gebrauchen  werden." 
Der  qualvolle  Zustand  der  schwerkranken  jungen  Frau  dauerte  unge- 
lindert  an;  sie  sprach  oft  leise  vor  sich  hin,  "versuchte  unruhig  sich  aufzu- 
richten, starrte  in  halbem  Bewußtsein  um  sich  und  versank  dann  auf  einige 
Minuten  in  Schlaf,  um  plötzlich  aufschreiend  und  laut  stöhnend  in  die  Höhe 
zu  fahren.  Zuweilen  kam  auch  der  Vrief  wieder  in  ihren  Phantasien  vor 
und  brachte  den  Arzt  auf  seinen  Plan  zurück,  die  Strecke  darnach  abzusuchen. 
„Lange  hält  diese  zarte  Constitution  das  nicht  aus,"  dachte  er  besorgt;  aber 
immer  war  ihm,  als  ob  eine  innere  Stimme  ihm  sagte,  daß  sie  nicht  so 
bewußtlos  sterben  könnte  und  dürste,  daß  sie  berufen  sein  würde,  ihm  noch 
einen  Wendepunkt  im  Leben  zu  bedeuten.  Und  doch,  wie  oft  hatte  eine 
solche  innere  Stimme  ihn  nicht  schon  getäuscht!  —  Der  Mensch  hofft  eben 
bis  über  die  Grenzen  der  Möglichkeit!  — 

Am  nächsten  Morgen  hatte  die  Temperatur  der  Kranken  sich  etwas 
gebessert,  man  hatte  ihr  auch  ein  wenig  Nahrung  einflößen  können,  allein 
das  Bewußtsein  hatte  sich  noch  nicht  wiedereingestellt.  Dr.  Vraun  neigte 
sich  mehr  als  je  der  Ansicht  zu,  daß  eine  Gehirnaffection  vorliege.  Aber 
noch  lebte  sie,  und  noch  hoffte  er!  — 

Nachmittags  machte  er  sich  an  die  Ausführung  seines  Planes,  in  den 
er  Niemanden  eingeweiht  hatte;  nur  beiläufig  erkundigte  er  sich  auf  dem  Bahn- 
hofe, als  er  eine  Fahrkarte  1.  Klasse  nach  Vetzigau  löste,  ob  dieselben 
Waggons,  die  in  der  vorgestrigen  Nacht  die  Strecke  gemacht,  hente  wieder 
zurückkehrten;  genanen  Bescheid  erhielt  er  nicht,  nur,  daß  es  wahrscheinlich 
sei,  da  die  Wagen  bisher  noch  nicht  zurückgelaufen  seien. 
Der  herbstlich  leere  Personenzug  führte  blos  ein  einziges  Coupö 
1.  Klasse;  Schaffner  und  Zugführer  waren,  wie  Doctor  Vraun  durch  Be- 
fragen constatirte,  leider  nicht  dieselben,  welche  die  vermeintliche  Irre  ein- 
geliefert hatten.  Trotzdem  war  er  nicht  entmuthigt,  denn  er  sah  gleich  beim 
Einsteigen,  daß  die  Gardine  des  Eonpüfensters  an  verschiedenen  Stellen 
ein-,  und  die  Franzen  abgerissen  waren;  das  bestärkte  in  ihm  die  Annahme, 
daß  er  sich  wirklich  in  dem  gesuchten  Coup5  befinde.  Sofort  nach  der 
Abfahrt  begann  er  seine  Nachforschungen;  er  rechnete  dabei  auf  die  nach- 
lässige Weise,  in  der  meist  die  Waggons  gereinigt  werden,  und  holte  ein 
Kissen  noch  dem  anderen  heraus,  grub  seine  Hand  tief  in  die  Polsterungs- 
einschnitte: Nichts!  —  dann  legte  er  sich  auf  den  Boden:  auch  Nichts!  — 
Doch  —  dort,  hinter  den  Heizungsrühren,  wahrhaftig,  ein  zufammengeknittertes 
Papier!  ...  Ihm  war  zu  Muthe,  als  sei  es  unmöglich,  daß  er  solches 
Glück  hätte!  Aber  warum  nicht,  war  es  doch  nur  eine  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung, welche  stimmte! 

Mit  einiger  Mühe  holte  er  das  Papier  aus  dem  Winkel  hervor, 

wohin  es  beim  Neinigen  achtlos  mit  dem  Besen  geschoben  sein  mochte.  Er 


282  Mite  Rremnih  in  Vukarest. 

setzte  sich  hin,  ehe  er  es  glättete.  Es  war  ein  Eouvert  ohne  Adresse,  aus 
leichtem  englischen  Papier;  geschlossen  war  es  nie  gewesen,  hatte  also  wohl 
ursprünglich  in  einer  zweiten  Umhüllung  gesteckt.  Langsam  zog  Kurt  Braun 
aus  dem  Eouvert  einen  kleinen  Briefbogen,  der  gleich  jenem  eine  Krone 
trug  und  mit  einer  zierlichen,  deutlichen  Handschrift  beschrieben  war,  ohne 
Datum  und  Unterschrift;  er  lautete: 

„Es  ist  wohl  ein  zu  großes,  zu  unmenschliches  Opfer,  was  ich  Dir 
zumuthe?  Du  selbst  wirst  entscheiden,  und  was  Du  auch  thust,  es  soll 
mir  recht  sein!  Tag  und  Nacht  verfolgt  mich  die  quälende  Sehnsucht, 
Dir  noch  einmal  in's  Auge  zu  schauen.  Deine  weiche  kleine  Hand  noch 
einmal  zu  fassen.  Umsonst  sage  ich  mir,  daß  es  ein  Irrsinn  ist.  Dir  die 
Vtühsal  einer  so  langen  und  beschwerlichen  Fahrt  aufzuerlegen,  da  wir 
weder  zusammen  sterben  noch  leben  dürfen.  Die  Sehnsucht  wächst  und 
concentrirt  sich  auf  dies  Eine,  das  letzte  Mal! 
„Wenn  Du  allein,  unter  fremdem  Namen  —  nenne  Dich  Thun  nach 
dem  See,  der  uus  einmal  geschaukelt  hat  —  am  nächsten  Donnerstag  zu 
Wien  im  6r»nä  llotsl  abstiegest,  so  konnte  ich  Dich  zwischen  drei  und 
fünf  Uhr  Nachmittags  aufsuchen.  Die  Nummer  Deines  Zimmers  nmßtest 
Du  mir  in  einem  Eouvert  durch  die  Post  gleich  nach  Deiner  Ankunft  zu- 
senden, damit  ich  im  Hotel  nicht  zu  fragen  brauchte.  Dort  kennt  mich 
Niemand,  und  auch  Du  wirst  verschwinden  in  dem  großen  belebten  Hütel. 
Ich  zähle  die  Stunden  bis  zu  jenem  Wiedersehen  —  was  nachher  folgt, 
ist  schwarze  Nacht.  Freilich  keine  so  schwarze,  daß  nur  nicht  die  Er- 
innerung an  die  Frau,  die  mich  zur  Erkenntniß  des  Lebens  und  meiner 
Pflichten  gebracht  hat,  sternenhell  darin  leuchten  wird!  Eins  bleibt  mir 
immer:  unauslöschliche  Dankbarkeit  gegen  Dich!" 
Kurt  Braun  las  es  zweimal,  und  ihn,  ward  eiskalt.  Die  Ahnung 
einer  anderen  Gefühlswelt  als  jener,  in  welcher  er  bisher  gelebt  hatte, 
brachte  ihm  eine  unheimliche  Empfindung  und  lähmte  ihm  die  Ueberlegung. 
Erst  als  der  Zug  hielt,  lind  er  ausstieg,  um  mit  dem  nächsten  Zuge  nach 
Kempten  zurückzufahren,  wurde  ihm  klar,  wie  wenig  er  erreicht  hatte  von 
dem,  was  er  erhofft.  Er  legte  sich  die  befremdenden  Thatsachen  zurecht: 
Diese  Frau  war  heimlich  eine  weite  Strecke  gereist,  um  'einen  Mann  zu 
sehen,  mit  dem  sie  „weder  leben  noch  sterben"  durfte,  also  augenscheinlich 
nicht  ihren  legitimen  Gatten!  Sie  hatte  sich  vorgesehen,  daß  sie  nickt 
erkannt  würde;  Nichts  deutete  auf  ihren  Stand  und  Namen  hin;  sie  hatte 
wahrscheinlich  auch  keine  directe  Route,  sondern  der  Sicherheit  wegen  einen 
Umweg  gewählt.  Zweifellos  hatte  sie  furchtbare  geistige  und  seelische  Er- 
regungen durchgemacht  und  eine  Krankheit  mit  sich  geschleppt,  an  der  sie 
zusammengebrochen  war.  —  Auf  der  Hin-  oder  Rückreise?  Das  war 

leicht  zu  entscheiden  —  Mckreise!  ... 

Was  aber  sollte,  was  konnte  er  nun  für  sie  thun?  Ihr  selbst  wäre 

wohl  nm  besten,  sie  stürbe!  Einen  Augenblick  war  ihm  sogar,  als  müsse  er 


Sein  Vrief.  383 

wünschen,  daß  sie  stürbe.  Doch  nein,  nur  im  Roman  löst  sich  der  Conflict 
durch  Tod  zur  rechten  Zeit.  Die  Wirklichkeit  aber  zwingt  den  Menschen, 
mühselig  selbst  seine  Verwicklungen  zu  lösen,  und  läßt  ihn  erst  dann  sterben, 
wenn  ihm  Alles  gerade  daran  liegt,  weiter  zu  leben! 
Was  konnte  er  für  sie  thun?  ...  Er  ging  eine  Weile  auf  dem 
Perron  auf  und  ab.  Er  sagte  sich,  daß  er  wie  ein  Detectiv  sich  in  die 
Geheimnisse  einer  Fremden  eingeschlichen  hatte,  und  war  es  auch  aus  reinster 
Menschenfreundlichkeit  geschehen,  so  besserte  das  die  Lage  nicht.  Diesen 
Vrief,  den  er  jetzt  in  der  Vrusttasche'  trug,  durfte  er  nicht  gelesen  haben, 
der  durfte  nicht  mehr  eristiren;  aber  ein  Recht,  ihn  zu  vernichten,  traute 
er  sich  auch  nicht  zu.  Wer  weiß,  vielleicht  konnte  der  Vrief  ihr  noch  einmal 
zur  Rechtfertigung  dienen?  —  Er  selbst  mußte  ihr  gegenüber  stets  thun, 
als  kannte  er  ihn  nicht,  und  durste  ihn  ihr  auch  nur  im  Falle  der  Gefahr 
wiedergeben!  Ach  Gott,  das  Alles  war  fo  unheilvoll  verknotet  und  ver- 
schlungen, daß  der  Himmel  am  Ende  ein  Einsehen  haben  und  sie  abrufen 
würde!  Sie  stürbe  gewiß  auch  gern,  nach  dem  furchtbaren  Schmerz  der 
Trennung  von  dem  Manne,  den  sie  über  Alles  geliebt  —  oder  mar  es 
vielleicht  doch  kein  Mann?  Konnte  es  nicht  auch  eine  Frau  sein,  eine 
überschwänglich  geliebte  Freundin?  .... 
Kurt  Vraun  zog  den  Vrief  noch  einmal  hervor  —  Nein,  wohl  war 
es  nicht  mit  dürren  Worten  gesagt,  aber  es  war  ein  Mann,  es  mußte 
einer  sein! 

Ihm  wurde  die  Stunde  des  Wartens  nicht  lang,  bis  der  nächste  Zug 
nach  Kempten  in  Nehigau  einlief;  der  Kopf  wirbelte  ihm  vor  angstvollem, 
fruchtlosem  Ueberlegen. 

Mit  seltsam  veränderten  Gefühlen  trat  er  wieder  an  das  Lager  der 
Kranken.  Er  mußte  sie  immer  wieder  daraufhin  ansehen,  ob  sie  wohl  sei, 
was  die  Tugendhaften  eine  Sünderin  nennen.  Nicht,  daß  es  für  ihn,  den 
Arzt,  in  ihrem  jetzigen  Zustande  den  geringsten  Unterschied  gemacht  hätte, 
aber  ihm  schien  die  Frage  doch  auszuwerfen  zu  sein,  ob  die  Seelenverfassung 
des  Menschen  bei  über  39"  Körpertemperatur  sick  noch  entscheiden  lasse? 
Eigentlich  war  doch  Alles,  was  er  an  seiner  Patientin  beobachtete,  nur 
seine  eigene  Phantasie;  sie  lag  da  wie  jedes  schwerkranke  Wesen  aus  Fleisch 
und  Vlut,  nur  anspruchsloser  als  die  meisten  Kranken;  doch  das  konnte 
auch  an  der  Art  ihrer  Krankheit  liegen.  —  Daß  der  Mann,  von  dem  der 
dünne  Vriefbogen  mit  der  Krone  darauf  stammte,  jener  Prinz  Fred  sein 
mußte,  über  dessen  Vermählung  die  „Münchener  Allgemeine"  berichtet  hatte, 
schien  dein  Arzte  klar  zu  sein.  Aber  hier,  wo  es  sich  um  Leben  oder  Tod 
und  um  die  verwickellsten  menschlichen  Seelenbeziehungen,  um  einen  wirklichen 
Schmerz  handelte,  hier  hatten  Stand  und  hohe  Stellung  aufgehört,  für  ihn 
Nedeutung  zu  haben,  obgleich  sie  es  wahrscheinlich  gewesen  waren,  die  zwei 
liebende  Menschen  getrennt  hatten.  —  Nur  eine  Idee  verscheuchte  Kui-t 
Vraun  mit  Unbehagen:  daß  diese  vornehme  schöne  Frau  eine  Tänzerin  oder 


284  Mite  «remnitz  in  Vukaiest. 

Schauspielerin  sei.  Eine  solche  Vorstellung  wollte  er  nicht  aufkommen 
lassen,  nein,  eher  alles  Andere!  Und  doch,  holen  Prinzen  sich  ihre  Idole 
nicht  meist  aus  jenen  Kreisen?  Sollte  der  Ehering  der  Kranken  etwa  ein 
falscher  Schmuck  sein,  wie  vielleicht  auch  die  von  den  Schwestern  so  an- 
gestaunten Brillanten  in  ihrem  Ohre?  .... 
Drei  bange  Tage  vergingen.  Kurt  Vraun  hatte  seinen  Brieffund  in 
das  Geheimfach  seines  Secretärs  verschlossen  und  all  sein  Denken,  all  sein 
Sorgen  der  Krankheit  des  unbekannten  jungen  Weibes  gewidmet,  die  ihren 
typischen  Verlauf  nahm.  Es  war  immer  noch  nicht  zu  sagen,  ob  ihre 
Constitution  unterliegen  oder  widerstehen  würde;  die  Stadt  hatte  sich  über 
die  Sache  längst  ausgesprochen,  sie  war  ihr  zu  langwierig. 
Von  den  Schwestern  treulich  unterstützt,  leistete  Doctor  Braun  Unglaub- 
liches, um  der  Wuth  der  Infection  entgegen  zu  treten,  und  außerhalb  des 
Ertrazimmers  ahnte  man  Nichts  von  seiner  Hingabe  und  Aufopferung. 
Seine  kräftige  Natur  ließ  keine  Veränderung  merken;  seine  frischen  rothen 
Wangen,  die  ihm  ein  fo  appetitliches  Aussehen  gaben,  behielten  trotz  der 
Nachtwachen  ihre  Farbe  und  Nundung. 

Endlich  kam  die  Antwort  des  Wiener  Geschäftshauses;  sie  wurde  dem 
Arzte  während  seiner  Visits  im  Krankenhause  eingehändigt.  Er  warf  einen 
kurzen  Blick  auf  die  Firma,  die  dem  Couuirt  aufgedruckt  war,  und  steckte 
den  Brief  in  die  Tasche.  Erst  nachdem  er  alle  Kranken  absolvirt  hatte, 
ging  er  in  sein  Zimmer,  um  ihn  zu  öffnen.  Er  that  es  ohne  Hast,  wie 
ohne  Hoffnungen. 

Die  Firma  theilte  ihm  mit,  daß  sie  aus  dein  beigelegten  Stoffe  vor 
vier  Wochen  eine  Neisetoilette  für  ihre  langjährige  Kundin,  die  Gemahlin 
des  dänischen  Legationsrathes  Baron  «jersund,  in  Paris  angefertigt  und 
ihr  nach  Thun,  Villa  Teresa,  übersandt  habe. 
Also  endlich!  ...  Ihm  ward  eigenthümlich  zu  Muthe:  Da  war  nun 
die  Ausümst;  er  wußte  nun,  wohin  er  sich  wenden  sollte,  aber  er  hatte  sich 
in  diesen  Tagen  auch  überlegt,  daß  er  die  Frcm,  wenn  sie  verheirathet  war, 
hoffnungslos  compromittiren  würde,  falls  er  ihrem  Manne  ihren  gegen- 
wärtigen Aufenthaltsort  und  damit  ihre  Neise  nach  Wien  verriethe.  — 
Ja,  wenn  sie  bei  Besinnung  wäre,  dann  hätte  er  mit  ihr  eine  Fabel  er- 
sinnen können,  und  wenn  sie  gestorben  wäre,  würde  die  schwarze  Nacht 
Alles  begraben  haben,  selbst  in  den  Augen  ihres  Gatten.  Aber  vielleicht 
sollte  sie  weiterleben;  sie  hatte  Kinder  —  weltliche  Rücksichten  mußten  also 
eine  Rolle  in  seinen  Entschließungen  spielen,  und  er  wollte  nur  hoffen,  daß 
seine  ersten  übereilten  Zeitungsaufrufe  nicht  schon  Alles  verdorben  hatten! 
Kein  einziges  Mal  fragte  er  sich,  welch'  ungewöhnliches  Interesse  ihn 
so  scharfsinnig  gemacht  tmbe;  auch  nicht,  woher  er  eine  so  starke  Antipathie 


Sein  Vrief.  385 

gegen  den  unbekannten  Kjersund  hegte.  Zunächst  ward  er  von  der  Aufgabe 
in  Anspruch  genommen,  zu  constatiren,  ob  nicht  etwa  die  Baronin  Kjersund 
munter  und  gesund  in  der  Villa  Teresa  am  Thunersee  lebte.  Leicht  war 
diese  Aufgabe  nicht  für  ihn.  Er  mußte  es  derweil  vermeiden,  den  Namen 
Kjersund  hier  bekannt  zu  machen,  deshalb  durfte  er  nicht  telegraphiren. 
Nein,  er  wußte  nur  den  einen  Ausweg:  selbst  nach  Thun  zu  fahren  und 
Umfrage  zu  halten!  ...  Erfand  rasch  einen  Vorwand,  um  sich  einen 
Tag  Urlaub  zu  nehmen:  Ein  kranker  Freund  war  auf  der  Durchreise  in 
Zürich  und  wollte  ihn  consultiren.  —  Aus  dem  Cursbuch  erfuhr  er,  daß 
er  die  Hin-  und  Rückfahrt  in  einem  Tage  nnd  zwei  Nächten  würde  machen 
können. 

Nachdem  er  sich  Alles  zurechtgelegt,  beschloß  er,  auch  Schwester  Anna 
Nichts  zu  sagen;  er  hatte  es  stets  für  das  Weiseste  befunden.  Anderen  so  wenig 
wie  möglich  mitzutheilen,  das  ersparte  so  viele  Unannehmlichkeiten.  Zudem 
war  ihm  wohl  bewußt,  daß  Schwester  Anna  ihn  eifersüchtig  überwachte  und 
es  für  ihr  specielles  Recht  hielt,  in  seinem  Vertrauen  zu  sein;  hoffentlich 
hatte  sie  nicht  schon  erfahren,  daß  er  einen  Brief  aus  Wien  bekommen  hatte? 
Am  Abend  war  alles  Nöthige  vorbereitet,  und  er  fuhr  mit  dem  Nacht- 
zuge nach  Lindau;  von  da  über  den  See  nach  Zürich  und  weiter  nach 
Thun,  wo  er  am  nächsten  Nachmittage  ankam.  Es  mar  düsteres  Nebel- 
und  Regenwetter;  man  konnte  sich  in's  Flachland  versetzt  wähnen,  so  dicht 
verschleiert  waren  die  Berge.  Kurt  Braun  fragte  auf  dem  Bahnhofe  nach 
der  Villa  Teresa  und  ward  nach  einein  kleinen  eleganten  Gebäude  dicht 
am  See  gewiesen.  Auf  sein  Klingeln  trat  ein  Gärtnerbursche  heraus, 
der  lange  Zeit  brauchte,  ehe  er  die  Frage  des  Fremden,  ob  Baronin 
Kjersnnd  hier  wohne,  dahin  beantwortete,  daß  die  Herrschaften  wohl  so 
geheißen  haben  möchten;  sie  wären  aber  schon  längst  fort. 
Kurt  Braun  forschte  weiter,  ob  auch  ein  Herr,  und  ob  Kinder  da- 
gewesen seien;  der  Bursche  konnte  jedoch  nichts  Anderes  berichten,  als  daß 
die  Villa  schon  seit  ein  paar  Wochen  leer  stehe.  —  Enttäuscht  wandte  der 
Arzt  sich  in  das  nächste  Hotel.  Auch  hier,  wie  auf  der  Post,  brachte  er 
Nichts  von  Bedeutung  in  Erfahrung,  nur,  daß  in  der  Tbat  jene  Villa 
während  des  Sommers  von  einem  Baron  Kjersund  nnd  seiner  Familie 
bewohnt  gewesen  sei.  Einzelheiten  wußte  Niemand  anzugeben. 
Doctor  Braun  mußte  sich  sagen,  daß  seine  Thuner  Reise  ein  Miß- 
erfolg war.  Wer  bürgte  ihm  dafür,  daß  seine  Kranke  und  diese  Baronin 
Kjersund  von  der  Villa  Teresa,  an  welche  die  Wiener  Firma  eine  Toilette 
geschickt  hatte,  eine  und  dieselbe  Person  waren?  Gewiß  gab  es  viele 
.  Damen,  die  in  dieser  Saison  aus  einem  von  der  Mode  gerade  begünstigten 
Stoffe  sich  Reisekleider  hatten  anfertigen  lassen!  —  Der  einzige  Anhalts- 
punkt, den  er  behielt,  war,  daß  jener  Brief  von,  Thunersee  sprach,  und 
abzuweisen  war  die  Möglichkeit  nicht,  daß  seine  Kranke,  ehe  sie  die  Reise 
nach  Wien  antrat,  die  Villa  Teresa  bereits  seit  geraumer  Zeit  verlassen  hatte. 


336  Mite  «lemnitz  in  Nukarest. 

Mißmuthig  kehrte  Kurt  Braun  nach  dem  Bahnhof  zurück;  er  mußte 
sich  beeilen,  wenn  er  den  Abendzug  noch  erreichen  und  am  nächsten  Vor- 
mittag rechtzeitig  in  Kempten  eintreffen  wollte.  Während  der  langen, 
einsamen  Fahrt  floh  ihn  der  Schlaf.  Er  war  unzufrieden  mit  sich  selbst 
und  schalt  sich  einen  Narren.  —  Was  in  aller  Welt  hatte  er  sich  für 
fremde  Leute  den  Kopf  zu  zerbrechen  und  Zeit  und  Geld  wegzuwerfen!  — 
Sollte  seine  Patientin  wirklich  mit  dem  Leben  davon  kommen,  so  würde 
sie  ihm  schon  das  Nöthigste  selbst  sagen;  sollte  sie  aber  sterben,  —  nun,  so 
würde  es  sie  auch  nicht  retten,  wenn  er  ihren  Mann  und  ihre  Familie 
ihr  zur  Stelle  schaffte!  — 

Gleich  nach  seiner  Ankunft  in  Kempten  galt  sein  erster  Gang  der 
Kranken.  Ein  einziger  Blick  überzeugte  ihn,  daß  die  Krankheit  auf  ihrem 
Höhepunkt  angelangt  fei,  und  das;  sie,  die  einst  so  liebliche  junge  Frau, 
jetzt  traurig  entstellt  durch  die  Wuth  des  Leidens,  wahrscheinlich  im  Laufe 
dieser  Woche  sterben  würde. 

In  der  bebenden  Angst,  die  diese  drohende  Aussicht  in  ihn«  erweckte, 
las  er  jenen  Brief  noch  einmal  und  schrieb  dann  in  aller  Hast  an  die 
Direktion  des  Grand  Hotels  in  Wien.  Sein  Vorsatz  von  der  vergangenen 
Nacht,  Nichts  mehr  zur  Lösung  des  Mthsels  zu  thun  und  den  Dingen 
ihren  Lauf  zu  lassen,  war  vollständig  vergessen;  er  wunderte  sich  nur,  daß 
er  uicht  schon  von  Anfang  an  diefe  Spur  verfolgt  hatte.  Auch  an  die 
Wiener  Polizei  faste  er  ein  Schreiben  ab,  doch  das  schwere  Bedenken,  in 
welche  Lage  er  dadurch  die  junge  Frau  möglicher  Weise  bringen  würde,  hielt 
ihn  davon  zurück,  dieses  Schreiben  abzusenden.  Wenn  sie  nun  weiterleben 
sollte?  Ganz  ausgeschlossen  war  das  ja  nicht!  —  Falls  der  Mann,  der 
sie  am  Nachmittage  des  23.  Septembers  im  Hotel  aufgesucht  hatte, 
wirklich  jener  Prinz  Fred  gewesen  war,  dann  besaß  die  geheime  Polizei 
natürlich  Kenntniß  davon  und  hatte  sicher  auch  der  Dame  nachgeforscht.  Die 
Polizei  war  also  nur  in  diesem  Falle  im  Stande,  ihm  Auskunft  zu  geben, 
aber  zugleich  compromittirte  er  dann  die  Frau  hoffnungslos  in  den  Augen 
ihres  Mannes!  §D,  daß  er  doch  nur  einige  Tage  in  die  Zukunft  blicken 
könnte,  um  zu  wissen,  ob  sie  dem  Tode  geweiht  sei!  ...  Er  mußte  doch 
wohl  abwarten,  bis  er  Antwort  aus  dem  Hotel  erhielte.  .  .  .  Aber  bis 
dahin,  wie  viele  bange  Stunden!  Ja,  würde  denn  das  Hotel  ihm  über- 
haupt antworten?  Sicher  war  das  keineswegs,  und  deshalb  mufte  er 
doch  seinen  Brief  an  die  Polizei  abfenden!  .  .  . 
Nach  langer,  harter  Ueberleguug  führte  er  diesen  Entschluß  aus. 
Eine  Biertelstunde  später  ward  er  eilig  in's  Hospital  gerufen;  ein 
Zettel  von  der  Hand  der  Schwester  Anna  enthielt  die  Worte:  „Um  Gottes 
Willen,  kommen  Sie  sogleich!"  — 


Sein  »rief.  38? 

Was  sollte  er  dort?  Wenn  der  Tod  schon  eintrat,  konnte  auch  er 
nicht  helfen!  .  .  .  Seltsam  genug  war  es,  daß  bei  dieser  Kranken  sogar 
die  sonst  so  gesetzte,  überlegte  Schwester  Anna  ihr  Gleichmaß  verlor.  Gab 
es  wirklich  Menschen,  um  die  herum  Jeder  aus  seiner  eigenen  Natur 
heraus  in  das  Außergewöhnliche  getrieben  wurde? 
Kurt  selbst  war  sich  sehr  wohl  bemußt,  daß  auch  er  aus  seinem  Gleich- 
maß gekommen  war,  doch  das  konnte  auch  physische  Gründe  haben,  er  hatte 
ja  seit  mehr  als  acht  Tagen  keine  Nacht  ruhig  geschlafen.  Und  dann  die 
ganze  erdrückende  Last  dieser  Verantwortung!  — 
Er  war  an:  Krankenhause  angelangt  und  eilte  mit  seinen  kleinen 
hämmernden  Schritten  die  Treppe  hinauf  und  in's  Extrazimmer.  —  Vor 
dem  Bette  der  Kranken,  sein  Haupt  auf  ihrer  Decke,  lag  ein  hochgewachsener 
Mann. 

Kurt  Braun  blieb  wie  angewurzelt  an  der  Thür  stehen.  Schwester 
Anna  flüsterte  ihm  zu:  „Er  ist  fassungslos,  wir  haben  ihn  eben  erst  aus 
der  Ohnmacht  erweckt  —  ich  dachte,  er  gäbe  den  Geist  auf!  .  .  ." 
Jetzt  sprang  der  Fremde  aus,  ging  dem  Arzt  entgegen,  ergriff  dessen 
beide  Hände  und  stammelte  einige  Worte,  während  die  Thronen  ihm  über's 
Gesicht  rannen.  Kurt  Braun  warf  rasch  einen  Blick  auf  die  Kranke  — 
hatte  sie  schon  zu  athmen  aufgehört?  Nein,  es  war  Alles  beim  Alten, 
aber  wer  war  diefer  Mann?  Ihr  Gatte  konnte  es  doch  nicht  sein  —  war 
es  der  Prinz?  .  .  . 

„Ist  keine  Hoffnung?"  stieß  der  Fremde  mühselig  hervor.  Kurt  trat 
an's  Bett,  zuckte  die  Achseln  und  sagte  leise,  als  er  dem  angstvollen  Blick 
des  ihn  um  Haupteslänge  überragenden  starken  Mannes  begegnete:  „Hoffnung 
ist  immer,  fo  lange  noch  Athem  ist,  und  sie  ist  jung  .  .  ." 
„Siebenundzmanzig  Jahre,"  flüsterte  der  Andere.  „Leidet  sie?" 
Kurt  zuckte  wieder  die  Achseln.  Was  für  eine  Frage,  man  sah  ja, 
wie  sie  litt!  —  „Sie  ist  bewußtlos,"  antwortete  er  ausweichend. 
Ter  Fremde  kniete  von  Nenem  vor  dem  Nette  nieder  nnd  nahm  die 
Hand  der  Kranken  sachte  zwischen  seine  beiden  Hände;  er  sah  aus,  als 
habe  er  vergessen,  daß  noch  Andere  im  Zimmer  waren.  Sich  über  sie 
neigend,  redete  er  leise  in  sie  hinein  und  stöhnte  schmerzlich  auf,  als  seine 
Worte  sie  gar  nicht  zn  berühren  schienen. 

Ihr  Gatte  konnte  es  nicht  sein,  entschied  Kurt  Braun;  der  würde  doch 
befremdet  sein,  wie  sie  hergekommen,  und  sich  erkundigen,  seit  wann  sie 
im  Krankenhanse  läge,  und  wie  man  sie  aufgefunden  hätte;  nur  der  Lieb- 
haber, de?  da  wufte,  wie  Alles  zusammenhing,  konnte  die  Lage  so  selbst- 
verständlich hinnehmen!  —  Aber  welch'  ein  schöner  Mann!  Seine  athletische 
Gestalt,  die  Kräuselung  seines  braunen  Haupthaares  erinnerten  an  antike 
Statuen,  ebenso  wie  der  Schnitt  der  fast  zu  großen  Augen.  Die  gerade 
Nase  war  so  edel  wie  die  Linie,  die  vom  Ohr  zum  Kinn  herablief  und 
durch  den  gepflegten  Vollbart  hindurch  erkennbar  war.  Kurt  blieb  einen 
N«ld  und  S«d,  l.xxv,  235.  26 


388  Mite  «remnitz  in  Vukarest, 

Augenblick  in  die  Bewunderung  dieser  Mannesschönheit  versunken.  Jede 
Bewegung  des  Körpers,  jeder  Ausdruck  der  Mienen  dieses  Menschen  atlnnete 
schlichte  Natürlichkeit. 

Schwester  Anna  hatte  dem  Arzte  Zeichen  gemacht;  da  er  sie  nicht 
beachtete,  zupfte  sie  ihn  am  Aermel  und  winkte  ihm,  in's  Nebenzimmer  zu 
treten.  Hier  erzählte  sie  ihm,  daß  der  Fremde  durch  die  Zeitungsnachricht 
hergeführt  war,  d.  h.  daß  beim  Lesen  jener  Notiz  ihn  eine  unbezwingliche  Angst 
befallen  hatte,  zumal  da  er  auf  eine  Depesche  an  seine  Frau  nach  Zürich 
seit  mehreren  Tagen  ohne  Antwort  geblieben  war;  als  er  dann  auf  seine 
Anfrage  von  der  Kammerfrau  —  oder  Nonne  —  benachrichtigt  wurde, 
daß  ihre  Herrin  von  einem  Ausfluge  nach  Bern  nicht  zurückgekehrt  mar, 
eilte  er  sofort  aus  Kopenhagen  herbei.  —  Er  vermuthete,  daß  seine  Frau 
in  Folge  geistiger  Störung  eine  falsche  Richtung  von  Zürich  aus  ein- 
geschlagen hätte. 

Kurt  Braun  stutzte.  Sollte  es  wirklich  ihr  Gatte  sein?  Oder  gab 

sich  der  Andere  hier  für  den  Gatten  aus,  um  die  geliebte  Kranke  sehen 

zu  können? 

Ehe  der  Arzt  sich  dafür  entschieden  hatte,  was  das  Wahrscheinlichere 
wäre,  trat  der  Fremde  ein.  Jetzt,  wo  die  kranke  Frau  nicht  mehr  in  seiner 
Nähe  war,  schien  er  seine  Selbstbeherrschung  wiederzugewinnen.  Er  begann: 
„Ich  habe  Ihnen  für  fo  Vieles  zu  danken,  daß  ich  es  nicht  in  Worte 
fassen  kann  .  .  ." 

Kurt  Braun  lehnte  den  Dank  ab.  Er  habe  nur  seine  Schuldigkeit 
gethan,  wie  bei  jedem  Kranken.  Ungefragt  setzte  er  dann  die  Lage  aus- 
einander: Der  Verlauf  der  Krankheit  sei  sehr  unregelmäßig  gewesen;  in 
den  ersten  Tagen  habe  er  überhaupt  kaum  Hoffnung  gehabt;  da  aber  die 
Patientin  bisher  am  Leben  geblieben,  sei  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  ihre 
Kräfte  auch  noch  diese  Woche  überdauern  könnten  —  Falls  das  geschähe, 
wäre  alle  Aussicht  auf  Herstellung  .  .  . 

„Das  heißt  also,  eigentlich"  —  Der  Fremde  konnte  den  Satz  nicht 
vollenden.  Er  faßte  sich  aber  gewaltsam  und  fragte  dann  nach  äußeren 
Details:  Ob  er  seiner  Frau  ein  anderes  Bett  und  eine  bequemere  Installa- 
tion verschaffen  dürfe;  ob  es  sonst  irgend  eine  Erleichterung  gebe?  Es 
stünden  unbegrenzte  Mittel  zur  Verfügung,  und  ob  .  .  . 
Kurt  Braun  fühlte,  was  kommen  würde,  und  fchlug  selbst  vor,  aus 
München  ärztliche  Autoritäten  für  Infections-  und  innere  Krankheiten  zu 
berufen. 

Ueber  Alles,  was  er  von  der  Vorgeschichte  der  Krankheit,  von  der 
(Anlieferung  der  Patientin  in  das  Hospital  wußte,  verlor  der  discretc  Arzt 
kein  Wort,  und  der  Gatte  —  denn  der  schien  es  wirklich  zu  sein  —  fragte 
auch  nicht  einmal  indirect  danach. 

Schwester  Anna  sprach  gegen  Doctor  Braun  ihre  Freude  aus,  daß 

nun  die  Verantwortung  von  ihnen  Beiden  genommen  sei,  und  er  endlich 


Sein  »rief.  289 

wieder  ruhig  werde  schlafen  tonnen.  Kurt  Braun  theilte  diese  freudige 
Empfindung  nicht.  Bisher  hatte  auch  er  gemeint,  daß  eine  Last  ihm  vom 
Herzen  fallen  würde,  sobald  das  Geheimniß,  das  über  seiner  Kranken  lag, 
sich  aufgeklärt  hätte.  Das  war  ein  Irrthum  gewesen.  Gerade  jetzt,  wo  sie 
in  das  Normale  des  gewöhnlichen  Lebens  zurückgeglitten  war,  beschäftigte 
sie  ihn  mehr  als  je:  Diese  Frau  war  im  Stande  gewesen,  einen  solchen 
Mann,  einen  Gatten,  der  mit  größter  Liebe  an  ihr  hing,  zu  hintergehen! 
Fast  hätte  Kurt  Braun  Hast  und  Verachtung  für  sie  verspürt,  aber  sie 
schwebte  in  schwerster  Todesgefahr!  .  .  .  Wie  war  es  nur  möglich!  Er 
kannte  zwar  nicht  die  geistigen  und  seelischen  Fähigkeiten  dieses  schönen 
Mannes,  doch  standen  unverkennbar  Güte  und  Edelmuth  ihm  auf  dem 
Gesicht  geschrieben.  —  Und  was  wußte  Kurt  Braun  schließlich  von  ihr, 
die  unter  der  schaurigen  Krankheit  vor  seinen  Augen  hingewelkt  war?  Doch 
nur,  was  er  in  sie  hineingeträumt  Halle!  Er  dachte  über  diese  eigentüm- 
liche Traumfähigkeit  des  Menschen  nach.  War  sie  ihm  zum  Heile  oder 
zur  Pein  mitgegeben?  —  Als  er  an  jenem  Morgen  diese  bleiche  Menschen- 
blume zuerst  gesehen,  war  ihm  gewesen,  als  hätte  er  sie  längst  erwartet 
und  gekannt;  sie  war  die  lebende  Heldin  all'  der  Romane,  die  er  in  der 
Jugend  gelesen  —  jetzt  hatte  er  schon  lange  keinen  zur  Hand  genommen. 
Kein  einziges  Wort  hatte  sie  zu  ihm  gesprochen,  und  doch  war  ihm,  als 
hätte  sie  ihn»  sich  ganz  enthüllt  .  .  . 

Vielleicht  war  sie  aber  nichts  als  eine  frivole  Weltdame?  Nein, 

einen  Brief  wie  jenen,  den  er  im  Waggon  gefunden,  schreibt  Niemand  einer 

Frau,  die  nicht  jeder  Verehrung  werth!  Sie  mußte  die  Nomanfrau  sein, 

der  nur  das  Außergewöhnliche  im  Dasein  geschieht!  Sie  würde  auch  nicht 

sterben  —  der  Krankheit,  welche  jeden  Anderen  getüdtet  hätte,  würde  sie 

widerstehen! 

Nach  einigen  Tagen  liefen  die  Antworten  auf  Kurts  letzte  Erkundigungen 
ein:  sie  hatten  zwar  jetzt,  wo  er  wußte,  daß  seine  Kranke  wirklich  die 
Baronin  Kjersund  war,  keine  wirkliche  Bedeutung  mehr,  flößten  ihm  aber 
dennoch  ein  eigenthümliches  Interesse  ein. 
Die  Directum  des  Grand  H6tel  schrieb,  daß  eine  Frau  v.  Thun  am 
23.  September  Morgens  ein  von  Zürich  aus  telegraphisch  bestelltes  Aparte- 
ment  (Salon  und  Schlafzimmer  in  der  ersten  Etage)  bezogen  habe,  aber 
schon  am  Abend  wieder  abgereist  sei;  nach  Aussage  des  Zimmermädchens 
habe  die  Dame  im  Laufe  des  Nachmittags  einen  Besuch  empfangen,  an« 
scheinend  einen  Herrn,  denn  ein  solcher,  der  aber  nicht  im  H6tel  gewohnt 
habe,  sei  vom  Portier  beim  Kommen  und  GelM  bemerkt  worden.  G^gen 
Abend  habe  die  Dame  dem  Zimmermädchen  geklingelt,,  damit  dieses 
ihr  beim  Packen  der  Reisetasche  behülflich  sei,  und  demselben  ein  Gold- 
stück dafür  geschenkt.  Ans  diesem  Grunde  habe  das  Mädchen  sich 
26* 


29V  Mite  Uiemnitz  in  Vnkarest, 

der  Sache  sc»  gut  erinnert,  daß  sie  noch  anzugeben  wisse,  die  Dame  habe 
verweint  ausgesehen  und  über  starke  Kopfschmerzen  geklagt.  Das  Diner, 
welches  sie  sich  «uf  ihrem  Zimmer  habe  serviren  lassen,  sei  unberührt 
wieder  abgetragen  worden.  Von  ihrer  Ankunft  bis  zu  ihrer  Abreise  habe 
die  Dame  das  Hotel  nicht  verlassen. 

Die  Hotelleitung  hatte  also  die  Fragen  des  Arztes  genau  beantwortet-, 
die  Polizei  dagegen  verweigerte  jede  Auskunft,  o.  h.  sie  leugnete,  daß  sie 
von  der  Anwesenheit  einer  Frau  v.  Thun  in  Wien  Kenntniß  gehabt 
habe.  Es  war  Höftich,  daß  sie  überhaupt  geantwortet  hatte;  Kurt 
Vraun  brauchte  ihre  Auskunst  auch  nicht  mehr,  seine  Rolle  als  Detectiv 
war  überhaupt  ausgespielt. 

Er  schloß  die  Briefe  aus  Wien  zu  jenem  im  Waggon  gefundenen  und 
nahm  sich  vor,  sich  hinfort  so  wenig  als  möglich  mit  der  Sache  zu  befassen; 
am  liebsten  hätte  er,  um  auf  andere  Gedanken  zu  kommen,  einen  kurzen 
Urlaub  genommen,  aber  das  hätte  den  Anschein  erweckt,  als  fühle  er  sich 
beleidigt,  daß  man  zwei  sogenannte  Autoritäten  berufen  hatte;  beleidigt 
aber  war  er  nicht  und  hatte  auch  keinen  Grund  dazu,  da  die  Herren  er- 
klärten, daß  die  Behandlung  nicht  besser  hätte  sein  kmmen  und  die  Kranke 
sich  in  den  besten  Händen  befände.  Er  wollte  also  abwarten,  bis  die 
Krisis  überstanden,  und  er  die  Sicherheit  ihrer  Rettung  Hütte;  alsdann 
gedachte  er  sich  einen  Besuch  im  Elternhause  zu  gönnen. 
Baron  Kjersund  hatte  bereits  mit  den  fremden  Nerzten  darüber  ver- 
handelt, wann  es  möglich  sein  werde,  die  Kranke  zu  trcmsportiren;  er  hatte 
den  Plan,  sie  bis  zu  ihrer  Völligen  Genesung  in  Ni?za,  in  der  Villa  eines 
Freundes,  unterzubringen.  —  Kurt  Vraun  sagte  sich,  daß  er  dann  die 
räthselhafte  Frau  nie  wiedersehen,  und  daß  sie  nie  erfahren  würde,  wie 
tief  er  in  das  Geheimnis;  ihres  Herzens  eingedrungen  war!  — 
Der  letzte  Tag  der  dritten  Krantheitswoche  war  angebrochen;  seit  seiner 
Ankunft  hatte  der  Gatte  jede  Nacht  bei  seiner  Frau  gewacht  und  nur  am 
Tage,  während  die  Kammerfrau,  die  er  hatte  kommen  lassen,  sich  mit 
den  Schwestern  in  die  Pflege  theilte,  sich  ein  paar  Stunden  der  Ruhe  über- 
lassen, C°r  muste  eine  Natur  von  seltener  Widerstandskraft  besitzen;  es 
war,  als  ob  die  furchtbare  Spannung  ihn  aufrecht  erhielte.  Obne  ein 
Wort  zu  fagen,  ja,  ohne  auch  nur  eine  einzige  Frage  zu  thun,  befriste 
er  die  ärztlichen  Vorschriften  auf  das  Pünktlichste;  er  trug  die  kleine, 
zarte  Gestalt  in's  Vad  und  legte  sie  im  Vette  um,  immer  in  der  Hoffnung, 
sie  würde  ihn  endlich  erkennen,  ein  Wort  für  ihn  haben.  Nur  einmal 
hatte  er  den  Doctor  beschworen,  daß  er  die  Kranke,  falls  es  hoffnungslos 
fei,  nicht  unnütbig  quälen,  sondern  ihr  das  Sterben  erleichtern  möge.  Kurt 
Vraun  hatte  aber  erwiderl,  kein  Fall  dürfe  dem  Ar-t  durchaus  hoffnungs- 
los sein. 

Die  kranke  Frau  sprach  nicht  mehr  irre  —  sie  sprach  überhaupt  mit 
mehr;  am  vorigen  Abnd  hatte  Kurt  Vraun  constatiren  können,  daß  das 


Sein  Vrief.  2ZI. 

Fieber  etwas  gesunken  war.  Als  er  dann  am  Morgen  mit  den  besten 
Hoffnungen  zu  seiner  Frühvisite  kam,  blieb  er  einen  Augenblick  erstarrt 
stehen  .  .  .  Warum  hatte  man  ihn  nicht  gerufen?  .  .  . 
Neben  dem  Bette  kniete  der  Gatte;  das  Fenster  war  weit  geöffnet  — 
die  kleine  zarte  Frau  mar  verschieden! 
Kurt  Braun  war's,  als  drehe  sich  das  Zimmer,  als  träume  er.  — 
Es  konnte  nicht  wahr  sein,  durfte  nicht  wahr  sein!  —  Er  vermochte  es 
nicht  zu  fassen.  Sich  gegen  die  Wand  lehnend,  suchte  er  seine  Selbst- 
beherrschung —  Umsonst,  er  begriff  sich  selbst  nicht,  begriff  die  Lage  nicht. 
Wie  war  es  möglich?  Das  Unwiederbringliche  war  also  doch  eingetreten! 
Wie  hatte  er  sich  selbst  so  täuschen,  so  belügen  können!  0,  seine  innere 
Summe,  sie  hatte  ihn  abermals  betrogen!  .  .  . 
Aber  war  es  denn  sicher?  War  dies  Leben  wirklich  verlöscht?  — 
Wie  gejagt  eilte  er  plötzlich  an  das  Bett,  befühlte  die  Hand,  suchte  den 
kleinen  rosigen  Fuß  unter  der  leichten  Decke.  .  . 
Kjersund  blickte  auf.  Er  war  so  bleich  wie  die  Todte. 
„Schon  vor  einer  halben  Stunde,"  sagte  er  tonlos;  „es  war  also 
Alles  umsonst,  aber  Sie  sind  wie  ein  Bruder  gegen  uns  gewesen,  gegen 
meine  kleine  Ellen  und  mich  ...  Ich  kann  sie  nicht  überleben,"  setzte  er 
hinzu,  „es  ist  über  Menschenkraft.  Sie  wissen  nicht,  wie  sie  war.  Keiner 
wußte  es  außer  mir!  —  Das  Leben  ist  ein  Irrsinn,  wenn  es  solche  Wesen 
vernichtet!  —  Vor  acht  Tagen  glaubte  ich  noch  an  eine  Art  von  Neu- 
ordnung, aber  nein,  nein,  es  ist  Alles  blöder  Zufall!  .  .  .  Ellen,  wie 
tonntest  Du  mich  allein  lassen?  ...  0,  meine  kleine  Ellen,  die  so  gern 
lebte,  und  deren  Leben  eben  erst  begonnen  hatte!  ..." 
„Denken  Sie  an  Ihr  Kind!"  warf  Kurt  mit  heiserer  Stimme  ein. 
Er  hatte  nie  gefragt,  ob  es  ein  Knabe  oder  ein  Mädchen,  er  hatte  über- 
haupt nicht  mehr  an  das  Kind  gedacht,  aber  er  fuchte  uach  einem  Stroh- 
halm, um  ihn  dem  Manne  zuzuwerfen. 

„0,  das  ist  ein  neues  Leben  ...  Sie  wird  vielleicht  einmal  einem 
Andern  sein,  was  Ellen  mir  gewesen  —  Ich  kann  nicht  —  Wenn  es  An- 
steckung giebt,  so  habe  ich  auch  den  Typhus;  ich  habe  Alles  gethan,  was 
man  thun  kann,  um  sich  anzustecken.'  —  Ich  kann  nicht  ohne  sie  leben!  — 
Wissen  Sie  denn  nicht,  was  es  heißt.  Etwas  nicht  können?" 
Kurt  schwieg.  Was  sollte  er  dem  überreizten  Manne  entgegenhalten? 
„Kann  ich  Ihnen  irgendwie  behülflich  fein?  Haben  Sie  Verwandte, 
denen  ich  Anzeige  machen  soll?" 

Kjersund  griff  sich  an  den  Kopf.  „Mein  armer  Schwiegervater,  wie 
wird  er  feine  Sonntagsbriefe  vermißt  haben!  .  .  .  Der  arme  Mann  — 
Ellen  war  die  Jüngste  —  sieben  Brüder  und  dann  sie;  wie  im  Märchen, 

hieß  es  immer  —  ja,  wie  in»  Märchen,  die  Mutter  starb  bei  ihrer  Geburt  Nun  ist  sie  selbst  auch  todt  —  so 

ist's  im  wirklichen  Leben!" 

„Wie  ist  die  Adresse  Ihres  Schwiegervaters?" 


2H2  Miie  «remnitz  in  Vukaiesi, 

„Ach,  es  hat  jll  keine  Eile,  es  kommt  immer  noch  zu  früh.  Ich  möchte 
sie  einbalsamiren  lassen  ,  ..  Nein,  dazu  müßten  fremde  Hände  sie  berühren? 
Nein,  nein,  die  kleine  Vlume  soll  Niemand  anfassen  als  Sie  und  ich  .  .. 
Nicht  wahr,  Sie  helfen  mir?" 

Kurt  nickte.  Wie  waren  die  Menschen  doch  alle  einander  gleich,  in 
Schmerz  und  Noth:  Fremder  Nation  und  fremder  Kaste  gehörte  Jener  an, 
und  doch  fühlte  Kurt  für  ihn,  wie  für  einen  Vruder. 
„Wollen  Sie  sie  hier  bestatten?" 

„0  nein,  ich  nehme  sie  mit  —  der  Vater  wird  sie  noch  sehen  wollen." 
Kurt  dachte  plötzlich  an  den  Anderen  .  .  .  Wie  war  es  doch  Alles 
seltsam,  und  wie  unbegreiflich  die  Doppelnatur  der  todten  Frau! 
„Haben  Sie  nicht  Freunde,  die  in  Angst  und  Sorge  auf  Nachricht 
warten?"  fragte  er  den  verzweifelten  Mann. 
„Ich  habe  nur  seinen  nahen  Freund,"  antwortete  er  zögernd,  „und 
der  ist  in  den  Flitterwochen  und  ahnt  von  unserem  Unglück  Nichts." 
Wieder  warf  er  sich,  in  neu  angefachter  Verzweiflung,  über  das  Bett 
und  strich  der  ihrer  Daseinsform  langsam  Entrückenden  über  das  weiche, 
dunkle  Haar. 

Kurt  wandte  sich  ab;  er  konnte  die  Thronen  nicht  mehr  zurückhalten 
und  ging  fort. 

Kaum  hatte  er  in  feinem  Zimmer  sich  in  einen  Stuhl  geworfen, 
als  es  klopfte,  und  die  Kammerfrau  der  Verstorbenen  eintrat.  Sie  war 
eine  schlicht  gekleidete,  stille  Person,  groß  und  starkknochig,  die  wohl  hoch 
in  den  Vierzigern  stehen  mochte;  sie  sah  mehr  wie  eine  ehrbare  Bürgers- 
frau als  wie  die  Kammerzofe  einer  eleganten  und  vornehmen  Dame  aus. 
Nach  einer  Entschuldigung,  daß  sie  den  Herrn  Doctor  störe,  sagte  sie,  daß 
sie  ihm  Etwas  übergeben^  möckte.  Sie  habe  aus  Zürich  Etwas  mitgebrackt, 
was  sie  der  Frau  Baronin  Hütte  zurückstellen  sollen;  zu  behalten  wage  sie 
es  nickt,  und  auch  dem  Herrn  oder  dem  alten  Grafen  könne  sie  es  nicht 
abliefern,';  vernichten  aber  dürfe  sie  es  nicht,  so  wolle  sie  es  dem  Herrn 
Doctor  geben.  Bei  ihm  sei  es  sicher,  das  habe  sie  vom  ersten  Augenblick 
an  gewust,  wo  sie  ihn  am  Krankenbette  gesehen.  Er  möge  entscheiden,  ob 
es  vernicktet  oder  einem  Anderen  übergeben  werden  sollte.  —  Ach,  sie 
habe  schon  längst  geahnt,  daß  es  so  enden  müste,  sie  habe  es  auch  der 
Baronin  oft  voraus  gesagt  —  „Aber  es  kann  ja  nie  Einer  dem  Anderen 
helfen.  Jeder  mnh  Alles  selbst  auskosten!"  setzte  sie,  hinzu. > 
Kurt  Braun  bat  sie.  Platz  zu  nehmen;  sie  that  es  aber  nicht,  da  sie 
viel  zu  tief  in  ihren  Gedanken  war,  um  darauf  zu  achten. 
„Ich  bin  nur  eine  ungebildete  Person,  Herr  Doctor,  ich  kann  weder 
lesen  noch  schreiben,  aber  wenn  die  Baronin  auf  mich  gehört  hätte,  wäre 
sie  jetzt  noch  am  Leben.  —  Freilich,  da  wir  Alle  einmal  sterben  müssen,  kommt 


Sein  Vrief.  2Z3 

es  vielleicht  nicht  so  sehr  darauf  an.  —  Nur  das  süße  Kind  .  .  ." 
Sie  trocknete  ihre  Thränen,  und  der  Arzt  mußte  nicht,  ob  sie  von  der 
Todten  oder  von  dem  zurückgebliebenen  Kinde  sprach.  Sie  hatte  in 
ihrem  Wesen  eine  so  ruhige  Würde,  daß  er  sie  nicht  auszufragen  wagte; 
er  stand  auf  und  nahm  aus  ihrer  Hand  eine  große  rothbraune  Sammet- 
tasche  entgegen,  die  mit  Goldstickerei  verziert  war  und  Papiere  oder  Bücher 
zu  enthalten  schien. 

„Ehe  sie  abreiste,"  fuhr  die  Kammerfrau  fort,  „brachte  sie  mir  dies, 
wie  jedesmal,  wenn  sie  einen  kleineren  oder  größeren  Ausflug  machte.  — 
,Sie  missen  schon,  Christine,  Lebens-  oder  Sterbenswillen,  bei  Ihnen  ist 
es  sicher/  —  Sie  spielte  ja  auch  vor  mir  Komödie,"  setzte  sie  bitter  hinzu, 
„und  redete  mir  vor,  ihr  Bruder  führe  mit  seiner  Familie  durch  Bern, 
und  die  Schwägerin  würde  es  übelnehmen,  wenn  sie  ihr  nicht  bei  der 
Durchreise  Guten  Tag  sagte.  —  Als  ob  ich  es  nicht  gemerkt  hätte,  seit- 
dem der  Brief  angekommen  war,  daß  sie  ganz  wo  anders  hin  wollte!  Als 
ob  ich  sie  nicht  besser  gekannt  hätte,  als  sie  sich  selbst!  —  Ich  wußte 
Alles,  Alles;  sie  konnte  mir  auch  nie  mehr  gerade  in's  Gesicht  sehen! 
Ich  bat  sie  noch,  nur  um  meiner  Sache  sicher  zu  sein,  mich  mitzunehmen, 
aber  sie  sagte:  Wozu?  Das  wäre  rein  lächerlich,  als  ob  sie  nicht  'mal  ihr 
Billet  selbst  lösen  und  ohne  mich  fahren  könnte!  —  Ach,  man  soll  Niemand 
Böses  wünschen,  aber  erwürgen  würde  ich  den  Anderen,  wo  ich  ihn  auch 
träfe,  er  ist  ja  nur  solch  schmächtiger,  zarter  Herr,  ich  könnt'  es  leicht!  — 
Hätt'  ich's  nur  gethan,  o  hält'  ich  nur  die  Courage  gehabt!  Was  thät's, 
wenn  ich  im  Zuchthaus  säße,  wenn  sie  nur  lebte!" 
Kurt  schwieg  noch  immer;  er  hatte  schon  oft  erprobt,  daß  Nichts  die 
Leute  so  beredt  mache,  wie  diese  seine  Schweigsamkeit  und  seine  eigen- 
tümliche Art,  die  Sprechenden  beim  Zuhören  anzusehen. 
Aber  in  welch  eine  Gesellschaft  leidenschaftlicher  Menschen  war  er  ge- 
rathen!  —  „Der  Herr  wird  ihr  bald  nachsterben,  der  Tod  liegt  schon  in 
seinen  Augen,  ich  habe  den  unglücklichen  Blick  dafür,  und  es  wäre  mir 
schon  ganz  recht,  wenn  er  drüben  ein  bischen  auf  sie  paßte,  obgleich  sie  ja 
dort  ihre  Mutter  hat.  —  Doch  gerecht  ist  unser  Herrgott  nicht  —  hier  in 
diesem  armseligen  Krankenhaus  muhte  sie  den  Geist  aufgeben,  und  er,  der 
Andere  Aber  die  Strafe  wird  fchon  kommen!  Warum  sollte  sie 
allein  gestraft  werden,  da  sie  es  doch  aus  purer  Herzensgüte  und  Mitleid 
gethan  hat!  Sie  brauchte  ihn,  weiß  Gott,  nicht,  sie  hatte  einen  viel 
schöneren  und  stattlicheren  Mann;  und  konnte  sie  dafür,  daß  Jeder  den 
Kopf  um  sie  verlor.  Jung  und  Alt,  Arm  und  Reich?  —  Sie,  Herr 
Doctor,  würden  der  Nächste  gewesen  sein,  wenn  der  Tod  nicht  dazwischen 
getreten  wäre!  Sie  war  eben  anders  als  alle  Anderen.  Nicht  weil  sie  so 
schön  war,  hingen  sie  ihr  an,  sondern  weil  sie  im  Herzen  für  Jeden  Etwas 
übrig  hatte!  Wie  oft  Hab'  ich's  ihr  früher  gesagt:  ,Comteßchen,  mäßigen 
Sie  sich,  die  Leute  sind's  garnicht  werth,  daß  Sie  sie  Alle  so  lieb  haben!" 


29~  Mite  Aremnitz  in  Vukaiest, 

Von  Kindheit  an  war  sie  so;  mit  wem  Niemand  fertig  werden  konnte,  aus 
wem  Niemand  was  Gutes  herauskriegte,  sie  ward  damit  fertig,  und  ganz 
von  selbst.  Sie  meinte  eben,  sie  sei  für  Alle  auf  der  Welt,  und  ihre  Art 
mar  auch  so,  daß  von  den  Verschiedensten  ein  Jeder  meinte,  sie  wäre  für 
ihn  gerade  wie  geschaffen." 

Kurt  hätte  gern  nach  ihm  gefragt,  wie  sie  ihn  kennen  gelernt;  aber 
er  besorgte,  sie  würde  dann  verstummen.  Zu  sprechen,  war  ihr  offenbar 
etwas  Unnatürliches;  das  Rohr  mußte  erst  geplatzt  sein,  damit  heraus- 
sprudelte, was  ein  ganzes  Leben  lang  zurückgedrängt  gewesen  war.  Sie 
durfte  nicht  zur  Besinnung  kommen,  oder  sie  verkittete  den  Riß. 
Aber  wie  begreiflich,  daß  sie  gerade  auf  ihn,  den  Fremden,  all  das 
ergoß;  ein  Anderer  hätte  ihrer  Auffassung  mit  seinem  besseren  Wissen  ent- 
gegentreten können  —  vor  ihm  jedoch  malte  sie  die  todte  Herrin  so,  wie 
sie  in  ihr  lebte.  —  „Natürlich,  er  war  anders  als  die  Anderen,  in  seiner 
bescheidenen  stillen  Art,  und  nicht  nur,  weil  er  ein  Prinz  war  ....  Es 
mußte  sie  reizen,  daß  er  die  vielen  Stunden  immer  über  seinem  Mikroskop 
saß,  daß  er  es  nie  merkte,  wenn  sie  sich  schön  gemacht  hatte!  Und  Durch- 
laucht, seine  Schwester,  hatte  sie  doch  beschworen,  ihn  wieder  zum  Leben 
zurückzubringen!  ....  Wenn  sie  spazieren  gingen  über  die  Felder  — 
denn  sie  sahen  sich  zuerst  beim  alten  Grafen  — ,  dann  blieb  er  bei  jedem 
Wurm  und  jeder  Pflanze  stehen.  —  Ich  sah  ihnen  oft  nach,  weil  mir 
die  Sache  von  Anfang  an  nicht  gefiel.  An  so  einem  Herrn  ist  das 
Studiren  sonst  doch  nur  eine  Pose,  aber  er  sah  es,  weiß  Gott,  wirklich 
nicht,  daß  sie  wunderschöne  Augen  hatte,  wenn  sie  ihn  so  bewundernd  an- 
schaute! Und  wie  sie  nun  plötzlich  anfing,  ihm  die  Sachen  abzuzeichnen 
und  zu  malen,  die  er  da  in  seinem  Mikroskop  hatte  —  denn  sie  verstand 
Alles,  die  süße  kleine  Here,  spielen  und  singen  und  malen,  so  gut  wie 
tanzen  und  reiten!  —  Da  hätte  man  meinen  sollen,  sie  wäre  wie  geboren 
dazu,  nur  solche  ernsten  Dinge  zu  treiben.  So  glücklich  habe  ich  sie  nie 
vorher  gesehen,  und  der  Herr  Varon  war  so  stolz  auf  sie.  —  Mein  Gott, 
ein  bischen  Eitelkeit  war  anch  dabei,  daß  der  Prinz  sie  so  verehrte,  und 
um  eifersüchtig  zu  sein,  war  er  selbst  viel  zu  nobel  von  Gesinnung  — 
Eifersüchtig  auf  diesen  zarten,  schwächlichen  Gelehrten?  Nein,  das  wäre 
ihm  nie  in  den  Sinn  gekommen!  —  Es  war  auch  wahrhaftig  kein  Grund 
dazu,  lange,  lange  Zeit  nicht  —  nur,  mir  wollte  die  Sache  nicht  gefallen, 
denn  ich  kann  nun  einmal  nicht  dran  glauben,  daß  man  sich  für  solch 
stumme  Creatur  wie  Fische  und  Würmer  aufrichtig  begeistert!" 
„Und  glauben  Sie  nicht,  Frau  Christine,  daß  Sie  Ihren:  Herrn  jetzt 
helfen  würden,  seinen  Schinerz  zu  überwinden,  wenn  Sie  ihm  sagten, 
daß  er  Grund  gehabt  hätte,  eifersüchtig  zu  sein?" 
„Er  würde  mich  niederschlagen,  wenn  ich  die  geringste  Andeutung 
machte!  Er  würde  nie  an  ihr  zweifeln!  Ja,  legten  Sie  ihm  selbst  die 
schriftlichen  Veweile  in  die  Hände,  er  würde  sie  ungelesen  verbrennen!" 


Sein  Vlief,  395 

„Warum  geben  Sie  denn  nicht  ihm  die  braune  Tasche?" 
„Das  kann  ich  nicht,  nein,  das  kann  ich  wirklich  nicht  ....  Was 
sie  mir  anvertraute,  damit  es  nicht  in  seine  Hände  siele?  0  nein!  — 
Und  es  könnte  ihm  auch  nicht  helfen,  denn  er  würde  es  auf  seine  Art 
deuten.  —  Da  drüben,  da  soll  sie  ihn  so  wiederfinden,  wie  sie  ihn  hier 
gekannt  hat;  ich  hatte  nicht  einmal  in:  Grabe  Ruhe,  wenn  ich  die  Tasche 
ohne  Erlaubnis  verbrannte  oder  bei  meinem  Ableben  in  unsichere  Hände 
fallen  ließe!  ....  Und  der  Andere  ist  ja  jetzt  der  Thronerbe  —  Frau 
Varoinn  sagte  mir,  das  wäre  etwas  Heiliges  —  das  Wohl  von  Millionen 
hinge  von  ihm  ab!  Es  wäre  ...  Na,  geglaubt  habe  ich  es  nicht;  unser 
Herrgott  hat  die  Menschen  alle  gleich  geschaffen,  d.  h.  nur  SEINE  Unter- 
schiede ihnen  aufgedrückt,  und  da  stehen  mein  Herr  und  meine  Comteß 
meilenweit  über  allen  Thronerben!  Nun  möchte  ich  Ihnen  aber 
auch  noch  danken,  Herr  Doctor;  ich  bin  keine  Dame  und  Hab'  vielleicht 
nicht  'mal  das  Recht  dazu,  Ihnen  zu  danken;  aber  Eins  weiß  ich:  der 
Herrgott  in  Seiner  Gnade  und  Fürsorge  wußte  wohl,  warum  Er  meine 
arme  Eomteß  gerade  zu  Ihnen  führte!  —  Sie  haben  gewiß  Alles  geahnt 
und  sich  zurechtgeklügelt,  das  merkte  ich  in  der  ersten  Stunde!  Und  Sie 
haben  sie  geschützt,  soweit  Sie  konnten!  .  .  .  ." 
Kurt  Braun  war  allein  mit  der  goldgestickten  Sammettasche.  Er 
wußte  nicht,  ob  er  sie  öffnen  oder  so,  wie  sie  war,  verbrennen,  oder  ob  er 
sie  dein  Anderen  auf  irgend  eine  Weise  zustellen  sollte? 
Er  verschob  die  Entscheidung  darüber.  Zuerst  war  ja  seine  tägliche 
Arbeit  zu  absolviren,  auch  mußte  er  dem  Hülflosen  Gatten  beistehen,  all  die 
entsetzlichen  Formalitäten  zu  erfüllen.  Der  verzweifelte  Mann  konnte  ja 
sein  verlorenes  Kleinod  nicht,  wie  er  gewollt  hätte,  auf  seinen  Armen  nach 
lütland  tragen;  da  galt  es,  einer  Menge  sanitärer  und  sonstiger  Vor- 
schriften zu  genügen. 

Der  Fall  hatte  natürlich  Aufsehen  gemacht  und  beschäftigte  nicht  nur 
die  Localblütter;  so  erwartete  Kurt  Nrann  immer,  irgend  eine  Nachfrage, 
irgend  ein  Lebenszeichen  von  Jenem  zu  erhalten,  den  die  Todte  über  Alles 
geliebt  haben  mußte;  aber  Nichts  traf  ein.  Wenn  er  auch  nicht,  wie  die 
Kammerfrau,  ihn  für  den  Tod  der  liebreizenden  Frau  verantwortlich  machte, 
so  schien  ihm  dieses  Schweigen  doch  grausam  und  unmenschlich. 
Baron  Kjersund  reiste,  als  Alles  geordnet  war,  von  Kempten  ab. 
Zwei  Tage  vergingen,  da  erschien  ein  Fremder  im  Krankenhause  und 
schickte  dem  dirigirenden  Arzte  seine  Karte  herein.  Kurt  Braun  las  einen 
ihm  unbekannten  Namen  darauf:  A.  von  Mers,  und  ließ  den  Herrn 
bitten,  einzutreten. 

Der  Fremde  gab  an,  im  Auftrage  eines  Freundes  zu  kommen,  um 
Erkundigungen  über  die  letzten  Tage  der  Baronin  Kjersund  einzuziehen; 


3Z6  Mite  Riemnitz  in  Vukaiest. 

allem  Kurt  Braun  ward  sehr  bald  inne,  daß  der  Besucher  ihn  auszuholen 
strebte:  Ob  man  nicht  gleich  aus  den  Papieren  oder  Briefen,  welche  die 
Kranke  etwa  bei  sich  geführt,  ihren  Namen  und  Stand  erkannt  hätte?  — 
Kurt  antwortete  höchst  einsilbig  und  erleichterte  dem  diplomatischen  Fremden 
in  keiner  Weise  seine  Mission,  er  verwies  ihn  kurzweg  an  den  Baron. 
Schon  nach  den  ersten  Worten  war  er  überzeugt  gewesen,  daß  dieser  Mann 
hergesandt  morden  war,  um  zu  erforschen,  ob  vor  oder  nach  dem  Tode  seiner 
Patientin  der  Name  des  Prinzen  genannt,  ob  irgend  etwas  ihn  Compro- 
mittirendes  bei  der  Verstorbenen  gefunden  fei?  — 
Kurt  war  empört.  Diese  selbstsüchtige  Unruhe  war  also  das  Einzige, 
was  der  einst  so  heiß  Liebende  bei  der  Todesnachricht  empfunden  hatte! 
Weltliche  Rücksicht  allein  war  in  ihm  zu  Worte  gekommen!  .  .  . 
Der  Prinz  mochte  ruhig  fein:  Kurt  hütete  eifersüchtig  ihr,  der  lieb- 
lichen Frau,  Geheimniß,  und  von  diesem  Augenblick  an  fühlte  er,  daß  es 
sein  Recht  war,  den  Inhalt  jener  Tasche  zu  ergründen.  Er  haßte  den 
Mann,  den  sie  geliebt,  und  der  sie  in  den  Tod  getrieben  hatte!  — 
Als  der  Abend  kam,  wo  Kurt  am  wenigsten  einer  Störung  aus- 
gesetzt war,  öffnete  er  die  alterthümlich  gestickte  Mappe:  der  Hauptinhalt 
waren  Briefe  auf  deni  dünnen  englischen  Papier,  mit  der  Krone  darauf  und 
in  der  feinen  zierlichen  Handschrift,  welche  Kurt  aus  seinem  Funde  im  Waggon 
bereits  kannte.  Sie  waren  gröhtentheis  sachlicher  Natur,  nnr  hin  und 
wieder  eigentliche  Liebesbriefe,  und  auch  dann  nicht  befonderer  Art;  aber 
ihrem  Auge  mochte  wohl  jeder  Strich  etwas  ganz  Besonderes  bedeutet 
haben. 

Kurt  las  ihrer  uur  wenige,  dann  nahm  er  das  Bündel,  ging  vor  den 
Ofen,  in  dem  das  Feiler  brannte,  und  warf  einen  nach  dem  anderen 
hinein  —  zuletzt  auch  den  im  Waggon  gefundenen. 
Die  Mappe  enthielt  aber  noch  mehr:  ein  Tagebuch  von  ihr.  Auf 
dem  Deckel  des  Bändchens  stand  in  kühnen  Strichen  ihr  Vorname  ge- 
malt: Ellen. 

Einen  Augenblick  zögerte  er,  ehe  er  es  öffnete,  aber  die  Ueberlegung 
fagte  ihm,  daß  er  sich  eine  unnöthige  Qual  auferlegen  würde,  wenn  er 
sich  zwänge,  das  Tagebuch  ungelesen  zu  verbrennen.  Sie  hatte  es  augen- 
scheinlich erst  zu  schreiben  angefangen,  als  sie  mit  der  überkommenen  Sitte 
gebrochen  hatte,  als  in  ihr  eine  Welt  von  Gefühlen  erwacht  war,  die  sie 
mit  ihrer  gewohnten  Umgebung  nicht  theilen  konnte.  In  ungleichen  Ab- 
sätzen, zu  verschiedenen  Zeiten,  aber  ohne  Datum  und  ohne  Ortsbestimmung 
war  es  niedergeschrieben,  bald  mit  Tinte,  bald  mit  Bleistift  —  immer  in 
derselben  langgezogenen,  gleichmäßigen  schönen  Frauen-Schrift,  und  immer 
in  deutscher  Sprache.  — 

„Mir  ist,  seit  ich  Dich  liebe,  als  wandle  ich  auf  Wolken,  hoch  über 
der  Welt,  die  Stimmen  der  Uebrigen  dringen  nur  wie  aus  der  Ferne 
zu  nur. 


Sein  Vrief.  39? 

„Waller  sagte  heute,  ich  sähe  so  verklärt  aus,  wie  er  mich  noch  nie 
gesehen,  und  Vater  fand  sogar  meine  Stimme  verändert,  sie  erinnerte  ihn 
an  die  der  Mutter.  —  Wie  soll  ich  nicht  eine  Andere  geworden  sein,  seit  der 
Duft  Deines  Nthems  mich  gestreift,  seit  ich  vor  Dir  tnieend  dein  Schlage 
Deines  Herzens  gelauscht!  ....  Das  nennt  man  Schuld?  0,  nein! 
Wäre  es  Schuld,  so  würde  ich  leiden.  Ich  bin  ja  kein  Ungeheuer  — 
wäre  es  Schuld,  ich  würde  doch  zittern,  vor  Walter  oder  dem  Vater,  und 
würde  mich  schämen  vor  meiner  Kleinen!  Aber  nie  habe  ich  die  Meinen 
so  lieb  gehabt  wie  heute-,  ich  habe  ihnen  ja  Nichts  geraubt,  die  Natur  hat 
einen  neuen  Schacht  in  mir  gegraben,  dessen  Reichthümer  alle  Anderen 
noch  mit  beglücken!  —  Du  stehst  außerhalb  der  Welt,  mein  Lieb,  und  unsere 
Liebe  ist  so  einzig  wie  Dein  ganzes  Sein!  — 
„Und  Du  hast  so  lange  gegen  sie  gekämpft?  0,  schade  um  jeden 
Dan,  der  uns  verloren  ging!  Wie  konnte  ich  es  je  erhoffen,  daß  Dein 
Blick  sich  mit  Gefallen  auf  mich  niederlassen  könnte?  —  Du  warst  mir 
ein  Gott,  und  ich  nicht  werth,  zu  Deinen  Füßen  zu  sitzen!  .... 
„Im  Zimmer  meiner  Kammerfrau  hängt  eine  Photographie  jenes 
Gemäldes  von,  ich  weiß  nicht  welchen,,  deutschen  Maler:  Grethchen  auf 
ihrem  Gang  zum  Galgen.  Heute  habe  ich  mich  zum  ersteu  Mal  niit  Ent- 
setzen in  das  Vild  vertieft.  Früher  blickte  ich  immer  nur  fort  und  sagte 
oft  zu  Christine,  daß  ich  in  ihrer  Stelle  solch  Bild  nicht  vor  meinen  Augen 
dulden  würde. 

„Doch  —  Alles,  was  mich  dazu  trieb, 
Gott,  war  so  gut!  ach,  war  so  lieb!" 

dies  schöne  Wort  fiel  mir  heute  ein.  Ich  habe  bisher  nie  gedacht,  daß 
Du  und  ich  mit  anderen  Wefen  Etwas  gemeinsam  haben  könnten,  aber 
gerade  dieses  Wort:  es  war  so  gut  und  war  so  lieb,  was  uns  dazu  trieb, 
das  muß  ich  auch  von  unserer  Liebe  sagen!  —  Ist  nicht  die  Liebe  so 
mächtig  wie  die  Fluth,  die  Alles  zerstört  und  einebnet  und,  wo  sie  einbricht, 
Acker  und  Garten,  Wiese  und  Sand  gleich  »nacht?  —  Aber  die  schreckliche 
Lehre,  die  Goethe  uns  giebt?  .  .  .  Muß  das,  was  „gut"  und  „lieb"  war, 
zum  Galgen  führen?  Mein  Gott,  mir  ist  ganz  Angst  geworden!  Wenn 
ich  Dich  nur  erst  wiedersehe!  Doch  nein.  Dir  darf  ich  Nichts  davon  sagen. 
Du  sprichst  ja  schon  von  Deiner  Schuld  und  machst  Dir  Vorwürfe,  da  ich 
allein  doch  die  ganze  Verantwortung  trage! 

„Du  bist  frei,  ich  bin  es  nicht.  Aber  das  sind  gesellschaftliche  Begriffe, 
und  die  Liebe  stammt  aus  anderen  Landen,  wo  man  die  Sprache  der  Gesell- 
schaft nie  gehört!  —  Weißt  Du,  wie  schuldlos  Du  bist?  0,  nur  ich,  ich 
trage  alle  Schuld!  Als  Du  zuerst,  ganz  unbewußt,  meine  Hand  ergriffst 
und  länger  hieltest,  als  die  Sitte  es  erheischt,  da  fing  mein  Herz  schon 
zu  klopfen  an,  und  als  Dein  Knie  versehentlich  einmal  das  meine  berührte, 
da  war  mir,  als  /wärest  Du  mein  Kind,  und  ich  müßte  Dich  streicheln. 
Und  wie  aus  Versehen  kam  auch  der  erste  Kuß!  Weißt  Du,  wie  wir 


2Z8  Mite  Uremnitz  in  Vukareft. 

uns  verlegen  anschauten,  als  es  geschehen  war,  als  unsere  Lippen  sich  ge- 
funden hatten?  Du  sagtest  munter:  „Einen  Kuß  in  Ehren  darf  Niemand 
wehren!"  aber  die  Nüthe  war  uns  Neiden  bis  in  die  Stirn  gestiegen,  und 
ich  weiß  nicht  mal,  ob  er  „in  Ehren"  war;  ich  mußte  ja  Deinem  holden 
Antlitz  immer  wieder  nahe  kommen,  ich  mußte  Dir  so  demüthig  in's  Auge 
schauen,  bis  Du  mich  küssen  und  immer  wieder  küssen  mußtest!  Ich  war's, 
mein  Lieb,  ich  war's,  die  ansing  —  wie  der  Kessel  im  „Heimchen  auf  dem 
Herde"! 

„Ich  habe  immer  wieder  an  das  Grethchen  denken  müssen.  —  Eigentlich 
war  es  doch  nicht  die  Liebe,  an  der  sie  zu  Grunde  ging:  nur,  weil  sie  ihre 
Liebe  und  ihr  äußeres  Dasein  nicht  von  einander  getrennt  zu  halten  ver- 
mochte! —  Die  Liebe  soll  aber  sein  wie  die  Luft,  die  man  nur  athmet  — 
o  weh,  die  Luft  durchdringt  ja  auch,  zersetzt  ja  auch  Alles!  —  Der  Mensch 
kann  sich  nicht  lösen  aus  seinen  vielfältigen  Beziehungen!" 
„Aber  daß  ich  Dich  liebe,  ist  das  nicht  ebenso  mein  Schicksal,  wie 
meine  physische  Erscheinung?  Mein  freier  Wille  war  es  nicht,  denn  ich 
kannte  doch  nicht  die  Wonnen  Deiner  Liebe!  Hätte  ich  meiner  Ueberlegung 
folgen  dürfen,  ich  hätte  mir  sicher  ein  ander  Loos  gewählt!  —  Wer  will 
denn  gern  vom  hergebrachten  Wege  abweichen?  Wer  zieht  nicht  Nuhe  der 
Qual,  Sicherheit  der  Angst  vor?  —  Und  doch  ist  die  Liebe  ein  Gnaden- 
geschenk der  Natur!  Hat  die  Natur  mich  dazu  geheiligt,  ihrer  höchsten 
Gabe  theilhaftig  zu  werden,  so  darf  ich  nicht  mit  ihr  rechten  über  ein 
Zuspät  oder  Zufrüh,  so  darf  ich  nicht  klagen,  selbst  wenn  die  Welt  mich 
zum  Henkerstode  führt.  Liebe  ist  schon  der  Tod;  in  ihr  erstirbt  die  Person» 
lichtest!  Wenn  ich  vor  Dir  kniee,  so  schwinden  mir  die  Gedanken,  ich  fühle 
nur  Dich,  ich  empfinde  mich  selbst  nicht  mehr,  nur  Du,  Du  bist  Alles!" 
„Ich  bin,  was  das  dürre  Gesetz  eine  Ehebrecherin  heißt  —  mirthut 
das  Wort  so  weh,  obwohl  ich  weiß,  wie  milde  der  Heiland  der  Ehebrecherin 
begegnete.  Jedermann  würde  mich  verurtheilen.  Wenn  ich  aber  grausam 
genug  wäre,  nieinem  Manne  das  Herz  zu  brechen,  meinem  Vater  den  Rest 
seines  Lebens  zu  verbittern  und  meinem  Kinde  die  Zukunft  zu  rauben  -~ 
wenn  ich  mich  scheiden  ließe,  um  dem  Anderen  meine  Hand  zu  reichen, 
dann  billigt  mich  das  Gesetz  und  die  Welt,  und  ich  stehe  da  als  eine 
correcte  Frau!  ...  Ja,  aber  nur  vor  der  Welt,  nicht  vor  meinem  Ge- 
wissen! Was  verstehen  die  Menschen,  welche  die  Gesehe  machen,  vom 
Gewissen?  Der  Herr  hat  es  verschieden  in  seine  verschiedenen  Geschöpfe 
gelegt!  Der  Heiland  allein  fah  in  die  ganze  Tiefe  der  Menschenseele, 
aber  kein  Gesetzgeber  folgt  ihm  nach!  ..." 
„Bringe  ich  nicht  Opfer,  damit  kein  Anderer  geopfert  werde?  Möchte 
ich  nicht  auch  lieber  mit  der  Welt  als  gegen  sie  leben?  —  Nie  darf  ich 
mich  im  hellen  Sonnenschein  an  den  Arm  des  Geliebten  hängen  und  niein 
Glück  doppelt  genießen,  indem  ich  es  offen  genieße!  .  .  .  Dein  Leben,  das 
die  Natur  mir  geschenkt  hat,  die  Gesellschaft  enthält  es  mir  vor,  und 


5ein  Viief.  3Y9 

ich  füge  mich  darein,  um  Niemandem  Leid  zuzufügen:  Nur  heimlich  kosten 
darf  ich  von  dem  reichen  Schatze,  der  doch  ganz  und  gar  mein,  denn  ich 
Hab'  ihn  gehoben!  — " 

„So  beruhige  ich  mich  immer  wieder,  um  nicht  durch  Kleinlichkeit  den 
großen  Rausch  der  Natur  zu  stören;  aber  das  Leid  jbleibt  nicht  aus,  ich 
zeige  es  Dir  nur  nie!  Ich  trage  ihn  allein,  den  Widerspruch  zu  mir  selbst, 
in  den  ich  mich  gesetzt  habe  —  Wenn  Walter  anbetend  zu  mir  aufblickt, 
so  möchte  ich  ihm  sagen:  „Ich  bin  nicht  steckenlos  —  demüthige  mich  nicht 
durch  Deine  Liebe!"  .  .  .  Aber  das  wäre  zu  bequem;  besser  ist's,  durch 
unendliche  Güte  an  Anderen  gut  zu  machen  das  Mehr,  womit  der  Himmel 
mich  ausgezeichnet  hat!  —  Wa.s  könnte  ich  nurthun,  um  mein  Glück  zu 
verdienen?  Oft  denke  ich,  ich  müste  daran  sterben  —  ack,  und  wie  gern 
thäte  ich's,  hätte  ich  nur  keine  Pflichten!  .  .  .  Wozu  sind  wir  auf  Erden? 
Um  die  höchste  Stufe  der  Veredlung  zu  erklimmen?  —  Dann  wäre  ich 
noch  lange  nicht  zum  Tode  reif!  Ist  es  aber,  um  die  höchste  Möglichkeit 
des  Glücks  zu  kosten,  so  hätte  ich  den  Sinn  des  Daseins  erschöpft.  Nur 
Dein  Antlitz  zu  erblicken,  in  Deiner  Nähe  zu  athmen,  ist  Glückseligkeit; 
immer  noch  schwinden  alle  meine  Gedanken  und  Sorgen,  wenn  ich  Dich 
umklammert  halte;  ich  begreife  garnicht,  daß  es  etwas  Anderes  als  Harmonie 
im  Weltenraume  giebt;  unmerklich  wird  Deine  Anschauung  die  meine. 
Deine  Seele  geht  ganz  über  in  die  meine." 
„Christine  späht  mir  nach,  ihre  hellen  grauen  Augen  sehen  mich 
vorwurfsvoll  an;  o,  wie  schade,  daß  sie  es  nie  begreifen  und  fassen  würde, 
was  mir  geschehen  ist!  Sie  sieht  die  Welt  unter  dem  einzigen  Gesichts- 
punkt meines  Wohles  an  und  haßt  gleich  Alles,  was  mir  in  den  Lebens- 
weg tritt,  und  was  sie  nicht  billigt.  —  Dich  konnte  sie  von  Anfang  an 
nicht  leiden;  ich  fühlte  das,  und  so  haben  wir  nie  von  Dir  gesprochen  .  ." 
„Er  ist  fort!  Vier  Wochen  lang  werde  ich  seine  Stimme  nicht  hören 
—  o,  was  für  ein  Leid  ist  Trennung!  —  Wäre  ich  seine  Frau,  so 
brauchten  wir  uns  nie  zu  trennen  ~  aber  ich  darf  nicht  daran  denken  .  .  ." 
„Mir  fehlt  die  Lebenskraft,  wenn  ich  ihn  nicht  sehe;  ich  bin  pbnsisch 
krank  davon  geworden,  so  sehr  ich  mich  zusammennahm!  0,  mein  anner 
Walter  hat  so  darunter  gelitten,  und  ich  bat  ihn  tausendfach  um  Verzeihung, 
daß  ich  ihm  Sorge  gemacht  habe.  —  Noch  acht  Tage!  — " 
„Kanu  ich  dafür,  daß  ich  nicht  zu  leben  vermag  ohne  ihn?  Ob  das 
je  anders  werden  wird?  Hat  Liebe  eine  bestimmte  Dauer?  Nein,  sie  ist 
wie  die  Ewigkeit,  ohne  Anfang  und  ohne  Ende!  Neulich  sagte  Walters 
liebe  Tante,  die  bei  nns  zum  Vesuch  war:  „Die  Frauen  rühmen  sich  so 
oft,  der  Liebe,  wenn  sie  olme  Tugend  ihnen  nahte,  widerstanden  zu  haben. 
Ich  aber  behaupte,  wenn  sie  ihr  widerstanden,  war  es  eben  nicht  die 


HOO  Mite  «remnitz  in  Vulaiest, 

Liebe,  denn  der  widersteht  Niemand!"  —  Und  Walter  gab  ihr  Recht  und 
sah  mich  mit  seinen  strahlenden  Äugen  an;  ich  aber  wurde  so  todestraurig, 
daß  ich  seinen  Blick  nicht  erwidern  konnte.  Er  merkte  es  nicht,  und  ich 
küßte  seine  Hand  und  bat  —  ja,  ich  bat  den  Allmächtigen  um  meinen 
Tod!  -" 

—  „0,  mein  Gott,  wie  konnte  ich  Nagen,  als  ich  ihn  überhaupt  noch 
sah,  als  unser  Leben,  fern  über  der  Alltäglichkeit,  noch  ein  gemeinsames 
war,  als  ich  all'  seine  Gedanken  theilte,  keine  Falte  seines  Herzens  mir 
verborgen  war!  Es  gab  keinen  Tag  seines  Lebens,  den  ich  nicht  nachträg- 
lich mit  ihm  durchlebt;  nie  hat  ein  Hauch  der  Eifersucht  in  ihm  oder  in 
mir  Platz  greifen  können  —  aber  jetzt!  Nein,  ich  kann  es  nicht  überleben 

—  Nun  ist  Alles  vorbei!  Dies  elende  Dasein  mit  seinen  kleinen  mensch- 
lichen Institutionen  soll  die  Gewalt  haben,  das  Götterkind,  die  Liebe,  zu 
vernichten?  —  „Es  bleibt  ja  Alles,  wie  es  war,  zwischen  uns!"  sagte  er; 
ich  sah  ihn  mir  still  an.  Wie  konnte  er  sich  solche  Enormität  auch  nur 
vorstellen?  Es  war  ja  auch  keine  Frage  niehr,  die  er  mir  vorlegte,  es 

war  für  mich  schon  entschieden  in  dem  Äugenblick,  wo  ihm  überhaupt  die 
Möglichkeit  seiner  Vermählung  durch  den  Kopf  gegangen  war.  —  „Bist  Du 
nicht  auch  verheirathet?"  sagte  er.  Und  ich  fchwieg  wieder,  weil  ich  die 
Antwort  darauf  nicht  fand,  sondern  nur  das  Gefühl,  es  fei  etwas  Anderes, 
etwas  ganz  Anderes!  — " 

„Ich  bin  wohl  doch  eine  Egoistin  gewesen,  mein  ganzes  Leben  lang, 
trotz  meiner  gerühmten  Güte,  daß  ich  das  nicht  vertrage?  Ich  stelle  mir 
vor,  daß  sein  Leben  —  er  sagt,  das  Leben,  zu  dem  ich  ihn  erweckt  habe 

—  ein  reicheres  sein  werde  als  bisher,  und  es  überrieselt  mich  kalt.  Ich 
denke  daran,  daß  er  einen  Beruf  haben  wird,  der  ihm  eine  unendlich 
größere  Wirksamkeit  giebt,  als  seine  Wissenschaft  es  bisher  gethan.  — 
Aber  ich  fchreie  vor  Schmerz,  daß  er  mir  entrissen  werden  wird.  Immer 
fehe  ich  die  Andere  neben  ihm,  die  im  Sonnenschein  des  Tages  an  seinem 
Arme  hängen  darf,  die  fein  Leben  theilt,  die  neben  ihm  sitzt  in  der  Abend- 
dämmerung unter  den  hohen  Buchen  des  Parkes,  die  an  seiner  Seite  ein- 
tritt in  den  strahlenden  Festfaal,  die  das  Lachen  über  feine  geliebten  Züge 
gleiten  sieht  und  ihm  die  Stirn  glätten  darf,  wenn  Unmuth  und  Sorge 

sie  kräuseln,  die  ihn  pflegen  darf,  wenn  er  krank  ist,  und  die  —  o,  Gott, 
Hab'  Erbarmen!  —  die  ihm  Kinder  schenken  darf,  welche  feine  edlen  Züge 
tragen!  — " 

„Und  wird  er  nicht  Vergängliches  leisten  dann,  wie  jetzt?  Giebt  es 
eine  Form  der  Arbeit,  welche  höher  ist  als  die  andere,  auf  dieser  zer- 
stäubenden Welt?  —  Wie  viele  Reiche  sind  zerfallen,  wie  viele  Dynastien 
ausgestorben,  und  die  Welt  ist  darum  nicht  schlechter  oder  besser  geworden. 

—  Aber  —  o  ja,  ich  weiß  alle  Aber!  Habe  ich  selbst  es  ibm  nicht  ge- 


5ein  Viief.  q>0" 

sagt  —  denn  in  seiner  Nähe  beherrschen  mich  seine  Gedanken,  —  daß 
man  seine  Pflichten  gegen  die  Mitmenschen  erfüllen  muß,  daß  man  seine 
Gesichtspunkte  beschränken  soll,  um  überhaupt  Etwas  zu  leisten!  ...  0, 
wie  weise  habe  ich  geredet,  immer  mit  dem  lauernden  Blick  auf  ihn, 
immer  mit  der  ersterbenden  Hoffnung,  er  würde  antworten:  „Alles,  was 
mich  Dir  entfremdet,  ist  werthlos!"  —  Ja,  ich  habe  es  erhofft,  aber  Du, 
Fred,  Du  hast  es  nicht  gemerkt.  Du  hast  nur  gehört,  was  der  Mund 
sprach.  Du  nanntest  mich  , einzig/  und  ,edel'  und  ,großartia/  und  sähest 
nicht,  was  ich  litt!  .  .  .  Deine  Natur  ist  die  langsamere  von  uns  Beiden 
—  wird  dasselbe  Leid  auch  über  Dich  kommen,  wenn  zur  Wirklichkeit 
geworden,  was  Du  als  Plan  mir  mittheiltest?  Vielleicht  —  ich  glaube 
es,  aber  ich  wünsche  es  nicht.  Du  könntest  es  vielleicht  nicht  ertragen, 
ich  ertrage  es  ja  —  ich  wandle  noch  immer  hoch  über  der  Welt  — 
mechanisch  lache  und  weine  ich,  aber  die  Wolken,  die  mich  tragen,  sind 
nicht  mehr  von  der  Sonne  vergoldet,  es  sind  schwarze  Regenwolken,  und 
die  Erde  zieht  sie  an  —  o,  wie  sehr!"  — 
Kurt  Braun  wurde  durch  Klopfen  an  der  Dhür  aufgeschreckt.  Es 
war  nur  Schwester  Anna,  welche  fragte,  ob  das  Zimmer,  in  welchem  die 
Baronin  Kjerfund  gestorben,  neu  belegt  werden  dürfte?  Es  sei  ja  gründ- 
lich desinficirt  worden,  und  man  habe  eben  einen  voni  Dach  gefallenen 
Arbeiter  eingebracht  —  kein  Mensch  wisse,  was  er  so  spät  noch  auf  dem 
Bau  gewollt  —  und  foust  fei  nirgends  Platz  .  .  . 
Kurt  gab  seine  Einwilligung  und  stand  auf,  um  das  Buch  in's  Feuer 
zu  werfen. 

Schwester  Anna  fah  ihn  scharf  an:  „Es  ist  Ihnen  wohl  fchwer, 

wieder  in  das  Zimmer  zu  gehen?  Aber  mir  müssen  halt  Alle  weiterleben, 

was  auch  immer  geschehe!"  — 


~llustrirte  Bibliographie. 

VildcratlaS  zur  Geschichte  der  deutschen  Natwnallitterotm.  Eine  Ergänzung 

zu  jeder  deutschen  Liticraturgeschichte.  Nach  den  Quellen  bearbeitet  von  l)r,  Gustav 

ffönnecke.  Zweite  verbesserte  und  vermehrte  Aussage.  Marburg,  N.  G.  Elwert'scke 

Verlagsbuchhandlung. 

Die  Geringschätzung,  mit  der  man  früher  aus  illustrirte  Werke  wissenschaftlichen 
Charakters  nicht  ohne  Grund  blickte,  ist  in  dem  Make  gewichen,  als  auch  die  anfangs 
vorwiegend  einer  müftinen  Augenweide  dienende  Illustration  mehr  und  mehr  systematisch, 
nach  wissenschaftlichen  Grundsätzen  und  Zielen  nusqeübt  wuide  und  die  kritisch-historische 
Methode  auch  bei  ihr.  wie  bei  seder  historisch'n  Qw  llenarbeit,  zur  Anwendung  gelangte. 
Die  überraschenden  Fortschritte  der  modernen  Rsvroductionstechnit  kamen  diesem  Streben 
zu  Hilfe,  indem  sie  die  unbedingt  treue,  unmanierirte  Wied»rgabe  alter  Vorlagen,  von 
Handschriften.  Drucken,  Kuv'erstchen  u.  s.  w.  <rmö„liclten.  Heutzutage  dünte  es  kaum 
eine  wissenschaftliche  Tiscivlin  neben,  welche  der  Hilie  d»s  ergänzenden  Bildes  ganz  ent- 
behren möchte:  einzelne  lönnen  sie  nicht  entbehren.  — 
Ein  Zeugnis,  iür  die  steinende  Wertschätzung  der  im  Dienste  der  Wissenschaft 
stehenden  und  auf  wissen  scha'tlicher  Grundlage  ruhenden  Illustration  von  Seiten  der 
Fachgel, hrtcn  wie  des  gebildeten  Publicum«  legt  z.  B.  die  Ausnahme  ab,  welche  die  im 
Jahre  1886  erschienene  erste  Aussage  de«  ^ilderatlas  zur  Geschichte  t»r  deutschen  National» 
litttratur  gefunden  hat.  Die  Kritik  hat  damals  die  monumentale  Bedeutung  dieses 
Werkes,  das  eine  erfreuliche  Verbreitung  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  gefunden  hat, 
anerkannt,  der  gewissenhaften  Gründlichkeit,  den  Kenntnissen  und  dem  Geichmcck  des 
Herausgebers  wie  dem  Verdienst  des  Verleger«  derartige  Hvilrt>igung  widerfahren  lassen, 
das;  sich  eine  eingehende  kritische  Beleuchtung  des  Wrkes  setzt  erübrigt.  Es  genügt, 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  zweite  Anftnne  eine  rcrmelirte  und  in  mehrfacher  Hinsicht 
verbesserte  ist.  So  ist  die  Zahl  der  Illustrationen  von  1075  auf  2200  erhöbt  worden, 
wozu  noch  14  Beilagen  kommen.  Unter  den  hinzugekommenen  Bildern  befinden  sich 
manche  interessante  aus  Goethes  und  Schillers  l'it;  nuch  ist  der  Vilder-Atla«  bis  zur 
Gegenwart  fortgeführt  worden,  indem  hervorragende  Vertreter  der  neuesten  Litieratlir- 
peiiode  (wie  Hauptmann,  Sudermann)  Platz  gesunden  haben.  Freilich  hat  der  Heraus- 
geber in  dieser  Beziehung  nicht  alle  wünsche  crfiNen  tonnen,  u,  A.  vermissen  wir 
das  Portra,t  Ludwig  Fuldas.  Eine  Bereicherung  und  damit  eine  Erhöhung  seines 
wissenschaftlichen  Wcrthes  hat  der  Atlas  dadurch  erfahren,  daß  von  allen  Handschriften 


"Ilustrirte  Vibliographie. 
"03 

und  Handichriften-Bluchstücken  des  wichtigsten  Litteraturdeulmals  des  Mittelalters,  de« 
Nibelungenliedes,  Proben  aufgenommen  worden  sind.  Als  Verbesserungen  sind  anzu- 
fühlen, taß  einige  Abbildungen  fortgelassen  und  eine  große  Anzahl  solcher,  für  die  entweder 

3  " 
-3 

bessere  Quellenbilder  gefunden  wurden,  oder  die  durch  die  inzwischen  sehr  vervollkommnete,! 
RevroductionsmetlwKen  schöner  und  klarer  wiedergeaeben  werden  konnten,  dura,  guellcn« 
mähigere  oder  klarere  Abbildungen  ersetzt  worden  sin);  ferner  das;  die  erklärenden  Texte 
Nord  und  ZW,  liXXV.  225.  27 


404 

Noid  und  2ü«. 

einer  genauen  Durchsicht  unterzogen  und  auf  Grund  bei  seit  dem  Erscheinen  der  1.  Auf- 
lage zu  Tage  geförderten  Forschungsresultat«  berichtigt  worden  sind. 
Der  Bilderallas  zerfällt  in  zwei  Abtheilungen.  Die  erste  bringt  die  Bildnisse  der 
bedeutendsten  verstorbenen  deutschen  Svrachforscher  und  Literarhistoriker  (wir  Vennissen 
unter  diesen  Hettner);  die  zweite,  die  Hauptabtheilung,  bringt  die  eigentliche  Sammlung 
von  Abbildungen  zur  Geschichte  der  deutschen  Literatur.  Diese  Abbildungen  erläutern 
die  gesummte  deutsche  Literaturgeschichte  von  dem  ältesten  Auftreten  der  Nachrichten  über 
deutschen  Sang  bis  auf  unsere  Tage. 

Mirislione  und  A»«us»  «on  Goethe,  Aquarell  von  Hein».  Mener. 

A,,»:  DI,  G»st»v  Nönnecke:i„»iloelatto,«  ,ur  ««schichte  der  deutschen  Nattoualliiteratui,' 
Marl,»!,,,  A.  0,  ßlweit'sche  Äeil»<,»b»chh«ndl»NI!. 

Aus  dem  Mittelalter  werden  Nachbildungen  der  Handschriften  und  Drucke  der  bc> 
deutendsten  Literaturdenkmäler  gebracht;  Miniaturen  aus  den  Handschriften,  Texte  mit 
wortgetreuer  Uebeitragung.  In  der  Uebergangsveriode  vom  Mittelalter  zur  neueren  Zeit 
wird  die  bedeutsame  Entwickelung  des  Buchdrucks  vom  rohen  Blockdruck  lehrreich  venm» 
schaulicht.  Vom  Ausgange  des  XV.  Jahrhunderts  treten  die  Bildnisse  der  Dichter  und 
Schriftstellei  in  den  Vordergrund:  daneben  weiden  interessante  Bücheititel,  einzelne 
Seiten  aus  wichtigen  Drucken,  littcrarhistorische  Alterthümer  und  Denkmäler,  insbesondere 
Grabmale!  und  Dichterstätten  wiedergegeben. 


"Ilustrirte  Nibliographie. 
"05 

Die  llügilche  lind  die  lomische  Wule  »n  («oclne«  Viiite, 

"eichnnn»  d»n  Angelilll  Kaufmunn  für  den  Von»  VIII  der  Äi>iche»'!chen  Äu«a»dc  von  Gocidei  Echristen. 
NN«!  DI,  »ultod  «iinnecl«:  ,»lldera!!»s  ,„l  Geschichte  der  deutschen  ü!»ti»n»llilteialul," 
Marburg,  N,  G,  "Iwert'sche  Nerlaglbuchhandlung. 

~7» 


406 

Nord  und  3üd. 

Auch  die  Bücherillustration  ist  derart  berücksichtigt,  daß  sich  ihre  Entwickelung  m 
Deutschland  von  den  Miniaturen  de»  XII.  bis  zum  Anfange  unseres  Jahrhundert« 
«erfolgen  laut.  Zahlreich  sind  die  Nachbildungen  von  Handschriften  der  Schriftsteller, 
insbesondere  Namenszügen.  Drr  älteste  sichere  ist  die  Unterschrift  König  Koniadin? 
unter  einer  Pisaer  Urkunde  vom  Jahre  1258.  — 

Diese  Angaben  lassen  erkennen,  welch'  ein  ungemein  reiches  Material  in  diesem 
Bilderalla«  zusammengebracht  ist,  wie  sehr  derselbe  geeignet  ist,  eine  Stütze  und  Er» 

OttNic  l'o»  PoMIch,  Ooetye»  Schwiegertochter,  Augus!«  Frau. 

,'tre>dez«ich,»mg  de«  Weimar«  Lithographen  Heinrich  Müller  (um  !82y», 

A„«:  Dr.  «u,tll°  «önnecke:  .Gilderatla«  zur  Geschichte  d:r  deutschen  ütationallitteratur." 

Maiburg,  N,  G.  Elwelt'sche  Verl  aglluchhandlung. 

ganzung  des  litierarhistorischen  Unterrichts  zu  bieten,  denselben  durch  Anschauung  zu  be- 
leben und  zu  vertiefen.  — 

Die  Ansstattuna  des  Werkes  ist  in  jeder  Beziehung  vortrefflich;  für  treue  und 
künstlerische  Wiedergabe  der  Nildervorlagen  habm  namentlich  die  Kunstanstalten  von 
Angerer  K  Göschl  in  Wien,  Meiienbach,  Riffarth  K  Co.  in  München  und  Berlin.  Oster- 
riitl»  in  Frankfurt  a.  M.  und  Werner  K  Winter  ebendaselbst  neiorgt.  Von  letztgenannter 
Firma  rühren  hei  die  werthvollcn  farbissen  Beilagen:  Eine  Seite  aus  dem  Ooäei 
üri5«nt«!!8;  die  beiden  Miniaturen  aus  der  groszen  Heidelberger  Liederhandschrifl:  Neid« 


Vibliographische  Notizen. 
405 

hait  von  Nenenthal  inmitten  seiner  fröhlichen  Bauern;  Walther  von  der  Vogelweide; 
die  Nachbild«»«  eines  colorirten  Holzschnittes  aus  dem  Jahre  1530:  „Der  Nafcntanz" 
von  Hans  Güldenmund  in  Nürnberg;  von  August  Oslerrieth  die  farbige  Tafel: 
flandrischer  Teppich  des  Xlv"\— XV.  Jahrhunderts  mit  Scencn  aus  Wilhelm  von 
Orlens  (Original  im  Fürstl.  Museum  zu  Sigmaringen):  von  Meifenbach,  Riffarth  ~  Co. 
die  ausgezeichneten  großen  Photogravüren:  Goethe,  nach  dem  Oclbild  von  I.  K.  Stiele! 
(1828)  und  Lessina,  nach  dem  Oclgemälde  von  I.  tz.  Tischbein  d.  Ä.  (1760),  welche 
nevst  der  amen  Neprobuction  des  von  Johann  Gotthard  Müller  nach  dem  Gemälde  von 
Anton  Grafs  gestochenen  Portrait«  Friedrich  Schilleis  dem  Werke  zum  vewndcreu  Schmuck 
gereichen.  — 

Der  Bildcratlas  umfaßt  11  Lieferungen  von  je  40—18  Seiten  größten  Formats. 

Ter  Preis  von  2,00  °«.  für  die  Lieferung  ist  in  Anbetracht  res  überaus  reichen  Inhalts, 

der  gediegenen  Anlstattung  und  des  inneren  Wcrthes  ein  überaus  mäßiger  zu  nennen. 

Möge  das  in  seiner  Art  einzig  dastehende  Werk  die  weiteste  Verbreitung  finden. 

Bibliographische  Notizen. 

Lehrbuch  der  Allgemeine»  Psychologie. 

Von  Ur.  Johannes  Nehmte,  o.  o. 

Professor  der  Philosophie  zu  Gieifswald. 

Hamburg  und  Leipzig,  Verlag  von 

Leopold  Votz. 

Das  neue  Werk  des  Verfassers  mehrerer 
Hchinten  über  den  Pessimismus  und  über 
Vit  (von  ihm  idealistisch  beantwortete'» 
Frage  nach  der  Außenwelt  stellt  an  die 
Fachgenossen  eine  Neihe  bedeutender  An- 
sprüche auf  gründliche  Auseinandersetzung, 
zumal  da  es  auch  abgesehen  von  Ansicht-:- 
uerschiedenbeiten  geeignet  ist,  znni  Wider- 
spruch herauszufordern  —  und  zwar  von 
seinen  allgemeinen  Anfänge»  an  (Definition 
der  Wissenschaft,  der  «larbeit  u.  s.  w.! 
psychologische  Ausgabe  der  Physiologie,  Logik, 
Acsthetit  und  IHthil,  S.  "1  bis  hinein 
in  seine  (imMeiten  <z.  B.  das  Fehlen 
des  Bcanffö  „Wahl"  beim  Anfassen  der 
Willcn«fiagc  und  die  Beslliräiitnng  der 
Freihcit^siage  ans  die  eine  Frage  „Deter- 
minismus— I  ndeterminismus";  ferner  der 
völlige  Mangel  an  Darlegung  des  inneren 
Wahrnehmens,  besonders  §  21),  Auf  diese 
seine  Eigenschaft  können  wir  hier  nicht 
naher  cingehn,  muffen  auf  sie  j  doch  hin- 
weisen, da  der  Titel  den  tHinbruck  erweckt, 
es  handele  üch  um  ein  rem  Fachlticilig- 
teiten  absehendes  Lehrbuch,  das  den  sicheren 
oder  wenigstens  sicher  zu  machenden  Thcil 
einer  Wissenschaft,  sei  es  der  Oeffentlichlcit, 
sei  es  dem  Anfänger  vermitteln  soll.  Diese 
Eigenschaft  hinwider  besitzt  da«  Wert  nun 
einmal  gar  nicht  und  bemüht  sich  auch 
nicht  nach  ihr,  so  streng  und  anerkennens- 
werth  und  erfolgreich  auch  der  Verfasser 
nach  einer  „allgemeinen"  Psychologie  ge- 
strebt hat.  Allerdings  ist  der  derzeitige 
Ztllnd  der  Psychologie  für  Lehrbücher  nicht 
günstig;  aber  felbst  die  Annäherungen 
daran,  die  es  giebt  (den  „Arcnlo.no",  den 
Meinen  und  großen  „James",  felbst  den 


„Holkinann")  wird  man  für  ein  Lehrbuch 
immer  noch  uorzühen  dürfe». 
Die  Aufgabe  der  Psychologie  sei:  „die 
Gesetzmäßigkeit  der  Veränderungen,  welche 
man  das  Seelenleben  nennt,  klar  zu  be- 
greifen." Ihr  „philosophischer"  Thcil  läßt 
den  richtige»,  fraglos  klaren  Begriff  von 
„Seele'  überhaupt  erst  gewinnen;  ihr  „fach- 
wisfcufchllftlicher"  Thcil  hat  „das  Seelen- 
gegebene in  der  Mannigfaltigkeit  der  Be- 
wnßtseinsbcstimnithctt,  wie  sie  das  abstracte 
Indwidunm  „Seele"  bietet,  und  in  dem 
gesetzlichen  Zilmminenhang,  nclcken  das 
concreie  Indimdmim  .~cele°  aufweist,  klar 
zu  blgiclfc»."  Immer  handelt  es  sich  da- 
bei um  „reine"  Psychologie,  d.  h.  abgesehen 
von  den  Beziehungen  des  Bewußtseins  zum 
„Gegenstand".  —  Zur  Einzelflagen  ist  das 
Werl  umso  weniger  zu  benutze»,  als  ihre 
Beantwortung  hier  zu  sehr  von  der  Ge- 
sammllcisluüg  abhängig  sein  dürfte. 
H,  «enm, 

Tic  Julunft  Ncr  Philosopic.  Antritts- 
vorlesung ron  l!r,  Karl  Joel,  Prwat- 
docent  der  Philosophie  an  der  Universität 
Basel.  Basel,  Benno  Schwabe. 
Referent  hat  verflicht,  dem  Büchlein  an 
einer  besonderen  Stelle  gerecht  zu  werden, 
und  darf  dies  hier  wohl  dahin  zufammen- 
fasfen,  daß  er  IM»  ersten  alademifchen 
Griff  mit  Freude  ob  feiuer  warmen  Idealis- 
men begrüßt,  trotz  einer  etwas  weitgehen» 


408 

Nord  und  2iio. 

den  Vereinfachung  der  angewendeten  Begriffe. 
Gegenübel  den  vielen  Todtsagungen  der 
Philosophie  eines  ihrer  noch  viel  zahl- 
reicheren Lebenszeichen.  H.  8olun. 
Philosophie  der  Vefrelun«  durch  das 
reine  Mittel.  Beitrüge  zur  Pädagogik 
des  Menschengeschlechts  von  Dr.  Bruno 
Wille.  Berlin,  S.  Fischer. 
Die  Bedeutung  dieses  Buchs  beruht 
auf  seinem  Ilaren  und  selbstständigcn  Ein» 
greifen  in  die  Fragen  der  gegenwärtigen 
und  nächsten  Gesellschaftsentwicklung.  Bei 
diesem  seinen  „praktischen"  Werth  bean- 
Ivrucht  es  einerseits  eine  geringere  fach» 
wissenschaftliche,  andererseits  aber  eine  um 
so  größere  allgemeine  Anfmerlsamleit  und 
zwar  wenigstens  von  Seiten  Derer,  die 
mit  feinen  Gegenständen  maßgebend  zu 
thun  haben.  Grundgedanke:  „Rein  ist  ein 
Mittel  nur  dann,  wenn  es  durch  seine 
Nebenwirkungen  seinen  Zweck  gar  nicht 
oder  verhältnißmäßig  wenig  beeinträchtigt. 
Da  nun  mein  Ziel,  mein  höchster  Endzweck 
,der  freie  Veinunftmensch  ist,  so  verstehe  ich 
unter  ..  .  ,dem  reinen  Mittel'  lediglich 
solche  Maßnahmen,  welche  .,  .  uns  den 
fielen  Vernunftmenschen  thatsächlich  näher 
bringen,  nicht  aber  gegen  Freiheit  und  Ver- 
nunft so  erheblich  verstoßen,  daß  sie  in 
dieser  wichtigsten  aller  Beziehungen  mehr 
schaden  als  nützen."  —  Statt  einer  ein- 
gehenden Kritik  seien  hier  als  Beispiele 
vermerkt:  die  willkürliche  Einengung  bei 
Weichbegriffs  auf  das  Angenehme  und  der 
Mißgriff,  daß  bei  den  „Individuellen 
Mittelwerthungen"  der  Gegensatz  „normal" 
und  abnorm"  oder  „anomal"  (wie  es  statt 
des  fehlerhaften  Wortes  „anormal"  heißen 
muh)  mit  dem  Gegensatz  des  Alten  und 
Neuen  sowie  mit  dem  des  Allgemeinen  und 
Individuellen  verwechselt  ist. 
N,  rirm, 

Heitschrift  für  Philosophie  und  philo« 
sophischc  «ritil.  .  .  104.  Bd.  1.  Heft. 
Leipzig,  Verlag  von  C.  E.  M.  Pfeffer. 
Ein  Stück  Fortsetzung  der  in  unserm 
Februlllheft  18!)4  genauer  besprochene» 
I  ubiläumsbände.  Hervorzuheben  wären 
diesmal  Uebersichtcn  über  Rußland,  Eng- 
land, Amerika  und  die  feinsinnige  Schätzung, 
die  Theobold  Ziegler  kleineren  Schriften 
von  Franz  Brentano  angedeihen  läßt.  — 
War'  es  nicht  dieser  Zeitschrift  würdig, 
wenn  sie  auch  die  äußeren,  insbesonders 
die  Lehrveihältnisse  der  Philosophie  in 
ihren  regelmäßigen  Beachtungslnis  ein- 
bezöge? II.  8odn,, 

Vntwickelungsgeschichte  der  Natu». 


Von  Wilhelm  Bölsche.  2  Bände  und 
gegen  1000  Abbildungen  im  Text  mit 
16  Tafeln  in  Schwarz-  und  Farbendruck, 
Geb.  Preis  15  Marl,  auch  in  40  Liefe- 
rungen i  30  Pf.  —  Neudamm,  Verlag 
von  I.  Neumann.  — 

Der  Stoff  zu  dem  vorliegenden  größeren 
Weile  hat  zwar  bereits  früher  berufene 
Bearbeiter  gefunden,  gegenwärtig  fehlte  es 
aber  an  einem  derartigen  Buch,  dos  dem 
Laien  das  reichhaltige  Material,  unter 
Zugrundelegung  gerade  auch  der  neuesten 
Errungenschaften  auf  naturwissensäafilichem 
Gebiet,  übersichtlich  und  in  durchaus  all- 
gemein verständlicher  Weise  darbietet. 
Diese  Aufgabe  zu  lösen  und  ein  derartige« 
Werl  zu  schaffen,  ist  dem  Verfasser  vor- 
trefflich gelungen.  Derselbe,  der  auch  durch 
seine  Bemühungen,  die  Aesthctik  auf  eine 
naturwissenschaftliche  Grundlage  zu  stellen, 
sich  bekannt  gemacht  hat,  erweist  sich  in 
dem  vorliegenden  Werte  als  ein  gründ- 
licher Kenner  der  verschiedenen  Zweige  der 
Naturwissenschaften  bis  in  ihre  jüngsten 
Eniwickclungen,  Bei  glänzender  Stilistik 
versteht  er  das  I  nteresse  des  Lesers  zu  ge- 
winnen und  dasselbe  von  Cavilel  zu  Eapitel 
zu  steigern.  Die  ganze  Behandlung  des 
mächtigen  Stoffes  geht  von  großen  Gesicht«» 
Punkten  aus,  nirgends  verletzend,  dabei  ist 
der  Verfasser  weit  entfernt,  etwaige  Lücken 
unserer  Ertcnntnih  zu  verdecken,  vielmehr 
vertritt  er,  wie  er  dies  in  der  Einleitung 
hervorhebt,  die  Ansicht  Alexander  von 
Humboldts,  „daß  jenes  einseitige  Sich- 
steifen auf  die  letzten  Rälhselfragcn,  von 
deren  zeitlicher  Unlosbarkeit  man  in  gewissen 
Kreisen  immer  wieder  nur  zu  gern  den 
Culturweith  der  Naturfoischung  abhängig 
machen  möchte,  wesentlich  in  solchen  köpfen 
entsteht,  die  gar  leine  Ahnung  besitzen  von 
der  wirklichen  Giütt,  dem  Rcichthum  und 
der  Schönheit  der  bereits  zu  voller  Klarheit 
erforschten  Gebiete  der  Naturwissenschaften, 
—  Wer  von  einer  rechten  Liebe  zum 
Nllturstudium  und  von  der  erhabenen 
Würde  desselben  bestell  ist,  kann  durch 
Nichts  entmuthigt  weiden,  was  an  eine 
liinitige  Vervollkommnung  des  menschlichen 
Wissens  erinnert."  Unter  dieser  Voraus- 
setzung, schreibt  der  Verfasser,  sei  unser 
Weg  begonnen.  — 
Da«  umfangreiche  Werk  besteht  aus 
2  Bänden,  jeder  Band  gegliedert  in  drei 
Unterabtheilungen  (Bücher).  Der  erste 


Vibliographische  Notizen. 
409 

Band  beschäftigt  sich  mit  der  Entwickelungs» 
geschichtc  der  menschlichen  Kenntnih  der 
Natur,  ferner  mit  der  Entwickelungs- 
cieschichte  der  außerirdischen  Welt,  vom 
Nebelfleck  bis  zum  Planeten,  und  schließlich 
mit  dem  Urzustand  der  Erde  und  den 
vulcanischcn  Erscheinungen  der  Gegenwart. 
Die  Entwickelungsgeschichte  der  außer- 
irdischen Welt  kann  als  ein  vollständiges 
populäres  „Compendium  der  Astronomie" 
bezeichnet  werden.  Der  zweite  Band  um- 
faßt in  seinen  einzelnen  Bücher»  die  Erbe 
in  der  ältesten  Epoche  ihrer  Entwickelung, 
alsdann  die  Trias-,  Iura»  und  Kreidezeit 
und  schließlich  den  Zeitraum  von  Beginn 
der  Tertiärzeit  bis  zur  Gegenwart.  In 
sehr  interessanter  Weise  behandelt  in  diesen! 
Band  der  Verfasser  die  Darwinsche  Lehre, 
die  er  aus  den  Thatsachen  heraus,  stufen- 
weise entwickelt  und  dem  Leser  vorführt. 
In  einer  Reihe  von  Abbildungen,  die  sich 
dem  Texte  genau  anschließen,  wird  das 
interessante  Gebiet  der  Anpassung,  Mimilry. 
dem  Leser  veranschaulicht.  Weilerhin  er- 
läutert der  Verfasser  in  sehr  ausführlicher 
Weise  die  geschichtliche  Nnlwickelung  bei 
Organismen  von  den  ältesten  Urformen  bis 
herauf  zum  Menschen.  Dem  Letzteren  ist 
das  Schlußcaftitcl  gewidmet,  in  welchen», 
bei  Vermeidung  extremer  Schlüsse,  den 
Resultaten  einer  vorurteilsfreien  Forschung 
Rechnung  getragen  ist.  Ein  ausführliches 
Register  ist  dem  zweiten  Band  am  Schluß 
beigeiügt.  — 

Zahlreiche  Illustrationen,  theils  nach 
Original-Photographien,  «Heils  nach  Zeich- 
nungen, erläutern  den  Text;  das  recht  gut 
ausgestattete  Werl  kann  wnrm  empfohlen 
weiden.  Ii, 

Vorspiele  auf  dem  Theater.  Drama- 
turgische Skizzen  von  Paul  Lindau. 
Dresden  und  Mcn,  Verlag  des  Uni- 
versum. (Alfred  Hauschild.) 
An  dramaturgischen  Werken,  die  sich 
mit  den  Gesetzen,  nach  denen  der  drama- 
tische Dichter  schaffen  soll,  resp.  nach  denen 
die  anerkannten  Meister  des  Dramas  ge- 
schaffen haben,  befassen,  fehlt  es  nicht;  da- 
gegen fehltes  an  eincrpialtischen  Drama- 
turgie, an  einem  Werke,  welches  uns  die 
Phasen  vom  fertig  vorliegenden  Werk  des 
dramatischen  Dichters  bis  zu  seiner  Ver- 
körperung auf  den  weltbedeutenben  Brettern 
beleuchtet,  das  die  Thätigkeit  des  Dichters 
nach  Vollendung  seines  Werkes,  sein 
Verhältniß  zum  Regisseur,  die  Thätigkeit 
des  Letzteren  sowie  des  Schauspielers  auf 
den  Proben  wie  bei  der  Aufführung  schildert. 


Diese  Hücke  füllt  das  vorliegende  Buch 
Paul  Lindau«  in  bantenswerther  Weise 
aus.  Die  reichen  Erfahrungen,  die  Paul 
Lindau  als  Bühnendichter,  Dramaturg 
und  Theaterkritik«  gesammelt,  und  die  er 
jetzt  in  einflußreicher  Stellung  nutzbar  zu 
machen  Gelegenheit  hat,  die  Einblicke,  die 
er  durch  seine  persönlichen  Beziehungen  zu 
bekannten  Bühnenleitern  und  berühmten 
Schauspielern  in  das  Lebe»  und  Treiben 
hinler  den  Coulissen  sowohl  an  deutschen 
wie  an  fremden,  vornehmlich  französischen 
Theatern  hat  thun  tonnen,  setzen  ihn  in 
die  Lage,  diesen  Gegenstand  mit  vollster 
Sachkenntnis;  zu  behandeln;  daß  dies  außer- 
dem in  gefälligster  Form,  in  fesselndster, 
durch  zahlreiche,  charakteristische  und  amü- 
sante Anekdoten  und  eigene  Erlebnisse 
Linbaus  gewürzter  Darstellung  geschieht, 
braucht  »icht  erst  versichert  zu  werden. 
Das  Buch  setzt  sich  aus  drei  Abhandlungen 
zusammen:  »Regie  unb  Inscentrung", 
»Dichter  und  Bühne  in  Teutschland  und 
Frankreich"  unb  „Ueber  die  Kunst  des 
Schauspielers".  In  dem  eisten  Aufsätze 
wird  die  wichtige  Thätigkeit  de«  Regisseurs, 
von  deren  Wesen  und  Bedeutung  das  große 
Publicum  leine  Vorstellung  hat,  sowohl 
in  Bezug  auf  die  „Inyallsregie",  wie  auf 
die  .Formregie"  (Inscenirung)  —  wie 
Lindau  es  bezeichnet  —  eingi  heno  gewürdigt 
und  ei»  anschauliches  Bild  von  dem  Ver- 
laufe der  Leseproben,  Bühnenproben  u.  s.  w. 
gegeben.  Altcingewurzelte  Mißstände  a» 
deutschen  Bühnen  werde»  in  lehrreicher 
Weise  bloßgelegt  unb  mancher  beherzigenö- 
werthe  Wink  gegeben,  dessen  Befolgung 
Regisseuren  und  Schauspieler»  von  Nutze» 
sein  dürfte.  Der  zweite  Aufsatz  zeigt 
die  verschiedene  Stellung,  welche  der 
deutsche  unb  der  sranzösische  Dramatiker 
ihren  Bühnen  gegenüber  einnehmen  — 
eine  Parallele,  welcle  nicht  zu  Gunsten  der 
deutschen  Theaterverhältnisse  auefällt.  Ter 
dritte  Essay  beschäftigt  sich,  anknüpfend 
an  Auslassungen  des  bekannten  französi- 
schen Schauspielers  Coquelins,  mit  der 
Kunst  des  Schauspielers  und  erörtert  be- 
sonders die  Frage,  ob  der  wahre  Schau» 
spielkünstler  mehr  im  Banne  der  Inspiration, 
oder  der  künstlerischen  llebcrlegnng  stehe, 
ob  er  in  der  Rolle  ober  über  ber  Rolle 
stehen  müsse,  um  die  größte  und  reinste 
Wirkung  zu  erzielen.  — 
Das  Buch  ist  zunächst  Allen,  die  mit 
der  Bühne  in  engerer  Beziehung  stehen, 
vornehmlich  also  Theaterleitern,  Regisseuren 
unb  Schauspielern,  femer  aber  auch  Allen, 


4!« 

Nord  und  2üo. 

die  für  das  Theater  und  die  dramatische 
Kunst  Interesse  haben  —  und  wer  zahlte 
nicht  zu  diesen,  —  angelegentlich  zu  em- 
pfehlen. 0,  N'. 

Katalog  der  Vereinigung  der  Kunft- 
frcnude  für  amtliche  Publikationen  der 
irönigl.  Nalional-Galcrie.  Berlin. 
Längst  überwunden  ist  jene  farbenfeind- 
liche Periode  einer  dem  wirtlichen  Leben 
allzu  sehr  entfremdet-n  Kunst:  der  Stand- 
punkt, de»  einst  Diderot  in  seinem  e«»ni 
3ur  I»  psint~  r«  einnahm,  in  dem  er  die 
Farbe  als  den  „göttlichen  Hauch,  der  Alles 
belebt,"  pries,  ist  wieder  zu  allgemeiner 
Geltung  gelangt:  nicht  nur  in  der  Kunst 
selbst  kommt  dieser  neu  belebte,  gesteigerte 
und  zugleich  verfeinerte  Farbensinn  zur 
Geltung,  auch  die  vervielfältigende  Kunst 
sucht  ihm  mehr  und  mehr  Rechnung  zu 
tragen.  Die  Schwierigkeiten,  mit  denen  sie 
hier  zu  kämpfen  hatte,  um  den  künstlerisch 
gebildeten  »«eschmael  zu  befriedigen,  sind  all- 
mählich überwunden  worden:  und  ncl-cn 
der  Photographie  und  der  Radiruna,  deren 
Bevorzugung  in  neuerer  Zeit  schon  den 
neubclebte,!  Zinn  für  malerische  Wirkung 
docunie!,tirt,  kommt  mehr  und  mehr  die 
sarblgc  Wedergabe  hervorrage,  der  Gemalte 
in  Aufnahme.  Ein  neues  Verfahren:  der 
Farbenlichtdruck  von  Ad.  0,  Troitzsch  er- 
möglicht es,  die  Kunst. rrrke  mit  der  vollsten 
Treue  des  photographischen  Nachbildes  und 
mit  der  —  nur  gemäß  der  veränderten 
Gros«  rcdilcittcn  —  Farbcnwirtnng  des 
Originals  wiederzugeben.  Ter  Eindruck, 
den  die  nach  diesem  Verfahren  erzeugten 
xunstblättei  mache»,  kommt  dem  der  Ur- 
bilder so  nahe,  das;  sie  einen  wirklich  an- 
nehmbaren und  willkommenen  Ersatz  für 
dieselben  bilden  und  man  fast  vergißt,  daß 
ihnen  ein  mechanisches  Verfahren  zu  Grunde 
liegt.  Eine  solche  Treu?,  vereint  mit  künstleri- 
scher Feinheit  der  colorisiischen  Nachbildung 
ist  bisher  noch  dnreh  lein  Veroielfältigungs- 
verfahren  erreicht  worden.  Tic  Direktion 
der  tgl.  Nationil  Galerie  verdient  daher 
lebhafte  Anerkennung,  daß  sie  einen  Theil 
ihrer  >!»nsts>l  äye  mit  Hilfe  dieses  Verfahrens 
dem  kuüstsinnigcn  Publicum  zugänglich 
machen  will  und  dielen  Zireck  durch  die  von 
ihr  begnindetc  Veremiaung  dcrKunstfrcunie 
zu  erreichen  sucht,  deren  »«cschä'tsleitung 
in  die  Hände  von  Ad,  0.  Troitzsch  gelegt 
ist  Tic  Verciniaung  liefert  ihren  Mit- 
gliedern für  einen  Jahresbeitrag  von  20  Mk. 
Vereii>sbilr>er  nach  freier  Wahl  in  gleichem 
Werthe  (ein  Normalbild,  bezw.  zivei  Halb- 
blättcr  oder  4  Wappenbildcr),  Ter  Katalog 


für  1895—1896  weist  Gemälde  auf  von 
v.  Canal,  Ed.  Fischer.  Carl  Graeb,  Ed. 
Hildebrandt,  v.  Schennis  (Landschaftliches 
und  Architektonisches),  Ernst  Hildebrand 
(Königin  Luise  auf  der  Flucht  nach  Memel), 
Ferdinand  Keller  (Apotheose  Kaiser 
Wilhelm'«  des  Siegreichen,;  Adolf  Menzel 
(Trockenplatz),  Karl  Müller  (Madonna), 
Karl  Soltzmann  (Kaiser  Wilhelm  II.  an 
Bord  de«  .Tuvcan  Gren"  auf  der  Wal- 
Jagd),  Anton  v.  Werner  (Im  Mappen» 
quartier  bor  Paris),  die  sämmtlich  durch 
kleine,  aber  gute,  klare  Phototypien  wieder- 
geaeben  sind,  so  daß  mau  auch  ohne  die  bei- 
gefügte genaue  Beschreibung  eines  ieoen 
Bildes  eine  genügende  Vorstellung  von  jedem 
Kunstblatt«  bekommt,  um  nach  den  Kata- 
logen eine  Wahl  treffen  zu  können.  Wir 
wünschen  den,  Unternehmen  gedeihlichen 
Fortgang  unter  der  Theilnahme  des  kunst- 
sinnigen Publikums.  —  I  — 
Tas  Werl  Adolph  VlcnlrlS.  Eine 
Festgabe  zum  80.  Geburtstage  des 
Künstlers.  Ein  Band  Großquart  mit 
Ul  Vollbildern  und  108  Tezt- Illustra- 
tionen. 

Franz  von  VenbachS  Zeitgeuössifchc 
Plldulffe  40  Portratts  in  Photo» 
grewüre.  Großfolioformal.  Neue  Folge. 
Richard  Wagner.  Von  Houston 
Stewart  Ehnmberlain.  Mit  vielen, 
meist  unveröffentlichten  Portraits,  Vig- 
netten und  zahlreichen  anderen  Illustra- 
tionen, Facsimilcs  u.  s.  w.  Vcrlags- 
anstall  für  Kunst  und  Wissenschaft 
in  München,  vormals  Friedrich 
Bruckmanu. 

Tie  durch  ihre  heroorragenden  Leistungen 
auf  dem  Gebiete  der  künstlerische:!  Rcvro- 
duetion  bekannte  und  dadurch  um  die  Kunst 
selbst  verdiente  Münchener  Firma  bringt 
zu  gleicher  Zeit  drei  Werke  von  hervor- 
ragendem Kunstlverlhe  auf  den  Markt,  mit 
denen  drei  der  bedeutendsten  Namen  unserer 
Zeit  verknüpft  sind. 
Von  aciucllem  Interesse  ist  besonders 
das  erste  der  drei  Weil?,  welches  unserm 
genialen  Menzel,  dem  Bahnbrecher  einer 
neuen  «mist  gewidmet  ist,  der  demnächst, 
am  8,  Tcccmbcr,  seinen  80.  Geburtstag 
feiern  wird.  Das  ist  ein  Zeitpunkt,  der  es 
zur  Pflicht  macht,  die  gewaltige  Lebens- 
arbeit dieses  Meisters,  der  noch  als  Greis 
die  Frische  und  Schaffenskraft  eines  J  üng- 
lings  offenbart,  auch  weiteren  Kreisen  ein- 
gehend vertraut  zu  machen.  Tas  Don  der 


I  llustrirte  Nibliographie. 
~U 

Verlagsanstalt  im  Jahre  1885  herausge- 
geben« große  Menzelweil  ist,  da  es  nur  in 
einer  Auflage  von  350  Exemplaren  herge- 
stellt war,  natürlich  auf  einen  sehr  engen 
Kreis  beschränkt  geblieben.  Die  vorliegende 
Ausgabe,  die  in  eleaantem  Bande  40  Mt. 
kostet,  wird  dem  Mangel  abhelfen.  Sie 
schildert  die  ganze  künstlerische  Thätigleit 
Menzel«  in  Wort  >,nd  Bild,  Der  Text 
rührt  von  MI, z  Jordan  her,  der,  nachdem 
er  Inn  die  eilten  künstlerischen  Aeußerungen 
des  frühreifen  Knaben  besprochen,  ausfuhr» 
lieh  jene  epochemachenden  Leistungen  Menzels 
würdigt,  durch  die  er  das  Zeitalter  Fried» 
richs  de«  Großen  zu  neuem  Leben  erweckte, 
durch  die  er  dos  Vcrständniß  für  den  großen 
König  und  seine  Zeit  so  ungemein  gefordert 
hat,  so  daß  jene  Werke  nicht  nur  im  rein 
künstlerischen  Sinne  reformirend  gewirkt 
haben. 

In  ebenso  klarer,  einfacher,  anziehender 
Darstellung,  wie  Jordan  diese  Periode 
schildert,  in  der  der  Genius  des  Künstlers, 
anfangs  von  einer  unentwickelten  lllustra- 
tionstcchnil  beengt,  dann  auch  deren  Ver- 
vollkommnung mit  fördernd,  wacdtvoll  zum 
Duichbruch  kam,  führt  er  uns  auch  die 
weitere  Entwicklung  vor,  in  der  sich  der 
Meister  der  lünsllerische»  Wiedergabe  der 
gegenwärtigen  Wirklichkeit  zuwandte  — 
Das  Werl  ist  reich  und  glänzend  aus» 
gestattet,  mit  31  ausgezeichneten  ganzseitigen 
Lichidruckdilderu  »nd  106  Tcxtillustratiouen 
geschmückt.  — 

Die  Neue  Folge  der  „Zeitgenössi- 
schen Bildnisse"  von  Franz  von 
Leubach  —  deren  erster  Band  vor  nahe 
10  Jahren  erschienen  —  bietet  nach  einer, 
uom  Künstler  selnst  getroffenen  Äusvahl 
eine  Auslese  des  Bidcutendstcn,  was  Leu» 
buch  im  letzten  Jahrzehnt  gclchiffcn:  40 
Portraits  zumeist  von  berühmte»  Persön- 
lichkeiten; darunter:  König  Albert  von 
Sachsen,  der  Prinzregeiit  von  Bayern, 
Papst  Leo  XIII.,  Finst  Ferdinand  von 
Bulgarien,  Fürst  Bismarck  (2  Mal),  Fürst 
Hohenlohe,  «ras  Moltle,  H.  v.  Bülow, 
Richard  Wagner,  loh,  Strauß,  «eorg 
(Ibeis.  Richard  Von,  Heim,  Lingg,  Schwe- 
üinger,  H.  v.  Hlmholtz,  Rcinh.  Begas, 
^ienbach  mit  Kind;  Mnrcella  Sembrich, 
Lillian  Sanbcrson.  Das  Bildniß  der 
Letzteren  beweist,  wie  das  der  Gräfin  Goltz 
und  der  Madame  C.,  daß  der  >ti'»mler, 
obwohl  er  sich  nicht  des  Rufe«  eine« 
speciellen  Damcnmalers  eifrent,  dem  weichen 
weiblichen  Schönheilsreiz  ebenso  gerecht  zu 
werden  vermag,  wie  männlicher  Willei-s- 


starke  und  Intelligenz.  Den  Beschluß 
macht  ein  reizendes  Bildniß  des  Töchterchens 
des  Künstlers:  Marion  Lentmch.  Ucber 
Lenbachs  Charatieiislrunllskunst,  die  uns 
mit  so  überzeugender  Kraft  den  Wesensge- 
halt jeder  Persönlichkeit  in  ihrem  Antlitz  zum 
Ausdruck  zu  bringen  vermag,  brauchen  wir 
uns  hier  des  Weiteren  nicht  auszulassen. 
Diese  zeitgenössischen  Bildnisse,  welche  uns 
hier  in  prächtige»  Photogicwürcn  in  Groß- 
foliosormat  angeboten  werde»,  haben  in  der 
Tbat  neben  ihrer  hohen  künstlerischen  Be- 
deutung den  Werth  von  Documenten  zur 
Zeitgeschichte. 

Nur  einen  kurzen  Hinweis  könne»  wir 
hier  dem  Werke  über  Richard  Wagner 
vo-i  Chambeilllin,  widmen,  von  dem 
uns  znr  Zeit  nur  die  erste  Hälfte  vorliegt, 
und  auf  das  wir  noch  eingehender  zurück- 
kommen werden.  Das  von  einem  gründliche» 
Wagnerkcnnci  und  begeisterten  Wagneiuer- 
ehrer  herrührende  vornehm  ausgestattete  und 
mit  zahlreichen  Illustrationen  geschmückte 
Werk  bringt  viel  bisher  Unbekanntes,  das  der 
Herausgeber  zum  großen  Theil  den  von 
Frau  Cosima  zur  Verfügung  gestellten 
Schätzen  ans  Villa  Wahnfried  verdankt. 
Hier  soll  auch  zum  ersten  Male  ei»  voll- 
ständiges Verzeichnis!  der  Werke  Wagners 
geboten  werden.  Das  Werk  wild  24  MI,, 
gebunden  30  MI.  kosten.  — I  — 
Vavonesl.  Nr.  Roman  von  F.  Freiherr 
von  Dintlage  (Hans  Nagel  von 
Brawc),  Trcsoeu  und  Leipzig,  Carl 
Reißner. 

Wie  schon  der  Titel  errathen  läßt,  ist 
die  Heldin  des  Romans  eine  junge,  schöne 
Baroneß,  lloctar  modieina«  und  erfüllt 
diesen  Beruf,  zu  dem  sie  sich  durchgerungen, 
nachdem  ihre  Herze>isllnc,clegcn!ieiten  durch 
eine  Veikettung  mißlicher  umstände  Schiff- 
bruch gelitten,  im  segensreichsten  und 
edelsten  Sinne.  DcrVcifasser  doeumentirt 
sich  in  seinem  Werke  als  ei»  Vorkämpfer 
der  Franenuewrgung  und  Anwalt  derjenigen, 
die  für  die  Zulassung  der  Frauen  zu  den 
gelehrte»  Berufe»  ftlnidiren;  es  geschieht 
tics  in  duichans  nicht  lehrhafter  Weise, 
er  versucht  nur  nm  Beispiel  zu  überzeugen, 
und  wenn  er  seiner  Hcloin  Worte  in  den 
Mund  legt,  welche  seine  Parteinahme  für 
diese  viel  umstntteiie  Frage  dethätigen,  so 
fügt  sich  Rede  und  Gegenrede  ohne  Auf- 
dringlichkeit in  den  Rahmen  der  Erzählung. 
Nur  die  Basij,  auf  welcher  die  Ver- 
wicklung sich  ausbaut,  die  das  Herzens- 
bündnii!  der  Baroneß  in  einer  Katastrophe 
enden  laßt,  erscheint  uns  ziemlich  künstlich 

target"  type="radio"  id="option-full-text-search"  value="ls"  checked="checked"  />  Full-text  ©  Catalog 


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Title  Paae 

■  vi 

Table  of  Contents 

Section  1  - 

1 

Section  2  - 

14 

Section  3  - 

32 

Section  4  - 

46 

Section  5  - 

62 

Section  6  - 

87 

Section  7  - 

125 

Section  8  - 

134 

Section  9  - 

275 

Section  10 

-  424 

Section  11 

-  280 

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lllustrirte  Nibliographie. 

Verlagsanstalt  im  Jahre  1885  herausge- 
geben« große  Menzelweil  ist,  da  es  nur  in 
einer  Auflage  von  350  Exemplaren  herge- 
stellt war,  natürlich  auf  einen  sehr  engen 
Kreis  beschränkt  geblieben.  Die  vorliegende 
Ausgabe,  die  in  eleaantem  Bande  40  Mt. 
kostet,  wird  dem  Mangel  abhelfen.  Sie 
schildert  die  ganze  künstlerische  Thätigleit 
Menzel«  in  Wort  >,nd  Bild,  Der  Text 
rührt  von  MI, z  Jordan  her,  der,  nachdem 
er  Inn  die  eilten  künstlerischen  Aeußerungen 
des  frühreifen  Knaben  besprochen,  ausfuhr» 
lieh  jene  epochemachenden  Leistungen  Menzels 
würdigt,  durch  die  er  das  Zeitalter  Fried» 
richs  de«  Großen  zu  neuem  Leben  erweckte, 
durch  die  er  dos  Vcrständniß  für  den  großen 
König  und  seine  Zeit  so  ungemein  gefordert 
hat,  so  daß  jene  Werke  nicht  nur  im  rein 
künstlerischen  Sinne  reformirend  gewirkt 
haben. 

In  ebenso  klarer,  einfacher,  anziehender 
Darstellung,  wie  Jordan  diese  Periode 
schildert,  in  der  der  Genius  des  Künstlers, 


anfangs  von  einer  unentwickelten  lllustra- 
tionstcchnil  beengt,  dann  auch  deren  Ver- 
vollkommnung mit  fördernd,  wacdtvoll  zum 
Duichbruch  kam,  führt  er  uns  auch  die 
weitere  Entwicklung  vor,  in  der  sich  der 
Meister  der  lünsllerische»  Wiedergabe  der 
gegenwärtigen  Wirklichkeit  zuwandte  — 
Das  Werl  ist  reich  und  glänzend  aus» 
gestattet,  mit  31  ausgezeichneten  ganzseitigen 
Lichidruckdilderu  »nd  106  Tcxtillustratiouen 
geschmückt.  — 

Die  Neue  Folge  der  „Zeitgenössi- 
schen Bildnisse"  von  Franz  von 
Leubach  —  deren  erster  Band  vor  nahe 
10  Jahren  erschienen  —  bietet  nach  einer, 
uom  Künstler  selnst  getroffenen  Äusvahl 
eine  Auslese  des  Bidcutendstcn,  was  Leu» 
buch  im  letzten  Jahrzehnt  gclchiffcn:  40 
Portraits  zumeist  von  berühmte»  Persön- 
lichkeiten; darunter:  König  Albert  von 
Sachsen,  der  Prinzregeiit  von  Bayern, 
Papst  Leo  XIII.,  Finst  Ferdinand  von 
Bulgarien,  Fürst  Bismarck  (2  Mal),  Fürst 
Hohenlohe,  «ras  Moltle,  H.  v.  Bülow, 
Richard  Wagner,  loh,  Strauß,  «eorg 
(Ibeis.  Richard  Von,  Heim,  Lingg,  Schwe- 
üinger,  H.  v.  Hlmholtz,  Rcinh.  Begas, 
^ienbach  mit  Kind;  Mnrcella  Sembrich, 
Lillian  Sanbcrson.  Das  Bildniß  der 
Letzteren  beweist,  wie  das  der  Gräfin  Goltz 
und  der  Madame  C.,  daß  der  >ti'»mler, 
obwohl  er  sich  nicht  des  Rufe«  eine« 
speciellen  Damcnmalers  eifrent,  dem  weichen 
weiblichen  Schönheilsreiz  ebenso  gerecht  zu 
werden  vermag,  wie  männlicher  Willens- 
stärke und  Intelligenz.  Den  Beschluß 
macht  ein  reizendes  Bildniß  des  Töchterchens 
des  Künstlers:  Marion  Lentmch.  Ucber 
Lenbachs  Charatieiislrunllskunst,  die  uns 
mit  so  überzeugender  Kraft  den  Wesensge- 
halt jeder  Persönlichkeit  in  ihrem  Antlitz  zum 
Ausdruck  zu  bringen  vermag,  brauchen  wir 
uns  hier  des  Weiteren  nicht  auszulassen. 
Diese  zeitgenössischen  Bildnisse,  welche  uns 
hier  in  prächtige»  Photogicwürcn  in  Groß- 
foliosormat  angeboten  werde»,  haben  in  der 
Tbat  neben  ihrer  hohen  künstlerischen  Be- 
deutung den  Werth  von  Documenten  zur 
Zeitgeschichte. 

Nur  einen  kurzen  Hinweis  könne»  wir 
hier  dem  Werke  über  Richard  Wagner 
vo-i  Chambeilllin,  widmen,  von  dem 
uns  znr  Zeit  nur  die  erste  Hälfte  vorliegt, 
und  auf  das  wir  noch  eingehender  zurück- 
kommen werden.  Das  von  einem  gründliche» 
Wagnerkcnnci  und  begeisterten  Wagneiuer- 
ehrer  herrührende  vornehm  ausgestattete  und 
mit  zahlreichen  Illustrationen  geschmückte 
Werk  bringt  viel  bisher  Unbekanntes,  das  der 
Herausgeber  zum  großen  Theil  den  von 
Frau  Cosima  zur  Verfügung  gestellten 


Schätzen  ans  Villa  Wahnfried  verdankt. 
Hier  soll  auch  zum  ersten  Male  ei»  voll- 
ständiges Verzeichnis!  der  Werke  Wagners 
geboten  werden.  Das  Werk  wild  24  MI,, 
gebunden  30  MI.  kosten.  — I  — 
Vavonesl.  Nr.  Roman  von  F.  Freiherr 
von  Dintlage  (Hans  Nagel  von 
Brawc),  Trcsoeu  und  Leipzig,  Carl 
Reißner. 

Wie  schon  der  Titel  crrathen  läßt,  ist 
die  Heldin  des  Romans  eine  junge,  schöne 
Baroneß,  lloctar  modieina«  und  erfüllt 
diesen  Beruf,  zu  dem  sie  sich  durchgerungen, 
nachdem  ihre  Herze>isllnc,clegcn!ieiten  durch 
eine  Veikettung  mißlicher  umstände  Schiff- 
bruch gelitten,  im  segensreichsten  und 
edelsten  Sinne.  DcrVcifasser  doeumentirt 
sich  in  seinem  Werke  als  ei»  Vorkämpfer 
der  Franenuewrgung  und  Anwalt  derjenigen, 
die  für  die  Zulassung  der  Frauen  zu  den 
gelehrte»  Berufe»  ftlnidiren;  es  geschieht 
tics  in  duichans  nicht  lehrhafter  Weise, 
er  versucht  nur  nm  Beispiel  zu  überzeugen, 
und  wenn  er  seiner  Hcloin  Worte  in  den 
Mund  legt,  welche  seine  Parteinahme  für 
diese  viel  umstntteiie  Frage  dcthätigen,  so 
fügt  sich  Rede  und  Gegenrede  ohne  Auf- 
dringlichkeit in  den  Rahmen  der  Erzählung. 
Nur  die  Basij,  auf  welcher  die  Ver- 
wicklung sich  ausbaut,  die  das  Herzens- 
bündnii!  der  Baroneß  in  einer  Katastrophe 
enden  laßt,  erscheint  uns  ziemlich  künstlich 

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<tt2 

Nord  und  5üd. 

construirt,  hier  Wirten  Zufälligkeiten  mit, 
die  aufgeklart  weiden  müßten,  und  bah  st« 
nicht  aufgellärt  weiden,  ist  unglaubhaft 
und  unnatürlich,  — 
Die  Begeisterung  des  Verfasseis  für 
den  Prinzen  Friedrich  Karl,  welcher  er  in 
seinem  Roman  den  lebhaften  Ausdruck  ver- 
leiht, lann  der  Leser  willig  in  den  Kauf 
nehmen,  wenn  auch  die  Gestalt  des  Prinzen 
in  recht  losem  Zusammenhang  mit  dem 
Gang  der  Handlung  steht  und  wohl  nur 
aus  besonderer  Sympathie  des  Autors  mit 
hinein  verflochten  worden  ist.  m«. 
VI»  P»8»l«ml».  Lebenslieder  von  Hermine 
von  Preuschen.  Verlag  von  Carl 
Neisncr,  Dresden  und  Leipzig. 
„Vi»  pu^innis"  zeigt,  wie  die  unter 
dem  Titel  „Ne^in»  viws"  früher  erschienenen 
Gedichte  dieser  hochbegabten  Schriftstellerin, 
das  gleichsam  impulsive  Forttlinge»  des- 
selben webmüthigen  Gm>u>gedantcns,  der 
Sehnsucht  nach  Glück,  des  schmerzlichen  Ge» 
sühls  seelischer  Vereinsamung  als  Leitmotiv. 
Nicht  die  Blume  beglückender  Liebe  —  die 
Rose  —  sondern  die  wildwuchernde  Vlüthe 
der  Leidenschaft,  der  rothe  Mohn  ist  das 
Sinnbild  dieses  schnell  schlagendem,  glühen- 
den Frauenherzen«:  „Und  wieder  flammt 
vor  meinem  trüben  Blick  —  Der  rothe 
Mohn!  —  Der  rothe  Mohn  —  Und  spottet 
meines  Leids  —  Und  mahnt  an  jeden  un- 
geluhten  Kuh  —  Und  mahnt  an  all  die 
ungelöschte  Gluth  —  Und  mahnt  an  meine: 
Seele  tiefste  Qual  —  Ter  rothe  Mohn!' 
Bei  der  Betrachtung  einer  vom  Trödle: 
getauften  schadhaften,  alterthümlichen  Uhr, 
welche  nach  ihrer  Nestaurirung  täglich  eine 
Stunde  vorgeht,  ruft  sie  aus:  „Ich  aber 
lann  ihr  tolles  Thun  begreifen,  —  Ist  sie 
doch  wie  ein  Iranles,  müdes  herz  —  Dem 
noch  ein  Glück  genaht  in  zwölfter  Stunde 

—  Und  da»  darum  nun  Alles,  was  c«  j« 

—  Versäumt  in  jahrelanger  Oede,  möchte 

—  Mit  wllbei  Pulfc  ungestümen  Söläger: 

—  Einbringen  n." 

Es  ist  daher  begreiflich,  daß  in  den 
vorliegenden  Gedichten  nicht  die  Windstille 
der  Zufriedenheit,  sondern  der  Sturm  des 
Verlangens  und  tes  Widerspruchs  vor- 
herrscht, Ruhm  und  Liebe  sind  zuweilm 
der  Dichterin  nur  Wahn  und  Traum, 
Wellenschaum  und  Meeresleuchten.  Sie 
hält  alles  Glück  für  ein  Phantom,  und  in 
ihrer  Seele  ist  ob  der  armen,  mensetlicheu 
Gefühle,  ob  des  zaghaften,  Neinen  Ringens 
ein  Lachen  wie  jenes  Lachen  der  gestürzten 
Ongel,  die  all  der  weiten  Schöpfung  Gein 
begreifen  und  doch  sich  bäumen  wider  ihren 


Herrn;  ab«  sie  lommt  auch  wieder  zu  einer 
versöhnlichen  Lebensauffassung  uno  schlicht 
da«  Gedicht  „Aufruhr"  mit  den  Worten: 
„Dein  ist  die  Liebe  und  ihr  Wunderglauben. 

—  Wer  viel  geliebt,  dem  wirb  auch  viel 
vergeben  —  Lach  Deines  Schwurs,  des 
thöricht-sehnsuchtstauben,  —  Latz  leinen 
Tag  des  Glücks  Dir  ferner  rauben  —  Aus 
diesem  armen,  kurzen  Menschenleben."  — 
Sie  erinnert  sich  daran,  daß  sie  noch 
Flügel  hat,  die  sie  emportragen  ob  allen 
Wust  und  alle  Qualen  des  Alltags  in  die 
reinen  Lüfte,  darin  allein  ihr  Genius  wirtl 
und  lebt.  Tafz  aber  der  Dichterin  auch 
fanstere,  harmonische  Töne  zu  Gebote 
stehen,  beweisen  die  tiefempfundenen  Lieder, 
in  denen  sie  ihre  Liebe  und  ihre  Mutterliebe 
ausllingen  läht.  ml. 

Iü,«el»»eene  Lllclier.  LeHpi-ecliuiU  n»c!i  H»««»lü  <!er  NüäzcUou  vuideblllle,,. 
",11»»,  0.  VA  "Nü«l  L!»„l!>,<:>l,  rOrm,,:  12,1," 
<8cb!u»8.>  Mutiert,  l/moi,  Deut«<:!!l,V,">l>z!>' 
irv»i!<:!!l>lt, 

»l'>,s«t!l>„t>,l>l.  in?.«!mt«  »>!!ly;e.  Ait  ?„i- 
t,A>t  Uüä  ,"!,!, !Kwi>6  >>ü«  "Vlllmlmuüeü  Äei- 
l>K'!>t«>'w,  «üu!«»deiv  !,  ?>',,  ?elll.  (Jever. 
8>!»!<!„».>t.  1.>/V,?,lss.  ?,  Uilt  "  8nd„. 
2«UI».      II,,  vi«  ">«>,!e!,t!!c!»'  l3nt»lcK>U!!l;  <>e« 
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l'i'iücli,K!>  V>„loi,. 

»«,1«,  0,  vr„  0-„-,  ssl,l„",>  «>„!>,  "„„  r!„  t!,'- 
»«d!e!>t,<!>!IH.  2v,ite  .V>,!l»ge,  K»>z>!,  U»x 
Xi,,!r«t>«!-ss,  !!<,,'!,»>!;,<elw  Vorl »L»6ruc!lelel , 
Ü!!>!er  unä  «Kl?,,!?»  »UÄ  >!e»>  Luldüteulebrü 
«<l,«reiß,  "Vlw'it  l.!n>b!,s!i, 
2l»u>»ieli'»  II » I u Ivn It«  »n  cl»»  Äeut«tl^ 
Volk.  2u«ll!,>mei>ee«t<:!tt  uns  erliinten 
III.  «»>>»  Llum,  üiwuzen,  X  «I!»"  von  ?»!m 
2l»nob,  s,>l>.  UeäloKle,  XU7!c>!  und  r«lp?,i<,'. 
V«r!»ß  von  „8ten>,<  litte>«n"cd«U!  IjxüeNn 
der  ßeb«,:"", 

Nlunl,  II,  N,„  >U,ül  li^umiek  ui,H  x,'w«  X«!,, 
1",,»'  l«„ß,»pl>il!  IUI  >!«,-<  <!eut«el!0  VoUt.  8,m<l 
V-Vl.  zm„cl!e„.       N.  Lee!i!<e!!e  VelUiss«- 
!mc>,>,»n<l  !lmL, 

2«!il<lu,  I!.,  Der  I !«„"rb»w>!>»s.  »nm«!A 
f.  ?n»tlu>«  <i:  l">. 

»u»«,  c.  »Nr  <!,  I!c!i<»>.  "tuttMi-t.  U.cnN,'« 
XlledlulMi-, 

-  r,l„m«,  I. «!>>?, iz,  H,  <!.  l>!>!>««Ui!s. 


Vibliogiaphie. 
3~3 

Ol« « Iv,  L,  Xonlgzieid.  vr»m»  !l>  lllnl  Hüten, 
Dresden  und  N«inx>L,  Neinrlrn  Minden. 
Il^on,  ü.  d«,  Na  ssuerre  nuia  Mix?  N»»«»nne, 
N.  Nend». 

—  Illztuire  d«  Nüntente  rr»»c»-lln»le  1 88U-1 894. 
Nueument»  et  .«ouveul!?,  Hvee  un  nortrait 

d«  Ilatlln5.  Deuxlome  edltinu.  Lausanne,  N. 
Lenda. 

~»lu»,  I?.,  Onlndoveeli.  NI5tor!«<:b«r  Human  »u» 
der  V i I » I e r » » n d « r u » ss .  Vierte  HnHI^e.  Nein- 
«i«,  LreltKops  uns  Ulutei, 
IH»ut»  Hiizdieri,  N,l  llivin»  Commedi».  Nive«!nta 
»ei  teztn  eom»,eut»t»  da  (!,  H.  Keaitlünini. 
ziilann,  Villen  Noepil. 

v«ut»elll»ü<!»  Aulili!«»t»~«  1870—71.  In 
8on!lderm>p!en  von  Mit« tleltern .  N!el«iiu,L 
L— 5.  r?» II !« ! iu vv,  !l»x  Nabenxien. 
Dtll>ti«i,  Ueinrled,  (inetde.  Karl  HußtUit  »nd 
Nttoliar  Norenx,  Li»  Nenlimal.  Nresdeu, 
Nre«deuer  Ver!a3,«un»t»!t  !V.  W.  ü«ede>. 
2«lii>cliell.  ?!>,,  Hu«  »Item  Hau««,  Roman, 
Nein«ij?,  lindert  l^rie««  !Hr!l>.  Lavaeü. 
Hill,  L.,  Ypler  der  2«!t.  Lvvel  Novellen  au»  dem 
Wiener  Neden,  ~e,u>,  Hermann  Oostenodie. 
^«oliiiolit,  L,,  Unter  dunklen  lllen»e!,en,  Itoman. 
Neriin,  !?.  ?ont»u«  ö!i  <?«. 
üve«.  ?,,  Ileut«elw  Nieder,  Neriin.  N,  Nrut», 
?»llle,  N.,  Nnnden  uns  stranden,  2«ui  Nünde, 
Nerlu,  V,,  Vorhin  lilr  l'reie»  sclirilltiium. 
?«H»liu?,  Otto.  8treli«»8«  dureddie  Ideaterveit. 
Dresden.  vre»deuer  Ver!»z;«»u«talt  <V. 
V.  ü«cue). 

?lc>«l»ttu,  Nured  Nadum«.  l!rn»lo  nnd  deit« r« 
lür!«dnl»»e,  ll«l«e-  und  /v»/v» beulener.  ~!>l 
««ob»  londlideri,  von  ~odunue»  Leiirt«,  Nein- 
Li«,  ?,  Nlrt  H  8nlm, 

?<>l!t«li«,  ?!>,,  LM  Niie't.  NnniiM,  Lerl!,,,  r. 
Montane  6c  l,o. 

I'i»»>lieyv8<!>>l«v«lbeln,  tlerlrud,  Xnnüt  und 
Uun«t.  Ilnm»n,  Neriin,      Fontane  H  Co. 
?il>l>»li,  I,.  kN>MI  aul!  Koveileu,  Neriin,  !le> 
drUder  Nael«!. 

—  I„  liueriiöiis«.  M»mi,urLer  Novellen, 
Neriin.  (!ebidd,>r  Naetei. 

I°ii«b«i/V«i,  U„  Nur  ietl!«  I^iittertuss,  N!e«<!eu. 
Neinüiss  und  Wien,  ü,  ?!l~nn, 

<3l«»«bi«elit,  >V.  von.  Ne«e!,!ont<>  der  d^ntzenen 

X»!««r?.elt,  VI,  <8rdK,»«->  Lund,  Nie  ietlie» 

leiten  HxiLer?riedl!c!>»  de«  ttotlir,?,,!«.  Her- 

»n^ßegelie»  u„d  Inrtzeüetlt  von  lj,vo„  8im.«u,,, 

l>elpl!!!;,  Nummer  >~  Xumblnt, 

<3iltr!t>«i/v,  V„  Ni-e!  ünveüen,  Nrl!,m,  Ll>rl<!i„t 

"  8nnn. 

NM«ln,  >V.  v,,l'nd  »ie  Kommt  doci,!  l!ri!Ä!!»n« 
»uz  einem  H>nenKW«wr  d>,«  l~!,  Ä/Vl,ii,undrr!8, 
4.  Hüllte,  Lerilu,  Uebruder  ?üe!e>, 
Nil»«l>teäcl,  Nenrz,  Ner  Lerss,«ee,  vre^den. 
Verlaß  von  Neur?  Londi. 


M<loll«l,  v«K»r.  In>  "elclien  de»  Nur«,,,  Ouitnr- 
sse«cu!Ollt»en<!  l?r>Hn!un!:en  »u«  Neriin»  Ver- 
«»nzenneit.  v<mt«c!iw,!d»  Tugend  ß<x,idmet, 
Alt  vielen  äiddidunßeu  von  H,  von  lii!««ler, 
Neipüiss,  ?',  Hirt  ~  8o!n>, 
Hl>lii>«>llil,  Nile,  zIMI  !erN!eke>,  lÄne  "rxnbinnß 
lür  er>v»cn8e,»e  Aüdelien,  ilit  einer  llelloßru' 
vUre,  Nelpül«,  r,  Hirt  "  Lob«. 
No»lt»»,  W,,  ciedlolite,  ve««lu,  (?.  Nu„n!,»upt, 
l'notu»,  Ni,>  xrn?.x,dlu,~~NoNldi  nnd  die  H>rn 
Numm^rzlein  Ltüclier.  Llrlin.  üo««!l»um  <<: 
Uurt. 

Il>«->»ll>,  ~.  K„  <!e«>, !<?!,!«  der  Slllaver^i  und  dl'r 
lliiri«X<dt,  lieo!>lmilx,<ILyv  deut'ldieNellrlndtnnz 
von  Leopold  MaKolier.  vrezden  und  »!>,üiss. 
<~»r!  I?ei»«ner. 

~»«>>«>v»lil,  N„  Hu»  D,n  und  lr»um.  Keue 

Nedleute,  Nerü»,  8.  Q>lv»r,v  ~  0«. 

l5llt»ob»i'.  (%  Von  VI'eiKeü  llerlen,  Xwei  Xuvelleu, 

Lerli,i,vent»cl>yv8el!ristyvtel!e>'s!eno»ten»el>l>lt, 

Dis  XilUb.  Voebenaclulll  d«»«llent»elien  l~!>«iu,. 

Uer«u«g.  von  X»r!  »onneldt.  II.  ~lllileanli 

lAn.  53-57.  Leriln,  V.  UuM  8t«rm. 

Xiu»«,  U.,  Hero.  ?r»uer»i>l«!  in  II  Ins  Hul?.!!«u. 

I.«ll»!3,  8.  Ulrüel. 

l>«Uv«»,  Ur»i,  Nn«»!»c!!'i>u!!N»cl,e  LenlebunMu, 
l?!n  Hbrl««.  Hutori»lrte  Nener»«tlü>nz  von 
HitnurQ  Hrnoid.  NeipLiß,  ü.  1^.  Ln»Provio?„ 
I«  mono«  Hc,Ä«il>«.  Ilevue  llenzneii«  Hin«- 
Iree,  IW5.  Xov,  ?nri«,  H.  (Huantin. 
I~n».  0.,  Vandernn^eu  In  Hlrili».  8tudien  m,d 
Lrlednl»8e.  Vlen,  Verl»«  der  Nltten>rl3c!,en 
t!e8eii»e!,»ft, 

liii»!»,»»,  Ii,,  Hu«  llnlinl  und  ,l»p»n.  Ne!»el!r' 
innerunMN,  Lerün,  l~.  lontüne  ~  Co. 
I^llx»«llb»i^,  ?„  8»l»«r  rriedricl,  »I»  8tude>,t. 
>ll!  i,>,v,>l<ll»>„tli/vt>temzlHter!lli  »u»  dem  rlacn- 
>»»8e  ll»i««r  ?liedrle!i'!>.  einem  llteiliüd  >,»,! 
I«  Hbbildunßen,  uutußranliwelien  L!i!N«rn  etc. 
Neriin,  5erd.  Nllmmler. 
H»il!«>l!l>,  iHur»,  Wir  l>'r»uen  und  un««re 
vlebter,  Wien  und  l^inliß  Ver!»U  der 
"Wiener!!  «6e". 

—  2v«l  ll»uener!ebn!«»e,  Knveiien.  ?»ri». 
Neipliß,  «uneneu,  Hldert  Nlwzen, 
H I« In« eil« ,  <i.,  llreoii»cb«  und  Mlli!<l»ede  (!e- 
»euicliteu,  Neriin,  Neut«cnerl  ioiun!  »i'Verl »8. 
<N.  Il«!neelie,> 

H«ll>li»,iclt,  H,.  Climen,  lilodenie  2vio»e»i>rllo!ie. 

Neriin,  «edrUder  Naetel. 

He!»ni»«i,  Nr.  I,,,  l'„  v?e!!m»edt8«plele,  Nlider 

»u«  der  deutscnen  s!e»elilent«  ?.u  leztiieben 

Hullnnruuüeu  llir  "unz:  und  Hit,  I.  Nett. 

Hu»  der  Telt  der  LadenlierLer,  Wien,  Verl»« 

der  litternrIZede,,  Leüeii»en»lt. 

H«"«!'»  ll«l«»blloli«>'.  liom  und  die  (!amp»!:n«. 

Von  Nr.  In,  0»ell  sei«.  Vierte  Huüaze,  Idit 

5  Xurten,  <?  Niiinen  nnd  Uruudrizzen,  «3  Hn> 

«ieuten,  »ipliz  und  Wien,  Nidliograiini- 

«cne«  Inütltnt, 

MUUsi,  V,.  NerNan  de«  Neicu»  Üirieut»/,u  l^ei,,- 


«1^,  NW«  8e!,i!d«rn,>!i  de»  Naue»  und  «einer 
Linüeineüen,  ?,u<i>ei>!,  ein  llinrer  durcli  ~»ine 
Wume.  »it  2  INul>i'»tionen,  ü  NMnen  und 
dem  Nlldnl»«  de«  Nrblluer^,  Neriin,  ticnrss 
Kiemen?, 

I?»»»eii,      Neiniieli  Reines  lamiiienielien  n«l,~! 
einer  IM'I ne'Nitlerütur.  Nuida,  Nuldaer  Heti~»' 
ciruelterel. 

H««ll>»~i,  Nrol,  Nr.  ilelenior,  Lrdze«  idedw 
Xveit«  Huü»~>  »euuearbeüet  von  Nrol.  Nr, 
Viewr  I  iiiiß,  X»eiler  Nond,  Ne«c!>relbend« 
«~eoioßie,  Alt  4M  Hdtdidünken  Im  lext, 
IN  rardendrucli-  und  s  Nol/sednitltaiein,  >u- 
»ie  2  li»Nen.  von  Ib.  Hindun»,  I.  N«tl»»er, 
?.  Ltioid,  N,  llevn,  !!.  Xaulumnu,  0,  Neter«, 
X,  No«enii>!l«r,  N,  von  llan^onnet,  0,  gcnull, 
H,  8«ot>»da  n.  ».  I~eiu~iss  un<l  Wien,  LiKlio- 
8rann!»ene»  Institut. 

Xe»>li>«i»«>olt,  I1,  v,.  Hu»  gärender  ~ei!.  I!in>' 
8tndie»»«de!n  l.e!>en,  «tultgurt,  vr.ruer«t«r 
H  cie, 

I f i« in» ni» .  H..  N>r  Hssüaw,.  llo„n,u.  2  INnde. 
Nr^den.  N,!n?,i«  >1:  W!»n,  I?.  Nler^on, 
Iflsln»»»!,  ,l„  Nie  l'!!!e!,5,,ueiie,  Komnn,  X»e! 
LUnde,  Nre>den  u.  Neif/,!?.  <~ur>  Kei.^ne,. 
»letikl,  Nr.  ».,  Ueluliet!  «eine  n!«  Nil'iiw 
und  Aen~i,,  Neitrü^e  üu  «eimr  (^nawilteri- 
«lili.  N,r>!„,  zii»«e!>«r  65  l!»«teii, 
?»av«i~,  H,  v„  «„»««prllsiie  un,i  ln«c!,r!lten 
In  ll«ut»~i,!i,n<i.  in  No«terrei>d,  »ud  in  der 
8e!,we!x,  N»derl,orn,  leniinand  8cnönlnji!,. 
?»»°llr»e,  H„<!ed!cl,te,Xöniß«berg,llaNunL>ci,e 
Veriaü^ilrue!«!!'«!, 

?etil.  5,,  liotn«  5rd«,  Hu«  «einem  Kaeida««  nerau«- 
«e««nen  von  r'rieli  8cum!dt.  Lerün,  Nebrdder 
Naetei. 


<U4 

Nord  und  6üd. 

I >rw»»>"»iNnn».  vr.  ",  V,,  !?!>««  uns  81«: 
18?« — ? I .  Ult  vielen  äudlidunssen.  Lerlln, 
8en»ll  u.  Nrund. 

?li>n8«t,      Nr"  V«r  30»  der  „DeutHouen 
c>«ie!!8<:u»lt  lur  et! ii»cb«  Ouitur"  beitreten? 
Vurtr»«.  Neriin,  ?erd.  NUnimler. 
?i«v«i,  V,,  N»r!vln.  8ein  Irenen  und  "Virilen, 
llit  Nll<<n!«»,  Mewte«Keld«n,  ner»u»ße8»ben 
von  .Volon  Letlelnelm.  1!».  L»nd).  Lerlw, 
Ü I ü « t  U«IM»NU  H  Oo, 

?i«U,  Ii,,  "m  8celente!ep>!on.  Kell«  Kur"ße- 

»cnl"!>ten.  liüiün,  Nossn  8torm, 

Au,»«»»!,  L,,  N"«  8oKn»euiid  dlü  dil>lend«,i  Klinüte. 

Vie»,  ?e»t,  l.<'in/r,  ".  Knrtlcben, 

r»i>K»«w,  "„  !<lln»>  lerl"be  riiolozrHplile,  VÜL»el- 

dork,  I5d,  l.wzi'Mnz, 

Neturnl,  l!»t<l»"l«"e,  NI3!ter  «ur  ?örderu!,<l 
der  ll»!„»nlllit,  IV.  "«brssllnss  K.  19-2«, 
llüni"üderss  i,  ?,,  Lrl>u„  und  VV>>l>er, 
Ho«««,  U,  L"  Lei  der  s!«rde  l>leKm55«  und  üin- 
dru>.!c«  »u»  den  Xsiel_«!»nro»  >87>>/71,  !llt 
vwr  Karten,  Hannover,  ()2rl  üever.  <lluüt»v 
?rwr.! 

Icri«<l  «oll  AUollSIt»  "»rb«  in  »eoll«  2ün<l «n, 

UelHUüü«!:"!»',,  von  !.„(!«!!;  riülner.  b!r8te 

l.les^r!,,,".  8tuN«»rt.  ",  N,  cVNtü'xede  LucK- 

3elUU«r»  "V«i!»  Homu"""enen  von  l.udiriz 

IU„t  Ite  "u»ss»d«,  Lr«tor  Nand,  l.eli»!3  und 

Nebuiltt,  <?!,„  "I»»II"<W".  /">>>t«  verui(?l,ite 

HuN""e,  Xu>«!m  I,  l!„  ",  l'ueli«. 

3oln>»oK«nt>ur",      !>,>«(,>  Lliitter,  .Vit  s»r!>!<?em 

l"iwld!»tt  vonld,  llopllner.  riM«,  .Vllrel 

Loblllti«,  Nr,  8"  Der  2«ltMi«t  6«r  modernen 

l.!tt«rl>t»r  l!uroM3.  lünIM  "»pltel  «urvor- 

ss>el>!!e>»!!>,i  I  >!tterntur"e»el>lclit«.  N»lle».  8,, 

8«lill»t«i,  iL,  Ner  >len»cn"nlr<!nnd,  l'r»uer.«piel 

w  viei"oten  >Vo>l«ibU!t<l,  "oüu«  X«"«!«r, 

8ell'v«i!f«!"l/v»«!!l',nf/v<l,  V,  v,,  Die  Donnu  »I» 

VUllierveir,  8oK»lf»nrl,>!»lrn,x'>eund  llüi"erou!,:, 

Alt.-MO  »idiiduu"n  u,  Kürten,  i"ielerunz 

I L— 20.  Wien,  ".  Ullrtl>-nell. 

Zisuiiisviei,  II,  N»«  !"t!„'il  <l"ü  X«u»  und 

»nder«  ünveNen.  Huloi!«  l,'b"r"tlun"  von 

Nlüt. 

8z>»nclov,  ?li,,  Von  Ibl  unü  mir.  Lerlin,  L, 
5>U»il>  Ii, >!,,„>.  reier«!»,!,!«»  Äe>  8e«le.  DielNer- 
iclil»!:6  zur  ü"ui"Kui«  »nä  I5r!«>>uiü?  vnn 
Uei-2  ,i„d  s!e«t,  Alt  ?llelbH>!.  reipxiz,  r. 
Uirt  H  8,>l,n. 

8tü»»«l.  ">!i>!>!,  I!r3n,!u„".  Hoveil«.  I.e!>«!ss, 

Vcila".'  vi,,!  lloKsrt  rrie»e  8ep<!!o, 

—  ?re,m,le.  8 u i n » 1 1 .  l"einiiL,  [ lodert  ?rle«e 

8el>.<Vmlo. 

8ti»»dur"?r,  ü,,  8treil«!ILe  nn  >l er  lllvlei«, 
Lei  - 1 1  u .  (ie!,rll<!er?»«!«!, 
8tur>«nr»u«ll,  L.,  ?!iuü  un<!  iHut«  vi"litunßen, 
s!w!«Ä«!,!i»i!i  unä  I >'l >>?.!L,  U"umelt  il:  linnze, 
Luttner,  H,  N.  v.,  Kic"!»«  r'N"Umll««  Kiew« 


I!e«<!lnrnten,  vlr~il~n,  I~'li,üi8  c~  >V!en,  L, 
?i«r«oii, 

leiobsrt,  yv„  !>'i!r  l^meü  ziunn-,  ~Veclc-  uns 
l,0!ttn,s(>,  llllnclien,  l'ur!  Nupprc,'!>t. 
vlebtiwss.  Ken«  verm.  /vul!»Le.  Lloerleld. 
8e!bütverin«. 

lovot«.  U„  He!««««  Hut,  Koveüen.  Lerlin 
?.  t'onwne  ~  »>, 

li».iHt>  V„  Hui  l>illü«mem  pl»<i.  lieHiedl«. 
2«eite  v>>rm,  ~»lia»?".  /5»neru  I.  L„  >.  r>«ll>. 
Vlllle«,      V!iUti»3  MNß«  relllen.  K»?!iÄem 
krlm»>»!«enen  Irei  be»rdei<et  vnn  ü»i! 
Lenneiit.  Uerün,  Vei«ln  lur  I r« ! « 8  8cu rilnniiik, 
l»S««  von  H,  Nie!es"IH~  UulduoKninHI II»!: 
Xr.  178  ll.lttcixturLe'onleut«,  LiozrIMen., 
K~rl5ru!<«,  H,  Nlelelel,!'«  NoMllcnd. 
ViU»ln»ii»,  ~itelio«.  XoveUen.  U«r!w,  Ledr, 
lÄütei. 

Volbel«,  v,'.  "In.,  sloetue  nixl  <Ue  biläeiKie  lllü!.!. 
I"eip«r,  L,  >.  se"m»»ü. 
Vo»»,  Neori  vr~  0!«  I>l»i«u  in  HerXumt. 
Lerün,  Kiclmn!  ?«eni!!er. 

Viebiwlc?,  ~,  v„  (!e,!ic!ite,  .~u§~>>«ÄI>lt  un<!  übel- 
?etüt  von  IXüdrirli  ",!!er.  ~!it  <io,u  LU<>M5« 
<!"ü  lliciite»,  lx'lp?,M5,  l'liiü'P  1 1« ? I » m  M, 
DI»  ~~llt!«ii  ulsclsr!  !l«»»t«"nr,  «ur  I 'ürdernnz 
der  ?r!eäen»ne,ve!:un!l.  ?l«r»i>«MzeK«n  von 
8,  8i,Nner,  ll>,  ,l»drz»r,L,  X.  3— !>.  vre«n«l!. 
I!.  I>ier««n. 

DI»  ^^»biv«it.  N»!dmun»t5cKrl It  nir  Ver- 

ti«5li»!l  in  <!!>!  I~r»ßen  und  HnT»bei>  cie« 

>leu»ci>enlebonyv.  Ilesün^ss.  von  «üb.  ^Ilruusil. 

V.  Nllnd  «,  I.  »lüttMit,  Ir.  rroinii»m! 

"«iolielt.  U.  Lr,  i>!>ll„  Ünni,over5<:>i!>  /ve/ve!u?dt>:n 

und  8»zen.  ür»t«r  L»nd.  Kurden,  l»«dr. 

8o!t»u, 

ciueüen'  und  8»mmel»er!ie,  V,,l i^InNwIlonc 
I. literstur,  ('~ltur-  uud  8it!t'i,ge!!cb!cl!ie. 
I/Ve!p?.>z,  .>,  Beitel. 

V/V«rttl«lln«r,  I?,.  IVnz,^«  et  il»x!me»,  ?r»dn.> 
tl»n  ö«  zi»r,?eUin.  8»"  lirlvot  de  (?r»»d«>nlt. 
Iettre?i<l»c<>  du  f'ilmi'ol«  l>>pr~«  de  l'~c»- 
d,'ni!«  ?~»n~»i«e.  I'»ri<.  ?»n!  Nlieudorll, 
'Wiehert,  L..  Hnd<!n'r  l'ont«  Binder,  2»el  Ko 
~ullsr»,  >Vi!!>,>lm.  ~Vcu,  v~un  Du  »3r-t  mein 
uizün.  ,  ,  l-'rül!!!l!m<5,  Oresdri,,  l>rei<wne! 
Vl>r!»p>!»n3l»lt  <V.  V.  reue», 
'W?oli?i»iii,  Nr.  ,!.,  8c!i!l!erdem  deulzsb^ii 
Voll:«  d^rßezlellt.  Din  üeux!  8l»!,dner!l  M«r 
den  I  rdliußzdlcliter  d«3  deutüübeu  Völlig 
lllr  ir>~  deut»cne  Voll:.  A!t  r iobtdrueicl«. 
r»l!lreie!,e„  »utlient^enen  slei!»M»  und  l~il- 
»l,dil>l,m~en,  daiun^r  vielen  i,u<:!>  niebl  ver- 
oHenUIcuten  Interventen  l>onr»il«  und  Huto- 
«r.ipnen.  I^ielerun«  13— IN.  Lieleleld  m><! 
I^IMie.  VeliiüMn  H  lil»>i„ss. 
2»pp,  H,,  Lin  liieuleuVit  ».  v.  lioin«u>.  vre^deii 
I « ! p 2 i 8  <i  >Vlen,  D,  sier^ou, 
v«ul»ol»«  2«lt«i>rill  1 1 » r  H . 1 1 » I ü . n < u » « 1 1 » » 
H ut« i rie> it» ve» « n .  Ne>ÄU«zezeden  von 
Nr.  5,  Vvoliüillm,  lauter  "«drMNj;.  Hell  I. 


I>e!p«>3,  N.  VoigtMuder. 
2«it»eb»!tt  Nli  I >!iil <,»c>i>l iis  nnH  pbilo 
»«l>lil»ell«  Xlitlb.  1»?.  rud,  1.  I!«!. 
relviiß,  0,  L.  «,  irller. 

 ,  Nie  L«8c!,w!,»i</I!e  8t«l!unß  und  ~uribe  d« 

deut«ouen  yv!t>!»tdo!ic!«mlli<.  I^eipüiz,  l-'rieär. 


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kitterarischer 
von 

Ollid  und  SÄ^d. 
1895. 


Vreslaii. 

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Verlag  v«n  Hermann  Gesenin«  in  Halle. 
Gediegenste  Festggue  für  den  WrilMchr^isch. 

Blüten  unll  perlen  ilentsinel  Nxniunff.  d,ä/vi??!»i!'»"«0,«l»ch>,«yvyv,>"Qn»yv.F«r°>n!"«!t«>«!n»yv 

in  Hnizichnil!  noch  e,i« !n»l> üchn« n« >»  »»n  Ferdinand  Lol,  und  I,  >»,  Julthnn»,  In  Vrnchtdnnd  a,IH°d<» 

»!l,  I«,- 

!>d'n  l,«üi  d,'»„d<i,  «dninl»rist! ich«  «,dcc>!  »in»»!,  !l»»»u'ni!>i'»»««»»l»»«yv 

Die  v.  Vcinburg'schen  Uebertrogungen  der  Werl«  der 

drei  größte»  nordischen  Dichter 

Fck5  Wlt6l,  Z.  ßl'hlenschlllztl  und  H.  ß.  Ktlerskll 

sind  die  vorzüglichsten,  die  jemals  in  deutscher  Tprache  erschienen  sind: 

3eM.Es«iall.WtFilll,illst-Me. 

Ueberseh»  oon  Gottfried  von  leinburg.  sr, 

Majestät  dem  ~<ünig  <l>»rar  II.  uon  Schweden  und 

Norwegen  zugeeignet,  Linzige,  sowohl  durch 

Akademie,  o!»  durch  die  große  goldeneMe« 

dallle  „litori,  et  »rtibu«"  Sr,  Majestät 

belohn!«  Nachdichtung  der  zrühjoflsoge, 

15.  3»st«le  ~-"-"0""-  

Z,ü,  und  willt  I»  Ine  Tin  NU  ndüch  »n  d<!  «elundung». 

Oehlenschliiger,  A..  König  zeigt 

2,  leil:  l)rsa.  3,  Teil:  yroar,  3  Teil»  in  !,  Vond  gib 

5.  A>sl>ljt.  Peel,  Ms.  ».«  gebunden, 

»,!,»  der  Früh!»!»«»»»  ist  Oel>!»>!<!»»n»  »»»ig  <»l~ 

In  ist  «ll>«  L,id>n>chnü,  >~<b,n,  V,n»°ui,«,  und  p>i«>ich  steie« 

Zndtlsen.  ß.,  C, 

l,n  der  schönsten  Märchen,  überseht  von  «Gottfried  uo» 
leinburg.  4.  Vluflag«.  preis  MI  3.»»  gebunden. 
!  Ile»t!<>  »nir 

Vin  Schatz  für  jede»  Hau»  sind  diese  Bücher,  nicht  allein,  weil  sie  echt 
deutschen  Veist  atmen,  sondern  weil  sie  auch  an  dichterischer  Vröße  turmhoch 
über  den  meisten  Darbietungen  der  Neuzeit  stehen. 
"IMIes 

enF  (Voz)  aufgewühlte  Romane, 
deutsch  von  A,  scheide. 
«<»e  «»«««»«  «>>»<  I Nuftl«tt»ne«. 
Hünfzehn  Vande 

Vand  I  — >,:  H«vid  Ü«PV«rs!«ll».  Vand  5  und  i," 
VliOtl  l»!ft.  Vand.?-»ui  Vl««tl !«««.  »and 
!<~1»  «le  P!«wl<ll«r.  Va»5  ,2  Harte  Heüen. 
IH7  Uei  Abnahnie  !>ln» Ücher  >o  VHnde  ftail! 
Ms,  2„-  für  Ms  22V 
Illustrierte  «„»«ab«, 

3»»l»  <I»PP«»I»«I».  In  2  Vande  gebbn.  Ms 
Harte  gleiten.  In  <  Vand  gebunden  Ms 
eliue»  Iwift.  In  I  Vand  gebunden  Ms 
»l««th«u».  In  2  Nünde  gebunden  Ms 
Hie  V>a»i<l,»».  In  2  VHnde  «ebnnden  Ms 
«317 

0  _ 

Ve!  Abnahme  der  sHmtl.  «  Vande  in  eleg. 
temenband  gebunden  statt  Ms,  3t  —  sie  MI,  12,— 

gutem,  satinirtem  Papier  und  billiger  prei»  dürfen  »I»  Vorzüge  dieser  Ausgaben  hervorgehoben  »erden. 
IIMgl!  OellllNÜsN,  ellls«  Mü^lgm.  von  leromc  ««.  Hcrome.  Dcuisch  nach  der  132.  Ilnstllgl 
>«!d, ,!>!»>«  H»i!»»tu 


ZHrMMMM 

2iir  Vrlyrnnn"  modsrusi'  spraotisu 

uutei  öMvilKunss  von  äeutzcnen  unä  »uzlänciizclien  I  "Henmännein  n»cn  eigener 
Ketnocie  I>e2lt>eitet 
N^IQQI  8C« 

Voilzlän^r  in  27  Lrielen.  ?ieiz  in  !<2ppe:  20  dÄ2l!c. 

Voll«t3n6i"  in  H2  Lriesen  unä  ivve!  3upp!emeuten.  ?iei«  in  K»ppe:  2z  2H»llc. 
Nieren«  » p» It:  Qui6«  ipi»towil«.  "nleituuß  inm  Llielzcllieiden. 
dealdeitel  unter  KitvirlcunT  von  Olliiieien,  2  Niiele  je  I  Kailc. 
ll"N.ILH8Cli 

Vullztiinliiß  in  24  Llielen,  ?rei«  in  Xl»ppe:  18  IH»l!c. 
«D88I80N 

Vollstänäiß  in  Z2  Lrielen  un6  3  Supplementen,  ?reiz  in  Kappe:  «8  K« ilc, 
deirbeitet  uutei  Kitvillcunz;  von  Usfixieien.  2  Lnele  je  1  IH21H. 

8?yvyvli8c:/\ 

Vo!!«t3u6i"  in  25  Llieien.  ?rei«  in  Kappei  19  IH»r!l  Liniein  Ke?.n"en: 
I.  ~?rode-)  Lries  §0  ?l.,  2.  Ariel  unä  lol<;en6e  je  1  K2ilc 
IQ-T  r'V'dZ.'d  rN.  27  2. "2.8  2~1. 
?2,ri5«r  I"  rÄNxö8i5c:li. 

Nin  I  "orldil"unßzmitte!  Ii>>-  (iiejenißen,  vvelcne  6ie  leden<li"e  l7mL2n"z- 
»piacne  »ul  »llen  (iedieten  6e«  tii"licnen  VeiKelir»  er!«lnen  vollen. 
V°ls!»«t  von  vr.  It,  Klon. 
",  M«lele!6'8  Verl»"  in  X»ll»iuue, 


?5  lese  UQH  ".c'o  I 
GW 

HH««  lorn  <>«r  Ne!iu»t  „ncl  !„  ülierxeeiüelien  l^tül««, 
~~«~»  ~l»,>i>„«  mit  Jen,  „>t«n  Vnle,!„„l!e  >>,„  bt  — 
AH«  »,  Im  In»  «xl«?  ~u»l»n<i»  mit  8«iuf»<f»»«btlN«n 
-Myv«yv>  Udeitiüutl,  «Icl,  !>>,,/,  nn>!  «<>,„«>!  von  <lem  slunsse 
<l er  ~Ve!ll,<:~eden!ie!ten  untei-rleliten  vlll  — 
Da5  "c"lo 
Das  Zcüo 

Hslllun^  lult,  tii^liel,  ein«  Liv»»e  po»ti»c!>e 
üeltimz  «u  lezen  — 

AH»»«»  tu»  In»  «dsr  ~n»l»n<i»  lld»»!!»  »nt  <l»»n 

~~«~>  l.»n<i»  vollnt  un<l  neuen  einem  Kleinen  l~oe»l- 

blatte  einer  erz;iluüen<len  Xeituüßiileetüle  t>e<lul>, 

/«,«/««  *////,»,e»  «//<?/'  N»/e/e«  ~»  NAn/'/e  ~«m,«e», 

/vV«e//e//e«,  "///!/ »»Fe»  »,  «,  <e,  <»«"  cke/'  /'ecke/'  >e- 

ü"/»///  /»  </«,-  /"»"H  M»ckel  e/««  t?e«ss»<«/lpnc/ve»- 

/<ie»-«<c/vZ  cke«  ,n/es»»//»»a/en  6eÄ-  n,  N/vinyve»»,»/'/vie« 

/»«I  /«/e~«««»/e />»<?«»  ,om  >!>///n»~t/e, 

i'V«///  «»  /»<-/»,»/,«»,«<'//  /ve</»H/^/e«  »»Ä  i//»«Z«>/e.« 

,,/«ck/,«/,~e//e>,  /c/i»",  ne^/ie«  «ie~  «//e  «e»s»  »nck 

<»/yv/-e««n«/v„  l~»»~e  »»ck  ~e»e/-«nF«<  »»/  cke«  l?e- 

K/e/e  </e~  ?>c/,«it  »«ck  /«</«, ,r<e  7/«/e~o/,/eZ. 

N«H»«U<>ii:  ~u?o  NerulH.  »e»onäet»l«itn>i?:  H»x  l>«:l!«t«il>, 

l~«  l>  t?««,«  Nr«»»  >!er  Neu!«r!>en  Im  Xu« !»»>l «,  »etruelttet  e»  ln»- 

~\\<~/\{/  »«»»«lere  »I,  ~ln«  ~nl«»!>«,  >le,»  lieben  »n>l  Ireld«» 

« » mlielt  «»lu^euü«».  D«  vlrd  u^der  ~eiei 

6el  Vel!l>~3buen>!!tnslun!i  ~.  ~.  »«»>»?«'5  ~.  «.  I»  8«l!li!  IV,,  r«t»- 

H»,»e«!l»«»«  «?»,  ~eü.  ün/uxede»,  ,tl>m!t  ö!e5e>be  t-ele^enneit  n»t.  ein« 

l!e«tellun,l:e„  nenmen  ll>>e  flue>!N»nä>u,iMN,  l^wnütülten  u»Ä  ~eitunM' 

8pe,zit«ni-e  in  Neu!.«c!!!ün>j  xnn,  l',vi,~e  v»n  ~  Milc  vieilelZinrlie!»  entßeLen; 

In  äen  übrigen  l~~intlei'n  xu  Äeu  !!M<le«iN>lie>!<n  l>i'e!5en, 

«  «  »  »  «  virert  von  ,1er  Verlli~d„e>,l,lni,Nn,>!f  »  «  »  ~  « 

unter  Krenxn3«>!  >,e2»Mn,  Kc>»tet  ,,/>«'  /^/<n"  vlei-teij iüirllc ! !  4  zu»,  ü<>  ?l„ 

dllU„ill!„llc!!  !>  >l>l„  "ni'^ilni'?  I«  ,~lk,  Mei  V«8(!N,!unii  unter  8treil!>!,nÄ 

eniulletut  e«  «ien,  mugüelizt  ßunxlillin!:,'  ~bannement«  uulüUMben, 

?>»  «>N«  yvl»s»!»NyvH»<»>»t  >> Meißelt  einreise!«»  ,«>len, 

»II  '<<>»  H,/V<F!III«-Iinr  „„,,      ,.n»zl)on»"  >nn>"»"  «er 

He»»?»»»«  »d  Ue«e»  l!!»««i,,l»NU  >!e»  »nlsilüenÄen  !!etl»,e»  »ul  nelled!, 

I»„«e  X«!t  <l!«et  vnm  Verlor  »ser  H»re»  le<le  8ue!>n»n«l»»»  ««lleserl. 

Der  delcnnnte  >Veltse!,<e,»le  <?«<?  ~.  ZHlei'»  üedrelbt  in  uer  ?ll~- 

lieneu  MunllLenau  1~»,',  uuf  8eite  -I4Z  in  «einem  .VNiKel~  ~~u«  6em  tllulteu 

V  eltteile  Hu«tiÄlie,!'lieu«eeian,l"  " 

„vw  Mm  v« llwl!«n  i»  iwilW« !«  mi«iltli«!illi«u«  M»". 

S 

3 

3 


Verla«  »«»  L,  «taackmann  in  Leipzi« 
soeben  erschienen: 
Peter  No  segger: 

Neue  «e«ch!<l,»en  au»  »er«  «n»  lü«l. 

M,l  einem  Titelbüde  »on  A,  Mailicl, 

Vroichiit  ««.  4,—,  elegant  oebnnben  »«~  b  — 

,,~l«  to,  i««s  noch  w«r." 

Nene  Geschichten  on«  üer  Waidhe  inio  t. 

V«!2«  von  Nse!!!i»!>l  H  llilrt«!  w  l_«lp'l». 
Xielne  Nunuuie  »N8  H«l  VijitervlluäeniNL 
«>!.VIII. 

<?lil«„l»v««l»  (».  <8I— 5N), 
lliül?» 

Auf  de««  st««fen 

z«n«  CI»»/o«». 

Historischer  Homan 

von  Gregor  «amarow. 

<e«cal  Vle»i»a) 

2  V>wl>e,  ~2  U»»rn  «» 

<?el>,  M5  !N-~  «ei'!',,.  Ms,! 

von  Pillli,,»,  !b>i,»  »m  V°l>  Wi>u»>m'« 

ans  dem  geringe  der  Fehles,  snchdruckerei,  Kunst»  und 

Zlerlllgs- Anstll  t  o.  S.  Schottinender, 

ßreslnn. 

^  A  A  II  A  A 

h<ittnlul,ei!!l«am,l„!,>öitu«i»>  ~ 
<>ü 


i-W, 

Hu  !,«!>»»  >»  alle»  Vu<l!>!»n<»un«tn 
Ix»  In  un»  ««»lande». 


Schlchschr  Viichdrnckerri,  Kulisse  »nd  Verlllüs<- Mnsiall  ~ 
~  u.  S.  scholilaeiidkr,  Vrrslnu.  ~,  ~> 

lllmvG  ml!  Mm 

AAA  ein  ^estgeschcnn 

für  Gebildete  jrden  .Stande«. 

>>>e  !«llir»  nbZe! i> ! I» I se» i  I,  '»erie  bon  !2  i'Ändtn  ln<hlilt  bishn  in  Duchlünn  wüb 
niihl  irsckicncue  Dtililige  drr  >>ti!iormZinds<IN  8tllltl>s!i>!ii  und  zwnli 
i,llll>pe!.~»fc>d,  Fr.,  „Ntlsütze  Frut,"  A^mbsu,  p.,  eintziachtkhlj  !»ch 
Nortlltgin,  >5cliii>»!!i,  n.,  K'gnl,  Vanssnn,  <3.,  Mmbözrl.  F,lrlnt!belV,  Ä, 
~rr  tiüslii  "»il  ",u>ö,  lllüi.li,  l!8.,  M^zurw,  l>»l>llctle,  <Z.,  "«tki  und  Plitdi. 
"5rllsteln,  >I5.,  Ann  Hemplo»,".  V>clm.l!l!>,  H.,  M'lchrn  3U«  dim  ninn»Kntm 
'UnKunder,.  Frirdrich  Fürst  I  !?rcdc,  ~>»  Z!l>!h!e>,  Die  Güusli,  Ick.  Zollai,  H>L, 
/ 

~<V 
'<hT 


l',>  Lände 
lu'soudrrrin 
Tarion, 
12  Nlt. 


««^»»»chch 
12  3°,it 
brsandrrem: 
V 

j>sri"  >,!N  flnml  75,  j!f.  s!sl,>ls!i!^  in  !»>W,I.  IOrigllml-Gi»KII»<l  I  MK.: 
:  v>LL>  LI  >v  LI  „'.LI  >.  LI  >.  L~ 


"!!!!!!!!>!  >!iti!>t!i!!'tiNitt!f  t  >!>  i  !  t  i  !!>!  i  t  i  >  t  >  t  !!  i  t  i  >  i  >,!,,>  t  ,  I  !  i  t  !  t  i  !  i  t  »!  > 
t  i  !  1>  t!  >~ 

Schlestsche  Vuchdruckrrei  Nunsi~  und  Vrrlag« ^Mnstnll 
v.  S.  Scholllarndrr,  Vreolnn. 

B' 

1840  1870  ~ 

Professor  Or.  Aar!  Viedermann. 
Vierte  (Volks-)  Ausgabe, 
i?  ~' 

Kieses  weit  verbreitete  populäre  Geschichtswerk  ~des  bekannte» 
~  Ijistorifers  erscheint  anläßlich  der  25jährigen  Feier  der  Vegründnng  «es 
-  deutschen  Reiches  als 
-<U  in  12  Lieferungen  a  50  Pfennige.  Fr- 
ist, wir  halten  «  sir  unsere  Pflicht,  darauf  hinzuweisen,  daß  weiter»  Kreise  d« 
uereint,  ks  ist  ein  volkbuch  und  doch  streng  historisch;  e»  ist  objectio  und  zugleich 
anregend  geschrieben;  «  schildert  eine  Zeit,  die  der  Verfasser  wie  wenige  tennt;  es 
culturhistorischen  Momente«,  Line  wichtige  Ergänzung  —  llebersicht  der  ersten  2«  Jahre 
die  nicht  so  glücklich  war,  lernen  wir  verstehen,  wenn  wir  »jedermann's  warten  folgen; 
und  wie  lernen  durch  sie  «erstehe»  die  spiteren  ruhmersüüten  J  ahre  und  jene,  die  den 
Siegen  folgten.  Di-.  N!  ppold, 
Eomplet  in  Ii  Künden  geheftet  6  Mark, 
fein  gebunden  8  War». 

?,  In  beziehe«  durch  n II r  Buchhandlungen  de»  3n»<  uud  Nnslnnde«. 

"5  >  I!  tlllM^slülllINTMÜs!!!!!  II  >!!!  >!  Ml!  11!!  I!!!!!  I  I!  >!  >  IM  >!  >  I  >>!!!  I!  >!!!!!!!!!!!!!  »>: 


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~  Tchleftsche  Nuchdruckerei,  «nnst-  «nd  Verlags. «nstalt  ~ 
~cD  v.  S.  Tchottlaender  in  NreHlan. 
>  ~ 
Vriefe 

eines  Daters  an  seinen  öohn 

»«<,  »essen  z>>««»z  »uf  die  W»nß!«l. 


von 

Geheftet  WK.  I.-.  gebunden  M«.  2.-. 

„Die  Zeit  naht  Hera»,  da  die  lüngli,ige,  welche  die  »lademilche  Laufbahn  einzuschlagen 
gedenken,  sich  zun,  Beziehen  der  llnwersitä!  rüsten,  Ein  neue«  Lebe»  beginnt  für  sie.  »us 
das  eigene  Ich  angewiesen  und  auf  Freiheit  de«  Wollen«  und  ,dandeln»  gestellt,  Wohl  ist 
ei  gcrecht'crtigt,  wenn  da  manche  Altern  nicht  ohne  Besorgnifz  den  Tohn  scheiden  sehen-, 
wenn  eine  leise  Zorge  ihr  Her,  befällt,  ob  er  in  dem  freien  alodemifchen  Leben  sich  auch 
geistig  und  sittlich  bewähren  werde.  An  guten  Ratschlägen  fehlt  e«  da  Wohl  nicht,  aber 
wie  leicht  ift  «elagte«  bergest!»,  wie  oft  schwemmen  die  Woge»  bei  Leben«  die  besten 
Vorsätze  weg!  Da  lommt  ein  Buch,  deffe»  Verfasser  sich  nicht  nennt,  zu  gelegener  Zeit: 
„Briefe  eine»  Vater«  an  seinen  Zohn  nach  denen  Abgang  »uf  die  Unioersitit," 
da«  von  Vätern  wie  Zolmen  feiner  Richtung  und  seinem  ganzen  Inhalte  nach  «arm  zu 
begrünen  ist,  Zuerst  spiegelt  sich  in  diefen  Briefen,  die  den  Eindruck  machen,  daß  sie  au« 
den.  Lebe»  herauigewochsen  sind,  ci,t  Verhältnis  zwischen  Vater  uud  «oh»  »ider,  wie  es 
inniger,  schöner  und  freier  nicht  gedacht  weiden  kann.  Der  Vater  tritt  NN«  in  den  Briefen 
alz  älterer,  erfahrener  Freuud  entgegen,  der  iu  denfelbcn  nach  «nd  nach  eine  sittlich  ernste, 
aber  nicht  kleinlich  beengte,  eine  geistig ^  freie,  aber  in  der  Freiheit  Nah  Halteode  Leben«- 
llunasiung  entwickelt,  der  bei  feinem  «-ohne  darauf  Innzuwirlen  sucht,  Jelbstbeheirschung 
und  Pflichterfüllung  sich  zu  eigen  in  inachen,  eine  idealere  Richtung  de«  Denken«  «nd  de« 
wandeln?  in  pflegen  uud  zu  üben.  Die  Brieie,  siebzehn  an  der  Zahl,  beziehen  sich  »uf  die 
äunereu  Zeiten  d«  studentischen  ÜcbenÜ,  die  Ber»f«wahl,  den  Etnbicngang,  allgetneine 
geistige  ^„teresfeu  n,  I,  iu,  Üüa«  der  Veriaifer  da  über  Nelanntschaiten  und  siollegien- 
besuch,  über  de»  Vcmn  de«  >/va,nbri»u«,  über  Duell,  Verbindungswesen,  Familienverlehr 
«,  s,  w,  sagt,  wird  den  nieifteu  Vätern  »u«  der  Seele  gesprochen  sein;  e«  beruht  eben  »uf 
der  mit  einem  grasten  Theile  de«  Verbiudung«wesen«  nicht  vereinbare»  Ansicht,  da»  »u>n 
sich  nicht  nur  Z'tudiren?  halber  auf  der  Uuibcrsität  aufhalten,  sondern  wirtlich  studiren, 
wirtlich  arbeiten  soll.  Das;  c«  auch  Verbindungüstndeuten  aller  Art  gegeben  hat  und  »och 
giedt,  die  lehr  steinig  uud  erfolgreich  arbeiten,  soll  damit  durchau«  nicht  geleugnet  werben, 
Eben!»  verrathe,!  die  Au«sührungeu  iider  Pefsimi«mu«,  über  Nietzsches  Philosoph!«  und 
da«  waschen  nach  Effect,  nber  Sinnliche«  »nd  »ebeniunlichc«  »,  s,  w,  die  Welterfahrung 
ei»e~>  planne«,  der  durch  da«  Leben  mit  offenen  Äugen  uud  empfänglichem  Herzen  ge- 
gangen ist,  und  der  au«  desfe»  Ztürmen  sich  ein  freie»  und  edle«  Wolle»  gerettet  Hot,  sei 
da«'  treffliche  Buch  den  Väter»  wie  den  Jünglingen  besten«  empfohlen,  Ein«  Befolgung 
d«  besagte,,  wird  diese  bor  mancher  Euttäufchnng  und  «or  Reue  bewahren," 
Strahburger  Post, 

Hu  lielirilr,!  dnr,!,  ,illl  Huthlmildünml-Ü  dr«  I»  und  lu»l>'«de», 

"WMMMMMWUWUMMM" 

~  H,AHyvAch,H.yvAAyvHyvH.yvyvOo<5yvyv 


i5 

Verlag  »er  Schlcs.  Vuchd ruckerei.  Kunst-  und  Vnlags'Anstalt 

v.  T.  Tchottlacnder  in  Vrcslau. 

"5— ~  sii<?  alte  »»«d  F»»««ze  ItrieK««?. 

"  Vog.  8".  Lieg,  geheftet  Mk.  2.-;  fein  gebund.  Mk.  3.-. 

von  Anlschse's  tiedern  gewiß  freudig  willkommen  heißen. 

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Gin  sommermiirchen  von  Hrlhur  Stein. 

"0^2  Vogen.  Geheftet  Mk.  ".50;  gebunden  Alk.  2.50. 

lettische  stndie« 

von  «udolph  Lothar. 

22  Vogen  8".  Geheftet  Ulk.  5.-;  gebunden  !Nk.  6.-. 

Nxdolph  8»t>»»»,  o>«  plinnlasieuoller  unl>  gebantenliefei  Port,  insbesondere 
Gedichte  van  Jean  Paar. 

?V2  Bogen  8«.  Geheftet  Alk.  2.-;  gebunden  Mk.  2.-. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  In»  und  Auslandes. 

-M> 


2 c h I « «  » u c h » » u < I « r « > ,  «unft»  ««»  »e»l««»- 
«nftal«  I».  «.  «ch»«l«cn»«  ««  »««!«». 
«I«  UorzNgliche  »eft«esch«nl«  empfehle: 
H« !,«««,,  V.,  Nargarele,  Ein«  Erzählung  für 
erwachsene  lung«  München.  Gebdn,  ~  4,—. 
LINencron,  A.  ».<  Gelieu  bi»  in  den  T»b, 
Drei  Erzählungen  »,  b,  glorreichen  Tagen  bei 
beutsch-franzüs.  zlriegei!  «?«/?l,  Gebbn.  .«,  4,—, 
Nur  selig,  Erzählung  »««  dem  Leben  l>.  U.  v.  2. 
Gebbn.  ,«,  4,—. 

H»»m»n><  e..  Die  Welle  der  Vaimheizig. 
lei».  Mit  »ilbern  noch  Moritz  von  Schwind, 
Elegant  call.  .«,  l,bü 

Vaim«n.  IlufZ»  XI« Ii»  <lnh.        e«rt>).  Zu  bezieh,  durch  alle  Vuchhanblung,  d.  In-  u.  Auslände?, 

Ein  berliner  aufHielnolunä 

und  andere  U«nelle» 

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SchlestscheVuchdruckrrri,  Runst  u.Verlaa»-MnNallo.s.Kchlllllaendrr,Vrr»l«u. 

Dämmern. 

Skizzen 

Marie  von  Glaser. 
Zweite  Anflog» 
Ein  Vand,  22  Vagen  8», 
»<h.  «n». «.-:»«».  MI.  <- 
Marie  von  Glaser'«  Lrsslingzwerl 
,li»ergra«",  von  welchem  ebenfalls  in  lur. 
zel  Zeil  zwei  Aussagen  erschienen,  wurde 
1 1 » n  der  «rilir  last  durchgängig  als  die 
Nabe  ein«  oerheißung«»  >!len,  eigenarli 
gen  lolem,  begräß!  Diele,  l»!en!  zeig! 
sich  nun  »rslarl!  und  oenief!,  in  feiner 
Ligen«!  noch  au^eprägler  in  dem 
Da» 

Kffenmüäcken. 
Roman 

°»n  Vlaurus  lolai. 
Ausschließlich  ermächligt» 
Lin  Vand.  1.5  Vogen  8». 
«»!,.  «I.  3.-:  ««b.  Mt.  4.- 
,,<?ieb!«  häßlich»  Mädchen?" 
Roman  von  H.  Hermann. 
Lin  Vand,  2«  Vogen  8». 
»«!«»<«»  «I.  b.-;  ,«b«n»«n  «».  «.- 

y.  y»rmann,  al»  ein  eche  lünsllerisch»  Wirlungen  eistiebendei 

Lrzähler  von  »igennriigem  i»l»n!  belann!,  ha!  in  le!n»m  n»»est«n 

Uoman  »in  w»rl  geschaffen,  da»  hohen  p»»!ischen  w»r!h  mi! 

»nd  f »ss»  1 1. 

ZW  Itl  Z'tttt. 

Roman  oon  vi«  Hanffon. 

<ün  Land.  ~  Vogen  8«. 

»«».  «1 .  8.-:  ,«b.  «t.  4- 

Lin  sehr  g»w»gle»  ühema  ist 

linstierischer  M»isierschaf»  »ie  fi!!> 

lichem  Feingefühl  beHandel!  worden. 

Jetlelltelllle 

Pntr»>lllli!ft>, 

ji«,l<»', 


2?  »«««n. 
»« »« »«« <  «I.  z-; 
«ebun»««  VII.  «.— . 
Au5  dem  eigenen 
leben  hat  die  be» 
kannte  Verfasserin 
den  stoffzudem  vor» 
liegenden  Vuch«  ge» 
holt:  Rückschau  auf 
die  verflossene  Zeit 
haltend,  hat  sie  die  zu» 
nächst  ihr  in'z  Auge 
fallenden  hellsten 
lichtpunkte  ihre« 
3eins  festgehalten: 
die  Vegegnnngen 
mit  durch  Geist  und 
Charakter  hervor« 
ragendenversönlich» 
keilen.  Diese  Por» 
traits  sind  mit  dem 
Kerzen  aufge- 
nommen und  daher 
wohlgetioffen. 

Zu  beziehen  durch  alle  Vuchhaudlungen  de»  Ali?  und  Muolnude». 
10 


Verlag  der  schlcs.  Vuchdruckerei,  «unft>  und  VerlagS»«nftalt 

v.  3.  Echottlaender  in  Nicola». 

Werke  von  Paul  Lindau. 

Die  Gehilfin.  Verliner  Roman  in  drei  Vüchern. 

Geheftet  Mk.  6,—;  gebunden  Mk.  s.— . 

Hängendes  Moos.  Roman.  (Z.  Tausend.) 

Elegant  broschirt  ~l,  «.— ;  fein  gebunden  °K  ?.— . 

Der  Mörder  der  Frau  Marie  Ziethen.  Ziethen  oder 

Wilhelm?  Nachwort  von  Dr.  Max  Neuda.  Mit 

einem  5ituationsplan  der  Liberfelder  Oertlichkeiten 

und  einem  Grundriß  des  Ziethen'schen  Dauses. 

Elegant  broschirt  «~  2.50;  fein  gebunden  ~  2.50. 

Herr  und  Frau  Vewer.  Novelle.  9-  Aufl.  Mit  einen, 

Vriefe  von  <Lmil  Augier  an  den  Verfasser. 

Elegant  broschirt  ~  2,50;  fein  gebunden  ~  2.50. 

Mayo.  Erzählung.  5.  Auflage. 

Elegant  broschirt  H.  ~.5«;  fein  gebunden  ««.  5.5U. 

Ini  Fieber.  Erzählung.  3.  Auflage. 

Elegant  broschirt  ««.  4.—;  fein  gebunden  ~t,  5.—. 

Coggenburg  und  andere  Geschichten. 

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wunderliche  teute.  Aleine  Erzählungen. 

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Vater  Adrian  und  andere  Geschichten. 

Ein  Vand.  Geheftet  «Ä.  <yv.— ;  fein  gebunden  "I.  5.—. 

Aus  dem  Orient.  Flüchtige  Aufzeichnungen. 

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schau»  und  Lustspiele. 

Elegant  broschirt 0>\  ~.5u;  fein  gebunden  »«.  «.— . 
Interessante  Fälle.  Criminalvrocesse  aus  neuester  Zeit. 
Elegant  broschirt  »<l.  ~.50;  fein  gebunden  «K  5.50. 
Ueberstüssige  Vriefe  an  eine  Freundin.  Gesammelte 
Feuilletons.  3.  Auflage. 

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harmlose  Vriefe  eines  deutschen  Rleinstädters.  Zweite 

vermehrte  Austage.  2  Vände. 

Elegant  broschirt      «.— ;  fein  gebunden  8.—. 

Dramaturgische  Vlätter.  Neue  Folge.  ^875— 1.878.  2Vände. 

Elegant  broschirt  »K  ~u.— ;  fein  gebunden  ~l,  ~2.— . 

Nüchterne  Vriefe  aus  Bayreuth.  A0.  Austage. 

Elegant  broschirt      —.75:  fein  gebunden  ~l,  ~.?5. 

Vayreuther  Vriefe  vom  reinen  Choren,  „parsifal" 

von  Richard  Wagner.  5.  Auftage. 

Elegant  broschirt     <.— ;  fein  gebunden  ~  2.—. 

Aus  dem  litterarischen  Frankreich.  2.  Austage. 

Elegant  broschirt      5.—;  fein  gebunden  ~  e.— . 

Zu  beziehen  durch  alle  Nuckbandinn. 'en  des  ?n.  und  An«la«de«, 

11 


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Verla«  der  2chlcsi,'chen  Vuchdruckerei.  «»«st»  und  Verla««»Unftalt 
».  S.  Echottlaender  in  Vreslau. 
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tonmne  u?:d  Movellen. 
Dalleftre«,  Gnfemta,  Gräfin 
<Frau  von  Adleisfeld),  Haidcrislein. 
Roman.  Vritte  Austage. 
Lin  Vand.  Geheftet  X  gebunden 
.«.  5- 

von  Neuem  eine  willkommene  Vabe  sein  wird. 
Boy  Go,  Ida,  stürm.  Novellen. 
Geheftet  »«.         gebunden  »K.  5,— 
Glaser,  Marie  von,  Zittergras. 
Skizzen  und  Novelletten.  2.  Austage. 
Lin  Vand.  Geheftet  ~       ;  fein  ge> 
bunden  ~i.  5,— 

Vritis  rühm!  den  liebenlwürdigen  plaudert»»,  über 

den  die  Verfasserin  verfug!,  !!,re  Fähigkeit,  mit 

sind  zumeist  Ariüokralen'Novellen,  ober  auch  wie  di>5 

volf  Kens,  und  fühlt,  hat  die  Verfasserin  mit  ver> 

Zuftinn«,  Oskar,  Giu  Proletarier» 

lind,  humoristischer  Roman  aus  dem 

Verliner  leben. 

2  Lande.  Geheftet  ~  ?,5«;  fein 
bunden  »«. 

ge- 

9,50 

Zahllosen  lcs?r»  hat  «Vikar  lustinnz 

huniorislischen  werfe»  ist,  so  arm  ist  sie  an  solchen 

Dohm,  Hedwig,  Wie  Frauen 

den.  —  Werde,  die  Vu  bist.  Novelle 

Geheftet  ~l>  2,—:  gebunden  ~l,  4,- 

wohl  Alle»,  wo»  sooft  »nf  diesem  Gebiete  arfchasi.-n  - 

Kacher-Wasoch,  zeopold  n»n, 

Herta.  Die  Mau?.  —  Maria  im  3chn« 

Novellen. 

«Lin  Vand.  Geheftet  X  4..—;  fein  oe> 
bunden  ~ü  5  — 

von  jeher  große  Anziehung>fr»s!  geübt;  IN!»  »»es.? 
Herrschsucht,  Auch  in  den  drei  kizHhlunaen  lies» 
Dem  aufmerksamen  leser  enthüll»  sich  io  diesen  »>t»r 
Stelluog  »onMnoo  und  Hl»»  zu  einander  in  gewinnen 
Kamaro»,  Gregor,  «m  «bizrnu». 
Roman. 

2  Vände.  Geheftet  ~l,  9,—;  gebunden. 

s\  II 

/ 

»nd  dabei  doch  maßvoll!  einzelne  Seenen  von  gern!»  ~ 
«»reisender  Wirkung. 
Kchönthan,  Franz  von,  Der  «c» 
»eral.  Novelle. 

Geheftet  ~.  2,—;  fein  gebunden  ~c  3,— 

Daß  Franz  von  Schönthan,  der  dem  große«  p»!5 

cum  vornehmlich  als  »in  UnHanger  der  heileren  INiii 

bekannt  ist,  auch  für  di»  ernsten  tooflirt»  d«  leben« 

verstöodniß  und  dichterisch  gestaltende  Vegobnna  d, 

sitzt,  Hai  er  in  dem  Schauspiel  ,va,  »oldene  Voch' 

überzeugender  jedoch  in  dieser  Lrzahlnng  bewie,«!, 

Viola,  M.,  Zweierlei  Liebe.  Roman 

Ein  Vand.  Geheftet  ~l,  »,— ;  gebunden 


~l>  2,- 

Der  lloman  ist  pailend  geschrieben  »nd  ?ii 
Schilderung  der  seelischen  Vorgänge  im  Helden  se! >i 
anschaulich  und  fesselnd,  Va«  weis,  da»  in  semen, 
Ihenia  ganz  so  äo  «itc!«  ist,  darf  auf  einen  «rofni 
leserkreis  rechnen 

ZU  beziehen  durch  gilt  suchhllndlunzen  des  3«.  und  Allslund«. 
!>!l»>!!!l!!!!!l!,l!„ 

<»!!!!!!!l!!»l!l!!!!l!!!!!!!!!!!!>l!!t'l